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Full text of "Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes und über den Weg ... und desselben politische Abhandlung [microform] .."

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MASTER  NEGATIVE 

NO.  93-81548- 


MICROFILMED  1 993 
COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES/NEW  YORK 


as  part  of  the 
"Foundations  of  Western  Civilization  Preservation  Project 


Funded  by  the  ^_^^^ 

NATIONAL  ENDOWMENT  FOR  THE  HUMANITIES 


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would  involve  violation  of  the  Copyright  law. 


AUTHOR: 


SPINOZA ,  BENEDICTUS 
DE 


TITLE: 


ABHANDLUNG  ÜBER  DIE 
VERBESSERRUNG... 

PLACE: 

HEIDELBERG 

DA  TE : 

1888 


COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES 
PRESERVATION  DEPARTMENT 

BIBLIOGR  APHIC  MTPROFOrm  TAWnFT 


Original  Material  as  Filmed  -  Existing  Bibliographie  Record 


193Sp4 
J4 


Kirolir.ann,  Juliuo  Hermann  von,  IMP.^l^BAf        tr. 

lipinoza,  Benedictus  de.rTract.  de  intoll ectus  esmen 

ciatione  Ger.  Kirchmann.;   , 
•  ••Abhandlung  über  die  verbesserunf^  des  ver» 

Standes  und  über  den  ne^^.    1BÖ8. 


Master  Negative  # 


For  other  copies  or  editions  see  Gpinoza, 
Benedictus  de 


■) 


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llOOWayne  Avenue,  Suite  1100 
Silver  Spring,  Maryland  20910 

301/587-8202 


Centimeter 

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BY   fiPPLIED   IMAGE,     INC. 


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Philosophische  Bibliothek 


oder 


Sammlung 


der 


Hauptwerke  der  Philosophie 


alter  und  neuer  Zeit. 


Unter  Mitwirkung  namhafter  Gelehrten 

herausgegeben,  beziehungsweise  übersetzt,  erläutert 
und  mit  Lebensbeschreibungen  versehen 


von 


J«  H.  ?•  KirehmaBB* 


Vierundvierzigster  Band. 

Splnoza's  Abhandlung:  über  die  Yerbesserung  des 
Verstandes  und  dessen  politische  Abhandlung. 

2.  Auflage. 


Benedict  ¥Ofl  Spinoza's 

Abhandlung 


über  die 


Verbesserung  des  Verstandes 


und 


Über  den  Weg,  auf  den  er  am  besten  zur  wahren 
Erkenntnis  der  Dinge  geführt  wird, 

und  desselben 

Politische  Abhandlung, 

in  welcher 

dargelegt  wird,  wie  die  Verfassung  sowohl  bei  einem  monar- 
chischen wie  bei  einem  aristokratischen  Regiment  beschaffen 
sein  müsse,  damit  sie  nicht  in  Tyrannei  ausarte,  sondern 
der  Friede  und  die  Freiheit  der  Bürger  unverletzt  erhalten 

bleibe. 


Übersetzt  und  erläutert 

von 

J.  H.  T.  Eirehmann. 

Zweite  Auflage 

durchgesehen  von  Q.  Giesserow. 


Heidelberg  1888. 

Verlag  von  Georg  Weiss. 


Heidelberg  1888. 

Verlag  von  Georg  Weiss. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


i< ; 


Rücksichtlich  des  der  Übersetzung  zu  Grunde  liegen- 
den Textes  wird  auf  das  Bezug  genommen  ^  was  in  den 
Vorworten  zur  Ethik,  zur  theologisch-politischen  Abhand- 
lung und  zur  Bearbeitung  der  Prinzipien  des  Descartes 
(B.  1 V.  XXXV.  u.  XLL)  gesagt  worden  ist. 

Die  erste,  hier  folgende  Abhandlung  über  die  Ver- 
besserung des  Verstandes  gehört  nächst  der  Ethik 
zu  den  schwer-verständlichsten  Schriften  Sp.s.  Teils  des- 
halb, teils  weil  diese  Abhandlung  manche  Aufklärung 
über  den  Gang  der  philosophischen  Entwickelung  Sp.s 
bietet  und  weil  sie  ebenso  wie  der  Anhang  metaphysi- 
scher Gedanken  zum  Verständnis  der  Ethik  viel  beiträgt, 
haben  die  Erläuterungen,  welche  in  einem  besondern  Heft 
unmittelbar  nachfolgen  werden,  umfassender  gehalten  wer- 
den müssen,  als  es  sonst  im  Plane  der  philosophischen 
Bibliothek  gelegen  haben  würde. 

Diese  Abhandlung  gehört  jedenfalls  zu  den  frühesten 
Arbeiten  Sp.s  und  lässt  man  sich  für  die  Frage  der  Zeit- 
folge seiner  Werke  lediglich  durch  deren  inneren  Gehalt 
bestimmen,  so  würde  Unterzeichneter  sie  so  ordnen,  dass 
die  Bearbeitung  der  Prinzipien  von  Descartes 
mit  dem  Anhange  metaphysischer  Gedanken  den  Anfang 
macht.  Dieser  ist  dann  unsere  Abhandlung  gefolgt, 
wofür  die  viel  reichere  und  schärfere  Entwickelung  meh- 
rerer Begriffe  spricht,  die  sich  hier  im  Vergleich  zu  dort 
findet.  Wenn  Oldenburg  in  seinem  Briefe  vom  3.  April 
1663  Sp.  fragt,  „ob  er  die  Abhandlung  zustande  ge- 
„bracht,   worin   er  vom    Urbeginn   der  Dinge  u.  s.  w. 


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XII 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


XIU 


„spreche**,  so  ist  dies  kein  Beweis  für  die  frühere  Ent- 
stehung unserer  Abhandlung,  da  einmal  es  zweifelhaft 
bleibt,  ob  Oldenburg  mit  diesen  Worten  unsere  Abhand- 
lung gemeint  hat,  und  weil  er  nur  von  einer  zu  voll- 
endenden Abhandlung  spricht,  was  sehr  wohl  von  der 
blossen  Absicht  verstanden  werden  kann,  mit  der  sich  Sp. 
allerdings  schon  lange  getragen  haben  mag. 

Erst  nach  unserer  Abhandlung  hat  Sp.  dann  die 
umfassende  Bearbeitung  seiner  Philosophie  begonnen,  auf 
die  er  in  dieser  Abhandlung  und  in  den  Anmerkungen 
derselben  wiederholt  als  eine  erst  vorzunehmende 
Arbeit  hinweist.  Als  diese  erste  Bearbeitung  der  Philo- 
sophie [oder  als  einen  Entwurf  dazu  möchte  Unterzeich- 
neter die  Abhandlung  über  Gott  und  den  Men- 
schen ansehen,  die  um  1860  in  einer  holländischen 
Uebersetzung  als  Manuskript  aufgefunden  und  in  B.  XVIII 
der  philosophischen  Bibliothek  in  einer  deutschen  Ueber- 
setzung geliefert  worden  ist.  Unmittelbar  nach  diesem 
Entwurf  oder  dieser  Skizze  wird  Sp.  dann  seine  Ethik, 
als  das  auch  in  der  Form  vollendete  System  seiner  Philo- 
sophie, begonnen  und  wahrscheinlich  ohne  Unterbrechung 
bis  zu  Ende  ausgearbeitet  haben;  was  natürlich  nicht  aus- 
Bchliesst,  dass  er  an  diesem  seinem  Hauptwerke  bis  zu 
seinem  Tode  fortwährend  gefeilt  und  gebessert  haben  mag. 
Erst  nachdem  Sp.  mit  dieser  Arbeit  im  wesentlichen  fertig 
war,  wird  er  an  seine  theologisch  -  politische  Ab- 
handlung gegangen  sein,  welche  der  Ethik  als  eines 
fertigen  Werkes  mehrfach  erwähnt  und  sein  letztes  Werk 
bildet,  dann  die  ebenfalls  unvollendet  gebliebene  poli- 
tische Abhandlung,  in  welcher  die  Ethik  und  die 
theologisch  -  politische  Abhandlung  als  fertige  Werke  ge- 
nannt werden,  und  welche  deutlich  erkennen  lässt,  dass 
Sp.  in  seinen  späten  Jahren  sich  dem  Studium  der  Ge- 
schichte und  Politik,  d.  h.  der  Wirklichkeit  in  höherem 
Masse,  wie  früher,  zugewendet  hat. 

Diese  Reihenfolge  der  Schriften  des  Sp.  stimmt  aller- 
dings mehrfach  nicht  mit  den  bisherigen  Annahmen  der 
Gelehrten,  welche  insbesondere  die  neuerlich  aufgefun- 
dene Abhandlung  über  Gott  für  sein  frühstes,  noch  vor 
seinem  24.  Jahre  geschriebenes  Werk  erklären  (man  vergl. 
Avenarius:  Die  Phasen  des  Spinozischen  Pantheismus 
1868.  S.  162);   indess  sind  die  lediglich  aus  dem  Inhalt 


der  Schrift  dafür  entnommenen  Gründe  leicht  zu  wider- 
legen und  aus  diesem  Inhalt  eher  das  Gegenteil  zu  folgern, 
wie  die  in  einem  besondern  Band  nachfolgenden  Erläute- 
rungen Nr.  28,  31,  36  am  Schluss,  43,  71,  77,  81,  86,  94 
und  96  ergeben  werden.  Ueberhaupt  scheint  es  bedenk- 
lich, drei  so  bestimmt  geschiedene  Phasen  in  der  Ent- 
wickelung  Sp.s  anzunehmen,  wie  Avenarius  in  der  er- 
wähnten Schrift  thut  Diese  Unterschiede  sind  nicht  in 
der  Schärfe  vorhanden,  wie  er  behauptet,  und  die  her- 
vorgehobenen Gegensätze  finden  sich  in  den  früheren 
Schriften  Sp.s  ebenso,  wie  in  seinem  vollendetsten  Werke, 
der  Ethik  (man  vergleiche  z.  B.  Erl.  43  zu  dieser  Ab- 
handlung); sie  gehören  vielmehr  zu  den  Inkonsequenzen 
und  Widersprüchen,  in  die  Sp.s  Grundgedanke  einer  de- 
duktiven Entwickelung  der  Philosophie  aus  dem  Gottes- 
begriffe ihn  unvermeidlich  verwickeln  musste  und  welche 
sich  deshalb  in  allen  seinen  Schriften  wiederfinden.  Dabei 
ist  es  mehr  zufällig,  wenn  Sp.  den  Accent  bald  auf  die 
Natur,  bald  auf  Gott,  bald  auf  die  Substanz  legt,  da  die 
Identität  dieser  Begriffe  schon  in  seinen  frühesten  Schriften 
von  ihm  ausgesprochen  wird;  selbst  in  bezug  auf  die 
Kausalität  zwischen  den  Attributen  kann  Sp.  auch  in  der 
Ethik  sich  nicht  konsequent  erhalten;  insbesondere  leitet 
er  die  bildlichen  Vorstellungen  auch  da  von  Zuständen 
des  Körpers  als  Ursache  ab  und  umgekehrt  ist  die  Iden- 
tität aller  Attribute  neben  ihrer  gegenseitigen  Kausalität 
auch  schon  in  dem  Anhange  der  metaphysischen  Gedanken, 
in  unserer  Abhandlung  und  in  der  über  Gott  mehrfach 
und  zum  Teil  sehr  bestimmt  ausgesprochen.  Sp.  hatte 
jedenfalls  seine  von  Descartes  abweichenden  Grund- 
gedanken schon  zur  Zeit,  als  er  die  Prinzipien  desselben 
bearbeitete,  erreicht  und  der  Unterschied  seiner  spätem 
gegen  die  früheren  Schriften  trifft  nicht  diese  Grund- 
gedanken, sondern  nur  ihre  vollständigere  Entwickelung 
und  bestimmtere  Darstellung. 

Sollte  diese  Ansicht  richtig  sein,  so  verliert  die  Frage 
nach  der  zeitlichen  Reihe  der  Schriften  Sp.s  überhaupt 
an  Bedeutung;  sie  hat  dann  mehr  ein  Interesse  für  den 
Litterarhistoriker  und  Biographen,  als  für  die  Philosophie 
an  sich;  nur  der  Ueberfluss  an  Zeit  und  Gelehrsamkeit 
kann  dahin  führen,  dergleichen  Fragen  mit  einer  pein- 
lichen Gewissenhaftigkeit  zu  erörtern. 


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XIV 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


XV 


Was  nun  unsere  Abhandlung  selbst  anlangt,  so  ist, 
wie  der  gleichlautende  Titel  und  die  äussere  Anlage  zeigt, 
Sp.  dazu  durch  desDescartes  Beispiel  und  Abhandlung 
über  die  Methode  veranlasst  worden.  Die  Abfassung  der- 
selben fällt  jedenfalls  in  die  Periode,  wo  die  Schriften  des 
Descartes  ihn  noch  viel  beschäftigten ,  und  so  mag  es 
gekommen  sein,  dass  Sp.  ebenso  wie  Descartes  seine 
schriftstellerische  Thätigkeit  mit  einer  Abhandlung  über 
die  Methode  beginnen  zu  müssen  meinte.  Indess  hätte 
das  Beispiel  von  Descartes  ihn  eher  davon  abhalten 
sollen,  denn  das,  was  Descartes  über  seine  Methode 
darin  sagt,  wird  auf  wenigen  Seiten  abgemacht  und  alles 
andere  ist  vielmehr  eine  pikante  Schilderung  seiner  per- 
sönlichen Entwickelungen  und  Schicksale  und  eine  Er- 
zählung, wonach  er  seine  wichtigen  Entdeckungen  in  der 
Geometrie  und  Naturphilosophie  viel  mehr  durch  die  in- 
duktive als  die  deduktive  Methode  gewonnen  hat. 

Sp.s  ernster  und  strenger  Geist  nahm  jedoch  die  Auf- 
gabe ernster  und  so  empfangen  wir  in  unserer  Abhand- 
lung den  Versuch  zu  einer  wirklichen  philosophischen 
Methodenlehre.  Indess  muss,  so  interessant  dieser  Ver- 
such auch  ist,  er  doch  für  verunglückt  angesehen  werden. 
Nicht  nur,  dass  Sp.  kaum  über  den  Anfang  hinaus  ge- 
kommen ist  und  dann,  trotz  allen  guten  Willens,  wie 
L.  Meyer,  sein  Freund,  versichert,  nicht  hat  weiter  kom- 
men können,  so  ergiebt  auch  der  Inhalt  wie  die  Form 
und  Ordnung,  dass  wir  es  nur  mit  einem  Versuche  und 
mit   der  Darstellung   noch   unklarer   Gedanken   zu   thun 

haben. 

Nach    einer   sehr   bedenklichen  Einleitung,  wo,  wie 

Descartes  eine  Schilderung  seiner  Zweifel,  so  Sp.  eine 
Schilderung  seiner  Versuche,  das  höchste  Gut  zu  er- 
reichen, zum  besten  giebt  und  dabei  die  Philosophie  zu 
einem  blossen  Mittel  für  die  Glückseligkeit  des  Menschen 
herabdrückt,  beginnt  der  erste  Teil  mit  einer  Ent Wicke- 
lung der  Begriffe  der  eingebildeten,  falschen  und 
zweifelhaften  Vorstellungen,  während  der  Begriff 
der  wahren  Vorstellung  nur  nebenbei  berührt  wird. 
Dieser  Teil  bildet  wohl  drei  Viertel  dessen,  was  von  der 
Abhandlung  vorhanden  ist;  der  Rest  beschäftigt  sich  mit 
dem  Begriff  der  Definition  und  mit  einem  Anhang  über 
die  Eigenschaften  des  menschlichen  Verstandes;  hier  bricht 


die  Abhandlung  plötzlich  ab  und  ist  auch  später  von  Sp. 
nicht  fortgesetzt  worden.  Hin  und  wieder  finden  sich  noch 
Anmerkungen,  die,  nach  Meyers  Versicherung,  später  von 
Sp.  zugefügt  sind.  Wahrscheinlich  sind  sie  während  der 
Ausarbeitung  der  Abhandlung  über  Gott  und  den  Menschen 
beigefügt  worden,  da  Sp.  diese  letztere  Abhandlung  als 
seine  Philosophie  oder  den  Entwurf  dazu  ansah  und  diese 
Anmerkungen  wiederholt  auf  diese  Philosophie,  als  ein 
bald  zu  erwartendes  Werk,  verweisen.  Der  Inhalt  dieser 
Anmerkungen  ist  übrigens  unbedeutend  und  von  den 
Grundgedanken,  die  in  der  Abhandlung  herrschen,  keines- 
wegs abweichend,  was  ebenfalls  darauf  hinweist,  dass  sie 
bald  nach  der  Abfassung  der  Schrift  selbst  zugesetzt  sind. 
Schon  dieser  Inhalt  sowie  die  Ordnung  dessen,  was  wir 
von  unserer  Abhandlung  besitzen,  zeigt  also,  dass  Sp.  sich 
selbst  über  die  Anordnung  wenig  klar  gewesen  ist  und 
noch  weniger  über  das  Ganze  der  Aufgabe,  welche  er  sich 
hier  vorgesetzt  hatte.  Allerdings  hatte  Sp.  damals,  ähnlich 
wie  Descartes  bei  seiner  Abhandlung  über  die  Methode, 
schon  die  Grundgedanken  seines  eigenen  Systems  gewon- 
nen und  sich  wohl  auch  über  die  dabei  befolgte  Methode 
einige  Rechenschaft  gegeben ;  allein  im  ganzen  konnte  er 
hier  noch  nicht  zur  Klarheit  gelangt  sein,  sonst  hätte  er 
sicherlich  mit  der  Schilderung  des  Verstandes  als  des  In- 
strumentes, oder  mit  dem  Fundamentalbegriffe  der  Wahr- 
heit und  der  deduktiven  Methode  begonnen,  anstatt  mit 
den  eingebildeten,  falschen  und  zweifelhaften  Vorstellungen 
den  Anfang  zu  machen,  die  vor  Erkenntnis  des  Verstandes 
und  Feststellung  der  wahren  Vorstellung  kaum  genügend 
dargelegt  werden  konnten. 

Die  sonst  in  dem  Werke  vorkommenden  Unklarheiten, 
Mängel  und  Widersprüche  werden  in  den  Erläuterungen 
zu  den  betreffenden  Stellen  dargelegt.  Sie  zeigen  deutlich, 
dass  wir  es  in  dieser  Schrift  nur  mit  einem  ersten  Ent- 
würfe zu  thun  haben,  den  Sp.  sicherlich  einer  nochmaligen 
Ueberarbeitung  unterzogen  haben  würde,  wenn  er  nicht 
die  Lust  an  der  Fortsetzung  der  Arbeit  verloren  gehabt 
hätte.  Denn  es  ist  wohl  nur  eine  gut  gemeinte  Entschul- 
digung seines  Freundes  L.  Meyer,  wenn  dieser  die 
NichtVollendung  auf  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  und 
die  Menge  der  dazu  nötigen  Kenntnisse  schiebt.  Wenn 
Jemand,  wie  hier  Sp.,  statt  in  der  Beschreibung  der  Methode 


XIV 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


XV 


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Was  nun  unsere  Abhandlung  selbst  anlangt,  so  ist, 
wie  der  gleichlautende  Titel  und  die  äussere  Anlage  zeigt, 
Sp.  dazu  durch  desDescartes  Beispiel  und  Abhandlung 
über  die  Methode  veranlasst  worden.  Die  Abfassung  der- 
selben fällt  jedenfalls  in  die  Periode,  wo  die  Schriften  des 
Descartes  ihn  noch  viel  beschäftigten,  und  so  mag  es 
gekommen  sein,  dass  Sp.  ebenso  wie  Descartes  seine 
schriftstellerische  Thätigkeit  mit  einer  Abhandlung  über 
die  Methode  beginnen  zu  müssen  meinte.  Indess  hätte 
das  Beispiel  von  Descartes  ihn  eher  davon  abhalten 
sollen,  denn  das,  was  Descartes  über  seine  Methode 
darin  sagt,  wird  auf  wenigen  Seiten  abgemacht  und  alles 
andere  ist  vielmehr  eine  pikante  Schilderung  seiner  per- 
sönlichen Entwickelungen  und  Schicksale  und  eine  Er- 
zählung, wonach  er  seine  wichtigen  Entdeckungen  in  der 
Geometrie  und  Naturphilosophie  viel  mehr  durch  die  in- 
duktive als  die  deduktive  Methode  gewonnen  hat. 

Sp.s  ernster  und  strenger  Geist  nahm  jedoch  die  Auf- 
gabe ernster  und  so  empfangen  wir  in  unserer  Abhand- 
lung den  Versuch  zu  einer  wirklichen  philosophischen 
Methodenlehre.  Indess  muss,  so  interessant  dieser  Ver- 
such auch  ist,  er  doch  für  verunglückt  angesehen  werden. 
Nicht  nur,  dass  Sp.  kaum  über  den  Anfang  hinaus  ge- 
kommen ist  und  dann,  trotz  allen  guten  Willens,  wie 
L.  Meyer,  sein  Freund,  versichert,  nicht  hat  weiter  kom- 
men können,  so  ergiebt  auch  der  Inhalt  wie  die  Form 
und  Ordnung,  dass  wir  es  nur  mit  einem  Versuche  und 
mit   der  Darstellung   noch   unklarer   Gedanken   zu   thun 

haben. 

Nach  einer  sehr  bedenklichen  Einleitung,  wo,  wie 
Descartes  eine  Schilderung  seiner  Zweifel,  so  Sp.  eine 
Schilderung  seiner  Versuche,  das  höchste  Gut  zu  er- 
reichen, zum  besten  giebt  und  dabei  die  Philosophie  zu 
einem  blossen  Mittel  für  die  Glückseligkeit  des  Menschen 
herabdrückt,  beginnt  der  erste  Teil  mit  einer  Entwicke- 
lung  der  Begriffe  der  eingebildeten,  falschen  und 
zweifelhaften  Vorstellungen,  während  der  Begriff 
der  wahren  Vorstellung  nur  nebenbei  berührt  wird. 
Dieser  Teil  bildet  wohl  drei  Viertel  dessen,  was  von  der 
Abhandlung  vorhanden  ist;  der  Rest  beschäftigt  sich  mit 
dem  Begriff  der  Definition  und  mit  einem  Anhang  über 
die  Eigenschaften  des  menschlichen  Verstandes;  hier  bricht 


die  Abhandlung  plötzlich  ab  und  ist  auch  später  von  Sp. 
nicht  fortgesetzt  worden.   Hin  und  wieder  finden  sich  noch 
Anmerkungen,  die,  nach  Meyers  Versicherung,  später  von 
Sp.  zugefügt  sind.    Wahrscheinlich  sind  sie  während  der 
Ausarbeitung  der  Abhandlung  über  Gott  und  den  Menschen 
beigefügt  worden,   da  Sp.  diese  letztere  Abhandlung  als 
seine  Philosophie  oder  den  Entwurf  dazu  ansah  und  diese 
Anmerkungen  wiederholt  auf  diese  Philosophie,   als  ein 
bald  zu  erwartendes  Werk,  verweisen.    Der  Inhalt  dieser 
Anmerkungen    ist    übrigens    unbedeutend    und  von    den 
Grundgedanken,  die  in  der  Abhandlung  herrschen,  keines- 
wegs abweichend,  was  ebenfalls  darauf  hinweist,  dass  sie 
bald  nach  der  Abfassung  der  Schrift  selbst  zugesetzt  sind. 
Schon  dieser  Inhalt  sowie  die  Ordnung  dessen,  was  wir 
von  unserer  Abhandlung  besitzen,  zeigt  also,  dass  Sp.  sich 
selbst   über   die  Anordnung  wenig  klar  gewesen  ist  und 
noch  weniger  über  das  Ganze  der  Aufgabe,  welche  er  sich 
hier  vorgesetzt  hatte.  Allerdings  hatte  Sp.  damals,  ähnlich 
wie  Descartes  bei  seiner  Abhandlung  über  die  Methode, 
schon  die  Grundgedanken  seines  eigenen  Systems  gewon- 
nen und  sich  wohl  auch  über  die  dabei  befolgte  Methode 
einige  Rechenschaft  gegeben ;  allein  im  ganzen  konnte  er 
hier  noch  nicht  zur  Klarheit  gelangt  sein,  sonst  hätte  er 
sicherlich  mit  der  Schilderung  des  Verstandes  als  des  In- 
strumentes, oder  mit  dem  Fundamentalbegriffe  der  Wahr- 
heit und  der  deduktiven  Methode  begonnen,   anstatt  mit 
den  eingebildeten,  falschen  und  zweifelhaften  Vorstellungen 
den  Anfang  zu  machen,  die  vor  Erkenntnis  des  Verstandes 
und  Feststellung  der  wahren  Vorstellung  kaum  genügend 
dargelegt  werden  konnten. 

Die  sonst  in  dem  Werke  vorkommenden  Unklarheiten, 
Mängel  und  Widersprüche  werden  in  den  Erläuterungen 
zu  den  betreffenden  Stellen  dargelegt.  Sie  zeigen  deutlich, 
dass  wir  es  in  dieser  Schrift  nur  mit  einem  ersten  Ent- 
würfe zu  thun  haben,  den  Sp.  sicherlich  einer  nochmaligen 
Ueberarbeitung  unterzogen  haben  würde,  wenn  er  nicht 
die  Lust  an  der  Fortsetzung  der  Arbeit  verloren  gehabt 
hätte.  Denn  es  ist  wohl  nur  eine  gut  gemeinte  Entschul- 
digung seines  Freundes  L.  Meyer,  wenn  dieser  die 
NichtVollendung  auf  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  und 
die  Menge  der  dazu  nötigen  Kenntnisse  schiebt.  Wenn 
Jemand,  wie  hier  Sp.,  statt  in  der  Beschreibung  der  Methode 


XVI 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


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fortzufahren ,   das   mittelst   dieser  Methode  zu  schaflfende 
Werk  selbst  ausarbeitet  und  in  seiner  Ethik  m  einer  Voll- 
endung bietet,  wie  sie  überhaupt  bei  dieser  Methode  mög- 
lich ist,  so  können  diese  Gründe  seines  Freundes  offenbar 
nicht  die  wahren  sein.  Vielmehr  hat  es  zunächst  wohl  dem 
Sp.,  und  mit  Recht,  als  das  Wichtigere  geschienen,   das 
Werk  selbst,  zu  dessen  Beginn  ihm  diese  Abhandlung  wohl 
den  ersten   ernsten  Anlass  gegeben  hatte,  in  Angriff  zu 
nehmen,  als  seine  Zeit  und  Kraft  mit  der  Beschreibung  der 
Methode,   wie    ein    solches  Werk    zu    schaffen,    zu  ver- 
schwenden.   Sodann,  und  dies  mag  wohl  der  Hauptgrund 
gewesen  sein,  fand  Sp.,  dass  er  bei  der  weiteren  Darstel- 
lung seiner  deduktiven  Methode,  welche  er  unter  der  Ver- 
besserung  des  Verstandes   versteht,   in    Schwierigkeiten 
geriet .  welche  er  nicht  erwartet  hatte.    Es  wurde  hier 
wirklich  für  Sp.  leichter,   das  Werk  selbst,  als  die  Dar- 
stellung der  Methode  zu  vollenden;  denn  in  dem  Werke 
selbst  verhüllten  sich  die  Mängel  dieser  Methode   unter 
dem  Reichtum  der  konkreten  Gegenstände,  insbesondere 
der  Gottesvorstellung   und    des   sittlichen  und  rehgioscn 
Lebensinhaltes;  das  Neue,  zu  dem  die  deduktive  Methode 
fortschreiten  musste  und  was  sie  aus  sich  selbst  nicnt  zu 
gewinnen  vermochte,  konnte  deshalb  hier  unvermerkt,  und 
wahrscheinlich   auch   im  guten  Glauben  von  Sp.  aus  dem 
Reichtum  jener  bereits  vorhandenen  und  geläufigen  kon- 
kreten Begriffe   entlehnt,  in   die  deduktiven  Ableitungen 
eingeschoben   und   so  ein  reicher  Inhalt  für  das  System 
gewonnen  werden,  trotzdem  dass  es  äusserlich  sich  ganz 
in  das  strenge  deduktive  Verfahren  der  Geometrie  kleidete. 
Allein  viel  schwerer  stellte  sich  die  Aufgabe,  dieses 
deduktive   Verfahren    für    sich    zum   Gegenstande   einer 
wissenschaftlichen   Darstellung    zu    machen.     Hier  waren 
diese  Erschleichungen  und  unvermerkten  Ergänzungen  aus 
dem  Vorrat  der  Erfahrung  nicht  anwendbar;  hier  musste 
einfach  und  trocken  gezeigt  werden',  wie  aus  einem  Be- 
griffe ohne  fremde  Zuthat  etwas  Neues  deduktiv  abgeleitet 
werden  könne,   und   hier  musste  sich  also  sehr  bald  die 
auch  von   Kant   gemachte  Erfahrung  aufdrängen ,   dass 
solche  deduktive  Methode  zwar  zu  mancherlei  analyti- 
schen Urteilen  den  Weg  zeigt,  aber  dass  sie  niemals  zu 
synthetischen,  nicht  schon  in  dem  Begriff  enthaltenen 
Urteilen   gelangen  kann.    Allerdings  hat  bei   Sp.   diese 


Erfahrung  nicht  die  Klarheit  wie  bei  Kant  erreicht;  Sp« 
hält  an  dieser  Methode  mit  Zähigkeit  und  Ueberzeugung 
fest;  allein  trotzdem  ist  er  genötigt,  die  Hauptsache,  wie 
aus  dem  Wesen  eines  Dinges  der  reiche  und  weitere  In- 
halt desselben  und  seiner  Zustände  und  Wirkungen  abzu- 
leiten ist,  und  wie  die  Erkenntnis  des  Wesens  vor  Er- 
kenntnis der  einzelnen  Eigenschaften  zu  gewinnen  ist, 
in  dieser  Abhandlung  fortwährend  zu  verschieben  und  den 
Leser  mit  Nebensächlichem  zu  beschäftigen;  ja,  zuletzt  bei 
Erforschung  des  Wesens  des  Verstandes  muss  Sp.  sein 
vorher  aufgestelltes  Prinzip  geradezu  verletzen,  wonach 
man  das  Wesen  eines  Dinges  nicht  aus  seinen  Eigenschaften, 
sondern  umgekehrt  diese  aus  jenen  ableiten  solle.  Man 
sehe  Erl.  115.  Diese  Schwierigkeiten  mussten  sich  ver- 
mehren, je  näher  Sp.  auf  diese  Methode  einging  und  ihr 
Verfahren  im  einzelnen  anschaulich  machen  wollte  und 
je  mehr  er  sich  der  unvermeidlichen  Beantwortung  jener 
Hauptfragen  näherte.  Wenngleich  Sp.  diese  Schwierigkeiten 
mehr  gefühlt  als  sich  klar  gemacht  haben  wird,  so  sind 
sie  doch  wohl  die  wahren  Ursachen  gewesen,  weshalb  er 
diese  Darstellung  der  Methode  hat  liegen  lassen  und  sich 
der  Ausarbeitung  des  Systems  selbst  zugewendet  hat,  trotz- 
dem, dass  diese  Aufgabe  an  sich  als  die  schwerere  gegen 
die  Entwickelung  der  Methode  erscheint. 

Dazu  kommt  noch,  dass  dergleichen  Methodenlehren 
sich  überhaupt  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  ganz 
nutzlos  erweisen.  Sowohl  Descartes  wie  Sp.  haben 
sich  an  dieser  Methodenlehre  nur  versucht,  nachdem  sie 
die  wichtigsten  Gedanken  ihrer  Systeme  bereits  gewonnen 
hatten,  und  ebenso  sagt  Kant,  dass  dieWissenschaften  selbst 
schon  sehr  weit  vorgerückt  sein  müssen,  ehe  das  Nach- 
denken sich  der  Methode,  wie  sie  zu  gewinnen,  zuwenden 
könne.  In  der  Philosophie  des  Wissens  können  aller- 
dings die  Fundamentalgesetze  der  Erkenntnis,  die  Gesetze 
und  die  verschiedenen  Richtungen  des  Denkens,  die  Natur 
der  Begriffe,  der  Definitionen,  der  Beweise,  das  Wesen  des 
Systems  u.  s.  w.  dargelegt  werden;  allein  diese  Wissen- 
schaft ist,  wenn  sie  sich  in  der  Wahrheit  erhalten  will, 
ebenso  auf  die  Beobachtung  des  zeitlich  verlaufenden 
Wissens  innerhalb  der  einzelnen  menschlichen  Seele  an- 
gewiesen, wie  die  Wissenschaft  des  Seienden  nur  aus 
der  Beobachtung  des  einzelnen  Seienden   sich  bilden 

Spinoza'*  Abh.  üb.  Verbesser,  d.  Verstandes.  2 


i 


II! 


xvni 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


XIX 


kann.  Dagegen  ist  die  Darstellung  der  deduktiven  Methode, 
wenn  sie  nicht  TaschenJ^pielerkunststücke  treiben  will,  sehr 
schnell  mit  ihren  Lehren  zu  Ende,  weil  aus  dem  Inhalt 
eines  Begriflfes  auf  keine  redliche  Weise  etwas  Neues  her- 
auagepresst  werden  kann.  Aber  auch  mit  der  blossen 
Beobachtung  des  einzelnen  Seienden  ist  es  für  den  Fort- 
schritt der  Wissenschaften  nicht  abgemacht.  Wenn  der 
wesentliche  Inhalt  einer  Wissenschaft  nur  aus  den  Gesetzen 
ihres  Gebietes  und  deren  Beweisen  besteht,  und  wenn  ihre 
Begriffe  nur  Wert  und  Wahrheit  haben,  soweit  sie  sich  als 
brauchbare  Glieder  zu  Gesetzen  darstellen  (B.  I.  77),  so 
erhellt,  dass  aller  Fortschritt  der  Wissenschaften  neben 
der  Beobachtung  zugleich  auf  einer  glücklichen  Konzep- 
tion der  Begriffe  zu  einem  neuen  Gesetze  beruht.  Erst 
wenn  diese  Konzeption  aus  dem  Wirrwarr  und  der  Masse 
der  einzelnen  Beobachtungen  wie  ein  hellleuchtender  Strahl 
herausbricht,  sinkt  der  Nebel,  der  über  diesem  Chaos  ge- 
legen, das  Unwesentliche  fällt  ab  und  das  Zugehörige 
ordnet  sich  leicht  unter  die  Einfachheit  des  neuen  Gesetzes 
und  seiner  Begriffe.  Diese  Konzeption  des  wissenschaft- 
lichen Forschers  ist  aber  so  wenig  wie  die  des  Dichters 
und  Künstlers  zu  erzwingen  oder  durch  Innehaltung  von 
Methoden  und  Regeln  absichtlich  zu  erreichen.  Sie  ist  die 
unverhoffte  Gabe  des  Augenblicks,  der  plötzliche  Durch- 
bruch eines  Gedankens,  dessen  Entstehung  nicht  weiter  zu 
verfolgen  ist  und  die  eigentümliche  Bevorzugung  des 
wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Genies  (B.  I  25; 
Ph.  d.  W.  402.  Aesthethik  II.  279).  Hier  liegt  noch  ein  weites 
Feld  für  die  Philosophie  des  ünbewussten.  Ein  regelrechtes 
mit  voller  Absichtlichkeit  angestelltes  Verfahren  zur  Ge- 
winnung dieser  Konzeptionen  ist  hier  mehr  störend  als 
nützend  und  deshalb  sind  dergleichen  Methodenlehren,  um 
die  Wahrheit  zu  suchen  und  die  Erkenntnis  zu  erweitem, 
wie  sie  hier  Desc.  und  Sp.  versucht  haben,  für  diesen 
Zweck  ein  nutzloses  Unternehmen;  es  können  nur  hohle 
und  unbestimmte  Regeln  dabei  herauskommen,  wie  auch 
die  von  beiden  Männern  gebotenen  Vorschriften  bestätigen. 
Deshalb  haben  beide  wohl  gethan;  und  zwar  der  Eine, 
dass  er  Memoiren  daraus  gemacht  und  der  Andere,  dass 
er  die  Arbeit  unvollendet  hat  liegen  lassen. 

Was   die   zweite   hier  aufgenommene  Schrift  Sp.s, 
seine  politische  Abhandlung  anlangt,  so  ist  sie  so- 


wohl nach  der  Versicherung  seines  Freundes  L.  Meyer, 
als  nach  den  darin  vorkommenden  Bezugnahmen  auf  die 
früheren  Werke  Sp.s,  als  sein  letztes  Werk  anzusehen, 
an  welchem  er  vielleicht  bis  zu  seiner  Krankheit  ge- 
arbeitet haben  mag  und  an  dessen  Vollendung  er  nur 
durch  den  Tod  gehindert  worden  ist.  Der  Leser  kann 
daher  mit  einem  gewissen  Recht  erwarten,  hier  dem 
reifsten  Werke  Sp.s  zu  begegnen.  In  einer  Hinsicht 
wird  dies  auch  richtig  sein;  dieses  Werk  zeigt,  dass  Sp. 
in  seinen  späten  Jahren  sich  viel  mit  Geschichte  und  Be- 
obachtung der  wirklichen  sittlichen  Welt  beschäftigt  hat. 
Er  hat  damit  wenigstens  stillschweigend  anerkannt,  dass 
nicht  alle  Wahrheit  anf  dem  deduktiven  Wege  gewonnen 
werden  könne;  im  übrigen  aber  steht  diese  Schrift  an 
philosophischem  Inhalt  und  wissenschaftlicher  Vollendung 
der  Ethik  erheblich  nach,  was  sich  zum  Teil  daraus  er- 
klärt, dass  die  Genialität  Sp.s  weniger  in  der  Beobachtung 
und  Induktion  als  in  der  Konzeption  von  Prinzipien  und 
deren  deduktiver  Entwickelung  lag  und  dass  Sp.  niclt 
zur  Revision  der  Schrift  gekommen  sein  wird,  da  ihn  der 
Tod  schon  an  der  Vollendung  des  ersten  Entwurfes  ge- 
hindert hat. 

Die  Schrift  zerfällt  in  zwei  sehr  ungleiche  Teile. 
Die  ersten  fünf  Kapitel  bewegen  sich  in  allgemeinen,  der 
Philosophie  angehörigen  Untersuchungen  über  die  Begriffe 
von  Recht  und  Staat;  hier  ist  Sp.  noch  ganz  in  seinem 
Elemente.  Vom  sechsten  Kapitel  ab  geht  aber  die  Schrift 
zu  einer  Darstellung  der  einzelnen  Staatsverfassungen  und 
Regierungsformen  über,  wo  die  deduktive  Methode  ihren 
Dienst  zum  grössten  Teil  versagte  und  Sp.  zu  künst- 
lichen Kombinationen  greifen  musste.  Bei  diesen  hielt  er 
sich  bald  mehr  an  das  geschichtlich  Vorgekommene,  bald 
mehr  an  eine  kluge  Berechnung  der  in  der  menschlichen 
Natur  einander  bekämpfenden  Mächte  und  Leidenschaften 
und  hier  verwickelt  er  sich  viel  in  Einzelheiten,  die  weder 
in  die  Philosophie  noch  in  eine  Abhandlung  von  so 
beschränktem  Umfange  gehören,  als  Sp.  sich  vorgesetzt 
hatte. 

Hiernach  haben  auch  die  Erläuterungen  und  die  Kritik 
dieser  Abhandlung,  welche  in  einem  besonderen  Hefte 
nachfolgen  werden,  für  diese  beiden  Teile  verschieden  aus- 
fallen müssen.    Bei  dem   ersten  und  philosophischen  Ab- 

2* 


XX 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Vorwort  des  Übersetzers. 


XXI 


i 


schnitt  kam  es  vorzüglicli  darauf  an,  die  eigentlichen  Ge- 
danken Sp.'s  klar  zu  legen,  welche  bei  dieser,  nur  erst 
als  ein  Konzept  zu  betrachtenden  Schrift,  nicht  immer 
deutlich  hervortreten,  und  den  inneren  Zusammenhang 
des  Inhaltes  mit  der  Ethik  und  der  theologisch-politischen 
Abhandlung  darzulegen,  in  welchen  ein  Teil  der  hier 
behandelten  Fragen  ebenfalls  und  oft  wörtlich  gleich- 
lautend sich  findet.  Wenn  hierbei  die  eine  Schrifc  zur 
Erklärung  der  anderen  benutzt  werden  konnte,  so  ergab 
sich  doch  auch  das  interessante  Resultat,  dass  Sp.  in 
dieser  seiner  letzten  Schrift  schon  in  manchen  Punkten 
über  jene  Werke  hinausgegangen  ist  und  der  Wirklich- 
keit sich  näher  hält.  Auch  erhellt  daraus,  dass  Sp.  inner- 
halb der  Rechtsphilosophie  durchaus  nicht  so  abhängig 
von  Hobbes  dasteht,  wie  es  meistenteils  und  auch 
von  Kuno  Fischer  behauptet  worden  ist.  Sp.  ist 
teils  radikaler,  teils  gemässigter  wie  Hobbes  und 
dabei  doch  konsequenter  wie  dieser.  Bei  Sp.  geht 
der  wahre  Begriff  des  Sittlichen  und  des  Rechts,  welcher 
auf  der  Achtung  vor  dem  Gebot  im  Gegensatz  zur  Lust 
beruht  (B.  XI.  53),  ganz  unter;  Sp.  kennt  selbst  in 
seiner  Ethik  nur  den  Trieb  der  Selbsterhaltung  als  das 
Prinzip  alles  menschlichen  Handelns  und  wenn  er 
zwischen  Vernunft  und  Leidenschaft  unterscheidet,  so 
gilt  ihm  doch  die  Vernunft  nicht  als  ein  selbständiges 
Prinzip  des  Handelns,  wie  der  neueren  Philosophie  seit 
Kant,  sondern  sie  ist  ihm  nur  die  kluge  Leiterin  des 
Selbsterhaltungstriebes.  Sogar  die  von  der  Vernunft  ge- 
botene Liebe  des  Nächsten  ist  bei  Sp.  nur  ein  Mittel  für 
den  eigenen  Nutzen  und  wird  nur  in  diesem  Sinne  auf- 
gefasst  und  gerechtfertiget.  Nachdem  Sp.  so  das  sittliche 
Motiv  völlig  beseitigt  hat,  ist  es  ihm  leicht,  das  Recht  ganz 
mit  der  Macht  zu  identifizieren;  aber  diese  Identität  bahnte 
ihm  auch  wieder  den  Weg,  gewisse  Grundrechte  für  den 
Einzelnen  der  Staatsallmacht  zu  entziehen,  die  Staats- 
gewalt selbst  mannichfachen  Schranken  zu  unterwerfen  und 
ein  klug  berechnetes  Gleichgewicht  zwischen  den  Leiden- 
schaften herzustellen ;  denn  diese  Leidenschaften  sind  nach 
Sp.  unvertilgbar  und  das  einzige  Motiv  aller  praktischen 
Thätigkeit.  Hobbes  behält  dagegen  den  gewöhnlichen 
Begriff  des  Rechtes  bei,  wonach  es,  als  sittliches  Element, 
den  Gegensatz  zur  Macht  und  Lust  bildet;  denn  wenn  er 


auch  im  Beginn  das  Recht  mit  der  Macht  identifiziert,  so 
hält  er  doch  diesen  Standpunkt  nicht  fest,  sondern  geht 
sehr  bald  auf  den  wahren  Begriff  des  Rechtes  über,  was 
er  zunächst  aus  dem  Vertrage  entstehen  lässt,  aber  dann 
innerhalb  des  Staates  nur  von  dem  Gebote  der  Staats- 
gewalt, insbesondere  des  Fürsten,  ableitet.    Damit  wird 
ihm  jede  Beschränkung  dieses  Willens  durch  besondere 
Staatsformen     unmöglich     und     das     absolute    Königtum 
wird  ebenso  folgerecht  sein  Staatsideal,  wie  für  Sp.  die 
beschränkte  Aristokratie.    Sp.  selbst  sagt  in  seinem  SOsten 
Briefe:  „Was  die  Politik  betrifft,  so  besteht  der  ünter- 
„schied  zwischen  mir  und  Hobbes  darin,    dass  ich  das 
„natürliche  Recht  stets  unangetastet  erhalte  und  dass  ich 
„den  Grundsatz  aufstelle,  dass  der  höchsten  Staatsgewalt 
„nicht  mehr  Recht  über  die  ünterthanen  zusteht,  als  nach 
„Maassgabe  der  Gewalt,  worin  sie  über  den  ünterthanen 
„steht,   was  im  Naturzustande  stets  stattfindet. **     Diese 
Worte  bezeichnen  das  System  Sp.'s  richtig ;  aber  der  Un- 
terschied gegen  Hobbes  ist  darin  ungenügend  angegeben. 
Der  wesentliche  Punkt  ist  vielmehr,  dass  Hobbes  den  Be- 
griff des  Rechts,   als  eines  sittlichen  Motivs,  beibehalten 
hat,  während  dieser  bei  Sp.  ganz  beseitigt  ist.    Deshalb 
kann    Hobbes    gleich   konsequent    dem   Fürsten   mehr 
Recht  beilegen,  als  er  Macht  hat,  was   Sp.  bei  seinem 
Prinzip  nicht  kann. 

Für  die  realistische  Auffassung  der  sittlichen  Welt, 
wie  sie  in  B.  XI.  der  philosophischen  Biblioth.  dargestellt 
worden,  ist  das  Studium  beider  Schriftsteller  von  grossem 
Interesse;  Beide  fühlen  die  Mängel  und  das  Flache  der  zu 
ihrer  Zeit  geltenden  Systeme ;  Beide  thun  einen  bedeuten- 
den Schritt  in  Auffindung  der  Wahrheit  vorwärts;  aber 
Beide  halten  sich  nur  an  einzelne  wahre  Elemente,  mit 
Verabsäumung  anderer  und  deshalb  sind  beide  an  der 
vollen  Erkenntnis  der  sittlichen  Welt  gehindert  und  ver- 
mögen mit  ihren  einseitigen  Elementen  auch  nur  einen 
Staat  zu  konstruieren,  welcher,  wenn  die  Probe  damit  ge- 
macht werden  könnte,  sich  viel  mangelhafter  als  alle  zu 
ihrer  Zeit  wirklich  vorhandenen  und  von  ihnen  getadelten 
Staatsformen  herausstellen  würde. 

Was  nun  den  zweiten,  oben  erwähnten  Teil  unserer 
Abhandlung  anlangt,  so  ist  man  erst  in  der  neuesten  Zeit, 
nach  vielen  bittern  Erfahrungen,  zu  der  Erkenntnis  ge- 


xxn 


Vorwort  des  Übersetzers. 


langt,    dass    die   EDtwickelun^  eines  wirklichen   Staates 
ebenso    ein    durch    feste  Kräfte   und   Gesetze   geregelter 
geschichtlicher  Vorgang  ist,  wie  das  Wachsen  eines  Baumes 
und    die    körperliche   und    geistige   Entwickelung   eines 
einzelnen  Menschen.     Bei   diesem  Staatsbau   bleibt  zwar 
die  Vernunft  des  Menschen   als  eines  der  mitwirkenden 
Elemente  keinesweges  ausgeschlossen,   aber  sie  ist  doch 
nur   eines   dieser  Elemente  und   vor   allem  ist   es  auch 
da  nicht  die  Vernunft  eines  Einzelnen,  sondern  die  der 
Gesamtheit  des  Volkes,  wie  sie  in  der  öffentlichen 
Meinung   sich    allmählich   befestigt   und    offenbart.     Der 
Einzelne    tritt    dabei   mehr  nur  als  der  geschickte  Dol- 
metscher   und    nicht  als   Begründer   des  Gedankens  auf. 
Diese  Ansicht,  welche  jetzt  so  ziemlich  als  die  all- 
gemeine,  von   allen   grössern  politischen  Parteien  ebenso 
wie  von  der  Wissenschaft  anerkannte  gelten  kann,  ergiebt 
von  selbst,   dass  es  nicht  die   Aufgabe  eines  Einzelnen 
sein    kann,    Staats-    und    Gesellschafts-Ideale   überhaupt 
oder  für  seine  Zeit  zu  entwerfen.    Damit  sind  alle  der- 
gleichen Versuche,  welche  schon  mit  P lato  begonnen  und 
auch  nach  Sp.   sich    fortgesetzt   haben,  gerichtet.     Jeder 
Staat  ist  ein   so  überaus   kunstvolles  Gebäude,  bei  dem 
die  Menge   und  die  Verwickelung   der  wirkenden  Kräfte 
80  gross  ist  und  bei  dem  das  Verhältnis  und   die  Stärke 
dieser  Kräfte  so  fortwährend  wechselt,  dass  es  dem  Ein- 
zelnen, selbst  mit  der  reichsten  Menschenkenntnis  und 
Erfahrung  unmöglich  ist,  diese  Elemente,  ihre  Kraft  und 
Dauer  zu  übersehen,  zu  berechnen  und  ein  haltbares  Ge- 
bäude damit  zu  errichten.    Dazu  kommt,  dass  selbst  die 
Frage,  was  angenehm  und  nützlich  ist,  den  verschiedensten 
Urteilen,  je  nach  der  Empfänglichkeit  der  Einzelnen  und 
der  Völker,  unterliegt.    Deshalb  lassen  alle  Kultur-Völker 
gegenwärtig    die  Reformen    in  Staat  und  Gesetzen  von 
einer  grossen  Zahl  gemeinsam  beratender  und  beschliessen- 
der   Männer  ausgehen,    in   welchen  die  zahlreichen  In- 
teressen  und  Wünsche   der  einzelnen  Klassen   ihre  Ver- 
treter  finden,    und   selbst   von    solchen  Versammlungen 
wird  die  Reform  nur  allmählich  und  in  einzelnen  überseh- 
baren Fragen   vorgenommen.     Auch   die    durch   Revolu- 
tionen entstandenen  neuen  Verfassungen  machen  hiervon 
keine  Ausnahme;  der  Bruch  mit  der  Vergangenheit  ist 
bei  denselben  nur  scheinbar;  das,  was  von  diesen  Ver- 


Vorwort des  Übersetzers. 


xxni 


fassungen  die  Zeit  der  Aufregung  überdauert,  kann  leicht 
als  das  nachgewiesen  werden,  was  sich  schon  lange  unter 
der  Decke  der  alten  Formen  vorbereitet  und  entwickelt 
hat  und  was  in  der  Revolution  nur  die  Hülse  gesprengt 
hat;  keineswegs  aber  kann  es  als  etwas  Nagelneues  und 
durch  die  Klugheit  und  Berechnung  eines  Einzelnen  Er- 
dachtes geltend  gemacht  werden. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  konnte  es  bei  der  Kri- 
tik dieses  zweiten  Teiles  nicht  darauf  ankommen,  mit 
dem  Verfasser  sich  in  einen  ausführlichen  Streit  über  die 
Güte  und  Zweckmässigkeit  seiner  Vorschläge  einzulassen. 
Die  hierher  gehörenden  Vorschläge  Sp.'s  sind  auch,  ab- 
gesehen von  solcher  Kritik,  schon  durch  die  Fortschritte 
der  Völker  innerhalb  der  zwei  Jahrhunderte  erledigt, 
welche  zwischen  der  Abfassung  der  Abhandlung  und  der 
Gegenwart  liegen.  Es  konnte  also  nur  darauf  ankommen, 
die  oft  undeutlich  ausgesprochenen  Gedanken  Sp.'s  klar 
zu  legen;  die  Folgerichtigkeit  derselben  aus  dem  voran- 
gestellten Prinzip  zu  prüfen  und  bei  den  einzelnen  Punkten 
die  Quellen  und  Beispiele  aus  der  Geschichte  nachzuweisen, 
aus  denen  Sp.  seine  Vorschläge  geschöpft  hat.  So  auf- 
gefasst,  hat  auch  dieser  zweite  Teil  sein  Interesse;  er 
giebt  Aufschlüsse  über  die  Fortbildung  der  Grundgedanken, 
von  denen  dieser  grosse  Denker  ausgegangen  war,  und 
er  zeigt  thatsächlich,  wie  wenig  die  deduktive  Methode 
zu  leisten  vermag,  wenn  sie  an  die  Gestaltung  der  Wirk- 
lichkeit herantritt,  wo  es  sich  nicht  mehr  um  ein  isoliertes 
Prinzip  handelt,  sondern  wo  die  Betrachtung  es  mit  der 
Kollision  und  dem  Kampf  einer  grossen  Anzahl  gleich- 
berechtigter Prinzipien  zu  thun  bekommt,  deren  Aus- 
gleichung aus  ihnen  selbst  zu  entnehmen,  sich  als  ver- 
geblich erweist. 

Indem  Sp.  in  dieser  seiner  letzten  Arbeit  der  Be- 
obachtung der  wirklichen  Welt  näher  getreten  ist,  steht 
er  in  seinen  Resultaten  schon  höher  als  sein  unmittelbarer 
Vorgänger  Hobbes,  und  aus  demselben  Grunde  ersteigt 
dann  der  12  Jahre  nach  Sp.s  Tode  geborene  Montes- 
quieu in  seinem  1748  erschienenen  „Geist  der  Gesetze** 
eine  noch  höhere  Stufe  als  Sp. ;  indem  Montesquieu  noch 
mehr  mit  dem  Studium  der  Geschichte  beginnt  und  mit 
richtigem  Takt  sich  enthält,  einen  fertigen  Verfassungs- 
entwurf für  alle  Zeiten  aufzustellen. 


XXIV 


Vorwort  des  Übersetzers. 


Mit  diesen  beiden  hier  gelieferten  Abhandlungen  sind 
die  Schriften  des  Sp.,  seine  nicht  hierher  gehörende  he- 
bräische Grammatik  und  Abhandlung  über  den  Regen- 
bogen ausgenommen,  abgeschlossen;  es  bleibt  nur  noch 
die  Übersetzung  und  Erläuterung  seiner  Briefe  zu  liefern, 
um  die  Freunde  der  phil.  Bibliothek  in  den  vollständigen 
Besitz  der  philosophischen  Werke  Sp/s  zu  setzen.  Diese 
Briefe  sollen  noch  im  Herbst  dieses  Jahres  erscheinen. 


Berlin,  im  Juli  1871. 


Y.  Kirchmann. 


Abhandlung 


über  die 


Verbesserung  des  Verstandes. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 


Vorwort  an  den  Leser, 


Die  zweite  Auflage  ist  einer  eingehenden,  berich- 
tigenden Durchsicht  unterzogen  worden. 

Man  erlaubt  sich  an  dieser  Stelle  auf  die  in  gleichem 
Verlage  erschienene  lateinische  Ausgabe  der  Werke  Spi- 
nozas, besorgt  von  Hugo  Ginsberg,  hinzuweisen, 
deren  IV.  Band  die  Schriften  dieses  Bändchens  enthält. 

Die  in  dem  Text  eingeklammerten  Ziflfern  beziehen  sich 
auf  die  in  einem  besonderen  Heft  erschienenen  Erläu- 
terungen. 

Die  Anmerkungen  in  diesem  Bande  sind  sämtlich  von 
Spinoza. 


l'iese  Abhandlung  über  die  Verbesserung  des  Verstandes 
n.  8.  w.,  welche  hier  der  Leser  unvollendet  erhält,  hat 
der  Verfasser  schon  vor  vielen  Jahren  geschrieben.  Er 
hatte  immer  in  Absicht,  sie  zu  beenden.  Allein  andere 
Arbeiten  hielten  ihn  davon  ab,  und  endlich  nahm  ihn  der 
Tod  hinweg;  so  konnte  er  die  Abhandlung  nicht  zu  dem 
gewünschten  Abschluss  bringen.  Sie  enthält  indes  viel 
Ausgezeichnetes  und  Nützliches,  was  dem,  der  die  Wahr- 
heit aufrichtig  sucht,  unzweifelhaft  nicht  geringen  Nutzen 
bringen  kann;  deshalb  habe  ich  sie  dem  Leser  nicht  vor- 
enthalten mögen.  Die  mancherlei  Dunkelheiten,  Härten 
und  Unebenheiten,  welche  die  Schrift  hie  und  da  enthält, 
möge  der  Leser  mit  den  Umständen  entschuldigen;  dass 
er  diese  nicht  vergesse,  darum  möchte  ich  ihn  hier  ge- 
beten haben.    Meinen  Gruss  zum  Schluss.  ^) 


m 


Die  Ziele  der  Menschen. 


Abhandlung 


über  die 


Verbesserung  des  Verstandes, 


und 


Über  den  Weg,  auf  den  er  am  besten  zur  wahren 
Erkenntnis  der  Dinge  geführt  wird.^) 


Nachdem  mich  die  Erfahrung  belehrt  hat,  dass  Alles,  was 
das  gewöhnliche  Leben  häufig  bietet,  eitel  und  nichtig 
ist,  und  ich  gesehen,  dass  Alles,  was  ich  und  vor  dem  ich 
mich  fürchtete,  Gutes  oder  Schlimmes  nur  so  weit  in  sich 
enthält,  als  das  Gemüt  davon  bewegt  wird,  so  beschloss 
ich  endlich,  zu  erforschen,  ob  es  ein  wahres  Gut  giebt, 
was  mitteilbar  ist  und  von  dem  allein,  mit  Beiseitesetzung 
alles  Anderen,  der  Geist  erregt  werden  kann;  ja,  ob  es 
Etwas  giebt,  durch  dessen  Auffindung  und  Erlangung 
eine  stete  und  höchste  Heiterkeit  für  immer  gewonnen 
werden  kann.  Ich  sage:  „so  beschloss  ich  endlich";  denn 
auf  den  ersten  Blick  schien  es  unklug ,  das  Sichere  für 
das  Unsichere  aufzugeben.  Ich  sah  nämlich  ein,  dass  ich 
jene  Vorteile ,  welche  die  Ehre  und  der  Reichtum  ge- 
währen, zu  verfolgen  aufgeben  müsse,  wenn  ich  ernstlich 
mich  um  etwas  Anderes  und  Neues  bemühen  wollte. 
Sollte  also  das  höchste  Glück  in  jenen  Dingen  enthalten 
sein,  so  sah  ich,  dass  ich  dessen  entbehren  müsste;  sollte 
es  aber  nicht  darin  enthalten  sein,  ich  aber  doch  mich 
nur  um  sie  bemühen,  so  würde  ich  auch  dann  des  höchsten 
Glückes  entbehren.  ^) 


Ich  überlegte  also,  ob  ich  wohl  eine  neue  Lebens- 
einrichtung erfiissen  oder  wenigstens  Gewissheit  in  Betreff 
ihrer  erlangen  könne,  ohne  dass  ich  die  Ordnung  und  ge- 
wöhnliche Weise  meines  Lebens  änderte,  was  ich  zwar 
mehrmals,  aber  vergeblich,  versucht  hatte. 

Das,  was  im  Leben  am  meisten  angetroffen  wird  und 
was  die  Menschen,  nach  ihrem  Benehmen  zu  schliessen, 
als  das  höchste  Gut  schätzen,  lässt  sich  auf  Dreierlei 
zurückführen,  nämlich  auf  Reichtum,  Ehre  und  Sin- 
nen lust.*)  Durch  diese  drei  Dinge  wird  der  Geist  so 
zerstreut,  dass  er  über  kein  anderes  Gut  nachdenken 
kann.  Was  die  Sinnenlust  anlangt,  so  wird  der  Geist  da- 
von so,  als  wenn  er  in  einem  Gute  ausruhte,  erfasst;  er 
wird  dadurch  völlig  gehemmt,  an  etwas  anderes  zu  denken; 
aber  nach  deren  Genuss  folgt  die  höchste  Traurigkeit, 
die  den  Geist,  wenn  auch  nicht  lähmt,  doch  stört  und 
abstumpft.  6)  Auch  durch  die  Jagd  nach  Ehre  und  Reich- 
tum wird  die  Seele  viel  zerstreut;  namentlich  wenn  sie 
um  ihrer  selbst  willen  gesucht  werden*;  und  dann  als 
das  höchste  Gut  gelten.  Noch  mehr  wird  der  Mensch 
durch  Ehren  zerstreut,  da  sie  als  ein  Gut  an  sich  ange- 
sehen werden  und  als  das  höchste  Ziel  gelten,  nach  dem 
alle  streben.  Auch  tritt  hier  nicht,  wie  bei  der  Sinnen- 
lust, die  Reue  ein,  vielmehr  steigt  die  Freude  mit  dem 
zunehmenden  Besitz  und  dies  reizt  zur  steten  Vermehrung 
von  beiden.  Werden  aber  unsere  Hoffnungen  einmal  ge- 
täuscht, so  entsteht  die  höchste  Traurigkeit.  Endlich  ist 
die  Ehre  vorzüglich  deshalb  hinderlich,  weil  man,  um  sie 
zu  erlangen ,  notwendig  sein  Leben  nach  dem  Sinne  der 
Menschen  einrichten  und  das  fliehen  muss,  was  die  Men- 
schen gemeinhin  fliehen  und  das  aufsuchen,  was  sie  ge- 
meinhin  suchen.  ^) 

Als  ich  so  sah,   dass  dies  alles  mich  hinderte,   für 

*)  Ich  hätte  dies  breiter  und  bestimmter  darlegen 
können,  wenn  ich  bei  dem  Reichtume  unterschieden 
hätte,  ob  er  um  seiner  selbst  willen  erstrebt  wird,  oder  um 
der  Ehre  willen,  oder  um  der  Sinnenlust  willen,  oder  um 
der  Gesundheit  willen  und  um  die  Wissenschaften  und  Kunst 
zu  erweitern.  Ich  verspare  dies  jedoch  für  den  dazu  ge- 
eigneten Ort,  da  diese  genaue  Untersuchung  hier  nicht 
hergehört 


^  Zweifel,  was  zu  than  sei. 

eine  neue  Lebenseinriclitung  mich  zu  bemühen,  ja,  dem 
so  entgegengesetzt  war,  dass  ich  notwendig  entweder  das 
Eine  oder  das  Andere  aufgeben  musate,  so  hatte  ich  zu 
überlegen,  was  wohl  das  Beste  für  mich  sein  würde.  Ich 
schien  nämlich  ein  sicheres  Gut  für  ein  unsicheres  auf- 
geben zu  wollen.  Nach  einigem  Nachdenken  entdeckte 
ich  indes  zunächst,  dass,  wenn  ich  unter  Aufgebung  dieser 
Dinge  für  meine  neue  Lebenseinrichtung  mich  rüstete,  ich 
nur  ein  Gut  aufgab,  was  seiner  Natur  nach  unsicher  war, 
wie  aus  dem  Obigen  erhellt  und  zwar  für  ein  anderes 
Gut,  das  zwar  auch  unsicher  war,  aber  nicht  seiner  Natur 
selbst  nach  (denn  ich  suchte  ein  beständiges  Gut),  sondern 
nur  unsicher  in  bezug  auf  seine  Erlangung.  Durch  fort- 
gesetztes Nachdenken  gelangte  ich  indes  zur  Einsicht, 
dass  ich  dann,  wenn  ich  es  nur  ganz  zu  tiberlegen  ver- 
möchte, vielmehr  sichere  üebel  für  ein  sicheres  Gut  auf- 
gebe. Ich  sah  mich  nämlich  selbst  in  höchster  Gefahr 
befangen  und  genötigt,  nach  einem  selbst  unsichern  Hülfs- 
mittel  aus  allen  Kräften  zu  suchen;  ich  glich  einem  an 
einer  tötlichen  Krankheit  Leidenden,  der  seinen  sicheren 
Tod  voraussieht,  wenn  nicht  Hülfe  angewendet  wird  und 
der  deshalb  eine  unsichere  Hülfe  mit  allen  Kräften  auf- 
sucht, weil  seine  ganze  Hoffnung  darauf  beruht.  Denn 
alles  das,  welchem  die  Menge  nachjagt,  trägt  nicht  allein 
nichts  zur  Erhaltung  unseres  Wesens  bei,  sondern  ist 
vielmehr  ein  Hindernis  und  oft  die  Ursache  des  Untergangs 
derjenigen,  welche  dergleichen  besitzen,*)  aber  immer 
die  Ursache  des  Untergangs  derjenigen,  welche  von  der- 
gleichen besessen  werden.  '') 

In  vielen  Fällen  haben  Einzelne  um  ihres  Reichtums 
willen  Verfolgungen  bis  zum  Tode  erlitten;  Andere  haben 
in  der  Erwerbung  von  Reichtümern  sich  so  vielen  Ge- 
fahren ausgesetzt,  dass  sie  endlich  ihre  Thorheit  mit  dem 
Leben  gebüsst  haben.  Ebenso  zahlreich  sind  die  Bei- 
spiele, dass  die,  welche  nach  Ehren  strebten  oder  sie  ver- 
teidigten, elend  umgekommen  sind  und  unzählig  sind  end- 
lich die  Fälle,  wo  Ausschweifungen  in  sinnlicher  Lust 
einen  frühzeitigen  Tod  herbeigeführt  haben.  Diese  Uebel 
scheinen  daher  gekommen,  dass  alles  Glück  oder  Unglück 
nur  in   der  Beschaffenheit  des  Gegenstandes  liegt,   dem 

*)  Dies  ist  noch  genauer  darzulegen. 


Das  höchste  Gut.  5 

""*?. "?.\P^^^ ?°ux"i^* .  ^«®°°   '''^^«°   dessen,  was  man 
nicht  liebt,  entsteht  kein  Streit,  betrübt  man  sich  nicht 
wenn  es  untergeht,  ärgert  man  sich  nicht,  wenn  ein  An- 
derer es  hat  und  dessentwegen  entsteht  keine  Furcht  und 
kein  Hass,  mit  einem  Wort,  keine  Gemütsbewegung:  wäh- 
rend dies  alles  für  Dinge  eintritt,   die  man  liebt  und  die 
vergänglich    sind;  dazu    gehören   aber  alle    die  oben  ffe- 
nannten.   Dagegen  erfüllt  die  Liebe  zu  einem  ewigen  und 
iiiiendlichen  Gegenstand  die  Seele  mit  Frohsinn,  und  solche 
Liebe  ist  frei  von  aller  Traurigkeit;  deshalb  ist  sie  höchst 
begehrenswert  und  mit  allen  Kräften  zu  erstreben.   Indes 
habe   ich   nicht   ohne  Grund   oben  die  Worte  beigefüffl- 
„wofern  ich  nur  ganz  es  zu  tiberlegen  vermöchte".   Denn 
trotz   dem,    dass   ich  dies  alles  in  meiner  Seele  klar  er- 
kannte, konnte  ich  doch  deshalb  mich  nicht  ganz  von  dem 
Geize,  von  der  Sinnenlust  und  von  der  Ruhmsucht  be- 
freien. ^) 

Nur  so  viel  bemerkte  ich,  dass  meine  Seele,  so  lan^e 
sie   in    solchen   Gedanken   sich   hielt,  jene  Dinge  verab- 
scheute und  ernstlich  sich   der  neuen  Lebenseinrichtung 
zuwendete.     Dies  war  mir  ein  grosser  Trost,  da  ich  sah 
dass  diese  Uebel  nicht  der  Art  waren,  um  jedem  Heil- 
mittel zu  trotzen.     Allerdings  waren   anfangs   solche  Zu- 
stände nur  von  kurzer  Dauer  und  selten;  allein  mit  der 
steigenden  Erkenntnis  des  wahren  Gutes  wurden  sie  häu- 
figer und  länger;  namentlich  als  ich  eingesehen  hatte,  dass 
der  Erwerb  von   Gold   oder  Sinnenlust  oder  Ruhm   nur 
so  lange  schädlich  ist,  als  sie  um  ihrer  selbst  willen  und 
nicht  als  blosse  Mittel  ftir  anderes  gesucht  werden.    Strebt 
man  nach  ihnen  nur  als  Mittel,  so  findet  ein  Masshalten 
statt  und  sie  schaden  nicht,  sondern  helfen  viel  zu  dem 
Ziele,  für  das  man  sie  sucht,  wie  ich  an  seiner  Stelle  dar- 
legen  werde.  ^) 

Hier  will  ich  nur  kurz  sagen,  was  ich  unter  dem 
wahren  Gut  verstehe  und  was  zugleich  das  höchste  Gut 
ist.  Um  dies  recht  einzusehen,  halte  man  fest,  dass  das 
Gute  und  Schlechte  nur  beziehungsweise  ausgesagt  wird. 
Deshalb  kann  derselbe  Gegenstand  je  nach  Unterschied 
der  Beziehung  gut  und  schlecht  genannt  werden,  und 
ebenso  vollkommen  und  unvollkommen,  ^b)  Nichts,  an 
sich,  in  seiner  Natur  betrachtet,  kann  vollkommen  oder 
unvollkommen   genannt  werden;  insbesondere  wenn  man 


6 


Der  Weg  zum  höchsten  Gut. 


erkannt  hat,  dass  alles,  was  geschieht,  nach  einer  ewigen 
Ordnung  und  festen  Naturgesetzen  geschieht.    Allein  der 
Mensch  in    seiner   Schwäche   kann  mit  seinen   Gedanken 
diese  Ordnung  nicht  erfassen  und  deshalb  erdenkt  er  sich 
einstweilen  eine  andere  menschliche  Natur,  die  viel  fester 
ist   als   die  seine.    Da  er  nun  nichts  sieht,  was  der  Er- 
langung einer  solchen  entgegentreten  könnte,  so  treibt  es 
ihn  zur  Aufsuchung  von  Mitteln,  die  ihm  zu  einer  solchen 
Vollkommenheit  verhelfen  und  jedes  anscheinend  dazu  ge- 
eignete Mittel  gilt  ihm  für  ein  wahres  Gut;  als  höchstes 
Gut   aber   die  Erlangung   und    der  Genuss  einer  solchen 
Natur  für  sich  und  womöglich  auch  für  die  anderen.  Wie 
diese  Natur  beschaffen,  werde  ich  an  seinem  Orte  nach- 
weisen; sie  ist  nämlich*)  die  Erkenntnis  der  Einheit,  in 
der  die  Seele  sich  mit  der  ganzen  Natur  ^^)  befindet.  Dies 
ist  also  das  Ziel,  nach  dem  ich  strebe;  ich  will  eine  solche 
Natur  erwerben;  d.  h.  es  gehört  zu  meinem  eigenen  Glück, 
zu  suchen,  dass  viele  andere  auch  so,  wie  ich  denken  und 
dass  deren  Wissen  und  Begehren  mit  meinem  Wissen  und 
Begehren  übereinstimme. n)    Um  dies  herbeizuführen,**) 
muss  man  von  der  Natur  so  viel  einsehen,   als  nötig  ist, 
um    einen   solchen  Zustand   zu   erlangen   und   dann  eine 
solche  Gesellschaft  bilden,  wie  erforderlich  ist,  damit  mög- 
lichst viele  möglichst   leicht  und  sicher  dahin  gelangen. 
Ferner  hat  man  sich  der  Moralphilosophie  und  der  Lehre 
von   der  Erziehung  der  Knaben  zu  befleissigen  und  weil 
die  Gesundheit  wesentlich   zur   Erreichung   dieses   Zieles 
beiträgt,  damit  die  ganze  Arzneiwissenschaft  zu  verbinden. 
Auch  die  Mechanik  darf  nicht  übergangen  werden,  weil 
vieles  Schwere  durch  die  Kunst  leicht  gemacht  wird  und 
man  viel  Zeit  und  Anstrengung  im  Leben  sich  dadurch 
ersparen  kann.  12)    Vor  allem  aber  ist  ein  Weg  zur  Ver- 
besserung des  Verstandes  aufzusuchen,  auf  dem  er,  so  viel 
im  Anfang  es  angeht,  gereinigt  wird,  damit  er  die  Dinge 
ohne   Irrtum    sicher    und    so    gut  als  möglich  erkenne. 

*)  Dies  wird  an  seinem  Orte  ausführlicher   erklärt 

werden. 

**)  Ich  bemerke ,  dass  es  mir  hier  nur  darauf  an- 
kommt, die  zu  meinem  Zwecke  nötigen  Wissenschaften 
aufzuzählen,  ohne  dass  ich  mich  um  ihre  Reihenfolge 
kümmere. 


Lebensregeln  für  die  Zwischenzeiten.  7 

Man  kann  hieraus  entnehmen,  dass  ich  alle  Wissenschaften 
nach  einem  Ziele*)  und  Endzweck  hinleiten  will  näm- 
lich um,  wie  gesagt,  znr  höchsten  menschlichen  Voll- 
kommenheit zu  gelangen.  Deshalb  ist  alles,  was  in  den 
Wissenschaften  dieses  Ziel  nicht  fördert,  als  unnütz  zu 
verwerfen,  d.  h.  um  es  mit  einem  Worte  zu  saffen,  alle 
^."f/®  ^?°^^""F°  "°^  Gedanken  sind  auf  dieses  Ziel  zu 
ric!iten.i3)  Indes  muss  man  leben,  während  man  sorfft 
dieses  Ziel  zu  erreichen  und  sich  müht,  den  Verstand  in 
die  rechte  Bahn  zu  leiten ;  deshalb  muss  ich  vor  allem 
diejenigen  Regeln  für  das  Leben  vorausschicken,  welche 
ich  als  gute  annehme;  nämlich  die  folgenden :  i4) 

^  ^1,^^*  ?«.  sprechen,  dass  die  Menge  es  fassen  kann 
lind  alle  Arbeiten  zu  verrichten,  die  uns  an  der  Erreichung 
des  Zieles  nicht  hindern.  Denn  wenn  man  der  Fassunffs- 
kraft  der  Menge  möglichst  sich  fügt,  so  kann  man  viel 
Vorteil  davon  haben;  auch  macht  man  damit  die  Menschen 
geneigt,  dass  sie  die  Wahrheit  gern  hören  mögen 
G  1  ?^  ^^J^  Vergnügen  insoweit  nachzugehen,  als  es  ohne 
Schaden  für  die  Gesundheit  zulässig  ist. 

3)  Endlich  sich  so  viel  an  Geld  und  anderen  Dingen 
zu  erwerben ,  als  zur  Erhaltung  des  Lebens  und  der  Ge- 
sundheit sowie  zur  Befolgung  der  Sitten  des  Landes  er- 
forderlich ist,  soweit  diese  nicht  unserem  Ziele  entgegen- 

Nach  Peststellung  dessen,  rüste  ich  mich  zunächst  zu 
dem,  was  vor  allem  zu  thun  ist,  nämlich  zur  Verbesserunff 
des  Verstandes,  damit  er  geschickt  werde,  die  Dinge  so 

?^  m  TT°°®? '  ^^*®  ®^  ^"^  Erreichung  meines  Zieles  nötiff 
18t.  ^ö)  Um  dies  zu  bewirken,  verlangt  die  natürliche  Ord- 
nung dass  ich  alle  Arten  der  Erkenntnis  durchgehe,  mit- 
tels deren  ich  bisher  etwas  als  unzweifelhaft  behauptet 
Oder  verneint  habe ,  damit  ich  dann  die  beste  Art  aus- 
wähle und  mit  der  Erkenntnis  meiner  Kräfte  und  Natur, 
die  ich  vervollkommnen  will,  beginne. 

Wenn  ich  genau  acht  gebe,  können  diese  Erkenntnis- 
arten auf  vier  Hauptarten  zurückgeführt  werden. 

L   Es  giebt  ein  Wissen,  was  man  durch  Hören  oder 

*)  Es  besteht  für  die  Wissenschaften  ein  Ziel,  auf  das 
flie  alle  hm  zu  führen  sind. 


/■- 


i| 


8 


Die  vier  Wissensarten. 


vermittelst  eines  sogenannten  körperlichen   Zeichens  er- 
langt. ^^) 

il  Es  giebt  ein  Wissen,  was  man  aus  einer  unbe- 
stimmten Erfahrung  erlangt,  d.  h.  aus  einer  nicht  durch 
den  Verstand  bestimmten  Erfahrung  und  die  nur  so  heisst, 
weil  es  sich  zufällig  so  macht  und  weil  kein  anderer  Fall 
vorliegt,   der  ihr  entgegensteht,  so  dass  sie  uns  deshalb 

als  zuverlässig  gilt.^'^)  ,     „t         j     r. 

in.  Es  giebt  ein  Wissen,  wo  das  Wesen  des  Gegen- 
standes aus  einem  anderen  Gegenstand  geschlossen  wird, 
aber  dies  nicht  vollkommen  entsprechend  geschieht.  Dies 
ist  der  Fall*j  wenn  man  von  einer  Wirkung  auf  die  Ur- 
sache schliesst,  oder  von  einem  Allgemeinbegriflfe  die  stete 
Verbindung  einer  Eigenschaft  ableitet. 

IV.  Es  giebt  endlich  ein  Wissen,  wo  der  Gegenstand 
nur  durch  sein  Wesen  oder  durch  die  Erkenntnis  seiner 
nächsten  Ursache  gewusst  wird.i^) 

Dies  alles  will  ich  durch  Beispiele  erläutern.  Nur 
vom  Hören  weiss  ich  meinen  Geburtstag  und  wer  meine 
Eltern  gewesen  und  ähnliches,  worüber  ich  nie  gezweifelt 
habe. 20)  Durch  unbestimmte  Erfahrung  weiss  ich,  dass 
ich  sterben  werde;  ich  behaupte  dies,  weil  ich  andere  mir 
gleiche  Wesen  habe  sterben  sehen,  obgleich  nicht  alle  den- 
selben Zeitraum  hindurch  gelebt  haben,  noch  an  derselben 
Krankheit  gestorben  sind.  Auch  weiss  ich  aus  einer 
solchen  schwankenden  Erfahrung,  dass  Oel  ein  für  den 
Unterhalt  der  Flamme  passendes  Nährmittel  ist;  dass  das 
Wasser  geeignet  ist,  die  Flamme  zu  verlöschen,  dass  der 
Hund  ein  bellendes  Tier  ist  und  dass  der  Mensch  em  ver- 


*;  Wenn  dies  geschieht,  weiss  man  von  der  Ursache 
nicht  mehr,  als  man  in  der  Wirkung  betrachtet.  Es  er- 
hellt dies  klar  daraus,  dass  die  Ursache  in  solchem  Falle 
nur  in  den  allgemeinsten  Ausdrücken  erklärt  wird,  näm- 
lich so :  ^Folglich  giebt  es  Etwas"  oder  „folglich  giebt  es 
ein  Vermögen**  u.  s.  w.;  oder  daraus,  dass  die  Ursaclie 
verneinend  bezeichnet  wird,  wie:  „Folglich  ist  Dies  oder 
Jenes  nicht.**  Im  zweiten  Falle  wird  der  Ursache  wegen 
der  Wirkung  Etwas  beigelegt,  was  mau  klar  einsieht,  wie 
ich  an  einem  Beispiele  zeigen  werde;  indes  betrifft  dies 
nur  Eigenschaften,  aber  nicht  das  eigentümliche  Wesen 
des  Gegenstandes.  « 


Beispiele  zu  den  vier  Wissensarten.  9 

nünftiges  Geschöpf  ist  und  so  weiss  ich  beinah  alles,  was 
zum  Leben  nötig  ist.  21)  Vermittelst  eines  anderen  Gegen- 
standes  schliesst  man  in  dieser  Weise: 22)    Nachdem  man 
klar  erkannt  hat,  dass  man  einen  solchen  Körper  empfindet 
und  keinen  anderen,  so  folgert  man  daraus  klar,  dass  die 
Seele  mit  dem  Körper  vereint*)  ist,  welche  Vereinung  die 
Ursache  dieser  Empfindung  ist,  allein**)  wie  diese  Empfin- 
dung  und  Vereinung   beschaffen    ist,    kann  man  daraus 
nicht  vollständig  erkennen.    Ebenso  folgert  man,  wenn 
man   die  Natur  des  Sehens  erkannt  und  die  Eigenschaft, 
wonach   ein  Gegenstand   in  der  Ferne  kleiner  als  in  der 
Nähe  erscheint,  bemerkt  hat,  dass  die  Sonne  grösser  ist, 
als  sie  erscheint  und  anderes  Aehnliche.  23)  Endlich  wird 
Etwas  nur  durch  sein  Wesen  gewusst,  2^)  wenn  ich  dar- 
aus, dass  ich  Etwas  erkannt  habe,  weiss,  was  es  heisst, 
etwas  zu  erkennen,  oder,  wenn  ich  aus  der  Erkenntnis 
des  Wesens   der   Seele  weiss,   dass   sie  mit  dem  Körper 
vereint  ist.    Vermöge  desselben  Wissens  weiss  man,  dass 
2  und  3  zusammen  5   sind  und  dass,  wenn   zwei  Linien 
einer  dritten  parallel  sind,  sie  es  auch  untereinander  sind ; 
u.  s.  w.   Doch  ist  es  nur  Weniges,  was  ich  bis  jetzt  durch 
solches  Wissen  habe  erkennen  können. 

Damit  man  dies  alles  noch  besser  verstehe,  benutze 


*)  Aus  diesem  Beispiel  ist  das  eben  Gesagte  klar  zu 
ersehen.  Denn  von  dieser  Vereinung  kennen  wir  nur  diese 
Empfindung  selbst,  also  nur  die  Wirkung,  aus  der  wir  die 
Ursache,  von  der  wir  nichts  einsehen,  folgern. 

**)  Ein  solcher  Schluss  ist  trotz  seiner  Gewissheit, 
doch  nur  mit  grosser  Vorsicht  als  zuverlässig  zu  nehmen. 
Sonst  gerät  man  sofort  in  Irrtümer;  denn  wenn  man  die 
Dinge  so  abstrakt  und  nicht  nach  ihrem  wahren  Wesen 
auffasst,  wird  man  sofort  durch  die  Einbildungskraft  ver- 
wirrt und  das,  was  an  sich  Eines  ist,  stellen  sich  dann 
die  Menschen  bildlich  als  vielfach  vor.  Sie  geben  den 
Begriffen,  die  sie  abstrakt,  gesondert  und  verworren  auf- 
fassen, Namen  und  benutzen  diese  Namen  zur  Bezeich- 
nung von  anderen,  ihnen  bekannten  Dingen.  Daher  kommt 
es,  dass  sie  sich  diese  Dinge  ebenso  in  der  Einbildungs- 
kraft vorstellen,  wie  sie  es  mit  denen  gewöhnt  sind,  denen 
sie  zuerst  diesen  Namen  gegeben  haben. 

Spinoza'ß  Abb.  üb.  Verbesser.  d.  Verstandes.  3 


10       Die  Mittel  zur  Erreichung  der  besten  Wissensart. 

ich  ein  einziges  Beispiel,  nämlich  folgendes:  Es  sind  drei 
Zahlen  gegeben;  man  sucht  eine  vierte,  die  sich  zur  dritten 
verhält,  wie  die  zweite  zur  ersten.    Hier  pflegen  die  Kauf- 
leute zu  sagen,  dass  sie  wissen,  wie  es  zu  machen  sei, 
um  diese  vierte  Zahl  zu  finden;  sie  haben  nämlich  jenes 
Verfahren  noch  nicht  vergessen,  das  sie  nur  so  und  ohne 
Beweis  von  ihrem  Lehrern  vernommen  haben.  2^)  Andere 
bilden  dagegen  aus  der  Probe  mit  einfachen  Zahlen  einen 
allgemeinen  Grundsatz;  wenn  nämlich,  wie  bei  den  Zahlen 
2,  4,  3,  6,   die  vierte  Zahl   selbstverständlich  ist  und  sie 
finden,  dass,  wenn  man  die  zweite  mit  der  dritten  multi- 
pliziert und  das  Produkt  mit  der  ersten  dividiert,  als  Quotient 
die  6  sich  ergiebt  und  sie  mithin  sehen,  dass  so  dieselbe 
Zahl  erlangt  werde,  von  der  sie  auch  ohnedem    wussten, 
dass  sie  die  betrefifende  Proportionalzahl  sei,  so  schliessen 
sie,  dass  dieses  Verfahren  für  die  Auffindung  der  vierten 
Proportionalzahl  überhaupt  das  richtige  sei. 26)  Dagegen 
wissen  die  Mathematiker  kraft  des  Beweises  bei  Euklid 
Lehrs.  19  Buch  7,   welche  Zahlen   einander  proportional 
sind;  sie  wissen  es  nämlich  aus  der  Natur  der  Proportion 
und  ihrer  Eigentümlichkeit,  dass  das  Produkt  der  ersten 
mit  der  vierten  Zahl  gleich  ist  dem  Produkt  der  zweiten  mit 
der    dritten   Zahl.  27)     Dennoch  sehen  sie  aber  die  ent- 
sprechende Proportionalität   der   gegebenen  Zahlen   nicht 
und  wenn  sie  sie  sehen,  so  geschieht  es  nicht  vermöge  jenes 
Lehrsatzes,   sondern   in   anschaulicher  Weise,   ohne  dass 
eine  Rechnung  aufgestellt  wird.^s) 

Um  aus  diesen  Arten  des  Wissens  die  beste  zu  wählen, 
muss  ich  die  notwendigen  Mittel  für  Erreichung  meines 
Zweckes  kurz  aufzählen;  sie  sind: 

I.  Unsere  Natur,  die  wir  vervollkommnen  wollen, 
genau  zu  kennen  und  zugleich  so  viel  von  der  Natur  der 
Dinge,  als  nötig  ist. 

U.  Daraus  haben  wir  die  Unterschiede,  die  Ueber- 
einstimmung  und  die  Gegensätze  der  Dinge  richtig  abzuleiten. 

III.  Dass  wir  richtig  erkennen,  was  die  Dinge  erleiden 
können,  und  was  nicht. 

IV.  Dass  dies  mit  der  menschlichen  Natur  verglichen 
werde.  Daraus  wird  sich  leicht  ergeben,  zu  welcher  Voll- 
kommenheit der  Mensch  gelangen  könne. 


Prüfung  der  vier  Wissens-Arten. 


11 


Nach  diesen  Erwägungen  haben  wir  zu  sehen,  welche 
Art  des  Wissens  wir  zu  erwählen  haben.  29) 

Was  nun  die  erste  Art  anlangt,  so  ist  es  selbstver- 
ständlich, dass  man  durch  Hörensagen,  abgesehen  von  der 
Unsicherheit  in  solchen  Fällen,  das  Wesen  der  Gegen- 
stände nicht  erfassen  kann,  wie  mein  Beispiel  ergiebt. 
Da,  wie  sich  später  ergeben  wird,  das  Dasein  einer  ein- 
zelnen Sache  nur  gewusst  wird,  wenn  ihr  Wesen  erkannt 
ist,  so  ergiebt  sich  klar,  dass  alle  solche  Gewissheit,  die 
man  vom  Hören  hat,  nicht  zur  Erkenntnis  gehört.  Von 
dem  blossen  Hören  kann  Niemand  bestimmt  werden,  wenn 
nicht  die  eigene  Einsicht  vorausgegangen  ist. 

Auch  von  der  zweiten  Art  des  Wissens*)  kann 
nicht  gesagt  werden,  dass  sie  den  Begriff  jener  Proportion, 
die  gesucht  wird,  besitze.  Dieses  Wissen  ist  an  sich  sehr 
unsicher  und  ohne  Ziel,  und  Niemand  wird  auf  diese  Art 
etwas  mehr,  als  blos  die  Accidenzen  von  den  natürlichen 
Dingen  erfassen,  die  ohne  vorgängige  Erkenntnis  ihres 
Wesens  nie  klar  erkannt  werden  können.  Deshalb  ist 
auch  diese  Art  des  Wissens  auszuschliessen.     - 

• 

Von  der  dritten  Art  ist  gewissermassen  zu  sagen, 
dass  man  dabei  den  Begriff  der  Sache  habe  und  auch 
ohne  Gefahr  eines  Irrtums  schliesse;  dennoch  ist  sie  an 
sich  kein  Mittel  für  die  Erlangung  unserer  Vollkommenheit. 

Nur  die  vierte  Art  umfasst  vom  Gegenstande  das 
ihm  entsprechende  Wesen,  und  zwar  ohne  Gefahr  eines 
Irrtums;  deshalb  ist  von  ihr  am  meisten  Gebrauch  zu 
machen.  Wie  aber  zu  verfahren  ist,  um  eine  unbekannte 
Sache  mit  dieser  Art  des  Wissens  einzusehen,  und  wie 
dies  am  einfachsten  zu  erlangen  ist,  dies  auseinanderzu- 
setzen soll  meine  Sorge  sein.^i)  Nachdem  wir  nämlich 
ermittelt  haben,  welches  Wissen  uns  not  thut,  ist  der 
Weg  und  das  Verfahren  darzulegen,  mittelst  welchem  die 
zu  erkennenden  Gegenstände  mittelst  dieses  Wissens  er- 
kannt werden  können.  Zu  dem  Ende  ist  zunächst  zu  be- 
denken, dass  hier  keine  Untersuchung  ohne  Ende   ver- 


*)  Hier  werde  ich  etwas  ausführlicher  über  die  Er- 
fahrung handeln  und  das  Verfahren  der  Empiriker  und 
der  neueren  Philosophie  prüfen,  ^o) 

8* 


12        Das  Verfahren  zur  Gewinnung  des  besten  Wissens. 

langt  wird;  denn  für  Auffindung  des  besten  Verfahrens 
zur  Erforschung  der  Wahrheit  bedarf  es  nicht  wieder 
eines  andern  Verfahrens,  um  dieses  Verfahren  zu  finden, 
und  um  dieses  zweite  Verfahren  zu  finden,  bedarf  es 
keines  dritten  und  es  geht  nicht  so  ohne  Ende  fort;  denn 
auf  diesem  Wege  würde  man  nie  zur  Erkenntnis  der 
Wahrheit,  ja  überhaupt  zu  keiner  Erkenntnis  gelangen. 32) 
Es  verhält  sich  vielmehr,  wie  mit  den  körperlichen  In- 
strumenten, bei  denen  man  dieselben  Gründe  geltend 
machen  könnte.  Denn  um  das  Eisen  zu  schmieden,  be- 
darf man  eines  Hammers  und  um  einen  Hammer  zu 
haben,  muss  er  gemacht  werden;  dazu  sind  aber  ein 
anderer  Hammer  und  andere  Instrumente  nötig,  und  für 
deren  Erlangung  sind  wieder  andere  Instrumente  nötig, 
und  so  fort  ohne  Ende.  In  dieser  Weise  würde  man 
vergeblich  zu  beweisen  suchen,  dass  die  Menschen  keine 
Macht  haben,  das  Eisen  zu  schmieden.  Vielmehr  haben 
die  Menschen  im  Anfange  mit  ihren  angeborenen  In- 
strumenten nur  das  Leichteste  mühsam  und  unvollkommen 
zustande  bringen  können ;  demnächst  machten  sie  Schwereres 
mit  weniger  Mühe  und  besser ;  so  gelangten  sie  allmählich 
von  den  einfachsten  Arbeiten  zu  den  Instrumenten,  und 
von  diesen  zu  anderen  Werken  und  Instrumenten,  und 
damit  endlich  dahin,  dass  sie  so  Vieles  und  Schweres  mit 
leichter  Mühe  vollbringen.  Ebenso  macht  auch  der  Ver- 
stand durch  seine  angeborene  Kraft*)  sich  günstige  In- 
strumente, durch  welche  er  neue  Kraft  zu  neuen  geistigen 
Werken**)  erlangt,  und  aus  diesen  Werken  erlangt  er 
neue  Instrumente  oder  Macht,  weiter  zu  forschen ;  in  dieser 
Art  schreitet  er  allmählich  fort,  bis  er  den  Gipfel  der 
Weisheit  erreicht.  Dass  der  Verstand  sich  so  verhalte, 
ist  leicht  einzusehen,  wenn  man  nur  weiss,  wie  das  Ver- 
fahren zur  Erforschung  der  Wahrheit  ist  und  welches 
jene  angeborenen  Instrumente  sind,  deren  er  allein  bedarf, 


*)  Unter  der  angeborenen  Kraft  verstehe  ich  das,  was 
in  uns  von  äussern  Ursachen  nicht  bewirkt  wird,  und 
was  ich  später  in   meiner  Philosophie    erklären  werde. 

**)  Ich  nenne  es  hier:  Werke,  und  werde  in  meiner 
Philosophie  erklären,  was  sie  sind. 


Das  Wissen  vom  Wissen. 


13 


um  daraus  andere  Instrumente  für  den  weitern  Fortschritt 
zu  bereiten.    Um  dies  darzulegen,  gehe  ich  so  vor- 

Die  wahre  Vorstellung*,  (denn  wir  haben  eine  wahre 
Vorstellung)  ist  von  ihrem   Vorgestellten  unterschieden; 
denn   der  Kreis   ist  nicht  die  Vorstellung   des  Kreises' 
letztere   ist   nicht  etwas,    was   einen  Umring  und  einen 
Mittelpunkt  hat,  wie  der  Kreis  und  ebenso  ist  die  Vor- 
stellung des  Körpers  nicht  der  Körper  selbst.    Ist  hier- 
nach die  Vorstellung  von  ihrem  Gegenstande  verschieden, 
so  wird   sie  auch   selbst   etwas  Erkennbares  sein;   d.  h. 
die  Vorstellung  nach  ihrem  seienden  Inhalte  kann  der 
Gegenstand  eines  andern  nur  gewussten  Inhaltes  sein  und 
auch  dieser  letztere  mit  seinem  gewussten  Inhalte  wird 
an  sich  betrachtet  etwas  Seiendes  und  Erkennbares  sein, 
und  so  fort  ohne  Ende. 33)    So  ist  z.  B.  Peter  ein  Seien' 
des;    die  wahre  Vorstellung  des  Peter  enthält  das 
gewusste    Wesen    des   Peter    und    ist    an    sich   etwas 
beiendes,    was   von   Peter   selbst   ganz   verschieden    ist 
Da  sonach  die  Vorstellung  des  Peter  etwas  Wirkliches 
^t,  was  sein  besonderes  Sein  hat,    so  ist  sie  auch  etwas 
Wissbares,  d.  h.  sie  ist  der  Gegenstand  einer  andern  Vor- 
stellung,   welche  in  sich  Alles   das  in  der  Wissensform 
haben  wird,  was  die  Vorstellung  des  Peter  als  seiende 
an  sich  hat.     Ebenso   hat  die  Vorstellung  von  der  Vor- 
stellung  des  Peter  wiederum  ihr  Sein,  was  wieder  den 
Gegenstand  für  eine   andere  Vorstellung  abgeben  kann 
und  so  fort  ohne  Ende.    Jeder  kann  selbst  die  Erfahrung 
davon  machen,  wenn  er  bemerkt,  dass  er  weiss,  was  Peter 
ist  und  auch  weiss,  dass  er  weiss  und  auch  weiss,  dass 
er   weiss,    er    wisse;    u.  s.   w.     Daraus    erhellt,    dass 
zu  dem  Wissen  des  Wesens  des  Peter  es  nicht  nötig  ist, 
auch    die    Vorstellung   des   Peter   zu    wissen    und   noch 
weniger  die  Vorstellung  von  der  Vorstellung  des  Peter; 
deshalb  kann  ich  ebenso  sagen,   dass  zu  meinem  Wissen 
das  Wissen  von  meinem  Wissen  nicht  nötig  ist  und  noch 
weniger  das   Wissen  von  dem  Wissen  meines   Wissens; 


*;  Ich  bemerke,  dass  ich  hier  nicht  bloss  das  eben 
Gesagte  darlegen,  sondern  auch  zeigen  will,  dass  ich  bis 
hierher  richtig  vorgegangen  bin,  sowie  zugleich  manches 
andere  Wissenswerte. 


14 


Die  Wahrheit  bedarf  keines  Kennzeichens. 


es  ist  dies  so  wenig  erforderlich,  als  zum  Wissen  des 
Wesens  des  Dreiecks,  das  Wissen  des  Wesens  des  Kreises*) 
nötig  ist.  Allein  bei  diesen  Vorstellungen  verhält  es  sich 
umgekehrt;  denn  um  zu  wissen,  was  ich  weiss,  muss  ich 
notwendig  vorher  wissen. 3^)  Hieraus  erhellt,  dass  die 
Gewissheit  nur  der  gewusste  Inhalt  selbst  ist;  d.  h.  die 
Weise  in  der  man  den  seienden  Inhalt  empfindet,  ist  die 
Gewissheit  selbst.  Daraus  erhellt  wiederum,  dass  es  zur 
Gewissheit  der  Wahrheit  keines  andern  Zeichens  bedarf, 
als  die  wahre  Vorstellung  zu  haben ;  denn  es  ist,  wie  ge- 
zeigt, nicht  nötig,  dass  man  wisse,  man  wisse  von  seinem 
Wissen.  Hieraus  erhellt  wiederum,  dass  nur  Derjenige 
wissen  kann,  was  die  höchste  Gewissheit  ist,  welcher  die 
entsprechende  Vorstellung  oder  den  g  e  w  u  s  s  t  e  n  Inhalt 
eines  Gegenstandes  hat :  denn  die  Gewissheit  und  der  ge- 
wusste Inhalt  sind  dasselbe. 

Wenn  somit  die  Wahrheit  keines  Kennzeichens  be- 
darf, sondern  der  Besitz  des  gewussten  Inhaltes  der  Dinge, 
oder  was  dasselbe  ist,  der  Besitz  der  Vorstellungen  ge- 
nügt, um  allen  Zweifel  zu  heben,  so  erhellt,  dass  es  nicht 
das  rechte  Verfahren  ist,  wenn  man  nach  dem  Erwerb 
der  Vorstellungen  demnächst  nach  einem  Kennzeichen  tür 
ihre  Wahrheit  sucht;  sondern  das  richtige  Verfahren  ist 
eben  das,  dass  man  die  Wahrheit  selbst  oder  den  Inhalt 
der  Dinge  in  der  Wissensform  oder  die  Vorstellungen 
(was  Alles  dasselbe  bezeichnet)  in  gehöriger  Weise  auf- 
sucht.**) 36) 

Allerdings  muss  das  Verfahren  auch  über  das  Schliessen 
und  die  Einsicht  sich  verbreiten ;  3?)  d.  h.  das  Verfahren 
ist  nicht  das  Schliessen  selbst,  um  dadurch  die  Ursachen 
der  Dinge  einzusehen,   noch  weniger  ist  es  schon  diese 


*)  Ich  bemerke,  dass  ich  hier  nicht  ermittle,  wie  das 
erst  gewusste  Wesen  uns  angeboren  ist.  Dies  gehört  zur 
Erforschung  der  Natur,  wo  dies  ausführlicher  erklärt  und 
zugleich  gezeigt  wird,  dass  es  neben  der  Vorstellung  kein 
besonderes  Bejahen  oder  Verneinen  und  auch  keinen 
Willen  giebt.35) 

**)  Was  ein  Suchen  innerhalb  der  Seele  ist,  wird  in 
meiner  Philosophie  erklärt. 


Die  deduktire  Methode. 


15 


Einsicht  der  Ursachen  der  Dinge;  vielmehr  besteht  das 
Verfahren   nur   in  dem   Wissen,    was   eine   wahre  Vor- 
stellung ist,  indem  er  sie  von  andern  Vorstellungen  unter- 
scheidet, und  ihre  Natur  ermittelt,  um  dadurch  die  Kraft 
unseres  Verstandes  kennen  zu  lernen   und  unsern  Geist 
so  im  Zaume  zu  halten,  dass  er  nach  dieser  Regel  Alles 
erkenne,  was   überhaupt  erkennbar  ist.    Dies  Verfahren 
lehrt  zugleich  als  Hilfsmittel  gewisse  Regeln   und  sorgt, 
dass    der   Geist    sich    nicht   durch    Unnützes   erschöpfe. 
Hieraus  ist  abzunehmen,  dass  das  Verfahren  nur  in  einer 
rückschauenden    Erkenntnis    oder    in    einer  Vorstellung 
von   einer   Vorstellung  besteht  und   da  eine  Vorstellung 
von  einer  Vorstellung  nicht  eher  möglich  ist,  als  bis  eine 
Vorstellung  gegeben   ist,    so   kann    auch   das   Verfahren 
nicht   eher  beginnen,   als  bis  eine  Vorstellung  gegeben 
ist.  38)     Sonach   wird    dasjenige    das    richtige   Verfahren 
sein,  was  zeigt,   wie  die  Seele  nach  dem  Richtmass  der 
gegebenen   wahren  Vorstellung  zu  leiten   ist.     Da  ferner 
das  Verhältnis  zwischen  zwei  Vorstellungen   dasselbe  ist, 
wie   zwischen    den    seienden    Gegenständen    dieser   Vor- 
stelluDgen,  so  folgt,   dass  die  zurückschauende  Erkennt- 
nis der  Vorstellung  von  einem  aller  vollkommensten  Wesen 
vorzüglicher    ist,    als    die    zuröckschauende    Erkenntnis 
anderer    Vorstellungen;  d.   h.  jenes  Verfahren   wird  das 
vollkommenste  sein,    welches  zeigt,   wie  die   Seele  nach 
dem   Richtmasse    der  gegebenen  Vorstellung    eines  voll- 
kommensten Wesens  zu  leiten  ist.  39) 

Hieraus  ergiebt  sich  leicht,  wie  die  Seele  durch  das 
Wissen  von  Mehrerem  zugleich  neue  Instrumente  gewinnt, 
durch  welche  sie  in  ihrem  Wissen  leichter  fortschreiten 
kann.  Denn  vor  Allem  muss,  wie  aus  dem  Obigen  er- 
hellt, in  uns  eine  wahre  Vorstellung,  als  eingeborenes 
Instrument,  bestehen,  ^o)  mit  deren  Erkenntnis  zugleich  der 
Unterschied  zwischen  einer  solchen  Vorstellung  und  allen 
andern  erkannt  ist.  Hierin  besteht  der  eine  Teil  des 
Verfahrens  und  da  es  von  Natur  klar  ist,  dass  die  Seele 
sich  um  so  besser  kennt,  je  mehr  sie  von  der  Natural) 
kennt,  so  wird  dieser  Teil  der  Methode  um  so  vollkom- 
mener sein,  je  mehr  die  Seele  erkennt  und  dann  vielleicht 
am  vollkommensten,  wenn  die  Seele  sich  zur  Erkenntnis  des 
vollkommensten   Wesens  hinwendet  oder  zurückbeugt.  ^2) 


16    Vorstellung  u.  ihr  Gegenstand  stimmen  im  Inhalte  überein. 

Ferner  erkennt  die  Seele  um  so  besser  ihre  Kräfte  und 
die  Ordnung  der  Natur,  je  mehr  sie  weiss,  und  je  besser 
sie  ihre  Kräfte  erkennt,  desto  leichter  kann  sie  sich  selbst 
leiten  und  sich  Regeln  geben ,  und  je  besser  sie  die  Ord- 
nung der  Natur  erkennt,  desto  leicliter  kann  sie  sich  von 
Unnützem  fern  halten  und  darin  besteht,  wie  erwähnt, 
das  ganze  Verfahren.  Man  nehme  hinzu,  dass  die  Vor- 
stellung sich  in  ihrem  gewussten  Inhalt  ebenso  verhält, 
wie  ihr  Gegenstand  sich  seinem  wirklichen  Inhalte  nach 
verhält.  Gäbe  es  daher  in  der  Natur  Etwas,  was  mit 
andern  Dingen  in  keiner  Verbindung  stände,  so  würde 
dessen  gewusster  Inhalt,  welcher  durchaus  mit  dem  seien- 
den Inhalte  des  Gegenstandes  übereinstimmen  müsste,  mit 
andern  Vorstellungen  ebenfalls*)  in  keiner  Verbindung 
stehen,  d.  h.  man  würde  rücksichtlich  ihrer  nichts  folgern 
können;  und  wenn  umgekehrt  das,  was  mit  Anderem  in 
Verbindung  steht,  wozu  Alles,  was  in  der  Natur  besteht, 
gehört,  erkannt  wird,  so  wird  auch  der  gewusste  Inhalt 
der  Natur  in  derselben  Verbindung  mit  einander  stehen 
und  damit  werden  die  Instrumente  für  den  weitern  Fort- 
schritt sich  vermehren.  *3) 

Dies  war  es,  was  ich  beweisen  wollte.  Ferner  er- 
giebt  sich  aus  dem  letzten  erwähnten  Satz ,  nämlich  dass 
jede  Vorstellung  mit  dem  wirklichen  Wesen  ihres  Gegen- 
standes übereinstimmen  muss,  weiter,  dass,  so  wie  unsere 
Seele  nur  ein  Beispiel  der  Natur  darstellt,  sie  auch  alle 
ihre  Vorstellungen  von  derjenigen  Vorstellung  ableiten 
muss,  welche  den  Ursprung  und  die  Quelle  der  ganzen 
Natur  darstellt;  so  dass  diese  Vorstellung  auch  ihrerseits 
die  Quelle  für  alle  andern  ist. 

Es  fällt  hier  vielleicht  auf,  dass,  nachdem  ich  gesagt, 
das  gute  Verfahren  sei  das,  welches  zeigt,  wie  die  Seele 
nach  dem  Richtmass  der  gegebenen  wahren  Vorstellung 
zu  leiten  sei,  ich  dies  durch  Begründung  zu  beweisen 
suche;  denn  daraus  scheine  zu  folgen,  dass  dieser  Satz 
nicht  durch  sich  selbst  klar  sei.  Man  könnte  deshalb 
fragen,  ob  ich  meine  Begründungen  in  rechter  Weise 
gebe?  Solle  dies  geschehen,  so  müsste  ich  von  einem  ge- 


*j  In  Verbindung  mit  Anderem  stehen,  ist  von  An- 
derem hervorgebracht  werden,  oder  Anderes  hervorbringen. 


Weshalb  hier  eine  Begründung  gegeben  wird.  X7 

gebenen  Begriffe  ausgehen  und   da  dieses  Ausgehen  von 
einem  gegebenen  Begriffe   der   Begründung  bedürfe     so 
müsste  ich  auch  diese  Begründung  wieder  rechtfertigen 
und   dann    letztere   wiederum   und   so    fort   ohne  Ende. 
Hierauf  antworte  ich,  dass,  wenn  Jemand  zufällig  in  Auf- 
suchung der  Wahrheit  so  vorgegangen  wäre,  nämlich  so, 
dass  er  nach  dem  Richtmass  der  wahren  Vorstellung  neue 
Vorstellungen  in  richtiger  Ordnung  erworben  hätte,  so  würde 
er  nie  an  der  Wahrheit*;  seiner  Vorstellungen  gezweifelt 
haben;  denn  die  Wahrheit  offenbart  sich  selbst,  wie  ich 
gesagt  und  Alles  würde  ihm  von  selbst  zugeflossen  sein. 
Allein   dies  geschieht  niemals  oder  nur  selten;    deshalb 
habe  ich  annehmen  müssen,  dass  wir  das,  was  uns  durch 
Zutall  nicht  gewährt  wird,   durch  überlegten  Entschluss 
erreichen   und  dass  zugleich  dabei  erhelle,  wie  wir  zum 
Beweis  der  Wahrheit  und  der  richtigen  Begründung  keiner 
weitern   Instrumente   als    der    Wahrheit   selbst   und   der 
richtigen   Begründung  bedürfen.    Denn  die  richtige  Be- 
gründung habe  ich  durch  richtiges  Begründen  bewiesen 
und    will   versuchen,    dies    noch   weiter   zu   beweisen.**) 
Dazu  kommt,   dass  auf  die3e  Weise  die  Menschen  sich 
auch  an  inneres  Nachdenken  gewöhnen.     Wenn  aber  bei 
Erforschung  der  Natur  selten  die  Untersuchung  in  dieser 
Ordnung  geschieht,  so  liegt  es  an  Vorurteilen,  deren  Ur- 
sachen ich  später  in  meiner  Philosophie  darlegen  werde. 
Auch  gehören  dazu,  wie  ich  später  zeigen  werde,  erheb- 
liche und  scharfe  Unterscheidungen,  welche  viele  Mühe 
machen.    Auch  kommt  es  von  den  menschlichen  Zuständen, 
die,    wie   gezeigt,    sehr   veränderlich   sind;  andere  Ur- 
sachen, die  noch  vorhanden  sind,  lasse  ich  unerörtert.  *5) 
Wenn  ich  vielleicht  gefragt  werde,  warum  ich  nicht 
selbst  sofort  die  Wahrheiten   der  Natur  auf  diese  Weise 
dargelegt  habe  (da  die  Wahrheit  sich  selbst  offenbare),  so 
erwidere  ich  und  erinnere,  dass  man  einzelne  Sätze,  wegen 
Ihres  anscheinenden  Widersinnes,  nicht  sofort  als  falsch 
verwerfen  möge;  man  bedenke  vielmehr  zunächst  die  Ord- 
nung, in  der  ich  sie  beweise  und  es  wird  sich  dann  er- 
geben,   dass  ich   die    Wahrheit  getroffen  habe;   deshalb 
nabe  ich  dies  vorausgeschickt. 

*)  Wie  auch  ich  hier  nicht  an  der  Wahrheit  des  hier 
gesagten  zweifele. 


18 


Die  Skeptiker. 


Sollten  demnächst  Skeptiker  über  die  erste  Wahrheit 
selbst  und  über  Alles,  was  ich  nach  Anleitung  derselben 
ableite,  noch  Zweifel  behalten,  so  sprechen  sie  entweder 
gegen  ihre  Überzeugung,  oder  ich  muss  einräumen,  dass 
es  Menschen  giebt,  die  von  Natur  oder  durch  Vorurteile, 
d.  b.   durch    äussere   Anlässe    mit  Blindheit  des  Geistes 
geschlagen   sind.    Solche   Leute   wissen   von   sich  selbst 
nichts  und  wenn  sie  Etwas  behaupten  oder  bezweifeln,  so 
wissen  sie  nicht,    ob  sie  behaupten  oder  zweifeln;    sie 
sagen,  dass  sie  nichts  wissen  und  selbst  diese  Sätze  wissen 
sie    wie  sie  sagen,  nicht  und  auch  dies  behaupten  sie 
nicht  unbedingt,  weil  sie  das  Eingeständnis  scheuen,  dass 
sie  bestehen,  wenn  sie  sagen,  dass  sie  nichts  wissen;  des- 
halb müssen  sie  zuletzt  schweigen,  damit  sie  nicht  doch 
Etwas  zugeben,  was  nach  Wahrheit  schmeckt.    Auch  kann 
mit  solchen  Leuten  über  die  Wissenschaft  nicht  gesprochen 
werden.    Denn   in  Bezug   auf  das  zum  Leben  und  zum 
Verkehr  Notwendige  hat  sie  nur  die  Not  gezwungen,  an- 
zunehmen, dass  sie  bestehen  und  ihren  Nutzen  verfolgen 
und    mit   Eidschwur   Vieles    behaupten    und    verneinen. 
Wenn  ihnen  etwas  bewiesen  wird,  so  wissen  sie  nicht, 
ob  die  Beweisführung  richtig  oder  mangelhaft  sei ;  wenn 
sie  bestreiten,  zugeben  oder  widersprechen  wissen  sie  nicht, 
dass  sie  bestreiten,  zugeben  oder  widersprechen  und  man 
muss  sie  deshalb  für  Automaten  halten,  die  des  Verstandes 
ganz  entbehren.  ^6) 

Ich  fasse  hier  das,  was  ich  beabsichtige,  kurz  zu- 
sammen. Wir  haben  bis  hierher  zunächst  das  Ziel  ge- 
funden, auf  das  wir  alle  unsere  Gedanken  richten  wollen.*^) 
Wir  haben  zweitens  ermittelt,  welches  die  beste  Vor- 
stellung ist,  mit  deren  Hilfe  wir  zu  unserer  Vollkommen- 
heit gelangen  können. ^8)  Wir  haben  drittens  den  ersten 
Weg  kennen  gelernt,  auf  dem  die  Seele  sich  erhalten 
muss,  um  richtig  anzufangen;  er  besteht  darin,  dass  sie 
nach  der  Anleitung  irgend  einer  gegebenen  wahren  Vor- 
stellung fortfährt,  mit  Innehaltung  bestimmter  Regeln  zu 
forschen.  *9)  Dass  dies  richtig  geschehe,  soll  das  folgende 
Verfahren  sichern:  Zuerst  ist  die  wahre  Vorstellung 
von  allen  übrigen  Vorstellungen  zu  unterscheiden  und  die 
Seele  von  letztern  abzuhalten.  Zweitens  sind  Regeln 
zu  geben,  dass  die  unbekannten  Dinge  nach  solchem  Richt- 


Unterscheidung  d.  wahren  Vorstellungen  von  den  anderen,    19 

mass  erkannt  werden.  Drittens  ist  eine  Ordnung  ein- 
zuhalten, damit  man  sich  nicht  durch  Unnützes  ermüde. 
Nachdem  wir  dieses  Verfahren  ermittelt  haben,  haben 
wir  viertens  erkannt,  dass  dieses  Verfahren  am  voll- 
kommensten sein  werde,  wenn  wir  die  Vorstellung  des  voll- 
kommensten Wesens  erlangt  haben  werden.  Deshalb  musste 
gleich  im  Beginn  bemerkt  werden,  dass  wir  so  schnell 
als  möglich  zur  Erkenntnis  eines  solchen  Wesens  ge- 
langen müssen.^) 

Ich  beginne  hiernach  mit  dem  ersten  Teile  des 
Verfahrens,  welcher,  wie  gesagt,  darin  besteht,  dass  man 
die  wahre  Vorstellung  unterscheidet  und  von  den  übrigen 
trennt  und  die  Seele  hindert,  die  falschen,  die  erdichteten 
und  die  zweifelhaften  Vorstellungen  mit  den  wahren  zu 
vermengen.  Ich  will  dies  hier  ausführlich  darlegen  und 
die  Leser  in  der  Betrachtung  eines  so  notwendigen  Gegen- 
standes festhalten,  weil  es  Viele  giebt,  die  selbst  über 
das  Wahre  zweifeln,  weil  sie  den  Unterschied  nicht  be- 
achten, der  zwischen  einer  wahren  Vorstellung  und  anderen 
besteht;  solche  gleichen  deshalb  Menschen,  die  im  Wachen 
ihr  Wach-sein  nicht  bezweifeln,  allein  die,  nachdem  sie 
einmal  im  Traume,  wie  es  vorkommt,  sich  gewiss  für 
wachend  gehalten  und  dies  sich  nachher  als  ein  Irrtum 
ergeben  hatte,  nunmehr  auch  über  ihr  Wachen  zweifel- 
haft geworden  sind,  weil  sie  niemals  zwischen  Träumen 
und  Wachen  unterschieden  haben.  Ich  erinnere  vorweg, 
dass  ich  hier  das  Wesen  jeder  Vorstellung  und  zwar 
durch  ihre  nächste  Ursache  nicht  darlegen  will,  da  dies 
zur  Philosophie  gehört, si)  sondern  ich  will  nur  das  zum 
Verfahren  Gehörige  darlegen,  also  nur  das,  um  was  es  sich 
bei  erdichteten,  falschen  -  und  zweifelhaften  Vorstellungen 
handelt  und  wie  man  sich  von  diesen  freimachen  kann. 
Meine  erste  Untersuchung  richtet  sich  sonach  auf  die  er- 
dichteten Vorstellungen. 

Da  jedwede  Vorstellung  ihren  Gegenstand  entweder 
als  daseiend  nimmt,  oder  blos  nach  seinem  Wesen  ^2)  und 
die  naeisten  Erdichtungen  das  Dasein  der  Dinge  betreffen, 
so  will  ich  zunächst  über  diese  sprechen ;  wo  nämlich  nur 
das  Dasein  erdichtet  ist,  aber  die  Sache,  um  deren  er- 
dichtete Thätigkeit  es  sich  handelt,  gekannt  ist  oder  als 
gekannt  genommen  wird.  So  bilde  ich  mir  z.  B.  ein,  dass 
Peter,  den  ich  kenne,  nach  Hause  geht,  dass  er  mich  be- 


20 


Die  erdichtete  Vorstellung. 


sucht,  und  Aehnliches. *)  Ich  frage  nun,  was  enthält 
diese  Vorstellung?  Ich  sehe,  dass  sie  nur  Mögliches  ent- 
hält, aber  weder  Notwendiges  noch  Unmögliches.  Ich 
nenne  eine  Sache  unmöglich,  deren  Natur  für  ihr  Dasein 
einen  Widerspruch  enthält;  und  notwendig,  deren  Natur 
für  ihr  Nicht-Dasein  einen  Widerspruch  enthält;  möglich, 
deren  Dasein  nach  ihrer  Natur  keinen  Widerspruch  weder 
für  ihr  Dasein  noch  für  ihr  Nicht-Dasein  enthält,  sondern 
bei  welcher  die  Notwendigkeit  oder  Unmöglichkeit  ihres 
Daseins  von  Ursachen  abhängt,  die  wir  nicht  kennen, 
während  wir  ihr  Dasein  erdichten.  Wäre  uns  daher  die 
von  äussern  Ursachen  bedingte  Notwendigkeit  oder  Un- 
möglichkeit derselben  bekannt,  so  hätten  wir  auch  da- 
rüber uns  nichts  erdichten  können.  Daraus  folgt,  dass, 
wenn  es  einen  Gott  oder  ein  allwissendes  Wesen  giebt, 
wir  durchaus  nichts  erdichten  oder  voraussetzen  können. 
Denn  was  uns  selbst  anlangt,  so  kann  ich,  nachdem  ich 
erkannt,  dass  ich  bestehe,**)  nicht  mehr  mir  einbilden, 
dass  ich  bestehe  oder  nicht  bestehe;^)  auch  einen  Ele- 
phanten ,  der  durch  ein  Nadelöhr  geht,  kann  ich  mir  nicht 
einbilden.  Ebenso  kann  ich,  nachdem  ich***)  die  Natur 
Gottes  erkannt  habe,  nicht  mehr  mir  einbilden,  dass 
er  bestehe  oder  nicht  bestehe;  dasselbe  gilt  von  der  Chi- 
märe, deren  Natur  das  Nicht -Dasein  einschliesst.  Hier- 
aus erhellt,  was  ich  gesagt  habe,  nämlich  dass  das  hier 

*)  Man  sehe  ferner  das  nach,  was  ich  über  solche 
Hypothesen  bemerken  werde,  die  man  klar  einsieht;  die 
Erdichtung  besteht  dabei  nur  darin ,  das  man  behauptet, 
dergleichen  bestehe  in  den  himmlischen  Körpern.  ^3) 

**)  Weil  die  Sache,  sobald  sie  nur  verstanden  ist, 
sich  selbst  offenbart;  man  braucht  deshalb  hier  nur  ein 
Beispiel,  aber  keine  Beweisführung.  Dasselbe  gilt  für  den 
Widerspruch,  wo  man  nur  zu  untersuchen  braucht,  um 
ihn  als  falsch  erscheinen  zu  lassen.  Dies  wird  sich  gleich 
ergeben,  wenn  ich  von  den  das  Wesen  betreffenden  Er- 
dichtungen handeln  werde. 

***)  Ich  bemerke,  dass,  wenn  Viele  sagen,  dass  sie 
an  Gottes  Dasein  zweifeln,  sie  es  dann  nur  mit  einem 
Worte  zu  thun  liaben  oder  sich  Etwas  selbst  erdichten, 
was  sie  Gott  nennen.  Dies  stimmt  aber  nicht  mit  der 
Natur  Gottes,  wie  ich  später  an  seiner  Stelle  zeigen  werde. 


Die  erdichtete  Vorstellung.  oi 

erwähnte  Einbilden  bei  ewigen*)  Wahrheiten  nicht  statt- 
nnaet.  ^^) 

Ehe  ich  jedoch  weiter  gehe,  will  ich  kurz  bemerken, 
dass  der  Unterschied,  der  zwischen  dem  Wesen  der  einen 
Sache  und  dem  Wesen  der  andern  besteht,  auch  zwischen 
der  Wirklichkeit  und   dem  Dasein  der  einen  Sache  und 
der   Wirklichkeit  und  dem  Dasein  der   andern   besteht. 
Wollen   wir  also  z.  B.  das  Dasein  von  Adam  nur  durch 
das  allgemeine  Dasein  erfassen,  so  wäre  es  dasselbe,  als 
wenn  wir  zur  Erfassung  seines  Wesens  auf  die  Natur  des 
Wesens  überhaupt  acht  haben,   um  dadurch  zuletzt  zu 
bestimmen,   dass   Adam    ein   Wesen    ist.    Je  allgemeiner 
also  das  Dasein  vorgestellt  wird,  um  so  verworrener  wird 
es  vorgestellt  und   um  so  leichter   kann   es  einer  Sache 
beliebig  zugesprochen  werden ;  während,  wenn  das  Dasein 
mehr  besondert  vorgestellt  wird,  es  um  so  klarer  einee- 
sehen  und  um  so  schwerer  einer  anderen,  als  der  eigent- 
liehen  Sache,  mit  Nichtbeachtung  der  Ordnung  der  Natur, 
zugeteilt  wird;  was  der  Beachtung  wert  ist.sß) 

Ich  habe  nun  das  in  Betracht  zu  nehmen,  was  man 
insgemein  erdichtet  nennt,  obgleich  man  deutlich  weiss, 
dass  die  Sache  sich  nicht  so  verhalte,  wie  man  sie  er- 
dichtet Wenn  ich  z  B.  auch  weiss,  dass  die  Erde  rund 
18t  so  hindert  mich  doch  nichts,  einem  Andern  zu  sagen, 
die  Erde  sei  eine  Halbkugel  und  wie  eine  halbe  Pomeranze 
auf  einem  Teller;  oder  die  Sonne  bewege  sich  um  die  Erde 
und  dergleichen  mehr.  Betrachtet  man  diese  Fälle  näher, 
so  wird  man  finden,  dass  alles  mit  dem  bereits  Gesagten 
zusammenhängt;  sofern  man  nur  bedenkt,  dass  wir  mit- 
unter uns  haben  irren  können  und  jetzt  diese  Irrtümer 
als  solche  erkannt  haben ;  ferner,  dass  man  sich  einbilden 
ooer^^enigstens  denken  kann,  dass  andere  Menschen  in 

*)  Ich  werde  auch  gleich  darlegen,  dass  keine  Ein- 
bildung bei  ewigen  Wahrheiten  statt  hat.  Unter  einer 
ewigen  Wahrheit  verstehe  ich  eine  solche,  die,  wenn  sie 
oejahend  ist,  niemals  verneinend  werden  kann.  So  ist  es 
aie  erste  und  ewige  Wahrheit,  dass  Gott  besteht ;  dagegen 
ist  es  keine  ewige  Wahrheit,  dass  Adam  denkt.  Dass  die 
uiimare  nicht  bestehf,  ist  eine  ewige  Wahrheit;  aber  dass 
Adam  nicht  denkt,  ist  keine. 


22  Wie  die  erdichtete  Vorstellung  entstellt. 

demselben  Irrtume  sich  befinden  oder,  wie  wir  selbst 
früher,  hineingeraten  können.  Ich  sage,  dies  kann  man 
sich  einbilden,  so  lange  man  keine  Unmöglichkeit  bemerkt 
Wenn  ich  also  Jemand  sage,  die  Erde  sei  nicht  rund 
u.  s.  w.,  so  rufe  ich  nur  den  Irrtum  m  das  Gedächtnis 
zurück,  den  ich  vielleicht  selbst  gehabt,  oder  in  den  ich 
geraten  konnte  und  bilde  mir  dann  ein  oder  denke,  dass 
der,  welchem  ich  es  sage,  in  diesem  Irrtum  ist  oder  liin- 
eingeraten  könne.  Ich  bilde,  wie  gesagt,  dies  mir  em, 
so  lange  ich  keine  Unmöglichkeit  und  keine  Notwendig- 
keit bemerke;  denn  hätte  ich  eine  solche  bemerkt,  so  hatte 
ich  mir  nichts  einbilden  können  und  ich  hätte  nur  sagen 
können,  dass  ich  etwas  gethan  hätte. ^t) 

Ich  habe  noch  das  zu  erwähnen,  was  bei  diesen  Unter- 
suchungen vorkommt  und  was  mitunter  auch  bei  dem  Un- 
möglichen vorkommt;  z.  B.  wenn  man  sagt:  Man  nehme 
an,  dass  diese  jetzt  brennende  Kerze  nicht  brenne,  oder 
dass  sie  in  irgend  einem  eingebildeten  Orte  brenne,  oder 
da,  wo  es  keine  Körper  giebt.  Dergleichen  wird  manch- 
mal angenommen,  obgleich  das  letztere  ofifenbar  unmöglich 
ist.  Wenn  nun  dies  geschieht,  so  ist  in  Wahrheit  keine 
Einbildung  vorhanden.  Denn  erstens  habe  ich  nur  etwas 
in  das  Gedächtnis  zurückgerufen,*)  nämhch  eine  nicht 
brennende  Kerze  (oder  ich  habe  mir  sie  ohne  Flamme 
vorgestellt)  und  das,  was  ich  von  dieser  Kerze  denke,  das 
sehe  ich  von  ihr  ein,  so  lange  ich  auf  die  Flamme  nicht 


*)  Wenn  ich  später  über  die  Einbildungen  in  Betreff 
des  Wesentlichen  sprechen  werde,  so  wird  sich  klar  er- 
geben, dass  die  Einbildung  niemals  etwas  neues  bewirkt 
oder  der  Seele  bietet,  sondern  dass  dabei  nur  das  in  dem 
Kopfe  oder  in  der  Einbildung  Vorhandene  m  das  Ge- 
dächtnis zurückgerufen  wird  und  dass  die  Seele  auf  alles 
verworren  gleichzeitig  acht  hat.  So  ruft  man  z.  B.  eine 
Rede  und  einen  Baum  in  das  Gedächtnis  zurück  und  wenn 
die  Seele  zerstreut  und  ohne  Unterscheidung  acht  hat,  so 
glaubt  man,  der  Baum  rede.  Dasselbe  gilt  von  dem  Da- 
lein,  namentlich  wenn  es,  wie  gesagt,  so  allgemein  als  ein 
Ding  vorgestellt  wird,  weil  es  dann  leicht  mit  allem,  was 
gleichzeitig  in  dem  Denken  auftritt,  verbunden  wird.  Dies 
ist  sehr  bemerkenswert. 


Die  Einbildungen  über  das  Wesen.  23 

acht  habe.  Im  zweiten  Fall  ziehe  ich  nur  meine  Gedanken 
von  den  umstehenden  Körpern  ab,  damit  die  Seele  sich 
bloss  der  Betrachtung  der  Kerze,  für  sich  allein  genommen 
zuwende  und  nachher  schliesse,  die  Kerze  habe  keine  Ur- 
sache für  ihre  eigene  Vernichtung,  so  dass,  wenn  keine 
Körper  sie  umgaben,  diese  Kerze  und  auch  die  Flamme 

r/fintf''  ^l'^^'\  ^^'t  ""^  dergleichen  ähnliches! 
Es  findet  a^so  hier  keine  Einbildung  statt,  sondern  echte 
und  reine  Behauptungen.  *)  58)  ^  '  »onuern  ecüte 

Ich  komme  jetzt  auf  die  Einbildungen  in  Betreff  des 
Wesens  der  Dinge  allein,  oder  des  Wesens  in  gleichzeitige? 
Verbindung  mit  einer  gewissen  Wirksamkeit  oder  eines 
Daseins     Hier  ist  vorzüglich  zu  bedenken,  dass  je  wenige? 

«o  .rlfiL""''»!*'^^  ^^f  ^''^  mancherlei'  wahrnimmt"  um 
80  grosser  ihre  Macht  zu  Einbildungen  ist;   ie  mehi  s^ 

dagegen  versteht,  desto  mehr  nimmt  diese  Macht  ab     So 
haben  wir  z  B.  oben  gesehen,  dass,  so  lange  wir  denken 

ruchT.h?'f  1.'^"^^^^^?  ^'°"^°>  ^^««  ^'^  denken  und' 
auch  nicht  denken;  so  können  wir  auch,  nachdem  wir  die 

eldll'h^''  ^^'^''  f.^"^°*  ^^^«°>  ^°«  keine  Mücke  un 
endlich  gross  vorstellen;   und  ebensowenig  können  wir 
nach  Erkenntnis  der  Natur  der  Seele**)  Ls  dnbildli 
dass  sie  Viereckig  sei,  obgleich  man  dies  alles  in  Worten 

aow-*^  Dasselbe  gilt  von  Hypothesen,  welche  zu  Erklärung 
gewisser  Bewegungen  aufgestellt  werden,  welche  mit  def 
Erscheinungen   der  Himmelskörper  übereinstimmen,   nu? 

kö  DeHÄ^M^  '^l''  Anwendung  auf  die  Himmels' 
Korper  nicht  die  Natur  der  Himmel  folgern,  da  diese  eine 

ancrvier  ^T  ^?^  T  ^^^^^^"°^  ^^^««^  Bewegungen 
auch  viele  andere  Ursachen  angenommen  werden  können. 

sein  *rlJ^i,*/'?^  oft,  dass  der  Mensch  das  Wort  Seele  in 
Bild  s^oh  «Ä  ^Tfl^^'\  ^°^,  ""^^^^^^  ^^°  «i°°«ches 
kiL  Pr  Ä  ^A^'  \V^^^'  gleichzeitig  vorgestellt,  so 
üerM.Li]  *  *f, die  Meinung,  dass  er  sich  eine  kör- 
mit  dpr  If  l'  ''^''*^"l  "?^  ^^°^"^^»  i'^dem  er  den  Namen 

hofflliUol  ^?\  Widerlegung  sich  nicht  tibereilen,  was  sie 
ntl    ä  "%^V*»»^« /erden,  wenn  sie  nur  auf  die  Bei- 
spiele  und  auf  das  folgende  genau  acht  geben. 


24  Ob  eine  Einbildung  die  andere  beschränke. 

ausdrücken  kann.  Je  weniger  dagegen  die  Menschen,  wie 
sea&st  die  Natur  kennen,  desto  leichter  können  sie  vieles 
sich  einbilden,  wie  z.  B.  dass  die  Bäume  sprechen,  dass 
die  Menschen  plötzlich  in  Stein  verwandelt  werden  oder 
in  Quellen,  oder  dass  Geister  im  Spiegel  erscheinen,  oder 
dass  das  Nichts  zu  Etwas  werde,  oder  dass  die  Götter 
sich  in  wilde  Tiere  oder  Menschen  verwandeln  und  Un- 
zähliges dieser  Art  mehr.  59) 

Man  wird  vielleicht  meinen,  dass  die  Einbildung  von 
der   Einbildung,    aber   nicht   von    der   Einsicht   begrenzt 
werde    d.  h.   wenn  ich  Etwas  mir  eingebildet  habe  und 
mit  einer  gewissen  Freiheit  zugestimmt  habe,   dass  es  so 
in   Wirklichkeit  bestehe,   so  bewirke   dies,   dass  ich  es 
später  mir  nicht  anders  denken  könne.     Wenn  ich  z.  B. 
mir  eingebildet  habe  (um  ihre  Worte  zu  gebrauchen),  dass 
die  Natur   der  Körper  die  und  die  Beschaflfenheit  habe, 
und  mich  vermöge  meiner  Freiheit  habe  überreden  wollen, 
dass  diese  Natur  wirklich  so  bestehe,  so  könne  ich  dann 
mir  nicht  mehr  einbilden,  dass  eine  Mücke  z.  B.  unend  ich 
sei-  und  wenn  ich  mir  das  Wesen   der  Seele  eingebildet 
habe    so  könne  ich  sie  nicht  mehr  als  viereckig  ansehen 
u    ß/w.    Allein  dies  bedarf  der  Prüfung. eo)    Erstens 
m'üssen  sie    entweder  bestreiten    oder    zugestehen,   dass 
man  Etwas  erkennen  kann.     Gestehen  sie  es  zu,  so  muss 
das     was  sie  von   der  Einbildung  sagen ,  auch  von  der 
Erkenntnis  gelten;  wenn  sie  es  aber  bestreiten,  so  wollen 
wir   die  wir  wissen,  dass  wir  Etwas  wissen,  sehen,  was 
sie  'sagen.«)     Sie  sagen  nämlich,  dass  die  Seele  zwar  em- 
pfinde und  auf  viele  Arten  wahrnehme ,   aber  nicht  sich 
selbst  noch  die  bestehenden  Dinge,  sondern  nur  das,  was 
weder  an  sich,  noch  irgend  wo  ist,  d.  h.  dass  die  Seele  durch 
ihre  Macht   allein   es  vermöge   Empfindungen   oder   Vor- 
stellungen zu  erzeugen,  ohne  ^assjiie  Gegenstände  datür 
bestehen.  Somit  betrachten  sie  zum  Teil  die  Seele  wieGott.^2) 
Ferner  sagen  sie,  dass  wir  oder  unsere  Seele  eine  solche 
Freiheit  besitzen,  dass  sie  uns  oder  sich  selbst,  sogar  ihre 
eigene  Freiheit  zwinge.     Denn  wenn   sie  sich  Etwas  ein- 
gebildet und  ihm  Glauben  geschenkt  hat,  so  kann  sie  dies 
nicht  auf  andere  Weise  denken   oder  sich  einbilden  und 
sie  wird   durch  diese  Einbildung  sogar  genötigt,  es  nur 
so  zu  denken,  dass  es  der  ersten  Einbildung  nicht  wider- 
spricht.   Ebenso  werden  sie  auch  den  ünsmn,  welchen 


Die  Einbildung  ist  leicht  zu  erkennen. 


25 


ich  hier   angebe,   durch   ihre  Einbildung   zuzulassen   ge- 
zwungen; indess  werde  ich  zu  dessen  Widerlegung  mich 
mit  keinen  Beweisen  abmühen.*) 63)  Ich  lasse  sie  vielmehr 
in  ihrem  Unsinn    und   sorge  nur,    dass    ich  aus  den  mit 
ihnen  gewechselten   Worten    etwas  Wahres  für  unseren 
Gegenstand  gewinne,  nämlich :  Wenn  die  Seele  auf  einen 
eingebildeten  und  seiner  Natur  nach  falschen  Gegenstand 
Acht  giebt,  um  ihn  zu  erwägen,  zu   erkennen  und   das 
daraus  Folgende  in  guter  Ordnung  daraus  abzuleiten,  so 
wird  sie  sehr  leicht  klarlegen,   dass  er  falsch  ist.64)    Igt 
dagegen  die  eingebildete  Sache   ihrer  Natur  nach   wahr, 
so  kann  die  Seele,  wenn  sie  darauf  achtet,  um  sie  zu  er- 
kennen  und  die  Folgen   daraus   in  guter  Ordnung  abzu- 
leiten, getrost  ohne  Unterbrechung  damit  fortfahren  ;65)  da 
wir  gesehen  haben ,   dass  der  Verstand  vermag,  bei  einer 
falschen  Einbildung,  sobald  sie  vorgebracht  wird,  sogleich 
deren  Verkehrtheit  und  anderen  daraus  abgeleiteten  Un- 
sinn darzulegen. 

Deshalb  ist  keineswegs  zu  fürchten,  dass  man  sich 
Etwas  einbilde,  wenn  man  nur  die  Sache  klar  und  deut- 
lich erkennt ;  denn  wenn  man  etwa  sagt,  dass  die  Menschen 
plötzlich  in  wilde  Tiere  verwandelt  werden,  so  wird  dies 
nur  ganz  allgemein  ausgesagt  und  kein  Begriff  davon  geboten, 
d.  h.  keine  Vorstellung  oder  Verbindung  zwischen  Subjekt 
und  Prädikat  innerhalb  der  Seele;  denn  geschähe  dies, 
so  würde  die  Seele  zugleich  das  Mittel  und  die  Ursachen 
einsehen,  wodurch  und  weshalb  so  Etwas  geschehen  ist^^) 
Ferner  wird  auch  nicht  auf  die  Natur  des  Subjekts  und 


*)  Obgleich  ich  dies  offenbar  aus  der  Erfahrung 
folgere,  so  sagt  doch  vielleicht  Jemand,  es  sei  nichts,  weil 
der  Beweis  ausbleibe;  deshalb  soll  er  diesen  Beweis,  wenn 
er  will,  so  erhalten:  Da  in  der  Natur  es  nichts  geben 
kann,  was  ihren  Gesetzen  widerspricht,  vielmehr  Alles  nach 
ihren  festen  Gesetzen  geschieht  und  bestimmte  Wirkungen 
nach  festen  Gesetzen  in  unzerreissbarer  Verkettung  daraus 
hervorgehen,  so  folgt,  dass  die  Seele,  wenn  sie  sich  einen 
Gegenstand  wirklich  vorstellt,  fortfährt,  in  ihrem  Wissen 
dieselben  Wirkungen  zu  bilden.  Man  sehe  weiter  unten 
die  Stelle,  wo  ich  von  den  falschen  Vorstellungen  spreche. 

Spinoza' 8  Abb.  üb.  Verbesser,  d.  Verstandes.  4 


26 


Folgerungen  in  Betreff  der  Einbildungen. 


Die  falsche  Vorstellung. 


27 


Prädikats  Acht  gegeben.  Ferner  wird,  wenn  nur  die  erste 
Vorstellung  nicht  eingebildet  ist,  und  aus  ihr  alle  anderen 
Vorstellungen  abgeleitet  werden,  allmählich  die  Ueber- 
stürzung  im  Einbilden  erlöschen. 

Ferner  kann  eine  eingebildete  Vorstellung  nicht  klar 
und  deutlich  sein;  sie  ist  vielmehr  verworren  und  man 
erkennt,  dass  alle  Verworrenheit  davon  kommt,  dass  die 
Seele  eine  ganze  oder  aus  Vielem  zusammengesetzte  Sache 
nur  zum  Teil  kennt  und  das  Bekannte  nicht  von  dem 
Unbekannten  unterscheidet ;  überdem  denkt  sie  gleichzeitig 
und  ohne  Unterscheidung  an  das  Viele,  was  in  der  ein- 
zelnen Sache  enthalten  ist.  ß^)  Hieraus  folgt  nun  erstens, 
dass,  wenn  die  Vorstellung  eine  durchaus  einfache  Sache 
betrifft,  sie  nur  klar  und  deutlich  sein  kann;  da  eine 
solche  Sache  nicht  teilweise,  sondern  entweder  ganz  oder 
gar  nicht  gekannt  sein  kann.ß«)  Es  folgt  zweitens, 
dass,  wenn  eine  zusammengesetzte  Sache  in  ihre  einfachsten 
Teile  im  Denken  zerlegt  wird  und  jeder  Teil  für  sich  be- 
trachtet wird,  alle  Verwirrung  erlöschen  wird.^^)  Es 
folgt  drittens,  dass  eine  Einbildung  nicht  einfach  sein 
kann,  sondern  aus  einer  Verbindung  mehrerer  verworrener 
Vorstellungen  sich  bildet,  welche  verschiedene  in  der 
Wirklichkeit  bestehenden  Gegenstände  und  Handlungen 
betreffen;  oder  besser  gesagt,  dass  sie  aus  der  Aufmerk- 
samkeit auf  viele  Vorstellungen,  ohne  dass  man  ihnen  zu- 
stimmt, hervorgeht.  *)  Denn  wäre  die  Einbildung  einfach, 
so  wäre  sie  klar  und  deutlich  und  deshalb  auch  wahr. 
Wäre  sie  aus  der  Verbindung  deutlicher  Vorstellungen 
gebildet,  so  wäre  auch  diese  Verbindung  klar  und  deutlich 
und  folglich  wahr.  Wenn  man  z.  B.  die  Natur  des  Kreises 
und  des  rechtwinklichen  Vierecks  erkannt  hat,  so  kann 
man  dann  beide  nicht  mehr  verbinden   und  keinen  Kreis 


*)  Die  Einbildung  an  sich  ist  daher  von  dem  Traume 
wenig  unterschieden ;  ausgenommen,  dass  im  Traume  sich 
keine  Ursachen  bieten,  welche  dem  Wachenden  mit  Hilfe 
der  Sinne  geboten  werden ;  deshalb  kann  man  bei  jenen 
Einbildungen  abnehmen,  dass  sie  zu  dieser  Zeit  nicht  von 
äusserlichen  Gegenständen  ausgehen.  Der  Irrtum  ist  aber, 
wie  gleich  sich  ergeben  wird,  ein  Träumen  im  Wachen 
und  ist  er  sehr  offenbar,  so  nennt  man  ihn  Irrsinn. 


viereckig  machen,  noch  die  Seele  viereckig  machen  ^o)  und 
Aehnliches.    Ich  ziehe  sonach  kurz  den  Schluss  und  zeige 
dass  bei  der  Einbildung  nicht  zu   fürchten  ist,   dass  sie 
mit  wahren  Vorstellungen  vermengt  werde.    Denn  was  die 
erste  zuerst  besprochene  anlangt,  wo  nämlich  die  Vor- 
stellung klar  ist,  so  haben  wir  da  gefunden,  dass,  wenn 
der  Gegenstand,  welcher  klar   vorgestellt  wird  und  bei 
dem  auch  sein  Dasein  an  sich  eine  ewige  Wahrheit  ist, 
dass  da   in  Bezug  auf  einen   solchen  Gegenstand   keine 
Einbildung  geschehen  kann.    Ist  aber  das  Dasein  des  vor- 
gestellten Gegenstandes   keine   ewige  Wahrheit,    so   hat 
man  nur  zu  sorgen,  dass  das  Dasein  der  Sache  mit  ihrem 
Wesen  verglichen  und  dass  zugleich  auf  die  Ordnung  der 
Natur  geachtet  werde.    Was  die  z  w  e  i  t  e  Art  Einbildungen 
betrifft,  so  habe  ich  gesagt,  dass   sie   ein  Achtgeben  auf 
mehrere  verworrene  Vorstellungen  sind,  denen  man  aber 
nicht  zustimmt  und  die  sich  auf  verschiedene  wirklich  be- 
stehende Gegenstände  und  Handlungen  beziehen.     Hier 
haben  wir   ebenfalls  gesehen,  dass   von   einem  durchaus 
einfachen    Gegenstand    keine    Einbildung    möglich    ist, 
sondern  nur  eine  Erkenntnis ;  und  dass  dies  auch  für  zu- 
sammengesetzte Dinge  gelte;  wenn  man  nur  auf  die  ein- 
fachen Teile,  aus  denen  sie  bestehn.  Acht  hat.    Deshalb 
kann  man  auch  aus  ihnen   keine  irgend  welche  Thätig- 
keiten  sich  einbilden,  die  nicht  wahr  wären ;  denn  man  würde 
genötigt,  zugleich  zu  erwägen,  wie  und  weshalb  dies  ge- 
schähe. 7i)  ^ 

Nachdem  wir  dies  erkannt  haben,  gehe  ich  zur  Un- 
tersuchung der  falschen  Vorstellung,  damit  wir  sehen, 
wo  sie  statt  hat  und  wie  man  sich  davor  schützen  kann, 
dass  man  nicht  in  falsche  Vorstellungen  gerate.  Beides 
wird  nach  der  Untersuchung  der  eingebildeten  Vorstellung 
nicht  schwer  sein.  Beide  uuterscheiden  sich  nur  dadurch, 
dass  die  falsche  Vorstellung  die  Zustimmung  voraussetzt, 
d.  h.  (wie  ich  schon  bemerkt  habe)  dass  keine  Gründe 
bei  ihr,  wenn  die  falsche  Vorstellung  sich  bietet,  gegeben 
sind,  aus  denen  man,  wie  bei  der  eingebildeten  Vorstellung, 
abnehmen  könnte,  dass  sie  nicht  von  äusseren  Gegen- 
ständen komme  und  dass  sie  deshalb  so  ziemlich  nur  ein 
Träumen  bei  offenen  Augen  oder  im  Wachen  sei.  ^2)  Die 
falsche  Vorstellung  bewegt  sich  also  oder  (besser  gesagt) 
sie  bezieht  sich  entweder  auf  das  Dasein  eines  Gegen- 

4* 


28 


Die  falsche  Vorstellung  über  das  Wesen. 


Standes,  dessen  Wesen  gekannt  ist,  oder  auf  das  Wesen, 
und  zwar  in  gleicher  Weise  wie  die  eingebildete  Vor- 
stellung. Die  nun,  welche  sich  auf  das  Dasein  bezieht, 
wird  ebenso  berichtiget  wie  die  eingebildete  Vorstellung; 
die  aber,  welche  sich  auf  das  Wesen  bezieht,  wird  ebenso 
berichtiget,  wie  die  Einbildung ;  ^3)  denn  wenn  die  Natur 
des  bekannten  Gegenstandes  das  Dasein  desselben  not- 
wendig verlangt,  so  können  wir  über  das  Dasein  dieses 
Gegenstandes  unmöglich  getäuscht  werden;  ist  dagegen 
das  Dasein  des  Gegenstandes  keine  ewige  Wahrheit,  wie 
sein  Wesen,  sondern  ist  die  Notwendigkeit  oder  Unmöglich- 
keit seines  Daseins  von  äusseren  Ursachen  abhängig,  so 
hat  man  Alles  ebenso  zu  nehmen,  wie  ich  bei  Gelegen- 
heit der  Einbildung  gesagt  habe ;  denn  die  Berichtigung 
geschieht  auf  gleiche  Weise. 

Die  andere  Art  der  falschen  Vorstellungen  anlangend, 
welche  sich  auf  das  Wesen  oder  auch  auf  Thätigkeiten 
beziehn,  so  sind  solche  Vorstellungen  notwendig  immer 
verworren  und  aus  verschiedenen  verworrenen  Vorstel- 
lungen der  wirklich  daseienden  Dinge  gebildet;  z.  B.  wenn 
man  die  Menschen  überredet,  dass  in  den  Wäldern,  in  Bildern, 
in  unvernünftigen  Tieren  u.  s.  w.  Götter  gegenwärtig 
seien,  oder  dass  es  Körper  gebe,  aus  deren  blossen  Ver- 
bindung das  Wissen  entstehe,  oder  dass  Gestorbene  denken, 
wandeln,  sprechen,  oder  dass  Gott  hintergangen  werde 
u.  s.  w.  Dagegen  können  klare  und  deutliche  Vorstel- 
lungen niemals  falsch  sein,  denn  solche  Vorstellungen 
sind  entweder  die  einfachsten  oder  aus  den  einfachsten 
gebildet,  d.  h.  daraus  abgeleitet.  Dass  aber  eine  durchaus 
einfache  Vorstellung  nicht  falsch  sein  kann,  kann  Jeder 
wissen,  wenn  er  nur  weiss,  was  wahr  oder  Erkenntnis 
und  zugleich  was  falsch  ist. 

Denn  was  die  Form  des  Wahren  anlangt,  so  unter- 
scheidet sich  sicherlich  die  wahre  Vorstellung  von  der 
falschen  nicht  blos  durch  die  äussere  Benennung,  sondern 
hauptsächlich  durch  die  innere.'^*)  Denn  wenn  ein 
Zimmermann  sich  ein  Gebäude  ordentlich  ausgedacht  hat, 
so  ist  seine  Vorstellung,  wenn  auch  ein  solches  Gebäude 
nie  bestanden  hat  und  niemals  bestehen  wird,  doch  eine 
wahre  und  die  Vorstellung  bleibt  dieselbe,  mag  das  Ge- 
bäude bestehen  oder  nicht.  7^)  Wenn  dagegen  Jemand 
sagt,  Peter  bestehe,  ohne  zu  wissen,  ob  Peter  bestehet 


Das  Sachliche  der  wahren  Vorstellungen.  29 

so  ist  diese  Vorstellung  in  Bezug  auf  ihn  falsch ,   oder 
wenn  man  lieber  will,  nicht  wahr,  wenn  auch  Peter  wirk- 
lich besteht;  denn  diese  Aussage,  dass  Peter  besteht,  ist 
nur  in  Bezug  auf  Den  eine  wahre,  welcher  gewiss  weiss, 
dass   Peter    besteht. 76)    Hieraus    ergiebt   sich,    dass    in 
den  Vorstellungen  etwas  Sachliches  enthalten   ist,   durch 
welches  die  wahren  von  den  falschen  unterschieden  werden 
und  ich  habe  diesem  jetzt  näher  nachzuforschen,  77)  damit 
wir  das  beste  Richtmass  für  die  Wahrheit  erlangen  (denn 
ich  habe  gesagt,  dass  wir  nach  dem  gegebenen  Richtmass 
der  wahren  Vorstellung  unsere  Gedanken  bestimmen  sollen 
und  dass  mein  Verfahren   eine  rückblickende  Erkenntnis 
sei)  und  die  Eigentümlichkeiten  des  Verstandes  erkennen. 
Auch  darf  man  nicht  sagen ,  dass  dieser  Unterschied  da- 
raus hervorgehe,  dass  die  wahre  Kenntnis   eine  Kennt- 
nis der  Dinge  durch  ihre  ersten  Ursachen  sei,  worin  sie 
allerdings  sich   von  der  falschen  Vorstellung  sehr  unter- 
scheiden würde,  wie  ich  dies  oben  bestimmt  habe.    Denn 
auch  diejenige  Vorstellung  heisst  eine  wahre,  welche  das 
Wesen  eines  Prinzips  als  gewusstes  in  sich  enthält,   was 
keine  Ursache  hat  und   durch   sich   und  in  sich  erkannt 
wird.      Deshalb    muss  die  Form  78)   einer  wahren  Vor- 
stellung in  ihr  selbst  ohne  Beziehung  auf  andere  enthalten 
sein  und  sie   erkennt  ihren    Gegenstand  nicht  als  ihre 
Ursache  an,  sondern  sie  muss  von  der  eigenen  Macht  und 
Natur  des  Verstandes  abhängen. 

Denn  wenn  man  den  Fall  setzte,  dass  der  Verstand 
irgend  ein  neues  Wesen  erkannt  hätte,  was  nirgends  be- 
standen habe,  also  in  der  Weise,  wie  manche  bei  Gott 
die  Erkenntnis  annehmen,  ehe  er  die  Welt  geschaffen 
hatte  (wo  allerdings  seine  Vorstellung  von  keinem  Gegen- 
stande entspringen  konnte)  und  der  Verstand  leitete  aus 
einer  solchen  Vorstellung  andere  in  ordentlicher  Weise  ab, 
so  würden  alle  diese  Vorstellungen  wahre  sein,  ohne  dass 
sie  von  einem  äusseren  Gegenstand  bestimmt  worden 
wären ;  vielmehr  würden  sie  nur  von  der  Macht  und  Natur 
des  Verstandes  bedingt  sein.  Deshalb  muss  das,  was  die 
Form  der  wahren  Vorstellung  bildet,  in  ihr  selbst  gesucht 
werden  und  aus  der  Natur  des  Verstandes  abgeleitet  wer- 
den. 79)  Um  diesem  nun  nachzugehen,  wollen  wir  eine 
wahre  Vorstellung  vor  Augen  stellen,  bei  der  wir  ganz 
zuverlässig  wissen ,  dass  ihr  Gegenstand  nur  von  unserer 


\ 


V 


30 


Beispiel  einer  wahren  Vorstellung, 


;  :^ 


Kraft  zu  denken  abhängt  und  nicht  in  Wirklichkeit  be- 
steht; denn  in  einer  solchen  Vorstellung  werden  wir,  wie 
aus  dem  Gesagten  erhellt,  das  Gesuchte ^o)  leichter  auf- 
spüren können.  So  nehme  man  z.  B.  behufs  Bildung  der 
Vorstellung  der  Kugel  nach  Belieben  eine  Ursache  an, 
z.  B.  dass  ein  Halbkreis  sich  um  seinen  Mittelpunkt  drehe 
und  dass  aus  dieser  Umdrehung  die  Kugel  gleichsam  ent- 
stehe. Diese  Vorstellung  ist  gewiss  wahr  und  wenn  wir 
auch  wissen,  dass  keine  Kugel  in  Wirklichkeit  je  so  ent- 
standen ist,  so  bleibt  es  doch  eine  wahre  Vorstellung  und 
die  leichteste  Weise,  die  Vorstellung  der  Kugel  zu  bilden. 
Hier  ist  nun  zu  bemerken,  dass  diese  Vorstellung  bejaht, 
dass  ein  Halbkreis  sich  dreht;  diese  Behauptnng  würde 
falsch  sein,  wenn  sie  nicht  mit  der  Vorstellung  der  Kugel 
oder  derjenigen  Ursache  verbunden  wäre,  welche  eine 
solche  Bewegung  bestimmt,  oder  sie  würde  unbedingt  falsch 
sein,  wenn  diese  Bejahung  für  sich  allein  bestände;  denn 
dann  würde  die  Seele  nur  die  Bewegung  des  Halbkreises 
zu  bejahen  streben,  welche  in  dem  Begriffe  des  Halbkreises 
nicht  enthalten  ist  und  auch  nicht  aus  dem  Begriffe  einer 
die  Bewegung  bestimmenden  Ursache  entspringt.  Deshalb 
besteht  hier  das  Falsche  nur  darin,  dass  von  einem  Ge- 
genstande Etwas  bejaht  wird,  was  in  der  von  ihm  gebil- 
deten Vorstellung  nicht  enthalten  ist,  wie  die  Bewegung 
oder  die  Ruhe  des  Halbkreises.  Daraus  folgt,  dass  die 
einfachen  Vorstellungen  nicht  unwahr  sein  können,  z.  B. 
die  einfache  Vorstellung  des  Halbkreises,  der  Bewegung, 
der  Grösse  u.  s.  w.  Was  sie  an  Bejahung  enthalten,  ent- 
spricht ihrem  Inhalt  und  dehnt  sich  nicht  weiter  aus. 
Deshalb  kann  man  ohne  Sorge,  in  Irrtum  zu  geraten, 
beliebig  einfache  Vorstellungen  bilden,  ^i) 

Ich  habe  daher  nur  noch  die  Kraft  zu  untersuchen, 
mit  der  die  Seele  diese  Vorstellungen  bilden  kann  und 
wie  weit  diese  Kraft  sich  erstreckt.  Nach  Feststellung 
dessen  ersieht  man  leicht  die  höchste  Erkenntnis,  zu  der 
man  gelangen  kann;  denn  es  ist  gewiss,  dass  diese  Kraft 
nicht  unendlich  ist,  da,  wenn  wir  Etwas  über  einen 
Gegenstand  bejahen,  was  in  der  von  ihm  gebildeten  Vor- 
stellung nicht  enthalten  ist,  dies  einen  Mangel  in  unserer 
Vorstellung  anzeigt  und  angiebt,  dass  wir  gleichsam  ver- 
stümmelte und  zerschnittene  Gedanken  oder  Vorstellungen 
haben.    Denn  wir   haben  gesehen,   dass  die  Bewegung 


Die  Vorstellungen  der  Einbildungskraft  sind  abzuhalten.    31 

eines  Halbkreises  falsch  ist,  wenn  sie  allein  in  der  Seele 
ist;  aber  dass  sie  wahr  ist,  wenn  sie  mit  der  Vorstellung 
der  Kugel  verbunden  wird,  oder  mit  der  Vorstellung  einer 
Ursache,  die  eine  solche  Bewegung  veranlasst.  Wenn  es 
also  zur  Natur  eines  denkenden  Wesens  selbstverständlich 
gehört,  wahre  oder  genau  entsprechende  Vorstellungen  zu 
bilden,  so  ist  sicher,  dass  unzureichende  Vorstellungen  nur 
deshalb  in  uns  entstehen,  weil  wir  ein  Teil  eines  denken- 
den Wesens  sind,  von  dem  nur  einzelne  Gedanken  ganz, 

andere  aber  nur  in  einzelnen  ihrer  Teile,  unsere  Seele 
bilden.  82) 

Noch  ist  aber  ein  Umstand  zu  betrachten,  dessen  Be- 
achtung bei  den  Einbildungen  sich  nicht  verlohnte,  bei 
dem  aber  hauptsächlich  Täuschungen  vorkommen ;  nämlich 
wenn  einzelnes,  was  der  Einbildungskraft  sich  bietet,  auch 
im  Verstände  ist,  d.  h.  wenn  es  klar  und  deutlich  erfasst 
ist;  denn  so  lange  das  Deutliche  von  dem  Verworrenen 
nicht  unterschieden  wird,  wird  die  Gewissheit,  d.  h.  die 
wahre  Vorstellung  mit  dem  Undeutlichen  vermengt.  So 
hatten  z.  B.  einige  Stoiker  wohl  den  Namen  der  Seele  und 
dass  sie  unsterblich  sei,  gehört;  aber  sie  stellten  sich  dies 
nur  verworren  vor ;  daneben  hatten  sie  auch  die  bildliche 
Vorstellung  und  zugleich  die  Erkenntnis,  dass  die  feinsten 
Körper  alle  übrigen  durchdringen,  aber  selbst  von  keinem 
durchdrungen  werden.  Indem  sie  nun  dies  alles  zugleich 
sich  vorstellten,  und  zwar  unter  Begleitung  der  Gewiss- 
heit des  letztern  Grundsatzes,  waren  sie  sofort  überzeugt, 
dass  jene  feinsten  Körper  die  Seele  seien  und  dass  sie 
unteilbar  seien  u.  s.  w. 

Auch  davon  befreit  man  sich  jedoch,  wenn  man  sich 
bestrebt,  nach  dem  Massstabe  der  gegebenen  wahren  Vor- 
stellung alle  seine  Vorstellungen  zu  prüfen.  Man  muss 
sich,  wie  ich  im  Beginne  gesagt,  vor  den  Vorstellungen 
in  acht  nehmen,  die  man  vom  blossen  Hören  oder  durch 
eine  unbestimmte  Erfahrung  erworben  hat.  Dazu  kommt, 
dass  eine  solche  Täuschung  daher  rührt,  dass  die  Gegen- 
stände zu  abstrakt  aufgefasst  werden;  denn  es  ist  selbst- 
verständlich, dass  ich  die  von  ihrem  wirklichen  Gegen- 
stande entnommene  Vorstellung  nicht  auf  einen  andern 
anwenden  kann.  Endlich  entsteht  die  Täuschung  auch 
davon,  dass  man  die  ersten  Elemente  der  Natur  noch 
nicht    kennt;    indem    man    deshalb    ohne  Ordnung  vor- 


32 


Die  Erkenntnis  der  Katar. 


Die  zweifelhafte  Vorstelluno-. 


33 


schreitet  und  die  Natur  mit  abstrakten,  wenn  auch 
wahren  Sätzen  vermeng,  wird  man  selbst  verwirrt  und 
man  verkehrt  die  Ordnung  der  Natur.  Dagegen 
brauchen  wir,  indem  wir  so  wenig  abstrakt  als  möglich 
vorschreiten  und  mit  den  ersten  Elementen,  d.  h.  mit 
der  Quelle  und  dem  Ursprünge  der  Natur 83)  so  bald  als 
möglich  beginnen,  eine  solche  Täuschung  nicht  zu  be- 
fürchten. 

Was  aber  die  Erkenntnis  des  Ursprungs  der  Natur 
anlangt,  so  ist  durchaus  nicht  zu  befürchten,  dass  wir  sie 
mit  abstrakten  Begriffen  vermengen;  denn  wenn  Etwas 
abstrakt  vorgestellt  wird,  wie  dies  bei  allen  Universalien 
geschieht,  so  wird  es  immer  weiter  in  dem  Verstände 
aufgefasst,  als  die  dazu  gehörenden  Einzelnen  in  Wirklich- 
keit bestehen  können,  s*)  Auch  giebt  es  in  der  Natur 
Vieles,  dessen  Unterschied  so  gering  ist,  dass  es  dem 
Verstände  beinah  entgeht,  deshalb  kann  (bei  dessen  ab- 
strakter Auffassung)  es  leicht  kommen,  dass  dergleichen 
verwechselt  wird.  Dagegen  kann  der  Ursprung  der 
Natur, ^^)  wie  sich  nachher  zeigen  wird,  weder  abstrakt 
noch  universell  aufgefasst  werden,  noch  im  Verstände 
weiter  ausgedehnt  werden,  als  er  wirklich  ist;  er  hat 
auch  keine  Aehnlichkeit  mit  vergänglichen  Dingen,  des- 
halb ist  für  dessen  Vorstellung  keine  Verwechslung  zu 
befürchten,  sobald  man  nur  das  Richtmass  der  Wahrheit 
hat  (wie  ich  bereits  dargelegt  habe).  Dieses  Wesen  ist 
nämlich  einzig,*)  unendlich,  d.  h.  es  ist  alles  Sein**)  und 
es  giebt  kein  Sein  ausser  ihm.  8^^) 

So  viel  über  die  falsche  Vorstellung.  Es  bleibt  noch 
die  zweifelhafte  Vorstellung  zu  untersuchen,  d.  h.  die 
Untersuchung  dessen,  was  uns  in  Zweifel  versetzen  kann, 
und  zugleich,  wie  der  Zweifel  gehoben  werden  kann.   Ich 


*)  Dies  sind  aber  keine  Attribute  Gottes,  welche 
seine  Wesenheit  darlegen,  wie  ich  in  meiner  Philosophie 
zeigen  werde. 

**)  Dies  ist  schon  oben  bewiesen  worden.  Denn  wenn 
ein  solches  Wesen  nicht  bestände,  so  könnte  es  niemals 
hervorgebracht  werden  und  folglich  vermöchte  dann  die 
Seele  mehr  einzusehen,  als  die  Natur  zu  leisten,  was  sich 
oben  als  falsch  erwiesen  hat. 


spreche  hier  von  dem  wirklichen  Zweifel  in  der  Seele  und 
nicht  von  dem,  welchem  man  wohl  manchmal  begegnet  wo 
jemand  zwar  mit  Worten  sagt,  er  zweifle,  aber  in  seiner 
Seele  nicht  zweifelt;  denn  die  Berichtigung  dieses  Zweifels 
gehört  nicht  zu  dem  hier  behandelten  Verfahren,  sondern 
zur  Ermittelung   des  Eigensinns   und   dessen  Besserung. 
Es  kann   nun  kein  Zweifel  in  der  Seele  durch  die  Sache 
selbst,  über  die  man  zweifelt,  entstehen,  d.  h.  wenn  nur 
eine  einzige  Vorstellung  in   der  Seele  ist,   sei  sie  wahr 
oder  falsch,  so  ist  dann  weder  Zweifel  noch  Gewissheit 
möglich     sondern   nur  eine  gewisse  Empfindung.     Solche 
Vorstellung  ist  nämlich  an  sich  nur  eine  gewisse  Empfin- 
dung; und  der  Zweifel  wird  nur  durch  eine  andere  Vor- 
stellung veranlasst,  die  nicht  so  klar  und  deutlich  ist,  um 
aus  ihr  etwas  Gewisses  in  Betrefi'  des  Gegenstandes,  über 
den  man  zweifelt,  ableiten  zu  können;  d.  h.  die  Vorstellung, 
die  uns  zweifeln  macht,  ist  nicht  klar  und  deutlich.  Wenn 
z.  ß.  jemand    niemals  über  die  Täuschungen   der  Sinne 
nachgedacht  hat,  ob  sie  durch  Erfahrung  oder  sonstwie 
ertolgen,  so  wird   er  niemals  darüber  zweifeln,  ob  die 
bonne  grösser  oder  kleiner  ist,  als  sie  erscheint,  und  des- 
halb verwundern  sich  hin  und  wieder  die  Bauern,  wenn 
sie  hören,   dass  die  Sonne  viel  grösser  als  die  Erdkugel 
sei;  vielmehr*)  entsteht  der  Zweifel  durch  das  Nachdenken 
über   die  Unzuverlässigkeit   der   Sinne,    und  wenn    dann 
jemand  nachher  die  wahre  Erkenntnis  über  die  Sinne  er- 
langt hat  und  weiss,  wie  durch  deren  Organe  die  Gegen- 
stande sich  je  nach  der  Entfernung  darstellen,   so  wird 
der  Zweifel  wieder  gehoben. 86)     Daraus  folgt,    dass  man 
wahre  Vorstellungen  nicht  deshalb  bezweifeln  kann,  weil 
vielleicht  ein  betrügerischer  Gott  besteht,   der  uns  selbst 
in  dem  Gewissesten  täuscht;    dies  wäre  nur  möglich,   so 
^nge   man    keine   klare   und    deutliche  Vorstellung   hat. 
Wenn    man    aber  auf  die  Erkenntnis,  welche  man  über 
iK  ^^!P^"^^   aller  Dinge   besitzt,   achtet  und   mit  der- 
selben Erkenntnis  nichts  findet,  was  uns  lehrt,  dass  Gott 
ein  Betrüger  sei,    mit  welcher  Erkenntnis   man   bei  Be- 
^chtungjder  Natur  des  Dreiecks  findet,  dass  seine  drei 

)  D.  h.  er  weiss,  dass  die  Sinne  ihn  manchmal  ge- 
tauscht haben;  aber  er  weiss  dies  nur  verworren,  da  er 
nicht  weiss,  wie  die  Sinne  täuschen. 


34         Wie  die  Zweifel  zu  beseitigen.    Das  Gedächtnis. 

Winkel  zweien  rechten  gleich  sind,  wenn  man  also  eine 
solche  Erkenntnis  von  Gott  wie  von  dem  Dreieck  hat,  so 
verschwindet  dann  aller  Zweifel.  Und  auf  dieselbe  Weise, 
auf  die  man  zu  einer  solchen  Erkenntnis  des  Dreiecks 
gelangen  kann,  obgleich  man  nicht  sicher  weiss,  ob  nicht 
irgend  ein  höchster  Betrüger  uns  täusche,  auf  dieselbe 
Weise  kann  man  auch  zu  einer  solchen  Erkenntnis  Gottes 
gelangen,  obgleich  man  nicht  sicher  weiss,  dass  kein 
höchster  Betrüger  besteht;  und  wenn  man  nur  diese  Er- 
kenntnis erlangt  hat,  so  genügt  sie,  wie  gesagt,  um  alle 
Zweifel  zu  beseitigen ,  die  man  über  klare  und  deutliche 
Vorstellungen  haben  kann.s?) 

Wenn  man  ferner  in  der  Nachforschung  richtig  vor- 
schreitet und  das,  was  zuvor  zu  ermitteln  ist,  zuerst  er- 
mittelt, ohne  die  Verkettung  der  Dinge  zu  unterbrechen, 
und  wenn  man  weiss,  wie  die  Fragen  zu  stellen  sind, 
ehe  man  zu  deren  Lösung  sich  rüstet,  so  wird  manimmer 
nur  ganz  gewisse,  d.  h.  klare  und  deutliche  Vorstellungen 
haben.  Denn  der  Zweifel  ist  nur  ein  Anhalten  des  Geistes 
in  Betreff  einer  Bejahung  oder  Verneinung;  er  würde  be- 
jahen oder  verneinen,  wenn  nicht  Etwas  sich  zeigte,  ohne 
dessen  Kenntnis  die  Erkenntnis  des  Gegenstandes  unvoll- 
kommen bleiben  muss.  Hieraus  erhellt,  dass  der  Zweitel 
immer  davon  kommt,  dass  ein  Gegenstand  nicht  in  rechter 
Ordnung  untersucht  wird. 

Dies  ist  es,  was  ich  in  dem  ersten  Teile  über  das 
Verfahren  behandeln  wollte.  Um  indes  nichts  zu  über- 
gehen, was  zur  Erkenntnis  des  Verstandes  und  seiner 
Kräfte  beitragen  kann,  will  ich  auch  einiges  über  das 
Gedächtnis  und  das  Vergessen  sagen.  Hier  ist  haupt- 
sächlich zu  beachten,  dass  das  Gedächtnis  mit  Hülfe  des 
Verstandes  gestärkt,  aber  auch  ohne  dessen  Hülfe  ge- 
stärkt werden  kann.  Denn  den  ersten  Fall  anlangend,  so 
wird  eine  Sache  um  so  leichter  behalten,  je  mehr  sie  er- 
kennbar ist,  und  umgekehrt  wird  sie  um  so  leichter  ver- 
gessen, je  weniger  sie  es  ist.  Wenn  ich  z.  B.  jemand  eine 
Anzahl  loser  Worte  sage,  so  wird  er  sie  viel  schwerer 
behalten ,  als  wenn  ich  ihm  diese  Worte  in  Form  einer 
Erzählung  sage.  —  Ohne  Hülfe  des  Verstandes  wird  das 
Gedächtnis  gestärkt,  wenn  die  Einbildungskraft  oder  der 
sogenannte  Gemeinsinn  von  einem  einzelnen  körperlicheu 
Gegenstande  stark  erregt  wird.  Ich  sage  „einen  einzelnen  , 


Was  das  Gedächtnis  ist. 


35 


denn  die  Einbildungskraft  wird  nur  von  einzelnen  Dingen 
erregt.  Wenn  z.B.  jemand  nur  eine  Liebesgeschichte 
gelesen  hat,  so  wird  er  sie  sehr  gut  behalten,  so  lange 
er  keine  andere  weiter  gelesen  haben  wird;  denn  sie  be- 
steht dann  in  der  Einbildungskraft  allein;  hat  er  aber 
mehrere  der  Art  gelesen,  so  stellt  man  sich  alle  vor  und 
vermengt  sie  leicht.  Ich  sage  auch  „ein  körperlicher 
Gegenstand",  denn  die  Einbildungskraft  wird  nur  von 
körperlichen  Dingen  erregt.  88)  Wenn  sonach  das  Gedacht- 
ms  von  dem  Verstände  und  auch  ohne  ihn  gestärkt  wird 
so  folgt,  dass  das  Gedächtnis  etwas  von  dem  Verstände 
Verschiedenes  sein  muss  und  dass  es  bei  dem  Verstände, 

'J'^^  betrachtet,  weder  Gedächtnis  noch  Vergessen 
giebt.89)  Was  ist  aber  dann  das  Gedächtnis?  Nur  die 
Empfindung  von  Gehirneindrücken  zugleich  mit  dem  Denken 
an  die  bestimmte  Dauer*)  der  Empfindung;  dies  zeigt 
auch  die  Erinnerung.  Denn  dabei  denkt  die  Seele  an 
jene  Empfindung  aber  ohne  die  ununterbrochene  Dauer, 
und  deshalb  ist  die  Vorstellung  dieser  Empfindung  nicht 
die  Dauer  dieser  Empfindung  selbst,  d.  h.  nicht  das  Ge- 
dächtnis selbst.  90) 

Ob  aber  die  Vorstellungen  selbst  einer  Verderbnis 
fähig  seien,  werde  ich  in  der  Philosophie  untersuchen, 
bellte  dies  jemand  sehr  verkehrt  scheinen,  so  genügt  für 
meinen  Zweck,  dass  er  bedenke,  wie  eine  Sache  um  so 
leichter  behalten  wird,  je  vereinzelter  sie  ist,  wie  aus 
dem  eben  angeführten  Beispiel  mit  der  Komödie  er- 
hellt. 9i)    Ferner  wird  ein  Gegenstand  um  so  leichter  be- 

dächt*niq\^^?^®°  ^i?  ^^"^"^  unbestimmt,  so  ist  das  Ge- 
auch    dl    tJ  f^^«en  Gegenstand  mangelhaft,  was  jedem 

veSt  l'^'T/°P^^?  °»ehr  vertrauen  zu  können, 
verlangt  man  oft  die  Angabe  der  Zeit  und  des  Ortes,  wo 
Etwas  geschehen  sei.  Allerdings  haben  auch  die  Vor- 
ZäT^  w  solche  in  der  Seele  ihre  Dauer,  allein  wir 

Massf?i  h  °>  ^'^  ^^"^^  "^^  ^^^^^  ^^'^«^  Bewegung  als 
Wf   1  ^f^'FV^^^y  was  auch  mit  Hülfe  der  Einbildungs- 

blpihnn^  ^''^'??*'  "°^  ^^«^^^^  beobachtet  man  kein  Ver- 
angehörtr"  Vorstellungen,  welches  dem  reinen  Verstände 


36 


Die  wahre  Vorstellung. 


halten,  je  erkennbarer  er  ist;  deshalb  muss  ein  höchst 
einzelner  und  nur  durch  den  Verstand  erkennbarer 
Gegenstand  gar  nicht  aus  dem  Gedächtnis  verloren  gehen 
können.  92) 

Somit  habe  ich  den  Unterschied  zwischen  der  wahren 
Vorstellung  und  den  übrigen  gezogen  und  gezeigt,  dass 
die  eingebildeten,  falschen  und  anderen  Vorstellungen  ihren 
Ursprung  in  der  Einbildungskraft  haben,  d.  h.  in  gewissen 
zufälligen  (so  zu  sagen)  und  losen  Empfindungen,  die  nicht 
aus  der  Macht  der  Seele  entstehen,  sondern  aus  äusseren 
Ursachen ,  sowie  der  Körper  sowohl  im  Schlafe  wie  im 
Wachen  mancherlei  Bewegungen  empfängt.  Man  kann 
hier,  wenn  es  beliebt,  unter  Einbildungskraft  sich  alles 
Beliebige  denken,  wenn  es  nur  von  dem  Verstände  ver- 
schieden ist  und  die  Seele  dabei  in  dem  Verhältnis  eines 
Leidenden  sich  befindet;  denn  es  ist  hier  gleich,  was  man 
wählt,  nachdem  wir  erkannt  haben,  dass  die  Einbildungs- 
kraft etwas  Unbestimmtes  ist,  wobei  die  Seele  etwas  er- 
leidet, und  nachdem  wir  auch  erkannt  haben,  wie  der  Ver- 
stand sich  davon  befreien  kann.  Deshalb  darf  es  niemand 
wundern,  dass  ich  hier  noch  keinen  Beweis  dafür  führe, 
dass  es  Körper  und  anderes  Notwendige  gebe  und  doch 
von  der  Einbildungskraft,  von  dem  Körper  und  dessen 
Beschaffenheit  spreche.  Denn  es  ist,  wie  gesagt,  gleich, 
was  ich  dafür  nehme,  nachdem  ich  erkannt  habe,  dass  es 
etwas  Unbestimmtes  ist  u.  s.  w.^Sj 

Dagegen  ist  die  wahre  Vorstellung,  wie  ich  gezeigt, 
einfach  oder  aus  einfachen  gebildet  und  sie  zeigt,  wie  und 
weshalb  Etwas  ist  oder  geschehen  ist  und  dass  ihre  Wir- 
kungen als  gewusste  in  der  Seele  nach  Verhältnis  der 
Wirklichkeit  des  Gegenstandes  selbst  vor  sich  gehen.  Dies 
ist  dasselbe,  was  die  Alten  sagten,  nämlich  dass  die  wahre 
Wissenschaft  von  der  Ursache  zur  Wirkung  fortschreite; 
nur  haben  sie,  so  viel  ich  weiss,  nirgends,  wie  ich  hier 
dargelegt,  dass  die  Seele  nach  festen  Gesetzen  handelt, 
gleichsam  wie  ein  geistiger  Automat.  Dadurch  haben  wir, 
so  weit  es  im  Beginne  möglich  ist,  die  Erkenntnis  unseres 
Verstandes  erlangt  und  zugleich  ein  solches  Richtmass 
für  die  wahre  Vorstellung,  dass  wir  nicht  mehr  die  Ver- 
mengung der  wahren  mit  falschen  und  eingebildeten  Vor- 
stellungen zu  fürchten  brauchen.  Auch  ist  es  nunmehr 
nicht  mehr  auffallend,  dass  man  manches  einsieht,  was  in 


Auch  die  Worte  führen  zu  Irrtümern.  37 

keiner  Weise  unter  die  Einbildungskraft  fällt  und  dass 
in  dieser  manches  ist,  was  mit  dem  Verstand  im  Gegen- 
satze steht,  und  manches,  was  mit  ihm  tibereinstimmt 
?.^°?,.^um:,^^^®'^  erkannt,  dass  jene  Vorgänge,  aus  denen 
die  Lmbildungeu  entstehen,  nach  Gesetzen  geschehen  die 
von  denen  des  Verstandes  ganz  verschieden  sind 'und 
dass  die  Seele  bei  der  Einbildungskraft  sich  nur  in  dem 
Verhältnis  eines  Leidenden  befindet.  Daraus  ergiebt  sich 
auch,  wie  leicht  diejenigen  in  grosse  Irrtümer  geraten 
können,  welche  zwischen  Einbildungskraft  und  Verstand 
nicht  genau  unterscheiden.  Dahin  gehört  z.  B.,  dass  die 
Ausdehnung  in  einem  Orte  sein  müsse;  dass  sie  begrenzt 
sein  müsse;  dass  ihre  Teile  sich  wirklich  von  einander 
unterscheiden;  dass  sie  die  einzige  und  erste  Grundlage 
aller  Dinge  sei  und  zu  einer  Zeit  mehr  Raum  einnehme 
als  zu  einer  andern,  und  vieles  Aehnliche,  was  alles  gegen 
die  Wahrheit  streitet,  wie  ich  an  seinem  Orte  zeigen 
werde.  9*) 

uM^  ^*/®u°^^  ^^^  ^^^*®  ^^°^"  ^^'^  ^er  Einbildungskraft 
bilden,  d.  h.  da  wir,  je  nachdem  sie  sich  ohne  Regel  nach 
einem  gewissen  Zustande  des  Körpers  in  dem  Gedächtnis 
verbinden,  viele  Vorstellungen   bilden,   so   können   auch 
unzweifelhaft  die  Worte  ebenso  wie  die  Einbildungen  die 
Ursache  vieler  und  grosser  Irrtümer  werden,  wenn  man 
sich  nicht  mehr  in  acht  nimmt.    Dazu  kommt,   dass  die 
Worte  willkürlich   und  nach   dem  Fassungsvermögen  der 
Menge   gebildet   sind;    sie  sind  deshalb  die  Zeichen  der 
Dinge  nur  so,  wie  diese  in  der  Einbildung  sind,  und  nicht 
wie  sie  in  dem  Verstände  sind.    Dies  erhellt  daraus  deut- 
lich, dass  man  Dingen,  die  nur  dem  Verstände  und  nicht 
der  Einbildung  angehören,  oft  verneinende  Namen  gegeben 
hat,  wie:   unkörperlich,    unendlich  u.  s.  w.    und   ebenso 
Vieles,  was  wahrhaft  bejahend  ist,   nur  verneinend  aus- 
drückt und   umgekehrt,  z.  B.  ungeschaffen,  unabhängig, 
unendhch,   unsterblich   u.  s.  w.     Die   Gegenteile   davon 
werden  nämlich  viel  leichter  vorgestellt;  deshalb  sind  sie 
den  ersten  Menschen  zunächst  aufgestossen  und  haben  die 
öejahenden  Worte  in  Besitz  genommen.     So  bejahen  und 
▼erneinen  wir  vieles,  weil  die  Natur  der  Worte,  aber  nicht 
die  Natur  der  Dinge  dies  gestattet,  und  wenn  man  dies 
nicht  weiss,  kann  man  leicht  etwas  Falsches  für  wahr 
halten,  ^s) 


38 


Zweiter  Teil.     Die  deduktive  Methode. 


Es  handelt  sich  hier  um  eine  gute  Definition. 


39 


Sl: 


1^ 


Man  hat  ferner  eine  andere  grosse  Ursache  der  Ver- 
wirrung zu  vermeiden ,  wegen  welcher  der  Verstand  we- 
niger auf  sich  reflektiert;  sie  besteht  darin,  dass  man, 
indem  man  zwischen  Einbildungskraft  und  Verständnis 
nicht  unterscheidet,  meint,  was  wir  uns  leichter  einbilden 
sei  auch  klarer  und  dass  man  das ,  was  man  sich  ein- 
bildet,  auch  zu  erkennen  glaubt.  Dadurch  stellt  man  das 
voraus,  was  zurückzustellen  ist,  die  rechte  Ordnung 
des  Fortschritts  wird  verkehrt  und   nichts  wird   richtig 

^^^^ Um* nun  zu  dem  zweiten  Teile  dieses  Verfah- 
rens  zu  gelangen,  werde  ich  zuerst  mein  Ziel  bei  diesem 
Verfahren  angeben  und  dann  die  Mittel,  es  zu  erreichen.*) 
Mein  Ziel  ist  also  der  Besitz  von  klaren  und  deutlichen 
Vorstellungen ,  d.  h.  von  solchen ,  die  rein  aus  der  beele 
und  nicht  aus  zufälligen  Bewegungen  des  Körpers  gebildet 
sind.  Ferner,  alle  Vorstellungen  auf  eine  zurückzuführen 
und  deshalb  zu  versuchen,  sie  so  zu  verketten  und  zu 
ordnen,  dass  unsere  Seele,  so  weit  es  möghch  ist,  im 
Wissen  das  Sein  der  Natur  als  Ganzes  und  nach  deren 
Teilen  wiederspiegelt,  ^ß)  .     .  i       , 

Was  das  Erste  anlangt,  so  gehört,  wie  ich  schon 
dargelegt  habe,  zu  unserem  letzten  Zweck,  dass  die  Dinge 
entweder  durch  ihr  Wesen  allein  oder  durch  ihre  nächste 
Ursache  erfasst  werden.  Wenn  nämlich  die  Sache  an  sich 
ist,  oder  wie  man  gewöhnlich  sagt,  die  Ursache  ihrer  ist, 
so  wird  sie  dann  durch  ihr  Wesen  allein  eingesehen  wer- 
den müssen;  ist  die  Sache  aber  nicht  an  sich,  sondern 
bedarf  sie  zu  ihrem  Dasein  einer  Ursache ,  so  muss  sie 
durch  ihre  nächste  Ursache  eingesehen  werden;  denn  die 
Erkenntnis  der  Wirkung  ist  in  Wahrheit  nur  der  Erwerb 
einer  vollkommenem  Erkenntnis  der  Ursache.  **)»'')   Des- 


*)  Die  Hauptregel  dieses  Teiles  ist,  wie  aus  dem 
ersten  Teile  sich  ergiebt,  alle  Vorstellungen  zu  prüfen, 
die  wir,  als  zu  dem  reinen  Verstände  gehörig,  m  uns  an- 
trefi'en,  und  sie  von  den  Vorstellungen  der  Einbildungskraft 
zu  unterscheiden,  was  aus  den  Eigentümlichkeiten  einer 
jeden,  nämlich  der  Einbildungskraft  und  des  Verstandes, 
abzunehmen  ist. 

**)  Hieraus  erhellt;,  dass  wir  von    der  Natur  nichts 


halb  ist  es  uns  niemals  gestattet,  so  lange  es  sich  um  die 
Untersuchung  der  Erkenntnis  der  Dinge  handelt,  aus  ab- 
strakten Vorstellungen  Etwas    zu  folgern,    und   man  hat 
sich  sehr  vorzusehen  und  das,  was  nur  in  dem  Verstände 
ist, 98)  nicht   mit   dem,  was  in   den  Dingen  ist,  zu  ver- 
mengen.   Die  beste  Folgerung  ist  die,  welche  von  einer 
besondern  bejahenden  Wesenheit  oder  von  einer  wahren 
und  richtigen  Definition   abgeleitet  wird.     Denn  von  den 
allgemeinen  Grundsätzen  allein  kann  der  Verstand  nicht 
zu  dem  Einzelnen  herab  gelangen ;  denn  jene  Grundsätze 
erstrecken  sich  über  unendlich  Vieles  und  bestimmen  den 
Verstand  zur  Betrachtung  des  einen  Einzelnen  nicht  mehr 
als  des  andern.    Deshalb  ist  der  rechte  Weg  der  Auffin- 
dung  der,    dass  man  die  Gedanken  aus  einer  gegebenen 
Definition  bildet.    Dies  geht  um  so  besser  und  leichter. 
je  besser  man  die  Sache  definiert  hat.    Deshalb  dreht  sich 
die  Angel  dieses  ganzen  zweiten  Teiles  des  Verfahrens 
nur   um    die  Erkenntnis    der   Bedingungen    einer   guten 
Definition  und  um  die  Art  und  Weise,  sie  zu  gewinnen. 
Hiernach  werde  ich  zunächst  von  den  Bedingungen  der 
Definition  handeln.  99)  ^     ^ 

Wenn  die  Definition  vollkommen  sein  soll,  so  muss 
sie  das  innerste  Wesen  der  Sache  darlegen  und  sich  hüten, 
statt  dessen  eine  Eigentümlichkeit  zu  nehmen.  Zur  Er- 
läuterung dessen  will  ich  mit  Uebergehung  gewisser  Bei- 
spiele, damit  es  nicht  scheine,  als  wollte  ich  Anderer 
ioni  aufdecken,   nur   das   Beispiel  einer  abstrakten 

öache  anführen,  bei  der  es  einerlei  ist,  wie  man  sie 
üeüniert,  nämlich  den  Kreis.  Lautet  die  Definition  desselben 
üaliin  dass  er  die  Gestalt  ist,  deren  Linien  von  dem 
Mittelpunkte  nach  dem  Umringe  gleich  sind,  so  sieht 
jedermann ,  dass  diese  Definition  das  Wesen  des  Kreises 
Keinesweges  ausdrückt,  sondern  nur  eine  Eigentümlich- 
keit desselben.  Und  wenn  dies  auch,  wie  gesagt,  bei  den 
^iguren  und  den  übrigen  Gedanken-Din|en  wenig  aus- 
HM?  '  n?  ™^^^*  ®^  ^^^^  ^®^  ^®^  natürlichen  und  wirk- 
S  '¥^''  '^^}  ^"s;  die  Eigentümlichkeiten  einer 
öache  werden  nämUch  nicht  erkannt,  so  lange  ihr  Wesen 

er£n ^??  können,  ohne  zugleich  unsere  Erkenntnis  der 
ersten  Ursache  oder  Gottes  zu  erweitern. 


VI 


40  Bedingungen  einer  guten  Definition. 

nicht  erkannt  ist;  schickt  man  also  jene  voraus,  so  ver- 
kehrt man  unvermeidlich  die  Verkettung  im  Verstände, 
welche  der  Verkettung  in  den  Dingen  entsprechen  soll, 
und  kommt  von  seinem  Ziele  gänzlich  ab.  >'»  Um  also 
diesen  Fehler  zu  vermeiden,  ist  bei  der  Definition  Polgen- 

dpa  zu  beobachten :  ,    „       r.    i. 

I  Handelt  es  sich  um  eine  erscha«fene  Sache,  so 
muss  wie  gesagt,  die  Definition  ihre  nächste  Ursache  ent- 
halten ofr  Kreis  ist  z.  B.  nach  dieser  Regel  so  zu  de- 
fineren-  Er  ist  eine  Figur,  welche  von  einer  beliebigen 
LWe  beschrieben  wird,  deren  eines  Ende  fest  und  to 
andere  beweglich  ist.  Diese  Definition  umfasst  deutlich 
die  "^«hste^^^sach.-)^  ^.^  ^^^^.^.^^  ^.^^^ 

eine  solche  sein,  dass  alle  Eigentümlichkeiten  derselben, 
wenn  sie  an  siJh  und  ohne  Verbindung  mit  andern  be- 
Traohtet  wird,  aus  ihr  gefolgert  werden  können,  wie  dies 
an  dieser  Definition  des  Kreises  zu  sehen  ist.  Denn  man 
kann  daraus  deutlich  folgern,  ^as^  .»»e  Linien  von  dem 
Mittelpunkte  nach  dem  Umkreise  gleich  ««a.  i»^)  Dass 
dies  ein  notwendiges  Erfordernis  der  Definition  se  ,  ist 
bei  einiger  Aufmerksamkeit  so  offenbar,  dass  es  nicht  der 
Mühe  virlohnt.  bei  dessen  Beweis  sich  aufzuhalten,  noch 
zu  zeigen,  dass  wegen  dieses  zweiten  Erfordernisses  jede 
Definition  bejahend  sein  muss.  Ich  meme  dabei  die  Be- 
jahungTm  Denken,  ohne  die  Bejahung  in  Worten  zu  be- 
achten ; '«')  denn  bei  der  Armut  der  Sprache  kann  der 
Gedanke  vielleicht  verneinend  ausgedrückt  werden  müssen, 

"'^'tVgen  tnd'Äfordernisse  der  Definition  einer 
„nerschaffenen  Sache:  ^^^^^^uesst,  d.  h.  dass  die 

Sache  keiner  anVern  neben  ihrem  Sein  zu  ihrer  Erklärung 

*"^"i:    Dass,  wenn  die  Definition  gegeben  ist,  kein  Platz 
für  die  Praee  bleibt,  ob  die  Sache  ist.«**)    .    .      „      , 
'"'   III.   Da?s  sie  ii  bezng   auf  die  Seele  keine  Haup- 
wörter  hat,  welche  in  Eigenschaftswörter  verwandelt  wer- 
den können ,   d.  h.  dass  sie  durch  kerne  abstrakten  Vor- 

^'^nrEuÄÄSS  (obgleich  dies  zu  er^h^ 
nen  nicht  sehr  notwendig  ist),   dass  aus  der  Definition 


Die  Ordnung  der  Vorstellungen, 


41 


derselben  alle  ihre  Eigentümlichkeiten  gefolgert  werden 
können.  ^^) 

Für  den  Aufmerksamen  werden  auch  diese  Bestim- 
mungen alle  selbstverständlich  sein. 

Ich  habe  auch  gesagt,  dass  die  beste  Folgerung  von 
einer  besondern  bejahenden  Wesenheit  entnommen  wer- 
den muss;  denn  je  mehr  die  Vorstellung  in  das  Einzelne 
geht,  desto  bestimmter  und  folglich  desto  deutlicher  ist 
sie.  Deshalb  ist  die  Erkenntnis  der  Besonderheiten  vor- 
züglich zu  erstreben. 

In  bezug  auf  die  Ordnung  und  dass  alle  unsere  Vor- 
stellungen geordnet  und  geeint  seien,  ist  erforderlich  und 
von  der  Vernunft  geboten,  dass  wir  so  schnell  als  mög- 
lich erforschen,  ob  es  ein  Wesen  giebt  und  wie  es  be- 
schaffen ist,  was  die  Ursache  aller  Dinge  ist,  und  dessen 
wissende  Wesenheit  auch  die  Ursache  aller  unserer  Vor- 
stellungen ist,  so  dass  unsere  Seele,  wie  gesagt,  die  Natur 
möglichst  wiedergiebt;  denn  dann  wird  sie  deren  Wesen- 
heit und  Ordnung  und  Einheit  als  gewusste  in  sich 
haben,  ^o^)  Daraus  erhellt,  dass  wir  vor  allem  alle  unsere 
Vorstellungen  immer  von  den  natürlichen  Gegenständen 
oder  von  den  wirklichen  Wesen  ableiten  und  dabei  so  viel 
als  möglich  nach  der  Reihe  der  Ursachen  von  einem  wirk- 
lichen Wesen  zu  dem  andern  fortschreiten,  ohne  auf  die 
abstrakten  und  universellen  Vorstellungen  tiberzugehen  und 
ohne  weder  etwas  Wirkliches  aus  diesen  zu  folgern  noch 
sie  aus  einem  Wirklichen  zu  folgern;  denn  beides  unter- 
bricht den  wahren  Fortschritt  des  Verstandes,  ^o^) 

Indes  verstehe  ich  hier  unter  der  Reihe  der  Ursachen 
und  wirklichen  Wesen  nicht  die  Reihe  der  einzelnen  ver- 
gänglichen Dinge,  sondern  nur  die  Reihe  der  festen  und 
ewigen  Dinge.  Denn  die  Reihe  der  einzelnen  veränder- 
lichen Dinge  kann  von  der  menschlichen  Schwachheit 
nicht  vollständig  erfasst  werden;  teils  wegen  ihrer  jede 
Zahl  übersteigenden  Menge,  teils  wegen  der  unzähligen 
in  ein  und  derselben  Sache  zusammentreffenden  Umstände, 
deren  jeder  die  Ursache  für  das  Dasein  oder  Nicht-Dasein 
der  Sache  sein  kann;  da  das  Dasein  der  Sache  keine  Ver- 
knüpfung mit  ihrer  Wesenheit  hat  oder,  wie  gesagt,  keine 
ewige  Wahrheit  ist.  io9)  Ueberdem  ist  es  auch  nicht  nötig, 
deren  Reihe  zu  kennen,  da  die  Wesenheit  der  einzelnen 
veränderlichen  Dinge  nicht  aus  deren  Reihenfolge  oder 

Spinoza* 8  Abb.  üb.  Verbesa«r.  d.  Veritand«B.  5 


tfc 


42 


Die  Erkenntnis  der  einzelnen  Dinge. 


Die  Kräfte  des  Verstandes. 


43 


Ordnung  im  Dasein  entnommen  werden  kann ;  denn  diese 
bietet  uns  nur  äusserliche  Benennungen,  Beziehungen  und 
höchstens   Nebenumstände ,  welche   alle  von    der   innern 
Wesenheit  der  Sache  weit  abliegen.  "O)    Es  ist  also  nur 
ihre  Wesenheit  von    den   unveränderlichen   und    ewigen 
Dingen   zu   entnehmen   und   zugleich  von  den  darin,  wie 
in  ihren  wahren  Gesetzbüchern,  eingeschriebenen  Gesetzen, 
nach  denen  alles  Einzelne  geschieht  und  sich  ordnet.  Ja, 
jene  veränderlichen  einzelnen  Dinge  hängen  so  innig  und 
wesentlich  (so  zu  sagen)  von  jenen  unveränderlichen  ab, 
dass  sie  ohne  letztere  weder  sein,  noch  begriflfen  werden 
können.     Deshalb    werden    jene    unveränderlichen    und 
ewigen  Dinge,  trotz  ihrer  Einzelheit,  vermöge  ihrer  All- 
gegenwart  und  weitesten  Macht   für   uns   gleichsam  die 
Allgemeinheiten  oder  die  Gattungen  der  Definitionen  der 
einzelnen  veränderlichen  Dinge  und  die  nächsten  Ursachen 

aller  Dinge  sein."i)  ,   .  .  ^      ^^        u 

Wenn  dies  sich  so  verhält,  so  scheint  der  Birwerb 
der  Erkenntnis  dieser  einzelnen  Dinge  mit  grossen 
Schwierigkeiten  verknüpft;  denn  die  gleichzeitige  Vor- 
stellung ihrer  Aller  übersteigt  weit  die  Kräfte  des  mensch- 
lichen Verstandes  und  die  Ordnung,  nach  der  eines  aus 
dem  andern  zu  erkennen  ist,  kann,  wie  gesagt,  nicht  aus 
der  Reihenfolge  ihres  Daseins  und  auch  nicht  aus  den 
ewigen  Dingen  abgeleitet  werden,  da  sie  alle  dort  von 
Natur  zugleich  sind.  Deshalb  müssen  hier  andere  Hülfa- 
mittel  neben  jenen  gesucht  werden,  deren  man  sich  zur 
Erkenntnis  der  ewigen  Dinge  und  deren  Gesetze  bedient. 
Doch  gehört  die  Erörterung  derselben  nicht  hierher  und 
es  bedarf  deren  auch  nicht,  bevor  man  nicht  eine  ge- 
nügende Erkenntnis  der  ewigen  Dinge  und  ihrer  untrüg- 
lichen Gesetze  erlangt  hat,  und  die  Natur  unserer  Sinne 
uns  bekannt  geworden  ist.^^^) 

Bevor  wir  uns  zur  Erkenntnis  der  einzelnen  Dinge 
rüsten,  wird  es  Zeit  sein,  die  Hülfsmittel  darzulegen,  welche 
alle  darauf  hinzielen,  dass  wir  verstehen,  unsere  Sinne  zu 
gebrauchen  und  Versuche  nach  festen  Regeln  ordentlich 
anzustellen,  so  weit  sie  zur  Bestimmung  des  untersuchten 
Gegenstandes  erforderlich  sind,  damit  wir  daraus  zuletzt 
folgern,  nach  welchen  ewigen  Gesetzen  der  Natur  sie  ge- 
bildet sind  und  ihre  innerste  Natur  von  uns  erkannt  werde, 
wie  ich  an  seinem  Orte  darlegen  werde.    Hier  bestrebe 


ich  mich,  um  zu  meiner  Aufgabe  zurückzukehren,  nur 
das  zu  lehren,  was  notwendig  ist,  um  zur  Erkenntnis  der 
ewigen  Dinge  zu  gelangen  und  ihre  Definitionen  nach  den 
oben  angegebenen  Bedingungen  zu  bilden. 

Ich  erinnere  zu  dem  Behufe  an  das  oben  Gesagte, 
nämlich  dass,  wenn  die  Seele  auf  einen  Gedanken  acht 
hat,  sie  ihn  erwäge  und  aus  ihm  in  richtiger  Ordnung 
das  ableite,  was  regelmässig  daraus  abgeleitet  werden 
kann,  und  dass  sie,  wenn  er  falsch  ist,  diese  Falschheit  auf- 
decke ;  ist  der  Gedanke  aber  wahr,  dann  soll  sie  nur  ge- 
trost ohne  alle  Unterbrechung  fortfahren,  die  wahren  Dinge 
daraus  abzuleiten;  dies,  sage  ich,  gehört  zu  unserer  Auf- 
gabe. Denn  wo  keine  Grundlage  ist,  da  können  unsere 
Gedanken  nicht  bestimmt  werden;  wollen  wir  also  den 
ersten  Gegenstand  von  allem  erforschen,  so  muss  eine 
Grundlage  gegeben  sein ,  welche  unsere  Gedanken  dahin 
leitet.  Da  mein  Verfahren  aber  die  zurückschauende  Er- 
kenntnis selbst  ist,  so  kann  die  Grundlage,  welche  unsere 
Gedanken  zu  leiten  hat,  nur  die  Erkenntnis  dessen  sein, 
was  die  Form  der  Wahrheit  ^^^^  ausmacht,  desgleichen  die 
Erkenntnis  des  Verstandes,  seiner  Eigenschaften  und 
Kräfte.  Haben  wir  diese  Erkenntnis  erworben,  so  haben 
wir  die  Grundlage,  von  wo  wir  unsere  Gedanken  fortleiten, 
und  den  Weg  erlangt,  auf  dem  der  Verstand  nach  seinen 
Fähigkeiten  zur  Erkenntnis  der  ewigen  Dinge,  mit  Rück- 
sicht nämlich  auf  seine  Kräfte,  gelangen  kann,  ^i*) 

Da  es  nun,  wie  im  ersten  Teil  gezeigt  worden,  zur 
Natur  des  Denkens  gehört,  wahre  Vorstellungen  zu  bilden, 
so  habe  ich  hier  zu  ermitteln,  was  unter  den  Kräften  und 
der  Macht  des  Verstandes  zu  verstehen  ist.  Da  ein  wich- 
tiger Teil  meines  Verfahrens  darin  besteht,  die  Kräfte 
und  die  Natur  des  Verstandes  möglichst  zu  erkennen,  so 
muss  ich  dies  (nach  dem,  was  ich  in  dem  zweiten  Teile 
gesagt  habe)  aus  der  Definition  des  Denkens  und  des  Ver- 
standes selbst  ableiten.  Allein  bis  jetzt  haben  wir  keine 
Regeln  zur  Auffindung  der  Definitionen  gehabt  und  ebenso 
wenig  kann  ich  sie  lehren  ohne  Erkenntnis  der  Natur 
oder  ohne  Definition  des  Verstandes  und  seiner  Macht 
Hieraus  folgt,  dass  die  Definition  des  Verstandes  entweder 
durch  sich  selbst  klar  sein  muss,  oder  dass  wir  überhaupt 
nichts  erkennen  können.  Jene  Definition  ist  nun  an  sich 
nicht  unbedingt  klar;  allein  da  die  Eigenschaften  des  Ver- 

6* 


i 


', ! 


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Die  Eigenschaften  des  Verstandes. 


Die  Eigenschaften  des  Verstandes. 


45 


Standes,  wie  alles,  was  man  durch  den  Verstand  hat,  nur 
nach  Erkenntnis  ihrer  Natur  klar  und  deutlich  aufgefasst 
werden  können,  so  wird  die  Definition  des  Verstandes  sich 
von  selbst  ergeben,  wenn  man  auf  seine  klar  und  deutlich 
erkannten  Eigenschaften  acht  hat.  Ich  werde  deshalb  die 
Eigenschaften  des  Verstandes  aufzählen,  sie  erwägen  und 
von  den  uns  eingeborenen*)  Werkzeugen  zu  handeln  be- 
ginnen. 1^^) 

Die  Eigenschaften  des  Verstandes,  die  ich  besonders 
bemerkt  habe  und  klar  einsehe,  sind: 

1)  Dass  er  die  Gewissheit  einschliesst,  d.  h.  er  weiss, 
dass  die  Sache  sich  in  Wirklichkeit  so  verhält,  wie  sie 
als  gewusst  in  ihm  enthalten  ist.^^^) 

2)  Dass  er  mancherlei  auffasst,  sei  es,  dass  er  gewisse 
Vorstellungen  selbständig  bildet,  oder  dass  er  sie  aus 
anderen  bildet.  So  bildet  er  die  Vorstellung  der  Grösse 
selbständig,  ohne  dabei  auf  andere  Vorstellungen  zu 
achten;  dagegen  können  die  Vorstellungen  der  Bewegung 
nur  in  Hinblick  auf  die  Vorstellung  der  Grösse  gebildet 
werden.  11') 

3)  Die  Vorstellungen,  welche  er  ohne  andere  bildet, 
drücken  die  Unendlichkeit  aus;  dagegen  bildet  er  die 
endlichen  Vorstellungen  aus  anderen.  Wenn  der  Verstand 
nämlich  die  Vorstellung  der  Grösse  durch  eine  Ursache 
erhält,  so  bestimmt  er  die  Grösse  so,  wie  er  sie  auf- 
fasst, wenn  er  sich  vorstellt,  dass  aus  der  Bewegung  einer 
Ebene  ein  Körper,  aus  der  Bewegung  einer  Linie  eine 
Ebene  und  aus  der  Bewegung  eines  Punktes  eine  Linie 
entsteht,  welche  Vorstellungen  sämtlich  nicht  zur  Er- 
kenntnis, sondern  nur  zur  Bestimmung  der  Grösse 
dienen.  Dies  erhellt  daraus,  dass  man  sie  als  aus  einer 
Bewegung  entstehend  vorstellt,  obgleich  doch  die  Vor- 
stellung der  Bewegung  nur  gefasst  werden  kann,  wenn 
die  Vorstellung  der  Grösse  zuvor  erfasst  ist;  ebenso  kann 
man  die  Bewegung,  welche  zur  Bildung  einer  Linie  dient, 
ohne  Ende  fortsetzen,  was  man  nicht  könnte,  wenn  man 
nicht  schon  vorher  die  Vorstellung  einer  unendlichen  Grösse 
hätte.  118) 

4)  Der  Verstand  bildet  die  bejahenden  Vorstellungen 
früher  als  die  verneinenden,  i^^) 

*)  Man  sehe  oben  Seite  12. 


5)  Er  fasst  die  Dinge  nicht  sowohl  nach  der  Dauer 
auf,  als  unter  einer  gewissen  Form  der  Ewigkeit  und  nach 
einer  unendlichen  Zahl  auf;  oder  vielmehr,  er  achtet  zur 
Erfassung  der  Dinge  nicht  auf  ihre  Zahl  und  ihre  Dauer ; 
wenn  er  aber  die  Dinge  sich  in  der  Einbildungskraft  vor> 
stellt,  so  fasst  er  sie  nach  einer  bestimmten  Zahl  und  einer 
bestimmten  Dauer  und  Grösse  auf.^^o) 

6)  Die  Vorstellungen,  welche  man  als  klare  und 
deutliche  bildet,  scheinen  so  aus  der  Notwendigkeit 
unserer  Natur  zu  folgen,  dass  sie  ganz  von  unserer  Macht 
abzuhängen  scheinen ;  bei  den  verworrenen  Vorstellungen 
findet  das  Gegenteil  statt,  denn  sie  bilden  sich  oft  gegen 
unseren  Willen.  121) 

7)  Die  Vorstellung  von  Dingen,  welche  der  Verstand 
aus  anderen  bildet,  kann  die  Seele  auf  mannigfache  Weise 
bestimmen;  um  z.  B.  die  Ebene  einer  Ellipse  zu  be- 
stimmen^  stellt  sie  sich  vor,  dass  ein  Stift  innerhalb  eines 
Fadens  sich  um  zwei  Mittelpunkte  bewege,  oder  sie  stellt 
sich  unendlich  viele  Punkte  vor,  welche  alle  dasselbe 
Verhältnis  zu  einer  gegebenen  geraden  Linie  einhalten, 
oder  sie  stellt  sich  einen  schief  durchschnittenen  Kegel 
so  vor,  dass  der  Winkel  der  Neigung  grösser  ist,  als  der 
Winkel  an  der  Spitze  des  Kegels,  oder  auf  noch  unzäh- 
lige andere  Weise.  122) 

8)  Die  Vorstellungen  sind  um  so  vollkommener,  je 
mehr  Vollkommenheit  ihres  Gegenstandes  sie  ausdrücken. 
Wir  bewundern  den  Baumeister,  der  eine  Kapelle  aus- 
gedacht hat  nicht  so,  wie  den,  welcher  einen  bedeutenden 
Tempel  ausgedacht  hat^^s) 

Bei  dem  Uebrigen,  was  sich  auf  das  Denken  bezieht, 
wie  Liebe,  Fröhlichkeit  u.  s.  w.  halte  ich  mich  nicht  auf, 
denn  für  meine  jetzige  Aufgabe  helfen  diese  nichts,  auch 
können  sie  ohne  Erkenntnis  des  Verstandes  nicht  ver- 
standen werden,  denn  mit  Aufhebung  des  Vorstellens  wird 
auch  dies  Alles  mit  aufgehoben.  124) 

Bei  den  falschen  und  eingebildeten  Vorstellungen  ist 
es  nicht  ihr  bejahender  Inhalt  (wie  ich  genügend  gezeigt 
habe),  weshalb  sie  falsch  oder  eingebildet  genannt  werden, 
sondern  sie  gelten  nur  aus  einem  blossen  Mangel  des 
Denkens  als  solche.  Deshalb  können  die  falschen  und 
eingebildeten  Vorstellungen  als  solche  uns  über  das  Wesen 
des  Denkens  nicht  belehren,  vielmehr  muss  dies  aus  den 


46  Die  Eigenschaften  des  Verstandes. 

eben  aufgezählten  bejahenden  Eigenschaften  abgenommen 
werden,  d.  h.  man  muss  etwas  Gemeinsames  aufstellen, 
aus  dem  diese  Eigenschaften  notwendig  folgen,  oder  mit 
dessen  Setzung  auch  diese  notwendig  gesetzt  werden 
und  mit  dessen  Aufhebung  auch  dies  Alles  aufgehoben 
wird.  125) 

(Das  üebrige  fehlt)  ^26) 


Benedict  von  Spinoza's 

Politische  Abhandlung 

in  welcher 

dargelegt  wird,  wie  die  Verfassung  sowohl  bei  einem 
monarchischen  wie  bei  einem  aristokratischen  Eegiment 
beschaffen  sein  müsse,  damit  sie  nicht  in  Tyrannei 
ausarte,  sondern  der  Friede  und  die  Freiheit  der  Bürger 
unverletzt  erhalten  bleibe. 


49 


1  Brief  te  Massers  an  m  Frert, 


welcher 


dieser  politischen  Abhandlung   als  Vorrede   passend 
vorausgehen  und  sie  vertreten  kann. 


\i 


Werter  Freund!  Dein  lieber  Brief  ist  mir  gestern 
überbracht  worden.  Ich  danke  Dir  herzlich  für  die  Teil- 
nahme, die  Du  an  mir  nimmst.  Ich  Hesse  diese  Gelegen- 
heit  u.  s.  w.  nicht  vorbeigehen,  wäre  ich  nicht  bei  einer 
Arbeit,  die  ich  für  nützlicher  halte  und  die,  wie  ich  glaube. 
Dir  mehr  gefallen  wird ;  nämlich  bei  der  Ausarbeitunff 
einer  politischen  Abhandlung,  die  ich  auf  Deine  Veran- 
lassung vor  einiger  Zeit  begonnen  habe.    Sechs  Kapitel 

A  *  I,.  I  .^*^°°  ®^^^^  ^®^'g-     ^as  erste  enthält  eine 
Art  iLmleitung  zu  dem  ganzen  Werke;  das  zweite  han- 
delt vom  Naturrecht;  das  dritte  vom  Recht  der  höchsten 
Staatsgewalt;  das  vierte  von  den  politischen  Geschäften, 
welche  zum  Regimente  dieser  höchsten  Staatsgewalt  ge- 
hören; das  fünfte  von  dem  letzten  und  höchsten  Ziele 
aer  bürgerlichen  Gesellschaft  und  das  sechste  von  der 
i!.mrichtung  des  monarchischen  Regiments,  damit  es  nicht 
in  lyrannei  ausarte.    Jetzt  bin  ich  bei  dem  siebenten 
^apitel,   in   welchem  ich  alle  Stücke  des   vorgehenden 
^apitels,  welche  die  Verfassung  einer  gut  eingerichteten 
Monarchie  betreffen,  der  Reihe  nach  darlege.    Dann  werde 
ich  zur  aristokratischen  und  demokratischen  Regierungs- 
lorm  und  zuletzt  zu  den  Gesetzen  und  zu  einigen  anderen, 


50 

auf  den  Staat  bezüglichen  Fragen  übergehen.  Damit  ge- 
hab Dich  wohl;  u.  s.  w.  .,.,,,  ,r  e  i 
Hieraus  kann  man  die  Absicht  des  Verfassera  ent- 
nehmen: indes  hat  Krankheit  und  der  Tod  ihn  gehindert, 
das  Werk  weiter,  als  bis  zum  Schluss  der  Aristokratie 
zu  bringen,  wie  der  Leser  selbst  finden  wird,  i) 


61 


Benedict  von  Spinoza's 

Politische  Abhandlung/^ 


Erstes  Kapitel. 

§  1.  Die  Gemütsbewegungen,  von  denen  wir  er- 
faast  werden,  betrachten  die  Philosophen  als  Fehler,  in 
welche  die  Menschen  durch  ihre  Schuld  geraten;  sie 
pflegen  sie  deshalb  zu  belachen,  oder  zu  beweinen,  oder 
zu  tadeln,  oder  (wenn  sie  sich  den  Schein  der  Heiligkeit 
geben  wollen)  zu  Terfluchen.  So  meinen  sie  ein  göttliches 
Werk  zu  verrichten  und  den  Gipfel  der  Weisheit  dadurch 
zu  erreichen,  dass  sie  eine  menschliche  Natur,  die  nirgends 
besteht,  auf  alle  Weise  loben  und  die  wirklich  vorhandene 
zu  beschimpfen  verstehen. 

Denn  sie  nehmen  die  Menschen  nicht,  wie  sie  sind, 
sondern  wie  sie  nach  ihnen  sein  sollten;  daher  kommt 
es  denn,  dass  sie  statt  einer  Ethik  eine  Satyre  geschrieben 
haben  und  dass  sie  niemals  eine  Staatsverfassung  erdacht 
haben,  von  der  man  hätte  Gebrauch  machen  können, 
sondern  nur  eine,  die  man  für  eine  Chimäre  3)  halten 
musste,  und  die  nur  in  Utopien  oder  in  jenem  goldenen 
Zeitalter  der  Dichter,  wo  sie  am  wenigsten  nötig  wäre, 
eiDgeführt  werden  könnte.  Da  so  von  allen  praktischen 
Wissenschaften  die  Lehre  vom  Staat  am  meisten  von  der 
Wirkhchkeit  abweicht,  so  gelten  auch  die  Theoretiker  oder 
rhilosophen  als  Die,  welche  am  wenigsten  zur  Leitung  des 
Staats  geschickt  sind.  *)  - 

§  2.  Umgekehrt  gelten  die  praktischen  Staatsmänner 
lor  solche,  welche  den  Menschen  mehr  nachstellen  als  für 


52 


Politische  Abh.     Kap.  1.     §.  3.  4. 


]^i 


Ifis 


deren  Wohl  sorgen;  man  hält  diese  Männer  mehr  für  listig, 
als  für  weise ;  die  Erfahrung  hat  sie  nämlich  belehrt,  dass 
es  Laster  geben  werde,  so  lange  es  Menschen  geben 
wird.  Indem  sie  sich  bestreben,  der  Bosheit  der  Menschen 
zuvorzukommen  und  zwar  vermittels  der  Künste,  welche 
die  Erfahrung  durch  lange  üebung  gelehrt  hat  und  welche 
man  mehr  aus  Furcht  als  in  Leitung  der  Vernunft  anzu- 
wenden pflegt,  so  erscheinen  sie  als  Gegner  der  Religion, 
namentlich  in  der  Meinung  der  Theologen,  welche  glauben, 
dass  die  oberste  Staatsgewalt  die  öffentlichen  Angelegen- 
heiten nach  denselben  Regeln  der  Frömmigkeit  betreiben 
müsse,  an  die  der  Einzelne  gebunden  ist.  Unzweifelhaft 
haben  jedoch  die  Staatsmänner  über  Politik  besser  als 
die  Philosophen  geschrieben;  denn  sie  hatten  die  Erfah- 
rung zur  Lehrmeisterin  und  lehrten  deshalb  nichts  Un- 

ausführbares. 

§  3.  Ich  bin  nämlich  überzeugt,  dass  man  durch 
die  Erfahrung  alle  die  Staatsformen  kennen  gelernt  hat, 
welche  zum  einträchtigen  Beisammenleben  der  Menschen 
ausgedacht  werden  können.  &)  Dasselbe  gilt  für  die  Mittel, 
durch  welche  die  Menge  geleitet  oder  innerhalb  gewisser 
Schranken  gehalten  werden  muss,  und  ich  glaube  daher 
nicht,  dass  man  irgend  otwas  Ausführbares  und  der  Er- 
fahrung Entsprechendes  in  diesem  Gebiete  erdenken  kann, 
was  nicht  bereits  versucht  und  bekannt  geworden  ist. 
Denn  die  Menschen  sind  so  beschaffen,  dass  sie  ausser- 
halb allen  gemeinen  Rechtes  nicht  leben  können;  dieses 
gemeine  Recht  und  die  öffentlichen  Angelegenheiten  sind 
aber  bereits  von  den  scharfsinnigsten,  bald  schlauen,  bald 
einsichtigen  Männern  eingerichtet  und  behandelt  worden, 
und  es  ist  deshalb  kaum  glaublich,  dass  man  noch  etwas 
für  die  bürgerliche  Gesellschaft  Nützliches  erfinden  könne, 
was  nicht  bereits  die  Gelegenheit  oder  der  Zufall  geboten 
hat,  und  was  die  Menschen  bei  Betreibung  der  gemein- 
samen Geschäfte  und  in  Fürsorge  für  ihre  Sicherheit  nicht 
schon  bemerkt  haben.  ^) 

§  4.  Als  ich  daher  mein  Denken  der  Politik  zu- 
wendete, wollte  ich  keineswegs  etwas  ganz  Neues  und 
Unerhörtes,  sondern  nur  das  mit  der  Wirklichkeit  am 
besten  Uebereinstimmende  auf  eine  sichere  und  unzweifel- 
hafte Weise  darlegen  oder  aus  den  Bedingungen  der 
menschlichen  Natur  ableiten.    Um  das,  was  dieser  Wissen- 


Die  Begierden  zur  Natur  d.  Menschen.  53 

Schaft  angehört,  mit  derselben  Unbefangenheit,  wie  es 
bei  der  Mathematik  geschieht,  zu  untersuchen,   habe  ich 
mich  sorgfaltig  gehütet,  die  Handlungen  der  Manschen  zu 
belachen  oder  zu  beklagen  oder  zu  verwünschen,  sondern 
nur  gestrebt,   sie   zu  verstehen.     Ich  habe  deshalb   die 
menschlichen  Gemütszustände,  wie  die  Liebe,   den  Hass. 
den  Zorn,  den  Neid,  den  Ehrgeiz,  das  Mitleiden  u.  s.  w 
nicht  als  Fehler  der  menschlischen  Natur,  sondern  als 
Eigenschaften  betrachtet,  welche  ihr  ebenso  zukommen, 
wie  der  Natur  der  Luft  die  Hitze,  die  Kälte,  der  Sturm 
der  Donner  und  ähnliches,  was,  wenn  auch  lästig,  doch 
notwendig  ist  und  seine  festen  Ursachen  hat,   durch  die 
man  deren  Natur  zu  erkennen  sucht,  und  in  deren  Be- 
rachtuDg  der  Geist  denselben  Genuss  findet,  wie  an  der  Er- 
kenntnis der  Gegenstände,  welche  die  Sinne  ergötzen.  7) 

Lvu-i?    I    ^°L°  ®®  ^®*  ^®^^««  "°^  Jch  habe  es  in  meiner 
Mhik   als   wahr   nachgewiesen,   dass  die  Menschen  mit 
Notwendigkeit  den  Gemütsbewegungen  unterworfen  und 
80  beschaffen  sind,  d^s  sie  die  Elenden  bemitleiden  und 
die  Glücklichen  beneiden  und  dass  sie  mehr  zur  Rache 
als  zur  Barmherzigkeit  neigen  und  dass  Jeder  wünscht, 
die  Uebrigen   sollen    nach   seinem   Sinn    leben   und    das 
billigen,  was  er  billigt  und  das  verabscheuen,  was  er  ver- 
abscheut.   So  geraten  sie,  da  Alle  gleich  sehr  die  Ersten 
sein  wollen,  in  Streit  und  suchen  sich  nach  Kräften  sesen- 
seitig   zu    unterdrücken.     Wer   dabei   den    Sieg   erringt, 
wird  mehr  wegen  des  dem  Andern  zugefügten  Schadens 
a  8  wegen  des  für  sich  erlangten  Vorteils  gefeiert.    Ob- 
gleich jedermann  überzeugt  ist,  dass  dies  der  Religion  zu- 

«^ih'Vil^T-^t^^  ^^n"^*'  ^*««  j^^^^  ««^°en  Nächsten  wie 
sich  selbst  heben  solle,  d.  h.  jeder  solle  das  Recht  des 
Andern  wie  sein  eigenes  verteidigen,  so  habe  ich  doch 
Dachgewiesen,  dass  diese  Ueberzeugung  gegen  die  Leiden- 
schaften wenig  vermag.  Solche  Lehre  wirkt  in  der  Stunde 
wn  J^^^l^'.  ""^  ^i®  Krankheit  die  Leidenschaften  aber- 
wunden hat  nnd  der  Mensch  träge  auf  seinem  Lager  liegt; 

Ä/°w°.P^**^'\^°«®^°>  ^0  ^ie  Menschen  ?eine  Ge- 
schäfte betreiben ;   aber  sie  wirkt  nicht  auf  dem  Markte. 

f.Z  Hofe,  wo  sie  doch  am  nötigsten  ist.  Ich  habe 
;«?  Irf  ®^.®'^*'  H^  ^i®  Vernunft  zwar  viel  zur  Hemmung 
und  Mässigung  der  Leidenschaften  vermag;  allein  der 
weg,  den  die  Vernunft  zeigt,  hat  sich  auch  als  ein  sehr 


54  PoUtische  Abh.     Kap.  1.  §.  6.  7.     Kap.  2.     §.  1. 

Steiler  ergeben.  Wer  deshalb  meint,  die  Menge  oder  die 
n  den  G^eschäften  befangenen  Staatsmänner  konnten  zu 
einem  Leben  bloss  nach  den  Vorschriften  der  Vernunft 
Seht  werden,  der  träumt  von  dem  goldenen  Zeitalter 
der  Dichter  oder  von  Fabeln. »)  .  .     x     j..„„ 

8  6  Deshalb  ist  kein  Regiment  gesichert,  dessen 
Bestand  von  der  Treue  jemandes  abhängt  und  wo  die 
Verwäftung   nur   |ut   geführt  werden   kann    wenn  Die 

welche  die^GeschäFte  besorgen,  >»'*  ««^^llit'*  T^^^^ö 
vielmehr  muss,  wenn  das  Regiment  bestehen  soll,  es  so 
I  newichtrse in,  dass  die  Leiter  der  Geschäfte,  mag  die 
Vernunft  oder  de  Leidenschaft  sie  bestimmen,  nicht  zur 
Untreue  oder  Schlechtigkeit  verführt  werden  können. 
Auch  "st  für  die  Sicherheit  des  Staats  der  Beweggrund 
ÄÄig,  welcher  die  Menschen  zur  guten  Führung  der 

elfte  bestimmt,  wenn  fie««  ."«^  ^f  f^«^/*  w£s 
Die  Freiheit  des  Geistes  oder  die  Festigkeit  des  Willens 
u!   eine  Pnvattugend;   die  Tugend   des  Staats   aber   .st 

Sicherheit.^  ^„^lieh  alle  Menschen,  seien  sie  Barbaren 
oder  gesittet,  überall  allmählich  in  Verbindungen  treten 
und  einen  bürgerlichen  Zustand  herstellen,  so  darf  man 
d"e  Umchen  und  natürlichen  Grundlagen  der  Staatsgewa 
nicht  aus  den  Beweisen  der  Vernunft,  sondern  man  mus 
sie  aus  der  gemeinsamen  Natur  »"^  de"  2««'^°^^».^,'; 
Menschen  ableiten,  was  ich  in  dem  folgenden  Kapitel  zu 
thun  beschlossen  habe.'") 


Zweites  Kapitel. 
8  1.  Ich  habe  in  meiner  theologisch-politischen  Ab- 
handlung das  Natur-  und  bürgerliche  Recht  behandelt  und 
in  meinir  Ethik  habe  ich  erklärt,  was  Sünde  was  Ver- 
dienst, was  Gerechtigkeit,  was  Ungerechtigkeit  und  endlich, 
was  die  menschliche  Freiheit  ist.  'i)  Damit  indes  die 
Leser  dieser  Abhandlung  nicht  nötig  haben,  das  wesen- 
liche,  hierher  Gehörige  anderwärts  aufzusuchen,  so  wiu 
ich  es  hier  nochmals  erklären  und  bis  zur  vollen  Gewiss- 
heit beweisen. 


Da»  Naturrecht  ist  die  eigene  Macht  der  Natur.         65 

§  2.  Jeder  natürliche  Gegenstand  kann  zureichend 
begriffen  werden,  mag  er  bestehen  oder  nicht:  deshalb 
kann  man  aus  der  Definition  weder  den  Ursprun?  des 
Daseins  der  natürlichen  Dinge  noch  deren  Fortdauer  im 
."..T  %""•'')  Denn  ihre  geistige  Wesenheit  ist, 
nachdem  sie  da  zu  sein  begonnen  haben,  dieselbe,  als  wie 
vor  dem  Beginn  ihres  Daseins.  Wenn  daher  der  Ursprung 
Ihres  Daseins  ans  ihrer  Wesenheit  nicht  folgt,  so  gilt  die! 
auch  für  Ihre  Fortdauer,  und  dieselbe  Ma!ht,  dfren^e 
zum  Beginn  ihres  Daseins  bedürfen,  brauchen  sie  auch 
für  die  Fortdauer  ihres  Daseins.  Daraus  ergiebt  sich 
dass  die  Macht,  durch  welche  die  natürlkhen  Wnge  bt- 
stehen  und  folglich  auch  wirken,  nur  die  ewige  Macht 
Gottes  sein  kann.  Denn  wäre  es  eine  geschaffene  Macht, 
L  r«t-  S'*  "J?-*"*  «'«'».«elbst  und  folglich  auch  nicht 

dir  Jhi     v^L  ^l?.^^  ^^^^^^"^ ;  ''«'"»ehr  Würden  diese 
derselben  Macht     die   nöüg  war,   damit   sie    geschaffen 

harren" J3)*"       bedürfen,   um  in' ihrem  Dasein    zu  be° 

§  3.  Daraus,  dass  die  Macht  der  natürlichen  Dinge, 
ermoge  deren  sie  bestehen  und  wirken,  die  eigene  Macht 
Oottes  ist,  kann  man  leicht  entnehmen,  was  das  Natur- 
recht ist.  Denn  da  Gott  das  Recht  auf  alles  hat  und  das 
Recht  Gottes  nur  seine  Macht  ist,  soweit  sie  als  unbedingt 
frei  aufgefMst  wird,  so  folgt,  das  jedes  natürliche  Ding 
nach  der  Natur  so  viel  Recht  hat,  als  es  Macht  hat  zu 
bestehen  und  zu  wirken ;  denn  die  Macht  jeder  einzelnen 
natürlichen  Sache ,  vermöge  deren  sie  besteht  und  wirkt 

'  "ß *!  r®T  x'^^xT^  ***'='''  '^""«S'  ^'e  durchaus  frei  ist.  '* 
C..J  j  «"■  N?*n"echt  verstehe  ich  daher  die  eigenen 
Gesetze  oder  Regeln  der  Natur,  nach  denen  alles  geschieht, 
ttv^  o^^??  ¥*«'>'  <ler  Natur.  Deshalb  |eht  das 
natür  iche  Rech  der  ganzen  Natur  und  folglich  jedes 
ijmzelnen  so  weit  wie  deren  Macht  und  folglich  thut  jeder 
Mensch  das,  was  er  nach  den  Gesetzen  seiner  Natur  thut. 
nach  dem  höchsten  Rechte  der  Natur  und  er  hat  so  vie 
Kecht  gegen  die  Natur,  als  seine  Macht  vermag. 

.i„i.  ^  r.*?"  ^l  ^^^^^  ""•*  <äer  menschlichen  Natur 
Xift"  T'"*lr«'  ^T  •''«  Menschen  nur  nach  den  Vor- 
T.rÄ  *'*'  Vernunft  lebten  und  nach   nichts  anderem 

eSf™r'..*V."'^*  .^**  ^^'^  menschlichen  Geschlecht 
eigentümliche  Naturreeht  sieh  lediglich  nach  der  Macht 


56 


Politische  Abb.    Kap.  2.     §.  6. 


der  Vernunft   bestimmen.    Allein   die   Menschen  werden 
mehr  von  den  blinden  Begierden  als  von  der  Vernunft  ge- 
leitet und  deshalb  muss  die  natürliche  Macht  der  Menschen 
oder  ihr  Recht  nicht  nach  der  Vernunft ,  sondern  nach 
leder  Begierde,  die  sie  zum  Handeln  und  zur  Erhaltung 
ihrer  selbst  treibt,  bestimmt  werden.    Ich  erkenne  zwar 
an ,   dass  diese  Begierden ,   die   nicht   aus  der  Vernunft 
entepringen,    mehr    ein    Leiden    als    ein    Handeln    der 
Menschen  sind;   allein  da  ich  hiervon  der  Macht  oder 
dem  Rechte  der  ganzen  Natur  handele,  so  kann  ich  hier 
keinen  Unterschied  zwischen   den  Begierden  anerkennen, 
die   aus    der  Vernunft   und  denen,    die  aus  anderen  Ur- 
sachen in  uns  erzeugt  werden;  denn  diese,  wie  jene,  sind 
Wirkungen  der  Natur  und  bezeichnen  die  natürliche  Kratt, 
mit   der   der  Mensch   sich   in  seinem  Sein  zu  erhalten 
strebt.    Denn  jeder  Mensch,  der  Weise  wie  der  Thor,  ist 
ein  Teil  der  Natur  und  alles,  was  ihn  zum  Handeln  be- 
stimmt, muss  zur  Macht  der  Natur  gerechnet  werden,  so- 
weit  sie  durch  die  Natur  dieses  oder  jenes  Menschen  aus- 
cedrückt  ist.    Denn  der  Mensch  handelt,  sowohl  wenn  er 
Ion  der  Vernunft,   als  wenn   er  bloss  von  der  Begierde 
geleitet  wird,  nur  nach  den  Gesetzen  und  Regeln  der  Na- 
tur, d.  h.  (nach  §  4  dieses  Kapitels)  nach  dem  Rechte  der 

Natur.  ^^)  j         j. 

8  6     Allein  meistenteils    nimmt  man    an,   dass   die 
Thoren  die  Ordnung  der  Natur  mehr  beschädigen  als  be- 
folgen  und  fasst  die  Menschen  in  der  Natur  wie  einen 
St^t  im  Staate  auf.    Man  behauptet,   dass  die  mensch- 
liehe   Seele   aus   keinen   natürlichen   Ursachen    hervor- 
gebracht  werde;  sondern  dass  sie  von  Gott  unmittelbar 
Irschaffen  werde  und  deshalb  von  allen  arideren  Dingen 
80  unabhängig  sei,  dass  sie  eine  «I^^^^^^f «.JJ*f]^*  ^^^^^^ 
sich  selbst  zu  bestimmen  und  die  Vernunft  nchtig  zu  ge- 
brauchen.   Allein  die  Erfahrung  lehrt  zur  Genüge,  dass 
eine  gesunde  Seele  ebensowenig  in  unserer  Gewalt  steht 
wie  ein  gesunder  Körper.    Da  nun  jedes  Ding,  so  viel 
von  ihm  abhängt,  sich  im  Sein  zu  erhalten  strebt,  so  wür- 
den wir  unzweifelhaft,  wenn  es  ebenso  in  unserer  Gewalt 
läge,  nach  den  Vorschriften  der  Vernunft  zu  leben,  als 
von  den  blinden  Begierden  geleitet  zu  werden,  alle  uns 
von  der  Verunft  leiten  lassen  .und  unsere   Lebensweise 
danach  einrichten;   allein  dies  ist  keineswegs  der  Fall, 


Die  Vernunft  hat  keine  unbedingte  Macht  über  die  Begierde.  57 

denn  jeder  folgt  seinen  Lüsten.   Auch  die  Theologen  be- 
seitigen  diesen  Mangel  nicht,  wenn  sie  behaupten,  dass 
die   Ursache   dieser   menschlichen   Ohnmacht  ein  Fehler 
oder  eine   Sünde  sei ,  f^elche  von   dem  Falle  des  ersten 
Elternpaares  herrühre.    Denn  wenn  es  in  der  Macht  des 
ewten  Menschen  gelegen  hätte,  sowohl  zu  stehen  wie  zu 
fallen  und  er  seines  Verstandes  mächtig  und  von  unver- 
letzter Natur  gewesen  wäre,  wie  war  es  da  möglich,  dass 
er  mit  Wissen  und  Willen  doch  gefallen  ist?   Man  sagt 
er  sei  von    dem  Teufel  verführt  worden;    aber  wer  war 
derjenige,  der  den  Teufel  selbst  verführt  hat?    Wer  hat 
dieses  vorzüglichste  aller  vernünftigen  Geschöpfe  so  sinn- 
los gemacht,  dass  es  grösser  als  Gott  sein  wollte?  Wollte 
nicht  auch  er,  der  eine  gesunde  Seele  hatte,  sein  Dasein 
erhalten,  so  viel  es  von  ihm  abhing?  Wie  war  es  ferner 
möglich,  dass  der  erste  Mensch  selbst,  der  seines  Ver- 
standes mächtig  und  Herr  seines  Willens  war,  sich  ver- 
fuhren   und    täuschen    Hess?    Denn   hatte  er  die  Macht 
seine  Vernunft   zu   gebrauchen ,   so  konnte  er  nicht  ge-' 
täuscht  werden;   denn   soweit  es  von  ihm  abhing,   hatte 
er  notwendig  das  Bestreben,  sein  Dasein  und  seine  Seele 
sich  gesund   zu  erhalten.    Nun  nimmt  man  an,   dass  er 
diese   Macht   gehabt    habe;    folglich   hat   er   auch   not^ 
wendig   seine  Seele   gesund   erhalten   und   hat  nicht  se- 
tauscht  werden  können.     So  erhellt  aus  dieser  Geschichte 
seiDst  ibre  Unwahrheit  und  man  muss  anerkennen ,  dass 
es  nicht  in  der  Macht  des  ersten  Menschen  gestanden 
nat,  seine  Vernunft  richtig  zu  gebrauchen,  sondern  dass 
fsVieT'^  ^^^>  ^^^  Leidenschaften   unterworfen    gewesea 

§  7.  Dass  nun  der  Mensch,  wie  die  übrigen  Einzel- 
wesen, sein  Dasein,  so  viel  von  ihm  abhängt,  zu  erhalten 
l-  V  /^"°  niemand  bestreiten.  Wäre  hier  ein  Unter- 
schied denkbar,  so  mtisste  er  davon  kommen,  dass  der 
Mensch  einen  freien  Willen  hätte.  Allein  je  freier  man 
sich  den  Menschen  denkt,  desto  mehr  ist  man  zur  An^ 
nähme  genötigt,  dass  er  sich  erhalten  und  seines  Geistes, 
mächtig  sein  müsse;  wer  die  Freiheit  nicht  mit  der  Zu* 
lalligkeit  verwechselt,  wird  mir  dies  leicht  zugeben.  Den» 
aie  i^reiheit  ist  eine  Kraft  oder  Vollkommenheit;  alles 
also,  was  die  Schwäche  des  Menschen  darlegt,  kann  nicht 
zu  seiner  Freiheit  gehören.    Deshalb  kann  der  Mensch 


Spinoxa's  Abh.  üb.  Verbesser.  d.  Verstandes. 


6 


58 


Politische  Abh.    Kap.  2.    §  8. 


Dicht  deshalb  frei  genannt  werden,  weil  er  nicht  zu  sein 
oder  seine  Vernunft  nicht  zu  gebrauchen  vermag;  sondern 
nur  deshalb  und  so  weit,  als  er  die  Macht  hat,  zu  sein 
und  nach  den  Gesetzen  der  menschlichen  Natur  zu  wirken. 
Je  freier  mau  also  die  Menschen  annimmt,  desto  weniger 
darf  man  sagen ,  dass  sie  die  Vernunft  nicht  gebrauchen 
und  das  Schlechte  statt  des  Guten  wählen  können.  Des- 
halb erkennt  und  wirkt  auch  Gott,  der  durchaus  frei 
ist,  notwendig;  er  ist  und  erkennt  und  wirkt  nach  der 
Notwendigkeit  seiner  Natur.  Denn  offenbar  handelt  Gott 
mit  derselben  Freiheit,  mit  der  er  besteht;  sowie  er  aber 
nach  der  Notwendigkeit  seiner  Natur  besteht,  so  handelt 
er  auch  aus  der  Notwendigkeit  seiner  Natur,  d.  h.  er 
handelt  unbedingt  frei.i?)  ,     .     ,      ,,    , 

§  8.    Ich  folgere   also,   dass  es  nicht  m  der  Macht 
jedes  Menschen  steht,  seine  Vernunft  immer  zu  gebrauchen 
und   auf  dem  höchsten  Gipfel  der  menschlichen  Freiheit 
zu  stehen;   aber  dennoch  strebt  jeder,   sein  Dasein,   so 
viel    er  vermag,   zu   erhalten   und   deshalb  begehrt  und 
thut  jeder  (weil  jeder  so  viel  Recht  hat,  als  er  Macht  hat), 
sei    er  weise    oder  ein  Thor,  das,  was  er  begehrt  und 
thut,   immer  mit  dem  höchsten  Rechte  der  Natur.     Dar- 
aus  ergiebt  sich,    dass   das  Naturrecht  und  die  Natur- 
ordnung, unter  der  alle  Menschen  geboren  werden  und 
zum  grössten  Teile  leben,  nur  das  verbieten,  was  niemand 
begehrt   und  was  niemand  vermag,  und  dass   sie  weder 
dem  Streite,  noch  dem  Hasse  oder  dem  Zorne  und  Be- 
trüge, noch  sonst  dem,  was  die  Lüste  begehren,  entgegen 
sind.    Auch  ist  dies  nicht  wunderbar;  denn  die  Natur  ist 
nicht  mit  den  Gesetzen   der  menschlichen  Vernunft,   die 
nur  auf  den  wahren  Nutzen  und  die  Erhaltung  der  Men- 
schen abzwecken,    abgeschlossen,   sondern  umfasat  noch 
unendlich  viele  andere  Gesetze,  die  sich  auf  die  ewige 
Ordnung  der  ganzen  Natur,  von  welcher  der  Mensch  nur 
ein  Teil  ist,  beziehen,  und  aus  deren  Notwendigkeit  allein 
wird  jedes  Einzelne  in  sicherer  Weise  zum  Dasein  und 
Handeln  bestimmt.    Wenn  uns  daher  in  der  Natur  etwas 
lächerlich  oder  verkehrt  oder  schlecht  erscheint,  so  kommt 
es  nur  davon,  dass  wir  den  Gegenstand  nur  bloss  teil- 
weise kennen  und  dass  die  Ordnung  und  der  Zusammen- 
hang der  ganzen  Natur  uns  zum  grössten  Teile  unbekannt 
ist,   und  weil  wir  verlangen,    dass   alles  nach  den  Vor- 


Die  Macht  über  einen  Andern  giebt  auch  das  Recht  über  ihn.  59 

Schriften  unserer  Vernunft  geschehen  solle,  während 
doch  das  von  der  Vernunft  für  schlecht  Erklärte,  kein 
Schlechtes  in  Beziehung  auf  die  Ordnung  und  die  Ge- 
setze der  ganzen  Natur  ist,  sondern  nur  in  Beziehung  auf 
die  Gesetze  unserer  eigenen  Natur,  ^s) 

§  9.  Ferner  ergiebt  sich,  dass  jedweder  so  lange 
dem  Rechte  eines  andern  unterworfen  ist,  als  er  unter 
dessen  Macht  sich  befindet,  und  so  weit  selbständigen 
Rechtes,  als  er  vermag,  jede  Gewalt  zurückzuschlagen 
und  den  ihm  zugefügten  Schaden  nach  seiner  Ansicht  zu 
rächen  und  unbedingt  nach  seinem  Belieben  zu  leben. 

§  10.  Jemand  hat  einen  andern  in  seiner  Gewalt, 
wenn  er  ihn  gebunden  festhält  oder  ihm  die  Waffen  und 
die  Mittel,  sich  zu  verteidigen  oder  zu  entwischen,  ge- 
nommen hat  oder  ihm  Furcht  eingeflösst  hat,  oder  ihn 
durch  Wohlthaten  sich  so  verbunden  hat,  dass  er  lieber 
seinen  Willen  als  den  eigenen  befolgen  und  lieber  nach 
seiner  Absicht  als  nach  der  eigenen  leben  mag.  Wer  in 
der  ersten  und  zweiten  eben  genannten  Weise  einen  an- 
dern in  seiner  Gewalt  hat,  hält  nur  dessen  Körper,  nicht 
dessen  Seele  fest;  aber  in  der  dritten  und  vierten  Weise 
hat  er  sich  ebenso  seine  Seele  wie  seinen  Körper  unter- 
worfen, doch  nur  so  lange,  als  die  Furcht  oder  die  Hoff- 
nung  anhält;  sind  diese  verschwunden,  so  wird  jener  wie- 
der sein  eigener  Herr.i^) 

§  11.  Die  Urteilskraft  kann  insoweit  unter  dem 
Recht  eines  andern  stehen,  als  die  Seele  von  einem  an- 
dern getäuscht  werden  kann.  Deshalb  ist  die  Seele  nur 
so  weit  selbständig,  als  sie  ihre  Vernunft  recht  ge- 
brauchen kann,  und  da  die  menschliche  Macht  nicht 
sowohl  nach  der  Körperkraft  als  nach  der  Tapferkeit  der 
Seele  abzuschätzen  ist,  so  sind  diejenigen  am  meisten 
selbständig,  deren  Vernunft  am  stärksten  ist,  und  die 
sich  am  meisten  von  ihr  führen  lassen;  und  ich  nenne 
deshalb  einen  Menschen  nur  insoweit  frei,  als  er  von  der 
Vernunft  geleitet  wird;  denn  nur  so  weit  handelt  er  aus 
Ursachen,  die  aus  seiner  eigenen  Natur  zureichend  er- 
kannt werden  können,  wenngleich  er  von  derselben  mit 
Notwendigkeit  zum  Handeln  bestimmt  wird;  denn  die 
Freiheit  hebt  die  Notwendigkeit  des  Handelns  nicht  auf, 
sondern  setzt  sie,  wie  in  §  7  dieses  Kapitels  gezeiet 
worden  ist.20)  ^  »       & 

6* 


60 


Politische  Abh.     Kap.  2.     §  12-16. 


Der  Staat  und  seine  Form. 


61 


§  12.  Die*  jemand  erteilte  Zusage,  womit  in  blossen 
Worten  versprochen  worden  ist,  dass  dies  oder  jenes  von 
dem  Zusagenden  gethan  werden  solle,  was  er  nach  seinem 
Rechte  unterlassen  konnte,  oder  umgekehrt,  bleibt  so  lange 
gültig,  als  der  Wille  des  Versprechenden  sich  nicht  ändert. 
Denn  wer  die  Macht  hat,  sein  Wort  zu  brechen,  hat  in 
Wahrheit  sein  Recht  nicht  vergeben,  sondern  nur  Worte 
gewechselt.  Meint  er  daher,  da  er  nach  dem  Naturrecht 
sein  eigener  Richter  ist,  mit  Recht  oder  Unrecht  (denn 
irren  ist  menschlich),  dass  das  Versprechen  ihm  mehr 
Schaden  als  Nutzen  bringe,  und  will  er  nach  seiner  An- 
sicht das  Versprechen  nicht  halten,  so  kann  er  dies  nach 
dem  Naturrecht.    (Nach  §  9  dieses  Kapitels.)  ^^) 

§  13.  Wenn  zwei  sich  vereinigen  und  ihre  Kräfte 
verbinden,  so  vermögen  sie  mehr  und  haben  deshalb  auch 
mehr  Recht  gegen  die  Natur  als  jeder  allein,  und  je  mehr 
Menschen  in  dieser  Weise  sich  verbunden  haben,  um  so 
mehr  werden  alle  auch  mehr  Rechte  haben.  22) 

§  14.  So  weit  als  die  Menschen  von  Zorn,  Neid  oder 
von  der  Leidenschaft  des  Hasses  erfüllt  sind,  haben  sie 
verschiedene  Ziele  und  sind  einander  entgegen;  sie  sind 
dann  um  so  mehr  zu  fürchten,  je  mächtiger  und  je  klüger 
und  verschlagener  als  die  übrigen  Geschöpfe  sie  sind. 
Da  nun  die  Menschen  meistenteils  (wie  ich  in  §  5  des 
vorigen  Kapitels  gesagt)  diesen  Leidenschaften  von  Natur 
unterworfen  sind,  so  sind  von  Natur  die  Menschen  ein- 
ander feind.  Denn  Der  ist  mein  grösster  Feind,  den  ich 
am  meisten  zu  fürchten  und  vor  dem  ich  mich  am  meisten 
in  acht  zu  nehmen  habe.  23) 

§  15.  Da  nun  (nach  §  9  dieses  Kapitels)  im  natür- 
lichen Zustand  jeder  sein  eigener  Herr  ist,  so  lange  er 
sich  gegen  die  Unterdrückung  eines  andern  schützen 
kann ,  und  einer  allein  sich  nicht  gegen  alle  schützen 
kann,  so  folgt,  dass,  so  lange  das  natürliche  Recht  des 
Menschen  nach  seiner  Macht  sich  bestimmt,  es  so  lange 
keines  ist  und  mehr  in  der  Meinung  als  in  der  Wirklicli- 
keit  besteht,  weil  es  keine  Sicherheit  für  dessen  Geltend- 
machung giebt;  denn  es  ist  gewiss,  dass  jeder  um  so 
weniger  vermag  und  folglich  um  so  weniger  Rechte  hat, 
als  er  grössern  Grund  zur  Furcht  hat.  Dazu  kommt,  dass 
ohne  gegenseitige  Hülfe  die  Menschen  kaum  ihr  Leben 
fristen  und  ihren  Verstand  bilden  können ;  und  so  folgere 


ich,  dass  das  dem  menschlichen  Geschlecht  eigentümliche 
Naturrecht  nur  da  möglich  ist,  wo  die  Menschen  ein  Je- 
memsames  Recht  haben  und  zugleich  vermögen,  ein  Land 
was  sie  bewohnen  und  bebauen  können,  sich  zu  verschaff 
fen,  sich  zu  schützen,  alle  Gewalt  zurückzuschlagen  und 
nach  dem  gemeinsamen  Willen  aller  zu  leben.  Denn  ie 
mehr  Menschen  (nach  §  13  dieses  Kapitels)  sich  so  ver- 
einigen, um  so  mehr  haben  sie  auch  Rechte,  und  wenn 
die  Scholastiker  deshalb,  weil  die  Menschen  in  dem  Natur- 
zustande  kaum  selbständig  sein  können,  den  Menschen 
dir  e^  en  aif  ^  Geschöpf  nennen  wollen,  so  habe  ich  nichts 

V  u^  ^^\  ^^  ^^®  Menschen  ein  gemeinsames  Recht 
haben  und  alle  wie  von  einem  Sinn  geleitet  werden,  da 
hat  offenbar  (nach  §  13  dieses  Kapitels)  jeder  Einzelne 
derselben  um  so  weniger  Rechte,  je  mehr  die  üebrigen 
Ihm  überlegen  sind,  d.  h.  der  Einzelne  hat  in  Wahrheit 
nur  so  viel  Recht  auf  die  Natur,  als  das  gemeine  Recht 
ihm  gestattet.  Was  übrigens  in  gemeinsamer  üeberein- 
stimmung  ihm  befohlen  wird,  ist  er  schuldig  auszuführen, 
oder  er  kann  (nach  §  4  dieses  Kapitels)  mit  Recht  dazu 
gezwungen  werden. 

K  J  ^I'  P}^^^^  ^^^^*»  was  durch  die  Macht  der  Menge 
bestmamt  wird,  pflegt  die  Staatsgewalt  genannt  zu  werden 
und  derjenige  besitzt  sie  unbedingt,  welcher  nach  ge- 
meinsamen Uebereinkommen  die  Sorge  für  den  Staat  hat, 
also  besetze  zu  geben,  auszulegen  und  aufzuheben,  Städte 
zu  befestigen,  über  Krieg  und  Frieden  zu  entscheiden 
u.  8.  w.  Koramt  diese  Sorge  einer  Versammlung  zu.  die 
hIL  if  i^'*"™A^"  Volksmenge  besteht,  so  heisst  die 
Herrschaft  eine  Demokratie;  sind  es  aber  nur  einige 
Anserlesene,  Aristokratie,  und  ist  endlich  die  Sorge 
ttir  den  Staat  und  folglich  die  Herrschaft  bei  Einem,  io 
heisst  sie  Monarchie. 25)  ' 

h.uß  }^'  ^^^  ^^^  ^^  diesem  Kapitel  Dargelegten  er- 
neut, dass  es  im  Naturzustande  keine  Sünde  giebt,  oder 
wenn  Jemand  sündigt,  so  sündigt  er  gegen  sich  und  nicht 
gegen  Andere.  Denn  nach  dem  Naturrecht  braucht  Nie- 
mand dem  Andern  zu  Willen  zu  leben,  wenn  er  nicht 
wm;  er  braucht  nur  das  für  gut  und  schlecht  zu  halten, 
was  er  nach  seinem  Sinne  für  gut  und  schlecht  halten 
*^iii,  und  es  ist  nach  dem  Naturrecht  nur  das  verboten, 


ii 


h 


62 


Politische  Abb.    Kap.  2.    §  19.  20. 


Der  Staat  gegenüber  der  Moral  und  Religion. 


6a 


was  Niemand  vermag.  (Man  sehe  §  5  und  8  dieses  Ka- 
pitels.) Die  Sünde  ist  aber  eine  Handlung,  welche  nicht 
mit  Recht  geschehen  kann.  Wären  die  Menschen  nach 
der  Einrichtung  der  Natur  gehalten,  der  Vernunft  zu 
folgen,  dann  würden  notwendig  Alle  von  der  Vernunft 
geleitet  werden.  Denn  die  Einrichtungen  der  Natur  sind 
Gottes  Einrichtungen  (nach  §  2,  3  dieses  Kapitels),  welche 
Gott  mit  derselben  Freiheit  anordnet,  mit  der  er  selbst 
besteht,  und  die  deshalb  aus  der  Notwendigkeit  der  gött- 
lichen Natur  folgen  (man  sehe  §  7  dieses  Kapitels),  ewig 
sind  und  nicht  verletzt  werden  können.  Allein  die  Men- 
schen werden  hauptsächlich  durch  die  Begierden,  ohne 
die  Vernunft ,  geleitet ;  sie  stören  jedoch  dabei  nicht  die 
Ordnung  der  Natur,  vielmehr  befolgen  sie  sie  notwendig 
und  deshalb  ist  der  unwissende  und  seines  Verstandes 
nicht  Mächtige  nach  dem  Naturrecht  ebenso  wenig  ge- 
halten, seine  Lebensweise  verständig  einzurichten,  wie 
der  Kranke  gehalten  ist,  gesund  an  Körper  zu  sein. 26) 

§  19.  Eine  Sünde  ist  deshalb  nur  bei  einer  Staats- 
gewalt möglich,  wo  nach  dem  gemeinen  Rechte  des  ganzen 
Staates  bestimmt  wird,  was  gut  und  was  schlecht  sein 
soll  und  wo  nur  der  (nach  §  16  dieses  Kapitels)  recht 
handelt,  welcher  nach  dem  gemeinsamen  Beschlüsse  und 
Willen  handelt.  Denn  nur  das  ist  eine  Sünde  (wie  im 
§  18  gesagt  worden),  was  nicht  mit  Recht  gethan  werden 
kann,  oder  was  das  Recht  verbietet,  und  der  Gehorsam 
ist  der  beständige  Wille,  das  zu  thun,  was  nach  dem 
Recht  gut  ist  und  nach  dem  gemeinsamen  Beschlüsse  ge- 
schehen soll. 

§  20.  Man  pflegt  indes  auch  das  Sünde  zu  nennen, 
was  gegen  das  Gebot  der  gesunden  Vernunft  geschieht, 
und  unter  Gehorsam  versteht  man  den  beständigen  Willen, 
die  Begierden  nach  dem  Gebot  der  Vernunft  zu  massigen. 
Ich  würde  dem  beitreten,  wenn  die  menschliche  Freiheit 
in  der  Willkür  der  Begierden  und  die  menschliche  Knecht- 
schaft in  der  Herrschaft  der  Vernunft  bestände.  Allem 
da  die  Freiheit  des  Menschen  um  so  grösser  ist,  je  mehr 
der  Mensch  sich  von  der  Vernunft  leiten  lässt  und  die 
Begierden  massigen  kann,  so  kann  man  das  vernünftige 
Leben  nur  sehr  uneigeutlich  Gehorsam  nennen  und 
ebenso  uneigentlich  das  Sünde,  was  in  Wahrheit  die 
Ohnmacht  der  Seele,  nicht  aber  eine  Willkür  gegen  sicli 


selbst  ist,  durch  welche  der  Mensch  vielmehr  ein  Knecht^ 
statt  frei  genannt  werden  kann.  (Man  sehe  8  7  und  11 
dieses  Kapitels.)«?)  »  u  xx 

§  21.  Da  indes  die  Vernunft  gebietet,  Frömmigkeit 
zu  üben  und  ruhigen  Sinnes  und  guten  Mutes  zu  sein, 
und  dieses  nur  im  Staate  möglich  ist  und  da  ferner  die 
Menge,  wie  es  im  Staate  nötig  ist,  nicht  unter  einen 
Sinn  gebracht  werden  kann,  wenn  nicht  Rechte  bestehen, 
welche  den  Vorschriften  der  Vernunft  entsprechen,  so 
haben  die  Menschen,  welche  im  Staate  zu  leben  pflegen, 
nicht  unpassend  das  Sünde  genannt,  was  gegen  das  Ge- 
bot der  Vernunft  geschieht,  weil  das  Recht  des  besten 
Staates  (nach  §  18  dieses  Kapitels)  nach  den  Geboten 
der  Vernunft  eingerichtet  werden  muss.  Weshalb  ich 
aber  gesagt  habe  (§  18  dieses  Kapitels),  dass  der  Mensch 
im  Naturzustande  nur  gegen  sich  selbst  sündige,  wenn  er 
sündigt,  darüber  sehe  man  §  4  und  5,  Kap.  4,  wo  ge- 
zeigt wird,  in  welchem  Sinne  man  sagen  kann,  dass  Der, 
welcher  die  Staatsgewalt  inne  und  nach  dem  Natur- 
recht erlangt  hat,  an  die  Gesetze  gebunden  sein  und 
sündigen  könne. 

§  22.  Was  die  Religion  anlangt,  so  ist  ofl'enbar  der 
Mensch  um  so  freier  und  sich  selbst  am  willfährigsten, 
je  mehr  er  Gott  liebt  und  von  ganzem  Herzen  verehrt. 
Achtet  man  indes  nicht  auf  die  Ordnung  der  Natur,  die 
uns  unbekannt  ist,  sondern  nur  auf  die  die  Religion  be- 
treffenden Gebote  der  Vernunft,  und  bedenkt  man,  dass 
diese  uns  von  Gott,  als  wenn  er  in  uns  spräche,  offenbart 
sind,  oder  dass  sie  auch  den  Propheten  als  Rechte  offen- 
bart worden  sind,  so  gehorcht  in  menschlicher  Redeweise 
der  Mensch  Gott  so  weit,  als  er  ihn  von  ganzer  Seele 
Hebt,  und  sündigt  umgekehrt,  wenn  er  von  der  blinden 
Begierde  sich  leiten  lässt.  28)  Indes  muss  man  dabei  ein- 
gedenk bleiben,  dass  wir  so  in  Gottes  Macht  sind,  wie 
der  Thon  in  der  Hand  des  Töpfers,  der  aus  demselben 
Stoffe  Gefässe  zur  Zierde  und  zur  ünzierde  macht,  und 
dass  deshalb  der  Mensch  zwar  gegen  die  Beschlüsse  Gottes 
handeln  kann,  so  weit  sie  in  unserer  oder  der  Propheten 
Seele  als  das  Recht  eingeschrieben  sind,  aber  nicht  gegen 
den  ewigen  Ratschluss  Gottes,  welcher  der  Natur  des 
Weltalls  eingeschrieben  ist  und  sich  auf  die  Ordnung  der 
ganzen  Natur  bezieht.  29) 


64 


PoUtische  Abb.    Kap.  3.     §  1.  2. 


Die  Grundlage  des  Staats. 


65 


§  23.  So  wie  daher  die  Sünde  und  der  Gehorsam 
im  strengen  Sinne,  so  ist  auch  die  Gerechtigkeit  und 
Ungerechtigkeit  nur  im  Staate  denkbar.  Denn  in  der 
Natur  giebt  es  nichts,  von  dem  man  mit  Recht  sagen 
könnte,  es  gehöre  Diesem  und  nicht  Jenem,  vielmehr  ge- 
hört Alles  Allen,  so  weit  sie  die  Macht  haben,  es  sich  zu 
verschaflFen.  Aber  im  Staat,  wo  das  gemeine  Recht  be- 
stimmt, was  Diesem  und  was  Jenem  gehören  solle,  heisst 
Der  gerecht,  welcher  den  beständigen  Willen  hat,  Jedem 
das  Seine  zu  geben,  und  ungerecht  Der,  welcher  dem  ent- 
gegen das  Fremde  zu  dem  Seinigen  zu  machen  begehrt. 

§  24.  Uebrigens  habe  ich  in  meiner  Ethik  ausein- 
andergesetzt, dass  Lob  und  Tadel  nur  Gemütszustände 
der  Freude  und  Trauer  sind,  welche  die  Vorstellung  der 
menschlichen  Macht  oder  Ohnmacht  als  ihre  Ursache  be- 
gleitet. 30) 


Drittes  Kapitel. 

§  1.  Die  Verfassung  eines  jeden  Staates  heisst  bür- 
gerlich ;  der  ganze  Körper  des  Staates  heisst  aber  Staats- 
gemeinde; und  die  allgemeinen  Geschäfte  der  Staats- 
gewalt, welche  von  der  Leitung  ihres  Inhabers  abhängen, 
heissen  Gemeinwesen.  Ferner  heissen  die  Menschen,  so 
weit  sie  nach  dem  bürgerlichen  Recht  sich  aller  Vorteile 
des  Staates  erfreuen,  Bürger  und,  so  weit  sie  den  Ein- 
richtungen des  Staates  oder  dessen  Gesetzen  zu  gehorchen 
gehalten  sind,  Unterthanen;  endlich  habe  ich  in  §17 
des  vorigen  Kapitels  bemerkt,  dass  es  drei  Arten  des 
Regimentes  giebt;  nämlich  die  Demokratie,  die  Aristo- 
kratie und  die  Monarchie.  Ehe  ich  auf  diese  einzeln  und 
besonders  eingehe,  will  ich  zuvor  das  allen  Verfassungen 
Gemeinsame  behandeln,  und  zwar  vor  Allem  das  höchste 
Recht  der  Staatsgemeinde  oder  der  höchsten  Staatsgewalt 

§  2.  Aus  §  15,  Kap.  2  erhellt,  dass  das  Recht  des 
Staates  oder  der  höchsten  Gewalt  nur  das  natürliche 
Recht  ist,  was  durch  die  Macht  nicht  eines  Einzigen,  son- 
dern durch  die  Macht  der  gleichsam  von  einem  Willen 


geleiteten  Masse  der  Bürger  bestimmt  wird,  d.  h.  so,  wie 
jeder  Einzelne  im  Naturzustande,  so  hat  der  ganze  Kör- 
per und  die  Seele  des  Staates  so  weit  Rechte,  als  seine 
Macht  reicht  Deshalb  hat  jeder  Bürger  oder  Unterthan 
um  so  weniger  Rechte,  je  mehr  der  Staat  mächtiger  als 
dieser  Einzelne  ist  (§  16,  Kap.  2),  und  deshalb  besitzt 
und  thut  jeder  Bürger  dem  Rechte  gemäss  nur  das,  was 
er  durch  den  gemeinsamen  Willen  des  Staates  vertei- 
digen kann. 

§  3.     Wenn   ein   Staat  Jemandem    das   Recht   und 
folglich  die  Macht  (denn  sonst  hat  er  nach  §  12,  Kap.  2 
nur  Worte  ausgeteilt),  nach  seinem  Sinne  zu  leben,   er- 
teilt, so  begiebt  er  sich  damit  seines  Rechtes  und  über- 
trägt es  auf  Den,  dem  er  eine  solche  Macht  giebt    Hat 
er  nun  Zweien  oder  Mehreren  diese  Macht  gegeben,  dass 
Jeder  nach  seinem  Sinne  leben  kann,  so  hat  er  damit  die 
Staatsgewalt  geteilt,  und  hat  er  endlich  diese  Macht  an 
jeden  Bürger  gegeben,  so  hat  er  damit  sich  selbst  zer- 
stört und  ist  kein  Staat  mehr,  vielmehr  kehrt  Alles  in 
den  Naturzustand  zurück,  wie  aus  dem  Obigen  sich  klar 
ergiebt    Deshalb  ist  es  unmöglich,  dass  es  jedem  Bür- 
ger nach  der  Staatsverfassung  erlaubt  sein  kann,  nach 
seinem  Sinne  zu  leben  und  deshalb  hört  notwendig  jenes 
natürliche  Recht,   wonach  Jeder  sein  eigener  Richter  ist, 
in  der  bürgerlichen  Verfassung  auf.    Ich  sage  ausdrück- 
lieb: nach  der  Staatsverfassung;  denn  das  natürliche 
Recht  erlischt  (wenn  man  die  Sache  recht  erwägt)  in  dem 
Staate  nicht;  denn  der  Mensch  handelt  sowohl  im  natür- 
lichen wie  in  dem  bürgerlichen  Zustande  nach  den  Ge- 
setzen  seiner  Natur   und   sorgt  für  seinen  Nutzen;   ich 
sage,  der  Mensch  wird  in  beiden  Zuständen  durch  Hoflf- 
nung  oder  Furcht  zu  dieser  oder  jener  Handlung  oder 
Interlassung  bestimmt;  aber  der  Hauptunterschied  zwischen 
beiden  Zuständen  ist,  dass  in  dem  Staate  Alle  dasselbe 
fürchten   und  für  Alle  dieselbe  Sicherheit  Ursache   und 
|brund  ihres  Verhaltens  ist,  wodurch  allerdings  das  Ver- 
»mogen   eines  Jeden,    zu  urteilen,    nicht   aufgehoben    ist 
i>enn  wenn  Jemand  beschliesst,  allen  Geboten  des  Staates 
zu  folgen,   so   sorgt  er,  mag  es  aus  Furcht  vor  dessen 
Macht  geschehen  oder  aus  Liebe  zur  Ruhe,  in  seinem 
ojnne  für  seine  Sicherheit  und  seinen  Vorteil.  3») 

§  4.    Ferner  ist   es   undenkbar,   dass  jeder  Bürger 


66 


Politische  Abh.     Kap.  3.     §  6.  6. 


Schranken  der  Staatsgewalt. 


67 


befugt  sei,  die  Beschlüsse  des  Staates  und  seine  Gesetze 
auszulegen.  Wenn  jeder  dies  dürfte,  so  wäre  er  damit 
sein  eigener  Richter,  da  jeder  seine  Handlungen  unter 
dem  Schein  des  Rechts  bei  allen  Geschäften  entschuldigen 
oder  verschönern  und  somit  sich  das  Leben  nach  seinem 
Sinne  einrichten  könnte,  was  (nach  §  3  dieses  Kapitels) 
widersinnig  wäre. 

§  5.  Jeder  Bürger  ist  also  nicht  sein  Herr,  sondern 
der  Staat  ist  sein  Herr;  dessen  Befehle  ist  er  zu  befolgen 
schuldig,  und  er  hat  kein  Recht,  zu  bestimmen,  was  recht 
oder  unrecht,  was  fromm  oder  gottlos  ist ;  vielmehr  muss, 
da  der  Wille  des  Staates  als  der  Wille  aller  gilt,  das  was 
der  Staat  für  recht  und  gut  erklärt,  so  betrachtet  werden, 
als  hätten  es  alle  dafür  erklärt.  Wenn  daher  ein  Unter- 
than  auch  die  Beschlüsse  des  Staates  für  unrecht  hält,  so 
ist  er  doch  gehalten,  sie  zu  befolgen.  ^2) 

§  6.  Man  könnte  entgegnen,  dass  es  gegen  das  Ge- 
'  bot  der  Vernunft  laufe,  sich  eines  Andern  Urteil  ganz  zu 
unterwerfen  und  dass  deshalb  die  bürgerliche  Verfassung 
der  Vernunft  widerstreite.  Es  würde  daraus  folgen,  dass 
die  bürgerliche  Verfassung  eine  unvernünftige  sei  und 
nur  von  unvernünftigen  Menschen  eingerichtet  werden 
könne,  aber  nicht  von  solchen,  die  sich  von  der  Vernunft 
leiten  lassen.  Allein  die  Vernunft  fordert  nichts  gegen 
die  Natur  und  deshalb  kann  die  gesunde  Vernunft  nicht 
gebieten,  dass,  so  lange  die  Menschen  den  Leidenschaften 
unterworfen  sind,  jeder  sein  Herr  bleibe  (§  15,  Kap.  2), 
d.  h.  (§  5,  Kap.  1)  die  Vernunft  will,  dass  dies  nicht  ge- 
schehe. Dazu  kommt,  dass  die  Vernunft  überhaupt  lehrt, 
den  Frieden  zu  suchen,  der  nicht  erlangt  werden  kanu, 
wenn  das  gemeinsame  Recht  des  Staates  nicht  unverletzt 
erhalten  wird;  deshalb  wird  ein  Mensch,  je  mehr  er  von 
der  Vernunft  geleitet  wird,  d.  h.  (nach  §  11,  Kap.  2)  je 
freier  er  ist,  um  so  beständiger  die  Rechte  des  Staates 
beachten  und  die  Gebote  der  höchsten  Gewalt,  deren 
Unterthan  er  ist,  erfüllen.  Dazu  kommt,  dass  die  bürger- 
liche Verfassung  eingerichtet  ist,  um  den  Einzelnen  die 
gemeinsame  Furcht  zu  benehmen  und  das  gemeinsame 
Elend  zu  beseitigen,  und  so  dasselbe  bezweckt,  was,  wie- 
wohl vergeblich,  ein  jeder  im  Naturzustande,  wenn  er  der 
Vernunft  folgt,  erstrebt.  (§  15,  Kap.  2.)  Wenn  deshalb 
ein  vernünftiger  Mensch  mitunter  auf  Befehl  des  Staates 


etwas  thun  muss,  was  er  als  unvernünftig  erkennt,  so 
wird  dieser  Schade  doch  weit  durch  das  Gute  aus- 
geglichen, was  er  aus  der  bürgerlichen  Verfassung 
schöpft,  und  es  ist  auch  ein  Gesetz  der  Vernunft,  dass 
man  von  zwei  Übeln  das  kleinere  wähle.  Deshalb 
handelt  niemand  gegen  die  Gebote  seiner  Vernunft, 
wenn  er  das  thut,  was  das  Recht  des  Staates  ver- 
langt. Man  wird  dies  mir  noch  bereitwilliger  zuge- 
stehen, wenn  ich  erst  dargelegt  haben  werde,  wie  weit 
die  Macht  des  Staates  und  folglich  sein  Recht  sich  er- 
streckt. ^3) 

§  7.  Zunächst  ist  zu  erwägen,  dass,  so  wie  im 
Naturzustande  (§  11,  Kap.  2)  Derjenige  am  mächtigsten 
ist,  der  der  Vernunft  folgt,  so  auch  der  Staat  am  mäch- 
tigsten und  selbständigsten  sein  wird,  wenn  er  auf  der 
Vernunft  gegründet  und  von  ihr  geleitet  wird;  denn  das 
Recht  des  Staates  wird  durch  die  Macht  der,  wie  von 
einem  Willen  geleiteten  Menge  bestimmt,  und  diese  Ein- 
heit der  Geister  wäre  unmöglich,  wenn  der  Staat  nicht 
hauptsächlich  das  verfolgte,  von  dem  die  gesunde  Ver- 
nunft allen  Menschen  lehrt,  dass  es  nützlich  ist.  3*) 

§  8.  Zweitens  ist  zu  erwägen,  dass  die  ünterthanen 
nur  insoweit  nicht  selbständig,  sondern  dem  Staat  unter- 
geben sind,  als  sie  dessen  Macht  oder  Drohungen  fürchten, 
oder  als  sie  den  bürgerlichen  Zustand  lieben.  (§  10, 
Kap.  2.)  Daraus  folgt,  dass  Alles,  wozu  Niemand  durch 
Lohn  oder  durch  Drohungen  bewogen  werden  kann,  nicht 
zu  dem  Rechte  des  Staates  gehört.  So  kann  z.  B.  sich 
Niemand  seiner  Urteilskraft  begeben;  denn  durch  welchen 
Lohn  oder  welche  Drohung  könnte  wohl  ein  Mensch  be- 
stimmt werden,  zu  glauben,  dass  das  Ganze  kleiner  sei 
als  der  Teil,  oder  dass  es  keinen  Gott  gebe,  oder  dass 
ein  Körper,  den  er  als  in  Grenzen  eingeschlossen  sieht, 
ein  unendliches  Wesen  sei,  überhaupt,  dass  er  etwas 
dem  zuwider  glaube,  was  er  sieht  oder  denkt?  Durch 
welchen  Lohn  könnte  ebenso  Jemand  bestimmt  werden, 
Den  zu  lieben,  welchen  er  hasst,  und  Den  zu  hassen, 
welchen  er  liebt?  Hierher  gehört  auch  Alles,  was  die 
menschliche  Natur  so  verabscheut,  dass  sie  es  für  schlimmer 
als  alles  Uebel  hält;  z.  B.  dass  ein  Mensch  gegen  sich 
selbst  Zeugnis  ablege ;  dass  er  sich  kreuzige ;  dass  er  seine 
Eltern  töte;  dass  er  dem  Tod  nicht  ausweiche  und  Ähn- 


m 


68 


Politische  Abb.    Kap.  3.    §  9.  10. 


liches,  wozu  Niemand  weder  durch  Lohn,  noch  durch 
Drohungen  gebracht  werden  kann.  Wollte  man  dennoch 
behaupten,  der  Staat  habe  das  Recht  oder  die  Macht,  der- 
gleichen zu  befehlen,  so  wäre  dies  ebenso,  als  wenn  man 
sagte,  ein  Mensch  habe  das  Recht,  wahnsinnig  und  irr- 
sinnig zu  sein;  denn  was  Anderes  als  Wahnsinn  wäre 
ein  solches  Recht,  an  das  Niemand  gebunden  sein 
könnte ?35  Indes  spreche  ich  hier  nur  von  dem,  was 
unmöglich  zum  Recht  des  Staates  gehören  kann  und  vor 
dem  die  menschliche  Natur  einen  Abscheu  hat.  Denn 
wenn  ein  Thor  oder  Wahnsinniger  durch  keinen  Lohn 
und  keine  Drohung  zur  Befolgung  der  Befehle  bestimmt 
werden  kann,  und  wenn  Ein  oder  der  Andere,  weil  er 
dieser  oder  jener  Religion  zugethan  ist,  die  Rechte  des 
Staats  für  schlimmer  als  alle  Uebel  hält,  so  werden  da- 
durch die  Rechte  des  Staats  nicht  umgestürzt,  sofern  nur 
die  Mehrzahl  der  Bürger  ihnen  folgt,  und  deshalb  weil 
Die,  welche  weder  Etwas  fürchten  noch  hoffen,  ihre  eigenen 
Herren  sind  (§  10,  Kap.  2),  sind  sie  Feinde  des  Staats 
(§  14,  Kap.  2),  die  man  mit  Recht  durch  Gewalt  im 
Zaume  halten  kann. 

§  8.  Drittens  ist  endlich  zu  erwägen,  dass  das  zu 
den  Rechten  des  Staates  nicht  gehört,  was  die  Meisten 
mit  Unwillen  von  sich  weisen.  Denn  unzweifelhaft  treibt 
die  Natur  die  Menschen  aus  gemeinsamer  Furcht  oder 
aus  dem  Verlangen,  einen  gemeinsamen  Schaden  zu  rächen, 
zur  Verbindung,  und  da  das  Recht  des  Staats  sich  nach 
der  gemeinsamen  Macht  der  Menge  bestimmt,  so  wird 
offenbar  die  Macht  und  das  Recht  des  Staats  insoweit 
verringert,  als  er  selbst  den  Anlass  giebt,  dass  Mehrere 
sich  gegen  ihn  verschwören.  Denn  jeder  Staat  hat  ge- 
wisse Dinge  zu  fürchten  und  so  wie  jeder  Bürger  und 
wie  jeder  Mensch  im  Naturzustande,  so  ist  auch  der  Staat 
um  so  weniger  selbstständig,  je  mehr  er  Ursache  zur 
Furcht  hat.  36) 

So  viel  über  das  Recht  der  höchsten  Staatsgewalten 
gegen  ihre  Unterthanen;  ehe  ich  indes  deren  Rechte 
gegen  Andere  untersuche,  will  ich  erst  die  Frage  zu 
lösen  suchen,  welche  die  Religion  betrifft. 

§  10.  Man  kann  mir  nämlich  entgegnen,  dass  durch 
den  bürgerlichen  Zustand  und  den  Gehorsam  der  Unter- 
thanen, wie  ich  ihn,  als  für  den   bürgerlichen  Zustand 


Verhältnis  des  Staats  zur  Religion.  gg 

nötig,  dargelegt  habe,  die  Religion  aufgehoben  werde, 
nach  der  wir  Gott    zu    verehren   schuldig  sind.     Indes 
wird  eine  nähere  Erwägung  der  Sache  ergeben,  dass  hier 
kein    Grund    zu  Gewissenszweifeln    vorhanden  ist.     Die 
Seele,  welche  der  Vernunft  dient,    ist  selbständig   und 
nicht  der  Staatsgewalt  unterthänig.  (§  11,  Kap.  2.)    Des- 
halb kann  die  wahre  Erkenntnis  und  Liebe  Gottes  keiner 
Staatsgewalt  unterthan  sein   und   ebensowenig  die  Liebe 
zu  dem  Nächsten.     (§  8,  Kap.  3.)    Bedenkt  man  nun. 
dass  die  Uebung  der  Liebe  vorzüglich  darin  besteht,  dass 
man  den  Frieden  schützt  und  die  Eintracht  erhält,  so  erfüllt 
offenbar  Der  seine  Pflicht,  welcher  Jedem  so  weit  hilft   als 
die  Rechte  des  Staats,  d.  h.  die  Eintracht  und  die  Ruhe 
es  gestatten.     Was  aber  den  äusserlichen  Gottesdienst  an- 
langt, so  kann  dieser  die  wahre  Erkenntnis  Gottes  und 
die  aus  ihr  notwendig  folgende  Liebe  zu  ihm  weder  unter- 
stützen noch  behindern;  man  darf  ihn  deshalb  nicht  für 
so  wichtig  nehmen,   dass  es  sich  verlohnte,   um  seinet- 
willen den  Frieden  und  die  öffentliche  Ruhe  zu  stören. 
Uebrigens  ist  es  gewiss,  dass  ich  nach   dem  Naturrechtj 
d.  h.  (§  3,  Kap.  2)   nach  Gottes  Ratschluss    nicht  der 
Vert^eidiger  der  Religion  bin;    denn   ich  habe  nicht  die 
Macht,  wie  vordem  die  Jünger  Christi,  de  unreinen  Geister 
zu  vertreiben  und  Wunder  zu  thun;  und  doch  wäre  diese 
Macht  notwendig,  um  die  Religion  da  zu  verbreiten,  wo 
sie  verboten  ist,  wenn  nicht  Zeit  und  Mühe,  wie  man  sagt, 
verloren    sein    und    Belästigungen    ausserdem   entstehen 
sollen,  wovon  alle  Jahrhunderte  die  traurigsten  Beispiele 
gesehen  haben.    Jeder  kann  vielmehr,   wo  er  auch  ist, 
Gott  in  wahrer  Religion  verehren  und  für  sich  sorgen, 
wie  es  die  Pflicht  des  Privatmannes  ist;  im  üebrigen  ist 
oie  Sorge  für  die  Verbreitung  der  Religion  Gott  oder  der 
btaatsgewalt,    denen   allein    die  Sorge   für  das  gemeine 
Wesen  obliegt,  zu  tiberlassen.  Ich  kehre  nunmehr  zu  meiner 
Aufgabe  zurück.  3?) 

§  11.  Nachdem  ich  das  Recht  der  höchsten  Staats- 
gewalt gegen  die  Bürger  und  die  Pflichten  der  Unter- 
thanen  erklärt  habe,  muss  ich  noch  die  Rechte  der  Staats- 
gewalt gegen  andere  Staaten  betrachten,  die  sich  aus  dem 
gesagten  leicht  ergeben  werden.  Denn  da  das  Recht 
der  höchsten  Staatsgewalt  (nach  §  2,  Kap.  3)  nur  das 
natürliche  Recht  ist,  so  folgt,  dass  zwei  Staaten  sich  zu 


I 


70 


Politische  Abh.    Kap.  3.     §  12—14. 


Das  Völkerrecht. 


71 


hM  'i'r 


einander  wie  zwei  Menschen  im  natürlichen  Zustande  ver- 
halten, ausgenommen,  dass  der  Staat  sich  gegen  fremde 
Unterdrückung  schützen  kann,  was  der  Mensch  im  natür- 
lichen Zustande  nicht  kann,  da  er  täglich  von  dem  Schlafe, 
oft  von  Krankheiten  oder  Seelenleiden  und  zuletzt  vom 
Alter  bedrückt  wird  und  auch  sonst  manchen  anderen 
Übeln  ausgesetzt  ist,  gegen  die  der  Staat  sich  schützen 
kann. 

§  12.  Der  Staat  ist  deshalb  insoweit  sein  eigener 
Herr,  38)  als  er  sich  raten  und  gegen  fremde  Unterdrückung 
schützen  kann  (§  9.  15,  Kap.  2),  und  insoweit  (§  10. 15, 
Kap.  2)  unselbständig,  als  er  die  Macht  eines  anderen 
Staates  fürchtet  oder  von  ihm  an  der  Ausführung  seines 
Willens  gehindert  wird,  oder  soweit  er  dessen  Hilfe  zu 
seiner  Erhaltung  oder  VergrÖsserung  bedarf.  Denn  un- 
zweifelhaft haben  zwei  Staaten,  die  sich  gegenseitig  Hilfe 
leisten  wollen,  mehr  Macht  und  folglich  auch  mehr  Recht 
als  jeder  allein  (§  13,  Kap.  2). 

§  13.  Dies  erhellt  noch  deutlicher,  wenn  man  er- 
wägt, dass  zwei  Staaten  von  Natur  Feinde  sind;  denn 
die  Menschen  im  Naturzustand  sind  einander  feind  (§  14, 
Kap.  2);  wer  also  sein  natürliches  Recht  ausserhalb  des 
Staates  behält,  bleibt  ein  Feind.  Wenn  also  ein  Staat 
den  anderen  bekriegen  und  das  Aeusserste  gegen  ihn  in 
Anwendung  bringen  will,  um  ihn  sich  zu  unterwerfen,  so 
steht  ihm  dies  nach  dem  Naturrecht  frei,  da  zu  dem 
Kriegführen  der  Wille  genügt.  Über  den  Frieden  kann 
aber  kein  Staat  ohne  Willen  des  anderen  etwas  bestimmen. 
Deshalb  hat  jeder  einzelne  Staat  das  Recht  zum  Krieg, 
dagegen  betrifft  das  Recht  des  Friedens  nicht  blos  einen, 
sondern  mindestens  zwei  Staaten,  welche  deshalb  ver- 
bündete genannt  werden.^) 

§  14.  Dieses  Bündnis  besteht  so  lange  als  die 
Ursache,  welche  dessen  Abschluss  veranlasst  hat,  nämlich 
die  Furcht  vor  Schaden  oder  die  Hoffnung  auf  einen  Vor- 
teil. Ist  aber  Eines  oder  das  Andere  für  den  einen  Staat 
fortgefallen ,  so  bleibt  er  selbständig  (§  10,  Kap.  2),  und 
das  Band,  was  die  Staaten  umschlang,  ist  von  selbst  ge- 
löst. Deshalb  hat  jeder  Staat  das  volle  Recht,  das  Bünd- 
nis aufzulösen,  wenn  es  ihm  beliebt  und  man  kann  ihm 
keinen  Betrug  und  keine  Untreue  vorwerfen,  wenn  er  sein 


Wort  nicht  hält,  sobald  die  Ursache  zur  Furcht  oder  zur 
Hoffnung  beseitigt  ist,  weil  diese  Bedingung  für  beide 
Teile  gleich  war,  nämlich  dass  der  erste,  welcher  der 
Furcht  ledig  würde,  selbständig  sei  und  nach  seinem 
Belieben  sich  verhalten  könne.  Auch  würde  ausserdem 
niemand  sich  für  die  Zukunft  verpflichten,  ausgenommen 
unter  Voraussetzung, , dass  die  gegenwärtigen  Umstände 
flieh  nicht  ändern.  Andern  sich  diese,  so  ändert  sich 
auch  der  Grund  des  ganzen  Zustandes  und  deshalb  behält 
jeder  der  verbündeten  Staaten  das  Recht,  für  sich  zu 
sorgen  und  deshalb  sucht  jeder,  so  viel  er  kann,  sich  von 
der  Furcht  zu  befreien  und  selbständig  zu  werden  und 
zu  verhindern,  dass  der  andere  mächtiger  werde.  Wenn 
mithin  ein  Staat  sich  über  Betrug  beklagt,  so  hat  er  nicht 
den  anderen  Staat  der  Treulosigkeit,  sondern  sich  selbst 
der  Thorheit  anzuklagen,  dass  er  sein  Heil  einem  Anderen 
anvertraute,  der  selbständig  ist  und  dem  sein  eigenes 
Wohl  als  höchstes  Gesetz  gilt.*«) 

§  15.  Die  Staaten,  welche  mit  einander  Frieden  ge- 
schlossen haben,  sind  berechtigt,  die  Fragen  zu  entscheiden, 
welche  über  die  Bedingungen  und  Vereinbarungen  des 
Friedens  sich  erheben,  weil  sie  sich  gegenseitig  zur 
Treue  verpflichtet  haben.  Denn  die  Rechte  aus  dem 
Frieden  gebühren  nicht  bloss  einem  Staate,  sondern  allen, 
die  ihn  geschlossen  haben  (§  13  dieses  Kapitels).  Können 
sie  sich  darüber  nicht  einigen,  so  kehren  sie  dadurch  in 
den  Kriegszustand  zurück,  ^i) 

§  16.  Je  mehr  Staaten  miteinander  Frieden  geschlossen 
haben,  um  so  weniger  ist  der  einzelne  von  den  übrigen 
zu  fürchten,  oder  um  so  geringer  ist  die  Macht  des  ein- 
zelnen, die  anderen  mit  Krieg  zu  überziehen;  vielmehr  ist 
der  einzelne  dadurch  um  so  mehr  gehalten,  die  Bedin- 
gungen des  Friedens  inne  zu  halten,  d.  h.  (nach  §  13 
dieses  Kapitels)  um  so  weniger  ist  er  sein  eigener  Herr, 
sondern  muss  sich  um  so  mehr  dem  gemeinsamen  Willen 
der  Verbündeten  fügen. 

§  17.  Übrigens  wird  dadurch  die  Treue,  welche  die 
gesunde  Vernunft  und  die  Religion  lehrt,  nicht  aufgeho- 
ben; denn  auch  die  gesunde  Vernunft  und  die  Schrift 
lehren  nicht,  dass  jedes  Versprechen  gehalten  werden 
müsse.  Wenn  ich  z.  B.  jemand  versprochen  habe,  das 
Geld,  was  er  mir  heimlich  anvertraut,  zu  verwahren,  so 


72 


Politische  Abb.    Kap.  4.    §  1. 


brauche  ich  Dicht  Wort  zu  halten,  wenn  ich  erfahre,  oder 
zu  wissen  meine,  dass  er  das  mir  übergebene  Geld  ge- 
stohlen habe;  vielmehr  handle  ich  dann  richtiger,  wenn 
ich  dafür  sorge,  dass  das  Geld  seinem  Eigentümer  zu- 
rückgegeben werde.  Ebenso  darf  die  Staatsgewalt  ihr 
Wort  nicht  halten,  wenn,  nachdem  sie  einem  anderen 
Etwas  zu  leisten  versprochen  hat,  nachher  die  spätere 
Zeit  oder  die  Vernunft  lehrt,  oder  zu  lehren  scheint,  dass 
die  Erfüllung  dem  gemeinsamen  Vorteile  der  Unter- 
thanen  zuwider  sei.  Da  die  heilige  Schrift  sonach  nur  im 
allgemeinen  lehrt,  Wort  zu  halten,  aber  die  einzelnen  Aus- 
nahmen eines  Jeden  Urteil  tiberlässt,  so  lehrt  sie  soweit 
nichts,  was  den  von  mir  dargelegten  Grundsätzen  wider- 
spricht. *2) 

8  18.  Um  indes  nicht  zu  oft  den  Faden  der  Rede 
unterbrechen  und  um  nicht  später  ähnlichen  Einwürfen 
entgegentreten  zu  müssen,  so  erinnere  ich,  dass  ich  dies 
alles  aus  der  Notwendigkeit  der  allseitig  in  Betracht  ge- 
zogenen menschlichen  Natur  abgeleitet  habe,  d.  h.  aus 
dem  gemeinsamen  Bestreben  aller  Menschen,  sich  zu  er- 
halten. Dieses  Bestreben  erfüllt  jeden  Menschen,  die 
törichten,  wie  die  weisen;  mögen  deshalb  die  Menschen 
als  durch  die  Leidenschaften  oder  durch  die  Vernunft 
bestimmt  angesehen  werden,  so  ändert  dies  nichts,  da  der 
Beweis,  wie  gesagt,  allgemein  gilt. 


Viertes  Kapitel. 

§  1.  Das  Recht  der  höchsten  Staatsgewalt,  was  sich 
nach  ihrer  Macht  bestimmt,  ist  im  vorgehenden  Kapitel 
behandelt  worden  und  wir  haben  gesehen,  wie  es  haupt- 
sächlich darin  besteht,  dass  sie  gleichsam  die  Seele  des 
Staats  bildet,  welche  alle  Bürger  zu  führen  hat.  Deshalb 
hat  diese  Staatsgewalt  allein  das  Recht  zu  bestimmen, 
was  gut,  was  schlecht,  was  gerecht,  was  ungerecht  ist, 
d.  h.  was  die  Einzelnen  oder  alle  zu  thun  oder  zu  unter- 
lassen haben.  Deshalb  gebührt  ihr,  wie  wir  gesehen 
haben ,  allein  das  Recht ,  Gesetze  zu  geben  und  diese  in 
dem  einzelnen  Fall,  wo  es  sich  darum  handelt,  auszulegen 


Rechte  der  höchsten  Staatsgewalt.  73 

botenen  anzunehmen  (§  12,  13   Kap   3)  '  **'*  *°«f«- 

Staat  nur  von   der  Leit^in^   5!Ü      ".lu^"  '^'^  ^^^  der 
höchste  Gews^t  haben  und  es  fnfi  ''''•.*"«''.  ^«'"he   die 
höchste  Staatsgew:«  berät?g/i?  üTÄtr  ''"' 
der  Einzelnen  zu  richtpn     for„l,  „       •  j     fandlnngen 
Handlungen  RecLn8ch^f^znf^.<>*'^•'^i*^  *''»'''  ««'»e 
Strafe  zu  belegen  und  di/Riuf''V?'f  Ye^brecher  mit 
Bargen,  zu  eSeMen  ^der  ÄS- ^^       ?*«'  «J«» 
welche  dies  an  ihrer  SteltevÄten  .a^g?"  .-'f t"'"' 
allem  berechtigt,  alle  Mittel  für  den  Kr  e«r  „nH  l  • '?'" 
zu  verwenden  und  zu  regeln  •  also  S«rftl  t^  "u  *^"edea 
zu  befestigen,  das  Heef  z^bethlilen     d?e  miH?" •"  T** 

zunahmen  und  die  dairerÄtheÄf -«r„  - 

a5  Ä  «l^e?=- -  i--e:  sa 

daf  Besle  de^Äerfe^d":^*^^^  "-"  -' 

h«chsVstartegew5fai''die  r:!""*^^  aufzuwerfen,  ob  die 
sie  daher  sie  Sen  könne 'llt  •««^"'«'«V«'  "-d  <"> 

z^i^^  Ä-ni^rbK  •,  £ 

Bp-oA  rA^Äh      '  f"^"""  ""  «'«  eine  Chimäre 

2»  8  Abb.  üb.  Verbesser,  d.  Verstandes.  7 


74 


Politische  Abh.     Kap.  4.     §  4. 


betrachtet  werden.    Der  Staat  sündigt  also   wenn  er  das 
thut,   oder   geschehen  lässt,  was  seinen  Untergang  ver- 
anlassen   kann  und  er   sündigt  dann  m  deniselben  Sinn, 
wie  die  Philosophen  und  Mediziner  von  der  Natur  sagen, 
dass    sie    sündige.    In    diesem  Sinne    kann    man   sagen 
dass  der  Staat  sündige,  wenn  er  Etwas  gegen  das  Gebot 
der  Vernunft  thut;   denn   der  Staat  ist  dann  am  meisten 
Herr  seiner  selbst,  wenn  er  nach  den  Geboten  der  Ver- 
nunft handelt  (§  7,  Kap.  3);   soweit  er  also  f  geji  di« 
Vernunft  handelt,  soweit  sündigt  er  oder  handelt  unrecht. 
Es  wird    dies    klarer,  wenn  man  bedenkt,  wie  bei  dem 
Ausspruch,  dass  jeder  über  das,  was  seines  Rechtes  ist, 
nach   Belieben   verfügen    kann,    diese  Macht  nicht    bloss 
durch   die  Macht   des  Handelnden,   sondern  auch   durch 
den    entsprechenden   Zustand   des  Leidenden   beschrankt 
wird.   Saie  ich  z.  B.,  dass  ich  mit  diesem  Tisch  machen 
kann,  was  ich  will,   so  meine  ich  doch  wahrhaftig  damit 
nicht   dass  ich  das  Recht  habe,  zu  bewirken,  dass  dieser 
Tisch  Gras  verzehre;   ebenso   meine  ich,  wenn  ich  sage, 
dass  die  Menschen  sich  nicht  selbst,  sondern  dem  Staate 
angehören,  nicht,  dass  die  Menschen  die  menschliche  Natur 
verlieren  und  eine  andere  annehmen  und  dass  der  Staat  das 
Recht  habe,  zu  bewirken,  dass  die  Menschen  fliegen,  oder 
was  gleicherweise  unmöglich  ist,  dass  sie  mit  Ehrfurcht 
etwas  betrachten,  was  Lachen  oder  Ekel  erweckt;  son- 
dern dass,   unter  gewissen  Umständen,  die  Unterthanen 
gegen    den    Staat    Ehrfurcht   und   Scheu    hegen   müssen 
und  dass  mit  Wegfall  dieser  Umstände  diese  Scheu  und 
Ehrfurcht    und    damit    der    Staat    zugleich    hinwegfalle. 
Damit  also  der  Staat  seine  Selbständigkeit  erhalte ,  muss 
er   die  Bedingungen  der  Scheu  und  Ehrfurcht  sich  er- 
halten,  sonst  hört  er  auf,  ein  Staat  zu  sein.    So  ist  es 
Denen  oder  Dem,   der  die  Herrschaft  hat,   ebenso  un- 
möglich,  betrunken  oder  nackt  mit  öffentlichen  Dirnen 
durch    die    Strassen    zu    laufen,     den    Komödianten    zu 
machen,    die  von    ihm    selbst    gegebenen   Gesetze   offen 
zu  übertreten  oder  zu  verachten  und  dabei  die  Majestät 
sich   zu  bewahren,    als  es  unmöglich  ist,   zu  sein  una 
tugleich   nicht   zu  sein.     Das  Morden  der  Unterthanen, 
das  Plündern,   das   Rauben    der   Jungfrauen  und   ähn- 
liches verkehrt  die  Scheu  in  Unwillen  und   folglich   den 
bürgerlichen  Zustand  in  den  Zustand  der  Feindseligkeit. 


Wie  weit  der  Staat  an  Gesetze  gebunden  ist.  75 

kann?  dasaß'S;  sVafiJ'  d^:  ^ ^^^'^  «^^^  -an  sagen 
fehlen  könne.     VeSteht  rnfn'^"''*'"  ^^^»"^^°  «ei  und 
bürgerliche   RechtrwaL    nach    ^'.  "°k'  ^'"^  ^'''^'  ^^s 
selbst  geltend  gern  JwerS   kZ  ^^T'^^^^'""  ^^^^ 
das,  was  dieses  börgerlilhe  Sohf    °'  u^f  "°*^^  ^'^^echt 
man  diese  Worte  in  ihrem  ecttenCn^^'^^^         ^''  "^'"t 
keiner  Weise  sagen,  daL  dpr  iff!  ?   "^'  '^  ^^nn  man  in 
bunden   sei   odefs^  ni^hrrK^*? ^^"  «^^*°«  besetze  ge- 
Kegeln und   die  B:ding  ien  Ä^^   ''''^  J?«"°  ^^« 
welche   der  Staat  seinftwSpn   hL  1??^"   "°^  Ehrfurcht, 
D^cht  diese  Gesetze  des  StS    T^,^'""  T''^   ^«^^^ffen 
da  letzteres    (nach  dem  voriehUr    p"  ^^'  Naturrecht, 
^nrch  das  Recht  des  Staat,!!^^^"  Paragraphen)  nicht 
des  Krieges  geschüztwe  'den   kann  ""'  ^^/^^^as  Rech 
?5  aus   demselben    GrTnde   d-r?n  '   ""^^""  ^^^at  ist 
li^inzelne   in   seinem  noHili-  u  ^l^^   gebunden,   wie    der 

*'  I,  sich  hüten  muss  sTh  Lil  ♦  *'^^°^'  ^««^  werden 
welche  kein  Gehorsam'  fi  ~i  ^®"'!'  ^"  töten;  eine  Sor?e 
liehen  Natur  is^Sk;ren'■"^./''^'■^^*'''^«^  -"S 
Rechte  nur  von  dem  BeSsse  Ä  9'  »»a^gerhchen 
braucht  dabei  auf  lieinen  SL  *^^^*'«  *^  «"«^  dieser 
""d  dass  er  frei  bleibe  ZZZn'  T  ''"^  «'«l"  ««'«»st 
das  für  gut  „„d  schlecht  zn^K?  ""^  ^'  ''^»'«='"  ••" 
»ä  gut  oder  schlechterkennt  n'''.T.?\''  ^^'  «'<"> 
bloss  das  Recht,  sich  zu  S;^-  **''^"'  •"»*  «  nicht 
«nd  ^uszulegen/soDderueTgJf»'  Gesetze  ="'/«ben 

ve-^eÄ)''"'"'^'-^-   -  -'-  ÄÄiS 

•äurch^UrdTe  mS  tX  t'  ""r^^S^  -<^  Gesetze, 
«der  einen  MensS  if  *"''*  \"^  e'"«  Versammlung 
*enn  das  GeSwohTihre  Wr?f  ''**'  ^«^'«t^*  ^e'de>f 
Scheidung  hierflbeT,  ob  nämS  t,f<^  ^"^'^"«'-  »'«  Ent-' 
'ange  oder  nicht  kommf  Jh!  ?*?  Gemeinwohl  dies  ver- 
»w  den,  Inhaber  der  Steatttl^nT  ^„"'^«^'  ««»dem 
(nach  §  3  diesp«  Vä^jf  f  f*tsge«ralt  dem  Rechte  nach  zu 

Serlichln   &  fn^'^^'^f 'l*'^  •"«'»>*  "«ch  dem  bür 
»"einige  AMeUllrtJ^^V'^y^"^''^'^'''  ^^ 
J^nvatmann  das  Recht  hat  d^O^M"  ''°"""*'   ^"^  kei" 
^■n  verbinden  sie  De?ttrdÄ"ÄS' i^'e 

7* 


I 


fjQ  Politische  Abb.     Kap.  5.     §  1.  2. 

hat.«  Sind  8ie  jedoch  der  Art,  ^,»««  «J«  J^^J^^rsf  die 
gleich  die  Kraft  ^es  Staats  erscMte^  h  da«^.,d.e 
gemeinsame  Sf  et.  Jer  meisten  B^^^«'^^«     „^^  „„^  ^^r 

SBHle  Änfen  ^^^£ 
Äten    wie  der  Einzelne   im  Naturzustande,   um  nicht 

worden  ist. 


Fünftes  Kapitel. 

81     In  §  11  des  Kap.  2  habe  ich  gezeigt,  dass  ein 

Menslh   dann^m   meisten  .  l^'^^Jf" ^'Llf  ,',„7  Wol^ 
meisten  von  der  Vernunft  sieh  leiten  lasst  »»a  dass  toig 
«Ph    «n  J.   derieniee  Staat  am   mächtigsten  und  selbstän- 
digsten tt   weffi  i«f  die  Vernunft  gegründet  nnd  von 
\  fhf  gdeltei  Trd.  Da  nun  diejenige  Leb---«£,^tn 
zur   möglichsten  Erhaltung  semer  selbst  ist ,  :^e'«oe  ^«? 
Torschriften  der  Vernunft  gemäss  emgerjchtet. st  so  fog^, 
dass  alles  das  das  Beste  ist,  was  der  Men  ch  oder  Staa^ 
♦hnt    insoweit  er  am  meisten   selbständig  ist.     uenn  icn 
ÄuX  nfcht,  dass  alles,  was  mit  Recht  geschieht   auch 
"  daiÄ  sei;  einen  Ack^r  mit  Recht  bebauen    .st  nicht 
-Selbe   als  hn  am  besten  bebauen ;  und  ebenso ,  meine 
fch   ist  es  nicht  dasselbe,  sich  mit  Recht  zu  schützen,  zu 
ftaltenr^ä  urteilen  u.  s'.  w.  und  alles  dies  am  bestenju 
thun  und  deshalb  ist  es   auch  nicht  dasselbe,  mit  Recht 
in  einem  Staat  zu  herrschen  und  zu  regieren  und  dies 
'am  beXn  zu  thun.  Nachdem  ich  daher  bU  jetzt  jon^em 

Recht  eines  jeden  Staates  ™  a".g«■"«"«^!^^*"^f jS 
,  ist  es  Zeit,  über  die  beste  Weise  eines  jeden  Regimente 

zu  handeln  ^)  ^^^^  .^^  ,,.,^t  ,„, 

demWk  der  bürgerlichen  Gesellscha  abzunehmen 
\  es  ist  dies  kein  anderer,  als  der  Friede  und  die  Sicher 
l^eit   des  Lebens.    Deshalb   ist   dasjenige   Regiment  das 


Die  wahren  Grundlagen  des  Staats.  77 

Aufstinden,  Kriegen     P  ««»*,!         *S^  ^'®  Schuld  von 
tretungen  n'ichT  owöh'l  dt  ßthÄr  n^f^K"'^  ^^''■ 
der  schlechte  Znstand   der  Re^fernnt    ^n*'""*w"^°'..  *'«  , 
Mensch  wird  nicht  ffebor«^    11!    ^-  i.Pf  bürgerliche 
sind  die  natürSL^^fiS^—^^^-^iS'-Sibildet.    Überdem  i 

selben  herStde8lÄfHL^'''^''^l^"°  «'»«'''"  die- 
heit  und  wer^n  dort  mehren  "/'"l*"^***'«  mehr  Bos- 
anderen,  so  kommt  es  Tich^rÄ^''^^*"/*"'  »'«  '»  <>««" 

stände  nicht  besSh«f^  ^'*  Ursachen  der  Anf- 
erwartPn    h.f  "^^^J"«'   bat,   wo  man  stets  den  Kries  zn 

s  ,^•st^U"tm"kSrz„t'^'r  ^'^'^''•>''  «^"^'^«t«» 

wo  jeder  nach  seinem  ßtLh       °!  nT.^  unterschieden, 
sich"^bewegt  ^''^'"°  ""'  Ö«'^*'"  «««es  Lebens 

gebuSdenhelt  u"nd  wLf^^tnX^ZfflTlJ'^  ^»- 
Schuld   träfft-    «n    :^i7^^P®°stigkeit  der  ünterthanen  die 

8  i    vi      •    Aufstand  vorgekommen  ist.«) 
PurcIt'nicJtzu'deTÄ^n'.'^T"  ünterthanen^  „ur  aus 

rrS^  »I?  arÄÄ  SsSr: 

behShe  Wille  dat,'':r'°  ^""^^  K^^J  ^''P-  2)  ist  de", 

Einöde  als  ein  St«a/^»    Gehorchen  lernen,  vielmehr  eine 
R  >i     m  genannt  werden. 

nenn!    w«  ^-^"^ ''''' .'''^"'    dasjenige  Regiment  das  be8te\ 

H  darunter  IlX*;'''."  '""^^  •«^«•''  ««  ^^' 
uarunter  em  Leben,  dass  nicEFlSloss  in  dem  BIntumlauf 


78 


Politische  Abh.    Kap.  6.     §  6.  7. 


Die  Festigkeit  des  Staats. 


und  anderen ,  mit  allen  Tieren  gememsamen  ZuständeB 
besteht,  sondern  das  vor  allem  nach  der  Vernunft,  al» 
dM  wahren  Tugend  und  dem  wahren  Leben  der  Seele, 

sich  ^f'^f^  bemerke,   dass  ich  unter  dem  Uegiment, 
was  ich 'zu  dem  Behuf  eingerichtet  verlange,  das  von  einer 
freien  Anzahl  Menschen  errichtete  verstehe  und  nicht  das, 
was  gegen  diese  Menschen  durch  das  Recht  des  Krieges 
\  erlanlt  worden  ist.   Eine  freie  Menschenmenge  wird  mehr 
S  die  Hoffnung   als   durch  die  Furcht  geleitet;   eme 
'unterworfene  mehr  durch  Furcht  aU  durch  die  Hoffnung; 
iene   strebt   das  Leben   zu  verbessern;   diese   sucht  nur 
^dem  Tode  auszuweichen;  jene,  sage  ich   strebt  sich  selbst 
zu  leben,  diese  ist  dem  Sieger  unterworfen;  deshalb  nennt 
man  diese  hörig  und  jene  frei.    Deshalb  ist  der  Zweck 
S^es  Regiments^  was  irch   das   Kriegsrecht   erworben 
wTrd,  die  Herrschaft  und  der  Besitz  von  Sklaven,  nicht 
von  ünterthanen.    Wenn  auch  zwischen  einem  Reg™ent, 
was  die  Menschen  frei  errichten  und  dem  durch  Krieg 
«worbenen  in  bezug  auf  das  beiderseitige  Recht  im  all- 
gemeinen ken  wesentlicher  Unterschied  besteht     so  sind 
doSi  "hre  Ziele,  wie  ich  gezeigt,  und  die  Mittel    durch 
wdche  jedes  sich  zu  erhalten  hat,   bei  ihnen  sehr  ver- 

schieden.«)^.^  Mittel,  welche  ein  Fürst,  der  nur  von  der 
Herrschsucht  geleitet  ist,  anzuwenden  hat,  um  seine  Herr- 
fchaft  zu  begründen  und  zu  erbalten,  hat  der  scharfsinnige 
Macchiavel  ausführlich  dargelegt;  in  welcher  Absicht  er 
es  aber  gethan,  ist  nicht  recht  klar.    War  sie  gut    w  e 
man  von  einem  weisen  Mann  annehmen  muss,  so  wollte 
er  wohl  zeigen,  wie  verkehrt  viele  handeln,  wenn  sie  die 
Tyrannen  zu  beseitigen  suchen,  ohne  die  Ursachen,  welche 
den  Fürsten  zum  Tyrannen  machen,  zu  beseitigen;  wie 
sie  vielmehr  diese  Ursachen   steigern,  je   mehr  sie  dem 
Fürsten  Anlass  zur  Furcht  geben ,  was  dann  geschieht 
wenn    die  Volksmasse    ein   warnendes   Beispiel    an    den 
Fürsten  aufstellt  und  des  Fflrstenmordes  wie  einer  guten 
That  sich  rühmt.  «•)  Vielleicht  hat  er  auch  zeigen  wollen 
wie  sehr  ein  freies  Volk  sich  hüten  muss,  sein  Wohl  nicht 
einem  Menschen  unbedingt  anzuvertrauen,  der,  wenn  er 
n  cht  eitel  ist  und  nicht  meint,  allen  gefallen  zu  können, 
Uglich  die  Nachstellungen  fürchten  und  deshalb  eher  sich 


7« 


IZt^mZ^  iT  ^•"''   »«?''«'«»«''>  als  für  dasselbe 
sorgen   muss.    Ich   neige   mich   mehr   zu  dieser  Ansicht 

Sit'e-'drPrlt-f'""''f  ".***""'  "^*  er  bekanntlich  aa 
amt^ÄLirJetbenrat..^!^   '^«'^"  "^'^'^  '"> 


Sechstes  Kapitel. 

j    J  \  ?*  ^'*.  Menschen,  wie  gesagt,  mehr  durch  ihro 
Leidenschaften  als  durch  die  Vernunft  sich  leiten  lassen 
so  folgt,  dass  das  Volk  nicht  durch  die  Vernnn  rsoS 
durch  eine  gemeinsame  Leidenschaft  naturgemäÄümmt 
wird    wenn  es  seh  vereinigt   und  in  eignem  ^  et 
fuhrt  sein  will  (wie  ich  in  §  9.  Kap.  3  dargelegt  habe^ 
sei  dies  nun  eine  gemeinschaftliche  Hoffnung^odef  Furcht 
oder  das  gemeinsame  Verlangen,  einen  Sehaden  zu  rächen 
Da  indes  allen  Mensehen  die  Scheu  vor  der  Verernsamu„; 
einwohnt,  weil  niemand   da  die  Kraft  hat,   s7ch  zu  ver^ 
teidigen  und  die  notwendigen  Bedürfnisse  Ses  Lebens  zu 
gewinnen    so  verlangen  deshalb  die  Menschen  von  N^tur 
nach  dem  bürgerlichen  Znstand,  und  die  Menschin  können 
ihn  auch  niemals  völlig  auflösen,  »ä)        """"""en ''onnen 

§  2.  Deshalb  führen  die  Streitigkeiten  und  Aufstände 
die  in  einem  Staate  öfters  entstehen,  niemals  zur  1^«^ 

tZ^^^ ^"'f  •"'''  '"  «''"^^'«»  Gemeinschaft^  oft  vor^ 
kommt),  sondern  nur  zu  einer  Veränderung  seiner  Form  • 

wenn  nämlich   nnter  der  bestehenden  Form Te  StreitS' 

keiten  nicht  beigelegt  werden   können,    ü^tei^  den  zu^J 

her  '^"."fr^M  ^^iT'"'  "ötigen  Mitteln  ve?stehelch  dä^ 
her  die  Mittel,  welche  zur  Erhaltung  seiner  Form  ohne 
erhebliche  Änderung  derselben  erforderlieh  sind? 

.?  ^-  Ware  die  menschliche  Natur  so  beschaffen  dass  1 
die  Menschen  das  Nützlichste  am  meisten  begehrten  so  l 
bedurfte  es  keiner  Kunst  zur  Erhaltung  def  Eintracht  ' 
und  Treue;  indes  verhält  es  sich  ganz  anders  mit  der 
menschlichen  Natur,  und  deshalb  mim  das  Sment  so 
eingerichtet  werden,  dass  alle,  sowohl  die  Reifenden  - 
wie  die  Regierten,  mit  oder  ohne  ihren  Willen  dM  thm.  ^ 
was  das  gemeine  Wohl  erfordert,  d.  h.  daL  alle  e^twäe;     \ 


f. 

IL  ;l 


80 


Politische  Abh.     Kap.  6.     §  4.  5. 


freiwillig  oder  mittels  Zwangs  oder  aus  Not  nach  den 
Vorschriften  der  Vernunft  leben  müssen.ss)  Dies  ge- 
schieht dann,  wenn  das  Regiment  so  eingerichtet  ist,  dass 
das  zu  dem  gemeinen  Wohl  Erforderliche  nicht  von  der 
Treue  eines  einzigen  Menschen  abhängt.  Denn  selbst  der 
Wachsamste  schlummert  mitunter  und  niemand  ist  so 
festen  und  reinen  Gemütes ,  dass  er  nicht  manchmal  und 
namentlich  da,  wo  die  Seelenstärke  am  notigsten  ist 
nachgäbe  und  sich  überreden  Hesse.  Es  ist  deshalb 
thöricht,  von  jemand  das  zu  verlangen,  was  niemand  von 
sich  selbst  verlangen  kann,  d.  h.  dass  er  für  andere  mehr 
als  für  sich  wache;  dass  er  weder  geizig,  noch  neidisch, 
noch  ehrsüchtig  u.  s.  w.sei;  namentlich  wenn  es  jemand 
betrifft,  welcher  den  Verlockungen  aller  Leidenschaften 
tagtäglich  ausgesetzt  wird.54)  ,        j-     es      ^ 

8  4.    Dennoch  lehrt  die  Erfahrung,   dass  die  Sorge 
für  den  Frieden  und  die  Eintracht  die  üebertragung  aller 
Gewalt  auf  einen  Menschen  verlangt. ^5)   Kein  Reich  hat 
ohne  erhebliche  Veränderungen    so  lange  bestanden   als 
das   türkische,   und    umgekehrt   ist   kein  Staat  weniger 
dauerhaft  gewesen  als  die  Volksstaaten  oder  Demokratien, 
in    diesen   sind  die  meisten   Aufstände  gewesen.    Wenn 
iDdes  die  Sklaverei,  die  Barbarei  und  Vereinsamung  den 
Frieden  ausmacht,  so   gäbe  es  für  die  Menschen  nichts 
Schlimmeres  als  den  Frieden.    Allerdings  kommen  unter 
Eltern  und  Kindern  mehr  und  bitterere  Streitigkeiten  vor, 
als  zwischen  Herren  und  Dienern,  und  doch  wäre  es  tür 
den  Hausstand  nicht  gut,   das  Recht  des  Vaters  in  das 
eines   Eigentümers    umzuwandeln    und    die    Kinder   aen 
Sklaven  gleichzustellen.  Das  Interesse  der  Sklaverei,  nicht 
aber  das  des  Friedens  verlangt  deshalb,  alle  Gewalt  aut 
Einen  zu  übertragen;    der   Friede  besteht,  wie  gesagt 
nicht  in  dem  Nichtsein  des  Krieges,  sondern  m  der  JJ^in- 
heit  und  Eintracht  der  Gemüter. 

8  5.  Auch  irrt  man  stark,  wenn  man  es  tur  moglicn 
hält,  dass  ein  Einziger  die  höchste  Staatsgewalt  inne  haben 
könne;  denn  das  Recht  bestimmt  sich,  wie  ich  Kap.  2  ge- 
zeigt habe,  nur  nach  der  Macht,  und  die  Macht  eines 
Menschen  ist  der  Übernahme  einer  solchen  Last  nicht  ge- 
wachsen. Hat  daher  das  Volk  sich  einen  König  gewählt, 
80  geschieht  es,  dass  dieser  sich  nach  Feldherren  oder 
Räten  oder  Freunden  umsieht,  welchen  er  sein  und  Aller 


Gefahren  der  Herrschaft  eines  Einzigen.  g^ 

Wahl  anvertraut.   Deshalb  ist  das  Regiment,  was  man  für 
ein  absolut  monarchisches  hält,  in  Wahrheit  und  der  That 
nach  ein  aristokratisches,  was  aber  nicht  offen  hervortritt 
sondern   im  Verborgenen   und   deshalb   um  so  schlimmer 
besteht.    Dazu   kommt,   dass  wenn   der  König  nocHin 
Knabe   ist  oder  krank  oder  altersschwach,  fr  nur  zum 
Scheine  Konig  is  ;  dann  besitzen  in  WahVheit  diejenigen 
die  höchste  Gewalt,  welche  die  wichtigeren  StaatsSffte 
besorgen    oder    dem  Könige   am  nächsten  steheirw^^^^^^^ 
^h    nicht    erwähnen    mag,   dass,   wenn   der   Koni J  der 
Wollust  ergeben  ist,  die  Leitung  aller  Angelegenheiten  dem 
Belieben  einer  oder  mehrerer  Buhlerinnen  oderKupplerinne^ 

„Ich  hatte  wohl  gehört,  dass  in  Asien  ehemals  die  Frauen 

§  6.  Es  steht  flberdem  fest,  dass  der  Staat  mehr 
von  seinen  Bürgern  als  von  den  Feinden  gefthrderist 
da  die  guten  selten  8ind>)  Deshalb  wird  dfr  Eine  anl 
dt°Bu'rt.f'"'v  St«t^^«.«'alt  «bertragen  worden  f,imer 
die  Burger  mehr  als  die  Feinde  fürchten ,  sich  deshalb 
vorsehen  und  für  die  ünterthanen  nicht  sorgen  sondern 
^nen    nachstellen;    namentlich    Denen,    dTsich    durch 

mäcäg  sinr"'"'    "^'^   ^''  •^"^'^  •'"'"'"  ««•«'»""'» 

n,Pl>r^fLu?*^",''T?*'  '^*''  die  Könige  auch  ihre  Söhne 
mehr  fürchten  als  Leben;  namentlich  wenn  diese  in  den 

fnnt"  rl"!  Fnedens  und  Krieges  sich  auszeichnen  imd 
von  den  ünterthanen  ihrer  Tugenden  wegen  geliebt  wer 
den    Deshalb  erziehen  die  Kön^e  ihre  Söhne  fo,  da  s  der 
Anlass   zur  Furcht   beseitigt  wird.    Die  Beamten  helfen 

«n«h-M'f"*'-^'^l'x'^''"  Könige  und  beeifern  sich,  einen 

ungebildeten  Nachfolger   als  König   zu   bekommet     der 

d"ch  Kunstgriffe  geleitet  werden  kann.     ^'''"°'°^"'    "«' 

_fe  8.    Ans  alledem  erhellt,  dass  der  König  um  so 

so' kltliow'^."^-'^  K"°i  "^'^  ^'S'  ^«'  ünterthfnen  um 
p;nil«u^l  '^*'  J*  beliügongsloser  alle  Staatsgewalt  auf 
Einen  übertragen  wird.  Es  gehört  deshalb  zu  einer  gut 
eT"*;Ä  ^^»"archie,  dass  man  die  Grundlagen  Ist 
ege,  auf  die  sie  erbaut  wird;  aus  diesen  soll  für  den 
Monarchen  die  Sicherheit  und  'für  das  Volk  der  Frieden 
hervorgehen.    Deshalb  ist  der  Monarch   dann  am  selb 


Q2  Politische  Abb.     Kap.  6.     §  9 — 12. 

Btändigsteu,  wenn  er  am  meisten  für  die  Wohlfahrt  seineB 
Yofkes  BO^t.  Diese  Grundlagen  d^  'P»"««^'«,'*/"  ?,f: 
giments  will  ich  kurz  angeben  und  sie  dann  der  Reibe 
nach  im  Einzelnen  darlegen.  ^3^) 

8  9  Es  müssen  eine  oder  mehre  Städte  erbaut 
und  lef^stigt  werden,"";  deren  Einwohner  das  gleiche 
Bürgerrecht  gmieasen,  mdgen  sie  innerhalb  oder,  des 
Ackerbauea  legen,  ausserhalb  der  Mauern  wohnen;  jede 
ml  jedoch  eine  bestimmte  Anzahl  Bürger  zu  •h/e'n  «nd 
zum  gemeinsamen  Schutz  enthalten;  vermag  eine  btadt 
diese  Bedingung  nicht  zu  erfüllen,  so  muss  sie  unter 
anderen   Slungen    in    die    Botmässigkeit    genommen 

w6rdcD  •  ^^^)  1    • 

8  10.  Das  Heer  darf  nur  aus  den  Bürgero ,  keinen 
ausgenommen,  und  aus  niemand  sonst  bestehen;  jeder  ist 
deshalb  verpflichtet,  die  Waflfen  zu  führen  und  keiner 
kann  Bürger  werden,  der  nicht  den  Kriegsdienst  gelernt 
hat  und  verspricht,  zu  bestimmten  Zeiten  im  Jahre  an 
den  Übungen  teilzunehmen.  Wenn  dann  die  Streitbaren 
aller  Stämme  5^^)  in  Hauptmannschaften  und  Regimenter 
verteilt  sind,  so  dürfen  nur  Die  zu  Offizieren  gewählt 
werden  57)  welche  die  Kriegskunst  erlernt  haben.  Ferner 
können  die  Führer  der  Hauptmannschaften  und  Regi- 
menter wohl  auf  Lebenszeit  bestellt  werden,  aber  der 
oberste  Führer  der  Miliz  eines  Stammes  darf  nur  für  die 
Kriegszeit  gewählt  werden,  sein  Amt  nur  ein  Jahr  lang 
behauen  und  es  weder  länger  führen,  noch  von  Neuem 
dazu  gewählt  werden.  Diese  Führer  müssen  aus  den 
Räten  des  Königs  (von  denen  in  §  15  u.  f^  gehandelt 
werden  soll)  oder  aus  den  Stellvertretern  gewählt  werden. 

S  11  Alle  Einwohner  und  Anwohner  der  btadte, 
also  alle  *  Bürger  müssen  in  Stämme  eingeteilt  werden, 
welche  besondere  Namen  und  Zeichen  erhalten.  Alle 
Kinder  dieser  Stämme  gehören  zu  den  Bürgern  und  wer- 
den  mit  Namen  in  das  Stammverzeichnis ^  eingetragen, 
wenn  sie  die  Jahre  erreicht  haben ,  wo  sie  die  Waffen 
tragen  und  den  Dienst  versehen  können;  nur  die  ehr- 
losen Verbrecher,  die  Stummen,  die  Wahnsinnigen,  die 
Dienstboten  und  Die,  welche  einen  entehrenden  Erwerbs- 
zweig treiben,  bleiben  ausgeschlossen.  n       a       a 

8  12.  Das  bebaute  Land  und  der  ganze  Grund  und 
Boden,  womöglich   auch   die  Häuser ,   sollen   öffentliches 


Der  Adel.     Der  grosse  Rat.  go 

Eigentum  sein  und  dem  Inhaber  der  Staatsgewalt  gehören 
TrlfLf'''  r^  'T"  ifl^^lichen  Zins  dfn  B^lern  Tn 
der  Stadt  und  den  Landleuten  vermietet  :58)  sonst  ist  n 
Friedenszeiten  jedermann  frei  von  allen  Abgaben  Von 
jenem  Zins  wird  ein  Teil  für  die  Befestigunlswerke  des 
Staates   und    ein    anderer  zu  dem  häuslichenTedarf  des 

Ans  dt^^di/ -^^^   es  ist  nötig,   dass  während  d 
^  riedens  die  Städte  sich  zu  dem  Kriege  rüsten,  und  dass 

werdt.  ""^   ''"'*^'^'  Kriegsmaschine!   in  Stand  gesetz? 

wählf  If  Wenn  der  König  aus  einem  der  Stämme  ge- 
wählt ist  so  gehören  nur  die  Nachkommen  des  Königs 
zum  Adel;   sie   müssen  sich   durch  königliche  AbzeS 

Jchdir   ^"^^^   ""^   ^'"   ""^^^^"  Itämml   unter. 

o„o  I-  ^^'  A?^f  männlichen  Anverwandten  des  Konica 
aus  diesem  Adel,  welche  mit  dem  regierenden  König  b!s 
zum  dritten  und  vierten  Grade  verwandt  sind,  dürfen  nicht 

dt  ftir'l:r  ''''"^'^J'i  ^^^^"^^'^  «ollten:!' geXn 
diese  für  illegitim;  sie  bleiben  von  allen  Ehren  aus- 
geschlossen und  gelten  nicht  als  die  Erben  ihrer  Eltern 
vielmehr  fälU  deren  Vermögen  auf  den  KL'nurS) 
§  15.  Ferner  müssen  die  Räte  des  Königs  die  ihm 
am  nächsten  stehen  und  der  Würde  nach  £  Zweiten 
sind,   der  Zah    nach   ihrer  mehrere   sein  und  nurlus 

Ä^X^'S  *r ''''^J  °%"^^^^  ^"«  J^^^-  Stamme  dre' 
vier  oder   fünf  (wenn   der  Stämme  nicht  mehr  als  600 

Ä  tbeTnlr'%  i'r  ^^*^^^*^^  dieser  K^^ersÄ 
vfer  oder  fiin^^^^^^^^^        Lebenszeit,  sondern  nur  auf  drei, 

V  erte  oder  fLÄ  ?,%^^''  'l  J"^""^  ^^^'^  ^«^  ^^^^te 
vierte  oder  fünfte  Teil  dieser  Körperschaft  neu  eewählt 

iSm  i^Jr'  "^'"l'   '''  .^^^^«^  ^^  halteuMraus 
Ä  weS)  "^'"^^^'^"^  ^^^   rechtserfahren^r  Rat  ge- 

§  16.  Diese  Wahl  geschieht  von  dem  Könige-  ieder 
Stemm  hat  zur  bestimmten  Zeit,  wenn  jährlich  die  ne„en 
Rate  zu  wählen  sind,  eine  Liste  aller  seiner  Bürger  über 
50  Jahr,  die  um  dieses  Amt  sich  bewerben  und  förmlich 

wl'w'S-^"'^'"  r^'.  ^^^  Könige  zu  überre'chenraSs 
welcher  dieser  nach  seinem  Ermessen  die  Auswahl    rifft 
In  einem  Jahre,  wo  ein  Rechtsverständiger  an  Stelle  ehies 
solchen  eintreten  muss,  ist  dem  Könige  nur  di^L  ste  der 


iilj 


84 


Politische  Abh.     Kap.  6.     §  17—19. 


Bildung  des  grossen  Rats. 


Rpchtsverständieen  einzureichen.  Alle  Rite,  deren  Amta- 
Sabgekufenlt,  können  ihr  Amt  nicht  fortführen  und 
dürfen  auch  in  den  nächsten  fünf  Jahren  oder  noch  länger 
in  die  Liste  der  zu  Wählenden  nicht  wieder  aufgenommen 
werden.  Der  Grund,  weshalb  in  jedem  Jahre  einer  aus 
iedem  Stamme  gewählt  werden  soll,  ist,  dass  diese  Kats- 
versammlung nicht  das  eine  Mal  aus  unerfahrenen  Neu- 
lingen und  das  andere  Mal  aus  erfahrenen  Alten  bestehe, 
wai  der  Fall  sein  würde,  wenn  alle  aut  einmal  ausschieden 
und  neue  nachfolgten.  Wird  dagegen  aus  jedem  Stamme 
iährlich  einer  gewählt,  so  wird  nur  der  fünfte,  vierte 
oder  dritte  Teil  der  Versammlung  aus  Neulingen  be- 
stehen.«') Sollte  der  König  durch  andere  Gesehafte  oder 
sonst  eine  Zeit  lang  an  der  Vornahme  dieser  Wahlen  be^ 
hindert  sein,  so  haben  die  Räte  selbst  die  Wahl  für  die 
Zeit  vorzunehmen,  bis  der  König  entweder  andere  wählt 
oder  die  von  den  Bäten  Gewählten  bestätigt. 

S  17     Die  hauptsächlichste  Aufgabe  dieses  Kats  ist 
die  Verteidigung  der  Grundgesetze   des  Reichs  und  die 
Unterstützung  des  Königs  mit  seinem  Gi^aohen,   damit 
dieser  wisse,  was  das  allgemeine  Wohl  verlangt.    Deshalb 
darf  der  Köuig   ohne  vorherige  Anhörung   dieses  Kats 
keine  Beschlüsse  fassen.    Machen  sich  jedoch ,   wie  dies 
gewöhnlich   der  Fall   sein  wird ,   in  dieser  Versammlung 
nicht  bloss   eine,   sondern  mehrere  Meinungen  geltend 
trotzdem,  dass  selbst  die  Sache  zwei-  oder  dreimal  beraten 
worden  ist,  so  darf  deshalb  die  Sache  nicht  hingehalten 
werden,  sondern  die  entgegengesetzten  Ansichten  amd  dem 
Könige  vorzulegen,  wie  ich  in  §  25  dieses  Kapitels  an- 
geben wer  e^^   ^^^   ^^^^   ^.^^^^   Versammlung    gehört 
auch    die   Bekanntmachung    der  Anordnungen    und   Be- 
schlüsse des  Königs  und  die  Besorgung  dessen,  was  zum 
allgemeinen  Besten  beschlossen  worden,  so  wie  für  die 
ganze  Verwaltung  des  Staats  als  Stellvertreter  des  Königs 

zu  sorgen.    )^_^   ^  ]iönnea  nur   durch   diese   Ver- 

sammlung Zutritt  zu  dem  König  erlangen;  ihr  sind  alte 
Anträge  oder  Bittschriften  zu  übergeben ,  um  sie  dem 
Könige  einzureichen.  Auch  die  Gesandten  fremder  Staaten 
könnln  nur  durch  Vermittlung  dieser  Versammlung 
Audienzen  bei  dem  Könige  erlangen,  und  die  von  auswärts 


85 


für  den  König  eingehenden  Schreiben  müssen  ihm  durch 
diese  Versammlung  überreicht  werden ;  so  dassde^S 

iZW%^'^  ^''''   ^"^  ^^''^^  '"«'  diese  Verslmmlunf 
wie  die  Sinnesorgane  dieser  Seele  oder  wie  der  Körne! 
des  Staate   anzusehen    ist,  durch  welchen  die  Seele   die 
Lage  des  Staates  wahrnimmt,  und  durch  weche  sie  daä 
was  sie  für  das  Beste  hält,  ausführt.«)  ' 

ii»„f^.i-^"    ■i"*'''   ^'®.  Erziehung   der  Söhne   des  Königs 

legt  dieser  Versammlung  ob   und  ebenso  die  Vonnund! 

Schaft    wenn   bei  dem  Tode  des  Königs  sein  Nachfo^r 

wÄen"  SeTzl"d?"*v'"''"",«*^"-  """An 
wanrena  dieser  Zeit  die  Versammlung  nicht  ohne  Koni"- 

sei,  muss  aus  dem  Adel  des  Staats  ein  Ältester  gewähfi 
Sir'f  fAu'"  König  vertritt,  bis  der  rechtSsTge 

"SuJg'üitXeÄn*!'  ^"  "  '^''^  ^'-^  ^-*- 
§  21.    Die  Anwartschaft  zum   Mitglied  dieser  Ver- 

Se'oÄt  vf'/^'*'''^  'J'  f^^'«'»"^'  di^  Grund- 
gesetze oder  die  Verfassung  des  Staates  kennen    dessen 

3  hrten°Xri^?"'Ä  "''  ^.^.^'^  Stelle  eTnes' Rechte" 
gelehrten  dann  einnehmen  will,  der  muss  ausserdem  auch 
die  Regierungen  und  die  Verhältnisse  der  Staaten  kennen 
mit  denen  sein  eigener  Staat  in  Verkehr  steht.  Erst  m"t 
dem  fünfzigsten  Jahre  können  die  Anwärter,  wenn  ^e 
kemes  Vergehens  überführt  sind,  in  die  Liste  der 'zu  Wählen 
den  aufgenommen  werden.«*) 

w,tJ.f'  Diese  Versammlung  darf  nur  in  Gegenwart  aller 
Mitglieder  beschl.essen;  ist  eines  durch  Krfnkheit  oder 
sonst  verhindert,  so  muss  es  einen  andern  ans  demselben 

V  rrhtet'^.f  "'n'/*^*.'  ^•''"■?^»'  ^«'''''«  dasselbe  Am" 
verrichtet   hat,  oder   der   schon   in  die  Wählerliste  auf- 

f^rr^iK'*^--  5*'  ^''  ^'''"•"'"te  d««  verabsäumt  und 
bat  deshalb  die  Versammlung  die  Beratung  eines  Gegen- 

lth°en'V:;f.'"'f'°  müssen  ,%o  ist  er  mif  einer  emffin. 
W^.^  ^T*^"  zu  belegen.  6S)  Dies  gilt  indes  nur  für 
Angelegenheiten    welche  das  ganze  Reich  angehen,  also 

GeseS  für^^'''^*'"^  /"'  Aufhebung  oder^Erlass  von 
ijtesetzen,  für  den  Handel  u.  s.  w.     Bei  Angelegenheiten 

S  ""  'T.  "^Z'  '^•«  ''"^"«  Stadt  odef  ättschrS 
betreten,  genügt,  dass  die  Mehrheit  von  den  Mitgliedern 
der  Versammlung  anwesend  ist. 

§  23.   Damit  unter  den  Stämmen  in  allem  die  Gleich- 


86  Politische  Abb.    Kap.  6.    §  24.  25. 

heit  und  die  Ordnung  rücksichtlich  des  Sitzes,  ^^  An- 
träge und  Reden  eingehalten  werde,  findet  ein  W^hsel 
in  dem  Vorsitz  der  Versammlung  für  die  einzelnen  Stamme 
der  Reihe  nach  statt,  und  welcher  in  der  einen  bitzung 
der  erste  war,  wird  in  der  folgenden  der  letzte  sein.  Unter 
den  Mitgliedern  aus  demselben  SUmme  hat  hierbei  der 
früher  Gewählte  den  Vorrang.      „         .    ^         .    _„,  . 

8  24.    Diese  Versammlung  soll  wenigstens  viermal  im 
Jahre  berufen  werden,  um  Rechenschaft  über  die  Staats- 
verwaltung von   den  Ministern   zu  fordern ,   um  von  dem 
Zustand  des  Reichs  Kenntnis  zu  nehmen  und  zu  sehen, 
was   anzuordnen  nötig  ist.     Denn   es  scheint  unmöglich, 
dass  eine  so  grosse  Anzahl  von  Bürgern  fortwährend  dem 
öffentlichen  Dienst  obliege;  da  indes  die  Staatsgeschäfte 
in  der  Zwischenzeit  nicht  ruhen  können ,  so  sind  tüntzig 
oder    mehr    aus    der  Versammlung  auszuwählen,  welche 
täglich  in  der  Nähe  des  königlichen  Hof lagers  sich  ver- 
sammeln   und    da    alltäglich    für    die    Staatsgelder,    die 
Städte,  die  Befestigungen,  die  Erziehung  der  königlichen 
Söhne   und   überhaupt   für   alles,  was  dem   grossen  Rat 
nach  dem  Obigen  obliegt,  sorgen ;  nur  neue  Einrichtungen, 
über  welche  noch  nichts  beschlossen  ist,  sind  hiervon  aus- 
genommen. ,    V 

8  25.  Ist  die  Versammlung  beisammen,  so  haben  vor 
der  Beratung  fünf  oder  sechs  oder  mehr  Rechts  verstan- 
dige aus  den  Stämmen ,  welche  für  diese  Session  an  der 
Reihe  sind,  den  König  anzugehen,  um  ihm  die  Bitt- 
Schriften  oder  Briefe  zu  überreichen,  die  sie  etwa  enoptan- 
gen  haben,  um  ferner  über  den  Zustand  des  Reichs  zu 
berichten,  und  um  endlich  von  ihm  zu  l^ören,  welche 
Gegenstände  er  dem  Rat  vorgelegt  haben  will.  66)  Dem- 
nächst kehren  sie  in  die  Versammlung  zurück  und  der 
Erste  der  Reihe  nach  hat  die  Beratung  zu  eröffnen.  Die 
Abstimmung  darf  nicht  gleich  erfolgen,  wenn  Einzelnen 
die  Sache  von  Erheblichkeit  erscheint,  sondern  ist  so 
lange  zu  verschieben,  als  die  Angelegenheit  es  gestattet. 
Wenn  die  Versammlung  sich  bis  zu  diesem  Zeitpunkt  ge- 
trennt hat,  so  können  inmittelst  die  Mitglieder  jedes  Stam- 
mes untereinander  die  Sache  beraten  und  bei  wichtigem 
Fragen  ihre  Vorgänger  oder  die  Anwärter  (§  lö)  an- 
hören. Sollte  ein  solcher  Stamm  in  der  bestimmten  t  rist 
nicht  einig  werden,  so  bleibt  dieser  Stamm  von  der  Ab- 


Der  Rat  für  die  Rechtspflege.  37 

Stimmung  ausgeschlossen  (weil  jeder  Stamm  nur  eine 
Stimme  führt)  ;67)  sonst  trägt  der  Rechts  verständige  jedes 
Stammes  die  Ansicht,  welche  für  die  beste  erkannt  wor! 
den,  in  der  Versammlung  vor,  und  ebenso  thun  es  die 
übrigen.  Wenn  die  Majorität  nach  Anhörung  der  An- 
sichten und  der  Gründe  Aller  eine  nochmalige  Erwägung 

7li\flJV'''^'^  ^"^'"'^  y?^^  ^^  ^^"°  je^er  Stamm 
seine   letzte  Meinung   ausspricht   und   in  Gegenwart  der 

ganzen  Versammlung   die  Stimmen  gesammelt  werden.  68) 

^ll?w7-''^^°  «nter  Beiseitelassung  jener  Anträge,  welche 
nicht  wenigstens  hundert  Stimmen  für  sich  erlang  haben, 
die  übrigen  Anträge  dem  Könige  von  allen  Rfchtsve?' 
hltir°^  '''^^^'  der  Beratung  beigewohnt  haben,  über- 
bracht, um  aus  denselben,  nach  Einsicht  der  Gründe  für 
jeden,   den  auszuwählen,  welchen  er  billigt. 69)    Alsdann 

aüeTenfr-''^'^^'^^.'"  ^''  VersammZg  zurück  wo 
fhm  Ih-n- JJ'^  a'"'.  ^f^^'^^^en  Zeit  erwarten,  um  die  von 
zu^e?nÄ%t)"^^^^    "°^  ^^«  -  -  *^-  b-^lossen, 

v...^  ^^;  ^"''  Verwaltung  der  Justiz  ist  eine  andere 
Versammlung  aus  blossen  Rechtsverständigen  zu  bilden  7i) 
welche  die  Prozesse  zu  entscheiden  und  die  Verbrecher 

rltf  r?  ^"^  ^'^^®;  ^^*'  ^"^^«3  ™«8sen  alle  ergehenden 
Erkenntnisse   von   denen,   welche  die  Stelle  des  grossen 

(W  plrSif '-.^^^^^  ''''^'°>  ^^  «'«  "^^  Beobachtung 
(1er  Form  ichkeiten  und  unparteiisch  ergangen  sind.    Kann 

rLT'.^^'^r  n'  ^f^^  ^^^eisen,  dals  ein  Richter  vom 
3o?  •  ''''''^  Geschenke  bestochen  worden,  oder  dass 
sonst  em  genügender  Grund  für  ein  Einverständnis  mit 

n^r  /J''^  ''i^''  ®'T  S^'"^"  ^^^«"  «ie  selbst  bestehe, 
wIrH  fTh^P  ^^"^  f''  Verfahrens  verletzt  worden,  so 
w  rd  solche  Partei  m  den  vorigen  Stand  wieder  eingesetzt. 

^•e  in  T  ^'  '^'^i  ^''  .^^"^t^^"  °^^^*  eingeführt  werden, 
rrflnL^*7^^^"^u  m^°/°^^^^^^*^  nicht%owohI  durch 
Oründe,  als  durch  Torturen  zu  überführen  pflegen;  aber 
auch  hier  nehme  ich  kein  anderes  richterliches  Vei^^. 
S'ver^t^i^!  72)"^^'  "^^  ^''  ^''*'°  Verwaltung  des  Staates 

§  27.  Diese  Richter  müssen  'öfiie  erhebliche  und 
dabei  ungerade  Anzahl  bilden;  nähmlich  61  oder  weniff- 
stens  51;  aus  jedem  Stamme  ist  nur  Einer,  aber  nich!' 


:■§ 


33  Politische  Abh.     Kap.  6.    §  28—33. 

anf  Lebenszeit  zn  wählen;  auch  »»«' "«J^SSäW- 

Teil  ausscheiden,  und  die  *»«  ?°3«™„^"'"J^*°±^!^^8te 
ten  müssen  dafür  eintreten.    Alle  müssen  das  vierzigste 

Jahr  erfüllt  haben.'»)  .     ße».- 

8  28     In  dieser  Versammlung  darf  nur  m  uegen 
wart  aller  Richter  ein  Urteil  gesprochen  werden.    Kann 
lin  Mite  ied  wegen  Krankheit  oder  sonst  längere  Zeit  n  cht 
äSnf  solt'ein  Stellvertreter  für  diese  Z^^^^^^^^ 
Bei  der  Abstimmung  giebt  Keiner  «e^«  stimme  offenthc^ 
ab,  sondern  durch  schwarze  oder  ^«»«e  Steinchen    ^ 

8  29.  Das  Einkommen  der  Mitglieder  beider  Ver- 
sammlungen besteht  ans  dem  Vermögen  der  zum  Tode 
vSnrteilten  und  den  Geldstrafen.  Ausserdem  hat  Jeder, 
weLh  in  einem  bürgerlichen  Rechtsstreit  unterlegen  jst 
nach  Verhältnis  der  streitigen  Summe  emen  leii  ein 
Zuzahlen  welcher  beiden  Versammlungen  zufliesst.«) 
zuzahlen    welcher   ^_^^^^   Versammlungen  «tehen  andere 

in  jeir  Stadt,  deren  Mitglieder  ''««tnicht  auf  Lebens^ 
»oit  oTwfthlt  werden  dürfen.  Auch  hier  tritt  alljäbriien 
e^i  TeiT  neu  Tin  der  aus  den  einzelnen  darin  ansässigen 
Familien  gewählt  wird;  das  Weitere  brauche  ich  nicht 
auszuführen  .^  ^^^^^  ^^       g^j^       a 

!™  Krif^;  erhalten  nur  Diejenigen  einen  täglichen  Sold, 
Tel^hrfoU^^rTärelohn; lebten.  Die  Heermhjer^-; 
Offiziere  haben  im  Kriege  keine  andern  Vorteile  als  die 
dem  Feinde  abgenommene  Beut«  zn  erwarten. 

S  32.  Hat  ein  Fremder  die  Tochter  eines  Bürgers 
geheirate  ,  so  werden  dessen  Kinder  Bürger  und  in  die 
Lste  des 'Stammes  der  Mutter  e>ngetragen  D'e  Kmder 
fremder  Eltern,  welche  im  Lande   geboren  n°f  erzogen 

worden  sind,  'können  für  eine  ^«^'•»„tmm"  kaufJ^' 
Büreerrecht  von  den  Aufsehern  eines  Stammes  ka"««». 
SeTJrden  dann  in  die  Register  dieses  Stemmese.n|e- 
traeen  Dem  Staate  kann  es  nichts  schaden ,  wenn  die 
iXeher  aus  Eigennutz  einen  Fremden  selbst  um  eine 
«.rinsere  Summe  in  der  Liste  ihrer  Bürger  aufnehmen 
foTlten  vidmehr  hat  man  auf  Mittel  zu  sinnen,  um  die 
Cl  der  Bürger  zu  vermehren  und  ein  Zusammenströmen 
^i  Menschet  zu  bewirken.^«)  Die  m  die  LUte  nicht 
Eingetragenen  haben,  wenigstens  in  Kriegszeiten ,  ihre 
Müsse  durch  Arbeit  oder  Steuern  auszugleichen. 


Hofstaat.     Unteilbarkeit  des  Staats.  §9 

§  33.  Die  Gesandten,  welche  in  Friedensupiten  ■,„ 
andere  Länder  zum  Abschiuss  oder  zur  BewahrMj"d  s 
Friedens  geschickt  werden,  dürfen  nur  aus  dem  Adel") 
gewählt  werden  und  ihre  Auslagen  sind  aus  der  Staatekassi 
und  nicht  aus  der  besonderen  Klasse  des  Könfgs  zu  deÄ 

§  34.  Die  Hofleute  und  Diener  des  Königs,  welche 
er  aus  seiner  besondern  Kasse  unterhält,  blfSen  von 
allen  Staats-Aemtern  ausgeschlossen.  Ich  sage  ansdrück" 
hch:  Welche  der  König  aus  seiner  besondern  Ka^e 
unterhalt«    um   seine  Leibwache   nicht   darunte?  zu  be 

iTd"«  BoJ't"""'''' uT'^  ""  •""BO^S"'  "«'Stadt, 
wo  oer  Hof  ist,  wechselweise  vor  den  Zimmern  des 
Königs  die  Wache  halten. 

§.  35.  Krieg  darf  nur  des  Friedens  wegen  eeführt 
werden;  nach  Beendigung  des  Krieges  sollen  die  Waffen 
niedergelegt  werden.'«)  Den  durch  das  Kriecsrecht  p? 
oberten  Städten  und  dem  bezwungenen  Ssfnd  d'e 
Bedingungen  so  zu  stellen,  dass  die  eroberten  Stade 
keiner  Besatzung  bedürfen;  vielmehr  mnss  dem  Gegner 
durch  den  Frieden  entweder  das  Recht  eingeräumt  wer- 
den ,  sie  für  einen  bestimmten  Preis  wieder  einzulösen 
oder  (wenn  de  Furcht  wegen  der  GefährliSt  des 
Ortes    mmer  m   dem  Rücken  bleiben  sollte)  man  muss 

siedlhl.'V  *°  "  *'''"  ^'"^"•'""^  anderwärts  übe^ 
§  36.  Der  König  darf  keine  Fremde  heiraten,  son- 
dern er  muss  seine  Gemahlin  aus  den  Blutsverwandten 
oder  Bürgern  wählen.  Im  letztern  Falle  können  dfeA„° 
verwandten  der  Frau  kein  Staatsamt  verwalten  «•) 

,i<.n  LJV-^-®    Staatsgewalt  ist   unteilbar.     Hinterlässt 
also  der  König  mehrere  Kinder,   so  folgt  ihm  nur  der 

iÄ.""*^  ^n'  ^j^  ^^'^  '"^''  ""te'  »ie  verteilt"  noch 
ungeteilt  an  alle  oder  einige  überlassen  werden.    Noch 

ZV"S^-u  ^*  "'t"^*'  !'■"*">  Teil  des  Reichs  einer  Tochter 
als  Mitgift  zu  geben,  denn  es  darf  aus  keinem  Grunde 

Ifctt^rrÄ^'*  Staatsgewalt  durch  Erbschaft  auf 

„,->„  K^l'  ^^^}'\  ?^l  ^^°'ff  "•■"«  männliche  Nachkom- 
menschaft, so  folgt  ihm  in  der  Herrschaft  der  nächste 
Blutsverwandte,   ausgenommen,   wenn   dieser   eine   Aus- 

Snnen' wSs^"*"*   ^'''  """^    "   '^'^  "*»"  ^^'''  »i«»'* 

Spinoza 's  Abh.  üb.  Verbeseer.  d.  Verstandes.  g 


90 


Politische  Abb.     Kap.  7.    §  1. 


8  39.  Was  die  Bürger  anlangt,  so  erhellt  aus  §  5, 
Kap.  3,  dass  jeder  alle  Befehle  des  Königs  und  bekannt 
gemachten  Erlasse  der  grossen  Versamralnng  (man  sehe 
hierüber  §  18.  und  19  dieses  Kapitels)  befolgen  muss, 
selbst  wenn  er  sie  für  noch  so  verkehrt  hält,  und  dass 
er  rechtlich  dazu  genötigt  werden  kann.  Dies  sind  die 
Grundlagen  des  monarchischen  Regiments;  auf  ihnen 
muss  der  Bau,  wenn  er  fest  sein  soll,  errichtet  werden, 
wie  ich  in  dem  folgenden  Kapitel  zeigen  werde. 

8  40.  In  Bezug  auf  die  Relig'on  sind  keine  Kirchen 
auf  Kosten  der  Städte  zu  erbauen  und  keine  Gesetze 
über  Meinungen  zu  erlassen,  so  lange  diese  Meinungen 
nicht  aufrührerischer  Natur  sind  und  nicht  gegen  die 
Grundlagen  des  Staats  sich  richten.  Die,  welchen  die 
öffentliche  Übung  ihrer  Religion  gestattet  worden  ist, 
haben  sich  ihre  Kirche,  wenn  sie  wollen,  auf  ihre  Kosten 
zu  erbauen.  Der  König  mag  zur  Übung  der  Religion, 
welcher  er  zugethan  ist,  eine  besondere  Kirche  in  semer 
Residenz  haben.^s) 


Siebentes  Kapitel. 

§  1.  Nach  Darlegung  der  Grundlagen  des  monarchi- 
schen Regiments  will  ich  sie  der  Reihe  nach  rechtfertigen, 
wobei  ich  zunächst  bemerke,  wie  es  praktisch  sehr  wohl 
ausführbar  ist,    dass  die  Verfassung  so    fest  begründet 
sein  kann,  dass  selbst  der  König   sie  nicht  aufzuheben 
vermag.     So  verehrten  die  Perser  ihre  Könige  wie  Götter, 
und  doch  hatten  diese  Könige  nicht  die  Macht,  die  ein- 
mal getroffenen  Einrichtungen  aufzuheben,   wie  sich  aus 
Daniel,  Kap.  5  ergiebt.    Nirgends  wird,  so  viel  ich  weiss, 
der  Monarch  unbeschränkt  und  ohne  ausdrücklich  aufge- 
stellte Bedingungen   erwählt.     Dies  streitet  weder  gegen 
die  Vernunft,   noch  gegen  den  Gehorsam,   den  man  dem 
Könige  schuldet ;  vielmehr  sind  die  Grundlagen  des  Staats 
wie  für  die  Ewigkeit  geltende  Beschlüsse  des  Königs  an- 
zusehen, so  dass  selbst  seine  Minister  ihm  durchaus  ge- 
horchen,  wenn  sie  die  Ausführung  von  Befehlen  verwei- 
gern, welche  er  gegen  die  Grundlagen  des  Staats  erlässt. 


Der  König  kann  nur  recht  handeln.  9^ 

Ich  kann  dies  durch  das  Beispiel  des  Ulysses  deutlich  er- 
läutern.    Seine  Gefährten  folgten  seinem  Befehl    als  sfe 
den    an    den    Mastbaum    angebundenen    und    durch   den 
Gesang  der  Syrenen  sinnverwirrten  Ulysses  zu  befreien 
sich  weiger  en,  obgleich  er  es  unter  allerhand  DrohuneeS 
Ihnen  befahl;  und  Ulysses  galt  als  weise,  d^s  rspä^e? 
seinen  Gefährten  dankte,  weil  sie  vielmehr  seinen  e?8ten 
Willen  befolgt  hatten.    Nach  diesem  Beispiel  voruS 
pflegen    die  Könige    auch   die   Richter  anzuweisen     die 
Rechtspflege  ohne  Ansehen  der  Personen  und  selbs    des 
Königs   zu    üben,  wenn   er   einmal  Etwas  gegen  d^  be 
stehende  Recht  gebieten  sollte.     Denn   die^  Könige  sind 
kerne  Götter,  sondern  Menschen,   die  oft  von   dIL  Ge 
sänge  der  Syrenen  verwirrt  werden,  und  wenn  Alle^  von 
dem  schwankenden  Willen  eines  Einzigen  abhinte    gäbe 
es  nichte  Festes     Deshalb  muss  das  monarcSe  iLi 
zTär^IllP^f  ^««^tJjen  soll,  so  eingerichtersefn ,   da^s 
zwar  Alles  blos  nach  der  Anweisung  des  Königs  geschieht 
d.  h.   dass  alles  Recht  als  der  ausdrücklich!  K  des 
Königs   gilt;   aber   nicht,    dass  jeder  Wille  des  KöniS 

zu  beachten  sind.    Es  genügt  nicht,  zu  zeigen     was  ef 
schehen  soll,  sondern  was  geschehen  kan^,  damit  Ife 
Menschen  sowohl  in   der  Leidenschaft   wie   bei  Tnhiffe? 
Vernunft  die  Gesetze  achten  und  bewahren      sJfltVJ  If^^ 
das  Recht  des  Staats  und  die  öffentS  Freihel   nur^nf 
d.e  schwache  Hilfe  der  Gesetze,  so  Llt  den   Bürgern 
nicht  nur  die  Sicherheit  von  deren  Geltung,  wie  ich  8  3 
des   vorigen  Kapitels  gezeigt  habe,  sonde«  es  gereilhl 
ihnen  zum  Verderben.    Denn  sicherlich  ist  kein  InstLnd 
eines  Staats    elender,   als  der  selbst  des  besten  & 
wenn  er  zu  schwanken  beginnt  oder  wohl  gar  mit  eÄ 
schlage  zusammenbricht  und  in  die  Unfreiheit  stetTwa^ 
rn^fJ"**^'"'''.''''""'^-    ^'  ^8'«  dann    besser   tedte 
«bÄ!'"'.'^'"'  'V^''  ^T^^  «''»«  Schranke  Einem 
^„nÄ" '  -t''  T'^^^!"^  """^  ^"'e  »der  nutzlose  Bedin 
giingen  für  ihre  Freiheit  sich  ausmachten,  und  damit  den 

veri!  bZt"  ""'«-^r.^^S  ^o  ihrer  grausamsten  Skia" 
verei   bahnten.     Sind  dagegen   die  in  dem  vorgehenden 

8* 


92 


Politische  Abh.    Kap.  7.    §  3.  4. 


I 


Kapitel  besprochenen  Grundlagen  des  monarchischen  Re- 
ff iments  fest,  und  können  sie  nicht  zerstört  werden  ohne 
Empörung  des  grössern  Teiles  des  bewaffneten  Volkes, 
und  folgt  aus  ihnen  Friede  und  Sicherheit  für  den  König 
und  das  Volk,  und  habe  ich  diese  Grundlagen  aus  der 
gemeinsamen  Natur  abgeleitet,  so  kann  Niemand  bestrei- 
ten dass  sie  die  besten  und  wahren  sind,  wie  aus  §  9, 
Kap.  3  und  §  3,  8  Kap.  6  erhellt.  Ich  will  nun  so  kurz 
als  möglich   darlegen,  dass  jene  Grundlagen  von  solcher 

Beschaffenheit  sind.  ^      t  i.  v 

8  3.  Alle  sind  einverstanden,  dass  es  den  Inhabern 
der  Staatsgewalt  obliegt,  8^)  den  Zustand  und  die  Lage 
des  Landes  immer  zu  kennen,  für  das  allgemeine  Wohl 
zu  wachen  und  das  auszuführen,  was  der  Mehrheit  der 
Bürger  nützlich  ist.  Ein  Mensch  kann  aber  nicht  Alles 
übersehen ,  kann  nicht  immer  seine  Gedanken  darauf  ge- 
richtet haben;  oft  wird  er  durch  Krankheit,  Alter  oder 
andere  Ursachen  an  der  Fürsorge  für  die  öffentlichen 
Angelegenheiten  gehindert.  Deshalb  muss  der  König 
Räte  zur  Seite  haben,  welche  die  thatsächlichen  Ver- 
hältnisse kennen,  den  König  mit  ihrem  Gutachten  unter- 
stützen und  ihn  vertreten  können.  Nur  so  wird  es  er- 
reicht, dass  die  Regierung  oder  der  Staat  immer  und  in 
demselben  Geiste  sich  erhält. 

§  4.  Die  menschliche  Natur  ist  indes  so  beschaffen, 
dass  jeder  seinen  eigenen  Vorteil  mit  aller  Anstrengung 
verfolgt  und  diejenigen  Einrichtungen  für  die  besten  hält, 
welche  der  Erhaltung  und  Vermehrung  seiner  Interessen 
dienen,  und  dass  er  fremde  Angelegenheiten  nur  so  weit 
schützt,  als  er  damit  seine  eigenen  zu  befördern  glaubt. 
Deshalb  müssen  die  Räte  aus  denen  gewählt  werden, 
deren  eigenes  Besitztum  und  Nutzen  von  dem  gemeinen 
Wohle  und  Frieden  Aller  abhängt.  Wenn  deshalb  aus 
jedem  Stande  oder  jeder  Klasse  oder  Bürger  einige  Räte 
gewählt  werden,  so  wird  dies  der  Mehrheit  der  ünter- 
thanen  nützen,  weil  sie  dann  in  dieser  Versammlung  die 
Mehrheit  der  Stimmen  hat.  Allerdings  wird  diese  Ver- 
sammlung, welche  sich  aus  einer  sehr  grossen  Zahl  von 
Bürgern  zusammensetzt,  auch  viele  Mitglieder  von  ge- 
ringer Bildung  enthalten;  allein  man  kann  sicher  sein,  dass 
Jedermann  in  den  Geschäften,  welche  er  lange  mit  grossem 
Eifer  betrieben  hat,  klug  und  gewandt  genug  sein  wird. 


Diese  Versammlung  ist  friedfertig. 

Wenn  daher  nur  solche  Personen  zu  Mitgliedern  gewählt 

?i;^I  p1'  wl""^^  ^!'''  ^\.  ^^"?°^  fünfzigsten  Lebensjahre 
ihre  Geschäfte  ohne  Fehler  besorgt  haben,  so  sind  sie 
sicherlich  zum  Rat  in  Dingen,  die  sie  betreffen,  geschickt, 
namenthch  wenn  ihnen  bei  wichtigen  Angelegenheiten 
Zeit  zur  Überlegung  gestattet  wird.  Überdem  verhält  es 
sich  in  kleinem  Versammlungen  mit  den  Mitgliedern 
ebenso,  und  gerade  da  besteht  der  grösste  Teil  aus 
solchen  Leuten,  weil  Jeder  gerade  hier  am  meisten  nur 
Dumme  zu  Genossen  zu  haben  sucht,  die  von  seiner 
Meinung  abhangen,  während  bei  grössern  Versammlungen 
dies  nicht  stattfindet.  86)  ^  ö«*uiuimngen 

§  5.     Es   steht   auch   fest,   dass   Jedermann  lieber 
regieren,    als    regiert    werden    will.    Niemand    gewährt 
irei willig  einem  Andern  die  Herrschaft,   wie  Sallust  in 
seiner   ersten  Rede   an  Cäsar   sagt.    Deshalb  würde  ein 
ganzes  Volk  sein  Recht  niemals  auf  Wenige  oder  Einen 
übertragen,    wenn    es   selbst  beratschlagen  könnte,   und 
wenn    aus    den  Streitigkeiten  in  grossen  Versammlungen 
nicht  leicht  Aufstände  entständen.    Deshalb  überträgt  ein 
Volk  freiwillig  nur  das  auf  den  König,  was  es  durchaus 
nicht   selbst  in   seiner  Macht   behalten  kann,    d.  h.  die 
Entscheidung  der  Streitigkeiten  und  die  Ausführung  der 
Beschlüsse.    Denn  wenn,   wie  oft  vorkommt,   ein  Köniff 
nur  des  Krieges  wegen  erwählt  wird,  weil  der  Krieg  von 
Konigen    viel   glücklicher   geführt   werde,    so   geschieht 
dies  nur  aus  Unkenntnis,  nämlich  dessen,  dass  sie  den 
Krieg  nur  glücklicher  führen,  um  dann  im  Frieden  Skla- 
ven zu  sein;    so  weit  nämlich  es  Friede  in  einem  Lande 
genannt  werden  kann,   wenn  diese  höchste  Staatsgewalt 
nur   des  Krieges  wegen   auf  Einen    übertragen  worden 
18t,  welcher  deshalb  seinen  Wert  und  das,  was  Alle  an 
diesem  Einzigen  haben,  wesentlich  nur  durch  Krieg  zei- 
gen  kann,    während   dagegen   das   Volks-Regiment  den 
Vorzug  hat,   dass  seine  Tugend  mehr  im  Frieden  als  im 
iiriege  gilt.    Mag  indes  der  Grund  der  Wahl  des  Königs 
sein,    wecher  er  wolle,    so  kann  doch,   wie  gesagt,  der 
iioiiig  allem   nicht  wissen,   was  dem  Lande  nützlich  ist, 
vielmehr  ist  dazu,    wie  ich  im  vorigen  Paragraphen  ge- 
zeigt,  notig,  dass  er  mehrere  Bürger  als  Räte  um  sich 
nabe,  und  da  ich  nicht  annehmen  kann,  dass  bei  der  Be- 
ratung  durch   eine    so   grosse  Zahl  von  Männern  Etwas 


94 


Politische  Abh.     Kap.  7.    §  6—8. 


übersehen  werden  könnte,  so  folgt,  dasa  neben  den,  dem 
Könige  vorgelegten  Anträgen  dieser  Versammlung  nicht 
wohl  noch  einer,  dem  Wohle  des  Volkes  heilsamer,  möglich 
ist.  Da  nun  das  Wohl  des  Volkes  das  höchste  Gesetz 
oder  das  oberste  Recht  des  Königs  ist,  so  folgt,  dass  der 
König  nur  berechtigt  ist,  einen  aus  den  verschiedenen 
Anträgen  der  Versammlung  auszuwählen,  aber  nicht  gegen 
den  Willen  der  ganzen  Versammlung  etwas  zu  beschlies- 
sen  oder  zu  entscheiden,  s?)  (Man  sehe  §  25,  Kap.  C.) 
Müssten  dagegen  alle  in  der  Versammlung  vorgebrachten 
Anträge  dem  Könige  mitgeteilt  werden,  so  könnte  der 
König  leicht  kleinere  Städte  mit  wenig  Stimmen  begün- 
stigen. Selbst  wenn  nach  den  Regeln  der  Versammlung 
die  verschiedenen  Anträge  ohne  Angabe  ihrer  Urheber 
dem  Könige  tiberbracht  werden  müssen,  würde  sich  dies 
doch  niemals  ganz  verheimlichen  lassen,  und  deshalb  ist 
die  Anordnung  nötig,  dass  ein  Antrag,  welcher  nicht 
hundert  Stimmen  für  sich  hat,  unbeachtet  bleibt,  und  die 
grössern  Städte  haben  diese  Bestimmung  mit  aller  Macht 
zu  verteidigen. 

§  6.  Ich  könnte  hier,  wenn  ich  mich  nicht  der 
Kürze  befleissigen  wollte,  die  sonstigen  grossen  Vorteile 
dieser  Versammlung  darlegen;  ich  will  indes  nur  einen 
von  besonderer  Bedeutung  erwähnen.  Es  ist,  dass  Nichts 
mehr  zur  Tugend^)  antreiben  kann,  als  die  Jedem  er- 
öffnete Aussicht,  diese  höchste  Ehre  zu  erlangen ;  da  Alle 
hauptsächlich  sich  durch  die  Ehre  bestimmen  lassen,  wie 
ich  in  meiner  Etliik  ausführlich  gezeigt  habe. 

§.  7.  Es  ist  zweifellos,  dass  den  grössern  Teil  die- 
ser Versammlung  nicht  die  Neigun«:  zum  Kriege,  sondern 
die  Sorge  und  die  Liebe  zum  Frieden  erfüllen  wird ;  denn 
der  Krieg  erhält  sie  immer  in  der  Furcht,  ihr  Vermögen 
und  Freiheit  zu  verlieren  und  dazu  kommt,  dass  der 
Krieg  neue  Ausgaben  fordert,  die  sie  schaffen  sollen,  und 
dass  ihre  eigenen  Kinder  und  Verwandte,  die  den  häus- 
lichen Geschäften  zugewendet  sind,  genötigt  werden,  sich 
für  den  Krieg  vorzubereiten  und  zu  Felde  zu  ziehen,  aus 
dem  sie  nur  nutzlose  Narben  nach  Hause  bringen  können, 
da,  wie  ich  §  30,  Kap.  6  gesagt,  die  Miliz  keinen  Sold 
erhält  und  nach  §  11,  Kap.  6  nur  aus  Bürgern  und  nie- 
mand weiter  gebildet  wird.  ^9) 

§  8.    Auch  ein  anderer  Umstand  von  grosser  Wich- 


Vorzüge  der  höchsten  Versammlung.  ^ 

tigkeit  wird  zu  dem  Frieden  und  zur  Einigkeit  beitragen 
nämlich  dass  kein  Bürger  Grund-Eigentum  besitzt.  (Man 
sehe  §  12,  Kap.  6.)  Deshalb  droht  der  Krieg  Allen  mit 
gleicher  Gefahr,  da  Alle  des  Gewinnes  wegen  Handel 
treiben  oder  einander  Geld  borgen  werden,  wenn,  wie 
ehemals  bei  den  Atheniensern,  als  Gesetz  gilt,  dass  Nie- 
mand sein  Geld  an  Andere  als  Einheimische  auf  Zins 
leihen  darf.  Dadurch  werden  sie  nur  zu  solchen  Ge- 
schäften veranlasst,  wo  sie  gegenseitig  beteiligt  sind 
oder  die  alle  die  gleichen  Mittel  für  ihren  günstigen 
Fortgang  erfordern.  Deshalb  wird  die  grosse  Mehrheit 
dieser  Versammlung  über  die  öffentlichen  Angelegenhei- 
ten und  die  Unternehmungen  des  Friedens  meist  nur 
einer  Ansicht  sein;  denn  Jeder  befördert,  wie  ich  in  §  4 
dieses  Kapitels  gesagt  habe,  des  Andern  Angelegenheiten 
nur  so  weit,  als  er  seinen  eigenen  dadurch  zu  nützen 
meint.90) 

§  9.  Unzweifelhaft  wird  es  niemals  Jemand  ein- 
fallen, eine  solche  Versammlung  zu  bestechen.  Kann  man 
nur  Einen  oder  den  Andern  aus  einer  so  grossen  Ver- 
sammlung auf  seine  Seite  ziehen,  so  ist  damit  nur  wenig 
erreicht,  da,  wie  erwähnt,  nur  Anträge,  die  wenigstens 
hundert  Stimmen  für  sich  haben,  beachtet  werden  dür- 
fen. 91) 

§  10.  Auch  die  einmal  festgestellte  Zahl  der  Mit- 
glieder dieser  Versammlung  wird  schwerlich  auf  eine 
geringere  Zahl  sich  zurückführen  lassen,  wenn  man  die 
menschlichen  Leidenschaften  betrachtet.  Alle  werden  von 
Ehrgeiz  getrieben  und  Jeder  mit  gesundem  Körper  hofft 
ein  solches  Alter  zu  erreichen.  Wenn  man  deshalb  die 
Zahl  Derer  berechnet,  welche  wirklich  das  50.  oder  60. 
Jahr  erreicht  haben,  und  wenn  man  die  grosse  Anzahl 
der  Mitglieder  dieser  Versammlung  berücksichtigt,  welche 
alljährlich  gewählt  wird,  so  ergiebt  sich,  dass  kaum  ein 
Waffenfähiger  der  Aussicht,  zu  dieser  Würde  zu  gelan- 
gen, entbehrt.  Deshalb  werden  Alle  die  Rechte  dieser 
Versammlung  nach  Kräften  verteidigen.  Jede  Verschlech- 
terung kann  leicht  gehindert  werden ,  wenn  sie  nicht  all- 
mählich eindringt.  Da  nun  leichter  und  mit  weniger  Neben- 
buhlerschaft es  geschehen  kann,  dass  aus  einem  Stamme 
als  aus  Wenigen  eine  geringere  Zahl  gewählt  werde,  als 
dass  ein  solcher  Stamm  ganz  ausgeschlossen  werde,   so 


ii  S 


i  ; 


96 


Politische  Abb.    Kap.  7.    §  11.  12. 


kann  nach  §  14,  Kap.  6  die  Zahl  der  Mitglieder  nur 
vermindert  werden,  wenn  die  Versammlung  um  den 
dritten,  vierten  oder  fünften  Teil  vermindert  wird.  Eine 
solche  Abänderung  ist  aber  sehr  bedeutend  und  wider- 
streitet der  allgemeinen  Gewohnheit.  Ebensowenig  ist 
eine  Verzögerung  oder  eine  Nachlässigkeit  bei  der  Wahl 
zu  fürchten ,  da  diese  von  der  Versammlung  selbst  vor- 
genommen wird.    (Man  sehe  §  16,  Kap.  Q,)^^) 

§  11.  Deshalb  wird  der  König  entweder  aus  Scheu 
vor  dem  Volke,  oder  um  sich  der  Mehrheit  des  bewaff- 
neten Volkes  zu  verpflichten,  oder  aus  Edelmut  und  im 
Interesse  des  gemeinen  Nutzens  die  Anträge,  welche  die 
meisten  Stimmen  für  sich  haben,  d.  h.  (nach  §  5  dieses 
Kap.),  welche  der  Mehrheit  des  Reiches  am  nützlichsten 
sind,  bestätigen  und  sich  bestreben,  die  ihm  vorgelegten 
abweichenden  Anträge  möglichst  auszugleichen,  um  sich 
Alle  zu  verbinden.  Er  wird  alle  seine  Kraft  hierauf  rich- 
ten, damit  das  Volk  sowohl  im  Frieden  wie  im  Kriege 
kennen  lerne,  was  es  an  seiner  einen  Person  besitze. 
So  wird  der  König  dann  am  selbständigsten  und  seine 
Gewalt  die  grösste  sein,  wenn  er  am  meisten  auf  die 
allgemeine  Wohlfahrt  bedacht  ist.  93) 

§  12.  Denn  der  König  allein  kann  nicht  Alle  durch 
Furcht  in  Zucht  erhalten,  vielmehr  stützt  sich  seine  Macht, 
wie  gesagt,  auf  die  Zahl  und  hauptsächlich  auf  die  Tapfer- 
keit und  Treue  seiner  Soldaten,  welche  Eigenschaften 
unter  den  Menschen  immer  nur  solange  vorhalten  wer- 
den, als  sie  mit  dem  Bedürfnis,  sei  es  anständig  oder 
gemein,  sich  verknüpfen.  Deshalb  pflegen  die  Könige  die 
Soldaten  mehr  anzureizen  als  in  Zucht  zu  halten,  und  mehr 
deren  Laster,  als  deren  Tugend  zu  verheimlichen,  und  sie 
pflegen,  um  die  Bessern  unterdrücken  zu  können,  die 
Faulen  und  durch  Verschwendung  Heruntergekommenen 
aufzusuchen,  hervorzuheben,  ihnen  durch  Geld  oder  Gunst 
aufzuhelfen,  die  Hand  zu  drücken,  den  Kuss  zu  geben 
und  sich  um  der  Herrschaft  willen  zu  Allem  zu  ernie- 
drigen. Sollen  daher  die  Bürger  vor  allen  Andern  von 
dem  Könige  geachtet  werden  und  selbständig  bleiben, 
80  weit  es  die  btlrgerlichen  Zustände  oder  die  Billigkeit 
erlaubt,  so  muss  die  Miliz  nur  aus  den  Bürgern  bestehen 
und  die  Bürger  müssen  selbst  in  den  Rat  gehören.  Um- 
gekehrt werden  die  Bürger  immer  die  Unterjochten  sein, 


Die  kurzen  Wahlperioden  der  Versammlung. 


97 


f 


und  es  werden  die  Grundlagen  zu  steten  Kriegen  gelegt 
sein,  sobald  sie  gestatten,  dass  Söldner  zu  Hilfe  genom- 
men werden,  deren  Löhnung  der  Krieg  ist  und  deren 
grösste  Macht  auf  der  Uneinigkeit  und  den  Aufständen 
beruht.  ^) 

§  13.  Dass  die  Räte  des  Königs  nicht  auf  Lebens- 
zeit, sondern  nur  auf  drei,  vier  oder  höchstens  fünf  Jahre 
gewählt  werden  dürfen,  erhellt  aus  §  10  dieses  Kapitels 
und  aus  dem  schon  in  §  9  Gesagten.  Wenn  sie  auf 
Lebenszeit  gewählt  werden,  so  kann  zunächst  der  grösste 
Teil  der  Bürger  sich  kaum  eine  Hofi'nung  auf  Erlangung 
dieser  Würde  machen;  es  entsteht  daraus  eine  grosse 
Ungleichheit  unter  den  Bürgern;  Neid,  stete  Aufregung 
und  zuletzt  Aufstände  sind  dann  die  Folge,  was  aller- 
dings herrschsüchtigen  Königen  ganz  recht  ist.  Ferner 
werden  sich  solche  lebenslängliche  Räte  grosse  Freiheiten 
herausnehmen  (da  die  Furcht  vor  den  Nachfolgern  weg- 
gefallen ist),  ohne  dass  der  König  sich  dem  entgegen- 
stellen wird,  da  sie,  je  verhasster  sie  bei  den  Bürgern 
sind,  um  so  mehr  dem  Könige  anhängen  und  ihm  zu 
schmeicheln  bereit  sein  werden.  Selbst  eine  fünQährige 
Amtsdauer  scheint  noch  zu  lang,  weil  in  einem  solchen 
Zeiträume  es  wohl  möglich  ist,  einen  grossen  Teil  der 
Versammlung  (sei  sie  auch  noch  so  gross)  durch  Geld 
oder  Gunst  zu  bestechen.  Deshalb  wird  die  Sicherheit 
weit  grösser  sein,  wenn  jährlich  aus  jedem  Stamme  zwei 
ausscheiden  und  ebensoviele  ihnen  nachfolgen  (wenn  näm- 
lich jeder  Stamm  fünf  Mitglieder  zu  senden  hat).  Nur  in 
dem  Jahr,  wo  der  Rechtsverständige  des  Stammes  aus- 
scheidet, tritt  nur  ein  neuer  an  dessen  Stelle. 

§  14.  Kein  König  kann  sich  übrigens  eine  grössere 
Sicherheit  versprechen,  als  sie  der  König  eines  solchen 
Staates  besitzt.  Nicht  allein  dass  Derjenige  schnell  um- 
kommt, den  seine  Söldner  nicht  mehr  verteidigen  wollen, 
so  droht  doch  sicherlich  den  Königen  die  meiste  Gefahr 
immer  von  Denen,  die  ihnen  am  nächsten  stehen.  Je  ge- 
ringer daher  die  Zahl  der  Räte  ist  und  je  mächtiger  die 
einzelnen  dann  sind,  desto  mehr  droht  den  Königen  Ge- 
fahr, dass  Jene  die  Herrschaft  auf  einen  Andern  über- 
tragen. Nichts  schreckte  David  mehr,  als  dass  sein  Mi- 
nister Ahitophel  die  Partei  des  Absalon  ergriff.  Dazu 
kommt,    dass   wenn   alle   Gewalt   unbeschränkt   Einem 


98 


Politische  Abb.     Kap.  7.     §  16.  16. 


Die  Vorteile  der  Miliz. 


99 


"1 


^19 
■'13 

vM'i  f 


übertragen  worden,  sie  gerade  dann  nm  so  leichter  von 
Einem  auf  den  Andern  übertragen  werden  kann.  Zwei 
gemeine  Soldaten  unternahmen  es,  die  Herrschaft  im  rö- 
mischen Reiche  auf  einen  andern  zu  tibertragen  (Tacitus*^ 
Gescliichte  Buch  1.)^^)  und  führten  es  aus.  Ich  übergehe 
die  Künste  und  listigen  Ränke  der  Räte,  durch  die  sie 
sich  schützen  müssen,  um  nicht  von  den  Nebenbuhlern 
verdrängt  zu  werden ;  dies  ist  bekannt  genug  und  Jeder, 
der  die  Geschichte  gelesen,  weiss,  dass  den  Räten  ihre 
Treue  meist  zum  Verderben  gereicht  hat  und  dass  sie 
deshalb,  um  sich  zu  erhalten,  listig  und  untreu  haben 
werden  müssen.  Sind  dagegen  die  Räte  mehr,  als  dass 
sie  zu  einem  Verbrechen  sich  verbinden  könnten,  sind 
sie  sich  alle  gleich  und  bleiben  sie  nur  vier  Jahre  im 
Amte,  so  können  sie  dem  Könige  niemals  furchtbar  wer- 
den, so  lange  er  nicht  unternimmt,  ihnen  die  Freiheit  zu 
entziehen  und  so  alle  Bürger  in  gleicher  Weise  zu  ver- 
letzen. Ant.  Perez  sagt  treffend,  dass  die  Aufstellung 
einer  unbeschränkten  Herrschaft  für  den  Fürsten  sehr 
gefährlich,  den  Unterthanen  sehr  verhasst  und  den  gött- 
lichen und  menschlichen  Einrichtungen  zuwider  sei,  und 
dass  unzählige  Beispiele  dies  belegen. ^ß) 

§  15.  Ich  habe  ausserdem  noch  andere  Grundlagen 
in  dem  vorhergehenden  Kapitel  gelegt,  aus  denen  für  die 
Könige  eine  grosse  Sicherheit  ihres  Regiments  und  für 
die  Bürger  ein  grosser  Schutz  für  Freiheit  und  Frieden 
hervorgeht,  wie  ich  an  seinem  Orte  zeigen  werde.  In- 
des ist  das,  was  sich  auf  die  höchste  Versammlung  be- 
zieht, von  dem  grössten  Gewicht  und  deshalb  war  dies 
vorweg  zu  behandeln.  Das  Übrige  will  ich  nun  in  der 
angep:ebenen  Reihenfolge  erörtern. 

§  16.  Dass  die  Bürger  um  so  mächtiger  und  folg- 
lich auch  um  so  selbständiger  sein  werden,  je  grösser 
und  wohlbefestigter  ihre  Städte  sind,  ist  unzweifelhaft. 
Je  geschützter  ihr  Wohnort  ist,  desto  besser  können  sie 
ihre  Freiheit  schützen  und  desto  weniger  brauchen  sie 
den  äussern  und  Innern  Feind  zu  fürchten.  Auch  ist  es 
sicher,  dass  die  Menschen  von  Natur  umsomehr  für  ihre 
Sicherheit  sorgen,  je  reicher  sie  sind.  Wenn  eine  Stadt 
der  Macht  eines  Andern  zu  ihrer  Erhaltung  bedarf,  so 
haben  beide  nicht  gleiche  Rechte,  und  die  Stadt  ist  um- 
so weniger  selbständig,  je  mehr  sie  der  Macht  des  Andern 


bedarf;   denn  ich  habe  in  Kap.  2  gezeigt,  dass  sich  da» 
Recht  nur  nach  der  Macht  bestimmt.^') 

§  17.  Aus  demselben  Grunde  darf,  wenn  die  Bürger 
selbständig  bleiben  und  ihre  Freiheit  bewahren  wollen^ 
die  Miliz  ohne  Ausnahme  nur  aus  den  Bürgern  bestehen. 
Der  bewaffnete  Mann  ist  selbständiger  als  der  wehrlose. 
(Man  sehe  §  12  dieses  Kap.),  und  die  Bürger  überliefern 
ihr  Recht  unbedingt  Dem,  dem  sie  die  Waffen  geben 
und  die  Wälle  der  Stadt  anvertrauen;  sie  hängen  dann 
von  seinem  guten  Willen  ab.  Dazu  kommt  der  Geiz, 
welcher  die  meisten  Menschen  beherrscht;  fremde  Söldner 
können  nicht  ohne  grosse  Kosten  geworben  werden  und 
die  Bürger  können  die  Auflagen  kaum  ertragen,  welche 
der  Unterhalt  der  faulen  Miliz  erfordert,  »s) 

Dass  ferner  der  Befehlshaber  über  die  ganze  Miliz 
oder  grosse  Abteilungen  derselben  höchstens  nur  auf 
ein  Jahr  erwählt  werden  darf,  es  sei  denn,  die  Not 
erfordert  es,  weiss  Jeder,  welcher  die  heilige  und  pro- 
fane Geschichte  gelesen  hat.  Nichts  lehrt  die  Vernunft 
deutlicher,  da  fürwahr  die  ganze  Kraft  des  Staats  dem 
anvertraut  wird,  dem  genügende  Zeit  gestattet  ist,  um 
kriegerischen  Ruhm  zu  erwerben  und  seinen  Namen 
über  den  des  Königs  zu  heben,  wenn  er  die  Anhäng- 
lichkeit des  Heeres  durch  Nachsicht,  Freigebigkeit  und 
die  sonstigen  Künste  sich  verschafft,  durch  welche  die 
Feldherren  die  Unterwerfung  des  Andern  und  die  Herr- 
schaft für  sich  zu  erreichen  verstehen.  Zu  mehrerer 
Sicherheit  des  ganzen  Staates  habe  ich  noch  hinzugefiigt, 
dass  diese  militärischen  Befehlshaber  aus  den  gegenwär- 
tigen oder  früheren  Räten  des  Königs  gewählt  werden 
sollen,  also  aus  Männern  des  Alters,  wo  man  meist  das 
Alte  und  Sichere  dem  Neuen  und  Gefahrvollen  vor- 
zieht. 99) 

§  18.  Ich  lasse  die  Bürger  nach  Stämmen  sich  ein- 
teilen und  aus  jedem  Stamm  eine  gleiche  Zahl  Räte  er- 
wählen, damit  die  grössern  Städte  eine  der  Zahl  ihrer 
Bürger  entsprechend  grössere  Zahl  von  Räten  und,  wie 
billig,  auch  eine  grössere  Zahl  von  Stimmen  erhalten. 
Die  Macht  des  Reiches  und  also  auch  das  Recht  be- 
stimmt sich  nach  der  Zahl  der  Bürger  und  es  wird  kein 
besseres  Mittel  zur  Erhaltung  dieser  Gleichheit  unter  den 
Bürgern  erdacht  werden  können,   da  Alle  von  Natur  so 


100 


Politische  Abb.    Kap.  7.     §  19—21. 


Die  Miliz  erhält  keinen  Sold. 


101 


beschaffen  sind,  dass  Jeder  zu  seinem  Stamme  gehören, 
aber  durch  die  Familie  sich  unterscheiden  will. 

§  19.  Im  Naturzustande  kann  kein  Gegenstand 
weniger  von  dem  Einzelnen  ergriff'en  und  seinem  Rechte 
unterworfen  werden,  als  der  Grund  und  Boden  und  das, 
was  mit  ihm  so  verbunden  ist,  dass  es  weder  verborgen, 
noch  beliebig  fortgeschafft  werden  kann.  Deshalb  ist 
der  Grund  und  Boden,  und  was  ihm  in  der  angegebenen 
Weise  anhängt,  vorzugsweise  gemeinsames  Staatseigentum, 
d.  h.  er  gehört  allen  Denen,  die  gemeinsam  die  Gewalt 
haben,  ihn  sich  zu  verschaffen,  oder  Dem,  welchem  Alle 
die  Gewalt  dazu  übergeben  haben.  Deshalb  darf  der 
Grund  und  Boden  und  sein  Zubehör  nur  so  viel  bei  den 
Bürgern  gelten,  als  nötig  ist,  dass  sie  Fuss  darauf  fassen 
und  das  gemeinsame  Recht  oder  die  Freiheit  schützen  kön- 
nen. Der  sonstige  Nutzen,  welchen  der  Staat  daraus  zu 
ziehen  hat,  ist  in  §  8  dargelegt  worden,  ^^o) 

§  20.  Damit  die  Bürger  einander  möglichst  gleich 
bleiben,  was  für  einen  Staat  vorzüglich  nötig  ist,  sollen 
nur  die  Nachkommen  des  Königs  zum  Adel  gehören. 
Wenn  indes  alle  Nachkommen  des  Königs  heiraten  oder 
rechtmässige  Kinder  erzeugen  könnten,  so  möchten  sie  im 
Laufe  der  Zeit  an  Zahl  so  zunehmen,  dass  sie  dem  Könige 
und  Allen  nicht  nur  zur  Last,  sondern  auch  zu  einer 
grossen  Gefahr  werden  könnten;  denn  müssige  Menschen 
sinnen  meist  auf  Unthaten.  Deshalb  werden  die  Könige 
vorzüglich  des  Adels  wegen  zum  Kriege  verleitet,  da  ihnen 
bei  einem  zahlreichen  Adel  der  Krieg  mehr  Sicherheit 
und  Ruhe,  wie  der  Friede  gewährt.  Da  dies  bekannt  ist, 
so  erörtere  ich  es  ebenso  wie  das,  was  ich  in  §  15  bis 
27,  Kap.  6  gesagt  habe,  nicht  weiter.  Das  Wichtigste 
habe  ich  in  diesem  Kapitel  begründet  und  das  Übrige 
rechtfertigt  sich  von  selbst. 

§  21.  Auch  ist  allbekannt,  dass  der  Richter  so  viele 
sein  müssen,  dass  ihre  Mehrheit  durch  eine  Privatperson 
nicht  bestochen  werden  kann ;  ebenso,  dass  sie  ihre  Stim- 
men nicht  öffentlich  abgeben  dürfen  und  dass  ihnen  ein 
Gehalt  für  ihre  Arbeit  gebührt.  Meistenteils  erhalten  sie 
einen  jährlichen  Gehalt;  deshalb  betreiben  sie  jedoch  die 
Prozesse  nicht  schnell  und  oft  nehmen  deshalb  die  Rechts- 
streitigkeiten kein  Ende.  Ferner  wird  da,  wo  die  kon- 
fiszierten Güter  dem  Könige  anheimfallen,  oft  „nicht  das 


„Recht  und  die  Wahrheit,  sondern  die  Grösse  des  Ver 
„mögens  beachtet;  dann  giebt  es  Verdächtigungen  und  die 
„Reichsten  werden  als  Beute  gefasst.  Solch  schweres  und 
„unerträgliches  Unrecht  wird  zwar  mit  der  Kriegsnot  ent- 
„schuldigt;  allein  es  bleibt  auch  im  Frieden.**  loi)  Dagegen 
wird  die  Habgier  der  Richter,  wenn  sie  nur  zwei  oder 
höchstens  drei  Jahr  ihr  Amt  behalten,  durch  die  Furcht 
vor  ihren  Nachfolgern  in  Zaum  gehalten,  abgesehen  da- 
von, dass  die  Richter  kein  festes  Vermögen  besitzen  kön- 
nen, sondern  ihr  Geld  ihren  Mitbürgern  des  Gewinnes 
halber  leihen  müssen.  Dadurch  sind  sie  genötigt,  eher 
auf  deren  Vorteil  als  auf  deren  Nachteil  bedacht  zu  sein, 
namentlich  wenn  die  Zahl  der  Richter,  wie  erwähnt,  be- 
deutend ist. 102) 

§  22.    Die  Miliz  soll  keinen  Sold  erhalten,    weil  ihr 
höchster  Lohn  die  Freiheit  ist.    Im  Naturzustande  strebt 
Jeder  nur  seiner  Freiheit  wegen,  sich  möglichst  zu  ver- 
teidigen ;  er  erwartet  keinen  andern  Lohn  für  seine  kriege- 
rische Tapferkeit,  als  seine  Selbständigkeit.  In  dem  bürger- 
lichen Zustand  sind  aber  die  Bürger  insgesamt  gleichsam 
wie  ein  Mensch  im  Naturzustand  anzusehen,    und  wenn 
sie  für  diesen  Zustand  zu  Felde  ziehen,   so  sorgen  und 
arbeiten   sie    nur   für  sich.     Dagegen   arbeiten  die  Räte, 
die  Richter,  die  Beamten  u.  s.  w.  mehr  für  Andere  wie 
für  sich,  deshalb  ist  es  billig,  ihnen  einen  Lohn  für  ihre 
Arbeit  zu  gewähren.  io3)  Dazu  kommt,  dass  im  Kriege  es 
nichts  Ehrenwerteres   und    keinen    stärkern   Anreiz    zum 
Siege  giebt,  als  das  Bild  der  Freiheit.  Wird  dagegen  nur 
ein  Teil  der  Bürger  für  die  Miliz  bestimmt,  so  muss  den- 
selben dann  auch  ein  fester  Sold  ausgesetzt  werden;  der 
König  wird    sie  dann   notwendig  vor  den  Übrigen  aus- 
zeichnen (wie  ich  in  §  12  dieses  Kap.  gezeigt  habe),   und 
sie  werden   zu  Menschen,    die  nur   das  Kriegshandwerk 
kennen,   die   im  Frieden  wegen  zu  vieler  Müsse  durch 
Schwelgerei  verderben  und  zuletzt,  nachdem  sie  ihr  Ver- 
mögen durchgebracht,  nur  auf  Raub,  bürgerlichen  Zwist 
und  Krieg  denken.    Deshalb  kann  ich  behaupten,  dass  ein 
monarchisches  Regiment  dieser  Art  in  Wahrheit  der  Kriegs- 
zustand ist,  wo  nur  der  Soldatenstand  frei  ist,  alle  Übrigen 
aber  sich  in  Dienstbarkeit  befinden. 

§  23.    Das,   was  ich  über  die  Aufnahme  der  Frem- 
den unter  die  Bürger  in  §  32,  Kap.  6  gesagt,   wird  sich 


102 


Politische  Abli.     Kap.  7.     §^24.  26. 


Über  den  Nachfolger  des  Königs. 


103 


idurch  sich  selbst  rechtfertigen.  Auch  wird  wohl  Niemand 
es  bestreiten,  dass  die  nächsten  Anverwandten  des  Königs 
nicht  in  seiner  Nähe  sich  aufhalten  dürfen  und  dass  sie 
nicht  die  Geschäfte  des  Krieges,  sondern  des  Friedens 
treiben  dürfen;  dies  wird  ihnen  zur  Zierde  und  dem  Lande 
zur  Ruhe  gereichen.  Aber  selbst  dies  hat  den  türkischen 
Sultanen  nicht  genügt;  deshalb  ist  der  Gebrauch  dort, 
alle  Brüder  zu  tödten.  Man  darf  sich  hierüber  nicht 
wundern;  je  unbeschränkter  die  Staatsgewalt  auf  Einen 
tibertragen  worden  ist,  desto  leichter  kann  sie  auch  von 
Einem  auf  den  Andern  übergehen,  wie  ich  in  §  14  dieses 
Kapitels  gezeigt  habe.  Dagegen  wird  in  dem  hier  von 
mir  aufgestellten  monarchischen  Regiment,  wo  es  keine 
Söldner-Miliz  giebt,  in  der  von  mir  beschriebenen  Weise 
unzweifelhaft  für  das  Wohl  des  Königs  gesorgt  sein. 

§  24.  Auch  über  das  in  §  34  und  35,  Kap.  6  Ge- 
sagte kann  man  wohl  nicht  bedenklich  sein.  Dass  der 
König  keine  Fremde  heiraten  darf,  ist  leicht  zu  zeigen. 
Einmal  sind  zwei  Staaten,  selbst  wenn  sie  ein  Bündnis 
miteinander  geschlossen  haben,  dennoch  im  Zustande  der 
Feindschaft  zueinander  (nach  §  14,  Kap.  3);  und  da  hat 
man  vorzüglich  zu  sorgen,  dass  um  des  Königs  häuslicher 
Angelegenheiten  willen  kein  Krieg  entstehe.  Nun  ent- 
springen aber  die  meisten  Streitigkeiten  und  Zwiste  aus 
solchen  Heiraten  und  werden  zwischen  den  Staaten  ge- 
wöhnlich durch  Krieg  erledigt;  deshalb  ist  es  einem  Staat 
gefährlich,  eine  zu  enge  Verbindung  mit  einem  anderen 
einzugehen.  Ein  trauriges  Beispiel  davon  giebt  die  heilige 
Schrift.  Nach  dem  Tode  Salomons,  welcher  eine  Tochter 
des  Königs  von  Ägypten  zur  Frau  genommen  hatte,  führte 
dessen  Sohn  Rehabeam  einen  höchst  unglücklichen  Krieg 
mit  Susanus,  König  von  Ägypten,  und  wurde  von  ihm  unter- 
jocht. Ebenso  wurde  die  Heirat  zwischen  Ludwig  XIV., 
König  von  Frankreich,  und  der  Tochter  Philipps  IV.  der 
Keim  zu  einem  neuen  Krieg,  und  dergleichen  Fälle  finden 
sich  noch  viele  in  der  Geschichte,  ^o*) 

§  25.  Die  Gestalt  des  Reichs  muss  unverändert 
bleiben,  deshalb  darf  nur  Einer  und  vom  nämlichen 
Geschlechte  König  sein  und  die  Staatsgewalt  darf  nicht 
geteilt  werden.  Wenn  ich  gesagt,  dass  dem  Könige  sein 
ältester  Sohn  oder  der  nächste  Blutsverwandte  (wenn 
keine  Söhne  da  sind)  nachfolgen  solle,  so  rechtfertigt  sich 


dies  teils  aus  §  13,  Kap.  6,  teils  daraus,  dass  die  von 
dem  Volke   geschehene  Wahl    des  Königs,    so    weit   als 
möglich,  für  ewige  Zeiten  gelten  muss.    Sonst  muss  die 
höchste    Staatsgewalt    oft    auf    das    Volk    zurückfallen, 
welches    die    stärkste    und    deshalb    geföhrlichste    Ver- 
änderung ist.     Es  ist  ein  Irrtum,  wenn  man  meint,  dass, 
weil  der  König   Eigentümer   des  Reichs  und   sein  Recht 
daran  unbeschränkt  sei,  er  es  nach  seinem  Belieben  ver- 
geben und  seinen  Nachfolger  sich  wählen  könne,  und  dass 
das  Erbrecht  seines  Sohnes  nur  darauf  sich  stütze.     Viel- 
mehr ist  der  Wille  des  Königs  nur  so  lange  gültig,  als 
er  das  Schwert  des  Reichs  führt,  da  sein  Recht  an  das- 
selbe lediglich  durch  seine  Macht  bestimmt  wird.     Deshalb 
kann  ein  König  wohl   seine  Staatsgewalt  aufgeben,   aber 
auf  einen  Anderen  nur  mit  Gestattung    des  Volkes  oder 
dessen  stärkeren  Teiles  übertragen.     Dies  wird  deutlicher, 
wenn  man  erwägt,  dass  die  Kinder  nicht  nach  dem  Natur- 
recht,  sondern   nach   dem  bürgerlichen  Recht   die  Erben 
ihrer  Eltern  sind,   da  alles  Eigentum  der  Bürger  nur  in 
der  Macht    des   Staats  seinen   Grund  hat.     Deshalb  ge- 
schieht es  vermöge  derselben  Macht  oder  desselben  Rechts, 
vermöge  dessen  eine  Willenserklärung  über  das  Vermögen 
gilt,   dass   eine  solche  Willenserklärung  auch  noch  nach 
dem    Tode    giltig    bleibt,    so    lange    der    Staat   bestehen 
bleibt.     Aus  diesem  Grunde  behält  Jeder  in  dem  bürger- 
lichen Zustande  dasjenige  Recht,  was  er  bei  seinem  Leben 
hat,  auch  nach  seinem  Tode,  weil  er,  wie  gesagt,  über 
seine  Güter  nicht  vermöge  seiner  Macht,  sondern  vermöge 
der  Staatsmacht,  die  ewig  währt,  verfügen  kann.    Bei 
dem  König  verhält  es   sich   aber  anders;   der  Wille  des 
Königs   ist  das   bürgerliche  Recht   selbst  und  der  König 
ist  der   Staat   selbst.    Mit  dem   Tode  des  Königs  stirbt 
also  auch  gleichsam  der  Staat;  der  bürgerliche  Zustand 
kehrt    wieder    zu    dem  Naturzustand    zurück    und    somit 
kommt  auch  die  höchste  Gewalt  an  das  Volk  zurück  und 
dies  kann  daher  mit  Recht  neue  Gesetze  geben  und  die 
alten  aufheben.    Hieraus  erhellt,  dass  es  bei  dem  Könige 
keinen  Rechts -Nachfolger  giebt,  ausser  dem,  welchen  das 
Volk  erwählt,  oder  den  in  der  Theokratie,  wie  sie  sonst 
bei  den   Juden   bestand,  Gott  durch  den  Propheten  er- 
wählt.    Ich   könnte   dies   auch  daraus  ableiten,   dass  das 
Schwert  oder   Recht  des  Königs  in  Wahrheit  der  Wille 


n 


104 


Politische  Abh.    Kap.  7.    §  26.  27. 


des  Volkes  selbst  oder  seines  stärksten  Teiles  ist;  ebenso 
daraus,  dass  vernünftige  Menschen  niemals  ihr  Recht  so- 
weit aufgeben,  dass  sie  aufhören,  Menschen  zu  sein  und 
zu  dem  Vieh  werden ;  doch  brauche  ich  dies  nicht  weiter 
auszuführen.  10^) 

§  26.  Übrigens  kann  Niemand  das  Recht  auf 
Religionsübung  oder  Gottesverehrung  auf  einen  Anderen 
tibertragen;  ich  habe  ausführlich  hierüber  in  den  beiden 
letzten  Kapiteln  meiner  theologisch-politischen  Abhandlung 
gehandelt  und  brauche  es  deshalb  hier  nicht  zu  wieder- 
holen. Damit  glaube  ich  die  Grundlagen  des  besten  mo- 
narchischen Regimentes  deutlich,  wenn  auch  kurz,  darge- 
legt zu  haben.  Ihren  Zusammenhang  oder  die  innere 
Übereinstimmung  eines  solchen  Staats  wird  Jeder  leicht 
bemerken,  der  sie  mit  einiger  Aufmerksamkeit  betrachtet. 
Ich  bemerke  nun  noch,  dass  ich  hier  nur  das  monarchische 
Regiment  behandle,  was  ein  freies  Volk  einsetzt,  dem 
allein  es  deshalb  von  Nutzen  sein  kann.  Ein  Volk,  was 
an  andere  Formen  der  Herrschaft  gewöhnt  ist,  kann  nicht 
ohne  grosse  Gefahr  des  Unterganges  die  geltenden  Grund- 
lagen der  Herrschaft  umstossen  und  das  ganze  Staats- 
regiment verändern.  ^^) 

§  27.  Vielleicht  wird  diese  Darstellung  von  denen 
mit  Gelächter  aufgenommen,  welche  die  Fehler,  die  allen 
Sterblichen  anhaften,  blos  auf  das  gemeine  Volk  schieben ; 
weil  nämlich  die  Menge  kein  Mass  halte;  weil  sie  fürch- 
terlich sei,  wenn  sie  nicht  fürchte;  weil  sie  niedrig  sich 
beuge  oder  stolz  die  Herrschaft  übe;  weil  in  ihr  weder 
Wahrheit  noch  Urteil  zu  finden  sei,  u.  s.  w.  Allein  alle 
Menschen  haben  nur  eine  und  gleiche  Natur.  Man 
lässt  sich  aber  durch  die  Macht  und  die  Bildung  täuschen ; 
daher  kommt  es,  dass  man,  wenn  Zwei  dasselbe  thun, 
oft  sagt,  der  Eine  darf  es  ungestraft  thun,  der  Andere 
nicht;  nicht  weil  die  Sache,  sondern  weil  die  handelnde 
Person  verschieden  ist.  Den  Herrschenden  ist  der  Stolz 
eigen;  die  Menschen  werden  eitel  über  eine  Ernennung 
auf  ein  Jahr:  wie  nun  gar  die  Vornehmen,  die  Ehre  auf 
Lebenszeit  besitzen  sollen,  ^o?)  Aber  deren  Anmassung 
wird  dabei  ausgeschmückt  durch  Aufwand,  Luxus,  Ver- 
schwendung, durch  eine  gewisse  Harmonie  von  Lastern, 
durch  eine  gewisse  gelehrte  Unwissenheit  und  eine  ge- 
wisse Zierlichkeit  des  Schlechten.    So  kommt  es,  dass 


OffentUchkeit  der  Staataverhandlungen.  105 

Laster,   welche   einzeln  und   für  sich  betrachtet,   wo  sie 
am  deutlichsten   hervortreten,  hässlich  und  widerwärtig 
erscheinen,   von  den  Unerfahrenen  und  Unwissenden  für 
ehrbar  und  anständig  gehalten  werden.    Übrigens  hält  die 
Menge  nicht  Mass;  sie  schreckt,  oder  sie  fürchtet;  denn 
die  Freiheit  und  die  Dienstbarkeit  lassen  sich  nicht  ver- 
binden.   Dass  die  Menge  keine  Wahrhaftigkeit  und  kein 
Urteil   hat,   kann   nicht   auffallen,   wenn   die  wichtigsten 
Staatsgeschäfte  geheim  betrieben  werden,  und  sie  nur  aus 
dem  Wenigen,  was  sich  nicht  verbergen  lässt,  eine  Ver- 
mutung schöpfen  muss.     Denn  die  Zurückhaltung  des  Ur- 
teils ist  eine  seltene  Tugend.    Es  ist  deshalb  die  höchste 
Thorheit,  zu  verlangen,  dass  Alles  geheim  geschähe  und 
dabei   die  Bürger    doch  nicht  schlecht  darüber  urteilen 
und   es   nicht  zum   Schlechten  auslegen   sollen.     Könnte 
die  Menge  sich  massigen  und  ihr  Urteil  über  noch  weniff 
bekannte  Dinge  zurückhalten  oder  aus  dem  wenig  Bekannten 
schon  ein  richtiges  Urteil  fällen,  so  wäre  sie  würdi^^er 
zu  regieren,  als  regiert  zu  werden.  —  Indes  ist,  wie*ffe- 
sagt   die  Natur  für  Alle  die  gleiche;   Alle  werden  durch 
die  Herrschaft  hoffärtig;  Alle  sind  fürchterlich,  wenn  sie 
nicht  fürchten,  und  überall  wird  die  Wahrheit  meist  von 
der  Feindseligkeit  und  Bosheit  zerstört.    Dies  gilt  nament- 
lich da,  wo  nur  Einer  oder  Wenige  die  Herrschaft  besitzen, 
die  bei  ihren  Erkenntnissen  nicht  auf  das  Recht  und  auf 
die  Wahrheit,  sondern  nur  auf  die  Grösse  des  Reichtums 
achten. 

§  28.    Endlich  pflegen  die  Söldner-Milizen,  welche 
an  die  militärische  Zucht  gewöhnt  sind  und  Kälte  und 
Mitze  und  Hunger  ertragen  können,  das  bürgerliche  Volk 
zu  verachten ,  weil  es  zu  Eroberungen  und  zu  offenem 
Kampfe  viel  weniger  geschickt  sei.  Aber  kein  Vernünftiger 
wird    behaupten,    dass    deshalb    die    Staatsgewalt    viel 
schwächer  und  unbeständiger  sei;   vielmehr   wird  jeder 
billige  Beurteiler  der  Verhältnisse  einräumen,  dass  dieses 
Regiment  das  dauerhafteste  ist,  gerade  weil  es  nur  den 
eigenen  Erwerb  zu  schützen   vermag  und  nach  fremdem 
tiut  nicht  verlangen  kann  und  deshalb  den  Krieg  auf  alle 
Weise   zu  vermeiden  und   den  Frieden   möglichst  zu  er- 
halten sich  bestreben  wird. 

•     §  29.     Übrigens  räume  ich  ein,  dass  die  Absichten 
eines  solchen    Regiments  sich   kaum   werden  verhehlen 

Spinoza' 8  Abh.  üb.  Verbesser,  d.  Verstandes.  g 


106 


Poütische  Abh.     Kap.  7.     §  30. 


lassen;   allein  Jedermann  wird  auch  mit  mir  anerkennen, 
dass  es   besser  ist,  die  rechtlichen  Absichten  sind   dem 
Gegner    bekannt,    als    die    schlechten    Geheimnisse    der 
Tyrannen  bleiben  den  Bürgern  verborgen.    Wer  die  Reichs- 
geschäfte geheim  zu  betreiben  vermag,   hat  es  ganz  in 
seiner  Gewalt,  sowie  dem  Feinde  im  Kriege,  ebenso  auch 
den  Bürgern  im  Frieden  nachzustellen.    Dass  dies  Geheim- 
halten   einem  Staate   oft   nützlich    ist,    kann   man    nicht 
leugnen;   aber  Niemand   kann   beweisen,   dass   ohnedem 
ein  Staat  sich  nicht  erhalten  könne.     Es  ist  unmöglich. 
Jemanden  den  Staat  unbeschränkt  anzuvertrauen  und  zu- 
gleich die  Freiheit  zu  bewahren  und  deshalb  ist  es  Thor- 
heit,   einem   geringen  Nachteil   durch   ein   grosses  Übel 
entgehen   zu  wollen.     Nur  die,    welche  nach  der  unbe- 
schränkten Gewalt  streben,  wissen  nichts  weiter  als  ewig 
zu  wiederholen,    dass  das  Staats- Interesse  den  geheimen 
Betrieb  der  Staatsgeschäfte  verlange  und  dergleichen  mehr. 
Je  mehr  dergleichen  Redeusarten  sich  unter  den  Mantel 
des  Nutzens  verbergen,  eine  um  so  schlimmere  Knecht- 
schaft haben  sie  zur  Folge,  i^^^^) 

§  30.     Obgleich  kein  Regiment,  so  viel  ich  weiss, 
unter  allen  hier  aufgestellten  Bedingungen  bestanden  hat, 
so  kann  ich  doch  aus  der  Erfahrung  nachweisen,  dass 
diese  Form   der  Monarchie   die   beste  ist;   man  muss  nur 
zu  dem  Ende  die  Ursachen  der  Erhaltung  und  des  Unter- 
gangs der  nicht  barbarischen  Staaten  untersuchen.     Dies 
würde  jedoch  den  Leser  hier  sehr  ermüden ;  nur  ein  er- 
wähnenswertes Beispiel  kann  icli  nicht  mit  Stillschweigen 
übergehen,  nämlich  das  Arragonische  Reich,  wo  die  Unter- 
thanen  eine  besondere  Anhänglichkeit  an  ihre  Könige  ge- 
habt und   die  Staatsverfassung  in   gleicher  Beständigkeit 
sich  unverletzt  erhalten   haben.     Sobald   die   Arragonier 
das  erniedrigende  Joch  der  Mauren  abgeschüttelt  hatten, 
beschlossen  sie ,   sich  einen  König  zu  wählen ;  aber  über 
die  Bedingungen  dabei  waren  sie  nicht  ganz  einig  und  sie 
beschlossen  deshalb,  den  Rat  des  Papstes  darüber  einzu- 
holen ;  dieser  benahm  sich  hierbei  wirklich  als  Statthalter 
Christi    und   schalt    sie,    dass   sie   von   dem  Beispiel  der 
Juden  sich  nicht  belehren  Hessen  und  hartnäckig  auf  einen 
König  bestünden ;  wollten  sie  aber  durchaus  dabei  bleiben, 
so  riete  er,  den  König  erst  zu  wählen,  nachdem  sie  zuvor 
billige   und   dem    Geist   des   Volkes   entsprechende   Ein- 


Ein  Beispiel  aus  der  Geschichte  Arragoniens.  107 

richtungen  getroffen  hätten;   namentlich  sollten  sie  einen 
höchsten  Rat  einrichten,  welcher  den  Königen,  wie  die 
Ephoren  bei  den  Lacedämoniern ,  gegenüber  stehe  und 
das  unbeschränkte  Recht  der  Entscheidung  in  den  Strei- 
tigkeiten habe,  welche  sich  zwischen  Volk  und  König  er- 
höben.     Sie   folgten  diesem  Rat,   beschlossen   die  ihnen 
billig  scheinenden  Gesetze,  und  dass  deren  höchster  Aus- 
leger und  folglich  oberster  Richter  nicht  der  König,  son- 
dern der  Rat  sein  solle,  welchen  sie  die  Siebzehn  nannten 
und  dessen  Vorstand  „Gerechtigkeit«  hiess.     Diese  Sieb- 
zehn    mit    ihrer   „Gerechtigkeit"    als   Vorstand    wurden 
nicht  gewählt,    sondern    durch    das  Los  auf  Lebenszeit 
bestimmt,  und  sie  hatten  das  unbeschränkte  Recht,  alle 
iirkenntnisse,  die  gegen  irgend  einen  Bürger  von  andern 
Behörden  des  Staats  oder  der  Kirche  oder  vom  Könige 
selbst  ergangen  waren,  zu  widerrufen  oder  zu  vernichten : 
jeder  Bürger  hatte  mithin  das  Recht,  selbst  den  König 
vor   dieses  Gericht   zu   laden.     Auch   hatten   sie   ehedem 
noch  das  Recht,  den  König  zu  wählen  und  abzusetzen; 
doch  erreichte  es   nach  Ablauf  vieler  Jahre  endlich  der 
Konig  Don   Pedro,  genannt  der  Dolch,  durch  Bemüh- 
"°&®°» /beschenke,  Versprechungen    und  Dienstleistungen 
aller  Art,  dass  dieses  Recht  abgeschafft  wurde  (sobald  er 
dies  erreicht   hatte,  schnitt   er  sich    öffentlich   mit  einem 
Dolch  die  Hand  ab,   oder  brachte  sich,  was  wohl  wahr- 
scheinlicher   ist,   nur   eine  Wunde    daran  bei,  indem  er 
sagte,  dass  die  Unterthanen  nur  auf  Kosten   des   Blutes 
des  Königs  denselben   wählen   dürften) ,    jedoch  mit  der 
Bedingung:    „dass    sie    vormals    und   jetzt    die    Waffen 
^gegen  jede  Gewaltmassregel  ergreifen  könnten,  wodurch 
„Jemand  zu  ihrem  Schaden  die  Herrschaft  in  Besitz  neh- 
„men  wolle  und  zwar  selbst  gegen  den  König  und  seinen 
«türstlichen   Nachfolger,    wenn    er    in  dieser  Weise  die 
„Herrschaft  sich   verschaffen  wolle."     Mit  dieser   Bedin- 
gung haben    sie  das   frühere  Recht  nicht  sowohl  abge- 
schafft, als  verbessert.     Denn   der  König  darf,  wie  ich 
§  5.  und  6,  Kap.  4  gezeigt  habe,  nicht  durch  das  bür- 
gerliche Recht,  sondern  nur  durch  das  Kriegsrecht  seiner 
Herrschermacht  entsetzt   werden,   oder  die  Unterthanen 
dürfen  seine  Gewaltmassregeln  nur  durch  gleiche  Gewalt 
verhindern.    Ausserdem  wurden  noch  andere  Bedingungen 
verabredet,    die   für   meinen    Zweck    nicht   interessieren. 

9* 


108 


Politische  Abh.     Kap.  7.     §  31. 


Mit  solchen  unter  Aller  Zustimmung  getroffenen  Einrich- 
tuDgen  blieben  sie  eine  unglaublich  lange  Zeit  ungeschä- 
digt,  und  die  Könige  bewahrten  immer  gleiche  Treue  gegen 
die  Unterthanen,  wie  diese  gegen  den  König.    Als  aber 
das  Reich  an  Ferdinand  von  Castilien,  der  zuerst 
den  Beinamen  des  Katholischen  erhielt,  durch  Erbschaft 
gelangte,  wurde  diese  Freiheit  der  Arragonier  den  Casti- 
liern  verhasst,  und  sie  rieten  ohne  Unterlass  Ferdinand, 
diese  Rechte  zu  beseitigen.    Dieser  war  indes  noch  nicht 
an   das  unbeschränkte  Regieren  gewöhnt  und   wagte  es 
nicht,    sondern   antwortete    seinen   Ratgebern:   „Einmal 
„habe  er  das  Arragonische  Reich  unter  den  ihnen  be- 
„kannten  Bedingungen  erhalten  und  er  habe  geschworen, 
„diese  heilig  zu  halten;   und   es  sei  eines  Menschen  un- 
„würdig,  das  gegebene  Wort  zu  brechen ;  sodann  habe  er 
„bedacht,   wie   sicher  seine  Herrschaft  sei,  so  lange  sie 
„ebenso  den   Unterthanen    wie   dem  Könige  am   Herzen 
„liege,   und   so   lange  der  König  weder  die  Übermacht 
„über  die  Unterthanen,  noch  diese  über  den  König  hätten; 
„denn  sobald  ein  Teil  sich  zu  dem  stärkeren  mache,  werde 
„der  Schwächere  nicht  blos  die  alte  Gleichheit  wieder  zu 
„gewinnen,  sondern  im  Schmerz  der  erlittenen  Verletzung 
„noch  darüber  hinaus  zu  gehen  streben  und  die  Folge  werde 
„der  Untergang  Eines  oder  Beider  sein."    Diese  weisen 
Worte  würde  ich  nicht  genug  bewundern  können,  wenn 
sie  von  einem  König  gesprochen  worden  wären,  der  ge- 
wohnt gewesen,  Sklaven  statt  freien  Menschen  zu  gebieten. 
So  behielten  die  Arragonier  auch  nach  Ferdinand  ihre 
Freiheiten,  wenn  auch  nicht  von  Rechts  wegen,  sondern 
aus  Gnade  der  mächtigern  Könige,  bis  auf  Philipp  ü., 
der  sie  zwar  mit  mehr  Glück,  aber  mit  nicht  weniger 
Grausamkeit  als  die  vereinigten  Niederlande  unterdrückte. 
Obgleich  Philipp  IIL  anscheinend  Alles  in  den  frühern 
Stand  zurückversetzt  hat,  so  haben  die  Arragonier,  von 
denen  die  Meisten  den  Mächtigen  zustimmten  (denn  es  ist 
Thorheit,  gegen  die  Peitsche  von  hinten  auszuschlagen)  und 
der  Rest  von  Furcht  und  Schrecken  erfüllt  war,  nur  die 
hohlen  Worte  und  die  leeren  Formen  von  der  Freiheit 
behalten.  ^^) 

§  31.    Mein  Ergebnis  ist  also,  dass  ein  Volk  sich 

unter  einem  König  eine   grosse  Freiheit  bewahren  kann, 

.wenn  es  nur  sorgt,  dass  die  Macht  des  Königs  sich  blos 


Das   aristokratische  Regiment.  ^qq 

nach  der  Macht  des  Volkes  bestimmt  und  doch  den  Schutz 
des  Volkes  sich  erhält.  Diese  Regel  allein  hat  mir  bei 
Legung  der  Grundlagen  des  monarchischen  Regiments 
zur  Richtschnur  gedient. 


Achtes  Kapitel. 

Das  aristokratische  Regiment  mnss  aus  einer  grossen 
Anzahl  Patrizier  bestehen;  über  seine  Vorzüge,  und 
dass  es  mehr  als  das  monarchische  dem  unbeschränkten 
Regiment  sich  nähert  und  deshalb  zum  Schutze  der 
Freiheit  besser  geeignet  ist. 

§  1.    So  viel  über  das  monarchische  Regiment.    Ich 
werde  nun  angeben,  wie  ein  dauerhaftes  aristokrati- 
sches Regiment  'einzurichten  ist.  Ich  habe  dasjenige  Re- 
giment  aristokratisch   genannt,  was  nicht  ein   Einziger, 
sondern  mehrere  aus  dem  Volke  Auserwählte  inne  haben 
und  Letztere  werde  ich  von  nun  ab  Patrizier  nennen. "o 
Ich  sage  ausdrücklich:  „welches  einige  Auserwählte  inne 
^naoen.      Denn  es  unterscheidet  sich  vorzüglich  dadurch 
von   dem    demokratischen  Regiment,  dass  in  dem  aristo- 
Kratiscüen  das  Regierungsrecht  bloss  von  der  Wahl  ab- 
fangt,  m    dem  demokratischen  aber  hauptsächlich  von 
<lem  angeborenen  oder  durch  Glück  erlangten  Rechte  (wie 
ich  an  seinem  Orte  darlegen  werde).    Wenn  daher  auch 
<ias  ganze  Volk  eines  Staates  unter  die  Zahl  der  Patrizier 
aufgenommen  würde,   so  bliebe  doch   das  Regiment   ein 
aristokratisches,   so  lange  dies  nur  zu  keinem  erblichen 

«ir  J*^^  "^^  "^^^*  °^^^  gemeinem  Rechte  auf  Andere 
upergeht,  sondern  nur  die  ausdrücklich  Erwählten  unter 
uie  mrizier  aufgenommen  werden,  n»)  Sind  deren  nur 
zwei,  so  wird  der  Eine  sich  die  Macht  vor  dem  Andern 
zu  verschaffen  suchen,  und  der  Staat  trennt  sich  weffen 
^er  grossen  Gewalt  Beider  leicht  in  zwei  Teile  oder  in 
«rei,  oder  vier  oder  fünf,  wenn  drei,  vier  oder  fünf  das 


|(     '        \'-:l 


110 


Politische  Abb.     Kap.  8.     §  2.  3. 


II 


Regiment  inne  haben.  Dagegen  werden  die  Teile  um 
80  schwächer  sein,  je  grösser  die  Zahl  derer  ist, 
welche  die  Staatsgewalt  inne  haben.  Deshalb  gehört 
zur  Festigkeit  des  aristokratischen  Regiments,  dass 
bei  der  Bestimmung  der  niedrigsten  Zahl  der  Pa- 
trizier auf  die  Grösse  des  Reiches  Rücksicht  genommen 
virerde 

§'2.  Ich  will  daher  annehmen,  dass  für  ein  mittel- 
grosses Reich  hundert  Vornehme  1  »2)  vorhanden  sind,  auf 
welche  die  Staatsgewalt  übertragen  ist  und  denen  deshalb 
das  Recht  zusteht,  sich  Patrizier  zu  Genossen  zu  erwählen, 
wenn  einer  derselben  mit  Tode  abgeht.  Sie  werden  na- 
türlich auf  alle  Weise  sich  bemühen,  dass  ihre  Kinder 
oder  nächsten  Verwandten  ihnen  nachfolgen,  und  die 
höchste  Staatsgewalt  wird  dann  immer  bei  denen  bleiben, 
welche  als  Patrizier  zufällig  Kinder  oder  Verwandte  haben. 
Da  nun  unter  hundert  Menschen,  die  nur  durch  Zufall 
zu  dieser  Würde  aufsteigen,  kaum  drei  sich  finden  wer- 
den, die  durch  Verstand  und  Kenntnisse  sich  auszeichnen» 
so  wird  die  Staatsgewalt  nicht  bei  hundert,  sondern  bei 
zweien  oder  dreien  sein,  die  durch  ihre  Geisteskräfte 
hervorragen,  alles  leicht  an  sich  ziehen  und  von  denen 
jeder  infolge  der  menschlichen  Leidenschaften  sich  den 
Weg  zur  Monarchie  bahnen  kann.  Deshalb  muss  bei 
richtiger  Berechnung  in  einem  Lande,  dessen  Grösse 
mindestens  hundert  Vornehme  verlangt,  die  Staatsgewalt 
auf  mindestens  5000  Patrizier  übertragen  werden.  Nur 
so  werden  immer  hundert  in  Tugend  ausgezeichnete 
Männer  unter  ihnen  gefunden  werden,  da  ich  annehme, 
dass  unter  50,  die  nach  dieser  Würde  streben  und  sie 
erlangen,  immer  einer  sich  finden  wird,  der  den  Besten 
gleich  steht,  abgesehen  von  anderen,  welche  der  Tugend 
der  Besten  nacheifern  und  deshalb  auch  würdig  sind,  zur 
Regierung  zu  gelangen. 

§3.  Die  Patrizier  pflegen  meist  Bürger  einer  Stadt 
zu  sein,  welche  das  Haupt  des  ganzen  Reiches  bildet  und 
nach  welcher  es  den  Namen  führt,  wie  ehedem  das  Rö- 
mische und  gegenwärtig  das  Venetianische  und  Genuesische. 
Dagegen  hat  der  holländische  Staat  seinen  Namen  von 
der  ganzen  Provinz,  woraus  hervorgeht,  dass  dessen 
Bürger  grössere  Gerechtsame  geniessen.  Ehe  ich  nun  die 
Grundlagen,  auf  denen  das  aristokratisclie  Regiment  ruhen 


D.  aristokr.  Regiment  ist  unbeschränkter  wie  das  der  Könige.  Hl 

soll,  angeben  kann,  habe  ich  den  Unterschied  anzugeben 
der  zwischen  einer  auf  einen  Einzigen  übertragenen  und 
der  auf  eine  ziemlich  grosse  Versammlung  übertragenen 
Herrschaft  besteht  und  der  sehr  erheblich  ist.    Erstens 
ist  die  Kraft  eines  Menschen  nicht  im  stände,  die  ganze 
Herrschaft  zu  führen  (wie  ich  §  5,  Kap.  6  gesagt) ,  aber 
von  einer  genügend  grossen  Versammlung  kann  man  dies 
ohne  grosse  Verkehrtheit  nicht  sagen;    denn  indem  man 
die  Versammlung  als  hinlänglich  gross  anerkennt,  erkennt 
man  auch  an,  dass  sie  zur  Führung  der  Herrschaft  nicht 
unvermögend    ist.     Der    König    braucht    also   jedenfalls 
Ratgeber;  die  Versammlung  aber  keinesweges.ii3)    Dann 
sind  zweitens  die  Könige  sterblich,  die  Versammlungen 
aber   ewig.    Deshalb    kehrt   die    Staatsgewalt,  wenn    sie 
einmal   auf  eine   hinlänglich  grosse  Versammlung   über- 
tragen worden  ist,  niemals  an  das  Volk  zurück,  was  bei 
dem   monarchischen    Regiment  wohl  vorkommt,   wie    ich 
in  §  25,  Kap.  6    gezeigt   habe.     Drittens   ist  die  Re- 
gierung   des    Königs    oft    durch    dessen    Jugend    oder 
Krankheit  oder  zu  hohes  Alter  oder  aus  andern  Ursachen 
hinfällig,  während  die  Macht  einer  solchen  Versammlung 
immer    nngeändert     bleibt.      Viertens    ist    der    Wille 
eines  Menschen  veränderlich  und  unbeständig;  deshalb 
gilt  in  dem  monarchischen  Staate  alles  Recht  als  der  aus- 
drückliche Wille   des  Königs   (wie   ich   in    §  1,   Kap.  6 
gesagt   habe),    aber    nicht  jeder  Wille    des  Königs  darf 
Recht   sein;  von    einer  grossen  Versammlung  kann  man 
aber  dies  nicht  sagen.    Denn  da  eine  solche  Versammlung 
(wie  gezeigt)  keiner  Räte  bedarf,  so  muss  notwendig  alles, 
was   sie   ausdrücklich  will,    auch  Recht    sein.     Hiernach 
schliesse  ich,  dass  die  auf  eine  genügend  grosse  Versamm- 
lung    übertragene    Herrschaft     unbeschränkt    ist    oder 
wenigstens  der  unbeschränkten   sehr  nahe  kommt;  denn 
wenn   es   eine  ganz  unbeschränkte  Herrschaft  überhaupt 
giebt,  so  ist  es  in  Wahrheit  die,  welche  das  ganze  Volk 
inne  hat^i*) 

§  4.  Da  indes  dieses  aristokratische  Regiment  nie- 
mals (wie  ich  oben  gezeigt),  zum  Volke  zurückkehrt,  so 
findet  auch  bei  demselben  keine  Beratung  des  Volkes 
statt,  sondern  alle  Beschlüsse  dieser  Versammlung  sind 
ohne  Weiteres  Gesetz.  "S)  Deshalb  muss  dieses  Regiment 
als    ein    unbeschränktes    betrachtet    werden,    und    seine 


fä   : 


112 


Politische  Abh.     Kap.  8.     §  5—7. 


Grundlagen  müssen  sich  deshalb  nur  auf  den  Willen  und 
die  Beschlüsse  der  Versammlung  stützen  und  nicht  auf 
die  Wachsamkeit  des  Volkes,  da  dies  sowohl  bei  der  Be- 
ratung wie  bei  der  Stimmgebung  fern  gehalten  wird. 
Wenn  deshalb  in  der  Verwirklichung  dies  Regiment 
nicht  unbeschränkt  ist,  so  kann  es  nur  daher  kommen, 
dass  das  Volk  von  den  Herrschern  gefürchtet  wird  und 
deshalb  einige  Freiheiten  erlangt,  die  es,  wenn  nicht 
durch  ausdrückliche  Gesetze,  doch  stillschweigend  sich 
verschafft  und  erhält. 

§  5.  Hieraus  erhellt,  dass  dieses  Regiment  dann  am 
besten  ist,  wenn  es  sich  dem  unbeschränkten  am  meisten 
nähert,  d.  h.  wenn  das  Volk  möglichst  wenig  zu  fürchten 
ist  und  nur  diejenigen  Freiheiten  hat,  welche  nach  der 
Staatsverfassung  ihm  nicht  vorenthalten  werden  können 
und  welche  deshalb  nicht  sowohl  ein  Recht  des  Volkes, 
als  des  ganzen  Staates  sind,  welches  Staatsrecht  die  vor- 
nehme Klasse  als  das  ihrige  beansprucht  und  bewahrt. 
So  wird  die  Wirklichkeit  am  meisten  mit  der  Theorie 
tibereinstimmen,  wie  der  vorgehende  Paragraph  ergiebt 
und  von  selbst  klar  ist;  da  unzweifelhaft  die  Herrschaft 
um  so  weniger  bei  den  Patriziern  sein  wird,  je  mehr 
Rechte  das  Volk  beansprucht:  wie  dergleichen  in  Nieder- 
Deutschlaud  die  Kollegien  der  Handwerker,  die  man 
Gilden  nennt,  besitzen. i^^) 

§  6.  Auch  braucht  man  von  der  unbeschränkten 
Übertragung  der  Staatsgewalt  an  die  Versammlung  des- 
halb nicht  zu  fürchten,  dass  diese  das  Volk  in  Dienst- 
barkeit bringen  werde,  da  der  Wille  einer  so  grossen 
Versammlung  nicht  sowohl  von  der  Willkür,  als  von  der 
Vernunft  bestimmt  werden  kann.  Die  Menschen  haben 
durch  schlechten  Affekt  verschiedene  Absichten;  nur 
wenn  sie  das  Rechte,  oder  wenigstens  was  als  Recht  er- 
scheint, erstrebe»,  können  sie  gleichsam  in  einem  Geiste 
handeln.  117) 

§  7.  Bei  Bestimmung  der  Grundlagen  des  aristo- 
kratischen Regiments  muss  man  deshalb  vor  allem  dar- 
auf sehen,  dass  sie  nur  auf  dem  Willen  und  der  Macht 
der  höchsten  Versammlung  ruhen,  und  dass  diese  Ver- 
sammlung möglichst  selbständig  sei  und  von  dem  Volke 
nichts  zu  fürchten  habe.  Um  diese  auf  dem  blossen  Willen 
und    der   Macht   der    höchsten   Versammlung   ruhenden 


Die  Einrichtungen  beim  aristokr.  Regiment.  113 

<Jrundlagen  zu  bestimmen,  muss  man  die  Grundlagen  des 
Friedens,  welche   dem   monarchischen    Regimente  eigen- 
tümlich  sind   und    dem   aristokratischen  fremd  sind    be- 
trachten. Kann  man  dem  aristokratischen  Regiment  ebenso 
kräftige    Grundlagen,    die    zugleich    seiner    Natur    ent- 
sprechen, unterstellen ,  und  behält  man  daneben  die  hier 
bereits   gelegten  Grundlagen  bei,    so  wird  unzweifelhaft 
aller  Anlass  zu  Aufständen  beseitigt  sein  und  dieses  Re- 
giment mindestens   ebenso   sicher  wie  das  monarchische 
sein;  ja   sicherer   und  in  einem  besseren  Stande,    da  es 
mehr  als  das  monarchische  ohne  Schaden  für  Frieden  und 
Freiheit  (man  sehe   §  3   und  6   dieses  Kap.)  dem  unbe- 
schrankten sich  nähert.  Je  grösser  das  Recht  der  höchsten 
Staatsgewalt  ist,   desto  mehr  kommt  die  Form  des  Regi- 
ments mit  dem  Gebote  der  Vernunft  überein  und  ist  des- 
halb auch  zur  Erhaltung  des  Friedens  und  der  Freiheit 
mehr  geeignet  (nach  §  5,  Kap.  3).  Ich  werde  deshalb  das 
in  S  y,  Kap.  6  Gesagte  durchgehen,  um  das  für  das  aristo- 
kratische Regiment  unpassende   zu   beseitigen   und  das 
Passende  aufzufinden,  ii«) 

§  8.     Dass  auch   hier  es  zunächst   nötig  ist,    eine 

oder  mehrere  Städte  zu  erbauen  und  zu  befestigen,  kann 

niemand    bezweifeln.     Vorzugsweise    ist    die    Hauptstadt 

eines  Landes   zu   befestigen   und    dann   die  Grenzstädte. 

Jene  muss  als  das  Haupt  des  ganzen  Reichs,  als  welches 

sie  das  höchste  Recht  hat,   auch  an  Macht  allen  andern 

überlegen   sein.     Übrigens   brauchen    bei  einem  solchen 

Kegiment  die  Einwohner  nicht  in  Stämme  eingeteilt  zu 
werden.  ^^^) 

§  9.  Was  nun  die  Miliz  anlangt,  so  ist  bei  diesem 
Regiment  nicht  die  Gleichheit  Aller,  sondern  nur  die 
bleichheit  der  Patrizier  zu  suchen ,  und  da  die  Gewalt 
der  letztern  grösser  ist  als  die  des  Volkes,  so  gehört  es 
sicnerlich  nicht  zu  den  Grundgesetzen  und  Rechten  dieses 
itegimentes,  dass  die  Miliz  nur  aus  den  Bürgern  gebildet 
werde;  vielmehr  ist  es  vor  allem  nötig,  dass  niemand  zum 
ratrizier  gewählt  werde,  der  nicht  die  Kriegskunst  gut 
versteht.  Dagegen  ist  es  Thorheit,  wenn  Einige  ver- 
langen, dass  die  ünterthanen  von  der  Miliz  ausgeschlossen 

!!m.  ^^i^^^-  ^'^^^^  ^^^'^t  ^er  an  die  ünterthanen  ge- 
zaüite  6old  im  Lande,  während  der  einer  fremden  Miliz 
gezaülte  dem  Lande  verloren  geht;i20)  sodann  würde  die 


114 


Politische  Abh.    Kap.  8.     §  10. 


Die  Versammlung  der  Patrizier. 


115 


wichtigste  Kraft  des  Reichs  dadurch  geschwächt  werdeny 
da  unzweifelhaft  Die  am  tapfersten  kämpfen,  welche  für 
Haus  und  Hof  kämpfen.  Deshalb  ist  es  ebenso  irrig, 
wenn  man  verlangt,  dass  die  Feldherren,  Obersten  und 
Hauptleute  nur  aus  den  Patriziern  genommen  werden 
sollen.  Wie  sollen  Soldaten  tapfer  fechten,  wenn  ihnen 
alle  Hoffnung  auf  Ruhm  und  Ehren  entzogen  ist?  Ebenso 
würde  es  aber  unklug  sein  und  dem  höchsten  Recht  der 
Patrizier  widerstreiten  (man  sehe  §  3,  4,  5  dieses  Kap.), 
wenn  man  verordnen  wollte,  dass  die  Patrizier  keine 
fremde  Miliz  in  Sold  nehmen  dürften,  sofern  dies  nötig 
sein  sollte,  um  sich  zu  schützen,  Aufstände  zu  dämpfen, 
oder  sofern  andere  Gründe  dafür  eintreten.  Übrigens 
ist  der  Feldherr  einer  Heeresabteilung,  sowie  der  ganzen 
Miliz,  nur  für  den  Krieg  und  nur  aus  den  Patriziern  zu 
wählen;  er  behält  sein  Amt  nur  auf  ein  Jahr  und  nicht 
länger,  darf  auch  nicht  von  Neuem  gewählt  werden. i^i) 
Diese  Bestimmung  ist  nicht  bloss  bei  dem  monarchischen 
Regiment  nötig,  sondern  hier  noch  notwendiger;  denn 
obgleich  das  Regiment,  wie  ich  oben  bemerkt,  viel  leichter 
von  einer  einzelnen  Person  auf  eine  andere  übergehen 
kann,  als  von  einer  freien  Versammlung  auf  einen  Ein- 
zelnen, so  kommt  es  doch  oft  vor,  dass  die  Patrizier  von 
ihren  Führern  und  zwar  zum  viel  grösseren  Schaden  des 
Staats  unterjocht  werden;  da,  wenn  der  Monarch  be- 
seitigt wird,  nicht  das  Regiment,  sondern  nur  der  Tyrann 
gewechselt  wird,  während  bei  einem  aristokratischen  Re- 
giment dies  nicht  ohne  ümstürzung  der  Verfassung  und 
der  Niedermetzelung  der  bedeutendsten  Männer  geschehen 
kann.  Rom  hat  dazu  die  schrecklichsten  Beispiele  gelieferte 
Übrigens  gilt  der  Grund,  weshalb  in  einem  monarchischen 
Staate  die  Miliz  ohne  Sold  dienen  soll,  bei  der  aristokra- 
tischen Verfassung  nicht;  denn  wenn  die  Unterthanen 
sowohl  von  Versammlungen  wie  von  Abstimmungen  aus- 
geschlossen sind,  so  gelten  sie  nur  wie  Fremde  und  können 
deshalb  nicht  unter  schlechtem  Bedingungen,  wie  diese, 
zu  dem  Dienst  angehalten  werden.  Auch  besteht  hier 
keine  Gefahr,  dass  die  Versammlung  sie  vor  den  Übrigen 
bevorzuge ;  vielmehr  ist  es,  damit  niemand  seine  Thaten, 
wie  wohl  vorkommt,  selbst  zu  hoch  abschätze,  geratener,^ 
dass  die  Patrizier  den  Soldaten  einen  festen  Sold  aus* 
setzen. 


§  10.  Eben  deshalb,  weil  alle  ausser  den  Patriziern 
wie  Fremde  gelten,  gestattet  es  die  Sicherheit  des  ganzen 
Staates  nicht,  dass  die  Ländereien,  Häuser  und  aller  Grund 
und  Boden  Staatseigentum  bleibe  und  den  Einwohnern 
nur  gegen  einen  jährlichen  Zins  verpachtet  werde.  1*2) 
Denn  Unterthanen,  die  keinen  Anteil  an  der  Staats- 
gewalt haben,  verlassen  in  schlimmen  Zeiten  leicht  die 
Städte,  wenn  sie  ihre  Besitztümer  überall  mit  sich  nehmen 
können.  Deshalb  müssen  die  Ländereien  und  der  Bo- 
den eines  solchen  Staates  den  Unterthanen  nicht  ver- 
pachtet, sondern  verkauft  werden,  unter  dem  Beding, 
dass  sie  aus  den  jährlichen  Einkünften  einen  Bruchteil 
jährlich  dem  Staat  entrichten,  wie  dies  in  Holland  ge- 
schieht. 

§  11.  Ich  gehe  nun  zu  den  Grundlagen  über,  auf 
die  die  höchste  Versammlung  sich  stützen  und  durch 
welche  sie  befestigt  werden  soll.  Die  Mitglieder  dieser 
Versammlung  müssen  in  einem  Reiche  mittlerer  Grösse 
ungefähr  5000  der  Zahl  nach  betragen,  wie  ich  in  §  2 
dieses  Kapitels  gezeigt  habe;  es  muss  deshalb  dafür  ge- 
sorgt werden,  dass  diese  Zahl  der  herrschenden  Klasse 
nicht  geringer  werde,  vielmehr  muss  sie  mit  der  Zunahme 
eines  Staates  verhältnismässig  wachsen.  Ferner  muss 
unter  den  Patriziern  die  möglichste  Gleichheit  herrschen; 
in  den  Versammlungen  muss  schnell  verhandelt  werden, 
für  das  gemeine  Beste  gesorgt  werden,  endlich  muss  die 
Macht  der  Patrizier  oder  der  Versammlung  grösser  als 
die  Macht  des  Volkes  sein,  aber  diesem  darf  daraus  kein 
Schaden  erwachsen. 

§  12.  Bei  Verfolgung  des  ersten  dieser  Ziele  macht 
der  Neid  die  grösste  Schwierigkeit.  Denn  die  Menschen 
smd  von  Natur,  wie  gesagt,  einander  feind  und  selbst 
wenn  sie  durch  Gesetze  verbunden  und  in  Zaum  gehalten 
werden,  behalten  sie  diese  Natur.  Daher  mag  es  kom- 
men, dass  die  demokratischen  Staaten  in  Aristokratien 
und  diese  endlich  in  Monarchien  sich  umwandeln.  Denn 
ich  bin  überzeugt,  dass  die  meisten  Aristokratien  zuerst 
Demokratien  waren,  indem  eine  gewisse  Anzahl  Menschen 
sich  neue  Wohnsitze  suchten  und,  wenn  sie  diese  gefun- 
den und  eingerichtet  hatten,  das  gleiche  Recht  an  der 
Staatsgewalt  für  alle  beibehielten,  weil  niemand  gern 
emem   Andern    diese   Gewalt   überträgt.  123)    Aber   wenn 


I 


116 


Politische  Abh.    Kap.  8.    §  13.  14. 


Die  Wahl  der  Patrizier. 


117 


auch  jeder  es  recht  findet,  dass  das  Recht,  was  dem  An- 
dern gegen  ihn  zusteht,  ihm  selbst  auch  gegen  den  An- 
dern zustehe,  so  hält  er  es  doch  für  unbillig,  dass  auch 
den  Fremden,  die  sich  bei  ihnen  niederlassen,  das  gleiche 
Recht  an  der  Staatsgewalt  zustehen  solle,  da  sie  selbst 
diese  mit  Mühe  sich  gesucht  und  mit  ihrem  Blute  erwor- 
ben haben.  Auch  die  Fremden  sind  damit  zufrieden,  da 
sie  nicht  der  Herrschaft,  sondern  ihrer  häuslichen  An- 
gelegenheiten wegen  zu  ihnen  ziehen,  und  da  sie  zufrieden 
sind,  wenn  sie  nur  ihre  eigenen  Geschäfte  sicher  betreiben 
können.  Allein  nach  und  nach  wächst  die  niedere  Volks- 
klasse durch  dieses  Zusammenströmen  von  Fremden,  welche 
allmählich  die  Sitten  dieses  Stammes  annehmen  und  zu- 
letzt nur  daran  erkennbar  sind,  dass  sie  zu  keinen  Staats- 
ämtern gelangen  können.  ^24)  Während  ihre  Anzahl  täg- 
lich zunimmt,  nimmt  die  der  Bürger  aus  vielen  Ursachen 
ab,  da  Familien  oft  erlöschen,  andere  wegen  Verbrechen 
ausgeschlossen  werden  und  viele  wegen  unzureichenden 
Vermögens  die  Staatsgeschäfte  vernachlässigen,  während 
die  Mächtigern  dahin  streben,  allein  zu  regieren.  So 
kommt  das  Regiment  allmählich  auf  Wenige  und  durch 
Parteispaltungen  zuletzt  auf  Einen.  Ich  könnte  dem 
noch  manche  andere  Umstände,  welche  solchen  Staaten 
verderblich  werden,  hinzufügen;  indes  lasse  ich  dies,  da 
sie  bekannt  sind,  und  ich  will  nun  der  Reihe  nach  die 
Gesetze  besprechen,  welche  zur  Erhaltung  des  aristokra- 
tischen Regiments  dienen  sollen. 

§  13.  Das  erste  Gesetz  eines  solchen  Staats  muss 
das  sein,  welches  das  Verhältnis  der  Zahl  der  Patrizier  zu 
der  Volkszahl  festsetzt.  Das  Verhältnis  muss  (vermöge 
§  1  dieses  Kap.)  der  Art  sein,  dass  mit  dem  Wachsen 
der  Volksmenge  auch  die  Zahl  der  Patrizier  sich  ver- 
mehrt. Das  Verhältnis  muss  (nach  dem  in  §  2  dieses 
Kap.  Gesagten)  ungefähr  wie  1  zu  50  sein,  d.  h.  die  Zahl 
der  Patrizier  zur  Volksmenge  darf  niemals  geringer  sein; 
wohl  aber  kann  (nach  §  1  dieses  Kap.)  ohne  Schaden  für 
dieses  Regiment  die  Zahl  der  Patrizier  grösser  sein  als 
die  Zahl  der  übrigen  Volksklassen;  nur  in  der  zu  nie- 
drigen Zahl  jener  liegt  die  Gefahr.  Wie  es  einzurichten, 
dass  dies  Gesetz  innegehalten  werde,  soll  bald  dargelegt 
werden. 

§  14.    An  manchen  Orten  werden  die  Patrizier  nur 


aus  bestimmten  Familien  gewählt;   doch  ist  es  schädlich 
wenn   dies   durch    ein  besonderes  Gesetz  bestimmt  wird! 
Einmal  erlöschen  Familien  oft;  die  übrigen  können  nicht 
ohne  Verletzung  ihrer  Ehre  ausgeschlossen  werden   und 
dann  widerstreitet  es  dieser  Staatsform,    dass    die  patri- 
zische  Würde    erblich   sei  (nach  §  1   dieses  Kap.).    Die 
Verfassung  würde  vielmehr  dann  jener  Demokratie  ähneln, 
die  ich  in  §  12  dieses  Kapitels  geschildert  habe,  wo  nur 
eine    geringe  Zahl  von   Bürgern    die  Staatsgewalt   inne 
hat.    Dagegen  ist  es  unmöglich  und  verkehrt,  wie  ich 
in  §  39  dieses  Kapitels  zeigen  werde,  wenn  man  verhin- 
dern will,  dass  die  Patrizier  nicht  ihre  Kinder  und  Ver- 
wandten wählen  sollen,  wodurch  die  Herrschaft  bei  ge- 
wissen Familien  erhalten  bleibe.    Vielmehr  darf  dies  nur 
nicht   durch    ejn   bestimmtes  Gesetz  vorgeschrieben  wer- 
den  und  die  Übrigen  (d.  h.  die  im  Lande  geboren  sind 
und  die  Landessprache   sprechen   und  keine  Fremde  zur 
Frau   genommen    haben    und    ihrer  Ehre  nicht  verlustig 
erklärt    worden    und    nicht    in    eines  Andern    Diensten 
stehen,    noch    ihren  Lebensunterhalt    durch    ein  knech- 
tisches  Geschäft    sich  verschaffen,  wohin    ich    auch    die 
Wirte   der  Wein-  und  Bierschänken  rechne)  dürfen  nur 
nicht  ausdrücklich  ausgeschlossen  werden ;  dann  kann  der 
Staat  sich  seine  Verfassung  erhalten  und  das  Verhältnis 
zwischen  Patriziern  und  dem  Volke  kann  aufrecht  erhalten 
werden. 

§.  15.  Wenn  ferner  ein  Gesetz  die  Wahl  jüngerer 
Männer  verbietet,  so  wird  die  Staatsgewalt  niemals  in 
wenigen  Familien  bleiben,  und  deshalb  muss  gesetzlich 
bestimmt  werden,  dass  erst  mit  dem  30.  Jahre  Jemand 
m  die  Liste  der  Wählbaren  eingetragen  werden  dürfe.i25) 

§  16.  Es  muss  drittens  festgesetzt  werden,  dass 
alle  Patrizier  an  einem  bestimmten  Orte  zu  bestimmten 
Zeiten  sich  versammeln  müssen;  und  der  Ausbleibende, 
sofern  er  nicht  durch  Krankheit  oder  ein  öffentliches  Ge- 
schäft verhindert  ist,  muss  mit  einer  empfindlichen  Geld- 
strafe belegt  werden.  Denn  sonst  würden  die  Meisten 
über  ihre  eigenen  Angelegenheiten  die  öffentlichen  ver- 
nachlässigen. 126) 

§  17.  Das  Geschäft  dieser  Versammlung  ist,  Gesetze 
zu  geben  und  aufzuheben,  sich  Patrizier  zu  Genossen  zu 
erwählen  und  alle  Beamten  des  Staates  zu  ernennen.  12?) 


118 


Politische  Abh.     Kap.  8.     §  18.   19. 


Denn  der  Inhaber  des  höchsten  Rechts,  wie  es  ja  diese 
Versammlung  sein  soll,  kann  unmöglich  die  Macht  der 
Gesetzgebung  einem  Andern  verleihen,  ohne  sein  Recht 
Aufzugeben  und  auf  Den,  dem  er  diese  Macht  einräumt, 
zu  übertragen.  Wer  nur  einen  Tag  die  Macht  hat,  Ge- 
setze zu  geben  und  aufzuheben,  kann  die  ganze  Staats- 
verfassung verändern.  Dagegen  kann  die  laufende  Ver- 
waltung Andern  auf  bestimmte  Zeit  nach  festgestellten 
Regeln  überlassen  werden,  wenn  jene  nur  das  höchste 
Recht  sich  vorbehält.  Auch  würden,  wenn  die  Reichs- 
beamten von  einem  Andern  als  dieser  Versammlung  er- 
nannt würden ,  die  Mitglieder  derselben  eher  Unmündige 
als  Patrizier  heissen  müssen.  ^28^ 

§  18.  Dieser  Versammlung  pflegt  ein  Leiter  oder 
Vorstand  gegeben  zu  werden,  entweder  auf  Lebenszeit, 
wie  in  Venedig,  oder  auf  eine  bestimmte  Frist,  wie  in 
Genua;  es  ist  aber  unter  so  vielen  Klauseln  geschehen, 
dass  deutlich  erhellt,  welche  Gefahr  hierbei  für  den  Staat 
besteht.  Auch  nähert  sich  damit  unzweifelhaft  das  Re- 
giment dem  monarchischen,  und  es  ist,  so  viel  man  aus 
der  Geschichte  dieser  Staaten  abnehmen  kann,  nur  des- 
halb geschehen,  weil  das  Land  vor  Einrichtung  dieser 
Versammlung  unter  einem  Leiter  oder  Herzog,  wie  unter 
einem  König,  gestanden  hatte.  Deshalb  ist  die  Wahl  eines 
solchen  Vorstandes  wohl  ein  notwendiges  Erfordernis 
eines  bestimmten  Geschlechts,  aber  nicht  des  aristokra- 
tischen Regiments  an  sich.^^e^ 

§  19.  Da  indes  die  höchste  Staatsgewalt  nur  bei 
der  ganzen  Versammlung  ist  und  nicht  bei  jedem  ein- 
zelnen Mitgliede  (denn  sonst  wäre  es  nur  die  regellose 
Zusammenkunft  einer  Menschenmenge),  so  müssen  alle 
Patrizier  an  die  Gesetze  so  gebunden  sein,  dass  sie  nur 
einen  Körper  darstellen,  der  durch  eine  Seele  geleitet 
wird.  Nun  sind  aber  die  Gesetze  an  sich  ohnmächtig  und 
werden  leicht  übertreten,  wenn  Diejenigen  sie  beschützen 
sollen,  welche  sündigen  können  und  allein  aus  der  Strafe 
eine  Warnung  sich  nehmen  und  die  ihre  Genossen  des- 
halb strafen  sollen,  damit  sie  ihre  eigene  Lust  durch  die 
Furcht  vor  gleicher  Strafe  im  Zaume  halten;  dergleichen 
wäre  sehr  verkehrt.  Deshalb  muss  man  auf  ein  Mittel 
sinnen,  welches  die  Ordnung  in  dieser  höchsten  Ver- 
sammlung und  die  Verfassung  des  Reichs  unverletzt  er- 


Die  Syndiken. 


119 


hält,  ohne  die  Gleichheit  unter  den  Patriziern,  soweit  es 
angeht,  aufzuheben. 

§  20.  Aus  der  Ernennung  eines  Leiters  oder  Vor- 
standes, der  auch  in  der  Versammlung  das  Stimmrecht  hat 
muss  notwendig  eine  grosse  Ungleichheit  in  der  Versamm- 
lung entstehen,  zumal  ihm  die  zur  sichern  Verwaltung 
seines  Amtes  nötige  Gewalt  eingeräumt  werden  muss.  Bei 
sorgsamer  Erwägung  erscheint  deshalb  keine  Einrichtung 
für  das  allgemeine  Wohl  heilsamer,  als  dieser  höchsten 
Versammlung  eine  andere  zu  unterstellen,  die  aus  einigen 
Patriziern  gebildet  wird  und  deren  Amt  nur  darin  besteht 
zu  wachen,  dass  die  Rechte  des  Staates  in  Betreff  der  Ver- 
sammlungen und  der  Staatsbeamten  unverletzt  bleiben.  Sie 
haben  deshalb  die  Macht,  jeden  schuldigen  Staatsbeamten, 
welcher  gegen  die  Staatsgesetze  in  Betreff  seines  Amtes 
Verstössen  hat,  vor  ihren  Richterstuhl  zu  fordern  und 
nach  den  Reichsgesetzen  zu  verurteilen.  Diese  Patrizier 
werde  ich  die  Syndiken  nennen.  129  b.) 

§.  21.  Diese  Syndiken  sind  auf  Lebenszeit  zu  wäh- 
len;  denn  wenn  es  nur  auf  eine  bestimmte  Zeit  geschähe 
und  sie  dann  später  andere  Staatsämter  übernehmen 
konnten ,  würde  man  die  in  §  19  dieses  Kapitel  darge- 
legte Verkehrtheit  begehen.  Um  indes  zu  hindern ,  dass 
die  lange  Amtsgewalt  sie  nicht  stolz  mache ,  dürfen  nur 
mrizier,  die  60  Jahre  und  darüber  alt  sind  und  Sena- 
toren gewesen  sind  (worüber  unten  das  Weitere  folgen 
wird),  dazu  gewählt  werden. 

§  22.  Ihre  Zahl  findet  man  leicht,  wenn  man  be- 
denkt, dass  diese  Syndiken  sich  zu  den  Patriziern  ver- 
üalten,  wie  diese  zusammen  zu  dem  Volke,  das  sie  nicht 
regieren  können,  wenn  ihre  Anzahl  unverhältnismässig 
7  l?  J®**  Deshalb  muss  sich  die  Zahl  der  Syndiken  zur 
z-ahl  der  Patrizier  verhalten  wie  die  Zahl  dieser  zur  Zahl 
des  Volkes,  d.  h.  (nach  §  13  dieses  Kap.)  wie  1  zu  50. 

S  26.  Damit  ferner  diese  Versammlung  der  Syndiken 
Ihr  Amt  sicher  verwalten  kann,  ist  ihr  ein  Teil  der 
S  1^30)  ^^®^^®^«^° »  welcher  dann  unter  ihren  Befehlen 

1.  •  ^  ^^\  9^®  Syndiken  und  alle  Staatsbeamte  erhalten 
Kernen  Gehalt,  sondern  nur  solche  Gebühren,  dass  sie 
oüne  ihren  eigenen  grösseren  Schaden  das  Reich  nicht 
schlecht  verwalten  können.    Au  sich  ist  es  billig,   dass 


120 


Politische  Abh.     Kap.  8.     §  25. 


Wahl  der  Syndiken. 


121 


die  Beamten   des   aristokratischen   Regiments   eine   Ent- 
schädigung für  ihre  Arbeit  erhalten;    denn  die  Mehrheit 
des  Staates  ist  das  gemeine  Volle  und  die  Patrizier  sorgen 
für  dessen  Sicherheit,  während  dieses  sich  nicht  um  den 
Staat,    sondern    nur   um    seine   eigenen   Angelegenheiten 
kümmert.     Allein  Niemand   sorgt  für  einen  Andern  (wie 
§  4,  Kap.  7  gezeigt  worden),  wenn  er  nicht  seine  eigene 
Sache  damit  zu  sichern   glaubt,    und  deshalb  muss  die 
Sache  so  eingerichtet  werden,  dass  die  Beamten,   welche 
für  den  Staat  sorgen,  dann  den  grössten  Vorteil  für  sich 
erlangen,  wenn  sie  für  das  allgemeine  Wohl  am  besten  sorgen. 
§  25.    Hiernach   sind    die  Einkünfte   der  Syndiken, 
deren  Amt,  wie  gesagt,  darin  besteht,  über  die  Beobach- 
tung  der  Gesetze   des  Staats   zu  wachen,   dahin  zu  be- 
stimmen, dass  aus  allen  Orten  des  Reichs  jeder  Familien- 
vater jährlich    eine    geringe    Geldsumme,    nämlich    den 
vierten   Teil   einer   Unze   Silber, i3i)   den  Syndiken   ent- 
richtet,   damit   sie   daraus   die  Zahl   der  Einwohner  ent- 
nehmen und  prüfen  können,  welchen  Bruchteil  die  Patri- 
zier bilden.     Ferner  muss  Jeder,  der  neu  zum  Patrizier 
erwählt  worden,  den  Syndiken  eine  grössere  Summe  zah- 
len, etwa  20  oder  25  Pfund  Silber.  i32)   Ausserdem  sollen 
auch  die  Geldstrafen,  welche  die  bei  den  Versammlungen 
ausgebliebenen  Patrizier  zu  zahlen  haben,   den  Syndiken 
zufallen.    Ferner  erhalten  sie  einen  Teil  der  Güter  der 
verurteilten  Staatsbeamten,  welche  vor  ihren  Gerichtshof 
gehören   und    entweder   eine   bestimmte  Geldsumme    als 
Strafe   zu    entrichten   haben,   oder  deren  Vermögen  ein- 
gezogen wird.    Doch   erhalten  dies  nur  diejenigen  Syn- 
diken,   welche   täglich    Sitzung   halten   und    welche   die 
Versammlung   der   Syndiken   zu   berufen  haben,   wie  in 
§  28  dieses  Kapitels  näher  angegeben  werden  wird.  Da- 
mit   die   Versammlung    der   Syndiken    immer    vollzählig 
bleibe,    ist   in  der  zur  bestimmten  Zeit  berufenen  höch- 
sten   Versammlung   vor   Allem    dieser   Punkt  zu   unter- 
suchen.   Haben    die  Syndiken   dies  verabsäumt,   so  liegt 
dann   dem  Vorstand  des  Senats  (von  dem  ich  bald  han- 
deln werde)  ob,  die  höchste  Versammlung  daran  zu  er- 
innern und  von  dem  Vorstand  der  Syndiken  den  Grund 
des  Schweigens   zu   erfragen  und  festzustellen,    was   die 
Meinung  der  höchsten  Versammlung  hierüber  ist.    Thut 
auch    dieser  133)  nichts,   so  ist  die  Sache  vom  Vorsitzen- 


den des  höchsten  Gerichtshofes,  oder  bei  dessen  Schwei- 
gen  von  jedem    beliebigen    Patrizier    aufzunehmen    und 
der  Grund  des  Schweigens  von  dem  Vorstande  der  Syn- 
diken,  des   Senats   und   des  Gerichtshofes  zu  erfordern. 
Damit  endlich  das  Gesetz  über  Ausschliessung  der  Jünffern 
streng   eingehalten  werde,   ist   festzusetzen,   dass  Jeder 
nachdem  er  das  Alter  von  dreissig  Jahren  erreicht  hat' 
sich  in  die  Liste  im  Beisein  der  Syndiken  eintragen  lassen 
muss,  wenn  er  nicht  ausdrücklich  von  der  Regierung  aus- 
geschlossen worden   ist.    Sie   erhalten   dann  gegen  Zah- 
lung einer  Summe  von  diesem  ein  Zeichen  der  erlangten 
Würde   und   dürfen  dann  ein  bestimmtes  Kleid  anlegen 
was  andere  nicht  tragen  dürfen,   und  woran  sie  erkannt 
werden,  um  von  den  andern  in  Ehren  gehalten  zu  werden.i34) 
Ferner   muss    bestimmt  sein,    dass  bei  den  Wahlen  kein 
Patrizier  bei  schwerer  Strafe  jemanden  nennen  darf  der 
in  der  allgemeinen  Liste  nicht  eingetragen  ist.  Auch  darf 
niemand  ein  Amt  oder  Geschäft,  zu  dem  er  erwählt  wor- 
den ist,   ablehnen.    Damit   endlich   die  Grundlagen   des 
Staats  für  alle  Zeiten  unverändertes  Recht  bleiben     ist 
zu  verordnen,  dass  Jeder,  der  in  der  höchsten  Versamm- 
lung ein  solches  Grundrecht  des  Staats  in  Frage  stellt 
z.  B.  die  Verlängerung  des  Amtes  eines  Befehlshabers  des 
Heeres,   oder  die  Verminderung  der  Zahl  der  Patrizier 
oder  anderes  der  Art  beantragt,  der  verletzten  Majestät 
schuldig    sein    und    den  Tod  erleiden  soll;    seine  Güter 
sollen  konfisziert  und  ein  Zeichen  seiner  Strafe  für  ewige 
Zeiten  an  einem  öffentlichen  Orte  angebracht  werden,  i^) 
Was  die   übrigen  Gesetze  anlangt,   so  genügt  zu  deren 
bchutz  die  Bestimmung,  dass  kein  Gesetz  aufgehoben  oder 
gegeben  werden  kann,  wenn  nicht  zuerst  die  Versammlung 
der  Syndiken  und  dann  die  höchste  Versammlung  mit  drei 
Vierteln  oder  vier  Fünfteln  ihrer  Mitglieder  dem  zugestimmt 

§  26.  Den  Syndiken  muss  das  Recht  zustehen,  die 
höchste  Versammlung  zu  berufen  und  die  zu  beratenden 
tregenstände  zu  bezeichnen;  auch  ist  ihnen  der  erste  Platz 
m  der  Versammlung  einzuräumen ;  doch  haben  sie  kein 
ötimmrecht.  Ehe  sie  ihren  Sitz  einnehmen,  müssen  sie  bei 
dem  Heil  dieser  höchsten  Versammlung  und  der  öffent- 
lichen Freiheit  schwören,  mit  allen  Kräften  die  Rechte 
aes  Vaterlandes  unverletzt  zu  bewahren  und  für  das  all- 

SpinojBa's  Abh.  üb.  Verbesser,  d.  Verstandes.  JQ 


122 


Politische  Abh.    Kap.  8.    §  27—29. 


Der  Senat 


123 


gemeine  Beste  zu  sorgen ;  dann  haben  sie  die  zu  beraten- 
den Gegenstände  durch  einen  ihnen  zugeordneten  Schrift- 
führer zu  eröffnen. 

§  27.  Damit  bei  den  Beschlüssen  und  der  Wahl  der 
Staatsbeamten  allen  Patriziern  die  gleiche  Macht  bleibe 
und  alles  schnell  erledigt  werde,  ist  das  von  den  Vene- 
tianern  befolgte  Verfahren  einzuhalten,  wo  einige  Mit- 
glieder der  Versammlung  behufs  Wahl  der  Beamten  durch 
das  Los  bestimmt  werden  und  diese  der  Reihe  nach  Per- 
sonen dazu  vorschlagen;  dann  giebt  jeder  Patrizier  seine 
btimme,  ob  er  den  Vorgeschlagenen  annimmt  oder  nicht, 
durch  Steinchen  ab,  damit  man  nachher  nicht  wisse,  wer 
für  den  Einen  oder  Andern  gestimmt  habe.  Dadurch 
wird  nicht  allein  die  Geltung  eines  jeden  Patriziers  bei 
den  Beschlüssen  mit  den  anderen  gleich  erhalten,  son- 
dern    auch     der    Geschäftsgang    beschleunigt.      Ebenso 

S?"°  /  .t  ?*®^®  ^^^^®  ^'*"  jeder  im  Interesse  voller 
ötimmtreiheit,  welche  den  Versammlungen  vor  allem  nötig 
ist,  seine  Stimme  ohne  Gefahr,  sich  verhasst  zu  machen, 
abgeben.  ' 

A'  f..^^*  ^^  ^®°  Versammlungen  der  Syndiken  werden 
die  btimmen  wie  in  den  übrigen  Versammlungen  durch 
Steinchen  abgegeben.  Das  Recht  der  Syndiken  die  Rats- 
versammlungen zu  berufen  und  die  Gegenstände  der  Ver- 
handlung zu  bestimmen,  muss  ihr  Vorsitzender  haben. 
Dieser  muss  täglich  mit  zehn  oder  mehr  Syndiken 
bitzungen  abhalten,  um  die  Beschwerden  des  Volkes  gegen 
öeamte  und  die  geheimen  Anklagen  zu  vernehmen  und 
die  Ankläger,  wenn  es  erforderlich  ist,  festzuhalten,  auch 
die  Versammlung  vor  den  regelmässig  feststehenden 
1«  risten  zu  berufen,  wenn  eines  der  Mitglieder  Gefahr  im 
Verzuge  findet.  Diesen  Vorsitzenden  und  Die,  welche 
sich  taghell  mit  ihm  versammeln ,  hat  die  höchste  Ver- 
sammlung aus  den  Syndiken  zu  wählen ,  aber  nicht  auf 
Lebenszeit,  sondern  nur  auf  6  Monat  und  so,  dass  sie 
erst  nach  3  oder  4  Jahren  wiedergewählt  werden  dürfen. 
Diesen  sind,  wie  erwähnt,  die  konfiszierten  Güter  und 
Uie  beldstraten  oder  ein  Anteil  daran  zuzuweisen.  Was 
sonst  noch  diese  Syndiken  angeht,  werde  ich  an  seinem 
Orte  bemerken. 

§  29.   Eine  zweite,  der  höchsten  Versammlung  unter- 
geordnete Versammlung   ist  die,   welche  ich  den  Senat 


nenne.    Sein  Amt  ist  die  Besorgung  der  öffentlichen  Ge- 
schäfte, also  die  Verkündigung  der  Gesetze,  die  gesetz- 
liche Regelung  der  Stadtbefestigungen,  die  Ausfertiffunff 
der  Bestallungen  für  die  Miliz,  die  Auferlegung  von  Ab- 
gaben  auf  die  Unterthanen    und    deren  Verteilung     die 
Antworten    an    fremde   Gesandte    und    die  Bestimmung 
wohin  Gesandte  geschickt  werden  sollen;   die  Gesandten 
selbst  hat  jedoch  die  höchste  Versammlung  zu  wählen  ^^) 
Denn   man    muss   vorzüglich   sorgen,   dass  die  Patrizier 
Staats -Amter    nur    von    der   höchsten    Versammlung   er- 
halten   können,    damit  sie  sich  nicht  um  die  Gunst   des 
Senats  bewerben.    Ferner  gehört   alles  vor   die   höchste 
Versammlung,  was  den  vorhandenen  Zustand  der  Dinge 
in  irgend  einer   Weise  verändert,    wie   Beschlüsse  über 
Krieg  und  Frieden.    Deshalb  bedürfen  die  Beschlüsse  des 
benats   über  Krieg   und  Frieden  zu  ihrer  Gültigkeit  der 
Bestätigung  durch  die  höchste  Versammlung,  und  deshalb 
mochte  ich  auch  die  Ausschreibung  neuer  Abgaben  nicht 
dem    Senat,    sondern    der    höchsten    Versammlung    zu- 
weisen. ® 

. ,  .  §  ^-    P^i  der  Festsetzung  der  Zahl  der  Senatoren 
ist  in  Betracht  zu  ziehen,  1)  dass  alle  Patrizier  eine  gleich 
grosse  Aussicht   auf  Erlangung   der  Senatorenwürde   er- 
halten ;  2)  dass  trotzdem   die  Senatoren ,   deren  Amtszeit 
abgelaufen   ist,    nach    nicht   zu  langer  Frist  wieder  ein- 
treten können,  damit  der  Senat  durch  erfahrene  und  er- 
prob e  Männer  geleitet  werde,  und   3)   dass   unter  den 
benatoren    eine  Anzahl    durch  Weisheit   und  Tugend  be- 
rühmter Männer  sich  befinde.    Zur  Erfüllung  dieser  Be- 
dingungen lässt  sich  gesetzlich  nur  bestimmen,  dass  erst 
mit  dem  fünfzigsten  Jahre  ein  Patrizier  in  den  Senat  ge- 
wählt werden    darf,    und    dass    ungefähr  400  Mitglieder, 
also  ungefähr  der  zwölfte  Teil  der  Patrizier,  auf  ein  Jahr 
zu  wählen   sind    und    dass    sie   zwei  Jahre    nach   dessen 
Ablauf    wieder    eintreten    dürfen.     Auf   diese  Art    wird 
immer    ein    Zwölftel    der    Patrizier    mit    kurzen   Unter- 
Drechungen  das  Senatoren-Amt  bekleiden,  und  diese  Zahl 
zusammen   mit   der   Zahl   der  Syndiken  wird   nicht  viel 
Riemer  sein  als  die  Zahl  der  Patrizier,  welche  das  50ste 
Jahr  erreicht  haben.    Dadurch  hat  jeder  Patrizier  immer 
grosse  Aussicht,  die  Senatoren-  oder  Syndiken- Würde  zu 
erlangen,  und    trotzdem  werden    dieselben  Patrizier   mit 

10* 


124 


Politische  Abh.     Kap.  8.     §  31. 


Die  Einrichtung  des  Senats. 


I! 


nur  kurzen  Unterbrechungen  das  Senatoren- Amt  bekleiden, 
so  dass  (nach  dem  zu  §  2  dieses  Kap.  Gesagten)  dem  Se- 
nate niemals  die  durch  Klugheit  und  Geschicklichkeit  aus- 
gezeichneten Männer  fehlen  werden.  Auch  kann  ein 
solches  Gesetz  nicht  verletzt  werden,  ohne  dass  nicht  viele 
Patrizier  dadurch  erbittert  würden ;  deshalb  bedarf  es  zu 
seinem  Bestände  keiner  weiteren  Fürsorge,  als  dass  jeder 
Patrizier,  wenn  er  das  bestimmte  Alter  erreicht  hat,  dies 
den  Syndiken  nachweise.  Diese  nehmen  dann  seinen 
Namen  in  die  Liste  der  Kandidaten  zur  Senatorenwürde 
auf  und  verlesen  ihn  mit  in  der  höchsten  Versammlung. 
Dann  nimmt  er  mit  seinen  übrigen  Genossen  den  für  diese 
in  der  Versammlung  bestimmten  Platz  ein,  welcher  dem 
Platze  der  Senatoren  am  nächsten  ist. 

§  31.  Die  Bezüge  der  Senatoren  müssen  der  Art 
sein,  dass  sie  mehr  Vorteil  vom  Frieden  wie  vom  Kriege 
haben.  Deshalb  kann  ihnen  ein  oder  zwei  Prozent  von 
den  aus-  und  eingeführten  Waren  bewilligt  werden;  un- 
zweifelhaft werden  sie  dann  den  Frieden  möglichst  zu 
erhalten  und  den  Krieg  niemals  zu  verlängern  suchen. 
Von  diesem  Zoll  sind  selbst  die  Senatoren,  im  Fall  sie 
Handel  treiben  sollten,  nicht  frei;  denn  eine  solche  Frei- 
heit kann  ohne  grossen  Schaden  für  den  Handel  nicht 
bewilligt  werden,  wie  jedermann  einsehen  wird,  i^?)  Ferner 
ist  durch  Gesetz  anzuordnen,  dass  kein  Senator  und 
keiner,  der  es  gewesen  ist,  ein  militärisches  Amt  ver- 
walten dürfe  und  dass  kein  Feldherr  und  höherer  Offizier, 
so  weit  sie  nur  für  die  Kriegszeit  nach  §  9  dieses  Kap. 
eintreten  sollen,  aus  denen  genommen  werden  darf,  deren 
Vater  oder  Grossvater  Senator  ist  oder  aus  dem  Senat 
erst  seit  zwei  Jahren  ausgeschieden  ist.  Unzweifelhaft 
werden  die  nicht  zum  Senat  gehörenden  Patrizier  auf 
diese  Bestimmung  mit  aller  Kraft  halten  und  so  wird  der 
Senat  immer  ein  grösseres  Einkommen  von  dem  Frieden 
wie  von  dem  Kriege  haben,  und  er  wird  nur  in  der 
höchsten  Not  des  Staates  dazu  raten,  i^s)  Man  wird  mir 
vielleicht  entgegnen,  dass,  wenn  auf  diese  Weise  den 
Syndiken  und  Senatoren  so  bedeutende  Bezüge  gewährt 
würden,  das  aristokratische  Regiment  den  ünterthanen 
ebenso  beschwerlich  wie  irgend  ein  monarchisches  fallen 
würde.  Indes  verlangt  die  Hofhaltung  des  Königs  grosse 
Ausgaben,  ohne  dass  sie  der  Erhaltung  des  Friedens  dienen; 


125 


auch  kann  der  Frieden  niemals  zu  teuer  erkauft  werden. 
Dazu  kommt,  dass  das,  was  in  der  Monarchie  nur  Einem 
oder  Wenigen   zu  gute   kommt,   hier  an  Viele  gelangt 
Ferner   trägt  der  König  und  sein  Diener  nicht,  wie  die 
ünterthanen,    zu    den  Lasten    des  Reiches   bei,  während 
hier  dies  geschieht,   da  die  Patrizier,  welche  immer  aus 
den  Reichern  ausgewählt  werden,  den  grössten  Teil  der 
Staatsabgaben  entrichten.   Endlich  entspringen  die  Lasten 
des  monarchischen  Regiments  nicht  sowohl  aus  dem  Auf- 
wand für  den  König,  als  aus  dessen  geheimen  Ausgaben. 
Die  Abgaben,  welche   den  Bürgern   für  den  Schutz  des 
Friedens  und  der  Freiheit  auferlegt  werden,   lassen  sich 
wenn   sie   auch   gross  sind,  doch   ertragen  und  werden 
durch  die  Vorteile  des  Friedens  erschwinglich.     Welches 
Volk   hat  je  so  viele  und  so  schwere  Steuern  zu  zahlen 
geliabt  wie  das  holländische?    Dennoch  war  es  nicht  er- 
schöpft, sondern  noch  so  vermögend,  dass  alle  es  um  sein 
Schicksal  beneideten.     Wenn  daher  die  Lasten    des   mo- 
narchischen Regiments  des  Friedens  wegen  aufgelegt  wür- 
den,  so  würden  sie  den  Bürger  nicht  bedrücken;   allein 
es   kommt  vielmehr  von    den   geheimen  Ausgaben  dieses 
Regiments,  dass  die  ünterthanen  dessen  Lasten  nicht  er- 
tragen können.    Denn  der  Könige  Tapferkeit  gilt  mehr 
im  Kriege  als  im  Frieden ,  und  wer  allein  regieren  will, 
sucht  nach  Möglichkeit,  dass  die  ünterthanen  arm  bleiben, 
wobei  ich  nicht  das  erwähne,  was  ein  kluger  Belgier  V.  H. 
einst  sagte,  i39)  da  es  meinem  Zweck  nichts  angeht,  welcher 
nur  auf  die  Darstellung  der  besten  Verfassung  für  jede 
Staatsform  gerichtet  ist 

§  32.  Im  Senat  müssen  einige  von  der  höchsten  Ver- 
sammlung gewählte  Syndiken  sitzen,  aber  ohne  Stimm- 
recht. Sie  sollen  nur  acht  haben,  dass  die  diese  Ver- 
sammlung betreffenden  Gesetze  gehörig  befolgt  werden, 
und  sie  haben  für  die  Berufung  der  höchsten  Versamm- 
lung zu  sorgen,  wenn  der  Senat  etwas  bei  derselben  an- 
zubringen hat.  Denn  das  Recht,  diese  Versammlung  zu 
berufen  und  ihr  Gegenstände  zur  Beschlussfassung  vor- 
zulegen, haben,  wie  gesagt,  nur  die  Syndiken.  Ehe 
{  *  ^  *°  solchem  Falle  die  Stimmen  gesammelt  werden, 
hat  der  Vorsitzende  des  Senats  den  Sachverhalt  und  die 
Meinung  des  Senats  mit  den  Gründen  vorzutragen,  und 


! 


126 


Politische  Abh.     Kap.  8.    §  33.  34. 


Die  Konsuln. 


127 


ll 


erst  dann  sind  die  Stimmen  in  der  gewöhnlichen  Welse 
einzusammeln. 

§  33.  Der  ganze  Senat  hat  sich,  wie  jede  grosse 
Versammlung,  nicht  täglich,  sondern  nur  zu  bestimmten 
Zeiten  zu  versammeln.  Da  indes  auch  in  der  Zwischen- 
zeit Staatsgeschäfte  zu  erledigen  sind,  so  ist  für  diese 
Zwischenzeit  ein  Ausschuss  aus  dem  Senat  zu  wählen, 
der  ihn  vertritt,  den  ganzen  Senat  erforderlichen  Falles 
beruft,  dessen  Beschlüsse  ausführt,  die  an  den  Senat  und 
die  höchste  Versammlung  eingehenden  Schreiben  liest 
und  die  Beratungsgegenstände  für  den  Senat  feststellt. 
Damit  dies  alles  und  das  Verfahren  dieses  Senates  deut- 
licher aufgefasst  werde,  will  ich  das  Ganze  genauer  be- 
schreiben. 1^) 

§  34.  Die,  wie  gesagt,  auf  ein  Jahr  gewählten  Se- 
natoren sind  in  4  oder  6  Abteilungen  zu  teilen,  von  denen 
die  erste  in  den  3  oder  2  ersten  Monaten  des  Jahres  im 
Senate  an  erster  Stellie  sitzt;  dann  folgt  ihr  die  zweite 
und  so  fort  der  Reihe  nach,  so  dass  jede  Abteilung  eine 
gleiche  Zeit  den  ersten  Platz  im  Senate  einnimmt,  so 
dass,  wer  in  den  ersten  Monaten  der  erste,  in  den  zweiten 
Monaten  der  letzte  ist.  Ausserdem  sind  für  jede  Abtei- 
lung ein  Vorsitzender  und  ein  Stellvertreter  zu  wählen, 
und  der  Vorsitzende  der  ersten  Abteilung  und  bei  dessen 
Abwesenheit  sein  Stellvertreter  hat  auch  in  den  ersten 
Monaten  den  Vorsitz  im  Senate;  ebenso  geschieht  es  bei 
den  übrigen  der  Reihe  nach.  Ferner  sind  aus  der  ersten 
Abteilung  durch  Los  oder  Wahl  einige  Mitglieder  zu  be- 
stimmen, die  mit  dem  Vorsitzenden  und  dem  Stellvertreter 
dieser  Abteilung  den  Senat,  wenn  er  nicht  beisammen 
ist,  vertreten,  und  zwar  für  dieselbe  Zeit,  wo  diese  Ab- 
teilung den  ersten  Platz  im  Senate  einnimmt.  Nach 
deren  Ablauf  sind  ebenso  Viele  aus  der  zweiten  Abtei- 
lung durch  Los  oder  Wahl  zu  bestimmen,  die  mit  ihrem 
Vorsitzenden  und  Stellvertreter  den  Platz  der  ersten  Ab- 
teilung einnehmen  und  den  Senat  vertreten;  und  so  fort 
auch  die  Übrigen  der  Reihe  nach.  Auch  ist  es  nicht 
nötig,  dass  deren  Wahl,  die  nach  Obigem  durch  das  Los 
oder  durch  Abstimmung  alle  3  oder  2  Monate  erfolgt, 
und  welche  Personen  ich  nun  Konsuln  nennen  werde, 
von  der  höchsten  Versammlung  ausgeht.  Denn  der 
Grund  in  §  29  dieses  Kap.  gilt  hier  nicht  und  noch  weniger 


der  Grund  in  §  17.  Es  genügt  deshalb,  wenn  sie  von 
dem  Senat  und  den  Syndiken,  die  anwesend  sind,  gewählt 
werden. 

§  35.  Ihre  Zahl  kann  ich  nicht  so  genau  bestim- 
men. Doch  muss  sie  so  gross  sein,  dass  sie  nicht  leicht 
bestochen  werden  können;  denn  wenn  sie  auch  allein 
keinen  Beschluss  über  Staatsangelegenheiten  fassen  können, 
so  vermögen  sie  doch  die  Sitzungen  des  Senats  zu  ver- 
schieben, oder,  was  schlimmer  ist,  ihn  zu  verspotten,  in- 
dem sie  nur  das  Unbedeutende  ihm  vorlegen  und  die 
wichtigern  Sachen  zurückhalten.  Auch  würde,  wenn  ihrer 
zu  wenig  wären,  die  Abwesenheit  Eines  oder  des  Andern 
die  Erledigung  der  Geschäfte  verzögern.  Es  ist  deshalb 
hier,  wo  die  Konsuln  gewählt  werden,  weil  die  grosse 
Versammlung  nicht  täglich  den  öffentlichen  Angelegen- 
heiten obliegen  kann,  eine  Mitte  zu  halten  und  der  Mangel 
der  Zahl  durch  die  Kürze  der  Zelt  zu  verbessern.  Wenn 
daher  nur  ungefähr  30  auf  diese  2  oder  3  Monate  gewählt 
werden,  so  sind  es  dann  schon  so  viel,  dass  sie  für  so 
kurze  Zeit  nicht  leicht  bestochen  werden  können.  Des- 
halb habe  ich  auch  verlangt,  dass  ihre  Nachfolger  erst 
dann  gewählt  werden  sollen,  wenn  jene  abtreten  und  diese 
eintreten  sollen. 

§  36.  Ihnen  liegt  ferner,  wie  gesagt,  ob,  den  Senat, 
auch  wenn  nur  einige  Wenige  es  beantragen,  zu  berufen, 
die  zu  beratenden  Gegenstände  zu  bestimmen,  den  Senat 
zu  entlassen  und  seine  Beschlüsse  über  öffentliche  An- 
gelegenheiten zur  Ausführung  zu  bringen.  Ich  will  noch 
angeben,  in  welcher  Form  dies  zu  geschehen  hat,  damit 
die  Sachen  nicht  durch  nutzlose  Verhandlungen  ver- 
schleppt werden.  Die  Konsuln  müssen  nämlich  beraten, 
was  dem  Senate  vorzulegen  und  was  zu  thun  ist;  sind 
sie  hierüber  einer  Meinung,  so  rufen  sie  den  Senat  zu- 
sammen, tragen  die  Sachen  der  Reihe  nach  vor,  sprechen 
ihre  eigene  Ansicht  aus  und  sammeln,  ohne  auf  die  An- 
sichten Anderer  zu  warten,  die  Stimmen  ein.  Bestehen 
aber  unter  den  Konsuln  verschiedene  Ansichten,  so  ist  im 
Senat  über  die  betreffende  Frage  zunächst  diejenige  Mei- 
nung zur  Abstimmung  zu  bringen,  welche  von  der  Mehr- 
heit der  Konsuln  verteidigt  wird.  Ist  dabei  die  Anzahl 
der  Zweifelhaften  und  der  Verneinenden  die  Mehrheit,  ^^i) 
was   aus   der   erwähnten  Art   der  Abstimmung   erhellen 


!l 


I  i! 


128 


Politische  Abb.     Kap.  8.     §.  37. 


Die  Richter. 


muss,   SO  ist  dann  die  Ansicht,  welche  weniger  Stimmen 
*^?\^«"  Konsuln   gehabt   hat,  vorzutragen  und  so  dem- 
nächst  die  übrigen.   Erhält  keine  die  Mehrheit  im  Senate 
so   ist   der  Senat  auf  den  folgenden  Tag  oder  auf  eine 
andere  kurze  Frist  zu  vertagen,  damit  die  Konsuln  in- 
zwischen überlegen   ob  sie  noch  andere,  mehr  annehmbare 
Vorschlage   auffinden    können.    Ist   dies   nicht   der  Fall 
oder  erhält  demnächst  keiner  die  Mehrheit  bei  dem  Senat' 
flo  ist  dann  jeder  Senator  einzeln  mit  seiner  Ansicht  zu 
hören,  und  wenn  von  diesen  keine  die  Mehrheit  erlangt, 
so  ist  über  jede  m  der  Art  abzustimmen,  dass  nicht  bloss 
die  Zahl  der  Ja  und  Nein,  sondern  auch  die  Stimmen  der 
Zweifelhaften  zu  zählen  sind.    Ist  die  Zahl  der  Bejahen- 
den grösser  als  die  einer  der  beiden  andern  Parteien,  so 
gut   diese  Ansicht   als   angenommen  und  umgekehrt   für 
abgelehnt,   wenn  die  Zahl  der  Verneinenden  grösser  ist 
als    die   der  Bejahenden   oder  als  die  der  Zweifelhaften. 
Ist   dagegen    die  Zahl  der  Zweifelhaften  grösser  als  eine 
der  beiden  anderen,  so  werden  dann  die  Syndiken  hinzu- 
genommen,   damit   sie   mit   dem  Senate    ihre  Stimme  ab- 
geben.   Alsdann  werden   bloss  die  bejahenden  und  ver- 
neinenden Stimmen   gezählt  und   die  zweifelhaften  nicht 
beachtet.     Ebenso    ist  es  bei  den  von  dem  Senat  an  die 
höchste  Versammlung  gebrachten   Sachen  zu  halten.  1^2) 
So  viel  über  den  Senat.  ^ 

•  uß  ^J^  ^^?r  ^®°  Gerichtshof  anlangt,  so  kann  er 
nicht  auf  denselben  Grundlagen  wie  der  in  der  Monarchie 
und  m  §  26  u.  f.  des  Kap.  6  beschriebene  ruhen.  Denn 
es  stimmt  nicht  zu  den  Grundlagen  des  aristokratischen 
Regiments  (nach  §  14,  Kap.  6),  dass  dabei  auf  Familien 
und  btamme  Rücksicht  genommen  werde.  Auch  könnten 
dann  die  Richter,  welche  bloss  aus  den  Patriziern  gewählt 
sind,  zwar  durch  die  Furcht  vor  den  ihnen  nachfolgen- 
den Patriziern  abgehalten  werden,  gegen  einen  derselben 
ein    nachteihges    Urteil    zu    fällen    oder    die   verdiente 

S"-  ufo^^.T^^^^^ge»;  dagegen  würden  sie  gegen  die 
JNicüt-ratrizier  sich  alles  herausnehmen  und  die  Reichen 
sich  immer  zur  Beute  auswählen.  Deshalb  wird,  wie  mir 
bekannt,  von  Vielen  der  Rat  in  Genua  gelobt,  der  nicht 
aus  den  Patriziern,  sondern  aus  Fremden  gewählt  wird. 
Indes  erscheint  mir  eine  solche  Einrichtung,  allgemein 
aufgefasst,  verkehrt,  wo  Fremde  und  nicht  die  Patrizier 


129 


die  Gesetze  auslegen  sollen;  denn  was  sind  die  Richter 
anders,  als  Gesetzes- Ausleger  ?  Ich  vermute  deshalb,  dass 
die  Genuesen  hierbei  mehr  die  Eigentümlichkeit  ihrer 
Nation,  als  die  Natur  ihres  aristokratischen  Regimentes 
beachtet  haben,  und  ich  habe  deshalb  für  die  allgemein 
gestellte  Frage  die  Mittel  aufzusuchen,  welche  dieser 
Staatsform  am  besten  entsprechen. 

§  38.     Was  nun   also   die  Zahl  der  Richter  anlangt, 
so  verlangt  diese  Staatsform  nichts  Besonderes;  vielmehr 
muss  man    hier,  wie    bei    der  Monarchie,  vor  allem  nur 
darauf  halten,  dass  die  Anzahl  der  Richter  hinlänglich  gross 
ist,  um  Bestechungen  durch  eine  Privatperson  zu  verhindern 
Ihr  Amt  ist  nur,  dafür  zu  sorgen,  dass  kein  Bürger  den 
andern  beschädige;  sie  haben  deshalb  die  Entscheidung  der 
Streitigkeiten   zwischen   den  Bürgern,  seien  es  Patrizier 
oder  Nicht-Patrizier,    und  sie  haben  gegen  Verbrecher, 
selbst  aus  dem  Stande  der  Patrizier,   der  Syndiken  und 
Senatoren,  wenn   sie    das  gemeine  Recht  verletzt  haben, 
die  btrafen  zu  vollziehen.    Dagegen  gehören  die  Streitig- 
keiten   zwischen    einzelnen    Städten   des   Staats   vor   die 
höchste  Versammlung. 

,   . ,  §  39.    Auch  mit  der  Amtsdauer  verhält  es  sich  in 
beiden  Staatsformen  gleich ;  ebenso  hat  in  beiden  alljähr- 
lich ein  Teil  auszuscheiden,   und  wenn  auch  nicht  Jeder 
aus  einem  andern  Stamme  zu  sein  braucht,  so  dürfen  doch 
nicht  zwei  Blutsverwandte  an  demselben  Spruch  teilnehmen. 
Dies  gilt  für    alle   Versammlungen   mit   Ausnahme   der 
höchsten,  wo  es  genügt,  wenn  bei  den  Wahlen  gesetzlich 
vorgesehen  ist,  dass  Niemand  einen  seiner  Anverwandten 
zu   einem  Amte   vorschlagen ,    noch  über  ihn ,   wenn  ein 
Anderer  ihn  vorgeschlagen  hat,  abstimmen  dürfe,  und  dass, 
wenn  ein  Beamter  durch  das  Los  bestimmt  werden  soll, 
nicht  zwei  Anverwandte  das  Los  aus  der  Urne  nehmen 
üurten.    Dies  genügt,  wie  gesagt,  für  eine  so  grosse  Rats- 
versammlung, die  überdem  keinen  besonderen  Gehalt  be- 
zieht.   Deshalb  hat  hier  der  Staat  nichts  zu  fürchten  und 
es  wäre  verkehrt,  durch  ein  Gesetz  alle  Verwandte  der 
i-atrizier  von  der  höchsten  Versammlung  auszuschliessen, 
wie  ich  m  §  14  dieses  Kap.  ausgeführt  habe.    Das  Ver- 
mehrte hierbei  liegt    zu   Tage;    denn   diese  Bestimmung 
Konnte  von  den  Patriziern  selbst  nicht  getroffen  werden, 
Ohne  dass  sie  damit  zugleich  ihrer  Vorrechte  sich  ganz 


Iil 


130 


Politische  Abh     Kap.  8.    §  40.  41. 


Die  Prokonsuln. 


131 


begäben.  Deshalb  könnten  niclit  die  Patrizier,  sondern 
nur  das  übrige  Volk  die  Wächter  für  eine  solche  Bestim- 
mung sein,  was  mit  dem  in  §  5  und  6  dieses  Kapitels 
Ausgeführten  in  geradem  Widerspruch  stehen  würde.  Das 
Gesetz,  welches  die  Erhaltung  des  festen  Verhältnisses 
zwischen  der  Zahl  der  Patrizier  und  des  übrigen  Volkes 
anordnet,  hat  vorzüglich  zur  Absicht,  die  Rechte  und  die 
Macht  der  Patrizier  zu  schützen;  sie  sollen  damit  nicht 
so  gering  an  Zahl  werden,  dass  sie  die  Menge  nicht  mehr 
regieren  können. 

§  40.  übrigens  sind  die  Richter  von  der  höchsten 
Versammlung  aus  den  Patriziern,  d.  h.  (nach  §  17  dieses 
Kap.)  aus  denen,  die  das  Gesetz  gegeben  haben,  zu  wählen, 
und  die  von  ihnen  erlassenen  Urtel  in  bürgerlichen  und 
Straf- Sachen  sind  giltig,  wenn  die  Formen  beobachtet 
und  keine  Parteilichkeit  stattgehabt;  hierüber  haben  ge- 
setzlich die  Syndiken  die  Prüfung,  Entscheidung  und  Be- 
stimmung. 

§  41.  Die  Richter  müssen  die  in  §  29,  Kap.  6  an- 
gegebenen Bezüge  erhalten,  nämlich  für  jedes  in  bürger- 
lichen Rechtssachen  erlassene  Urteil  einen  Bruchteil 
der  streitigen  Summe,  welche  der  Verlierende  zu  zahlen 
hat.  Nur  in  Strafsachen  tritt  hier  der  Unterschied  ein, 
dass  die  konfiszierten  Vermögen  und  die  Geldstrafen  für 
geringere  Vergehen  ihnen  allein  zufallen;  doch  dürfen 
sie  nie  die  Tortur  zur  Erlangung  von  Geständnissen 
anwenden.  Dadurch  wird  genügend  vorgesehen  sein, 
dass  sie  gerecht  gegen  die  Nicht-Patrizier  verfahren  und 
die  Patrizier  nicht  aus  Furcht  zu  sehr  begünstigen.  Denn 
diese  Furcht  wird  hier  schon  durch  das  Geldinteresse, 
noch  dazu  unter  dem  wohlklingenden  Titel  des  Rechts 
gemässigt;  dazu  kommt  ihre  grössere  Anzahl  und  dass 
sie  nicht  öflfentlich,  sondern  geheim  mit  Steinchen  ab- 
stimmen, so  dass,  selbst  wenn  Jemand  über  seine  ver- 
lorene Sache  unwillig  ist,  er  doch  es  keiner  bestimmten 
Person  zur  Last  legen  kann.  Ferner  wird  die  Scheu  vor 
den  Syndiken  sie  von  ungerechten  oder  verkehrten  Ur- 
teilen und  von  Betrügereien  abhalten;  abgesehen  davon, 
dass  unter  einer  so  grossen  Anzahl  von  Richtern  immer 
sich  Ein  und  der  Andere  findet,  welchen  die  Bösen  fürch- 
ten. Für  die  Nicht-Patrizier  ist  dadurch  gesorgt,  dass  sie 
an  die  Syndiken  Berufung  einlegen  können,  welchen,  wie 


erwähnt,  zusteht,  die  Rechtspflege  zu  überwachen,  zu 
untersuchen  und  darüber  Verordnungen  zu  erlassen.  Denn 
unzweifelhaft  werden  viele  Syndiken  sich  den  Hass  der 
Patrizier  zuziehen,  dagegen  aber  der  zweiten  Volksklasse 
zugethan  sein  und  deren  Zustimmung  nach  Möglichkeit 
zu  gewinnen  suchen.  Deshalb  werden  sie,  wenn  die  Ge- 
legenheit sich  bietet,  die  ungesetzlichen  Erkenntnisse  auf- 
heben, jeden  Richter  in  Aufsicht  nehmen  und  die  schlech- 
ten mit  Strafen  belegen,  da  nichts  die  Gemüter  der 
Menge  mehr  bewegt.  Es  schadet  dabei  nichts,  dass 
solche  Fälle  nur  selten  vorkommen  werden;  vielmehr  ist 
dies  sehr  nützlich.  Denn  einmal  ist  der  Staat  schlecht 
beschaffen,  wo  täglich  ein  warnendes  Beispiel  an  den 
Schuldigen  vollzogen  werden  muss  (wie  ich  §  2,  Kap.  5 
gezeigt  habe),  und  ferner  darf  das,  was  am  meisten  Auf- 
sehen erregt,  nur  selten  vorkommen. 

§  42.  Die  in  die  Städte  und  Provinzen  abzuord- 
nenden Prokonsuln  sind  aus  dem  Senatorenstande  zu 
wählen;  143)  da  die  Senatoren  für  die  Befestigung  der 
Städte,  für  die  Staatseinkünfte,  die  Miliz  u.  s.  w.  zu  sorgen 
haben.  Werden  sie  jedoch  in  entferntere  Gegenden  ge- 
sendet, so  können  sie  den  Senat  nicht  besuchen,  und  des- 
halb sind  dazu  Senatoren  nur  nach  Städten  des  Landes 
zu  berufen;  dagegen  sind  für  die  nach  entfernteren  Ge- 
genden Abzusendenden  solche  Patrizier  zu  wählen,  die 
das  Alter  für  die  Senatorenwürde  haben.  Indes  wird 
danait  der  Frieden  des  ganzen  Reichs  noch  nicht  genügend 
gesichert  sein,  wenn  die  benachbarten  Städte  von  allem 
Stimmrecht  ausgeschlossen  bleiben;  sie  müssten  denn  so 
unbedeutend  sein,  dass  man  auf  sie  keine  Rücksicht  zu 
nehmen  brauchte,  was  indes  nicht  angenommen  werden 
kann.  Deshalb  sind  die  benachbarten  Städte  mit  dem 
Bürgerrechte  zu  beschenken,  und  aus  jeder  sind  20  oder 
30  oder  40  Bürger  (was  sich  nach  der  Grösse  der  Städte 
richtet)  zu  wählen  und  in  die  Liste  der  Patrizier  auf- 
zunehmen ;  3,  4  oder  5  davon  aus  jeder  Stadt  sind  jähr- 
lich mit  in  den  Senat  zu  wählen,  und  einer  davon  ist 
lebenslänglich  zum  Syndikus  zu  ernennen.  Diese  Sena- 
toren werden  mit  dem  Syndikus  als  Prokonsuln  in  die 
Städte  gesandt,  wo  sie  gewählt  sind. 

§  43.  Übrigens  sind  in  jeder  Stadt  Richter  einzu- 
setzen, welche  aus  den  Patriziern  dieser  Städte  zu  wählen 


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132 


Politische  Abh.     Kap.  8.    §  44. 


sind.  Hierüber  brauche  ich  das  Nähere  nicht  weiter  an- 
zugeben, da  es  nicht  zu  den  eigentümlichen  Grundlagen 
dieser  Staatsform  gehört. 

§  44.     Die  Schriftführer  und  anderen  Beamten  der 
Versammlungen  sind,  da  sie  kein  Stimmrecht  haben,  aus 
der  zweiten  Volksklasse  zu  wählen.    Da  diese  Beamten 
durch  ihre  tägliche  Beschäftigung  mit  diesen  Angelegen- 
heiten   sich    die   meiste   Sachkenntnis    erwerben,   so  er- 
langt ihre   Meinung   oft  einen   zu  grossen   Einfluss   und 
der  Zustand  des  Reiches  wird  dann  wesentlich  von  ihrer 
Leitung  abhängig,   wie   dies   sich  in  Holland   zu   dessen 
Verderben  gezeigt  hat,  da  ein  solcher  Zustand  den  Haas 
vieler  Vornehmen  erwecken  muss.     Unzweifelhaft  wird 
auch    ein    Senat,    dessen   Klugheit   nicht   von    den   Rat- 
schlägen der  Senatoren,  sondern  seiner  Beamten  abhängt, 
meist  nur  von  trägen  Mitgliedern  besucht  werden,  und 
ein  solcher  Zustand  ist  wenig  besser  als  der  einer  Mo- 
narchie, wo  einige  königliche  Räte  regieren.    (Man  sehe 
§  5,  6,   und  7,  Kap.   6.)    Allein   ob  ein  Regiment  mehr 
oder   weniger   diesen   Übeln    ausgesetzt   ist,    hängt   von 
dessen   mehr  oder    weniger   guten   Verfassung  ab.     Die 
Freiheit  eines  Reichs,  die  nicht  fest  begründet  ist,  kann 
nur   mit  Gefahr   verteidigt  werden;    um    dieser   zu   ent- 
gehen, wählen  die  Patrizier  ehrgeizige  Leute  aus  dem 
Volke,  die,   wenn   die  Sache  übel  geht,   wie  Opfertiere 
abgeschlachtet  werden,  um  den  Zorn  Derer  zu  stillen,  die 
der  Freiheit  nachstellen.     Wo   dagegen   die  Grundlagen 
der  Freiheit  fest  gelegt  sind,  da  wollen  die  Patrizier  den 
Ruhm,  die  Freiheit  zu  schützen,  für  sich  behalten,  und  da 
sorgen  sie,  dass  die  kluge  Leitung  der  Geschäfte  nur  von 
ihren  Ratschlägen   bestimmt  wird.     Deshalb  habe  ich  bei 
Feststellung  der  Grundlagen  dieses  Regimentes  vorzüglich 
dies  Beides  im  Auge  gehabt,  nämlich  das  Volk  sowohl 
von  den  Ratsversammlungen,  wie  von  dem  Stimmgeben 
auszuschliessen  (man   sehe   §   3,  4  dieses  Kap.);  deshalb 
habe  ich  die  höchste  Staatsgewalt  auf  alle  Patrizier,  die 
Amtsgewalt  auf  die  Syndiken  und  den  Senat,  und  das 
Recht,  den  Senat  zu  berufen,  und  die  zum  allgemeinen 
Wohl  gehörenden  Angelegenheiten  auf  die  aus  dem  Senate 
zu  wählenden  Konsuln  übertragen.    Wenn  nun  noch  be- 
stimmt wird,  dass   die  Schriftführer  des  Senats  und  der 
übrigen  Versammlungen  nur  auf  4  oder  5  Jahre  zu  wählen 


Die  Religionsangelegenheiten. 


133 


sind,  und  wenn  jedem  ein  zweiter  Schriftführer  für  diese 
Zeit  beigeordnet  wird,  der  einen  Teil  der  Arbeit  über- 
nimmt, oder  wenn  der  Senat  nicht  blos  einen,  sondern 
mehrere  Schriftführer  für  die  verschiedenen  Geschäfts- 
zweige annimmt,  so  wird  die  Macht  dieser  Beamten  nie- 
mals erheblich  werden. 

§  45.    Die  Verwalter    der  Staatseinkünfte  sind  aus 
dem  Volke  zu  wählen;  ihre  Rechnungen  haben  sie  nicht 
blos  dem  Senate,  sondern  auch  den  Syndiken  abzulegen. 
§  46.    Was  die  Religionsangelegenheiten  betriflPt,  so 
habe  ich  mich  darüber  ausführlich  in  meiner  theologisch- 
politischen Abhandlung  ausgesprochen.  Doch  ist  da  Einiges 
unerwähnt  geblieben,    was   dort   nicht   hingehörte.     Es 
müssen  nämlich  alle  Patrizier  derselben  Religion  zugethan 
sein,  und   zwar  der  einfachsten  und  allgemeinsten,    wie 
ich  sie  in  jener  Abhandlung  beschrieben  habe.  ^^)    Denn 
man  muss  vor  Allem  verhüten,  dass  nicht  Religionssekten 
unter  den  Patriziern  sich  bilden,  von  denen  die  eine  von 
Diesem,  die  andere  von  Jenem  begünstigt  wird,  und  dass 
sie  nicht  von  Aberglauben    befangen  werden  und  nicht 
dahin  streben,  den  ünterthanen  das  Recht  der  freien  Ge- 
dankenäusserung  zu  entziehen.    Indes  dürfen,  auch  wenn 
diese  Freiheit  für  Jeden  besteht,  grössere  Versammlungen 
doch  nicht  gestattet  werden.    Es  kann  daher  Denen,  die 
einer  andern  Religion  zugethan  sind,  wohl  gestattet  werden, 
Gotteshäuser,  so  viel  sie  wollen,  zu  erbauen;  allein  diese 
Gebäude  dürfen  nur  klein  sein,  sie  müssen  in  einem  be- 
stimmten Masse  sich  halten  und  in  einiger  Entfernung 
von  einander  bleiben.    Dagegen  ist  es  wichtig,  die  Gottes- 
häuser für  die  Landesreligion  gross  und  prächtig  einzu- 
richten, und  bei  dem  Hauptgottesdienst  dürfen  nur  die 
Patrizier  und  Senatoren  den  Dienst  verrichten,  so  dass 
nur  diese  taufen,  trauen,  weihen  und  als  die  alleinigen 
Priester,  Wächter  und  Ausleger  der  Landesreligion  auf- 
treten dürfen.    Für  das  Predigen  und  das  Kirchen- Ver- 
mögen, sowie  für  die  täglichen  laufenden  Geschäfte  kann 
der  Senat  die  nötigen  Beamten  aus  dem  Volke  nehmen; 
^A  fi  ®^°^  ^^®  Vertreter  des  Senats  und  haben  diesem  über 
Alles  Rechenschaft  abzulegen. 

•  k  ^  ^'^'.  ^^^^  ^^^^  ^^®  Grundlagen  dieses  Regiments, 
ich  füge  ihnen  noch  Einiges  hinzu,  was  zwar  nicht  so 
tief  greifend,  aber  doch  von  grosser  Bedeutung  ist.   Dahin 


*  l 


134 


Politische  Abh.     Kap.  8.     §  48.  49. 


I 


gehört,  dass  die  Patrizier  in  einer  besonderen  Kleidung 
oder  Tracht  an  der  man  sie  erkennt,  einhergehen;  sie 
müssen  ferner  mit  einem  besondern  Titel  begrtisst  werden- 
jeder  aus  dem  Volke  hat  ihnen  Platz  zu  machen,  und 
hat  ein  Patrizier  durch  einen  unvermeidlichen  Unglücks- 
fall sein  Vermögen  verloren,  und  kann  er  dies  nach- 
weisen, so  soll  es  ihm  aus  dem  Staatsvermögen  ersetzt 
werden.  Hat  er  dagegen  durch  Verschwendung,  Auf- 
wand, Spiel,  liederliche  Weibspersonen  u.  s.  w.  sein  Ver- 
mögen verzehrt,  oder  hat  er  mehr  Schulden  gemacht,  als 
er  bezahlen  kann,  so  geht  er  seines  Standes  verlustig 
und  wird  zu  allen  Würden  und  Ämtern  unfähig;  deun 
wer  seine  eigenen  Angelegenheiten  und  sich  selbst  nicht 
in  Ordnung  halten  kann,  vermag  noch  weniger  dem 
Staate  zu  helfen, 

§  48.  Wo  das  Gesetz  einen  Eid  vorschreibt,  werden 
Meineide  viel  mehr  vermieden  werden,  wenn  der  Eid  bei 
dem  Wohl  und  der  Freiheit  des  Vaterlandes  und  bei  der 
höchsten  Versammlung,  als  wenn  er  unter  Anrufung 
Gottes  geleistet  wird.  Denn  im  letzten  Falle  setzt  der 
Schwörende  nur  sein  eigenes  Wohl  aufs  Spiel;  wer  aber 
die  Freiheit  und  das  Wohl  des  Vaterlandes  anruft,  der 
schwört  bei  dem  Gute,  was  Allen  gemein  ist  und  was 
er  nicht  abschätzen  kann;  wer  einen  solchen  Eid  falsch 
schwört,  erklärt  sich  dadurch  selbst  für  einen  Feind  seines 
Vaterlandes.  ^^) 

§  49.  Die  auf  Staatskosten  gegründeten  wissen- 
schaftlichen Anstalten  sind  weniger  für  die  Entwickelung 
der  Geister  als  auf  die  Zucht  derselben  eingerichtet.  In 
einem  freien  Staat  aber  wird  dadurch  am  besten  für  Kunst 
und  Wissenschaft  gesorgt  sein,  wenn  Jedem,  der  darum 
nachsucht,  öflfentlich  zu  lehren  gestattet  wird,  und  zwar 
auf  seine  Kosten  und  auf  Gefahr  seines  Ansehens.  Dies 
und  Ahnliches  behalte  ich  mir  jedoch  für  einen  andern 
Ort  vor,  da  ich  hier  nur  die  Grundlagen  des  aristokra- 
tischen Regiments  behandeln  wollte,  i*«) 


Das  aristokratische  Kegiment  mehrerer  Städte.        135 


Neuntes  Kapitel. 

§  1.  Bis  hier  habe  ich  dies  Regiment  nur  in  der 
Weise  in  Betracht  genommen,  dass  es  von  einer  Stadt, 
welche  die  Hauptstadt  des  ganzen  Landes  ist,  seinen 
Namen  hat.  Ich  habe  nun  von  derjenigen  Form  desselben 
zu  handeln,  wo  mehrere  Städte  das  Regiment  haben  und 
welche  ich  der  ersten  Form  vorziehe.  Um  den  Unter- 
schied und  Vorzug  zu  erkennen,  werde  ich  die  Grund- 
lagen der  ersten  Form  der  Reihe  nach  durchgehen,  das, 
was  für  diese  zweite  Form  nicht  passt,  beseitigen  und 
andere  Stützen  an  dessen  Stelle  setzen.  ^^^^ 

§  2.  Es  müssen  deshalb  die  einzelnen  Städte,  welche 
das  Bürgerrecht  besitzen,  zwar  so  gebaut  und  befestigt 
sein,  dass  eine  allein  ohne  die  audere  sich  nicht  vertei- 
digen kann,  aber  auch  von  den  andern  ohne  grossen 
Schaden  für  den  Staat  nicht  abfallen  kann.  Auf  diese 
Weise  werden  die  Städte  immer  vereint  bleiben;  Städte 
dagegen,  die  solche  Verfassung  haben,  dass  sie  sich  weder 
erhalten,  noch  den  andern  Furcht  einflösen  können,  sind 
nicht  selbständig,  sondern  den  andern  unterthänig. 

§  3.  Dagegen  sind  die  Aufstellungen  in  §  9  und 
10,  Kap.  8  aus  der  allgemeinen  Natur  des  aristokratischen 
Regiments  abgeleitet;  dahin  gehört  auch  das  Verhältnis 
zwischen  der  Zahl  der  Patrizier  zu  der  Volkszahl,  sowie 
die  Bestimmung  über  ihr  Alter  und  über  die  Bedingungen 
ihrer  Wählbarkeit ;  deshalb  kann  hierbei  kein  Unterschied 
statt  haben,  gleichviel  ob  eine  oder  mehrere  Städte  die 
Herrschaft  besitzen.  Allein  anders  ist  es  mit  der  höch- 
sten Versammlung.  Würde  eine  bestimmte  Stadt  für  den 
Zusammentritt  dieser  Versammlung  bezeichnet,  so  würde 
diese  in  Wahrheit  die  Hauptstadt  des  Landes  sein;  es 
muss  deshalb  hier  eine  Reihenfolge  der  Städte  Platz 
greifen,  oder  die  Versammlung  muss  sich  an  einem  Ort 
versammeln,  der  das  Bürgerrecht  nicht  hat  und  deshalb 
allen  Städten  gleich  zugehört.  Indes  ist  dergleichen 
leichter  zu  bestimmen  als  auszuführen;  da  es  sich  hier 
darum  handelt,  dass  viele  tausend  Menschen  ihre  Stadt 
häufig  verlassen  und  bald  hier,  bald  dort  sich  versammeln 
sollen. 


--  ■na-.iy" 


136 


Politische  Abb.    Kap.  9.     §  4.  6. 


§  4.    Um   hier   das   in   dieser   Frage  Nötige   wahr 
und  richtig  zu  treffen  und  einen  Schluss  zu  ziehen,  wie 
die  Reichsversammlungen  ihrer  Natur  und  den  Umständen 
gemäss  einzurichten,  ist  zu  beachten,  dass  jede  Stadt  desto 
selbständiger  als  der  einzelne  Bürger  ist,  je  mehr  sie  ihn 
an  Macht   übertrifft   (nach    §  4,  Kap.  2);   deshalb  muss 
jede  Stadt  eines  solchen  Reichs  (nach  §  2,  Kap.  9)  inner- 
nalb  ihrer  Mauern  oder  ihres  Gebietes  so  viel  Rechte  als 
möglich  besitzen.    Ferner  sind  alle  diese  Städte  nicht  als 
blosse  Bundesgenossen  anzusehen,  sondern  sie  sind  so  ver- 
bunden und  geeint,  dass  sie  ein  Reich  bilden.    Dabei  muss 
jedoch  die  einzelne  Stadt  um  so  mehr  Rechte  im  Reiche 
haben,  je  mächtiger  sie  in  Vergleich  zu  den  anderen  ist; 
denn  wer  unter  Ungleichen  die  Gleichheit  herstellen  will, 
ist  ein  Thor.    Dagegen  gelten  die  einzelnen  Bürger  mit 
Recht  als  gleich,  weil  die  Macht  des  Einzelnen  gegen  die 
Macht  des  ganzen  Reiches    verschwindet,    während  die 
Macht  der  einzelnen  Stadt  einen  grossen  Teil  der  Macht 
des  Reiches  bildet,  der  um  so  grösser  ist,  je  grösser  die 
Stadt  selbst  ist.    Folglich  können  die  Städte  nicht  alle 
unter  einander  gleichgestellt  werden,  sondern  die  Rechte 
einer  jeden  müssen,  wie  die  Macht  derselben,  nach  ihrer 
Grösse  bemessen    werden.     Die   Bande,   welche   sie   zu 
einem  Staate  zusammenhalten,  sind  nach  §  1,  Kap.  4 
hauptsächlich    der  Senat   und    die    öffentlichen  Gerichte. 
Ich  will  mit  Wenigem  darlegen,  wie  die  Städte  durch 
diese  Bande  vereint  zu  halten  sind,  ohne  doch  die  Selb- 
ständigkeit der  einzelnen  mehr  als  nötig  zu  schmälern. 
§  5.     Demgemäss    müssen    in  jeder  Stadt   die  Pa- 
trizier, deren  Zahl  sich  nach  der  Grösse  derselben  be- 
stimmt (§  3  dieses  Kap.),  das  höchste  Recht  haben,  und 
ihre  Versammlung,    welche   für  ihre  einzelne  Stadt  die 
höchste  ist,  hat  volle  Macht,  die  Stadt  zu  befestigen,  ihre 
Mauern   zu    erweitern,  Steuern   aufzulegen,  Gesetze  zu 
geben  und  aufzuheben,  und  Alles  ohne  Einschränkung  zu 
thun,  was  sie  für  die  Erhaltung  und  das  Wachstum  der 
Stadt  für  nötig  hält.i48)     Dagegen    ist    für  die  gemein- 
samen   Reichsangelegenheiten    ein    Senat    nach    den    im 
vorigen  Kapitel  dargelegten  Bestimmungen  zu  bilden.    Die- 
ser Senat  unterscheidet  sich  von  jenem  nur  dadurch,  dass 
dieser  auch  die  zwischen  den  einzelnen  Städten  entstehen- 
den Streitigkeiten  zu  entscheiden  hat,  da  bei  dieser  Form 


Der  Senat  in  den  Städten. 


137 


des  Regiments,  wo  keine  Hauptstadt  da  ist,  dies  nicht 
wie  dort  von  der  höchsten  Versammlung  geschehen  kann. 
(Man  sehe  §  38,  Kap.  8.) 

§  6.     Im  Übrigen  wird    bei  dieser  Art  des  aristo- 
kratischen Regiments   die  höchste  Versammlung  nur  be- 
rufen, wenn  es  sich  um  Veränderungen  der  Verfassung 
oder  um  ein  besonders  schwieriges  Geschäft  handelt,  das 
zu  erledigen  die  Senatoren  sich  nicht  getrauen.     Dadurch 
wird  die  Berufung  aller  Patrizier  nur  selten  vorkommen; 
denn  das   wichtigste  Geschäft  dieser  höchsten  Versamm- 
lung  ist   nach   §   17,  Kap.   8   die  Gesetzgebung  und   die 
Wahl  der  Beamten,  i*^)    Indes  sollen  die  Gesetze  und  die 
allgemeinen  Rechte  des  Staats,   wenn  einmal  festgesetzt, 
nicht  veränderlich  sein.    Verlangen  indes  die   Zeit  und 
die  Verhältnisse   eine   Abänderung  oder  die  Herstellung 
eines  neuen  Rechtes,  so  kann  die  Frage  zunächst  im  Senat 
verhandelt  werden.    Ist  der  Senat  darüber  einig,   so  hat 
er  Gesandte  in  die  einzelnen  Städte  zu  senden,  welche 
den  Patriziern   derselben   die   Ansicht   des    Senats   aus- 
einandersetzen, und  wenn  die  Mehrheit  der  Städte  dieser 
Ansicht  beitritt,  so  gilt  der  Beschluss,  ohnedem  aber  nicht. 
Ebenso  ist  bei  der  Wahl  der  Feldherren  und  der  Gesandten 
für  auswärtige  Staaten  und    bei   den  Beschlüssen    über 
den   Beginn   eines   Krieges   oder    über   die    Friedensbe- 
dingungen zu  verfahren.  150)    Dagegen  ist  bei  der  Wahl 
der  übrigen  Beamten,  damit  (nach  §  4  dieses  Kap.)  jede 
Stadt  möglichst  selbständig   bleibe  und   das  ihrer  Macht 
entsprechende  Recht  im  Staate  erhalte,  das  nachfolgende 
Verfahren  einzuhalten.    Die  Senatoren  sind  nämlich  von 
den  Patriziern  in  jeder  Stadt  zu  wählen,  so  dass  in  jeder 
Stadt  die  Patrizier  in  ihrer  Versammlung  eine  bestimmte 
Zahl  von  Senatoren  aus  ihren  Genossen  wählen,   welche 
Zahl  zur  Zahl  der  Patrizier  dieser  Stadt  sich  (nach  §  30, 
Kap.  8)  wie  1  zu  12  verhält ;  dabei  bestimmen  sie,  welche 
zur  ersten,  zweiten,   dritten  u.  s.  w.  Abteilung  gehören 
sollen.  Dadurch  wird  jede  Senatsabteilung  die  angemessene 
Zahl  von  Senatoren  aus  jeder  Stadt  enthalten.    Dagegen 
smd  die  Vorsitzenden  und  Stellvertreter  der  Abteilungen, 
deren  Zahl   geringer   als   die  Zahl    der    Städte  ist,   vom 
oenate  aus  den  gewählten  Konsuln  durch    das  Los   zu 
bestimmen;  dasselbe  Verfahren  ist  bei  der  Wahl  der  Mit- 
glieder des  höchsten  Reichsgerichtes  zu  beobachten,  so 


Spinoza' 8  Abh.  üb.  Verbosser.  d.  Verstandes. 


11 


! 
I'  5  i 


I 
I 

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1 


:tii 


11 


138 


Politische  Abh.    Kap.  9.    §  7—9. 


dass  die  Patrizier  der  einzelnen  Städte  nach  der  Grösse 
derselben  aus  ihren  Genossen  eine  entsprechende  Zahl 
von  Richtern  wählen.  So  bleibt  Ijede  Stadt,  so  viel  als 
möglich,  in  der  Wahl  der  Beamten  selbständig  und  jede 
hat  das  ihrer  Macht  entprechende  Mass  von  Recht  im 
Senat,  wie  bei  dem  Gericht ;  wobei  ich  annehme,  dass  der 
Senat  und  das  Gericht  bei  den  Beschlüssen  der  Staats- 
angelegenheiten und  Entscheidung  der  Streitigkeiten  so  ver- 
fahren, wie  in  §  33  und  34,  Kap.  8  bestimmt  worden  ist. 

§  7.  Die  Obersten  und  Hauptleute  der  Miliz  sind 
auch  aus  den  Patriziern  zu  wählen.  So  wie  es  billig  ist, 
dass  jede  Stadt  nach  Verhältnis  ihrer  Grösse  eine  Anzahl 
Soldaten  für  die  gemeinsame  Sicherheit  des  Reiches  zu 
stellen  hat;  ebenso  billig  ist  es,  dass  aus  den  Patriziern 
jeder  Stadt,  nach  Verhältnis  der  Regimenter,  die  sie  zu 
unterhalten  hat,  so  viel  Hauptleute,  Obersten,  Fahnen- 
träger u.  s.  w.  gewählt  werden,  als  zur  Ordnung  des 
Teiles  der  Miliz,  welchen  sie  dem  Reiche  stellt,  gehört. 

§  8.  Auch  kann  der  Senat  keine  Zölle  auflegen; 
vielmehr  hat  der  Senat  für  die  Kosten  der  Staatsverwaltung 
nicht  die  ünterthanen,  sondern  die  einzelnen  Städte  ein- 
zuschätzen, so  dass  jede  Stadt  nach  ihrer  Grösse  zu  diesen 
Unkosten  verhältnismässig  beizutragen  hat.  Zur  Be- 
schaffung dieser  Summe  können  die  Patrizier  der  ein- 
zelnen Städte  deren  Einwohner  heranziehen,  entweder 
nach  Verhältnis  von  deren  Vermögen  oder  was  gerechter 
ist,  durch  Auflegung  von  Zöllen. 

§  9.  Wenn  auch  nicht  alle  Städte  eines  solchen 
Reichs  an  der  See-Küste  liegen  und  die  Senatoren  nicht 
blos  aus  den  Seestädten  gewählt  werden,  so  können  den- 
selben doch  die  in  §  31,  Kap.  8  bezeichneten  Bezüge  ge- 
währt werden;  zu  dem  Ende  sind  die  der  Verfassung 
entsprechenden  Einrichtungen  zu  treffen,  welche  die  Städte 
noch  enger  mit  einander  verbinden.  Alles  Übrige,  was 
in  Betreff  des  Senats,  der  Gerichte  und  des  ganzen  Re- 
giments in  dem  Kap.  8  beschrieben  worden,  ist  auch  für 
diese  Form  des  Staats  anwendbar.  Deshalb  bedarf  es 
bei  einem  Regiment,  was  von  mehreren  Städten  geführt 
wird,  keiner  regelmässigen  Berufung  der  höchsten  Ver- 
sammlung zu  bestimmten  Zeiten  und  an  bestimmte  Orte; 
vielmehr  ist  dem  Senate  und  dem  Gerichte  ihr  Sitz  in 
einem  Dorfe  oder  einer  Stadt  anzuweisen,  welche  kein 


Die  Syndiken,  die  Konsuln,  die  Richter. 


139 


Stimmrecht  hat.    Auf  das,  was  die  einzelnen  Städte  be- 
trifft, werde  ich  nun  zurückkommen. 

§  10.    Das  Verfahren   der  höchsten  Versammlungen 
in  den   einzelneu   Städten  für  die   Wahl   der  Stadt-  und 
Reichsbeamten  und  für  die  Entscheidung  der  Angelegen- 
heiten ist  dasselbe,  was  §  27  und  36,  Kap.  8  angegeben 
worden  ist,  da  die  Verhältnisse  hier  dieselben  wie  dort 
sind.    Ferner  ist  der  Rat  der  Syndiken  diesen  Versamm- 
lungen ebenso  unterzuordnen,  wie  der  Rat  der  Syndiken 
in  Kap.  8  zu  der  Versammlung  des  ganzen  Reiches  ge- 
stellt worden  ist.    Auch  ist  sein  Amt   innerhalb  des  Ge- 
bietes jeder  Stadt  dasselbe,  und  er  bezieht  dieselben  Vor- 
teile.   Ist  die  Stadt  und  folglich  die  Zahl  der  Patrizier 
so  klein  ,  dass  sie  nur  eine  oder  zwei  Syndiken  bestellen 
kann  und  diese  daher  kein  Kollegium  bilden,  so  hat  die 
höchste  Versammlung  dieser  Stadt  den  Syndiken  bei  der 
Rechtsprechung  nach  Bedarf  Richter  beizuordnen,  oder 
die  Untersuchung  ist  an  den  höchsten  Rat  der  Syndiken 
abzugeben.    Jede  Stadt  hat  nämlich  aus  ihren  Syndiken 
einige   Mitglieder   an    den   Sitz   des   Senats   abzuordnen, 
deren  Amt  ist,  darüber  zu  wachen,  dass  die  Rechte  des 
Reichs  nicht  verletzt  werden ;  sie  nehmen  an  den  Sitzungen 
des  Senates  Teil,  haben  aber  kein  Stimmrecht. 

§  11.    Die  Konsuln  der  einzelnen  Städte  sind  von 
deren  Patriziern,   welche  gleichsam  den  Senat  derselben 
Stadt  bilden,  zu  wählen.    Deren  Zahl  kann  ich  nicht  be- 
stimmen; auch   ist  dies  nicht  nötig,  da  die  bedeutenden 
Angelegenheiten  jeder   Stadt    von   ihrer   höchsten   Ver- 
sammlung und  die  allgemeinen  Reichsangelegenheiten  von 
dem  grossen  Senat  besorgt  werden.    Bestehen  jene  Ver- 
sammlungen   der   einzelnen  Städte   nur   aus   wenig  Mit- 
gliedern, so  müssen   die  Stimmen  in  der  Versammlung 
Öffentlich  abgegeben  werden  und  nicht  mittelst  Steinchen, 
wie    in    den    grossen    Versammlungen;    denn    wenn   die 
Stimmen  in  kleinen  Versammlungen  heimlich   abgegeben 
werden,  so  kann  ein  Listiger  leicht  merken,  wie  die  Ein- 
zelnen gestimmt  haben  und  die   weniger  Aufmerksamen 
auf  viele  Weise  hintergehen. 

§  12.  Ferner  sind  die  Richter  jeder  Stadt  von  ihrer 
höchsten  Versammlung  zu  bestimmen.  Die  Appellation 
von  deren  Entscheidung  geht  an  das  höchste  Reichsge- 
richt, ausgenommen,  wenn  der  Angeklagte  auf  der  That 

11 


140 


Politische  Abh.     Kap.  9.     §  13.  14. 


betroffen  worden   oder  der  Schuldner  geständig  ist.     Ich 
brauche  dies  nicht  weiter  auszuführen. 

§  13.  Ich  habe  jetzt  nur  noch  von  den  abhängigen 
Städten  zu  handeln.  Diese  müssen,  wenn  sie  in  einer 
Provinz  oder  Gegend  des  Reiches  gegründet  sind  und 
ihre  Bewohner  zu  demselben  Volksstamm  gehören  und 
dessen  Sprache  sprechen,  wie  Dörfer  gleichsam  als  Zu- 
behör der  benachbarten  Städte  angesehen  werden  und 
daher  unter  dem  Regiment  einer  selbständigen  Stadt  sich 
befinden.  Es  hat  dies  darin  seinen  Grund,  dass  die  Pa- 
trizier nicht  von  der  höchsten  Reichsversammlung,  son- 
dern der  höchsten  Versammlung  ihrer  Stadt  gewählt 
werden  und  deren  Zahl  in  jeder  Stadt  nach  der  Ein- 
wohnerzahl ihres  Gerichtsbezirks  sich  richtet.  (Nach  §  5 
dieses  Kap.)  Deshalb  muss  die  Einwohnerschaft  einer 
nicht  selbständigen  Stadt  zum  Steuerverbande  einer  an- 
deren selbständigen  Stadt  mit  gerechnet  werden,  und  jene 
müssen  von  der  Leitung  dieser  abhängig  sein,  ^^i)  Da- 
gegen sind  im  Kriege  eroberte  Städte  und  die  dem  Reiche 
neu  hinzugekommenen,  wie  Reichs-Bundesgenossen  anzu- 
sehen; sie  müssen  durch  Wohlthaten  besiegt  und  ver- 
pflichtet werden,  oder  es  müssen  Kolonien  mit  dem  Bür- 
gerrecht ausgestattet  dahin  gesendet  und  die  alte  Ein- 
wohnerschaft wo  anders  hin  geführt  oder  überhaupt  ver- 
nichtet werden.  152) 

§  14.  Dies  sind  die  zu  den  Grundlagen  eines  solchen 
Regiments  zu  rechnenden  Bestimmungen.  Sein  Zustand 
ist  besser  als  der,  wo  eine  Stadt  das  Regiment  führt, 
weil  die  Patrizier  der  einzelnen  Städte  nach  der  Natur 
der  menschlichen  Leidenschaften  bestrebt  sein  werden, 
ihre  Rechte  in  ihrer  Stadt  wie  im  Senate  festzuhalten 
und  wo  möglich  zu  vermehren.  Sie  werden  nach  ihren 
Kräften  die  übrigen  Einwohner  an  sich  zu  ziehen  suchen 
und  die  Herrschaft  mehr  auf  Wohlthaten  als  auf  die 
Furcht  stützen,  auch  ihre  eigene  Anzahl  vermehren. 
Denn  je  mehr  ihrer  sind,  desto  mehr  Senatoren  (nach 
§  16  dieses  Kap.)  können  sie  aus  ihrer  Versammlung 
wählen  und  damit  desto  mehr  Recht  im  Staate  gewinnen. 
Dem  steht  nicht  entgegen,  dass,  da  jede  Stadt  für  sich 
selbst  sorgt  und  neidisch  auf  die  andern  ist,  sie  häufiger 
in  Zwist  geraten  und  die  Zeit  mit  Streitigkeiten  verloren 
geht.    Denn  ging  zwar  Sagunt  während  der  Beratungen 


Rechtfertigung  dieses  Regiments. 


141 


der  Römer   verloren,  so   geht   wenn   nur   Wenige   Alles 
nach  ihren  Leidenschaften  bestimmen,  die  Freiheit  und 
die  allgemeine  Wohlfahrt  verloren.  Der  Sinn  des  Menschen 
kann  zwar  bei  seiner  Schwäche  nicht  sofort  Alles  durch- 
schauen ;  allein  er  schärft  sich  durch  Beraten,  Hören  und 
Streiten,  und  wenn  alle  Mittel  versucht  werden,   wird  er 
das,   was  er  will,  treffen,   und  Alle  werden   es  billigen, 
wenn  auch  vorher  Niemand  daran  gedacht  hatte.     Wenn 
man   mir  entgegnet,    dass   der   holländische  Staat  nicht 
lange  ohne  einen  Reichsgrafen  oder  Statthalter  an  Stelle 
jenes  sich  habe  erhalten  können,   so   erwidere   ich,   dass 
die  Holländer  zur  Erlangung  ihrer  Freiheit  es  für  genügend 
erachtet  haben,   den  Reichsgrafen  zu  beseitigen  und  den 
Reichskörper  des  Hauptes  zu  berauben,  ohne  sonst  an 
Umgestaltung  des  Regiments  zu  denken ;  vielmehr  blieben 
alle  Glieder  desselben  in  der  frühem  Verfassung,  sodass 
die  Grafschaft  Holland  ohne  Grafen,  wie  ein  Körper  ohne 
Haupt,   und  die  Staatsgewalt  selbst  ohne  Namen  blieb. 
Es  kann  deshalb  nicht  auffallen,  wenn  die  meisten  ünter- 
thanen  nicht  wussten,  bei  wem  die  höchste  Staatsgewalt 
sich  befand.     Und  wäre  dies  auch  nicht  der  Fall,  so  war 
doch  die  Zahl  der  wirklichen  Inhaber  der  Staatsgewalt 
zu  klein  für  die  Regierung  des  Volkes  und  die  Nieder- 
haltung ihrer  mächtigen  Gegner.     So  kam  es,  dass  letztere 
ihnen  ungestraft  nachstellen    und    zuletzt   sie  beseitigen 
konnten.    Der  rasche  Umsturz  der  Verfassung  ist  deshalb 
hier  nicht  davon  gekommen,  dass  man  seine  Zeit  unnütz 
in  Beratungen  verschwendet  hat,  sondern  weil  die  Staats- 
verfassung missgestaltet  und  der  Regierenden  zu   wenig 
waren.  ^^^) 

§  15.  Diese  Form  der  Aristokratie,  wo  mehrere 
Städte  das  Regiment  haben,  verdient  auch  deshalb  den 
Vorzug  vor  der  anderen,  weil  man  nicht,  wie  bei  dieser, 
dafür  zu  sorgen  braucht,  dass  nicht  die  höchste  Ver- 
sammlung einmal  plötzlich  überfallen  und  aufgehoben 
werde,  da  (nach  §  9  dieses  Kapitels)  keine  Zeit  und  kein 
Ort  für  deren  Einberufung  feststeht.  Auch  die  mächtigen 
Bürger  sind  bei  diesem  Regiment  weniger  gefährlich, 
denn  da,  wo  mehrere  Städte  an  der  Herrschaft  teilnehmen, 
ist  es  für  Den,  der  nach  der  Alleinherrschaft  strebt, 
nicht  genug,  eine  Stadt  zu  unterwerfen,  um  damit  die 
Herrschaft   in  allen  anderen  gewonnen  zu  haben.    Auch 


112 


Politische  Abb.     Kap,  10.     §  1. 


Die  Diktatur;  ibre  Gefabren. 


143 


i 


i 


ist  bei  diesem  Regiment  die  Freiheit  allgemeiner;  denn 
wo  eine  Stadt  allein  herrscht,  da  wird  für  die  anderen 
nur  soweit  gesorgt,  als  es  der  herrschenden  Stadt  ge- 
nehm ist.  1^*) 


Zehntes  Kapitel. 

§   1.    Nachdem    ich  die  Grundlagen   des   aristokra- 
tischen Regiments  in  seinen  beiden  Formen  dargelegt  und 
erläutert  habe,  fragt  es  sich  noch,  ob  durch  irgend  einen 
verschuldeten  Umstand  dieses  Regiment  aufgelöst  und  in 
ein  anderes  umgewandelt  werden  kann.   Der  Hauptgrund, 
weshalb  solche  Verfassungen   sich  nicht  erhalten  haben, 
ist,  wie   der  scharfsinnige  Florentiner   in   seinen  Erörte- 
rungen zu  Livius,  Buch  3,  Abschn.  1,  erwähnt,  i^S)  dass  in 
jedem  Regiment,  wie  in  dem  menschlichen  Körper,  „sich 
^täglich  Etwas  ansammelt,  was  der  Heilung  zur  rechten 
„Zeit  bedarf";  deshalb,  sagt  er,  muss  mitunter  Etwas  ein- 
treten, was  das  Regiment  zu  den  Grundlagen ,  auf  denen 
es  errichtet  worden  ist,  zurückbringt.   Geschieht  dies  nicht 
zur  rechten  Zeit,  so  nehmen  die  Mängel  so  zu,   dass  sie 
nur    mit    der  Verfassung    selbst    sich    beseitigen    lassen. 
Diese  Abhülfe  kann,  wie  er  sagt,   entweder  zufällig  ge- 
schehen oder  absichtlich  durch  gut  eingerichtete  Gesetze 
oder   durch    die   Tugend    eines   ausgezeichneten  Mannes. 
Unzweifelhaft  ist  dieser  Punkt  von  dem  höchsten  Gewicht; 
wo  diese  Übel  nicht  vorgesehen  sind,  da  kann  das  Regi- 
ment sich  nicht  durch  seine  Güte,  sondern  nur  durch  sein 
gutes  Glück  erhalten,  während  da,  wo  das  passende  Mittel 
dafür  angewendet  wird,  selbst  die  Mängel  ein  Regiment 
nicht  verderben  können,  sondern  nur  höhere  Gewalt,  wie 
ich    gleich    deutlicher    zeigen    werde,  i^^)     j^\^    nächstes 
Mittel  gegen  diese  Übel  bietet  sich ,   alle  fünf  Jahre  auf 
einen  oder  zwei  Monate  einen  höchsten  Diktator  zu  er- 
nennen, welcher    die   Führung   jedes   Senators    und  Be- 
amten zu  prüfen  und  darüber  zu  entscheiden  und  zu  be- 
stimmen hat,  und  welcher  damit  das  Regiment  auf  seinen 
anfänglichen  Zustand  zurückführt.   Allein  bei  Beseitigung 
der  Übelstände   eines  Regiments  soll  man  nur  Mittel  an- 
wenden, welche  seiner  Natur  entsprechen  und  aus  seinen 
Grundlagen  selbst  sich  ableiten;  sonst  wird   man  in  die 


Scylla,  geraten  wenn  man  die  Charybdis  vermeiden  will. 
Allerdings  müssen  sowohl  die  Regierenden  wie  die  Re- 
gierten durch  Leibes-  und  Lebensstrafen  in  Furcht  ge- 
halten werden,  damit  sie  nicht  ungestraft  und  noch  mit 
Vorteil  sündigen  können;  allein  sicherlich  befindet  sich 
ein  Staat  in  grosser  Gefahr,  wenn  die  guten,  wie  die 
schlechten  Menschen  von  dieser  Furcht  erfüllt  sind.  Die 
ünbeschränktheit  der  diktatorischen  Gewalt  muss  sie  aber 
alle  erschrecken,  namentlich  wenn  zu  festen  Zeiten  regel- 
mässig ein  solcher  Diktator  gewählt  wird,  denn  dann 
werden  alle  Ehrgeizigen  eifrig  nach  diesem  Amte  streben ; 
gewiss  wird  während  des  Friedens  nicht  auf  Tugend, 
sondern  auf  Reichtümer  gesehen,  sodass  je  anspruchsvoller 
jemand  auftritt,  er  um  so  leichter  Ehrenposten  erlangen 
wird.  Vielleicht  haben  die  Römer  deshalb  nicht  zu  be- 
stimmten Zeiten,  sondern  nur  wenn  die  Not  dazu  zwang, 
einen  Diktator  ernannt.  Trotzdem  war  die  Macht  des 
Diktators,  um  mit  Cicero  zu  sprechen,  den  guten 
Bürgern  lästig,  denn  da  dieses  Diktator- Amt  so  un- 
beschränkt wie  das  eines  Königs  ist,  so  droht  dem  Staat 
die  grosse  Gefahr,  dass  der  Diktator  die  Verfassung  ge- 
legentlich in  eine  monarchische,  wenn  auch  nur  auf  kurze 
Zeit  umwandelt.  Ist  dagegen  keine  Frist  für  die  Wahl 
des  Diktators  bestimmt,  so  wird  dann  für  die  Zwischen- 
zeit, von  einem  Diktator  bis  zu  dem  anderen,  obgleich 
dieser  Zeitraum  so  wichtig  ist,  keine  Rücksicht  genommen 
werden,  und  die  Einrichtung  kann  dann  bei  dieser  Un- 
bestimmtheit leicht  in  Vergessenheit  geraten.  Wenn  daher 
diese  diktatorische  Gewalt  nicht  dauernd  und  fest  und  so 
eingerichtet  ist,  dass  sie  ohne  Verletzung  der  Verfassung 
auf  eine  Person  nicht  übertragen  werden  kann,  i^^)  go  wird 
die  Verfassung  und  das  Wohl  und  der  Bestand  des  Staats 
immer  sehr  schwankend  bleiben. 

§  2.  Wenn  dagegen  mit  Erhaltung  der  Verfassungs- 
formen das  Schwert  des  Diktators  dauernd  geführt  und 
nur  von  den  Schlechten  gefürchtet  zu  werden  braucht,  ^^) 
so  werden  unzweifelhaft  (nach  §  3,  Kap.  6)  die  Mängel 
nicht  zu  einer  solchen  Stärke  anwachsen,  dass  sie  weder 
gehoben  noch  gebessert  werden  können.  Um  nun  diese 
Bedingungen  zu  erfüllen,  habe  ich  den  Rat  der  Syndiken 
der  höchsten  Versammlung  untergeordnet;  damit  ist  jenes 
diktatorische  Schwert  ein  stets  bereites,  aber  bei  keiner 


i*. 


,' 


iM 


144 


Politische  Abb.     Kap.  10.     §  3.  4. 


natürlichen,  sondern  einer  juristischen  Person,  deren  Mit- 
glieder zu  viele  sind,  als  dass  sie  die  Herrschaft  unter  sich 
verteilen  (nach  §  1  und  2,  Kap.  8)  oder  zu  einem  Ver- 
brechen sich  verbinden  könnten. ^59)  d^zu  kommt,  dass 
sie  andere  Staatsämter  nicht  annehmen  dürfen,  dass  sie 
der  Miliz  keinen  Sold  zahlen,  und  dass  sie  in  einem 
solchen  Alter  stehen,  wo  man  das  Gegenwärtige  und 
Sichere  dem  Neuen  und  Gefährlichen  vorzieht.  Deshalb 
droht  dem  Reiche  von  ihnen  keine  Gefahr;  nur  den 
Schlechten  können  und  werden  sie  Furcht  einflössen;  denn 
zur  Verübung  von  Verbrechen  sind  sie  zu  schwach,  aber 
deshalb  zur  Bewältigung  der  Bosheit  um  so  stärker.  Sie 
können  jedem  Unternehmen  in  dessen  Beginn  sich  ent- 
gegenstellen (weil  der  Rat  ohne  Unterlass  besteht),  und 
ihre  Anzahl  ist  so  gross,  dass  sie  ohne  Furcht  vor  Schaden 
einen  oder  den  andern  Mächtigen  anklagen  und  verurteilen 
werden,  zumal  die  Stimmen  mittels  Steinchen  abgegeben 
werden  und  das  Urteil  namens  des  ganzen  Rats  ausge- 
sprochen wird. 

§  3.  In  Rom  hatten  die  Tribunen  auch  eine  dauernde 
Stellung,  aber  für  die  Niederhaltung  der  Macht  eines 
Scipio  waren  sie  zu  schwach;  ausserdem  mussten  sie  ihre 
Anträge  auf  heilsame  Anordnungen  bei  dem  Senat  an- 
bringen, der  sie  oft  dadurch  vereitelte,  dass  er  die  Gunst 
des  Volkes  mehr  auf  den  lenkte,  den  die  Senatoren  weniger 
fürchteten.  Dazu  kam,  dass  das  Ansehen  der  Tribunen 
gegen  die  Patrizier  sich  auf  die  Gunst  des  Volkes  stützte 
und  dass,  wenn  sie  sich  auf  das  Volk  beriefen,  dies  mehr 
den  Schein  eines  Aufstandes  als  die  Einberufung  einer 
Versammlung  annahm.  Alle  diese  Übelstände  finden  bei 
der  m  den  beiden  vorhergehenden  Kapiteln  beschriebenen 
Verfassung  nicht  statt. 

§  j'  Indes  vermag  diese  Macht  der  Syndiken  nur 
die  Verfassung  zu  erhalten  und  die  Gesetzesübertretungen 
und,  dass  aus  Versündigungen  kein  Vorteil  gewonnen 
werde,  zu  verhindern;  allein  das  Syndikat  kann  das 
Einschleichen  von  Übeln  nicht  hindern,  gegen  welche  das 
Gesetz  unvermögend  ist,  und  in  solche  geraten  die  in 
Mtissiggang  lebenden  Menschen,  und  der  Untergang  des 
Reiches  ist  nicht  selten  davon  die  Folge.  Denn  im  Frieden 
legen  die  Menschen  die  Furcht  ab;  aus  wilden  Barbaren 
werden    sie    gesittet  und  mild,   und  die  Milde  führt  zur 


Luxusverbote. 


145 


Weichlichkeit  und  Trägheit;  Jeder  will  dann  den  An- 
deren nicht  in  Tugend,  sondern  in  Aufwand  und  Schwel- 
gerei überbieten,  und  so  beginnt  man  die  guten  alten 
Sitten  zu  verlassen  und  neue  anzunehmen,  d.  h.  sich  skla- 
visch zu  beugen. 

§  5.  Zur  Beseitigung  dessen  hat  man  es  oft  mit 
Luxusverboten  versucht;  allein  vergeblich,  da  alle  Ver- 
ordnungen, die  ohne  Schaden  eines  Anderen  verletzt  wer- 
den können,  nur  dem  Spotte  dienen.  Anstatt  die  Begierden 
und  die  Ausgelassenheit  der  Menschen  zu  zähmen,  reizen 
solche  Verbote  sie  nur;  „denn  man  drängt  immer  nach 
„dem  Verbotenen  und  verlangt  nach  dem  Versagten." 
Auch  verstehen  müssige  Menschen  immer  dergleichen  Ge- 
setze zu  umgehen,  da  sie  Dinge  treffen,  die  man  durchaus 
nicht  verbieten  kann,  wie  Gastmahle,  Spiele,  Putz  und 
Ähnliches.  Hier  ist  nur  das  Übermass  schlecht,  und  dieses 
bestimmt  sich  nach  dem  Vermögen  des  Einzelnen  und 
kann  deshalb  durch  ein  allgemeines  Gesetz  nicht  geregelt 
werden.  ^^^)  ° 

§  6.  Deshalb  können  diese  hier  besprochenen  Übel 
aller  Friedenszeiten  nicht  geradezu,  sondern  nur  mittelbar 
gehemmt  werden,  indem  die  Grundlagen  des  Regiments 
so  gelegt  werden,  dass  die  Mehrzahl  nicht  mit  Weisheit 
zu  leben  braucht  (denn  dies  ist  unmöglich),  sondern  dass 
es  gentigt,  wenn  sie  nur  von  solchen  Leidenschaften  be- 
herrscht wird,  die  dem  Staate  zum  Vorteil  gereichen. 
Deshalb  muss  man  vorzüglich  dahin  streben,  die  Reichen, 
wenn  nicht  sparsam,  so  doch  geizig  zu  machen. lei)  Wenn 
diese  Neigung,  welche  an  sich  allgemein  und  beständig 
ist,  noch  durch  Ehrgeiz  unterstützt  wird,  so  werden  un- 
zweifelhaft die  Mehrzahl  nur  auf  Vermehrung  ihres  Ver- 
mögens in  rechtlicher  Weise  bedacht  sein  und  aus  diesem 
brunde  nach  den  Würden  verlangen  und  jede  Schmach 
vermeiden.  Und  geht  man  auf  die  Grundlagen  beider 
a  ormen  des  aristokratischen  Regiments,  wie  ich  sie  in  den 
vorgehenden  Kapiteln  dargelegt  habe,  zurück,  so  erhellt, 
üass  solche  hier  beschriebene  Folgen  sich  daraus  ergeben. 
Denn  m  beiden  Formen  ist  die  Zahl  der  Regierenden  so 
gross,  dass  den  meisten  Reichen  der  Zugang  dazu  und  die 
ii^rlangung  der  Würden  des  Reichs  offen  steht. 

§  7.  Wird  ausserdem  bestimmt  (wie  ich  in  §47,  Kap.  8 
gesagt),  dass  verschuldete  Patrizier  aus  ihrem  Stande  aus- 


■Hi 


146 


Politische  Abh.     Kap,  10.     §  8.  9. 


gestossen  werden  und  dass  die  durch  Unglück  Zurück- 
gekommenen Ersatz  erhalten,  so  werden  unzweifelhaft  alle 
auf  Erhaltung  ihres  Vermögens  bedacht  sein.  Sie  werden 
ferner  nicht  nach  fremden  Sitten  verlangen  und  der  Sitten 
ihrer  Väter  nicht  überdrüssig  werden,  wenn  das  Gesetz  be- 
stimmt, dass  die  Patrizier  und  die  Kandidaten  zu  Ämtern 
durch  eine  besondere  Tracht  sich  unterscheiden,  wie  §  25 
und  47,  Kap.  8  gesagt  worden  ist.  Auch  sonst  kann  für 
jedes  Regiment  nach  Beschaffenheit  des  Landes  und  des 
Charakters  des  Volkes  noch  manches  ausgedacht  werden, 
was  vorzüglich  dahin  führt,  dass  die  ünterthanen  ihre 
Pflichten  mehr  freiwillig  als  aus  den  Zwang  des  Gesetzes 
erfüllen. 

§  8.  Ein  Regiment,  was  nur  auf  die  Leitung  seiner 
Angehörigen  durch  die  Furcht  bedacht  ist,  wird  weniger 
Mängel  haben,  als  wenn  es  auf  die  Tugend  rechnet;  den- 
noch ist  es  besser,  die  Menschen  so  zu  leiten,  dass  sie 
dieser  Leitung  nicht  inne  werden,  sondern  meinen,  nach 
ihrem  eigenen  Sinne  und  freien  Entschlüsse  zu  leben; 
dann  werden  sie  durch  die  blosse  Liebe  zur  Freiheit, 
durch  den  Eifer,  ihre  Mittel  zu  vergrössern,  und  durch  die 
Hoffnung,  die  Ehrenstellen  des  Staats  zu  erlangen,  in  Ord- 
nung erhalten.  Im  Übrigen  sind  die  Bildwerke,  die 
Triumphe  und  andere  Anreize  zur  Tugend  eher  das  Zeichen 
von  der  Knechtschaft  als  von  der  Freiheit;  denn  nur  den 
Knechten,  aber  nicht  den  Freien  gewährt  man  eine  Be- 
lohnung für  ihre  Tugend.i^^)  Allerdings  werden  die  Men- 
schen durch  diese  Reizmittel  wesentlich  bestimmt;  allein 
dergleichen  wird  zwar  anfänglich  nur  grossen  Männern 
gewährt;  später  aber,  bei  zunehmender  Eifersucht  erhalten 
die  Trägen  und  durch  ihre  Reichtümer  Aufgeblasenen 
zum  grossen  Ärger  aller  rechtlichen  Leute  diese  Aus- 
zeichnungen. Zuletzt  halten  sich  sogar  Die  für  beleidigt, 
welche  sich  der  Standbilder  und  Triumphe  ihrer  Vorfahren 
rühmen,  wenn  sie  den  Übrigen  nicht  vorgezogen  werden. 
So  viel  ist,  ohne  Anderes  zu  erwähnen,  gewiss,  dass  wenn 
einmal  die  Gleichheit  abgelegt  ist,  auch  die  allgemeine 
Freiheit  untergeht,  und  dass  sie  in  keiner  Weise  erhalten 
werden  kann,  wenn  einem  einzelnen,  durch  seine  Tugenden 
hervorragenden  Manne  besondere  Ehren  von  Staatswegen 
zugesprochen  werden. 

§  9.  Dies  vorausgesetzt,  ist  zu  prüfen,  ob  ein  solches 


Bedenken  gegen  d.  Dauer  d.  aristokr.  Regiments.      147 

Regiment  in  selbstverschuldeter  Weise  zu  Grunde  gehen 
kann.    Kann   nun   überhaupt  ein  Regiment  ewig  dauern 
so  muss  es  das  sein,  dessen  Verfassung  sich,  nachdem  sie 
einmal  richtig  begründet  worden,  unverletzt  erhält.   Denn 
die  Seele   des  Staats   ist   das  Recht,    und  bleibt  dies  ge- 
schützt, so  bleibt  auch  der  Staat  unversehrt.    Die  Rechte 
können  aber  nur  gelten,  wenn  di^  Vernunft  und  die  all- 
gemeinen Triebe  der  Menschen  sie  schützen;  stützen  sie  sich 
dagegen  nur  auf  die  Hülfe  der  Vernunft,  so  bleiben  sie 
schwach  und  werden  umgestossen.  i63)   Da  ich  nun  gezeigt 
habe,  dass  die  Verfassung  beider  Arten   des  aristokrati- 
schen Regiments  sowohl   mit   der  Vernunft,    als  mit  den 
allgemeinen  Trieben  der  Menschen  übereiubiimmen,  so  kann 
ich  behaupten,  dass,  wenn  irgend  ein  Regiment,  sicherlich 
dieses  von  ewiger  Dauer  sein  werde,  und  dass  keine  in- 
nere Schuld,  sondern  höchstens  ein  unvermeidliches  äusser- 
liches  Unglück  164)  es  zerstören  kann. 

§  10.  ^  Man  kann   mir  noch  einwenden,   dass,   wenn 
auch   die   im  Vorgehenden  beschriebene  Staatsverfassung 
durch  die  klare  Vernunft  und  die  allgemeinen  Neigungen 
der  Menschen   geschützt  werde,   sie  doch   mitunter  ver- 
nichtet werden  könne,  weil  jeder  Trieb  von  einem  an- 
deren, der  stärker  und  entgegengesetzt  ist,  überwunden 
werde  und  selbst  die  Furcht  vor   dem  Tode  oft  von  der 
Begierde  nach  fremdem  Besitz  überwunden  werde.    Die, 
welche  in  Schrecken  vor  dem  Feinde  fliehen,  können  durch 
kein  anderes  Schreckmittel  zurückgehalten  werden;  viel- 
mehr   stürzen    sie    sich   in    Ströme    oder   rennen   in  das 
Feuer,  um  dem  Schwert  der  Feinde  zu  entgehen.  Wenn 
daher  der  Staat  auch  noch  so  gut  eingerichtet  und  seine 
Verfassung  bestens  geordnet  ist,  so  werden  doch  alle  bei 
einer  grossen  Not  des  Staates,  wo  sie,  wie  bekannt,  von 
einem  panischen  Schrecken  erfasst  werden,  nur  das  ver- 
langen, was  die  gegenwärtige  Furcht  rät,  und  weder  auf 
die  Zukunft,    noch    auf  die  Gesetze  Rücksicht   nehmen, 
i^eshalb  wenden    sie    in    solchen   Fällen    sich    an    einen 
durch  seine  Siege  berühmten  Mann,  befreien  ihn  von  den 
besetzen,  verlangen  seine  Herrschaft  (das  schlimmste  Bei- 
spiel) und  vertrauen   den  ganzen  Staat  seiner  Treue  an. 
Um  war  allerdings  die  Ursache,  dass  der  römische  Staat 
zu  Grunde  ging;  allein  auf  diesen  Einwand  antworte  ich 
zunächst,  dass  in  einem  wohl  eingerichteten  Staate  ein 


148 


Politische  Abh.    Kap.   11.    §  1. 


Schrecken  solcher  nur  bei  gegründetem  Anlass  entsteht; 
deshalb  kann  ein  solcher  Schrecken  und  die  daraus  her- 
vorgehende Verwirrung  keinem  Umstand  zugeschrieben 
werden,  welchen  die  menschliche  Vorsicht  hätte  vermeiden 
können.  Sodann  kann  bei  der  von  mir  im  Vorgehenden 
beschriebenen  Verfassung  es  nicht  vorkommen  (nach  §  9 
und  25,  Kap.  8),  dass  Einer  oder  der  Andere  durch  den 
Ruhm  seiner  Tugend  so  hervorragt,  dass  Aller  Augen  sich 
auf  ihn  richten;  vielmehr  wird  er  mehrere  Nebenbuhler 
haben,  die  von  andern  unterstützt  werden.  Wenn  also 
auch  der  Schrecken  einige  Verwirrung  in  dem  Staate  ver- 
anlasst, so  wird  doch  niemand  die  Gesetze  betrügerisch 
umgehen  und  einen  Einzelnen  gegen  die  Gesetze  zur 
militärischen  Herrschaft  erheben  können,  ohne  dass  nicht 
sofort  andere  Nebenbuhler  sich  erheben.  Ein  solcher 
Streit  kann  also  nur  entschieden  werden,  wenn  man  zu 
den  feststehenden  Satzungen  und  zu  den  von  allen  ge- 
billigten Gesetzen  zurückgreift  und  die  Staatsangelegen- 
heiten nach  dem  bestehenden  Rechte  erledigt.  Ich  kann 
daher  unbedingt  behaupten,  dass  sowohl  ein  solches  Re- 
giment einer  Stadt,  und  noch  mehr  das  mehrerer  Städte, 
einen  ewigen  Bestand  haben  und  durch  keinen  innern 
Grund  untergehen  oder  in  eine  andere  Form  übergehen 
werde.  ^^) 


Elftes  Kapitel. 

§  1.  Ich  komme  nun  zu  dem  dritten  und  gänzlich 
unbeschränkten  Regiment,  was  ich  das  demokratische 
nenne.  Sein  Unterschied  von  dem  aristokratischen  be- 
steht, wie  erwähnt,  hauptsächlich  darin,  dass  es  bei  letz- 
terem nur  von  dem  Beschluss  der  höchsten  Versammlung 
und  von  der  freien  Wahl  abhängt,  wer  zum  Patrizier  ge- 
wählt werden  soll;  deshalb  kann  bei  diesem  Regiment 
Niemand  ein  Stimmrecht  oder  ein  Recht  zu  Aemtern 
vermöge  seiner  Abstammung  geltend  machen  oder  von 
Rechts  wegen  fordern,  wie  dies  bei  dem  Regiment  der 
Fall  ist,  was  ich  jetzt  behandeln  will;  hier  können  viel- 
mehr Alle,  deren  Eltern  Bürger  sind,  oder  die  in  dem 
Lande  geboren  sind,  oder  sich  um  den  Staat  verdient  ge- 


Das  Wesen  des  demokratischen  Regiments.  149 

macht  haben,  oder  sonst  nach  den  Gesetzen  das  Bürger- 
recht erlangt  haben,  in  der  höchsten  Versammlung  mit- 
stimmen und  auf  die  Staatsämter  Anspruch  machen,  wenn 
sie  nicht  ein  Verbrechen  begangen  oder  ihre  Ehre  ver- 
loren haben. 

§  2.  Wenn  deshalb  nach  der  Verfassung  auch  die 
Ältesten,  welche  ein  gewisses  Alter  erreicht  haben, 
oder  die  Erstgeborenen,  nach  Erreichung  eines  gewissen 
Alters,  oder  Die,  welche  einen  gewissen  Betrag  an  Steuern 
dem  Staate  entrichten,  das  Stimmrecht  in  der  höchsten 
Versammlung  haben  und  die  Staatsangelegenheiten  be- 
sorgen dürfen,  sowird  ein  solches  Regiment,  selbst  wenn 
dadurch  die  höchste  Versammlung  aus  weniger  Bürgern 
bestände  als  bei  dem  vorbeschriebenen  aristokratischen 
Regiment,  dennoch  ein  demokratisches  sein,  weil  die  zur 
Staatsleitung  befruenen  Bürger  nicht  als  die  Besten  von 
einer  höchsten  Versammlung  gewählt  werden,  sondern 
nach  dem  Gesetze  dazu  berechtigt  sind,  fiin  solches 
Regiment,  wo  nicht  die  Besten,  sondern  die  zufällig  reich 
Gewordenen  oder  Erstgeborenen  zur  Staatsleitung  befugt 
sind,  scheint  allerdings  dem  aristokratischen  Regiment 
nachzustehen;  indes  wird  in  der  Ausübung  und  infolge 
der  gleichen  Lage  der  Menschen  die  Sache  ziemlich  auf 
Eins  hinauskommen;  denn  den  Patriziern  werden  immer 
Die  als  die  Bessern  gelten,  welche  reich  oder  ihre  Ver- 
wandte oder  Freunde  sind.  Wäre  es  mit  den  Patriziern 
so  beschaffen,  dass  sie  bei  der  Wahl  ihrer  Standesgenos- 
sen sich  von  aller  Zuneigung  freihielten  und  nur  durch 
die  Sorge  um  das  allgemeine  Wohl  leiten  Hessen,  so  könnte 
kein  anderes  Regiment  mit  dem  aristokratischen  sich  mes- 
sen. Indes  hat  die  Erfahrung  genügend  gelehrt,  dass  die 
öachen  sich  umgekehrt  verhalten ,  namentlich  in  Oligar- 
5  »V  ^**  ^^^  Eigenwille  der  Patrizier  wegen  der  fehlen- 
den Mitbewerber  am  meisten  von  den  Gesetzen  sich  befreit. 
Hier  halten  die  Patrizier  absichtlich  die  Besten  von  der 
Versammlung  fern  und  suchen  nur  nach  solchen  Genos- 
sen, die,  wie  sie  es  verlangen,  stimmen.  Deshalb  ist  ein 
öiaat  mit  solchem  Regiment  in  einer  viel  traurigem  Lage, 
ca  die  Wahl  der  Patrizier  von  der  unbeschränkten  und 
aurch  kein  Gesetz  gehemmten  Willkür  Weniger  abhängt; 
üoch  ich  kehre  zu  meiner  Aufgabe  zurück. 

§  3.  Aus  dem  im  vorgehenden  Paragraphen  Gesagten 


i 


150 


Politische  Abh.     Knp.  11.     §  4. 


Das  Regiment  der  Frauen. 


151 


erhellt,  dass  es   verschiedene  Arten  des  demokratischen 
Regimentes   geben   kann.     Indes   will   ich  nur  von  der- 
jenigen   handeln,    bei  welcher  alle   ohne  Ausnahme  das 
Stimmrecht   in    der  höchsten  Versammlung   und  die  An- 
wartschaft auf  die  Staatsämter  haben,  sofern  sie  nur  dem 
einheimischen  Recht  unterthan,  selbständig  und  von  recht- 
schaffenem  Lebenswandel    sind.    Ich    sage  ausdrücklich: 
„sofern  sie  dem  einheimischen  Recht  unterthan  sind",  um 
die  Fremden  auszuschliessen,  die  unter  fremder  Herrschaft 
stehen.  Ich  habe  ferner  die  Selbständigkeit  verlangt,  um 
die  Frauen  und  Knechte  auszuschliessen,  die  in  der  Ge- 
walt der  Männer  oder  Herrn  sich  befinden,  und  ebenso 
die  Kinder  und  unmündigen,  welche  in  der  Gewalt  der 
Eltern   oder  Vormünder   sich    befinden.    Ich    habe   end- 
lich gesagt:  „die  von  rechtschaffenem  Lebenswandel  sind", 
um  Die  auszuschliessen,  welche  wegen  eines  Verbrechens 
oder  eines  schändlichen  Lebenswandels  als  ehrlos  gelten.^^) 
§  4.    Indes  kann  man   fragen,   ob   die   Frauen  in- 
folge  natürlicher  Umstände  oder  nur  durch  menschliche 
Einrichtungen  unter  der  Gewalt  der  Männer  stehen  ?  Wäre 
nur  Letzteres  der  Fall,  so  hätten  wir  keinen  vernünftigen 
Grund,   die  Frauen  von  der  Regierung  auszuschliessen. 
Fragt  man  indes  die  Erfahrung,  so  scheint  ihre  Schwäche 
der  Anlass   dazu  zu  sein;    denn  nirgends  haben  Männer 
und  Frauen  gleichzeitig  regiert,  vielmehr  sieht  man,  dass 
überall,  wo  Männer  und  Frauen  angetroffen  werden,  die 
Männer    als  Regierer   und   die  Frauen  als  Regierte  und 
beide  Geschlechter  in  dieser  Weise  einträchtig  miteinander 
leben.    Dagegen   sollen   die  Amazonen,   welche  ehedem, 
wie  man   erzählt,  geherrscht  haben,  den  Männern  den 
Aufenthalt   in   ihrem  Lande   nicht  gestattet  und  nur  die 
weiblichen  Kinder  aufgezogen,  die  männlichen  aber  nach 
der  Geburt  getödtet  haben.  Wären  die  Frauen  von  Natur 
in  Festigkeit  und  Schärfe  des  Geistes  den  Männern  gleich, 
so  würden  sie,  da  hierauf  die  Macht  der  Menschen  und 
das  Recht  hauptsächlich  beruht,   auch  ebensoviel  gelten, 
und   man  würde  unter  so  vielen  und  verschiedenen  Völ- 
kern sicherlich  einzelne  finden,  wo  beide  Geschlechter  eine 
gleiche  Herrschaft  führten,  und  andere,    wo  die  Männer 
von  den  Frauen  regiert  und  so  erzogen  würden,  dass  sie 
ihnen  an  ßilduug  nachständen.     Allein  dies  ist  nirgends 
der  Fall,  und  so  kann  man  behaupten,   dass  die  Frauen 


von  Natur  kein  gleiches  Recht  mit  den  Männern  haben, 
sondern  den  Männern  nachstehen.  Deshalb  ist  eine  gleiche 
Herrschaft  beider  Geschlechter  unmöglich,  und  noch  we- 
niger eine  Herrschaft  der  Frauen  über  die  Männer,  i^?) 
Betrachtet  man  ferner  die  menschlichen  Leidenschaften 
und  sieht  man,  dass  die  Männer  die  Frauen  meist  nur 
aus  Sinnlichkeit  lieben  und  ihren  Geist  und  ihre  Weisheit 
nur  soweit  schätzen,  als  ihre  Schönheit  dabei  hilft,  und 
dass  die  Männer  es  nicht  vertragen,  wenn  die  von  ihnen 
geliebten  Frauen  andere  Männer  in  irgend  einer  Weise 
begünstigen,  und  nimmt  man  noch  Anderes  der  Art  hinzu, 
so  ergiebt  sich  leicht,  dass  eine  gleichzeitige  Regierung 
der  Männer  und  Frauen  nicht  ohne  grosse  Gefahr  für  den 
öffentlichen  Frieden  möglich  ist.    Doch  genug  davon,  ^^s) 

(Das  Übrige  fehlt.) 


-^^?<- 


3'J 


Georg  Weiss  Verlag,  Heidelberg. 

Philosophisclie  Monatshefte. 

Unter  Mitwirkung  von  Dr.  F.  Ascherson  sowie  mehrerer 
namhaften  Fachgelehrten  redigiert  und  herausgegeben   ron 

Prof.  P.  Natorp  in  Marburg  (Hessen). 

Die  Philosophischen  Monatshefte  werden,  ihrem  bisherigem 
Programme  getreu,  auch  ferner  keiner  Schule  und  keinem 
System  dienen,  vielmehr  den  verschiedenen  Seiten  und  Rich- 
tungen der  wissenschaftlichen  Bewegung  auf  dem  ihnen  zuge- 
hörigen Felde  freies  Spiel  geben.  Das  Interesse  daran,  dass 
die  Philosophie  deutscher  Zunge  durch  eine  möglichst  alle  in  ihr 
lebenskräftigen  Richtungen  zum  Ausdruck  bringende  Fachzeltschrift 
vertreten  sei,  gilt  uns  als  ein  allgemeines,  dem  das  Sonder- 
interesse  einzelner  Richtungen  sich  durchaus  unterzuordnen  hat. 
Doch  gilt  uns  nur,  was  sich  wissenschaftlich  ausweisen  kann, 
als  berechtigte  Partei. 

Neben  der  Förderung  der  systematischen  Aufgaben  der  Phi- 
losophie, und  um  ihrer  willen,  wird  die  Pflege  ihres  geschicht- 
lichen Studiums  unser  Augenmerk  sein.  Die  Verknüpfung  der 
geschichtlichen  mit  der  systematischen  Arbeit  gilt  uns  als  Grund- 
satz, die  Lostrennung  jeuer  von  dieser  als  bedenklicher  Abweg. 

Endlich  möchten  wir  noch  auf  das  Bündnis  der  Philosophie 
mit  den  Einzel  Wissenschaften  besonderen  Nachdruck  legen.  Inner- 
halb der  Spezialwissenschalten  selbst  wird  das  Bedürfnis,  über 
philosophische  Fragen  sich  Rechenschaft  zu  geben,  wieder  stär- 
ker empfunden.  Gerne  wollen  die  Monatshefte  sich  da  allen 
gediegenen,  auf  eine  regere  Wechselbeziehung  zwischen  Philo- 
sophie und  Wissenschaften  gerichteten  Bestrebungen  als  Organ 
zur  Verfugung  stellen. 

Und  so  möchten  sie  in  jeder  Richtung  Verständigung  an- 
bahnen, die  Gesammtheit  des  wissenschaftlichen  Interesses  der 
Philosophie  vertreten  und  ihre  mannigfachen  Bestrebungen  in 
einem  Brennpunkt  sammeln.  Deshalb  gilt  für  sie  keine  an  der 
Partei  als  die  Partei  der  Arbeit. 

Die  Redaction  wird  von  einer  bedeutenden  Zahl  namhafter 
Gelehrten  Deutschlands,  Oesterreichs  und  der  nordischen  Länder 
thatkräftig  unterstützt.  Durch  Original-Abhandlungen,  Analysen 
und  kürzere  Referate  Über  alle  beachtenswerthen  Erscheinungen 
der  philos.  Litteratur,  die  von  Dr.  F.  Ascherson  besorgte  voll- 
ständige Bibliographie,  sowie  Auszüge  und  Mittheilungen  aus  deut- 
schen und  fremden  Zeitschriften  sind  die  Monatshefte  bemüht,  die 
Aufgaben  der  Philosophie  zu  fördern  und  vom  Fortgange  der 
Arbeit  an  denselben  getreu  und  vollständig  Rechenschaft  zu  geben. 

Die  Philos.  Monatshefte  erscheinen  in  Bänden  zu  10  Heften, 
in  der  Regel  in  Doppelheften,  zum  Abonnementspreis  von  12  M. 
Einzelne  Hefte  kosten  2  M.,  Doppelhefte  4  M.