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Full text of "Geschichte des achtzehnten Jahrunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs : mit besonderer Rücksicht auf den Gang der Literatur"

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Geſchichte 


des 


achtzehnten Jahrhunderts 
* 
des neunzehnten 
bis zum Sturz des franzöſiſchen Kaiſerreichs. 


Mit beſonderer Rückſicht auf geiſtige Bildung. 


Von 


F. C. Schloſſer, 


Geheimenrath und Profeſſor der Geſchichte zu Heidelberg. 


Vierter Band: Bis auf den geſcheiterten Verſuch der Auflöſung 
der franzöſiſchen Parlamente um 1788. 


Vierte durchaus verbeſſerte Auflage. 





Heidelberg. 


Alkademiſche Verlagshandlung von I. C. B. Mohr. 
1853, 







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Inhalt des vierten Bandes. 





Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts. 
Dritter Zeitraum. 


— — 


Zweiter Abſchnitt. 


Gang und Beſchaffenheit der geiſtigen Bildung und Literatur. 


8weites Kapitel. 


Frankreich. 
Seite 
'$. 1. Diderot, Marmontel, Raynal 1—21 
4 — Rouſfeau, Büffon 2143 


3. Philoſophiſche Staats dtonomen und Polititer — 43-57 





Des zweiten Abſchnitts drittes Kapitel. 
Deutſche Literatur im Verhältniß zum deutſchen Leben. 


51 —— 1:91 und Fieeligp bis * Fichte. 


. 0} 57 — 87 
B. Theologie 88—100 


$. 2. Bafedow und die Philanthropiums zu Deſſau, Marfchling, 
Heidesheim. C. F. Bahrdt und feine Bibelüberſetzung. 


I. U. Eberhard und feine Apologte des Sokrates .„ . 100-120 


$. 3, Nitolat und die allgemeine deutſche Bibltethef, Wieland, 


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$. 


$. 6 
8.7 


die Brüder Jacobi und der deutſche Mercur . 120—136 
4, Göttinger Barden. Idylle. Empfindſamkeit, Zärilichtei 

mitten im deutſchen Leben. Werther, Siegwart, Campe, 

Salzmann, Peſtalozzi, Romanfabrifen . 136—168 
5. Leffing und Herder. Verftändiges und poeliſches Chriſten 

thum. Lavater und RN: Schwärmeret und Satyre 168—220 

. Sefhihte . 220—236 

. Verhältnig der Siöriftfteler zu den Regierungen. Jour 

naliſtil. Staatswiſſenſchaft.. 236-268 





Gefchichte des achtzehnten Jahrhunderts. 
Vierter Zeitraum. 


Vom Abfall der nordamerikaniſchen Provinzen bis 1788. 


Erſtes Kapitel. 


Zeiten des — — Kriegs bis * des jüngern Pitt Mini⸗ 
ſterlum, um 1784 


Seite 

$. 1. England, Franfreih, Spanien bis auf die ——— 
Neutralität . N 269—293 
$. 2. Bewaffnete Neutralität und Krieg mit Holland N 293—320 


$. 3. Englifhe Geſchichte. — Seekrleg. — Belagerung von 
Gibraltar. Minifterien bis auf Pitts India⸗Bill um 1784 320—345 
$. A. Kampf zwifchen For und Pitt bis 1784 ; i . 345—377 


weites Kapttel. 


Betten der unruhigen Bewegung im Innern der Staaten des feften Landes 
bis auf die erften Anzeichen der franzöfifchen Nevolution. 


$s 1. Katfer Joſeph II. vom Tode feiner Mutter bis auf den 
Türfenfrieg . . 377—416 
$. 2. Innere Bewegungen und politifche "Streitigkeiten in Bel: 
gien, Holland, Frankreich bis zum ** 1788. —— 
a. Belgien 417—436 


b. Holländifche Unruhen "und Zrichrich Wilhelm I. 
von Preußen + . 0 E + 436—465 
c. Sranfreih , s * ” * > * 465—512 





Berichtigung Bg. 16, Seite 256, unten, fehlt: angehörte, 


Dritter Zeitraum des achtzehnten Jahrhunderts 





Zweiter Abfchnitt. 
Gang und Befchaffenheit der geiftigen Bildung und Kiteratur, 


Zweites Kapitel. 
Frankreich. 


8.4. 


Diderot, Marmontel, Raynal. 


Wir werden zwar weiter unten die Hauptſchriftſteller dieſer 
Zeit, welche das, was man jetzt in ganz Europa Staatswiſſenſchaft 
und Staatswirthſchaft nennt, erfanden und in die Mode brachten 
und ſich dadurch große Verdienſte um Staatsverwaltung und po— 
litiſches Leben erwarben, anführen müſſen, jedoch zuerſt noch ein— 
mal auf die Rhetoren und Sophiſten zurückkommen. Es wird 
ſich zeigen, daß das Treiben der berühmten Prediger des Unglau— 
bens und der Freiheit ebenfo Teer, declamatorifch und Yaftig war, 
als in unfern Tagen das der Prediger des blinden Glaubens 
und der Knechtfchaft nur immer fein kann. Uns irrt weder ein 
berühmter Name, noch Prahlen auf Beredfamfeit und Poeſie; 
uns find Chateaubriand, Quinet, Michelet, "Victor Hugo u. |. w. 
nicht beffer als Diderst, Naynal und Gonforten. 

Wir erkennen an, daß Alles, was wir tadeln, objectiv be= 
trachtet, wie man in Deutfchland Kühe, oder aus ** franzöſiſchen 
Standpunkte angeſehen, ganz anders ausſehen mag, wir beharren 
aber darauf, daß Redensarten und aus aller Welt hergeholtes 


Anfpielen auf Wiffen und Wiffenfchaft weder wahre —— 
Schloſſer, Geſch. d, 18, m, 19, Jahrh. IV. Th, 4, Aufl, 


2 Franzöſiſche Literatur: Diderot. 


noch wahre Poeſie iſt. Uebrigens iſt vom Talent, oder von der 
literariſchen Bedeutung der anzuführenden Männer, von dem 
äſthetiſchen oder wiſſenſchaftlichen Werth ihrer Bücher hier die 
Rede nicht, ſondern nur von dem Ton und Geſchmack der fürſt— 
lichen und hochadeligen Kreiſe, denen ſie ausſchließend angehörten, 
und welche unter ihre vielen Privilegien auch das zählten, dieſe 
Schriftſteller ausſchließend bewundern, leſen, verſtehen zu können. 
Wir nennen ausdrücklich nur die Schriftſteller, welche vor der 
Revolution in den Salons herrſchten, und nur in dieſen, nicht 
vom Volke bewundert wurden. Wir übergehen vorerſt die ſpäter 
zu erwähnenden geiſtreichen aber ganz verworfenen Genoſſen des 
elenden und feigen Herzogs von Orleans, die durch ihre Romane 
berühmten Roués; einen La Clos, eigentlich Choderlos de la Cloſe, 
. einen Sillery, Fabre d'Eglantine und des Königs Ludwig Philipp 
faubere Grzieherin, die Gräfin Genlis. 
| Die Aufzählung der Arbeiten, welche in den parifer Kabi- 
netten für den Gebrauch der fürftlichen, Hochadeligen oder vor— 
nehmen und reichen Gefellfchaften von ganz Europa auf diejelbe 
Weiſe verfertigt wurden, wie aus den Putzmacherläden der Fran— 
zofen damals die Kleidungen der Damen aller Höfe hervorgingen, 
beginnen wir mit denjenigen Schriften des unerfchöpflichen Dide- 
vot, deren wir an den Stellen, wo wir feiner andern Arbeiten 
gedachten, nicht erwähnt haben, Diefe Schriften find für den Ton der 
jett zum Schein der Frömmigkeit und Kirchlichkeit oft auf eine höchſt 
Lächerliche Weiſe zurückfehrenden Kreife um jo bedeutender, als ſowohl 
die Katjerin Katharina als der gothaifche Hof den ganz zum Franz 
zofen gewordenen Grimm bejonders darım in Baris befoldeten, da— 
mit ſie von jedem Wifch von Diderots Feder cher Nachricht erhielten, 
als er noch im Publikum befannt wurde. Des großen Friedrich) 
ganz franzöſiſcher Bruder: Heinrich Faufte ſogar die Romane in 
der Handiehrift und hatte das fonderbare Verdienſt, einen der 
Ihändlichiten derjelben, der in Frankreich verloren war, noch in 
unferm Jahrhundert ans Licht gebracht zu haben. Der Herzog 
yon Braunfchweig war nicht weniger von Diderot ald son Mar- 
montel und fpäter von Mirabeau bezaubert, Grimm war das _ 
Organ der franzöſiſchen Salons für die Höfe, denn er ließ fich, 
wie es dem Höfling gebührt, zum Baron machen und glänzte als 


Sranzöfifche Literaturs Diderot. | 3 


ſolcher, während er und feine Genoffen alles Alte und alles Hohe 
verhöhnten und verlachten, oder vielmehr als Blendwerk, das nur 
für bürgerlichen Pöbel geeignet fei, verachteten! N) 

Wir wollen übrigens von den auch in unferm Jahrhundert 
noch viel gelefenen und nen gedruckten Arbeiten Diderotd nur ein 
Baar anführen, um zu beweifen, daß Ton und Manier der nach— 
ber als jacobinifch verfchrieenen Bücher, nicht von Volfsichriftitel- 
lern, fondern von. fürftlichen Kreifen und son den von der großen 
Welt gehegten und gefeierten Schriftftellen ausging. Wir ver— 
weilen hier zunächſt bei den Schriften Diderots, welche im zehn- 
ten, eilften und zwölften Bande der von Natgeon veranftalteten 
Ausgabe?) feiner Werfe enthalten find, das heißt bei den Roma— 
nen, Der Grfte, den Diderst Schon als junger Mann. und zwar 
in Zeit von vierzehn Tagen gefehrieben hatte (Les Bijoux indis- 
erets) ift von dev Art, daß man nicht einmal den Sinn des 


Titels erklären darf, und daß Seder, dev nicht zu der Gattung - 


verdorbener Taugenichte der großen Welt gehört, die ſich des 
lockeren Lebens rühmen, deſſen fich dev Bürgersmann ſchämt, yor 
dem Inhalt zurücichaudert, Der zweite Noman (Jacques le 
Fataliste) wird nicht einmal von dem Mann gebilligt, der be— 
haupten fonnte, Diderot ſei von feiner Zeit nicht gehörig aner— 
kannt worden; wir wollen indeflen einige wenige Stellen aus dem 





1) Ein Franzofe, der Alles bewundert, was wir als dürr proſaiſche und 
proteftantifche, von ihm verfpottete Menſchen verachten, fagt uns, daß es in 
den von ihm bewunderten Kretfen noch tmımer Lappalien gibt, die man fi 
nad) Petersburg ſchicken läßt, La Bussie par le marquis de Custine 
Vol. HI. p. 431. On veut recesoir les anecdotes de Paris et rester au 
courant des moindres commerages relalils ä la société, à la litterature 
ephemere de la France. Ces details, tout miserables g’ils nous paroissent 
sont cependant ce qui’ interesse le plus les cours, 

2) Die Ausgabe, welche Natgeon beforgte, deſſen Bewunderung feines 
Lehrers Diverot Feine Grenzen kennt und der auch fein: atheiftifches Geſchwätz 
preifet, erfchten 1798 in 15 Theilen in 8,, und ward feitbem oft wieber ges 
druckt. ine fihönere Ausgabe, die vollftändiger tft, erfchten 1822 in 22 Th. 
in 8. Der lebte enthält die Memoires philosophiques et historiques sur la 
vie et les ouvrages de Diderot von Naigeon. Im Jahre 1830 erfchtenen, 
gleichſam als wenn man des Zeugs nicht genug befommen könnte: Mémoires, 
corxrespondance et ouvrages inedits de Diderot, II, Vol; 8. 

1* 


* 


BR Franzöſiſche Literatur: Diderot. 


erſten Theile ausheben, um zu zeigen, was unter der vornehmen Welt 
als Philoſophie galt. Wir dürfen übrigens bei dem Buche ſchon 
aus dem Grunde nicht verweilen, weil nur das Schlüpfrige 
darin dem Verfaſſer und ſeiner Zeit angehört, das Uebrige aber 
eine ſchlechte durchaus verunglückte Nachahmung des Triſtram 
Shandy iſt. 

Das Buch hat die Form eines Dialogs und beginnt mit 
der Verſpottung der chriſtlichen Vorſtellung von Vorſehung und 
göttlicher Weltregierung. Was politiſche Grundſätze angeht, ſo 
findet man unter dem elenden Geſchwätze Zoten, und neben der 
hie und da ſichtbaren Dialektik überall einzelne Anſpielungen auf 
die damals beſtehende Ordnung, Einrichtung, Hierarchie, die den 
folgenden von dem Schloſſe, wo Jakob und ſein Herr einkehren, 
gleichen. Was Jakob und ſeinen Herrn, heißt es, dort am mei— 
ſten ärgerte, war, daß ein Schock dreiſter Kerle ſich der ſchönſten 
Zimmer bemächtigt hatten, und immer meinten, ſie wären gleich— 
wohl noch zu eng und zu ſchlecht quartiert, ſo daß ſie gegen den 
Sinn der Inſchrift über dem Eingang des Schloſſes und gegen 
das natürliche Recht und den geſunden Menſchenverſtand behaup— 
teten, das Schloß ſei ihnen als Eigenthum vermacht worden. Sie 
hatten daher mit dem Beiſtand einer Anzahl von Taugenichten, 
die von ihnen beſoldet wurden, eine große Zahl anderer Tauge— 
nichte in Sold genommen, die für ein klein Stück Geld jeden 
an den Galgen hingen oder todtſchlugen, der es wagte, ihnen zu 
widerſprechen. Doch gab es zu Jakobs und ſeiner Zeit Leute, 
die es zuweilen wagten. ... Ungeſtraft? .... Das iſt, wie es 
gerade trifft... . Nach ſolchen Stellen, welche für jene drei 
Viertheile des Buchs, die, wie ſogar Naigeon gefteht, nie hätten 
gedruckt werden müſſen, tröſten follen, folgen Gefpräche und Ge— 
jchichten, welche ung von, der loſen und lockern Art Unterhaltung 
der Kreife Diderot3 und feiner Genoffen einen Begriff geben. 
Unter die matten Wite find nicht ohne Kunft die Stücke einge- 
fehoben, welche verſteckt werden mußten, wenn man der Polizei 
entgehen wollte, 

Es würde und zu weit führen, wenn wir durch eine voll⸗ 
ſtändige Analyfe zeigen wollten, welche Kunft in der Nachläffigkeit 
und welche Kenntniß des Iofen und lockern Leſepublikums, das 


Srangöftfehe Literatur: Divers, 5 


man von hergebrachten und eingetrichterten Begriffen befreien 
wollte, in dem aphoriftifchen oder obfeönen Gerede liegtz mir 
wollen daher nur noch eine von den Stellen ausheben, welche 
die: neue Weisheit populär verfündigen. Es ift die Nede von 
Sperates, freilich gegen allen Zufammenhang und alle Veranlaffung. 
Det der Gelegenheit heißt e8: Gr war ein Weifer zu Athen, feit 
langer Zeit aber tft die Rolle des Weiſen unter Narren eine fehr 
gefährliche. Seine Mitbürger verdammten ihn, den Schirlings— 
trank zu trinken. Sofrates machte e8, wie du es eben gemacht 
haft; er war ungemein höflich gegen den Henker, der ihm den 
Tranf reichte, Jakob gefteh es nur, du bift eine. Art Philoſoph. 
Ich weiß recht wohl, daß diefe Menfchengattung den Großen 
durchaus verhaßt tft, weil fie vor ihmen nicht die Knie beugt. 
Den im Obergericht ſitzenden Suriften - tft fie zuwider, weil fie 
Borurtheile verfolgt, welche von den Gerichten in Schuß genom= 
"men werden; den Pfaffen, weil fie fich felten an ihren Altären 
blicken läßt; den Dichtern, weil in dem Dichtervolf Fein ernfter 
Sinn ift. Sie betrachten die Philoſophie nur als ſchöne 
Kunft, und wollen nicht, daß man ihnen fage, daß auch 
fogar diejenigen unter ihnen, welche fich mit der gehäffigften Gat— 
tung der Dichtung, mit der Satyre, abgeben, doch am Ende nur 
Schmeichler waren. Den Völkern find die Philoſophen verhaft, 
weil das Volk von jeher fich felavifch hingab, den Tyrannen, die 
es unterdrücten, den Spisbuben, die e8 betrogen, und den Schalks— 


mnarren, die es beluftigten. Sch kenne alfo, wie du ſiehſt, die 


Gefahr deines Gewerbes und die Wichtigkeit des Eingeftändnifieg, 
‚welches ich von div verlange, ganz vollftändigz; aber ich werde 
feinen Mißbrauch davon machen, Mein Freund Jakob, du bijt 
ein Philoſoph. CS ift mir leid um deinetwillen, und wenn man 
aus dem, was gegenwärtig gefchteht, auf dasjenige fchließen darf, 
was eines Tages gefchehen muß, und wern das, was da oben 
gefchrieben fteht, fich zumwellen den Menfchen lange vorher offen— 
bart, che es fich ereignet, fo vermuthe ich, daß du den Tod eines 
Philoſophen fterben mußt, und daß du den Strang mit ebenſo— 
viel Würde empfangen wirſt, als ocrates die Schale mit dem 
Schierlingstrank. 

Beſſer ſowohl durch Inhalt als Form iſt der Dritte derje— 


6 Franzoöſiſche Literatur: Diderot. 


nigen Romane Diderots, die wir vor andern als Muſter des 
Tons und Geſchmacks der vornehmen Herrn und Damen, die ſich 
an der Unterhaltung dieſer Art ergötzten, anzuführen verſprochen 
haben. Dies Buch enthält eine Darſtellung der Verderblichkeit 


der Einrichtung der Nonnenklöſter und ihrer Disciplin, eingefleis 


det in die Form von Geſtändniſſen einer Nonne, welche ihr eig— 
nes Leben beſchreibt. Darauf bezieht ſich der Titel des Buchs, 
die Nonne (la Religieuse), In dem Styl und in der an— 
ziehenden und anvegenden Erzählung wird Niemand den Mann 
der güten Zeit der franzöſiſchen Literatur verfennen, der fich 
weder die Flüchtigkeit zu Schulden kommen laßt, die er ſich oft 
in den Arbeiten feiner Jugend erlaubte, noch die Nachläſſigkeit 
und Verachtung des Publikums, welche fich im Jacques le Fata= 
Hifte und in andern ähnlichen Büchern zeigt. Die Gefchtehte tft 
jo genau aus den Erfahrungen jener Zeit und aus dem, was 
alle Tage in gewiffen Bamilten vorging, entlehnt, daß man wirt 
liche Denfwürdigfeiten zu leſen glaubt. Jede fühlende Seele 
fchaudert und wird innig ergriffen und von Rührung durchdruns 
gen, fie muß einen Zuftand des Staats und der Kirche verab- 
ſcheuen, der Dinge, wie die hier erzählten möglich machte. Diefer 
letzte Punkt ift der Ginzige, der hier in Betrachtung kommt, weil 
eigne Erfahrung uns gelehrt hat, wie mächtig die Spradye und- 
die ganze Darftellung den jugendlichen mit Welt und Menfchen 
unbekannten, gegen rein menschliche Empfindung im harten Leben 
noch nicht abgeftumpften Geift ergreift. Diderot Hat mit einer - 
bewunderungstwirdigen Kunft die Erzählung vom Anfange bis zum 
Erde jo durchgeführt, daß er nie aus dem Ton gefallen tft, Tone 
dern ihm immer fo gehalten Hat, wie etiwa feine Fromme Tochter, 
welche nach feinem Tode viele feiner Schriften dem Feuer ge— 
opfert Hat, würde gefchrieben haben. Er fällt nie in feinen eig- 
nen frivolen Ton, bis er an den Punkt kommt, wo er ſeine 
Kunſt an ein Gemälde verfchwendet, melches die Verſe eines 
Aretin und die Zeichnungen eines Julius Romanus weit hinter 

fi läßt. Das Buch warnt auf diefelbe Weife vor Defpotismug 
des Aberglaubens, wie in unſern Tagen eine Amerikanerin‘ vor 
dem Deſpotismus dev Habfucht in Negergefchichten gewarnt hat, in 
welchen eben fo wie in der Nonne viel Fiction aber doch kein Schmus ift. 


Franzö ſiſche Literatur: Diderot. 7 


‚Wir begleiten die Nonne aus dem elterlichen Haufe, wo fie 
gequält ward, bis fie fich fcheinbar freiwillig zum geiftlichen 
Stande entfchließtz wir fehen die gute und fehlechte Abtiffin und 
die Wirkung der durch den Nechtsgang möglichen Schritte gegen 
die Tyrannei der Klofterzucht. Alles dies ift durchaus hiſtoriſch 
und auch anwendbar auf Deutfchland und auf Mönchsklöſter; 
man darf nur vergleichen, was Bronner, Schad, Fehler in ihren 
Lebensbefchreibungen ausführlich berichtet Haben, Die Quälereten, 
welche dev. Aberglauben erfonnen hat, wenn eine freie Seele fich 
nicht in den Kreis bannen laſſen will, wo jedes menschliche Ge— 
fühl im mechantfchen Gottesdiefte erftirbt, werden auf eine andere 
Art aber eben fo geiftreich und anregend gefchtldert, als in un— 
jern Tagen im Spiridion gefchehen tft. Diderot fteht dabei der 
Hiftorifchen und afltäglichen Wahrheit näher, weil von ihm weni— 
ger philoſophiſche und poetifche Phantasmagorie aufgeboten wird, 
Das Klofterleben und Klofterwefen der Zeit kurz vor der Revo— 
lution tft in feinem Buche mit mehr Wahrheit und Lebendigkeit 
gefchtldert, als in diefem Noman, der eine belehrende Lectüre fein 
könnte, wenn nicht die zweite Hälfte des Buchs mit furchtbarer 
Wahrheit und mit einer teuflifchen Kıumft Scenen im Innern der 
Klöſter ſchilderte, welche auch fogar ein Juvenal und Petronius 
ſich ſcheuen würden, mit der Ausführlichkeit und Lebendigkeit zu 
beſchreiben, wie ſie hier beſchrieben werden. Die Anſtößigkeit 
der Scenen und Abſichtlichkeit bei Erregung der Sinnlichkeit ver- 
dient um fo mehr Tadel, als Diderot Feine Freude am ausgelaf- 
jenen Leben hatte, Er, der Sohn eines Mefferfchmidts, den man 
in die höheren Kreife aufgenommen hatte, fühlte tur einen hef— 
tigen, aber wahrhaftigen Unmillen gegen die in denſelben herr- 
{chende Heuchelet und ließ diefe bei jeder Gelegenheit mit revolu— 
tionärer Heftigfeit aus. Das mißfiel einem Manne wie d'Alem— 
bert, der als Markis und DVerfertiger akademiſcher Lobreden, den 
Ton des Sansculotismus nicht billigen konnte. Er und die große 
Welt zogen fich von Diderot zurück, der ange vor feinem Tode 
(ex ftarb 1783) das Salonsleben aufgegeben hatte und im ſtillen 
häuslichen Kretfe lebte. 

Diderot, wie Perſius und andere Dichter der letzten römi— 
ſchen Zeit und wie ſein Freund dAlembert, vereinigte mit Leicht⸗ 


8 \ Franzöfifihe Literatur: Diderot. 


fertigkeit des Ausdrucks und der Obfeönität der Geſellſchaft, in 
welcher er lebte, die Bewunderung ber ftotfchen Strenge umd der 
gefuchten und epigrammatifchen Kürze der ftoifchen Nhetoren und _ 
Gefchichtfchreiber. Die Spuren diefer fcheinbar ganz widerſpre⸗ 
chenden Richtungen wird man ſchon in einer. feiner früheren 
Schriften, in der Beurtheilung dev Künftlerarbeiten von 1765 
bis 1767 (Salon de 1765—1767) antreffen, In dieſer Schrift 
eifert er mit großer Strenge gegen die Fünftlerifche Darftellung 
derfelben  Gegenftände und Scenen, die er ſelbſt ſpäter in feinen 
Romanen vorzugsweiſe auszumalen oder errathen zu laſſen bemüht 
geweſen iſt. Die Aehnlichkeit der Zeiten des Kaiſers Tiberius 
und König Ludwigs XV. in Rückſicht auf übertriebene Strenge 
der Rede, und unerhörte Ausſchweifung im Leben zeigt ſich aber 
am deutlichſten in der Bewunderung, welche Diderot in ſeiner 
Schrift über Seneca und d'Alembert in feiner Bearbeitung des 
Tacitus für Senecas Rhetnrif und Philofophie ausgefprochen haben. 

. Die heftigften Aeußerungen Diderots über das entartete Sy— 
ſtem des Mittelalters, welches im achtzehnten Jahrhundert in allen 
Staaten Europas mit einer monarchifchen Strenge der Polizei 
und einer Straflofigfeit vornehmer Verbrecher verbunden war, 
find erft in unferm Jahrhundert in dem Gedicht die Eleuthe— 
romanen veröffentlicht worden. Wir würden jogar zweifeln, 
ob diefe gräßliche Dithyrambe der Gleutheromanen. wirklich von 
Diderot herrühre, wenn wir fein anderes Zeugniß dafür hätten, 
als Naigeons DBerficherung. 3) Von welcher Art diefe Dithyrambe 
war, kann man aus den berüchtigten zwei Verſen ſehen, welche 
man immer anzuführen pflegt, wenn vom Canibalismus der fo- 
genannten Gordeliers die Rede ift.?) 








3) Diefe Eleutheromanes ou les Furieux de la liberte wurden ſchon 
1796 als Diverots Arbeit gedrudt, erft in der Decade philosophique, dann 
im Journal d’economie politique. Dies zeugt für Natgeon, befonders aber, 
daß Fragmente der Eleutheromanen ſchon insgeheim befannt wurden, als 
Diderot und Holbad noch Himmelftürmend converfirten. Das Gedicht ver: 
fündigt Anarchie jeder Art. 

4) Ste lauten in den Eleutheromanen, wie folgt: 

Et ses mains ourdiraient les entrailles d’un prötre 
A defaut d’un cordon, pour etrangler les rois. 


Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 9 


Diderot wählte in jener Dithyrambe ausdrücklich die Form 
bachantiſcher Muth und Raſerei, die ihm fonft keineswegs eigen 
war, um nicht blos Tyrannei und Tyrannen, fondern auch Kö— 
nigthum und Könige überhaupt zu verwünfchen. Die Männer 
der Schreckenszeit und die furchtbaren Ochlokraten, welche diefe 
um 1841 in Parts zu ernenen drohten und dadurch die Herr- 
ſchaft der Doctrinärs befeftigen halfen, beviefen fich daher auch 
immer auf dte berühmten Namen von Diderot und Holbach als 
auf die Apoftel ihres Evangeliums. Diefe furchtbaren Anarchiften 
eitiren einen uns fonft ganz unbefannten Sylvain Marechal 
als denjenigen, der aus Didernts Schule herporgegangen bie 
Lehre son. Gott und göttlicher Weltvegterung wie die von einer 
bürgerlichen Ordnung und Unterordnung am fühnften verjpottet 
habe. 5) 
Auf eine ganz andere Weiſe als Diderot, Holbad) und an— 
dere befämpfte Marmontel das beftehende hierarchtifche und mo— 
narchtfch militärische Syſtem feiner Zeit. Er mußte ſelbſt eigent- 
lich nicht, was er that und feine im Alter gefchriebenen Denf- 
wiürdigfeiten zeigen ung, wie fehr er erſchrack und zurückſchauderte, 
als er fpäter inne wurde, was er gewollt und wohin er gearbei- 
tet habe. Gr bedurfte des Ruhms eines DBelletriften und Schau— 
fpieldichters, dazu war ihm Voltaire unentbehrlich, er mußte ihm 
daher huldigen und das konnte nicht gefchehen, ohne fich der 
Richtung der Zeit anzufchließen und Verbeſſerung des Beftehenden 
zu fordern. - Das hinderte bekanntlich Voltaire nicht, der Pompa— 
dour ‚gelegentlich zu Huldigen, er konnte daher auch Marmontel 
nicht übel nehmen, wenn er Wohlthaten von ihr fuchte und ans 





5) Die fanatifirten Anarchiften begannen um 1841 ein Journal heraus: 
zugeben, unter dem Titel ’Humanitaire (das freilich feinen Fortgang haben 
fonnte), darin heißt es: Marechal figura avec aväntage parmi les Diderot, 
les d’Holbach, il publia en 1781 sans y metire son nom un poöme phi- 
losophique, dont la hardiesse souleva contre lui les hommes de mauvaise 
foi interesses à l’erreur et la colere des devots. C’etoit un requisitoire 
foudroyant contre l’opinion qui admet l’existence d’un &tre au dessus de 
la nature et un plaidoyer plein d’eloquence en faveur du materialisme 
etaye sur les principes de la plus austere: vertu et embellie des charmes 
d’une poésie mäle et &nergique. 


| 10 Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 


nahm und ſtolz darauf war, ihr Schützling zu ſein. Vom Gehalt 
der Schriften, deren wir hier erwähnen, kann nicht die Rede ſein, 
weil hier blos ihre muthmaßliche Wirkung in Betracht kommt. Es 
iſt daher genug, wenn die Thatſache unläugbar feſt ſteht, daß 
Marmontel in ganz Europa berühmt war, daß er eine große 
Leichtigkeit hatte, ſich innerhalb eines engen Kreiſes von Ideen 
leicht zu bewegen und daß er den Hofton zu treffen wußte. 
Marmontel war aus den geiſtlichen, auf rhetoriſche Abrich⸗ 
tung und auf Hebung des Gedächtniſſes und Fertigkeit in zier— 
lichen Redeformen eingerichteten Schulen hervorgegangen; er hatte 
von Kindesheinen an gelernt, mehr auf die Form der Rede und 
des Ausdrucks, als auf das Weſen der Sachen zu merken; er 
durfte daher das, was er zum geiftlichen Gedrauche erlernt hatte, 
nur weltlich anwenden, fo war der Rhetor und Sophift fertig. 
Marmontel macht Diderot den Vorwurf, daß er nicht verftanden 
habe, ein Buch zu machen, wie man das in Frankreich zu nennen 
pflegt; darin war er allerdings gefchiefter, denn Niemand Fannte 
das Publikum beffer als er. Er war Allen etwas, Gr befang 
und lobte Ludwig XV. und behauptete fich in der Gunſt des 
Die d'Aiguillon und der Bompadour, während er zugleich in den 
Pariſer Salons als Philoſoph glänzte. Im Allgemeinen war 
fein Ruhm größer unter den fentimentalen Deutfchen, als unter 
den witzigen und verftändigen Franzoſen. Unter den Letztern war 
er zuerſt als Schauſpieldichter bekannt, weil ihn Voltaire auf jede 
Weiſe zu heben ſuchte, da er ſeinem Glanze als Folie dienen 
konnte. Wir übergehen ſeine dramatiſchen Arbeiten, weil wir 
nicht wagen, ihnen irgend einen Einfluß zuzuſchreiben, reden daher 
nur von feinen moraliſchen Erzählungen, weil fie ebenſo ſchlaffe 
Moral enthalten, als unfere deutfchen Bücher für Damen. 
Ä Die moralifch genannten Erzählungen, welche von den immer 
nach Paris blickenden Deutfchen alsbald unter dem Titel die 
Tugendfchule überfet wurden und fogar In umfern Tagen 
aufs neue überſetzt find, erfchtenen zuerft im Mercure de France, 
den Marmontel durch diefe Erzählungen fehr hob, fobald ihm. die 
Pompadour das Privilegium der Redaction diefes Journals ver— 
lieben hatte, In diefen Erzählungen wird jene Gefühlstugend 
gepredigt, welche ung Deutſche entnervt Hat, weil fie die Schran— 


Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 11 


ken zwiſchen Tugend und Laſter verkennen lehrt. Dies wirkte in 
der fentimentalen Zeit der Educationstheorie beſonders verderblich, 
weil die Reformatoren der Erziehung wie die Väter und Mütter 
ſtatt den Geiſt durch Arbeit zu ſtärken, ihn durch Gefühlſamkeit 
ſchwächten. 

Die Tugend wird von Marmontel nicht, wie von ſeinen 
akademiſchen Brüdern geſchieht, (d. h. beſonders wenn ſie in reli— 
giöſer Form erſcheint) verhönt, und dem Laſter wird nicht durch 
witzige Wendung die Form derſelben gegebenz aber fie wird fo 
leicht, fo angenehm gemacht, Fehler und Vergehungen erfcheinen 
in Nücficht ihrer Wirkung auf die menfchliche Seele und auf 
den Charakter fo unbedeutend, daß die ungeheure Kluft zwifchen 
Selbſtbeherrſchung und finnlichem Leben unmerklich verſchwindet. 
Ernſt und ſtrenge Zucht werden als gehäfftge und finftere Refte 
einer vergangenen Zeit, weiches Gefühl, finnliches Mitleid, ein— 
zelne Handlungen der Mildthätigkeit, finnliche Liebe und Erbar— 
men ans der Inbehaglichkeit des Anblicks der Leidenden ent=- 
fprungen, alſo die finnlichen Anregungen und natürlichen Bewe— 
gungen, die allerdings zur Tugend leiten und helfen können, gel- 
ten fir dag, mis am fich, vor Gott und vor dem Gewiſſen recht 
und gut iſt. Dies Alles würde, wie in fo vielen deutfchen Bü— 
chern, das. fühlte Marmontel wie Wieland, nur eine für die 
große Welt Iangweilige Reihe unfchuldiger Preuden, rührender 
Handlungen, Gefchichten voll Kiebenswirdiger Güte an die Hand 
gegeben haben, Marmontel Half fich daher wie Wieland. Beide 
mifchten unter ihre Tangweilige Sentimentalität eine gute Dofis 
Immoralität, und beide bewirkten dadurch gerade unter den Beſ— 
fern, Aufklärung wünfchenden Zeitgenoffen eine völlige Verände— 
rung der aus dem. vorigen Sahrhundert überlieferten und auf den 
Kanzeln verkündigten Anficht des Lebens. Diderots Nomane er— 
vegten bei befferen und reineven Seelen Widerwillen und Abfchen; 
Marmontels fchlüpfrige Sittlichkeit lockte die Unſchuldigen an. 
Marmontel Argerte Niemand durch Atheismus wie Diderot, er 
befämpfte aber den religiöſen Jeſuitismus durch einen eben jo 
serderblichen moralifchen, Es tft unnöthig, dies an den einzelnen 
Grzählungen, welche zuerſt Marmontels Ruhm begründeten, nach— 
zuweiſen, da wir in Deutfchland an diefer Art Literatur Ueberfluß 


12 Franzöfifche Literatur: Marmontel. 


haben; wir wollen Tieber auf die beiden größeren Werke, den 
Beltfar und die Incas, aufmerkffam machen, in. denen das den 
moralifchen Erzählungen zum Grunde liegende Syſtem unmittel= 
bar auf den Staat und deſſen größere DVerhältniffe angewendet 
wird. Die Aufnahme diefer nicht einmal dem franzöſiſchen Ge— 


ſchmacke oder dem Pariſer Zeitgeifte entfprechenden Bücher beweifet 


am beten, wie unmöglich e8 war, gegen die allgemeine Stim— 
mung des gebildetiten und angefehenften Theil der Regierenden 
und der Gehorchenden das alte Syftem aufrecht zu erhalten. 6) 
Mir möchten nicht behaupten, daß die beiden Bücher, von 
denen wir reden, dev Beliſar und die Incas, auf ihre Zeit ein- 
wirkten, dazu waren fie zu jchwach und zu unbedeutend, wir 
reden nur von ihrer Aufnahme tm Publikum und son der Stim— 
mung und Richtung der höheren Stände, worauf fie berechnet 
waren. Marmontel jelbft gibt uns über diefe Aufnahme und 
Tendenz des Belifar befonders die befte Auskunft. Die Tendenz 
des hiftorifchen Romans erkannte König Friedrich IL eben fo 
richtig als der orthodor=fatholifche Doktor der Sorbonne, der mit 
aller möglichen Höflichkeit die Billigung des Drucks verfagte. Die 
allgemeine Stimme war aber fchon damals mächtiger als das 
Geſetz, denn es fand fich doch ein anderer rechtglaubiger Thenlog, 


6) Marmontel jagt im 8. Bude ber Memoires (ed. Paris 1805. 
Vol. IH. p. 31.) Tandis que la Sorbonne, plus furieuse encore de se 
voir harcelde travailloit de toutes ses forces à rendre Belisaire heretique, 
deiste, impie, ennemi du tröne et de Fautel (car e’etoient ses deux 
grands chevaux de bataille) les lettres des souverains de l’Europe et 
celles des hommes les plus &claires et les plus sages m’arrivoient de 
tous cötes, pleines d’eloges pour mon livre, qu’ils disoient &tre le bre- 
viaire des rois. L’imperatrice de Russie, l’avoit traduit en langue russe, - 
et en avoit dedie la traduction ä un archev&que de son pays. L’impera- 
trice reine de Hongrie, 'en depit de l’archev&que de Vienne, en avoit 
ordonne l’impression dans ses &tats, elle qui etoit si severe A l’egard des 
ecrits qui attaquoient Ja religion. Wozu dies diente und wie fohlau man 
es benußte (wie in unfern Zeiten Fromme und Philofophen die entgegenge- 
fette Stimmung) fagen die folgenden Worte: Je ne negligeai pas, comme 
vous pensez bien, de donner connoissance à la cour et au parlament de 
ce succ&s universel; et ni l’une ni l’autre n’eurent envie de partager le 
ridicule de la Sorbonne. h 


Franzöfifche Literatur: Marmontel. 13 


der die Approbation ertheilte. Marmontel berichtet ung mit gro= 
ber Selbftgefälligkett in feinen Denfwürdigfeiten, welche Bedeu— 
tung deutfche Fürften auf franzöfifche Nhetorif und oberflächliche 
Gleganz legten, die fie damals noch nicht wie jegt unter ihren 
eigenen Landsleuten finden Fonnten. Der Herzog von Braun— 
ſchweig, damals noch Erbprinz, und feine Gemahlin Huldigten 
dem Glienten der Pompadour auf diefelbe Weife, wie derfelbe 
Erbprinz hernach als Herzog einem Mirabeau fchmeichelte, der 
als Spion des franzöſiſchen Miniſteriums nach Deutfchland ge— 
jchieft war, Die’ Fürften brachten ihre Huldigung zu derſelben 
Beit den revolutionären parifer Sophiſten, als Klopfto nach Dä= 
nemark wandern mußte, als Schiller mit Mühe eine diürftige 
Exiſtenz fand, als Voß lange Zeit im Lande Hadeln Schulmeifter 
blieb, und Leffing, der nie wie Mirabeau Frevel begangen oder 
vertheidigt oder wie Marmontel dem Lafter die Geftalt der Tu— 
gend gegeben hatte, wegen philofophticher, Hiftorifcher und kriti— 
jeher Zweifel verfolgt ward. Blos in Beziehung auf den deut— 
ſchen Geift und die Manier der Fürften der Zeit feen wir Daher 
Marmontel3 Worte unter den Tert,) 

Der hiftorifch = politifche Roman, von deffen Tendenz wir 
reden, erjchten gerade in dem Augenblicke, als Marmontel Aka— 
demifer geworden war (1767), als er daher wie feine Kollegen 
zur Zerſtörung des herrfchenden Syſtems, jedoch nur auf feine 
MWeife, mitwirken wollte. Cr benutzte die Fabel von Belifars 
Blindheit und von feinem Betten, Juſtinians Ungerechtigkeit und 
. anderes, was fich damit verbinden ließ, um gewifje polittfche Leh— 
ven und gut gemeinte gegen die herrfchende Staats- und Kirchen- 
polizet gerichtete Rathſchläge unter das große Publikum zu bringen. 
Er iſt nach feiner Art in den erſten Kapiteln mit dem hiftorifchen 
Theile bald fertig; die Hauptfache darin ift eine durchaus unbe 
ftimmte moralifche Politik, Diefe fand am ruffifchen, ſchwediſchen, 
öfterreichtfchen Hof lauten Beifall, wahrſcheinlich, weil es fehten, 

7) Außer der Extafe, in welche nad) ‚Marmontel (p. 49.) der Erbprinz 
noch in Aachen über die pariſer Gelehrten-Geſellſchaft gerieth, ſtellte er ihn 
ſeiner Gemahlin mit den Worten vor: Madame, vous désiriez tant de con- 
noitre lauteur de Belisaire et des Contes moraux. Le voici, je 
vous le presente. 


14 Franzöfifche Literatur: Marmontel. 


als wenn der, welcher ihr folge, tugendhaft fein könne, ohne fih 
zu beffern, und veformiven, ohne etwas Wefentliches zu ändern. 
Nur eines Abjchnitts wollen wir erwähnen, weil man den Gon- 
traft der Regenten unferer Zeit, beſonders gegen die Kaiferin _ 
Katharina, gegen Zofeph II. und Friedrich II. vecht auffallend an 
der Aufnahme erkennen wird, die diefer Abſchnitt damals in 
Rußland fand, was jetzt gewiß der Fall nicht fein wide. Es iſt 
der fünfzehnte Abfchnitt, der gegen die Anfichten und gegen die 
gefeliche Strenge des Parlaments und der Geiftlichkeit in Nüd- . 
ficht der herrfchenden Religion gerichtet iſt. Dieſen Abfchnitt über 
Toleranz, ließ Katharina IL in die ruſſiſche Sprache über— 
jegen, oder vielmehr, fie überfegte ihn ſelbſt und ließ ihm in 
dev Ueberſetzung im Reiche verbreiten, Dies wiirde man in unfern 
Tagen nicht allein in Rußland nicht dulden, fondern auch in 
vielen deutſchen Staaten zu verhindern fuchen. Wie wenig man 
damals in Frankreich tiber das Negierungsiyftem einig war, wie 

mächtig ſelbſt auf Obfenranten die herrfchende Stimmung ein= 
wirkte und wie gewandt Marmontel und Seinesgleichen waren, 
jehen wir daraus, daß die Sorbonne diefen Abſchnitt über Toles 
vanz verdammte und daß der Herzog von Aiguillen, der doch, 
wie fein König, den Bigotten fpielte, den Verfaſſer defjelben zum 
Hiſtoriographen machte, Gelefen wird freilich der Beliſar nicht 
mehr viel von den Frangofen, gelobt wird er aber immer noch; 
denn dies Buch war für die Salons feiner Zeit, was der Tele- 


mach, der nad) und nach aus dev Mode Fam, für die frühere 


Zeit gewejen war. Man begreift übrigens leicht, daß das Buch 
unter denjenigen Leuten, welche Marmontel beſonders zu befriedi= 
gen wünfchte, um fo mehr Lefer fand, je weniger Philoſophie 
oder auch Gefchichte Darin war, man erftaunt aber, wie e8 ben 
Leuten, denen die Pariſer Salons höchſte und unwiderfprechliche 
Auetorität und Unterhaltung und Witz letzter Zweck war, entgehen 
konnte, daß als Roman betrachtet das Buch weder Wahrſchein⸗ 
lichkeit noch Abwechſelung habe. 

Der zweite Roman iſt nur in Deutſchland viel geleſen wor— 
den. In Frankreich war bekanntlich, ehe durch die Stael, Chateau— 
briand und andere eine neue Art Poeſie in Proſa Mode ward, 
ſentimental ſchwülſtige, poetiſche Proſa durchaus nicht angebracht; 


Franzöſiſche Literatur: Marmontel. 15 


doch verfchaffte dev gegen das Mlte gerichtete Zeitgeift, vielleicht 
auch der Ruhm des neugebackenen Hiftoriographen, dem Buche 
unter den Franzofen einen augenbliefichen Erfolg, wie ihn damals _ 
viele ähnliche Bücher hatten, Diefer Roman in ſchwülſtiger Brofa 
erfihten unter dem Titel: die Incas, zehn Jahre nach dem 
Erſten (177. 

Die befannte Gefchichte der von den. Eroberern von Beru 
gegen die unglücklichen Indianer verübten Greuel gibt Gelegen— 
heit, militärische Gewaltregterung, autofratifche Herrſchaft und 
empörenden veligidfen Fanatismus rührend und fchaudererregend 
darzuftellen, An diefem Buche iſt „nicht einmal der redneriſche 
Theil zu loben; denn die Proſa befteht, wie Geßners Idyllen 
und Ähnliche Bücher, aus aufgelöfeten DVerfen, die Sprache tft 
eigentlich ein Zwitterding von Profa und Berfen, der Inhalt iſt 
weder Dichtung noch Gejchichte, fondern bald Eins, bald das 
Andere, fo daß beide ſich abwechjelnd fehaden. Schon die Form 
bezeichnet daher ganz paſſend eine Zeit der Auflöſung, es tft idyl— 
liſche Poeſie mitten im verdorbeniten parifer Leben. Wenn es 
eines Beweiſes dafür bedürfte, daß Marmontels Poeſie und Phi- 
loſophie noch viel weniger werth war als Diderots Stoicismus, 
Cynismus und Unglauben, jo würden wir ihn aus den in unferm 
Sahrhundert erſchienenen Denkwirdigfeiten (Memoires d’un pere 
pour servir à l’instruction- de ses enfans 4 Vol. 8. 1804.) 
des berühmten Akademikers und Hiftoriographen führen können. 
Man fieht dort, wie hohl die Philoſophie, wie eitel und erbärm— 
lich dieſes Salonleben war, und mie höfifch die ganze Stimmung 
der von Breiheit -und Aufklärung auf diefelbe Weife wie von der 
neueiten Oper und dem Fetten Ballet ſchwatzenden Clienten Vol— 
taires war. Marmontel fucht in den reuigen Befenntniffen Di- 
derot zu vertheidigen, Dies iſt aber auch Alles, fonft ſtimmt ex, 
wie auch, Morellet thut, den Ton des Befehuten und Renigen an. 
Der alte Mann erhebt die vorher in feinen Hauptwerken von 
ihm aus jehr guten Gründen getadelten Cimrichtungen der alten 
Staatsform und der alten Kirche und Hierarchte mit großem 
Lobe, er. gefteht daher wie Morellet, und noch auffallender Raynal 
in feinem berühmten Briefe an die Nationalverfammlung ganz 
dffentlich, daß er und die andern Afademifer noch im fünfzigften 


16 Franzöſiſche Literatur: Raynal. 


Jahre nicht gewußt hätten, wohin ſie eigentlich mit ihrer Philo— 
ſophie wollten. Wir ſehen in unſern Tagen in Deutſchland hun— 
derte von ähnlichen reuigen Sündern. Ueberall ſpricht dort der 
alte Mann ſich ganz unbefangen darüber aus, wie bedeutend und 
ehrend ihm ein freundlich Wort der Pompadour, ein Blick Lud— 
wigs XV. und eines Herzogs von Aiguillon war, die Gunſt der 
Gebrandmarkten ſcheint ihm auch noch im hohen Alter unter 
ganz veränderten Umſtänden ein großer Troſt. Ueberall zeigt er, 
daß die Weichheit und Schmiegfamteit feines Charakters, der ganz 
und durchaus am Hofe, in den Salons und in der großen Ge— 
jellfchaft gebildet war, die er fo naiv und ohne Schen fchildert, 
ihn zum alten Werbe machen, dem alle Lappalten und Gitelfeiten, 
son denen er und unterhält, mehr find als alle Weisheit 
der Welt. | 

Neben den beiden vorhergenannten Afademifern und Philo— 
jophen, welche durch Ahetorif verfchiedener Art einen Ruhm er- 
langten, der fie zu hiſtoriſchen Berfonen gemacht hat, melche ihren 
Platz behaupten werden, was auch immer Schriftiteller, die nur 
den Innern Gehalt ihrer Arbeiten in Anfchlag bringen, yon ihnen 
urtheilen mögen, verdient aus vielen Gründen zunächſt der Abbe 
Raynal einen Platz. Dieſes gutmüthige Mitglied des Kreifes 
der Geoffrin, Holbachs und Helvetius war täglicher Genoſſe von 
Marmontel und Diderst und ward auf eben die Weiſe durch 
eben die Mittel und mit eben dem Nechte oder Unrecht als Hiſto— 
vifer der europälfchen Colonien in Indien berühmt, wie feine 
Freunde als Philoſophen und Schaufpieldichter, Auch er war in 
den auf. grammatifche und rhetorifche Künfte gerichteten Schulen 
der Jeſuiten erzogen wie Voltaire und Marmontel, er hatte, wie 
diefe, nicht den Geift dev Griechen, fondern die glatte und gefeilte 
Adsofatenberedfamkeit dev Lateiner erlernt und diefe anfangs auf 
“ Kanzeldeflamation angewendet, Als er des Predigens einer Lehre, 
an die er nie geglaubt hatte, fatt war, erlangte er die Redaktion des 
Sötterboten der Damen (Mercure de France), nach deſſen Mufter 
Wieland feinen deutfchen Merkur einrichten wollte, Gr ſchrieb 
hernach ganz in Didersts Manier, wir müffen ihn ſchon darum 
unmittelbar heben Diderot ftellen, außerdem hatte er als uner- 
müdlicher Schwäter viel Aehnlichkeit mit ihm, Gin befonderer _ 


Franzöfiſche Literatur: Raynal. 17 


Umſtand iſt noch, daß man allgemein behauptete, daß der beſte 
Theil der erſten Ausgabe des Werks, wegen deſſen Raynal aus 
Frankreich verbannt wurde, dem er aber auch den Ruf verdankte, 
deſſen er zum Theil noch genießt, von Diderot herrühre. Man 
muß nämlich geſtehen, Diderot heuchelte und höfelte nicht wie 
Marmontel, er war wirklich Enthuſiaſt für ſeine dreiſten und 
himmelſtürmenden Lehren, wegen deren am Ende ſogar d'Alem— 
bert mit ihm brach; er arbeitete daher gern und unerſchöpflich für 
jeden, der ſeine freche Rede zu verantworten übernehmen wollte, 

Marmontel, Diderot, Raynal, Morellet beweiſen hinreichend, 
daß das bloße Gedächtnißwerk, die Ahetorik, Dialektik, Gramma— 
tif, Furz der ganze Mechanismus des Lehrens und Lernens der 
jefuitifchen Schulen, zu welchem die Jugend dreſſirt ward, um 
für die Kirche zu ſtreiten, eben jo gut gegen diefe Kirche ange— 
wendet werden fonnte, wie umgekehrt im neunzehnten Jahrhun— 
dert die Rhetoren, Sophiften, Dialektifer der eiteln Schulweisheit 
wieder diejenigen gewejen find, welche Aberglauben und Vorur— 
theile durch Redensarten geftüßt Haben. Raynal war in Pezenas 
ſchon Jeſuit geweſen; er meinte, ev habe gar nicht übel gepredigt, 
doch gab er, als er nach, Paris Fam, das Predigen ganz auf, 
weil er, wie er fich ausdrückt, einen Accent von allen Zeufeln 
gehabt habe. Seit der Zeit ward er ein Bücherfchreiber von 
Profeſſion und fand, weil damals Hiftorifch-politifche Bücher Mode 
wurden, in der Gefchichte der Europäiſchen Golonifatton in In— 
dien * Gegenſtand, den er in der — der ſogenannten 
Oeconomiſten behandeln konnte. 

Die erſte Ausgabe von Raynals phileſophiſcher Geſchichte 
der Handelsniederlaſſungen der Europäer in bei— 
den Indien, muß jedoch von der zweiten wohl unterſchieden 
werden. Die erſte Ausgabe iſt eine ganz leere Deklamation, die 
zweite ein in gewiſſer Hinſicht auch praktiſch brauchbares Werk, 
gleichwohl hat nicht die zweite, ſondern gerade die erſte Ausgabe 
dem Verfaſſer einen Platz neben den Diderots, Marmontels u. ſ. w. 
verſchafft, dies iſt für die Charakteriſtik der Zeit der Salons und 
ihrer Sophiſtik von Bedeutung. Die erſte Ausgabe erſchien um 
1770, und Diderot diktirte dem Abbe Dinge in die Feder, die 


er ſelbſt nicht die Dreiſtigkeit hatte, dem Publikum mitzutheilen, 
Schloſſer, Geſch. de 46. u, 19, FJahrh. IV. a 4, Aufl, 2 


48 Franzöſiſche Literatur: Raynal. 


er erſchrack ſogar darüber, daß es Raynal wagte. Dafür machten 
die Akademiker einen ſolchen Lärm über das ſeichte Werk, daß 
nach neun Jahren, welche zwiſchen der erſten und zweiten Aus— 
gabe verfloſſen, ſtatiſtiſche Angaben und andere für ein ſolches Werk 
ganz unentbehrliche Notizen aus allen Ecken und Enden dem Verfaſſer 
zufloſſen. Da Raynals Buch Dinge enthielt, welche Diderot, der 
ſie ihm eingab, nicht würde gewagt haben, bekannt zu machen, 
ſo erregte es daſſelbe Aufſehen, wie alle Werke, welche damals 
aus dem Widerwillen gegen Pfaffenthum, der durch die radikalen 
Deelamatoren in Haß des Chriſtenthums ausartete, und aus dem 
Streben nach Freiheit vom Drucke politiſcher Willkühr, welches 
oft Verachtung des Sittengeſetzes und der bürgerlichen Ordnung 
erzeugte, hervorgingen. Türgot urtheilt über das Buch in einem 
Briefe an Morellet, der ſich damals in England befand, um in 
Türgots Auftrag die Betriebfamkett, den Handel, die Fabrifen u. ſ. w. 
näher kennen zu lernen, ſehr verſtändig. 

Ich bin neugierig, zu erfahren, ſchreibt er, was wohl die 
Engländer von der Geſchichte der beiden Indien gedacht haben. 
Ich geſtehe, daß ich zwar das Talent des Verfaſſers und ſein 
Werk bewundere, daß ich aber an dem Mangel an Zuſammen— 
hang der Ideen Anftoß nehme, Er trägt PBaradorien vor, die 
fih einander geradezu. widerfprechen und vertheidigt die Einen 
mit derfelßen Warme, mit derjelben Beredfamfeit, demſelben Fa— 
natismus wie die Andern Bald tft er firenger Prediger der 
Sittenzucht (Rigoriste), wie Richardſon, bald Feind aller Moral 
(immoral) wie Helvetius, bald voll Enthuſiasmus für fanfte und 
zarte Tugenden, bald wieder für wilde Ausſchweifung und trotzi— 
gen rohen Muth, Er nennt die Sklaveret eine verruchte Sache 
und doch verlangt er wiederum Sklaven, er bringt unfinniges 
Zeug über die Naturlehre, unfinniges Zeug über Metaphyſik und 
und zuweilen auch über Politit vor. Das ganze Buch zeugt von 
‚einem geiftreichen und gut unterrichteten Berfaffer, der aber gar 
nicht davan denkt, daß in einem Buche eine Yettende Idee fein 
müffe, oder daß e8 einen beftimmten Zweck haben folle. Er läßt 
ſich vom Enthuſtasmus eines jugendlichen Rhetors von Einem 
"zum Andern fortreißen. Er feheint fich die Aufgabe gemacht: zu 
vhaben, hinter einander alle die Paradorien zu vertheidigen, welche 


Franzöſiſche Literatur: Raynal. 19 


er beim Leſen der Bücher anderer Schriftſteller aufgeſtellt hat, 
oder. die ihm in feinen wachenden Träumen eingefallen find. Gr 
hat mehr Kenntniffe, mehr Gefühl und mehr natürliche Bered- 
ſamkeit als Helvetiusz; es tft aber, um die Wahrheit zu fagen, 
eben fo wenig Zufammenhang im feinen Ideen, und er kennt 
das eigentliche Wefen des Menfchen eben jo wenig: als dieſer. 
Wir laſſen ausdrüclich einen Franzofen und zwar einen 
Mann wie Türgot über die Seite des Buchs: reden, mit der wir 
es eigentlich Hier nicht zu thun Haben, unterfchreiben das Urtheil 
aber ohne Bedenken, und müffen nur noch dazu bemerken, daß 
Türgot gleichwohl in Beziehung, auf feine Zeit und auf feine 
Nation ganz Recht Hatte, wenn er dennoch dazu beitrug, das 
Buch, beſonders die zweite Ausgabe in Ruf zu bringen. Der 
damals in flatiftifchen, ſtaatswiſſenſchaftlichen und ſtaatswirth— 
fchaftlichen Dingen gang unwiſſende Haufe der Lefer, Leute, die 
fein Buch ohne hochklingende Phrafen, feine Gefchichte ohne das, 
was man Zauber des Styls nennt, würden. geleſen haben, ward 
durch Diderots und Naynals Geſchwätz mit Dingen bekannt, mit 
deren wahrer Beichaffenheit dies Publikum es nicht jo genau 
nehmen durfte, weil es vorher gar nichts davon wußte. Wir 
reden hier nämlich vom jenen Zeiten, wo Deutfchland und Ruß— 
land auf gleiche Wetfe der Norden hießen, der von Barbaren 
. bewohnt, feiner Notiz werth ſei. Diefe Zeiten find befanntlich 
verfchtwunden, man wird aber die Spuren derfelben noch immer 
nicht blos in den geleſenſten parifer Zeitungen finden, fondern 
felbft in den Berichten dev neulich yon den Doctrinärs auf Un— 
foften der armen Franzoſen fo zahlveich auf Reifen geſchickten 
Literaten. Raynal brachte auf einmal viel ftatiftifche Gelehrfam- 
fett, Zahlen, einzelne Angaben über Handel, Berfehr und Staats- 
kunſt, zugleich mit ‚allerlei: nenen Vorſtellungen, wenn auch; ganz 
unveifen, über Toleranz und Fanatismus wicht blos an die Wet- 
ber und Schwätzer der Salons, fondern am Handelsleute und 
Geſchäftsmänner verfchtedener Art und überhaupt an das Volk. 
Dies gilt auch vom Könige von Preußen, dev ſonſt nicht gerade 
Raynals Bewunderer war. Auch diefer Tas das Werf und be- 
Handelte den Schwätzer ungemein freundchaftlich, während ev mit 
‚feinen deutfchen, fleißtgen, genauen, durchaus zuverläſſigen, aber 
2* 


0 Franzöſiſche Literatur: Raynal. 


freilich langweiligen und nicht von Paris aus empfohlenen Mei— 
ſtern in dem Fach, in welchem Raynal ſtümperte, mit einem 
Süßmilch und Büſching ziemlich unſanft umging. 

Die ſogenannten Wighs der Engländer, die bei Raynal, 
wie bei Montesquieu, ein glänzendes Lob der Engländer, ihrer 
Plutokratie und Induſtrie und ihrer ganzen ſelbſtſüchtigen Weis— 
heit fanden, empfingen ihn, als er von der Sorbonne verurtheilt 
und vom Parlamente verbannt nach England kam, mit offenen 
Armen, wie er auch in Holland und in Berlin empfangen ward. 
Durch die Reiſen und durch die Verbindungen mit allen denen, 
welche Alles, was von Paris aus empfohlen ward, als vortveff- 
lich anfahen, erhielt Naynal die Gelegenheit, der zweiten um 1781 
erfchtenenen Ausgabe feines Werkes einen reelleren Werth zu 
geben, als die erfte durch Diderotd Deklamation vorher erhalten 
hatte. Die vielen ftatiftifchen, abminiftrativen, commercielfen 
guten Notizen, die man ihm in Holland nnd England aus zum 
Theil nicht Leicht zugänglichen Quellen mittheilte, machten das 
Merk, bis beffere erichtenen, faft umentbehrlich und brachten es 
auch in die Hände foldher Männer, welche die hohlen Deklama- 
tionen der Encyklopädiſten vecht gut durchichauten. In dem Zeit- 
raum zwifchen den, beiden Auflagen war der amerikanifche Krieg 
ausgebrochen und die Demokratie war in Paris Mode geworden, 
danach ward der Ton der neuen Ausgabe eingerichtet, Diefer 
Ton war heftig, das Buch mußte deßhalb in Genf gedruckt wer— 
den, wie Rouſſeaus Bücher in Holland, Die Tächerliche Berfol- 
gung, die man hernach über das Buch und den Verfaſſer ver- 
hängte, gaben ihm eine Bedeutung, die es fonft fchwerlich würde 
erhalten haben. Die Sorbonne verdammte endlich das Buch, 
das Parlament ließ es nach feiner alten Art durch Henkershand 
verbrennen und einen Verhaftsbefehl gegen den Verfaſſer ausfer- 
tigen, der dann das Land verließ und im Auslande einen Triumph 
über Parlament und Sorbonne feierte, bis er 1788 ruhig zu— 
rüdfehren konnte. Alle franzofifch gebildeten und franzöſiſch re— 
denden deutjchen Zürften, wie die englifche Ariftofratie behandelten 
den Franzofen ganz anders, als König Friedrich Büſching behan- 
delte, als er ihm mit einer ftattfttfchen Zudringlichfeit beſchwerlich 
fiel, wie ung Büfching felhft mit Fomifcher Naivetät berichtet, 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 21 


Uebrigens iſt es allerdings wahr, daß Raynal mit ſeiner Dekla— 
mation, aus leicht begreiflichen Urſachen, weit mehr zur Verbrei— 
tung einer geſunden Philoſophie des Lebens, zur Beförderung des 
Handels, der Gewerbe der neuern Zeit und zur Zerſtörung der 
Vorurtheile des Mittelalters gewirkt hat, als Schlözer und Bü— 
ſching mit aller Gründlichkeit. Eine andere Frage iſt die, wel— 
ches Verdienſt der ernſte Mann vorziehen ſoll? 


$. 2. 
Rouſſeau. Büffon. 


Bei der Erwähnung Nouffeaus in den beiden erften Banden 
diefes Werkes find feine Briefe vom Berge aus dem Grunde 
übergangen worden, weil fie der Zeit und dem Inhalte nach der 
demofratifchen Bewegung des lebten Viertels des Jahrhunderts 
. angehört; diefe Schrift muß Hier nachgeholt werden. Rouſſeau 
fehrieb dies demofratifche und heftige Buch, welches wir mit Ju— 
nius Briefen und den Schriften des Doktor Price und mit Tho— 
mas Paynes Invective gegen Theologie, Hierarchie und Ariſto— 
fratie in eine Linie ftellen, ald Advofat feiner genfer Bürger. Er 
wollte in den Briefen gerichtlich und dofumentartfch beweiſen, daß 
die genfer Ariftofraten die Dligarchie, welche damals in Genf 
beftand, ufurpivt hätten. Was er früher in feiner Philoſophie 
der Entftehung dev gefellfehaftlichen Verbindung unter den Men- 
ſchen (d. 5. im Contrat. social) dialeftifch und ſpekulativ  ent- 
wickelt, alfo jedem nicht ftreng philofophifch gebildeten Leſer ent= 
rückt hatte, trägt er in den Briefen vom Berge, von denen 
wir Hier reden, jedent gewöhnlichen Bürger, wenn er nur von 
Zugend auf an öffentlichen Angelegenheiten Theil genommen hat, 
faßlich vor. 

Der genfer Heine Rath hatte nämlich, wie ſchwache Negie- 
zungen oft einzelne Staatsbürger aus Gefälligfeit gegen mächti- 
gerd, oder auch aus Schwäche, preiszugeben pflegen, aus Gefäl- 
Vigfett gegen Frankreich auch in Rouſſeaus Angelegenheit dem 
Rathe des Caiphas gemäß gehandelt. Für die Ertheilung diefes 
Raths (Che convenia porre un uomo per il populo a martiri) 


Jaßt bekanntlich Dante den Hohenpriefter in der unterften Hölle 


— Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


auf dem Boden gekreuzigt zertreten. Der genfer Magiſtrat, um 
ſich und die genfer Pfarrer von jedem Schein eines Antheils an 
Rouſſeaus Vernunftreligion zu befreien, hatte das Beiſpiel des 
Parlaments und des Erzbiſchofs Chriſtoph de Beaumont bes 
folgt. Die Genfer ließen nämlich Rouſſeaus Emile wegen der 
darin enthaltenen ganz unſchuldig naturaliſtiſchen, oder, wie man 
jetzt ſagt, rationaliſtiſchen, Geſtändniſſe eines ſavoyiſchen Pfarrers 
vom Henker verbrennen und gegen des Verfaſſers Perſon einen 
Verhaftbefehl ausfertigen. Beide Beſchlüſſe konnten und durften 
nach der Genfer Verfaſſung gegen einen Bürger nicht auf die 
Weiſe gefaßt werden, wie ſie gefaßt wurden. Zu der Zeit, als 
dieſes in Genf geſchah, hielt ſich Rouſſeau im Neuenburger Lande 
auf, deſſen Statthalter, Lord Keith, einſt Erblandmarſchall son 
Schottland, ihn mit König Friedrichs Bewilligung in Schu nahm. 
Bon dort aus machte er im Frühjahr 1793 den furchtbaren Brief 
gegen den Hirtenbrief des Erzbiſchofs von Paris befannt, der die 
fen zermalmte, ohne daß der Verfaſſer deffelben grob ward. Ge— 
gen die genfer Oligarchie ſchrieb Rouſſeau nicht, weil er erwar— 
tetete, daß die Bürger von Genf in feiner Sache die ihrige ers 
fennen würden, Er war aber damals ‚doppelt gegen die engher= 
zigen genfer Dligarchen exbittert, die ihn ungehört verdammt 
hatten, weil fie gewiffermaßen mit den gnädigen Herm von 
Bern gegen ihn confpirirten, da ihn auch dieſe in Yerdun micht 
hatten dulden wollen, Diefe ganze Verfolgung in Frankreich wie 
in der Schweiz war eben jo ohnmächfig- als lächerlich; fie gab 
dem damals ganz ungefährlichen Mann eine Bedeutung, die feine 
Perſon nicht hatte, und den Druck feiner Schriften konnte man 
ja doch nicht hindern. Gr ward durch die Verfolgung zu einer 
wichtigen Staatsperfonz; die Pfaffen und Juriſten des alten Sy— 
ſtems, die ihn verfolgten, machten fich aber auch bei denen lächer— 
lich und verhaßt, die des fonderbaren Mannes Meinungen durch= 
aus nicht theilten, Man darf nur die Umftände kennen, um 
“einzufehen, wie die Behörden fich und den Schlendrian, den fie 
befolgten, gewiſſermaſſen vorfäglich dem Haſſe und der Verachtung 
preisgaben. 

Die vornehmften Herren und Damen in Paris hegten und 
pflegten Rouſſeau und konnten ihre Bewunderung nicht laut genug 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. — 


äußern; der Direktor des geſammten Bücherweſens in Frankreich, 
der edle Malesherbes, hatte die Reviſion des Drucks des Emile 
beſorgt. Das Buch, welches der Erzbiſchof und das Parlament 
verdammten, mußte in Holland gedruckt werden, und der Miniſter 
forderte eine Schrift, die das Parlament verbrennen ließ, welche 
Berwirrung!! Der Brinz von Gonti hatte Rouſſeau vom Dekret 
de8 Parlaments die erfte Nachricht gegeben, der Herzog von Lu— 
xemburg bot ihm ein Aſyl an und war ihm zur Flucht behülflich, 
der König von Preußen gab ihm Schub, Milord Marfchall wollte 
ihm eine Benfion verfchaffen. Tauſende von Briefen wurden son 
allen Seiten her an ihn gerichtetz man wallfahrtete zu dem ſon— 
derbaren Mann, wie einft zu den Anachoreten der Wüſte. Rouf- 
fean war fchon damals gewiffermaßen geiftesfranfz; er war voll 
Griffen und Mifanthropte, was einem gefunden und Fräftigen 
Manne nie begegnen wird, und doch verfolgten ihn die Seren 
des alten Syſtems gleich einem Räuber, Ste gaben ihm durch 
diefe Verfolgung ein politifches Gewicht in Genf, ftatt daß fie 
nur hätten warten dürfen, bis der Schwindel der Mode, der den 
Haufen der Menfchen durch Teeren Schall der Worte bald: zur 
Servilität und zum: Aberglauben, bald zum Fanatismus für Frei- 
heit von geiftlichen und weltlichen Banden fortreift, vorüber jet. 
Rouſſeau Hatte erwartet, die Bürger von Genf, ‚welche längſt 
unzufrieden waren, daß die Bewohner der obern Stadt ſtolz wie 
die gnädigen Herrn von Bern auf fie hernteder blickten, würden 
ſich feiner annehmen, oder doch wenigſtens die Geiftlichfeit dage- 
gen proteftiven, daß proteftantifche Juriſten verführen, ‚wie bie 
Sorbonne und das Parlament verfahren waren; er ſah fich ge= 
täuſcht und Fündigte deshalb fein Bürgerrecht auf. Am zwölf— 
ten Mat 1763 ſchrieb er den in der Gefchichte der Republik 
Epoche machenden Brief an den Herrn von Favre, erften Syn— 
difus der Republik, in welchem ex feinem Bürgerrechte entſagte. 
Diefer meifterhafte, mit großer Kunft und ganz befonderer Mäßi— 
gung abgefaßte Brief?) ward das Signal bürgerlicher Unruhen 





8) Er Tautet wörtlih: Revenu du long dtonnement ou m’a jete de 
la part du magnifique conseil le proced& que j’en devais le’ moins at- 
tendre, je prends enfin le parti que l’honneur et la raison me prescri- 


94 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


im Innern der Republik Genf, und zwar aus einem doppelten 
Grunde. Zuerſt wollte die Bürgerſchaft von Genf, mochte ſie 
auch zum Theil noch ſo orthodox calviniſch ſein, Rouſſeau, den 
ſie als den Lobredner ihrer Stadt und als den Stolz derſelben 
ſehr werth hielt, nicht als einen Verbrecher, ſondern als einen 
Irrenden behandelt haben; dann glaubte fie auch, daß das Ver— 
fahren des Fleinen Raths nicht verfaffungsmäßig geweſen ſei. Wir 
‚wollen, weil nur vom Literarifchen die Rede tft, die damalige 
‚innere Ginrichtung von Genf, welche, wie die der mehrften Kan= 
tone der Schweiz und der deutſchen Neichsftädte des vorigen 
Jahrhunderts jehr zufammengefegt und verwicelt war, nicht voll- 
ftändig mittheilen, einige Punfte müffen wir jedoch angeben. Wir 
‚heben befonders folche Punkte hervor, welche für den Zufammen- 
hang des an fich unbedeutenden Streit8 der Bürger von Genf gegen 
ihren oligarchifchen Magiftrat, mit der allgemeinen Richtung von 
ganz Europa, wichtig find. Es wird fich hernach von ſelbſt er— 
geben, daß die Briefe vom Berge durch Entwicklung der demo— 
‚Lratifchen Grundſätze des Gontrat forial mit den Neben eines 
Burke, For, Barre und den Schriften eines Franklin, Payne, 
Price einerlei Wirkung hatten, und daß fie, wie diefe im Nor- 
den thaten, das Feudalſyſtem im Herzen von Europa furchtbar 
erichütterten. 

Die Bürger von Genf bildeten damals fünf Klaffen, jede 
‚berfelben Hatte verſchiedene Nechte und Pflichten und ſogar ver— 





vent, quelque cher qu’il en coüte à mon coeur. Je vous declare done, 

-Monsieur, et je vous prie de declarer au magnifique Conseil, que j’ab- 
dique ä perpetuite mon droit de bourgeoisie et de cit& dans la ville et 
republique de Geneve. Ayant rempli de mon mieux les devoirs atlaches 
ä ce tilre sans jouir d’aucun de ses avantages, je ne crois point être en 
reste avec l’etat en le quittant. J’ai täche d’honorer le nom genevois; 
.Jai tendrement aimé mes compatriotes; je n’ai rien oubli6 pour me faire 
aimer d’eux; on ne sauroit plus mal re&ussir, je veux leur complaire 
jusque dans leur haine. Le dernier sacrifice qui me reste ä faire est 
celui d’un nom qui me fut si eher. Mais, Monsieur, ma patrie en me 
devenant etrangere, ne peut me devenir indifferente; je lui reste attache 
par un tendre souvenir et je n’oublie d’elle que ses outrages. Puisse-t- 
elle prosperer toujours et voir augmenter sa gloire! Puisse-t-elle abon- 
der en eitoyens meilleurs, et surtout plus heureux que moi! 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. =. 


fchiedene Namen. Diefe Namen waren: Staatsblirger (eitoyens), 
Gewerbsbürger (bourgeois), Einwohner (habitans), Eingeborne 
(natifs) «and endlich Unterthanen. Nur die beiden erſten Klaffen 
hatten Antheil an der Regierung und Gefebgebung, nur der fo 
‚genannte Staatsbürger allein konnte aber ein obrigkeitliches Amt 
befleiden. Die Zahl der Bürger der beiden erſten Klaſſen zu— 
fammen mochte etwa höchſtens fechzehnhundert betragen, die ber 
dret ausgefchloffenen Klaffen gab man zu vierzigtaufend an. Diefe 
Mehrzahl der Bürger war nicht blos von allem Antheil an der 
Derwaltung des Staatsweſens ausgefchloffen, fondern auch in jeder 
Rückſicht ſtärker belaftet, fie genoß vieler Vortheile nicht, deren 
die fechzehnhundert genoffen. Selbft die beiden, gewiffermaßen 
privtlegirten Klaffen wurden aber in der Regel über die Maß— 
regeln der eigentlichen Oligarchte nicht befragt, ja nicht einmal 
gehört, wenn fie ihr eignes Necht geltend machen wollten. Man 
hatte, ohne durch die Berfaffung dazu berechtigt zu fein, durch 
eine fünftliche und nach Genfer Art ſpitzfindig ausgedachte Ein— 
richtung der Regierungscollegien alle Gewalt im Staat an ehr 
wenige Bamilien gebracht. Dieſe regierten dann auf- diefelbe 
Weiſe, wie die ehemaligen Berner PBatrizier und viele andere 
ariftofratifche Regierungen in der That väterlich und vielleicht 
beſſer als demofratifche Obrigkeiten wiirden gethan habenz aber 

es war ihren Mitbürgern doch Tränfend, daß fie ald Kinder 
immer unter dev Zucht der Herrn in der obern Stadt fanden. 
Ste hätten gerne etwas phyfiiche Behaglichkeit und einigen mate- 
riellen Wohlftand weniger gehabt, wenn ihnen ihre wohlmeinen— 
den väterlichen Regenten moralifch mehr zugetraut und fie für 
mündig gehalten hätten. Die Einrichtung war ungefähr folgende: 
Es beſtand zuerft ein eigentlicher Senat, der zugleich oberftes 
Gerichts= und Regierungscollegium war, wie in unfern deutfchen 
Reichsftädten, wentgftend in den mehrjtern Diefer Fleine Rath 
beftand aus fünfundzwanzig Mitgliedern, aus welchen alle Jahr 
durch den großen Gemeinderath vier Syndies gewählt wurden, 
die in den verfchtedenen Gollegten oder Aemtern den Vorfit hatten. 
Der erfte Syndie war Präſident aller der vier Näthe, wodurch 
man den Schein einer beſchränkten Oligarchie erfünftelte, ohne 
irgend jemand zu täufchen. Der erſte diefer vier Näthe war der 


26 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


große Gemeinderath, der aus den ſämmtlichen Bürgern der beiden 
erſten Klaſſen beſtand. Ohne Zuſtimmung dieſes Raths konnte 
keine Auflage ausgeſchrieben und kein Geſetz gemacht werden, er 
konnte aber nur über die Vorſchläge berathſchlagen, die ihm der 
kleine Rath that, er ſelbſt durfte keine machen, auch ſtand er 
unter der Aufſicht des Raths der Zweihundert. Dieſer 
dritte Rath der kleinen Republik war im Laufe des achtzehnten 
Jahrhunderts etwas erweitert worden, denn er beſtand ſeit 1738 
nicht mehr aus zweihundert, ſondern aus zweihundert und fünfzig 
Mitgliedern. Er war das Wahlcollegium für den kleinen Rath, 
und dieſer ernannte die Mitglieder des Raths der Zweihundert. 
Alles blieb daher in einem Kreiſe. Außer der Wahl des kleinen 
Raths hatten die Zweihundert auch das Begnadigungsrecht und 
das Münzrecht, ſie waren dabei Gericht zweiter Inſtanz. Dieſer 
Rath der Zweihundert konnte dem kleinen Rathe Vorſchläge ma— 
chen, durfte aber ſelbſt über nichts berathſchlagen, als über das, 
was ihm der kleine Rath vortragen ließ. Der vierte Rath, der 
der Sechzig, war keine eigentliche Behörde, ſondern bloß ein 
geheimer Ausſchuß, zuſammengeſetzt aus den fünfundzwanzig Mit- 
gliedern de8 Heinen Raths und fünfunddreißig Mitgliedern des 
Raths der Zweihundert. Diefer Ausschuß war für geheime An— 
gelegenheiten und für auswärtige Verhältniffe. Eine Hauptperjon 
in dieſer Verfaſſung war ber Generalftscal (procureur general) 
der auf je drei Fahre aus dem großen Gemeinderath son den 
Zweihundert erwählt ward. Diefer hatte nicht allein alle jurifti- 
ſchen Gefchäfte zu beforgen, fondern war auch der Staatsſophiſt, 
d. h. er mußte philoſophiſch beweiſen, daß Alles, was die vor— 
nehmen, regierenden Herrn anordneten, vortrefflich ſei. Der große 
Rath durfte allerdings dem kleinen und dem der Zweihundert 

Vorſtellungen machen; aber dieſe konnten dann ihr ſogenanntes 
Recht des Abſchlagens (droit négatif) gebrauchen, d.h. fie konn— 
ten, ohne auch nur einen Grund anzugeben, bei ihren Beſchlüſſen 
Heharren. Der große Rath ward daher auch“ nur ein paarmal 
im Sabre verfanmelt, bloß der Wahlen wegen, denn im Uebri— 
gen wußte man mit ihm fertig zu werden. Schon 1738 hatte 
man gefühlt, daß diefe ariſtokratiſch-oligarchiſche Regierung, die 
fich ftets aus den Gliedern einiger wenigen Familien ergänzte, 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau— 27 


mit dem Bedürfniſſe der Zeit und mit den Veränderungen, welche 
dieſe, beſonders in einer Handelsſtadt, unaufhörlich herbeiführt, 
im Widerſpruche ſtände. Die Bürger geriethen daher mit den 
Dligarchen in Streit. Die Unruhen hatten zur Folge, daß. Die 
Oligarchie um ein Weniges erweitert ward; dafür aber ward das, 
was vorher nur Ufurpation war, jetzt zum geſchriebenen Recht. 
Die Genfer Oligarchie ward damals dadurch feſter gegründet, 
daß die adelige Ariftofratie von Bern und Die weit ärgere bür— 
gexliche und Anufmänntfche von Zürich, nebſt dev militäriſch mo— 
nacchifchen Regierung von Frankreich Bürgen der beitehenden 
Dligarchte wurden. Seit diefer Zeit hatte daher der franzöſiſche 
Nefident in Genf und die gnädigen Herrn von Bern großen Ein— 
fluß, und dieſe beiden hatten um 1762 eben fo gut Gründe, in 
Rouffeau den Propheten der Demofratie zu verfolgen, als bie 
genfer Oligarchie ſelbſt. Bet diefer Gelegenheit zeigte Friedrich IL, 
als er den DVeriheidiger dev Demokratie gegen die Oltgarchen in 
Shut nahm, auf eine glänzende Weife, daß ein Monarch, der 
auf feine Kraft und fein Verdienſt traut, Feiner Ariſtokratie gegen 
fein Volk bedarf. Er erlaubte dem verfolgten DVertheidiger der 
Demokratie nicht allein, Sich in Motiers Travers aufzuhalten, fondern 
auch von dort aus einen wüthenden Kampf mit den er 
zu Gunſten des Genfer Volks, zu beginnen. 

Der Brief, wodurch Rouſſeau feinem Bürgerrechte — 
weckte nämlich endlich den großen Gemeinderath aus ſeinem 
Schlummer. Er gebrauchte ſein Recht und machte Vorſtellungen 
dagegen, daß man einen in ganz Europa geachteten Bürger ver— 
dammt habe, ohne daß man ihn gehört oder auch nur vorgeladen 
hätte. Der kleine Rath machte es wie ſonſt, er bediente ſich ſei— 
nes Rechts, Feine Antwort zu geben. Dadurch kam es zwiſchen 
beiden Räthen zum förmlichen Bruch, und der große Rath ver— 
anlaßte einen Stillſtand der Geſchäfte durch die Weigerung, die 
vier Präſidenten oder Syndies zu wählen. Zu dem Zank über 
Rouſſeau kamen dann noch andere Urſachen des Zwiſts hinzu, 
und die bürgerlichen Unruhen in Genf dauerten über vier Jahre 
lang fort. Wir können und dürfen hier der Geſchichte der Zwi— 
ſtigkeiten der Bürger einer einzelnen Stadt mittlerer Größe nur 
in Beziehung auf Rouſſeaus demokratiſch aufregende Briefe 


23 Sranzöfifche Literatur: Rouſſeau. 


erwähnen, e8 mag daher genug fein zu bemerken, daß der Streit 
erit um 1763 beendigt ward. Die Bürgen der Verfaſſung von 
1735 hatten fich in die Sache gemifcht, fie vermittelten einen 
Vertrag, deſſen Refultat das fogenannte Friedensediet (édit de 
pacification) war, wodurch der große Nath einige im Ganzen 
unbedeutende neue Nechte erhielt, während die große Mehrzahl 
der Genfer Unterthanen der herrfchenden Familien blieb. 

Gleich anfangs mifchte fich Rouſſeau in diefen Streit nicht; 
er ergriff exit die Feder, als ihn Deputirte des großen Raths 
ausdrücklich darum erfuchten, weil alle gefchieften Federn des klei— 
nen Staats der Regierung verpachtet waren. Der damalige Ge= 
neralfiscal Tronchin, ein Mann von ausgezeichneter Bildung und 
Talent, fchten der Sache der Demokratie durch die Aufſätze, die 
er unter dem Titel: Briefe vom Lande herausgegeben hatte 
(lettres de la campagne), endlich den Todesitreich verſetzt zu 
haben, als fich die Bürgerfchaft ganz im Stillen an Rouſſeau 
wandte. Rouſſeau ſchrieb dann gegen diefe Schrift Tronchins, 
bie er ſelbſt meifterhaft nennt, Hinter einander neun Briefe, 
welche ganz in der Stille gedruct wurden, und denen er den 
Titel gab, Briefe vom Berge (lettres 6crites de la mon- 
tagne) weil fie den Briefen vom flachen Lande (campagne) ent- 
gegengefett waren.) Der Druck ward in Holland beforgt und 


—— EEE —— — 


9) Wir wollen für die Leſer, denen feine Confeſſions nicht gerade zur 
Hand find, feine eignen Worte herfegen. Er fagt livre XII. de la II. par- 
tie: Ces altercations (tie Genfer Unruhen) produisirent diverses brochu- 
res, qui ne decidoient rien, jusq’ à ce que parurent tout d’un coup les 
leitres ecrites de la campagne, ouvrage &crit en faveur du conseil avec 
un art infini, et _par lequel le parti representant reduit au silence, fut 
pour un tems &crase. Cette piece, monument durable des rares talens 
de son auteur, etoit du procureur general Tronchin, homme d’esprit, 
homme eclaire, Ires-verse dans les loix et le gouvernement de la repu- 
blique. Siluit terra. Les representans revenus de leur premier abatie- 
ment, entreprirent une reponse, et s’en tirerent passablement avec le 
tems. Mais tous jeterent les yeux sur moi, comme sur le seul qui püt 
entrer en lice contre un tel adversaire avec espoir de le terasser. J’avoue 
que je peusai de même; et poussd par mes anciens concitoyens, qui me 
faisoient un devoir de les aider de ma plume dans un’ embarras, dont 
j’avois été l’occasion, j’entrepris la refutation des lettres ecrites de la 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 29 


das Buch, plötzlich und unvermuthet in die Welt geworfen, wirkte 
in Frankreich und in der franzöſiſchen, damals ſtolzen Ariſtokraten 
unterworfenen Schweiz auf ähnliche Weiſe, wie Junius Briefe 
in England, obgleich die Materie es mit ſich brachte, daß dieſe 
Briefe nicht durch die Gattung des Styls ausgezeichnet fein konn— 
ten, welche den Brief an den Erzbifchof von Paris zum Gegen- 
ftande unferer höchften Bewunderung macht. Dieje Briefe vom 
Berge zeigen, mit Leflings faft gleichzeitigen Meiſterſtücken des 
Styls, mit Franklin und der englifchen Redner Arbeiten und 
mit den Werfen der franzöſiſchen Klaflifer des achtzehnten Jahr— 
hunderts verglichen, die Art und den Gebrauch des Styls der 
Klaſſiker aller Nationen des vorigen Jahrhunderts in grellem 
Gontraft mit dem Styl und der Richtung dev Nomantifer und 
hiftorifch Objeetiven des unfrigen. 

Rouſſeau, wie Leffing, kämpfte auf eine glänzende und all- 
gemein verftändliche Weiſe in Beziehung auf die Religion des 
Staates für das Necht verftandiger Prüfung gegen blinden Glau— 
ben, in Beziehung auf politifche Verfaſſung für einen Antheil 
des Volfes an der auf feine Koften geführten und mit feinem 
Blute vertheidigten Regierung des Staates. Cr hat die Briefe 
jehr paflend in zwei Bücher getheilt. Das erfte Buch tft theils 
der BVertheidigung eines Sabes, den hernach unter und auch 
Leffing in feinen Schriften gegen Pfarrer und Theologen fo 
glänzend durchgeführt Hat, gewidmet, - daß ihre Auctorität uns im 
Forſchen nicht hemmen dürfe, theils der DVertheidigung feiner 
eigenen Sache. Es ift namlich in diefen ſechs erſten Briefen 
zuerit die Nede davon, ob ein Proteftant durchaus an Wunder 
glauben müſſe; hernach wird das Betragen von Rouſſeaus genfer 
Richtern geprüft, Die drei lebten Briefe, oder das zweite Buch, 
find beftimmt, die Sache der Demokratie gegen die Ariftofratie 
zu führen. en - 





campagne et j’en parodiois le titre par celui de Leitres ecrites de 
la montagne, que je mis aux miennes. Je fis cette entreprise et je 
Vexeculai si secr&tement que, dans un rendez-vous que j’eus à Thonon 
avec les chefs des repr&sentans pour parler de leurs affaires et oü ils 


me montrörent lesquisse de leur reponse, je ne leur dis pas le mot de 
la mienne qui etoit dejä faite, | 


30 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


Die drei erſten Briefe, zu denen man auch noch den vierten 
zählen kann, bilden wieder eine eigene Abtheilung, weil fie aus⸗ 
fchließend son der Firchlichen Polizei und vom Rechte des Staa— 
tes in Beziehung anf freie Aeußerung der Meinung in Religiong- 
jachen handeln; der fünfte und fechste beziehen fich nur allein 
auf das genfer Gerichtsverfahren und auf die zu beobachtenden 
Rechtsformen, welche nicht blos gegen Rouſſeau, fonderm auch 
gegen Andere verlegt waren, Dieſe letzteren Briefe’ können wir 
ſchon darum übergehen, weil wir der Briefe vom Berge nur in 
fo ferne erwähnen, als Rouſſeau in denfelben auf der einen Seite 
mit Semler und Lefjing für Freiheit des Forfchens und Prüfens 
gegen Untverfitäts= und Gonfiftortaltheologte, und auf der anderen 
mit Franklin, For, Price, Bayne, für eine neue Ordnung in 
bürgerlichen Dingen kämpfte. Die erften drei Briefe erörtern bie 
Frage, ob ein proteftantifcher Staat e8 feinen Bürgern zur Pflicht 
machen dürfe, ihren Glauben an Chriftt Lehre auf deffen Wunder 
. zu gründen? Das heißt, wenn wir die Frage etwas anders, mehr 
poſitiv und hiſtoriſch fallen, fie behandeln die Frage, ob bie 
Staatspolizet des Mittelalters in kirchlicher Beziehung, gegen 
welche fich in der erften Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts 
nur hie und da eine Stimme erhob, noch in: der zweiten an— 
wendbar jet, zu einer Zeit, wo die achtungswürdigſten Männer 
dagegen proteftivten ? 

Gleich der erfte Brief handelt mit einer dringenden Dialettit 
ohne alle Declamation von Religion und Dogma, vom Geiſte 
des Chriſtenthums, von Staatsreligion und Cultus, wobei Rouf- 
ſeau viel mehr Eifer für die reine Lehre Chriſti zeigt, als der 
geprieſene Montesquieu gezeigt Hat. Rouſſeau beweist, daß das, 
was in dem berühmten nirgends von der Ariſtokratie angegriffe— 
nen, von den bigotten Engländern vergötterten Geiſt der Geſetze 
als Chriſtenthum empfohlen und geprieſen werde, durchaus nicht 
der wahre Geiſt deſſelben ſei, den er ſeinerſeits verehre und pre— 
dige. Er zeigt in Beziehung auf die Beſchuldigung von Aufre— 
gung zu Empörung und Freveln gegen die Staatsreligion, daß 
es ſehr leicht ſei, aus dem Zuſammenhange geriſſene Stellen der 
Bibel zu gebrauchen, wie man einzelne Stellen aus ſeinen Schrif⸗ 
ten gebraucht habe, und ſo eine noch weit ärgere Anklageſchrift 


Frangöſiſche Literatur: Rouſſeau. 31 


gegen die Evangeliſten als gegen Empörer und Frevler aufzu— 
ſetzen, als man gegen den Emile aufgeſetzt habe. Wir wollen 
die ſehr witzige und paſſende Stelle unter dem Texte beifügen, 
weil leider! in unſern Tagen die Manier, Klage gegen jeden zu 
führen, der nicht wie es gerade die Zeit mit ſich bringt, bald 
fromm, bald ungläubig iſt, wieder herrſchend zu werden droht. 10) 
Dem Untenangeführten fügt Rouſſeau Folgendes bei: Was wür— 
det ihr Leute ſagen, wenn irgend eine Teufelsſeele Stellen des 
Evangeliums erſt auf die angeführte Weiſe aus dem Zuſammen— 
hange xiffe, hernach aber aus den herausgeriffenen Stücken wie— 
der ein Ganzes machte und. diefer feiner die Evangeliſten ſchänd— 
lich verlaumdenden Schrift den Titel Evangeliſches Glau— 
bensbefenntnif gäbe? Was follte man denfen, wenn her- 
nach dieſe fchauderhafte Schandfchrift von gottfeligen Phariſäern 
mit triumphirender Miene als Inbegriff der Lehre Chrifti aus- 
pofaunt würde? Dahin Führt gleichwohl biefe unwürdige Art 
Bolemif, 

Durch die zuletzt angeführten Säge bahnt er fich den Weg, 
am im zweiten Briefe von dev Stantsreltgion der Genfer und 
von der Reformation im Beziehung darauf zu reden. Dies tft 
die Einleitung zu der Unterfuchung, in wie fern es ein Verbre— 





40) Wir rufen, läßt Ronffeau feinen Oeneralfiscal fagen, die Strenge 
des Gerichts: (nous deferons) gegen ein ärgerliches, ein gottloſes, frevelndes 
Buch an, deſſen Moral darin befieht, den Armen zu berauben, um den 
Reihen reicher zu machen (Maith. 13. v. 12. Luc. 19. v. 26.), den Kin- 
dern zu lehren, Mutter und Brüder zu verläugnen (Matih. 12. v. 48, 
‚Marc. 3. v. 33.), fi ohne Bedenken fremdes Gut zuzueignen (Matth. M. 
v. 2. Eur. 19 30.), den Böfen Feine gute Lehre zu geben, weil fie ſich fonft 
‚befehren und Vergebung erlangen möchten (Marc, 4. v. 12. Sohannts 12. 
v. 40.), Bater, Mutter, Weib, Kinder und alle feine: Blutsverwandten. zu 
baffen (Zur. 14. v. 26). Ich klage gegen. ein Buch. in dem überall das 
Feuer der 8wietracht gefhürt wird (Matt. 10. v. 34. Luc. 12, v. 51. 52.), 
worin man fich rühmt, dem Sohn gegen dem Vater zu bewaffnen (Matth. 10. 
v. 35. Zur. 12. 9. 53.), die Verwandten gegen einander, das Gefinde gegen 
die Herrſchaften (Matth. 10. v. 36.), ein Buch, in welchem man Hebertre- 
‚dung. des Geſetzes prebigt (Matth. 21. 9. 2. u. flg:), wo man Verfolgung 
‚sa Pflicht ausgibt (Luc. 14. v. 23.); wo man, um das Volk zu Raubvolk 
‘zu machen, die ewige Sellgkeit zum Raub der Gewalt und zur Beute der 
Gewaltihätigen mat (Matt. 11. v. 12.) 


32 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


chen ſein könne, daß man nicht an die Wunder des Chriſtenthums 
glaubt. Er beweiſet aus der Natur und dem Weſen der Refor— 
mation, daß es jedem Reformirten, wenn er nur den Inhalt des 
Evangeliums als göttliche Botfchaft erkenne, vergonnt fein müſſe, 
diefen Inhalt nach feiner beiten Einſicht zu verftehen und zu 
deuten. Bei der Gelegenheit gibt er eine Erklärung, welche jeder 
denfende und conjequente Proteftant unterfchreiben wird,  Diefem 
Sat und ganz confequent der Lehre vom blinden Glauben gemäß, 
find ja auch viele Lehrer dev englifchen Hochkirche jetzt - öffentlich 
Berfündiger des Papſtthums, und einige hochkirchliche Gemeinde— 
glieder find diefem Satze gemäß übergetreten. Wir würden das— 
jelbe thun, wenn es wirklich dahin Fame, daß man fich entweder 
zur hölzernen Dogmatik proteftantifcher Profefjoren vder zum 
Gultus der alten Kirche befennen müßte, wenn man nicht ges 
ſchimpft und verfolgt werden wollte. Rouſſeau fagt nämlich: 
„Wenn mir jemand heute beweifet, daß ich verbunden bin, in 
Slaubensfachen mic) irgend einer fremden Entjcheidung zu unter 
werfen, fo werde ich morgen katholiſch umd jeder wahr- 
hafte und confequente Mann wird dafjelbe thun.“ Dies führt 
ihn dann auf den neuen Papismus, der fich im fechzehnten 
Sahrhunderte bildete, und auf Calvin. Er redet von ihm mit 
der größten Achtung, und erklärt feine Intoleranz aus den Zeit- 
umftänden, wobei er ihn auf folgende Weife entjchuldigt: „Durch 
das beftändige Zanken und Streiten mit den Fatholifchen Geift- 
lichen kam auch über die proteftantifchen ein Geiſt des Zankens 
und der Spibfindigfeit. Vermöge diefes ihnen eigen gewordenen 
Geiftes wollten fie Alles entfcheiden, Alles unter eine Regel 
bringen, über Alles abfprechenz; jeder verfuchte ganz bejcheiden, 
feine eigene individuelle Meinung als oberſtes Geſetz für Alle 
durchzuſetzen. Auf diefe Weife konnte man freilich nicht im Frieden 
leben. Calvin war unftreitig ein großer Mann; aber er war 
doch ein Menfh, und was ſchlimmer ift, ein Theolog, 
er hatte außerdem den ganzen Stolz eined ausgezeichneten Kopfes, 
der fich feiner Meberlegenheit bewußt ift, und es jehr übel nimmt, 
wenn man fie ihm ftreitig macht. Seine mehrften Collegen waren 
in demfelben Falle, fie waren aber darin am mehrften zu tadeln, 
daß fie jo ineonfequent waren,” | 


Franzöſiſche Literatur: Rouffenu. 33 


Diefe Sätze führt er hernach meifterhaft durch und bemetfet 
mit fiegender Beredſamkeit und mit zwingenden Schlüffen, daß 
es ganz lächerlich fe, wenn man den Wunderglauben und einen 
durch gewiſſe Gelehrte aufgeftellten Lehrbegriff neben dem Evanz 
geltum durch; Staatspolizei und Außere Gewalt aufrecht halten 
wolle. Er macht aufmerkſam, daß man ja dahin fomme, fich 
ftatt der alten Kirche und ihrer Ueberlieferung gewiſſe einzelne 
Männer zu wählen und diefe zu Propheten zu machen. Er fagt 
ausdrüdlich: „Sch fehließe daraus, daß man die ganze Neforma- 
tion in ihren erfien Grundlagen untergräbt, wenn man feitjeßt, 
daß es der Wunder bedürfe, um die. göttliche Sendung der Boten 
einer Verkündigung des Himmels zu beweiſen, die eine neue Lehre 
predigen. Wenn man dies annimmt, um mich zu. widerlegen, 
jo fündigt man gerade auf die Weiſe, wie man mir fälfchlich 
Schuld gibt, daß ich thue.“ Dies gibt den Mebergang zu den 
Wundern ſelbſt und zur Entwicelung eines verfiändigen und ges 
mäßigten Nationalismus, der ſchon Alles das enthält, was zehn 
Sahre ſpäter Leffing und zwanzig Jahre hernach alle deutichen 
Theologen lehrten und was jest von ihnen als Keberei verflucht, 
und, was fehlimmer ift, verfolgt wird. Rouſſeau zeigt hier einen 
Weg, um an C. F. Bahrdt vorbei, ohne Erklärung der Wunder, 
ohne Symbolifiven der Gejchichte, ohne. gelehrte Exegeſe durch 
die Schrift zu einer Religion des Herzens und des Gemüthes 

zu gelangen. 
| Mir heben diefe Stellen ausdrücklich aus dem Grunde her— 
vor, weil die drei Briefe fich fcheinbar nur mit Rouſſeau's Bros 
zeß und mit dem ihm Schuld gegebenen Verbrechen des Unglau— 
bens befchäftigen.. Gigentlich behandeln fie mit fiegender Dialektik 
bei Gelegenheit der Geftändniffe des ſavoyiſchen Vicars die Fra— 
gen, die feit 1770 ganz Deutfchland in Bewegung ‚brachten, 
Deutfchland war das einzige Land, wo Rouſſeau Cingang finden 
fonnte, denn in Schweden und in Dänemark war das Lutherthum 
verfteinert und die anglicantfche Kirche gehört im Grunde der 
römiſchen an, da fie Pfründen hat und Bifchofe, die Pairs find, 
und aljo Fein Licht in ihren Tempel Laffen darf. Die zwei letzten 
Briefe des erften Buches geben der Beredfamfeit weniger Spiel- 


zaum, weil ſie einen ſehr trockenen Stoff zu behandeln ‚haben; 
Säloffer, Gef d. 18. u. 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 


34 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


aber Rouſſeau verſteht wie Leſſing die ungemein ſchwere Kunſt, 
ſeine Leſer zu zwingen, ihm auch durch die dürrſten Felder zu 
folgen. Es iſt in dieſen Briefen nur vom Genfer Staatsrecht, 
von Genfer Prozeſſen und gerichtlichen Formen die Rede, gleich— 
wohl hat der jechste Brief und beſonders deſſen zweite Hälfte 
für das neue Stantsrecht von Europa eben fo große Bedeutung 
als die erften drei Briefe für das damals in Deutſchland däm— 
mernde Licht der proteftantifchen Theologie. In diefem fechsten 
Briefe nämlich geht Rouſſeau bis an die äußerſte Gränze 
des bdemofratifchen Syſtems der Staatseinrichtung. Er bleibt 
nicht da ftehen, wo die englifchen Redner und felbft Mirabeau 
fpäter ftehen blieben, fondern er redet, wenn gleich auf eine an— 
dere Wetfe als Franklin, Payne und Brice, doch dem Sinne 
nach, wie diefe Demokraten. Er macht in diefem Briefe die ſpitz⸗ 
findige Lehre von der Volksſouveränität, die er in feinem Geſell— 
ſchaftsvertrage aufgeftellt hatte, in fehneidender Kürze geltend, 
vertheidigt fie, wendet fie in den drei folgenden Briefen auf bie 
Genfer Berfaffung an umd macht fie durch diefe Anwendung auf 
de beftehenden inrichtungen handgreiflich. Auf diefe Weife 
mußte fich freilich Rouffenu große Blößen geben, das wird aber Allen 
begegnen, die ohne die Gefchichte ganz vollſtändig und gründlich 
ſtudirt, oder die Menfchen, wie fie find und ewig bleiben werden, 
im engen Verkehr des Lebens kennen gelernt zu haben, Berfal- 
fungsthenrten ausgrübeln. Jede Verfaffung, die nicht fireng de— 
mokratiſch tft, erfcheint daher in dieſen Briefen in demfelben Lichte, 
wie der oligarchifche Genfer Feine Rath. Freilich hat gerade die— 
fer Umftand beigetragen, diefen Briefen bet allen Leuten, die fich 
vom Gefühl und Vorurteil bald zum Fanatismus der Freihelt, 
bald zur Begetfterung für geiftlichen und weltlichen Defpotismus 
fortreißen Taffen, eine größere Bedeutung zu geben, als bie dürre 
Wahrheit der Wirklichkeit würde gehabt haben. 

Auch in dieſen drei letzten Briefen geht Rouſſeau zunächſt 
von ſich ſelbſt aus. Es ſei ihm zum Verbrechen gemacht worden, 
fagt er, daß In feinem Geſellſchaftsvertrage eine verderbliche Theo— 
vie aufgeftellt jet, man habe erklärt, das Bud, verdiene verbrannt 
zu werden, weil fich deſſen Verfaffer als einen Feind aller be— 
ftehenden Regierungen bewieſen habe, Der Inhalt dieſes in 


Srangöfifche Literaturs Rouſſeau. 3) 


Frankreich ſpäter durch St, Juſt ſehr verberblich gewordenen 
Gontrat focial, nach welchem die wefentliche und unveräußerliche 
Volksſouveränität den ſämmtlichen Gliedern des Volks eigen tft, 
jucht dann Rouſſeau klar in wenige Sätze fürd Bolt, nicht für 
die Schule zufammenzudrängen. Er faßt hernach das ganze Re— 
fultat in die folgenden wenigen Worte zufammen: „In der That, 
diefen neuen Urvertrag, dieſes Weſen unbejchränkter Herrſcherge— 
walt, dieſe Herrſchaft der Geſetze, dieſe Einrichtung der Regie— 
rung, dieſe Weiſe, fie ſtufenweiſe zufammenzudvängen, um durch 
äußere Gewalt zu erſetzen, was an moraliſchem Gewichte fehlt, 
dies Streben nach) Uſurpation, dieſe wiederkehrenden Verſamm— 
lungen, dieſe Gewandtheit, ihnen auszuweichen, dieſes gänzliche 
Aufhbren derſelben, womit, um es kurz zu ſagen, ihr Genfer 
jetzt bedroht ſeid, und dem ich zuvorkommen möchte, erkennt ihr 
ſie nicht Zug für Zug in der Geſchichte eurer Republik, von 
‚ihrer Entſtehung an bis auf dieſen Tag? Ich Habe alſo, (und 
dies iſt in Beziehung auf die Wirfung, welche Rouſſeau als 
Orakel feiner Zeit hatte, befonders zu bemerfen), eure. Gonftitu- 
tion, ihre Genfer, zum Mufter genommen, auf welche Weiſe nad 
meiner Meinung alle Staaten eingerichtet jein jollten, und war 
fo weit davon entfernt, eure Verfaſſung auflöfen zu wollen, daß 
ich euch im Gegentheil die Mittel angab, um fie zu erhalten, 
Es iſt daher: fonderbar genug, daß meine Genfer Ankläger ein 
Buch; das nach ihrer Meinung alle anderen Regierungen und 
Berfafiungen angreift und doch dafür won diefen nicht werfolgt 
wird, zum Feuer verdammen, weil die Genfer Verfaffung die Ein— 
zige Aft, die in dem Buche als Beiſpiel für andere gebraucht wird 
und die es aufrecht erhalten wiſſen will.“ 

Rouſſeaus Bertheidigung gegen die Beichuldigung, daß er 
Feind jeder monarchiſchen und ariſtokratiſchen Regierung ſei, 
übergehen svir ganz. Wichtiger. für unſern Hauptzweck iſt dage— 
gen die feine und geſchickte Wendung, vermöge deren er den Gen- 
fer Zwiſt benutzte, um in dieſen Briefen ans Licht zu bringen, 
wie fich die innere Befchaffenheit und Die egoiſtiſche Weisheit 
aller Ariftofratten zur Idee vom Zwecke der Staaten verhalte. 
Ihr fragt mich, redet er im fiebenten Briefe feine micht zum 
einen Rath gehörigen Genfer Mitbürger an, wie 28 um eueren 

3* 


36 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


Freiſtaat gegenwärtig ſteht und zugleich, was die Bürger deſſelben 
zu thun haben? Die erſte Frage iſt viel leichter zu beantworten, 
als die zweite. Die erſte Frage ſcheint nur darum ſchwierig, 
weil man zwei ganz entgegengeſetzte Antworten darauf geben 
kann. Ganz verſtändige Leute antworten darauf: Wir ſind das 
allerfreieſte Volkz andere eben fo verſtändige Leute antworten, 
wir leben in der härteſten Sclaverei. Wer hat nun Recht? fragt 
ihr. Ich antworte, alle beide; je nachdem man die Sache nimmt: 
eine kleine Unterſcheidung vereinigt ſie. Nichts kann freier ſein, 
als euer Zuſtand, wie er den Geſetzen nach ſein ſollte; nichts iſt 
ſclaviſcher, als der Zuſtand, wie er in der That jetzt iſt. Euere 
Geſetze ſind nur dadurch verbindlich, daß ſie von euch ausgehen, 
ihr erkennt nur ſolche an, die ihr ſelbſt gemacht habt, ihr bezahlt 
nur die Auflagen, die ihr euch ſelbſt auferlegt habt, ihr wählt 
die Obrigkeiten, die euch regieren ſollen, und dieſe haben nur 
unter gewiſſen beſtimmten und vorgeſchriebenen Formen ein Recht, 
über euch Gericht zu halten. Ihr ſeid in euerem großen Rathe 
Geſetzgeber, unumſchränkte Gebieter, unabhängig von jeder menſch— 
lichen Gewalt. Ihr beſtätigt die Verträge, ihr beſchließt über 
Krieg und Frieden, ihr werdet ſogar von eurer Obrigkeit groß— 
mächtige, hochachtbare und gebietende Herren genannt. Das wäre 
denn euere Freiheit, jest wollen wir von euerer Sclaverei reden. 
:Diefelben Leute, die zu Vollſtreckern der Gefete unter euch be— 
ftimmt find, find auch zugleich die oberften, ja die einzigen Dol- 
metſcher diefer Geſetze, fie Iaffen fie aljo deuten, wie es ihnen 
- gefällig ift, und zu jeder Zeit, wenn es ihnen beliebt, ſchweigen 
diefe Geſetze ganz; die regierenden Herren dürfen fie übertreten, 
ohne daß ihr etwas dagegen anfangen könnt; denn dieſe find über 
den Gefeten. Die Obrigfeit, die ihr wählt, hat ferner ganz un= 
‚abhängig von euerer Wahl noch andere Gewalt, die nicht von euch 
herſtammt.“ Er beweifet hernach, was man freilich in den mehrften 
- eonftitutionellen Staaten des Gontinents in unferer Zeit leicht ebenfalls 
nachweiſen könnte, daß eine Freiheit ohne Bürgfchaft und Macht, 
‚eine leere Täuſchung fei. Daran knüpft er die Darftellung der 
Art und Wetfe, wie in Genf und überall, nach und nach Uſur— 
pation und Gewalt zum Recht geworden ſei. Er meint, Die 
Geſchichte von Genf beweiſe, daß auch dort, wie in allen anderen 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 37 


Staaten, das Volk nach und nach von allem Antheil an der 
Regierung ſei ausgeſchloſſen worden. Es ſei bekanntlich, ſagt er, 
alle eigentliche Gewalt an die paar regierenden Familien gekom— 
men, und es regierten nur die Bürger, welche die Gewalt in den 
Händen hätten, darum ſei es mit der Verfaſſung vorbei. Vor 
zwei Jahrhunderten, fügt er hinzu, hatte ein Kenner der Staats— 
wiffenfchaft das, mas euch begegnet ift, sorausfehen fünnen. Er 
würde euch gefagt Haben: Die Staatseinrichtung, die ihr macht, 
ift für den Augenbli gut, fie tft aber für die Zukunft fchlecht. 
Ste tft ganz gut, um Freiheit einzuführen, schlecht, um fie zu 
erhalten, und gerade das, was gegenwärtig euere Sicherheit aus— 
macht, wird dazu dienen, euch in Fefleln zu ſchlagen. Dieſe 
Säte bilden die Grundlage der folgenden Prüfung der ariſtokra— 
tifchen Regierung, wo er mit viel herber Schärfe Schritt für 
Schritt den ſchlauen Maßregeln folgt, welche fie genommen hat, 
um das Volk nach und nach feiner Nechte zu berauben, Er bes 
dient fich dabei der rebnerifchen Form des Apoſtrophirens und ruft‘ 
dem Bürger, dem er fich gegenüber geftellt hat, zu: Ste fehen: 
jet, mein Herr, die Stantsfniffe der Leute, von denen fie regiert 
werden. Diefe Leute machen ihre Neuerungen nach und nach 
ganz langfam, ohne daß jemand erfennt, was daraus werden 
wird, und wenn man e8 endlich merkt und helfen will, dann 
fangen fie an, über Neuerung zu fchreien. Diefe Sätze werden 
“auf eine bittere und heftige Weife durchgeführt, und das Genfer 
Bolf eben jo mächtig gegen feinen kleinen Rath aufgeregt, als 
das Englische in Junius Briefen gegen König und Miniftertum. 
Rouſſeau gebraucht dabet die verfchtedenen Artifel der Genfer 
Gonftitution gerade auf diefelbe Weife, mie dev Engländer die 
Engliſche, oder feinen Blackſtone; dabet weiß er, mie dieſer, ein= 
zelne Fälle für feinen Zweck meifterhaft zu benugen. Er bleibt 
3. B. nicht bei dem Verfahren, das man. gegen ihn angewendet 
hatte, ſtehen, fondern bemubt auch Ahnliche Vorfälle, mie den 
Prozeß des Buchhandlers Bardin, und die Sache eines Bürgers, 
der ungerechter Weiſe wegen Entwendung war verhaftet worden, 
und vergebens um Genugthuung angefucht Hatte, 

Rouſſeau ſelbſt macht uns gelegentlich aufmerkfam darauf, 
daß er nur Organ des Zeitgeiftes fet, und daß 'er im Grunde 


38 Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 


in demſelben Kampfe für das wieder erwachende Bewußtſein ver⸗ 
lorner Rechte des Volkes auf dem Feſtlande begriffen ſei, den faſt 
gleichzeitig die engliſchen Volksfreunde für Wilkes gegen König 
und Parlament begonnen hätten. Dies mußte nothwendig in 
fen Kantonen der Schweiz eine mächtige Aufregung herporrufen, 
denn alle, wenn man: die ganz Fleinen ausnimmt, wurden mehr 
oder weniger ‚ariftofratifch, oder wie unfere Sophiften jagen, vä— 
terlicht von gewiffen Familien ausfchließend, in Beziehung auf phyfi= 
ſches Wohlſein und materielle Bortheile aber gar nicht übel regiert. 
Er fagt auch im Rückſicht anf die vorgebliche Freiheit in Ariſto— 
Fratien ausdrücklich: Wir wollen Herrn Wilfes in Gedanfen nach 
Genf verjegen, ex folk dort einmal nur dem vierten Theil von 
dem, was er in London gegen Regierung, Hof und König öffent— 
lich gefagt hat, was er hat drucken und befannt machen laſſen, 
gegen den Kleinen Rath jagen, fchreiben und druden laſſen, und 
man wird fehen, mas erfolgt, Daß man ihn hinrichten Hefe, 
will ich nicht feſt behaupten (obgleich die Züricher Oligarchen doch) 
allerdings den unglüclichen Diakonus Waſer Hinrichten Tiefen, 
weil er Schlöger ein Aktenſtück mitgetheilt hatte, welches dieſer 
befannt machte); aber davon bin ich überzeugt, daß er ſogleich 
eingeftecft und mit ſchwerer Strafe belegt würde, 

Wir übergehen Alles, was Genf und feine Oligarchen be— 
fonders angeht, um nur einiges Allgemeine zu berühren, woraus 
von ſelbſt hervorgeht, mie fich Rouſſeau zu den fpäteren Verthei— 
digern der Revolution verhält. Er führt an, daß man ihm ein— 
werfe, bie genfer Regierung habe zweihundert Jahre lang fo bes 
fanden und Niemand habe ſich bejchwert, die Berfaffung fei gut, 
tie fie jei, ob man gleich. weder dem allgemeinen Willen befrage, 
noch ſich genau am Gefete halte, Darauf gibt Rouſſeau eine 
für alle, an feinem  beftehenden Gebrauch oder Mißbrauch je 
vüttelnden Regierungen freilich bittere und fehroffe, aber doch, 
jelbft wenn es England gilt, ſchwer zu twiderfegende Antwort: 
Jede Obrigkeit, ſagt er, auch die beſte, auch die, welche wir ſelbſt 
gewählt haben, iſt in einem privilegirten Zuſtande und ſtrebt nach 
Vorzug vor den andern Bürgern. (Daran knüpft er einen Sat 
in feiner Manier, der bemeilet, daß er das Volk, d. h. dem nie- 
dern Haufen nicht Fennt, oder nicht kennen voii). Mit dem 


Franzöſiſche Literatur: Rouſſeau. 39 


Stande des gehorchenden Volkes iſt Gerechtigkeit nothwendig ver— 
bunden, dem Stande der Gebietenden iſt Neigung zu Gewaltthä— 
tigkeit und zur Tyrannei von Natur anklebend. Die Regierungen 
fordern Geſetze, aber nicht um ihnen zu gehorchen, ſondern um 
ſie nach Belieben anwenden zu können. Dieſe Stelle verdient 
hier beſonders darum angeführt zu werden, weil man ſehen wird, 
daß die Aufregung des Volkes in den Briefen nicht mehr inner— 
halb der erlaubten Gränzen blieb, ſondern ‚offenbar aller bürger- 
lichen Ordnung: feindlich wurde — und doch ‚war weniger Lärm 
von diefen Briefen, als son den Bekenntniſſen des Vicar und 
som Gmile. So find die Menfchen! Rouſſeau geht noch weiter, 
er fagt: Die Vorgeſetzten wollen Gefege, um fich an ihre Stelle 
zu feßen, damit man fich vor ihnen und vor ihrem Amte fürchte, 
Alles begünftigt ihre fueceffiven Uſurpationen, fie bedienen ſich 
der ihnen obliegenden Berpflichtungen, um fich immer fort. neue 
aufzulegen, die fie nicht haben follen. Da fie auch fogar dann, 
wenn fie die Geſetze verlegen, im Namen des Geſetzes reden, ſo 
ift jeder, der fich gegen fie zu wehren wagt, ein Unruheſtifter, 
ein Gmpörer, Er muß fterben, fie dagegen find bei ihrem Bes 
innen der Ungeftraftheit ſtets verfichert, haben auch im ſchlimmſten 
Fall gar nichts Anderes zu fürchten, als daß die Unternehmung 
mißlinge. Haben fie Hülfe von Außen nöthig, fo finden fie dieſe 
überall; die Schwäche der Schwachen beiteht gerade darin, daf 
fie ſich * dieſe Weiſe nicht verbinden können. 

Es iſt nun einmal das Schickſal des Volks, daß es immer 
ſeine Gegenpartei zu Richtern hat, Innerhalb und außerhalb fet- 
nes eigenen Landes u. ſ. w. Man fieht, daß Rouflenu, ohne es 
zu wiffen und zu wollen, ganz auf den revolutionären Weg de= 
magogiſcher Volksſchmeichelei geräth, der in unfern Tagen in 
Deutfehland den Rechten und Freiheiten dieſes gefchmeichelten 
Volks fo verderblich geweſen ift, weil es ſich den Declamatoren 
hingab. 

Auch Büffon ſogar ſtimmte in den herrſchenden Ton ein, 
ſo hofmäßig, ſo hoffähig, ſo eitel er auch war. Wir überlaſſen 
unſern Leſern bei Barante die Vergötterung Büffons zu leſen, 
worin wir nicht einſtimmen, welche zu beſtreiten aber thöricht 
wäre; wir verweilen nur dabei, daß er in der Richtung zum 


40 Franzöſiſche Literatur: Büffon. 


Fortſchreiten, im Aufklären und im Eifern gegen Vorurtheile mit 
Rouſſeau und d'Alembert zuſammentraf. Alle drei wirkten durch 
die Materie, die ſie vortrugen, und durch den redneriſchen Styl, 
worauf fie einen ganz beſondern Fleiß wandten, auf das Publi— 
kum des achtzehnten Jahrhunderts mächtig ein, jeder von ihnen 
fuchte, wenn gleich auf verfchiedene Weife, ein Leben und eine 
Wiffenfchaft zu fchaffen, welche ganz eigentlich der fogenannten 
philofophifchen Richtung der glänzenden Pariſer Kreiſe angepaßt 
waren, Büffon hielt fich übrigens ganz in feiner Sphäre, bie 
wir hier nicht berühren dürfen, wir erwähnen feiner nur als eines 
philoſophiſchen und rhetoriſchen Schriftftellers, der alle Fächer der 
Naturgefchichte auf gleiche Weiſe umfaſſen und der gebildeten 
Melt im academifchen Styl vortragen wollte, Er wirkte um fo 
mehr, da er. auf ‚eine vornehme und sorfichtige Art eim nichts 
weniger als theologtiches Syſtem der Naturlehre und Naturges 
ſchichte vortrug, und auf diefe Weiſe ganz leiſe die naturwiſſen— 
Schaftlichen Fächer den Phyfifotheologen entzog, wit Montesquieu 
‚bie politifchen den. römiſchen Juriſten und Kanoniften entzogen 
hatte, Der Lebtere vernichtete Die herrfchenden autofratifchen Vor— 
ftellüngen der Zeit Ludwigs XIV., der Erfte führte gu einer 
neuen der herrſchenden theologischen und teleologifchen entgegenge- - 
ſetzten philofophiichen Betrachtung der Natur, 

Büffon behandelte allgemeine Naturgefchiehte nach dem Ge— 
ſchmacke der Frangofen feiner Zeit auf diefelbe Weiſe rhetoriſch, 
die Manier dem Geifte feiner Nation anpaſſend, wie Herder die 
Geſchichte poetifch ſchwülſtig, dem Geſchmacke der Deutichen gemäß. 

Was Büffons modische Philofophie angeht, ſo zog er fich 
zurück, jobald das Treiben der modifchen Kreife nicht mehr rein 
ariſtokratiſch, ausſchließend und gewiſſermaſſen prioilegirt war, 
fobald es ins Volk zu dringen, die Privilegien und das Herge— 
brachte wirklich zu bedrohen fchten. Dies nahmen ihm die an— 
dern Mitglieder der Gefellfchaft bei Holbach und Helvetius ſehr 
übel, und fie haben ihn wegen der Tächerlichen Art, wie er, gleich 
unferm 8. H. Jacobi, feine Perioden zufammenkünftelte, oder duch 
ſucceſſive Erweiterung formlich frifirte, oft dem Gelächter preisgegeben, 
obgleich das die Zahl feiner Bewunderer nicht vermindert hat. 
D’Alembert, Diderst, Condillac und Andere pflegten, mie uns 


— 


Franzöſiſche Literatur: Büffon. 41 


Morellet berichtet, der täglich mit ihnen zuſammen war, den un— 
gemein zterlichen und feinen Grafen nur einen Scharlatan, einen 
Rhetor, einen Declamator, einen Bhrafendrechsler zu nennen, 
Sie warfen ihm vor, mas wir Herders Gefchichte, oder, wenn 
mar will, feiner Philoſophie der Geſchichte vorwerfen würden, 
daß fein Styl weder dem Zweck der Behandlung, noch der Natur 
der behandelten Sache angemeſſen jet. Dies konnten diefe Herrn 
bei Büffon eher deutlich machen, als wir bei Herder zu thun im 
Stande fein würden. Sie fagten, die Befchreibungen der Thiere 
kämen ihnen vor, wie die in der Schule gebräuchlichen Erweite— 
rungsexercitien (amplifieations), die Fünftlichen Ergießungen über 
Natur überhaupt fehalten fie unbeftimmte, falſche, unnütze Decla— 
mationen. 

Wer jemals ein Blatt von den Kladden unferes Otyliften 
F. 9. Jacobi gefehen hat, wie ung der alte Ueberſetzer Homers 
Blätter davon zu zeigen pflegte, der kann fich eine Vorſtellung 
von dem bilden, mas wir Büffons Manier, die Sache und den 
Styl zu machen nennen. Unten ftand dort der einfache Sat, 
der fuceeffio in den immer darüber gefchriebenen Zeilen voller, 


runder, zarter, zierlicher ward. Dies gibt eine DVorftellung von 


Büffons Manier zu arbeiten, nur daß diefer nicht jo oft bie 
Feder dabet anfeste, als Jacobi. Büffon nämlich arbeitete in 
einem Pavillon im Garten auf feinen Gütern zu Montbar in 
Bourgogne, und zwar fo, daß er Seite für Seite niederfchrieb, 


nachdem er vorher jo lange im Garten herumgewandelt war, bis 


er jede Periode im Kopfe gerundet, und auf diefe Weife die 
Seite fertig gemacht hatte. Man merkt ihm daher überall au, 
daß Alles auf der. Drechfelbant gedreht ift, doch bleibt fein Styl 
immer ernft und zterlich; Helvetius und Jacobi, de auf ähnliche 
Art arbeiteten, find dagegen offenbar manterirt.  Büffon verband 
übrigens mit der Kühnheit unferer Naturphiloſophie im Erfchaffen 
son Syſtemen und in der Behauptung von Hypotheſen, ald wenn 
es gewiſſe Erfahrungen oder gar ewige Geſetze wären, eine Klar- 
heit und einen Hohen poetifchen Flug, die ihm einen Platz neben 
Herder geben, nur mit dem Unterfchtede, daß bet Herder bie 
erhabene und doch klare Sprache Natur, bet Büffon durch) Kunſt 
| tft, 


42 Sranzöfifche Literatur: Büffon. 


Condorcet bat daher auch an der Stelle, mo er die Schrift- 
jteller jeiner Nation in zwei Klaffen theilt, mit vollem Rechte 
Büffon in die zweite gebracht, an deren Spite er Gorneilfe ftellt, 
Boileau dagegen fteht an der Spite der Erſten. Gr ſagt näm— 
lich, was den Styl betreffe, fo hätten ihm entweder die Schrift 
fteller der klaſſiſchen Zeit deffelben, wie Boileau, Racine, Fenelon, 
Maſſillon, Voltaire auf die Meberzeugung und den Verſtand der 
Zefer berechnet, oder wie Gorneille, Boffuet, Montesquien, Rouf- 
feau, Büffon auf Veberredung, auf Beftechung des Gefühle, auf 
ein Fortreißen des Berftandes ohne eigentliche Ueberzeugung. 
Büffon hatte mit der Politik nichts zu fchaffen, er war viel zu 
behutfam, als daß er, wie die Herrn feines Kreifes, religiöſe 
Borurtheile geradezu hätte angreifen ſollen; er zerſtörte aber bie 
Spfteme der Theologie eines Bonnet und die theologifche Natur- 
wiffenfchaft eines Haller, auch ohne alle Bolemif. Seine Syfteme, 
feine Hypotheſen, feine fühnen Blicke, feine Aufſchlüſſe über den 
Zufammenhang der Gricheinungen, obgleich fie nur jelten die 
Prüfung fpäterer Kenner und Forfcher ausgehalten haben, warfen 
doch auf Natur, Leben, Organifation und Entftehung der Dinge 
ein Licht. Auf diefe Weiſe ward auch von ihm das Dunkel des 
Mittelalters zerftrent, die Theologie von der Naturwiffenfchaft 
ausgefchloffen, und das ganze Leben des Menjchen erhellt, / 

Die rechtgläubtgen caloiniftifchen Naturforfcher merften gleich 
anfangs das, was dem fonft jo fcharfen Geruche der katholiſchen 
Theologen, ihrer Barlamente und ihrer Polizei entgingz denn fo= 
wohl Haller, der auch mit Boltaive in ſtetem Kampf war, als 
Bonnet, der befanntlich die fogenannte Phyſikotheologie bis zum 
äußerſten Grad der Lächerlichfeit trieb, erhoben ſich gegen ihm, 
Nicht blos Haller, fondern auch Bonnet waren unftveitig beſſere 
Beobachter, Forfcher und Kenner des Einzelnen, fie waren der 
eigentlichen Wiffenfchaft der Natur mächtiger als Büffon, Die 
Theologie Vieh ihnen aber immer ein Glas, welches fie doppel- 
fichtig machte, und die Scheu vor einem biblifchen Worte, welches 
doch nur Kleid der Offenbarung, nicht die Offenbarung jelbft fein 
kann, hielt fie ab, dem Fluge feines Geiſtes zu folgen, doch 
waren fie ſtets unter feinen Gegnern die furchtbarſten. Auch 
unter den Philofophen fand freilich Büffon in Condillac einen 


Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 48 


Gegner; dieſer richtetete ſich aber gegen ſeine Syſteme und Hypo— 


theſen, worauf wir uns weder einlaſſen können, noch wenn wir 
auch könnten, wollten, da wir Büffon blos deshalb erwähnen, 


weil er von allen Andern am mehrſten beigetragen hat, das neuere 


Leben aus dem dunkeln Grübeln des Mittelalters ins Licht der 


Erfahrung zu ziehen. 


8. 3. | 
Philoſophiſche Stantsötonomen unb Politiker. 


An der Mitte des achtzehnten Sahrhunderts war England 
auf der Höhe feines durch Handel und Betriebfamfett ganz auf 


äußeren materiellen Genuß und Behaglichkeit gerichteten Strebens, 


es war damals die, mit einem unermeßlichen Reichthum des einen 
Theile ſtets verbundene, unausfprechliche Armuth des andern 
noch nirgends auffallend; alle Staaten blickten daher neidiſch auf 
die: reichen und comfortabel eingerichteten Britten, und ein veicher 
Lord war ftets dev Theatergott der Nomane. Die bis ing Un— 


- glaubliche vermehrten Quellen des Reichthums in England,_ der 


Handel, die Gewerbe, die Betriebſamkeit, dev großartig von Kapi- 
taliften wiſſenſchaftlich und kaufmänniſch betriebene Landbau er= 
vegte in Frankreich um fo mehr Aufmerffamfeit, je weniger Be— 
haglichkeit dort die ganz ausſchließend beſteuerten Klafien der 
Bevölkerung genoſſen, je auffallender das jest zum Theil ver— 


ſchwundene Elend der Hauptmafle des Volks, je ärmer die Schab= 


fammer eines ſo vortrefflich mit allen Produkten des Südens 
und Nordens ausgeftatteten Reichs war. Man follte denfen, daß 


damals wie jebt der. Wunſch, die Staatskaſſe aus dem Vermö— 


gen der Privatleute zu füllen und dem Lurus der Reichen neue 
Mittel zu Schaffen, auf die Idee der Staatsökonomie geführt 
hättez dies mar aber nicht der Fall, fondern die Erfindung der 
neuen Wiſſenſchaft war eine Folge der von den Philoſophen ver— 
fündigten allgemeinen Menfchenliebe. Ein Arzt Quesnay und 
ein Kaufmann Gournay ftellten jeder ein eignes philofophiiches 
Syftem anf über dem Reichthum der Staaten, über die Quellen 
des Erwerbs und die, Mittel, diefen zu. fürdern und auf diefe 
Weiſe zu gleicher Zeit den Wohlftand der arbeitenden Klaſſen und 


44 Franzöſiſche Hteraturs Oekonomiſten. 


die Einnahme des Staats zu vermehren. Quesnay, ber begün— 
ftigte Leibarzt Ludwigs XV., war der Sohn eines Guätsbeſitzers, 
und enthuftaftifcher Freund ländlicher Beichäftigungen. Er war 
durch feine chirurgifche Gefchieflichkeit dem Könige und der Pom— 
padour ſehr wichtig und mit ihnen vertraut; er war daher am 
beften im Stande, den König für fein Syſtem, welches den 
Reichthum eines Landes ausfchliegend in Kultur des Bodens 
fuchte, zu gewinnen. Auf diefe Weife ward die Pompadsur zu 
manchen Schritten bewogen, die der bürgerlichen Freiheit günftig 
waren, und der König ließ manches Neue einführen, nur damit 
das Spftem in Anwendung gebracht werden Fünnte, Quesnays 
Grundſatz, wie feine Stellung, war rein monarchiſch, obgleich er 

freilich fein Syſtem mit dem, was man damals in Paris Phi- 
loſophie nannte, in Verbindung zu bringen fuchte, und den Ency- 
Elopädiften befreundet war. Schon Sülly hatte bei der Staats— 
verwaltung unter Heinrich IV. diefelben Grundſätze praftifch bes 
folgt, welche Quesnay theoretifch vortrug. Quesnay erkannte 
zwar drei Klafjen von Arbeiten, jchaffende, vertheilende, erhal⸗ 
tende; aber die erfte Klaffe (producteurs) war ihm doch die im 
engften Sinne zu berücfichtigende; alſo nahmen Fifcherei, Land— 
bau, Steinebrechen, Holzbau, Bergbau den erften Platz unter 
den Gewerben ein. Der menfchenfreundliche Mann ſchrieb aus 
wahrer Theilnahme an dem unglücklichen Schickſale des franzöſi— 
ſchen Bauernftandes, er wußte den König, der befanntlich auch 
Büffon für feine Forftfpefulationen benutzen wollte, für feine Ex— 
perimente ald für Spielerei zu gewinnen. König Ludwig XV. 
ließ Daher manche der Fleinen ökonomiſtiſchen Aufſätze feines Arz— 
te8 drucken, ſah die Gorreeturbogen durch und corrigirte fie. Wie 
der König auf der einen Seite Quesnays Auffabe unter feinen 
Augen druden ließ, jo bedienten fich auf der andern auch bie 
Encyklopädiſten feiner,. jo weit auch feine religiöſen und politifchen 
Grundſätze von den Shrigen entfernt waren. Sie bewogen ihn, 
die Refultate feiner Forfchung über die Verbefferung des Syſtems, 
welches den Landmann drücdte, in den beiden Artifeln, Korn 
(grains) und Pächter (fermiers) ihrer Encyflopädie einzunerlei- 
ben. Die Aufmerkfamfeit der Gelehrten und der Güterbefiger 
ward durch diefe Artifel auf Dinge gezogen, die man ihnen 


Franzöſiſche Literatur: Oskonsmiften. 45 


sorher nie jo handgreiflich gemacht hatte; die Freunde der Pariſer 
Philoſophen bemächtigten fich feiner Ideen, um fie für ihre Ab— 


ſichten zu gebrauchen und manche Minifter monarchiſcher Staaten, 


ſowie einige sortreffliche Fürften diefer Zeit machten von feinen 
Lehren bei ihren neuen Ginrichtungen Anwendung. Sp wenig 
Quesnay gefonnen war, jo weit zu gehen als die Männer tha= 
ten, die ihn vergötterten, welche ſchon damals an eine mögliche 
Beränderung des gefellichaftlichen Zuftandes und. dev Regierung 
dachten, fo drang er doch darauf, daß die Frohnden in Frankreich 
abgefchafft, der innere Verkehr von allen Zöllen befreit und der 
Getreidehandel vollig frei gegeben werden müſſe. Der. beffere, 
ebelgefinnte Theil der Ariftofratie huldigte um ſo lieber  Ques- 
nays Grundſätzen, als die Gutsbefiser in Beziehung auf Bewirth- 
Ichaftung ihrer großen Landgüter und der Domänen jehr gut ein- 
ſahen, daß Quesnay Recht habe, daß der Bauern Bortheil auch 
ber Ihrige fei. 

Unter den Enthufiaften. für Quesnays Syſtem müſſen wir 
ganz vorzüglich. den Bater des durch die Revolution unfterblich 
gewordenen Grafen von Mirabeau nennen. Diejen alten Mira- 
beau wie feinen Bruder, den Maltefer Sommandeur, muß man 
zu den provenzalifchen Originalgentes zählen, die mit unbändigem 
Stolz Menfchenfreundlichkeit verbanden, und, für große Ideen 
empfänglich, oft bis zum Wahnfinn begeiftert oder erbittert auf- 
traten. Aus den in unferm Jahrhundert befannt gemachten Brie- 
fen von Mirabeaus Bater und Onkel geht hervor, daß, ‚wenn 
auch der Erſte der Berühmtefte war, doch der Zweite ihn bei 
Weiten an provenzalifcher Originalität übertraf. Mirabeaus 
Vater war das Original der mehrften Volksmänner ; er war, wie 
dieſe leider mehrentheils find, auf der einen Seite. eifriger De— 
‚mofrat, während auf der andern er und fein Bruder den pro— 
venzalifchen Adelftolz, und zugleich die Anmaßung und Einbil— 
“dung der Syftematifer, wie aus ihrem übrigens Höchft getftreichen 
amd originellen Briefwechjel hervorgeht, bis zu einem ‚ganz un= 

‚glaublichen Grade trieben. Mirabenus Buch, nach deſſen Titel 
man ihm zu benennen pflegte, jo wenig menfchenfreundlich auch 
‚fein Betragen war, führte den Titel, der Volksfreund Der 
Marquis: Victor Riquetti son Mirabenu, nach diefem Journal 


46 Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 


der Volksfreund genannt, war nicht blos unermüdlicher Verthei— 
diger von Quesnays Syſtem, ſondern auch deſſen perſönlicher 
Freund. Er hat über zwanzig Bände über die neue Staatsweis— 
heit des ökonomiſchen Syſtems geſchrieben, und eine Lobrede auf 
den Urheber deſſelben herausgegeben, die wegen des über die 
Maßen lächerlichen Tons, in dem ſie abgefaßt war, ihrer Zeit 
eine ganz eigene Art von Berühmtheit hatte und den * 
‚reichen Stoff gab. 

Der Volksfreund des despotifchen Haustyrannen erfchien) um 
1755 in fünf Banden, machte aber die neue Wiffenfchaft weder 
klarer noch beliebter, * fein Styl war deklamatoriſch und aben- 
teuerlich ſchwülſtig, und fein eigener Charakter bildete einen zu 
großen Gontraft mit dev Lehre, die er predigte, als daß er viele 
Profelyten hätte machen können. Während er für das Wohl des 
Volks und für die Grundſätze, worauf feine Seete yon Oekono— 
miften diefes zu gründen gedachte, auf eine komiſche Weiſe eiferte, 
bewies er fich Bid zum höchften Scandal als einen Haustyrannen, 
als den furchtbarften Egoiften gegen Frau und Kinder und als 
fchlechten Staatsbürger Das willkürliche Verfahren der Regie- 
zung, oder wenn man will, der Minifter Ludwigs XV. mit 
Mirabeaus Vater, und hernach auf Anfuchen dieſes Vaters mit 
dem Sohne , erklärt und entfchuldigt die Heftigfeit, mit welcher 
der Graf Mirabeau hernach, Tobald es die Umftände zulichen, 
alles aufbot, um der Willkür der Minifter gefegliche Schranken 
zu ſetzen. Mirabeaus Vater nämlich oder der fogenannte Volks— 
freund, hatte nicht blos wegen feiner beiden Schriften über Nütz— 
lichkeit und Nothwendigkeit der Provinzialftande viel auszuftehen, 
fondern ward wegen jeiner Abhandlung über das Abgewe ¶g 
(Theorie de l’impöt) ſogar in die Baſtille geſetzt. bar 

. Wir nennen Hier den Volksfreund Mirabenu blos’ wegen 
zwei Schriften, die er in Verbindung mit Quesnay gejchrieben 
hat, nicht wegen der großen Zahl anderer, die er allein heraus- 
gab. Die eine enthält die ausführliche Entwickelung des Syſtems 
einer auf Benutzung des Reichthums des Bodens gegründeten 
Staatsverfaflung, wie fie Quesnay ausgedacht hattez die Andere 
‚enthält einen Furzen und klaren Inbegriff der. wejentlichen Punkte 
des neuen Syſtems. Das eine diefer Bücher nannte er und fein 


Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 47 


Mitarbeiter Quesnay, Philoſophie des Landbaues (Philosophie 
rurale ou 6onomie generale et particulitre de l’agriculture 
1764. 3 Vol. 12.), das andere Grundzüge des Syſtems der 
Betreibung der Landöconomie (Klemens d’&conomie rurale 
1767 u. 1768). Auch die mehrften andern Schriften des wun— 
derlichen Provenzalen find beftimmt, das neue Syſtem auszupo— 
faunen, oder deſſen Beziehung auf alle möglichen Zweige der 
Staatshaushaltung nachzuweiſen. Mehre fremde Fürften, umter 
ihnen befonders Karl Friedrich von Baden und Leopold, damals 
- Großherzog von Toscana, beide (jo lange Leopold noch nicht 
Kaifer war) als weiſe und väterliche Fürforger der ihnen ver— 
tranten, vom Himmel por den mehrjten andern gejegneten Län— 
der allgemein anerkannt, huldigten Quesnays Grundfäsen. Ihre 
weiſen, in ganz Europa gepriefenen, von den damals den Fürften 
nicht gerade gewogenen Philoſophen als Mufter empfohlenen Ges 
feße und Ginrichtungen waren die Frucht des Studiums von 
Quesnays Syſtem, und beide bewiefen auch feinem Freunde, dem 
wunderlichen Marquis, große Aufmerkſamkeit. Auch Kaiſer Jo— 
ſeph II. gab dem rein monarchiſchen Syſtem Quesnays den 
Borzug vor dem entgegengefegten Gournays, weil nur das erftere 
auch in ganz abjolut vegierten Staaten anwendbar fehlen, das 
andere aber, ohne volle bürgerliche ak ſtets nur. unvoll⸗ 
kommen ausführbar iſt. 
Gournays Syſtem faud in allen Andem Europas enthu⸗ 
ſiaſtiſche Verehrer, weil der ſteigende Luxus die Induſtrie ſteigerte, 
dieſe aber ohne baares Geld nicht betrieben werden kann. Selbſt 
der Adel erkannte, daß er nothwendig, wie jetzt überall geſchieht, 
großen Fabrikanten, Bankiers u. ſ. w. einen Antheil an ſeinen 
Privilegien zugeſtehen müſſe. Dies Syſtem hat bekanntlich in 
unſern Tagen völlig geſiegt, und was vorher nur in England 
galt, gilt jetzt auch auf dem Continent. Eine Folge dieſes Sy— 
ſtems iſt, daß Wucherer und Spekulanten auch unter uns nicht 
mehr Plebejer, jondern eine Art: Patrizier find, welche Geld 
ichaffen, das Leben in eine große Mafchine verwandeln, eine neue 
freiwillige Leibeigenichaft der arbeitenden Klaffe begründen und 
fürftlichen Luxus treiben. Gournay hatte, ehe er ins Minifterium 
Fam, Handelögeichäfte getrieben, er ftand um 1729 am der Spike 


48 Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 


eines nicht unbedeutenden Handelshauſes in Cadix, verband aber, 
was damals ſelten war, ein theoretiſches Studium mit ſeinem 
praktiſchen Geſchäfte. Weil ſeit Colberts Zeiten die Theorie der 
Handels- und Gewerbspolizei in Frankreich ganz vernachläſſigt 
worden war, ſo bildete er ſich durch das Studium holländiſcher 
und engliſcher Werke, diente ſeit 1744 dem franzöſiſchen Miniſte— 
rium mit ſeinen Einſichten und ward bis an ſeinen Tod im 
Jahre 1759 Intendant des Handels betitelt. Als Intendant 
des geſammten Handlungsweſens von Frankreich war er mit Tür— 
got enge verbunden. Er ſchuf ein franzöſiſches Syſtem des Hand— 
lungsweſens, das er aus einem Petty, Davenant, Gee, Child 
und anderen engliſchen Quellen ſchöpfte, und wendete die ihm 
als oberſten Miniſterialbeamten zu Gebote ſtehenden Mittel an, 
um auf jede Weiſe dies neue Syſtem durch Schriftiteller zu 
fordern. Auf Gournays Betrieb arbeitete Dangueil fein Werk 
über die Handelsvortheile und Nachtheile von Eng 
land und Franfreich, wobei er einen englichen Schriftiteller 
zu Grunde legte; Fourbonnats brachte Kings britifchen Kauf- 
mann ind Kurze, und Gournay ſelbſt fchrieb in Verbindung mit 
Fourbonnats über Handlung im Allgemeinen. Das Syſtem, 
welches Gournay aufftellt und auf jede Weife auch als Beamter 
förderte, war noch viel weniger als Quesnays Syftem mit den 
immer noch fortbeitehenden Schranfen des Feudalismus, der Cor— 
porationen, Privilegien und des Particularismus des Mittelalters 
vereinbar. Gournay behauptete nämlich, daß nicht blos die Be— 
ſchäftigungen der Staatsbürger, welche Duesnay ausfchliepend 
produzivende Arbeit nannte, den wahren Reichthum des Staats 
ausmtachten, fondern er bewies, daß jede Art von Arbeit, jeder 
Kunftfleiß, jede auf Erwerb gerichtete Thätigfeit in Anfchlag zu 
bringen fei, wenn man den verhältnifmäßigen Wohlftand der 
Völker, oder den Nationalreichthum ſchätzen wollte, 

Gournay mußte, wenn fein Syſtem der Betriebſamkeit des 
Erwerbs, folglich auch der großen Bereicherung des Staats, der 
die Summe der Ginzelnen ift, in Anwendung kommen follte, 
nicht blos mit Quesnay fordern, daß Frohnen, Binnenzölle, Be— 
ſchränkung des Getreidehandels abgeftellt würden; jondern er 
mußte noch sieh weiter gehen. Er eiferte Daher gegen Zünfte, 


4 


Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 49 


Innungen, Monopole, kurz gegen jede Beſchränkung des Han⸗ 
dels und aller Arten von Gewerbe. 

Er forderte zunächſt Freiheit für alle möglichen Zweige des 
Handels; Folglich auch für den Getreidehandel. Er verlangte 
ferner, jeder Bürger des franzofifchen Reichs ſolle ohne Unter— 
jchied und ohne Nückicht auf Geburt und Religion zu jedem 
Gewerbe zugelaffen werden. Er behauptete, daß der Staat dafür 
ſorgen ſolle, daß den Bürgern die Moglichkeit zu arbeiten ge= 
fchaffen werde, damit dadurch eine Concurrenz und eine Vervoll- 
kommnung der. Fabrifate erzeugt und zugleich den Käufern Wohl- 
feilheit durch Abfchaffung aller Störungen. des freien Verkehrs 
gefichert ſei. Beide, fowohl Quesnay als Gournay, wollten die 
von ihnen vorzugsweiſe als produzivend begünftigten Klaffen von 
Laften frei machen; daher mußten fich ihre veformirenden Geſetz— 
vorſchläge freilich durchkreuzen. Es zeigte fich bald, daß man tn 
unfern Staaten, wie fie fich jeit dem fiebenzehnten Jahrhundert 
gebildet Haben, unmöglich der einen Klaffe von Staatsbürgern 
äußere Vortheile und Erleichterungen verſchaffen könne, ohne einer 
andern etwas zu ventziehen. Dies veranlaßte einen ungemein 
heftigen. und bittern Streit zwiſchen den beiden neuen Schulen 
der Staatswirthfchaft. Diefer Streit war freilich leicht auszu— 
gleichen, wenn man nur über die Hauptfache, den Umfturz aller 
Schranken des: Mittelalters, erft einmal einig war; mat durfte 
nur beide, Syfteme verfchmelzen. Quesnay nämlich wollte gleich 
den Leuten, die in England die Majorikit bilden, alle Staats- 
laften ‚gern vom Gutsbefiger und Landbauer auf den Kapttaliften 
und Kaufmann und durch diefen auf den Krämer und Arbeiter 
oder Gewerbsmann wälzenz Gournay wollte, wenn es nicht mög— 
lich fein follte, wie er eigentlich wünſchte, alle auf Gewerbe und 
Handel ruhende Laften ganz abzufchaffen, dies doch ſo viel als 
möglich thun und nur allein den Grundbeſitz befteuern. 

Die beiden Italiener, Filangieri und Beccaria, denen man 
gewöhnlich ihren Platz neben Montesquieu anzuweiſen pflegt, 
waren dene Syſtem Gournays gewogen, und auch der tiefe und 
fcharfe Denker David Hume vertheidigte es. Zwei andere Ge- 
tehrte, der eine ein Schotte, der andere sein Franzoſe, ſchufen 


durch Verfehmelzung beider Syiteme ein Drittes. Wenn wir hier 
Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 4 


50 Freanzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 


die Geſchichte der Literatur der Staatswiſſenſchaft oder die der 
Staatshaushaltung ſelbſt ſchreiben wollten, ſo würden wir den 
Schotten Adam Smith zuerſt und am ausführlichſten erwähnen 
müſſen, wir dürfen aber ſeiner nur im Vorbeigehen erwähnen, 
weil wir nur die Franzoſen aufzählen wollen, die in der zweiten 
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts durch neue Lehren eine neue 
Staatseinrichtung vorbereiteten. Unter dieſen Letzten gebührt dem 
philoſophiſch und klaſſiſch nach alter gründlicher Weiſe gebildeten 
Türgot unſtreitig der erſte Platz. Er verdient beſonders aus dem 
Grunde vor allen andern ſogenannten Philoſophen erwähnt zu 
werden, weil er ganz allein aus wahrem Eifer für die Verbeſſe— 
rung ſchlechter Staatseinrichtungen ſich an die Freunde Voltaires, 
Diderots, d'Alemberts anſchloß, durchaus nicht aus Leichtfertigkeit 
oder Eitelkeit. Er war nicht, wie ſie, gegen Religion, gegen die 
guten Seiten des alten Glaubens oder gar gegen die Sittenlehre 
des Chriſtenthums, welche Entſagen und Entbehren zur Pflicht 
macht, eingenommen. Uebrigens war auch Adam Smith mit den 
Perſonen im Verkehr, die man in Paris philoſophiſche Oekono— 
miſten nannte, und lernte manches in ihrem perſönlichen, beleh— 
renden Umgange kennen. Adam Smith legte nämlich die Stelle, 
die er in Schottland bekleidete, nieder, um den Herzog von Buc— 
eeleugh auf feinen Reifen zu begleiten, und verkehrte in dieſer 
Zeit (1765) in der Pariſer Philofophengefellfchaft, wo er wohl 
gelitten war, Türgot würde indeffen fehon der Zeitordnung nach - 
vor Adam Smith genammt werben müſſen, weil er nicht blos fein 
Syſtem in einzelnen Abhandlungen früher entwickelte, oder durch 
Morellet entwickeln Te, ſondern auch diefes Syſtem als In⸗ 
tendant, dann als Miniſter früher in Anwendung brachte, als 
Adam Smith fein Werk herausgab. Dies Werk über den 
Nattomalveihthum erfchten bekanntlich erft 1776. Türgot, 
wie Rouſſeau, Malesherbes, Lafayette und einige andere Männer 
diefer bewegten Zeit, gehört, wenn er much, wie alle Menfchen, 
manchen Tadel mag verdient haben, zu den erfreutichen Erſchei— 
nungen in der Gefchichte, die ung mit der Menfchheit ausfühnen 
und für die herbe Erfahrung entſchädigen, daß Wiſſenſchaft im 
Allgeneinen der ſtillen Tugend eben fo gefährlich tft als Reich⸗ 
thum. Er erfcheint, wie die vorher genannten Manner, wie 


ꝛ⸗ 
"gg 


Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 51 


die Roland und der wackere Lanjuinais, unter der eiteln Bande 
lockerer Schwelger und Schwärmer, der mit Geiſt prahlenden 
Sophiſten und treuloſen, den Sinn wie das Kleid wechſelnden 
Rhetoren, als eine edle, von der Hoffnung der Wiedergeburt 
ſeiner Nation mächtig gehobene Seele, die freilich getäuſcht 
ward, wie uns alle, die wir an Tugend glauben, der Traum 
der —** täuſcht. 

Türgot ſtammte aus einer alten, ſehr angeſehenen Familie 
der Normandie und war, als er anfangs geiſtliche Studien machte, 
um höhere geiſtliche Würden zu erlangen, Studiengenoſſe des 
Abbe Morellet. Dieſen führen wir hier in Verbindung mit ihm 
anf, weil er zwar unter den fogenannten Philofopgen nur eine 
Nebenrolle fpielte, aber doch auch son ihnen, wie son Türgot 
und vonder Regierung als Schriftfteller gebraucht ward, Mir 
fonnen daher auch die beften Nachrichten von Türgots Bemühungen, 
son feinem Beftreben theils als Gefchäftsnann, Intendant und 
Minifter, tHeils als Schriftfteller und durch die Literatur, Regie 
rung amd Verwaltung des Franzöfifchen Neichs mit den Forde— 
rungen der Zeit in Uebereinſtimmung zu bringen, hie und da 
aus Morellets Denkwürdigfeiten schöpfen. Türgot war in der 
alten und in ihrer Art vortrefflichen Schule der Sorbonne ſchon 
zum theologiſchen Dialektiker ganz ausgebildet, er war schon recht 
gründlich geiftlich gelehrt, als er vor dem Gedanken erſchrak, die 
ſcholaſtiſche Theologie wertheidigen zu müffen, son deren Unhalt- 
barkeit zu feiner Zeit jeder denfende Kopf in Frankreich überzeugt 
war, Gr ergriff ſtatt des theologifchen das juriftifche Fach, ward 
Barlamentsrath und fpäter (1752 u, 53) Neferent im königlichen 
Staatsrathe (maitre de requötes). Dies war um die Zeit, als 
man eine nene Wiffenfchaft für das Leben, ftatt der alten, welche 
blos für die Schulen beftimmt war, begründen und unter allen 
Klaffen von Menfchen durch eine große Encyklopädie verbreiten 
wollte. Diderot mißbrauchte freilich diefes Organ oder Magazin 
hernach, um alle Grumdfäte und jeden überlieferten Glauben zu 
erſchüttern; urſprünglich follte es jedoch nur dienen, ‚alle Wiffen- 
Ichaften, Künfte, Gewerbe in einzelnen Artikeln Faplich zu behandeln. 

‚Der Kampf über die Grundſätze der Staatshaushaltung 
und Staatswirthichaft war in der Mitte des Jahrhunderts nicht 
4* 


52 Franzöfifche Literatur: Oekonomiſten. 


weniger ‚heftig, als der über DVerfaflung und Regierung am 
Ende deflelben. 

Das Handelsfollegum und alle verftändigen Männer in 
Frankreich waren für das feit 1754 aufgeftellte Syftem gewon— 
nen, die Kaufleute, welche die Vortheile des Syſtems der Hem— 
mungen, Bejchränfungen, Hinderungen genofien, waren Dagegen; 
das Minifterium felbft war genöthigt, die öffentliche Stimme bei 
jedem Schritt anzurufen, den es thun wollte, um Berbefjerungen 
zu machen. Schon 1762 wollten 3. B. die Mitglieder des Han— 
delskollegiums alle Zölle an die Gränzen verlegt, alle Schutzzölle 
aufgehoben haben. 

Leider war der damalige Zuftand von Frankreich in jeder 
Rückſicht mit dem jekigen von Deutjchland zu vergleichen; man 
erfannte nämlich freilich das Alte nicht mehr an, das Neue fonnte 
aber auch feinen Plab gewinnen. Wenn es in einem Augenblick 
den Anfchein hatte, als wenn man einen neuen Weg betreten 
wolle, jo erjchten gleich hernach plößlich der ganze alte Deſpotis— 
mus wieder in feiner furchtbarften Geftalt. Dies zeigte ſich in 
Beziehung auf vffentliche und wiffenfchaftlihe Verhandlung der 
Staatswiffenichaft und Stantswirthfchaft und der damit verbun- 
denen Stantöpolizei, jobald ein theologtfcher Zurift Finanzminifter 
geworden war. LAverdy war nämlich kaum zum Gontroleur der 
Finanzen ernannt, als er um 1763 ein Deeret (arröt du conseil) 
erließ, welches nach der damaligen Verfaſſung volle Kraft eines 
Gefetes hatte, worin bet Strafe -einer Verfolgung der Polizei, 
nicht der ordentlichen Gerichte, wo man fich vertheidigen Kann 
und nur nach bekannten Geſetzen verurtheilt wird, verboten ward, 
irgend etwas über Verwaltungsfachen oder über die Regierungs— 
maßregeln überhaupt drucken zu laſſen. Gegen diefe Verordnung 
wollte Morellet bejcheidene Einwendungen druden laſſen, feine 
Schrift mußte aber erft LAverdy mitgetheilt werden, damit 
er Erlaubniß zum Druck gäbe. Diefe verweigerte er in einer 
NRandbemerfung, welche wir unten wörtlich mittheilen, weil die 
Abfaffung fo ungemein viel Aehnlichkeit mit dem Styl und mit 
dem übermüthigen Ton hat, in welchem noch jetzo in Deutich- 
land die decretirenden Juriſten auch fogar in unjern Kammern 


Franzöſiſche Literatur: Oekonomiſten. 53 


oft zu reden pflegen. 11) Unmittelbar auf dieſe deſpotiſche Zeit 
eines LAverdy und di Terray folgte unter dem Cinfluß der 
Defonomiften wieder eine Aufregung zur philanthroptichen Refor- 
matton des Beftehenden, die von den Behorden ſelbſt veranlaßt 
ward. Schon zwei Jahre nach jener ſchnöden Bemerkung LAverdys 
ließ Malesherbes durch Morellet Beccarias Werk über die phi= 
Yanthropifche Verbeſſerung der Kriminalgefeßgebung des Mittel- 
alters, der peinlichen Halsgerichtsordnung Katfer Karls V. und 
der cannibalifchen Juſtiz der franzöfifchen Parlamente (das Buch 
dei delitti e delle pene) ing Franzöſiſche überfegen, und zehn 
Sahre nachher ließ das Miniſterium eine ganze Fluth von 
Schriften ausfenden. Wie verblendet die Leute waren, melche, 
wenn nicht die Revolution fie zugleich mit ihrem Syſteme ver= 
tilgt hätte, allen Forderungen der Zeit zum Trotz, alles Alte un= 
ter neuer Form würden feitgehalten haben, Tann man daraus 
jehen, daß die grundgelehrten aber barbarifchen Zuriften der Par— 
lamente, bis zu deren Auflöfung auch nicht das Geringite an 
ihrer Juſtiz änderten, obgleich ſchon in den fiebenziger Jahren 
Beccarias neues Syſtem fo freudig begrüßt ward, daß Morellets 
Ueberſetzung innerhalb ſechs Monaten fieben neue Auflagen erfuhr. 

Im Jahre 1769 wollte man, den neuen Grundfäten ange— 
meſſen, die oftindifche Geſellſchaft, alſo eine gewiſſe Art privile- 
girten Handels aufheben, die Gegner der Kompagnie hatten auch 
in diefer Sache Necker, der damals ſchon angefangen hatte, Tür— 
gots Syftem zu beftreiten, gegen fi; der Gontroleur d'Invaux 
nahm daher aufs neue zu Türgots Verfechter, Morellet, feine 
Zuflucht. In diefer Sache ward der Streit ganz mie in confti= - 
tutionelfen Staaten durch Schriften geführt; ein Theil des Hofs 
war für Necker, ein anderer für den Gontroleur, der, wie jetzt zu 
gefchehen pflegt, feinem Vorfechter auch alle offiziellen Aktenſtücke 
mittheilte. Gletch im folgenden Jahre 1770 gebrauchten ihn 
Choiſeul und Trüdaine im Sinne des Hfonomiftifchen Syſtems, 





11) Die Worte waren: pour parler d’administration, il faut tenir la 
queue de la poele, &tre dans la bouteille a l’enere et que ce n’est pas 
à un ecrivain obscur, qui n’a pas cent &cus vaillant, à endoctriner les 
gens en place. 


54 Franzöſiſche Literaturs Oelonomiſten. 


um gegen Galianis berühmte Schrift über den Getreidehandel 
(dialogues sur le commerce des bl&s) für die völlige — 
dieſes Handelszweigs zu ſchreiben. 
Aus dieſen Notizen über die Verbindung des ——— 
Syſtems mit der öffentlichen Behandlung der Materien des Staats- 
rechts, der Staatspolizet, der Finanzen von philojophifchen Köpfen, 
die nicht Beamte, fondern gewiffermaßen Repräjentanten der In— 
‚telligenz ihrer Zeit waren, während der härteften und finfterften 
Zeit, geht von ſelbſt hervor, welche Kiftorifche und politifche Be— 
deutung Türgots Syſtem erhielt, als er Minifter geworden war. 
Von dem Augenblik an war es unmöglich, daß ein blos in der 
Praris und durch die Praxis gebildeter Mann ans dem Dunkel 
feines Kabinets, ohne Theorie und ohne den Beiftand von Schrift- 
ſtellern, das überall und von allen Seiten gefährdete Schiff des 
Staats fteuern Fonnte, | 

Türgot hatte als Intendant, oder wie wir fagen würden, 
als Eivilgonverneur der Generalität von Limoges, Gelegenheit, 
durch die Anwendung feiner Grundfäbe auf einen gewifjen be- 
ſtimmten Zandftrich, befonders den Theil feines Syſtems, der aus 
Quesnay gefchöpft war, anzuwenden und die Wohlthätigfeit der 
‚neuen von ihm vorgefchlagenen Methode dev Verwaltung zu er= 
proben, Wir haben daher fchon oben bemerft, daß die zahlrei- 
hen Aktenftüce feiner Verwaltung des Limoufin nicht bloß zeigen, 
was er hernach als Minifter in Frankreich durchſetzen wollte, ſon— 
dern auch als Handbuch feines ganzen ökonomiſtiſchen Syſtems 
betrachtet werden können. Ein Theil diefer yon Düpont in un— 
jerm Jahrhundert herausgegebenen Aftenftücde, 3.8, die Umlauf- 
ſchreiben an feine Unterintendanten, an die Steuer-Kommiſſarien, 
an die Polizeibeamten, an die Municipalräthe, am die Pfarrer 
feiner Generalität, find unter Napoleons Regierung jowohl yon 
Düpont, als von andern ihm ähnlichen, edlen und würdigen Ver- 
waltungsbeamten praftifch benußt worden. in anderer Theil be— 
greift die Rathichläge, die er ertheilte und die Vorſchläge, die er 
im foniglichen Nat (Avis au conseil) machte. Diefe find auf 
eine andere Art, nämlich Hiftoriich, brauchbar. Man lernt daraus 
die fchauderhafte Ungleichheit des Druds des damaligen Steuer- 
ſyſtems und deffen verderbliche Wirkung, die er ins Licht febt, um 


Franzöſiſche Literatur: Oelonomiſten. 55 


die dringende Nothwendigkeit einer Reformation zur Vermeidung 
eines gewaltſamen Zerreißens des Staatsbandes dem Könige ſelbſt 
einleuchtend zu machen. 

Türgot lebte nur für die ſeiner Pflege Empfohlenen. Er 
fühlte, wie wohlthätig ſein Syſtem dem Limouſin war, er ſchlug 
die bedeutenderen Intendantſchaften, die ihm in Rouen, Lyon und 
an andern Orten angeboten wurden, aus, weil er gern die Frucht 
von dem ſehen wollte, was er geſäet hatte. Man zählt ihn frei— 
lich zu den Philoſophen und Encyklopädiſten, doch war er von 
der. himmelſtürmenden Frechheit, die man vielen von ihnen mit 
Recht vorwirft, unendlich weit entfernt. ALS vortvefflicher Beam- 
ter fah er den praktifchen Nuben des religinfen und moraltfchen 
Gefühle, welches durch einen verftändigen Kultus genährt wird, 
zu gut ein, um fich einzubilden, daß er ohne Religion Volksglück 
gründen könne. Ex bewies, wie Eondorset, den größten Ummillen 
gegen bie gottlofe ariftofratifche egotftifche Philofophie eines Helve- 
tius. Er hatte völlige Achtung gegen die Einrichtungen der Fatholi- 
fchen Kirche und gegen würdige Seelſorger, bei aller Abneigung gegen 
Fanatismus, Jeſuitismus und Papismus. Aus dem erften Bande 
von den in neun Bänden herausgegebenen Schriften Türgots Tann 
man jehen, wie große Verdienſte er und feine Schule ſich um 
die Reform der ganzen franzöſiſchen Staatsverwaltung zur Zeit 
des fiebenjährigen Kriegs erworben haben, Man fieht dort zu— 
gleich, wie traurig es damals um die Verwaltung des Reichs 


und feiner Finanzen ausfah, Man findet nämlich in dieſem Bande 


den wefentlichen Inhalt und die Beziehung dev in den folgenden 
Sheilen abgedruskten Aktenftüce feiner Amtsverwaltung und feiner 
Geſchäftsarbeiten angegeben. | | 

Türgot gebrauchte als Minifter Morellet, um feine Ideen 
in einem Gewande zierlicher Rede dem großen Publifum vorzu— 
ftellen und ihn felbft gegen die Angriffe der wüthenden Verthei— 
diger alles Alten und aller Borurtheile zu vertheidigen, Gr un— 
terſchied fich Dadurch von feinen Vorgängern, daß er edel genug 
war, feine Gegner nicht durch die Macht, die ihm als Mint: 
fter zu Gebot ftand, niederfchlagen, fondern durch Gründe wider: 
legen zu wollen. Die Frage über Getreidehandel, über Sperre 
nach Außen, über Hinderniffe des Verkehrs der einen Provinz 


u 


56 Franzöſiſche Literatur: Defonsmiften, 


mit der andern- Fam zuerſt zur öffentlichen Verhandlung. Bei 
diefer Gelegenheit Fampfte dev Advokat Linguet, der noch in den 
achtziger Jahren eine ſolche Gelebrität hatte, daß fich ſogar Kaiſer 
Sofeph II. feiner bediente gegen Türgot. Diefer war Teicht wi— 
verlegt, weil feine Redekunſt flache Derlamation war, und man 
offenbar fah, daß er, um Wahrheit und Recht unbefümmert, nur 
Paradoren ſuche, um an ihnen feine Sophiftif zu beweifen, Die 
erfte Probe feiner Advofatenfunft, die ihn berühmt machte, noch 
ehe. er durch feine vielfältigen Abenteuer befannt ward, hatte ex 
abgelegt, als er die Vertheidigungsſchriften für den Herzog von 
Aiguillon und die für den Grafen von Morangies fchrieb; auch 
in dem Streit über den  Öetreidehandel nahm er die Partei der 
Freunde des Alten. Wie weit man fchon damals in Frankreich 
den Mißbrauch der vednerifchen Schriftftellerei treiben durfte, lernt 
man nicht beffer, als wenn man Linguets alberne Schrift gegen 
Brod und Brodforn und gelegentlich gegen die Freiheit des Han— 
dels durchfieht. Er verfolgte nämlich mit einem wüthenden Haffe 
die Mitglieder der Akademie und die Encyklopädiften, und greift 
ihr Stedfenpferd an, blos um fie jelbft hart mitnehmen zu können. 

Einen folchen Gegner wie Linguet Fonnte man leicht wider— 
legen; aber auch Necker erhob fich gegen Türgots Theorie. Necker 
war damals Mittelpunkt eines glänzenden Kreifes, der fich bei 
feiner Gemahlin verfammelte, und entzüct war, daß ein Mann, 
deſſen Anjehen in Paris faft eben fo groß war als das ber 
Defonomiften, ihre Meinung gegen den Minifter verfechten 
wollte. Stolz auf ihren Beifall, vertheidigte er in dem Buche 
über Gejeggebung in Beziehungauf das Getreide 
und auf den Kornhandel im Allgemeinen’ ein Sy 
ſtem, welches dem von Türgot aufgeftellten gerade entgegenge= 


ſetzt war. 


Diefer Streit der beiden Minifter Türgot und Necker, welche 
beide, aber auf verſchiedene Weife, dem Beftehenden entgegen 
waren, weil es ihnen unhaltbar fehten, wird dadurch beſonders 
hiftorifch wichtig, daß jeder von ihnen eine gewiſſe Partei und 
eine Meinung, welche Neformen forderte, repräfentirte, und daß 
bei dev Gelegenheit über Regierung und Gefebgebung zur Zeit 
abſoluter Herrſchaft öffentlich, von ihnen und ihren Freunden in 


Deutſche Literatur: Philoſophie. 57 


gedruckten Schriften debattirt ward. Necker war freilich damals 
noch Privatmann, er war aber ein angeſehener Bankier, der nicht 
blos mit der Theorie des Handelsweſens ſehr vertraut war, ſon— 
dern auch große Erfahrung hatte; er war daher eine bedeutende 
Autorität. Morellet erkennt dies nicht an; er wirft Necker vor, 
was oft den Genfern wegen ihres doktrinären Treibens, ihrer Ein— 
gebildetheit von ſich ſelbſt und ihres Wortſchwalls vorgeworfen 
wird. Er ſagt nämlich in ſeiner Schrift von Neckers dickem Buche: 
Es würden darin gar viel Worte und Phraſen ge— 
macht; alles Gerede führe aber doh am Ende zu 
einem ganz unbedentenden Reſultat. Morellet gab da= 
her feiner Schrift auch nur den Titel einer Rezenſion des Neder- 
fchen Buchs (Analyse de l’ouvrage de la legislation et du 
commerce des bles). 

Wir follten jet noch von einigen Andern, von Mirabeau, 
Beaumarchais, Briffot, La Glos oder richtiger de Ta Cloſe, Lou— 
ver, Gondoreet, der Frau Roland und Andern reden, dieſe aber 
* ſchon der Revolution an, wir ven ihrer daher erſt im 

folgenden Bande gedenken. 





Des zweiten Abfchnitts Drittes Kapitel: 


Deutfche Literatur im Verhältniß zum deutſchen 
Leben. 


— 


$.1. 


—— Univerfitätsphttofsphte und Theologie 
bis auf Fichte. 


A. Philoſophie. 


In die Geſchichte der philoſophiſchen Wiſſenſchaft einzugehen 
iſt dem Zwecke eines Werks, welches ſich nur mit den Erſchei— 
nungen des menſchlichen Bebeng, nicht mit dem Weſen defjelben, 
beſchäftigen ſoll, eben fo fremd, als Aufzählung von Büchern und 





58 Deutſche Riteratur: Philoſophie. 


Syſtemen; keines von beiden darf man im Folgenden ſuchen. Wir 
reden bloß von der Bildung, welche die Klaſſe von Menſchen, die 
ſich mit Literatur beſchäftigten, und deren Zahl bis nach dem 
ſiebenjährigen Kriege, wie Sulzer bezeugt, ſelbſt in Berlin ſehr 
klein war, durch den Unterricht, der auf den Univerſitäten ertheilt 
ward, erhalten, und durch Lehre, Predigt, Schriften unter * 
Volke verbreiten konnte. 

Die Nation nahm am dem literariſchen Leben wenig —* 
gar keinen Antheil; die zahlloſen Bücher, aus denen das Volk 
jetzt einen faßlichen Unterricht über alle Theile der Wiſſenſchaft 
und geiſtige Unterhaltung ſchöpfen kann, waren entweder noch 
nicht geſchrieben, oder doch nur wenigen Privilegirten zugänglich. 
Das gab den Orakeln der Studenten eine ganz andere Bedeutung, 
als ſie jetzt haben können. Die Enge des deutſchen Lebens, die 
unzähligen erbärmlich kleinen Höfe mit großen Prätenſionen, die 
Reichsſtädte mit ihrer Pedanterie und ihrer Krämerei, der Man— 
gel einer Hauptſtadt nöthigte die auf den Univerſitäten gebildeten 
Männer, in dem proſaiſchen Geſchäftsleben, in Kanzleien und an 
Höfen ihr ganzes Leben hindurch geiſtig von dem zu leben, was 
fie ehemals im Hörſaale irgend eines ſogenannten berühmten Do— 
centen niedergefchrieben Hatten. Dies. iſt e8, was dem größten 
Theile der an und für fich vielleicht unbedeutenden Männer, deren 
wir hier erwähnen wollen, in Beziehung auf Nationalbildung eine 
große Wichtigkeit gibt. Es mußten ja felbft die Deeretirmafchi- 
nen der Gerichte und Kabinete, die vielen gelehrten Formelmän— 
ner der Kanzleien, die Aerzte, ja fogar die vornehmen Herren, bie 
fich des Studierend wegen mit ihren Hofmeiſtern auf den Uni— 
verfitäten aufbielten, philofophifche Vorlefungen gehört haben. Es 
nahm fogar bis 1770, wie man bei Pütter fehen kann, die Noblefie 
und die zu ihr gehörenden Publiciſten an der auf Univerfitäten 
geltenden fyftematifchen Theologie, als an der Stüge aller Heinen 
Throne, großen Antheil, 

Da jeder deutfche Gelehrte, das heißt jeder, dev nicht die 
Gavaliers-Bildung hatte, denn diefe war durchaus und ausfchlie- 
end franzöſiſch, das Syſtem der Univerſität feines Landes und 
des berühmten Mannes auf derfelben, bei dem er gehört hatte, 
fein ganzes Leben durch als Leitftern feines Denkens und Han— 


Deutſche Literatur: Philoſophie. 59 


delns betrachtete, ſo ſollten wir hier eigentlich alle kleinen und 
großen Univerſitäten Deutſchlands aufzählen. Wir ſollten, weil 
nur von der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Rede 
iſt, die Lehrer der Philoſophie, welche in Roſtock, Erlangen, Alt 
dorf, Tübingen, Ingolſtadt Aufſehen machten, ebenſowohl auf- 
‚zählen als die Männer, welche nacheinander oder nebeneinander 
in Göttingen, Leipzig u. f. w. Epoche machten; wir verfchmähen 
‚aber. diefe Bollftändigfeit und erwähnen nur, was uns paſſend 
für unfern ganz beſondern Zweck fiheint, Gelegentlich müſſen 
‚wir jedoch bemerken, daß gerade in dem Zeitraum feit Wolfe 
‚Rückkehr von Marburg nach Halle bis auf Reinholds und Fichte's 
Auftreten in Jena, zum erſten Mal eine nicht vom Katheder und 
‚von Univerfitäts- und Studentenpropheten gepredigte Philoſophie 
in lesbaren Büchern, nicht in Gompendien, in gutem Deutich, 
‚nicht in einer nur Adepten verftändlichen Terminologie dev deut— 
ſchen Nation, gelehrt ward, Wir meinen Lefling, Mendelsiohn, 
‚Herder und Jacobi. - 

Mas die Philoſophie der deutichen Bildungsanftalten angeht, 
fo hatten die Bietiften durch die Verfolgung, welche fie über den 
Philoſophen Wolf durch den orthodoren König. Friedrich Wilhelm 
‚von Preußen verhängen ließen, die deutſche Philoſophie von Halle 
nach Marburg getrieben, wohin die Zuhörer dem vertriebenen 
Lehrer gefolgt waren. Als Friedrich U. den baronifirten Philo— 
ſophen zurücrief, fand er den Zulauf der Studenten, den er 


‚früher gehabt hatte, zwar in Halle nicht wieder, dafür ward er 


aber als Schriftiteller defto berühmter, . Ex ftiftete eine philofo- 
phiſche Serte, welche bis auf Kants Zeit die -zahlreichite in 
Deutſchland war. Er befrtedigte die deutfche Vorliebe für Gründ— 
lichkeit und bis ing Kleinfte gehende Genauigkeit und Ausführ- 
lichkeit dadurch, Daß er das Gold und Silber eines Leibnig, mit 
‚jeinem eigenen Kupfer verſetzt, In zahlreichen. Quartanten, die in 
furchtbarem Latein gefchrieben find, ausmünzte, Cr war urfprüng- 
lich Mathematifer, er nannte feine Methode die mathematifche, 
‚trieb aber das fogenannte Demonftriren fo weit, daß endlich die 
armen Deutjchen, als fie ihrem Orafel blindlings folgten, wenig 
dadurch gewannen, daß durch Wolf die fcholaftifche Methode und 
die jcholaftifche Lehre des Mittelalters von den Kathedern nicht 


60 Deutſche Literatur: Vhiloſophie. 


blos der proteſtantiſchen, ſondern auch der katholiſchen Univerſitäten 
verbannt ward. 

Man müßte ganz im Tone der Satyre reden, wenn man 
beſchreiben wollte, auf welche Weiſe zur Zeit des ſiebenjährigen 
Kriegs die Wolf'ſche Philoſophie, ſo wie ſpäter Die Kankſſche Die 
deutſchen Köpfe verwirrte und in allen Fächern ein höchſt lächer— 
liches Demonſtriren hervorrief. Auf allen Kanzeln wurden Pre— 
digten in mathematiſcher Methode gehalten, in theologiſchen und 
andern Lehrbüchern wimmelte es von Axiomen, Lehrſätzen, von 
Theorien, Definitionen, Diviſionen, Diſtinctionen und haarſcharfen 
Beweiſen ſolcher Dinge, die ſich zwar glauben, anſchauen, empfin- 
den, aber niemals mathematiſch demonſtriren laſſen. Um Gründ— 
lichkeit, Ordnung, Deutlichkeit erwarb ſich Wolf, gerade weil er 
vom mathematiſchen Wiſſen ausgegangen war, große Verdienſte, 
darauf legten aber die Nachbeter und Bewunderer viel weniger 
Werth, als auf die Erfindung einer beſtimmten Terminologie und 
auf die Breite und die Anmaßung, alles Wiſſen in die Begriffe 
ſeines Syſtems zu preſſen. Es kam dahin, daß in jener Zeit 
jeder Wolfianer, wie ſpäter der Kantianer, Fichtianer, Schel— 
lingianer, wenn er einige Bücher über reale oder hiſtoriſche und 
Erfahrungswiſſenſchaften durchblättert hatte, über alles Mögliche 
entſcheidend abſprechen durfte, ſobald er die Orakel und die Ter— 
minologie des Mannes, der ihn entzückt hatte, auswendig wußte 
und fertig anwendete. 

Daß Wolf zuerſt die philoſophiſche Allwiſſenheit der beutſehen 
Sectenhäupter und ihrer jugendlichen Schüler begründete, geht 
ſchon aus dem Verdienſt hervor, welches ihm die Deutſchen allge— 
mein zugeſchrieben haben, daß er nämlich zuerſt eine Encyklopädie 
der philoſophiſchen Wiſſenſchaften aufgeſtellt habe. Seine Quar— 
tanten behandelten nämlich die theoretiſche Philoſophie m 
folgenden Abtheilungen: Logik, Ontologte, Piychologie, Kosmo— 
logie, Theologie (die Testen vier unter dem allgemeinen Namen 
Metaphyſik); die praftifche Phtlofophte in folgende Fächer ge= 
theilt: allgemeine praftifche Philoſophie, Ethik, Naturrecht, Politik, 
Mir haben ſchon im erften Bande an der Stelle, wo von Bod— 
mer und Breitinger die Rede war, bemerkt, daß erſt Wolfs 
Schüler, Baumgarten, auch Kımft und Poeſie der ſpeculativen 


Deutfche Literatur: Philoſophie. 61 


Philofophie und den Syſtemen der Schule unterwarf. Herder 
Veitete. hernach die Philoſophen darauf, auch in den hiſtoriſchen 
Wiffenfchaften ihre ftrengen Gebote geltend zu machen. Er trug 
Geogonie, Ethnographie, Gefchichte und was damit zufammen- 
hängt, auf den feraphifchen Schwingen feiner Art Philoſophie 
und auf den cherubifchen der Poeſie zu Auftigen Höhen empor. 
Wolfs praktifche Philofophte behauptete ſich Tänger als feine Spe- 
fulation und fein mathematifches Demonftriven, und machte, des 
alten Gewandes beraubt, noch am Ende des Jahrhunderts zwei 
Männer, bei unferer an. Moralifiren gewöhnten und dem Eudä— 
monismus günftigen Nation, fehr berühmt. Diefe Männer waren ° 
Platner und Garve, welche das Welen der Wolffchen Philofo- 
phie beibehielten, Form, Darftellung und Richtung aber änderten, 
und defhalb hier auch nur im Vorbeigehen erwähnt werden dürfen, 
Halle war damals, troß aller Bemühungen Friedrichs IL, 
Pflanzſchule für pietiftifche Lehrer und für orthodoxe Theologen, 
bis Semler fpäter eine andere Richtung angab und Friedrichs 
aufgeklärte Minifter und Räthe Eberhardt anftellten. Wolfs 
Philoſophie erhielt ſich dort nur in theologifcher Form. Siegmund 
Jakob Baumgarten übernahm als Profeffor der Theologie das 
ſchwere Gefchäft, die Theologen mit Wolf Syſtem auszufähnen 
und wandte das neue Syſtem auf die alte Theologie und Aſecetik 
an, ohne diefen im Geringften wehe zu thun, während fein Bru— 
der, Merander Gottfried, Wolfs Syftem in die praktifchen Fächer 
brachte, und eine Wifjenfchaft erfand, die man Aefthetik nennt, 
Jakob Stegmund Baumgarten fand in Halle den Pietismus 
und die firenge lutheriſche Orthodorie in Zwieſpalt, er mußte 
feines Lehrers Wolf Demonftrir- und Definirmethode anzumenden, 
um fie zu vereinigen und philofophiich zu machen. Baumgarten 
benuste in feinen Borlefungen bald einmal Freylingshaufens 
Grundlegung der Theologie, bald des berüchtigten Lange, 
der durch feine Kabalen Wolf aus Halle vertrieben hatte, Oeko— 
nomte des Heils (Oeconomia salutis evangelica etc.). Gr 
309 die Theologen nach Halle, wie fein Bruder die Juriſten nach 
Frankfurt a, d, Oder. Die beiden Baumgarten führten aus, mas 
Bilfinger, Reufh, Winkler, Baumeifter, Ganz, Cramer, Gott- 
ſched, jeder in feiner Art, verfucht hatten, und was Ploucquet und 


62 Deutſche teratur: Philoſophle. 


Lambert hernach auch ſpäter noch mit Glück fortſetzten, als die 
Popularphiloſophie ſchon anfing, die Kathederphiloſophie Deutſch⸗ 
lands aus der Literatur zu verdrängen. Alexander Gottlieb 
Baumgarten machte durch feinen Vortrag die neue Schulphilo— 
fophte beſonders berühmt. Die Zuriften und die Freunde der 
Literatur und Kunft gingen nach Frankfurt a. d. Oder, um dort 
die auf Naturrecht und Theorie der ſchönen Künſte und MWiffen- 
ſchaften angewendete Wolfſche Philoſophie vom Erfinder der 
Aefthetit zu Teınen. Daß Baumgarten: als Lehrer, (denn von 
ihm als Schriftiteller läßt fich nicht dafjelbe fagen) ſehr wohlthä— 
tig auf die deutſche Bildung feiner Zeit wirkte, wird niemand 
leugnen, der daran denft, daß Nicolat, Suler und Töllner den 
Kern ihres philofophifchen Wiffens dem Wundermann der frank⸗ 
furter Univerſität verdanften. Der Buchhändler Nicolat, der her— 
nach die Dreiftigfeit hatte, unter den Philofophen als Philoſoph 
aufzutreten, als folcher in der Berliner Academie vornehm und 
zugleich grob mit Fichte zu ſtreiten, nachdem er früher allerdings 
große Verdienfte um unfere Nation, um Aufklärung und gefimden 
Menfchenverftand erworben hatte, preifet in einer übrigens höchſt 
anmaßenden Schrift 12) Baumgarten als erfte Quelle feiner phi⸗ 
Iofophifchen Kenntniffe. Er Hatte zwar nicht ſelbſt bet ihm ges 
hört, weil er nicht in Franffurt ſtudirte, ſondern dort nur Die 
Buchhandlung erlernte, Hatte aber feine Hefte gelefen. Sulzer 
war freilich als Client der Bodmer und Breitinger der Philoſo— 
phie Wolfs, welche Gottfched begünftigte, nicht durchaus gewogen, 
er konnte fich aber doch der von Baumgarten ergrübelten und von 
deſſen Schüler Meter verbreiteten Aeſthetik nicht ganz entziehen. 
Zöllner ſchöpfte den Stoff der Moraltheologie, wodurch er —— 
ward, ganz aus Baumgarten. 

Frankfurt a. d. Oder blieb auch nach Baumgartens Tode 
am Ende des ſiebenjährigen Kriegs eine der Philoſophie wegen 
ſtark beſuchte Univerſität. Aeſthetik mußte man freilich ſeit dem 





142) Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritiſchen 
Philoſophie und meine Schriften, dieſelbe betreffend, und über Herrn Kant, 
I. B. Erhard und Fichte, Von Friedrich Nicolai. Eine Bellage zu dem 
neuen Geſpräch zwifihen Chriſtian Wolf und einem Kantianer, Berfin und 
Stettin 1799, volle 266 Seiten. | 


Deuiſche Literatur: Philoſophie. 63 


Tode ihres Erfinders anderswo ſuchen; allein nur in Frankfurt 
fand man einen Mann, der durch feinen Vortrag anzog und, was 
unglaublich, erfcheint, praktiſche Jurisprudenz mit einer Philoſophie 
verband, die fich geltend zu machen wußte, obgleich fie Fein Zweig 
der Modephtlofsphte, d. h. der Wolfihen war, Die Stadt 
Frankfurt nämlich, welche im fiebenjährtgen Kriege fehr viel von 
ihrem Wohlſtande verloren hatte, bat den König von Preußen, 
ihre wieder einen Profeffor zu rufen, mie Baumgarten gemwejen 
fet, d.h. einen, der ſich auf einer andern Untverfität fo berühmt 
gemacht Habe, daß er die reichen Studenten, von denen die Bür— 
‚ger gewinnen könnten, nach Branffurt ziehe. Der König, der 
ihnen wohlthun Konnte, ohne daß er Unkoſten davon hatte, bewil— 
Yigte ihren Wunfch, und da der zu berufende Lehrer ein Philoſoph 
fein follte, befragte ex feinen Gefellfehafter, den Oberften Gutchard 
(Quintus Icilius), der fich mit Wolfſcher Bhtlofophte zu beichäf= 
tigen pflegte, Gutchard empfahl gleichwohl Feinen Wolfſchen Pht- 
Yofophen, fondern einen Mann, der ihm als Freimamer, als der 
Freund vieler Großen und befonders als derjenige befannt war, 
der Jena blühend und die Jenaer Bürger wohlhabend machte, 
Diefer Mann war Joachim Georg Darjes, deffen wir hier er- 
währen müſſen, weil er ohne etwas Bedeutendes in der Wiflen- 
ſchaft ſelbſt zu Teiften oder fie als Schriftfteller glänzend zu be= 
handeln, fait ein halbes Jahrhundert hindurch die deutſche Jugend 
philoſophiſch gebildet hat. Er verſammelte tn Sena_ und feit 1763 
in Branffurt a. d. Oder hunderte son Zuhörern um fich und tft 
gleichwohl beinahe verſchollen. Wie vergänglich der akademiſche, 
Angftlich gejuchte Ruhm fet, kann man daraus fehen, daß fogar 
der fonft fo genaue Tennemann Darjes zwanzig Jahre früher 
fterben laͤßt, als er in der That geftorben ift, und doch hatte 
dieſer das feltene Glück, daß ex trotz der Veränderung aller Dinge 
bis an feinen Tod (1792) wirkſam bleiben konnte. 

Da hier nur vom Verhältniß deutſcher Wiffenfchaft zum deut⸗ 
ſchen Leben, nicht von der Wiſſenſchaft ſelbſt die Rede iſt, ſo 
müſſen wir von Darjes ſelbſt einige Winke über das deutſche phi— 
loſophiſche Treiben entlehnen, wie es zu feiner Zeit war und lei— 
der. zu unſerer Seit wieder geworden ift. Darjes nämlich hat 
jelbft in einer Vorrede zu Bielefelds Anleitung zur Staatsklug— 


64 Deutf che Literatur: Philoſophie. 


heit (Jena 1764) den Gang feiner Bildung und feiner Schiefjale 
bis auf den Augenblick, wo er in Frankfurt ohne fremde Augen- 
gläfer jehen lernte, mit einer unter Gelehrten feltenen Aufrichtig- 
fett erzählt. Wenn man die mehrften der Leute, welche in unfern 
Tagen in Frankreich und Deutichland allgemeines Auffehen durch 
Philoſophie und Romantik erregt haben, etwas genauer betrachtet, 
wird man sehen, daß es allen ergangen ift wie Darjes, Ä 
Ohne alle Elaffiichen Studien, ohne Kenntniß der Alten, bloß 
mit einer Fertigkeit im barbariſchen Schullatein und mit einigen 
dürftigen mathematiſchen Kenntniſſen verſehen, lernte Darjes in 
Roſtock die ariſtoteliſch ſcholaſtiſche Philoſophie, welche in den 
Schulen herrſchte, ward in ihrer dialektiſchen Kunſt geübt, und 
alſo übermüthig und keck gemacht, wie Schulphiloſophen zu ſein 
pflegen. Er war auf dieſe Weiſe vortrefflich auf die demonſtri— 
rende Weisheit Wolfs vorbereitet und Carpov, der ſpäter nach 
Weimar kam, weihte ihn in Jena in die Geheimniſſe der wolf- 
ſchen Philofophte und in deren Anwendung auf ‚alles mögliche 
Wiffen gründlich ein. Die Wirkung, welche feine aller hiſtori— 
ſchen und realen Kenntniffe, des Gefühls, der Erfahrung, der 
Poeſie entbehrende Bildung auf ihn hatte, beichreibt Darjes fehr 
aufrichtig. Wir ſetzen feine Worte hieher, weil jedes neue. Schul- 
ſyſtem bis auf unfere Tage diefelbe Wirfung gehabt und daher 
die deutſche Philoſophie Weltleuten und Ausländern lächerlich ges 
macht hat.13) Died war um 1735 ald Wolf von den Bietiften 
und son den Orthodoren des Syſtems der ſymboliſchen Bücher 
verfolgt ward; auch Darjes ward daher verdächtig, er ſah fich 





13) Nun kam ich, fagt er in der angeführten Vorrede, als ein junger 
Wolfianer nah Haufe. Wer mir etwas wider die wolfifhen Lehrfäbe fagte, 
war mein Feind, und tin meinem Herzen hielt ich ihn für einen Menſchen 
von blödem Berftande. — — — — Ich befam hohe Gedanken von mir und 
nad diefen war ich damals wirklich gelehrter als ich jest bin. Die Anlage 
war da zu einem philoſophiſchen Klopffehter. Ih war Hüger wie Andere; 
Anderer Lehren Fonnte ich mit der fhönften Wendung gefährlich fhildern, und 
wer nicht lehrte was Wolf gelehrt, der war in meinen Augen verächtlich. 
Sch konnte auch vortrefflih ſchimpfen. Nur eine einzige Eigenfchaft eines 
philoſophiſchen Klopffechters fehlte noch — ich konnte von Andern in ihrer 
Abwefenhett nicht übel reden, ich Fonnte hinter ihrem Rüden ihre Lehren nicht 
fo ſchildern, daß fie ihnen ſchaden konnten u. |. w. 


Deutfche Literatur: Philofophie 65 


des Ölaubens wegen mit einer Verfolgung vor Gericht bedroht, 
und flüchtete fich zur Jurtsprudenz. Don 1737—1763 Yehrte er 
praftiiche Philoſophie, Naturrecht, Politik, Staatsrecht mehr in 
Beziehung auf Leben und Gefchäft, für den Gebrauch und zum 
Verſtändniß der Zuhörer eingerichtet, als nach dem Wolffchen 
Syſtem oder um als Erfinder zu glänzen. Gr hatte in: Sena 
und auch jeit 1763 in Frankfurt hunderte von Zuhörern, Es 
Hingt fait fabelhaft, wenn man uns berichtet, daß er in dem 
kleinen Jena ‚gewöhnlich vier bis fünfhundert Zuhörer hatte, und 
daß im Sommer, weil auch der größte Saal fie nicht faßte, nicht 
bloß die Treppen beſetzt waren, ſondern auch Leitern an die Fen— 
jter gejeßt wurden, um außerhalb Plätze zu fchaffen, Er war 
übrigens nicht der ‚Einzige unter den deutfchen Univerſitätslehrern, 
der. fich von Wolf unabhängig machte; Cruſius in Leipzig bildete 
sielmehr jogar ein dem Wolfſchen feindliches Syftem, deſſen Ruhm 
und Anjehn unter den Gelehrten größer war und noch ift, als 
Wolf Demonftrationen und Darjes praktiſche Lehren, obgleich 
es viel weniger Anhang hatte und weniger Lärm — Aufſehn 
erregte, als die Einen oder die Andern, 

Cruſius war ein fcharfer Denker und Dialektiferz aber im 
eigentlichiten Sinn ein Grübler. Kant fagt jedoch ausdrücklich, 
daß derjenige, der die alte dialektiſche Philofophie, die er mit ſei— 
ner Kritik beleuchtete, gründlich Eennen lernen wolle, Cruſius, nicht 
aber Wolf oder einen Wolftaner ftudiren müffe. Eine ganz ftreng 
ſyſtematiſche, trockne Logik von etwa zwölfhundert Seiten, eine noch 
corpufentere und wo möglich noch trocknere Metaphyſik, und ein 
pedantiſcher Bortrag konnten aber in einer Zeit, wo Deutfchland 
endlich einmal der. Feſſeln feiner Schulpedanten und Kleinen Ty— 
rannen aller Art entledigt werden und das Licht des Lebens mit 
freiem Auge ſchauen wollte, unmöglich Glück‘ machen. Cruſius 
ward bewundert, er. fand Anhang und Sekte, e8 gab Cruſia— 
ner; aber nur die Theologie empfand die Wirkung des fpikfin- 
digen Grüblers, welcher der großen Lejewelt ganz unzugäanglich 
war und deſſen Vorleſungen von Weltleuten wenig befucht mwur=. 
den. Da Cruſius den tief grübelnden Vhilofophen und den ſchwär— 
menden Theologen ‚angehörte, fo können wir ſeine Wirkſamkeit 


ganz unerwähnt laſſen. 
Schloſſer, Geſch. d. 18. u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 5 


66 Deuiſche Literatur: Philoſophie. 


Die deutſche Schulphiloſophie der Univerſitäten ward endlich 
zwiſchen den Jahren 1760-1770 von allen Seiten her erjchüt- 
tert. Die neue Literatur war ganz ungereinbar mit Wolfe Dist- 
fionen, Defintttonen und Demonftrationen und mit Cruſius dunf- 
Verem Grübeln; die Philoſophie ging daher als folche eine Zeitlang 
ganz unter amd ward erft durch Kant wieder erweckt. Reimarus, 
Leffing, Herder, Mendelsfohn und fogar Haller ftellten feine Sy— 
ſteme aufz fie wurden aber darum nicht weniger als Philoſophen 
anerkannt und viel gelefen, während die lateiniſchen oder barba⸗ 
riſch deutfchen Bücher der Kathederweiſen nur von ihren Schülern 
und von Altgläubigen benußt wurden. Wieland und fpäter Ja— 
cobi brachten fogar das, was fie Philofophte nannten, in Briefe 
fir Damen und in Romane. Die hochadlige, fürftliche und gräf- 
liche Jugend und ihre fie begleitenden Hofmeifter bildeten mit 
Berachtung. ihrer bürgerlichen Landsleute ihre an franzöſiſche Un— 
terhaltung von Jugend auf gewohnten Seelen durch die geiftreiche, 
wenn gleich höchſt Tetchtfertige und oberflächliche Franzöftiche Pht- _ 
loſophie der Enchklopädiſten. Feder, der um 1760 ein Baar Ba— 
zone auf die Univerfität Erlangen führte, rühmt zwar feinen Lehrer 
Sureow, der ihm ein Heft über Leibnig-Wolffche Philofophte dik— 
tirte, außerordentlich, gibt ihm aber geringen Einfluß auf die 
Studten, den Geſchmack und den Ton der Leute, denen damals 
Rang und Geburt ausfehliegenden Anfpruch auf alle Höheren Stel- 
len gab. Er fagt: Auf der Erlanger Untverfität ſtudirten da— 
mals nicht viele von Adel und die Wentgften waren Mufter des 


Fleißes. Das Beſuchen der in den angefehenften Familien ab "- 


wechſelnden Gefellfchaften, der Goncerte und Redonten nahm ihnen 
zu viel Zeit weg. Der herrfchende Ton in den Gefellfehaften war 
nach franzöſiſcher Sitte geftimmt und faſt zu frei, Voltaire, 
Rouſſeau, Helvetius waren die Klaffifer der Zirkel. 
Letztern pries mir auch eine galante, damals ſchon 
ztemlich verblüthe Frau mit franzöſiſcher Rede als 
den ächten Bhilofophen an.t) 

Pütter, Heyne und der Herr yon Münchhauſen Hatte jeder 
befsndere Gründe, feinen ſyſtematiſchen Philoſophen, keinen Mann, 





14) Voilä la vraie philosophie c’est lä qu’il faut puiser. 


Deuiſche Literatur: Philoſophie 67 


der entſcheidend aufträte und ſeine Zuhörer fortreiße und dem 
Praktiſchen entfremde, auf ihre Univerſität zu rufen; auch war 
außer Darjes Keiner, den ſie hätten rufen können, ſie zogen deß— 
halb 1768 Feder nach Göttingen, von dem ſie nicht mit Unrecht 
vorausſetzten, daß er dem Geiſte der Zeit gemäß eine populäre 
Philoſophie lehren werde. Er hatte ſchon in Koburg Darjes Ma— 
nier gebilligt und befolgt, er hatte zugleich Wolfs Lehre, Holl— 
mann und fogar Cruſius benubt, er fehlen daher der rechte Mann, 
um den Dilettantismus, damals Eclecticismus genannt, in Göt— 
tingen amd durch Göttingen geltend zu machen, Dies gelang ihm 
auch wirklich bis auf die Zeit, in welcher Kant eine neue Philo— 
jophie begründete, 

Feder felbft gibt uns eine Vorftellung von dem traurigen 
Zuſtande des phtlofophifchen Unterrichts auf der erften Univerfität 
Deutfchlands, wo damals alle Gelebritäten in allen andern Fä— 
ern verfammelt waren, Er fügt Hinzu, daß er damals ſelbſt 
gefühlt und ausgejprochen habe, daß die Deutſchen aufgehört hat 
ten, ihr Heil in Syftemen, im Grübeln und Speculiven zu fuchen, 
daß fie fich vielmehr der Poefte, den Künften und dem Studium 
des klaſſiſchen Altertfums zugewendet hätten. Dies ſcheint uns 
Feder ſchon durch den Titel feiner Antrittörede, über die Zu: 
geftändntife, welche die Philoſohie dem Zeitgetfte 
madhen müffe, auszuſprechen, bejonders aber durch den von 
ihm angeführten Sat aus diefer Rede, den nach ihm der einges 
bildete Heyne für ein Anerfennen des Vorzugs feines philologi— 
hen Handwerks vor der erſten aller Wiffenfchaften genommen 
hatte.s) Dies wird begreiflich, wenn man von ihm Hart, wer 

+. die Rente waren, welche damals Philoſophie in Göttingen lehrten, 
oder doch hätten lehren follen, Weder fagt: Weber, ein Wolfte- 
‚ner, der hernad) als Profeſſor der Theologie in Kiel ſtarb, war 
in der öffentlichen Meinung fehr gefunkenz; Becmann, ein eifriger 
Gruftaner, hatte feinen Vortrag. Hollmann war vielleicht zu ge— 
lehrt für die jungen Leute, vielleicht auch zu alt, md nad dem 
bamals herrfhend gewordenen äſthetiſchen Tone zu 


— 





15) Der Sag lautet: Philosophia nuper imperium tenuit, nunc li- 
terae dominantur elegantiores. 
5* 


68 Deutfihe Literatur: Philoſophie. 


trockenz; nach dem Urtheile eines aufblühenden Genies in einem 
Briefe an mich, ein palaeologus, der Gellerts Fabeln in Schlüffe 
uflöfet. Auf Erjuchen Ins Käſtner Metaphyfif. 

Feder huldigte hernach als Lehrer und Schriftiteller dem Geiſte 
der Zeit, er näherte fich den franzöſiſchen Philofophen der beſſern 
Art, nahm Manches son Rouſſeau, germanifirte es aber und ge= 
noß anfangs eines ähnlichen Beifalls wie Darjes, Cr mußte 
oft bei offenen Thüren leſen, der Borfaal war ganz gefüllt; es 
mußten viele Zuhörer abgemwiefen werden. Dieſe Zeit war Tängit 
vorüber geweſen, als der Verfaſſer diefer Gefchichte ihn kennen 
Yernte, er war. verlaffen, ohne daß er darım weniger tüchtig oder 
die Studenten philoſophiſcher geworden wären; ſoviel vermag überall 
die Mode, | 
Der Zuſtand der Sleichgiltigkeit und des Verfalls, welcher 
in Beziehung auf Philoſophie von 1767—1787 eingetreten war, 
ward der allgemeinen deutjchen Literatur ſehr vortheilhaft, weil 
das Philofophiren einmal von den Pedanten an die Belletriften 
fam, denen wir auch Leſſing, Jacobi, Mendelsjohn und Schloj= 
fer beizählen. Die neue wifenfchaftliche Philoſophie, welche von 
Kant ausging, entſtand übrigens gerade in diefem Zeitraum, wenn 
fie gleich, erſt ſpäter ans Licht Fam. Wir glauben, daß die Re 
solution: des ganzen deutfchen wifjenfchaftlichen Lebens, welche Durch 
Kants Philoſophie bewirft ward, und der. Einfluß derfelben auf 
alle Zweige der Literatur, ſowie auf alle philofophtiche Syiteme 
bis auf unfere Zeit eine Kenntni der Entftehung derfelben nöthig 
machen, wir wollen jedoch nur den Gang derjelben bezeichnen und 
ung auf das Aeußere beſchränken. Man darf übrigens nicht außer 
Acht laſſen, daß ‚fo wenig fich auch Humes Einfluß auf Kant 
leugnen laßt, feine Philofophte doch. eine ganz asengich deut= 
ſche war. 

Ehe wir, von Kant veden, müffen wir zuerft einen Bli auf 
die Bewegungen werfen, welche von 1768—1787 aus dem Be— 
dürfniß einer neuen gründlichen Schulphilofophie hervorgingen und 
zum Theil nicht einmal durch Schriften fund wurden; fondern 
aus den in unferm Jahrhunderte gedruckten Briefen einzelner den— 
fender Männer müffen errathen werden. Die Briefe und Kleinen 
Schriftchen, die wir hier benugen müflen, find fo verbreitet, dat _ 


Deutſche Literatur: Philoſophie. —69 


wir die Bekanntſchaft mit denſelben vorausſetzen dürfen und daher 
nur hie und da einmal auf eine einzelne Stelle zu verweiſen 
brauchen. Wir müſſen übrigens in Preußen und in den Oſtſee— 
propinzen des ruffifchen Reichs den Urfprung und das Bedürfniß 
einer neuen philoſophiſchen Bildung juchen, weil man tm eigent- 
lichen Deutfchland mit Dilettantismus und ſchöner Rede zufrie— 
den war, | | 

Die Lehrer der füddeutfchen Univerfitaten und zum. Theil 
auch von Jena und Halle quälten fich noch lange mit einer Art 
von Wolfianismus oder Cruſianimus; Feder in Göttingen fuchte | 
eine Moralphilofophte zu begründen, wie Darjes in Frankfurt an 
ber Oder eine Rechtsphilofophte; aber beide Eonnten tiefen Den— 
fern nicht genügen. Ste Eonnten dem Zeitbedürfniß nicht,‘ wie 
Abt, Herder, Mendelsfohn durch Form und Darftellung erjegen, 
was ihnen an Tiefe und an Schärfe der Begriffe abging. Bafe- 
dow und Wieland befriedigten jeder nur das Bedürfniß einer ge— 
wiffen Klaffe des großen Publikums. Wieland gab freilich den 
Ton an Höfen und in Hauptftädten an; aber nur allein darum, 
weil er auf franzöſiſche Weiſe philofophirte, und fogar Die griechi— 
ſche Philoſophie in franzöſiſche Form brachte, oder franzöſiſche 
Philoſophie Yehrte, während er griechtfche zu Iehren vorgab, Auch 
Mendelsfohn, fo gründlich und gelehrt er mar, befriedigte die ſpe— 
fufativen Köpfe nicht ganzz die grübelnden im eigentlichen 
Preußen aber, von wo hernach das neue Syſtem ausging, ganz 
und gar nicht. - Man Eonnte alfo, weil die Zeit eine Philofophte 
forderte, welche den Gebildeten genüge, ohne die Gelehrten ganz 
unbefriedigt zu laſſen, von Mendelsfohns ſämmtlichen Schriften, 
wie fpäterhtn von. F. 9. Jacobis Philofophie, fagen, was Has 
mann in einem Briefe vom Juli 1767 von der Vorrede zu Men- 
delsfohns Phädon ſagt: „Ich Habe die Vorrede zum Phädon 
durchgelefen und denke, daß fie ſchöner geſchricben als gedacht tft.” 
Wenn die Frommen, die fo gern jeden Traum des Gefühle, oder 
jede unter den Menfchen herrichende Fromme Meinung von Gott 
und Unfterblichkeit gelten Iaffen, fo von Mendelsfohns Beweifen 
dachten, was follten fie erft von den andern fagen? Es entjtand 
daher ein allgemeiner Kampf, aus dem eine ganz neue Wiſſen— 
ſchaft hervorgehen mußte, weil er Leben werte und Kräfte übte, 


70 Deutſche Literatur: Philoſophie. 


Die franzöſiſchen Philoſophen und Wielands galliſches Grie— 
chenthum verſchmähten nicht blos Leſſing, Herder, Hamann, 
Schloſſer und ſehr viele andere; ſondern es war auch als Pro— 
duft des fihwelgenden Adels biedern Bürgern verhaßt. Nicolais 
Derbheit und Arroganz und die Art, wie er und die unter feinen 
Fahnen dienenden praftiichen Männer feines Berliner Heeres mit 
der Volksreligion umgingen, mußte wohl auch einem Leſſing zu— 
wider fein, da er durch Schriften bewiefen hat, wie viel vortreff⸗ 
Vicher die ſcholaſtiſche Conſequenz eines Petrus Lombardus if}, 
als das Geſchwätz eines preußifchen Eberhard. In dieſer Zeit 
galt einmal Feine Terminologie und keine Phraſeologie in. Deutſch⸗ 
Yand als Philoſophie, und Feines Meifters umverftändlicher Bom— 
baft ward von Schülern wie von Papageien nachgebetetz aber 
dauern konnte der Zuftand nicht, wenn nicht alles ernite Streben 
fich im leeres Geſchwätz auflöfen ſollte. Für den Mebergang vom 
fogenannten Eclecticismus und Nicolaismus zum. tiefern Denken 
find Lefling, von dem wir weiter unten ausführlich veden werden, 
5 9. Jacobi, Herder und Schloffer und fogar Johann Georg 
Hamann wichtig. Der Lebtere befonders darum, weil wir aus 
feinen in unferm Jahrhundert gedrudten Briefen und aus ben 
mit diefen neu gedruckten und gefammelten Schriftchen Ternen, 
daß er im Stillen eine Kritik übte, die fait wirffamer war, als 
die ‚nffentliche. Seine Schriftchen waren alle wunderlich und 
unverftändlich, fie hatten aber alfe, wie die ganz Flaven und ein- 
fachen Brivatbriefe, einen Fritifchen und ſatyriſchen Zweck. Hamann 
fühlte das Mangelhafte einer Berftandesreligion und dag Unge— 
nügende einer Reflectionsphilofophie, er Ipottete Darüber und deu— 
tete Befleres anz dies verichaffte ihm einen Einfluß auf die ver- 
ftandigen Männer, der fich bei den Schwärmern und Myſtikern 
ſeiner Zeit aus feinem Myſticismus und feinem blinden Glauben’ 
erklären laßt. Man wird daher begreifen, wie er zugleich für 
Kant und für Herder, und fpäter für Jacobi als ein im Stillen 
und unmerklich einwirfender Freund und Kritifer wichtig fein, - 
und ſogar Kant zuerft mit Nicolai in Berbindung bringen fonnte, 
mit dem er damals noch leidlich gut ftand, 16) Der Verkehr 


16) Hamann ſchreibt am 26. Junt 1763 an Lindner: Weymann hat 
Kants einzig möglichen Beweisgrund zur Demonſtration des Dafeins Gottes 





Deuiſche Literatur: Philoſophie. 71 


zwiſchen Hamann, Kant und Hippel iſt dabei ganz anderer Art, 
als der zwiſchen Hamann und Herder, und auf eine wieder ganz 
verſchiedene Weiſe wirkt hernach Hamann auf F. H. Jakobi. 
Wenn er übrigens zuletzt mit der Bande der zarten Freunde der 
Gallizin in Verbindung kommt, ſo ſieht man aus dem, was 
er über Hemſterhuys Philoſophie ſagt, daß er dieſe Leute weit 
überſah. 

Zur Zeit des Eelectiecismus erkannte auch ſogar Herder Kant 
als den Mann an, der den Schulpedanten und den philofophi- 
ſchen Schwäßern den Untergang bringen werde. Man muß fich 
daher wundern, wie derſelbe Mann, der in feiner Jugend ſo edel, 
jo offen, fo wahr eingeftanden hatte, 17) daß ex nicht zum Philo— 
fophen geboren oder gebildet fet, fich ſpäter gegen die Philoſophie 
erheben mochte, welche Kant vierzig Jahre lang durchdacht hatte, 
ehe. er fie and Licht brachte. Kant ward, wie wir aus den Brie— 
fen. der wenigen Männer ſehen, die fich in jener durchaus belle— 
triſtiſchen Zeit ernftlich und eifrig um philoſophiſche Wiſſenſchaft 
und Forſchung befümmerten, ſchon viele Jahre lang als Meifter 
im ganzen Umfange des menfchlichen Willens anerfannt, che er 





widerlegt. Ich habe das Manuffript fo wenig hinten als vorn gefehen. Letz⸗ 
terer hat Urſache, fich vor feinem Gegner zu fürchten und verbient eine exem⸗ 
plarifche Ruthe. Bor einigen Wochen ſchon habe ich einen Brief an Nicolai 
angefangen, worin ich den M. Kant dem Verf, ber philoſophiſchen Schriften 
empfohlen, mit der Verfiherung, daß unfer Landsmann ein Mann iſt, ber 
die Wahrheit eben fo fehr Tiebt, als den Ton der guten Gefellfchaft. 

17) Herder fohreibt im Iahre 1766 an Hamann: Meine ganze Bildung 
gehört zu den widernatürlichen, die uns zu Lehrern macht, da wir Schüler 
fein ſollten. Haben Sie Mitleiven mit mir, lieber Freund, daß mich Das 
Schickſal in einem pebantifchen Morungen hat geboren werben laſſen, daß ein 
einfettiger Trefho meinen erfien Funken wedte, und daß ich in Königs: 
berg mir mit dem Srepter des Dionyfus meine Galgenfrift zum Studiren 
habe erwerben müſſen. Hätte th außer einem Kant auch noch Pedanten 
hören können, die meine Hitze abgekühlt und mir Schulmethode Hätten lehren 
follen; hätte ich durch den Umgang mir den Weltton angewöhnen können, 
hätte ich mehr Uniformes mit der Univerfität und dem Gros meines Standes 
angenommen; fo würbe ich nielleih anders denken; aber aud nit das⸗ 
felbe denken — — — Meine Studien find wie Zweige, die durch ein Un⸗ 
gewitter mit einmal ausgetrteben werden. Aber wiſſen Ste au, daß ih 
noch nicht im Alter der Reife, fondern der Blüthe bin? 


72 Deuiſche Literatur: Philoſophie. 


noch dem Publikum bekannt war. Königsberg lag fern vom 
Innern Deutſchlands, denn Berlin war noch nicht Univerſität, 
und Frankfurt an der Oder und Halle, oder mit andern Worten, 
Darjes und Wolfs Schüler, erkannten Kant niemals an. Gerade 
aus dieſer Urſache bewirkte die Kantſche Philoſophie, als ſich end⸗ 
lich der Hauptlehrer auf einer philophiſchen Univerſität und die 
literariſchen Journale, die damals noch einen Einfluß hatten, den 
ſie jetzt verloren haben, ihrer annahmen, eine vollſtändige Revo— 
lution in der ganzen deutſchen Bildung. Weil dieſe Revolution 
unſerer ganzen Literatur durch die Kantſche Philoſophie mit der 
politiſchen Revolution in Frankreich zuſammenfiel, können wir 
hier nur den Urſprung derſelben andeuten, die Geſchichte des 
Fortgangs gehört in den folgenden Band. Daß wir nicht mit 
Unrecht mit der Wirkung von Kants erſtem Auftreten eine Revo— 
lution in der Philoſophie der Deutſchen verbunden haben, könnten 
wir aus Tieftrunks Vorrede zu ſeiner Ausgabe von Kants klei— 
neren Schriften beweiſen, denn dieſe erſchien, als das Ereigniß 
noch ganz neu war. Tieftrunk ſagt dort wörtlich: „Man erblickte, 
als die Kritik der reinen Vernunft erſchien, darin allge 
mein einen neuen Morgen des Philofophirens. Der Plan war 
nicht auf eine Reform: der. gangbaren Lehrbegriffe, fondern auf 
einen gänzlichen Umfchwung der philofophifchen Denkungsart, 
nicht auf eine Genfur des beftehenden Syſtems, fondern auf eine 
Kritik des Erkenntnißvermögens ſelbſt angelegt, und der Denker 
ſah ſich in Schwierigkeiten verwickelt, in welchen ſich zu finden 
und welche zu überwinden eine anhaltende Arbeit und ein ent— 
ſchloſſener Muth erfordert wurde. Es konnte zu nichts dienen, 
das, was hier gegeben wurde, nur zu lernen und in eine hiſto— 
riſche Erkenntniß aufzunehmen, der Leſer mußte ſich ſelbſt zu der 
Höhe eines eignen Blicks in fein eignes Vernunftvermögen erhe— 
ben und die. Idee des Ganzen in allen feinen Gliederungen durch 
Selbftanftvengung erarbeiten, und er fand fich bier auf den kriti— 
chen Punkt geftellt, entweder Alles oder Nichts zu verſtehen.“ 
Schon als junger Mann, noch ehe es in Deutfchland tagte, 
fühlte Kant die Mangelhaftigkeit des ganzen philofophifchen Trei- 
bens, er empfand. alſo das Bedürfniß einer Nevolution: der Wiſ— 
jenichaft in allen ihren Zweigen eben fo viele Jahre voraus, als 


Deutſche Literatur: Philoſophie. 73 


Rouſſeau und Montesquieu das Bedürfniß einer Staatsummäl- 
zung des franzöſiſchen Reichs. Im diefer Beziehung fagt er in 
der Schrift Gedanfen von der wahren Schätung der 
lebendigen Kräfte und Beurtheilung der Beweife, 
deren ſich Herr von Leibnitz und andere Mechaniker 
in dtefer Stretitfache bedient haben, die er 1747, alfo 
ſechs Jahre vor feiner erften Anftellung in Königsberg herausgab, 
Folgendes über die alte Metaphyſik: Unfere Metaphyſik ift 
wie viele andere Wiffenfhaften in der That nur an 
der Schwelle einer recht gründlichen Erfenntnif. 
Gott weiß, wenn man diefelbige wird tberfchreiten ſehen. Es tft 
nicht ſchwer, ihre Schwäche in Manchem zu fehen, was fie unter— 
nimmt. Man findet oft das Vorurtheil als die größte Stärfe 
ihrer. Beweife, Nichts ift mehr hieran Schuld, als die herrichende 
Neigung derer, welche die menjchliche Erkenntniß zu erweitern 
ſuchen. Sie wollten gern eine große Weltweisheit haben; allein 
es wäre zu wünfchen, daß es auch eine gründliche fein möchte,“ 
In diefer Anſicht ward er hernach durch das Studium von David 
Humes philofophifchen Schriften befeftigt, Fonnte aber nicht, wie 
dieſer bei der bloßen Sfepfis ftehen bleiben. Wir übergehen feine 
allgemeine Naturgefhichte und Theorie des Him— 
mels, welche er, (nachdem er 1750. Brofefior in Königsberg 
geworden war) um 1755 herausgab, weil fie uns in die Neihe 
der Schriften, wodurch er fich als Fünftigen Urheber einer Revo— 


lution der philofophifchen Wiffenfchaften fund gibt, nicht zu gehö— 


ven fcheint, obgleich auch in diefer Schrift Manches gegen herge- 
brachte Meinungen gefagt wird. Er gab damals vorerft nur 
alfein in feinen Vorlefungen fund, was er beabfichtige, und ward 
deßhalb in Preußen, Liefland und Curland, von einem Hippel, 
Scheffner, Herder, Hamann längſt als ein großer Mann aner— 
fannt, als man ihn in Deutfchland nur noch aus den Literaturs 
briefen und durch DBermittelung der Nicolaiten kannte. Im Jahre 
1762 ſchreibt er indeſſen ſchon in einem Briefe an den großen 
Mathematiker Lambert, der unftreitig neben Bilfinger der fchärfite 
Denker unter den Wolfianern war, daß alle‘ bisherigen Syfteme 
der Metaphyſik nur Dunft und Spphiftereten feten, und daß es 

nur einen einzigen Weg gebe, zu einer Metaphyſik zu gelangen, 


74 Deutſche Literatur: Phtlofophte. 


welche den Forderungen der Bernunft mehr Genüge leiſte, 
als die bisherigen gethan hätten, 

Mas er in dieſem Privatbriefe ausſprach und feinen Zuhö— 
rern mündlich verkündigte, deutete er im Jahr 1762 auch’ in 
einer Schrift an, welche viel Aufſehen machte. Sie hat den 
Titel: die falfhe Spikfindigfeit der vier ſyllogiſti— 
hen Figuren erwieſen. Diefe Schrift war beitimmt, bie 
Logik zuerft wenigftens von unfruchtbaren Spitzfindigkeiten zu fäu- 
bern, fie auf ihre Prinzipien zurüczuführen und auf diefe Weife 
den Weg zu bahnen, um fie innerhalb der ihr durch ihren Begriff 
beftimmten Gränzen einzufchließen, Er felbft ſagt in dieſer Be- 
ziehung gegen dad Ende der Schrift: Ich würde mir zu ſehr 
jchmeicheln, wenn ich glaubte, daß die Arbeit von wenigen Stun- 
den hinreichend fein werde, den Coloß umzuſtürzen, der fein Haupt 
in den Wolfen des Alterthums verbirgt, und deſſen Füße non 
Thon find. Meine Abficht ift nur, Nechenfchaft zu geben, weß— 
wegen ich im dem logiſchen Bortrage, in welchem ich nicht 
alles meiner Einjiht gemäß einrichten kann, ſon— 
dern manches dem herrſchenden Geſchmacke zu Ge— 
fallen thun muß, in dieſen Materien nur kurz ſein werde, 
um die Zeit, die ich dabei gewinne, zur wirklichen Erweiterung 
nützlicher Einſichten zu verwenden. Es gibt noch eine gewiſſe 
andere Brauchbarkeit der Syllogiſtik, nämlich vermittelſt ihrer, 
in einem gelehrten Wortwechſel dem Unbehutſamen den Rang 
abzulaufen. Da dieſes aber zur Athletik der Gelehrſamkeit gehört, 
einer Kunſt, die ſonſten wohl ſehr nützlich ſein mag, nur daß ſie 
nicht viel zum Vortheil der Wahrheit beiträgt, ſo übergehe * ſie 
hier mit Stillſchweigen. 

Dies geht die Logik an, in Beziehung auf Reform der Me— 
taphyſik gab Kant Winke über das, was er im Stillen vorberei⸗ 
tete, durch zwei im Jahre 1763 herausgegebene Schriften, von 
denen die Eine die Epidenz der metaphyfifchen Wiffenichaften 
überhaupt und die Zweite den Grund der ganzen fogenannten na= 
türlichen Theologie aus einem Fritifchen Standpunkte betrachten 
lehrte. Die Erfie enthielt eigentlich die Beantwortung einer von 
der Berliner Akademie aufgeitellten Preisfrage und führte den 
Titels Unterfuchungen über die Deutlichfeit der Grundſätze ber 


Deutſche Literatur: Philoſophie. 75 


natürlichen Theologie und Moral, die andere handelt von dem 
einzig möglichen Beweisgrunde zur Demonſtration 
des Daſein Gottes. In dieſen beiden Schriften ward ange— 
deutet, mit welcher Revolution Ontologie, Kosmologie und Theo— 
logie der alten Metaphyſik von dem Urheber der kritiſchen Phi— 
loſophie bedroht waren. Die 1766 bekannt gemachten Träume 
eines Geiſterſehers erläutert durch Träume der 
Metaphyſik gaben dem größeren Publikum zu verſtehen, daß 
die ſogenannte Pneumatalogie der Metaphyſiker ein Irrlicht 
ſei, welches die im Dunkeln wandelnden Grübler und Schwärmer 
in Moraſt locke. Dieſe Abhandlung und der Anhang über Swe— 
denborg und Swedenborgianer hielt freilich Cruſius nicht ab, 
Schröpfers Gaufeljpiel und Betrügerei durch feine Philofophie zu 
unterftüben und mit tiefem Grübeln und dunklem Orafeln auf 
den Teufel und feine Engel zurüdzuführen. Im erſten Haupt- 
ſtück dieſer Schrift fordert Kant in Beziehung auf den Ausdrud 
Geiſt alfo auch Seele eine Prüfung, welche bis auf den heu— 
tigen Tag ſtets umgangen wird, mwenn man Geiftertheorien er⸗— 
findet und beim gewöhnlichen Unterricht fich die Sache außeror— 
dentlich Teicht macht, Kant fagt: Wenn alles Dasjenige, was 
dev Schulfnabe von Geiftern herbetet, der große Haufen erzählt, 
der Bhilofoph demonftrirt, zufammengenommen wird, fo fcheint 
e8 Feinen Heinen Theil unferes Wiſſens auszumachen, Nichts 
deito weniger getvaue ich mir zu behaupten, Daß, wenn es Je— 


| mand einfiele, fich bei der Frage etwas zu verweilen, was denn 


das eigentlich für ein Ding ſei, wovon man unter dem Namen 
eines Geiſtes foviel zu verſtehen glaubt? er alle diefe Vielwif- 
fer in die größte Verlegenheit verfeßen wiirde. Das methodt- 
Ihe Geſchwätz der hoben Schulen tft oft nur ein Ein— 
verftändniß durch veränderlihe Wortbedeutungen 
einer fohwer zu löſenden Frage auszuweichen, weil 
das bequeme und mehrentheils vernünftige: Sch weiß nicht, 
auf Akademien nicht Veichtlich gehört wird. Gewiſſe neuere Welt: 
weiſen, wie fie fich gern nennen laſſen, kommen ſehr leicht über 
diefe Brage hinweg. in Geift, heißt es, ift ein Wefen, welches 
Vernunft hat, Sp tft es alfo denn Feine Wundergabe Geifter zu 
jehen, denn, wer Menfchen ſieht, der fieht Weſen, welche Ver— 


76 Deutfche Literatur: Philoſophie. 


nunft haben. Allein, fahrt man fort, diefes Wefen, welches im 
Menfchen Vernunft hat, tft nur ein Theil vom Menfchen und 
diefer Theil, der ihm belebt, tft ein Geiſt. Wohlan denn: ehe 
ihre alfo bemweifet, daß nur ein geiftiged Weſen Vernunft haben 
fonne, jo forget Doch, daß ich zuvörderſt verftehe, mas ich mir 
für einen Begriff von einem geiftigen Weſen zu machen Habe. 
Diefe Selbfttäufchung, ob fie gleich grob genug tft, um mit halb 
offenen Augen bemerft zu werden, tft doch von ſehr begreiflichem 
Urfprunge. Denn, wovon man frühzeitig als ein Kind fehr viel 
weiß, davon tft man ficher, ſpäterhin und im Alter nichts zu 
wiffen und der Mann der Gründlichfeit wird zuletzt 
höchſtens der Sophiſt feines Jugendwahns. Ich weiß 
alſo nicht, ob es Geiſter gibt; ja, was noch mehr iſt, ich weiß 
nicht einmal, was das Wort Geift bedeutet. Wie ganz anders 
Kant die Philoſophie betrachtete, als alle Leute, die fich ſpäter 
durch den Lärm, den fie unter Studenten und Weltleuten mach— 
ten, zum Anfehen von Propheten und Sectenftiftern erhoben und 
bis auf den heutigen Tag als Hof- und Refidenz-Sophiften glän— 
zen, fieht man am beften aus feiner Gorrefpondenz mit Lambert. 
Er dachte auch dann noch nicht daran mit feiner Reform der 
ganzen theoretifchen Phtlofophie zu prahlen, als fie ſchon ganz 
fertig gearbeitet war; er ließ noch mehr als zehn Jahre verflie— 
pen und arbeitete indeffen an der Begründung einer neuen Ethik, 
Nur feine näheren Freunde und unter diefen der Mann, der den 
geiftreichften Schriftftelleen jener” Zeit mit feinem Rathe nüglich 
ward, Johann Georg Hamann, waren mit dem Gange feiner 
Arbeiten bekannt, denn der Letztere fchreibt Schon im Februar 1767 
an feinen Freund Herder: „Herr Kant arbeitet an einer Meta= 
phyſik der Moral, die, im Gontraft der bisherigen, mehr unter- 
fuchen wird, was der Menfch tft, als was er fein fol.“ Cr Au: 
fert dabei Freilich nach feiner Art das Bedenken: „Wenn ſich das 
Grfte füglich ohne das Letztere im eigentlihen Stun bes 
ſtimmen läßt.“ Erſt im Jahr 1770 gab er in einer Tateint= 
ſchen Differtation de mundi sensibilis atque intelligibilis forma 
et prineipiis, welche er nach dem Gebrauche der Zeit beim An— 
tritte der ordentlichen Profefjur der Logik und Metaphyſik tm 
Auguft des Jahrs vertheidigte, die Grundfäge kurz an, die er zu 


Deutſche Literatur: Philoſophie. 77 


befolgen gedenfe. Darüber erklärt er fich in einem Briefe, den 
er im September 1770 an Lambert fohrieb, in folgenden Wor— 
ten ganz beftimmt: Seit etwa einem Jahre, jchreibt er, bin ich, 
wie ich mir fehmeichele, zu. demjenigen Begriffe gekommen, wel- 
chen ich nicht beforge, jemals ändern, wohl aber erweitern zu 


dürfen und wodurch alle Art metaphyſiſcher Quäſtionen nad 


ganz fichern und leichten Kriterien geprüft und in wiefern fie auf- 
löslich find, oder nicht, mit Gewißheit kann entjchieden werden, 
— — — Ich habe mir vorgenommen, dieſen Winter meine Un— 
terfuchungen über die reine moralifche Weltweisheit, in der feine 
empiriichen Brineipien anzutreffen find, und gleichjam die Meta- 
phyſik der Sitten in Ordnung zu bringen und auszufertigenz fie 
wird in vielen Stücken den wichtigiten Abfichten bei der verän- 
derten Form der Metaphyſik den Weg bahnen und fcheinet mir 
überhaupt bei den zur Zeit noch ſo fehlecht entfchtedenen Prin— 
zipten der praftifchen Wiffenfchaften nöthig zu fein Nach Vol— 
Vendung dieſer Arbeit werde ich mich der. Erlaubniß bedienen, 
die Sie mir ehedem gaben, meine DBerfuche in der Metaphyſik, 
jomweit ich in denfelben gekommen bin, Ihnen vorzulegen. 

Schon ehe er auf diefe Weiſe zur Kritik der praftifchen Ver- 
nunft, wie er es ſpäter nannte, ganz im Stillen den Grund legte, 
hatte er den Plan einer Reform der Aefthetif entworfen und die 
‚ Brineipien, die ex zu befolgen gedenfe, tn einer Kleinen Schrift 
wenigftend angedeutet.  Diefe Schrift waren die 1764 bekannt 
- gemachten Beobachtungen über das Gefühl des Schö— 

nen und Grhabenen, welche befonders von Schiller mit Dank— 

barfeit als Winfe anerkannt werden, denen er theoretifch und 
praftifch jehr viel verdanfe, Gr rühmt in feinem Briefwechſel 
mit Göthe (1. ©. 108) ‚nicht blos die darin enthaltene neue 
Srundlegung einer neuen Aefthetit, fondern ganz beſonders die 
vielen in derfelben enthaltenen Winke über den Menfchen und die 
Natur des menfchlichen Getites. 

Im großen Publikum wurde wenig von Kant geredet, weil 
auch jogar Hippel, der fich erlaubte, Kants Vorträge und Hefte 
und ſogar das Refultat feines perfünlichen Verkehrs mit ihm in 
populärer Form feinen Romanen einzuverleiben, dies nach fei- 
ner Art, d. h. verftohlen und ohne weder vor noch nachher Darüber 


78 Deuiſche Literatur: Philoſophie. 


mit Kant zu reden, oder ihn zu nennen gethan hatte. Dies gilt 
beſonders von dem Büchlein son der Che und von den Lebens— 
laufen in auffteigender Linie. Dieſe verdanken einen großen Theil 
des Auffehens, welches fie erregten, und befonders bie ganz aus— 
gezeichnete Aufmerkſamkeit, welche ihnen alle diejenigen widmeten, 
denen weder Wielands noch der Franzofen Philofophte noch der 
Eelecticismus oder die Berliner Weisheit genügte, dem Umftande, 
daß fie lange vorher, ehe Kant feine Hauptwerfe befannt gemacht 
hatte, 18) dte intereffanten Nefultate der neuen Philoſophie ver— 
fündigten. Das myftifche Dunkel, worin Hippel fein Leben und 
feine Moralität mit vollem Rechte, feine Schriftftellerei aber ohne 
eigentliche Urfache hüllte, veranlaßte daher die Vermuthung, daß 
Kant dem berühmten Humoriſten bei feinen Romanen "geholfen 
habe. Diefe Meinung war für Hippel, dev aus allem Nuten 
zu ziehen wußte, in Beziehung auf das Lob, deflen er fich im 
Stillen freute, weil er fich nie zu feinen Büchern befannt hat, 
fehr erwünfcht, Kant dagegen eilte nach feines Freundes Tode, 
defien Verfahren, ohne gerade fein Andenken zu kränken, ins rechte 
Licht zu ſetzen. Wir fügen. den mefentlichen Theil von Kants Er— 
Harung vom 6. Dez. 1796 in der Note bei, 19) 

Als endlich im Jahr 1781 im Juni die Kritik der reinen 
Dernunft gedruckt ward, zeigte fich hei der Gelegenheit, wie wer 
nig Männer in Deutfchland fähig und geneigt feien, die gewöhn— 
liche Bahn des Philofophirens zu verlaffen und die hergebrachten 
und geltenden Ausdrüde, Begriffe, Methoden wiffenfchaftlich zu 
prüfen. Das gefteht ſogar der Meifter des Dunkeln und Ber 





18) Die Lebensläufe erfchlenen 1778. 
19) &8 tft allerdings wahr, fagt er, daß in Hippels Schriften viele 


Stellen vorkommen, weldhe mit vielen Stellen meiner fpäter als die Kritif 


der reinen Vernunft herausgefommenen Schriften buchſtäblich übereinftimmen, 
dies iſt aber daher zu erflären, daß ich mein ganzes Syſtem erft 1770-80 
ausgearbeitet; fragmentarifch aber während diefer Seit und ſchon früher mei- 
nen Buhörern vorgetragen habe. Die Hefte der nachgeſchriebenen freien Vor: 
träge über Logik, Moral, Naturrecht u. ſ. w., befonders über Anthropologie, 
bat Htppel benugt und für feine Zwede gebraucht; jedoch dieſer Ber 
nubung der Hefte wie feiner eigenen Schriftſtellerei nie im 
urn erwähnt, 


Deuiſche Literatur: Philoſophie. 79 


worrenen, ber wunderliche und verworrene Hamann, in feiner Arts 
zeige oder Nezenfion des eben erfchtenenen Werks, welche man im 
ſechsten Theile feiner von Roth herausgegeben Schriften gleich 
vorn leſen kann. Er fucht zwar das Buch zu empfehlen, von 
dem ex In feinen Briefen an Herder um diefelbe Zeit durchaus 
nicht sortheilhaft Tpricht, gibt aber doch am Schluffe zu verftehen, 
daß das Buch feines tranfeendentalen Inhalt wegen nur von 
einigen werde gelobt, obgleich von Allen gekannt werden, daß 
jedoch blutwenige fein möchten, die es verftänden. Selbſt in der 
lobenden Anzeige des Inhalts jagt Hamann, der gerade damals 
Humes Schrift Über natürliche Religion (dialogues on natural 
religion) überſetzte, ziemlich ironisch: Die Kritik der reinen Ver— 
numft tft die vollſtändige dee einer Tranſceendental-Phi— 
loſophie. Unter diefem nenen Namen verwandelt ſich die ver— 
jährte Metaphyſik aus einem zweitaufendjährigen Kampfplat 
endlöfer Streitigkeiten endlich einmal in ein ſyſtematiſch ge= 
ordnete Inventartum aller unferer Beſitze durch 
reine Bernunft — und ſchwingt fich auf den Fittigen einer 
ziemlich abftraften Genealogie und Heraldif zu der mo- 
narchifehen Würde und der olympifchen Hoffnung, als die ein- 
zige aller MWiffenfchaften ihre abfolute Vollendung und zwar 
in kurzer Zeit zu erleben, ohne Zauberfünfte, noch magiſche Ta— 
lismane. 

Da Kants Werk ausſchließend der eigentlich wiſſenſchaftlichen 
Philoſophie angehört, ſo dürfen wir uns hier auf eine Analyſe 
deſſelben nicht einlaſſen. Wir wollen nur den Troſt anführen, 
den Hamann dem Verleger Hartfnoch über die Form des Buchs 
gibt, 20) und beifügen, was Nicolat und Tieftrunk in Beziehung 
ed die Sache ſelbſt urtheilten. Nicolat erklärt mit der kraſſen 





20) Hamann fhreibt an Hartknoch: Kant rede von einem Auszuge 
feiner Kritik der reinen Vernunft in populärem Geſchmack, die er für die 
Zaten heranszugeben verfpricht. Ich wünſche fehr, Hebfter Freund, daß Ste 
ſich nicht abſchrecken, wenigftens keine Gleichgilligkeit gegen ihn merken ließen, 
und fih um feine fernere Autorſchaft, jo viel ſich thun läßt, zu befümmern 
ſchienen. Wentgftens ift er bona fide mit ihnen zu Werk gegangen und 
ſchmeichelt ſich damit, daß je älter fein Werk wird, deſto mehr Kefer finden wird. 
Der Zug von der Michaelismeſſe wird ihnen Licht geben und vielleicht An- 
laß — — ging kleinere populäre Schrift zu Ihrer Schadloshaltung son Ihm 


80 Deutfche Literatur: Philoſophie. 


Keckheit, mit welcher er über alle Dinge zu urtheilen pflegte, 
welche weit über feinem durchaus praftifchen und dürren Begriffe 
waren, er habe geglaubt, Kant wolle in der Kritif alles Wiſſen 
auf Erfahrung ‚zurückbringen, was ihm ganz recht geweſen fei. 
Fülleborn befennt, daß ex fich zum Dolmetfcher aufgeworfen habe 
und von dem deutſchen Publikum als folcher erkannt worden fei, 
ohne daß er jelbft gewußt habe, was er eigentlich jagen wolle, 
Was Nicolai angeht, jo rücken wir eine längere Stelle aus feiner 
Lobſchrift auf fich felbft ‚ein (Meber meine gelehrte Bildinig u. |. w. 
Seite 46 u. 48), weil daraus zweierlei hervorgeht, zuerft, welches 
Aufjehen Kants Buch in Deutfchland machte, und zweitens, wie 
wenig die Berliner geeignet waren, es zu verftehen: „In Kurs 
zem, jagt er, erjchallte in deutſchen gelehrten Journalen und ge— 
Vehrten Zeitungen das allgemeine Nühmen, daß durch dieſes Wert 
das Geheimniß von der wahren Befchaffenheit und son 
den nothwendigen Gränzen der menſchlichen Ver— 
nunft ganz entjchleiert und nun darüber fein Zweifel mehr mög— 
lich jet. Auch ich ward alfo jehr begierig, jo wichtige Wahrhei— 
ten von ganz neuer Art kennen zu lernen, um fo mehr, Da ich 
gern befenne (und wir gern glauben), daß mir ‚von jeher feine 
Art der Philoſophie über überfinnliche Gegenftände völlige Genüge 
gethan hat. Ich ward zum eifrigen Studium der Kritik der rei= 
nen Vernunft angetrieben, da die allgemeine Stimme faft in allen 
Journalen und in einer Menge Eleiner Schriften fagte:; Herrn 
Kants Abficht ſei zu beweiſen, daß im Tranfcendentalen 
alles nur Schein, hingegen blos in der Erfahrung allein Wahr 
heit zu finden fei, wie denn auch Herr Kant diefes jelbft an 
mehren Stellen feiner Schriften jagt, Dieſer  Gedanfe hatte 
mir Yängft eingeleuchtet, und ich war fehr begterig, ihn von einem 
ſo fcharffinnigen Mann durch nene Gründe beftätigt zu fehen. Er 
verfichert auch in der Vorrede zu feiner Kritik der reinen Ver- 
nunft: Er habe durd) dieſes Werk der Spekulation ihre Gren- 
zen und ihren rechten Weg angemwiejen und habe dadurch die ars 
roganten Anfprüce der Schulen vertilgt. | Ä 


zu erbitten, um ihn mit reinem Wein zu beraufhen, oder aufzumuntern, zu 
einem Heinen Buche, das mehr nah dem Geſchmack des Bubliet iſt; denn 
biefer war zu abfirast und zu koſtbar für ben großen Haufen 





Deutſche Literatur: Philoſophie. 81 


Auf ganz entgegengeſetzte Weiſe irrte ſich Fülleborn mit faſt 
allen denen, die in der erſten Zeit als Erklärer der Kritik auf- 
traten, über den Sinn und den Zweck derjelben, Diefer jagt im 
dritten Stüc der Beiträge zur Gefchichte dev Philofophte von fich 
ſelbſt: „Ich lernte in meinem erſten Univerfitätsjahre zufällig 
Kants Kritik der reinen Vernunft Fennen, Tas fie und nahm bie 
peinliche Empfindung mit mir hinweg, wenig von ihr verftanden 
zu haben. Ich verjuchte, von der Schwierigkeit gereizt, die Le— 
fung son neuem, fehrieb mir einen kleinen Abfchnitt auf, blätterte 
umher nach Stellen, die Aehnlichkeit mit diefem Abſchnitte hatten, 
oder ihm zur Erläuterung dienen konnten, ftoppelte alles in eine 
Abhandlung zufammen und glaubte, weil fie in Cäſars philofo- 
phiſchen Denkwürdigfeiten einen Pla fand, mic, in die Reihe 
der Philoſophen stellen zu dürfen. — — — Bon diefer Verir— 
rung brachten. mich gewifjermaßen Reinholds Briefe im deutjchen 
Merkur zurück; denn feine Berufung auf andere Philoſophen ver- 
mochten mich, Leibnit, Boden, Platner, Jacobi zur Hand zu neh- 
men; aber auf der andern Seite entzweite ich mich immer mehr mit 
mir ſelbſt und der Kant'ſchen Kritik, denn die genannten Schrift- 
ſteller fchtenen mir alle Necht zu haben und follten e8 doch von 
Rechtswegen nicht. 

Garve und Feder erhoben fich gegen die. neue Philofophte, 
der fie Beide wiffenfchaftlich nicht gewachjen waren, weßhalb die 
ausführliche, ohne alle Heftigfeit abgefaßte Nezenfion, welche Fe— 
der in die Göttinger Anzeigen einrücken ließ, ihn um den Ruf 
eines wiffenfchaftlichen Lehrers brachte und feine Zuhörer ver— 
ſcheuchte, obgleich er in fehr vielen Stücken Recht haben mochte, 
Allgemein war indeffen die Klage, daß die Ausführlichkeit und 
Dunkelheit der Kritik die Verbreitung derfelben unmoglich mache. 
Kant meinte, ex könne felbft das Studium feines Buchs erleich- 
tern, und arbeitete deßhalb eine Schrift aus, welche aber eben jo 
wenig populär war, als die Kritik jelbft, was ſchon daraus her— 
vorgeht, daß er fait anderthalb Jahre auf ihre Ausarbeitung ver- 
wendete und fie ganz und ſtreng philoſophiſch abfaßte. Sp ent- 
ftanden feine Brolegomena zu jeder fünftigen Meta— 
phyſik, die als Wiſſenſchaft wird auftreten können. 


1783 (222 ©, 8.). Er beginnt die Erläuterung ber Re ber 
Schloſſer, Geſch. » 18, u. 19 Jahrh. IV. ch 4, Aufl, 


32 Deuiſche Literalur: Philoſophie. 


reinen Vernunft, welche in dem Buche gegeben werden ſoll, da— 
mit, daß er fagt, er habe durch die Kritik der veinen Bernunft 
die Frage dev Möglichkeit einer Metaphyſik löſen mollen. Die 
Aufgabe, allgemein ausgedrüct, fahrt er fort, laute folgenderma- 
Ben: Wie find fynthetifche Säbe überhaupt moglich? 
Schon aus diefen erſten Worten fieht man, daß er Alle, welche 
an Gare, an Feder, an irgend einen Nicolaiten, an Mendels- 
john, oder gar an einen Meiners und jelbit an Jacobi gewöhnt 
waren, um von Wieland und Gonforten nicht zu reden, jogleich 
abſchrecken mußte. Herder und Hamann zueften aus andern Grün— 
den die Achſeln. Die erfte gleich durch ihre Form das große 
Publikum abſchreckende Frage laßt er hernach in vier andere 
zerfallen. Diefe find: Wie iſt reine Mathematif mög— 
lich? Zweitens: Wie ift eine Naturwifienfhaft mög— 
ih? Drittens: Wie tft eine Metaphyfif überhaupt 
möglich? Viertes: Wie ift Metaphyſik ala Wiffen- 
haft moglih? Schon aus dem Angeführten geht: deutlich 
hervor, daß für die ftaunende Menge, welche das Neue liebt, weil 
es neu iſt, hier fo wenig geforgt war, wie für die Studenten. 
Kants Freunde riethen ihm, als auch die Prolegomena ihren 
Zweck verfehlten, einem feiner Schüler die Sorge zu überlaffen, 
eine neue, verftändlichere Einleitung abzufaſſen. Dies Geſchäft 
übernahm der Hofprediger Schulze in Königsberg unmittelbar un— 
ter Kants Augen und mit feiner Beihülfe, am Ende des Jahres 
41783, und das Buch erfchten um 1784 unter_dem Titel: Er- 
Yauterungen über des Herrn Profeſſor Kant’s Kri 
tik der zeinen Vernunft, Dies Buch hatte an und für fich 
telbft Eeinen Werth, ſollte auch nach der Abficht des Berfaflers - 
feinen haben; es Yeiftete aber in Beziehung auf deutfche Köpfe, 
Uniperfitäten und Bücher mehr, als je zu erwarten geweſen war, 
Dazu trugen zwei Umſtände befonders viel bei. Der erfte Um 
fand war, dag man damals in Weimar und Jena, wo ganz zus 
Fallig die ausgezeichnetften Schriftfteller der neuen. deutfchen Lite 
ratur verſammelt waren, den Plan machte, durch Errichtung einer 
nenen, auf jede Weile außgupofaunenden Literatungeitung der Die- 
tatur dev Berliner Allgemeinen deutfchen Bibliothek und ihres 
Verlegers Nicolai ein Ende zu machen, Dies ward dadurch er— 


Deuiſche Literatur: Philoſophie. 83 


leichtert, daß nach dem Tode des alten Königs von Preußen der 
Obſcurantismus in Berlin obſiegte und die Freiheit der Preſſe in 
religifen Dingen’ aufhörte. Ein zweiter, durchaus zufälliger Um— 
ftand, welcher zur allgemeinen Verbreitung der Kant'ſchen Philo— 
ſophie beitrug, war der, daß Karl Leonhard Reinhold zum Pros 
teſtantismus übertrat; Wien verließ, von dem damals im nördli— 
chen Deutjchland, befonders in den fächfifchen Herzogthümern und 
in Braunfchweig allmächtigen Freimaurerorden kräftig unterſtützt 
um: 1783 nach Weimar kam; dort Wielands Schwiegerfohn ward 
und fich der neuen Philoſophie annahm, ftatt daß Nicolai die 
alte zu vertheidigen fuchte, 

Schulze nämlich Hatte eigentlich in feinem Buche nichts wei— 
ter gethan, als den Inhalt der Kritik fo entfaltet, daß er vor 
dem Publikum evörtert werden Fonnte, flatt daß er vorher durch 
den Vortrag verftecht ward. Er hatte den Inhalt deutlich ange— 
geben, er hatte die Terminologie erklärt, er hatte die Winfe und 
Erläuterungen, welche ihm von Kant ſelbſt mitgetheilt waren, 
eingerückt und verdeutlicht. Die drei Zeitichriften, welche damals 
die deutſche Literatur beherrfchten und deren Urtheile in den ver— 
ſchiedenen Kreiſen der Gefellichaft nachgebetet wurden, verfündig- 
ten Kants Lehre jede auf ihre Weiſe, d. h. die beiden gelehrten 
Tribunale, welche als Orafel galten, die Berliner allgemeine Bib— 
Viothef und die in Jena neu errichtete allgemeine Literaturzeitung 
rühmten fie bet Gelehrten. Wielands Merkur fuchte fie der Leſe— 
welt zu empfehlen. Der- Philologe Schütz, der die allgemeine 
Literaturzeitung mit einer bewunderungswirdigen Schlaufelt und 
Kenntni der Gelehrten und ihrer Gemeinheit und Eitelkeit ge= 
gründet Hatte, ward jelbft Kantianerz Nicolai erkannte Kant we— 
nigftens als einen geiftreichen Mann an, Wie gefchieft ſich Schütz 
Autorttät verfchaffte, zeigen die an ihn gerichteten, von feinem 
Sohne bekannt gemachten Briefe; wir würden aber in Allem viel 
klarer ſehen, wenn der dritte Theil der Briefe Hätte gedruckt wer— 
den dürfen. Schütz rückte im Julius-Heft ſeiner neuen Literatur— 
zeitung für 1785 bei Gelegenheit der Erläuterungen von 
Schulze eine Abhandlung ein, welche eine Art Abriß der neuen 
Philoſophie bildete. Es ward darin nicht ſowohl das angezeigte 
Buch rezenſirt, als vielmehr ein Buch über die neue Baifofophie 

| 6 


84 Deuiſche Literatur: Philoſophie. 


unter der Form einer Rezenſion in das große Publikum der Li— 
teratunzgettung gebracht. Auf eine andere Art forgte Die Berliner 
Bibliothek für die allgemeine Verbreitung der von Kant ausge— 
henden Resolution, fie zeigte nämlich den Anhängern der alten 
Lehre und Methode, daß fie, wenn fie fich behaupten wollten, 
fchlechterdings Kant ſtudiren müßten. Die Bibliothek erkannte 
die Bedeutung der Kant'ſchen Leiftungen nebit den Leiftungen und 
Vorzügen der neuen Philoſophie mit Achtung anz allein fie 
fuchte in dem langen Artifel, den fie bei Gelegenheit der Anzeige 
son Schulzes Buch bekannt machte, doch die Altere Philoſophie 
zu vetten und zu vertheidigen. . 

Der deutfche Merkur, der ald Organ der diplomatifchen und 
politifchen Weisheit Wielands das deutſche Publikum behandelte, 
wie Perifles das Volk von Athen, nahm fich der neuen Philo— 
ſophie als einer Famtlienangelegenheit an. Reinhold nämlich war 
fett 1783 in Weimar und ftand mit Wieland, deffen Tochter er 
heirathete, in den vertrautejten Verhältniffen, als er im Jahre 
1785 aufmerffam auf die Kant'ſche Philoſophie ward, und im 
Herbfte 1785 das Studium  derfelben begann. Er gefteht felbft, 
daß die Kritik der reinen Vernunft, wovon hier zunächſt die Rede 
ift, damals im Ganzen wenig Cingang gefunden gehabt, Er 
nahm das Buch, wie er fagt, mit Mißtrauen in die Hand, weil 
die berühmteften deutſchen Philojophen, Eberhard, Garve, Tiede- 
mann, Feder, Platner und Andere erflärt hatten, dag das Werk 
in Beziehung auf feinen Hauptzweck mißlungen, mit Spikfindig- 
feiten und Dunfelheiten angefüllt ſei. Er gefteht offenherzig, daß 
er lange im Dunkeln geblieben jet und nicht zum Verſtändniß 
habe fommen können. Man wird es daher feinen. Zeitgenoffen 
nicht übel nehmen, daß fie überrafcht waren, als er jchon nad) 
acht Monaten als begeifterter Deuter des neuen Evangeliums und 
als deſſen rednerifcher Verfünder auftrat. Er erflärte, er fet in 
den wenigen Monaten zu der Ueberzeugung gelangt, die Organi= 
fation des menfchlichen Geiftes jet durch Kant entdeckt, der In— 
halt und Umfang des menfchlichen Erkennens duch ihm angege- 
ben, die Hauptaufgabe aller: Philoſophie nicht allein in einer bis 
dahin unerhörten Klarheit aufgeftellt, fondern auch gelöfet worden. 
Er verkündete zugleich die Wunder, welche die Philpfophie, wenn 


Denise Literatur: Philoſophie. 8 


fie nur erſt verbreitet jet, in dev Welt bewirken werde, Diefe 
Verbreitung mußte dann der Gütterbote feines Schwiegervaters, 
der in allen Künften der Klugheit Meifter war, und in die Ka— 
binete der Gelehrten, wie in die Salons der Nefidenzen und in 
die Putzzimmer der, Damen allerlei glatte Botjchaften zu bringen 
pflegte, zu Gunften des Schwiegerfohns übernehmen. Die Be— 
ſtimmung des Merkurs forderte durchaus, daß, wer darin von 
Philofophie reden wolle, wenn auch nicht geziert, wie Sacobt, 
doch zterlich und verftändlich ſchreibez dies verfuchte Reinhold zu 
thun und erreichte den gemwünfchten Zweck, daß bald in ganz 
Deutichland von Kants Philoſophie geredet ward, wie son dem 
neueſten Roman. | 

Reinhold Fleidete feine Erläuterungen der Kantiſchen Philo- 
ſophie in die dilettantifche Form von Briefen, von denen die erften 
zwei, denen ſechs andere folgten, im Auguftftüde des Merkurs 
von 1786 erjchienen, Reinholds Sohn hat im Leben feines Va— 
ters Abficht und Inhalt der Briefe angegeben, wir feßen daher 
defien Worte unter den Tert, um diefe wichtige Erſcheinung in 
unferer Literatur auf die vortheilhafteſte Weiſe zu charakterifiren, 18) 
Diefe Briefe wurden hernach um 1790, als Reinhold ſchon fett 
1787 mit ganz unglaublichen Beifall und unter einem faſt noch 
größern Zulauf, als ihn ehemals Darjes gehabt hatte, als Pro— 
fefior dev Philoſophie in Jena lehrte unter dem Titel: Briefe 
über die Kantiſche Philoſophie, als ein befonderes Buch 





— 


18) K. Leonhard Reinholds Leben ©. 43. In dem erſten Briefe wird 
das Erforderniß einer Unterfuhung des Gebiets der menfchlichen Erkenntniſſe 
aus dem damaligen Suftande der Philofophte nachgewieſen. In dem zweiten 
wird das Nefultat der Kantſchen Kritik in Hinficht von ber Heberzeugung bon 
Gottes Sein mitgetheilt. Es wird gezeigt, daß die Fragen: „enthält bie 
Vernunft apodictiſche Beweiſe für diefes Sein” und „kann es einen Glauben 
an daſſelbe geben, der Feiner Vernunftgründe bebürfte?" beide von der Kritik 
verneinend beantwortet werden. Denn bie Unmöglichkeit jener wird in ihr 
aus dem Weſen der thenretifchen Vernunft bewiefenz; dagegen aus dem Wefen 
der prafitfchen Vernunft die Nothwendigfett und Allgemeingültigfeit eines 
Slaubens an Gott dargethan. Was dann weiter folgt, tft eine Ausführung 
diefer Säbe, die der Lefer am a. DO. nachlefen muß, hernach heißt es ©. 44 
weiter: Die übrigen Briefe, die vom erften Quartal des Jahres 1787 bis 
zum dritten einander folgten, Iegen das Nefultat der Vernunftkritif über den 


86 Deutfche Literatur: Philoſophie. 


herausgegeben. Der weimariſche Minifter Hatte vecht gut gerech- 
net, als er Reinhold nach Jena berief. Er machte gleich bei 
feinem Auftreten im Auguft 1787 großes Auffehen, in den fol- 
“ genden Jahren begeifterte er durch Bortrag und Schriften ganz 
Deutfchland für die neue Philofophte, für Jena und für ſich in 
folhem Grade, daß man Tächerlicherweife diefe Philoſophie, Die 
der Schule angehörte, ing Leben und in die ganze Literatur brachte, 
Reinhold gab, während er als Orafel der neuen Philoſophie 
in Sena Aufiehen erregte, und ſich als den einzigen Dolmetſcher 
der dunkeln Schriften Kants geltend machte, um 1789 in Prag 
feine Theorie des Vorſtellungsvermögens heraus; er 
Yieß 1790 feine im Merkur gedruckten Briefe erfcheinen und ſchrieb 
bie Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißver— 
ftändniffe der Philoſophie. Im erften Bande diefer Bei— 
träge war die Schrift enthalten, welche nächſt den Briefen am 
mehrften zur allgemeinen Berbreitung des Kantfchen Syftems bei— 
getragen hat, und deshalb auch 1791 bei Maufe in Jena als 
ein eignes Buch erfchten. Dies Buch führt den Titel: Ueber 
das Fundament des philoſophiſchen Wiffens won 
G% Reinhold, nebft einigen Erläuterungen fiber 
die Theorie des Vorftellungsvermögens: Kant woll- 
endete indeffen, ermmntert durch dasfelbe Publikum, welches 
ihm bis dahin ungünftig gewefen war, den Plan der Re— 
form der ganzen philoſophiſchen Wiſſenſchaft durch eine ganze 





Sufammenhang zwiſchen Religion und Moral var. Es wird in ihnen ber 
Gedanke ausgeführt, daß die Religion durch Hinwegräumung der ſcheinbaren 
demonſtrativen Bewelfe für Gottes Sein nichts Geringeres gewinne, als einen 
einzigen unerfgükterfichen allgemeinen Erkenntnißgrund, ver auf dem Wege 
der Vernunfterforſchung die Vereinigung zwiſchen der Sittlichfeit und Gottes 
verehrung Hollende, welde durch den Stifter des Chriſtenthums anf dem 
Wege einer dem Gefühle Haren, unmittelbar das Herz in Anſpruch nehmen: 
den Darftellung eingeleitet worden ſei u. ſ. w. u. f. w. Reinhold ſchließt 
feine Erörterung mit der durchgeführten Behauptung, daß die in der Ge⸗ 
ſchichte aufgetretenen Vorſtellungsarten von der Natur der Seele durch den 
jedesmaligen Grad der Einſicht in die Natur des Erkenntnißvermögens be⸗ 
ſtimmt worden ſind, und weiſet nach, wie jene Vorſtellungsarten bei den 
Griechen durch das Mißverſtändniß des Unterſchieds zwiſchen nn und 
Empfinden modificht waren. 


Deutſche Literatur: Philoſophie. .87 


Reihe unter fich eng zufammenhängender Arbeiten. Er hatte 
nämlich die Kritif der reinen Vernunft als Propädeutik zu der 
Art Metaphyſik, die er übrig laſſen wollte, vorausgeſchickt, ihr 
jollte die Metaphyſik des fpefulativen und praktifchen Ge— 
brauchs dev reinen Vernunft folgen, oder mit andern Worten, 
er wollte eine Metaphyfif der Natur und der Sitten aufftellen, 
und zwiſchen beiden follte feine Lehre som Schönen und Er— 
habenen und von der Gmpfindung deſſelben, oder die Kritik 
der Urtheilskraft vermitteln. Che er mit dem Syftem feiner Ethik 
herpor trat, gab er 1786 die Grundlegung zur Metaphy- 
ſik der Sitten heraus, Im diefem nur acht Bogen ftarfen 
Büchlein ftellte er zum erften Mal fein neues Brinzip der Moral 
auf, oder handelte von dem hernach von Klinger und son Nicolai 
auf gleiche Weiſe ganz unverftändig verfpotteten, im gewöhnlichen 
Leben und im Katechismus freilich nicht zu gebranchenden Fate 
goriſchen Imperativ. Es erfehtenen dann zahlloſe Streitichriften 
und Spottfchriften, welche bemeifen, daß ganz Deutſchland vege 
geworden war, und daß Berufene und Unberufene, Fähige und 
Unfähtge für eine Sache in den Kampf zogen, die nur wenige 
beurtheilen können, wenn gleich das Reſultat alle angeht, Kant 
trat indeffen mit feinem ganzen Syſtem hervor. In demfelben 
Sahre, mit der Grundlegung zur Metaphyſik der Sitten erſchienen 
die metaphyfifhen Anfangsgründe der Naturwiſ— 
ſenſchaft, ſpäter erſt die Kritik der praktiſchen Vernunft, Erſt 
im Jahre 1790 gab er die Kritik der Urtheilskraft her— 
aus, welche, weil damals die Kantſche Philoſophie ſchon auf allen 
Univerſitäten herrſchend war, den bedeutendſten Einfluß auf unſere 
ſchöne Literatur hatte, weil die Häupter derſelben, Göthe und 
Schiller, jeder auf ſeine Weiſe, den neuen Lehren über das Schöne 
huldigten und Kants Grundſätzen folgten, ohne Kantianer zu 
ſein. Auch die vorzüglichſten Theologen unter den ſogenannten 
Rationaliſten begrüßten mit Freuden eine Philoſophie, welche den 
Menſchen ſelbſtſtändig machte und den Glauben an Gott und 
Unſterblichkeit nicht meht allein auf Theorie der Offenbarung 
gründete, 


88 Deuiſche Literatur: Theologie. 


B. Theologie. 


Seit der Erſcheinung der dritten Ausgabe der Gefchichte des 
achtzehnten Jahrhunderts hat die Reaction, welche in Kirche und 
Staat das Alte mit Hülfe dev gaufelnden Deflamatoven, der 
Obrigkeit, der Weiber und Jeſuiten miederherzuftellen fucht, folchen 
Einfluß gehabt, daß der Verfaffer diefes Werks den Artikel gänz— 
Yich würde weggelaflen haben, wenn dies nicht unmöglich wäre, 
weil er, auch auf die Gefahr. hin, nicht verfianden zu werden, 
Alles fo genau geordnet und durchdacht hat, daß das Eine 
ohne das Andere nicht mit dem Nuten, . den er ſich früher son 
dem Werfe verjprach, gelefen werden kann. Gr fieht die ganze 
Nation eifrig, alles Alte in anderer Form zu erneuern, jo daß er 
das, was er vom 20ften bis zum 77ften Jahr erlebt hat, für 
einen Irrthum halten würde, wenn er nicht mitten unter allen 
Nenegaten, Heuchlern und Zeloten feine Weberzeugung jo feit, 
feine Seele fo ruhig, feine Liebe fo ftark, fein Gefühl der Ge- 
genwart Gottes in ihm, wenn er den Blick auf ihre Wirkungen 
außer ihm richtet, fo befeligend fände, daß er feiner: Ueberzeu— 
gung, nach welcher die Gottheit immer nur momentan und im 
Geifte gegenwärtig ift, feſt vertrauen zu Dürfen glaubte. Er 
berichtet daher ganz ruhig, was er, urſprünglich Gottesgelehrter, 
ungerührt durch das Geſchwätz der fogenannten Aufklärer oder 
Kationaliften und durch das modifche Eifern der Zionswächter 
und Hoftheologen über den Gang der veligiofen Bildung ſeit 1770, 
jeit dem Anfange diefes Jahrhunderts fchon gedacht hat und noch 
denft. Daß dies zu einer Katheder- und Syftemtheologte nicht taugt, 
wußte er ſchon 1811, als er eine Stelle als Profeffor der. Kir⸗ 
chengeſchichte zu Heidelberg ausichlug. 


Er geht von dem Satze aus, daß in der Zeit, als Die peut: u 


ſche PhHilofophie und Bildung in ihrem Weſen erneuert ward, 
auch die Theologie der Proteftanten ganz verändert wurde. Sogar 
die katholiſche Kicchenlehre, welche ihrem Wefen nach unveränder- 
lich iſt, ſpürte wentgftens in Rücficht ihrer Form und Behandlung 
den Einfluß der Wolfichen und fpäter der Kantſchen Philoſophie. 

Der proteftantifchen Theologie, wie fie Luther und Calvin 
predigten, ward von jeher von ihren Gegnern der Vorwurf ges 


Deutfche Literaturs Theologie. 89 


macht, daß fie von der veränderlichen Lehre der Profeſſoren der 
verfchiedenen Univerfitäten abhängez man hatte daher auch vers 
fucht, fie durch pofitive Schranken von der fortfchreitenden Ent— 
wickelung des Geiftes und feiner Bildung ganz unabhängig zu 
machen. In der veformirten Kirche war in Holland durch Die 
Dortrechter Synode, in England durch die Artikel der Anglika— 
nifchen Kirche eine Art politifchen Glaubenszwangs eingerichtet, 
wie im Deutfchland unter den Lutheramern durch die ſymboliſchen 
Bücher; allein es trennten fich in England fehon im fechzehnten 
Sahrhundert die freier Denfenden von den «igentlichen Anglifa- 
nern, und in Deutfchland half man fich durch die Ausflucht, daß 
man die fombolifchen Bücher nur in fo fern als Norm anerfenne, 
als fie mit der nach eines jeden befter Einficht zu deutenden 
Schrift übereinftimmten. Nichts defto weniger ward, als fih in 
den deutfehen Schulen der Philofophte ein neuer Scholaſticismus 
gebildet hatte, die ariftotelifche Philofophie bei Lutheranern und . 
Reformirten ſchon im fiebenzehnten Jahrhundert auf die Dogmatik 
angemendet, ftatt, daß Luther, als Feind der Spibfindigkeiten der 
Schule, die Bibel allein zur Norm nahm und Calvin in feinen 
Snftitutionen dem Spinsza weit näher kommt als dem Ariftoteles. 

Leibnitz verbarg feine’ wahre Meinung, die wir nicht in der 
Theodicde, fondern in einer nur den denfenden und gründlichen 
mathematifchen Gelehrten verftändlichen Abhandlung (De ipsa 
natura seu de vi insita actionibusque creaturarum, pro dyna- 
micis suis confirmandis illustrandisque Acta Erudit. ann. 1698) 
finden, und fuchte zu zeigen, daß die, welche feiner Kehre- Huldig- 
ten, leicht jede Art chriftlichen Volksglaubens in Philoſophie ver— 
wandeln konnen. Ob er dies mit Bewußtſein that, oder ob der 
geiftreiche Mann fich jelbft von dem überzeugt hatte, was er mit 
jo vielem Talent darzuftellen wußte, mag unentſchieden bleiben, 
ſeine Theologie, welche in unfern Tagen in Mainz zum Drud 
befördert und dem Verfaſſer diefer Gefchichte von einem fehr eif- 
rigen Jeſuiten gefchenft ward, beweiſet wenigftens, daß er den 
Berfuch dev Vereinigung der Religionen durch die Philofophte 
ſehr weit trieb. Leſſing Hat gezeigt, wie geiftveich Leibnis die 
Ewigkeit der Höllenſtrafen vertheidigte, der auch bie Brodver- 
wandlungslehre mathematifch demonftriven lehrte. Die Dreieinig- 


90 Deutfche Literatur: Theofogie. 


feitöfehre tft bekanntlich nicht blos von ihm, fonderm in allen 
Zeiten und von allen denfenden Männern als der Gipfel menfch- 
licher Einficht im die Deutung des göttlichen Weſens betrachtet 
worden. Leſſing hat, ehe er mit dem Hamburger Hauptpaſtor in 
Streit gerieth, feinen Spott über die Rationaliſten feiner Zeit 
auf Säbe gegründet, welche Leibnit denen entgegengefegt hatte, die 
von der Kirchenlehre feiner Zeit abwichen, Wolf, der aus dem, 
was Leibnit gelegentlich vorgetragen hatte, ein Schulſyſtem machte, 
hielt fich von der Theologie der Frommen, die er nach den Er— 
fahrungen,, welche er gemacht Hatte, unmöglich lieben konnte, 
ziemlich fern; feine sornehmften Schüler dagegen ſuchten fein 
Syſtem und feine Methode auf Dogmatik anzuwenden, was 
Sattler in Ingolftadt fogar in Bezug auf katholiſche Theologie 
zu thun wagte, 

Was Wolf nicht gewagt hatte, that, wie wir vorher gezeigt 
haben, © J. Baumgarten und eine bedeutende Zahl deutfcher 
theologifcher Profefforen, unter denen Ribov, Carpzov, Ganz die 
bedeutendften ſind; fie behandelten alle theologifchen Fächer in 
mathemattfcher oder Wolffcher Manier, Die Vredigten der Geift- 
lichen fogar wurden zu trocknen Abhandlungen, fie waren voll 
Definitionen, Diftinetionen, Demonftrattonen ; doch fiel dieſe Ver— 
wandlung der Theologie in Wolffche Demonftrationen glücklicher 
Weiſe in eine Zeit, wo das Wolf endlich in der Literatur eine 
Stimme erhielt und die Univerfitäten nicht mehr Geſetze geben, 
jondern fich nach den Forderungen des großen Publikums richten 
mußten, Dies fühlten ſchon Mosheim und Jeruſalem. 

Jeruſalem und Mosheim fuchten durch Nachahmung engli= 
jeher Theologen eine Religion der eleganten Welt, ftatt der Lehre 
der dürren Compendien und der Wolffchen Demonftration zu bes 
genden; die Mniverfitäten blieben aber dem alten Syftem getreu, 
bis Semler im pietiftifchen Halle, ohne es zu wollen oder zu wiſ⸗ 
fen, die Grundlagen der beftehenden Theologte auf diefelbe Weiſe 
prüfte und morfch fand, wie Kant die der beftehenden Philoſophie. 
Um feine Wirkſamkeit recht zu wirdigen, dürfen wir nur mod) 
einen Blick auf den Zuftand der thenlogtfchen Lehranftalten Deutſch— 
lands werfen, ehe wir zu Semler übergehen. 

In Wittenberg, Roſtock, Tübingen, Altdorf, Erfurt ward 


Dentfche Literatur: Theologie. .9 


die Dogmatik des fiebengehnten Jahrhunderts entweder ſcholaſtiſch 
opder Wolfiſch gefehrt. In Gießen war C. F. Bahrdt und deffen 
einem deutfchen Gemüth unerträgliche Frivolität und Verhöhnung 
alles Gemüthlichen eine vorübergehende Erfcheinung, und Carpzov 
in Helmftädt billigte nicht einmal die elegante Theologie eines 
Mosheim und Jeruſalem, die man in Braunſchweig in hohen Ehren 
hielt. F. Sailer in Erlangen huldigte etwas mehr als Carpzov 

in Helmftädt dem herrfchenden Geſchmack. Er fuchte Bopularität, 
und weil bei ihm tur von Volfsglauben die Nede war, wo das 
Fefthalten am Meberlieferten immer der ficherfte Weg tft, um bie 
Refultate der Philoſophie der Maſſe nützlich zu machen, wandelte 
‚er auf befferem Wege als Carpzov. In Leipzig war Cruſius zu— 
gleich Theolog und Philoſoph und wußte mit großem Scharfſinn 
Glauben und Aberglauben als Refultate feines Grübelns aufzu= 
ſtellen wie das jeßt nach hundert Jahren überall, befonders im 
Athen an der Spree und im Sande der Mark wieder der Fall 
iſt. Neben ihm verbreitete in Leipzig damals ſchon fein Goflege 
Erneſti ein neues Licht über das neue Teftament, wie gleichzeitig 
mit ihm Michaelis in Gpttingen iiber das alte, 

3. A. Erneſti war Wolftaner, war aber nicht eigentlichen 
wiffenfchaftlicher Lehrer einer eonfequenten Theologie; er war da— 
gegen als Kenner der griechifchen und Tateinifchen Sprache und 
als vortrefflicher Erklärer der Alten ausgezeichnet. Er war es, 
der vorſichtig und behutſam in Leipzig eine Schule bibliſcher Theo— 
logen gründete, Er fuchte durch eine nach der Art, wie er die 
Alten kritiſch zu erflären pflegte, eingerichtete Deutung der Schrif- 
ten des neuen Teſtaments das Licht des achtzehnten Jahrhunderts 
über die erftarıte Theologie zu verbreiten, ohne der beftehenden 
Dogmatik Eintrag zu thun oder feine orthodorstnthertfchen Sach- 
fen zu Argern. Er deutete furchtſam an, daß man die Schrift 
erklären müſſe wie jedes andere Buch. Lugnen läßt ſich jedoch 
nicht, daß ſeine Erklärung der Bibel dadurch oft nüchtern ward, 
was ihm freilich auch beim Homer nicht ſelten begegnet iſt. Selbſt 
die Nüchternheit war aber der Aufklärung Deutſchlands und der 
Bildung von Schullehrern, die mit unbefangenen Augen das Alter- 
thum betrachten, und son Gottesgelehrten, die verftändlich lehren 
und predigen wollten, sortheilhaft, weil es die Wiffenfchaft dem 


92 Deutfche Literatur: Theologie. 


gewöhnlichen Leben, welches in Deutfchland höchſt nüchtern war, 
näher brachte, 

Man blieb jedoch in Leipzig noch ganz dem Alten getreu, 
während Semler jchon vor 1770 eine Schule in Halle gebildet 
hatte, welche die Kritif dev auf guten Glauben als Acht ange 
nommenen Schriften dev erften Kirchenlehrer und die Erklärung 
der unter dem Namen der Gpangeliften und Apoftel in Umlauf 
gebrachten Erzählungen und Briefe ganz anders behandelte, als 
Erneſti in Leipzig und 3. D, Michaelis in Göttingen. 

Semler ward fpäter den Freunden des Neuen und den An— 
hängern des Alten unverbient verhaßt. Die Altgläubigen hatten 
ihn zuerſt ald Neuerer verwünfcht und verfluchtz als er hernach 
für den alten Glauben zu eifern begann, hatte fich ſchon der Geift 
der Zeit fo ſehr verändert, daß er auch vom neuen Gefchlecht ver— 
kannt und fein übertriebener Eifer für Nechtgläubigkett von Bahrdt 
und Andern zum Vorwande genommen ward, um ihn einen fana= 
tiichen Träumer zu fehelten, Gr wollte nämlich endlich Schran- 
fen ſetzen, über welche hinaus das Forfchen und Prüfen der Quel- 
len der Kirchenlehrer und der Kirchenlehre felbft nicht dürfte fort- 
gejeßt werden. Seine Gegner hatten indefien ohne Zweifel beide 
Mal Unrecht; denn ald man über feine vorgeblich frevelhafte und 
zweifelfüchtige Kritik Hagte, war er ſelbſt immer beforgt, er möchte 
etwas Sündliches befurdern, und ſpäter mußte es nothwendig den 
alten Mann ärgern, daß Bahrdt und feines Gleichen und auch 
ſogar der wolfenbüttler Fragmentift mit Chriftug und mit den 
Apofteln, wie mit vorfäßlichen Betrügern, umgingen. Semler 
jelbit hatte fast alle einzelnen Lehren des alten dogmatifchen Syſtems 
in einzelnen Abhandlungen, welche freilich nur für Gelehrte lesbar 
find, da jelbft der Styl feiner Lebensbeſchreibung wahrhaft fürch— 
terlich ift, gewiſſenhaft Eritifch geprüft, viele nicht haltbar gefun= 
den und dies laut verkündigt. Seine Kritik wirkte um fo mehr, 
als die angefehenften Gelehrten, auch die der Fatholifchen Kirche, 
feinen Fleiß, feinen Grnft und feine Berdienfte um die Quellen 
der chriftlichen Lehre dankbar anerkannten. Gr hatte außerdem 
durch die Kritik des Texts der neuteftamentlichen Schriften, welche 
hernach Griesbach, in feine Spuren tretend, zur Bollendung brachte, 
jo wie durch die Fritifche Beleuchtung der für die Alteften Denk— 


* 


— 


Deuiſche Literatur: Theologie. 93 


ſchriften der chriſtlichen Kirche geltenden Reſte der erſten oder apo— 
ſtoliſchen Väter gezeigt, wie mißlich es um die vorgeblich neben 
der Bibel als göttliche Eingebung zu betrachtende kirchliche Ueber— 
lieferung und um die älteſte Geſchichte der Chriſtengemeinde ſtehe. 
Dies mußte, von ihm ausgeſprochen, um ſo mehr Eindruck machen, 
als er eine in der älteſten Kirche fortdauernde außerordentliche 
Wirkung des göttlichen Geiſtes und eine Eingebung der Lehre 
der apoſtoliſchen Väter nicht läugnete. 

Er half ſich durch die ganz beſcheiden vorgetragene Lehre, 
daß ſelbſt Gott und ſeine Heiligen ihre Lehre dem menſchliſchen 
Bedürfniß des Augenblicks angepaßt hätten, was er Accomodation 
nannte. Man dürfe daher, meinte er, das, was für einen ge— 
wiſſen Augenblick beſtimmt geweſen ſei, wenn der Augenblick vor— 
über wäre, anders verſtehen. Dadurch ward dann ſelbſt der gläu— 
bigen Forſchung ein weites Feld eröffnet, denn Semler wendete 
den Grundſatz auch auf die Bibel ſelbſt an. Er erklärt daher ohne 
Bedenken das A. T. für ein jüdiſches Religionsbuch, welches nicht 
aus dem chriſtlichen N. T. erklärt und nicht als chriſtliches Re— 
ligionsbuch gebraucht werden dürfe. Semler bahnte auf dieſe Weiſe 
durch ſeine unermeßliche Gelehrſamkeit den ſogenannten Rationa— 
liſten, zu denen er nicht gehörte, einen Weg, der ſie hernach wei— 
ter führte. Er bewies unwiderſprechlich, obgleich man ſich jetzt 
wieder unterſteht, das Gegentheil zu behaupten, daß weder in den 
erſten Zeiten des Chriſtenthums noch ſpäterhin jemals eine feſte 
und gleichförmige Form, ſei es num in Rückſicht dev Lehre oder 
der Kirchenzucht, beitanden habe. Gr fügte eine Befchränfung 
hinzu, die jeder unpartheiifche Kenner der Gefchichte der chriftli- 
chen Kirche billigen wird: Bet aller anfcheinenden Verfchtedenheit, 
jagt er, und jeder, der das Weſen des Chriftenthums kennt, wird 
ihm beiftimmen, blieb da8 Wefen des Chriftenthums immer 
daflelbe, denn es Fam dabei gar nicht auf eine Mebereinftimmung 
der Dogmen, fondern auf ein chriftliches Leben an. 

Mir würden Halle und nicht Jena und Göttingen als die 
Univerfität nennen, wo man, um das Chriftenthum gegen bie 
Angriffe von Bahıdt, Reimarus und Leffing zu fichern, noch 
einen Schritt weiter ging, als Semler gegangen war, wenn nicht 
Eberhard, deffen wir weiter unten gedenfen wollen, und der dort 


94 Deutiche Literatur: Theologie. 


ohne Rückhalt einen reinen Deismus für Chriftentfum ausgab, 
erſt 1778 nach Halle gekommen wäre. Auch der Schüler des 
Sranffurter Baumgarten, der Brofeffor der Frankfurter Univerfität, 
3 ©. Zöllner, macht den ganz blinden Glauben unhaltbar und 
juchte die Kirchenlehre mit den Fortfchritten der Philoſophie in 
Uebeveinftimmung zu bringen. Er wagte fi) aber kaum fo weit 
als Erneſti, geſchweige daß er Semler erreicht hätte. Töllner 
hatte übrigens eine ganz eigne Manier, das Fortfchreiten des ve= 
ligtöfen Unterrichts mit der Zeit zu fordern; er war auf eine 
Methode gekommen, die proteftantifche Lehre und ihre Quellen zu 
behandeln, wodurch ev erreichte, was weder Semler noch J. D. 
Michaelis, noch Erneftt durch ihre Methode zu erreichen im Stande 
waren, Gr. faßte die Sache philoſophiſch von der einen, theolo— 
gifch von dev andern Seite und Fonnte daher philoſophiſch beftrei= 
ten, was er theologifch gelten Tief, Um dies zu rechtfertigen, 
behauptete ex, worin er unftreitig Recht hatte, die Theologie laſſe 
fich weder mit Wolf mathematifch demonftriren, noch wie Cruſius 
wollte, ſcholaſtiſch ergrübeln, fie beruhe blos auf hiſtoriſchen Zeug— 
niffen und es komme Alles darauf an, daß wirklich hiſtoriſcher 
Beweis göttlicher Zengniffe da fei. Er nahm dabei die göttliche 
Eingebung der Schrift in einem weit Ätrengeren Sinn als Ernefti 
oder Semler. Eben deßwegen ftellte er eine firenge eregetifche und 
philofophiihe Prüfung aller dev Lehren an, welche der gewöhnliche 
Lehrbegriff aus dev Schrift ableitet und bewies hernach von vie— 
len derfelben, daß fie in der Schrift gar nicht zu finden wären. 

Töllner ſuchte einen jonderbaren Gedanken geltend zu machen, 
um zugleich den Forderungen dev Zeit und der noch immer herr— 
ſchenden Strenge des Glaubens an ſymboliſche Bücher genügen 
zu können. Der Sinn der hl. Schrift, Lehrte er, jei zufammen- 
gejeßt aus dem Sinn der Berfaffer, welche mangelhaft ſeien und 
der philofophifchen Kritik unterworfen werden konnen, und dem 
Sinne des hl. Geiſtes, der im jeder Nückficht volllommen, klar, 
richtig, gewiß und Yebendig fein muß. Beide können oft verſchie— 
den fein, widerfprechen können fie fidh einander nicht, obgleich der 
Sinn des Hl. Geiſtes auch fogar dem Berfaffer des Buchs, zu 
dem ex mittwirfte, dunkel geblieben fein kann. Wir dürfen aber 
in die Sache felbft nicht weiter eingehen, brechen daher ab, 


Deutfche Literatur: Theologie. 95 


Was die Univerſität Göttingen angeht, jo war J. D. Mi- 
chaelis in dev Bibeldeutung ziemlich freiſinnig, in der Dogmatik 
ganz und durchaus vechtgläubig. Michaelis erlangte außerdem 
feinen Ruhm in ganz Europa nicht auf theologischen Wege, fon- 
dern befonders unter deutfchen Studenten durch einen ſehr profa— 
nen Kathedexvortrag: Wer gehört hat, wie. er in feinem Vor— 
trage alle möglichen Dinge, Wiffenfehaften und Anechoten in bie 
Erklärung der Schrift miſchte, wer feine Einleitungen ins alte 
und neue Teſtament und fein Mofnifches Recht liest, wird auf 
feine Religionslehre nicht viel Bedeutung Tegen, doch müſſen wir 
ihn in einem Punkt als fortfchreitenden Exegeten hervorheben, 
Ein Mann, der, wie Michaelis, die obengenannten Bücher ges 
ſchrieben hatte, Fonnte unmöglich, wie man in unfern Tagen bie 
und da wieder anfängt, die Schlange vor dem Sündenfalle auf 
der Spite des Schwanzes gehen, oder Elias im feurigen Wagen 
in den Himmel fahren laſſen. 

Mosheim war durch Predigten und Kirchenhiftorie neben Mi— 
chaelis als Theolog in ganz Europa berühmt; er war aber ein 
ſehr vorfichtigen Gelehrter und Schriftſteller, der in lateiniſcher 
Sprache fchrieb. Der Gedanke einer Reform war jo weit von 
ihm als son dem geundgelehrten Walch, dev gelehrte Kirchenhi— 
ftorie trieb. AS Plank an ihre Stelle kam, eröffnete er feine 
Laufbahn mit einem Werke, welches die Urheber der fogenannten 
ſymboliſchen Bücher der. Proteftanten in ihrer ganzen Blöße dar— 
ſtellte. Sn feiner Gefchichte der Entitehung des proteftantifchen 
kirchlichen Lehrbegriffs bewies Blank handgreiflich, daß die Con— 
eordienformeln der Broteftanten ihnen durch eben fo unerlaubte 
Mittel aufgedrungen worden, als die Concilienſchlüſſe der älteren 
Kirche durch, die byzantinifchen Katfer zum Gefeb gemacht waren, 
und daß in beiden Fällen herrſchſüchtige Pfaffen, Minifter und 
Fürften ein ſchlechtes Spiel ſpielten. Spittler, der hernach einige 
Zeit neben Blank fand, der aber bald die theologiſche Laufbahn 
verließ, begann damit, daß er aus den Urkunden der Altern Kirche 
geiftweich und gelehrt bewies, daß es noch weit mißlicher um bie 
älteſte Kirchenlehre und Kirchengefchichte ausfehe, als Semler zu 
jagen für gut gefunden habe, 

Man wird fich übrigens: nicht wundern, daß die neue Theo— 


96 Deutfche Literatur: Theologie. 


Ingie nicht von Göttingen ausging, das war ſchon ber hannö— 
verſchen immer die platte aber fichere Mittelſtraße haltenden Po— 
litik entgegen, das gab ferner des höchſt orthodoxen Königs 
Georg II. Göttingen ſorgſam bewachende Aufmerkſamkeit nicht zu, 
das hätte auch der neben Heyne in Hannover begünftigte und in 
Göttingen herrfchende Neichspublieift Pütter nie zugelaffen. Püt— 
ter war. bekanntlich, wie man in feinem Leben leſen kann, auf 
feinen einzigen Weg zur wahren Glüdfeligfeit und 
auf feine Hriftliche Religion in ihrem wahren Zu— 
fammenhange faft ftolger und von ihrem mächtigen Einfluß 
überzeugter, als vom Nuten irgend eines feiner zahlreichen juri— 
jtifchen Gutachten. 

I. D. Michaelis war, was damals niemand auffiel, in der 
Exegeſe ein ganz anderer Mann als in der Dogmatif, In der 
Dogmatik blieb er überall im Wefentlichen ganz beim Alten 
ftehen; während fein College Heilmann ſchon des Haffifchen La— 
teing wegen, in welchem ex ‚feine Dogmatik jchrieb, noch mehr 
aber, weil er MWolficher Philofoph war und diefe Bhilofophie 
auf die Dogmatif anwandte, das craſſe Dunkel des neuen Scho— 
laftieismus wenigftens etwas erhellen mußte, Zachariä umging 
die Firchliche Dogmatik, die er von allen Seiten erſchüttert jah, 
gänzlich, und Fam von ihr auf die Bibel zurück, Er fchrieb zu 
der Zeit, ald son Wolfenbüttel aus die furchtbaren Angriffe auf 
das Chriftenthum und auf die Urfunden gemacht wurden, im de— 
nen es enthalten ift, als Bahrdt von Teller in Schub genommen 
ward, als König Friedrich IL. dem von den Orthodoxen verfolg— 
ten Eberhard erſt eine Pfarre und dann eine Profeſſur in Halle 
gab, alſo zu einer Zeit, wo jedermann die alte Form der Lehre 
für unhaltbar hielt, eine biblifche Theologie in fünf Bänden, 
Zachariä benuste in feinem Werfe die Bibelerflärung derer, welche 
damals, um das Wefentliche der Schrift zu retten, das Unwe— 
jentliche bei Seite zu feßen fuchten. Er erwähnte daher mancher 
dogmatiſchen Spibfindigkeit, von der er in der Bibel nichts fand, 
gar nichtz nahm fich aber auch forgfältig in Acht, den Altgläu- 
bigen zu mißfallen. 

Die Univerfitäten Deutfchlandg änderten erft dann ihre theo— 
logiſche Lehrweiſe ganz entichieden, als ſich in Jena einige Zeit 


Deulſche Literatur: Theologie. 97 


hindurch die tonangebenden Theologen und Philofophen und in 
Weimar die Häupter der Profaiften und Dichter der Nation zu— 
fammen vereinigten und neue Wege bahnten. Jena und Weimar 
wurden auf eine Furze Zeit die eigentliche Metropole Deutfch- 
lands und erhielten die Bedeutung fir unfere Nation, welche 
- London und Baris für die Englifche und Franzöſiſche haben, fie 
hatten einen Ruf, den feit 1806 feine einzelne deutfche Stadt hat 
erlangen können. Die neue Religionswifjenfchaft ward von dort 
aus verbreitet (denn auch Herder war ja der alten und geſchmack— 
Iofen Lehre abgeneigt), die in Königsberg erfundene Philofophie 
ward ebenfalls von dort aus zehn Jahre fpäter nicht allein all= 
gemein verfündigt, Jondern gerade in Weimar und Jena auf eine 
ausgezeichnete Weiſe gebraucht, um unferer ganzen Literatur einen 
son allen Nationen Europas bewunderten geiftigen Gehalt und 
Schwung zu geben. Faſt alfe diejenigen, welche die Religions— 
wiffenfchaft dev Proteftanten damals dem Bedürfniß dev fortge- 
jehrittenen Cultur angemeffen entwieelten, waren junge Männer 
aus‘ Semlers Schule, und ihr Bemühen, ein neues Syſtem aus 
den alten Materialien mit Ausjcheidung der ganz unbrauchbaren. 
zu errichten, war um fo verdienftlicher, als die Franzoſen, der 
Fragmentift, ein C. F. Bahrdt und viele Mitarbeiter der A. D. 
B,, Schon damals die Ton angebenden Klafjen auf den Gedanken 
gebracht hatten, daß weder der alte Bau noch die Materialien 
deffelben für unfere Zeit mehr einen Werth Hätten. Der Jenatfche 
Theolog Danov ftand in feiner Zeit ziemlich allein. 

Danov nämlich, obgleich es damals noch als eine große 
Sünde angefehen wurde, fich auch nur ein Haar breit von den 
ſymboliſchen Büchern zu entfernen, folgte Heilmanns Grundfägen 
und demonſtrirte, wie diefer in lateiniſcher Sprache die Vernunft- 
mäßigfeit der alten Dogmatif ungefähr auf diefelbe Weife, wie 
dev Abt Jeruſalem im zierlich gebauten deutjchen Perioden daf- 
jelbe that. Er ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter, als 
Hellmann in Göttingen zu thun wagte. Gr beleuchtete nicht al— 
fein die Dogmen nad feiner Art philofophifch, fondern er ſcheute 
fich auch nicht, viele Lehren des ſymboliſchen Lehrbegriffs, die 
Heilmann nicht antaftete, zu beftreiten, Der neue Weg, den her— 


nach die folgende Generation von Lehrern betrat, um ein’ Chri- 
 Säloffer, Geſch. d, 18, u, 19. Fahrh. IV. Th. A, Aufl. 7 


x 


98 Deutfige Literatur: Theologie. 


ftenthum zu verfündigen, welches son allen Zuſätzen dev ſpäteren 
Zeiten ganz gereinigt jet, war philofophiich, kritiſch und exegetiſch 
Ichon gebahnt, ehe Herder von einer andern Seite her Aufflä- 
rung verbreitete; davon kann erſt weiter unten die Rebe fein. 
In Jena trat Griesbach ganz in feines Lehrers: Semler 
Spuren und: verfuhr noch vorfichtiger als diefer, erlitt deßhalb 
auch Feine Berfeterung, wie fie Semler erfahren hatte. Er bes 
reitete damals ganz im Stillen alle die Veränderungen vor, welche 
fpäter tim, Lehrbegriffe vorgenommen wurden. Eichhorn in Göt— 
tingen und Paulus in Jena machten den Grundſatz geltend, daß 
man bei dem jüdifchen und chriftlichen Schriften, wie bei ben 
Werken des claſſiſchen Alterthums Kritik, Sprachgebrauch, Accom— 
modation und Sitten des Orients berückſichtigen und den Vor— 
urtheilen von wörtlicher Eingebung der Schrift ganz entſagen 
müſſe. Griesbach 22) ging einen Weg, der dem von Semler be— 
tretenen entgegengeſetzt war; er begann. behutſam und endigte 
dreiſt, Semler begann dreiſt und ſtand hernach plötzlich ſtill. 
Griesbachs erſte Bücher waren nur den Gelehrteſten brauchbar; 
er überließ es Andern, die überraſchenden Refultate feiner kriti— 
ſchen Forſchungen in populärer Form und in einem anziehenden 
Gewande vorzulegen, bis er endlich ſelbſt das ganze Reſultat die 
ſer Forſchungen philoſophiſch zuſammenfaßte und Alles das, was 
er für Weſen des Chriſtenthums hielt, in einen kurzen Abriß ver⸗ 
einigte. Griesbach hatte alſo nicht blos wie Semler, vom Haſſe 
des Aberglaubens und des. Betrugs beſeelt, überall nur das Fal- 
ſche gefucht, um zu. beweifen, daß es faljch fet, ohne etwas An— 
deres an die. Stelle. des erwiejen Falſchen zu ſetzen, ſondern er 
fuchte ein, Chriftenthum, welches den Forderungen der Vernunft 
eben. ſo angemefjen: jet, als den Achten: Quellen der chriftlichen 
Lehre und ihrer Gefchichte, Semler Fam daher dahin, daß ex 
zur. Zeit feines Streits mit Bahrdt und: mit dem Verfaffer und 


22) Die Theologie, fo wichtig fie für die. Geſchichte auch tft, gehört 
nicht Hierher. Wer daher das Nähere über Griesbach wiffen will, den ver- 
weifen wir auf die vortreffliche Charakteriftif feiner Lelftungen, welche Paulus 
in den Heidelberger Jahrbüchern für 1812 im Intelligenzblatt Nr, VIL ger 
geben, hat, 


Deutfche Literatur: Theologie, 99 


Herausgeber dev Wolfenbüttler Fragmente ausdrücklich erklärte: 
„Sr habe das: Anfehen dev ſymboliſchen Bücher der; evangelifchen 
Kirche niemals erſchüttern, jondern nur die theologifche Gelchr- 
famfeit verbeffern wollen.“ Er behauptete denfelben Sab, den 
anch manche verftändige Eiferer für die veralteten Symbole in 
unſern Tagen zu behaupten pflegen: Daß die fogenannten ſym— 
bolifchen "Bücher und Goncordienformeln zur Außen geſell— 
ſchaftlichen Religion, zur Erhaltung der Einheit und der Ord— 
nung in der Kirche nothwendig, daß ſie das äußere Vehikel ſeien, 
welches dazu diene, den großen Haufen doch zu einer beſtimmten 
Religion anzuhalten, bei den Fähigeren aber die innere, freie, le— 
bendige, moralifche Religion zu entwiceln, 

Die Theologen in Jena, wie hernach Eichhorn und: Plant 
in. Göttingen, verfuhren anders. Ste glaubten weiter gehen: zu: dür— 
few als Semler und Griesbach und gaben: fich vielleicht hie und 
dar der Bewegung einer aufgeregten Zeit mehr hin, als den Leh— 
vern einer pofittven Staatsreligion zu vathen tft, welche gewiſſer— 
maßen befoldete, an eine Inftruftion gebundene Beamten: find. Als 
daher Griesbach aus dem Dunkel feiner Gelehrſamkeit hervortre— 
ten und endlich das Nefultat feiner ohne alle Bolemif fortgejegten 
Prüfung angeben wollte, ließ er die wifjenfchaftliche Dogmatik un- 
angetaftet und fuchte nur feitzujeßen, was dem Volke vorgetragen 
werden dürfe. Er wollte nicht, wie Semler, durch einen from— 
men Betrug, den man einft, um die Ginführung des: Chriften- 
thums zu erleichtern, Oekonomie des Glaubens nannte, das Volt 
in dem Wufte des alten Irrthums Yaffen, damit es nicht jeden 
Slauben verfchmähe, jondern er wollte an die Stelle der alten 
Katechismus⸗Dogmatik eine populäre Slaubenslehre ſetzen, die er 
aufs‘ vorſichtigſte faßte. Zu einer folchen Arbeit entichloß fich 
übrigens Griesbach erft dann, als das, was jest Rattonalismus 
geſchimpft wird, tn populären Schriften über die Grängen hinaus— 
getrieben ward, innerhalb deren man: bleiben muß, wenn nicht: die 
Staatsreligion oder der poſitive Glaube der unwiſſenden Menge 
und: mit. ihr die: Sittlichfeit gänzlich zufammenftürzen fol, Gries— 
bach wandte fich im feinem Buche an die Theologen als an fünf- 
tige Seelforger , nicht: als an Gelehrte oder Philoſophen. Gr 
ſchrieb nämlich um 1786 die Anleitung zum Studium. der 

| * 


100 Deutfche Literatur: Baſedow. 


populären Dogmatif für Fünftige Religionslehrer. 
In diefem Buche Yehrte Griesbach, auf welche Weiſe man beim 
Bolfsunterricht nicht blos, fondern auch beim Unterricht Fünftiger 
Volkslehrer, ohne das Volk zu betrügen und ohne, wie jeßo ge— 
ſchieht, zu Spphismen feine Zuflucht zu nehmen, die das Volk 
bald verachten Ternt, Religion ohne Dogmatif lehren könne. Dies 
Buch Scheint uns für unſere rückwärts fchreitenden Zeitgenoſſen 
auch aus dem Grunde vor andern hiftorifch wichtig, weil Gries— 
bachs nur zu raſch vorwärts fehreitende Zeitgenoſſen dafjelbe mit 
jo vielem Beifall begrüßten, Es wurden von diefer Anleitung in 
drei Jahren drei Auflagen gemacht. Was er bezweckte, drückt 
Griesbach durch den Satz aus, daß diefe Art Dogmatik, welche 
beftimmt ſei den praftifchen Einfluß thenretifcher. Religionswahr= 
heiten zu entwideln, mit der rein populären ganz nahe verwandt 
jet. - Sowohl Griesbach als Eichhorn und Planf und ſpäter aud) 
Paulus, fonnten übrigens nur auf den Außern, gelehrten und hi— 


J ſtoriſchen Theil der Religionslehre einwirken, des Weſens derſel— 


ben bemächtigte ſich bald die neue Philoſophie. Aus Kants Phi— 
loſophie entſprang nämlich bald eine andere, welche man lange 
beſchuldigt hat, daß ihre Lehre, daß Alles Eins ſei, alle Religion 
in Dunſt und Spielerei mit Sätzen und Begriffen verwandele, 
und die Natur zum Gott und Gott zur Natur mache, Schelling 
ward nämlich, wie jegt an der Tagesordnung tft, des — * 
mus beſchuldigt, wie Fichte des pe 


— 


Baſedow und die Philanthroptums zw Deſſau, Marfhling, 
Hetdesheim ©. F. Bahrdt und feine Bibelüberfesung. 
I. A. Eberhard und feine Apologie des Sokrates. 


Mir Haben im vorigen Bande der Nolle erwähnt, welche 
Baſedow ald Berfündiger einer neuen Zeit, deren Geift yon ihm 
ausgehen jolle, übernommen hatte. Er war fehon am Ende der 
sorigen Periode von der Philoſophie und der Theologie, wo er 
es mit Leuten zu thun Hatte, die ihm weit überlegen waren, zur 
Reformation des Unterrichts und der Erziehung übergegangen, 
deren Bedürfniß Jederman fühlte, Ihm waren Rouſſeau, In Cha= 


Deutſche Literatur: Baſedow. 101 


lotais und Fielding in ſeinem Tom Jones vorausgegangen, und 
ſchon Montaigne hatte im ſechzehnten Jahrhundert den Weg an— 
gedeutet, den Baſedow bahnen wollte; auch hatte er es dabei mit 
Leuten zu thun, denen er gewachſen war. Er wendete ſich vor— 
erſt an das große, damals ſentimentale, Publikum und an Väter 
und Mütter. Baſedow war zum Umſtürzen, zum Stürmen, zum 
Lärmen, zur Aufregung und zur Erweckung eines halb rohen, 
halb ſentimentalen Volks der paſſendſte Manz es tft aber unbe— 
greiflich, wie man glauben konnte daß ein Mann wie er, im 
Stande ſein werde, eine neue moraliſche Erziehung zu begründen. 
Lieſet man von ſeinem täglichen Leben, von ſeiner Streitſucht, 
ſeiner ſteten Trunkenheit, ſeinem Betragen gegen ſeine ſentimentale 
Frau; hört man ſeine beſten Freunde über das Ausſehen ſeiner 
Perſon und ſeines Aufzugs, ſo wird man glauben, eher einen 
engliſchen Polizeibericht über einen der betrunkenen Irländer zu 
leſen, die jeden Morgen in London vor den Friedensrichter geführt 
werden, als die Schilderung des berühmten Gründers der neuen 
Erziehung. Wenn man indeffen an Rouſſeaus Lebenswandel, 
verglichen mit feinen Schriften, an Mirabeaus, Marats, Dan— 
tons und Anderer fehauderhafte Laufbahn denkt, jo überzeugt man 
ſich, daß feine radienle Reform durch moralifche Werkzeuge ausge 
führt werden kann, weil dazu entweder frevelhafte Unternehmungen, 
wie Dantons Thaten waren, oder unbegrängte Kühnheit, wie fie 
Baſedow befaß, erfordert werden. 

Baſedow fandy als er öffentlich auftrat, den Schulunterricht 
(mie man unter andern aus dem, was» Semler und Nikolai in 
ihren Lebensbejchreibungen über den Unterricht am Pädagogium 
zu Halle, der bedeutenditen Anſtalt für Bildung der Jugendleh— 
rer Deutſchlands, berichten, lernen kann) in demſelben Zuſtande, 
worin Mirabeau um 1789 die franzöſiſche Monarchie fand, und 
die häusliche Erziehung war noch elender- Die ſchon im zweiten 
Bande erwähnte, höchſt fonderbare Pranumerationsforderung Ba— 
fedows für fein Elementarwerk, welches alle Vortheile einer Re— 
solution bringen, alle Wiffenfchaften in eine Nuß drangen und 
alles mögliche Wiffen praftifch, jedem Kinde zugänglich machen 
jollte, fand einen ganz unerhörten Fortgang. Er hatte ſchon im 
Mat 1761 fünfzehntaufend Thaler beifammen, zu welcher Summe 


102 Deitfihe Literatur: Baſedow. 


die Kaiſerin von Rußland tauſend Thaler, und viele andere Für— 
ſten und reiche Privatleute ebenfalls bedeutende Beiträge gegeben 
hatten, Das ſogenannte Elementarbuch, welches dem Elementar— 
werk sorausging, ward daher mit demſelben Jubel aufgenommen, 
deſſen fich alle ephemeren, für den Augenblick berechneten Erſchei— 
nungen zit erfreuen haben, wenn Buchhändler oder Verfaſſer die 
Kunſt verftehen, einen vechten Lärm zu machen. Es mußte in- 
nerhalb drei Jahren, d. h. bi8 zum Jahre 1773, drei Mal neu 
gedruckt werden, und der derbe Schlözer in Göttingen begann ver— 
geblich dariiber einen Kampf auf Tod und Leben mit dem bie 
zum wirklichen Boren ftreitfähigen Baſedow 

Schlözer enthüllte, freilich nach feiner Art zuweilen etwas 
derb, in feiner Vorrede zu dem aus dem Franzöfifchen ins Dentfche 
überſetzten Buche von la Chalotais über den Kinderunterricht die 
ganze Scharlatanerte eines Bafedow und Wolfe, und empfahl 
dagegen die von Ta Chalotais befolgte Methode; der gelehrtefte- 
und verdientefte Schulmann Deutichlands erhob fich ebenfalls ge— 
gen das windige Treiben; beides’ war vergeblich, Der Rector 
Schlegel in Heilbronn widmete nämlich mit der Aufopferung der 
erften Verkündiger des Chriſtenthums alle feine Zeit und feine 
Arbeit der Bildung und Erziehung der Jugend; er Teiftete ganz 
im Stiffen, im Fleinen Kreife Alles das, was Bafedom prahlend 
und fihreiend verſprach und nie erfüllte; er fuchte wie Schlözer 
den Deutfchen zu beweilen, daß von Baſedows Bilderbudy nim- 
mermehr wahre und tüchtige Sugendbildung zu erwarten ſei; er 
predigte tauben Ohren. Die Zeit und ihr Bedürfniß trieben zu 
Bafedow Hin und diefe find mächtiger als alle Gründe. 

Um fich den Enthufiasmus zu erklären, den Baſedows Marft- 
ſchreierei erregte, muß man an den elenden Zuftand denfen, in 
- welchen die von Melanchthon und feinen Schülern eingerichteten 
Tateinifchen Schulen des fechszehnten Jahrhunderts gefunfen wa— 
zen, und die Dual kennen, welche die Schüler erdulden mußten, 
um Latein zu Ternen, ohne mit den römiſchen Schriftftellern 
befannt zu werden. Griechifch lernte nicht Teicht ein Juriſt, und 


die Theologen blos, um das neue Teftament zu leſen. Bafedow 


beantwortete Schlözers Bemerkungen im Tone eines betrunkenen 
Matrofen, und doch hielt man ihn für fähig, eine Bildungsan- 


Deutſche Literatur: Baſedow. 103 


ſtalt für die geſammte Menſchheit in Deutſchland einzurichten. Die 
däniſche Regierung und der freundliche und menſchliche Fürſt von 
Deſſau, der die Anſtalt gern in ſeiner Hauptſtadt haben wollte, 
thaten mehr für Baſedow, als in jener an Beſoldungen ſehr kargen 
Zeit für die erſten Gelehrten Deutſchlands geſchah. Er durfte nämlich 
ſeinen däniſchen Gehalt von 800 Thalern beibehalten und erhielt, 
als er nach Deſſau Fam, noch 1100 Thaler Penſion som Fürſten. 

Seit dem Augenblide, da das Glementarbuch in alle Fa- 
milten gekommen war, und Anftalten getroffen wurden, ein foge- 
nanntes Philantropium in Deffau zu gründen, war in Deutſch— 
land Bafedomw und feine Erziehung das, was in unfern Tagen Banken, 
Gifenbahnen, Monumente und chemtfche und mikroſcopiſche Entdefun- 
gen geworden find. Man erivartete das Heil der Menfchheit damals 
eben jo ficher won empfindfamer Erziehung als jet son matertel- 
len Fortſchritten. Das Sonderbarfte war, daß man Rouſſeau's 
Idylle des Lebens in die Schulen, feine Freiheit von allen con— 
ventionellen Banden und Rückſichten in die Familien bringen 
wollte, während das Staatsleben auf dem ganzen Sontinent in 
den ſchweren Fefleln einer willfürlichen Polizei lag, und in den 
Gerichten die Tortur als Mittel, die Wahrheit zu erforfchen, und 
der Stock als Correctionswerkzeug an der Tagesordnung waren. 
Die religiöfen Grundſätze der erften Hälfte des achtzehnten Jahr— 
hunderts lehrten, die Sinnlichkeit der Jugend, als Folge der 
Sünde der erften Aeltern, mit Stock und harter Zucht und Ent- 
behrung zu tödtenz Baſedow und Rouſſeau geboten, der Natur 
mehr zu vertrauen als der Zucht und nichts in die Seele zu 
pflanzen, was nicht in den nächften Jahren Frucht bringe, nichts 
zu Iehren, als was dem Kinde unmittelbar einleuchte, 

Wenn wir den Nevolutionsfchwindel der Jahre 184550 
betrachten, jo wird ung der Erziehungslärm der Jahre 1770 bis 
1800 weniger auffallen. Unhaltbare politifche Zuftände veran- 
Yaßten den Lärm in unfern Tagen, Unvereinbarfeit des Lebens 
neuerer Zeit mit der alten Erziehung machten Bafedow um 1772 
wie Nobert Blum um 1848 zu Gefesgebern Deutfchlande, Nur 
aus dem allgemeinen Gefühl der Nothwendigkeit, veraltete Zu— 
fände auf revolutionäre Welfe zu verändern, läßt ſich erfläven, 
daß ſich Männer, wie Layater und Sfelin, der Sache Baſedows 


104 Deutfche Literatur: Vaſedow. 


und feiner Schimären fo angelegentlich annahmen. Iſelin ftand 
in der Schweiz und im fühlichen Deutjchland als praftifcher 
Staatsmann in den Fächern der Staatswiffenfchaft in Anfehen, 
wie Lavater im religiöſen Fachz es arbeiteten an Sfelins 
Ephemeriden der Menfchheit Männer, wie 3. ©. Schlofier, 
die von luftigem Projectmachen ſehr entfernt waren, auch dieſe 
nahmen ſich des Philanthropiums an. 

Mas zunächit Lavater angeht, jo war er, den man des Je— 
ſuitismus anflagte, bei diefer Gelegenheit für die Fortichritte der 
Bildung und des Unterrichts auf eine fo eifrige und fo rühmliche 
Weiſe thätig, daß er fogar dabei feine religiöſen Vorurtheile ganz 
bei Seite jeßte, Gr führte nämlich denfelben Doctor Bahrdt, 
den der Baftor Götze in Hamburg in gedruckten Schriften als 
einen Feind des Chriftenthums verfolgte, als Divector des erſten, 
nach Baſedows Manier eingerichteten Philanthropiums feierlich 
ein. Graf Ulyſſes von Salis zu Marſchlinz in Graubindten 
war theils eingenommen von Bafedows jchwärmerifchen Illuſio— 
nen, theild glaubte er aus einem Philanthropium eine Geldipe- 
eulation machen zu können; er wollte daher, noch ehe das Phi- 
Yanthroptum in Deffau eingerichtet war, eins in Marjchlinz 
errichten und bot Baſedow die Leitung deffelben an. Baſedow 
lehnte den Antrag für fich felbit ab, empfahl aber an feiner 
Stelle den faubern Doctor C. F. Bahrdt, deſſen man damals 
in Gießen entledigt zu werden fuchte. Diefer ‚machte den nöthi— 
gen Lärm und errichtete mit großem Auffehen und lärmender 
Feierlichkeit das erſte deutfche Philanthropium, als deſſen Divector 
ihn Lavater einführte. | 

Das erite vom Grafen Salis auf Marſchlinz geftiftete, von 
Bahrdt eingerichtete Philanthropium hatte eine Furze und traurige 
Exiſtenz und verſchwand ſpurlos; das zweite von Bahrdt auf dem 
gräflich Teiningenfchen Schloffe zu Heidesheim in der Pfalz ein- 
gerichtete endigte fchimpflich, als Bahrdt wie ein Gauner davon 
floh, und ſelbſt Bafedows eigene Anftalt endigte nach kurzem 
Leuchten und Krallen wie ein Meteor, doch Tieß es bedeutende 
Spuren hinter fich und erleuchtete die Folgezeit. Die Wirkungen 
waren nur mittelbar, aber fie waren darum nicht weniger bedeu- 
tend und umfaffend. Das ganze Schulweſen mußte an einem 


Deutfche Literatur: Baſedow. 105 


Orte früher, am andern später, an einigen jogar erſt in unferm 
Sahrhundert gänzlich verändert werden, und es entitand unter 
und eine ganz eigene Art yon Literatur. Die Yange fehlummern- 
den Behörden erwachten und fobald Männer des neuen Ge- 
ſchlechts Sitz in den Gonfiftorien erhielten, denen leider die Auf— 
ficht dev Schulen vertraut war, entſtanden deutſche Schulen, mo 
Realien gelehrt und Bürger gebildet wurden, wie fie das Leben 
unferer Zeit fordert. Das weibliche Gefchlecht, deffen Bildung 
man vorher ganz vernachläßigt hatte, ward aus dem Mägdeftand, 
zu dem es verdammt gewefen war, erlöſet. 

Bafedows Philanthroptum in Deffau follte Neiche für viel 
Geld zu Menfchen bilden, Aermere für wenig. Geld unter dem 
Namen Famulanten zu Schullehrern erziehen, es hatte indeſſen 
anfangs Niemand Zutrauen zu Baſedows Marktichreiereien. Er 
eröffnete jedoch mit dem ihm eignen Selbftvertrauen am 27. Dez. 
1774 »auch ohne Zöglinge fein Philanthropium. Im folgenden 
Jahr hatten fich gleichwohl neun Benfioniften und ſechs Famu— 
lanten eingefunden, obgleich Baſedow jelbit nichts für die Anftalt 
that, jondern im Bette liegend am Elementarwerk und an andern 
- Büchern jchreibfelig arbeitete. Es verhielt ſich mit diefer Revo— 
Iutton der Erziehung leider, wie mit der franzöſiſchen Revolution; _ 
der edelfte Enthuſiasmus dev würdigſten Menfchenfreunde und 
die Bewegung einer nie jo heiter und fo jung auf Befferes hof- 
fenden Zeit ward von elenden Schreiern. mißbraucht!! Baſedow 
wagte damals, während er praftifch durchaus nichts leiſtete, was 
nicht jeder einigermaßen unterrichtete Dorffchufmeifter auch hätte 
leiften können, der europäifchen Menfchheit mit feiner Ungnade 
zu drohen, wenn fie nicht Geld ſchaffe. Gr erließ nämlich aus 
feinem Bette ein gedrucktes Schreiben, worin er drohte, daß er, 
wenn nicht bis DOftern 1776 zehntaufend Ducaten für das Phi— 
lanthropium eingingen, feine Hand son der- Menfchheit abziehen, 
und eine Anftalt, worauf er einen Theil feiner Zeit und einige 
tauſend Thaler gewendet habe, aufgeben wolle. 

Für die Charakteriftif des ganz jungen geiftigen Lebens in 
Deutfchland, Teider aber auch für die überfpannte Richtung, die 
Baſedow dem ſchönen und durchaus nationalen Enthuſiasmus aus 
Gitelfeit und eigner Heberfpannung zu geben fuchte, ift das von 


106 Deuiſche Literatur: Baſedow. 


Baſedow Nov. 1774 erlaſſene Programm, deſſen Titel wir unten 
beifügen. 23) Wie vorher Lavater Bahrdts neue Anftaltin Marfch- 
linz, ohne Rückſicht auf deffen Glaubensirrthümer, blos aus Eifer 
für Menfchenwohl und für Beförderung einer beffern Bildung 
durch feine thätige Theilnahme an der Einweihung gefördert hatte, 
jo unterſtützte jegt, durch gleiche Gründe bewogen, Sfelin die wer— 
dende Anftalt Bafedows in Deſſau. Er fehlug zwar den Antrag 
aus, neben Baſedow Gurator zu werden; aber er bemog in Ber 
Bindung mit Lavater zwei edle und ausgezeichnete Männer, fich 
für Baſedows Nodomontaden aufzuopfern. Simon und Schweig- 
häufen, zwei gelehrte, klaſſiſch gebildete, wahrhaft begeifterte Män- 
ner, fchloffen fich, von Lavater und Sfelin ermuntert, an Die 
beiden Empirifer und Schwätzer Bafedow und Wolfe an, und 
errichteten einen Fürmlichen Schul- und Grziehungsbund oder. 
Orden, wie man es nennen will, um auf diefe Weiſe eine Art 
Propaganda ihres Schuleifers und ihrer Schulfyfteme zu‘ ftiften. 

Der Schulbund ward förmlich als eine Art geiftlicher Rit— 
terorden oder Mönchsorden durch eine Negel gebunden, und ein 
fogenanntes philanthroptfches Archiv als Programm der 
neuen Stiftung herausgegeben. Schon der Titel diefes Archivs 
verkündete der gefammten Menſchheit, dag ihr Heil von Deffau 
kommen werde. Das erfte Heft diefes Archivs enthält die Ordens— 
regel diefer neuen Berbindung. 4) Die beiden aus den Alten 





— — — 


23) Dieſer Titel zeigt den ſonderbaren Inhalt hinreichend an: Das in 
Deſſau errichtete Philanthropium, eine Schule der Menſchenfreundſchaft und 
guter Kenniniſſe für Lernende und junge Lehrer, Arme und Reihe. Ein 
Fideicommiß des Publifums zur Vervollkommnung des Erziehungsweſens 
aller Orten nad dem Plane des Elementarwerks. Den Erforſchern und 
Thätern des Guten unter Fürften, menfhenfreundlihen Gefellfhaften und 
Privatperfonen empfohlen von I. B. Baſedow. Leipzig 1774. 96 ©. 

24) Der Titel Tautet: Phllanthroptfches Archiv, mitgetheilt von verbrü- 
derten Jugendfreunden an Vormünder der Menfchheit, befonders welche eine 
Schulverbefferung wünſchen und beginnen; auch an Väter, die ihre Kinder 
ing Deffauifche Philanthropin ſenden wollen. Was den Schulbund von Bafe- 
dow, Wolfe, Stmon, Schweighäufer angeht, fo machen die 4 im erſten Heft 
bekannt: 1) Sie widmeten ſich ſämmtlich dem Schulleben und wollten in 
ihrem ganzen Leben ſich mit nichts anderem befhäftigen, als mit dem, was 
zur DVerbefferung des Schulweſens dienen kann. 2) Die Unverheiratheten 


Deutſche Literatur: Baſedow. 107 


und durch dieſe gebildeten Männer gaben indeſſen der jungen 
Anſtalt eine wiſſenſchaftliche Bedeutung, und als der höchſt un— 
praktiſche und noch dazu ſehr gemeine und unmoraliſche Baſedow, 
ſeine Unfähigkeit, eine ökonomiſche Verwaltung zu leiten, einſah, 
ſchien das Philanthropium zu Deſſau auch die ökonomiſche Ver— 
legenheit zu überwinden, worin es durch Baſedow gebracht war. 
Der nur zu ſehr (wenigſtens ſpäter als Haupt eines Penſionats 
in Hamburg) in Dingen des Haushalts bewanderte, durchaus 
praktiſche und rechnende Feldprediger Campe übernahm die Lei— 
tung, er ward an Baſedows Stelle Mitcurator. Der freundliche 
und humane Fürſt von Deſſau verſprach nicht blos Geld, ſondern 
auch ein Gebäude, und Alles nahm einen guten Gang, bis Baſe— 
dows Gemeinheit and Herrſchſucht die Männer, ee ihm ausge⸗ 
holfen hatten, verſcheuchte. 

Campe und Salzmann begannen faſt zu cleicher Zeit ihre 
der Volksbildung eben fo vortheilhafte, als der Achten Wiſſen— 
Ichaftlichkett und der wahren Poeſie verderbliche Laufbahn als 
Erzieher und als Schriftſteller. Ste und ihre Nachfolger und 
Nachahmer überſchwemmten Deutjchland mit einer albernen Kin— 
derliteratur, und fuchten ganz kleine Kinder dadurch zu bilden, 
daß fie Erwachſene zu Kindern machten. Ste elferten mit Glück 
gegen die jefuitifche und ptetiftifche Erziehung, weil fie, gleich den 
Jeſuiten, Kinder und Aeltern in ihr Intereffe zu ziehen ver- 
fanden. Sie machten freilich der Pedanterei und zum Theil aud) 
der Verwöhnung der Kinder ein Ende, wir fehreiben aber doc) 
ihrer Erziehung die Nafeweisheit eines allwiffenden und eben 
darum unwiſſenden und anmaßenden neuen Gefchlechts der von 
en — gebildeten Jünglinge zu. 


nur folhe Weiber nehmen, die das Werk mit fördern helfen. 3) Ihre 
Kinder werden von ber Geburt an philanthropiſch behandelt und zu dem 
Swede der Väter erzogen. 4) Außer der Erfüllung.menfchlicher und bürger- 
licher Pflichten foll eines jeden tägliche Arbeit fein: a) Unterricht und Re— 
glerung der Jugend. b) BVerbefferung alter oder Verfertigung neuer Schul⸗ 
bücher. c) Correſpondenz oder Netfen oder Berathfchlagung oder ihn felbft 
vervollfommmender Fleiß zum Beſten des Schulweſens. Endlich machen fie 
ſi ich verbindlich 5) Einer dem Andern Brudertreue und Bruderhülfe zu 
leiſten, während ſie am Inſtitut arbeiten, und das Bruderbündniß ſo viel 
als möglich zu erweitern. | 


108 Deutfche Literatur: Baſedow. 


Die glänzende Periode des Philanthroptums zu Deſſau be— 
gann übrigens mit einer von jenen marftfchreierifch eingerichteten 
Prunkfeierlichkeiten, wie wir jebt deren in jedem Monat ein Baar 
aufführen und in den Zeitungen auspofaunen fehen. Wir meinen 
die öffentliche Prüfung, welche am 13ten, 14ten und 15ten Mai 
1776 von Bafedow vevanftaltet ward. Zu diefer Prüfung entbot 
Baſedow in feinem prahlerifchen Styl alle Kosmopoliten Deutfch- 
lands, er befchrieb fie im zweiten Stück des Archis und der ge= 
lehrte Rector Stroth zu Quedlinburg widmete ihr eine eigene 
Schrift. Der Lärm, aber befonders der rege Eifer eines Simon 
und Schweighäufer, brachten die Anftalt empor, und fogar aus 
Sranfreich Famen Zöglinge; doch ſah Baſedow felbft ein, daß er 
zum Gurator nicht tauge. Er zog fich im Dez. 1776 von der 
Leitung zurück, behielt aber den Neligionsunterricht, den er mit 
Beredſamkeit und Salbung ertheilte, ex gebrauchte dabei oft fein 
eigened Beifpiel als abfchrediende Warnung, wenn er in roher 
Zrunfenheit grobe Exzeſſe begangen hatte. Leider! hatte er fich 
außerdem noch allerlei unbeftimmte Gefchäfte vorbehalten, und 
verurjachte hernach Campe, der die Leitung an feiner Stelle über- 
nommen hatte, fo vielen Verdruß, daß diefer endlich. ihn und 
feine Anftalt feinem Schieffal überließ. 

Campe begann als. Gurator in Verbindung ‚mit Bafedow 
ftatt des Philanthropifchen Archivs die Pädagogiſchen 
Unterhaltungen, die auf eine gemüthliche in Kleinere Städte 
vertheilte Nation, wie die Unfrige, ſehr wohlthätig gewirkt haben, 
wenn gleich freilich der Großftädter und der Weltmann über die 
Sentimentalität und die Idylle des Pfarr- und Amthaufes oft 
lächeln mag. Das Familienleben und die Erziehung ward idea— 
lifirt und zur Freude der Mütter Ernſt und Strenge ganz von 
der Jugend und wo möglich aus dem Leben entfernt. Das Phi— 
Yanthropium in Deffau blühte anfangs unter Campe's Leitung 
ganz frifch empor, es hatte im Sommer 1777 fünfzig Zöglinge, 
der Fürst von Deffau wies ihm den Dietrich’ichen Palaft an, 
Bafedow erhielt die viertaufend Thaler wieder, die er hergegeben _ 
hatte, auch waren noch fechstaufend Thaler in der Reſervekaſſe, 
als der zänkiſche Baſedow einen Streit nad) dem andern erregte, 
Der mwohlwollende Fürft fuchte dem Streit dadurch abzuhelfen, 


Deutfche Literatur: Bafedow. 109° 


daß er Baſedow dahin brachte, wieder an der Curatel Theil zu 
nehmen, was anfangs in Friede zu Stande kam; e8 zeigte fi) 
aber bald, daß mit dem Trunkenbolde nicht auszufommen ſei. 
Der. Sturz des Philanthropiums, der son dem Augenblicke 
an unvermeidlich ward, als Baſedow wieder das Kuratorium 
übernahm, ward für die deutſche Erziehung, was die Verwirrung 
der Sprachen beim Thurmbau zu Babel für die erfte Cultur von 
Aſien gewefen fein fol. Die Lehrer son Deffau zerſtreuten fich 
in alle Gegenden von Deutfchland, es wendete jeder von ihnen Baſe— 
dows Ideen nach feiner Art an, Ste errichteten Inftitute und mach- 
ten zu einem Gewerbe, was vorher nur ein Amt gewefen war. 
Campe fehted ſchon im September 1777 von der Anftalt in 
Deſſau; die beiden einzigen gelehrten, wiffenfchaftlichen und durch— 
aus tüchtigen Theilnehmer an dem Treiben in Deffau, Simon 
und Schweighäufer, gingen nad, Straßburg; Wolfe ward Haupt- 
perfon im Phllanthroptum, denn Bafedow trat um Oftern 1778 
noch einmal und dieſes Mal für immer ab. Salzmann über 
nahm Bafedows Antheil am Religionsunterricht. Unter den vie— 
fen Grziehungsanftalten, welche hernach gleich Fabriken errichtet 
wurden, waren die Sampefche bei Hamburg und Salzmann 
Inſtitut auf dem Schloffe von Schnepfenthal bet Gotha die be- 
rühmteften. Ste hatten Gedeihen, weil fie weniger coloffal ange- 
legt, und befjer den Forderungen der Väter und Mütter angepaßt 
wurden, als das Philanthroptum in Deſſau. Das Letztere dauerte 
noch fünf Jahre kränkelnd fort, Es hatte aber feinen Zweck er- 
reicht, denn an allen Eden und Enden von Deutjchland ward 
nach der von Bafedow und Campe und Salzmann empfohlenen 
Weiſe gelehrt, und ſchon zehn Jahre nach der Grrichtung des 
Philanthropiums (1784— 1788) führte man in der unterften 
Klaffe einer am äußerſten Ende Deutfchlandg gelegenen gelehrten 
Schule, am Strande des Nordmeers Bafedows Syſtem ein, Das 
Lateinifche ward aus einer Inteinifchen Ueberſetzung von Campes 
Robinfon aus Schützes Clementarwerf, aus Gedifes Lefebuch 
erlernt, zum Glück für den Verfaffer diefer Gefchichte fügte jedoch 
hernach ein verftändiger Nector den Cornelius Nepos wieder hinzu, 
Obgleich man eingeftehen muß, Daß bet der übereilten Ein— 
führung der neuen Methode und der neuen Bücher die gelehrte 


110 Deutfche Literatur: Vollsbildung. 


und gründliche Bildung dev höheren Klaffen der Gefellichaft und 
des eigentlichen Gelehrtenftandes nur in den Gegenden: und Orten 
bedeutend gewann, wo die Realien ganz verſäumt, oder die Lehrer 
ganz fchlecht waren, fo, war dod; der Gewinn des Bürgers und 
Bauers, alfo der Klaffen, welche bei Revolutionen gewöhnlich 
die Betrogenen find, bei. dieſer Revolution fehr bedeutend,  Baje= 
dow und die fpeculivenden Unternehmer der Penfionsanftalten 
dachten, freilich hauptfächlich an die Leute, welche bezahlen, konn— 
ten, und waren mit den Mitteln, der arbeitenden Klaffe empor- 
zuhelfen, wenig befannt. Sie kannten die eigentlichen Bedürfniſſe 
des Volks und die Urfachen feiner Rohheit fehon-aus dem Grunde 
wenig, weil fie weder Beamte geweſen waren, noch Staatswiſ— 
fenfchaften: getrieben hatten; wir müffen daher, wenn vom eigent— 
lichen Volke die Nede ift, zwei: andere Männer nennen, welche 
einen Plab neben. Peſtalozzi verdienen, » Diefe find. der Ober- 
beamte des edeln und für das Wohl feines: Landes unabläffig 
bemühten, wahrer Aufopferung fähigen Markgrafen Karl Friedrich 
von Baden, der nachherige Frankfurter Stadtiyndifus J. G. Schloffer, 
und der Erbherr dev Herrſchaft Rekahn und Domherr von Halber- 
ftadt, von Rochow. Der. Erxfte, obgleich. er Platonifer war, er— 
klärte fich gegen alle utopifchen Träumereien der Bhantaften, 
ftelfte aber felbft ein Mufter auf, wie man, ohne zu revolutioni— 
ven, dem Volke helfen könne. Er fchrieb nämlich im Getfte eines 
Türgot und jener Oekonomiſten, deren Syftem fein edler Landes- 
herr gleich dem Großherzog Leopold von Toscana zuerft von allen: 
Regenten praktifch anzuwenden ſuchte, feine Sittenlehre für 
das Landvolk (um 1771), woraus Gampe, dev: bekanntlich 
feine eigenen: Ideen hatte, hernach das Wefentliche feiner Sit— 
tenlehre für Kinder entlehnte.  Schloffers Buch: gehört zu 
den vortrefflichften Volksbüchern unferer Nation und: verdient einen. 
Platz neben dem erften Theile von Peſtalozzis Lienhard und 
Gertrud; Rochows DVerdienfie find anderer Art. Er ſchuf als 
Gutsherr die erſten Mufterfchulen für Landfchullehrer, ließ die 
Lehrer der, Schulen feiner Herrſchaft in Deſſau bilden, und fehrieh 
auch. ſelbſt eine Anmweifung zur Bildung des Landmanns. 
Schloſſers Katechismus beſchränkt ſich auf die Sittenlehre; 
in von Rochows Verſuch eines Schulbuchs für Kinder 


Deutſche Literatur: Vollsbildung. 111 


der Landleute, oder zum Gebrauch für Dorfſchulen 
wird von allen den Kenntniſſen gehandelt, welche dem Land— 
manne in ſeiner Sphäre nützlich ſein können. Das Büchlein ſoll 
ſowohl dem reichen Bauer als dem armen und auch ſogar dem 
Taglöhner den Weg zum Wohlſtande zeigen. Die Kinder erhal— 
tem hier Anmweifung, wie man auf die beite Wetje das Feld 
düngt, die Pferde füttert, das Wirthfchaftsgeräthe in Ordnung 
halt u. ſ. w. Die Ochullehrer auf Rekahn wurden: übrigens 
ausgezeichnet qut befoldet und der Herr von Rochow war neben 
dem: Fürften von Deffau der. Einzige, der von der: Gelegenheit 
Gebrauch machte, Schullehrer im Philanthropium bilden zu laf- 
fen; denn son den: ſechs Famulanten des Inſtituts unterhielt der 
Herr von Rochow zwei und der Fürft von Deffau vier. Rochows 
Schulbuch machte viel Glück, es erſchien fehon im Jahre 1776 
eine ganz umgeavbeitete Auflage mit Kupfernz zu gleicher Zeit 
ſchrieb von Nochow den Kinderfreund, ein Leſebuch zum 
Gebrauch für Landfchulen, den er auf eigne Koften druden 
ließ, um ihn hernach ſehr wohlfeil im die Hände des Landvolks 
zu bringen. 

Durch die Veränderung der Erziehung und des Unterrichts 
und durch das Erwachen des Bedürfniſſes einer von den Schladen 
des Mittelalters vollig gereinigten Religion ward, wie das bei 
jeder Revolution iſt, einer Anzahl Menfchen das Feld geöffnet, - 
welche Philanthropie und Zeitgeift für ihre ſchmutzigen Zwecke 
benußten. Unter diefen: Menfchen: verdient ſchon des Auffehens 


wegen, welches: er zu erregen: verftand, G. F. Bahrdt, einen: der 


erften Plätze. Er benußte fowohl das erwachende Streben nach 
Befreiung vom Religionszwang der eriten Hälfte des Jahrhunderts, 
als den Wunfch feiner Zeitgenoffen, die Jugend von: der. frlant- 
jchen Zucht und dem pedantifchen Unterricht gänzlich: zu: befreien, 
für ſchmutzige Spekulation. und niedrige Gaunerei. Aus diefes 
Theologen unverjchämt gefchriebener Selbftbiographie, oder. aus 
den zwei Bänden, welche Bott über ihn und feinen Wandel ge- 
Ichrieben Hat, verglichen mit den, im zwei. verfchtedenen Bänden 
des Schlichtegrollfchen Nekrologs, dem Publikum: mitgetheilten 
Nachrichten wird man: durch Thatfachen lernen können, daß die 
deutjche Nation im: Augenblick ihres Erwachens von gewiſſenloſen 


112 Deutfche Literatur: ©. F. Bahıd. 


Schriftftellern irre geleitet ward, wie 1848 von eitlen. Bahrdt 
machte nämlich einige Zeit hindurch großes Auffehen, weil er 
troß feiner allgemein befannten Immoralität den Ton zu treffen 
wußte, der für ein fehwärmendes Publikum paßte. Sein Vaga— 
bundenleben brachte ihn außerdem mit allen denen in Verbindung, - 
die in Sinnlichkeit verloren, eine firenge Religion zu vernichten 
wünfchten. Wo er fich befand, in Erfurt, in Gießen, in Grau— 
bunden, am Rhein, in Halle, gründete er eine Schule der Leichte. 
fertigfeit. | 
Er ward Brofeffor der Philofophie zu Erfurt, als dort 8. 
J. Riedel, sorher Genoſſe der Gemeinheit eines Klotz als Schrift 
fteller und durch wüſtes Leben, den Ton angab. Schon hier in 
Erfurt ſpekulirte Bahrdt auf den Zeitgeift, der, weil die Verthei— 
diger der Orthodorie abgefchmacte Dinge vorbrachten, ihre Geg- 
ner begünftigte, Bahrdt verftand die Kunft, ſich das Anfehen ei= 
ner Gelehrfamfeit zu geben, die er nicht befaß, und wählte den 
Weg der Heterodorie, weil fie Mode war, Geld einbrachte und 
son den gegen die Obfeuvanten und Heuchler erbitterten geiſtrei— 
hen und edlen Männern in Schub genommen wurde. Er blieb 
indeffen in der Dogmatif und Moral, die er in Erfurt heraus- 
gab, noch jo jehr innerhalb der Schranken der Schieklichfeit, daß 
auch dev gute Semler ihn mur für einen Gegner der alten Fin- 
ſterniß, nicht für einen Wolf in Schafskleidern anfah und ihn 
zu einer theologifchen Brofeffur in Gießen empfahl. Dort ward 
die Aufklärung und Anwendung des freien Denkens auf Schrift 
erflärung und Glaubenslehre für feine Schriftftellerei einträglich, 
weil er unter den Theologen noch ziemlich vereinzelt daſtand, des 
deutfchen Ausdrucks mächtig war, und aus der alten Schule noch 
eine bedeutende Maſſe pofitiven Wiffens mitbrachte, das den ſpä— 
tern Rationaliften oft mangelte. Er kannte die Bedürfniſſe der 
mächtigen Partei, welche damals um jeden Preis Befreiung vom 
drücfenden och pedantifcher Nechtgläubigfeit erlangen wollte, er 
war im Stande, leicht, populär, moralifch und allenfalls auch 
empfindfam zu fchreiben, wie es die Umftände oder der herrſchende 
Geſchmack forderte. Cr fand daher Abſatz für feine Schriften 
amd drückt fich felbft darüber wie ein Kaufmann aus, da er ung 
feinen Verdienſt dabei nach Gulden und Kreuzer vorrechnet, 


Deuiſche Literatur: C. F. Bahrdt. 113 


Er begann mit Predigten, ſchrieb dann eine Homiletik, einen 

kritiſchen Apparat zum A. T. in lateiniſcher Sprache, als der 
Varianten ſammelnde Kennicott und J. D. Michaelis Kritik des 
A. T. in die Mode brachten. Er ſchrieb ferner einen Entwurf 
der Kicchengefchichte des N. T., Vorſchläge zur Aufklärung und 
Berichtigung des Lehrbegriffs unferer Kirche, Bemerkungen über 
Michaelis Bibelüberſetzung. Mit der fortfchreitenden Zeit ward 
er. in diefen Büchern immer dreifter gegen die Kirchenlehre, zu 
deren Verkündigung er doch eigentlich als Profeffor und Prediger 
berufen war. Er mwiderlegte nicht ſowohl Irrthümer und fuchte 
Wahrheit zu finden, als er dem, was feiner Gemeinheit nicht ge— 
fiel, Hohn ſprach. Er taftete endlich mit frevelnder Hand und 
profaifchen Sinn auch die ehrwirdige Urkunde des Chriftenthums 
und defien erhabene Poeſie an. Dabei ſpekulirte er, als er eine 
neue Meberfegung des N. T. anfündigte, ganz richtig auf bie 
berechneten Fortichritte einer durch Nomane und durch populäre 
Schriften verbreiteten Aufklärung, auf den rafchen Fortgang der 
Veränderung der deutſchen Sprache und des Styls im achten Jahr— 
zehnt des vorigen Jahrhunderts, 

Diefe neue Meberfeßung, oder. vielmehr dieſes son C. F. 
Bahrdt traveftirte neue Veftament wurde in jener Zeit, wo Alles 
neu werben follte, innerhalb neun Jahren, d. h. bis zum Jahre 1783, 
in drei Auflagen und zwar beſonders in Norbdeutfchland ver— 
breitet, obgleich in unfern Tagen ſchon der Titel, der damals 
anlockte, davon abſchrecken würde. Diefer Titel, welcher Leſer 
anlocken joflte, ift von den elendeſten Machwerfen der Bücher— 
fabrifanten jener Zeit entlehnt. Er Yautet: das Neue Tefta= 
ment, oder die neuften Belehrungen Gottes dur 
Sefum und feine — ein Titel, der in der erſten 
Ausgabe durch den Zuſatz in —— und Briefen 
noch abenteuerlicher wurde. In dieſer Ueberſetzung wird man, 
wo man fie auch immer aufſchlagen mag, die gottloſe Reichtfertig- 
feit wahrnehmen, mit welcher Bahrdt, wir wollen nicht jagen, Die 
Religion, fondern auch fogar das Alterthum und die orientalt- 
hen Geſchichten deſſelben behandelt hat. Jeder Hauch des Orients, 


jede Färbung der Nationalität iſt verſchwunden, jede — 
Schloſſer, Geſch. de 4. u 19. Jahrh. IV. Th. 4, Aufl. 


414 Deukfige ‚Literatur: C. 3. Bahrdt. 


Empfindurg wird durch die kalt verſtändige und zumeilen auch 
umverftändige Proſa erſtickt. 

Bahrdt nahm ſich keine Zeit, den Ausdruck abzuwägen; er 
löſete in den Stellen, wo ein Dialog eingeführt wird, dieſen als 
altfränkiſch klingend auf, und vertilgte alle durch Meberlieferung, 
Gebrauch, Glauben mit dunfeln Gefühlen verbundenen, durch eine 
myſteriöſe, aber doch auch oft wahrhaft veligiöfe Bedeutung: dem 
Gemüth theuer gewordenen Ausdrücde Luthers. Dahin gehören 
Himmelreih, Reich Gottes, Seligfeit, Seligmachen, 
Erlöfer, Weg des Heils, Heiliger Geif, Name 
Jeſu u ſ. w. Es war damals übrigens noch nicht dahin ge- 
fommen, daß man die im Firchlichen Lehrbegriffe hergebrachten und 
durch den Firchlichen Gebrauch geheiligten Ausdrüde hätte entbeh- 
ver wollen;. e8 erhob fich daher. ein furchtbarer Sturm gegen 
Bahrdt, der ihn um jo mehr aus der Nähe bedrohte, als der 
darmſtädtiſche Miniſter C. 8. von Mofer auf eine ganz fonder- 
bare Weife eine Art yon politiichemn Liberalismus mit religiöſem 
Pietismus verband. Bahrdt wäre auch ficher fchon wor feiner 
Abreiſe nach Marfchlinz von allen Freunden religiöſer Aufklärung 
aufgegeben worden, wenn nicht die unverftändigen Vertheidiger 
de8 Veralteten ihm durch ihr unvernünftiges Toben unter den 
edeln Freunden verftändiger Religionsanficht Vertheidiger und 
Schützer verfchafft Hätten. Wie wenig übrigens das damalige 
deutiche Publikum, welches unfer an Schimpfworten wie Bantheift, 
Carbonari, Zaeobiner, Communiſt, Chartift, Radicaler, reiches 
Zeitalter wahrſcheinlich das junge nennen würde, Anſtoß daran 
nahın, daß man fich gegen gefunden Verftand "und reinen Ge- 
ſchmack verſündigte, wenn man fich nur das Anſehn gab, tim 
modernen Geſchmack zu fchreiben, wird man aus einigen unten 
beigefügten Stellen der rn de in drei — —r 
—— Fr können. 23). 


— 


jd 3) Mai N; BR. 4, * in der erſten Auflage Wohl denen, 
welche die ſüße Melancholie der Tugend den ſüßen Freuden des Laſters vor⸗ 
ziehen; in der vor uns liegenden dritten Auflage (Berlin 1783) lautet der 
Ders; Wohl denen, welchen dieſe Erde wenig Freuden gewährt, fie werben 
reichlich dafür getröftet werben. Die bei Luther unvergleichliche Stelle 
Math, 3, 7. u. 20, 38, 19, lautet: Und indem kommt ein gewiſſer jüdiſcher 





Deutiche Literatur: C. F. Bahrdt. 115. 


In Marſchlinz ſpielte hernach Bahrdt den kleinen Bafedom, 
jedoch mit dem Unterſchiede, daß in ihm auch nicht ein Funke 
von Baſedows wahrhaftiger, wenn auch oft unverſtändiger und 
lächerlicher Begeiſterung für die Sache der Menſchheit war. Bei 
Bahrdt war alles erkünſtelt, gemein und auf die gemeinſten 
Zwecke berechnet. Nichtsdeſtoweniger ward er vom Grafen von 
Leiningen als Generalſuperintendent nach Dürkheim berufen, um 
auch dort im Schloſſe zu. Deidesheim die Comödie der Errich— 
tung eines dritten ephemeren deutichen Philanthropiums aufzu= 
führen (1776). 

Wir erwähnen der Schiejale und ber Schriften dieſes Man— 
nes hier blos, um an ihm zu zeigen, wie groß das Bedürfniß 
jener Zeit war, dem Geiſtesdruck endlich zu entgehen und freier 
zu athmen. Dies würde noch deutlicher einleuchten, wenn wir 
näher in ſeine Schickſale eingehen, ihm durch feine. Gaunereien in 
Heidesheim und durch feinen ganz verworfenen Wandel und. feine 
ganz offenbaren Betrügereien mit der deutichen Unten in. Halle 
verfolgen dürften. Man würde dann fehen, daß er, wohin ev 
auch Fam, als Mann son, Talent gepriefen und. als Märtyrer 
feines Gifers für veligtöfe Aufklärung betrachtet ward. Dies. geht 
auch beionders. daraus. hervor, daß. ihm ein. Mann, wie Zeller 
war, in Breußen - Schuß verſchaffte. Zürnten doch Die Freunde 
der Aufklärung auch. fogar. einem Manne wie Semler, weil er, 
im Grunde nur ‚gegen Bahrdts Perſönlichkeit proteſtixend, gegen 
freie, Meinungsäußerung ‚zu proteſtiren ſchien. Ä 

Uebrigens hatte Doctor Bahrdt feine Rolle in Heidesheim 
ausgeſpielt, hatte Bankerott gemacht und war als ein Ale 





Gottesgelehrter .... aber Jeſus gab ihm Folgendes zur Antwort (Ou biſt 
in falſcher —— Ein Fuchs Hat feine Grube und ein Vogel fein Neft, 
aber’ ich, fo wie Du mich fiehft, bin ein armer Menſch, Habe nicht fo viel 
Eigenthum, als erfordert wird, mein. Haupt darauf zu legen. Die Stelle 
Marc. II. Vs. 28. Alſo iſt des Menſchen Sohn ein Herr auch des Sab- 
baths, wird in der erften Ausgabe überfept: Folglich müſſen die, Pflichten 
des äußerlichen Gottesdienſtes den Pflichten des Menſchen allemal unlergeord⸗ 
net bleiben. Im ber dritten Ausgabe finden wir jedoch: Der Sabbath tft 
um des Menfihen millen da, nicht der Menſch bes Sabbaths willen. Folglich 
gehet der Nenſch und deſſen Bedürfniſſe dem Sabbath por. 


116 Deuiſche Literatur: C. F. Bahrdt. 


teurer in England geweſen, als zugleich ein lutheriſcher Pfaffe in 
Hamburg Wehe über ihn rief und der Reichshofrath ihn ächtete. 
Kaiſer Joſeph IL. hatte ſich übereilt, als er Bahrdt mit Verletzung 
der Rechte des Reichs und der Evangeliſchen durch den Reichshofrath 
verfolgen ließ, dies verſchaffte ihm den Schutz von Perſonen, die 
ſich ſonſt ſeiner nie würden angenommen haben. Die Freunde 
der Aufklärung glaubten, daß zwei ganz beſchränkte Zeloten, ein 
proteſtantiſcher und ein katholiſcher, in Bahrdts Perſon den Ge— 
brauch der Vernunft in Glaubensſachen verfolgen wollten; das 
ſchaffte ihm die Hülfe der Verſtändigen. Was den Hamburger 
Paſtor Göze angeht, der damals durch die Art und Weiſe, wie 
er den lutheriſchen Lehrbegriff verſtand und verthetdigte, die herr— 
fchende Religion der Predigten und Katechismen bei allen Ber- 
ftandigen verhaßt oder Tächerlich machte, fo hatte er früher gegen 
die erfte Ausgabe von Bahrdts Ueberſetzung des N. T. eine 
Schrift herausgegeben. Sie hatte den Titel: Augenſchein— 
licher Beweis, daß des Dr. Bahrdt Ueberſetzung des 
N. T. nichts anders als wahre Gottesläfterung tft; 
durch dieſe liebreiche Schrift ward Bahrdts Suspenfion und nach— 
folgende Entfernung aus Gießen veranlaßt. Die Gründe, die er 
dort gegen Bahrdt geltend gemacht hatte, waren nicht beſſer ala 
die, welche hernach der MWeihbifchof von Worms, der lange ruhig 
zugeſehen hatte, ohne fich zu regen, anführte, um ihn aus Hei— 
desheim zu treiben. Der perfünlich beleidigte und durch einen 
Pfälzer, den Bahrdt beleidigt Hatte, aufgeregte Weihbiſchof er- 
Härte namlich, daß Bahrdt außer dem Geſetze fei, weil er eine 
Lehre verfündige, welche mit den Lehrſätzen Feiner der drei im 
Reiche geſetzlich beſtehenden Confeſſionen übereinftimme. Diefe 
Deichuldigung, welche der Weihbiſchof als Büchercommiſſarius des 
Katjers in Franffurt a. M. vorbrachte, machte dev Reichsfiskal, 
den er anvief, beim Reichshofrath geltend, und diefer wagte ohne 
Borladung, ohne fürmlichen Prozeß, ohne den Landesheren des 
Deflagten, ohne das Corpus Evangelieorum zu fragen, einen 
bis dahin ganz unerhörten Schritt. 

Der Reichshofrath erklärte ohne alle weitere Prozedur Bahrdt 
des Zweifels an der Dreieinigfeitslehre u. ſ. w. fehuldig, entſetzte 
ihn (was doch nur fein Landsherr zu thun befugt war) feiner 


Deutſche Literatur: C. F. Bahrdt. 117 


Aemter und legte ihm auf, ſeine Irrthümer zu widerrufen oder 
das Reich zu räumen. Sein Reichsgraf nahm ihn zwar in 
Schutz, er war aber ein kleiner Herr, der noch dazu gern den 
Fürſtentitel haben wollte, das machte den Reichshofrath dreiſt 
genug, ein Mandat an ihn zu erlaſſen, worin Bahrdts Entlaſ— 
jung befohlen wurde, 

Dadurch ward die Sache Bahrdts eine Angelegenheit des 
Reichs und der freien Meinungsäußerung der Proteſtanten und 
Bahrdt "wandte fich in diefer Sache an die zwei angefehenften 
Bertheidiger freier und unbefangener Bibelforfchung, an den 
Probſt Teller in Berlin und an den Theologen Semler in Halle; 
der Erfte bewirkte dann, daß man fich in Berlin feiner annahm. 
Gr ward mit Geld unterftüst und durfte in Halle Vorleſungen 
halten; nur keine theologifchen. » Semler eiferte heftig gegen 
Bahrdts Zulaffung zum Lehrer in Halle. Er galt feitdem als 
Obſcurant; obgleich ihn vorher derſelbe Göze, der Bahrdt ver- 
folgte, 26) als Erzketzer, Berfälfcher der Lehre und Vergifter der 
Jugend ausgefchrieen hatte, Man hätte dies Mal Semler wohl 
entfehuldigen jollen, daß er einen Mann, deffen Gegenwart über- 
all wie eine fittliche Peſt betrachtet ward, nicht gern auf einer 
Univerfität dulden wollte, wo Klotz ſchon feit der Mitte des 
Sahrhunderts eine Schule furchtbarer Unfittlichfeit gegründet hatte, 
die auch fogar, wie das auf Univerfitäten zu fein pflegt, nach 
feinem Tode nicht ausging. Semler fonnte und wollte freilich 
diefen Grund nicht anführen, er verlor daher die ganze Gunft 
der öffentlichen Meinung, weil es ſchien, ald wenn er fich an 
Göze, an den Weihbifchof von Worms, an den Neichsfiscal und 
an den Neichshofrath anfchließen wolle, 

Bahrdt hatte nämlich ein Glaubensbekenntniß aufgeſetzt, wel— 
ches Teller (1779) drucken ließ. Dieſes mißbilligte Semler nicht 
blos heftig, ſondern er klagte den Verfaſſer deſſelben als einen Feind 





26) Wie ärmlich die Gründe waren, welche Göze gegen Bahrdt vor⸗ 
brachte und welchen armſeligen Fetiſchismus er als Lutherthum vertheidigte, 
wird man aus einem einzigen Veiſpiel ſehen. Er wirft Bahrdt vor, er habe 
durch die Art, wie er die bekannte Stelle: „Ich bin bei euch alle Tage u, f. w.“ 
überfehe: Eine tröftlihe Beweisfitelle für die Allgegenwart 
der menfhlihen Natur Chriſti ven Gläubigen rauben wollen. 


118 Deuiſche Literalur &. F. Vahrdt. 


des Glaubens an. Das war ebenſo übereilt als überflüſig, weil 
jeder Verſtändige einſah, daß ein Menſch wie Bahrdt nie irgend 
etwas anderes geglaubt habe und glauben werde, als was ſeinen 
rohen und ſinnlichen Genüſſen dienen könne. Es war alſo ganz 
laͤcherlich, auf irgend etwas, das von ihm Fam, die geringſte Be— 
deutung zu legen, und doch that dies Semler. Er griff in 
Schlbzers Zeitfehrift, welche nicht fowohl von Theologen, als von 
Beamten, von Stantslenten und von allen denen, de mit der 
Staatspolizei zu thun hatten, gelefen ward, Bahrdts Perfon fo 
heftig an, daß ſelbſt Schlözer dafür hielt, er müffe auch Bahrdts 
Gegenerflärung aufnehmen, um dns Necht freier Rede nicht der 
Reichspolizei unterwerfen zu Iaffen. 27) Much die Behbrden zu 
‚Berlin nahmen ſich wie Schlbzer nicht ſowohl der unwürdigen 
Perſon Bahrdts an, als feiner Sache, ſoweit fie die Sache des 
thenerften Rechts jedes Staatsbürgers war. Es fehlen nämlich den 
Berlinern dabet auf die unbeſchränkte Freiheit anzufommen, bie 
chriſtlichen Religionsbücher nach beiten Ginfichten zu deuten. 
Senmler bebte damals vor dem Radicalismus in Neltgtong- 
fachen, deſſen er Bahrdt anflagte, um fo mehr zurück, als er, 
wie einige beſchränkte Zeloten unferer Tage, von ber Zeitphile- 
fophte Gefahr für das Weſen des Chriftentfums fürchtete. Eitele 
Furcht! Dies Weſen tft, wie der Stifter des Chriftenthums gefagt 
hat, auf dem Felſen unferes eigenen innern Wefens gegründet, den 
die Pforten der Hoffe nimmer erſchüttern. Wer Gott im Geifte 
geichaut hat, wird Religion mit eitem Griffen eingebildeter Theo- 
logen nie verwechſeln. Semler bebte vor Voltaire und der En— 
chklopädiſten Wit, vor Leffings mächtiger Sfepfis, vor des Wol— 
fenbüttler Fragmentiften furchtbarer Kühnheit und ganz befonders 
‚vor dem Gedanken, daß Bahrdt von feiner Seite den Deismus 
in Halle fordern — den der Berfaffer der Apologie des So⸗ 
krates als Profeſſor der Philofophie und der natürlichen Theologie 
damals dort lehrte. 





27) Semler lleß in Safsjers Briefwechſel No. XXX. ©. 233 einen 
Artitel gegen Bahrdt einrücken, Schlözer nahm daher auch Heft XXXII. 
©, 82 Bahıdts Antwort auf Semlers Widerlegung ſeines Glaubenebetennt⸗ 
niſſes auf. 


Deutfche Literatur: Eberhard. 119 


J. A. Eberhard, der Verfaffer der erwähnten Apologie des 
Socrates, war proteftantifcher Theolog, hatte aber, feitdem bie 
Apologie 1772 gedruct war, von den damals noch in den Con— 
ſiſtorien herrſchenden Nechtgläubigen Feine ordentliche Beförderung 
erhalten können, fondern hatte fich mit ein Paar elenden Pfar— 
veien behelfen müfjen, bis fich derfelbe Teller, der auch Bahrdt 
durchhalf, feiner annahm. Gr bewog den Mintfter Zedlitz, ihm 
durch Friedrich II. eine Stelle in Charlottenburg zu verfchaffen, 
wo er um 1776 durch feine allgemeine Theorie des 
Denkens und Empfindens den yon der Berliner Akademie 
ausgeſetzten Preis gewann. In diefer Schrift entwickelte er fein, 
wenn man will philojophifches Syftem und warb deßhalb, eigent- 
lich gegen feinen Wunfch, um 1778 zum Brofeffor der Philo— 
jophie zu Halle ernannt. In Halle war die Richtung und Die 
große Mehrzahl der Studirenden theologifch, Cherhard wandte 
alſo fein Syſtem auf Theologie an, Gr ward hernach einer der 
argften Bielfchreiber, was bekanntlich für einen Philoſophen ein 
fchlechter Ruhm ift, ſtand aber, weil man es mit der Schärfe der 
Dialeftif und der Tiefe der Gedanfen nicht jo genau nahm, als 
Menſch und als Gelehrter im beften Rufe. Er begann zur 
Berbreitung feiner deiftifchen Lehre ein eignes Sournal, und er- 
jehlitterte durch die in denfelben Grundſätzen gefchriebene Apo— 
Ingie des Sokrates, wovon fehnell hintereinander drei ver— 
mehrte und verbefierte Auflagen gemacht wurden, die Altglaubig- 
feit dev heranmwachfenden, nad) Bafedows und Nouffenus Manter 
erzogenen Jugend in ihren Grundlagen, Er wirkte nicht ſowohl 
wiffenfchaftlich auf Denker und Forſcher, als rednerifch auf das 
große Publikum, mehr in die Breite ald in die Tiefe. 

Eherhard war ein ruhiger, vielſeitig gebildeter, gemäßigter 
Mann, er paßte ganz für den damaligen Zuftand der Literatur 
und machte auch dort Eindruck, wo man den fittenfofen Bahrdt 
Herachtete und son feiner glatten, Teichten, oft im Romanſtyl 
vorgetragenen Moral nichts hören wollte, Eberhard richtete fich 
in jeinem Hauptwerfe seigentlich abfichtlich gegen die alte Dog- 
matik und bewies oder wollte wenigftens von allen ihren Hanpt- 
lehren beweifen, daß fie durchaus unhaltbar ſeien; er machte fich 
aber die Sache auf ähnliche, * leicht, wie die franzöſiſchen 


120 Deutsche Literatur: Riedel u. Klob. 


Akademiker, wenn gleich mit dem Unterſchiede, daß ex ernſt und 
würdig und biefe Ipaßhaft redeten. Eberhard behauptete, und es 
war faft Niemand, der ihm gründlich wideriprach, als Lefling, 
den man gleichwohl als einen Ungläubigen verfchrie, daß weder 
die Lehre von der Prädeftination, noch die von der Genugthuung 
Chriſti, noch die, von den Gnadenwirkungen und Höllenftrafen, 
noch eine Anzahl anderer in der Schrift ihren Grund hätten, 
und daß fie außerdem der Vernunft widerfprächen und der Sitt— 
lichkeit nachtheilig ſeien. Dieſe Art Glauben und diefe Art Phi— 
Iofophie beforderte Nicolai in Berlin nicht blos als Schriftfteller 
und Verleger, jondern er führte in feiner A. D. B. auch eine 
ganze, Armee rüftiger und Feder Derfechter derfelben aufs 
Schlachtfeld. 


ws 


Nicolai und die allgemeine deutſche Bibliothek. Wieland, 
die Brüder Jacobi und der deutſche Merkur. 

Die Kritif war in Deutfchland im Anfange des achtzehnten 
Sahrhunderts und in der ganzen eriten Hälfte deffelben in fo 
elenden Händen, daß man fait glauben follte, Gottſched fet noch 
einer der beferen Kritiker geweien, und wie verfuhr nicht diefer 
und die Greaturen, die unter feinen Fahnen dienten!! Als Gott- 
fcheds Fritifches Anfehn durch den gar zu groben Mißbrauch, den 
er und die Seinigen von ihren Journalen machten, untergegangen 
war, trieb Klot das gemeine Fritifche Spiel von Halle aus, wie 
es Gottſched in Leipzig getrieben hatte. Auch Klo, mie Gott— 
ſched, benußte die Kritif nur für niedrige, perfünliche Zwecke. Er 
pofaunte feine Clienten und Greaturen aus und fuchte jeden guten 
Kopf, jeden. Gelehrten, der die niedrige und gemeine Cameraderei 
verachtete, auf feine Art zu verhöhnen und herabzuſetzen; Die 
guten Deutjchen ließen fich aber bi8 auf unfere Tage, mo endlich 
alle kritiſchen Tribunale ihre Anfehn verloren haben, immer durch 
gelehrte Anmaßung leiten und in ihrem Urtheile beftimmen, Die 
Literatur war der Reihe nad von Gottſched, von Klot und dem elenden 
Riedel, von der allgemeinen deutſchen Bibliothek und von der all- 
gemeinen jenatjchen Literaturzettung abhängig, wir müflen deßhalb 
den Gang der Kritik Hier noch einmal berühren. 


Deutfche Literatur: Riedel u. Klotz. 121 


Klotz und Niedel waren Lente ohne Grundſätze und ohne 
Sitten, fie hatten aber Talent, und Klob war Meifter eines 
Teichten und fließenden Iateinifchen Styls, was in jenen Zeiten 
noch viel galtz auch hatte er einen Anhang unter Tiederlichen 
Studenten und unter denen, welche gern fahen, daß den hallefchen 
Pietiften ein Extrem der Leichtfertigkett entgegengefegt ward. Den 
Studenten gefiel das wüſte Leben, welches Klot führte, der burfchifofe 
Ton, worin er vom Katheder vedete, die Nenomifteret feines Schrift: 
ſtellerns und feines Fritifchen Unfugs. Beide, Klotz und Riedel, Herrichten 
durch eine ganze Anzahl fliegender Blätter, die ihnen zu Gebot ſtan— 
den, und Klotz galt für einen großen Kenner des Alterthums und der 
Kunſt, bis ihm Leffing und Herder mit einer Heftigfeit entgegen- 
traten, die fein elendes Publikum beftürzt machte. Sie beraubten 
den elenden Menfchen des ganzen Nimbus, den er zu der Zeit 
um fich. zu verbreiten gewußt hatte, als die Dämmerung der 
deutfchen Bildung noch nicht zum sollen Lichte geworden war, 
Da Klot auch mit Nicolai und der allgemeinen deutjchen Biblio— 
thef in Kampf war, fo mußte ihm Niedels Hilfe befonders jchäß- 
bar fein. Diefen berief der Kurfürft von Mainz, welcher der 
Univerfität Erfurt neuen Glanz geben wollte, nad) Erfurt, wo au) 
Wieland, der die Biheracher Kanzlei bis dahin geleitet Hatte, eine 
Zeit Yang lehrte. Auch diefen Lebtern wollte Klot durch Niedel an 
ſich ziehen; aber der praftifche Schwabe war ein befferer Diplo- 
mat als beide. Gr hielt fie allerdings, fo lange ex ihrer Poſau— 
nen bedurfte, bei guter Laune, ließ fich aber auf keinen Bund 
zur Kritik ein, ſondern fuchte fich ſelbſt ſobald als möglich ein 
Organ zu verfchaffen, weil bei der Mehrzahl der Lefer immer 
der Necht Hat, dev am Testen, am lauteſten, am flachften redet. 

Riedel arbeitete, bis auch er mit Klotz zerfiel, an deſſen 
Bibliothek der ſchönen Wiffenfchaften und gab zugleich ſelbſt eine 
philofophifche Bibliothek heraus, worin unter feiner Leitung auf 
feine Weiſe vezenfirt ward, Dabei blieb aber Riedel nicht ftehen, 
er arbeitete auch noch an der Leipziger neuen Bibliothef und an 
andern Blättern, Tieß auch daneben Pasquillen, Satyren, Schmäh- 
jchriften ausgehen, wodurch er fich in Anfehen fette, weil man 
ihn fürchtete, Der weltkluge Wieland wußte, wie fchlecht Riedel 
war, er wußte aber auch, wie man in Deutichland Ruhm 


122 Deulſche Literatur: Riedel u. Klotz 


macht und zerſtört. Gr fürchtete Riedel, er gab ihm daher, wie 
wir aus feinen Briefwechſel fehen, viel freundliche Worte, aber 
er ließ ſich Hlüglich nicht mit ihm ein. Ste paßten auch nicht 
zufammen; Wieland war ein geregelten, vechtlicher Mann, Riedel 
ein Wüſtling. 

Klotz Hatte schon lange durch lateiniſche und deutfche Kriti— 
fen weit umd breit über alle Magifter geherrfcht, er Hatte feine 
deutfchen Rezenſionen in den halleſchen gelehrten Zeitungen nie— 
dergelegt, ev gründete endlich 1767 noch dazu feine deutfche Bi— 
bliothef der ſchönen Wiffenfchaften, befonders für die Zweige der 
Literatur, deren er im feinem Yateinifchen Sournal (Acta litteraria) 
nicht erwähnen konnte. Es zeigte fich aber an ihm, wie. leicht 
der leere Dunft eines erfünftelten Ruhms zerftreut wird, wenn 
ſich Männer erheben, die dem Goloß, der die Welt in Erſtaunen 
und Furcht gefeht, die thörnernen Beine aufdecken, worauf feine 
ungeheuere Maſſe ruhte. Als zugleich Leſſing und Herder heftig 
und unerwartet über Klotz herfielen, war jedermann erfiaunt, Daß 
fich Leute gefunden hatten, die ihm nicht blos an Geiftund Kennt- 
niſſen, das war Teicht, fondern fogar an Heftigfeit und Derbheit 
überlegen waren, und feinen Grobheiten noch ftärfere entgegen- 
jegten. Auch Nikolai im zweiten Stück der allgemeinen dentfchen 
Bibliothek und im achten Bande derfelben that was er konnte, 
um Klotz in feiner Blöße darzuftellen. Klotz farb daher gerade 
zu vechter Zeit (1771), als er alles Anfehen verloren hatte, 
Nikolai und feine Bibliothek erbten die Herrfchaft über die deut— 
fche Literatur und übten fie, wie im unſerer Zeit die Unternehmer 
politifcher Blätter fie in der Politik geübt Haben. 

Nikolai, der ferne allgemeine deutſche Bibliothek fait allein 
leitete und machte, ward bald fo Fee, daß fich endlich auch gegen 
ihn viele Stimmen erhoben, und daß man der unumſchränkten 
Gewalt ein Ende zu machen fuchte, die er als derber und eigen- 
mächtiger Neprälentant des auf Wolfs Philoſophie trokenden, 
flachen und reellen, aber gefunden Menfchenverftandes fich an— 
maßte. Gr glaubte über Philoſophie, Theologie und ſogar über 
Poeſie, wovon er gar keine Ahnung Hatte, mie über die Nezen- 
fenten feiner Bibliothek herrfehen zu konnen, Nicht bloß die von 
ihm verfolgten Schwärmer, Myſtiker, Orthodoren und Windma= 


Deutsche Aieralur: Nikolal. 1 


cher erhoben ſich gegen ihn, nicht bloß Hamann, Herder und Kant 
waren über ihn erbittert, ſondern ſogar Jakobi, der damals zwi— 
ſchen dem alten Syſtem und der berliner nach franzöſiſcher Art 
refleftivenden Weisheit einen mittleren Weg bahnen wollte. Auch 
Wieland trug dazu bei, der Einfeitigfett des neuen Tribunals ent— 
gegen zu wirken, Nikolai verfuhr mit dev Dreiftigfett und Ueber— 
zeugung von feiner Unfehlbarkeit, welche Empirifern, Autodidaften, 
und Halbwiffern, die bloß den Staats= und Hansgebrauch ber 
MWiffenfchaft im Auge haben, ebenfo, wie den fteifen Syſtemati— 
fern eigen zu fein pflegt. Da er nicht glauben Fonnte, daß irgend 
ein Ding außer feinem Gefichtöfreife liegen könne, fo flrich er 
nicht bloß in den ihm eingefihteften Nezenfionen das, was ihm nicht 
gefiel, weg, fondern Anderte darin nach Belteben und ſchickte ſogar 
den Rezenſenten eine Art VBorfchrift, wie die Kritif ausfallen Tolle, 
Er ſelbſt erzählt das ganz unbefangen und klagt, wie viel Mühe 
und Arbeit ihm diefe Obercenfur gemacht habe, wofür ihm nie— 
mand dankte. Weil er fich einbildete, daß er das Publikum amd 
den Zeitgeift zu leiten von Gott und der Natur berufen jet, ward 
er auch heftig erboßt, wenn irgend eine Erſcheinung, wofür ihm 
der Sinn fehlte, beſonders eine tiefere Philoſophie oder eine höhere 
Poefte fich ohne fein Zuthun geltend machte, Er verfäumte dann 
nie, diefelbe Art von Satyre, die ihm im Sebaldus Nothanker 
‚gelungen war, weil er dies Buch im Geifte der Zeit verfaffet und 
Ih zum Organ derſelben gemacht hatte, in einen platten Roman 
zu bringen, Im diefen efenden Romanen wagte er dann gegen 
den Geift der Zeit jedes Gente und jeden Fühnen Schritt deifel- 
ben, jede Abweichung von Sulzers Negel zu verfpotten. Wenn 
man dies bedenkt, wird man begreifen, warum Göthe und Schil— 
Ver es der Mühe werth- halten konnten, den induſtriöſen Buch— 
‚händler in den Kenten fo tingezogen, oder wie Schlegel und Con— 
ſorten es nannten, mit göttlicher Grobheit nieder zu fehimpfen. Es 
ſchien ihnen für Deutſchland nöthig, die Mittelmäßigkeit, die bei 
uns ſtets thront, von ihrem Thron zu ſtoßen. Aehnliche Verſuche 
find den Dämagogen unſerer Zeit theuer zu ſtehen gekommen. 
Die aſthetiſche Beurtheilung son Nikolais Romanen wird man 
hier nicht ſuchen, denn in diefer Beziehung verweiſen wir nicht 
bloß hier, fondern überall im Folgenden auf Gervinus Geſchichte 


124 Deutſche Literatur: Nikolai. 


der deutſchen poetiſchen Literatur, wir haben es bloß mit der nach— 
zuweiſenden Richtung und Wirkung der Bücher auf das vo 
Leben zu thun. 

Der erfte Verfuch, den Nikolai mit einem jatyrifchen Ba 
machte, war im Sinne der neuen Zeit gegen bie alte; er machte, 
zu Gunſten der damals noch Eleinen Anzahl der Freunde von Fried- 
richs Grundſätzen unter den Bürgern Berlins, das Syftem Fried- 
rich Wilhelms und die damals in Berlin der Zahl nach ſehr an- 
jehnlichen Vertheidiger deffelben lächerlich. Die eigentliche Macht 
der Zeloten war zwar gebrochen, aber die Amtskleidung, das Pol- 
tern auf den Kanzeln, das Seufzen und Achſelzucken machte fie 
noch allmächtig im Volke, darum trifft Nikolais im gewöhnlichen 
und breiten Ton gehaltene Satyre auch vorzüglich dieſe Neben- 
ſachen. Als Buchhändler gab er feinem Leben und Meinun- 
gen des Magifter Sebaldus Nothanfer dadurch einen 
Reiz, daß er den Roman durch Chodowiecki, der damals durch 
jeine Küpferchen großes Aufjehen machte, mit Kupfern verfehen 
ließ, auf denen man an der Geberde, am Hut, an der Manier, 
mit welcher er abgenommen ward, an der Art, den Mantel zu tra= 
gen, alle bekannte hyperorthodoxe berliner Pfarrer Teicht erkannte. 
Das Buch hat freilich einen jehr geringen Afthetifchen Werth und 
macht, wie ſchon die angeführten Kupfer beweifen, mehr einige 
an beftimmten Orten mächtige Geiftliche und ihre orthodoxen Ver— 
fehrtheiten, als dieje jelbft, Kächerlich, fonft würde es jetzt wieder 
zu gebrauchen fein, wenn auch Styl, Sprache und Ton fich ver- 
ändert haben. Das Buch tft indeſſen für den Forſcher deutfcher 
- Sitten, für die deutfchen Lebensyerhältniffe und die Literatur des 
achten Sahrzehents des vorigen Jahrhunderts auch darum bedeu- 
tender als Nikolais andere Romane, weil Alles, was fich darauf 
bezieht, ganz innerhalb Nikolais profaifchem Gefichtöfreife lag. 
Zu verwundern ift nur, daß vom Sebaldus noch im Jahre 1799, 
als fich Alles geändert hatte, eine vierte Auflage gemacht werden 
fonnte. 

Die Gemeinheit des Verfaſſers wird man auch daran er= 
fennen, daß er jchon in der zweiten Auflage, gleich dem fchlechten 
Autoren, die fich auf gute Rezenfionen berufen oder fich Ueber— 
jeßer auftreiben (die erſte Frage, die ein Deutfcher thut, ift immer, 


Deutfche Literatur: Nikolai. "125 


ift das Buch überſetzt?), darauf pocht, daß fein Roman ins 
Dänische, Holländiſche, Franzöſiſche, überſetzt ſei. In diefer 
zweiten Auflage (von 1774) erklärt er auch ausdrücklich, daß 
er nicht Habe einen Roman dichten, fondern nur belehren wollen; 
daß er nicht Begebenheiten erzählen, fondern gegen Fanatismus, 
Aderglauben und Heuchelet eifern wolle. Mein Zweck iſt, fagt 
er, bie orthodoxen und heuchlerifchen Getftlichen der proteſtanti— 
ſchen Kirche dem Gelächter und der Verachtung blos zu ftellen 
und ang Licht zu bringen, daß fie ſtets ihre eigene ſchlechte Sache 
zur Sache des Standes und der Religion, oder vielmehr des all- 
mächtigen Gottes felber machen; zu zeigen, wie fie, über einreiſ— 
fende Irrthümer, über Unglauben und Gottesläſterung fchreiend, 
doch nur von ihrer eigenen Unwiffenheit, Gleißnerei, Verfolgungs- 
fucht und von der in den Mantel der Frömmigkeit gehüllten Bos— 
heit ihres eigenen Herzens reden. Unglücklicherweiſe, fügt Nikolai 
hinzu, bedenken diefe vorgeblichen Wächter Zions nicht, daß fie 
durch ihr jämmerliches Gefchrei nur allzudeutlich zu erfennen ge— 
ben, daß fie felbft zu der im Sebaldus gebrandmarkten und wollte 
Gott! weniger ausgebreiteten Bamilte der Stauziuffe gehören, und 
ſich felbft verdammen, indem fie ihrem Ankläger das Urtheil zu 
Iprechen meinen. 

Sich felbft, feine Manier und fein Urtheil in Sachen des 
Geſchmacks und der Dichtung charakterifirt übrigens Nikolat da— 
durch fchon, daß er ein fo plumpes Buch, wie er es ſelbſt in 
den aus ihm angeführten Worten ſchildert, in der Form der Fort- 
jegung eines leichten und leichtfertigen Scherzes einführt, Thüm— 
mels Wilhelmine ſoll nämlich durch diefen derben Sebaldus fort- 
gefegt werden, weil ja der Magifter ald Gemahl der Wilhelmine 
ung als alter Bekannter vorgeführt wird.?s) Nikolais Orthodoren 
und feine Pfarrer, fein Präſident des Conſiſtoriums, feine Stau— 
zius und Truffelius find zu fehr Sarricaturen, als daß wir aus 
ihren Reden und Thaten irgend einen Zug ihres Zeitalters ablei- 

ten möchten, Hiftorifch wichtig und für Nikolais Perſönlichkeit 





28) Darüber Hat Hamann In einem an Nicolat ſelbſt gerichteten Briefe 
ganz vortrefflihe Bemerkungen gemacht. Er faßt das Pfropfen des Sebaldus 
anf Thümmels Wilhelmine noch yon einer andern Seite als wir hier, 


126 Deutfhe Literatur: Nikolat; 


bezeichnend iſt dagegen befonders das zweite Buch des erſten Theils, 
wo und Nikolai die ganze Literatur feiner, Zeit, worüber er ſchon 
im erften Buche nach feiner Manier geuvtheilt hatte, mit der ihm 
eignen Keckheit vorführt, Aus der Art, wie er alles buchhänd— 
ferifch und son Außen betrachtet, wird man erfennen, wie übel 
e8 mit unferer Literatur. ausfehen mußte, fo lange ein folcher 
Mann ohne Achte Philoſophie oder Poeſie unbedingt über fie 
regierte. 

Er gibt der von Voltaire gefertigten deutſchen Geſchichte vor 
allen gelehrten deutſchen Arbeiten den Vorzug, weil der Franzoſe 
wie jeder andere Fabrikant dem Publikum nur dasjenige 
vortrage, was es wiſſen wolle Auf dieſelbe Weiſe zieht 
er auch Wolfs Logik in deutſcher Sprache, wo Denken gelehrt 
wird, wie Landmeſſen, der ganzen Philoſophie des von Kant ge— 
prieſenen und empfohlenen Cruſius vor, der freilich kein Ideal 
war, In dieſem Abſchnitt, ſowie im Anfange des folgenden in 
‚einem Geſpräche über Buchhandel kommen übrigens ganz vortreff⸗ 
liche Bemerkungen über deutſche Gelehrfamfeit, über, unfere Ge— 
Vehrten, wie man fie noch immter findet, und über das ſchiefe Ver— 
hältniß der deutſchen Literatur zum Leben vor, die auch in unfern 
Tagen noch brauchbar find, 

Die Schilderung der beiden, Jacobi und ihres Weſens und 
Treibens ift eins der beiten Stüde im ganzen Sebaldus Nothau— 
fer; denn das Vornehme, das Süßliche, das Galante und ich 
ſelbſt und die lieben Verwandten und Bekannten Vergötternde wird 
zwar fehr hervorgehoben, aber doch das Gutmüthige, das Anz 
fehuldige der fo ganz harmlos eiteln Selbfibewunderung dabei 
nicht vergeſſen. So heftig die Jacobis und ihre Freunde Durch 
dieſe Schilderung gereizt wurden, fo war fie doch weniger hämiſch 
als das Verfahren gegen die orthodoxen berliner Geiftlichen, deren 
Perfonen man nicht bloß in Nikolais Befchreibung, fondern au 
auf den beigefügten Kupfertafeln erkennt. Der Dogmatik und 
Aſcetik dieſer Herrn ſetzt Nikolat des Herrn von Rochow Grund- 
ſätze und wahres Verdienſt um Wohlftand und Sitilichfeit des 
Volks entgegen. Dieſen führt er indeffen namentlich an und preifet 
fein Verdienſt. Wiefand war, damals noch eben fo erbittert als 
Nikolgi üher den Obſcurgntismus proteſtantiſcher Theologen und 


Deutfche Literatur: Wieland. 127 


über die Süßlichkeit gewiſſer Liederdichter und Sänger Blatoni- 
fcher Liebe in Betrarcas und Klopftodd Manier, er Tobte daher 
in feinem Merkur (IL. ©. 231.) den Sebaldug im Borbeigehen, 
und wäre darüber bald mit den Brüdern Jacobi zerfallen, deven 
Hülfe er doch bet feiner neuſten Speeulation benust hatte, 
Wieland hatte fich nämlich mit. F. H. Jacobi vereinigt und 
hatte fich mit deffen Hilfe um 1773 ein Organ für belletriſtiſche 
Literatur ‚gefchaffen, wie Nicolat an der allgem. deutfihen Biblio— 
thek eins für das gelehrte Fach hatte. Wieland verichmähte Feine 
Art von Handelsklugheit, um feinen Titerarifchen Produkten ein 
großes Publikum zu. verfchaffen, To weit diefe nur immer mit 
feinem ſonſt ganz vechtlichen Charakter zu vereinigen war. Aus 
Politik fchrieb daher auch Wieland, als er noch in der Kanzlei 
feiner Baterftadt der Erlöfung harrte, an Riedel in dem albernen 
und übertriebenen Ton überfchwänglicher Freundſchaft, den er ſchon 
damals nicht billigte, er hütete fich aber wohl, mit Klot in den Bund 
zu treten, und fchloß fich an Jacobi an, deffen ariſtokratiſche Freund⸗ 
jchaft ihm beſſer diente, Wieland erreichte feinen Zweck; eine 
unten angeführte Stelle aus feinem Briefe wird zeigen, welchen 
Ton die Herrn damals unter einander und hie und: da in der 
Geſellſchaft eingeführt hatten. 29) Derfelbe Ton herrſcht auch in 
der ganzen Correſpondenz zwifchen Wieland und Jacobi. Riedel 
pofaunte übrigens Wieland nicht Hlos auf feine Weiſe als den 
einzigen ‚wahrhaft großen Mann feiner Zeit aus, fondern er bes 
wog auch den Statthalter des Kurfürften von Mainz (den Herrn 
son Breidbach) in Erfurt, ihn aus Biberach zu erföfen und der 
neuen damals in Erfurt begründeten Bildungsanftalt, die mit der 
beftehehenden Univerfität nur loſe zufammenhing, einzunerfeiben. 
Diefer ephemeren Anftalt müffen wir hier gedenfen, weil fie zu 





29) Er ſchreibt ihm: Ich liebe Ste mehr, als th jemals einen vom 
Weibe Gebornen geliebt Habe, denn niemals habe ich noch den gefunden, 
deſſen Seelengeficht dem Meinigen fo ähnlich gefehen Hätte, als das Ihrige. 
— Hudibras und Triſtram find Ihre Leibbücher — und Sie haben eine 
Dunetade fertig Liegen — Sie haben den Trappen geſchoſſen (Anfptelung 
auf Riedels elendes Pasquill der Srappenfhüß), der mir trotz aller 


Nieolats und Sofias tn der —* um hat, ehe — — me 
der Autor war u. ſ. w. 


128 Deuiſche Literatur: Wieland, 


den merkwürdigen Wirkungen und Grfcheinungen jener nach gei= 
jtiger Bildung und nad) Freiheit jeder Art ftärfer als nach ma— 
teriellen Fortſchritten ſtrebenden Zeit gehört, 
Ä Man hoffte namlich durch die Berufung einer Anzahl junger, 
dem Jeitgeift Huldigender Männer dem alten Erfurt einen jungen 
Glanz zu geben, und Riedel, der den Statthalter ganz unbedingt 
leitete, rieth ihm an, durch Wielands Namen, der damals fehr 
berühmt war, Studirende herbeizuziehen. Bon Breidbach wollte 
ſogar einmal Niedel und Wieland an die Spite der ganzen An— 
ftalt ftellen. Außer Riedel und Wieland berief man Meufel, 
zwei Schmid, Schorch und C. 5. Bahrdt, Weder zu Riedels 
noch auch zu Bahrdt3 und ihres Mäcenas wüften Leben paßte 
ein ernfter, geſetzter Mann wie Wieland, der gleichwohl als afa= 
demifcher Lehrer das Seinige Teiftete, Er lehrte mit Beifall und 
fleißtger als irgend einer der andern, auch zog er ein Paar hun- 
dert Studenten dahin, fand aber bald, daß er auf Feiner deut- 
ſchen Univerfität an feinem Plate fei, am wenigften in Erfurt, 
wie es damals war, und unter den lockeren Leuten, die man dort 
verfammelt Hatte, Er nahm die ihm angebotene Stelle eines 
Erziehers des nachherigen vegierenden Herzogs von Weimar gern 
an und zog nach Weimar, Hier machte er (1772), wie er und 
ſelbſt gefteht, fogleich den Entwurf, feiner Familie völlige Aufere 
Unabhängigkeit durch Titerarifchen Erwerb zu fichern, und leider! 
ward feine ganze Schriftftelleret diefem Plane angepaßt. Seine 
überzarte und jchwärmerifche Freundin, die Frau de In Roche, 
brachte ihn mit F. H. Jacobi in Verbindung, und fie correſpon⸗ 
dirten zufammen, wie Oreſtes und Pylades würden correſpondirt 
haben, wenn fie Bücher gefchrieben hätten, 

Der Briefwechfel, den Sacobt und Wieland und ihre zartfühlende 
Freundin damals führten, ift jett gedruckt zu leſen, 30) und zeigt wie 
die vielen andern gedruckten Briefe berühmter Gelehrten, wie heil— 
fam es war, daß die fogenannten Kraftgenies, denen fich zuerit 
ſogar Göthe anfchloß, fich dem Gewinfel und Gepinfel der Pe— 
trarchiften derb widerſetzten. Der fade und füßliche Ton, der in 





30) Friedrich Heinrich Jacobis auserlefener Briefwechſel. In zwei Bän⸗ 
ben, Leipzig bei Gerhard Fleiſcher 1825. FM, 8. 


Dentfihe Literatur: Wieland, 129 


den Briefen herrſcht, ward nämlich in allen nur einigermaßen 
gebildeten Familien angeſtimmt, die Jugend ward hineingezwängt; 
dies mußte Heuchelei hervorrufen, wie es der frühere pietiſtiſche 
und übermäßig ſtrenge religiöſe Ton gethan hatte. Wir ſehen 
gleichwohl aus dieſer Correſpondenz, daß die beiden Herrn, trotz 
aller Zartheit, dennoch das belletriſtiſche Journal, wodurch ſie 
ihre Arbeiten erſt als Proben ins Publikum bringen wollten, ganz 
diplomatiſch berechnet hatten. Wieland ſollte den Namen herge— 
ben, weil er im großen Publikum beliebt war, F. H. Jakobi, der 
mit aller Welt in Berührung ſtand, ſollte nicht allein Mitarbei— 
ter werben, ſondern er erbot ſich auch, aus ſeinem eigenen Beutel 
dieſen Mitarbeitern das Honorar zu erhöhen, wenn anfangs der 
Ertrag des Journals nicht ausreichen ſollte. Wielands dem deut— 
ſchen Merkur als Aushängeſchild dienender Name ſollte F. H. Jakobis 
Arbeiten, aber zugleich auch die ſeines Bruders, Johann Georg, 
durch ganz Deutſchland verbreiten. F. H. Jakobis halbfranzöſiſche 
Bildung wollte dabei ſonderbarer Weiſe das Muſter eines deut— 
ſchen Merkurs und des Tons, der darin herrſchen ſollte, von 
Paris entlehnen. 

Jakobi ſchreibt, wenn auch nicht wörtlich, doch dem Sinne ſeiner 
Rede nach: Er denke, man müſſe, wie man neben andern Pariſer 
Moden, um die Deutſchen zu den Franzoſen emporzuheben, den 
Pariſer Almanach des Muses durch einen deutſchen Muſenal— 
manach unter die vornehme deutſche Welt verpflanzt habe, ſo ihr 


auch in einem deutſchen Merkur den Mercure de France ſchenken. 


Dies ſind Wielands eigne Worte im Vorbericht zum erſten Stücke 
des Merkurs, und Jakobi hatte in der Stelle eines Briefs an 
Wieland, die wir unten anführen, 3) ausdrücklich ausgeſprochen, 
das Journal müſſe, wie der franzöſiſche Merkur, nur für die 
Toiletten der Damen und für parfiimirte Herrn mit gelben Hand- 


— — nn Un — — 


31) Er theilt (Briefe J. S. 67) Wieland am 10. Aug. 1772 mit, daß 
er gern an feinem Projekt, eine Buchhandlung zu errichten, Antheil nehmen 
wolle und feinen Bruder und Gleim dazu ziehen, denn der ftehe mit der 
halben Welt in Verbindung; dann fügt er hinzu: Das Journal, 
wovon ih Ihnen von Koblenz fehrteb, müßte ein Ding fein, wie der Mercure 
de France. Wir müßten es fo fihreiben, daß es nicht für Gelehrte allein, 
fondern au für Damen, Edelleute u. d. m. Intereffant würde. 

Säloffer, Geſch. dr 19 m 49 Jahrh. IV, Th. 4 Aufl. 9 


130 Deutſche Literalur: Wieland u. die Jalobi's. 


ſchuhen eingerichtet ſein. J. G. Jakobi ſollte petrarchiſch ſingen, 
Wieland der ſchönen Welt unreine und F. H. Jakobi gekünſtelte 
Proſa darbringen. J. G. Jakobi, Klamer-Schmidt und eine, An— 
zahl Anderer, deren Mäcenas und Anacreon Gleim war, paßten 
zu Sängern bei der Toilette vortrefflich; Wieland war aber zu 
Hug, um dieſe Platoniker und Petrarchiſten ſehr zu begünftigen. 
3. ©, Jakobi entiprach ganz dem Bilde, welches Nifolat im Se— 
baldus von ihm: entworfen hat, Er war son Halberftadt bie 
nad) und in Freiburg im Breisgau bei allen zarten: Damen, bei 
allen ſüßen Herrn und in allen Kreifen, wo man Tableaux vor— 
ftellt, Spruchwörter aufführt, Romane und Gedichte am Theetifche 
vorlieſet, ganz außerordentlich beliebt. Gleim hatte ihm ein: Ca⸗ 
nonicat in Halberftadt verfchafft, und er tändelte und mwinfelte in 
vielen. Banden son Gedichten viele Fahre lang fort, denn ev ift 
erft 1813. in Freiburg. geftorben. Die Beurtheilung diefer Ge— 
dichte, die. erſt in unſerm Jahrhunderte, in vielen Banden geſam— 
melt und neu aufgelegt wurden, alſo gewiß: viele Bewunderer ge— 
funden haben, gehört nicht in Diefes Werk, Es mag. genug‘fein, 
zu jagen, daß fie ganz im Ton und in dev Manier der efel- 
haft ſüßlichen und empfindfamen Correſpondenz mit: Wieland ge- 
Ichrieben find. Wieland. mußte daher auch: am beiten willen, ob 
Nikolai das Bild. Jakobi's und der großen Familie der son Hohen- 
anf Deutſchlands im  Sehaldus- richtig getroffen. habe. Im den 
gedruckten Briefen. F. H. Jakobis an Wieland herricht: derjelbe 
ganz unnatürliche Ton, wodurch der. Briefwechſel Klopftods mit 
feinen Freunden und Freundinnen. dem durch: Erziehung an Fafelei 
nicht: gewöhnten, Zefer, der nur wahre Gefühle kennt und er= 
fünftelte verachtet, unleidlich gemacht: wird. Für dieſen Kreis: 
arbeitete F. H. Jakobi ausfchließend, er vergeudete daher eine phi- 
loſophiſche Kraft, welche auch ſogar Fichte ehrend anerkennt,32). 


32) Site, der. ſonſt mit Jalobi in Streit war, gibt ihm ein: ſehr vor⸗ 
theilhaftes Zeugniß in: Friedrich. Nikolais Leben und fonderbare Meinungen 
von Johann. Gottlieb Fichte: Herausgegeben von A. W. Schlegel. Zübin- 
gen Cotta. 1801. ©, 40—41, Wir führen die Stelle an, weil wir. weder 
über Jalobi noch über Philoſophie abſprechen, ſondern nur unfere Meinung, 
aussprechen wollen, | 


Deuiſche Literatur: Wieland u. bie Jalobis. 131 


an ein Publikum, welches, ſeiner ganzen Lebensweiſe nach, aller 
Einfalt feindlich geſiunt und von Natur jeder ernſten Philoſophie, 
welche kühn neue Bahnen bricht, ganz unfähig iſt. Eine ächte 
Philoſophie, eine Erhebung über das gewöhnliche Leben und ſeine 
faden Alltagsgenüſſe kann aus den Salons und dem modiſchen 
Weibergeſchwätz niemals hervorgehen. F. H. Jakobi, ſo ſehr er 
in ſeiner Zeit auch berühmt und angeſehen war, hat daher auch 
fein Werk hinterlaſſen, welches feinem Verfaſſer einen bedeuten- 
den Plab unter der Philoſophen oder Dichtern dev Nation ſicherte. 
Wenn man fragt, wodurch ev in feiner Zeit fich auszeichnete, fo 
muß man, fo hart das: fcheint, antworten, durch einem eleganten 
philoſophiſchen Dilettantismus und durch, einen künſtleriſch gebil- 
beten Styl, den er wie Büffon zur Hauptfache macht; Er Hatte 
darin inſoweit Recht, als es viele Menfchen gibt, die ſich an der 
bloßen und leeren Form ergötzen können. An dieſem Styl nimmt 
man überall wahr, was man: ar einen: eigentlichen Kunftwerfe 
nie merken darf, mit welchem unermüdlichen Fleiße er bis zur 
Lächerlichkeit ſich in den ſogenannten afademifchen Styl der Frans 
zoſen hineingearbeitet hat. Außer dem Styl war Jakobs Haupt⸗ 
fach ein Ding, das halb Dichtung, halb Philoſophie war, jedoch 
für Philoſopie galt; die Halbheit und folglich die Anmaßung und 
Eingebildetheit ſeines Treibens erklärt ſich uber leicht aus feiner 
Bildung und Umgebung. 

F. 9. Jakobi war urſprünglich Halb Kinfinanie; halb Ge⸗ 
lehrter, halb durch deutſche Lektüre, halb durch einen franzöſiſchen 
Gelehrten und durch Genfer Bekanntſchaft gebildet; er war zufällig 
ſehr reich geworden, war gutmüthig, auf Pempelfort gaſtfrei, 
freundlich, auch wohl freigebig; ganz: unbeſchreiblich Fin: ſich ein— 
genommen, aber in keinem einzigen: Dinge eigenthümlich. Seine 
Schweitern, alle feine Bekannten, feine Clienten, feine Freunde 
vergötterten ihn, fie. betrachteten ihr: als ein wunderbares: Weſen, 
under orafelte mit: einer: impontvenden: Majeftät im’ Verkehr: des 
Lebens, wie in feinen Büchern; alle’ Natur war ihm daher fremd 
geworden, Kunſt ward bet ihm zur Natur, Wieland, dev in’ fet= 
nem ganzen. Weſen und. im Haufe- durchaus natürlich, einfach, und 
liebenswürdig war, gebrauchte. und behandelte. feinen Freund Ja— 
kobi gerade fo, wie er fein gemiſchtes und verſchraubtes Publikum 

g * 


— 


132 Deutſche Literatur: Wieland u. die Jakobi's. 


zu behandeln pflegte. Die Freundſchaft blieb nur in den Zeiten 
ganz warm, als Jakobi noch nicht mit Hamann, mit den Stol— 
bergs, mit der Gallizin u. ſ. w. Breundfchaften des Myſticismus 
geknüpft hatte, Doch war. ihm jelbft der Myſticismus fo wenig 
natürlich, daß er ihn ſpäter Leicht wieder. abftreifte. 

- Der Gedanfe, einen deutfchen Merkur als Nachahmung des _ 
franzöſiſchen zu ftiften, Fam. übrigens den beiden. Freunden exft, 
als in Norddeutichland (1772) Gotter und Boje mit ihrer Nach— 
ahmung des Pariſer Muſenalmanachs Glück machten. Jakobi und 
Wieland faßten den Gedanken faſt zu gleicher Zeit ganz unab— 
hängig von einander. Wieland ſowohl als Jakobi hatte die Ab— 
ſicht, ſeine Schriften zuerſt durch dieſe Monatsſchrift zur Kenntniß 
des Publikums zu bringen, um fie hernach verbeſſert mit Sicher— 
heit herausgeben zu könnnen. Jakobi's Bruder ſchien anfangs für 
das Publikum des Merkurs ein paſſender Sänger; Wieland, der 
das. Einträgliche dabei. jcharf im Auge hatte, fand aber bald, daß 
fein Publikum ein ganz anderes fei, als das ber zarten und füßen 
Sänger an der Wefer und Elbe, deren Arbeiten er felbft in ge= 
ringerem Werth hielt. Dies fagt er ſelbſt gleich im erſten Stück 
des Merkurs, wo er den Verſen J. ©. Jakobi's einen Platz ein- 
geräumt hatte, in einer Nachſchrift, die dem zarten Dichter unmög— 
lich gefallen Fonnte.33) Auch den matten Aufſatz in Proſa, Char— 
mides und Theone, oder über die ſittliche Grazie, 
der durch mehre Stüde hindurchläuft, nahm er fehr Falt auf, fo 
daß die beiden Brüder feine bilfigende Anzeige des Sebaldus, wo 
3. ©. Jakobi als Herr son Säugling erſcheint und Ritblai⸗ 
Witz über ihn mit Beifall erwähnt wird, im Julius-Stücke des 
Jahrs 1773 bei der Gelegenheit nothwendig als förmliche Miß— 
billigung ihrer vornehmen Zärtlichkeit anſehen mußten. Beide ge— 





33) Die Gedichte Jakobis füllen gleich die erſten Blätter des Merkurs, 
Wieland ſetzt aber Seite 31 einen Epilog hinzu, der mit folgenden Worten 
beginnt: Ich wünſche eben nicht, daß die Leſer diefe poetifchen Kleinigkeiten, 
(die. man für nichts mehr gibt, als was fle find) zum Maßftabe deſſen, was 
fie in diefem Fache som Merkur zu erwarten haben, nehmen mögen. Ich 
Hoffe nicht nur, fondern kann es auch zuverſichtlich verſprechen, daß von Bett 
zu Seit Stücke yon weit beträchtliche rem Werth geliefert werben 
ſollen. 


Deutsche Literatur: Wieland u. die Jakobi's. 133 


viethen in große Wuth. Friedrich Heinrich drohte mit einem Bru- 
che, und zeigte bei der Gelegenheit die Schwäche der Art Phi— 
(ofophte, auf welche er ſtolz war, Er betrachtete es als per- 
fonliche Beleidigung, daß Wieland nur überhaupt Nicolat in ir— 
gend einem Stücke zu loben wagte, er ſcheute fich ſogar nicht, 
ihm dies mit ausdrücklichen Worten zu fchreiben. 34) Friedrich 
Heinrich Fand es indeffen vortheilhaft für den Ruhm, den er fo 
angftlich fuchte, bei Wieland zu beharren und’ diefer war froh, 
daß er der fehwachen Profa und den matten Verſen 3. ©. Ja— 
cobis in feinem Journal feinen Platz mehr geben durfte. Mit der 
Götterbötin Iris, welche J. ©, Jacobi dem Götterboten Mercur 
entgegenſetzte, wollte es nämlich nicht recht fort. 

Auch zwiſchen Wieland und Nicolat entſtand gleich darauf 
eine Spannung, als der Xebtere zu anmafend ward, und in ſei— 
ner derben und platten Manier, feiner eignen Reltgton, oder dem 
Dinge, welches er Deismus nannte, zu Gefallen, die bejtehende 
Bolfsreligion und die in ihr enthaltene Bhilofophte der Urzeit und 
des Orients mit einer Ahnlichen platten Satyre verfolgte, wie ‚die 
war, deren er fih im Sebaldus gegen die herrfchfüchtigen und 
dummen SHeuchler bedient Hatte, Im dem Streit, der über Ni- 
colais neuen, durchaus platten und elenden Roman, der auch fo= 
gar diefen fo wohlfetlen Titel nicht einmal verdient, zwifchen Ni- 
colai und Wieland entftand, deckten die beiden Herrn dem deut— 
ſchen Publikum ihre eigenen Bloßen vollig auf, Sie waren fehon 
früher im Sabre 1775 in Streit gerathen, als Wieland feine 
Unzufriedenheit über die Art, wie feine Bücher in der A. D. B. 





34) Die fehr lange Expoſtulation beginnt (Briefe I. ©. 125) mit den 
Worten: „Das uneingefchranfte Lob, welches die A.D.B. zweimal im Mer- 
eur erhält, tft mir ebenfalls im höchſten Grade anſtößig gewefen, Ste ſelbſt, 
mein lieber Wieland, geftehen, es werde in dieſem Journal von Georg und 
feinen Werfen in einem impertinenten Ton geſprochen; aber das tft viel zu 
wenig gefagt: Alle Achtung, die man dem Gente fohuldig tft, wird darin lau⸗ 
niſch unter die Füße getreten. Wie abſcheulich tft nicht der ehrwürdige Gleim 
behandelt! Und den Herausgeber nennt Wieland öffentlich einen Mann 
von Verdtenft.” Wie armfelig! Wenn Leute, welche Philofophen fein 
wollten, fo redeten, was follten dann Shen tum, die «über Preffe und 
Polizei ariſtokratiſch herxſchten? 


134 Deuiſche Literatur: Wieland u. die Jacobi's. 


vezenfirt wirden, laut zu erfennen gab. Nicolai unterftand fich, 
in den vier Banden von Johann Bunkels Leben Bemer- 
fungen und Meinungen, feine eignen bürgerlichen und für 
feinen eignen Hausgebrauch vielleicht paffenden, ganz unverdau⸗ 
ten Borfteflungen von Religion, untermifcht mit den abgeſchmack— 
teften Gefchichten und Erzählungen, den Lehren. dev chriftlichen 
Dogmatik mit frecher Keckheit entgegen gu ſetzen und einen Ber- 
Yiner Bürgersmann feiner Art zum Ideal zu machen. Diefe Ge- 
legenheit ergriff Wieland, um ihn endlich aufmerkffam gu machen, 
daß nicht alle Welt urtheile, wie man vielleicht in der Mark und 
in Pommern zu urtheilen pflege. Bet der genauen Unterfuchung 
über Natur und Tendenz dieſes elenden Romans im Juli-, Au- 
guſt⸗ und Oktober-Stück des deutfchen Mercurs von 1778 fiel 
Wieland Hei der Verdammung des Buchs und gelegentlich des 
Verfaſſers, der fih darin keck und aufgehläht den Lefern aufdrängt, 
allerdings gegen feine Gewohnheit in einem unfchieflichen Ton. 
Er enthüflte indeſſen doch den deutfchen Gelehrten, wer der Mann 
jet, der die Literatur damals leitete. Bergleicht man die gedrud- 
ten Grffärungen der beiden poetifchen und induftriellen Hänpter 
der einen Seite der deutjchen Literatur, dann fieht man exit recht 
ein, wie glüclich Deutjchland war, daß die in Göttingen verei- 
nigten Barden, Göthe, Herder, Lefling, jeder für fich eine andere 
Seite derfelben bildeten. Beide erfcheinen auf verfchtedene Weife 
gemein, denn Nicolai will auch die veligiofen Gefühle des Men- 
ſchen und bie Spefulation einer contemplativen Zeit unter die ge— 
meine, auf Efien, Trinken und finnliche Beluftigung eines ganz 
gewöhnlichen Berliners abztelende Klugheit herabwürdigen, und 
der in Gedichten fo Teichtfertige Wieland ſpielt als Vertheidiger 
des von Nicolai befudelten Lehrbegriffes eine erbärmliche Noffe.35) 





35) Es tft Hier ganz allein vom deutſchen Leben und von der DVerbeffe- 
zung bes Tons unferer Gefelligfeit in Geſellſchaften und im häuslichen Kreife 
die Rebe, fo wie von der Entfernung gar zu Heinlicher veutfcher Küche- und 
Keller⸗Betriebſamleit. Man muß zu biefer Abficht der Sergliederung des No- 
mans in den drei angeführten Stüden von Wielands Mercur Iefen und mit 
Nicolais ausführlichen Antworten vergleichen. Nicolai beantwortete Wielands 
ſcharfe Kritik der Bunfeliade zuerft im Anhange zum 15. bis 36. Bande ber 
N. D. B., auf 2 Bogen, und replicirte hernach, als Wieland ihm im Mer- 


Deutſche Llteralur: Wieland u. die Jacobi's. 135 


Wieland und Jacobi brachten indeſſen ihren Mercur At 
lich in die Welt, und der Erfte wußte ihn, trot der vielen Lücken— 
büßer, die er aufnehmen mußte, durch alle Künfte eines geübten 
- Buchhändlers ins Publikum zu bringen und, was mehr war, ihn 
zu erhalten. J. G. Jacobi war mit feiner Iris nicht fo glück— 
lich, obgleich fein Bruder, Friedrich Heinrich, ihn Anfangs mit 
einem Artikel unterftüßte, der vielleicht zu feinen beften Arbeiten 
gehörtz; auch fogar Göthe ward bewogen, fich zum Ton der Thee— 
tifche dev Göttinnen des zarten Dichters und feines Olymps herab 
zu Yaffen, Auch Göthe vertraute das Produkt feiner Muße ber 
Bötin diefer Göttinnen, der zarten Iris, an. % H. Jacobi gab 
Anfangs Allwills Briefe in feines Bruders Journal, er ließ 
aber weislich die Fortfegung durch Wielands Mercur verbreiten, 
weil die Iris feine Lefer fand. Göthe, der jedes Tons und jeder 
Manier Meifter werden wollte, fehrieb für die Iris, ihrem Pub— 
likum fich anfchmiegend, ein Drama, Diefes Drama in Jacobi's 
Art gab er hernach werbeffert unter dem Titel? Erwin und 
Elmire, ein Schanfpiel mit Sefang, 1776 in Berlin 
heraus, 

In demfelben Jahre, in welchem Göthe fein Stück aus dem 
Heinen Kreife der Leer der Iris ins große Publikum brachte, 





eur erwiedert Hatte, im 1. Stud: des 37. Bandes der A. DB, noch ein: 
mal auf 21/5 Bogen. Dieſe beiden Schriftchen ſind dann hernach zuſammen 
gedruckt (72 ©. 8.) Berlin und Stettin 1779 als Flugſchrift ausgegeben. 
Beide werfen ih Auspsfaunen und Geltendmahen ihrer Schrif— 
ten durd gemeine Kniffe und Gelvprelleret des Publikums vor, und 
Keiner weiß dem Andern genügend darauf zu antworten, Nicolats Gemein— 
heit liegt in feiner ganzen Manier; Wieland tft gröber, Als Probe mag 
dienen, daß es heißt: „Diefer Bunfel fet das ſchaalſte, plattefte, impertinen⸗ 
tefte Buch, das aus dem Gehirne eines nonconformiſtiſchen, ſtoiſch-chriſtliche 
Moral ſchwatzenden und Bachanalia lebenden mißgeſchaffenen Dritteldings von 
Delsmus, Pietifteret und Cpifureismus hervorgegangen.“ Diefer Bunker, 
heißt e8 ferner, fet ein chriſtlicher Deiſt und feine fogenannten, ganze Alpha⸗ 
bete von gebrudter Macufatur füllenden Bemerkungen und Meinungen, ein 
wäfferichtes, kahles, ſophiſtiſches Gewäſche gegen gewiffe ihm verhaßte Artikel 
des chriſtlichen Lehrbegriffs, wovon nicht ein einziger Einwurf gegen die Or⸗ 
thodoxen nicht fon, wer weiß wie Kr son feines Gleichen vorgebracht 
worden. 


136 Deutſche Literatur: Jacobi. 


erſchien auch F. H. Jacobi’ poetiſch-philoſophiſches Produkt, dei= 
ſen Anfang er in der Iris unter dem Titel Allwills Briefe 
bekannt gemacht hatte, in verſchiedenen Stücken des Mercur voll- 
ſtändig. Er hat nach ſeiner Art hernach immer ſo viel daran 
corrigirt und friſirt, daß die Ausgabe in ſeinen Werken der erſten 
gar nicht mehr ähnlich ſieht. Dieſe ihrer Zeit ſehr berühmten 
ſentimental⸗äſthetiſchen, philoſophiſch genannten Briefe findet man 
in ihrer ganz und durchaus veränderten Geſtalt im erſten Theile 
der neuſten Ausgabe von Jacobis Werken. Wir können dem 
Büchlein keinen beſondern Einfluß auf die Zeit, wovon hier ganz 
allein nur die Rede ſein kann, zuſchreiben, bemerken daher nur 
beiläufig, daß uns immer noch der Brief, welcher eine Parallele 
des Schickſals des unglücklichen Ludwigs XVL mit dem des Oe— 
dip auf Kolonos, wie es Sophokles beſchreibt, der vorzüglichſte 
ſcheint. Auch Jacobis zweiter philoſophirender Roman, Wolde— 
mar, erſchien zuerſt fragmentariſch in Wielands Mercur. Auch 
dieſer Roman fand ſein Publikum und ward nach und nach ganz 
umgeſtaltet, gab aber doch Schlegel Stoff zu einer ſehr ausführ— 
lichen Kritik, die jetzt, wie der Roman ſelbſt, längſt vergeſſen iſt. 
Man findet darin die ganze Jacobiſche Familienumſtändlichkeit, 
die Leute quälen ſich über nichts, ſie grübeln zum Zeitvertreib, 
machen jedes Gefühl und jede Aeußerung wichtig, vergöttern im— 
mer einander. Jacobi und Wieland trennten ſich indeſſen bald 
nach der Errichtung des Mercurs, worin beide, wie die Frau 
Georges Sand zu Louis Philipps Zeit in den Revüen, ihre Arbeiten 
dem Publikum erſt ſtückweiſe vorlegten, ehe ſie unter beſondern 
Titeln erſchienen. Um dieſelbe Zeit erhob ſich eine andere Gene— 
ration von Dichtern und Schriftſtellern, die — naͤher —* 

als Wieland, 


—X 


Goöttinger Barden. Idylle. Empfindſamkeit, Särtlichkeit 
mitten im deutſchen Leben. Werther, Siegwart, Campe, 
Salzmann, Peſtalozzi, Romanfabriken. 


Es bildete ſich in dieſem Zeitraum nach und nach eine ganz 
neue Aeſthetik, und auch ſogar auf den Univerſitäten und gelehr— 
ten Schulen nahm man nach und nach Rückſicht auf die Forde— 


Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 137 


rungen, welche son den in Baſedows Geiſt handelnden Neforma- 
toren des Unterrichts geltend gemacht wurden, an welche fich zwei 
der berühmteften deutſchen gelehrten Philologen, Simon und 
Schweighäufer, angefchloffen hatten und deren Sache fpäter auch 
Schütz in Jena tapfer verfocht und eifrig beförderte. Das Stu— 
dium der alten Sprachen ward nach und nach mehr auf den In— 
halt der alten Schriftiteller, als auf Grammatik und Workkritik 
gerichtet, und nicht ſowohl die Kunft des Lateinfchreibens einge— 
übt, als vielmehr die Mutterfprache dadurch vervollkommt, daß 
man die Formen der alten Sprachen in der Mutterfprace wie⸗ 
derzugeben und zugleich dieſe zu bilden und tiefer in den Geiſt 
der Alten einzudringen ſuchte. Dadurch ward freilich oft der 
Sprache Gewalt angethan und das Ohr des Ungelehrten belei— 
digt; aber der Gelehrte lernte doch, daß er bei Wieland, der oft 
mit den Alten umging, wie ehemals die Franzoſen zu thun pfleg— 
ten, nur den Schatten des Alterthums und oft auch nicht einmal 
dieſen kennen lerne. 

Kritik und Aeſthetik waren bis zu dem Zeitpunkt, yon dem. 
wir reden, von Nicolai, von Ramler, von Sulzer mit fehr gro= 
ber Anmaßung geübt worden, und Ramler hatte die Dichtungen 
feiner Freunde, welche oft reine Ergüſſe augenbliclicher glücklicher 
Begeifterung waren, corrigirt, wie ein Schulmeifter die Exercitien 
jeiner Schüler zu corrigiven pflegt. Ramler legte Batteux zum 
Grunde, Sulzer ging son Wolfs Lehre aus, wie fie der Frank— 
furter Baumgarten auf ſchöne Künfte und Wiffenfchaften ange— 
wendet hatte, bis Leffing fich der redenden, Winkelmann der bil 
denden Künſte annahm.  Diefe beiden Gelehrten machten eine _ 
Theorie geltend, die dem ‚Genie und den Fortichritten dev Poeſie 
und der Künfte günftiger war, als die dürren Regel der fran— 
zöfifchen Aeademie und die Demonftrationen dev Wolffchen Phi— 
Iofophie. Sowohl Leffing als Winkelmann nahmen ihre Theo— 
vien unmittelbar aus der einzigen Quelle des Achten und einfa- 
chen Geſchmacks für die Völker germantfchen Stamms, aus den 
mit ihnen ganz gleich organiſirten Griechen, Leſſing ſtudirte die 
alten Klaffifer und den Shafespeare zu feinem: Zweck, Winfel- 
mann betrachtete die Nefte der alten Kunft und verglich fie mit 
den Schriftftellern. Beide, und zwar Winkelmann zuerit, weil 


138 Deutſche Literatur: Göttinger Barden. 


fich ja Heyne nur auf deſſen Schultern ftellte, Tpäter aber auch 
Leffing, wirkten auf den Unterricht in den höhern Schulen und 
den Univerfitäten in ähnlicher Weife, wie Bafedow, Wolfe und 
die Bewunderer Rouſſeaus, durch Lehre und Schriften und felbft 
durch ihre Marftfchreiereien und ihren Unfinn auf den niedern 
Unterricht und die hausliche Erziehung gewirkt Hatten. 

Was Deffau nad) Baſedows Plan für Erziehung und für 
den Unterricht in den realen Fächern, foweit fie jedem gebildeten 
Mann notwendig find, hatte werden follen, wurde Göttingen 
durch Heyne, durch die Gefellfchaft, die fich um Boje fammelte, 
und durch feinen Muſenalmanach für deutfche Poeſie und für die 
Gymnaſien. Heyne bildete namlich in feinem Seminartum die 
Lehrer der höhern Schulen im Geifte des neueren Lebens. Das 
Studentenweſen fogar nahm dort einige Zeit hindurch eine gün- 
ftigere Geftalt an. Es ward zivar damals, wie immer, in Göt— 
tingen nur Proſa und praktifche Tüchtigkeit ausſchließend getrie= 
ben, doch ward zugleich zwifchen dem Alten und Neuen eine breite 
Mittelftrage gefucht, Dies brachte die Univerfität zum Gipfel des 
Ruhms. Göttingen konnte diefen Ruhm hernach nicht behaupten, 
weil einige Zeit hindurch Poeſie und Philoſophie ganz ausſchlie— 
ßend Nationalangelegenheit wurden. Michaelis zuerſt, dann Püt— 
ter und Heyne waren Orakel der hannöveriſchen gnädigen Herrn; 
ſie nahmen, wie dieſe, aus Staatsklugheit Antheil an den geiſti— 
gen Bewegungen Deutſchlands, aber Begeiſterung war ihnen eben 
ſo fremd, lächerlich oder verhaßt, wie dieſen, ſie kannten nur die 
gewöhnliche Univerſitätspolitik. Als die nen erwachte Nation 
ſchwärmte, als fie im Taumel der Freude über die endlich errun— 
gene Geiftesfreiheit berauſcht fchten, als Poeſie, Philoſophie, Sen- 
timentalität, enthufiaftiiches Schwärmen an der Tagesordnung wa— 
ven, ward die proſaiſch-praktiſche Gefchäftsflugheit der hannöveri— 
ſchen Herrn irre und Heynes Accomodationsſyſtem reichte nicht 
mehr aus. 

Heyne — beſonders dadurch zu den Reformatoren des 
deutſchen Lebens, der Bildung und des Unterrichts, daß er Win— 
kelmanns geniale Kunſtbetrachtung dem Bedürfniß der hannöveri— 
ſchen und ſächſiſchen nach Rom reiſenden oder Die Kunſt beſchützen- 
den Herren anpaßte, und dieſe, wie die ganze gelehrte und vor— 


Deutfihe Literatur: Göttinger Barden, 139 


nehme Welt, in feinen archäologiſchen Vorleſungen für Die höhere 
Gonverfation bildete, Seine Erklärung der Alten diente ebenfalls 
dem gewöhnlichen Leben ganz gut. Er begleitete die Alten mit 
erflävenden, oft an Minellius eriimernden, Anmerkungen, zeigte 
mit dem Finger auf die einzelnen Schönheiten, wie er fie ver- 
ftand, ward dabei zwar oft trivtal, das war aber für die Menge, 
die gern am Kreuzweg verweilt, gerade vecht nützlich und paſſend. 
Auf dieſe Wetfe entließ er aus feiner Schule ganze Scharen 
son Zugendlehrern, welche dann, als ihnen die Leitung dev ge= 
Vehrten Schulen oder Gymnaſien Deutfchlands vertraut ward, das 
Licht des achtzehnten Sahrhunderts in die Finfterniß des fieben- 
zehnten trugen. Daß diefe Lehrer fehr oft auch das Alterthum 
verflachten, veranlaßte hernach den Streit, den Wolf ſowohl als 
Voß mit Heyne führten. Auch dies diente zum Heile deutjcher 
Bildungz denn wie fehr man auch bedauern muß, daß der Streit 
mit Heyne fo heftig und perſönlich geführt ward, fo Teuchtete Doch 
ein, daß der Kampf ſelbſt dev Bildung unferer Nation und den 
claſſiſchen Studien fehr vortheilhaft war. Von Voß ward freilich 
feine Schule gegründet, auch trotz feiner Heftigfeit Feine befjere 
Mythologie gelehrt, als von Heyne, auch Fümmerte fich die Na- 
tion mit Necht weniger um Homers Geographie, wie fie Voß 
herausbrachte, als um feine Ilias und Odyſſee; aber dieſe wur— 
den dafür auch durch Voß zu deutſchen Gedichten und werden 
hoffentlich neben Luthers Bibel beftandig in den Händen der 
deutfchen Jugend bleiben. F. A. Wolf arbeitete von Halle aus 
der von Heynes Schülern verbreiteten Seichtigfeit und Flachheit 
dadurch entgegen, daß er durch Tiefe und Gründlichkeit, durch 
ſtrenge grammatiſche und Fritifche Prüfung den Emft und die 
Kraft in das Studium der Alten zurücführte, welches ſpielend 
geworden war, Neben Heyne lehrten übrigens auch andere Män- 
ner in Göttingen im Geifte ihrer veformatorifchen Zeit. Spittler 
und Plank zeigten, was eigentliche Gefchichte fet, und wie fich 
dev Vortrag derfelben von Geographie, Ethnographie, Chronologie 
und Genealogie, womit ſich atterer vorzugsweiſe befchäftigte, 
oder von Staatswiffenfchaft, Statiſtik, Politik und Erforſchung der 
Urgefchichten, worauf Schlözer fich befchränfte, unterfcheiden müffe, 
um das Portfehreiten der aufftrebenden Generation zu fördern. 


140 Deutſche Literatur: Göttinger Barden. 


Als Eichhorn nach, Göttingen Fam, wagte fich diefer fogar in der 
Erklärung der Schrift einen Schritt weiter als Michaelis. Er 
erklärte die Schriften des A. T. als Nefte der afiatifchen Urzeit und 
nicht als eine chriftliche Religionsoffenbarung oder als geiſtliche 
Geſetzgebung. 

Die jungen Männer, welche zu gleicher Zeit ſeit 1772 von 
Göttingen aus verſuchten, unſere Nation vom ſteifen und pedan— 
tiſchen Wiſſen zu wahrer innerer Bildung, welche ſtatt der herrſchen— 
den Servilität, Hof- und Lohndienerei Freiheitsgefühl, Selbſtge— 
fühl und Nationalgefühl der neuen Generation einpflanzen woll— 
ten, erklärten Klopſtock für ihren Propheten. Sie wollten von 
Brodſtudium und von gelehrter Eitelkeit zur Poeſie, zur Begeiſte— 
rung für Liebe und Freundſchaft, für Natur, von Dogmatik zur 
Religion fortſchreiten und ihre Nation zu ſich erheben. Sie waren 
jung und neu im Leben, kannten damals noch keine Philoſophie, 
die ihrem Denken und Fühlen hätte Schärfe und Kraft geben 
können, ſie ſchwärmten daher. Sie erkannten Gleims poetiſche 
Schule auch als die ihrige, ſie übertrieben ihren Abſcheu vor 
Wieland, der ihnen doch den Weg bahnte und das Intereſſe der 
Menge für die neue Literatur weckte. Sie hatten große Abnei— 
gung vor Nikolai und waren gleichwohl mit Ramler befreundet; 
Alles das erklärt ſich aus ihrer Jugend und ihrem dichteriſchen 
Enthuſiasmus. Sie vergötterten daher ſich und ihren Klopſtock 
und bildeten eine Art heiligen Bundes, den ſie unter dem Namen 
des Hainbundes in ihren Gedichten feierten. 

Die jungen Männer einzeln anzuführen, welche damals in 
Göttingen das gewöhnliche Studentenleben deutſcher Univerſitäten 
in ein jugendlich poetiſches verwandeln wollten, ſcheint uns un— 
nöthig; wir nennen nur Hölty, Voß, die beiden Stolberg, zwei 
Miller, Leifewis und Boje. Der Lebtere, obgleich Alter an Jah— 
ven, Schloß fich Freundlich an fie an. Käſtner, der ftetd Gegner 
feiner Collegen und ihre Geifel geweſen war, unterftüßte mit 
feinem damals unter Mathematifern und Freunden der Dichtkunft 
gleich berühmten Namen die erften Verſuche diefer unſerer Natio- 
naldichter, Mit Käftners Hülfe führte Boje in dem von ihm 
unternommenen Muſenalmanach eine ganz neue Generation son 
Dichtern ins Publikum, Die Gefchichte dev erſten Muſenalma— 


Deutfche Literatur: Göttinger Barden, 141 


sache, der Göttinger Dichter und aller dever, die in ihren Ton 
einſtimmten (was fogar Anfangs Göthe that, der ihnen Allen un= 
endlich überlegen war), tft für die Gefchichte unferer Sprache und 
Literatur eben fo wichtig, als für Franzoſen die fogenannte fran= 
zöfiche Akademie und die Gefchichte der Parifer und Londoner Sa— 
lons und der in ihnen und durch fie herrſchenden Damen, Die 
mittlern Klaffen der Nation, die damals noch reinen und morali= 
ſchen bürgerlichen Kreiſe, erhielten eine Bildung, die nicht genial 
und überſchwänglich, aber dafür den Verhältnifien des Lebens ganz 
angepaßt war, in welchem die Göttinger Dichter umd auch ihr 
Claudius geboren warenz diefem Leben Huldigten damals auch 
die Stolbergs. Die Hofleute, wie son Thümmel und Wieland, 
und die Genies fpäterer Jahre, flimmten für die höheren und 
yerdorbenen Kreiſe höfiſcher Müßiggänger freilich einen ſchlüpfri— 
geren Ton an. 

Zu den Verbündeten in Göttingen, den keuſchen und reinen 
Dichtern, welche den empfindſamen Dichter der Meſſiade als Lehrer, 
Führer und Haupt erkannten, gehörte Bürger im eigentlichen Sinne 
nicht, obgleich er damals, ſchon im Amte, von ihnen als Dichter 
freundlich begrüßt ward. Er hatte das Unglück gehabt, in Halle 
son Klotz beſchützt und der Schaar feiner Clienten einverleibt zu 
werden; er ward alſo zu dem ſchmählichen Wandel, den Klotz 
mit ſeinen jüngern Freunden führte, gewiſſermaßen getrieben. Da— 
durch ward die Nation um den einzigen Mann betrogen, der, wie 
die Proben, die er geliefert hat, beweiſen, einzig und allein unter 
Affen im Stande geweſen wäre, das eigentlich ſogenannte Bolt 
für die bürgerliche Dichtkunft zu gewinnen, Nur Göthe allein 
war es vergönnt, zugleich den Reinen und Unreinen anzugehören, 
weil ein göttlich ‚Genie jeden Ton trifft. » Ex konnte auch fpäter 
zugleich eine Iphigenia dichten, konnte den Werther fihreiben, und 
doch für Kleine fachfifche Hofe Wahlverwandtichaft und Kunſtro— 
mane dem Tone ihrer Geſellſchaften anpaſſen. Er ward Allen 
Alles, die einzelnen göttinger Dichter: waren jeder nur für gewiſſe 
Gegenden, Stände, Stämme, Kreife- und Sitten pafjend, und 
auch das war fir ung Deutfche unendlich viel. 

VUeber die einzelnen Dichter des Bardenvereins, über ihre 
Leiſtungen und über Vieles, was mit ihrer Wirkſamkeit zuſam— 


442 Deuiſche Literatur: Göttinger Barden 


menhängt, können wir uns kurz faſſen, weil zwei neuere Bücher 
darüber beſſere Auskunft geben, als hier der Raum erlauben 
wirde.36) Dieſe Bücher enthalten zugleich die äſthetiſche Würdi— 
gung. ber Produkte ſelbſt; wir können nur einige Punkte andeuten, 
welche mehr das Aeußere betreffen, und nur einzelner Männer 
Beziehung auf Leben und Bildung der Nation, die ihnen unend- 
lich viel verdanft, anführen. Unter den Männern, welche in: Göt— 
tingen: ald Schöpfer eines neuen Lebens und einer neuen Poeſie 
vereinigt: waren, waren auch die beiden Grafen: Stolberg: Dieſe 
haben aber nie nationalen Einfluß: oder Namen: gehabt, obgleich 
man ihre Gedichte, wie die von hundert Andern viel und mit 
Vergnügen gelefen hatz fie gingen. theils ſchon etwas über dem 
bürgerlichen Kreis hinaus, theils ſtimmten fie ſpäter einen ganz: 
andern Ton an, als ihre alten, nicht auf orientaliſche Weiſe, 
fondern nach deutfcher Art frommen Freunde. J. Martin Miller 
in. Ulm: würden wir als. Dichter. gar nicht erwähnen, wenn er 
nicht durch die Zeitumftande vermittelft eines Romans auf: die 
bürgerlichen: Kreiſe feiner Zeitgenoffen. und: ihren Ton einen ſtär— 
fern. Einfluß: erlangt hätte, als irgend. einer feiner: dichterifchen: 
Freunde, Wir werden unten: zeigen, daß fein mittelmaßiges Bros 
dukt auf ein geniales, von: den Zeitgenoffen ganz verfanntes Werk 
son Göthe gepfropft, die Stimmung der zarten Seelen, die ſchon 
durch die Klopſtockſchen Petrarchiſten entnervt waren, vollends: weich⸗ 
lich machte, weil. Miller die Götheſche geniale Dichtung durch 
ſeine weinerliche: Proſa dem Bildungsgrad der empfindfamen Toch- 
ter. unferer: Pfarrer, Amtleute, — und der Stine 
Rangs anpaßte. 

Hölty und Voß waren beide, nur auf: verfehiedene: Weiſe⸗ 
Sänger des ländlichen und bürgerlichen Lebens der mittlern Stände 
und Klaſſen des nördlichen Deutſchlands, welche damals noch mit 
einfachen und zuweilen gar ärmlichen Verhältniſſen (wie Voß ſelbſt 
im Anfange ſeines Hausſtandes), reges und zartes Gefühl und 
feinere Bildung verbanden. Hölty hatte weit mehr als Voß von 





36) Wir meinen R. E. Prutz. Der göllinger Dichterbund, zur Geſchichte 
der deutſchen Literatur. Leipzig. Otto Wigand. 1841. 406 ©. 8. und ben 
letzten Band von Gervinus Geſchichte der deutſchen Nationalpoeſie. 


Deuiſche Literatur: Göllinger Barden 143 


jenem uralten ſcandinaviſchen und germaniſchen melancholiſchen 
Element in ſich, welches auch Macpherſon ſeinen Schotten im 
Oſſian zuſchreibt. Voß ſuchte und fand in den alten Griechen 
und Römern nur das Heitere und das Klare, daher ſeine Ab— 
neigung gegen den Orient und ſein heiterer Blick ins Leben. Hölty 
und ſein ſcandinaviſches Schwermuthsgefühl war dem orientaliſch— 
chriſtlichen, uns andern Norddeutſchen, auch wenn uns die Dog— 
matik mißfällt, ſo werthen Gefühl von Nichtigkeit und Ver— 
gänglichkeit unſeres Thuns und Treibens, viel näher als Voß, 
der mit ſeiner bürgerlichen Idylle Rouſſeau näher ſtand. Er paßte 
ſeine Lieder und ſeine Idyllen ganz dem Kreiſe an, in dem er 
lebte und blieb der Einfalt auch als er ſpäter reich genug war, 
um vornehm zu leben, getreu, weil er in ſeinem und ſeiner 
Freunde Leben: feine Idylle verwirklicht ſah. Jeder von uns, dev 
in dieſen Kreis trat und lebte, verſtand ihn daher vollkommen, 
Andere nannten das Bürgerproſa. Voß war daher von einem 
Theile des Volks, beſonders von dem, der, als: ſpäterhin Kreuz— 
und Querſprünge und: Seiltanzen für Genialität galten, weder 
vomantifch noch. humoriſtiſch wurde, verehrt: und vergöttert, wäh— 
rend er yon: den Genialen im Volke verachtet: ward; Man: er= 
kannte weder von der einen, noch von der: andern: Seite, daß er, 
weil ihm die eigentliche Philoſophie, di. h. alles; Streben, das 
innere Weſen der Dinge zu ergründen,. fremd war. und. blieb, 
weder über bie mittlern Höhen: der. Poeſie fich erheben, noch den. 
poetiichen, ſymboliſchen und philoſophiſchen Geift: des Chriften- 
thums würdigen. könne, daß er aber Darum: nicht: weniger in: fet= 
ner Sphäre groß jetz freilich Hätte ew auch darin bleiben ſollen 

Was man übrigens: auch Immer von Voß Dichterfähtgkeit 
halten mag, feine Wirfung auf unfere Nation, die jeder von uns 
im vorigen Jahrhunderte bemerkt, wenn auch nicht, wie der: Ver— 
faſſer dieſer Gefchichte, am fich erfahren hat, bleibt darum: doch 
biefelbe, und nur von diefer: haben wir hier: zu reden, wo die 
Aeſthetik nicht in Betracht fommt. Mag man nämlich. Voß: als 
Dichter Toben, oder, wie Viele gethan: haben, Hart fcheltenz;: mag 
man, wie in: unferer Jugend allgemein: geſchah, feine Auffaffung 
und Schilderung des: Lebens: in: Gedichten: und Idyllen als. die 
wahre und Achte anerkennen, oder, wie bie neuern Philoſophen, 


144 Deutfhe Literalur: Göttinger Barden. 


Romantiker, die Eiferer für das alte Zion und die Genies ge— 
than haben, fie als proſaiſch und bäuriſch verachten; Das hiſto— 
riſche Reſultat derſelben bleibt als Thatfache unläugbar. Er 
ſtellte das Leben der mittleren Stände, welche auf ein geringes 
Einkommen beſchränkt, vielen Genüſſen entſagen mußten, poetiſch 
dar und ſöhnte durch ſeine Darſtellung den Mittelſtand mit der 
Wirklichkeit aus, wie Campe und Salzmann der Jugend das 
Lernen verſüßten. Das Leben ward leichter und heiterer durch 
die der Proſa deſſelben näher gebrachte Poeſie, dadurch ward 
einer höhern Art von Dichtung der Weg eher gebahnt, als ver— 
ſperrt. Ein Irrthum war es, daß Voß, mit einem eben ſo aus— 
ſchließenden Trotz, als ſeine Gegner gegen ihn übten, nicht zuge— 
ben wollte, daß für ein bewegteres und vielſeitigeres Leben als 
das, welches er Gelegenheit gehabt hatte, kennen zu lernen, eine 
ganz andere Art von Dichtung gehöre, als die ſeinige; er kämpfte 
daher oft mit Windmühlen. 

Die Gedichte, denen Voß ſeinen erſten Ruhm verdankte, und 
auch ſogar ſpäter ſeine Luiſe, hatten nur einen bedingten Werth; 
dagegen erwarb er ſich durch ſeine Ueberſetzung der beiden großen 
Heldengedichte Homers um die deutſche Sprache und um die 
Dichtkunſt unſerer Nation unſterbliches Verdienſt auf einem Felde, 
wo nach ihm alle Andern nur eine Nachleſe mehr Halten konnten. 
Voß Meberfegung Hpmers wirkte in Beziehung auf Sprache, 
Bersfunft und Denkungsart feiner Nation auf Ahnliche Weiſe, 
wie Luther durch feine Vibelüberſetzung gewirkt Hatte, weil jein 
Sinn dem Homerifchen ebenfo verwandt war, als Luthers. Geiſt 
dem der Propheten und Apoſtel. 

Seit der Zeit, daß Voß die Aufgabe gelöſt hatte, Homers 
Ders, Sprache und Sinn, wenn auch sielleicht hie und da nicht 
ohne ftarfen Zwang und einigen. Schein von Fremdartigkeit, ge— 
nau im Deutfchen wieder zu geben, Eonnten die Gelehrten der 
faft= und Fraftlofen Erklärungen entbehren. Ste durften mur 
Wolfs Tert und Voß Ueberſetzung zufammenhalten und ihre 
Grammatif gut gelernt haben, um den Geift homerifcher Dichtung 
unmittelbar zu erfaffen. Die Jugend, wenn fie dichterifchen Sinn 
hatte, ward fchon allein wegen der der wörtlich genauen Nachbil- 
dung nothwendig anflebenden Härte zum Studium des Griechi— 


Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 145 


fchen gefporntz fie ward getrieben, Sprache und Sprache, Urform und 
Nachbildung zu vergleichen. Unfere großen Dichter, beſonders Göthe 
und Schiller, wurden gerade durch das, was Voß geleiſtet Hatte, 
zum Studium des Griechtfchen, und Göthe befonderd (denn Schiller 
blieb in Bezug auf Sylbenmeffung und Sylbenwägung im Ver— 
trauen auf den Reim ftets ungemein nachläßig) ſah ein, wie 
wichtig das Mechanifche des Versbaues und des Sylbenmaaßes 
auch dem größten Dichter fein müſſe. 

Das Berdienft der Einführung dev Alten in den Kreis 
des deutfchen Lebens theilten die Stolberge mit Voß, obgleich fie 
eine Art der Mebertragung Ins Deutfche vorzogen, welche zwifchen 
der Manier, die Wieland gewählt hatte und zwiſchen Voßens 
ftvenger Genauigfeit die Mitte hielt. Sie wählten die Tragifer, 
fie fuchten aber weder, wie Voß, eine neue Sprache zu fchaffen, 
noch die Bersmaße bis aufs Kleinfte nachzuahmen, —* ihr Orte 
ginal blos für die Kenner nachzubilden, 

Auch Claudius gehört dem Kreife der. — Dichter 
des Göttinger Bardenbundes an. Er lebte einige Zeit mit Voß 
in Wandsbeck zuſammen und zog, wie dieſer, den demüthigen 
bürgerlichen und häuslichen Kreis dem Schlaraffenleben der gro— 
ßen Welt vor, Er wird wahrſcheinlich durch einzelne Lieder, 
vielleicht als gemütlicher religiöſer Schwärmer der Nation länger 
werth bleiben, als Voß, weil der Lebte mehr im Geifte feiner 
Zeit, . Claudius mehr im Geifte der im Vollke fortlebenden Art 
von Religiofität dichtete, Wenn man an Claudius Nheinweinlied, 
an fein Wie ift die Welt fo ftille und Anderes denkt, fo 
wird man einräumen, daß der chriftlich religiüfe Charakter und 
die Natürlichkeit, die fich in ihm ausfprach, auch von denen unter 
ung, die einer andern Art Philofophie huldigen, als Claudius, 
Anerkennung verdient. Seine Manier muß unter Kindern und 
im Volke ftets auf jede Weife gefordert werden, Uebrigens tft 
fein Feld ein ſehr beſchränktes. Claudius erſchöpfte ſich bald und 
bildete fich ein, daß er wißig jet, wenn er gezwungen und manterirt 
war, Seine Witze Fonnten in einem Wochenblatte, wie der 
Wandsbecker Bote, eine Zeit Yang allerdings einer gemiffen 
Klaffe von Leſern gefallen, einen enendn — Re fie 


nicht haben, | 
Shloffers Geſch, de 10. m 19: Jahrh, IV. Th. 4. Aufl, 19 


446 Deuiſche Literatur: Gottinger Barden. 


Claudius hat um fo weniger mit der jchnellen Entwickelung 
der Bildung unſeres Volks, son der hier allein die Rede ift, zu 
thun, als er fchon 1775 jedem Fortſchreiten den Krieg erklärte 
und aufhörte, klar und verftändlich zu fchreiben, weßhalb er denn 
auch mit Hamann innige Freundichaft ſchloß. Er ſank, feitdem 
er St Martins Buch in die Hände bekommen und überſetzt 
hatte, 37) in die ganz abgefchmackte Myftif der jogenannten Mar- 
tiniften, welche von der Art ift, daß fie dem gefunden Verſtande, 
der heitern und unfchuldigen Lebendfreude und jeder Belehrung 
von Außen allen Zugang verfperrt. 

Claudius und Hölty fanden fonft der Art Gefühlfamkeit 
am nächiten, welche fich in den letzten fiebenziger Jahren wie ein 
Nervenfieber über Deutfchland verbreitete, und welche einer von 
den Göttinger Barden, I. Martin Miller aus Ulm, mächtig 
forderte. Wir betrachten übrigens den mittelmäßigen Roman, 
wodurch dies gejchah, als eine Wirkung der herrſchenden Empfind- 
jamfeit, nicht aber als eine Urfache derſelben. Millers Roman, 
Son dem wir weiter unten reden werden, würde indeflen auch in 
jener empfindfamen Zeit unter zarten Jünglingen und befonders 
beim weiblichen Gejchlecht nicht eine jo erſtaunliche Wirfung ge= 
‚Habt haben, ald er in umferer Iugendzeit felbft am Strande des 
Nordmeerd Hatte, wenn ihm nicht ein Meifterwerf von Göthe 
vorausgegangen wäre, Millers Stegwart war eine Art Weber- 
fegung des Werther in die Sprache, die Gefühle, die Sitten des 
Publikums der zarten Betrarchiften und Klopftorfianer, eine Proſa 
nach der. Art der Poefie des Werther, Auf * letztere BO 
wir daher den Blick zuerft richten. 
| Göthe Hatte feine Laufbahn ſeit 1772 gleichzeitig mit den 
Göttinger Barden, aber unabhängig von jeder Partei, fogleich 
‚glänzend eröffnet, Jedermann war überrafcht, daß ein Einziger 
unter allen. den unzähligen Dichtern jener Zeit, gleich wenige 
Sahre nach feinem erſten Auftreten faft ohne Widerfpruch als der 
‚größte Geift der Nation und als ihre Hoffnung son allen ver— 
ſchiedenen Parteien in allen Gegenden son Dentfchland, wenn 





: 37) Louis Claude de St. Martin des verreurs et de la verite. Lyon 
1775 und 1784 ward yon Claudius 1782 deutſch Herausgegeben, ' 


wa 


Deutfche Literatur: Göttinger Barden. 14% 


gleich auf verſchiedene Weife anerkannt ward, Seine Gefchichte 
und die feiner einzelnen Arbeiten dürfen wir nach den unzähligen 
Büchern, die unter uns und im Auslande in den letzten Jahren 
darüber gefehrteben find, als befannt vorausſetzen, eine bloße An— 
deutung iſt daher hinveichend. Seine kleineren Gedichte und 
Schriften, feine perfönliche Bekanntſchaft mit den ausgezeichnetiten 
Männern des jungen Deutfchlandg, zu denen auch Schloſſer, 
Herder, Bafedow, Möſer und Moſer und der von ihm freundlich 
empfohlene Jung-Stifling und Lavater gehörten, hatten ihm ſchon 
einen Namen verichafft, als fein Götz von Berlichingen, den er 
anf eigne Koften hatte drucken laſſen, plötzlich gang Deutfchland 
in Bewegung. brachte. 

Götz yon Berlichingen ward, wie man aus Voß Briefen 
jehen kann, von den Göttinger Barden als ein Licht in tiefer 
Finſterniß, als Anfang einer ganz neuen Periode deutfcher dra— 
matifcher Dichtkunſt freudig begrüßt, Die jungen Freunde der 
Natur, der homeriſchen Einfalt und der griechtfchen Heldenfraft 
hofften wahrfcheinlich, daß der Mann, welcher den Götz gedichtet 
habe, mit ihnen gegen die Berliner Kritif und Aeſthetik und gegen 
Wielands Gallo-Gräcismus kämpfen werde, Die Idhyllendichter 
freuten ſich, daß Göthe ſtatt der Zierlichkeit und Leichtfertigkeit 
höfifcher Rede und Verſe Wahrheit und Derbheit des Lebens auf 
die Bühne gebracht habe, Göthe Hatte damals ſchon feine Ge 
danken über Wielands Manter, mit den Griechen umzugehen, in 
dem wißigen, aber freilich etwas burſchikoſen Pasquill, Götter, 
Helden und Wieland, welches fein Freund Lenz wider feinen 
Willen ins Publikum brachte, etwas gar derb ausgefprochen. Er 
nahm in dieſem Aufſatz von der Mlcefte Wielands Gelegenheit, 
den Mißbrauch, den Wieland auch in diefer feiner Oper mit 
dem von ihm stets traveſtirten Alterthume trieb, Tächerlich zu 
machen, Die Wirkung des Götz von Berlichingen und des Spotts 
über die Kraftlofigfeit der Nachahmer dev Franzofen zeigte fich 
jogleich. Es erhoben fich mitten unter der erſtarrenden Pedanterte 
der. deutſchen Gelehrten, eine Anzahl junger Männer, welche 
gegen alles Sentimentale Oppofition machten, und durch den 
Kampf auf Leben und Tod, den fie mit der Berliner Kritik, mit 
Ramlers Regel, mit Gleims und Klopſtocks Dichterſchule, mit 

10* 


148 Deuiſche Literatur: Stegwart und Werther. 


Wielands Leichtfertigfeit und mit deutfcher Pedanterie begannen, 
auch fogar durch ihre Mebertreibung der deutichen Bildung und 
ihrer Bielfeitigkeit unferer Literatur ſehr nützlich wurden, 

Die artftofratifchen Magiſtrate unferer jogenannten freien 
Reichsſtädte, die fteifen Hofe, Die pedantifchen Univerſitäten, die 
defpstifchen Beamten und die im Dunkeln, im Style des fieben- 
zehnten - Jahrhunderts Deeretivenden Kanzleien der Juriſten er- 
jehrasfen nicht wenig, als ihrer Polizei und Gravität zum Trotz 
fich eine ultraliberale Generation son Schriftitellern zu erheben 
drohte, die alle Regel und alle Ordnung und Zucht als altmo— 
diſch verſchmähte. Diefe Generation pflegt man mit dem Namen 
der Kraftgenied zu bezeichnen. Unter den Leuten, die man zu 
diefen Genies zählt, verfuchten fich Lenz, der ſchon damas Anlage- 
zum Wahnſinn zeigte, und Klinger, der ſpäter in vortrefflichen, 
nur son Wenigen verftandenen Romanen die Fülle feiner Erfah— 
rungen in höhern Kreifen und feiner Lebensweisheit niederlegte, 
befonders im dramatifchen Fachz andere auf andere Weiſe. Für 
Genialität ift aber in den Engen des deutfchen kleinſtädtiſchen 
Lebens (wielleicht zum Glück unferer Nation) zu wenig Spielraum, 
als daß wir ausführlich Darüber reden möchten. 

Auch Göthe ward anfangs zu den Kraftgenieg gerechnet, er 
nahm aber an ihrem Treiben nur in fo fern Antheil, als er jede 
Erſcheinung „der Bewegung der Zeit für feine poetifchen Zwecke 
benußte, Auch das Auffehen, welches Beaumarchais, feine Reife 
nach Spanten und das Abenteuer, welches er dort beftand, in 
ganz Europa erregte, ward von dem jugendlichen Dich— 
ter benußt, um einer neuen Gattung son Drama ein Aufßeres 
Snterefje zu geben, Beaumarchais hatte in Paris Glück gemacht, 
er glänzte in den Gefellfchaften durch Geift und Wis, ein Ban— 
fier gab ihm Antheil am Geſchäft und er ward Franklins Freund, 
weil die franzöſiſche Regierung, jo lange fie fich noch nicht für 
Amerika erklärt hatte, den Nordamerifanern die Subfidien durch 
ihn zufommen ließ. Später ward er durch feine Luftfptele, feine 
Prozeßſchriften, welche fürmliche Satyren waren und durch feine 
Schickſale ein Gegenftand der allgemeinen Aufmerkſamkeit. Gr 
hatte durch das Fragment. einer Reife nah Spanien, welches 
% H. Jakobi im zweiten Stück des fiebenten Bandes son Wie— 


Deutſche Literatur: Siegwart und Weiher. 149 


Yands deutichem Merkur deutjch bearbeitet bekannt machte, allge 
meine Aufmerkſamkeit auch im gebildeten deutichen Publikum, wie 
vorher im franzöſiſchen erregt. Diefe Aufmerkſamkeit glaubte 
Göthe für ein Drama benutzen zu müſſen, und das mit Recht, 
da ein Drama nur dann Eindruck machen kann, wenn der Dich— 
ter eine herrſchende Stimmung des Publikums zu benutzen ver— 
ſteht. Auf dieſe Weiſe entſtand das Schauſpiel Clavigo. 

Göthe nahm den Stoff aus Beaumarchais, er bearbeitete aber 
dieſen Stoff ganz regelrecht und zeigte, daß er abſichtlich im Götz 
von Berlichingen in Anlage und Ausdruck genial der Regel ge— 
trotzt habe. Das deutſche Publikum erſtaunte nicht wenig, daß 
ein und derſelbe Dichter ſo kurz hintereinander die Bewunderer 
Shakespeares und ſeiner Regelloſigkeit befriedigen und wiederum 
den Freunden der franzöſiſchen Bühne gefallen konnte. Man merkt 
freilich den hiſtoriſchen und franzöſiſchen Urſprung des Clavigo an 
den langen Reden und an der Art und Weiſe, wie der eigentlichen 
Geſchichte entgegen ein tragiſcher Ausgang des Stücks herbeigeführt 
wird; es ſollte aber auch ſelbſt nach der Abſicht des Dichters, aus 
dem Stoffe kein tragiſches Meiſterwerk, ſondern nur ein gutes Stück 
gemacht werden. Daſſelbe würden wir von den zwei Stücken ſagen, 
die er in J. ©. Jakobis Manier ſchrieb: wahrſcheinlich, um Halb 
im Ernſt halb im Scherz zu beweiſen, daß ſich aus jeder Richtung 
der Zeit und aus jeder Stimmung der Menſchen etwas machen 
laſſe, wenn ein wahrhaft großer Geiſt ſich ihrer bedienen wolle. 

Erwin und Elmire und Stella paſſen ganz für die Kreiſe, welche 
Nikolai im Sebaldus verſpottet, für die Herrn von Hohenaufs, ihre 
gnädigen Frauen, ihre Pfarrer und Beamte, für alle jene zartfühlen— 
den Seelen, welche die Liebeleten bewunderten, deren füßen Sänger 
auch Hölty in der befannten petrarchifchen Bettlerode verfpottet. 38) 





38) Diefe bekannte Parodie auf das Lied, womit 9. ©. Jakobi den 
Deutſchen Merkur eröffnete und welches alfo anfängt: 
Wenn im leichten Hirtenkleide 
Mein geliebtes Mädchen geht 
ſteht im Wandsbecker Boten und beginnt: 
Wenn im leichten Huifilzſöckchen 
Meine braune Trutſchel geht. 


150 Deutſche Literatur: Siegwart und Weriber. 


Mit diefen Stücken oder wenigftens mit dem Geiſte der Zeit, aus 
dem fie heroorgingen, hängt auch das zu feiner Zeit ganz miß— 
verftandene Meifterwerk Göthes, der Triumph der deutſchen Sprache, 
Werthers Leiden, zufammen, in welchem unfere hart und 
rauh gefcholtene, fonft nur wegen ihrer Kraft berühmte Brofa 
fanft und mild wird, wie ein Teifen Hauch, Diefe Leiden des 
jungen Werthers erfchienen 1774 und mußten ſchon im fol- 
genden Jahre neu aufgelegt werden, es war aber gewiß nicht des 
Dichters Schuld, daß fich von dieſem Augenblicke an die trübe, 
empfindfame, melancholifche Stimmung gewifjer deutfcher Kreiſe fo 
ſehr vermehrte, Die Zeit war, wie Göthe felbft jehr treffend be- 
merkt hat, noch nicht fähig, ein Achtes Kunftwerf als folches rein 
aufzufaflen. Man machte an einem Kunſtwerk profaifch morali— 
ſche Anforderungen, wollte ein Gedicht angewendet wiffen, wie 
man moralifche Gefchichten für das Volk und für Kinder anwen— 
det und legte eine Lächerliche Bedeutung auf den Helden des Ro— 
mans und feine Geliebte, ald wenn das Hiftorifche Die geringfte 
Bedeutung hatte. _ 

Einige Beranlaffung zum Mißverftand gab freilich Göthe 
dadurch, daß er, wie im Elavigo und fonft noch oft, ein zufällis 
ges Greigniß benubte, um feiner Dichtung einen Platz an einem 
beftimmten Ort und in einer beftimmten Zeit zu fehaffen, mit 
welchen beiden fie fonft fo wenig gemein hatte, als des Menfchen 
unfterblicher Geift mit feiner fterblichen Hülle, obgleich auch Diele 
nach Außen Hin fein Bild und: fogar fein Organ iſt. Der Selbft- 
mord des jungen Jeruſalem (Sohn des Abts), der in Weklar 
damals den Reichsprozeß fludirte und in allen guten Häufern in 
der ganzen Wetterau und in Frankfurt befannt war, Hatte ein 
ungemein großes Auffehen erregt, weil man (wahrſcheinlich nicht 
einmal mit Recht) ihm der unglücklichen Liebe zu einer verheira- 
theten Frau zufchrieb. Hegeld Freund, Hölderlin, fein leerer eit= 
Ver, Burfche (wie trotz deſſen, was. Leffing Gutes: von ihm fagt, 
Jeruſamlem war), fondern Dichter und Philoſoph, ward befannt- 
lich am Ende des Jahrhunderts aus gleicher Urſache wahnfinnig. 

Die Zeit war nicht geeignet, ein geniales Werk großartig 
aufzufaffen, fie ftellte ihm den Siegwart zur Seite und beide 
Bücher machten das kleinſtädtiſche profatfche bürgerliche deutſche 


Deuiſche Literatur: Stegwart und Werther, 151 


Leben einige Zeit hindurch lächerlich und trübfelig. In ihren 
Wirkungen glichen ſich Werthers Leiden und der Siegwart; alfo 
nach Außen hin waren fie vollig gleich, im Weſen waren fie ver- 
ſchieden, wie Natur und Affertation verfehieden find. Im Wer- 
ther erfcheint die Liebe in ihren Wirkungen als mächtige Leiden- 
ſchaft, die einen ſchwachen Geift faßt und ihm Hin und her treibt. 
Diefe Leidenschaft, die neben idealiſirten, bürgerlichen Verhältniſ— 
fen dargeftellt wird, zeigt fich dadurch im allen Richtungen und 
Formen deutlicher und wird zu einem Aufßeren Ding, weil für 
die Darftellung die Briefform gewählt ift, welche das ſchwache Ge- 
müth ſelbſt unmittelbar erfcheinen läßt, wenn es vom Sturme dev 
übermächtigen Leidenjchaft hin= und hergeweht wird. Gerade weil 
die Seele des Helden weder ftarf noch groß tft, noch auch als 
Mufter aufgeftellt werden ſoll, wird fie endlich. vollig zerfprengt. 

Das Lebtere ward gar nicht geahnet, man bewunderte nicht 
die unerreichhare Form, die Leichtigkeit der Sprache und die Ge— 
malt der Leidenfchaft, die man. an einer jchwachen Seele allein 
bemerft, weil eine ftarfe am Ende ftets über die Leidenfchaft fiegt, 
jondern man machte vielmehr den Schwachen zum Helden und 
Märtyrer und fand in dem jungen Jernfalem alberner Weife den 
Götheſchen Werther. Man machte aus der Lotte eine Hiftorifche 
Perſon, wallfahrtete an Werthers Grab und trieb das Realiſiren 
jeder Perſon und jedes Worts in dem Noman auf einen Grad, 
den nur der begreift, der jene Zeit erlebt hat oder im unferer 
Beit ähnliche Schwindel unparteitich als folche zu erfennen ver- 
mag. Der anfterfende Schwindel, der im Werther und Siegwart 
feine Nahrung fand, tft Yängft verflogen. An Siegwart denkt Nie- 
mand mehr, und wer ihn lieſet, bemitleidet eine ganze Generation, 
die durch dergleichen Gewinſel bewegt wand. Viele unter ung 
find aber leider durch die Wahlverwandtichaften: und durch die 
Kinftlerwanderungen aus Göthes fpaterer, abeligen: Zeit auch; ge— 
gen Werthers Leiden ftumpf gemacht worden. Göthes erfter Ro— 
man wird indeffen gerade dadurch) ſtets ein unübertreffliches Kunft- 
werk bleiben, daß eine am ſich ganz nichtige Leibenfchaft und ein 
unbedentendes Weſen durch einen Dichter bichterifche Bedeutung 
erhält, der damals noch nicht als Falter Kimftler, wie man jet 
jagt, vein objeftive Werfe ſchuf, oder mit andern Worten, der 


152 Deuiſche Literalur: Stegwart und Werther. 


wahrer Liebe und Freundſchaft noch nicht durch den Verkehr mit 
aller Welt und mit den Höfen abgeftorben und in Egoismus ge— 
funfen war. | 

ie weit man damals noch in Deutfchland zurück war, wie 
viel unfere Nation ſpäter noch durch Göthe und Schiller, durch 
die neue Philofophie, durch die Schlegel, fo lange fie noch in 
Sena revolutionär in der Literatur wirkten, gewonnen hat, ſieht 
man aus der Aufnahme, welche das große Kunftwerf unter dem 
empfindelnden Gefchlechte fand. Den Mangel an Begeifterung, 
die ganzliche Unfähigkeit, irgend eine dichterifche Schöpfung rein 
geiftig aufzufafien, welche jenes von Salzmannſcher Erziehung und 
son Voß Idyllen mächtig bewegte Gejchlecht bei Gelegenheit ‚des 
Werther bewies, hat Göthe felbft am beften ausgefprochen, Wir 
verweilen daher ausdrücklich lange bei Werther und Siegwart, 
weil wir bei feiner andern Gelegenheit den innern Zuftand der 
damaligen deutfchen gebildeten Kreife Leichter und zugleich anſchau— 
Yicher vors Auge bringen können. Göthe fagt in feinem Leben 
an der Stelle, wo er von dem wahrhaft komiſchen Aufjehen res 
det, welches Wertherd Leiden unter denen erregte, die gar feine 
fünftlertfche Idee zu faſſen im Stande waren und von dem Mif- 
verftändniß, welches unter den deutjchen Zeloten, den Rechtglau- 
digen in Hamburg und den Irrgläubigen in Berlin, durch das 
Buch, in Rückſicht auf den zu beiorgenden moralifchen Nachtheil 
veranlaßt ward: „Man kann von dem Publikum nicht verlangen, 
daß es ein geiftiges Werk geiftig aufnehmen folle. Eigentlich 
ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, was ich ſchon von mei— 
nen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorur— 
theil wieder ein, entipringend aus der Würde eines gedruckten 
Buchs, daß es nämlich einen didaktifchen Zweck haben müſſe. Die 
wahre Darftellung hat keinen. Ste billigt nicht, ſondern ent— 
wicfelt die Gefinnungen und Handlungen in ihrer Folge und da= 


durch beleuchtet und belehrt fie.“ 


Da man den Mifverftand des in feiner Art einzigen Gö— 
thefchen Werks auf eine ganz verſchiedene Weife in Schriften gu 
erfennen gab, jo läßt fich der Zuftand der deutfchen Bildung je- 
ner Zeit und die geringe Fähigkeit der damaligen Machthaber der 
Literatur, ächte Poeſie auch nur zu verstehen, an diefen Schriften 


Deutſche Literatur: Stegwart und Werther 1953 


am beften anfchaulich machen. Wir wollen indeffen, der Kürze 
wegen, nur son drei Mißverſtändniſſen und ihren Aeußerungen 
reden. Es erhoben fich nämlich die altlutherifchen Rechtgläubi— 
gen dagegen, als gegen eine Sünde, die profatfch bürgerlich recht- 
lichen Spießbürger und die Berliner trocknen Weifen, als gegen 
eine moraliſche Irrlehre. Dieſe beiden Klaffen eiferten gegen 
das von ihnen nichtverftandene Kunſtwerk; aber auch die Bewun- 
derer deffelben verftanden es nicht vecht, Die zarten und weichen 
Seelen nämlich vergötterten den Werther und feinen Berfafler, 
weil fie ihn für einen dev Ihrigen nahmen. Bon den erwähn- 
ten Richtungen unferes Volks, welche bei der Gelegenheit laut 
wurden, haben fich zwei, die orthodore und die platt moralijch- 
praftifche, immer erhalten, fie kommen jebt, wo man. das Alte 
unter neuen Formeln herftellt, an allen Ecken und Enden fiegend 
wieder hervor, und die Zeloten rühmen ſich, wie Chatenubriand, 
daß ihre Armfeligfeit jebt einen andern Styl und Geſchmack all- 
gemein gemacht habe. Die dritte Partet theilt fich jest, nachdem 
fie alle Veränderungen und alle Wechjel der Zeiten erfahren 
hat, in mancherlei Zweige, je nachdem in den verfchtedenen Sub— 
jeften, die ihr angehören, die eine oder die andere Philoſophie 
vorherrſcht. | 

Alle Gläubigen des alten Syſtems, die Paſtoren, die jurt- 
ftiichen Theologen, wie Pütter, die Gonfiftorien, die ehrenfeften, 
damals noch jehr zahlreichen reichsftädtifchen Magiftrate, erblickten 
in dergleichen neuer Poefie, wie die im Werther war, den Keim 
des Verderbens, in ihrer Verbreitung einen Sturm auf das Lu— 
therthum, alſo auf die beftehenden Berfaffungen. Zum unver- 
ftändigen Organ dieſer Conſervativen hatte fich längſt Paſtor Mel- 
chior Göze in Hamburg aufgeworfen. Gözes Kreuzzug gegen 
Wertherd Leiden brachte jedoch ang Licht, wie mächtig Damals 
das jugendliche Streben und die edle Kraft der wenigen, aber 
eng verbundenen Freunde des in Deutfchland dämmernden Lichts 
waren. Die ganze vereinigte Maffe der obengenannten herrfchen- 
den Zeloten, Göze mit der Fahne der bedrängten Zions an ihrer 
Spige, regten das Volk auf, das damals noch ganz blind war, 
jet mit trüben Augen ſieht; es tobte, Der Städte und der Fürften 
Polizei war den Männern des Lichts feindlich — und dennoch) 


454 Deutſche Literatur: Stegwart und Werther, 


blieb ihnen der Sieg. Wir verzagen daher auch nicht, wenn die 
Wächter Zions jetzt aufs neue ſchreien. Melchior Göze war kaum 
inne geworden, welche unbefchreibliche Wirkung der neue Roman, 
in welchen der Selbfimord des jungen Jerufalem nach. feiner 
Meinung als Heldenthat gepriefen ward, auf den ihm ohnehin 
höchſt verdächtigen Theil der Herrn und Damen mache, die lieber 
folche neumodifche Bücher als feine Predigten, als Benjamin 
Schmolfes Gebetbuch „der als feines Freundes Ziegra ſchwarze 
Zeitungen Yafen, als er im Zorne entbrannte. Cr erließ alfo 
nach. feiner Art, gleich wie vorher der Erzbifchof von Paris ge— 
gen Rouffenus Emil, eine Art Hirtenbrief (mandement) gegen 
den Werther. 

Der Titel der liebreichen Schrift, die der Fromme Mann im 
heiligen Eifer herausgab, Tautete: Kurze aber nothwendige 
Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, 
über eine Rezenfion derfelben und über gewiffe 
nachher erfolgte Aufſätze (1775). Um in unſern Zeiten 
daran zu erinnern, wohin das Fromme Toben der Zeloten führt, 
und wie Intherifche blinde Orthodoxie mit Poeſie und Literatur 
der Nation umgeht, wenn fie einmal Religion in mechanischen 
Dienft und in Gedächtnißwerf verwandelt hat, wollen wir aus 
diefer Schrift einige Sätze ausheben, und zwar bie, mit denen 
der Paſtor feine Invective ſchließt: „Da mitten in der evange— 
liſch-lutheriſchen Kirche, vuft er aus, Apologien für den Selbit- 
mord erfcheinen und in öffentlichen Zeitungen angepriejen werden, 
fo werben wir bald laudes Sodomiae, wenigſtens neue Auflagen 
oder gar Ueberſetzungen der Aloysa Sigaea fehen. Es wird für 
fein Verbrechen gehalten werden, Andere, welche und im Wege 
ftehen, aus dev Welt zu ſchaffen. Die Giftmifcheret wird fo ein- 
gerichtet fein, daß die Beſtrafung derfelben unmöglich werben 
wird u. ſ. w.“ Damit mar aber fehe, wie man ſchon damals 
ſehr gefchieft, wenngleich fehr grob, ohne Sophiſtik, wie jest ſehr 
fein und mit philofophifcher Terminologie, jede religiofe Aufklä— 
rung als politifches Vergehen darzuftellen mußte, fügen wir Hinzu, 
daß Göze, nachden er auf dieſe Weiſe noch in einigen andern 
Sätzen Göthe als Bolfsverführer und Sitten- und Bolizeiverder- 
ber gemalt hat, ihm endlich Semler zur Seite gibt, „Kurz, fagt 


Deutſche Literatur: Stegwart und Werther. 155 


ev weiter unten, wenn nach den Semler'ſchen Grundſätzen die 
heilige Schrift zu Grunde gerichtet, oder wenn fie nach den 
Babrdrfchen modernifirt, das iſt ſtinkend und lächerlich gemacht 
wird, was wird aus der Chriftenheit werden? Ein Sodom und 
Gomorra.“ 

Damit man nicht glaube, daß dies ein ohnmächtiges Ge— 
ſchrei eines blinden Pfaffen geweſen ſei, wollen wir zeigen, daß 
ihn die theologiſchen Juriſten der Reichsſtädte und Alles, was an 
der Spitze der Staatspolizei ſtand, wirklich für den Repräſentan— 
ten der lutheriſchen conſervativen Partei hielt. Es arbeiteten näm— 
lich gerade damals Männer wie Merk, Schloſſer, Göthe (leider! 
auch Bahrdt) an den Frankfurter gelehrten Anzeigen, ohne auf 
ihre Arbeit daran gerade beſonderen Fleiß zu wenden oder Be— 
deutung darauf zu legen. Einer von den Mitarbeitern hatte Gö— 
zes andächtige Betrachtungen auf eine ziemlich ſpöttiſche 
Art angezeigt, der Frankfurter Magiſtrat fand die Anzeige höchſt 
ärgerlich und glaubte Einhalt thun zu müſſen. Die Herren des 
Frankfurter Raths waren ſo voll Achtung für den Hamburger 
Zionswächter, daß ſie nicht allein aus eigener Bewegung den Ver— 
leger der Anzeigen beſtraften, ſondern ſich auch gegen jeden Ver— 
ſuch, ein junges Frankfurt emporzubringen, mit den Worten er— 
Härten: „Daß im dieſen Anzeigen ein höchft ärgerlicher, gegen 
alle dem Staat und der Religion jchuldige Pflichten anftoßender, 
Neligiongeifer zu fpüren ſei.“ Dabei blieb aber ihre für das 
Luthertyum und feine Repräfentanten eifernde Staatspolizei nicht 
ſtehen: „Man wolle fehärfere Mafregeln vorkehren; anbei wür— 
den aber alfe theofogifche Sachen betreffende Necenfionen gänz- 
lich unterſagt.“ Göze war fo gerührt von der Harmonie zwi— 
fehen feiner Theofogte und der Frankfurter Polizei, daß er einen 
eigenen Dankfagungsbrief an Bürgermeifter und Rath der Stadt 
Frankfurt richtete, worin er diefen verſicherte: „Es leuchte ans 
diefer Maßregel aller Welt in die Augen, daß noch 
der rechte Gott in dem Frankfurtur Zton fer“ Ueb— 
rigens könnten wir aus unferer Zeit hunderte von ähnlichen Pro- 
zeduren anführen, wenn wir nicht glaubten, daß ein Theil unſe— 
ver Lofer mit. den Gefchichten Hinveichend Bekannt fet und ein an- 
derer großes‘ Aergerniß davan nehmen würde. 


156 Deutfche Literatur: Werther und Stegwart, 


An der Spite der andern, in der Poeſie und Philoſophie 
nach Franzöfiicher und Berliner afademifchen Weiſe profatfch rich- 
tenden Deutjchen, ſtand feit langer Zeit Nifolat eben fo päpftlich, 
als Göze in Hamburg an der Spite der Altlutheraner. Im 
Hanndverichen, in Brandenburg, in Sachfen, in allen Gegenden 
Deutjchlands, wo Wieland als der Erfte unter unfern Klaffikern 
galt, war auch Nikolai und eine allgemeine deutſche Bibliothek 
Drafel des Geſchmacks und der Kritik; allein bei Gelegenheit von 
MWerthers Leiden täufchte fich doch auch Nikolai tiber feinen Ein- 
fluß auf fein befchränftes, aber nicht, wie Gözes Anhänger, ganz 
blindes Publikum. Nikolais Hirtenbrief gegen Werthers Leiden 
war eine Schrift, die er für eine Satyre hielt, die aber doch auch 
fogar feine Freunde für das erkannten, was fie war, für eine 
Maffe von Plattheiten, unter dem Titel Freuden und Leiden 
des jungen Werther, 1775. Der Verſuch, die Gefchichte 
Werthers auf eine gemeine Weife durch einen TLächerlichen und 
höchſt platten Ausgang zu traveftiren, war fo mißlungen, daß 
der kluge Spefulant, um nicht fein eignes Publikum gegen fich 
zu haben, ſchon in der Selbftanzeige feiner Parodie eingeſtehen 
mußte, daß ev zu weit gegangen ſei. Wieland, obgleich ihn Göthe 
furz vorher durch das oben angeführte Pasquill heftig beleidigt 
Hatte, und er eigentlich Nikolai näher ftand, als Göthe, unterfchted 
doch den wahren Dichter von der großen Anzahl fentimentaler 
Romanfchreiber auch bei diefer Gelegenheit, Man kann es daher 
Göthe wohl verzeihen, wenn ev Nifolais im Intereffe der Moral, 
wie er jagte, verfaßte Schrift etwas cyniſch durch das Spotiges 
dicht Nikolat auf Werthers Grabe beantwortete. Nikolai 
jelbit jagt in der Ankündigung feiner Schrift in dr A. D. B. 
ausdrücklich, fie enthalte feine Satyre auf Göthe, den er achte und 
als Meifter anerfenne, fondern er habe nur die trübe und empfind= 
fame Manier und die Art der Vertheidigung des Selbſtmords 
lächerlich machen mollen. Gelegentlich gibt er freilich auch zu 
verftehen, daß ihn die Artikel der Frankfurter Anzeigen geärgert 
hätten, worin ſowohl über das berliner Laternenlicht, als über die 
Hamburger Dunkelheit gefpottet war. 

Als Repräfentanten der dritten Richtung der Zeit, der ſen— 
timentalen und der zärtlichen, oder der unzähligen Menfchen, welche 


Deutſche Literatur: Werther und Siegwart. 157 


Göthe zu verftehen glaubten, weil fein Styl fo Teicht war, ihn 
aber gleichwohl gänzlich mißverftanden, betrachten wir J. M. Miller 
in Ulm. Er gehörte wie Hahn und Leiſewitz und Hölty zu den 
göttinger Barden, machte auch ganz artige Gedichte; wir würden 
aber weder biefer, noch anderer Arbeiten, noch ſelbſt des Sieg— 
warts erwähnen, wenn wir nicht nachweifen müßten, auf welche 
Weiſe das, was in Göttingen tdyllifcher Ton und Schilderung 
häuslicher Scenen geweſen war, als Schwärmerei nach Schwaben 
fam und durch den Stegwart in ganz Deutjchland verbreitet ward, 
Man muß übrigens Stegwart, eine Kloftergefchichte, 
welchen Roman Miller, der um 1775 von Göttingen nach Ulm 
zurücgefommen war, fchon 1776 fehrieb, von den ſpätern Roma— 
nen, die er fabrifmäßig auf den Kauf verfertigte, wohl unterfchet- 
den. Zu diefen rechnen wir den Briefwechfel dreier afa= 
demiſchen Freunde, den Karl von Burgheim, die Emi- 
lie von Rofenau u ſ. w. Der Siegwart verdankte alferdings 
das Glück, das er machte, und das Auffehen, das er erregte, 
Werthers Leiden, doch würde man irren, wenn man ihn für eine 
Nahahmung diefer Dichtung anfehen wollte; er ging nur aus 
derjelben Stimmung der Zeit mit diefer hervor, gehörte dabei 
aber mehr der göttinger elegifchen Richtung an. Man konnte 
etwa jagen, der Siegwart ſei elegifche Idylle eines Dichters, dev 
fich unter den göttinger Barden gebildet hatte, 

Diefer Roman machte ein unbefchreibliches Auffehen und ſelbſt 
an den Außerften Enden Deutfchlands, am Strande der Nordfee 
und an der Weſer, alſo gerade in der größten Entfernung vom 
Schwabenlande, vernahmen wir in unferem Knabenalter das aus- 
gelitten haft Du, ausgerungen w f. m. Der Siegwart 
war allgemein verbreitet und paßte ganz zu der norddeutſchen Idylle 
und zu ber, durch Höltys und anderer Gedichte verbreiteten, ſchwer— 
müthigen Stimmung. In Miller Gedichten, das heißt in feinen 
Idyllen, Elegien, Liedern, drückt fich dieſelbe Richtung aus, welche 
wir im Siegwart wahrnehmen, und gerade die in diefen herr- 
ſchende Stimmung der Zeit machte ja Milfers Perfönlichkeit einem 
Voß und andern Göttinger Freunden,, die von Melancholie und 
Schwärmerei nicht hören wollten, denen ein Klofter verhaßter war, 
als ein Gefängniß, fo ungemein theuer und werth, Uebrigens 


158 Deutfche teratur: Wertber und Siegwart. 


fann man, weil fich der Siegwart doch von den übrigen, von 
Miller fabrikmäßig gefertigten Romanen durch wejentliche Vorzüge 
unterjcheidet, die deutfchen Jünglinge und Frauen megen ihrer 
Bewunderung deffelben einigermaßen entſchuldigen. — 

Miller hatte ja die Alten mit jenem edeln, nur reiner Men- 
ichenbildung nachftrebenden, von Gelehrtendünfel und von Hand» 
werfögeift gleich entferntem Eifer gelefen, der das Leben des göt— 
tinger Bundes fo vortheilhaft vom Treiben der Studenten umter- 
ſchied; er hatte fich mit den alten ſchwäbiſchen Dichtern befannt 
gemacht, dies gab ihm große Vorzüge vor andern Nomanfchret- 
bern, "Nur wenige Schriftfteller unter denen, die damals für 
das große Publikum fchrieben, waren der reinen und edlen Um— 
gangsiprache mächtig, denn Nicolais Ton und Sprache war ganz 
platt und gemein, Wieland fchrieb nie reines Deutſch, und beide 
waren läſtig breit, Miller fchrieb dagegen feinen Siegwart in gu— 
tem, fließenden, Teichten Deutfch, anfangs nur in zwei Bändchen, 
erſt als der Roman Lefer gefunden Hatte, zog er ihn ins Breite, 
Die Scenen des Romans find durchaus idylliſch ausgemalt und 
Miller hat dabei die Lofalitäten feines Schwabenlandes benukt, 
wie feine ſaſſiſchen Freunde in ihren poetifchen Idyllen die nie- 
devfächfifchen nutzten. Miller verlor auch feinen durch den: Sieg— 
wart erworbenen Ruhm gar bald, als er feinen Roman gleich 
einem gelehrten Commentar, den ein Philolog herausgibt, hernach 
unverſtändig vermehrte, 

Miller ſelbſt fchildert uns die Quelle, aus welcher ihm und 
‚allen feinen Zeitgenoffen die empfindelnde Richtung, die girrende 
Taubenliebe, die Feine Leidenfchaft, jondern ein Fafeln iſt, der 
weinerliche und melancholiiche Ton floß. Diefe Quelle find die 
Gedichte des damals über den Homer erhobenen oder neben ihn 
geftellten Klopſtock, es find die Gedichte der zahlreichen Liebes— 
fanger in Petrarchas Manter, die fih um Klopſtock fammelten. 
Diefe unterhielten fich über die gewöhnlichſten Dinge des gemeinen 
Lebens in dem Ton, in welchen im Siegwart von einem Bauern- 
burfchen geredet wird, der in ein Mädchen verliebt ift: „Wohl 
dem Jüngling, heißt es, deſſen Seele fich allein durch das Band 
der Liebe feſſeln läßt! Er und feine Freundin werden einft 
mit Semida und Gidli, mit Betrarha und Laura, 


Deutfche Literalur: Werther und Siegwart. 159 


mit Klopſtock und ſeiner Meta unter Lebensbäumen wan— 
deln und ſich ihre Liebe in der Unterwelt erzählen.“ Aus dieſer 
Stelle kann man zugleich auf den in dem Buche herrſchenden 
Ton und auf den Ton der Leute ſchließen, von denen es ſo be— 
gierig geleſen ward. Die einzelnen dargeſtellten Scenen, ſo wie 
die ins Lächerliche getriebene Vergötterung Klopſtocks ſind ganz 
aus dem damaligen Leben entlehnt, wie wir aus den zahlreichen, 
jetzt gedruckten, Briefen jener Zeit ſehen. 

Die Proſa des Siegwart iſt von Göthes Proſe im Werther 
unterſchieden, wie der Styl in Geßners Idyllen von dem in 
Rouſſeaus Heloiſe, denn ohne gerade poetiſche Proſa zu ſein, gleicht 
er doch Verſen ohne beſtimmtes Metrum. Dabei iſt Alles trübe 
und melancholiſch, man hört nur von Kirchhof, Tod, Thränen. 
Das Alter iſt dort ohne Reife, die Jugend hat keinen der Cha— 
raktere der Jugend; die Sinnlichkeit iſt ihrer Natur ganz entge— 
gen nicht auf Genießen, ſondern auf Anſchauen gerichtet. Läug— 
nen kann man jedoch nicht, daß auch dies in vielen Gegenden 
wohlthätig wirkte, daß die moraliſche Bildung des Volks durch den 
vielgeleſenen Roman gefördert, Sinn für Poeſie geweckt und ſtatt 
herrſchender Rohheit Gefühle der Menſchlichkeit verbreitet wurden. 
Im ganzen Buche wird Religioſität und Sittlichkeit gefördert und 
ſtatt der alten Dogmatik und der Katechismuslehre, die bloß für 
das Gedächtniß waren, ein lebendiges Gefühl der Gegenwart der 
Gottheit im Gemüth und in der Natur untergeſchoben. Weil 
wir den Siegwart als eine Art Erbauungsbuch betrachten und 
zugleich den erſten Theil beſonders als eins der vorzüglichſten 
unter den vielen, damals für Kinder und für die reifere Jugend 
geſchriebenen Bücher anſehen, ſo haben wir ihn der neuen Erzie— 
hungsliteratur vorausgeſchickt, deren wir jetzt noch gedenken wollen. 

Auch in den Schriften zum Unterricht oder zur Unterhaltung 
von Kindern, mit denen Deutſchland ſeit Baſedows Zeit über— 
ſchwemmt ward, wird man mehr ‚oder weniger von der Lebens— 
anficht und Moral finden, welche im Siegwart gelehrt oder be- 
folgt wird. Mean erkennt darin überall den gutmüthigen Charak— 
ter der Nation; aber auch Kleinftädteret, Pedanterei und Neigung 
zum Bredigen, ftatt zum Handeln, Einer der erften Schriftſteller 
für Kinder und. über Erziehung war Weiſſe, wir übergehen aber 


160 Deutfche Literatur: Werther und Siegwart. 


jeinen Kinderfreund, weil er ſich nur auf Kindererziehung und 
auf das Verhältnig zu diefen befchränftez da hingegen Campe 
das ganze Leben und deſſen Berhältniffe in feinen Kreis 309. 
Campe verftand eben fo gut als Kobebue fich auf den Standpunft 
der Leute zu ftellen, die man Publikum nennt, das heißt, der ſo— 
genannten Aufgeflärten, dev durch Nomanenlefen und oberflächli= 
chen Unterricht Gebildeten. Cr war Brophet der Klafie von Le— 
fern, welche zwar von einem Lichtenberg, Voß, Herder, Leſſing, 
Göthe, jo unendlich verfchteden fonft diefer Männer Anfichten 
waren, verfpottet oder doch verſchmäht wurden, die fich aber her— 
nach in großen Maffen um Kobebue drängten. 

Campe hat freilich nicht Eignes oder Eigenthümliches ans 
Licht gebracht; allein er hat die allerverſchiedenſten Dinge unter der 
Maſſe des Volks verbreitet und dem Geſchmack und Begriff der 
eigentlichen Bürgerklaſſe, die vom gelehrten Unterricht ausgeſchloſ— 
ſen war, angepaßt. Am nützlichſten iſt unſtreitig unſerer Nation 
ſeine Kinderbibliothek geworden, beſonders nachdem er in ſpäterer 
Zeit die Zahl der darin aufgenommenen Stücke bedeutend ver— 
mindert hatte, ſo daß jetzt nur die vorzüglichſten Proben der mo— 
raliſchen und erheiternden neuen Literatur der Deutſchen, welche 
Kindern und jedem aus dem Volke verſtändlich und lesbar ſind, 
darin vereinigt gefunden werden. Durch den Gebrauch dieſer Samm= 
Yung beim Unterricht und im Leben wurden Sprache und Ge— 
ſchmack gereinigt, die Jugend gewann von Kindesbeinen an bie 
vorzüglichiten Volksſchriftſteller, die ihr sorher nur im gelehr— 
ten Unterricht bekannt wurden, gewifjermaßen neben den Spielen 
der Kindheit fürs ganze Leben lich. Campe's GSittenlehre für 
Kinder war ein völliger Mißgriff und hing mit der Manier der 
neuern Grzieher, den jugendlichen Geift immer nur auf die un- 
mittelbar brauchbaren Kenntniffe hinzuleiten, zufammen, Dieſen 
Mipgriff muß man damit entfchuldigen, daß man som Extrem 
des Mittelalters plöglich zum Extrem des Modernen übergehen 
wollte oder mußte, Es beftand nämlich jene Sittenlehre für Kin— 
der, die man an die Stelle der alten dogmatifchen Katechismen 
ſetzen wollte, in einer falfchen Anwendung von Schloſſers Kate 
hismus für das Landvolf auf den Kinderunterricht überhaupt. 
Campe und alle Weifen feiner und unſerer Zeit, welche jedes 


Deutſche Literatur: Campe. 161 


freie und ideefle Leben Haffen oder Tächerlich machen und den 
jugendlichen Geift durch Gedächtnißwerk oder auch durch Hin— 
weifung auf äußere Bortheile unauflöslich an das Materielfe 
binden, haben zugleich Hecht und Unrecht, wenn fie das Kind 
und das Volk auf gleiche Weiſe unterrichten wollen, Ste ha— 
ben Recht, in fo fern Leben, Lebensweisheit, Fähigkeit des Be— 
greifens höherer Dinge bei beiden eine gleiche Methode erfor- 
dertz fie haben Unvecht, weil die Menfchenklafen, die in civiliſir— 
ten Staaten Bolf genannt werden, ftillftehend, derjenige Theil 
der Jugend aber, der nicht zu diefen Klaffen gehört, fortſchreitend 
gedacht werden muß, und deßhalb am Anfange der Reife des Le— 
bens Bieles einfammeln ſoll, was ev erft in dev Mitte derfelber 
gebrauchen lernt. Campes Robinfon, der jüngere, erinnert ſchon 
durch diefen Titel an die Gefchichte des Alexander Selkirk, welche 
Daniel Defve, der als politifcher Schriftiteller und als Verfaſſer 
vielgelefener Romane feiner Zeit (1665—1731) in England fehr 
berühmt war, für feinen Robinſon Cruſoe benubte, hinter welchem 
Campes Arbeit weit zurückhleibt, Campe war nicht einmal der 
Erſte, welcher Defoes Arbeit fir den Zweck benußen wollte, den 
er wie Baſedow und Rouſſeau im Auge hatte, nämlich den Men— 
jchen, der für das Leben und für die fonventionellen Verhältniſſe 
unferer Zeit beftimmt tft, wie den Naturmenfchen zu erziehen. Schon 
Rouſſeau hatte in feinem Emil die Gefchichte des Altern Robin— 
fon als dasjenige Buch angepriefen, wodurd man dem Zöglinge 
am beften anfchaulich machen könne, welche Kenntniffe eigentlich 
allein nüslich und nöthig feten * wie man fie erwerben ſolle. 
Campe hätte bei feiner educatorifchen Bearbeitung des alten Ro— 
binfon nur manche Auswüchſe oder Geſchmackloſigkeiten und Un— 
wahrfcheinlichkeiten weglaffen, die alte Gefchichte durch feinen Yeich- 
ten, der Gonverfation der: Gebildeten angepaßten Styl und durch 
eine reine umd richtige Sprache, deren ex durchaus mächtig war, 
in den Bamtlienfreifen zum unterhaltenden Leſebuch machen jollen, 
dadurch würde er den nach der neuen Methode Erziehenden und 
Erzogenen viel genügt haben, ev ging aber weiter, Was er hin- 
zufügte, war albern und machte albern, Gampes Robinfon ward 
mit Recht, weil man Fein pafjenderes in gutem Deutſch geſchrie— 
benes Buch hatte, ein allgemeines Leſebuch für Kinder. Diefe 
Säloffer Geſch. du 18: m 19 Jahrh. IV, Th. 4 Aufl. 11 


162 Deuiſche Literatur: Campe. 


Geſchichte und das von Campe hineingefchobene Edukationsge— 
ſchwätz erflicte Die Poeſie des Jugendlebens in demjelben Jahr: 
zehnt (1775—1785), als der Stegwart poetifch religiöſe Träu— 
merei und melancholifches Schwärmen in die Mode brachte. 

Sobald Campes Robinfon in den Händen aller Kinder der 
gebildeten Stände war, traten die. biblischen Gejchichten zurück. 
Es ward dadurch in den Familien neben der praktifchen Proſa 
unſerer Heinen Berhältniffe auch noch eine theoretiſche herrſchend. 
Es erwuchs ein neues Gefchlecht nur aufs Handgreifliche, Häus— 
Fiche, unmittelbar im äußern Leben Nütliche bedacht, voll kindli— 
her Naſeweisheit. Luthers Bibelüberſetzung, die im feften Glau— 
ben umd im Tone des ſechszehnten Jahrhunderts erzählten Ges 
fohichten des Orients und die alterthümlichen Poeſien vegten, wenn 
fie auch den Berftand nicht fchärften, mochte man fie nun wer 
ftehen oder nicht, doch die Phantafie an. Die Bibel gab menig- 
fteng religiöſen Schwung, die Tangweilige Moralpredigt des neuen 
Leſebuchs drückte die Seele nieder und drängte die zum Lernen 
trägen Knaben in Rouffeaus Schule, wo der eigentliche Menſch 
nicht durch Fortſchreiten und im Fortichreiten entfteht, ſondern 
als Naturmenſch volllommen geboren wird; Bon Campes 
Entdeckung son Amerika und von den caftrirten und durchwäſſer⸗ 
ten Retfebejchreibungen, die das Leben nicht jo unmittelbar an— 
gehen und auch nie jo verbreitet waren, als die andern genann- 
ten Bücher, darf hier nicht geredet werden, Auch Salzmanns 
feiner Zeit allgemein werbreitete Kinderbücher erwähnen wir nur 
im Vorbeigehen. Salzmann Halt fich weislich ganz innerhalb des 
engen häuslichen Kreifes und Handelt nur won den bürgerlichen 
Berhältniffen des ganz gewöhnlichen täglichen Lebens. Sein Ele- 
mentarwerf, welches in unferer Jugend die klaſſiſche Lectüre eines 
neuen Geſchlechts nüßlicher aber Tangweiliger Menfchen war, ſchil⸗ 
dert den bürgerlichen Kreis: einer behaglich Lebenden deutfchen Fa— 
milie mit aller Gemüthlichkett, welche im demſchen Nationalcha⸗ 
rakter liegt, legt aber zugleich Bedeutung auf Kleinigkeiten, als 
ſollten ausdrücklich Pedanten und armſelige Kleinigkeitskrämer ges 
bildet werden. Daß alle Kindereien in dem Buche mit großer 
Wichtigkeit behandelt werben, hat ſeinen Grund darin, dag ein Pub⸗ 
lilum, welches. Klopſtock and ben vergötterten Siegwart bewunderte, 


Deutſche Literatur: Peſtalozzi. 163 


jede Gelegenheit ergriff, Gefühle zu zeigen oder zu affectiren, die 
man für Tugend gelten ließ, wie bei der vorigen Generation Dog- 
matif, Beten und Singen and in die Kirche gehen für Neligton 
galt; Dadurch wurden die Rleinigkeiten des häuslichen Lebens 
anf dieſelbe Weife durch ein Buch wichtig gemacht, wie vornehme 
Grillen und Launen durch Jacobis Woldemar. Uebrigens gewann 
auf der andern Seite durch diefes Buch und durch Ähnliche, nach 
feinem Mufter gefchrtebene, das dentfche Leben an Klarheit, Die 
Jugend ward dadurch von blindem und unpraftifchem Gedächtniß— 
werk zu einer Tebendigen und thätigen Erkenntniß gebracht, denn 
das Buch war einfach, klar, herzlich geſchrieben. Die Reiſen der 
Salzmannſchen Zöglinge waren weniger verbreitet, find aber wie 
das Elementarwerk zu betrachten und haben mit dieſem einerlei Zweck. 

Höher als alle die genannten deutſchen Educationsſchriftſtel⸗ 
fer und ihre Bücher fteht ohne allen Streit der Schweizer Peſta— 
lozzi, und fein nicht ſowohl Fir Kinder als für's Volk geſchrie— 
bener Volksroman. Peſtalozzi's Lienhard und Gertrud, ein 
Buch für das Volk, ſteht zwar in Rückſicht der Reinheit des 
Styls und der grammatiſchen Richtigkeit dev Sprache den er— 
wähnten deutſchen Büchern weit nachz dagegen iſt es durch den 
darin herrſchenden Charakter ächter Religioſität und durch die 
Darſtellung des durch natürliches aber veredeltes Gefühl geleite— 
ten Lebens einer Gemeinde der unter den drückendſten Verhältniſ— 
fen Gott und fein Gebot ehvenden Seelen unübertrefflich. Das 
Buch wiirde noch mehr Werth haben, wenn der Verfafler 8 in 
feiner urſprünglichen Geftalt gelaffen hätte, wie es blos auf drei— 
hundert und fiebenzig Selten zu Berlin bei Decker erfchtenen war . 
Bei dieſer erften Auflage Half eine ſehr gefchiete Hand dem Ver— 
fafler in Rückſicht auf Ausdruck und Sprache nachz fpäter half 
Jemand, der das: Weſen und den eigentlichen (Charakter Hiefes 
unfterblichen, aus warmem Herzen, inniger Theilnahme am Schtefz 
ſale der ärmſten Volksklaſſen und voller Ueberzeugung hervorge— 
gangenen Werkes veränderte. Man machte das Buch zu einer 
Vorrathskammer der allerverſchiedenſten Lehren und Belehrungen, 
wodurch ihm fein Hauptvorzug, raſche Handlung und kurze Mo— 
ral, geraubt und die im erſten Theile völlig beendigte Geſchichte 
ins Breite gezogen ward. Die erſte Auflage namlich, die blos 

117 


164 Deutfche Literatur: Peſtalozzi. 


aus dem nachherigen erften Theil befteht, enthalt die einfache Ge— 
Tchichte einer armen Bauernfamilte des Kantons "Bern aus jener 
Zeit, wo die Junker von Bern noch Gutsherrfchaften im deutſchen 
Sinne des Wortes und zugleich Schuber und Wohlthäter ihrer: 
Bauern waren, Dieſe einfache Gefchichte wird auf eine folche 
Weiſe erzählt, daß nach und nach das ganze Dorf und alle Ver— 
häaltnifje einer Dorfgemeinde, ihr Schulze, ihr Wirth, ihr Pfar- 
ver, ihr Gutsherr, die verjchiedenen Gemeindeglieder redend und 
handelnd eingeführt werden. Der Verfaſſer war durch feine in- 
nige Befanntichaft mit der Lage, der Denfart und den Berhält- 
niffen des Landvolks in den Stand gefeßt, in einer ganz einfa= 
hen Geſchichte das Leben deſſelben Fünftlerifch darzuftellen, Er 
verfieht, in den Handlungen und Charakteren der verichiedenen 
auftretenden Perfonen die verfchtedenften Wirkungen, ſowohl die 
der ganz von Gewinnfucht beherrichten Gemeinheit und der grob 
finnlichen Rohheit, als des dem Menjchen angebornen, oder pon 
ihm durch religiöſen Unterricht erworbenen, feineven fittlichen Ge— 
fühls Handgreiflich und augenfcheinlich zu machen, Da alle Be— 
mohner des Dorfs auf die Bühne gebracht werden, fo ‚gibt Dies 
Gelegenheit, alle verfchiedenen Abftufungen und Schattirungen der 
rohen Charaktere der blos auf äußern Vortheil erpichten Glieder 
der Gemeinde und der rechtlichen und veligtöfen Gefinnungen Anz 
derer vors Auge zu bringen, und zugleich die Folgen der beiden 
entgegengefebten den Landvolk eignen Handlungsweifen anfchaulich 
zu machen. Es herrſcht zwar auch in diefem Buche die Senti= 
mentalität des Jahrzehnts, in dem es gefchrieben ward ; wir haben 
es deshalb mit den andern fentimentalen Unterhaltungsbüchern 
verbunden, idealifirt ift aber Nichts darin und nur die Hauptfigur 
allein ift etwas zu ftark gezeichnet. Dies mußte ſchon des Zwecks 
wegen geſchehen; die andern Perſonen find alle Bildniffe aus ei= 
nem Kreife, den Peſtalozzi Lange und genau beobachtet hatte, So— 
wohl der Pfarrer als der Gutsherr find aus dem damaligen Ber- 
ner Leben genommen. Der Berner wie der Genfer Pfarrer hatte 
eine ganz andere Rolle in der Gefellichaft, als der gewöhnliche 
deutfche Dorfpfarrer, und die Berner Ariftofraten, jo ftolz fie ſonſt 
waren, mußten ſchon aus Politik gegen den Landmann gütig und 
herablaſſend fein, obgleich wir Feinsswegs läugnen, Daß fie es auch 


Deutfhe Literatur: Romanfabriken. 165 


aus Menfchlichfeit waren, da man fie ja im Lande mit Heiliger 
Scheu verehrte. Fremde Hülfe gebrauchte übrigens Peftalozzt nur 
für Nichtigfett oder Zierlichfeit des Ausdrucks und der Sprache, 
denn den herzlichen Volkston Hatte er ganz in feiner Gemaltz er 
konnte daher ſowohl die tragifche und rührende Seite des nie= 
dern Lebens, als die burlesfe für feinen Zweck benuten, Dies 
fem Zweck würde es übrigens nicht gefchadet haben, wenn eine 
große Anzahl der vorkommenden Flüche und Schwüre weggeblie— 
ben wäre. 

Neben den angeführten fentimentalen Romanen und den 
Ehdueationsfchriften, die zum Theil fchon eine Frucht der Specu- 
Yation waren, welche Schriftfteller und Buchhändler auf die ver— 
anderte Erziehung und Lebensanficht gründeten, müſſen wir noch 
furz der Nomanfabrifanten erwähnen, die fich des neuen Ge— 
ſchmacks bedienten, um berühmt zu werden oder Geld zu verdie— 
nen. Ste wurden fortan eine Peſt des deutfchen Lebens, das fie 
verflachten, da fie der ernften und durchgreifenden Bildung einer 
Nation, die Feine tonangebende Hauptftadt hatte, dadurch ein un— 
überwindliches Hinderniß entgegenfesten, daß fie fentimentale Ge— 
jchtehten oder milde Sprünge von Einem zum Andern für Ge— 
nialität oder für Dichtung verkauften, Diefe Fabrifanten machten 
Bücher, mie Weiber und Gimpel fie wünfchten, ftatt diefe zu 
nöthigen, wenn fie leſen wollten, fich zu den DVerfaflern der Bü— 
cher zu erheben, Es wurden dann erſt von den Nomanfchreibern 
die Väter und Mütter verbildet, hernach von den Verehrern Rouf- 
ſeaus und Baſedows die Kinder verzogen. Wir berühren die 
Klaffe Romanfabrifanten für Lefegefellfchaften nur kurz und er— 
wähnen der Kraftgenies, Humoriften und Nomantifer gar nicht, 
weil wir nicht Geſchichte der deutfchen Dichtung ſchreiben. Wir 
würden aus eigner langer Grfahrung über den Einfluß der Mo— 
debiicher auf dem Ton der Familien des deutfchen Mittelftandes 
viel berichten fünnen, wenn wir nicht vorzögen, nur das Bekannte 
und Anerkannte für unfern Zweck zn gebrauchen, 

Unter denen, die wir Romanfabrifanten nennen, verdienen 
unftveitig der Ulmer Miller und Johann Gottwerth Miller in 
Itzehoe den erften Platz. Die Romane des Grften Haben wir 
oben angeführt, wo wir nur auch noch den Garl Ferdiner unter 


166 Deutfihe Literatur: Nomanfabrikem 


den, nach dem Siegwart als Fabrikaten verfertigten, ziemlich 
Yangweiligen Unterhaltungsbüchern hätten nennen follen. Der 
Zweite Hatte wenigſtens das DVerdienft, daß er die norddeutfchen 
Romanleſer und Leferinnen vom Seufzen und Weinen zum La— 
chen führte. Johann Gottwerth Miller zeigte in feinem Sieg— 
fried von Lindenberg eine Gattung von komiſchem Talent, welches 
dem ſchlechten Ton der Gegenden, aus Denen ev feinen erſten Hel— 
den nahm, ganz angepaßt war, er zeigte aber doch zugleich auch 
noch einige Menfchenfenntnig, wenn dieje gleich auf pommerfche, 
holſteiniſche, mecklenburger Landjunker, Pfarrer u. ſ. w. beſchränkt 
war. Das Einzige, was: in Beziehung auf deutſche Bildung, 
Ton und Geſchmack jener Zeit als hiftorifch merkwürdig über den 
Siegfried won: Lindenberg aus unſerer eigenem unmittelbaren; Gr: 
fahrung aufbewahrt zu: werden verdient, tft, daß ein Buch voll ſo 
ſchlechter, oft ganz gemein ausgebrücter Witze im platten Ton 
verfaßt, ſo großes Aufſehen erregen: konnte, als es feiner Zeit 
wirffich erregt hat. Auch im erſten Theile der Gefchichte der 
Herrn von Waldheim, welche ihrer Zeit ebenfalls Epoche machte, 
iſt noch; einiger Witz von geringem: Caliber, feit der Zeit ſank 
aber Miller völlig zw einem: ermüdenden und langweiligen Viel 
ſchreiber hevab. | 

Bretzner, Iffland, Jünger, — dürfen wir nicht ganz 
mit Stillſchweigen übergehen, weil ſie Stücke verfertigten und 
aufführen ließen, in denen der Ton der Erziehung ihrer Zeit, die 
Art Moral, die Campe und Salzmann lehrten, die weichherzige 
Tugend ohne Kraft und die falſche Gefühlſamkeit der faden Ro— 
mane in Handlung gebracht und bet, der Aufführung vermittelſt 
des Auges und Ohrs den Seelen  eingeprägt ward. Diefe: Vers 
ferfiger der. ſogenannten rührenden Schauſpiele nach Didersts Res 
zept kannten ihr durch Romane gebildetes Publikum; und die 
Mittel, dieſes Publikum im Rührung zu bringen, wie fie die Tak— 
tik der Bühne kannten z fie waren desjenigen Witzes, dev; die ge= 
wöhnlichen Gefellichaften oder andy die der Kaffeehäuſer erheitert, 
vollig. mächtig; fie leiſteten daher wenigſtens Etwas, welches ihre 
Nachahmer und Nachfolger nicht einmal erreichen Fonnten, Ueb— 
rigens bahnte Iffland, deſſen Miündel im: Jahre 1754 und deſ— 
ſen Jäger 1785 ſehr großes Aufſehen erregten, nur dem Meiſter 


Deutſche Literatur: Romanfabriken. 167 


in dieſer Gattung, dem Manne, deſſen Name in ganz Europa 
und außer Europa, im letzten Viertel des achtzehnten Jahrhun— 
derts und in den erſten fünfzehn Jahren des neunzehnten in al— 
ler Theaterfreunde Mund war, dent Herrn von Kotzebue, dem 
Weg. Was man daher auch son dieſem als Menſch und als 
Schriftiteller Halten mag, als Hiftorifche Erſcheinung ift er wich- 
tiger als Hunderte von edlen Männern und wahrhaft großen Get- 
ftern, die nur von wenigen, die fie verftanden haben, im Stillen 
betwundert werden, 

Kotzebues Wirkſamkeit, feine mehrften Schriften und fein 
Einfluß als Dramatifer auf das deutfche Publikum. fallt über die 
Grenze hinaus, ‚die wir. der hier zu behandelnden Periode geſetzt 
haben; wir fünnen ‚daher nur der eriten Anfänge feiner Schrift— 
ftellerei erwähnen, welche noch in diefen Zeitraum: fallen. Er 
begann um 1785 als fentimentaler Romanfchreiber und glängte 
gleich bei feinem erſten Auftreten durch, diefelben Talente und Eigen— 
haften die ihn ſpäterhin troß der fich gegen feine Arbeiten firäu- 
benden Aeſthetik, trotz der ihm ſtets heftig tadelnden Kritik zum 
Lieblingsichrififteller der, Nomanlefer und Theaterfreunde gemacht 
haben. Die Leiden der Ortenbergiſchen Familie, war 
der Roman, mit dem er feine Laufbahn. begann. Schon in. Dies 
ſem zeigt er diejelbe Gabe der Erfindung von Scenen und Ver— 
wickelungen und Rührungen, diejelbe Gefühlſamkeit, diefelbe nicht 
jehr. erbauliche Moral, diefelbe Sorglofigfeit in Beziehung auf 
Sprache und. Gedanfen, welche die in den folgenden dreißig Jah— 
ren von ihm. gefertigten Dramen und Gefchichten aller Art zum: 
Gegenftande der Bewunderung der großen. Mehrheit des Bubli- 
fums und. zum. Gegenftande des. Hohns, Spotts und bittern Ta— 
dels einer geringen Minderzahl machten.  Diefe Minderzahl ward 
freilich; zu ihrer Zeit nicht gehört, fie hat aber doch am. Ende 
Recht behalten. 

Salzmann ſchloß fich auch an die Romanfabrikanten feiner 
Zeit: an, er fehrieb. den: Carl von Carlsberg, oder über 
das menſchliche Elend. Dies platte, Fabrikat verfündigt 
feine, Tendenz) ſchon auf dem. Tittelblatte, Weil noch; fo Vieles 
damals. in Deutſchland mangelhaft war, mas die Zeit: verbeflert 
hat, ſo ſollte man denken, das Buch könnte nüßlich ſein, um die 


168 Deutfche Literatur: Leffing. 


gefelligen Zuſtände jener Zeit kennen zu lernen; aber auch dazu 
taugt e8 nicht. Im den langen ſechs Theilen werben fo viele 
Armfeligfeiten oder zufällige und Iocale unbedeutende Mängel ala 
menfchliches Elend aufgezählt, daß man fich ſchämen müßte, einen 
ernftlichen Gebrauch davon zu machen, 


5. 


Leſſing und Herder. Verftändiges und Poetifhes Chriftenz 
thum. Lavater und Lihtenberg Schwärmerei und Satyre. 


Mir haben in den vorhergehenden Paragraphen die nach 
und nach im Deutfchland erfolgte Befekung der Lehrftühle der 
Aniverfitäten mit freifinnigen und frei denfenden Lehrern der - 
Staatsreligion, die ganzliche Veränderung der Crziehung in den 
Höheren und mittleren Ständen und die Entftehung eines vom 
gelehrten Unterricht vollig gefchtedenen bürgerlichen berichtet; wir 
gehen jebt zu den Streitigkeiten tiber, die dadurch veranlaßt und 
zu den Nattonalmwerken, welche während dieſes Streites gefchrieben 
wurden, Es mußte fehon aus dem Grunde unter den Broteftan- 
ten Deutichlands eine völlige Veränderung der Literatur mit der 
Veränderung der hölzernen Dogmatik des fiebenzehnten Jahrhun— 
derts, die man jetzt wieder einführen will, verbinden fein, weil bie 
Letztere mit einer befferen Erklärung der Poefie und der Gefchichte 
des Orients, wie fie in den Quellen der chriftlichen Religions— 
gefchichte enthalten iſt, verjchwinden mußte, Wir müſſen daher 
des Kampfes dev Urheber der neuen Schrifterffärung und der 
darauf gegründeten Religionslehre hier erwähnen, weil er das 
neue Leben und die Bewegung erzeugte, welche aus vielen Ur— 
fachen der gegenwärtigen Generation fo verhaßt find, daß fie 
Unglauben und Rebellion nicht anders verhindern zu Tonnen 
glaubt, als wenn fie jede geiftige Bewegung, wenn fie feinen 
materiellen Nuten hat, vollig erftickt. 

Man Tann die Verbeſſerer des proteftantifchen Lehrbegriffs 
und der fich auf diefen beziehenden Literatur zur Teichtern Meber- 
ficht der Streitigkeiten darüber in drei Parteien theilen. Die Eine 
wollte alle Religion auf dürre Sittenlehre ohne alle Anregung 
der Phantafte und geiftiger Empfindung zurückbringen ; die Zweite 


Deuiſche Literatur: Leſſing 169 


quälte ſich zu beweiſen, daß das Chriſtenthum reiner Deismus 
und Verſtandsreligion ſei, und drehte an den Worten der Schrift 
gleich den Dogmatikern des Mittelalters, die ihren Scholaſticis— 
mus als Schriftlehre erweifen wollten, Die dritte Partei wollte 
durch eine. kritiſche und philoſophiſche Sichtung dev Glaubens— 
(ehren etwas herausbringen, das fie Urchriſtenthum nannte, fo 
problematifch es auch ift, ob es je eim folches gegeben hat, Den 
letztern Weg hatte Semler betreten, Griesbach, Eichhorn, Pau— 
lus, Planf, Spittler folgten Semlers Spuren, wenngleich in 
ganz verfchtedenen und hie und da fogar entgegengefehten Rich— 
tungen, Für den reinen Deismus Fampfte Eberhardt feit er in 
Halle lehrte, und feine Apologie des Sofrates, worin feine Anficht 
des Chriſtenthums und feiner Lehren ausgefprochen war, befand 
fich in den Händen aller Gebildeten. Trocknes und mitunter 
plattes und langweiliges Moralifiven festen Campe, Salzmann, 
Nikolai und alle damaligen aufs Praktiſche allein bedachten Re— 
formatoren der Erziehung an die Stelle der alten Dogmatik. 
Wie ungenügend diefe dem neuen Gefchlechte fchten, zugleich aber, 
wie wenig die alte Dogmatik, die alte Methode ferner ausreichen 
Eonnte, fieht man am beften daraus, daß auch ſogar der gottloſe 
Bahrdt für feine die, Porfie des N. T. profanivende Proſa und 
für eine Moralpredigt, der fein ganzer Wandel widerſprach, ein 
zahlveiches Publikum fand, Bahrdts fchnell hintereinander in drei 
Auflagen verbreitetes N. I. haben wir-oben erwähnt, was feine 
Moral für den Bürgerftand angeht, fo gilt fie ſelbſt unter denen, 
die den Verfaſſer verabfheuten, für dns beſte Buch, das aus fet- 
ner Fabrik hervorgegangen fet. 

Ein einziger Mann unter den Reformatoren der deutfchen 
Literatur und: neben Göthe ohne allen Streit der Größte unter 
ihnen, wenn er gleich nicht wie Göthe im eigentlichen Sinn für 
das große Publikum fehrieb, Gotthold Ephraim Leffing, der fich 
nach den im vorigen Bande erwähnten Arbeiten auch der reli= 
giöſen Bildung unferes Volks annehmen wollte, trat mit Entſchie— 
denheit akfen drei angeführten Arten von Aufklärerei entgegen. 
Sonderbar genug tft es und charaktertitifch für die Blindheit der 
Seloten aller Zeiten, daß er wegen feiner verftändigen Lehren 
Arger angefeindet wurde als die Fühnften Neuerer wegen ihrer 


170 Deutſche Literatur; Leſſing 


frevelnden Kühnheit. Er fand es eben fo thöricht, daß die Häup—⸗ 
ter der drei angeführten Schulen des Rationalismus, wie man 
jetzt ſagt, dev chriſtlichen Religion eine ganz andere, vom ihnen 
herausgekünſtelte unterſchieben wollten, als daß die ſtumpfen, 
dogmatiſchen Gedächtnißmänner keinen Fortſchritt, kein Licht, keine 
Accommodation der Lehre an ein Bedürfniß der Zeit zulaſſen 
wollten, wie doch ſelbſt die alte Kirche bis auf das tridentiniſche 
Concilium gethan hatte. Er wollte ſich in die Mitte ſtellen und 
hatte das Schickſal, welches diejenigen zu haben pflegen, die ſich 
als Ruheſtifter in Schlägereien miſchen und zwiſchen die Kämpfer 
treten. Wenn man ihm nicht in den Weg getreten wäre, ſo 
hätte er die Theologie, wovon Niemand mehr hören wollte, 
wieder anziehend gemacht, denn er hatte ſchon durch ſeinen Be— 
rengarius von Tours gezeigt, daß er die ſeltene Kunſt beſitze, 
theologiſche Materien ſo zu behandeln, daß Jedermann Antheil 
daran nehme, als wenn es Gegenſtände der allgemeinen Litera— 
tur ſeien. | | 

Leſſing hatte Spinozas und Leibnitz Schriften und auch den 
Aristoteles zu gut ſtudirt, um nicht fir die Scholaftifer und für 
die Gonfequenz des von ihnen gefchaffenen dogmatifchen Syſtems 
große Achtung zu haben, Er fah fehr gut ein, wie gut: man die 
Lehre von der Dreieinigkeit und andere ähnliche philoſophiſch ge— 
brauchen könne, und wie unhaltbar alles das ſei, was die Neuerer 
am die Stelle des: alten eonfequenten Syſtems ſetzen wollten. 
Leffing nahm ſich daher auch anfangs der alten philoſophiſchen 
Dogmatik gegen die deiſtiſche Flachheit geiftveich an, ſpäter machte 
er die blinden Zeloten durch derbe Winfe aufmerkſam, wie leicht 
e3 fet, ihren Uebermuth zu demüthigen. Beides that er zuerſt 
als Dolmetfcher Anderer, wobei er fich das Anfchen gab, als 
wenn er nur die Pflicht: eines Bibliothekars erfülle. Es ſchien, 
als wenn. er nur die ihm anvertrauten Schätze von Handfehriften 
der ganzen Nation mittheilen wolle; aber er benußte eigentlich, 
nur) diefe Gelegenheit, um der Flachheit der fogenannten Deiften 
zu ſteuern und zugleich um bet der Behandlung einen trockne phi— 
Yofophifche Materie zu beleben, und die Kraft und den Adel un— 
ferer Sprache, die er neu Schaffen half, und feine unübertveffliche 
Kunft, fich derfelben zu bedienen, ans Licht zu bringen, | 


Deutfche Literatur: Leſſing 171 


Die Sache der Nechtgläubigen vertheidigte Leſſing, als er 
Leibnitzens, unter den Handfehriften dev Wolfenbüttler Bibliothek 
gefundenen Entwurf einer Vorrede zu einer Schrift zur Verthei— 
digung der Ewigkeit der Hölfenftrafen, auf zwei Seiten druden 
ließ. Er benutzte auch diefe Gelegenheit, um feine Meinung über 
den. Lärm der Neuerer vorzutragen. Den in den Beiträgen 
zum Literatur aus der Wolfenbüttler Bibliothek ab- 
gedruckten wenigen Blättern von Leibnitz fügte nämlich Leſſing 
eine Kurze, alſo nicht im der Tangweiligen Methode dev Popular— 
philofophen geſchriebene Abhandlung bei. In derſelben bewies ex 
einfenchtend, daß die dogmatifche Lehre der Scholaftifer über die 
nothwendigen Folgen dev Sünde confequenter und philofophtfcher 
jet, als die damals allgemein gepriefene Theorie, welche Eherhardt 
in feiner Apologie des Sokrates aufgeftellt hatte, In eben den 
Beiträgen ließ er zu Gunften der feholaftifchen Lehre eine andere 
Schrift abdrucken, welcher ebenfalls ein Auffag von wenigen 
Blättern’ yon Leibnitz zum Text diente, In diefer Schrift: war 
yon der Dreteinigfeit die Nede, und, ohne daß es gleichwohl darin 
ausgefprochen wurde, vichtete ich Leffing dartır gegen eine andere 
Klaffe yon. Nenerern, gegen die Semler, die Jünger der Berliner 
Schule, befonders aber gegen die Damals noch herrſchende Wolfſche 
Schule: Alle diefe Leute und unter ihnen auch der in jener Zeit 
als Muſter philofophifcher Theologen und zierlicher deutſchen 
Schriftiteller geltende Abt: Zerufalem in Braunfchweig wollten 


aus dem alten Glauben eine Vernunftreligion machen, und 


Einiges in dem bewunderungswürdig confequenten und in allen 
ſeinen Theilen innig verbundenen Syſtem aufgeben, um hernach 
alles Uebrige nach Wolffcher Art mathematisch demonftrivem zu 
können. Gegen ein folches Verfahren der Leute, die nad) Wolfs 
- und Baumgartens Manier den getftreichen Leibnig in dicken 
Duartanten für die Schule und ihr Syſtem theologiſch ausmünz⸗ 
ten, waren beide Schriften gerichtet. 

In dieſen beiden ganz kleinen Schriften (auf die Maſſe 
kommt es bei dergleichen nicht an) zeigte Leſſing klar und popu— 
lär, daß Leibnitz viel verſtändiger verfahren ſei, als alle die neuen 
Vernunfttheologen, die ſich gleichwohl chriſtliche Theologen nann- 
ten. Leibnitz habe, möge er nun an alle die Dogmen des Syſtems 


172 Deuiſche Literatur: Leſſing 


geglaubt haben oder nicht, denn darauf komme hiebei gar nichts 
an, weil das eine ihn perſönlich angehende Sache ſei, nur Mög— 
lichkeit und Conſequenz des ganzen alten Syſtems nachzuweiſen 
geſucht; es ſei ihm aber nicht in den Sinn gekommen, ben 
wahren Glauben durch feine Demonſtration in den Seelen ent— 
zünden zu wollen, weil ja der wahre Glaube dem von ihm ver 
theidigten Syſtem zufolge blos eine Wirkung des heiligen Geiftes 
jein könne, dem es auch Leibnitz überlaffen habe, ihn in den 
- Seelen zu erzeugen. Dies drückt er in der ihm eignen wißigen 
Manier in der zweiten Schrift $. XI. mit folgenden Worten aus: 
„Genug, jagt er, Leibnit fuhr. fort, darüber zu denken, wie er 
in feiner Jugend war gelehrt worden. Nämlich, daß es zweierlei 
Gründe für die Wahrheit unferer Religion gebe, menſchliche 
und göttliche, wie e8 die Sompendien ausdrücken; das tft, wie 
er es gegen einen Franzoſen ausdrücte, der unſere theologiſchen 
Sompendien ohne Zweifel nicht viel gelefen hatte, erflärbare 
und unerflärbare, deren erftere, die erflärharen oder bie 
menfchlichen, auf alle Weife unter dev Ueberzeugung bleiben, 
welche Ueberzeugung oder deren Complement einzig und allein 
durch die andern, oder die unerflärbaven, bewirkt wird.“ 

Diefer Unterfchetdung fügt Leſſing eine eben ſo feine als 
bittere Ironie gegen die zu feiner Zeit ungemein zahlreichen ums 
berufenen und feichten theologischen Vernünftler und Erflärer gött— 
Yicher Geheimniffe hinzu: „Diefe feine altwäterifche Meinung, fahrt 
er fort, müffen die Leute Leibnis verzeihen. Denn, wie konnte 
er sorausfehen, daß fie nun bald am längſten wahr geweſen fein 
würde, und dag Männer aufftehen würden, die ohne fich viel bei 
jener Streitfrage aufzuhalten, fogletch Hand and Werk legen und 
alle erklärbaren, aber bisher unzulänglichen Gründe zu einer 
Bündigfeit nnd Stärke erheben würden, wovon er gar feinem 
Begriff Hatte?” Leffing war überhaupt, jo wenig als Göthe und 
Sacobt (dev Letztere freilich aus ganz andern Gründen als bie 
beiden Exften), den damaligen Schöpfern einer fogenannten mora= 
liſchen, d. h. durchaus proſaiſchen Neligion gewogen. Leſſing 
war den platten Moraliſten oder, wie man fie jetzt ſchimpft, 
Rativnaliften, die eine neue, aller Poeſie, aller Symbolik, 
jedes Anthropomorphismus beraubte Volks- und Staatsreligion 


Deuiſche Literatur: Lefling. 173 


(denn davon ift immer nur die Nede, das andere iſt Sache des 
Kämmerleins) machen wollten, viel abgeneigter, als den Zeloten 
für das Alte, die er nur bedauerte. Die Letztern waren ſelbſt 
ſchuld, daß er ſich gegen fie richtete, weil fie ſich herausnahmen, 
mit einem großen und denfenden Mann umzugehen wie mit ihren 
Beichtkindern. Göze, Ziegra und die andern Mitarbeiter an den der 
hamburger Zeitung beigefügten gelehrten Nachrichten, bie 
man, ber Qualität des Papiers und des Inhalts wegen, nur die 
fhwarzen Zeitungen zu nennen pflegte, machten es ihm 
endlich zu arg. Gr ward, wie im unferer Zeit gar mancher 
Freund des Friedens und der Mäßigung durch religiöſe und po= 
litiſche Zeloten genöthigt wird, das alte Syſtem wüthend anzu= 
greifen, durch die Verteidiger der politifchen Religion genöthigt, 
in Verbindung mit feinem Freunde, dem edeln und gelehrten Nei- 
marus, gegen die Iutherifchen Inquifitoren ind Feld zu ziehen. 
Sn unferm Jahrhundert iſt namlich der Verfaſſer der Wol- 
fenbüttler Fragmente allgemein befannt geworden, deffen Name 
im sorigen Geheimniß geblieben war, obgleich aus einem jebt 
gedruckten Briefe Hamanns hervorgeht, daß biefer ihn ſchon im 
Nov, 1778 kannte und an Herder fehrieb, Neimarus ſei Berfaffer 
der fogenannten Wolfenbüttler Fragmente, zu denen er fich freilich 
nie befannt hat. Reimarus mußte fih in Hamburg ein fanati= 
ſches Lutherthum gefallen Taffen, mußte die Gedächtnißreligion, 
den mechantfchen Gottesdienft, die Unduldfamkeit und Herrſchſucht 
der Paſtoren ertragen, fein Unwille über fie machte ihn endlich 
auch fogar gegen das Chriftenthum ungerecht; er fehrteb daher 
ganz im Stillen ein gelehrtes Buch gegen dasſelbe. Als Arzt, 
als Naturforicher, als gelehrter Kenner und Forſcher dev Alten, 
der Uxfprache des. A. u. N. T. mächtig, durch Philoſophie aus— 
gezeichnet, war Reimarus im Stillen furchtbarer Feind der un— 
vernünftigen Zeloten und ihrer hölzernen Dogmatik. Er war 
dabei aber als ein vortrefflicher, chriſtlicher Mann anerkannt und 
wollte nicht in der öffentlichen Meinung zum Bahrdt werden, 
legte alſo ſeine gelehrten Verſuche gegen die Urkunden des Chri— 
ſtenthums blos insgeheim ſchriftlich nieder. Er, der Alles kannte, 
was je für und gegen das Chriſtenthum geſchrieben war, arbeitete 
im Stillen sine Schrift ans, die, gls Leſſing plötzlich Stücke da= 


174 Deutfche Literatur: Leſſing 


son ins Publikum warf, alle Theologen: in Verlegenheit brachte) 
weil fich in der ganzen ungeheuern apologetiſchen Rüſtkammer 
feine Waffen dagegen vorfanden, fo Yange man noch feine nene 
gejchmiedet hatte, In den fogenannten Fragmenten, deren Verfafz 
fer im vorigen Jahrhundert auf diefelbe Weife unbekannt blieb, als 
der Berfafler von Junius Briefen bis auf den heutigen Tag, warb 
gründlich und gelehrt gegen die Wahrheit und gegen die Reinheit 
der Moral des Chriſtenthums geftritten. Der Kampf ward. mit 
Waffen geführt, welche Reimarus aus denfelben Arfenalen holte, 
aus denen Diejenigen entlehnt waren, mit welchen die unzähligen 
Apologeten ſeit Origines für das Chriftenthum gekämpft hatten. 
Ein Abſchnitt diefer Fragmente lag auf der Wolfenbüttler 
Bibliothek, auch waren davon insgeheim Abjchriften, die, wie das 
zu fein pflegt, durch Einfchtebfel häßlich entjtellt wurden, in Um— 
lauf; Leſſing Fam daher auf den Einfall, Stücke derſelben in 
feinen Beiträgen zur Literatur aus der wolfenbüttler Bibliothek 
drucken zu laſſen. Seine Abficht war, die in der ganzen deut⸗ 
ſchen Literatur herrſchende Bewegung und das geiftige Fortſchrei⸗ 
ten der Nation, welches er. fait in allen Zweigen der Wiffenfchaft, 
Kunſt und Poeſie anregte und mächtig fürderte, auch in der Theo— 
logie nen zu wecken. Er jtörte dadurch plötzlich auf ‚eine höchſt 
unangenehme Weiſe den Schlummer der auf ihren apologetifchen 
Lorbeeren janft ruhenden Theologen, die ihm das ungemein übel 
nahmen, obgleich er, als er das erfte Fragment drucken Tieß, bes 
theuerte, er wolle durch die Bekanntmachung deſſelben zwar Wiſ⸗ 
jenfchaft, Streben und Forfchen fürdern, im Uebrigen feier aber 
weit entfernt, mit dem Verfaſſer des Fragments übereinzuſtimmen. 
Die Handfchrift, aus welcher er das Fragment nahm, war nicht 
für das Wolf beftimmt, dem der Inhalt nur ſchädlich fein Fonnte, 
auch ließ Leffing das erſte, worfichtig ausgewählte Fragment im 
den nur einigen wenigen Klaffen von Gelehrten Bekannten Beiträ— 
gen u. ſ. w. abdrucken. Göze und andere armfelige Zelten wa— 
ven diejenigen, welche ben Prozeß darüber vors Volk brachten, 
wodurch fie Freilich Leſſing nöthigten, eine Sache des deutſchen 
Volls und feiner Literatur daraus zu machen und die Zeloten zu 
zermalmen, Es ward alſo, auf ähnliche Weiſe, mie zur Zeit ber 
Reformation aus Luthers Streit mit Eck und Emſer, aus dem 


Deuiſche Literatur: Leffing. 175 


Streit zwiſchen Leſſing ws Göze ein Kampf des Lichts mit der 
Finſterniß. 

Wie ihn einmal die blinden Eifrer heftig angegriffen und 
für eine fremde Arbeit verantwortlich gemacht hatten, vertheidigte 
freilich Leſſing die Sache der Freiheit des Denkens und Forſchens 
bitter und heftig. Leſſing ließ, wie Luther, ſeitdem er den Kampf 
mit den Orthodoxen begonnen hatte, zermalmende fliegende Blät— 
ter ausgehen, die ſo ganz in Luthers Manier und mit der ganzen 
Kraft ſeines Styls und ſeiner Sprache geſchrieben ſind, daß wir 
ihnen nothwendig einen Platz in der Geſchichte des achtzehnten 
Jahrhunderts geben müſſen. Der Streit iſt vergeſſen, Leſſings 
fliegende Blätter aber werben hoffentlich jo lange von unſerer 
Nation geleſen werden, als kräftige deutſche Sprache und deutſcher, 
kräftiger Geiſt unter uns geachtet ſein werden, und wer ſollte nicht 
wünſchen, daß dies ewig ſo ſein möge? Im erſten Fragment (im 
dritten Beitrage 1774) war nur von Duldung die Rede, hernach 
folgten die Fragmente von Verſchreiung der Vernunft auf den 
Kanzeln, von der Unmöglichkeit einer Offenbarung, welche von 
allen Menſchen auf eine genügende Art geglaubt werden. kann, 
In dieſem letzten Fragment geht freilich Leſſings Ungenannter, für 
deſſen Kühnheit man ihn verantwortlich machte, mit den Apoſteln, 
beſonders mit Paulus, ſchon recht übel um; jedermann mußte 
aber doch ſehen, daß gerade hier Leſſing, der ja ſeinen Spinoza 
ſehr werth hielt, nicht mit Reimarus einſtimmig ſein könne. Nach— 
her ward das Fragment gegen den. wunderbaren Durchzug der 

Kinder Iſrael durch das rothe Meer und etwas fpater der Be— 
weis, daß das alte Teftament micht geſchrieben worden jet, um 
eine Religion zu offenbaren, in den Beiträgen gedruckt. | 

Schon wegen Herausgabe dieſer Stücke ward Leffing von 
allen Seiten her angefeindet, und Doch betrafen fie eigentlich nicht 
die chriftliche Religion, Als aber im A, Beitrag (1777) das Frag: 
ment erjchten, welches Diefe geradezu und ohne Schonung angriff, 
gerieth Darüber Alles in Aufruhr. Zwar waren die alten Herrn 
auf Spott und Hohn gefaßt, es erbitterte fie aber, daß fie. auf 
gewaltige gründliche Angriffe doch nicht bloß mit Schimpfen ant⸗ 
. worte durften. Der Angriff, der in dem erwähnten Fragment 
über die Auferfiehungsgefchtihte Chriſti auf: bie evan— 


176 Deutſche Literatur: Leffing. 


geliiche Gefchichte gemacht wurde, war zwar bitter und ungerecht; 
allein dag ärgerte die armen Theologen, die Jahr aus Jahr ein 
in Büchern, auf den Kanzeln und Kathedern daſſelbe Lied abzu- 
feiern gewohnt waren, weniger, als daß ihre Weisheit und: Ge- 
lehrfamfeit gegen Reimarus nicht ausreichte, Dadurch wurden fie 
Ichier in Verzweiflung gebracht. Dies Fragment ift unftveitig das 
Bedeutendfte yon den, was bis dahin je gegen die Gefchichten 
des N. T. vorgebracht warz denn der Verfaſſer ftreitet nicht mit 
den ſtumpfen Waffen der englifchen und franzöſiſchen Deiften, 
nicht mit dem Hohn und Spott der Pariſer Afademiker und En— 
cyklopädiſten, fondern er erjcheint in der vollen Rüſtung eines ge= 
lehrten deutjchen Exegeten und ausgerüftet mit der Bildung gründ- 
licher deutfcher Gelehrſamkeit. Das fühlten die armen Theologen 
Deutfchlands, vom ehrwürdigen, aber unfäglich fchwerfälligen Sem— 
Ver und vom eleganten Abt Jeruſalem an bis zum Zionswächter 
Melchior Göze und feinem Mitftreiter in Gott, dem Subconrector 
Behn in Lübed. 

Die Geichichte des endlofen und heftigen Federkriegs, der 
über dies Fragment geführt ward, gehört in diefe Gejchichte der 
geiftigen Wiedergeburt Deutjchlands zwar nicht, fie bleibt Der 
Kirchengefchichte überlaſſen; wir wollen indeſſen doch hier jo viel 
davon erwähnen als nöthig ift, um den. Anlaß der Schriftchen 
zu bezeichnen, welche Lefling in der Sache ſchrieb. Dieſe Flug- 
ſchriften Leflings bezeichnen ihn als den größten Redner in der 
beiten Gattung Beredfamfeit, in derjenigen, welche ohne Deflama= 
tion und Wortſchwall nur mit fiegender Dialektik und gedrängten 
Gründen ftveitet. Die Streitichriften Leffings gegen den Hambur- 
ger Paftor find unftreitig das Vollendetfte, was unfere Sprache 
in der Art leiſten kann; fie verfeßten der alten Dogmatik den 
Todesſtoß, ohne daß darum Leffing, gleich feinem damals unges 
nannten Freunde, die Rückſichten verlest hätte, die jeder gebildete 
und denfende Mann für die chriftliche Religion und für ihre Ge— 
fehichte Haben wird umd haben muß. In diefer Beziehung erin- 
nern wir daran, daß Leffing ſchon vorher jebem von ihm bekannt 
gemachten Fragment Anmerkungen beigefügt hatte, woraus nicht 
allein hervorging, daß: ex durchaus nicht der Meinung des Unge— 
nannten ſei, fondern worin auch das Beſte von dem enthalten war, 


Deutfche Literatur : Leſſing. 177 


was zur Widerlegung des Fragmentiften vorgebracht werden Eonnte. 
Diefes Alles fruchtete aber nichts, das machte Leſſing endlich ernſt⸗ 
lich böſe. 

Von allen Seiten angegriffen und verſchmäht und von der 
Orthodoxie auch ſogar durch die von ihr aufgehetzte Staatspolizei 
verfolgt, gab Leſſing erſt zuletzt ein Fragment heraus, welches 
Reimarus wohl nur ſchrieb, um die verſtockten Zelpten durch einen 
übertriebenen Scherz zu ärgern und zur Verzweiflung zu bringen 
Leſſing nach feiner Anficht der Staatsreligton ftimmte mit dem— 
jelben im Ganzen gewiß eben jo wenig überein als Paſtor Göze 
in Hamburg. Dies Fragment bildet ein eignes Buch unter dent 
Titel: Bon dem Zweck Jeſu und feiner Jünger, no 
ein Fragment des WolfenbüttlerUngenannten (1778 
276 ©. 8). Diefe Schrift tft im Grunde viel Leichter zu wider— 
legen als das Fragment gegen die Auferftehungsgefchichte, weil 
es Beichuldigungen und Anklagen vorbringt, da hingegen das an— 
dere Fragment nur Thatfachen beſtreitet. Wer anders als ein 
Ungenannter wirde wagen, dem Stifter der reinſten aller: Volks— 
veligionen, dem Prediger der Lehre einer allgemeinen Menfchen- 
liebe, welche: der Sittlichfeit unter allen vorgeblichen Offenbarun— 
gen Gottes am nüßlichjten geworden tft, dem Propheten, der yon 
jeder, weltlichen Leidenfchaft und Begierde rein war, oder auch ſei— 
nen eriten Schülern, die jelbjt arm, nur den Armen predigten, 
offenbare Gaunerei und Betrügerei vorzuwerfen? Man wird in- 
deffen aus dem Folgenden fehen, daß Leffing erft dann die Theo— 
logen durch den Druck diefes Stücks ärgerte, als fie ihn aufs 
ſchändlichſte geſchmäht und verfolgt hatten.’ Die wüthenden und 
blinden Anhänger des Alten wollten von Feiner Philoſophie Huren, 
feinen Rath, annehmen, feinen Sat aufgeben, fie fagten yon ihrer 
hölzernen Dogmatik, was der Jeſuitengeneral son feinem Orden 
fagte (sit, ut est, aut non sit), Sie erfuhren, was früher oder 
fpater alle blinden und tollen Verfechter des Beralteten werden 
erfahren müſſen, und was auch die Zeloten unſerer Zeit erfahren 
werden, daß fich früh oder ſpät eine Himmelftiirntende Partei erhebt, 
und daß fich die Gemäßigten diefer anfchließen, um nicht gensthigt 
zu ſein, fich gleich denn zahlveichen Augendienern und Heuchlern, 
zu allem alten Wufte zu bekennen, ſobald er nen aufgeftugt wird, 

Schloſſer, Geſch. dr 18, m, 19, Jahrh, IV. Th. Ar Aufl, 12 


178 Deuiſche Literalur: Leſſing 


Wuas dben mit großer Erbitterung geführten Streit der ge 
ſammten polemiſchen Theologen Deutſchlands mit Leſſing angeht, 
ſo erwähnen wir Leſſings Schriften gegen die Obſkuranten und 
Zänker nur als Meiſterwerke des Styls und der Sprache. Wir 
haben es nur mit dem Verhältniſſe derſelben zum Geiſte der Zeit, 
zum Zuſtande der Bildung des achten Jahrzehnts und zum Fort⸗ 
Tchreiten aller Beige der Literatur zu thunz wir können Daher 
alfe Schriften, ſowohl großer als Heiner: Theologen übergehen, 
die nicht mit einer der meifterhaften Flugſchriften Leſſings in Ber- 
bindung ſtehen. Unter den Erften, welche gegen Lefling im den 
Kampf zogen, war der, Direftor Schumann in Hannover, Dieſer 
berief fich im feiner Skreitfchrift gegen das letzte Fragment auf 
einen Beweis, der zu Origines. Zeiten recht gut fein mochte, ben 
er Aber einfältiger Weiſe für unſere Zeiten aus Origines ent- 
lehnte. Diefen Beweis neunt Lefling in feiner Abfertigung won 
Schumanns Gewäſch den Beweis des Geiftes und der Kraft, Leſſing 
behandelte in feiner Antwort (Meber den Beweis des Gets 
ſtes und der Kraft 1777) diefen von dem Kirchenvater ent: 
Yehriten Beweis mit Recht ſehr fpottifch. Er fagt nämlich unter 
andern: Wenn man auch zugebe, daß die Nachrichten von er— 
füllten Welffagungen und. gefchehenen Wundern, worauf ſich Ort- 
gines und Schumann mit ihm berufen, fo zuverläffig. ſeien, als 
Hiftorifche Wahrheiten nur: immer fein könnten, jo könnten doch 
zufällige Gefhihtswahrheiten nie ein Beweis not h— 
wendiger Bernunftwahrhetten ſein. Schumann ließ es, 
wie fih von Leuten dieſer Art von felbft verfieht, art einer Er— 
widerung auf Leſſings Schrift nicht fehlen ; dies veranlaßte Leffing 
zur Abfaffung des vortrefflichen Dialogs über Chriftentfum, als 
reine Lehre ewiger Ließe, den er das Teſtament Johannes 
betitelte. In dieſem führt er fich und Schumann redend ein, und 
erzählt, daß der fterbende Sohannes feinen Jüngern erklärt habe, 
es beſtehe die freudige Botfchaft, die Chrifius den Menfchen som 
Himmel gebracht (Evangelium), nur in der Berfündigung des 
Geheimniſſes der Liebe, welche bie Bekenner des Chriftenthums 
unter fih und alſo auch mit Gott innig verbinde. Auf andere 
Weiſe fagt Leffing dies weiter unten, wenn ev. behauptet, ‚die ein- 
zig wahrhaft chriſtliche Predigt jet die, daß es unendlich viel ſchwerer 


Deuiſche Literatur: Leſſing 479 


ei, ein ganzes langes Leben hindurch chriftliche Liebe gegen Freund 
und Feind zu üben, als Dogmatif zu lernen und das Gelernte 
blind zu glauben. Um dramatiſch anſchaulich zu machen, auf 
welche Weiſe Zeloten gegen dieſe Lehre der Liebe Worte und 
Sprüche der, Bibel Für ihr Publikum zu Gunſten ihrer Unduld— 
ſamkeit zu gebrauchen pflegen, läßt Leffing feinen Gegner am: Ende 
mit dem bekannten Spruch antworten: Wer nicht für mid 
tft, der tft wider mich, darauf erwiedert ex dann bitter: . Ja, 
allerdings. Das bringtemich zum Stillſchweigen. 
=, DO! Ste allein find ein wahrer Chriſt. — Und bes 
beſen inder Schrift wieder Teufel | 

Daß Leſſing keineswegs revolutioniren, Sondern! daß er nur 
verbeſſern amd dem entſtellten und mißbrauchten, von allen. Par—⸗ 
teien verkannten, wahrhaftigen Chriſtenthum nicht bloß gegen Heuch⸗ 
ler und Zeloten, ſondern auch gegen überkluge Rationaliſten und 
frevelnde Spötter wieder gu feinem damals ziemlich verlornen Anz 
ſehn bei denfenden Menſchen helfen wollte, bewies er mitten im 
diefent Streite mit den Theologen. Er fehrteb nämlich. jest: In 
Beziehung auf die Gefhichten des N. T. den zweiten Theil ſeiner 
Schrift son der Erziehung des Menſchengeſchlechts. 
Beide Theile zuſammen enthalten die proteftantifche Anficht der 
Wirkung und Erſcheinung Gottes in den Begebenheiten der Welt- 
geſchichte, wie Bofjuets Predigt (discours) über Univerfalgefchichte 
die papiſtiſche. Er hatte in dem erſten Theile bewieſen, daß das 
A T. nicht die letzten Offenbarungen Gottes enthalte, ſondern 
nur eine Vorſchule ſei, womit die Erziehung des Menſchengeſchlechts 
begonnen habe. Es enthalte alſo nach feiner Meinung das N, 
T. die den Herfchtedenen Zuftänden der Menfchheit bis auf Chri— 
ftum angepaßten Lehren und Gefchichten. : Dies: wird im zweiten 
Theile feiner Erziehung des Menfchengefchlechts auf die Beiten 
nach Chrifto angewendet, Er führt im zweiten Theile ſeiner 
Schrift durch, auf welche Weiſe Gott, als der Glanz ſeiner 
den Juden bildlich verkündeten Lehre durch die eitle Weisheit 
der jüdiſchen Dogmatiker und Ceremonialiſten beinahe erſtickt 
und menſchliſch geworden war, durch Chriſtum dieſe feine gött— 
liche Lehre in —* alten ** wiederum unter den — —— 
leuchten ließ. Esel sid And oma t 
12* 


180 Deutſche Literatur: Leffing. 


Wir wollen, um die Art, mie Leffing die Bibel hetrachtet 
näher zu bezeichnen, eine Stelle des zweiten Theils der Schrift 
über die Erziehung des Menfchengejchlechts hier einrücken: „Jedes 
Elementarbuch, fagt er, tft nur für ein gewiſſes Alter. Das ihm 
entwachfene Kind Tänger, als die Meinung geweſen, dabei ver— 
weilen zu laſſen, tft ſchädlich. — — Das gibt dem Kinde einen 
Heinlichen, ſchiefen, ſpitzfindigen Verſtand: das macht e8 abergläu= 
biſch, geheimnißreich, voll Verachtung gegen alles Fapliche und 
Leichte. Die namliche Weife, wie die Rabbinen ihre Bücher be= 
Handelten! Der nämliche Charakter, den fie dem Geifte ihres 
Volks - dadurch ertheilten! Ein befferer Pädagog muß fommen 
und dem Kinde das erſchöpfte Glementarbuch aus den Händen 
reißen. — — Chriſtus Fam.” Diefer Tert wird hernach von 
Leſſing im feiner meifterhaften Weiſe in einer Sprache durchge— 
führt, die ein Deutfcher nicht oft genug leſen (manu diurna 
'nocturnäque versare) kann, wenn er lernen will, was feine Mut⸗ 
terfprache vermag; aber dafür Hatten die Zeloten Feinen Sinn; 
fie tohten fort. Das tolle Treiben der mit dem Gedächtnig und 
dem Munde und der: Feder frommen Katechismusgelehrten merkte 
den Unwillen Leſſings über ihren AUnverftand und über das Miß— 
verſtehen feiner Erklärungen und rief jene furchtbaren Flugſchrif⸗ 
ten hervor, welche dann freilich gleich Bliten das alte von feinen 
Wächtern durch Schimpfen, Schelten, Verfluchen ſchlecht bewahrte 
Zion vollends in Flammen jehten. 

Die. erſte Invective erging gegen den Wolfenbüttler Super- 
intendenten Reß, den Leſſing fputtifch feinen Nachbar nennt, und 
deffen gegen den Angriff des Ungenannten auf die Auferftehungs- 
gefchichte gerichtete Wertheidigungsichrift er fchon auf dem Titel- 
blatte feiner Gegenfchrift verächtlich abfertigt. Statt namlich diefe 
feine Gegenfchrift eine Replik zu nennen, betitelt er fie Duplik, 
als wenn er und die Apoftel der angegriffene Theil wären, Die 
Heftigfeit diefer Schrift gegen einen alten einfältigen Mann würde 
den ruhigen Leſer befremden und vielleicht beleidigen müffen, wenn 
nicht eine Stelle der Schrift, welche wir ausheben wollen, dent 
lich zeigte, daß Leſſing fühlte, mas taufende von Deutfchen ges’ 
fühlt Haben, aber Keiner fo lebendig als Leffing. Er empfand 
namlich fchmerzlich, daß die deutſche Verfaſſung jede. freie Aenf= 


Deütfche Literalur:  Leffing. 181 


ferung der Meinung in allen bürgerlichen Angelegenheiten un— 
möglich mache; er glaubte daher, daß jeder Deutfche defto hefti— 
ger bie Freiheit bed Denkens und Schreibens im religisfen und 
wiſſenſchaftlichen Dingen behaupten und den Gegner derſelben als 
den Feind der Menjchheit befehden müſſe. Außerdem aber fühlte 
Leffing, was jeder denfende Mann mit ihm fühlt, daß des Men— 
ſchen Wefen nicht, wie der alte Superintendent meinte, im Wif- 
fen oder im Glauben des Erlernten, fondern im Streben und 
Ringen nach Erkenntniß, folglich nicht im Haben und Fefthalten 
dev Weisheit, fondern im Suchen derfelben und im Forfchen be— 
ftehe. Dies ſpricht Leffing in diefer Schrift ganz vortrefflich aus, 
wenn er fagt: Wenn Gott in feiner Rechten alle Wahrheit, in 
feiner Linken den immer vegen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit 
dem Zufaße, mich immer und ewig zu irren, verfchloffen hielte 
und fpräche zu mir, wähle! Sch fiele mit Demuth in feine Linfe 
und ſpräche: Vater gib! Die reine Wahrheit iſt ja nur für 
dich allein! — Der Hauptfampf war indeffen mit Göze in Ham— 
burg, und die gegen biefen gefchriebenen Flugſchriften verdienen 
den erſten Platz unter den Meifterwerfen diefer Gattung, Zu 
diefen rechnen wir Luthers heftige Streitichriften (nur find diefe 
zu ſehr voll eigentlicher Grobheit, Gemeinheit und hie und da 
pöbelhaften Schmutzes); zu dieſen zählen wir Demofthenes Reden 
gegen Philippus, und Giceros Reden gegen Gatilina, befonders 
aber, weil fie näher mit Leſſings Manter verwandt find, Junius 
Briefe und Rouffeaus Brief an den Erzbifchof von Paris, Chri— 
ftophe von Beaumont. 

Durch Leffings unfterbliche Schriftchen gegen ihn Hat auch 
Göze unverdientermweije die Unfterblichfeit erlangt, Er hatte näm— 
Vich in den berüchtigten fchwarzen Zeitungen oder Hamburger: frei- 
willigen Beiträgen zu den Nachrichten aus dem Reiche der Gelehr- 
famfeit (Nr. 55. bis 63 des Jahrg 1775) nicht ſowohl den Frag- 
mentiften angegriffen, als Leſſing wegen der Art, wie er diefen 
zu widerlegen fuchte, furchtbar und gleich einem Großinquiſitor 
geſchmäht. Welchen Ton er dabet annahm, wird man aus feinen 
eigenen Worten lernen. „Gr habe, jagt er, Leſſings beigefügte, 
dem Fragmentiſten entgegengefebte Antithefen mit viel ‚größerer 
Betrübniß gelefen, als die Fragmente des gegen unfere allerheiligite 


182 Deuiſche Literatur: Leſſing. 


Religion ſo feindlich gefinnten, ſo grob, To frech läſternden Ver— 
faſſers.“ Nicht zufrieden, dieſe Angriffe durch die Zeitungen, in 
allen Schenfen und Dörfern gu verbreiten, ſammelte Göze dieje 
Stücke und Tief fie als lutheriſcher Pabſt oder Bifchof, gleich einem 
förmlichen Hirtenbriefe ‚bei allen, damals noch fehr zahlreichen 
Steif- und Starrgläubigen, d. h. bei dem ihm gleichgefinnten Pu— 
blikum, als Rundfchreiben verbreiten unter dem Lächerlichen Titel: 
Etwas VBorläufiges gegen des Herrn Hofrath Lei: 
fingimittelbare und unmittelbare Angriffe aufun 
jerenallerheiligfte Religion und auf den einigen 
Rehrgrundderfelben die Heilige Schrift vom Johann 
Melchior Göze 1778. Den hingeworfenen Fehdehandſchuh 
mußte denn freilich Leifing: nothiwendig aufheben. Er that dies in 
einen Parabel und. in einem Abſagebrief, welche beide eben ſo 
ſchneidend als kurz find, 

Leſſings antigöziſche Parabel iſt lebendig, witzig, treffend, 
aber ruhig und gemäßigt. Der Abſagebrief iſt wie im Sturme 
mit furchtbarer Heftigkeit, mit fortreißendem Strome der Rede 
geſchrieben, doch ohne daß ein Schimpf= oder Schmähwort ges 
braucht wird. Wie furchtbar Leſſing den Großinquiſitor mit der 
Rede ſchüttelt, wird man aus einer einzigen unten angeführten 
Stelle hinreichend erkennen.) Nach dieſem erſten Schriftwechſel 
hofften Freilich Leffings Freunde, daß dieſer ſchweigen werde z das 
konnte er aber nicht, weil nicht bloß Göze, ſondern auch deſſen 
elende Schildknappen, wie der Subrektor Behn in Lübeck, an 
einem Leſſing zu Rittern werden wollten. Die Velksreligien litt 
bei dieſem Streit um ſo mehr, als Leſſing den Verfechtern der— 
ſelben ſtets überlegen blieb und die Lachenden immer auf ſeiner 
Seite * 


— — — 


39) Nicht daß ich jede hämiſche Anſpielung, jeden, wenn Goit will gif⸗ 
tigen Biß, jeden komiſchen Ausbruch Ihres tragiſchen Mitleids, jeden knirſchen⸗ 
Den Seufzer, der es beſeufzt, nur ein Seufzer zu ſein; jede pflichtſchuldige 
Paſtoralverhetzung der weltlichen Obrigkeit, womit Sie gegen mich von nun 
an Ihre Beiträge ſpicken und würzen werben, aufmutzen, oder, wenn ich auch 
tönnte, verwehren wollte. So unbilfig bin ich nicht, daß ich son einem Vo⸗ 
geh in der Welt eine einzige andere Feder verlangen follte, als er bat, Au 
Haben dieſerlei Pharmaka Ihren Krebit Tängft verloren 





Deuiſche Literatur: Leſſing. 183 


Bon Göze immer aufs neue gereizt, ſchrieb Leſſing eilf Mal 
hintereinander einen kurzen Hirtenbrief des geſunden Verſtandes, 
der Philoſophie und des guten Geſchmacks gegen die Hirtenbriefe 
des einfältigen Zionswächters, der ſeinen und ſeiner blinden Ge— 
meinde Köhlerglauben einem denkenden Manne zumuthete. Jedes 
dieſer auf wenigen Blättern gedruckten Manifeſte Leſſings hatte 
den Titel Antigöze, nur ward eins von dem andern durch eine 
Nummer unterſchieden, jedes aber vernichtete durch Heftigkeit der 
Rede und Gewalt der Gründe den an die ſymboliſchen Bücher 
eines Oſiander und Conſorten mehr als am Evangelium kleben— 
den Paſtor und ſein fanatiſches Geſchrei über den Unglauben des 
großen Gründers der neuen deutſchen Literatur, des Schöpfers der 
neuen Sprache. In dieſen Manifeſten ward der Katechismus— 
glaube und die Lehre der donnernden, an Redeusarten voll Sal- 
bung veishen, an Gründen für einen philofophiichen Kopf armen 
Zeloten ganz anders erſchüttert, als durch den höhnenden Spott 
der in der That Ungläubigen und Undeutſchen hätte geſchehen 
fonnen. Der Inhalt dieſer Manifeite ward hernach freilich von 
‚einer nach bürgerlicher und. veligisfer Freiheit ſtrebenden Genera- 
tion, welche, wußte, was es heißen wolle, unter der Gewalt der 
Pfaſſen zu ftehen (was unfere Zeit nicht zu wiſſen fcheint), ganz 
anders verftanden, als Leffing wollte, der das Chriftenthum ſchon 
als Philoſoph zu achten verftand. Wie groß Leffing als Redner 
war, wie meifterhaft er Sprache und Styl zu gebrauchen verſtand, 
und wie dieſe in. diefem Streite, wie einft in Huttens und Luthers 
Streit mit den Papiſten, unendlich viel gewannen, ſcheint ung 
vorzüglich aus der in der Note beigefügten Stelle aus dem Ar 
fange des Hallen Antigöze hervorzugehen,20) 


—— — — — — — 


40) O glückliche Seiten, da die Geiſtlichkeit noch Alles in Allem war 
— für ung dachte und für uns aß! Wie gern brächte euch der Herr Haupt: 
paftor im Triumph wieder zurück! Wie gern möchte er, daß ſich Deutſchlands 
Negenten zu diefer Heilfamen Abficht mit ihm vereinigten! Er predigt ihnen 
ſüß und ſauer und ftellt ihnen Himmel und Hölle vor! Nun, wenn fie nicht 
hören wollen, — fo mögen fie fühlen. Wis und Landesſprache find bie 
Miftbeete, in welchen ber Same der Rebellion fo gern und fo gefhwind wu- 
chert. Heute ein Dichter, morgen ein Königsmörder. Clement, Ravaillac 
find nicht in den Beichtſtühlen, ſind anf. dem Parnafie gebildet: Doch auf 


4184 Deutfihe Literatur: Leffing. 


> Die Zahl der Schriften im der Sache des Fragmentiſten ver- 
mehrte ſich indeſſen, wie das in Deutfchland zu fein pflegt, bis 
ind Unglaubliche, fo daß man mit den Titeln ganze Seiten füllen 
könnte; die Sache des veralteten, unter uns jebt wieder aufge 
frifchten Glaubens verlor aber dabei durch ihre Verfechter mehr 
als durch den Fragmentiften, denn die mehrften der Schriften 
waren jchlecht und alle langweilig. Leſſings Anficht der Religion 
war. im Nathan, dem Meiſterſtücke feiner dramatifchen Poeſie, der 
alten und unduldfanten Lehre yon Einheit eines Wort- oder Sym= 
bolglaubens jo reizend gegenüber geftellt, daß fie bald dieſe fin- 
ftere und der Givilifatton des achtzehnten Jahrhunderts durchaus 
nicht angemefjene Lehre des fiebenzehnten gänzlich aus dem beut- 
ſchen Leben verdrängte. Was übrigens Leffings eigne Anficht der 
Religion angeht, fo muß man in Beziehung auf den Gang der 
Borfehung in der deutichen Bildungsgefchichte zur Zeit der erften 
Blüthe unferer Literatur ja nicht. überfehen, wie wunderbar e8 fich 
‚fügte, daß gleich von Anfang an neben Lefiings DVerftändigfeit 
und ihr gegenüber, ftets unmerflich mit ihr Fampfend, Herder's 
Veberfchwänglichkeit daftand und Leſſing Schritt für Schritt folgte, 
| Leſſing ward ausjchließend vom Berftande beherrſcht; er ge— 
fteht Daher auch ſelbſt ein, daß der hohe Geift jchöpferifcher Dicht- 
fraft zu großen Dichterarbeiten, zur hoher Tragödie, zum Epos 
‚oder der höheren Iyrifchen Poeſie ihm von der Natur nicht gege— 
‚den ſei. Wir feben aber hinzu, er hatte dagegen die eben fo 
jeltene Gabe erhalten, mit Beftimmtheit angeben zu fünnen, wo 
der Hohe dichterifche Geift fet und mo er nicht fei, und warım 
er nicht da ſei, wo ihn die Menge zu finden glaubt. Zu glei= 
cher Zeit Fannte Leifing felbft, Innerhalb welcher Schranken fein 
Geiſt ſchöpferiſch ſei und ſchuf innerhalb diefer Meiſterwerke. 
Derſelbe Fall war mit der jüdiſchen und chriſtlichen Religion, 
welche freilich Herder ganz anders faßte als Leſſing; doch er— 





dieſem Gemeinorte des Herrn Hauptpaftor laſſe ich mich wohl ein ander Mal 
wieder treffen. Jetzt will ich nur, wenn es noch nicht Far genug iſt, voll 
:ends Kar mahen, daß Herr Paſtor Göze fhlechterdings nicht geftattet, was 
Ser zu geftatten fheint, und daß das eben die Klauen find, die der Tiger 
nur in das hölzerne Gitier fchlagen zu können fi ſo Argert: 


Deuiſche Lileratur: Leſſing. 185 


kannte auch dieſer ihren Werth als Weg zum Wiſſen, als 
poſitives Geſetz einer gewiſſen Art des innern Lebens in 
ſeinem Kampfe mit dem äußern. Schon im zweiten Theile der 
Erziehung des Menſchengeſchlechts hatte er gelehrt, wie man die 
geoffenbarten Wahrheiten des chriſtlichen Glaubens, die der Ver— 
nunft ſchwer eingehen, als da ſind, Dreieinigkeit, Erbſünde, Gna— 
denwahl und andere, als bildliche Formen anſehen könne, ver— 
möge deren man gewiſſe tiefe und gründliche Speculationen über 
die Natur des Menſchen und der Gottheit populär und erreichbar 
‚machen könne. Im Nathan geht er noch einen Schritt weiter. 
— Leſſing's Nathan behauptet noch immer neben Göthe's 
und Schillers Meifterwerfen in unferer dramatifchen Literatur 
den nächften Platz er tft das vorzüglichſte Dichterwerf Leſſings, 
hat auch auf die ganze Natton den entjchtedenften Einfluß gehabt; 
wir dürfen ihn daher im dieſer Gefchichte des deutfchen Lebens 
und der deutfchen Bildung nicht wie andere dichterifche Produkte 
‚ganz übergehen. Nachdem einmal in diefem überall mit lautem 
Jubel begrüßten Meifteriverfe der deutfchen Bühne eine Anficht 
des Berhältniffes der Religion zur wahrhaft edeln Bildung und 
zum bürgerlichen Leben nicht blos ſchulmäßig gelehrt, ſondern Durch 
den Zauber der Dichtkunſt und Sprache den Seelen ganz eigent- 
lich eingeprägt war, mußte aus allen deutfchen Provinzen, außer 
etwa Köln, Trier, Münfterland, Paderborn und Batern, mohin 
nie ein Strahl der neuen Literatur drang, die alte unduldfame 
Lehre weichen. Die Wirkung der neuen Literatur, die von Lef- 
fing ausging und deven Geift fih im Nathan ausfpricht, mar jo 
ftark, daß ſelbſt König Friedrich Wilhelm IL, Wöllner und Con— 
forten durch Gewalt und Geſetz die Stimmung der, Zeit nicht än— 
dern oder blinden Glauben zurückführen konnten, weshalb Ih— 
resgleichen im unfern Tagen die Sache Elüger angefangen haben. 
Es gelang exit, als man Leffing und fein Werk durch eine erfün- 
ftelte Literatur verdrängt und in den zahlreichen von Geiftlichen re— 
gierten Duodezitaaten, in den Reichsftädten, in Schwabenland bie 
Quellen der Wahrheit und des Lichts verftopft, die Schleußen 
eines Stroms der Sophifteret und Phantafterei genffnet, freie Leh- 
ver geſchreckt, eitle Be und Enge mit Geld und Orden 
gewonnen hatte, 


486 Deutſche Literatur: Serben, 


Nathan ward ausdrücklich abgekürzt und für die Bühne ein— 
gerichtet, um das neue Leben auch durch die Augen in die Seele 
zu bringen, jo daß durch Versbau, Styl, Sprache und Darftel- 
lung auf der Bühne das Gehäffige eines Lebens, wo Einer den 
Andern nach feinem Glauben, nicht nach feinem Wandel richtet, 
wo Pfaffen umd Heuchler den freien Mann drücken, recht ein- 
dringlich. gemacht ward, Es wird im Nathan durch die Hand- 
Jung ſelbſt die alte mechanifche Religionsübung im Contraſt mit 
Kiebe, wahrer und Achter Neligiofität des Herzens in den Erſchei— 
nungen des gewöhnlichen Lebens vor Augen und Sinne gebracht. 
Es bedurfte daher freilich, weil auch Leffing mit den Rezenſenten 
dev theologifchen Schriften in der AU. D. B. und mit den Er- 
ziehern und Moraliften übereinzuftimmen ſchien, eines Mannes 
wie Herder, um die Poefie der Religion zu erhalten und zwifchen 
Lavaters Schwärmerei und Leſſings Philofophie zu vermitteln, Wir 
haben aus dieſer Urfache fchon im zweiten Bande diefes Werks 
Leſſing und Herder unmittelbar neben einander geftellt und zu— 
gleich Einen dem Andern entgegengefebt. Wir haben jchon nach- 
gewiefen, welche Richtung Herder, der mit Hamann innig zufamz 
menhing, genommen hatte, um feine poetiſchen Gedanken geltend 
zu machen. Schon ehe er feine Reife nach Franfreich machte, 
und mit Göthe befannt ward, war er ald Dichter, als Meifter 
der hebrätichen Sprache und Literatur, als Aefthetifer und Kriti- 
fer unter den Gründern einer neuen deutfchen Sprache und Lite 
ratur, durch eine eigenthümliche und geniale, von der Leſſing'ſchen 
in jeder Beziehung ganz verfchiedenen Profa, Haupt einer neuen 
theologischen und Afthetifchen Schule geworden. Als er mit Göthe 
bekannt ward, fehienen die beiden ganz verjchiedenen Naturen au— 
fangs vereinigt gegen die norddentiche Schule und gegen Leifing 
eine ftille Oppofitton machen zu wollen, und Herder fehrieb, mit 
Göthe verbunden, die fliegenden Blätter für deutſche Art 
und Kunſt. Seine Anftellung in Bückeburg gab ihm aber wie— 
der eine andere Richtung. 

Wir würden gern Herder nur (ehr kurz berühren, weil un- 
ſere Anficht feines Styls und feiner Philofophie und Theologie 
den mehrften Leſern mißfallen wird, feine Wirkfamfeit war aber 
au bedeutend, als daß mir ung nicht darüber ausfprechen müßten. 


Deutſche Literatur: Herder. 187 


Herder wandte ſich in Bückeburg als Geiſtlicher, und weil er ſei— 
nen Blick auf Göttingen richtete, zur Theologie. Aber zu acader 
mifchen gelehrten Studien war doch eigentlich fein poetifcher, jede 
Kenntniß ſchnell aber auch flüchtig auffaflender mehr dichteriicher 
als philofophtfcher Geift nicht geeignet. Im ftrengen Sinn hir 
ftorifche oder wiſſenſchaftliche Studien eines eigentlich gelehrten 
Theologen konnte Herder fehon darum nicht machen, weil er jelbit 
zuwider Zeit, als er an eine theologifche Lehrftelle dachte, in ganz 
verfchtedenen Fächern mit der ihm eigenen Entfchiedenheit aus 
flüchtig gefammelten Kenntniffen gebieterifch über Zuſammenhang 
und Weſen aller möglichen Dinge entſchied. Seine Verehrer was 
ven daher auch hernach Vergötterer Johann Paul Richters. In 
Rückſicht auf die Volksreliglon, von welcher Seite wir ihn in 
Beziehung zu Leffing zunächſt betrachten, war er zwar über die 
Neuerer feiner Zeit unwilligz allein er ſelbſt gab doch auch ſei— 
ner Seits auf eine ihm eigenthümliche Weiſe der alten Lehre eine 
ganz neue Geſtalt. 

Die Orthodoxen des alten Syſtems waren mit Herder im 
Anfange faſt eben ſo unzufrieden, als mit Leſſing; dies zeigte ſich 
beſonders, als ihn Heyne nach Göttingen bringen wollte. Man 
ſtieß ſich nicht bloß daran, daß ihm die eigentliche theologiſche 
Gelehrſamkeit mangle, ſondern man hielt ihn auch für der Ketzerei 
verdächtig. Nach Weimar berief ihn hernach zwar der Hof; aber 
da die Stadt wegen der Stelle, die er als Prediger erhielt, dem 


Herkommen gemäß zu ſeiner Berufung ihre Stimme geben mußte, 


äußerte ſie ebenfalls Bedenklichkeiten über ſeine Rechtgläubigkeit. 
Sonderbar genug ſtritt Herder zu derſelben Zeit auf eine nicht 
ganz anftandige Weile mit dem beffern Theil der Berliner Ra— 
tionaliften, bejonders mit Spalding. Er fühlte hernach ſelbſt, 
daß er gegen Spalding gefündigt habe und nahm feine heftigen 
Ausfälle öffentlich zurück. Herders Heftigfett -verleitete ihn oft, ge— 
gen Alle, welche auf der Erde bleiben und nicht, wie er, ſtets in 
den Lüften ſchweben wollten, in feiner poetifchen Weberfpannung 
jede Rückſicht zu vergeſſen. Nichts ließ fich aber weniger verei— 
nigen, als Michaelis profane Deutung der: heiligen Bücher des 
A. T. und Herders srientalifcher Schwung und feine Begeifterung 
für. die älteſte hebräiſche Poeſie. Ebenſowenig konnte Schlögers 


188 Deuiſche Literatur: Herbert, 


kalte und trockne, gewiſſermaßen ruſſiſche Art von Hiſtorie mit 
Herders Manier vereinigt werden, nach welcher im Fluge der 
Phantaſie poetiſch verbunden wird, was hiſtoriſch himmelweit aus: 
einander liegt. Mit dieſen beiden Männern ging er daher auch 
übel um. Gegen Michaelis war er in der älteſten Urkunde 
des Menſchengeſchlechts höchſt ungerecht. Dies war ihm 
um ſo mehr zu verargen, da er und Michaelis auf einem ganz 
verſchiedenen Felde waren, alſo ganz gut jeder von ihnen ſeinen 
eignen Weg gehen und ſie beide in ihrer Art ausgezeichnet ſein 
und bleiben konnten. Schlözer pflegte mit ſeinen Gegnern ſehr 
unſanft umzugehen, Herders Angriffe in den Frankfurter gelehrten 
Anzeigen ſetzten ihn gleichwohl in eine ſolche Wuth, daß er her— 
nach nur noch ſteifer auf ſeinem Sinne blieb und die Proſa des 
Lebens noch eifriger predigte. Herders poetiſches Gemüth verfolgte 
mit Recht die Göttinger Proſa, die nur Handgreifliches kennen 
und nur das unmittelbar Brauchbare dulden wollte, ihm war da— 
her Meinerd, was er auch ung zu fein fehten, ein gelehrt: gebil- 
deter: Bauer des Landes Hadeln. Es ging ihm mit den Göttin— 
ger Herrn gerade wie mit den Orthodoxen, die Lebtern wollten 
nur von der Profa ihrer Katechismen, die Grften nur von der 
Proſa hören, die ihren eigenen Anfichten des Lebens entiprach, 
pder welche Meiners in feinen Gompilationen vortrug. Herder 
wollte überall nur Poeſie, nur Schöpfungen feiner eignen 
Phantaſie, er befehdete daher ebenfowohl die Berliner Schule 
als Leſſing und die güttinger Jünglinge, ſowohl die vor— 
nehme hannöveriſche als die rechtgläubige Proſa. Das be— 
weiſet auch ſeine älteſte Urkunde des Menſchenge— 
ſchlechts. | 

GHerders Gefühl empörte fich mit Recht gegen die Manier 
des grundgelehrten. Michaelis, Er glaubte, dieſer erſticke Durch 
feine mit gemeinen Witen und Anekdoten, mit Staatswiſſenſchaft 
und Staatswirthfchaft, mit Notizen über alle mögliche Dinge des 
äußern Lebens untermifchte Deutung des A. T. auch noch den 
Testen Funken von Poeſie und Sugendfener, der in den Seelen 
Göttinger Theologen übrig fein möchte. Er ſetzte daher die ältefte 
Urkunde ſowohl der Lehre der alten Orthodoren als der neuen 
des Göttinger Orakels entgegen und machte aus den erſten Ka— 


Deuiſche Literatur: Herder, 189 


piteln des erſten Buchs Moſis eine uralte poetiſch philoſophiſche 
Urkunde oder Allegorie. Seine reiche Phantaſie gab ihm auf dieſe 
Weiſe zu einer Zeit, wo jedermann die Bibel moderniſirte, um den 
Volksglauben zu reformiren, ein Mittel, den Volksglauben zu ver— 
theidigen und aufrecht zu halten, ohne zu heucheln oder zu ſophiſtiſi— 
ven, Er warnte Heuchler, politifcher Theolog oder Schwärmer 
im Dienfte Herrfchender Meinungen, er ward wirklich von feiner 
Phantaſie beherrfcht und rip daher Andere unwiderſtehlich fort, 
Gr fand daher auch für feine Religionspoeſie, die er zur Reli— 
sionsphilofophte erhob, einen fehr großen Anhang unter denen, 
welche den Fragmentiften für frivol, Bahrdt für einen Mann ohne 
Geſchmack, die Rationaliſten für unbedachtfam und oberflächlich, 
die Vertheidiger des alten Glaubens für matt und den Forderun— 
gen der Zeit und ihrem Bedürfniß entgegenftrebend hielten, Die 
ältefte Urkunde des Menfchengefchlechts erſchien zu einer Zeit, als 
Herder ſchon im Verbindung mit Göthe und deffen Freunden an 
den Frankfurter gelehrten ‚Anzeigen gearbeitet und mit ihm bie 
Blätter für deutfche Art und Kunſt herausgegeben hatte, In dieſe 
Zeit fiel auch feine nähere Verbindung mit vielen Schwärmern 
und Myſtikern. Er ſelbſt blieb in feiner Auffaffung des Lebens 
ganz Far, er wollte nur dem. Bolksglauben durch eine eigne Art 
Poefie eine neue Stütze geben, Seine myftifchen Verbindungen 
beſchränken fich darauf, daß er damals feine lange unterbrochene 
Korrejpondenz mit Hamann aufs neue begann; daß er durch bie= 
ſen mit dem durch St. Martins Buch vollig zum Schwärmer 
‚gewordenen Claudius in nähere Verbindung gebracht ward; daß 
er mit Lavater korreſpondirte; wie er fich vorher mit Göthe der 
wunderlichen Produkte Jung Stillings angenommen hatte, bloß 
weil er, wie ale die andern begeifterten Gründer unjerer Literatur, 
- jede Originalität zu begünftigen juchte, Es waren jedoch weder 
die Orthodoxen, noch der verftändige Gothe mit der poetiſchen 
Urkunde zufrieden. | 
Wie ſich die altgläubige Proſa und die politiſche Religion, 

bie man in Hannover und in London fir Chriſtenthum hielt, aus— 
gab und andern aufzwingen wollte, zu Herders Manier verhielt, 
ſieht man. aus einem Briefe, den Heyne ſchrieb, als er. Herdern 
gern nach Goͤttingen ziehen wollte, und bie hannoverſchen Bern 


190 Deutsche Literatur: Herder,” 


deßhalb erit in London anfragen mußten. Herder hatte damals 
erſt die altefte Urfunde u. fi w., dann auch die Erläute- 
rungen zum NR. aus einer neu eröffnetenmorgen- 
ländiſchen Quelle und nad diefen die Briefe zweier 
Brüder Jeſu drucken laſſen, um fich als Theolog zu beweiſen; 
an diefen Büchern nahm man Anftoß. Es tft der Mühe werth, 
und für die Charafteriftif jener Zeit der Gährung wichtig, von 
Heyne zu vernehmen, daß ein Mann wie Herder, der ſtets gegen 
die Lehre, die man. jetzt Nationalismus nennt, ſehr heftig eiferte, 
gleichwohl den Gonfiftorialen jener Zeit Hatte Anftoß geben kön— 
nen. Dieſen waren nämlich die ſymboliſchen Bücher ‚gerade daſ— 
jelbe für die Religion, was ihnen Juſtinians Geſetzbuch für ihre 
täglichen Gejchäfte fein mußte. Heyne bedauert nämlich Freilich 
in feinem Briefe an Herder ausdrücklich die Beſchränktheit feiner 
hochgebietenden Herren in Hannover und in London, welche in 
Religionsfachen durchaus nicht weiter fehen wollten, als ihr eigen 
finniger und befchränfter König, er thut Dies aber, wie dies im 
feiner Art lag, mit einem bedenklichen Achfelzuefen in Rüchſicht 
der Stelle in Göttingen. 

Heyne bemerkt, wie es in Hannover und in London übel 
aufgenommen worden, daß Herder in den erwähnten Büchern‘ fich 
gegen zwei Artifel der ſymboliſchen Bücher verfündigt Habe Er 
habe durch die Verwandlung der erften Kapitel des erften Buchs 
Mofis in eine Allegorie den Artikel von der Schöpfung 
verleit, und habe gegen den Artikel von der Schrift dadurch 
gefündigt, daß er in dem Judas, welcher den Brief, der fich int 
N. T. finde, verfaßt habe, nicht den Apoftel erkennen wolle. Was 
Göthe angeht, fo ftieß er fich an dem Poetifiven der Gejchichte 
des A. T. aus andern und beſſern Gründen und fpottete faſt eben 
jo fehr über den etwas marktſchreieriſchen Lärm, der über Herders 
neue Grfindung, die er in der älteſten Urkunde vorgebracht Hatte, 
getrieben wurde, als über Bahrbdts Evangeliſten im modernen 
— 





41) Die Verſe über Bahrdt, die dieſer keineswegs übel nahm, find be⸗ 
lannt; was Herder angeht, fo wiſſen bie Leſer, daß es ſich uf ihn bezteht 
wenn Im Puppenſpiel erſt her Doctor ruft: Ü 


Deuiſche Literatur: Server, 451 


Die Fortſetzung feiner Art poetiſcher Neform der bibliſchen 
Religion verfchob dann Herder einige Zeit, verfuchte fich in andern 
Fächern mit Glück und ward in einer ihm faft allein eigenthüm— 
fichen und zu verzeihenden Manter Schöpfer einer ganz neuen 
Art von Poeſie, Philoſophie und Geſchichte. Als Dichter Tieferte 
er damals: eines der bedeutendften Meiſterwerke in unferer Sprache, 
die zwei Bände Nationalliederz als Philoſoph bereitete ev 
feiner nachherigen poetifchen Philofophte dadurch den Weg, daß 
feine Beantwortung von zwei aufgegebenen Fragen ihm von Der 
Münchner und von der; Berliner proſaiſchen Academte den Preis 
erwarb. Was die beiden Binde Nattonallieder angeht, fo ent 
Halten fie die beliebteſten und zugleich eigenthümlichſten Lieder der 
verfehtedenften Zeiten, von ihm auf eine meiſterhafte Weife in 
ihrem eignen Geifte in die deutfche Sprache übertragen, Er un⸗ 
ternahm etwas Achnliches mit dem Hohenliede Salomonis und 
bewies bet diefer Gelegenheit aufs Neue, daß ihm mehr. an dem 
Ruhm eines misgezeichneten Dichters’ als an dem eines Achten 
und frommen Lutheraners liege. Schon der Titel, den er, da er 
doch Prediger war, einem bibliſchen Buche gab, erinnerte peinlich 
an Bahrdt, und Hang als wenn man profane Lefer durch ein 
profanes Aushängefchtld einladen wolle, Diefer Titel lautet: 
Lied der Liebe, oder die älteften und ſchönſten Lies 
der des Morgenlandes. Das Buch ward in der neuen Ge— 
ftalt mit Recht als Dichtung bewundert, es wird «unter unſere 
klaſſiſchen Bücher gerechnet; als ein bibliſches Buch nimmt e8 fich 
| ed in Bi ae fonderbar aus, Herders Eigenthümlich⸗ 


put die Lichter aus, 
Sind in einem honetten Haus: 
Dann der Schattenſpielmann: 

Lichter weg! Mein Lämpchen nur 
Nimmt ſich ſonſt nicht aus: 
Ins Dunkle da, Mesdames! 

Dazu gehört, daß der Schaltenſpielmann die Schoͤpfungsgeſchichte bes 

leiert, wohet es Heißt: 
Ach wie fie is alles dunkel, 
Finſternis is 

War fie alle wirft und leer, 
TR ſie all nicts auf dieſer Erde geſehe em. 


192 Deutfche Literatur: Herder. 


feit, ſein orientaltfcher Schwung, feine glühende Phantaſie und 
jein immer in Lüften und fremden Regionen verweilender Geift 
mußte daher auch nothmwendig jedes Mal fcheitern, wenn ver fich 
an das N, T. wagte; dieſes mwiderfuhr ihm auch jogar, als er 
die Offenbarung Johannis zu überſetzen unternahm, welche fich 
doch von allen andern Büchern des N, T. durch ihren ganz orien⸗ 
taliſchen Charakter unterſcheidet. 

Von dieſer Ueberſetzung, die den Titel hat, Maran Atha 
oder von der Zukunft des Herrn, war ſehr wenig‘ bie 
Rede, Herder fuhr indefjen fort, durch eine ganze Anzahl von 
Büchern feiner poetifchen, Altes mit Neuem durch die Phantafie 
verbindenden Anficht der jüdiſchen und chriftlichen Lehren und 
Geſchichten Eingang zu verſchaffen. Seine Art Chriſtenthum fand 
befonderd unter den höheren Ständen und bei denen Cingang, 
welche dem Alten zu entgehen wünſchten, ohne dem Neuen zu 
huldigen, oder zu wenig tüchtige DVerftandeshildung, zu wenig 
hiſtoriſche und gelehrte Kenntniffe hatten, um Leſſing, Blank, 
Spittler, Griesbach und Andern folgen zu können. Herder ſchrieb 
in dieſer Beziehung zunächft feine Briefe über das Studium 
der Theologie, weldhe um 1780 und 1781 erſchienen. In 
diefen Büchern ward den jungen Theologen: Anwelfung gegeben, 
wie fie zu jener Anficht ihrer Wiſſenſchaft und ihres geiſtlichen 
Berufs gelangen könnten, welche fie. nad) Herders Meinung ab— 
halten follte, fi mit Semler als gelehrte Forſcher oder mit 
Bahrdt, Campe und den neuern Grziehern ald Prediger des im 
äußern Leben Brauchbaren anzuſehen. 

Herders Briefe kamen zur rechten Zeit, denn Semlers An⸗ 
weiſung für junge Theologen war von 1757, alſo veraltet, und 
Bahrdt und Campe ſchrieben die Ihrigen * als die in vier 
Theilen erſchienenen Briefe Herders unglaubliches Aufſehen in 
Deutſchland gemacht hatten, und zum zweitenmale aufgelegt wur— 
den. Herder leitete auch hier mehr zum Fliegen an als zum 
ruhigen Gehen, er gab in den Briefen zugleich Regel und Mu— 
ſter, immer aber mehr Poeſie als Dogmatik und Moral, Die 
Theologen follen nad) dem Rath, den er in diefen Briefen gibt, 
mehr den Geift und den Geſchmack, als den. Berftand und das 
Gedächtniß Hildenz fie follen, ohne ſich auf Disputiren einzulaſſen, 


Deutſche Literatur: Herder. 193 


die Glaubenslehre jo behandeln, daß ihr Vortrag dem jedes— 
maligen Eulturzuftande und der ganzen Nichtung ihrer Zeit genau 
angepaßt ſei, und dies foll durch Poeſie bewirkt - werben. Blos 
in diefer Beziehung paßt auch Herders Styl in dieſen Briefen, 
der fonft als Lehrſtyl durchaus nicht zu empfehlen ift, ſo originell 
ex fein mag, fo fehr der Vortrag durch lebendige Phantafie be— 
lebt und durch, die eingemifchten überſetzten Stücke poetifcher Rue 
dev Bibel unterhaltend gemacht wird. 

Diefer Briefe erwähnen wir übrigens nicht wegen ber Thee⸗ 
logie, deren Geſchichte wir nicht ſchreiben wollen, als weil ſich 
Herder durch dieſelben neue Verdienſte um die allgemeine Bildung 
der Nation erwarb, indem er dazu beitrug, einen poetiſchen, über 
den äußern Nutzen hinausſtrebenden, das Göttliche im Menſchen 
anerkennenden Geiſt unter den Deutſchen zu erhalten. Hiſtoriker, 
Statiſtiker, Philoſophen, wie Meiners und Eberhard, Pädagogen 
und theologiſche Rationaliſten drangen darauf, es ſollte alle Er— 
ziehung ganz und durchaus proſaiſch auf einen äußern Zweck und 
auf unmittelbare Brauchbarkeit gerichtet werben; dem ſtrebte Her— 
der entgegen. Wenn man Bahrdts und Gampes gleich hernach 
erfchtenene Anweiſungen mit den Briefen Herders vergleicht, er— 
kennt man fogleich, wie wohlthätig 8 war, daß ein ‚Dichter wie 
er, Poeſie unter die Pfarrer warf, Bahrdt ‚und Campe wollen 
beide den proteftantiichen Geiftlichen zum Volke herunterbringen, 
nicht das Volk durch ihn heben, Nach ihrer, Anweifung foll er 
in dem Sinn Volkslehrer fein, daß er, mit gemeinnüßigen, natur— 
hiſtoriſchen, phyſikaliſchen, ökonomiſchen Kenntniffen ausgeftattet, 
für Küche und Keller, Garten und Feld ſtets fertiger, ökonomi— 
ſcher und zugleich für den Bauern ärztlicher Rathgeber ſein könne. 

Kurze Zeit nach dieſen Briefen ſchrieb Herder das Buch über 
den Geiſt der Hebräiſchen Poeſie, worin aufs neue Poeſie 
und Religion auf die glänzendſte Weiſe verbunden war. Er miß— 
fiel freilich dadurch ſehr oft den beiden Theilen, zwiſchen denen 
er ſich vermittelnd einſchob, den einſeitig verſtändigen Neuerern 
und den unverſtändig am Alten klebenden Dogmatikern, hatte 
‚aber doch einen großen Anhang, bis ihn. erſt ſpäter Kants Phi— 
lofophie um feinen Einfluß brachte, Theologiſch ift eigentlich die— 


ſer Geiſt der Hebrätfchen Poeſie nicht, er weckte aber vielleicht 
Schlof ſer, Geſch. d. 18, u. 10. Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 13 


494 Deutſche Literatur :' Herder. 


unter Theologen umd Exegeten ‚einen poetifchen. Sinn. Es war 
damit, wie mit Herders vorgeblich Hiftorifchen Arbeiten, welche 
in den jüngern Schriftitellern und im Publikum hiſtoriſch-philo⸗ 
ſophiſchen Sinn zu wecken fohlenen, im Grunde aber ganz vom 
Hiftorifchen Boden ableiteten. Diefe Art hebräiſcher Poetik ver— 
mehrte den Hang unferer Teicht vom Leben und der Wirklichkeit 
auf dem Hyppogryphen der Phantafie ins Land der Schwärmer 
oder Romantifer fliegenden Nation, fich den Träumen des Orten- 
talismus hinzugeben. Herders Geift der hebrätichen Poeſie 
lehrte Ueberſpannung, er führte an die Grenze eines Gebiets, 
wo aller Verſtand verſtummt und die Schwärmerei regiert, dort 
nahmen Lavater und Jung⸗Stilling die Seelen im Empfang und 
führten fie in den Mond. Dies raubt indeſſen dem Buche, deffen 
Wirkung ja Herder nicht zu verantworten hatte, nichts von feinem 
Annern Werthe, der von der Art, wie es Buchmacher und einge- 
Hildete Genies gebrauchten und anienbefen keineswegs abhängig 
gemacht werden darf. 

Gleich im erſten Theile des Geiſtes der hebräiſchen Poeſie 
findet man eine vortreffliche Anleitung, wie man die Hirtenſagen 
des erſten Buchs Moſis zu entwickeln Hat, um zur Erkenntniß 
der Sitten, Denkart, Poeſie irgend eines Urvolks auf ſicherem 
Wege zu gelangen. Im zweiten Theile lieſet man mit Vergnü— 
gen die Anweiſung, welche ein Dichter wie Herder (denn für 
einen Philoſophen, Theologen oder Hiſtoriker können wir Ihn 
unmöglich exkennen) dort gibt, wie man hebräiſche Dichter leſen 
amd behandeln, ihre Bilder und Dichtungen entwickeln kann und 
ſoll. Er. entfagt glücklicherweiſe in diefent zweiten: Theile der 
dichteriſch dialogiſchen Form des Erften, welche es allen denen, 
Die nicht mit einer großen Kraft des Einbildungsvermögens begabt 
Find, ober, was einerlei tft, ſich nicht einbilden, Daß fie es ſeien, 
oft unmöglich macht, ihm auf feinen genialen Wege zu folgen. 
Wir andern find gewohnt, in Büchern, welche in Proſa gefchrie- 
ben find, nicht Spiel der Phantafle, erg Belehrung des Ver⸗ 
ſtandes zu ſuchen. 

—Die Ideen zur Philofophie der Gefchichte der 
Menf chheit in vier Theilen, deren Ueberſetzung ing Franzöſiſche 
An unſern Tagen’ mit: der Verbreitung des jenfeit des Rheins. 


vi 


Denkfche Literalur: Gerber. 195 


wunderlich genug franzöſiſch geſtalteten deutſchen Treibens in 
genialer Philoſophie, Poeſie und Politik unter den Franzoſen 
verbunden war, behandeln die Geſchichte und die philoſophiſche 
Theologie nach der Manier, wie beide in Herders Phantaſie ver— 
bunden waren. Wen aber Chateanbriands oder gar Victor Hugos 
und Merander Dimas Schriften verftandig und logiſch, wen ihre 
Sprünge und der Aberwis mancher: Stellen ſchön, wem der wun— 
derliche Pantheismus anderer Nomantiker und ihr lächerliches 
Preiſen des Mittelalters natürlich ſcheint, dem müſſen Herders 
Ideen als Licht im der Finſterniß vorkommen. Die hiſtorxiſche 
Kritik der Herderſchen Ideen gehört hierher nicht, wir haben des— 
halb nur einen Fingerzeig zu geben über ihre Beziehung zu der 
damals herrſchenden, humoriſtiſchen, romantiſchen, hypergenialen 
Manier, welche jetzt auch in Frankreich herrſcht. Wir läugnen 
dabei keineswegs, daß Herders Ideen, abgeſehen von der Geſchichte, 
einem Bedürfniſſe des großen Publikums entſprochen Haben, denn 
es ſind ja unzählige Geſchichten in der Manier geſchrieben worden. 
Im erſten Buch ſchon entſcheidet Herder vrafelnd über Dinge, 
denen ſeit ſeiner Zeit Aſtronomen, Phyſiker, Geologen und Eth— 
nographen geſtützt auf Forſchungen und auf neuere beſſere Erfah— 
rungen ein ganz anderes Anſehen gegeben haben, als er ihnen 
aus eilig und obenhin geleſenen Büchern, die ihm der Zufall oder 
eine Empfehlung des Fachgelehrten in die Hand gab, geben 
konnte. Seinen Zeitgenoſſen und allen mit den Fächern Unbe— 
kannten imponirt er durch die Beſtimmtheit und Zuverſichtlichkeit 
eines Sehers, mit der er ſich In der Sprache orientaliſcher Pro— 
pheten über die dunkelſten und ſchwierigſten Punkte, die ſich zum 
Theil gar nicht ausmachen laſſen, ausſpricht. Im dritten und 
vierten Buche ſchaltet ex: gebietend auf dem Felde des Naturfor— 
ſchers in Dingen, denen dieſer oft ein ganzes Leben widmet, ohne 
aufs Klare zu kommen, macht dabei den Naturphiloſophen und 
‚geht endlich auf eine Art Theologie über, die en ſelbſt fchafft. 
Diefe Art Theologie, welche daher neulich den won einem: Pan— 
theismus eigner Art träumenden franzöſiſchen Romantifern ſehr 
willkommen war, empfiehlt Herder durch orientaliſchen Schwung, 
wie Boſſuet die eraſſe Rechtgläubigkeit durch redneriſchen Schmuck. 
Boſſuet findet es ganz vernünftig, daß die göttliche ſich 


196 Deutſche Literatur: Herber, 


um Hunderte son Völkern und Taufende von Millionen: einzelner 
Menfchen gar nicht oder nur gelegentlich befümmert, er knüpft 
bie Regierung des‘ Weltalls an Glauben oder Unglauben der 
Suden, das gefällt Herder nicht. Er iſt aber auch mit den wun- 
derlichen Theorien Bonnets umd anderer übertrieben frommen 
Theologen. und Phyſikotheologen nicht zufrieden, Auf feinen küh— 
nen Dichtergeift auch in den realen und eracten Wiffenjchaften 
sertrauend, fucht er nämlich in dieſem dritten Buche, ohne Natur- 
forſcher oder Naturkenner zu fein, eine Fortbildung oder Stufen- 
Yeiter der Geſchöpfe feſtzuſetzen. Dies wiffenichaftlich durchzuführen, 
würde eine unbegränzte Kenntniß aller Naturreiche vorausſetzen. 
Das ftört aber Herder jo wenig als feinen Ueberſetzer Duinet, 
über deſſen Dreiftigfeit wir erftaunten, als er unter unfern Augen 
die Arbeit unternahm, ohne mehr Deutfch zu verſtehen als Couſin, 
der die Franzofen son Schelling und Hegel unterhielt. - Beide 
haben jedoch den Pariſern ebenſoviel Reſpect eingeflößt, als Her— 
der den Deutfchenz jedermann wollte mit ihnen fliegen und ſah 
mit Verachtung auf und Andere, die. wir zu Fuße gingen. Leichter 
möchte fein, was er im vierten. Buche unternimmt, des Menjchen 
Bernunftfähigteit aus feiner Organiſation herzuleiten; aber Herder 
wagt fich auch hier über das hiftorifche Feld des Nachzumweienden 
weit hinaus, Cr lehrt, was als Thatfache gewiß genug ift, was 
‚aber doch Fein Anatom oder Phyſiolog zu demonftriren, oder gar, 
wie Herder srafelnd zu behaupten wagen würde, daß aus des 
Menſchen außerer Bildung feine Anlage zur Humanität und 
Religion herzuleiten je. Diefen Sab kann man übrigens in ge= 
wifjer Beziehung gelten Yaffenz wenn er aber auch feine Hoffe 
nung der Unfterblichfeit daher. leitet, alfo aus dem Materiellen das 
Immaterielle hervorbringt, fo geräth er aus der Naturphilofophie 
‚gleich. Bonnet in die Theologie und faſelt ftatt zu’ lehren. Erſt im 
fünften Buche fommt er endlich auf einen Schluß aus. dem Vori- 
‚gen, worauf er eine neue theologische Anficht der Gefchichte auf 
eine ganz andere Manier als Boſſuet gründen will. Er will 
namlich aus dem DVorigen den Sat herleiten: „daß der Menſch 
ein Mittelglied zweier Welten jet.“ 

m Schon zur Zeit der erſten Erſcheinung der das damalige 
Pubhlikum vor Entzücken ganz außer ſich ſetzenden Ideen urtheilte 


Deuiſche Literatur: Herder. 197 


ein denfender Naturforfcher über den Inhalt dieſes erſten Sheils 
kurz und dabet ſehr treffend und gründlich: „Die Kühnheit, mit 
welcher Herder den Anatomen und Naturforfchern vorſchreibt, 
was und wie fie unterfuchen follen, nöthigt dem ruhigen Leſer 
ein Lächeln ab.“ Der zweite Theil oder das jechste bis zehnte 
Buch stellt aus flüchtig. gelefenen Reifebefchreibungen gefammelte 
Notizen mit ungemeiner Kühnheit und Phantafte, mit ſchwülſtiger 
Rede als Orafelfprüche zufammen, und es wird mit der Gefchichte 
umgegangen, wie im erften Theile mit den Refultaten der Arbei- 
ten der Naturforicher, In diefem Theile wird die Altefte Urkunde 
des Menfchengefchlechts mit vollem orientaliſchen Schimmer wie— 
derum als Erklärung der erften Kapitel des erften Buchs Moſis 
und als uralte, nicht blos als Herderfche Idee aufgeführt Es 
werden Wiffenfchaften, Künfte, Regierung von einer Kette dev 
Bildung oder einer Tradition der Urwelt dichterifch und gebtetend 
abgeleitet, ohne daß die Exiſtenz derfelben irgendwo bewieſen 
würde. Da Herders Publifum auch in Sachen des Verſtandes 
nach Gründen nicht fragte „der fie langweilig fand, jo ward es 
ihm Teicht, nachdem einmal eine Kette der Traditionen fertig war, 
die Religion zur älteften und heiligften der vielen ererbten Tra— 
ditionen zur machen. Wenn man hier genau zuſieht, fo erfennt 
man leicht, daß die arme Schaar der treugebliebenen Frommen 
und ſpäter Wöllner und die von ihm überall eingeſetzten, den 
ſymboliſchen Büchern getreuen Gonfiftorten fich Herders nicht jehr 
freuen konnten. Ste mußten dafür halten, daß er neben den ver— 
ftandigen Ketzern Leflings und neben den Rationaliften eine‘ Ge— 
meinde von phantaftifchen Ketzern ſammle. Wenn namlich die 
Tradition wirklich Quelle der Religion war, jo mußte man, went 
man nicht durch; Herders Brille ſah, durch die Gejchichte unfehl- - 
bar zum PBantheismus des Uralterthums gelangen. Unter det 
älteften VBolfern in Indien, Perfien, Aegypten, China, in Myſte— 
rien, Symbolen und Gultus ift überall Pantheismus, von Tra= 
ditton, von Einheit und Perſönlichkeit eines chriftlichen Gottes iſt 
feine Spur, 

Herder kannte fein Publikum, das fich einbildete, mit ihm 
zu fliegen, wenn es eigentlich tief unten fand, und mit weit aufs 
ftehendem Munde ihn oben fliegen jah, viel zu gut, um fich ſtö— 


198 | Deutſche Literatur; Herder.) 


ven zu laſſen, er fliegt Daher kühnlich am ſymboliſchen Bantheig- 
mus und an dem Fenerdienit, alſo am indischen und perfifchen 
Cultus vorbei auf dem Pegafus feiner Tradition unmittelbar zu 
Moſes herüber. Diefer Mebergang hat einige Achnlichkeit mit der 
poettfchen Manier, wie Dante in feinem Gedicht, am Zeufel 
herunter und doch zugleich heraufjteigend, fich dutch einen Gna— 
denftoß Virgils über den Schwerpunkt der Erde und der Hölle 
hinaus ins Purgatorium bringt: Herder weiß fich des übrigen 
srientalifchen Ballaſts bei diefer Gelegenheit geſchickt zu entladen 
und geht, nachdem er vorher Alles, was auf die geiftige Natur 
des Menfchen Bezug hat, son einer Uxtradition hergeleitet, alle 
Traditisnen, welche unftreitig hiftoriich Alter find, als Mofis 
Bücher, auf eine folche Weife durch, daß er am Ende die andern 
los = und nur die Eine findet, die er finden will, — 
Er ſelbſt hatte in einem andern Werke mit der ihm riguen 
Uebertreibung den Zend Aveſta als Urkunde und Quelle der 
heiligſten Traditionen geprieſen, das Alles wird hier in den Schats 
ten gefchoben. und Moſes allen denen, die aus dem Dunkel Hers 
ders leuchtendem Schaufptele zufehen, mit einen Perlenſchmuck 
der neneften Wiffenfchaft bekleidet, vorgeſtellt. Es wird die ganze 
neuere Naturforfchung unferer Zeit, jo weit natürlich die fehr man— 
gelhafte Erkenntniß derſelben reicht, in die Moſaiſche Schöpfungs— 
gefchichte gelegt, die für ihn dann in dieſem Sinn eine Offen- 
barıng ift. Wie dreift er dabei der Nechtgläubigfeit und dem 
Wortfinne zum Trotz zu verfahren wagt, zeigt er. dadurch, daß 
er das „ES werde Licht” der mofaifchen Urkunde zum Behuf 
der geologifchen Offenbarung, die er in feinem Text findet, im 
Sinne der: Barfen oder Feneranbeter deutet: Es wird‘ nad) ihm 
unter dem Worte Licht ein, Gott weiß, welches Elementarfener 
verſtanden, welches die Natur der Dinge zum Entſtehen — 
und ausgebildet Habe, 

Dieſe Andeutimgen reichen hin, bie, Stelle zu bezeichnen, 
welche Herder unter den großen Männern einnimmt, denen unſere 
Nation im achtzehnten Jahrhundert eine neue Bildung und ein 
neues Leben verdankte. Es wird leicht fein, aus den angeführten 
Zügen, die wir ausgemachte Thatſachen nennen würden, die Be— 
deutung, welche die vielen weit verbreiteten, mit Begeiſterung ges 


Deutſche Literatur: Lavater. 199 


ſchriebenen und von Begeiſterten geleſenen Schriften Herders für 
feine Zeit Hatten, zu beſtimmen und die Art ihrer Wirkung anzu— 
geben, ohne daß wie. dabei Jänger verweilen, In der folgenden 
Periode erft werden wir angeben Tonnen, welche Stellung Herz 
der erhielt, als Kants Bhilofophie fich verbreitete, und en, wäh⸗ 
rend Göthe und: Schiffer die neue Philofophte freudig begrüßten, 
ohne darum jedoch Kantianer zu werden, fich mächtig genug glaubte, 
dem: Strom entgegen zu ſchwimmen. Seit der Zeit ward ſein 
Verhältniß zur Literatur gänzlich verändert. 

Wir glauben zunächſt neben Herder Lavater erwähnen zu 
müſſen, weil beide einander lobten und empfahlen. In der That 
hatte ihre Manier und Wirkſamkeit einige Aehnlichkeit, doch hat— 
ten ſie ganz verſchiedene Menſchenklaſſen im Auge und ſtimmten 
durch ihre Schriften ganz verſchiedene Perſonen zur religiöſen Be— 
geiſterung. Herders Publikum beſtand aus der gebildeten Klaſſe, 
aus allen denjenigen, die den alten Glauben in der Geſtalt, wie 
ihn die Göze und Ihresgleichen predigten, nicht mehr verdauen 
konnten, welche aber doch auch den Formen, die ſie in der Jugend 
erlernt Hatten, nicht entſagen wollten und Poeſie für Religion 
nahmen. Lavater dagegen war das Orakel aller derer, welche bie 
herrfchende Empfindfamkeit der von Werther und Siegwart ges 
ſchmolzenen Seelen entweder mit religiöſer Schwärmerei verbinden 
wollten, wie Klopſtocks Freunde, oder auch veligiofe Schwärmerei 
an die, Stelle der empfindelnden ſetzen, wie Diejenigen, deren Apo— 
ſtel Jung⸗Stilling ward. 

Lavaters erſtes Auftreten iſt ſchon in der vorigen Periode 
ausführlich erwähnt worden. Wir finden ihn daher in dieſer Periode 
ſchon als einen der berühmteſten Männer der Zeit, der von ver— 
ſchiedenen Seiten her und durch ganz verſchiedene Eigenſchaften 
einen bedeutenden Einfluß auf ſeine Landsleute und auf ganz 
Deutſchland übte. Lavater ward als Prediger und Dichter und 
Schriftſteller in der von Klopſtocks Freunden bewunderten affeftirt- 
geiſtreichen, ſentimental = deelamatorifchen Manier berühmt. Er 
ward früh mit aller Welt befreundet und war eben ſo eitel, wenn 
auch nicht jo hochmüthig, als ſein Freund und Landsmann Zim⸗ 
mermann in Hannover, der ſehr viel dazu beitrug, ihm unter 
ſeinen vielen vornehmen Freunden einen Namen zu verſchaffen. 


300 Deutfche Kiteratur: Lavater. 


Zimmermann war Leibarzt in Hannover, mit feiner Geſchicklichkeit 
als Arzt Haben wir Hier nichts zu thunz gewiß ift aber, daß er 
ineifterhaft verftand, Alles, was ihm an eigentliche mediciniſcher 
Wiſſenſchaft abgehen mochte, durch Scharlatanismus zu erſetzen. 
Auf diefe Weiſe Hatte er. fich auch in den fchönen Wiffenfchaften 
und in der Damals beliebten Bopularphilofophie, worin jedermann 
pfuſchen konnte, durch harte Proſa, mit Bombaſt untermiſcht, einen 
Ruhm erworben. Als er in der vornehmen Welt einen bedeuten⸗ 
den Ruf erlangt hatte, machte er es, wie Seinesgleichen e8 überall 
und zu allen Zeiten zu machen pflegen, ex pofaunte feinen Freund 
Lavater und diefer ihn aus, und beide waren bald überall berühmt 
und Orakel der Art Leute, welche gewohnt find, gewiſſen Auto— 
ritäten blindlings zu folgen. Lavater vedete nie anders als int 
Prophetentone, weil er gewohnt war, feine Einfälle als göttliche 
Gingebungen zu. betrachten, und Zimmermanns Hochmuth Tief 
ihn nie an der Unfehlbarfeit feiner Ausſprüche den geringften 
Zweifel hegen. 

Die innige Verbindung zwiſchen Zimmermann und Lavater 
brachte damals den Letztern als Erfinder einer neuen Wiſſenſchaft 
in Ruf, welche in unſern Tagen der Craniologie und Phrenolo— 
‚gie hat weichen müſſen, ſobald ſich für dieſe ähnliche Phraſenma— 
cher fanden als Lavater war. Dieſe Wiſſenſchaft war feine an- 
dere als die Phyſtiognomik, die von aller Welt von jeher und zu 
allen Zeiten zwar empiriſch betrieben ward und noch betrieben - 
wird, aber doch immer nur als vermuthende oder errathende Hebung, 
welche aber Lavater zum Range einer unfehlbaven, prophetifchen 
Wiſſenſchaft erheben wollte, Um eine folche an Magnetismus 
und Scharlatantsmus nahe gränzende, dem medieinifchen Wiffen- _ 
ſchaften verwandte Wiſſenſchaft emporzubringen, war Zimmer— 
mann am beiten geeignet. Er war Arzt der vornehmen Welt 
und ward von allen Höfen confultirt, ev war vieler Orden Rit- 
ter und vieler Akademien Mitglied; er Eonnte alſo durch den 
Wind, den er gemacht hatte, und wodurch er, wie Voltaire, Cor— 
vefpondent der Katferin Gatharina geworden war, auch andere 
Luftichiffer emporheben. Lavater ward von allen jenen Großen, 
welche den Schein dev Frömmigkeit um jo mehr lieben, je weiter 
fie von der Sache ſelbſt entfernt find, als genialer Schwärmer 


Deulſche Literatur? Lavater. 201 


hochverehrt; er fand daher, als er ihnen auf dieſelbe Weiſe wie 
Bafedow für ihre Geld prächtige Bilder und eine neue Wiffenfchaft 
anbot, Unterftigung genug. Lavater wie Baſedow forderte alle 
Welt auf, fich der von ihm erfundenen, für die Menfchheit ganz un— 
entbehrlichen Wiffenfchaft anzunehmen; beide machten ihre Wiffen- 
ſchaft und durch diefe die Menſchheit von dem von ihnen heranszugeben- 
den Prachtwerke abhängig und Lavater fand für feine Phyfiognomif 
wie Baſedow für fein Elementarwerk zahlreiche Subſkribenten. 
Was die Phyſiognomik angeht, jo Fonnte die Welt der Sa— 
Yons dabei, wie bei Magnetismus, bei Craniologie, Phrenologie 
Tiſchrücken, Tischflopfen, die Scharlatanerte der Wunderthäter und 
Debitanten unerhörter Weisheit vom Begründeten und Reellen um 
jo weniger unterfchetden, als fich gewöhnlich ſehr geſchickte und an— 
geſehene Modefchwäter und Deklamatoren folcher Sachen anneh= 
men. Belde, Zimmermann und Lavater, verftanden jeder auf feine 
Weiſe vortrefflich zu praßlen und zu pochen und ihrem Kupfer 
durch ganz dünne Vergoldung das Anfehen des Achten Goldes zu 
geben; fie gingen daher auch bei dev Verbreitung einer Wiffen- 
jchaft, die ihren Zwecken fo gut entfprach, brüderlich Hand in 
Hand, Uebrigens verfündigte Lavater das phyfiognomifche Evan— 
geltum zuerſt feinen Züricher Pfarrkindern, und fchten anfangs er- 
ſchrocken, als es Zimmermann anf feinem deutfchen Markte aus— 
ſchrie, war aber hernach entzückt, als er ſah, daß Alle, die ſich 
um Zimmermanns Bühne ſammelten, ſich auch zum Prophe— 
ten Lavater bekehrten. Der Pfarrer Lavater las nämlich feinen 
Zürichern in ihrer naturforſchenden Geſellſchaft einen Aufſatz vor, 
worin er in ſeiner alle Dinge übertreibenden Manier ſchwülſtig, 
wie der Geſchmack der Zeit und beſonders der der Freunde Lava— 
ters in Süd- und Norddeutſchland war, von der Phyſiognomik 
handelte. Dieſen ihm mitgetheilten Aufſatz ließ Zimmermann den 
ſämmtlichen zahlreichen Bewunderern, welche der Züricher Prophet 
in Norddeutſchland Hatte, im Februar 1772 tm hannöverſchen Ma— 
gazin mittheilen. Lavater drückte Anfangs einige Beſorgniß aus, 
die frommen Seelen in Novddeutfchland, ‚welche die poetifche Proſa 
feiner Aussichten in die Ewigkeit beiwunderten und ihn 
als Propheten verehrten, möchten an den, was Zimmermann be= 
Fannt gemacht, als am einem Dinge profaner Natur Anftoß neh— 


2023 Deuiſche Literatur: Lavater. 


men, er merkte aber kaum, dafs die Sache Effect machte, als er 
fich eines Beſſern beſann. | 
Zavater ließ, als er ſah, daß fein Aufjas im Deutſchland 
Beifall finde, nicht bloß die von Zimmermann befannt gemachte 
Borlefung als ein eigned Buch drucken, fondern fügte auch noch 
einen zweiten Theil hinzu, worin er mit dem ganz fertigen ſum— 
marifchen Entwurf feiner ganzen Wiffenfchaft hervorkam. In dies 
jem. zweiten Theile feines Aufjates tritt er ganz entſchieden als 
Seher auf, denn er erklärt: die alte allen Menfchen bekannte Er— 
fahrung, daß. man aus den Zügen des Gefichts Eigenfchaften des 
Geiſtes und Herzens errathen könne, ſei nunmehr von ihm zu 
einer unfehlbaren Wiffenjchaft erhoben worden, vermöge deren mar 
aus den Zügen und aus dem ganzen Aeußern jedes Menſchen 
Sharakter und Wefen deffelben unfehlbar erkennen  fünne, Er 
verwandelt feine neue Erfindung in eine ſyſtematiſche Lehre, deren 
erfter Theil das begreifen foll, was er empirische Phyfiognomif 
nennt. Dem ziveiten Theil gibt er den Namen, thenretifche 
oder tranfrendentale Phyſiognomik, welche die Mrfachen 
und Gründe der Erſcheinung nachweife, oder den: unmittelbaren 
Zufammenhang zwifchen dem innern  Sharafter und dem äußern 
Ausdruck erkläre, Lavaters Buch ward als Proſpeetus feines großen, 
mit Kupfern und aller möglichen typographiichen Pracht auszu— 
ftattenden Werks von ihm, von feinem Zimmermann umd ihren 
zahlreichen Freunden überall unter den Reichen, unter den damals 
jehr zahlveichen Veberfpannten, unter den Damen verbreitet und 
die Subfeription auf das große Werk hatte gleichen Fortgang mit 
der auf Baſedows Elementarwerk. Nicht bloß in Deutichland, 
fondern auch in Dänemark, Frankreich, Schweden, in Rußland, 
ſchon um der Kaiferin willen, und fonft überall, wo Phantafie 
und ihre willkürlichen, jedes logiſche Gefeb verfchmähenden Gebilde 
mehr galten, als mathematifche Strenge und ruhige befonnene 
Prüfung, unterfchrieb man eifrig und fchiefte dem Seher, in dei- 
ſen Werf man ald Kupfer oder Vignette gern unter den hohen, 
den edlen, den göttlichen Gefichtern glänzen wollte, Portraits oder 
Silhouetten nach Zürich oder pilgerte ſelbſt dahin. 
Ehe wir anführen, was ein großer Mathematifer und Phy— 
fifer, der größte Satyrifer der Deutfchen, gegen die neue Wiſſen— 


Deuiſche Literatur: Lavater. 203 


ſchaft vorgebracht hat, wollen wir ein glänzendes Zeugniß zu 
Gunſten der Erfindung Lavaters und ſeines Buchs anführen, Dies 
wird alle die über Lichtenbergs Spott tröften, denen eine gedruckte 
Rezenfion oder ein berühmter Nante die höchſte Autorität iſt. 
Die geiftreiche Frau Düdevant, gewöhnlich George Sand genannt, 
befam nämlich neulich anf einer: Reife zufällig Lavaters großes 
Werk in die Hand und fchildert ung in ihrem vorzüglichiten Buch, 
den Briefen eines Neifenden, ihre Bewunderung auf eine 
meifterhafte Weiſe. Wenn man Lavater und feine Phyſiognomik 
gern gepriefen Hört, jo muß man Yefen, wie überraſcht und: er= 
ftaunt die geniale Frau war, deren Urtheil un ſo unbefangener 
tft, als ihre veligiöfen Meinungen gerade das Gegentheil von den 
lavaterſchen find, und als fie von Lavater felbft nichts wußte. 
Man kann von ihr am beften Ternen, wie geniale, von der Phan— 
tafte beherrfchte Leute urtheilen, und fich daraus erklären, wie 
Lavaters vornehme Ausdrücke (4. DB; theoretifche oder tranfcen- 
bentale Phyſiognomik), feine Deelamationen und Grelamationen, 
feine Kupfer und ihre Deutung auf feine Zeitgenofjen einen fo. 
mächtigen Eindruck machen Fonnten, daß Lichtenberg und alle Ver— 
ftändigen der Mühe werth hielten, ſich mit aller Gewalt dagegen 
zu erheben. 

Bon Lavaters angekündigtem Prachtwerke mit, —* beſchei⸗ 
denem Titel erſchienen 1775 und 1776 die beiden erſten Bände 
und bis 1778 waren alle vier Bände ausgegeben. Der Titel 
lautet: Phyſtognomiſche Fragmente zur Beförderung 

der Menſchenkenntniß und der Menſchenliebe. Das 
Format iſt das größte Quart, viele und vortreffliche Kupfer und 
Vignetten zieren das Werk, welches durch Papier und typogra— 
phiſche Pracht Alles übertraf, was die deutſche Preſſe bis dahin 
geleiſtet hatte. So viel ſich auch für und gegen Phyſiognomil 
ſagen läßt, ſo iſt doch klar, daß Lavater nicht der Mann war, 
der die Divination, welche man allenfalls dem geſchickten Deuter 
der menſchlichen Geſichtszüge, wie einſt dem römiſchen Deuter der 
Eingeweide der Opferthiere, zutrauen möchte, zu einer Wiſſenſchaft 
hätte, erheben können, dazu fehlten ihm die zwei erſten Eigen⸗ 
ſchaften. Die erſte Eigenſchaft desjenigen, der eine Wiſſenſchaft 
auf Erfahrungen gründen will, iſt die Gabe beſcheiden und ruhig 


204 Deutfche Literatur: Layater, 


zu beobachten, damit hängt die zweite genau zufammen, daß er 
nämlich im Stande fer, einen ſtreng logiſch geordneten und in 
beftimmten und klaren Worten ausgefprochenen Vortrag über das 
Beobachtete und über den Zufammenhang deffelben zu halten oder 
niederzufchreiben, Lavaters Manier ift aber die thenlogifche derer, 
die im Namen Gottes zu ung zu reden fich unterſtehen, oder die 
der philofophifchen und überfchwänglich genialen Schulen, welche 
ſeit Herders Zeit fich fo hoch über Alles ftellten, daß fie aus den 
Wolken herab Machtiprüche ftatt Gründe und sornehme Verach— 
tung ftatt Widerlegung herabfchlendern konnten. Dieſes Tons, 
der auch Lavaters ſcheinbar chriftlich demüthige Schriften auszeich- 
net, bedienen fich ſonderbarer Weife in der Politik die Abſoluti— 
jten und ganz Servilen unter den blinden Berfechtern des Alten 
eben jo dreift, als die wüthenden Demofraten aus Marats Schule; 
in der Theologie die blinden Bapiften, die Schwärmer, wie La= 
vater und die Pietiſten. Auch die dürren Moraliften wie Nicolai, 
oder die Frechen Spötter aus Voltaires und Diderots Schule ſchim— 
pfen und verachten ftatt zu wiederlegen. Alle diefe Gattungen 
son Menfchen verzweifeln gleich vorn herein an ihren Gründen, 
und weil fie nur durch Machtiprüche vegteren wollen, jo find fie 
nur denen fü, welche diefen gehorchen, allen Andern fauer und 
bitter. Jeder, dev nicht unbedingt ihnen nachfpricht, wird fogleich 
für unfähig erklärt, über ihre Behauptungen zu urtheilen, weil 
dieſe viel zu hoch feien, als daß fein beſchränkter Getjt dahin reiche. 

Weil diefe Manier, den Gegner durch den Schwulft hoch— 
‚teabender Rede todtzufchlagen, von der Teider! auch Herder nicht 
ganz frei war, ſeit Lavaters Phyſiognomik, trotz alles Spotts, 
womit Lichtenberg die ganze Manier überjchüttete, herrſchend ward 
und noch heutigen Tages nicht abgenust ift, jo wollen wir Durch 
einige Stellen deutlich machen, auf welche Weiſe Lavater den 
Schwulſt und den lächerlichen Ton einführte, deffen fich hernach alle 
Bernunfthafler bedienten und noch immer bedienen. Wir wählen 
nur eine Stelle ganz auf den Zufall, da durch alle vier Quar— 
tanten diefelbe Sprache und derfelbe Ton herrſcht. An diefer 
Stelle (1. Thl. S. 171) werden alle diejenigen aufgezählt, die 
der neuen, allen Menſchen unentbehrlichen Wiffenfchaft unwürdig 
und unfähig find und bleiben, Da heißt es dann: „Wer in 


Deuiſche Literatur: Lavater. 205 


Bodmers Arche (die, wohl zu merken, damals ſchon längſt auf 
dem Gebirge des neuen Geſchmacks gefcheitert war) feinen Ort 
findet, wo fein Fuß ruhen fünne, in Klopſtocks Apofteln nicht die 
edelfte Menfchheit, in feinem Eloah nicht den Erzengel, in feinem 
Chriſtus bei Samma nicht den Gottmenſch fühlt; wen Göthe nur 
wigig, Herder nur dunfel, Haller nur hart iſt — und auf dieſe 
Weiſe wird noch einige Zeit hindurch fortgefahren, um am Ende 
zu jagen, daß alle folche Leute dev Lavaterſchen Wiſſenſchaft un- 
fähig jeien.22) Die burlesfe Manier, wie Layater im Orafelton 
über fein Werk und über defien Kupfer. und Vignetten einen 
Strom bombaftifcher Nede ausgoß, den feiner Zeit alle genialen 
Menschen, alle zartfühlenden- Seelen entzücend ſchön fanden, hat 
bei Gelegenheit der unten angeführten Stelle aus der Einleitung, 
Lichtenberg durch einen Spott, den wir-ebenfalls beifügen 23), her- 
sorgehoben. - 





42) Diefe Stelle perfiflixte hernach Lichtenberg in feiner Erklärung ber 
Silhouette som Sauſchwanz, deſſen Biegungen er, wie Lavater die Züge fei- 
ner Gefichter, mit Buchſtaben bezeichnet Hatte, Lichtenbergs Anfang Jautet. 
Wenn du in diefem Schwanz nicht fieheft, Tieber Lefer, ven Teufel in Sau: 
heit (obgleich Hoher Schweinsdrang bei a tft), nicht erfennft den Schreden 
Iſraels in e, nicht mit den Augen riechſt, als hätteſt du die Nafe darin, den 
niedern Schlamm, in dem es aufwuchs bei d, und nicht zu treten ſcheinſt in 
den Abſtoß der Natur und den Abſcheu aller Zeiten und Völker, der fein 
Element war. — fo mare mein Bud zu, fo bift du für die Phyfiognomit 
verloren. Diefes Schwein, ſonſt gebornes Ur⸗Genie, luderte Tage lang im 
Schlamm Hin u, f. w; 
| 43) Die Phyfiognomik, jagt Layater In feinem Bombaft, reißt Herzen zu 
Herzen, fie allein ftiftet die dauerhafteften Sreundfchaften. Auf Leinem un- 
umftößligeren Grunde, Feinem fefteren Telfen kann die Freundſchaft ruhen, 
als auf der Wölbung einer Stirn, dem Rüden einer Nafe, dem Umriß eines 
Mundes, dem Blie eines Auges u. |. w. An einer andern Stelle endigt bie 
Erſcheinung zweier häßlichen Vaganten auf eine höchſt burlesfe Welfe den 
phyſiognomiſchen Traum, den er in Lächerlicher poetifcher Proſa geſchildert hat. 
Wonnevoll, vor einem Beste ver Herrlichften Blumen u. ſ. w. In diefem 
fügen Gefühl ftieg ih in meinen Gedanken zur lebendigen Thierſchönheit und 
jo fort zum Menfchen empor. Ein herrlich Menfchenbild war vor meiner 
Stine, das mein Herz mit Hoher Wonne empfing. — Ein Geräuſch unter 
brach mid. — Gott! Mit welhen Wehmuthsſchrecken traf mich das Bil! 
Ich ſah zwei Ideale von Landſtreichern!!“ Diefe Manter, angewendet auf 
Lavaters Deklamallon über Silhouetten der Leute, die er auspoſaunen wollte, 


206 Dentihe Literatur: Lavater. 


Die Großen der Erde ſchickten ihm indeſſen ihre Silhouet— 
ten und Bilder, um Ideale der Tugend zu werden, denn an 
Schönheit fehlte es bekanntlich vielen in der Geſchichte, nicht ge— 
rade wegen ihrer Tugenden berühmten Perſonen, durchaus nicht. 
Man denfe unter den Begünſtigten dev Monarchie an Orloff und 
die Herzogin: von Dino (Talleyrand), unter den Begünftigten der 
Demokratie an die Theroigne de Mericourtz Lavater konnte daher 
Vorzüge und Tugenden genug austheilen, was auch nicht unter 
blieb. In Lavaters Buche fanden ſich eine große Anzahl son 
- Bildern lebender Berfonen aus allen Gegenden, die Reichen und 
Vornehmen wurden durch Lavaters Deutung ihrer Züge edel und 
gut. Alle, die man gewinnen wollte oder gewonnen hatte, erhiel- 
ten ihren Antheil an Lavaters Ausrufungen. Ganz Deutfchland 
war erfreut, zu erfahren, daß «8 fo viele ſeelenvolle Gefichter, ſo 
viele edle Menfchen in feinem Schooße ernähre, daß Die vorneh- 
men Leute, die ihr Bild gefchieft Hatten, Mufter der Tugend, Ge- 
nies, unfchäßbare Männer und Franen wären. Als folche wur— 
den fie durch Lavaters Gommentar über ihre Bilder aller Welt 
im Boraus bekannt, 

Die neue Wiſſenſchaft und Lavaters Manier, fie zu — 
ten und * zu machen, ward bald beherrſchend wie die Sn: 





— Lichtenberg ſchr bitter in der Erklärung über * engliſchen Dog⸗ 
genſchwanz. „Der du mit menſchlichem warmen Herzen die ganze Natur um⸗ 
fängft, beginnt er, mit andächtigem Staunen did in jedes ihrer Werke Hin- 
führſt, lieber Leſer, theurer Seelenfreund, betrachte diefen Hundeſchwanz und 
bekenne, ob Alexander, wenn er einen Schwanz hätte tragen wollen, ſich ei⸗ 
nes folden Hätte fhämen dürfen, Durchaus nicht: weichlich hundſelndes, 


nicht damenfhöpfigtes zuckerndes,“ mansfnapperndes winziges Weſen. Ueberall 


Mannheit, Drangdruck, Hoher erhabener Bug und ruhiges bedächtiges Fraft- 
herbergendes Hinſtarren, gleichweit entfernt von unterthäntgem Verkriechen 
zwiſchen den Beinen und hühnerhündiſchen, wildwitternder ängſtlicher, un⸗ 
Tchlüffiger Horizontalität. Stürbe der Menſch aus, wahrlich, der Scepter 
der Erde fiele an dieſe Schwänze. Wer fühlt nicht an hoth⸗ aſciich⸗ Idio⸗ 
ntaät angrenzende Hundheit in der Krümmung bei a. An Lage, wie nach 
der Erde, an Bedeutung, wie nach dem Himmel. Liebe, Herzenswonne, Na 
Aur, wenn du dereinft dein Meiſterſtück mit einen Schwarze zieren willſt, ſo 
erhöre die Bitte deines bis zur tr warmen —— und — 
ihm einen, wie Bin. ſ. m, ” 


i 


Deutſche Ateratur: Lichtenberg. 207 


wartſche Gefühlſamkeit. Man konnte ſogar im verſtändigen Nie— 
derſachſen die Anhänger der heißen Züricher Schule zu tauſenden 
zählen; dies veranlaßte eine für unſere Literatur höchſt merkwür— 
dige Oppofitton. Die Oppofitton des geiftreichiten und witzigſten 
unter den deutſchen wiffenfchaftlichen Männern des achtzehnten 
Sahrhunderts gegen Zimmermanns Obſcurantismus und Servi⸗— 
lismus und gegen Lavaters Schwärmeret iſt auch Dadurch nichtig, 
daß Die Achte Satyre bei der Gelegenheit in Deutjchland einhei— 
miſch ward, Bis dahin verſtand man mr. schlechte Witze zu 
machen und grob zu ſchimpfen, wie denn auch Zimmermann Lich- 
tenbergs Satyre blos mit elendem Schimpfen und Schmähen be— 
antwortete. Lichtenberg war ein Geiſtesverwandter Hogarths, als 
deſſen Erklärer er ſich unter unſern ausgezeichnetſten Schriftſtellern 
durch kleine aber witzige Arbeiten berühmt machte, während er 
zugleich als gründlicher Kenner und Lobredner Shakespeares viel 
dazu beitrug, die Deutſchen auf die conventionelle Flachheit und 
Künſtelei des franzöſiſchen, von uns adoptirten Drama aufmerf- 
Jam zu machen. Sein kaltes, weder ſtrengen ſittlichen Grund- 
ſätzen, noch einem tiefen religiöſen Gefühl fortdauernd, wenn auch 
wohl son Zeit zu Zeit, gehorchendes Weſen machte ihn ganz ge— 
eignet, den Unfinm der Sentimentalität, der. Schwärmeret und des 
Bombafts jener Zeit mit feinem ſcharfen und treffenden Wit aus⸗ 
zubeizen. | 
Richtenberg zeichnet ſich vor aller deuiſchen Gelehrien die 
mit ihm ſowohl In mathematiſchen und phyſikaliſchen als in. bel- 
letriſtiſchen Wiſſenſchaften etwa können verglichen werden, ganz 
vorzüglich dadurch aus, daß er nie Mißbrauch von ſeinem Ruhme 
gemacht Hat, Mit andern Worten, er hat nie, was doch ſelbſt 
Göthe und Schiller, wie aus ihrem Briefwechſel hervorgeht, nicht 
unter ihrer Würde hielten, und was: Herder, wie die Maſſen ſei— 
ner Schriften beweiſet, ganz in der Ordnung fand, auf das le— 
ſende Publikum buchhändleriſch ſpeculirt. Er ſchrieb nicht viele 
und dicke Bücher, er affectirte nicht, je nachdem es Die Zeit for- 
derte, bald ſpeculative Philoſophie, bald Frömmigkeit und Viel⸗ 
wiſſerel und wunderliche Empfindſamkeit, wie die andern Ver— 
fertiger witziger Bücher und Romane; er gebehrdete fich daher 
auch nie wie die ſogenannten Humoriſten, als wäre er halbnärriſch 


208 Deutfche Literatur: Lichtenberg, 


und redete nie, wie dieſe, eine unverftändliche Sprache, Wir 
müffen feine Kampfs mit den zahlreichen Phantaften feiner Zeit 
hier um fo mehr gedenken, als aus der Gefchichte deſſelben, be- 
ſonders aber aus feinen eignen Abhandlungen hervorgeht, bis zu. 
welchen unglaublichen Grade das deutjche Publikum und feine 
Literatur yon jeher ein Spielwerk von Scharlatans und Kame— 
radſchaften war, welche fich Einer den Andern loben, in Zeitun- 
gen und Sournalen auspofaunen. — Zum Glüde pflegen fich 
aber diefelben Leute auch gelegentlich wieder zu befehden. Gegen 
die eitle Bande fchreiender Schwärmer und Empfindler fonnte auch 
fogar ein großer Geift wie Lichtenberg nicht durchdringen, ſon— 
dern er mußte fich von einem hochmüthigen Apoſtel der Servili— 
tät, der weder eines gefunden und yerftändigen Gedankens, noch 
eines erträglichen. Styls fähig war, vom elenden Zimmermann, 
im deutfchen Muſeum einen Kalendermacher, Knirps und berglei- 
chen ſchimpfen Iaffen. Der Zufammenhang der Lichtenberg’jchen 
Satyre mit dem Lärm, den am Ende des fiebenten Jahrzehnts 
des Jahrhunderts Phyfiognomifer, Magnetifeurs, Gaßner und 
Caglioſtro in Deutfchland machten, ift übrigens folgender: 
Lichtenberg hatte im September 1777 die. Herausgabe des 
durch Kupferchen und durch Fleine witige Aufſätze unter. feiner 
Redaktion hernach ſehr ausgezeichneten Göttinger Taſchenkalenders 
übernommen, welche vorher fein Vorgänger in der Profefjur der 
Phyſik, Errleben, gehabt Hatte, Er eröffnete die nene Reihe die- 
fer Tafchenkalender mit einer fehr feinen jatyrifch = philofophifchen, 
aber alle Bhrafen Lavaters und Zimmermanns völlig zermalmen- 
den Abhandlung gegen die Phyſiognomik als Wifjenjchaft betvach- 
tet, wie fie Lavater und Zimmermann den Deutfchen aufhängen 
wollten. Er erklärt ausdrüclich in der Vorrede zum bejondern 
Abdruck der Abhandlung, den er im Januar. 1778 herausgab, 
es ſei Feineswegs feine Abficht, ein bekanntes weitläuftiges Werk 
zu widerlegen, Wer diefes thun wolle, müße es wenigſtens nicht 
in Sedez bei einem Publifum unternehmen, bei welchen groß 
Duart fo viel fer als Demonftration. Sch wollte nur, ſetzt er 
Hinzu, einigen: gefährlichen Folgerungen begegnen, die ſchon hie 
und da yon Zünglingen und Matronen aus dieſem Werke gezo= 
gen zu werben anfangen Ich wollte, hindern, daß man nicht 


Deutfhe Literatur: Lichtenberg. 209 


zur Beförderung von  Menfchenliebe phyfiognomtfirte, wie man 
ehemals zur Befürderung der Liebe Gottes jengte und brennte, 
In der fpätern Erwiederung Lichtenbergs auf Zimmermanng Grob- 
heiten, welche diefer den, wie Lichtenberg ſich ausdrückt, von ihm 
aus Berlin verfehriebenen Gedanken Moſes Mendelsſohns voraus- 
ſchickte, gibt ex wortreffliche Aufichlüffe über deutiches literariſches 
Leben, wie es damals war und auch jet wieder zu werden fcheint, 

„Meine Leſer,“ fagt er dort, „müſſen fchlechterdings Feine 
Namen anfehenz die find nichts. Man muß nicht, wie ein fran= 
zöfifcher Abbe und ein englifcher Clerk darauf jehen, wer etwas 
fagt, fondern was er ſagt. In Deutfchland iſt ja ohnedem bei 
dem eingeriffenen Journals und ZeitungssZefegeift der Ruhm ei— 
nes fchönen Schrifttellers das fehnödefte Gut der Erde, Mit et- 
was Gorrefpondenz, Panegyrifchen Prachtbriefen und einem fehle 
lichen Wiederräuchern des Räucherers erwerben ſich taufende eine 
Ehrenwache vor Ihr Häuschen und den Namen eines ſchönen Gei— 
ſtes. Am Ende ift dans blos Keller-Eſels Glück. Auch die hei— 
ßen Taufendfüße und haben eigentlich nur vierzehn. Das macht, 
der Eine kann nicht zählen, der andere fieht nicht ein, warum ex 
zählen foll, und der Dritte mag des verhenkerten Füßelns wegen 
nicht zählen. Der Naturforfcher, der indeffen gezählt Hat, fist 
ſtill, andert wohl gar den Sprachgebrauch nicht einmal und denkt 
im Herzens Der Taufendfuß hat nur vierzehn Füße,” 

‚ Soviel Haben wir jet glüclicherweife gewonnen, daß mar 
in unfern Zeiten feinen Begriff mehr davon Hat, bis zu welchem 
Grade gutmüthige Deutfche, um nichts Schlimmeres zu fagen, im 
achtzehnten Jahrhundert ein Spiel der elenden Künfte folcher Leute, 
wie Zimmermann waren, Solche Leute drangten fih an Fried— 
rich und an Katharina, an alle Fürften und Großen, fprachen 
und fehrieben franzöſiſch, ließen ihre Silhouetten und Portraits 
son Lavater mit Bombaft überfchütten und waren als bie Zierde 
ihres Landes geachtet, Lichtenberg hatte daher ein unfterblich Ver— 
dienst, als er dem Publikum die Augen darüber üffnete, wie 
Ihandlich man feine Vorurtheile und feine Einfalt mißbrauche. 
Bis zu welchen Grade man die dem Deutfchen angeborne Be— 
wunderung des Vornehmen mißbrauchte, wird man unter ‚dem 


Tert aus der Stelle eines Buches fehen, in welchem Marcard 
Schloſſer, Geſch. d. 18. Y% 19, Jahrh. IV. Thl. 4. Aufl. 14 


210 | Deukfihe LReralur: Lichlenberg 


feinen Protektor Zimmermann als Wunder der Welt preifet.22) 
Zimmerman erkannte wohl, daß er fich mit Lichtenberg auf einen 
Streit mit Gründen nicht einlaffen dürfte, hatte aber erfahren, 
daß Mofes Mendelfohn Einiges zu Gunften der Phyſiognomik, 
jedoch weder fiir Lavater noch gegen Lichtenberg gefagt habe, 
er ließ fich, mie es Richtenberg ausdrückt, dieſe Gründe aus Ber 
Yin fommen ind im Märzhefte des deutfchen Mufeums son 1778 
abdruden. Den dort (März, S. 185-195) abgedrudten vier 
Seiten aus Mendelſohns Aufſatze fchieft der hochmüthige, hofdie— 
ende Berner zwei Seiten voll Grobheiten und Ungezogenheiten 
gegen Lichtenberg als Einleitung woraus, die fo fehlecht, ſo gemein 
und fehlerhaft abgefapt find, daß, mer fie jetzt Tiefet, nicht bes 
greift, wie ein Mann, der auch nur zwei Seiten fo fehreiben Fonnte, 
zu feiner Zeit fo berühmt geworden war, Die Blätter Zimmers 
manns beantwortete Lichtenberg tm Juli im einem ganz kurzen 
fatyriſchen Brief, der durch ſeinen meiſterhaften Wit in Beziehung 
auf deutſches Vornehinthim, anf das Prahlen mit erfchlichenem 
Ruhm, auf Titel, auf Orden, anf erſchmeichelte Gunſt des Or⸗ 
loffs und der Großen aller Art und auf Einfluß an Höfen eben 
ſo merfwirdig ift, als Leſſings Antigöze in Beziehung. auf Protes 
frantifches Pfaffenthum. Diefer Brief und die fliegenden Blätter 
Leſſings gegen Göze find das Heftigfte, was die Deuffche Sprache 
in dev Gattung der gegen einzelne Perſonen gerichteten Beredfant- 
Felt und bitterer Ironie (in der Rhetorik Invective genannt), die 
ſich gleichwohl des eigentlichen Schimpfens enthält, hervorgebracht 
hat. Es find zwei ganz verſchiedene Arten von Styhl und von 
ſchneidender Rede, welche Lichtenberg und Leſſing gebrauchen, beide 
vollendet in ihrer Art. Unſere Sprache erhielt alſo faſt zu glei— 
ni a. in —* verſchiedenem neh A —E ur 





44) 8immermanns Verhättniffe mit der a Geffattna n. ab mii 
dem Herru Weilard. Nebſt einer Anzahl Originalbriefe der Kalſerin von H. 
M. Marearbd, Leibmedicus in Oldenburg und erſtem Arzt in Pyrmont. Bre⸗ 
men, bei Karl Seyffert. 1803: 396 S. 8. Kin ſervileres und auf eine ganz 
gemeine Anſicht menſchlicher Verhältniſſe ſchamloſer pochendes Buch wird man 
ſchwerlich leſen Können; allein man wird auch daraus ſehen, welche Autori- 
zat für jene Betten Gunft der Großen und leerer Ruhm war, Hauptzeuge 
für Simmermann iſt na bei Daher = Orlof. — 


Deuiſche Lileralur: Lichlenberg 21 
proſaiſche Schriflen, Göthes Werther, Leſſings eilf Antigöze, und 
Lichtenbergs polemiſche Satyren gegen Lavaters Manier und ge 
gen Zimmermanns Perſon. Daß Lichtenberg ſo wenig als Lef= 
fing den Hang der Deutſchen ſich ſervil anzudrängen, oder ſich 
gaͤngeln und durch Namen täuſchen zu laſſen, ändern konnte, bes 
greift Jeder, der der Menſchen Natur kennt. Wir ſehen in 
Deutſchland, wie in. Parts und London, noch alle Tage, wie 
man immer fortfährt, nach tönenden Phraſen, nach Sournalen, 
Zeitungen, Orden, Titeln und Bekanniſchaften den Werth des 
Menſchen zu beſtimmen und mie man tobenden Zeloten blinden 
Glauben ſchenkt. Leſſings und Lichtenbergs Schriften hatten das 
Schickſal aller wahren Weisheit. Haben doch auch die Schriften 
der Propheten und Apoſtel das Menſchengeſchlecht nicht auf dem 
Wege des Heils erhalten können! 

Lichtenberg ſpricht in dieſem Briefe von Moſes Mendels 
ſohns Abhandlimg mit dev größten Achtung umd zermalmt bloß 
Zimmermann wegen der groben einleitenden Worte, Er ſagt ſehr 
witzig, die Abhandlimg mit der Einleitung verbunden Habe auf 
ihn einen Eindruck gemacht, den er früher in ſelnem Leben mir 
einmal empfunden, als man ihm nämlich einen Pſalter in die 
Hand gegeben habe, bein die Geſchichte des Till Eulenſpiegel vor⸗ 
gebunden geweſen ſei. Er fügt dann Hinzu, daß ihn Mendels- 
fohns Auffak gar nicht angehe, da er ja nicht Die Phyſtognomit 
an fich, die jeder Menſch mehr oder weniger empiriſch treibe und 
treiben müſſe, Habe beſtreiten wollen, ſondern nur des unwwiſſen⸗ 
ſchaftlichen Lavaters vorgebliche Wiſſenſchaft, oder vielmehr feine 
prophetiſch feritimentalen Declamatibnen. Zimmermann hatte ſchon 
vorher Lavater fo lange angekrieben, bis er tim Aprilſtück des 
Muſeums ſeine Sache ebenfalls vertheidigte, boch nicht in Zim⸗ 
mermanns Manier, ſondern im der Seinigen, das heißt, nicht ſüß 
und nicht ſauer, fordern aus beiden abwechſelnd geniſcht. Auch 
dem gerade in demfelben Jahr (1778) gedruckten vierten Bande 
der Phyſtognomik filgte Lavater etwas gegen die Gegner der neuen 
Wiſſenſchaft bet. 

Dieſe Apologie Lavaters beruht, was Lichtenberg angeht; 
ebenfalls auf einem willkürlichen oder unwilltürlichen Mißver⸗ 
ftändniffe, Achtenberg erinnert daher in ſeiner Antwort ganz paſ⸗ 

14* 


212 Deutfche Literatur: Lichtenberg. 


jend, dafs fich Lavater drei Viertheile feines Auffabes Habe erſpa— 
zen können, wenn er nur daran gedacht hätte, daß man, wenn 
man die Widerlegung eines Gegners gar zu leicht finde, immer 
ſich felbft fragen müſſe, ob man nicht etwa in dem Irrthum be- 
fangen fei, daß, wer Einiges von dem angreife, was man bekaup- 
tet habe, auch das Ganze beftreiten oder gar verwerfen wolle, 

: Lichtenberg erreichte durch feine Satyren in diefer Sache um 
jo viel eher und fo viel befler einen erwinfchten Zweck, meil er 
fich, wie jeder verftändige Mann ebenfalls thun würde, weniger 
als einen Gegner Lavaters bewies, als der eiteln Manier, wo— 
durch fich der Züricher Prophet und der Hochmüthige und eitle 
hannöverſche Leibarzt damals in ganz Deutfchland wichtig mach- 
ten, Durch Abhandlungen und feinen Spott konnte man freilich 
auf das Publikum der Starkgläubigen, Sersilen, Sentimenta= 
Sen u. ſ. w. nicht einwirken, man mußte ihnen derb kommen. 
Nur völliger Sanscülottismus, nur frecher Unglauben, nicht ver— 
mittelnde Klugheit fonnen Bahn brechen, wenn einmal Sophiftif, 
Beamtengeift oder Aberglauben in einer Nation vollig die Ober- 
hand gewonnen haben. Lichtenberg gebrauchte daher auch das 
Mittel einer derberen Satyre, um Manier, Ton und Sprache 
der Lavateraner Fächerlich zu machen. Daraus muß man fich feine 
Silhouetten son Zöpfen, von Sau= und Hundsſchwänzen, und 
den dieſen beigefügten im traveftirten Lavaterſchen Bombaſt abge— 
faßten Commentar darüber erklären. 

Wie wichtig dies für unfere zur Schwärmerei und Ueber— 
treibung geneigte Nation, die feinen Mittelpunkt hat, der ein Maß 
ober ein Biel in fich hätte, in jener geiftig bewegten Zeit war, 
jehen wir aus der fihnellen Verbreitung der neuen phyſiognomi— 
ſchen Schwärmerei, Diefe blieb nicht bloß auf die Kreife be- 
ſchränkt, wo man Im Stande war, auf das große, prächtige Werf 
in Quart zu jubferibiren, weil man darauf vechnete, auch für fich 
am Bombaft des Commentars einen Antheil-zu erhalten, ſondern 
fie verbreitete fich auch in den Fleinen Städten. Selbſt in den 
kleinen ſächſiſchen Herzogthümern, wo klaſſiſche Gelehrfamfeit und 
Intereſſe an der deutſchen allgemeinen Bildung vorzugsweiſe ge— 
funden werden, wo aber eben deßhalb auch viel Seichtes geleſen 
and geſchrieben wird, graſſirte dns Lavaterſche Fieber. In Wei— 


Deutfche Literatur: Mufaus. 213 


mar befonders, wo befanntlich ſelbſt neben Göthe und Schiffer 
erft Wieland, dann Mufaus und fein Schüler Kotzebue als Klaf- 
fifer galten, und ihre Arbeiten dem Geſchmack der Bildung und 
Grfahrung des Fleinen und Fleinlichen Publikums, das ſich groß 
wähnte, anpaßten, fehten es ebenfalls nöthig fich Dagegen zu er— 
heben, Die Art, wie dies gefchah, kann dem, der dem Gange 
der deutfchen Bildung durch die kleinen Reſidenzen und ihre Hofe 
und deren Geſchmack folgen will, Gelegenheit geben, den Wit 
derfelben mit der großartigen und wahrhaft Haffifchen Satyre Lich- 
tenbergs zu vergleichen. Der beliebtefte Schriftfteller der Herzog- 
thümer, Muſäus, richtete fih namlich ebenfalls gegen die Phyfiog- 
nomik und fuchte diefe Krankheit der Zeit feherzhaft, oder, mie 
man das nennt, Humoriftifch zu befchreiben. Mufaus fchrieb zu 
diefem Zwecke bie phyfisgnomifchen Reifen, Dies Buch war, wie 
die andern Bücher dieſes befonders von Kotzebue jehr werth ges 
haltenen Mannes, feiner Zeit ſehr gefucht und fehr gelefenz es 
hatte aber zu wenig innern Gehalt oder äußere Bedeutung, als 
daß wir e8 hier, wo nur son Wirkungen nach Außen die Rede 
ift, anders als im Vorbeigehen erwähnen dürften, 

Trotz aller Satyre erlangten jedoch Lavater und Zimmermann 
durch ihre Bemühungen um die Phyſiognomik ziemlich ihren Zweck. 
Ste wurden in ganz Deutfchland und in andern Ländern fo bes 
rühmt, daß jeder vornehme Neifende, der durch Hannover kam, 
nur nach Zimmermann fragte, wie und Marcard berichtet, daß 
die Vornehmen, wie er mit den eignen franzöfifchen Worten eines 
ſolchen Vornehmen hinzu fügt, behaupteten, Zimmermann jet das 
einzige Merkwürdige in Hannover. Nach Zürich gingen gar ganze 
Pilgerzüge, wie nach Rom, 

Seit diefer. Zeit ftanden fich in Deutfchland die Parteien viel 
fchroffer gegenüber, als vorher, weil alfe diejenigen, denen jede 
Neuerung, jedes Fortfehreiten im Styl und in der Sprache wie 
im Denken und im Handeln verhaßt mar, ſich unter Lavaters 
Glaubenspanier ſtellten. Cr ſelbſt ging mit den Jeſuiten Hand 
in Hand, da er fogar, wie wir aus Bronners Leben fehen, mit 
diefen über Bronner korreſpondirte, als er fich aus feinem Klofter 
nach Zürich geflüchtet hatte, ohne Proteſtant zu werden Die 
Sejnitenfeinde in en ſchloſſen ſich daher auch ſeitdem enger 


214 Deutſche Literatur: Pfenninger. 


tenhaupt — glaubte an Gaßners Wunder, wie an die dee 
Evangeliums, empfahl Sailers Andachtsbücher, unterhielt mit Start 
Verbindung und förderte Jung-Stillings wunderliche Schwärmerei. 
Jeder, der in unſerer Zeit Lavaters Schriften, ohne Vorurtheil 
und ohne Schwärmer zu ſein, lieſet, zugleich aber fein Mirken 
und feine Gefchichte kennt, wird begreifen, daß er als angefehener, 
tüchtiger, Freiheit liebender Bürger, als Menſch, als Seelſorger, 
und innerhalb eines kleinen Kreiſes als Liederdichter ſehr geachtet 
ſein konnte, jedermann wird aber unbegreiflich finden, wie man 
ihm dreißig Jahre lang einen angeſehenen Platz unter Gelehrten 
und Schriftſtellern anweiſen durfte. Dies erklärt ſich nur daraus, 
Anhängern verehrt ward und unbebeutenden, si abgeſchmagten 
Leuten, die ſich ſeiner Sache annahmen, durch ſeinen Namen Be— 
deutung gab. Um anſchaulich zu machen, wie beſchränkte Men⸗ 
ſchen ſich durch und an Lavater emporheben, wollen wir nur an 
die Perſon und an die Schriften Pfenningers erinnern. Wir 
würden hier dieſes Mannes gewiß ſonſt nicht gedenken, wenn wir 
nicht an dieſem Kollegen des Züricher Pfarrers recht klar machen 
den Fanatisnus rich, auf welche Art man Loaie huldigte und 
welche Armfeligteiten m man feinen Freunden nachjah. 

dann an Sit. Peter, und Kimpfte für das von Lavater verthei 
digte ſinnliche Chriſtenthum nach Art der Kapuziner. Er ſprach, 
wie dieſe, wenn fie vom heil, Antonius predigen, nur von Glau⸗ 
ben und Wundern, ohne auch nur durch ein Wort zu verrathen, 
daß er ſeine Art Chriſtenthum kritiſch, hiſtoriſch, oder auch nur 
logiſch geprüft oder bewieſen zu ſehen wünſche. Er war dabei 
für Zürich ein bedeutender Mann, wie Lavater, doch auch dort 
mehr für einen engeren Kreis von näheren Freunden, als für Ye 
tem. Nichts beito — machten feine elenden Schriften in mn 
Zeit. des. Kampfs des Lichts und, der Finſterniß bedeutendes Auf- 
fehen und Pfenninger ward neben Lavaler umd um Lavaters willen 
feiner Zeit an allen Enden Deutfchlands genannt, Es war eine 


Deuiſche Literatur: Pfenninger. 215 


ſonderbare Art von Chriſtenthum, welches dieſe Züricher und ihr 
zahlxeicher Anhang in Deutſchland der damals trotz aller ihrer 
Bemühungen hereinbrechenden Aufklärung entgegenſetzten. Pfen— 
ninger und Lavater predigten nicht die hölzerne Katechismuslehre 
des verfegernden Hamburger Hauptpaſtors, fie legten auf manche 
Theile des Herrjchenden Syſtems Feine Bedeutung und Fonnten 
daher, wie man ihnen auch vorwarf, einem Sattler und Satler, 
die von ſtrengen Papiſten ebenfalls verfebert wurden, hie und da 
ſchwärmend die Hand reichen. 

Sie predigten beide eine Weiffagungsgabe der menjchlichen 
Seele , eine fortdanernde Wunderfraft mitten. in unſerer nach, bes 
fannten ewigen und unwandelbaven Gefeben geordneten Sinnen- 
welt, eine Zortdauer einer außerordentlichen Wirfung des heiligen 
Geiſtes und viele ähnliche Dinge, die fie eben jo werth hielten 
und eben jo eifrig verfochten, als irgend eine Wahrheit des Evan— 
geliums. Die Berliner und Hallenſer Yehrten einen Falten Ge— 
genſatz gegen die heißen züricher Theorien, es war daher ewiger 
Streit zwifchen beiden, und der mit den Seinen demüthige und 
zu Haufe ungemein fanfte Pfenninger wüthete für feines Freun— 
des Lehre wie ein. Klopffechter. Der fonft liebenswürdige Mann 
ſchimpft, tobt, ſchmäht in feinen an Gründen durchaus armen 
Stveitichriften gegen die Berliner, gegen Leifing, gegen jeden, der 
dem Berftande nur das geringfte Recht in Religionsfachen ein- 
räumen und fich nicht blind dem Gefühle überlaffen wi, Um 
zu: zeigen, wie weit man das trieb, und um fich erffaren zu können, 
warum. nicht bloß. Lichtenberg Lavater verfpottete und Leffing ihn 
bemitfeidete, fondern fogar Göthe mit ihm brach, der fonft ders 
gleichen Steeitigfeiten, wie jede ihn nicht unmittelbar berührende 
Angelegenheit der Mitmenſchen, von oben her betrachtete und nie 
gegen Perfonen eiferte, wollen wir nur einige Beiſpiele anführen, 
wie Pfenninger Layaters Sache führte Er ſcheut fich nicht, in 
einer der. Streitfchriften gegen die Norddeutſchen feinen, d. h. La⸗ 
vaters Freunden, zuzurufen: 

„Glaubt, wo ihr nicht ſehet, hofft ‚ wo the nicht glaubt, 
hofft ohne Grund, wo nicht mit Grund zu Hoffen if.” In 
dem heftigen Streit, worin Pfenninger als feines Kollegen Schild- 
fnappe ins Feld zog, als dieſer au eine für Proteftanten, höchſt 


516 Deutfche Literatur: Pfenninger. 


befremdende Weiſe Sailers Gebetbuch feinem vornehmen und zart 
fühlenden Anhange dringend empfohlen hatte (da es doch, fo vor— 
trefflich es auch fein mochte, Immer ein ftreng Fatholifches An— 
dachtsbuch blieb), geht er in der umverftändigen Theilnahme an 
Lavaters Eifer fo weit, daß er in den Lächerlichen Ausruf aus- 
bricht: „Sch wollte eine Million Jahre meiner Selig— 
fett daran feten, daß Feiner meiner Korrefpondenten den Ankauf 
des braven Buchs bereuen wird.” Man würde vielleicht unge— 
vecht fein, wenn man den Glauben und ganz bejonders das in 
allen praftifchen, Bortheile bringenden, Dingen fonft jo gefunde 
Urtheil der Schweizer, ihre Art Religiofität und vor allem ihren 
Geſchmack in Literatur und Sprache, darnach beurtheilen wollte, 
daß ihnen Lavater und Pfenninger gute Schriftfteller und tüchtige 
Religionslehrer ſchienen. Die Thatfache ift indeffen unläugbar, 
und fie wurden in eben dem Grade immer ftärfer bewundert und 
ſogar vergottert, je fader fie fchrieen und gegen den Berftand eifer- 
ten, fenfzten, in Ausrufungen ausbrachen oder je umgezogener 
Pfenninger ſchimpfte. Wie weit der Letzte feine Polemik gegen 
ben gefunden Menfchenverftand und gegen den unfterblichen Re— 
präfentanten defjelben, den großen Gründer unjerer Literatur, trieb, 
kann man aus Pfenningers Sammlungen zu einem . 
chriſtlichen Magazin lernen. Wir dürfen in einer allgemei- 
nen Geſchichte die Armfeligkfeiten des Züricher Pfarrers nicht aufs 
nehmen, wir wollen daher in den Noten nur ein Stück feiner ge— 
veimten Polemik beifügen. In den in den Noten mitgetheilten 
Knittelverjen glaubt nämlich Pfenninger, und feine Schweizer mit 
ihm, daß er über Leſſing und über den in der Erziehung des 
Menfchengefchlechts von dieſem geltend gemachten Gedanfen ge- 
fpottet habe, daß Gott in Rückſicht feiner Offenbarungen daffelbe 
Geſetz befolge, welches er in allen Erſcheinungen der Außenwelt 
befolgt Hat. Dies Geſetz ift, daß für endliche durch Raum und 
Zeit beſchränkte Wefen jede ewige Ordnung nur innerhalb diefer 
Schranken gelte, daß alfo jede Offenbarung nur für eine beſtimmte 
Zeit ertheilt werde,45) 


45) Die ſchönen Verſe Pfenningers gegen ein Metfterwert, wie die Er- 
ziehungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts tft, lauten folgendermaßen: 


Deutfche Literatur: Jung⸗Stilling. 217 


Einen mächtigen Gehülfen erhielten die Schweizer Theologen 
an einem Mann, deffen Originalttät nicht zu bezweifeln tft und deſſen 
Borftellung der göttlichen Weltregterung auch in unferer Zeit 
viele Anhänger hat: Ihm war jedoch die Art, wie Lavater Gott 
und feine Vorfehung handgreiflich machte, viel natürlicher Als 
dent Schweizer Theologen. Iung-Stiffing nämlich ward durch 
Göthe, Herder, Lavater, alfo von ganz verſchiedenen Geiftern zu 
einer Bedeutung unter unferer Nation gebracht, die mehr auf feinen 
fonderbaren Schieffalen und auf der in ihm perjonifizirten und 
fpäter im idylliſchen und fentimentafen Styl feiner Zeit vorge— 
tragenen Denfart und Lebensweiſe einer gewiſſen Klaffe unferes 
niedern Volks, als auf irgend einer ausgezeichneten Geiftegeigen- 
ſchaft beruhte. Die Menfchenklaffe, welche Jung-Stilling repräfen= 
Hirt, ift befonders in Weftphalen zu Haufe. Ste tft aus der Bibel, 
die fie gerade jo verfteht, wie das Wort Tautet, belehrt und ges 
bildet, fie hat Theil an jenem Geifte der Betrachtung, der in 
Weſtphalen feit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts fortlebt, 
. and Hat noch jebt im Wupperthale ihre Metropole, Diefe mußte 
nothwendig den Anfichten Lavaters ganz anschließend Huldigen, 
Solche Leute Haben son der Gottheit und von der Vorfehung 
eine fire, feit mehren Sahrhunderten überlieferte Idee, welche 
ſowohl der Publieift und geübte Weltmann Pütter, als der 
Schneider und von der Welt entfernte Jung-Stilling in Weft- 
phalen mit der Muttermilch eingefogen hatten. Sie, wie die 
Juden, von denen fie im A. T. Iafen, konnten nichts Befremden- 
des darin finden, daß der Gott der Chriſten eine Art menfchlichen 
Körper habe, daß er fortdauernd Forperlich und finnlich die Men- 





— — — wenn num voll Zuverficht 
Ein Schöngeift, als aus höherm Licht, 
In numerirten Säben fpridt: 
„Dies war der Nuten, den es Hatt’ 
„Wenn Schwäcre etwas heller ſehen, 
„(Und dies kann wahrlich bald gefchehen), 
„Mag Gotteswerf dann untergehen. 
„Mags jeder, wie fein Decliniren 
„Der Studioſus, fortfpediren.” 

So ſpricht er troß dem höhern Licht 
Wahrhafttg, wie — — — ein Säugling fpriät, 


213 Deuiſche Literatur: Jung⸗Stilling 


ſchen regiere, und gewiſſermaßen am Strick leite. Dieſe Anſicht 
iſt poetiſcher als die der Gebildeten von ewigen unwandelbaren 
Geſetzen, von einer nur im Geiſte gegenwärtigen, nur geiſtig 
wirkenden Gottheit; freilich führt dieſe Anficht doch am Ende den 
Dentenden zu demjelben Reſultat wie die philofophifche. Ein 
Mann, wie Jung-Stilfing, der bei jedem Sehritt und bei jeder 
Handlung nach diefer Anficht verfuhr und wirklich, nicht affeftixt, 
jede Geldhülfe, die ihm zu vechter Zeit kam, als ganz unmittel- 
‚bar son Gott kommend anfah, war Dichtern wie Herder und 
Göthe eine merkwürdige Cricheinung. Diefe Art, wie er dag 
Leben auffaßte, wie er feine Schickſale erzählte, wie er die Wege 
der Borfehung verftand, ſchien ihnen eine Idylle und eine Natur- 
poeſie eigner Art, weil fie nicht gemacht ward, alfo nicht durch 
das Kunftgebilde der Form den Hörer gewann, ſondern wie ein - 
Gewächs aus einem ganz eigenthlmlichen Boden entiproß, 26) 
Dies. bewog die Dichter, die Jung-Stilling perfünlich kennen 
Vernten, ihn zu vermögen, fein Leben zu fehreiben, oder vielmehr 
das Beginnen zu unterftügen, feine Anficht des Lebens dem Pub— 
likum mitzutheilen, fo wenig er auch dev Sprache dev gebildeten 
Melt damals noch, mächtig war. Sein Styl paßte zu der Art 
Lebens wird immer das Befte unter einen vielen Büchern bleiben. 
Dier Theile eines folchen Lebens waren freilich zu viel; Die bei— 
den erſten 1778 und 1779. unter dem Titel: Jung-Stillings 
Leben und Wanderfchaft, erichlenenen Bände enthalten 
jedoch unftreitig eine anziehende, aus Wahrheit und Dichtung 
gemifchte, Fromm empfindfame Idylle ganz eigner Art, Ein Lefer, 
der der gedrechfelten Perioden und der erfünftelten Empfindungen 





46) Welche eifrige Anhänger der gute Jung: Shiling unter Seines⸗ 
gleichen noch jest in Weſtphalen haben muß, Hat der. Verfaffer noch in die- 
fem Jahre, alfo fehr Lange nad) der Erſcheinung der. dritten Auflage des 
Buchs erfahren. Ein Anhänger Stilfings bat im Sayn und Altenſteinſchen 
Wochenblatt, wo ſonſt nur Anzeigen mercantiler Art enthalten ſind, ſeiner Wuth 
über das achtzehnte Jahrhundert und deſſen Verfaſſer Luft gemacht und ihm das 
Stück Löſchblatt, worauf dies gedruckt war, auf der Poſt zugeſchickt. Hätte er 
gewußt, wie oft der Verfaſſer dergleichen erhalten hat und wie ſehr ihn der⸗ 
gleichen Kleinſtädterei qmüſirt, er hätte ſich gewiß die Mühe nicht gegeben. 


Deulſche Literatur: Jung⸗Stilling. 219 


und Verwicklungen der zahlreichen Nomane, der Tächerfichen Sprünge 
der damaligen Kraftgenies und der nachherigen Romantiker, ſowie 
der oft an das Taumeln der Betrunkenen erinnernden Verzer— 
rungen der ſogenannten Humoriſten müde und überdrüſſig iſt, 
ſieht ſich durch Jung wenigſtens in die Natur verſetzt, wenn dieſe 
auch oft an unreinlichen und ſumpfigen Stellen nicht gerade lieb— 
lich ift. Man wandert trotz des elenden Style, der durchaus 
unedlen Sprache und. der oft gemeinen Anficht des edelſten Theils 
vom menfchlichen Wefen und Streben nicht ungern an der Hand 
des originellen Mannes durch verfehiedene Stände, Orte, Ver— 
haltnifje, mit denen man ſonſt, wenn man in Städten erwachſen 
und auf die gewöhnliche Weiſe gebildet iſt, ganz unbekannt bleibt, 
Der Ton biederer Herzlichkeit, das Troftende, welches der Ver— 
fafler in allen den fonderbaren Lagen. feines Lebens findet, die 
Art, wie ev Gott gebraucht, wenn er vom wandernden Schnei— 
dergeſellen zum Freund des vortrefflichen Carl Friedrich von Ba— 
den nach und nach durch die Fügung der Umſtände, oder, was 
einerlei iſt, durch die Vorſehung hinaufgeführt wird, ſöhnen uns 
mit der unſchuldigen Einbildung, die er von ſich felbft hat, aus, 
Mir bewundern die Eitelfeit dev Gotteskinder und die fromme in 
ihren Büchern herrſchende Klugheit, welche ſehr geſchickt Gott und 
alle Menſchen als bloßes Werkzeug zum Dienſte einer ganz klei— 
nen Perſon zu gebrauchen verſteht. 

Unſtreitig iſt übrigens, daß Stillings Leben und Wander⸗ 
jahre, beſonders jedoch nur die zwei erſten Theile, in jener be— 
wegten Zeit Epoche machten und gewiſſermaßen einen ganz eignen 
Kreis von Leſern anzogen. Die Anſichten des Verfaſſers waren 
nämlich noch die des Volks ganzer Gegenden und Provinzen 
von Deutſchland. Die Stifter der neuen Literatur waren dieſen 
zu hoch, oder dieſe Literatur ſelbſt ihnen zu weltlich, die Vor⸗ 
ſtellung eines Gottes, der jeden einzelnen Menſchen am Seil führt, 
war ſehr bequem; Jung⸗Stilling erhielt daher in Deutſchland, 
wie Pfenninger in der Schweiz, bald weit mehr Gewicht, als 
beider Kenntniſſe, ihre Fähigkeiten und die Form, die ſie ihren 
Schriften geben konnten, verdienten. Darauf gründete denn freilich 
Jung⸗Stilling, der nach der. Bekanntmachung feiner Jugendge— 
ſchichte zünftiger Gelehrter oder Univerſitätsprofeſſor geworden war, 


220 Deutſche Literatur: Geſchichte. 


eine Buchmacherei, mit der wir hier nichts zu thun haben. Alle 
ſeine, ſeitdem als Fabrikate gefertigten myſtiſchen Romane gehören 
nicht der allgemeinen Literatur, ſondern einer ganz beſondern 
Gattung an, welche für die Leute beſonders beſtimmt iſt, denen 
das gewöhnliche Tageslicht an den Augen wehe thut, die ſich 
deshalb gern in ein Helldunkel oder gar ganz ins Dunkle ſtellen. 
Wir ſchweigen daher vom Florentin von Fahlendorn, vom Leben 
Theodors von der Linden, son Theobald oder die Schwärmer. 
Nur über das letztere Buch müffen wir für den, der. die Myſtik 
jener Zeit und ganz befonderd die Roſenkreuzerei, welche den 
König Friedrich Milhelm IL. in ihren Neben hielt, kennen und 
verfolgen will, bemerken, daß er dort ſehr brauchbare Notizen 
findet, Man lernt nämlich aus diefem Roman eine bedeutende 
Anzahl der Geheimnißkrämer und Myſtiker Fennen, welche in 
jenen Zeiten in den Nheinlanden ihr Weſen trieben, und Yernt 
son dem Yeichtgläubigen Jung-Stilling, wie man ganz ernfthaft - 
und. al8 wenn man Dofumente vor fich Hätte, die Gefchichte diefer 
Myſtik, die leider nur zu viel son Gaunerei in ſich und an fich 
hatte, von Mofes, Zoroafter und der Agyptifchen Priefterfchaft, 
vermöge der Tempelherrn des Mittelalters zu Chriftian yon 
Rofenfreuz herabführte, 


$. 6. 
Geſchichte. 


Die deutſchen Univerſitäten, wenn man etwa Leipzig wäh— 
rend einer kurzen Zeit ausnimmt, waren ihrem Charakter als 
gelehrte Anſtalten aus den Zeiten des ſpätern Mittelalters treu 
geblieben und ihre Lehrer hatten mit ziemlicher Verachtung auf 
die Revolution der Literatur, die unter ihren Augen vorging, 
herabgeblickt und ihr gelehrtes Gewerbe für Geld fortgetrieben, 
wie vorher. Selbſt als hernach die Univerſitätspolitik vorſchrieb, 
einzulenken, und als man ſich das Anſehn gab, in Göttingen und 
in Jena neben den Brodfächern auch Volksliteratur begünſtigen 
zu wollen, beklagten ſich die Glieder des Hainbundes in Göttingen 
und ſpäter Schiller in ſeiner Correſpondenz bitterlich, daß auf 
deutſchen Univerſitäten für wahre Humanitätsbildung keine Stätte 


De utſche Literalur: Geſchichte. 221 


bereitet fei, Vortheilhaft war es übrigens für die Bildung unfe- 
ver Nation, fo weit diefe won den eigentlich nur für die ſoge— 
nannten Brodwiſſenſchaften beftimmten Staatsanftalten ausging, 
daß die hannöverſche und die mweimarfche Regierung auf ihren 
Univerfitäten ein ganz verſchiedenes oder gar entgegengejeßtes 
Syſtem befolgten. Dies hatte die Folge, daß im neunten Jahr— 
zehnt des Jahrhunderts Göttingen Sitz der reellen und materiel— 
len, Jena der idealen und äſthetiſchen Wiſſenſchaft wurde. 

Göttingen war ſeit ſeiner Errichtung ganz beſonders für die— 
jenigen Fächer eingerichtet, die man in Hannover und London 
nützlich und reell, oder wie man jetzt vornehm ſagt, materiell 
brauchbar fand, Wer Haller als Ausnahme anführen wollte, 
würde vergeflen, daß er nicht als Belletrift, jondern als Anatom 
und Phyfiolog nach Göttingen Fam, und wäre dies auch nicht, 
jo gehörte er ja der Gottichedfchen und Bodmerjchen Periode an 
und reichte wenig über fie hinaus, Was man aus Göttingen 
machen wollte, jehen wir aus einem Originaldoeument in Bü— 
ſchings Selbitbiographie, wo die fammtlichen Männer, die der 
sergutterte Herr von Münchhaufen dort verfammelt Hatte, aufge 
zählt werden, Zu der Maffe ganz nach alter Weiſe grundge- 
Iehrter, den Hofmanieren der alten Zeit mit Reſpect Huldigenden 
und die adelige Jugend zu denfelben in fteifen Geſellſchaften 
dreſſirenden conſervativen Gelehrten, gehörte nothwendig eine un— 
geheure Menge von Büchern ; auch dafür wurde geforgt. Münch— 
haufens Orakel waren Michaelis und Pütter, bis ſpäter Heyne 
den Erſteren verdrängte. Die Namen dieſer beiden, als eigent- 
liche Gelehrte, der Lebte auch als Juriſt, höchſt achtbaren und 
ausgezeichneten Männer, bezeichnen ſchon allein Hinveichend die 
Art von Bildung und von Literatur, die fie fürdern konnten; 
auch haben fie es und überdem in ihren Lebensheichreibungen 
ausdrücklich gejagt. 

Pütter blieb auch nach Münchhauſens Tode Orakel der han- 
növerſchen Regierung und Georgs III., der ſich perfünlich um 
Göttingen befümmerte und an Pütter "einen Mann fand, der 
eben ſo jtarfglaubig und bibelfeſt war, als ex ſelbſt. Michaelis 
mußte Heyne nachitehen, der freieve Anfichten Hatte, und mit 
großer Vorſicht einiges neue Licht in die Büchergelehrſamkeit 


222 Deuifche Biksrahltt Gedichte. 


deutſcher Hörſäle zu bringen fuchte. Zur Beförderung hiſtoriſcher 
und ſtaatswiſſenſchaftlicher Studien, wovon hier die Rede iſt, 
konnten ſich Heyne und Pütter leicht vereinigen, denn Pütter 
ſelbſt galt ja in unſerm Vaterlande, wo man nur documentariſche, 
juriſtiſche Geſchichte, welche blos das Aeußere anging, kannte, 
für einen tüchtigen Hiſtoriker. Das war er allerdings, ſo tet 
an zur Geſchichte einer Serle und einer lebendigen Auffaſſung 
des Lebens und dev Menfchen nicht Bedarf, Gr kannte die Ges 
jeße, die Verfaſſung, die unſelige Juſtiz unſeres Daterlandes 
beffer als irgend ein anderer. Pütter: wußte jede noch fo Fleine 
Thatſache dev ſogenannten Reichsgeſchichte und kannte alle ihre 
Quellen, vom dickſten Folianten bis zu der für irgend einen 
Reichsritler auf einem Reichsdorfe über einen Punkt der Gerichts: 
barkeit oder über Beuutzung eines Waldes oder einer Weide ges 
ſchriebenen Deditetion. Gr war mit dem Labyrinthe der deutſchen 
Rechts⸗ und Gerichtsverwaltung fo vertraut, daß man ſogar von 
Wien aus, wo er doch für einen Gegner taiſericher Juſtiz galt, 
ſich som ihm den Faden der Arladne erbat und ihm eine Reſchs— 
hofrathſtelle anbot. Win die Art Geſchichte, die Pitter perftand, 
lehrte und trieb, buhlte jedermann und ehrte den, der fie trieb, 
eine andere Yorke bet der beſtehenden Ginvichting des Reiche 
und der einzelnen Negterintgen, beim Mängel jeder Art von 
Oeffentlichkelt unmöglich aufkommen. « 

Pütter ward von allen deutſchen Fuͤrſten, Reichsgrafen und 
Baronen, von Staaten und Städten mehr geehrt und geſucht, 
als irgend einer der größten Geiſter, (Göthe, der Miniſter, war 
allein ausgenommen) je geſucht worden tft, und die beiden nicht 
ganz dünnen Bande ſeiner Autobtogtaphte find beſonders beftimmt, 
dies documentariſch nachzuweiſen. Putters Reichsgeſchichte war 
daher auch das Ideal des einzigen Publikums fir Geſchichte, 
welches es damals in Deutſchland gen Dies war der Theil 
des Adels, der nicht blos NIC Bier Ins, und die Juriſten. 
Um PBütters hiſtoriſch- juriſtiſche eisheit, die gegen jede an— 
dere durch det Küraß der Gelehrfamkeit feſt machte, einzuſam⸗ 
meln, vereinigte fich in ſeinem Hörſaale tn jedem Halbjahre 
vegelmäfsig Deutſchlands adelige und juriſtiſche Ariſtokratie. Man 
leſe nur in feiner Selbſtblographie das genaue Namensberʒeichniß, 





Deuiſche Literatur: Geſchichte. 23 


in welchen alle die, welche auf englifchen Univerfitäten befondere 
Kleidung tragen, nach, Stand und Würden gebührend ausgezeich— 
net find, wie fie auch für die Gebühr damals in den Göttinger 
Auditorien einen befondern Platz Hatten. Da waren, wie Pütter 
jubelnd über die von ihm verbreitete Nationalintelligenz uns mel 
det, Fürften und Neichsgrafen und ihre adeligen Begleiter und 
ihre hochanfehnlichen Hofmeifter, da waren Barone, Neichäritter, 
Patrizier unſerer und Schweizer Städte; die Andern werden nur 
gezählt und nicht genannt (numerus et sine nomine vulgüs). 
Alfo Alle, die an Geſchichte Theil nahmen und nicht zu denen 
gehörten, son denen Pütter mit Homer urtheilte, daß fie ſeien: 

Nie im Kampfe Gerechnete oder im Rathe, 

wollten entweder ihr eignes Glück, oder das Glück derer, in deren 
Dienfte fie vornehm und reich wurden, auf Feudalrechte des Mit: 
telalters gründen, oder aus dem ſogenannten deutſchen Rechte und 
der Geſchichte machen, was fih zu ihrem Vortheil daraus machen 
Vieß. Dar die hiſtoriſchen Wiffenfchaften in Göttingen ganz feu— 
daliſtiſch getrieben wirrden und man dort nach unſerer eigenen 
Erfahrung an Werktagen unter Büchern und Dedichionen und 
Nobleffe, am Sonntage in feldenen Strümpfen auf Viſiten war, 
fo flüchteten fich Alle, die etwas freier zu athmen füchten, zur 
Philoſophie, die in Göttingen nicht gefunden ward, oder vom po= 
fitisen Necht zum Vernunftrecht. Dies zog dann Die Plebejer 
und jeden, der freier athmen wollte, erſt zu Darjes nach Frank 
furt a. d. Oder, dann nach Serra, als dort felt 1787 eine Art 
philoſophiſcher Offenbarung Hinter einander von Reinhold, Fichte 
und Schelling mit ſolcher Zuverſicht verlündigt ward, daß wir 
Alle in der That glaubten, alle Räthſel menſchlicher und göͤttli⸗ 
cher Dinge würden in Jena gelöſet. 

Neben Pütter ſtand fein Landsmann. und Sinnesverwandter 
Achenwall, ebenfalls Profeſſor der Rechte, welcher Geſchichte umd 
Staatswiſſenſchaften vereinigte und im der erſteren nicht ſowohl 
eine bildende und philoſophiſche Wiſſenſchaft, als vielmehr eine 
nützliche und: brauchbare erkannte. Er lehrte für dieſelben Leite, 
die ſich um Pütter ſammelten, die Kenntniß des Beſtehenden und 
Geltenden, feine Erfindung der Statiſtik ſollte den Kreis der re— 
ellen Kenntniſſe, nicht den Der Ideen erweitern, dem Gedächtnifſe 


224 Deukfche Literatur: Geſchichte. 


eingepragt. werden, nicht lehren, wie man im Leben über das Les 
ben urtheilen jolle. Seine Weisheit ward, wie die der andern 
Göttinger Profefforen, hauptſächlich Gompendien vertraut, Bü— 
hing war nur eine vorrübergehende Erſcheinung in Göttingen, 
auch ſchrieb er feine Erdbefchreibung und ferne übrigen Hiftorifchen 
und gesgraphiichen Schriften zwar mit dem lobenswerthen Zleiße 
und der Genauigkeit der sorigen Zeit, aber auch ganz im Style 
und Geſchmack derfelben, jo daß hier von ihm die Rede nicht fein 
kann. Gatterers Verdienſte um die Fortfchritte der deutfchen all- 
gemeinen Bildung befchränfen ſich auf feine geographiſchen Be— 
mühungen, alle feine anderen Schriften, deren gelehrtes Verdienſt 
zu würdigen hier nicht der Ort ift, gehören der erfte Hälfte des 
Sahrhunderts an und ihrer Art, Geſchichte zu betrachten und zu 
behandeln. Geographie behandelte Gatterer mit Sinn und Ge— 
ſchmack und erleichterte nicht blos das Studium derfelben, jondern 
paßte es dem Bedinfniffe des Lebens und fogar den von den Ur— 
hebern der neuern Erziehung gepredigten Grundſätzen vortrefflich 
an. Sein PBerdienft von biefer Seite, auch in Rückſicht der 
son ihm feinen Zuhörern mitgetheilten Karten, die nicht eigent- 
Yich in den Buchhandel gefommen find, tft nie —— aner⸗ 
kannt worden. 

Schlözer war Michaelis und Achenwalls Schüler, von fe 
nem Geſchmack und feiner elaffiichen Bildung läßt ſich daher we— 
nig fagenz doch machte er in Deutfchland Ausnahme und Auf- 
fehen, weil er Statiftif, Staatsrecht und Staatswiffenichaft, wenn 
auch oft wunderlich und burſchikos, doch nicht nad dem Schlen— 
drian trieb, denn er war der ruffiichen Autokratie geneigter, als 
der Deutichland beherrichenden Ariftofratiee Auch die Manier, 
wie er im Gegenfab gegen Herder, den er ſchrecklich mitnahm, 
Aniverfalgefchichte trieb, war in ihrer Art genial, wobei er frei= 
lich in feinem profaifchen Trob eben fo weit ging, als Herder im 
poetiſchen. Sein Hauptverdienſt um die Fortichritte Deutſchlands 
zu einem freieren, von Servilität entfernten Leben erwarb er fich, 
sie wir unten anführen werden, durch fein Journal, welches ein 
Schrecken aller Heinen Despoten, Obfeuranten und decretivenden 
Deamten ward, ME Forfcher war er allerdings groß und nütz— 
lichz aber son den Urgeſchichten des Nordens, denen ex einen 


Deutſche Literatur: Geſchichte. 2 


Quartband widmete, von ſeinen Arbeiten in Schweden und Ruß— 
land, von ruſſiſchen, ſchwediſchen, lithauiſchen, türkiſchen Geſchich— 
ten, die er gelehrt behandelte, kann hier nicht die Rede ſein, wo 
nur von bildender Literatur und von Wirkungen aufs Volk, nicht 
auf die Gelehrten, gehandelt wird. Alle dieſe Geſchichten, wo— 
durch ſich Schlözer eines Platzes in den ſogenannten kaiſerlichen 
oder königlichen Akademien, vielleicht auch eines Ordenbandes wür— 
dig machte, waren im Styl und im Geſchmack der Maſcov und 
Gebauer geſchrieben, die ihm zunächſt vorangingen, und deren an— 
dere Verdienſte ſo groß ſind, daß ſie des Lobes der Philoſophie 
und des Geſchmacks leicht entbehren können. 

Schlözer war ſchon 1764 Göttingiſcher Titularprofeſſor ge— 
worden; er hatte ſich aber hernach in Petersburg aufgehalten und 
ward erſt 1769 Lehrer an der Göttinger Univerſität. Da er 
Achenwall nicht beeinträchtigen wollte, und ſeine Vorträge über 
Geſchichte von Nord- und yon Südeuropa nur eigentlichen Ge— 
lehrten anziehend fein Fonnten, jo fuchte er eine ganz neue Uni— 
verſitätswiſſenſchaft, die Univerfalgefchichte, zu ſchaffen. Es Fam 
alſo Schlözer früher auf den Gedanken einer derben Philoſo— 
phie der Gefchichte der Menſchheit, als Herder den einer luf— 
tigen ausführte. Er hielt namlich Vorträge über das, was. er, 
nach feiner Art das Univerfum zu betrachten, Univerſalhi— 
ſtorie nannte, fehrieb auch ein Büchlein darüber, in welchem 
geiftreiche Einfälle und finnreiche Andeutungen mit den craffeften 
und derbften Machtiprüchen abmwechfeln. Die Schlözer'ſchen Vor— 
leſungen und das Büchlein, welches ev 1772 und 1775 unter dem 
Titel: Vorftellung der Univerfalhtftorie, und in ber 
dritten Ausgabe (1. Theil 1785. 2. Theil 1789) unter dem Ti— 
tel: Weltgefhichte nach ihren Haupttheilen im Aus— 
zuge und Zufammenhange, herausgab, fielen in die Zeit, 
als Herder durch feine Ideen viel Auffehen machte. Beide Män— 
ner und ihre Gefchichten konnten vecht gut neben einander der 
Nation nützen; ein Streit zwifchen ihnen fehten unmöglich, weil 
der eine die Gefchichte von den Wolfen herab, der andere. von 
der Höhe des jet zwar grünen, damals aber noch kahlen Haim— 
bergs aus betrachtete. Ste geriethen gleichwohl in furchtbaren 


Zwiſt, weil beide durchaus Leinen Widerfpruch vertragen konnten. 
Schloſſer, Geſch. dr 18. 1 19, Jahrh. IV, Th. 4 Aufl, 45 


226 Deuiſche Literatur: Geſchichte. 


Beide Männer waren offenbar zu lebhaft, zu ſehr von ſich 
und son dem ihnen won ihren Anhängern geipendeten übermäßt- 
gen Rauchwerf eingenommen, um mit Ruhe und völliger Unpar- 
teilichfeit die ganz verſchiedenen Syfteme und Anfichten der Na- 
turforfcher und Hiftorifer über die Erde und ihre Bewohner, oder 
den relativen Werth der verſchiedenen Religionen, Nationalitäten, 
Literaturen, zu würdigen und ein Gemälde aller Zeiten und Völ— 
fer zu entwerfen, welches auch Diejenigen befriedigen. fonne, Die 
auf eine andere Weiſe als die beiden Univerſalhiſtoriker gebildet 
wären. Herder hatte weder Naturftudien gemacht, noch Aſtrono— 
nomie, Gengnofie und ihre Hülfswifjenfchaften lange und gründ- 
lich ſtudirt; geveifte, folide und verdaute hiſtoriſche Gelehrjamfeit 
beſaß er ebenfalls nicht; er ſchrieb daher feine Weltgefchichte, wie 
er ein epifches Gedicht würde gefchrieben haben, Im Sturme 
feiner Bewegung achtet ex weder auf das logiſche Geſetz der Ver- 
bindung der einzelnen Behauptungen, noch iſt er ſtark an Ge— 
dächtniß oder an Kritik; Schlözer dagegen ift als Univerſalhiſto— 
riker fo Teidenfchaftlich und heftig, als er ſtets im Leben war, Er 
ift ganz im Aeußern verloren, nur die Ericheinung, nur ſinnliche 
Größe, Feine intellectuelle oder contemplative Eigenſchaften erkennt 
er an. Phantaſie, Gefühl, wahre Seelengröße und Alles was 
damit zuſammenhängt, läßt er kaum als weſentliche Eigenſchaften 
des Menſchen gelten. Man iſt verſucht, zu lachen, wenn er, wie 
wir ihn (17954796) zuweilen auch auf dem Katheder thun 
hörten, mit drolliger Heftigkeit die Rechte und Vortheile des äu— 
Bern Lebens, oder wie es jetzt heißt, die materiellen Intereſſen, 
die keiner Vertheidiger bedürfen, oder wenigſtens keinen Profeſſor 
begeiſtern ſollten, weil es ihnen ja ſelbſt unter den Wilden nicht 
an Vertheidigern mangelt, gegen Beeinträchtigung von Seiten der 
Poeſie und Philoſophie vertheidigte. Die Welt des Griechenthums 
ſteht ihm daher gegen die neuere weit zurück, die geiſtige Größe 
der Griechen mit allen poetiſchen Eigenſchaften ihrer Helden ver— 
ſchwindet aus ſeinen Augen vor der unzählbaren Menge der Mon— 
golen und Tartaren, und Miltiades wird ihm zum Dorfſchulzen, 
verglichen mit den rohen Hordenführern und mit einem Attila 
und Tamerlan, die an der Spike von Hunderttauſenden Fechten. 
Die in den Heinen Staaten der Griechen zufammengebrängte, co— 


Deutſche Literatur: Geſchichte. 227 


loſſale, moraliſche Größe menſchlicher Freiheitsäußerung bemerkt 
Schlözer nicht, weil ſein Auge nur beim Anſchauen der phyſiſchen 
Ausdehnung der großen aſiatiſchen Despotien zu verweilen ge— 
wohnt iſt. Es laäßt ſich jedoch nicht läugnen, daß Schlözer, wenn 
er auch in ſeiner dreiſten Manier zu weit ging, doch eigentlich 
den Weg bahnte, der allein zu derjenigen Art Geſchichte führen 
konnte, deren unſere Zeit bedarf. Er wendete namlich die Grund— 
ſätze eines Voltaire und Bolingbrofe auf unfere gelehrte Gejchichte 
an; aber er verband mit ihrer Kritif das, was beiden mangelte, 
gelehrte Forſchung, gründliche Keuntniß des Einzelnen und aller 
Hülfswiffenfchaften der Geſchichte. Er entzog zuerſt die alte Ge— 
jchichte der tyranniſchen Herrſchaft der Theologen, weil er, zum 
gründlichen Sprachkenner und Gregeten yon Michaelis gebildet, 
die jüdische Gefchtehte wie andere Gefchichten behandeln lehrte. 
Schlöger war freilich nicht ganz unbefangen, das bewies er 
durch feine Polemik während der holländischen Unruhen und durch 
feine Streitfchrift für Ludwig Ernſt von Braunfchweig, wie durch 
feine Heftigkeit zu Gunften König George III. und der englischen 
Ariſtokratie gegen die Nordamerifanerz allein fein Rechtsgefühl 
machte ihn doch ſonſt überall zum Verthetdiger der natürlichen 
Rechte und des gefunden Verſtandes gegen Feudalrecht, weraltetes 
Urkundenrecht und hergebrachte trrige aber doch allgemein herr— 
ſchende Meinungen. Schlözers fogenanntes Zeltungscollegtum und 
feine Vorlefungen über Polttif, welche. freilich ſpäter eine etwas 
Stark conſervative Nichtung nahmen, waren, befonders weil fie in 
Göttingen, wie es damald war, gehalten wurden, einzig in Ihrer 
Art, da Schläger jede Rechtsverlegung und jede Tyrannei erfuhr 
und mit der ihm eignen Heftigkeit verfolgte. Was die Zeitungen 
nicht ſchreiben, was ſelbſt fein Journal nicht aufnehmen durfte, 
verfimdigte ev einem zahlreichen Kreiſe son Zuhörern, ber freilich 
fett der Zeit der Revolution verſchwand. Wir erfennen beſonders 
in der Art Wirkſamkeit, welche Schlözer neben einem Pütter, 
Meiners und Ihresgleichen in Göttingen hatte, den Geift feiner 
Zeitz das vereinigte Streben aller Klaffen und Stände und Kon— 
feffionen, Freiheit des Getftes und der bürgerlichen Bewegung zu 
erringen, die Bande des Mittelalters, der Feudalität und des fie 
benzehnten Jahrhunderts zu zerbrechen. Dies iſt um fo merkwür— 
15* 


228 Deuiſche Literatur: Geſchichte. 


diger bei Schlözer, als er gerade in den erſten fünfzehn Jahren 
ſeines Lehramts unglaublichen Zulauf hatte und mit der ihm 
eignen Freimüthigkeit, Derbheit und Heftigkeit vor Leuten redete, 
die in unſern Zeiten mit Abſcheu vor ihm zurückbeben würden, 
wenn er, was ſchwerlich der Fall ſein möchte, überhaupt in dem 
Ton öffentlich reden dürfte, 

Spittler, der: beſonders in den Jahren 1780—1795 in Göt⸗ 
tingen glänzte und deſſen ohne alle Deklamation oder Sophiſtik 
ungemein leichten und glänzenden mündlichen Vortrag der Ver— 
faſſer dieſer Geſchichte um jo mehr bewundert hat, je mehr Spitt⸗ 
ler in ſeiner Manier einzig daſtand, begann ſeine Laufbahn als 
gelehrter Forſcher und endigte ſie als Miniſter des ärgſten Des— 
poten Deutſchlands; nur die Mitte ſeiner Laufbahn gehört daher 
hierher. Forſchungen über Kirchengeſchichte und canoniſches Recht 
empfahlen Spittler zuerſt als Gelehrten, als furchtbaren Feind 
aller der Betrügereien, Lügen und Fälſchungen, wodurch herrſch— 
ſüchtige Pfaffen im: Mittelalter die Menſchheit unter ihre Gewalt 
gebracht hatten, und’ zugleich als Kirchenhiftorifer; er wandte fich 
aber bald zur politifchen Gefchichte. Seine erſte gelehrte Diſſer— 
katton bewies. den’ Gelehrten, für welche ſie allein) beftimmt war, 
die völlige Nichtigkeit des päpftlichen Kirchenvechts und des byzan— 
tiniſchen Kirchenglaubensz ſchon fein Handbuch der Kirchenges 
ſchichte war aber: wie feine fpätern Werfe fiir den gebildeten Theil 
des Publikums beftimmt, welches damals im Geistlichen und Welt- 
Kichen jeine alten gejetlichen Rechte wieder, zu erfämpfen ftrebte, 
Das Handbuch der Kirchengefchichte verfündigte nämlich ganz kurz 
und populär dns Refultat- feiner Forſchungen über das, was 
Schlözer Hildebrandismus des Mittelalters: zu nennen pflegte, 
Mit andern Worten, Spittler bekämpft nicht etwa den Papis— 
mus allein, ſondern den Pfaffengeift überhaupt, alfo auch den 
Fanatismus der proteftantifchen Geiſtlichen, welche ihre Gemein- 
den nöthigen wollen, an ſymboliſche Bücher’ ftatt an bibliſche zu 
glauben, Die ſämmtlichen Künfte und. Erdichtungen der Hierar- 
chen aller Art zeigte Spittler dem großen Publikum faplich und 
geſchmackvoll in.ihrer ganzen: Blöße. 

In der politiſchen Gefchichte begann Spittler mit feiner Zeit 
and. ihren. Bedürfniſſen fortichreitend gerade dort, mo Schlözer 


Deutfche Literatur: Geſchichte. 229 


aufgehört hatte, Schlöger wollte im Allgemeinen von einem un— 
bedingten Freiheitsbedürfniß der menfchlichen Natur nichts miffen, 
jondern wollte nur phyfiiche Behaglichkeit und materiellen Wohl- 
ftand gefördert wiſſen. Er konnte daher nach feiner Art, die 
Dinge zu betrachten, wobei es ganz allein auf gute Verwaltung, 
auf Ordnung, Polizei und Juſtiz ankam, gleichviel wer fie ein 
richtete und aufrecht hielt, mit gutem Gewiſſen Peter den Gro- 
ben, Ludwig Ernft yon Braunſchweig und Lord North's Mint- 
ftertum preifen, und Franklin, die holländischen Patrioten und La= 
fayette furchtbar ſchelten; das Fonnte Spittler nicht, Schläger 
ſchenkte den vielen Millionen Chinefen, den zahlreichen Horden 
dev Mongolen, Türken und Tataren, der rohen Gewalt der Ruſ— 
jen, Littfauer, Cumanen mehr freundliche Sorge und Aufmerf- 
jamfeit, als den unruhigen, aller Polizei fich entziehenden Grie— 
chen und den nach feiner Meinung ſchändlich vebellivenden Nord- 
amerifanern, die er beide verachtete oder gar haßte. Spittler 
führte dagegen durch feine ganze Gefchichte auf das Bedürfniß 
freier und Eonftitutioneller Verfaſſungen. Seine Partienlarge- 
ſchichten deutfcher Fürſtenthümer zeigten dabei Spittler son feiner 
doppelten Seite, als Mann des Volks, der im Sinne Joſephs 
und Friedrichs und vieler andern edlen Fürften feiner Zeit deut 
Dolfe Bedeutung im Staate geben wollte; auf der andern als 
feinen Diplomaten und Hofmann, als welchen ihn fchon in Göt— 
fingen die Außern Formen feiner Erſcheinung bezeichneten, d. h. 
er zeigte fich als einen Mann, der ſchon das Minifterwerden Im 
Auge hatte Um der Gefihichte dabei nichts zu vergeben, führte 
er fie überall nur bis zu dem Punkte, wo er hätte fagen müſſen, 
was er nicht fagen wollte, oder auch Falfches berichten, und keins 
von beiden wollte er thun. Wir konnen daher feine Gefchichte 
unbedingt als eine im Geiſte der nach Freiheit ſtrebenden euro— 
patichen Menfchheit gefchriebene betrachten, weil er gu der Zeit, 
als er aufhörte, ein freier Mann zu fein, auch die Schriftſtelle— 
vet aufgab. 

Sowohl feine mwiürtembergifche als feine braunfchtweig =Tüne= 
burgiſche Geſchichte find nur bis zu dem Zeitpunkte fortgeführt, 
den er erlebt Hatte, wo alſo ein Mann mie er Gefchichte Hätte 
jchreiben können, welche unmittelbar im Leben brauchbar tft, weil 


230 Deuiſche Literatur: Geſchichte 


für dieſe der Geſchichtſchreiber zu gleicher Zeit Urkunde, Quelle 
und Berichterſtatter ſein kann, denn er ſchreibt, was er geſehen 
hat. Was dagegen Spittler ſchrieb, das ſchrieb er im Geiſte 
feiner Zeit. Er zeigt faktiſch wie die Bürger der deutſchen Reichs— 
Yander es anzufangen haben, um fich ihrer Vorfahren würdig zu 
machen und nach deren Beifpiel für die unveräußerlichen Rechte 
der: Staatsbürger gegen die fürftlichen und ariftofratifchen An= 
maßungen der Obrigkeit ftandhaft zu kämpfen, und ſowohl den 
milttärifchejuriftifchen Eingriffen der Fürften und ihrer Beamten, 
als der Oligarchie einer privilegirten Art von Ständen Schranken 
zu ſetzen. Spittler zeigt, mit welcher Feftigfeit und Ausdauer auch 
ſogar noch im ferhzehnten und fiebenzehnten Jahrhundert Die deut- 
Tchen Bürger ihre Nechte vertheidigten, deren fie hernach, nach 
Ludwigs und der preußifchen Könige Vorgang, im achtzehnten 
militäriſch beraubt wurden, als ihre ſervilen Seelen um Hofgunft 
buhlten und fie felbft, egoiftiich jeder um außern und um Privat- 
gewinn beforgt, der gemeinen Sache vergaßen, 

Dei der Abfaffung des Handbuchs der europäiſchen Gefchichte 
befolgt Spittler denſelben Plan und auch diefelbe von Napoleon 
empfohlene Klugheit, die jüngfte Zeit nicht zu berühren (d’eviter 
la proximite des temps), dies zu thun überließ er feinem Fort 
feßer Sartorius. Er deutet überall vorzugsweiſe den Fortfchritt 
und die Rückſchritte des Strebens nach politifcher Freiheit mit 
ficherem Takt an und bemerkt, in welchen Ländern man bei der 
Verwaltung ganz allein an die Negierenden und DVerwaltenden 
und wo man an das ganze Volk Dachte, Dielen Anfichten folgt 
ev felbft in dem Journale, das er mit einem Manne wie Meiners, 
den man einen Feind aller Freiheit und Humanität nennen würde, 
wenn er nicht als bloßer Büchermacher gar zu verächtlich wäre, 
unternommen hatte, Jedes Blatt von Spittlers Handbuche be- 
weifet den richtigen Blick und die augenblickliche Auffaffung des 
weſentlichen Bunfts, worauf e8 in den einzelnen Perioden ankommt, 
woran es gerade dem Gelehrteften oft am mehrften mangelt. Man 
erfennt mit Staunen wie ein großer Kopf mit augebornem Takt 
in den Quellen und Akten auch nur blätternd mit geübtem Blick 
in einem Augenblisfe das findet, was der bloße Gelehrte bei Jahre 
Yang fortgefeßtem Studium oft vergeblich fucht, Man begreift 


Deuiſche Literatur: Geſchichte, 231 


daher auch nicht, wie Sartorius es wagen konnte, als Spittler 
das Handbuch und die Geſchichte aufgab, ſich in einem und dem⸗ 
ſelben Tert fo nahe an ihm zu drängen > 

Wo Spittler geendigt hatte, hätte Dohm anfangen ſollen, 
was er zum Theil auch gethan Hat. Die Bahn war gebrochen, 
Spittler hatte durch fein Handbuch das Wefen aller Hiftorie ent= 
hüllt. Er Hatte durch feinen Ton, feinen Takt, feine edle Sprache, 
durch Kürze und Bündigkeit des Styls gezeigt, daß es mit demt 
gelehrten Wühlen in Quellen und Urkunden nicht gethan feiz ex 
hatte die Gefchichte unter und aus dem Dunfel der Quartanten 
und Folianten ing Licht des Lebens gerufen. Dohm fand feinen 
Meg gebahnt, Unglücklicher Weiſe zog fich diefer damals ganz 
ing praftifche Leben. Ein Biedermann wie Dohm, erfüllt vom 
Geiſte der fehönften Zeit Deutichlands, voll Liebe zur Freiheit und 
zum DBaterlande, mit Staatsgefchäften ebenſo befannt als mit 
Büchern, hätte, wenn er fich früher damit befchäftigt hätte, den 
Denfwürdigfeiten über die Gefchichte feiner Zeit, die fait iſolirt 
in umferer Literatur daſtehen, noch eine ganz andere Bedeutung 
geben können, als fie haben und behalten werden, Wir erwähnen 
hier diefer Denkwürdigfeiten oder vielmehr feiner Staatsgeſchichte 
von Preußen, Oeſterreich, Deutichland und Rußland, bis auf 
Friedrich IL. Tod, welche freilich erft in unferm Jahrhundert er= 
fehtenen tft, weil das Werf feines Geiſtes und feines Inhalts 
wegen ber Periode angehört, die wir hier behandeln, Die Ges 
ſchichte, die ex erzählt, ft nicht aus Büchern, fondern aus unmit- 
telbarer Erfahrung geichöpft, fie geht mit der Belehrung über 
Politik und Staatswiffenfchaft Hand in Hand und wird dieſen 
feineswegs nach dev Art der Doctrinärs untergeordnet, Die Er— 
zählung iſt natürlich, wie der Styl, ohne alle Sophiftif, da das 
Merk für den Forfcher und gebildeten Geſchäftsmann beſtimmt tft, 
welche fich nicht gleich dem Haufen der Leſer durch Rhethorik 
täuſchen laſſen. Dohm faßt natürlich die Dinge nur von dem 
Standpunkte aus, auf dem er als freifinniger deutſcher Staats— 
und Geſchäftsmann ftand, affeftirt Feine Genialität oder Philoſo— 
phie; gerade. dies gibt aber feinem Buche unter den Hunderten 
son gemachten und in einer auf eine oder andere Art erfünftelten 
Manier geſchriebenen Büchern, an denen wir feinen Mangel ha— 


232 Deutfche Literatur: Geſchichte. 


ben, einen ausgezeichneten Werth. Dohms Buch iſt bekanntlich 
das Einzige der Art, welches ein deuticher Staatsmann über öffent— 
Yiche Angelegenheiten einfach und klar ohne andere Rückfichten als 
die eines Biedermannes gejchrieben hat. Dohm zeigt. fich zwar 
mit Recht als Bewunderer Friedrichs II.; aber von alberner Ber- 
götterung, von blinder Billigung Alfes deffen, was Friedrich IL. 
that und dachte, wird man feine Spur bei ihm finden. Dies geht 
ſchon daraus hervor, daß Dohm feiner Zeit ſtets unter denen 
glänzte, welche ihren Zeitgenofien und den Nachlommen in jener 
Periode Freiheit des Geiftes und eine freiere bürgerliche Berfal- - 
fung zu erfampfen juchten. 

Dohms Lebensgang und die ftattäwifjenfchaftlichen und hiſto— 
riſchen Schriften, die er bekannt machte, ehe er in preußifche 
Dienſte trat, zeigen ihn ung als den einzigen Mann, der die 
Tüchtigfeit der alten Bildung und die Fähigkeit eines brauchbaren 
Geſchäftsmanns mit dem eifrigen Streben verband, das erftorbene, 
in Bedanterei, Gelehrſamkeit, Schlendrian erftarrte deutſche Leben 
durchaus zu veformiven. Er ergriff ald junger Mann Bafedows 
Gedanken, die Erziehung der Jugend dem Bedürfniß der Zeit 
anzupafien, mit großem Eifer; er war fogar eine Zeit lang bei 
Bafedow in Deffau, bis er erkannte, daß Leute wie Baſedow und 
Wolfe weder andere als utopifche Plane aushecken könnten, noch 
auch, wenn fie andere Plane faßten, im- Stande fein würden, 
fie auszuführen, Unmittelbar hernach griff er zu 3. H. Jaco— 
578 großem Verdruß das von diefem und. von der Mode da— 
mals überall begünftigte fogenannte phyfiofratifche Syſtem der 
Staatswiſſenſchaftslehre mit fliegenden Gründen an, weil er als 
Verkündiger der Lehre von einem neuen Leben und einer neuen 
Geſchichte darin eine Stübe des alten fand. An der Anftalt in 
Kaflel, welche der Landgraf oder eigentlich der Herr von Schlief- 
fen in Gegenſatz gegen die Untverfitäten des Mittelalters, deren 
Hauptſache die fogenannten Brodfächer waren, gründen wollte, 
war er eine vorübergehende Erſcheinung. Die Zwitteranftalt in 
Kaſſel zerfiel bald, oder, wie wir fehon an einem andern Orte 
bemerkt haben, fie Hatte aus Mangel an Schülern fo wenig 
Beitand, als die medizinifche und philofophifche Fakultät, welche 
der Fürſt Primas zu Frankfurt am Main gründete, welche mit 


Deutſche Literalur: Geſchichte. 233 


der philoſophiſch juriſtiſchen in Wetzlar und der theologiſchen in 
Aſchaffenburg eine Univerſität bilden ſollte. An dieſer, ſo lange ſie 
beſtand, war der Verfaſſer dieſer Geſchichte zwei Jahre lang angeſtellt. 

In dem Jahre (1779), als einem der ausgezeichnetſten Män— 
ner Deutſchlands, dem edeln und freiheitliebenden Georg Forſter, 
an dem ſogenannten Carolinum in Kaſſel eine Zuflucht gegeben 
ward, ging Dohm von dort nach Berlin und trat ſeine diploma— 
tiſche Laufbahn an, während der Schweizer Johannes Müller das 
hiſtoriſche Fach in Kaſſel mit ungeheuren Anſprüchen und An— 
maßungen übernahm. Dieſer, immer nach Anderem ſtrebend als 
nach dem, wozu ihn die Natur beſtimmt hatte, ward bald darauf 
nach Mainz gerufen, um dem Kurfürſten mit ſeiner Feder zu die— 
nen; er wandte ſich alſo vom Lehren zum Schreiben und traf in 
Mainz mit Sömmering und Forſter, der zuerſt von Kaſſel nach 
Wilna war gerufen geweſen, wieder zuſammen. Müller, obgleich 
er als der Geſchichtſchreiber der Freiſtaaten vergöttert ward, war 
in Mainz wie ſpäter in Wien als Höfling durch die Gunſt der 
Fürſten, Pfaffen und des hohen Adels beglückt, ſo lange er die 
Hierarchie und Feudalariſtokratie, wie ſpäter den Bonapartismus 
vertheidigte; während Forſter unglücklich lebte und elend ſtarb, 
weil er den ſchönen Traum von Freiheit und Menſchenrechten ge— 
träumt hatte und die dürre Realität zu ſpät erkannte. 

Müller brachte damals eine ganz neue und eigne Art von 
Hiſtoriographie in Deutſchland empor, die hernach jedermann als 
das Höchſte pries. Er ſchrieb ein Werk, das zwar nur Wenige 
verſtanden und das nur ſtellenweiſe genoſſen werden konnte, in 
welchem auch die ungeheure Gelehrſamkeit und die Maſſe von 
Citaten mehrentheils ganz überflüſſig verſchwendet ward; das Werk 
iſt aber gleichwohl als vollendetes Meiſterwerk allgemein anerkannt 
worden. Müllers mühſelige Arbeit galt überall, als wenn es ein 
Meiſterwerk einer freien Seele wäre; es ward am Ende des vori— 
gen Jahrhunderts, wie in dem unſrigen, bis zum Lächerlichen ge— 
rade in ſeinen Mängeln nachgeahmt; wir können uns aber kurz 
darüber faſſen, weil eine Kritik deſſelben zu ſpät käme und nicht 
hieher gehört. Eine Bemerkung mag dienen, um anzudeuten, daß 
Woltmann in ſeiner Schrift über Müller ungerecht iſt, und daß 
König Ludwig von Baiern Recht hat, wenn er Müller durch ein 


234 Deutſche Literatur: Geſchichte. 


auf deſſen Grabe laſtendes Kunſtdenkmal ehrt. Die Deutſchen 
nämlich belohnten ja ſchon im vorigen Jahrhundert, nach ihrer 
Art, Müller mit Ruhm, mit Ehren, mit Orden, mit Geld für 
ein Werk, worin ſehr fünftlich die Schweizer, welche feine Deut- 
jche fein wollen, den alten Griechen gleichgeftellt werden, Der- 
jelbe Mann, der das Lob der Freiheit und ihre Helden, einen 
Tell, einen Arnold von Winkelried, und wie fie weiter heißen, 
auspofaunte, war unbejchadet feines Eifers für Freiheit, wie er 
fie verftand, Hofling der Hierarchen von Mainz, war als Prote— 
ftant Apologet Pius VL, Schützling der Habsburger in Wien, 
als fie die Freiheit verfolgten, Diener der militärifchen Monarchie 
in Berlin und endlich gar Minifter eines Hieronimus Bonaparte 
in Kaffel. | 

Da an allem diefem Niemand bei dem Herolden des Nütlt- 
bundes Anftoß genommen Hat, fo fieht man, wie ſehr Müller 
jeiner Zeit vorausgeeilt war, wie er ſchon im vorigen Jahrhun— 
derte rein wifjenfchaftlich und künſtleriſch ein objeftives Werk fchuf, 
dem weder in Rückſicht des Inhalts noch der Sprache das Ge— 
ringſte Subjective anflebte. Wir wollen Daher nur im Vorbei— 
gehen einen Blick auf die Wirkung des Buchs nach Außen hin 
werfen. Müller bildete fich nämlich fonderbarer Weiſe für feine 
Schweizergefchichte einen ganz eignen Styl, der von dem, deſſen 
er fich fonft bediente, ganz verfchteden war. Diefer Styl ift eben 
jo Fünftlich und mühſam als Jakobis Styl, nur in einer andern 
Art, weil Jakobi feiner afademifch modernen Philofophie auch 
feinen akademischen Styl anpaßte, wie Müller feiner romantiſch— 
antiken Gefchichte dem griechifch oder Iateinifch und teutoniſch alter- 
thümelnden. Müllers Schweizergefchichte erlangte zuerſt durch feine 
zahlreichen Freunde und Bekannten, zu denen gerade die bedeutend= 
ften Männer im Stante und in der gelehrten Welt gehörten, den- 
felben Ruf, den früher Klopſtocks Meſſias auf Ahnliche Art als 
Epos erlangt hatte, Er gewann die Gelehrten durch die große 
Gelehrſamkeit und aud) ſogar durch den Lurus des Citirens einer 
Menge von Urkunden für Dinge, die ohne alle Urkunden geglaubt 
und bewiefen werden fünnen, bejonders aber dadurch, daß Ein- 
richtungen, Sitten, Geſetze und Ariſtokratie des Mittelalters hiſto— 
riſch in ein neues, fehr glänzendes Licht geftellt waren. Je we— 


Deutfhe Literatur: Geſchichte. 235 


niger Perſonen es gab, die das Werk ganz Infen, und je glän- 
zender und vebmerifcher die einzelnen Stücke waren, welche von 
ſehr vielen wirklich gelefen wurden, je inniger die Feudalariſtokra— 
tie fich freute‘, daß Alles zur Nitterzeit noch viel ſchöner geweſen 
fet, als man e8 nur zu winfchen wagte und daß dies Alles aus 
Chroniken und Urkunden documentarifch bewieſen werden könne, 
defto größer war Müllers Ruhm. Er ift von Woltmann, dem 
er emporgeholfen hatte, und der doch in der That nicht werth 
war, ihm die Schuhriemen zu löſen, auf feinem eignen Felde, das 
heißt als hiſtoriſcher Künftler, fehr hart angegriffen worden; wir 
dagegen erkennen ihn gern als Meifter einer Kunft, die wir we— 
dev verftehen noch auch nur verftehen wollen. Unſere Lefer mögen 
Woltmann über die Art hiſtoriſcher Kunft befragen, die Müller 
durch Beifpiel und Woltmann durch feine Kritik empfiehlt. - Wir 
haben es hier nicht mit der Theorie dev Gefchichte, ſondern mit 
der Wirkſamkeit dev Schriftfteller und mit ihren Wirkungen in 
ihrer: Zeit nnd auf ihre Zeit zu thun. Nachtheilig war Miller 
der fonderbare Einfall der Gelehrten, ihn bald als den Thu— 
cydides, bald als den Tacitus dev Deutfchen thöricht zu preifen, 
bejonders aus dem Grunde, weil der Ruhm, deſſen er unter den 
Bornehmen und Gelehrten genoß, eine nene Generation yon Schrift- 
ſtellern ermunterte, ihn durch Affektation zu überbieten, befonders 
als anfangs die Nomantifer, dann die Reaktion gegen die falfche 
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts feine Manter und fogar 
feine Sprache in die Mode brachte, 

Wie Wenige aber verftehen, was fie loben, und auf chen 
Weg die mehrſten Schriftfteller zum Gipfel des Ruhms gelangen, 
kann man an Müller lernen. Er verdankt feinen Ruf im großen 
Publikum dev Schweizergefchichte, und doc Haben wir in dem 
erften Viertel unſeres Jahrhunderts unter denen, mit denen wir 
über Müller Sprachen, ſehr wenige gefunden, die auch nur einzelne 
Stücke dev Schweizergefchtchte aufmerkſam gelsfen hatten; alle kann— 
ten nur die Arbeiten, die er felbft mit allem Nechte des Drucks 
nicht werth gehalten Hatte. Dies find feine vier und zwanzig 
Bücher allgemeiner Gefchichten; denn feiner Neifen dev Päpſte 
und feiner Schriften über den Fürftenbund wollen wir lieber gar 
nicht erwähnen, Was die allgemeine Gefchichte angeht, fo fieht 


236 Deutſche Literatur : Aufgeflärte Regierungen. 


man auf den erften Blick, daß die alte Gefhichte auf den Effekt 
berechnete Vorleſungen für junge Herrn von Stande waren, wo— 
rin unftreitig viel Geiftveiches glänzend gejagt wird, die aber 
Woltmann oder einer Seinesgleichen eben jo gut hätten ſchreiben 
und viel beſſer Halten können, als Müller mit feinem widrigen 
Dialekt. Gerade diefe Vorlefungen haben in unferm Jahrhundert 
Müller ein großes Publikum verfchafft. Wir dürfen hier aber 
son. dev allgemeinen Gefchichte und von Müllers ſpäterer hiftori= 
ſchen Wirkſamkeit um jo weniger reden, als beides dem neunzehn— 
ten, nicht dem achtzehnten Jahrhundert angehört. 


g§. 7. 
Verxrhältniß ver Schriftſteller zu den Regierungen. Journa— 
liſtik. Staatswiſſenſchaft. 

An Oeffentlichkeit war im letzten Viertel des achtzehnten Jahr— 
hunderts nicht zu denken, es war auch nicht der Schein einer 
Freiheit der Preſſe vorhanden, der doch von 1815 bis 1852 hie 
und da gefunden ward. Glücklicherweiſe herrſchte damals in Deutfch- 
land in vielen Mintjterien ein son den Fürften ſelbſt angeregter 
Eifer für Aufflärung des Volks und Abfchaffung der Mißbräuche, 
fonft wäre jede Aeußerung über öffentliche Angelegenheiten un— 
möglich gewejen. Bolittiche Zeitungen waren fo gut wie gar nicht 
vorhanden; denn was Fonnten die unter fcharfer Cenſur gehalte- 
nen Zeitungen in einem Lande berichten, wo weder die Gerichts— 
verhandlungen mündlich noch ‚wffentlich waren, wo der Bürger 
weder die Schrift feines Advokaten noch das Urtheil feines Rich— 
ters serftehen konnte, weil beide halb Inteintich, Halb kauderwelſch 
abgefaßt waren, und wo das Urtheil der. Form wegen oft in 
einem einzigen athemlofen Sate son zwei oder drei Seiten gefaßt 
war. Welche Freiheit Eonnte in einem Lande gefunden. werden, 
wo jelbft die Feudalftände in amtlichem und vornehmen Still- 
jchweigen und Geheimniß gehalten wurden? Wer hätte es auch 
nur wagen dürfen, einen von den winzigen Reichsgrafen oder 
hochgebornen Neichsbaronen, die in den Dürfern und Weilern 
fouverän waren, oder einen der adligen oder bürgerlichen Bürger- 
meifter, welche in den Städten polizeilich und juriftifch herrichten, 
durch ein Wort dev Wahrheit zu reizen? Nur durch die Begün— 


Deutſche Literatur : Aufgeffärte Regierungen. 8837 


ftigung dev Negterungen, welche eine der franzöfifchen von ihnen 
bewunderten ähnliche Literatur emporbringen wollten, konnten ſich 
Zeitfchriften unter ums eine Griftenz fichern. Die Journaliſtik 
-ging daher auch erft ſpäter von den ſchönen Wiffenfchaften zur 
Politik über, obgleich fehon Wieland zuweilen ein freieres Wort 
in feinen Merkur zuließ. Uebrigens zeichnet fich jene Zeit Dadurch. 
aus, daß die angefehenften und wirdigften Männer fich zu dem 
Berfuch herabließen, diefe periodifche Schriftftelleret in einem Lande 
emporzubringen, wo Feine eigentliche Hauptftadt den Ton und den 
Geſchmack leitet, wo fich fo Teicht ein Buchhändler, eine Univer- 
fität, ein künſtlich gehobenes Journal, eine Winkelreſidenz, ein 
Spefulant oder der Stifter einer Kameradſchaft der Diktatur tiber 
Literatur und Politik bemächtigen Fan, Che wir die Wirfung 
dieſer Erſcheinung an einigen Beifpielen nachweiſen, müfjen wir 
einen Blick auf den Antheil werfen, dem einige Fürften und Mi- 
nifter an den Bemühungen der Gelehrten um Aufklärung und 
größere Freiheit der Preſſe nahmen. 

In Berlin war Sowohl die A. D. B. als die Berliner Mo— 
natſchrift, ſo lange Friedrich lebte, ein Aergerniß aller Obfeuran= 
ten, und Zedlitz als Miniſter gab Bahrdt eine Zuflucht und 
Eberhardt eine Profeſſur zu Halle. In den kleinern deutſchen 
Staaten, die Reichsſtädte ausgenommen, begünſtigte man ſchon 
des Kaiſers und des Königs von Preußen wegen, oder auch, wie 
in Deſſau und Baden, aus edlem inneren Triebe jeden Verbeſſe— 
rungsvorſchlag. In Braunſchweig ſchützte der Herzog ſelbſt erſt 
Leſſing, ſpäter Mauvillon gegen das fanatiſche Geſchrei der theo— 
logiſchen und politiſchen Verfolger, ſo lange es die Umſtände nur 
immer erlaubten, und mehr wird nur ein Phantaſt von Fürſten 
oder Diplomaten fordern oder auch nur erwarten dürfen. In 
Weimar vereinigte erſt die verwittwete Herzogin Anna Amalie, 
geborne Prinzeſſin von Braunſchweig, hernach der junge Herzog 
eine Anzahl von Maͤnnern, welche" mitten unter der son dem 
fachfifchen Hofadel begünftigten Faden Tagesliteratur und der 
Witzelei eines Muſäus und Kotzebue eine wahre Poeſie ſchufen. 
Göthe, Herder, Schiller, fo unwillig ſich der Letztere in feinen 
Briefen an Göthe darüber äußerte, mußten freilich dem Hofge— 
ſchmack hey gnädigen Frauen amd Herren, dem ſich Wieland ganz 


238 Denise Literatur: Aufgeflärte Regierungen, 


anpapte, zumeilen einigermaßen huldigenz; allein alle vier wurden 
gerade dadurch nüßlicher, als fie ſonſt geweſen wären, daß fie 
alle Klaffen und Stande an die neue Literatur Fnüpften und die 
Partfer Waare durch beffere entbehrlich machten. 

In Gotha ließ Freilich die Herzogin zu Gunften ihres Sof 
nes im fiebenjährigen Kriege auf der einen Seite Bütter kommen, 
um dem Fünftigen Regenten NReichsgeichichte und Reichsprozeß zu 
lehren, auf der andern Seite ließ fie aber von Voltaire, der nicht 
das Geringfte von deutſcher Gefchichte verftand, ein Buch darüber 
verfertigen; allein felbft dies Letstere bewies doch, daß fie dazu 
beitragen wollte, dem wüſten alten Treiben der gelehrten Forjcher 
ein Ende zu machen. Auch die Correſpondenz Grimms mit dem 
nachherigen Herzuge, Die Lappalien, die er fi aus Paris son 
Grimm fehreiben ließ, beweifen, fo wie des Herzogs von Braun 
Ichweig an Marmontel verfchwendete Gomplimente und Mirabeaus 
Aufnahme in Braunfchweig, daß die Regenten das Streben der 
Nation, der alten Bande entledigt zu werden, theilten” und das 
Fortjchreiten begünſtigten. 

Wir haben oben angedeutet, wie Herzog Karl von Wür— 
temberg auf militäriiche Weife die Fortfehritte der neuen Bildung 
fordern wollte, deven Bedürfniß er wirflich empfand, während von 
Schlieffen den Landgrafen von Heſſen-Caſſel dahin brachte, daß 
. er fich derfelben thätig annahm, ohne daß er ſelbſt den geringften 
Sinn dafür Hatte. Im finftern Münfterlande war der edle Für- 
jtenberg als Miniſter ein eifriger Freund des Lichts und nahm 
fich der aufitrebenden und serbeffernden Gelehrten an, F. H. Ja— 
cobi und fogar der etwas übergeniale umd oft cyniſche Heinfe, 
ber, obgleich Proteftant, doch hernac Bibliothekar des Primas 
der deutſchen katholiſchen Geiftlichfett wurde, ftanden mit ihm in 
naher Verbindung, - Fürftenberg fuchte, wie man aus den Sour- 
nalen der Zeit, befonders aus Schlözers Otaatsangeigen urkund— 
lich beweiſen kann, ſowohl in weltlichen als in geiftlichen Dingen 
in feinem ganz hinter dev Zeit zurücgebliebenen Weſtphalen eine 
neue Ordnung zu begründen, Bei Karl Theodor waren freilich 
fchon zu der Zeit, als er noch als Kurfürſt von der Pfalz das 
ſchöne Land am Rhein, die Pfalz und Berg allein beherrſchte, 
Jeſuiten, Adel und Mätreflen eben fo mächtig als ſpäterhin, 


Deutfche Lileralur: Mufgefärte Regierungen. 239 


nachdem er auch Batern geerbt hatte; aber er Hatte dort, ſowohl 
in Mannheim als in Düffeldorf andere Rathgeber, als hernach 
in München, Sein Mintfter yon Hompeſch und andere ihm 
ähnliche Männer fuchten nicht allein am Niederrhein gleichen 
Schritt mit der Zeit zu Halten, fondern Hompeſch eilte ihr fogar 
in Finanz und Verwaltungsfachen, wenn er freie Hand hatte, 
voraus, Unter Hompefch war auch F. H. Jacobi einige Zeit 
- hindurch im Mintftertum angeftellt, um phyſiokratiſche Ideen aus— 
zuführen. In Mannheim wurden Muſik, Schaufptel, bildende 
Künfte auf eine folche Weife befördert, daß man wenigſtens den 
guten Willen zeigte, deutfche dramatifche Dichtung ſtatt der fran= 
zöfifchen auf die Bühne zu bringen und felbit in der Oper dem 
Unfinn des italienifchen Getrillers deutſchen verftandlichen und 
verſtändigen Gefang unterzufchteben. Zu dem Lebtern ward bes 
Fanntlich auch Wieland aufgeboten, daß diefer aber den vechten 
Meg zur deutfchen Oper einfchlug, als er den Euripides trave- 
ſtirte, dürfen wir ſchon darum nicht behaupten, weil e8 befannt- 
lich Göthe als Jüngling burſchikos verneint hat, Daß eine ſo— 
genannte Akademie, d. h. eine eitle Anftalt errichtet ward, zum 
Reden halten und Abhandlungen fehreiben, was feiner Zeit nüß- 
lich war, jest ganz überflüffig ift, würden wir eher einen Rück— 
fchritt zu Ludwigs XIV. und anderer, den Katfer Auguftus und 
die Mediels nachaffenden Fürften Manter, als einen Fortfchritt 
nennen, wenn fich nicht Diefe Akademie große Verdienfte um bie 
deutſche Sprache und ihre Gefchichte, nicht für Gelehrte allein, 
jondern für Gebildete überhaupt erworben hätte, wie aus ihren 
Schriften hervorgeht. Ein Ruhm und ein Fortfehritt war es 
immer, daß während in Heidelberg und in Düſſeldorf Gontro- 
persprediger tobten, in Mannheim Wielands beide deutfche Opern 
mit großem Aufwande gegeben wurden, Sffland als Schaufpieler 
und Schaufpteldichter die neue Art zu denken und zu empfinden, 
dramatifirte und darftellte, und ſpäter Schiker, als er noch keinen 
Ruhm Hatte, als genialer Kopf erkannt ward, obgleich er anfangs 
als Kraftgenie auftrat und feine ct Produkte etwas wüſt und 
überichwänglich waren. 

In Erfurt Hatte früher ſchon von Breidbach als Statthalter 
des Kurfürften yon Mainz ans einer obſcuren Univerſität eine 


240 Deutſche Literalur: Aufgelärte Regierungen. 


glänzende und aus einem Aufenthaltsorte der trägen und finſtern 
Verfechter alter Mißbräuche einen Zufluchtsort der kühnen Ver— 
kündiger des neuen Lichts machen wollen. Wir haben ſchon oben 
bemerkt, daß er Wieland nur kurze Zeit hindurch dort zurück— 
halten konnte, und daß Bahrdt und Riedel und Ihresgleichen 
nicht gemacht waren, das neue Licht zu empfehlen. Dennoch 
ward dieſes auch nach der Zeit im Kurfürſtenthum Mainz, zu 
dem damals Erfurt gehörte, gehegt und mächtig gefordert, Die 
beiden Kurfürften, welche vor der Revolution in Mainz regterten, 
jo ungleich auch ihr Charakter, wie ihr Leben und Wandel war, 
juchten doch beide den Ruhm der Theilnahme an dem in Deutjch- 
land herrſchenden Streben nach Verbeſſerung. Der Goadjutor 
Karl son Dalberg hatte in Grfurt feinen Sit, und wenn auch 
jene Phantaſie, wie fein zur Liebe geneigtes Gemüth; vielleicht zu 
beweglich war, wenn auch fein Verftand hie und da zu Teicht 
irre geleitet werden konnte, fo hatte er doch für alles Große und 
Gute einen vegen Sinn. Karl von Dalberg ftand als Coadjutor 
in Erfurt unter den Deutfchen in größerer Achtung als fpäter 
zur Zeit Napoleons, wo man mit Necht glaubte, daß feine Be— 
wunderung der Geiftesgröße Napoleons zu weit gehe. In Erfurt 
hatte ex den Ruhm eines Mäcenas und des Mufageten der Deut- 
hen, ward als edler und. freifinniger Mann vergöttert, jchloß 
fich an den Theil der Illuminaten an, welche die Fatholtfche Re— 
ligion auf ihre urfprüngliche Reinheit zurücführen wollten und 
jeldft feine Mängel und Schwächen Hatten nichts Gemeines, fon= 
dern’ flofjen aus derfelben Quelle mit feinen Tugenden. Uebrigens 
war unter den drei letzten Kurfürften, welche alle drei mächtig 
dahin wirkten, daß in ihrem Staate der Gelft des Mittelalters 
verbannt und ein neuer und belebender herrichend. werde, der 
Grfte, nämlich Emmerich. Joſeph, dev achtbarfte und im jeder 
Rückſicht würdigſte. Gmmerich Joſeph Hatte in dem fiebenziger 
Jahren, als Bafedow die Schulen, den Unterricht und die Lehr- 
bücher des proteftanttfchen Deutſchlands veformiren wollte, und 
als der Abt Felbinger das Volksfchulwefen in den öſterreichiſchen 
Staaten wefentlich verbeflerte, auch feiner Seits den regſten und 
ebelften Eifer bewiefen, den Sefutten Schranken geſetzt umd ihre 
mechaniſchen Religionsüübungen, ihren ärgerlichen Bilder= und 


Deuiſche Literatur: Journaliſtiklk. 241 


Ceremoniendienſt durch beſſern Unterricht zu entfernen geſucht. Sein 
Nachfolger Karl Friedrich Joſeph (von Erthal) wollte, wie wir 
ſchon vorher berichtet haben, die alte Univerſität Mainz zu neuem 
Glanze erheben, er vereinigte dort eine Anzahl berühmter, zum 
Theil proteſtantiſcher Profeffoven und nahm Johannes Müller 
erſt zum Bibliothekar, dann zum Geheimſchreiber. Er ſtand frei— 
lich in moraliſcher und politiſcher Beziehung weit unter ſeinem 
Vorgänger, arbeitete aber für die Aufklärung ſeines Jahrhunderts 
wie dieſer. Dies bewies er, als er ſich ſo eifrig bemühte, durch 
die in Ems in: Verbindung mit den andern Erzbiſchöfen feſt— 
gejegten Punkte den Anmaßungen der päbſtlichen Curie Schran— 
fen zu ſetzen. 

In Cöln Hatte ebenfalls ſchon der vorletzte Fürſt durch 
Gründung der neuen Univerſität in Bonn einen Beweis ſeiner 
Theilnahme an dem in Deutſchland neu erwachten Streben nach 
Wiſſenſchaft und Bildung gegeben, ſein Nachfolger ſuchte die 
neue Univerſität zu heben, und auch ſogar in das ewige Dunkel 
der Cölner Kirche ſchien wenigſtens ein Lichtſtrahl zu dringen. 
Das Geſchrei gegen Licht und Aufklärung ward leider hernach 
vermehrt und den Feinden jeder Art von Freiheit ein neuer Vor— 
wand gegeben, unbedingt beim Alten, als beim allein erhaltenden 
Prinzip der Staaten zu beharren, als Georg Forſter in Mainz 
und Eulogius Schneider in Bonn von den Deutſchen zu den 
Franzoſen übergingen. Georg Forſter ward getäuſcht, wie wir 
alle, in denen die Vorſtellung von Rechten der Menſchheit und 
vom Drucke der Socialverhältniſſe auf gewiſſe Klaſſen und Stande 
lebendig geworden war, durch Jugendträume getäuſcht wurden; 
Eulogius Schneider bewies durch fein Betragen während der 
Schreckenszeit im Elſaß, daß vom Fanatismus der Torquemada 
zu dem der Robespierre und Fouquier Tainville nur ein Schritt 
ſei. Der Erzbiſchof von Trier zeichnete ſich durch Duldung gegen 
die ſonſt von den geiſtlichen Regierungen verfolgten Proteſtanten 
aus; der Fürſtbiſchof Franz Ludwig von Bamberg und Würzburg 
(chüßte aufgeklärte Mönche gegen ihre fanatifchen oder tyranni⸗ 
ſchen Aebte, wie Schades Beiſpiel beweiſet. 

Bezeichnend für die Regierungen und Collegien jener Zeit 
in Vergleichung mit denen der unſrigen iſt es, daß die Männer, 

Schloſſer, Geſch. ds 18. u, 49 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 16 


9419 Deulſche Lieratur: Journaliſtit. 


welche in jener Zeit verſuchten, durch Zeitſchriften, die von Hand 
zu Hand gehen und mehr als Bücher für den Augenblick und 
für eine ſchnelle und vorübergehende Wirkung berechnet ſein müſ⸗ 
ſen, auf das geſammte Publikum einwirken, gerade aus den dem 
Fortſchreiten der Freiheit im Denken, Handeln und Reden in 
unſeren Zeiten am heftigſten widerſtrebenden Klaſſen und Stän— 
den waren. Der allgemeinen deutſchen Bibliothek, des deutſchen 
Mercurs und der Göttinger Anzeigen haben wir an einer andern 
Stelle. gedacht, der Berliner Monatfchrift wollen wir nur erwäh- 
nen, weil man Herausgeber und Mitarbeiter der Jeſuitenriecherei 
und des fanatifchen Proteftantismus befchuldigte, Wie ſehr man 
aber Unrecht hatte, Gedife, Bieſter und Nicolai im achtzehnten 
and Voß im neunzehnten Jahrhundert zu befchuldigen, daß fie 
ein ganz ungegründetes Geſchrei erhöben, die Träume ihrer Bhan- 
tafte in wirkliche Erſcheinungen verwandelten und überall Sefutten 
gleich Gefpenftern ſähen, lehrt die Erfahrung unferer Tage, wo 
die Erſcheinungen dev Phantafie und jener nächtlichen Träume 
überall am hellen Tage herumwandeln und die Gefpenfter Fleiſch 
und Bein und furchtbare Gewalt erlangt haben. Heber die A.D,B. 
herrschte Nicolai zu unumfchränft, als daß wir ausführlich von 
ihrer Richtung veden dürften, und den Göttinger Anzeigen kann 
feine eigentliche beſtimmte Richtung oder Wirkung zugefchrieben 
werden, theils weil ihnen Heyne gleich einem Diplomaten vor— 
ſtand, theils weil, die ganz verfchtedenen Göttinger Profeſſoren 
alle daran arbeiteten, Auf welche Weife die elendeften Compila— 
toren unter biefen mit geiftreichen Männern und ihren mit Teuer, 
Seele und Sinn geſchriebenen Werfen umgehen durften, kann 
man amt beiten aus des armfeligen Meiners Anzeige des genialen 
Buchs fehen, welches Georg Forfter über feine Reife um die 
Melt ſchrieb. Man kann ſich daraus überzeugen, daß eingebildete 
Pedanten damals eben ſo mächtig in Deutjchland waren als 
übermüthige Pfaffen, obgleich man ſtaunt, daß fo etwas unter 
dem Namen einer königlichen Societät dev, Wiffenfchaften in die 
Melt gefchteft werden durfte, Sp iſt es aber mit dieſen ſoge⸗ 
nannten Akademien!! | 

Was Wielands Mercur angeht, ſo können wir ihn ebenfalls 
nicht zu den Zeitſchriften rechnen, welche auf Staat, Leben, 


Deuiſche Literatur: Journaliſtik. 243 


Literatur in einer im Fortſchreiten begriffenen Zeit reformirend 
einwirkten, und nur davon iſt hier ausſchließend die Rede. Wie— 
land ſelbſt nämlich ſagt uns unverhohlen, welche Art Speculation 
er beim Mereur im Auge habe. Er ſchreibt nämlich, ganz allein 
auf die Weimariſchen behutſamen und ängſtlichen Hofleute und 
Beamten und auf die der andern kleinen Höfe Rückſicht nehmend, 
an Jacobi, der noch dazu ſehr den Vornehmen ſpielte und den 
andern vornehmen Leuten alſo nicht leicht zu nahe kam, als die— 
ſer ihm den Schluß von Allwills Briefen zum Einrücken in den 
Mercur von 1776 einſchickte, Folgendes: „In Deinen letzten 
Allwills⸗Papieren werde ich mit Deiner Erlaubniß 
einige garſtige Stellen über den Dienſt großer 
Herrn wegſtreichen. Gott weiß, wie Du mit dem Be— 
wußtfein Deiner und meiner Berhältniffe fo was 
binfehreiben und mir ſchicken kannſt, daß ichs drucken Yale.” 
Daraus geht nicht blos das geringe Maaß moralifchen Muths 
des Bielfihreibers hervor, ſondern man fieht auch, daß man von 
den angeführten Zeitſchriften, befonders von Wielands Mercur 
feine frete und rückſichtsloſe Sprache, Feine Art Tadel des Be— 
ftehenden je hoffen oder erwarten konnte. 

Was kein Anderer in Deutfchland vermocht Hatte, führte 
Schlözer aus, und zwar. im hannöverſchen Lande und trotz des 
Lärmens, das fich von allen Seiten gegen ihn erhob. Er ſchuf 
ein Tribunal, vor deſſen Ausfprüchen bald alle. Finfterlinge 
Deutfchlands, alle die zahlreichen Heinen Tyrannen, ihre deſpo— 
tifchen Beamten und Schergen erblaßten, wenigſtens diejenigen 
unter ihnen, die noch fo viel Ehre und Schaam übrig Hatten, 
daß fie erröthen oder erblaſſen konnten. Um eine Zeitjchrift für 
Staatsverwaltung, Regierung und Zeitgefchichte zu unternehmen, 
war Schlöger durch feine ausgebreiteten Befanntichaften in allen 
Gegenden, durch; feine Fehler, wie durch feine guten Eigenſchaf— 
ten und vieljeitigen Kenntniſſe in einer Zeit, wie die ſeinige 
war, am beiten geeignet, Da er bejonders deutſche Staaten im 
Auge Hatte, fo ficht man, wenn man die Aengſtlichkeit bedenkt, 
womit Wieland jedes Wörtchen, fogar in einem belletriſtiſchen 
Sournal, wägen und meſſen zu müffen glaubte, daß Schlögers 
Muth und fein eiſerner Sinn dazu gehörte, um als Ohttinger 

16* 


24 Deutfche Literatur: Journaliſtik. 


Profeffor an eine politifche Zeitfchrift auch nur -zu denken, Der 
Augenblie, den Schlözer wählte, war übrigens fehr günſtig. Die 
innern Streitigkeiten in. England, der nordamerifanifche Krieg 
zegten die Gemüther in jener nach Befreiung son jeder Art Feſſel 
jtrebenden Zeit ganz anders auf, ald das, was man in deutjchen 
Zeitungen zu leſen pflegte, von denen man noch in des —* 
ſers Knabenzeit zu den Holländiſchen flüchten mußte. 

Schlözer leitete ſein großes Unternehmen, welches den Be 
drückten ein Mittel verſchaffen ſollte, ihre Klagen laut werden 
zu laſſen, ſehr behutſam ein. Er unternahm ſeine Zeitſchrift 
ſcheinbar nur zu Gunſten der ganz orthodoxen, neulich erſt von 
ſeinem Lehrer Achenwall emporgebrachten Wiſſenſchaft der Sta— 
tiſtik. Er gab nämlich zuerſt um 1775 in fliegenden Blättern 
eine Sammlung ihm eigeſendeter, mehrentheils ſtatiſtiſcher Nach— 
richten aus verſchiedenen Gegenden unter dem Titel Brief— 
wechſel heraus, und erſt im folgenden Jahre ward daraus ein 
eigentliches Journal unter dem Titel Neuer Briefwechfel, 
Dies Journal follte regelmäßig in fechs Heften jährlich erſchei— 
nen. Es beftand freilifch damals ſchon feit 1767 ein anderes 
politifch-ftatiftifches Journal, nämlich Büſchings Magazin, 
zu dem er um 1773 noch feine wöchentliche Nachrichten 
son Büchern und Landkarten hinzufügte; diefe Journale 
berühren wir hier aber eben fo wenig wie andere gleichzeitige 
„der frühere, weil fie entweder der eigentlichen Bücherwiffenfchaft 
der Deutfchen oder auch der Manier angehören, in welcher bie 
Geſchichte im erften Viertel des achtzehnten Jahrhunderts getrie- 
ben ward. Schlögerd neuer Briefwechfel war Dagegen unmittelbar 
dem Leben und der Berbefferung der fehlerhaften Leitung deffelben 
gewidmet. Dreift ward Schlöger erft nach und nach, als jelbit 
die Behörden unjeres Vaterlandes einfahen, wie vortheilhaft es 
jet, daß das, was son ben Finanzkammern und Kanzleien, in 
Kabineten und im Beamtenzimmer im Dunkel des Geheimnifjes 
bisher war verfteckt worden, einmal am hellen Tage verfündigt werde. 

Aus Beſorgniß, die hannöverfche Artftofratie gleich anfangs 
zege zu machen, nahm fich übrigens Schlözer fehr in Acht, han— 
növerſche Dinge zu berühren, er mied, wie der Gefchichtichreiber 
nach Napoleons Rath die Nähe der Zeiten meiden fol, Die Nähe 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 245 


der Derter. Seine Kritik, die durchaus freimüthig, aber ſehr oft 
auch wunderlich und grillenhaft war, richtete fich zunachft gegen 
fremde Staaten und Verwaltungenz die Richtung feiner erften 
unbandigen Leidenfchaftlichfeit war aber denen, welche im London 
die hannöverſchen Angelegenheiten bejorgten, in Rückſicht auf Kö— 
nig Georg III. Perfon und auf Lord Norths Meinifterium fehr 
willkommen. Schlöger war wüthend gegen die Nordamertfaner 
und tobte über ihren Ungehorfam gegen das Parlament, als 
wenn er ein Achter Altengländer wäre, Auf eben die Weife 
fampfte er gegen die Hollandifchen PBatrioten und für Ludwig 
Ernft von. Braunfchweig, als wenn er und feine Vorfahren dem 
Haufe DOranien angehört hätten. Dies veranlaßte auch in Deutjch- 
land zwiſchen Verfaſſern pertodifcher Schriften die erften öffentlich 
geführten politifchen Diseuffionen, wenn auch nur über Politik 
fremder Staaten, Büfching nämlich nahm beſonders die ameri— 
kaniſche Sache anders als Schlözer und es entitand zwiſchen bei⸗ 
den ein heftiger Streit. 

Schon im zweiten Jahrgange von Schlözers neuem Brief- 
wechjel findet man übrigens einige derjenigen Stücke, durch deren 
Defanntmachung Schlöger von der Zeit an ein Schrecken aller 
väterlich mwaltenden Beamten und Fleinen Despoten des feudalen 
Deutichlands ward, Alle die, welche in den Riten und Löchern 
unferer verfallenen Reichsburg im Dunkeln haufeten, die Tyran- 
nen in Mönchskutten, in Stiftern und Klöftern, die wohlweiſen 
Beherrſcher oder Magiſtrate dev Neichsftädte, die hochgebornen 
Reichsritter, welche die Dörfer beherrfchten, die Durchlauchtigen 
fürftlichen Herrn, die im Dunkel kleiner Nefidenzen und leicht 
yon den Thürmen  derfelben zu tberfehender Länder mit köni— 
glichem Stolze ihr Wefen trieben, erhoben bald ihr vereinigtes 
Zetergeſchrei. Zwei Auffäte des Jahrgangs 1777 ‚mögen deutlich 
machen, wie die obengenannten Mfurpatoren der Rechte des Volks 
und des Katfers gereizt werden mußten, wenn Dinge ans Licht 
kamen, wodurch die Aufmerkfamfeit des der Form nach noch be= 
ſtehenden Reichs auf fie geweckt ward. Man findet nämlich im 
fiebenten Hefte eine Notiz über die. Coneubinen der geiſtlichen 
Herren in Münfter im Sabre 1740, und in eben dem Hefte ge— 
naue Nachricht yon der ganz originellen Beſetzung eines deutſchen 


246 Deuiſche Literatur: Journaliſtik. 


Hofgerichts. Bei letzterer iſt freilich der Name des Landes und 
der Perſonen nicht genannt; doch verbürgt Schlözer in einer bei⸗ 
gefügten Erklärung die Wahrheit der Thatſache. 

Im Jahrgange 1778 findet man ſchon, ſowohl in den darin 
abgedruckten, Schlözer mitgetheilten Aufſätzen, als in den kürzeren 
Correſpondenznachrichten vortreffliche Winke über das Bedürfniß 
einer freieren Preſſe. Es wird nachgewieſen, welchen Nachtheil 
Unterthanen und Regierungen dadurch erlitten, daß alle öffent— 
lichen Angelegenheiten gleich den Geheimniffen dev Myfterien nur 
in tiefer Stille getrieben wurden; dies gilt fowohl von den vielen 
Heinen und größeren Herren als von. den Städten. Dadurch 
ward dann freilich das Gefchrei vermehrt; aber der Einfluß und 
der Abſatz des neuen, in einer ganz neuen Weiſe vedigirten Jour— 
nals nahm in eben dem Maaße zu. Wie e8 übrigens damals 
mit dev pertodifchen Brefie von Deutfchland fand, und welchen 
Ruhm Schlözer deßhalb verdient, daß er in jener Zeit freimütht- 
ger zu fein wagte, als vielleicht gegenwärtig irgend jemand in 
feiner. Lage rathſam finden möchte, fieht man daraus, daß er 
ſelbſt erflärt, auch ermweisliche Thatfachen dürfe er nur mit großer 
Borficht aufnehmen. 

Wie wohlthätig indefjen auch der bloße Schatten einer freien 
und öffentlichen Rede über Staatsangelegenheiten in Deutſchland 
ſchon nach wenigen Jahren geworden war, ſieht man vorzüglich 
aus dem Jahrgange 1780. Man findet in dieſem das Aften- 
ſtück, deſſen Mitthetlung den Züricher Rath, welcher feine bürger— 
liche Dligarchte befanntlich weit harter übte, als der Berner feine 
adelige, jo jehr gegen den Einſender erbitterte, daß er hernach 

diefen (den Pfarrer Wafer) wegen Entwendung anderer Urkun— 
den, welche zwar ftrafbar, aber doch Fein Todesverbrechen war, 
hinvichten ließ. Die Züricher Hatten ſeit diefer Zeit an Schlöger 
den furchtbarften Feind, der allerdings gegen die Art Ariftofratie, 
welche dort beitand, ſehr erbittert war, wie er and in feinem 
Kampfe mit den holländiſchen Patrioten bewies. In demfelben Bande 
findet man auch die, juriftifche DVertheidigung Bahrdts, blos in 
Beziehung auf die Rechte proteftantifcher Reichsbürger gegen das 
verfaſſungswidrige Verfahren des Fatferlichen Reichshofraths, fer= 
ner Auffäte über den Innern Zuftand deutſcher geiftlicher Stantenz 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 247 


über Prager Cenſur und: Ingquifitionz über den ſächſiſchen Adel 
und über die hefienenfieliche Regierung; endlich über die Innern 
Berhältniffe der Univerfität Gießen. Im folgenden: Jahre erklärte 
ſich Kaiſer Joſeph ſehr vortheilhaft über den Krieg, den Schlözer 
fortdauernd mit den Jeſuiten und Exjeſuiten führte, und über 
ſeine Rügen geiſtlicher Mißbräuche, wodurch die kleinern geiſtlichen 
Fürſten dagegen heftig gereizt wurden. Der Biſchof von Speier 
war ſo erboßt über den Spott, der ſeine aus dem Mittelalter 
ſtammenden Rechte, wie er es nannte, getroffen hatte, daß er ſich 
erſt nach Hannover, dann 1782 geradezu nach London an König 
Georg II. ſelbſt wandte, aber beide Male ohne Erfolg, Weil 
der König höflich auswich, wandte fich der Bifchof wegen der 
Artikel, die er Schlözers frevelhaftes Beginnen nannte, Durch ein 
Rundſchreiben an ſämmtliche Deputirte am Neichstage, aber auch 
dieſes ohne Erfolg. 

Dom Fahr 1782 erhielt der Briefweehfel den Titel: Staats— 
anzeigen, und gewann zugleich an Ausdehnung und Bedeu— 
tung. Die Stantsanzeigen wurden gewiſſermaßen ein Magazin 
son Nachrichten aus ganz Deutfchland über alle einzelne Staaten 
und Städte, das zeigt ſchon ein flüchtiger Blick auf die Jahrgänge 
son 1784—1786, es geht aber ganz beſonders aus den unzähli— 
gen. Klagen und Befchwerden der Regierungen über Schlözer herz 
vor, Die Befchwerden trafen keineswegs feine Bemerkungen, fon- 
dern man: wollte das, was gejchehen war und durchaus nicht ges 
laugnet werden konnte oder auch geheim gehaltene, dem Bolfe gün— 
jtige Aftenftücfe nicht bekannt gemacht haben, Das Letztere ver- 
droß die Obfeuranten Baierns, als Schlöger Die Acten eines 
ſchmählichen Criminalprozeſſes drucken ließ. Der Kurfürft Hagte 
in Hannover; man klagte in Darmſtadt, als die Staatsanzeigen 
einen Darmſtädtiſchen Jagdetat bekannt machten, der zufällig ge— 
rade in dem Augenblick nicht mehr geltend war, aber doch kurz 
vorher gegolten hatte. Uebrigens war freilich Schlözer als poli— 
tiſcher Schriftſteller höchſt einſeitig und nicht gerade durchaus un— 
beſtechlich, wenn man ihm gleich nicht ganz grob mit der Beſte— 
chung kommen durfte. Geld, eitle Ehre, ein Orden, ein hohes 
Lob vermochten oft ſoviel über ihn, Daß er ſich ſelbſt zu täuſchen 
ſuchte, um nicht lügen oder blos Andere täuſchen zu dürfen. Man 


248 Deutfche Literatur: Journaliſtik. 


bemerfe nur, wie er in den polnifchen und türfifchen Handeln ſo 
ganz anders verfährt, als in den nordamerifanifchen und hollän— 
difchen. Seine ganze Stellung und fein Berhältnig zu Rußland, 
wie das Buch, in dem er den Ludwig Ernſt von Braunſchweig, 
der aus Holland fortgejagt ward, zum Phocion machte, beweifen 
wenigftens, daß er ſehr ſchwache Seiten hatte, 

Steichzeitig mit Schlözers neuem Briefwechjel (um 1776) 
entitand das deutſche Mufeum, welches der neuen Literatur 
auf Ähnliche Weiſe beftimmt fein follte, wie Schlözers Staatsan— 
zeigen dev neuen Politif, Es iſt unſtreitig die befte Zeitfchrift für 
das größere Publikum, welche je in Deutichland erfchtenen ft, 
denn, wenn auch die fpäter in Jena und Weimar unter Göthes 
und Schillers Schub erfihtenenen wichtigere Arbeiten ind Publi— 
fum brachten, jo beweifet doch die jetzt gedruckte Gorvefpondenz der 
Unternehmer, daß mehr Abfichtlichkeit und. buchhandlerifche Spe— 
eulation dabei war, In dieſem Mufeum haben unfere beffern 
Proſaiſten und auch einige Dichter die erften Proben ihrer Ar— 
beiten mitgetheilt und diefen dadurch hernach eine weitere und 
Veichtere Verbreitung verfchafft. Die verfchiedenen Jahrgänge dies 
ſes Mufeums. bilden daher gewiffermaßen eine chronologiſche Ue— 
berficht der Bemühungen der Männer, welcherunfere Literatur und 
Sprache auf den Bunft zu bringen fuchten, auf dem fich die eng— 
Yifche und frangofifche fchon fett einem halben Jahrhundert be- 
fanden. Die Unternehmung dieſes Muſeums gehört zu Dohms 
Berdienften um Deutfchland und um die deutfche Literatur, Dohm 
theilte die Leitung deffelben mit Bote, der durch dieſe Redaktion 
für unfere Profa auf Ahnliche Weife thätig ward, wie früher in 
Göttingen durch die Anftalt dev jährlich erfcheinenden Muſenal— 
manache für die leichtere Poefie. MS Dohm hernach durch Staats— 
geichäfte der Literatur auf einige Zeit entzogen ward, leitete Bote 
allein das Mufeum, welches für den Kenner immer noch feinen 
- Werth hat, was von wenigen Zeitjchriften gejagt werden kann, 
bejonderd da jetzt die bedeutenderen Aufſätze alle vermehrt und ver⸗ 
beſſert einzeln gedruckt ſind. 

Die innige Freundſchaft, welche vom Strande der Oſt- und 
Nordſee, bis zu den Gränzen Italiens alle die Männer, welche 
damals unſere Nation und ihre Literatur von der Barbarei und 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 249 


dem Despotismus der Pfaffen und Pedanten, son den elenden 
Gabalen, Ramaraderien, dem Handwerksgeiſt und der Gemeinheit 
der Univerfitäten befreien wollten, und, ohne fich perfünlich zu 
fennen, im geheimen innigen Bunde fanden, evleichterte Bote und 
Dohm das Unternehmen, nur Borzügliches dem Publikum perio- 
difch darzubteten. Beide Unternehmer genoffen einer allgemeinen 
Achtung in Deutfehland und verbanden mit einen gereinigten Ge— 
ſchmack und mit vielen und vielfeitigen Kenntniffen einen richtigen 
praktifchen Takt, dev unter unfern Gelehrten viel feltener ift als 
die erften beiden Gigenfchaften. Dies gilt freilich, wie das bei 
Zeitfehriften, auch befonders wegen der Natur des Titerarifchen 
. Treibens, nicht anders fein kann, vorzugswelfe nur son den er= 
ften Sahrgängen, bei welchen Bote und Dohm gemeinfchaftlich 
über die Aufnahme der Auffäse wachten Man fieht aus der 
Wahl, die fie trafen, deutlich, daß fie den Geſchmack umd den. 
Verſtand des großen Iefenden Publikums bilden, es aber auch zu= 
gleich durch; Abwechſelung und genaues Anfchmiegen an das Be— 
dürfniß dever, die nur allein Unterhaltung in der Lectüre fuchten, 
gewinnen wollten. Die Richtung, die Bildung, die Denfart der 
Berfaffer dev gefammelten Aufſätze ift daher verfchieden und oft 
gerade entgegengefegtz aber in einem Punkt, Moralität und Gifer 
für die geiftige Wiedergeburt der Natton, für die Befreiung der 
Jugend von aeademifcher Rohheit und für Achte und gründliche 
Geiſtesbildung kommen alle überein, 

Schon aus dem Negifter der einzelnen Auffäge würde man 
jehen, daß nach einander Proben dev Arbeiten von Göthes Freund 
Lenz, der ſchon damals feine Gentalität über die Schranken jeder 
Art Regel, nicht blos über die der pedantiichen Regel hinaus 
trieb, mit philofophifchen Auffäben von Feder, von Campe, von 
Lavater abwerhfeln. Neben Lichtenbergs geiftreichen und witzigen 
Briefen aus England darf auch Zimmermann, damals ein belieb- 
ter Schriftiteller, ein Ding, das er Philofophie nennt, auskramen. 
Auch ſtaatswiſſenſchaftliche und ftantswirthfchaftliche oder ftattftifche 
Gegenftände wurden darin, foweit fie dem großen Publikum durch 
DBortrag angenehm gemacht werden können, son Männern wie 
Dohm, Jacobi, J. G. Schloffer behandelt, und die belchrende 
Profa wechſelt ab mit Proben aus Gedichten von Bürger, von 


250 Deuiſche Literatur: Journaliſtik. 


Claudius, von den Stolbergen, von Voß. Daß auch Meißner 
und Sprickmann und Andere nicht gerade klaſſiſche Schriftſteller 
ſpäter oft erſcheinen, lag in der Natur des Journalweſens und 
einer einmal begonnenen Unternehmung, die nicht ſogleich aufge— 
geben werden kann. 

Die Göttinger Profeſſoren ſogar hielten es für nöthig, von 
der gegen fie erhobenen Beſchwerde, daß fie, in ihre Katheder— 
weisheit verliebt, weder etwas von Fortfchritten dev Zeit, noch von 
Bolfsliteratur willen wollten, an das große Publifum zu appel- 
liren. AS das Refultat des Entfchluffes der Göttinger Gelehr- 
tenariftofratie auch ihrer Seits mit dem Publikum in Verbindung 
zu treten, betrachten wir das von Georg Forfter und von Lich— 
tenberg unternommene Göttingenſche Magazin der Wif- 
fenfchaften und der Literatur. Auch von diefer Zeitfchrift 
gilt dafjelbe, was wir vom deutfchen Muſeum bemerft haben, daß 
es auch jett noch, wo die mehrſten Aufſätze an andern Orten und 
zu andern Heiten gedruckt find, als eignes Wert Werth hat. Die 
fammtlichen Göttinger vornehmen Profeſſoren haben übrigens felbft, 
zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar durch Lichtenberg er— 
Färt, daß ihr Magazin beftimmt ſei, dev neuen Anficht des Les 
bens den Weg zu bahnen. Das Magazin follte nämlich die Le— 
jer überzeugen, daß biefelben Männer, welche oft ihre Abneigung 
gegen die herrichende, abgeſchmackte Empfindfamfeit ſehr ſtark äu— 
- Berten, die tolfe Genialität der Kraftgentes verfpotteten, den Bom— 
baft der Lavater und Gonforten bitter und mitunter überjcharf ver— 
höhnten und die Frömmelei der Schule Klopſtocks nicht Für Re— 
ligionseifer anerkennen wollten, doch auf der anderen Seite für 
die wahren Berbefferungen, welche die Zeit fordere, eben fo mu— 
thig zu Fampfen im Stande feien, als Schlöger that. Das Ma- 
gazin follte nicht polemifch, nicht direkt die Göttinger gegen den 
Borwurf vertheidigen, daß fie artftofratifch nur eine privilegirte, 
nur eine Univerfitätsbildung, Wiffenfchaft genannt, ausſchließlich 
fördern und treiben wollten, fondern die Aufſätze follten zeigen, 
daß fie fich popularifiven könnten, fie follten einzelne Stücke der 
Wiſſenſchaft der Vrivilegirten dem ganzen Bolfe zugänglich machen. 

Alle Göttinger Profeſſoren, die ſichs einigermaßen zutrauten, 
im Geiſte ihrer Zeit, im Style und im der Sprache, welche in 


Deuiſche Lileratur: Journaliſtik. 251 


den letzten zwanzig Jahren ſich gebildet hatten, ihre Wiſſenſchaft 
unmittelbar dem gebildeten Publikum mittheilen zu können, liefer— 
ten Beiträge zu dieſer dem Wimmern und Faſeln und Liebeln und 
Frömmeln der Zeit eine verſtändige und dabei unterhaltende Be— 
lehrung entgegenſetzenden Zeitſchrift. Unter denen, die in dieſer 
Abſicht arbeiteten, durfte Leſſings Freund, Reimarus, nicht fehlen, 
und er lieferte auch wirklich Beiträge. Daß das Magazin in der 
angegebenen Abficht unternommen wurde, geht nicht blos daraus 
hervor, daß man das Format des Fleinften Octavs wählte und 
ur dünne Hefte ausgab, ſondern Lichtenberg erklärt fich darüber 
in der Vorrede zum zweiten Jahrgang beftimmt und ausdrücklich. 
Er fagt dort, die Herausgeber wollten dent deutſchen Bublifum 
eine Lectüre fchaffen, die nicht läppiſch, wie die zahlreichen un— 
terhaltenden Zeitſchriften, fondern unterhaltend und belehrend zu— 
gleich fei, ohne jedoch Die Lefer zu ermüden. Der Styl, ſo fahrt 
er, dar Mitarbeitern ihre Aufgabe leiſe andentend, Fort, foll zwar 
feicht, aber doch immer ernste Profa, weder fades Gewinfel noch 
leerer Bombaſt fein, 

Lichtenberg und Forfter hielten in der That Wort, was bei 
denen, die dergleichen Unternehmungen als Geldfpekulatton betrach-⸗ 
teten, wie ſelbſt Wieland that, bekanntlich nicht oft der Fall zu 
fein pflegt. Ein großes DVerdienft war es, daß diefe Männer, 
welche ein. von Bafedow und Campe erzogenes Gefchlecht durch 
ihre Wiffenfchaftlichkeit Hätten abſchrecken können, fich herabließen, 
durch die That zu zeigen, daß fie praktiſch tüchtiger und lehrend 
unterhaltender feien, als die gerühmten Educationsräthe und die 
jentimentalen Bicherfabrifanten. Statt dies durch Aufzählung 
oder Brüfung der einzelnen Aufſätze zur beweifen, was uns zu 
weit führen wide, wollen wir noch. einige Worte aus der wor: 
her erwähnten Vorrede Lichtenbergs zum zweiten Sahrgange ans 
führen, und dann einiger, entweder wegen ihrer Verfaſſer oder 
wegen ihres Inhalts merkwürdiger Aufſätze im Vorbeigehen ge— 
denken, Lichtenberg nämlich dankt dort für die gütige Aufnahme, 
welche feine als Oppofitton gegen das modifche Fafeln zu betrach— 
tende Zeitfchrift beim Publikum gefunden Habe und ſpricht fich 
bei der Gelegenheit über den Geiſt derfelben in folgenden Wor- 
ten aus: „Es gelte denjenigen Leſern, über: deren altdeut— 


252 Deutfche Literatur: Journaliſtik. 


ſchen Ernft undaltdeutfchen Geiſt der filberne Mond 
jo wenig vermocht habe, daß fie ein nicht empfind- 
james Journal zum Zeitvertreibe lefen, und eine u. 
ſ. w. Die Einrichtung, fügt er hinzu, wird in dieſem Jahre größ— 
tentheils diefelbe bleiben, doch werden wir fie einigermaßen dahin 
abändern, daß wir Die durchaus bleibende Abſicht, zu 
belehren, mit fo viel Veränderung im Aeußern zu verbinden 
fuchen werden, als fie nur immer verträgt. Wir werden daher 
ſelbſt Gedichte nicht mehr ausſchließen; allein wie es fich wohl 
von ſelbſt veriteht, nur folche, Die den Titel unferes Jour— 
nals, welches Wiſſenſchaft verfpricht, wenigſtens nicht ganz Lü— 
gem ſtrafen.“ y | 

Was die einzelnen Auffabe und ihre Verfaſſer betrifft, fo 
wird man auf den erſten Blick wahrnehmen wie genau das Ver— 
fprechen gehalten wird, dem &lenden und Faden der Journale 
jener Zeit‘ etwas Gutes und Solides entgegen zu ſetzen; man 
wird nämlich feine Lückenbüßer darin antveffen. Ein kurzer Auf- 
fat über Gradirwerfe und einer über Hütten= und Bergweſen in 
dev Pfalz konnen nämlich dem Phyſiker, der das Journal redigirt, 
nicht als Aufnahme eines Lücenbüßers angerechnet werden. Was 
die Hauptfache angeht, die Gelehrſamkeit und Univerfitätswifjen- 
Ichaft dem Volke durch Leichtigfeit der Form nahe zu bringen, um 
es von Marktichreiern, Ignoranten und Schwätzern, oder von 
Leuten, die Bücher gleich Schuhen auf den Kauf machen, zu ent= 
fernen; fo erfcheinen gleich im erften Jahrgange nach und neben 
einander Feder, Erxleben, Blumenbach, Meifter und mit ihnen 
zugleich der hernach mit Lichtenberg als einem Streiter für Hey— 
nes Sache tödtlich entzweite Voß. Auch Pütter ſchließt fich au 
jeine Kollegen dadurch an, daß er in einem jehr faplichen und 
doch ſehr gründlichen Auffab über die Rechtmäßigkeit der 
ZahlenIotterien feine armen deutfchen Landslente belehrt, wie 
handlich siele unter ihnen von ihren Negterungen betrogen wür— 
den. Große und Eleine deutfche Herrn, von ihren Blusmachern, 
die fich dabei gut fanden, geleitet, hegten damals noch überall 
die Land und Leute, befonders die ärmeren Klafjen verderbende 
Spekulation, vor welcher Pütter in dem Aufſatze warntz jetzt find 
Lotto und Lotterie nur hie und da noch übrig, wahrſcheinlich um 


Deuiſche Literatur: Journaliſtik. 253 


zu beweifen, dafs die verpachteten Spielbänfe der Bäder und ihre 
Berpachter nicht allein der Hffentlichen Stimme trogen dürfen, 

Lichtenberg felbft erläutert in dem dritten Stück durch einen 
in feiner Art meifterhaft witzigen Kommentar die zweit Blätter 
eines komiſchen Orbis Pietus für deutfche dramatifche Schrift 
ftefler,, Schaufpieler und Nomanendichter, die er von Chodowiecki 
hatte ftechen laſſen. Im vierten Stücke findet man neben Rei— 
marus philofophifchem Auffage und Blumenbachs für jedermann, 
nicht bloß für Naturfundige, höchſt anziehenden Bemerkungen über 
Federpolypen, Lichtenbergs geiftreiche Fragen an Phyfiognomen. 
Im fünften Stück fucht fogar der alte gelehrte 3. D. Michaelis 
einen halb theologifchen, halb Hiftorifchen Gegenftand aus der 
Rüſtkammer feiner Gelehrfamkeit durch Einfleidung und Form po— 
pular zu machen. Der Berfuch war wenigftens zur Zeit des Fort- 
jchreitens und fir daffelbe danfenswerth, obgleich die Sache ſelbſt 
ſchwerlich jegt die Mühe lohnen würde, wenn etwa unfere in. der— 
gleichen Dingen das Alte wieder hervorſuchende Zeit darauf zurück 
fommen ſollte. Er trägt nämlich unter der Form eines Briefs an 
Schlözer feine Vorftellung von der Ordnung der Zeitrechnung, 
von der Sündfluth bis auf Salomons Negterung populär vor, 
Blumenbach behandelt den Gedanken, den er, wie jeder weiß, der 
ihn gekannt und gehört Hat, für ſehr wichtig hielt, daß durch den 
von ihm erfundenen neuen Ausdrud: Bildungstrieb (Nisus 
formativus), ein neues Licht in die Naturwiſſenſchaft gebracht 
werben Tonne, jo geiftreich, daß der Lefer die Ausführung und 
das gelegentlich Geſagte gern Kieft, wenn er auch nicht mit Blu— 
menbach glaubt, daß fich eine unbekannte Sache durch eine andere 
eben jo unbefannte erklären laſſe. 

Im ſechſten Stück findet ſich das Meiſterwerk Lichtenbergs, 
jein Sendichreiben des Mondes an die Erde, Diefe feine Satyre 
trifft das Empfindfamfeitsfieber der achtziger Jahre, an defien 
Stelle jetzt Glaubenseifer getreten iſt. In demfelben Stücke be— 
weiſet Heyne den Deutſchen die unumgängliche Nothwendigkeit, 
den Unterricht an gelehrten Schulen von Zeit zu Zeit zu verbef- 
ſern, dadurch, daß ex den tiefften Verfall deſſelben in einem Lande, 
wo alle Anftalten für Gelehrte übermäßig reich dotirt find, hand— 
greiflich macht, Dies iſt nämlich der eigentliche Zweck son Hey- 


354 Deuiſche Literatur: Journaliſtit. 


nes Abhandlung über die Schulbücher, die in Eton, der berühm— 
teften Gelehrtenfchule in England, gebraucht wurden. Auch Käftners 
Aufſatz hängt ganz genau mit dem Zweck des Magazins und mit 
dem Streben der Zeit, fich von alten Banden frei zu machen, 
zufammen Georg Forfters Aufſätze über O-Tahiti, wo er vom 
Elyſium träumte und über Büffons Epochen der Natur gehörten 
zu den merfwirdigften Stücken der proſaiſchen Literatur jener Zeit, 
obgleich Falte und erfahrne Männer feinem kühnen Fluge wohl fo 
wenig zu folgen geneigt fein möchten, als er im Grunde mit dem 
enthuftaftifch von ihm gepriefenen Büffon übereinftimmt, Dies fchon 
aus dem Grunde, weil er von wahren, Büffon son kinſtuchen 
Enthuſiasmus getrieben ward, 

Girtanner erfcheint Freilich ebenfalls im erſten Hefte des —* 
ten Jahrgangs, aber der war ſeiner Zeit eben ſo unvermeidlich 
und ſo unzertrennlich von den Göttinger Profeſſoren, als der zu 
ihnen gehörende Meiners. Im einem ganz andern Sinn als 
Girtanners Fabrikate abgefaßt, find die Aufſätze im zweiten und 
sterten Stücke dieſes zweiten Jahrgangs, welche den von der 
Züricherfchen Krämerariftofratie gerichtlich gemordeten Rfarrer Wa— 
fer betreffen. Dieſen Aufſätzen war schon einer über Wafers 
letztes Verhör und über feinen rührenden letzten Abfchted non 
feinen Söhnen, welche fich noch im Kindesalter befanden, voraus— 
gegangen. Ein W. C. Beder nämlich Hatte die Rolle eines fen- 
timental frommelnden Sophiſten ziemlich geſchickt zu Gunften der 
blutigen Züricher Rathsherrn gefpielt, was damals in Deutjchland 
son einem Deutfchen noch ſehr auffiel, jett unmöglich mehr aufs 
fallen: konnte, Sondern wahrſcheinlich als Verdienſt ſehr geehrt 
würde. Er hatte in einem langen, am den jentimentalen Gleim 
gerichteten, Briefe fophiftifch von Waſers Sache gehandelt, In 
diefem Briefe ward, wie das jetzt alle Tage gefchteht, der per= 
fonliche Charakter des Mannes, am dem das durch ‚die Zeit zum 
Unrecht gewordene Recht ausgeübt war, benußt, um die Obrigkeit 
zu entjchuldigen, welche am Ende des achtzehnten Jahrhunderts 
handelte, wie man im Mittelalter zu handeln pflegte. Becker 
juchte geltend zu machen, daß Wafer ein heftiger, boshafter, im 
Gebrauch der Mittel zu feinen Zwecken Teineswegs bedenklicher 
Mann geweſen ſei. Er wollte, wie ſolche Schleicher pflegen, um 


Deuiſche Lileralur: Journaliſtil 255 


die heftig gegen die Züricher Ariſtokratie exbitterte öffentliche Mei- 
nung von dev Hauptfache abzuleiten, das Perfönliche sorfchieben, 
Dieſe Hauptfache war nicht ſowohl Wafers Charakter oder feine 
Schuld, als vielmehr, daß alle fich gegen das Mittelalter heftig 
firäubenden Deutfchen mußten, daß es im heiligen römiſchen Neiche 
viele Städte mit einer Ähnlichen Verfaſſung gebe wie die Züri— 
cher war, und daß in den erleuchteten und fentimentalen Zeiten 
der achtziger Jahre ein Staat, den man Republik nenne, eine 
Gerichtsbarkeit dulde, nach welcher der unglückliche Waſer mit 
einem Schein Rechtens hatte aufs Schaffot gebracht werden können. 

Diefe Hanptfache ift es, die Schlöger gegen den Verbündeten 
ber Klopftocffchen, Bodmerjchen, Sleimfchen Zartheit in diefem 
Magazin mit gefunder und gebildeter Berftändigfeit hervorhebt, 
nachdem er fich ſchon in feinen Staatsanzeigen wiederholt über 
die Waferfche Angelegenheit erklärt hatte, Er theilt dem Maga: 
zin einen. Auffa mit, der unftreitig zu dem Bortrefflichiten ges 
hört, was er überhaupt gefchrieben hat, Dieſer Aufſatz tft in 
einem Ton und in einer Manier gefchrieben, worin in unfern 
Tagen Fein hannöveriſcher Profeſſor fchreiben wird oder ſchreiben 
dürfte, wenn ev nicht als Feind der von Gott eingefeßten Obrig- 
fett ansgefchrieen werden wollte. Diefer Auffat fteht im vierten 
Stück neben Käſtners Aufſatz, deffen Tendenz wir vorher im Vor— 
beigehen berührten, er berichtet nämlich, wie es in Deutjchland 
herging und noch hergeht. In diefem merkwürdigen Aufſatze hebt 
Käftner Scharf und treffend bei Gelegenheit son Kepplers Güter— 
oder vielmehr Armuths-Inventarium hervor, mie Deutfchland mit 
feinen größten Männern umgeht, wenn fie nicht entweder eine 
Brodwiſſenſchaft lehren oder treiben, oder nicht in irgend einer 
Refidenz oder am Hofe zu irgend etwas, was es auch jet, zu ges 
brauchen find. Was Schlözers gegen Berker elende Sophiftereien 
gerichteten Aufſatz betrifft, jo führt er die Ueberſchrift: Vorläus 
fige zerftreute Anmerfungen zu Herrn Beders Schret- 
ben über Wafern und deſſen Prozeß, Seine Abficht und 
den Inhalt feines Auffates deutet aber Schlöger ganz * 
9* das Motto an: 


Verifiet war ſein deutſcher Sinn 
Von Oligarchenluft. 


256 Deutfche Literatur: Journaliſtit. 


Wir würden noch einen Aufſatz über deutfche Literatur im 
fünften Stück zu denen rechnen Können, welche im Geifte der 
neuen und erfreulichen Richtung jener Zeit gefchrieben waren, Der 
Titel Göttingiſches Magazin und Heynes große Bedeutung 
als Univerfitäts-Diplomat und Politieus für Gpttingens Ruhm 
trieb aber Lichtenberg, fich in den Streit, den Voß mit Heyne 
hatte, auf eine ſolche Weiſe zu mifchen, daß die Stellung der 
Theilnehmer am Magazin gegen die Urheber der neuen Literatur 
Deutſchlands verändert ward. - Lichtenberg ließ nämlich am Ende 
des dritten Stücks des Magazins diefes Jahrs eine bittere Ver— 
jpottung einer allerdings unbedentenden Zänferei, welche Voß an— 
gefangen hatte, abdrucken. Dies war die Unterfuchung über Die 
Pronunctationder Schöpfedesalten Griechenlands. 

Gelegentlich müfjen wir, bloß Opittlers wegen, denn Mei- 
ners iſt überall nur als Compilator und Fabrifant anzufehen, 
noch eined andern Göttingenfchen Magazins erwähnen, obgleich 
ber Anfang defjelben über das Jahr Hinausgeht, bis zu welchem 
wir diefe Veberficht der Literatur dies Mal fortführen” wollen, 
Das Göttingenſche Hiftorifhe Magazin von Meiners 
und Spittler begann nämlich erſt um 1787. Gleich der. erfte 
Band des Magazins beweiſet, wie vortrefflich Spittler die Be— 
Tehrungen, welche die damals beginnenden Vorfpiele der Revolu— 
tion in Frankreich allen biindlings am Mittelalter lebenden Staa- 
ten des Kontinents hätten geben follen, wenigftens für Deutjchland 
zu benugen verftand. Er zeigt gerade in dieſem Magazin am 
beiten, wie er mit feiner Kenntniß der allgemeinen Gejchichte ein 
genaues Studium deutjcher Partienlargefchichten in Beziehung auf 
Derwaltung, Berfaffung, Regierung verband, und wie jehr es 
zu. bedauern war, daß er fchon im folgenden Jahrzehnt ſich ſelbſt 
und dem DVaterlande untreu ward. 

Was Spittler durch feine Auffäge in diefem Magazin auf 
jeine Weiſe für das gefammte Vaterland wirklich leiftete, hatte 
ſchon feit 1784 C. F. von Mofer durch fein Patriotiſches 
Archiv zu leiften verfucht.  Mofer, fo gut feine Abfichten wa— 
ven, Eonnte ſchon aus dem Grunde das nicht Teiften, was er 
wünjchte und was die Zeit forderte, weil die Form feiner Reli— 
giofttät mehr dem fechszehnten als dem ashtzehnten Jahrhundert 

* — — 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 257 


Mofer mußte daher mit einem Jung-Stilling, Hamann, Claudius 
und andern der Gonfiftorial= Religion treu bleiben und mit fich 
jelbft in Widerſpruch kommen, da er in einer Beziehung Neues 
verlangte und mit den Männern, die in Norddeutichland auf Re— 
form der mit den alten Formen verbundenen Mißbräuche drangen, 
auf einerfei Wege war und doch auf der andern in der Religion 
nur Bofitives duldete. Daraus erklärt fich auch das fonderbare 
Gemifch vortrefflicher urfundlicher Nachrichten, befonders auch über 
die pfälztiche Gefchichte, kühner und in Deutfchland ganz unerhört 
dreifter Bemerkungen über Hofe und Beamten, über Gerichte und 
‚Kanzleien, über Mätveffen, Finanzen und Regierung der deutfchen 
Zürften, abwechſelnd mit erbaulichen Discurfen und mit Geſchich— 
ten, die eher in ein Erbauungsbuch gehörten, als in ein patrig- 
tifches Archiv. 

Daß indeſſen E. 3. yon Mofer, wenn auch von einer andern 
Seite her und auf eine ganz andere Weiſe denfelben Zweck durch 
fein Journal zu erreichen fuchte, den ſich Schlöger und Spittler 
bei dem Ihrigen vorgeſetzt hatten, läßt fich leicht erkennen, wenn 
man die beiden erſten Sahrgange von 1784 und 1785 etwas 
genauer betrachtet. Er hat weniger als die Unternehmer der nord— 
deutfchen Journale Statiftik, diplomatische VBerhältniffe und Staats— 
wiffenfchaft im weiteften Sinne vor Augen, er fehreibt nicht eigent- 
lich im Geifte feiner Zeit, da fein Styl, feine Sprache, feine 
Manier altväteriſch find, allein er will doch auf feine Weiſe re— 
formiren und alte Ehrlichkeit und Biederfeit zurückführen. Durch 
feine Laufbahn als Gefchäftsführer und fogar als Miniſter klei— 
ner deutſchen Despoten war er in die Labyrinthe des Dienſts um 
Lohn und Brod eingeführt: Diefen bekämpft er in dem Archive 
durch hiſtoriſche Lehre, ex widerlegt das herrfchende Vorurtheil, 
daß jeder in einem bejondern deutfchen Staate Angeftellte, jeder 
beſoldete Beamte weder dem Volke als Bürger, noch der gefamm= 
ten Nation als Patriot, fondern ganz allein feinem gebietenden 
Herrn angehöre. 

In der letzten Beziehung iſt das Archiv beſonders darum 
merkwürdig, weil daraus hervorgeht, wie weit man in Deutſchland 
ſelbſt zur Zeit der erſten franzöſiſchen Nationalverſammlung noch 


von der Ahnung des wahren Verhältniſſes der Staatsbürger zu 
Schloſſer, Geſche d. 18, m 19. Jahrh. IV. Thl. 4. Aufl. 17 


258 Deutſche Literatur: Journaliſtik 


ihrer Obrigkeit entfernt war. Wir behalten unſeres Zwecks we— 
gen dieſen Punkt feft im Auges Moſer fchadete aber unftreitig 
jeinem Zwecke felbft durch die Tangen frommen, oder doch wenig 
angziehenden Artikel, die ex aufnahm. Unter diefe zähfen wir die 
gleich vorn herein mitgetheilte lange Gefchichte des Bet-Ernſts, 
Herzog von Gotha. Trotz diefer Misgriffe wirde von Mofer bie 
Regterungen auf bie Quelle der Hebel in den veralteten Staaten 
aufınerffam gemacht Haben, wenn das überhaupt möglich wäre, 
was wir bezweifeln. Er macht nämlich im Archiv Handgreiflich, 
daß der, Mangel an wahrem Patriotismus und an edlem, mora= 
liſchem Muthe gegen innere Feinde und Tyrannen unter uns 
Deutjchen mit der Befchaffenheit der Univerfitäten und der Ge— 
lehrſamkeit, mit dem Zunftgeift oder dev Ruhmfucht und Gemein- 
heit der Profefioren, mit dem ausjchließenden Treiben der Brod- 
Fächer und der Verwandlung gelehrter Studien in Gedächtnißwerk 
und Handwerk zufammenhänge Er fügt hinzu, fein Zweck bei 
feinem Unternehmen ſei durch Aktenſtücke, durch Gefchichten, durch 
feine eignen Bemerkungen, die Deutfchen aufmerffam zu machen, 
wie noch immer in Deutfchland eine Behauptung als allgemeiner 
Grundfat gelte, welche weder mit der Vernunft und Moral, noch 
mit dev Gefchishte zu vereinigen je. Man halte dafür, jeder An— 
geſtellte und Staatsbeamte fei unbedingt Diener des regierenden 
Herrn und als folcher. verbunden, jeden Einfall und jede Laune 
deſſelben als Geſetz zu erkennen: diefem Irrthum wolle er entge= 
gen arbeiten, Gr gibt daher auch zu verſtehen, daß er nicht wie 
Schlözer bloß die Zeitgejchichte im Auge habe, fondern hiſtoriſche 
und politifche Belehrung der Nation überhaupt. Er wolle einzelne 
Gefchichten auch aus der früheren Zeit zu dieſem Zweck benutzen. 
Darüber drückt er fich in der Einleitung ‚in feinem wunderlichen 
Styl folgendermaßen aus: 

„Meine Abficht geht auf wirkliche Belehrung, Befferung 
and Erbauung, ich ſuche Korn und nicht, Stroh, und ohne Blu— 
men zu verachten, gilt es mir beſonders um Früchte Bloß 
hiſtoriſche, bloß ftatiftifche Nachrichten find alſo nicht unter mei- 
nen MWünfchen und meinem. Sammlen begriffen, noch weniger 
ſolche Anekdoten und Perſonalien, die nur in die Schand-Chro— 
nik des Jahrhunderts gehören Gin anderes iſt ein Arzt amd 


Deutfche Literatur: Journaliſtik 259 


Anatom, ein anderes ein Scharfrichter und Büttel.“ Wie dies 
Mofer zu bewirken hoffte, wird man befonders aus der Abthei— 
fung jedes Bandes ſehen, die er Kabinetsſtücke überſchrieben 
hat. Wie er e8 anfängt, wollen wir an zwei Männern zeigen; 
durch deren. Schilderung er zwei fir unfere Zeiten, wo wir die 
Gattung Staats= und Religionsſophiſten zu hunderten entftehen 
jehen, ſehr brauchbare, Chavakteriftifen gibt. Er fchildert dort zwei 
jener Menfchen, mie die, welche auch in unfern Tagen Gefchichte, 
Recht und Religion auf eine folche Weiſe zu wenden und vor— 
zutragen wiſſen, wie es den Zwecken derer dient, für welche fie 
Schreiben, Im zweiten Bande zeichnet ev einen liberalen und einen 
ſervilen oder einen. abfolutiftifchen Sophiften, in der Berfon des 
baterifchen Juriſten Ickſtadt und des damals (um. 1785) als 
Gegner des Despotismus und Vertheidiger würtembergifcher Rechte 
som Herzoge von Würtemberg auf die Feftung geſetzten Schubark 
Die Sache wird von ihm recht fein durch Sfelins Worte in dem 
Lichte gezeigt, aus welchem ev wünſcht, dag feine deutſchen Lands— 
fente ‚dergleichen Sophiften oder in Advokatenmanier ſchreibende 
Biographen und Hiftorifer, am denen wir Ueberfluß haben, bes 
trachten ſollen. Der würtembergifche Märtyrer, von 1785, Schu— 
bart, Hatte nämlich 1776 ein Leben des befannten baterifchen Pu— 
bliciſten Ickſtadt gefchrieben, der für Katjer Karl VIL die Ver— 
theidigung der baterifchen Rechte an Defterreich herausgegeben 
hatte, , In dieſer Schubartichen Biographie war natürlich Ickſtadt 
weidlich gerühmtz dieſen Punkt hebt Mofer in Beziehung auf 
beide Männer hervor. 

Um die Art Sehriftftellerei und die Gattung Schriftfteller 
zu bezeichnen, bie jchwarz weiß machten, jagt er, wolle er eine 
Stelle aus Iſelins Recenfion des erwähnten Buchs anführen, wo— 
rin feine Anſicht von dergleichen publteiftifchen Schriften ausge: 
ſprochen ſei. „Wenn diefer Gelehrte, heißt es dort, ſtatt in baieri— 
ſche Dienfte zu treten, am iwiener Hofe feine Verforgung gefun— 
den hätte, jo hätte nothwendig für ihn Unrecht heißen müflen, 
was er als Necht verteidigt hat.” Sollte wohl ein traurigeres 
Schichſal für einen Mann von Verſtande ſein, als ſich bloß als 
ein Werkzeug des Eigennutzes und Eigenſinns der — anzu⸗ 
ſehen? 4 ſehr entehrt dieſes nicht die Gelehrſamkeit!! Welche 

17* 


260 Deutiche Literatur: Journaliſtik. 


erniedrigende Sache iſt es nicht, Fein anderes Maaß von Recht 
und Gerechtigkeit zu Haben, als den Vortheil feines Fürften ? 
D Süngling, Züngling, der du dich dev Rechtsgelehrſamkeit wid- 
meft, wirf eher alle Bücher ins Feuer und geh’ und werde ein 
ehrlicher Schufter und Schneider, als ein Deduftionenfchrei- 
ber für den, der dich am beiten bezahlt! 

In einem andern Artikel des Bandes, Nr, 24, wird unter 
der Aufſchrift Hofpublieiften das DVerhältnig eines Archivs, 
welches nicht von einem Neuerer, fondern von einem Nechtögelehr- 
ten, Staatsmann, furz, von einem mit dem Leben und den Ge— 
ſchäften befannten Mann alten Schlags unternommen ward, 
zu den Verhältniffen son Mofers Zeit und zu den Beamten des 
gewöhnlichen Schlags angegeben. Wir führen die Stelle an, weil 
Mofer darin die fogenannten conſervativen Brodjuriften ganz tveff- 
lich bezeichnet, „Die Hofpubliciſten,“ heißt e8 dort, „welche gern 
unfere deutfchen Reichsſtände zu unabhängigen und unumfchränf- 
ten Herrn machen und fie von den son ihren Borfahren oder 
auch von ihnen felbft eingegangenen Landes = Verträgen, Reverſa— 
lien u. ſ. w. Insmachen möchten, pflegen ihren Hauptgrund darin 
su feßen, daß die deutſchen Regenten alle nur erfinn- 
lichen Regterungs-NRechte von uralten Zeiten her= 
gebracht hätten, ſich auch derenzum Nachtheil ihrer 
Regierungs-Nachfolger nicht begeben könnten. Die 
Anterthanen werden von ihnen nicht anders angefehen, als die 
Anterthanen. orientalifcher Regenten, deren Leib, Leben, Hab und 
Gut alle Augenblick zum Dienft * deſpotiſchen Landesherrn 
daſtehen muß.” 

WMoſer lehrt hier, was ſich bis auf den heutigen Tag und 
gerade jetzt vielleicht ſtärker als je bewährt. Moſer, alſo kein 
Neuerer, Fein ſarkaſtiſcher Satyriker oder Phantaſt, Fein Schwär— 
mer, ſondern ein trockener, ſteifer, orthodoxer, praktiſcher, hiſtoriſch⸗ 
juriſtiſch gebildeter Geſchäftsmann alten Schlags berichtet, warum 
deuſche Beamten ſo ſelten patriotiſche Männer ſind. Sie ſind 
ſchon im älterlichen Hauſe durch Rede und Beiſpiel ſervil ge— 
worden, werden auf den Univerſitäten ſehr oft von eiteln, oder 
platten und gemeinen Profefforen gebildet, leben als Studen— 
ten in der Kneipe unter Kameraden, die nur von Commers, 


— 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 261 


Duell und Anftellung reden, wer wollte da eine Idee fuchen? 
Wie fünnte man, fragte er, von einem Ginzelnen Patriotismus 
erwarten, wenn die Mehrzahl feiner Kollegen und alle feine 
Dbern bloße Fürftendiener" oder Hofleute find? Um zu zeigen, 
wie gemein angefehene Beamte in Deutfchland ihr Verhältnif zu 
dem DBolfe und zu ihrer Pflicht zu beurtheilen im Stand find, 
führt ex ein Gefpräch ein, welches er mit einem Manne, welcher 
bie perfonifizivte Gemeinheit sorftellt, über feine eigne dreifte Frei— 
müthigkeit geführt hatte, Wir überlaffen unfern Lefern, das ganze 
1781 gehaltene Gefpräch, welches er wörtlich aufgezeichnet hat, 
nachzulefen, wir wollen nur die Anfangsworte anführen. Schon 
dieſe beweifen, daß es den Beamten noch. im achten Jahrzehnt 
des vorigen Jahrhunderts Wahnfinn fchten, wenn fich jemand 
einfallen ließ, gegen feinen Privatvortheil, vielleicht fogar mit 
Gefahr, für Rechte des Volks, oder eines Theils defjelben nur zu 
reden oder zu fehreiben, gefchtweige denn zu handeln. 

Moſer führt den Reprafentanten des Beamtenftandes feiner 
Zeit in den erften Zeilen des erwähnten Zwiegeſprächs folgen— 
dermaßen vebend ein: „Sie werden das juft fo lange treiben, 
His es ihnen geht, wie es ihrem Herrn - Vater ergangen iſt.“ 
Darauf antwortet ev: „das würde viel Ehre für mid 
fein.” Der Andere erwiedert: „Nun jo Hure ich denn zum 
erften Male, daß jemand eine Ehre darin gefucht Hätte, zwi— 
ſchen vier Wände eingefperrt zu werden. Moſer antwortet mit 
Recht: „Hinzugeſetzt, mein Herr, um der guten Sache 
willen nf, m,” 

Der Herr von Göckingk, ausgezeichnet als eins der edelſten 
Glieder der Nitterfchaft, als Patriot und als Dichter, entwarf faft 
gleichzeitig mit C. F. von Mofer den Plan eines ganz ausſchließend 
deutfchen Angelegenheiten geiwidmeten Journals, dem er ben Ti- 
tel gab: Journal von und für Deutfchland. Auch er 
wollte veformiven helfen und die deutſche Nation dadurch aus dem 
Schlummer wecken, daß ev eine Art monatlicher Zeitungen nad) 
englifchem Mufter einzuführen fuchte, welche über das deutſche 
Leben und Treiben die Nachrichten enthalten follten, welche man 
in den elenden politifchen Zeitungen vergeblich fuchte. Das Jour— 
nal entfprang weder aus einer ſchriftſtelleriſchen, noch aus einer 


262 Deuiſche Literatur: Journaliſtik 


buchhändleriſchen Speculation, es ſollte, anſtatt daß die elenden 
politiſchen Zeitungen der Zeit nur ſogenannte Staats— und Hof- 
gejchichten im Style umd in dev Manier der Hoflakaien vortru— 
gen, auf eine freiere und unterhaltende Weiſe de innere Ge- 
fchichte der verfehtedenen deutfchen Provinzen berichten. ME Mu- 
fter fagt Göckingk ſelbſt, habe er fich das damals fehr gut redi— 
girte Gentleman’s Magazine gewählt. Wenn er den Redactor 
dieſes Journals Urban nennt, fo hat er nicht gewußt, was auch) 
wir erft neulich erfahren Haben, daß dies blos ein angenommener 
Name (nom de guerre) war, 

Göckingk mußte gleich Anfangs erfahren „ wie ſchwierig es 
auch für den angeſehenſten und achtbarſten Mann in Deutſchland 
ſei, irgend eine Art, Oeffentlichkeit zu vermitteln. Es konnte ja 
durch Mittheilung von Aftenftücen und Nachrichten von dem, 
was in irgend einem Winkel öffentlich vorgefallen fet, irgend ein 
in einem Winfel bedeutender Mann oder Beamter verlegt werden, 
Mit Göckingk vereinigte fich fehon nach einem halben Jahre ein 
von gleichem Eifer für die Reformation der noch tief im Mittel- 
after ſteckenden Länder und Städtchen gewiffer Provinzen Dentfch- 
lands befeelter Mann von Stande, Göckingk felbft hatte aber 
fo viel Berdruß von dem Fihnen Unternehmen, daß er fehon 1785 
ganz zurücktrat und die Sache feinem Freunde überließ. Diefer 
mit dem Herrn son Göckingk vereinigte Freund war der Domca— 
pitular und Präſident yon Bibra zu Fulda, der dann feit 1785 
das Journal von) und Für Dentfchland, fo viel er nur immer 
fonnte, freimüthig im Geiſte des erften Unternehmers, fortjekte, 
Henn wir anführen, was Göckingk von feiner Abficht bei der 
Einrichtung des Journals fagt, glauben wir auf Die Fürzefte Weiſe 
zugleich den Inhalt und Geiſt deffelben nebit dem Zuftande und 
der Berhältniffen Deutfehlands, worauf es fich bezog, bezeichnet 
zu haben, . Dies ift aber der einzige Grund, warum wir deſſel⸗ 
ben bier in der doeumentariſchen Geſchichte der innern umd gets 
ſtigen Berhältnifie Deutfchlands. erwähnen Man wird aus Gö— 
ckingkls Worten fehen, daß. feine Abficht gerade Perſönliches 
vors Publikum zu bringen, vortrefflich war, Er wollte nach der 
Weife, wie im England geſchieht, dasjenige, was vor Fein Tribu- 
nal gebracht werden, alſo nicht juriftiich bewieſen oder gerichtet 


Deutſche Literatur: Journaliſtik. 263 


werden kann, vor das. Gericht des unbefangenen Menſchenverſtan— 
des bringen, Jedermann fah aber, daß der Ausführung große 
Hinderniffe im Wege ftanden, Wie hätte damals, als unzählige 
Staaten und Herrn aller Art fih über dem Geſetze glaubten, 
möglich fein können, was jest nicht gefchehen Fan, wo deren nur 
zwei und dreißig find? 

Göckingk jagt in feiner Ankündigung, er unternähme. fein 
Sournal befonderd aus dem runde, weil unter der großen Zahl 
yon Journalen auch nicht eins ſei, wodurch zunächſt Die verſchie— 
denen, durch befondere Negenten, Regierungen, Geſetze von ein= 
ander ganz abgefonderten großen und Kleinen Staaten Deutſch— 
Yands in Kleinen Borfällen u. ſ. mw. mit einander befannter wür— 
den, wenigſtens würde diefer Zweck durch andere Journale nur 
unvollfommen erreicht. Noch bis auf diefe Stunde, das find ſeine 
Worte, getraut fich faſt Fein Zeitungsfchreiber in feine Blätter 
‚einen Artikel über eine merkwürdige Privatperjon einzurücken, wenn 
der Mann nicht wenigftens ein Reichsbaron oder einer «der erften 
Bedienten des Staats ift (man fieht, in diefer Nückficht Haben wir 
neulich jo bedeutende Fortichritte gemacht, daß wir ganz nahe am 
entgegengefetsten Extrem waren; dem beugt jet Staatspolizet 
vor), und dennoch iſt eine Nachricht vom Fabrikanten Degen- 
hard. unendlich interefjanter, al3 die Beſchreibung son Hofſchmäu— 
jen, Sagden und Bällen. Aber an das Eine find die Leſer ges 
wohnt, an da8 Andere nicht, Göckingk Hatte übrigens nicht über⸗ 
ſehen, wie ſchwierig e8 bet den deutſchen kleinſtädtiſchen Verhält— 
niſſen und bei der Reizbarkeit und Empfindlichkeit, welche Leuten, 
die in dieſen erwachſen ſind, eigen zu ſein pflegt, ſein werde, ein 
die Perſonen nahe berührendes Unternehmen zu Stande zu brin— 
gen und durchzuführen; er jagt In dieſer Beziehung: 

„Ss Fame ihm sor, als wenn die deutfchen Schriftfteller auf 
den individuellen. Menſchen zu wenig merften, und dennoch ſeien 
Nachrichten, welche diefen angingen, wegen des Eindrucks, den fie 
aufs Herz machten, die nützlichſten. Es ſolle deßhalb auch bes 
fonders das Individuum, nicht die Geſellſchaft, der Hauptgegen— 
fand des neuen Sournals fern, Die mehrften Nubrifen dieſes 
Journals waren übrigens ſehr unverfänglich. Spekulation war 
nicht dabei, weil der erſte Herausgeber als ein ſehr reicher Mann, 


964 Deutsche Literatur: Journaliſtik. 


nicht nur feinen Vortheil davon erwartete, fondern den größten 
Theil der Koften aus feinem Beutel zahlte. Göckingk eröffnet es 
jedoch mit einem Artifel, den er, wenn er unter taufenden von - 
Artikeln hätte wählen dürfen, nicht beffer hätte wählen können. 
63 ward ihm namlich eine Gorrefpondenz zur Bekanntmachung 
mitgetheilt, welche die erſten Blätter der drei erſten Monatöhefte 
des Journals füllt. In den dort abgedruckten Briefen findet man 
auf eine höchſt merkwirdige Weiſe den Tächerlichen Stolz der 
deutfchen Neichsritterfchaft, den närriſchen Hochmuth der Kleinen, 
mehrentheild ganz neugebadfenen Fürften, und den Ton, den beide 
Klaffen anzunehmen im Stande waren 27), mit ihren eignen Wor- 
ten ausgefprochen. Es wird darin ‚zugleich ein originelles Indi— 
viduum von Siegfried von Lindenbergs Art und Gattung dem 
Publikum vorgeführt. Das Individuum des Ritterftandes, wel 
ches fich hier in feinem Tächerlichen Streit mit einen eben fo ori= 





47) Bon diefer Seite hat von Göckingk die Sache aufgefaßt, und wir 
glauben die Beziehung der Briefe auf ihre Seit und auf die Menfchen jener 
Bett nicht beffer andeuten zu können, als wenn wir die Worte abfchreiben, 
welche Göckingk den Briefen vorausfhidt. Die Höfe und der Adel, fagt er, 
haben einigen Streitigkeiten der Gelehrten bisher mit eben dem Vergnügen 
zugefehen, womit der Hof und die Edlen in Madrid den Stiergefechten bei- 
wohnen. Das fteht ihnen nun vielleicht eben nicht zu verdenken; allein, daß 
viele unter ihnen den Wahn zu haben feinen, als ftritten fich blos bie Ge— 
lehrten mit der Feder auf die Art, als es gefihehen ift, darüber muß man 
fi bilfig wundern; denn ihr Gedächtniß muß ihnen einen ſchlimmen Streich 
geipielt haben. Frellich werden die Streitfehriften der Großen und des Adels 
nicht immer gleich gedruckt, wie es aus einer sieljährigen Gewohnheit unter 
den Gelehrten gefhieht: allein fie find demungeachtet befannt genug. Sie 
interefjiren aber nur einen Heinen Theil des Publikums, weil fie felten ober 
nie mit der Literatur etwas zu thun haben und die Parteien felten oder nie 
außer ihrer Provinz befannt find. Dann fucht er ausführlich die Gelehrten 
wegen ihrer Streitigkeiten und wegen ihrer heftigen Streitſchriften zu recht: 
fertigen, und ſchließt endlich — — — Ich weiß Fein befferes Mittel, das 
Borurtheil und den böfen Leumund, worin in diefem Stüde die deutfchen Ge— 
Yehrten bei den Großen und bet dem Mel ſtehen, etwas zu ſchwächen, als 
wenn ih ein Halbes Dutzend Betfpiele gebe, daß gerade zu der Seit als fie 
fo viel Antheil an einigen Streitigkeiten deutſcher Gelehrten nahmen, mitten 
unter ihnen dergleichen sorgefallen find. Der folgende Briefwechfel zwiſchen 
einem deutfchen Prinzen und einem beutfchen Baron, der zu Genf und an 
mehren Orten in Abſchrift Herumging, mag den Anfang machen, 


Deutfche Literatur: Journaliſtik. 265 


ginellen und drolligen Mitgliede des Fürftenftandes ſelbſt dem 
Spott preisgibt, war der kurkölniſche Geheimerath Freiherr von 
Münfter-Landegge, der fpäter den im erften Theile diefer Ge— 
fchichte erwähnten Streit mit dem Grafen von der Lippe hatte, 
Der Freiherr von Münſter-Landegge war namlich mit der 
Tochter einer Gräfin aus altgräflichem Gefchlecht vermählt, Er 
glaubte durch diefe feine Schwiegermutter, die von Geburt und 
durch ihre Heirath Gräfin gewefen war, mit den erſten Familien 
und unter diefen auch mit dem Könige von Sardinien und mit 
den Fürften von Hohenlohe verwandt zu fein und meldete Daher 
beiden den auf feinem Gute Landegge erfolgten Tod feiner Schwie— 
germutter. Darauf ließ der König von Sardinien höflich ant— 
worten, nahm es mit dev Verwandtfchaft nicht jo genau, Jondern 
erfreute den Baron durch die Anrede, mein Vetter (mon cousin), 
mit dem befanntlich auch die königlich franzöſiſche Kanzlei nicht 
ſparſam war. Wie erbittert ward daher der eingebildete und 
heftige Reichsbaron, als die kleinen, ſeit 1744 aus Grafen Für— 
ſten gewordenen Herrn von Hohenlohe-Bartenſtein und Schillings- 
fürſt, deren ſpannengroßes Gebiet erſt Franz J. um 1754 zum 
fürſtlichen gemacht hatte, Brief und Verwandiſchaft ablehnten? 
Sie wieſen durch ein Schreiben ihrer ſogenannten gemeinſchaftli— 
hen Regierung die Zudringlichkeit des Barons mit Kanzlei-Grob— 
heiten ab, erklärten, daß ſie von der Vetterſchaft nichts wiſſen 
wollten und höchſt indignirt ſeien, daß man ſie hochgeborene 
Reichsfürſten und nicht durchlauchtig hochgeboren (denn Ew. Durch— 
laucht gebührte ihnen nicht) genannt habe. Ueber das grobe 
Schreiben des armen Sünders, den ſie ihre Regierung nannten, 
geriethen ſie mit dem Baron, der ſie herausforderte, in einen bur— 
lesken Streit. Das Schreiben der Hohenloheſchen Regierung thei— 
len wir unten aus derſelben Urſache mit, warum es Göckingk ab— 
drucken Tieß, damit man fehe, wie e8 mit dem Beamtenftande be= 
ſchaffen war, der dergleichen Meiſterſtücke abſchickte 9 und mit 


48) Das Altenſtück Nr. 2, Januar, ©. 7 iſt überſchrieben: „Schrei— 
ben der Regierung des Fürſten von Hohenlohe-Bartenſtein 
und Schillingsfürſt an den Baron von Münſter-Landegge. 
Don dem Chur⸗Cöllniſchen Herrn geheimden Rath und Kammerherrn, Frei⸗ 


266 Deutſche Literatur: Journaliſtik. 


den armen Unterthanen der Siegfriede, denen ſie dienten, weil 
diefe mehr yon ihnen zu beforgen hatten, als der Freiherr von 
Miünfter-Landegge. Dieſer war fo heftig erboft, daß er eim förm 
liches Gartel ausgehen ließ, oder vielmehr wie ein Ritter des 
Mittelalters, iveil der Fürſt von Schillingsfürft zu alt war, dem 
von DBartenftein den Handfchuh vor die Füße warf, Es tft ſchwer 
zu jagen, ob die Herausforderung des Barons 29), oder die Ant- 
wort des Fürften von Bartenftein lächerlicher und für die abge- 
ſchmackteſte Art son Rangſtolz charakteriftifcher if, Der Fürft 
jchreibt unter Andern: Er wolle den Baron Lieber erſt belehren, 
als gleich den Rath des Fürften von Schillingsfürft befolgen, daß 
fie namlich beide gemeinfchaftlich ohne weitere Umftände ernſthaf⸗ 
tere Mafregeln nehmen follten, deren Folgen ihm nothwendig fehr 
verdrüßlich hätten fein müffen. „Lernen Ste alfo, fahrt er fort, 
mein Herr, daß ziwifchen dem hohen und niedern Adel jederzeit 
ein ſehr großer Unterfchted ftattgefunden hat, ein Unterfchted, der 
bi8 auf diefen Tag son dem ganzen Reiche und feinem Ober- 
haupte jelbft bei jeder Gelegenheit anerkannt wird, Lernen Sie, 
daß, wenn gleich ein guter, alter Adel, von welcher Art er. auch 
fet, alle Achtung verdient, doch dev Rang eines regierenden Für— 
jten und Reichsftandes ungleich höher, edler tft und gar Feine 
Gleichſtellung mit geringern Klaſſen zuläßt, Lernen Sie, daß 
der Rang eines Fürften oder Neichjtandes feine Ehre über jede 
Beleidigung hinaus und in Sicherheit ſetzt, die ein anderer als 


bern von Münfter-Landegge feynd d. d. Landegge bet Münfter den 18. März 
a c an Serenissimorum .nostrorum zu H. und W. Hochfürſtliche Durd- 
lauchtigkeilen, zwei Notificationsfchreiben unter ganz befremdeten und unge: 
wöhnlthen Titular, Courtoiſie und Offert eingelauffen. Obſchon nun Sere- 
nissimi fothane in aller Rückſicht unſchickliche Zufchriften aus befonderm Me- 
nagement nicht remittiren, fo haben Höchſtdieſelben ſich jedoch dergleichen Cor⸗ 
reſpondenzen verbitten laſſen wollen. Welches man auf erhaltenen gnädigſten 
fpertal Befehl dem Herren geheimden Rath ohnverhalten follen. 

49) In welchem Tone die folgende Gorrefpondenz mit dem Fürften ge⸗ 
führt ward, geht ſchon aus den erſten ZSeilen von Ro. 3 hervor. — — Erlau: 
ben Sie mir, das Geſetz, wortn Ste mir alle weitere Eorrefpondenz verbie- 
ten, und welches ſechs Fuß weit von dem Thron, vor dem es geſprochen wor⸗ 
den, ohne Zweifel fehr reſpectabel tft, außer dem Heinen Zirkel aber, den ihm 
die Natur anweiſet, fehr luſtig tft, noch einmal zu übertreten u. ſ. w. 


Deutfche Lileratur: Journaliſtik. 267 


ſeines gleichen ihm anthun könnte, war er auch hundertmal 
ein Edelmann, hätte er auch noch ſo ſehr ein Recht 
ſich zu beſchweren.“ Da der Brief von Anfang bis zu Ende 
in dieſem Ton abgefaßt iſt und alle folgenden Briefe des Barons 
in einem ähnlichen den Rang der Ritterſchaft zu behaupten ſuch— 
ten, ſo ſieht man, wie gelegen der Briefwechſel den Unternehmern 
des Journals kommen mußte, um Vorſtellungen lächerlich zu ma— 
chen, welche ſchon jene Zeit für veraltet hielt, weßhalb man 
ſich jet vergeblich bemühen wird, fie dev unſerigen wieder aufzu— 
dringen. 

Im übrigen iſt die Verbindung von Zeitung: Wochen oder 
vielmehr Monatsblatt für das ganze Reich, mit einem Journal, 
welches gemeinnützige Abhandlungen enthält, fonderbar, aber doch 
nicht gerade widerfprechend, und wenn Proben von Bürgers Ue— 
berfeßung einer Ilias in Herametern eingerückt werden, fo war 
das nur ein Dienft, ‚den ein Dichter dem andern erzeigte, Da 
bei der damaligen Neichgeinrichtung und den beftehenden Reichs— 
gerichten nicht daran zu denfen war, daß der Gegenftand, der 
den englifchen Zeitungen ein befonderes Intereſſe für den Forfcher 
des häuslichen. und bürgerlichen Lebens gibt, in den Zeitungen 
erwähnt werden dürfe, jo ward dies Journal gebraucht, um wich— 
tige Prozeſſe nicht blos den Juriſten und Publiciſten, fondern dem 
großen Publikum mitzutheilen, Es fanden fich in demfelben die 
Derhandlungen am Reichstage zu Regensburg, merfwirdige Pro- 
zeffe beim Neichshofrath in Wien und beim Neichsfammergericht 
in Wetzlar. Man fieht, daß fehon damals empfunden ward, was 
unferem Volke im Bergleich mit den Völkern abgehe, welche öf— 
fentliche Verhandlungen umd öffentliche Gerichte haben. Es mwa= - 
ven damals zwei. dem angefehenjten Adel angehörende Männer, 
welche den Verſuch machten, auch die Deutfchen in den Stand zu 
jeten, ihre Rechte und Gefete aus den Gefchäften des Lebens und 
aus den gerichtlichen Handeln kennen zu lernen. 

Der raſche Gang der franzöfifchen Revolution hatte hernach 
auf dem rechten Aheinufer bis zur Zeit des franzöſiſchen Kaiſer— 
reichs eine hemmende und ftörende Wirkung. Es verbreitete fich 
eine conjerpative Angft über Fürften, Adel, Privilegirte und über 
die tonangebenden Gelehrten, die in Deutfchland immer den Ne- 


268 Deutfche Literatur: Journaliſtit. 


gierungen voraus zu eilen fuchen, während fie in London und 
Paris menigftend warten, bis man fie zu gewinnen fucht, was 
dann freilich nie ausbleibt, Die beiden Hauptorgane der Deffent- 
lichfeit in politifchen Dingen, Schlözers Staatsanzeigen und das 
Journal von und für Deutichland, Fonnten daher auch dem Ein- 
fluß der Bewegung, welche in eben dem Maße in Deutfchland 
heftig rückwärts, als in Frankreich unverftändig vorwärts ging, 
nicht widerftehen. Um die Zeit, als auf dem linken Rheinufer 
die franzöſiſche Freiheit mit Jubel begrüßt ward, mußte jedes Or— 
gan der deutfchen Volfsfreihett vor dem Toben der Feudalität ver- 
ſtummen; fowohl Schlözers Stantdanzeigen, als das Journal von 
und für Deutichland hörten auf. Schlözer hatte übrigens Ton 
und Manier ſchon längſt geändert, das wird man aus den Hef- 
ten des Jahres 1793 fehen, welche lauter ganz unverfängliche 
Artikel enthalten. Der Aufſatz, an dem die Staatsanzeigen ei= 
gentlich feheiterten, ging die Politik gar nicht an, ſondern betraf 
eine perfünliche Angelegenheit Schlözers, wobei er fich der über— 
mäßigen Heftigfeit feines Teidenfchaftlichen Charakters überließ, 





Gefchichte Des achtzehnten Jahrhunderts. Vierter 
Zeitraum. 


Vom Abfall der Nordamerikaniſchen Provinzen von 
England bis 1788. 





Erſtes Kapitel. 


Zeiten des Nordamerifanifchen Kriegs bis auf des 
jüngeren Pitt Minifterium, um 1784. 


$. 2 


England, Frankreich, Spanten bis auf die bewaffnete 
Neutralität, 


Während das Schiekjal des Kriegs auf dem feſten Lande 
son Amerika durch den unglüclichen Ausgang der Unternehmungen 
der Engländer in den fühlichen Provinzen dev vereinigten Staaten 
unwiderruflich entſchieden ward, dauerten die inmern Unruhen in 
England ſelbſt fort, weil das Minifterium North die üffentliche 
Meinung gegen fich hatte. Was den Krieg felbft angeht, fo kann 
man nicht läugnen, daß nicht blos die Mehrheit der Barlaments- 
glieder, fondern alle Engländer alten Schlags durchaus für 
Smwangsmaßregeln gegen die Amerifaner oder für den Krieg ge= 
ftimmt waren, weil fie die Amerikaner als Rebellen betrachteten. 
Daß gleichwohl die Minderzahl, welche den Amerifanern nicht 
abgeneigt war und welche die beiten Köpfe der Nation und die 
ausgezeichnetftien Männer im fich begriff, nach und nach Einfluß 
im Volke erhielt, muß man allein daraus erklären, daß der Meber- 
muth und" der Stolz der nur an Steg und Gewinn gewöhnten 
Engländer in diefem Kriege fo ſehr viele Demüthigungen erfahren 
mußte, Selbſt der Herausgeber der neuften Sammlung son 


270 England, Frankreich, Spanten, von 1776—1781. 


Aktenftücken zur Gefchichte dev ſtolzen Oligarchte, welche England 
vegtert, aus welcher wir hie und da einen Wink entlehnen wer— 
den, gefteft dies, mittelbar wenigſtens, ein. 50) 

Im Jahre 1776 erhielten die Minifter, Die darauf antrı= 
gen, mit deutfchen Miethlingen einen Krieg in Amerika zu führen 
und zugleich eine bedeutende Geldverfchwendung Für die Fönigliche 
Familie und für verfchtedene deutſche Fürſten, deren Truppen 
man nöthig hatte, in Vorſchlag brachten, eine folche Mehrheit 
der Stimmen im Parlament, daß die Oppofition ihr eine Zeit- 
lang ganz das Feld räumte. Weil durch Widerfpruch nichts aus— 
zurichten war, wollte man wenigftens die Aufmerkſamkeit des 
Volks dadurch vege machen, daß die bedeutendſten Summen bei 
faft leevem Haufe und ohne längere Debatten bewilligt wurden, 
In dieſer Zeit erſchien Lord Chatham, Teidend und auf zwei 
Krücken geftüst im Oberhaufe, um dort feine Beredfamfeit gegen 
das Minifterium zu richten; er erfchöpfte fich vergeblich, Weder 
Rockinghams Verwandtichaft und Bekanntfchaft unter den Pairs, 
noch die rednerifchen Gaben eines For und Burfe im Haufe der 
Gemeinen konnten den Rechten der Vernunft gegen Verjährung 
Gewicht verfchaffen, obgleich diefe in jener Zeit auch fogar von 
Burke vertheidigt wurden, der fünfzehn Jahre nachher fo heftig 
dagegen eiferte. 

Die engliſchen Miniſter wurden durch die Zuſtimmung der 
Landjunker Englands und durch die erhandelte Majorität im Par— 
lament ſo brutal, daß ſie ſich ſogar herausnahmen, eine Sprache 
zu führen, die man nur von den Fürſten des Continents, oder 
von der Berner und Venetianer Ariſtokratie gewohnt war.) 
* erklären in Beziehung auf Amerika und auf die dort ver— 





50) Memoirs of the court and cabinet of — the Third, from 
original family documents, by the duke of Buckingham and Chandon, J 
two Volumes. London. 1853. gr. 8: f 
51) So daring and desperate, laäßt ‚der Minifter den König fagen, 
is the spirit of the American leaders, whese object has only been do- 
minion and power, that they have now openly renounced all allegiance 
to the crown, and all political connection with this country, they have 
rejected, with eircumstances of indignity and insult, the means of con- 
ciliation held out to them, and have presumed to set up their rebellious 
confederacies as independent ‘states. We. 3 


England, Frankreich, Spanten, son 1776-1781. 971 


Fündigten Lehren und Grundſätze, daß es den Engländern, die 
fich beim Alten wohl befanden, zufomme, auch bei andern das 
Alte aufrecht zu erhalten, ‚oder nad den Worten, die fie. dem 
Könige in den Mund legen, daß ihre Sache die der fammtlichen 
alten Regierungen ſei. Ste laſſen ihn namlich das Lied fingen, 
welches man auf den Gontinentaleongreffen zu fingen pflegt: 
Daß, wenn man dulde, dag das, was fie Verrath 
ber Amerikaner nennen, Wurzel faffe, aus dieſer 
Wurzel nothwendig viel Mebel für das ganze im 
Europa herrſchende Regierungsſyſtem entfprießen 
müſſe. Das Meinifterium benußte daher auch den Augenblick, 
als die englifchen Angelegenheiten in Amerika gut fanden, als- 
dev Angriff auf Canada mißlungen war, als Walhington aus 
Philadelphia gedrängt war und Bourgoyne von den canabdifchen 
Seen her gegen Newyork vordrang, um Geld in des Königs und 
der fparenden Königin Kaffe aus dem Beutel des Volks zu holen, 
Sie forderten nee Summen für das königliche Haus, obgleich 
fich das englifche Volk ſchon längſt dariiber befchwerte, daß das 
Mintfterium North und der König fih auf Unfoften des Volks 
ftet8 unter einander gefällig wären. Jedermann ſah, daß dieſer 
Augenbli der allerunpafjendfte ſei, die Gipillifte zu erhöhen, und 
dennoch gewährte das Parlament im April 1777 nicht blos fieben 
und eine halbe Million Gulden vorgeblicher Schulden eines Kö— 
nigs, der nebft feiner Gemahlin mehr einer übertriebenen Spar— 
- famkeit, als irgend einer Verſchwendung angeffagt ward, fondern 
erhöhte noch dazu die jährliche Ginnahme der Krone von einer 
Summe son eiwa neun Millionen Gulden auf zehn. Dies mar 
jelbft den genauen Freunden des Miniſteriums, zu denen der 
Sprecher des Unterhaufes gehörte, ſo anftößig, daß der Lebtere, 
als er den im Unterhaufe (welches allein über Geldfachen zu ent- 
fcheiden Hat) gefaßten Beſchluß der Sitte gemäß dem Oberhaufe 
überbrachte, den König in feiner bei der Gelegenheit gehaltenen 
Nede ironiſch und ſchneidend an die Unſchicklichkeit erinnerte, fich 
unter folchen Umftänden Geld von der Nation zu erbitten,52) 


— — 








52) In a time, ſagie ex, of publie distress, full: of. diſticulty and 
danger, their constituents labouring under burdens almost to heavy ta 


— 


272 England, Frankreich, Spanten, von 17761781, 


Ein Miniftertum in England, welches feines Anhangs unter 
den großen Familien fo ficher tft, wie das Mintfterium North 
war, kann ruhig feinen Weg gehen, wenn e8 nur conſequent 
bleibt, und confequent war Lord North unftveitig. Gr ließ daher 
auch gleich hernach dem Landgrafen von Heſſen-Caſſel eine ganz 
unverſchämte Geldforderung durchs Parlament gewähren, Zuerſt 
erhielt diefer noch eine Halbe Million Werbegelder, son denen 
im Subfidientvattat von 1775 gar nicht. die Rede war, weil man 
bie Gelder, die man 1755 unter diefem Namen gezahlt hatte, 
dieſes Mal auf eine andere Weife vergütete. Außer diefer Summe, 
die ihm offenbar nur als Geſchenk gewährt ward, zahlte man 
ihm noch eine halbe Million Gulden für die Spitäler im fieben- 
jährigen Kriege, obgleich ein früheres Parlament diefe Forderung 
am Ende des fiebenjährigen Kriegs als durchaus unbegründet 
verworfen Hatte. Schon im April des folgenden Jahrs (1778) 
ward das Fünigliche Haus aufs neue reichlich bedacht, indem ge— 
rade in dem Augenblicke, als der Krieg mit Frankreich unver— 
meidlich geworden war, für die jüngeren königlichen Kinder und 
für die des Herzogs von Glocefter bedeutende Summen vom Par— 
lamente aus dem Beutel des Volks gewährt wurden. | 

Das Parlament hatte im November 1777 feine Sitzungen 
wieder eröffnet; im: Dezember mußte Lord North, dem bei der 
Gelegenheit jene Thräne entfloß, die man die eiferne Thräne 
genannt hat, die Kapitulation bei Saratoga dem Parlament be= 
kannt machen und den Schein annehmen, ald wenn er eine Aus- 
ſöhnung mit den Kolonien wünſche. Lord Chatham im Oberhaufe, 
For, Burke, der Oberft Barre im Unterhaufe, hatten nämlich durch 
ihre Beredfamfeit auf die unbefangenen Engländer einen folchen 
Eindruck gemacht, daß Lord North ein Gaufeljpiel im Parlament 
zu machen für nöthig und nützlich hielt. So brachte denn im 
Anfange des folgenden Jahrs (1778) diefer Minifter, von dem 





be borne, your faithful commons, postponing all other business, have 
not only granted to your Majesty a large present supply, but also a 
very great additional revenue, great beyond example, great beyond 
your Majesty’s highest expectation; but all this, Sire, they have done in 
the well grounded confidence, that you will apply wisely what they 
have granted liberally. 


England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781; 23 


jedermann wußte, daß ihm die Amerikaner nie trauen würden, 
eine Ausfühnungsbill. ind Parlament, Die Bill fand von Seiten 
der Oppofition zwar Hohn, aber einen Widerftand, es ward: 
eine Gefandtfchaft zur Friedensvermittelung nach Amerika gefchiekt, 
aber, wie For vorausgelagt hatte, höhniſch zurückgewieſen, weil 
der Kunfigeiff, die zwiſchen Frankreich und Amerifa angefnüpften 
Berbindungen dadurch zu foren, doch gar zu grob war. Mebrigens 
war, als die englifchen Abgeordneten anfamen, dev Bund der Ameri= 
faner mit Frankreich ſchon abgefchloffen, das englifche Miniftertum 
war auch längſt davon unterrichtet, fuchte aber diefen neuen Schlag 
dem Parlamente fo lange als möglich zu verbergen. Es wurden fogar 
in England für den Krieg, den Frankreich ſchon ſeit zwei. Jahren 
rüftete, feine Anftalten getroffen, bis Frankreich ſelbſt das Signal gab. 

Der franzofifche Minifter in London übergab endlich am 
13. März 1778 eine Note, worin er nicht allein den yon Franf- 
reich mit der neuen Republik geichloffenen Bund anzeigte, fondern 
auch forderte, daß man von Seiten Englands dem freien Verkehr 
zwiſchen Frankreich und Amerika Fein Hinderniß entgegenſetze. 
Diefe Note ward am 17. März dem Parlament mitgetheilt, dann 
erft ward der englifche Miniſter aus Paris abgerufen und bie 
nöthigen Anftalten zum Kriege getroffen. Die fett Nov, 1777 
gehaltenen PBarlamentsreden jcheinen uns in Beziehung auf bie 
neuen politiichen Grundſätze bei weiten wichtiger für die Gefchichte 
jener Zeit, als die erſten Kriegsereigniſſe. Diefe Neden nämlich 
wurden in Frankreich und in gang Europa aufs gefliffentlichite 
verbreitet, und mochten auch der Herzog son Newcaſtle und der 
Marquis von Rodingham im Oberhaufe blos für ein Partei— 
intereffe reden, jo war das doch weder beim Grafen von Chat- 
ham im Oberhaufe der Fall, noch bei For, DBurfe, Barre und 
Andern im Unterhaufe, Lord Chatham befonders griff die Mi- 
nifter mit einer ganz fehranfenlofen Heftigfeit an, ſtarb aber ſchon 
im Mai 1775, nachdem er im April nach einer heftigen An— 
firengung feines ſchon lange durch Krankheit zerrütteten Körpers 
im — ſelbſt zuſammengeſunken war.) 





53) & ftarb erft am 11. Mat auf feinem Landhauſe Heyes in Kent, 
die Scene im Parlament am 7. April war aber zu merlwürdig, als daß wir 
Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 19, Fahrh. IV. Th. 4. Aufl. 18 


PER England, Frankreich, Spanten, son 1776-1781. 


Die Franzoſen hatten, was fonft felten der Fall war, ihre 
Vorbereitungsanftalten zu einem Seekriege viel beffer getroffen, 
als die Engländerz denn ihre Flotte in Breit war ſtark genug, 
es mit der englifchen aufzunehmen, als dieſe an ber Küfte son 
Bretagne erfchlen. Die Touloner Flotte der Franzofen war unter 
d'Eſtaing damals längſt nach Amerika gefegelt und. war dort der 
englifchen unter Byron zuvorgekommen. „Admiral Koppel über— 
nahm höchſt ungern das Commando der gegen Breft beftimmten 
englifchen Schiffe. Er hatte damals fehon vierzig Jahre rühmlich 
zur See gedient und erhielt den Oberbefehl, weil der König ſelbſt 
e3 ſehr wünſchte, traute aber einem Minifterium nicht, welches 
die Stellen nur mit feinen Freunden, Anhängern, Verwandten zu 
befegen pflegte, und ihm nicht befonders gewogen war. Sonder— 
bar war es wentgftens, daß man ihm, um mit Kleinlicher Lift‘ 
die Verantwortung eines Seegefechts allein auf Keppel zu ſchieben, 
als er im Juni 1778 auslief, nicht einmal beitimmten Befehl 
gab, Beindfeligkeiten anzufangen, obgleich Frankreich ſchon feit 
dem 18. März auf die englifchen Schiffe und die Engländer 
hernach auf die franzöſiſchen Beichlag gelegt hatten. Keppel be= 
gann am 17. Juni durch ein Gefecht mit der Fregatte Belle 
Poule den Krieg, konnte ſich zwar der Fregatte nicht bemächtigen, 
nahm jedoch einige Fleinere Kriegsfahrzeuge, Als Keppel die 





nicht Hier Die Worte eines Augenzeugen, des Lord Camden, anführen follten ;, 
Er fagt: I saw him in the prince’s chamber before he went into the 
house, and conversed a little with him: but such was the feeble state 
of his body and indeed the distempered agitation of his mind, that 
1 did forebode his strength would certainly fail him before he had 
finished his’ speech. The earl spoke, but was not like himself: his 
speech faultered, his sentences broken, and his mind not master of 
itself, His words were shreds of unconnected eloquence and flashes 
of the same fire, that he, Prometheus like, had stolen from Heaven, 
and were then returning t6 the place from whence they were taken. 
He fell back upon his seat, and was to all appearance in the pangs 
of death. This threw the whole house. into confusion. Many crowded: 
about the earl. Even those who might have felt a secret pleasure in 
the accident, yet put on the appearance of distress — — except only 
the earl of Mansfield, who: sat: still, — as much unmoved as the 
senseless body itself, id 


England, Frankreich, Spanien, won 117 275 


Stärfe der feindlichen Flotte erfuhr, fand er nicht rathſam, 
mit feinen zwanzig Kriegsſchiffen und drei Fregatten eine Flotte 
son zweiunddreißig Schiffen und zehn bis zwölf Fregatten anzu— 
greifen, ſondern ſegelte nach Portsmouth zurück, um Verſtürtung 
zu holen. 

Unter den damaligen Umſtänden machte 08 einen für den 
Admiral und für die Regierung fehr ungünftigen Eindruck, daß 
er, ohne die Feinde angegriffen zu haben, zurückkam, und daß ſich 
auch ſogar die Belle Poule ihm dadurch entzogen hatte, daß ſie 
auf den Strand gelaufen war. Das Miniſterium gab deutlich 
zu verſtehen, daß es die Schuld auf den Admiral ſchieben wolle. 
Dieſer lief indeſſen verſtärkt ſchnell wieder aus und traf am 23. Juli 
die von den franzöſiſchen Admiralen d'Orvilliers und Guichen 
geführte franzöſiſche Flotte bei Oueſſant, unweit der Sorlinguiſchen 
Inſeln. Beide Flotten waren ungefähr von gleicher Stärke; die 
Franzoſen wären einem Treffen. gern ausgewichen, fie wurden 
aber am 27. dazu gezwungen. Beide Flotten wurden in der 
Schlacht beſchädigt, beide kehrten, ohne daß fich eine des Sieges 
rühmen fonnte, in ihre Häfen zurück; beide Nationen erhoben 
heftige und laute Klagen über ihre Admiräle. In England Flagte 
fogar. der Unterbefehlshaber den commandirenden Admiral und 
dieſer jenen der Nachläſſigkeit an. 

Der laute Unwille der Franzoſen über den Ausgang des 
Treffens bei Oueſſant hatte in Beziehung auf die Revolution 
jehr wichtige Folgen, weil der. nachherige Herzog von Orleans, 
damals Herzog von Chartres, den Hof befchuldigte, er habe ihn 
biefem Unwillen aufgeopfert. Diefer noch fehr junge, ſchöne, 
gränzenlos ausſchweifende Prinz, der son genialen Wüſtlingen 
umgeben, fchon damals unter dem gemeinen Haufen feine Belu- 
ftigung fuchte und eben deßhalb unter dem Wolfe fehr beliebt 
war, ftand befonders bei dev Königin wegen . feines‘ Cynismus 
und feiner Orgten im geringer Gunft, und die Königin ward 
leider! in alle Dinge gemifcht. Man befchuldigte ihr, ob mit 
Recht oder mit Unrecht Taffen wir unentfchteden, er richte durch 
fein wüſtes Leben alle die jungen vornehmen Herm gu Grunde, 

die ſtets um ihn wären und Feine Gonftitution, wie die Seinige 
war, yon der Natur erhalten hätten. Unter den Opfern, welche 
18* 


276 England, Frankreich, Spanien, von 1776-1781. 


diefer nachherige Philippe Egalite feinem wilden Leben follte ge— 
bracht haben, war auch fein Schwager, der einundzwanzigjäh- 
rige Prinz von Lamballe, der bet feinem Tode erſt fett ſechzehn 
Monaten mit der. durch Schönheit und Liebensmirdigfeit berühm— 
ten Marie Therefe Louiſe von Savoyen Garignan vermählt war. 
Diefe Prinzeffin war die genauefte Freundin der Königin, fie war 
als ſolche gleich der Polignac vom ganzen Hofe beneidet und 
ward wahrfcheinlich deßhalb zur Zeit der Erſtürmung der Tuile— 
rien jo graufam gemordet. 

Der Herzog von Chartres, hieß es, habe den Prinzen von 
Lamballe abfichtlich zu zerſtörenden Orgien verführt, um ihn mit- 
telbar zu morden, da er mit der Schweſter defjelben, der Tochter 
des Herzogs von Penthienres vermählt ward, Er erbte in ber 
That nach dem Tode feines Schwagers des Herzogs von Pen— 
thievres ganzes unermeßliches Vermögen, wodurch fein Haus das 
reichfte in ganz Europa ward. Außer dem Vermögen feines 
Schwiegerpaters wünſchte der Herzog von Chartres auch die Würde 
eined Großadmirals von Frankreich zu erben, welche diefer beflei- 
dete; er trat deßhalb der Form wegen in den Seedienft, durchlief, 
wie Prinzen pflegen, mehrentheils in Baris verweilend, alle Grade 
des Dienftes, und ſollte jeht auch einem Treffen beiwohnen. Gr 
reiste, als die Flotte unter d'Orvilliers auslaufen follte, son Ge— 
noſſen feiner lockern Pariſer Bande begleitet, ſchnell von Paris ab, 
damit man ihm in den Zeitungen als einen der Befehlshaber 
im Treffen nennen könne. Die Flotte ward zu dem Zweck in 
drei Geſchwader getheilt, von denen er eins commandiren ſollte. 
Das Erſte diefer Gefchwader führten d'Orvilliers und Guichenz 
das Zweite der Graf Düchauffault und der Herr von Roche 
chouartz das dritte commandirte dem Namen nach. der Düc de 
Chartres, eigentlich aber der Herr von Graffe und der Admiral 
Ya Motte Piquet, der vorgeblih nur Kapitän des Kriegsſchiffs 
Saint Eſprit war, auf dem fich der Prinz befand, Gerade dieſes 
Schiff kam zum hitzigen Gefecht, weil d'Orvilliers feine Schlacht- 
prdnung andern und das dritte Geſchwader zum, erſten machen 
mußte, Die Iuftigen Pariſer Genoffen des Herzogs zeigten im 
Gefecht Tächerliche Angft und man bejchuldigte den Herzog, Daß 
auch er Feigheit bewieſen habez wentgftens fand das Gerücht 


England, Sranfreih, Spanten, son 1776—1781, 2377 


allgemeinen Glauben, daß man d'Orvilliers Signale abfichtlich 
mißverftanden habe, um ihn nach Breft zurückbringen zu können. 
Der Düc de Chartreg, mochte er nun fchuldig oder unfchuldig 
geweſen fein, mußte den Seedienſt verlaffenz; diefe öffentliche 
Kränkung fehrieb man dem Haffe der Königin zu. Diefe bewirkte 
allerdings, daß der Graf von Artois, der damals zum engeren 
Kreife der Königin gehörte, die Stelle des Großadmirals erhielt 
und daß man für den Düc de Chartres die ganz neue Stelle 
eines Generaloberft der Hufaren ſchuf. 

Die franzöſiſche Flotte Lief im Oktober wieder aus, Keppel 
konnte fie aber nicht zum entfcheidenden Treffen bringen, dadurch 
ward das englifche Volk erbittert. Das englifche Mintftertum 
fuchte darauf die Schuld des unentfchtedenen Kampfes bei Duef- 
jant auf die Befehlshaber zu fehieben, dieſe befchuldigten aber 
Einer den Andern. Sir Hugh Balliffer, welcher bei Dueflant, 
als Admiral der blauen Flagge, das dritte Gefchwader son Kep- 
pels Flotte eommandirte, hatte einen Sitz unter den Lords der 
Admiralität, deven Präfident der Graf yon Sandwich war, und 
war dreift genug, Keppel formlich anzuflagen. Die Klage ward 
angenommen und die Admiralität ftellte Keppel im Januar 1779 
por ein Kriegsgericht, Keppels Prozeß machte die Admiralität 
und das ganze Minifterium der Nation und den Seeoffizieren 
aufs neue recht gehäſſig. Keppel ward aufs ehrenvollite losge— 
ſprochen; Hugh Pallifer dagegen, auf Keppels Anzeige des Tadels 
würdig gefunden, fah fich einige Zeit darauf genöthigt, alle feine 
Stellen niederzulegen. Die Stimmung war damals, weil man 
auch die Schläge des Schieffals der Negterung Schuld gab, fo 
feindlich gegen diefelbe, daß ſich zwölf Admirale zu gleicher Zeit 
über das Miniftertum beichwerten, 

Zu den erwähnten Schlägen des Schickſals, welche die Eng— 
länder aus Verdruß, daß fie nicht, wie fie gewohnt waren, überall 
und in allen Meeren gleich nach dem Ausbruche des Kriegs ent- 
ſcheidende Bortheile erhielten, dem Könige und dem Mintfterium 
zufchrieben, gehört zunächit, dag d'Eſtaing früher an den Küften 
son Rhodisland erfchten, ald Byron dahin gelangen konnte. Wir 
rechnen ferner dahin, daß Hotham in Nordamerifa verweilen 
mußte, weil Byrons Flotte durch Wind und Wetter zerſtreut 


278 England, Frankreich, Spanten, bon 1776-1781.) 


ward. Während Byron feine beichäbigten Schiffe ausbeſſern 
ließ und Hotham einfimeilen d'Eſtaing beobachtete, entriß ber 
Marguis von Bonille, damals Statthalter von Martinique, den 
Engländern die Infel Dominica. Den Berluft von Dominica 
rächte hernach Hotham, als er endlich im Dezember 1778 
vEftaing nach Weftindien folgen konnte, durch die Eroberung 
von St, Lucia. Weder der tapfere Widerftand und die ehrenvollen 
Gefechte des Admiral Barrington, welcher hernach St. Lucia 
gegen den Angriff der franzöfifchen Flotte unter d'Eſtaing ver— 
theidigte, noch die Nachricht, dag die franzöſiſch-oſtindiſche Flotte 
von der Küſte Coromandel gänzlich vertrieben und Bondicherg 
erobert ſei, Fonnte die angefehenften englifchen Seeofficiere mit 
ihrer Admiralität ausſöhnen. Die vorzüglichiten Adınirale wei 
gerten  fich, To Tange Lord Sandwich, das Seeweſen Teite, einen 
Oberbefehl zu übernehmen, und d'Eſtaing führte die im vorigen 
Bande erwähnte Grpedition nach Georgien glücklich aus, nach— 
dem er vorher die Inſeln St. Vincent und Grenada erobert 
Hatte, Er büßte freilich den erworbenen Ruhm durch die tolle 
Unternehmung auf Savannah wieder einz allein im Jahr 1779 
erhielt England an Spanten einen neuen Feind, der befonders 
dadurch furchtbar wurde, daß durch König Karls II. Bemühung 
die ſpaniſche Seemacht faſt eben jo ftark als die franzöſiſche 
geworden war. 

Carl II. son Spanien dachte ganz anders von Nordamerika 
und von republikaniſchen Ideen als Ludwig XVL und fein Hof, 
welche won ‚Franklin bezaubert waren und von. Lafayette hinge— 
riſſen. Carl und fein Minifter Florida Blanca erklärten anfangs, 
daß fie der Verbindung mit Gngland in Bezug auf Amerifa ſchon 
des monarchifchen Princips wegen treu bleiben wollten. Selbſt 
8 die Franzoſen ſich durch einen förmlichen Tractat mit der 
neuen Republik verbunden hatten, wollte Garl III. von derſelben 
nicht reden Hören und ſchickte den vom Congreß an ihn abgesrd- 
neten Collegen Franklins son Burgos aus zurück, ohne ihn nur 
nach Madrid zu laſſen. Der König von Spanien wollte noch 
im März 1778 an einem Bunde mit Amerifa und an feindfelt- 
gen Mafregeln gegen England nicht Theil.nehmen; das geht aus 
jener Antwort som zwei und zwanzigſten März auf zwei eigens 


England, Frankreich, Spanien, von 1776-1781. 279 


händige Briefe König Ludwig XVI. deutlich hervor; 52) die Fran⸗ 
ofen und feine eignen Minifter mußten, aber feine: perſönliche 
Schwäche für ihren Zweck zu benutzen. Man machte ihn glau— 
ben, es jet Hier feine Sache, den Vermittler zu machen, jo wenig 
er, wegen des Bamilienvertrags mit Frankreich, dazu geeignet war. 
König Carl ſchickte darauf, um diefe DVermittelung anzubieten, 
einen Gejandten nad) England, Lord North ließ aber Vorſchläge 
machen, von denen auf den erjten Blick einleuchtete, daß fie Frank⸗ 
reich nicht eingehen könne. Seit diefem Augenblicke war Carl 
für den von feinen Miniftern längſt vorbereiteten Krieg gewonnen, 
dies erflärte er dem franzöſiſchen Miniſterium ſchon am 13. April 
1779. Erſt am 26. Juni übergab der Marquis von Almodavar 
das Manifeft, worin den Engländern vorgeworfen ward, daß fie 
die Philippinen und ſogar Cadix hätten überfallen wollen. Gleich 
hernach folgte die Kriegserflärung. 

Kein Augenblick im ganzen Laufe des achtzehnten Jahrhun— 
derts war für die engliſche Seeherrfchaft gefährlicher als biefer, 
denn es lag ſowohl in Ferrol als in Cadix eine zahlreiche ſpani— 
che Flotte, welche fich mit d'Orvilliers Flotte verbinden follte, 
fobald dieſe von Breit ausgelaufen fein wiirde. Schon im Mai 
hatten die Branzofen die Inſel Jerſey zu erobern verſucht, und 
wenn gleich der Admiral Arbuthnot diefe rettete, jo ward doch 
die Abfahrt der Flotte, welche Borräthe und Verſtärkung von 
Clintons Heer nach Amerika bringen follte, dadurch fo ſehr vers 
zögert, daß fie erſt im Auguft ihre Beftimmung erreichte, Die 
Franzofen hatten damals ſchon im Juni den Entwurf gemacht, 
nach der Verbindung der franzöſiſchen und ſpaniſchen Flotte, die 
Engländer an ihren eigenen Küften anzugreifen und eine Landung 
zu verfuchen, Die Engländer geſtehen, daß in dem Augenblic 
der drohenden Landung ihre Gefahr fehr groß geweſen jet, weil 
ihre Flotten in: verfchtedenen Meeren zerſtreut waren, fie geben 
jogar zu, daß großere Uebel nur dadurch abgewendet wurden, daß 
V’Orsilliers von der eigentlichen Lage dev Dinge nicht genau uns 





54) König Ludwigs Briefe, den einen vom 8. Januar, den andern vom 
10. März 1778, nebft Carls III. Antwort findet man bet Flassan Vol. VI. 
p- 177 84q. 


280 "England, Frankreich, Spanien, von 1776—1781, 


terrichtet war, und nicht die Art Kühnheit befaß, welche Vieles 
wagt, um Mles zu „gewinnen. Die vereinigte ſpaniſche und 
frangöfifche Flotte, zwiſchen fechzig und fiebenzig Kriegsfchiffe 
ftarf, erfchten am Ende Juni in dem engen Meere zwilchen 
England und Frankreich. Diefe Flotte war dem Admiral Har— 
dy, der fih mit acht und dreißig Schiffen im mittellandifchen 
Meere befand, sorbeigefegelt, ohne daß dieſer fie — 
men hätte, 

Als die vereinigte ſpaniſch-franzöſiſche Flotte am fünfgefirten 
Auguft vor Plymouth erfchten, glaubte man allgemein, daß bie 
unſchätzbaren Werfte und Arfenale, welche die Engländer an ihren _ 
Küften eingerichtet Haben, verloren wären; zu ihrem Glücke war 
aber der ſpaniſche Admiral mit dem frangufifchen über das, mas 
zu thun jet, nicht ganz einig. Die Spanier wollten fogleich lan— 
den, d'Orvilliers erſt die englifche Flotte auffuchen und angreifen; 
darüber gefchah am Ende gar nichts, Man fchiffte freilich auf 
eine für die auf ihre Seemacht ſtolzen Engländer demüthigende 
Weiſe an der englifchen Küfte her, man nahm ein Kriegsichiff 
son vier und fechzig Kanonen, ließ aber indeffen den Admiral 
Hardy mit feiner Flotte fich in eine Enge legen, von wo aus 
er die Küfte vertheidigen und wo die Feinde ihn nicht angreifen 
konnten. Wir werden unten ſehen, daß die Engländer im fol- 
genden Jahre endlich zur See glücklicher waren, dagegen wäre in 
diefem Jahre (1780) ihre Hauptſtadt beinahe der Raub eines’ 
Pöbels geworden, den ein verrücter Fanatifer in Bewegung ges 
bracht hatte, Diefer Aufftand ward von Gngländern und Schot- 
ten erregt, welche noch weit mehr hinter der Zeit zurück waren, 
als König Georg II. und feine Miniſter. Im demfelben Jahre 
nöthigten die Irländer durch einen angedrohten bewaffneten Auf- 
ftand König und Minifter, gegen ihren Willen mit der Zeit fort- 
zufchreiten. Die englifche Regierung hatte theils wegen des Kriegs 
in Amerika, theild wegen der angedrohten Landung in Irland, 
die Milizen diefes Landes, welches damals noch: feine eigne befon- 
dere Regierung und fein eignes Parlament hatte, bewaffnen müſ— 
jen; dies nußten die bisher ganz unterbrüdten Irländer, um durch 
Drohungen zu erlangen, was ihnen bisher, fo billig auch ihre 
Forderungen waren, war verlagt worden. 


England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781, 281 


Die Unruhen in England und Schottland Hatten feinen po— 
litiſchen Grund, fie wurden von dem verrückten Bruder des Herz 
3098 von Gordon geleitet und bewieſen, wie furchtbar die Folgen 
des veligtöfen Fanatismus find, Ste waren gerade gegen den 
einzigen ausgezeichneten Beweis der Duldung und Milde gerichtet, 
den das damalige, zu jeder Unterdrückung zu gebrauchende Parla— 
ment gegeben Hatte. Lord Georg Saville that nämlich am Ende 
der Parlamentsfisungen des Jahrs 1778 den VBorfchlag zu einem 
Gefege, wodurch gewiſſe ganz graufame und unduldfame Verfü— 
gungen eines im 10. Jahr König Wilhelms de3 Dritten erlaſſe— 
nen Gefetes (An act for preventing the further growth of po- 
pery) wenn auch nicht abgefchafft, doch gemildert werden ſollten. 
Lord Savilfe fagte in feiner Nede mit vollem Recht und unter 
lautem Beifall, daß er durch fein Geſetz die Ehre des Proteftan- 
tismus vetten wolle, weil nur durch Annahme feines Vorfchlags 
der Grundſatz der Reformation, daß jede religtöfe Verfolgung un— 
gerecht fet, könne geltend gemacht werden. Die Strafbeſtimmun— 
gen, fügte er hinzu, deren Aufhebung er verlange, 55) entehrten 
nicht bloß die Neligton, fondern die Menſchlichkeit; denn fie feien 


gewiffermaßen darauf berechnet, alfe Bande der Gefellfchaft zu lö— 


fen, die Quellen des häuslichen Glücks zu vergiften und jeden 
Srundfat yon Ehre zu vernichten. Rede und Vorſchlag wurden 
son allen Mitgliedern des Parlaments, den minifteriellen und 
ihren Gegnern, übereinftimmend gebilfigt, und nicht bloß im Une 
terhaufe ward das neue Geſetz einftimmig angenommen, fondern 
auch im Oberhaufe nicht einmal yon den Biſchöfen mißbilfigt. 
Schon damals fürchtete man aber den fehottifchen Pietismus und 
Fanatismus und fette feit, daß die Abfchaffung der gehäffigen 
Artikel des Fanatifchen Geſetzes nur fir England und Irland, 





55) Diefe Beftimmungen find: 1) ein paptflifcher Priefter oder ein Ser 
futt, der Kirchliche Verrichtungen feiner Kirche auf engliſchem Boden verrich— 
tet, tft eines Todesverbrechens ſchuldig (guilty of felony); 2) eine Beſitzung 
(estate) fällt dem nächften proteftantifchen Exben anheim, wenn der römifch— 
katholiſche Beſitzer auswärts erzogen wird; 3) der Sohn oder nächſte Anver- 
wandte des Befibers eines Guts „der einer Herrfhaft darf, wenn er Brote: 
jtant it, feines Vaters Erbe bei deffen Lebzeit in Befis nehmen; fein Pa- 
pift Hat ein Recht, durch Kauf Eigentum auf rechtsgültige Weiſe zu erwerben. 


er 


282 England, Frankreich, Spanien, von 1776-1781. 


nicht für Schottland gelten follte, In der nächften Sitzung wollte - 
man das Geſetz auch auf Schottland ausdehnen, Wie dies bekannt 
ward, forderten die pietiftijchen Glieder der fchottifchen Kirk, daß 
die (chottifche Geiftlichfeit Einſprache thun folle, dieſe Dachte: aber 
billig genug, fich nicht als Werkzeug gebrauchen zu Yaffen, Dies 
benußte dann ein DVerrücter, um die Hefe des alten PBuritanis- 
mus, oder was wir Pietismus nennen, in dem zu trübem Schwär— 
men und Nebeln feit Fingals Zeit fehr geneigten ſchottiſchen 
Bolfe aufzuregen und den Pöbel der Blindgläubigen in Wuth 
zu ſetzen. 

Die Seenen, welche vorfielen „als Carl I. die englifche Li— 
turgie, Hierarchie amd Ornat in Schottland einführen wollte, ſchie— 
nen fich damals zu erneuen, man ſchrie wie um 1640 von Dorf 
zu Dorf die Signalworte des Aufftands: fein Papſtthum 
(no popery). Erſt in Schottland, hernach auch in England, 
wurden Affoeiationen gebildet, in Glasgow und in Edinburgh 
wurden häufige und jehr zahlreiche offentliche Berfammlungen ge— 

halten, man ſchloß einen heiligen Bund, die alten Strafverord- 
nungen gegen die Katholiten aufrecht zu halten, Die Glasgower 
und Edinburgher Volksverſammlung wählte den einzigen angejehe- 
nen Mann, der fich zu dieſen Dingen gebrauchen ließ, und zus 
gleich Mitglied des Unterhaufes war, Sir George Gordon, zu 
ihrem Bräfidenten. Diefer, der auch in England überall ähnliche 
Berbindungen ftiftete, fie alle unter einander und mit den ſchotti— 
fchen in Verbindung brachte, und auch im Parlament beftändig auf 
die Afforiationen pochte, glich Ichon damals durch Aufzug, Klei- 
dung und Betragen einem Verrückten. Ms folcher erjcheint, er 
auch in feinem Benehmen im Parlament, welches übergroße Ge— 
duld mit diefem Sprößlinge fehottifcher Ariftofratie hatte, Er that 
die wunderlichiten Vorfchläge, er ftörte alle Berathichlagungen durch 
lächerliche Ginfälle und Ausfälle, Eagte unaufhörlich über das 
Papſtthum, welches tiber Großbritannien hereinzubrechen drohe und 
erlaubte fich ganz unerhörte Derbheiten und Beichuldigungen ges 
gen die Minifter, um das gemeine Volk in Wuth zu bringen. 
Dies Alles that er befonders in dem Augenblide, als Alles un— 
zufrieden war, als die franzöſiſchen und ſpaniſchen Slotten an den 
englifchen Küften erſchienen, als die amerifanifchen Kaper viele 


England, Frankreich, Spanten, von 17761781, 283 


Schiffe wegnahmen und die Schotten fich maffnen wollten, um 
die Iandenden Feinde abzuhalten.56) Ein folcher Mann paßte vor— 
trefffich zum Führer einer ganz blinden Maffe 

Auf Gordong Betrieb unterzeichneten hundert und zwanzig 
taufend Schotten eine Bittfchrift ans Parlament um Aufhebung 
des auf Lord Savilles Vorfchlag gegebenen Geſetzes, 20000 Mann 
follten , wie er verlangte, derfelben durch Ihre Gegenwart Gewicht 
geben, Einrichtungen zur Ausführung diefes tollen Plans wurden 
darauf fogleich getroffen, Bänder und Abzeichen vertheilt und, um 
Alles zu ordnen, häufige Verſammlungen auf den St. Georgsfel- 
dern bei London gehalten. Das Minifterium ward nicht mit Un— 
vecht beichuldigt, daß es die Sache abſichtlich bis zum Aeußerften 
fommen laſſen wolle, um die Außerften Mittel gebrauchen zu kön— 
nen, denn es wäre leicht gewejen, vor der Uebergabe der: Bitt- 
Schrift Anftalten zur Sicherheit des Parlaments zu treffen, wie in 
unfern Tagen gegen die Chartiften gefchehen tft. Dies hätte um 
fo eher gefchehen müfjen, da ſchon vorher in Edinburgh im Klei- 
nen verfucht war, was hernach in London im Großen gefchah: 
Man hatte dort mehre Kleine katholiſche Kapellen zerſtört, und 
an Berfonen und dem Eigenthum der Katholifen Gewaltthätigfei- 
ten geübt. | 

In London war eine Ähnliche Affoeiation wie in Edinburgh 
und Glasgow gebildet worden: auch diefe Affociation wählte Sir 
Gordon zu ihrem Präſidenten und diefer drohte im Parlamente, 
daß er auf den Tag der; Mebergabe der Bittfchrift fünfzig bis 
ſechzig taufend Menfchen nach‘ London entbieten wolle. Dies ge— 
fchah auch wirklich, ofme daß nur die Friedensrichter von den 


56) Die englifche Schifffahrt und die ſchottiſchen und irländiſchen Küften 
- Titten damals fehr viel durch amerikaniſche Kaper und Paul Jones Hatte 
Dumfriesſhire Hart mitgenommen, weßhalb die Einwohner dur den Herzog 
von Duensburry um die Erlaubniß eingefommen waren, ſich bewaffnen zu 
dürfen, darauf hatte der Kriegsfefretär unartig geantwortet. Sir George 
Gordon Fas erſt den Brief des Kriegsſekretärs an den Herzog im Parlament 
vor, dann rief er ihm zu: And you, Charles Jenkinson, how durst you 
write such a leiter? Robert Bruce would not have dared to write 
such a one; and yet the secretary of an elector of Hannover has had 
the presumption to do it! and the great earl Douglas of Scotland is 
not to be intrusted with arms! 


— 


284 England, Frankreich, Spanien, von 1770 1781 


Miniſtern wären berufen, oder von ihnen irgend eine Anſtalt ge— 
troffen worden. 

Der von Gordon feſtgeſetzte Tag war der 2, Juni 1780, 
und die ganze Ordnung des Zugs der vielen Taufende, die fi 
‚auf den Set, Georgöfeldern verfammeln, von dort zum Parla— 
mentshaufe ziehen und die Zuftimmung zu der von ihrem Prä- 
fidenten übergebenen Bittfehrift erzwingen follten, war lange vor— 
her feftgefegt und bekannt gemacht worden. Sir Gordons Affo- 
eiationen bildeten vier durch blaue Bänder bezeichnete Haufen, drei 
ang den Duartieren von Londonz der Vierte beftand bloß aus 
Schotten. Der Zug der Haufen war fo eingerichtet, daß bie 
Menfchenmaffen von allen Seiten herbei wogten und das Parla— 
ment, welches verfammelt war, fich plötzlich förmlich eingefchloffen 
und abgefhnitten fand, Alle Plätze und Straßen waren völlig 
bejett und alte Leute verficherten, daß der Lärm und die Men- 
jchenmaffe großer und furchtbarer jet, als bei dem gefährlichiten 
Aufftande, der feit den Zeiten der Stuartd erregt war. Dies 
war der Aufftand um 1733, als Robert Walpole den erften Vor— 
ſchlag zur Einführung jener Aceife machte, welche bis auf unfere 
Tage den Armen nöthigte, zum Vortheil des Reichen mit — | 
Koft vorlieb zu nehmen oder gar zu hunger, 

An der Spite von funfzig bis fechzigtanfend Mann zog Sir 
Gordon mit der Bittfchrift heran und ließ fie hinter fich her in 
den Saal tragen. Nur mit Mühe hielten die Thürfteher die 
Menge ab, ihm die Treppen herauf in den Sitzungsſaal zu fol- 
gen; der untere Vorplatz (lobby) war aber ganz mit Menfchen 
gefüllt. Mehre Stunden hindurch Fonnte das Parlament nicht 
berathichlagen, weil es gefangen und bedroht war, bis endlich die 
erft während des Lärms berufenen Friedensrichter anlangten. Auch 
nach ihrer Ankunft dauerte das Toben fort. Das Parlament wei- 
gerte fich indeſſen ftandhaft, die Bittichrift fogleich während des 
Lärmens und Drohens in Berathung zu nehmen, wie Gordon im 
Namen des Volks, das er von Zeit zu Zeit von der Treppe aus 
anredete, forderte, Als das Parlament ftandhaft blieb und mit 
hundert und zwei und neunzig gegen fechzig Stimmen erklärte, 
daß es die Bittfchrift in dem Augenblicke nicht in Betrachtung 
ziehen wolle, rief Gordon dem verfammelten Pöbel zu: Dem 


England, Frankreich, Spanien, yon 17761781. 985 


fchottifhen Volke ſei nicht eher zu helfen, bis e8 
alle papiftifche Kapellen niedergeriffen Hätte. Dies 
war der Lofungsfpruch zum fürmlichen, gewaltfamen Aufftande, 
Noch an demfelben Tage, den 2, Juni, wurden die Kapellen 
des baterifchen und des fardinifchen Minifters zerſtört, ohne daß 
die durch Die Friedensrichter zur Anwendung der Gewalt aufge 
forderten Soldaten e8 hindern konnten. Schon am 2, waren die 
Pairs und die Glieder des Unterhaufes bedroht, mit Koth geworfen 
zu werden, und zum Theil fo mißhandelt worden, daß drei Pairs nur 
mit Mühe gerettet wurden; am folgenden Tage war für die we— 
nigen, die fich einzufinden wagen würden, Feine Sicherheit zu hof— 
fen, das Unterhaus vertagte fich daher bis zum fechsten. Das 
Oberhaus Hatte fich unter dem tobenden Lärm, wegen deflen in 
ganz London die Läden gefchloffen waren und jedes Geſchäft ſtill— 
ftand, am 3. wieder verfammelt und eine Adreffe an den König 
gerichtet, um ihm neue Gewalt zu übertragen. Dies konnte mes 
nig nüßen, denn wenn die Mintfter wagen follten, darnach zu 
handeln, fo bedurfte die Addreffe der Pairs der Autorität des 
Unterhanfes, Die Pairs erfuchten namlich in ihrer Addreſſe den 
König, einen unmittelbaren Befehl zu erlaffen, um Urheber, An— 
ftifter, Werkzeuge der am vorigen Tage verübten Gewaltthätigfet= 
ten nachdrücklich zu beftrafen. Sp fern das Oberparlament erftes 
Gericht des Reichs ift, konnte e8 den Beichluß zwar faffen, aber es 
fonnte nicht dem Könige das Necht geben, zu diefem Zwecke die nö— 
thigen, in der Conſtitution nicht begründeten Mafregeln zu ergreifen. 
Der dritte Juni war verhältnigmäßig ruhig vorüber gegan- 
gen, am 4, aber, der auf den Sonntag fiel, begann die Zerſtö— 
zung mit vermehrter Wuth. Die Kapellen ſowohl als die Häu— 
jer der vornehmſten Katholiken in dev Nähe von Moorfields wur— 
ben vernichtet, jedes Gigenthum in der Stadt bedroht. Am fünf- 
ten ward Lord Savilles Haus und die einiger feiner Freunde ge— 
ſchleift und London war in der Macht des Pöbels, als wenn die 
Stadt vom Feinde genommen wäre Am fechsten Hatten zwar 
zweihundert Mitglieder des Unterhaufes den Muth, ſich unter 
drohender Todesgefahr in die auf diefen Tag feitgefette Sitzung 
zu begeben; allein jest war ſchon das Militäv im Gefecht mit 
dem Böhel, umgeben von Soldaten, eingefchloffen som Pöbel, Fonnte 


286 England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781. 


man feine gültige Bejchlüffe fallen. Man verordnete zwar Einiges, 
aber auch diefes war für den Augenblick nicht einmal ansführbar, 
Man trennte fich, als man erfuhr, es werde im der ganzen Stadt 
auf Tod und Leben gefampfi und brenne an allen Ecken. 

Das Volk hatte damals das Criminalgefängniß für die ärg— 
jten Verbrecher (Newgate) geftürmt und in Feuer gefebtz es hatte 
über dreihundert ſchwere Verbrecher und auch die gefangenen Schuld- 
ner befreit, und des Oberrichters Lord Mansfields Palaft dem 
Boden gleich gemachtz er felbft Hatte nur mit Mühe fein Leben 
gerettet. Das Gefängniß von Clerkenwell war ebenfall® geftürmt 
und fehr viele Privathäufer zeuftört worden. Am fiebenten und 
achten ward Tumult und Zerftörung noch ärger, die Menge. der 
Tobenden größer und die ganze Stadt und ihr Wohlftand ſchien 
mit dem Antergange bedroht, Auch die noch übrigen Gefängnifle, 
Kingsbench, Bridewell, Fleet, wurden geftürmt, die zwei Lebtern 
genommen und die ganze Menge der Berbrecher ergoß fich bos— 
haft, Unheil fliftend und plündernd über die Stadt, ſo daß es 
an ſechs und dreißig Stellen zu gleicher: Zeit brannte.) Die Herrn 
Longdale führten einen großen Handel mit geiftigen Getränken 
und Hatten jehr große Niederlagen und ein durch feine Ausdeh— 
nung. bevühmtes Laboratorium; auch diefes ward geſtürmt, bie 
Stürmenden durch Trunfenheit zur höchſten Raſerei gebracht: und 
durch die fich über die Straßen ergießenden geiſtigen Grtvänte 
die. Flammen vermehrt, 

Su diejer Noth, als auch die Banf, die Vorrathshäuſer und 
Kaſſen bedroht waren, wagten die Friedensrichter nicht, auf ihre 
eigne Gefahr, an allen Stellen und ganz im Allgemeinen dem 
Militär Befehl zum Feuern und Einhauen zu geben, weil voraus 
zu ſehen war, daß Hunderte umkommen würden, es ward alſo 
der geheime Rath (dd. Alle, die jemals die höchſten Aemter be— 
Heidet haben) zufammenberufen, damit fich dev König mit einem 
Beſchluſſe der minifterielen und antiminifteriellen Mitglieder dej- 

jelben gegen den Vorwurf der Willkür ſchütze. Man war Yange 
zweifelhaft, ob der König das Recht habe, Kriegsgeſetze zu pro— 
Hamiren und militärifch verfahren zu Taffen, endlich aber exflärte 
der Staatsanwalt Wedderburne, daß es nach englifchen Geſetzen 
ſo gut als nach dem Naturgeſetz Rechtens jet, Gewalt mit Ges 


; England, Frankreich, Spanten, von 1776—1781. 987 


sont zu vertreiben, Der König zeigte bei diefer Gelegenheit, wie 
immer, Ruhe, Faſſung und viel moralifchen Muth. Er ließ fich 
das Nechtsgutachten des Staatsanwalts jchriftlich übergeben, über- 
nahm, darauf fich ſtützend, die perfönliche Verantwortlichfeit und 
unterzeichnete allein, ohme Miniſter, den Befehl, überall Gewalt 
mit Gewalt zu bekämpfen. Gin furchtbares Blutbad in der feit 
ſechs Tage brennenden Stadt war die Folge des Befehls, und es 
war ein großes Gfü für England, daß man ſich durchaus auf 
die Truppen verlaffen konnte. Unftreitig ward London durch dieſe 
Anwendung der Milttärgewalt gerettet, man war alſo dem Kö— 
nige Dank fehuldig; dennoch gab man dem Miniftertum Schuld, 
daß es die Unruhen, damit es Vorwand habe, Gewalt zu ges 
brauchen, abfichtlich fo weit habe kommen laſſen. 

Am großen Stadthaufe (Mansion house) und an der Banf 
war eine fürmliche Schlacht, Der Haufe fhirmte mit großem Ver— 
luſt an Menfchen wiederholt beide Gebäude, dev Sturm ward 
wiederholt durch furchtbares Feuern der Soldaten zurückgetrieben. 
Beim Kingsbench und an der Black Friars Brücke ward ebeufalls, 
wie beim Sturm einer Feſtung gekämpft, doch fielen die mehrſten 
Menfchen beim wiederholten heftigen Stürmen auf die Banf, Wie 
viele gefallen, wie viele Leichname bei dev Brücke: in die Themfe 
geworfen wurden, iſt nicht befannt geworden; doch waren es ges 
wiß über Taufend. Sp wenig wir font Wraxall als Autorität 
gebrauchen möchten, fo müflen mir doch. hier, mo er als Augen- 
zeuge fehreibt, „die Leſer auf feine Beſchreibung der Seenen vom 


J bis 10. Juni verweiſen. 57) 





57) Wraxall historical memoirs of my. own time, Vol, 1. 'p. 324 
— 356, . Die folgenden Worte ©, 324—326 werben die Ausführlidfeit un- 
feree Schilderung diefer Scenen rechtfertigen. Er fagt: In 1780 the flames 
were originally kindled, as well as rendered far more destructive by 
a populace of the lowest and vilest description, who carried with 
them, wherever they moved the materials of universal ruin. It was 
only in their blood, by the interposition of an overwhelming military 
force, that the convulsion became finally: arresied, and that London af- 
ter being desolated by fire, was rescued from plunder, bankruptey and 
subversion. Even the French revolution, which, from July 1789 down 
to April 1814 ete. etc. — yet did not ar in the capital of France 
any similar oytrages. 


288 England, Sranfreih, Spanten, von 1776—1781. 


Das Unterhaus Hatte fich bis auf den 11. vertagt, es war 
daher in der letzten Woche Fein anderes obrigfeitliches Anfehen, 
als das Fonigliche und militärifche mehr übrig, auch noch am 11; 
fonnte das Parlament Feine Berathichlagungen halten, weil das 
proclamirte Martialgefeb fortdauerte, alſo die Berathichlagung 
nicht frei war, Man konnte unter den Waffen feine friedlichen 
Sitzungen halten, und beide Häufer eröffneten die Ihrigen erſt 
amt 19. wieder. Seit dem zehnten glich die Stadt und ihre rau= 
chenden Trümmer einer mit Sturm eroberten Feftung. Alle Ge- 
werbe ſtanden ftill, Häufer und Gewölbe waren gefchloffen, die 
Brücken, die Bank, die vffentlichen Gebäude, die Straßen und 
Plätze waren mit Soldaten beſetztz überall vauchende Trümmer 
und Alles ftille und leer, wie in einer Landſtadt. Die Eigen- 
thümlichkeit des englifchen Gerichtsweſens zeigt fich auch bei die— 
jer Gelegenheit, wie bei andern, auf eine folche Weiſe, daß man 
es, wie man Luft hat, entweder jehr mangelhaft, oder fehr 
—— finden, und Beides mit guten Gründen —— 
gen kann. 

Sir Gordon nämlich, Anſtifter und Arheber des ganzen un⸗ 
fugs, ward zwar verhaftet und unter einer ſtärkern militäriſchen 
Bedeckung als man je einem Gefangenen gegeben, in den Tower 
gebracht; ein Fehler in der Form feiner Anklage machte aber, 
. daß er aller Strafe entging. Man Fagte ihn nämlich des Hoch- 
verrathes anz es war aber die gefeßliche Definition dieſes beſon— 
dern Verbrechend auf feinen Fall nicht anwendbar, er mußte da= 
her in Freiheit gefebt werden, während die von ihm irre’ geleite- 
ten Banatifer mit dem Leben büßten. Gr machte übrigens- der 
toffen Streiche noch mehr in feinem Leben, nur Fonnte er als 
Mann von Familie nicht ing Armen oder Irrenhaus gerathen, 
weil er eine Penfion von feinem Bruder hatte, Cr trat zum Ju= 
denthum über und ließ fich in Birmingham befchneiden, endigte 
aber fein Leben im Gefängniß von Newgate, weil er um 1789 
wegen eines Pasquills auf die unglüdliche Königin von Frank— 
reich zur gerichtlichen Haft war verurtheilt worden. | 
In dieſem Unglücksjahre der Stadt London war Indeffen dag 
Glü den Engländern zur See günftiger als vorher. Was zus 
nächſt Weftindien angeht, fo waren ſowohl die Franzoſen als bie 


England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781. 989 


Englaͤnder mit den Befehlshabern ihrer Flotten in den Gewäſſern 
jener Gegenden im Jahre 1779 unzufrieden gewefen und erſetzten 
fie im Jahre 1780 durch ander, D’Ejtaing ward, als er nach 
Europa zurückkam, nicht mehr gebraucht, weil er fich beim An— 
griff auf Savannah in Georgien und auch bei andern Gelegen- 
heiten jehr übereilt und unverftändig bewiefen hatte; die Englän— 


der waren mit Lord Byron unzufrieden, weil er ftatt feine in 


Weftindien erfochtenen Vortheile zu verfolgen, eine Kauffahrtet- 
Flotte nach Europa geleitet hatte, Das englifche Minifterium, mit 
allen alten Admirälen gefpannt, war daher höchlich erfreut, als der 
tüchtigfte Admiral der englifchen Flotte, der fich aber durch Auf- 
wand und Spielen zu Grunde gerichtet Hatte und durch Schul- 
den in Paris zurücgehalten wurde, feine Dienfte anbot. Admi— 


ral Rodney war in jeder Hinficht tüchtiger Seemann, aber er 


hatte auch alle Fehler der Helden. Er prahlte gern, ex verfpielte 
was er hatte und was er borgen konnte, und feine Liebfchaften 
fofteten viel Geld; er bedurfte daher der Priſengelder ebenfofehr 
als das Mintfterium feiner Dienfte, Die Frangofen erzählen, was 
man aber bei Lacretelle Tefen muß, weil fich die- Acht franzöſiſche 
Bravade in einfachen Deutfch nicht gut ausnimmt, er habe bei 


Marſchall Biron 'gefpeist und diefen durch die Prahlerei geärgert, 


daß er, wenn ihn nicht feine Schulden in Paris hielten, Spanter 
und Franzoſen fohlagen werde! Dieſe Prahlerei Habe den Düe 
de Biron bewogen, ihm zu zeigen, daß fich die Franzoſen vor ihm 
nicht fürchtetenz er habe ihm daher zur Bezahlung dev Schulden 
Geld geliehen und Rodney fet abgereist, 59) 

Wie es fich nun auch mit diefer franzöſiſchen Anekdote und 
mit den großprahlenden Nedensarten verhalten mag, deren wir 
bei den Franzoſen gewohnt find, Rodney reiste nach England und 





88) Für die Lefer, die Lacretelle nicht zur Sand haben, wollen wir wes 
nigftens den prächtigen Schluß der ſchönen Geſchichte herſetzen. Vol. V. p 
212. Le marechal de Biron tira une vengeance noble mais indiscröte 
de cette insulte faite a sa patrie: peu de jours apres il acquitta les 
dettes de Rodney. Partez, Monsieur, lui dit-il; essayez de r&aliser vos 
promesses; les Francais ne veulent Be se prevaloir de l’obstacle, qui 
vous empechait de les accomplir; c’est par leur bravoure qu'ils met- 
tent leurs ennemis hors de combat. BERN 

Schloffer, Geſch. dr 18, u. 19, Jahrh. IV. Th, 1, Aufl, 19 


u 


“ 
* 


290 England, Frankreich, Spanien, von 1776-1781: 


erhielt den Oberbefehl der nach Weftindien beſtimmten Flotte, 
welche, zwanzig Segel ftark, im Januar 1780 auslief. Da fchon 
damals Gibraltar mit einer Belagerung bedroht ward, fo hatte 
Rodney den Auftrag, zuerft Vorräthe und Berftärkungen in dieſe 
Beftung zu bringen, von dort aber fogleich nach Weftindien über— 
zugehen. Er ward auf feiner Fahrt vom Schickſal ganz befon- 
ders begünftigt.. Zuerſt traf es fich, daß die vereinigte franzöſi— 
ſche und fpanifche Flotte, welche, vierzig Schiffe flarf in Breit 
lag, nicht fegelfertig war, als Rodney ausfuhr, obgleich Aranda 
ausdrücklich von Parts nach Breſt gereift war, um das Auslau= 
fen zu betreiben, Die Brefter Flotte konnte alfo Rodney nicht 
folgen und auch die Befehlshaber der Schiffe von Gibraltar und 
die der Schiffe in den galliciſchen Häfen fühlten fich vereinigt 
nicht ftarf genug, um es mit der englifchen Flotte aufzunehmen, 
Rodney traf außerdem durch Zufall unterwegs eine bedeutende Flotte 
son Transportichiffen, welche Vorräthe und Munition von San 
Sebaftian nach Cadix bringen follte. Alle dieſe Schiffe und Vor: 
räthe nahm er: weg nebſt dem Linienfchiff yon 64 Kanonen, mel- 
ches fie geleitete. Die zwei fpantfchen Geſchwader, welche verei— 
nigt Rodney Hatten angreifen follen, wurden hernach durch Un— 
wetter getvennt und jo befchädigt, daß das eine in Garthagena, 
das andere in Cadix mußte ausgebeffert werden. Als hernach 
Don Juan von Langara mit feinem: Theil der Flotte aus Cartha— 
gena auslief, traf er bei Cap. Set. Vincent auf die ihm dop— 
pelt überlegene engliiche Flotte und lieferte ihr ein Treffen, In 
diefem Treffen beiviefen die Spanier zwar bewunderungswürdige 
Tapferkeit, fie unterlagen aber gleichwohl, Don Juan ſelbſt 
ward nach tapferer Gegenwehr gefangen, alle feine Schiffe ges 
nommen oder vernichtet; nur vier entfamen, von denen zwei jehr 
beichädigt waren. 

Nach diefem Stege fegelte Rodney erſt nach Gibraltar ——— 
füllte dort Alles, was ihm aufgetragen war, und ſchickte alle von 
ihm erbeuteten Schiffe und einen Theil ſeiner Flotte nach Eng— 
land. Auf dieſer Fahrt nahm Digby, der die geleitenden Schiffe 
kommandirte, unterwegs noch ein Schiff von 64 Kanonen. Mit 
den übrigen gelangte Robney im März nach St. Lucia, wo er 
eine an — ng franzöſiſche Flotte unter Guichen vor⸗ 


England, Frankreich, Spanien, bon 1776—1781, 291 


fand, der in Verbindung mit den Spantern Jamaica und Flo— 
rida angreifen ſollte. Guichen erwartete den von den Spanier 
ausgeſchickten Admiral Solano, der mit zwölf Kriegsſchiffen, ei= 
ner ganzen Flotte von Transportichiffen und eilftaufend Mann 
Landungstruppen nach den Antillen beftimmt war; er juchte daher 
einem Treffen fo Tange auszumweichen, bis er ich mit den Spa— 
niern vereinigt habe, Dies veranlaßte in den Monaten April 
und Mai einen Wettftveit zwiſchen Guichen und Nodney, der in 
der Gefchichte des Seewefens und der Kunft, den Seekrieg zu 
führen, ſehr merkwürdig iſt. Rodney nämlich ward zunächit ges 
priefen, weil er es dahin zu bringen wußte, daß die Franzoſen, 
noch ehe ſich Solano mit ihnen vereinigt hatte, am fiebenzehnten 
April einem Gefecht nicht ausweichen konnten, und Guichen ward 
in ganz Guropa berühmt, weil er mit gleichen Kräften einer engs 


liſchen Flotte, von einem Admiral commandirt wie Rodney war, 


ein Treffen Vieferte, ohne eine Niederlage zu erleiden, Rodney 
Elagte bet Gelegenheit des Treffens laut über das englifche Mi— 
nifterium, über die Admiralität und. ihren Prafidenten Lord Sand 
wich. Auch über den tapfern Hyde Barker, der unter ihm come 
mandirte, und wie er hernach bewies, eben jo unzufrieden mit dem 
Minifterium war als er, beklagte ſich Rodney. Er lobte in fetz 
nem Bericht über das Treffen mit den Franzoſen auch nicht einen 
Einzigen feiner DOffiztere. Er, wie Hyde Parker, fagten gang 
laut, das Minifterium richte die Marine zu Grundez denn es 
befördere nicht die verdienten Offiziere, fondern die miniſteriell 
Gefinnten oder die, welche ihm durch ihren Einfluß ab durch 
ihre Verwandtſchaft nüglich werden könnten. 

Am fünfzehnten und am neunzehnten Mat brachte zwar 
Rodney die franzöſiſche Flotte zu neuen Gefechten und konnte fich 
eines am neunzehnten erfochtenen Sieges rühmen; dev Schaden 
aber, den die Cnglander ihren Feinden zugefügt Hatten, war 
gleichwohl fehr unbedeutend, Während diefer Zeit näherte fich 
Solano der Infel Martinique, immer in den Engen zwiſchen 
den Inſeln den Engländern entjchlüpfend, indeſſen Rodney in der 
Bay von Garlisle auf Barbados Tag, und Guichen in Martinique 
auf eine Gelegenheit harte, fich mit den Spantern zu vereinigen. 
AS Rodney aufs neue gegen Solano unter Segel ging, war 

D 


909 England, Frankreich, Spanten, von 1776-1781. 


diefer fo glücklich, ihm auszumweichen und in einen Hafen einer 
der Heinen Infeln einzulaufen, wo fich hernach Guichen mit ihm 
verband, ohne dag Rodney im Stande war, es zu verhindern, 
Da Solano ein bedeutendes Landheer an Bord hatte, melches 
gegen Jamaica beftimmt war, und ohne Geleit der franzöſiſchen 
Flotte nicht dahin gelangen Fonnte, jo hatten die Franzofen und 
Spanter ihren Zweck erreicht, die Engländer den ihrigen verfehlt, 

Die Bereinigung der ſpaniſchen und franzöſiſchen Flotte er- 
folgte oberhalb Dominica, und die vereinigte, jetzt ſechs und 
dreißig Schiffe ftarfe Flotte war Nodney fo jehr überlegen, daß 
er ſich nach Sancta Lucia 309. Die Infel Jamaica ward aber 
gleichwohl son den Feinden nicht angegriffen. Clima, jchlechte 
Verpflegung, anfterfende Krankheiten richteten nämlich unter den 
Seeleuten und den vielen Soldaten, welche ſich auf den Schiffen 
befanden, größere Niederlagen an, als eine blutige Schlacht hätte 
hun Tonnen, und Guichen, nachdem er die ſpaniſche Flotte nad) 
St. Domingo geleitet hatte, fand rathſam, ſchon im Juli nad 
Europa zurüczufehren. Rodney folgte den Franzofen und erfuhr 
in Europa, daß feine Landsleute in dem Jahre, ohne geichlagen 
zu werden, an Geld und an Kauffahrteifchiffen fehr großen Ver— 
Yuft erlitten hätten, Der Verluſt der englifchen Seehandlung war 
in dem Jahre großer, als jemald in einer Zeit son wenigen 
Monaten in irgend einem andern Kriege vorher oder auch nach— 
ber. Das Gefchret gegen die Regierung ward dadurch ſehr per 
mehrtz ob man gleich eingeftehen muß, daß der Verluſt eher 
Durch Fügung des Schicffals, als durch Schuld der engliſchen 
Miniſter erlitten ward. 

Während namlich die Franzoſen mit den Engländern an 
ihren eigenen Küften und in den weftindifchen und oſtindiſchen 
Meeren Fampften, lief Ludwig son Gordoya mit einer ſpaniſchen 
Blotte aus, um eine große englifche Flotte wegzunehmen, welche 
Alles an Bord Hatte, was man zur Kriegsräftung in Oftindien 
and Weftindien gebrauchte und alle zur Verpflegung nöthigen 
Borräthe in die Golonien bringen ſollte. Die beiden nach Weft- 
indien und nach Oftindien bejtimmten Flotten fegelten bis an den 
Drt, wo ihr Weg fich trennte, vereinigt und unter derſelben Be— 
deckung, und Ludwig von Cordova war jo glücklich, fie vor ihrer 


Bewaffnete Neutralttät: Krieg mit Holland, 293 


Trennung einzuholen und mwegzunehmen. Gr nahın am 9. Au— 
guft 1780 fünf und fünfzig Schiffe, auf denen fich 2865 Perfo- 
nen befanden und brachte fie nach Gadir, Faft zu derfelben 
Zeit nahmen die Amerikaner 14 Schiffe von der englifchen nad 
Canada beftimmten fogenannten Quebec-Flotte. 


2. 


BDewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 


Im Jahre 1781 waren die Engländer mit der Gefahr bes 
droht, daß fich die ſämmtlichen neutralen Mächte von Europa 
endlich einmal gegen die Anmaßungen der Engländer zur See 
verbinden und daß ſich Rußland dabei an die Spite stellen 
würde; es blieb indeſſen bei diplomatifchen Schritten, Wir wür— 
den der Unterhandlungen und Traftate über die gewaffnete Neu— 
tralität, wie vieler andern blos dem Diplomaten wichtige Dinge 
daher nicht erwähnen, wenn nicht das Neutralitätsprojeft den 
Krieg zwifchen Holland und England herbeigeführt, und Katfer 
Paul in Verbindung mit Bonaparte im Anfange unferes Jahr— 
hunderts den Entwurf, den Katharina IL den Engländern zu 
Gefallen vereitelt Hatte, wieder hervorgeſucht hätte, Die Gefahr, 
welche den Engländern plößlich von Rußland aus drohte, Fam 
ganz unerwartet, da der englifche Minifter zu Petersburg ein 
fehr genauer Freund der Katferin war, und biefe felbft glaubte, 
daß die bewaffnete Neutralität, von dev ihr Panin, der Minifter 
dev auswärtigen Angelegenheiten, jo lange geredet Hatte, den 
Engländern jehr Lieb fein werde, Panin wußte recht gut, welche 
Bewandtniß es mit einer Behauptung der neutralen Schifffahrt 
während eines Seefriegs habe; die Katferin wußte es aber nicht. 

Was das Verhältniß der englifchen Negterung zur ruſſiſchen 
angeht, jo hatten die englifchen Minifter, ehe fie deutfche Trup— 
pen in Sold nahmen, fogar den Plan gehabt, zwanzigtaufend 
Mann Rufen nach Amerika zu fehiefen, und waren hernach über 
eine nähere Verbindung mit Katharina in Unterhandlung getre- 
ten, Diefe Unterhandhungen leitete dev englifche Miniſter Harris, 
der im Nevolutionsfriege als Unterhändler mit der franzöfifchen 
republikaniſchen Regierung unter dem Namen Lord Malmsbury 


294 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 


als Diplomat glänzte. Diefer Hatte Katharina's ganzes Ver— 
trauen, und nach einer fehr guten Quelle 569) waren die Ynter- 
Handlungen über eine ganz befondere engere Verbindung zwifchen 
Rußland und England fchon weit vorgefchritten, als Panin der 
Kaiferin son einem Projekt redete, deſſen Ausführung, wie er 
behauptete, das Anfehn, die Größe und den Glanz der Kaiferin 
auf den höchſten Punkt heben und auch den Engländern, wie - 
allen andern Mächten Europa’s vortheilhaft fein werde, Diefes 
urſprünglich aus Spanten herftammende Projekt Tegte Panin fei- 
ner Katferin vor, als diefe ihre Ehre von den Spaniern gekränkt 
glaubte, welche ihren höchſten Unwillen dadurch erregten, daß fie 
ſich Gewaltthätigfeit gegen die ruffiichen Schiffe erlaubten, die den 
Engländern in Gibraltar hatten Lebensmittel zuführen wollen. 
Die Katferin Fonnte daher nicht: ahnen, daß das ihr vorgelegte 
Projekt, welches fie billigte, weil fie die Verhältniffe nicht genau 
Ffannte, den Engländern tödtlich zumider fein werde. 

Die Spanier nämlich hatten damals ſchon längſt den Hafen 
yon Gibraltar für blofirt erklärt, und zwar lange vorher, ehe 
nur Anftalten zu einer Belagerung getroffen waren, fie hatten, wie 
man das nennt, eine Papterblofade eingerichtet und zwei ruſſiſche 
Getreidejchiffe, welche trog der nur in der erlaffenen Erklärung, 
alſo nicht in der Wirklichkeit, fondern auf dem Papiere eriftiven- 
den Blokade in den Hafen einlaufen wollten, weggenommen. 
Harris beftärkte die Kaiferin in diefem ihrem Unmwillen über Ver— 
letzung neutraler Schifffahrt, hütete fich aber wohl, ihr zu jagen, - 
daß dieje bei andern Mächten nur als Ausnahme geftattet werde, 
bei den Engländern aber als Syſtem und ald Recht gelte, Die 
Kaiferin ließ darauf zu feiner großen Freude fünfzehn Kriegs— 
fchiffe zur Beſchützung ihrer Flagge in Kronftadt ausrüften. Die 





59) Dohm iſt unftreitig über vie bewaffnete Neutralität die befte 
Duelle, feine Nachrichten ftehen in feinen Denkwürdigkeiten im 2. Theil, 
©; 104 u. f. Damit muß man verbinden, was Core aus den Papieren der 
engltfchen Staatsmänner urkundlich, wenn gleich etwas breit und unkritiſch, 
zufammenftellt, in feinen Memoirs of the kings of Spain etc. etc. Vol. IH. 
Chapter LXXIII. p. 438 sqgq. der Ausgabe von 1813 in 4. Die Aftenftüde 
ſelbſt muß man bei Martens; Recueil des traites etc, etc. im 2. und 4. 
Theile nachleſen. 


Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 295 


fen Augenblick bezeichnete ihr Graf Panin als den günftigften, 
um fich als Schützerin aller kleineren Seemächte geltend zu ma= 
chen, und erhielt den Auftrag, einen Entwurf der Behauptung 
der Rechte dev Neutralen zu entwerfen, gab jedoch den Spaniern 
einen Wink davon, Weil Panin feinen Entwurf auf einen ſchon 
früher son. Spanien ansgegangenen und den Franzoſen mitge— 
theilten Plan gründete, gab Florida Blanca, deffen Bericht man 
bei Core in feiner Gefchichte des ſpaniſchen Zweige des Haufes 
Bourbon nach englifchen Gefandtichaftspapieren findet, feine Zu— 
ſtimmung fehr- bereitwillig. 

Der englifche Gefandte Fannte zwar den wörtlichen Inhalt 
der Erklärung, welche Panin auffeten follte, nicht, wohl aber 
der Kaiferin Neigung für England und die Rüftungen in Kron— 
ftadt, Er traute auf die Verficherung dev Katferin, daß fie näch— 
ftens eine den Engländern fehr vortheilhafte Beitimmung über 
Neutralität zur See werde ausgehen laflen, Wie jehr ward er 
überrafcht, als das Aktenſtück darüber am 26, Februar 1780 er= 
ſchien und dem von den Engländern bisher geübten Gewaltrecht 
ganz und durchaus entgegengefeßt war!! Panins Antrag ging 
namlich dahin, die fammtlichen neutralen Mächte aufzufordern, 
in einen Bund mit Rußland zu treten, um, wenn es fein müßte, 
das in einem Manifefte von Rußland aufgeftellte und von den 
friegführenden Mächten anzuerkennende Seerecht mit den Waffen 
zu behaupten, Die wejentlichen Punkte des zufolge der ruſſiſchen Er— 
Harung zu behauptenden Rechts dev Neutralen find folgende fünf: 

1) Neutrale Schiffe dürfen an den Küften der Friegführenden 
Mächte von Hafen zu Hafen Handel treiben. 

2) Ein neutrales Schiff macht auch die Waare neutral, die 
es geladen Hat, außer, wenn diefe Waare eigentliche Con— 
trebande iſt. 

3) Gontrebande im engern Berftande find nur Waffen und 
Kriegsbedürfniffe, 

4) Nur alsdann kann ein Hafen für blokirt angeſehen werden, 
wenn er ſo eingeſchloſſen iſt, daß man ohne Gefahr nicht 
einlaufen kann. 

5) Kein Urtheil eines Priſengerichts wird als gültig erkannt, 
bei dem dieſe Grundſätze nicht berückſichtigt ſind. 


296 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 


Durch die Bekanntmachung diefer Artikel und durch die Auf- 
forderung, im Namen feiner Regierung beizuftimmen, ward Harris 
in große Derlegenheit geſetzt, denn das englifche Minifterium 
fchten nur die Wahl zu haben, entweder feine Art zu handeln 
dffentlich zu befennen, oder auch mit Rußland in Streit zu gera- 
then, weil ja Spanien und Frankreich die. von den Nuffen auf- 
geitellten Grundſätze ſogleich anerkannten und gelten ließen. Die 
Engländer wichen vorerſt nur aus, fie juchten Zeit zu gewinnen, 
und verjchoben ihre beftinmte Erklärung, weil Harris recht gut 
wußte, daß auch die Katferin keineswegs wünſche, mit England 
in ernften Streit zu gerathen, Von Rußland” wurden indeſſen 
alle neutralen Mächte pomphaft eingeladen, der von Panin vers 
fündigten Neutralität, welcher durch ein vereinigtes Geſchwader 
Nachdruck gegeben werden follte, beizutreten. Bon der. Handlung, 
Rhederei und dem ganzen Seewefen der übrigen Mächte Hatte 
England wenig zu beforgenz; Holland allein war durch Flotte und 
durch Kapitalien im Stande, die ganze englifche Handlung, bie 
e8 ehemals gehabt Hatte, wieder an fich zu bringen, wenn es auf 
die von Rußland verfündigte Weife in feinem neutralen Handel 
wäre gefchüst worden. Englische Kabalen und Englands Einfluß 
am Hofe de3 Erbitatthalters, auf deflen Gemahlin und auf den 
braunfchweigifchen Prinzen, der ihn leitete, bewirfte aber ein Zö— 
gern und Zaudern dev hollandiichen Regierung, welches den Bei— 
tritt Hollands zum Neutralitätsbunde jo lauge verzögerte, bie 
England einen Vorwand zum Bruche mit Holland gefunden hatte, 
wodurch die Republif dann son der Zahl der neutralen Mächte 
ausgeſchloſſen war. 

Die Verzögerung der Annahme des für Holland vortheil⸗ 
haften Bundes ward mit Recht der erbſtatthalteriſchen Partei in 
den Generalſtaaten zugeſchrieben, welche ſich ſcheute, die Englän— 
der zu beleidigen, weil ſie an dieſen eine Stütze gegen die in 
Amſterdam und an andern Orten immer mächtiger werdende 
altrepublikaniſche Partei (die Patrioten) hatte. Im April ward 
ſchon Holland zum Beitritt aufgefordert, die Regierungspartei 
verzögerte aber die Annahme bis im November. 

Daß der Vorwurf, den die Holländer in dieſem Falle, wie 
in andern, ihrer damaligen Regierung machten, daß ſie aus Ab— 


Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 297 


neigung gegen die in Amſterdam und auch in vielen Provinzen 
immer mächtiger werdende altrepublikaniſche Partei ſich zu ängſt— 
lich an England anſchließe, nicht ganz ungegründet war, geht 
aus den Debatten in den Generalſtaaten bis November deut— 
lich hervor. König Guſtav III. von Schweden trat ſchon im 
Juli der Neutralitätsverbindung beiz Dänemark zögerte, denn 
Bernftorf, der die Angelegenheiten dieſes Reichs leitete, wäre aus 
vielen Urfachen gern der Zumuthung ausgewichen, doch gab ev 
Ffüglich den Umftänden nad, Unmittelbar darauf fchloffen die 
drei nordifchen Mächte, außer der allgemeinen, unter fich noch) 
eine befondere Verbindung. Sie verfprachen ſich nämlich unter 
einander, ihre Flotten auszurüften, die in der oben angeführten 
Erklärung aufgeftellten Grundfäße jegt und in der Folge zu be= 
haupten, Feine Kaper, von welcher Nation ſie auch fein möchten, 
durch den Sund in die Oftfee zu laſſen und nicht zu dulden, 
daß auf diefer See Feindfeligkeiten ausgeübt würden. Die Ver— 
zögerung des. Beitritt dev Niederlande zum Neutralitätsbündniſſe 
hangt mit der Gefchichte der nachherigen holländiſchen Revolution 
fo enge zufammen, daß wir bei diefer Gelegenheit auf die Ver— 
hältniffe und die Gefchichte der Republik der fieben vereinigten 
Provinzen der Niederlande fett dem Aachner Frieden einen Blick 
werfen müſſen. 

Georgs II. Tochter Anna hatte nach dem Frieden von Aachen 
die Erbſtatthalterſchaft bis an ihren Tod um 1759 geführt, von 
diefer Zeit an blieb, Ludwig Ernſt von Braunfchweig, der ihr 


= ſchon feit dem Jahre 1748 zur Seite geftanden, als Vormund 


des nach feines Vaters Tode geborenen Wilhelms V. an der 
Spite des Kriegsweſens zu Waffer und zu Lande, Die Gefchäfte 
der Statthalterfchaft fielen an die Staaten der einzelnen Propin- 
zen. Dadurch erhielt die ariftofratifch= republifanifche, in den 
Niederlanden die patriotifche Partei genannt, ein ſehr bedeutendes 
neues Gewicht, befonders in der Provinz Holland, wo Amfterdam 
alle andere Städte an Einfluß in den Proyinzialftänden und auch 
in den Generalftanten übertraf. In Amfterdam gab «8 theils 
eine jogenannte alte Lömwenfteinifche, dem. Haufe Oranien entge= 
gengeſetzte Partei, theils fah man dort, wie in den andern Städ- 
ten mit Betrübniß Handel, Gewerbe, Schifffahrt, Seemacht von 


298 Bewaffuete Neutralität, Krieg mit Holland, 


Holland an England übergehen und ſchrieb der Regierung zu, 
was Folge der Umftände war, Man war befonders mit dem 
braunfchweigifchen Prinzen und mit feiner Vorliebe fir England 
unzufrieden. Man klagte mit vollem Rechte darüber, daß er den 
künftigen Grbftattbalter der Republik gerade fo fchlecht erziehen 
laſſe, als man deutfche zur Regierung beftimmte Prinzen zu erziehen 
pflegt, ja daß er ihm nicht einmal militäriſch und höfiſch dreflire, 
was man doch in Deutfchland noch allenfalls zu thun pflegt. 

Schon vor dem Tode der Wittwe Wilhelms IV. war zwi— 
chen den Staaten und dem Herzog Ludwig Ernſt mancherlei 
Zwiſt; feit 1759 hörte der Streit gar nicht auf. Die Engländer 
benutzten nämlich, jo lange Anna lebte, das Verhältniß diefer 
Prinzeffin zum Könige von England und die Vernachläfftgung 
des hofländifchen Kriegsweſens, befonders der Flotte, zu ihrem 
Bortheil. Anna's Vertrauen auf die Freundfchaft Englands und der 
ewige Streit der Negterung mit einzelnen Staaten machte e8 den 
Engländern leicht, Hollands Handel zu befchränfen und ihre eigne 
Herrichaft zur See überall geltend zu machen, Sie verleßten bie - 
ausdrücklichen Verträge, welche die neutrale Schifffahrt der Nieder- 
länder anerkannten, auf eine brutale Weiſe, ſobald der fiebenjah- 
rige Krieg in Amerika zwifchen ihnen und den Franzoſen begon- 
nen hatte. Sie erklärten jeden Handel mit dem franzöſiſchen 
Weftindien für unerlaubt, Schiffbauholz und andere Schiffmate- 
vialien für Gontrebande und nahmen in dem einzigen Jahre 1756 
ſechs und fünfzig holländiſche Schiffe, denen fie Schuld gaben, 
daß fie das von den nglandern ganz willfürlich aufgeftellte 
Recht verklebt Hätten, Im Jahre 1758 ſtellte die holländiſche 
Kaufmannfchaft den Generalftaaten vor, daß fie in der Furzen 
Zeit des Kriegs zwiſchen England und Frankreich ſchon über 
zwölf Milfionen Gulden verloren hätte, 

Der Schein war dabei offenbar gegen die hollandifche Re— 
gierung, welche den Klagen der Handelsleute nicht mit Nachdruck 
abzuhelfen juchte, obgleich die Engländer nicht bloß das Natur— 
vecht, fondern die pofitiven Beftimmungen des Ütrechter Friedens 
verleiten, nach denen auch ſogar feindliches Eigenthum durch bie 
neutrale Flagge gedeckt werden follte.e Der Herzog Ludwig Ernit 
hätte alferdings beſſere Rüftungen machen und energifcher handeln 


Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 299 


folfen. Dies ſchien um fo mehr die Pflicht eines Generalcapitäng 
und Generaladmirals, als es fehr oft zu fürmlichen Seegefechten 
fam, wenn die hollandifchen Kriegsſchiffe, welche die Kauffahrer 
geleiteten, mit den englifchen Kapern oder Kriegsichiffen zuſam— 
mentrafen, Man vechnete damals, daß bis zum Pariſer Frieden 
in jedem Jahre wenigſtens ein Dutzend holländiſche Schiffe in 
England nach dem einfeitigen englifchen Geſetze für gute Brifen 
erklärt wurden, 

Nach dent Ende des. fiebenjährigen Kriegs oder vielmehr 
ſchon feit dem Tode der Prinzeffin Anna (1759) ward der innere 
Zwiſt in den Niederlanden durch die Perfönlichfeit des Herzogs 
und durch feinen antirepublifanifchen Charakter fehr verbittert, Der 
Herzog war eingebildet und herrſchſüchtig, er vermehrte die natür— 
liche Unfähigkeit des Prinzen durch die Art der Erziehung, die 
er ihm geben ließ, und machte ihn endlich fogar durch einen vor 
jedermann geheim gehaltenen, alfo gefeg= und verfaffungswidrigen 
Vertrag von fich abhängig. Das Geheimnig erbitterte die Gemü— 
ther doppelt, weil diefe Urkunde, welche fich der Herzog von feis 
nem Mündel ausftellen ließ, fobald er volljährig geworden war, 
der Kenntniß feiner zahlreichen Feinde nicht gänzlich Fonnte ent- 
zogen werden, wenn gleich ihr wortlicher Inhalt erft ganz fpat 
ang Licht Fam. Der Prinz ward nämlich 1766 volljährig, er 
hatte in den Generalftanten jowohl, als in den Staaten der ein- 
zelnen Provinzen eine mächtige Partei gegen fich; die Magiftrate 
der einzelnen mächtigen Städte waren unter Ludwig Ernſts Ver— 
waltung faſt durchaus antioranifch geworden, er glaubte fich daher 
ohne den Herzog nicht helfen zu können und ward in dieſer Mei— 
nung von Preußen und England beſtärkt. Dies war die Veran— 
laffung zu dem auf des Herzogs Verlangen gewagten ganz ges 
jeßwidrigen Schritt, um ihn bei fich zurückzuhalten, fich ſelbſt und 
jeinen freien Staat einem fremden Prinzip zu unterwerfen. Gr 
ftellte nämlich eine Urfunde aus (Acte van Consulentschap), 
worin er fich verbindlich machte, in jeder Stantsangelegenheit dem 
Rathe feines vormaligen Vormunds zu folgen, Don diefer Acte 
wußte bloß der Rathspenſionär (Minifter der auswärtigen Ange- 
legenheiten), der englifche Gefandte und zwei Häupter der orani— 
ſchen Partei, die Andern ahneten nur, daß ein Contract vorhan— 


300 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 


den fein möge, nahmen aber die ganze Sache für eine Gonfpisation 
gegen die Ariftofraten oder Patrioten und arbeiteten unaufhörlich 
der ftatthalterifchen Regierung entgegen. 
Es erfolgte unter diefen Umftänden, was in freien Staaten 
ungermeidlich, wenn fish zwei fat gleich mächtige Parteien gegen- 
über ſtehen; auch die billigften und weifeften Vorfchläge des Her- 
3098 fanden Widerftand in den einzelnen Staaten, wo die Ariſto— 
fratie übermächtig war, während dev gemeine Haufe überall blind- 
lingd dem Prinzen anhing. Schon um 1767 wollte der Herzog 
dem gänzlichen Verfall der Seemacht vorbeugen und Fonnte nicht 
durchdringen; ev wollte um 1769, um 1770 und 1771 Lands 
und Seemacht wenigitend fo weit vermehren, als durchaus erfor= 
derlich war, um nur das Beftehende "zu erhalten und die Garni— 
jonen in den Barrierepläten Belgiens zu verſtärken; ex feheiterte 
aber jedesmal an dem Kräamergeift, an der Parteiung und an der 
Kleinlichfeit der Staaten. Um 1773, als man fah, dag ſowohl 
Spanten als Frankreich nicht bloß zur See große Rüftungen mach— 
ten, ſondern eine ganz neue furchtbare, der englifchen an Zahl 
der Linienfchiffe gleiche Marine fchufen, wollte die Provinz Hol- 
Yand endlich die Seemacht verftärkt wiffen. Weil aber jede Ver: 
ftärfung des unbedingt dem Statthalter gehorchenden Heers den 
Patrioten verdächtig war, weigerte fich die Provinz auch in dieſem 
entjcheidenden Augenblicke, dem Borfchlage der ftatthalterifchen Re— 
gierung Gehör zu geben, dem zu Folge Land= und. Seemadht 
zugleich zu einer folchen Stärfe an Zahl und Organifation ges 
bracht werden follten, daß die Republik bei den damals ſchon 
ausgebrochenen Feindfeligkeiten zwifchen England und Amerifa ihre 
Neutralität geltend machen könne. Man gab nichtödeftoweniger 
den Verfall der Land- und Seemacht ganz allein der ftatthalteri= 
fchen Regierung Schuld, obgleich die Generalftaaten im Jahre 1776 
den einzelnen Provinzen offen und rund heraus anzeigten, daß die 
vereinigten Staaten weder Land= noch Seemacht hätten, die fie 
einem Feinde entgegenfegen dürften. 
Die Engländer wußten, daß die Niederländer durchaus nicht 
im. Stande wären, weder eine Seemacht, noch eine Landmacht 
aufzuftellen, oder * nur unter ſich über eine energiſche Maßre— 
gel eintg zu werden, weil immer die oraniſche Partei den Patrios 


Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland, 301 


ten und diefe jener nicht trauten; fie erlaubten daher, nicht bloß 
ben Holzhandel zu ſtören, der nach dem Völkerrecht frei fein follte, 
fondern auch die ausdrüclichen Verträge mit Holland zu verlegen, 
Trob der den Holländern in dem durch den Utrechter Frieden be= 
ftätigten Freundfchaftsvertrage von 1674 zugeftandenen Vorzugs— 
rechte vor andern Nationen machten fie ihr Durchſuchungsrecht mit 
Gewalt und mit den Waffen mitten im Frieden geltend. 

Man fah übrigens deutlich, daß bei der fonderbaren Ver— 
faffung der Niederlande, mo Städte, wie Amfterdam und andere, 
wo fogar ganze Provinzen in vielen Punkten son den General- 
ftaaten ganz unabhängig waren, auch in Rückſicht der Amertfaner 
und Engländer ein verſchiedenes Syſtem befolgt ward. Die Re— 
gierung und ihr Anhang, der befonderd aus den Provinzen, two, 
wie in Seeland und Geldern, der Prinz große Güter Hatte, und 
aus der holländiſchen Nitterfchaft beftand, waren den Engländern 
günftig, die holländischen Städte dagegen, und bejonders Amiter- 
dam, waren zu einer Verbindung mit Sranfreich und zur Begün— 
ſtigung der Nordamerifaner geneigt, Der Prinz war fett 1767 
mit einer Nichte des Königs Friedrich II., der Schweſter feines 
Nachfolgers Friedrichs Wilhem IL, vermählt, die fich bald auch 
in die öffentlichen Angelegenheiten mifchte, weil der Prinz ſelbſt 
phlegmatifch, träge und unbeholfen war und, wie es ſchien, fich 
offenbar an England lehnte. Die Generalftanten empfanden bald 
den Einfluß dev Pringeffin, die Stadt: und Provinzialregierungen 
handelten dagegen um fo öfter im Widerfpruch mit der allgemet- 
nen Landesregierung. Auf diefe Weiſe konnten die Engländer 
mit einem Schein Nechtens Hagen, daß die Provinz Holland den 
berühmten Freibeuter Paul Jones im Texel zugelaffen habe, daß 
man die niederlandifche Infel St. Euftathius in Weftindien zum 
formlichen Stapelplate des Handels der Nordamerifaner mache, 
daß eine englifche Fregatte faft unter den Kanonen der Infel ges 
nommen jet und daß englifche Brifen dort verkauft würden, 60) 


— 





60) Man wird aus Franklins Briefen ſehen, daß, während Franklin in 
Paris war, feine offictelle Correſpondenz über St. Euſtathius und Holland 
ging, ſobald der Krieg zwiſchen Frankreich und England erklärt war. Das 
ganze Benehmen und das Verhältniß der Holländer zu andern Mächten gibt 
Franklin in einem Briefe som 13, Jun, 1780 in wenigen Worten fehr rich⸗ 


302 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland. 


Gefandter Englands mar ſchon damals derſelbe Joſeph Yorke, 
dev hernach die Prinzeſſin in allen ihren preußifchen Hofgrilfen 
beitärkte und ihr gebieterifches und ftolzes Benehmen durch feine 
Cabalen unterjtüßte, Diefer bewirkte dann freilich, daß der Erb— 
ftatthalter den Heren de Graf, welcher Gouverneur von St, Eu— 
ftathius war, zurückrufen ließ; de Graf führte aber feine Sache 
jo gut, daß er gerechtfertigt und auf die Infel zurückgeſchickt wurde, 
Bei dem innigen und freundichaftlichen Verhältniß zwiſchen 

den Niederlanden. und England während des öſterreichiſchen Erb— 
folgefriegs, als das Haus Hannover den Anhang des Prätenden- 
ten aus dem Haufe Stuart fürchtete, war mit den Niederländern 
ausgemacht worden, daß, im Fall Schottland oder England mit 
- einer Landung des Feindes bedroht würden, der Grbftatthalter 
feine fchottifchen Garden zur Vertheidigung des bedrohten Königs 
von Großbritannien leihen ſolle. Diefen Artifel wollten die Eng— 
länder geltend machen, als die Spanier und Franzofen an ihren 
Küften erfchtenen; die Staaten willigten aber nicht in ein Begeh— 
ven, welches der Prinz gern gewährt hätte, Ihre Redner bewieſen, 
daß in jenem Artifel nur von dem Fall die Nede geweſen, wenn 
die hannöverſche Dynaftie bedroht werde. Dies erbitterte die Eng- 
länder; noch mehr zürnten fie aber. darüber, daß ber dirigirende 
Minifter oder fogenannte Penſionarius der Provinz Holland und 
die beiden Bürgermeifter von Aınfterdam, welche Stadt in Be— 
ziehung auf Handel und auswärtige Berhältniffe mehr galt als 
Das ganze übrige Land, ganz erklärte Republifaner und Freunde 
der Franzofen waren. Die Amfterdamer unterhielten eine genaue 
Verbindung mit den Amerikanern, fo übel auch fonft der demo— 
fratifche Franklin mit der bürgerlich ariſtokratiſchen Partei der 
Holländer zufrieden ift, fie begünftigten auch die Anleihen, welche 


die Amerikaner unter franzöſiſcher Bürgſchaft machten. Die Eng 


länder neckten dagegen die Holländer auf mancherlei Weile. Sie 





tig an. Works Vol. VIII. p. 471. Holland, offended by fresh insults 
from England, is arming vigorously. That nation has madly brought 
itself into the greatest distress, and has not a friend in the world. 
Das ift dafjelbe was von den Menfhen unferer Seit gilt und was Jugur⸗ 
tha beim Scheiben yon Rom fagt: O civitatem venalem si onietem in⸗ 
venerit!! 


Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 46 


vernichteten ihren Holzhandel, weil das Holz zum Ban von Kriege: 
ſchiffen gebraucht werden könnte, fie hinderten mit Gewalt ihren 
Verkehr mit den franzöſiſchen weſtindiſchen Colonien. Die Hol- 
länder, um den Franzofen gefällig zu fein, unterfagten dagegen 
ihren Landsleuten die Fahrt nach Gibraltar, damit die Engländer 
nicht durch holländiſche Zufuhr verforgt würden. 

Während es das Anfehn hatte, als wenn England mit der 
Provinz Holland und der Stadt Amfterdam in ftiller Fehde, mit 
ber Regierung des Erbftatthalters und mit den Generalitaaten 
aber im-beften Einverſtändniſſe jet, ereignete fich ein Vorfall, der 
das gute Verhältniß zwifchen dem Grbftatthalter und den Dritten 
nothwendig ftören mußte, wenn auch gleich die Holländer wegen des 
fchlechten Zuftands ihrer Flotte und ihres Heers nicht daran denfen 
fonnten, einen Krieg anzufangen. Gerade um die Zeit nämlich, 
als in Rußland der Plan einer Neutralität, welche durch die ver— 
einigte Seemacht aller nicht in Krieg begriffenen Mächte geſchützt 
werden follte, zur Neife Fam, geleitete der hollandifche Contread— 
miral (Schout by Nacht) Bylandt mit drei Kriegsichiffen und 
einigen Fregatten eine holländiſche, ins mittelländifche Meer be= 
ftimmte Handelöflotte. Zu diefer Flotte gefellten fi, ohne daß 
ihnen jedoch Bylandt feinen Schuß zufagte, einige mit Bauholz 
beladene Schiffe, welches von den Engländern als Krieggmatertal 
betrachtet wurde, weßhalb fie diefe Schiffe auffuchten. Der. eng: 
liſche Capitain Fielding hatte Befehl, mit einem Kleinen Geſchwa— 
der die unter Bylandts Geleit fegelnde Handlungsfloite, die er im 
Januar 1780 einholte, zu durchfuchen und die mit Schiffsbedürf- 
niffen und mit Schiffsbauholz beladenen Schiffe wegzunehmen, 
Bylandt weigerte fich mit Recht, das Durchfuchen zu erlauben, 
er gab erſt nach, als die Engländer, die ihm weit überlegen wa— 
ven’, wirklich fenerten, dann fenfte ex feine Flagge, ald wenn er 
im Kriege wäre genommen worden. Er folgte dem englifchen 
Geſchwader mit feinem ganzen Convoy, ald wenn dev Krieg von 
ihnen erklärt und begonnen worden, in den Hafen, den er nicht 
eher verlafien wollte, bis jeine Obern ihm, als einem Kriegsge— 
fangenen, ihren Willen Fund gethan hätten, 

VUeber diefen Borfall entftand ein heftiger diplomatiſcher Streit, 
ein Wechſel yon Schriften und Gegenichriften soll bitteren Bes 


304 Bewaffnete Neutralität, Krieg mit Holland, 


Ichwerden und Vorwürfe beider Theile, bis die Engländer, die 
ſchon Tängft gern des Traftats von 1674 und der ihrem Seerecht 
entgegenftehenden Artifel des Utrechter Friedens entledigt geweſen 
wären, troßig erklärten: daß wenn nicht die Holländer innerhalb ei= 
ner Frift von drei Wochen Alles das erfüllt hätten, was fie von 
ihnen forderten, fie fich nicht ferner durch die befondern Verträge 
gebunden halten würden. Als hernach über diefe Forderungen in 
den Generalftanten bevathen ward, waren alle Provinzen, außer 
Seeland, gegen die Bewilligung und man erwartete ſchon damals 
eine Kriegserklärung; doch fanden die Engländer vorerft noch nicht 
rathſam, Feindfeligfeiten anzufangen, Das englifche Miniftertum 
wollte Zeit gewinnen. Die Regierung wollte die Nation nicht 
gleich in einen dritten Krieg verwickeln, wahrfcheinlich fuchten 
auch die englifchen Minifter durch ihre Zögerung zu bewirken, daß 
nicht die Fleinlich fparfamen und Angftlichen Staaten den Bor: 
Ichlag ihres Statthalters wegen Nüftungen unmittelbar annäh— 
men, Dielleicht wollten fie auch die ftatthalterifche Partei ab— 
halten, den angebotenen Neutralttätsbund mit Rußland ſchnell ein— 
- zugehen; fie ließen daher Fortdauer des Friedens hoffen, während 
fie in der That feindfelig handelten. Die englifche Regierung 
löſte nämlich Anfangs blos durch eine Erklärung an die Gene- 
‚ralftanten den Bund mit den Niederländern, vermöge deſſen fie 
jeit 1674 auf befondere Vortheile Anfprüche hatten, förmlich auf, 
und erließ erſt dann eine dieſer — angepaßte Proklama⸗ 
tion an die Britten. 

Sn der Erklärung an die Generalſtaaten heißt es: „Die 
‚vereinigten fieben niederländifchen Provinzen hätten den fett einem 
Sahrhundert zwifchen den beiden Nationen bejtandenen engen und 
beiondern Freundichaftsbund dadurch gebrochen, daß fie die gegen 
den feindlichen Einfall erbetene Hilfe nicht geleiftet hätten; Eng— 
land werde alfo Fünftig die Niederländer als eine Nation anfehen, 
die durch Fein befonderes Band an England geknüpft, fondern 
neutral jet, wie die andern nicht im Kriege begriffenen Nationen 
auch." Dies iſt ungefähr dev ſehr ing Kurze gezogene Inhalt 
der langen und ausführlichen diplomatifchen Erflärung, welche am 
17, April 1780 der Proklamation vorausgeſchickt ward, In dies 
fer heißt 68 dann: „Die Bewohner der fieben vereinigten Propinz 


Bewaffnete Neutralität. Krieg init Holland. 305 


zen follten fortan nur angefehen und behandelt werden, wie jede 
andere fremde Nation, welcher England durch keinen bejondern 
Traktat irgend ein Vorrecht vor andern eingeräumt hätte, Es 
werde daher hiedurch im Namen des Königs verfündigt und auf 
feinen Befehl ausgerufen, daß bis auf weitern Befehl alle Be— 
günftigung der Niederländer angehenden Beitimmungen der Ver— 
träge, welche jemals mit den Generalftaaten abgefchloffen worden, 
aufgehoben bleiben follten, Inſonderheit gelte dies, von allen den 
BDegünftigungen, welche den Holländern in den Schifffahrtsver— 
trägen som 11. Dezember 1674 zugeftanden worden 

Die Niederländer betrachteten mit Recht diefe einfeitige Auf— 
hebung eines feit Hundert Sahren beftehenden Seerechts als eine 
Brutalität, die weniger aus politischer Feindfchaft, als aus Han— 
delgeiferfucht hervorgegangen und darauf berechnet zu fein ſchien, 
der niederländtfchen Handel gänzlich niederzudrüden und die ver— 
einigten : Provinzen der Bortheile ihrer Neutralität zu beranben. 
Jetzt erſt beſchloſſen fie endlich. fi zu rüſten. Auch bei dieſer 
Gelegenheit zeigte ſich aber wieder, daß jeder große Gedanke den 
Krämerſeelen fehle, daß ihre Großen ſeit dem weſtphäliſchen Frie— 
den entartet ſeien und daß ihre Reichen allen republikaniſchen 
Sinn verloren hätten. Sie wollten nicht einmal Geld hergeben, 
als ihre Regierung, die ſie doch ſo heftig anklagten, nichts als 
Billiges und Nothwendiges forderte, da ja ohne Geld keine Rü— 
ſtungen konnten gemacht werden. Die Regierung forderte nämlich 
die Staaten auf, ihr die Mittel zu geben, um das Landheer auf 
fünfzig bis ſechzigtauſend Mann zu bringen und die Flotte durch 
fünfzig bis ſechszig neu zu erbauende Kriegsſchiffe zu verſtärken3 
darüber begann eine lange Berathung und viel Gezänk. Nach 
langem Streiten und Zanken, nach vielem Mäkeln und Feilſchen 
ward die Forderung des Landheers ganz abgelehnt und nur die 
Erbauung son 32 Schiffen bewilligt, Die Partei der Patrio— 
ten war aljo im Bertrauen auf die Franzoſen eben jo langſam 
und träge, als die des Haufes Oranien im Vertrauen auf Eng— 
land. Die Regierung, das heißt der Herzog Ludwig Ernft und 
die Prinzeſſin Sriederife Wilhelmine, machten nämlich zu derſel— 
ben ‘Zeit das große Verfehen, daß fie ſtatt die von Rußland an— 


getragene Verbindung fogleich anzunehmen, aus Rüsfficht auf Eng- 
Schlofſer, Geſch. d. 18, 19, Jahrh. IV. Thl. 4 Aufl, 20 


806 Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland 


land neun Monate lang zögerten. Da unter den neutralen Mäch— 
ten nur Holland allein die Meere mit ſeinen Schiffen hätte be— 
decken können, ſo wäre durch den ſchleunigen Beitritt des einzigen 
Hollands England mehr in Verlegenheit gekommen, als en die 
ganze übrige bewaffnete Neutralität, 

Uebrigens war au dem serzugerten Beitritt ber. Niederlander 
zu der von Rußland proclamirten Verbindung nicht die Regierung 
allein Schuld, ſondern die Formen der verwickelten Föderativver— 
faſſung, die zuſammengeſetzte Verwaltung und Regierung, die na— 
türliche Langſamkeit und Bedachtſamkeit der Holländer im Bera-⸗ 
Ehen und Beſchließen Hatten Antheil daran. Erſt am 20. No— 
vember 1780 beſchloſſen die Niederländer dev bewaffneten Neu— 
tralität beizutretenz; die Engländer hatten daher Zeit genug, ber 
Kaiferin von Rußland einen fcheinbaren Vorwand zu geben, bie 
Annahme der holländifchen Unterfchrift ihres Tractats zu verwei— 
gern, wodurch diefer den Engländern ziemlich unfchädlich gemacht 
ward. Der Vorwand der Kaiferin, die Holländer abzuweifen, war, 
daß fie zwar in dem Augenblick, als fie fich im November für 
den Beitritt zur bewaffneten Neutralität erflärt hätten, noch eine 
neutvale Macht geweien ſeien, aber nicht mehr, als dieſe ihre 
Erklärung am 24, Dezember 1780 in Betersburg angekommen, 
Daß dies eine ſophiſtiſch-diplomatiſche Ausflucht war, verſteht fich 
son ſelbſt. Die Engländer nämlich hatten ſchon am 20, Dezem- 
ber der Republik den Krieg erklärt und Harris hatte im Novem- 
ber der Kaiferin einen Wink gegeben, daß diefes gefchehen werde, 
Die Engländer benutzten im entjcheidenden Augenblick die Un— 
terhandlungen ber Handelsverbindung, welche die Provinz Hol- 
Yand und befonders die Stadt Amfterdam einfeitig mit dem ame- 
rikaniſchen Kongreß begonnen hatte, um ihrem diplomatifchen Kunft- 
wiff ein Anſehen des. Rechts zu geben. 

Nach der fonderbaren Verfaſſung der aus verbündeten, von 
der allgemeinen: Regierung in den mehrſten Dingen ganz unab— 
hängigen Provinzen beftehenden Republik Fonnte eine Provinz 
oder eine Stadt befondere Verträge mit fremden Staaten verab- 
zeden, ohne der allgemeinen. Regierung darüber Mittheilungen zu 
machen; dies hatte: die Stadt Amfterdam ſchon feit 1778 gethan. 
Die Verbindung. mit der neuen demofratifchen Republik ward 


Bewaffnete Neutralität. Krieg mit Holland. 307 


durch das Amſterdamer Handlungshans Neufpville angeknüpft, weis 
ches, wie wir aus Franklins Briefen fehen, auch dieſem Geſand— 
ten der Republik: allerlei andere Anträge gemacht Hatte, denen er 
fchon darum nicht traute , weil er fih ganz unbedingt am Frank- 
veich Halten wollte, Die Bürgermeifter und. befonders der Pen— 
fionariug der Stadt Amfterdam waren für eine innige Verbindung 
mit Frankreich, ihre Bewegungen und Gorrefpondenzen wurden das 
her von England ganz genau beobachtet und es Eonnte den Enge 
Yandern nicht entgehen, daß die holländifchen Kaufleute den eng- 
liſchen die Vortheile des Handels mit Nordamerifa zu entziehen 
fuchten, Die Unterhandlungen wurden fchon im Sabre 1777 be— 
gonnen und die Sache fo Tebhaft betrieben, daß ſchon 1778, ſo— 
bald die Frangofen einen Bund mit der neuen Republik gemacht 
hatten, auch der Benfionarins wegen eines Handelövertrags mit 
dem Kongreß einig ward. Da die ganze Nepublif der Nieder: 
ande damals noch mit den Engländern in gutem Verhältniß war, 
jo wurde freilich dem verabredeten Tractat die Klaufel beigefügt, 
daß er nicht eher vollzogen werden und gültig fein Tolle, als bis 
die Unabhängigkeit der Nordamerifaner son Seiten Englands an— 
erkannt ſeiz aber eine fo offenbare Lift konnte Niemand täuſchen 

Die Krämerpolitik der Stadt Amfterdam machte die Hollan- 
der überhaupt verächtlich und das Wappen ber Republif der vers 
einigten Niederlande ‚Lächerlich, denn diefes bedeutete ja, daß nur 
Einigkeit und Uneigennützigkeit eine aus verbündeten Provinzen 
beftehende Republik fortdauernd erhalten kann. Die Unterhand- 
lung mit Franklins Kollegen Lee war. aber nicht allein mit der 
Berfaffung der Republik nicht wohl zu vereinigen, fondern Am— 
fterdam, vom ſchmutzigen Krämerfinn befeelt, wollte fich auch Vor— 
theile für feine Schifffahrt gewähren Iaffen, welche andern Hol— 
Ländern nicht zu Theil werden follten. Wir ſehen daher aus 
Franklins Gorrejpondenz, daß ſich die andern Städte ganz eilig 
bet ihm meldeten, ob fie nicht auch dergleichen befondere Tractate 
mit Amerika jchließen konnten, Als Mlles in Ordnung gebracht 
war, übertrug der Kongreß den formlichen Abſchluß des Tractats 
mit der Stadt Amfterdam einem feiner ehemaligen Präfldenten 
(Lauren) ; feine Abreife verzögerte fich aber im Jahre 1779 und 
fiel im. Jahre 1780. In eine Zeit, im welcher die bet ihm gefuns 

208 


308 Bewaffnele Neutralität, Krieg init Holland, 


denen. Papiere den Gngländern den Vorwand zum Kriege mit den 
Niederländern geben Eonnten, den fie Angftlich ſuchten. 

‚gm September des Jahrs 1750 nahmen nämlich die Eng- 
ander an der Küfte von Newfoundland das Schiff, auf welchen 
fich Laurens befand, und es gelang ihnen, feine Papiere, die er 
zerriffen und über Bord geworfen hatte, wieder aufzufifchen, fo 
daß er und ‚feine Depefchen am 8, Oftober nad) England ges 
bracht wurden, 

Mit Laurens verfuhr man in England ſehr Hart, denn feine 
Haft im Tower war eher die eines Verbrechers als eines Kriegs- 
gefangenenz den Holländern begegnete man aber fehon unfreund- 
ich, ehe man noch die Papiere über die Unterhandlungen der 
Stadt Amfterdam in Händen hatte. Der englifche Gefandte im 
Haag, derſelbe Joſeph Yorke, der beim Herzoge-und bei der Brin- 
zeifin fo viel galt, Hatte in der Angelegenheit des Statthalters 
yon St. Euftathius ein in fo unpaffenden und groben Ausdrücen 
abgefaßtes Memorial eingereicht, daß die Generalftanten es ihm 
unbeantwortet zurückjchiekten und auf feine Abberufung beim eng= 
liſchen Mintfterium antıngen. Gr ward nicht abberufen, mußte 
vielmehr im Haag den Staaten trotzend zurückbleiben und yon 
ihnen ganz peremtorifch wegen des von Amfterdam mit Amerika 
geſchloſſenen Vertrags Genugthuung fordern, obgleich man vorher 
wußte, daß diefe nicht geleiftet werden Tonne. Das engliiche Mi- 
niſterium theilte nämlich der erbftatthalterifchen Regierung und 
den Generalftaaten. die Papiere mit, die bei Laurens gefunden 
waren. Diefe forderten Nechenfchaft son der Provinz Holland 
und von der Stadt Amſterdam und gaben beiden, als fie fich da— 
rauf beriefen, daß ihr Schritt durch bie Verfaffung gerechtfertigt 
werde , nffentlich ihre Mißbilligung zu erfennen, Da die Eng- 
Kinder abfichtlich Streit ſuchten und wahrfcheinlich ſchon Damals 
mit der ruſſiſchen Kaiſerin perfünlich, wenn auch nicht mit Banin, 
wegen der Holländer einig waren, fo befriedigten fie fih damit 
nicht, jondern ihr übermüthiger Gefandter verlangte in einer in— 
jolenten, drohenden Note, der Penfionarius von Holland und die 
Dürgermeifter son Amſterdam follten  fürmlich beftraft werden. 
Das konnte ſchon der Verfaſſung der Republik wegen nicht ge= 
ſchehen und die Engländer, an Formen aberglänbig gebunden; 


Krieg mit Holland und zur Ser um 1751, 309 


wußten dies am beftenz fie erklärten nichtsdeftoweniger am 20, 
Dezember den vereinigten Niederlanden den Krieg 

Da gegen die Holländer, als fie fich am 24, Dez, zum Betz 
tritt meldeten, fchon am 20. eine Kriegserffärung von den Eng- 
ländern war erlaffen worden, dieſe aljo nicht mehr neutral’ waren, 
ſo Eonnte man fich hernach entfchuldigen, wenn man fich ihrer 
nicht annahm. Es verlor alfo der unter dem pomphaften Schuß 
der ruffifchen Kaiferin verfündigte Neutralitätsbund den größten 
Theil feiner Bedeutung. Die Kaiſerin genoß indefjen darum nicht 
weniger fortdauernd des Ruhms am der Spike eines Bundes zu 
ftehen, der die Schwachen gegen die Starfen ſchützen follte, Daß 
ed nur allein auf den Ruhm der Verbindung unter ihrem Panier 
yon der Katferin abgefehen fei, erfuhr König Guſtav IIL, als er 
darauf antrug, daß man von den Engländern ftatt des Stil 
ſchweigens, eine formliche Anerkennung der aufgeftellten Grund: 
faße fordern follte, Das wollte Katharina nicht, fie fuchte den 
Engländern gefällig zu fein, ob fie gleich des Glanzes „wegen 
fortfuhr, auch ſogar die Mächte, die weder Kriegsichiffe noch be— 
deutende Seehandlung oder Rhederei hatten, zum Beitritt zur bes 
waffneten Neutralität einzuladen. Preußen war ſchon am 8. Mat 
1781 beigetreten, der Kaiſer trat am 9, Oftober beiz ſpäter * 
Neapel und Portugal. 

Die Holländer ernteten im Jahre 1781 Sie Früchte ihres 
Zwieſpaltes, ihrer engherzigen Politik, ihrer ängſtlichen Doppel— 
ſinnigkeit und ihres Geizes, der fie abhielt, ihrer Geſammtregie— 
rung zu rechter Zeit die Mittel zu geben, beim Ausbruche eines 
Kriegs mit Nachdruck handeln zu können. Die Franzoſen dage— 
gen nennen mit Recht dieſes Jahr die glänzendſte Periode ihrer 
Geſchichte, weil ſie ohne Rückſicht auf eignen Vortheil Geld und 
Blut für fremde Freiheit opferten. Das Edle und Uneigennützige 
der franzöſiſchen Handlungsweiſe gegen die Amerikaner und Nie— 
derländer verdient als Ausnahme und ſelbſt als Irrthum um ſo 
mehr geprieſen zu werden, je mehr die Politik Großmuth im Ver— 
kehr der Staaten mißbilligt, je weniger ſie Nutzen bringt, wie ſich 
aus dem Beiſpiel Englands, welches ſeinen beſondern Vortheil nie 
aus dem Auge läßt, deutlich ergibt. Die Engländer nämlich ver— 
fuhren damals gleich. Seeräubern mit ihren älteften Freunden und 


810 Krieg mit Holland und zur See tim 1781, 


Bundesgenoſſen, den Niederländern; die Branzofen dagegen, von 
dem Enthuſiasmus ihrer Schriftftelfer, ihres guten Königs, eines 
Lafayette und ſeiner begeifterten Ritterſchaft fortgeriſſen, ſtürzten 
ſich um der Amerikaner willen, ohne ſich irgend etwas dafür zu 
bedingen, in große Schulden. Sie halfen, ohne noch durch einen 
Bund mit den Niederländern verknüpft zu ſein, dieſen wieder zu 
ihrem Gut und gaben ihnen zurück, was die Engländer geraubt 
hatten. | ? r ad 

Mas die Engländer angeht, fo blieben fie auch heim Auge 
bruche des Kriegs mit Holland einer Sitte getreu, die man ihmen 
im achtzehnten Jahrhundert bei jedem Kriege als eine fchändliche 
und eine civilifirte Nation entehrende Hinterlift vorgeworfen hatte: 
Sie gaben nämlich Tange vor der. Kriegserflärung Befehle und 
Erlaubniß, das Eigentum ihrer Gegner wegzunehmen, Damit die 
Capitäns der Kriegsichiffe und Eigenthümer der Fretbenter gleich 
im Augenblidfe des Ausbruchs des Kriegs einen bedeutenden Fang 
thäten. Ehe daher noch die englifche Kriegserklärung im Hang 
ankam, waren ſchon auf allen Meeren die Nichts ahnenden Hand- 
lungsſchiffe der Holländer aufgebracht, jo daß vom zwanzigſten 
Dezember, an welchem Tage die Kriegserflärung erlaffen ward; 
bis Ende Januar 1781 ſchon zweihundert holländiſche Schiffe ge— 
nommen waren, deren Werth man auf fünfzehn Millionen Gul- 
den anſchlug. In Weftindien benahm fich der englifche Seeheld 
Rodney gegen die Holländer auf eine Ähnliche Weife, wie fich der 
Statthafter Warren Haftings in Oftindien am Ganges betragen 
Hatte, und wie fich jener Elive betrug, dem Englands Ariftokratie 
jet bei jeder Gelegenheit im Parlament ewige Dankbarkeit und 
Heldenlob schuldig zu fein befennt. Er war es allerdings, der 
fie zuerft zu Herren des Landes machte, aus welchem fie das Optum 
ziehen, welches fie in China jo theuer verfaufen, daß der reine 
Ertrag der indifchen Befigungen vorzugsweife aus dem Handel 
mit Opium gezogen wird. 

Das englische, Mintfterium hatte längſt den Plan gefaßt, 
durch den Meberfall der Infel St. Euſtathius den Stapelplak des 
Handels der Amerifaner und die Niederlage der Waaren der Hol- 
länder zu vernichten; es ward daher gleich am Tage der Kriegs- 
erklärung eine ſchnell fegelnde Fregatte an Rodney abgefertigt, 


Krieg mit Holland und zur See um 1781. 811 


welche ihm den Befehl überbrachte, den lange entworfenen Plan 
gegen die Inſel fogleich auszuführen. Rodney erhielt die Bot: 
fchaft in der Nähe von Barbados, er ſchien Anfangs die Franz 
zofen in Martinique auffuchen zu wollen, wandte fich aber am 
3. Februar 1781 plötzlich nach St. Euſtathius, wo man einen 
nahen Ausbruch eines Kriegs auch nicht einmal ahnete, wo alſo 
auch son der holländiſchen Regierung durchaus Feine: Anſtalten 
zur Bertheidigung getroffen waren, Man verſuchte auch nicht einz 
mal Widerftand zu thun, fondern die Infel, die einem ungeheuer 
Magazin glich, ward fogleich übergeben,  Zweihundert und fünf- 
zig Schiffe und eine Fregatte Tagen im Hafen und wurden dort 
genommen, fechztg andere fuchten- fich unter: der. Bedeckung eines 
Kriegsſchiffs durch die Flucht zu retten, Rodney fegelte ihnen nach 
und nahm die Handelsfchtffe und das: Kriegsſchiff, welches: ſie 
ga 

Da die Infel nicht mit Sturm genommen, ſondern mit 
pitulation übergeben war, ſo hätte das Privateigenthum unverletzt 
bleiben ſollen; Rodney aber und fein Genoſſe Vaughan, der Be— 
fehlshaber der Landtruppen, verfuhren nicht als Anführer der 
Heere eines europäiſchen Volks, ſondern als Räuber. Wir wol— 
len zur Ehre der engliſchen Nation bemerken, daß ſich bedeutende 
Stimmen gegen Clive und Warren Haſtings erhoben hatten, und 
daß auf dieſelbe Weiſe, bei aller lauten Bewunderung für Rod— 
neys Verdienſte als Admiral, ein Geſchrei des Unwillens erfolgte 
und daß in England fein räuberiſches Betragen allgemeinen Ab— 
ſcheu erregte. Er übte nämlich in Verbindung mit feinem Col— 
legen Vaughan diefelbe Art von Grpreffung, um ſich und die 
Seinigen gu bereichern, welche Bonaparte, feine Marfchäne und 
Generale in unferm Jahrhundert ausübten, was freilich die, welche” 
es nicht ſelbſt erlebt Haben, jeßt weder wiſſen noch glauben wollen, 
weil e8 ihre Heldenpvefie zerftürt, Es ward auf Set, Euſtathius 
die unerhörtefte Härte und grauſamſte Erpreſſung gegen das Ei— 
genthum wie gegen die Perſonen reicher Privatleute ausgeübt, 
Geh, Waaren, Schiffe, jede Art der Habe ward ohne Weiteres 
den Einwohnern weggenommen und fehr Viele mußten, ihres. Ei- 
genthums beraubt, die Inſel gänzlich räumen. Engländer, Fran— 
zojen, Dänen ſpelulirten auf den Raub und eilten zu kaufen ; ſie 


312 Krieg mit Holland und zur Ser um 1781, 


erfchtenen auf der Infel wie Raubvögel an dem Orte, wo ein 
Thier gefallen ift, weil Rodney und fein College, um nur fchnell 
baar Geld zu erhalten, das auf dreißig bis vierzig Millionen an: 
gefchlagene, yon ihnen eingezogene Staatd= und PBrivateigenthum 
um den vierten Theil des Werths verjchleubderten 

Det diefem Raubſyſtem Titten die englifchen Kaufleute ſelbſt 
am meiſten, da dieſe mehr als andere den neutralen Markt be— 
nutzt hatten. Dieſe brittiſchen Kaufleute in Weſtindien, die ihr 
Eigenthum den Holländern auf St. Euſtathius anvertraut hatten, 
und die grauſam verjagten Einwohner, die ſich auf den engliſchen 
Inſeln verbreiteten, weckten Ankläger und ſogar mächtige Redner 
im Parlament gegen die beiden Räuber. Burke erhob ſich in 
ſeinen Reden faſt eben ſo heftig gegen Rodney und Vaughan, 
als ſpäter gegen Warren Haſtings; der engliſche Admiral und 
General machten es aber wie Bonaparte und ſeine Marſchälle. 
Sie ſteckten das Geld ein, prangten damit und lachten der phi— 
lanthropiſchen Reden und Klagen. Wir wollen unter dem Text 
die Antwort beifügen, welche Rodney ſeinem Landsmanne, dem 
britiſchen Generalfiscal auf Set. Chriſtoph gab, als dieſer ihm 
im Namen ‚der von ihm beraubten Gngländer ein Memorial 
überreichte; man wird daraus fehen, daß Rodney auf St. Euftas 
thius und die Marfchälle Soult und Augerenu in Spanien völ— 
fig diefelbe Sprache führten, daß alfo Milttär= und Polizeideſpo— 
tie ſich überall gleich tft und fich gleicher Mittel bedient, 61) 

Die holländiſchen Beſitzungen auf der Küfte des feſten Lan— 
des, Surinam, Demerary, Baramaribo und Eſſequebo, welche 





61) Der brittifche Generalfiscal (solicitor general) von St. Chriftoph, 
Slanville, fagt in feiner an Rodney und Vaughan gerichteten Vorftellung 
gegen ihr ganz wiberrechtliches Betragen unter andern: That if by the fate 
of war the British Westindia islands should fall into the hands of an 
enraged enemy, the conduct of St. Eustatia would be a pretext for 
them to retaliate; that the conquerors of all eivilized countries had 
‚avoided the invasion of private property; that the generosity of the 
‚enemy had been very conspicous; and even in the case of Grenada, 
. which had been taken by storm, the rights of individuals had been 
held sacred; that Eustatia was a free port, and the rich and various 
‘commodities found there were far from being the sole property of the 
Dutch; that a great proportion of it belonged to British subjects; and 


Krieg mit Holland und zur See um 1781, 313 


ſich ohne Aufforderung ergaben, verdanften es ber allgemeinen 
Stimme, die fich gegen Nodneys Benehmen auf St, Euftathiug 
erhoben hatte, daß fie mit großer Schonung behandelt wurden, 
Seit diefem Augenblick verſchwanden übrigens die ſieben verei— 
nigten Provinzen völlig aus der Neihe dev Stanten, welche irgend 
ein Gewicht in Europa hatten, fie wurden son fremder Gunft 
abhängig, weil fie auch in Oftindien bedrängt wurden, nachdem 
fie alle weftindifchen Befitungen ohne Gegenwehr aufgegeben 
hatten. Im Oftindien wurde ihnen eine Niederlaffung, eine Fe— 
ftung, eine Infel nach der andern entriffen, ihre Schiffe durften 
fich nirgends mehr zeigen, ihre Kriegsflotte war unbrauchbar und 
felbft der Handel nach der Oſtſee Fonnte nicht mehr geführt wer- 
den, weil die Engländer die niederländifchen Häfen bewachten. 
In eben dem Maße, als die holländische Seemacht herab: 
ſank und ihr Gewicht verlor, weil der Grbftatthalter und der 
Bormund, den er fich felbft gefebt Hatte, beftändig nur die Land- 
macht, die, Staaten nur die Seemacht vermehren wollten, jo daß 
wegen ihres Streits Beides unterblieb, ſchien fich die franzöſiſche 
Flotte in allen Meeren mit der englifchen meſſen zu können. 
Obgleich namlich Rodney nebft drei andern englifchen Admiralen 
fich mit einer Flotte in den weitindifchen Gemäflern befand, wag— 
ten dennoch die Franzoſen einen Verſuch, nicht blos den Englän— 
dern wieder zu entreißen, was fie den Holländern abgenommen 
Hatten, jondern auch englifche Infeln zu erobern. De Graffe Tief 
am 22, März 1781 mit einer der ftärfiten Flotten, welche 
Frankreich je ausgefendet hat (25 Lintenfchiffe und der Sagittatre 





that previous to the declaration of war, the trade to Eustatia was 
strictly legal and the oflicers of his Majesty’s customs cleared out ves- 
‚sels from all the ports of Great Britain and Ireland for this island. 
And not merely the legality, but the propriety of this trade was con- 
firmed by the conduct of his Majesty’s naval officers in those seas; for 
if the king’s ennemies were supplied by the trade of his subjects to 
Eustatia, they were also supplied through the same channel by the sale 
of the prizes captured by his Majesty’s ships of war. Darauf gab Rodney 
‚ben eines Barbaroffa oder Mehemed Alt würdigen Beſcheid: That he had 
not as yet leisure to peruse the memorial, but that the island of Eustatia 
was Dutch, every thing in it was Dutch, every thing was under the 
_ protection of the Dutch flag, and as Dutch it should be treated. 


814 Krieg mit Holland und’ zur See um 1781, 


son 64 Kanonen), von Breft aus, begleitet yon einer Flotte von 
zwei bis dreihundert Transportichtffen, melche mit allen möglichen 
Kriegsbedürfniffen, auch mit ſchwerer Artillerie befrachtet waren, 
und fechstanfend Mann Landtruppen an Bord hatten, Rodney 
fchiefte gegen de Graſſe den Admiral Hood mit dem Befehl, die 
Flotte anzugreifen, diefe wich aber jedem Treffen aus, um erſt 
die Truppen auf Martinique ans Land zu fesen, Am 28; April 
vermied fie glücklich das von den Engländern gefuchte Treffen, 
am 29. Fam es zwar zur Schlacht, aber die Franzofen Titten 
nur unbedeutenden Schaden, und die Engländer fanden hernach 
nicht rathſam, ein neues Treffen zu beginnen. 

Die Truppen, welche de Graffe aus Frankreich gebracht 
hatte, wurden hernach auf Martinique ausgefchtfftz man behaup— 
tete aber, was wir unentſchieden laſſen, da wir alle Krieggunter- 
nehmungen nur ſummariſch erzählen und flets fremdem Urtheile 
folgen, de Graſſe ſei nicht fähig gemefen, große Flotten und Un— 
ternehmungen zur See tüchttg zu leiten. Dagegen erwarb fich 
der Statthalter von Martinique, der Marquis von Bouillé, bei 
den Landungen großen Ruhm. Er verfuchte zuerſt im Mat eine 
Landung auf St. Luca, entfagte aber diefem Unternehmen und 
eroberte dagegen Tabago am 2. Juni in demfelben Augenblick, 
als die englifche Flotte. bei der Inſel erfehten, Gleich darauf 
fegelte de Grafje an die Küfte von Nordamerifa, wo er, wie im 
sorigen Bande erzählt ift, im günftigften Augenblick anlangte, 
und ‚feinen Landsleufen und den Nordamerifanern gegen Corn— 
wallis wefentliche Dienfte leiſtete. Dies gefchah im Monat Of 
tober, im November unternahm der Marquis Bouille einen Zug 
gegen St. Euftathtus, der ihm und feiner Nation durch den Con— 
traft feines Betragens mit dem der englifchen Befehlshaber, als 
dieſe diefelbe Infel-eroberten, mehr Ehre machte, als der glän- 
zendfte Sieg im Felde, weil er und die Seinigen bei der Gele- 
genheit ihre Tapferkeit gleich Nittern, Rodney und Vaughan aber 
gleich Räubern bewiefen. 

Rodney hatte fich für feine Perſon der Gefundheit wegen 
nach England begeben müffen, die von ihm zurücgelaffene Be— 
fasung der. holländifchen Infel überließ fich der. Sicherheit und 
dem Wohlleben, Das erfuhr Bouillé; er befchloß, es zu benutzen, 


Krieg mir Holland und’ zur See um 1781, 315 


und die Engländer Tiefen ſich von ihm auf eine ganz umbegreif- 
Viche Weife überraſchen. Er Tandete am 26. November einige 
Hundert Mann an einem etwas außer dem Angefichte liegenden 
Platze, ohne daß die Engländer weder feine Schaluppen wahr— 
nahmen, noch dte gelandeten Soldaten erblickten, bis diefe in ber 
Stadt waren, Jeder Widerftand war dann um fo mehr vergeb> 
lich, als die Garniſon nicht verfammelt war und als der Com— 
mandant Cockburne gefangen wurde, ehe er noch etwas angeordnet 
hatte. Auf dieſe Weife ward die Infel von den Franzoſen wie— 
der genommen, ohne daß fie auch nur einen einzigen Mann ver— 
loren; fiebenhundert Engländer, welche die Beſatzung ausmachten, 
wurden gefangen. Bouillé war edel genug, die ungeheure Beute, 
welche gemacht ward, weil die Güter, die man den Einwohnern 
abgenommen hatte, größtentheils. noch nicht fortgefchafft waren, 
anzuwenden, um die Beraubten fo viel als möglich zu entichä= 
digen, ° Ganz im Gegenſatz zu Rodney und DBaughan erlaubte 
er fogar dem englifchen Gommandanten und den Offteteren die 
Summen zu behalten, die fie als Privateigenthum in Anſpruch 
nahmen. 62) Er machte zugleich befannt, daß er die Infel nur 
jo lange in Beſitz behalten werde, bis eine hinreichende Zahl hol= 
Yandifcher Truppen gefendet jet, denen er fie übergeben könne. 
Der Theil der Beute, den Rodney auf zwanzig Schiffe geladen 
und nach Europa geſchickt hatte, ward den Engländern ebenfalls 
größtenteils entriffen, weil der tapfere La Mothe Piquet, der 
das Linienſchiff Hannibal commandirte, viele der Schiffe Furz 


vorher weggenommen hatte, 


Im Anfang des folgenden Jahrs (1782) wurden auch die 
niederländifchen Golonten Surinam, Demerary und Eſſequebo 
dur) die Waffen der Franzoſen wieder von den Engländer be— 
freit, weil die Holländer weder Krieasichiffe noch Truppen nach 
Weſtindien fchiefen Fonntenz dagegen machten die Spanter auch 
in: diefem Jahre erftaunliche Anftvengungen. "Die franzöſiſche 
Flotte unter de Graffe war von ihrer Reiſe nach Nordamerika 





62) Die ganze Sache war fo auffallend und Cockburnes Gefangenneh— 
mung, wie die ſchnelle Einnahme der Citadelle fo unerklärlich, daß biefe 
Zahlungen hernach fehr zum Nachtheil des Oberften gedeutet wurden. 


316 Krieg mit Holland und zur See um 1781: 


jogleich zurücigefommenz verteilte aber einige Zeit hindurch auf 
Martinique, um die Schiffe auszubeffern und die Mannfchaft zu 
erquicken; dann juchte fie die in einem Hafen der Inſel Barba— 
dos Tiegende englifche Flotte auf und erfehten endlich bei St. Chri- 
ftoph, im Januar 1782. De Graſſe hatte damals zwei und 
dreißig Linienfchiffe, an Bord derfelben war eine Armee von acht 
taufend Mann unter dem Marquis Bouillé mit einer Artillerie, 
welche hinreichend gemweien wäre, die bedeutendfte Feftung zu be— 
ſchießen, obgleich von Feiner eigentlichen Feftung die Nede war, 
fondern nur son der Einnahme eines ſtark befeftigten Hügels 
(Brimstonehill), den der General Prefeott ſehr tapfer vertheidigte, 
Auch bei diejer Gelegenheit zeigten übrigens die Engländer ihre 
Meberfegenheit überall, wo es auf Gefchieflichkeit, Gewandtheit 
und Grfahrung zur See anfam, denn in diefen Vorzügen, mie 
in mechanischen Künften und in Regſamkeit und Ausdauer kann 
fich Fein anderes Volk mit ihnen vergleichen. De Graſſe nämlich 
lag im Hafen der Infel, er ließ fich vom Admiral Hood aus 
demfelben herausloden und war hernach nicht im Stande zu ver— 
hindern, daß fich Hoods Flotte mit großer Gefchieflichfeit zwiſchen 
feiner Flotte und der Inſel durchfchob und in den Hafen einlief, 
De Graffe verfuchte hernach vergebens, feine vorige Stelle wieder 
einzunehmen und die Engländer wieder zu vertreiben, fein Angriff 
ward drei Mal zurücgefchlagen. 

Bouille war zu Lande glüclicher als de Graſſe Aue ‚Ser. 
Er nahm gleich nach feiner Landung acht vierundzwanzigpfündige 
Kanonen, fechstaufend Kugeln, zwei metallene Mörſer und fünf- 
zehnhundert Bomben, welche son den Englandern zwar ausge- 
Ichifft, aber noch nicht auf den Hügel gebracht waren, Er be— 
gann hernach eine fürmliche Belagerung nach der Regel des Kriegs- 
wejens und bejchoß einen Pla, der nur etwa zweihundert Ruthen 
im Umfange hatte, aus dreiundzwanzig ſchweren Kanonen und 
eben fo viel Mörfern, fo daß Admiral Hood bald einfah, daß 
ſich der General Prefeott, den er and Land gefebt hatte, unmög— 
Yich werde behaupten können. Hood verließ den Hafen und Prefeott 
mußte am 13. Februar 1782 capituliven, Auch die Infeln Nevis 
und Montferrat wurden von den Franzoſen erobert. Rodneys 
Rückkehr am 19. Februar 1782 Anderte die Lage der Dinge in 


Krieg mit Holland‘ und’ zur See um 1781. 517 


Weftindien gänzlich, Die Engländer erhielten im amerifanifchen 
Infelmeere das Mebergewicht wieder, nachdem ihnen vorher von 
den Spaniern auch Penſacola in Weftflorida, welches Spa— 
nien im Bartfer Frieden den Engländern abgetreten hatte, ent— 
riffen war, 

Die Holländer jchoben damals die Schuld des Verluſts, den 
fie in Oftindien erlitten und den ſchlechten Zuftand ihrer Schiffe 
ganz allein auf ihre Regierung und auf deren Begünftigung der 
Engländer. Der Unwille gegen den Herzog von Braunfchweig, 
der ald Fremder alle Schuld tragen mußte, wuchs hernach, als 
die tapfern Befehlshaber dev Flotte, welche am Gingange der 
Dftfee mit den Engländern kämpfte, fich laut über ihre fchlechten 
Schiffe, fowie über die Beförderung der Offictere nad) Gunft und 
nicht nach Verdienſt beklagten. Der Handel nad Oft: und Weft- 
indien war faft ganz vernichtet, ſogar in die Oftfee mußte man 
unter fremder Flagge fahren, e8 kam fo weit, daß, ftatt daß im 
Sahre 1780 zweitaufend und achtundfünfzig holländiſche Schiffe 
duch den Sund gegangen waren, im Jahre 1782 nur fechs 
durchführen, In derfelben Zeit wurde die oftindifche Geſellſchaft, 
welcher Holland jeine Blüthe verdanfte, fat vollig zu Grunde 
gerichtet, die Beſitzungen an der Weftküfte yon Afrifa wurden 
verloren, die Rettung der Injel Ceylon und des Vorgebirgs der 
guten Hoffnung verdanfte man ganz allein dem franzöſiſchen Ad— 
miral Süffrein, der in den öſtlichen Meeren Ruhm erwarb, 
während de Graffe in Weftindien den eigltiigen Admiralen 
unterlag. 

Der Zwieſpalt in den Niederlanden, der ſich in fort letzten 
Kriegsjahren offenbarte, war ein Vorſpiel der Revolution im In— 
nern, welche gleich nach dem Frieden ausbrach. Alle fremden 
Staaten behandelten die Niederländer gleichgültig oder verächtlich, 
weil ſie unter ſich uneinig und ohnmächtig waren; nur die Fran— 
zoſen allein thaten Alles was ſie konnten, um die republikaniſche 
Partei enge an Frankreich zu knüpfen. Katharina erwiederte den 
Beitritt zur bewaffneten Neutralität nur durch Vermittelung und 
Verwendung für Holland, alſo durch Worte; vom Handeln für 
fie wollte fie um jo weniger wiffen, als fie im vertrauten Gefpräch 
ihrer eignen bewaffneten Nentsafität, der fie Feinen Nachdruck 


318 Krieg mit Holland: und zur See um 1781. 


geben wollte, durch die Benennung bewaffnete Nullität 
ſpottete. 63) 

Die vepublifanifche oder ſogenannte patriotiſche Partei in 
Holland, d. h. die franzöſiſch geſinnte Ariſtokratie, die nicht bet 
Hofe figurirte, brachte damals den Herzog von Braunfchtweig aufs 
Aeußerſte. Sie fchrieb feinen Rathſchlägen alles Verkehrte zu 
was geſchah und verlangte öffentlich vom Prinzen, daß er ihn 
aus dem Lande ſchicken ſollte. Ein unentſchiedenes Seegefecht 
machte endlich den ſchon ſeiner Corpulenz wegen zu Geſchäften 
untauglichen Herzog vollends: zum: Gegenſtande des Haſſes des 
gefammten Seevolks und der Admirale. Es wurde nämlich im 
Sabre 1782. endlich ein Kleines Kriegsgefchwader ausgerüſtet, 
welches unter dem Admiral Gornelius Zoutmann und dem Com— 
mobdore Kinsbergen eine Handelsflotte yon zwei und fiebenzig 
Schiffen in die Oſtſee geleiten follte. Die Augrüftung ward aber 
jo langſam betrieben, daß erſt nach drei Monaten ı die Schiffe 
auslaufen konnten und auch dann noch im fchlechten Stande waren. 

Eine englifche Slotte unter Hyde Parker lag bei Helfingör, 
um die Holländer anzugreifen, ehe fie den Sund erreichten, und 
jegelte ihnen ins’ Kattegat entgegen, wo beide Flotten in ber 
Nähe einer Sandbank, die Doggersbanf genannt, am 5. Auguſt 
auf einander trafen. Dies Treffen zwiſchen den Englandern und 
Holländern, bei denen fih ein amerikaniſches Kriegsjchiff von 
ungewöhnlicher Lange und: Bauart befand, war das heftigite, das 
in dent ganzen Kriege zur See geliefert ward. Die. Holländer 
fiegten zwar nicht, fie wurden aber durch den Ausgang neu bes 
lebt, denn in allen Städten und Zeitungen aller fieben Provinzen 
jubelte man, daß die Zeiten dev Opdam und der de Ruyter doch 
nicht ganz worüber ſeien. Die Schiffe hatten den Kampf ‚nicht 
eher begonnen, als bis fie fich auf die Weite eines Piftolenfchuf- 
ſes genähert hatten, dann dauerte: das Feuern aber drei Stunden 
lang mit unerhörter und mörbderifcher Ausdauer son beiden Sei— 
ten fort, bis beide Flotten außer Stande waren, das Gefecht 
|. Sie — * beide den — * * weil fie. . 





63) Die atttenſtice kann der, welcher en — her Kai 
dem Annual⸗NRegiſter yon 1781 in extenso finden. 


Krieg mit Holland’ und zur See um 1781, 319 


mehr die See halten konnten. Der: einzige Vortheil, deffen fich 
die Engländer etwa rühmen konnten, beftand. dartır, daß die hol- 
ländiſchen Handelsfchiffe mit den Kriegsfchiffen zugleich. in den 
Terel zurückkehren mußten und daß das Lintenfchiff Holland, ehe 
es den Hafen erreichte, unterging. Die drei tapfern Befehlshaber, 
Cornelius Zoutmann, Kinsbergen, van Braam, wurden hernach 
in Holland vom Volke geehrt und gepriefen, als wenn fie den 
glänzendften Steg erfochten hätten, und auch die Negterung be= 
mühte fich, die vom Volke vergätterten Helden auf jede Weiſe 
auszuzeichnen; fie beſchwerten fich ‚aber gleichwohl, daß ihre Aus- 
rüſtung fchlecht geweſen jet, wie ihre Schiffe. Man darf fich 
nicht wundern, daß fich die Admirale über den Herzog als Rath— 
geber und über die Regierung des Prinzen als fein Werkzeug 
bejchwertem, denn es waren allerdings die Verhaltungsbefehle der 
erbftatthalterifchen Regierung an die unmittelbar von. ihr allein 
abhängenden Befehlshaber zur See und zu Lande ſehr zweideutig. 
Mit welcher Wuth übrigens bei der Doggersbanf war geftritten 
worden, kann man daraus fehließen, daß manches englifche Schiff 
dort über 2500 Schüffe gethan hatte, 

Hyde Barker, der in England mit eben: dem: Triumph 
empfangen ward, als Gornelius Zoutmann in Holland, war: eben 
jo unzufrieden mit der englifchen Negterung und Admiralität, als 
biefer mit dev hofländifchen, Seine Unzufriedenheit ging fogar 
jo weit, daß er eine ganz ungewöhnliche Ehre, die ihm der König 
anthun wollte, mit dem Trotz eines. Seemanns aufnahm. König 
Georg IL war nämlich nicht wie fein Sohn Gesrg IV. geboren 
und gemacht, um den Glanz der Ritterfchaft und die Majeftät 
des Königthums in feiner Perfon und feiner Bewegung bei feier- 
lichen Gelegenheiten zu vepräfentivenz dafür war er denn freilich 
auch nicht jo tief moraliſch verdorben als fein Sohn; er zeigte 
fich daher nicht gern öffentlich als König. In feiner Familie, 
in der Kirche, bei feinen Aderbaugeichäften, Hei feinen. aſtronomi— 
ſchen Spielereien war er für Herfchel eine Art Gottheit. Er 
führte Lichtenberg, der durch ihn bezaubert ward, ſelbſt in det 
Sternwarte u. ſ. w. herum und zeigte ihm Alles, In Staats- 
angelegenheiten. Dagegen figurirte, ex nur, wenn er durchaus mußte; 
es war daher eine ganz ungewöhnliche Erſcheinung, daß er für 


320 Engliſche Angelegenheiten. 


Hyde Parker eine Ausnahme machte, Er felbft, begleitet vom 
Prinzen von Wales, veifte an den Ort, wo Parker mit feinen 
Schiffen lagz 2) er befuchte ihn auf feinem Admiralfchiff, fand 
aber nicht, daß fein Befuch und die große Ehre den Admiral fs 
beglückt machten, wie dies fonft bei Generalen und Admiralen und 
Gelehrten der Fall zu fein pflegt. Der alte. Seemann Yehnte alle 
Beweiſe der königlichen Gunft fehr barſch ab und bellagte ſich 
ganz laut und Rn über die Admiralität. 


$. 3. 


Engliſche Geſchichte. Seetrieg. — Belagerung von Oibraltar, 
Minifterium bis auf Pitts India-Bill um 1784, 


Die Ereigniffe in Nordamerika und beionders ‘Lord Corn— 
wallis Capitulation in Yorktown, die Unternehmungen des Mar— 
quis Boutlle in Weftindien, die DVertheidigung der holländiſchen 
Defisungen im Often durch den franzöſiſchen Admiral Suffrein 
ward der englifchen Admiralität Schuld gegeben, alle tüchtige See— 
offietere waren unzufrieden. Man klagte befonders über Die Un— 
fahtgfeit des erſten Lords der Admiralität, deffelden Mannes, den 
Cook und unfer Georg Forfter fo fehr preifen, und des Staats- 
ſekretärs für die amerikaniſchen Angelegenheiten. Es ſchien daher, 
als fich 1781 das neue Parlament wieder verfammelte, eine 
Auflofung des Mintfteriums unvermeidlich. Selbſt Lord North, 
fo dreift und eifern er war, erfannte, daß ey einige feiner Colle— 
gen werde aufgeben müffen, wenn er noch ferner auf den Bei— 
ftand des Königs, der hernach auch fogar im letzten Augenblick 
er von ko * vertrauend, ſein Syſtem durchſetzen ._ 


64) Die Scene, die in ihrer Art einzig in ber englifchen Geſchihi⸗ iſt, 
wie des Lordmajor Bedford Rede an den König bei der feierlichen Audienz, 
fiel auf dem Admiralſchiff Fortitude vor, Dies Schiff, wie die übrigen, Tag 
an der Mündung des Fluffes Nore, um: nebft den übrigen ausgebeflert gu 
werden; der König fuhr daher die Themfe herauf, um den Admiral auf ſei⸗ 
nem Schiffe zu beſuchen. Der alte Seemann beantwortete bie Artigfeiten 
mit den Worten: „Er wünfhe Seiner Majeftät beſſere Schiffe 
und jüngere Seeleute, er fet für den Dienfi zu alt.“ Er nahm 
unmittelbar hernach ſeinen Abſchied. IR NE 


Englifche Angelegenheiten, 391 


Ein Mann, der jo außerordentlich viel Talent hatte, die Mas 
jehine zu leiten, welche man englifche Negierung nennt, erkannte 
aber jchon 1781, daß es fehr fehwer jein werde, neue Federn 
und Räder zu finden, wenn er nicht die ganze Mafchine einem 
andern Mafchiniften übergebe und ſelbſt abtrete. Dies zeigten 
ſchon die letzten ftürmifchen Situngen des Parlaments von 17805 
beſonders die allerlete, 

Dies Parlament, deſſen letzte Situngen jo drohend und 
jtürmifch waren, ward im September 1750 entlaffen, und Alles 
aufgeboten, um zu bewirken, daß die Wahlen für das neue Par— 
lament, welches fich im Oktober verfammeln follte, nicht ganz 
zum: Nachtheile des Minifteriums ausfielen. Zu den Mitteln, 
welche Lord North und feine Collegen gebrauchten, gehörte auch 
eins, deſſen man fich in unfern Tagen oft im Frankreich bedient 
hatte. Man machte die Wohlhabenden um ihr Cigenthum beforgt, 
und verbreitete, um die Oppofition verhaßt zu machen, daß zur 
Zeit der Plünderung in London, als fogar Wilfes auf feinem 
Poſten geweſen jet, Fox fich verkleidet herumgetrieben und bie 
Menge aufgehetzt habe. Da ſich kein Beweis führen ließ, war 
die Verbreitung eines ſolchen Gerüchts ſchmählig. Auch die Ge— 
fahr des Staats und die der Küſten, welche eine Art militäriſcher 
Ordnung nöthig machte, wurde benutzt, um die Gegner des Mi— 
niſteriums von den Wahlen zu entfernen. Jeder Volksbeamte 
mußte auf feinem Boften fein, weil Gefahr drohe, hunderte konnte 
man militärisch fefthalten, weil fie der damals aufgebotenen Miliz 
angehörten, Die beiden Männer, welche durch Einfluß und Ver— 
mögen, durch Glientel und Berwandtichaft dem Miniſterium langt 
entgegengeſetzt waren, Rockingham und Shelburne, son denen 
befonders der Erſte Liberale Gefinnungen äußerte und Liberale 
Männer ind Unterhaus zu bringen juchte, fanden gleichwohl in 
dem neuen Parlamente nicht blos ihre alten, durch Beredfamkeit 
ausgezeichneten Freunde wieder, fondern es kamen zwei neue hinzu. 

Zwei Männer verftärkten in dem neuen Parlament die Op— 
pofitton gegen Lord North und erhielten von diefer Zeit an für 
England und dadurch. für Europa politifche Bedeutung.  Diefe 
Männer waren Sheridan und der jüngere Sohn de3 Grafen von 
Chatham, William Pitt, von denen dev Eine in unferm Jahre 

Schloſſer, Geſch. dr 19, m 19 Jahrh. IV. Th 2 Aufl . 21 


333 Englifche Angelegenheiten. 


Hundert, nachdem ex eine Reihe von Jahren als Nebner md 
Dichter geglänzt hatte, in einem nicht unverſchuldeten Elende, der 
Andere ald Schüger des ariftofratifchen und monarchiſchen Europa 
im sollen Genuß der königlichen Macht, die er feit 1784 erlangt 
hatte, geftorhen iſt. Beide erfchtenen schon gleich im Jahre 1784 
unter verſchiedenen Fahnen. Sheridan ſchloß ſich an Rockinghams 
Freunde, beſonders an Fox an, und war heftig wie dieſer; 
Pitt war, wie Juriſten zu ſein pflegen, Diener der Um— 
ſtände. Er hielt als Engländer für Engländer nicht ein von 
Sparſamkeit unzertrennliches, einfaches Leben und eine auch den 
ärmeren Bürgern gewährte Freiheit, ſondern Reichthum, Herr— 
ſchaft, Macht, Glanz einiger Günſtlinge des Glücks für das höchſte 
Ziel eines großen Miniſters. Pitt näherte ſich zwar Shelburne, 
aber. er diente ihm nicht; er ſchonte auch den König, den ‚For 
mißhandelte, denn auf des Königs Namen wollte er ſeine und) 
feiner Freunde Herrichaft gründen , und er hat feinen Zweck 
erreicht. 

Beide, Sheridan und Pitt, traten im Februar 1784 Fr 
eriten Male als Redner auf, aber mit. einem ganz verſchiedenen 
Erfolge, weil Bitt, zum Diplomaten und ſchlauen Staatsmann 
geboren und gebildet, obgleich erſt zwei und zwanzig Jahre alt, 
den rechten Gegenftand und dem rechten Augenblick wähltes She— 
ridan nicht. Der Lehtere ward freilich fehon damals! als Manır 
son Talent erkannt; aber die Schlauen fahen auch ſogleich ein, 
daß er nur ein gutes Werkzeug der Art fet, wie fie in den Par— 
Yamenten und Ständeverſammlungen nöthtg find, um durch Dumft 
der Rede zu betäuben und das Volk bei langweiligen Berathun— 
gen zu unterhalten und zu täufchen.  Sheridan nahm einerlei 
Richtung mit For und glänzte Durch Wit, der dann freilich, wie 
das zu gehen pflegt, gar zu oft in Witelet ausartete, Er war 
ſehr brauchbar, um durch fein flackerndes Licht den oft Dunkeln 
Bombaft son Burfes Neben zu exhelfen. Pitt erſcheint gleich 
Anfangs als vorfichtiger Staatsmann und Geſchäftsmann, der fich 
bald für, bald gegen den Hof erklärt, deffen er nicht entbehren 
kann, dabei nie durch irgend etwas "edles im Braftiichen irre 
geleitet wird, alſo für König Georg der rechte Mann iſt. She⸗ 
ridan —— bahehen ro * rn wo II. — er war 


Engliſche Angelegenheiten. 323. 


aber: wie geboren zum Gefellfchnfter des. wüſten Bringen von Wa—⸗ 
les, an dem: er fich auch Später anſchloß. Sheridan war Beller 
keit, er fehrieb Dramen, er hat als Dramatiker, als Schriftftel- 
ler, als gewandter und einnehmender Redner, als witziger Gefell- 
ſchafter Ruhm und Anſehen gehabt, hätte ſich auch wohl vielleicht 
behaupten können, wenn ev nicht durch; Neigung zum Trunke zus 
letzt zu tief ogefunfen wäre; Staatsmann oder Diplomat war er 
nie, Pitt hatte, wie alle Fuge Juriſten, gerade ſo viel Rechte 
lichleit und Gewiffen, als ein Staatsmann und Diplomat des 
neunzehnten Jahrhunderts Haben darf, und Fein Quentchen mehr; 
ſeine Beredſamkeit war ganz ſeinem Charakter angemeſſen. 
Beide, Sheridan und Pitt, kamen auf dem Wege ins Par— 
lament, auf welchem damals die großen Familien vermöge ihres 
jetzt durch Abſchaffung der ſogenannten verfallenen Flecken (rot- 
ten borougks) wenigſtens etwas, wenn gleich unbedeutend wenig 
geſchwächten Einfluſſes auf die Wahlen, Talente ins Parlament 
brachten, die fie, für ſich benutzen wollten. Erſt als Pitt dirigi⸗— 
render Miniſter ward, machte er ſich frei von der Abhängigkeit 
von der Familie, die ihn ins Parlament gebracht hatte. Sir Ja— 
mes Lowther konnte für mehre ſogenannte verfallene Flecken Bars 
lamentsdeputirte ernennen, er brachte auch den jungen Pitt für 
den Flecken Appleby ins Unterhaus. Pitt konnte jedoch nicht ſo⸗ 
gleich) bei der Eröffnung des Parlaments erſcheinen, weil Sir 
James erſt abwarten wollte, ob ev nicht den Flecken für Einen 
aus der Familie Lowther gebrauchen müßte, wenn dieſer etwa art 
einem andern nicht ganz verfaulten Orte durchfallen ſollte. 
dor hatte gleich in den erften Sitzungen des neuen Parla— 
ments, im November 1780, eine lange Rede. darüber gehalten, 
daß auf: königlichen Befehl, zur Zeit des; Gordonſchen Tumults, 
die Truppen gegen das Volk waren gebraucht worden, hatte aber 
wenig Gehör gefundenz Sheridan machte den großen Fehler, durch 
diejen Vorgang nicht abgeſchreckt zu werben, ſondern denfelben Ge— 
genſtand für; ſeine erſte Rede zu wählen.) Diefe-erfteim Februar 
1781 gehaltene Rede wurde daher mit Recht num als eine ſchöne 
Deklamation angeſehen, die den, der ſie gehalten hatte, als libe— 
ralen Rhetor oder Schauſpieler, nicht aber als Staatsmann em— 
pfehlen könne, Ganz anders Pitt. Dieſer ſchloß wufh an 
21 


326 Engliſche Angelegenheiten. 


Lord North fich einiger feiner Collegen mit Manier zu entledigen, 
am feine Schuld: auf ſie zu ſchieben. Giner der auf ihren Vor— 
theil fo ungemein fehlauen Schotten, der hernad). Pitts unverän: 
derlicher Anhänger blieb, zeigt fogleih Ahnung, dag anf das 
Miniftertium, das ihn bis dahin verforgt hat, nicht mehr * St 
cherheit zu rechnen fein möge, 

Dieſer Schotte war der damalige Bord Abbeeat von Scott 
land, Dundas, der in den: indifchen Angelegenheiten unter Pitt 
Seine fehr bedeutende Rolle geſpielt und als Lord Melville eine für 
feinen Charakter und für den der herrſchenden englifchen Ariſto— 
Fratie ſehr ſchimpfliche Celebrität erlangt hat. Dieſer war es, der 
ſchon im Dezember son’ der Miniſterialbank ans andeutete, daß 
eine Veränderung dev Mitglieder des’ Miniſteriums nöthig ſei, um 
tt Amerika amd Holland unterhandeln zu Finnen, und zugleich 
anf Pitt, als auf der Mann hinwies, dev. Falte Klugheit und 
Talent genug beſitze, um zugleich dem Könige "gefallen und dem 
Wolke nützlich fein zu können. Dundas erkennt in feiner Rede 
Pitt als ein frühreifes politiſches Genie anz er rühmt, daß er 
die Talente feines Vaters ererbt Habe und glänzende Rednerga— 
pen zeige. An den Lord Advocat von Schottland ſchloß ſich ſchon 
in der Mitte Dezembers ein’ anderes Mitglied des Miniſteriums, 
der Kriegszahlmeiſter Rigby san, amd’ beide befragten den leiten⸗ 
der Minifter öffentlich im Parlament, ob e8 wahr fei, daß er 
und Lord, George Germaine nicht mehr einerfei Meinung wären? 
Er gab zwar auf diefe Frage Feine bejahende Antwort, verlief 
‚aber ſonderbarer Weife ‚feinen ‚Sib, ‚ohne eine: gegeben zu haben: 
her bisherige Leiter Der amerikaniſchen Angelegenheiten fand: * 
gleich im Januar 1782 feine Stellung unhaltbar.. 
As Lord George Germatne im Januar feine Stelle‘ aufge, 
‚ward er unter dem Titel Viscount Sackville zum Pair erhoben; 
der neue Pair und. die zurückbleibenden Mitglieder von, „Lord 
Norths Miniſterium, wie der König ſelbſt, erlitten aber auch bei 
dieſer Gelegenheit eine Kränkung. Eine nicht unbedeutende An- 
zahl Pairs, in deren Geſellſchaft Lord Sackville im Oberhaufe 
ſitzen follte, trugen zuerft darauf an, ihn der Pairle unwürdig zu 
erklären, weil: er als Generaloffizier im. fiebenjährigen Kriege we— 
gen feines Betragens im Felde yon einen. Kriegsgerichte war per- 





Engliſche Angelegenheiten. 327 


urtheilt worden. Als dies nicht durchging, legten fie wenigſtens 
eine förmliche Proteſtation gegen ſeine Erhebung zur Pairswürde 
ins Protokoll nieder, 66): Lord North war aber nicht der Mann, 
ber ſich einfchlichtern oder: aus feinem fpaßhaften Phlegma brin= 
gen lief, welches ihm in den Stand ſetzte, mit nie. erröthender 
Stirn Acht praftifch zu fein und jeden Grundſatz, der nicht Vor— 
theil bringt, zu verſpotten. Er fand freilich Niemanden von gro— 
‚Ber Bedeutung, der inndiefem Augenblick mit ihm in fein. vom 
Sturm bedrohtes Schiff Hätte treten: wollen, «Doch übernahm El— 
18, der ſchon einmal im Miniſterium geweſen war, den Platz, 
den Lord George Germaine nicht hatte behaupten können. Die 
zwei verſchiedenen Arten von Perſonen, welche unter Rockingham 
‚und unter Shelburne zwei verſchiedene Arten son Oppoſition bil⸗ 
‚beten, waren damals endlich gegen das Minifterium vereinigt und 
-geiffen , um es ſtückweiſe zu zertrümmern, im Februar Lord 
Sandwich an. Schon am 23. Februar hatte: For den Vorſchlag 
gethan, das Parlament möge ſich zu einem Ausichuffe bilden, um 
die Gefchäftsführung des, Grafen Sandwich genau: gu prüfen. 
‚Lord North und der Admiral Mulgrave redeten zwar zu Gunften 
ihres Gollegenz fie: widerfeßten ſich aber dem Vorſchlage ſelbſt 
nicht. Als die Unterſuchung im Februar wirklich vorgenommen 
ward, hielt Fox eine: ſeiner merkwürdigſten Reden. Er geht da— 
‚rin die Geſchichte des Seekriegs und der ganzen Verwaltung des 
engliſchen Seeweſens von 17771784 genau und prüfend durch, 
um den Antrag zu begründen, mit welchem er ſchließt: Das Bar- 
lament möge erklären, das Reſultat der von ſeinen im Ausſchuſſe 
vereinigten Mitgliedern angeſtellten Unterſuchung jet: Daß im 
Jahre 1781 grobe. Fehler (gross mismanagement) bei 
der Verwaltung des Seewefens vom Großbritannien 
begangeniworden: Schon biefer erfte, das Miniſterium ſchwer 
er Vorſchlag ward mit der Lange m. von en 





v - 

40) Weil ihn Das Dr at wegen feines — in der Schlacht 
bei Minden unwürdig erklaͤrt Habe, ferner im britiſchen Heere zu dienen, fo 
ſei feine Promotion zur Pairſchaft: A méasuré fatal to the interests of the 
‘erown, insulting to the memory of the late sovereign, and highly de- 
‚rogatory t0 the dignity of that house, 


328 Engliſche Angelegenheiten. 


und zwatizig Stimmen (205 gegen 183) abgelehnt; dies veran- 
Yaßte, nachdem Dundas ımd Rigby fchon 1780 den Anfang ge— 
macht hatten, auch die übrigen fogenannten Schiffbruch ahnenden 
Ratten des Miniſteriums, nicht zu ſäumen, ihnen zu folgen. Die 
Veberzeugung, daß das Minifterium fich auf diefe Weiſe auflöfe, 
bewog For, denfelben Antrag, den er in dem einen Ausfchuß bil- 
denden Parlamente gethan hatte, zu wiederholen, als e8 wieder 
in der gewöhnlichen Form unter feinem gewöhnlichen Präfidenten, 
dem Sprecher, über diefe Angelegenheit berathichlagte. 

Ein harter Kampf entftand im Parlament als For am 20. 
Februar den Antrag machte, den Grafen Sandwich einer ſchänd— 
Yich fchlechten Verwaltung des brittifchen Seeweſens fchuldig zu 
erflären. Es war faum Freifprechung des Miniſters zu nennen, 
dag der Antrag in einer Verſammlung, wo vierhundert und drei 
und fünfzig Parlamentsglieder anweſend waren, mit einer Mehr- 
heit von blos neunzehn Stimmen abgelehnt ward. Jetzt fuchte 
Lord North feinen Gollegen durch freundliches Zureden zu be= 
wegen, den Streit aufzugeben und eine Penfion und den Hy 
jenbandorden anzunehmen; das war aber vergeblich, er harrte ang, 
Kaum acht und vierzig Stunden nach dem Ende des letzten Streits 
im Parlament über die Sache des Präſidenten der Admiralität 
that dann General Conway den Vorfehlag: „Den König zu bit 
ten, allen weiteren Verſuchen, Amerifa mit Gewalt zu bezwingen, 
zu entſagen.“ Ms diefer Antrag in einer Verſammlung von 
dreihundert und neunzig Mitgliedern nur mit Mehrheit einer ein- 
zigen Stimme abgelehnt ward, war vorauszuſehen, daß er bald 
aufs neue werde vorgebracht werden, Dies um jo mehr, da es 
in der oben angeführten Brieffammlung (I. p. 23) heißt: Der Her- 
zog von Richmond habe an Lord Rodingham: gejchrieben, er ſehe 
voraus, daß Feine wefentliche Veränderung der Maßregeln 
‚und gar Feine Beränderung der Perſonen beabfichtigt werde, und 
fügte Hinzu, wenn ich vom Mintfterium rede, meine ich den Kö— 
nig, denn feine Diener find fersiler als je andere waren. Als 
daher am Ende Februar das Minifterium mit neunzehn Stim- 
men überftimmt ward, ſchreckte auch dies Lord North nicht, da er 
‚auf. den Gigenfinn des Königs und auf feine. eigne Verbindungen 
und Künfte vertraute, Die Oppofition bot darauf erlaubte und 


Engliſche Angelegenheiten. 329 


unerlaubte Mittel, nicht fowohl mehr gegen den Minifter, als 
gegen den König felbft auf, den man im Hintergrunde wahrnahnt, 

Diefer Kampf und die folgenden find von ganz anderer Wich— 
tigkeit, als die gewöhnlichen Zänfereten dev Parteien um dag Mi- 
nifterium und um die Vertheilung der Vortheile des Regierens; 
es galt diefes Mal nicht einem bloßen Miniſterwechſel, fondern 
einer Abfchaffung der feit Georg II. Negierungsantritt ſtets er— 
neuten Befchwerde über den perſönlichen Einfluß des Königs und 
feiner Greaturen, Es ſollte eine Art Revolution erfolgen; der 
König follte von den Gefchäften gewiffermaßen ganz entfernt und 
genöthigt werden, nicht blos in den Gefchäften, fondern in feiner 
perfönlichen Umgebung und im Innern feines Haufes nur folche 
Leute zu dulden, die ihm perfänlich nicht angenehm waren; das 
Parlament begann daher einen fürmlichen Krieg. Auf die Bitte 
des Parlaments, dem amerifanifchen Krieg ein Ende zu machen, 
Vieß Lord North dem König eine freundliche, aber ausweichende 
Antwort gebenz darauf antwortete aber das Parlament fogleich 
durch eine drohende Erklärung gegen die Minifter. 6) Bon dem 
Augenblife an erkannte wahrfcheinlich Lord North, daß nachdem 
ſchon fo viele Mitglieder der untergehenden Sonne den Rüden 
gewendet, um von der aufgehenden gewärmt zu werden, bie Be- 
hauptung des Miniſteriums unmöglich fein werde und ſetzte den 
Kampf nur fort, um den König nicht allein zu Yaffen. Diefer 
urtheilte mit Necht, daß, wenn fein Mintfter nur bis Ende März 
bei ihm ausharre, wo die Ferien begannen, felbft For nicht wa- 
gen würde, mitten im Kriege unter drohenden Umftänden auf eine 
Verweigerung des Budgets anzutragen. Hätte alfo Lord North 
bis zum 28: März ausgehalten, jo wären ſechs Monat gewon- 
nen geweſen. Das mußten die Häupter der Oppofition ſehr gut, 





67) Der Köntg hatte geantwortel: That in pursuance of the advice 
“of the house of commons he would assurediy take such measures as 
should appear to him condueive to the restoration of harmony between 
Great Britain and her revolted colonies. Der Beſchluß des Haufes gegen 
die Mintfter vom 4, März lautet: That the house will consider as enne- 
mies to his Majesty and the country all those who should advise a pro- 
secution of offensive war on the continent of North America. 


330 Engliſche Angelegenheiten, 


fie ruhten daher auch Keinen einzigen Tag, ſondern nahen immer 
heftiger und heftiger. | 

Der heftige Antrag am 8. März war kaum min * Mehr- 
heit von 10 Stimmen abgelehnt, als man am 15. einen zweiten 
that, wo die Mehrheit dev Minifter nur neun Stimmen betrug. 
Man nahm, um dieſe Mehrheit im Schrecken zu ſetzen, feine 
‚Zuflucht zu einem Mittel, deffen man fich zur. Zeit Carls J. in 
Straffords Prozeß mit Glůe bedient hatte. Man ließ nämlich 
Liſten im Rande vertheilen und auſchlagen, worin die Namen der 
- einzelnen Abſtimmenden bei jedem einzelnen Vorſchlage, die mint- 
ſteriellen roth, Die andern Schwarz gedruckt waren, um fie dem 
Haß und der Verfolgung des Volks preiszugeben. Am 18. hatte 
ein Parlamentsglied (John Nens) darauf angetragen: das Par— 
lament ſolle eine öffentliche Erklärung ausgehen: laſſen, daß das 
Minifterium wegen des exlittenen Verluſts und der von ihm auf 
Das Land gebrachten Schuldenlaft das Vertrauen des Parlaments 
ganz verloren habe. ‚Der Borfchlag ward mit dev Mehrheiteiner 
‚einzigen Stimme abgelehnt, der Graf von Surrey kündigte aber 
an, daß er ihn am 19, erneuern wolle "Ganz: London! war in 
‚geipannter Grwartung auf die Debatten dieſes Tags, als Lord 
North vor dem Lärmen, der ihm in den folgenden zehn Ta— 
gen noch bevorſtand, zurückwich. Er erſchien am 20. in ‚dem An— 
zuge, in dem er eben vom Könige kam, mit ſeiner gewöhnlichen 
Faſſung, Ruhe und Spaßhaftigkeit im gedrängt vollen Parlamente 
und erklärte zu Aller Erſtaunen, was keiner erwartet hatte: Es 
ſei unnöthig, die am 19. angekündigte Debatte anzuſtellen, weil 
er ſo eben ſeine Entlaſſung eingereicht habe, und einige Inge 
nöthig feien, um ein neues Minifterium einzurichten, 
Der König litt dies; Mal am mehrſten, weil er die Sache 
der Miniſter zu einer perſönlichen Angelegenheit gemacht hatte 
und ſich mit Leiten umgeben mußte, die ihm nicht angenehm, 
zum Theil ſogar tödtlich verhaßt waren, wie 13:8. Bor, oder 
vielmehr Rockingham und feine ganze Glientel: König Georg war 
daher auch heftig tiber Lord North erbittert, von dem er verra= 
then zu fein glaubte, weil ex nicht ausgehalten hatte. Der Kö— 
nig würde unter. den: damaligen Umftänden gewünfcht haben, Shel⸗ 
burne nebft allen denen, die fich an dieſen fchloffen, ins Cabinet 


* 


Engliſche Angelegenheiten, 331 


nehmen zu Können, befonders ‚weil unter Shelburnes Clienten Lord 
Chathams Sohn nebft allen denen war, die einſt Lord Chathams 
Partei gebildet hatten." Shelburne fühlte, ſich aber nicht mächtig 
genug, ohne Rockingham das Nuder übernehmen zu Tonnen, Der 
König, mitten im Kriege verlaffen, mußte fich ein ſonderbar ges 
miſchtes Mintftertum, unter dem nur ein Tory, Lord Thurlow, 
als Kanzler war, und fogar tiefe Kränfung bei der Einrichtung 
feiner Hofhaltung gefallen laſſen. Man findet unten in der Note 
die Namen dev Berfonen, welche vom März bis Zunt das Cabi— 
net ausmachten. 6%) Die Stellen! waren zwiſchen Shelburnes und 
Rocklughams Anhängern, welche fich His dahin zum Theil zu ganz 
:entgegengefehten Grundſätzen bekannt Hatten, getheilt; "Die etgent- 
Yiche Regierung beſtand aus eilf Verfonen , ſtatt daß vorher nur 
neun das Cabinet ausmachten. Daß Sheridan neben For Staats— 
ſecretäͤr wurde, mußte dem Könige höchſt widrig ſein, Burke, der 
damals durch republikaniſche Rhetorik glänzte, als Kriegszahlmei— 
ſter war ihm ebenfalls nicht angenehm. Rockingham war erſter 
Lord der Schatzkammer, For und Sheridan theilten das Staats— 
ſecretariat auf die Weife, daß der. Eine die Innern, der Andere 
die auswärtigen Angelegenheiten Teitete, Nur Lord Thurlow be— 
hauptete feinen Platz als Kanzler, es fehlte aber wenig, daß fich 
nicht die beiden Häupter des Miniſteriums aus Eiferſucht über 
‚eine dem Einen vom Könige gewährte Gunſt ſogleich entzweit 
hätten. Der König gewährte nämlich einem Herrn Dunning, dem 
er vorher ſchon immer gewogen geweſen war, auf Shelburnes 
Bitte, die. Würde, eines Baronet; dies nahm Rockingham ſo übel, 
daß er darauf beſtand, daß der Monarch ſogleich und bei einer 
Gelegenheit, wo man ſonſt dergleichen Promotionen nicht vorzu— 





68) Rockingham, erſter Lord der Schatzkammer, For und Sheridan, 
Staatsſecretärs, Lord Camden, Präſident des geheimen Raths, der Herzog 
von Örafton, Stegelbewahrer, Lord John Cavendiſh, Kanzlerdes Schatzkam⸗ 
mergerichts, Admiral Keppel, erfter Lord der Admiralität, General Conway, 
Oberbefehlshaber der Truppen’ (Commander: in chief ‘of the- Forces) , ‘der 
Herzog von Richmond, General⸗Feldzeugmeiſter (Master General’ of the Or- 
‘donances), Lord Thurlow, Kanzler, Dunntng, den der König Shelburne zu 
Sefallen zum Baron son Aſhburton machte, war Kanzler des za. 
Lancaſter. 


332 Engliſche Angelegenheiten. 


nehmen pflegte, auch einem Manne, den er empfohlen hatte, die— 
felbe Würde ertheile. Bitt war daher auch in dieſem Minifte- 
rium an feinen Platz zu bringen, der feinen gerechten Ansprüchen 
einigermaßen anpafend gewejen wäre, Am härteften war es un— 
ftreitig, daß Rockinghams republifanifcher Anhang den König, der 
als Hausvater und als Tiebenswürdiger Privatmann alle Achtung 
verdiente, durch die gänzliche Veränderung feiner täglichen Gefell- 
ichaft feines Hofes und feines Hausweſens gewiffermaffen abficht- 
lich Fränfte, 69) 

Das neue Minifterium mußte dann freilich fogleich das 
Beriprechen, welches feine Mitglieder, fo lange fie in der Oppo— 
fition waren, fo oft gethan hatten, erfüllen, es mußte den Hol- 
Ländern und den Amerikanern entgegenfommenz obgleich beide, jo 
lange ihnen nur ein befonderer Friede angetragen warb, fich 
unmöglich in Unterhandlungen einlaffen Eonnten. Sobald fie ohne 
ihre Bundesgenoffen unterhandelt hätten, würden fie fich von ihren 
alten Freunden getrennt und in die Arme ihrer bitterſten Feinde 
und Nebenbuhler geworfen haben. Den Holländern Tieß freilich 
For durch die Vermittlung des ruſſiſchen Minifters in London 
vortheilhaftere Vorſchläge thun als ſpäter gethan wurden; denn 
er bot ihnen an, die Traktate von 1674 zu erneuern; aber bie 
vepublifanifche oder patriotiiche Partei war damals in den Nie- 
derlanden fchon überwiegend und hoffte zu viel von Frankreich, 





69) Wir wollen, ohne uns weiter auf die Hofgefchichte und auf die 
Aufzählung der Namen der Hofbeamten einzulaffen, nur ein paar Stellen 
anführen, deren neue Beſetzung dem Könige befonders empfindlich fein mußte, 
Es war der Graf von Hertford fünfzehn Jahre lang als Oberfammerherr 
um den König gewefen, er mußte jest die Stelle einem Andern überlafen. 
Man drang ihm denfelben Grafen von Effingham, der 1780 bei dem Auf: 
ftande in London, wo For nur eine verbädgtige Rolle gefpielt Hatte, eine 
gräßliche fpielte, zum Schatzmeiſter des königlichen Haushalts auf, Der alte 
Lord Batemann fogar, ein Mann von 70 Jahren, der dem Könige befonders 
angenehm war, durfte das Zitularamt eines Master of the buck hounds 
nicht behalten. Auch Gtbbon, der, beiläufig gefagt, fih Hatte gebrauchen 
laſſen, das Manifeſt gegen Spanien zu verfertigen, verlor damals ſeine 
Sinecure; denn Burke beſchränkte freilich ſeine Reformbill, ſo ſehr er 
immer konnte, durfte aber doch des Scheins wegen nicht den ganzen Antrag 
zurückziehen. 


Seekrieg um 1782. 333 


um plößlich von ihm abzufallen. Holland verdanfte übrigens den 
Franzofen die Rettung yon Geylon und vom Vorgebirge der guten 
Hoffnung. Was die Amerikaner angeht, jo hatte das Mintftertum 
zuerſt öffentlich im Parlamente erklärt, daß e8 bereit fei, die Un— 
abhängigkeit der dreizehn Provinzen von Amerika anzuerkennen, 
und hatte dann den Admiral Digby und Sir Guy Garleton nad) 
Amerika herüber geſchickt. Man wählte ausdrücklich diefe Män— 
ner, weil man gegründete Urfache hatte, zu glauben, daß fie des 
Zutrauens der Nepublifaner gensffenz fie fanden aber um fo 
weniger Gehör, als das Kriegsglück die Engländer in diefem 
Fahre nur allein in Weftindien begünftigte, ihnen aber fonft an 
vielen Stellen entgegen. war, 

In Weftindien erntete das neue Miniftertum durch Rodneys 
Triumph die Frucht einer Saat, welche es nicht gefaet hatte, und 
diefer Triumph war um fo größer,. als vor der Rückkehr des 
Admirals das Anfehen der englifchen Seemacht in jenen Gemäf- 
fern ganz gefunfen gewejen war, AS Rodney am 19, Februar 
1782 mit einer DVerftärfung von Schiffen aus Europa zurück— 
fehrte und das Kommando der ganzen Flotte wieder übernahm, 
waren alle englifchen Befitungen und Eroberungen außer Antigua, 
Barbados und Jamaica verloren. Die fpanifche und franzöſiſche 
Flotte Hatten fich vereinigen und auf Jamaica eine Landung ver— 
fuchen follen, um den Englandern auch dieſe ihre Hauptbefigung 
zu entreißen. Die Bereinigung der beiden Flotten Hatte fich aber 
verzögert umd die franzöfifche Flotte für fich allein war, wenn 
gleich die Engländer das Gegentheil behaupten, der eng- 
liſchen an Zahl der Schiffe nicht gewachſen; fie fuchte daher vor 
ihrer Vereinigung mit den Spaniern einem Treffen auszumweichen. 
Nach der Vereinigung würde die Zahl der Tpanifchen und fran= 
zöſiſchen Schiffe auf fechzig angewachjen fein, Die franzofifche 
Flotte war übrigens nicht blos viel zu ſtark bemannt, was man 
überhaupt damals franzöfifchen Kriegsſchiffen vorzumerfen pflegte, 
jondern fie hatte noch außerdem fechstaufend Mann Landtruppen 
zum Angriff auf Jamaica an Bord, fo daß ihr Verluft an 
Menfchen bei einem Treffen ungewöhnlich groß werden mußte, 
Die Bauart der. franzöfiichen Kriegsichtffe, welche bekanntlich 
noch im Anfange dieſes Sahrhunderts den englifchen Schiffbau— 


334 Seekrieg um 1782 


meiſtern als Muſter empfohlen. ward, erforderte eine ſtärkere Be— 
mannung. Die Ville de Paris, de Graſſes Admiralſchiff, galt 
allgemein als das größte und ſchönſte Linienſchiff, welches je in 
England oder Frankreich erbaut worden jet. Es hatte 120 Ka— 
nonen und 1300 Mann an Bord, die anderen Binlenfihffe 
wenigfteng 900. 

Die franzöſiſche Flotte bildete dret Geſchwader * de. Graf; 
Vaudreuil, Bougainville, ſie ſuchte zwischen: den Inſeln hindurch 
zu ſegeln und ſich in deren Engen und an den Küſten derſelben 
ſeit dem Ende des Monats März der engliſchen Flotte zu ent— 
ziehen. Sie wollte ſich auf dieſelbe Weiſe, wie ſich vorher de 
Graſſe mit Solano vereinigt gehabt Hatte, mit der großen fpani- 
ſchen Flotte verbinden, Die englifche: Flotte: unter Rodney, Hood, 
Drake: war dies Mal glücklicher, als fie im vorigen Jahre gewe⸗ 
fen war, fie zwang die franzöſiſche Flotte ſchon am 9. April zu 
einem Gefechte in: der: Nähe: der Infel Dominica. Dies erſte 
Treffen, war dem Franzoſen rühmlich, weil fie fich ohne Schiffer zu 
verlieren, heranszogen 5 doch ward die Zahl ihrer Schiffer dadurch 
vermindert, daß ſie zwei derſelben, welche, in dem: Treffen ſtark 
bejchädigt waren, zurüdichiefen mußten, um fie ausbeflern zu 
laſſen. Auch die Mebrigen Hatten ſo viel ‚gelitten , daß ſie nicht 
mehr mit den englifchen gleichen Lauf halten konnten. Das Lebz 
tere gab Rodney Gelegenheit, fie zu zwingen, unter ungünſtigern 
Umſtänden als vorher ein zweites Treffen zu Kiefern. Die franz 
zöſiſche Flotte war nämlich der englifchen ſchon völlig ans dem 
Geſichte gekommen und Rodney war im Begriff, die Verfolgung 
derſelben aufzugeben, als ſich de Graſſe genöthigt ſah, umzu—⸗ 
kehren, wenn er nicht zwei ſehr beſchädigte Schiffe dem Feinde 
überlaſſen wollte. Dadurch ward am 12. das zweites Treffen 
unvermeidlich. Die Schlachtordnung der beiden Flotten ward in 
dem Meere zwiſchen Dominien und Marta Galante gebildet und 
son Rodney durch ein kühnes von ihm erfundenes Maneuvre zur 
See gewonnen. Dieſes Maneuvre nennt man ein Durchſchneiden 
der feindlichen Linie, denn. Rodney trennte zum Erſtaunen der 
Franzofen ihre Linie dadurch in zwei Theile, daß er; am dritten 
oder vierten Schiffe, von der Mitte DR * * — ſens 
Schiffen glücklich durchfuhr erh mi 


Minorca und Glibraltar. 335 


Das Treffen dauerte son neun Uhr Morgens bis neun Uhr 
Abends und endigte mit einem furchtbaren Verluſt der Franzoſen, 
obgleich Vaudreuil und Bougainville mit ihren Gefchwadern fich 
glücklich vetteten, "De Grafje felbft gab Beweife yon Heldenmuth 
und Ausdauer, welche ſelbſt vom Feinde bewundert wurden, Er 
vertheibigte nicht allein, als feine, Linie durchfhnitten war und 
die Ville de Paris von ‚zwei - feindlichen Schiffen angegriffen 
wurde, fein Admiralſchiff, bis die ganze Maunſchaft getödtet oder 
verwundet war, ſondern ließ ſich erſt gefangen nehmen, als er 
ſich nur noch allein mit zwei Mann auf dem Verdeck befand. 
Erſt dann ward die Ville de Paris mit noch fünf andern Linien— 
ſchiffen genommen, ein anderes Schiff war während des ‚Treffens 
geſunken und der Cäſar flog in die Luft, als das Gefecht kaum 
beendigt war, Der Verluſt an Menſchen, den die Engländer er— 
litten, war unbedeutend, die Franzoſen dagegen verloren, weil 
ihre Schiffe überfüllt waren, ſiebentauſend Mann und konnten 
vorerſt an eine Landung auf Jamaica nicht denken. Das für 
Jamaica beſtimmte ſchwere Geſchütz und die Vorräthe von Mu— 
nition fielen in die Gewalt der Engländer, nebſt den zur Bezah— 
lung der Truppen beſtimmten Geldern und der Ville de Paris. 
Das Schickſal des vorigen engliſchen Miniſteriums verfolgte 
aber auch das neue, und zwar ſelbſt im dev Mitte feines Triumphs. 
Die Wegnahme der feindlichen: Lintenfchiffe brachte nämlich den 
Engländern eher Verluſt als Gewinn ‚70) und Rodneys Steg 
war kaum ein Erſatz für den Verluſt von Minorca, der haupt— 
ſächlich der Nachläſſigkeit des vorigen Miniſteriums zugeſchrieben 
ward, "Die Spanier ſuchten Gibraltar und Minorca, als zwei 
im ſpaniſchen Erbfolgekriege auf ihrem Gebiete gegründete eng— 


70) Auf dem Caſar befanden ſich, als er in die Luft flog, außer 400 
Gefangenen ein engliſcher Schiffslieutenant und fünfzig Matroſen. Von der 
Ville’de Paris, welche im September unterging, erfuhr! manı nit einmal, 
wo fie geblieben ſei. Der Glorieux verfhwand am 17. und 18. Septeniber 
mit der ganzen englifchen Bemannung, ber Centaur fheiterte und gingiunter, 
ebenfo ber Hector, der Ramillies brannte auf der See ganz ab, und, der 
Verluſt der den Franzoſen abgenommenen Schiffe ward im Auguſt noch durch 
den Verluſt des ſchönſten Schiffs Ser engliſchen Flotte vermehrt. Dies Schiff 
war ber Royal George son 108 Kanonen, welches ‚ganz: ausgerüſtet im 


336 Minorca und Gibraltar. 


liſche Niederlagen des Eontrebande-Handels auf ſpaniſchen Küften, 
welche zu Bollwerfen des See- und Landfriegs der Gngländer 
geworden waren, wieder zu erobern, fie hatten deshalb Gibraltar 
ihon jeit 1779 zu Waffer und zu Lande enge eingefchlofjen. 
Außer den andern Anftalten, welche fie feit Juli 1779 son der 
Landfeite her gegen Gibraltar gemacht hatten, befeftigten fie auch) 
für ihre Heer ein Lager bei St. Rogue, und fanden Mittel, dem 
Hafen enge einzufchließen , da ein Theil der: englifchen Flotte ſich 
in den oftindifchen und weftindifchen Meeren befand und ein an— 
derer die bedrohten englifchen Küften ſchützen mußte. Rodneys 
erſte Fahrt in diefem Kriege ward daher dadurch wichtig für 
England, daß er, ohne fich Tange aufzuhalten, der bedrohten: Fe— 
ftung die Truppen, deren fie zur Verſtärkung der Beſatzung be— 
durfte, die Lebensmittel und die Kriegsporräthe für eine lange 
Belagerung zuführte. Das Mebrige that hernach der Commandant 
Elliot, der fich nicht fowohl durch Ausdauer des Duldens, wegen 
deren man jonft die Vertheidiger von Feftungen zu preijen pflegt, 
als durch feine Gefchieklichkett in Vernichtung dev coloſſalen Anz 
ftalten des Angriffs berühmt machte. | 
Während hernach die ganze Aufmerkſamkeit auf Gibraltar 
gerichtet war, fjann Karl II. von Spanien in feinem Kabinet 
auf eine Unternehmung gegen Minoren, wobei er franzöſiſche 
Ingenieurd zu Rathe zug und von franzöſiſchen Truppen unter= 
ftügt ward, Gore, der feine Gefchichte Spaniens unter Karl III. 
aus Papieren englifcher Staatsmänner, aus ihren Gejandtichafts- 
berichten und Meittheilungen, kurz aus allem dem Gerede und 
Gejchreibe der Diplomaten zufammengefeßt hat, worauf wir nur 
in jo fern einige Bedeutung legen, als ich in den Thatſachen 





Hafen von Portsmouth Tag und einer Aushefferung wegen auf die Seite ge⸗ 
legt und vielleicht ein wenig zu flark geneigt war. Alles war fertig, es be— 
fanden fich ein paar hundert Weiber, um Abfchied zu nehmen, an Bord und 
900—1000 Mann nebft dem wadern Admiral Kempenfeld. Um zehn Uhr 
Morgens, während ber Admiral in feiner Kajüte mit Schreiben beſchäftigt 
war, erhob fih ein Kleiner Windſtoß, und das Schiff ſank fo ſchnell, dag 
nur dreihundert Menfchen gerettet wurben, bie fi gerade auf dem Verbede _ 
befanden. Der Strudel, ven das finfende ungeheure Schiff ——— war 

ſo ſtark, daß ein Proviantſchiff mit hinabgeriſſen ward. aan 


Minsrea und Gibraltar. 93% 


ein deutlicher Erfolg oder Zufammenhang des Redens und Den— 
fend mit der Handlung ergibt, bringt das Unternehmen mit einem 
Projekt des englifchen Minifteriums in Verbindung. Wenn es 
aber auch wahr fein follte, daß die engliſchen Minifter die Kat- 
ſerin Katharina und Potemkin durch ein Tächerliches Projekt von 
Abtretung der wichtigen Feſtung zu täufchen gedacht hätten, fo 
verdiente dies doch Feiner hiftorifchen Erwähnung, weil es ein 
diplomatifches Luftgefpinnft war, wie deren alle Tage hundert 
gemacht werden. Ausgemacht gewiß dagegen und aus ben That- 
fachen ſelbſt Hervorgehend ift, daß König Karl II, ohne fein 
Miniftertum zu befragen und ohne. anfänglich auch nur den 
frangöfifchen Hof davon zu unterrichten, um 1781 den Entſchluß 
faßte, plötzlich Minorca anzugreifen, welches eine ſchwache Be— 
fasung hatte und ſchlecht verforgt war. Der Herzog von Grillen, 
der dem franzöfifchen Heere und franzöſiſchen Militärſchulen feine 
Militärbildung verdankte, aber ſchon feit dem fiebenjährigen Kriege 
in spanifchen Kriegsdienften war, follte das Landheer anführen 
und den Angriff Yeiten, die vereinigte ſpaniſche und franzöſiſche 
Flotte aber follte die Unternehmung gegen die englifche Seemacht 
beſchützen. Es waren nämlich damals wegen der Belagerung von 
Gibraltar unter Guichen und Don Juan de Cordova acht und 
vierzig ſpaniſche und franzöſiſche Linienfchiffe vereinigt; dieſe Flotte 
war den Engländern an Zahl überlegen. Unter dem Schutz der 
Flotte wurden achttaufend Mann Spanier von dem Belagerungs= 
heer vor Gibraltar eingefchifft und ohne daß weder Frankreich 
noch England etwas von. dem Plane geahnt hatten, am Ende 
Julius 1781 durch die Meerenge nach Minorca gebracht. Die 
Landung ward durch den Beiſtand der Minoreaner, welche mit 
Spanien wieder. vereinigt zu werden hofften, erleichtert. Sogar 
Citadella, Sort Fornella und einige andere Poften in der Nähe 
des Hauptorts Bort Mahon wurden ohne Schwierigkeit erobert, 
ſchon in der Mitte Auguft fiel ein bedeutendes Arjenal und ein 
Magazin in die Gewalt der Spanier und die ganze Belakung 
mußte fich in das Fort San Felipe ziehen, Dies Fort ganz allein 
vereitelte die Hoffnung der Spanier, die Inſel ohne eine fürmliche 
Belagerung in wenigen Wochen zu nehmen, denn es hatte einen 
tüchtigen Commandanten, war feit und beherrichte Bort Mahon. 
Sqhlofſer, Geſch. dr 18: u. 19 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 22 


338 Minorea und Otbraltar. 


Grillen hatte gehofft, den englischen Befehlshaber Murray, 
einen Mann aus einer der angefehenften fchottifchen Familien, 
entweder zu überrafchen oder durch eine Million Livres zu beſte— 
chen; er gerieth in nicht geringe Verlegenheit, als beides fehlſchlug, 
weil man auf eine fürmliche Belagerung nicht gefaßt war md 
eine. bloße Einſchließung fich fehr in die Länge ziehen und den 
Erfolg zweifelhaft machen konnte. Die Spanier fahen ſchon im . 
September ein, daß ihre eigne Ausräftung zur Einnahme des 
Forts nicht hinveichen: werde und wandten ſich an Frankreich um 
Beiftand. Man fandte ihnen unter. dem Baron von Falfenbayır 
viertauſend Mann guter Truppen, alle Vorräthe und das fchwere 
Geſchütz, welches zu einer förmlichen Belagerung erforderlich war. 
Als im Oktober das: frifche Heer, die: Kanonen und: Kriegsvor— 
räthe ankamen, hatte ſchon das Entbehren frifcher und grüner 
Nahrungsmittel unter den Engländern und den Hannoveranern, 
welche, zwei Drittheile der Beſatzung ausmachten, furchtbare Ver— 
heerung angerichtet, Durch Genuß des gefalzenen und gedörrten 
Fleiſches und der trocknen Gemüfe waren die erwähnten‘ zwei 
Drittheile durch. Scorbut dienſtunfähig und unter dem dritten 
Drittheile befanden ſich vierhundert Invaliden. Je ſchwächer die 
Engländer waren, um deſto mehr ward eine kühne und glückliche 
Unternehmung im ganz Europa gepriefen und auch. vom den 
Feinden anerkannt, welche Murray noch im November mit feiner 
Heinen Zahl von Leuten, die noch dazu Frank und ausgemergelt 
waren, gegen das Hauptquartier der Belagerer ausführte: Der 
Herzog von Crillon hatte nämlich‘ fein Hauptquartier am Gap 
Mila und ward dort son den wenigen Engländern des Forts fo 
plötlich überfallen, daß er nicht allein fein Heer von dieſem Po— 
fen ganz. weggtehen mußte, fondern ihn audy geraume Zeit hin— 
durch nicht wieder einnehmen Fonnte, Die Belagerungsarmee 
beftand aus fechzehntaufend Mann, hatte hundert und nem Stüd 
ſchweres Geſchütz und fechsumddreißig Mörſer, die Beſatzung war 
durch Scorbut faſt ganz dienftunfähig gemacht und ein Pulver 
magazin gefprengt, nichtsdeftomweniger mußte man die Belagerung 
ganz nach der Regel fortfegen Im Januar 1782: war man 
endlich mit den: Arbeiten: dieſer Belagerung ſo weit fortgeſchritten, 
daß man das Feuer aus hundert und fünfzig Stücken eröffnen 


Gibraltar. 339 


konnte. Die Engländer vertheidigten ſich trotz des zerſtörenden 
und mörderiſchen Feuers der Belagerer aufs ſtandhafteſte, was 
um fo mehr bewundert ward, als Commandant und Vicecom⸗— 
mandant gewiſſermaßen in offnem Zwiſt waren, Ms endlich much 
der für fo ſehr viele Kranke ganz unentbehrliche Vorrath son 
Arzneimitteln durch eine Bombe zerſtört ward, mußte man am 
5; Februar an eine Kapitulation denten. Die Tauſende det Bes 
lagerer mit ihrer migehenven Menge, von Geſchütz wurden gang 
befchämt, als die Paar hundert Leite vom elendem Ausſehen, die 
fich fieben Monate Yang gewwehrt hatten, der Kapitulation gemäß 
aus dem Thore des Forts zogen, 71) 

Die Infel Minoren war feit achtzig «Jahren im dem Händen 
der Engländer gewefen, die Hoffnung des Königs von Spanien, 
endlich auch Gibraltar nehmen zu können, erwachte Daher mit 
nener Stärke, obgleich ev fett dret Jahren Koſten und Mühe 
ganz vergeblich auf die Belagerung, dieſes Felſens verſchwendet Hatte, 
Der Bericht über die Anftalten zu diefev Belagerung und aber deit 
Aufwand, den man dafür machte, lautet faft wie eine orientalifche Ge= 
ſchichte. Im Fahre 1782 wollte man mit der franzöſiſchen und ſpa⸗ 
niſchen Flotte auch die niederländiſche zum Behuf dieſer Belagerung 
vereinigen, dies gab aber nur Veranlaſſung, daß die Regierung des 
Erbſtatthalters ihrem Gegnern noch verdächtiger ward: als ſie vorher 
war, weil man fie beſchuldigte, Dev große Plan ſei durch ihre Schuld 
geſcheitert. Es zeigte ſich nämlich bei dieſer Gelegenheit aufs 
neue, daß das Intereſſe des Erbſtatthalters und ſeiner Familie 
ein ganz anderes ſei, als das der Ariſtokratie des Landes, ſoweit 
dieſe nicht innig mit Oranien verbunden: war, Das eine erfor⸗ 
derte, ſich an England zu halten, das andere, ſich innig mit 
Frankreich zu: verbinden, Es hatten daher die Generalſtaaten ind 
die Regierungen dev einzelnen Provinzen ſich ſeit Frühjahr 1782 





71) Die Garniſon erhielt alle militäriſchen Ehren und durfle nach Eng⸗ 
land zurüdfchrem Es waren ſechshundert alte abgelebte Soldaten, hundert 
und zwanzig königliche Artilleriſten, zweihundert Matroſen, zwanzig Corſica⸗ 
ner, fünfundzwanzig Griechen, Türken, Mauren, Juden u. ſ. w. Am Abend 
vor der Capilulallon gebrauchte man zur Beſehzung der nöthigſten Poſteu 
415 Mann, Hatte aber, um fle —52 nur 245 Mann, alſo 170 weni⸗ 
ger, als nöthig waren · 

22* 


340 Gibraltar. 


immer enger an die nordamerikaniſche Republik, an Spanien und 
Frankreich angeſchloſſen, die Regierung, oder vielmehr Ernſt Lud— 
wig, Herzog von Braunſchweig, im Namen des Prinzen als Ober- 
admiral und Generalfapttäan, unterhandelte insgekeim mit dem 
neuen englifchen Miniftertum. In dem Augenblide hätte die 
Verbindung der erbftatthalterifchen Partei mit England der Re- 
publik nüßlich werden können; denn das englifche Miniftertum 
bot einen guten Frieden an, die Batrioten bewirften aber, daß 
die Generalftanten dieſen verwarfen. Die oraniſch-engliſche Re— 
gierung rächte fich dann, als das holländiſche Geſchwader, welches 
die franzöſiſche Flotte verftärfen und dann in Verbindung mit der 
ſpaniſchen bei Gibraltar gebraucht werden follte, in Breſt erwar— 
tet ward. Es erflärte namlich zum Erſtaunen der ganzen niederländi- 


C ſchen Nation der Erbftatthalter und Erbadmiral in Meberein- 


flimmung mit den durchaus oraniſch gefinnten Befehlshabern 
im September 1782, daß e8 für dies Jahr zu ſpät ſei, große 
Kriegsichiffe nach Breſt abgehen zu laſſen. 

Dadurch ward dann auf der einen Seite der Plan eines 
Angriffs: auf Gibraltar, wobei mit großer Uebermacht an Zahl 
der Schiffe die englifche Flotte abgehalten oder vernichtet werden 
ſollte, vereitelt; auf der andern aber die Unzufriedenheit in den 
fieben Provinzen und die Gährung fo vermehrt, daß man ſchon 
damals einen Ausbruch von Unruhen fürchtete. Die Verabredung 
wegen der Bereinigung der: fümmtlichen Flotten war eine Folge 
des veränderten Plans der Belagerung von Gibraltar, worauf 
damals die Erwartung und Aufmerkſamkeit yon ganz Europa 
gejpannt waren, weil Frankreich und Spanien ihre ganze Macht 
zur: Groberung, England zur Vertheidigung der 1704 ohne Wi- 
deritand eingenommenen Felſenburg aufboten,  Diefe Belagerung 
war fett Juli 1779 nur son der Landfeite her anhaltend betrieben 
worden, Bon diefer Seite her war fo wenig auszurichten, daß der 
General. Elliot ruhig zufah, wenn die Spanier neue Batterien 
bauten und fehr bedeutende Summen auf Errichtung und Ein- 
richtung derſelben verwendeten und hernach, wenn Alles fertig 
war, mit. feiner vortrefflichen Artillerie die Batterien in einem 
Sage zuſammenſchießen ließ. Bon der Seeſeite her ging e8 den 
Spaniern noch Schlimmer; fie waren nicht einmal im Stande, bie 


Bo 


Gibraltar. 311 


engliſchen Kriegsichiffe, Panther und Experiment, welche den 
Hafen vertheidigten, zu verbrennen, obgleich Brander gebaut und 
eingerichtet und Don Barcellos Flotte zur Befchlitung der Unter 
nehmung gegen den Hafen beordert war. Die Brander wurden 
aber ungefchieft geleitet und Don Barcellos Flotte bei dem Un— 
ternehmen ſehr übel zugerichtet, 

Wir Haben ſchon oben erwahnt, daß nach diefen vereitelten 
Verſuchen von der Seeſeite aus die Engländer nicht konnten ab— 
gehalten werden, die Feſtung mit allem Nöthigen reichlich zu ver— 
ſehen, ſo daß ſie um 1781 viel beſſer verſorgt und beſetzt war, 
als um 1779 vor der Einſchließung. Die Beſatzung, großen 
Theils Hannoveraner, war nach und nach bis auf ſiebentauſend 
Mann vermehrt und beſtand aus lauter auserleſenen, kräftigen 
Leuten, auch hatte man die geſchickteſten und geübteſten Artilleriſten 
dahin geſchickt. Seit dem einem Feldzuge ähnlichen merkwürdigen 
Ausfalle, den die Beſatzung mit dem glänzendſten Erfolge gegen 
die Spanier, welche die Stadt von der Landſeite angegriffen, un— 
ter Elliots eigner Anführung und unter dem General Roß am 
27. November 1781 ausgeführt hatte, gab man die Hoffnung, 
allein von diefer Seite her die Feftung zu nehmen, aufs neue 
auf und verfuchte ganz neue Mittel von der Seeſeite her anzu= 
wenden, Zu der Zeit namlich, als Elliot und Roß den merk- 
würdigen Ausfall thaten, Hatten die Spanier fich mit: der Vor— 
ftellung getäufcht, daß fie auf der: Landfeite eine vierte Parallele 
zu Stande gebracht hätten, welche dem Feuer der Feinde trotzen 
werde, und nahe genug fei, um dem Geſchütze Wirkung geben zu 
fonnen, Sie war in der That bis auf taufend Ruthen von der 
Feftung fortgeführt, als ploglich die ganze Garnifon in drei Ko— 
lonnen ausrückte und die Spanier überrafhte, Die Kanonen 
wurden vernagelt, die Werke zerftört, gefprengt, verbrannt und 
innerhalb einer Stunde die Arbeiten mehrer Monate vernichtet. 

Um diefe Zeit, als die mehre Monate Hindurch genährte 
Hoffnung, der Feftung son der Landfeite beizufommen, vereitelt 
war, ließ fich dev König von Spanien, der die Erpedition gegen 
Minorca angegeben und gleich der Belagerung von Gibraltar als 
perfünliche Angelegenheit angefehen und betrieben Hatte, auf dein 
ganz abentenerlichen Plan einer Beſchießung son der Seefeite 


342 Oibraliar. 


durch ſchwimmende Batterien ein. Die Erfindung der ſchwimmen⸗ 
den Batterien kann nur mit Xerxes Zug gegen die Griechen, oder 
doch mit ſeinem Brückenbau verglichen werden und hatte eben ſo 
verderbliche Folgen für die Urheber als der letztere. Der frau— 
zöſiſche Ingenieur, mit dem Karl III. ſelbſt den Plan verabredete 
und welcher den Bau angab und leitete, war und blieb als einer 
der geſchickteſten Männer ſeines Fachs bekannt, gleichwohl fällt 
jedem, der weder vom Seeweſen noch vom Belagerungskrieg das 
Geringſte verſteht, die Abenteuerlichkeit ſogleich ins Auge. Es 
war nämlich der Rathgeber des Königs von Spanien derſelbe 
Ritter Areon, der fpAter in der Schreckenszeit Carnot zur Seite 
fand, als er die bewunderten Inftruftionen für die erobernden 
Armeen der franzöfifchen Republik entwarf, Er ftarb 1800 unter 
Bonapartes Gonfulat als Divifionsgeneral, als Inſpektor der 
Beftungen und Mitglied des Inftituts, wie man die Academie 
damals nannte. Der Plan diefes Ingenieurs, den König Karl II. 
biffigte, ging dahin, die Feftung von dem Hafen aus zu beſchie— 
Ben und zu diefem Zweck den Hafen mit ungehenern ſchwimmen— 
den hblzernen Bauwerken anzufüllen, worauf man das fchwere 
Geſchütz und die Mörſer den Werfen nahe bringen könne, Den 
zu dieſer Abficht auf Unterlagen von Schiffen gebauten, fehr zu— 
fammengefeßten hölzernen, fchwerfälligen Gebäuden gab man den 
Namen ſchwimmende Batterien, 

Ganz Europa harrte mit gefpannter "Erwartung auf den 
Ausgang des Unternehmens gegen einen bloßen und vereinzelten 
Selfenz denn die Anftalten auf der Landfette waren nicht weniger 
furchtbar, als die Rüftungen auf der Ser Es Tagen nämlich 
hinter den Landbatterien vierzigtauſend Spanier, zu denen ein 
Hülfsheer von zwölftauſend Mann Franzofer tief. Aus allen 
Gegenden Europas, befonders aus Frankreich, Spanten und Sta- 
lien ſtrömte die vornehme Welt zufammen, um dem Schaufpiele 
der Eröffnung des Feuers’ vor Gibraltar beizuwohnen. Auch Lud- 
wigs XVL Brüder vermehrten ihren loſen Aufwand und ihre 
Schulden durch die in der Tofifpieligen Begleitung ihrer Teichtfer- 
tigen Umgebung unternommene ‚Reife ins Rager von St. Roque. 
Eine ſehr üble Vorbedentung für den Ausgang des aben- 
tenerfichen Unternehmens und fir den Grfolg der coloffalen Vor— 


Gibraltar 343 


bereitungen war, daß, während König Karl IIL und dArçon, 
welche zwar Theorie des Kriegsweſens, aber auch nicht die ges 
ringſte praftifche Erfahrung hatten, an dem Ausgange gar nicht 
zweifelten, die beiden ſpaniſchen Feldhern, die zu Lande und zur 
See gedient und Erfahrungen erworben hatten, Griffen und der 
Admiral Bonaventura Moreno, auch nicht das geringfte Zutrauen 
zu den großartigen Anftalten zeigten. Die ungeheuern Hokmaf: 
fen waren in der Bay son Aldſcheſiras gebaut und die Englän— 
der Tachten im Stillen der im Gabinet ohne alle nautifche Erfah— 
zung bereshneten Unternehmung, welche ihnen eine fichere Beute 
bereitete. 

Der Angriff ward auch diefes Mal wieder von der Lande 
feite begonnen und endigte, wie er noch jedesmal geendigt hatte, 
jobald das Feuer eröffnet war. Elliot richtete vom 5. bis 8, 
September fein furchtbares Feuer auf die nen errichteten Batte— 
vien am Lande und fchoß auf diefelbe Weiſe wie er hernach durch 
glühende Kugeln und Bomben die fchwimmenden Batterien ver— 
nichtete, in den drei Tagen alle die Werfe vollig zufammen, welche 
die Feinde in neun Monaten an der Landſpitze errichtet Hatter, Die 
Spanier bauten indeffen fogleich eine neue Batterie von 64 Ka— 
nonem und warfen bis zum 13. September, an welchen Tage 
auch das Feuer von der See aus eröffnet ward, 6300 Kugeln 
und 1080 Bomben in die Stadt, Elliot erwiderte das furcht- 
bare Fener gleich heftig und feßte, als am 16, die ſchwimmenden 
Batterien aus dem Hafen von Aldſcheſiras jchwerfällig an den 
Fuß des Felfens: gebracht waren und das betäubende Schießen. be= 
gann, fein Hauptvertrauen auf die glühenden Kugeln, deren er 
nach einer vorher mit großer Einficht gemachten Cinrichtung in 
einem einzigen Tage viertaufend auf die unten Megenben hölzer⸗ 
nen Bauwerke herabſchleuderte. 

Die Einrichtung der Dächer der Batterien ſchien einige Stun- 
den lang die gewünfchte Wirkung zu thun, denn ſelbſt die Bom— 
ben vollten von den durch die Taue elaftifchen naffen Fellen her- 
unter, mit denen fte gedeckt warenz aber fobald eine einzige glü— 
hende Kugel tiefer in das größte der Schiffe eindrang, zeigte fich, 
daß die Einrichtung der Lagen von Korkholz und naſſem Sande 
auf Feine Weife die Entftehung einer Entzündung verhindern könne. 


344 Gibraltar. 


Sobald es einmal an verſchiedenen Stellen rauchte, verlor her— 
nach die Bemannung die Beſinnung. Schon um ein Uhr in der 
Nacht des 14. Septembers ſtanden die beiden größern Batterien, 
bald auch einige andere in Flammen, und Capitän Curtis be— 
nutzte ſogleich den günſtigen Augenblick, und erſchein mit ſeinen 
Kanonenboten. Er commandirte zwölf engliſche Kanonenbote, 
von. denen jedes einen Achtzehn= und Vierundzwanzigpfünder führte; 
diefe fehiefte er jett in die Bay, um die ſpaniſchen Kanonenbote 
zu vernichten, welche den Batterien hätten Hilfe Teiften können 
und foffen. Die Kanonenbote flohen und überließen die Batterien 
ihrem Schieffal. Acht der ungeheuern Schiffe verbrannten und 
flogen in die Luft, unter ihnen war das Admiralſchiff; eins fiel 
in die Gewalt der Engländer und das zehnte serbrannten dieſe, 
weil fie es nicht fortbringen konnten, 72) | 
Einen Theil der Mannfchaft, welche fich auf den Batterien 
befand, retteten die Spanier, etwa vierhundert Menfchen wurden 
son den Engländern aus dem Waſſer gezogen, doch kamen über 
fünfzehnhundert auf die elendfte Weife ums Leben, Die uner- 
meßlichen Koften der Belagerung waren auf diefe Weiſe für Spa— 
nien gänzlich verloren und Hatten nur gedient, dem englifchen Ge- 
neral Efliot und dem Generallieutenant Boyd einen unfterblichen 
Ruhm zu verfchaffen. Den Ruhm der DVertheidiger der Feſtung 
theilte hernach der Admiral Home, als er von der See aus das 
sollendete, was fie zu Lande begonnen hatten, Cr verhöhnte die 
fpanifche und franzöfifche Flotte, die ihn nicht anzugreifen wag— 
ten, wie die Vertheidiger von Gibraltar die vereinigte Landmacht 
beſchämt hatten, Admiral Howe Tief nämlich mit einer Flotte von 





72) Es waren die zu ſchwimmenden Batterien eingerichteten Schiffe fol- 
gende: 1) Paſtora, 211 Stück und 10 Referve, 760 Mann, Contreadmiral 
Moreno; 2) Talla Piedra, 21 St. 10 Ref., 760 Mann, Prinz von Naſſau; 
3) Paula Prima, 21 St. 10 R., 760 M., Don Cajetan Langara; 4) El. 
Rofaris, 19 St., 10 R., 700 M., Don Franzefeo Xavler Munoz; 5) San 
Epriftosal, 18 ©t., 10 R., 650 M., Federico Gravina; 6) Principe Carlos 
11 St., 4 R. 400 M., Antonio Bafurta; 7) San Juan, 9 St., 4 Ref., 
340 M., Joſef Angelos; 8) Paula Serunda, 9 St., 4 R., Bablo de Coſa; 


9) Santa Anna, 7 ©, 4 R., 800 M.; 10) Los Dolores, 6 St, 6 R. 
250 Mann. 


For und Pit bis 1784. 345 


vier und dreißig Linienfchiffen in demfelben Augenblick von Spit— 
head aus, als zwifchen den Belagerten und den Belagerern ein 
fo heftiges und anhaltendes Artilleriefener unterhalten werden 
mußte, daß Elliot faft alle Vorräthe feiner Munition erfchopfte 
und ſoviel Leute verlor, daß er einer Verftärkung bedurfte, Howe 
hatte Auftrag, ihm mit dem Nöthigen zu verforgen und führte 
diefen Auftrag troß der feindlichen Flotte von 64 Segeln, unter 
denen 42 Lintenfchiffe waren, glücklich aus, Howe griff zwar bie 
feindliche Vebermacht nicht gerade toflfühn an, aber er erjchien in 
ihrer Nähe, er forderte die Feinde gewiffermaßen heraus und 
deofte in der Nähe dev Bay, mo er feine Vorräthe und Truppen 
ausfchiffen wollte, dem Feinde trotzend, die achtzehn Transport- 
fchiffe, die er in den Hafen fehiefte, mit feiner Flotte gegen bie 
ihm an Zahl weit überlegenen Feinde. Er fchiffte außer andern 
Borräthen zwei Negimenter aus und lieferte der Feftung von den 
Borrathen feiner Flotte fünfzehnhundert Fäſſer Pulver, ohne daß 
man ihm anzugreifen wagte. Ein Zeitgenoffe diefer Greigniffe, 
dem wir fonft nicht gerade viel Mrtheil zutrauen (Wrarall), ur— 
theilt über Diefe That fo verftändig, daß wir fein a unten 
beifügen wollen, 73) 


$.4 


Kampf zwifhen For und Pitt bis 1784, 


AS die im. Vorhergehenden erwähnten Kriegsereigniffe er- 
folgten, befand fich der König yon England an feinem eignen 
Hofe in der größten Bedrängniß. Ein neues Minifterium war 
jeit —2 1782 eingerichtet, aber es gerieth mitten im Glück in 





73) Without engaging he defied the combined fleets, offered battle, 
but did not seek it; effected every object of the expedition by relie- 
ving Gibraltar and then retreated; followed indeed by the enemy, but 
not attacked. They made, it is true, a show of fighting, but never 
'ventured to come to close action. And with such contempt did Lord 
Howe treat the cannonade commenced by the van composed of French 
ships under La Motte Piquet, that having ordered all his men on board 
the Victory to lie down flat on the deck, in order that their lives might 
not be needlessly exposed, he disdained to return a single shot against 
such cautions or timid opponents. 


8346 Kor und Pitt bis 1784 


größere Verlegenheit, ald die war, in welcher ſich Lord North 
und feine Gollegen, während das Schickſal fortdauernd ihnen ent- 
gegen war, befunden hatten, Das gemifchte Minifterium nämlich, 
welches im März 1781 war eingerichtet worden und zum Theil 
aus folchen Leuten beftand, welche fo wenig als möglich vom alten 
Wege abweichen wollten, und von Shelburne abhingen, war gleich 
im Anfange unficher und ſchwankend. Der Herausgeber der oft 
anzuführenden Gorrefpondenz fagt (L pag: 26): das Gabinet be— 
ftand aus Whigs, Rockinghams und Chathams oder Shelburns 
zwei Sectionen derfelben Partei, welche fich nie innig vereinig- 
ten (cordially coalesced). Außerdem wollte damals der König 
feinen perfönlichen Einfluß noch nicht aufgeben und Fonnte Män- 
ner wie For, Sheridan, Burke und Andere durchaus nicht leiden. 
Das Minifterium löste ſich aber fehneller auf, als man erwartet 
hatte, weil Rockingham ſchon am 1. Juli in feinem zweiundfünf⸗ 
zigften Jahre ſtarb. Da ſich Shelburne nach dem Tode feines 
Collegen mit deſſen fcheinbar revolutionären Freunden nicht mehr 
vereinigen Fonnte, jo wagte er, was er vorher nicht gewagt-hatte, 
aus feinen eignen Anhängern ein Minifterium zu bilden. Dies . 
Minifterium mar von zwei Seiten gedrängt; auf der einen vom 
Anhange des Minifters, der den nordamerkfanifchen Krieg ange— 
fangen hatte, auf der andern von For und feinem Anhange, welche 
dem Scheine nach republifanifche Grundfäte vertheidigten. Shel— 
burne hatte daher einen fehr fehweren Stand, Schon von dem 
Augenblick an, als For, Burke, Sheridan und die andern Freunde 
Rockinghams im Juli aus dem Minifterium austraten und Op- 
pofitton bildeten, war der drei und zwanzig Jahre alte, jüngere 
Pitt, mit dem fehon feit Dezember 1781 Dundas innig verbun— 
den gewejen war, derjenige, welcher die Sache des neuen Mini— 
fteriums im Unterhaufe, aljo auf dem entfcheidenden Kampfplatze 
verfechten mußte, Pitt Hatte Hinter und um fi Lord Cha— 
thams ganzen Anhang, der von dieſer Zeit an ihm ſtets treu 
blieb, weil ev Alles aufrecht hielt, was der. Ariftofvatie theuer 
und werth war, Pfründen, Sinecuren, verfallene Flecken mit ein- 
gerechnet. Nicht Shelburne, fondern Pitt als Kanzler der Schab- 
fammer war daher eigentlich Hauptperfon des im Juli errichteten 
dritten Minifteriums des Jahrs 1782, neben ihm fand Dundas, 


Fox und Pitt bis 1784. 347 


ber unter Lord North Generaladvofat yon Schottland geweſen war, 
als Schatmeifter dev Flotte, und machte fich durch feine genaue 
Bekanntichaft mit den imdifchen Angelegenheiten ganz unentbehr- 
lich für Pitt. Schon das vorige Minifterium hatte, die Noth- 
wendigfeit eingefehen, dem Kriege ein Ende zu machen, Bor 
hatte ſich deßhalb beſonders an Holländer und Nordamerikaner 
gewendet. Shelburne wandte fih an Frankreich, 

For, als Stantsferretär, hatte mit Franklin, dev fih in Pa⸗ 
ris befand, längſt einen Briefwechfel angefnüpft. Er hatte im 
April Lord Temples Bruder Grenpille, alſo einen Mann aus einer 
Familie, in welcher der Nepublifanismus erblich war, in Oswalds 
Begleitung nach Paris gefchteft and zu Anterhandlungen mit Ders 
gennes und Franklin bevollmächtigt, auch hatte dev Congreß noch 
neben Franklin, Jay, Adams, Laurens Vollmacht zur Friedens— 
unterhandlung gegeben, Nach der neulich befannt gemachten Cor— 
vefpondenz hatte aber Shelburne, als feine Eollegen den Thomas 
Grenville fchieften, um mit Amerika anzufnüpfen, in feinem und 
in des Königs Namen Lord Fitzewilliams geſchickt, der ihm ent— 
gegenarbeiten ſollte. Wir fehen zugleich aus Franklins jest voll- 
ftändig gedruckter, Correſpondenz, daß Franklin eigentlich allein die 
ganze: Ünterhandlung Teitete und dabei die Franzoſen hinterging, 
ohne daß man ihm jedoch irgend einen gerechten Vorwurf machen 
konnte; ſo ehrlich Schlau benahm er fi, Franklin brachte es 
namlich dahin, daß er in Baris für Amerika befonders unterhan= 
deln durfte, ohne den Abgeordneten der andern Mächte Mitthei- 
lungen zu machen. Auf diefe Weite ſchied er die Forderungen 
der Amerikaner an England, deren Erfüllung diefes ſchon vorher 
verfprochen Hatte, bei denen alfo gar Feine Schwierigkeit ftatt- 
fand, pon den ſchwierigen Unterhandlungen in Berfatlles und konnte 
fie gleichlanfend mit denjenigen führen, in welchen Vergennes für 
Spanien und Holland auf Punkte beftand, welche England nicht 
einräumen wollte. Sowohl die Unterhandlungen in Paris als 
die in Verſailles wurden vom April bis zum Juni nicht einmal 
Im eigentlichen Sinne in Gang gebracht, obgleich For wiederholt 
erklärt hatte, daß, wenn auch die förmliche Anerkennung der nprd- 
amertfantichen Republik erſt eine Folge des Friedens fein könne, 
England doch Fein Bedenken trage, mit derſelben, als mit einen 


348 For und Pitt bis 1784, 


unabhängigen Staate, zu unterhandeht, Die Zögerung, welche 
zum Theil von dem Zwieſpalt im englifchen Miniſterium, zum 
Theil von dem geringen Einfluß herrührte, den die liberale Par— 
tei, deren Nepräfentant For war, auf König und Nation hatte, 
zum Theil son Sheridans Leichtfertigfeit, erklärt John Adams in 
einem Briefe an Franklin kurz und durchaus richtig, wir fügen 
deghalb feine Worte unten bei. 7%) 

Sobald Shelburne die Leitung des Minifteriums übernom— 
men hatte, bot fich der König willig zu Allen, was man von 
ihm forderte, um des Kriegs entledigt zu werben und des Parla— 
ments weniger zu bedürfen. Schon gleich im Juli erhielt Fitz— 
herbert, der unter dem Namen Lord St. Helens ſpäter bekannter 
geworden tft, den Auftrag, wegen der Präliminarien mit den 
enropätfchen Mächten in Berfailles zu unterhandeln, Oswald 
ward befonders beauftragt, wegen Nordamerifa mit Franklin in 
Paris übereinzufommen. Franklin hätte gern den Abſchluß der 
Präliminarien aus Dankbarkeit gegen Frankreich und aus Recht- 
Tichfett verzögert, bis England auch mit Frankreich in Verfailles 
einig geworden jet, er ward aber von Jay und Adams überſtimmt 
und diefe unterzeichneten, ohne DVergennes, dem Amerika Alles 
verdankte, auch nur zu fragen. Das englifche Minifterium gab 
namlich nicht blos über. die Unabhängigkeit von Nordamerika, ſon— 
dern auch über das Gebiet jenfeit der blauen Berge, mo jebt 
die blühendften Provinzen und Städte find, über Häfen, Infeln, 
Fiſcherei nach; es forderte fogar, um nur Amerika fchnell von 





74) John Adams, der damals im Haag war, ſchreibt (Franklin, Works 
Vol. IX. p. 232) am 13. Junt 1782 an Sranflin: The discovery, that 
Mr. Greville’s power (feine Vollmacht) was only to treat with France, 
does not surprise me at all. The British ministry are too divided 
among themselves, and have too formidable an opposition against them 
in the king and the old ministers, and are possessed of too little of 
confidence of the nation, to have courage, to make concessions of any 
sort, especially since the news of their successes in the West and East 
Indies. What their vanity will end in, God only knows; for my own 
part, I cannot see a probability, that they will ever make a peace un- 
til their finances are ruined, and such distresses brought upon them, as 
will work up their parties into a civil war. 


For und Pitt bis 1784, 349 


feinen Verbündeten zu trennen, nicht einmal eine genaue Beſtim— 
mung der Gränzgen im Norden, weßhalb darüber noch bis vor 
wenigen Jahren heftiger Streit geweſen iſt. Nach dem in Ame— 
rika geltenden Grundſatz, dafs materielles Streben des Menjchen 
höchfter Zweck, großer Reichthum und äußeres Wohlfein fein letz— 
tes Ziel ift und fein fol, hatten die amerifanifchen Advokaten 
Jay und John Adams gegen Franklin im Sinne ihrer Lande- 
leute ganz Recht. Die amerikaniſchen Rabuliften erfanden dabei 
einen Ausdruck, welcher dienen follte, die Bedingung des Trac— 
tats mit Frankreich zu umgehen, nach welchem fie nicht eher Prä— 
Yiminarten unterzeichnen durften, bis Frankreich das Gleiche ges 
than habe. Ste nannten nämlich das, worüber fie einig wurden, 
nicht Präliminar⸗, fondern Proviſional-Artikel. Die Engländer 
mußten die Eiferfucht der Amerikaner zw ervegen, und Frank— 
lins Golfegen überftimmten und übereilten den Abſchluß. Frank— 
lins neueſter Lebenshefchreiber hat deutlich ausgefprochen, was 
Franklin in feinen Briefen nur leiſe andeutet, daß er die Fauf- 
männifch=juriftifche Undanfbarkeit, welche die Herren Jay und 
John Adams gegen Branfreich bewieſen, keineswegs billigte, 75) 





75) Sparks, Works of B. Franklin Vol. I. p. 489. The most re- 
markable circumstance attending. the treaty of peace remains to be no- 
ticed. The American envoys not only negotiated it without consulting 
the court of France, but signed it without their knowledge, notwith- 
standing they were pointedly instructed by congress „to make the most 
candid and confidential communications upon all subjeets to the mini- 
sters of our generous ally, the king of France, and to undertake no- 
thing in the negotiations for peace or truce without their knowledge 
and concurrence, and notwithstanding the pledge in the treaty of al- 
liance „that neither of the two parties should conclude either truce 
or peace with Great Britain, without the formal consent of the other 
first obtained.“ It is true, that the treaty was only provisional and 
was not to. be ratified until France had likewise concluded a tre— 
aty, but this reservation did not alter the nature of the. act. When the 
American treaty was signed, it was not known to the commissioners 
what progress had been made by the French in their negotiation, or 
whether it was likely to be completed, or the war to continue, There 
was also a separate article, which was not intended to be communica- 
ted to the French at all, concerning the southern boundary of the Uni- 
ted States, in case West Florida should be given up to the British in 
their treaty with Spain. 


350 For und Pilt bis 1784. 


Vergennes war daher mit Necht gekränkt und fand ſich fehr über⸗ 
vafcht, als ihm die amerikaniſchen Benoflmächtigten, ohne ihm mr 
die geringfte Nachricht son dem Erfolge ihrer Unterhandlungen 
gegeben zu haben, meldeten, daß fie am. 30, November 1782 Ste 
fogenannten Proviſional-Artikel unterzeichnet hätten, 

Durch die Anterzeichnung diefer Provifional-Artifel Hatte fich 
die nene Republik dev Sache nach ſchon ganz von Ihren Verbün—⸗ 
deten getrennt; e8 war daher blos eine jener Fietionen der Porn 
wegen, welche alle Tage in den englifchen Gerichten vorkommen 
und Niemand täufchen, wenn es hieß, die Unterzeichnung der Ba- 
rifer Präliminar-Artikel werde erft in Verſailles erfolgen, wenn 
auch die Engländer und Pranzofen über die Ihrigen einig ges 
worden feten, Die Uebereinkunft über die vorkäufigen Punkte des 
Friedens zwiſchen England und Frankreich ward befonders dadurch 
verzögert, daß König Georg TEE und feine Minifter während Des 
Kriegs, den König Karl von Spanten durch einen Wink wegen 
Abtretung oder Vertaufchung son Gibraltar zw einem befonderen 
Frieden zu bewegen verfucht hatten. Died mar des Königs son 
Spanien Lieblingsgedanfez er bot daher, als er den Pla mit Ge 
walt nicht hatte nehmen können, den Engländern an, ihnen für 
Gibraltar fehr bedeutende fpanifche Beſitzungen in ander Gegen- 
den abzutreten; aber. das englische Volk verlangte eben fo Teiden- 
ſchaftlich, daß der Felſen englifch bleibe, als Karl forderte, daß 
ex. wieder mit Spanien vereinigt werde. Das bloße Gerücht son 
dev Möglichkeit einer Abtretung von Gibraltar evvegte eine ſolche 
Bewegung In ganz England, gab der Oppofitton ſolche Stärfe 
und veranlaßte jo Heftige Neden im Parlamente, daß die Mini— 
ſter dieſe Reden nur durch Gefchtwindfchreiber durften nachſchrei— 
ben: und den franzöſiſchen Miniftern. mittheilen. laſſen, um. dieje 
und endlich auch dem König von: Spanien oder wenigſtens feine 
Minifter zu überzeugen, daß man an eine folche Bedingung nim⸗ 
mer denken dürfe, wenn man wolle, daß der Friede ‚den man 
ſchließe, som Parlamente gebilligt werde. 

Wenn in Holland- Einigkeit geweſen wire, wenn bie. umgite 
friedenen: Patrioten das: Beiſpiel dev Amerikaner hätten befolgen 
und jest wenigſtens der Negierung ihres Erbſtatthalters solle 
Vertrauen ſchenken wollen, fo Hätten fie viel beſſere Bedingungen 


For und Pitt bis 1784. 351 


erhalten können, als fie hernach erhalten haben; aber der Unwille 
der Staaten der Provinz Holland gegen England und gegen ihre 
eigne Regierung war zu groß. Die Staaten von Holland waren 
durchaus franzöſiſch geſinnt, fie trauten auf Vergennes, weil er 
ein ehrlicher Mann war, da bekanntlich fonft in feiner Sphäre 
Ehrlichkeit ſich nur felten mit der nöthigen diplomatifchen Klug— 
heit verbinden Yapt. Darum zirnte Franklin auch feinen Collegen 
darüber, daß ſie fich einen juriftifchen Kniff gegen Männer, wie 
Vergennes und Ludwig XVL waren, erlaubt hatten. Vergennes 
opferte in der, That, um Spanien nicht zu beleidigen und doc, 
den hartnädigen König Karl zum Frieden zu bewegen, Vortheile 
anf, die Frankreich hätte erhalten Fünnen, wenn es für fich allein 
hätte forgen und die Bundesgenoffen ihrem Schickſal überlaffen 
wollen. Dies hebt Franklin befonders hervor, als er am 14 
Dezember 17823 dem Gongreß die Artikel meldet, über welche 
man an diefem Tage vorläufig übereingefommen war, welche 
auch den Hauptinhalt der hernach am 10, Jannar 1783 unter- 
zeichneten Präliminarien ausmachten. 76) 

Florida und die Bahama-Inſeln waren den Engländern 
entrifjen worden. Diefe hatte anfangs’ Spanien herausgeben: follen, 
um Anderes: behalten zu dürfen, die Engländer hatten aber die 





76) Er ſchreibt am 14. Dezember (Worksi Vol. IX, p. 442): 1 have 
this day learned, that the; principal: preliminaries between Franee: and 
England: are, agreed; on,. to, wit: 

1) France. is to enjoy the,right of fishing and. drying on all the 

.. west coast of Newfoundland, duwn to cape Ray. Miquelon and 
St. Pierre are to be restored and may be fortified. 

2) Senegal remains to. France and’ Göree The Gambia is to be re— 
stored: entirely: to) England. 

3). All’ the. places. taken from France, im the East. Indies: to: be: re- 
stored, with a certain quantity of territory round them. 

4) In the West Indies, Grenada and the Grenadines, St. Christo- 
pher’s, Nevis and Montserrat, to be restored to England; St. Lu- 
eia to France; 

Es wurde an dem, was Franklin hinzufügte, noch Manches geändert, 
und Frankreich, durfte: auch, Tabago behalten: Die einzelnen Bedingungen anz 
zuführen, gehört nicht zu unferm 8weck, außerdem. findet man bei Lacretelle. 
hist. de Franco ro le 18, Vol. Y Dag- 324. die En in 
extenso. —2 


352 For und Pitt bis 1784. 


Inſeln in der letzten Zeit wieder erobert. Frankreich wollte aber 
Spanien bei guter Laune halten, weil ſowohl das franzöſiſche als 
das englifche Minifterlum den Frieden weit jehnlicher wünfchten 
und feiner viel mehr bedurften, als der König von Spanien; 
man überließ daher den Spaniern beide Floridas und die Inſel 
Minorca. Auch Frankreich erlangte einige Vortheile, Es erhielt 
die Infeln St. Pierre und Miquelet nebft dem Rechte des. Fifche 
fangs bei Terre Neuve auf demfelben Fuße zurück, wie es im 
Utrechter Frieden feftgefegt war. Frankreich mußte freilich. die 
eroberten Injeln in Weftindien wieder herausgeben, erhielt aber 
dafür die Niederlaffungen auf der Weftküfte von Afrika und Bon- 
dichery zurück, Wir werden freilich weiter unten zeigen, daß in 
Dftindien dadurch, daß Vergennes die Namen Vilnour und Val— 
daour verwechjelte, ein bedeutendes Gebiet für Frankreich verloren 
ging. In Weftindien behielt Frankreich die -Infel Tabago. Der 
wichtigfte Punkt für feine Ehre war, daß die läſtige Aufficht, 
welche die Engländer nach) den frühern Traktaten über Dünkirchen 
führen durften, endlich ganz. aufhörte. Frankreich ward des eng— 
liſchen Auffehers in einer Stadt feines Gebiets entledigt, es durfte 
den Hafen derfelben wieder eröffnen und die Stadt wieder befe- 
ſtigen. Holland allein ward im Frieden, wie vorher im Kriege, 
von Freunden und Feinden als ein Verbündeter betrachtet, den 
man weder ald Freund zu achten im Stande fei, noch als Feind 
zu fürchten brauche. Man gewährte zwar auch den Holländern 
Waffenſtillſtand, ward aber mit ihnen über die eigentlichen Be— 
dingungen des Friedens erit einig, als endlich am 3. September 
1783 der fürmliche Friede. abgejchloffen war, dem bie im den 
erften Monaten des Jahrs unterzeichneten Bräliminarien zu Grunde 
gelegt wurden. Zu diefer Verzögerung des fürmlichen Friedens— 
abfchluffes trugen die Stürme, die fich im englifchen Parlament 
wegen der Präliminarien erhoben hatten und die Veränderung des 
Miniſteriums nicht wenig bei. 

Die Präliminarien verkündeten dem englifchen Volke, welches 
fogar mit den durchaus vortheilhaften Bedingungen des Pariſer 
Friedens um 1763 unzufrieden gewejen war, trotz ber bedeuten- 
den Abtretungen, welche Frankreich und Spanien ihm machen 
mußten, nicht hefviebigt ward, Die ganze Schmach des letzten 


For und Pitt bis 1784. 353 


Krieges, Dieſer Friede war der ehrenvollite, den Frankreich fett 
einem Jahrhundert mit England, und umgekehrt dev nachthei- 
ligite, den diefes Reich mit jenem: gefchloffen Hatte, Das war 
mehr als der brittifche Stolz ertragen konnte. Man erhob ſich 
von allen Seiten nicht blos gegen das Minifterium, das die Nation 
verrathen haben follte, fondern ganz beionders auch gegen den 
König, der durchaus dem Kriege ein Ende habe machen wollen. 
Seht endlich redete Lord North, der bis dahin fich ruhig verhalten 
hatte, im Parlamente mit gleicher Heftigfeit, als Bor und fein 
Anhang gegen die Präliminarien. Dürften wir hier die für 
ung aus den neulich befannt gemachten Briefen der beiden Gren— 
ville Lord William Wyndham Grenville, der bis 1834 eine 
bedeutende Rolle fpielte, und Lord Temple, hernach Herzog von 
Buckingham) hervorgehende Anficht des fo laut gepriefenen confti- 
tutionellen Zreibens in England darftellen, jo würden wir viele 
Erbärmlichkeiten, welche unfere Anglomanen nicht zu kennen ſchei— 
nen, ans Licht bringen können. Das dürfen wir nicht wagen, 
theild weil wir dann viel ausführlicher werden müßten, als ung 
hier erlaubt ift, und dabei vieles Einzelne hervorziehen, welches 
den gewöhnlichen Lejer ermüden würde, Hauptfächlich aber, weil 
es ganz umfonft wäre, etwas zu berichten, was die Leute nicht 
wilfen wollen. Wir wollen daher den von Macaulay u. ſ. m. 
Erfüllten keinerlei Nergerniß geben, fondern nur denen, die fich 
auf Thatfachen, nicht auf Ideen in der Gefchichte und in der 
Politik jtügen wollen, empfehlen, in dem oft angeführten, fonft 
wenig intereflanten und nichts Neues enthaltenden Buche die 
Briefe aus den Jahren 1783 und 1754 aufmerkſam zu leſen. Die 
vornehmen Korrefpondenten hatten damals noch Schaum, was jebt 
nicht mehr der Fall iſt. Es machten namlich die beiden Parteien, 
welche Jahre Yang unverföhnlichen Krieg geführt umd deren Führer 
fich einer den andern einen fchamlofen Deſpoten und einen gott- 
Iofen Demokraten gefcholten Hatten, gegen - einen rechtlichen und 
nach der Art feines Volks zwar blind aber doch treu gläubigen 
König einen Bund, um ihm ihre Führer, welche er als Treuloſe 
verabſcheute, zu Miniftern aufzubringen. 

For und Lord North waren weder der Eine noch der Andere 


im Stande, ein Mintfterium und ein Parlament gegen Shelburne 
Schloſſer, Geſch. d. 18, u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl. 23 


354 For und Pitt bis 1784. 


und Pitt zufammtenzubringen, fie ſchämten fich daher nicht, ohne 
alle Rücficht darauf, daß fie Hundert Mal erflärt Hatten, daß 
der Grundſatz ihres Lebens und ihrer Verwaltung fich verhalte, 
wie Tugend zum Lafter oder wie Wahrheit zur Lüge, eine innige 
Verbindung einzugehen, über welche alle rechtlichen Leute tief be— 
trübt waren, Dieſe Verbindung nennt man das Goalitiong- 
Miniſterium Englands, Ber diefer Gelegenheit fah man au, 
wie wenig bie ehrlichen Leute in der Politik gehört werden dür— 
fen; denn das ehrfiche Miniſterium Shelburne mußte weichen 
und die beiden Häupter der Gegner deffelben durften wie zwei 
Mächte über die Theilung der Beute deſſelben unterhandeht, 
Shelburne wollte anfangs For die Hand reichen, damit wenigſtens 
Lord North nicht zum Schande der mit ihm jetzt verbündeten de— 
mofratifchen Oppofitton wieder ing Miniftertum komme; aber For 
war tiber dergleichen bürgerliche Bedenklichkeiten hinaus, er wollte 
nicht mit Shelburne im Miniftertum feinz auch wäre außerdem 
die Sache an Pitt geſcheitert, der von dergleichen Traktaten nicht 
hören wollte. 

Die Unterhandlung über die ſogenannte Coalition ih über 
die Theilung der dadurch. zu erobernden, vom 'englifchen Volke 
bezahlten Stellen und Benftonen und Stneruren, und über ihre 
Bertheilung zwifchen Freunden und Berwandten von Lord Hol- 
Sands Sohn, dem Redner und Republikaner For und dem Ur— 
heber des nordamerkfanifchen Kriegs ward ganz öffentlich betrie- 
ben.) Lord North Tieß durch, zwei Bevollmächtigte (den nach⸗ 
herigen Grafen von Gutlford und den Oberfien Fitherbert) 
mehre Tage hindurch, ohne daß der König nur befragt: worden 
wäre, die Bedingungen der unnatürlichen Minifterialalltang aus— 
machen, dann ward die Goalition am 16. und 17, Febuar 1782 





77) Der Herausgeber des Court and Cabinets of George I. 
fagt (I. 154): Powis observed that it was an age of sirong 
eonfederations a monstrous coalition had taken place between a 
noble lord and am illustrous commoner — — ihe lofty assexter 
of the prerogative had joined. in, alliance, with the worshippers of 
the majesty of the people. Cr fügt fehr bebeutend hinzu; such words 
had more purpose and meaning in those days, than the would have 


in our own. 
5 


For und Pitt bis 1784. 355 


mit beifptellofer Dreiftigfeit im Parlamente verkündigt. Um ven 
Zweck zu erreichen und das Miniſterium Shelburne zur Nieder- 
legung der Stellen zu zwingen, wollte man eigentlich den Präli— 
minarien die Zuftimmung des Parlaments verfagen, dies Fonnte 
aber nicht gefchehen, weil das Oberhaus feine Zuſtimmung ſchon 
gegeben Hatte. Das Minifterium konnte fich gleichwohl nicht 
behanpten , die Goalitton nahm vielmehr mit großer Keckheit von 
der Regierung im Parlamente Befis, ehe fie noch im Kabinet 
einen Sitz hatte. 

Lord North erklärte mit feiner gewohnten Dreiftigfeit, ex 
und fein Verbündeter wollten den durch die Präliminarien vorbe— 
reiteten Frieden nicht foren, fie wollten auch das Miniſterium 
nicht zur Verantwortung ziehen oder eine Abänderung der zuge= 
ftandenen Bunkte fordern, fondern blos Alles mißbilligen, damit 
das getadelte Miniftertum ihnen weichen müffe. For, deffen eigne 
Worte wir unten anführen, erklärte fich ganz damit einverftanden. 
Seine Worte zeigen, mit welcher Leichtigkeit, mit welcher genialen 
Verhöhnung deffen, was man im gemeinen Leben Wahrheit und 
Treue der Innern Meberzeugung nennt, er fich über feine Verbin— 
dung mit dem Manne ausfpricht, den er fechzehn Jahre Yang -als 
Urheber des Kriegs, als Unterdrücer der Freiheit und als Feind 
des Baterlandes verfolgt hatte. 79) Das Minifterium gab, ſchon 
dem Könige zu Gefallen und weil es die Mehrheit im Oberhauſe 
für fich Hatte, nicht fogleich nach, beſonders weil ſelbſt int Unter— 
hauſe die Goalition nur eine Mehrheit von wenigen Stimmen 
zählte. Der Kampf ward som 16. bis zum 22, Februar ohne 
Entfchetdung fortgefeßt, an dem Tettern Tage aber legte Shel- 
burne, dem man allgemein vorwarf, er Habe als Mintfter ein 





78) Im Texte wird nach den Anfichten geurtheilt, welche jeßt veraltet 
find. In Spanien, in England, in Frankreich nennt man jest Höcdfte 
Staatswiffenfhaft, was von uns gefcholten wird. Die ſpaniſchen 
Minifter, denen die franzöſiſche Reglerung die Breiten Ordensbänder gibt, 
werben reden, wie For bet dieſer Gelegenheit ſpricht. Diefer fagt nämlich 
mit einer Dreiftigfett, die Guizot unter Ludwig Philipp von Zeit zu Seit, 
Thiers Immer zur Schau trug, welde vor 1848 noch etwas befremdend war, 
jest niemandem mehr auffällt: I’have been accused of having formed 
an union with the noble lörd (North) whose prineiples Thave opposed 
for several years of my life, but ihe grounds of our opposition are 


23* 


356 For und Pitt bis 1784 


fchandliches Spiel mit Staatspapieren getrieben, jeine Stelle 
ploglich nieder. Wäre er rein vom Schmub der Geldfpefulation 
gewefen, wie Pitt hernach war, fo hätte er fich, wie man damals 
allgemein glaubte, gegen die verachtete und verhaßte Goalition 
zweier unmoralifchen Gegner behaupten können, obgleich dieſe 
durchgejett Hatten, Daß das Unterhaus die Erklärung erließ: „daß 
die Abtretungen, welche Großbritannien feinen Feinden durch den 
Proviſionaltraktat und durch die Praliminarartifel bewilligt Habe, 
bedeutender wären, als die Feinde in Nückficht der gegenwärtigen 
Lage ihrer Angelegenheiten und der gegenfeitigen Stärke hätten 
erivarten dürfen.“ Uebrigens ift der Vorwurf, den man. Shel- 
burne macht, nie eigentlich erwiejen worden; doch hat ihn Pitt, 
der noch fünf Wochen lang nach feinem Austritt: in der. Schaß- 
fammer dem Könige zur Seite blieb, um ihm den bittern Kelch, 
de Männer der Coalition um fich zu dulden, zu erfparen, jpäter 
nie wieder im Kabinet dulden wollen. | 

Der König zögerte und zauderte. Pitts Leitung dev Ge— 
jchafte war nur eine Nothhülfe, die mehrften Geſchäfte fanden 
in den fünf Wochen ganz fill und doch Konnte der König fich 
nicht entfchließen, fich und das Volk in die Hande einer gewifjen- 
Iofen Oligarchie zu geben, die alle Vortheile und Aemter, ohne 
ihn zu fragen, getheilt hatte, ehe nur das vorige Miniſterium 
entlaffen war. Der König ließ nicht allein das Miniftertum 
während der fünf Wochen von Pitts Interimsverwaltung ganz 
ohne Haupt, jondern er drohte fogar in einem Augenblid, als 
durch die Unficherheit des Kabinets alle Gefchäfte in Stocken ge— 
riethen, auf einige Monate nach) Hannover zu gehen und Eng= 
fand fich ſelbſt zu überlaſſen. 





removed and I do not conceive it to be honorable, to keep up ani- 
mosities for ever. I am happy at all times to have a proper oppor- 
tunity to bury my reseniments and it is the wish of my heart thatmy 
friendships should never die. The American war was the source of 
my disagreement with the noble lord and that cause of enmity being 
now no more, it is wise and fit to put an end to the ill-will, the any- 
mosity, the feuds and the rancor, which it engendered. It is a satis- 
faction to me to apply the appellation of friend to the noble lord; 
I have found him honorable as an adversary, and have no doubt of 
his openess and sincerity as a friend. | 


For und Pitt bis 1784. 357 


Schon feit Mitte März beſtürmte das Unterhaus den König 
mit wiederholten und dringenden Vorftellungen wegen. Beftellung 
eines neuen Miniſteriums, während die Coalition mit großer In— 
jolenz jeden Mann verjchmähte, der dem Könige zu Gefallen im 
Kabinet oder auch nur am Hofe zugelaffen werden follte, und 
jede auch noch jo Heine Aenderung an der verabredeten neuer 
Einrichtung der Verwaltung verweigerte. AS gegen Ende März 
auch Pitt feine Stelle aufgab und in den acht Tagen von feinem 
Austritt bis zur Entſchließung des Könige vom 2, April die 
ganze englifche Staatsmafchine ind Stocken gerathen war, gehorchte 
endlich der König der harten Nothwendigfett, Er ließ dann den 
Herzog von Portland rufen, gegen den er ſich Yange eben fo 
heftig geſträubt hatte al8 gegen Bor, der aber in der Korrefpon- 
denz der Grenville als der Gemäßigte unter den Liberalen bezeichnet 
wird. Der König wählte diefen, weil ihn die oligarchifche Parla— 
mentsbande zu ihrem Haupte erforen hatte, oder vielmehr, weil fte 
ihm gern die Ehre der Repräfentatton überlaffen wollte, Der Her- 
zog ward eriter Lord der Schatfammer, die ganze Kabinetsoligarchte 
beftand nur aus fieben Mitgliedern, ftatt daß das letzte Kabinet 
ans eilf Perfonen und das vorige aus neun befanden hatte, 

For war wieder Staatsſekretär für die auswärtigen, Lord 
North Für die Innern Angelegenheiten, Lord Keppel erhielt die 
. Stelle eines erften Lords der Admiralität wieder, Burke und 
Sheridan gehörten zwar zum eigentlichen Kabinet nicht, Doch 


wurden fie mit Stellen bedacht, die ihren Bedürfniffen und Wins 


chen angemefjen waren, fo daß auch fie für ihre Reden im Par- 
lament bezahlt wurden. Burfe ward wieder Zahlmeifter und | 
Sheridan Sekretär der Schabfammer, Die eigentliche Negterung 
während der Zeit des Coalitionsminiſteriums war in Bor Händen, 
die Hofämter, ‚Chrenftellen und Auszeichnungen ertheilte zufolge 
der Mebereinfunft Lord North; e8 mußte daher nothwendig bie 
Abneigung des Königs gegen Alles, was die Minifter vorſchlu— 
gen, fortdauern. Diefe Abneigung des Königs, verbunden mit 
der Oppofition, die von William Pitt und Dundas ausging, 
hemmte die Thätigkeit des Miniftertumg, dem ſonſt das Unter 
Lord Norths Leitung gewählte Parlament gänzlich angehörte, weil 
fich ja die vormaligen liberalen Mitglieder mit den abſolutiſtiſchen 


@ 


398 - Kor und Pitt bis 1784, 


vereinigt hatten, Alle Mühe, die Abneigung des Königs zu 
überwinden, war vergeblich, obgleich er in der Kunft fich zu vers 
ſtellen Meifter war, weßhalb man ihn falſch und Falt nannte, 
Gr gab den Miniftern Audienzen, empfing aber alle Glieder des 
Kabinets ſtets mit fteifer Förmlichkeit, feierlich und kaltz er ließ 
fich, son ihnen die nöthigen Maßregeln angeben oder vielmehr 
vorschreiben, fügte fich ihrem Nathe, unterzeichnete die vorgelegten 
Papiere, beivies aber nie das geringfte Vertrauen, ſondern Tief 
ihnen deutlich merken, daß, wenn er auch ihre Talente und ihre 
Fähigkeit im Geſchäfte anerfenne,: er fie doch als Menjchen: tief 
verachte. In dem merfwürdigen eigenhändigen Briefe des Königs 
an Lord Temple, der damals die Stelle eines Vicekönigs yon 
Srland niedergelegt hatte, fpricht er fich einen Tag vorher, che 
er das Coalitionsminiſterium offiziell anerkannte, ganz offen und 
hart ans (L. 218 fg). „Um den Zwieſpalt zu endigen, fagt er, 
welcher macht, daß alle Räder der Regierung Stille ftehen und 
welcher dem öffentlichen Credit nachtheilig fein würde, wenn er 
länger dauerte, gedenfe ich noch heute Abend dem dankbaren 
Cjein eigner Ausdruck) Lord North jagen zu laſſen, daß die fieben 
Kabinetsminifter, welche die Coalition ernannt hat, als folche von 
mir angenommen werben follen (shall kiss hands). 79) Der 
König fügt hernach hinzu: Er Hoffe, daß nicht viele Monate ver— 
fließen würden, bis die Grenville, die Pitt und andere Männer 
von Talent und Charakter ihn aus der Lage zögen, in welche ex 
nie würde gerathen fein, wenn er nicht geglaubt hätte, es ſei 
Fein anderes Mittel übrig, dem weſentlichen Schaden des ofen 
lichen Credits zu verhindern. 

AS For am Könige und folglich an der Dauer feines!’ Mi— 
niſteriums verzweifelte, Fam er anf den unfeligen "Gedanken, die 
Coalition In eine Oligarchie zu verwandeln, welche: Parlamente 
machen und fich ohne den König follte behaupten können. "Dies 
ya dadurch gefchehen, daß die ie Geſellſchaft und alle 


79). Er fügt Hinzu; A ministey., which i * ah —JJ 
to avoid by calling on every other description of men, cannot be sup- 
posed, to have either my favour or confidence, and as such I m. 
most certainly refuse any honours the may ask for. 


For und Pitt bis 1786 359 


ihre ungeheuern Befigungen in Oftindien, nebft dem Haupthan- 
delsintereffe der ganzen Nation, unbedingt von der Herrichaft des 
gegenwärtigen. Miniftertums und. von der -Fortdnuer des dieſem 
angehörigen Parlaments abhängig gemacht würde, Der  Zuftand 
der. pripilegivten oftindifchen Handelsgefellichaft und das Verfahren 
ihrev vom den Eigenthümern dev Actien erwählten Directoren, 
Beamten u. |. w. hatte ſchon vorher eine Einmiſchung des Mi— 
niſteriums und des Parlaments in die oftindifchen Angelegenheiten 
nothwendig gemacht. Je ausgedehnter das Kaiferthum der Ge- 
ſellſchaft in Indien, je größer der Handel ward, deſto mehr Geld 
hatte das englifche Volk hergeben müſſen, wenn nicht durch die 
jchlechte Verwaltung Stillftand oder Banferott erfolgen ſollte. Man 
mußte daher die ganze Einvichtung der Gefellfchaft ändern, um 
die Millionen unterjochter Indier der Regierung habſüchtiger 
Kaufleute zu entziehen und fie als Unterthanen des Krittifchen 
Reichs zu behandeln. Die Einrichtung der Gefellfchaft, vermöge 
deren jede Actie von fünfhundert Pfund zu einer Stimme, alſo 
hunderttaufend. Pfund zu zweihundert Stimmen in einer Gefell- 
ſchaft, welche man die dev Eigenthümer nannte, berechtigte, brachte 
die, Regierung eines Gebiets, das Schon damals. größer als 
Deutichland war, an wenige reiche Engländer, Die Eigenthümer 
wählten nämlich Direetoyen , welche nur ihnen allein Rechenichaft 
ablegten. Dieſe Einrichtung zeigte ſich fchon vor dem fiebenjäh- 
rigen Kriege als durchaus mangelhaft, weil ſchon feit dem Erb— 
folgefriege die Geſellſchaft fortdanernd vermöge des Parlaments 
zur Staatsfaffe Zuflucht nehmen mußte; nach Rem fiebenjährigen 
Kriege ward. fie vollig unhaltbar. 

Seit dem fiebenjährigen. Kriege oder vielmehr fett den grau— 
ſamen, ‚treulofen und vanberifchen Unternehmungen des aus einem 
Handlungsdienen zum Staatsmann und: Helden gewordenen Lord 
Clive, der. alle. Eigenfchaften eines großen aftatifchen Diplomaten 
mit den Talenten eines ausgezeichneten. curopätfchen Generals 
verband, mar ein großer Theil von Indien von den Truppen ber 
oſtindiſchen Geſellſchaft beſetzt, ihre Directoren konnten aber un— 
möglich in Aſien Könige, in Europa Kaufleute ſein, ohne daß 
England die verderblichſten Folgen fühlte. Dieſe wurden ſchon 
unter Clive und. durch ihn fühlbar und erregten den Hefen Uns 


360 Tor und Pitt bis 1784. 


wiffen de3 unverdorbenen Theils der Nation, der auch ſogar In 
unfern Tagen in England noch anfehnlicher ift, als unter andern 
reichen aber entfittlichten Völkern Europa’. Indien von London 
ang zu regieren, war unmöglich, ſo lange die Divertoren son der 
englifchen Staatsregierung ganz unabhängig blieben und die obe- 
ven Beamten in Indien jelbft nur den Directoren Nechenfchaft 
ablegten, deren Kreaturen oder Inftrumente fie waren, "Die 
oberften Beamten, Statthalter auf der Küſte von Goromandel 
und in den Provinzen am Ganges Hatten fich daher auch feit 
dem Pariſer Frieden alle ohne Ausnahme auf eine niedrige und 
empörende Weife gegen die Fürften und Einwohner des eroberten 
Landes betragen, Während alfo die oftindifche Geſellſchaft ihre 
Statthalter wegen ihrer DVerdienfte und Talente belohnte, ehrte, 
befchenkte, riefen die Repräfentanten der englifchen Nation fie zur 
gerichtlichen Verantwortung, weil fie den englifchen Namen durch 
öffentliche Verbrechen beſchimpft hatten... Rumbold, der auf der 
Küfte yon Goromandel defpotifch graufam und unterdrücend hab— 
füchtig Gefeb und Moral verachtet Hatte, entging der Anklage 
durchs Unterhaus vor dem Oberhaufe nur durch feinen zur gele— 
genen Zeit für ihn erfolgten Tod; Clive und fein Nachfolger 
Warren Haftings (ebenfalls ein Mann von Talent und Kraft, 
aber wie Clive ohne Schaam oder Grundfäße) wurden unter 
großem Lärm zu ganz verfchtedenen Zeiten wirklich als Verbrecher 
angeklagt. 

Die Handlung der Gefellfchaft fogar ward son den Londoner 
Directoren, fo Tange fie Niemand überwachte, jo fchlecht beſorgt, 
daß das Parlament, um einem Banferott vorzubeugen, der den 
englifchen Kredit würde vernichtet und unzählige Menfchen in den 
Abgrund gezogen haben, mehre Mal mit Millionen zu Hilfe 
fommen mußte. Die Nation, welche bezahlen mußte, hatte daher 
unftreitig ein Necht, fih um die Verwaltung der Finanzangele- 
genheiten der von ihr unterftügten Privatgeſellſchaft und zugleich 
um die Art der Verwaltung der mit englifchen Truppen eroberten 
Provinzen zu befümmern. Dies war um 1773 gefchehen, ale 
Lord North an der Spike des Minifteriums fand. Lord Clive 
ward damals im Parlamente mit alfer der Heftigfeit angeklagt, 
welche Burfe ſpäter auch gegen Warren Haftings zu beweiſen 


For und Pitt bis 1784, . 361 


Gelegenheit hatte, Dies war zu einer Zeit, als die oſtindiſche 
Geſellſchaft eim Anleihen von 440,000 Pfund vom Parlamente 
fuchte und diefe Summe auch wirklich erhielt, Lord North brachte 
damals einen Geſetzesvorſchlag ins Parlament, wodurch er bie 
indiſchen Angelegenheiten einer Oberaufficht des Mintftertums 
unterwarf und dadurch die Protection der Minifter, worauf ihre 
Macht über das Parlament und auf die Wahl deffelben befon= 
ders beruft, ungemein. vermehrte. Diefes erfte Staatsgefe in 
den Angelegenheiten der oftindifchen Gefellfchaft tft unter dem 
Namen der Regulattonsbill bekannt. 80) | | 
Durch das Negulationsgefeb ward feſtgeſetzt, daß Fünftig die 
Directoren auf je vier Jahre follten gewählt werden, daß das 
Stimmrecht in der Verfammlung der Gigenthümer an den Beſitz 
der Summe von 1000 Pfund an Aktien follte geknüpft werden, 
ftatt daß vorher fehon der Beſitz von 500 Pfund ein Stimmrecht 
gab. Es follte ferner diefem Gefete zufolge in Calcutta ein 
neuer Obergerichtshof errichtet werden, beftehend aus einem Ober- 
richter und drei Richtern, welche die Krone zu ernennen habe. 
Endlich follte künftig in Bengalen ein Generalgouvernement be= 
ftehen, dem die andern Präfidentichaften untergeordnet wurden, 
Der beftehende Nath und der gegenwärtige Statthalter, hieß es 
darin, follten zwar beftätigt werden, doch wurden ihnen andere 
Perfonen von Seiten der Regierung beigeordnet, In der Folge 
folfte Niemand mehr von der oftindifchen Gefellfchaft allein, ohne 
Befragung und Einwilligung des: englifchen Minifteriumg, zu den 
höheren ‚Stellen ernannt werden. Bet diefer Gelegenheit ward 
auch ausgefprochen, daß Glive wegen feines Betragens zur Nechen- 
jchaft gezogen werden folle und daß Fünftig jede Erwerbung von 
Land und Gebiet, welche im Namen der Gefellfchaft gemacht 
werde, Gigenthum des brittifchen Staats fein ſolle. Dies Gefet 
half aber dem Hauptübel, der fchlechten Verwaltung, nicht ab, 
und die Gefellichaft fuhr auf der einen Seite, trot des Regulativs 





80) Wir führen die BEN unter dem Titel an, unter dem fie befannt 
tft und eitirt werden muß; der ausführliche Titel Yautet: A bill for esta- 
blishing certain regulations for the better management of the affairs 
of the East India company, as well in India as in Europe. 


362 For und Bitt bis 1784, 


fort, Croberungen für ihre Rechnung gu machen, und auf der 
andern dauerten unter Warren Haftings, dem erſten ‚General 
gouperneur, die Geldverlegenheiten fort. Der nachher fo furchtbar 
angeklagte und durch Burkes im Oberhaufe gehaltene Reden als 
Unmenfh und Tyrann gebrandmarkte Warren Haftings wird 
übrigend von vielen Schriftitellern wegen feiner Einrichtungen 
und feiner Verwaltung eben fo fehr gepriefen, als von andern 
gefcholten. Die Unterfuchtungen darüber gehören theils in diefes 
ausſchließend den europäiſchen Gefchichten gewidmete Werk nicht, 
theils fiel Warren Haſtings Prozeß in eine viel ſpätere Zeit als 
die, deren Geſchichte dieſer Band umfaßt. 

Schon zur Zeit des vorletzten Miniſteriums, alſo noch unter 
Lord North, war durch die Klagen über die Regierung der Kauf⸗ 
leute und ihrer Beamten in Indien, noch mehr durch die fchlechte 
Verwaltung der Einnahme und des Handel und wegen des 
ſtets aufs neue drohenden Banferotts die Meberzeugung allgemein 
geworden, daß durch die NRegulationsbill wenig oder nichts ge— 
wonnen ſei. Man war zu der Meberzengung gekommen, daß das 
Parlament ernftlich durchgreifen, eine Radicalreform der Geſell— 
ſchaft und ihrer Berwaltung vornehmen und ganz bejonders bie 
Regierung der im fiebenjährigen Kriege und nachher erworbenen 
Provinzen den Kaufleuten ganz entziehen müſſe. Den Kaufleuten 
war nämlich ſowohl Numbold als Warren Haſtings ein wortreff- 
licher Mann. Beide hatten ja von den Maratten und durch bie 
Befiegung des furchtbaren Hyder Alt im Sarnatif viel Geld und 
viel ı Land gewonnen. Allein die politiſchen Verbrechen dieſer 
Männer hatten nur fie und die Begünftigten bereichert, den Fi— 
nanzen der Gefellfchaft Hatten die auf ihre Koften erworbenen 
unermeßlichen Reichthümer mehr gefchadet ald genügt, fie mußte 
aufs nene die Staatskaſſe in Anfpruch nehmen. ı Da das Privi- 
legium (charter) der oftindifchen Geſellſchaft immer nur auf bes 
ftimmte Jahre ertheilt ward, fo wollte man ſchon im Sahre 1780 
den Ablauf des Termins im Anfange des folgenden Jahrs (1781) 
zu einer Veränderung benußen, doch verlängerte man hernach das 
Priotlegtum noch auf eine kurze Zeit und ſetzte blos einftweilen 
zwei Ausſchüſſe nieder, um. die indischen Angelegenheiten genau 
zu unterſuchen. In dieſen Ausſchüſſen war. ſchon unter - Lord 


For und Pitt bis 1784, 363 


North der damalige Generaladoofat von Schottland, Dundas, 
ſpäter Lord Melville, eine Hanptperfon und auf Antrag der 
Ausſchüſſe wurden im Laufe der Jahre. 1781 und 1782 allerlei 
Reformen der Gefellfchaft und Abanderungen der Maßregeln der 
Divectoren beichloffen. Dieſen Befchlüffen ward auf eine ganz 
auffallende Weiſe von Seiten der oſtindiſchen Gefellfchaft und 
ihren Directoren entgegengehandelt, Rumbold follte einem Par— 
Iamentsbefchluß gemäß vor Gericht geftellt. werdenz das geichah 
nicht, er ſtarb, ohne daß feine Bergehungen wären gerügt worden. 
Warren Haftings follte ebenfalls zurückberufen und angeklagt 
werden; die Directoren befolgten aber den Barlamentsbejchluß 
nicht, fie beftätigten ihn im Amte und er febte feine, eines aſia— 
tifchen Defpoten würdige Regierung noch lange Jahre fort. Die 
Urſache diefer Verachtung der Verordnungen des Parlaments war, 
dag Niemand mehr: über die Ausführung dev Befchlüffe wachen 
fonnte, feitdem der eine Ausſchuß, der zur beffern Einrichtung 
yon Recht und Gericht in Indien und. zur Unterfuchung der Urs 
jache des Kriegs im Carnatic beitellt war, fich aufgelöfet hatte, 
Der andere zur meuen Organifatton beftellte Ausfchuß dauerte 
fort, brachte aber den von ihm gebilligten, von Dundas entwor— 
fenen Reformationsyorichlag erft ans Parlament, als fich ſchon 
alle Umstände geändert hatten, 

Der von Dundas ausgearbeitete Bericht kam nämlich erſt 
1783 ans Parlament, als der Verfaſſer deſſelben ſchon neben 


Pitt in der Oppoſition ſeinen Platz genommen hatte, Der Vor— 


ſchlag, der in dieſem Bericht enthalten war, wurde daher verwor— 
fen und Fox verſprach, eine Totalreform vorzuſchlagen. Pitt und 
ſeine Freunde ſtimmten übrigens mit ihren Gegnern darin überein, 
daß man den Uebeln der Verwaltung und der Regierung nur 
dadurch abhelfen könne, daß man die oſtindiſche Geſellſchaft unter 
die Vormundſchaft der brittiſchen Regierung bringe. Fox ſchlug 
zu dieſem Zwecke im November 1783 zwei Geſetze vor, welche 
ſeine Abſicht, das Miniſterium und ſogar das Parlament ganz 
vom Könige und auch vom Volke unabhängig zu machen und 
fortdauernd unter dem Einfluß der Coalition zu erhalten, ſo ſchlau 
unter dev Form der Verbeſſerung der Einrichtung einer Handels- 
geſellſchaft verſteckte, daß fehr wenige: Staatsmänner den eigent- 


364 For und Bitt His 1784, 


lichen Sinn dev Vorſchläge erriethen, den der König nicht einmal 
ahmete, Das eine der vorgeſchlagenen Geſetze enthielt namlich 
die weiſeſten, gevechteften, mildeften und vortrefflichſten Befttm- 
mungen über Verwaltung son Gericht, Negterung und Recht in 
Indien, wodurch allen bisherigen Befchwerden über englifche Bru— 
talität und Bedrückung der Indier abgeholfen werden follte. Das 
Andere enthielt die Einrichtung der Gefellfchaft ſelbſt. Das Eine 
hat mit der Gefchichte, die wir hier behandeln, nichts zu thun, 
jo wichtig die Kenntniß deſſelben auch in andern Beziehungen 
ift, das andere mit dem Erſten unzertvennlich Verbundene führte 
dagegen den Sturz des Goalitionsmintfteriums herbei. Es unter- 
warf nämlich nicht blos die Compagnie der Aufficht des Minifte- 
riums, was jedermann wünfchte, fondern es richtete Die neue 
Drdnung der Gefellfchaft jo ein, daß dadurch die Auflöfung des 
Minifteriums dem Könige unmöglich werden mußte. 

Das Monopol der Gefellfchaft, welches erft in unfern Tas 
gen aufgehoben worden tft, ſollte nach For Vorſchlag fortdauern, 
auch war nichts dariiber bejtimmt, ob die Territorialrechte der 
Geſellſchaft bleiben oder der Krone überlaffen werden follten. Aus— 
drücklich feftgefegt ward dagegen, daß den Diveftoren und den ſo— 
genannten Eigenthümern oder Befigern son taufend Pfund ar 
Aktien, von denen die Direktoren gewählt wurden, die ganze Ver— 
waltung, fowohl des Handels als der Negterungsangelegeniheiten 
der von der Geſellſchaft befeßten und eroberten Provinzen entzo= 
gen werden folle. Die Verwaltung, die Ernennung der Beam— 
ten und Angeftellten, das Recht des Kriegs und des Friedens 
ward durch die Art, wie die Commiſſarien, denen Alles dieſes 
überlaffen werden follte, beftellt und mit der Landesregierung und 
dem Parlament in Verbindung gebracht wurden, dem Miniſterium 
überlaffen. Fox wollte die oberfte Leitung der. indifchen Gejchäfte 
an fieben Mitglieder aus den in England durch Landbeſitz oder 
Geldreichthum angefehenften englifchen Familien, die Ausführung 
der von dieſen gegebenen Verordnungen oder gemachten Ginrich- 
tungen an neun Direktoren der Handelsgefellichaft übertragen 
Yaflen. Auf welche Weife For durch die fieben zur Anordnung 
der indiſchen Angelegenheiten beftellten Commiſſarien das befte- 
hende Miniftertum erhalten und durch daſſelbe vermöge der von 


For und Pitt His 1784. 365 


ihnen ganz abhängigen Wahlen (den Einfluß von Geld und Land- 
befit auf die Wahlen kennt jebt Jedermann aus den Parlaments- 
bebatten) die Goalition in eine Oligarchie verwandeln wollte, zei= 
gen jchon die Namen derer, die er vorichlug. Es waren: der 
Graf Fitwilliam, der Viscount Lewisham, dev Erbgraf Monta= 
gue, der ältefte Sohn des Lord North Auguft), die Baronets El— 
liot und Fletcher und der Junker Nobert Gregory. Diefe Män— 
ner waren aus denfelben Bamilten, welche auch das Minifterium 
erobert hatten, und fie waren gerade in eben dem Verhältniß ge- 
wählt, in welchem die Goalition dag erſtürmte Miniftertum unter 
fich getheilt Hatte, 

Foy verſteckte übrigens, wenn er auch, als er die Namen der 
Commiſſarien nannte, ganz offen zeigen mußte, daß man bie 
Herrſchaft des Miniftertums viel weiter ausbreiten wolle als bis— 
her geichehen war, die Abficht, deſſen Herrfchaft auf fehr Lange 
Zeit zu befeftigen, durch allerlei Fünftliche Kreuz= und Querbe— 
flimmungen. Es ward namlich, was bloße Täuſchung war, in 
dem Borfchlage nur fürs Erfte die Ernennung der Commiſſa— 
rien dem Parlament, d. h. dem Minifterium, unter deffen Ein— 
flug dieſes gewählt war, überlaſſen, in der Folge follten fie von 
den Actionärs gewählt werden. Den Actionärs war aber dadurch 
das: Schwert über den Nacken gehängt, daß die ganze Verfügung 
nur auf kurze Zeit gelten follte. Um nämlich dem Gefchrei, daß 
die Minifter einen Eingriff ins Eigenthum thäten, entgegen zu 
gehen, ward vorgeichlagen, daß die Parlamentsacte, wodurch der 
oftindifchen Geſellſchaft ihr Privilegium entzogen ward, nur, auf 
vier Jahre gültig fein folle; auf diefe Weiſe behielt man die Ac— 
tionärs fortdauernd in der Hand. Durch dieſe Beſtimmung fef- 
jelte man zugleich das folgende Parlament an die Goalitton, Da 
namlich erſt nach vier Jahren über die Fortdauer der ganzen 
Maßregel ein Beſchluß gefaßt werden follte, fo fiel die Wahl ei- 
nes neuen Parlaments in diefe Zeit und Alle, die ein Intereſſe 
bei dem einmal Cingerichteten hatten, waren gendthigt Alles auf- 
zubieten, das Parlament aufs Neue nach dem Willen der Mint- 
jter zufammenzufeßen, 81) 





81) Man wird in Pitts Neben näher und beftimmter das entwisfelt fin 
ben, was wir nur Im Allgemeinen angegeben haben: Box wolle König, Par⸗ 


366 For und Pitt bis 1784, 


Die Abficht der India Bil entging Niemanden. Nur König 
Georg, zu dem Niemand gelaffen wurde, der nicht durch das Her— 
fommen dazır berechtigt war, ahnete nichts, obgleich der König 
in diefer Zeit mit der Oppofttion in ununterbrochenem Verkehr 
war. Hätte er nur Pitt? Neden in einer Zeitung anfmerkfam 
gelefen, jo hätte er wiffen müffen, daß diefer und feine Freunde 
öffentlich im Parlament fagten, daß ex durch diefen Vorfchlag ein 
Untergebener feiner eigenen Minifter werden folle. Gr Hatte den 
Vorſchlag nur gebilligt, weil er nicht im Stande war, die ver— 
borgene Abficht deſſelben zu entdecken, in der kurzen, den oft an= 
geführten Briefen der Grenvilles beigefügten hiftorifchen Notiz wird 
Burke als Fabrifant derfelben genannt. 2) (1. 282.) Die Bill 
ward mit einer bei jo wichtigen Dingen unerhörten Eile im Un— 
terhaufe drei Mal Hinter einander  verlefen und jedes Mal mit 
einer Mehrheit von hundert und vierzehn Stimmen angenommen, 
jo daß fie fchon am 9 December ans Oberhaus gebracht werden 
fonnte, Auch Hier nahmen ſich bei der erften Lefung am 9. Lord 
Temple und der Herzog von Richmond als Gegner der Coalition 
und Lord Thurlow als Freund des Königs der in Ihren Grund- 
lagen bedrohten Gonftitution vergebens an, das Geſetz erhielt bie 
Zuftimmung dev Bars, obgleich Lord Temple, som Herzog von 
Richmond unterftügt, den Mintftern fchändlichen Volks und Kö— 
nigsverrath vorwarf.33) Auch Lord Thurlow, der als Mitglied des 





lament und Volk einer Partei aufopfern. Er wolle bie beftehende fhmäh- 
liche Coalition von Liberalen und Oligarchen zu einer folden Größe erhe- 
ben, daß Fein Werhfel, Leine veränderte Verbindung der —— ſie ſürien, 
oder auch nur ihr Anſehen ſchwächen könne. 

82) The main: object of the East India bill, get es dort, was to, 
withdraw from ihe Company the entire administration of the, civil and, 
commercial affairs of India and to vest it in a board of commissionery, 
who should be nominated by Parliament and rendered perfectly inde- 
pendent of the erown. The scheme is said to have been divised by Mr. 
Burke. But even the paternity.of Mr. Burke could not mitigate the: 
odium that: was heaped upon it by the Pitt, and Grenville party: | 

83) Er fagt wörtlih: That he was happy; te embrace, the. ‚first: op- 
portunity of entering his protest against so infamous a bill — — against 
a streich of power so truly alarming, and that. went near to. seize upon 
the most inestimahle part of our Constitution — our, charlered righis. 


For und Bill bis 1784, 367 


geheimen Raths vorher dem: Könige den erften an ihn gelangten 
Wink über die eigentliche Abſicht der beiden Vorſchläge, der von 
feinen Miniftern beftellten Commiſſion gegeben hatte, fuchte in 
feiner heftigen Rede Alle, die irgend mit dem oftindifchen Handel 
etwas zu thun hatten, gegen die vom Unterhauſe befchloffene Maß— 
vegel aufzwwegen. *) Alles war vergeblich, die Bill ging nicht 
blos am 9, Dezember, fondern auch bei der zweiten Lefung am 
45. mit fieben und achtzig gegen neun und fiebenzig Stimmen 
durch, und das Miniſterium hielt feine Sache für gewonnen, weil 
die dritte Lefung nad dem Ausgange dev beiden andern zu ur— 
theilen eine leere Form ſchien. 

Zwiſchen dev erften und zweiten Leſung der Bill hatte indeffen 
am 11. Graf Temple dem Könige endlich über die wahre Abficht der 
Minifter bei der mit ſoviel Eile durch beide Häuſer getriebenen Bil 
die Augen genffnet und ihm im einer bis dahin nie vorgefomme- 
nen Sache auch zu einem ganz unerhörten Schritt gebracht. Der 
König nämlich, im Schrecken über die ihm bevorſtehende Beſchrän— 
fung. der freien Wahl feiner Minifter, bat den Grafen, den ge— 
fährlichen und nach, den Grundſätzen der englifchen Gonftitution 
unerlaubten Schritt zu thun, feine (des Königs) perſönlichen 
Freunde zu beſchwören, dem verhaßten Vorſchlage bei der dritten 
Abftimmung ihre Stimmen zu verfagen. Um Glauben zu finden 
hatte Lord Tempfe dazu einer Vollmacht nöthig. Der König 
ſchrieb deßhalb ein Bilfet (a card), welches er dem Grafen in 
geheimer Audienz zuftellte, worin ev durch feinen Namenszug be— 
fcheinigtes „Daß er dem Grafen Temple erlaube, den 
Treunden des Königs unter den Pairs zu fagen, daß 
Jeder von ihnen, der für die India-Bill feiner Mt- 
nifter ſtimme, nicht nur fein Freund nicht fein könne, 
Ä Eu auch als fein Feind von ihm betrachtet 





— 


84) Er ſagte: Die Bill wäre eine eniſetzliche Verletzung alles Privat⸗ 
eigenthums, ein Unternehmen, das jedem Engländer durch die Seele ginge 
und das ſich durch nichts als durch die dringendſte Nothwendigkeit entſchul⸗ 
digen ließe. Dieſe Nothwendigkeit müßte durch Beweiſe vor den Schranken 
des Hauſes dargethan werden, nicht durch Berichte eines Ausſchuſſes des Un⸗ 


—— denen er ſo viel Glauben füsuk, ala dem Leben des älter 
ruſoe. 


368 For und Pitt bis 1784, 


werde Wenn diefe Worte nicht ftarf genug fein 
jollten, jo möge Lord Temple folhe Worte gebrau- 
hen, welche ſtärker oder dem Zwede angemefjener 
wären‘ Diefe gewöhnliche Erzählung des Hergangs der Sache 
wird in dem oft angeführten Buche (the court and cabinets 'ete.) 
als ganz unwahrſcheinlich beftritten. Es wird dort bewiefen, daß 
Lord Temple dem Könige längſt die Augen geöffnet gehabt, daß 
er ihm aber geraten, mit dem Aeußerſten zu warten bis fich 
zeige, wie die Pairskammer die Sache behandeln werde, Daß 
die Sache fich fo verhalte und daß Lord Temple abfichtlich den 
unerhörten und unftreitig als rettende That (coup d'état) zu be⸗ 
trachtenden Schritt des Königs bis auf den letzten Augenblick ver- 
jchoben habe, beweist das zum Theil von Lord Temple eigen: 
händig gefchriebene Memorandum vom 1. Dezember, 

Die Biſchöfe und alle die, welche mit dem Hofe in näheret 
Berbindung ftanden oder den König perfonlich und als Privat 
mann achteten, wollten ihn nicht offenbar und perſönlich beleidi— 
gen, wenn fie auch politifch nicht mit ihm auf einem Wege waren, 
fie mußten ſchicklicher Weife alfo bei der dritten Lefung am 17, 
auf den ausdrüdlichen Willen des Königs Nückficht nehmen. Auch 
des Königs Altefter Sohn, der Prinz von Wales, der am 15. 
eine der acht Stimmen der Mehrheit für die Miniſter abgegeben 
hatte, konnte doch, ohne allen Anftand zu vergeffen, dem ausdrück⸗ 
lichen Befehl: feines Vaters nicht widerſtreben, er blieb bei der 
dritten Abſtimmung weg. Dadurch ward Die Verwerfung der Bill 
bei der. dritten Leſung entfchieden 9) und der König gerieih mit 
feinen eignen Mintftern in offnen Krieg, ohne daß fich ihm eine 
Möglichkeit zeigte, ohne fie zu regieren.  Oberhaus und Unter- 
haus wurden dadurch fürmlich entzweit, die Meinifter uud ihre 
Freunde mwütheten Ärger und gröber in ihren Reden im Parla= 
ment gegen den König und die Pairs, als je vorher Wilkes, oder 
der Berfaffer son Junius Briefen, oder der demofratifche Lord- 
Mayen oder auch der über Schieflichkeit und Wahl der Ausdrücke 


35) Wer das Einzelne und die Namen derer, die am 17. ihre Stimmen 
gegen die Bill gaben oder geben ließen (by proxy), nachdem fie am 9. und 
15. dafür geſtimmt Hatten, willen will, der Iefe Wraxall Vol. IL Pag. 
45860, 


For und Pitt bis 1784, 369 


niemals ängſtlich beforgte Gemeinderath von London gethan hatteı, 
Ein Mitglied des Parlaments. überbot immer dag Andere durch 
Heftigfeit der anträge und beleidigende Reden. 

Ein miniſterielles Parlamentsglied, Bader, den man zu den 
leichten Truppen diefes Kriegs zahlen muß, trug zuerft darauf 
an, daß das Parlament erklären jolle, daß Lord Temple duch 
Borzeigung des Königlichen Bilfets im Oberhaufe ein ſchweres 
Staatsverbrechen begangen habe, Dieſer Vorfchlag ward ange- 
nommen. 2%) Nach ihm trat Bor auf und hielt eine Rede, wie 
fie um 1792 jchwerlich einer der Girondiften in der franzöſiſchen 
Vegislativen Verſammlung gehalten hat, und doc, war For damals 
Minifter deffelben Königs, den er öffentlich in diefer Nede heftig 
ſchmähte. Er griff zugleich das Oberhaus furchtbar an, For 
klagt ſowohl die Pairs als den König einer Gonfpiration gegen 
die Mehrheit der Mitglieder des Unterhaufes an und geht fo weit, 
daß er von denjenigen Gliedern des Oberhaufes, welche gegen 
den vom Unterhaufe gebilligten Vorſchlag geftimmt hatten, jagt: 
Es wären des Tiberius Brätorianer, oder vielmehr 
Sanitfharen, die auf ihres Sultans Befehl feine 
Dill ftrangulirt Hätten, Dabei richtete er ſich beſonders 
gegen Pitt und klagte ihn an, daß. er auf eine unredliche Weiſe 
fich des Minifteriums zu bemächtigen juche, Lord Temple wirft 
er vor, daß er eine Art Refeript, wie es Tiberius von Capräa 
aus gegen Sejanus an den Senat gefchickt, gegen feine BIN ans 
Oberhaus gebracht habe. 
| Lord Temple und William Pitt waren allerdings ſchon da⸗ 

mals im Stillen Rathgeber des Königs, auch ließen ſie ſich weder 
durch die heftigen Beſchlüſſe, die das Unterhaus in dieſer erſten 
ſtürmiſchen Sitzung faßte, noch durch die drohenden Anſtalten für 
eine folgende erſchrecken, obgleich alle Beſchlüſſe ganz im Sinne 
und nach den Anträgen der Coalition mit einer Stimmenmehrheit 
von dreiundſiebenzig Stimmen gefaßt wurden. Pitt hatte ſchon in 
der Sitzung vom 17. Dezember die Miniſter aufgefordert, ihre 





86) That to report the opinion or pretended opinion of the king 
upon any bill or other proceeding, depending in either house of par- 
liament, with a view to influence. the 108 of the member, was 4 higk 
erime and misdemeanor. 

Schloſſer, Geſch. d. 18, Yı 19, Jahrh. iv. Thl. 4, Aufl. 24 


870 For und Pitt bis 1784. 


Gntlaffung einzureichen; er war ſchon damals Willens, im Ver— 
trauen auf die durch Flugſchriften und Zeitungen zu erregende 
Beſorgniß für die Gonftitution, auf den Widermwillen gegen bie 
Coalition und auf das Gefchrei gegen den Eingriff ins Privat- 
eigenthum, den das Miniftertum gewagt habe, fich in den Kampf 
nit dem Parlamente muthig einzulaffen. Auch der König ermar- 
tete nach den heftigen Ausfällen auf ihn, welche fich die Minifter 
am 17. im Barlamente erlaubt hatten, daß fie am folgenden 
Sage. thre Entlafjung fordern würden, er wartete aber den ganzen 
achtzehnten hindurch vergebens darauf, Als fie nicht erfchtenen, 
fendete er endlich um Mitternacht einen Botfchafter an fie, der 
fie erfuchte, dem Könige die Stegel durch die Unterſtaatsſecretärs 
äuftellen zu laſſen, ihn felbft aber mit ihrer Gegenwart zu ver 
ſchonen. Um ein Uhr Nachts erhielt dann der König die Siegel, 
welche Lord Temple einftweilen in Verwahrung nahm; erſt am 
folgenden Morgen wurden die fümmtlichen Glieder des Cabinets 
verabſchiedet. 

Die Briefe, durch welche die Glieder des Miniſteriums ent- 
laſſen wurden, hatte zwar Lord Temple unterzeichnet; Pitt aber 
war e8, der am 19. in feinem vier und zwanzigſten Jahr die Lei— 
tung der Gefchäfte übernahm, indem er die Stelle eines erften 
Lords der Schatfammer mit der eines Kanzlers des Schabgerichts 
vereinigte. Dabei duldete er auch nicht einmal Lord Temples 
Einfluß neben dem feinigen. Lord Temple nämlich ward zwar 
anfangs Staatsfecretär, fehted aber ſchon nach drei Tagen aus, 
weil Bitt weder fein Verfahren in Srland billigen, noch bie von 
ihm Empfohlnen anftellen, noch ihm ein Zeichen des königlichen 
Wohlwollens wegen der in der lebten Zeit geleifteten Dienfte ver— 
Schaffen wollte. Sn einem Briefe som 29. Dez. (I. 299) ſpricht 
er fich Heftig gegen Pitt aus, Es ward bei der Gelegenheit eine 
ſo große Veränderung in Nückficht der Perfonen, welche Stellen 
beffeideten, vorgenommen, mie felbft im Jahre 1782 nicht ges 
ſchehen war. 

Nach den durchgreifenden Veränderungen bei den Stellen 
am Hofe und im Staate erwartete jedermann eine Auflöfung des 
Parlaments, weil das: Gpalitionsparlament fich jedem Vorſchlage 
des neuen Miniſterlums widerſette und zu fürchten mar, daß es 


For und Pitt bis 1784. 371 


auch die Bewilligung des fiehenden Heers und des Budget ver— 
mweigere, Pitt hielt daher für nöthig, den Streit fo lange fortzu= 
ſetzen, bis ex fo viele große Herrn und fo viele Stimmen im 
Publikum gewonnen hätte, daß man nicht wagen dürfe, das lange 
verichobene Budget ganz zu verweigern. Meber den Punkt der 
Auflöfung des Parlaments waren übrigens Bitt und Lord Temple 
völlig einig, nicht aber über die Zeit, wann dieſe vorgenommen wer— 
ben follte, und der Erfolg der Maßregel, worauf Pitt hartnäckig bes 
stand, hat bewieſen, daß er fchon damals den politifchen Takt be— 
faß, den er in der folgenden Zeit bei jeder Gelegenheit bewährt 
bat. Pitt wollte das Parlament durch drohende Auflöfung fort 
dauernd in Schrecken halten, bis es nicht mehr wage, bie Akte 
wegen des ftehenden Heers (Mutiny act) und dag Budget zu vers 
jagen; Lord Temple wollte e8 fogleich entlaffenz er ſchied als Pitt 
nicht zuftimmmte ſchon nach drei Tagen aus dem kaum erſt gebildeten 
Minifterium. Bon diefem Augenbli an boten bejonders Pitt und 
Dundas im Unterhaufe dem Sturme Trotz. Lord Thurlow als Kanz- 
Ver hatte im Oberhaufe einen weniger heftigen Kampf, weil die Pairs, 
welche die Mehrheit gegen die Indiabill gebildet Hatten, ihre eigne 
Sache verfechten mußten, Das Parlament hatte die Auflöfung 
gefürchtet, und noch ehe das Kabinet gebildet war , fuchte es am 
22. Dezember Bertagung und Auflöſung durch eine ſehr heftige 
Adreffe zu Kindern, Pitt felbft war an dem Tage nicht anwe— 
jend, er ließ aber in feinem Namen feierlich erklären, daß er 
weder daran denke, das Parlament aufzulöſen, noch es zu werta= 
gen, Nichtödeftomeniger ward mit einer folchen Mehrheit der 
Stimmen, daß man eine Zählung unnöthig fand, die heftigfte 
Adreffe an den König gemacht, welche ſeit der Zeit der Revolu— 
tion an einen brittifchen Negenten je war gemacht worden, ?7) 





87) Das Parlament wolle, heißt es, Sr. Majeftät unterthäntg vorftel- 
Ion, daß ein gefährliches Gerücht von einer bevorſtehenden Auflöfung des 
Parlaments verbreitet werde, Davon feten aber die größten Schwierigfeiten 
und die gefährlichften Folgen zu befürdten, denn die Erhaltung des öffent⸗ 
lichen Credits, die Erhebung ver Abgaben, die Abftellung der in ber Regie⸗ 
ung von Oſtindien eingertffenen Mißbräuche, der Zuftand der Finanzen der 
Compagnie erforberten die unmittelbare Hülfe des Parlamente, Es wäre 
das Verderblichſte zu befürchten, wenn befonders hie Inbifchen Angelegenheiten 

24* 


372 For und Pitt bis 1784 


Diefe Adreffe ward dem Könige von einer ſehr zahlveichen 
Deputatton überreicht, der ganze Anhang der Goalition ſoll un— 
artig genug gewefen fein, bei der Gelegenheit in Maſſe vor dem 
Könige zu erſcheinen, der dadurch geärgert werben ſollte. Da 
gleich hernach die Fefttage eine Baufe der Parlamentsfigungen 
von ſelbſt herbeiführten, jo begnügte fich der leitende Minifter, 
eine austweichende, übrigens aber ganz freundliche Antwort geben 
zu laſſen, welche indeffen fo gefaßt war, daß die Furcht einer 
Auflöfung fortdaguern mußte Ms ſich das Parlament am 12, 
Sanuar 1784 wieder verfammelte, erließ e8 hinter einander fünf 
oder ſechs Erklärungen, eine heftiger als die andere, gegen Das 
Minifterium. Unter diefen Erklärungen des Parlaments war 
eine, worin es hieß: „Bei der gegenwärtigen Lage der Staaten 
der Majeſtät jet durchaus eine Regierung nöthig, welche das Ver— 
trauen des Parlaments und des Publikums Habe.” Bitt, obgleich 
er fortdauernd die Mehrheit im Unterhaufe gegen fich Hatte, blieb 
im Miniftertum, behielt feinen Gang bei, ließ das Volk auf jede 
Weiſe bearbeiten und bemächtigte fich vorerſt der Mehrheit im 
Dberhaufe, Bis fich, wie er feſt erwartete daß gefchehen werde, 
das ganze Publikum von feinen Gegnern abgemwendet habe. Der 
Herzog von Rutland und Graf Gower, hernach Marquis von 
Strafford, fchloffen fich mit ihrem Anhange an Pitt an, den an— 
dern Pairs zeigte er fich auf diefelbe Weiſe conſervativ, wie er 
ſich Hernach immer bewieſen hat, und alle die Herrn erfannten 
in ihm den Srhalter ihrer. Vorrechte und den. der alten für fie 
guten Zeit: Das Unterhaus verfuchte indeffen um jo mehr das 
Aeußerſte, als fich feit der Zeit, dag Rutland und Gower über- 
getreten waren, das Minifterium auf das Oberhaus ſtützte und 
auch die Stimmung des Publikums fich zu —* des Königs 
wendete. 


— — 





einem neuen Parlamente überlaſſen werben ſollten, welches durch die langen 
und verwickelten Unterſuchungen, welche das gegenwärtige beſchäftigt Hätten, 
nicht vorbereitet wäre. Der Schluß enthielt den heftigen Theil: Das Haus 
erfuhe Se: Majeftät in Unterthäntgkett, ven Vorfehlägen deffelben, nicht aber 
den geheimen Rathſchlägen befonderer Berfonen Gehör zu geben, welche eigne 
Privatvortheile, unterſchleden von dem 7 des Königs und — 
Bolts, haben Fonnien, | | 


For und Pitt bis 1784. 373 


Am 16, Januar ward Lord Karl Spencers Vorfchlag ange: 
nommen, daß das Haus erklären folle: „die Tortdauer des gegen— 
wärtigen Minifteriums, zu dem das Parlament Fein Vertrauen 
habe, jet verfaſſungswidrigz“ allein ſchon bei diefer Gelegenheit 
offenbarte fich, daß der Anhang der Gpalition fich vermindert und 
Pitt den Fäuflichen Mitgliedern beffern Lohn geboten habe. Die 
frühere Mehrheit der Oppofitton, welche vier und fünfzig betrug, 
war auf ein und zwanzig herabgefunfenz Doch war Pitt in folcher 
Berlegenheit, daß er mit dem Herzog von Portland in Unterhand- 
Yung trat, Als diefer aber Feed genug war, zu fordern, daß er ab- 
trete, brach er diefe Unterhandlung ab. Gleich hernach verfuchte 
er feiner Seits eine Indiabill durchs Parlament zu bringen, weil 
der Zuftand der oftindifchen Gefellfchaft eine neue Verordnung 
dringend nöthig machte. Diefe BIN ward nicht, wie man erwar- 
tet hatte, gleich bei der erſten Leſung verworfen, fondern erſt bei 
der zweiten, umd auch dann nur mit einer Mehrheit son acht 
Stimmen, Dies war am 23, Januar; feitdem wurden son allen 
Ecken und Enden die in folchen Fällen gewöhnlichen Adreſſen 
gegen Bor Indiabill eingereicht, das Parlament und der König 
mit Borftellungen zu Gunften des Minifteriums und gegen bie 
Mehrheit im Unterhaufe beftürmt, und die im Parlament firei- 
tenden Parteien ſahen fich gemöthigt, einige Zeit hindurch den 
Schein anzunehmen, als wenn fie eine Verſöhnung durch ein ge— 
mifchtes Miniftertum bewirken wollten. Die Verſuche, welche von 
Ende Januar bis Mitte Februar in diefer Beziehung gemacht 


wurden (mit denen es fchwerlich Gruft war), fcheinen uns der 


englifchen Sperialgefchichte anzugehören, Für unfern Zweck, eine 
Veberficht der enropätfchen allgemeinen Gefchichte zu geben, tft es 
genug, wenn wie den Weg bezeichnen, auf welchem unter Pitt 
die Artfiofratie über den König fiegte, ihn von dem Einfluß, den 
er jeit 1763 gefucht und zum Theil erhalten Hatte, ganz aus— 
ſchloß und zugleich auch das demokratiſche Streben, welches For 
einigermaßen begünftigt hatte, unterdrückte. 

Das Oberhaus fühlte fich Schon im Anfange Februar mächtig 
genug durch die öffentliche Meinung, um fich in einen Streit mit 
dem Unterhaufe einzulaffen. Es ließ die Erklärung ausgehen: 
daß es der Verfaffung zumider ſei, wenn es eins son beiden Häu— 


374 For und Pitt bis 1784, 


fern fich eine im Geſetz nicht enthaltene (diseretionary) Macht 
anmafe; es fet ein ganz unbeftreitbares Vorrecht des Königs, 
ohne jemand zu befragen, die höchſten Beamten der Regierung zu 
beftellen, und das Oberhaus habe allen Grund, das feftefte Ver— 
trauen in den König zu jeben, wenn von Ausübung dieſes Vor— 
rechts die Rede fei. Dadurch ſah fich das Unterhaus genöthigt, 
den Schein der Verlegung der Gonftitution, worauf die Nation 
fehr eiferfüchtig ift, von fich abzuwenden und zu erklären, daß es 
erftfich fich nie angemaßt habe, ein Recht zu haben, die Geſetze 
zu. fufpendiven. Zweitens, daß es jedoch ganz mit den Gefeten 
und dem Gebrauche übereinftimmend fet, wenn fich das Unterhaus 
über die Anwendung eines Vorzugsrechts ausſpräche. Hernach 
ward der durch die Unterhandlungen der Goalition mit der minifte- 
vieffen Partei bis in die Mitte Februar verzögerte offne Krieg 
am 20. Februar wieder begonnen. 

Un diefem Tage ward eine nene Adreffe an den König ges 
richtet, worin er dringend gebeten ward, jein Mintftertum zu 
ändern. 28) Ms auch auf diefe Adreſſe eine freundliche aber ab— 
lehnende Antwort erfolgte, ſchien zwar For im folgenden Monat 
geneigt, die Militärbill und das bis dahin von einer Woche zur 
andern verfchobene Budget zu verweigern, er erkannte aber ſchon 
im Anfange März, daß fein Anhang nicht geneigt fer, ihm bis 
zum Aeußerſten zu folgen. Am erſten März nämlich erließ das 
Parlament einen fürmlichen und beitimmten Befchluß (resolution), 
worin es dieſes Mal ganz ausdrücklich die Entlaffung der Minifter 
vom Könige forderte. °?) Dieſe letzte Reſolution des Parlaments 
fonnte Pitt um fo ruhiger vom Könige freundlich, wenn gleich 
ablehnend, beantworten Taffen, als er ſchon damals ganz ficher 
wußte, daß auch das bisherige, ihm durchaus feindliche Barlament 
nicht mehr wagen werde, durch eine Verfagung feiner Stimmen 





88) Die Worte der Nefolutton find: That the continuance of the 
present ministers in trust of the highest importance and respeectability 
was contrary to the prineiples of ihe censtitution and injurious to the 


interests of the king and the people. 
89) The house humbly prays his Majesty, that he will be graciously 


pleased, to lay the foundation of a strong .and stable government by 
the previous removal of his present ministers, 


For und Bill bis 1784, 375 


den ganzen Gang der Verwaltung zu hemmen. Dies ward in 
der That öffentlich kund, als Fox auch nach der letzten Antwort 
des Königs eine neue Vorſtellung und Beſchwerde im Parlament 
durchſetzte. Dieſe Vorſtellung war heftiger, ausführlicher, mehr 
mit anſcheinenden Gründen unterſtützt, als eine der vorigen, “0) 
da fie aber nur mit der Mehrheit einer einzigen Stimme 
angenommen ward, jo mußte For wohl erfennen, daß es Flug 
jet, den Kampf vorerft wenigſtens nicht lebhafter zu treiben, um 
nicht jelbft die Auflöſung des Parlaments herbei zu führen, 

Dies war ein Signal für Alle, die nur irgend möglich fan— 
den, Aufnahme zu erhalten, ſich an das neue Miniftertum anzu— 
ichliegen, da an eine Verweigerung des Budget nicht mehr zu 
denfen war, Die Zeitungen hatten damals gegen For Indiabill 
und gegen den Eingriff ins Gigenthumsrecht, den man der Coa— 
Yitton vorwarf, den Unwillen der Nation rege gemacht und nie= 
mand zweifelte mehr, daß die Gunft des Volks fich von For abs 
gewendet hätte, Pitt übereilte fich indeſſen nicht, er legte, auch 
nachdem die bisher immer verfchobene Hauptfache wegen Ginnah- 
men und Ausgaben am 9, März entjchteden war, dem Parla⸗— 
ment noch andere Dinge vor und vertagte e8 erſt am 24 Am 
folgenden, 25., ward dann endlich das Parlament der Coalition 
entlaffen und neue Wahlen angeordnet, Bei der Gelegenheit er- 
laubte ſich freilich Pitts Partei bei der Wahl in Weſtminſter 
einige Schritte, welche dem Geſetze entgegen waren, weil fie For 
aus dem Wahlbezirk der größten Stadt drängen und ibn auf 
eine ſchottiſche Inſel beichränfen wollte. Die Wahlen waren 
indeffen doch im Allgemeinen der. Soalitton entgegen, und Pitt 
würde im neuen Parlament noch viel bedeutenderen Einfluß er— 
halten haben als er erhielt, wenn nicht der König und fein Sohn, 
der Thronerbe, in offnem Zwift gelebt hätten. Da fich Bor und 


90) Die Yange Vorftellung an den Köntg, welche mehre Setten füllt, 
beginnt mit den Worten: Wir bezeigen unfere Betrübnig, daß, da Sr. Ma- 
jeftät waterliche Güte Se. Majeftät bewogen Hatte, fih von den Vortheilen 
zu überzeugen, weldes aus einer Adminiſtration, wie wir fie in unferer Res 
folution angegeben hatten, entfliehen könne, dennoch Se, Majeſtät ſich verleiten 
laſſen, die Meinungen einzelner PBerfonen dem wiederholten Nathe ber im 
Barlamente verfammelten Nepräfentanten feines Volls In Anfehung der Mit- 
tel einen fo erwünſchten Smwer zu erlangen, vorzuziehen u. ſ. w. 





576 Kor und Pitt bis 1784, 


Sheridan des Prinzen von Wales annahmen, fo mußte Pitt die 
perfünliche Angelegenheit des Königs auch zur Seinigen machen, 
das erfchwerte ihm hernach fein Geſchäft. 

Die Gefchichte des neuen Miniftertums und des Barlamentg, 
von dem es unterftübt ward, gehört in diefe Periode nicht, ſon— 
dern in die Zeit der Revolution, einige wenige Bemerkungen 
mögen daher dieſen Abſchnitt beſchließen. Zuerſt ward Pitts 
zweite Indiabill, vermöge deren die Oberaufficht (Control) über 
die oftindifchen Angelegenheiten und über die oſtindiſche Gefell- 
Tchaft an das Miniftertum Fam, gleich anfangs im neuen Parla— 
mente angenommen. Dadurch ward die Protertion, wurden alle 
Bortheile und Stellen, über welche die oftindifche Compagnie ver- 
fügen konnte, nicht wie For gewollt hatte, an ein einzelnes Mi— 
niftertum,, ſondern an jedes nach der gewöhnlichen Ordnung be= 
ftellte, gebracht. Hernach begann unter Pitt, deffen jet der Kö— 
nig gar nicht entbehren Fonnte, wenn er nicht feinen Feinden, die 
fich feines Sohns, des Prinzen von Wales, bemächtigt hatten 
und für deffen Schulden und Aufwand im Parlament fehöne Re— 
dent Hielten, im die Hande fallen wollte, langſam und vorfichtig 
eine ariftofratifche, oder, wenn man will, confervative Bewegung, 
welche der demofrattfchen, der wir bisher feit 1763 gefolgt find, 
gerade entgegenfeßt war, -Diefe Bewegung rückwärts, oder mit 
andern Worten die Sorge, alle alten Mißbräuche, alle überfiüfft- 
gen Penſionen, alle Borzugsrechte gewiffer Familien bet einträg= 
lichen und ehrenvollen Stellen in Flotte und Heer, alle faulen 
Wahlflecken, alle Sineeuren und unnützen Pfründen, alle wefent- 
lichen Stücdfe der, wie es immer heißt, beglücdenden Verfaſſung 
als ehrwürdige Nefte des Mittelalters aufrecht zu erhalten, wuchs 
jeit 1784 in England in eben dem Maße, als auf dem feiten 
Lande am Ende des Jahrhunderts alles Alte zu verſchwinden drohte. 
Daher kam es, daß ſich hernach Bonaparte und Bitt feit 1800, wie 
die neue und bie alte Zeit, wie ein ftrenger militärifcher Monarch und 
das Haupt einer aus Kaufleuten, Hlerarchen und Dynaſten der Zeit 
des Feudalismus beftehenden Ariftofratie fo entgegenftanden, wie die 
Republikaner Frankreichs fich dem, was fie Pitt und Coburg nann— 
ten, entgegenftellten. 





Heiſet Joſeph IL. bis 1787. 377 


Zweites Kapitel. 


Zeiten der unruhigen Bewegung im Innern der 
Staaten des feſten Landes bis auf die erſten Anzeichen 
der franzöſiſchen Revolution. 


—T 


Kaiſer Joſeph I. vom Tode feiner Mutter bis auf den 
Türkenkrieg. 


Joſeph IT. wollte mit monarchiſcher Gewalt bewirken, was 
man in andern monarchifchen Staaten mit Gewalt zu hindern 
fuchtz er geriet daher aus einem ganz entgegengefeßten Grunde 
als andere Autofraten mit dem Volke und mit dem Zeitgeifte in 
Swift, Er wollte Verwaltung, Regierung und Unterricht, Er— 
ziehung und Ginvichtung des Neligionsverhältniffes, wie die Ge— 
jebgebung und die Rechtspflege feiner Staaten verändern; dad 
war freilich ohne Revolution und ohne das Volk zu Nathe zu 
ziehen unmöglich, und das Volk wollte Sofeph nicht befragen, 
Joſephs Gefchichte tft daher die lange Leidensgefchichte eines 
Fürften, der, vom beiten Willen befeelt, mit dem Beſtehenden 
fampft, ohne Gehülfen und Bundsgenoffen zu finden, oder aud) 
nur zu ſuchen. Er ſetzte feinen eignen gefunden Verſtand dem 
Herfommen und Schlendrian, der Bolitif, dem Pedantismus, der 
Rechtswiſſenſchaft, dem herrſchenden Aberglauben, der Verfaſſung 
ſogar und allen Urkunden entgegen; er mußte daher oft wider 
ſeinen Willen zum Tyrannen werden, um auch nur ſogar die 
Einrichtungen durchzuſetzen, deren ſich bis auf den heutigen Tag 
die Verſtändigen in Oeſterreich freuen. Ge allein iſt fett Maxi— 
miltan IL. im Stande gewefen, einmal wieder ein dämmerndes 
Licht zu verbreiten; dieſes Licht ift es, deflen fich die Freunde des 
Fortſchreitens in Defterreich jest doppelt freuen und wegen deſſen 
fie den Katfer noch jeht im Stillen ſegnen. Ste erlangten diefe 
Bortheile nicht immer ohne einige Ungerechtigkeit und Härte von 


378 Kaiſer Joſeph IL bis 1787, 


feiner Seite; Radicalveformen find aber unvermeidlich mit tempo- 
rärer Ungerechtigkeit und Härte verbunden. 

Gleich beim Antritt feiner Regierung am 28, Nov. 1780 
fündigte er an, daß er, auf das Bewußtſein feiner guten Abficht 
als Herrſcher vertrauend, ohne Nücficht auf Worurtheile und 
DBorrechte der verſchiedenen Völker und Stämme feines Reichs, 
nur das Wohl der Gefammtheit im Auge haben werde. Das hieß 
mit andern Worten, er werde die Bevollmächtigten der Böhmen, 
Ungarn u. |. w. nicht befragen, fondern fie wie die germanifchen 
Stämme feiner Unterthanen nach feiner deutfchen Anficht behan— 
deln, Er wollte nicht einmal vom Palladium der Ungarn, von 
ihrer heiligen Krone und ihrer Verfaſſung etwas wiſſen, ließ fich 
auch nicht nach altem Brauch als Madſcharenkönig krönen; Daraus 
zogen fie für ihre Berfaffung eine höchſt ungünſtige Vorbedeutung, 
In Belgien ſchien er anfangs das Vorurtheil fcheuen zu wollen, 
weil ihn Tractate mit den Bürgen des Utrechter Friedens fefjel- 
ten. Er Tieß fich nämlich als Herzog oder als Graf der ver- 
Ichtedenen Provinzen Belgiens perfönlich Huldigen und auf bie 
beftehende Verfaſſung verpflichten. Schon damals (Juli 1781) 
jchrieb er jedoch, nachdem er im vorigen Monat (Juni) Holland 
und bejonders Amfterdam unter dem Namen eines Grafen von 
Falfenftein befucht hatte, den großen Unterfchted der Gewerbfam- 
feit und des Wohlftandes, den er zwifchen den fieben Provinzen 
und ben belgifchen beobachtete, ganz allein der in Belgien fortbe- 
ftehenden Verfaſſung des Mittelalters, der Hierarchie und der Feu— 
dalität zu. In Wien machte hernach Joſeph der jeit undenklicher 
Zeit hergebrachten und unter Franz IL völlig wieder hergeftellten 
Regierung der großen Familien und‘ der Anftellung einer großen 
Anzahl vornehmer Herrn, welche die Gefchäfte durch die unterge- 
ordneten Beamten, oder durch ihre Secretärs, oder auch gar nicht 
beforgten, plößlich ein Ende. Er richtete Feine neue Hierarchie der Ber- 
waltung ein, weil er mit Recht niemanden ganz traute, er wollte au— 
ßerdem Alles ſelbſt fehen, anhören und Leiten, was unmöglich war, 
Gr umgab fih in feinem Kabinet bloß mit Seeretären, °') hörte 





91) Der Kaifer, Heißt e8 in dem Bettrage zur Charaftertftif 
und Regierungsgeſchichte der Katfer Joſeph IL, Leopold IL 


Katfer Joſeph TI. bis 1787, 379 


ſelbſt jedermaun an und war Tag umd Nacht thätig; aber er 
vergaß, daß Harun Alraſchids im Orient berühmtes Negierungs- 
ſyſtem im Occident durchaus unanmwendbar fei. Die Ankündigung 
des einen und untheilbaren Hfterreichifchen Neichs, die ex ausgehen 
ließ, erfehverfte daher auch die Ungarn, Böhmen, Belgier, Lom— 
barden nicht weniger, als die Ankündigung der einen und untheil- 
baren. helvetifchen Nepublif um 1798 die mehrften Gantons der 
Schweiz. Den Ungarn, oder doch einem ungarifchen- Magnaten, 
erklärt Sofeph in diefer Beziehung um 1785 rund heraus, feine 
Regierung fet eine deutfche, und er wolle daher nicht einmal 
die Sprache der Millionen feiner Unterthanen, welche eine andere 
als die deutfche vedeten, offiziell anerkennen. ??) 

Joſeph theilte daher ohne Niückficht auf Nationalität feine 
ganze Monarchie in dreizehn Statthalterfchaften, deren jede wieder 
in Kreiſe zerfiel. Dadurch ward den Ungarn gewiſſermaßen die 
Auflöfung ihrer Jahrhunderte Yang hartnäckig vertheidigten Con— 
ftitutton verkündigt, denn diefe knüpfte fich an ihre Heilige Krone, 
an die Krönung, welche der Katfer vernachläffigt Hatte und an 
die Abtheilung ihres Landes, welches Joſeph in zehn Kreife 
theilte, Statt daß es sorher An fünfzig Gefpannfchaften getheilt 
war. Die Veränderungen, welche der Kaiſer vornahm und die 
unzähligen fich vielfach durchkreuzenden und nicht felten fich wi— 
derfprechenden, aber immer wohlgemeinten Verordnungen Joſephs 
aufzuzählen, gehört nicht zum Zwecke dieſes Werks, man muß zu 





und Franz IL, ließ faft zu allen Stunden des Tags jedermann vor fi. 
Wollte man dem Monarchen etwas vortragen, fo durfte man nur in ten ſoge— 
nannten Gontroleurgang gehen, Wer zu feinem Kabinete führte. Joſeph fah 
faft alle Stunden heraus, und wenn Leute da waren, fo ſprach er mit ihnen 
oder führte fie in fein Kabinet. Er hatte feinen Thürfteher und Kammerheren, 
fondern öffnete felbft jedermann die Thür und machte fie auch wieder zu. 

92) Das fagt Joſeph In einem Briefe in der oft angeführten Samm- 
lung. Er iſt vom Januar 1785 und war an_sınen ungariſchen Magnaten 
gerichtet. Dort heißt es: Die deutſche Sprache tft Untverfalfpradhe meines 
Reichs; warum follte ich die Geſetze und die öffentlichen Geſchäfte in einer 
einzigen Provinz nad der Nationalfprache derfelben trastiren Yaffen? Ich 
bin Katfer des deutſchen Reichs, demnach find die übrigen Staaten, die id 
beſitze, Provinzen, die mit dem ganzen Staat in Vereinigung einen Körper 
bilden, wovon ich das Haupt bin. 


330 Kaiſer Joſeph IT. bis 1787, 


diefem Zweck die zahlreichen Biographien des Kaiſers, beſonders 
die neuefte son Groß Hoffinger zu Rath ziehenz auch findet man 
bei Dohm Vieles, was dahin gehört. Cine genaue chronologiſche 
Geſchichte aller Veränderungen Joſephs würden wir nur in dem 
Salle diefen Werke einverleiben, wenn wir im Einzelnen ent- 
wiceln wollten, auf welche Wetfe der Kaifer perfünlich und allein 
mit feinen zum Theil durchaus verblendeten Zeitgenofen, mit 
Beamten und Ständen feiner Länder, mit Adel und Geiftlichkeit, 
ja ſogar mit.den Juden und ihren VBorurtheilen in beftändigem 
Streit war, Wir wollen aber nur im Allgemeinen andeuten, 
theild was er zu Gunſten feines im Geifte der franzpfifchen und 
italienifchen Defonsmiften entworfenen Plans einer Totalreform 
verjuchte, theild mo und wie er dabei auf unüberfteigliche Hin— 
derniſſe ftieß. 

Am glüclichiten war ev in der Reformation des Zuftandes 
der geiftlichen Angelegenheiten feines Reichs; denn er begann 
gleich bei feinem Regierungsantritt und fehritt jo ſchnell vorwärts, 
daß man troß aller Bemühungen bis auf unfere Tage nicht im 
Stande gewejen tft, den alten Zuftand gänzlich wieder zurückzu— 
führen. Ban Swieten hatte freilich fchon unter Maria Thereſia, 
deren volles Bertrauen er befaß, bei der Aufficht über Hierarchie 
und Klöfter, und der Abt Felbinger in Rückficht des Unterrichts 
in den niedern Schulen und. der Lehrbücher. ftille Verbeſſerung 
verfucht, auch ward der Katfer gerade in diefem Fache von allen 
den Männern Defterreich® unterftüßt, welche an dem damaligen 
neuen Leben unferer Literatur Antheil nahmen, Defterreich befand 
fich aber ‚gleichwohl Damals gleich Baiern in geiftlicher Beziehung 
in dem Zuftande, worin es im ſiebenzehnten Jahrhundert geweſen 
war. Kaunitz dachte über Geiftlichkeit und Hierarchie nicht blos 
wie Zofeph, fondern fogar wie die Barifer Philofophen, von denen 
der Katfer nichts wiſſen wollte; er unterftüßte daher den Katjer 
in feinem Gifer gegen Papismus, Mönchthum und Hierarchie, 
obgleich er in andern Punkten mit dem eilfertigen Reformiven 
nicht zufrieden war. Die Männer, welche Joſeph in geiftlichen 
Dingen gebrauchte, verdienen fchon darum genannt zu werden, 
weil fie als gelehrte und vechtgläubige Katholifen nur dem Papis- 
mus, dem Mönchthum, dem Jeſuitismus und Fanatismus entges 


Kaifer Joſeph IL. bis 1787, 3831 


gentraten, die eigentliche und reine Fatholifche Lehre aber auf jede 
Weiſe zu erhalten und zu befeftigen fuchten. Die vorzüglichiten 
unter ihnen waren son Born, von Sonnenfels, von Greiner, der 
Prälat Rautenftrauch, der Baron Krefel, der Staatsfefretär Mo— 
linari, die Bröbfte de Terme und Wittola, der Unterfimmerer 
Valery, ein Riegger, ein Eybel, ein Schneller, deren befanntere 
Namen wir anführen, um zu beweifen, daß es dem Kaifer an 
gelehrten Nathgebern nicht fehlte, und daß die vorzüglichften Män- 
ner unter den Katholiken feine Schritte Hilligten. 

Die Hauptveränderungen betrafen die Klöfter, Man nahm 
es dem Kaiſer ſehr übel, daß er die Güter der aufgehobenen 
Klöfter entweder ganz einzog, oder fie wenigſtens unter der Auf- 
ficht des Staats’ verwalten ließ. Dies war aber das befte Mittel, 
dem Mönchthum ein Ende zu machen, Sobald nämlich die arbeit 
ſcheue Jugend nicht mehr durch müßiges Wohlleben in die Klöfter 
gelockt wurde, verminderte fich die Zahl derer, die ſich als No— 
vizen anboten, täglich, jo daß manche Klöfter, welche fonft jährlich 
zwanzig Novizen zählten, deren kaum zwei hatten. Man tadelte 
freilich Joſeph nicht ganz mit Unrecht darüber, daß er bie Ein⸗ 
fünfte der Kloſtergüter zum Religionsfond zog, wodurch Vieles 
verloren ward; dieſer Tadel war aber ungerecht. Es fielen aller— 
dings beim Verkauf der geiſtlichen Güter und der Kirchengeräthe 
Unterſchleife vor und es wurden Summen veruntreut; aber mit 
des Kaiſers Wiſſen ward nie von der Religionskaſſe ein anderer 
Gebrauch gemacht, als der, für welchen die Kaſſe beſtimmt war. 

Es waren bei der eingeführten Verwaltung die Ausgaben 
für das Heer für jedes Jahr gedeckt, die Militärkaſſe bedurfte 
alſo des Zuſchuſſes nicht. Die Gelder des Religionsfonds wurden 
auf Erbauung yon Kirchen und Austattung von Pfarreien und 
Anftellung neuer Pfarrer auf dem Lande, beſonders in gebirgigen 
Gegenden u. ſ. w. verwendet und ganz allein dazu angewieſen. 
Der Katfer fehlte aber darin, daß er viele geiftliche Güter unter 
ihrem Werthe verkaufen ließ und daß ihre Verwaltung mehr Geld 
foftete als Recht war. 

Der Katfer behauptete zwar Immer, daß ex fich in Reli— 
gionsangelegenheiten nur in fo weit mifchen wolle, als es bie 
Außere Disciplin oder das mit dem Kirchlichen verbundene ganz 


382 Katfer Joſeph II. bis 1787. 


allein vom Staat abhängige AWeltliche betreffe; dies fcheint auch 
ſogar Bapft Pius VL, als er ihn in Wien befuchte, geglaubt 
zu haben. Wir glauben jedoch auf eine unter dem Text ange 
führte Stelle eines im Oftober 1781 von ihm an den Kardinal 
Herzan, der fich feiner Sachen in Rom annahm, gefchriebenen 
Briefs geftüßt, behaupten zu dürfen, daß er recht gut mußte, ba 
die Geiftlichfeit des Mittelalters und ihre Concilien das Innere 
und Aeußere fo genau verbunden hätten, daß man das Eine nicht 
verbeffern könne, ohne auch das Andere anzurühren.%) Zuerſt 
ließ er daher eine allgemeine Toleranz verfündigen, hob den un— 
mittelbaren Zufammenhang der Mönche und Nonnenflöfter mit 
Nom auf und befchränfte die Gewalt, welche der Papft über 
den Glerus der nfterreichifchen Lande ausgeübt hatte. Die Maß— 
regeln wurden ihm von denjenigen Lehrern des Fatholifchen Kir 
chenrechts angegeben, welche in ihrem, Schulfyftem das, was man 
Spifeopalregierung der Kirche nennt, der abjolut monarchiichen 
papftlichen vorzogen. Was das letztere angeht, fo baute Joſeph 
dabei auf eine unter feiner Mutter Regierung 1767 erlaſſene 
Verordnung und auf den feiten Widerfiand, den auch Maria 
Therefia den Sefuiten und den Päpſten entgegenfegte, wenn fie 
son Anwendung der Bullen unigenitus und in coena domini 
redeten. Sofeph ging weiter; er gebot namlich, daß feine Bulle 
oder“ Breve des Bapftes bekannt gemacht werden dürfe, ohne daß 
fie vorher die Billigung der höhern Landesftellen erlangt habe, 
Es ward ferner verboten, Enthebung von den Firchlichen Verord— 
nungen und befondere geiftliche Befreiungen künftig unmittelbar 
som Bapfte ftatt von den Biſchöfen und Erzbiſchöfen des Landes 
zu fuchen, Weil die Mönche und ihre Klöfter bisher als eine 


93) Es Heißt am Schluffe diefes Briefes (Briefe, 1822, bet Brodhaus, 
Seite 52): Ich werde dafür Sorge tragen, daß das Gebäude, weldies id 
für die Zukunft errichtet, dauerhaft bleibe, Die General -Seminarten find 
Pflanzfhulen für meine Priefter; die Seelforger, welche darin gebildet wer: 
den, bringen einen geläuterten Geiſt mit in die Welt und theilen ihn durch 
einen weiſen Unterricht dem Volke mit. So werden fie nad einem Zeitraum 
von Jahren Chriften fein; fo werben, wenn ich meinen Plan vollbracht, die 
Bölfer meines Reichs genauer die Pflichten Fennen, bie fie Gott, dem Bater- 
Yand und- ihren Nebenmenfihen ſchuldig ſind — fo werden auch noch bie 
Enkel fegnen, daß wir fie yon dem übermächtigen Nom befreit u. ſ. w. 





Katfer Sofeph IL bis 1787. 883 


Armee Noms und als Pflanzſchulen dev BPriefter und der im 
römischen Sinn unterrichtenden Lehrer dienten, jo ward unterfagt, 
die Priefter aus den Klöftern zu nehmen; alle follten in den auf 
£atferlichen Befehl eingerichteten Generalfeminarten gebildet werden. 
Sur Sahre 1787 ward endlich fogar verboten, irgend einen Titel, 
eine Würde, eine Gunftbezeugung vom Papſte anzunehmen, ohne 
vorher bei der Regierung darüber anzufragen. Allen Geiftlichen 
wurde bei Verluſt ihrer -Benefizten verboten, Gelder fir Meffen 
zu bezahlen, welche außerhalb Landes gelefen werden follten, das 
hieß mit andern Worten für folche, die in römiſchen Kirchen oder 
was man an den Schwellen dev Apoftel nennt, gelefen würden. 

Gleich die erften Verordnungen, befonders die wegen der 
Toleranz, wegen der Aufhebung des Zufammenhangs der geift- 
lichen Orden in den Erbſtaaten mit einem Ordensgeneral in Rom 
und ihre Unterwerfung unter die Biſchöfe und Erzbiſchöfe ihter 
Provinzen weten die Beſorgniß der Exjeſuiten und ihres gut— 
müthigen, wohlmeinenden, aber höchſt beſchränkten Werkzeugs, des 
ſächſiſchen, oder, was einerlei iſt, polniſchen Prinzen. Dieſer Erz— 
biſchof von Trier und Biſchof von Augsburg, Clemens Wenzel von 
Trier, hätte immerhin den Kaiſer gutmüthig warnen mögen, Jo— 
ſeph hätte ihm gewiß nicht ſpöttiſch oder vielmehr höhnend geant— 
wortet, wenn er nicht gewußt hätte, daß Clemens von den Je— 
ſuiten getrieben werde und daß ein fanatiſcher Jeſuit, der Abbe 
Beck, für ihn die Feder geführt habe. Dieſer ſchrieb den war— 
nenden Brief des Kurfürften an den Kaiſer, Clemens ſetzte nur 
feinen Namen darunter. 

In diefem Ermahnungsbriefe an den Katfer, den der Erz 
biſchof von dem Jeſuiten auffegen und abgehen ließ Anfang 
Juni 1781) beſchwert er fich über fünf Punkte, ganz beſonders 
aber darüber, daß eine allgemeine Toleranz verfündigt ſei und 
daß insfünftige die Biſchöfe nur folche Bücher follten verbieten 
dürfen, welche auch vom Wiener Cenſurcollegium verboten ſeien. 
Der jejuitifche Brief ſpornte einen jo lebhaften und auf fich und 
feine Einficht unbedingt vertrauenden Fürften wie Sofeph, ftatt 
ihn zurückzuhalten; doch feheint uns aus feiner Antwort heroorzu= 
gehen, daß er auch dieſe religiöſe Angelegenheit zu ſehr als eine 
perſönliche beirachtete, feiner Fntferlichen Würde durch die Art feis 


384 Katfer Joſeph II. bis 1787. 


ner Ironie etwas vergab und nicht genug Nückjicht darauf nahm, 
daß er es mit Dienern einer pofitiven Lehre und Kirche, nicht mit 
Philofophen zu thun Habe Er antwortet nämlich zuerſt dem 
guten, aber im Geifte des Mittelalters warnenden Grabifchofe auf 
die fünf Punkte einiges, was ihm in dem Augenblick gerade ein- 
fällt, fchließt aber feinen Brief mit folgenden Worten: „Kurz 
und gut, ich hoffe, wir gehen beide den Fürzeften Weg felig zu 
werden, wenn wir die Pflichten des Berufs erfüllen, worin ung 
die Borfehung gefest hat und wenn wir dem Brode, das wir 
efjen, Ehre machen. Sie effen das Brod der Kirche und prote- 
fliren gegen alle Neuerungen, ich das Brod des Staates umd 
pertheidige und erneuere feine urfprünglichen Rechte.“ 

Die unverftändige Oppofition ermunterte den Kaiſer, ſtatt 
ihn abzufchreeken, denn feit der Zeit, daß der Erzbifchof ihm ges 
ſchrieben Hatte, begannen exft die Hauptveränderungen. Der Erz 
biſchof von Trier oder vielmehr der Sefuit, der in feinem Namen 
Briefe ſchrieb, goß aber aufs neue Del ins Feuer, Der gute 
Kurfürft fand fich nämlich durch. des Katjers verlegende Antwort 
und bejonders durch den Teichten Ton, in dem fie abgefaßt war, 
ſehr gefranft und fandte am Ende November einen zweiten Brief, 
Diefer Brief tft ganz im geiftlichen Tone abgefaßt, aber verbrieß- 
lich und durch einen Wink von der Holle ſehr beleidigend. Der 
Erzbiſchof fchreibt: „Er habe, als er des deutfchen Kaifers Ant- 
wort erhalten, fich aufrichtig gefreut, daß er nach dem Beifptele 
des Apoſtels würdig befunden jet, um de8 Namens Jeſu Chriſti 
willen Verfolgung zu leiden, und fchließt: Ja ich fage es mit 
aller Freimüthigfett des Amtes, weldes mir an- 
vertraut ift: So groß auch jebt die Feftigfeit ſein 
mag, womit fie gegenwärtig entjehloffen ſcheinen, 
fo wird ein Tag fommen, wo fie darüber untröſtlich 
fein werden.” Daß diefe Drohung mit der Höfe den Katfer 
heftiger gegen alle Pfaffen und gegen das Pfaffenthum 'erbittern 
würde, hatte der Kurfürſt oorausfehen müſſen; man wird aber aus 
dem in den Noten mitgetheilten Stick der Antwort des Katfers9) 





94) Ih habe den Brief fo eben empfangen, welchen Ew. Hoheit Beliebt 
hat, an mih zu ſchreiben. Sch fehe, daß wir auf einerlei Wege find, 


Katfer Joſeph IT bis 1787. 385 


jehen, daß diefer fich auch im diefer Angelegenheit von feinem 
lebhaften Gefühl über die Schranfen der Schieflichfeit hinaus— 
reißen ließ. 

Um diefe Zeit Hatte Joſeph ſchon feine Hofſtiftungscommiſ⸗ 
ſion errichtet, deren Präſident der Baron von Kreſel war, und 
hatte über die gleich beim Antritt ſeiner Regierung nur im All— 
gemeinen verkündigte Toleranz im Oktober 1781 ein beſonderes 
Edikt erlaſſen, worin er noch weit mehr gewährte, als er vorher 
verſprochen hatte; auch hatte er in Beziehung auf das Kloſter— 
weſen in feinen Staaten die erſten Schritfe gethan. In dem 
Verfahren gegen die Klöſter bewies Joſeph, daß es ihm um mo— 
raliſche und politiſche Verbeſſerung des Zuſtands ſeines Reichs, 
nicht aber darum zu thun ſei, die Militär- oder auch die Staats— 
faffe, oder gar des Katfers Schatulle mit dem Gelde der Stif⸗ 
tungen frommer Seelen für fromme Zwecke zu bereichern, Man 
kann befanntlich diefes weder son Heinrich VIIL in England, 
noch von vielen deutfchen Fürften der Neformationszeit, am mes 
nigften aber von den Nittern in Preußen, Liefland und Curland 
und ihren Großmeiftern fagen, welche die Güter und die Com— 
menden zu Eigenthum und fich zu erblichen Herzögen machten. 
Sofeph hob nämlich nicht zunächſt die reichen Stiftungen und die 
jehr begüterten Klöfter auf, jondern gerade die ganz unbegüterten, 
deren Bewohner eine Peſt des Landes find, weil fie, gleich den 
Schacherjuden, fich überall eindrängen, das Volk im Aberglauben 
erhalten, das Scherflein der Wittwen umd Armen an fich ziehen, 
und die Armeen der Bettelorden aug dem Wolfe vefrutiven, um 
auf diefe Weile das ftehende Heer bettelnder Faullenzer im Lande 
zu unterhalten. Die Bettelorden, welche Joſeph zunächſt anſehn— 
lich vermindern wollte, Hatten in Defterreich, wie in Baiern und 
in der Pfalz in Verbindung mit den Sefuiten, dem ſchlecht unter= 





Ew, Hohelt nehmen die Form für die Sache, da ich mich in der Neligton 
genau an die Sache Halte und nur den Mißbräuchen wehre, die fih in dies - 
felbe eingefchltchen und ihre Reinigkeit entftellt Haben. Ihre Briefe find ganz 
tragiſch und meine ganz komiſch, und obſchon Thalta und Melpomene als 
Schweftern auf dem Parnaffe nicht Immer zufammengehen, fo erlauben Sie 
mir doch, den Zeitpunkt zu erwarten, wo unfere Schweftern, Abkömmlinge 
som Helikon, ſich näher verbinden. In diefer Erwartung u. f. w. 
Schloffer, Geſch. d. 18, m 19 Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 2 


386 Katfer Joſeph IL bis 1787. 


richteten Volfe durch Betgänge, Brüderfchaften, Wallfahrten, Feſte, 
Fahnen und Almofen das Faullenzen und den mechaniſchen, 'ge- 
danfenlofen Ceremoniendienſt fo werth und thener gemacht, daß 
jeder befleve Unterricht fruchtlos war. Wer wiffen will, wie es 
3: B. bei dem Kapuzinern in Wien zu Joſephs Zeiten ausfah, 
dem vathen wir, Die erſten zweihundert Seiten der Selbftbiographte 
eines ſpäter als Schriftfteller jehr befannt gewordenen Gelehrten zu 
Lefen, der damals in einem Wiener Klofter als Kapuziner lebte. 9) 

Joſeph Hatte, wie wir Schon angeführt hatten, zunächſt alle 
Verbindung und jeden Zufammenhang der Klöfter feines Landes 
mit den Ordensgeneralen in Nom und hernad; mit fremden Klö— 
ftern und Oxdensmitglieden aufgehoben und feine Klöfter der 
Aufficht der Landesbifchöfe unterworfen, hernach fchritt er zur 
Aufhebung folcher, die er für überflüffig oder ſchädlich hielt 
Schon im Jahre 1751 verordnete er, daß alle ausländifchen 
Mönche aus den Klöftern der öſterreichiſchen Erblande entfernt 
werden follten; dann ward dem Nefrutirungsiyftem der Klöfter 
eine Schranfe geſetzt. Innerhalb der nächſten zwölf Jahre follten 


— — FE 


95) Feßler, bekanntlich hernach ein deutſcher Vielſchreiber, Proteſtant 
und Generalſuperintendent in Rußland, war damals Kapuziner in Wien; er 
gibt uns in ſeinem Leben (Dr. Feßlers Rückblicke auf ſeine ſiebzigjährige 
Pilgerſchaft. Ein Nachlaß an feine Freunde und feine Feinde. Breslau 1824. 8.) 
gleich vorn ein traurtges Bild vom Treiben der Kiberalen und der illiberalen 
Mönde. Zu den Erften gehörte damals Feßler; er wollte ſich alſo an den 
Kaifer drängen, und. ſchrieb daher ein Büchlein unter dem Titel: Was tft 
Her Kater. Dafür ward er im Klofter gepeinigt und wandte fi durch 
viele Canäle endlich an den Baron Krefel und durch diefen an den Kaifer. 
Darauf erfolgte das Handbillet (Rückblicke, S. 153): Mein lieber Baron 
Krefel, Hier iſt das Buch zurück; ich Habe es durchgelaufen; der Inhalt ift 
der rechte Schlüffel zum Verfahren des. Karbinals Migazzi und der Kapuziner 
gegen die Patres Innorentius und Seraphinus. Ich nehme beide Geiſt— 
liche in meinen Schuß; fie follen in Wien bleiben und vom Kloſter aus 
Die Untverfität beſuchen, welches: eiligft. dem Kardinal und den Kapuzinern 
befannt zu machen und ihnen nachdrücklicher einzuſchärfen ift, daß fie ſich 
aller. weitern Chicane gegen diefe zwei Gefftlichen enthalten. Mit diefem muß 
man vergleiihen, zuerii, was ber Abbe de Bellegarde aus dem Munde des 
Probſt Batifte de Terme in den Nouvelles ecclesiastiques d’Utrecht: 1783 
berichtet, dann die Beiträge zur Gefchlchte der. Kapuziner in: Defterreih, 
Köfn. 8., und Oeſterreichiſche Biedermanns⸗Chronik. Wien 1784, 8, | 


Katfer Joſeph U. bis 1787. 387 


von den Kloftern Feine Noyizen angenommen werden dürfen, 
Schon im Januar 1782 ward mit der Aufhebung der Klöſter 
der Anfang gemacht und zunächſt die Kamaldulenfer und Kar— 
thäufer, Karmeliterinnen, Rapuzinerinnen und Franziskanerinnen 
aufgehoben: Unmittelbar hernach wurde. ein genaues Verzeichniß 
der beweglichen und imbeweglichen Güter der Klöfter, der Welt: 
geiftlichkett, der Stiftungen und Brüderfchaften aufgenommen. Wie 
wohlthätig diefe Mafvegel für die öſterreichiſchen Staaten war, 
von welcher Plage und von einer wie großen Anzahl von Blut: 
faugern die niedern Klaſſen des Volks befreit wurden, wird man 
auf den erften Blick erkennen, wenn man das Verzeichniß dev nur 
allein in den Jahren 1782 «und 1783 aufgehobenen Orden ans 
fieht.  Diefe Hatten wenig oder gar Fein Eigenthum, fie * 
alſo ganz dem Volke zur Laft. 9) 

‚a age Allgemeinen rechnet man, daß der Kaiſer von 1782 bis 
am feinen Tod, alfo in acht Jahren, die Zahl der Mönche und 
Nonnen in ine Staaten um dreißig bis ſechsunddreißig tauſend 
Perfonen, die dem: Lande ebenſoviel koſteten als ein ſtehendes 
Heer von bderfelben Zahl, vermindert habe, und dennoch ließ er 
noch 1324 Klöfter übrig. Die Bevölkerung dieſer übrigen Klöſter, 
die gerade in unferm Jahrhundert wieder mit einigen neuen wer: 
mehrt find, rechnete man auf ſiebenundzwanzigtauſend Seelen. In 
Belgien allein fand der Kaiſer bei feinen Maßregeln gegen die 
Anftalten des Mittelalters, die fich diberlebt Hatten, einen: unüber— 
windlichen Widerftandz im den andern Provinzen war der Ein: 
fluß des Geiftes feiner nach Licht und Freiheit ſtrebenden Zeitges 
nofjen, obgleich deren Zahl nur Hein war, doch ſo mächtig, daß 
der Adel, die Pfaffen, der abergläubige, träge, an kirchlichen Feſten 
und Wallfahrten hängende Pöbel vergeblich gegen ihn tobtem - 

| Uebrigens waren: damals die Verftändigen noch durch Feine 
Romantik, feine krauſe Myſtik, Feinen Kunſtſchwindel oder Deutſch⸗ 
thümelei und Bewunderung alter) deutfcher Poeſie berauſcht. Der 
Bet Grzbiſchof „ Kardinal Migazzi, fand daher nur unter 


90 Im vierten Bande von Groß⸗Hoffingers Lebens» und Regierungs⸗ 
geſchichte Joſephs des Zweiten, welcher das Archiv enthält, findet mar ©. 233 
dns Verzeichniß aller In den Jahren 1782 und 1788 inchusive in dei fämmts 


lichen tt, Staaten erloſchenen Manns⸗ and Frauenorden * 





388 Kaiſer Joſeph II. bis 1787. 


Schriftſtellern, die Niemand als feine Pfaffen und ihre Beicht— 
finder Iefen mochte, Verbündete, und auch fogar die mit allem 
theatralifchen Pomp eines vortrefflichen und dabei ſehr ſchönen 
Firchlichen Figuranten unternommene Reife des Bapftes nad) Wien 
war vergeblich. Ueber diefe von den jchlauen Römern jehr miß— 
bilfigte Reife Pius VI. ließ fich der Schweizer Müller in moder- 
ner Weiſe jophiftifch vernehmen, und es ſchien, als wolle er fei- 
nem Buche dadurch größere Bedeutung geben, daß er als Prote— 
ftant mehr Reſpekt für Päpſte zu haben fchten als der Eatholifche 
Kaiſer. Nichtsdeftoweniger verichwand der augenblicliche große 
Enthuſiasmus, den die Reiſe des Papftes im füdlichen Deutfch- 
land erregte, gar bald gleich Nebel und Dunft, 

Faſt um diefelbe Zeit, ald Clemens Wenzel dem Kater jo 
ernftlich son feinem Streben, Duldung zu üben und das Mönch— 
thum zu verbeffern, abmahnte, überreichte ihm Migazzi eine 
dringende Vorftellung im Geifte Clemens Wenzels. Diefe machte 
Sofeph ohne Bedenken üffentlich befanntz einer der gelehrten, dem 
Weſen der Fatholifchen Religion fehr günftigen, dabei aufgeflär- 
ten Männer aber, die ihn umgaben, begleitete fie mit ſehr beißen- 
den Noten, Der Erzbifchof z0g gleichwohl noch einmal gegen die 
Duldung und für die Bettelmönche polemifivend ins Feld, Er 
richtete eine längere, mit Stellen aus den Kirchenvätern reichlich 
geipiefte Schrift an den Kaifer, worin viel von heiligen und 
frommen Orden die Rede iftz er fand aber fo wenig Gehör, ala 
der Erzbifchof von Gran und Primas von Ungarn, ein Graf 
Bathiany, der fich ebenfalls dem Kaiſer aufs heftigfte widerſetzte. 
Nebereilung und zu großes Selbfivertrauen des Kaifers waren 
übrigens Urfache, daß die neuen Schulen und Bildungsanftalten, 
die er einvichtete, dem Zwecke des wohlmeinenden Fürften jelten 
entfprachen. Ste boten daher den Grjefutten gewünſchte Gelegen- 
heit, alles Neue zu tadeln. Es follte Alles nach des Katfers 
eigenem Sinn fein, er durfte alfo feine fefte und erfahrne Män- 
ner zur Ausführung gebrauchen, denn dieſe Fannten das Miß— 
trauen des Volks gegen alle gewaltiamen Verbeſſerungen und 
würden fich nicht haben gebrauchen laſſen. 

Ein Theil des Widerſtands gegen die wohlgemeinten Neue: 
zungen des Katferd ging beionders von Rom aus, wo man be= 


Katfer Joſeph II. bis 1787, 389 


kanntlich auf den Grundſatz befteht, daß durchaus Alles in Europa 
bleiben müffe, wie e8 zur Zeit Gregors des Siebenten und des 
dritten und vierten Innocenz war, Der Kaifer mußte den römi— 
jchen Einfluß abzuwehren juchen. Gr Tieß vermöge feiner Be— 
hörden, deren Aufficht er die päpftlichen Schreiben, Befehle und 
Mittheilungen unterworfen hatte, den Gottesdienft einfacher ein— 
richten ; unnütze Geremonien, Wallfahrten, Prozeffionen, Andachten 
abſchaffen, deutfche Kirchenlieder einführen. Gr wollte die Fatho- 
Yifche Religion dadurch wieder zur Angelegenheit des Herzens und 
Wandels machen, daß er die Mißbräuche der Werkheiligkeit ab— 
jchaffte. Zu demfelben Zweck verordnete er die Ueberſetzung der 
Bibel in die Landesiprachen und befahl im September 1781, daß 
die Dispenfation vom Faftengebot und ſelbſt in Eheſachen künftig 
nicht mehr in Rom oder beim päpftlichen Nuntius, fondern ganz 
allein won den Bifchufen und Erzbiſchöfen der Erblande follten 
gefucht werden dürfen. Der Cardinal Migazzi, dem er das Bis- 
thum Walzen entzogen hatte, ward ein Vorkämpfer der römiſchen 
Ufurpationen, der Kaiſer erinnerte ihm durch Einziehung feiner 
Einfünfte an feine Unterthanenpflichten. Er Tieß auch allen 
Geiftlichen, die in Nom gebildet wären und dort das papftliche 
Kirchenrecht erlernt hätten, die Anftellung in den Faiferlichen 
Staaten verfagen, Die in den Faiferlichen Generalfeminarten ge— 
bildeten Geiftlichen wurden nad Nieggers Grundfäsen des Kir— 
chenrechts, nicht nach jefuitifchen gebildet. 

Papſt Pins VI. erkannte jehr gut, daß das Syſtem papft- 
licher Regierung von der Zeit und ihrem Geifte gewaltig erſchüt— 
tert jet, daß e8 nicht blos vom Kaiſer, fondern auch von den 
deutfchen Erzbiſchöfen und beſonders in Frankreich bedroht werde, 
er fuchte daher als kluger Steuermann zu laviren. Zunächſt 
erließ er an den Kater ein Breve wegen des Verfahrens mit den 
Mönchsorden, dann übergab der Nuntius Garampi dem Staats— 
kanzler eine Note, welche diefer nach feinen, den Getftlichen über— 
haupt nicht günftigen Grundſätzen und in der ihm eigenen ſtolzen 
Manier beantwortete. In diefer Antwort beftimmte er die Schran- 
fen ganz genau, melche Sofeph Künftig als wmeltlicher Monarch 
der päpftlichen und der Firchlichen Negterung überhaupt jegen 
wolle, ohne daß er fich dabei auf irgend einen dogmatiſchen oder 


390 Kaiſer Joſeph I. bis 1787. 


ganz eigentlich geiſtlichen Punkt einließ. Fürſt Kaunitz unterläßt 
dabei nicht, dem Nuntius ziemlich ernſt zu verweiſen, daß er ſich 
überhaupt in eine Sache der kaiſerlichen Staatsverwaltung ge— 
miſcht und ſich dabei eines ganz. unpaſſenden Tons bedient habe. 
Der Nuntius erwiderte darauf, Anderte aber den Ton und drückte 
fich ſehr beſcheiden aus, nichtsdeftoweniger ſchreibt ihm Kaunitz 
am 19. Dezember 1781, er wolle nichts mehr über dieſe Sache 
ſchreiben oder geſchrieben Tefen. 9%) 

Pius VI. glaubte darauf, daß vielleicht das Ungewöhnliche 
einer. Reife des Papſts zum Kaiſer und‘ befonders feine Perſön— 
lichkeit bewirken könne, was fich durch Breven und durch offizielle 
Noten nicht erlangen ließ; er Fam daher auf den Einfall, ſelbſt 
nach Wien zu reifen. Der Bapft war ein fchöner und auf dieſe 
Schönheit ſtolzer Mann, er verſtand mit einer in Wahrheit Fünft- 
Verifchen Meiſterſchaft die papftlichen Gewänder zu tragen, mit 
großer Würde und Haltung feinen Theil der kirchlichen Ceremo— 
nien zu verrichten und durch feine äußere Gricheinung Ehrfurcht 
einzuflößen; er machte daher, wie man fagt, großen. Effekt, wenn 
ev auftrat: Darauf rechnend, Findigte Pins VI jchon im Des 
zember 1781 gegen den Rath und Willen der Kardinäle dem 
Kaijer feinen Beſuch an, reifte im Februar 1782 von Rom ab 
und Fam im April dahin zurück. Die Kardinäle Hatten ſehr gut 
sorausgefehen, daß. Joſephs Grundfäge nicht durch die Erſchei— 
nung des Papftes würden erfchüttert werden, daß das päpftliche 
Anſehen alfo durch die Reife verlieren müffe. Die ganze päpft- 
liche Reife und die perfonlichen Bemühungen des Bapftes Hatten 
einerfet Schieffal mit: Müllers Sophismen im feinen Reifen 
ber Bäpite, d. h. der Eindruck, den‘ die Reiſe und das Buch 
machten, mar vorübergehend. Die Reiſe des Papſtes erregte in- 
deſſen doch allgemeines Aufſehen. Zaufende ſtrömten überall her- 
bei, wo fich der Papſt fehen ließ, die Strafen und Bläte, wo er 
in. feiner, impofanten Manter den Segen austheilte, waren gedrängt 





07 Im; der kurzen Gegenantwort des Staatslanzlers heißt ed: Da auch 
her Wille, Sr, Majeftät tft, daß man fid, Fünftighin in feine Unterfuhung - 
der. Materien, worüber Sie Ihre Meinung in dem angeführten Billet vom 
19. d. M. erffärt haben, weiter einlaffe, fo müffe der Hof- und Staats kanz⸗ 
Ver ſich darauf einſchränken, den Herrn Nuntius davon zu — —— 


Katfer Joſeph IE bis 1787. 391 | 


soll knieender Gläubigen, felbft Augsburger Broteftanten wurden 
entzückt, was hernach dent Bibliothekar im Augsburg von feinen 
deutfchen Glaubensgenoſſen fehr übel gedeutet ward. Die Eitelkeit 
bes Bapfted ward befriedigt, auch gab der Kaifer dem Papſte viel 
glatte Worte; die Römer nahmen es aber fehr übel, daß fich ein 
Italiener von einem Deutfchen damit täuſchen Tief, 

Clemens Wenzel von Trier, die: Stabt Augsburg, Karl 
Theodor von Pfalzbaiern und feine Münchener, wie die Baiern 
überhaupt, gleich den Venetinnern, die der Bapft ebenfalls befuchte, 
ehrten ihn wie einen Gott; aber gerade die beiden Hauptperſo— 
nen, mit denen er zu thun hatte und um derentwillen er gefom= 
men war, ber Kaifer und fein profatfch diplomatifcher, und wenn 
es die Umſtände fügten, auch vecht umgezogener Staatskanzler, 
blieben ganz ungerührt. Sp wenig wir allen Anekdoten trauen, 
auch wenn ein Plutarch fich ihrer bedient, ſo könnten doch, dieje— 
nigen, welche man von dem Zufammentreffen des Staatskanzlers 
mit dem ihm befuchenden Bapft erzählt, nach der infolenten Weiſe, 
wie er fich gegen Marta Thereſia fogar und gegen ihren Hof und 
Familie, fowie gegen feine eignen Gäſte ohne Unterſchied des 
Standes beiragen durfte, wohl wahr fein, Hätte er wirklich dem 
Papſt jo unartig empfangen und begrüßt, wie man erzählt, daß 
er that, als ihn Pius befuchte, jo müßte man fich allerdings 
wundern, daß ein fo umterrichteter amd feiner Staatsmann fo 
gröblich vergeſſen konnte, daß er: ſelbſt, der Form nach wenigſtens, 
Katholik ſei, daß er den vornehmſten Geiſtlichen der Welt und 
einen angeſehenen weltlichen Fürſten in Pius Perſon vor ſich 
habe. Der Kaiſer war höflich, wie es ſich gebührte, hörte aber 
des: Papſts Vorſtellungen gegen: die von ihm eingeführte allge— 
meine Duldung eben’ fo wenig: an, als er Clemens MWenzels Vor⸗ 
ſtellungen angehört hatte, 

Der Bapft ließ dem Conſiſtorium in Rom Bericht: ber dert 
Erfolg feiner Reife geben; allein die in aller weltlichen Arglift 
und Schlauheit ergrauten geiſtlichen Herren, die dies! Gonfiffortum 
bilden, waren über den Bericht ihres Hauptes wenig erbaut. 
Papit und Kaifer fuchten. fih auch hernach fortdauernd durch 
freundliche Worte. bei guter. Laune zu, erhalten, fie. blieben fort- - 
dausınd in: Correſpondenz aber die Abfehaffung dev Bettelorden 


392 Katfer Joſeph IL. bis 178% 


in. den vfterreichtichen Staaten hatte ihren ununterbrochenen Fort 
gang und Joſeph gab das Recht der Obervormundfchaft über die 
Kirche feiner Staaten und die Verwaltung der Güter derfelben 
nicht auf. Maria Thereſia hatte die Ertheilung der lombardi— 
ſchen Pfründen und die Beſetzung der Bisthümer dem römiſchen 
Stuhle gänzlich überlaffen, Joſeph hatte dem Papſte Pius dieſes 
Recht wenigſtens auf deffen Lebenszeit zugefichert, gleichwohl be— 
jeßte er die Bisthümer des Matländifchen und Mantuantfchen, 
ohne ihn zu fragen. Er verjagte fogar, als das Erzbisthum 
Mailand erledigt ward, allen denen, welche der: Bapft vorfchlug, 
feine Beftätigung; dies veranlaßte endlich einen förmlichen Zwiſt. 

Als nämlich Sofeph endlich einen Visconti zum Erzbiſchof 
ernannt hatte (im September 1783), verweigerte erſt der Papſt 
ihm die Anerkennung, dann gab Kaunit zu verftehen, daß der. 
Kaifer, im Fall der Papſt feinen Erzbifchof nicht. einfegen wollte, 
die alte lombardiſche Sitte erneuen werde, die ſämmtlichen lom— 
bardifchen Biſchöfe zu verfammeln und ihn durch diefe einzuſetzen. 
Um dieje Zeit befand fich der Exjeſuit Berk, der. vorher für. den 
Erzbifchof von Trier die Briefe gefchrieben und auf den der Kai= - 
fer in feiner Antwort fo bitter. anfpielt, beim Papſte. Joſeph 
fchrieb daher ihm und feinen jefuitifchen Brüdern zu, daß Bapft 
Pius in der Mailänder Sache einen Schritt that, der feinem 
fonftigen Charakter. nicht angemefjen war. 8) Das Breve, mel- 
ches der. Bapft an den Kaiſer erließ, war fo heftig abgefaßt, daß 
Joſeph es gänzlich ablehnte; e8 ward dem Papſt zurücfgegeben 
und feiner Antwort gewürdigt. Der Papſt oder der deutſche 
Sefuit, der für ihn das Breve abfaßte, Iptelte darin auf den In— 
halt des DBriefed an, den Clemens Wenzel an dem Katfer 
gejchrieben hatte; dies veranlaßte den Katjer, dem Bapfte, als 
er ihm fein Breve unbeantwortet zurückſchickte, Dazu jchreiben 
au laſſen: 


98) Wir Yaffen unentſchieden, welchen Antheil der Exjeſuit Bet an dem 
Brief hatte, den Pius VI. ſchrieb; an dem des Kurfürften von Trier gibt‘ 
ihm Joſeph felbft einen Antheil, wenn er in der Nachſchrift feines Briefes 
vom 24. Nov. 1781 an den Kurfürften fohreibt: „Der Abbe Bed fol au 
" Theil an meiner Dankffagung haben, fofern er dazu beigetragen hat, mir bie- 
fes ſchmeichelhafte Zeichen der Theilnahme Ew. königl. Hoheit zu verſchaffen.“ 


Kaiſer Iofeph IL bis 1787; 393 


Diefer angebliche Brief Seiner Heiligkeit müfle offenbar von 
einem Menfchen herrühren, der ihre zu ihrem wechjelfeitigen Vor— 
theile dienende Eintracht zu flören ſuche, es verfehe fich daher 
der Kaifer von der Gerechtigkeit de8 Papſtes, daß Se. Heiligkeit 
alfogleich nach dem Urheber. diefer beleidigenden Schrift forſchen 
und ihm die gebührende Strafe zukommen laffen würden. 

Jedermann war jchon darauf gefaßt, daß Joſeph feinen 
Borfab, die Geiftlichen feiner Staaten ganz von Nom abzureißen, 
ausführen werde, ald er plöglich andern Sinnes ward, und wenn 
er auch nicht geradezu rückwärts ging, doch dem meitern Fort- 
fchreiten Einhalt that. Dies geſchah befonders,. weil er ſelbſt des 
Papftes zur Ausführung feiner Plane zu bedürfen glaubte, 

Um einen lebten entjcheidenden Schritt zu thun, war Joſeph 
über. die Grundfäße, die er in Sachen des Cultus und der Außern 
Religionsverfaffung befolgen wolle, zu wenig mit fich jelbft einig. 
Mir legen wenig Bedeutung darauf, daß Sofeph zu behaupten 
pflegte, die ihm von Kindheit auf feit eingeprägten Glaubens- 
lehren und die eingeübten Firchlichen Gebräuche Hätten in feinem 
Gemüth fortdauernd noch diefelbe Bedeutung, welche fie von 
gend auf für ihn gehabt hätten. Gewiß ift aber, daß. der K 







ihm ferner die franzöſiſchen Bhilofophen wegen 
und demokratiſchen Meinungen zu verhaßt waren, ( 
veligisfen Anfichten hätte theilen können. Sobald man ihn alfo 
überzeugte, daß das päpftliche Spftem der Kirchenvegierung viel 
befjer zu einer autofratifch=monarchifchen Staatsregierung paſſe 
als das Epifeopalfyften, fo wandte er fich zum Papſte zurück; 
wahrfcheinlich feit feiner Anwefenheit zu Nom im Dezember 1783- 

Männer von Geiſt, Erfahrung und politifcher Klugheit, 
welche den in unfern Zeiten allgemein befolgten Grundſatz hatten, 
daß die chriftliche Religion gleich der. alten- romtfchen nur ein po= 
fitiveg Syftem und als folches ein Zügel des Volkes fet, den 
man feithalten müſſe, weihten ihn in ihr Geheimniß ein, Zu die— 
jen Männern gehörten bejonders der Kardinal Bernis und der 
Nitter Azara, son denen der Eine die geiftlichen Angelegenheiten 
Frankreichs, der Andere, die fpantfchen beſorgte. Diefe machten 


394 Kaiſer Joſeph IL bis 1787 


ihm handgreiflich, daß wenn er ſich vom Papſte entferne, er dem 
Feinde preisgegeben ſein werde, der ihm gerade damals am aller 
furchtbarſten war. Sobald er nämlich den Biſchöfen die unbedingte 
geiſtliche Herrſchaft überlaſſe, werde er im die Hand der Ariſto— 
fratte fallen, die er auf jede Weiſe im feinen Staaten: zu Gun— 
jten des Volks befehdetez denn aus dem hohen Adel beitanden ja 
die Capitel, aus denen und vom denen bie Biſchöfe gewählt wur- 
den. Daß der erwähnte franzöfifche und: fpanifche Gefandte den 
Kaifer in Rom auf andere Gedanken brachten, tft ausgemacht. 
Auch hat es feine Richtigkeit, daß das Epiſcopalſyſtem die Macht 
feines Adels vermehren mußte; anderes laſſen wir umerwähnt. 
Dahin gehört, daß man ihm sorgejtellt Haben: fol, daß der Abbe 
Ciofani, der. damals geheimer Ordensgenerak der Sefuiten oder 
doch Mittelpunkt aller Betreibungen der Grjefuiten war, im Auf 
trage: des Königs von Preußen, mit dem er allerdings in directer 
Berbindung ftand, den Zwiſt zwifchen Katfer und Bapft zu ers 
halten fuche, um Sofephs polittfehen Planen: ein: Hindernif in 
den. Weg zu werfen, Wie dem auch fein mag, Sofeph hörte 
ei auf, den Papſt zu Franken, und diefer , beffeve Zeiten ers 
wartend, wie fie feit 1814 und 1849 eingetreten find, legte 
der autofratifchen Reformation des geiftlichen Weſens und des 
Unterrichts, welche der Kaiſer vornahm, kein bedeutendes oder 
öffentliches Hinderniß mehr in den Weg. 

Der Kaifer erregte gerade damals in: Ungarn durch offene: 
Verletzung dev Verfaffung die großte Anzufriedenheit, da ex dem 
Biſchöfen des Reichs ihre großen Einkünfte ſchmälerte und: dieſe 
großen Herrn mit ungeheuern Hofhaltungen auf Beamtenbeſoldungen 
herabſetzte. Er verminderte die Summe des Betrags der Ein— 
nahme der Biſchöfe und Erzbiſchöfe son 900,000 auf 265,000 
Gulden, fo daß ein Bilchof mm 12,000) und ein Exrzbiſchof 
20,000 jährliche Einkünfte behielt. Die ungariſche Geiftlichkeit 
unterhielt daher den Unwillen der Nation über Verletzung der 
Verfaſſung, Verachtung der Krone, Krönung und Sprache durch 
jedes Mittel, welches in ihren Händen war, und der Kaiſer ge— 
wöhnte ſich, um ihr zu widerſtehen, Willkür zu üben, ſtatt, wie 
er: gewollt hatte, eine geſetzliche Ordnung einzuführen, Gr: bes 
durfte daher des. Bapftes und mußte dem größern höher Beruf, 


Kaiſer Joſeph IL bis 1787, 395 


als deutfcher Kaiſer mit Hilfe der deutfchen Erzbiſchöfe ein Ziel zu 
erreichen, nach welchem einft Kaiſer Friedrich II. fein ganzes Leben 
hindurch vergeblich gerungen- hatte, aufgeben, um in jeinen Erb— 
fanden in geiftlichen Sachen eine Gewalt zu üben, die kurz— 
dauernd fein mußte, fo Lange nicht die ganze katholiſche Kirche 
veformirt oder zerftort ward. 

Der Bapft felbft nämlich war und ift nicht im Stande, mit 
der kirchlichen Ariftofratie, die ihm als Gonfiftortum zur Seite 
fteht, fertig zu werden, wenn es Aufrechthaltung der Herrſchaft 
Roms oder des: Ueberreſts des Glanzes der alten weltbeherrichen- 
den Stadt angeht. Die Sardinäle waren daher ſehr unzufrieden, 
als der Papft ihnen um 1784 angeigte, der ange Streit wegen 
des Erzbistums Mailand ſei endlich durch eine Freundliche Ueber— 
einfunft zwifchen Sr. Heiligfeit und dem Kaifer beendigt wordenz 
fie geriethen um fo mehr in Bewegung, ald gleich im folgenden 
Zahre 1785 der Katfer und die vier vornehmften Grzbiſchöfe 
Deutſchlands fürmlich ein neues deutjches Kirchenrecht gründen zu 
wollen fchtenen. Karl Theodor in München nämlich, der feine 
Freude am geiftlichem Pomp hatte und ganz in der Jeſuiten Ge— 
walt war, fand fich ſehr erfreut, als ihm der Papſt die Ehre 
erzeigen wollte, eine Nunttatur in Batern zu errichten. Er glaubte 
dadurch den größern ſouveränen Fürften gleich zu werden und 
wollte daher feine Geiftlichkeit zum: Nachtheile der deutſchen Kir- 
chenfürften unmittelbar an Nom: knüpfen. Der Nunting, ben 
Pius VL: abjendete, um auf Unfoften der nach der Römer Mei- 
nung ſehr einfältigen und eben deßhalb für fie ſehr brauchbaren 
Deutfchen die päpftlichen Rechte in den pfalzbaterifchen Landen, 
jo wie im Jülichſchen und Bergifchen auszuüben, ward in Mün— 
chen als Himmelsbote empfangen und ganz Batern fühlte ſich 
glücktich, unmittelbar yon Rom abzuhängen. Der Primas von 
Deutſchland, deſſen Rechte, und der Erzbiſchof von Salzburg, 
deſſen Sprengel: verlegt werden follte, waren deſto unzufriebener. 
Diefe beiden Erzbiſchöfe proteſtirten wegen Verletzung ihrer Rechte 
als Oberhirten der deutſchen Kirchenfprengel, folglich wegen Vers 
letzung des deutfchen: Kirchenvechts, welche fchon feit: dem vierzehn⸗ 
ten Jahrhundert ſchreiend geweſen war, die größten Befchwerden 
veranlaßt und: den; ftets nur fehreibenden, niemals handelnden 


396 Katfer Joſeph IL. bis 1787 


Deutſchen viel Papier und Schreibgebühr gefoftet Hatte, An 
diefe beiden ſchloß fich auch Joſephs Bruder, der Kurfürft von 
Cöln; ſogar der von Trier glaubte fich dem Bunde der drei 
andern deutſchen Erzbiſchöfe zur Erhaltung der. von Batern höchſt 
Ichmählich preisgegebenen Unabhängigkeit der deutfchen Kirche nicht 
entziehen zu dürfen. Salzburg und Mainz wandten fich zunächft 
an den deutfchen Katjer, als an ihren rechtmäßigen Schußheren 
gegen römische Anmaßungen, und diefer nahm ſich anfangs auch 
ihrer Sache kräftig an. Joſeph erwiderte: 

Ein Nuntius des Papfts fet durchaus nichts anderes als was 
der Gefandte einer jeden weltlichen Macht auch fei. Er werde 
daher nie zugeben, daß ein päpftlicher Gefandter im Reiche oder 
auch an feinem Hofe irgend eine geiftliche Gerichtsbarkeit ausübe. 
Diefe Antwort ward dem Papſte offiziell mitgetheilt und ſpäter 
im Oftober 1785 eine kaiſerliche Verordnung bekannt gemacht, 
in. welcher den Nuntien verboten ward, irgend eine geiftliche Ge— 
richtsbarkeit in Dentfchland auszuüben Wie nöthig es geweſen 
wäre, daß die Baiern fich diefem Fatferlichen Befehl gefügt hätten, 
fann man aus Bronnerd Leben lernen, wo man fieht, daß man 
die Nuntiatur und auch ſogar die Agentur in Rom zu fchändlichen 
Geldprellereien benutzte. Man lernt dort aus den Thatſachen, 
welches fchändliche Gewerbe die mit den papftlichen Behörden 
in Rom correfpondirenden Agenten auf Unfoften der armen See— 
len trieben, welche Gottes Ungnade durch ein gefauftes Stück 
Papier. abzuwenden gedachten. Die Agenten trieben es gerade, 
wie unter Ludwig Philipp in Frankreich in einem Falle geſchah, 
der hernach vor den Gerichten verhandelt wurde, Dort hatte ein 
geiftlicher Gauner einem eiteln Mann den Orden vom goldenen 
Sporn Gregord XVL um viele Taufende verkauft, obgleich er fie 
hernach nicht einmal tragen durfte, weil die Fünigliche Erlaubniß 
fehlte. Die Nachforderung ward deshalb gerichtlich zurückgewieſen. In 
Batern waren aber überhaupt unter dem Schützer aller Iofen Künfte, 
Karl Theodor, die armen Unterthanen übel daran, fie wurden vom 
Lotto, von den Mönchen, von Trägheit, von Dummheit, von Mä- 
treffen und von der Induftrie römischer Schlauföpfe ſchwer gedrückt. 

Die Kurfürften von Mainz und Cöln Tiefen die Fatferliche 
Verordnung fogleich zur Ausführung bringen; aber. an Patriotig- 


Katfer Joſeph II. bis 1787, 39% 


mus war Yeider bei dem hohen Adel, in deffen Gewalt die Ka— 
pitel und die Bisthümer waren, ebenfowenig zu denfen als bei 
Karl Theodor, oder bei feinen Mätrefien, Jeſuiten, natürlichen 
Kindern und Pfaffen Die papftlichen Nuntien, Römer in jenem 
Rom, wo fie, wie Dante fagt, ohne Chriftus Römer fein können, 
Pacca und Zoglio, wußten fih mit den Biſchöfen zu verftändigen, 
die Vteber mit Stalienern als mit deutfchen Erzbifchofen zu thun 
haben wollten, fie vertrauten auf die Mönche, fürftlichen Reichs— 
äbte, unmittelbaren Klöfter, Domherren und auf unzählige Pfaf- 
fen, von denen es damals noch in Deutfchland wimmelte, und 
teogten dem ohnmächtigen deutjchen Recht. Pacca war umver- 
ſchämt genug, auf die Blindheit der Weltphälinger und Bewohner 
des niederrheinifchen Kreifes, die bis auf den heutigen Tag ihre 
Religion durchaus aus der römiſchen Curie holen wollen, fo viel 
zu vertrauen, daß er an Prälaten und Pfarrer des Erzbisthums 
Cöln gerade in dem Augenblide ein NRundfchreiben erließ, worin 
er ihnen verbietet, in vielen Graden der Verwandtſchaft, in wel— 
chen ſchon feit langerer Zeit die Heirathen erlaubt geweſen waren, 
irgend eine Erlaubniß der Ehe, die von der erzbifchöflichen Be— 
hörde ertheilt worden, ohne befondern päpftlichen Indult anzuer— 
fennen. Damals waren aber felbft im Cölniſchen die Gemüther 
anders geſtimmt ald in unfern Tagen, die neue Univerfität in 
Bonn hatte Licht verbreitet, nicht, wie das oft mit theologifchen 
Anftalten der Fall tft, die Finfterniß durch philofophifche Phan— 
tasmagorie verdichtet, Barca ward nicht gehört und fein Nuntia— 
turbefehl nicht befolgt. Der Neichshofrath ließ ein Decret gegen 
des infolenten Nuntius Ausfchreiben ergehen und gab dem Kur- 
fürften von Baiern einen Verweis, daß er dem Papft zu Gefallen 
das Neich und feine eignen Unterthanen fremden Pfaffen verrathe, 
Die deutjchen Erzbiſchöfe erinnerten fich, wie ſchändlich fie zur 
Zeit, als die Franzoſen bei Gelegenheit des bafeler Goneiliums 
durch die pragmatifche Sanction die Freiheiten der. gallicanifchen 
Kirche erlangten, die ftetd ein Dorn in den Augen dev Römer 
blieben, von Aeneas Syloius, dem nachherigen Bapft Pius IL, 
durch Beftechung der Mainzer Kanzlet waren betrogen worden, 
Sie waren damals über ein Goneordat übereingefommen und er- 
hielten ein gang anderes, oder mit andern Worten, fie erhielten 


398 Katfer Joſeph I. bis 1787, 


durch ein ſchändliches Taſchenſpielerkunſtſtück ftatt einer goldnen 
Uhr, die fie dem Aeneas Sylvius und feinem einfältig gelehrten 
Kaiſer anvertraut Hatten, eine hölzerne zurück. Was im fünf- 
zehnten Jahrhunderte verſäumt war, wollten jet am Ende des 
achtzehnten die deutſchen Erzbiſchöfe um jo mehr wieder gut zu 
machen fuchen, als Rom auch nicht einmal das gehalten hatte, 
was es im Gedränge zwiſchen dem Bafeler Concilium und den 
deutfchen Prälaten verfprochen hatte. Leider mar auch dies Mal 
nur durch Autokratie des Katfers zu helfen, wenn nicht unendlich 
Gezänk und fruchtlofes Concilienweſen die Verwirrung ärger 
machen ſollte; dieſe Autokratie ſcheuten die Erzbiſchöfe und von 
ihrer Oligarchie wollten weder der Kaiſer noch die Biſchöfe etwas 
wiſſen; dadurch ward Alles vereitelt. 

Um endlich zu einem deutſchen Kirchenrecht zu gelangei 
oder wmenigitend den Anmaßungen Roms auf immer ein Ende 
zu machen, wäre ein Nationalconcilium nöthtg geweſen. Dieſes 
hätte der Kaiſer verfammeln müſſen; er Hatte aber damals Händel 
genug, Hatte Unruhen in allen Provinzen feiner Staaten zu ber 
fampfen und fonnte viel beffer mit dem Papſt fertig werden als 
mit der ganzen Klerifei. Er war außerdem überhaupt Fein Freund 
der Ständeverfanmlungen, weder in Beziehung auf die Kirche 
noch auf den Staat. Es Fam aber damals noch ein bejonderer 
Grund Hinzu, der den Kaiſer abhielt, fich einer Sache anzuneh⸗ 
men, welche vor allen den Kurfürſten von Mainz anging, und 
von diefem als Erzkanzler und Primas vorzüglich betrieben wurde, 
Der Kurfürft von Mainz nämlich hatte gerade in demfelben Jahre 
gegen den Katfer eine weltliche Oligarchie deutſcher Fürften unter 
dem Namen des Fürftenbundes gebildet; der Katfer mußte daher 
beforgen, daß man auf dem Gongreß zu Ems am Ende much 
noch einen Firchlichen oligarchifehen Bund’ der deutſchen Erzbiſchöfe 
herauspunetire, 

Die Erzbifchöfe ließen namlich auf einem Congreß, ben ſie 
in Ems hielten, wo ihre Gebiete und Sprengel zuſammenſtießen 
und ſich durchkreuzten, von ihren gelehrten Geiſtlichen und. Rechts: 
kundigen die Punkte des in den falſchen Deeretalen eines vorgeb⸗ 
lichen Iſidor von Sevilla im neunten Jahrhundert exdichteten und 
im eilften durch Gregor den Siebenten der. occidentaliſchen Chriſten⸗ 


Katfer Joſeph II. bis 1787, 399 


heit aufgedrungenen päpftlichen Kirchenrechts, welches fie nicht 
ferner anerkennen wollten, aufſetzen. Dies in drei und zwanzig 
Punkten oder Artikeln zufammengefaßte bifchöfliche, dem päpftlichen 
entgegengefegte Kirchenvecht des erzbifchöflichen Congreſſes tft unter 
dem Namen der Gmfer Punctation befannt. Der Kaifer hatte 
gerathen, gleich bei den erſten Berathichlagungen auch die andern 
deutjchen Bifchöfe zuzuziehenz allein, wenn man den Bifchof yon 
Würzburg und Bamberg ausnimmt, war mit den andern. auf 
dem Wege der Vernunft nichts anzufangen; es war daher jehr 
weiſe gehandelt, daß man, ehe man die, welche, wenn fie auch 
jehend waren, ſich doch blind ſtellten, herbeiriefe, erſt durch ge— 
lehrte, religiöſe, aber verſtändige und patriotiſche Männer die 
Punkte ausmachen ließ, worüber man freundlich und gütlich mit 
dem Papſte unterhandeln wollte, ehe man felbft Gejebe gäbe, Die 
Erzbiſchöfe waren übrigens zu gut mit der römischen Zähheit 
and dem ſchlauen Darren der: Gurte auf beifere Zeiten befannt, 
um: zu erwarten, daß fie durch Unterhandhingen etwas gewinnen 
würden; fie wandten fich daher an ben Kaiſer. Joſeph IL war 
aber mit Recht längſt über die Langmweiligfeit und Pedanterie der 
deutſchen Kanzleien exbittertz er begnügte fich daher, dieſe deutſche 
Sache für die von ihm ausgehenden Reformen feiner Erblande 
politisch zu benutzen, den Bapft durch die Erzbifchöfe und diefe 
durch: jenen zu: ſchrecken, um won. beiden Bortheile für ſich zu 
erlangen. 

Die Erzbiſchöfe wandten fich namlich, an den: Katfer, theilten 
ihm das mit, worüber fie übereingefommen waren, zeigten ihm 
an, daß fie ed dem PBapfte zur Billigung vorgelegt hätten und 
baten ihn, wenn der: Bapft ihre Bunetatton innerhalb zwei Jahren 
nicht annehmen: follte, ein Nationalconcilium zu: berufen, wozu 
man. nicht, wie zu einer allgemeinen Kirchenverfammlung, den 
Papſt nöthig Habe, Darauf erwiderte der Kaifer, ohne fich auf 
Einzelne einzulaffen, im Ganzen günftig, obgleich er auch in. 
diefer Antwort fich nicht: beſtimmt zu Gunſten der Punctation ers 
Härte, ſondern den. Erzbiſchöfen gewiffermaßen. dadurch auswich, 
daß er fie nochmals: aufforderte, auch die andern Biſchöfe, ja 
ſogar die weltlichen katholiſchen Fürften zu Rathe zu ziehen: 
Schon. dies: bewies, daß der Kaiſer lieber den Papft als. bie 


400 Katfer Iofeph II. bis 1787. 


Ariſtokratie geiftlicher Fürften in Firchlichen Angelegenheiten begiin- 
ftigen wolle, um nicht eine oligarchiſche Theokratie gegen fich zu 
haben, denn diefe Befragung der verſchiedenſten Perfonen hieß 
die Enticheidung auf unbeftimmte Zeit (in Calendas Graecas) 
vertagenz ex machte aber diefe Vertagung noch auf andere Weife 
fund, Es war auf des Katfers Veranlaffung nämlich eine Reichs— 
hofraths⸗Commiſſion zur Unterfuchung der Punctation niederge— 
jetst, welcher aber von Seiten Pfalzbaierns und, was merkwürdig 
genug tft, von Seiten Kurbrandenburgs folche Schwierigkeiten 
gemacht wurden, daß es mit der Commiſſion und Punctation 
ging, wie es fonft mit Reichstagen und Concilien zu gehen pflegte, 
dag heißt, e8 war großer Lärm und man Fam zu. feinem Refultat, 

Joſephs Bruder, Leopold, der unter Stalienern zum Staliener 
geworden war und bis an fein Ende eine doppelte Rolle geſpielt 
hat, regierte damals in Toscana als Neformator, Geſetzgeber, 
Weifer und Oeconomiſt, obgleich er Tpäterhin in Deutichland und 
in den Erbftanten alle alten Mißbräuche wieder hergeftellt, jedes 
freie Wort verfolgt, Spioniren nad) Jakobinismus gehegt und 
ntederträchtige Ankläger beſchützt hat. Diefer ging damals meiter 
als jein Bruder Joſeph, denn ftatt daß diefer den Begünftigern 
des alten biſchöflichen Syſtems der Kicchenregierung in Deutſch— 
land jeinen Schuß verfagte, um den Papft zu gewinnen, gewährte 
Leopold den Prälaten von Toscana, die fich den römtjchen Be— 
drüfungen entziehen wollten, jede Unterftügung. Die Biſchöfe 
von Toscana wollten aber auf der Synode zu Piſtoja den Ita— 
lienern, wie fie jeßt find, zumuthen, eine uralte Gewohnheit, 
denn mehr it ihre Religion nicht, abzulegen und eine mora= 
liſche Religion ftatt Muſik und Geremonien, janfeniftifche 
Strenge ftatt der leichten Abſolution, einfache Geiftliche ſtatt der 
Pracht des Firchlichen Ceremoniels der papftlichen Kirche bet fich 
einzuführen. Ste wollten das aufheben und wegräumen, wodurch 
Stalien und befonders Nom immer noch wenigſtens den Schatten 
der Weltherrfchaft behauptet; das konnte unmöglich friedlich durch— 
geführt werden. Wir wollen indefjen doch des Verſuchs erwäh— 
nen, wäre e8 auch nur, um zu beweifen, daß überall das Vorur— 
theil ſtärker tft als der Grundſatz, und daß auch fogar die Preis 
heit, wenn fie indem Volke, wie es in unfern riviliſirten Staaten 


Kaiſer Joſeph IL bis 1787. 401 


zu ſein pflegt, dauerhaft ſein ſoll, auf dem Erſtern, nicht auf 
denm Letztern begründet fein muß. 

Der Clerus von Toscana, der ſich ſeit langer Zeit, gleich 
dem beſſeren Theil des franzöſiſchen Clerus, zum Janſenismus 
bekannt hatte und deßhalb von Rom ärger gehaßt und verfolgt 
war als Ungläubige und Heiden, benutzte nämlich den Reforma— 
tionseifer Leopolds, um kirchliche Mißbräuche abzuſchaffen und die 
alte Kirchendiſciplin wieder herzuſtellen. Leopold hatte die Ver— 
waltung des Landes ganz nach den Grundſätzen geordnet, denen 
hernach die conſtituirende Nationalverſammlung Frankreichs Hul- 
digte; er hatte für Landbau und Staatshaltung, für Civil- und 
Griminalgerichtöpflege durch Verfügungen geforgt, deven Samm— 
lung ein Muſterbuch für monarchifche Staaten bildete; es mar 
daher natürlich, daß die Reihe auch an die Kirchenserfaflung 
fan, fjobald Ricci Hauptperfon des toscaniſchen Clerus wurde, 
Ricci war ein ſehr eifriger Janſeniſt; ſobald er Bifchof von 
Piſtoja geworden war, verſammelte er in dieſer Stadt ein Pro— 
vinzialconcilium. Auf dieſem Concilium bewog er die Prälaten 
von Toscana zu einem fo kräftigen Widerſtande gegen die An— 
maßungen Roms, daß jo lange Kaifer Joſeph Tebte und fo lange 
jein Bruder Leopold fich felbft gleich Hlieb, die Katholiken von 
Toscana ſich im Befit von Nechten und Bortheilen befanden, 
welche die Vertheidiger der alten chriftlichen (noch nicht wie fett 
Gregor VII. papiftiichen) Kirchensrönung in Deutjchland vergeb= 
lich zu erfireben fuchten, und deren fiernoc immer entbehren. 

Die Beitimmungen des Provinzialeoneiliums von Piſtoja find 
unter dem Namen der Propofitionen von Piſtoja bekannt, weil 
den dort im Jahre 1787 verfammelten Prälaten fieben und fünfzig 
Kirche und Kirchenrecht veformivende Säbe vorgelegt waren, von 
denen die mehrften gebilligt und angenommen wurden, Vermöge 
der Synodalbefchlüffe der in Piſtoja verſammelten Prälaten von 
Toscana ward nicht blos das bisherige päpftliche Kirchenrecht ver— 
worfen, fondern auch das MWefentliche der Religion vom Unwe— 
jentlichen genau unterſchieden. Es ward dort die firenge Sitten= 
lehre der Sanfentften und des Urchriſtenthums, welche über lauter 
Geremonien und Kirchen⸗Symbolik ganz in Vergefienheit gefom= 


men war, wieder für Hauptfache des Chriſtenthums erklärt und 
Säloffer, Geſch. de 18, u. 19, Jahrh. IV. Th 4. Aufl, 26 


402 Katfer Joſeph IL. bis 178%. 


der bloß Außerliche, für Herz und Wandel unfruchtbare Theil 
des Gottesdienſtes förmlich mißbilfigt und verworfen. Das war 
freilich in einem Lande, wo Moral für Proſa, wir möchten fait 
fagen für Dummheit gilt, wo Poeſie und Kunft das Leben regie- 
ven und auf dem Zünftlerifch geordneten Gultus beruhen, wo ber 
gemeine Mann von Sparfamfeit, Ordnung, Reinlichteit, häus— 
licher Zucht und Wohlſtand auch nicht einmal einen Begriff hat, 
nicht Durchzufeßen. Das Volk glaubte den Jeſuiten, Mönchen, 
Papiſten des Landes und befonders dem Bapfte herzlich gern, daß 
der moralifche Katholicismus der Synode yon Piſtoja nichts an- 
ders ſei als die teuflifche Lehre des ketzeriſchen Luther, deſſen bloßer 
Namen die Staltener wie die Batern um fo mehr erjchrecit, je 
faljcher und jchmählicher er ihnen alle Tage auf den Kanzeln, 
im Leben, in Schriften son Sefutten und Rapuzinern, mit und 
ohne Kutten, abgemalt wird. 

Der Papft mußte übrigens eine Zeit Yang dem ihm fehr 
verdrießlichen geiftlichen Weſen in Toscana zufehen und Zeiten 
der Reaction erwarten, weil feine erften Schritte. durch Leopolds 
Beftigkeit und Riccis Entfchloffenheit fruchtlos gemacht wurden. 
Als namlich die Synode son Piſtoja die vier berühmten Sätze 
billigte und als die ihrigen anerkannte, welche auf Ludwigs XIV, 
Veranlaſſung die gallieanifche Kirche um 1682 den päpſtlichen 
Anmaßungen entgegengejett Hatte, fo erlieh Papſt Pius gegen 
diefe als Grundfab der Kirche von Toscana aufgeftellte Sätze 
eine befondere Bulle, worin eigentlich auch die Synode verdammt 
war. Er erklärte in diefer Bulle die Billigung für ärgerlich und 
beleidigend für den heiligen Stuhl, tobte aber hernach ganz an= 
“ders, jobald die Zeit der Reaction und des Conſervirens aller alten 
Mißbräuche eingetreten war, Dies fiel nicht mehr in die Pe— 
ziode, deren Gefchichte diefer Band behandeln fol, wir bemerken 
daher nur, daß der Papſt ſpäter die Vernichtung der von Leopold 
begünftigten Religions⸗ und Kirchenverfaflung und die Verfolgung 
der edlen Männer, von denen fie gemacht war, durchſetzte und 
daß er die Propofitismen dev Synode son Piftofa als Irrthümer 
und ſchismatiſche, alſo als Feeriiche Lehren verdammte, Der 
Kaiſer gerieth in ernftere Verlegenheiten als fein Bruder, weil 
Preußen jede Gelegenheit wahrnahm, um Die Wiederherftellung 


Katfer Joſeph IN. bis 1787. 403 


des alten kaiſerlichen Anfchens im Netche, worauf 68 Joſeph ab- 
gefehen zu haben fehten, zu Kindern, König Friedrich IL Watte 
zur Zeit des Emſer Gongrefjes den Fürftenbund gegen ben Katfer 
‚geftiftet, fein Nachfolger ward durch die Verbindung des Kaiſers 
mit den Nuffen zum Nachteil der Türken zu ernfteren Schtit- 
ten getrieben. Che dieſes geſchah, erbitterte jedoch Joſeph 
durch fein Benehmen gegen die Republik der fieben vereinigten 
Provinzen der Niederlande auch fogar das damals enge mit Oe— 
fterreich verbundene Frankreich gegen feine Anmaßung fo fehr, 
daß er dadurch der ſehr ſtarken Gegenpartet des Hofs Gelegen- 
heit gab, dev Königin Schuld zu geben, dag fie ihrem Bruder 
zu Gefallen die Mintfter irre geleitet habe. 

Es verhielt fich mit den Unternehmungen des Katfers gegen 
Hollands Anmaßungen und gegen die Mißbräuche in Belgien, 
sie mit feinen Schritten gegen den Hohen Adel jener Crhftaaten 
zu Gunften des gebrückten Volks und mit feiner aus beit vor— 
trefflichſten Abfichten Herrüßrenden Einmiſchung in die Gerechtig— 
feitspflege. Wir wollen beides zuerft durch ein Beiſpiel erläutert, 
ehe wir zu den holländiſchen md belgifchen Angelegenheiten übergehen, 

Um den Landmann aus einen drückenden Verhältniſſe zur 
eriöfen, verordnete der Katjer eine neue Steuerregufirung in allen 
Erbſtaaten, wodurch der Bauer nothwendig gewinnen, der Adel 
aber, ‚der ein furchtbares Gefchrei erhob und erheben ließ, verlieren 
mußte. Die ganze Maßregel ward durch Heftigkett und Ueber— 
eilung des Katfers vereitelt. Joſeph ſtand Hier allein; er fah 
böſen Willen und paffiven Widerſtand, dies bewog ihn, die Aus— 
meffung der Grundſtücke zu übereilen, ſo daß, weil für eine fo 
umfaſſende Meffung nicht Landmeffer genug im Lande waren, 
oft ganz unkundige Leute zu dem Geſchäft gebraucht werden muß- 
ten, was dann Mängel und Schaden veranlaßte, Dadurch erhielt 
der Adel, der durch die neue Einrichtung verlieren mußte, Gele⸗ 
genheit, allerlei Hinderniffe in den Weg zu werfen und die Abſicht 
des Kaiſers zugleich mit der Ausführung Lächerlich oder gehäſſig 
zu machen, Daß dies In der That der Fall war, zeigen bie 
Worte des Grafen von Chotef, mit denen er gewiffermapßen als 
Märtyrer für die Sache des Adels wegen ur Steuerangelegen⸗ 
heit: ſeine Stelle niederlegte. 

26* 


404 Kaiſer Joſeph II. bis 1787. 


Der Graf Chotek war ſehr von Joſeph begünſtigt, er war 
"Kanzler der böhmiſch-öſterreichiſchen Hofkanzlei, welche die neue 
Steuerregulirung befannt zu machen hatte, gegen deren Einführung 
Chotek mehre Male Borftellungen an den Kaifer abgehen ließ. 
Die Gründe, die er anführte, waren alle davon hergenommen 
und die Borftellungen beruhten blos darauf, daß der Adel dabei 
perliere. Darauf gab der Kaiſer wiederholt die Antwort, daß 
aber der Bauer jehr dabei gewinne, und beharrte, als feine bei- 
fern Gründe sorgebracht wurden, auf der Ginführung. Als Graf 
Chothek jah, daß feine VBorftellungen fruchtlos waren, legte er, um 
das Patent nicht unterfchreiben zu müffen, feine Stelfe nieder 
und machte dadurch die populärfte Mafregel dem Lande verhaßt, 
Die Worte, deren er fich in der Akte, die er dem Kaiſer über- 
jhiefte, bedient, beweifen, daß er mit einem Ban der Noot und 
und Gonforten auf einem Wege war. Mein Gewiffen, fo 
jchreibt er, erlaubt mir nicht, meinen Namen unter 
eine Verordnung zu feßen, welche dem Adel ſoviel 
Unrecht zufüget. Der Kaifer hatte ihm vorher Freundlich 
gefagt: Lieber Chotek, iſt es nicht beffer, wir laſſen 
den Bauern etwas nach, als daß fie uns gar nichts 
geben. Chotek erwiderte: Das jet nicht zu fürchten, da man 
die MWiderfpenftigen mit Gewalt zur Gntrichtung der Abgaben 
zwingen könne. Mit Gewalt, erwiderte der Kaiſer, die 
phyſiſche Gewalt ift beim dritten Stande, Glauben 
Sie mir, wenn der Bauer nicht will, find wir alle 
pritich (ein böhmiſch Wort). 

Auf gleiche Weiſe ward die Gerechtigfeitsliebe des Kaiſers 
und fein Wunſch einer unparteitfchen Juſtizpflege Urſache der 
Unzufriedenheit und des Widerftandes. Er fonnte niemandem trauen, 
er firitt gegen den Schlendrian der Gerichte und gegen verjährte 
Mißbräuche ganz iſolirt. Er mußte heftig mit autofratifcher Ge— 
walt kämpfen; dies ward oft nachtheilig und gab Gelegenheit, 
ihn der Willkür und Härte anzuflagen, Cr fand überall Unter 
fchleif und Käuflichkett, Veruntreuung äffentlicher Gelder und un— 
verſchämte Beſtechlichkeit, wodurch hernach auch im Revolutions— 
kriege die öſterreichiſchen Angelegenheiten zu Grunde gerichtet wur— 
den, als Herkommen und, al3 Privilegtum geltend, Es mar nicht 


Kaiſer Joſeph IT. bis 1787. 405 


möglich, dem Nebel abzuhelfen, weil die Gerichte gegen vornehme 
Leute unthätig oder doch ohnmächtig waren. Der Katfer, welcher 
ſah, daß die Behörden, die Gerichte und die privilegirten Klaffen 
gegen gleiches Necht in einem fürmlichen Bunde waren, übernahm 
jelbft die Sorge, über die Juſtiz zu wachen, und drang darauf, 
daß jedes Vergehen, an dem Vornehmften wie am Geringften, 
jollte auch; der, welcher fich verging, in feiner größten Gunft ges 
weſen fein, umerbittlich Hart beftraft werde, Aus Mißtrauen gegen 
juriftifche Deutung und Mißdeutung des Geſetzes folgte er dabei 
oft mehr feinem Gefühl von Recht und Unrecht als dem Gefeke 
und dem Urtheil dev Richter. Wenn diefe daher aus allerlei 
Nückfichten die Strafe, welche das Geſetz ausfprach, zu mildern 
juchten, fo erlaubte er fich oft, fie, wie in Rußland Sitte tft, 
im Cabinet zu jchärfen. Dies ſchrieb man der Grauſamkeit zu, 
obgleich der Katfer gewiß nicht graufam war, fondern nur bie 
Ariſtokratie in Schranken Halten wollte. Die Ariſtokratie zog 
danır in den Erblanden, wie hernach in Belgien, das Volk das 
durch in ihr Intereffe, daß fie den Katfer der Geſetzverletzung be= 
ſchuldigte. Daß Sofeph ſich befonders der Beamten und der Ari— 
jtofratie wegen hart bewies, ſieht man fchon daraus, daß bie zwei 
Fälle, welche man vor andern benutzt hat und zu benuten pflegt, 
um Sofeph als einen Tyrannen auszufchreten, Perſonen der 
höheren Klaffen angingen. Diefe Berfonen waren der Graf Po— 
daczky-Lichtenftein und der Oberſtlieutenant Sezefely, obgleich die 
Verſchärfung der Strafe bei dem Letztern, genau betrachtet, nur 
eine Veränderung der Strafe war, welche Sezefely ſelbſt als eine 
Milderung betrachtete. 

Mas Holland und Belgten angeht, jo konnte der Katfer den 
Gedanken nicht ertragen, daß ihn ein Friedensſchluß von 1711—1714 
bet ganz veränderten Umftänden in alle Ewigkeit hindern follte, 
Here in feinem eigenen Lande zu fein. Weil er das pofitive 
Recht gegen feine eigene Ueberzeugung von dem, was vecht fet, 
nicht wollte gelten Taffen, jo fand er es umvernünftig, daß er 
niederländifche Truppen in feinen Feftungen dulden und feinen 
Belgiern verbieten mußte, die Schelde und die See zu befahren. 
Der Streit mit Holland tft übrigens aus einem doppelten Grunde 
für die europäiſche Gefchichte bedeutend. Es zeigte fich nämlich 


Pr Katfer Joſeph U. bis 1787.7 


erſtlich bei dieſer Gelegenheit, daß Joſeph ſich bei ſeinen Ent— 
würfen übereile und um ſo leichter durch unerwartete Hinderniſſe 
und ernſtlichen Widerſtand zurückgeſchreckt werde, je heftiger, 
hitziger, übereilter er, jeden fremden Rath verachtend, anfangs zu 
verfahren pflegte. Zweitens ſind dieſe Streitigkeiten wichtig, weil 
der Ausbruch der ſogenannten holländiſchen Revolution dadurch 
beſchleunigt ward. Der Entſchluß Joſephs, gegen die Holländer, 
wie überall, das Recht der Vernunft gegen Verträge, Privilegien, 
Diplome und Siegel autokratiſch geltend zu machen und ſeinen 
Belgiern in ihrem eignen Lande die Rechte zu verſchaffen, deren 
die Holländer in dem ihrigen genoſſen, war ſchon bei ſeiner 
Huldigungsreiſe nach Belgien und während des Beſuchs, den er 
damals in Holland machte, in ihm gereift. Es ſchien ihm, als 
ob die Holländer und beſonders Amſterdam ihren Wohlſtand auf 
dem Ruin ſeiner Belgier und beſonders der Stadt Antwerpen, 
welche nicht aus der Schelde in die See fahren durften, gegrün— 
det Hätten. Noch mehr fand er ſich Dadurch gekränkt, daß feine nieder— 
ländiſchen Feftungen holländifche Garnifonen hätten. Der Kaiſer hatte 
das Kriegsweſen in Holland ganz vernachläfftgt, Marine und Heer im 
elendeſten Zuftande getroffen. Die Holländer hätten die Feftungen 
Belgiens, in denen fie Garnifon halten durften, im guten Stande hal⸗ 
ten ſollen, ev fand fie vernachläſſigt, die Garniſonen fchlecht ausgerü— 
jtet und verfehen, und gleichwohl mußte er dulden, daß, dem fogenann- 
ten Barrieretraftate gemäß, die Holländer in gewiffen Diſtrikten 
feines Landes Eontributionen vorgeblich zur Erhaltung der Feftungen 
und zum Bezahlung der nie vollzähligen Garniſonen ausfchrieben, 

Der Barritretraktat, deſſen Joſeph zunächſt entledigt fein 
wollte, war Karl dem VI. durch die Königin: Anna, oder eigent- 
Yich durch die Tories, die zur Zeit des Utrechter Friedenstongref- 
jes ihr Minifterium bildeten, mit Gewalt aufgezwungen worden, 
damit nur die Holländer (1713) deſto ſchneller den Frieden unter— 
ichveiben möchten, In diefem Traktate war feftgefest, Holland: 
ſolle in den belgiſch-öſterreichiſchen Plätzen Namur, Dornick, Me- 
nin, Fürnes, Warneton, Ypern und Knode Beſatzungen haften 
dürfen und eine hofländifchöfterreichifche Armee von dreißig bis 
jechdunddreißigtaufend Mann, beſtehend aus drei Fünftel hollän— 
diſcher und zwei Fünftel öſterreichiſcher Truppen, follte den öſt— 


Katfer Joſeph IE. bis 1787. 407 


lichen Theil der Niederlande, von wo aus ein Einfall in die 
jieben Provinzen umd in ihre Generalitätslande leicht ausführbar 
ſei, gegen Frankreich beſchützen. Das Verhältniß Defterreichg ward 
in den erjten zwanzig Jahren nach dem Utrechter Frieden noch 
sieh drüsfender in Beziehung auf Belgien und Holland. Die 
Engländer bedurften der Holländer erft gegen Alberoni, dann 
gegen Karls VI Handlungsprojefte und gegen die oftindifche 
Compagnie in Oftendez fie opferten ihnen daher das Hfterreichtfche 
und belgifche Intereffe. England und Holland vereinigten fich, 
um den Katjer zu nöthigen, einzumilligen, daß weder von Oftende,. 
noch von Trieft aus indifcher Handel getrieben werden dürfe. 
Zuerft mußte (1722) die Handelsgefellfchaft in Oſtende aufge 
hoben werden, dann (1731) ward feſtgeſetzt, daß nicht nur die 
öfterreichifchen Seeftädte von ihrer günftigen Lage am Meer kei— 
nen Nuten ziehen dürften, fondern daß auch die Mündung dev 
Schelde, folglich der unvergleichliche Hafen von Antwerpen auf 
immer verſchloſſen bleiben folltee Man ging fogar fo weit, daß 
man feſtſetzte, int Falle einer Verlegung diefes Artikels follten die 
holländiſchen Forts am Ausflug der Schelde auf die von Ant— 
werpen ausgefendeten Schiffe feuern dürfen, 

Hollands Macht und Wohlitand nahm indeffen in der erften 
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in eben dem Grade ab, als 
England reicher, mächtiger, betriebfamer wurde und feine Schiff- 
fahrt fih bis zum Unglaublichen vermehrte; es kam endlich da— 
hin, daß die holländiſche Regierung, welche eine halbe Million Gul— 
den für Truppen und Unterhaltung der Beftungen jährlich aus Bel— 
gien 309, die dafür übernommenen Berbindlichkeiten nicht erfüllte. 99) 

Nicht einmal die Bedingung, unter welcher den Holländern 
diefe unerhörten Vortheile zugeftanden waren, hatten diefe erfüllt, 
denn als 1745 die Franzoſen in Belgien einrücten, zogen die 
Generalſtaaten ihre Beſatzungen aus den Städten, weil fie dem 
Kriege ausweichen wollten, was gleichwohl nicht möglich war, 





99) Urfprünglich war im Barrieretraftat feftgefebt, die Holländer follten 
eine Subfidte von einer Million und zweimalfunderttaufend Gulden erhalten, 
Die Einnehmer gewiffer Diftrifte waren angewiefen, beftimmte Summen un> 
mittelbar an Holland abzuliefern, und im Fall hierin ein Rückſtand erfolgte, 
war fogar den Holländifchen Truppen ein Recht der Execution geſtattet. 


4083 Katfer Sofeph IT. bis 1787. 


Die Franzofen fehleiften hernach die Feſtungswerke der Barriere 
pläße und die Holländer blieben während des fiebenjährigen Krie— 
ge8 ihres Beſatzungsrechts beraubt. Erft um 1763 durften fie 
‚wieder Truppen ſchicken; fte ftellten aber die Feſtungswerke nicht 
wieder her und erhielten deshalb auch die ihnen im Barriere 
traftat zugeftandenen Subfidien nicht. Marin Therefia erklärte 
um 1776, daß fie den Barrieretraktat in Rückſicht gewiſſer Land- 
ftriche und Orte, welche die Holländer in Anfpruch nahmen, nicht 
mehr mollte gelten Taffen, weil ev ihrem Vater mit Gewalt und 
Verlegung der Nechte der Belgier fer aufgedrungen worden; 
Kaunit und Joſeph hatten ſchon damals weiter gehen wollen, 
Sie fuchten die Katferin zu bewegen, den ganzen Traktat für 
ungültig zu erklären, fie war indeffen nicht dahin zu bringen 
geweſen. Joſeph war Faum von feiner erjten Reiſe in die Nie 
derlande zurücfgefehrt, ald er erflärte, daß er die fremden Trup— 
pen nicht ferner dulden wolle Er zwang im März 1783 die 
Holländer wirklich, ihre Truppen zurückzuziehen, regte aber fchon 
damals ganz Europa weniger durd) den Gewaltſtreich als durch 
die höchſt Hedenklichen Erklärungen feines Staatskanzlers über bie 
Haltung beftehender Verträge gegen fich auf. # 
Die Unterhandlung über die Räumung Belgiens von Seiten 
der Holländer wurde in Wien zwtfchen dem Grafen von Waffe 
naer und dem Fürften Kaunitz geführt umd der Letztere redete 
dabei von beitehenden Verträgen und von dem Rechte der Schwa= 
hen gegen bie Starken in einem fo vornehmen und verächtlichen 
Ton, daß der Andere durch die bloße Bekanntmachung der Unter- 
haltung mit Kaunig den Planen des Katfers mehr fchadete, als 
durch die feinſten diplomatifchen Kabalen hätte gefchehen können.) 
Die Holländer waren damals wegen ihrer engherzigen Krämer- 
politif und ihrer innern ganz öffentlich geführten Streitigkeiten 
und oft ganz armſeligen Zänfereten, wobei mehrentheils beide 
Theile jchuldig oder verächtlich waren, in Europa nicht gerade 
beliebt; man mußte fich aber ihrer annehmen, wenn ber Kaifer 
19 dachte wie Kaunitz redete. Daß er aber wirklich fo denke, 
zeigte er, als er Anftalt machte, der Inftruftion gemäß zu han- 





1) Reflexions sur une conversation ministerielle entre le prince de 
Kaunitz et le comte de Wassenaer 1782. 


Kaifer Joſeph IL bis 1787, 409 


bein, welche der Herr von Nenny, Präfident des belgiſchen ges 
heimen Raths ehemals aufgefeßt hatte, um ihn vollſtändig von 
den niederländifchen Sachen zu unterrichten. In diefen befannten 
Snftruftionen, welche Dohm im feinen Denkwürdigkeiten vortrefflich 
benußt hat, war der Rath gegeben, alle längſt vergeffenen An— 
ſprüche an holländifche Orte und Landfchaften, welche aus den 
Berhältniffen des fechzehnten Jahrhunderts abgeleitet werden könn— 
ten, jebt geltend zu machen, wo die Umftande fehr günſtig ſeien. 
Dies fallt nämlich in: die Zeit, ald8 Spanien und Frankreich ohne 
befondere Nückficht auf Holland fir fich allein den Berfatller 
Frieden gefchloffen Hatten, jo daß Holland in dem Augenblick 
weder auf England, noch auf Frankreich rechnen konnte. 

Das Benehmen des Katfers gegen die Holländer war eines 
edeln Mannes, der, wie Sofeph, Gerechtigkeit liebte und fie ſogar 
oft mit Willkür ausübte, durchaus unwürdig. Gr ward, als er 
am Ende feine Sache nicht durchfeßen konnte, verächtlich, und 
was ſchlimmer für einen mächtigen Herrfcher tft, ſogar Tächerlich. 
Den Anfang machte er neben andern kleinlichen Schifanen, denen 
ahnlich, welche Preußen damals gegen Danzig und fpäter, als es 
Anſpach und Bayreuth au fich gebracht Hatte, gegen Nürnberg 
übte, mit der Forderung des Dorfs Doel in der Nähe des hol— 
ländiſchen Forts Lieffershoet und des Forts St. Donaas zwiſchen 
Sluys und Brügge. Die vfterreichtfchen Truppen nahmen von 
dem Dorfe mit Gewalt Befis und jagten die Hollander, denen 
fie an Zahl überlegen waren, mitten im Frieden aus ihren 
Duartieren. Da diefe Sache zu unbedeutend war, als daß fich 
fremde Mächte hätten einmifchen follen, fo trat der Katfer bald 
mit ftärferen Forderungen hervor, Er verlangte nicht blos die 
bedeutende Stadt und Feftung Maftricht, fondern kam endlich mit 
einem ganzen Negifter von Abtvetungen zum Vorſchein. Wir 
fügen die ſämmtlichen Forderungen unten bei, weil der. Katfer 
gleich im erften Artikel diefes Regiſters erklärt, daß er von allem 
dem nichts wiffen wolle, was die Spanier einft den Holländern 
and Dankbarkeit für die Vertheidigung Belgiens gegen die Fran— 
zoſen zugeſtanden hätten.?2) Gleich anfangs erboten ſich übrigens 





2) Die Forderungen waren: 1) Defterreich erfenne nur den 1664 ges 
ſchloſſenen Gränztraktat für gültig und fordere alles, was Durch fpatere Vers 


— 


— — 


410 Kaiſer Joſeph IT. bis 1787.) 


die Defterreicher, auf alle Artikel des langen Negifters nicht 
weiter zu beſtehen, wenn man dagegen die Schifffahrt auf der 
Schelde freigeben wolle und wenn Antwerpen feinen Sechafen 
wieder öffnen dürfe. Die Ungeduld des Kaiſers erwartete aber 
den Ausgang der Unterhandlungen nicht, fondern er forderte durch 
eine Erklärung vom 23. Auguft 1784, daß die Gröffnung der 
Schelde fogleich zugeftanden werden folfe, wofür er son allen 
andern Forderungen abzuftchen verfprach. 

Der Kaiſer benahm fich bei diefer Gelegenheit, wo er auch 
nicht einmal von Kaunitz VBorficht und Behutfamkeit lernen wollte, 
anf eine ganz umbegreifliche Weiſe unflug und gegen alfe Regel 
einer gefunden Politik. Er wollte, im feften Vertrauen, daß bie 
Holländer nicht wagen würden, fich ihm zu widerfeßen, Antwer— 
pen für einen Freihafen evflären, und der Präſident feiner Re— 
gterung in Brüffel mußte befannt machen, daß der Kaiſer fchon 
jest die Schifffahrt aus der Schelde ins Meer als völlig frei 
anſehe. Er fügte droßend hinzu, daß der Kaiſer jedes Hinderniß, 
welches man ber freien Schifffahrt feiner Unterthanen entgegen= 
jeßen würde, als wirkliche Feindfeligkeit und als Kriegserflärung 
betrachten werde. Durch diefen Schritt, den Kaunitz ſehr miß— 
billigte, kam Joſeph in größere Berlegenheit, als er geahnet hatte. 
Der alte König von Preußen gab bet der Gelegenheit feinen’ 
Unwillen laut zu erkennen und fragte bei Rußland an, ob er 





träge abgetreten fei, zurück. 2) Die Holländifchen Forts Kruitſchanz und 
Friedrich Heinrich follten geräumt und gefchleift, von den Werfen des Forts 
Liefkenshoek und Lille folte der Theil, der Die ehemals befiimmte Gränze 
überſchreite, gefchleift werben. 3) Das Wachtſchiff, welches Holland bei dem 
Fort Lille Halte, follte für immer entfernt werden und die ganze Schelde 
unter Zatjerlicher Hohelt ftehen. 4) Stadt und Feftung Maſtricht follten 
abgetreten werden, weil Holland dies in dem am 30. Auguft 1573 mit Spa- 
nien gefchfoffenen Traftat verfprochen Habe. 5) Alles Land über der Maas 
folle als zu Maftricht gehörig abgetreten werden. 6) Mehrere andere Diftrikte 
und Drie follen aus demfelben Grunde abgetreten werben. 7); Die Hollän- 
der. folfen alle Einkünfte, die fie aus den abzutretenden Orten feit ihrer Be- 
febung gezogen, erftatten. Die Artifel 8, 9, 10, 11 enthalten Yauter Be: 
ftimmungen über Vergütungen, welche die Holländer für die Vortheile Teiften 
follen, die fie fett dem fiebenzehnten Jahrhundert aus deu Verträgen gezogen, 
die der Kaiſer jetzt für ungültig erklärt. 


Katfer Joſeph IL His 1787. 41 


sieffeicht allenfalls weiter ‚gehen könne, ohne Rußland zu reizen. 
Ludwig XVI. ward durch diefen Schritt feines Schwagers in die 
größte Verlegenheit gebracht. Die Miniſter, beſonders Vergennes, 
und, die ganze franzöſiſche Natton verlangten dringend, daß fich 
Frankreich der Holländer annehmen follez die Königin fuchte Ihren 
Gemahl zu bewegen, dem Willen dev Nation entgegen zu han— 
deln, zu deren Organ in diefer Sache fich derfelbe Graf Mira- 
beau aufwarf, der einige Jahre Später den Gang der Revolution 
leitete. Er schrieb damals in feiner heftigen, aber der Aufregung 


des. franzöſiſchen Volks ganz angepaßten Manier über die hollän= - 


difchen Angelegenheiten, Wir Halten es nicht dev Mühe werth, 
gegen den auch won unſern liberalſten Gonftitutionellen jo laut 
gepriefenen Haupturheber der franzöſiſchen Revolution ein Wort 
zu fagen, weil es ausgemacht fcheint, daß die gewöhnlichen Be— 
griffervon Tugend auf Leute von großem Talent nicht anwendbar 
find. Bei einem gewöhnlichen Menfchen würde es uns fonft aufs - 
fallen, daß Mirabeau damals Für die ihm tödtlich verhafte, 
£leinlihe und felbftfüchtige holländiſche Patrioten-Partei fehrieh, 
daß er alfo Feudal= und Geldariftofratie, d. h. Leute voll Vor— 
urtheil, welche blos son Selbftfucht und Geldgier geleitet wurden, 
gegen deu Kaifer vertheidigte, der ſich für Bernunft und Men: 
fchenrechte ſelbſt aufopferte, den ung aber gleichwohl der Tiberale 
Franzoſe als einen gar argen Tyrannen und Deſpoten ſchildert. 
Mirabeaus Schrift gegen Katfer Joſeph ward: zwar in 
Frankreich verboten, es wurden aber doch Rüſtungen gemacht, 
und: die franzöſiſche Regierung fehten fich, wenn ihre Vermittlung 
nicht gelingen follte, dev Holländer annehmen zu wollen, Es 
ward den Franzoſen erlaubt, oder vielmehr den Militärs zu ver- 
fiehen gegeben, in Holland Dienfte zu nehmen; man lieferte 
Kriegsvorräthe, ſchickte franzöſiſche Ingenieurs, franzöſiſche Stabs= / 
offiziere, um die holländiſchen Vertheidigungsanſtalten zu leiten. 
Die Holländer übten im Vertrauen auf Frankreich gleich darauf 
Thätlichkeiten gegen die Belgier, welche von der von der Brüſſeler 
Regierung erlaſſenen Erklärung Gebrauch machen wollten. Da— 
durch wurden die Franzoſen wider ihren Willen zu feindſeligen 
Anſtalten gegen den Kaiſer genöthigt, weil dieſer bei der Nachricht 
von den Feindſeligkeiten der Holländer im Begriff ſtand, ein Heer 


412 Katfer Joſeph II. bis 1787, 


von vierzigtaufend Mann nach Belgien zu ſchicken und einen Theil 
defjelben wirklich marſchiren ließ. Als nämlich die Brigantine 
Ludwig unter Kapitän Iſeghem am 8: Oftober 1784 die Schelde 
hinabfahren mollte, feuerten die Holländer von Saftingen aus 
auf das Schiff und nöthigten es, nach Antwerpen zurückzukehren. 
Ein anderes Fatferliches Schiff, das von Oftende Fam und die 
Schelde hinauf fahren wollte, ward bei Vlieſſingen — 
— es hernach wieder frei gegeben wurde. 

In dieſem Augenblicke nahm Alles ein kriegeriſches Anſehn; 
die kaiſerlichen Truppen marſchirten, der öſterreichiſche Geſandte 
ward vom Haag abgerufen, in den vereinigten Provinzen zeigte 
ſich eine Nationalbewegung, wovon man ſeit langer Zeit keinen 
Begriff mehr gehabt hatte, und es ſammelte ſich ein holländiſches 
Heer an den Gränzen, welches von franzöſiſchen Offizieren orga— 
niſirt ward. Um dieſelbe Zeit als Kaiſer Joſeph mit Krieg - 
- drohte, erreichten die Streitigkeiten der Städte von Holland mit 
der ftatthalterifchen Regierung den höchſten Punkt, und der Her- 
zog von Braunſchweig ſah fich genöthigt, endlich das Land zu 
verlaſſen. Er war fehon im Juli auf Antrag der Städte der 
Provinz Holland von den Ständen diefer Provinz gemwiffermaßen 
abgefegt worden, als fie ihm durch eine beleidigende Refolution 
anfündigten, daß fie nur bis Ende des Jahrs die Summen zah— 
len würden, die fie zu den ihm- angewieſenen Geldern beitrügenz 
Seeland trat hernach dem Befchluffe bei. Der Herzog wendete 
fich am Ende Auguft zwar am die fünf andern Provinzen, ſah 
aber fchon im September, daß feine Stellung unhaltbar fet, und 
gab am 8. Oftober feine Entlaffung ein. 

Sp fchlecht beim zerriffenen Zuftande ihrer Civilregierung 
und der Verwaltung ihres Kriegsweſens auch die Anftalten der 
Holländer waren, fo zeigte fich doch bei dieſer Gelegenheit Joſeph 
noch ſchwächer als die Niederländer. Cr wagte nicht ‚einmal, 
ihre thätliche Beleidigung raſch und nachdrüclich zu rächen, wie 
der Fürft von Ligne als Commandant von Antwerpen Hatte thun 
wollen.  Diefer war nämlich im Begriff, den Schaden, den Die 
Holländer den Belgiern durch das Anhalten und Befchiepen der 
Schiffe und durch die Vertheidigungsanftalten, die fie in ber 
Nähe der Schelde machten, gethan Hatten, durch Beſetzung der 


Kaifer Iofeph IL. bis 1787. 3 


Forts Lille, Lifkerhoek, Kruitſchanz und. Fort Friedrich Heinrich 
zu rächen. Dazu bedurfte er der Grlaubniß der Regierung in 
Drüffel, dieſe wagte aber nicht, fie ihm zu ertheilen, Vergennes 
bi8 an feinen Tod (Febr. 1787) Minifter dev auswärtigen An— 
gelegenheiten in Frankreich, benuste die Umftände, um durch feine _ 
Bermittelung für Holland ein Band der Freundfchaft mit diefer 
Republif zu knüpfen. Dieſes Band ward hernach von England 
und Preußen zur Zeit der holländiſchen Revolution wieder zerriffen. 

DBergennes Erönte feine lange diplomatifche Laufbahn durch 
die meifterhafte Weife, wie er, ohne feinen König durch offenbare 
Seindfeligkeiten gegen feinen Schwager zu betrüben, durch Unter- 
handlungen die ganze Ehre in dieſen Handeln für Frankreich zu 
gewinnen und die ganze Schmach auf den Kaifer zu werfen ver= 
ſtand. Er gewann bei der Gelegenheit die Freundfchaft der Hol- 
länder für Frankreich, entzweite fie tödtlich mit Defterreich und 
trennte fie von England. Die Franzofen, welche ſchon in jener 
Zeit ihre Königin mit unbegreiflichem Haſſe verfolgten, fchrieen 
freilich damals und auch fpäter, daß es gegen die Ehre der Na— 
tion ei, daß man durch Geldzahlung und nicht durch die Waffen 
den politifchen Zweck erreicht Habez aber Sofeph ward mehr da= 
durch beichimpft, daß er das Geld annahm, als Franfreich da— 
durch, daß es ihm Tieber Geld zahlte als Krieg anfing. Wäre 
die Behauptung des: Gefchichtfchreibers dev franzöſiſchen diploma— 
tifchen Unterhandlungen zuverläffiger und begründeter, als fie uns 
zu fein fcheint, fo verdiente Vergennes noch weit mehr. Lob als 
wir ihm ertheilt Haben, Wenn Flaffan Recht Hätte, verdiente 
Joſeph auch nicht den Vorwurf eines übereilten Vorwärtsſchreitens 
und eines zaghaften Zurücweichens, welcher ihm damals alfge- 
mein gemacht wurde. Flaffan berichtet namlich, Sofeph habe nur 
. darum nachgegeben, den Feindfeligfeiten Einhalt gethan und die 
Bermittelung der Franzofen angenommen, weil Vergennes feinen 
König bewogen habe, über diefe Angelegenheit, ehe fie noch an 
Geſandte übertragen werde, in unmittelbare Gorrefpondenz mit 
Joſeph zu treten.) Aus dem Tone der eigenhändigen Briefe 





8) Flassan, histoire de la diplomatie frangaise, Vol. VII, berichtet 
auerft pag. 400 im Text: Mr. de Vergennes remit au zoi un premier 


414 | Kaiſer Joſeph IL Bis 1787. 


des Königs habe fich der Katfer überzeugt, daß ſich Ludwig per 
ſönlich der Sache annehme, und daß feine Gemahlin ihn nicht 
umftimmen könne und werde. Flaſſan entſchuldigt zugleich den 
Minifter mit Gründen, die uns gut und treffend feheinen gegen 
den Vorwurf, den man ihm darüber machte, daß er aus der 
franzöftichen Staatsfaffe die Heine Summe für den Katfer zahlen 
lieg, welche die Holländer nicht zahlen wollten. "Die Holländer 
verließen ſich auf Sranfreich, als fie fich weigerten, mehr zu zah— 
len als fie geboten hatten, und Vergennes wollte Tteber Gel —* 
ſie ausgeben als für ſie ins Feld ziehen. 

Nachdem Ludwig XVI. zuerſt dem Kaiſer energiſch zu ver— 
ſtehen gegeben hatte, daß er nie zugeben werde, daß das Recht 
des Starken gegen die ſchwachen Holländer in Rückſicht auf Trac— 
tate ausgeübt werde, die im der erſten Hälfte des ächtzehnten 
Jahrhunderts mit Frankreichs Beiſtand von Defterreich erpreßt 
worden, Fam hernach die Sache ans Kabinet und an die Bevoll— 
mächtigten. Am 17. Nov. 1784 ward dem Katfer durch eine 
jehr kräftig und beſtimmt abgefaßte dringende, oder vielmehr höf— 
lich drohende Note die Vermittelung Frankreichs im Scheldeſtreit 
angeboten; erſt am 24. Januar 1785 nahm der Kaiſer dieſe 
Vermittelung, oder mit andern Worten die Entſcheidung Frank⸗ 
reichs an. Auch nachdem Joſeph ſich gefügt hatte und nach und 
nach den wichtigſten Punkten, der Freiheit der Schifffahrt auf der 
Schelde und der Erwerbung eines bedeutenden Landſtrichs oder 
befeſtigter Oerter entſagt hatte, erſchwerte er durch ſeinen Eigen— 
ſinn und durch kleinliche Geldforderung, die Holländer durch den 
Geh, womit fie über den Betrag der yon ihnen zu * 


mémoire le 14. Octobre 1784, Il y établissoit l’interet de plus dun 
genre, que la France avoit & la contestation presente; exposant en 

möme tems les dangers auxquels pourroit entrainer une r&solution trop 
precipitee à l’ögard de Pempereur, avec lequel il engageoit le roi 
d’ouvrir une correspondance directe pour le disposer ä la paix. Dazu 
fügt er pag. 401 die Note: Cette correspondance eut lien en effet; et 
c’est aux explications qu’elle amena insensiblement, que l’on .doit 
l’accommodement auquel l’empereur se preta, mais apres avoir mani- 
fest& I’humeur la plus aigre, piqu& de ce que le roi, qu'il croyait do- 
ininer par le er&dit de la reine, n'avait &cout6 en * que Tavis 
ds son. conseil, | ‘ 


Katfer Joſeph I. bis 1787. 415 


Summe feilfchten und bald mehr bieten, bald weniger geben woll⸗ 
ten, den Franzoſen das Gefchäft der Friedensftiftung. Die Hol- 
länder und der Katfer nämlich handelten von Februar bis Sep— 
tember über die Summe, welche die Erſten dem Lektern als Ent- 
ſchädigung zahlen follten, damit es wenigſtens den Anfchein Habe, 
als wenn er einige Genugthuung für eine thätliche Beleidigung 
erhalten habe. 

Der Kaiſer forderte anfangs fünfzehn Millionen Gulden 
und die Holländer Hatten die Unverfchämtheit, ihm darauf drei 
Millimen zu bieten.  Hernach ward Monate lang über eine zu 
zahlende Summe wie über eine Waare in Wien und DVerfailles 
gehandelt, bis endlich der Katfer auf neun und eine halbe Mil- 
lion herabgehandelt ward. Diefe Summe forderte Joſeph für 
fich, außerdem noch eine halbe Million für feine Unterthanen, 
welche durch die Holländer gelitten hatten, Auch dabei zeigte fich 
die öſterreichiſche Politik kleinlich; denn, jo wenig es dem Kaiſer 
Ernft war, erklärte doch Graf Mercy, wenn die Holländer nicht 
bis zum 22. Sept: filh zur Zahlung diefer Summe erböten, ſo 
werde der Krieg (alſo nicht um Ehre, ſondern um ein paar 
Millionen) beginnen. Da die Handelsleute ſahen, daß die Sache 
eine Angelegenheit Frankreichs geworden ſei, ſo boten ſie auch 
von dieſer Summe nur die Hälfte, und Frankreich fand am Ende 
vortheilhafter, die andere Hälfte zuzulegen, als ungeheure Kriegs⸗ 
koſten zu tragen und alle europäiſchen Mächte in Bewegung zu 
bringen. 

Exit am 8. November ward übrigens zu Fontainebleau der 
Ausſöhnungstraktat abgefchloffen. Vermöge des erſten Artikels 
dieſes Traktats blieb die Schelde verſchloſſen und die Holländer 
behielten Maftrichtz dagegen verſprachen dieſe, die Forts Lillo 
und Liefkenshoek befeſtigt, wie ſie waren, Fort Friedrich Heinrich 
und Kruitſchanz aber geſchleift dem Kaiſer übergeben zu laſſen. 
Sie verſprachen außerdem zehn Millionen Gulden zu zahlen, wo— 
von Frankreich, um die Ausſöhnung zu beſchleunigen, die Hälfte 
übernahm, Dohm rechnet, daß allein die Unkoſten, die der Kai— 
jer gleich anfangs gehabt habe, als ex über die damals eigentlich 
ganz wehrlefe Republik eine Bedrängung verhängte, welche alle 
Mächte und feine eignen Provinzen gegen jede Verbeſſerung die 


416 Katfer Iofeph IL bis 1787. 


er vornehmen wollte, argwöhniſch machte und mit feiner Befchä- 
mung endigte, über fünf Millionen Gulden betragen hätten; doch 
icheint e8 ung, ald wenn er das Einzelne etwas zu hoch anrechne, 

Die vranifche Partei in den Niederlanden konnte und durfte, 
als England in diefer Sache nichts für die fieben Propinzen that, 
Frankreich aber handelte und zahlte, nicht weiter hindern, daß die 
patriotijche und ariftofratifche Partei ihre Abficht, eine nähere 
Berbindung mit Frankreich einzugehen, durchfete. Die Republif 
riß fich von England ab, Schloß einen Defenfiotraftat mit Frank: 
veich und johten dadurch das ganze feit 1672 beftandene Verhält- 
niß der Seemächte zu einander und zu Frankreich zu Andern, 
Das erite politifche Meiſterſtück Pitts, dev feit feiner IndiasBill 
Regent des Königs und des Reichs war, beitand darin, daß er 
die Franzoſen um den Vortheil ihrer Freundfchaft mit Holland 
zu bringen und den Bund zu zerreifen wußte. Die unter dem 
Text angeführte Stelle aus Flaffans Geſchichte der franzöſiſchen 
diplomatischen Verhandlungen mag zeigen, wie meifterhaft ‚Pitt 
die holländiſche Revolution benußte, um Englands Bortheil — * 
preußiſche Bajonette zu erreichen, ) 





4) Es Heißt Vol. VIL pag. 409: L’alliance entre la France et les 
Provinces-Unies &toit un coup de force politique, et Fon n’avoit pu y 
arriver que par une grande suite de combinaisons adroites, à la faveur 
desquelles on rompait l’intimit& de la Hollande et de l’Angleterre et 
l’on privait le stathouder d’une prepond&rance dont il: usait trop fré— 
quemment en faveur de la cour de Londres. Ce brillant succés fut dü 
principalement au duc de la Vauguyon, qui dans le cours de son am- 
bassade de Hollande s’etoit oceupe A detacher les Provinces-Unies de 
V’Angleterre et à les rapprocher de la France dans la vue essentielle 
de combiner les marines frangaise, espagnole et hollandaise pour de- 
truire ou du moins balancer la supremacie maritime de l’Angleterre. 
Les consequences de ce trait6 furent profondement senties à Londres. 
En effet elles &taient telles, qu’ aux approches d’une guerre maritime 
la cour de Versailles, en vue de garantir son alli6, et par une suite 
de ses engagemens pouvoit envoyer au cap de Bonne Esperance et ä 
Trinquemale des forces respectables qui eussent decide sa vvpen 
dans cette partie du monde etc. etc, ä 


Belgien bis 1788, 417 


$ 2. 


Borfpiele der großen franzöfifhen Staatsumwälzung. 
Innere politifhe Streitigkeiten und Kämpfe in Belgien, 
Holland und Frankreich bis zum Jahre 1788, 


a. Belgien. 


Mährend fich der Kaiſer auf der einen Seite in einen für 
ihn ſehr nachtheiligen Streit mit Holland und Franfreich zu Gun— 
ften der Belgier einließ, gerieth er auf der andern mit der Ari— 
ftofratte und Hierarchie der Belgier in einen Streit, der mit einem 
fürmlichen Aufftande feiner Niederländer endigte. Diefer Aufftand 
in den, öfterreichtfchen Niederlanden Hatte gleich den Unruhen in 
Holland feinen Grund darin, daß die verwicelte Staatsverfaffung 
und Regierung der ſämmtlichen Niederlande fett dem jechzehnten 
Sahrhundert nie im Geringften verändert war, daß fie daher auch 
den Bedürfniſſen der Zeit durchaus nicht mehr entſprach. In den 
proteftantifchen und in den Eatholifchen Niederlanden füllte und 
mußte veformirt werden; die Reform follte in beiden gewaltſam, 
in dem erften aber nad) vepublifanifcher, in dem andern nad 
monarchifcher Weife durchgefett werden. 

Die an fich unbedeutenden belgifchen und Hollandifchen Un— 
ruhen find ung hier als Vorſpiel dev Bewegungen in Frankreich 
merkwürdig, auch waren dabei in Holland ganz bejonders Fran— 
zofen und unter ihnen vorzugsweife Mirabeau tätig. Außerdem 
müffen wir des Aufftandes in Belgien auch aus dem Grunde 
gedenken, weil bei der Gelegenheit aller Welt offenbar ward, daß 
Joſeph unvorfichtig und thoricht verfahre, wenn er alle die ver— 
fehiedenen Völkerſtämme, welche er zu Unterthanen habe, ohne fie 
zu Rath zu ziehen, autofratifch durch unzählbare aus dem Kabinet 
erlaffene, nur auf dem Papiere ausführbare Gefete und Ver— 
ordnungen reformire, 

Sofeph wollte offenbar das Regierungsſyſtem Türgots ein— 
führen, ex wollte die Verwaltung der Staatspolizei und der. Fi— 
nanzen In feinen Staaten überhaupt und in Belgien insbeſondere 
in der Art einvichten, wie hernach Dupont de Nemours als 
Herausgeber son Türgots Schriften deſſen einzefne Winfe zur 

Schlofſer, Geſch. d+ 18: m 19, Jahrh, IV. Thl, 4. Auft. 297 


418 Belgien. bis 1788, 


einem Ganzen verbunden Hat. Dabei wollte er das monarchiſche 
Prinzip ſtreng aufrecht halten. Auf welche Weife der unermüd— 
lich thätige und unglaublich arbeitiame Katjer dies auszuführen 
verſuchte, kann man aus dem zweiten Theile von Groß Hoffingers 
Biographie deſſelben Ternen, wo alles Einzelne aufgezählt wird. 
Wir wollen in der Note nur Furz und fummarifch die Gegen- 
ftände, auf welche fich Joſephs Thätigkeit erſtreckte, anführen 
und den. Lefern, überlaffen, das Nähere in dem angeführten Buche 
nachzulejen.>)- 


5) Was in der erſten Ausgabe diefes 18; Jahrhunderts 1 S. 333 aus 
Pezzl angeführt if, bezieht ſich eigentlich nur. auf das, Religionsweſen, es 
ſcheint daher paſſender, den Inhalt des zweiten Theils von Groß Hoffingers 
Lebens⸗ und Regierungsgeſchichte anzugeben und es dem Leſer zu überlaſſen, 
das Einzelne in dieſem Buche ſelbſt aufzuſuchen. Die ganze erſte Abthellung 
dieſes Bandes Handelt ausſchlleßend von Reformen in Religionsſachen. Im 
dritten Kapitel findet man. die Schritte gegen Rom; im vierten wird bie 
Reform des Prieſterſtandes, die Umgeflaltung des Mönchweſens und die Erz 
richtung, von Anftalten zur, beffern Bildung des Prieſterſtandes bexichtet. In 
den folgenden Kapiteln findet man die neue Regulirung des Gottesdienſtes, 
die Aufzählung der abgeſchafften ſchädlichen Gebräuche, die Befhränkung des 
Ablaß handels Abſchaffung der Brüderſchaften und Einrichtung eines eigent⸗ 
lichen Rellglonsunterrichts. Im fechsten Kapitel find die neuen, Verfügungen: 
über. Chen. und, Begräbniffe und im fiebenten die Toleranzgefebe zu finden. 
Im zweiten, Abſchnitt wird berichtet yon der, Einrichtung der Volks- und, 
Normalfigulen, von den allgemeinen Anftalten zur Verbefferung des Volls— 
ainterrishts, von den Oymnafien und ausführlid von der Cenſur. Im dritten 
Abfeänift. findet man alle Einrichtungen, welde die Unterthanenverhältntife 
betreffen. Dahin gehören. die Vorfehrtfien für Beſchwerden, die Geſetze gegem 
den Wucher, die Abſchaffung ſchädlicher Gebräuche, die Nobotabolition, bie, 
Verordnungen, die jih auf Aufhebung. der Leibeigenfhaft beziehen; die, 
Steuergeſetze. Dann folgt ein Abſchnitt über das Juſtizweſen. Zuerſt gift. es 
Joſephs Civilgeſetzgebung. Es wird ferner der Criminalgeſetze, hernach der 
neuen Einrichtung des Unterrichts über Rechtspflege, der Gerichtsorbnung und 
der Juſtizverfaſſung überhaupt gedacht, dann beſonders der Reform der Stadt⸗ 
räthe, der Beamten, der ſogenannten Landtafel, der Ordnung der Gerichtslo⸗ 
ſten, Erbfolgeverordnungen, Pupillenſachen u. ſ. w. erwähnt. Dann folgt ein 
Abſchnitt von neuen Polizei- und Humanitätsanſtalten. Im ſechsten findet 
man einzeln angeführt, was für Handel und Induſtrie, Landeskultur, Viehzucht 
geſchah. Mauthweſen, Straßenbau u. ſ. w. Der ſiebente Abſchnitt begreift die 
Cameralgegenſtände, Münze, Berg⸗, Jagd⸗, Forſt⸗, Poſtweſen. Judengeſetze, 
Penſtonen, Stempelpapier, Abzugsgeld, Fiſcusangelegenheiten. Darauf folgt 


© 


F 


Belgten bis‘ 1788, 419 


Geht man die einzelnen Provinzen des Reichs in Beziehung 
auf Ausführbarfett der unten bezeichneten Pläne Joſephs durch, 
ſo hatten die Böhmen dem wefentlichften Theil ihrer National- 
rechte längſt verloren, die Poſtulaten⸗ Landtage anderer Provinzen 
fonnten auf die Dauer einen Widerftand gegen einen Regenten 
feiften,. welcher Verwaltung und Negierung durch feine Beamter 
leitete und durch Polizei und Militär unterftügtez nur in Ungarn 
und Belgien war dies anders‘, in diefen Ländern war daher ein 
MWiderftand ohne Nebellton möglich, Die Verwaltung, die Ges 
ſetzgebung, die Gerichtsverwaltung. tw allen Inſtanzen war in 
beiden Provinzen nicht öſterreichiſch, ſondern ganz national und 
ward im Lande von Eingebornen in ihrer Sprache verwaltet, 
Joſeph Hatte in Belgien nicht blos gleich bei feinem Regierungs— 
antritt alfe überlieferten und beftehenden Privilegien, Herfommen, 
Gebräuche, Geſetze, Verbriefungen der einzelnen Stäbte, Graf— 
fchaften, Herzogthümer und Corporationen beftätigt, fondern er 
“hatte auch die höchſt merkwürdige Urkunde der Freiheitsbriefe der 
Herzogthümer Brabant und Limburg über die Nechte der Unter- 
thanen und die Pflichten der, Regeutenb6) öffentlich beſchworen. 
In dieſen Provinzen war die Gefeßgebung ganz den Deputirter 
überlaffen, welche von den drei: fogenannten Ständen, der Geiſt— 
Vichkeit, dem Adel, den Städten erwählt: wurden. Diefelden Stände 
entjchteden nicht: blos über die Erhebung, Verwendung, Verthei— 
fung der Steuern und Auflagen, fondern festen auch einen Auge 
ſchuß nieder, der zwiſchen der Zeit der Situngen der Stände an 
der Regierung förmlich Antheil nahm. Jede Provinz, jede Stadt, 
ja man. möchte faſt fagen jeder Flecken und jedes‘ Dorf! Hatte 
eine eigne Ginrichtung und Verwaltung, die oft von denen: des 
benachbarten Orts ganz verfchleden waren, Jede Prosinzialre- 
gterung beſtand, wie die Landesregierung in Brüſſel, nur aus 
Landeseingebornen, außer daß dte allgemeine Landesregierung in 
Brüſſel einen Faiferlichen Minifter zum Brafidenten hatte, Sogar 





ein. Abſchnitt über, Milttärwefen u. ſ. w. Man: ficht blos aus ver Aufzäh— 
Yung, daß Joſeph mehr leiſten wollte, als die ganze franzöfifche conſtituirende 
Verſammlung leiſten konnte. 
6) Dies iſt die ſogenannte Joyeuse entrde, die man in Meiners und 
Spilllers hiſtor. Magazin tim 1, Bande ©, 724 leſen kann. 
27* 


420 Belgten bis 1788. 


die Repräfentation der monarchifchen unabhängigen Regierung und 
eines Hofes fehlte in Brüffel nicht. Ein Statthalter oder eine 
Statthalterin, gewöhnlich fürftlichen Geblüts, unter Joſeph feit 
Sanuar 1781 feine mit dem Herzoge von Sachſen-Teſchen ver— 
mählte Schwefter Marie Chriftine, hielten in Brüffel einen glän— 
zenden Hof, bei dem fremde Gefandte, wie bei andern regierenden 
Herren, beglaubigt waren. Auch die Hierarchie der Gerichte, wie 
die Landesregierung, waren von ber Juſtiz der andern Erblande 
unabhängig. Jedes Tribunal entjchied nach Localgefegen und nach 
ganz verſchiedenen Herkommen. Es war ein anerkannter Grund- 
fat, daß niemand vor ein anderes Gericht geftellt werden könne, 
als vor das ihm oder feinen Voreltern durch Geſetz und Her— 
fommen beftimmte, 

Nach der Heftehenden Verfaſſung des Landes fiel die größte 
Macht und der ftärffte Einfluß aus vielen Urfachen der Getftlich- 
feit zu, und gerade diefe wollte Joſeph zunächt reformiren. Der 
Einfluß der Hierarchie war nicht blos geiftlicher Art, er beruhte 
nicht blos auf Aberglauben und Fetiſchismus der Menge, unter 
halten durch tauſende von Mönchen, Biſchöfen, Aebten, Geiftlichen 
aller Art, fondern das Grundeigenthum war auch größtentheils 
in geiftlichen Händen, Es waren in Belgien wie damals in 
Deutfchland und noch jest in England die älteren Söhne der 
großen Familien mächtig durch das Erbe des Vaters, die jünge— 
xen aber reich durch Pfründen, Abteien, Bisthümer; fie bildeten 
das erite Sollegtum der Stände, Belgien war damals, wie Spa= 
nien und Neapel, das Paradies der Geiftlichfeitz denn man zählte 
in diefem Lande neben einem Erzbiſchofe und fieben Bifchofen 
hundert und fieben Aebte, deren jeder Ginzelne von fechzig bis 
dreimalfunderttaufend Gulden Einkünfte Hatte. Die Univerfität 
Löwen, wo alle Belgier, welche geiftliche oder weltliche Aem— 
ter befleideten, gebildet wurden, war dem Erzbiſchofe von 
Mecheln untergeordnet und ward ganz von Exjeſuiten geleitet, 
Jeſuitiſcher Unterricht war alfo einzige Quelle aller belgiſchen 
Einfichten in Staats- und Kirchenangelegenheiten. In Löwen 
wurden ganz im Geifte des Mittelalters alle die Kechtsgelehrten 
gebildet, die in den drei höchſten Tribunalen Belgiens, dem Ge— 
richte von Geldern, dem großen Rathe von Brabant, dem Rathe 


Belgien bis 1788. 421 


von Mecheln in höchſter Inſtanz entſchieden. Diefe fogenannten 
fouveränen Gerichtshöfe entfchteden nicht allein, wie unfer Reichs— 
fammergericht, unfer Reichshofrath und die franzöfifchen Parla— 
mente ganz unabhängig vom Regenten oder von einer höhern 
Inftanz in Rechtsfachen, fondern fie genoffen auch verfaſſungs— 
mäßig der polittfchen Rechte, welche die franzofifchen Parlamente 
zwar in Anfpruch nahmen, die ihnen aber son der Regierung 
nicht eingeräumt wurden. Die Verordnungen der Regierung hat— 
ten nämlich nur dann Gültigkeit, wenn fie yon diefen Gerichten, 
den Stüßen und Aufrechthaltern. jedes Schlendriang, vorher ge= 
prüft waren. | | 

Da man auch noch heutigen Tags, nach zwei Revolutionen, 
nach der Bereinigung mit Frankreich zur Schreckenszeit, nach Bo— 
napartes Regierung und nach der Vereinigung mit Holland in 
gewiffen Gegenden Belgiens den Aberglauben, das Geremonien= 
wejen, die Prozefitonen und Wallfahrten völlig wie in Spanten 
und Italien aufrecht Halt, fo denkt man fich Teicht, mie es dort 
zu Joſephs Zeiten ausfehen mochte. Es war ja fett dem fechzehn- 
ten Jahrhundert auch nie ein einziger Lichtftrahl in das von Mön— 
chen und Jeſuiten unterhaltene Cimmeriſche Dunkel des Unterrichts 
der gelehrten Schulen gefallen. Sofeph hatte das DVerfehen be= 
gangen, daß er in demjelben Augenblick, als er auf durchgreifende 
Reformen in Belgien dachte, den ganz unfähigen Fürften son 
Stahremberg feiner Schwefter und ihrem Gemahl, die blog reprä= 
jentiven follten, als Minifter zur Führung der Gefchäfte zur Seite 
gegeben Hatte. Diefer war nichts als ein großer Herr, d. h. ex 
that nichts und mußte nichts, als Vornehmthun, fondern überließ 
Alles dem Intriguanten Grumpipen, der hernach neben dem Ad— 
vokaten van der Noot und dem Abt von Tongerloo Haupt der 
hterarhifch-ariftofratifchen Gonfpiratton ward. Diefer Grumpipen | 
war der Sohn eines Kammerdieners des Visconti, welcher durch 
Joſeph Erzbiſchof von Mailand ward, und Hatte feine Laufbahn als 
deſſen Serretär in Neapel begonnen. Da diefer Mann die Seele 
der Landesregierung in Brüffel war, jo begreift mar leicht, warum 
diefe, Statt wie fie follte, die kaiſerliche Reformation zu fordern, 
ihr Hinderniffe in den Weg legte, ohme daß der gute Stahremberg 
wußte, wohin die Verordnungen zielten, die er jelbit machte. 


422 Belgien bis 1788. 


Der Kaifer Schritt indeffen in Belgien ebenfo raſch vorwärts 
als in andern Provinzen. Er nahm durchaus Feine Rückſicht auf 
den Einfluß der Geiftlichfeit, der Univerſität Löwen, des Cardi— 
nals und Erzbiſchofs won Mecheln (Frankenberg), des in Belgien 
refidivenden päpftlichen Nuntius und dev Exjeſuiten, ſondern for— 
derte fchon in den Jahren 1781 und 1782, daß feine Verord- 
nungen in Religionsfachen, ohne Rückſicht auf die hergebrachten 
Formen, auch in Belgien ausgeführt werden ſollten. Wie wenig 
die. belgischen Theologen und Juriften geneigt waren, im Gering- 
ften der Negierung nachzugeben, zeigte fich gleich im Novem— 
ber 1781, als Joſephs Toleranzediet in Belgten auch, nicht einmal 
befannt gemacht werden durfte, Die Univerfität Löwen bewies 
gleich bei diefer Gelegenheit, in welchem Geiſte fie die Jugend 
unterrichte. Sie ließ verfündigen, daß jede Toleranz den Grund» 
fäßen der heiligen römiſchen Kirche entgegen fer, weil nach dem 
Glauben derjelben alle Reber ewig verdammt feien. Sofeph beftand 
aber auf jeinem Opuveränetätsrechte, wie er ed nannte, und ver 
fuhr im Namen der unveräußerlichen Menfchenvechte gewaltfam, 
wie Dies hernach auch die Männer der Schreckenszeit thaten, 
welche fich ebenfalls darauf beriefen.  Diefe Republikaner ſowohl 
als Joſeph Hielten das Volk für unmündig, weil es von Vorur— 
theilen deipotifch beherricht werde und Handelten daher als eigens 
mächtig beftellte Bormünder deilelben in deſſen Namen. Der Kai- 
fer verordnete (1783) Einziehung vieler Mlöfterz er erklärte jede 
Berufung auf den Bapft für vollig umftatthaftz er änderte die 
Formel der, Immatrikulation: auf dem Univerfitäten, weil fie, im 
Geiſte der Hierarshie abgefaßt, den Rechten des Negenten entge— 
gen jet und nahm den Bifchöfen das Recht, in geiftlichen "Ange 
legenheiten unabhängig zu ſchalten. Er forderte Rechenfchaft über 
die Eide, welche die Bilchofe son den Seminariften, von den 
GSeiftlichen, denen fie Weihen ertheilten, von den Seelforgern zu 
fordern pflegten, und verordnete, daß bifchöfliche Hirtenbriefe, ehe 
fie befannt gemacht werden Fünnten, den weltlichen Behörden 
vorgelegt werden jolltenz auch nahm er ihnen die Enticheidung 
in Ehefachen. 

In Religionsangelegenheiten und in allem demjenigen, was 
fich auf Bildung und Unterricht dev Jugend bezog, war Sofeph 


Belgien 618 1788, 193 


aus einem Grunde, der feinem Verftande und feinem Herzen 
auf gleiche Weiſe Ehre macht, durchaus unerbittlich, Verbeſſe— 
rungen, die ſich darauf bezogen, wollte er gewaltſam durchſetzen; 
andere: Reformen follte die Landesregierung nach und nach ein— 
führen. Weniger hartnäckig beſtand er auf feinem Willen Yet 
der neuen Anordnung des Gerichtsweſens. Er verkündigte näm— 
lich in diefer Beziehung im Jahre 1785 den Niederländern durch 
ein Ausichreiben, daß er auf die Vorſtellung feines Statthalters 
der Niederlande alles, was die Errichtung der von ihm neu be— 
ftellten Gerichtöhnfe in Flandern, Dornick, Namur und Geldern 
angehe, fo lange aufgeſchoben Habe, bis die Gemüther über dieſen 
wichtigen Gegenftand beffer beruhigt ſeien. Er verordnete zugleich, 
daß die Obrigfeiten dev Städte, wie bie der verſchiedenen Gerichts— 
ſprengel und des platten Landes, überhaupt alle Juſtiz⸗ und Po- 
Vizetbeamte in den genannten Provinzen ihre Amtsverrichtungen, 
welche auf feinen Befehl eingeftellt waren, wieder antreten ſollten. 
Dadurch ward der damals wegen der Gerichtsverfaffung drohende 
offne Ausbruch der Unruhen gehindert; es Fam aber bald uber 
die geiftfichen Dinge zu Argerm Zwiſt. In diefen geiftlichen 
Dingen ſchritt nämlich der Katfer unaufhaltfam fort und nahm 
gerade tm Jahre 1786 eine ganz entjchtedene Maßregel gegen 
Mönchsgeiſt, Aberglauben und Hierarchie: 

Der Kaifer Fannte den Lärm, den Mönche und Pfaffen im 
Beichtſtuhle amd auf den Kanzeln gegen ihn erhoben, er Fannte 
die Verlaͤumdungen, welche die Ins Innere aller Familien zuge 
laſſenen frommen Heuchler verbreiteten und die Wirfung jeſuiti— 
fcher Künftez er war daher überzeugt, daß er ohne Reform der 
Untverfttät Löwen niemals einen befferen VBolfsunterricht in Schulen 
und auf den Kanzeln Hoffen dürfe. Aus diefem Gründe verlangte 
er, daß in Löwen ein Generalſeminarium, wie in feinen andern 
Staaten, eingerichtet werden folle. Dieſe Generalfeminarien Jo⸗ 
ſephs ſtanden unter Aufſicht des Staats, dev Sinn der Verord— 
nung war daher, die ſämmtliche Geiftlichfeit der Niederlande ſolle 
nicht mehr, wie 518 dahin, unter der Aufſicht des Erzbiſchofs, 
feiner Erjeſuiten und des Nuntius, ſondern durch die von ber 
Regierung angeftellten Lehrer und unter Aufſicht der Regierung 
gebildet werdem Wie es mit diefem Generalſeminarium ſollte 


424 Belgien bis 1788. 


gehalten werben, wird man aus bem in der Note?) mitgetheilten 
Schluffe des Faiferlichen Edicts jehen. In der Einleitung diefes 
Edicts wird die Nothwendigkeit dev Mafregel ganz vortrefflich 
aus dem Weſen der Religion und aus dev Nothwendigfeit, ihren 
ſchon drohenden gänzlichen Verfall durch eine befjere Lehrmethode 
zu verhindern, hergeleitet, Das ganze Ediet, beſonders aber die 
Darlegung der Gründe und die Darftellung der durch die Zeit 
erforderlich gewordenen Beichaffenheit. einer neuen Lehrmethode, 
welche ftatt der ganz veralteten der Univerfität Lumen eingeführt 
werden follte, tft. mehr eine Belehrung als eine Verordnung zu 
nennen. Gerade deshalb fand es aber heftigen AWiderftand; denn, 
wer mit Gründen gegen. ein hartnäckiges Vorurtheil kämpft, der 
wälzt den Stein des. Siſiphus. 

Geftehen muß man übrigens, daß das nach dem Muſter 
der übrigen neuen Seminarien eingerichtete Generalſeminarium zu 
Löwen Vieles zu wünſchen übrig ließ; das war es aber nicht, 
was die an Mechanismus und abergläubiſchen Ceremonien kle— 
benden, oder nur an Gedächtnißwerk gewohnten belgiſchen Geiſt— 
lichen erſchreckte. Die Aufgabe, ſich fünf Jahre lang mit wiſſen— 
ſchaftlichen theologiſchen Studien zu beſchäftigen, ehe ſie Amt und 
Pfründen und Wohlleben erlangen könnten, ſchien den ſämmtlichen 
Geiſtlichen und ihren Obern eine ſchreiende Ungerechtigkeit, ſie 
ſchrien daher überall aus, der Kaiſer habe die Abſicht, die Religion 
zu zerſtören. Die neuen Lehrer wurden gleich dem Kaiſer Feinde 
der Religion geſcholten, weil die Erſtern vom blind papiſtiſchen 


— — 





7) Sowohl die theologiſchen Schüler vom weltlichen Clerus unferer bel; 
giſchen Prosingen, fo lautet diefer Schluß, als aud) diejenigen, die nachher 
in einen Möndsorben treten wollen, werden mit dem erſten Wintermonat 
1786 entweder in das Generalſeminarium, welches ‚wir in Löwen errichtet 
haben, oder in das Filtalfeminartum nach Luremburg fi begeben. Was bie 
Theologen der Ordensgetftlichkett betrifft, fo müffen alle, Luremburger ausges 
nommen, nad Löwen geſchickt merden, um dort in den öffentlichen Vorleſun⸗ 
gen auf der Untverfität ihren Curſus zu vollenden. Die Luremburger aber 
verfügen ſich nah Luremburg, um dort die Vorlefungen der daſelbſt ange- 
ftellten PBrofefforen anzuhören. Die Ordensobern haben demnach freie Willkür, 
ihre Religioſen, welche nad Löwen oder Luremburg geſchickt werden müſſen, 
in einem Kloſter oder Convent ihres Ordens, oder auch in jedem andern 
Haufe während ihres wiſſenſchaftlichen Aufenthalts zu verſorgen. 


Belgien bis 1788, 425 


Kirchenrecht und von jefuttifcher Religion und Moral abwichen, 
und der Andere die vielen Walfahrten und Prozeſſionen verbo— 
ten und auf zwei in jedem Jahre beſchränkt Hatte, Dies war 
nach jefuitifchem Grundſatz Hinreichender Grund, dem Nuntiug, 
das hieß bei ihnen Gott, mehr zu gehorchen als der weltlichen 
Obrigkeit. 

Die in dem Generalſeminariumsgebäude von Löwen wie in 
einer geiſtlichen Caſerne vereinigten Studenten wurden daher heim— 
lich aufgewiegelt. Dieſe rohen Muſenſöhne der guten alten Zeit, 
die man unter uns durch Landsmannſchaften conſervirt, beklagten 
ſich über heterodoxe Lehre, alſo über eine Sache, die ihre Seelen 
anging, zugleich aber über eine Angelegenheit, die ihr wahres 
Selbft, d. h. den Leib betraf, nämlich über fehlechtes Brod und 
Bier und erregten darüber am 6. Dezember 1786 einen förmli— 
chen Aufftand, Unter den Studenten waren die Söhne der erften 
Familien des Landes, der Mitglieder der Stände, der ſouveränen Ge— 
richte und der Regierungen der Provinzen, fie wurden insgeheim Yon 
der mit der Studienveränderung unzufriednen Landesregierung, vom 
Nuntius und dem Erzbiſchofe unterftüßt. Weil der Katfer wußte, 
welches Bewandtniß es mit dem Aufftande Habe, erbitterte er ihn ganz 
anders als ‚ein gewöhnlicher Studenten= oder Handwerfsburfchen- 
tumult würde gethan haben. Die Studenten fteinigten bei der 
Gelegenheit den: Profeſſor Stögler, fie widerſetzten fich dem Faifer- 
lichen Commiſſar Te Clere mit gewaffneter Hand, Statt: jugend= 
liche Unbefonnenheit diſeiplinariſch zu ftrafen, erſchrak die Re— 
gierung jo fehr, daß fie Soldaten marfchiven ließ, welche auf die 
thörichten jungen Leute, die man leicht hätte einschließen können, 
ernftlich Feuerten. Dadurch ward das ganze Land, befonders die 
Eltern und Verwandten der nach ihrer Meinung um des Glau— 
bens willen verwundeten jungen Leute vollends erbittert, und zwar 
um jo mehr, als die Landesregierung, nachdem zuerft ganz militärifch 
verfahren war, nachher auf eine jehr ſchwache Weife mit fich un— 
terhandeln ließ. 

Man hatte fünf und zwanzig Studirende als Empörer ver— 
haftet, man hatte das ganze Generalfeminartum unter eine Art 
milttärifcher Difeiplin geftellt, unmittelbar nachher trat man aber 
mit den Urhebern des ganzen Lärms in friedliche Unterhandlung, 


426 Belgien bis 1788. 

als wenn man es mit einer fremden Macht zu thin Hätte, Der 
Kaiſer glaubte ſich alfo von feiner eignen Landesregierung in 
Brüffel verrathen, und er war es in der That, wenn man an Stah— 
remberg und feinen treulofen Grumpipen denkt. Die Regierung 
son Brüffel nahm fogar eine Vorftellung der Studenten an, wo— 
vin die unverfchämteften Forderungen gethan wurden und gab 
denfelben zum Theil Gehör. Ste fteflte nämlich das ſtrenge 
Verfahren gänzlich ein und verfuchte, nachdem fie mit Bajonetten 
und Flintenfugeln angefangen hatte, durch Gründe und Ermah— 
nungen auf Leute zu wirken, die weder Verſtand noch guten 
Willen hatten und daher nothwendig in der auf Gewalt folgenden 
Nachficht und Milde nur Schwäche und Furcht fehen mußten. 
Aus den Forderungen, welche die Seminariften in diefer Vorſtel⸗ 
fung an die Negierung richten, geht klar hervor, daß fie durch 
ihre Entfernung und Zerſtreuung die Aufpebung dev ganzen neiten 
geiftlichen Einrichtung zu erzwingen gedachten, Es ftand in der 
That, wie die Studenten gedroht hatten, am Ende des Jahrs 
1786 das Seminarium faft ganz verlaffen da, 

Die Nachricht von den Unruhen und von dem ſchwachen 
Benehmen feiner ntederländifchen Behörden führte den Kater aufs 
neue auf den Sat, den er unglücklicherweife nur zu ſehr ſiets 
vor Augen hatte, daß er fi auf Niemand verlaffen könne als 
auf fich felbft. Er nahm daher auch dies Mal feine Maßregeln 
nach feinen perfönlichen Anfichten, ſuchte dem Uebel abzuhelfen, 
fannte aber die eigentliche Duelle nicht, fondern gebrauchte denfel- 
ben durchtriebenen Grumpipen, der Stahremberg irre Teitete, zu 
ſeinen Zwecken. Joſeph ließ zunächſt den Erzbiſchof von Mecheln 
zu ſich nach Wien kommen, und gab ſich die lächerliche Mühe, 
zu verſuchen, dieſen Mann, der nicht belehrt ſein wollte, zu be— 
lehrenz den Nuntius dagegen jagte er fort. Dieſer Nuntius, 
Zondadarie, war bis dahin Haupt und Quelle alles Widerſtandes 
gegen jede Verbeſſerung des Unterrichts geweſen und ſcheute ſich 
nicht, trotz des Verbotes, das der Kaiſer erlaſſen hatte, die Bulle, 
durch welche Pins VI Eybels von Joſeph gebilfigte Schrift: 
Was tft der Papſt? verdammt Hatte, in Belgien bekannt zu 
machen. Der Katfer war aber verrathen und verkauft, er mochte 
machen was er wollte; der heuchelnde Verbündete der im Finftern 


Belgien bis 1788, 49% 


fchleichenden Pfaffen, Crumpipen, war überall und verrieth ihn 
unter allen Formen, 

Der Kaifer nämlich, der felbft von fechs Uhr Morgens bis 
ſpät in die Nacht mit feinen Cabinetsſecretärs arbeitete, vief zwar 
den trägen Stahrenberg, der zu Gefchäften zu vornehm war, aus 
Brüffel ab; aber Stahrembergs Seele und Rathgeber, Crumpi— 
pen, wußte fich zu behaupten. Gin wackerer Mann, der Graf 
Belgiofo, ward Mintfter, der Baron yon Neuß Prafident, aber 
Grumpipen blieb in Thätigkeit und ward fogar, als ſpäter auch 
Belgiofo und der Baron von Neuß wieder entfernt wurden, Haupt- 
perfon im der ganzen Verwaltung. Es ward nämlich nach der 
beiden Männer Entfernung ein Toniglicher Nath zur Ausführung 
der Fatferlichen Abfichten errichtet und Grumpipen an deſſen Spitze 
geſtellt. Diefer brachte feinen pfäaffifchen Anhang und feine Ver— 
wandten in die vorzüglichiten Stellen und diente zu einer und 
derjelben Zeit dem Kaiſer und den Gegnern und Feinden der kai— 
jerlichen Maßregeln. Der Kaiſer überfchritt bei der Gelegenheit 
durch Strenge die Schranken politifcher Klugheit, wie fie die bel- 
giiche Regierung durch übertriebene Nachgtebigkett und Milde über- 
jehritten hatte, Er war überzeugt, daß die aus dem Mittelalter 
ſtammenden ariftofratifchen und hierarchiſchen Einrichtungen mit 
feiner wohlthätigen Abſicht und mit dem Bedürfniß, dem Zeit— 
geiſte in manchen Dingen nachzugeben, durchaus unvereinbar wä— 
ven, er glaubte ſich daher durch einen Staatsſtreich helfen zu 
können und zu müſſen. 

Im Januar 1787 ward der Befehl erlaffen, daß” Belgien 
in Kreife getheilt werden folle, wie die andern Provinzen des 
Reichs. Damit war eine völlig neue Organtfatton der Behörden, 
Gerichte und Verwaltungen verbunden, wobei weder Verfaffung, 
noch Nationalität, noch Herkommen berücfichtigt ward, Daß fat 
alle die Veränderungen, welche man in. dev Notes) aufgezählt 





8) Die drei fett Karls V. Seiten beftehenden Räthe, der Staats, 
Finanz⸗ und Geheimerath hörten auf und an ihrer Stelle ward ein Regterungs- 
rath umter der Leitung eines von Wien aus ernannten PBräfidenten beftellt, 
Die ganze alte Provinztalahtheilung ward in eine Kretsabthetlung umgewan⸗ 
delt, deren neum fein follten: Brüffel, Antwerpen, Gent, Dornick, Mons, 
Namur, Luremburg und Limburg: Jedem Kreiſe follte ein Intendant vor— 


428 Belgien bis 1788, 


findet, im Bedürfniß der Zeit gegründet waren, geht aus dem Zus 
ftande der ganz hinter der Zeit zurücfgebliebenen, blindlings und 
unbedingt am Alten Hebenden damaligen Bildung des belgiſchen 
Volks Hervorz allein das Volk wollte das nicht anerfennen, und 
Bildung läßt fich nicht erzwingen. - Der ganz blinde Haufen war 
längſt von Mönchen und Pfaffen in die heftigfte Bewegung ges 
bracht worden, jest proteftirte nicht blos der Adel, fondern auch 
die Advokaten, die Procuratoren, die Juſtizbeamten, die in ihrem 
Schlendrian geftört, oder der Vortheile, die fie aus den Mißbräu— 
chen zogen, beraubt wurden, das Volk fchalt den Katfer einen 
Tyrannen und die Verfechter der Mifbräuche gaben die Verthei— 
digung der Dinge, welche ihnen und ihren Familien Vortheil 
brachten, für einen Kampf um Recht und Freiheit aus. Die 
Zahl der. öfterreichifchen Truppen in den Niederlanden mar da— 
mals nicht bedeutend, Feiner dev Stellvertreter des Kaiſers war den 
Umjtänden gewachfen, denn Belgiofo, der e8 vielleicht geweſen wäre, 
ward von Srumpipen, dem er Alles überließ, ſchändlich hintergangen. 

Die enge Verbindung aller Privilegirten in Belgten zur 
Reaction d. h. zur Erhaltung der Hierarchie und Fendalität ge= 
wann dadurch Beitand, daß Sofeph gerade in dem; Augenblide, 
als feine perfünliche Gegenwart in feinen Staaten am: nöthigiten 
gewefen wäre, eine Reife zum Beſuch der ruſſiſchen Katjerin nach 
Sherjon unternahm, wo er bei der Zuſammenkunft mit Gatha= 
rina II. in die Plane derfelben gegen die Türken hineingezogen 
ward. Im Februar und März war in den Niederlanden Alles 
zu einem förmlichen Aufftande im Stillen 'veif ‚geworden, im 
April gaben die Stände von Brabant das. Signal zum Aus— 
bruche. Diefe Stände erklärten nämlich. am 27. April 1787, 
daß fie die weitere Erhebung der zur Unterhaltung der: Berwal- 





ftehen. Jeder Kreis war in mehre Diftrikte getheilt, denen Commiſſarien 
vorgefest wurden. Die beputirten Staaten-Eollegien wurden abgeſchafft; 
Brabant, Flandern, Hennegau, Luxemburg mit Limburg und Namur mit 
Dornick follten zufammen fünf Räthe ernennen, bie im Regterungsrath in 
Finanzſachen Sitz und Stimmen haben follten. Für Gerichtsſachen warb 
auch der Rath von Brabant adgefhafft, ein fouveräner Rath und unter die— 
fem zwei Appellattiongräthe zu Brüffel und zu Luremburg eingerichtet. Orö- 
Bere Städte behielten Tribunale erfter Inftanz. Die Tortur wurde abgefhafft, 


Belgien bis 1788. | 429 


fung und Regierung erforderlichen Gelder nicht geftatten würden, 
wenn man ihnen nicht alles zugeftände, was fie in einer von 
ihnen überreichten Vorftellung verlangten. Ste hatten zu diefem 
Zwecke alle diejenigen Punkte zufammengeftellt, welche nach ihrer 
Meinung dem vom Katfer beſchworenen Freiheitsbriefe dev Belgier 
(dev Joyeuse entrde) entgegen waren. In diefer Zeit war Crum— 
pipen Belgiofos Nathgeber, fein Bruder war Kanzler, er ward 
daher damals noch vom Volke mit Steinwirfen verfolgt, während 
fein nachheriger Genoffe, der Advocat van der Noot, ſchon an der 
Spite der Unzufriedenen ftand. Diefer elende und ausfchweifende 
Rabuliſt benutzte den Prozeß zweier Menfchen, die den Staat 
fchändlich betrogen hatten, um ein lautes Geſchrei über Verlegung 
der Rechte jedes Niederländers und des Staatsbürgers überhaupt 
zu erheben, Wahr ift e8, daß der Katfer in dem Prozeß zweier 
Gauner von Stande, feine Gerechtigfeitsliebe und feinen Eifer, 
vornehme Verbrecher zur Strafe zu bringen, beweifen wollte und 
fich dabei derfelben Verlegung aller fchügenden Rechtsformen ſchul— 
dig machte, die man ihm in der Sache von Potzdaczky-Lichtenſtein 
und Sczekely vorwarf. 

Der Oberſt Legisfeld Hatte fich nämlich bei den Lieferungen 
für die Truppen bedeutender DBetrügereten fchuldig gemacht; ein 
reicher Seifenfieder, Namens de Hont, hatte des Oberften Beftech- 
lichkeit benutzt, um fich ebenfalld auf Unkoften des Schatzes zu 
bereichern. Diefe Sache ift oder war wenigftens in Oefterreich 
jo gewöhnlich, daß die großartige Spitzbüberei dort fo wenig auf- 
fallend war ald in Rußland, denn wir felbft haben in der erſten 
Zeit de3 Revolutionskriegs die wichtigften Unternehmungen vor 
unfern Augen durch die von den commandirenden Generalen mit 
reichen Lieferanten geſchloſſene betrügerifchen Verbindungen ſcheitern 
jehen. Die Niederländer nahmen daher auch diefe Sache, die der 
Kaiſer durchaus ſtrenge unterfucht wiffen wollte, ſehr leicht, und 
e8 fchten, ald wenn es unmöglich fein würde, von niederländtfchen 
Gerichten und Behörden ftrenge Unterfuchung und Beftrafung des 
Vergehens zu erhalten; de Hont follte daher feinem natürlichen 
Richter entzogen und nach Wien abgeführt werden, 

Dieſe Abführung des Kaufmanns de Hont ward mit der 
Staatspolizei oder mit dem, was man jet unter uns hohe Po- 


430 Belgien bis 1788; 


fizei nennt, in Verbindung gebracht, die fie eigentlich nichts anging, 
da von einem Griminalverbrechen die Rede: war, Man machte fie 
namlich zum Vorwande des Ausbruchs des lange vorbereiteten Volks— 
aufitandes, Die Städte ftellten eine bewaffnete Bürgermacht auf 
/ und die bürgerlichen Zünfte von Brüſſel, Antwerpen und: Löwen 
überreichten den Ständen Vorftellungen, welche in den. heftigften 
Ausdrüsfen abgefaßt waren. Die Stände wollten etwas behut- 
famer verfahren, fie beriefen fich. daher in ihren Beſchwerden nur 
auf diefe Vorfiellungen. Die Landesregierung, welche eigentlich 
ganz andere Anfichten hatte als die, welche Joſeph geltend machen 
wollte, benußte den Vorwand der Unuhen und Befchwerden, um 
die Ausführung der Fatferlichen Verordnungen und beſonders die 
Einführung der Kreiseintheilung und der damit in Verbindung 
jtehenden. nenen Berwaltungs= und Gerichtsformen: wenigfteng auf- 
zufchteben, weil die Aufhebung. nur vom Kaiſer fommen Ffonnte, 
Die Anftifter dev Unruhen beruhigten ſich mit dem vorläufigen 
Verordnungen: nicht, fie juchten die Schwäche umd die Furcht, 
welche die Regierung gerade zur unvechten Zeit: gezeigt hatte, noch 
weiter zu benutzen. Sie forderten jetzt ausdrücklich eine unbe— 
dingte Beibehaltung, allen der Mißbräuche, deren Aliſchaffung der 
Kaiſer verordnet hatte. Der Rath; vom Brabant: hatte daher, 
ohne Rücklicht, auf den Kaiſer oder die Landesregierung, die Drei— 
ſtigkeit, Alles für nichtig zu erklären, was etwa die neuen Ge— 
richte nach Urtheil und Recht in Prozeßſachen oder auch ſonſt 
erkennen würden. Auch Flandern proteſtirte gegen jede Verbeſſe— 
zung des. Beſtehenden, blos weil es eine Neuerung jet: und dem 
Herkommen Abbruch thue. In allen Städten, beſonders in Brüſſel 
und Namur übte der Pöbel, von den Geiſtlichen und Reichen, 
von deren Arbeit und Almoſen er abhing, ermuntert, grobe Ex— 
ceſſe gegen Aufgeklärte und gegen ſolche Perſonen, welche. dem) 
Abſichten des Kaiſers Gerechtigkeit widerfahren ließen, wenn ſie 
auch die Art feines, Verfahrens mißbilligten. Städte und Stände, 
bedrohten. die fchwache Landesregierung und betanden darauf, 
daß alle neuen, Verordnungen: fogleich. abgefchafft, alle dem Volke 
verhaßten Perſonen fogleich aus dem Nathe der: Statthalterjchaft‘ 
entfernt. werden ſollten. Man fieht, wie ungerecht die Vertheidiger 
der Arxiſtokraten und Hierarchen, welche Dies: Alles thaten und - 


Belgien: bis 1788 431 


anſtifteten, Glos um das Alte, zu erhalten, gegen. die Urheber 
der franzöſiſchen Revolution find. ' Diefe werden von ihnen ges 
ſchmäht, verflucht und verläumdet, weil fie ſich Ahnlicher Mittel 
bedienten, um Neues einzuführen, das. fie für eben ſo vortheilhaft 
für fich, hielten, als: die. Hierarchen und dev Adel das Alte, 

Diefes Alles geſchah, während der. Katfer in fo weiter Ent- 
fernung war, daß. eine. bedeutende Zeit verging, ehe die Botſchaften 
ihm. erreichten und feine, Antworten in, Wien, geſchweige in Brüſ— 
jel eintrafen, weil Fürſt Kaunis, der in Wien den Gefchäften 
vorſtand, dem Kaiſer nicht vorgreifen wollte. Die Brüffeler Re— 
gierung war dem Alten geneigter als dem kaiſerlichen Neuen, 
ſie benutzte daher auch ihrer Seits des Kaiſers weite Entfernung 
als Vorwand. Sie ſetzte dem Trotz und dem Ungeſtüm der Bel— 
gier nur Freundlichkeit und Milde entgegen, ſie gewährte ſo weit 
ſie konnte, Alles, was von ihr gefordert ward. Fürſt Kaunitz 
erkannte einſtweilen, bis er den Willen des Kaiſers näher kenne, 
die. Verfügung der niederländiſchen Landesregierung, an. Der 
Beſcheid, welcher am 25. Mat 1787. den: Ständen von der 
Schwefter des Kaiſers als: Stellvertreterin: deffelben auf ihre Be— 
ſchwerden und Forderungen gegeben wurde, lautet: „daß fte die 
Beſchwerden und Vorftellungen der Stände an den Kaifer. jelbft 
geſchickt habe, daß bis. zu deſſen Rückkehr von, feiner. weiten Reife 
nichts: gegen. die Joyeuse entrée ſolle unternommen werden; und 
daß ſich die Erzherzogin von dev Billigfeit ihres Bruders feine 
vollkommene Ginwilligung zur Gewährung der Bitten der Stände 
verſpräche.“ Auch damit war man noch nicht. zufriedenz. man. 
wollte ſich Feinen Aufichub gefallen laſſen; alle Neuerungen: follten 
ſogleich abgeftellt werdem Die Landesregierung: des) größten: Mo— 
narchen in Europa war ſchwach genug, ſich von den Adligen 
und Pfaffen, welche einen förmlichen Volksaufſtand organiſirt 
hatten, eine Bewilligung abtrotzen zu laſſen, wozu ſie nicht einmal 
berechtigt war. 

Der Kaiſer konnte nach feinen Zurückkunft aus Cherſon un— 
möglich zugeben, daß dasjenige, was ſeine Landesregierung, ohne 
ihn zu befragen, blos aus Schwäche zugegeben hatte, erfüllt und 
ihm dadurch, auch die Möglichkeit abgeſchnitten werde, auf; einent, 
andern Wege den Zuſtand m dem ex. unzufrieden war, 


432 Belgien bis 1788. 


zu verbeffern, Gr gab indeffen eine ganz freundliche, Antwort, 
entbot aber die Statthalterfchaft und zugleich Deputirte aller Pro— 
sinzen nach Wien, weil er zwar nicht unbedingt auf feinem 
Sinne beftehen, aber ebenfowenig, wie vorher feine Statthalter- 
haft gethan hatte, alles Alte aufrecht erhalten wollte. Er wollte 
in Wien durch die Glieder der Statthalterfchaft mit den Depu- 
tirten über dasjenige unterhandeln, was er durchaus eingeführt 
haben wollte, er wollte durch Gründe fiegen. Der Katfer gibt 
in dem Bejcheid, den er auf die ihm vorgelegten Befchwerden 
ertheilt, eine vollftändige und gründliche Auskunft über feine Be- 
weggründe. Wir fügen die Antwort des Kaifers in der Note 
bei, weil man aus berfelben das Ginzelne, was wir in der all- 
gemeinen Darftellung der Sache übergehen müſſen, vollſtändig 
fennen lernen fan, ?) 





9) Joſeph fchreibt den Ständen: Mein Hof- und Staatskanzler hat mir 
eure Vorftellungen vorgelegt, und ich will mir noch gefallen Yaffen, euch über 
den Inhalt derfelben durch Gegenwärtiges zu fagen, daß es nie meine Abficht 
war, die Landesverfaffung meiner niederländifhen Provinzen umzuwerfen und 
dag alle Anordnungen, die id meinem Generalgouvernement aufgetragen habe, 
einzig und ohne den mindeften Anfchein des perſönlichen Intereffe zum grö- 
Bern Vortheil meiner getreten Unterthanen in den Niederlanden abztelten, 
ohne daß ich dadurch die verſchiedenen Gorporationen der Nation ihrer alten 
Rechte und Freiheiten berauben wollte. Alle meine Schritte müffen eud) son 
der Wahrheit diefes Sabes überzeugen, wenn ihr noch fähig feld, ihnen bie 
ſchuldige Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. Blos das In einer Menge Bitt: 
fhriften enthaltene vielfache Anfuchen um Herftellung einer fürzern und we- 
niger koſtſpieligen Rechtsbehandlung Hat mich bewogen, mid mit einigen 
Berbeflerungen bet der Gerichtsverwaltung zu befchäftigen. Die Kreishaupt: 
mannfchaften Hatten Keinen andern Zwed, als über Ausübung der Gefege zu 
wachen, um bie durch ihren Stand zur Beobachtung derfelben verpflichteten 
Perfonen zu ihrer Schuldigfeit zu Halten. Was verſchiedene alte Freiheiten 
betrifft, fo Habe ih nur die ſchädlichen Mißbräuche, welche fih im Laufe 
der Zeit eingefchlichen haben, felbft mit Einwilligung derjenigen, die dabei 
Antheil nehmen, abändern wollen. — — Indeß will ich als Vater und als 
Menfch, der viel vergeben Tann, dasjenige, was bisher vorgefallen tft, und 
ihr euch zu thun unterfangen habt, nur allein Mißverftändniffen und faljchen 
Auslegungen meiner Abfichten zufchreiben, die Durch folche Pexſonen erzeugt 
und ausgeftreut worden find, welche mehr ihrem Eigennutz als dem allgemei- 
nen Wohl anhängen und nichts zu verlieren Haben, Wie dem auch immer 
fetn mag, fo will ich es doch gefchehen laſſen, daß alle meine Anordnungen, 


Belgien bis 1788. 433 


Auch diefer Maßregeln des Kaiſers ſchienen den Belgiern 
verdächtig, fie ſetzten wenigſtens ihren Widerftand fort. Die 
Stände wollten anfangs Feine Deputirten jenden, man ſchien ſo— 
gar die Statthalterin mit Gewalt an der Reife nach Wien hin— 
dern zu wollen, denn die Studenten und das Volk wurden be= 
waffnet und bildeten eine lächerliche Miliz. Es wurden Freicorps 
geworben und man merkte, daß es den Pfaffen und dem Hohen 
Adel, welche bei der Sache thätig waren, am Gelde nicht fehlte, 
Die Stände von Brabant wollten fogar fi am Franfreich 
wenden, welches vordem ihre Berfaffung verbürgt Hatte, Das 
konnte freilich Sofeph nicht ruhig ertragen, wenn er fein ganzes 
monarchifches Anfehen nicht an Oligarchen wollte fallen ſehen. 

Er ließ die Unterhandlungen fortfegen, er fuhr fort, auf 
freundlichem Wege der Verblendung durch Belehrung zu begeg— 
nen; allein ex beorderte zugleich vierzehn Negimenter und einige 
Bataillons Infanterie, vier Regimenter Cavallerie und einige Ar— 
tiflerie in die Niederlande, Die Belgier hatten fich zwar endlich 
zur Abfendung einer Deputation der Stände nad) Wien verſtan— 
den, hatten aber dabet ausdrücklich und trotzig erklärt: „Daß die 
Deputirten feinen ander Auftrag oder Vollmacht Hätten, als aus 
Wien die Beftätigung aller son der Statthalterin ertheilten Be— 
willigungen vom Kaifer zu Holen.” Der Aufftand dauerte indeſ— 
jen fort; die Deputirten evrfchienen nicht an dem som Katfer als. 
Außerften Termin beftimmten vierzehnten Julius, die Statthalterin 





von welden die Rede ift, gegenwärtig fufpendirt werden und ſobald ihre 
königl. Hoheilen meine Statthalter und ©eneralgouverneurs nad meinen 
ihnen letzthin eröffneten Geſinnungen mit den Deputirten der Provinzen ſich 
zu Wien einfinden, und letztere mir mündlich ihre Befchwerden vorgelegt und 
meine Anfichten vernommen haben werden, bie fie allezeit nach den Grund— 
ſätzen der vollfommenen Bilfigkeit und blos auf das Wohl meiner Unterthas 
nen abzielend finden follen; dann wollen wir uns über die zum allgemeinen 
Beften zu treffenden Anordnungen nad Maßgabe Ser Grundgeſetze des Lan— 
des einverfiehen. Wenn aber gegen alle Erwartung diefer Teste Schritt 
meiner Güte gegen euch fo fehr verkannt würde, daß ihr euch weigern folltet, 
eure Klagen, Beforgnifje und Zweifel hierher vor mich zu bringen und mid 
mit Vertrauen anzuhören, fondern eure entehrenden Ausſchweifungen und 
unverzeihlichen Schritte fortfeben wolltet, dann werdet ihr euch felbft alle bie 
unglüdlichen Folgen, die daraus enifichen werben, zuzuſchreiben haben. 
Schloſſer, Geh, dr 18, m. 19, Jahrh. IV. Th. 2, Aufl, 33 


434 Belgien bis 1788, 


ward fortdanernd an ihrer Abreife mit Gewalt gehindert, fie konnte 
ihre Reife erſt am 20, Juli antreten. Als die Statthalterin md 
ihr Gemahl abgereist waren, folgte ihnen Belgioſo und endlich 
reisten dann auch die Deputirten ab. 

In diefem Augenblie gab offenbar der Kaiſer eine Blöße 
und ermunterte durch den Weg, den er einſchlug, die ſpätere bel— 
giſche Revolution, deren wir hier nicht mehr erwähnen, weil ſie 
dev Zeit der franzöſiſchen conſtituirenden Ständeverſammlung an⸗ 
gehört. Vielleicht war gerade in dieſem entſcheidenden Augenblicke 
dem Kaiſer wegen der Unruhen in Holland bange, vielleicht Hinz 
derte ihn der Türkenkrieg, den er beginnen: wollte, jo zu handeln, 
tie man erwartete, daß er handeln würde; er ging nämlich plötz- 
lich zurück. Man hatte erwartet, der Kaiſer würde durch feine 
abgeſendete Armee das Land beſetzen, die Aufrührer niederwerfen, 
die Urheber beſtrafen laſſen und hernach feine Verordnungen 
freundlich zurücknehmen, ohne darauf zu beftehen, den Blinden 
mit Gewalt die Augen zu öffnen. Die Truppen machten aber 
Halt, Nur ein Regiment ward gefendet, das Volk in Belgien 
Hlieb unter den Waffen, die Unterhandlungen in Wien vermehrten 
den Widerwillen des Katfers gegen das Pfaffenweſen und den 
Argwohn der Belgier. Die halben Maßregeln, über welche man 
des Friedens wegen übereinfam,. mußten nothiwendig bald einem 
neuen Bruch herbeiführen. 

Die Verhandlungen mit den nach Wien gejendeten Bevoll— 
mächtigten der niederländifchen Vorurteile machten dem Kaiſer 
vielen Verdruß. Joſeph bewies fich dabei ſehr freundlich und 
mild und gleichwohl erfuhr er den unverſtändigſten Widerſpruch 
und mußte ſich, ſtatt wie er gewollt hatte, verbeſſernde Geſetze 
zu geben, die alten Mißbräuche als Geſetz vorſchreiben laſſen. 
Daß das Volk, dem der Kaifer helfen wollte, ein bloßes Werk— 
zeug der Menſchenklaſſen jet, deren Uſurpationen Joſeph ein Ende 
machen wollte, wußte er vecht gut, und doch fand er für den 
Augenblick rathfam, um das Volk zu beruhigen, den auf Koften 
des Volks privilegirten Obfeuranten nachzugeben. Das mußten 
die in Kabalen und Intriguen erwachjenen Pfaffen und Oligar— 
shen fehr gut, die VBerfühnung in Wien war daher nur ein Waf- 
fenſtillſtand. Die Belgier blieben in der Stiffe gegen den Kater 


Belgien bis 1788, 433 


verbunden, und dieſer wartete auf eine günftige Wendung dev 
Umftände, um endlich feine Abfichten durchzuſetzen. 

Zufolge der Mebereinkunft in Wien. follte der Zuftand vom 
April 1788 normal fein, das heißt Alles follte in Belgien jo 
bleiben, wie es im Anfange diefes Monats geweſen war und die 
bis dahin aufgehobenen Klöfter follten nicht wieder hergeftellt wer— 
den, Die Erzherzogin Chriftine und ihr Gemahl Fehrten hernach 
nach Brüffel zurück, Belgioſo begleitete fie aber nicht, ev blieb im 
Wien; Graf Trautmannsdorf ſollte künftig in ihrem Namen als 
kaiſerlicher Minifter die Gefchäfte leiten. Die Belgier Hatten 
einmal geſehen, daß fich der Katfer vor dem Aeußerſten ſcheue, 
alle feine Verordnungen fanden daher Widerftand, und in den 
Städten brachen um fo mehr jeden Augenblick neue Unruhen aus, 
als auch der Militärkommandant Murray, während er in Ab— 
wejenheit der Statthalterin und ihres Gemahls die obere Leitung 
in des Kaiſers Namen führte, zu verichiedenen Zeiten ganz ver— 
ichtedene Wege einfchlug und dadurch Schwäche und Wankelmuth 
zu beweiſen ſchien. 

Murray verbot Cocarden und Uniformen der Inſurgenten, 
er ließ den Aufſtand in Brüſſel und Mecheln, wo man ſich der 
Ausführung dieſer Verordnung mit Gewalt widerſetzte, militäriſch 
dämpfen, ſo daß am 20. Oktober in beiden Städten Blut ver— 
goſſen ward. Nichtsdeſtoweniger erklärte er gleich am folgenden 
Tage in einer öffentlichen Bekanntmachung, deren weſentlichen 
Inhalt wir in der Note angeben wollen, 10) es ſollte das Alte 





10) Murray erklärt in der Proclamation im Namen des Kaiſers wie— 
derholt: Daß die Landesverfaſſungen, Grundgeſetze, Privilegien und Freihets 
ten, kurz die Joyeuse entrée, den Inaugurationsacten Sr. Majeſtät gemäß, 
ſowohl in Anſehung der Geiſtlichkeit als des Civilſtandes, unverletzt erhalten 
werden und bleiben ſollen. Daß die neuen Juſtiztribunale, die Intendanten 
und Commiſſäre gänzlich aufgehoben fein und bleiben ſollen. Daß die Ord⸗ 
nung der Juſtiz, die Stände und ihre Deputation in Zukunft. auf dem alten 
Fuße beftehen follen. Daß folglich die Stellen der Oberämter und des Civil⸗ 
gouvernements fortdauern , die Erhaltung der Stande in ihrem unverlesten 
Buftande, ebenfalls die Erhaltung der. Abteten, deren Aebte Mitgliever diefer 
befagten Stände find, in fich begreifen und die Abteten mit Aebten ber Joyeuse 
entree und den Conſtitutionen gemäß verſehen werben follten.. Daß mar 
fi wegen ber Gegenſtände, bie der Joyeuse entrée zuwider wären, mit beit 
Ständen, deren Verlangen gemäß, verſtehen werde. 28* 


436 Belgten bis 1788, 


wieder gelten, ohne daß man mußte, wie dieſes Alte mit dem bis 
zum April eingeführten Neuen könne in Hebereinftimmung gebracht 
werden, D’Alton ward hernach, als die Otatthalterin zurück— 
fehrte, Milttäreommandant neben Trautmannsdorf, der die Civil— 
-vegierung leitete, und Joſeph fchten dem Gedanken einer Reli— 
gionsverbeflerung entjagen zu wollen. Er gab im September 1787 
die Idee eines Generalfeminartums entweder ganz auf oder bes 
Ichränfte uud beftimmte fie wenigftens nad) ntederländifchen Be— 
griffen fo, daß niemand erwartete, daß er darauf zurückkommen 
würde, Dies gejchah gleichwohl hernac und veranlaßte die Er- 
richtung einer befgifchen, Eurz dauernden Republik, Da die neuen 
Unruhen aber erjt 1789 begannen, fo gehört ihre Gejchichte in 
den folgenden Band, 


2 


Belgiſche, holländiſche, Franzöftfhe innere Streitigkeiten. 


b. Holländiſche Unruhen und Friedrich Seh II. 
von Breußen. 


Die Anfänge und die Beichaffenheit der Streitigkeiten in 
den ſieben vereinigten Provinzen der Niederlande ſind im Vor— 
hergehenden oft erwähnt worden, es iſt daher unnöthig, hier 
darauf zurückzukommen. Wir wollen nur kurz und ſummariſch das⸗ 
jenige berühren, was fich unmittelbar auf den offenen Zwiſt der 
Stände, oder, wie man das nennt, der Staaten, mit der erb— 
ftatthalterifchen Regierung bezieht. Die Gefchichte diefes Zwiſts, 
wobei der indolente aber eigenfinnige und unverftändige, ſelbſt zum 
bloßen Repräafentiven zu ungelenfige und unbeholfene, mehr eng- 
liſche als holländiſche Wilhelm V. nur eine ‚Nebenrolle fpielt, 
theilt ſich in zwei Zeitabſchnitte. Während des erjten, von 
1766—1784, war Schlözers Ludwig Ernſt von Braunſchweig, 
der fich um 1766 durch die Gonfultationsafte dem Prinzen und 
dem Staat aufgedrungen hatte, Urfache und Gegenftand der Un- 
zufriedenheit und der Beſchwerden. Seit 1784 war des Prinzen 
männliche und militärtfch gefinnte Gemahlin, die Schwefter des 
nnachherigen Königs Friedrich Wilhelm son Preußen, dem fie in 
Geftalt und Geberde fehr ähnlich war, Stein des Anſtoßes. 


Holland bis 1787, 437 


Die Anführung dev Befchwerden über den Herzog und über 
die Art, wie er den Prinzen Grbftatthalter erziehen ließ und lei— 
tete, würde und in die ſehr verwickelte Verfaſſung der fieben 
Provinzen tiefer einzugehen nöthigen, als der Zweck dieſes Werks 
verträgt; wir erinnern daher nur daran, daß die Gegner des Herz 
098 und der Prinzeffin beide fchon während des nordamerlfant- 
jchen Kriegs: bejchuldigt hatten, daß fie und der ganze Anhang 
des Hauſes Oranien die Engländer auf jede Weiſe begünftigt 
und gewiffermaßen heimlich mit ihnen gegen die Republikaner 
oder Batrioten conſpirirt hätten. Dieſe letztere, ſeit Wilhelms IL. 
Zeiten auch die Löwenfteinfche genannte Partei war in der Pro— 
sinz Holland, deren Gewicht in den Generalftanten überwiegend 
war, am ſtärkſten. Amfterdam, in und für die Niederlande ebenso 
bedeutend als London für England, bildete eine unabhängige 
Republik für fich und überwog in den: Generalitaaten alle Pro— 
sinzen zufammengenommen. Faſt alle Städte Hollands ftimmten 
wie Amfterdam, wenn man Rotterdam etwa ausnimmt, die Städte 
und ihre Abftimmungen überwogen aber die Nitterfchaft, unter 
welcher der Prinz allerdings, wie auch in andern Provinzen, einen 
nicht unbedeutenden Anhang hatte, 

Der Herzog von Braunfchweig und die erbftatthafterifihe 
Regierung wurden während des Kriegs auf mancherlei Weiſe 
gekränktz man Teitete unter andern fürmliche Unterfuchungen 
wegen der Befchaffenheit der Holländifchen Kriegsichiffe ein, und 
nach der Schlacht bei der Doggersbanf wegen der som General— 
admiral den Admirälen Bylandt und Kinsbergen ertheilten In— 
firuftionen. Der Lärm ward hernach viel ärger, als die Vereini— 
gung der, niederländifchen Flotte mit der Tpantfchen und franzöſi— 
fchen im Breft durch die Schuld des Generalcapitäng und Gene- 
raladmirals nicht mit dem Gifer betrieben ward, den die franzö— 
fiiche Bartet in Holland gewünfcht hatte. Als Joſeph IL. anfing, 
die Republik zu bedrücken und zu bedrangen, ward der. Herzog, 
der fortwährend öſterreichiſcher Feldmarfchall geblieben war und 
doch die niederländtfchen Angelegenheiten leiten follte, endlich jo 
verdächtig, daß felbft der ihm fonft ganz ergebene, unter ihm die— 
nende Generalintendant Dümoulin gegen ihn Partei nahm. Der 
Generalintendant zeigte ‚nämlich den Staaten offiztell an, daß bie 


438 Holland bis 1787, 


Regierung des Prinzen, von welcher Land= und Seemacht allein 
abhing, alle Feftungen jo vernachläfligt habe, daß fie jetzt im einem 
durchaus unhaltbaren Stande feten. Die hollandifche Preffe, welche 
fich niemals der feinften und behutfamften Ausdrüde zu bedienen 
pflegt, mißhandelte darauf den Herzog aufs furchtbarfte und geöbfte, 
Der Herzog beichwerte und vechtfertigte fich zwar, er ver— 
Yangte eine firenge Unterfuchung feines Betragens; auch mag 
Vieles von dem, was er vorbrachte und was Schlözer hernach in 
dem diefen Buche über diefen feinen sorgeblichen Phocion in 
Deutichland drucken ließ, wahr fein, es wollte aber niemand 
daran glauben, fondern man Fagte ihr, als die Gefchichte der 
Acte der Berathung Fund ward, fürmlich des Verraths am. Die 
gerichtliche Unterfuchung wegen der ohne Berathung mit den 
Staaten der Provinzen, ohne daß jemand außer dem Nathspen- 
ſionarius darum wußte, unter Einfluß des englifchen Miniſters 
zwiſchen dem Prinzen und dem Herzoge geſchloſſenen unauflös— 
lichen Verbindung hätte für den Herzog fehr empfindlich fein 
müſſen; er wich Daher dem ihm wegen der Conſultationsacte von 1766 
angedrohten Prozeß Tieber aus, Ludwig Ernſt wollte das Aeußerſte 
nicht abwarten, er begab fich, als die Provinz Holland feine Entlaf 
fung vom Prinzen und von den Generalftaaten gefordert hatte, erft in 
fein Gouvernement Herzogenbufch und reichte hernach, als fich auch 
Seeland, Friesland und Utrecht an Holland anfchloffen, feine Abdan— 
fung ein (Dftober 1784). Er begab fich vorerſt nach Aachen. 
Diefe Streitigfeiten gingen eigentlich das Volk gar nicht an, 
es war ein Streit, wie der der Whigs und Toried in England, 
In Holland fuchte die republikaniſche Partei fich nicht einmal 
gleich den Whigs in England das Anfehen zu geben, ald wenn 
fie mit der Zeit fortfehreiten wolle, fondern fie wollte durchaus 
dad Alte nicht blos erhalten, fondern auch fogar wieder herfiel= 
len; der Anhang des Haufes Oranten war dagegen zeitgemäßen 
Verbefferungen nicht durchaus und unbedingt abgeneigt, Wie jehr 
eine Zufammendrängung und Einheit der Regierung in diefen 
Zeiten des Berfalls der ehemals jo blühenden Handlung und 
Seemacht dev Republik Wohlthat für den Staat geweſen wäre, 
geht aus den Vorwürfen hervor, welche die ftatthalterifche Wartet 
der vepublifanifchen machte, ohne daß man der einen oder ber 


Holland bis 1787. 439 


andern Unrecht geben Fan. Daß aber die feit 1785 zu einen 
offenen Streite gediehenen Zwiftigfeiten des republikaniſchen Theils 
der erecutiven Macht mit dem: monarchifchen Theil derfelben in 
der alten, nicht mehr paſſenden Berfaffung ihren Grund hatten, 
wird einleuchten, wenn wir einige Winfe über diefe Verfaſſung 
geben. Jede Provinz bildete eine eigne fouveräne Macht, deven 
Haupt und Regierung die Verfammlung der. fogenannten Staaten 
war, welche aus Deputirten des Adels und der Städte, nad 
einem in den verſchiedenen Provinzen ganz verſchieden beftimmten 
Berhältniffe beitand, Da die Provinz Holland allein zu jedem 
hundert Gulden Abgaben ;o welches die fieben Provinzen zahlten, 
acht und fünfzig, alle übrigen zufammen nur zwei und vierzig 
beitrugen, da ſieben nordholländifche und drei ſüdholländiſche 
Städte drei oder vier Deputirte zu den Generalftanten ſchickten 
und die ſämmtliche Nitterfchaft nur einen, fo Hatten die hollän— 
difchen Städte in den Generalftaaten überwiegenden Einfluß, wie die 
Stadt Amſterdam in den Staaten der Provinz Holland, 

Die Magiſtrate der Städte waren auf dieſe Weife gewiſſer— 
maßen die eigentlichen Souveräns ihrer Provinzen, fie hatten ſo— 
gar einen Theil der Verwaltung des Kriegsiwefens, weil die Com— 
mandanten der Feftungen diefer Provinzen unter den Bürgermei— 
ftern der Städte ftanden, welche zugleich Gouverneurs waren, 
Nur in den Generalitätslanden allein wurden eigne Gouverneurs 
vom Grbftatthalter  beitellt; e3 hing daher die ganze Regierung 
der Provinzen von der Wahl der Glieder der Magiftrate ab: 
Diefe Wahl war in den mehrften Städten, wie in unfern ehema- 
ligen Reichsftädten, ein bloßer Schein, weil fich der Rath ſelbſt 
ergänzte, doch Hatte der Statthalter der Provinz, wenn diefe einen 
befondern Statthalter Hatte, oder dev Erbftatthalter, wenn er die 
Statthalterfchaften alle in feiner Berfon vereinigte, gewiſſe Nechte 
bei diefer Wahl, die in verfchiedenen Städten verfchieden waren. 
In einigen Städten durfte er felbit den Magiftrat ernennen, in 
andern drei oder wier oder mehr Berfonen bet der Wahl der ein- 
zelnen Magiftratsglieder vorſchlagen. Dies Recht fuchten ihm 
. die Staaten son Holland, als fie mit ihm zerfielen, zu ſchmälern 
und konnten dies, da fie Regierung und Gefebgebung der Provinz 
in fich vereinigten, Sie entzogen in der That endlich dem Prinzen 


AAO Holland bis 1787. 


feinen Einfluß auf die Wahlen gänzlich und einzelne andere Pro— 
vinzen folgten dem Beifpiele. In vielen andern Provinzen waren 
die Staaten über die Frage, ob man dem Prinzen feine Rechte 
nehmen oder erhalten follte, unter fich felbft uneinig, fo daß in 
manchen Provinzen die, Mehrheit dev Stimmenden mit der Min: 
derheit jo ſehr zerfiel, daß fie fich einander wie Feinde gegenüber 
ftanden. Sie trennten fich jogar hie und da formlich, begaben 
fich an verfchiedene Orte, von wo aus fich dann die Nepublifaner 
an die Provinz Holland, die Anhänger des Hauſes Oranien an 
den Prinzen wandten, um bewaffnete Unterftügung zu erhalten. 

Der Mittelpunkt de3 Streits "war aus vielen Urfachen die 
Provinz Holland, nach welcher mit vollem Nechte die Republik 
der fieben vereinigten Provinzen benannt ward; bie übrigen war— 
fen ein jehr geringes Gewicht in die Waagfchale, Friesland und 
Gröningen lagen an den Außerften Enden des Landes und die 
dort herrfchende Stimmung wechfelte nad) den Umftänden. Inu - 
Seeland war der Prinz als Markgraf von Vliſſingen und 
ter Veere Befiser vieler Städte und Dörfer ; man hatte zwar dort 
dem Prinzen Wilhelm IV. die hohe Würde des erften Edeln der 
Provinz während feiner Jugend entzogen gehabt, er hatte fie aber 
wieder erhalten, als er Erbftatthalter geworden war, "Während 
der Minderjährigkeit Wilhelms V. blieb freilich dieſe Würde, 
welche Jan Bofjel van den Hoge für feinen Vater verwaltet hatte, 
einſtweilen erledigt, doch ward fie ihm ſpäter wieder zu Theil, 
nur mit der Beichränfung, daß fie Fünftig nicht mehr an eine 
befondere Landbefigung, Qualität, Familie geknüpft werden follte, 
In Utrecht war zwar ein großer Theil der; Ritterfchaft für den 
Eröftatthalter, die Mehrzahl der Deputirten der allgemeinen Ver— 
fammlung der Staaten war aber vepublifanifch, oder wie man 
das nannte, patriotiſch. Im Overyſſel war  derfelbe Fall. In 
Geldern, wo der Prinz bedeutende Beſitzungen Hatte, war ihm 
der Adel auf Tod und Leben ergeben und blos die "Städtchen 
Elburg und Hattem widerftrebten hartnädig , fich den Beſchlüſſen 
der Mehrheit der Staaten ihrer Provinz zu fügen, 

Jede Provinz und fogar jede Stadt Fonnte, wenn fie Gelder 
dazu hergeben wollte, eigne Truppen halten; dies thaten in dieſer 
Zeit die holländiſchen Städte, weil die Soldaten, welche die 


Holland bis 1787. 441 


Provinz Holland beim gemeinfchaftlichen Heer unterhielt, jo Tange 
man noch nicht mit dem Generalfapitan öffentlich gebrochen hatte, 
diefem allein unterworfen waren Selbſt die fogenannten hoch— 
mögenden Herrn, oder bie Generalftaaten hatten mit dem 
Militärcommando nichts zu Schaffen, wollten daher die Staaten 
son Holland Truppen haben, ſo mußten fie dieſe jelbft bilden, 
Das war freilich fehwer, weil Officiere und Soldaten fich nicht 
gern von Juriften und Krämern ceommandiren liegen. Gleichwohl 
ward um 1783, als die mit dem Prinzen unzufriedenen Staaten, 
Städte und Obrigfeiten anfingen, vorauszuſehen, daß es zu Thät— 
fichfeiten kommen könne, yon den Städten eine, freilich herzlich 
fchlechte eigne Miliz errichtet. Diefe beſtand theils aus der auf 
eine Eomifche Weiſe in Soldaten und Officiere verwandelten bür- 
gerlichen Ghientel der Reichen, aus Handwerkern, Krämern und 
ihrem Dienſtvolk; theild aus geworbenen und bezahlten, eben fo 
jchlecht wie die Bürgergarde geübten Freicorps oder Volontärs. 
Diefe Werbung und die Waffenübungen der Geworbenen um 1783 
war nicht eigentlich gegen den Grbftatthalter gerichtet, fondern 
man benußte dazu den Vorwand der Drohungen des Katfers und 
jene feindlichen Maßregeln an der Schelde. Man konnte deshalb 
auch dieſe gerüftete Stadt= und Provinzialmiliz der militärischen 
Oberbehörde entziehen, weil fie eine Art Bürgergarde und Lande 
wehr vorſtellte. | 

Da die Streitigkeiten mit dem Katfer das ganze Jahr 1784 
hindurch und auch noch, im Folgenden Jahre fortdauerten, fo 
konnte man auch die Militärmacht der Städte erhalten und ver- 
mehren, bis 1785 der fürmliche Zwiſt mit dem Erbftatthalter 
ausbrach. Weil die Patrioten in Holland und in Utrecht mehr 
als andere beforgten, der Statthalter möchte, wenn ihn die ora— 
nifche Minderzahl der Deputirten in der Staatenverſammlung 
anriefe, anf diefe geftüßt, im den unaufhörlichen Zänkereien mili— 
täriſch einfchreiten, jo fuchten fie endlich, teil e8 ihnen an Geld 
nicht fehlte, eine Art Reſervearmee aufzuftellen, Dazu erbot fich 


zunächft der abenteuerliche NRheingraf son Salm-Grumbach, das 


mals Oberft in holländiſchen Dienften, weil er die günftige Ge— 
legenheit ergreifen wollte, die reichen Holländer und Utrechter 
um Geld zu prelfen. Er ließ fich von den Patrioten zu Sen- 


— 


442 Holland bis 1787, 


dungen und Werbungen gebrauchen, hatte vorgeblich ein Armee: 
corps aufgeftelltz aber er und fein Armeecorps und ganz bejon= 
ders die Kriegsfaffe verfehwanden hernach beim Einrücken der 
Preußen ploglich bei Nacht und Nebel, ‚ohne daß yon ihnen ix- 
gend etwas weiter gehört oder gefehen ward. Ein Franzoſe forgte 
etwas beffer für die, Holländer, als der faubere Nheingraf für 
bie Utrechter. 

Der König von Frankreich hatte den Holländern, als ihnen 
der Kaiſer mit Krieg drohte, den General, Grafen von Maile— 
bois geſchickt, um das Kriegsweſen zu che Diefer ward her⸗ 
nach son den Staaten von Holland gebraucht, um die Rüſtungen 
zu leiten, wodurch fie ihren Beſchwerden über den Erbſtatthalter 
Nachdruck geben wollten. Der Rheingraf von Salm, Graf Mail- 
lebois und ein Glied der Generalftanten, der Penſionarius von 
Dortrecht, Gyzelaer, galten für die Seele aller Kabalen gegen 
den Prinzen und gegen Ludwig Ernft von Braunfchweig. Dieſe 
dret wurden von den Oranienmännern beſchuldigt, daß fie acht 
militärifche Abenteurer, die ſich nach Aachen begaben, wo Ludwig 
Ernſt noch immer verweilte, gedungen und abgefchieft Hätten, um 
den Herzog feiner Papiere mit Gewalt zu berauben. Die Unter 
juchungen über diefe Sache findet man in Schlözers Buch amd 
auch im feinen Staatsanzeigen; der Antheil Gyzelaers ander 
Sache jcheint fehr zweifelhaft, Gewiß ift dagegen bie Thatſache, 
daß die drei genannten Männer eine Militärmacht zu organifiren 
juchten , ‚als die "Staaten von Holland um 1756 dem Bringen 
dad. Kommando ihrer Truppen entzogen und die rege 
der regulären Armee dem Brinzen treu blieben, 

Zu offenen Feindfeligfeiten kam es zuerſt in der Stadt 
Utrecht und in den andern Städten der Provinz, ald die Mehrzahl 
der Bürger die Streitigfeit feiner eifrig patetotifchen ‚oder vielmehr 
ariſtokratiſchen Stadtobrigkeit mit dem Statthalter benusen wollte, 
um von der bisherigen Magiftratur einen Antheil am der Stants- 
verwaltung: zu erlangen. Die Bürger wollten nämlich ihre oli= 
garchiſche Obrigkeit, die fich felbft aus ihren Verwandten ergänzte, 
zwingen, fie au der Wahl der Bürgermeifter und Rathsheren 
Theil nehmen zu laſſen. So verſtanden die Oligarchen den vor— 
geblichen Kampf für die Freiheit nichtz es ſchloſſen fich daher, 


Holland! bis 1787, 443 


fobald fich diefe demofratifche Bewegung zeigte, die oligarchiich- 
riftofratifchen Magiftrate an die NRitterfchaft an und erfuchten in 
Verbindung mit diefer den Prinzen um militärtfche Hülfe. 

Unter den Eleineren Städten der Provinz Utrecht Hatten fich 
beſonders Amersfort und Rheenen ihren Stadtobrigfeiten thatlich 
widerfegt, diefe Hatten fich an die Stanten der Provinz und durch 
diefe an den Prinzen gewendet. Der Prinz konnte als ihr Gene— 
valsapitän ihnen ihre eignen Truppen nicht verſagen, die beiden 
genannten Städte wurden alfo militärifch beſetzt. Bei diefer Ge— 
legenheit bedienten fich daher die fonft eifrig patriotiſchen Magi— 
ftrate in Verbindung mit der Nitterfchaft der Milttärgemalt des 
Prinzen gegen die Bürgerfchaften. Die Bürger der Städte wand- 
ten fich darauf um Schuß gegen ihre Magiſtrate und gegen das 
Militär des Statthalterd an die Staaten von Holland, denen 
diefe Gelegenheit, ihren Freunden in Utrecht das Webergewicht zu 
verfcehaffen, gerade zur günftigften Zeit dargeboten ward. 
Die Staaten von Holland nämlich, evbittert, daß das geringe 
Volk der Ariftofratie abgeneigt, dem Prinzen gewogen blieb, 
während die mittlern bürgerlichen Klaffen immer wüthender pa— 
triotifch wurden, Hatten das Tragen der Oranienfarbe für ein 
Aufruhrzeichen erklärt und als folches verboten, Die Staaten 
hatten ſogar Bürger und Landleute, welche die Oranien-Cocarde 
oder die Schleife trugen, nach ihrem damaligen barbarifchen Cri— 
minalrechte richten und grauſam beſtrafen laſſen; die Haager Bür- 
ger Dagegen befämpften Gewalt mit Gewalt und widerſetzten fich 
den Staaten und ihren Dienern, Im Haag war nicht blos dev 
Pöbel, fondern auch) die eigentliche Bürgerfchaft oraniſch gefinnt, 
derjelbe Fall war in Rotterdam. Sobald fich alfo die Volontärs 
oder Söldner der Staaten in diefen Städten fehen ließen, wur: 
den fie mißhandelt. Dies erfuhren zwölf Volontärs der patrioti= 
jchen Stadt Leyden, am 4. September 1785, als ſie fich im 
Haag auf der Parade blicken ließen. Sie wurden übel behan— 
delt, flüchteten fich endlich in ein Haus, von wo aus fie um den 
Schuß der ftatthalterifchen Beſatzung batenz es ward auch eine 
Wache geſchickt, um den Pöbel zu zerjtreuen. Diefe Wache wandte 
ſich aber nicht gegen das Volk, fondern fie verhaftete die zwölf 
Volontärs und brachte fie aus der Stadt. 


A4A Holland bis 1787. 


Diefen Vorfall benutzten die Depntirten der Stadt Harlem, 
um bei den Staaten der Provinz Holland darauf anzutragen, die 
militäriiche Polizei im Haag und die Sorge für Patrouillen dent 
Prinzen und feinen Offteieren zu entziehen, und fie von Depu- 
tirten der: Staaten verwalten zu Taffen. Die Staaten nahmen 
diefen Antrag an und übertrugen Anordnung und Anführung der 
auszufendenden Patrouillen gerade dem Deputirten von Harlem, 
der den Antrag gemacht Hatte, Dies bewog dann den Prinzen, 
jeine Reſidenz, deren Polizei feine Gegner an fich genommen 
hatten, am 14. September ganz zu verlaffen. Seit diefer Zeit 
verweilte ev theils in feinem eignen Markifat zu Breda, theils in 
Seeland, oder in Friesland, oder In Nimwegen, oder endlich auf 
feinem Schloſſe Loo in Geldern. Durch diefen Schritt ward den 
Staaten gewiffermaßen offne Fehde angefündigt und diefe vergal- 
ten elf Tage nach des Bringen Entfernung Feindfeligfeit mit 
Feindfeligkeit. Sie hatten vorher nur die militärtiche Polizei im 
Haag dem Prinzen entzogen gehabt, am 25. September entzogen 
fie ihm auch den Oberbefehl über die am Verſammlungsorte der 
Staaten von Holland und der. Generalftaaten Tiegenden Truppen 
und übertrugen das Kommando derfelben dem General Sandoz. 

Die unverſtändig heftige Ariftofratenpartei kam zugleich‘ auf 
den Einfall, einen leeren Vorzug, deffen der Prinz bisher genof= 
jen hatte, ohne daß jemand Bedeutung "darauf Tegte oder bie 
Sache nur bemerkte, mit ihm zu theilen und dem ihm blind an— 
hängenden Volke Handgreiflich zu machen, daß die Ariftofraten 
eigentlich Herren im Lande ſeien, nicht das vranifche Volk und 
jein Prinz. Der Prinz wohnte nämlich im. Haag, wenn er dort 
war, in dem fogenannten Binnenhofe, wo auch die Berfammlung 
der Staaten gehalten ward, fuhr aber dort zu einem bis dahin 
ihm sorbehaltenen Shore ein, welches das Statthalterthor 
genannt ward. Zwei wüthende Ariftofcaten unter den Staaten, 
unter denen auch Gyzelaer, der Freund des faubern Rheingrafen 
war, wollten dies unbedeutende Chrenrecht für ſich als Deputirte 
der. Staaten in Anfpruch nehmen, um zu beweifen, daß fie der 
eigentliche Souverän im Lande feien. 

Schon die Nachricht, daß die Staaten und der den —* | 
Gefinnten tödtlich verhaßte Gyzelaer ſo etwas im Sinne hätten, 


Holland bis’ 1787, 445 


brachte die Bevölkerung vom Haag in heftige Bewegung, wo man 
ſchon darüber erbittert war, daß die Oligarchen den Prinzen eines 
Borzugs nad) dem andern beraubten, um fich damit zu beffeiden. 
Sie liegen z. B. fein Wappen aus den Fahnen nehmen und feß- 
ten das der, Staaten hineinz fie nahmen für den Präſidenten der 
Staaten von Holland diejenigen militärtfchen Ehrenbezeugungen 
in Anfpruch, welche bisher: nur dem Präfidenten der General- 
ſtaaten war. eriwiefen worden; fie Fauften einen neuen Palaſt; fie 
liegen, wie der Prinz fonft zu thun pflegte, wenn er im Hang 
war, Speifen in der Stadt austheilen, die im herrfchaftlicher 
Küche bereitet waren. Der Berfuch, durch das Statthalterthor in 
die Berfammlung der Staaten zu fahren, veranlaßte endlich amt 
17. März 1786 einen fürmlichen Tumult, und zwar bejchuldigte 
die patriotifche Partei die oranifche und diefe jene, daß fie den 
Pöbel am 17. aufgeregt und ermuntert Hätte, Es hieß, daß der 
junge, unverftändige und heftige Freund des Prinzen, der Graf 
von Bentink Rhoone, gleich Mirabeau im November 1789 und 
or um 1780 unter dem Pöbel, ihn ermunternd, ſei gefehen 
worden. Als der Verf. diefer Gefchichte den Grafen um 1796 
in Barel, wo er ohne Bedenken eine folche Toyale Demagogie 
hätte geftehen können, weil diefe Art Demagogie damals rühmlich 
war, darüber befragte, 11) bewies ihm der Graf, daß dies nicht 
wahr jet. Gewiß ift indefien, daß der Aufftand am 17. zu ſpät 
fam, weil_am 16. bei der feierlichen Eröffnung der Staaten ſchon 
die ſämmtlichen Deputirten diefes ſouveränen Raths durch das 
Statthalterthor in den Binnenhof gefahren waren, Die Anhänger 
des Prinzen fagen daher auch, das Volk fet erbittert geweſen, 
daß am folgenden Tage die Unruheftifter Gevaerts und Gyzelaer 
für fih allein fich Hätten anmaßen wollen, was nur den ges 
jammten Deputirten als Generalftanten erlaubt geweſen ſei. ‚Sie 
wollten durch das Thor fahren, obgleich der tobende Haufen fich 
an demjelben gefammelt hatte, Die Anhänger des Bringen be= 
haupten, die Patrioten jelbft Hätten den Perückenmacher Morand 
betrunken gemacht, damit er ihnen Vorwand gebe, ihre Gegner 
mit der Staatspolizei zu verfolgen, 


11) Der Verf. war damals Hofmelfter der Kinder des Grafen Jan, des 
Bruders des regierenden Grafen yon Varel und Kniphauſen. 





A46 Holland bis 1787, 


Den innern Zufammenhang der Sache zu willen, fcheint 
und hier eben fo unwichtig, als bet den mehrften Gelegenheiten 
ähnlicher Art, da die Thatfache ausgemacht ift, daß Gyzelaer und 
Gevaerts durch die tobende, fchreiende, hemmende Volksmaſſe ein- 
fahren wollten, und daß ber Perückenmacher Morand endlich ihren 
Pferden in die Zügel fiel. Er ward fogleich verhaftet und nach 
holländiſchem Griminalrecht, welches neben der Tortur noch viele 
andere ſpaniſche Reſte bewahrt Hatte, als Hochwerräther gerichtet, 
weil er ſich gegen die beiden Deputirten, die ein Theil des Sou— 
veränd waren, vergangen hatte, Er wurde zum Tode verurtheilt 
und die Dligarchen, Krämer und ihr Anhang, PBatrioten und 
Freiheitöfreunde genannt, unterftanden fich, Gyzelaers Milde zu 
preifen, weil ev bewirkt habe, daß bie Todesitrafe in ewiges 
Gefängniß umgewandelt werde, 

Bei diefer Gelegenheit zeigte fich Friedrich IL befonders groß. 
Er bewies, daß er Achtung für freiere Berfaffungen habe, als 
die, welche für fein durchaus Fünftlich gefchaffenes, aus ganz un— 
gleichen Stücken gebildetes Reich paßte, welches trotz alles An— 
ſcheins von Civilregierung doch durch Ordres rein militäriſch re— 
giert ward und wahrſcheinlich noch lange jo regiert werden wird. 
Er wurde von allen Seiten her beſtürmt, ſich in die Sache des 
Gemahls ſeiner Nichte zur miſchen, er ermahnte aber ſtets dieſe 
ſeine ſtolze Nichte, innerhalb der Verfaſſung zu bleiben. Freilich 
ließ er zugleich wegen der Beſchwerden des Prinzen mit den Ge— 
neralſtaaten unterhandeln und insbeſondere wegen des Commandos 
der Haager Garniſon zwei nachdrückliche Vorſtellungen überreichen. 
So dringend dieſe Vorſtellungen abgefaßt waren, ſo ließ Friedrich, 
der Herzbergs Neigung kannte, überall das Preußenthum und 
ſeinen großen König mit Gewalt geltend zu machen, ſich doch alle 
die Inſtructionen zeigen, welche dieſer dem preußiſchen Geſandten 
im Haag gab, und ſtrich eigenhändig jede Stelle weg, worin 
dem conſtitutionellen Gewichte der Staaten zu wenig Bedeutung 
gegeben ward, oder, wo fie gebieterifch angefahren wurden. 

In diefer Zeit Hatte fich mit Hülfe der Staaten von Hol— 
land in Utrecht ein Magiſtrat organiſirt, an deſſen Wahl die 
Bürgerſchaft den Antheil gehabt Hatte, den fie forderte und. durch 
Hülfe der Holländer durchſetzte. Es beſtand Daher in der Pro— 


Holland bis 1787. 447 


vinz Utrecht neben dem aviftofratifchen Aufjtande, der fich zuletzt 
an die prinzliche Ariftofratie angefchloffen hatte, eine Art demo— 
fratifchen Aufftands der unter Antheil der Bürgerfchaften gewähl- 
ten Stabtobrigfeiten gegen die nach Art des Mittelalters nur aus 
einem gewiſſen Kreife und yon einem gewiſſen Kreife yon Bür— 
gern wählbaren Magiftrate. In Amersfort und Rheenen behaup- 
teten fich die alten Staaten mit Hülfe der vom Erbftatthalter 
verlangten Truppen, in den andern Städten fiegte aber die Par- 
tet der nenen Organifation der Stadträthe, die in der Hauptftadt 
gefiegt Hatte; denn die Staaten von Holland unterfagten ihren 
zum Heer des Generalcapitäns gehörenden Truppen, fich in ber 
Sache der Utrechter Staaten in Amersfort gebrauchen zu Taffen. 
Die in Ütrecht durchgefeßte demofratifche Bewegung gegen die 
alten ariftofratifchen Stadtobrigfeiten fehten fich auch in den. an— 
dern Provinzen auszubreiten. 

In Friesland verlangte die Bürgerfchaft von Leuwarden die 
Beränderung der beftehenden Einrichtung; in Gröningen ward 
wirklich ein anderer Magiftrat beftellt; in Overyſſel ſchloſſen fich 
die Städte an den neuen Magiſtrat von Utrecht gegen die Staa— 
ten an, und felbft in Geldern, wo der Prinz vermöge des zahl: 
reichen Adels und wegen feiner eignen großen Güter faſt monar- 
chiſch Herrfchte, traten die Städtchen Hattem und Elburg mit den 
neuorgantfirten Städten yon Vtrecht und Overyſſel in Verbindung, 
Diefe Städte verlangten ebenfalls die Abſchaffung der oligarchiſchen 
Regierungsform des fiebenzehnten Jahrhunderts, fie forderten, daß 
den Bürgern Antheil an der Wahl ihrer Magiſtrate gegeben 
würde und wollten fich den Beichluß der Staaten von Geldern, 
das hieß der Nitterfchaft, nicht gefallen laſſen. Diefe Staaten 
hatten bejchloffen, daß die Gonftitution von 1674 ganz unverän— 
dert erhalten werben ſollte. Sie wiefen alle dagegen gerichteten 
Bittfehriften zurück und wollten die Städte mit Gewalt zwingen, 
ſich dem Befchluffe zu fügen. Dies veranlaßte zuerſt in Geldern, 
dann auch in Utrecht einen Bürgerkrieg. Die Negierungsverän- 
derung in Preußen gab um diefelbe Zeit den englifchen. Kabalen 
und der Leldenfchaft der Grbftatthalterin, deren Bruder den Thron 
beftieg, mehr Einfluß in Berlin, als fie vorher gehabt Hatten, 
und Herzberg durfte endlich fehreiben wie er wollte, 


448 Holland bis 1787. 


Der alte König von Preußen war am 17. Auguft 1786 
geftorben, jein Nachfolger Friedrich Wilfelm IL mar durch feine 
phyſiſche Beichaffenheit, durch Verführung und Erziehung fchon 
ganz früh fo tief gefunfen, als Ludwig XV. erſt in feinen vei— 
feren Jahren fanf, Er war wie Ludwig XV. und alle der finnlichen 
Liebe huldigenden Männer und Weiber ganz der Kirche, wie man 
das heißt, ergeben. Er war dabei in der Gewalt feiner Mä— 
treffen und ihrer Verwandten und ward durch Männer, wie Bi— 
Ichofswerder und Wöllner, von Fanatifern, Myftifern uud Fromme 
lern für ihre Zwecke myftifieirt. Der Minifter von Herzberg an 
der Spige der auswärtigen Angelegenheiten und der Herzog von 
Braunschweig als Oberbefehlshaber des Heers glaubten die ‚Ehre 
des Königs durch energiſche Schritte zu Gunſten feines Schwagers 
heben und dem. preußifchen Staat politiſches Gewicht geben zu 
Tonnen. Beide waren lange um einen Vorwand verlegen gewe— 
jen, Preußens Einmifchung vor den Augen anderer Mächte zu 
rechtfertigen; es fcheint und daher die Behauptung der holländi— 
Ihen Republifaner (Patrioten) nicht ganz unwahrjcheinlich, obgleich 
fie nicht erwiefen ift, daß die oraniſche Faction den Waffenfampf 
in Geldern ausdrücklich veranlaßt habe, um Gewaltthätigfeiten ge— 
gen den Prinzen hevvorzurufen und ihm dadurch, Vorwand zu 
geben, fich fremder Hülfe zu bedienen. | 

Die Staaten von Geldern forderten am 30. Auguft 1786 
den Prinzen formlich auf, Truppen gegen die Städte Hattem und 
Elburg zu ſchicken, um diefe Städte zu zwingen, ich dem Be— 
Ihluffe dev Ritterfchaft als dev Mehrheit zu fügen; dagegen er= 
griffen die Staaten von Holland ihrer. Seits entfcheidende Maß— 
regeln, Ste verboten nicht allein, ihren Truppen, die unter dem 
Seneralcapitän ftanden und den größten Theil des. niederländifchen - 
Heers ausmachten, ſich gegen die Städte gebrauchen, zu laſſen, 
jondern ſie fchieften ihnen fogar ihre fogenannten Freicorps zu 
Hülfe, als e8 zum. wirklichen Kampf. Fam... Der  Erbftatthalter 
lieg nämlich die Städte wirklich militäriſch auffordern, ließ fie 
beichteßen, als fie. die Thore verſchloſſen hielten, ließ fie endlich 
von feinen Truppen im Namen und Auftrag der Staaten beſetzen 
und es ward eine gerichtliche Verfolgung verhängt, wodurch viele, 
Bürger genöthigt wurden, nach Overyſſel und Utrecht zu fliehen 


Holland bis 1787. 449 


Auch in andern Provinzen erfolgte Achnliches, und die in Amers- 
fort verfammelten Staaten der Provinz Utrecht forderten ebenfalls 
Truppen vom Prinzen, um die Hauptftadt zu zwingen, fich ihnen 
zu fügen; Seeland und Groningen unterfagten aber ihren unter 
dem Prinzen dienenden Soldaten, fich zu diefem Zweck gebrauchen 
zu laſſen. 

Die Staaten von Holland fehritten, ſobald es zu eigentlichen 
Seindfeligkeiten gefommen war, zum Aeußerſten und achteten nicht 
auf die Proteftation der Nitterfchaft, welche in den Staaten von 
Holland nur eine Stimme gegen neunzehn Stimmen der Städte 
hatte, Unter diefen neunzehn ſtimmten am zwei und zwanzigſten 
September jechzehn dafür, dem Erbftatthalter den Oberbefehl ihrer 
Truppen ganz zu entziehen. Als die Staaten auf diefe Weile, 
ohne die Generalftanten zu befragen, gegen den Willen der ganzen 
Nitterfchaft, ihren bisherigen Generalcapitän förmlich abfebten, 
gaben fie, um die Soldaten vom allgemeinen Heer an fich zu 
ziehen, ihren Truppen Zulage, nahmen den Rheingrafen Johann 
Friedrich von Salm-Grumbach nebft feinen Vagabunden in ihre 
‚Dienfte, Tegten diefe ihre Truppen an die Gränzen und ertheilten 
dem General Ryſſel Befehl, fobald die Mtrechter es verlangten, 
mit feiner Heerabtheilung in diefe Stadt einzuricken. 

Dies hatte die herrſchſüchtige Prinzeffin im Stillen längſt 
erwartet, und der Herzog Ludwig Ernft, der eben fo erbittert. über 
bie Nepublifaner war, ald die Alles Teitende und vorbereitende 
und mit dem intriguivenden englifchen Minifter confpirirende Prin- 
zefftn, Half ihr getreulich. Er war damals fchon Yängft von Aa— 
chen nach Eifenach gegangen und fpornte feinen Neffen, den regie— 
venden Herzog, der fich feit dem Gefecht bei Klofter Campen für 
einen der größten Generale hielt, die Gelegenheit zu nuben, um 
in Holland den Cäſar (veni, vidi, viei) zu ſpielen. Dies gelang 
ihm freilich gegen den Rheingrafen, e8 beftärkte ihn aber in feiner 
eiteln, von Mirabeau umd andern Franzofen genährten Ginbildung 
son fich ſelbſt jo ſehr, daß er durch dieſe thörichte Einbildung 
son feinen Feldherrneigenfchaften fich 1792 die Schmach in dev 
Champagne und 1806 die Schande bei Jena felbft zuzog. Die 
Wöllner, Biſchofswerder, Niet und Conſorten ließen ſchon damals 


in Berlin niemand anders aufkommen als ihre Creaturen. Prinz 
Schloſſer, Geſch. d. 18. u. 10. Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 29 


450 ‚Holland bis 1787. 


Heinrich hatte ſich zwar nach Friedrichs Tode ſchnell herbeige- 
drängt, um im Namen feines Neffen zu regieren, er ſah fich aber 
betrogen; doch Hatte Herzberg noch die auswärtigen Angelegenhei- 
ten in feinen Händen, und war wenigftens über Holland mit dem 
Herzoge von Braunschweig einer Meinung. Die, welche in Berlin 
den König umgarnten, fahen ganz gern, daß ber Herzog nad) 
dem befannten Spruche (sit divus, modo non sit vivus)) in Hol- 
Iand Ruhm hole, wenn er nur nicht in Berlin. ihnen im Wege 
ſei. Man hätte auch gewiß ohne Bedenken fogleich Truppen, die 
man in den weftphälifchen Befikungen, beſonders im Cleveſchen 
An der. Stille fammelte, marſchiren laſſen, wäre man wegen der 
Franzoſen ruhig geweſen. 

Frankreich hatte ſich neulich enger an die holländiſchen Re⸗ 
publikaner angeſchloſſen, und die Staatsklugheit ſchien den Fran— 
zoſen um ſo mehr zu gebieten, eine Heerabtheilung beveit zu. hal- 
ten, als der. neue englifche dirigivende Mintfter (Pitt) in dem— 
jelben Jahre (1784), als er fich im fichern Beſitz der Macht 
fühlte, einen. Meifter in diplomatifchen Künſten alfer Art an den 
‚Sroftatthalter, d. h. an die Prinzeſſin, geſchickt Hatte, Harris, 
Sohn eines Lords dev Admiralität, nachher Lord Malmsbury, 
war einer der Gefellfchafter der Raiferin GSatharina IL gewejen 
and hatte im amerifanifchen Kriege meifterhaft cabalivtz er ward 
daher um 1784, ald die Schritte des Kaiferd gegen Holland und 
zugleich die, innern Streitigkeiten diefes Landes bedenklich wurden, 
als Meifter in diplomatiſchen Künſten nach dem Haag geſchickt. 
‚Hier. leitete er die Angelegenheiten in Verbindung mit der Prin- 
zeſſin und der Ritterſchaft ganz vortrefflich im Dunkeln, während 
Preußen im Lichte handelte. Dies erkannte ſpäter ſowohl Pitt als 
Preußen, als ſie ihn der Cabalen wegen belohnten und öffentlich 
erklaͤrten, dies geſchehe, weil er die preußiſchen Bajonette mit ſei— 
ner diplomatiſchen Kunſt ſo mächtig unterſtützt habe. Schon im 
October 1786 ſagte der Herzog von Braunſchweig dem berühmten 
Grafen von Mirabeau, der ſich damals als franzöſiſcher Spion 
oder Emiſſär in Berlin und auch bei ihm in Braunſchweig befand: 
0 „Herr Harris habe zu einer mächtigen und wirk— 
ſamen Beihülfe Hoffnung gegeben, im Falle der 
Amis: von Beenden die ——— Anselegen 


war 


Holland bis 1787. ‚451 


heiten mit gewaffneter Hand vermitteln wolle; da— 
durch habe er dem Könige das Verlangen eingeflößt, 
mit ſeinen Staatsbedienten Rath zu pflegen.” Dieſe 
Stelle des ſieben und dreißigſten Briefs der geheimen Geſchichte 
des Berliner Hofs, oder der vertrauten Briefe des Grafen von 
Mirabeau über dieſe Geſchichte, darf man ohne Bedenken gebrau— 
chen, weil ſie durch hundert andere Zeugniſſe und durch den Aus— 
gang beſtätigt wird, ſo wenig Vertrauen ſonſt dieſe Briefe und 
ihre Klatſchereien verdienen mögen. Trotz der Erklärung Eng— 
lands an Preußen ſuchte man doch den Franzoſen zuvorzukommen, 
weil man hernach ihr Schwert durch engliſche Drohungen in der 
Scheide halten konnte, wenn es gelang, auch ſie vorerſt zu täu— 
ſchen. Man gab ſich alſo von Seiten Preußens das Anſehen, 
als wenn man gemeinſchaftlich mit Frankreich zwiſchen dem Erb— 
ſtatthalter und den Staaten vermitteln wolle. 

Schon im Auguſt, alſo zwei Monate vorher, ehe der Graf 
Mirabeau die erwähnte Unterhaltung mit dem Herzoge von Braun— 
ſchweig hatte und dieſer aus ſeiner Reſidenz nach Berlin ging, 
wo über die engliſchen Anſchläge Rath gepflogen werden ſollte, 
hatte die Prinzeſſin ihren Bruder mit Sendungen und Briefen 
beſtürmt; Friedrich Wilhelm war aber kein militäriſcher Charakter. 
Schon als Jüngling durch Wolluſt, Schwärmerei und tolle Nacht- 
wachen geſchwächt, konnte er keine vierzig Zeilen hinter einander 
anhaltend leſen und war jeder ernſten Anſtrengung unfähig. 
Schwankend wie ev war, ſchickte er auf der einen Seite den Gra= 
fen son Görz nach Holland, um gemeinschaftlich mit den Fran 
zoſen zwiſchen dem Prinzen und den Staaten zu vermitteln, und 
ließ doch auch zugleich, wie Herzberg und die Prinzeſſin wollten, 
Truppen am den Granzen von Geldern zufammenziechen. 

Graf Görz jollte über Loo nach dem Haag reifen, 12) ex 
jollte fich mit dem dort befindlichen preußtfchen Miniſter Thule— 
wen und Bon der Prinzeſſin verftändigen, und fich nicht in zu 


12) Der ganze zweite Theil der Hiftorifchen Denkwürdigkeiten des königl. 
preußiſchen Staatsminiſters Johann Euſtach Grafen von Görz, aus deſſen 
hinterlaſſenen Papieren entworfen 1828, enthält nichts als die holländiſchen 
Angelegenheiten. Altenſtücke ſtehen in Herzbergs Recueil, und das ganze 
Detail, wie die Schriften der Holländer über diefen Strett mit F Erbſtatt⸗ 

29 


452 Holland bis 1787. 


genaue Verbindungen mit Harris einlaffen. Was den Prinzen, 
alfo doch eigentlich die Hauptperfon, derentwegen der ganze Lärm 
angefangen ward, anbetrifft, fo heißt es ausdrüclich in der In— 
ftruetion: Der Graf wiffe ja recht gut, daß des Prin- 
zen Benehmen nihtimmer feinem wahren Intereffe 
angemeffen fei und daß er oft Blößen gebe. In Rüd- 
ficht der Hauptfache folle der Graf allein darauf dringen, daß dem 
Prinzen das Commando der im Haag Tiegenden Truppen zurück— 
gegeben werde, damit er wieder dahin gehen könne. Man hatte den 
Grafen von Görz auch darum zu diefer Sendung erwählt, weil 
er noch von Petersburg her dem franzöſiſchen Marquis von Berar, 
den er im Haag wieder antraf, perfonlich befreundet war. Die Unter- 
handlung ward indeffen dadurch erfchwert, daß der franzöſiſche Mi- 
nifter die entjchiedene Abneigung des Prinzen gegen Frankreich Fannte, 

Görz Fam in dem Augenblide an, als bei Gelegenheit der 
Beſetzung von Hattem und Elburg die Staaten son Holland in 
pffnen Krieg mit dem Prinzen gerathen waren. Schon die Rich— 
tung feiner Reife und die Orte, wo er fich auffielt, mußte bie 
Abficht feiner Sendung verdächtig machen. Cr hielt ſich in Loo 
einige Zeit auf, er reiste über Amersfort, wo die Staaten der 
Provinz Utrecht unter dem Schub ber Waffen des Prinzen ihren 
Sitz hielten. Die fieben vereinigten Provinzen waren übrigens 
damals in einer höchſt traurigen Lage; da der Staatsſecretär 
(Fagel) nicht nur, fondern die fammtlichen Generalftanten mit 
den Staaten von Holland nicht einig waren, und auch die Stadt 
Amsterdam war mit ihnen entzweit. Die Stadt Amfterdam lei— 
tete befondere Unterhandlungen ein und die Generalftaaten mach— 
ten, als die Staaten von Holland ihren Truppen verboten hatten, 
ihren durch den Prinzen ertheilten Befehlen zu gehorchen, ein 
Anleihen, um diefe Truppen bezahlen und zurücdhalten zu kön— 
nenz für das Anleihen leiftete England Bürgichaft. 

Aus Paris Hatte man indefjen zu den Unterhandlungen wegen 
der Ausfühnung den Herrn "von Rayneval geſchickt und Friedrich 


halter muß man fuchen in Jacobis vollſtändiger Geſchichte der fiebenjährt- 
gen Verwirrung und daraus erfolgten Revolution in Holland, Caillards 
uemoire sur la revolution de Hollande bildet den 1. Theil von Segürs 
F. Guillaume II. 





Holland bis 1787; 453 


Wilhelm II. fcheute fih, wie man aus feinen Briefen an Görz 
fieht, 19 lange DVergennes lebte und die auswärtigen Angelegen- 
heiten Frankreichs Teitete, feindlich einzufchreiten, das Jahr ver= 
floß alfo ohne Entſcheidung. Görz ward indeffen fchon im Januar 
1787 abberufen, im Februar farb Vergennes und nach feinem 
Tode hatte das Miniftertum und Galonne, der die Seele biefes 
Minifteriums war, jo viel mit der damals berufenen erften Ver— 
ſammlung der Notabeln zu thun, daß es die hollandifchen Ange— 
legenheiten einige Zeit hindurch aus den Augen verlor. 

Diefe Zeit benußten die Engländer, um durch Geld und 
Gabalen die herrfchende Batriotenpartet zu tremmen und zu unters 
graben. Es hatte fich in Seeland, in Utrecht, in Friesland, 
fogar in Amfterdam und. in andern hollandifchen Städten die 
Stimmung merflich geändert, Es fchien fich endlich eine demo— 
kratiſche Partei zu bilden, denn die Gegner des Grbftatthalters 
nahmen die Bürgerfchaften gegen die Magiftrate in Schuß und 
erlaubten ihnen, unter ihrem Beiftande neue Obrigfetten zu wählen, 
Das Volk bewaffnete fich endlich überall, der Prinz dagegen, auf 
vier Provinzen vertrauend, ftand an der Spibe feiner Truppen 
bei Arnheim; dies veranlaßte die Holländer, einen Gordon an 
der. Gränze für Sudholland zu ziehen. Diefen Cordon comman— 
dirte der General Ryſſel, wahrend der Nheingraf mit feiner foge= 
nannten Legion den Utrechter Demokraten zu Hülfe zog. Endlich, 
nachdem es bei Utrecht zu blutigen Gefechten gefommen war, er= 
ließ der Prinz am 26. Mat 1787 eine Art Kriegsmanifeit gegen 
die Staaten von Holland. In diefem Manifeft ift freilich. nur 
von einer Partei von Unruheftiftern die Rede, daß diefe aber aus 
dev Mehrzahl der hollandifchen Städte beftehe, war jedermann be= 
fannt. Es galt alfo auch diefen, wenn e8 im Mantfeft heißt: diefe 
Partei in den Staaten der Provinz Holland Habe die Verfaflung 
und Rechte der Magiftrate, des Erbftatthalters und der General- 
ftaaten freventlich vernichtet, der Prinz könne daher in Verbin— 
dung mit den Staaten der andern Provinzen nicht langer anftehen, 
fih der Zwangsmittel zu bedienen, die ihm nad der 
Gonftttutton zufämen u. ſ. w. 

Nach einem folchen Mantfeft und in einem Augenblick, in 
welchem fich die Truppen der Holländer und die des Prinzen 


454: Holland bis 1787, 


feindlich gegenüberftanden, als jedermann wußte, daß der gemeine 
Haufen befonders im Haag und im der Nähe diefer Stadt ganz 
oraniſch gefinnt fer, mußte es fehr auffallen, daß die Pringeffin 
gerade vier Wochen nach Erlaſſung diefes Manifeftes eine Reiſe 
son Nimwegen nach dem Hang machen wollte, wo fie feine Ge— 
ichäfte Hatte und wo die Reſidenz der feindlichen Staaten von 
Holland war. Ste mußte, um dahin zu gelangen, durch die von 
Ryſſel befetten und bewachten Orte und Päſſe und durch die bes 
waffneten Bürger, welche ihr Gemahl durch fein Manifeft erbit- 
tert hatte, durchziehen; man behauptet daher nicht mit Unrecht, 
es jet entweder daranf abgeſehen geweſen, den Enthuftasmus des Pö— 
bels zu erwecken, oder irgend einen Vorwand zu erlangen, wenn die 
Prinzeffin perfünlich beleidigt werde, ihren Bruder, den König 
von Preußen, als Rächer anzurufen. Dies tft Feine Vermuthung, 
fondern Görz fagt es ganz ausdrücklich. 13) 

Die Lage der Dinge zeigte übrigens zugleich die Unvollkom— 
menheit der Berfaflung und Einrichtung der Republik und die 
Unmöglichkeit, bei der damaligen Befchaffenheit der Dinge irgend 
eine Mafregel ceonfequent durchzuführen, Die Staaten von Hof 
Yand gaben nämlich dem General Ryſſel Gegenbefehl, als ihm 
die Generalftaaten hatten befehlen Yafjen, den Gordon gegen Utz 
vecht aufzuheben, die Generalftaaten fufpendirten ihn, weil er dem 
Befehl der Staaten von Holland gehorcht hatte, die holländiſchen 
Staaten dagegen Hatten ihm für feinen Ungehorfam gegen bie 
Generalftanten Schub, Sicherheit und völlige Schadloshaltung zu= 
gefichert, Ganze Regimenter und faſt alle Offiziere waren durch 
die Erflärung der Generalftanten kurz vor der Neife der is 


13) 6 heißl nämlich in feinen Denkwürdigkeiten, 2. Th. S. 199: Me 
der bürgerliche Krieg) gerüftet war und. die Truppen: beider Parteien gegen 
einander im Felde ftanden, veränderte plötzlich der kühne und wohl 
berehnete Schritt ver Prinzeſſtn von Oranten, nämlich ihre Reife 
von Nimwegen nah dem Haag, die garze Geftalt der Sache. Denn das, 
was weder die Bitte des Prinzen und der Prinzgeffin, noch die Vorfchläge 
und Rathſchläge von Herzberg und Görz bet: dem Könige Hatten bewirken 
fönnen — eine Fräftige, nöthigen Falls durch die Waffen unterftüste Inter 
ventton — bewirkte bet dem Bruder die unlöbliche Beleidigung der Schweſter 
unweit Schoonhoven. Friedrich Wilhelm forderte dafür fchnelle Genugthuung 
und ließ, als diefe verweigert warb u. ſ. w. 


Holland bis 1787. 455 


zefftn beivogen worden, fich den Befehlen der Staaten yon Hol— 
land zu entziehen und nur som Prinzen Befehle zu erwartem 
Der Dienft ward in den Gegenden, wo die Brinzeffin durchfahren 
mußte, von Bürgern, Bauern und von den fogenannten Freiwil— 
ligen verfehen. Die Brinzeffin gab vor, fie wolle nach ihrem 
Landitt, dem Haufe im Bufche, wie man es nannte, veifen, und 
son dort aus mit den Staaten unterhandeln; das hätte fie noth— 
wendig lange: vorher melden müſſen. Ste hatte außerdem denfel= 
ben Bentinf bei fich, den die öffentliche Meinung als Urheber 
des Tumults wegen der Einfahrt durch das Statthaltertfor an— 
Hagte. Außer diefem war, als veiste fie im tiefſten Frieden, 
nur die Baroneffe von Waffenaer und einige wenige Bediente 
bei ihr, 

Bis Schoonhoven ließ man die Prinzeffin ruhig reifen. Erſt 
zwei Stunden hinter diefer Fleinen Stadt bei Welfche Sluys 
ward fie von einem kürzlich in einen Offizier umgewandelten töl— 
pelhaften hollandifchen Bauer oder Krämer, dem man wahrſchein— 
lich Diefe Rolle abfichtlich überließ, auf offner Landftraße ange— 
halten. Man bewog fie, um fie nicht auf offner Straße halten 
zu laſſen, im seinem einen Haufe eines benachbarten Dertcheng 
zu warten, bis dev neu geſchaffene Vorpoſten-Commandant Ver- 
haltungsbefehle aus Woerden erhalten hätte, wo eine Commiſſion 
ber Staaten von Holland ihren Sitz hatte. Dies währte einige 
Stunden, und der Holländer, der ſich in ſeiner militäriſchen Würde 
zeigen wollte, benahm ſich ungemein komiſch. Dies ward Alles 
von ſophiſtiſirenden Berliner Diplomaten als Beleidigung der Schwe— 
ſter ihres Königs gedeutet, Der Offizier nämlich bewachte fie in 
dem Haufe, als wäre ſie kriegsgefangen, ver behielt, wahrjcheinlich 
aus Höflichkeit oder Verlegenheit, den bloßen Degen in ihrer Ge— 
genwart in der Hand und ſteckte ihn erſt ein, als man ihn daran 
erinnerte. Selbſt feine Art von gutmüthiger bäuriſcher Gaſt— 
freundlichkeit ward als Beleidigung gedeutet. Er ließ nämlich, 
während man in dem Häuschen warten mußte, nach holländiſcher 
Weiſe, Pfeifen und Tabak, Mein und Bier für die Begleitung 
der Prinzeſſin aufſtellen. 

Nach wenigen Stunden langten die Commiſſarien aus Woer⸗ 
den an, entſchuldigten, was vorgefallen war, mit der Unerfahren- 


456 Holland bis 1787. 


heit des zum Offizier gewordenen Bauerd oder Krämers, bewieſen, 
als Leute von Lebensart, alle ſchuldige Höflichkeit, baten aber die 
Prinzeffin um Verzeihung, wenn fie durch den Stand der Dinge 
und durch die Unruhen im ganzen Lande gezwungen wären, fie 
zu bitten, in Schoonhoven zu warten, bi8 fie Befehl aus dem 
Haag erhalten hätten. Als diefe Befehle auch am dreißigften noch 
nicht angekommen waren, reis'te die Prinzeffin zurück und erhielt 
erft jenfeit der Gränze die ihr Verlangen ablehnende Antwort der 
Staaten von Holland. Dieſes Ereigniß ward dann nach der Art, 
wie ein Bentink darüber berichtet hatte, in preußifchen und enge 
liſchen Zeitungen erzählt, die Gefchichte der Tage vom 28, bie 
30. ward in einen Beleidigungsroman verwandelt, und fo ftellte 
fie auch die Prinzeffin ihrem Bruder, dem Könige, vor, den bie 
Engländer von der andern Seite her: bearbeiteten. 14) 

Bon dieſem Augenblid an Fonnten Herzberg und der Herzog 
von Braunfchtweig darauf rechnen, daß ihre Wünfche erfüllt wür— 
den, Herzberg durfte jebt durch Thulemeyer drohende Noten im 
Haag überreichen laſſen und der Herzog die längſt beorderten 
Truppen in einem fogenannten Luftlager in der Graffchaft Cleve 
vereinigen. Als Ludwig XIV, um 1672 wegen einer perfünlichen 
Beleidigung mit den Niederländern einen Krieg begann, erhoben 
fich alle Stimmen gegen ihn, und man fehalt ihn ſtolz und über- 
müthig, weil er feine gefränfte Ehre als Urſache des Kriegs im 





14) So hat auch Segür die Sache gefaßt, ver als hiſtoriſche Duelle in 
feiner Tofen, vornehmen Manier freilich nicht zu gebrauchen tft, diplomatlſch 
und polttifch aber Hier um fo eher dienen Tann, als er redet, wie die andern 
auch redeten, und als er eigentlich Caillard nur ausfchreibt. Er fagt Hist. 
du regne de F. Guillaume II. etc. Paris (1800) Vol. I. p. 126: Harris 
avoit prevu que si les &tats laissoient venir la princesse à la Haye, 
leur foiblesse et sa presence enflamant, la populace il seroit facile de 
faire Eclater une revolte qui &craseroit le parti patriotique, et que si 
on T’arr&toit dans sa marche, le roi de Prusse qui avait plus de vanite 
que de prudence, seroit irrit& de cette insulte et verrof son honneur 
interesse à se venger de cot affront. Frederic Guillaume ordonna A 
son ambassadeur Thulemeyer d’exiger des etats une satisfaction écla- 
tante pour sa soeur et de les menacer de la guerre en cas de refus. 
L’effet de cette infrigue angloise devoit @tre un grand embrasement de 
V’Europe. 


Holland bis 1787, 457 


Manifeft anzugeben wagte, Preußen drohte jebt gar mit Blutver- 
gießen und Raub, nicht weil die Ehre des Königs felbft gekränkt 
‚war, ſondern wegen. einer fehr problematifchen Beleidigung der 
Schweiter des Königs, welche noch dazu blos Gemahlin des erften 
Beamten der Nepublit der Niederlande war. Herzbergs Note, 
welche Thulemeyer am 11. Juli 1787 im Haag übergab, war 
übrigens bet weiten infolenter ald das Betragen des guten Hol- 
länders bei Welſche Sluys. Frankreich ftellte fich zwar, als 
wenn es gegen das Luftlager des Herzo gs von Braunfchweig ein 
anderes Lager bei Givet und ein Heer einrichten laſſe, es wurden 
auch einige Soldaten und Offiziere nach Holland geſchickt; aber 
die preußifchen Kundſchafter, welche nach Givet gefchteft wurden, 
berichteten, daß dort weder Nüftungen noch Heer zu fehen fe. 
Thulemeyers erſte Eingabe ward fogar durch eine franzöſiſche Note 
unterftügt, worin die galanten Franzofen die Kränfung der Prins 
zeſſin laut mißbilligten und für eine grobe Beleidigung erklärten, 
In diefer Note ließ man den König von Frankreich fagen, Preu— 
pen habe ein Recht, Genugthuung für den erlittenen Schimpf zu 
fordern, und man dürfe fie ihm nicht. verfagen. 

Die Staaten von Holland gaben auf beide Noten eine aus— 
weichende Antwort: Thulemeyer überreichte fehon am 6. Auguft 
einen neuen Aufſatz aus Herzbergs Feder, der in demfelben Tone 
abgefaßt it, in dem man damals den preußifchen Behörden zu 
jchreiben pflegte, welche fchon unter den beiden letzten Königen, 
Ariedrich IL. und feinem Vater, gewohnt waren, militäriſch an— 
gefahren zu werden. Zum Belege fügen wir den Schluß in der 
Note bei, 15) weil fich daraus auf das ganze Stück Schließen laßt, 





15) Auf ausprüdlichen Befehl feines Königs fordert der Unterzeichnete 
nochmals von Ew. Edelgroßmögenden eine fehleunige und ber Beleidigung 
angemeffene Genugthuung. Se. Majeftät haben mir ferner befohlen, Ihnen 
nicht unbekannt bleiben zu laffen, daß der König unveränderlih auf dieſer 
Senugthuung beftchen und fih nicht mit Erörterung einzelner Thatfachen, 
unbeftimmten Entfchuldigungen-und welieren Ausflüchten begnügen will. Der 
König verkennt die Achtung nicht, die der Republik der vereinigten Provinzen 
und ber erlauchten Verfammlung der Generalftaaten gebührt, welche die Sous 
veränttät des Staats in Abficht fremder Mächte vorftellt. Seine Majeftät 
findet ein Vergnügen darin, dem Betragen ihrer Hochmögenden feinen Bet: 
fall zu ertheifen, da biefelben zu erkennen gegeben, daß fie bie Maßregeln 


458 Holland bis 1787, 


Eine umittelbar nachher eingereichte Note fpricht aus, daß man 
yon einem fehwachen, aber unabhängigen Stante eine Art Genug⸗ 
thuung fordere, wie ſie einſt Ludwig XIV. von Genua erpreßt 
hatte, wodurch er aber nicht, wie er meinte, Genua und den Doge, 
ſondern ſich ſelbſt beſchimpfte. Er ließ bekanntlich den Doge nach 
Paris kommen, obgleich dieſer nach einem Grundgeſetze der Re— 
publik die Stadt Genma nicht verlaſſen durfte. 

Frankreich war theils damals ſchon wegen der drohenden 
Unruhen und des Streits mit den Parlamenten ſehr beſorgt, 
theils war ſeit April der Erzbiſchof von Sens, Lomenie de Brienne, 
an der Spitze des franzöſiſchen Miniſteriums ‚ und dieſer fand 
nicht rathſam, auf den Borfchlag des Grafen von Montmorin, des 
Minifters der auswärtigen Angelegenheiten, einzugehen. Der letz— 
tere trug nämlich mit Zuftimmung des Kriegsminiſters und eines 
andern Gollegen darauf an, den Staaten von Holland Hülfe zu 
jenden. Die Staaten Hatten fich zudem erboten, Die Koften zu 
tragen, und auch fogar Salonne hatte die Truppen ſchicken wollen; 
aber der Erzbifchof war ein Intrigant, der für Fühne Unterneh- 
müngen feinen Sinn: Hatte. Er entſchuldigte fich mit dem Zus 
ftande der Finanzen, mit drohenden Winfen der Engländer, ſich 
für Preußen zu erflären, wenn Frankreich fich vegen follte, endlich 
mit der Unmöglichkeit, einen Seefrieg zu führen. Da die unter- 
laſſene Beſchützung der Holländer und der Teichte Triumph des 
Herzogs von Braunſchweig ſowohl der alten franzöſiſchen Regie— 
rung. als dem Herzoge später verderblich ward, jo wollen wir 
Ségürs, oder beſſer Eatllards (denn aus dieſem nimmt Segür 
das Seinige) ausführlichen Bericht über den ganzen Zuſammen— 
jo in der Note mittheilen, 16) Uebrigens war —— Verhältniß 


De ARBEITETE ST REN 


nicht billigen, die man in Holland in der. Sache, welche ben Gegenſtand 
die ſes Memorials ausmacht, befolgt hat. Von Ew. Edelgroßmögenden Klug- 
heit und nochmaligen ferneren Berathſchlagungen über die Sache erwartet der 
König eine ſchleunige und genugthuende Antwort. 

16) Segur 1. e. Vol. Lp. 130: Mais la faiblesse qui causa pew de 
tems après la ruine du pouvoir monarchique en France, rendoit dejä 
toutes les r&solutions du cabinet de Versailles lentes et incertaines. Le 
comte de Vergenmes entraindg par l’activit® du duc de la Vauguyon, 
avoit coltre son voeu et celui du röi; pris part aux premiers tronbles 


Holland bis 1787, 459 


der Dinge in den Niederlanden ſo ſonderbar, daß es ſchwer zu 
ſagen war, ob ein fremder Staat berechtigt ſei, der Provinz Hol- 
and beizuſtehen. Ms nämlich Frankreich anfangs den Staaten 
yon Holland Offiziere, Soldaten, Waffen zukommen ließ, beſchwer— 
ten ſich die Generalftanten darüber und nannten es eine Vers 
leßung der mit den ſämmtlichen Provinzen beftehenden Verträge. 

Sn dem Augenblick, als die Preußen Truppen marfchiren 
liegen, um die Unabhängigkeit des freien Staats unter dem Vor— 
wande zu unterdrücden, daß fie die preußifche Prinzeffin und ihren 
Gemahl in den ihnen entzogenen Rechten gewaltfam wieder ein- 
jeßen wollten, zeigten fich die verderblichften Folgen der Zwietracht. 
Nicht blos die Generalftanten vereinigten fich mit dem Prinzen, 


des Provinces-Unies. Engage dans cette querelle, le roi n’avoit sou- 
tenu les patriotes qu’ A regret; il craignoit, que celte contestation en 
suscitant une nouvelle guerre, n’achevät d’epuiser ses finances; cepen- 
dant il sentoit, qu’il ne pouvoit sans honte abandonner la Hollande à 
influence de V’Angleterre: il avoit toujours esper& terminer cette que- 
relle par un accomodement. M. de Montmorin qui avoit succed& a M. 
de. Vergennes dans le ministere. des afflaires Etrangeres, representoit, en 
vain, que pour parvenir à ce but il falloit developper autant de force 
que de sagesse, et que pour empächer la guerre il falloit se montrer 
pret à la soutenir avec succes; en vain le mar&chal de Segur, ministre 
de la guerre, renouveloit a chaque conseil la demande. des fonds ne- 
cessaires au rassemplement d'un camp a Givet. L’archeveque de Tou- 
louse, depuis archeväque de Sens, nouveau ministre des finances, homme 
de peu de moyens et d’une grande ambition, dont les femmes avoient 
fait la reputation et qui la perdit des qu’il fut à la tete des affaires, 
retardoit de jour en jour la deeision du conseil sur cette importante 
determination, et croyoit que les menaces d’un armement sans en fäire 
les frais suffiraient pour effrayer la Prusse. II &toit &vident que ce 
systeme pu6ril ne pouvoit pas avoir un long succ&s. Le duc de Bruns- 
wick, qui s'étoit avancé peu à peu jusqu’ aux frontieres de la repu- 
blique envoya des officiers reconnaitre les dispositions des Francois. 
N a dit lui-m&me souvent depuis son expedition, que s’il y avoit eu 
quelques tentes il n’auroit pas continue sa marche, parceque le roi de 
Prusse ne vouloit pas pour l’interet de sa soeur s’engager dans une 
guerre avee la France, dont la maison d’Autriche n’auroit: que trop 
profit. Mais en apprenant que les Frangois n’avoient pas un seul 
corps de troupes sous les armes, il jugea que la celerit& de son ex- 
pedition en assureroit le succès. 


460 Holland bis 1787. 


jondern nachdem Gelderland und Friesland fich ſchon längere Zeit 
hindurch oraniſch gezeigt Hatten, trennte fich auch Seeland von 
den jetzt demofvatifivenden Holländern und Utrechtern, mit denen 
nur noch Gröningen und das Fleine Overyſſel verbunden blieben, 
Sobald man fich verfichert Hatte, daß die Franzofen Feine Macht 
beifammen hätten, marfchirten die Truppen des Prinzen im 
Namen der alten Staaten von Utrecht von Amersfort aus gegen 
diefe Stadt und belagerten fie, während die Preußen fich in drei 
Heerabtheilungen vertheilt ebenfalls in Marfch festen. Die Staa- 
ten von Holland hatten namlich mit einer Antwort auf die info- 
Venten Forderungen, welche der preufifche Minifter an fie gethan 
hatte, bis zum 8. Sept. gewartet, an diefem Tage antworteten 
fie auf die Droßungen zwar demüthig und höflich, wichen aber 
doch der Forderung aus und billigten dag Betragen der Commif- 
jarien in MWoerden, indem fie bedauerten und um Verzeihung 
baten, daß der des Kriegsdienftes ungewohnte Officer mit blan= 
kem Degen vor der Prinzeſſin herumfpaziert ſei. 

She diefe Ermwiderung der Staaten noch vom Gefandten 
nach Berlin gefchieft war, erhielt er von dorther in derfelben 
Nacht eine neue ganz brutale Erklärung, die er am 9. übergab, 
Die Antwort, welche die Staaten am 12. gaben, würde, auch 
wenn fie nicht ablehnend gewejen wäre, wie fie war, doch zu ſpät 
gekommen fein, denn die Preußen waren fchon im Anzuge. Fünf- 
taufend Mann unter dem General von Lottum gingen bei Arn- 
heim über den Rhein und zogen gegen Utrecht; zwölftaufend unter 
dem Herzoge von Braunfchweig gingen bei Nimmwegen über bie 
Waal; fünftaufend unter von Kuobelsdorf zogen nah Zutphen, 
Den Fortfehritten der Preußen ſtand bis nach Amfterdam hin 
nichts entgegen, wodurch fie auch nur hätten einige Zeit aufge 
halten werden können, als der moraftige Boden und die ſumpfigen 
Wege; mir werden daher in einer allgemeinen Gefchichte der ein- 
zelnen Umftände diefes preußifchen Triumphs gar nicht erwähnen. 
Das Refultat war, daß der Grbftatthalter den Holländern, mie 
die Bourbons um 1814 den Frangofen, durch Fremde Bajonnette 
wieder aufgedrungen ward. Ganz paßt jedoch dieſe Vergleichung 
nicht, denn die oranifche Partet in den ſieben Provinzen war der 
patriottfchen an Zahl unftreitig gleich, und der demokratiſche Theil, 


Holland big 1787. 461 


oder der in den lebten Jahren erft zum Bewußtfein gefommene 
Theil der Bürgerfchaften vermochte noch fehr wenig. 

Obgleich Amfterdam einigen Widerftand that, fo war doch) 
die Unterwerfung der Provinzen unter die vorige Negterung in— 
nerhalb eines Monats beendigt, Die Sache war leichter als 1814 
in Franfreich, denn man durfte nur unter preußifchem Schub 
überall die Patrioten verdrängen und die Anhänger und Freunde 
des Haufes Dranien einfeßen, jo war die Reaction vollendet und 
die Gegenrevolution feit begründet. Diefe Gegenrevolution berei= 
tete indeffen dennoch eine neue Nevolution ganz anderer Art vor, 
weil ein großer Theil son denen, welche tim Holland den Demo- 
fraten emporgeholfen hatten, nach Frankreich flüchtete, Dort 
errichteten fie, als die franzöſiſche Nevolution ausbrach, Ausfchüffe, 
reisten hin und her, knüpften Gorrefpondenz mit Gleichgefinnten 
in ihrem Vaterlande an und bereiteten Alles für eine Revolution 
anderer Art, ald die vorige geweſen war, vor. 

Da der Prinz den Oberbefehl der ganzen Armee der ver— 
einigten Niederlande in der ganzen alten Ausdehnung. defielben 
wieder erhielt, jo bedurfte e8 Feiner fremden Truppen, um die 
Ruhe zu erhalten, doc wurden dem Prinzen fechstaufend Mann 
Preußen auf ſechs Monate geliehen. Auch bedurfte es Feiner 
Gewalttreiche, denn die Häupter der Batrioten entfernten ſich auf 
einige Zeit freiwillig, und da alle Obrigfeiten und Stadtmagi— 
firate mit Männern der oraniſchen Partei befett wurden, und 
der Erbftatthalter fein Recht des Einfluffes auf die Wahl der 
jouveränen Stadtmagiftrate noch in weiterem Umfange als vorher 
geltend machen Fonnte, jo herrfchte die oraniſche Faction im gan— 
zen Lande. Die preußifchen Truppen betrugen ſich mufterhaft 
und mußten oft dem oranifchen Pöbel Einhalt thun. Diefer plün- 
derte und mordete und verfolgte ſowohl die Urheber der demokra— 
tifchen Bewegung, als die Patrioten, Die vranifchen Gerichte 
und Obrigfeiten begünftigten heimlich den Pöbel; dieſe ftille 
Reaction, nicht öffentliche Verfolgung der Regierung, trieb jene 
bedeutenden Männer aus dem Lande, welche hernach die Aus— 
ichüffe zu St. Omer“ und Dünkirchen bildeten, deren Wirk— 
jamfeit exit feit dem Sahre 1792 der herrfchenden Partei ges 
fährlich ward, 


462 Holland bis 1787. 


Der ganze Bortheil diefer Kataftrophe ward wie gewöhnlich 
den gut berechnenden Engländern zu Theil; den Schimpf hatte 
Frankreich; den Schaden die Republik der fieben Provinzen; den 
eiteln und augenbliclichen Ruhm eines Siegs, ohne einen Feind 
bekämpft zu haben, kaufte Preußen mit einem fehr ſchweren Geld- 
aufwand zu einer Zeit, ald der neue König die von feinem Vor— 
ganger gefammelten Schäbe auch auf jede andere Weiſe Teicht- 
finnig verfchwendete, Was zunächſt England betrifft, jo erreichte 
-28 blos durch politifche Künfte und durch die Rolle, welche Har- 
ris bei diefer ganzen Nevolutionsgefchichte vermöge der Prinzeſſin 
ipielte, ein Ziel, nad) dem es das ganze Jahrhundert hindurch 
vergeblich geftrebt hatte. Es unterdrückte nämlich die franzöſiſche 
Partei in den Niederlanden gänzlich und ſchloß eine innige und 
nothwendige Verbindung mit der Gegenpartei der Republikaner, 
bie fih an Franfreich zu halten pflegten, Es ward im April 1788 
ein Defenſivtraktat zwifchen Holland, Preußen, England gefchlof- 
ſen, der für Preußen nicht den geringften Vortheil hatte, wodurch 
aber Holland, dem in diefem Traktat feine Verfaſſung, das Heißt 
die Regierung des Erbſtatthalters verbürgt ward, ſpäter in den 
Revolutionskrieg hineingezogen wurde. 

In Frankreich benutzte die Partei, die ſchon damals sn 
arbeitete, Durch den Sturz des regierenden Zweigs der Bourbong, 
von dem durchaus Feine Aenderung des veralteten Syſtems der 
Regierung zu erwarten war, eine neue Einrichtung des Reiche 
möglich zu machen, den. Unwillen der Nation über die preufifche 
Expedition auf diefelbe Weife, wie fie vorher die Unzufriedenheit 
über die Geldzahlung an den Kaiſer bei der Vermittlung der 
Streitigkeiten über deſſen Forderungen an Holland benust hatte. 
Die auf ihre militärischen Eigenſchaften mit allem Recht ftolgen, 
und bis zum Kindifchen auf ihre Nationalehre eiferfüchtigen Fran— 
zofen haben e8 weder dem damaligen Minifterium, noch ihrem 
ſchwachen Könige je verzeihen konnen, daß auf die bloßen Dro- 
hungen der Engländer nicht blos die Rüſtungen gleich eingeftellt, 
ſondern auch Die geflüchteten Holländer entwaffnet und von den - 
-Gränzen entfernt wurden, 

Breußen ward durch die unzeitige Großmuth des Königs in 
jehr bedeutende, ganz unnöthige Koften geftürzt, mel, "wenn es 


Holland bis 1787. 463 


„ wirklich nöthig war, die Verhinderung der Reiſe einer preußiſchen 
Prinzeſſin mit den Waffen zu rächen und fie und ihren Gemahl 
mit einer Armee zurüczuführen, es doch höchſt ungerecht war, 
den armen Preußen zuzumuthen, aus ihrem Bentel zu bezahlen, 
was. die reichen Holländer gefündigt Hatten. Durch das Glück 
diefes fehnellen Zugs gegen Spiepbürger und ſchlecht geübte Sol— 
daten vermehrte ſich außerdem in Preußen die militärtfche Bürger- 
verachtung der adeligen Dffieieve, befonders der Garde, und das 
Selbftvertrauen und die Cinbildung des Herzogs von Braun— 
jchweig von feinen eignen fehr großen Feldherrntalenten, in wel- 
cher ſowohl Mauvillon als Mirabeau dieſen Oberanführer der 
preußiſchen Armee beftärkt hatten, bis auf einen unglaublichen Grad, 
daß felbft die Erfahrung in der Champagne weder: die Officiere 
noch ihren Chef von ihrer Verblendung heilen konnte. 

Um: diefe Zeit glich Friedrich Wilhelms Regierung dem Ende 
dev Regierung Ludwigs XV; denn auch der König von Preußen 
hoffte, wie Ludwig, Gott wegen aller Sünden des Fleifches durch 
blinden Glauben ımd wilde Schwärmerei, befonders aber durch 
Eifern für die alte rechte Lehre und für den alten Kirchenglauben 
verföhnen zu können. Wöllner, der anfangs wentgftens äußerlich 
hatte an fich halten müffen, weil der König nicht fogleich als 
Reactionär hatte erfcheinen wollen, durfte fich mit einer Schaar 
Steifgläubiger umgeben, ein fogenanntes Religionsediet erlaſſen 
And gegen den Nationalismus - wüthen. Er hatte dabei einen 
ſchwerern Kampf als die, welche in unfern Tagen in feine Spu— 
ven treten, weil ev dabet nicht wie diefe, von zwei PBarteten, von 
‚ben Unverbefjerlichen oder Köhlergläubigen und von den: mit Re— 
densarten und Modephiloſophie und Poeſie Spielenden, ‚die nad) 
der Mode und dem Ton der Zeit bald gläubig, bald ungläubig 
find, unterſtützt ward. ı Wollte man übrigens Scandale oder Sa— 
tyre Statt Gefchichte fchreiben., fo böte die preußifche Geſchichte 
der Zeit Friedrich Wilhelms IL. dazu denfelben reichen Stoff, als 
die Geſchichte Ludwigs XV. Der durch den Zug nach Holland 
vermehrte Uebermuth und die Verachtung alles Bürgerlichen und 
‚der Moral war namlich unter dem preußtfchen Adel damals eben 
ſo herrſchend geworden als unter dem franzöftichen Hofadel, Der 
Hochmuth und das thörichte Selbſtvertrauen dieſer ſittenloſen Seit, 


A464 Holland bis 1787. 


wo man jeden jteif rechtlichen Mann einen unbrauchbaven Pedan- 
ten jchalt, überlebte fogar den unglücfeligen Zug in der Cham⸗ 
pagne und ward bis auf die Zeit der Schlacht bei Rt fort- 
gepflanzt. Wir alle freuten uns daher fehr, als das auf biefe 
Schlacht folgende Elend eine völlige Wiedergeburt ımter den 
Preußen bewirkt zu haben ſchien, und als endlich einmal’ das 
Prahlen und Pochen verfchwand. Wir alle hofften damals, daß 
der dejpotifche und ſervile Geift übermüthiger Beamten und Of- 
ficiere gänzlich und auf immer verſchwunden fet. 

Wir wollen weder hier, noch im Folgenden uns auf Hofges. 
Ichichten einlaffen, weil wir auch in den franzöfifchen Gefchichten 
einen gleichen Grundſatz befolgt haben und befolgen werden; ob— 
gleich Yeider! darüber die Quellen am veichhaltigften find, und 
den, der nur Zeitvertreib im Leſen fucht, beffer unterhalten als 
ernste Sejchichte thun würde, Mirabeaus Briefe enthalten ſchon 
einen guten Vorrath von Klatjchereien, wahren und falſchen; nad) 
1806 erſchien aber befanntlich eine ganze Bibliothek yon Schrif- 
ten über die preußifche Hofgeſchichte. Schon die allgemein be— 
fannten Gefchichten und das tägliche Leben eines ſchwachen von 
Sinnlichkeit und Fantafie, alfo auch durch Aberglauben und My— 
ſticismus beherrſchten Königs find anſtößig genug; die geheime 
GSefchichte der Scandale jener Zeit würde viele Bande füllen. 
Dahin gehört 3. B., daß anfangs die Königin, die längſt die 
Rolle fpielte, welche Ludwigs XV. Gemahlin an feinem Hofe 
hatte, geneigt geweſen war, für Geld ihre Einwilligung zu geben, 
daß das Fräulein von Voß dem Könige an der linken Hand an— 
getraut werde, fo daß der fromme König zur gleicher Zeit zwei 
Frauen, unzählige Betfchläferinnen und eine erklärte Mätreſſe 
in der Frau Nie würde gehabt Haben. Die Rietz machte 
übrigens bei Friedrich Wilhelm, wie die Pompadour * Lud⸗ 
wig XV. die Gelegenheitsmacherin. 

Als das Fräulein von Voß 1789 geſtorben war, 
nämlich die Tochter des Waldhorniſten Enke, die der König mit 
ſeinem Kämmerer Rietz vermählt und deren Sohn er unmittelbar 
nach ſeinem Regierungsantritt zum Grafen von der Mark gemacht 
hatte, erſt eigentlich ihre Rolle zu ſpielen. Sie trieb das Ge— 
ſchäft der Pompadour, welche bekanntlich für Ludwig XV. auf 


Frankreich bis 1788, 465 


eine Weiſe forgen mußte, die ihr allein befannt war und bekannt 
jein konnte, Sie ward die Hauptperfon im Neiche, und wie e8 
in diefem Neiche ausſah, welche Nolle fie darin als Gräfin von 
Lichtenau fpielte, hat fie ung ſelbſt durch ihren Defenfor jagen 
laſſen. Das von ihr eingegebene, durchaus gemeine und unver— 
ſchämte, mit gemeinen und niederträchtigen Aftenftücen geſpickte 
Buch, welches der Prorector Schummel in Breslau in unferm 
Sahrhundert herausgab, 17) ift nicht, wie Mirabeaus Briefe, ges 
fchrieben, um Alles ins Schwarze zu malen; fondern um fo viel 
wie möglich Alles zu vechtfertigen. Wer einigen Takt hat, wird 
ſich aus diefem Büchlein allein fchon ein Gemälde der Berliner 
Zuftande entwerfen können, welche. übrigens nicht mehr in bie 
hier behandelte Periode gehören. 


& 3. 


Belgiſche, holländiſche, franzöſiſche Innere Streitigkeiten. 
c. Frankreich. 


Wir haben uns bemüht, in der erſten Abtheilung dieſes 
Bandes durch die Geſchichtserzählung und durch ihre Anordnung 
und Einkleidung handgreiflich zu machen, daß es nicht die jähr— 
liche Lücke in der Staatseinnahme und die ſteigende Unmöglichkeit, 
die jährlichen Ausgaben zu beſtreiten, an und für ſich ſelbſt wa— 
ren, welche das Bedürfniß einer gänzlichen Veränderung der 
Staatsverfaſſung ſchon unter Ludwig XV. allgemein fühlbar 
machten. Wir haben gezeigt, daß es unmöglich war, die Mittel 
zu benutzen, welche die Zeit und die neue Wiſſenſchaft der Staats- 
Haushaltung erforderten, wenn nicht eine völlige Neform des Her— 
gebrachten erfolgte. In allen Ländern Europas waren nach und 
nach viele Veränderungen, wenn auch nicht gerade zum Beſſern 





17) Apologie der Oräfin Lichtenau gegen die Befchuldigungen mehrerer 
Schriftſteller. Bon ihr ſelbſt entworfen, Nebft einer Auswahl von Briefen 
an fie. Erſte und zweite Abthellung. Leipzig und Gera, bei Wilhelm 
Heinfius. 1808. 298 u. 306 ©. gr. 12. 


Schloſſer, Geſch. d. 18: u. 19. Jahrh, IV. Thl. 4. Aufl. 30 


466 Frankreich bis 1788, 


gemacht worden. In Frankreich hatte man nicht einmal Hlerar- 
chie und Ariſtokratie in unweſentlichen Dingen befchränkt, wie doch 
Marin Therefin im ſtreng eonfersativen Defterreich zu thun ge— 
wagt hatte, Die Mafchine blieb wie fie unter Ludwig XIV. 
gewejen war, aber alle Räder waren vojtig und die Feder verlor 
alle Slaftieität. Weder der Wechfel der: Finanzminifter hatte ge= 
holfen, noch hätte die Sparfamfeit des Hofes, die Verminderung 
der Ausgaben und Bermeidung neuer Schulden, welche Neder 
als Univerfalmittel empfahl, auf die Dauer helfen Tonnen, 
Für den Augenbli wäre freilich die Sparjamfeit, wozu er rieth, 
nicht ganz überflüſſig geweſen und die Teichtfinnige Verſchwendung 
der Prinzen: war feineswegs, wie Galonne zu behaupten: fich un— 
terftand, als Mittel, Gewerbjamfeit zu ermuntern, dem Otaate 
unentbehrlich. 

Schon feit Ludwigs XIV. Zeiten war die franzöſiſche Staats— 
kaſſe entweder wirklich im Bankerott oder in der Lage eines gro= 
Fen  Haufes, das bald einmal feine Zahlungen einftellt, bald fich 
auf jede Art, redlich oder unvedlich, aus der augenblicklichen Ver— 
legenheit hilft und fie wieder aufnimmt, Es kam darauf an, im 
Kamen und mit Hülfe des Volkes auch. die bisher. Privilegirten 
zu gleichen Beiträgen mit.den andern Staatsbürgern zu zwingen 
und zugleich alle Hemmniffe und Beichränfungen der Betriebſam— 
feit und. des Verkehrs wegzuräumen; um dies zu thun, hätte man 
‚aber Adel und Geiftlichkeit gebrauchen müſſen, de fich wohl hü— 
‚teten, Zaften auf fich zu laden. 

Es ſcheint uns, als wenn man auf Neckers Grundfäke, wie 
auf ſehr viele andere ganz zufällige, zu jeder andern Zeit unbe— 
beutende Dinge, ja ſogar auf das fogenannte Defieit und auf den 
Aufwand der Prinzen, der, verglichen mit dem, was unter 2ub- 
wig Philipp und. auch gegenwärtig wieder ganz ohne allen Nusen 
für die Gefammtheit ausgegeben wird, ganz unbedeutend erſcheint, 
bei einer Weltbegebenheit, wie die Revolution, welche eine reife 
Geburt der feit dev Negentfchaft mit einer gänzlichen Umgeſtal— 
tung ſchwangeren Zeit war, viel zu große Bedeutung gelegt hätte, 
Man kann jedoch ohne Bedenken zugeben, daß Neckers liberale 
Anſichten und ſein Anleiheſyſtem, wie Calonnes Leichtferligkeit 
und Verſchwendung für den Hof, die Prinzen, Günſtlinge und 









Frankrelch bis 1788. 167 


en die Kataſtrophe etwas ſchneller herbeiführte, als fie 
folgt wäre. Die DVergleichung des jetzigen Frankreich, 
erlich moralifcher iſt oder beſſer vegtert wird als Frank— 
ter Neckers Miniſterium regiert ward und die Summen, 
hrlich aufbringen muß und Tann, beweifen, daß diefe 
w heiffam fir das Ganze war, 

gar der Blutſauger Frankreichs, deffen Herz hart mar 
Stein, der Finanzminifter di Terray, erflärte am Ende 
——— rau, ohne daß es ihm einfiel, daß die Revolution irgend 
9 anders herkommen könne als aus dem autofratifchen Ka— 
binet, daß ohne eine gänzliche Veränderung der beitehenden 
Ordnung der Dinge die Staatsausgaben nicht mehr beſteitten 
werden könnten. 

Man hatte Necker geſucht und trotz ſeiner der Königin, dem 
Könige ſogar und dem Hofadel wenig zuſagenden doctrinären, 
auf Genfer und bürgerliche Weiſe etwas pedantiſchen Formen am 
Hofe und in den Geſchäften geduldet, weil er die nöthigen Sum— 
men für den nordamerikaniſchen Krieg anzuſchaffen wußte, ohne 
neue Steuern vorzuſchlagen. Man ertrug es darum auch, daß 
er ſich einbildete, daß die von ihm der Königin, den Prinzen und 
dem Hofe empfohlene Sparſamkeit, welche unſtreitig unter den 
Umſtänden moraliſche Pflicht geweſen wäre, auch eine Maß- 
regel politiſcher Weisheit und finanzieller Aushülfe für einen ſo 
großen Staat ſein könne. In Genf oder Schweden oder Dänemark 
wäre das anders geweſen. Necker ſelbſt ſagt ung, man Habe ihm, 
den Kaufmann, genommen, weil man Credit gebraucht habe und 
schlechterdings Anleihen habe machen müſſen, deren vortheilhafteſte 
Einrichtung und Erlangung der Gefchäftsführer eines fehr großen 
Bankierhauſes am beiten verftehe. Er gefteht bei.diefer Gelegenheit 
zugleich, daß er. fich als Mintfter einer großen und glänzenden. Mi- 
litärmonarchie, die. mit einer Hierarchie und einem: mächtigen Adel 
des Mittelalters und mit allem Flitter und Plunder, der zur Re— 
präſentation großer Höfe gehört, belaſtet geweſen fet, eingebildet Habe, 
mit den Mitteln, die in einer großen Privathaushaltung oder. in 
einen Kleinen Breiftant ganz vortrefflich fein - mögen, eingewur- 
zelten. ungeheuern Mebeln abhelfen zu können. Das bezeichnet 
den ganzen Mann, a wenn man die doetrinäre Sicher— 
30* 


468 Frankreich bis 1788, 


heit des Tons und Ausdrucks dazu nimmt, mit dem er das 
alles vorträgt. 18) 

In der Vertheidigung feines zweiten Minifteriums berichtet 
ung Necker jelbit, daß es unmöglich geweſen ſei, dem Mentor des 
Königs, der an ber Spitze der Gefchäfte ftand, zu einer ernften 
Anficht der Dinge zu bringen. Maurepas war ein alter Höfling 
und Witzmacher; er konnte, wie die Weiber son großem Ton, 
von Allem veden und hatte yon Allem veden hören, Gr glaubte, 
wie Weltleute pflegen, Alles beffer zu willen, Sinn für einen 
großen und veiflich geprüften Plan Eonnte man ihm nicht bei- 
bringen. Necker erzählt, daß alles, was der fchwache aber mohl- 
meinende König gebilligt hatte, auch noch erſt der Kritik der Kö— 
nigin, die fich beffer auf Flitterfiaat als auf Politik und Finan- 
zen verftand, und der der Prinzen, der Polignacs und fogar der 
der Frau son Campan unterworfen wurde, welche Iebtere uns 
ihre Weisheit in ihren Denkwürdigkeiten mitgetheilt Hat. Er ſchil— 
dert auf eine wahrhaft tragifomifche Weife die Angft, die er je 
desmal empfand, wenn er die lange dunkle Treppe zu dem klei— 
nen Kabinet, welches Maurepas in Verſailles über dem könig— 
lichen zum Arbeitszimmer hatte, hinaufitieg und mit einem neuen 
Einfall fchwanger ging, den er dem alten Grafen begreiflich 
machen ſollte. Man lernt aus feinen eignen Worten, wie jehr 





18) &r fagt (Sur Vadministration de Mr. Necker par lui méême. 
Paris 1791) pag. 8: Les moyens auxquels je mis ma prineipale con- _ 
fiance &toient l’ordre, l’&conomie et V’application de la morale à toutes 
les transaetions. Dann rechtfertigt er fein Anleiheſyſtem pag. 9 auf eine 
ſolche Welfe, daß man fieht, daß er auch 1791 noch nicht begriff, daß er eine 
Sade unternommen hatte, deren Unmöglichkeit jedermann auf den erſten 
Blick erkennt. Er fagt pag. 9: Il etoit reserve A l'ésprit de nouveaute 
qui nous gouverne sur tous les points, de censurer l’usage du credit 
pendant la derniere guerre, comme s’il y avait eu une possibilit& de 
subvenir par des impöts à des besoins immenses. Je ne sais ce que 
la nation pourra payer en extraordinaire sous un gouvernement oü 
elle reglera elle-m&me toutes les contributions et toutes les depenses 
mais autrefois on auroit &prouve des resistences tres-nuisibles a la 
confiance publique si des les commencemens de la guerre on eüt de- 
mandé un troisitme vingtitme et ce suppl&ment n’eüt valu que vn ä 
vingt cing millions. 


Frankreich bis 1788. 469 


der nad) Genf Manier gebildete Mann fich durch feine übrigens 
ganz vortvefflich gemeinte moraliſch-doctrinäre Predigt die Sache 
bei Leuten erfchweren mußte, die, weil fie in Talleyrands Manter 
geiftreich waren, auch dachten mie dieſer. Necker führte gleichwohl 
manche DVerbefferungen ein, worunter wir befonders der Pro— 
vinztalverfammlungen als eines erften Schritts zu wefentlichen 
Aenderungen erwähnen. 19) Dies war um 1779; er fiel aber, 
jobald er es wagte, den Schleier des Geheimnifjes, der die My- 
fterien des Kabinets und der Finanzen deefte, auch nur einwenig 
zu lüften. Necker wollte, um die Anleihen, die im Laufe des 
nordamerifanifchen Kriegs gemacht werden mußten, zu erleichtern, 
vieleicht auch gelegentlich und fich felbit unbewußt, um auf feine 
Verwaltung ein glänzendes Licht zu werfen, eine Billanz oder 
eine Rechenfchaft der Verwaltung der Finanzen öffentlich vorlegen. 
Dies geſchah durch ein gedruckte Buch (compte rendu) im Ja— 
nuar 1781 und verfchaffte Necker einen ſehr kurz dauernden Ruhm 
und eine gefährliche Popularität unter denjenigen Franzofen, 
welche wmefentliche Veränderung aller VBerhältniffe und Cinrich- 
tungen, nicht blos ein Ausflicken der alten morfchen Staatsma— 
ſchine und temporäre Finanzmaßregeln wünſchten. Zu einem ſol— 
chen Gejchäft war aber Necfer nicht gemacht; man pries ihn da= 
her in jener Zeit nur darum, weil er dreifteren. Männern den 
Meg bahnte. Vom Hofe ward feine Schrift als gefährliche 
Neuerung angeſehen, die Parlamente, alle zahlreichen Freunde des 
Alten und Veralteten erbebten, obgleich Necfer feinem neuen An— 
leihen dadurch allerdings einen günftigen Fortgang verfchaffte. 
Welche: Blößen übrigens Necker vermöge der Eitelkeit und der 
ſich und die Familie und die Freunde vergätternden Manier, die 
feiner Tochter, der Frau von Stack, beffer gelungen ift und fie 
weltberühmt gemacht hat, den Spöttern am Hofe, einem Calonne 
und andern Meiftern des Witzes der Salons gab, lernt man 





19) Was Neders Verwaltung angeht, fo wird man wohl thun, darüber 
den vierten Abfchnitt des erſten Theils der Geſchichte der Staatsveränderung 
in Srankreih unter König Ludwig XVI. (Leipzig, Brodhaus 1827) nachzu⸗ 
lefen, da wir fowohl das Adminiſtrationsweſen und die Finanzen, als bie 
eigentliche Kriegsgeſchichte nur im Vorbeigehen behandeln dürfen, wenn wir 
unſern Zweck nicht verfehlen wollen. 


ATO Frankreich bis 1788. 


gelegentlich aus feinem Buche über die, Finanzen, Er kann fich 
nämlich nicht enthalten, im diefem Berichte über die Finanzen 
eines großen Reichs, der zwar an den König gerichtet ift, aber 
doch zum Druck beftimmt war, den König gelegentlich won feiner 
(Neckers) Frau und von ihren Berdienften zu unterhalten. 

Durch den Schritt, den Necker gethan hatte, ward feine 
Stellung ſehr bedenklich. - Maurepas war nicht weniger als die 
Minifter dadurch gekränkt, daß Necker in feiner Ueberſchätzung 
deffen, was er zu leiften im Stande ſei, fich allein als Retter 
des Reichs darftellte und son den Staatäbürgern, welche Aende— 
rungen wünfchten, auch wirklich als folcher angefehen ward, Es 
war daher feinen Feinden jehr gelegen, daß er gerade in dieſem 
Augenblie darauf beſtand, wirkliches Mitglied des Minifteriums 
zu werden, Damit er im den Sitzungen deffelben perſönlich dem 
Könige vortragen könne. Necker nämlich war anfangs als Finanz- 
rath angeftellt, ev ward hernad) Diveftor des Schabes und ward 
endlich unter dem Titel eines: Generaldireftors der Finanzen eigent- 
lich Finanzminifter, mußte aber, weil er nicht Generalcontroleur 
ber Finanzen hieß, feine Berichte durch) Maurepas im Minifter- 
rathe vortragen und vertbeidigen laſſen, dem wenig daran lag, 
daß fie Erfolg hattenz feine Forderung betraf daher nicht bios 
eine leere Ehre. Man nahm feinen Proteſtantismus, der, wenn 
man gewollt hätte, damals Fein Hinderniß gewefen ſein würde, 
blos zum Vorwand, ihm den Titel des Amts, das er wirklich 
bekleidete, zu serweigern und ihn. won der Theilnahme an den 
Derathichlagungen des geheimen Raths auszufchließen. Den Wink, 
den man ihm dadurch geben wollte, konnte er nicht verkennen; er 
verließ Daher eine Stelle, yon der er) weder Befoldung noch irgend 
einen andern Vortheil gezogen hatte. Kaum hatte er am 20. Mat 
1781 erklärt, daß er fich zurückziehen wolle, als er auch noch an 
demjelben Tage feine Entlafjung erhielt. 

Sp ſchwierig der Bolten war, den Neder verließ, ſo fehlte 
es doch an Bewerbern nicht, und die zahlreichen Denkwürdigkeiten 
jener Periode, wie die aus ihnen geſchriebenen Geſchichten der 
letzten Jahre der alten Regierung von Frankreich find voll Anek— 
doten und Klatſchereien über die Kabalen der müßigen und leicht- 
fertigen Leute, die am Hofe, wo über das Minifterium unterhans 


Frankreich bis 1788. 471 


delt ward, inte über ein Ballet oder über eine. Oper, Einfluß 
hatten oder haben wollten, Wir erfahren dort alles, was Maus 
vepas, was die Königin, was der ganze Troß von Hofleuten und 
Bringen wollten oder nicht wollten. Wir Halten uns dabet nicht 
auf, Tondern erwähnen nur zwei Dinge, die uns zuverläfliger und 
bedentender ſcheinen, als. Anekdoten und Hofgefchichten. 

‚Der eine Punkt, daß jeßt zum zweiten Mal dem Volke, 
das heißt allen Berftändigen, die Sinn und Urtheil für die An— 
gelegenheiten des Baterlandes hatten, weß Standes fie auch immer 
fein mögen, fund gegeben und bewiejen ward, daß von Dem 
ſchwachen Könige und ſeinem guten: Willen feine entfchiedene 
Mafregel zu Hoffen ſei. Dev König hatte eingefehen, daß Türgot, 
der die alten Mißbräuche mit der Wurzel austilgen wollte, der 
Mintfter jet, den die Zeit fordere, er hatte ihn fallen laſſen, ſo— 
bald er heftigen Widerftand im Parlamente gefunden. Daffelbe 
erfolgte, als jet dev Hof und die Prinzen gegen Necker ſchrieen, 
der fchon darum allein: dem Volke gefallen mußte, weil er gegen 
Verſchwendung und gegen den Aufwand eiferte, den der Hof und 
die Bringen, um des leeren und eiteln Glanzes willen, machten. 
Da in jener Zeit gerade der achtbarfte, kräftigſte und erleuchtetfte 
Theil der Franzoſen, den man nicht wie den Pöbel mit: Bajon— 
netten und Flintenkugeln zum Schweigen bringen fonnte, einfah, 
daß nur Widerftand und zwar heftiger und Fraftiger Widerftand, 
den König und den Hof zum Guten zwingen werde, jo wurden 
auch von denen, welche einen Umſturz nicht wünſchen  Eonnten, 
die heftigften Gegner der Regierung den gemäßigten vorgezogen. 
Der zweite Punkt, den wir hervorheben möchten, hängt mit dem 
erften innig zuſammen. Necker erhielt namlich Durch dieſe Ent— 
laſſung in der Volksmeinung eine Stellung, die ihm nicht: ge= 
bührte, Er galt fortan für einen großen‘ Staatsmann. Dazu 
gehören aber in unſern Zeiten und bei verdorbenen Sitten und 
Zünftlichen Berhältniffen ganz andere Eigenfchaften, als die eines 
ehrlichen und verftändigen Mannes und eines gefchieften und er— 
fahınen Kaufmanns und Bankiers. Die Barifer Salons, das 
Gerede feiner Frau und feiner Tochter und ihrer fehr zahlreichen 
Freunde, der ganze damals herrſchende Liberalismus der Zeit, 
feine Vneigenmügigkeit und Sparfamfeit ſchufen ihm einen eolof= 


412 Sranfreich bis 1788, 


falen Ruhm, Diefer Ruhm ward durch den Contraſt der ſchran— 
fenlofen Vergeudung und der unredlichen Verwaltung eines Ca— 
Ionne fehr vermehrt, er Fonnte ihm aber, als hernach auf Ge— 
wandtheit und politifche Fähigfeit mehr anfam als auf Rechtlich- 
feit, nicht entprechen. Er mußte alfo das Schiff des Staats, 
welches er zu fleuern übernommen hatte, mitten im Sturme ſei— 
nem Schickſale überlaffen. Neder war in dem Augenblick, als 
er abtreten mußte, bejonders darum als Volksfreund beliebt, weil 
er Sowohl Türgots, beionders den Güterbefigern und Fleinen vä— 
terlichen Dynaften günftiges Syitem, als die Hoftheorie des mo— 
narchiſchen Glanzes und der monarchifchen Verſchwendung, welche 
hernach Calonne in Schuß nahm, öffentlich bekämpft hatte, Er for— 
derte außerdem Deffentlichfeit in Staatsangelegenheiten, ftiftete des— 
halb Brovinzialverfammlungen und wollte die Rechenfchaft der Fi- 
nanzverwaltung öffentlich bekannt machen. Necker hatte fich dem Volke 
vorzüglich durch viele unter feiner Verwaltung erlaffene, dem alten 
fisfalifchen Charakter der vom Finanzminifterium gefaßten Befchlüffe 
ganz unähnliche Verordnungen beliebt gemacht. Seine Ermahnungen 
zur Sparjamfeit im Hof- und Staatshaushalte und die Erjparniffe, 
deren er fich rühmte, über welche vielleicht Männer, welche Einficht 
in große Verhältnifje hatten und das Wefen der Monarchien Fannten, 
mit Recht Tächelten, fehienen dem Bürgersmann, der nach feinen häus— 
lichen Verhältniffen urtheilt, das rechte und einzige Mittel, den Banke— 
rott zu verhindern. Unter allen Hoffnungen, welche Necker wäh— 
vend feines Minifteriums erweckt hatte, war aber bejonders eine, 
wegen deren er mit Recht ala Erlöfer des leidenden Volks be 
trachtet werden konnte. Er wollte e8 nämlich wagen, dem Grund= 
übel des alten Frankreich abzuhelfen, er wollte von ben Privi— 
legirten einen Beitrag zu den Ausgaben des Staats fordern, 
beffen erfte und reichte Bürger fie waren. Necker hatte deßhalb 
angekündigt, daß die neuen Cinrichtungen, die er in Rückſicht der 
fogenannten Taifle, welche vorher ganz allein die auch in andern 
Beziehungen mit Steuern übermäßig gedrücten Staatsbürger traf, 
gemacht habe, nur die gleiche Beftenerung aller Klaſſen der Staats— 
bürger vorbereiten jollten. 

Joly de Fleury, welcher nach Neckers Entlaffung Finanz= 
minifter wurde, befand fich in der größten DVerlegenheit, da er 


Frankreich 616 1788; 473 


unmittelbar Geld anfchaffen follte und ſchon darum feinen Credit 
fand, weil diefer an Neckers Berfönlichkeit geknüpft geweſen war, 
Necker ftand mit allen Großhändlern und Bankters in Verbin— 
dung, fein Nachfolger nicht; er verfprach öffentlich Rechnung ab- 
zulegen, fein Nachfolger hüllte fich in das alte Dunkel, In dem 
Augenblick, ald Joly de Fleury Gontroleur ward, forderte gerade 
der amerifanifche Krieg den großten Aufwand, Von neuen Ein- 
richtungen und neuer Bertheilung der Abgaben konnte, weil fogar 
Necker wegen feiner Neuerungen und Freiheitsideen verfchrien ward, 
nicht die Rede fein, Joly de Fleury mußte alfo Anleihen unter 
höchſt ungünftigen Bedingungen ſuchen. Die Staatskaffe ward 
auf diefe Weife auf eben die Art aus einer Derlegenheit in eine 
größere geftürzt, wie oft das unermeßliche Vermögen reicher Herr— 
Ichaften unbegreiflich fehnell in die Hande der Wucherer fallt. 

Die Wiffenfchaft, neue Auflagen durch eine Anzahl Leute, 
die fi) Repräfentanten des Volks nennen, ohne es zu fein, de— 
fretiren zu laſſen, war damals noch nicht erfunden; Solly de 
Fleury ſah fich daher gezwungen, diejenigen, welche Erleichterung 
wünfchten, durch Erhöhung der alten Abgaben noch härter zu 
belaiten. 

In welcher Verlegenheit fich die franzöſiſche Regierung ge— 
vade im Augenblicke der Unterhandlung über die Präliminarien 
befand, fieht man ſchon allein daraus, daß der Finanzminifter 
abtreten mußte, weil er fich in Nückficht des Aufwandes des letz⸗ 
ten Kriegsjahrs nicht zu helfen wußte Joly de Fleury mußte 
am Anfange des Jahrs 1783: feine Stelfe verlaffen, weil er nicht 
im Stande war, die Summen aufzubringen, welche nöthig waren, 
die im lebten Kriege auf den Schat gezogenen, son bedeutenden 
Häufern als Zahlung angenommenen Wechfel zu zahlen. Als 
die Staatsfaffe ihrer DWerbindlichkeit nicht entfprach, kamen die 
erſten franzöſiſchen Bankiers und Großhändler in Gefahr. Die 
Widerbeſetzung der Stelle des Controleurs, die der König zu leicht 
nahm, war daher eine fehwierige Sache. Wenn man nämlich 
bei andern Gelegenheiten dem Könige vorwarf, daß er fich von 
jeiner Gemahlin und feinen Brüdern zu viel einveden Vie, oder 
Maurepas (der Ende 1781 geftorben war) zu unbedingt folgte, 
jo machte er dieſes Mal dadurch, daß er ganz allein feinem Kopfe 


474 Frankreich is 1788, 


folgte, aus Mangel an Gefchäftserfahrung einen fehr groben Fehlgriff. 
Nach Maurepas Tode hatten mit allem Rechte der Minifter der 
auswärtigen Angelegenheiten, Vergennes, und der Juſtizminiſter 
(Garde-des-sceaux) Miromentl, einen Theil feines Mentorge- 
ſchäfts übernommen. Sie fchlugen auch jest dem Könige drei Män— 
ner zu der erledigten Stelle vor, er ernannte aber keinen von 
diefen, fondern einen jungen Mann von zwei und dreißig Fahren, 
Diefen Mann hatte er in einer Verwaltungsftelle kennen lernen, 
wo er ganz vortrefflich fein konnte, ohne darum den Finanzge- 
ſchäften eines verjchuldeten Reichs, deſſen Ausgaben jedes Jahr die 
Einnahme um fünfzig Milftionen überftiegen, gewachfen zu fein, 

Diefer neue, vom Könige unmittelbar ernannte Controleur 
war Lefevre d'Ormeſſon dAmboile, der erſt Parlamentsrath, 
dann gleich ſeinem Vater und Großvater Intendant der Finanzen 
geweſen war. Der König hatte ſeine perſönliche Bekanntſchaft 
gemacht, weil d'Ormeſſon die Verwaltung der königlichen Anſtalt 
zu St. Cyr unter ſeinen Augen geleitet hatte. Er war ein recht— 
licher Mann ind im. Gegenfat Neckers, den der König, weil er 
Broteftant war, immer nur mit Angftlicher Schen neben fich ſah, 
in der ftrengen Firchlichen Form aufrichtiger Katholif, Er empfand 
übrigens jelbft, troß des Zutrauens, welches der König in ihn 
feßte, daß er dem ſchwierigſten Poſten in den ſchwierigſten Zeiten 
nicht gewachſen ſei. Er lehnte gleich Necker alle Vortheile feiner 
Stelle und auch fogar die Befoldung ab, und als man ihm her— 
nach gleichwohl eine Summe aufdrang, überließ er fie der wohl- 
thätigen Anftalt von St. Eyr, die er leitete und die auch dem 
guten Könige ſehr am Herzen lag. Der Irrthum des Königs 
in der Wahl diefes Mannes ward fogleich Harz denn er ent- 
zweite fich mit Vergenned und vermehrte durch fein Schwanken, 
Zögern, Zagen, durch die Furchtfamfeit, die ihn unfähig machte, 
im entfchetdenden Augenbi einen ſchnellen Entſchluß an faflen, 
die natürliche Unentichloffenheit des Königs. Ä 

Mit feinen Eolfegen gefpannt, am Inftigen Hofe Ar peban- 
tiſch verhtlicher und religiöfer Mann ohne Halt, war H’Ormeflon 
anfangs wenigftens im Publikum geachtet: Zwei Tehlgriffe beraubten 
ihn aber auch diefer Stüße und er mußte noch im November dei- 
ſelben Jahrs feine Stelle wieder aufgeben, Die Schritte, welche 


Frankreich bis 1788, 475 


d Ormeſſon thun mußte, bemweifen am beſten, wohin es damals 
gekommen war, weil ſich ein Mann wie d'Ormeſſon zu den 
Maßregeln eines dü Terray verſtehen mußte. Der Controleur 
war ein rechtlicher, beliebter und ſogar den Maßregeln der nach— 
herigen Nationalverſammlung durchaus nicht abgeneigter Mann, 
man wollte ihn um 1792 durchaus zum Maire von Paris ma— 
chen, obgleich er Flug genug war, diefe Würde ftandhaft abzuleh- 
nen, und dennoch mußte er in der Furzen Zeit feiner Amtsfüh- 
rung zwei Mal Treue und Glauben verlegen. DOrmeſſon mußte 
nämlich, um nur baar Geld zu erhalten, aus der Caisse d’Es- 
eompte, welche damals ungefähr daffelbe war, mas jett die Banf 
it, ſechs Millionen heimlich wegnehmen und in den königlichen 
Schatz bringen laſſen. Der Raub konnte unmöglich verborgen 
bleiben ; es ward daher das Zutrauen zu dieſer Caſſe plötlich jo 
jehr erjchüttert, daß fle ihre Zahlungen auf eine Zeit lang ein— 
ftellen mußte. Die zweite Mafregel, welche er ergriff, war eben 
jo ſchneidend als die erwähnte erſte. Er ließ namlich ohne allen 
Grumd den Pacht dev Generalpächter caſſiren umd übernahm im 
Namen der Regierung die unmittelbare Verwaltung der Hffentlichen 
Gefälle. Das mochte allerdings nöthig und nützlich fein; aber 
in der Art wie es gefchah, war e8 gegen das gemeine Necht und 
ichrerfte in dem Augenblide, als die Regierung der Leute, welche 
Millionen anfchaffen konnten, am .mehrften bedurfte, jedermann 
ab, fich mit ihr in Geldſachen einzulafjen. 

Diefe Lage der Finanzen erklärt vecht gut, warum Ver— 
gennes um 1784 feinen Krieg für Holland anfangen wollte, 
und 1785 lieber Geld zahlte, als Krieg anfing. Das Unglüd 
fügte, daß an d'Ormeſſons Stelle ein genialer Berfchwender 
fam, der bei der Verwaltung feines eignen bedeutenden, aber 
gänzlich. verfehuldeten Wermögens gelernt hatte, fich für den 
Augenblick zu helfen, ohne daran zu. denken, wie er tm näch— 
fen einer weit größeren Verlegenheit, worin er ſich geftürzt 
habe, entgehen wolle. Ueber den neuen Finanzminiſter Karl Ale— 
xander von Calonne und über die Art, wie er zu dem Amt kam, 
fehlt es uns nicht an Anekdoten und geheimen Nachrichten; unſer 
Zweck erfordert aber, daß wir auf allen Anſpruch, etwas ganz 
Neues ans Licht zu bringen, verzichten. Wir verweiſen jedoch in 


476 Frankreich bis 1788," 


der. Note auf zwei Bücher, worin man alles, was in Beziehung 
auf Galonne hier nur kurz oder gar nicht erwähnt iſt, genau 
und mit Angabe der Quellen gefammelt findet. 20) 

Calonne war der Sohn des erften Präfidenten des Parla— 
ment? von Donat und war felbft zur parlamentarifchen Laufbahn 
beftimmt. Als Parlamentsrath war er feit der Zeit, daß er fich 
in des Generalprocurators la Chalotais Sache hatte gebrauchen 
laffen, eben fo beliebt bei Hofe, als er den Barlamenten verhaßt 
war. Died machte ihm hernach als Finanzminifter jede Unterneh- 
mung jchwierig, wozu er der Parlamente bedurfte. Durch Gunft 
am Hofe, das heißt bei der Königin, den Prinzen, den Freun— 
den und Freundinnen der "Königin, gelangte er zur. Stelle eines 
dmanzminifters, und Niemand war reicher an augenblicklichen 
Ausfunftsmitteln ald er, dem es an Talenten nicht fehlte, deſſen 
Rede mit Teichtem und unaufhaltfamen Strome floß, und der der 
Sprache wie der Feder mächtig war. Er war nicht blos zierlich, 
modiſch, galant und machte den Aufwand: eines großen Herrn, 
jondern er wäre auch vielleicht in unfern Tagen ein vortrefflicher 
Minifter für Frankreich; jene Zeit aber war ernfter, und es war 
nicht genug, von einem Jahre zum andern Auskunft zu finden. 
Galonne felbft fühlte und fprach in feinen Briefen aus, daß alle 
Einrichtungen der alten Zeit morſch wären. 

Wenn man den Briefen, die man um 1789 unter feinem 
Kamen drucfen ließ, mehr trauen konnte als wir zu thun wagen, 
obgleich er nie. dagegen: proteftirt oder ihre Aechtheit gelengnet 





20) Im erftien Theile von Wachsmuths Geſchichte Frankreichs im Nevo- 
Yuttonszettalter im dritten Kapitel, und im zweiten Theil der in der vor⸗ 
hergehenden Note angeführten Geſchichte der Stantsveränderung u. f. m. 
Dort findet man im fünften Abſchnitte alle einzelnen Angaben und Notizen, 
die man hier vermißt. Wir berühren daher au nur Weniges von ber leicht⸗ 
fertigen Verſchwendung, deren man Calonne anflagt, weil das, was wir ge: 
fammelt hatten, aud bei Wachsmuth Seite 61 und 62, befonders aber 
Tote 21 bis 23 gefunden werden kann. Im fünften Abfchnitt des zweiten 
Theils der Gefhichte der Staatsveränderung u. ſ. w. findet man nicht ‚blos 
vollftändige Auskunft über das fogenannte rothe Buch, das Heißt über 
alfe von Ludwig XV. und XVI. direct aus der Staatskaſſe angeorbneten 
Sahlungen, fondern auch überhaupt über Calonnes Schritte und Maßregeln. 
Die Halsbandgefchtchte haben wir, fo viel nur immer möglich war, abgefürzt, 


Frankreich 618 1788, 477 


hat, würden wir blos aus diefen Briefen eine vollſtändige Cha— 
rakteriſtik des Mannes, der Art feiner Talente und feiner umver- 
antwortlichen Leichtfertigkeit in Behandlung der Gefchäfte geben 
können. Wir wollen indeffen nur aus zwei Briefen, einem kür— 
zeren Billet, das er zur Zeit, ald er die Notablen verfammelte, 
aus Paris an den Hof nach Verſailles fchrieb, und and einem 
längern Briefe, den er zur Zeit der Berufung der dtats gene- 
raux aus London an feinen Bruder richtete, eine einzige Stelle 
ausheben. Es kommt für unfern Zweck auf Authentieität nicht 
an, die Stellen follen blos dienen, anfchaulich zu machen, wie 
die Dinge ftanden und wie Salonne und feines Gleichen am Hofe 
fie betrachteten und behandelten, Dies tft vortrefflich in den Stel— 
len, die wir anführen, ausgefprochen, ob von Galonne oder von 
einem Andern, darauf kommt es hier nicht an.21) Galonne war 





weil ihr Wachsmuth die ganze erfte Bellage feines Buchs gewidmet und die 
Duellen angeführt Hat. Wir würden ihrer nur mit einem Worte gedacht 
haben, wenn ihr nicht in der erften Ausgabe diefer Gefchichte des achtzehnten 
Sahrhunderts und der Revolution (der der 2te und ftärkere Theil des Büd- 
leins war gewidmet worden) ein größerer Raum angewiefen worben wäre, 
| 21) Man zeigte dem DVerfafler, als er 1821 in Paris war, eine Samm- 
fung von Briefen angefehener Perfonen, welche 1789 in Parts und, wie 
man ihm fagte, auch in London gebrudt waren, ohne daß Calonne, der ba> 
mals in England war und von dem fih auch ein paar Briefe in diefer 
Sammlung fanden, dagegen reclamirt hätte. : Man fagte uns fogar, er habe 
fih um 1794 felbft dazu befannt, Der Verf excerpirte einiges, wagte aber 
doch hernach nicht recht, dieſe gedruckten Briefe als urkundliche Stüde zu ge: 
brauchen. Zu dem im Texte beftimmten Swede glaubt er jedoch hier zwei 
furze Stellen aus zwei dort gedruckten Briefen ausheben zu können, da fie, 
ächt oder unächt, doch den Mann und die Seit harakterifiren. Er ſchreibt 
dort. über die von ihm berufene Verfammlung der Notablen an die Frau 
Jules de Poltgnac: Je sens parfaitement tout le ridicule de cette as- 
semblée a laquelle j’ai donne lieu; mais les esprits fermentaient et il - 
falloit une &gide respectable pour parer à tous les traits. Ils ne feront 
rien sans nous et nous ferons tout sans eux. Ce sont de grands res- 
sorts dont nous nous servirons pour faire jouer la grande machine. 
Que sa Majest& ne tremble point A l’aspeet de cet &pouvantail formi- 
dable; il faudra moins de tems pour le detruire, qu’il n’en a fallu pour 
Vetablir. Il-faut fasciner les jeux du Frangais, et quand on sait bien 
lui offrir V’illusion il croit tenir la verit6 et il est content. Aus einem 
langen von uns abgeſchriebenen Briefe an feinen: Bruder, ben Abbe de Car 


478 Frankreich bis 1788, 


übrigens unſtreitig ein Mann, der zum Miniſter und Diplomaten 
geboren war, und in unfern Tagen im franzöſiſchen Gabinet die 
Bewunderung von ganz Europa erlangen würde; damals war 
aber die Zeit, Me Umſtände und der herrfchende Geift den Kün— 
ften, die er trieb, und den Naturgaben „ die er hatte, ungünſtig. 
Dies ausführlich zu beweiſen, würde ung zu weit führen, wir 
wollen nur, einen Fingerzeig: iiber die Art geben, wie 8 ſich be— 
weiſen Tiefe, 

Calonne namlich. vereinigte in den Projecten, mit denen er 
ſcheiterte, auf eine ſehr geſchickte Weife das, was andere ausge— 
dacht Hattenz er hatte die Unverfchämtheit, die Ideen eine! Ma— 
haut, Türgot, Necker mit der ihm eignen: Gewandtheit vortreff⸗ 
lich einzuffeiden und ohne alle Rückjicht darauf, daß das Refor— 
miven weder feiner Stellung, noch feinen Sitten, noch feinen 
Manieren und Bekanntſchaften angepaßt jet, als Reformator auf- 
zutreten, wenn es die Umftande forderten. Er unterhandelte fer- 
ner. zur Zeit. der erften und zweiten, Nationalverfammlung auf 
eine: merfwürdige und durch: Intriguen und Cabalen, die ſchon 
allein einen Diplomaten verewigen könnten, ausgezeichnete Weiſe 
mit den Gabineten yon Wien, Berlin, Petersburg und London, 
und ward in jener Zeit son allen Publiciſten und Staatsmän- 
nern. wegen. der Producte bewundert, die aus feiner Feder hervor— 





Tonne, wollen. wir ebenfalls nur eine kurze Stelle abſchreiben. Er gehört in 
die Bett von Neders Verfanmlung der Notablen, — — — In’ya, ſchreibt 
er, nachdem er bewiefen hat, daß Necker ſcheitern müffe, wie er geſcheitert fet, 
absolument qu’une banqueroute qui puisse mettre Fetat au niveau de 
ses aflaires, et il’ ne s’agit pas de discuter, si ce parti' est noble ou 
legitime, il suffit d’&tre persuad& qu’il est de nécessité. Je regarde la 
France comme un corps gangrene dans presque toutes ses’ parties; on 
eraint d’operer percequ’il y a trop d’amputations à faire, le mal aug- 
mente et le corps périt lorsqu’ on agite la guerison.. Sois sür, mon 
ami, que’ ce sera le résultat des: états generaux. La puissance royale 
d’abord y perdra, les ministres y seront soupgonnes et point &coutes, 
et: Messieurs des deputes des differentes provinces commenceront par 
fremir & V’aspect du gouffre qui va s’ouvrir & leurs yeux. Ils dispute- 
ront, analyseront, projeteront et ils ſiniront par desesperer du salut de 
la France. Ainsi' l’etat, sans: &prouver un heureux changement, n’aura 
et& que bouleverss ete. etc. Als Probe der Weisheit Calonnes oder doch 
der Leute, wie er, mag dies aus dem langen Briefe genug fein. Auf die⸗ 


Frankreich bis 1788, 479 


gingen. Wenn man Weit, was er damals fehrteb, wird man, fo 
ſehr man ihn verachten mag, Talent und Styl, klares Erörtern 
der ſchwierigſten Materien und Tebendige Darftellung trockner 
Finanzſachen bewundern müflen. Uns allen, die wir damals das 
Weſen und das eigentliche Bedürfniß der bürgerlichen Verhältniſſe 
des achtzehnten Jahrhunderts nicht Fannten, ſchien unübertrefflich, 
was er um 1789 in den zwei öffentlich befannt gemachten Briefen 
an den König diefem als das Mittel angab, die Monarchie zu 
erhalten, Wir alle hielten feine fehr gut gefchriebenen und fcharf- 
finnig entworfötten Abhandlungen, die er, als fich der Gonvent 
trennte und dem Direetortum Platz machte, in der erſten Zeit des 
Directoriums bekannt machte, für unwiderleglich. 

Gerade diefe Teichten Gaben, fophiftifchen Talente, Iofe Fer— 
tigkeiten, gemüthlofe Geſinnungen, die jetzt vor allen andern ge- 
ſchätzt werden, und die hohe Gunft, deren Calonne unter den 
Prinzen. am Teichtfinnigen und verfchwenderifchen, menn auch) 
übrigens ziemlich moralifchen Hofe genoß, machten ihn damals dem 
Volke verhaßt, Die alten Juriſten und Sanfeniften des Parla— 
ments und der parlamentarifchen Familien (noblesse de robe) 
vergaßen es ihm immer noch. nicht, Daß er fich für den Herzog 
son Aiguillon gegen den Generalproeurator la Chalotais Hatte 
gebrauchen Yaffen, und daß er die Stelle eines Generalprocurators 
bei der im deffen Sache beftellten ennftitutionswidrigen Gerichts— 
commiſſion angenommen hatte, 

Die Ernennung eines Mannes aus der Zeit Ludwigs XV, 
welcher zur Schule des Herzogs von Aiguillon und feiner None 
gehörte, zu dem. Boften, den Türgot und Necker beffeidet hatten, 
jchadete dent Könige bei allen feinen folgenden guten und mwohl- 
wollenden Maßregeln, befonders dadurch, daß offenbar ward, daß 
man unter einem ſtets von einem Extrem zum andern- übergehen- 
den Negenten durchaus auf nichts ficher rechnen könne, weil ev 
ein Spielball feiner Brüder, feiner Gemahlin und feiner Umge— 





jelbe Welfe behaupteten immer er und Mallet dü Ban und der von Pitt zum 
Ritter gemachte d'gvernois, zwei Genfer Doctrinärs, Bonaparte werde aus 
Mangel an Geld ſcheitern, und das behauptete Calonne fogar gegen Pitt, 
und die andern beiden wiederholten es jedes Sehr Aa wenn 
Bonaparte fein Budget mittheilte. 


480 Frankreich bis 1788, 


bungen jet, Er war feit feiner Thronbeſteigung und feit Türgots 
Minifterium immer vom Alten zum Neuen und umgefehrt hin 
und her geſchwankt, er Huldigte bald einmal der Zeit, bald wi- 
deritrebte er ihr geradezu, Neckers Minifterium und Galonnes Er- 
nennung zeigte einen Widerfpruch, der nur durch Mangel an Urtheil 
und Charakter zu erklären war. Dies Schwanken dauerte fort bis 
1792 und gab denen, die damals allein confequent waren, den Sieg. 
Der Frau Jules Polignac oder der Königin, oder auch den 
Prinzen, die Galonne ſollen empfohlen haben, wäre nur etwa 
vorzuwerfen, daß fie durch ihm die alte Zeit, ihre Maßregeln und 
Manieren wieder auf den Thron geſetzt hättenz aber das war 
eben ihre Zeit und ihre Regtierungsformz; der König 
dagegen, ber eine Reform wirklich wollte, hätte widerftehen müſ— 
jen. Er war aber ein Rohr, das der Wind Hin und her weht. 
Die, welche Calonne empfahlen, Eonnten fich mit Recht darauf 
berufen, daß er nicht blos Juriſt, Redner, geichiefter und geübter 
publteiftifcher Schriftteller, fondern auch ein in Verwaltungsfachen 
geübter Geſchäftsmann fe. Er war Intendant der Generalität 
von Lille gewejen, wie Türgot von der von Limoges, war in den 
höhern Aemtern gebraucht worden, welche juriftifche Kenntniſſe 
forderten, und war im königlichen Staatsrathe thätig geweſen. 
Er war außerdem der beite unter den beiden Kandidaten des 
alten Syſtems, welche dem ſchwachen König yon den Unverbefler- 
lichen des Hofs empfohlen wurden. Dies- waren die Leute, welche 
man hernach in der Revolution ausjchließend Hof (la cour) 
nannte, und als Feinde der Nation und des Königs bezeichnete, 
‚weil fie den letztern, wenn er einen Schritt vorwärts gethan hatte, 
immer drei zurück thun, und jeden Eid als gezwungen (cum 
reservatione mentali) geleiftet betrachten Liegen. : Es war näm— 
lich neben Galonne nur noch der VBolfsfeind Foulon in der Wahl, 
deſſen fteinhartes Herz Iprüchwörtlich war, und den der Pöbel 
um 1789 wegen eines hochmüthig ariftofratifchen Worte, das er 
entweder gefagt hatte oder welches doch feinen Charakter und 
feine Gefinnung ausdrückte, am Laternenpfahl auffnüpfte. 
Wir müffen den Lefern überlaffen, die Geſchichte der ein- 
zelnen Schritte des neuen Gontrolems in den oben (Note 20) 
angeführten deutſchen Werken aufzufuchenz; für unfern Zweck 


Frankreich bis 1788, 481 


reicht e8 hin, der Nefultate dev neuen Verwaltung Furz zu ges 
denken. Calonne hob zunächft für den Augenblick den Eredit der 
königlichen Staatskaſſe dadurch, daß er alle Forderungen am die— 
ſelbe pünktlich am Berfalltage auszahltez; aber er machte dies nur 
dadurch möglich, daß er unter den Yäftigften Bedingungen Anleihen 
machte, um die Zinfen der frühern zu zahlen, alſo nothwendig 
am Ende dahin gelangen mußte, wohin er ſchon 1787 gelangte. 
Er hatte in den vier Sahren jechshundert Millionen entweder 
durch Anleihen oder durch früheres Ginfordern des erit ſpäter 
Falligen aufgebracht, hatte außerdem durch allerlei geheime und. 
unerlaubte Kunftgriffe die Einnahme um hundert Millionen ver— 
mehrt, und dennoch war mit jedem Jahre die Verlegenheit 
geftiegen und die Cinnahme immer weiter, hinter der Ausgabe 
zurückgeblieben. Dies brachte endlich den Finangminifter zu den 
Schritten, welche dienen follten, neuen Erpreſſungen den Schein 
der Rechtmäßigkeit zu geben. 

Die Verwendung der geliehenen Summen und die Immo— 
ralität und Gewiſſenloſigkeit des Finanzminiſters, die es hernach 
rathſam für ihn machten, ſich einem ihm drohenden Staatsprozeß 
durch die Flucht zu entziehen, empörte ſelbſt die, denen er das 
Geld mit freigebiger Hand zuwarf, als ſie ſich gierig um ihn 
drängten. Wir glauben nicht, daß es wahr iſt, daß der Graf 
von Provence (Ludwig XVIII.) geſagt hat, was man ihm Schuld 
gibt, obgleich es ſeinem Charakter ganz angemeſſen iſt, daß er, 
als alle die Hand ausgeſtreckt, damit ſie von Calonne gefüllt 
werde, den Hut hingehalten habe. Der Graf von Artois (Karl X.) 
war von Jugend anf Schuldenmacher. Man Hatte im Jahre 1781 
anderthalb Millionen Livres Schulden für ihn bezahlt; im Jahre 
1782 gar vier Millionen; Calonne gab 1783 noch zwei Millio— 
nen her, und doch rechnet man, daß die beiden Prinzen zuſammen 
noch 14 Millionen Schulden hätten, Calonne predigte die Theo— 
vie, die man jet in Frankreich wieder nen aufpubt, daß eine 
Monarchie Glanz, Lurus und Verſchwendung fordert, und daß 
glänzende Thorheit beim ‚gegenwärtigen Zuftande der Civiliſation 
den Künften und der Betriebſamkeit vortheilhaft, ja nothwendig 
jet. Er machte fich daher auch durch Begünftigung königlicher 
Bauten und durch Feſte der Königin gefällig, wie den Prinzen, 

Säloffer, Geſch. d. 18, m 19, Jahrh. IV. Th. 4. Aufl, 31 


482 Frankreich bis 1788. 


Er ſchaffte Geld, damit der König zu den vielen königlichen 
Luſtſchlöſſern noch Rambouillet kaufen könne, und zahlte aus der 
Staatsfaffe die nöthigen Summen für die Befriedigung einer 
Griffe der Königin, welche St. Cloud beiten und verfchonern 
wollte. Er verfchaffte ihr zugleich die Gelegenheit, ohne daß es 
ufftel, ihre Günftlinge zu bereichern. Er verwendete namlich. 
unter dem fcheinbaren Vorwande, daß dies finanziell vortheilhaft 
jet, eine Summe von zwanzig Millionen zum Anfauf von Do— 
mainen; man bewies aber hernach, daß biefe Güter unter dem 
Schein son Kauf nnd Taufch an die begünftigten Familien über- 
gegangen und die im Tauſch oder Kauf feitgefesten Summen nie 
bezahlt ſeien. | 

Der höchſte Adel, der am Hofe auf Chrenrechte und Ehren— 
pläbe Anfpruch machte, welche die Königin ohne Nückficht auf die 
beftehende Gtifette, den von ihr begünftigten Herrn und Damen 
überließ, glaubte fich hernach im Jahre 1785 durch die Kränfung 
eines Mitglieds der dem Eoniglichen Haufe nahe jtehenden Familie 
Rohan tödtlich beleidigt: Bei diefer Gelegenheit benutzte auch 
das damals dem Hofe jehr feindfelig gefinnte Parlament den 
gegen den Kardinal Rohan eingeleiteten Prozeß, um die Königin 
in den Augen von ganz Guropa verdächtig erjcheinen zu Taffen. 
Die Familie, welche fich beleidigt glaubte, war um fo gefährlicher, 
je unverfchämter ihre erften Glieder dev öffentlichen Meinung, 
den Gefegen der Ehre und allen rechtlichen Grundſätzen Hohn zu 
Iprechen wagten. Gin Prinz diefer Familie (von Guemende) 
machte einen fchändlichen Bankerott, der zahlreiche Familien ind 
Elend ftürzte; der Prinz von Rohan, Kardinal und Biſchof von 
Strasburg und als folcher deutfcher Reichsfürft, trat mit Gaunern 
und Buhldirnen und Abenteuerinnen in Verbindung, um den Zorn 
der Königin zu befänftigen und ihre Gunft zu gewinnen, Um 
diefe Gunft hatte fich Rohan lange vergeblich beworben, er gerietl 
endlich, weil er fein Mittel zu feinem Zwecke verfchmähte, in die 
Netze einer Gaunerin, deren Lügen die Veranlaffungen der ſoge— 
nannten Halsbandsgefchtchte gegeben haben, worin man bie 
Königin felbft zu verwiceln verſtand. Wir glauben, daß fie ganz 
unſchuldig warz obgleich es heißt, daß felbft ihr Neffe, der Kater 
Franz, der übrigens durch Scharffinnn nicht gerade ausgezeichnet 


Frankreich bis 1788. 483 


war, fie einiger Unvorſichtigkeit fchuldig gehalten habe, Der Zu— 
jammenhang diefer für das Schieffal der unglüdlichen Königin 
wichtigen Halsbandgeichichte tft folgender: 

Man hatte den Teichtfertigen, verſchwenderiſchen, verfchuldeten 
Rohan im Januar 1772 nad Wien gefchiett, wo er fich durch 
einen ganz unerhörten Aufwand und durch die gleich bei feinem 
eriten Aufzug in der Stadt gezeigte unverftändige Pracht vollig 
zu Grunde richtete. in Prinz, welcher wenigftens dem Scheine 
nach Geiftlicher Hätte fein follen, und dabei ein Leben führte wie 
Rohan, konnte der Katferin Maria Therefia, einer in jeder Rück— 
ficht würdigen deutfchen Hausfrau, unmöglich angenehm fein, und 
fie ließ ihn das empfinden; dafür rächte er ſich. Er fonnte nämlich, 
wie das bekanntlich immer der Fall tft, in eben dem Grade, als 
er mit den Derdorbenften vertraut. und gränzenloſer Verſchwender 
war, die diplomatischen Geheimnifje Teishter erfahren als ein An— 
derer, und ‚erfuhr fie auch bei der Gelegenheit dev damaligen erſten 
Theilung von Polen. Marta Thereſia täufchte die Franzofen 
durch die Berficherung ihrer Abneigung von der Theilung, fie 
vergoß fogar Thränen darüber, daß fie wider Willen daran Theil 
nehmen müſſe; dieſe Verficherungen machte Rohan in einem Ge— 
fandtfchaftsbriefe mit dev Schärfe des beißenden Spotts Tächerlich, 
der Leuten wie ev war eigen und die Würze ihrer. Gefelligteit 
iſt. Er ſchrieb einen geiſtreich farkaftifchen Brief über die zur 
Natur gewordene Verftellungskunft der Kaiſerin und über bie 
Fähigkeit derfelben zu lachen und zu weinen, wie fie wolle, ohne 
daß es ihr mit dem) Einen oder dem Andern Ernſt fei. Der 
Herzog von Aiguillon, an den, als an den Minifter dev auswär— 
tigen Angelegenheiten, der Brief gerichtet war, brachte ihn, mie 
er pflegte, dev di Barry, die nach ihrer Art Scandal daraus 
machte. Das erfuhr die nachherige Königin; fie glaubte, Rohan 
habe den fpottenden Brief über ihre Mutter unmittelbar an bie 
dü Barry gerichtet gehabt und verzieh ihm nie, daß er ihre 
Mutter zum Gegenftand des Hohns und Spottes einer Dirne 
gemacht habe, 

Man follte denken, Rohan hätte der Gunft der Königin ent= 
behren koͤnnen, denn er Hatte unermepliche Einfünfte und mar 


der erfie Wiürdenträger des Reiche, Er war Kardinal, war Bi— 
| 31* 


484 Frankreich bis 1788. 


jchof von Straßburg und als folcher deutſcher Reichsfürſt mit einer 
Refidenz in Ettenheim, war Großalmofenier yon Frankreich, Pro— 
viſor der Sorbonne und Oberverwefer der Blindenanftalt (Provi- 
seur de Sorbonne et administrateur des quinze vingts). Alles 
diefeg war ihm aber ohne Gunft bei Hofe von wenig Werth, 
So waren damals die Zeiten und fo ſcheinen fie wieder werden 
zu wollen! Die Putzſucht der Königin und ihr Findifcher Leicht: 
finn, wenn es auf Flitter, Zerfireungen und Glanz anfam, ſchien 
endlich dem Kardinal Gelegenheit zu bieten, fich ihrer Gunft zu 
serfichern. Gr fand glaublich und ihren Sharafter gemäß, was 
ihm Gauner vorfpiegelten, daß es ihr leid fer, den Kauf eines 
ihr von den Hofjuwelteren Böhmer und Baffange angebotenen 
Schmucks son Brillanten, der einzig in feiner Art war, aber 
1,600,000 Livres koſten follte, wegen des damaligen Zuſtands 
der Staatskaſſe ablehnen zu müſſen. Die Gauner und Abenteu— 
ver, welche damals in Paris wie in Berlin eine große Rolle 
jptelten, mashten den Kardinal zum Werkzeug, um den Juwelier 
zu betrügen. 

Eine Hauptrolle bet diefer durch Phantasmagorie unterſtützten 
Gaunerei zur Myſtification des Kardinals ſpielte ein in ganz 
Europa berühmter Sietlianer, der fich der Freimaurer und der 
auch vom Könige yon Preußen begünftigten Schwärmerei und 
Geheimnißkrämerei sorgeblicher Orden meifterhaft zu bedienen ver- 
ftand, Diefer Mann war Sofeph Balfamo, der um 1743 in 
Palermo geboren im vorletzten Jahrzehnt des achtzehnten Jahr— 
hunderts unter dem Namen Graf Merander Caglioſtro in Deutfeh- 
Yand und Frankreich ganz unglaubliches Auffehen —— bis er 
endlich in Rom entlarvt ward. 

Die Inquiſition zu Rom, die fich feiner Gemächtigt hatte, 
erpreßte Geftändniffe son ihm, die fie hernach in einem officiellen 
Berichte befannt machte. Wir würden aber auf dieſen Bericht 
durchaus Feine Bedeutung Tegen, wenn nicht die Hauptfache, worauf 
es hier allein ankommt, son anderen Seiten her beftätigt würde, 22) 


22) Der. Bericht, den die Inguifition über das Nefultat der Verhöre 
and Geſtändniſſe Caglioſtros in italieniſcher Sprache befannt gemacht hat, 
tft zu Zürch bei Orell, Geßner, Füstt und Comp, deutfch überfest im Jahre 
7791 erſchienen unten dem Titel: Leben und Thaten bes Joſeph Balſamo 


’ 
_ 





Frankreich bis 1788, 485 


Die Natur hatte ihn offenbar zum Gauner und Wunderdoktor bes 
ſtimmt, denn. er Fam im dreizehnten Jahr zu einem Apotheker 
und lernte etwas Chemie und Pharmazie und trieb fich fehon ein 
Paar Jahre hernach in Palermo und Meſſina als Betrüger 
herum, Aus Mefjtna mußte er flüchtig werden, Fam dann nad 
Rhodus und Alexandria und endlich nach Malta, ftets als Gau— 
ner. Bon Malta ging er nach Neapel und nach Rom, fand 
aber auch Dort, wo er ſich als preußifcher Offizier herumtrieb, 
eben ſo wenig eine bleibende Stätte, als in Madrid und Liffabon, 
wohin er fich. von Rom aus begeben hatte, Später trieb er fich 
in Paris herum und hielt fich im Jahr 1771-1772 einige Zeit 
hindurch in London auf, Weder im Hang noch in Venedig, 
wohin. er auf kurze Zeit Fam, konnte er die nöthige Gelebrität 
erlangen; dies glückte ihm erft in Curland. Dort verrichtete ex 
MWunderfuren, galt als Hohepriefter altägyptifcher Geheimniſſe, als 
Soldmacher und ward der göttliche Caglioſtro genannt. 

Seit dem Aufenthalt in Mietan, von wo er auf kurze Zeit 
nach, Petersburg ging, spielte Gaglioftro die Rolle eines großen 
Heren und eines Wunderthäters, und wußte, während Jedermann 
glaubte, daß er Gold machen könne, durch Gaufelei nnd Gaunerei 





fogenannten Grafen Caglioſtro. Nebft einigen Nachrichten über die Beſchaf— 
fenhelt und den Zuftand der Freimaurerſecten. Ans den Akten des 1790 
in Rom wider ihn geführten  Prozeffes gehoben und aus dem in der päpft> 
lihen Kammerdruckerei erſchienenen italientſchen Originale, überſetzt. Der 
Ueberſeher hat in der Vorrede die römiſche Manier: zu unterſuchen, zu richten 
und zu beurtheilen, in wenigen Worten ſo vortrefflich charalteriſirt, daß wir 
fie als charakeriſtiſch für die offiziellen proteſtantiſchen Frömmler und für bie 
katholiſchen Eiferer für Nom, deren Baht jet Leglon iſt, abſchreiben wollen, 
Der Berfafler, fügt ‚er, oder vielmehr die Heilige Inquiſition In Rom, ſchadet 
fi in den Augen verſtändiger Menfhen offenbar dadurch, daß fie einen Be- 
trüger, wie Caglisftro war, fo Kritifch und. fo firenge in Nüdficht feines Irr⸗ 
glaubens behandelte und nebenbei auf fogenannte Keber fo hämiſche Seiten- 
blicke warf. Denn Caglioſtro wäre, wenn er and) ſtets die Gebote ber rö⸗ 
miſchen Kirche äußerlich beobachtet Hätte, nichtsde ſtoweniger ein grober Be- 
jrüger gewefen, da er num jebt nad der Art, wie ihn die heilige Inquſition 
behandelt, zum Theil ein Märtyrer der Bigotterie ſcheinen und folglich bei 
weitem nicht ſo ſehr verabſcheut werden möchte, als er es von Rechtswegen 
und aus Nüdfichten verdiente, die yon einer Philoſophie, welche den Römern 
fo verhaßt iſt, hergenommen find. 


486 Frankreich bis 1788. 


einen unbefchränkten Aufwand zu decken. Sein Zug von Gurland 
durch Sachfen nach Frankfurt am Main glich dem Triumphzuge 
eines fiegenden Katferd oder der Reife eines lange erwarteten 
Meſſias. Cr that überall Wunder, er heilte die Kranfen, vief 
die Geftorbenen ans Licht, um den fie Befragenden Rede zu fte= 
ben, und Alle, welche durch feine Wunder nicht gerührt wurden, 
fette fein Aufzug und fein Aufwand in Erſtaunen. 

Gr reiste mit dem zahlreichiten Gefolge ftets mit Poſt. Gr 
hatte Guriers, Laufer, Kammerdiener und eine zahlreiche Diener- 
fchaft, alle prächtig gekleidet. ine einzige Bedientenlivrée, die 
er in Paris machen ließ, Foftete ein paar Hundert Gulden, Seine 
mit der größten Pracht meublirten Wohnzimmer, feine Föftliche, 
ftets. für Viele gedeckte Tafel, fein und feiner Frau Aufzug, be— 
fonder8 aber feine Großmuth und Freigebigfeit ſetzten alle Welt 
in Erſtaunen. 

Er heilte die Armen, die zu Hunderten herbeiftrömten, ganz 
umfonft und befchenfte fie noch dazu reichlich, auch fchlug er oft 
die Geſchenke feiner Verehrer, Glienten und Cingeweihten für fich 
felbit aus. Seine Frau dagegen mußte, wenn er Melancholie 
affeetirte oder diüfter fchten, der vornehmen Glientel einen Wink 
geben, von ausgebliebenen Wechjeln, von einem Diebitahle oder 
einem. andern widrigen Umftande, jo daß fie an ihn brachte, was 
feine fcheinbare Delicateſſe verſchmähte. 

Auch ſogar in der alten, damals noch jehr profatfchen Reichs⸗ 
ſtadt Frankfurt am Main ſpielte Caglioſtro eine ſehr glänzende 
Rolle, ſo daß Perſonen, welche den Lärm, den der Zug des Gau— 
ners machte, in Frankfurt mit angeſehen hatten, dem Verfaſſer 
dieſer Geſchichte unglaubliche Dinge von dem Taumel und der 
Täuſchung erzählt haben, welche über ihre ſonſt ſo beſonnene 
Mitbürger gekommen war. Aerger war es noch in Straßburg, 
wo Caglioſtro zuerſt die Bekanntſchaft des Kardinals Rohan 
machte, die er hernach in Paris erneute. Der Jubel und der 
Enthuſiasmus, mit dem man ihn in Straßburg aufnahm, wo 
damals jedermann von Magnetismus und Somnambulismus re— 
dete und wo der Hauptſitz des geheimen Ordensweſens und der 
Maurer war, glich einem augenblicklichen Wahnſinn. Das Ge— 
dränge in der Straße, wo Caglioſtro wohnte, war dort eben ſo 


Frankreich bis 1788, 487 


groß, als in Frankfurt und die angeſehenſten Perſonen ſtrömten 
ans der Nähe und aus dev Ferne herbei. In Straßburg beſchäf— 
tigte ihm befonderd das Ordensweſen und die damit verbundenen 
geheimen Künftez er ging von dort hernach erſt nach Stalten und 
verweilte in Neapel, ſpäter nach Bordeaux und von dort nach Paris, 

In Paris traf er den Cardinal Rohan wieder, den er vor— 
her in Straßburg um Geld und Koftbarkeiten betrogen und durch 
feine Phantagmagorien, wie durch feine Lügen von Zaubern, 
Goldmachen, Geiftereitiren irre geleitet Hatte, und der jetzt feinen 
Zauber zu gebrauchen winfchte, um die Gunft der Königin zu 
erlangen. Um den Kardinal zu betrügen, verband fich Caglioſtro 
mit einer Abenteuverin, welche um 1785, als er fie fennen lernte, 
die Rolle einer Dame aus Foniglichem Gefchlecht mit eben der 
Unverfchämtheit |pielte, als er die eines Grafen oder Agyptifchen 
Prieſters der älteften Zeit. Dies Weib, welches fich rühmte, mit 
der Königin in genaner Verbindung zu ftehen und dem Kardinal 
zu ihrer Gewogenheit helfen zu können, war die Tochter eines 
Mannes von geringem Stande, der den Namen Balvis führte 
und deshalb vorgab, daß er ein Sproßling des Füniglichen Hau— 
ſes Balois ſei. Einige Parifer Damen glaubten dieg und nah— 
men fich ihrer an, und fie hat in ihren fogenannten Denkwür— 
digfetten oder ihrer Schandſchrift gegen die Königin die Babel 
ihrer Abſtammung, aufs befte ausgefchmickt, durch eine Gefchlechts- 
tafel begründet, Sie heirathete einen abgedanften Officer, der 
ſich Graf nannte, aber ganz ohne Vermögen war. Dies darf 
nicht auffallen, da man befanntlich damals in Frankreich, wie 
jest in Stalten, eine Legion der Grafen und Marquis hatte, deven 
Marqutfat im Monde lag. Die Abenteuverin, die er gehetrathet 
Hatte, nannte fich indeffen feit ihrer Heirath Gräfin la Motte 
Valois. Ste ward durch Caglioſtro mit Rohan in Verbindung ge= 
bracht, übernahm yon ihm geheime Botfchaften an die Königin, 
brachte Antworten, -beforgte Bilfets und bewog einen Herrn von 
Billette, einen Kameraden ihres Mannes, der Königin Hand 
nachzumachen und deren vorgebliche Antworten auf Briefe des 
Kardinals zu unterzeichnen, Um den Kardinal noch ficherer zu 
täufchen, ward die Oliva, ein Pariſer Freudenmädchen der höhe— 
ren Klaffe, nach Verſailles gebracht, wie die Königin angezogen, 


488 Frankreich bis 1788, , 


um In dev Dämmerung auf der Schloßteraffe die in den vorgeb— 
lichen Billets der Königin verfprochenen freundlichen Winke und 
Zeichen zu geben. Endlich hieß es in den Botfchaften und Brief- 
chen, die Königin wünſche das Halsband des Hofjuweliers zu 
kaufen, wolle aber nicht öffentlich Käuferin fein, fondern durch 
den Kardinal in Terminen zahlen; der Kardinal möge daher in 
feinem Namen im geheimen Anftrage der Königin das Hals— 
band Faufen. 

Die Juweliers und Bankiers waren weder jo Teichtgläubig 
wie der Kardinal, noch wagten fie, einem gewiflermaßen cvedit- 
Yofen großen Herrn einen jo bedeutenden Werth anzuvertrauen; 
fie wollten eine fchriftliche Verficherung von Seiten der Königin, 
daß der Kardinal das Halsband in ihrem Auftrage faufez auch 
diefe ward von der Gaunerin gefchafft. Der Kardinal, den man 
ſchon vorher um bedeutende Summen, die er, ganz unbegreiflich 
geblendet, vorgeblich der Königin lieh, geprellt Hatte, erhielt won 
den Gaunern eine fchriftliche, von Villette mit dev Königin Na— 
men unterzeichnete Vollmacht, von Böhmer und Baffange für die 
Königin das Halsband zu kaufen. Man übergab ihm fogar einen 
mit der Königin. Namen unterzeichneten, bei jedem einzelnen Ar— 
tikel mit einem Zugeftanden (approuve) verfehenen Gontraft mit 
den Juweliers, worin die Termine angegeben waren, in welchen 
fie die Summe durch den Kardinal wolle bezahlen laſſen. Diefe 
Vollmacht übergab der Kardinal den Jumeliers, welche dann den 
Schmuck in feine Hande lieferten, obgleich e8 ein fir uns unauf— 
lösliches Räthſel bleibt, wie es möglich war, daß weder der 
Kardinal noch die Handlung Böhmer und Bafjange fich der Rich- 
tigkeit der Unterfchrift beffer verficherten, Die vorgebliche Unter— 
ſchrift der Königin enthalt namlich ein Prädikat, welches fie weder 
hatte, noch fich auch in einer Anterfchrift geben durfte, da fie 
nicht von franzöſiſchem, fondern von öſterreichiſchem Geblüt war. 
(Sie lautete Marie Antoinette de France.) 

Der Kardinal überlieferte den Schmuck der In Motte; diefe 
jchiefte ihren Mann damit nach England und fpiegelte dem Kar- 
dinal vor, daß fie ihn der Königin übergeben habe, während die 
einzelnen Steine in England verkauft wurden. Sie mußte ihn 
19 Inge gu täufchen, bis die Juweliers auf Zahlung drangen 


Frankreich bis 1788. 489 


und fich an die Königin felbft wandten. Böhmer und Baffange 
zeigten endlich der Königin die vorgeblich von ihr dem Kardinal 
ertheilte Vollmacht und den Gontraft und erklärten, daß ihr Haus 
falliven müſſe, wenn die Zahlung nicht erfolge, 

Darüber geriet die Köntgin außer fih, ſchob, da fie vom 
Zufammenhange nichts wußte, die ganze Schuld auf den Kardi- 
nal, theilte dem Könige ihre Xeidenfchaftlichfeit mit, und dieſer 
ließ den Kardinal, ald er am Maria Himmelfahrtstage (15. Au— 
guft 1785) im vollen Ornat und mit allen geiftlichen Pomp 
eines Großalmofenters in Verſailles erfchten, in fein Kabinet 
rufen. Als hier der Kardinal, im Vertrauen auf die von ihm 
für Acht gehaltenen Briefe in Gegenwart der Königin darauf be= 
harrte, daß er won ihr beauftragt worden, Tieß ihn der König, 
jo wie er war, im sollen Ornat, troß aller Bitten und Vorſtel— 
tungen ins Gefängniß bringen und einen Prozeß gegen ihn ein— 
leiten, Die Dliva, welche durch Geberden und Kleidung die Kö— 
nigin gefpielt Hatte, Villette, Caglioſtro und die la Motte 
wurden ebenfalls verhaftet, der Generalvicar Rohans aber, der 
Abbé Georgel, Hatte zu rechter Zeit, vor der Befchlagnahme der 
Papiere, auf ein im deutfcher Sprache gefchriebenes Billet des 
Kardinald die Korrefpondenz der la Motte mit diefem vernichtet. 
Dadurch ward es den Advokaten möglich, ein Dunkel darüber zu 
verbreiten, ob die Königin oder der Kardinal der Gaunerin Vor— 
wand und Anlaß zu dem Diebftahl gegeben habe, 

Sp wenig man glauben kann, daß die Königin irgend einen 
Antheil an der Sache gehabt habe, To benahm fich doch der König 
übereilt, heftig und unvorfichtig bei der Verhaftung des Kardinals. 
Unbegreiflich ift e8 übrigens, daß die Frau von Campan, als 
pertrante Dienerin der Königin und die Königin ſelbſt die erften 
Winfe, die fie über die Sache erhielten, auf eine unverantwortlic, 
leichtſinnige Weiſe vernachläffigten und nicht gleich der Sache 
genau nachſpürten. Dadurch ward. dann ein falſches Licht auf 
fie geworfen. Auch der Baron son Breteuil, als Minifter des 
königlichen Haufes, benahm ſich ungefchteft, Dies alles ward von 
den damals fehr zahlreichen Feinden der Königin auf eine bos— 
hafte Ars, bejonders im Parlamente und in unzähligen Pasquillen 
benugt, Man warf auf den König und die Königin Schatten, um 


490 Frankreich bis 1788. 


den Kardinal als Märtyrer erfcheinen zu laſſen. Der Ausgang des 
Prozeffes blieb Lange zweifelhaft. Die Familie Rohan bot alles auf, 
um der Königin einen Flecken anzuhängen, der Hof that Alles, um 
den Kardinal für ſchuldig erklären zu laſſen. Das Urtheil war fo 
abgefaßt, daß zwar nichts gegen die Königin darans gefchloffen 
werden Eonnte, daß aber doch ein ftiller Verdacht zurückblieb. Es 
ward nämlich, zum großen Verdruß des Königs, der Kardinal 
frei gefprochen, nachdem man den Prozeß noch bis zum 16, Au— 
guft 1786 verlängert hatte, 

Das Parlament erflärte vermöge feines am 8. Mai 1786 
gefällten Urtheils über die andern Beklagten, die la Motte und 
ihren Gemahl, der fich geflüchtet hatte, Für fchuldig und verur— 
theilte fie zu infamirenden Strafen. Die la Motte entkam jedoch 
ſpäter und fchrieb in England jene fchändlichen Denkwürdigkeiten, 
welche die franzofifche Regierung auffaufen Tieß und dadurch den. 
Gredit vermehrte, den befanntlich das Publikum aller Länder 
gerade den Argiten und dreifteften Lügen am erften zu fchenfen 
pflegt. Gaglioftro ward zwar freigeiprochen, aber des Landes 
verwiefen, 23) Billette mußte ebenfalls das Land verlaffen, die 
Dliva ließ man, wahrfcheinlich aus Bosheit gegen die Königin, 





23) Nie waren unftreitig die Parlfer fammt und fonders freier von 
Aberglauben und Schwarmerei, als damals, nie waren die Juriſten und 
Staatsmänner Frankreichs reicher an wahrer und ächter polttifcher Weisheit, 
und freier in ihren Anfichten, beredter in ihren Darſtellnngen menſchlicher 
Verhältniſſe, wie die Einrichtungen der ronftituirenden Verſammlung bewei- 
fen, und dennoch durfte man dem gefammten Parlament, in einer Vertheidi⸗ 
gungsfhrift Caglioſtro's, woran fogar d'Esprémenil Theil gehabt Haben foll, 
wörtlich fagen, Gaglioftro fet: Le fils d’un grand maitre de l’ordre de 
Malte, mysterieusement élevé à la Meeque, à Medine. Voyageur des sa 
plus tendre jeunesse, c'était dans, les pyramides d’Egypte qu'il avoit 
appris les sciences occultes de l’Orient. Son gouverneur, le. sage Alt- 
hotas, qui Jui avoit donne tout ce savoir, etait chretien et de plus 
chevalier de l’ordre de Malte; mais il avoit l’habitude de se deguiser 
et de faire deguiser son &leve en musulman. Des grands honneurs 
avaient été rendus au Comte de Cagliostro dans l’ile de Malte. Par- 
venu ä la maturit6 de la raison et de son genie, il avoit voyage en 
Europe. Medecin et prophete, doue du pouvoir d’&voquer les: ombres, 
il s’etait annonc& partout comme l’ami des hommes; c’etoit le surnom 
que Jui avoit donné la reconnoissance. 


Frankreich bis 1788. 491 


durchſchlüpfen. Der König vermehrte, wie ſchwache Menſchen, 
wenn fie einmal erbittert werden, zu thun pflegen, den üblen 
Eindruck, den die auf ganz verfchiedene Weiſe erzählte und gedeu— 
tete Gefchichte machte, durch die Willkür, die er gegen den Kar- 
dinal übte, nachdem diefer yon den Richtern Tosgefprochen war. 

Dies erfchten um fo mehr als eine ohnmächtige Nache, als der 
Kardinal durch feine Firchlichen Würden und Pfründen doch im Grunde 
dem Könige unerreichbar blieb. Der König ließ nämlich den Kardi= 
nal ſchon vier Stunden, nachdem er (im Auguft 1786) aus der 
Baftiffe entlaffen war, feiner Stelle als Großalmofenier, als Pro— 
viſor der Sorbonne und als Gurator der großen Blindenanftalt 
entfeßen, Tief ihm den heiligen Geiftorden abfordern und ihm be- 
fehlen, fich Togleich in feine Abtei Chaiſe Dieu in Auvergne zu 
begeben, Wie ohnmächtig dies alles war, und tie fchwanfend 
der König, kann man fchon allein daraus beurtheilen, daß ſchon 
drei Jahre hernach alles dies fo ſehr vergeffen tft, daß der Kar— 
dinal bei der Berfammlung der Stände des Reichs feinen Platz 
unter den geiftlichen Herren des Landes einnimmt. 

Diefe Scandale wären zu jeder andern Zeit von feiner Be— 
deutung geweſen, fie wurden aber dadurch in jenem Augenblicke 
jehr wichtig, daß der König unmittelbar nachher, ald er die No— 
tablen verfammelte, der Gunft der vornehmen Familien und Geift- 
lichen, die Rohans Sache zu der ihrigen gemacht hatten, bedurfte 
um gegen die Parlamente eine Schugwehr zu haben, mit denen 
er durch Calonne in Streit gerieth. Calonne hatte ſchon zwei 
Jahre vorher den König zu einem Schritte gegen Necker verleitet, 
der eben fo willkürlich und eben fo ohnmächtig und fruchtlos war, 
als des Kardinald Verbannung. Necker hatte nämlich fein Werk 
über die Finanzen Franfreichd (Trait€ de l’administration des 
finances), welches man von dem 1791 erfchienenen Buche über 
feine eigene Verwaltung (sur l’administration de Mr. Necker par 
lui möme) wohl unterfcheiden muß, als Tieberficht des Zuftandes 
der Neichsfinangen um 1784 herausgegeben, Er hatte diefes fehr 
umfaffende Werk in der Vorausfegung, daß man den Drud in 
Frankreich, wo Calonne als königlicher offizieller Doctrinär allein 
reden ſollte, damit er allein Recht behielte, nicht erlauben, oder 
doch das gedruckte Buch gleich unterdrücken werde, an zwei Orten 


492 Frankreich bis 1788. 


zugleich, nämlich in Lyon und Laufanne drucken laſſen. Was 
Necker vorausgeſehen hatte, traf einz. der König ward Werkzeug 
jeineg Minifters, Nerfers Buch, worin er fein Syftem hervorhob, 
und die Unhaltbarfeit des son Galonne befolgten Syſtems hand- 
greiflich machte, ward verboten, die Lauſanner Ausgabe aber, 
weil es damals in Paris. Mode war, von Finanzen zu reden, 
dem Berbote zum Trotz in der ungeheuren Zahl. von wenigſtens 
fünfzigtaufend Exemplaren (die Frau von Stael fagt gar.80,000, 
wir ziehen 30,000. fürs Prahlen ab) verbreitet, obgleich Calonne 
eine ausführliche Widerfegung ſchrieb. Das Buch war. bald in 
jedermannd Händen; es war daher die Erſcheinung deſſelben ſehr 
ungänftig für den. Sinanzminifter, der im Begriff war, durch Zug 
und Trug und durch eine mit fehlauer Beredfamfeit vorgetragene, 
an ſich Ihändliche Theorie die Welt zu täuſchen. Calonne näm— 
Lich fuchte damals durch den Dunft des Trugs, den Necker zer 
ſtreute, neue Anleihen zu erhalten. Der König ließ freilich Necker 
fund thun, daß er ihn nicht in Baris leiden wolle, damit er nicht 
die Bankiers irre leite, diefe hatten aber. ohnehin Fein Zutrauen 
zu GSalonne; auch diefe Handlung der Foniglichen Willkür war 
daher. vergeblich, 

Die Ausichliefung Neckers son Paris machte ihn, wie PA 
nach Rohan, zum Märtyrer, und man wallfahrtete, um ihn zu 
befuchen und feine Orakel zu vernehmen, zu ihm in die Provinz; 
jein verbotenes Buch vol Zahlen und Rechnungen war nicht nur 
in den Händen derer, bie etwas davon verſtanden, jondern auch 
in der Hand der. Damen und der Hofleute, Es war hernach 
das Handbuch aller der vornehmen Herrn, die an den Sibungen 
und Debatten der Notablen Antheil nahmen. Der. Finanzminifter 
nämlich, der an Auskunftsmitteln jtets reich war, glaubte enime- 
der wirklich, daß er die Verbefferungen und Veränderungen, von 
denen er redete, feitdem er den Parlamenten Feine Anleihen mehr 
vorzulegen wagte, nur durch Muctorität der ſämmtlichen Arifto- 
fratie des Reichs durchſetzen könne, oder, was wahrjcheinlicher iſt, 
er wollte nur ein neues Gaukelſpiel aufführen... Er rieth dem 
Könige, die Noth der Finanzen einem großen. Rath vorzulegen, 
deffen man fich im fiebenzehnten Jahrhundert zumeilen bedient 
hatte, Seitdem man nämlich. die um 1614 zum Testen Mal 


Frankreich bis 1788, 493 


berufenen Generalſtände des Reichs zu befragen nicht mehr für 
rathſam hielt und die Hartnäckigkeit der Parlamente fürchtete, 
hatte man, um gewiſſen Miniſterialbeſchlüſſen mehr Anſehen zu 
geben, Verſammlungen von höhern Beamten, Geiſtlichen, Würde— 
trägern und Bevollmächtigten der Städte und Provinzialſtände 
gehalten, denen man den Namen Notablen gab, die aber weder 
irgend eine geſetzgebende noch ausübende Gewalt hatten. Die 
Verſammlung der Notablen mußte den Verſtändigen im Volke als 
ein mit Gepränge und Prunk verſammeltes Collegium zur Be— 
drückung der ſchon gedrückten Klaſſen vorkommen. 

Man war allgemein erſtaunt, als Calonne in einem Augen- 
blicke der Gährung unter allen Ständen und in allen Gegenden 
des Reichs einen Schritt that, der nichts nüsen Fonnte, weil nicht 
zu erwarten war, daß die zu dieſer Verfammlung berufenen Pri— 
silegirten ans ihrem Vermögen den Ausfall (Deficit) in der 
Staatseinnahme deefen würden, was allerdings für fie ſelbſt das 
Befte gewefen wäre. Der Nachtheil Teuchtete aber jedermann ein; 
er beftand nämlich darin, daß durch das Nutzloſe diefer nach dem 
Mufter der Notablen son 1616 berufenen Berfammlung die Na- 
ton unfehlbar darauf würde geleitet werden, die um 1614 ver 
fammelt gewejenen Generalitände zu fordern, deren Berufung bei 
der damaligen Stimmung, bet dem offnen Geftändnif des Königs 
und feiner Finanzminiſter Türgot, Necker, Calonne, daß das Reich 
durchgreifender Aenderungen bedürfe, von einer Revolution unzer- 
trennlih war. Wir werden unten jehen, daß ſehr bedeutende 
Männer unter den Notablen dies fühlten, und daß la Fayette es 
laut und trotzig ausſprach. 

Der König war dem Plane des Controleurs keineswegs 
günſtig; es Foftete Mühe, ihn zur Berufung der Notablen zu be- 
wegen. Der Baron von Breteuil dachte wie der König, man fagte 
ihm daher. fo wenig als den beiden andern Miniftern das Ge— 
vingfte, fondern Vergennes, Calonne, Miromenil fetten durch 
ihren Einfluß auf den König die Sache durch. 

Wie man in einer folchen Zeit, bet einer beiſpielloſen Gäh— 
rung ber Gemüther, bei der durch die Noth der Finanzen herbei— 
geführten Lähmung der ganzen Staatsmafrhine den Schritt wagen 
konnte, Dusch ein königliches Deeret am Ende Dezember 1736 bie 


494 Frankreich bis 1788, 


Notablen zu berufen, ift ſchwer zu begreifen. Wir fehen indeffen 

aus Calonnes Briefen, daß er meinte, es würde bei einem Gau- 
feljpiel der Art bleiben, wie die find, welche unter ung hie und 
da den Minifterien gelungen find; Galonne irrte fich indeſſen 
jehr. Die Verfammlung nämlich, welche dem Könige rathen 
follte, wie er die noch beftchenden Formen und Einrichtungen des 
Mittelalters mit den neuen Bedürfniffen und dem  Zuftande der 
Nation in Mebereinftimmung bringen könne, beitand ganz allein 
aus folchen Berfonen, die unter und feit König Heinrich IV, und 
dem Kardinal Richelien alle Ehren und alle Vortheile des Staats 
unter fich theilten; was war von. diefen mit Güte zu erhalten? 
Nach dem Ausjchreiben vom 30. Dezember 1786 wurden. die 
Notablen berufen; Galonne hatte alfo die Keckheit, fich der 
Nation als einen Reformator, als einen Mann in Neckers 
Art empfehlen zu wollen. Er machte nämlich bekannt, dieſe 
Notablen, -alfo die Privilegirten, follten eine gerade den Pri— 
vilegirten durchaus verhaßte Verbeſſerung einführen. Dies war 
eine Art Hohn, denn er wußte recht gut, daß eine Ver— 
ſammlung, wie die in der Note22) bezeichnete der Notablen war, 


24) Zu diefer Verfammlung wurden berufen: 3 königliche Prinzen, 
3 geiftliche Pairs und 36 weltlihe, ducs, comtes, marquis, 12 Mitglieder 
des Föntglihen Raths. Diefe zufammen follten Nepräfentation des Königs 
and des hohen Adels vorfiellen. Dann ward die Geiſtlichkeit durch 11 Prä- 
Iaten, die Parlamente durch drei und dreißig Präfidenten und Oeneralpro- 
suratoren vertreten, zu denen man als fteife Verfechter aller hiſtoriſchen Ju— 
risprudenz und aller veralteten Formen, nod vier Prafidenten und General 
proruratoren der cour des comptes und den lieutenant civil de Paris zäh⸗ 
len muß. Die alten Feudalftände wurden repräfentirt durch zwölf Deputirte 
der Provinzen und Landſchaften, welde ſtändiſche Rechte hatten; unter dieſen 
zwölf waren 5 Geiftliche. Zu diefen kamen fünf und zwanzig Bürgermelfter 
aus den artftofratifhen Familien, die in Frankreth, wie bei uns und in 
Holland und in der Schweiz, die Städte regierten. Man rechnete, daß unter 
Hundert und fieben und dreißig Notablen nur acht Bürgerliche waren, und 
dies folche, die nach dem Adel ſtrebten. Zu diefen kamen noch fünf Minifter, 
damals: Der Marfhall von Segür, Kriegsminifter, ver Graf de la Lüzerne, 
Minifter des Seewefens, der Baron de Breteuil, Mintfter des königlichen 
Haufes, der Graf Montmorin, Mintfter der auswärtigen Angelegenheiten, 
Miromenil, Iufttzmintfter, Calonne, Generalcontrofeur. Die Namen der 137 
und bie Vertheilung in Tafeln oder Ausſchüſſe findet man bei Lacretelle. 


Sranfreich bis 1788, 495 


nie darauf eingehen werde. Die Notablen nahmen es daher, 
jchon ehe fie verfammelt waren, dem Gontroleur fehr übel, daß 
er den Liberalen fpielen und den Haß des Volks gegen die Pri- 
silegirten, der ſchon furchtbar war, vermehren wollte. Galonne 
erklärte nämlich, feine Abficht bei der Berufung der Notablen jet, 
die allgemein geforderten Provinztalverfammlungen oder Landräthe 
endlich zu organifiven, die Grundftener auf alle liegende Güter, 
ohne Unterjchted der Beſitzer auszudehnen, die auf die niedern 
Stände durch ftete Erhöhung zu fehr drückende Steuer der Taille 
für dieſe zu erleichtern, und endlich ernftlich den Getreidehandel 
im Innern son jeder Abgabe zu befreien. Er verſprach zugleich 
die Abjchaffung dev Hand- und Spanndienfte gegen eine beftimmte 
Geldabgabe.25) Dies alles war dringendes Bedürfniß, aber man 
trante weder dem Finanzminifter, noch dem Hofe irgend etwas 
Gutes zu. Auch das Vortrefflichite wollte man nicht veritehen; 
man frittelte, man ftieß fich an den Perfonen, ftatt nur auf die 
Sache zu ſehen. 

Galonne, der Hof, die Prinzen, felbft die Königin benahmen 
fich allerdings höchſt unvorfichtig in dem fo ernſten Augenblick, 
als ſich am 22, Febrmar 1787 die Notablen verfammelten, Des 
Finanzminiſters Ehrlichkeit war nicht blos zweifelhaft, fondern er 
war, wie fich nach feiner Flucht zeigte, grober Untreue fchuldig, 
führte ein Argerliches Leben und machte gränzenlofen Aufwand. 
Am Hofe wurden alle Kreaturen und Schrangen mit vollen Hän- 
den aus dem Schabe eines Staats beſchenkt, der felbft erklärte, 
daß er dem Bankerott nur durch gefährliche Neuerungen entgehen 
fonnte. Die Königin verfchwendete mit ihrem Zlitterpug größere 
Summen, ald die folidefte Pracht würde erfordert haben; bie 
Prinzen vergeudeten nach englifcher Art durch einen prächtigen 
Marftall, durch Nennpferde, durch Wetten bei Pferderennen, durch 
Sagdzüge und Jagdſchlöſſer, durch koſtſpielige Liebfchaften und 
Liebhabereien die Summen, die man ihnen zur Bezahlung ihrer 
Schulden freigebig aniwies. Die Pete in Verſailles waren nie 


25) Wer Luft hat, kann bet Lacretelle Vol. VI. pag. 130 bis 138 das 
Wefentliche von Calonnes Rodomontaden zufammengeftellt finden. Pag. 152 
und folgende findet man die weſentlichen Stücke feiner Eröffnungsrede an 
die Notablen. 





496 Frankreich bis 1788. 


glänzender, häufiger, geſchmackvoller, verfchwenderifcher, als gerade 
in diefer Zeit und mancher richtete fich und feine Familie am 
Spieltifche der Geſellſchaften bei der Königin zu Grunde, 26) 
Mitglieder der Parlamente, der Feudalftände, die Bürgermeifter 
der Städte machten die Majorität der Notablem aus, Solchen Leu— 
ten war es feheinbar nicht zu verdenfen, wenn fie gleich anfangs 
dem Vorſchlage, das Alte zu ändern, den Ausruf entgegenſetzten: 
Wenn wir auch zugäben, was wir nicht thun, daß Reformen 
nöthig fein mögen, fo find doch Galonne und Gonforten nicht die 
Zeute, die ſich unterftehen ſollten, ſo etwas vorzuſchlagen. 

Der Finanzminiſter machte außerdem gleich. in feiner Gröff— 
nungsrede einen groben Fehler. Er begnügte ſich nämlich nicht 
damit, zu ſagen, die Staatskaſſe habe eine Mindereinnahme (De— 
ficit) von jährlichen hundert und zwölf Millionen Livres, er for— 
derte nicht blos, daß durch neue Einrichtung dafür geſorgt werde, 
daß ſich die Einnahme künftig um dieſe Summe vermehre, ſon— 
dern er hatte die Unverſchämtheit, zu behaupten, dieſe Minder— 
einnahme ſei ſeit Neckers Zeit dieſelbe geblieben. Die Lüge war 
handgreiflich, da man die ſeit der Zeit gemachten Anleihen kannte; 
Calonne reizte dadurch ohne Noth Necker und ſeinen ganzen, ge— 
rade damals in Paris den Ton angebenden Anhang, weil er 
deſſen abgelegte Rechnung (eompte rendu), die ein anderes Re— 
jultat vorlegte, indivert Lüge und Betrug fchalt. ig 

Necker war freilich nicht in der Stadt, aber feine — 
machten über die ihn verletzende Rede * furchtbaren Lärm. 
Alle Hofleute und beſonders die ganze Mehrheit dieſer durchaus 
conſervativen Verſammlung tobte ſowohl über die vorgeſchlagenen 





26) Dies erfahren wir von einem jener. unverſchämten Lobredner der 
Selten der rouds und höfiſcher Eleganz, die jebt überall wieder. hervorkom⸗ 
men und von den Negterungen begünfttgt, die Neichen mit glatter Rede be— 
trügen und vergiften. Der ächt Fatholifche aber in jedem Wort frivofe Mar» 
quis de Cüſtine fagt in feinem Buche: La Russie en 1839 (Paris 1843); 
Vol. L p. 35 von feinem Großvater (rühmend): Peu d’anndes auparavant 
il avoit perdu dans un hiver trois cent mille francs au jeu de la reine à 
Versailles. Diefer bejahrte faquin fügt Hinzu: Dans ce tems la Marie 
Antoinette, brillante, enviee fut adorde, par mon grand pere comme 
par toute la cour, d. h. yon allen Leuten welche Daten, wis er in den 
4 Bänden ber Russie redet. 


Frankreich bis 1788. 497 


Neuerungen ald über die heftigen Angriffe auf den Mißbrauch 
ber Privilegien, den die Rede enthielt. Necker faumte nicht, Del 
ing Feuer zu gießen; ev vechtfertigte feine Rechnung in einer 
Heinen, fehnell verbreiteten Schrift (Reponse au discours prononc& 
par Mr. de Calonne à l'assemblée des notables) und enthüllte 
zugleich Calonnes Fee Lügen und doctrinäre Sophiftif, Der 
Sinanzminifter ward den Notablen, wie der ganzen Welt, als 
ein. feiner und abgefeimter Gauner dargeltellt, der mit dem fran— 
zöfifchen Reiche ein gefährliches Spiel treibe. Calonne hatte da- 
mals noch den Hof, das heißt die Leute, deren glattes und ober— 
flächliches Geihwäs den König hin und her trieb, für fih, und 
der ſchwache Ludwig XVI. verbannte Necker wegen feiner Antwort 
auf Salonnes Angriff, Dadurch gab er dann freilich ſelbſt Fund, 
daß man weder feine Ungunft fürchten, noch feiner Gunft trauen, 
weder auf feine Güte Hoffnungen, noch auf feine Strenge Ver— 
trauen gründen dürfe, — Dies beftätigte fich dadurch, daß er 
wenige Monate nachher denfelben Necker, den ev jebt verbannte, 
als rettenden Engel in der Noth an die Spite der Gefchäfte 
ftellte.. Bon welcher Art das ſchön und geiftreich Elingende Ge— 
ſchwätz der Salons war, dem der König fein Ohr lieh, mag ein 
Deifpiel zeigen, Wir führen Bezenvals Worte an, um zu bewei- 
jen, wie Teer die ganze Schönrednerei der großen Welt und ihrer 
Sünftlinge ift, da Bezenval felbft gleich darauf einen ganz andern 
Ton anftimmte.27) Freilich muß man diefe Stelle in ihrem gan— 





27) Gleich nach den erften Sitzungen cabalirten der Juſtizminiſter und 
feine Parlamentspräfidenten gegen den Sinanzmintjter, die Weiber und Hof; 
leute für ihn. Das beſchreibt ung Bezenval, der hier ganz in feinem Efe- 
ment war, bis zum Weberdruß genau. Er machte den Unterhändler, er, 
Vaudreuil, die Pollgnac machen alfes unter fih aus, fie bewundern Calonnes 
Unverfhämiheit und Advofatentalent als Tugenden! Als aber Calonne den 
Schleier Tüften will, da ift e8 aus! Bezenvals Geſchwätz, feine Taute Bewun- 
derung futiler Eigenſchaften, feine Klagen über Calonnes Mangel an biplo- 
matifcher Gefchteflichkeit, die Keute bet guter Laune zu halten, kann alfo den 
Mapitab der Kreiſe geben, denen er Orafel war. Memoires de Mr. le 
baron de Bezenval. Paris 1805. Vol. II. pag. 195. Les notables 
ayant demandé quelques &claircissemens, Mr. de Calonne voulut les 
donner Iui meme, et l’on indiqua une assembl&e chez Monsieur, oü 
il se trouva, et oü chaque bureau envoya des deputes, Pendant pres 

Schloſſer, Geſch. d. 18. u, 19, Jahrh. IV. Th. 4. Auf, 32 


198 Frankreich bis 1788. 


zen Zuſammenhange leſen, und Sinn fir Ordnung, Recht, Ver— 
waltüng und ernfte Männtiäteit haben, um zu beurtheilen, 
wie ganz elend Die wichtigſten Gefchäfte des Reichs Im alten 
Frankreich betrieben wurden, wo man darüber ſchwatzte und Intri- 
guirte, wie über eine Hofceremonte, über einen Ball oder eine Oper, 

Die Herrn der alten Zeit, befonders die Juriſten, das heißt 
die Parlamentspräſidenten und Generalprocuratoren, waren jeder 
Veränderung gleich anfangs entgegen und confpirirten unter dem 
Schutze des Juſtizminiſters förmlich gegen Alles, was der Finanz⸗ 
miniſter im Namen des Königs vorſchlug. Es begann eine lange 
Reihe von Cabalen und Intriguen, die man in den zahlreichen, zum 
Theil apoerhphiſchen Denkwürdigkelten leſen mag, da wir Diefe Er— 
bärmlichkeiten in Die allgemeine Geſchichte aufzunehmen nicht wagen. 

So Tange nad einige Ausficht für den Mintfter war, ‚feine 





— 


de cinq heures que dura la scance; Mr.. de Calonne ful en butte a tout 
ce.que Ja mauvaise volonte, l’humeur, la grossieret6 m&me, ‚purent sug- 
gerer, sans qu’il sortit un instant du calme et de la moderation la plus 
parfaite ni que des questions tumulteusement faites et qui souvent se 
eroisoieht,, sans donner le temps de la reponse embrouillassent la clarte 
de ses repliques, il revint m&me à des matiöres que des questions nou- 
welles avoient interrompues, auxquelles il r&epondoit sur le ‚champ ‚et 
reprenoit en suite ces matieres a l’endroit oü il_les avoit laisees, ne 
laissant rien à desirer sur aucun des öbjets quil etoit' oblige de’ halle. 
En un mot Ies gens les plus acharnes ‘contre Tui, furent öntraints, de 
convenir que jammais homme n’avait montre aulant- d’eloquence, de pre- 
sence d'esprit ni de sagesse. Et cette épreuve à laquelle beaucoup de 
gens, meme tres capables , auroient peut être succombe, fut un ‚vrai 
triomphe pour lui. Je. n’etois point ami de Mr. de Calonne, je Ie con- 
noissois comme on. connoit les gens en place. Intimement lie avec 
Mr. de. Vaudreuil .et la duchesse de Polignac, il venoit tres souvent 
chez elle, et c’etoit la gue je jouissais de ses ‚[ormes ‚sedwisanles , de, la 
gaite, de l’agrement de son esprit, ce qui ne m’avoit donne de ui, que 
Y’opinion d’un homme infiniment aimable. Mais j'en pris, une toute 
autre.idee, lorsque je vis la grandeur du plan qwil avoit congu et le 
eourage ‚avec lequel il. en  poursuivoit Vexecution; et javoue que la 
chose et la maniere dont il se presentoit, non seulement m’interesse- 
rent pour lui, mais me firent encore son defenseur. J’etois eloigne 
de prevoir, qu'un homme qui avoit eu, des pensees aussi fortes, &chou- 
‚eroit par. sa legerete (und was war alles, was Bezenval trieb und an Ca 
lonne vorher rũhmt, als dies?) et par son inconduite! 


Frankreich bls 1788. 499 


Abſichten durch die Privilegirten zu erreichen und ſich auf jener _ 
Stelle zu behaupten, erfuhr das Publikum nichts von dem, was 
in der Verſammlung der Notablen vorging, nian machte weder 
befannt, was den Notablen im Namen des Königs vorgelegt 
wurde, noch was die Ausichüffe darüber beſchloſſen. Plötzlich, 
als Galonne fah, daß man darauf ausginge, ihn zu verdrängen, 
hieß ev Alles drucken, was bis dahin Liberales vorgefchlagen und 
son der Verſammlung durch Schikane entfernt ober aufgehalten 
war, Er felbft machte durch Anmerkungen aufmerkſam darauf, 
daß die Notablen allein ſchuld wären, wenn dem Volke nicht bald 
‚geholfen würde, Diefe Kechtfertigung der Regierung gegen die No— 
tablen ward fogar den Pfarrern zugeſchickt, um fie In den Ge— 
meinden bekannt zu machen. Dadurch war dann der Krieg er= 
klaͤrt und die Nevolution begonnen, weil auch die Notablen , wie 
der König, jetzt rathſam fanden, die öffentliche Meinung für ſich 
in Anſpruch zu nehmen, und den Schein eines unbarmherzig ari⸗ 
ſtokratiſchen Sinns und einer unerbittlich confervativen Härte von 
ſich abzuwenden. Dadurch geftanden fie ſtillſchweigend ein, daß 
das Regieren durch Polizei, durch Baſtillen, durch Bajonette and 
unbedingte Befehle am Ende ſei. 

Die ſämmtlichen Ausfchüffe (Büreaux), in welche ich die 
Notablen vertheilt hatten, beſchloſſen, fobald fie den Schritt des 
Finanzminiſters erfuhren, den König um die Erlaubniß zu erſu⸗ 
hen, auch ihre Beſchlüſſe drucken zu laſſen und im Reiche zu 
vertheilen. "Ste wollten ſogar jetzt aus Rache die ganze Verwäl- 
tung des ihnen tödtlich verhaßt gewordenen Finanzminiſters einer 
gerichtlichen Unterſuchung unterwerfen. Dieſe Gelegenheit mußte 
Lafayette, der ſich in dem Büreau befand, deſſen Präſident der 
Graf von Artois war, um darauf anzutragen, zwei ſchänd⸗ 
liche Finanz⸗ und Domänenoperationen des vorigen Coutro— 
leurs, die um gewiſſe Herrn des Hofs zu bereichern gemacht 
waren, für gewiſſenloſe Vergeudung des Staatseigenthums zu 
erklären. Dieſer Vorſchlag, der vom Biſchof von Langres unter⸗ 
ſtützt ward, konnte freilich unter Leuten, welche zum Theil auf 
ähnliche Art von Calonne begünſtigt waren, kein Gehör finden; 
das hatte aber Lafayette wahrſcheinlich vorausgeſehen. Er wollte 
nur andeuten, daß man den Grund des Uebels erforſchen, nicht 

32* 


500 Sranfreich bis 1788. 


ein Gaufelfpiel mit Neden treiben müſſe. Die vier Neben, die 
Lafayette in dieſer Verſammlung der Notablen hielt, verlündigten 
alle vier, daf eine radicale Aenderung der Verfaffung nöthig fei. 
Dies entfuhr ihm fogar in einer Erwiderung auf eine Frage feines 
Präſidenten, des Grafen von Artois.2?) Als er nämlich in einer 
der erwähnten Reden von den allgemeinen Ständen ſprach, fragte 
ihm der Prinz: Wie, Sie fordern, daß man fo weit 
gehe? Er erwiderte: Ja noch weiter. Die Sikung am 12, 
März 1787 ward entjcheidend, man erklärte fich gegen jede Art 
gleicher Grumdfteuer (imposition territoriale) und gegen die Rede 
des Finanzminifters, worin er die Verbefferungen, die er am 12. 
März vorichlug, empfohlen hatte, 

Der König benahm fich bei der Gelegenheit jo ſchwach, daß 
beide Parteien, d. h. diejenigen, welche eine Reform und die, 
welche die Beibehaltung alles Alten wünſchten, die Ueberzeugung 
gewinnen mußten, daß er nur durch kräftigen Widerſtand auf die 
eine oder die andere Seite getrieben werden könne. Er ließ ſich 
nämlich gefallen, daß ihm die Notablen ſagten, daß es unvor— 
ſichtig geweſen ſei, ſie zu verſammeln, gab ſogar zu, daß fie den 
Finanzminiſter gewiſſermaßen anklagten. Er dankte ihnen höflich 
für die guten Rathſchläge und beharrte dennoch auf dem, was 
ſein Miniſter vorgeſchlagen hatte, ſchwankte lange Zeit, ob er ihn 
entlaſſen ſollte, und ließ ſich, auch als er ihn entlaſſen hatte, 
noch einige Zeit hindurch insgeheim von ihm unterrichten. Der 
König war lange ungewiß, ob er den Siegelbewahrer, der ihm 
und dem Finanzminifter entgegengearbeitet hatte, oder ob er den 
Veßtern entlaffen follez er ſchien ſich ſogar am 8. April für Ca— 
Yonne entjchteden zu haben, weil an diefem Tage Miromenil feine 
Entlafjung erhielt; allein fehon am 9. ward auch Galonne ver- 
abſchiedet. Calonnes Syſtem, welches der König adoptirt hatte, 





28) Er erhob ſich gegen die Willkür und den Mißbrauch der Föntglichen 
und der Miniftertalgewalt. Der Graf von Artois meinte, das gehöre nicht 
dahin. La Fayette fuhr fort und erklärte, die Notablen feien verfammelt, um 
dem Könige die Wahrheit zu fagen; er müffe alfo fagen, was er denke. Er 
trug ſchon damals förmlich darauf an, die letires de cachet und bie Staats- 
gefängniffe für conſtitutionswidrig zu erffären, und den Proteftanten bie bür⸗ 
MT — wiederzugeben. 


Frankreich bis 1788, 501 


ward zwar nicht aufgegeben, aber fo verſtümmelt und gefälfcht, 
daß jetzt erſt jedermann recht unzufrieden war, vorzüglich Neckers 
Freunde und die Parlamente. Das erledigte Miniftertum der 
Finanzen war jebt wieder ein Gegenftand der Gabale, und der 
König, der Feinen Willen und feinen Rath hatte, horchte bald 
auf den Nath derer, welche ihm den Grabifchof von Toulouſe 
(hernach von Sens), Lomente de Brienne, empfahlen, und bald 
auf ihre Gegner, welche auf Neckers Zurücherufung drangen. 

Schon am 27, April erflärte ſich der König für den Erz— 
bifchofz am 1. Mat nahm diefer die Miene an, als wenn er ein 
Kardinal Richelien „zu werden Hoffe, da ihm als Kardinal, 
jobald er Minifter werde, der Vorſitz im Miniftertum feines Rangs 
wegen von ſelbſt zufiel. Der König mußte nämlich Villedeuil 
zum Generalcontroleur ernennen und. der Kardinal Tief fich an— 
fangs den Titel eines Haupts der Neichsfinanzen (chef du conseil 
des finances) geben, ſchon am 1. Auguft ernannte ihn aber der 
König zum Principalminiſter. Der Marſchall Segür und der 
Marſchall de Gaftries wollten unter ihm nicht dienen, fein Mint- 
fterium: beftand aus feinem Bruder Brienne, welcher Kriegsmint- 
ſter wurde, Lamoignon, der das Juftizminifterium erhalten hatte; 
Breteuil blieb Minifter des königlichen Haufes, de la Lüzerne 
des Seeweſens, Montmorin der auswärtigen Angelegenheiten. 

Es fchten damals, als wenn der Hof die Notablen, und 
diefe das Volk durch Blendwerk täufchen wollten, Weil die No— 
tablen namlich auf Sparſamkeit und Erfparntffe beftanden, fo 
. machte man einen Lärm über unbedeutende Befchränfungen, wo— 
durch nur eine Anzahl von Leuten, die geringe Befoldungen hat— 
ten, brodlo8 wurden, Später, gerade ald man fich Feine Blöße 
geben und Feine Schwäche hätte zeigen follen, gab man ſich frei= 
Yich das Anfehen, als wenn man ernftlich ſparen und Schlöffer 
und Luxus reformiren wollte; man führte aber nie aus, was 
man damals durch Edicte verfündigte. Wie der Hof die Notablen 
und nachher die Parlamente durch den Schein täufchte, ald wenn 
er ihren Forderungen Gehör gebe, fo blendeten die Notablen das 
Bolt durch manche ſchöne Neden und durch Vorfchläge zu Aende— 
rungen, die theilg unbedeutend waren, theils ohne Notablen von 
Miniftertum und Parlament Teicht hätten gemacht werden können. 


502 Frankreich bis 1788, 


Der Erzbiſchof von Touloufe, der einige Monate hernach 
dies Erzbisthum mit dem von Send vertauſchte, hielt: bis zum 
25. Mat regelmäßig die Derfammlungen der Notablen., An dem 
erwähnten. Tage ſchloß ex fie und Fündigte prahlend ihre Bes 
fehküffe an, von denen aber fehr zweifelhaft war, ob die Parla= 
mente fie ofme weiteres regiſtriren, das heißt: als Geſetze procla— 
miren würden. Der Erzbiſchof wollte fich als einen Freund 
Neckers und der philantrophiſchen Verwaltung zeigen; auf dieſe 
Art verkündigte er auch beim Schluſſe der Verſammlungen der 
Notablen die Reſultate derſelben in einer phraſenreichen Rede, 
Die jährliche Mindereinnahme (Deficit) war durch die unbedeu— 
tenden Erſparniſſe, die man projectirte, nicht gedeckt, eine Quelle 
neuer Einnahmen hatten die Notablen nicht gefunden ; der Erz⸗ 
biſchof rühmte daher allerlei unbeftimmte Bortheile, 3.8.) Ver- 
fprechen des Königs, Ausficht auf Veränderung ‚der Verwaltung, 
Abſchaffung der Salzſteuer in ganz allgemeinen Ausdrücen, gleich 
fam auf die Zukunft vertröftend, Nur ſechs Stüde gab er an, 
die mittelbar als Gefebe verkündet werden ſollten: 1) Einrich— 
tung von Provinzialverſammlungen oder Landräthen: zur gleichen 
Dertheilung der Abgaben. 2) Abichaffung der das Volk drücken— 
den Nebenfteuern bei den Hauptſteuern, die den gemeinen Mann 
trafen (suppression d’un grand nombre de droits sur les traites 
et gabeiles). 3) Abfchaffung der Frohnden. 4) Abſchaffung aller 
Zölfe im Innern und 5) Errichtung eines füniglichen Kammer— 
esllegiums; 6) um Doch auch etwas Fiir den Augenblick zu thun, 
ſollten ſechs Millionen neuer Leibrenten gefchaffen: werden. - Das 
Lebteve war für das Bedürfniß des: Augenblicke nicht hinreichend, 
der Minifter mußte alfo noch eine, nee Steuer zu erheben fuchen. 
Died ward um jo mehr erfordert , als Anleihen ſchwierig waren, 
denn die Verfammlung der Notablen hatte den öffentlichen Credit 
eher gejchwächt als gehoben. Er verfiel auf eine Stempeltare 
und auf eine Art Grundfteuer, die man mit dem Namen Sub- 
vention bezeichnete, | 

Die Denkwitrdigkeiten der Staatsmänner, jener Zeit tadeln 
faft einftimmig den Erzbiſchof, daß er nicht alle ſechs von den 
Notablen gebilligten Vorſchläge und mit diefen feine Subvention 
oder Landtaxe und feine Stempelabgabe fchnell ans Parlament 


Frantreich bie 1788, 903 


gebracht, ſondern dieſem zur Befinnung Zeit gelaffen ‚habe, „Wir 
folgen auch hier unſerm Grundſatze, nie zu erörtern, was gefche- 
ben fein würde, wenn man dieſes oder jenes gethan Hätte, wir 
berichten daher am Schluffe dieſes Abſchnitts nur noch, wie der 
König dahin gebracht wurde, bie allgemeinen Stände und dadurch 
mittelbar eine Revolution zu verfündigen, 

Am 17. Juni ward durch, königliche Verordnung das Geſetz 
der Freiheit des Getreidehandels yon 1774 erneut, fünf Tage 
hernach wurden die Landräthe zur Vertheilung der Abgaben in 
den verſchiedenen Provinzen beſtellt; am 27. Juni wurden die 
Wegfrohnen abgeſchafft und durch einen Geldbeitrag erſetzt. Dies 
ward ohne Schwierigkeit yon Seiten des Parlaments vegtitrirt, 
Die Subvention oder die Landtare brachte. die Junker des Herrn— 
ſtandes, aus denen der größte Theil der Paxlamentsräthe beſtand, 
in die hefligſte Bewegung, doch erleishterte dag Miniftertum dent 
Parlamente dieſen Widerſtand gegen eine nur den Parlaments- 
gliedern allein beſonders verhaßte Tare, deren Verwerfung alſo 
dieſe im gehäffigen Lichte zeigen mußte, dadurch, daß es gleich- 
zeitig auch Die Stempeltare zum Regiſtriren vorlegte. Die Land⸗ 
taxe ging nur beſonders den Adel, die Stempeltaxe aber alle, an; 
dag Volt ſchloß ſich daher, als der Streit heftig ward, ans Parla- 
ment. an, und begrüßte deſſen dreiftefte Nedngr als Sreißeitefeeunbe, 
was fie durchaus, nicht waren, 

Die Parlamentsredner wollten dieſe Gelegenheit benutzen, 
um ſowohl dem Könige als dem Vol fe ihre Verſammlung, welche 
aus vornehmen Herrn, Landjunkern und Juriſten beſtand ‚ale 
Ständeperfammfung aufzubringen ; es wollte namlich die beiden 
Abgaben nicht cher regiſtriren, bis es ſolche Nachweſſungen, wie 
man fie nux den Ständen zu geben pflegt, erhalten hätte. Das 
Rarlament verfangte, daß ihm nicht allein Rechnung von der 
Einnahme und Ausgabe und vom jährlichen Ausfall (Defict) 
porgelegt werde, ſondern es wollte auch Auskunft haben über die 
verſprochenen Eöniglichen Einſchränkungen und — Dies 
konnte der Miniſter nicht bewilligen, ohne zugleich dem Könige 
und dem Volke weſentliche Rechte zu vergeben und eine förmliche 
Parlamentsoligarchie zu begründen. Seit dieſem Augenblicke be⸗ 
gann der alte Kampf zwiſchen Sa und König mit eben 


504 Frankreich bis 1788, 


der Heftigfeit, mit welcher das Parlament unter Ludwig XV. in 
der Sache des Herzogs von Aiguillon gefämpft hatte, 

Die Forderungen des Parlament? vom 6. Juli wurden am 
achten dadurch zurücgewiefen, daß man bewies, daß das Parla- 
ment fein Recht überfchreite. Diefen Vorwurf konnte das Parla= 
ment nicht anders widerlegen, als durch die Behauptung, daß 
man fein Einfchreiten durch Unterlaffung der Berufung der Stände 
des Reichs nothwendig gemacht habe. Dieſe Erklärung hätte das 
Parlament gern ſchon im folgenden Jahre wieder zurückgenom— 
men, als endlich der König durch die allgemeine Stimme genö— 
thigt und zugleich unaufhörlich vom Parlamente befriegt, im De— 
zember 1787 erklärt hatte, daß er Lieber, ftatt ewig mit den Par— 
Yamenten um augenbliefliche Steuern zu ftreiten, einmal bie 
allgemeinen Stände zu einer Radicalcur einberufen wolle, Das 
Parlament Hatte nämlich gegen den König umd feine Minifter,. 
mit fcheinbarer Aufopferung eines angemaßten Rechts, den Vor— 
wurf des conftituttionswidrigen Unternehmens. in Steuerfachen da= 
durch vergolten, daß es der Negierung den Vorwurf zurückgab. 
Es erklärte jelbit, e8 habe bisher die Abgaben nur darum regt 
ftrirt, weil e8 die Uſurpation der Negierung getheilt habe, das 
fei aber ganz unrecht gewefen, niemand als die 
Stände oder Repräfentanten der Nation hätten ein 
Recht, Auflagen zu gewähren Dies war das Signal 
zu den heftigften Debatten, die den ganzen Juli hindurch unter 
tobendem Lärm der Pariſer fortdauerten. Diefen Monat hindurch) 
jammelte fich das Volk alle Tage tumultnarifch am Orte der 
Parlamentsſitzungen und empfing die heftigen Freiheitsredner, be— 
jonderd Düport und d'Epresmenil, mit Jubel und Jauchzen, die 
Gegner mit Hohn, Daß Adrian Düport, der 1789 bedeutende 
Summen zur Volksbewaffnung beitrug, während d’Epresmenil 
damals fchon zum wüthenden Wertheidiger des Alten geworden 
war, in Verbindung mit den Freunden des Düe d'Orleans und 
mit andern Geld hergab, um handfefte Leute unter die Menge zu 
bringen, wird als zuserläffig behauptet, wir mollen es deshalb 
anführen, ohne es für ausgemacht anzugeben. . 

Erft im Anfange des nächiten Monats entfchloß fich der 
Erzbifchof, der gerade in diefer Zeit Touloſe mit Seng vertaufchte, 


Frankreich bis 1788, 09 


zu der unter Ludwig XV, fo oft gebrauchten Maßregel, das Re— 
giftriren der abgelehnten Verordnungen in einer feierlichen und 
fchmeigenden Sitzung (lit de justice) vornehmen zu laſſen; nach— 
dem das Parlament, feiner Gewohnheit gemäß, den drei Mal 
wiederholten Befehl durch dreimalige Gegenvorftellungen zurück— 
gewieſen hatte. Das Parlament, vom tobenden Volke umgeben 
und beſchützt, bildete darauf in Paris eine furchtbare Gegenregie— 
ung. Es hatte, ehe es am 6. Auguft zu der feierlichen Sitzung 
nach Verſailles entboten ward, wiederholt die Pairs in feine Ver- 
fammfungen berufen; dort veranlaßten die jungen Parlaments- 
räthe dann fogar Scenen des heftigiten Tumults, viele der Pairs 
hielten revolutionäre Neden, Man fehmähte den Hof und bie 
Mintfter ohne Schonung und ohne Rückſicht auf die Gegenwart 
der Brüder des Königs. Die Parlamentsderrete (arröts) waren 
heftig, wie die Nedenz es war daher vorauszufehen, daß man fich 
auch gegen die in Verſailles vom Könige mündlich ertheilten 
föniglichen Befehle fträuben werde. Das Parlament mußte in 
Verſailles zwar ftillfehtweigend die Verordnungen eintragen fehen; 
es war aber Faum am andern Tage wieder in Paris, ald es fich 
mehr erlaubte als je. Es proteftirte nicht mehr blos, fondern es 
erklärte das, was in Verſailles gefchehen war, für null und nich- 
tig und fchiefte dies caflirende Deeret (arr&t) an alle feine Un— 
terbehörden, was fo viel hieß, als ihnen verbieten, das Fünigliche 
Gebot der Steuer zu befolgen. Bet der Gelegenheit erflärte fich 
auch das Parlament endlich ganz in der Sprache und dem Sinne 
der fpatern Nationalverfammlung. Dies gefchah in der ausführ- 
lichen Deduction der Gründe feiner Widerſetzung. Es ftellt darin Furz 
das Recht der Franzoſen auf und fordert noch einmal, und zwar dieſes 
Mat beftimmt und ausdrücklich, die Berufung der allgemeinen Stände. 

Auf diefe Weife verfündigte das Parlament die allgemein 
gewünſchte Reform, die unter den damaligen Umftänden nothwen— 
dig eine Revolution werden mußte. Alle Ordnung in Paris war 
geſtört. Wer irgend verdächtig fehien, ward als Polizeiſpion 
(mouchard) bezeichnet und wo er fich fehen ließ vertrieben und 
verfolgt; die Regierung verlor alle Haltung. Man gab zur un— 
rechten Zeit nach, man verriet thörichte Furcht und Schwäche, 
jelbft dann, wenn man das Parlament und das Volk auf jede 


506 Frankreich bis. 1788, 


Weife zu überzeugen ſuchte, daß der Hof haushälteriſch merden 
wolle... Galonne mochte. freilich, verdienen , wegen feiner, Verwal⸗ 
tung, als Berbrecher. vor, Gericht geftellt, zu. werden z nur ‚hätte ber 
König ihn in diefem, Augenblicke nicht dem Parlamente preisgeben 
dürfen. Das Parlament, begann, nämlich, am, 10 Auguſt ‚ein 
Prozeßverfahren gegen, Galsung, dev König. rief am 14, den Pro⸗ 
zeß nom Parlament an. den Staatsrathz es war aber ie, wenig 
auf des Königs: Feftigkeit zu, rechnen, daß Calonne rathſam fand, 
nach London zu flüchten. Faſt um dieſelbe Zeit (am 9- Auguſt 
mußten, auf des Erzbiſchofs Augeben der, König und der Hof be— 
weiſen, daß nur Toben und Geſchrei, nicht freundliche Bitte, Be— 
dürfniß des Volks, und verſtändige Ueberlegung ſie bewegen könne, 
Hofleuten und Müßiggängern die großen Summen ‚zu. entzi 

wofür fie feine oder ſchaͤdliche Dienſte thaten. Am 9. uguft 
namlich. erließ Ludwig XVI. die oben erwähnte Scheinverordmung 
wegen dev Schlöffer und Häufer, die nie. erfüllt ward ‚29), ferner 
die wegen dev ganz überflüfligen Leute und wegen des unbrauch⸗ 
baren Prunks. Mit welchen Leuten die Vertheidiger der Volks— 
rechte es zu thun hatten, kann man daraus am beſten ſehen, daß 
ung der Hofſchweizer Bezenval erzählt, der Düe de Coigny ſei damals 
wüthend zum Könige gekommen und habe ihm heftige Vorwürfe ge— 
macht, weil dieſer gewagt hatte, des Herzogs Einkünfte zu ſchmaͤlern, 
um Leiden des Volks zu lindern. Er nahm keine Rückſicht darauf, 
daß dies geſchehen fei, weil es nothiwendig wer, und der ſonſt ſo ſer⸗ 
vile und kriechende Hofmann ward, wie Bezenval ſagt, bei der Gele⸗ 
genheit ſo unartig, daß ein förmlicher Zank zwiſchen beiden ent⸗ 
ſtand. Derſelbe Bezenval nennt es Güte des Königs, daß dieſer 
hernach ſagte, fie wären beide recht böfe geworden z aber er glaube, 
er würde dem Die de Coigny verziehen haben, wenn er ihn ges 





29) Damit man fehe, daß es mit den Millionen Erſparniſſen, bie man 
in den Büchern augeführt findet, durchaus nichts war, ſo wollen wir nur 
ein Beifpiel anführen. Es liegt eine —— vom 9 uguſt 1787 vor 
ung, worin ber König zur Erleichterung der Staatskaſſe que ques reformes 
dans ses maisons civiles et militaires anfündigt, dort heißt es: bie Sälöffer 
Choiſy, Ta Muette, Madrid, Vincennes, Blois follten nebſt allen föniglichen 
Häufern in der Stadt auf den Abbruch verkauft werben. - Schlöſſer 
blieben, der ganze Lärm war leerer Mind, | 


Frankreich big: 1788 30% 


fchlagen hätte; — denn dem gutem Mann ſei doch; gar zu nahe 
geſchehen! Polignaes Großmuth und edeln Sinn. weiß Bezenval 
nicht genug zu preiſen, weil er der Königin nicht eine gleiche 
Scene bereitete. Was war mit diefem Könige und mit Hofleuten, 
die züenten wie Coigny und dachten wie Bezenval anzufangen? 
Als das Barlament nicht nachgab, als ſechs Wochen ang 
ſtets drei big viertauſend Menfchen Säle und, Zugänge des: ſoge— 
nannten Juſtizpalaſtes fühlten und mit Inutem Jauchzen jedes 
heftige, Dekret begrüßten und jeden gegen: Hof und. Minifter 
tobenden Redner lobend und jubelnd empfingen und begleiteten, 
beſchloß endlich Brienne, dev fett dem August Principalminiſter 
war, dies Mal nicht einzelne Barlamentsglieder, fondern das 
ganze Barkament an einen Fleinern und ftillern Ort zu ſchicken. 
Er rechnete, nicht ohne Grund, ficher darauf, daß die Parla- 
mentöglieder Paris nicht würden entbehren. konnen. Unter Lud— 
wig XV. hatten immer. die Musketiere. die königlichen Briefe 
(lettres de. cachet) gebracht, diefe koſtſpielige Hofmiliz Hatte aber 
gleich, nach, Ludwigs XRVI. Regierungsantritt der, Graf St. Ger- 
main abgefchafft. Man fchiekte alfo an jeden Barlamentsrath ‚in 
der Nacht vom 14. auf 15. Auguft einen. Offizier der Gardes 
Frangaises, um ihn nach Troyes zu begleiten, wohin das Parla— 
ment verbannt ward. Bei dieſer Gelegenheit zeigte fich, daß alle 
Gerichte de8 Landes den vom Parlament ausgefprochenen Wunfch 
einer Nadicalveform theilten. Alle Untergerichte ſchickten namlich 
Deputationen. an das Parlament, Tießen ihre Freude über den 
mutbhigen Widerftand deſſelben ausfprechen , erkannten „bie. von 
demſelben verfündigten Grundſätze über Bewilligung dev Steuern 
als die allein: richtigen an und verfprachen, ſich ſtets enge an das 
Parlament anzufchliegen. Der Haß des ganzen Volkes bewirkte, 
daß die blinde Maſſe gegen die Unverbefferlichen des Hofes durch 
Kath und Geld. der Gebildeten und Vermögenden zu einer ftehen- 
den Macht gegen Polizei und Militär, ward. Dies zeigte fich, 
als bei diefer Gelegenheit die. Brüder des Königs die. Steuern, 
welche das Barlament nicht hatte vegiftriren wollen, in der Ober- 
ftener- und Oberrechnungsfammer mit Gewalt vegiftriven. ließen, 
und. in der fogenannten großen Kammer die BProteftationen und 
Derrete des Parlaments ausftrichen. 


508 Frankreich bis 1788. 


Die Strafen waren gedrängt voll Menfchen, als der Graf 
von Provence und der von Artois, von ihren Garden umgeben, 
die Handlung der Gewalt ausführten; der Erſte mar fchlau 
genug, fich als Volksfreund auszufprechen, er ward mit Freund- 
Vichfeit und Achtung begrüßt. Der Graf von Artois ward aus— 
gezifcht, ausgepfiffen und mit folcher Ungezogenheit empfangen, 
daß die Schweizer und die frangöfifchen Garden, welche im Hofe 
des Gebäudes aufgeftellt waren und nicht wußten, was der TZumult 
im Innern des Gebäudes bedeute, fich in Reihe und Glied ftell- 
ten. Der Chevalier de Grüfjol als Gardehauptmann des Prinzen, 
ließ zugleich die Garde, welche Spalter machte, das geladene Ge— 
wehr fehultern. Die Oberftener- und die Oberrechnungstammer 
proteftirten übrigens gleich nachher gegen dieſes gewaltfam Ein— 
regiftvirte und drangen in ihrer Proteftation ausdrücflich auf Ver— 
fammlung der Stände. Das Parlament Tebte hernach zwei Mo— 
nate lang in Troyes in Feiten und Zerftreuungen, weil es bort 
müßig war, die PVräfidenten und die Altern Näthe aber, denen 
ber Freiheitsraufch der jüngeren nicht gefiel, unterhandelten indej= 
fen insgeheim mit dem Minifter. Die Regierung wollte das 
Parlament befchwichtigen, weil die obere Juſtiz ſtill ſtand. Das 
Chatelet in Paris auf der einen, das Parlament in Troyes auf 
der andern Seite hielten zwar täglich regelmäßig Gerichtöfigungen, 
es meldeten fich aber weder Procuratoren noch Parteien, Schon 
damals Hatte Paris das Anfehen einer im Aufftande befindlichen 
Stadt, man durfte nur jemanden durch ein mit Kreide auf feinem 
Rode gezeichnetes M. als Polizeiſpion bezeichnen, jo warb er 
mißhandelt und ſelbſt die zahlreichen Patrouillen waren fruchtlos. 
Die Königin wagte ſchon damals, aus Furcht vor dem aufgereg- 
ten Pöbel nicht, durch Parts zu fahren. 

Die Alteren Mitglieder des Parlaments in Troyes ſchloſſen 
jedoch eine Uebereinkunft mit dem Hofe (20. Sept.), deren Artikel 
den jüngern Näthen ein Geheimniß blieben, Nach diefen Artifeln 
follte dem Parlament die Ehre des Friedens, dem Principalmi— 
nifter der Vortheil, dem Bolt der Schaden der Ausjohnung der 
Regierung mit den Obergerichten zu Theil werden. Das Barla= 
ment durfte am 21. September zurückkehren und ward, weil man 
die geheime Bedingung des Friedens nicht Fannte, mit unbeſchreib— 


Frankreich bis 1788, 509 


lichem Jubel vom Volke als Sieger empfangen, Als die Meber- 
einkunft fund ward, als im folgenden Jahr das Parlament fich 
jogar bemühte, die von ihm geforderte Ständeverfammlung zu 
hindern oder unwirkffam zu machen, erkannte man, daß vom Par— 
Iamente wie vom Minifterium nur Verfügungen der alten Zeit, 
nicht, wie jeder Gebildete wünfchte, eine neue Ordnung der Dinge 
zu erwarten ſei. Das Anfehen des Parlaments war daher fchon 
am Ende des Jahrs 1783 ganz dahin. Vorerſt blieb das Par- 
lament, in Ermangelung der Stände, das einzige Organ des 
Volks, denn das Barlament allein unter allen Gorporationen. war 
berechtigt, geſetzliche Widerfeßung und heftige Demonftrationen 
des Dolls gegen die Regierung zu veranlafien, ohne fich des 
Aufruhrs jchuldig zu machen. Um die VBolfsgunft nicht zu ver— 
lieren, hatten übrigens die alten Zuriften ihre Zugeftändniffe an 
bie Regierung ſorgſam elaufulixt, fie hatten für den Augenblick 
eigentlich nichts gewährt; als daher der Brineipalminifter acht 
Wochen nad) der Rückkehr des Parlaments auf die alten Herrn 
vechnete und die Bedingung der Zurüdberufung des Parlaments 
geltend machen wollte, waren die jüngern Räthe im Stande, 
alles zu vereiteln, 

Die eigentliche Bedingung der Vebereinfunft der Präafidenten 
und alten Räthe mit dem Hofe am 20. Sept. war ein Geheim- 
niß unter Wenigen, fie ift e8 auch geblieben, weil die alten Her— 
ven nicht damit hervorkommen durften, Sie hatten verjprochen, 
die Zuftimmung des Parlaments zu fortfchreitenden und nach und 
nach vergrößerten Anlehen son sierhundert und vierzig Millionen 
Liores zu erwirfen, doch gewährten fie vorerſt nur, daß der ſoge— 
nannte zweite Zwanzigfte noch fünf Jahre lang dürfe erhoben 
und auf viele der bisher befreiten Güter und jogar auf Fonigliche 
Domäntalgüter ausgedehnt werden, Andere Parlamente, wie die 
zu Bordeaux und Grenoble, gaben auch nicht einmal zum Scheine 
nach. Malesherbes, welcher einft zu Ludwigs XV. Zeit die 
mächtigfte Stimme im Parlamente gegen die Regierung geführt 
hatte und im Anfange der neuen Regierung mit Türgot Minifter 
geweſen mar, erklärte daher auch dem Könige, als dieſer ihn am 
Ende des Jahrs wieder in den Minifterratö nahm, die gegen- 
wärtige Bewegung jet ganz anderer Art als alle frühern Parla— 


510 Srantreich bis 1788, 


mentstumulte. 30) Die Ferien des Parlaments erlaubten übrigens 
dem Miniſter, feine Maßregeln zur Ankündigung der ſucceſſiven 
Anlehen von vierhundert und vierzig Millionen fo zu entwerfen, 
daß die Präfidenten und alten Räthe, mit denen man Tibereinge- 
kommen tar, mit ihren Freunden die Gegner überſtimmen könn— 
ten. Um ihnen diefes zu erleichtern, Tote der Antrag In einer 
jogenannten Föniglihen Sttung verhandelt werden, wo in 
Gegenwart des Königs zwar geredet werben durfte, was In einer 
Kiffenfigung (lit de justiee) nicht erlaubt war, wo aber doch Die 
Rückficht auf den König und den Hof eine ganz und — 
freie Abſtimmung und Berathung hinderte. 

Außerdem wollte mar, um die vom Miniſter vorgefchlage- 
nen, auf vier auf einander Folgende Jahre zu vertheilenden An- 
leihen im Parlament eintragen zu laſſen, dieſe Verſammlung 
gewiſſermaßen überrafchen. Der Köntg erfehten nämlich um 11 Uhr 
Morgens am 19. Roveinber 1787 faſt unerwartet in Begleitung 
des Hofs und der Prinzen tm Parlament, welches erft ganz kurz 
vorher Anzeige vom Eutſchluſſe des Königs erhalten "hatte, fo 
daß die mehrſten PBarlamentsglieder gar wicht davon unterrichtet 
waren, Der GSiegelbewahrer Lamoignon mußte die gewöhnliche 
ſophiſtiſch freundliche Rede Halten, auch Hatte der Principalmi— 
niſter der Gefdforderung zwei von der liberalen Partei Tangit 
‚heftig verlangte Vorſchläge beigefügt. Diefe Yehteren waren aber 
unglücklicher Weiſe yon der Art, daß die eine den ſämmtlichen 
Privilegirten, die andere den Fanatikern und Janſeniſten, deren 
Zahl im Parlament ſehr groß war, ganz und durchaus mißfallen 
mußte. Lamoignon kündigte nämlich zuerſt in Gegenwart und 
im Namen des Königs an, daß nach Abfluß der vier den Anleihen 


— 





30) Er ſagte dem Könige unter andern: Que la resistance opposee 
dans: cette occasion A l’enregistrement des edits avoit presents un ca- 
ractere bien different de toutes les affaires que‘le gouvernement a Eu 
"a traiter avec les parlemens depuis la mort de Louis XIV. Dans toutes 
"es autres 'c’&toit le parlenient qui ‘&chauffoie le'publie, jei c’est le pu- 
blic qui schauffe de parlemient. ‚12 n'est pas ‚question 'dapaiser une ‚erise 
momentane, mais d’eteindre uneetincelle., qui peut preduire un ‚grand 
incendie. Aber die Leute, zu denen er ſprach, ſind überall taub; denn fe 
hören recht gut, aber fie wollen nit hören. 


Frankrelch bis 1788. 5441 
beſtimmten Jahre (alſo 1792) die aflgemeinen Stande berufen 
werden follten, jo daß bei der damaligen Stimmung vom Könige 
ſelbſt die Ansficht auf eine nahe Revolution erbffnet war. Der 
zweite liberale Vorſchlag betraf Aufhebung der noch immer geſetz⸗ 
lich Heftehenden und von den Fanatifchen Barlamenten auch bei 
vielen Gelegenheiten ausgeführten harten Strafgefete gegen bie 
franzöfifchen Proteftanten, Verkündigung der Toleranz und Zu— 
rückberufung der nach Aufhebung des Ediets von Nantes ing 
Ausland geflüchteten Neformirten, Was die Verkündigung der 
Generalftände und die liberalen Grundſätze angeht, fo glaubte 
verfehrter Weiſe der franzöſiſche Minifter auf der einen Seite 
durch eine Srklärung wieder vernichten zu Formen, was er auf 
der andern durch Verfpreihen dev Berufimg der Stände gewährt 
hatte, Er machte bei dieſer Gelegenheit denſelben Fehler, den 
das engliſche Miniſterlum in Rückſicht auf Nordamerika gemacht 
hatte, als es die Stempelſteuer u. ſ. w. unter Reſer ve auf 
hob, d. h. er beleidigte ben einen kr an befriedigte ee 
den andern nicht; 

Der Juſtizminiſter erneute nämlich in dieſer Rede die um 
1766 unter Ludwig XV. aufgeſtellte und damals von allen Set: 
ten beftrittene Theorie von einer auf göttlichen Nechte beruhenden 
Allgewalt des Königs. Cr berief ſich dabei auf ein nie vom 
Parlament anerkanntes Parlamentsderret vom März 1756. Den 
Könige, fagt ex, ſtehe in feinem Reiche unumſchränkte Gewalt zu, 
für deren Ausubung er nur Gott affein Rechenſchaft ſchuldig Te. 
Gr fer als Oberhaupt der Nation gewiſſermaßen die Nation 
ſelbſt; ohne Rückſicht auf den Willen der Nation gebühre dem 
Monarchen allein die gefeßgebende Gewalt. Die Berufung oder 
Nichtberufung der Reichsſtände, die nie etwas anderes fein könn— 
ten als bloße Rathgeber des Königs, hange blos von der Willkür 
des Königs ab; die Bericfichligung anderer "Bitten der Natton 
Vediglich son feiner Güte, Diele despotiſchen Phraſen gebrauchte 
übrigens dieſer Juriſt erſt, als er ſah, daß fein Kniff nicht ges 
lingen werde, Der Juſtizminiſter wollte nämlich die ſchon ange— 
fangene öͤffentliche Abſtimmung der Räthe, denen der König vorher 
ausdrücklich erlaubt hatte, auch in ſeiner Gegenwart laut und 
namentlich zum Votiren aufgeritfen zu werden und ihre Meinung 


512 Frankreich bis 1788, 


über die Vorſchläge auszufprechen, auf einmal unterbrechen, weil 
ihm vor dem Nefultat bange ward, Er wollte im Stillen die 
Stimmen ſammeln, um im Stande zu fein, die Zahl der Be- 
jahenden und Berneinenden nach Belieben größer oder Fleiner an— 
geben zu können. Dieſe elende Auskunft wollte er mit dem ihm 
ertheilten Befehl des Königs entjchuldigen, darum erklärte er in 
den angeführten PBhrafen, daß der König über dem Geſetz fei und 
der Nation als Recht vorjchreiben fünne, was ihm zufällig ein- 
falle oder was feine Minifter ihm eingäben, 

Auf diefe Worte geftüßt, fuhr dev Minifter fort, die Stim- 
men in. ber Stille einzufammeln und befahl dann den Schreibern 
des Parlaments, die Edicte einzutragen als wenn, wie gewöhnlich 
geichah, der Präfident die Stimmen ordentlich gezählt und das 
Refultat befannt gemacht hätte, Dies geſchah, damit nicht Dazu 
gefchrieben würde, auf ausdrücklichen füniglichen Befehl, 
wodurch das Eingetragene aufhörte ein freier Parlamentsbeſchluß 
zu fein. Der Herzog von Orleans benußte diefe Gelegenheit oder 
vielmehr, er ward bei dieſer Gelegenheit benußt, um der Gegen- 
partei der. regierenden Linie des Haufe Bourbon im Haupte der 
nächften Nebenlinie eine Stütze zu. geben. Diefer Herzog von 
Drleans, der fpäter als Philipp Egalite im Convent für den 
Mord des Königs ftimmte war derfelbe, der ald Dice de Chartres 
durch ein unerhört fchlechtes und gemeines Leben, deilen Spuren 
fein finnige8 Angeficht trug, durch feine wüfte Umgebung und 
durch die Feigheit, die er bei Dueffant bewies, berüchtigt geworden 
war. Daß er in der Seefchlacht bei Oueſſant Feigheit bewieſen, 
wollen wir nicht ald ausgemacht anerkennen, weil es oft beftritten 
worden; gewiß aber ift, daß er fich durch elenden Geiz umd 
niedrige Habſucht auszeichnete. Er ließ fogar einen Theil feines 
Palaſtes (Palais Royal) zu jchlechten Häufern gebrauchen, um 
mehr Geld daraus zu ziehen. 31) Diefer ganz in Sinnlichkeit 





31) Hier ift Bezenval ganz auf feinem Felde, das hat. er ſtudirt und 
das verfteht er gründlich; wir theilen daher die Schilderung des Herzogs mit, 
weil fie eben fo treffend als furz if. Me&moires du baron de Bezenval. 
Vol. I. p. 307—8. Le comte de Pons-Sant-Maurice à donn& tout le 
soin possible à son Education; et lorsqu’il sortit de ses mains la ma- 
niere d’ötre de ce prince r&pondoit A sa figure. Bientöt les files, 


Frankreich bis 1788. 513 


und Schlechtigfeit verfunfene Prinz war allen edlen und feinfüh- 
lenden Seelen, von der reinen Seele der Königin und der ihres 
religiöſen Gemahls bis zu dev des Schwärmers fr Philanthropte, 
des vitterlichen: Lafayette und der der Freunde wtopifcher Freiheit, 
eine? St. Züft, einer Frau Roland und ihres Gemahle, ein 
Gräuel und Abſcheu. Bet allen genial wüſten und liederlichen 
Großſtädtern, bei allen denen, die den Genuß und den Schein 
der Tugend und der Wahrheit vorzogen, von Mirabeau, Sillery, 
Chauderlos de In Clos und der Frau von Genlis bis zum Mas 
tador der Antonsvorſtadt, dem veichen Bierbraner Santerre und 
bis zu den Frechften der nachherigen Gordelters, die ihn in den 
MWirthshänfern und andern Sammelplägen der Hefe von Paris 
fennen gelernt hatten, hieß er Volksfreund, Mann der Freiheit 
und vortrefflicher Geſellſchafter. Seinem Anhange, der aus dem 
ſchlaueſten und: energifchften, oder. wie man jetzt bei uns jagt, 
Acht praktifchen Weltleuten und aus: dem von aller Moralität und 
SHealität freien Theil der Revolutionsmänner beftand, mar er 
theuer und werth. Diefe feine Freunde bewogen ihn, am 19. No— 
vember den: Grund zu dem Gebäude zu legen, welches erit 1830 
voffendet ward. Dies gefchah dadurch, daß er fich den Franzofen 
als den Urheber einer neuen Zeit anbot und fich nicht ſcheute, 
der Meinung von ganz Europa zu trotzen. Man hatte Mithe, 
feine Feigheit, welche fpäter feine Eräftigften Anhänger von ihm 
entfernte, ſo weit zu überwinden, daß er es wagte, ſich in öffent— 
licher Verſammlung, wo der Etikette gemäß niemand reden konnte 
als der, den der König auffordern ließ, mit einer impertinenten 
Frage an diefen zu wenden, um das Parlament im Widerftande 
zu befeftigen. „Darf ich, fagte er, Ew. Majeftät fragen, 
ob dies eine Kiſſenſitzung (lit de justice) iſt? Der König, 





l’anglomanie, la table, en firent un étre d’autant plus etrange, que-les, 
traces d’une genereuse Education se confondireut avec les vices quil 
avoit acquis ce que fit qu'il en resulta n&cessairement un compose de 
tous: les contraires, Il est erapuleux' sans: grossierei6, prodigue et 
mesquin, haut, et. familier, facile. et dangereux; N! a: de l’aptitude & 
tout et ne peut s’appligner à rien. Par-libertinage d’imagination, il 
. vise à lindöpendance, deteste le peuple et le courtise, recherche une- 
fausse gloire, et touche au mepris. | 
Schloſſer, Gef. d. 18, u, 19, Jahrh. IV. Th. 4, Aufl, 39 


514 Frankreich bis 1788. 


ftatt ihm Schweigen zu gebieten oder ihn fortzuweiſen, zeigte fich 
Schwach und unbeholfen wie ex war, durch die nichts fagende Ant- 
wort: Nein, es ift eine königliche Sitzung. Die Berle- 
genheit, worin der König gerathen war, machte den Herzog 
muthiger. Er erklärte, die fo eben befohlene Eintragung ing 
Protokoll fei gefebwidrig; er bäte zur Entfchuldigung der Perſo— 
nen, von denen man glauben könne, daß fie Theil daran hätten, 
die Worte beizufügen: Auf ausdrüdlichen Fonigliden 
Befehl wie bei einer Kiffenfigung. Die unbedeutende 
Antwort, welche der König darauf gab, beweist am beiten, daß 
er ſchwierigen Umftänden nicht gewachfen war und aller Geiftes- 
gegenwart ermangelte. Gr erwiederte: Die Gintragung tft 
rechtmäßig, weil ich vorher den Rath der Parla— 
mentsglieder gehört habe. 

Die Dreiftigkeit des Herzogs von Orleans rief eine Bewe⸗ 
gung in der Verſammlung hervor, welche den König, der nur 
Ehrfurcht und Schweigen im Parlamente gewohnt war, vollends 
betroffen machte. Er machte, als er aufſtand, um ſich aus der 
unruhigen Verſammlung zu entfernen, in der Verlegenheit ein 
neues Verſehen, er vernachläſſigte nämlich die Aufhebung der 
Sitzung zu befehlen. Hätte er die Sitzung aufgehoben, fo würde 
fie das Parlament gewiß nicht gegen den ausdrücklichen Befehl 
des Königs zu verlängern gewagt haben. Der Hof und Die . 
Prinzen begleiteten den König nach Berfailles, nur bie Herzöge 
von Orleans und von Bourbon Fehrten, nachdem fie dem Könige 
dag Geleit gegeben, in die Berfammlung zurück, die dann ganz 
tumultuarifch ward. Selbſt die alten Heren, bie ‚vorher für bie 
Anleihe geftimmt Hatten, nahmen jest ihre Abftimmung zurück. 
Ganz jehranfenlos heftig redeten aus. bloßer Eitelkeit, befonders 
viele der jüngern Näthe gegen das Verfahren des Königs, die, 
wie ihre nachherige Neue zeigte, nicht wußten, mas fie thaten. Der 
Beifall des Parlaments machte ihre Eitelkeit irre; fie waren ent— 
zückt, daß für den Augenblick ihre heftigen Declamationen für Bered- 
famfeit genommen wurden, was fie eigentlich nicht waren. Unter 


diefen zeichneten fich vor allen aus: Düval P’Epresmenil, Fe 


teau, der Geiftliche (abbe) Sabatier de Gaftre und Robert de 
Saint Vincent, welche beide letztere ſehr genchtete Männer auch in 


Frankreich bis 1788, — 515 


Rohans Prozeß die der Königin’ fo verhaßte Nelatton gemacht 
hatten, wodurch dev Kardinal gerettet und die Königin in Schat- 
ten geftellt ward. Im Parlament wurden nach den heftigften 
Reden nicht blos wie fonft Proteftattonen ins Protokoll gefchrte- 
ben, jondern ausdrücklich Hinzugefeßt, daß das, mas als Beſchluß 
des Parlaments eingetragen worden, Feiner jet, daß das Einfchret- 
ben ungefeglich gefchehen fet und daß das Parlament die pro- 
grefjiven Anleihen nicht verbürge, 

Das Barlament wußte, daß der Finanzminifter Geld brauche 
und dieſes ofme Webereinfunft mit dem Parlamente nicht erhalten 
könne; ed nahm daher Feine Rückſicht darauf, daß fich der König 
das Protokoll der letzten Sitzung nach Verſailles bringen Tief 
und alles, was nach feiner Entfernung aus der PVerfammlung 
hineingefchrieben war, ausftrich. Der König gab zugleich einen 
Borwand, Uber Willkür und über gewaltfamen Gingriff in die 
freie Abſtimmung dev Betfiter des oberften Gerichtshofes zu kla⸗ 
gen, der fich doch ebem fo fouverän glaubte als der König felbft 
war. Es ward nämlich der Herzog von Orleans auf fein Schloß 

zu Villers GoteretS verwiefen. Die Verbannung würde ihn erft 
recht bedeutend gemacht haben, wenn er fich nicht durch Die Ent- 
fernung von den Bartfer Vergnügungen fo unglücklich gefühlt 
hätte, daß er die elendeſten und niederträchtigften Schritte that, 
um nur wieder in die Stadt Fommen zu dürfen. Auch Sabatter ward 
wegen, ſeiner in einem Gerichtshofe, wo der alten Sitte gemäß das 
Reden frei war, gehaltenen Reden willkürlich verhaftet und auf den 
Mont St. Michel, das ſchrecklichſte Stantsgefängnig, melches es tn 
Frankreich gibt, Freteau auf die Fefte Doullens gebracht. Die fammt- 
lichen Barlamente nahmen fich daher des Herzogs und der Näthe an, 
weil -in ihrer Perfon die Rechte dev Gerichte verlegt waren, Ihre 
Haft veranlaßte eine allgemeine Bewegung im ganzen Reiche. Das 
Parifer Parlament beftand auf der Freilaffung feiner Mitglieder, 
es unterftand fich fogar, ſich in die Angelegenheit des Herzogs 
von Orleans zu mifchen, welche nur eine Sache des Familien— 
haupts der Bourbons mit einem Gliede der Familie war, alſo 
das Obergericht nur dann hätte angehen können, wenn ſich ber 
Herzog ans Parlament gewendet hätte. Die Vorftellung des Par— 
laments in der Sache des Herzogs von Orleans mar außerdem 

; 39 * 


016 Frankreich bis 1788, 


in einem Tome abgefaßt, den fich ein Gerichtscollegium gegen 
feinen König nicht hätte erlauben follen. Das Parlament jah 
fich aber als Volksvertreter an, was es nicht war md. verlieh 
fih auf die Gunft des Volks, ald es dem Könige zu jagen 
wagte: „Sive, wenn der Herzog von Orleans ſtrafwürdig ift, fo. 
find wir fämmtlichen Parlamentsräthe es ebenfalls.“ Hernach 
bittet das Parlament den König: „Er möge dad Andenken an 
ein Verfahren aus dem Gedächtniß verlieren, deſſen Fortſetzung 
am Ende eine völlige Zerftörung aller Geſetze, die Herabwürdi— 
gung der Gerichte und den Triumph der Feinde des franzöſiſchen 
Namens herbeiführen werde.” Auch dieſes Mal bewiefen Ludwig 
und feine Minifter durch Schwanfen und dadurch, daß fie von 
einem Aeußerſten zum andern übergingen, ihre Unfähigkeit, im 
Unwetter das Schiff des Staats zu ſteuern. Dies Schwanfen - 
war Urfache alles Unheils der Revolution und befonders des un— 
glücklichen Schickſals des Königs, weil die Männer, welche feit 
1789 der Nation eine neue Exiſtenz gaben, erkannten, daß ein 
folcher König auch mit dem beiten Willen nicht im Stande fein 
werde, irgend ein Verfprechen zu erfüllen oder einen Eidſchwur 
zu halten. Gr ließ nämlich im April 1788 den Herzog nach 
Paris zurücfommen und die beiden Parlamentsräthe frei geben, 
um dem Barlamente gefällig zu fein, amd doch wollte faſt zu 
gleicher Zeit oder wenigftens Feine vier Wochen darauf der ſchwache 
Mann und fein nur in geheimen Kabalen ſtarker Principalmi— 
nifter das ganze Parlament auflöfen, Ludwig XVI. und Lomenie 
de Brienne glaubten eine Maßregel durchfeben zu können, melche 
die Macht der Parlamente Fräftiger brechen jollte als Alles, was 
Maupeon vorher durchgefest hatte, Ein König, der in Geldjachen 
nicht Rath wußte, wollte eine neue Körperfchaft erfchaffen, wo— 
durch die Stände und dad Parlament überflüflig gemacht werden 
foflten, was felbft Ludwig XIV. nicht würde gewagt haben. 

Die Bewegung in ganz Frankreich war damals dahin ges 
diehen, daß die Parlamente, befonders das Pariſer Parlament 
und das von Bordeaur, welches deshalb nach Libourne verbannt 
ward, ald wären fie eine unabhängige Macht, der Füniglichen 
Macht trogig die Stirn boten. Um diefelbe Zeit drohten bie 
Stände der Provinzen, welche eine ſtändiſche Berfaffung Hatten, 


Frankreich bis 1788, BT 


Das Parlament von Grenoble gab im April 1788 zu exfennen, 
daß es das Delphinat wieder von Frankreich trennen könne, in 
Bretagne waren Adel, Bürgerfchaft und Parlamente in Krieg und 
die Staatsfaffe wußte fich nicht zu Helfer, weil das Parlament 
die Anleihen hinderte. In diefer Verlegenheit nahm der König 
feine Zuflucht aufs neue zu einer liberalen Maßregel, und ging 
doch dabei wieder zum Avaften Defpotismus, nicht in der That, 
fondern, was ſchlimmer war, blos in Worten über. Durch eine 
fönigliche Declaration vom 18. Dezember 1737 ward nämlich 
verkündigt, daß innerhalb Fünf Jahren die allgemeinen Stände 
follten berufen werden. Daſſelbe Hatte der Neichsftegelbewahrer 
ſchon einen Monat vorher im Parlamente verfprochen. Dürften 
wir einem Briefe des Erzbiſchofs von Sens an feinen Collegen 
von Narbonne trauen, fo war es den Finanzminlſter auch nicht 
einmal mit diefem DVerfprechen Ernſt, ſondern er gebrauchte auf 
eine fehmähliche Weife den Namen feines Königs, um das Volk 
officiell zu belügen, 

Der Streit mit dem Parlamente von Paris dauerte indeſſen 
mit gleicher Heftigkeit fort und das Parlament erließ am 4. Ja— 
nuar 1788 nach heftigen Debatten ein Decret, wodurch es die 
Siegelbriefe (lettres de cachet) für conſtitutions- und geſetzwidrig 
erklärte und ſich über alle die willkürlichen Maßregeln, welche 
ſich die Regierung ſeit hundert Jahren erlaubt hatte, als wenn 
ſie im Rechte begründet wären, mit nachdrücklichem Unwillen und 
lauter Mißbilligung ausſprach. Das Parlament forderte aufs 
neue die Befreiung der beiden Parlamentsräthe, nicht als Gnade 
und Gunſt des Königs, ſondern als im Rechte begründet. Dies 
Parlamentsdecret caſſirte Freilich dev König am 175 aber das 
Parlament erneuerte es gleich am Folgenden Tage, d. h. am 18, 
Januar 1788. Es hatte fi) nach Bezenvals Bericht der Juriſt 
Lamoignon nach Galonnes Entfernung ins Juſtizminiſterium hinein⸗ 
intriguirt, und dieſer brachte den unglücklichen König im Jahre 
1787 und 1788 zu allen den widerſprechenden Reden und Handlun—⸗ 
gen, die ſchon im Juni 1788 die Revolution unvermeidlich machten. 
Lamoignon führte auch, nach Bezenvals Erzählung, im Februar 
1788 den ſchwachen König auf Moupeous Projekt zurück. Gr 
wollte die Parlamente unſchädlich machen und entwarf dazu einen 


918 Frankreich bis 1788. 


von dem von Maupeou entworfenen und ausgeführten ganz ver- 
jchiedenen Plan, den er ſchon im März den Leuten vertraute, 
welche ihn der Königin, die Teider in Alles gemijcht ward, emp= 
fehlen follten. Diefelben Leute, welche auf diefe Weiſe einen un— 
erhörten couftitutionswidrigen Staatsgewaltſtreich ausheeften und 
alfo den König mit Energie wollten handeln laſſen, riethen ihm 
zu einer fcheinbaren Nachgiebigkeit gegen die feit dem Monat De— 
zember unaufhörlich wiederholten dringenden und drohenden Bitten 
des Parlaments, um Rüdfehr des Herzogs von Orleans und 
Freilaffung der Räthe. Wir haben schon oben bemerkt, daß dies 
am 17. April geſchah. Man wollte aber mit diefer Freilaffung, 
wie mit der Verkündigung der Stände am 19. November, eine 
Erklärung über des Königs Autofratie einfchwärzen, wodurd man 
jede fünftige Willkür rechtfertigen Eonnte, Dies durfte das Par— 
lament um jo weniger mit Stillfehweigen übergehen, als ihm der 
vom Siegelbewahrer entworfene Plan der Vernichtung des poli= 
tischen Gewichts der Parlamente im Einzelnen zwar noch unbe— 
fannt war, im Ganzen aber fein Geheimniß geblieben fein Fonnte, 
da man jchon jeit März im Kreife der Königin davon ſprach. 
In der Erklärung, die man dem Könige am 17. April in 
den Mund legte, ſagte er, Frankreich fei eine abfolute Monarchie, 
der Mille des Königs, defien Macht allein von Gott: ſtamme, 
ſei einziges Gefeb, die Stände jeien ‚bloße Rathgeber, die Ge— 
richte Dolmetfcher und Ausführer des Foniglichen Willens. Dies 
war ganz im Tone der Regierung Ludwigs XV. geredet, und bie 
Erklärung war gleichen Inhalts mit der, welche am 19. Novem— 
ber den Vorfchlägen des Anlehens und dem Berfprechen der Be— 
rufung einer allgemeinen Ständeyerfammlung war vorausgefchiekt 
worden, Diefer Erklärung des Königs febte das Parlament Bor 
ftellungen entgegen, worin hiſtoriſch, philoſophiſch und juriſtiſch 
eine in Frankreich damals ganz neue Theorie von den conſtitutio— 
nellen Berhältniffen der alten franzöfifchen Monarchie aufgeftellt 
und der alten Monarchie ein demofratifches Element zugejchrieben 
wird, Diefes im Parlamente vom 18. bis zum 27. April debat- 
tirte und aufgeſetzte Aktenftück, welches erft am 4. Mai dem Kö— 
nige übergeben ward, ift das merfwürdigfte, welches je vom Par: 
Iamente ausgegangen tft, und beweiſet augenjcheinlich, daß es 


Frankreich bis 1788, 519 


ſchon damals mit dem Regierungsſyſtem, welches feit Richelieus 

Zeit gegolten Hatte, völlig vorbei war. Das Aktenſtück ift zu 
lang, um hier feinen Platz zu finden; wir wollen in der Note 
auf ein Buch verweilen, mo man es wörtlich nach einer Copie, 
welche der Herr von Malesherbes fich davon genommen hatte, 
abgedruct findet. 327) Wir glauben nur zwei Stellen ausheben 
zu dürfen. Die eine bezieht fi auf den Vorwurf, die Parla— 
mente wollten eine Artftofratie der Gerichte an die Stelle der 
Monarchie jegen, und eine andere am Schluffe betrifft die ge— 
waltiame Beränderung und den Verluſt der politifchen Nechte, 
mit dem die Parlamente damals bedroht wurden, 

Schon damals, nämlich im April 1788, war die Revolution 
wirklich und fichtbar vorhanden, fie ward in den folgenden Mo— 
naten bei Gelegenheit des glücklichen Widerjtandes gegen die be— 
abfichtigte Umfchaffung des Parlaments, bei der gewaltfamen Ver— 
treibung des Prineipalminifterd und des Großfiegelbewahrers, 
durch fortdauernde Volksaufſtände in ganz Europa vffentlich Fund. 
Dafür ift der Ton, den das Barlament in diefem Aufſatz annahm, 
und der Suhalt des die Gonftitution betreffenden Artikels befonders 
wichtig. Ehe nämlich das Parlament den Urfprung des harten 
militärifchen Defpotismus ſeit den letzten Zeiten Ludwig XIV. 
durchführt, und zeigt, wie feit dem Antritt der Regierung des 
damaligen Königs Ludwig X VL. nach und nach wieder von Recht und 
Geſetz die Rede geweſen fei, jagt ed-dem Könige: „Das Verfahren 
ehrgeiziger Minifter ift immer dafjelbe. Sie wollen ihre Macht 
unter dem Namen des Königs und unter dem Scheine, daß fie 
für ihn arbeiten, vermehren, Das ift ihr Zweck. Als Mittel dient 





32) Wir haben befanntlich eine große Partelfchrift an der- unter Mont: 
galllards Namen in Paris verfertigten Compilation, die gar nichts mit Mont⸗ 
gilla rd gemein Hat, tin 14 Theilen. Die Compilation der erften zehn 
Theile ward unter der Neftauration vom Anhange des Köntgs Louts Philipp 
gemacht, darıım fommt, wenn rechts und links geſchimpft wird, Orleans leidlich 
weg. Die Leute, welche die Materialien gefammelt haben, gaben ihrer Com: 
pilation den Titel: Histoire de France depuis la fin du regne de Louis XVI. 
(einen Zitel, ten fie nicht verdient.) Wir wiffen aber, daß die Compilatoren 
ſehr gut unterflüßt wurden, darum findet man bei ihnen fehr viele Aften- 
ftüde, die man anderswo vergeblich furhen würde. Dort ftehen auch Vol. I. 
pP: 393 bi$ 402 diefe remonstrances in extenso, | 


520 Frankreich bis 1788, 


innen die Verläumdung derer, denen die Sorge Für die Rechte 
der Nation und für das Privatrecht vertraut iſt. Diefer alten 
unfeligen Methode getreu, behaupten fie auch jetzt yon ung, den 
Gliedern des parifer Parlaments, daß wir den unfinnigen Plan 
hätten, eine Ariftofratie der Parlamente in Frankreich zu errichten, 
Aber welchen Augenblick haben fie gewählt, um dieſe Beſchuldi— 
gung gegen und vorzubringen? Gerade denfelben Augenblik, in 
welchem das Parlament, durch Thatſachen eines Beffern belehrt, 
von der Anmaßung, Steuern bewilligen oder verweigern gu kön— 
nen, ganz zurückkam, und den öffentlichen Beweis gab, daß «8 
eifriger für die Rechte der Nation kämpfe, als für die Berechti⸗ 
gungen, welche feine eigne Gorporation bisher in Anſpruch ge— 
nommen hat.” Daß das feit Heinrich IV. in der Geſetzge— 
bung und im Steuerweſen eingeführte Verfahren dem Volks— 
vechte entgegen jet, wird dann Hiftorifch nachgewieſen. Endlich 
heißt es in Beziehung auf die dem Barlamente gemachte Bes 
ſchuldigung: | 

Welcher neue Dienfteifer hat denn jest das Mintfterium er— 
griffen? Die Minifter beftrelten unjere Befugniß (pouvoirs) fei- 
neswegs, fie laſſen unfern Abfichten Gerechtigkeit widerfahren, fo 
lange fie hoffen, umfere Abftimmungen dazu gebrauchen zu kön— 
nen, um die Nation unter Auflagen und Anleihen zu erdrücken; 
fobald wir und aber mweigern, ihren Deſpotismus zu begünſti— 
gen, oder Theil daran zu nehmen, fchelten fie und ehrgeizige 
Ariſtokraten. 

Nein, Sire, keine Ariſtokratie ſoll in Frankreich beſtehen; 
aber auch kein Deſpotismus. Daß es ſich ſo verhalte, will die 
Verfaſſung, wünſcht das Parlament und ſo fordert es der Nutzen 
Ew. Majeſtät. Wir wollen einmal den Satz, den man Ew. 
Majeſtät als unbeſtreitbar in den Mund gegeben hat, gelten laſſen, 
daß blos der königliche Wille das letzte Urtheil in Verwaltungs— 
und Gefebgebungsangelegenheiten geben dürfe, fo wird es fich 
fogleich zeigen, welche Folgen unmittelbar daraus herfließen. 

Der Erbe der Krone iſt durch ein Grundgeſetz beftimmt; 
die Natton hat ihre Rechte; die Pairs haben die ihrigen. Die 
Kichter können nicht abgeſetzt werden; jede Provinz hat ihr als 
Geſetz geltendes Herfommen (coutumes) und es hefteht zwiſchen 


— 


Sranfreich bis 1788, 521 


ihr und der Krone eine Nebereinfunft, welche die Bedingungen 
enthält, unter denen fie mit Frankreich vereinigt ift (d. h. ses 
capitulations.) Jeder Unterthan des Neichs hat feinen natürlichen 
Richters jeder Bürger hat ein individuelles Eigenthum, und befigt 


er Nichts, jo hat er wenigſtens feine Freiheit. Nun fragen wir, 


welches von allen diefen Rechten, welches Gefeb auf der Welt 
würde ausreichen, wenn die Anfprüche, welche die Miniſter Ew. 
Majeftät in deren Namen gemacht haben, in der That geltend 
gemacht werden könnten? 

‚Dann wiirde der Wille des Königs das einzige Geſetz fein, 
und die Gefeßgeber müßten es blos von ihm Holen, Der Wille 
des Königs könnte alfo durch ein von ihm nusgehendes Geſetz 
über die Krone verfügen, könnte den Kronerben wählen, könnte 
Provinzen des Reichs abtreten, könnte den allgemeinen Ständen 
das Recht nehmen, nene Auflagen zu machen und alte gu beftä= 
tigen; die Cinvichtung der Bairfchaft Andernz die Richter ab- 
ſetzbar machen; das Herfommen abfchaffenz; die Hierarchie des 
Gerichtsweſens umſtürzen; fich allein das Gericht anmaßen und 
nach Willkür entfcheiden, oder die Richter wählen, fowohl in bür— 
gerlichen Streitfachen als in Griminalprozeffenz endlich ſogar fich 
zum Eigenthümer der Güter feiner Untertfanen und zum Ge— 
bieter über ihre Freiheit erklären. 

Diefe Theorie gefeglicher und: verfaffungsmäßiger Freiheit, 
bie das Parlament im Namen des franzofifchen Volks, als ihm 
tim Rechte und nad) dem Rechte gebührend, für daſſelbe gegen 
König und Minifter in Anfpruch nimmt, wird auf den folgenden 
©eiten im Einzelnen und Befondern nachgewieſen und hiftorifch 
aus der beftehenden Einrichtung hergeleitet. Alles, was hernach 
die allgemeinen Stände forderten, läßt ſich fehr Teicht aus dem 
hier Geſagten vechtfertigen. Wir wollen jest noch anführen, 
welche Erklärung das Barlament am Ende des Aktenftücs in 
Beziehung auf die damals (am 4 Mai) ſchon bejchloffene, gegen 
das Parlament feindjelige Mafregel gibt. Die königliche Pro— 
Hamation wegen Auflöfung des Parlaments und Errichtung der 
cour pleniere war damals fihon ganz fertig und wurde ganz tm 
Geheimen in der königlichen Druckerei gedruckt, damit fie plötzlich 
und überrafchend in alle Provinzen gelange, Dies gibt den fol- 


22 Frankreich bis 1788, 


genden Worten am Schluffe diefer Gegenvorſtellungen beſonderes 
Gewicht und befondere Bedeutung: 

Aber, Sire, heißt e8 dort, darf ihr Parlament die Beſorgniß 
noch äußern, daß es wirklich auf Zerſtörung der Parlamente ab— 
geſehen ſei? Wenn dies geſchehe, würde es gerecht, würde es 
klug ſein? Sollte es überhaupt nur möglich ſein, daß ihre Mi— 
niſter dergleichen Projekte gemacht hätten? Das iſt gewiß nicht 
die Abſicht Ew. Majeſtät, es könnte auch nicht ihr Vortheil fein, 
Was ihr Parlament angeht, fo find feine Grundſätze, oder viel— 
mehr die der Gonftitution des Staats, Sire, welche e8 zu verfech- 
ten hat, unveränderlich, und es ift nicht in feiner Macht, fein 
Detragen zu ändern. Zuweilen müſſen die, denen die Gerichte 
vertraut find, fich für die Geſetze opfern; aber ihre ehrenvolle 
und gefährliche Beftimmung tft einmal von der Art, daß fie noth— 
wendig erft aufhören müffen zu fein (d. h. zu eriftiren), ehe die 
Nation aufhören kann, eine freie Nation zu fein. 

Was die gegen das Parlament gerichteten Edicte angeht, 
jo waren die Minifter, wenn fie auch fähig gewefen wären, in 
diefem Tone die veränderten Berhältniffe der Zeit zu erfennen 
und fich diefen anzupaffen, zu der Zeit, als dies Aktenſtück am 
27. April im Parlament gebifligt, und noch mehr, als es am 
4. Mat dem Könige übergeben ward, viel zu weit vorgefchritten, 
um noch zurückgehen zu können. Abgefehen von den Umſtänden 
und ganz befonderd davon, daß man die politifchen Nechte des 
Parlaments, welches doch eine gewiffe Art Unabhängigkeit Hatte, 
wenn fie auch nicht die rechte war, einem ganz vom Hof abhän— 
gigen, neun zu errichtenden, vom Könige präfidirten Collegium 
übertragen wollte, enthielten die ſechs oder fieben Edicte, die her— 
nad) bekannt gemacht, aber nie ausgeführt werden Fonnten, aller= 
dings eine DVerbefferung der Juſtiz; aber niemand achtete darauf. 
Man fah darin mit Necht nur den Verſuch einer ohnmächtigen 
Regierung, das einzige freie Organ der Oppofition gegen den 
Despotismus auf Immer zu vernichten, Diefe Ueberzeugung durch— 
drang plöglich die ganze Nationz alle Parlamente widerſetzten 
fich, alle Stände proteftirten. Das Volk blieb damals fünf Mo- 
nate lang innig mit den Parlamenten verbunden, um fich hernach 
am Ende des Jahrs auf immer von ihnen zu trennen. Wir 


Frankreich bis 1788, 923 


glauben, daß mit den von Lomenie de Brienne und Lamoignon 
gegen die Parlamente beftimmten Edieten die Revolution von 1789 
auf diefelbe Weife ihren Anfang nahm, wie durch die Ordon— 
nanzen vom Juli 1830 der zufällige Anlaß der neuen franzö— 
fiichen Revolution gegeben ward, obgleich in beiden Fällen die 
Urſachen längſt vorhanden warem Es fcheint uns alfo auch 
bie Geſchichte des Streits über diefe Ediete von der Geſchichte 
des. Jahrs 1739 unzertrennlich; wir müſſen daher im Folgenden 
auf diefe Edicte zurückkommen und geben hier nur ſummariſch 
den weſentlichen Inhalt der drei wichtigſten an. 

Sie betrafen zuerſt die Errichtung einer fogenannten Cour 
pleniere, ‘welche künftig die politifchen Nechte der Parlamente 
ausüben follte. Wir wollen in dev Note die Perfonen anführen, 
aus denen diefer Cour beftehen follte, 33) man wird auf den erften 
Blick erkennen, wie e8 um Frankreich wirde ausgefehen haben, 
wenn eine folche Berfammlung über Abgaben, Freiheiten und 
Rechte der Bürger hätte unbedingt entfcheiden können. Das Bars 
lament Hatte fich aber durch eine nicht gerade rühmliche Lift einen 
Abdruck dev Verordnung verſchafft und feßte ihm ein Dekret ent- 
gegen, welches noch vor der Bekanntmachung des Ediets in Tau— 
jenden von Exemplaren verbreitet ward und die Grundgeſetze der 
alten franzöſiſchen Gonftitution gegen die monarchifchen Uſurpatio— 
nen in Schuß nahm, Dies Devret, Declaration: genannt, iſt in 
gleichem Tone abgefaßt und Ahnlichen Inhalts mit der Erflä- 
ung. des: englifchen Parlaments zu Karl L Zeiten, ald es vom 
Könige drohend verlangte, daß ex der Engländer conftitutionelle 
Rechte feierlich anerfenne (die petition of rights.) Die Declaras 
tion hatte diefelbe Wirkung mit der som. englilchen Parlament 





33) Es werden als Mitglieder der freilich toptgebsrnen cour pleniere 
genannt: Le roi, le chancelier ou en V’absence de celui-ci le garde des 
sceaux, les presidens du parlement de Paris, les princes du sang, le 
grand aumönier et les autres grands officiers de la couronne, les pairs, 
deux archeväques, deux mar&chaux de France, deux commandans de 
province, deux lieutenans generaux, en outre, quatre personnes qualifices, un 
certain nombre de conseillers d’&tat et de maitres des requötes, un député 
de chaque province; et quand un grand nombre de magistrats se trou- 
veroit absent, ils seroient ramplac&s par des magistrats du conseil. 


524 Frankreich bis 1788. 


erlaffenen, fie seranlaßte eine Revolution, die im folgenden Jahre 
jchon der ganzen alten Gonftitution ein Ende machte, nachdem 
die drei Edikte, welche die Parlamente und das Volk gegen den 
König vereinigt hatten, ſchon im Auguft 1788 verfehwunden waren. 
Das zweite jener Edicte verkleinerte durch Errichtung ganz 
neuer Obergerichte in verfchtedenen Städten und Diftrieten (grands 
baillages) die Sprengel der Barlamentez befonders den vorher 
ganz übermäßig großen des parifer Parlaments, und verminderte 
die von demfelben zu entfcheidenden Prozeffe fo fehr, daß die Zahl 
der Untergeordneten deffelben, wie Die der Prozepführenden auf 
eine verhältnigmäßig unbedeutende Zahl zurückgeführt ward. Die 
königlichen Untergevichte nämlich follen unter dem Namen Präſi— 
dinle Gerichte erfter Inſtanz bilden, die Obergerichte aber (d. 5. 
die grands baillages) in Griminalfällen und in Gisilfachen, Die 
eine beſtimmte Summe überftiegen, Appellationsgerichte fen. Den 
Parlamenten follten, ſelbſt innerhalb der ſehr verkleinerten Spren— 
gel, nur die Griminalprozefle der Privilegirten und die Civilpro— 
zeſſe über Sachen, die eine fefigefette bedeutende Summe über= - 
fttegen, vorbehalten bleiben. Das dritte Ediet war eine natürliche 
Folge der beiden andern, Es verminderte die Anzahl der Par— 
Iamentsräthe, alſo auch von dieſer Seite die Bedentung, deren 
dad Parlament bis dahin genoffen hatte, Diefe Bedeutung mußte 
ohnehin. verfchwinden, wenn die Pairs und einige Auserwählte 
allein in der Cour pleniere faßen, nicht aber umgekehrt die Pairs und 
Prinzen nur einen Heinen Anhang zum Parlament mehr bildeten, 
wie vorher, Dies war, man mochte fophiftifiren, wie man wollte, 
ein Eingriff in das erſte und weſentlichſte Recht aller Franzoſen. 
Die Gerichte wären dadurch abhängig geworden. Die Verminde— 
rung der Mitglieder der beftehenden Parlamente mußte, was man 
auch für gute Gründe dafür anführen mochte, doch vorerſt eine 
Abſetzung der. überflüffig. gewordenen. Räthe herbeiführen, 











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