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ABHANDLUNGEN
DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN GÖTTINGEN
ABHANDLUNGEN
DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
IN GÖTTINGEN
PHILOLOGISCH-HISTORISCHE KLASSE
Neue Folge
Band 2
Unveränderter Nachdruck
mit Genehmigung
der Akademie der Wissenschaften
in Göttingen
Kraus Reprint
A Division of
Kraus-Thomscn Organization Limited
Nendeln/Liechtenstein
in Verbindung mit Vandenhoeck & Ruprecht
Göttingen
1970
s
blij
Printed in Germany
Lessingdruckerei Wiesbaden
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN
ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH -HISTORISCHE KLASSE,
NEUE FOLGE. BAND II.
AUS DEN JAHREN 1897 — 1899.
Mit 2 Tafeln und 7 Karten.
BERLIN.
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1899.
Inhalt.
M. Wellmann, Krateuas. Mit 2 Tafeln.
R. Smend, Das hebräische Fragment der Weisheit des Jesus Sirach.
A. Schulten, Die Lex Manciana.
G Kaibel, Die Prolegomena nsgl xay^Kpdiag.
F. Bechtel, Die einstämmigen männlichen Personennamen des Griechischen, die
aus Spitznamen hervorgegangen sind.
W. Meyer, Die Spaltung des Patriarchats Aquileja.
A. Schulten. Die römische Flurtheilung und ihre Reste. Mit 5 Figuren in Text
und 7 Karten.
G. Roethe, Die Reimvorreden des Sachsenspiegels.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH -HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 1.
KRATEUAS.
Von
M. "Wellmann
in Stettin.
Mit zwei Tafeln.
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1897.
Krateuas.
Von
M. Wellmann in Stettin.
Mit zwei Tafeln.
Vorgelegt von Herrn F. Leo in der Sitzung vom 20. März 1897.
Von dem botanisch - pharmakc ogischen Werke des Krateuas, des Leib-
arztes des grossen Mithridates VI Eupator , sind zwar Bruchstücke in nicht
geringer Zahl von Dioskurides, Plinius, Galen und von den Commentatoren des
Theokrit und Nikander erhalten , sie sind aber bis auf wenige Ausnahmen so
wenig umfangreich, dass sie einen volleren Einblick in seine Art der Behand-
lung jenes seit dem Beginn des 4. Jhs. oft genug von den Aerzten tractierten
Zweiges der medicinischen Wissenschaft nicht gestatten. Die Erkenntnis , die
wir durch sie gewinnen, dass er die von ihm behandelten Pflanzen beschrieben '),
mit Synonymen versehen2) und ihre medicinischen Wirkungen angegeben hat3),
ist nur insofern von Bedeutung, als sie uns zu der Schlussfolgerung zwingt, dass
sein Werk im Allgemeinen in der Behandlung des Stoffes dem des Dioskurides
geglichen hat. Der Titel lautete nach dem unanfechtbaren Zeugnis des Scho-
1) Vgl. Diosk. praef. 2. I 28, 43. II 153, 271. II 185, 296. Schol. Nik. Ther. 617 = D. IV
162, 651. Schol. Nik. Ther. 856. 860. Schol. Theokr. U 48. Vgl. Herrn. Köbert de pseudo-
Apulei herb, medicaminibus, Bayreuther Programm 1888, 17.
2) Plin. XIX 165. D. II 185, 296. IV 35, 531. IV 75, 569. Schol. Nik. Ther. 617. 656.
858. 860.
3) Plin. XXIV 167 = D. IV 116. Plin. XX 63 = D. II 165. Plin. XXII 75. Schol. Nik.
Ther. 680. 683. Schol. Theokr. XI 46. D. II 185, 296.
1*
4 W. WELLMANN,
liasten zu Nikander Ther. 681 pt£orofwxoV 4) d. h. Wurzel- oder Kräuterbuch,
ein Titel , der ihm den Beinamen des Kräutersammlers (pt^ordfiog) xaz1 i%oxtfv
einbrachte, und über die Bücherzahl erfahren wir von dem Verfasser der pseu-
dogalenischen Schrift de virtute centaureae, dass es aus mindestens drei Büchern
bestanden hat. Mit diesem Titel ist eine Notiz des Galen (XV 134) unverein-
bar , in der ausdrücklich von ihm auch die Behandlung der medicinischen Wir-
kungen der Metalle in der Art des Dioskurides bezeugt wird : iya psv ya,Q ov
cpsvya xä nccXccia xqityjqlcc xccl tr\v 6v^,(pcovCav tav l<SxoQY\<5dvT&v , xccl {idliözcc dv
stineiQog xi]g löroQOv^tvrjg vXrjg sl'rjv, (öötisq Evdr}{iog ^lbv xccl 'HgocpiAog dvato^rlg,
Kgccrevag Ö£ xccl 4ioöxovQidr\g r&v yLsraXlixüv (pctQudxcov. Gestützt wird dies
Zeugnis des Galen durch die Charakteristik , die Dioskurides in der Vorrede
seines Werkes von ihm giebt : „ Jollas von Bithynien und Herakleides von Ta-
rent haben diese Materie nur oberflächlich abgehandelt, da sie die Beschrei-
bungen der Pflanzen gänzlich bei Seite gelassen sowie die Metalle und Specereien
nicht alle behandelt haben. Krateuas dagegen der Rhizotom und Andreas der
Arzt, welchen das Verdienst gebührt, dass sie die Arzneimittellehre genauer als
alle übrigen behandelt haben, haben viele sehr wirksame Wurzeln und einige
Pflanzen unbeschrieben' (cc7taQa67]U£icjtovg) 5) gelassen". Hätten die beiden zuletzt
genannten Vorgänger die Metalle und Specereien überhaupt nicht behandelt, so
hätte Dioskurides ihnen nicht das wenn auch nicht uneingeschränkte Lob den
beiden zuerst genannten Aerzten gegenüber zu Teil werden lassen. Die That-
sache lässt sich also durch keine Ausflucht aus der Welt schaffen, dass Kra-
teuas die Specereien und naturgemäss auch die daraus zusammengesetzten Sal-
ben sowie die Wirkungen der Metalle behandelt hat. Mithin kann das von
Dioskurides und Galen benützte Werk nicht dasselbe sein, dessen Titel wir
dem Nikanderscholiasten verdanken , sondern entweder hat Krateuas neben
seinem Kräuterbuch noch eine zweite pharmakologische Schrift tcsqI iistaXfaxcbv
(puQiiccxav xccl ccQcoiidtcov verfasst, oder wir haben anzunehmen, dass er ausser
dem QiloToyLixov noch ein umfassenderes pharmakologisches Werk in der Art der
dioskurideischen Schrift itsgl vlr\g i'atQixijg verfasst hat 6).
4) Vgl. Ps. -Galen de virtute centaureae Vol. XIII (ed. Charterius Lutetiae, Paris. 1679), 1010 :
ut Crateuas dicit in tertio libro eorum, quae eradicantur. Dieser Titel ist dem Kräuterbuch des
Diokles von Karystos (Schol. Nik. Ther. 647) entlehnt, das die letzte für uns erreichbare Quelle
(etwa 380) auf diesem Gebiete ist. Vgl. M. Well mann, das älteste Kräuterbuch der Griechen,
Festgabe für Prof. Susemihl Leipz. 1897 S. lff. §i£oroiiiy.ä schrieb der Uebersetzer des Mago
Cassius Dionysius (Steph. v. Byz. s. 7rvx?]), QifrrotLovfisvcc Mikkion (1. Jh. v. Chr.), eine STtirofii}
Qi£oToiiov[itv(ov Metrodoros (unter Augustus, vgl. Plin. XX 214), ein ^oro^txov ein sonst unbe-
kannter Eumachos aus Korkyra und mehr in lexikalischer Art der Glossograph Amerias (Ath.
XV 681 f.). 'Des Andreas Hauptwerk führte den Titel v&Qd-r\% (Arzneikästchen).
5) Die richtige Erklärung dieses Wortes hat H. Köbert gegeben a.a.O. 17. Vgl. dagegen
E. Meyer Geschichte der Botanik I 251.
6) Die Behauptung von Rosenbaum - Sprengel Gesch. d. Med. I 593 A. 43, dass in der
Wiener Hofbibliothek eine Schrift des Krateuas unter dem Titel 'JaiQoaocpov (sie) Kgccrevov rov
KRATEUAS. 5
Wenn endlich Plinius an berühmter Stelle seiner Naturgeschichte (XXV 8)
ein illustriertes Herbarium des Krateuas erwähnt, so versteht es sich von selbst,
dass es von dem Qit,oxo\iix6v des Nikanderscholiasten sowie von dem Quellen-
werk des Dioskurides und Galen verschieden ist. Dies folgt weniger aus dem
völligen Schweigen der betreffenden Schriftsteller von solchen Abbildungen als
aus der verschiedenen Anlage dieses Herbariums : das Quellenwerk jener Au-
toren enthielt nach ihrem eigenen Zeugnis Pflanzen beschreib ungen, in dem
illustrierten Herbarium des Krateuas dagegen waren nach dem unantastbaren
Zeugnis des Plinius die Beschreibungen durch Pflanzenabbildungen ersetzt.
Die Originalwerke dieses Rhizotomen sind für uns unwiderbringlich ver-
loren, trotzdem die Anführungen bei Galen es ausser Zweifel setzen, dass er
noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts gelesen wurde : sie wurden all-
mählich von der epochemachenden Pharmakopoe des Dioskurides verdrängt.
Der bekannte Paduaner Botaniker Luigi Anguillara aus der Mitte des 16.
Jahrhunderts hatte in seiner kleinen Schrift über die einfachen Arzneimittel
(Semplici delF eccellente Luigi Anguillara Vinegia 1561) eine Reihe von angeb-
lichen Bruchstücken des Krateuas aus einer griechischen Handschrift herausge-
geben 7) , und seit der Zeit mühten sich die modernen Botaniker , die von ihm
benützte Handschrift aus dem Staube der italienischen Bibliotheken hervorzu-
ziehen. C. Sprengel 8) glaubte sie mit einer von seinem Freunde Dr. Weigel
auf der Markusbibliothek in Venedig eingesehenen Hds. identificieren zu dürfen :
dass seine Meinung irrig war, hat E. Meyer in seiner Geschichte der Botanik 9)
schlagend erwiesen. Ich kann nach genauer Prüfung der in Betracht kom-
menden Handschriften versichern, dass sich auf der Markusbibliothek keine Kra-
teuashds. befindet , wohl aber zwei Dioskurideshdss. , die allerdings mehrere der
vom Constantinopolitanus bewahrten Krateuas fragmente enthalten, aber nicht
die von Anguillara edierten10). Die Handschrift des Anguillara ist also ver-
Qi£ot6(iov Ttsgl vXr\g largmiig erhalten sei, beruht auf einem Missverständnis der citierten Stellen
aus den Commentarien des Lambecius. Darnach wird im cod. histor. gr. 98 (beschrieben im Sup-
plementum Kollarii sub no. CXXXIII) fol. 33 r unter den Schätzen des Antonius Cantacuzenus eine
Hds. mit folgendem Inhalt angeführt: »BißXCov tu'' 'IccrQoooyiov btsqov, ßißXi'ov [isyäXo. ncci i%ti
ccQXV *ov yaXr\vov. xov ^svävos- (ieXetiov tov üocpov. ■nQarsvcc rov qi£ot6[iov ^sqi-a.öv eis rrjv vXr\v
tr\v laxQiv.rivu etc. Ich verdanke die Richtigstellung dieses Irrtums der liebenswürdigen Mitteilung
des Herrn Custos der k. k. Hofbibliothek Dr. Alfred Göldlin von Tiefenau.
7) Vgl. Semplici p. 27 : mi ritrovo nelle mani alcuni fragmenti di diversi autori Greci scritti
ä penna antichi, ne'quali si legge quanto dell' asaro scrisse Crateua.
8) Gesch. d. Med.4 S. 593.
9) Vgl. S. 253 f.
10) Die beiden Hds. sind: cod. Marc. CCLXXI s. XV (vj, ein Vertreter der interpolierten
Handschriftenklasse, und der cod. Marc. XCII s. XIII (v) , der den alphabetisch umgearbeiteten
Dioskurides enthält fol. 92 v ff. Auf fol. 1 dieser Hds. steht ein von moderner Hand beigefügtes
Inhaltsverzeichnis, das zu dem in ihr fol. 36 r — 38 v enthaltenen Xit,iv.bv rfjs rüv ßoravätv fp^/j-
veicce xara 6toi%eiov die willkührliche Zusatzbemerkuug trägt : forse di Crateua. In Wirklichkeit
6 M. VELLMA N N ,
schollen, keine Kunde hat sich von irgend einer Bibliothek erhalten, die je diese
Bruchstücke besessen hätte. Ihr Verlust wäre an sich ein bedauerliches Factum;
wenn nun aber die Confrontation der von Anguillara angeführten Proben mit
dem Texte des alphabetisch umgearbeiteten Dioskurides zu dem überraschenden
Ergebnis führt, dass die Mehrzahl seiner angeblichen Krateuasfragmente aus
dieser Quelle geflossen^ also auf den Namen des Krateuas gefälscht sind, so zer-
fallen die hochgespannten Erwartungen, die sich an das Wiederauffinden dieser
Handschrift geknüpft haben , in Nichts.
Das umfänglichste der von Anguillara angeführten Bruchstücke handelt
von der Haselwurz (ccöccqov Asarum europaeum L. Fraas 267) und lautet nach
ihm S. 27 : ßozdvr} svcodrjg , özscpavco^iazixrj , xavMa ycoviosidi] , (pvlla daösa,
av&ri ds itogcpvQä, svadrig q%cc (sie), oftota zfi zov slksßoQov, iotxvla zr\ dö^ifj
xlvcciujug). ysvvazai ds sv zgaftsöt, %cjQLOLg xal avCxpoig) zavzrjg r\ Qit,a sifjYjd'sZöa
iv vdazi ßorj&st Qr]y^ia6L <57ta<5yia6i , dvöitvoia , ßrjxl %QOvia , dvöovQia. äysi ds
xal Spiriva xal &YiQiodrjxzoig xQ^öifiog 6vv ol'va) dido{iEvr}. zä tpvXla özvitzixa
ovza xal xara7tla666[isva (bcpslsl sCg xstpalaXyiav , ocpfraliicbv cpksypoväg xal
aiyiXcjnag ccQiO{isvovg xal paözovg ix zöxwv (plsy{iaCvovtag xal SQv6i7tsXaza.
s6ti ds xal vTtvoitoibg rj oö^ij. Darüber dass die Worte des Krateuas so hätten
lauten können , wird Niemand Zweifel hegen ; aber eine vortreffliche , unan-
tastbare Ueberlieferung bezeugt , dass sie thatsächlich anders gelautet haben.
Sein Bericht ist im Constantinopolitanus n) auf fol. 31 r unter dem Text des
Dioskurides erhalten:
Kgazsvag Qt^oto^LLXÖg (mit roter Tinte)
"Aöagov dvva^iLv s%sl &SQ[iavzi,xriv xal diovgrizLxyjv , ccQ[i6£ov6av vdQ(x)7tixolg,
L6%id8i %QOvCa' ayovöiv (ai QL^ai) xal su[irjva ' [isza [isfoxgdzov ds Tto&siöai,
7ik)]frog ?5 &$ skksßoQog Xsvxbg xad-atQOvöi' \Liyvvvzai ds xal ^ivgotg xal
ccvztdozoig.
1 ügii,6t,ov6(x, C v. uQnogovoav die in Minuskeln (14. Jh.) beigefügte Umschrift sowie p und
v. . 2 iGxiccÖiY.oig xQOvCa, Cv. l6%iudiK0Lg %govioig p. vt . ccyov6iv C. Ttoftstou C v.
Tio&tiaca ccl Qifri p. v,. 3 y.uQ'uCqu C v. MHTGYGT^I so C. tyerca ?x.
Sonach ist es sonnenklar, dass die von Anguillara angeführten Worte nicht
aus der Feder des Krateuas geflossen sind. Vielmehr stammt das ganze Bruch-
stück aus dem alphabetisch umgearbeiteten Dioskurides , dessen Text ich der
Controlle wegen nach den beiden ältesten Hdss. , dem Constantinopolitanus (C)
und dem Neapolitanus (N) herzusetzen für geboten halte:
ist es ein spätes Machwerk. Vgl. über diese Hds. Mingarelli Graeci Codices manu scripti apud
Nanios patricios Venetos asservati, Bononiae 1784 S. 445.
11) Aus derselben Ueberlieferung ist dies Bruchstück des Krateuas in den Text des Dios-
kurides übergegangen. Zeugen dafür sind die beiden Hauptvertreter der nach der alphabetischen
Umarbeitung interpolierten Handschriftenklasse, der bereits erwähnte cod. Marc. n. CCLXXI und
der illustrierte cod. Paris, gr. 2183 s. XV, in denen das Kapitel über die Haselwurz folgeudea
Schluss hat : xai Kgccnvccg QL^ovofiiyibg elg tö ctvto ' "Agccqov Svvccfiiv i%u %xX.
KKATEUAS. 7
ßoxdvrt evd)dr]g , 6xeyav<o\Laxixr\ ' %g xä (pvXXa jiiye&og e'xovxa {iexa%i> lov ij
(pl . . . v xavXCa y&vioeidf], vKoxgaiea , ägaid , qpiUÄa daöta ■ «vO^ df jrop-
qpvptt, evadrj' i] git,a b^ioCa xf{ xov piXavog iXXeßogov , ioixvla xf[ o6{ifi xivva-
tiijuco ' (piXtl de xquieu %G)Qia xal ccvixfiu. Tavxr\g r\ gC^a i\l>Y\&ei6a iv vdaxi
5 ßorj&H (jrjyiiaöi , 6na6ynx<5i , dvöTtvoioc, ßr\yl %qovlcc, dvöovgta' ayei de xal i{i-
lirjvcc xal &r}Qioörjxxoig xQ'H61^0? 6vv otvqj dudoyievov xä de cpvXXa öxvTtxuxä
ovxa xaxa7tXa6d6^eva (bcpeXet xecpaXaXyiav, ötp&aXticbv <pXey{ioväg xal alyCX&itag
ocQxo^Bvovg xal ^aöxovg ix xoxav (pXeyftaivovxag xal igv6nceXaxa' eoxu de xal
vnvoTtoibg rj d6[irj.
a
1 (i£to£v lov xccvXia C nsra^v lov r\ q>X . . . v N (die drei Buchstaben sind abgesprungen)
2 vnoTQC£%iu. t%(ov insQSccTpvXXccdcc6uicc C v7tOTQci%£u. c<QS . <pvXXtc dccoscc, tqp' öiv ccvftr} N. 2
itoQcpvQä Xiiiru tvto8r\ N. 3 Qltai öfioicci N. tccig für tj) CN. 4 TS0GA6I so C, in dem von
späterer Hand : ysv&rs de iv xqa%e6i %(öqioi<s hccl ccviy(iois übergeschrieben ist. 7 övtcc xal
C. -necpaXaXyiag v.a.1 N.
Die Uebereinstimmung dieser Fassung des dioskurideischen Textes mit dem
angebliehen Krateuasbruchstück des Anguillara zwingt uns zu der Schluss-
folgerung , dass beide identisch sind , und wenn Anguillara die Worte : f\g
xä cpvXXa — xavXCa fortgelassen hat ,' so schliesse ich daraus , dass sie in
seiner Hds. in derselben unverständlichen Fassung gestanden haben wie in C.
Demnach sind wir berechtigt den allgemeinen Schluss zu ziehen , dass seine
angeblichen Krateuasfragmente, den Text des alphabetisch umgearbeiteten
Dioskurides repräsentieren , wobei ich die Frage offen lasse , ob sie in seiner
Handschrift fälschlich den Namen des Krateuas trugen oder aber von ihm viel-
leicht auf Grund der in seiner Hds. beigefügten Illustrationen vermutungsweise für
Bruchstücke des Krateuas ausgegeben worden sind. Was die von ihm benützte
Hds. anlangt, so führt uns abgesehen von sonstigen kleinen Textesabweichungen
die von ihm aufgenommene Lesart: yevvaxai de iv xga%e6t, %(üQioi,g xal ävCxpoig
zu der Annahme, dass sie weder der cod. C noch der cod. N gewesen ist, son-
dern eine dritte Hds. derselben Klasse, nach welcher der Corrector des Con-
stantinopolitanus die Variante angemerkt hat.
Damit jedoch jeder Zweifel an dem von mir aufgedeckten Thatbestande
von vornherein erstickt wird, scheint es geraten, die übrigen Bruchstücke des
Anguillara in Gegenüberstellung mit dem Texte des alphabetischen Diosku-
rides folgen zu lassen.
Ang. 125 : C. fol. 96 \ N. fol. 64. vgl. D. II, 195, 307.
dgaxovxla (leydXrj (pvexai iv 6v6xioig xal Agaxovxia fieydXtj.
ygayfioig' xavXbv de £%u Xelov, ögfrov, Synonyma.
ag di7tri%vaiov xal Tta%vv ag ßaxxr\glav, (pvexai iv 6v6xioig xal ygaypoZg' xavXbv
noixiXov xaxd x^v j^pdav, cjg ioixivai d' e%ei Xelov, ög&ov, ojg dt,7irj%vatov xai
2 de fehlt N. 6i.mi%aiov C Sutr\xe(os N.
xai fehlt N.
M. WELLMANN,
dgdxovxij xal nXeovd&i pev iv xolg dia-
7tOQ(fVQOlQ ÖTClXoig' (fvXXa ÖS G)g ka7tCC-
d-oEidr] dvxe\iitXexö\ieva.
ita%vv fog ßaxxrjgiav, TtoixiXov xcctä xi\v
XQÖav, 63g ioixevai dgdxovxij xccl 7tXeo-
5 vd%ei pev iv totg dia7tog<pvgoig öitiXoig'
<pvXXa d" ojg Xanad-oeidij dvxeyutXexopeva.
3 xarcc %qwuv C. 4 xca fehlt in N, dafür
nlsovd&t di. 6 Iccnccfrov N.
In den beiden Wiener Handschriften schliesst sich an die ausgeschriebenen
Worte die Beschreibung der Frucht und Wurzel, die sich mit derjenigen deckt,
die Dioskurides vom dgaxovxiov 12) gab. Dass sie auch in der Hds. des Anguillara
zu lesen war , beweisen seine eigenen Worte : il resto del testo , che seguita e
di Dioscoride.
Ang. 125:
zlgaxovxia yiixgä cpvXXa avivfii xolg xov
dgaxovxiov b[ioia döitiXcaxa ' xavXbv 67ti-
ftapiaiOV, VTtOTtVQQOV, £Cp' OV 6 XCtQTtbg
XQOxCt,03V gi£av Xevxijv itgbg xi)v xov
dgaxovxiov, iqxig xal iöftiexai tjxxov oi)6a
dgi^iela ' xagi%evexai de xä cpvXXa.
Ang. 141:
KgoxodeiXiov ofioiöv iexi x<p piXavi %a-
liaiXeovxi, cpvexai iv xÖTtoig dgvfid)de6i9
git,av e%ov piaxgdv, dgipelav, o6(i^v de
öuoiav xaQddfjiGi ' %£6&ei6a de ij git^a iv
vdaxi xal %ivo\JL£vr\ ayei cci[ict noXv diä
QG)&CJVG)V (gCD&CJV A.).
Ang. 149:
'AxgaxxvXig ' axavftd iöxiv ioixvia xvixa,
(iixgoxega de tioXXgj, tpvXXa e%ov6a in1
axgav xg3v gaßdicov xb de nXetov yv^ivov,
C fol. 97 v N. fol. 65.
Agaxovxia {iixgd.
Synonyma.
cpvXXa dvir\6i xolg xov dgaxovxiov o[ioia
aGitCXaxcc' xavXbv 6%iftu\Liaiov , vtcö-
itvg'gov, Ttmegoeidi] , i(p' ov 6 xagnbg
XQOXl^CJV gi£,UV Xevxrjv xgbg xr\v xov
dgaxovxiov , ijxig eiftexai xal iö&i'exai
i\xxov ov6u dgi\\,eia' xagi^evexai de xd
fpvXXa eig ßg&6iv.
6 Die Worte xuQi%everca — ßgüoiv fehlen in N.
C. fol. 177 v. N. fol. 55, vgl. D. III 10, 354.
KgoxodiXea (N : r) xgoxodCXeov)
bfioiöv i6xi tg5 [isXavi %a[iaiXeovxi ' g>ve-
xai <$' iv xoitoig dgvticodeöi, gi^av e%ov
paxgdv , dgifieiav , ööpriv bpoiav xag-
ddpc)' %e6%-eio*a d' rj git,a iv vdaxi xal
5 7tivo[iEvr} ayei aifia TtoXv did gwd'cjvav'
didoxai de xal xolg öitXrjvixoig ivegyag
cjcpeXovöa.
1 di fehlt in C. 4 Jvvaxai d' f) $i!;a gsaftsiccc
f.v vdaxi . . . ccysLV N. 5 diu zfjg geivris N.
6 di fehlt in C. toig fehlt in C.
C.fol.63r. N.M. 22. vgl. D. in 97, 445.
'AdguxxvXXig.
Synonyma.
"Axavftd iöxiv ioixvia xvtfxG), [iixgoxega
12) Dioskurides unterscheidet nach der besten handschriftlichen Ueberlieferung zwischen dem dgcc-
■xovztov und ccqov: die Unterscheidung von dgccnovricc (isydlri und fttxpa, deren Text dem des dios-
kurideischen ocqov entspricht, ist ihm unbekannt. Vgl. de herbis fem. ed. Kästner Herrn. XXXI 619.
KRATEUAS. V
xga%v, cd xal aC yvvalxeg xgavxat,' e%ei Öe jtoAAco <pvlka E%ov6a in1 dxgov xcbv
de XE<pdlia iri* dxgov dxavd-adrj ' av&og gaßdtcov ' xb de itkeiov yvfivov, xga%v,
itogcpvgovv, ivCoig (sie) xoitoig ä>xgov. c5 xal ai yvvalxEg %gcbvxai dvxl ddgdxxov
5 e%el ds xstpdfoa in'' ccxqov dxav&cbdrj'
av&og itogyvgovv , ivtoig (sie) xonoig
&%q6v.
7 iva%QOv N.
Ang. 171. C.fol.79v. N.M. 33. vgl. D. IV 197, 591.
&£Qri7tidLOv (pvETca iitl Mftcüv xal oöxgd- ßgvov ftalaGGiov l)
xav itagä frdlaööav, ftgidaxadsg, iöyvbv Synonyma.
xavkbv (sie), ixavcbg oitxixöv (sie), itoiovv Ovsxat iitl li&cov xal oöxgdxmv nagä
itgbg (pXey^iovag xal itoddygag rag 6xv- &dla66av ftgidaxcödeg, i6%v6v, dxavXov
ipEcog deo{Lsvag. Cxavag 6xvitxixov , itoiovv itgbg (pXsy-
fiovag xal itoddygag rag öxvijJEcog öeo-
{livag.
1) So ist dies Capitel in N überschriebet). Iu C ist versehentlich der Text des ßgvov ftu-
Xäaaiov für den der ßgveovice Xsvn-q eingesetzt.
Auffällig ist in dem zuletzt ausgeschriebenen Text des xlnguillara das sonst
in der Litteratur nicht nachweisbare Synonymon bsQvptldiov für den Meersalat
(ulva lactuca L.). Es findet sich, soweit meine Kenntnis reicht, nur noch in einer
Randnotiz, die in C von der Hand des Correctors zu der bildlichen Darstellung
des ßgvov %-akd<56iov auf fol. 80 r hinzugefügt ist: xovxo ovx iygdcpri (Irrtum!)'
xivig cpaöiv avxb dsgaitidiov , das heisst doch wohl, in einer andern Hds. heisst
diese Algenpflanze dsgaitidiov. Dadurch erhält meine obige Vermutung eine er-
wünschte Bestätigung, dass die Excerpte des Anguillara aus einer dem Constan-
tinopolitanus verwandten, seinem Corrector (15. Jh.) bekannten Hds. entnom-
men sind.
Schwierigkeiten macht nur ein von Anguillara S. 145 angeführtes Bruchstück :
alyiitvgog iöxiv dxav&cbdEg cpvxbv r\ sldog ßoxdvrjg' xb ds cpvkXov e%ei coöitsg cpaxbg
yXavxi£ov6a. Anguillara identifiziert diese Pflanze des Krateuas mit der avavig
{oveovig) des Dioskurides (III 18. 360) : in C und N fehlt sowol die Beschreibung
der dvcovCg wie die des alyiitvgog. Bevor man aber dies Bruchstück dazu ver-
wertet, an dem von mir gewonnenen Resultat zu rütteln, prüfe man die ange-
führten Worte einmal genauer. Ist es denkbar, dass ein Botaniker von Fach.
der unzählig viele Pflanzen gesehen und beschrieben hat. eine Pflanze mit fol-
genden Worten beschrieben hätte: „der alyiitvgog ist ein dorniges Gewächs oder
eine Art Pflanze u. s. w. ?" Mich dünkt, diese Art von Pflanzenbestimmung ver-
räth vielmehr ganz unzweideutig den um den richtigen Ausdruck verlegenen
Grammatiker, der die Pflanze, die er kurz und knapp beschreiben will, niemals
zu Gesicht bekommen hat. Es gehört nunmehr nicht viel Belesenheit dazu, um
in diesem Bruchstück die keineswegs verächtliche Grammatikernotiz zu der von
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttinnen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, i. 2
10 M. WELLMANN,
Theokrit im 4. Idyll (v. 25) erwähnten Pflanze dieses Namens wiederzuerkennen,
deren Wortlaut nach dem Ambrosianus folgender ist: dxavd'aydeg cpvtbv ?} slöog
ßordvrjg, rö de (pvXXov s%ei iclatv coütieq cpaxög' eöti de ylavxi^ovöa , sig k'lxr,
(pXsy^aCvovxa aya#rj. Ich will gerne zugeben, dass die Angaben über die cha-
rakteristische Beschaffenheit des Blattes sowie über die Farbe dieser Pflanze
aus Krateuas entlehnt sein können, zumal sich verschiedentlich Spuren seiner
Doctrin in diesem Scholiencorpus nachweisen lassen , aber in der Fassung , in
der sie der Scholiast verwertet, kann das Scholion nimmermehr aus seiner Feder
geflossen sein.
Hiernach ergiebt sich als sicheres Resultat der vorstehenden Untersuchung,
dass für eine Reconstruction des pharmakologischen Werkes des Krateuas die
von Anguillara angeführten Bruchstücke wertlos sind. Diese schwere Einbusse
an, scheinbar wertvollem Material wird aber reichlich aufgewogen durch die un-
zweifelhaft echten Bruchstücke dieses Rhizotomen, die uns im Codex Constan-
tinopolitanus erhalten sind l3). Diese kostbar ausgestattete , für die Juliana
Anicia , die Tochter des weströmischen Kaisers Flavius Anicius Olybrius ge-
schriebene Pergamenthandschrift der wiener Hofbibliothek 14) aus dem Ende des
5. Jhs. enthält von fol. 12 v bis fol. 387r ' alphabetisch geordnete Beschrei-
bungen officineller Pflanzen mit vorzüglich erhaltenen Abbildungen derselben.
Sie ist von fol. 16 r bis fol. 82 v in der Weise angelegt, dass unter dem viel-
fach gekürzten und teilweise umgearbeiteten Text des Dioskurides von derselben
Hand nur in kleinerer Uncialschrift , natürlich mit häufigen Auslassungen, die
Parallelüberlieferung aus G-alens Schrift 7Cbq\ dwapecog cpagfiaxcov und aus Kra-
teuas 15) steht mit der regelmässig wiederkehrenden, mit roter Tinte geschriebenen
Ueberschrift : raXrjvog und Kgarsvccg QL%OTO{iixög. Da sie auf denselben Arche-
typus zurückgeht wie der gleichfalls illustrierte Neapolitanus derselben Biblio-
thek , so fällt die Entstehungszeit dieser ursprünglich compilatorisch ange-
legten illustrierten Pharmakopoe in das 3. oder 4. Jh. , d. h. in jene Zeit , der
die grossen medicinischen Compilationen eines Philumenos, Philagrios, Oribasios
und die landwirtschaftliche Compilation des Anatolios angehören. Trotz ihrer
geringen Zahl sind die Bruchstücke des Krateuas , die der treffliche leipziger
Arzt Dr. Gr. Weigel am Ende des vorigen Jhs. collationiert hatte und in seinen
Anecdota Bibliothecae Vindobonensis herausgeben wollte 16) , von dem grössten
13) Auf der Wiener Hofbibliothek giebt es noch eine zweite Hds. mit Bruchstücken des
Krateuas. Es ist der cod. med. gr. V, eine im 16. Jh. geschriebene Papierhds. von 10 Folioseiten,
deren Excerpte aus Krateuas, Galen nsgi dvvdiisas qpa^uanwv und Dioskurides dem Constant. ent-
nommen sind.
14) Die genauere Beschreibung der Hds. behalte ich mir für meine spätere Abhandlung über
die Hdss. des Dioskurides vor.
15) Diese Bruchstücke kehren zum Teil wieder in späteren Hdss. dieser Sippe, so in dem
bereits erwähnten cod. Marc. n. XCII (v).
10) Vgl. K. Sprengel, Beiträge zur Geschichte der Medicin. Halle 1796 S. 268 f.
KRATEÜAS.
11
Wert für die Würdigung der litterarischen Bedeutung dieses Mannes und für
die richtige Beurteilung der Arbeitswerke des Dioskurides.
Es muss auf den ersten Blick auffällig erscheinen, dass diese Bruchstücke
nur die medicinischen Wirkungen der Pflanzen behandeln, ohne sie einzeln zu
beschreiben. Das stimmt aber vortrefflich zu dem Bilde, das wir uns nach den
Worten des Plinius XXV 8 von dem mit Abbildungen versehenen Herbarium
des Krateuas machen müssen : pinxere namque efligies herbarum (sc. Crateuas,
Dionysius , Metrodorus) atque ita subscripsere effectus. Mich dünkt , dies sicher
nicht zufällige Zusammentreffen ist ein schlagender und jeden andern entbehr-
lich machender Beweis , dass die Krateuasbruchstücke des Const. aus seinem
illustrierten Herbarium entnommen sind.
Das erste Bruchstück handelt von der Heilwirkung der Osterluzei , von
welcher Krateuas im Anschluss an die ältere Botanik , vermutlich an Diokles,
zwei Abarten kannte , in deren Bezeichnung er allerdings insofern von der
alten, noch bei Nik. Ther. 509 f. vorliegenden Tradition abwich, als er sie
nach der charakteristischen Beschaffenheit ihrer Wurzeln als aQi6xoXo%Ca {Laxod
und ötQoyyvXr} benannte.
C. fol. 18 v:
Kgatsvag Qi^oxopixög.
'AQi6xolo%Ca {iccxQa tcoiei nobg ioitExä xal
&avdöi{ia, oXxij Tavo^ivrj fi£r' olvov xal
xctTcc7tXcc6Go[ievri' xd <f iv lirjxoa övvcöxd-
psva \6%ia xccl E^rjva xal E{ißova ix-
ßdXXsi ito&siöa {lExd nsitsQscog xal öpvQ-
vr\q' xal iv itEööa ös 7iQ06ze&El6a xb
avxb
D. III 4, 344 17):
IIoieZ de itgbg (ihv xd dXXa (pag^axa r\
GTQoyyvXri, 7tQog de xd ioTtExä xal &a-
va6L[ia r\ iiaxQa, ÖQa%{irjg [nag öXxt)
jtLVOfisvrj ftst' olvov xal xaxaitXaööo-
5 {ievt}' xal xd iv {irftoa övviöxd^isva ndvxa
X6%ia xal eyL^iriva xal e{ißgva ixßdXXsi,
ito&Eiöa pexä TtETtioscog xal 6^ivQvr\g'
xal iv 7tE66<a de 7tQ06xed-elöa xd avxd öqü.
2 ccQioToX6%tos C v. vgl. Ps. Diosc. de herb. fem.
ed. Kästner Herrn. XXXI 597 : aristolochiuin.
So C im folgenden Bruchstück. Es ist dies eine
spätere Form. Nach Aristoteles soll das Kraut
von einem Weibe entdeckt seiu (schol. Nik. Ther.
509), nach einer späteren Version von dem Ephe-
sier Aristolochos (Schol. Nik. Ther. 937). Die
Beischrift der Pflanzendarstellung in C ist ccql-
cxoXo%Ca. ficcngd. sgnexccg C {iQTtr\rccg Umschrift
M
des Correctors in C) sQTtsxdc. v. 3 0ANACA so
von derselben Hand in C verbessert.
1 xd loinä (pccgfia-KCC xca C. 3 dgcc%(ii]s oXv.i]
Ttiv. C <öly.rj
Ttccvxa fehlt in C.
p. 5 iv xfj [irjxQoc C
6 X6Xsl<x PHFV \6%icc C
17) Ueber die Hdss. des Dioskurides geniigen für diesen Zweck folgende Bemerkungen ; die
beste Ueberlieferung, die sich mit den Excerpten des Oribasius (B. XI— XIII nach cod. Paris. 2189
s. XVI = 0) deckt, wird durch 4 Hds. vertreten :
P = cod. Paris. 2179, Pergamenthds. s. IX unvollständig.
V = cod. Marc, n. 273 s. XII Pergamenthds. unvollständig, stammt aus P.
F = cod. Laur. LXXIV 23 s. XIV vollständig.
2*
12
M. WELLMANN,
C fol. 19*:
Kgatsvag QL^otopixog.
'AQi6Toko%Ca (öTQoyyvkrj) %ivo\iivr\ pst
oi'vov (is'Xavog Ttoisl nabg sonst gdv örj-
yfiaTCt' %aQ8L ös xal slg ävtidotovg tag
d-Y]Qiaxdg, %coqsi xal sig tag itodayoixäg
övv&eöeig, sti 8' ifiTcXäötQovg' dysi de
xal s^i^irjva xal spßova sxßälXsi' ßori&sl
aö&liati, Avy{icp, Qtysi, a7tXr]VL, QtjyiiaGi,
öTtdöuaaiv Tto&siöa 8 s ft£#' vöatog äva-
ysi öxoXonag , äxiöag ' kenidag oötcöv
xa-iaTt'ka<5<5o\x,ivr\ ä(pi6ty]6i xal 6r(7ts86-
vag 7tEQi%aoa66E(, xal tä QVitaoä xaftai-
qsl eXxy] • 6{ir]xEi 8 s xal 686vtag xal
ovXa.
D. III 4, 345:
fH 8s ötQoyyvXrj itoisi {isv 7tobg a xal
7] 7tQ0SLQrj^lSVr]' EX TtEQLÖÖOV 8s ßoTjdsZ
aG&tiatL, kvyiicp, Qiysi, öTtXrjvi, Qrjy^iaöt,
67td6^ia6iv, äXyrj(ia6i, JtXsvoäg, 7to&sZ6a
5 {lE^', vdatog' äväysi 8s GxöloTCag, dxiöag'
XsitC8ag oötcöv xataitXa66o\isvr\ äcpLötrjGf,
xal örjTtsdovag itEQi%aQa66EL xal tä qv-
Ttaoä TiEQLxad-atQEt s'Xxrj xal tä xolXa
itXrjooi <5vv Iql8l xal \isXiti ' ö^irj^si 8s
10 xal ovka xal ödovtag. Zloxsl 8s xal r)
xXr]aattttg 7tobg tä at»r« TtoislV sXat-
tOVtai {ISVtOL tf\ dwä^LEl tß)V 710081,07]-
\jlsv(ov 18).
2 UQL6TOX6%LOV 7Civvoiiivr\ Ss oi'vov C.
Xo%la nivouEVT] {isxü oi'vov Umschrift .
OCQLCZO-
1 7] tiqo uvxfjg C. 3 al'iiati C 4 nXev-
o&g cclyriiiaöL C Ttoftsiöcc fts-fr' vöatog die
beste Ueberiieferung und Ps. Diosc. de herbis
fem. a.a.O. 5'JS, 14. 6 a.cpl6zr\ai fehlt in C
flCt
7 6r}7isd6vcig r)ug Ttugu Av.xivoig 7toöts 7i8Qi-
postema
XCCQCC66S i V nach P : 6r\ns dovug xud'aiQSi C
p v, . 8 xu de %olXu öagyioi C. 10 Die
Worte Joksl- Ttoosiorifisvcov fehlen in C.
Diese Wirkungen der heilkräftigen Osterluzei waren zum Teil schon der
älteren Pharmakologie bekannt : der Athener des 4. Jhs. wusste aus seinem
Kräuter buch, dass er gegen Schlangenbiss ein Absud ihrer Wurzel in säuer-
xv}
•aus derselben Quelle.
H = cod. Vaticano-Palatinus 77 s. XIV interpoliert.
Dazu kommen als älteste Vertreter der alphabetischen Umarbeitung des D. die beiden Wie
nerhds. C und N und als Hauptvertreter der dritten Handschriftenklasse, die mit Hilfe des alpha-
betischen D. interpoliert ist :
p r= cod. Paris. 2183 s. XV
v, = cod. Marc. CCLXXI s.
18) liier scbliesst das Capitel in der besten Ueberlieferung des Dioskurides. Die bei Spren-
gel 345 in den Text aufgenommene Interpolation, die bis auf den Schlusssatz in p, vt im Text und
in // am Rande erhalten ist ,. stammt in ihrem ersten Teil, der die Pflanzensynonyma giebt, aus
dem alphabetisch umgearbeiteten Dioskurides. Vgl. C, doch sind p und Vj reichhaltiger, der beste
Beweis dafür, dass C nicht die Quelle dieser Interpolation ist. Der zweite Teil der Interpolation
scheint aus der Paraphrase des uns leider unvollständig erhaltenen Carmen de herbis geflossen zu
s>in, aus dem eine sicher nachweisbare, in p v, und H erhaltene Interpolation III (3, 349 steht.
Vgl. carm. de herbis c. 9. Der Schlusssatz: -au\ Kouxsvug 6 QifaxoixiHÖg nui r<xXt]vbg (ruXög H)
tu uvxu tcsqI uvxfig stgrjyiaaL xal öxi xotg nadccyQiyioig axpeXtt, der nur in H am Rande erhalten
ist, stammt wieder aus der alphabetischen Umarbeitung.
KRATEUAS. 13
lichem Wein zu trinken oder die Wurzel auf die Bisswunde zu legen habe 19),
desgleichen kannte er ihre Verwendung als Schlafmittel , gegen Blutungen und
gegen Erkrankungen der Gebärmutter 20). In den folgenden Jahrhunderten wurde
dann die Arzneimittellehre wie um die Unterscheidung neuer Abarten so auch
um neue Verwendungen der beiden Hauptarten bereichert. Das pharmakolo-
gische Material, das Krateuas beibringt und das bei Dioskurides in so wört-
licher Uebereinstimmung wiederkehrt, dass die direkte Benützung des Krateuas
durch ihn kaum mehr zweifelhaft sein kann, lesen wir auch bei Plinius in den
beiden Büchern XXV und XXVI, als dessen Hauptquelle für die mit Dioskurides
übereinstimmenden Partieen nach meinen Ausführungen im Hermes 21) nach wie
vor Sextius Niger gelten muss 2:i). Auch in der Beschreibung der Osterluzei,
die leider in der Fassung des Krateuas nicht erhalten ist , sind die Ueberein-
stimmungen zwischen Plinius (XXV 95 sicher Niger, nach dem n o s t r i zu schlies-
sen) und Dioskurides a. a. 0. nicht so auffallend, dass ihre Herleitung aus der-
selben Quelle ohne weiteres als notwendig erscheint 23). Zunächst beachte man,
dass Plinius vier Abarten unterscheidet , während Dioskurides nur drei kennt ;
sodann finden sich zwischen beiden Berichten verschiedene, keineswegs unerheb-
liche Abweichungen , die sich unter der Voraussetzung , dass beide dieselbe
19) Vgl. Theophr. h. pl. IX 20, 4. IX 13, 3 (aus Diokles). Die genauere Dosis von einer
Drachme stand beim Jologen Apollodor : aus ihm schöpfen Numenios (Schol. Nik. Th. 517) und
Nik. Th. 517.
20) Theophr. a. a. 0. Schon in der Ilias A 846 wird die Wunde des Eurypylos mit der
iii%q}} qi£cc geheilt, wozu der Scholiast bemerkt : Xeyovaiv avxr\v slvai xr\v %ccIov[L£vt)v ccQiaxoXoxi'av,
r\v nai i'axcafiov nalov6iv. Andere Erklärer verstanden unter der tuhqt] §l£cc die gleichfalls blut-
stillende Schafgarbe.
21) Herrn. XXIV 530 f.
22) Die bei Plinius versprengten Notizen mögen hier in Zusammenstellung folgen :
XXV 97: maxime tarnen laudatur Pontica (sc. aristolochia) et in quocumque genere pondero-
sissima quaeque , medicinis aptior rotunda, contra serpentis oblonga. XXV 101: datur ad ictus
(sc. serpentium) aristolochia radicis drachma in vini hemina, sed saepius bibenda. prodest et in-
lita ex aceto. XXV 109: scorpionibus (se. adversafur) aristolochia. XXV 128: Poto veneno ari-
stolochia subvenit eadem mensura qua contra serpentes. XXVI 154 : plurimis tarnen modis aristo-
lochia prodest ; nam ot menses et secundas ciet et emortuos partus extrahit, murra et pipere ad-
ditis pota vel subdita. XXVI 33 : stomacho et dyspnoeae raedetur . . . aristolochia vel agaricum
obolis teruis ex aqua calida aut lacte asini potum. XXVI 41 : Singultus hemionium sedat, item
aristolochia. 177: et aristolochia perfrictionibus resistit. 75: aristolochia ut contra serpentes (sc.
bibitur contra lienem). 137: ruptis convolsisque . . . aristolochia pota (sc. adversatur). 39:
Ischiadici . . . sauantur . . . aristolochiae decocto folii. XXV 141 : Vulneribus capitis medetur
aristolochia. fracta extrahens ossa et in alia quidem parte corporis, sed maxime capite . . . XXVI
142 : aristolochia quoque putria ulcera exest, sordida purgat cum melle vermesque extrahit, item
clavos in ulcere natos et infixa corpori omnia, praecipue sagittas et ossa fracta cum resina, cava
vero ulcera explet per se et cum iride, reeentia volnera ex aceto ....
23) Man vergleiche dagegen nur die dioskurideische Beschreiburg mit Nik. Tber. 509 f. Aus
dieser Ucbereinst'.mmung ergiebt sich, wie ich an einem andern Orte bewiesen zu haben ulaube,
dass die Urquelle des Dioskurides das ql^otouikov des Diokles ist.
14
Quelle benützen, nur schwer erklären lassen: die Blätter der runden Abart sind
nach Plinius halb wie Malve, halb wie Epheu, aber dunkler und weicher, Dios-
kurides vergleicht sie nur mit denen des Epheus; die Wurzel der langen Abart
hat nach Plinius die Dicke eines Stabes , nach Dioskurides die eines Fingers,
woraus ihr Name daxxvXlxtg erklärt wird , der Plinius unbekannt ist ; die dritte
Art ist nach Plinius die wirksamste, nach Dioskurides steht sie in ihrer Wirk-
samkeit hinter den anderen zurück; alle drei Arten haben nach Plinius kurze
Stengel und eine purpurfarbige Blüte , Dioskurides giebt dagegen der runden
Osterluzei lange Stengel und eine weisse Blüte. Wenn trotz dieser Abwei-
chungen noch genug Uebereinstimmungen vorhanden sind, so meine ich, sind sie
so zu erklären , dass die Quelle des Plinius , Sextius Niger , dieselbe Vorlage
benützte wie Dioskurides, d. h. den Krateuas. Natürlich ist die Möglichkeit
ausgeschlossen, dass die Vorlage des Dioskurides die illustrierte Pharmakopoe
dieses Arztes gewesen ist ; er benützte vielmehr die von mir auf Grund von
ganz sicheren Kriterien gewonnene pharmakologische Hauptschrift dieses Rhizo-
tomen, und für die illustrierte Pharmakopoe desselben Verfassers ergiebt sich
daraus die weitere Schlussfolgerung, dass sie nach jener Schrift verfasst ist und
lediglich den Wortlaut des pharmakologischen Teiles mit Beschränkung auf
die mit Abbildungen versehenen Pflanzen wiedergab.
Das zweite Bruchstück behandelt die Heilwirkungen der zur Gattung
Achillea gehörigen Schafgarbe (a%ikkeLog vgl. Fraas 215), deren Name damit er-
klärt wurde , dass Achilleus ihre wundenheilende Kraft entdeckt habe *4). Die
Alten legten den Namen fünf verschiedenen Pflanzen bei : Dioskurides kennt
nur eine Pflanze dieses Namens und stimmt wieder in seinem pharmakologischen
Abschnitt mit Krateuas :
C fol. 25 r: D. IV 36, 532:
Kgaxevag QL^oxopog. KakovßC xiveg xal xx\v a%ikkeiov ölöh]-
'A%ikXeiog' xavxr\g xfjg ßoxdvqg rj xö^r} Qixr\v (peget, de QaßöCa Qni^ayaala rj
leia ivaipcav iöxl xoHYpixi] xal dcpXiy- xal {iei£co, dxQaxxoeidi], xal negl avxolg
pavxog al^o^gayuag xe i<pexxixij xal xr\g cpvklaQia leitxd , ivxo^iäg itvxvag ix
ix \LX\x$ag iv ngoß^exco ' xal xb dcpi^r^ia 5 itlayvcov eyovxa , 7tQ06e^i(peQYJ xoqlg),
d' avxr\g itixiv iyxd^i6\ka QO'Cxalg' itive- v7töxi$Qa, ykiö%Qa, itokvo6\ia, ovx drjdrj,
xai xal 7igbg 8v6evxeQiav xlcogä de xo- cpagiiaxdidy] de xr\v oö^irjv Gxiddiov iri
Ttetöa jttfr ä^ovyytag itakaiag xa itakaia ccxqov TteQupeQeg, ävd'tj kevxd, elxa %qv6l-
6 Xia C XCuv Umschrift 6 Qtvoig C Qoivuig 2 tpsi Ss P. cpvu de V. 2 dißm&cciiiciicc CN
Umschrift 8 axiaxog für cci-ovyyiccg v 9 dvga- eatt&afuaBot Umschrift in C. 3 avxolg PFCN
ttovXoxu C düsa7röZajra v. ccvtovY, avxct die übrigen Hds. 4 Xsnxä iv nXa-
Plin. XXV 4n : yCcov ivxofiäg %%ovxa itvvväg CN 6 vtcomqqcc
Aliqui et hänc (sc. Achilleon) panacen Hera- PFVH Orib. v%6^ivqa C. vn6ni%Qa N. 8 et-
cliam, ali sideriten et apud nos millefob'am vo- xa %q. PFVH Orib. ccvfrri Xsvv.ec val nogcpvQä xai
cant , cubitali scapo , ramosam , minutioribus %qv6%ovxcc C p. av&r\ Xbvv.cc rj nogcp. t) %q. N.
24) Vgl. Plin. XXV 42. Ps. Apul. 88. Kästner de herb. fem. a. a. 0. 613.
KRATEÜAS.
Lo
xdv ikxCbv xal dvGaitovXcora d'SQaizsvsf
Iyiqoc da xo7ist6a xal utXitt paystöd iönv
ccvuxtx&aQZixri.
t,ovta' (pvsrca iv evystoig TOTtoig.
10 Kai tovrov r) xö(ir} XsCa ivaip&v iöt\
xolXr\ttxri xal dcpliy^avtog aifioQQayiag
T£ icpexTLxi] xal rrjg ix [lYJTQag iv tcqoö-
d-ita' xal th a(psiprj[ia d' avrrtg iönv
iyxdJi0{ia QOixalg' nivEtai de xal itQog
15 ÖVÖEVTEQiaV.
quam feniculi folis vestitam ab imo . . .
XXVI 131: Sistit (sc. sanguinis profluvia) et
ischaemon et Achillia.
XXVI 151: menses nimics sistit Achillea inpo-
sita et decoctum eius insidentibus.
12 iv [irjTQccg P iv [iiJtqcc VCN. 15 dvstvre-
Qiug CN. N fügt folgende Worte hinzu: itavet
Sf iiai qilsyfioväg 6q>6d(>a Xiiov ju^' vdutog nu-
tccxQLOfisvov diacpoQeiipvH.TfH.bv vnäQ%ov.
Von dem zur Familie der Ranunculaceen gehörigen Windröschen kannten
die alten Botaniker zwei Arten, das wildwachsende, das bei Theophrast (VI 8, 1 )
wieder in zwei Abarten (oqeCu und Xe^navaCa) vorkommt und das zahme. Dios-
kurides (II 207, 323) nennt sie in Uebereinstimmung mit Plinius (XXI 165) ävs-
iicovr] äyQia (Kranzwindröschen? Anemone coronaria Fraas 130) und rj^iegog (Grar-
tenwindröschen, Anemone hortensis L.), Krateuas dagegen nach der Blütenfarbe
liilaiva und yoivixfj (Sehol. Theokr. V 02). Bei dieser Pflanze sind wir in der
glücklichen Lage mit Hilfe der parallelen Ueberlieferung bei Plinius ein sicheres
Urteil über die Arbeitsweise des Dioskurides zu gewinnen. Die Uebereinstim-
mung, die zwischen beiden Autoren sowohl in der Beschreibung als auch im
pharmakologischen Teil besteht, beweist, dass der plinianische Bericht aus Sex-
tius Niger entlehnt ist. Andrerseits tritt alter in dem pharmakologischen Teil
der dioskurideischen Beschreibung dem Plinius gegenüber eine viel nähere, nicht
blos auf die Reihenfolge der Heilwirkungen, sondern auch auf die Fassung sei-
ner Darstellung bis in die einzelne Wendung hinein bezügliche Uebereinstira-
mung mit Krateuas so deutlich zu Tage, dass die directe Benützung dieses Khi-
zotomen durch Dioskurides als eine unanfechtbare Thatsache bezeichnet wer-
den muss.
C fei. 26 r:
KgatEvag.
Ava^iavr} r\ (poivixij.
'Aveucbvrj dvvauiv] s%el ÖQt>-
lieiav, o&sv 6 %vlbg\ trjg §iZ,r}g
D. II 207, 323:
zlvvauiv (f t%ov6i dgifistav
d(i(p6rEQaL ' ofrev 6 %vkbg rijg
Qi^Yjg avräv qlvI iyxv&elg TCQog
XE(palrjg xafraQöiv uguö&i' xal
avTovyiyvETai£y%vTog%QbgxE- 5 ^laßrjd'ELöa ö' rj gic^a uysc
(palrjg xd&aQöiv iiaörj&etöa d' (pXiyfia' iipr}&sZ6a d' iv ykv-
f} Qi£a dysi cpliypa' ip^al^a xsl xal xata7cXa66o^iivrj öq>-
3 §iv£y%vxT\s C QSivsyxv&eis N
6 (pX^yfiara CN.
Plin. XXI 164
Duo eius genera: prima
silvestris , altera eultis
nascens, utraque sabulosis
.... prosunt anemonae ca-
pitis doloribus et inllam-
mationibus, vulvis mulie-
rum, lacti quoque et men-
4 uqiio&i fehlt CN,
m
M. WELLMANN
ö iv ykvxEl xal xcaanXccö- daXpCov cpXEy^ovdg laxac xal strua cient cum tisana
oouivij 6(pfru?.ncöv tpkEyaovdg tag iv 6<p^ak^,oig ovkdg dno- sumptae aut veilere acl-
uiQsr bfioiag xal rag ovkdg 10 <7,u^£i dvaxad-aioEi xe xal xd positae. radix commandu-
(cnoöui'ixEf xd öe cpvÄXa xal
01 xavkol 6vv£il<r]&ivxa nxi-
odi'ij xal iö&iöfiEva ydka xa-
xaöncc iv nQ06&ixa ö' sy,-
QVJiaQt'. xäv ikxdv xd Öe (pvkka
xal 01 xavkol övvei'tföivxa
Ttxiöävi] xal iö&iöuEva yä"ku
xaxaöTic)' iv Ttoog&ixa Ö' E{i-
f.nti'C( ayti' xaxanla6%El6a Öe 15 \ir\va äysi' xaxanlaßfrivxa Öe
linoag acpiöxrjöiv. Xiitoug acpiöxrjötv.
cata pituitain trahit, den-
tes sanat. decocta oculo-
rnm epiphoras et cica-
trices.
9 ovXäg y.al ccfißJ-vcortiag cc7ioG[iä CN oilas v-ul dfißXvaniiag uTtoGnu
p. v, . ci7T007tü V. 11 dt v.uC CN p. 1'2 Gvvnpr}&ivT£g HC
13 GVV 7TT16CV7] CN.
Drei weitere Bruchstücke des Krateuas . die von den medicinischen Wir-
kungen des Affodill, der Haselwurz und der beiden G-auchheilarten handeln,
bestätigen voll und ganz das gewonnene Resultat. Ein gegenüberstellender
Abdruck der drei Massen wird zur Darlegung des Verwandtschaftsverhältnisses
genügen.
C fol. 27 r-'5).
Koaxevag Qi^oxofiixog.
JtitpöÖetog; xovxov ai Qt^at Övva^iv
B%ov6i öiovQrjXLxt)v xal i^fnqvcov xaxa-
d7tu6xLXi]V ftEoansvEi xal noÖdygag al-
y^uuxa xal öndöfiaxa xal ß?i%ag xal
Oy/uaTu uia xb TtXyföog x?tg qi&S & oi-
voi 3tivo(iivt]' 710LEL xal (sv£[i£6xiQ0vg
tißov daxodyakog ßoa&Eiöa xal) eqtiexo-
öys.xoig öiöoxai ucpsMucog 7ifa~ftog xoiibir
xuxuicldSGEiv dt öel xd driypaxa oly tij
fioxuvi} <5xw ou'üt fteoaTtevEi (xal) xu
(jvirut)(i xal v£(x6uEva t'Xxy tzoleI xal
jToiu fiaGxüv xa\ ölövvoov (pfayfioväg
D. il 19(J. 312:
. . . xlvovöl (sc. al Qit/aC)
öe xal ovQr\6LV xal Efi^iyjva
Tto&Elöai' idxai xal nXevoäg
dXyijuaxa xal ßr\%ag xal 67td-
5 (j^iaxa xal Qrjy^iaxa ÖQa%{irig
piüg xb TtXrftog xr)g QL^rjg
iv oi'vcj TiLvo^evijg' tcoiei Öe
xal EVEfiEöxtQOvgböovdöxQd-
yaXog ßocofrElöa xal eoke-
10 xoöyxxoig öidoxui (bcpEAL^iag
oöov doayjiiöv xqiüv xb
nXiföoq' xaxa7t?.a66£iv Öl
öei xd Öy/paxa xoig xe cpvX-
Plin. XXII 68:
folia quoque inlinuntur
venenatorum volneribus
ex vino. lmlbi nervis
articulisque cum polenta
tunsi inlinuntur. prod-
est et concisis ex aceto
lichenas fricare . item
ulceribus putrescenti-
bus ex aqua imponere.
mammarum quoque et
testium inHammationi-
bus. decoeti in faece
vini oeulorum epiphoria
'.'< y.f'.rfta7ruTiv.r,v C
/IM»-)C nlf.9os C
7 noai v.ul bijTiiroöijY.Toig
o ürtu%ti:aai Y. l&vxui II fehlt in C 5 öqc.%-
ui)g nfa'i&og C 7 qccol 6i y.lu tvt-fiirovg (in der f m-
schrift ist nouiv eingeschaltet) ooov ACTP^AOC ßt>ai^(':GU
v.ul £qk. fil öiÖOTiu C 10 öxptXinüjg itXfföog ooov
dfiayjiai rytig C 11 to fehlt in F
-^">j Ein kleiner Teil des Kraleuasfragmentes ist in die interpolierte Handschriftenklass« über-
lic-gangen. p und v, niaclien folgenden Zusatz: xat Kgurtvag bi ö QL^oroutnog tu (xvra eint xal
ort &t(ittittvet ij {>i"£u übt oi'vov 7ttvou.ivr\ <a noödyQag ülyrjfiaru.
tat (pvuaxa xal Öo&ifivag 6vyxa&6il>o-
ievr) TQvyl oivov t) Qifo' itobg de xäg
tooGcpdxovg (pXay^ioväg ftfr' äkcpixov 6
)e %vXbg xf^g Qt^]g nooGhaßiov oivov
takcaov xi ykvxeog xal 6pvQvr\g xal
iqoxov Gvvety-q&avxa im xb avxb ey-
Iqlöxov yiyvexai bcp&akyicbv xal TCQog
bxa 7tv0QQ00vvxa 6vv hßdvG) xal {ie-
Uxl
hoig xal xr] Qit,ri xal xotg
15 av&eöi övv ol'vc)' xal xä qv-
xaoa xal ve(iö{ieva eXxr\ xal
[taöxöv xal didv^av ykey-
(ioväg xal (pvuaxa xal öo-
&ii]vag 6vyxad£ipoti8vr)g xqv-
20 ybg oivov xij Qtt,r\' ngbg de
xäg 7cgo6(pdxovg cpley^ioväg
fiex' äkcpCxov 6 de %vXbg x>]g
Qi£,r]g TiQoölaßav oivov na-
Xaiov (xi)ykvxtog xal Ofivo-
25 vi]g xal xgoxov öwetyiföevxa
enl to avxb ey%Qi6xov yC-
vexai öcpd-aX^iolg cpäouaxov
xal nobg axa icvoQQOOvvxa
xafr eavxbv xal 6vv Xißa-
80 vaxco xal pahixi xal oiva>
xal C^vgvi] jiktavittlg äg-
(XO&L XXA.
17
supposito linteolo me-
dentur proclcst et
urinae pota modice ra-
dix et menstruis et la-
teris duloribus , item
raptis. convolsis, tus-
sibus drachmae pondere
in vino pota. eadem et
vomitiones adiuvat com-
manducata.
14 Öo&Lovus C 15 TQvyös C TQvyl Umschrift.
XY
17 K^YAOC mit ausradiertem K C.
GflVQ
18 TT6PNHC so C. cpvQvris Umschrift.
21 TioicoQO . . . tu C nvoQQÖovvra Umschrift.
C. fol. 31 r.
20 OIONI so C 25 cvvs-ip^tvtav C. avv...u FHp.
26 6NAP6T0N niN€TA|OcD0AAM«NOAPMAKCON so C
31 Xiav&eig C.
D. I 9, 19:
Plin. XXI 134:
Kgaxevag Qit,oxo{iixog.
Aeugov dvvafiLv e%et ^eQ^iavxixijv xal
diovorjxixrjv , aQ[i6£ov6av vdoonixotg,
i'öxidÖL xqovCu' ayovötv (ai Qt^ai) xal
ifHirjva' uexä iiefoxodxov de Jto&etöai
nkiftog eh, ag ehkeßooog Xevxbg xa&ai-
qovöl' \iCyvvvxai de xal pvooig xal äv-
xiööxoig.
dvva\iig d' avxav (sc. xiöv
Qt^CÖv) 0VQ1]XIX1], dsQ^iav-
xixii], aQuo£,ov6a vdoconixotg,
löXic.di xqovlcc äyovöi de
5 xal ippiiva' pexic nefoxod-
xov de ito&EiGai Tihyftog
ovyytcöv £' cog eh?.eßooog
Xsvxbg xa&aiQOvac pCyvvv-
tat de xal {ivooig.
Asarum iucinerum vi-
tiis salutare esse tra-
ditio uncia sumpta in
bemina mulsi mixti. al-
xum purgat ellebori
modo, bydropieis prod-
est . . . in mustum si
addatur . facit vinum
urinis ciendis.
3 UQfi6£ov6u Cv l6%iu8iY.oi? xqoviu Cv 2 ÖiovQr\Tiv.i] v, . p. vor c'cQuo^ovau iu v, . j) : xc-i f'uf-
5 no&fiaa Cv 6 HU&aiQU Cv MH" n«Jj" 4 In H steht hinter XQOvia noch v.ccl $t[%(.
r€Y€TA| so C. Si fehlt H. 5 jufrä Si H. 7 F : ££•
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, i. 3
\x
C. foL 40'
Kouxevag Qi£,oxoiiLx6g.
'AvayccXlldeg än<p6xeoca xqccvuccxlxcu',
acpXeyuavxoL' öxoXöticjv xe eiti<5Ttcc(Sxi-
xccl (xcd) vofiüv ecpexxixat' 6 öe %v-
kbg avxtov qlvI eyxvxog odovxav
novov navöet, iäv etg xbv ccvxixeC-
pevov pv|cDrf}pa xov ccXyovvxog ey-
Xt'tjg' xa-d-cciQSL xccl ägye^ia {lexcc [ie-
Aixog ccxxlxov xccl cc{ißXvG3Jiiaig ßor\-
%el' cpccölv d1 evioi xrji> pev e%ov6av
xb xvavovv uvftog 7iQÖ7txco<5iv dccx-
xvliov ÖTsXkeiv, xr\v de (poivtxovv
e%eQE&Ct,ei v xaxa%XccQ%el6av %q(övxccl
ö' avxt] xccl eig xccg /J)]^loxqlxov dv-
vcc^ieig.
M. WILLMANN,
D. II 209, 327 :
Etol d' u^itpöxegai xqccv[icc-
xixccl, äcpXeyiiavxoL , 6xo-
XÖTfCOV e7tl()JtCC6XLXCCL , vo-
{iäv ecpexxLXccC' 6 de %vkbg
5 ccvxcov ccvccyccQytxQLtl6[Levog
caiocpkeyyiccxLClei x£(pccki]v
xccl qusIv eyxvxog [ftfrt]
xccl ödövxcov tiövov itccvei,
eicv etg xbv uvxixeipevov
10 {iv£,(oxriQcc xä älyovvxL
&YX&W' KDC^aiQ£L de xccl ccq-
ye\ia ycexa pefoxog ccxxlxov
xccl d^ißXvcojiLKig ßori&et'
acpeXel xccl exLodrjxxovg pex'
15 oi'vov 7tiv6yievog xccl ve-
(pQixtxovg xccl rjTcaxLxovg
xcd vdoojTiiGbvxccg' cpccöl dJ
evLOL xi]v ycev e%ov6ccv xb
xvctvovv avd'og TtQOTixäöeig
20 dccxxvXiov öxeXXeLV, xr\v de
(xb) (poivixovv ioe&L&Lv
xaxuTtXcc<5%eZ<5av.
Plin. XXV 144:
. . . utriusque sucus ocu-
lorum caliginem discutit
cum melle et ex ictu
cruorem et argema ru-
bens , magis cum attico
melle inunctis . . . sucus
caput purgat per nares in-
fusus . . . bibitur et contra
angues suci drachma in vino.
XXVI 35 : iocineri anagal-
lides mire prosunt. 144:
praestant hoc et anagalli-
des cobibentque quas vo-
cant nomus et rheumatis-
mos, utiles et recentibus
plagis, sed praecipue se-
num corpori.
XXV 166: (ad colluendos
dentes) : colluuntur et peu-
cedani suco cum meconio
vel radicum anagallides
magis feminae suco ab al-
tera nare quam doleat in-
fus o.
XXVI 90 : anagallidum cae-
rulea procidentiam sedis
retro agit , e diverso ru-
bens proritat.
5 Qivhyvxog C
6 navosig C
7 TO AArOYNTOC so C.
11 KVUVtOV C.
1 auyÖTSQU TtQuvvxaiu. y.u.1 äqileyfiavta CNpv,. 2 ox-oXÖTtav ts
CN. 3 vofiütv — KScpaXriv fehlen ia CN. 7 ql6lv
ty%vx6g sau nai PVFH. xat qiv£v%vtr]g xcä C. neu quvsyxvxiY.k
Y.ui N. ödovtog V. 11 lm%£rjg PVFH. tvxfyg CN.
14 de xca' V. s%lo8. Ttivöfisvov (isru oi'vov xai vdocoJiLiiovg ' cpaai
C. t'xioS. nivöfievov fier' oi'vov xai vdQco7Uyiovg v.al fjiiatiHOvg N.
19 Kväviov C y.vuvov N. 21 zo steht iu CNp. vx .
C fol. 30 r ist ein kurzes Bruchstück über den Wegetritt erhalten 26) : Aq-
voyXcoööov dvva^iiv e%ei xr\xxixv\v xccl cccpA.ey[iccvxov xo%el6a yaQ [texä öxeccxog xccl
26) Der cod. med. gr. V der Wiener Hofbibliotliek bietet ein recht artiges Beispiel dafür,
wie grosse Vorsicht späteren Hdss. gegenüber geboten ist. Er ist nämlich scheiubar reichhaltiger
iu diesem Bruchstück als der Const., auf o%fd6v folgen in ihm noch folgende Worte: -nul mvotig
KRATEUAS. 19
(x in C, xcu Umschrift) iitixi%i\Livr\ tolg tä %uq&v iv. £%ov6iv svdsrsl' 7tQog ös tä Xomä
7toisl öxsöbv (exe C 6xn9" Umschrift) Dies Fragment füllt zusammen mit
dem bedeutend gekürzten Excerpt aus Galen itegl dvvdfiecjg (pag^dxcov (XI 838 K.)
etwa das untere Viertel der Seite. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass
der Schreiber des Constantinopolitanus es wegen Raummangels willkührlich ab-
gebrochen hat : der Bericht des Krateuas war ohne Zweifel viel reichhaltiger.
Ob aber die grosse Fülle des pharmakologischen Teiles der dioskurideischen Be-
schreibung (II 152, 268 ff.) aus ihm entlehnt ist, ist mir zweifelhaft, zumal wir
von Plinius (XXV 80) erfahren, dass der spätere Themison, der Stifter der so-
genannten methodischen Schule in augusteischer Zeit, die Heilkräfte dieser Pflanze
in einem besonderen Werke ausführlich behandelt hat. Ich glaube deshalb, aus
der doch immerhin bemerkenswerten Thatsache , dass das kurze Fragment des
Krateuas nicht die auffallende enge Berührung mit Dioskurides aufweist wie die
vorhergehenden, den Schluss ziehen zu dürfen, dass Dioskurides in diesem Ca-
pitel den reicheren, auf der Schrift des Themison aufgebauten Bericht des Sex-
tius Niger dem des Krateuas vorgezogen hat.
Nicht so sehr für die Quellenanalyse des Dioskurides von Wichtigkeit,
aber um so mehr durch die Seltenheit des Inhalts ausgezeichnet sind die beiden
letzten von den Heilwirkungen der Argemone und der kleinen Aster (aster
Amellus L. Fraas 210) handelnden Bruchstücke, die keine Parallele bei Diosku-
rides haben, aber, da sie das Material bereichern, von der interpolierten Ueber-
lieferung (p vi) in den Text des Dioskurides aufgenommen worden sind :
C fol. 29r. vgl. D. II 208, 326.
Kgatsvag QL^oto^iLXog.
'AQysiicavri ' avtrj r\ ßotdvrj xojtstöa [ist1 d^ovyyCag %oiQadag diakvei ' novel xai
1 6£vyyiov vx p.
irtsX*!' ccl'ficcrog ngog rs xa iv y-vatSL (istec ylvusog' (päd 81 rag Qi£ccg tgsig no^il6ag olag l'aov
TQiTaC<a ßori&siv, tixaqxaiat de x£66ccgcig Qi£ccg~ ngbg %oiQädug -aal dia(p0Q0v6i\ — Das Plus findet
darin seine Erklärung, dass der Schreiber nicht den Majuskeltext, sondern die Umschrift desselben
in Minuskeln benützt hat, die in C fol. 29 v zu beiden Seiten der Illustration in folgender Weise
verzeichnet ist :
Umschrift des Galen
Darstellung
Umschrift des Dioskurides
des Umschrift des Krateuas
CCQv6yX(OG60V
Fortsetzung
der Umschrift
des Dioskurides.
Der Schreiber hat also versehentlich den unteren Teil der Umschrift des Dioskuridestextes , der
rechts von der Pflanzendarstellung steht, für Fortsetzung des darüber stehenden Krateuastextes
gehalten.
20 M. WELLMANN,
7tgbg alcpovg pikavag {ista vCxqov xal ftetov äitvQOv %r}Qa xoitslöa %a\ 6r\6freZ6u'
iv ßaXavsi'a (de) tovg XQCo^iivovg d-egaitevec 7tQo%rjQOtQißrid,evtag ' jzolsI xal Jtgbg
rpcoQav.
3 Ss fehlt in C.
C fol. 33 r. vgl. D. IV 118, 605.
Kgarevag QL%0T0[iLx6g.
'AQxeqiqv avtrj x^OQa xoitelöa [iet' a%ovyyiag itaXaiag itoiel Ttgbg Xvööodrjxtovg
(xal) ßgoyxoxrifoxovg ' vTtod'v^tcjfisvrj de (pvyadevet, d'rjgoa.
2 xat fehlt in C. erhalten in p. v,.
, Wir haben oben gesehen, dass von dem botanisch pharmakologischen Werke des
Krateuas die illlustrierte Pharmakopoe verschieden ist, von der in der Litteratur
der einzige Plinius (XXV 8) Kunde erhalten hat : Praeter hos Graeci auctores
prodidere quos suis Jocis diximus , ex his Crateuas , Dionysius , Metrodorus ratione
blandissima, sed qua nihil paene aliud quam difßcultas rei intelleg atur . pinxere
namque effigies herbarum atque ita suhscripsere effectus. Verum et pictura fallax
est coloribus, tarn numerosis praesertim in aemulationem naturae, multumque generat
transscribentium-fors varia. praetcrea parum est singidas earum aetatis pingi} cum
quadripertitis varietatibus anni faciem mutent,
Plinius unterscheidet drei Klassen von botanisch-medicinischen Schriften, je
nachdem in ihnen die Pflanzen abgebildet oder beschrieben oder mit Verzicht auf
Abbildung und Beschreibung nur benannt waren. Zu der ersten dieser Klassen
rechnet er die Werke des Krateuas, Dionysios und Metrodoros ; sie waren also in
ihrer Anlage völlig gleichartig, d. h. an die Stelle der Beschreibungen waren in
ihnen die Abbildungen der Pflanzen getreten , unter denen ihre medicmischen
Wirkungen verzeichnet standen. Der älteste dieser drei Pharmakologen ist
Krateuas 27) : folglich ist durch ihn in der pharmakologischen Litteratur die Ver-
einigung von Bild und Wort inauguriert worden, und wenn Plinius a. a. 0. aus-
drücklich als Nachteil dieser Behandlungsweise die vielfache Entstellung des
Originals durch die verschiedene Geschicklichkeit der Abschreiber hervorhebt,
so werden wir nicht irren, wenn wir die illustrierten Pharmakopoen des Dio-
27) Der an dieser Stelle genannte Dionysios ist der bekannte Cassius Dionysius aus Utika,
der Verfasser der griechischen Uebersetzung des magonischen Werkes über den Ackerbau. Dass
er auch Qi^oxoy.iY.ä geschrieben, bezeugt Steph.- v. Byz. s. v. 'iTvnri, wo Meineke statt des überlie-
ferten z)iokXj]s ohne Zweifel richtig liest: a<p' ov diovv6ios 6 'Irv%atog QL^OTOfiincöv nQ&xcp. Vgl.
Kuhn addit. ad elench. med. vet. a Fabricio exhibitum XIV 8. Vgl. Schol. Nik. Ther. 519 (Diosk.
III 113. Plin. XXI 152). Aerzte des Namens Metrodoros kennen wir drei: den Lehrer des Era-
sistratos, Schüler des Chrysipp von Kuidos (Sext. Empir. 657, 23 f. Bekk. Vgl. R. Helm Herrn.
29, 16:}), den Schüler des Sabinos aus dem Ende des 1. Jh. v. Chr. (Gal. XVII A 877. 508) und
einen Schüler des Asklepiades (Gal. XI 432. 442). Dieser war unzweifelhaft der Verfasser der
illustrierten inirofir] ql£otouov[1£vcov (Plin. XX 214). Vgl. Plin. Ind. 20—27. E. Meyer Gesch.
der Botanik I 257.
KRATEÜAS. 21
nysios und Metrodoros als Wiederholungen seines epochemachenden Werkes an-
sehen. Da diese drei illustrierten Herbarien oder wie man sie nennen will in
der späteren Fachlitteratur ausser bei Plinius keinerlei Berücksichtigung ge-
funden haben, so glaube ich annehmen zu dürfen, dass sie in der Art der illu-
strierten Pflanzenkunden der Humanistenzeit eine mehr für das Bedürfnis des
Volkes bestimmte, populäre Form der Qi£oTO[iLxd darstellen. Ueber die Anord-
nung der illustrierten Pharmakopoe des Krateuas liegt kein direktes Zeugnis
vor: doch macht es seine Bestimmung wahrscheinlich, dass sie in der Art der
Botanik des Pamphilos alphabetisch geordnet gewesen ist. Dass diese Art der
Anordnung auf ältere Werke zurückgeht, folgt aus der Einleitung des Diosku-
rides I, 3: "HpaQxov de xal itegl xijv xd%iv ot {ie.v döv^icpvkovg dvvd^etg övyxgov-
aavxeg, oX de xaxä Qxoi%elov dvaygdipavxeg die£ev%av xrjg ofioyevetag xd xe yevr\ xal
xdg ivegyeiag avxcbv, cog diä xovxo d^v^^ivrj^ovevxa (so F) yiveö&cti. Dioskurides
polemisiert hier gegen die Anordnung des Stoffes, die seine Vorgänger befolgt
hatten. Er kennt von ihnen eine doppelte Behandlungsweise : entweder hatten sie
die Pflanzen alphabetisch oder nach rein äusserlichen Merkmalen abgehandelt. Da
nun Dioskurides nur zwei Quellenschriftsteller benutzt hat, Niger und Krateuas,
und das Werk des Niger nach den von Plinius erhaltenen Excerpten thatsächlich
den Eindruck einer ungeordneten Compilation macht , so ist meines Erachtens
die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dass Krateuas die alphabetische
Behandlung des Stoffes wenn auch nicht aufgebracht, so doch angewandt und in
seinen beiden Werken befolgt hat. Das dioskurideische Werk negl vXrjg tccxQLxfjS
gehört zu der zweiten der von Plinius charakterisierten Klassen von botanisch-
medicinischen Schriften: die Bäume und Pflanzen sind einzeln beschrieben und
ihre medicinischen Wirkungen angegeben. Der Fortschritt, den es den älteren
Werken gegenüber bezeichnet , besteht in der grösseren Vollständigkeit der be-
handelten Materie und in der originellen Anordnung des Stoffes 2S). Die That-
sache, dass er die Pflanzen beschrieben hat, schliesst also von vornherein die
Möglichkeit aus , dass er seinen Beschreibungen Abbildungen der Pflanzen bei-
gegeben hat. Wenn nun trotzdem eine ganze Reihe von illustrierten Hdss. des
Dioskurides erhalten sind, so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Illu-
strationen spätere Zuthat sind.
Die in Betracht kommenden Hdss. zerfallen in zwei Gruppen, deren eine
durch die alphabetische Umarbeitung des Dioskurides vertreten ist, während die
andere die illustrierten Hdss. des vollständigen Dioskurides umfaßt. Diese zweite
Gruppe ist wiederum zweiteilig, je nachdem die Hdss. nach der alphabetischen
Umarbeitung interpoliert sind oder nicht. Zu der ersten Gruppe gehören:
1. Die beiden alten Pergamenthdss. der Wiener Hofbibliothek , der Con-
stantinopolitanus (C) in Folio und der aus dem Augustinerkloster S. Giovanni di
Carbonaria zu Neapel stammende Neapolitanus (N) in Quart. In beiden Hdss. ist
nicht nur die ursprüngliche Anordnung der Blattlagen gestört, sondern sie haben
28) R. Kobert, über den Zustand der Arzneikunde. Halle 1887, 8 ff.
22 BL WELLMANN,
auch im Innern, besonders C, verschiedene Blattverluste erlitten. C enthält
387 alte Pergamentblätter (0,312 m. breit, 0,376 m. hoch), die Illustrationen be-
ginnen auf fol. 12v mit dein asi^av tb \aiya und schliessen fol. 387 r mit der
Darstellung des loM{iov. Auf fol. 1 v stehen die aus Lambecius (II c. 7, 519)
bekannten bildlichen Darstellungen, die an anderer Stelle ausführlicher zu be-
handeln sind, und das in Majuskeln abgefasste Verzeichnis der behandelten Pflan-
zen nebst der Minuskelumschrift. Die Handschrift enthält im Ganzen 380 Dar-
stellungen, die von der Hand des späteren Correctors (saec. 15.) durchnumeriert
sind : bei einer Reihe von Pflanzen fehlt infolge von Blattausfall die Illustration,
bei andern der Text. In den weitaus meisten Fällen nimmt die bildliche Dar-
stellung eine eigene Seite ein, ebenso der Text, bisweilen sind die verschiedenen
Arten einer Gattung auf einer Seite vereinigt, z.B. fol. 152 v kow^cc XsnTocpvMog
und növvtjüL 7tkcctv(pvXlog, vereinzelt ist auch der Text der bildlichen Darstellung
beigefügt. Illustrationen und Text tragen als Ueberschrift den Namen der
Pflanze (rot geschrieben) , ausserdem stehen unter den Pflanzenbildern die ara-
bischen Namen und nicht selten am oberen Rande mit noivcbg oder Idicbtcu ein-
geleitet ein weiterer griechischer Name von der Hand des 15. Jh. Der Text
beginnt fast regelmässig mit den Pflanzensynonyma, die in dieser Fassung nichts
mit Dioskurides zu thun haben. Die alphabetische Anordnung ist innerhalb der
einzelnen Buchstaben nur selten gewahrt. Der Neapolitanus (0,14 m. breit,
0,297 m. hoch) aus dem 7. Jh. besteht aus 172 Pergamentblättern, von denen meist
nur die Vorderseite beschrieben ist. Auf der oberen Hälfte jeder Seite befinden
sich die Pflanzenbilder, zwei, doch auch drei und vier auf einer Seite, im ganzen
409. Unter jeder Pflanze steht der Pflanzenname mit roter Tinte und darunter
der Text wie in C mit den Synonyma beginnend. In den meisten Fällen sind
die Pflanzendarstellungen mit weiteren Namensbeischriften versehen, die von zwei
verschiedenen Händen herrühren, fast ausschliesslich in lateinischer Schrift. Die
Abbildungen sind in beiden Hdss. farbig , jedoch in C weit vorzüglicher und
prächtiger als in N und zum Teil der Natur entsprechend; daneben giebt es
aber auch eine Reihe von monströsen Pflanzendarstellungen. Die Abbildungen und
der Text stammen in beiden Hdss. aus demselben Original, dessen Entstehung in
die Zeit nach Galen und vor 450 fällt.
2. cod. Bononiensis gr. bibl. univers. n. 3632. Es ist eine Papierhds. aus
dem 16. Jh. -9), deren Blätter 0,296 m. hoch und 0;219 m. breit sind. Vgl. die
Beschreibung von Olivieri Codices graeci bononienses in den Studi italiani di filo-
logia classica Vol. III Firenze-Roma 1895, 387. Die Hds. enthält von fol. 385 r
an bis 416 v farbige, mit ziemlicher Sorgfalt des Details gemalte Pflanzenbilder,
der Text des Dioskurides fehlt. Die durchnumerierten Illustrationen sind will-
kührlich geordnet, auf jeder Seite stehen höchstens 6, mindestens 2 Darstel-
lungen, je nach der Grösse der dargestellten Pflanze. Jeder Darstellung ist der
Pflanzenname, nicht selten auch die Synonyma beigefügt. Auf fol. 417 r — 418 r,
29) Vgl. II. Schöne Apollonius von Kitium XXXVII f.
KRATEUAS. 23
425v, 428v, 377r, 377*, 378r stehen dieselben bildlichen Darstellungen (Aerzte-
darstellungen, Auffindung der Mandragoraswurzel u. s. w.) wie in C fol. 2V — 6V,
auf fol. 380', 381v, 382v, 383r, 384v dieselben Bilder von giftigen Tieren und
Schlangen wie in C fol. 394 r ff. zu der Eutekniosparaphrase von Nikanders The-
riaka. Die Uebereinstimmung dieser Illustrationen mit dem Constantinopolitanus
setzt es ausser Zweifel, dass sie Kopieen dieser Handschrift sind, doch sind sie
in den seltensten Fällen in der Grösse des Originals ausgeführt.
3. Cod. Marcianus XCII, eine Bombycinhds. des 13. Jh. in Octav (0,145 m.
hoch, 0,10 m. breit), 168 Blätter. Auf fol. 92 r beginnt der Text des Diosku-
rides mit der Ueberschrift : /Jio6koqC8ov tceqi ßotavöjv xal ^cocov d-aXarttcjv nal
Xsq6ccl(dv. Fol. 163v schliesst der Text des Dioskurides mit der Mandragoras-
wurzel. Am Rande stehen flüchtige Federzeichnungen der behandelten Tiere
und Pflanzen. Die Pflanzenbilder des Originals waren farbig ausgeführt: der
Schreiber hat häufig die Farben in griechischer Sprache seinen Federzeichnungen
beigefügt, gegen Ende werden die Zeichnungen spärlicher.
4. Athoshandschrift vom Kloster Lavra30). Es ist eine Pergamenthds. des
12. Jahrhunderts (0,235 m. hoch, 0,185 m. breit), 292 Blätter enthaltend. Sie
geht wegen ihrer Anlage auf eine ähnliche Vorlage zurück wie der eben be-
sprochene Marcianus. Die Hds. enthält 404 Illustrationen : sie sind farbig,
durchschnittlich 5 — 12 cm. hoch und mit den Namen versehen. Sie stehen im
Text des Dioskurides, meistens zwei oder drei neben einander. Abbilden wollte
der Schreiber alle, er hat für alle Platz gelassen und die Namen beigeschrieben:
es fehlt aber eine Reihe von Darstellungen. Die Hds. ist sehr beschädigt: mit
der rechten unteren Ecke derselben sind Stücke der Illustrationen verloren ge-
gangen. Auf mehreren Bildern ist ein Mann mit einem Beil der Pflanzendar-
stellung beigefügt (z. B. cciqcc, a^TCskoitQaöov , ßovviov) oder zwei Männer {£%C-
ftviiov) oder Mann und Frau (€qv6l[iov, ekvpog, evcpogßiov) oder zwei Frauen mit
Gefässen (l'ov izoQyvgovv) oder eine Frau mit einem Zweig und einem Heiligen-
schein (<XQTStlL6LCc).
Die zweite Gruppe umfasst drei Handschriften :
5. Cod. Parisinus n. 2179 , die beste Hds. des Dioskurides. Sie ist eine
Pergamenthandschrift in Uncialschrift (0,267 m. breit, 0,35 m. hoch) aus dem 9.
Jh. mit 171 Blättern. Sie enthält den Text des Dioskurides von II c. 204 —
Y 124 mit häufigen durch Blattverlust entstandenen Auslassungen. Jedes Ca-
pitel ist mit Pflanzenbildern versehen, die im Texte stehen und deren Zahl sich
genau nach dem Texte des Dioskurides richtet. Sie sind farbig, aber ziemlich
ungeschickt in der Ausführung, zum Teil monströs und mit arabischen Zahlen
und arabischen und lateinischen Pflanzennamen (von drei verschiedenen Händen)
30) Die Beschreibung der Athoshds. verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. C.
Fredrich, der die Hds. für mich eingesehen hat. Eine verwandte Hds. ist der cod. Philipp. 21975,
Pergamenthds. des XI. Jh. in Cheltenham , dessen Nachweis ich einer liebenswürdigen Mitteilung
des Herrn Prof. V. Rose verdanke. Die zahlreichen Pflanzen und Tierbilder stammen nach den
Mitteilungen Roses aus der alphabetischen Umarbeitung des Constantinopolitanus.
24 M. WELLMANN,
versehen. Es sind 402 Pflanzenabbildungen; sie reichen bis zum Ende des 4.
Buches, in 6 Fällen ist ihnen wie im Athous die Gestalt eines Mannes beigefügt:
Fol. 2r : Die avayakkCg hat zwei Darstellungen , die eine mit blauer , die
andere mit roter Blüte. Links von der ersten Darstellung steht eine männliche
Figur mit goldener Chlamys, die L. zur Pflanze erhoben, die R. auf dem linken
Knie ruhend.
Fol. 3V: %bXi86vlov piya. R. von der Darstellung liegt eine männliche
Figur mit goldenem Heiligenschein, in einen hellfarbigen Mantel gehüllt.
Fol. 4V: 6d-6vva. R. von dem Bilde eine in ein bläuliches Fell gehüllte
männliche Figur mit einem Stab in der Rechten, auf den sie sich stützt.
Fol. 5r: [ivbg atcc. L. unter der Pflanze liegt eine männliche Figur auf
die R. gestützt, die L. zum Gesicht erhoben, die Beine an den Körper gezogen.
Die Brustbekleidung ist goldfarben, die Beinkleider und Aermel blau.
Fol. 5V: tr\X£cpLOv mit zwei Pflanzendarstellungen. R. von der zweiten eine
knieende männliche Figur mit goldfarbener Kopfbedeckung und gleichfarbigem
Mantel, die R. nach der Pflanze ausgestreckt.
Fol. 7 T : ysvtLccvr]. Eine knieende männliche Figur 1. von der Darstellung,
welche mit beiden Händen nach derselben greift. Vgl. Bordier, Description des
peintures et autres ornements contenus dans les manuscrits grecs de la biblioth.
nat. Paris 92.
ß) Cod. Paris, n. 2183, Papierhds. aus dem 15. Jh. 165 Blätter (0,21 m. breit,
0,28 m. hoch), interpoliert nach der alphabetischen Umarbeitung des Dioskurides.
Am Rande steht zu den meisten Capiteln die Parallelüberlieferung aus Galen
nsgl 8vvd\iBC3s q)ccQ{idx(ov von jüngerer Hand (16. Jh.). Die in Wasserfarben
ausgeführten Pflanzendarstellungen beginnen auf fol. lv und stehen am Rande
der Hds. , 3—4, bisweilen 6 auf einer Seite in verkleinertem Massstabe. Auf
fol. 27 v bei dem Capitel 71sqI Iteccg (I 135, 130 Spr.) hören die Darstellungen
des 1. Buches auf bis auf drei Darstellungen auf fol. 33v und 35v. Mit fol. 34r
beginnt das zweite Buch, am Rande stehen zu Anfang des Buches einfache Fe-
derzeichnungen der von Dioskurides behandelten Tiere. Die farbigen Pflanzen-
darstellungen beginnen erst wieder fol. 46 r mit dem Capitel jisqI tivqmv (II c. 107,
233 Sp.), und reichen bis zum Ende des vierten Buches.
7) Cod. Paris, n. 2180 , Papierhds. des XV. Jahrhunderts , bestehend aus
109 Blättern, die eine Grösse von 0,285 m. x 0,397 m. haben. Die Hds. ist
nach der Subscription von der Hand des Georgius Midiates (c. 1481) geschrieben.
Sie enthält von fol. 5l— 56v, fol. 67r-— 72v Auszüge aus Dioskurides, die zum Teil
mit farbigen Abbildungen versehen sind ; wo sie fehlen, ist Raum gelassen. Die
Darstellungen sind ziemlich flüchtig angefertigt und entsprechen am meisten
denen der. Bologneser Handschrift.
Die Uebereinstimmung der in sämmtlichcn illustrierten Handschriften erhalte-
nen Pflanzenabbildungen zeigt, dass ihnen dieselben Vorbilder zu Grunde gelegen
haben. Da nun der echte Dioskurides ursprünglich nicht illustriert gewesen ist,
der alphabetisch umgearbeitete dagegen, wie sich später ergeben wird, den lllu-
KRATEUAS. 25
strationen seine Entstehung verdankt, so bietet sich die Vermutung von selbst
und darf wohl für Gewissheit gelten, dass die Uebereinstimmung in den Illu-
strationen sämmtlicher Handschriften daraus zu erklären ist, dass diejenigen des
alphabetischen Dioskuridcs den Grundstock der Pflanzenbilder der anderen Hand-
schriftengruppe bildeten und daß sich an sie später die im alphabetischen Dios-
kurides fehlenden Illustrationen nach dem Texte des Dioskurides angegliedert
haben. Von der Gemeinsamkeit der Herkunft der Illustrationen kann sich ein
Jeder durch die auf den beigegebenen Tafeln reproducierten Bilder des iidlv
und der' Xv%vlg 6te(pavco{icczi7t7J (Agrostemma coronaria L.) überzeugen.
Durch die bisherige Erörterung haben sich zwei wichtige Thatsachen er-
geben : erstens dass der Grundstock der Illustrationen in den Bilderhandschriften
des Dioskurides auf ein und dieselbe Vorlage zurückgeht und zweitens , dass
diese Vorlage die alphabetische Umarbeitung des griechischen Textes des Dios-
kurides gewesen ist. Dass die Aehnlichkeit der Bilder häufig nur noch schwer
zu erkennen ist, ist einzig und allein auf Rechnung des häufigen Copierens, das
sie durchzumachen hatten, zu setzen, ein Uebelstand, den schon Plinius a. a. 0.
in seiner Kritik der illustrierten Pharmakopoen zu rügen wusste.
Demnach hat sich die Untersuchung über die Herkunft dieser Abbildungen
auf die älteste der uns erhaltenen Handschriften des alphabetischen Dioskurides,
auf den Constantinopolitanus zu beschränken. Da ergiebt sich zunächst die
Frage: sind die Illustrationen im Anschluss an den Text des Dioskurides ent-
standen ? Diese Frage ist mit grosser , an Gewissheit grenzender "Wahr-
scheinlichkeit dahin zu beantworten, dass die Pflanzenbilder das gegebene waren
und dass der dioskurideische Text nach ihnen umgearbeitet worden ist. Wenn
die Pflanzenbilder zur Illustrierung des Textes hätten dienen sollen, so wäre es
doch höchst wunderbar , dass nur eine verhältnissmässig geringe Zahl von
Pflanzen illustriert worden ist. Später ist doch der vollständige Dioskurides
bis auf das letzte von den Kunstproducten und Metallen handelnde Buch illu-
striert worden ! Warum , so fragt man weiter , musste zu diesem Zweck der
Text alphabetisch umgearbeitet werden, warum sind die Illustrationen grade auf
die in einem pigorofuxöV zu behandelnden Kräuter und Sträuche beschränkt
worden? Ferner fällt ins Gewicht, dass mehrere der mit Abbildungen verse-
henen Pflanzen im Dioskurides vollständig fehlen31) und dass ihre Beschrei-
bungen aus andern Quellen entlehnt werden mussten, die dann später in den
Text des Dioskurides interpoliert worden sind.
Weitaus am Wichtigsten aber ist es, dass die den Pflanzenabbildungen und
dem Text beigefügten Namen zum Teil eine andere Ueberlieferung repräsentieren
als die des Dioskurides. Denn dass der Schreiber des Originals diese Namen
willkührlich geändert haben sollte, ist bei der bemerkenswerthen Thatsache, dass
31) So die ccgysfimvri stsqcc C fol. 58r (vgl. D. 326), das Xsvxoiov ftul&G6iov C fol. 69r und
203^, wo die Darstellung steht (vgl. D. 471), und das aai-icpQayov C fol. 290r (vgl. D. 518).
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, i. 4
3
26 M. WELL MANN,
sie sich in den meisten Fällen durch anderweitige Ueberlieferung als unantast-
bares Gut des Altertums erweisen, schlechterdings undenkbar.
Dioskurides (IV 88, 584 f. vgl. Plin. XXV 160) beschreibt dr ei Hauswurz-
arten (Sempervivum L.), das dec^ejov tö [taya , dei^oov tb [ilxqov und das trjXe-
epiov , der Verfasser des Constantinopolitanus nennt die dritte Art aei£<oov tb
XsTttocpvXlov. Dem Text des D. konnte er diese Benennung nach der Beschaf-
fenheit der Blätter nicht entnehmen, weil D. beim Telephion davon redet, dass
seine Blätter behaart und ziemlich breit seien wie die des Portulak. Dazu
kommt, dass die in C (fol. 14 v Text, fol. 14r Darstellung) beigefügten Syno-
nyma: oi de dei^cov tb [ilxqov, ol de 7tetQO<pveg9 ot de aei%cov dygtov , 'Paualot
6eii7feQßißovu iLcvovg die Identificierung mit dem tt\ke^iov ausschliessen , was
noch dadurch bestätigt wird, dass das trjlecpiov in C fol. 356 v beschrieben und
mit Darstellung versehen ist. Folglich kannte die Vorlage von C einschliesslich
des Telephion vier bildliche Darstellungen von Hauswurzarten, und es ist uns
hier einmal vergönnt , an einem urkundlichen Beispiel zu zeigen , dass nicht
Dioskurides. sondern die mit Namen versehenen Illustrationen für den Verfasser
der A^orlage des Constantinopolitanus das Gegebene waren. Daraus erklärt sich
am einfachsten, dass dieser Piianzendarstellurig ein Text beigefügt ist, der im
Dioskurides fehlt32) und höchst wahrscheinlich vom Verfasser in seiner Verle-
genheit von demjenigen der zweiten Art abgeleitet ist: (pvetat xal avtb (wie das
äei^coov tö [ilxqov) ev toi%oig xal itetoaig xal &oiyxoig' xavXia TteoiTtXea cpvXXaQicov
\[ilxqcjv] [iccxq&v, v7toötQoyyvXcov ' dvva^iiv d' e^ei xai avtb trjv avtr\v tolg 7tQoet-
Qrj[isvoig.
Zur Familie der Nachtschattengewächse gehören nach D. fünf Arten: das
6tQv%vov xrjTtalov , 6tQv%vov ccXtxdxxaßov , 6tov%vov V7tv<x>tixöv , pavixov und das
doovxviov (D. IV 71, 565 f.), während in C nur drei Arten mit Illustrationen
und Text versehen sind: 6tov%vog peXag xt\TtaZog (fol. 292 v, 293 r), (pvöaXXig (fol.
359 \ 360 r) und der aXixdxxaßog (fol. 35 v, 36 r). Die cpvöaXXtg, deren Name dem
Dioskurides unbekannt ist 33), ist ohne Zweifel mit dem 6tov%vov ccXtxdxxaßov des
D. identisch, da dieser Pflanze nach der dioskurideischen Beschreibung eine bla-
senartige Fruchthülle eigenthümlich ist. aus der sich der Name cpvöaXXig zur G-e-
nftge erklärt. Mithin ist der aXixdxxaßog des Constantinopolitanus von dem
Gtgvyvov dlixdxxaßov des D. verschieden . und wenn ihm trotzdem der Text
dieser Abart beigegeben ist, so ist dies Versehen nur daraus zu erklären, dass
32) Im coil. Marc XCII fehlt dieser Text, trotzdem dieselbe Dreiteiluug zu Grunde Hegt.
Er unterscheidet aber ausdrücklich wie C das rr\X4cpiov vom aeftcoov XeitxoyvXXov und beschreibt
eine vierte Art mit folgenden Worten: eregov de \yevvaxai ev xjj 'Ivdca- cpvexat, de %a\ iv xjj
'Aai'u v.cu ev xoig 7iccQCi&ccXci6Gioig tOTtOi? ncci vr\6oig.
33) Her Anfang von c. 72 lautet nämlich im echten Dioskurides: "Egxl de nal exeqov axQvxvov,
o Id tag ccXtyKXHHußov ■KaXovai (so PFH ot de äX. v.aX. Orib.)- cpvXXotg opoiov xä n^oetg^ievco ytxX.
Das Synonymon cpvauXXtg, das wir im Texte der Sprengeischen Ausgabe lesen, ist also spätere In-
terpolation.
KRATEUAS. 27
der Text des Dioskurides später hinzugefügt ist, also zur Illustrierung des ge-
gebenen Bildes hat dienen sollen. Der aXLxdxxaßog des Const. ist vielmehr mit
dem 6xqv%vov imvcotixov identisch, das nach der besten Ueberlieferung des D.
(567) gleichfalls diesen Namen führte: 6xqv%vov vtcvcqxlxov ol de aXLxdxxaßov,
ol de xaXXiav (so Orib. vgl. Plin. XXI 177 xaxxaXCav PV xaxxaXlda F) xaXovöi'
Eine erwünschte Bestätigung für diese Identificierurg ist es, dass die Synonyma,
die in C zum aXixdxxaßog erhalten sind, in dem interpolierten Dioskurides that-
sächlich zum 6xqv%vov v7tvcoxixov gezogen sind, wie p und vi bezeugen : öxovyyov
vTtvatixöv ol de ccXtxdxxaßov ol de dioxaiov ol de 0xqv%vov pavixov' ol de dogvxvLov
01 de xaXXCav (xaXXa'tda p vi fehlt in CN)' 'Pco^iatoL ditoXXivdoiq ulvoq' ol de eoßcc
ovatLxdva (ovXxLxdva pvi)- ol de b^dyLve^i {bipayev C bipayep N)* <ddxoi xoLxoXCda'61)
(so N , xoLXodCXa C xvxcoXtda p vi) ' "AtpQOL xaxxaßovp. Dass die Unterscheidung
von drei Nachtschattenarten nicht etwa willkührliche Aenderung des Verfassers
von C ist, sondern auf guter Ueberlieferung beruht, beweist Plinius (XXI 177 f.),
der ebenfalls nur drei Arten kennt. Eine ganze schwache Spur scheint sogar auf
den Urheber dieser Einteilung zu führen. Zu Anfang des vom doQvxvtov handeln-
den Capitels (IV 75, 569) des D. lesen wir : zJoqvxvlov, b Kgaxevag aXLxdxxaßov tf
xaXXCav xaXel' &d{ivog b[ioLog eXaCa doxLcpvel. Krateuas identifizierte also das
doovxvLov mit dem aXixdxxaßog : dasselbe geschieht in der Synonymenüberliefe-
rung von C und nun wird es auch mit einem Schlage klar, weshalb das doovxviov
in C keine bildliche Darstellung hat.
Die kißavatig (D. III 79, 422. C fol. 176 r. N fol. 56), von der D. nach älterem
Vorgange (Theophr. IX 11, 10. Zopyros bei Orib. II 555. 591) zwei Hauptarten
unterscheidet, die fruchttragende und fruchtlose, führt in C den Namen Kdxov.
Da dieser Name für die ältere Zeit der griechischen Botanik , für Aerzte wie
Hippokrates 35) (II 558 K.) , Apollonios aus Memphis (Gral. XIV 188) , Andreas
(Gal. XIV 181), Herakleides von Tarent (Gal. XIV 182) und Zopyros (Orib. II 553)
zur Grenüge beglaubigt ist, von Dioskurides aber nur zur Bezeichnung der Frucht
verwandt wird, so kann er unmöglich dem Text des Dioskurides entnommen sein.
Die Eselsdistel (Onopordon illyricum L. Fraas 205) heisst bei Diosku-
rides (III 157, 494) dvdyvgov ol de ävdyvQLv, ol de axoitov xaXovöL (so PVFH
dvdyvQov, ol de axoitov Orib.), in C fol. 251 v und in N fol. 98: bvoyvgog. Da.<s
dieser Name auf antike Ueberlieferung zurückgeht , bezeugt Nik. Ther. 71 :
dyvov xe ßgva Xevxcc xal e^ltQLOvx, bvoyvoov , wozu der Scholiast folgendes be-
merkt : 6 de bvoyvQog eöxLv eidog ßoxdvrjg [xal bvoyvoog de eidog d-duvov. xaXovöi
de avxbv ol [iev dvdyvgov, ol de bvoyvoov , ol de axoitov , ol de äyvdxogov , ol de
b^oyvgov Gr.].
Das Mutter kraut (Matricaria Parthenium Fraas 214) führt in C fol. 31 v
und 32 r (vgl. N fol. 7) den Namen dudoaxov, bei Dioskurides (III 145, 485. Vgl.
34) Vgl. Tomaschek, die alten Thraker II. Sitzungsberichte der Wiener Akademie Bd.
CXXX Wien 1893 S. 31.
35) D i e r b a c h, die Arzneimittel des Hippokrates S. 192.
4*
28 W. WELLMANN,
Plin. XXI 176) den Namen Ttag&iviov ; doch macht derselbe Dioskurides den
Zusatz, dass er von einigen Autoren auch dudgaxov genannt werde: itagfteviov
ot de apdgaxov, oC de Xevxdv&euov xal xovxo xaXovöi. Daraus dürfen wir ge-
trost den Schluss ziehen, dass die Ueberlieferung, welche die (Jen Illustrationen
in C beigefügten Namen repräsentieren und damit auch die Bilder einer äl-
teren von Dioskurides benützten Ueberlieferung angehören.
Der Erdrauch (Fumaria officinalis L. Fraas 125) hat in C als Beischrift
sowohl der Abbildung als auch des Textes (C fol. 156 v, 157 r = N fol. 46) den
Doppelnamen: xaitvbg r\ xogvddXXtov. Von dem zweiten Namen hat sich bei D.
IV 108, 599 nicht die geringste Spur erhalten. Vgl. Plin. XXV 156.
Das grosse Löwenmaul (Antirrhinum maius) heisst bei D. (IV 131, 614)
avxldgivov, dvdggivov , Xv%vlg aygta, in C (fol. 159 v, wo die Darstellung und fol.
l()()r, wo die Beschreibung steht, vgl. N fol. 51) KvvoxecpdXtov. Dieser Name
des Löwenmauls steht in unserer Ueberlieferung nicht vereinzelt da, sondern ist
sicher verbürgt durch den Scholiasten zum Oribasius (cod. Par. 2189 s. XVI z,u
Buch XI, herausgegeben von Bussemaker und Daremberg Orib. II 744 : 'Avxig-
givov ?j xvvoxeydXiov ' zJiogxovgidrjg xal Uagävbg ov \ie\ivx\vxai avxrjg (d. h. unter
dem Namen xvvoxecpdXtov) ' 6 de 'Povcpog iv ßoxavixcov y xal nd^icpLXog iv xcS
negl ßoxavcbv [isuvrivxaL avxrjg' 6 de &eocpga6xog (IX 19, 2) dvxiggt^ov avxfjv
xaXel sv cpvTLXotg' 6 de raXrjvbg ev ccitXolg dvxiggivov (d^iTtgtvov hds.) rj dvdggivov.
^evoxgdxr\g . . . . rj xvvoxecpdXtov , xal IJa^cpiXog. Dem Xenokrates , Rufus und
Pamphilos war also der Name geläufig ; demnach empfiehlt sich angesichts der
Thatsache, dass diese drei Aerzte in ihren botanischen Werken auf alter Tra-
dition fussen, die Vermutung, dass der Vertreter dieser Ueberlieferung der Zeit
vor Dioskurides angehört.
Das £g>6vv%ov des Constantinopolitanus (fol. 124r Darstellung, fol. 123 v
Text) heisst bei Dioskurides nach der besten, durch Plinius (XXVII 57) ge-
stützten Ueberlieferung xf^iog. Vgl. D. IV 129, 612 : xfj^iog diddxxvXöv etixi ßo~
xdviov, e%ov cpvXXdgia öxevd, i<5%vgd, cog xeöödgav daxxvXav xal xgicbv xb {irjxog xxX.
(So PFH, wo am Rande Xeovxoitödiov steht , was C 123 v zusammen mit xr^iog
als Synonymon von £co6vv%ov anführt). Der Name tfabw^ov ist dem Dioskurides
fremd, also auf Rechnung einer anderen Ueberlieferung zu setzen. Das nay-
xgdxtov des Dioskurides (II 203, 318. Vgl. Plin. XXVII 118. Pancratium ma-
ritimum) hat wieder in C (fol. 126 v Text, fol. 127 r Darstellung) einen Doppel-
namen : r\gdxXeiov rj nayxgdxiov.
Vom Berufkraut (Erigeron viscosum und graveolens Fraas 209) unter-
scheidet Dioskurides III. 126, 468 drei Abarten: K6vv£a iiei&v, {iixgd oder Xenxx\,
die dritte ist unbenannt. C (fol. 152*. N fol. 49) kennt nur zwei Abarten mit
den Namen: xbvv%a XeitxoyvXXog und nXaxvcpvXXog , während unter den Syno-
nyma die dioskurideische Bezeichnung: xovvt,a pixgd und ^leydXrj (fol. 153 r) wie-
derkehrt. Dass die Bezeichnung der beiden Arten nach der charakteristischen
Blattform nicht aus den Fingern gesogen ist, wird Jeder zugeben.
Das öxokoTtevdgiov in C (fol. 290 y Darstellung, fol. 291 r Text) heisst bei
KRATEUAS. 20
Dioskurides (III 141, 480) äöitXrivov, ebenso bei Plin. XXVII 34: Asplenon sunt
qui hemionon vocant, und das war zu jener Zeit der gebräuchliche Name ; jedoch
erwähnt D. den Namen öxoXotcevöqlov unter den Synonymen: ol de öxoXotcevÖqlov,
ol öl rj^LÖvLOv , ol öl 6iiXr]v iov , ol dl nxeovya xaXovdi (so PFH) und C den des
a6%Xr\vov in seiner Synonymenliste : ol 61 döitX^vov, ol öl ö7tXrjviov, et öl j^utd-
VtOV, Ol Öl IlTEQVycC, OL Öl Xoy%ltig, OL Öl (XTOVQLOg (SO N Vi p CCTF/VXQLOg C), OL
öl cpgvyLcc, ol öl cpovylug, ol öl yiXtooöoTig, tfpoqpijtrca aipa yccXfjg. Die Benen-
nung dieser Pflanze als 6xoXotiev8qlov rührt von keinem geringeren her als dem
Arzte Andreas , dem Verfasser des v&Qftrfe , einem Vorgänger des Dioskurides
(Schol. Nik. Th. 684), und wenn die bildliche Darstellung in C diesen Namen
trägt, so liegt darin ein urkundlicher Beweis , dass sie auf guter Tradition , die
älter ist als Dioskurides, beruht.
Vom Feldbeifuss unterscheidet Dioskurides (III 117, 463) zwei Arten, beide
strauchartig , die eine mit breiteren Blättern und Zweigen , die andere mit dün-
nen Zweigen und kleinen , feinen , weissen Blüten von unangenehmen Geruch.
Er verzeichnet aber ausdrücklick die abweichende Tradition, nach der unter
artemisia eine im Binn nlande wachsende Pflanze zu verstehen sei mit einem
einzigen dünnen, sehr kleinen Stengel, der voll von wachsfarbenen, feinen Blüten
sitzt: "Evlol öl rö iv {isGoyeioig Xs7ttoxaQcp6t8Qov (so PV Orib. CN leTiroxccorpov
FH) ßotdvLOV, anXovv rc3 xccvXti), öcpööocc {ilxqov, av&ovg tceoitcXeov tr\v %qöccv xtj-
gosLÖovg (so PV Orib.), Xetitov xaXovöiv doxE\ii6lav. Vgl. Plin. XXV 73. Wenn
nun in C (fol. 20r. 20 \ 21 r. N fol. 3) Darstellung und Text die Beischrift:
aoTzpiöia [lovoxXavog und <xqts[il6lcc eteqcc TtoXvxXcovog haben, so sieht jeder, dass
dieser Unterscheidung die von Dioskurides bekämpfte Ueberlieferung zu Grunde
liegt, d. h. dass die Darstellungen und Beischriften mit Dioskurides nichts zu
thun haben , sondern auf eine ältere von Dioskurides benützte Ueberlieferung
zurückgehen.
Vom TtSQLötSQEcbv unterscheidet C (fol. 268 r und 268 v) zwei Arten: iteoiöxE-
QEC3V öo&og und vitxiog. Es sind dieselben beiden Arten, die Dioskurides (IV
60, 61, 548) kennt, aber folgendermassen benennt: IV 60: tceqlOxeqlov ■ cpvEzca
iv rolg icpvöooig toitoig (so PVFH Orib.). IV 61 : leqlx ßordvrj' ol öl tieqiöte-
QEtbva ixdXeöav gdßöovg dvirjöi 7tr}xvaiovg (so PFHV). Vgl. Plin. XXV 105.
Schol. Nie. Ther. 860.
Der wilde Knoblauch heisst bei Dioskurides (II 181, 290) ocpioö'xoQÖov, in C
(fol. 116 r) iXacpööxoQÖov und das allium ampeloprasum bei Diosk. (II 179, 289)
uiLTtEXoTtQaöov, in C (fol. 209 r) Xvxööxoqöov.
Diese Zusammenstellung, die auf Vollständigkeit keinen Anspruch machen
will, erhebt die Annahme, dass die Abbildungen nicht nach dem Text des Dios-
kurides gearbeitet sind, zur Gewissheit. Sie beweist, dass das Verhältnis von
Text und Illustrationen vielmehr ein umgekehrtes ist : es sollte nicht der Text
durch die Illustration, sondern die bildliche Darstellung durch den nicht selten
zurechtgeschnittenen Text des Dioskurides erläutert werden. Weiter hat sie
ergeben , dass die botanische Doctrin , die den Illustrationen in C zu Grunde
3 •
3() M. WELLMANN,
liegt, auf eine vor Dioskurides liegende, von ihm benützte Ueberlieferung zurück-
geht. Mich dünkt, bei diesem Thatbestand ist der weitere Schluss vollauf be-
rechtigt, dass in den Abbildungen des Constantinojjulitanus ein illustriertes Her-
barium vorliegt in der Art und aus der Zeit des Krateuas, Dionysios und Me-
trodoros. Bedenkt man nun, was ich im ersten Teil dieser Abhandlung (S. 11)
erwiesen habe , dass der Verfasser der Vorlage des Constantinopolitanus that-
sächlich das illustrierte gi^oro^tixov des Krateuas für die von ihm hinzugefügte
Parallelüberlieferung dieses Arztes benützt hat und dass die Anlage der illu-
strierten Pharmakopoe in allen Stücken derjenigen des Krateuas entspricht , so
ist der Schluss ganz unabweislich , dass die Illustrationen des Constantinopoli-
tanus auf eine Copie der Illustrationen jenes Werkes zurückgehen 36).
Wie wahrscheinlich nun auch für jeden Verständigen diese Zurückführung
sein mag , so seien doch noch mehrere Zeugnisse hervorgehoben , welche für die
den Illustrationen beigefügten, von Dioskurides abweichenden Benennungen den
Krateuas als Quelle gewährleisten.
Das Windröschen kommt nach Dioskurides in zwei Arten vor, die er dve-
pa>vr} aygia und r^iegog nannte : von der Waldanemone kennt er eine Abart mit
dunklen Blättern. Seine Beschreibung lautet folgendermassen (II 207 , 323) :
"Ave^covrj' oi de ijyeiioviov, ot de ^gdfiiov (so VFH. Plin. XXI 184: fremion RV
fremeon g) xaXovöi' di66rh rj [iev aygia, fj d* fj^iegog' xal tfjg fjpegov i) ^iev ng
(poivixä (peoei xd av&rj, fj <f fmöXevxa, yaXaxxi^ovta f] Ttogcpvgä (so Orib. VCX)'
cpvkka de xogioeidfj , Xeitxo6%ide6xega ngbg xfi yfj' xavXia %vo(bdrj9 Xejtxd, viteg
cjv xd avd-rj coGTteg (irjxavog xal {ie6cc xecpdXia peXava rj xvavi^ovxa' gi£a xaxd
peye&og eXaiag r] fiei^cjv, oiovel yövccGi dieiXrj^evrj. 'H d' aygia xaxd itdvxa {iei£cov
rrjg fftiegov xal roig (pvXXoig JtXaxvxega xal öxXrjgoxega xal xfjv xecpaXfjv eTti^irjxe-
öxegav e%ei' av&og cpoivixovv, git,ia Xeitxd xal jeXeiw fj de ng e%ei cpvXXa fieXava,
dgipvrega ot^a. Plin. XXI 164 f., der sich im Wesentlichen mit Dioskurides
deckt, unterscheidet gleichfalls zwischen dem angepflanzten und wildwachsen-
den Windröschen. In C (fol. 25 v Abbildung der dvetMovrj fj cpoivixfj = N fol.
12. C fol. 26 r Darstellung der dve{id>vrj aygia peXaiva = N fol. 12) sind dagegen
die beiden Abbildungen mit der Beischrift versehen : dve^icovrj fj cpoivixfj und
peXaiva. Dass diese Benennung aus der Beschreibung des Dioskurides entnom-
men sei, halte ich aus dem einfachen Grunde für ausgeschlossen, weil er beiden
Arten gleichfarbige Blüten zuschreibt. Wenn nun der Scholiast zu Theok. V 92
auf das unzweideutigste erklärt, dass diese Unterscheidung nach der Blüten-
larbe auf Krateuas zurückgehe : Kgaxevag de dvo cprjOi (sc. dve^icavag) , xfjv pev
uv&og exovaav peXav, rr\v de cpoivixeov. ein Zeugnis, das eine erwünschte Bestä-
tigung durch die Ueberschrift des in C (fol. 26 v) aus Krateuas bewahrten
Bruchstückes erhält, so lässt diese Uebereinstimmung keinen Zweifel, dass
jene Benennungen in C und damit auch die Pflanzendarstellungen auf ihn zu-
rückgehen.
36) Vgl. E. Bethe, Rh. Mus. 48, 97 A. 1.
KRATEUAS. 31
Die zweite Uebereinstimmung bezieht sich auf die Osterluzei (aristolochia).
Dioskurides (III 4, 343) unterscheidet drei Abarten dieser heilkräftigen Pflanze,
die uQi(JxoXo%Ca Q-yiXelu, utfgrjv, die er auch GzgoyyvXr] und [locxQa oder daxzvXitig
nennt, und endlich die aQiözoXoiia xXrjuazizig, zu denen bei Sextius Niger (PI in.
XXV 95) als vierte Art die %XEi6zoXo%ia tritt. Krateuas kannte dagegen nach
dem Vorgange der älteren Botanik (Nikander Ther. 509 f. Quelle Diokles) nur
zwei Arten, die er im Gegensatz zu Nikander nach der charakteristischen Be-
schaffenheit ihrer "Wurzel: iiccxqcc und özgoyyvXr} nannte. Das folgt wieder aus
den Ueberschriften der Krateuasfragmente in C (fol. 18 r): Kgazsvag gtt,ozo^iix6g '
ctQi6toXo%ict iiccxqcc xtX. Wenn fol. 19 T in dem von der zweiten Art handelnden
Bruchstück des Krateuas nur der Name der Pflanze erhalten ist, so macht meines
Erachtens der Gegensatz zu der ersten Art die Ergänzung des der bildlichen Dar-
stellung beigefügten Adjectivs özQoyyvXrj zu jenem Namen sehr wahrscheinlich 37).
Nunmehr wird es mit einem Schlage verständlich , wie der Verfasser des alpha-
betischen Dioskurides dazu kam, nur zwei Abarten abzubilden und sie als
uQi6toXo%£a iiccxqcc (fol. 17 y. N fol. 1) und ccqi6zoXo%icc <5ZQoyyvXr\ zu unterscheiden.
Die rot- und schwarzfrüchtige Zaunrübe nannte Dioskurides (IV 181. 182,
673 ff.) nach dem Vorgange des Theophrast (IX 20, 3) cc^7CsXog Xsvxrj und jti-
Xaiva. In C und N (C fol. 79 r. 82 r. N fol. 30) heissen die beiden Arten ßgva-
vicc Xevxri und piXaiva, Namen, die unter den Synonymen dieser beiden Kürbis-
pflanzen bei Dioskurides wiederkehren. Wieder ist uns von Krateuas dieselbe
Benennung überliefert, diesmal vom Scholiasten zu Nik. Ther. 858: xccXelö&ccl de
(pr}6tv 6 KgcczEvccg (sc. zrjv ßgvcoviav) v%b piv ziv&v özccyvXlvov, vitb öe aXXcav
ainteXov ccyQiocv xcel vcp' ezeqcov %elq(dvelov^ und es lässt sich beweisen, dass sie in
der älteren Medicin die gebräuchliche gewesen ist : so wird sie von Andreas (Gal.
XIV 180) , Nikander (Ther. 859) und Herakleides von Tarent (Gal. XIV 186)
d. h. Apollodor genannt.
Von der wilden Münze {xaXa^iivd'ri) zählt Dioskurides (III 37 , 383) drei
Arten auf: die erste wächst hauptsächlich auf Bergen, ihre hellen Blätter glei-
chen denen der Basilie , die Stengel sind kantig und die Blüten purpurfarbig.
Die zweite Art ist dem stinkenden Polei ähnlich und heisst deshalb auch wilde
Poleimünze, die dritte ist die grösste von allen und hat mit der Gartenmünze
die meiste Aehnlichkeit : sie hat die geringste Wirksamkeit. Der gemeinsame
Standort sind Felder, Berge und feuchte Niederungen. In C (fol. 153 v. N fol. 48)
stehen nur zwei Abbildungen von der xaXapiv&Yi oQEivrj und der xaXa^iLvd-rj,
trotzdem in dem dazu gehörigen Text nach Dioskurides drei Arten aufgeführt
werden. Die Bestimmung der Quelle dieser Zweiteilung hat von Nikander
Ther. 59 f. auszugehen , der die Wasserminze ( v$Qr}Xi) xaXa\Liv§r\ ) gegen
Schlangenbiss empfiehlt a8). Der Scholiast zu dieser Stelle kennt wie C nur
37) In der Unterscheidung des aQiGto\o%Ccc (langd und argoyyvXri ging dem Krateuas schou
der Arzt Herakleides von Tarent voraus : vgl. Gal. XIV 186. Dieselbe Benennung bei Damo-
krates Gal. XIV 193.
38) Ebenso Ael. h. a. IX 26 aus Sostratos.
32 M. WELLMANN, KRATEUAS.
zwei Arten: die Berg- and Wassermünze: vdQrjkriv de elitev (sc. Nikander),
EitBidri e6xi xccl OQSLvi} 7töa. diaöxellet de xb eidog. xtveg de uyQiav ykYi%avoc avxi\v
xakovöi. itdvxa de xä etgr^ieva ßccQVoducc xccl ftegiia xccl dsgaitevei. i\ de xccld-
liiv&og ev b$Q(p ydkccxxog itivopivri ikecpccvxLccöLV xai %0LQccdccg xaxa7tkaxxo^evr\ luxcci.
{lexu oL'vov do&eiöa l'xxegov navei. Dass der Scholiast von Dioskuridos unab-
hängig ist, beweist der Zusatz, dass die Münze auch angeschwollene Drüsen
heilt, der nach Plinius XX 146 in der beiden gemeinsamen pharmakologischen
Quelle zu lesen war. Andrerseits beweist die nahe Berührung des Scholiasten
mit Dioskurides besonders in der Notiz über die Wirksamkeit des mit Mol-
ken genossenen Krautes gegen Elephantiasis dem Berichte des Plinius gegen-
über, dass er nicht aus Niger geschöpft hat. Wir haben also anzunehmen, dass
der pharmakologische Teil der Beschreibung des Dioskurides und der Scholiast
auf die Quelle des Sextius Niger d. h. auf Krateuas zurückgehen. Mithin ist
die zweite der von Dioskurides angeführten Arten, die er wie der Scholiast mit
der dygCa ykri%(ov identifiziert , die Wassermünze , und Krateuas die Quelle der
Zweiteilung, die den Darstellungen im Constantinopolitanus zu Grunde liegt.
Zum Schluss will ich noch auf eine Uebereinstimmung verweisen, die zwi-
schen einem direkten von Plinius erhaltenen Zeugnis über eine Abbildung jener
alten illustrierten Herbarien und der entsprechenden Illustration in C besteht
und die in diesem Zusammenhang einige Beachtung verdient. Es handelt sich
um das Kraut ficbkv , unter dem die Alten eine Alliumspecies verstanden,
dessen Blüten Dioskurides (III 47, 395) nach alter Ueberlieferung (vgl. Hom.
x 302) als hellfarbig (ycckccxx6%Qou) beschreibt, während sie nach Plin. XXV 27
in den illustrierten Herbarien des Krateuas und seiner Copisten mit oran-
gegelber Farbe dargestellt waren: Graeci auctores florem eius luteum pinxere,
cum Homerus candidum scripserit. Nun weisen thatsächlich die Blüten des
xtokv auf der bildlichen Darstellung von C und auch der meisten übrigen Hdss.
abgesehen von P, dessen Schreiber die Bilder seiner Vorlage dem Text des Dios-
kurides anzupassen sich bemühte , eine rötlich braune , ins orangegelbe spielende
Farbe auf. Sollte das wirklich nur ein tückisches Spiel des Zufalls sein? Ich
für meine Person sehe darin eine willkommene Bestätigung des im Vorherge-
henden gewonnenen Resultates, dass die Illustrationen der Vorlage des Constan-
tinopolitanus und Neapolitanus Copien der illustrierten Pharmakopoe des Kra-
teuas sind.
Hiermit bin ich am Ende meiner Untersuchung. Sollte sich das überra-
schende Resultat als stichhaltig erweisen, so wäre es im Interesse der Wissen-
schaft dringend zu wünschen, dass endlich mit der Publication der Illustrationen
des Constantinopolitanus Ernst gemacht würde: der dioskurideische Text ist in
C trotz seines hohen Alters wie so oft in wertvolleren Bilderhandschriften ab-
gesehen von den Synonymenlisten von untergeordnetem Wert und eine kost-
spielige Publikation desselben überflüssig.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZI GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH - HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 2.
Das hebräische Fragment
der
Weisheit des Jesus Sirach
herausgegeben
von
Rudolf Smend.
Berlin.
Weidmannsche Buchhandlung.
1897.
Das hebräische Fragment der Weisheit des Jesus Sirach
herausgegeben
von
Rudolf Smend.
Vorgelegt in der Sitzung am 19. Juni 1897.
Auf einer Studienreise , die ich mit Unterstützung des vorgesetzten hohen
Ministeriums unternahm, habe ich vom 22. März bis zum 2. April d. J. die Ox-
forder Blätter mit der Cowley- Neubau er' sehen Ausgabe1) verglichen. Sodann
habe ich Photographien dieser Blätter untersucht, die ich der Liberalität der
Clarendon Press verdanke. Das Cambridger Blatt hat S. Schechter von
neuem sehr sorgfältig verglichen und mir das Gefundene mit höchst dankens-
werther Gefälligkeit zur Verfügung gestellt. Ausserdem beschenkten Mrs. Lewis
und Mrs. Gibson mich wie manche Fachgenossen mit ausgezeichneten Photo-
graphien dieses Blattes, die fast jeden Buchstaben mit Sicherheit erkennen lassen.
Was S. Schechter vor mir gelesen hat, habe ich als sein Eigentum bezeichnet *).
Uebrigens bin ich A. Cowley, A. Neubauer und S. Schechter auch dafür
verpflichtet, dass sie mir nachträglich mehrfache Anfragen bereitwilligst beant-
worteten. Meine Abweichungen von Cowley-Neubauer's Lesungen schienen
mir eine eigene Ausgabe zu erfordern, überdies musste ich mir einen Text
schaffen, auf den ich in einem demnächst zu veröffentlichenden Commentar ver-
weisen kann. Dem Verdienst der Oxforder Ausgabe trete ich damit nicht zu
nahe. Viele Stellen der Handschrift sind so schwer zu lesen, dass die erste
Lesung unmöglich überall das Richtige treffen konnte.
1) The Original Hebrew of a portion of Ecclesiasticus. Oxford, Clarendon Press, 1897.
2) S. Schechter, dem das Verdienst gebührt, den hebräischen Sirach zuerst entdeckt zu
haben, beabsichtigte das Cambridger Blatt, das er im Expositor (1896 Juli S. 1 rT.) nur in vor-
läufiger Lesung bekannt gemacht hatte, zum zweiten Male herauszugeben. Ich würde ihm hierfür
den Vortritt gelassen haben, wenn er mir nicht ausdrücklich erklärt hätte, dass er vorerst zu sehr
anderweitig beschäftigt sei. Uebrigens möchte ich bei dieser Gelegenheit bemerken, dass das Ver-
dienst der Auffindung des Cambridger Blattes ebenso sehr der Mrs. Gibson wie der Mrs. Lewis
gebührt. 2
1*
4 RUDOLF SM END,
Von den 9 Oxforder Blättern bilden die 8 ersten eine Quaternion. Aber
das neunte wird ebenso mit dem Cambridger Blatt zusammengehören . das un-
gefähr in derselben Art wie jenes am unteren Rande beschädigt ist. Es liegt
also wohl eine Quinion vor und zwar die fünfte einer vollständigen Sirach-
Handschrift. Jede Seite enthält auf 18 Zeilen 36 Stichen , im Ganzen enthielt
diese Quinion also etwa 720 Stichen. Der griechische Text hat im Codex B
dafür 724 Stichen. Der Umfang der vollständigen Handschrift lässt sich daraus
aber nicht sicher erschliessen. Der griechische Text hat im Codex B für 1,1 —
39, 14 nach meiner Zählung 2333 Disticha. Diese Zahl ist für drei Quinionen
zu gross (2333 : 3 = 778) und für vier zu klein (2333 : 4 = 583). Vielleicht
enthielt aber die Handschrift für 1, 1 — 39. 14 viel mehr Stichen als der grie-
chische Vulgärtext. Eine Gruppe von griechischen Handschriften weist nämlich
für diesen Theil des Buches ein Plus von etwa 120 Stichen auf, die sich grossen-
theils deutlich als aus dem Hebräischen übersetzt verrathen, dabei aber für se-
cundär gelten müssen. Sie gehören einer zweiten griechischen Uebersetzung an,
die auf einer erweiterten Gestalt des Buches beruht. Vielleicht ist aber nur
ein Theil dieser späteren Zusätze in den griechischen Handschriften erhalten.
Für das Alter der Handschrift ist eine obere Grenze damit gegeben , dass
eine Papierhandschrift vorliegt. Sie könnte deshalb schon aus dem 9. Jahr-
hundert stammen. S. Schechter und A. Neubauer datiren sie aber an das
Ende des elften oder den Anfang des zwölften Jahrhunderts. Mir steht zu
wenig paläographische Erfahrung und auch zu wenig Material zu Gebote, um
hierüber urtheilen zu können 1).
Als die Heimath der Handschrift betrachtet man wegen der beiden persi-
schen Glossen auf foll. 1 recto und 5 verso (Oxford) das persische Sprachgebiet.
Aber die Glosse auf fol. 1 ist im Einzelnen bisher nicht befriedigend erklärt.
A. Bevan (Athenaeum vom 3. April 1897 S. 445) fordert dort Z. 4 Fö für XD.
Indessen steht das fehlerhafte KD wirklich da und übrigens ist die Glosse auf
fol. 5, wenngleich vom Schreiber selbst, nachträglich corrigirt. Vielleicht ist
1) In erster Linie kommt liierfür der Ductus der Randnoten in Betracht. Dagegen sind
mir im Ductus des Textes folgende Eigentümlichkeiten aufgefallen. Der rechte Arm des n ist
meistens ein wenig nach oben ausgebogen. Die untere Spitze des ) ist regelmässig nach links um-
gebogen, kaum einmal geht sie nach rechts über die Verticale hinaus. Bei fi ist die linke Stütze
zuweilen stark geschwungen , öfter (besonders am Schluss) steht sie mitten unter dem Oberstrich.
Der Kopf des t ist stets nach rechts geneigt." Der horizontale Oberstrich des rr geht nie über die
linke Stütze hinaus, meistens aber die letztere über die ersteren. Die rechte (obere) Spitze des *
liegt zuweilen fast horizontal. Bei a ist die untere Horizontale lang und zuweilen unter 135 Grad
geneigt. Dpr linke Arm des 3» ist nach aussen gebogen, der Fuss lang und liegt meist ganz ho-
rizontal. Der rechte Arm von ü reicht weit über die Grundlinie hinaus. Bei n ist der linke Fuss
in der Horizontale lang gezogen. An den Fuss von asjyEsr sind nnirrin oft eng angeschlossen.
Bei a, s und namentlich bei y reicht die Fussspitze oft an die eines nachfolgenden h. Die Schweife
der Finalbuchstaben 7 ■) t) y sind meistens stark geschwungen und laufen unten spitz aus, dagegen
ist das untere Ende des p fast immer gleichmässig stark und gerade, n hat unten links eine Spitze.
2
das HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH. 5
also nur eine Vorlage der Handschrift aus dem persischen Sprachgebiet herzu-
leiten 1).
Die Blätter sind 19, 0—19, S cm hoch und 16,9 — 17.2 cm breit und in Ab-
ständen von 5. 5 — 5. 6 mm in ihrer ganzen Breite liniirt. Diese Abstände sind an
beiden Seiten durch doppelte Nadelstiche vorgezeichnet. Ausserdem ist der Rand
rechts und links ebenfalls durch Linien abgeschiert. Der Text steht unter der
Linie. Er ist übrigens stichisch geschrieben und zwar so. dass zwischen den
beiden Stichen in der Regel ungefähr derselbe Raum freigelassen ist. Der An-
fang des zweiten Stiehus verschiebt sich deshalb je nach der Länge des ersten.
Aber überall ist dies Gleichmass nicht eingehalten. Ausserdem ist zuweilen der
zweite Stiehus ohne Zwischenraum an den ersten angeschlossen. Dreimal ist
das bei Versen von gewöhnlicher Länge geschehen (42, 8. 46, 8cd. 49, 7b) , öfter
da. wo mehr als zwei Stichen in eine Zeile zusammengedrängt sind (43, 30. 45, 26.
46, llcd. 12\ 46.19. 46.20. 48, 23«*). Hierbei fällt der Schreiber am Schluss der
Zeilen öfter in die Form der Notenschrift. Augenscheinlich beruhen diese und
andere Verstösse gegen die stichische Schreibung auf Nachlässigkeit des Schrei-
bers resp. seiner Vorgänger. — Abschnitte sind zweimal durch Ueberschrifttm
(41, 14. 44, 1), zweimal nur durch Freilassung einer Linie bezeichnet (42. 9. 42. 15).
Mit den heiligen Texten theilt der vorliegende den Sof Pasuk , der 43, 30.
46,19.20, wo mehr als zwei Stichen in der Zeile stehen, auch mitten in der
Zeile vorkommt (vgl. auch 42, ßa). Vocalzeichen finden sich 39,15. 40,9.10 und
öfter in *** . an anderen Stellen könnten sie unkenntlich geworden sein. Auf-
fällig ist aber , dass sie sich gerade am Anfang des Cambridger und des Ox-
forder Fragmentes finden. Bei 42, 3a ist es zweifelhaft , ob ein Zakef oder ein
sog. babylonisches Cholem vorliegt. Uebrigens kommt der Sof Pasuk noch im
12. Jahrhundert in nichtbiblischen Texten vor (vgl. z. B. Palaeographical Society
ed. W. Wright. London 1875—83, PI. XV).
Von besonderem Interesse sind die Correcturen und Randnoten der Hand-
schrift, sofern man annehmen darf, dass sie hierin einigermassen den vormasso-
rethischen Handschriften der kanonischen Bücher ähnlich ist.
Correcturen sind mehrfach dadurch bewerkstelligt , dass die Correctur in
den Text über (42, 8b unter) das Corrigendum gesetzt ist (41, 5. 43, 3. 8. 47, 10).
In derselben Weise ist aber auch 41, 20 ein Buchstabe (das n in Tmnrra) und
43, 21 und in der persischen Glosse auf fol. 5b ein Wort nachgetragen. Nur wird
das Addendum mitten über den Zwischenraum zwischen den beiden Buchstaben
oder Wörtern gesetzt, zwischen denen es eingeschaltet werden soll. Unmöglich
ist das aber, wenn das erste der beiden Wörter mit b schliesst. In diesem Fall
sind Correctur und Addendum äusserlich nicht zu unterscheiden (43, 21). —
43, 3a. 9a sind einzelne Buchstaben durch einen verticalen Strich getilgt.
1) Dieser Zweifel wird mir durch eine briefliche Mittheilung S. Schechters einigermassen
bestätigt. Er fand das Cambridger Blatt unter einem Haufen von Stücken, von denen manche als
in Fostat geschrieben bezeichnet sind (vgl. Jewish Quarterly Review IX S. 115 f.).
2
6 RUDOLF SMEND,
Auf Randlesarten wird durch einen Ring verwiesen. Weicht die Randlesart
lediglich in Betreff eines einzelnen Buchstabens ab, so steht der Ring wie in
der Bibel sehr oft über eben diesem Buchstaben. Beziehen sich auf ein
Wort zwei (oder drei) Randlesarten, so erhält das betr. Wort zwei (oder auch
drei) Ringe (vgl. z.B. 43, 26a. 41, 2a). Bezieht sich eine Randlesart auf mehrere
auf einander folgende Wörter, so erhält zuweilen jedes der betreffenden Wörter
einen Ring (z. B. 43, 8a). Aber meistens steht in diesem Fall ein Ring über dem
Zwischenraum der beiden Wörter (41, 6a), oder bei mehreren zwischen dem ersten
und zweiten und dem zweiten und dritten (40, I4a). Zuweilen steht der Ring
dann aber auch über dem Anfang des zweiten Wortes (40, 18). Ueber dem Zwi-
schenraum zweier Wörter bedeutet der Ring ausserdem auch die Einschaltung
eines Wortes (47, 9a) und ebenso steht er vor dem Stichus (44, lb. 47, 8C) und am
Schluss (44, 7 a). 43,22 steht er zwischen zwei Stichen, um eine andere Abthei-
lung der Stichen anzuzeigen. Oefter sind ganze Stichen oder auch ein oder
mehrere Verse an den Rand geschrieben, ohne dass ihre Stelle im Text bezeichnet
wäre. Die Randlesarten stehen wie die Zeile des Textes selbst regelmässig
unter, seltener über der Linie. Ihre Reihenfolge entspricht fast immer (doch
vgl. 41, 12b) der der Textesworte. Ausnahmsweise steht eine Randnote wegen
Mangel an Raum auch wohl auf dem rechten Rande statt auf dem linken (41, 6b).
Wie viel Textfehler aber aus dieser Art von Correctur und Glossirung entstehen
mussten, leuchtet ein.
Die meisten Varianten sind jedenfalls der Handschrift entnommen, die nach
der Randbemerkung auf fol. 5b nur bis 45, 9 reichte. Augenscheinlich war diese
Handschrift selbst schon mit Varianten versehen. Später finden sich Randles-
arten nur vereinzelt (47,8.9.15). Die Schrift der Randnoten gleicht meistens
durchaus der des Schreibers da, wo er am Schluss längerer Stichen des Raumes
wegen in kleineren Characteren schreibt. Aber der Ductus der Randnoten bleibt
sich nicht überall gleich. Möglicher Weise rühren einzelne Randnoten (z. B. das
■paHE 41, 15b) von anderer Hand her.
Leider ist die Handschrift stark beschädigt. An manchen Stellen ist sie
so mit Schmutz überzogen, dass man nur mit Mühe die Buchstaben erkennt. Im
Text ist die Tinte zuweilen auf die gegenüberstehende Seite abgekleckst, noch
öfter bat sie das Papier durchmessen , so dass manche Zeilen ganz oder theil-
weise herausgefallen sind. Nicht immer gestatten dann Reste von Buchstaljen,
die an den Rändern der Löcher erhalten sind, eine sichere Lesung. Allerdings
sind die Stellen des Textes, an denen das Papier erhalten ist, fast alle mit
Sicherheit zu entziffern. Wo die Ausgaben im Text statt der Buchstaben Puncte
haben oder Buchstaben in Klammern ergänzen, handelt es sich deshalb fast über-
all um Löcher. Dagegen ist die Schrift der Randnoten vielfach verblichen,
manche sind kaum noch zu entziffern. Einige habe ich vielleicht ganz übersehen,
weil auch die Ringe, die auf Randnoten verweisen, nicht immer sicher zu er-
kennen sind. Freilich ist dieser Schaden vielleicht nicht allzu gross , weil die
Kandlesarten meistens werthlos sind.
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH. 7
Meine Abweichungen von der Co wley- Neubau er' sehen Ausgabe habe ich
grossentheils schon in der Theologischen Literaturzeitung (1897, 265 ff.) mitge-
theilt '). Auf eine vollständige Aufzählung glaube ich hier verzichten zu dürfen,
da ich für die Correctheit des Druckes einstehen zu können glaube.
Im Folgenden gebe ich den Text der Handschrift, wie ich ihn gelesen habe.
Ich setze dabei wie Cowley-Neubauer, deren grosse Müh waltung mir auch
hierin zu Statten kam , die Randnoten an dieselbe Stelle , die sie in der Hand-
schrift einnehmen. Bezüglich der zweifelhaften Buchstaben, der Lücken und
ihrer Ergänzung bitte ich die Anmerkungen am Schluss zu beachten. Unter
dem Text theile ich Emendationen mit, die ich für sicher oder wahrscheinlich
halte 2). Dass der Text noch an vielen anderen Stellen verderbt ist, brauche ich
nicht hervorzuheben.
Zunächst hoffe ich dieser Ausgabe eine hebräische Concordanz zu dem
Fragment und den rabbinischen Citaten sowie eine griechisch-syrisch-hebräische
Concordanz zum ganzen Buche folgen zu lassen.
1) Ich bitte dort zu 45, 2oa das p zu streichen , das auf einem Versehen beruht.
2) Vgl, dazuNöldeke im Expositor 1897 Mai S. 347 ff., bes. S. 356 f. Hale"vy, Revue Semi-
tique 1897 April S. 148 ff. Israel Levy, Revue des Etudes juives XXXIV. S. 1 ff. F. Perles,
Wiener Zeitschr. f. d. Kunde des Morgenl. XI S. 95 ff. und die Nachträge von D. H. Müller
ebenda S. 103 ff. S. F r ä n k e 1 , Monatschr. für Gesch. u. W. d. Judenth. XLI S. 380 ff.
RUDOLF S M ENI),
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(Cambridge,
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XXXIX. 15c ö"<r». — 15d -nnan (Gr. Syr.). — 16b ip^DCT und wohl auch bsb
(v. 33). — 17c o-hö£ bs> nur (2 Chr. 30,16. Neh. 13,11). Gr. £&j? ä>g $w<avia (=
Q">1733>?) {JScap. -- 17d KSITaai (Gr. Syr.). — 20b Statt iraniün ein Derivat von TtTU
(Wellh. D. II. Müller). — v. 21 hinter v. IG (Gr.). — 22* Vßia (Gr. Syr.). — tpsn hier
= überfliessen (wie Syr. ^a^J). — 24a CD^nb rmniN (Gr.). — 24b E3"HTb (Gr. Syr. :
Frevler) und ibnsm (? vgl. Ps. 18,27 und Syr. ^jl2>aoo). — 25b y^b (cf. Syr. ^1 vJo
ju^ v)o). — 2Ga Q"73 gehört zu b. — 26c Syr. j£~o Jafc (leg. ^uj); vgl. Ps. 81, 17.
147, 14.
2
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER
Eccli. XXXIX.
WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
29— XL. 8b.
(Cambridge
verso.)
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XXXIX. 29a 3*-> (Gr. und vgl. 40, 9). — 33a ^UJyft und "lpw oder ban und p-«DC^
(vgl. v. 16). — 34* RTO (Gr. Syr. vgl. v. 21). — 35a add. Wl (Gr.). — XL. 3b n^b
-)B3>a (Gr.). — 5a P)N (Cowley-Neubauer nach Gr. Syr.). — 5b mnn (Syr.). — 6a rn^.bV
— 6b J^Stt* (^aam) = nai dn ineivov? — Der Armenier drückt nach Edersheim (ivY)
ivvxrioig und xoizia aus. — 6C D3>73 fehlerhaft aus 6a eingedrungen (Nöld.). — 7a *my ?
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zn Göttingen. Phil.-hiet. Kl. N. F. Band 2, a. 2 -
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40. 9b 35-n (Gr. vgl. 39,29). — 10b mawi (vgl. Gr.). — 13a biytt b^n (vgl.
Gr. Syr.). — 13b p^o«=n (vgl. Gr. Syr.). — 14a del. cj 2°. - Sprich Gpds (Jer.4,29)
und lies übjjP (= Syr. ^^). — 14b 70 (Gr.). — 15a D?on 1Ä3 (vgl. Gr. Syr.). —
in pr «b = o^ nXrj^wEi xXddovg (Hos. 14,7 LXX). — 16a ta^öntp^. Vgl. Buxtorf
s.v. •ptt-np und Gr. ^£z ini navros vSarog = X+Ö^B. — 16b "»30b (Gr. Syr.) und
nun oder besser -psn (Job. 8, 12) für naa (Gr. Syr.). — 17a rrD-^n ]15D iom = aber
die Frömmigkeit gedeiht wie Eden (vgl. Gr. Syr.). — 18a ^DUJn nni"» «H = das Leben
dessen, der Ueberfluss hat, und dessen, der etwas verdient. Vgl. Gr! : B,<mr\ avtäpxovg ip-
yätov. — 22 a -n-iTam (Cowley-Neubauer). — 24b npn». — In der Glosse unten rechts
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Ecdi. XL. 26c— XLL 9.
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XL. 27b b*1 für "pi (Gr. Syr.). Am Rande stand vielleicht b? "O, was Israel
Levi conjicirt. — 28a 13s (Gr. Syr.). — 29c bJUE (Cowley-Neubauer nach Gr. Syr.) und
. . . "Eyütt. — 29 d *»!©■; (vgl. Syr.). — 30a "EO (Gr. Syr.) für tt-Nb (das aus v. 29d
eingedrungen ist) und T3> (vgl. Gr. Syr.). — XLL la "in und -pr>T (beides Cowley-Neu-
bauer nach Gr.). — 2b Zu ä^3d vgl. Neuhebr. n:":N. (Syr. JM). — 2C b^iDi 3TD UTK
(Nöld.) und UJpisi (in der aram. Bedeutung = anstossend). — 2d ("iaii3) nno od« für nno
(vgl. die Randlesart und Syr.). — 4h npirQ ? — 5a m?
(Syr.). — 9a *r by -non (vgl. Gr.).
5b ib "IN oder Qnb "IN
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RUDOLF SMEND,
Ecdi. XLL 9— 22d.
(Oxford, fol. 2 recto.)
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b? (Gr.). — 19a IT? — 19d Rand. D3>173» s ^tto ÖHopamöpiov? — 21a ^D a^ttJn»
(Gr.)? — 21b mawna. — 22ab Rand ni3>3 (Cowley-Neubauer) ?
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DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
Ecdi. XLIL 1 — lld.
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XLII. lb nno nar? (cf. Gr.). — le Nüfib (Cowley-Neubauer nach Gr.). — 2b uoiZJtt
für p-»lS73 (Gr.). — 3a inn n« p3Wn ? — mal für iviKi (Gr.). — 4a pniö (Gr. dnpi-
ߣia = Infinitiv, denominativ von pniz? (Jes. 40,15)? — 4b mTtQSl (Neuhebr. = prüfen)
für mrpan. — 5a -pnan (Gr. Sidcpopov = vnn) oder ■vn?an (= feilschen) ? — 6a del.
tsan:? — 6b man (Gr.) und nnsjö (= wAflöoi'). — 7a Jedenfalls npon und wohl auch
1DD73 (vgl. Gr.). — 8b Nach der Randlesart, nur ohne 1 vor n313> (= xpivoßtivov; vgl.
Job. 5,1 und Wellhausen zu Mal. 2,12 sowie Lateinisches respondere vom Angeklagten).
— 8C snDir = klug (Nöld.). — 9a npuj (Gr.). — 9C niaan (so auch Israel Levi; vgl.
nnas im talmudischen Citat) = Ttapanndöp? — 9d nbt^m und ergänze N3U?n (Gr. Syr.).
Am Rande Z. 1 für nu)3n entweder NUJDn oder notön. — 10c In der Lücke stand im
Text eher narn , lies aber n"inn (Gr.). — 10d ^X9n (= ötEipooöy), — Der hebr. Text
ordnet die Stichen von v. 9. 10 richtig. — lld ^nizrmm (Gr.) 0
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XLII. 1 lf man für ö^E = und wo sie übernachtet, (sei kein) Zugang ringsum.
Aram. NnnE mn = Schlafraum. — 14a mü für 31D73 und 31DÖ für 3"<D73 (Gr.). —
14b nun anan n-isma nai (G-r.). — 15c t^io»73 für laiarn (Gr. Syr.). — 15d ipnb (Gr.
cod. Sca xara xpi/na). — 19a nvnai (Gr.). — 21c "ipia (= es wurde schwerer gemacht)?
Es ist von den Werken Gottes die Rede und pn v. 20 kann „abwägen" bedeuten. Dann
müsste freilich v. 21d -pitt (Gr. övfißovXov) falsch sein. Vgl. die Anmerkungen am Schluss
z. St. — 23a ban für «in (so auch HaleVy nach Gr. Syr.). — Hinter 23a gehören 23*.
24. 25. — 24a p^3» und etwa m IM für ntn (beides nach Gr. Syr.). — 25a 31D nbn
= schöne Abwechslung? — XLIIL la Rand, -jnta anpn (Gr.). — lb QSy und viel-
leicht -nn 12373 (Gr.).
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER
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XLII. 24 s. S. 14.— XLIII. 2a inNSsa anaa (= G r.). — 2» Für rra entweder "b:
(Nöld.) oder ■j'D (so auch Fränkel, nach Gr. Syr.). — ntDy$a (Gr. >Syr.) — 'M "nTiSna
von CPlttX (Bevan, Fränkel); ebenso Hiob 24,11 (G. Iloffmann). — la EanTa? — pxna.
— 4b ttibiü (Nöld. Halevy ; vgl. 48, 3). — 4C TIN73 iTOyi (vgl. Gr. drßiiSag xvpäSsig nnd
Syr. Jiai? J-^jl ^1)? — i-PEn (vgl. Syr. o^o^ und n^n b*«ö 11SP und n:2b '•£ -nsn bfi
Buxtorf s.v.). — mtzn: (vgl. 3"OU)) gehört wohl zu d (Nöld. vgl. Gr. Syr.). — 4d mi273. —
rtnDn (Halevy nach Gr.). — .">a bin^. — öb vimai (Gr. Syr). — ^n^ti (Gr. Syr.)'.-' —
7b ycin oder dgl. statt yDin (Gr. (pcoört/p. Syr. )-^op) ? — <Sa td^d fiir ri'nn (Gr. Syr.).
— 8C del. ^b3D (Cowley-Neubaucr, Nöld. nach Gr. Syr.). — .S'1 inrnrn. — 0a in- (Gr.
SyT.). — 9b ^yi (Gr. Syr.). — 10a pn2) VW« (Nöld. Halevy nach Gr. Syr.). —
10b 15U3""» (Cowley-Neubaucr). Syr. las wohl iDtfjr — 12a jin (Cowley-Neubauer, Nöld. cf.
Gr.). — 14a irt3y72b (cf. Gr.). — 17a b^nr — 17b a^T oder y^v (t*r. öaAtvBtöoi'Tai)'?
— lGb Rand. in*"VnK3? (Gr. iv StXrjßctTi avrov) und Cjbnn ? — 17b b"iyb3> ((Jr. xaraiyis)-
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Ecdi. XLIII. 17c-33b.
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XLIII. 17c r|\zn:: (Gr.). — 17d imi (Gr.). — 19a ^Dtt"« (Gr.). — 20b nipi fiir
apiSI (V Nöld. nach Gr.) und iip^ (Nöld.) öder vielleicht besser ypisi und mp» (Wellh.
Bacher) — 22a bu zu b. — 23a iraiomaa (Gr.) und 3M1. — 23b 3>u*n (Cowley-Neu-
bauer). — 25b nan (Gr.). — 29* innn; (Gr.). — 30c abritt bTOBTOB.
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DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
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(Oxford, fol. 4 verso.)
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XLIV. 3a vn-i (Gr.) — 3C t=P£:n\ — 4b Etwa ömpnE (vgl. Prv. 8, 15). —
6a -017301 (Cowley-Neubauer nach Gr. Syr.). — 7a add. 1*1333 (Gr. Syr.). — 7b'Dn^3i
(Gr. Syr.). — 8b myrironb und DnbnnS (beides nach Gr. Syr.), — 10b anpixi (Gr.
Syr.) und rtSttn (Gr.). — 13b rzanpisti ist Fehler für nmNsn oder dgl. (nach Gr. Syr.). —
16 del. T Q^72n tt£?2D als aus v. 17 eingedrungen (Halevy, D.H. Müller; vgl. Gr.). Der
erste Stichus endet mit npbsi. 0
Abhdlgn. d. K. Ges. d. WiBS. zn Göttingen. Pbil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 2. 3
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(Oxford, fol. 5 recto.)
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XLIV. 22a p (Gr.) — 22c mrvnin? — 23* rtliaaa *wn (Syr.). — 23d add.
DK vor ö^omöb (Syr.) ? — 236 Q^aiöb (vgl. Gr. Syr.) = damit er zutheilte den Zwölfen
(Gen. 49)? — XLV. 2b OHnwa (Gr. Syr.) — 3C 1733> b« (Cowley-Neubauer nach Gr.
Syr.).
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
Ecdi. XLV. 5— 13d.
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XLV. 6 add. imöD hinter ©Tip (Nöld. nach Gr. Syr.). Zwei Stichen. — 7b -jrm
Ö* niüs ib (Gr.)? — 7C isrniON^ (? Nöld. nach Gr. i^axdpidEr). — 7d -imn ms^bm
(Gr. (JroA^y 86B,r)q. Syr. )^j |xx>^)? — 7e del. (Nöld.). — 8b im«D^ = iöTepiaoöev
(leg. iöTEcpävcoöey = VL coronavit). — n* "<bS3 für nsn 113M (Nöld. nach Gr. Syr.). —
8C Wttl = Hai incüßiSa (leg. SntXotöa) ? Vom Efod darf hier noch nicht die Rede sein. —
9ab Vertausche 0->3l733>s und tD^DlTan (Nöld. Halevy nach Gr.). — 10a nb^m (Gr.) und
1»3^K1 zu b. — 10c Crom te-ni* für 1iT*n ms« (? Nöld. nach Gr.). — lla 1310 (Gr.).
— llb del. ]iünn bs> (Gr.). — lic tamn ^mns zu b (Gr.), i. f. add. p« izj-.n nra*»
(Gr. vgl. Ex. 28,11). — lld del. n-ip- p« bs (Gr.). — 12a ns:itE bsra (so auch Ha-
leVy nach Gr.). — 13a ^ irn ab (Cowley-Neubauer nach Gr.). 0
3*
20
RUDOLF S
Ecdi. XLV.
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14— 23b.
(Oxford, fol. 6 recto.)
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XLV. 14b Tan = Nomen (Bevan). — 19c &na"n (nach Syr. und Num. 16,30).
— 20c naiin (nach Num. 18,8). — 20d ipbn na 'Wo &nb (Nöld. nach Syr.). —
22a '* «b ö*H ynaa fN (vgl. Gr. Syr. und Num. 18, 20)? — 22c Vgl. Num. 18,20:
^ »aa -pna ^nbn:i -jpbn ">dn.
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SniACH.
Eccll XLV. 23c— XLV1. 6d.
21
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(Oxford, fol. 6 verso.)
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XLV. 25c mb l^aaa «Pub fb» nbH3 (vgl. Gr. Syr.)? Jedenfalls will er sagen,
dass die hohepriesterliche Succession genau der königlichen entspricht. — 25d isnTbt ib
fiir 't b^b (Syr.). — 26b nach Gr. und Syr. einzusetzen. — 26c nau)-1 nach d<pavi65y
des Gr. (ait3 = Glück). — XLVI. lb vgl. Ex. 33,11. — la iö»3 für WS (so auch
Nöld. nach Gr.). — - 5C ->33N3. zu d. — Am Schluss waabN (Nöld. Halevy nach Ez. 13,
11.13)? — 6b tm 73 m (Cowley-Neubauer nach Gr.). — 6C Zu dnn vgl. Syr. zu 16,9.
22
RUDOLF SMEND,
Ecdi. XLV1. 6e— 18.
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(Oxford, fol. 7 recto.)
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XL VI. 7C y-isa (Syr. ; vgl. 45,23). — 8a pb und i"bi23 (Cowley-Neubauer mit
Gr. Syr.). — 9C ,o^*nfib (Cowley -Neubauer mit Gr. Syr.). — 12b Es fehlen wahrschein-
lich drei Stichen (cf. Gr. Syr.). — 13a aittR (Cowley-Neubauer). — 13b baizn»!! (Cowley-
Neubauer) V — v 14b ** n« (b«) Ö^nb» (Gr.). — 15 Vgl. 1 Sam. 9,9. — 15b !T»V1
(Cowley-Neubauer-, vgl. Gr.) — 1GC mb^tta (Gr. Syr.) und nbh nbü (Cowley-Neubauer
nach 1 Sam. 7, 9). — Es fehlt ein Stichus.
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SERACH.
Ecdi. XLVL 19—XLVII 10d.
23
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(Oxford, fol. 7 verso.)
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XLVI. 19c a-»b*ai (? Cowley-Neubauer nach Gr. und 1 Sam. 12, 4 LXX). —
20c Es fehlt ein Stichus (Gr. Syr.). — XLVH. 3b }«x für ^3 (auch HaleVy nach Gr. Syr.).
— 4* ö*a rtBin (Hal^vy nach Gr. Syr.). — » 8C Sin« (nach Gr.). — 9b '3 /ITOra Vipr
- 10* »np» (Gr.). 2
24
RUDOLF SMEND
Ecdi. XL VII.
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11— 23b.
(Oxford, fol. 8 recto
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toi "p ^ »b22c
b ijn^22e
XLVTL lld b&niZP für öbiöTV (NÖld. nach Gr. Syr.). — 15b a*» 1D3 (vgl
1333 40,30) für QlTiaa. — 17b myfcn. — 18ä Vgl 2 Sam. 12,25. — 20d fnrtBU
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
Eccli. XLVII. 2&—XLVIII. 12d.
25
d* pns]*n imen ararn
(Oxford, vol. 8 verso.)
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Snop] [wf [»] 12
nann ninä rn^l© ^i2c
XLVII. 23e Dp^i für ap -lttJN 15> (nach 48, 1 verderbt). — '2 '3 S3»nT ist der
zweite Stichus. — 24a vor 24b. — anNün (Gr. Syr.). — 25 nwann (cf. Gr.). — XLVIII. la
Etwa: im &T33 t=p-<-i »Dmb» »3"» öps ittN iy (nach Gr.). — 6a b« für b? (Halevy).
— 8 hinter 7. — 7a y?3iu;n (Gr.). — 8a -obtt (Gr.). — 10d 3p»"1 für bms' (Nöld.
nach Gr. Syr. und Jes. 49, 6). — lla "nu)N. Allerdings ist der Sinn: selig, wer . . . aber
seliger du selbst usw. — 12a nnDD = iöxendö^tj. — 12b Vielleicht: rt»"l33 b3p"n (cf. Syr.).
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wise. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 2. 4
5
26
RU
Eccli.
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DOLF SMEXD,
XLV1U. 12e— 23.
(Oxford, fol. 9 recto.)
bDa ?T ab irtr>,ai2e
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Qsi»ti *no: ins« i?isc
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oab piea wtap] . . 19
TV»b* ba ba n»[np]^2o
pnbsn b^pä . . . *i2oc
-nta n:npj *2i
[a]ion na irpp[mi] 22
22°
23
XLVin. 13b N3: (Gr.). — 17« nwmn (Gr.). — 17d Q^n (cf. Gr.)? — 19a W
(rdtt). — 20c yaizm (cf. Gr. Syr.).
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
Ecdi. XL VIII. 24— XL IX. 12.
27
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:non rw» oian -^m
:-na: bn: *öb o'nnai
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XLIX.
(Oxford, foL 9 verso.)
rmnx nm rrnaa min 24
mra Tan abny 1^25
D^tto tnopa imw dtüi
i-idt p-rw »an: iroic
^micti b? bn: ia2
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:ma-na ist wi n&nia n»i bapims
:p*fs rrvi ba baba^n arrä: n^tf rs Tütn mig
: an[nr nn" ns amas* ^nn D^^:n nur? a^:ic am 10
. . nn ttiSPV»i npy> n» wbnn nirsioc
b b . . . . n-än
XLIX. 2a nbm (Cowley-Neubauer nach Am. G,6)?
(Gr. Syr. vgl. 1 Macc. 2,48). — 5b del. baa (Gr. Syr.)? -
■VSTK und wahrscheinlich N^n: (Gr. lv 8ßßpooy Syr. om.).
5a inNb (Nöld.) und tarni
'!■• DinVi. — 9a Jedenfalls
28 RUDOLF SEIEND,
Bezüglich auffälliger Abweichungen von der Oxforder Ausgabe, schwieriger
und zweifelhafter Lesungen sowie der Ergänzung von Lücken , soweit ich dafür
in Spuren von Buchstaben Anhalt habe, bemerke ich Folgendes.
XXXIX. 15c Von un scheinen die Grundlinien und von u> der linke Arm erhalten
zu sein. — Vielleicht stand hinter "^"73 ein CD. — 16a Am Rande liest Schechter bsn
(vgl. v. 33). Ich kann es auf der Photographie nicht erkennen. — 17c Das y in by hat
schon Schechter erkannt. Von b ist der obere Schweif nicht sicher zu erkennen, die Spitze
meine ich aber unter der rechten Ecke von ü (in Gpa.itt) zu sehen. Möglich wäre sonst
n , aber der Fuss von n wird nicht durch den von y gezogen , wie das hier der Fall ist.
Statt CD^IDy las Schechter früher CDS "*):>, wogegen Cowley-Neubauer hier nichts zu er-
kennen meinen. Aber namentlich das 1 ist unbestreitbar und m. E. auch das etwas tiefer
stehende \ — 17d N5217331 scheint auf Correctur.zu beruhen, ursprünglich stand da viel-
leicht N1C17373 , das Schechter annimmt. — 20b Auf ■) in j!D machte mich Schechter auf-
merksam. — 23a "p hat Schechter erkannt. — 26a Von d ist nur die untere Horizontale
und die obere z. Th. erhalten. Möglich wäre auch CD (statt id) , aber vor b ist für die
linke obere Spitze eines CD kein Raum. b steht zu weit von n ab , um Präfix zu sein.
— 26c Von d ist die untere linke Ecke , von i der untere Schweif, von CD die Grund-
linie angedeutet. — 28a Auf D^iL'3>3 wurde ich durch Schechter geführt. — 28b Wie viel
vor D*nn fehlt, ist ungewiss. — 29b ißoaa vermuthete schon Schecliter. — 3 0b Am Rande
übernehme ich napia Clin von Cowley-Neubauer, auf der Photographie erkenne ich davon
nichts. — Vor üD ist ein Loch, doch erkennt man am unteren Rande Spuren, die öBSJttb
zulassen. — 32a In "»n3222nn ist das : in sofern unsicher, als die Vertikale nicht klar
ist. Es ist aber eine untere Horizontale da , die nicht für die Verlängerung des Fusses
von n gelten und des Raumes wegen wohl nur einem 3 gehören kann. Von 22 sind nur
die oberen Spitzen und die Grundlinie da, y erscheint aber als unmöglich. Für 1 wäre D
denkbar. — 33b Vielleicht steht nur pioo da.
XL 4b Von U), dessen Stelle ein Loch einnimmt, scheint die rechte und linke obere
Spitze erhalten zu sein. Auf * folgt vor einem weiteren Loch scheinbar eine Verticale,
wie von t oder dgl. Aber über dem Loch findet sich eine Spitze, wie die eines y, dessen
unteres linkes Ende hinter dem Loch erhalten zu sein scheint. Die Vertikale kann auch
auf einem Schmutzflecken beruhen. — '6a Statt i wären auch n (Cowley-Neubauer) oder
n denkbar. — 6b Vor b ist n wenigstens wahrscheinlicher als n. Hinter b meine ich
die vordere untere Spitze und schattenhaft auch die Grundlinie von 73 zu erkennen. Da-
hinter scheint auch die obere und die untere Spitze von t erhalten zu sein. Vor x eine
untere Horizontale, die einem ;» gehören kann, löaü"* ergänzten auch Cowley-Neubauer. —
6d Auf n folgt zunächst wahrscheinlich ein 1 , dahinter sind zAvei obere Horizontalen zu
erkennen. — 7a Die oberen Spitzen von yi scheinen erhalten zu sein. — Am Schluss stund
schwerlich yp^") , das Cowley-Neubauer vermuthen , sondern eher p^P\ Davor eine obere
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH. 29
Horizontale. — 7b Denkbar wäre auch .IN'V: oder ,i»nö. — Der vorletzte Buchstabe kann
kein 1 sein, weil der Abstand nach vorn zu gross wäre, der letzte kein n, weil die Ho-
rizontale über die linke Stütze hinausreicht. Die rechte Stütze ist nicht klar. Vorher
habe ich a angenommen, weil die Folge 3D in sich unwahrscheinlich ist. Aber der Fuss
des Buchstabens ist zerstört. — 8 Am Rande stand v. 8 in abweichender Lesart. Aber nur
die Anfangsworte der beiden Stichen sind erhalten, der Rest ist wie der Text selbst zerstört.
— 9iV Das Patach im Ohatef ist nicht deutlich. Vielleicht war der ganze Stichus vocalisirt.
— 18b Möglich wäre auch H73TO (vgl. 41,12b am Rande). — 19c In nattJ erscheint mir
U) jetzt als sicher. — 21a Ueber Vbm steht am Rande entlang eine Note, die vielleicht
bis zu b^iZJ im1 sich erstreckt, übrigens unlesbar ist. — 23a Das mj am Anfang scheint
corrigirt zu sein, der untere Strich ist doppelt da. Von dem nachfolgenden 72 ist die un-
tere Horizontale erhalten. Von b ist das untere Drittel erhalten , der obere Schweif un-
sicher. Davor erlauben Spuren die Ergänzung -mm. — 24a Das i ist zwischen TN und
[c]m]tf/ eingezwängt, als ob es nachgetragen wäre. Uebrigens ist nur die obere Spitze deut-
lich, die zur Noth auch einem * gehören könnte. Von C] scheint der Schweif erhalten zu
sein. — Vor n an erster, zweiter und vierter Stelle untere Horizontalen. Die erste könnte
einem V gehören. — 25a Hinter 5]ODT die untere rechte Ecke eines Buchstabens, die am
ersten einem 73 gehören kann. Vor b[:n] eine untere und vielleicht auch eine obere Ho-
rizontale. Der Raum reicht eher für a"^3?3 als für tZPT^p^. — 26a In sbb lbb*:P ist
vom zweiten b nur die Ecke erhalten , die die Horizontale mit dem unteren Strich bildet,
und ausserdem vielleicht die untere Spitze des letzteren. Vom dritten b ist mir der untere
Strich da. Zwischen diesen beiden b wäre für 1 Raum. — 26d In "p5>73 fehlt von 73 die
obere linke Spitze und die Nase. Nicht ausgeschlossen sind D oder auch 3. Von y ist
das (linke) Fussende, die linke und die rechte Spitze da. Letztere kann kaum ein ■* sein.
Wozu die unlesbare Randnote gehört, ist unklar. — 27b (Rand). Ob hinter b noch Buch-
staben folgten, ist nicht festzustellen.
XLI. 2b ta^aafct ist sicher nach der Photographie. — 4d : tD^n ist kleiner ge-
schrieben und Cowley-Neubauer betrachten es als Randlesart. Aber das b vor ö^n steht
zu nahe an n, als dass ein Sof Pasuk dazwischen Platz hätte, und zu weit von un, als
dass es das b von blNU; sein könnte. Ueberdies steht unter b die linke Fussspitze eines
y oder dgl. — 5a Im Text steht über tzr?^ ebenfalls n^n^. — 7b. 8a Das Ende der
Stichen ist nicht zu bestimmen. — 8b Der Anfang des Stichus ist nicht zu bestimmen. —
18c Eine dritte Randnote zum ersten Wort ist wenigstens nicht mehr zu lesen, wenn sie
überhaupt da stand. — 19b Von tf) ist der rechte Arm und ein Theil der Grundlinie er-
halten, dahinter eine Fussspitze wie von einem :. — 22ab Das l steht auf der Fussspitze
sine« Buchstabens, der nur n oder 3 sein kann. Es gehört mit ihm zu einem Wort. Da-
vor noch unsichere Buchstabenreste. Wahrscheinlich folgten die Stichen auf einander ohne
Zwischenraum. Vom zweiten n ist der Oberstrich, die rechte Stütze und vielleicht der
linke Fuss erhalten. Von dem '£ hinter p ist nur die obere linke Spitze erhalten. Zur
Noth wäre auch N denkbar. Von dem folgenden n ist auch nur die obere linke Spi^e
erhalten. Doch erscheint hier 73 als ausgeschlossen. — Das :m, das Cowley-Neult-mer wi
?V\3D] ergänzen, ist so gross geschrieben, dass es noch zum Text gehören könnte. Aber
der Ring über der Zeile spricht dagegen. 2
5 *
3i > RUDOLF SMEND,
XLII. lb Hinter tt¥3> ist ein Loch, das den Raum von etwa zwei Buchstaben ein-
nimmt. An seinem oberen Rande findet sich links eine Horizontale, wie von n, unten
in der Mitte eine Spitze wie von i , die aber auch einem ö gehören könnte. Hinter dem
Loche ist für ein 1 kaum noch Platz. Aber einen Schatten von n meine ich zu sehen.
— 3a Hinter ]131B?1 steht für sich allein ein durchgestrichenes n. Ueber "pi&n steht mtn.
— 5a Der letzte Buchstabe in *vü727a kann des Raumes wegen kein i sein. — 8b Unter
bö*!3l steht im Text betnzn. — 9C Hinter *nan steht für sich allein ein durchstrichenes i
oder dgl. — 10b Am Schluss wäre vor n statt ra auch UJ oder o möglich, nur die linke
untere Ecke des Buchstabens ist erhalten. — 10c Die Randlesart ist nicht mehr zu ent-
ziffern. — 10d Von X nur der Fuss erhalten. Ich habe s der Randlesart wegen ange-
nommen. Uebrigens scheint vor 12 der Fuss von y erhalten zu sein. — lla Hierher ge-
hört die Variante ntriD 'n , die des Raumes wegen nicht neben ihrer Zeile steht. — ■
llb Der Anfangspunct des Stichus ist nicht zu bestimmen. — 21c Auf b folgte ein d oder
72 (die untere rechte Ecke scheint erhalten zu sein). Von p ist nur der untere Schaft er-
halten, der aber wegen seiner Gestalt wohl nur einem p gehören kann. Vorher an zweiter
(dritter) Stelle vielleicht die linke untere Spitze eines N. Dann folgt eine untere Horizon-
tale, die wohl einem a gehören könnte. Aber zwischen ihm und dem p stand wohl noch
ein * oder \ Hinter p die Fussspitze eines *i oder n oder dgl. (aber nicht l). — 24b In
■Vfit'irtfJ ist n kaum zweifelhaft.
XLIII. la Der Stichus ist fast ganz zerstört. Der Anfang ist vielleicht erhalten,
aber unlesbar, weil 42, 11 darauf abgekleckst ist. — lb In rPSiib ist von b nur die un-
tere Spitze erhalten (vgl. Syr. j)»,„V)\ in 43, 2a, eher = 43, la Gr.). — 7b Tt und d sind so
gut wie sicher, inmuira gehört zu 7b. — 8d Das y in y"}3>73 ist etwas zweifelhaft, viel-
leicht könnte man auch e annehmen. — Hinter 14b ist von f nur die untere Spitze er-
halten. — 16a Von N ist nur der linke Fuss erhalten, dann folgt i oder i oder !-j. Vor
N ist ein grosses Loch. — 21a Ueber mro steht CD"n:i. — 30 Von a ist die untere
Spitze erhalten.
XLIV. 2a Der Ring steht mehr über der rechten Spitze des y, als über der Lücke,
soll aber doch wohl die Einschaltung von tanb bedeuten. — 13b Von b ist nur die untere
Spitze da, diese aber unverkennbar. — 15a (Rand). Das a in JiaiDn ist deutlich, die
Füsse des ti sind wunderlich geschwungen. Aber für y?a^n (Cowley-Neubauer) reicht schon
der Raum nicht. — 16 a in npbai fast ganz erhalten. — 19b Der Ring steht zwischen
den beiden Wörtern. — 23e Rand. Wie viel hinter dem zweiten b noch folgte, ist unklar.
XLV. 2a Vor E3">nbN stand ein Präfix. Im anderen Fall wäre der Ring, der
zwischen beiden Wörtern stehen muss, viel zu weit nach vorn gesetzt. Wirklich ist die obere
Horizontale von D erhalten. — 3C Die Länge des Stichus ist nicht zu bestimmen. — 8 In
der Randbemerkung ist Nn über der Zeile nachgetragen. — 12b Hinter y»£ an zweiter
Stelle die Fussspitzen eines Buchstabens, die zur Noth einem n gehören können. Von Ca
ist die untere Horizontale und die linke untere Ecke erhalten. Obere und untere Schweife
sind nicht zu erkennen. — 12d Von "j ist der untere Schweif und vielleicht die obere
Spitze erhalten, davor obere Spitzen wie von* ■»*. Hinter •] vielleicht die obere Spitze von
l und sodann eine untere Horizontale und darüber vielleicht die Spitzen von 72. Dahinter
sind obere oder untere Schweife nicht zu erkennen. — 13a Von aD und n scheinen die
DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH. 31
oberen Spitzen erhalten zu sein. Dahinter ist nur für ") (nicht ts) Raum. Am Schluss
ist von ■) nur die untere Spitze erhalten. — 13b Hinter dem ersten b eine obere Hori-
zontale, die einem Ca gehören kann. Vorher sind obere Spitzen wie von "\y sichtbar.
Weiter rückwärts ist anscheinend von einem zweiten 3> die rechte obere Spitze erhalten.
Von D ist die untere Horizontale nicht ganz klar. — Vor -it scheint sich die untere Spitze
eines b mit einer Horizontale zu schneiden. Der obere Schweif des b ist nicht zu erkennen,
die betr. Stelle ist völlig schwarz. Vorher ist übrigens iüaV unmöglich. — 13° Oberstrich
und Spitze von tn sind nicht deutlich. ]i sieht genau so aus wie 48, 23b. Dann folgen
wahrscheinlich zwei untere Horizontalen und dann die Fussspitze eines b oder t oder -i
oder i oder n. An erster Stelle wären y oder ic oder auch b oder * mit noch einem
Buchstaben denkbar. Der obere Rand der Zeile ist hier zerstört. — 20c Von n ist nur
die rechte Hälfte erhalten, ein n ist mir aber wahrscheinlicher als ein "y — 20d Vor
ipbn eine obere Horizontale, die einem n oder Q gehören könnte. Vorher Spuren, nach
denen naiya nicht unwahrscheinlich ist. Am Anfang der Zeile Spuren , die (:2n)b nicht
ausschlössen. — 22c Wahrscheinlich hatte der Stichu3 die angegebene Länge. Ausser den
beiden b keine oberen Schweife. — 22d Vor btf^tü"»' Spuren, die ma (Syr.) zulassen. Der
Anfangspunct des Stichus ist nicht zu bestimmen. Keine oberen Schweife. — 23b An
zweiter Stelle hinter bn: eine horizontale Grundlinie und weiter vielleicht eine Fussspitze
wie von *j. — 25cd Statt n könnte man v'-.lleicht auch D annehmen und sogar zweifeln,
ob dort überhaupt etwas stand. Aber der Abstand zwischen ma5 und nbm wäre unver-
hältnissmässig gross und auf dem ganzen Zwischenraum finden sich Tintenspuren (sofort
hinter i anscheinend der Rest einer Verticalen) , die von der gegenüberstehenden Columne
nicht abgekleckst sein können. — Uebrigens steht über dem ti von "pi-tN (unter dem i
von mim) ein n, vor dem noch eine untere Horizontale zu erkennen ist.
XL VI. 4b Vor «D ein Loch , das in seinen Umrissen der unteren Hälfte eines b
entspricht. Aber darüber ist der Schweif nicht zu erkennen. Am Schluss eine Verticale
und eine obere Horizontale, die einem & (a"^"'), aber auch einem n (rrn) gehören
können. — 5b Unter n noch ein zweiter Horizontalstrich, der ebenfalls einem n gehören
wird (vgl. v. 16b). — 5d Von U) ist nur die linke untere Ecke erhalten. Für ;z?N "»bm
(Cowley-Neubauer), das mit Jos. 10, 11 nicht stimmen würde, ist auch der Raum zwischen
b und v reichlich gross. — 13e Vor b&* scheinbar noch Spuren von 13. — 16L An
zweiter bis vierter Stelle vor b sind die oberen Ränder von Buchstaben erhalten, die stark
an eon in HEOND v. 5 erinnern. Davor vielleicht noch der Schatten von D.
XLVH. 8d Vor i ein Buchstabe mit horizontaler Grundlinie darüber vielleicht die
Spitzen von iü. — 9b Auf Vipi folgt die Fussspitze eines l und dann die Grundlinie und
die untere Ecke eines 73. — 10ab Wie viel hinter b und vor n:iö stand, ist nicht zu
bestimmen. — 10c Die Stelle von E3 1° nimmt ein Loch ein, das seinen Umrissen ent-
spricht. — 10d In "jtv ist das 1 sicher, die obere Spitze passt zu 3 nicht. — Ueber oetön
steht im Text iznpE. — 15a Zwischen 3 und "j keine Buchstaben mit oberen oder unteren
•Schweifen. — 15b Für ü, dessen Raum grossenteils ein Loch einnimmt, könnte man auch
0 (Cowley-Neubauer ergänzen es) lesen wollen. Ich erkenne aber auf der Photographie
rechts oben den Bogen des u. Statt 3 wäre auch 3 möglich. — 22d Wahrscheinlich stand
vor varn» noch ein kurzes Wort. — 23* In »ST» ist 73 kaum zweifelhaft. Von y ist
•32 RUDOLF SM END,
der linke Arm nicht klar, aber der rechte und die Basis sind deutlich und schliessen jeden
anderen Buchstaben aus. Vielleicht ist der Buchstabe aber corrigirt. — 23b In "p3ft sind
von 1373 die Füsse und von 73 auch die untere Spitze erhalten.
XLVIII. 3b Von a ist der untere Schweif und die (rechte) untere Ecke, von ö die
obere und untere Horizontale, von n die obere Horizontale und die Ecke und von i die
obere Horizontale erhalten. — lla Auf n73 folgt ein grosses Loch. Ob da noch etwas
stand, ist zweifelhaft. Allerdings ist der Abstand der beiden Stichen im anderen Fall
unglcichmässig gross. — llb N steht unter einem Schmutzflecken. Deutlich sind aber der
rechte obere Arm und die Enden der Diagonale. Von izj ist das erste Drittel erhalten.
Dann folgt ein Loch, das sich bis zu m erstreckt. Erhalten ist der Schweif eines Final-
buchstabens, der eher einem ^ oder v\ als einem "] oder y gehört. Davor die Spur einer
nach vorn geneigten unteren Horizontale (wie von tu oder n). Weiter rückwärts sind die
Grundlinien zweier Buchstaben, die sehr wohl e>3 sein können, durcheinandergezogen. Davor
bleibt Kaum für **i oder wenigstens für 1. — 12a Am Schluss die linke untere Spitze eines
D (oder ta oder ©) , weiter links der linke Fuss eines n mit nachfolgendem *i (oder i
oder i). — 12b Wie viel vor b fehlt, ist nicht zu bestimmen. — 20c Von a ist nur die
untere linke Spitze erhalten. Denkbar wäre auch n. — 22cd 23 sind ganz zerstört.
XLIX. 9a In |Hd2 sind kv 3 nach der Photographie sicher, über id lässt die Hs.
kaum einen Zweifel. — 10d Der letzte Buchstabe könnte auch n, i, n oder 73 sein. Die
Länge des Stichus ist nicht zu bestimmen. — 12 ist ganz zerstört.
Während des Druckes ging mir das Juli-Heft der Jewish Quarterly Review
zu, in dem A. Co wley und A. Neubauer zu den von mir in der Theologischen
Literaturzeitung (a. a. 0.) veröffentlichten Lesungen Stellung genommen haben
(S. 563 — 67). Unsere Differenz ist z. Th. eine prinzipielle. Die Oxforder Blätter
mussten behufs sicherer Lesung gereinigt *) und wegen der Brüchigkeit des Pa-
piers mit transparentem Papier überklebt werden. Vorsichtshalber hat man
aber die Blätter vorher photographirt und von den Platten sind die Kohledrucke
genommen, die ich neben meiner in Oxford angefertigten Collation benutzt habe.
Die Herausgeber sind nun der Meinung, dass die von mir auf den Kohledrucken
gelesenen Buchstaben und Wörter nicht für sicher gelten könnten, wenn sich
Spuren von ihnen nicht auch in der Handschrift selbst nachweisen Hessen, was
sie betreffs mancher meiner Lesungen bestreiten. Ich bin nun vorläufig nicht in
1) d.h. gebürstet. Ich war ungenau berichtet, wenn ich in der Theologischen Literatur«
zeitupx (a. a. 0.) von Waschung der Blätter redete.
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DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH. 33
der Lage, die Kohledrucke, die mir nach Deutschland nachgesandt wurden, selbst
mit der Handschrift zu vergleichen. Indessen sind photographische Platten für
gewisse Farbentöne weit empfindlicher als das menschliche Auge. Sodann kann
die Handschrift, nachdem sie überklebt ist, unmöglich in demselben Maasse die
Buchstaben erkennen lassen wie vorher. Uebrigens kommt alles auf den Grad
von Deutlichkeit an, in dem die Photographie einen Buchstaben erkennen lässt,
ob sie an der betreffenden Stelle lediglich Schwärze oder auch die Spuren des
Federzuges aufweist. Eben das letztere muss ich bezüglich der von mir nur auf
der Photographie gelesenen, aber als sicher bezeichneten Buchstaben behaupten.
So ist z. B. das K in "TOWB 42, 24b, von dem die Herausgeber in der Handschrift
keine Spur entdecken können, auf dem Kohledruck mit zweifelloser Sicherheit
zu erkennen. Ich hebe das hervor, weil die vorstehende Ausgabe noch manche
Lesung aufweist, die ich nur aus den Photographien gewonnen habe.
Die von den Herausgebern bestrittenen oder bezweifelten Lesungen habe
ich noch einmal mit den Photographien verglichen. Von meinem Zweifel an
iStD 40, 19c und Pjn"h[3fc"|b 45, 13a war ich inzwischen selbst zurückgekommen, über
das Versehen zu 45, 20a bitte ich oben S. 7 Anm. 1 zu vergleichen, übrigens halte
ich an meinen Lesungen fest und verweise dafür im Allgemeinen auf die vor-
stehenden Anmerkungen. Im Einzelnen bemerke ich noch Folgendes. 40, 22*.
Vorn ist ■» deutlich auf der Photographie. Vor YTW sind zwei untere Horizon-
talen und über der ersten auch eine obere erhalten, die D^FD] gestatten. — 41, 2b
D^ütf. Der Fuss des ersten 3 ist deutlich auf der Photographie. — 41, 6b. Am
Anfang ist T unmöglich, weil der Kopf des Buchstabens nach links geneigt ist;
vgl. oben S. 4 Anm. (Aus demselben Grunde kann 49, 7b in nitDnb kein T statt ■»
angenommen werden). — 41, 19d Rand Wüö. Von der inneren Spitze des "ü ist
die Tinte abgesprungen, aber die Spur der Feder ist zu erkennen. Zwischen den
Armen von 2 reicht ein Riss im Papier vertical durch den ganzen Buchstaben,
mir erscheint aber 9 als sehr wahrscheinlich. In Betracht käme höchstens noch ü,
aber der Fuss des Buchstabens spricht dagegen. — 41, 21a. In 2WH12 ist n sicher
und n unmöglich (vgl. über die Gestalt des H oben S. 4 Anm.). — 42, 9b IC ?*ntn
(fol. 2 v.). Hier sollen nach Meinung der Herausgeber W V auf der Photographie
durchscheinen von Ü2 41, 4d (fol. 1 v.). Aber die Blätter sind einzeln photo-
graphirt und ? ist auf der Photographie vollkommen deutlich. Der rechte Arm
ist auch in der Handschrift noch erhalten, das Weitere stand auf einem Fetzen,
der beim Reinigen der Hs. verloren gegangen ist. Gr. hat hier wie 47, 23 für
ynsn ayiörruLi, was ich übrigens erst nachträglich bemerkt habe. — 42, 1 0b. Die
bei meiner Ergänzung entstehende grammatische Construction entspricht dem von
mir angenommenen und vom Zusammenhang geforderten Sinn. — 42. 10c Rand
Z. 2. In nsrn ist 1 m. E. zweifellos und p dafür unmöglich. — Ebenda Z. 3.
Statt tt kann kein abgekürztes tt? angenommen werden, weil die beiden Vertical-
striche oben, aber nicht unten verbunden sind. — 43, 7b HEI? pBin. Am i 1° ist
oben links der Haken deutlich. Sodann stehen die beiden ersten Verticalen
erheblich weiter von einander ab, als die dritte von der zweiten. Da schliesslich
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 2. 5 2
31 RUDOLF SMEND, DAS HEBRÄISCHE FRAGMENT DER WEISHEIT DES JESUS SIRACH.
der Oberstrich von der ersten bis zur aritten Verticale reicht und von der
mittleren nicht berührt wird, so kann nur fDin gelesen werden. Ferner ist 3?
das auch die Herausgeber früher (jetzt HD1©) annahmen, dadurch gesichert, dass
der zweite Arm des Buchstabens senkrecht steht, was bei dem mittleren Arm
von W nie der Fall ist. Weiterhin ist 2 unmöglich, weil die rechte (untere) Ecke
des 2 nie eine solche Rundung hat. Der mittlere Horizontalstrich des t> scheint
mir deutlich vorzuliegen. — 43, 23a piTD?\ Der rechte Arm und der Fuss von 2
sind deutlich, der (linke) Fuss eines fi, den die Herausgeber darin sehen, ist
ganz anders gestaltet. Uebrigens scheint mir auch der linke Arm des 2 unbe-
streitbar zu sein. — 45, 13b Der Raum reicht für Dbn? 12, 48, 25 nehmen dieselben,
dort ziemlich weit geschriebenen, Worte einen nur um 1 mm grösseren Raum ein.
An einzelnen Stellen habe ich in den textkritischen Anmerkungen auf die
in demselben Heft der Jewish Quarterly Review enthaltene Abhandlung von
W. Bacher (S. 543 ff.) verwiesen. Mit Recht ist dort übrigens für 39, 17d
rrTOflÄ (Gr. <x7todo%slcc vddzav) statt *nn» gefordert.
Schliesslich bitte ich S. 5 Z. 21 hinter 40,9. 10 nachzutragen „41, 17b(Rand)u
und Z. 24 hinter 42, 3a nachzutragen „und 42, 18a".
Göttingen, Druck der Univ.-Buchdruckerei von W. Fr. Kästner.
2
Bei der Correctur , die ohne mein Verschulden überstürzt werden musste,
habe ich folgende Druckfehler übersehen.
39, 16b Ran(j ües fv-tt
41, 5» lies OKED
41,19b Rand lies 41, 19*
42, 17c lies "p^H
48, 12d lies cnäTDI.
»Sodann sind im Reindruck eine Reihe von Buchstaben und Zeichen wenig-
stens in vielen Exemplaren gar nicht oder schlecht gekommen.
40, 14b Rand lies p
43, 30cd Rand lies TOtmä
ebenda lies Itfbn btfl
44, 7b Rand lies om^m
44, 15b Rand lies onbnm
44, 23b Rand lies lrttD*l
45, 13*
lies p
Schlecht gekommen ist
40, 28b
in ntta
46, 6b in SR
42,6»
in nnin
46, I5a in wrri
43, 20a
in mi
47, 10c in Wip
44, 14b
in im
47, i9b in DVnmam
44, 19a
in pm
47, 22b in «bl
44, 19b
in rnaoa
47, 23b in IW
44, 20c
in rraaa
48, ub in imaai
44, 22b
in l^n«
48, 15c in iriD2
45, lb
in TOT
48, 18c in OT
45, 19b
in DbD^I
49, 7a in Itrop
45, 26cd
in DDiTH und rrrvttb
49, 7b in «inab.
Die Abkürzungspuncte oder
sind öfter nicht gekommen. So
•striche, die in den Randlesarten stets stehen,
z. B. 42, 6 Rand über P und "I und ti und 1.
Ein Punct steht aber auch 41, 21a Rand (rechts) über dem fi in PWn.
Nicht gekommen sind öfter auch die Striche über den Buchstaben, die die
Unsicherheit der Lesung anzeigen.
39, 2ib in nnnu 44, I6a in aröD
40, 7a in f^p 45, 12d in W\
45, 25<
m
41, 21» Rand (links) in STOn
42, iob in rraai
In der Zeile hinter 43, 14 in )
44, llb in [i3]5b
Im Uebrigen entspricht der Druck meinen Lesungen
46, 16» in n Dan
47, 23d in D*.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH - HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 3.
Die
LEX MANCIANA,
eine afrikanische Domänenordnung.
Von
Adolf Schulten.
Berlin.
Weidmannsche Buchhandlung.
1897.
Die lex Manciana, eine afrikanische Domänenordnung.
Von
Adolf Schulten.
Vorgelegt von F. Leo in der Sitzung vom 17. Juli 1897.
Dem regen archäologischen Interesse der französischen Offiziere , die mit
der topographischen Aufnahme der Regentschaft Tunis beschäftigt sind, verdanken
wir eine neue Inschrift aus dem Bereich der „saltus", der kaiserlichen Do-
mänen am Bagradasflusse (Medjerda). Herr Lieutnant Poullain fand auf einer
topographischen Streife in Henchir Mettich ca. 10 Kilometer nordwestlich von
Testur !) einen grossen auf den vier Seiten mit Inschriften bedeckten Kalkstein-
block. Um den Fund zu sichern, vergrub er ihn so gut es ging und erstattete
Anzeige. Daraufhin wurde der 800 Kilo wiegende Stein „ä bras d'homme" auf
die Strasse, die Testur mit der nächsten Station Medjez-el-Bab verbindet, und
auf ihr zu Wagen weiter nach Medjez gebracht, um von da mit der Bahn nach
Tunis zu gelangen. Dort hat er in dem prächtigen Bardomuseum — einem ehe-
maligen Palais des Bey — neben der in Ai'n Wassel gefundenen „ara legis
Hadrianae" (vgl. meinen Commentar im Hermes 1894 p. 204 f.) einen Ehren-
platz erhalten. Ueber den wichfigen Fund berichtete R. Cagnat im März der
Academie des Inscriptions. Der Freundschaft Herrn Paul Graucklers, des „di-
recteur au Service des Antiquit^s de la Tunisie", verdanke ich die Zusendung
eines Abklatsches und einer ausgezeichneten Photographie der vier Inschrift-
seiten des Steins.
Der Stein ist ein harter Kalkstein von gelblicher Farbe, der ein vortreff-
liches Baumaterial abgiebt, aber zur Anbringung einer Inschrift sich schlecht
eignet, weil er zu kristallinisch ist und an der Oberfläche leicht abblättert. Dem-
entsprechend sind alle vier Seiten mehr oder weniger lädirt, am meisten die vierte.
Oben und unten erbreitert sich der Steinkörper in der üblichen Weise zu einem
Pyramiden stumpfe ; der untere ruht noch auf einer rechteckigen Basis. Während
auf der Basis nur unterhalb der ersten Fläche eine Inschrift und zwar ein Vermerk
1) Testur (frz. Testour) das römische Tichilla (s. C. VIII Suppl. I. p. 1449, Tissot, Geogr.
comp, de l'Afr. rom. II. 334) liegt etwas östlich der Einmündung des Wed Siliana in den Medjerda.
1*
4 ADOLF SCHULTEN,
über die Niederschrift der „lex" angebracht ist, beginnt auf der vierten Seitenfläche
die Schrift schon auf dem Aufsatz, offenbar weil der Raum sonst nicht gereicht
hätte. Eine der oberen Ecken des Steins ist abgebrochen, wodurch der obere
Teil der vierten Seite beschädigt ist. Obwohl auch die dritte Seite durch diesen
Schaden verstümmelt ist, hat doch ihre Inschrift keinen Schaden genommen, weil
sie erst unterhalb der abgebrochenen Kante beginnt. Daraus folgt, dass die
Ecke schon vor Anbringung der Inschrift abgebrochen gewesen sein muss, wel-
chem Schaden man aber nur auf der dritten Seite Rechnung trug, während man
auf der vierten die Inschrift auf der wiederaufgesetzten Kante beginnen liess,
um Raum zu sparen. Die Schriftcolumne ist auf der ersten Seite 7t, auf der
zweiten 70. auf der dritten 61 und auf der vierten Seite 77 cm. hoch1). Die
Breite der Columnen beträgt bei der ersten Seite 49 , bei der zweiten 45 , bei
der dritten 47 und bei der vierten 45 cm.
Der Ort, an dem der Stein gefunden worden ist, heisst bei den Arabern
Henchir Mettich. Die Gegend des Fundorts ist ödes Hügelland, nur hier und da
stehen einige wilde Oliven, der verkümmerte Rest der in der Inschrift genannten
Olivenwälder. Hr. Mettich liegt in nächster Nähe von Ai'n Wassel, dem Fundort
der ara legis Hadrianae. Wir haben durch die neue Inschrift einen Ansatz für
die östliche Ausdehnung des grossen Domanialgebietes am Bagradas gewonnen.
Der westlichste Punkt ist bisher der Fundort der Inschrift des saltus Massi-
pianus (C. VIII, 14603^ bei Schemtu (Simittu). Schemtu ist in gerader Linie
c. 80 Kil. von Testur entfernt. Der nördlichste Punkt ist der Fundort des
Grenzsteins -C. VIII, 10567 bei Vaga (s. über diese Inschriften meinen oben-
genannten Aufsatz über die ara legis Hadrianae p. 204 f.). Die kaiserliche Do-
mäne umfasste offenbar das ganze Gebiet des Medjerda bis hinauf zu der Hohe
der Berge, die das Thal begrenzen, d. h. im Norden bis Vaga, im Süden bis
zu dem Plateau, auf dessen Nordostrand Thubursicum, und auf dessen Südwest-
rand Sicca Veneria (El Kef) liegt. Man wird die bisher bekannte Ausdehnung
dieses Domänengebiets annähernd darstellen können, indem man als seine Länge
die Entfernung von Schemtu bis Testur = c. 80 Kil. und als seine Breite die
von Bt'ja (Vaga) bis Thebursuk (Thubursicum) = c. 50 Kil. annimmt2).
1) Da ich keine Angaben nach dem Original zur Verfügung habe, gebe ich die obigen
Maasse nach dem Abklatsch; sie sind also nur annähernd genau.
2) Das bedeutet eine Fläche von 4000 D Kil. oder c. 72 D Meilen, wenn es erlaubt ist die
bezeichnete Flacht! als Rechteck aufzufassen. Den Umfang dieser Domäne wird am Besten ein
moderner Vergleich klar legen. Das Staatsgut des preussischen Staates umfasst c. 1,5 Mill.
Morgen Domänen und ca. 8 Millionen Morgen Forsten, also zusammen c. 9,5 Mill. Morgen; das
Gut der Krone und kgl. Familie nur c. l/s Million Morgen. Der ganze in königlicher Ver-
waltung befindliche Domänenbestand beträgt also c. 10 Millionen Morgen. (Ich entnehme die
Zahlen dein Werke von A. Meitzen, d. Boden u. d. landwirtschaftl. Verhältnisse d. preuss,
Staats, I. Band (1868) p. 521 und 522). 4000 D Kil. sind 1600000 Morgen. Allein die Domäne
des ßagradasthales beträgt also ein Fünftel des gesammten Domänenbestandes des preussi-
schen Staates. Ich brauche kaum zu sagen , dass diese Zahlen nnr eine ungefähre Schätzung
geben sollen. Trotz seiner Ausdehnung ist dieses Domanialgebiet des Sahel — so nennt man das
DIE LEX MAXCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMANENORDNUNG. O
Die Domäne, auf die sich die vorliegende Urkunde bezieht, die „Villa Magna
sive Mappaliesiga" muss an die in der Inschrift von Ai'n Wassel genannten sal-
tus (Thusdritanus, Lamianus, Domitianus, Blandianus, Udensis) angegrenzt haben,
da Ai'n Wassel und Henchir Mettich nahe beieinander liegen. Wir kennen bis-
her folgende saltus des grossen Domänencomplexes zwischen Schemtu und Testur :
saltus Philomusianus (Schemtu) , saltus Burunitanus (Suk-el-Khmis) , die fünf
saltus der ara legis Hadrianae und die Villa Magna genannte Domäne. Unbe-
kannt ist der Name der Domänen, auf die sich die Inschriften von Gasr Mezuar
(Bittschrift der Colonen), Ai'n Zaga und der Grenzstein von Vaga beziehen
(s. Abdruck bei mir a. a. 0.). Für eine Specialkarte dieses Domänencomplexes
würde man den französischen Gelehrten zu Danke verpflichtet sein.
Die Inschrift ist geschrieben in Capitalschrift mit cursiven Elementen. Cur-
siv sind die Buchstaben A, B, D, G, M, Q, R, S. Die Aehnlichkeit der Buch-
staben A mit R, und I, L, E, F mit S, die Nachlässigkeit der Schrift, die
vielen Fehler und die zahlreichen Beschädigungen machen die Lesung der In-
schrift zu einer ziemlichen Geduldsprobe. Mit Hülfe der ausgezeichneten Photo-
graphie — der Abklatsch versagte an schwierigen Stellen — ist es mir gelungen
fast ebenso viel zu lesen, wie die Herren Cagnat, Toutain und Gau ekler
vor dem Stein selbst gelesen haben; an einigen Stellen glaube ich sogar über
die Lesungen Cagnats1) hinausgehen zu können. In der That kommt eine
Photographie wie die mir vorliegende dem Original sehr nahe. Ich glaube nicht,
dass eine Nachvergleichung des Steins viel Neues ergeben wird.
Ich gebe nun den Text der Inschrift zuerst in grossen Buchstaben als
Facsimile , dann mit den Herstellungen in gewöhnlicher Schrift. Die Punkte
unter den Buchstaben bedeuten, dass die Lesung unsicher oder der Buchstabe
schlecht geschrieben ist. Die Ziffern in den Lücken geben in etwa die Zahl der
zu ergänzenden Buchstaben an.
nördliche Tunesien, den fruchtbaren Teil des Landes — nur der zwölfte Teil des gesammten Do-
mänenbestandes gewesen: Plinius (Nat. Hist. XVIII, 6 § 35) sagt an der berühmten Stelle über
die Latifundien ..sex domini semissem Africae possidebant, cum interfecit eos Nero prineeps" also
die durch Nero confiscirten Latifundien nahmen die Hälfte der Africa proconsularis ein. Nun beträgt
das Areal des heutigen Tunesien, welches man mit der Africa proconsularis annähernd identifiziren
darf, 91600DKil. (s. Hübner, Geogr. stat. Tabellen 1896 p. 19); der „semissis Africae' umfasste
also c. 50000 DKil. d. h. 12mal mehr als das Domänengebiet am Bagradas. Ausser diesen saltus
kennen wir bisher in der Proconsularis noch die Domänen östlich von Tebessa : den saltus B^-
guensis, Massipianus und den des Iunius Faustinus Postumiauus (s. meine Schrift „d. röm.
Grundherrschaften" p. 32). Wir kennen also, wenn auch nach Nero viel Domanialland an Städte
vergeben worden ist, nur einen kleinen Teil der saltus von Africa proconsularis.
1) Ich habe meine Lesarten noch mit der Publikation der Inschrift durch Herrn Cagnat
(Comptes rendus de l'Academie d. I. Mars — Avril 1897 p. 146 f.) veigleichen können. Die franzö-
sische Publikation giebt die Inschrift in Facsimile wieder und fügt eine von H. Toutain verfasste
Uebersetzung bei. In letzter Stunde konnte ich noch den ausführlichen Commentar der Inschrift
von H. Toutain in den „Memoires presentes par divers savants ä l'Academie des Inscr. et Beiles
L. lere s£rje tome XI, lere partie (55 pp. mit Lichtdrucktafeln der Inschrift) einsehen. Ich habe
die wichtigsten Differenzen zwischen H. Toutain und mir am Schlüsse erörtert. 3
6
ADOLF SCHULTEN,
1 1 [Pro salu]TE
2 a]VGN[imp]CAESTRAIANI
2a TOTIVSQV[e]DOMVSDIVINE
3 op]TIMIGERMANICIPA[r]THICIDATAALICINIO
4 ma]XIMOETFELICIOREAVGLIBPROCCÄDEXEMPLV[m
5 leg]ISMANClANEQVIEORVM[i]NTRAFVNDOVILLAEMAG
6 n]EVARIANIIDESTMAPPALIASIGALISEOSAGROSQVISV
7 . bc]ESI VAS VNTEXCOLEREPERMITTIT VRLEGExMANCIANA
8 . . 3 . .] ITAVTEASQVIEXCOLVERITVSVMPROPRIVMHABE
9 AT EXFRVCTIBVSQVIEOLOCONATIERVNTDOMINISAV[t
1 0 COND VCTORIB VS VILICIS VEEI VSFP ARTESELEGEMA
1 1 NCIANAPRESTAREDEBEBVNTHACCOISIDICIONECOLONI
12 FR VCTVSC VI VSQVECVLTVREQVOTAD ARE ADEPORT ARE
13 e]TTEREREDEBEBVNTSVMMASDE[fer]ANTARBITRATV
14 s]VOCONDVCTORIBVSVILICIS[veei]VSFETSICONDVCT[o
15 r]ES VILICIS VEEI VSFINASSEM[. . 10 . .]ICASDATVR
16 ASRENVNTIAVERINTTABEL[lis 10 ]ESCAVEA
17 NTEIVSFRVCTVSPARTESQV[. . . . 12 . . . .]DEBENT
18 CONDVCTORESVILICISVEEIVS[. . 3 . .]ONICOLONIC
1 9 ASP ARTESPREST AREDEBE A NTQ VI[i]NF VILLAEMAG
2 0 N AESI VEM APP ALI ASIG A VILL ASHÄBENTH ABEB VNT
2 1 DOMINICASEI VSFAVTCOND VCTÖRIBVS VILICIS V[e
22 EORVMINASSEMPARTESFRVCTVMETVINEAMEX
23 CONSVETVDINEMANCIANECVIVSQVEGENE
24 RISHABETPRESTAREDEBEBVNTTRITICIEXA
2 5 RE AMP ARTEMTERTI AMHORDEIEXARE AM
2Q parte]MTERTIAMFABEEXAREAMPARTEMQV
27 inta]MVINVDELACOPARTEMTERTIAMOL
28 eico]ACTIPARTEMTERTIAMMELLISINALVE
29 ism]ELLARISSEXTARIOSSINGVLOSQVISVPRA
30 H]ECLEXSCRIPTAALVRIOVICTOREODILONISMAGISTROETFLAVIO
GEM
3 1 INIODEFENSOREFELICE ANNOBALISBIRZILIS.
3
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMANENORDNUNG.
Annotatio critica.
2a totiusqu[e] donius divine ist über Zeile 3 übergeschrieben und soll hinter Parthici eingeschoben
werden.
6 IDEST. Das Iota ist sehr unsicher; doch kann, da DEST ziemlich deutlich ist, kaum
etwas anderes angenommen werden. Statt SVJbcJESIVA las ich in INSILVA aber H. Ca-
gnat schreibt mir, dass SV|. . ESIVA sichere Lesung ist. Die Photographie zeigt den Rest des
C nicht. Hinter SV ist ein freier Raum, BC stand aber am Anfang der folgenden Zeile.
8 vor ITA ist der Stein beschädigt.
9 vor EXFRVCTIBVS freier Raum.
12 QVOT. Der Buchstabe ist kaum ein S.
13 DE[fer]ANT. Cagnat giebt R[edd]ANT. Mir scheint der erste Buchstabe ein D, nicht ein R
zu sein.
16 CAVEA. So auch Cagnat. Statt des ersten A ist bei der grossen Aehnlichkeit der beiden
Buchstaben vielleicht ein R zu lesen; denn die unterscheidende Haste ist gekrümmt: \, während
die des letzten Buchstaben grade ist: -A. Cagnat liest TABELLIS. Ich dachte zuerst an
LABES . . .
16/17. AS. So glaube ich zu lesen. Cagnat lässt die Lesung offen.
20 VILLAS. Das S ist ziemlich sicher, ebenso das Schluss-A in Mappdliasiga.
23 Manciane ist sicher.
30 Statt [hjECLEXSCRIPTA las ich zuerst: [el]EGEEXSCRIPTA was sachlich — s. unten —
sehr verführerisch ist. LVRO; Cagnat: LVRIO, aber das i fehlt.
Toutain hat folgende Abweichungen :
Die über der zweiten Zeile sichtbaren Buchstaben liest T.: TE und ergänzt [ex aucioritaf\te.
Die Lesung ist glücklich aber die Ergänzung verfehlt: es muss natürlich [pro salujte ergänzt
werden, wegen des folgenden „domusque divinae."
Z. 2a] divinae statt, wie auf dem Stein steht, divine.
5 [w]Z£ra wäre epigraphisch möglich, geht aber sachlich nicht, da es sich überall um innerhalb
(intra) der Villa gelegene Ländereien handelt, intra steht sicher: III 17; IV 23.
6 T. liest: Mappaliasiga eis ... Die Lesung ist in der That ebenso gut möglich wie Mappalia-
sigalis.
11 T.: condecione.
12 quota dare adpportare. Aber 1) ist das relativische quot notwendig und 2) wird man trotz
aller Fehler der Inschrift nicht unnötig adpportare annehmen wo quot ad area{m) deportare
gute Lesung ergiebt; 3) ist der Buchstabe vor PORT ARE kein P sondern ein T.
16 Für datur | as liest T. detur \ et{?).
30 Das in LVRO fallende Iota soll nach T. über R und 0 nachträglich zugesetzt sein.
31 T.: Gern \ rao, aber vor nio steht doch wohl noch ein Iota.
ö ADOLF SCHULTEN,
II 1 QVINQVEALVEOS
2 HABEBITINTEMPOREQV[ovin
3 DEMIAMELLARIAFACT[a erit
4 DOMINISAVTCONDVCTO[ribusvili
5 CISVEEIVSFQVIINASSEM[. . . 7 . . .
6 DDSIQVISALVEOSEXAMINAA[pesvasa
7 MELLARIAEXFVILLAEMAGNESIVEM
8 APPALIESIGEINOCTONARiVMAGRV[m
0 TRANSTVLERITQVOFRAVSAVTDOMINISAV[t
10 CONDVCTORIBVSVILICISVEEISQVAMFIATA ..
1 1 TISEXAMAAPESVASAMELLARIAMELQVIIN[. . . 3
1 2 ERVNTCOND VCTORIBVS . . . ORVMVEINASSEML- . 3 . .
13 FERVNTFICVSARIDEARBOR[es . . . q']VEEXTRAPOM[a
14 RIOERVNTQVAPOMARIV[. . . 9 . . ,]VILLAMIPS[. . 3 .' .
15 CITVTNONAMPLIVSIV[. . . 15 . . .]ATCOL[on
16 ISARBITRIOSVOCO[. . '. 15 . . .]MCON[ducto
17 RIVILICISVEEIVSFPAR[tes . . [ 10 . . .]FICETAVE[te
18 RAETOLIVETAQVEANTEHACf. . . 3]MFDI[. . . 3]VICONSVET[u
10 DINEMFRVCTVMCONDVCTORIVILICISVEEIVSPRESTAR[ed
20 EBEATSIQVODFICETVMPOSTEAFACTVMERITEIVSFIC
2 1 FRVCT VCT VMPERCONTINV ASFICATIONESQ VINQVE
22 ARBITRIOSVOEOQVISERVERITPERCIPEREPERMITTITVR
23 POSTQVINTAMFICATIONEMEADEMLEGEMQVASSEST
24 CONDVCTORIBVSVILICISVEEIVSFPDVINEASSERERE
25 COLERELOCO VETER VMPERMITTIT VRE ACONDICIONE[ut
26 EXE AS ATIONEPROXIMIS VINDEMISQVINQVEFRVCT V[s
27 EARVMVINEARVMISQVIITAFVERITSVOARBITROPER
28 CIPEATITEMQVEPOSTQVINTAVINDEMIAQVAMITASATAffu
29 ERITFRVCTVSPARTESTERTIASELEGEMANCIANACONDVC
30 TORIBVS
DIE LEX MANCIANA, EINE AEIUKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 9
1 QVINQVE. Das Q hat eine ungewöhnlich lauge Hasta °\ und V ist mit derselben durch einen
Strich verbunden: °\V, sodass es wie ein N aussieht. Mit ALVEOS endet die Zeile, da die
Randleiste der oberen Verzierung des Steins in schräger Linie die Columne abschneidet.
3 FVE[rit]: Cagnat; vielleicht ist FACT[a eritj zu lesen, denn vor dem vermeintlichen V ist
noch der Rest einer schrägen Hasta sichtbar (/]/) und die zweite Hasta des V ist gekrümmt,
also -AC nicht V.
6 A[pes]. Nur A ist erhalten; von PES sind noch die unteren Teile der Hasten zu sehen.
10 EIS sicher, ebenso QVAM. Der Buchstabe hinter FIAT muss wegen der z. Teil erhaltenen
schrägen Haste ein A oder R gewesen sein. Hinter FIAT ist Raum für drei Buchstaben.
11 TIS. Das T scheint sicher.
12 Auf conductoribus kann nicht vüicisve eorum, wie sonst, gefolgt sein. ORVM ist ziemlich
sicher also [e]ÜRVM: vorher könnte nur der Anfang von vilicisve, etwa VIL gestanden haben,
wahrscheinlich aber mit Auslassung von vilicis nur ve. VI[licor]VM (Cagn at) ist nicht wahr-
scheinlich. Die beiden Buchstaben VE hinter ORVM sind das fälschlich wiederholte ve {vüi-
cisve eorumve). Hinter INASSEM ist noch eine senkrechte Hasta sichtbar; Cagnat schreibt
E[ius], aber „in assem e[ius] ferunt" verstehe ich nicht.
14 VILLAM. LAM ist sicher; statt [vil]lam könnte auch [nul]lam gelesen werden. Auch Ca-
gnat liest VILLAMIPS[am].
15 Cagnat giebt AMPLIVSQ[uam]. Das Q scheint mir nicht sicher. Vor ATCOL[oni] sind
zwei Buchstaben sichtbar also vielleicht FIAT?
16 Vor con[äuctor~\ sind noch einige Buchstaben sichtbar, der letzte scheint mir ein M zu sein.
17 PAR[tes] scheint sicher.
20 Hinter FIC, wo der Stein abgesprungen ist, könnte nur ein Buchstabe gestanden haben; doch
ist wohl FlC(eti) zu lesen.
22 EO QVI. Da das 0 sicher ist kann nur EO gelesen werden.
To utain hat folgende Abweichungen:
10/11 fiat a[lveys.
11 T. : mel qni in [iis ?) enmt.
12 T. : v[ili]corumve in assem e[ius \ f(undi) erunt
13 T. : ar[b]o[rum earum?] que.
15 T. : sit. Aber der erste Buchstabe scheint mir ein C zu sein.
16 T. : co[ ]«.
23 T. : eadem lege M(anciana). Diese Lesung ist vielleicht anzunehmen, nicht so T.'s Ansicht,
dass eadem l. M. qua s. s. est stehe für „lege M. idem quod s. s. et" denn was hindert eadem
als Accusativ Pluralis (statt idem) zu nehmen? aber eadem legem ist wohl nur ein Schreib-
fehler.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, i.
10 ADOLF SCHULTEN,
III l V[ilicis]VEEIVSINAS.SEMDAREDEBE
2 BV[nto]LIVETVMSERERECOLEREIN
3 EOLOC[o]QVAQVISINCVLTVMEXCOLV
4 ERITPERMITTITVREACONDICIONEV
5 TEXEASATIONEEIVSPRVCTVSOLIVETIQ
6 VIDITASATVMESTPEROLIVATIONESPRO
7 XIMASDECEMARBITRIOSVOPERMITTE
8 REDEBEATITEMPOS[t]OLlVATIONESOLE[i
9 COACTIPARTEMTERTIAM[c]ONLWCTO
1 0 R1BVSYILICIS VEEIVSFDD[q] VI1NSERVE
11 RITOLEASTRAPOST ... 12 ... | . NQVEPAR
12- TEMTERTIAMDD . . . 12 | . . . INF
13 VILLEMAGNEVAR[iani]SI[vem | app]ALIAE
14 SIGESVNTERVNT ... 9. . . | AGROSQVI
15 VICIASHABENTEORVMfa | gr]ORVMFRVCT
16 VSCOXDVCTORIBVSVILICISV[edebe]NTVRCVSTODESE
17 XIGEREDEBEBVTPROPECORA [. . .JXTRAFVILLEM
1 8 AGNEEMAPPALISIEG[e]PASCENTVRINPECORASIN
1 9 GVLAAERAQVATTVSCOND VCTORIBVS VILICIS VEDO
20 MINORVMEIVSFPRESTAREDEBEBITSIQVISEXFVILLE
2 1 MAGNESI VEMAPPALIESIGEFR VCT VSST ANTEMPEN
22 DENTEMMATVRVMIMMATVRVMCAECIDERITEXCIDER
23 ITEXPORTAVERITDEPORTAVERITCONBVSERITNSEQVEA
24 . . . 11 . . .]ENIIDETRIMENTYMCOND VCTORIBVS VILICIS VEEIV[s]F
DIE LEX MANC1ANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 11
10 DD ist deutlich zu lesen; Cagnat ergänzt es.
11 Der senkrechte Strich iu den Zeilen 11 f. bezeichnet einen Riss, den der Stein an dieser
Stelle zeigt.
13 Statt [Mappjaliesige steht hier deutlich [Mapp]aliaesige; Cagnat schreibt Mappaliesige.
15 Die Lesung VICIAS verdanke ich der französischen Publikation.
16 VILICISV[e debe]NTVR. Die Lesung ist sicher; Cagnat giebt V[e eius f.].
17 DEBEBVT. Das N fehlt.
18 MAGNEE. Das E ist doppelt gesetzt.
i9 QVATTVS. Die Lesung steht fest.
22 CAECIDERIT. Cagnats Lesart CRECIDERIT ist wohl Druckfehler.
23 EXPORT AVERIT. Cagnat schreibt IAPORTAVERIT aber EX steht da, nur ist die
eine Haste des X etwas kurz geraten, sodass es einem -A freilich sehr ähnlich siebt. — Ca-
gnat liest CONTVSER1T aber der vierte Buchstabe ist kein T und das Perfect von contundo
heisst contudi. Man kann auch CONBVSEASINT (NT legirt) lesen. Fast möchte man co<m>-
bus(s)erit (von comburere) vermuten, vgl. „usscrit" in der pu 30 angeführten Digestenstelle (L.
27 § 5 D. 9, 2).
24 Vor detrimentum steht eine Reihe von Buchstaben, die gut erhalten, aber unverstandlich sind.
25 Auf dem Sockel des Steines stehen die Buchstaben V und F; sie gehören zur letzten Zeile und
es ist VILICISVE EIV[s] F(undi) [d. d.] zu lesen (s. den Commentar).
To utain hat folgende Abweichungen:
7 permittere hält T. wohl mit Recht für Schreibfehler statt peräpere.
18 [n]ascentur statt pascentur.
19 quae jus(?) (est) statt quattus. T. giebt QVATIVS und bezeichnet selbst seine Vermutung als
sehr unsicher.
23/24 contuserit deseque[rit J et si quid . . .? ? detrimentum.
12 * ADOLF SCHULTEN,
TVl COLONIERITEICVIDET[. . . 25 . . .
2 TANTVMPRESTARED[ebebit . . . 25 . . . mag-
3 NESIVMAPPALIESIG[e ... 25 ... se-
4 VERVNTSEVERIN[t . . . 27 . . .
5 QVIELEGITIMfa . . . 25 . . .
G TEST AMEN '[.'.. 23 .. . sup-
7 ERFICIES . . . OTEMPVSLEGEMA[nciana . . . 12 . . .
8 RITV f. 3 .] FIDVCiEVEDATAgVNTDABVNTVRf . . . 10 . . .
9 . . 5 '. .] VSFIDVCIAELEGEMANCIANESERVA[ '. . . 10 . . .
10 su]PERFICIEMEXINCVLTOEXCOLVITEXCÖLVE[rit . . . 10 . . .
11 .2 .']TAEDIFICIVMDEPOSVITPOSVERITEIVEQVI[ . . . 10 . . .
1 2 DESIERITPERDESIERITEOTEMPOREQVOITAEASVPERFIfcies
13 COL1DESITDESIERITEAQVOFVITFVERITIVSCOLENDIDVMT [. 3
1 4 DBIENNOPROX1MOEXQVAD1ECOLEREDESIERITSERVAT V[r
15 . SERVABITVRPOSTBlENNIVMCONDVCTORESVILIClSVEEOR[um
1 6 ej AS VPERFICIESQVEPROXIMOANNOFCVLTAF VITETCOLIfdesi-
1 7 ERITCONI) VCTÜRVILIC VS VEEIVSFEÄS VPERFICIESESSEDpcit-
18 VRDENYXTIETSVPERFICTEMCVLTAMESSEEACONEGESTV . . .
19 DENVNTIATIONEMDENVNTIATVRX .'.'.' SIGALISEST '. '. '.
20 . 1TEMQVENXSEQVENTEMANNVMSIGALIAS1NTQVE . . .
2 1 AEIVSEIVSFPOSTBIENIVMCONDVCTÖRViLicVSVECOLE[reiu-
22 BETOXEQVISCONDVCTORVILICVS[veeoru]MINQVILINV[m . . .
23 FCOLOXIQVIINTRAFVILLEMAGN[esivemappa]LIESIGEHA[bit
24 ÄBVXTDOMINISAVTCONDVCT[oribusvilicisveeorumin]ASSEM [q-
25 u[ODANXISINHOMINIBVS[ . . . 13 . . .] NESOPER
20 ASNIIETINMESSEMOPferas . . . 10 . . .] EGENERIS
27 s]IXGVLASOPERASBIN[as]PR[estaredebebun]TCOLÖNI
28 INQVILINIEIVSFINTRA[ . . . 20 . . .] ANNIN
29 OMINASVACONDVCTORIBV[svilicisveeorumi]NCVSTO
30 DIASSINGVLASQV[ . . . RTI . . . 25 . . .] NENT
31 RATAMSEORSVMf . . . VM .' . . 25 . . .] SVM
32 STIPENDIARIOR[ . . . 25 . . .] MAPPA
33 LIESIGEHABITAB[ . . . 25 . . .] VASC
34 ONDVCTORIBVSVlLpcisveeorum . . . 25 . . JICVS [t
35 ODIASSERVISDOMINiq . . . 20 . . .] VEST
36 . . 4 . .]MSINGVLAR[um . . .
37
38 GRA
39 . . P par]TEM
40 QVINTAM
3
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 13
1 Vielleicht ist COLONIS RESTITVIDE[bent] zu lesen. Die Buchstaben der abgebrochenen
Ecke sind so wenig differenziert, dass mau jeden Augenblick etwas anderes zu lesen glaubt.
Zeile 1 — 4 stehen auf dem sonst freigelassenen oberen Rand des Steins.
3 SIV. Das E fehlt.
5 QVIELEGITIM[a]. Cagnat: QVIELEGEIIA. qui c legitim[a] giebt einen Sinn und passt
völlig zu den Buchstaben.
6 Cagnat: IISTRABI A.
7 Cagnat: IIMIVSIICOIA.
8 Cagnat: ISDVLIIVIDATASVNT.
14 Das D vor bicnn{i)o ist sicher. DVMT am Ende der Z. 13 kann wohl nur zu DVMT[axat]
ergänzt werden. Sollte DVMT[axa]D geschrieben worden sein? — EXQVADIE nicht ex quo
die wie Cagnat giebt.
16 ANNOF. Cagnat giebt statt F S. Beides ist möglich. Liest man ANNOS so liegt die
Emendation nahe: „ea superficies que (decem?) proximo(s) annos eulta fuit . ."
20 Statt INSEQVENTEM ist NNSEQVENTEM geschrieben.
22 Nach VILICVS würde man VEE1VSF (vgl. Z. 17; erwarten; statt dessen scheint aber minde-
stens . . . VM also [serv]um oder [eorjum vor vilicu[m] sicher zu sein; dann ist nur noch
iüfevilicus[ve'] Raum.
23 Der erste Buchstabe scheint mir ein F nicht ein E (Cagnat) zu sein. Cagnat liest Z.
22/23: [se?']r[M]m inquüinu[mv \ e; ich: eor]um inquilinu[m eins \ f{undi). *
26 ETINMESSEM. Cagnat setzt irrtümlich IN doppelt.
40 QV1NTAM ist mit Ligatur geschrieben: <W/VA Cagnat und To utain haben es nicht ge-
lesen. C. giebt IANTMI.
Toutain hat folgende Abweichungen:
5 T.: qui e lege ita(?).
6 T.: testamen[to.
11 Statt EIVEQVI liest T.: eloeavit [locaverit], was kaum wahrscheinlich ist.
13/14 dii7nta[xa]t. Aber in Zeile 14 steht sicher d nicht t.
14 ea qua die: das x in ex qua die ist deutlich, die eine Hasta durchschneidet die andere also
nicht A wie T. meint, sondern X.
18 . . ua denuntiet. — cultum eins non egis nav . . .
19/20 „Siga iis testa . . . | s itemque in sequentem annum [et si vac]at ea(?) sine quer[el]a eins
f(undi)". — quer[el]a ist sehr bestechend, passt aber nicht in den Zusammenhang besonders
nicht zu eins fundi.
22 ne quis servum inquilinu[m v]e coloni . . . [prestare cogat].
14
bezeichnet Ergänzungen zerstörter Partien ;
( ) Ergänzung von Abkürzungen, z.B. vilicisve eins f(undi), und Auslassungen.
In ( ) sind zu beseitigende Buchstaben gesetzt, z. B. fruct(uct)um.
Eraendationen sind cursiv gedruckt (ohne Klammer).
I l [Pro salujte
2 Ä]x\g. n. \[mp.] Caes. Traiani
2a totiusqufe] domus divine
3 o^]timi Germanici Pa[r]thici |: (lex) data a Licinio
4 Ma]ximo et Feliciore Aug. üb. procc. ad exemplu[m
5 leg]\s Manciane: (§1) Qui eorum [ijntra fundo villae Mag-
G na]e Variani id est Mappaliasigalis eos agros qui su-
' 7 6c]esiva sunt (excolere volunt) excolere permittitur lege Manciana
8 . . ita ut eas qui excoluerit usum proprium habe-
9 at. Ex fructibus, qui eo loco nati erunt, dominis aut
10 conductoribus vilicisve eius f(undi) partes e lege Ma-
ll nciana prestare debebuut hac coudicione : coloni
12 fructus cuiusque cultnre, quot ad area(m) deportare
13 et terere debebunt, summas de[/er]ant arbitratu
14 s]uo conductoribus vilicisve ei]ns f(undi) et si conductfo-
15 res vilici(s)ve eius f. in assem [partes colon]ica,s datur-
16 as renuntiaverint tabel[/is coloni . . .]es cavea-
17 nt eius fructus partes. qu[as prestare] debent,
18 conductores vilici(s)ve eius [/'. coZ]oni(coloui)c-
19 as partes prestare debeant. (§ 2) Qui [i]n f. villae Mag-
20 nae sive Mappaliesiga (!) villas habent habebunt
21 dominicas (dominis) eius f. aut conductoribus vilicisv[e
22 eorum in assem partes fructum et vinea(ru)m
23 ex consuetudine (legis) Manciane cuiusque gene-
24 ris habet prestare debebunt : tritici ex a-
25 ream partem tertiam, hordei ex aream
26 parte~]m. tertiam, fabe ex aream partem qu-
27 ^]tam, vinu(!) de laco partem tertiam, ol-
28 ei cojacti partem tertiam, mellis in alve-
29 is wjellaris sextarios singulos. (§ 2R) Qui supra
II 1 g]uinque alveos
2 habebit in tempore qu[o vin-
3 demia mellaria factfa crit
4 dominis aut con&i\cto[ribu$ vili-
5 cisve eius f(undi) QVI (?) in assem [partem tertiam ?
6 d. d. (§ 3) Si quis alveos examina a.[pes vasa
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 15
7 mellaria ex f(undo) villae Magne sive M-
8 appaliesige in octonarium agru[wz
9 transtulerit, quo frans aut dominis aup
10 conductoribus vilicisve eis(!) quam fiat, a . . .
11 tis exam(in)a, apes, vasa mellaria, mel qui in [tuU
12 erunt conductoribus (vilicis)v[ee]orum(ve) in assem [d. d. (§ 4) Qaae in
13 f(undo) erunt ficus aride arbor[es . . . q]ue extra pom[a-
14 rio erunt, qua pomariujm apud w/?]lam ips[am
15 sit, ut non amplius [ ] at, col[em-
16 is arbitrio suo o,o[Jere licebit nee fructu]m con[ducto-
17 ri vilicisue eius f. partes d(are) d(ebebunt)]. (§ 5) Ficeta ue[fe-
18 ra et oliveta, que ante[Aoc tempus sota sunt, iuxta?] consuetfw-
19 dinem fruetum Conducton vilicisve eius prestarfe d-
20 ebea(n)t. (§ 0) Si quod ficetum postea factum erit, eius fic(eti)
21 fruct(uct)um per continuas ficationes quinque
22 arbitrio suo e(i) qui seruerit pereipere permittitur,
23 post quintam ficationem eadem legem (!) qua s. s. est
24 conductoribus vilicisve eius (?) p(artes) d(ebebit). (§ 7) Vineas serere
25 colere loco veterum permittitur ea condicione [ut
26 ex ea satione proximis vindemis quinque fructu[s
27 earum vinearum is qui ita fuerit suo arbitro (!) per-
28 cipeat(!) itemque post quinta(m) vindemia(m) quam ita sata [fu-
29 erit fruetus partes tertias e lege Manciana conduc-
30 toribus
III 1 v[ilicisv]e eius (f.) in assem dare debe-
2 bu[w/]. (§ 8) [OJlivetnm serere colere in
3 eo loc[o] qua qi\is incultum excolu-
4 erit permittitur ea condicione u-
5 t ex ea satione eius fruetus oliveti q-
6 uid ita satum est per olivationes pro-
7 ximas decem arbitrio suo permitte-
8 re debeat item pos[l] olivationes (decem) o\e[i
9 coacti partem tertiam [c]onducto-
10 ribus vilicis eius f. d. d. (§ 9) [Q]ni inserue-
11 rit oleastra post [annos quinque par-
12 tem tertiam d. d. (§ 10) [Agri herbis eonsiti qui] in f(undo)
13 ville Magne Var[iam] s\[ve Mapp]a\ia.e (!) -
14 sige sunt erunt [praeter] agros, qui
15 vicias habent, eorum a[^r]orum fruet-
16 us conductoribus vilicis[t'e debe\xitur ; custodes e-
17 xigere debebut(!). (§ 11) Pro pecora [que i]ntra f. ville M-
18 agne(e) Mappaliesig[e p]ascentur, in pecora sin-
ll) ADOLF SCHULTEN,
19 gula aera quattu(or) conductoribus vilicisve do-
20 minorum eius f. prestare debebit. (§ 12) Si quis ex f. ville
21 Magne sive Mappaliesige fructus stantem pen-
22 dentem, maturum immaturura oaec[?7^]rit excider-
23 it, exportavcrit deportaverit CONBVSERIT N seque|n
24 tis quinque?\m\ detrimentum conductoribus vilicisve eiu[sj f. [p. d.
IV 1 Culpa si?] coloni erit, ei, cui &e[trimentu»i factum est?
2 tantum prestare ü[ebebit]. — (§ 13) [Si qui in /'. ville Mag-
3 ne sive Mappaliesig[e se-
4 verunt severint [
5 qui e legitim [
0 les tarnen [ (§ 14) .... sup-
7 erficies [ tempus(?) lege M.a,[nciana
8 RI . . . [f']iducieve data sunt dabuntu[r
9 fiduciae lege Manciane seYva,[bunt'ur] . . (§ 15) [Qui
10 s?<]perficiem ex inculto excoluit excoluerf^ ibique
11 ... aedificium deposuit posuerit (is)ve qui [coluit postea
12 desierit per(?) desierit eo tempore, quo ita ea superfifdes
13 coli desit desierit, ea quo i'uit fuerit ius colendi dumt[«^a
14 d bienno(!) proximo ex qua die colere desierit servatu[r
15 . servabitur, post biennium conductores vilici(s)ve eor^m c(olere) d(ebebunt)?
16 (§ IG) E\a, superficies, que proximo anno f. (?) culta fuit et coli [desi-
17 erit conductor vilicusve eius f. (ei, cuius) ea superficies esse &[icit~
18 ur denuntiet superficiem cultam ESSE EACONEGESTV . . .
19 denuntiationem denuntiatur . . A'. .' SIG ALISTEST
20 . itemque (i)nsequentem annum SIGALIASlNTQVE
21 . Ja eius (eius) f. post bienium(!) conductor vilicusve co[lere iu(?)-
22 beto. — (§ 17) Ne quis conductor vilicusve ejorum inquilinu[w eius
23 f . . . . (fehlt mehreres). — (§ 18) Coloni , qui intra f. ville Magn[e sive
Muppa]\iesige ha[6^-
24 abunt dominis aut conduct [oribus vilicisve cor um in] assem [q-
25 uodannis in hominibus [singulis in arati]ones ope-
26 ras n(umero) II et in messem oip[cras n. II. et in sarritiones cuiusque] generi
27 s] singulas operas binfas] \>v[estare debebunt]. — (§ 19) Colon[i
28 inquilini eius f. intra [ ] anni n-
29 omina sua conductor [Ums vilicisve eins f. edere et operas i]n custo-
30 dias singulas qu[attuo]r [pracstare debcnt ; ...... perti ?]nent
31 ratam seorsu[w seorjsnm
32 (§ 20) Stipendiarior[wm qui in f. ville Magne sive Ji]appa-
33 liesige habitab[w^ operas s]uas c-
34 onductoribus vi\[icisve eius /'. . . . .]t cus[t
35 odias servis dominicf^ ] VEST
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 17
36 . . . M singular[mM
37
38 GRA
39 [par]tem
40 quintam.
Auf der Plintbe steht unter der ersten Seitenfläche:
„h]ec lex scripta a Lurio Victore Odilonis magistro et Flavio Geminio de-
fensore; Feiice Annobalis Birzilis".
Zur Beurteilung der Ergänzungen bemerke ich , dass die Zahlen innerhalb
der Klammern, durch die ich die Zahl der zu ergänzenden Buchstaben bezeichnet
habe, für den ganzen Raum der Klammern gelten, dass also die ergänzten Buch-
staben mit in Anrechnung zu bringen sind.
Die Inschrift beginnt mit der Formel „[pro salu]te . . . Traiani" und dem
Vermerk über die Aufstellung der Inschrift. Die Entzifferung der Praescriptitm
macht grosse Schwierigkeiten , doch ist sicher der Name CAES. TRAIANI und
die Cognomina G-ERMANICI PARTHICI. Dann ist die Urkunde niedergeschrie-
ben nach dem 29. August 116, seit welchem Tage der Kaiser „Parthicus" beisst
(Dessau, inscr. lat. sei. 297) und vor dem August 117, in welchem Monat der
Kaiser starb.
Dass zwischen Germania, Parthici das sonst stets an zweiter Stelle stehende
Cognomen Bacici fehlt, ist höchst auffallend, doch ist die Lesung sicher und un-
sere Inschrift reich an Absonderlichkeiten.
Auf die Praescription folgt: „data a Licinio [Mo]ximo et Feliciore Aug. Hb.
procc. ad exemplu[m leg]is Mancianae". Zu data ist lex zu ergänzen. Gesagt wäre
also, dass zwei — PROCC ist sicher — kaiserliche Freigelassene nach einer
lex Maneiana (ad exemplum 1. M.) eine neue lex zusammengestellt haben. Durch
diesen Passus wird meine Vermutung, dass am Anfang der ara legis Hadrianae
zu lesen sei: „ . . legem infra scriptam intulit (ad) exemplum legis Hadrianacu be-
stätigt (s. Hermes 1894 p. 230).
Wie der „sermo procuratorum" der Inschrift von Ai'n Wassel einer lex Ha-
driana, so ist die Verfügung der beiden Procuratoren unserer Inschrift einer lex
Maneiana entnommen. Das ist so zu verstehen: die lex Hadriana und Maneiana
waren allgemeine Verfügungen über die Domänen (lex saltus); ihnen entnahmen
die Procuratoren des Saltus die für ihre Zwecke passenden, d.h. für die vorlie-
gende Controverse zwischen Colonen und conduetores entscheidenden Paragraphen.
Bei dem grossen Umfang des Originalstatus ist es naturgemäss, dass nicht auf
jedem fundus des Guts eine Copie der ganzen lex stand, sondern nur in beson-
deren Fällen einzelne Kapitel derselben „ad exemplum" der lex aufgestellt wurden.
Das Original der lex saltus befand sich im Archiv der kaiserlichen Domänen
in Rom, wo der Generaldirektor, der „a rationibus", seinen Sitz hatte. Eine Copie
Abbdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hiet. Kl. N. F. Band 2, a. 3 ,
18 ADOLF SCHULTEN,
davon auf Kupfer war auf der Domäne x) angeschlagen. Eine solche wird im
Dekret des Commodus erwähnt, eine andere ist als lex metalli Vipascensis erhalten.
Bei Controversen wurde nach ihr entschieden und eine Abschrift der betreffen-
den Kapitel im Bereich der Parteien aufgestellt. Die vorliegende Inschrift ist
davon das fünfte Beispiel (1. Dekret des Commodus, 2. Ära legis Hadrianae, 3. In-
schrift von Gasr Mezuar, 4. Inschrift von Ai'n Zaga ; s. Hermes 1894 p. 204 f.).
Die Urkunde giebt sich als eine lex data a procuratoribus. Schon aus der ara legis
Hadriana lernten wir dies Verfügungsrecht der procuratores saltus kennen. Es
ist von dem des Kaisers und den epistulae der procc. tractus (Dekret des Com-
modus) scharf zu scheiden. Neue Verfügungen konnte nur der kaiserliche Grund-
herr erlassen, nicht als Kaiser, sondern als dominus praediorum, wie jeder Pri-
vate seinem Eigentum eine lex geben kann.
Die beiden uns bekannten Erlasse der freigelassenen Procuratoren sind Aus-
zuge aus der lex saltiii dicta und sicherlich hat das ius dicendi legisque dandae
dieser Beamten nicht weiter gereicht.
Von den beiden Freigelassenen scheint zunächst der eine Licinius Maximus,
der andere mit blossem Cognomen Felicior zu heissen. Doch würde die Ungleich-
heit der Nomenclatur so auffallend sein, dass man das Grentile Licinio wohl auch
auf Feliciore beziehen muss. Die anderen uns bekannten procuratores saltus,
alles wie hier Freigelassene, führen nur das Cognomen (s. Momrasen a. a. 0. p. 400).
Das ist die gewöhnliche Nomenclatur der Freigelassenen. Daneben führen Freige-
lassene auch den vollen aus Praenomen. Nomen und Cognomen bestehenden Namen
oder auch zwei Cognomina in der Form: Calamus Ti. Claudii Caes. lib. Pamphi-
lianus (Dessau 1820), aber nur sehr selten Grentile und Cognomen wie hier. Als Bei-
spiele nenne ich Dessau 1669 : Aurelius Alexander und 1678 : Aurelius Symphorus.
Die lex Manciana erscheint hier zum ersten Mal. Benannt ist sie nach einem
Träger des Cognomen Mancia , welches ich im Corpus nur an folgenden Stellen
finde: CIL. 1X5107: C. Licinius C. f. Val. Mancia (Interamna), V 7601: L. Ge-
minio L. f. Cam. Manciae (Alba Pompeia). Im Bereich der Aristokratie kenne ich
nur einen Mancia, nämlich den Consul suffectus des Jahres 55, der im J. 56 lega-
tus exercitus Germaniae superioris war (Tacitus Ann. XIII 56 ; s. über ihn Proso-
pographia imp. Romani I unter ,,Curtilius"). Seinen weiteren „cursus honorum"
kennen wir nicht ; es ist sehr gut möglich, dass er später Proconsul von Afrika war
und als solcher die lex Manciana gegeben hat. Das Auftreten einer nach einem
Magistrat benannten, also nicht vom Kaiser sondern vom Volk gegebenen lex auf
dem Gebiet der kaiserlichen Domanialverwaltung erklärt sich nur, wenn man an-
nimmt, dass die lex Manciana als „lex praediis populi Romaui datau ursprünglich
auf einer zum Aerarium gehörigen Domäne stand, die dann in kaiserliches Eigen-
tum übergegangen ist. Die lex M. könnte auch eine lex data, ein statthalterlicher
1) Im Dekret des Commodus für den Saltus Burunitanus wird gesagt, dass sich die „Utterae
procuratorum" „in tabulario tractus Karthaginiensis" befinden (Mommsen, Hermes 1880, p. 388).
Was von den die lex ergänzenden litterae procc. gilt, gilt nicht von der lex selbst: sie steht „in
aeie incisa ab omuibus undique vicinis visa" (Dekret des Commodus) auf der Domäne.
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 19
Erlass sein (s. Mommsen, Staatsrecht III 309), vergleichbar der lex Pompeia
für Bithynien und Pontus , aber die Angelegenheiten ihrer Domänen wird doch
wohl die Regierung in Rom selbst geregelt haben. Die lex M. entspricht völlig
der für Sizilien geltenden lex Hieronica, d. h. der aus der Verwaltung König
Hieros übernommenen lex agraria. Andere Ordnungen der Art kenne ich nicht:
die lex agraria vom Jahre 111 v. Chr. gilt für den ganzen ager publicus , wäh-
die 1. Manciana doch wohl nur für Afrika gegeben ist. Singular ist die Benen-
nung einer lex nach dem Cognomen , wo doch sonst stets das Nomen den Ge-
setzesnamen giebt (Staatsrecht III 315).
Während auf der Domäne Villa Magna die lex Manciana gilt, finden wir so-
wohl im saltus Burunitanus als auf den fünf saltus, welche die „ara legis Ha-
drianae" nennt, die lex Hadriana. Das wird sich nur mit der Annahme erklären
lassen, dass Hadrian mit seiner lex Hadriana, die in der Zeit des Commodus
(Dekret des Commodus) und Septimius Severus (ara 1. Hadr.) auf den Domänen
galt, ein neues Domanialstatut geschaffen hat.
Ueber die Zeit der lex Manciana ist kaum etwas auszumachen. Ihr Inhalt
liefert irgendwelche Indizien nicht. Sie kann sehr wohl aus republikanischer
Zeit sein, vielleicht eine der vielen leges agrariae der zweiten Hälfte des VII.
Jahrhunderts der Stadt.
Mit Zeile 5 beginnt die Verordnung, sonderbarerweise relativisch eingeleitet: § i,
rqui eorum. . . . excolere permittitur" . Zu qui ist als Prädikat zu ergänzen etwa
„excolere vultu. Auf EOS AGROS folgt QVI SV||bc]ESIVA SVNT. Die Lesung
su[bc]esiva ist keines der geringsten Verdienste der um die Entzifferung der In-
schrift hochverdienten Herren Cagnat, Gauckler und Toutain. Subsiciva,
wofür auch sonst noch subcisiva (oder subcesiva) vorkommt *), sind in der Sprache der
Agrimensoren die „Centurienschnitzel* : das Wort stammt aus dem Schuhmacherge-
werbe und bedeutet ursprünglich „Lederschnitzel" (von subsecare) (s. Rudorff in
Schriften d. röm. Feldmesser II 390 f.). Solche Schnitzel entstehen an der Grenze der
assignierten Feldflur, da bei der krummlinigen Begrenzung derselben zwischen den
äussersten limites und dem finis unvollständige Centimen übrig bleiben. Dies ist die
eigentliche Bedeutung von subsiciva. Der Begriff ist dann übertragen worden auf
das Land, welches innerhalb einer vollen Centurie nicht assigniert wurde, weil es
unbrauchbar war. Ich möchte die eigentlichen subsiciva als s. limitationis und die
zweite Klasse als s. assignationis bezeichnen : die linea subsecans ist im ersteren
Falle die Grenze der Stadtflur, im zweiten die der assignierten Loose *). Dass das
1) subcisivorum hat die Handschrift des Feldmessercorpus R (Rostochiensis) Feldm. I p. 369,
18 in den Exzerpten aus Isidorus.
2) Die saltus sind, weil limitiert aber nicht assigniert „ager per extremitatem mensura com-
prehensus." Die Limitation des Domaniallandes ist auch sonst bezeugt (s. Feldmesser II p. 300;
Mommsen, Hermes XXVII p. 87). Die „partes quae ex Lamiano et Domit[iano salta iun]ctae
Thusdritano sunt" (Ara 1. Hadr.) sind mit den einem städtischen Territorium aus dem Territorium
der Nachbargemeinde zugefügten „praefecturae" (s. Feldm. II p. 403) zu vergleichen. Das Doma-
nialland war abgesehen von der hier fehlenden Assignation dem Colonialland völlig gleichartig.
3* 3
20
Domanialland am Bagradas centuriiert war, lehrte schon die ara legis Hadriana,
in der centuriae [finitini]ae saltus Blandiani Uden\_sis~] vorkommen (Col. II 2). Die
Zugehörigkeit der subsiciva spielt in der römischen Agrargeschichte eine grosse
Rolle. Vespasian vindicierte die subsiciva als nicht assigniertes Land dem fiscus
als dem aactor assignationis, aber Domitian gab alle italischen subcisiva den Besitzern,
vgl. Hyginus de gen. contr. (Feldm. 1 133, 9 — 13): „cum divus Vespasianus subsi-
civa omnia quae non venissent . . sibi vindicasset, . . Domitianus per totam Ita-
liam subsiciva possidentibus donavit" (vgl. Sueton, Dom. 9 : subsiciva . . . veteri-
bus 2>osscssoribus . . . concessit). Wir besitzen noch einen Brief dieses Kaisers
an die Gemeinde Falerio in Picenum, in dem er in diesem Sinne entscheidet
(Bruns fontes 6 p. 242). Durch die vorliegende Stelle wird klar, dass in der ara
1. Hadr. die „partes agrorum . . quae in centu[ms finiti?n]ia saltus Blandiani
Udenf.s isqtie] . . sunt'4 solche subsiciva waren. Dadurch wird die Ergänzung
[finitim]ia gesichert, denn die subsiciva sind unvollständige centuriae finüimae.
„inira fundo villae Mag[nae] Variani sive Mappaliasigalis" . Dies ist der volle
Name der Villa, der nur noch einmal vorkommt (III 13) ; gewöhnlich A) heisst sie
nur „villa Magna sive Mappaliesiga" 2) (oder wie hier Mappaliesigalis). Eine andere
Villa Magna kennen wir aus der Inschrift C. VIII p. 113 und den Bischofslisten.
Diese Villa Magna liegt bei Leptis Magna: Der Genetiv Variani stammt von
dem ersten Eigentümer Varius her. Villa Magna Variani ist der römische, Map-
paliesiga 3) der einheimische Name der Villa. Solche zugleich den Namen des
römischen Possessor und den punischen Lokalnamen tragende Güter kommen in
Afrika häufiger vor z. B. „Megrada villa Aniciorum" (It. Anton, p. 62 Parthey),
Miuna villa Marsi (It. Antonini p. 29 Parthey). Der Ausdruck „intra fundo
villae Magnaeu bestätigt meine Ausführungen über die Einteilung der saltus in
fundi (Grundherrsch. 105). Im saltus Horreorum bei Sitifls werden die coloni
nach den castella benannt (coloni castelli Dianensis), im saltus Massipianus nach
fundi (C. VIII 11735: coloni fundi Ver. . .). Die fundi entsprechen den pagi,
die castella den vici der Stadtflur: die ländlichen Gemeinden werden bald nach
ihrer Ortschaft bald nach deren Gebiet benannt.
Da die Domäne Villa Magna aus mehreren fundi besteht, giebt es auch
mehrere villae, vgl. I 18 : „que in f(undo) villae Magnae . . villas habent habebunt
dominicas ..." Zu jedem fundus gehört eine villa, denn die villa ist „pars fundi*
vgl. L. 15 § 2 D. 33,7: „villa autem sine ulla dubitatione pars fundi habetur."
1) Der Name steht an folgenden Stellen: I 6; 20; II 7; III 13; 18; 21; IV 2; 23; 32.
2) Es kommt auch Mappaliasiga vor: I G; 20. Dagegen steht Mappaliesiga: II 8; III 13
(mit -ae), 18, 21 ; IV 3; 23; 33. Statt des Genetivs Mappalie(a)sig(a)e steht zweimal (I 6; 20) Map-
paliasiga uud zwar an den Stellen, die auch im Innern des Wortes a (Mappaliasiga) schreiben.
Offenbar ist das zweite a dem ersten assimiliert.
3) Der erste Teil des Wortes erinnert au das bei den römischen Autoren vorkommende pa-
nische Wort mapalia = Hütten, das dem punischen magaiia (magaria) zu entsprechen scheint,
(Schröder, d. phöniz. Sprache p. 104). Der zweite Theil des Wortes siga kommt als Städte-
namen vor: so heisst z. B. die Hauptstadt des Bocchus von Mauretanien (Schröder p. 94), vgl.
den Meilenstein C. VIII 10470: POMAR(io) M. P. XXVIII SIG(am).
3
DIE LEX MAXCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 21
Auf „excolere permittituru folgt die nähere Bestimmung des ins colendi: vita
ut eas qui excoluerit usum proprium habcat."
Der Oceupant , der „cultor agri rudis1)", soll also den personlichen usus
des urbar gemachten Ackerlandes haben , d. h. Fruchtgenuss nur zum Unterhalt
nicht zum Gewinn durch Verkauf etc. Für eas (qui excoluerit) müsste eos oder
ea stehen, da sich das Relativ auf agros oder subcesiva bezieht. Vor ita ut ist
noch Raum für ein kleines Wort; ich kann es nicht finden, und sachlich wird es
nichts ausgemacht haben.
Vor dem nächsten Satz ist ein kleiner Raum freigelassen , leider nur hier,
während sonst alle Sätze ohne Absatz auf einander folgen, was das Verständnis
der Urkunde erschwert. Der folgende Satz lautet: „ex fructibus qui eo loco
nati erunt dominis aut conductoribus vilicisve eius f(undi) partes e lege Man-
ciana prestare debebunt hac condicione." Von den Früchten des umgebrochenen
Landes soll der Emphyteuta also Quoten entrichten. Wie sind diese Quoten auf-
zufassen ? Sind sie von der ganzen Ernte oder abzüglich des usus zu ver-
stehen ? Ich glaube letzteres, denn auch in der Ära legis Hadrianae sollen
Quoten nur von den zu verkaufenden Früchten geleistet werden, also „salvo usu",
s. Col. III 12: „nee alia pom(a) in divisione(m) umquam cadent qu(a)m quae ve-
nibunt a possessoribus." Die Analogie ist frappant. Was sollte auch sonst die
Zusicherung des „usus proprius," wenn derselbe sich nur auf den Anteil des
Occupanten an der Ernte bezog : dessen usus hatte er ja eo ipso. Eine Pan-
dectenstelle scheint mir meine Ansicht zu bestätigen L. 42 D. de usufruetu (7. 1) :
„si alii usus fruetus eiusdem rei legatur id pereipiat fruetuarius quod usuario
supererit." Der Fall ist ganz analog, nur dass „id quod usuario supererit" wegen
der colonia partiaria zwischen coloni und conduetor geteilt wird. Den Begriff
partes fruetuum kennen wir aus der „ara legis Hadrianae", wo bestimmt wird,
dass der Oceupant nicht bebauten Landes „tertias partes" leisten soll 2).
Zu entrichten sind die Quoten an die domini oder conduetores (resp. ihre
vilici) des fundus, innerhalb dessen „ager rudisu bebaut worden ist. Dominus
steht hier durchaus synonym mit conduetor, da der wirkliche dominus, der
Kaiser, seine Domäne nicht selbst bewirtschaftet. Die Bezeichnung der condue-
tores als „dominiu ist aus dem Codex Justin, sattsam bekannt3): die langjährige
Pacht des conduetor machte ihn zum facti sehen dominus der Domäne. Die For-
mel „dominis aut conductoribus vilicisve eius f." steht an folgenden Stellen: 114;
94); IV245), sonst wird das in der That überflüssige dominis fortgelassen. Ein-
1) „de rudibus agris" ara 1. Hadr. II 12.
2) Im Dekret des Commodus sind die „partes agraria?1 doch wohl mit Mommsen (a. a. 0.
p. 402) als „Ackerfrohnden" (opera iugave) zu fassen, da, wie Korneman n (Berl. Phil. Wochen-
schrift, 5. Juni 1897. Sp. 719) hervorhebt, im Dekret des C. nur von den Frohuden nicht von
Fruchtquoten die Rede ist. Demnach ist p. 97 meiner Schrift, „d. röm. Grundh." zu corrigieren.
3) Vgl. Kuhn, Stadt, u. bürg. Verf. d. röm. Reichs I. p. 273.
4) Statt eius f{undi) steht hier EIS, offenbar ein Fehler; vor dominis ist das dem zweiten
aut entsprechende aut hinzugefügt.
5) Dominis aut conduct[oribus vilicisve eius f.). 5
7
*J2 ADOLF SCHULTEN,
mal (III 14) kommt vor „conductoribus vilicisve dominorum eius f(undi)." Auch
hier ist der Begriff dominorum überflüssig, da der conductor natürlich conduc-
tor eines dominus ist. 1 21 ist dominis vor „aut conductoribus vilicisve eorum"'
zu supplieren. Statt „conductores vilicive eius f." kommt dreimal „conductor
vilicusve eius ta vor (IV 17; 21; 22).
Der (servus) vilicus ist wie der actor der Vertreter des conductor, der Inten-
dant. Er kommt nur vor, wo sein Herr nicht selbst auf dem Gute lebt und ist
nicht etwa ein blosser mit dem conductor zugleich wirtschaftender Beamter, denn
er wird hier genannt als Inhaber der Rechte, also als Vertreter des conductor.
Ebenso erscheint in der lex metalli Vipascensis der actor: es heisst dort „Con-
ducton socio actorive eius." Zu dem vilicus und actor, die Sklaven sind, tritt
als dritte Art von Intendanten der procurator, ein Freigelassener, hinzu. Er ist
von den beiden anderen nur graduell verschieden : was auf kleinen Betrieben
actor und vilicus sind , ist im Grossen der procurator. So werden z. B. die
kleineren Güter des Kaisers von vilici oder actores , die grösseren — wie die
afrikanischen saltus — von Procuratoren verwaltet v). Pächter haben meist keinen
Procurator sondern einen vilicus oder actor. Bekannt sind die vilici und actores
der Zollpächter der illyrischen und asiatischen Zölle-).
Der Plural conductores ist wohl so zu verstehen, dass die Domäne von einer
societas gepachtet war, was bei der Grösse des Pachtobjekts das Natürliche ist.
Der Inhalt des Satzes Zeile 11 f. ist nach meiner Herstellung folgender:
die Colonen müssen den gesammten Betrag (summas) der Ernte dem conductor
angeben (de[fer]ant), und wenn die conductores auf Grund dieser Angabe die An-
teile der coloni ([partes colon]icas) festgestellt und mitgeteilt haben (renuntiaverint),
sollen die coloni schriftlich (tabellis) sich zur Ablieferung der den conductores zu
liefernden Quoten verpflichten (caveant) und die conductores sollen ihrerseits den
coloni ihre Anteile gewähren (partes colonicas praestare debeant). Ich denke, dass
diese Interpretation der schwierigen und schlecht erhaltenen Stelle gerecht wird.
Einzuwenden wäre nur eins, dass nämlich nach meiner Auffassung die Teilung
der Früchte zwischen conductores und coloni vor der deportatio in aream, zu der
die coloni verflichtet sind (Z. 12), stattfindet und nicht, was man naturgemässer
finden könnte, in re praesenti. Aber man muss bedenken , dass die Teilung not-
wendigerweise auf die volle Ernte, d. h. auf die separierten Früchte gestellt ist,
nicht auf das perzipierte Quantum, welches vielleicht durch den Transport oder
etwaige Schäden reduziert ist, denn das Recht der conductores auf die Früchte
ist durchaus das des Grundeigentümers , der durch die Separation der Früchte
ihr Herr wird (Dernburg, Pandecten I 474). Da nun aber die coloni partiarii,
Teilpächter sind, müssen auch ihre Anteile gleich nach der Separation berechnet
werden. Als gewöhnliche Pächter würden sie freilich erst durch Perzeption in
den Besitz der Früchte gelangen. Ueber das Rechtsverhältnis dieser Colonen
1) Kaiserliche vilici und actores bei Dessau, Inscript. sei. p. 341 f.
2) Dessau, Inscr. sei. p. 3b'Ö f. actor ist griechisch ■jiQuypaxBvTris, vilicus oUovopos.
DIE LEX MAXCIAXA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄXEXORDXÜNG. 23
wird unten zu handeln sein : hier ist nur festzustellen, dass sie wie die conduc-
tores die ihnen zufallenden partes fructuum mit der Separation erwerben . also
dasselbe Recht wie jene haben, dass sie darum äusserlich mit ihnen in societas
stehen. Denn so sieht ein auf divisio fructuum zielendes Rechtsgeschäft aus.
Freilich sind sie darum nicht weniger coloni, also Pächter der conductores : das
Rechtsverhältnis des colonus partiarius ist eben äusserlich societas, innerlich locatio
condictio.
§ 1 behandelt also die divisio, die Teilung der Ernte zwischen Occupant
(colonus) und conductor. Schon die ara legis Hadriana lehrte uns den Begriff
kennen : Col. III 12 : „nee alia pom(a) in divisione(m) umquam cadent quam quae
venibunt a possessoribusa .
Den Grund der Fruchtteilung gleich nach der Separation, also „par distance",
bevor die Früchte noch geborgen sind , habe ich angegeben ; dass es so üblich
war, zeigt eine Parallele aus hadrianischer Zeit, nämlich das Edict Hadrians
über die von den attischen Oelbauern der Stadt zu verkaufenden tertiae partes
(C. I. Attic. III 1 p. 21 N. 38) : auch hier geschieht die Berechnung der Quote
„par distance" und der Bauer muss eidliche Garantie für seine Angaben leisten.
Ich bespreche nun das Einzelne : colonicae partes sind die dem Colonen zufallen-
den Quoten : wie wir unten sehen werden, meist zwei Drittel der Ernte, während
der conductor ein Drittel bekommt (tertiae partes). DATVRAS (Z. 15/16) macht
Schwierigkeiten: Es muss hier eine Corruptel vorliegen. Für conductores vilicisve
ist offenbar conductores vilieive zu emendieren, nicht etwa conductor (ibus) vilicisve,
denn vilicisve ist Assimilation an die Formel conduetoribus vilicisve, während bei
conductores kein Grund vorliegt, eine Corruptel anzunehmen.
Aus § 1 geht hervor, dass der Anbauer der subsieiva in die Rechtsstellung
des colonus partiarius eintritt, ganz wie der Occupant des „ager rudis sive per
clecem annos continuos incultus" der lex Hadriana, nur dass er nicht wie dieser
sein Recht vererben kann , also nicht Emphyteuta im vollen Sinne wird. Noch
ein Unterschied ist der, dass in der „lex Hadriana" der Emphyteuta wie der
Colone behandelt wird, während in der Domäne Villa Magna der Emphyteuta
selbst Colone ist. Auffallend ist nur, dass der Begriff colonus nicht gleich am
Anfang des Paragraphen, sondern erst mitten inne auftritt.
Uebersehen wir nun den ersten Abschnitt der Inschrift, so ist in ihm die
Rede von den Normen, die auf den Emphyteuta ,,eorum agrorum qui subeesiva sunt"
anzuwenden sind. Dieses Rodeland heisst in der lex Hadriana „ager rudis. " Ich
habe das „is qui exeoluerit" wiedergegeben mit „Emphyteuta", denn so muss
man jeden, der gegen eine Fruchtquote unbebautes Land besät oder bepflanzt,
bezeichnen. Andere Paragraphen der Inschrift (§ 6 f.) geben denn auch das
andere charakteristische Merkmal des E.: die Abgabenfreiheit für eine Reihe von
Jahren. Sie beziehen sich auf die Emphyteuse von Baumland. Offenbar hat
der Emphyteuta von Ackerland keine Zinsfreiheit für die folgenden Jahre, was
sich daraus erklärt, dass Ackerland "acht erst wie Baumpflanzungen nach Jah-
ren sondern sofort Frucht giebt. 3
24 ADOLF SCHULTEN,
Die Quoten sollen von den Früchten zu entrichten sein, welche die Colonen
zur Tenne bringen und dreschen sollen (Z. 11). Scheinbar ganz entsprechend
wird unten gesagt (Z. 24 f.) : „tritici ex aream partem tertiana etc. , aber es ist
ein Unterschied, denn die Quoten werden nach § 1 abgemessen nicht auf der
Tenne, d. h. nicht von den perzipierten Früchten, sondern gleich nach der Sepa-
ration. Die Differenz erklärt sich aus der verschiedenen Rechtsstellung der in
§ 1 und in § 2 f. behandelten Personen : in § 1 ist die Rede vom Occupanten der
subsiciva, dagegen betrifft § 2 die Inhaber einer villa, also die ordentlichen
Pächter. Der Üccupant wird Eigentümer der Früchte durch die Separation,
leistet also die Quoten von den separierten Früchten , der gewöhnliche Pächter
dagegen wird Eigentümer erst durch die Perzeption , leistet also die Quoten ex
area, d. h. nach der Perzeption.
§ 2. Zeile 18 beginnt der zweite Paragraph : er geht bis Col. II 13. Das von
ihm betroffene Rechtssubject sind „qui in f(undo) villae Magnae . . villas habent
habebunt dominicas.a Von ihnen gilt, wie folgt: „(dominis) eius f(undi) aut con-
ductoribus vüicisve eorum in assem partes fructum et vinea(ru)m ex consuetudine (legis)
Manciane cuiusque generis habet prestare debebunt: tritici ex aream partem tertiana
etc. Vor eius f. ist zweifellos dominis zu ergänzen wie das folgende aut zeigt.
Da die partes fructuum an die conductores zu leisten sind , können die Inhaber
der villae dominicae d. h. der zu jedem fundus gehörigen Höfe *) nur Colonen
oder eine ihnen gleichstehende Kategorie sein. Die conductores bewohnen also
nicht selbst die Gutshöfe, sondern überlassen sie den Colonen. Dieser Zustand
bestätigt vollständig meine Ansicht (Grundherrschaften p. 88 f.), dass die Colonen
Afterpächter der conductores also Inhaber der Domäne und die conductores
Pächter der von den Colonen zu leistenden Gefälle gewesen seien 2). Es ist klar,
dass nicht jeder eine villa dominica bewohnte — die Colonen wohnen in den
casae colonicae oder in den castella — aber jedenfalls gab es unter ihnen solche :
es müssen das die Pächter des Hoflandes der verschiedenen fundi gewesen sein,
welches hiernach der Conductor nicht selbst inne hat. Der Ausdruck „partes in
assem praestare" kam schon oben vor (Z. 14). Er bedeutet „die Quoten unver-
mindert, ohne irgend welchen Abzug leisten".
Statt cuiusque — habet würde man cuiuscunque — habet erwarten. Quisque
kommt relativisch gebraucht auch sonst vor z. B. C. IV 1937: „quisque me ad
cenam vocarit v(aleat)" und C. XIV 1736: „quisque heres meus corpus meum in
hoc sarcophago non adiecerit" ; (man vergleiche die Indices des Corpus unter
rGrammaticaa). Für VINEAM ist wohl vineairu)m zu schreiben. Aehnlich
steht Col. II 11 statt examina EXAMA. „Ex consuetudine (legis) Mancianaeu soll
1) Vgl. Columella IX praef. : „dominicas habitationes" (= villas).
2) Korneraanu führt in der oben citierten Rezension meiner Schrift dagegen an, dass die
Colonen des saltus Burunitanus sich dem Kaiser gegenüber als „rustici tili vernulae" bezeichnen,
also als Hauern des Kaisers, nicht der conductores. Aber der devote Ausdruck bezeichnet doch
nur <las Unterthunenverhältnis der kleinen Pachtbauern dem kaiserlichen Grundherrn gegenüber,
nicht das Pachtverhältnis. „ Vernulae" ist doch auch nicht wörtlich zu nehmen.
3
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 25
heissen „gemäss der Praxis der 1. M." Streng genommen i3t lex und consuctudo
ein Widerspruch.
Zu J'abae ex areamu vergleiche man L. 14 D. de alimcnt. et cib. leg. (34, 1):
„. . vel areae tuae ad frumenta ceteraque legumina exprimcnda utendi". Auf
der Tenne werden nicht allein die Halmfrüchte (frumentum) gedroschen, sondern
auch die Hülsenfrüchte (legumina) enthülst. Die beiden Gattungen gehören über-
haupt zusammen (vgl. L. 77 D. ad raun. 50, 16). Der Zusatz „ex areau bedeutet, dass
der Colone von den zum Gebrauch fertigen Früchten, nicht von dem Ruhmate-
rial, den Dritten geben soll, wie er entsprechend auch vom gekelterten Wein,
vom gepressten Oel und vom flüssigen Honig .seine partes zu leisten hat.
Dem „triticum, hordeum, faba ex areau entspricht „vinum de laco". Lacus
ist der Behälter, in den der ausgepresste Traubensaft fliesst (s. Varro r. rust. I,
54 Keil; Columella d. r. r. XII 19). OL | . . ACTI ist sicher in o\[ei cojacti
zu ergänzen : oleum cogere kommt z. B. bei Cato 64, 144 (Keil) vor. Der Honig
soll flüssig in den Honigbehältern (alvei mellarii = unten (Z. 11) „vasa mdlaria")
zur divisio gelangen. Die alvei mellarii sind nicht mit den alvei oder alvearia, den
Bienenstöcken, zu verwechseln. Von den zur Aufnahme des flüssigen Honigs die-
nenden alvei handelt Columella IX 15 : „deinde ubi liqaatum mel in subiectum alveum
defluxit. ..." „In alveis mellaris" ist dem „ex area" und „de law correlat, und
bezeichnet die Art der Lieferung wie jene Zusätze. Diese Auslegung erfordert
die Analogie , ausserdem sind die alvei mellarii kein Maass. Beim Honig wird
also nicht eine „pars quotau sondern ein „quantum" geleistet, nämlich ein sex-
tarius pro Gefäss. Diese Anomalie erklärt sich wohl daraus, dass man bequemer
aus jedem Honigtopf einen sextarius abmessen als die ganze Honigmenge in
partes teilen konnte. Der Fall ist lehrreich, denn er zeigt, dass die Grenze
zwischen Pacht gegen merces und Teilpacht (colonia partiaria) da, wo die merces
in einem Fixum an Früchten statt an Geld zu leisten ist, sehr unbestimmt ist1).
Diese Normirung der Honigleistung steht thatsächlich in der Mitte zwischen
einem bestimmten Quantum und einem bestimmten Quotum : Die Quote nähert
sich dem Quantum dadurch, dass sie als Quantum, nämlich so viele Sextare als
Töpfe voll werden, angegeben ist, sie bleibt Quote, weil jeder Topf einen Teil
der ganzen Ernte darstellt. Unterscheidbar ist Quantum und Quotum stets da-
durch, dass das Quantum schon vor, das Quotum erst nach der Ernte feststeht.
An die Angabe der vom Honig zu entrichtenden partes schliesst sich ein
Zusatz an: „qui supra quinque alveos habebit conduetoribas . . d(are) d(ebe-
bit).u In Col. II Zeile 5 muss hinter ..in as8emu die Angabe der partes ge-
standen haben wie sonst immer. Es kann in der Zusatzbestimmung wohl nur
gestanden haben, dass, wer mehr als fünf alvei — das heisst doch wohl auch
hier Honiggefässe — nach der Ernte (vindemia meüaria, s. Columella IX 15)
besitzt, davon so und so viel partes entrichten soll — während die vor-
stehenden Colonen , also wer weniger als fünf alvei hat, pro alveus einen Sextar
1) Ueber die Identifizierung des rechtlichen Charakters von pars qnota und p. quanta
s. W aaser, col. part. p. 24.
Abhandlgn. d. K. Ges. d. Wisa. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 3. 4 3
7 *
20 ADOLF SCHULTEN,
abzugeben baben. Qu[o vin]demia mellaria fact[a erit] nicbt fue[n£] ist * zu lesen.
J las ist aucb sachlich besser, da die Zeit nach der Ernte mit facta erit schärfer
bezeichnet ist als mit fuerit. Alvei müssen auch hier die Honigtöpfe sein , weil
es sieb um die fruetus apium, nicbt um den Bestand an Bienenkörben, die sonst
aucb alvei beissen, bandelt 1). Die bei einer Ernte von mehr als fünf alvei zu lei-
stenden partes werden wohl tertiae partes , d. h. die normale Quote gewesen sein.
Sie kam offenbar in Anwendung, wenn die Ernte erheblich mehr betrug, als der
Colon zum eigenen Usus gebrauchte: ein Sextar pro alveus müsste demnach eine
geringere Quote als ein Drittel sein. Leider wissen wir nicht, wie viele Sextare
ein alveus enthielt.
Was QVI in Z. 5 (Col. II) ist, weiss ich nicbt.
Man kann kaum zweifeln, dass „in tempore quo vindemia mellaria fact[a erit]0,
zu „alveos habebitu und nicbt zu ,,dare debebit" gehört.
§ 3. Zeile 6 beginnt ein neuer, der dritte Paragraph.
Aucb er betrifft die Bienenkultur. Die Rede ist von solchen Colonen . die
in unrechtlicher Absiebt — „quo fraus conduetoribus fiat'1 — Bienenschwärme und
zur Honigbereitung gehörige Geräte von dem fundus entfernen. Da diese Dinge
zum „instrumentum fundiu gehören2), schädigt ihre Entziehung und damit die
ihrer Früchte den conduetor. Die „alveiu sind, da vasa mellaria nachber genannt
werden, diesmal nicht die obengenannten alvei mellarii, sondern die alvearia, die
Bienenkörbe. Aus dem fundus villae Magnae bringen die Colonen die Bienen
und das Gerät „in ootonarium agrum" (Z. 8). Was ist das für eine Kategorie
von Grundstücken? Der Zusammenhang zeigt, dass die Colonen die Bienen dort-
hin bringen, um sich der Leistung der partes zu entziehen. Der oct. ager muss
also ausserhalb des fundus villae Magnae, ausserhalb des Bereiches der conduc-
tores liegen. Ortonarius kann alles mögliche heissen, je nach dem zu octoni zu-
gehörigen Nomen : octonaria ftstula z. B. (Frontin de aquaed. 28, 42) ist ein
Wasserrohr von acht digiti Umfang. Unter den nomina agrorum der Feldmesser
(I p. 24*5) kommt oct. ager nicht vor.
Im Nachsatz stellt, dass die Colonen im Falle doloser Entfernung der Bienen
etc. „conduetoribus . . in assem [. . . partes d. d.]a So ist der Rest sicher zu er-
gänzen, aber die Modifikation dieser Leistung wegen des begangenen dolus ist
mir nicht gelungen herzustellen, da ich nicht weiss, was zwischen fiat a. . und . . tis
cxam{in)a gestanden haben kann. Vielleicht war gesagt , dass im Falle einer
solchen Defraudation die ganzen „in octonarium agrum" deportierten Objecte con-
fisziert werden sollen. Man könnte auch A[b ül]is vermuten und annehmen, dass
wie so oft statt des Ablativs examinibus, apibus etc. der Accusativ gesetzt sei.
Dass die Colonen auch von den entwendeten fruetus Quoten leisten sollen, war
eine sehr natürliche Bestimmung. Freilich würde man vor „ab illisu etiam erwarten.
1) Toutain fasst aheus stets als Bienenkorb („ruebe"): „pour le miel en rnebes" ; „ceux qui
anront pius de <.inq ruches".
2) L. 10 Ü. de instrueto et instrumenta legato (33,7): si reditus etiam ex melle constat, alvei
ajje.sque continentur (seil, instrumento j'undi).
DIE LEX MAXn.VN'A, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENOBDNÜNG. 27
Der vierte Paragraph (Z. 12 — 17) enthält Bestimmungen über ^ßeus (nahte ar- § 4.
boresly. Das sind doch wohl dürre, oder nicht mehr ganz fruchtbare Feigenbäume
und nicht etwa solche Feigenbäume, deren Früchte getrocknet werden, denn arbores
fici sind Bäume, die Feigen tragen, „aridae arbores ficv' würden also Bäume, die
trockene Feigen tragen, sein, welche allein mögliche Interpretation auch Herrn
Toutain, der „figues seches provenant d'arbres . ." übersetzt, nicht gefallen
wird. Freilich trägt auch ein dürrer Baum (arida arhor) nach dem Sprichwort
keine Früchte, aber aridus braucht nicht zu scharf genommen zu werden. Hinter
arbores ist wohl nicht „et oleae" zu ergänzen (obwohl im folgenden Paragraphen
Feigen- und Oelbäume zusammen auftreten), sondern etwa [aliaevc arbores].
Die betreffenden Bäume scheinen ausserhalb des Obstgartens {extra pomario)
gestanden zu haben.
Der Relativsatz „qua pomarium . . ." wird eine nähere Bestimmung des extra
enthalten haben, etwa die Angabe der passus, welche das pomarium von der villa
entfernt war. Offenbar sollen von solchen entfernt von der villa gelegenen Pflan-
zungen geringere Leistungen gegeben werden , wie ja auch in der Constitution
rde omni agro desertou (Cod. 11, 59) „agri desertta und „lange positi" zusammen
genannt werden (L. 8). Auf solche entlegenen Kulturen , deren Bewirtschaftung
vom Hofe aus lästig war, wurden naturgemäss emphyteutische Bestimmungen an-
gewendet wie auf das Oedland , denn überall da setzt die Emphyteuse ein , wo
der Inhaber der Villa das Land liegen lässt. Daraus folgt doch wohl, dasa von
diesen Bäumen keine Quoten zu entrichten waren. Etwas anderes — etwa dass
(wie im folgenden Paragraphen steht), die Colonen während einiger Jahre die
ganze Ernte haben und erst dann partes leisten sollen — kann im Nachsatz
nicht gestanden haben — , denn für eine solche Zeitbestimmung ist in den Lücken
kein Raum. Man kann nur ergänzen: „col[ow]is arbitrio suo co[lere licebit nee
fructuu]m Conducton vilicisue eius f. parj/es d(arc) d(ebebunt)u.
Für Z. 14 liegt die Herstellung nahe : „qua pomariu[wj extra ©tTjlam ipsfam] sit".
Der folgende Paragraph bestimmt über die von vor oder nach Erlass der § :>.
neuen Ordnung gepflanzten Oel- und Feigenbäumen zu leistenden Abgaben. Vostea
und ante [hanc legem?'] kann nur auf die neue Ordnung bezogen werden.
Zwischen „oliveta quae ante" und „consuetudinem" ist etwa zu supplieren
[hanc legem sata sunt iuxta]. Zu fructu(u)m muss partes suppliert werden. Zu
consuetudinem ist zu vergleichen oben 123: „partes fruetum ... ex consuetudine
Manciane . . prestare debebunt".
Die Anordnung, dass für alte Bestände von Feigenbäumen und Oliven die
bisher üblichen Normen gelten sollen, ist an sich völlig klar, scheint alter über-
flüssig zu sein, da schon oben (§ 2) von den partes olei , welche die Inhaber der
villac ex consuetudine legis M. leisten sollen, gehandelt ist. Die „oliveta et ficeta
partem" müssen deshalb entweder nicht im Bereich jener villae gelegen gewesen sein.
1) arhor fici (wie pecus ovium) oft bei den Scriptores rei rast.
4*
28 ADOLF SC nüLTEN,
oder der Satz ist überflüssig und nur Einleitung zum folgenden, der Im Gegen-
satz zu den alten Beständen auf dem Gebiet der Villa von Neupflanzungen handelt.
§ 6. Der folgende Paragraph (§ 6) schliesst sich unmittelbar an den vorstehenden
an und bestimmt, dass von später (postea) , d.h. nach Publikation der Urkunde
angelegten Feigenpflanzungen — im Gegensatz zu den ficeta vetera , den bereits
vorhandenen — der Colone während der ersten fünf Feigenernten (ficdtiones) die
Früchte selbst behalten und erst dann Quoten leisten soll. Hinter arhitrio mo
lese ich EOQVISERVERIT ; man würde erwarten „ei qui severit". Z. 27 wird
der Pflanzer bezeichnet mit „is qui ita fuerit", was ebenso unverständlich, aber
sicher überliefert ist.
Neu ist der Ausdruck ficatio für Feigenernte, wogegen olivalio (III 6) durch
eine Glosse *) belegt ist.
Dieser Paragraph ist unzweifelhaft eine Bestimmung über die Emphyteuse,
deren charakteristische Merkmale das serere ((pvrsvstv) und die mehrjährige Frei-
heit vom Pachtzins sind. Die beiden vorstehenden Paragraphen (4 und 5) sind
nur der Ordnung der Emphyteuse vorausgeschickte Normen für unbrauchbares
Baumland. Fünf Jahre Vollgenuss der Früchte wird auch in der bekannten In-
schrift von Thisbe -) dem xctrcdaßcjv (= oecupator agri inculti) garantiert. Schon
oben im ersten Paragraphen unserer Inschrift fanden wir Emphyteuse und zwar
bei Umwandlung von „subsieiva" in Ackerland, aber ohne andere Angaben als:
1) „agros qui su[bc]esiva sunt excolere permittitur", 2) „usum habeat", 3) ..partes
e. 1. Manciana dare debebit". Dass dort von dem bezeichnendsten Merkmal der
Emphyteuse, dem Erlass des Pachtzinses für mehrere Jahrgänge keine Spur ist,
habe ich bereits dadurch erklärt, dass für den sich sofort rentierenden Getreide-
bau keine mehrjährige Abgabenfreiheit am Platze war.
§ 7—9. Um gleich die folgenden, ebenfalls die Emphyteuse behandelnden Paragraphen
heranzuziehen, so wiederholt § 7 die Normen des § 6 für Wein- und § 8 für Oli-
ven-Anpflanzungen; nur sind letztere statt für fünf, für zehn Jahre zinsfrei.
§ 9 bestimmt , dass , wer wilde Olivenbäume (oleastri) pfropft, tertiae partes nach
fünf Jahren — also wie bei Feigen- und Weinanpflanzungen — geben soll.
Diese Normen stimmen in frappanter Weise mit denen der „lex Hadriana
de rudibus agris" (Hermes 1894 p. 203 f.) überein 3). Auch nach der lex Ha-
driana sind die Oliven 10 Jahre frei; dagegen die anderen Bäume (poma) nur
sieben Jahre, während nach der lex Manciana Feigen- und Weinpflanzungen nur
fünf Jahre zinsfrei sind. Die fünfjährige Freiheit vom Pachtzins kommt wohl
von der bei locatio conduetio üblichen fünfjährigen Pachtzeit, dem quinquennium
her. Dass für Olivenpflanzungen die doppelte Zeit Zinsfreiheit gegeben wird,
1) Glossae ed. Goetz II p. 224: „iXaionoiiu. olivatio".
2) Ditteu berger im Ind. lect. von Halle 1d91/1892.
3) „de oleis quas quisq[ue e possessojribus posuerit aut oleastris, [quas in sejruerit, captornm
fruetum nu[lla pars] decem proximis annis exigat[ur] set nee de pomis septem annis proximis. . .
. . . quas partes aridas t'ructum quisque debebit dare eas proximo quiuquennio ei dabit, in ruius
conduetione a^r(um) oecupaverit, post it tempus rationi[bus]".
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 29
möchte ich damit erklären , dass die römischen Landwirte nur auf jedes zweite
Jahr eine gute Olivenernte rechneten, s. Columella V 8 : „nam quamvis non con-
tinuis annis, sed fere altero quoque (olea) fructum afferat — u.
Die nach Ablauf der fünf (zehn) Jahre zu leistende Quote ist ein Drittel,
wie ja auch der Inhaber einer „villa dominica" von Weizen, Gerste, Bohnen,
Wein und üel tertiae partes zu geben hat (I 24 f.).
Der folgende (zehnte) Paragraph handelt offenbar von den mit Futterkräutern § lö«
(pabulum) bestellten Aeckern. Das geht 1) aus der Erwähnung der Wicken
(viciae) , 2) daraus hervor, dass im anschliessenden Paragraphen von dem für
Viehweide im fundus villae Magnae zu entrichtenden Weidegeld gehandelt wird-
Hierzu kommt die Negative, dass das mit Getreide bestellte Land oben behan-
delt ist (I 24). Da alle Futterkräuter an die conductores abzuliefern sind und
für die Viehweide ein Weidegeld zu zahlen ist, erhellt, dass das Weideland Regal
der conductores war. Es war offenbar Prinzip der conductores, die viel Arbeit
erfordernden Betriebe, also die Getreide- und Baumkultur, zu verpachten, dagegen
die extensiven Wirtschaftsarten, die Viehzucht und den dazu gehörenden Bau
der Futterkräuter in eigener Regie zu behalten. Auch dies zeigt, dass die con-
ductores , ebenso wie die „Possidenti" des modernen Italien , keine Landwirte,
sondern Kapitalisten sind, bedacht, ihr Kapital gegen feste, wenn auch vielleicht
kleine Rente arbeiten zu lassen und die landwirtschaftliche Arbeit auf die After-
pächter abzuwälzen.
In Col.IIIZ. 16 hat sicher gestanden VILICISV[e debeJNTVR und nicht, wie
Cagnat ergänzt, VILICISV[e eius f.]. NTVR ist deutlich zuerkennen. Auch
ist „fruchts condudoribus . . custodes exigere debebunt" sprachlich unzulässig : es
müsste heissen „pro condudoribus u . Ferner folgt auf den Dativ „condudoribus
vilicisve" stets der Begriff deberc. Warum sind aber die Wicken ausgenommen ?
ich denke, weil, wie der folgende Paragraph zeigt, auch die Colonen Vieh haben,
also Futterung für dasselbe bedürfen.
Die custodes sind vom conductor zur Ueberwachung der Ernte und richtigen
Ablieferung der Leistungen angestellte Leute. Solche stellt auch Plinius — nach
der berühmten Stelle epist. IX 27 x) — an, um die richtige Leistung der Frucht-
quoten zu überwachen. Das Amt des custos ist das ..exigere fructus". Lnten
(§ 19) erscheinen die custodiae unter den operac der gutsherrlichen Leute.
Wie sich § 10 mit den Futterkräutern, so beschäftigt sich § 11 mit dem Vieh. § 11.
welches innerhalb der Domäne weidet2). Für jedes Stück sollen vier As3), also
ein Sesterz Weidegebühr an die conductores als Inhaber der Weide (s. o.) zu
1) medendi una ratio si non nnmmo sed partibus locem ac deinde ex meis aliquos operis
exactores custodes fructibus ponam.
2) Es steht da „peeora [quae . . . p]ascenturu, nicht „pecora [quae colouus] pascit", obwohl
Toutain übersetzt „Quant aux troupeaux que Ton fera paitre".
8) AERA QVATTVS ist natürlich in „aera qttattuor* zu emendieren. Toutain übersetzt
statt dessen: „les colons devront payer pour chaque tete de betail la redevance due aux locataires"
und liest : quae ius (est).
30 ADOLF SCHULTEN,
entrichten sein. Der Begriff der scriptura, des Weidezinses, ist aus der lex agraria
vom Jahre 111 v. Chr. wohl bekannt (s. Zeile 19: „. . proque scriptura pecoris'4);
doch haben wir andere Angaben über seinen Betrag nicht. Vier As = 1 Sesterz
ist wenig genug und wohl nur der übliche Recognitionsschilling, wie er bei dem
die Schenkung involvierenden Scheinverkauf vorkommt. Ich verstehe die beiden
Paragraphen so: Dafür, dass die Colonen alle Futterkräuter an die conduetores
ablieferten, hatten sie das Recht der Viehweide 1).
§ 12. Der folgende § 12 handelt von solchen, die auf der Domäne Villa Magna
hängende (Baum-) oder stehende (Feld-)Früchte. einerlei ob reife oder unreife,
abschneiden (caedere. excidere) und ausführen (exportare, deportare). Der Be-
griff detrimentum in Z. 24 zeigt, dass bestimmt wurde, wer den Schaden zu tra-
gen habe.
Betrachten wir zunächst die Behandlung eines solchen Falles in den Rechts-
quellen, um mit Hülfe der Analogie das Dunkel dieses Paragraphen zu erhellen,
so gilt den Juristen Wegnahme stehender oder hängender, also noch nicht per-
cipierter Früchte als damnum und wird lege Aquilia de damno belangt; vgl.
L. 27 § 25 D. ad 1. Aq. (9. 2) : si olivam immaturam decerpserit vel segetem de-
secuerit immaturam vel vineas crudas Aquilia tenebitur . . . sed si collecta haec
intereeperit, furti tenetur" '-).
Die Klage hat sowohl der Pächter als der Eigentümer, vgl. L. 27 § 14 cit. :
„ . . si lolium aut avenam in segetem alienam inieceris non solum quod vi aut
clam dominum posse agere vel, si locatus fundus sit, colonum sed et in factum
agendum et si colonus eam exereuit, cavere eum debere amplius non agi, scilicet
ne dominus amplius inquietet". Die Klage ging auf „quanti ea res erit in die-
bus triginta proximis", vgl. L. 27 § 5 cit. : „tertio autem capite ait eadem lex
Aquilia : ceterarum rerum praeter hominem et peeudem occisos si quis alteri dam-
num faxit quod usserit, fregerit. ruperit iniuria quanti ea res erit ..." etc.
Wenn die Klage nun nicht zum Ziele führt, so erhebt sich die Frage, ob der
Colone vom Gutsherrn — oder hier dem conduetor, der ja domini vicem ist —
Entschädigung beanspruchen kann, wie sie ihm wegen vis maior zusteht. Die
Pandektenjuristen entscheiden zu Gunsten des wirtschaftlich Schwachen, des Co-
lonen, wie aus folgenden Stellen folgt: L. 9 § 4 D. locati condueti (19.2): „si ca-
pitis latrones citra tuam fraudem abegisse probari potest iudicio locati casum
praestare non cogeris atque temporis, quod insecutum est, mercedes ut indebitas
reeiperabis" ; ähnlich L. 15 § 2 cit. : „idemque (damnum domiui futurum) dicen-
1) Freie Viehtrift wird auch in der p. 38 abgedruckten Stelle aus Dio von Prtisa dem Emphyteuta
garantiert. Eine höchst interessante, auf Viehweide bezügliche Inschrift ist in Hcnchir Sguigga (s. C.
VIII 819) in der Nähe von Zaguän (Tunisie) gefunden worden, s. Rev. Arch. 1894 p. 413 (aus Bull. arch.
du l'omite 1893 p. 231). Sie enthält eine Beschwerde, welche Possessoren im Gemeinderat darüber
führen, d;iss ihre Aecker durch fremdes Vieh geschädigt würden. Als Anlage wird ein kaiserliches
Rescript mitgeteilt. Leider ist die Inschrift augenblicklich nicht aufzufinden (Mitteilung von
Gauckler), sodass eine genaue Revision mit Hülfe eines Abklatsches noch aussteht.
2) Zum furtum von Früchten vgl. L. 83 § 1 1). de furtis (47. 2).
DIE LEX MANTIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 31
dum si exercitius praeteriens per lasciviara aliquid abstaut". Dagegen vertritt
der Codex Iustinianus das Recht des Verpächters: L. 1 C. de locato et cond.
(4.65); „dominus horreorum periculum vis maioris vel efFracturam latronum con-
ductori praestare non cogitur" und L. 12 cit. : ..damnum, quod per adgressuram
latronum in possessionibus locatis rei tuae illatum esse proponis, a domina earun-
dem possessionum . . sarciri nulia ratione desideras".
Im vorliegenden Paragraphen war sicherlich zunächst die Rede von dem
praestare deberc des Schadenstifters, denn in der ganzen Inschrift wird von der
Leistung, welche das Subject des mit si quis oder qui beginnenden Satzes schul-
det, gehandelt. Dem „si quis . . . exciderit" etc. könnte als Nachsatz a priori
„tantum praestare d[cbebit]u (Col.IV2), was ja völlig zu der oben besprochenen
Rechtspraxis passt , entsprechen, aber „conductoribus vilicisve eiu[s] f[undi)a (III
24) und coloni (IV 1) kann nicht wohl im selben Satze gestanden haben — denn
das ergäbe „conductoribus . . coloni praestare d[ebent]u, was sinnlos ist, da der
Colone doch zunächst selbst von dem damnum betroffen wird ; auch ist die Wort-
stellung unerhört : es heisst stets vcoloni conductoribus p. d.u . Mir scheint es
unzweifelhaft, dass hinter „conductoribus vilicisve eiu[s] f.u wie auch sonst stets
„praestare debebit* gestanden hat. Die beiden Buchstaben P. D. (s. II 24) müssen
wie V[s] F. auf dem unteren Rande gestanden haben. Nur wenn der Schreiber
noch das Satzende auf die Seite bekommen wollte , versteht man , dass er die
letzten Buchstaben, also VS.F.P.D auf den Sockel schrieb.
Es fragt sich nun, was der Schadenstifter zu prästieren hat. Am Ende der
Zeile steht SEQVE ; vor detrimenti ist ENII sicher, ich möchte also lesen SEQVEN-
TIS QVINQVENII oder, da vor ENII eine grade Hasta steht, die zu keinem V
zu passen scheint. BIENII. Dann würde der Beschädiger also den aus der Beschä-
digung entstehenden Verlust für die folgenden zwei (?) Jahre zu ersetzen haben,
das heisst für die direct beschädigte Ernte und die folgende, die ja auch in
dubio durch gewaltsames Abreissen der Früchte geschädigt ist. Den folgenden
Satz möchte ich so herstellen: „{culpa si] coloni erit ei cui de[irimentum factum
erit] tan tum praestare d[ebebit]u , das heisst: wenn ein Colone sich des Feld-
frevels schuldig gemacht hat, so soll er dem Beschädigten, d. h. dem anderen Co-
lonen, den Verlust ersetzen1).
Der Fall würde also processualisch so liegen, dass ein fremder Schadenstifter
den conductores, ein Colone dem geschädigten Colonen selbst den Schaden zu er-
setzen hat. Ich hoffe, dass diese Construction befriedigt: es scheint mir völlig
normal, dass die Colonen sich für Beschädigungen gegenseitig haften, dagegen
fremde Beschädiger den conductores als den Vertretern der Domäne nach aussen.
1) Die Uebersetzung Toutains umgeht ilie Schwierigkeiten: „Si quelqu'un coupe , detruit
. . . quelque recolte sur pied ou eu branches müre ou non müre, et si quelque prejudice est causa
de ce fait aux locataires ou aux regisseurs [dudit fundus] . . . . ä celui qui aura souffert ce pre-
judice l'auteur devra payer une somrae equivalente au prejudice cause".
32 ADOLF SCHULTEN,
13. Col. IV Zeile 2 beginnt ein neuer Paragraph (13). Von seinem Inhalt ist
jedoch nur soviel erhalten, dass man sagen kann, es ist in ihm von severe {[se]-
verunt severint: Zeile 4) die Rede. In Z. 7 erscheint der Begriff superficies, der
im Folgenden öfter genannt wird, zuerst. Man wird also annehmen dürfen, dass
14. mindestens in Z. (> der auf die superficies bezügliche Paragraph (14) begonnen
hat. Der Anfang ist jedoch schlecht erhalten : man sieht nur, dass von Grund-
stücken — superficies ist hier, wie das Folgende zeigt, die Bodenfläche, nicht,
was es technisch bedeutet, das Gebäude superficiarischen Rechts — „quae fiduciae
data sunt dabuntur" (Z. 8) gehandelt und bestimmt wird, dass eine solche fiducia-
risch verpfändete superficies auf Grund der lex Manciana in diesem Rechtszustand
bleiben soll (. . fiduciae lege Manciana serva[buntur]).
15. Erst von Zeile 10 an wird der Zusammenhang deutlich. Mit ,,[is qui sup]er-
ficiem ex inqulto excoluit . .* wird ein neuer Paragraph (15) beginnen , denn im
Folgenden kommt der die vorstehenden Zeilen beherrschende Begriff der „fiduciae
data superficies" nicht mehr vor, sondern es ist von agri derelicti die Rede. Der
§ 15 ist vollkommen klar: wenn jemand eine unbestellt gelassene Bodenfläche in
Kultur genommen {ex inculto excoluit) oder ein Gebäude angelegt hat {aedificium
deposuit) — doch wohl zu landwirtschaftlichen Zwecken — dann aber die Ex-
ploitierung eingestellt hat, so soll er noch auf zwei Jahre hinaus das Recht des
Anbaus behalten [ins colendi servatur) , dann aber soll es an die conductores
übergehen. Das zu conductores gehörige Verbum ist leider nicht erhalten , doch
kann dem Sinn nach nur „conductores vilici(s)ve [id ius habeant]" suppliert werden.
Wie bei der lex Hadriana de rudibus agris stehen wir auch hier vor dem
Fall , die Normen des Domanialstatuts in den kaiserlichen Constitutionen des
IV. Jahrhunderts wiederzufinden.
Der vorliegende Paragraph gleicht sehr der L. 8 C. de omni agro deserto
(11. 59), einer Constitution der Kaiser Valentinianus Theodosius und Arcadius (388
— 392) : „qui agros domino cessante desertos vel longe positos vel in finitimis
ad privatum pariter publicumque compendium excolere festinat, voluntati suae no-
strum noverit adesse responsum : ita tarnen, ut, si vacanti ac destituto solo novus
cultor insederit, ac vetus dominus intra biennium eadem ad suum ius voluerit re-
vocare, restitutis primitus quae expensa constiterit facultatem loci propra con-
sequatur. Nam si biennii fuerit tempus emensum, omni possessionis et dominii
carebit iure qui siluit".
Nur in einem Punkte differieren die beiden Fälle : in der Constitution ist
von bereits bebautem , aber vom einstigen Bebauer verlassenem Land die Rede,
während der Paragraph der Inschrift sich auf terra vergine (ager rudis) bezieht,
die jemand in Kultur genommen, dann aber wieder liegen gelassen hat. Dem-
entsprechend handelt es sich in jenem Fall um das Recht des ersten und des
zweiten Bebauers , in diesem Fall um das Recht des ersten Bebauers und des
conductor. Man könnte geneigt sein, den vorliegenden Paragraphen mit der Con-
stitution in diesem Differenzpunkte auszugleichen und anzunehmen , auch hier
würde ein erster und zweiter cidtor unterschieden. Das geht jedoch nicht, denn
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 33
sonst müsste am Schlüsse stehen: „ius colendi a conductoribus veteri cultori serva-
bituru : es ist aber für einen Nachsatz des Inhalts, dass der conductor den zwei-
ten Bebauer in sein Recht einsetzen werde , wenn sich innerhalb zweier Jahre
der erste nicht gemeldet haben sollte, kein Raum; vielmehr kann conductores
vilici(s)ve . . . nur durch [id ius habeant] dahin ergänzt werden, dass bei wieder
eingestellter Possession das Land des Possidenten an den Conductor fallen soll.
In der ara legis Hadrianae wird die Occupation von „ager per decem annos
incultus" freigegeben , da solches Land dem ager rudis gleich galt. Es ist be-
merkenswert, dass die spätere Gesetzgebung wieder auf die strenge Praxis der
lex Manciana zurückgeht, offenbar hatte sich gezeigt, dass die zehnjährige Frist
zu lang war. Durch die Festsetzung des biennium wird die Pflicht des Bebauers
accentuirt, während beim decennium nur die Verjährung in Frage kommt. Ich
möchte sagen, dass im Falle des Biennium der Bebauer für culpa levis, in dem
des Decennium für culpa lata einstehen muss.
In Z. 11 muss für EIVE isve gelesen werden, denn Zeile 11/12 muss gestan-
den haben : [is]ve qui [coluit postea] desierit . .
Was in dem Wort PER (Z. 12) zwischen dem ersten und dem zweiten de-
sierit steckt, weiss ich nicht1). Zu eo tempore (Z. 12) ist ex zu supplieren. In
Z. 14 wird noch einmal der Zeitpunkt, mit dem das ius colendi verfällt, angegeben:
von solchen Nachlässigkeiten strotzt die Urkunde.
Der folgende Satz (Zeile 16) scheint zunächst nur die nähere Ausführung § 16.
des vorhergehenden zu geben, denn soviel ich sehe, stand in ihm etwa Folgendes :
„Wenn ein Grundstück im letzten Jahre {proxumo anno) bebaut, dann aber liegen
gelassen wurde, so soll der conductor dem Besitzer ((«, cuius) ea superficies
esse d[i«Y]ur) ansagen, sein Grundstück habe einen neuen Bebauer gefunden (denun-
tiet superficiem cultam esse) ; diese Denuntiation soll er im nächsten Jahre wieder-
holen ; wenn auch dann der ehemalige Besitzer noch nicht reagiert, soll der con-
ductor dem Occupanten das Grundstück übergeben (cole[re iu]beto)u.
Dieser Satz schliesst sich also freilich unmittelbar an den vorhergehenden
an , ist aber doch nicht etwa eine Fortsetzung desselben , was abgesehen von
dem oben Angeführten schon aus der Unmöglichkeit, „conductores vUici(s)ve" in
Zeile 15 und „conductor vilicusve" in Zeile 17 in einen Satz zu bringen , hervor-
geht. Der Satz ist vielmehr erstens dadurch vom vorigen verschieden, dass er
sich nicht auf Rodeland (ager rudis) sondern wie die eben citierte Constitution
und der Paragraph der lex Hadriana auf seit längerer Zeit bebautes Land bezieht
und zweitens dadurch , dass , wenn dasselbe unbebaut gelassen wird , der con-
ductor zwei Jahre hindurch dem Inhaber die Occupation denuntiieren muss. wäh-
rend der ager rudis qui coli desiit nach zwei Jahren ohne vorherige Denuntiation
dem conductor anheimfällt nach dem Satze : „dies interpellat pro nomine". Der
Emphyteuta ist also prozessualisch vor dem gewöhnlichen cidtor benachteiligt:
mit Recht, denn Besitz geht über Occupation.
1) To uta in giebt es durch „completemeut" wieder, aber per kommt nicht so absolut vor.
Abhdlgn. d. K. Gea. d. Wiea. zu Göttingen. Phü.-hist. Kl. N. F. Band 2, a. 5
3
34 ADOLF SCHULTEN,
§ 18. Mit Zeile 23 (coloni . .) beginnt ein neuer Paragraph, der von den operae, den
Felddiensten der Colonen handelt. Zwischen diesem und dem eben besprochenen
Paragraphen steht aber noch ein mit: „Ne quis conductor vilicusve . . ." beginnen-
(§17?) der Satz, der unmöglich mit dem folgenden zusammenhängen kann: es genügt
darauf hinzuweisen, dass die Nennung der Villa Magna stets den neuen Para-
graphen bezeichnet1). Cagnat liest hinter vilicusve: SERVVMINQVILINVMVE.
In der That ist ... M IN • VILINV . . . lesbar. Ich möchte aber statt „vili-
cusve [servu]mu : „vilicusve [eorwjm" lesen; servum ist durchaus unsicher. Ferner
ist der letzte Buchstabe nicht E sondern F : [v]e ist also falsch und eher . . in-
quilinu[m eius] f(undi) zu lesen. Auch hat in dem Rest der Zeile mehr als MV
gestanden : MEIVS füllt den Raum gut aus. Welches Prädikat conductor vili-
cusve gehabt hat, ist mir völlig unklar.
Der mit „coloni qui" beginnende § 18 ist inhaltlich völlig klar. Er fixiert
die aus den Inschriften von Suk-el-Khmis und Gasr Mezuar (s. Hermes 1894
p. 205) wohlbekannten Frohndienste, welche die Colonen dem conductor zu leisten
haben.
Zu leisten sind ,,quod annis in hominibus [singulis2) in arati]ones operae n(umero)
II et in messem op[e/rre II et in sarritiones cuiusque] generis singulas operae bin[ae]u.
Die Ergänzungen sind ziemlich sicher, denn sowohl im Dekret des Commodus
als in der Inschrift von Gasr Mezuar werden drei Arten von Frohnden genannt :
operae aratoriae , sur(i)toriae , messiciae (messoriae: Dekret des Commodus). Statt
dnas steht hinter ,.[ . . in . . . cuiusque] generis singulas": bin[a.s] dem vorher-
gehenden singulas entsprechend. Bedenklich ist nur, dass die Jätetage (sarri-
tiones) nicht wie es in den beiden anderen Inschriften geschieht, und wie es
sich gehört, vor, sondern hinter den Erntetagen genannt sein sollen. Anderer-
seits können sie nicht wohl ausgelassen und vor „.. cuiusque generis" eine andere
Feldarbeit genannt sein.
§ 19. Im folgenden Paragraphen (19) scheint gesagt zu sein, dass die coloni und
inquilini innerhalb einer bestimmten Jahreszeit (intra [. . . .] anni) ihre Namen bei
den conductores angeben und bei den custodiae Dienste leisten sollen. Die custo-
diae sind schon oben besprochen: es handelt sich um die Ueberwachung der
Colonen bei der Ernte und Ablieferung der partes fructuum. Die inquilini werden
zusammen mit den servi vielleicht schon in Zeile 22 genannt, ohne dass sich der
1) Die französische Uebersetzung umgeht die Schwierigkeiten. Es heisst dort: „Q'aucun
locataire ou regisseur n'oblige im esclave ou un inquüinus d'un colon . . . ä fournir . . . aux pro-
prie'taires ou aux locataires ou aux regisseurs dudit funilus plus de deux journ^es de travail. . ."
Es ist aber völlig ausgeschlossen, dass im Original gestanden hat: „ne quis conductor vilicusve . .
servum inquilinufm ve] coloni . . dominis aut conductoribus . . . quod annis . . operas praestare
cogat:' Wie kann überhaupt gesagt sein, dass der conductor dem conductor eine Leistung
verschaffen oder nicht verschaffen soll?! conductor und conductoribus kann nie in demselben Satz
Stehen. Es ist vielmehr klar, dass von Leistungen der Colonen an die conductores die Rede ist:
„coloni . . conductoribus . . praestare debento."
2) Vgl. lex Ursonensis cap. 94: „. . dum ne amplius in annos singulos inque homines sin-
gulas . . . operas decernant."
3
DIE LEX MAJs'ClANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNü. 35
Zusammenhang feststellen Hesse. Coloni, inquilini ist ein Asyndeton, denn die
Inquilinen sind bei aller Aehnlichkeit keine Colonen. Sie kommen in den nach-
constantiuischen Rechtsquellen oft vor und nehmen dort eine Mittelstellung zwi-
schen Sklaven und Colonen ein l).
Die Inquilinen unterscheiden sich wohl von den Sklaven durch ihre libera
conditio, und von den Colonen dadurch, dass sie nicht eigentlich Bauern, sondern
Handwerker sind (His, „d. Domänen d. rom. Kaiserzeit" p. 89). Sie gehören
als solche zum „instrumentum fundi" wie die unten angeführte Digestenstelle
(L. 112 D. 30) deutlich zeigt, während die Colonen nicht Inventar sind: denn
das Gut kann auch ohne Pächter, nämlich durch eigene Regie, bewirtschaftet
werden.
In Zeile 30 scheint hinter singulas QV[attuo]R zu lesen zu sein : vor custo-
dias singulas qu[attuo]r muss das zugehörige operas gestanden haben; man ver-
gleiche Zeile 27: „[in sarritiones (?) cuiusque] generis singulas operas bin[a.s]."
Singalae gehört zu custodiae wie Z. 27 zu sarritiones, qu[attuo\r zu operae wie Z.
27 zu bin[as] : für jede einzelne Feldarbeit oder Wachtdienst sind so und so viel
Tage angesetzt. Demnach hätten also die Inquilinen doppelt soviel operae zum
Wachtdienst als die Colonen zur Feldarbeit leisten müssen.
Von den im folgenden genannten stipendiarii scheinen ähnliche operae in cu-
stodias verlangt zu werden. Weiteres lässt sich aus den wenigen hier erhaltenen
Buchstabenresten kaum entnehmen.
Bei dem Wort siipendiariorum erinnert man sich der in der lex agraria vor-
kommenden „stipendiarii" d. h. der ausserhalb der Gemeinde stehenden eingebo-
renen Grundherren (s. Weber, röm. Agrargesch. p. 187). Damit ist natürlich
nicht gesagt, dass die stipendarii unserer Inschrift mit jenen identisch seien.
Stipendiarius ist vielmehr jeder das Stipendium zahlende Provinziale, also jeder
Bewohner der stipendiären Provinz Africa proconsularis. Wahrscheinlich haben
wir es also mit innerhalb der Domäne ansässigen Eingeborenen zu thun, mit
„Afri qai consistunt in saltu Villa Magna", wie eine solche Gemeinde heissen
würde 2).
1) Man vergleiche L. 11 C. 3, 26: . . colonus aut inquilinus aut servus; L. 11 C. 3,38: . .
servorum vel colonorum adscripticiae condicionis seu inquilinorum; L. 6 C. 11,48: colonus vel in-
quilinus; L. 12: servus vel tributarius vel inquilinus; L. 1 C. 11,53: colonus inquiliuusque; s.
Gothofredus zu L. un. C. Th. de inquil. et col. 5, 10. In den Digesten kommen die I. vor L. 112
D. de fideicom. 30: „siquis inquilinos sine praediis quibus adhaerent legaverit."
2) In Hr. Bent-el-Bey (bei Tbuburbo Maius) im Süden der Re'gence de Tunisie ist folgende
Inschrift gefunden worden (Bull. arch. du Comitä des trav. bist. 1893 p. 222):
fl[AMINIO SABINIA[no
centurioni ?] LEG VII CL. CIVES S . . . .
consistent.es in]SALTV FECERVNT
idemqu[E DEDICAVERVNT.
Auch diese Gemeinde consistiert auf einem saltus. Solche Gemeinden wird es bei dem quasimuni-
cipalen Charakter der gutsherrlichen Territorien noch mehr gegeben haben; bekannt ist mir nur
dies Beispiel.
36 ADOLF SCHULTEN,
In welchem Zusammenhang die servi in Zeile 35 auftreten, lässt sich nicht
sagen. - Am Ende der Inschrift steht [parJTEM QVINTAM. -
Zu guter Letzt ist die auf dem unteren Rande der ersten Seite angebrachte
Inschrift zu besprechen. Sie lautet: „[A<?]c lex scripta a Lur(i)o Victore Odilo-
nis magistro et Flavio Geminio defensore ; Feiice Annobalis Birzilis." Diese
Lesung scheint den Vorzug zu verdienen vor „[e leg\e exscripta", wie ich zuerst
las. „E lege exscripta11 bedeutet „ausgezogen aus der lex" nämlich der 1.
Manciana. Der Vermerk entspräche dann völlig dem Passus am Anfang der
Urkunde: „(lex) data . . ad exemplum legis Mancianae" und der gleichartigen
Angabe der Inschrift von Ain Wassel : „. . . legem infra scriptam intulit [ad]
exemplum legis Hadrianae". Die „lex Manciana" befand sich auf Kupfer ge-
schrieben im Bereiche der Domäne wie die lex Hadriana, von der es im Brief der
Colonen des saltus Burunitanus heisst: „utpote cum in aere incisa et ab omnibus
omnino undique versum vicinis visa perpetua in hodiernum forma praescriptum."
x[h]ec lex scripta" wäre die einfache Angabe der Niederschrift. Die Niederschrift
ist angefertigt von dem magister Lurius Victor Odilonis (filius) und dem defensor
Flavius Geminius. Ausserdem wird eine dritte Person mit punischem Namen genannt
ohne Zusatz, so dass ich nicht weiss, in welcher Beziehung sie zu der Urkunde
steht1). Der magister ist der Vorsteher der gutsherrlichen Leute: wir kennen
ihn aus dem Dekret des Commodus, wo amSchluss der Vermerk steht: „feliciter
consummata et dedicata . . . cura agente C. Julio [Pt^?]ope Salaputi magistro."
Ausserdem kommt ein magister der „plebs fundi . . . itani" in der Inschrift
aus Hr. Salah (bei Kairuan) vor (s. meine „Grundherrschaften" p. 39). Der de-
fensor ist als gutsherrlicher Beamter neu. Er kann seinem Namen nach kaum
etwas anderes gewesen sein als ein Beamter, der die Colonen gegen Uebergriffe
der conductores schützen sollte, ganz ebenso wie der defensor plebis des IV. Jahr-
hunderts 2) die städtische plebs, das Gegenstück der Gutsunterthänigen, gegen die
Statthalter schützen sollte. Das Auftreten einer solchen Behörde ist ein ebenso
beredtes Zeugnis für die gedrückte Lage der kaiserlichen Colonen schon unter
Traian wie die Klageschrift der Colonen des saltus Burunitanus. Und wae sind
denn alle die bisher bekannten Urkunden von den saltus anderes als Regelungen
der den Colonen abzufordernden Leistungen an Früchten und Frohnden? Jede
dieser Urkunden setzt eine Controverse zwischen Colonen und conductores voraus,
von der ja in der Inschrift von saltus Burunitanus und der von Gasr Mezuär
(s. Hermes 1894 p. 204) ausdrücklich geredet wird. Weil diese Abschriften
oder Auszüge „ad exemplum" der auf der Domäne geltenden lex die Interessen
1) T out ain giebt ihr den Titel defensor; dagegen muss Flavius Geminius protestieren, da
ihm 1 ) der Stellung nach 2) weil er Römer ist wie der magister, das Amt zukommt. Vielleicht
ist Felix, Sohn des Annobal, Enkel des Birzil, der quadratarius : einem Punier möchte man die
vielen Fehler der Urkunde am ehesten Zutrauen. Der Name Annobal findet sich z. B. C. VIII
9129, der Name Birzil ebenda 2564, 4925, 5315, 6402.
2) L. uu. C. 1,47; Marquardt, R. St.-Verw. I2 p. 214.
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 37
der Colonen vertreten, werden sie von den Vorstehern der Colonen angefertigt,
nachdem der kaiserliche Procurator in diesem Sinne verfügt hat.
Die Inschrift , an deren Schlüsse wir nun angelangt sind , zerfällt nach
meiner Herstellung in 20 Paragraphen.
§ 1 (Col. 15—19): Erlaubnis der Kultur von „agri qui su[6c]esiva sunt"
und Bestimmungen über die Leistungen von denselben.
§ 2 (I 19 — 29): Fruchtquoten der Inhaber einer villa dominica an Weizen
Gerste, Bohnen, Wein, Oel und Honig.
§ 2a (129— 116): Quoten im Falle einer Ernte von mehr als fünf Honig-
töpfen.
§ 3 (II 6 — 12) : Busse für den , der Bienen und Bienengeräte aus der Do-
mäne auf einen „ctger octonarius" überträgt.
§ 4 (II 12 — 17): Leistungen von ,.ficus aridae arbores extra pomarium".
§ 5 (II 17 — 20): Leistungen von „ficeta vetera et oliveta."
§ 6 (II 20 — 24) : Leistungen von neugepflanzten Feigenbäumen.
§ 7 (II 24— III 2): Dasselbe von Weinpflanzungen.
§ 8 (III 2 — 10): Dasselbe von Olivenpflanzungen.
§ 9 (III 10 — 12) : Dasselbe von gepropftem Oleaster.
§ 10 (III 12—17): Mit Futterkraut (ausser Wicken) bestellte Aecker.
§ 11 (III 17—20): Weidegeld für Vieh.
§ 12 (III 20— IV 2) : Busse für Felddiebstahl.
§ 13 (IV 2 — 6?): qui severunt, severint . . .
§ 14 (IV 6?— 9?): Fiduciarisch verpfändete Grundstücke.
§ 15 (IV 9? — 15): qui superficiem ex inculto excoluit et postea colere desiit.
§ 16 (IV 16 — 22): qui superficiem cultam colere desiit.
? § 17 (IV 22 — 23) : si quis conductor vilicusve [eor]um inquilinum eins
f. (?)
§ 18 (IV 23—27): Frohnden der Colonen.
§ 19 (IV 27—31?): Frohnden der inqinlini.
§ 20 (IV 32?—?): Frohnden der stipendiarii.
Fragen wir nun nach der Disposition dieser verschiedenartigen Bestimmun-
gen, so giebt die Inschrift selbst eine gewisse Disposition an, indem die Formel
,,in fundo villae Magnae sive Mappaliesige . ,u nicht in jedem Satz, sondern nnr
an folgenden Stellen steht:
§ 1 (15): Qui eorum intra fundo V. M. Variani sive M. eos agros qui su-
[6c]esiva sunt (excoluerit).
§ 2 (I 19): Qui in f. V. M. sive M. villas habent habebunt dominicas.
§ 3 (II 6): Si quis alveos . . ex f. villae M. sive M. in octonarium agrum
transtulerit . . .
§ 10 (III 12): [agri pabulo consiti qui] in f. villae M. Variani sive M. sunt
erunt ...
§ 11 (III 17) : Pro pecora [qui i]ntra f. villae M. M. pascentur . . .
§ 12 (III 20): Si quis ex f. villae M. sive M. fructus stantem pendentem . .
38 -ADOLF SCHUL TEX,
§ 13 (IV ?) : [St qui in f. villae Mctg]ne siv(e) Mappaliasigfe .... sejverunt
severint . . .
§ 18 (IV 23) : Coloni qui intra f. villae M. sive M. habitabunt . . .
Offenbar ist die Einleitung grade dieser Paragraphen durch die volle For-
mel kein Zufall, denn jeder dieser Paragraphen beginnt abgesehen von § 3 einen
neuen Abschnitt: § 1 handelt von der Occupation der „agri qui su[ta}esiva sunt",
§ 2 im Gegensatz dazu von dem unter Kultur befindlichen Land. Dass mit § 3
ein neuer Abschnitt beginnt ist aurfallend; es hätte vielmehr bei § 4, wo die
Bestimmungen über die Baumpflanzungen beginnen, oder sowohl bei § 3 als bei
£ 4 ein Abschnitt bezeichnet werden müssen. Bei § 10 beginnt mit Recht ein
neuer Teil (Futterkräuter), ebenso mit § 11 (Viehweide), § 12 (Felddiebstahl) und
g 13 (qui severunt severint). Dass erst wieder in § 18 die einen neuen Ab-
schnitt bezeichnende Formel gesetzt wird, ist wichtig: es wird dadurch deutlich,
dass § 13—17 zusammen gehören. Es muss also in ihnen allen von einer Ka-
tegorie, nämlich von dem, der Land angebaut (. . qui severunt) aber dann liegen
gelassen hat, gehandelt sein.
Wenn wir ausser § 3 auch noch bei § 4 einen Abschnitt machen , können
wir die durch die Formel ,.qui in f. villae M. sive M. sunt" gegebene Einteilung
durchaus annehmen. Die Urkunde zerfällt demnach in folgende Hauptteile :
I. (§ 1) : Bestimmungen über Occupation von Ackerland.
IL (§ 2—3) : Ueber Kulturland.
III. (§ 4 — 9) : Ueber Emplvyteuse von Baumpflanzungen.
IV. (§ 10 u. 11) : Ueber Futterland und Viehweide.
V. (§ 12): Ueber deportatio fructuum.
VI. (§ 13 — 17) : Ueber unbestellte superficies.
VII. (§ 18 — Ende) : Ueber Frohnden (operae und custodiae) der Colonen, In-
quilinen, stipendiarii.
Die neue Inschrift ist mit Recht im Musee du Bardo an der Seite der Ara
legis Iludrianae aufgestellt worden, denn die beiden sind Schwestern. Beide Ur-
kunden sind von den kaiserlichen Procuratoren erlassen worden, um die Erlaub-
nis zur Occupation und die Rechte des Occupanten von ager rudis sive per tot
annos incultus d.h. von wildem und von mehrere Jahre hindurch vernachlässigtem
Land zu ordnen.
Während sich die ara legis Hadrianae nur mit den partes fructuum beschäf-
tigt, giebt die neue Inschrift ein Reglement sowohl über die Fruchtquoten als
über die operac. Das Dekret des Commodus wiederum behandelt nur die Frohn-
dienste. So bilden denn die drei wichtigen Inschriften eine Gruppe von Doku-
menten, wie wir sie so leicht nicht für einen anderen Zweig der römischen Ver-
waltung besitzen. Die Ara 1. Hadr. schliesst sich einerseits an die neue Ur-
kunde an. weil auch sie die Occupation auf den kaiserlichen Domänen behandelt,
andererseits gehört sie zum Dekret des Commodus , weil sie wie dieses Bestim-
mungen der lex Hadriana giebt, während das neue Dokument einen Auszug aus
einer älteren Domanialordnung, der lex Manciana, bildet. Die neue Inschrift
DIE LEX MANTIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 39
ist das älteste bisher vorliegende Dokument aus dem Bereich der afrikanischen
saltus, denn sie ist noch unter Traian niedergeschrieben worden. Sie ist da-
mit zugleich das älteste Zeugnis, wenn auch nicht für die E m-
phyteuse, so doch für da s Occupatio n sr echt , aus dem sich die
E. entwickelt hat. Aus der ara legis Hadriana lernten wir, dass Hadrian
über nager rudis sive per X annos continuos incidius" (Col. II 13) Verfügungen
erlassen hatte; jetzt sind wir einen Schritt weiter geführt und wissen, dass
schon vor Hadrian, vielleicht lange vor Hadrian, auf den Domänen dies Occu-
pationsrecht existierte.
Der bekannte Erlass des Proconsuls von Achaia an die Stadt Thisbe zeigt
uns die Emphyteuse — ohne den Namen, der ausser bei Ulpian (s. u.) zuerst in
der Constitution vom Jahre 315 (L. 1 C. 11, 62) vorkommt — als geltende Praxis
im Bereiche einer griechischen Stadtgemeinde *). Das Edict scheint etwa um die
Wende des IL/III. Jahrhunderts erlassen zu sein 2). Die thisbensische Emphy-
teuse ist durchaus auf griechischem Rechtsgebiet entstanden: das zeigen deutlich
die Ausdrücke nntQaöKEiv, yLstaiioXelv für „verpachten" : das griechische Recht
ist zu einer Scheidung der locatio conduetio von der emptio venditio bezeichnender
Weise nicht vorgedrungen. Diese griechische Emphyteuse kennt schon Ulpian,
der von einem ius i{icpvxsvxLx6v vel i[ißccx£vxLx6v spricht (L. 3 § 4 D. 27, 9), ohne
Näheres mitzuteilen.
Das Recht des thisbensischen xaxcdaßav — so heisst der Occupant oder
Emphyteuta in der Inschrift — unterscheidet sich, wieHis (d. Domänen d. röm.
Kaiserzeit p. 100) richtig anführt, von dem Recht des Occupanten der ara legis
Hadrianae , aber nicht in den Punkten die er anführt, sondern in anderen.
Dass der Occupant der ara 1. H. nur zum Anbau nicht zum (pvxsvsLv verpflichtet
gewesen sei (p. 100) ist falsch: denn 1) ist er zu nichts verpflichtet, son-
dern hat, wenn er oecupiert, das Recht des Fruchtgenusses gegen eine Frucht-
quote, 2) ist ebenso wie von aridae fmetus (Getreide) , von partes olei und poma-
rum die Rede, galt dies Recht also so gut für Anpflanzungen wie für Ackerland.
Als zweiten Unterschied bezeichnet His die verschiedene Dauer der Immu-
nität — in Thisbe fünf, in der 1. Hadriana sieben Jahre für porna und zehn für
Oliven. Diese Differenz ist ohne jede Bedeutung, denn in der lex Manciana finden
wir wieder andere Immunitätsfristen.
Es bleibt dagegen als fundamentaler Unterschied bestehen , dass im Erlass
1) Ein sehr interessantes Zeugnis für die griechische E. finde ich in dem für die Volkswirt-
schaft des sinkenden Griechenland so überaus wichtigen „Ex>j3otxos" des Dio Chrysostomus (p. 263
Reiske). Der Gegner des Sykophanten empfiehlt zum Anbau des unbenutzt liegenden Gemeinde-
landes die E. wie folgt: nenl deute uev ovv exr\ tcqoiy,o. e%6vxcov , iierä de tovtov xbv %q6vov xa\u-
uevoi uoigctv 6liyr\v ■nciQe%£,Tto6ccv anb xäv Kccgnäv, artb de xeov ßoOY.riuäxajv urtdev. Eäv de t<*
JZtvog yecoQyj) nevxe exr\ xat ovroi \ir\dev cejtorelovvrcov, vategov de dinluciov rj ot TtoXixuir Wie
in der Inschrift von Thisbe gelten auch hier für den £evog andere Normen, als für den noXCx7\q.
Quinquennium und üecennium sind wie sonst die Fristen der Immunitat.
2) Dittenberger, Index scholarum v. Hallo W. S. 1891/92 p. VIII. 5
40 ADOLF SCHULTEN,
des Proconsuls eine schriftliche Anzeige (ftußMov) des Occupanten über die beab-
sichtigte Emphyteuse verlangt wird, während in der lex Hadriana der Occupant
durch die Occupation emphyteutisches Recht bekommt. Die schriftliche Anzeige
ist bezeichnend für den griechischen Rechtsbrauch, der ja Schriftlichkeit liebt —
ich verweise auf die x£LQoyQc^poc und die 6vyyQ<x<prj — während das römische
Recht concludenten Handlungen und mündlichen Abreden Rechtskraft verleiht.
Einen anderen wesentlichen Unterschied — den H i s übersehen hat —
macht die Art, wie der Pachtzins, der canon emphyteuticarius, geleistet wird: der
thisbensische xcctcdaßcbv entrichtet ein bestimmtes Quantum von Früchten, so und
soviel vom tiIe&qov, wogegen der Occupant vom Domänenland nach der lex Hadri-
ana — und ebenso nach der lex Manciana — partes fruetuum, Fruchtquoten,
giebt. Der eine gewöhnliche merces, allerdings in Naturalien, leistende griechische
Emphyteuta steht dem gewöhnlichen Pächter , z. B. dem ägyptischen Pächter,
der so und soviel pro ccqovqcc leistet x), sehr nahe ; dagegen ist der Occupant
der beiden Domanialordnungen als colomis partiarim ein Mittelding zwischen co-
Jonus und socius 2).
Die Verbindung der colonia partiaria mit der Emphyteuse ist eine ausseror-
dentlich wichtige Erscheinung. Der Emphyteuta des IV. Jahrhunderts leistet
einen festen Canon , keine Quoten. Unter Septimius Severus (ara legis Hadria-
nae) gilt noch die Teilpacht ; im Lauf des III. Jahrhunderts hat man sie also
aufgegeben. Das entspricht ganz der kapitalistischen Entwicklung der römischen
Finanzverwaltung: man wollte lieber eine feste Rente als die schwankenden
Fruchtquoten haben.
Vergleicht man die Bestimmungen über die Occupation in den beiden leges,
der lex Hadriana und Manciana, so ergänzen sie sich vollkommen. Wie nach der
1. Hadriana es Emphyteuse für nagri rüdes" und „agri per X annos incuUi" gab, so
finden wir in der neuen Inschrift in den §§ 1 und 4 — 9 das ins colendi für Ge-
treide- (oder Bohnen-) und Baumkultur auf ager rudis, in § 13 — 16 für „ager per
duos annos incidtus" geregelt. Zwischen diesen beiden Hauptteilen stehen die für
die gewöhnliche Teilpacht geltenden Normen (§ 2 und 3). Diesem Teil ent-
1) Ueber die in Aegypten übliche Pacht gegen ein Quantum von Früchten sind wir durch
die Papyri ausgezeichnet unterrichtet. Der erste Band des Corpus Papyrorum Rainer (Wien 1895)
bietet eine Menge von Pachturkunden. Es sind das eben solche ßißXiu wie sie in der Inschrift von
Thisbe gefordert werden, d. h. schriftliche Anzeigen des Pächters, dass er so und soviel Land
auf so und so lange Zeit für ein bestimmtes Quantum (ezcpoQiov) (2—5 uud mehr Artaben pro
Anna) pachten wolle. Die thisbensische Emphyteuse ist offenbar an diese Pacht gegen ein Fixum
von Naturalien angelehnt; die emphyteutische1 ist von der gewöhnlichen Pacht nur durch die Immu-
nität und die längere Pachtzeit — aus der das (übrigens in der I. von Thisbe ziemlich beschränkte)
Veräusserungsrecht folgt — verschieden.
2) Bekanntlich hat W aas er (die colonia partiaria Berlin 1890) die c. p. für eine Spielart
der soeietas'erklärt. Trotz allem Scharfsinn ist der Nachweis nicht gelungen : die colonia p. ist
und bleibt bei aller äusserlichen Aehulichkeit mit societas eine colonia, ein Pachtverhältnis. Von
der Pacht gegen ein Quantum von Früchten bis zur Pacht gegen eine Quote (col. p.) war nur ein
Schritt : durch diese Modifikation wird die Pacht noch nicht zur societas!
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNÜNG. 41
spricht der Schlussteil (§ 18 — 20), der die von den Gutsinsassen zu leistenden
Frohnden angiebt. Die Inschrift behandelt also sowohl die Pflichten des Occu-
panten als die des gewöhnlichen Teilpächters , während sich die ara legis Ha-
drianae nur auf die Occupation bezieht. Bei der mangelhaften Disposition der
römischen Gesetze kann es nicht autfallen , dass die zusammengehörigen Teile :
Occupation von Acker- und Occupation von Baumland einer-, Teilpacht der Co-
lonen und Frohnden andererseits nicht zusammenstehen, sondern abwechseln.
Aber in einem wichtigen Punkte unterscheidet sich die Occupation der lex
Manciana von der der lex Hadriana: in der lex Manciana fehlt die Garantie des
..ins heredi relinquendi", die Vererblichkeit des Rechts, welche die lex Hadriana
(Col. II 9) ausdrücklich zusichert. Die lex Manciana kennt also noch keine Erb-
pacht, aber ihr ins colendi ist durch nichts als die Länge der Pachtfrist von
dem der lex Hadriana und damit von der E. unterscheiden. Wir sind gewöhnt
in der Vererblichkeit ein Hauptmerkmal der Emphyteuse zu sehen und das trifft
auch für die ausgebildete E. gewiss zu, aber der neuen Inschrift verdanken wir
die Einsicht, dass dieses Recht erst später zu den übrigen Merkmalen der E.
hinzugetreten ist. Die ara legis Hadriana bleibt für die E. das erste Zeugnis l),
aber wir haben in der neuen Urkunde eine Institution vor uns, die unbedingt
als directe Vorstufe der Emphyteuse zu bezeichnen ist. Der Occupant der lex
Manciana ist nämlich nur durch die Immunität des ersten Quinquennium vom ge-
wöhnlichen Colonen unterschieden ; nach Ablauf dieser Frist ist er Colone wie
jeder andere. Die Identität ist frappant : der Occupant entrichtet tertiae partes
wie der Colone. Aus der ara legis H. konnten wir nur entnehmen , dass der
Emphyteuta dem Colonen gleichgestellt sein sollte (Col. III 1 : . . nee maiores
partes fruc[tuam qua]m co\loni dare debe\bit) ; in unserer Inschrift wird der Anbauer
von Rodeland klar und deutlich als „colonus" bezeichnet (I 11). Es ist ja auch
ganz natürlich, dass der Colone ausser seinem Pachtland noch wildes oder ver-
wildertes Land in Kultur nehmen durfte ; that er dies, so wurde er damit zum
Pächter auch dieses Landes. Ein Grund, ein neues Rechtsverhältnis zu schaffen,
lag nicht vor: nur wurde ihm für das nächste Jahr der Pachtzins erlassen, wenn
das neuumgebrochene Land — also z. B. das Baumland — erst nach Jahren
Früchte gab ; wo er Getreide säte, hatte er natürlich schon im nächsten Jahre die
üblichen Quoten zu leisten. Zeigte schon die Emphyteuse der Inschrift von Thisbe
1) Herodian schreibt (II 4, 6) die Erlaubnis der Occupation von ager rudis sive incultus dem
Pertinax zu: .,7Vqcüxov (ilv yccg naoav xr\v neex 'IxaXiav neu iv rot? Xontoig iftveöiv ayEcogynxov ra
wri Tia.vxa7ia.6iv ovaccv ccQyov (= agrum incultum sive plane rudern) ETthgsipsv bno6i\v xig ßovXsxut,
xod dvvaxcci, sl xai ßuöiXecog xrj)fta sin, yiaxaXafißdvsLv (= oecupare), STiiprtrifttvxi xs xort yscog-
yt]6uvxi dsGTCoxt] elvai. "EdeonE xs y£u>gyov6Lv ctxiXsiav nävxcov stg dsna hr\ %a\ Sicc navxbg öeotio-
xiCag afisgipviav." Die «-rste Bestimmung über die Emphyteuse im justinianischen Corpus rührt
von Aurelian her (L. 1 C. 11,59). Wir haben nun folgende Daten für die Emphyteuse auf den
kaiserlichen Domänen: 1) lex Manciana (die neue Inschrift aus der Zeit Traiaus), 2) lex Hadriana
(Ara 1. EL aus der Zeit des Sept. Severus), 3) die Herodianstelle über Pertinax, 4) ara 1. II. des
Procurators Patroclus (Sept. Severus), 5) Constitution Aurelians.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, ». 63
42
die grösste Aehnlichkeit mit der aus den Papyri bekannten griechischen Pacht
gegen ein Fruchtquantum (s. oben), so kann man das ius colendi der lex Manciuna
nicht anders denn als eine modifizierte Teilpacht bezeichnen. Nichts als die Re-
mission der Pachtzinsen unterscheidet dieses Recht von der Pacht, und Remission
des Pachtzinses tritt ja auch bei der gewöhnlichen Pacht unter Umständen ein,
freilich nicht bei der gewöhnlichen Teilpacht, denn „partiarius colonus quasi socie-
tatis iure et damnum et hierum cum domino fundi partitur" (L. 25 § 6 D. loc. cond.
19, 2). So enthält denn das Occupationsrecht der lex Manciana kein Element,
welches der Pacht fremd wäre.
Man hat bisher die Emphyteuse aus dem griechischen Städterecht ableiten
wollen, und den Namen haben die Juristen Constantins zweifellos dem griechi-
schen Rechtsgebiet entlehnt. Dass aber aus der colonia eine rein römische E.
entwickelt wurde und zwar durch Hadrian, das zeigt die neue Urkunde und da-
durch macht sie, wenn ich nicht irre, in der Rechtsgeschichte Epoche.
In der unter Traian auf den afrikanischen Domänen geltenden lex Manciana
giebt es eine Emphyteuse, eine Erbpacht noch nicht, aber das ius colendi dieser
Urkunde unterscheidet sich in nichts von dem ius colendi der lex Hadriana als
in dem Fehlen des „ius heredi relinquendi." Die Verwandlung des ius co-
lendi in dieErbpacht ist also mit absoluter Sicherheit dem K aiser
Hadrian zuzuschreiben. Er ist der Schöpfer der domanialen Emphyteuse.
Hadrian hat sein ins colendi dem griechischen Recht sicher nicht entnommen,
denn sonst würde es den Namen Emphyteuse führen , aber auch dem als zweite
Quelle der E. genannten „ius in agro vectigali", der municipalen Erbpacht, ist
dieses Recht nicht entnommen , denn das ius i. a. v. ist eine ordentliche Pacht,
keine Occupation. Das charakteristische Moment des ius colendi der lex Man-
ciana und Hadriana : die Immunität vom Pachtzins lässt sich für uns wohl in
der späteren Emphyteuse wieder finden, aber nicht vorher, also nicht vor Traian
nachweisen. Dass es sich an die gewöhnliche fünfjährige Pacht angeschlossen
hat, zeigt m. E. der mit der Pachtzeit identische Zeitraum der Immunität. Die
fünf Jahre Immunität für Baumfrüchte sind eine Pachtperiode, die zehn Jahre
für Oliven zwei. Die siebenjährige Freiheit, welche die ara legis Hadriana
für die poma gewährt , ist offenbar ein Mittelding zwischen den sonst für poma
üblichen fünf und den für Oliven üblichen zehn Jahren.
Das „ius heredi relinquendiu an und für sich könnte Hadrian sehr wohl dem
„ius in agro vectigali"- entlehnt haben, wie ja so vieles in der Verwaltung der
Domänen dem Municipalwesen entlehnt ist (s. Grundherrschaften p. 107 f.), aber
wir finden die Erbpacht oder besser ,den unbefristeten aber kündbaren Besitz in
einer anderen Institution, die dem ius colendi näher steht als die municipale Erb-
pacht : ich meine das alte Occupationsrecht auf dem ager publicus, wie es Appian
an der berühmten Stelle (i(iq). I 7) schildert. Mit dem Recht der Possessionen
auf den ager publicus zur Zeit der Gracchen hat das ius colendi der lex Hadriana
nicht nur wie die municipale Erbpacht die Erblichkeit, sondern auch, was dem ius
i. a. vect. fehlt, das Moment der Occupation d. h. der Bebauung wilden Landes
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 43
geraeinsam. Man wird nicht juristisch ganz ungleichartige Dinge wie Occupation
mit Erblichkeit und Erbpacht d. h. ordentliche Pacht auf unbefristete oder sehr
lange Zeit (100 Jahre und mehr *)) zusammen werfen dürfen. Dasselbe ist über
die übliche Herleitung der Emphyteuse aus dem ins i. a. v. zu sagen. Erblicher
Besitz von vRottland ist etwas ganz anderes als erblicher Besitz angebauten
Landes: durch den Anbau bisher nutzlosen Bodens hat sich der Bebauer ein
Anrecht darauf erworben, das dem Pächter guten Landes fehlt. Man sollte die
Emphyteuse fortan nur noch mit den verschiedenen occupatorischen Rechtsver-
hältnissen, von denen die römische Agrargeschichte weiss, vergleichen, aber nicht
mehr mit der Verpachtung vollwertigen Gemeindelandes ; ein solcher nur auf
der Erblichkeit beider Rechte beruhender Vergleich ist doch sehr oberflächlich.
Das ius colendi der lex Manciana und Hadriana kommt dem alten Posses-
sionsrechte noch in einem Punkte sehr nahe: hier wie dort hat der Occupant
eine Fruchtquote zu leisten. Sie betrug nach Appian (a.a.O.) den Zehnten
von den Halm- und den Fünften von den Baumfrüchten. (. . dexatr} pev xCbv
67tsiQo^i£v(ov, 7iE[iitTr} ös t&v (pvtEvopevcov), während die afrikanischen Occupanten
tertiae partes von Wein und Oel geben sollen (II 24 f.), über welche Produkte allein
Angaben vorliegen -).
In der That war ja auch bei dem Risico der Bebauung von „nger rudis sive
incultus" die Leistung einer Quote angemessener als die eines Quantums.
Man muss das Occupationsrecht gegen Quote unterscheiden von der Pacht
gegen Quoten, der Teilpacht (colonia partiaria).
Für beide giebt uns die neue Inschrift einen neuen Beleg, indem in ihr so-
wohl von dem „qni agros qui subcesiva sunt excoluerit" also dem Occupanten, als
denen „qui villas habent dominicasu, also den ordentlichen Pächtern, tertiae partes
verlangt werden. —
Die Leistung der tertiae partes an die conductores sowohl seitens des Inha-
bers einer villa, als seitens des Occupanten bestätigt meine Auffassung der con-
ductores als Generalpächter der Domäne d. h. sowohl des Hof- als des an Colo-
nen vergebenen Pachtlandes. Während der conductor auf dem Hofland selbst
wirtschaftet, giebt er die anderen fundi in Afterpacht oder pachtet vielmehr, da
die Colonen bereits auf den fundi sitzen, die von ihnen zu leistenden Quoten, ist
also auf diesem Teil der Domäne Gefällpächter (s. Grundherrschaften p. 90 f.).
Als Pächter nur des Hoflandes (Mommsen) können die conductores unmöglich
die Quoten der Colonen einziehen ; den Pachtzins leistet der Pächter an den
locator : also müssen die Colonen Pächter der conductores , mithin , da diese
selbst Pächter sind, Afterpächter (dem Kaiser gegenüber) sein 3). Die Frohnden
1) Hygin (Feldmesser I 116): „. . qui superfuerunt agri vectigalibus subiecti sunt alii per
anuos XXX alii vero mancipibus ementibus id est conducentibus in annos centenos.u
2) Die partes von den fruetus „agrorum qui subcesiva sunt11 (I 8) sind unklar ; die Colonen
nqui villas habent dominicas" entrichten von den Producteu des zugehörigen also nicht neuum^e-
brochenen Landes ebenfalls den Dritten ; ebenso die Occupanten der lex Hadriana (III 3).
3) Meiner Auffassung hat sich R. Hi s (d. Domänen d. röm. Kaiserzeit) angeschlossen (n. 11 f.).
6*
44 ADOLF SCHULTEN,
im Dekret des Commodus konnten gewiss als dem Hofland und damit seinen
Inhabern, den conductores, gebührende Dienste aufgefasst werden wie es Momm-
sen gethan hat, aber der Pachtzins des Occupanten der lex Hadriana und erst
recht der des Colonen der lex Manciana können nicht dem Hofland sondern nur
dem conductor als Pächter der Gefälle zukommen. Der Ausweg, dass die con-
ductores für den Kaiser die ihm zu leistende Quote erhoben hätten , ist auch
versperrt, denn der Vertreter des Kaisers ist der Procurator, nicht der con-
ductor. Eine weitere Bestätigung meiner Auffassung giebt eine bei Khenchela
(Mascula) in Algerien gefundene Inschrift, die ich schon im Nachtrag der „Grund-
herrschaften* p. 134 abgedruckt habe. Sie lautet:
SALV /// IN HIS PRAEDIIS PRIVATIS
Iu]NIANI MARTILIAN1 C. V.
VECTIGALIA LOCANTVR.
Die vectigalia können, wie Gsell (Melanges d'arch. et d'hist. 1893 p. 470) rich-
tig gesehen hat, nichts anderes sein, als die von den Colonen zu leistenden
Pachtzinsen, denn diese vectigalia sind das Abbild der dem römischen Volk von
den Provinzialen, oder einer Gemeinde von den Pächtern des Gemeindelandes zu
leistenden Gefälle (einerlei ob Quanta oder Quoten) *). Wer kann denn nun
der Pächter dieser „vectigalia quae locan türu anders sein als die conduc-
tores? Sie entsprechen durchaus den mancipes der staatlichen oder municipalen 2)
vectigalia. Besonders in der Exploitierung sind die Domänen ein getreues Ab-
bild der städtischen Territorien. Wie die städtischen Beamten und die des rö-
mischen Staates, so schreiben die Procuratoren der Domänen die Pacht der von
den Gutsinsassen zu leistenden Gefälle (vectigalia) aus. Dafür zahlen die conduc-
tores (= mancipes, publicani) einen festen Canon und stehen nun den Colonen
als Inhaber der zu leistenden Quoten gegenüber. Die Uebereinstimmung sowohl
des städtischen als des domanialen Pachtwesens mit der Erhebung der vectigalia
popufi Romani ist frappant. Das Prius ist natürlich die Verpachtung der staat-
lichen vectigalia: ihr ist, als die Municipien aus vici der Stadt Rom ihr Abbild
wurden, die städtische Pacht, das ins i. a. vect., nachgebildet und dieser wiederum
die domaniale. Dass die conductores den ganzen saltus innehaben oder vielmehr
Pächter der Regie desselben sind, zeigt ferner die Bezeichnung „dominis sive
conductoribtis" , die mehrfach vorkommt (s. 0.). Domini vicem sind die conduc-
tores nur als Inhaber der ganzen Domäne , nicht als blosse Pächter des Hof-
landes3). —
1) vectigal kommt noch einmal auf domanialem Boden vor: in der lex metalli Vipascensis
Zeile GO, wo von dem conductor vectigalis puteorum d. b. dem Pächter des Grubenmonopols die
Rede ist.
2) Hygin (Feldm. I 116): „mancipes vero qui emerunt lege dieta ius vectigalis ipsi per cen-
turias locaverunt aut vendiderunt."
3) Es ist interessant, die Exploitierung der afrikanischen saltus mit der lex metalli Vipas-
censis zn vergleichen. Wie die lex Manciana und Hadriana die Rechte und Pflichten der Colonen,
so ordnet die lex. met. Vipac. die der einzelnen conductores vectigalis (vectigal s. Zeile 60) d. h.
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 45
Die neue Inschrift bietet auch Belege für die Stellung der Colonen. In § 2
(Col. I 19 f.) wird festgesetzt, dass die Inhaber der villa dominica d. h. des
zum fundus gehörigen Hofes den conductores tertiae partes geben sollen. vQui
. villas habest habebunt dominicas" können nur die Colonen sein: also zerfällt
die Domäne Villa Magna in fundi mit villae , welche die Colonen gepachtet
haben. Die Teilung des Gutes in Pachtparzellen war schon von Mommsen
(Hermes XV 404) aus dem Nebeneinander von conductores und Colonen ge-
schlossen worden, indem er darin die dem Hof- und dem Pachtland entsprechen-
den Rechtssubjecte erkannte. Der eben genannte Paragraph bringt ein deutliches
Zeugnis für die Teilung der saltus in fundi , deren jeder eine villa hat. Ueber
das vom conductor bewirtschaftete Hofland erfahren wir leider neues nicht, denn
von den ein Hofland voraussetzenden Frohnden der Colonen wussten wir bereits.
Da die Colonen ein Hutgeld zahlen müssen , muss die Weide Regal der conduc-
tores gewesen sein. Daraus erklärt sich auch , dass alle Futterkräuter ihnen
gehören (s. § 10). —
Es erübrigt noch einiges über die Fruchtquoten, die tertiae partes zu sagen.
Während sonst die Teilpacht sehr selten gewesen sein muss — sie wird in d*en
Rechtsquellen nur einmal erwähnt x) — ist sie nach der lex Manciana und Ha-
driana das stehende Verhältnis sowohl für das ins colendi und den Colonat der
lex Manciana als auch für die Emphyteuse der lex Hadriana. Vielleicht ist es
kein Zufall, dass gleichzeitig mit der neuen Inschrift, unter Traian, Plinius d. J.
den Entschluss fasst seine Güter T)partibusu zu verpachten (epist. 9, 37); viel-
leicht hat damals die Teilpacht grössere Ausdehnung gewonnen.
Der Seltenheit der colonia partiaria im Gebiete des Privatrechts gegenüber
bedarf ihre typische Erscheinung auf der kaiserlichen Domäne einer Erklärung;
ich glaube sie gefunden zu haben: Die Bebauung von Land gegen Fruchtquoten
ist zu Hause nicht auf dem Boden des Privatrechts, sondern auf publizistischem
Gebiet ; sie ist üblich bei der Ueberlassung des ager publicus in Italien und bei
der Besteuerung der Provinzen Sizilien und Asien unter der Republik. Wie
das Occupationsrecht vom ager publicus und die Gefällpachtung von den provin-
zialen vectigalia auf die domaniale Verwaltung übergegangen ist (s. oben) , so
auch die Anwendung der Fruchtquoten. Der Kaiser ist ja auch als Inhaber
des Fiskus auf dem ager publicus in den Provinzen der directe Nachfolger des
popidus Romanus ; als solcher übernahm er das dort geltende Bifancrecht mit den
der Pächter des Nutzungsrechts der einzelnen Betriebszweige innerhalb des Bergwerks. Wie es auf
den Domänen ebensoviel Colonen als fundi giebt, so im metallum Vipascense ebensoviel conductores
als vectigalia {fulloniae, tonstrini, sutrini, puteorum, praeconii etc.). Ob die Pachtzinsen aller dieser
Betriebe wiederum von einem Generalpächter gepachtet waren, wie auf den Domänen, ist nicht zu
sagen. Zu bemerken ist, dass vectigal in der 1. met. Vipasc. (Z. 60) nicht die für die Betriebe zu
zahlenden Gelalle, sondern die Betriebe selbst, das Monopol des Friseurs, Schusters etc. bezeichnet.
1) L. 25 § 6 D. locati cond. (19,2): „. . alioquin partiarius colonus quasi societatis iure
et damnum et lucrum cum domino fundi partitur."
46
Fruchtquoten zunächst für die Domänen des Fiscus und dann auch wohl für die
anderen direct kaiserlichen Domänen (patrimonium und res privata).
Wir können nicht sicher sagen, wo die partes fructuum zuerst erscheinen, ob
auf dem ager publicus als Entgelt für die Possession oder auf dem ager deeu-
manus der Provinzen Sizilien und Asia. Zuerst bezeugt sind die Fruchtquoten
als Leistung der Provinzen an den römischen Staat und zwar in Sizilien. Dass
die dortige decuma aus der Verwaltung Hierons übernommen ist, ist bekannt.
Wenn ich recht sehe, hat man bisher angenommen, dass der asiatische Zehnte
dem sizilischen nachgebildet ist. Diese Annahme ist schon a priori bedenklich,
denn in allen anderen Provinzen hat die römische Republik eine feste Grund-
steuer eingerichtet, warum sollte sie in Asien sich statt dessen die decima Hiero-
nica zum Vorbild genommen haben ? In Sizilien hat sie sich an die bestehende
Ordnung der Grundsteuer angeschlossen , aber schon bei der nächsten Provinz
Sardinien ein anderes System gewählt ; warum kehrt man bei Asien zu jenem
älteren zurück? Die Frage konnte schon früher so formuliert werden, aber be-
antwortet haben sie erst die pergamenischen Inschriften, die uns zeigen, dass es
auch im Reich der Attaliden einen Zehnten gab: diese öaxdtri wird in der In-
schrift über die Ansiedlung der Söldner (Inschr. v. Perg. I 158) erwähnt. Ebenso
gab es eine dsxdrrj im Reich der Seleuciden — denn in der grossen Söldner-
inschrift (Dittenb er ger, Sylloge 171) wird den Soldaten ein xkfjQog ddexdxev-
tog, also ein von der dexdrri immunes Landloos zugesichert (Zeile 101) — und
ebenfalls im Reich der Ptolemäer. Der von den Unterthanen zu leistende Zehnte
der Feldfrüchte war also die den hellenistischen Staaten eigentümliche Steuer,
und Rom hat wie so viele auch diese Institution dem Verwaltungswesen der
Diadochen und Epigonen entnommen ; für Sizilien dem Reiche Hierons, für Asien
dem der Attaliden. Die hier behauptete Wechselbeziehung zwischen einer privat-
rechtlichen Institution, der colonia partiaria, und dem Staatsrecht Hesse sich
weiter ausführen : ist doch auch das Quinquennium der Pacht mit dem lustrum,
der Steuerperiode, zusammenzustellen. Hier scheint umgekehrt die fünfjährige
sicher uralte Pacht das Prius: das primitive Staatsrecht ist ja überall dem Pri-
vatrecht nachgebildet.
Die von den Possessoren des ager publicus zu leistenden Fruchtquoten werden
zuerst erwähnt in der Geschichte der gracchischen Bewegung (Appian a. a. 0.).
Ob es Zufall ist, dass auch diese Leistung den Zehuten der Ernte beträgt oder
ob sie darum als ebenfalls der griechischen dsxdtrj entiehut zu gelten hat, will
ich nicht entscheiden. Für den bisherigen Stand unserer Kenntnisse ist jeden-
falls die Institution der Fruchtquote' als Pacht- und Occupati.onszins, also die
colonia partiaria, heimisch auf den kaiserlichen Domänen und als Grundsteuer ist
sie in Sizilien und Asien sicher entlehnt dem hellenistischen Verwaltungswesen.
Da nun andererseits die Verwaltung der Domänen, in vielen Dingen der der Pro-
vinzen nachgebildet ist, so ist vielleicht die Vermutung gestattet, dass die Lei-
stung von Fruchtquoten in letzter Linie mit der Sexdtrj zusammenzustellen und
die colonia partiaria als eine griechische Institution zu betrachten ist, wie ja
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄNENORDNUNG. 47
auch die Erapbyteuse wenigstens zum Teil griechische Wurzeln hat. Während
das römische Pachtrecht ein Quantum in Früchten nur als Ausnahme kennt
(Waaser, col. part. p. 23), zeigen uns die griechischen Papyri, dass dies auf
griechischem Rechtsboden, wenigstens in Aegypten, die übliche Form der merces
war. Ich habe schon oben angedeutet, dass von der Pacht gegen ein Quantum
von Früchten zu der gegen eine pars quota , also zur colonia partiaria , nur ein
Schritt ist (s. zu §2). Wenn die Teilpacht griechisch war, so erklärt sich ihr
sehr seltenes Auftreten, ebenso wie das der Emphyteuse vor Constantin. die ja
auch nur einmal (von Ulpian) erwähnt wird. Die politio Catos1) ist bekanntlich
nicht als col. part. zu betrachten.
Ueber die Anwendung der Teilpacht im griechischen Recht werden noch Un-
tersuchungen anzustellen sein : in der Staatsverwaltung der hellenistischen Reiche
(Sizilien. Pergamon) ist sie nachgewiesen und die Pacht gegen ein Fruchtquantum
ist in Aegypten üblich. Wird es dazu noch gelingen , die reine Teilpacht im
griechischen Rechtsgebiet zu constatieren — und ich zweifle nicht daran — , dann
dürfte meine Vermutung, dass die colonia partiaria griechischen Ursprungs ist,
als begründet anzusehen sein. —
Mit froher Gewissheit kann man es aussprechen, dass noch andere Inschrif-
ten aus den afrikanischen saltus uns über das Pachtrecht, welches hier galt, über
Emphyteuse und' colonia partiaria aufklären werden. Aus der vorliegenden Ur-
kunde glaubte ich das Gesagte entnehmen zu müssen. Unser Wissen von der
Bewirtschaftung der kaiserlichen Domänen war bis zum Jahr 1880, bevor Theo-
dor Mommsen das Dekret des Commodus erläuterte, geringer denn Stückwerk:
Mommsens Commentar erschloss ein neues Forschungsgebiet und der un-
ermüdliche Eifer der französischen Archäologen hat seitdem drei Inschriften
zu Tage gefördert, die uns umfangreiche Details der afrikanischen Domanial-
verwaltung mit urkundlicher Treue darzustellen ermöglichen. Ist unser Wissen
schon jetzt nicht mehr so sehr wie vor 20 Jahren Stückwerk, so dürfen wir
sicher hoffen, uns der vollkommenen Einsicht noch mehr zu nähern. Auch ferner-
hin wird jede Untersuchung auszugehen haben von dem Commentar zum Dekret
des Commodus, mit dem Mommsen den Grundstein dieser Forschungen gelegt hat.
Möge uns Afrika aus seinem an Inschriften unerschöpflichen Boden bald eine
vollständige lex saltus schenken, die ganze lex Hadriana oder Manciana , von
denen wir bisher nur Bruchstücke haben. Jeder neue Hektar Bodens, den der
französische Colonist unter den Pflug nimmt oder mit Oliven bepflanzt, bedeutet
zugleich einen Gewinn für die Archäologie ; denn in Nordafrika folgt dem Colo-
nisten, der dem Lande seine alte Kultur wiedergeben soll, der Archäologe, der
die Reste dieser Kultur erforscht.
In keinem anderen Lande ist die Archäologie so aktuell als im französischen
Afrika: die Aufnahme der antiken Ruinen bildet einen Teil der topographischen
Aufnahme, und der prächtige „Atlas archeologique de la Tunisie" ist im Wesent-
lichen eine Leistung der „brigades topographiques". Vielleicht das beste Bei-
1) s. Waaser, col. part. p. 9. 3
48
spiel für das Zusammengehen praktischer und archäologischer Interessen bietet
die vom französischen Ministerium veranlasste Erforschung der römischen Be-
wässerungsanlagen. Sie hat zwar den praktischen Zweck , von jenen Arbeiten
zu lernen, aber auch den ideellen Erfolg, dass man die antiken Reservoirs, Aquä-
ducte etc. studiert. Von diesem Zusammenwirken materieller und ideeller Ziele
ist für die Kenntnis des römischen Afrika noch viel zu erhoffen.
Nachtrag.
Die Erläuterung der Inschrift von Henchir Mettich, welche Herr Toutain
der Academie des Inscriptions vorgelegt hat . weicht in einigen wesentlichen
Punkten von dem oben Vorgetragenen ab. Zunächst besteht eine einschneidende
Divergenz in der von H. Toutain vorgetragenen Ansicht, dass die villa Magna
die Domäne eines privaten Grundherrn gewesen sei. T. kommt zu dieser
Auffassung durch die irrige Interpretation der Worte „fundus villae Magnae"
die er zunächst als einen Begriff fasst === „der fundus Villa Magna" ; da nun
fundus ursprünglich das private Grundstück bezeichnet, glaubt er, dass auch der
fundus V. M. nur eine private Besitzung sein könne. Zunächst ist dieser Schluss
an und für sich nicht richtig, da doch fundus ganz promiscue mit saltus gebraucht
wird, ebenso wie praedium, welches ja auch ursprünglich das private Grundstück
bezeichnet (vgl. Grundherrschaften p. 20). Aber hier könnte ja immerhin ein
fundus villae M. eine gewöhnliche Privatbesitzung sein wie andere fundi, z. B. in
Afrika der „fundus Sallustianus" bei Cirta (C. VIII 7148). Aber wir haben es
eben nicht mit einem „fundus villa Magna", sondern mit verschiedenen innerhalb
der Domäne V. M. gelegenen fundi zu thun ; „in fundo villae Magnae" ist nicht
gleichbedeutend mit „in fundo Villae Magnaeu : Villae Magnae ist nicht der soge-
nannte „Genetivus explicativus" , sondern „Genetivus partitivus" und fundus
villae Magnae bedeutet „der in der v. M. gelegene fundus". Ueber die Eintei-
lung der grossen Landgüter in fundi habe ich oben gesprochen.
Die irrige Interpretation der Bezeichnung „fundus villae Magnae" war das
Ttgibrov ifjsvdog; ohne sie wäre T. nicht zu der seltsamen Erklärung des Auf-
tretens kaiserlicher Procuratoren auf privatem Grund und Boden gekommen, die
er vorträgt. Er glaubt, die villa Magna sei von den Procuratoren einem privaten
Possessor assigniert worden und die lex a procuratoribus data das Grundgesetz
der neuen Domäne (p. 29).
Offenbar hat die glückliche Lesung su[6c]esiva einen Anteil an dieser Ansicht;
subsiciva treten bei Assignation auf, also schien hier Assignation vorzuliegen.
Aber die subsiciva haben mit der Assignation zunächst nichts zu thun , sondern
DIE LEX MANCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄXENORDNUNG. 49
gehören zur divisio , der ersten agrimensorischen Manipulation bei Vergebung
öffentlichen Landes.
Doch, gesetzt den Fall, die villa Magna sei eine vom Kaiser einem Privaten
assignierte Possession, wie kann der Kaiser oder sein Procurator dieser Posses-
sion eine Ordnung, wenn auch eine noch so partielle geben? T. hat zuerst
ausser der Auffassung der lex als Gründungsstatut noch erwogen , ob sie nicht
die procuratorische Entscheidung einer Controverse zwischen dem Possessor der
villa M. und den umwohnenden peregrinen Bauern sein könne (p. 26). Diese
Hypothese war an und für sich bedeutend besser als die zweite , denn in der
That regeln ja die Procuratoren eine Controverse, nur nicht eine Controverse
zwischen Possessor und Peregrinen , sondern zwischen conduetores und coloni.
Zwischen einem Gutsherrn und seinen Nachbarn hatte in Africa proconsularis
nicht der Kaiser, sondern der Proconsul zu entscheiden , denn hier gebietet der
Senat1).
Die Lesung „ultra fundo villae M.u (I Zeile 5) statt intra führt To utain
zu der Annahme, dass sich die Urkunde auf aus ihren Sitzen vertriebene Pere-
grine beziehe — der Name Mappaliesiga, aus dem T. zuviel Kapital schlägt, trat
seinen Teil an dieser Auffassung. Die „mappalia Siga" (sie!) sind die ehemali-
gen Wohnstätten einer peregrinen Bevölkerung (p. 23) — also muss diese ver-
trieben worden sein. Nun wird auch der defensor , welches Amt dem Punier
Felix Annobalis Birzilis zugeschrieben wird, zum Vertreter eines Gaues von Pere-
grinen — hinzu kommt, dass in der Inschrift C. VIII 8270 ein defensor gentis ge-
nannt wird. Alle diese Combinationen sind an und für sich nicht übel, entbehren
aber jeder Begründung. Dass die Colonen auf eigenem Boden zu grundherr-
lichen Leuten gewordene Eingeborene gewesen seien, wie T. meint (p. 23 f.), ist
gänzlich hypothetisch und nur eine Combination aus dem Namen 3Iappaliasiga.
1) Es giebt Ausnahmen von dieser Regel: 1) in Senatsprovinzen: in dem Grenzstreit zwi-
schen dem delphischen Heiligtum und den angrenzenden Stadtgemeinden terminiert auf Befehl des
Kaisers ein legatus Aug. pr. pr. (C. III 567). Dies ist nicht etwa ein Statthalter, denn Achaia
steht unter dem Proconsul, sondern ein besonderer kaiserlicher Mandatar mit Specialauftrag (C.
III p. 107 zur Inschrift). Ferner ist in Mustis in Africa proconsularis folgende Inschrift gefunden
worden (Carton, Decouv.ertes en Tunisie p. 02): „Ex auetoritate et sententia imp. Caesaris T.
Aelii Antonini Aug. Pii determinatio facta publica Mustitanorum". Also auch hier geht die Grenz-
regulierung und Termination des Stadtgebiets vom Kaiser aus. 2) in kaiserlichen Provinzen: C. III
591 ; 749 Im übrigen ordnet diese Verhältnisse der Statthalter, also in einer senatorischeu Pro-
vinz der Proconsul (C. III 58(1 : Controverse zwischen Hypata und Lamia vom Proconsul Macedo-
nicus entschieden)» in einer kaiserlichen der legatus Aug. pr. pr. (vgl. die zahlreichen im Auftrage
des leg. Aug. pr. pr. von Dalmatieu gesetzten Grenzsteine CHI 2882; 8472; 9864» [Suppl.II]; 9938
[Suppl.II]; 9933 [S. II]). Ausuahmen kamen natürlich nur vor, wenn Stadtgemeinden in einem Grenz-
Itreit lagen; zwischen Privaten — wie zwischen dem von Toutain angenommenen Possessor der
Villa Magna und seinen peregrinen Nachbarn — wird stets der Statthalter entschieden haben und
selbst wohl zwischen einer Gemeinde und einem Privaten. Wenigstens kenne ich keinen Fall
kaiserlicher Judication in einer solchen Controverse. Mommsen (Staatsrecht III 234) nimmt sie
auch hier an.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Pliil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 3. 7 3
HO ADOLF SCHULTEN,
Sehr schlecht will dazu passen, dass T. diesen Colonen Sklaven und inquilini
zuweist, indem er LV 22 liest nservum inquilinumve coloni."
Bestimmend für die Annahme von Peregrinen, die, aus ihrem Wohnsitze ver-
trieben, ausserhalb der villa Magna siedelten, ist, wie schon gesagt, die Lesung
„ultra (statt inträ) fundo villae Magnae^^ was T. übersetzt „au delä, c'est-ä-dire
en dehors et autour du f'undus" (p. 22). Nun kann aber ultra ganz unmöglich
diese Bedeutung haben ; es heisst jenseits aber nicht ausserhalb , und das sind
trotz des c'est-ä-dirc sehr verschiedene Dinge. Ausserhalb und im Umkreis der
villa angesiedelte Peregrinen sitzen .extra /'. villae 31." ; nur extra wird dem
von T. der Stelle untergelegten Sinn gerecht.
Die dem Colonen zugesicherte Immunität von Fruchtquoten für „quinque fica-
tiones. vindemiae etc." (II 20 f.) interpretiert T. zu subtil: er nimmt an, dass ..post
quintam firationenr- etc. nicht mit ..posi quinque (septem, decem) annas* — auf
welchen Zeitraum in der ara legis Hadrianae Immunität gegeben wird — iden-
tiseh sei. sondern dass nach des Wortes schärfster Bedeutung erst nach fünf
{oder zehn bei Oliven) wirklichen Ernten , also z. B. für Oliven , da diese erst
muh 10 Jahren eine Ernte geben (s. Toutain p. 40), nach 20 Jahren Quoten
zu leisten seien (p. 40). Diese recht scharfsinnige Interpretation ist nichtsdesto-
weniger verfehlt, da die Berechnung der Ernten eine äusserst vage, weil unge-
mein subjeetive Norm gewesen wäre. Wann gilt denn eine Ernte als solche V
Wenn der conduetor sie als genügend bezeichnet oder wenn der Pächter es thut?
Auf einem an Controversen so reichen Gebiet . wie es die Leistungspflicht der
Colonen an den conduetor war, bedurfte es deutlicher, jeder Missdeutung unzu-
gänglicher Bestimmungen. Wollte man wirklich von den Colonen erst nach
mehreren guten Ernten Quoten fordern, so musste die Zeit der Immunität gleich-
wohl in Jahren ausgedrückt werden, also für Oliven, die erst nach etwa 10
Jahren eine gute Ernte geben, etwa 10 -f- 10 = 20 Jahre Abgabenfreiheit stipu-
liert werden. In epigraphischen Dingen hat die Analogie, nicht die Anomalie zu
herrschen und wenn in der ara legis Hadrianae Immunität auf eine Reihe von
Jahren, in der lex Manciana auf ebensoviele Ernten garantiert wird, so müssen
Jahrgänge und Ernten identische ßegrilfe sein. Toutain traut der Domanial-
gi setzgebung ausserdem doch zu viel Liberalität zu, wenn er annimmt, sie hnhe
dv)i Colonen fünf oder zehn volle Ernten geschenkt; es ist keine Frage, dass die
Immunität nur für die Zeit gegeben wurde, während der die Pflanzungen keinen
oder keinen normalen Ertrag liefern. Wie erklärt es denn Toutain, dass nicht
auch für die jriatas <tria',<<j (triticum, hordeum, faba) mehrere Ernten freigegeben
werden? Man versteht das sofort, wenn man die Immunität nur für die Zeit
der Ertraglosigkeit gelten lässt. da Getreide etc. gleich eine Ernte giebt.
Die flcas aridae [11 12 f.) fasst T. als getrocknete Feigen auf. während doch
der Zusammenhang zeigt, dass es sich nur um ficus aridae arbores , um alte
Feigenbäume handeln kann.
Den i; 10 (11 12) interpretiert T. (p. 41) so, als ob in ihm nur von dem mit
Wicken (ruhte) bebauten Land gehandelt würde, während doch der Accusativ
DIE LEX MAXCIANA, EINE AFRIKANISCHE DOMÄXEN'ORDXUNO. 51
agros zeigt, dass die Wickenfelder von den anderen — mit Futterung bestellten —
Feldern ausgenommen waren: vor ((gros kann nur praeter gestanden haben.
Auch den folgenden von dem Vieh handelnden Paragraphen (11) erklärt
T. (p. 43) nicht glücklich, weil ihm die Emendation quattuor statt des überlie-
ferten quattus entgangen ist. Die Annahme, dass es sich auch hier um eine
Teilung der fruetus handele, führt ihn vor die Aporie, dass statt der Quoten
raera quae ins (est)" — so für quattus — stipuliert werden, allerdings eine selt-
same Art von Fruchtquoten! Schuld an dieser Zwangslage, das für das Vieh
zu leistende Kopfgeld mit den Fruchtquoten in Einklang bringen zu müssen, ist
die Lesung [ri]ascmtur statt [p\a$centur , wie T. mit Cagnat zuerst richtig er-
gänzt hatte.
Toutain verbindet (p. 47) den Satz, in dem die inquilini — und vielleicht
auch £017?, wenn die Lesart SERVVM feststände — vorkommen, mit dem folgen-
den, der von den coloni und den Frohnden handelt (IV 22 f.) , und liest ..servum
inquilinu[mv]e coloni", glaubt also, dass die Colonen inquilini und Sklaven ge-
habt haben , woran doch gar nicht zu denken ist. Sklaven der Colonen , ja das
wäre noch denkbar, aber inquilini eolonorum ist ein Unding. Die inquilini stehen
in unseren Quelleu den Colonen durchaus gleich, sind, wie der Name sagt, Guts-
insassen wie jene. Auch hier machte die Analogie den Weg schwer veriehlbar :
wir wussten bereits aus zwei Urkunden *) , dass die Frohnden (operae) von den
Colonen zu leisten waren. Schon die sich aus der Vereinigung der Accusative
nservumquc inquilinumve" mit coloni ergebende Construction ;,ne quis conduetor . .
inquilinum coloni . . . [plus quam tot] operas pr[estare cogat]" hätte den Irrweg
zeigen sollen . denn in der ganzen Urkunde heisst es stets : „roluui — oder liier
inquilini — conäucioribus praestare debebunt". Was in dem unvollständigen Satz
„ne quis . . .■'•' gestanden hat, wissen wir nicht; es genügt festzustellen, dass er
unvollständig ist.
Ausser diesen wichtigeren Divergenzen finde ich bei T. noch einige Ver-
sehen: Licinius Maximus soll procurator tractus (Carthaginiensis) sein (p. 26). Das
ist gänzlich unmöglich, da er mit dem zweiten Procurator als lib(crt%is) proc{ura-
tor\ bezeichnet wird, denn procc. = procuratores steht da, wie auch T. liest.
Eine solche lex wie die vorliegende wird, wie die ara legis Hadrianae zeigt, von
dem procurator saltus erlassen. Die Cooperation der beiden Procuratoren schliesst,
ganz abgesehen von der Bezeichnung lib. proc. und der Analogie mit der ara
legis Hadrianae, den höheren Rang des Licinius aus.
Aus ex aream, wie die Urkunde statt ex area schreibt, macht T. (p. 16) ein
neues Adjectiv exareus, a, tun (exaream partem tertiam), wo doch die Verwechslung
der Casus einer der Hauptfehler der fehlerreichen Inschrift ist -) ! Oiivuüo kommt
nicht hier zum ersten Male vor, wie T. (p. 17) meint, sondern bereits in der
oben citierten Glosse, die übrigens im Forcellini abgedruckt ist (s. v. olivatio).
1) Dekret des Comraodus und Inschrift von Gasr Mezuar (s. Hermes 1894 p. 205).
2) intra fundo (I 5); ad area (I 12); post quinta vindemia (II 28); pro pecora (III 17).
3
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH - HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 4.
Die Proleg omena
UEPI K9.M9-IJIA2
Von
Georg Kaibel
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1898.
Die Prolegomena IIEPI KÜMQIJIAS
Von
Georg Kaibel.
Vorgelegt in der Sitzung am 30. October 1897.
Von zusammenhängender literarhistorischer Forschung des Altertimms ist
nur wenig auf unsere Zeit gekommen : um so mehr Beachtung verdienen die Pro-
legomena zur griechischen Komödie, die zur Einführung in die Aristophanesle-
ctüre bestimmt byzantinischer Fleiss uns in zahlreichen Handschriften des Ko-
mikers aufbewahrt hat. Eine ernstliche Prüfung dieser reichlichen und werth-
vollen Darstellungen ist bisher kaum versucht worden. Männer wie Platonios,
Andronikos oder Tzetzes sind für uns entweder keine Persönlichkeiten oder doch
keine Autoritäten. Wir fragen nach ihren Quellen und werden uns nicht dabei
begnügen, Namen durch Namen zu ersetzen. Eine Quelle zu finden, deren Name
sich nennen lässt, deren Ursprung aber dunkel, deren Werth unbestimmbar
bleibt, ist geringer Gewinn: lieber verzichtet man auf einen Namen, wenn sich
dafür das Alter der Quelle, ihr Character, ihre Zuverlässigkeit leidlich klar her-
ausstellt. Wenn ein Byzantiner Weisheit schöpfen will, so wissen wir dass er
sich nicht auf den mühsamen Weg der Forschung begiebt; er durchsucht nicht
den Wald nach vereinzelt fliessenden Quellen, er sucht ein Bassin, das von vielen
Zuflüssen gespeist wird. Sehen wir einen Byzantiner mit ungewöhnlicher Gelehr-
samkeit prunken, so gilt es zunächst das Bassin zu finden aus dem er geschöpft:
von da erst können wir den Quellen selbst nachgehen.
Aus einer Mailänder Handschrift hat HKeil im Rhein. Museum VI (1848)
S. 108 ff. einen Doppeltractat über die Komödie herausgegeben mit der Auf-
schrift BCßXog ^QiöToydvovg T^er^v (pogeovö' V7t0(ptjrr}v. Es sind zwei Vorreden
(7CQooi^ia nennt sie der Verfasser selbst) zur Interpretation des Aristophanes,
ich bezeichne sie mit Ma und Mb. Da beklagt sich Tzetzes über die Uuzuver-
lässigkeit seiner Gewährsmänner Dionysios, Krates und Eukleides, denen er einst
falsches über die Komödienparabase nachgeredet habe (p. 116 K): aklä ravza
[uv öl xo^o7CQE7i6lg i^rjyrjral xcd dida<5xuXoi ' olg et' nov xav (yLEiQi) pucg M&cog
1*
4 GEORG KAIBEL,
iiiEiöd'riv, Ev&vg xax avxovg dvrjQxrj^iEvog {lEXEcogog IxqCcov xov ifrEvdovg ccQidrjkog
yiyova (er meint iyeyövr} dv), 'xboyoiötv atcbarjiia yoivloig ÖE^iag (Lyk. 1080). cag
aoxi Ttoxe xr\v Eopvßov i]kixiav naxCov (so Nauck für tcocöCjv) xal xov alftEQiov
E^)]yov^Evogr'Oar\QOV TtEiöd-Elg'Hktoöcogoji xcoi ßÖElvocbi eitcov övv&Elvai xbvr'0^r\QOv
in! JlELöiöxodrov Eßdo[njxovxa dvo öocpovg , fov eivccl xal xbv Zrjvodoxov xal "'Agi-
ö~tc(qxov. Das berichtigt er nun, indem er die vier Leute nennt, die wirklich
unter Peisistratos den Homer zusammengesetzt hätten, Epikonkylos (so), Onoma-
kritos von Athen , Zopyros von Heraklei a und Orpheus von Kroton , während
Zenodot und Aristarch in weit spätere Zeit fielen : xavxa \iiv \ioi 'Hliodcbom (erg.
7ZEi6d-svxi) 6v{i7te7ix(ox£, xolg öe xäg xQayixag ßißlovg E^rjyrjöa^iEvoLg TtEiöd'Etg , olg
xal Oviol (pecöi xavxa, eitcov 'Oqeöxyjv xal "Alxr]6xtv Evotitidov xal xyjv ZJocpoxlEovg
'HkExxgav slvcti öaxvoixä doduaxa xxk. Ebenso nochmals Mb (p. 118 K) : xdv 6
TtEcpvQ^iEvog xoX ßÖEkvobg 'Hliööcjgog ovx Etdcog ort krjQEl (pvQr\t itävxa xal (cp. xa\
nd-vxa Cod.) 6v{iyLixxov xvxscbva yLuklov öe xotcqeCovu TtoirjL, etil UEUSMSxodxov xbv
r'ü{ir}Qov övvxE&YjvaL xal dQfrad-fjvccL kr\ocbv itagä x&v oß', ETtLXQi&rjvaL dh itdvxav
xy\v Zrjvodoxov xal 'Aoiöxdoiov 6vv&e6iv xe xal Öloq^cjölv, xal fj{iäg exl vsd^ovxag
xal 7tgcbxovg vsiY\vr\xag xElovvxag ettelöev ovxag eitceIv E^rjyovuEi'ovg xbv Ü^rjgov
xxl. Nun besitzen wir noch einen zweiten ganz ähnlich zusammengesetzten
Doppeltractat IJeqI xcoucjidtag, den zuerst Gramer Anecd. Par. 13 aus einer
Pariser Handschrift , dann aus anderen und besseren Handschriften Studemund
Philologus XLVI 1 herausgegeben hat. Da hier wirklich Zenodot und Aristarch
mit aller Unbefangenheit als Zeitgenossen des Peisistratos angesetzt werden, so
dürfen wir die auffällige Aehnlichkeit der Anlage , des Inhalts , vor allem des
Stils nicht für Zufall halten , sondern müssen in den beiden Pariser Prooemien
eine Jugendleistung desselben Tzetzes erkennen1): ich werde sie demnach mit
Tzetzes' Namen als Pa und Pb citiren.
Zu der falschen Ansetzung des Aristarch und Zenodot ist Tzetzes durch He-
liodor verführt worden. Das war unmöglich der Homeriker oder der Metriker,
sondern sicher ein Spätling, der genau soviel von der Ptolemäerzeit wusste wie
Tzetzes : es kann , wie Ritschi gesehen hat (Opusc. I 33 u. a.) nur der Scholiast
des Thrakers Dionysio* sein, dessen Zeit zwar nicht genau bestimmbar ist, der
aber sicherlich nach Choiroboskos lebte, also wahrscheinlich nach dem VI. Jahr-
hundert (vgl. Keitzenstein, Gesch. d. griech. Etymol. S. 190,4). In den Scho-
lien hatte demnach Tzetzes denselben Unsinn gelesen, wie wir ihn heute noch in
1) Freilich wol nicht die erste Jugendlejstuug : denn wenn es Pb § 26 heisst tag 'O^irigi-uccg
ßißlovg oß' yQtcn{iuxiY.ol iitl n&i6i6TQÜT0v xov 'A&i}vai(üv xvodvvov dtf'objxav ovxaal 67tOQÜ8r\v ovaag
xö 71qlv ■ irtEHQi&rioav ob %ax' uvxbv i-neivov xbv kcclqov vti 'Agiöxäg^ov %aX Zr\vod6xov , uXlcav
övx(ov xovxav xüv enl TJxoli^aCov diOQQ-(o6dvxcov , so zeigt dieser Vermittlungsversuch deutlich,
dass Tzetzes' zwei verschiedeneu Ueberlieferungen rathlos gegenüber steht, und da er in Mb p. 118
eingesteht, er habe den chronologischen Irrthum mehrfach begangen — anact- xal 8lg xovxo na&mv,
also wol recht oft — so stellt Pb schon einen ersten Schritt zur langsam erwachenden Erkennt-
niss dar.
DIE PROLEGOMENA T1EPI KfLM£lIJIA'S 5
den Scholien des Diomedes lesen können, (Bekker p. 767, 11; Villoison Anecd.
II 182), mit denen Tzetzes mehrfach bis aufs Wort übereinstimmt.
Der andere Irrthum, zu dem sieh Tzetzes bekennt, die Meinung, der Orest
und die Alkestis des Euripides, ebenso die Elektra des Sophokles seien Satyr-
dramen, wird xolg xdg xgayixdg ßtßXovg etrjyrjöauEVüLg auf die Rechnung gesetzt,
aber Tzetzes hat das nicht selbst in den Tragikerscholien gefunden, sondern bei
den ovxot, die mit jenen Schoben übereinstimmten, d. h. die jene Scholien citirt
hatten. Diese ovxot können, wie Nauck richtig erkannte (Lex. Vindob. p. 24*2!,
keine anderen sein als die vorhergenannten drei Männer, die ihn zu einer falschen
Erklärung der Komödien parabase verführt hatten, Dionysios, Krates und Euklei-
des. Er nennt sie xo^oitgEitEig i^rjyrjxal xal öiddöxaXot, also Scholiasten und
Lehrer (der Grammatik), ihre Scholien werden den Tragikerscholien entgegenge-
setzt, sind also selbst keine Tragikerscholien. Tzetzes nennt die drei Leute
häufig zusammen, auch in den Iamben (Gramer Au. Ox. III 347 23), wo er
6 EvXileidrjg xal Kgdxr\g dXXoi xe itoXXoC citirt, sind keine anderen gemeint, und
Tzetzes' eigenes Scholion zu dieser Stelle Aiovvöiog 6 ^AXuxagvaööEvg xal exeool
xccrä xbv T^sx^rjv beweist nur , dass er selbst nicht wusste , welcher Dionys es
war (Consbruch, Comment. Studem. S. 225 1; ebenso sind eben jene drei in
denselben Iamben p. 343, 8) zu verstehen, 6 Evxleiörjg xe xal Xoiitol tzoöol e'yga-
il<av , ävdgsg ev Xoyoig dir\gii£voi. Häufiger wird in den Iamben nur Eukleides
allein genannt, ein deutliches Zeichen, wie ich meine, dass er nur Scholien dieses
Mannes zur Hand hatte, dass Dionys und Krates in diesen Scholien citirt waren.
und darum die drei Männer für Tzetzes eine unlösbare Einheit bildeten. Das
dreifache Citat brachte ihn in den rühmlichen Verdacht unerhörter Gelehrsamkeit.
In dem einen Falle war es Heliodor, der Dionysscholiast, der die Unschuld
des Tzetzes verführte, in dem anderen war es Eukleides, gleichfalls ein Verfasser
von Scholien, wir wissen nicht zu welchem Schriftsteller. Beidemal konnte
Tzetzes sein Vergehen wieder gut machen, er verräth nicht aus welcher Quelle.
Ein dritter Fall liegt etwas anders. In den Iamben liegt xgayixijg 7iOLYJ<3£cog
(p. 345, 30 Cram.) zählt Tzetzes die Hestandtheile der Tragödie auf: axovs itdvra
vvv fiegri xgaycjidtag , a itgiv 6 Ei)xXEiörjg xe xal XoltcoI itoöoi ygdtyavxeg cog ygd-
epovat 6v^7C£(fvgii8vcjg xal övv&oXovöt Ttdvxag rjxgoa[ievovg , uegri XiyovxEg svvea
rtEcpvxevai , äXXa \lev dXXog xxX. Ohne die Verwerflichkeit dieser Neuntheilung
nachzuweisen, fährt Tzetzes fort (p. 346, 31) dXXoi dexa XEyovGo ... xdde. • 7tg6-
Xoyov, grjGiv. cmoißi]v xal äyysXov E^dyyEXov rs, 6xi]vtxr}v (bidijv apa, Ttgbg oiöTCEg
kXXi] x<bv iiEgojv xExgdg, xovgiöua, <5aX:iiy%, xal öxoitbg %ogov {i£xa. Es folgt die
Einzelerklärung derjenigen Theile aitsg 7iagEidd-Y]<5av EvxXelöyjl. Diese Probe
stumpfsinniger Systematik findet sich nur einmal noch wieder, in den Scholien
zur Dionysianischen Te%vyi (§ 2) , die Gramer aus einer Handschrift des ßritti-
Behen Museums Anecd. Oxon. IV 308 herausgegeben hat. Es ist die merkwür-
digste aller Scholiensammlungen , die uns weiterhin in erster Linie beschäftigen
wird; der Autorname ist nicht überliefert, denn die glücklich erhaltene Bei-
schrift (p. 322) xavxa Aovxtog (so) 6 Tagoalog Tiagaxid-Exat bezieht sich nur auf
9 ♦
6
GEORG KAIBEL,
einen kleinen Theil der Scholien, vgl. Hörschelmann , Act. soc. Lips. IV 333.
Nach Uhlig Dion. Thr. . p. XXXVI gebort die Cramer'sche Scholienmasse
dem Melampus (Diomedes) und Stephanos , aber die Namen lehren uns nichts.
Der Scholiast hat vom Epos und von der Lyrik geredet und geht darauf
ohne weiteres zur Tragödie über, indem er ihre Bestandteile aufzählt und zu-
gleich erklärt. Ich stelle seinen Text dem des Tzetzes gegenüber:
Scholien: Tzetzes Iamben:
1. ngoXoyog Q-oyog) £6x1 TCQoavacpcDvrixi- (nQÖXoyog) itotbxov Xoyov dl xvy%dv£iv
xbg xav diä xov dod{iaxog siödyeti&cu
psllövrcov.
2. Qf}6ig Xoyog diE^odixog, v%6 xivog xibv
vitoxQLTLxcbv ngoödiitrov XsyötiEvog TCQOg
xbv oyXov.
3. 'dfioißrj dl x&v eiöayo^ievcov 7CQ06c37t(ov
didXoyog.
4. ayyeXog 6 xcbv iteTtQaypevtov e"£co xrjg
noXeng r\ xf\g oixiag aitayyeliccv tiolov-
{isvog.
5. Der s^ccyysXog ist durch ein Versehen
ausgefallen.
6. 6xx\vixx\ dl dudi} i| vitoxgixixov tcqo6-
cotcov XeyotiEvrj.
7. xovQLG^ia dl fbidr} nEv&ovg yL£X£%ov6a
xal 6v{icpOQäg a7toxexccQ[isvG3v xäg xoi-
%«g.
8. öaXniy^ dl Xoyog iieql£%(ov xä tcoXe-
{ILXCC.
9. 6xo7tbg dl 6 xrjg (1. x&v i%) dXXodaTtijg
%uQag EQxo[isva)v X7]v ccTiayyeUav %oi-
OV(l£VOg 7tÖQQ(D&£V.
10. %oobg Öe 6v6xrj{ia Ttkeiovcov i^eXcag
xä Ttooöxei^teva cp&eyyöfisvov.
yivcaöxi fiot xcbv cjv &eXei Xeyeiv xig ex-
fteöLv Xoycov (p. 346, 7).
QY\6tg Xoyog xig iöxtv i£,rjyr}[idxG)v vtco-
xqlxov Xeyovxog ag Ttgbg xovg b%Xovg
(p. 347, 12).
rj <S' i% d^OLßr\g Ttgbg Xöyovg iöxlv Xoyog
(p. 346, 27). ^
bg (T ccv xä e^co xolg eöcod-i tnqvvei, elkrj-
%ev ovxog äyyiXov xXffiiv tpEQEiv ' ix öe~
fyCöv ßaivei de ngbg Xaibv pigog (p. 346,
10).
e^dyyeXog tvccXlv de xt\v xXr\6iv cpegei, rofg
ixxbg oöxig iirjvvet xä xcöv eöco' diä öxoüg
<f eßatve xfjg Xaiäg xoxe (p. 346, 13).
xb 6xr\vixbv de xvyidvEiv elvai vöet, vtio-
XQiXOV TtQÖÖCOTlOV UV GHdY(V XeyY[i (p. 346,
28).
xovgiö\ia d? Midi] övpcpogäg 7tXr]g£6xdxrj,
xavx7]v didövxcov xäg xgi%ag XExag^iEvcov
(p. 347, 16).
6äX%iy% Xoyog de 6v{ißoXäg iia%cbv Xiycov,
6xo7tbg d' 6 dt]Xibv ix £,£vrjg nagovöiav,
7lOQQG)&£V aVXOVg dtiOOCbV Xal 7tgoßX£7tG)V
(p. 347,18).
%ogbg di xi 6v6xrj[icc 7tgbg {liXog Xiyov.
Der Scholiast fügt eine Definition der Tragödie hinzu : xgaywcdia dl ßiav
xal Xöycov r\gcoix(bv ui[iri6ig £%ovöa 6£{Lvoxr}xa \lex iTtntXoxr\g xivog, dieselbe welche
von Tzetzes so wiedergegeben wird (p. 348, 30): axove Xoinbv xi xiXog xpaym-
diag ' [liinqGig r^d-ojv ngd^Ecov nad-r^idxav yiqguxov xqotcov xe xx\g xoayaidiag, öe^vo-
7tQ£7ti]g ks%ig xe xal dirjQtiEvri. Vgl. Aristot. Poet. 6 p. 1450 a 16.
Es leuchtet ein , dass Tzetzes entweder die Quelle der Scholien oder die
Scholien selbst in reichlicherer Fassung vor Augen gehabt haben muss. Ich
DIE PROLEGOMENA TIEPI KflMflUIAS 7
kann nicht umhin auf Tzetzes' Iamben genauer einzugehen als sie es an sich
verdienen. Er will über die Tragödie lehren was er gesammelt hat cjj cjv 6
EvxXeiörjg ts xccl Xoiitol noöoi sygajpav. Zwei Bestandteile scheidet er, rä öxyj-
vLy.cc und rä %oqlxcc, der Form nach Xt%ig und cDttftj. Die 6xrjvixd zerfallen in
itQokoyog, aneiCoöiov und £%odog , dazu rä anh äxrjvfjg (die öxrjvixrj guöyi) , die
%0Qtxd in jiccQodog, ardGipov, ipnefaia, xofifiog und e%oöog. Das ist nichts als eine
üble Erweiterung des Aristotelischen Capitels (Poet. 12). Die Theile werden
nach der Reihe besprochen, zum Theil mit deutlichen Anklängen an Aristoteles,
wobei gleich bemerkt wird, dass Eukleides (nur er wird citirt) nicht von einer
Xe%ig sondern von einer aidij %oqov rede, dass er neben der itägodog noch eine
ejtiTtccQodog ansetze , dass er die ififisXsia nicht erwähne (er nennt sie nämlich
v7ioQ%ri<5ig). Darauf berichtet Tzetzes von der Theilung des Eukleides und an-
derer, nicht ohne sie gleich von vornherein als verwirrt und verwirrend zu
schelten. Nach Eukleides sind es neun Theile: itQoXoyog, ccyysXog , QccyyeXog,
ituQodog, STtiTtagodog, öräöiyLov, v7ioQ%rnLarix6v, a[ioißcclov und ßxrjvixöv (d. h. rä
änb <5xYivi]g). Die Ordnung ist die, dass zunächst die Stücke die ein einzelner
Schauspieler, dann die welche der Chor allein vorträgt, aufgezählt werden ; dar-
auf folgen Dialogpartien mehrerer Schauspieler und Wechselgesang zwischen
Chor und Schauspieler. Das anordnende Element ist also die redende oder sin-
gende Person. Diesem System wird ein anderes gegenüber gestellt, das zehn
Theile scheidet (aXXot dexa Xsyovöiv), nämlich TtQÖXoyog, Qrjöig, ä^OLßala, ccyysXog,
QäyyeXog, öxrjvtxrj (bidrj, xovqi6[icc, 6uX7Ziy%, öxoTiog, %OQÖg. Hier sind also die
Stücke, an denen der Schauspieler betheiligt ist, noch weiter specialisirt (xov-
ql<5[icc ist im Grunde nichts als xö^i^og) , während die Chorpartien gar nicht in
Classen zerlegt werden sondern eine Einheit bilden. Auch dies schöne System
findet Tzetzes' Beifall nicht: ovro [ihv ovroC (pcttii öv^TtetpvQ^ivcog' otav 6 Ev-
xXeidrjg de xal KQarrjg ygdcpcov aXXov re TtoXXol rcbv Xoyoig ÖLTjQ^ievcjv , av&Qane,
xav xqlx^coöi totg örgocpotg Xöycov, rä öxrjvixä ygäcpovreg s^iTCscpvQUBvcog, [id&rjLg de
lirjöev i% exeCvcov cjv &sXeLg, dann, sagt er, wende dich an Tzetzes, der wird dir
das rechte ebenso kurz wie klar auseinandersetzen. Es wäre sehr voreilig zu
glauben, dass wie die Neuntheilung auf Eukleides, so die Zehntheilung auf Krates
zurückzuführen sei. Nur soviel lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen,
dass die Zehntheilung aus der Neuntheilung mit Hilfe pedantischer Erweiterung
herausgewachsen und somit später sei; durch Parcellirung der %OQixd hätte sie
leicht noch stattlicher werden können. Die Weisheit endlich, die Tzetzes selbst
vorträgt (TtgoXoyog, QrjGig, £7tei6odiov, e^odog, ä^ioißala^ xovQtö^iara, Gxrjvixd, jrccpo-
dog, e7tL7idQodog, ördöL^iov, öq%7]{icctix6v), dürfen wir auf sich beruhen lassen ; das
ist eigenes Gewächs, nicht etwa eine quellenmässige Berichtigung des Eukleides
und Genossen.
Die Zehntheilung hatte, wie wir sahen, mehreres mit der Neuntheilung des
Eukleides gemein, 7tQÖXoyog, äyyeXog, i^äyyeXog und äfioißalov. Zunächst hat nun
Tzetzes die neun Theile des Eukleides einzeln erläutert , so dass er nachher
nur noch fünf Stücke der zweiten Reihe zu erklären brauchte. In den Cra-
8 GEORGKAIBEL,
mer'sehen Scholien dagegen , wo nur die Zehnerreihe erhalten ist , finden sich
hintereinander die zehn Erklärungen, die Tzetzes theils gleich der Reihe des
Eukleides beigegeben, theils auf die Zehnerreihe verspart hat. Wenn nun ferner
Tzetzes gleich bei der ersten , wesentlich Aristotelischen Liste der Tragödien-
theile schon beiläufig Abweichungen des Eukleides nctirt, sieht das alles nicht
aus, als hätte er den ganzen Apparat in einer und derselben Vorlage zusam-
mengefunden? Da wir nun weiter wissen, dass Eukleides, der Eponymus seiner
Quellen, Scholien geschrieben hat und zudem als Lehrer (der Grammatik) be-
zeichnet wird, da ferner ein beträchtliches Stück der Tzetzischen Weisheit in
den Londoner Dionysscholien, und sonst nirgendwo, erhalten ist, wird es nicht
wahrscheinlich, dass die Scholien des Eukleides eben Dionysscholien waren?
wird es nicht noch wahrscheinlicher dadurch, dass Tzetzes überhaupt die Scho-
lien mit dem Namen des Verfassers bezeichnen kann ? gerade das ist für die
Dionysscholien characteristisch, dass sie in vielen Handschriften den Verfasser-
namen an der Stirn tragen, dass also niemals eine eigentliche Schlussredaction
wie bei anderen Schriftstellern stattgefunden hat. Man hat nur gesammelt und
jedem Manne sein Autorrecht gewahrt, so wenig dazu Veranlassung war, da
immer einer den anderen ausschrieb. Für die Umiänglichkeit dieser Scholien. die
wir noch heute freudig oder ärgerlich anerkennen , schickt sich die Fülle varii-
render Gelehrsamkeit am besten. Für Leute die keine eigene Ansicht haben
oder haben können ist die Aufzählung dessen was andere gemeint haben der
Gipfel des Verdienstes. Tzetzes hat seine Iamben noch als leidlich junger Mann,
sicher vor dem Tode seines Bruders Isaak geschrieben (f 1138), etwa 25 — 30
Jahre alt. (Giske De Ioannis Tzetzae scriptis ac vita 1881). Das war die Zeit,
wo er (iv {iSTQOig Ma p. 116 K) sich zu allerhand Thorheiten verführen Hess durch
Heliodor und Eukleides, Thorheiten die er erst später aus besseren Quellen um-
lernen konnte. Ich möchte in der That glauben , dass ebenso wie Heliodor so
auch Eukleides einer der vielen Verfasser oder Zuschneider von Dionysscholien
war. Sein Name ist freilich aus dem wüsten Trümmerhaufen jener Scholienlitte-
ratur bisher nicht emporgetaucht , aber so gut wie Wachsmuth im Codex
Burbonicus (Rhein. Mus. XX 379) einen bis dahin unbekannten Antonius gefunden
hat, so wage ich zu hoffen, dass sich ein Eukleides finden wird. Im Grunde
kommt ja nur wenig darauf an: die Namen der Dionyscommentatoren, Diomedes
(Melampus) Stephanos Heliodor Porphyrios Antonius , sind für uns nur leerer
Schall, Compilatoren ohne Persönlichkeit, von Werth nur für den zukünftigen
Herausgeber, dem sie die Ordnung der Scholienmassen erleichtern werden. Für
die eigentliche Quellenfrage ist es in letzter Linie gleich , ob Tzetzes Dionys-
scholien oder die Quelle der Scholien benützt hat: vielleicht hat er beides ge-
than. Aber soviel musste hier betont werden, dass während er seinen Irrthum
über Aristarchs und Zenodots Zeit und über die Natur des Satyrdramas durch
Anziehung besserer Ueberlieferung wieder gut machen konnte , ihm zur Berich-
tigung von Eukleides' Tragödiensystematik, die er für verwirrt erklärt, keine
bessere Quelle zu Gebote stand als seine eigene Entscheidung.
i\
DIE PROLEGOMEXA IIEPI KfLNiaiJIA^ 9
Was unter Eukleides' Namen überliefert ist, bedarf zunächst der Prüfung.
In Pb § 29 und ungefähr gleichlautend in Mb (p. 115 K) lesen wir folgendes:
exl iöxeov ort xaxä /Jiovvöiov xal Kgdxrjxa xal EvxXelöyjv ^sqtj xa^otöCag Eiöl
XEööaga' 7tgöXoyog, pEXog %oqov, etieiöoöiov xal E%oöog. xal ngoXoyog \jlev e6xi xb
Ht'XQL %oqov tfjg eIöoöov, t) de apa xftL eIöoöcjl xov %oqov Xsyo^itvrj g^tiig [leXog
xaXEixai %oqov, E7isi6oöiov öe eCxi (lEXog pExa^v (1. toxi xb tiExa^v) ^ieXü)v xal
qyjöscov ovo lOQixcbv. s^odog öe eöxlv r} Ttgbg x(oi xeXei xov %oqov gr\Oig. Soweit
ist es unvermischte Aristotelische Lehre, von der Tragödie auf die Komödie
übertragen. Es geht sogleich weiter: {lEgrj °*€ nagaßdöecög Eitxd. inidxig ydg 6
Xogbg uQ%Eixo, ETtELÖäv stg xr\v ogxrjörgav f^^p^fro, \)v öi] xal XoyEtov xaXovötv. fj
yLEV OVV TCQOJXYI QQX)](5ig XO[l{ldxLOV EktyEXO, l] ÖE ÖEVXEQCC 7lCCQdßaö'ig OUCOVVUCOg X(öi
yivEl ExaXEixo (xal ydg xb bXov xovxo xb ETixdöxgocpov 6xWa 7tagdßa6tg exccXelxo) x),
t] öe xgtxr\ [iccxQÖv , )) öl xExdgxi] d>iöi\ xca oTpoqrr/, rj öh he^itcxi] E7iiggr]ua, rj öe
exxyj dvxmöi) xal dvxißxgocpog , r\ öe EßÖoui] dvxETtiggrjua. elöeX&cov ovv b %oobg
eig xrjv dgxyöxgav ^ihgoig xttil öiEXiyExo xolg viioxgtxaig xal Ttgbg xr\v 6xi]vrjv
Ecoga xrjg xcj^icoiöiag. av ovv cjg ex TtolEcog eßccöt^s ngbg xb &eccxgov9 öiä xftg dgi-
öxEgäg utyiöog Eßatvsv, av d' cjg an dygov, Öid xfjg ÖE^iäg' xExgaytovL^b^iEvog xs* 6
Xogbg 7igbg uovovg Ecoga xovg vTCOxgtxdg, cctieX&ovxüjv Öe xCbv vxoxgixCbv ngbg
äucpoxEga xä {lEgr} xov örj^iov bgcov ex xExga(.iExgcov Ö£xal% öxiyovg dvartaiöxovg
Ecpd-EyyExo , xal xovxo ExaXEixo öxgocpr}. eIxu EXEgovg xoiovxovg Ecpd-EyyExo xal ixa-
Xelto avxiöxgocpog, aitEg äucpoxsga oi TtaXaiol EJCLggrifxa eksyov. bXrj öJ i) nagodog
xov x°Q°v ExaXEixo nagdßaöLg. GvpßaivEL öi] xb Eitiggr^ia tievxe 0i]iiaivEiv, avxo
xe xb olxewv örjiiaLvöiiEvov xal xijv öxgocfijv xal dvxLöxgocpov xal d)iör\v xal avx-
COLÖiqV , ETtELÖij Y] UEV ÖXgOCpi] XYjV CJLÖljV ÖYjUaiVEl, l) ÖE aVXlÖ~XgOCpOg XT(V dvxcoLÖi]V.
Dass nicht nur die Theile der Komödie, sondern auch die Theile der Parabase
der Dreimännerquelle (Eukleides) entnommen sind, wird in Mb ausdrücklich ge-
sagt, wo Tzetzes über den Unsinn, den er ausgeschrieben hat, gerechte Entrü-
stung an den Tag legt.
Zunächst liegt, wie schon bemerkt, auf der Hand, dass die Viertheilung der
Komödie der Aristotelischen Tragödie (Poet. c. 12) genau nachgebildet ist, und
dass ebenso wie bei Aristoteles so hier die Theile erst aufgezählt, dann einzeln
beschrieben werden. Nur silbenweis weicht von diesem Abschnitt der Coislinia-
nische Tractat ab, in dem ßernays (Zwei Abhandlungen S. 150) Aristotelische
Spuren zu finden gemeint hat. Diesen Tractat also oder seine (Quelle haben die
Dreimänner gekannt und benützt. Die Parabasentheile sind offenbar in Verwir-
rung gerathen. Der Grundfehler ist der, dass der Chor sogleich nachdem er die
1) In Mb befremdet ein Rechenfehler: to de inräargocpov Öq%t]{ic{ tovtg nagaßccaig stiuXbito
tibi ysvBL. xal i] 7iQmrr\ de ögxr]6LS öiicovvficog ran yivu necgäßaais, zb xqltov iicchqov xal nvCyog v.tX.
Man würde an den Ausfall eines Satzes denken, wenn nicht derselbe Fehler schon in den iauibeii
(p. 341, 20 Cr) vorläge. Er hat also hier die gleiche Quelle oder die gleichen Excerpte aus seiner
früheren Quelle benützt, in P also eine andere. Von Belang ist nur, dass Mb ebenso wie die
Iainben den Doppelnamen [iccxqov und nviyog bewahrt hat.
Abhdlgn. d. K. Gos. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 4. 2 (l
10 GEORG KAIREL,
Orchestra betreten die Parabase vorgetragen habe: es ist also Parodos und Pa-
r;il»;ise miteinander verwechselt worden, nicht von Tzetzes , sondern von seinem
Gewährsmann, wie sich aus dem zeigt was Tzetzes anderswo (Mb p. 121 K) in
seiner Unwissenheit und Verzweiflung sagt: xrjv da aiöakavöiv xavxtjv ov {la'Xov
eöxi {iol öitag uv xal xaXaöaiag , ai'xa aiöodov t) aio'aXavöiv rj aTtiqXvöiv tj inißaöiv
»j ndgodov rj Ttagdßaöiv rj dXXcog nag 6r\[iaiv(ov xavxö. Die Art der Verwirrung
ist auch äusserlicb noch ganz wol erkennbar, wenn es nach der tadellosen Auf-
zählung der Parabasentheile weiter heisst aiöaX&cov ovv 6 %ogbg sig xr\v 6gxY\6xgav
xxX. Es wird der Einzug des Chors beschrieben, sein Verhalten zu den Schau-
spielern, seine Stellung der Bühne gegenüber. Nun sollte, wie die Worte ditaX-
d-övxav x(bv vTtoxQLxcbv lehren, die wirkliche Parabase folgen. Da sie aber schon
an Stelle der Parodos vorweggenommen war, steht hier etwas andres völlig
sinnloses. Nicht viel besser ist was der Anonymus VII (Dübner Schol. Ari-
stoph. p. XVII) bewahrt hat: 6 £Opö$ 6 xco^itxbg ai6rjyaxo av xfji 6gxrj6xgai xäi
vvv Xayouavcoi XoyaccoL. xal oxa {iav ngog xovg vjcoxgixäg diaXayaxo, Jtgbg xr\v 6xyj~
vi]v dcpaäga , bxa da diiaX&ovxcov xdv vTioxgixCbv xovg dvaitaiöxovg dia^rjiai . 7tgbg
xbv dijfiov <x7ta0xoe(paxo, xal xovxo axalalxo öxgocprj. r)v da xä ia^ißala xaxgdfiaxga.
aixcc xi]v dvxiöxgocpov diiodovxag ndXiv xaxgdfiaxga anäXayov töcov öxi^ttV fjV da
anl xb TtXalöxov ig . axaXalxo da xavxa amggriaaxa ' i\ da oXrj ndgodog xov %oqov
axaXalxo jcagdßaöig. 'Agiöxocpdviqg av 'lnnavöiv (507) c al pav xig dvijQ xojv dgxaiov
xco^icotdodiddaxaXog f]{iäg rjvdyxa^av la%ovxag aitr\ Ttgbg xb ftaccxoov 7tagaßrjvai\
Dies Stück hat, da es im Venetus steht (und nur wenig abweichend in jüngeren
Handschriften), das eine vor Tzetzes voraus, dass seine Fassung hundert oder
mehr Jahre älter und darum etwas besser ist. Hier ist zwar auch schon Paro-
dos und Parabase verwechselt , aber die glücklich erhaltenen Worte t^v dvxi-
öxgoyov dito d bvx a g zeigen deutlich, dass es sich nicht um ein bestimmtes
Chorlied, sondern um die epirrhematische Composition schlechthin handelt. Das
wird unzweifelhaft durch die Glosse Et. M. 363, 46 amggrjuaxa ' av xolg %ogixolg
oxa 6xQ0(pr]v diöaiav palog (1. ua'lovg, vgl. Hephaest. p. 139, 18), analayov 7toii]^id-
xiov ig 6xi%cov. aixcc xi]v dvxCöxgocpov ditodovxag aitälayov ndliv xaxgd{iaxgov 7toirj-
{Ldxiov xcbv l'6cqv 6xi%cöv. axalalxo da xavxa aitiggiqiiaxa. Es hätte auch heissen
können aTttggrjfiaxixi) öv^vyia, wie Schol. Ar. Kitt. 1263. Die Corruptelen des
Anon. VII sind für uns völlig belanglos geworden: in den Worten ijv da xä
ia{ißaia xaxgduaxga war nur gesagt , dass auf die cndt] eine Anzahl von Tetra-
metern folgte.
In der Quelle des Tzetzes war also — abgesehen von später entstandenen
Wirrungen — vernünftiger Weise dreierlei behandelt: die Parodos des Chors
nebst seinem Verhältniss zur Huhne, die Parabase, endlich die der Komödie
eigentümliche epirrhematische Composition, nicht der Scenen. sondern der Chor-
vorträge. Aehnliches lag Hephästion vor de carm. p. 134, 16, vgl. p. 139, 13.
Diese drei Punkte ordneten sich offenbar einem der vier Theile der Komödie,
dem xoqlxov unter; ihre Behandlung schliesst sich also eng an den bei Tzetzes
vorangehenden Abschnitt über die vier Komödientheile an , ganz so wie die
DIE PROLEOOMEN A IlEPl KflM£LIJIA2 11
Theile der Tragödie, bei Aristoteles (c. 12) behandelt werden. Die Vermutbung,
dass die Quelle eine Art Poetik war, drängt sich schon hier auf.
Die beiden Pariser Tractate (Pa Tb) geben im grossen und ganzen die
Quelle des Tzetzes, wenn auch nicht am vollständigsten, so doch am genauesten
wieder. Pa zerfällt in drei Abschnitte. Der erste handelt vom Ursprung der
Komödie, er endet mit einer Etymologie des Wortes xco{icoidia und einer Begriffs-
bestimmung des komischen Dramas im Gegensatz zum tragischen. Dabei hatte
sich eine Theilung der Komödie in drei Perioden, ägiaCa ni<5r\ via, ergeben. Der
zweite Abschnitt kennt nur zwei Entwicklungsperioden, die a.Q%aCa und via, ihre
unterscheidenden Merkmale werden von besonderen Gesichtspunkten aus erläu-
tert. Der dritte Abschnitt bespricht die Quellen des yeXolov. Diese drei Ca-
pitel nun decken sich genau mit den dr^i anonymen Tractaten liegt xcöyLcoiÖCag,
IV. V. VI bei Dübner, und zwar mit V und VI bis aufs Wort genau. N. V
und VI stehen mit jedesmaliger Ueberschrift IJsqI xcoucöidiag schon im Venetus
hintereinander, ebenso im Venetus G, der die Prolegomena zu Aristophanes nicht
aus V hat, ebenso auch in zwei anderen nicht direct von einander abhängigen
Handschriften, im Vaticanus und im Estensis, ebenso endlich in der Aldina. N.
IV i.^t nur im Ambrosianus, dem nah verwandten Laurentianus @ und in der
Aldina erhalten, in ersteren beiden vor N. VI (V fehlt), in der Aldina durch
einen Biog 'AQiGtocpvvovg von N. V. VI. VII. VIII getrennt, zusammen mit N.
III, einem Tractat, den ausserdem nur der Estensis erhalten hat1). Da nun V
und VI in keinem erkennbaren Zusammenhange stehen, so scheint es als ob sie
von Anfang getrennte Abhandlungen gewesen und nur von Tzetzes, der sie ge-
trennt etwa in seinen Aristophaneshandschriften fand , unpassend zusammenge-
setzt wären. Aber das ist nicht nur an sich unglaubhaft — wer schreibt solche
Miniaturabhandlungen — . es ist auch nachweisbar unrichtig. N. VI ist bekannt-
lich nur ein kleiner, wenn auch ausgeführter Theil des Coislinianischen Tractats
X d. Dübner ) , von N. V lässt es sich wahrscheinlich machen, dass diese merk-
würdige Begründung der zweitheiligen Komödie dereinst mit N. IV oder einem
Tractat ähnlichen Inhalts verbunden war. N. V beginnt mit den Worten xr\g
xcoucjidtag tö \lIv eötlv aQ%alov , tö öe viov , rö da \1160v. Weil aber hier nur
von der ag%aCa und via die Rede ist. hat Meineke rö öe pitiov tilgen wollen,
mit Recht zugleich und mit Unrecht. Tzetzes hat den thörichten Zusatz eben-
falls, wie ihm auch eine böse Lücke im Text mit dem Tractat N. V gemeinsam
ist. Man möchte glauben, dass er Lücke wie Zusatz eben einer Aristophanes-
handschrift verdankt, aber so liegt die Sache nicht. Tzetzes leitet das Stück
mit den Worten ein (§ 14) xal naXiv xa&' higav diaigeöiv Tftg xco^Kotdiag rö \iiv
iönv aQiaiov xtA. So kann kein selbständig gewordener Tractat beginnen, son-
dern nur ein Capitel, das im Gegensatz zu einer Dreitheilung der Komödie jetzt
v<>n der Zweitheilung handeln sollte. Da bei Tzetzes die Worte sinnlos sind
— denn er hat eben vorher von etwas ganz anderem geredet , vom Wesen der
1) Zacher, Fleckeis. Jahrb. Suppl. Bd. XVI 505 ff.
12 GEORG KAIBEL,
Komödie und Tragödie — so bat er sie verständnisslos aus seiner Quelle abge-
schrieben, seine Quelle waren also nicht zusammenhangslose Tractate, sondern
eine einheitliche Darstellung von den Entwicklungsperioden der Komödie. Nehmen
wir an — die Annahme wird sich nachher bestätigen — die Quelle sei eine
Scholien Sammlung zu Dionysios Thrax gewesen: der erste Scholiast hatte nach
einem litter arhistorischen Handbuch ausführlich über die Komödie gehandelt,
auch über ihre verschiedenen Perioden, erst über die Dreitheilung, dann über die
Zweitheilung. Diese Stücke wurden — das ist nachweislich geschehen — aus-
einandergerissen., in der einen Scholienbearbeitung erhielt sich nur das eine, in
einer anderen das andere, so aber dass das andere Stück die einleitenden Worte
Ttdhv xa& ärtQccv diaigeöw, obwol sie nicht mehr passten, mit mechanischer Treue
bewahrte. Solche- Dinge sind ganz anderen Schriftstellern als den Dionysscho-
liasten passirt. Das zweite Stück wurde also selbständig und nun schrieb einer,
dem die dunkle Erinnerung an eine yLtöi] xcoucjiöta auftauchte, diese wie er
meinte nothwendige Ergänzung dazu. Das war in der Quelle geschehen , die
den anonymen Tractaten IIsqI xco{i(oidiag und den Prooemien des Tzetzes gleicher-
massen zu Grunde liegt.
Der zweite Abschnitt des Tzetzes (= Anon. V) setzt demnach wegen der
Eingangsworte ndliv xatf txegccv dtatQsöiv eine andere Abhandlung über die
Dreitheilung voraus , und die ist nun nicht nur im Anon. IV und bei Tzetzes
(Pa sj 1 — 11) sondern auch in den Dionysscholien erhalten (p. 747, 24 Bekk, vgl.
III p. 1160. Sturz Et. Grud. p. G6G. (xaisford Heph. I 376, letzterer aus dem vor-
trefflichen ßaroccianus 166). Offenbar sind die Scholien Quelle des Tzetzes :
sein Text weicht nur in ganz belanglosen Zusätzen , Auslassungen oder Wort-
veränderungen ab. Selbst die Einleitungsworte, die das Stück deutlich als Scho-
lion characterisiren *), sind beiderseits dieselben : xaiimdiai liyovxau xcc xCbv xeo-
fitx&v noiY^iaxa , ag xä xov Msvdvdoov xal 'Aoiöxocpdvovg xal Kgaxivov xal xav
o^iolcjv2). Der Anon. IV ist sehr viel kürzer — er lässt z. B. ^ausser dem Ein-
leitungssatz den Susarion als domyog trjg £{1[16xqov xco^icjidtag ganz bei Seite —
im übrigen steht er bald zum Scholion bald zu Tzetzes in näherer Beziehung;
der wichtigste Punkt, in dem er von beiden abweicht, ist dass er die ersten pri-
mitiven Komödienspiele nicht auf das Theater (inl ftedxQov) sondern auf den
Markt (int iieorjg dyooäg) verlegt. Eine gemeinsame Quelle, Dionysscholien oder
deren Quelle, ist trotzdem für alle drei Fassungen sicher.
Die Erzählung selbst, wie die Komödie entstanden sei , ist sehr eigenartig.
Landleute, die von den Bürgern geschädigt worden sind, ziehen nächtlicher Weile
1) Vgl. die gleichen Scholienanfänge p. 733, 24 itoir\xcu Xiyovxui ol tu f^fistQa yQccipccvxsg
und p. 751,9 t'nog xt'^ucog 6 l'fi^txQog Xöyog Xiysxai. Beide Scholien tragen im Burbonicus den
Namen des Dioraedes. Vgl. die nächste Anmerkung.
2) Das Scholion gehört dem Diomedes , dem im Burbonicus ausdrücklich das entsprechende
und fast mit den gleichen Worten beginnende Scholion über die Tragödie zugewiesen wird (p. 746,
1 B) xQayandCa Xiytxui zu x&v XQCcyt,-x.ä>v 7toirnicczce, oug tu xov Evgniidov xca UocponXsovg xca Al-
c%vXov xca xüv xolovxcov. An sonstigen Aehnlichkeiten der beiden Scholieu fehlt es nicht.
DIE PROLEGOMENA TIEPI KflMflUIAS 13
in die Stadt und erhoben vor den Häusern ihrer Bedrücker Klage. Dadurch
kommen die Angeklagten in üblen Ruf, so dass sie sich bessern. Die Väter der
Stadt finden das nützlich und veranlassen die Dorfleute in Zukunft ihre Klage
öffentlich vorzubringen, auf der Bühne oder auf dem Markt. Das thun sie, aber
aus Furcht vor den reichen Bürgern thun sie es maskirt. Susarion giebt dem
Scheltlied, das jetzt üblich wird, künstlerische Form. Auf die Erzählung selbst
werde ich später zurückkommen. Hier genügt es zunächst eine wesentliche
Eigenthümliclikeit hervorzuheben: der Erzähler operirt mit einer doppelten Ety-
mologie des Wortes xco^tcjidLa. Dörfler sind es (xco^ifjxai) , die bei der Nacht
(itegl xbv xcciqov xov xad-Evdscv) in die Stadt ziehen. Die Zeit des Schlafes heisst
xü^ia. Beide Etymologien stehen nebeneinander Schob Dion. p. 749, 20 B : EiQr\Tai
öe xcj^icjiöia ofovsl Eni xcbt xcoiictTL cndij ' xal yc(Q TiBQi xbv xaigbv xov vnvov icpsv-
Q&fti] ' xcöficc yäo 6 vnvog. rj r) xCov xco^LiqrCbv Odidiq. xCo^iai yug Xiyovxai ot /t£t£o-
vsg dygoc (nicht Aecker, sondern Bauerngüter oder Complexe von Bauerngütern).
Wer xcj^lt] und xcö^ia gleichzeitig zur Erklärung des Wortes benützt, muss beide
Nomina von derselben Wurzel ableiten. Das ist die Art des Philoxenos (vgl.
Reitzenstein , Gesch. d. gr. Etym. 186), und wirklich besitzen wir was Phi-
loxenos über die gemeinsame Wurzel gelehrt hat. Wie er ein Urverbum ycb
(= %coqgj) ansetzte, um davon yr} yvvr\ yaöxrjg u. a. abzuleiten, so galt ihm x<&
als Urelement (tfopji f"r ^c6fi^ xco^iog xcjua u. a. Vgl. Orion p. 119, 19 öqe<5-
xcoLog ' nagä xb xä drjlovv xb xot^iuy^ica, ov 6 {ieXImv xcböa, Qr\uaxixbv ovo^ia xcbg
(d. i. xobag), Gvvdsvov oQSöxcbg xxl. ovxa Oilo^svog, besonders aber Steph. Byz.
400,22 M. xcburj' ev xalg iiaxoalg böolg (auf den Heerstrassen) petia (1. (iel^cj)
%cjqlcc exnöav nobg xb xoi{ia(j&ai vvxtbg EmyiyvoyLEvr\g, o&ev xal EnixixXY\xai , hg
Q)il6%Evog. Vgl. Pollux IX 11. 37. Die Zeitbestimmung der Etymologie, die
sich daraus ergiebt, nützt uns für. die Zeitbestimmung der Erzählung nichts, da
diese auch ohne die Etymologie bestehen konnte und aller Wahrscheinlichkeit
lange vor ihr bestanden hat, Wol aber finden wir die gleiche Ableitung an
einer anderen Stelle wieder, die uns mehr lehren wird. Das Et. M. 764, 1 hat
eine grosse litterarische Doppelglosse unter d. W. xoayaidia bewahrt. In der
That geht die Glosse die Komödie ebenso sehr an wie die Tragödie, nur dass
beide nicht ganz gleichartig behandelt werden. Zunächst steht da eine Defini-
tion der Tragödie : egxi ßiav xe xal Xöyoiv {jQCOLxCbv [iLiiqöig, also ein Bruchstück
der bei Tzetzes sowie in den Cramer'schen Dionysscholien erhaltenen Defini-
tion (S. 6). Dann folgen verschiedene Etymologien von xoayeoidia , die sich alle
in den Bekker'schen Dionysscholien wie bei Tzetzes wiederfinden. Ebenso
werden verschiedene Etymologien von xco^Koidia verzeichnet, und im Zusammen-
hang damit die Erfindung der Gattung erzählt: i) inl xöjl xä{iaxi cjtdrj. inEidrj
inl (1. nsQi) xbv xaigbv xov vnvov xr\v ag^r\v EcpEvgE&rj. r) rj xcbv xoj^lijxCjv &idr\'
xwjitat yäg kiyovxai oi {lEit.ovsg ccygoC. Das ist wörtlich das Dionysscholion, mit
dem fast ebenso wörtlich die nun folgende Erzählung vom Ursprung der Ko-
mödie stimmt, nur dass im Et. M. nicht mehr als der Anfang ausgeschrieben
ist. Dies alles würde kaum Beachtung verdienen, wenn nicht ein neues hinzu-
14 GEORG KAIBKL,
träte: {xgayojLdia) dito xr\g xgvybg xgvycoLdta. i\v de xb bvo[ia rothro xotvbv xal
ngbg xr\v xcj^icotÖLav, enel ovtccj dtexexgtxo xä xyg TtoiY\6ecog exaxeoag, alX etg av-
xi\v (vielleicht dXX exaxeoag) ev i]v xb a&Xov rj xqv^. vöxeoov de xb pev xotvbv
bvo[icc £6%ev rj Toccyaiöicc, i] de xcj^icoLÖLa cdvo/iatfO'r? , eneidi] Ttooxeoov xaxd xcb^ag
ekeyov avxä ev xalg eogxatg xov zJiovvöov xal xrjg z]r\^r]XQog. Das ist ein Ver-
such, wie er uns in mehrfachen Fassungen erhalten ist, die beiden verwandten
Gattungen auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen, ein Versuch zu dem
sich mancher Literarhistoriker, nach Anleitung des Aristoteles zwar, aber doch
im Widerspruch mit ihm, verlockt fühlen musste. Dieselbe Combination in noch
weiterem litterarhis torischen Zusammenhang bietet Tzetzes in den Jamben liegt
dtacpogäg TioirjxCbv (v. 57), wo es vom Drama insgemein heisst: xXr)6Lg de xolg
6v(iitci6iv i\v xQvyaidCu ' %qövcjl ÖLrjLoe&r} de xXrjöig ig xqiu, xco^coidiav äfia xe xal
xoayojidiav xal öaxvgtxijv xwvde xr)v {ie6aLxdxY[v. oöov fiev ovv e6yr\xe xr)v d-gqv-
(aiöcav, xgaycotdiav ecpaöav ot xgixal xoxe' o6ov de xov yeXojxog r\v xal öxcD^i^dxcov,
xco^icotdiav ed-evxo xi)v xXft6iv ytgeiv. aiicpco de Ttgbg <5v6xa6iv x\6av xov ßiov ' 6
yäg xgayixbg xobv itdXai Ttdftri Xeycjv — xovg ^Cbvxag e^rjXavvev dyegco%iag, b xco{itxbg
de iiiog yeXüv xa^icoidiatg agitayd xiva xal xaxovgyov xal (p&ogov xb Xoiitbv r\dgaC(a6ev
eig evxoO(iiav. Das stimmt allerdings nur in ganz wenigen und nicht sehr wesent-
lichen Punkten mit dem Tragödienscholion des Diomedes (p. 746 B), aber trotzdem
spricht vielerlei dafür, dass Tzetzes für diese sehr leichtfertige Litteraturgeschichte
entweder ausschliesslich oder hauptsächlich Dionysscholien benützt hat. Diomedes
sagt von den Tragikern (p. 74o, 5) fteXovxeg wyeXeiv xoivv\i xovg xrjg noXeag und von
den Komikern (p. 748, 29) genau dasselbe, Tzetzes aber von beiden Dramen (v.
24) fyiqpco Ttgbg üxpeleiav evgrjvxai ßCov, und wenn er in der vorher ausgeschrie-
benen Stelle dafür behauptet c^kjpco de Ttgbg övGxaöiv r\6av xov ßoov, so ist das
einer seiner vielen Fehler ; die Quelle hatte nur von der Komödie behauptet, sie
sei övöxaxixr) xov ßtov. Ferner nimmt Tzetzes ohne weiteres die Korinna in den
Kanon der Lyriker auf (v. 19) und stellt so eine dexäg dgiöxri itavxeXr\g TtXvtge-
öxdxi] her. Sonst pflegt man sich mit neuen Lyrikern zu begnügen, nur in dem
kleinen Verzeichniss bei Boeckh Pind. II 1, 7 heisst es vorsichtig xcveg de xal
xr)v Kogivvav, und nur in den Dionysscholien (p. 751, 26) wird Korinna als zehnte
Muse zugelassen M. Es Hesse sich noch mehr anführen , aber das was hier in
Betracht kommt bedarf keines Beweises weiter , dass der Anonymus IV, die
Dionysscholien, Tzetzes und die Glosse des Etym. M. einer und derselben Quelle
gehören und dass diese Quelle eine literarhistorische war, die Tragödie, Komödie
unü Satyrdrama auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführte. Die gleiche
Entstehungsweise wurde vornehmlich durch die ähnliche Form der drei Gattungen
gestützt, nach Auffassung jenes Literarhistorikers auch durch die ähnliche Ten-
denz: das führte mit Notwendigkeit zu einem Vergleich der drei Gattungen
1) Bei Bekker fehlt 'Alnccfog , der aber im Burbonicus an richtiger Stelle hinter 'AXy^idv ge-
nannt wird. Das Verzeichniss ist alphabetisch, nur Korinna als Eindringling fällt aus der Reihe
(xal dev.tirri Koqlvvu).
DIE TROLEGOMENA TIEPI KfLMflIJIA2 15
unter einander, und diesen Vergleich finden wir in der That bei Tzetzes {Tb
§ 27. Mb p. 119). verbunden mit einer Inhaltsangabe des Euripideischen Syleus.
Tzetzes bringt das vor, um seine frühere irrige Ansicht vom Satyrdrama richtig
zu stellen. Die Scholien des Eukleides hatten den Irrthum veranlasst (S. 5),
die Berichtigung- stammte also aus einer anderen Quelle, wie sich jetzt sagen
lässt, aus einer literarhistorischen Quelle.
Ebendahin führt eine weitere Spur. Wir sahen, dass die drei Theile des
ersten Pariser Tzetzestractats (Va) genau den drei Anonymi IV. V. VI ent-
sprachen. Selbst darin kommen sie überein, dass sie den ersten, den historischen
Abschnitt (Anon. IV) mit einer Begriffsbestimmung der Komödie und Tragödie
beschliessen, an die sich nicht ganz bequem der zweite Theil (die Zweitheilung
der Komödie, Anon. V), um so bequemer aber der dritte (über das Lächerliche,
Anon. VI) anfügt.
Anon. IV. Tzetzes Va § 12.
xal xrjg [isv xgayaidCag xb stg iöxl öe xaficotdCa ^iC^irjötg ngd^sag
e'Ieov xiv y\ 6 ctt, xovg dxgoaxdg xad-agxrjgtog Ttad-rjfidxcov , övGxaxixrj
i'diov, xijg ös xco^lco lö tag tö eig xovßCov, did ys'Xaxog xal rjdovfjg xv-
yslcjxa. diö, cpatiCv , y\ ^lev xgayaidCa itovpEvri. d tacp bqsl öe x g aya id Ca
kvei xbv ßCov, 7] ös xay^icoiöia 6vv- x co {i gdlö Cag, oxirjfisvxgaycjidCa
CöxrjGiv. 1(5 x o g Ca v e%ec x ccl ditay ysXCav
Schol. Dion. p. 747,20 (Stephanos). ngd^e cov ysvo [isvcov, xdv ag riöri
öua(pBQ£i ös xcopaud Ca xgaycoi- yivopEvag^ 6%r\uaxCt,rii avxdg, rj dl xcofi-
dCag, ort rj x g ayco id Ca Löxog Cav coidCa itXdo {iax a tisql e%e i ßtco-
ilEL xai ircay y e ICav (1. an-) % gd- xixcbv tc g ay^idxcov , xal öxi xf^g
%eov y e vo [ievcov , rj ds x gj p o l d C a {iev x g ay a id C a g öxoitbg xb stg
itkdöpaxa % e g l e % e i ßicoxcxcav ftgfjvov XLvf\6ai x o v g äxQoax d g,
ngayiidxcov. xf\g ds xoj^lod lö Cag sig yiXcoxa.
Durch diese Erörterung wird der Zusammenhang von Anon. IV und V und
ebenso der Zusammenhang bei Tzetzes gesprengt. Wenn jetzt folgte, was
Tzetzes im dritten Theil und was der Anon. VI giebt 'die Quellen des Lächer-
lichen aber sind folgende' so wäre das ein natürlicher Fortschritt : es war aber
auch der ursprüngliche, wie der Coisliniansche Tractat deutlich zeigt (XdDüb):
x©jUGH<5ta E6xl {iC{ir}6i,g Ttgd^Ecog ysloCov xal duoCgov ybEyE&ovg xeXeCov — e%ei öe ^r\-
xega xbv yEkcjxa; yCvExai ös 6 yilcog dito xfjg lE%Eog — anb xav itgay^iaxcov xxl. Also
der Anonymus IV sowol wie Tzetzes haben das Stück an unrechter Stelle. Der
Anonymus kann nicht von Tzetzes abhängen, weil er älter ist, Tzetzes nicht von
jenem , weil er mehr hat. Diese Quelle war inhaltlich eine litterarhistorische
oder eine Poetik, wie der Coislinianische Tractat; da aber in einer historischen
oder systematischen Schrift eine derartige Verstellung unmöglich ist , so muss
eine Mittelquelle angenommen werden , deren Beschaffenheit die Verwirrung
glaublich macht. Das können nur Excerpte sein , am besten Scholien wie die
zum Dionys: in der Bekker'schen Sammlung steht gerade das betreffende Stück
16 GEORG KAI BEL,
(p. 747, 20) noch heute an ungeschickter Stelle in einem ganz unmöglichen Zu-
sammenhang.
Wie sich früher (S. 8) gezeigt hat, dass die Eukleidesquelle des Tzetzes
die Theile der Komödie ganz nach Aristotelischem Vorbild sonderte , so finden
wir hier die Definition der Komödie ganz der Aristotelischen Tragödiendefinition
(c. 6) angeglichen. Aber daran ist nicht zu denken, dass die Komödiendefinition
eben die verlorene des Aristoteles sei — Bernays (Zwei Abhandl. S. 145) hat
einer derartigen Vermuthung den Boden entzogen — und ebenso erweist sich
ein anderer verlockender Schein , als ob Tzetzes und der Anonymus in ihrer
Quelle doch noch einen Rest vom echten Wortlaut der verlorenen Poetik vorge-
funden hätten, sofort als trügerisch. Der namenlose Scholiast zur Rhetorik (p.
260, 1 Rabe) sagt; tiööcc sl'örj eLölv xcctf a xivrfiai zig rovg axQoaräg stg yelaxa,
ei'Qr\rai ev rüL IIsqI %oiv\rixY\g , dieselben Worte also die wir bei Tzetzes und
dem Anon. IV lesen. Das sieht in der That aus wie ein Citat aus der Poetik,
aber wie sollte der späte und ungelehrte Scholiast zu. einer so kostbaren Perle
gekommen sein. Er hat vielmehr nur Aristoteles' eigene Worte vor Augen,
Rhet. III 18 p. 1419 b 2 tleqX öh rCbv yeloicov — eiorjrcu %o6a eidr} yeXoiav söziv
iv rolg IIeqI TtoirjtLxrjg. Aber dass er den gleichen Ausdruck braucht xivrfieu,
rovg axooaräg sig yelcöra, der bei Tzetzes und dem Anonymus wiederkehrt, das
beweist dass er die gleiche Quelle benützt, also die Reminiseenz an die Rhetorik
nicht aus dieser selbst schöpft. Nun wird aber ein Aristotelesseholiast. wenn er
eine Bemerkung über die Arten des Lächerlichen anbringen will , nicht gerade
in den Dionysscholien nachschlagen , sondern am natürlichsten in einer Poetik
oder Literaturgeschichte. Auch diese unscheinbare Spur bestätigt uns, dass die
Materialien, die in den Dionysscholien noch heute in Fülle vorliegen, dem Tzetzes
aber noch in grösserer Fülle vorgelegen haben, auf eine sehr ergiebige litterar-
historische Quelle zurückzuleiten sind.
Verschwendung ist ebensowenig ein Beweis des Reichthums wie des guten
Geschmacks. Es ist nicht wahrscheinlich, dass schon die ältesten Erklärer, die
an sich sehr einfachen ersten Paragraphen der Dionysianischen Tt'ivr\ mit einem
Wust gelehrter Anmerkungen verbrämt haben , die zum besseren Verständniss
des Textes nicht viel beitragen konnten, den Leser vielmehr langweilen und
hemmen mussten. Was ein jeder der gelehrten Philosophen oder Grammatiker
unter zi%vr\ verstanden , wie ein jeder Begriff und Umfang der Grammatik be-
grenzt, wie sie den Unterschied von 7ioir\^ara und 6vyyQafi^iccra gefasst und die
Erfordernisse der avdyvoötg bestimmt haben, das alles zu verzeichnen wurde
erst für diejenige Zeit ein Bedürfniss, in der die einst lebendigen wissenschaft-
lichen Begriffe und Anschauungen abgestorben waren und durch fossile Gelehrsam-
keit zu einem neuen Scheinleben zurückgerufen werden mussten. Literarhisto-
rische Eorschung lag den Philologen nach Proklos' Zeit fern, sie waren mehr im
modernen als im griechischen Sinne Grammatiker. Um so stattlicher aber sah es
aus, wenn diese Helden der Kavoveg und 'Etuileqiöllol zum Staunen ihrer Schüler
altphilologische Gelehrsamkeit scheffelweise aus den Aermeln schüttelten. Natur-
DIE PROLEGOMEN A 7IE PJ K£lMfLIJIA2 17
- lieh durfte sie nicht viel kosten, und die verschwenderische Art, mit der die
Scholiasten zu den ersten beiden Paragraphen des Dionys das alte Gut auf den
Markt geworfen haben, zeigt deutlich wie bequem ihnen der Erwerb geworden
und wie handliche und reichliche Quellen ihnen zu Gebote standen. Gerade diese
Theile der Dionysscholien haben bisher am wenigsten Beachtung gefunden, was
zwar aus vielen Gründen begreiflich, aber doch aus noch mehr Gründen bedauer-
lich genug ist. Nur wenige Leute können die theils noch ungehobenen, theils
noch ungeordneten Schätze überschauen, und wir anderen mögen, selbst auf die
Gefahr hin bei lückenhaften Kenntnissen fehlzugreifen, das zugängliche Material
nicht ungenützt liegen lassen. Der merkwürdigste Commentar zu Dionys § 2
{IIsqI avayväöacoq) ist aus einer Handschrift des British Museum von Gramer
Anecd. Oxon. IV 308 herausgegeben worden : einen Theil habe ich früher schon
herangezogen (S. 6), jetzt verlangt da? Ganze eine nähere Betrachtung. Eine
gewisse Verwandtschaft mit den umfänglichen Bekkerschen Scholien ist überall
zu spüren , ganze Sätze finden sich in beiden Sammlungen , öfters in wört-
licher Uebereinstimmung wieder. Das beweist den gemeinsamen, einheitlichen
Ursprung aller dieser Commentare. Um so deutlicher aber zeigt die Lon-
doner Handschrift, wie unendlich ausführlicher die Scholien dereinst gewesen
sind , zumal das was sie bewahrt hat selbst schon durch Kürzungen und Aus-
lassungen oft bis zum äussersten entstellt und völlig zusammenhangslos ge-
worden ist.
An die Worte des Dionys (§ 2) dvdyvcjöig 86tl 7toLY}{iutG)v tj övyyQa^adrcov
a$La7iTcoTog iiQQQpoQa knüpft der Scholiast eine kurze Auseinandersetzung über
den Unterschied von Prosa und Poesie , daran eine sehr ausführliche Darlegung
des Begriffs, des Umfangs. der Gattungen und Arten der Poesie. Kurz es sind
hier die Reste einer Systematik der griechischen Poesie , einer Poetik im Aus-
zug erhalten. Eine ganz vorzügliche Quelle ist mechanisch ausgeschrieben , zu
Anfang, wie es zu geschehen pflegt, reichhaltiger und genauer, allmälig immer
flüchtiger , bis zur blossen Notirung einzelner Stichwörter. Schon dies allein
beweist, dass eine einheitliche Quelle zu Grunde liegt: für den nächstliegenden
Zweck, die Erklärung des Dionys, war das alles mehr oder weniger werthlos,
der Scholiast excerpirt mit wachsendem Widerwillen und hört nur darum nicht
früher auf zu excerpiren, weil seine Quelle nicht aufhört. Wieviele Stadien der
Verdünnung und Verkürzung die Excerpte bis zu ihrem vorliegenden Zustand
durchlaufen haben, lässt sich natürlich nicht sagen, aber Originalexcerpte sind
es gewiss nicht. Ich meine, die Quelle des Scholiasten lässt sich mit Namen
nennen, es ist dasselbe Handbuch der poetischen Litteratur , aus dem wir noch
einen weiteren stark gekürzten Auszug besitzen. Von der Chrestomathie des
Proklos hat Photios (Cod. 239) nur einen Auszug gelesen und aus diesem Aus-
zug selbst wieder nur das wichtigste ausgezogen , das heisst das was ihm das
wichtigste und lehrreichste zu sein schien. Sein Bericht, sehr ausführlich über
die Einzelarten der lyrischen Dichtung, sehr kurz über das Epos, wie die Ex-
cerpte der Venezianischen Homerhandschrift zeigen , erweist sich als besonders
Abhandlgn- i. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, *. 3
18
GFORG KAI BEL,
ungenügend zu Anfang, wo Proklos allgemeine Fragen bebandelt Latte. Dass
die Chrestomathie im IX. Jahrhundert epitomirt vorlag, ist ein Beweis dafür,
dass das nützliche Buch gelesen und gebraucht wurde, und nicht minder dafür,
dass die ursprüngliche Fassung sehr ausführlich war: um so auffallender, dass
so wenige Spuren von ihm übrig geblieben scheinen. Ich glaube aber, dass der
Schein trügt, und dass in Wahrheit Proklos' Euch direct oder indirect allen
folgenden Jahrhunderten die literarhistorischen Kenntnisse vermittelt hat.
Aus dem ersten einleitenden Abschnitt des Proklos hat Photios nur ein paar
zusammenhangslose Satze mitgetheiit, die sogleich empfinden lassen, wieviele
Bindeglieder er hei Seite gelassen hat. Er beginnt also: xal ev plv x&i et Xsyst
tog ((i avTUL eiöiv dosxal Xöyov xal TtoLr^Laxog, TiagaXXdööovöt, öl ev xg>l [läXXov
xal r\rxov. Dann folgen sogleich die drei Stilarten, ein Stück, das dem rheto-
rischen Interesse des Photios gemäss viel ausführlicher wiedergegeben- wird,
dann ganz kurz die xgiöLg TtotrifJLaxog , endlich als Ueberleitung zum systemati-
schen Theil die Gattungen der Poesie. Ich vergleiche zunächst, um festen Boden
zu gewinnen, die breitere Behandlung der Stilarten mit dem betreffenden Ca-
piteJ in den Cramer'schen Scholien:
Proklos : • Scholien :
xal ort xov nXdaiiaxog xb {iev iöxiv Co- Jioirjiiaxog TtXdö^taxa döoov, i6%vov , dv-
%v6v, xb öl dögov, xb öl [le'öov. xal xb ftqobv xb xal (tsöov. döobv rb dir}Q{ievov
lihv döobv ExizXrjxxixcbxaxöv iött, xal xar- (öirjQtj^iEvov cod.) byxeoe xobt xaxä cpvöiv,
EöxEvaöutvov (idXiöxa xal 7toir\xixbv etcl- olov xb cd[Mpl ö' äo" Aiavxag öoiovg lö-
(palvov (1. ificpaZvov) xdXXog. xb öl 1(3- tavro cpdXayysg (N 126). tö%vbv xb
yvbv xr\v xqotcix7\v [ilv xal cpiXoxaxd- öwEöxaX^iEvov [oyxaxi xcül xaxä (pv€iv\
(ixsvov övv&söiv tiexaÖLG)X8L, eh, avEt^isvcov olov cog ö' brav <bÖLV0v6av e%x\i fitXog
öl uäXXov 6wr\Qxy\xai , bftev cog Eitiitav (A 269). dv&rjobv xb [leöov d(i(poZv,
xolg yosgolg aaiöxd Ttcog icpag^oxxsi. xb olov fd)g <f oxe IJavödosco xovgrj (x 518).
öl ptGov xal xovvoua [{ili>] drjXol bxi dv\fx\gbv öl XiyExai oxi äopo^Ei \idXi6xa
\i'c6ov iöxtv dpcpolv. dvd'rjobv öl xax 7tobg ditayyeXCav Xel^kovcdv xal dv&eav.
iÖCav ovx eöxl TcXaGaa, dXXd GvvExyeQExai \ dvxixEixai öl xöl {ilv döoeji xb 6xXr\-
xa\ 0v{iuE{iixxaL xolg ELQYHitvoLg, dQ^i6t,£L gbv xal xb 7ta%v, x(bi öl L6%vcbL xb £,r\gbv
öl xoxoyoa(piaig xal Xel^kovcov yj dXöcbv xal xb ßga%v, xcbi öl dv&rjgcbi xb dyXav-
EX(fod6E6Lv. oi öl x(ov Etgrjusvojv dnoöcpa- xlg (1. dyXsvxlg) xal xb XoyosiÖEg.
Xe'vTEg iÖeCjv dnb filv xov dögov Eig xb
6'/.Xi]obv xal etcyiquevov irgdnrjöav , dnb
öl xov iöivov Eig xb xanEivbv , dnb öl
xov (itöov Eig xb dgybv xal exXeXvixevov.
In dieser Behandlung der drei Theopkrastisehen Stilgattungen {nXd(5\iaxa,
fiyitrac bei.m Rhetor ad Herenn. IV 8, 11) sind bei vielfacher Uebereinstimmung
die Erläuterungen selbst nur zum Theil gleich, aber man braucht nur andere
Zeugen zu befragen , um zu erkennen . dass die gemeinsame Vorlage des Scho-
li asten und des Photios sich erst aus den Excerpten beider zusammensetzt.
DIE PROLEGOMENA 7TEP7 KUMHIJUS 19
Während der Scboliast nur die Definitionen wiedersieht, weil sie voranstanden,
hält Photios sich mehr an die Wirkungen der einzelnen Stilarten. Dabei hat
ihm aber Beine Flüchtigkeit einen bösen Streich gespielt: alles was Proklos vom
{isöov oder ccv&yjqöv gesagt hatte, hat Photios auf das i6iv6v übertragen : schon
die Form des Satzes ('zwar — aber') weist auf die Characteristik nicht eines
Extrems sondern eines Mittleren. Das [leöov verwendet zwar Tropen und Wort-
schmuck, aber es ist kein überwältigender Prunk (€X7iXrjXTix6v), sondern mild er-
freuende Schönheit (i% avsL^iEvcov), wie es ganz ähnlich Quintilian ausdrückt
(XII 10, 60): medins hie et (wol etsi) translationibus crebrior et figuris crit iueundior,
eqressionibus amoenus , compositione aptus , sententiis dulcis, lenior tarnen lO amnis
lucidus quidem sed virentibus utrimque ripis inumbratus. Eben dadurch eignet es
sich für die Klage [tä yosga) z. B. der Pandareostochter. wie der Scholiast
richtig angiebt. Die Characteristik des iö%v6v ist bei Photios völlig ausgefallen,
beim Scholiasten dafür durch eine Dittographie entstellt (oyxm rCoi xarä cpvöiv
aus dem vorhergehenden wiederholt). Die Bemerkung, dass das äv^gbv ysvog
sich besonders für friedliche Naturbeschreibungen eigne, ist beiden gemeinsam,
nur dass Pliotios Xsiynovcov rj ocXöojv sagt , der Scholiast lei^cbvcav xal avfttav.
Die Blumen möchte man schon um des Namens willen , den die Gattung trägt,
nicht missen — ein Muster dieser Art war Chairemon, vgl. Athen. X11I 608 d — ,
die Haine werden zwar durch Diomedes nicht sicher gestellt (p. 483, 19 K), dessen
Gewährsmann ja auch ähnlichen griechischen Vorlagen folgte, der aber hier die
amoenitas luci nur auf Grund einer Vergilstelle heraushebt, trotzdem möchte man
sie neben den Xei^avEg ebenso wenig wie die Blumen entbehren. Proklos hatte
vermuthlich Wiesen und Haine , Blumen und Bäume , Flüsse und Quellen er-
wähnt. Nach Photios artet das tö%vov bei ungeschickter Behandlung in das
taTisivov aus *) , nach dem Scholiasten in das ^tjqov und ßga%v. Die Vorlage
hatte wahrscheinlich alle drei Ausdrücke, vgl. Demetr. de eloc. 236 (xcxqocxt>)o 6
%rjQbg xakoviisvog), Gellius VI 14 (squalentes et ieiuni), ad Herenn. IV 11, 16 (ve-
niant ad arid um et exangue genus, quod non dlienum est exile nominari). Das
olv&viqov führt auf dem Wege der Entartung nach Photios zum agyov und sxäs-
kv^ievov , nach dem Scholiasten zum aylevxtg und zum XoyosLÖsg, letzteres ein
ganz notwendiger Zusatz, da es sich bei Proklos um den poetischen Sti! ban-
delte, wie auch Photios beim ccöqov hervorhebt, dass es %oir\zixbv xdlkog epcpociveL.
Von den übrigen Ausdrücken entspricht Photios' agybv xa\ exlekv^evov dem
fluetuans und dissolatum, quod est sine nervis et articulis beim Phetor ad Herenn.
IV 11, 16 (vgl. Gellius VI 14, 5 incerti et ambigui pro medioeribus); das ayXsvxeg,
1) Passend und gewiss der Vorlage entsprechend drückt Photius den Begriff der Entartung
aus ol de a-ji06cpa\tvxes ixgccTtriaccv kxI. So sagt Gellius fallunt, der Rhetor ad Her. errantes per-
veniunt oder declinantur, Demetiius (ls6) etwas anders yiad-ccneg dl xüi yayaXoTtQenti: 7tccQty.&Lxo ö
ipvxgbg %ccQav.xr\Q, ovtco tooi yXucpvgcat, Ttct.QCLV.nxai xis dir}[iccQxri[isvog. Danach könnte man versucht
sein beim Dionysscholiasten naQÜy,Eixca lür das unangemessene c\vxiv.iixai zu vermtithen. Aber es
wird hesser sein nicht zu ändern: der Mann hat ehen einen ganz allgemeinen Ausdruck gewählt,
und es ist fraglich, ob er das Sachverhältniss überhaupt verstanden hat.
3* /;
20 GEORG KAIBEL,
wenn richtig emendirt , kann ich sonst nicht nachweisen: es ist 'reizlos', also
geradezu das Gegentheil vom uv&rjQÖv. Demetrius (186) fasst die Entartungen
des yXarpvgov in das eine Wort xaxo^rjXov zusammen. In welcher Weise die
beiden Excerpte sich gegenseitig ergänzen , zeigen die drei Homercitate beim
Scholiasten. Photios sagt, dass das l6%vov (er meint das av&rjQOv) sich am
besten für die Klage eigne: dafür deutet der Scholiast die Odysseestelle an, wo
die Klage der Pandareostochter um ihren Itylos geschildert wird (r 518), also
einen Beleg für das yoegov. Natürlich hatte Proklos die drei Homerstellen, vor-
trefflich gewählte Beispiele, ausführlich gegeben ; sie sind nicht von ihm ausge-
sucht sondern stammen aus seiner Quelle, bei Diomedes (p. 483) sind sie durch
Vergilcitate ersetzt.
Offenbar hat die Betrachtung der poetischen Stilgattungen nicht am An-
fang der Chrestomathie gestanden, auch der eine Satz, den Photios aus dem
vorhergehenden bewahrt hat, dass Prosa und Poesie sich nur durch ein Mehr
oder Weniger gemeinsamer Eigenschaften unterscheiden , genügt nicht um d,je
Lücke zu füllen. Es musste erörtet werden, was Poesie, was ein Gedicht, was
ein Dichter sei, was die Poesie und mit welchen Mittel sie es bewirke. Genau
diese Fragen werden in den Cramer'schen Dionysscholien mit wünschenswerther
Deutlichkeit behandelt. Die scholastische Scheidung der drei Prosaarten (övyygcc-
cpevg, löTOQixög, qyjxmq) lasse ich hier bei Seite (vgl. p. 733, 18 B. Doxopater Rh.
gr. II 199 W), ein anderer Geist aber spricht ans dem folgenden:
7Coir}Tr}g de xex66yLX\xai xolg xeööagöi xovxotg, (lexgcoi yLv&coi tözoQLca xal ltoiät
Xe%et, xal näv Ttolrftia [ir) nexe'%ov (x&v xeGödgcov) xovxcjv ovx e<5xi noirnia, et xal
[itTQCJL xeio7]xai *).
eöxl de {lexgov fiev Ttotä xal 7to<5r) Xe%ecov a7Crjoxt6^evc3v <5vv&e<5ig xaxa te fi£-
ye&og [äiirigxiö^evcog] xal xä%iv GvXXaß&v, iv löoxtjxl r] buoioxr\xi f) olxeibxr\xi r\xoi
xCov uegav TtQog äXXrjXa rj xov öAou 7iobg exega (itgbg xä ^iegrj ?). Ttotä de (Xe%ig)
Xiyexai r) 6voaaxo7ie7ioLrj^ievri ' 7tXa6[ia de xb (Af) aXr]&cbg 7tenoir\^evov , äXV vtco
xuvog e6xeva<5[ievov 2). iGxogla de Tcgay^iaxcov yeyovöxcov r] ovxav ev dvvaxcbi 6acpr)g
1) Diese Worte mögen ursprünglich eine andere Fassung gehabt haben. In den ßekker'schen
Scholien p. 734, 14 heisst es nach ovw. egxi 7toir}fia so: cc^ieXsi, xbv 'E[i7tedoy.Xtu v.a.1 Tvqxcciov ov
v.aXov6i noiritag, hl ?ica {ihgcoi 1%qt}Gcivxo, diu xb [ii] xQ^aaGfrca ccvxovg xolg x&v Ttoi/r\xiY.5>v (1. noiri-
rüv) %a.Qu;LTriQi6xiy.oig. Empedokles stammt, bekanntlich aus Arist. Poet. c. 1, Tyrtaios befremdet
zunächst, vgl. eine weitere Passung bei Bekker p. 733, 13 ovn tön Ttoir\xr\g 6 [iexqcol fiovcoi %$&-
fitvog- ovöe yuQ'Eu7t£do-nh~]g 6 xa cpv6iv.ee ygccipccg ovo' ot tisql äaxQoloyCag sliiovxtg ovdt ö TLvfriog
ififisrgag %Qr\6pouö{öv. Aber die Liste der Nichtdichter konnte erheblich erweitert werden: nicht
nur Xenoplianes, Parmenides,- Arat, Nikander gehörten dahin, sondern alle Didaktiker schlechthin,
Bogar Thcognis (Plut. quomodo adulator p. 16 c); warum nicht auch Tyrtaios? Vgl. Diels Parme-
nides 5.
2) Der Wortlaut ist gewiss nicht in Ordnung, man erwartet nXäG\x.a de xb firj ccXrid-eg, ccXXcc
7tt7toir}(itvov v.ulv7t6 xivog iansvciöiitvov oder dergl. Soviel ist sicher, dass nXäßfia hier in anderem
Sinne stellt als bald darauf: es ist was der Rhetor ad Herennium figura oratoria nennt (s. o. S.
18), die Xti-ig, die durch die Kunst des Dichters tvxs%vog, itsnoir^iivri, noiä xig wird. Der Satz
ist also eng mit dem vorhergehenden verbunden.
DIE PROLEGOMEN A TlEVl K£1M£1JJJA2 21
dnayyeXia. {iv&og de £,evcov Ttgay^idxojv a7trjQ%cu(D{ievr} dc^yrjöig r) ddvvdxcov itgayyid-
xav TtccQELöaycjyrj. icXaG^a xb dvvdpevov [iev yeveöd-ai,, urj yevo\ievov de.
fxavbg de b {ivftog 6LOJ7irj6aL dt ydovrjg1). rj yäo [iexä övXXoycö^iibv dxgöaöcg
itoXXdxig xbv dxovovxa Ttgbg dvxiggrjötv xivel. t] de 7ioir\xix^\ e%ei iiev xb tcqoöcc-
ycoybv ex XY\g ijdovfig, dvöcoTtel de ovx £% aycbyog dXX1 cj67teg cpvöixcög evavxtovuevrj.
xovxov yovv xbv xgoitov cpaivexau xal "O^trjgog Tteitoir\xevai ' ev 06031 ydg (6) docdbg
jtagfjv xfji KXvxai{ivrJ6xQca, dnr\yev avxrjv xov negl itogveiav e%eiv, xal xovxo bgcbvxa
Alytöftov ngoxegov exßaXovxa xbv doidbv ovxcog dvaitelöai.
e6xl de Ttoirixixi} dnayyeXia %gay\idxtov diä {lexgcov xal gvfr{icbv fiexd xivog
xaxaßxevYJg, xb [ivfradeg {iexä xal xov dXrjd'ovg evioxe 6vuxe7tXey{ievov , ptstä (dl)
xal töxogiag ev itoiai Xe'iei %egie%ovöa. Ttotrjxijg de 6 xaxä [iexov6iav xijg TtOLrjXLxijg
bvoua e6%r\xcüg xe%vixii}g' Ttoirjöig de xvgiog r\ diä {lexgav evxeXijg vito&eöig, e%ovöa
do%äg xal peGa xal icegaxa. 7tOL7]^ia de pegog ftoiY\6eoog 2).
Zunächst fallen hier deutliche Anklänge an die Aristotelische Poetik auf.
Nicht nur dass Empedokles von den Dichtern ausgeschlossen wird (S. 20 Anm.
1), auch die TtovYiGig wird definirt nach dem Muster der Aristotelischen Tragö-
diendefinition (Poet. c. 7), und dabei rauss eine absichtliche ^ Variation des Aus-
drucks beachtet werden: anstatt xeleia xal oXr\ itgä^ig sagt der Scholiast ei>xe-
Xr\g vTtöd-etiLg, statt dgxrjv xal {ie6ov xal xeXevxrjv e%ov sagt er do%äg xal fie'öa xal
iteoaxa e'xovöa. Gleich daneben aber steht eine Definition der iton\xixr\, die Po-
seidonios ev xy\l Ilegl Xe%ecjg ei6aycoyr\i gegeben hatte, und die Diogenes L. VII
60 nur zum Theil wiedergiebt: TtoCruia eöxi Xe^ig e^i^iexgog ^ evgv&[iog {lexä
6xevi\g (1. xaxaöxevfjg), xb Xoyoeideg exßeßrjxvta. [xb] evgvd'^ov de elvai xb Taia
lieycöxr} xal zJtbg a£d-rjg\ Vervollständigen lässt sie sich dem Sinne nach aus
Strabo I p. 20. der ganz nach Art des Poseidonios von Homer sagt: ovxcog exel-
vog xalg äXrjfreöi Ttegmexeiaig itgoceitexvd'ei {iv&ov, rjdvvojv xal xoö^iojv xy\v cpgdöiv,
Ttgbg de xb avxb xe'Xog xov töxogtxov xal xov xä bvxa Xeyovxog ßXeiHov. Damit
stimmt der Scholiast durchaus , wenn er mythische oder historische Zuthat ver-
langt, und zwar ev noiai Xe^ei, d. h. {iexä xaxaßxevr\g xb Xoyoetdeg exßeßrjxviat^ vgl.
Diog. L. a. 0. 59 xaxaöxevrj d' eöxi Xe%ig ex7tecpevyvla xbv IduoxiöyLOv. Wahrschein -
1) Die Verbesserung wird sich später ergeben.
2) Aehnliches giebt Quintilian X 1,28 mit freien Ausführungen wieder: meminerimus tarnen
non per omnia poetas esse oratori sequendos nee Hbertate verborum nee licentia figurarum; yenus
<esse poesin> ostentationi comparatum et praeter id quod sohim petit voluptatem eamque etiam
fingendo non falsa modo sed etiam quaedam incredibilia seetat ur, patrocinio quoque aliquo iu-
vari: quod alligata ad certam pedum necessitatem non semper uti propriis possit, sed depndsa
reeta via necessario ad eloquendi quaedam deverticula confugiat, nee mutare quaedam modo verba
sed extendere corripere convertere dividere cogatur. Die Lücke zu Anfang hat man verschieden er-
gänzt, dass das Wort poesis fehle, hat Halm richtig gesehen. An genus darf man nicht rühren,
da eben Poesie und Prosa zwei Arten derselben Gattung sind. Der Poesie stilistisch verwandt ist
die epideiktische Rede, die darum auch den dichterischen Ausdruck nicht verschmäht, den Gorgias
sogar auf die politische Rede übertrug (Dionys bei Syrian I p. 10. 11 Rabe); Quintilian redet von
der Epideixis genau wie von der Poesie (VIII 3, 11): namque illud genus ostentationi compositum
solam petit audientium voluptatem ideoque omnes dieendi artes aperit u. s. w.
1 0 .
22 . GEORG KAIBEL,
lieh ist beim Scholiasten zu schreiben eöxl de itolrma drcayyeXCa xxX., wenn
nicht etwa die Coiruptel tiefer liegt, vielleicht besser eöxl de (noLr\uu) jtoLrjxLxr}
diiayyeXia.
Das Buch des Poseidonios war Ilegl Xe%e<ag überschrieben, handelte also nicht
speciell vom poetischen Stil, sondern vom Stil überhaupt. Wenn er trotzdem
zu einer Definition der Poesie veranlasst wurde, muss er von einer Vergleichung
des prosaischen mit dem poetischen Stil, der Prosa mit der Poesie ausgegangen
sein. Die Stoa hatte bekanntlich behauptet, dass Homer die Quelle und der
Lehrer aller Künste und Wissenschaften sei: den umfassendsten Beweis für diese
Behauptung liefert die Plutarchische Homerabhandlung. Eratosthenes hatte sich
darüber lustig gemacht und Hipparch ihm zugestanden, dass es eine Uebertrei-
bung sei (Strabon I p. 16): nur dürfe man wieder nach der anderen Seite nicht
zu weit gehen und meinen, dass man vom Dichter nichts lernen könne , dass er
gar nichts beitrage zur Bildung seiner Leser. Insbesondere, sagt er (p. 17 a. E.),
tö xal xr\v gr\xogixi\v ä<paigel6&ai xov Ttoirjxrjv xeXecog dcpeidovvxog r^icov e<5xiv. xi
yäg ovxcä) gr}xogixbv ag (pgdöig, xi 6° ovxco 7toir\xixöv ; xCg (5' dfiecvcov 'O^gov cpgd-
öca ; vij Aia , dXX exega (pgdöig r\ %oir\xixil}. xdn ye eldei , ag xal ev avxr\i xx\i
7tOLrjXLxr]L f] xgayixi] xal r\ xgj{ilx)J, xal ev zrji Ttet,?^ i) löxoqlxyj xal i) dixavixr\. äga
yäg (ob dgd ye?) ovo1 6 Xoyog eöxl yevixög , ov eidrj 6 e^iuexgog xal 6 7tet,6g; tJ
Xoyog pdv , gi]xogLxbg de Xoyog ovx eöxi yevtxbg xal cpgdöig xal dgexi] Xoyov;
(bg d' einelv 6 7iet,bg Xoyog ö ye xaxeöxevaö^evog ^iL^ir]^ia xov TtOL^xixov eöxiv. Aus
der poetischen Rede sei allmalig die Prosa hervorgewachsen ; zuerst habe man
das Metrum aufgegeben , die poetische Sprache aber beibehalten , dann sei c.uch
diese von ihrer Höhe herabgestiegen, xa&dneg dv xig xal xi\v xcoyuoidiav (pair\
Xaßelv xi\v Qvöxaöiv cctco xi\g xgaycotdCag xal xov xax^ avxijv vifrovg xaxaßißaö&etöav
etg xb XoyoeiÖeg vvvl xaXov^ievov xxX. Das ist genau die Lehre des Poseidonios
— Hipparch und er gehen in der interessanten Polemik des Strabon gegen Era-
tosthenes ganz in- und durcheinander — , da er die poetische Sprache für eine
Xt%ig en[iexgog rj evgvfryLog ^exä xaxaöxevijg xb Xoyoetdeg exßeßrjxvla erklärte. W er
so definirt und so argumentirt, muss auch gesagt haben, dass die Sprache der
Poesie und der Prosa , da beide nur Arten derselben Gattung seien , des Xoyog
yevtxog, sich nur durch ein Mehr oder Weniger unterscheiden, also, wie Photios
aus Proklos citirt , al avxai eiöiv ägexal Xoyov xal itoiri^iaxog , TiagaXXdööovöt de
ev xcjl iiäXXov xal rjxxov, wobei zu beachten ist, dass der Ausdruck dgexi} Xoyov
auch bei Strabon wiederkehrt. Dieser Satz des Proklos verbindet sich also mit
der beim Dionysscholiasten erhaltenen Definition des Poseidonios zu einer not-
wendigen Einheit, so gut wie die ganze Darlegung Strabons eine Einheit bildet,
aus der wir noch ein weiteres Stück heranziehen müssen, um die Quellen der
Dionysscholien zu bestimmen.
Eratosthenes hatte behauptet noir\xi[V itdvxa 6xo%d£e6d-ai ipvyayayiag , ov oV
daöxaXiag, im Gegensatz zu den alten Philosophen, denen die Poesie als Philoso-
phie galt, die die Jugend in das Leben einführe und sie rjd-r} xal 7tdd-r} xal ngd^eig
lehre und zwar petf rjdovrjg. Daher denn auch die Stoiker lehrten, dass der Weise
i\
DIE PEOLEGOMENA TIEPI KnMflUIAS 23
allein Dichter sein könne, dtä xo vxo , fährt Strabon fort (p. 15 a. E.), xal xovg
Tcaidag cci xcbv'EXXrjvcov noXEtg 7tQvjxt6xa diu xyg 7tonqxixy]g TtuiÖEvovöLV, ov ipv%uyco-
yiag %kqiv drJTtov&Ev ipiXy]g aXXä 6co(pQOi'töuov. Ebenso seien die Musiker, nach
der Lehre nicht nur der Pythagoreer sondern auch des (Aristotelikersl Aristo-
xenos, TcaiÖEvrixol xal EJcavoQ^axixol r(ßv rj&cov. Und Homer selbst habe die
Sänger als 6acpQovi6xaC angesehen, xadaiiEQ xbv xrjg KXvxai^irjöXQccg cpvXaxa , f(5t
jroAA' ehexeXXev "JtQeiör]g Tqolyjvöe xitav Eiovöd-cci axoixiv ', xbv de Aiytöftov ov tiqq-
xeqov ccvxrjg JieQiyevEöd-ccg tvqlv t) rxbv fihv äoiöbv äycov ig vrjöov EQrjfirjv xccXXltiev,
xi)v d' e&eXcqv E&Ekovöav avriyaysv ovds d6(iovd£\ Eratosthenes meinte, der Dichter
habe es nur mit dem {iv&og zu thun, im Gegensatz zum Historiker, dessen Ziel
die Wahrheit der Thatsachen sei; darum dürfe man von ihm keine thatsächliche
Wirklichkeit, z. B. in geographischen Angaben, verlangen und seine Dichtung
auch nicht xqivelv Jtobg xi)v didvoLccv; die Wirkung aber des Mythos sei rjdovrj
und EXitXrfeig (p. 17). Was die Gegner unter Zustimmung Strabons erwiderten,
haben wir gehört ; dem [Lv&og machten sie nur das Zugeständniss , dass er eine
xcuvoXoyia und darum wie jedes xaivov ein r)dv sei , zu verwenden aber nur als
cpUtQOVy die Lernbegier des Knaben zu reizen und, insofern manche Mythen
furchterregend seien, als Mittel ihn vom Bösen zurückzuschrecken (p. 19). Das
ist im Grunde Aristotelische Lehre, nur zu einem anderen Ziel gewendet. Ari-
stoteles sagt (Rhet. I p. 1371 a 29), jede Vergangenheit sei ein rjdv , weil sie
sich von der bekannten Gegenwart (also als eine xcuvoXoyia) unterscheide: das
Staunen vor dem Unbekannten reize die Lust es kennen zu lernen , die Lern-
lust überhaupt, und dies sei die Grundlage alles Vergnügens das man an den
nachahmenden Kunstwerken empfinde, es reize den övXXoyiö^iog. oxl xovxo exelvo,
cööxe [iccvd-dvsiv n 6v{ißaLVEi. Vgl. Poet. 4 p. 1448 b 15 dia yag xovxo %aiQov6i
xäg Eixovccg ogavxEg , oxl 6v[ißcciv£i d-Ecooovvxag pavftccvEiv xal övXXoyi&öftcct xC
exccGxov, olov oxl ovxog EXElvog. Diesen nämlichen Ausdruck 6vXXoyi6\i6g finden
wir beim Dionysscholiasten verwendet, der offenbar, wie schon die Odysseestelle
zeigt, die zwischen Eratosthenes und Hipparch (oder Poseidonios) erörterte
Streitfrage in seiner Quelle behandelt gefunden hatte : 'wenn das Hören einer
Dichtung mit 6vXXoyi6^6g verbunden ist, wird der Hörer oft zum Widerspruch
gereizt', da er über das Gehörte, das als wissenschaftliche Belehrung gedacht
ist, nachdenkt und dadurch beunruhigt wird. Das ist aber nicht die Aufgabe
der Poesie, heisst es weiter: 'die Poesie (zumal der Mythos, der ihr Wesen auf-
macht) hat die Fähigkeit zu fesseln (tö 7tgo6ay(oy6v) und zwar dadurch dass sie
aesthetisches Vergnügen bereitet [ix xfjg Y\dovfig) , wenn sie aber daneben auch
die Seele kritisch beunruhigt (dvöcoitEi) l), so thut sie das nicht £% ccyavog sondern
1) Die jüngere Gräcität braucht SvaaTtscv als Synonym von vcpoq&v und vTtonrsvSLv oft ge-
■ug, sowol transitiv wie intransitiv. Daneben aber steht es in der Bedeutung 'stutzig, kopfscheu
Bachen', z. B. bei Sextus Emp. p. 152, 24 xovg 6Y.ETtxiY.ovg ivTQE7tov6L iilv ol loyoi, dv6co7tei ds
xal 7] ivccgysia. Die classische Zeit scheiut nur dvoaiTisiGd-cci in der bekannten Bedeutung zu
haben.
24 GEORG KAIB EL,
co67tSQ (pvöix&g svavtiov^vri '. Wie das zu verstehen ist, lehrt Sextus Emp.
(407, 4): ov pövov tä xa& "Aibr[v 7ilcctz6[i£va aXlä xccl xoiv&g itavxa {iv&ov [id-
ir\v 7iccQE6xrixevca 6v{ißeßrixE xccl advvuxov üvai. Weil jeglicher Mythos etwas
unmögliches enthält, erweckt er Widerspruch, seine innerste Natur ist der
menschlichen Vernunftsnatur an sich entgegengesetzt. Der äyav also zwischen
Vernunft und Mythos liegt nicht in der Absicht des Dichters , auf dass der
Hörer durch das Unerhörte zu scharfsinnigem Widerspruch gereizt wird (ovx 4%
äyavog), sondern ist in der Natur der Sache begründet. Das Excerpt des Scho-
liasten ist nicht genau genug, um den ganzen Gedankengang der Vorlage wieder-
herzustellen , aber soviel ist klar , dass ein Einwand gegen die allzu schroffe
stoische Auffassung vorliegt, die Poesie sei nichts als didatixalta, der Dichter
nichts als cpikööocpog. Eine doppelte Wirkung wird ihr zugesprochen, das svcpQai-
vslv und das övöcoitslv , das macht zusammen das tyv%aycoy£lv aus, die Quelle
heider Wirkungen ist der pvftog. Diese Wirkung wird belegt durch die Homer-
stelle: der Sänger fesselt durch seine Erzählungen die Klytairaestra, so dass sje
den Verführerkünsten des Aigisth keine Aufmerksamkeit schenkt; sie verfällt
ihnen, sobald der Sänger entfernt wird. Nicht durch Einwirkung auf ihren In-
tellect, sondern auf ihre Seele hat der Sänger die Gattin des Agamemnon vor
dem Verderben geschützt, er ist also für sie ein 6cocpQovLörrjg geworden und doch
ein i>v%aycoy6g geblieben. Das ist ein Mittelweg, auf dem beide Parteien zu
ihrem Recht kommen sollen l). Ist diese Auslegung der Worte richtig, so kann
auch die Verbesserung der entstellten Worte ixavbg de 6 {Lv&og 6ic37trj6ai, oV
r)dovi}g mit Sicherheit gegeben werden. Usener (Rhein. Mus. XXV 608) schlug
dvöcjTtijöaL vor, aber der Begriff passt nicht zu 6V rjdovrjg und ist auch nicht
weit genug. Gemeint ist was die tjÖovt] und das dvöcoiteiv umfasst, das ist
ipv%aycöyi]6ui. Um diese Wirkung hervorzubringen , dafür ist der Mythos aus-
reichend , dafür wird dann der Beweis geführt. Der Scholiast giebt hier also
eine nicht streng stoische Auffassung wieder , das passt für Poseidonios ebenso
gut wie die peripatetische und unstoische Verwerfung des Empedokles und ähn-
licher Dichter. Im übrigen kann man von einer Chrestomathie , wie die des
Proklos war, nicht erwarten , dass sie eine bestimmte Beurtheilungsweise ein-
schlägiger Fragen vertrete; wir werden sehen wie gern Proklos abweichende
und selbst entgegengesetzte Meinungen zu Worte kommen liess.
Die vier Kennzeichen der Dichtung sind das Metrum (wobei der Rhythmos
miteinbegriffen wird), der Mythos, die iöxoQia und die kunstvolle Sprache. Bei
der Erläuterung aber dieser vier Momente tritt unangemeldet ein fünites hinzu,
1) Das Beispiel der Klytaimestra hatte schon Dikaiarclios, aber schwerlich er zuerst, als
Beleg dafür angeführt, dass die Alten den Sänger zu den Weisen rechneten (bei Philodem de mus.
p. 20 Kemke); später ist das Beispiel immer wieder verwendet worden, ausser den von Kernke und
Usener citirten Stellen vgl. noch Proklos zu Plat. Rep. p. 404 Bas. (Pitra Anal, sacra et class. V
235). Dikaiarchos hatte es natürlich in dem Sinne verwendet wie Aristoteles über die ethische
Wirkung von Poesie und Musik geurtheilt hatte.
DIE PROLEGOMEN A TIEPI KflMflUIA^ 25
ausser [iv&og und löxogia noch das Tckdö^ia. Neben dem {iv&og hätte sich schon
die löxogia wol entbehren lassen, da sie nur eine Art- nicht eine Gattungsver-
schiedenheit ausmacht. Wie sie hineingekommen ist, zeigt Poseidonios' Definition
von der Ttoirjöig (Diog- L. VII 60), sie sei ein Cx\\iavxixov noir^La \li\jlx\6iv negie-
%ov dstcjv xal dvd-goTteicov. Göttliche Geschichte enthält der {Lv&og, menschliche
die löxogia: weil es nun aber viele Gedichte giebt die sowohl menschliche wie
göttliche Geschichten erzählen , weil im Gegentheil die allermeisten Gedichte
beides enthalten, hat Poseidonios nicht gesagt fteicov rj dv^gcoiteiav und danach
nicht {Lv&og rj sondern pvfrog xal töxogia1). Diese Zweitheilung aber zog als
drittes das nld<5\La mit Nothwendigkeit nach sich. Die unbeglaubigte Göttersage
und die sichergestellte Menschengeschichte erschöpft den Stoff nicht, so kommt
die schlechthin erfundene Begebenheit hinzu.
Die Sonderung von Cöxogia und Ttldö^ia practisch verwendet fanden wir
früher in einem bei Tzetzes etwas vollständiger erhaltenen Dionysscholion (s. o.
S. 15), wo es von der Tragödie hiess, sie enthalte i6toqlccv xal dnayyekiav 7tgd-
£,£G)v yevo^ievcjv , xdv d>g rjdr) yivopevag 6%ri[iaxi£r}i uvxdg , von der Komödie , sie
befasse sich mit ßiayxixcjv Ttgay^dxcjv 7tla6[iaxa, d. h. mit solchen Stoffen, die
zwar erfunden sind, aber doch als aus dem Leben gegriffene und wirkliche Ge-
schehnisse dargestellt werden. Sowol die Anwendung auf verschiedene Poesie-
gattungen, aus deren Betrachtung die drei Theile ja doch abstrahirt sind , als
auch die Definition der drei Theile, wie sie in den Cramer'schen Scholien vor-
liegt, begegnet zuerst bei einem viel älteren Gelehrten, bei Asklepiades von
Myrlea 2). Sextus Emp. wendet sich in seinem Kampf mit den Philologen p. 655,
21 auch gegen diesen angesehenen Grammatiker: 'AöxXrjTtiddrjg de iv xtbi IJegl
yga[i{iaxixrjg xgia cpr\6ag eivai xä ng&xa xfjg yga^i^iaxix^g pegr], x£%vixov, lexogixov,
yga^axixov — tgiZW vnodiaigelxai xo löxogixov. xf\g yäg Cöxogiag xr\v \iev xiva
dfoföij Eivai (pr}6i, xx\v de ijjevdyj, xr\v de <bg dlrj&i}, xal dlri^fj [iev xr\v ngaxxixrjv,
ipevdt} de xx\v negl Ttldöyiaxa xal tiv&ovg , cjg dlrjd^r} de oia etixlv rj xapcoidia xal
of ^uot. Hier scheint ein Textfehler berichtigt werden zu müssen : es wird
nicht gesagt womit sich die töxogia cjg dlrjd-rjg befasst, während der tpevdijg iaxo-
1) Ob demnach die .iötoqlcc nur auf das Streben nach Viergliedrigkeit zurückzufahren ist
(Usener, Ein altes Lehrgebäude der Philologie. Münchener Sitzungsber. 1892 IV (507), möchte
man bezweifeln.
2) Dass Asklepiades von Myrlea — an einen anderen kann und darf man nicht denken —
Pergamener, speciell Krateteer gewesen sei, ist wenig glaublich, schon darum weil er (bei Athen.
XI 490 e) den Meister des Plagiats beschuldigt und ihn nicht ohne ironischen Nebenton 6 xpirixog
nennt. Das Prädicat ist kein persönliches geblieben, sondern schon auf die nächsten Schüler über-
gegangen (Sextus p. 655, 1): wie sollte ein Hegelianer seinem Schulgenossen das D istin et iv 'der
Hegelianer' geben können. Vorsichtig hat sich Lehrs ausgedrückt (Herod. scr. tria p. 434), eine
Vermittlung Usener versucht (Münch. Sitzungsber. S. 590). Dass bei Suidas seine Zeit nach Atta-
los und Eumenes bestimmt wird, beweist nur dass er mit Pergamon irgend welche Berührung ge-
habt hat; eine freundliche braucht es nicht gewesen zu sein. Schuljahre in Alexaudreia bezeugt
Suidas ebenfalls.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. W iss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Rand 2, 4. 4
26 GEORG KAI BEL,
Qia ein doppeltes Gebiet zugewiesen wird. Dass das nicht im Sinne des Askle-
piades war, zeigt das folgende, das ich sogleich ausschreiben werde, die Aen-
dernng scheint wenn auch gewaltsam doch nothwendig ijjevdri de xr\v rcegl {iv-
ftovg, d)g aXr}ftrj de xrjv itegl %Xd6^axa, oicc eöxtv xxX. Diese Sätze nimmt Sextus
als Grundlage für eine weitgesponnene Polemik, in deren Verlauf er die Worte
des Gegners nochmals wiederholt (p. 658, 21) : 7tgbg xovxoig eitel xäv löxogov^ievcov
xb \iev eöxiv löxoqlcc, xb de {ivfrog, xb de TtXdö^icc , cov rj per iöxoqlcc aXr\&cov
xlvöjv löxi xal yeyovoxcov ex&eöig — 7cXd6(ia de 7tQayficcxcov ^r\ yevo{ievcov p,ev
b^ioicjg de xolg yevo^evoig (1. yivo^ievoog) Xeyouevcjv , ag al xcj^iixal vKofttöeig xal
or* ftr^ofc, f« v&og de 7iQay[iccx(Dv dyevqx&v (nachher dafür dvvTtagxxa) xal tpevdibv
ex&eöig x) xxX. Es ist ja wol kein Zweifel, dass genau die gleichen Erläuterungen
von löxoqlcc [iv&og . jiXdö^ia in den Cramerschen Dionysscholien vorliegen , und
dass der Scholiast dies alles demselben Lehrbuch entnommen hat wie die Er-
örterungen über Poesie und Prosa, also aus Proklos' Chrestomathie. An weiteren
Spuren des Asklepiades in diesem Bereich der Litteratur fehlt es nicht: wie
sollte auch ein so umfangreiches Werk (das elfte Buch wird citirt) , das mit
einer Abhandlung über die Wissenschaft selbst begann (Ilegl yga^iiaxtxrig) und
dann eine lange Liste ihrer Vertreter behandelte (liegt yga^axtxav)^ von einem
Literarhistoriker übergangen worden sein.
Drei von seinen vier Prooemien (Pb Mab) hat Tzetzes mit einer bald kür-
zeren bald längeren Einleitung über die Thätigkeit der ersten Alexandrinischen
Philologen ausgestattet. Dass er seine Gelehrsamkeit den Dionysscholien ver-
dankt, zeigt das Villoison'sche Anecdoton, nur eine bessere und reichere Fassung
der Scholien hat er zur Hand gehabt. Hier liest man dieselbe merkwürdige
Nachricht, die Tzetzes vermittelt, dass Orpheus von Kroton am Hofe des Peisi-
stratos gelebt habe, mit Zopyros und Onomakritos zusammen an der Herstellung
des Homer betheiligt. Den Gewährsmann dafür nennt uns Suidas (Ogqpbvg) , es
ist ^A6xXx\%iddy\g ev xai exxcoc ßißkicoi xtbv rga[i[iaxLX(A)v. Ist es Zufall, dass nur
wenig später Cicero zuerst von der Peisistrateischen Homerausgabe zu be-
richten weiss? Aber möglicherweise geht noch viel mehr von dem was Tzetzes
berichtet auf Asklepiades zurück, gewiss aber war er sowenig für die Dionys-
scholien wie für Tzetzes primäre Quelle. Es versteht sich, dass Asklepiades die
Philologie nicht als eine gegebene Grösse behandelt, sondern nach ihrem Ur-
sprung gefragt hatte. Nun haben wir noch ein paar sehr dürftige Scholien zu
Dionys (Cramer p. 311, 5 = Bekker p. 729, 22), die diese Frage berühren. Die
yoa\L\Laxi<5xixri sei schon vor dem Troischen Kriege bekannt gewesen, die ygaupa-
xlxt] aber dg^afievr] [iev dito &eayavovg xexsXeöxai vtio xcbv Ttegntaxx\xixsbv Ilga^L-
1) Asklepiades hätte hinzufügen konneu, und hat vielleicht hinzugefügt w? cct rgayi-nal xal
(Ttt-nal vno&£6£i,q, wie es bei Quintilian heisst (II 4,2): quia narrationum, excepta qua in causis
utimur, tris accepimus species, fabulam ([iv&ov) quae versatur in tragoediis atque carminibus non
a reritate modo sed etiam a forma veritatis remota, argumentum (itlcüöfia) quod falsum sed cero
simile comoediae fingunt, historiam in qua est gestae rei expositio u. s. w.
DIE PKOLEGOMEXA IIEPI KnMniJIAS 27
cpdvovg xs xal 'JoiöxoxeXovg. Die Erwähnung des Praxiphanes geht weit über
das Niveau gewöhnlichen Wissens, sie deutet auf eine gelehrte Quelle; auch
Aristoteles als Begründer der Wissenschaft ist keine landläufige Weisheit !).
Bei Tzetzes nun steht ein reicheres Verzeichniss von Grammatikern (Ma p. 110K) :
vöxeoov de xavxag dndöag (ßißXovg) 7toXXol dv£(pdvr]6av v7to(pr]X£vovxeg xal ine^r}-
yov^isvoi, ^didvfioi TgvcpGyveg 'A%oXX<xtvioi yHo<oidiavoi IlxoXs^iaioi te 'AöxaXtavixai
xal 01 Kv&rJQiOL. 7tQÖrsQog ö' f)v Zrjvödoxog 6 'Eyeöiog, 7i8[i7txog de r\ xdxagxog per1
avxov 6 'ÄQißxaQiog , ' aXXi] x äXXav yXaööa 7ioXv67i£Q8G)v dv&QC07t(ov . {istf ovg
xal oi cpiXööocpoi IIoQ(pvQiog nXovxag%og xal ÜQÖxXog, cjg xal 7tob Ttdvxcov avxfov
xal Ttgb xcbv %q6vcov xcbv TLxoXe^aiiov (piXoööcpcov exeoav {isalg ov [lexoia xal ö ix
2JxayeiQ(Dv aifteoiog vovg xxX. Das Verzeichniss ist bunt genug , natürlich sind
nicht nur Interpreten gemeint sondern Grammatiker überhaupt. Es werden weit
jüngere Leute aufgezählt als Asklepiadt is sie kennen konnte, aber Aristoteles
erscheint auch hier als Stifter der Wissenschaft. Ist es nun Zufall, dass am
Anfang der Liste Didymos steht, dessen Buch üeol Xvqixgjv itoiyxcbv eine Haupt-
quelle des Proklos war, und am Schluss die drei grossen Platoniker in richtiger
chronologischer Abfolge ? Proklos ist der letzte , und doch gab es hinter ihm
Volks genug das sich Grammatiker nannte und den Dionysscholiasten wahrlich
näher stand als die Neuplatoniker. Proklos muss der Mann sein, der durch die
Dionysscholien dies Verzeichniss und mithin die ganze gelehrte Abhandlung über
die alexandrinische Philologie dem Tzetzes vermittelte. Seine Quelle kann in
der Hauptsache recht wol Asklepiades gewesen sein.
Ein weiteres wird diese Vermuthung sichern. Proklos' Buch heisst Xq^öxo-
lidd-eia yga\i\iaxixr\. Er musste nicht nur von der Geschichte der Grammatik,
sondern auch vom Begriff derselben, also auch von ihrem Namen reden. Mög-
licherweise stammt der Dithyrambus, den der Dionysscholiast p. 725, 2 auf die
Grammatik singt, von Proklos: £%ei de rj yga^ifiaxixi] xal i(jv%aycoyiav ekutit£Aj], Öi-
ödöxovöa xdXXog Ttoirj^iaxcov löxogiaig xs xal ^iv^oig xaxdiöovöa. Die Wissenschaft
wird mit der Poesie auf eine Stufe gehoben , weil sie sich in erster Linie mit
den Dichtern befasst: das ist der Standpunkt den Proklos einnehmen musste,
da seine Chrestomathie ausschliesslich die griechische Poesie anging. In den
Dionysscholien wird ausführlich von den yod{iiiaxa geredet , die der Grammatik
den Namen gaben. Das Wort bedeutet vielerlei (Cramer p. BIO, 13), Buchstaben,
Schriften überhaupt, Dichtung im besonderen, Urkunde, Gemälde u. s. w. . aber
1) Dions Rede Ilegl 'Ofirjgov (II 109 V.Arn) beginnt mit einer Litteraturübersicht. Da heisst
es xai ctvxbg 'Agi6xoxeXrig, eeep' ov (paoi xr\v v.gixiv.r]v xe -aal yga^axi%r\v cig%)]v XaßeCv, nach-
dem zuvor die Houierinterpreien genannt waren, ov fiovov 'Agi6xug%og xat Kgcixr\g hcci exegoi nXei-
ovg xäv vöxegov yga(X[iccxiH&v ■kXt]Q'svtcov ngöxegov de -kqitih&v. Elwas anders Sextus Emp. p.
608, 17 yQcc{iiiocTiKri xoivvv Xeyexai — r)v 6vvr]d~a>g ygaixfjiaxi6TL%i}v huXov{iev, idiuixegov de r) evxe-
Xrtg v.al xoCg Ttegl Kgäxr\xa xbv MccXXmxrjv 'Agiaxo(pävr\v xs xea 'Agi6xecg%ov e7uiovr]&eL6a. — In den
Dionysscholien sind natürlich verschiedene Versionen vertreten, bei Cramer p. 310,26 steht auch
das folgende: cpccöl de 'Avxidcogov xbv Kvficccov ng&xov iniyeygcccpevaL avxbv ygafifiaxiiiöv , ovy-
yga^d xi ygäipavxcc negl (0^r]gov %cu 'Hoiodov. Vgl. Susemihl Alex. Litt. II 664.
4* '»
28 GEORG KAIBEL,
der Grammatiker heisst «jrö xov dr\Xovvxog xb noirj^ia. Ganz entsprechende Er-
örterungen finden sich bei Sextus p. 690, 5, der seine Quelle angiebt: Sog (pccöiv ot
7CeqI xov 'A6xXr\TtLadrivl). ßekkers Meinung, dass die Scholien aus Sextus ge-
schöpft hätten (vgl. auch Sextus p. 609, 47 mit Schol. p. 728, 12 B) , ist unhalt-
bar, davon kann sich jeder leicht überzeugen: wie sollten diese Grammatiker
auch von ihrem erbittertsten Gegner entlehnen was sie anderswo breiter und
unparteiischer dargestellt finden konnten. Ein Buch wie das des Asklepiades,
sei es das Original, sei es eine Bearbeitung oder ein Auszug, musste bei den
Philologen weit verbreitet sein. Auch Sextus braucht es nicht selbst gelesen
zu haben, wörtliche Citate oder eingehende Referate, die er in bequemen Hand-
büchern vorfand, konnten für seine Zwecke völlig genügen. Die Quellen des
Sextus verlangen eine sorgfältige Untersuchung , die hier nicht gegeben werden
kann.
Doch zurück zu den Excerpten des Cramerschen Scholiasten. Nach den
Stilgattungen (aögov , i<5yy6v , av&rjQÖv) werden die 7tOL^6scog laoaxtr^sg aufge-
zählt. Es sind drei: dtrjyri^axLxog , doauaxixog , {iixxog. Es folgen die Erklä-
rungen : ÖiriyrifiaTixög söxlv 6 x£%coQi6nevog {ilv xcbv TCaQEtöayo^svcov 7iQ06(X)7tcov, im''
ccvtgjv de x&v 7toir}TixcJv 2) Xsyö^isvog. doauaxixog de 6 xs%(DQi6^iivog xov %oiy\xixov
7tQ06(b7tov, V7tb ds xcöv %aosi6ayo\i(va)v TtooöcoTtcov Xsy6{ievog. {iixxbg ds 6 f£ ä^icpolv
6vyxst^svog. Dann die Arten: sl'dr} xov diY\yrniaxixov xal ^llxxov d'' sitixöv, sks-
ysiaxov, ta^ißixöv, {isfoxov. xov doaiiaxLXOv sl'drj y' xoayixov xcj[ilx6v öuxvqixov.
Bei Photios folgt auf die Stilgattungen dieses : diakaiißdvsi ds xal nsol xoCöscog
7ioiYJ[iaxog, iv ch naoadidtoGi xig Y\%-ovg xal ita&ovg diacpogd. xal ort xrjg noir\xi-
xr\g xb {lev £6xl dirjyr}^iaxLxov, xb ds \li\lk\xix6v , xal xb \lsv dix\yr\\iaxixbv sxcpsQExat
Öl Eitovg id^ißov xs xal sXsysiov xal [isXovg, xb ds [iiurjxixbv dut xoay&idCag öaxv-
Qcov xa xal xa^cjidiag. Von der^xgtöig wird später die Rede sein, zunächst von
den Dichtungsarten. Dass Photios ya\irixixöv sagt für doa{iaxix6v, ist unanstössig,
Proklos hatte wol beide Ausdrücke gebraucht (activum vel imitativum Diomedes
p. 48*2, 14 K), aber ein starkes Stück ist es, dass er Epos, Iambos , Melos und
Elegie zur rein erzählenden Gattung rechnet. Offenbar hatte er die dritte
Classe, das \lixxov, aas Versehen übergangen (wie vorher unter den nkdö^iaxa das
töx^'bv) , und so kamen ihre Arten unter die Gattung des dtrjyrjuaxLxöv. Der
Dionysscholiast hat seine Sache besser gemacht, aber doch nicht gut, wie man
1) In den Hekkerscben Scholien p. 784, 6 (verkürzt Cramer p. 313) heisst es: ölcc xovxo 8s
Y.al ovx aXXoig %c£Qa-nxfiQ6i xgmfis&cc xcöv 6xoi%sitov cxXXa xoig icovinoig, cbg iisv,AaY.Xr\Tii(x.8r]g 6 £{.ivq-
vuiog Xsysi, 8iä xb xäXXog ncci oxt nXsiGxa x&v övyygafi^icixcov xovxoig sysygccnxo xoig %ccQav.xriQ6iv.
Wie kann man an der Emendation 6 MvgXsavog zweifeln. Das Citat hatte Lukillos von Tharra
vermittelt, der als Quelle für das gesaramte sehr gelehrte Scholion über die Buchstaben bei Cramer
p. 322, 28 genannt wird.
1) Man kann wol leicht ngoöconcov ergänzen, aber glaublicher ist, dass im Original der Sin-
gular stand vn ccvxov Ss xov 7toir\tiY.ov {ngoaconov). Die naheliegende Verbesserung vn ccvxcov
ös xcov noLrixcöv, die auch Usener vorschlug, ist des folgenden wegen nicht wahrscheinlich.
DIE PROLEGOMExNA 7I£P/ KflMfLUIAS 29
meint. Usener (Münch. Sitzungsber. a. 0. 615, 2) nahm einen Ausfall an und
schrieb el'ÖT] xov dirjyrj^axLxov . . . (ei'ör} xov) {icxxov d\ wobei er das xccl vor
fLLxrov nutgeben musste. Das ist ein Zugeständniss , dass die Aenderung gegen
die Absicht des Scholiasten geht: ist sie aber der Absicht der Vorlage entspre-
chend? Natürlich musste Usener nun in die Lücke die Arten des dirjyrjfiaxLxov
einfügen, die bei Diomedes zu lesen sind (p. 482, 31) exegetici vel enarrativi spe-
cies sunt tres, angelticc historice didascalice. Ist es aber wahrscheinlich , dass so-
wol Photios (den Usener hier nicht berücksichtigt) wie der Scholiast, wenn auch
in verschiedener Form, so doch in sonderbarster Uebereinstimmung beide gerade
die Arten des dix\yr\\iccxLx6v ausliessen oder beim Excerpiren übersahen? ist nicht
vielmehr dies ein deutliches Zeichen , dass beide die gleiche Vorlage benützten
und in eben dieser Vorlage keine weiteren Arten angeführt waren?
Eine systematische Gruppirung der sämmtlichen Poesiegattungen fand sich
in Aristoteles' Poetik nicht: da trat eine andere Autorität für ihn ein. Piaton
theilt die Poesie, je nachdem der Vorgang in directer oder indirecter Nachah-
mung vergegenwärtigt wird, in zwei Klassen (Rep. p. 349 c): rj [tev diä ^11^-
öeag okr\ eöxiv, xgaycjidia xs xccl xaiMmdicc, 7} de dt ccitccyyeXiccg ccvxov xov notiq-
xov' evQOig <T av ccvxyjv (iccfoöxd tcov sv dcd'VQcc^ißoLg. r) <T av di d^iq)oxsQ03v sv
xe xr\i xfov sitCov Ttoirjösi, ■Kol'kayov ös xccl alXofti. Die beiden Hauptklassen
machen eine dritte Mischklasse noth wendig. Man braucht Piatons allgemeine
Andeutung nur zu specialisiren , so ergiebt sich was der Cramersche Scholiast
sagt, zur Mischklasse gehöre das Epos, die Elegie, der Iambos und das Melos.
Diese bequeme Auftheilung des Materials begegnet später fast überall, nur dass
die Mischklasse bald \11xxov bald xoivov heisst (Diom. p. 482), letzteres etwa
auch nacli Piaton Rep. 396 e xccl söxai ccvxov r\ ksfyg psxsypvGa per d^cpoxsQcjv,
{iiliriöscjg xs xal xijg aXXrig (1. äitXY\g) dLrjyt]öscog. Wie eng der Cramersche Scho-
liast oder vielmehr Proklos der Platoniker mit Piaton zusammenhängt, zeigt
auch die trotz des mangelhaften Griechisch noch an Piaton anklingende Begriffs-
bestimmung der beiden Hauptgattungen. Während sonst überall das dirjyrj^axixöv
einfach so characterisirt wird, dass der Dichter allein rede, das öoayiaxixov so,
dass der Dichter andere Personen reden lasse, das \11xx6v endlich so, das bald
der Dichter bald seine Personen reden , bewahrt der Scholiast noch eine Spur
des gewählt anschaul-ichen Platonischen Ausdrucks Rep. III 393 c sl ös ye {irjda-
ftou savxbv cctcoxqvxxolxo 6 7ton]X7Jg : nur ist das hübsche anoxQvnxsöftai zum
trockenen Schulausdruck ^coot^tfthu verunstaltet worden. — In der That sind
dramatische Darstellung und Erzählung zwei wesentliche Unterscheidungsmo-
mente, nur schade, dass wol die erstere aber nicht die zweite Art sich irgend-
wo in der Praxis rein und ungemischt findet. Piaton nimmt zum Dithyrambos
seine Zuflucht, aber er schränkt auch dies Beispiel durch ein vorsichtiges \1aX1-
6xd itov ein : die späteren, die den jüngeren Dithyrambos erlebt hatten, konnten
nichts weniger als den Dithyrambos zur erzählenden Gattung rechnen. Aber
die Rubrik musste doch ausgefüllt werden : sehen wir, wie Diomedes' Gewährs-
mann sich hilft, angeltice, sagt er, est qua sententiae scribuntur, ut est Theogni-
h
30 GEORÜ KAIBEL,
dis liber , item chriae. Historie e est qua narrationes et genealogiae componuntur,
ut est Hesiodu rwaLxübv xaxdXoyog et similia. didascalice est qua comprehen-
ditur philosophia Empedoclis {et Lucrcti), item astrologia, ut Phaenomena Aratu (et
Ciceronis et Georgica Vergilii et Ins similia). Dass diese drei Arten die kümmer-
lichsten Nothbehelfe sind, Erfindungen eines verzweifelnden Systematikers, liegt
auf der Hand; als ob Theognis sich von anderen Elegikern, Hesiods Frauenlieder
sich von anderen Epen unterschieden hätten. Es bleibt eigentlich nur das Lehr-
gedicht , aber auch das beschränkt sich nicht in Folge eines inneren Zwanges
auf die Erzählung: sobald der Dichter einen Mythos einflicht, also zum wichtig-
sten Ingredienz der Poesie greift, kann oder muss er Personen nicht nur han-
delnd sondern auch redend einführen. Eine rein erzählende Gattung giebt es in
der Poesie nicht ; will man aber a potiori eine Gattung dahin rechnen , so hat
das Epos mit allen seinen Abarten das alleinige Anrecht auf den Platz. So
richtig also Piaton die beiden Formprincipien in der Poesie erkannt hatte, so
falsch haben die späteren die Principien zur Grundlage einer Systematik ge-
macht: alle Gattungen sind diesen Principien unterworfen und haben Theil an
ihnen, die Botenrede der Tragödie gehört doch wol zum dnjyrjuatixöv. Und diese
richtige Erkenntniss lag in der gemeinsamen Quelle des Photios und des Lon-
doner Scholiasten, bei Proklos vor. Das Drama bildete eine Klasse für sich;
dem gegenüber steht die ganze Masse der übrigen Poesie , sie ist entweder er-
zählend (betrachtend u. dgl.) oder aber erzählend und darstellend. Der Scholiast
hat Recht : sLöt] xov dtriyrjuccTLXov xal ulxtov d' ■ etclxov iXsyetaxöv ta^ßLXÖv {ieXl-
xov. Photios hat sich in diesen Gedankengang nur nicht hineinfinden können
und hat darum das ynxxöv beseitigt. Es hat mancherlei Versuche gegeben, den
Inhalt der griechischen Litteratur zu systematisiren : so unberechtigt sie alle an
sich sind und sein müssen , so interessant sind sie für die Geschichte unserer
Wissenschaft. Ein weiteres System wird später zu besprechen sein.
Ueber die XQiOig 7toLrj{iaxog, wie schon gesagt, hat Photios nichts weiter be-
richtet als den einen Satz: Ttagadiöcjöt xig iföovg xal Ttd&ovg dicccpood. Das ist
eine blosse Einzelheit, die beweist wie stark Photios gekürzt hat. Womit sich
die philologische xgCoig zu befassen hat, sagt ein Dionysscholion bei Villoison
(p. 175) , von dem in der Bekkerschen Sammlung (p. 741) nur kärgliche Reste
übrig sind: dtaepeget Öl xotdig övyxQiöscjg' xal tiqioxov fisv XQLötg , öevxeqov de
övyxQLöig. xqlvel (i£v yaQ tig txaOxov ix xobv lölcjv, 6vyxoCv£i de exeqov icp exe-
pro/, cjöxe v\ OvyxQiöig ev avx^L tcqöxeqov xr\v xqlölv (övyxoiöiv Cod.) e^el. £,rjxr}-
xtov üqcc 6 yoa{iu.axixbg xaXMtüv av xCjv itotrjx&v xqlvel avxwv xä 7tOL7]^iaxa rj
yxxujv xal el fisv xakXCcoV) dio[i£v xal avxbv Eivai 7toLYixt]v, otieq alloxoiov yQappa-
xix)]g ' ovxe yaQ [itoog ovxe oQyavov xfjg yga^i^axLxfjg xb %OLx\XLxbv . el ds yxxcav (bv
xqlvel, oi)% cog 7t0LY}xr]g äXX tbg xE^vCxi^g xfjg exelvcov vkr}g 6 yQa^i^iaxLxbg (xolvcjvel
oder dgl.). vkrj yaQ 7iOLri\ua\xixrig (xv&og {iexqov kt%Lg LöxoQLa ylCöOöa, xal xovxav
xEyvixr\g o yQappaxLxbg. xqlvel Öe xal (<bg Cod.) ov tcoxeqov avxotg xaXcjg yiyQa-
nxai i) ov, aklä nola dvopoLa rj nola fyiota, xal nola vöfta xcjv noLiqxcbv xal nola
DIE PROLEGOMENA 77EPJ KnM£lIJIA2 31
yv^öta1). xqlvstcu d' r\ Ttoir\6ig xqovcoi ke^so [ärooiai 7tXa6^iaxL övvxttöu xvqloXo-
yioii olxovouiai xd%u rftu 7tQO0co7t(m. Die Fassung mag wol zum Theil sehr jung
sein (schlimm ist (1ms zweimalige xalUcov für xqslxxgjv) , aber der Inhalt ist alt
und gut. Das wichtigste steht am Ende : nicht ob der Dichter schön geschrieben
hat oder nicht schön, hat der Philologe zu beurtheilen , sondern ob ein Gedicht
einheitlich in Erfindung. Auffassung, Sprache, Characterzeichnung u. a. ist, das
heisst ob dem Dichter ein wirkliches Kunstwerk gelungen ist. Das Ethos der
Charactere, der Situationen, des Stils, des sprachlichen Ausdrucks ist von grosser
Bedeutung (vgl. auch das interessante Capitel IJagl koycov i^sxdösmg in der Ts%vri
des Pseudo - Dionysios p. 122 Us.), seine Schätzung ist nur möglich, wenn der
Kritiker zwischen rj&og und 7td&og wol zu scheiden weiss. Den Unterschied
hatte Photios bei Proklos behandelt gefunden und eben dies, weiter auch gar
nichts angemerkt. Die Einzelheit ist in den Dionysscholien verschwunden.
Bei Photios folgt nun eine ausführliche Behandhing des Epos. Zuerst wird
die Erfinderin des Verses genannt: eysvQe 0rjiiov6ri rj 'ArcoXkavog ngocprixig, in
wörtlicher Uebereinstimmung mit dem Cramerschen Scholion (p. 316, 6): xal 6
6xiyog (svQS&r]) vTtb G>r}{iovör}g tegstag xov 'AnokXcovog. Dann wird erklärt, warum
der Name eitog, der auch für andere Metra verwendet werde, auf den Hexameter
beschränkt worden sei : ganz ähnlich dem Inhalt nach, zum Theil auch im Aus-
druck das Scholion p. 751, 1 B. Im übrigen haben die Dionysinterpreten, da sie
dazu auch wenig Anlass hatten , das Epos nicht besonders besprochen , nur die
Geschichte von der Peisistrateischen Recension haben sie breit nacherzählt, ver-
muthlich so wie Asklepiades sie erzählt hatte, dessen Bericht aller Wahrschein-
lichkeit nach ihnen durch Proklos vermittelt war (s. o. S. 26). Bei Photios sind,
wie wir wissen , vom Reichthum des Proklos nur ärmliche Notizen über das
Epos stehen geblieben '-'). Bei Tzetzes (aus den Dionysscholien) kehrt an vielen
Stellen seiner verschiedenen Tractate (zu Hesiod, zu Lykophron, in den Iamben)
die Namenreihe der hauptsächlichen epischen Dichter wieder , die bei Photios
steht: Homer, Hesiod, Peisandros, Panyassis, Antimachos. Mit einem solchen
Verzeichniss schliesst Photios jedes einzelne Capitel ab ; Proklos hatte sich nicht
mit den Namen begnügt , sondern , wie für die epischen Dichter Photios aus-
drücklich bezeugt, von jedem cjg oiov xs xal yivog xal naxQiöa xaC xivag iitl pe-
1) Vielleicht xüv 7totri[idxoiv für xäv noirixcov, vgl. das Cramersche Scholion p. 315, 20 ngiGig
7toit]ficcta)V. nollä yug vod-fvo^isvd ioxiv ä>g i] ZocponXsovg 'Avxiyovr] (so)" Xtysxai yug slvca 'Avxi-
rpwvrog (so) xov Zo(pov.Xfovg viov. ojiotcog xu RvTigiunu (so) xca 6 Magyixr]g, 'Agdxov xu Ovxlku
hui xd. 7t£gl 'Ogvzwv, 'Höiödov 'AßitCg. Dass dies Scholion mir ein Theil des Villoison'schen ist,
beide also zusammen erst eine Einheit bilden, zeigt Psellos , der die Prosa in Verse umgesetzt
hat (Boissonade Anecd. gr. III 210). Maass (Aratea 242) musste also statt des Psellos die Scho-
llen citiren. Uebrigeus stimmt über die ngtaig mit den Dionysscholien genau Quintilian überein
I 4, 3.
2) Dass die Chrestomathie über Rhapsoden und Rhapsodien belehren musste, versteht sich
von selbst. Photios hat das nicht excerpirt, aber die Dionysscholien haben nicht weniges darüber
erhalten (p. 765 ff. B). Die Etymologien, die hier vorgetragen werden, von gdjtxco und gußdog,
kehren genau übereinstimmend bei Diomedes wieder (p. 4ö4).
3*2 ' GEORG KAIB EL,
govg 7iQa£Eig berichtet. Als Vertreter der Elegie nennt Photios Kallinos und
Mimnermos , dazu Philetas und Kallimachos. Tzetzes (ad Lyc. p. 257 M) hat
dieselbe Reihe, nur lässt er Kallimachos bei Seite. Fehlte bei ihm Philetas,
könnte mau an eine andere Auswahl denken, wer aber Philetas zählt, kann Kalli-
machos nicht übergehen. Es ist also nur eine mangelhafte Wiedergabe der-
selben vier Namen die Photios aus Proklos hat und die sich sonst nirgend finden.
Im übrigen sagt Photios über die Elegie das folgende : xrjv da ikeyeiccv övyxal-
6&cu [ihv f| i]Q(biov xal 7t£VTa{LSTQOv 6tL%ov, aQiio&iv 6e xolg xaxot%oyiEvovg' odsv
xal xov bvopaxog itv%B' xb yao d'Qtjvog sXsyov ixdXovv ot itaXaiol xal xovg xexe-
X£vx7]xoxag 6V avxov EvXoyovv. ot ^ievxov ys ^BxayeviöxsQOL xoig ikeytioig nobg
diayoQovg vitofttGsig d%E%Q\\(5avxo. Dies stammt aus Didymos TLeqI Tcoirjxcbv, wie
Orion p. 58 bezeugt, wenn auch vielleicht nicht direct. Sonderbar aber wäre
es, wenn Proklos gegen seine sonstige Gewohnheit bei einem so strittigen Wort
sich auf eine einzige Etymologie beschränkt hätte : er pflegt sonst vorsichtiger
zu sein. Näher als Photios' Excerpt steht dem was Di4ymos lehrte der Dionys-
scholiast (zJioprjdovg xal UxEcpdvov im Burbonious) bei Bekker :
Didymos Et. M. 327, 1 Scholien p. 749, 27
zJidvfiog öe ort diä xovxo xat {jqcölcol iXEy.Eiov s^^tXQog toxi <5xi%og , eXXei-
£7tfjiöov ayg 7ievxd(.iexQOv xal Xe mo [iE- tilov ivl TtoÖl xov i]Q(oixov 6xl%ov,
vov1) xov r\Q(biov, ^iL^ov^iEvot xi\v eig ovo 7tEv&y]UL^iEQElg xe^ivö^svog, olov
T&v a.Tio$vr\i6x6vx<öv anoTiavOiv' ixl yäo 'vrjidsg ot {lovörjg ovx iyivovxo cpiXoL
{idvoig vexooZg %dXai y]idexo itabg 7taa- (Kallim. fr. 488) — xovxcoi ovv xCbi xoö-
aiveäiv xal 7t ao a^ivd C av xCjv thdl TtoXXol TtonqxaC (\. 7ioirj[iaxa) xiva
övyysvcjv xal (plXavxovxE&vsG)- yEyQacpijxaöiv , axiva EinxaXEixai etclxtj-
xog. dsia' Tiobg yag % aoa\Lv$lav xcbv
<5vy y ev (bv xovxov (1. xov XE&vEüxog)
xal (piXcjv xf\L Ttaoaiv eöei ri]v Xv-
7ir\v ccveöxeXXov.
p. 750, 23.
E7iEtdrj Ot x£&vi]x6x£g eXXei-^iv x t v a
E%ovöiv iqyovv xov %%v, xovxov %d-
qiv xal xä iXEyEla <bg etil xolg xe&vyjxoöi,
XEyoyLEva eXXe LTC0V6L Tioöl Ttgbg xov
öaxxvXixbv <5xi%ov.
Also Didymos, vermittelt durch Proklos, liegt den Scholien zu Grunde. Aber
die Scholien haben noch mehr : diö xal xaXElxat iXEyEta oiovsl iXEEla xov y ix&Xi-
ßoptpov, naoä xb eXeeiv xov XEXsXEvxrjxoxa ' i) EvXoyEta, Ttaoä zb sv XiyEiv xov djeo-
ßicöaavxa. Das sind Versuche, die auch in den Etymologika verzeichnet werden;
1) Der Text ist verderbt und lückenhaft (etwa infjidov -neu nevTäfistgov eng <8vi no8l> Xfi-
■ji6(isvov): den Wortlaut des Didymos hat Orion vielleicht ans directer Benützung besser bewahrt,
den Dionysscholien steht der im Et. M. erhaltene Text, offenbar eine Ueberarbeitung des Didymos,
weit näher. Der Ueberarbeiter ist eben Proklos gewesen.
DIE PROLEGOMENA TLEPI KflMfLUIAS 33
sie sind dort aus derselben Quelle genommen wie das Didymoscitat. Proklos
hatte also wirklich mehrere Etymologien angeführt l).
' Ueber den Iambos, den Photios zunächst behandelt, findet sich heute in den
Dionysscholien nichts. Dass niemals dort etwas zu finden gewesen sei , folgt
daraus nicht, dass Dionys die iambische Poesie zu erwähnen, die Scholien also
von ihr zu reden keine Veranlassung hatten. Die Scholiasten, die eine vielnm-
fassende Quelle unbesehen abschreiben, haben nach dem Zweck ihrer Excerpte
nicht viel gefragt, und es machte ihnen mindestens ebensoviel Mühe darüber
nachzudenken , ob sie etwas vom Iambos sagen müssten , wie wenn sie einige
Bemerkungen über ihn ausschrieben. Eine Spur möchte man überdies in den Lon-
doner Scholien zu finden meinen. An der Stelle, wo Photios vom Iambos spricht,
vor der lyrischen Poesie, steht das folgende : 6vvxay^id e6xl kE%ug ölü [iexqcov xoAo-
ßcbv etil TtolXä diatEivovOa' rj övvxa&g {isxoov xccxa xoloßöv cctcyiqxiö^evov (-(ievov
Cod.) ccvev yiEXovg' r\ {iexqov Elg Xöyovg xoloßovg xExyLY\\iEvov . Ich bin weit davon
entfernt das zu verstehen, aber das avsv {isXovg ebenso wie der Ausdruck At%tg
scheint auf den Iambos zu weisen. xoÄoßov heisst jedes in seiner natürlichen
Form beeinträchtigte Metrum, der Spondeus sowol, der am Versschluss in Form
eines Trochaeus erscheint, wie die Katalexe, Brachykatalexe und Hyperkatalexe.
Im Grunde konnten auch Choliamben so genannt werden, wenn ich auch nicht
weiss ob es geschehen ist. Die Hauptschwierigkeit liegt in 6vvzay{ia, das hier
als technischer Ausdruck auftritt und doch sonst nicht so vorkommt. Es scheint
ein Gedicht gemeint zu sein, in dem eine bestimmte Art von xoXoßä iisxqcc sti-
chisch verwendet wird: das könnte ebensowol der katalektische iambische Tetra-
meter wie der anakreonteische Dimeter wie (eventuell) der hipponakteische Hink-
iambos sein. Der zweite Satz drückt denselben Gedanken nur mit anderen
Worten aus : ein Metrum das seine Begrenzung im xokoßov findet ist eben ein
xoloßov. Der dritte Satz ist schwer verständlich : vielleicht ist es nur eine dritte
Variante desselben Gedankens , aber wie kann ein ^lexqov in Xoyoi xoloßoi zer-
legt werden ? eine Xe%ig elg {ibxqcc xoXoßä xsxiirj^iavr} wäre einfach, aber zu emen-
diren wage ich nicht.
Aus Proklos' Abschnitt über die lyrische Poesie hat Photios sehr umfang-
reiche Excerpte bewahrt. Der Cramersche Scholiast beginnt hier karg und
flüchtig zu werden, aber seine Fehler werden uns lehrreich sein , seine Lücken
lassen sich zum Theil aus anderen Dionysscholien ergänzen. Photios beginnt
so: TtEQi de iiEhxfig 7tOLij6£(bg cprjöiv (bg 7toXv{iEQe6xdxrj x (eöxiv) xai diayÖQovg
1) In den Londoner Scholien (Cram. p. 3 IG) steht eine merkwürdige Geschichte von Elegos
dem Sohn der Kleio, der hei seiner Hochzeit plötzlich stirbt: da verwandelt sich Freude und Tanz
und Hochzeitslied in Klage, und nävrtg s^Qr\vovv (isrcc fieXovg, xca av\r\xcu xca y.i&ccqi,6tul aul
TQCtycoidoi (?), suTtXayivttg inl tüi 6VfißsßrtK0Ti rmv 'EXsyai. Das bekannte Motiv von Hochzeit und
Tod könnte wol in einer alexandrinischen Elegie behandelt gewesen sein. Dass dies aus Proklos
stammt, macht eine vollkommen analoge Geschichte von Hymenaios glaublich, die Photios bewahrt
hat (p. 321 a 19): v[isvcuov Ss iv yäfioig aiäsa&ai cpccai hcctoc noftov xal lr)tr\Giv 'Tpsvcu'ov xov
Tegipixogag, ov cpccai y^fiavra 6c(pavr) ysviö&ai. Und dies kehrt wieder im Et. M. 776, 49.
Abhdlgu. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 4. 5 /,
1 1
34 GEORG KAIBEL,
tiei xo^idg. a fisv yäg avxrjg [ie(ieqi6tcu dsolg, ä de av&g&Ttoig, a öl sig xäg ltooö-
7tL7ttovöag TtBQtözdösig' xal elg fteovg plv ccvcccptQEöd'ca v^ivov 7tgo6oöiov naiava
öi&vgayLßov v6{iov aöavlÖEia loßax%ov v7togiY\iiaxa. Elg de av&gd)7tovg u. s. w. . in
langer Reihe werden die vielen Arten aufgezählt und dann im einzelnen er-
läutert. Aus diesen z. Tb. sehr gelehrten Erläuterungen giebt der Cramerscbe
Scholiast eine bescheidene Auslese. Bei Photios fehlt merkwürdiger Weise zu
Anfang eine Definition der lyrischen Poesie, die Etymologie des Wortes Xvga,
die Aufzählung der neun (oder zehn) lyrischen Dichter, alles Dinge, die beim
Epos, Iambos und bei der Elegie eingehend berücksichtigt werden. Ich denke,
die Bekkerschen Scholien werden das Deficit decken (p. 752, 4) : Ei'grjxai, öl Xv-
oi.K)) ditb xov d^L07ti6x{oxdx)ov ogydvov ov \iovov ydg 7tgbg Xvgav iXiyExo dXXä
xal ngbg avXb%> xal ßdgßixov xal änXwg eItieZv Jtgbg itäv ogyavov \iov6ixbv. dXX''
ettelÖt) xCbv äitdvxcov xb d^i07tL6x6xaxov ogyavov i] Xvga £6xCv, cctzo xavxrjg avofidiöd-ri.
stgritai öl Xvga (nagä xb Xvco) Xvxga xig ov6a' cputil ydg ort noxl (Eg[ir}g iv 14g-
xaötat dva6xg£(p6^iEvog evgs %eXcoviiv xal öiaxoifrag etcoltjöe xoiXiav Xvgag. r\vixa
Öl xovg rHXlov (1. ^TtoXXavog) ßovg nXsipcu EßovXr\&Y\ xal öiä xb uavxixbv xov
&EOV ov öeövvtjxo (1. ovx EÖvvaxo^, dvEX7J(pd-7] (1. övvEXrjcp&rj). slöcag Öl xal xov
&eov xb {iovölxov Öeöcjxev vitlg eccvxov xi\v Xvgav Xvxgov xal iqXsvd-Egcü&'r} xov
iyxX^axog (vgl. ßoisson. Änecd. IV 458). Und ferner (p. 751,19): Mxi xivd
7iOLrj{iccxa a ov {tovov i^^isxgcjg yiygaitxai dXXa xal yLExd {is'Xovg eöxetcxovxo (so)
— yEyovaöt Xvgixol xal oC %guxxb\LEvoi evveoc, <bv xä ovöfiaxa £6x1 xavxa xxX. Es
folgen zehn Namen , vgl. oben S. 14. Die Benennung der Lyrik a potiori er-
innert an die Benennung des Epos wie Proklos sie erklärte. Bekannt ist, dass
für die Lyrik die einzige oder doch die hauptsächliche Quelle des Proklos Didy-
mos ÜEgl XvgixCbv Ttoiiixiov war. Was nun im Etymologikon des Orion , der
Proklos' Lehrer war, über lyrische Poesie steht, wird man gestützt auf das
zweimalige directe Citat (p. 58, 14. 156, 7) mit Sicherheit auf dasselbe Buch des
Didymos zurückführen (MSchmidt Didymi Fragm. p. 390) , also auch die Glosse
p. 96, 7 Xvga' nagä xb Xva, ov 6 ^ieXXcov Xv6cj. Xvxga (xig ov6a Et. M.) iööd-rj
xCoi \4itbXX(ovi nccgä xov (Eg[iov V7tlg av exXe^e ßoäv. Das deckt sich mit dem
Dionysscholion.
Photios nennt eine Mischgattung: sig dsovg Öe xal dvfrgcjrtovg nag&Evia öa-
Qpi'rt(fOQLxd (bö%o(pogLxd Evxxtxd' xavxa yäg Elg ftEOvg ygacpö{i£va xal dv&gcüTicjv
7CEgiEtX)](pEv ETCaCvovg. Der Scholiast bezieht diese Characteristik auf die eine
Air. die v{lvol: vpvog £6x1 Tiohjua TtEgtE%cov &ecöv £yxcb{iia xal j)gcbcov {iex' Ev%a-
gioxiag, wobei der letzte Zusatz möglicherweise echt iet, sonst aber einem christ-
lich» n Gemüth wol nachgesehen werden könnte *).
Vom Eyxco{iLOv hat Photios nichts weiter erhalten (bei Proklos stand wol
was Et. M. 311, 26 gesagt wird, vermuthlich aus Didymos, vgl. Hesych iyxcjutov)
1) Was Proklos über vfivog gesagt hatte, ist unter Didymos' Namen Et. M. 777,9 erhalten.
Dass bei Thotios tu eis rovg vnsQsxovtas (für rovg vnriQsxag) zu schreiben ist, liegt auf der Hand
(so .»ach Hupp Leipz. «tud. VIII 137).
(i
DIE PROLEGOMEN A TIEPI KflMflIJIA2 35
als dass es eine Unterart des vpvog sei. Der Scholiast scheint mehr zu wissen :
iyxäfiiov eöxiv Tioix\\ia t) 6vyyQa{i[ia 7teoit%ov xcbv vevtxr\xoxcov eyxcb^iiov e%' avxfjt
xx\i vLxrjL xal dt avt^v yeyovög. Aber hier ist wol aus der Glosse selbsl ein
falsches Lemma entstanden, oder besser, es sind zwei Glossen miteinander ver-
schmolzen worden. Die ersten Worte Ttoir^ia rj övyyQa^i^a passen in der That
auf das poetische und rhetorische eyxd>{iiov, das übrige aber erklärt den eiiCvixog
vpvog, und zwar besser als bei Photios (321 a 2): ö de enivixog vn' avxbv xov
xaigbv xr\g vCxr\g xoig tcqoxbqovöiv ev xoig ayCböiv eyodcpexo.
Vom naidv hat nach Orion p. 133, 32 Didymos die Et}Tmologie Ttagä xb 7iavco
navcov xal xaxd xqotctjv xov v elg T gegeben, d. h. weitergegeben. Darauf kann er
sich nicht beschränkt haben. Photios sagt : 6 de Ttaidv eöxiv eidog (bidrjg elg itdvxag
vvv yoa(p6{ievog freovg, xb de TtaXaibv Idtcjg ajceve^iexo xat Ajtokkcjvi xal xr}t 'Aq-
xeaidi enl xaxaitavQei Xoi\iCbv xal voöcov cndöfievog. xaxaxQrjöxixöjg de xal xä tcqqö-
odtd xiveg itaiavag keyovtiuv. Hier ist die Ableitung von %aveiv nur noch ver-
deckt zu spüren (eitl xaxanavöei). Wenn dafür der Cramersche Scholiast sagt
Ttaidv eöxi Ttotrj^ia Ttobg 'AnoXlcova xal "AQxeyuv e%ov TtQOGcpd)vt]<5iv eitl TtaQaixrjaet
Xoi^icbv tj öxdaecov rj xcbv naoaichpCav , so scheint zwar die Etymologie ver-
schwunden zu sein, aber die naQaixx\<5ig zeigt, dass Apollon und Artemis nicht
nur als Abwender von Pest und Seuche sondern auch als Urheber gedacht
werden. Wir werden also annehmen dürfen, dass bei Proklos auch das gestanden
hat was im Et. M. 657, 3 zu lesen ist : Ttaidv ■ vfivog (i) eidog) aLÖfjg enl dcpeßei
Xoi{iov didofievog, ag xb (xalbv deidovxeg Ttaiyjova xovqoi 'A%aiGbv {ielTtovxo 'Exdeo-
yov' {A 473 mit Schollen), ovxco yäo idicog avxovg xcbi 'AitokXcöVi xal xfji 'Aoxe-
pidi Ttooöecpeoov {rtooGecpavovv '?) ag alxioig xcbv koi^iixcov Ttad-cbv. Das wird aus-
geführt : Apollon als Helios, die Schwester als Selene verursachen Dürre , Pest
und anderes Leid. Dann folgt die Etymologie von Ttavetv. Vgl. auch Photios
p. 320 b 24, wo er v6{iog und Ttaidv vergleicht : 6 pev yäo irtaiav) eöxi xoivoxeoog
elg xaxcbv Ttaaaixrjöiv yeyQa^evog xxX. Dass manche auch die TtQoöodia "miss-
bräuchlich' als Paeane bezeichnet hätten, scheint nur bei Photios überliefert zu
sein : ganz ebenso beginnt der Schlusssatz in der Glosse Bekk. An. 296, 1 xaxa-
XQYjGXLxäg de (6 Ttaidv) xal elg dXXov &eöv rtva vybvog e%L xovt eoycoi xaxcjQd-co^iavoji
Xeyö^ievog, vgl. Schol. Plat. Symp. p. i77 a. Aber ein Irrthum ist es nicht, wie
wir sogleich sehen werden. Vom Ttooöodiov stimmt Photios' Bericht genau mit
Didymos bei Orion p. 155 f. und im Et. M. 690, 33 *). Genau wie die Komödie
von xco^ia und xcj{iri, so wird hier das Ttgoöödiov doppelt abgeleitet, von Ttgböodog
(Ttgoöievai vaolg rj ßco^oig) und in falscher Orthographie von TtgoOcoidtj (jtgbg avkbv
aideiv), und dann beide Ableitungen vereinigt. Bei Proklos muss aber mehr ge-
standen haben , man wusste doch noch anderes von den Ttgoöodia als was die
Etymologie lehrte: wenigstens eine geringe Entschädigung für das verlorene
1) Wo zu schreiheu ist ngoßoudiag- ?rapa rö itgoaiovrccg vccoig i) ßcofioig ngög ccvXbv aideiv.
ISicu de z&v vfivav, ort, tovg vfivovg ngög kl&ccqccv earareg cadovoiv. Ueherliefert ist diu de xüiv
fyvav, falsch MSchmidt Didym. p. 390. Vgl. Phot. p. 320 a 15.
5* ''
36 'GEORG KAI BEL,"1
verdanken wir dem Cramerscben Scholiasten : 7igo<5odi6v eöxi 7toh]ua vtco ccggtvcov
r) 7iccQd-svcöv x°Q°v *v rVL rtQOöodcot, xx\i itgbg xbv dsbv cadousvov. Darauf folgt
ein werthvoller Zusatz : (ptgsxcu de sv xovxcoi xäi yevst, xccl xb anoxge itxixbv ' e6xu
öl noitjucc öTtccöxixbv xaxä xbv dnb x(öv ftscov %G)gi6abv didöusvov. Das ist zu-
nächst unverständlich, weil ein aTtoxgsTixixbv usXog, von dem sonst nichts bekannt
ist. wenn es dem Processionslied untergeordnet wird, nur ein naiäv sein kann.
Die sichere Emendation giebt das Et. M. 131,37 a7to6xs7txixbv cuöucc ovxco xakov-
uevov ort uexä xb anoöxey&fivca xovg öxscpdvovg Tqiöexo iv xoig naiäöi asklov-
xeov aitoTtleiv. Die letzten Worte weisen auf die heiligen Theorien zum Früh-
lingsfest der Delien: männliche und weibliche Chöre haben in festlicher Pro-
cession den Paian vorgetragen und kehren nun nach Hause zurück, da singen
sie ein Abschiedslied, und damit es als eine Zugabe, nicht mehr als ein Theil
ihrer religiösen Aufgabe erscheine, legen sie die Kränze zuvor ab. Es ist in
der That freilich nicht ein 67ta6xix6v sondern ein a67t<x6xixbv 7toCy]uct (aöTta&öd'cu
vom Abschiedsgruss z. B. Xen. Anab. VII 1,8). Der Paian, der von den frem-
den Chören in Delos gesungen wird, kann wol ein 7tgoo6dtov genannt werden,
wie Photios sagt. Es ist ein Preislied auf Apollon und Artemis (daher xaxä
xbv ccTtb xcjv ftecöv %(agi<5u6v)x) für alles was sie den Menschen Gutes gethan,
für ihren Schutz in aller Noth, gvöia 'Aitolk&vi, wie es der Perieget Dionysios
nennt (527), eine aiör) sie svxv%iai xal vixv\i (Schol. Plat. Symp. p. 177 a), ein
vavog int xivi sgycoi naxcogfrcousvcoi ksyöusvog (Bekk. An. 296, 1). Ich denke, all
diese Grammatikerüberlieferung fügt sich zu einer Einheit zusammen, und diese
Einheit war Proklos oder seine Quelle Didymos. Denn Didymos war, wie für
alle litterarischen Glossen im Et. M., so gewiss auch für das äitoöxsTtxLxbv caöaa
der einzige Gewährsmann.
Ganz werthlos ist was beim Scholiasten über den Dithyrambus steht, aber
bezeichnend für seine Compilationsweise : dtd-vgaußög eöxi 7toCr\ua Ttgbg diovvtiov
cadousvov ' i] Ttgbg "Aitokkcova Ttsgiitloxal löxogiCov oixeicog. Photios ist hier sehr
ausführlich, und Proklos wird schwerlich viel mehr gesagt haben. Zunächst
heisst es richtig ygaysxai usv slg zIlövvöov, dann werden verschiedene Etjmolo-
gien angeführt, dann der 'Erfinder' Arion. Darauf fährt er fort: 6 usvxoi vöuog
yoä(p£Tca usv slg 'Anollava. Es folgt eine Geschichte der Entwicklung des vöuog
(Chrysothemis, Terpandros, Arion. Phrynis, Timotheos), und daran knüpft sich
ein Vergleich von vouog und ÖL&vgaußog , wobei es von letzterem heisst xsxl-
vrjudvog (söxt) xal Ttoli) xb sv&ovöiüdsg usxä %ogsCag spepaivav, sig Ttd&r} xaxa-
6xevcct,6u£vog xä uakiöxcc olxsla xi&i ^£öi. Es ist also klar, dass der Scholiast
diesen Vergleich vor Augen gehabt } Dithyrambus und Nomos in Folge dessen
durcheinander geworfen und gar nichts verstanden hat. Die Worte t) Ttgbg'Aitök-
kcova beziehen sich auf den Nomos, die folgende Corruptel mag so zu verbessern
1 ) Ans der Gleichen Quelle Pollux I 38 cci de etg fteobg ätidcci noiv&g fxev neeiäveg vtxvoi,
id£(x>g de 'Jgrsuidog vfivog oüniyyog, 'JnoXXcovog 6 nccidv, aficpotegav itQ06odict, diovvcov Siövgati-
ßog, di][iriTQog iovXog, das letztere als Didymos' Erklärung bezeugt, s. u. S. 39.
DIE PROLEGOMENA 77EPJ KflMflUIAS 37
. sein tceqI 7ta&(ojv) xal löxogicov oIxelcov, jedenfalls bezieht sich das auf den Dithy-
rambus. Aeltero Dionysscholien sind reicher und genauer gewesen. In dem
litterargeschichtlichen Abriss, der die Einleitung zu Tzetzes' Lykophroncom-
mentar bildet, werden erst die yvcogitiaaxa eines Dichters aufgezählt ([tixgov, pv-
&og, töxogta xal Ttotä Xi$ig)j dann heisst es weiter: ysyövaöi öe ovo^iaöxol noir\xal
(er meint Epiker, die Dichter xax i%oyr\v) tcevxe, fast genau wie bei Photioa
(ysyovaöi de xov Eitovg %oir\xal xgäxitixoi [iev "Oprigog xxl); die fünf Namen sind
hier wie dort die gleichen. Tzetzes kommt weiter auf die Lyrik (p. 252 M):
di^vga^ißov ccTib xov zJiovvöov ikiyovxo xov diä dvo ftvgcov ßdvxog, xrjg xs yaöxgbg
Hs^skrjg xal xov {iyjqov xov Aiög. Aehnlich Photios : TCgoöayogEVExai de (der
Dith.) ii, aurot) (xov zJlovvöov) r\xoi ötä xb xaxä xijv Nv06av iri (1. iv) dvxgcoi
di&vgm xgacp^vat xbv <diovv6ov — rj 816x1 ölg doxst ysviö&aL, dxa% ^lev ix vfjg
Usfie'krig, dsvxsgov de ex xov (z/tög) {irjgov. Die erste Etymologie scheint bei
Tzetzes in den Worten diä ovo d'vgojv nachzuwirken. Tzetzes sagt ferner (p.
259) von den diö^iaxoygdcpoi oder äoidoC (so eine Verwechslung bringt nur er
fertig), ihre eigenste Thätigkeit sei xb diöaaxa xal cbtöäg ygdcpEiv Ttgbg uov6ixi)v
xal cp6o[iLyya xal ßdgßixov xal xtd-dgav xal Ttäv ogyavov ^,ov6txcog diöö^iEvov: er
führt Rhapsoden namentlich an und citirt, als hätte er ihn selbst gelesen, den
Phalereer Demetrios , nämlich sein Buch ltegl itoir\xfov (Diog. L. V 80). Aelm-
liches steht in Bekkers Dionysscholien (p. 752, 4), natürlich von den Ivgixot.
Ueber das öxofoöv hatte Didymos iv xgixcoi xeov Xv\xno6iaxfov ausführlich
gehandelt und verschiedene Etymologien (und Erklärungen) verzeichnet, nach
dem Zeugniss des Orion CSlgog die Hdschr.) im Et. M. 713, 35. Wie reich das
Material von ihm gehäuft war, zeigen Reitzensteins Zusammenstellungen Epigr.
n. Skol. S. 3 ff. Proklos hatte einen grossen Theil dieser Gelehrsamkeit aufge-
nommen, Photios davon folgendes bewahrt : tö öe öxokibv ^lilog ijlöexo nagä xovg
Ttoxovg ' dtb xal TtagoCvtov avxb E6& oxe xa?^ov6iv. ävEi\LEvov di iöxi xy\i xaxa-
öxEvfji xal ccTtXovöxaxov ^idhCxa. öxokibv 8e sl'grjxai, ov%, cog ivioig e'So^e, xax' äv-
xtcpgaöLV (xä yäg xax ävxiygaöiv cog ini%av xov Evcpv\\Li6\iov 6xo%d%Exai , ovx sig
xaxocprjULav ^Exaßdklst xb Evcprj^iov) äkkä diä xb 7tgoxaxEiXrj^iaivcov i]drj xcbv diöd-r]-
xrjgiGJV xal TCagEL^iEvcov oI'vcjl xcbv dxgoaxcov xrjvixavxa EiöcpigEö&at xb ßdgßixov Eig
xä 6vyL7ro6ia xal diovvöiä^ovxa Exaöxov dxgo6(palcog övyxÖTtXEöfrai rcsgl xrjv ngo-
<pogäv xf\i oblong. oitEg ovv Eitaöiov avxol diä xr\v he&yjv, xovxo xgiipavxsg Eig xb
piXog öxolibv ixdlovv xb diiXovGxaxov. Die von Photios, d. h. von Proklos ge-
billigte Deutung stammt von seinem Lehrer Orion (Et. M. a. 0 ; in unserem
Orion fehlt die Glosse): dito xov [is&vovöi xal öxoXicog e%ov6i xä aiöd-rjxi]gia äi-
ÖEöd-ai. Photios muss stark gekürzt haben. Tzetzes nämlich giebt in den Iamben
Tlsgl xcopcjidiag , nachdem er über alte und neue Komödie und über das yskoiov
inhaltlich das gleiche erörtert hat wie wir es im Anonymus V und VI lesen,
plötzlich und unvermittelt eine Erklärung der öxafißä {iikr], d. h. der Skolien.
Genau ebenso folgt in den Aristophaneshandschriften (Laur. & und Mediol.) auf
den Anonymus VI ein Stück desselben Inhalts, das im Venetus und Esten si a
noch weit wunderlicher sich an die Aristophanesvita ansehliesst. Im Venetus
11*
38
lautet es folgendermassen : 1. öxoXiä Xeyexai xä itagoivia ^liXrj xä iv xolg 6v[itzo-
öi'oig äido^ieva. xal cog {iev evioi <pa6iv ix xov ivavxiov 7tgo6ayogev&r}6av ' änXä
yäg avxä i%gr\v elvai xal evxoXa cjg itagä noxov äidöfieva. ovx ei) de rovro ' xä
yäg dv6(prj[ia iitl xb ev&vfioxegov (1. evcprjuoxegov) ^exaXa^ißdvexai, ov xb epnaXiv.
2. xt ovv\ inävayxeg ijv xb iv 6v{i7to6ioig aitaöiv aideiv pexä Xvgag. ööoi de ovx
i\niöxavxo Xvgai %Qi]<5&ca, dd(pvr}g r\ ^vggivr\g xXobvag Xapßdvovxeg rjidov. [im] xoig
ovv ovx iniGxapevoig ^liXri itgbg Xvgav aideiv 6xoXiä idöxei ' odsv xccl öxohä hvo-
^dö^r\6av. 3. xiveg de ovxcog' ov xccrä xb e^g cpaöi didoö&ai xv\v Xvgav äXX iv-
aXXd% ' diä xx\v GxoXiäv ovv xccl fx.17 in ev&eiag xr\g Xvgag negicpegeiav (1. negicpo-
gäv) öxoXiä iXeyexo. Genau die gleichen drei Erklärungen, nur die erste ohne
Widerlegung, hat Tzetzes in den Iamben. Die gleiche Quelle für ihn und für
die Anonymi stellt sich auch hier mit Sicherheit heraus1). Nun ist das erste
Stück dieser Quelle so gut wie identisch mit Proklos , wobei zu beachten ist,
dass die feine Bemerkung über den Euphemismus gewiss auf einen guten und
alten Grammatiker weist: nirgend sonst als bei Proklos ist das Stück nach-
weisbar. Es hat doch alle Wahrscheinlichkeit für sich dass N. 2 und 3 aus der-
selben Quelle stammen, zumal wir wissen, wie fieissig Proklos, Dank seinen ge-
lehrten Vorlagen, Meinungsverschiedenheiten gehäuft hat. Beide Erklärungen
finden sich auch bei Plutarch Qu. symp. 1 1, 5 p. 615 b zusammen, aus Dikaiarch
und anderen Quellen (Reitzenstein S. 5), denselben offenbar, die Didymos benützte,
vielleicht auch direct aus Didymos. Nach dem was sich uns bisher über die
Quelle des Cramerschen Dionysscholiasten ergeben hat, dürfen wir mit seiner
Hilfe den Reichthum des Proklos noch vermehren. Freilich hat sein kurzes Ex-
cerpt mit Photios nur sehr flüchtige Aehnlichkeit : öxoXiov iöxi Ttoirftia Ttgbg
öv^i7io6iov 6vvaycoyi]v ev&excjg e%ov, töxogiaig xccl jtaidiaig otxeiaig Ttoxcoi <3V\nte-
7iXey\iivov (-{levcug Cod. verb. Reitzenstein). xaXelxai de nagoiviov (de ijtivoiov
Cod.j. Den Ausdruck [öxogiai oixelai hatte Proklos beim vo\xog gebraucht (s. u.
S. 30 f.). Wichtig ist dass hier endlich einmal vom Inhalt der Skolien die Rede
ist : die iGxogiai sind die Erwähnungen des Admet, des Telamon, des Harmodios
und Aristogeiton, die itaidial etwa die lustige Fabel vom Krebs, der seinen Sohn
geradeaus zu gehen lehrte, und dergleichen. In dem ev&exag e%ov ngbg öv^ltco-
oiov övvaycjyrjv ist dem Sinne nach dasselbe enthalten was der Aristophanes-
traetat sagte: ccnXa yäg avxä i%gi]v eivai xccl evxoXcc cog nccgcc tcoxov äidö{ieva.
Der letzte mit Proklos gut übereinstimmende Satz (nagoivia) beweist leider
nicht allzuviel.
Sehr kurz sagt Photios vom öiXXog . dass er Xoidogiag xccl diaövg^iovg %e-
qeiauivcog äv&ocoTtcjv e%ei (dieselben Worte, diesmal aus Photios Et. M. 713, 14,
mit dem Zusatz piXog d' iöxCv), und noch kürzer der Londoner Scholiast öiXXog
iöxl noir\yia Xoidogiag xaxd xivog negie%ov. Mit Unrecht hat man das Adverbium
\) Das Scholion zu Arist. Wesp. 1239 kann die Quelle trotz aller Aehnlichkeit nicht sein,
da es weniger reichhaltig ist: vor allem aber erfordert die Methode, diese Bemerkungen von
ebendaher abzuleiten von wo das vorhergehende stammt.
DIE PROLEGOMENA ITEPI KflMnUIAS 39
nEtpeiGuEvcog (den Griechen der Kaiserzeit geläufig wie tpEidoudvcog 'mit Mass')
verdächtigt und Wachsmuth Sillographorum reliquiae p. 7 die ebenso alte wie
unverständliche Conjectur TtscpaG^ievcog verth eidigt 1). Die gelehrte Erklärung bei
Aelian Var. bist. III 40 (ödxvaoi , xtxvgot, 6iXv\voi , nicht etwa aus Apollodor,
vgl. Strabo IX p. 468) 6lay\voI de dno tov Gillaiveiv ' xbv de ötlkov tyoyov kt-
yovöi {iexcc jiaiötäg övöccqbötov giebt dieselbe Einscliränkung : nicht ernsthafte
Kritik ist der Inhalt der Sillen, sondern Spass und Spott.
Ueber die Todtenlieder hat Photios wiederum nur einen Theil dessen was
er bei Proklos fand excerpirt : diacps'gEi, dh xov iTtLxrjÖEiov 6 ftgyjvog ort xb uev
i%ixi]ÖEiov nag'' avtb xb xrjdog exi xov 6(bixaxog 7tgoxEL^iEvov Xdyezai , 6 de d-gijvog
ov negtygdcpExat igovm. Eine Begriffs- und Inhaltsbestimmung fehlt. Die hat
der Cramersche Scholia*t wenigstens vom frgfjvog bewahrt: trgrjvög eöxl itotrjfia
ofivgubv 71£qle%ov xal iyxoyaaGxixbv tov xsxEkEvxrjxoxog , wo xal vielleicht zu
streichen ist. Eine gemeinsame indirecte Quelle lür den Scholiasten wie für
Photios lässt sich nachweisen. Ammonios p. 54 Valck. sagt: E7iixyjdEiov xal
fygfjvog öicccpEQEi. Eitix-qÖEiov {iev ydg Eon xb etzI xai xrjdEL, ftgijvog öe xb ev ojl-
dfji (?). ovxcj Tgvcpav (fr. 114 V). ^Agi6xoxkr\g de 6 rP6Ötog ev x&i JJeqI %oir\xixf\g
rov^nakiv. <pr\c>l ydg rd-grjvog d' Eöxlv (bidrj xrjg öv^iyogüg oixelov bvo\ia £%ov6a'
odvgubv e%ei övv iyxcj^i'icoi xov xEkEvxrjöavxog. xtvsg [iev ovv xoivCog ndvxa eItiov
d^Qijvovg, o'C de dtafpegEiv d'gfjvöv xe xal E7ttx7]dELov xCbi xbv d-gijvov ocidEöftca nag
avxy]i xy\l 6vyL(pogäi Ttgb xfjg xacprjg xal ^iexcc xr\v xaxpy\v xal xaxä xbv iviavOiov
IQOvov xfjg xrjÖEiag dido^iEvov vitb xcbv ftEgaitaLVidcov xal xmv övv avxalg , xb d'
ETnxrjdELOV Enaivbv xiva xov xskEvxrjöavxog psxd xtvog pExgiov G^ExkiaGpov (vgl.
Eust. 1673, 48). Der Grammatiker Aristokles von Rhodos war ein Zeitgenosse
des Strabo (XIV 655), vielleicht ein älterer Zeitgenosse, älter jedes Falls als
Didymos (Erotian p. 3*2, 10 Kl), der ihn mithin citiren konnte. Bei Photios ist
Tryphons Erklärung des ETtixyjÖEtov erhalten und beim Scholiasten Aristokles'
Erklärung des d-g^vog. Die einfachste Annahme wäre , dass bei Proklos beides
gestanden hätte , also Didymos den Aristokles wie den Tryphon citirt haben
müsste. Nun ist es ja richtig, dass wir nur Belege dafür haben, dass Tryphon
(hm Didymos citirt (Bapp Leipz. Stud. VIII 107) ; daraus folgt aber noch nicht
dass das umgekehrte Verhältniss unmöglich war: es waren ja doch Zeitgenossen.
Aber auch die Möglichkeit kommt in Betracht, dass Tryphons Meinung gar nicht
zuerst von ihm vorgebracht war. Die Deutung der i'ovkoc als xakaöiovgyav ouötj
wird von Athen. XIV 618 c dem Tryphon zugeschrieben, aber Eratosthenes hatte
vor ihm so gedeutet, und gegen Eratosthenes polemisirte Didymos (Schol. Apoll.
I 972). Dass der Verfasser IIeqI o^lolcjv xal öiatpog&v Xe%eo9v (wol Herennius
Philon, vgl. Cohn bei Pauly-Wissowa u. d. W.) Tryphons 'Ovoaaöiai benützen
musste, liegt auf der Hand, da fand er eine Fülle des Stoffes wie er ihn brauchte.
1) Sollte der Sinn sein (ist ifupdtsas , wie Wachsmuth meinte, konnte niemand darauf
rechnen, dass ein Leser 7iscpcc6fiev(og so verstehen würde. Man musste dann mindestens ifMeyaö-
lievag corrigiren. /,
40 GEORG KAIB EL,
Dem Didymos lagen andere Quellen näher. Sicher aber scheint mir , dass der
Dionysscholiast und Photios ein und dieselbe Vorlage wiedergeben . und dass
diese, die Chrestomathie des Proklos, auch hier Didymos' Buch über die Lyriker
ausschrieb.
Die letzte Gattung lyrischer Gedichte , die der Scholiast erwähnt , ist das
vTtÖQxrjua. Er sagt: Vit. eöxl itoix\\ia 7tobg oq%y\6iv yeyyga^evov Ttobg xbv avxbv
Qv&pbv og (Cod. ö) dij v7tOQ%rniaxixbg (-xov Cod.) xaXelxai. Mehr hat Photios :
v71qq%yhlu de xb {ist bQ%ri6ecog dido^ievov [teXog eXeyexo' xal ydo ot itaXaiol xx\v
vtco dvxl xf\g \iexd TtoXXdxig eXdjißavov. evoexdg de xovxcov Xeyovötv 61 [iev Kov-
QrjTccg, ot de IIvqqov xbv 'A%t,XXecog, od-ev xal 7tvQQi%riv eidög xi ÖQ^rjäeag Xeyovötv.
Wie sicher die beiden Excerpte Theile einer Einheit sind , zeigt das gelehrte
Pindarscholion (Pyth. 2, 27): dteXxexai de rj xr\g 7ivQQi%rig 0Q%r}6ig , Ttgbg rjv xä
vn oQiripctxa ey q cccp r\6av (so weit der Cramersche Scholiast). evtoi {iev ovv
(paCt Ttg&xov K o v q rj x a g xx^v evoicXov ÖQ%rj6cc6d'ca oq^tjölv, av&tg de IIvqql%ov xbv
Kqy}xcc 6vvxd£cc6d-ccL (cf. Strabo X p. 480) — evtoi de ovx aitb I7vqql%ov xov Korixbg
xijv itvQQi%y\v (bvo{id6d'cu, dXX' dito II v qq ov xov*A%iXXe<og %aidbg ev xolg onXoig
oQ%r\6a^ievov ev (1. etil) xf\i xaxä EvqvtivXov xov Tr\Xt<pov vixr\L xxX. Vgl. Hesych
7tvQQi%i£eiv und Rose zu Aristot. fr. 471 (ed. 1863), der ohne Frage mit Recht
Didymos für den Verfasser dieser gelehrten Uebersicht ausgiebt. Didymos wird
in dem Buch über die Lyriker ähnliches zusammengestellt haben. Dass auch
von dem Rhythmos der Hyporchemata (v7too%rjiiaxLxol qv&iioi Dion. de adm. De-
mosth. dicendi vi c. 4 ) d. h. von Kretikern bei Proklos die Rede war, versteht
sich von selbst; davon hat der Scholiast wenigstens eine Spur bewahrt.
Vielleicht hat die Erwähnung des kretischen Rhythmos es veranlasst, dass
an dieser Stelle der Dionysscholien eine Definition des Qv&iiög im allgemeinen
steht. Denkbar ist es immerhin dass Zufall oder Versehen das nicht unwichtige
Stück aus dem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen und aus der theo-
retischen Einleitung über die Poesie, da wo das {lexoov behandelt war, in diesen
Winkel verschlagen hat. Nothwendig aber ist die Annahme nicht. Ich will
die kurzen Sätze über iiexoov und Qvd-pög hier zusammenstellen.
Cram. p. 312, 16 eöxl de {lexoov [iev itoid xal jroör) Xe%eav d7trjQxi6[ieva)v 6vv-
fteöig xaxd xe {leye&og [dTtrjQXiö^ievojg] xal xd%iv övXXaßcbv ev l6oxr\xi rj 6{ioiöxr}Xt,
r) olxeiöxr\xi ijxoi xcov [leotiv nobg dXXrjXa rj xov oXov 7iobg exeoa.
Cram. p. 314, 18 Qv&{iög eoxi övöxrj^a övyxet^ievov ex %qovg)v ov jcdvxcov
6vyxei\iev<üv TtQog dXXi^Xovg' ov ydo naöa xqovgöv övv&eöig eoov&iiog xivr\6ig %qo-
vav ev tieyefreL xccxxojl 6vXXa{ißavo{ievrj , rj dvaXoyia {iexat,v dvo Xöycjv xet^ievri
xd^ig ßgadecjg xe xal xa%eo3g.
Eine so umständliche Definition des {LexQov wie die hier gegebene ist mir
sonst nicht bekannt. Sie lag Longin vor, der Proleg. zu Hephaest. p. 144 Gaisf.
den Anfang citirt : iiexoov de ovx dv yevoixo xaglg Xe^ecog noiag xal 7Co6f\g. Ari-
stoxenos (Westphal Gr. Rhythm. S. 40, 2) erklärt den Tact mit ähnlichem Aus-
druck : ovxe ydo Ttodag <5vvxL%te\iev ex %qov(ov diteugcov dXX, i{ ä)Qi6[ievcov xal neite-
Qa6(ievcov iieye&ei xe xal doiftyLCoi xal xr\t Tiobg dXXrjXovg ^v^exQCau xe xal xd%ei.
DIE PROLEGOMENA TJEPI KfLM£lIJIA2 41
Er mag wol das Metrum wenigstens inhaltlich ähnlich bestimmt haben wie der
Scholiast. <x7tr}QTi6[iev(og scheint , da eine Wiederholung des Particips (ccTcrjQxiö-
lievcov) zum Verständniss nicht nothwendig ist, eine einfache Dittographie. Das
übrige ist klar bis auf den Schluss , wo man für Ttgbg exeqcc vielmehr Ttgbg xd
liegt} erwartet. Um so schwieriger ist der schwer verderbte Abschnitt über den
Rhythmos. Die Hauptsache, dass zu Anfang die Definition des Aristoxenos vor-
liegt, hat Usener erkannt (Rhein. Mus. XXV 608), das übrige aber schwerlich
richtig behandelt. Aristoxenos sagt (Westphal a. 0. 29, 20) : axöXovfrov 8' iöxl
— rö Xiysiv, xov Qv&tibv yivEöftui bxav r\ xcbv %qovcov diaCoEötg %a§iv xivä Xdßrjt
ä(pG3oi6^iivriv ' ov ydo nätia %q6v&v xdhg EQQv&uog. Die Definition beim Scho-
liasten ist nicht aus dieser Stelle geschöpft, sie stimmt vielmehr zum Theil
wörtlich mit Aristides Quintilianus (Westph. a. 0. 47, 14) : Qv&pbg roCvvv iöxl
6v6xr\ad ix yvcoQi^icov %q6vcov xaxd xiva xd&v 6vyxE l^levov , woraus sich ergiebt,
was der Scholiast mit ov ndvxav iqovuv meinte : ov itdvx&v dXXä yvcooiyuov
povov. Usener hatte sich durch Marius V'ictorinus (p. 43, 3 Aristoxenus aulem (dt
non omni modo inter se composifa tempora rhythmum facere) verleiten lassen ov
ndvxcjg zu corrigiren. Das erledigt sich jetzt, zugleich aber erhellt, dass in den
folgenden Worten nicht mehr zu dem Negativ ov ydo naöa %qovcov Gvv&aöLg
soQv&uog ein Positiv gesucht werden darf. Es scheint eine weitere Definition
des QVt&iiog zu folgen (rj gv&iibg) xivr\<5ig xqövcjv iv ^isyi&Ei raxröt övXXccußccvo-
^isvrj, vielleicht die des Nikomachos (Bacchios bei Westph. 66, 15 iqovcov Evxaxxog
övvfteöig) oder eine ähnliche. Was endlich noch übrig bleibt, bezieht sieh offen-
bar gar nicht mehr auf den Qv^pög im allgemeinen. Aristoxenos (S. 34, 6 W)
sagt: coQiöxcu de xcbv itodcbv exaöxog r\xoi XoyooL xivl rj dXoyiai xoiavxY\i rpig 8vo
Xoycov yvcoQL[iG)v xr\i aiöd-iqösi dvä {liöov söxcci, und gleich darauf: eöxui <T r\
dXoyCct [iexccZv dvo Xöyoov yvcjQt^icov xr\i ctlödijäst,, xov xs fäov xal xov diTtXaGiov
xccXelxcci d3 ovxog %ooelog dXoyog. Darauf fusst der Pariser Anonymus (S. 79, 1 W),
der dem Text des Scholiasten noch näher zu kommen scheint : gjqiöiievoi ö' elöI
xoov 7Codü)v oT [iev Xöycu xivl oi de dXoytca xEL^iEvrjt, {LExcct-v ovo Xöyoov yvcjQL^icjv '
coöxs eivai cpavEobv ex xovxqov , ort 6 novg Xöyog xig eöxlv iv iQÖvoig XEipEvog ?)
dXoyia ev igovoig xei\jlevy\ eIqyhievov dcpoQi6{ibv £%ov6cc. Man wird also etwa so
emendiren müssen : (6 öe itovg iöxtv r\ iv Xoycjt) rj iv dXoyiai ^LExa^v ovo Xoycov
xEi^Evrji xd\ig ßgaöiog xe xal xa^iog^ wobei unter den beiden Xoyov Qv&yuxoC der
i'aog und der diTtXdöiog zu verstehen sind: der Daktylos heisst hier der schnelle,
der Iambos der langsame (Anon. Paris. S. 79, 15 W). Ueber das enge Verhält-
niss zwischen Qv&[i6g und itovg vgl. Westphal a. 0. S. 201 f.
Also in welchem Ableitungsgrade auch immer, Aristoxenische Lehre hat der
Scholiast ohne Frage vermittelt und damit aufs neue gezeigt, wie vortreffliche
Quellen wir hinter seiner bettelhaften Dürftigkeit suchen dürfen und wie uner-
setzlich der Verlust seiner Vorlage, der Chrestomathie des Proklos, für uns ist.
Photios hat nur die beiden ersten Bücher des Proklos excerpirt; mit der
Lyrik hatte das zweite Buch geschlossen. Dass das 3. Buch dem Drama zufiel,
darüber ist kein Zweifel möglich: ein bescheidenes Bruchstück hat uns der Dio-
Abhandlgo- d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 4. 0 /.
42
nysscholiast bewahrt, indem er die Theile der Tragödie nebst einer Definition
dieser Gattung excerpirte und zwar in fast wörtlicher Uebereinstimmung mit
Tzetzes. Es hat sich gezeigt , dass ein umfängliches Stück über die Komödie
bei Tzetzes und in den Dionysscholien sein Gegenstück in einer ähnlichen Ab-
handlung über die Tragödie hatte (dies nur in den Dionysscholien überliefert)
und dass beide einem literarhistorischen Zusammenhange entnommen waren, in
welchem Komödie und Tragödie (und zweifellos auch das Satyrdrama) auf den
gleichen Ursprung zurückgeführt wurden (s. o. S. 14). Die Vermuthung liegt
nahe, dass Proklos auch hier als Quelle gelten muss.
Die Erzählung vom Ursprung der Komödie im Dionysscholion wurde schon
früher berührt (S. 12 f.). Auf Grund einer falschen Etymologie, im Widerspruch
mit Aristoteles wird die Komödie als Lied der Dorfleute gefasst, die sich über
ihre städtischen Bedrücker beschweren. Aus dem gelegentlichen Vorfall wird
eine dauernde , sogar eine staatliche Institution. Was hier an Thatsachen zu
Grunde liegt, ist schwer zu sagen. Der bedrückte Bauersmann ist aus altatti-
scher Zeit eine bekannte Figur, die Sitte der Spott- und Rügelieder hat in
Attika sowenig wie sonst gefehlt; es ist möglich, dass das alles war. Das aus
Combination und Construction zusammengesetzte Bild hat einige innere Aehn-
lichkeit mit der Eratosthenischen Erklärung der cpvXXoßolicc (Schol. Eur. Hek.
573) : in beiden Fällen erkennen wir die peripatetische Neigung zur speculativen
und intuitiven , zeit- und personenlosen Culturgeschichtsschreibung , wie sie be-
sonders anspruchsvoll der manierirte Klearch betrieb. Die Erzählung konnte
sich mit der einen Ableitung der Komödie von xco^yj begnügen: die an-
dere mit jener verbundene Ableitung von Küblet konnte secundär hinzugetreten
sein. In der vorliegenden Gestalt ist der Bericht freilich nicht älter als Philo-
xenos (s. o. S. 13), seine ersten Spuren finden wir, wenn ich nicht irre, bei Di-
dymos. Didymos' Buch über die Lyriker war in Orions Lexikon und (vielleicht
durch Orions Vermittlung) in Proklos' Chrestomathie ausgiebig benützt ; eine
grosse Reihe von Orionglossen sind ins grosse Etymologicum hinübergenommen
worden. Es ist gewiss kein Zufall , dass in den Etymologica sich so gut wie
keine litterarischen Artikel finden, die zum Epos oder zum Drama gehören, da-
gegen eine grosse Zahl von solchen die die Lyriker angehen. Didymos wird
direct als Quelle genannt u. d.W. eXsyog, itQoö&idia, v^ivog, 7taidvj ökoXlcc; mit
Proklos zeigen mannigfache Berührung, und erweisen dadurch die Benützung des
Didymos, die Glossen 'ldtißrj. dtd-vQa^ißog, aöiocpoQiu, v^iivaiog *). Ich denke, wir
haben das Recht die übrigen Glossen ähnlicher Art derselben Quelle zuzuweisen,
1) Dagegen ist Et. M. 472, "26 l'ovlog ein Apolloniosscholion (I 972), und gerade was Didymos
gegen Erafosthenes bemerkte, ausgefallen. Zur Wiederherstellung von Didymos' Buch ist auch das
trockt'iie Verzeiehniss des Pollux IV 52 ff. zu verwerthen, das mancherlei deutliche Verwandtschaft
mit Photios' Auszug zeigt; besonders aber die etwas inhaltreicheren Bemerkungen bei Pollux I ;;8
sind durchaus Üidymeisch. Vgl. 'Agrefiidog vfivog ovmyyog und drjfirixQOs L'ovXog mit Schol. Apoll.
1 972, das übrige mit Photios.
DIE PROLEGOMEN A II E FI K£LM£2IJIA2 43
t&ixpakkoi , &QLcciißoi, al'kivog , ipalog, 6tkkoi , vo^iot xadaatoidixoC und eyxcb^ita;
wenn die meisten der ebengenannten Lieder bei Photios fehlen, so beweist das
natürlich nicht, dass sie auch bei Proklos gefehlt haben. Die Glosse eyxco(iiov
(Et. M. 311,26) lautet so: nagä xb ev xco^iatg atdeö^at. xnfiag yäg ekeyov oC
nakaiol xovg öxevccmovg xal xä ä^icpoda. iJQ%ovxo yäo xfji vvxzl olxiveg Jtagd xtvog
fieyiöxavog eßkäßrjöav , xal e£g xä apcpoda löxdpevoL exaxokoyovv xal vßai£ov xbv
aÖixovvza. [xi\v yug vvxxa yjqxovxö xiveg xal ekeyov oöxtg iitoiei xaxä ngäy^axa
xal exaxokoyovv avxovg]. Die doppelte Fassung liegt auf der Hand, und die
Gräcität des ganzen ist der Art, dass man sie keinem alten Grammatiker zu-
trauen darf, aber der sachliche Bestand der Erklärung ist gut und alt; sie liegt
im wesentlichen dem zu Grunde was Pollux IX 36 mit halbem Verständniss aus-
geschrieben hat. Er redet von den äyviaC: xavxa de xal dficpoda eöxiv evgelv xexkr}-
lieva (folgen Zeugnisse) — xakolxo d' dv xal xob^iau xavxa — doxel de fiot xal 6
XGj[iog (vgl. IX 11) dito xavxrjg <bvo{ia6&aL xrjg xa^rjg xal xb eyxäyaov enl xalg
vixaig litaidopevov. Im Et. M. weist die doppelte Etymologie von xca^irj und xco^ia {xf\v
vvxxi) auf denselben Gewährsmann hin, der nooöodiov von tiqoGcoiÖyi zugleich und
von TCQÖöoöog ableitete, die Erzählung selbst ist identisch mit der vom Ursprung
der xco^icoLÖta. Aber die Glosse ist lückenhaft, sie enthält nur den Anfang der
Erklärung. eyxcb^iLov ist ein Loblied, und hier wird es als xaxokoyia erklärt.
Es ist eine oft wiederkehrende Scheidung, dass vpvog einen Gesang den Göttern
zu Ehren , eyxcb{iiov aber ein Loblied für Menschen bedeute. Dazu sagt Eusta-
thios (Dion. Perieg. p. 316, 22 Bernh.): eöxi yäg oxe 6 vpvog xal dkkcog keyexai
xal ov {lövov ETtl deiov eitaivov. nivdaoog yovv xovg eavxov emvixCovg v[ivovg
xakel , xal Ai6%vkog de et, ävxMpadöecog xb xaxokoy elv v[ivelv efpri xxk. Ein
ähnliches xax"" ävxCcpoaeiv scheint man bei eyxco^Lov angenommen zu haben, vgl.
Hermog. Prog. I 35 W xexkx\xai de eyxd){iiov, &g cpaöLv* ex xov xovg 7iotr}xäg xovg
vpvovg xcbv fteiöv ev xalg xcjfiatg xb nakatov ätdecv ' exdkovv de xcjpag xovg öxeva-
novg — pi] äyvbei de ort xal xovg ifröyovg xolg eyxoj^itoig 7ioo6ve{iov0iv, rjxot xax evcpr\-
Hlöiiov ovo^id^ovxeg ij ort xolg avxolg xbitotg äyicpoxega nooayexai. Durch ein xax1
avxiyoaöLv hatte man dereinst auch das öxokcov erklären wollen , ein Versuch,
der schon bei Didymos widerlegt wurde : er wird ebenso das Unternehmen eines
älteren Grammatikers, eyxdopiov und xco^coidia auf eine gemeinsame Wurzel (als
xaxokoyia) zurückzuführen, in angemessener Weise zurückgewiesen und die rich-
tige Erklärung, die sich bei Theon Prog. I 227, 4 W findet, zu Ehren gebracht
haben. Soweit konnte Didymos sich auf die Komödie einlassen, aber wir werden
nicht glauben, dass er auch sonst an dem was etwa Proklos über die Komödie
beigebracht hatte erheblich betheiligt war. Er kann wol in der Ae\ig sowie in
Commentaren öfters auf historische Fragen eingegangen sein, aber alles was wir
haben geht auf eine historische Gesammtdarstellung, auf eine ganz bestimmte
Auffassung vom Wesen und der Entwicklung der Komödie zurück: das kann
Didymos gelegentlich benützt, widerlegt oder bestätigt haben, aber zusammen-
gestellt hat er es nirgend.
Alle antiken Berichte über den Ursprung der Komödie tragen das gemein-
6*
44 GEORGKAIBEL,
same Kennzeichen an sich , dass sie auf Aristoteles begründet sind und doch in
den wichtigsten Punkten mit Aristoteles in Widerspruch stehen. Alle setzen,
wie er, die Anfänge der Tragödie und Komödie in mehr oder weniger engen
Zusammenhang, lassen sie, wie er, aus Improvisationen sich allmälig zu einer
Kunstform entwickeln, nahmen, wie er, eine frühere Vollendung der Tragödie
an, aber alle verwarfen die Ableitung von x&uog (oder lassen sie höchstens se-
cundär mitgelten) und billigen die von Aristoteles verworfene von xa^inq und
damit zugleich (indirect) den dorischen Ursprung beider Dramengattungen. Die
Glosse des Et. M. (746, 13) betrachtete xQvycoidta als den gemeinsamen Namen,
der mit leichter Abänderung für die Tragödie bestehen blieb , während die Ko-
mödie ihren Namen erhielt von den Liedern , die bei den Festen des Dionysos
und der Demeter auf den Dörfern üblich waren, d. h. bei der Wein- und der
.Feldernte. Aehnlich lautet die Ueberlieferung bei Athenaeus II 40 ab (aus un-
bekannter Quelle) : cctco usd-rjg xal r\ xrjg xcjumdiag xal rj xf\g xQayaidiag svQSdg
iv 'Ixccqlgol xrjg 'Axxixr\g xax avxbv xbv xrjg xQvyrjg xaiQOv: acp ov ör) xal XQvyaidia
xb TiQcJxov sxXrjd-rj r) xaucoidia , nur dass hier die Ableitung von xco^rj nur mög-
lich, nicht sicher ist. Von ländlichen Erntefesten geht aueh der wüste Traetat
des Euanthius de comoedia (ed. Reiiferscheid. Ind. 1. Vratisl. 1874/75) aus: man
tanzte pro fructibus vota solventes um den Altar, opferte dem Dionysos (Liber
pater) einen Bock und sang ihm ein Lied; das wurde nach dem Opfer xgayoiöia
genannt. Oder aber es hiess zuerst xQvymdca , weil man sich das Antlitz mit
Hefe beschmierte, in Ermangelung der erst von Aischylos erfundenen Masken.
Die Komödie dagegen hiess anb xcbv xcoacbv xal xrjg (bidrjg , von dem Gresange
nämlich, der circum Atticae vicos villas pagos et compita dem 'AnoXl&v Nouiog
oder Ayvievg zu Ehren gesungen wurde, pastorum vicorumque praesidi deo. Der
'AnoXkav Nouiog ist einfach der -Gott der ländlichen Bevölkerung, der Ayvievg
ist aus der Erklärung von ayvia = x(b{iY] (vgl. Poll. IX 37, oben S. 43 und
Hesych. ayvifjxai ' xg3{iyjxccl) frei improvisirt *). Daneben wird die Ableitung von
xcbaog acceptirt, quod appotis (so Leo : a poetis P) sollemni die vel amatorie lasci-
vientibus non absurdum est. Ebenso wird eine weitere Etymologie von xQaymdia
verwendet: itaque ut rerum ita etiam temporum ordine tragoedia primo prolata esse
cognoscitur. nam ut ab inrultu ac feris moribus paulatim perventum est ad mansue-
tudinem urbesque sunt condifae et vita mitior atque otiosa processit , ita res tragicae
longe ante comieas inventae*). Der behaglichen Erholung der xoad^ovxsg wird die
1) Danach hat Tzetzes die Urkomödie ayviäxig oder ayogcu'cc genannt, im Gegensatz zur litte-
rarischen (Xoyi'iir}), vgl. Ma p. 113 K.
2) Alles was bei Euanthius folgt ist Excerpt aus Aristoteles Poetik (c. 4), zum Theil mit
groben Missverständnissen versetzt. Dann (p. 4, 13 R) wird von der Komödie weiter gesagt, sie
sei ebenso wie die Tragödie ursprünglich ein simplex Carmen (vgl. p. 5, 22) , quod chorus circa
aras fumantes nunc spatiatus nunc consistens nunc revolvens gyros cum tibicine concinebat. Ge-
meint sind ctocprj, 6cvti6TQoq)og, e7tcoid6gy vgl. Schol. Hephaest. p. 200, 17 Gaisf. Auf dieser drei-
fachen Bewegung scheint die sonderbare Dreitheilung aller lyrischen Poesie zu beruhen, die sir.h
Et. M. 690,43 findet: nQ06odt.cc (Weg zum Altar), vnoQxv^iara (Tanz um den Altar), aräöLfia
(Stillstand vor dem Altar, als Erholung vom Tanz).
DIE PROLEGOMENA IJEPI K£IMDAJIA2 45
Tragödie als etwas roheres gegenübergestellt: zu Grunde liegt die Etymologie,
die in den Dionysscholien p. 740, 24 steht : r\ ort tot) y tqe7Co^levov stg % voElxav
TQa%(OLdi'u r\ TQa%sla caiöri' tqcc%vtsqov yäg [xal cpEvxxEov xal dvößaxov] xb rwv
&QYJvcoir slöog xov yekcjTOTtoiElv.
Alle diese Phantasien nehmen auf den Character der Komödie als Spottge-
dicht gar keine Rücksicht. Nicht so diejenigen denen sie die Etymologie von
xco^ir} entlehnten : die Dorer stützten , wie Aristoteles bezeugt , ihr erstes
Recht auf die Schöpfung der Komödie durch den Hinweis darauf, cog xcopGudovg
ovx uTtb xov xco[icc&iv ksi&Evtug allä xfjt, xavcc xcopag TtÄdvrji dxi^at,o^Evovg ix
xov ccötsog (Poet. c. 3). Sie wussten also von Kränkungen zu erzählen und
von Rügeliedern, die die Gekränkten gegen ihre Bedrücker sangen. Das ist
genau was dem grossen Dionysscholion zu Grunde liegt und was in einzelnen
Andeutungen auch bei den späteren nachklingt (z. B. bei Donat p. 8, 19 Reiti'.i,
nur die Hauptsache scheint ganz unterdrückt, das dorische Local : die Vorgänge
spielen überall in Attika. Das ist nicht ursprünglich und erst durch bequeme
Lässigkeit hineingetragen, aber Spuren der richtigen Auffassung finden sich noch.
Als Ergänzung des Bekkerschen Scholion muss uns das leider allzu kurze Cra-
mersche dienen (p. 316) : xal Evoefrr} i] {lev xoayaidia V7tb 0E6iti86g xivog 'A&n}-
vaiov, i] öe xcoucolÖlcc V7tb 'E7tL%douov ev ZlixEkiai, xal 6 l'a^ißog vnb Hovöagiavog.
Hier hat also Epicharm seinen richtigen Platz: er ist der dorische Erfinder,
dem Susarion wird nur ein formeller Fortschritt, der Gebrauch des Iambos zuge-
schrieben. Danach sollte man . da doch beide Dramengattungen desselben Ur-
sprungs sind , auch für die Tragödie einen dorischen Erfinder erwarten. Den
geben uns allerdings die erhaltenen Scholien nicht , wol aber einer der sie aus-
geschrieben hat, Tzetzes Prol. Lyk. p. 255 M: xgaycotdol öe %ovr\xal 'Agicav ©Eöncg
<&ovvLxog Ai6%vlog Uocpoxlrjg EvQtTtLdrjg "Icov 'Aiaibg xal exeqoi {ivqloi veoi 1), wo-
bei ins Gewicht fällt, dass bei Proklos (Phot. p. 320 a 32) Arion nach Aristo-
teles' Vorgang als erster Dithyrambendichter verzeichnet war und die Tragödie,
wiederum nach Aristoteles , aus dem Dithyrambos erwachsen ist. Arion und
Thespis an der Spitze der Liste bedeuten keinen Widerspruch. Beides sind
Erfinder: Arion hat für das \nilog gesorgt, Thespis für die iambische Qv\6ig. Die
Parallele Arion der Dorer, Thespis der Athener und Epicharm der Dorer, Su-
sarion der Athener (6 'IxaoiEvg), leuchtet ein. Wer den Epicharm bei Seite liess,
machte Susarion zum Megarer. Auch diese Version, d. h. der interpolirte Vers
des Susarion, vibg OiXCvvTqg, MEyaooftEv Tantoöiöxiog , ist nur in Dionysscholien
überliefert.
So hat jemand gegen Aristoteles aber mit seinen Waffen die dorische Ehre
gerettet: die tragischen Chöre und Arions Wirken in nordpeloponnesischeu
1) Die sehr jugendliche Arheit des Tzetzes zu Lykophron henützt dieselben Quellen wie die
Iamben. An beiden Stelleu kennt er nur einen Satyrdramendichter, Pratinas, wie er in den Iamben
ausdrücklich gesteht, wenn er auch in den Prolegomena zu Lyk. etwas prahlerischer sagt : caxvQiY.bg
8\ ügccTivccg nccl etegoi. Von Euripideischen Satyrdramen hatte er damals offenbar noch keine
Ahnung.
4b GEORG KAIBEL,
Städten, andrerseits der Syrakusaner Epicbarm waren die scheinbar unanfecht-
baren Anhaltspunkte *). Für die Weiterentwicklung der Komödie sind verschie-
dene Versionen erhalten. Der vielgenannte Dionysscholiast erzählt von Susarion,
den Aristoteles nirgend erwähnt hat, er habe zuerst für die bäuerlichen Impro-
visationen die iambische Kunstform gefunden, dann habe sich die Komödie in drei-
facher Stufe entwickelt. Die erste Form, das cpaveQ&g xal ovo^aöxl xcj^Kotdslv,
verbaten sich alsbald die Behörden (oC ccQ%ovtEg) und gestatteten nur noch ver-
hüllte Polemik (zweite Stufe) ; schliesslich wurde auch dies lästig, und der Spott
der Komiker musste sich auf £evoi, TtxG3%oi und dovkoi beschränken (dritte Stufe).
Als Vertreter der aQ%aCa werden Kratinos , Eupolis und Aristophanes genannt,
als Vertreter der pstir] dagegen nur Piaton (nokkol yeyövaatv, ETtCör^iog de Tlkd-
tcov ng), ebenso von der via nur Menander, kog ccötqov iötl xY[g veag xa^aidCag'' 2).
Das ist eine äusserst dürftige und schiefe Darstellung, die durch ein paar ge-
lehrte Brocken nicht viel stattlicher wird. Piaton wird Dank seiner Nv% \naxQa
als Führer der mittleren Komödie bezeichnet; man hätte ja auch, wie andere
es gethan, Aristophanes' KaxaXog und AloXoöixcjv nennen können , aber im. Sy-
stem konnte das verwirrend wirken , da Aristophanes als Hauptvertreter der
aQiaia genannt war. Ferner klingt sehr gelehrt Kratinos 6 xal TtQaxto^ievog —
aber es regt sich der Verdacht, dass diese Worte nicht sowol für ihn wie für
Aristophanes gemeint sind; von Piaton wird ausdrücklich gesagt, dass seine
Stücke verloren seien , dass die des Kratinos länger gelebt hätten , ist weder
nachweisbar noch recht glaublich. Der Verfasser des Scholion hält eigensinnig
daran fest, dass die Komödie stets geblieben sei was sie anfänglich war, eine
xaxokoyia, XotdoQia, ein öxcoTitixbv %oir\\x,a, selbst Menanders Sklaven und Kuppler
hält er für AngrifFsobjecte.
1) Aristoteles wäre wol sehr glücklich gewesen, wenn er die älteste Form der Komödie so
genau gekannt hätte wie der Grammatiker im Liber glossarum (Usener Rhein. Mus. XXVIII 418):
sed prior ac vetus comoedia ridicularis extitit. postea civiles vel privatas adgressa materias — in
scaenam proferebat, nee vetdbantur poetae pessimum quemque describers — auetor eins Susarion tra-
ditur. sed in fabulas primi eam contulerunt <non> magnas, ita ut non excederent in singulis versus
trecenos (so der Monacensis , tricenos der Bernensis und die SGaller Hdschr.). Aristoteles hat
solche Stücklein von 300 Versen sicher nicht gekannt, denn er sagt (Poet. 4): i]dr\ 6yr\^axcc xiva
ccvrfjs h%ov6T]s ot Xsyofisvoi avxfjg 7toir\xai \Lvi\\x,ovvvovxai. Also aus der Zeit der Incunabeln
waren ihm weder Dichter noch Dichtungen bekannt : konnte aber ein anderer nach ihm mehr da-
von wissen? Es ist ja peinlich eine so kostbare Nachricht zu verwerfen, aber nicht minder pein-
lich ist es denken zu müssen, dass Aristoteles sich nicht ordentlich nach so kostbaren Texten um-
gesehen haben sollte, bevor er daran verzweifelte die dunklen Anfänge der Komödie aufzuhellen.
Ich halte trotz Useners Ausführungen die 300 Verse für eine Phantasie, eine zahlenmässige Präci-
sirung dessen was der Scholiast zu Arist. Eq. 537 von Krates sagt : noir\xr\g öhyoaxixoc itoir\^axa
ygocipccg. Dies aber ist nichts als falsche Erklärung von Aristophanes Worten caib 6yn-nQäg dec-
navrig, w*e &n anderes Scholion zeigt: GfiLXQu enolsi. Vgl. Leo Rhein. Mus. XXXIII 140.
2) co? tifpccftrixccfisv wird hinzugefügt: es war also ein Schulvers, etwa wie das Leben des
Pindar zu Hexametern und Tetrametern verarbeitet in den Schulen gelernt wurde. An einen Vers
aus Apollodors Chronik wird man nicht leicht denken.
DIE TROLEGOMENA TTEPI KUMHUIAS 47
Eine weitere Entwicklungsgeschichte neben dieser erzählt Tzetzes (Pb und
Mo) : die Tendenz und die Pointe ist die gleiche, der Stoff' hat nur eine andere
Gestaltung erfahren. Die erste Periode der (pavegu excb^^iata beginnt mit Susa-
rion und endet mit Eupolis' Bestrafung durch Alkibiades, dessen Psephisma dem
övo{icc6tl Kco^cjLdeiv ein Ende macht. Die zweite Periode (genannt werden ausser
Eupolis selbst Kratinos, Pherekrates, Piaton und Aristophanes) beschränkt sich
auf 6v[ißokixä <5%&\jL\iaxa. Die dritte endlich (Menander und Philemon) verhöhnte
nur noch Fremde, Sklaven und Bettel volk , die Bürger wurden verschont. Die
durchgängige Verwandtschaft dieser zweiten Version mit der ersten kommt
vielfach, sachlich wie sprachlich, zum Ausdruck, besonders auch darin dass Su-
sarion mit seinen unechten Versen ganz auf gleiche Weise eingeführt wird. Der
Verfasser kennt gleichfalls die Komödie nur als Spottgedicht, obwol er Menander
erwähnt. Dass Eratosthenes die Anecdote , wie Alkibiades sich für Eupolis'
Bantcu gerächt, als Fabel erwiesen hatte (Cic. ad. Att. VI 1), ist ihm wol be-
kannt, er schwächt daher die Erzählung, auf die er als einzige historische That-
sache nicht verzichten mochte , dahin ab , dass der Dichter nicht völlig ersäuft
sondern mit dem Leben davon gekommen sei. Das ist ein Compromiss schlimm-
ster Art, der in milderer Form auch in einer dritten die gleiche Richtung ver-
folgenden Abhandlung begegnet, in dem merkwürdigen Tractat des Platonios.
Der Verfasser beginnt nicht mit einer hypothetischen Entstehungsgeschichte
der Komödie, sondern schildert ihre ungebundene Freiheit unter dem Schutz der
Demokratie des 5. Jahrhunderts, sowie ihre Einschränkung durch die Oligarchie.
Die klare und einfache Sprache, der leichte und anspruchslose Satzbau , die an-
gemessene Verwendung politischer Kunstausdrücke {l6r\yoQia , adsicc, i^ovötav
e%£iv, 6 drjfiog avtoxQarcoQ xal xvQiog xCbv TCQay^dtov u. a.), die Bemerkung end-
lich dass die Demokratie cpvdei avrCxeixtti xolg TtXovöiocg1), das alles zeugt von
einer Quelle guter Zeit und von einem mit den geschichtlichen Verhältnissen
wol vertrauten Verfasser; manches klingt geradezu an die Art der Aristote-
lischen TLolixüa 'AftYivaC&v an. Der Terrorismus der Oligarchen , der auch den
Komikern die Zunge lähmte, wird durch die Eupolisanecdote belegt: aber Alki-
biades wird nicht genannt (anoitvLyivxa V7t" ixstvcov sig ovg xad-rjxs rovg Ba7iTccg),
ein Zeichen dass Eratosthenes' Kritik vorausgegangen ist. Den Mangel an Chor-
liedern in der (iE6rj mit dem Mangel an Choregen in Zusammenhang zu bringen
(sTiefoitov ot xogr^yoi) ist gewiss ein gescheidter Gedanke: dass aber die Athener
aus Furcht vor den Oligarchen die Lust verloren Choregen zu wählen 2) , diese
1) Der ganze Satz 6 yug dijfiog xov cpoßov e^rjioet xmv KcopcoLdovvxajv cpLXoxi'[icog x&v xovg
roiovtovg (d. h. Strategen, Heliasten u. a.) ßXa6qpri(iovvxcov cckovwv i'afisv yag cog avxCv.uxai cpvöft.
xoCg 7t\ov6LOig ££ ccq%fig 6 dfjfiog ncd xotg dvöTtgaytaig avx&v rjSixcu erinnert lebhaft an die Worte
des Oligarchen (llesp. Ath. II 18): TKopcoidsCv <f av xal xaxöis Xiysiv xov [isv df](iov ovv. Eü6iv,
Tva (ir} avxol cchov(o6l xaxög, IdCaL ds <xal> ksXsvov6iv s£ xCg xiva ßovXsxcci, sv eldoxsg bxi ov%i
xov 6t]fiov t'axcci ovde xov nXri&ovg 6 -ncofiaadov^svog <bg snl xb noXv, aXX rj nXov6iog tj ysvvaiog t)
dvvccfievog.
2) Die Thatsache der fehlenden %0QL*ä hat den alten Grammatikern viel Kopfzerbrechens
gemacht. Am sichersten konnten die urtheilen welche von Geschichte wie Literaturgeschichte
48
Bemerkung zeigt von ebenso geringem Verständniss wie die andere, die 'Odvööijg
des Kratinos hätten keinen Chor gehabt, oder besser gesagt, sie bezeugen, dass
der Compilator richtige und werthvolle Angaben seiner Quelle missverstanden
und verwirrt hat, vgl. Hermes XXX 74 f. Auf Missverständniss beruht es auch,
wenn er sagt, die mittlere und neue Komödie hätte die persönlichen Masken ab-
geschafft und allgemein komisch groteske eingeführt aus Furcht vor den Make-
donen , iva yLY]8e ex xvxrjg xvvbg o^iOLÖxrjg TtQoöcoTtov 6v\!L%i(5v\i xivl Maxedövov ag-
lovxi. Die Quelle konnte gesagt haben , dass in der Zeit der Makedonischen
Besatzung scharfe Bemerkungen, an denen doch auch die [leörj keinen Mangel
hatte, vermieden wurde, und dass in jener Zeit die bürgerliche Komödie sich
herausbildete, deren Masken typisch lächerliche Figuren (Greise, Kuppler, Skla-
ven u. a.) darstellten : ogcj^iev yovv rag öcpQvg ev xcclg MevdvÖQOv xcoyLcaidCaig
bitotag eist — da redet einer der Menander von der Bühne her kennt, also ge-
wiss kein Byzantiner. Eine bedenkliche Verallgemeinerung enthält die durch
ihre Einfachheit und wissenschaftliche Form imponirende Aeusserung xä yCev yccQ
e%ovxa xäg TictQaßdöeig xax^ exelvov xbv iqövov eöidd%&ri xatf ov 6 drj^iog exgdxei '
xä de ovx e%ovxa xrjg e^ovöiag Xombv dito xov Stj^iov ^ed-iöxa^ievrig xal xfjg öXl-
yuQ%iag xQaxov6Y\g. Das musste in der Quelle nothwendig eine vorsichtigere
Fassung gehabt haben.
Der unglückliche Apriorismus, dass die Komödie ein Spottgedicht geblieben
sei bis ans Ende, befremdet in einer so vernünftigen und historisch begründeten
Darstellung; man wird nicht zweifeln, dass diese Anschauung, die den unwis-
senden Theoretiker verräth, erst nachträglich dem gesunden Stamm aufgepropft
ist , oder richtiger gesagt , dass das was ein älterer Gewährsmann über den
Unterschied der alten und mittleren Komödie gesagt hatte, dem System zu Liebe
mit einiger Gewaltsamkeit auf die Komödie des Menander übertragen wurde.
War der Gewährsmann aber in der Lage, der alten aggressiv politischen oder
der friedlicheren Typenkomödie des 4. Jahrhunderts die neue gegenüberzustellen
als etwas verschiedenes , als etwas das den Namen Komödie im Sinne der koi-
ÖoQia gar nicht mehr verdiente, warum konnten die späteren Ausschreiber nicht
diese Characteristik ebenfalls von ihm übernehmen? war etwa der Gewährsinann
so alt , dass er von der neuen Gattung noch gar nichts zu sagen wusste oder
doch, da die Entwicklung noch im Fluss war, noch nichts zu sagen wagte? Man
empfindet ja leicht, dass die drei verschiedenen Fassungen bei Tzetzes und Pla-
tonios, die einmüthig die Komödie als Spottgedicht fassen , auch darin überein-
kommen, dass sie von der neuen Komödie nichts sagen als dass Menander und
Philemon ihre Träger waren, und dass sie %x(o%oi und dovloi und £,evoi, auf die
gleich wenig wussten, wie Euanthius p. o, 25 R: nam postquam otioso tempore fastidiosior speetator
efl'cctus esset et tum cum ad cantores ab actoribus fabula transibat consurgere et abire coepisset,
admonuit poetas ut primo quidem choros tollerent locum eis relinquentes, ut Menander fecit hac de
causa, non, ut alii existimant, alia: postremo ne locum quidem reliquerunt, quod Latini fecerunt
comici eqs. Die Vorlage war wol der Bios 'AQiörocpdvovg XI 72 Dublier.
l\
DIE PROLEGOMENA TIEPI KÜ,MfLIJIA2 49
Bühne brachte: das ist eine merkwürdig schiefe Summirung der Charactertypen,
da man doch yeQövtsg, veavlai, izaQfrivoi, szalgat, dovloi erwarten sollte, es sind
eben nur constructiv gewonnene Gegensätze zu den %oXlxai und den TtXovöioi,
die als Ziel des Spottes der aQiaCa galten *), ein kärglich improvisirtes Supple-
ment zu dem was von der älteren Komödie gesagt war. Ja , bei Platonios ist
von der via eigentlich überhaupt keine Rede: er weiss wol von ihrer Existenz,
da er von der (liörj spricht, aber er hebt kein einziges Moment hervor das die
via von der ^i6r\ scheiden könnte; er spricht von den unpersönlichen Masken
der {iE6r) und via , und nur um ein Beispiel anzuführen , erwähnt er die ver-
zerrten Masken des Menander. Also alle diese Darstellungen, deren gemeinsame
Grundlage wol klar geworden ist, kennen eigentlich nur die a.Q%aia und die
[liörj, die sie, wenn sie nicht die via hätten anflicken wollen, eigentlich die via
oder die recotiQa nennen mussten. Ich weiss den peripatetischen Gewährsmann
nicht mit Namen zu nennen: man denkt an Theophrast , dessen Definition von
Tragödie und Komödie bei Diomedes an hervorragender Stelle erscheint (p. 487.
88), auch Eratosthenes ist vielleicht nicht ausgeschlossen, vielleicht auch Chamai-
leon nicht ') ; von Eumelos dem Peripatetiker , dessen 3. Buch JJsqI rfjg <xQ%aiag
TKo^icotdiag die Scholien zu Aischines Tim. 39 citiren, weiss ich nichts, des Akade-
mikers Krates Schrift über die Komödie hat, wie es scheint, keine Sparen
zurückgelassen. Das Rathen hilft nichts. Wichtig ist ja auch nur, wenn meine
Bemerkungen zutreffen, das Alter der Quelle.
Die ärgerlich verkehrte Auffassung der via in den bisher besprochenen
Tractaten hat auf eine Quelle geführt, die ihres Alters wegen an der Verkehrt-
heit unschuldig war. Wir haben keine griechisch geschriebene Darstellung, die
die Menandreische Komödie würdigen konnte und richtig gewürdigt hat. Dafür
treten die Lateiner ein. Nur die Sprache scheidet diese von Tzetzes und Pla-
tonios ; dass sie ganz ähnliche griechische Quellen benützt haben, liegt auf der
Hand. Diomedes giebt schon da, wo er Komödie und Tragödie vergleicht als
generellen Unterschied an, dass die eine hietas exilia cacdes , die andere amores,
virginum raptus enthalte (p. 488, 16) ; später scheidet er richtiger die ioculana
der ältesten Periode (Susarion Myllos Magnes), die bitteren Angriffe der zweiten
(Aristophanes , Eupolis , Kratinos) und endlich die Komödie des Menander . Di-
philos und Philemon, qui omnem acerbitatem mitigaverunt aique argumenta multiplicia
1) Es scheint fast, als ob Piatons Forderung zu der Auffassung mitgewirkt hat ; er verlangt
Leg. XI 935 a iioir\xf\i yicüfioudiccg r\ xivog tdfißcov rj fiovö&v (islcoLdLag firj i^satco iir\rs Xoycoi jurjrf
dnövi infirs &v[icöi. [lyrs avev &v{iov (iridccfiüg {ir\8ivu tüv itolit&v ncoficoidsiv.
2) Chamaileon von Herakleia ist offenbar identisch mit einem der Gesandten, die seine Vater-
stadt im J. 281 an Seleukos schickte (Memnou bei JPhot. bibl. 226 a 16). Die Herakleoten waren
widerspänstig und auf die heftigen Drohungen des Königs wagte Chamaileon zu autworten 'Hqu-
%\f}<s y.üqq(ov, ZÜEVY.e. Der König verstand den Dialect nicht, und Chamaileon würde schwerlich
dorisch geredet haben, wenn die Worte nicht ein Citat gewest-u waren. Sophron (bei Apoliou. de
prou. p. 95 c) sagte 'Hganlfj? teovg y.ccqq(üv r]g. Auf ein solches Citat konnte aber nur ein ge-
lehrter Mann verfallen. Damit ist Chamaileons Zeit bestimmt.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 4. 7
50 • GEORG KAIB EL,
Graecis erroribus (?) secuti sunt. Der Artikel des Liber Glossarum (Usener Rhein.
Mus. XXVIII 418) lautet ähnlich : postea autem omissa male dicendi libertate pri-
vatorum hominum vitam cum hilaritate imitdbantur , admonentes quid adpetendum
guidve cavendum esset. Wichtiger aber ist was Euanthius von der Eigenart der
via sagt (p. 5, 15) : quae argumenta- communi magis et generaliter ad omnes homines
qui medioeribus fortunis agant pertineret et minus amaritttdinis speetatoribus et eadem
opera multum delectationis afferret, concinna argumento , consuetudini congru« , uiilis
sententiis, grata salibus, apta metro. Das ist nicht nur die Characteristik der vsa,
sondern zugleich auch der piön, die mithin zusammengefasst werden wie im
Anonymus V. Die Bitterkeit des Spottes ist nur gemildert, nicht aufgehoben,
der Stoff ist dem allgemeinen Menschenleben entnommen, die Handlung ist ge-
schlossen und einheitlich , die Sprache ist die des Lebens (consuetudo = Äe&ig
övvrjd-rjc;) das Metrum ist der Iambos, der täglichen Rede also das verwandteste,
der, Witz (tö %aoiEV) geht zusammen mit sittlicher Belehrung (rö ozcpiliuov).
Das sind die gleichen Gesichtspuncte — vXr\ pitQov didlentog diaöxsvy] — nach
denen der Anon. V den Vergleich zwischen der naXaid und via anstellt Man
muss es Euanthius lassen, dass er die gleiche Quelle besser und verständiger
ausgenützt hat als der Anonymus. Des letzteren Quelle waren , wie zu zeigen
versucht wurde, Dionysscholien, Euanthius führt auf ältere Zeit ; dass die Vor-
lage eine pergamenische Schrift« über die Komödie gewesen sei. möchte ich nicht
mehr mit gleicher Bestimmtheit wie früher (Hermes XXIV 57) behaupten.
Die Characteristik bei Euanthius setzt, wie gesagt, eine zweigetheilte Komödie
voraus. Er unterscheidet freilich drei Theile, aber das ist nur der Schein. Zu-
erst nennt er die quae — vixdum ineipiens äg%aCa xcopcoLdia et iri övö^iarog dieta
est — etenim per priscos poetas non ut nunc fieta penitus argumenta sed res gestae
(i civibus palam cum eorum saepe qui gesserant nomine decantabantur : idque ipsum
s?w tempore moribus multum profuit civitatis, cum unusquisque caveret culpam , ne
spectaculo ceteris extitisset et domestico probro. sed cum poetae licentius abuti
stilo et passim laedere ex Jibidine coepissent plures bonos, ne quisquam in cdterum
Carmen infame componeret lata lege siluere (statuere?), et liinc deinde aliud genus fa-
butec id est satira sumpsit exordium, quae a sedyris quos in iocis semper [ac]
petulantes deos seimus esse vocitata est. Vergleicht man dies mit dem was über
die via gesagt war, so wird man finden, dass die Characteristik der a.Q%aia auf
einer ganz anderen Grundlage steht. Nicht nach Stoff, Composition . Sprache
und Metrum, also nicht mit Rücksicht auf die anders geartete via wird die dg-
%at'a geschildert, sondern an und für sich als Spottgedicht, das an ungebundner
Freiheit mehr und mehr zunimmt, bis das Gesetz (lex) 7isgl toi) {irj ovo^aörl ueoa-
mdeiv ihr den Garaus macht. Das ist aber die Characteristik , die nicht der
V. sondern der IV. Anonymus giebt, mit dem der lateinische Text wörtliche Ueber-
einstimmungen genug aufweist. Die Quelle des Euanthius hatte demnach die
beiden Anonymi nebeneinander vor sieh, wahrscheinlich in derselben Reihenfolge,
wie sie noeh jetzt in den Aristophaneshandschriften und bei Tzetzes (aus den
Dionysscholien; hintereinander stehen. Also nicht erst in der Quelle der Dionys-
DIE l'ROLEGOMENA J7EPJ KtlMfLIdlAS 51
scholien, wenn das Proklos' Chrestomathie war, sondern viel früher schon waren
die beiden Tractate zusammengerückt. Den zweiten leitete Tzetzes seiner Quelle
folgend, wie wir sahen, mit den Worten Katf exigav diaCgsöLv ein : das ging auf
eine Zweitheilung gegenüber der voranstehenden Dreitheilung der Komödie.
Nun vertritt zwar der IV. Anonymus eine'dreigetheilte Komödie, aber wie sich
gezeigt hat, die dritte Periode gehörte nicht zum ursprünglichen Bestand der
Darstellung, die vielmehr nur eine Periode des epeevegag xcj^cjlösIv und eine
zweite des alviy^azaÖG)g kannte. P]s folgt dass der IV. Anonymus die üble Er-
weiterung schon beträchtliche Zeit vor Euanthius erlitten haben muss , da sich
ihm sonst nicht die Zweitheilung des V. Anonymus hätte anschliessen können.
Genauer lässt sich die Zeit nicht bestimmen. Die Worte des Euanthius per
priscos poetas non ut nunc fieta penitus argumenta sed res gestae a civibus decanta-
banhtr weisen zwar auf einen Mann, zu dessen Zeit die zweite Komödie noch
am Leben war, ergeben aber, da diese Komödie sehr langlebig gewesen ist,
keine nähere Zeitbegrenzung für ihn: er kann ganz wol ein Zeitgenosse des
Menander oder seiner ersten Nachfolger gewesen sein.
Die erste Periode der Komödie, die des (pavsgcbg xcj^KOidsiv , nannte Euan-
thius die xcoyL&idia i% ovö^arog, eine Bezeichnung die sonst nirgend begegnet.
Ihr gegenüber steht ein locus de vitiis avium sine ullo proprii nominis titulo, also
die Komödie der versteckten Anspielung (6v[ißokLXG)g, xccz syLcpaöiv, aiVLy^iatcodiög),
und die nennt er satira, leitet den Namen von den Satyrn ab und lässt ihren
ersten Vertreter Lucilius sein. Schlimmer kann sich der verständnisslose Com-
pilator nicht verrathen. Dass die Ableitung der satira von den Satyrn und
ebenso die geistige Verbindung des Lucilius mit der alten Komödie keinem an-
deren als Varro zur Last fällt, hat Leo gezeigt (Hermes XXIV 67 ff.) , aber je
deutlicher dieser Anachronismus bei Euanthius aus dem Zusammenhang heraus-
fällt, desto sicherer ist, dass an diesem Zusammenhang Varro unschuldig
war. Dass bei Isidor Orig. VIII 7 der Irrthum eine noch bösartigere Gestalt
angenommen hat, ist natürlich ganz gleichgültig. Aber immerhin muss doch eine
zum Irren veranlassende Gelegenheit gedacht werden : daraus dass Varro die
Satire des Lucilius aus der alten Komödie ableitete , wird nicht erklärt , dass
die Satire für die zweite Periode der griechischen Komödie ausgegeben wird.
Man hat zu bedenken, dass die Quelle des Euanthius (ebenso wie die Glosse des
Et. M. rgay&idCa) die älteste Komödie nicht nur nicht von der Tragödie zu
scheiden versuchte sondern geradezu unter dem gemeinsamen Namen tgvyGudia
mit ihr identificirte , dass ferner auch die tgaycaiöCa als Satyrngesang gedeutet
wurde (Et. M. a. 0.), also Sat}'rdrama in engste Beziehung zur Tragödie gesetzt
werden musste. Nun wird das Satyrdrama in griechischen Quellen seinem Cha-
racter nach zumeist erklärt als 7tcct£ov6a rgaycoiÖCa (Demetr. de eloc. 109), als
Gemisch von Scherz und Ernst, von Tragik und Komik (Horaz AP. 226 vertere
seria ludo, vgl. Diomedes p. 491, 3). Das drückt Tzetzes auf verschiedene Weise
aus : bald sagt er (Pb 26), die Eigenart des Satyrdramas bestehe in dem xarav-
tüv Salb Ttsvfrovg dg iccgav, bald {it. öiacp. itoi. 60) nennt er es ein Mittelding
7*
52
zwischen Tragödie und Komödie (xavde xr\v fisöaixdxriv). Sollte nicht dieser
letzte Ausdruck oder ein dem ähnlicher jemanden verführt haben , das Satyr-
drama (später die satura) für ein Mittelding zwischen der alten xgvycoidca und
der neuen xcoyLcoidCu zu halten ?
Wir haben einen dem Aristoteles zeitlich nahestehenden Mann ermittelt, der
über Komödie and Tragödie geschrieben und beide auf dorischen Ursprung zu-
rückgeführt hatte. Die Komödie hatte er seiner Zeit gemäss in zwei Perioden
zerlegt, was er von der Entwicklung der Tragödie gesagt haben mag, lässt sich
nicht errathen. Nirgend finden wir eine Spur von historischer Behandlung dieser
Schwesterdichtung. Um so eifriger aber ist das ausgeschrieben, was jener Mann
oder seine Nachfolger über Aehnlichkeit und Unahnlichkeit von Tragödie und
Komödie gesagt hatten : überall treten sie uns als nach verschiedener Richtung
hin entwickelte Formen eines und desselben Grundgedankens entgegen. Von
diesem Vergleich konnte die dritte Gattung, das Satyrdrama, nicht ausgeschlossen
werden. Nach Aristoteles (Poet. c. 4) ist es die eigentliche Vorstufe der Tra-
gödie : hi öh xb (leyedog ix {ilxqcjv [ivd'cov xal ke&cog ysloiag öiä xb ix öaxvgixov
{israßctleiv otyl cc7tt6£[ivvv&r}. Daraus ergab sich die Mischung von Ernst und
Scherz ganz von selbst. Dieser eine Gedanke wird in mannigfacher Gestalt
immer wiederholt, am besten bei Diomedes p. 491, 3 satyrica fabula, in qua item
tragici poetae non heroas aut reges sed satyros induxerunt ludendi causa ioeandique,
simuJ ut spectator inter res tragicas seriasque satyrorum iocis et lusibus delectaretur,
ut Horatius sensit (folgt Citat von AP 220 ff.) x). Nur bei Tzetzes finden wir
einiges mehr. Er hatte sich durch die Scholien des Eukleides verleiten lassen,
alle Tragödien mit heiterem Ausgang für Satyrdramen zu halten und danach
das Wesen des letzteren zu bestimmen als ein xaxavxäv ix niv&ovg elg %aoav. Das
widerruft er in 31a p. 116 K und in einem Scholion zu den Iamben it. diacp. itoi.
93 folgendermassen : ivxvyfov dl öaxvoixoig doccpaöLV EvQiitidov {itollä dodfiaxa
31a) avxbg [lövog iulyvcav ix xovxcov öaxvQLXrjg Ttoirjöeag xal xcoyLcoidiag diayogav.
ij [ifv ovv xco^KDidicc dgi^iicog tiv&v xu&a7tTOtisvri öiaßokaig inl koiöoQLUig xtvsl
yikoaxa ' fj de 6axvoixr\ 7ioir\6ig axgaxov xal d^ayfj Xoidooiag £%si xbv yiXcoxa ndvv
r\övxaxov olov xbv iv &v{iaXaig. Tzetzes hat besten Falls ein einziges Satyrdrama,
den Kyklops lesen können, er schwindelt also. Die höchst unvollkommene Cha-
racteristik, die er als Frucht seiner Lectiire ausgiebt, gehört nicht ihm: sie
kehrt wieder Pb 26 und 31b p. 119, und beidemal folgt als Beleg, mit olov einge-
leitet, die Hypothesis des Euripideischen Syleus. Den hat er sicher nicht ge-
lesen, und es ist klar dass die ganze Unterscheidung der drei Gattungen (denn
in Vb und 31b tritt die Tragödie hinzu) aus einer und derselben Vorlage stammt,
d. h. direet oder indirect aus Proklos. Ebenso wie Proklos den Inhalt der ky-
klischen Epiker nacherzählt hat , so mochte er auch die Inhaltsangabe einiger
1) Den Werth der Angabe Diom. p. 490, 18 in satyrica fere satyrorum personae inducuntur
aut si quae sunt ridiculae similes satyris Autolycus Busiris will ich hier nicht prüfen. Vgl. Her-
ines XXX 72.
DIE PROLEGOMENA TIEPI KflMfLUIAS 53
- Dramen seiner Chrestomathie eingefügt haben. Die Verwechslung von Satyr-
drama und Tragödie mit glücklichem Ausgang hat sich Tzetzes ausser in den
ganz frühen Prolegomena zu Lykophron noch in den Iamben %. dtcctp. itoi. 113
zu Schulden kommen lassen, aber sclion im Pariser Tractat (Pb) ist der Irrthum
beseitigt. Das andere Versehen betreffs Zenodot und Aristarch wirkt noch in
Pb nach und wird erst in M berichtigt. Die Quelle der Irrthümer waren Dio-
nysscholien , die des Eukleides und des Heliodor , die Quelle seiner Bekehrung
verschweigt oder verhüllt Tzetzes. Vielleicht war Proklos sein Retter gewesen,
dessen Buch ihm etwa später in die Hände gefallen war, das Original oder
besser die Epitome , die Photios las. Proklos Quelle lässt sich nicht errathen :
von Chamaileons Schrift IIeqI öatvgcov, die ja ganz wol ein Seitenstück zur Schrift
IIeqI xaiiacdiag gewesen sein kann, scheint nichts weiter erhalten als das Citat
bei Suidas u. d. W. a7tibX£6ag, und das lehrt nichts.
Um so erfreulicher ist es, dass ein durchgeführter Vergleich von Tra-
gödie und Komödie recht reichliche Spuren zurückgelassen hat. Sie finden sich
einerseits verstreuter bei Tzetzes in den Theilen seiner Prooemien , wo er sich
auf Eukleides und Genossen beruft, und in den Dionysscholien — wir werden
diese beiden Wege nun wol als einen einzigen gelten lassen — ferner in den
lateinischen Tractaten de pocmafibus, andrerseits dichter und geschlossener in
dem schon mehrfach erwähnten Coislinianschen Tractat, den uns eine Handschrift
des X. Jahrhunderts erhalten hat (Cramer An. Par. I 403, besserer Text bei
Bernays Zwei Abhandl. S. 135). Das characteristiscbe Kennzeichen dieser ge-
meinsamen Quelle ist, dass sie auf Aristoteles Poetik fussend die Lehre des
Meisters bald zu erweitern, bald zu variiren oder zu corrigiren bemüht ist. Ich
lasse die ersten Paragraphen des Coislin. Tractats zunächst bei Seite und be-
ginne mit dem dritten.
Coislin. § 3 Tzetzes Pa 12
xcoyLmdia iörl ^iL^irjöig Ttgd^Ecog ysXotov iörl de xco^icotdia (iLurjöig Ttgd^Eog ....
xal äiioiQOv [teye&ovg tsXsloVj xcoglg ixd- xa&agzijgiog 7ta^r\^drcov , övötatixi) tov
6tov rcov [ioqlmv iv Totg eiöeöi ögobwog ßiov, diä yekaxog xal y]8ovY\g xvTtovyievr].
xal öi dicayyeXtag^ öV fjdovfig xal yelco- dtacpSQSL öe rgaycotöta XG){imdiag ort >)
zog 7t£Qaivov6a %r\v xcbv toiovxcov itaftr}- [iev xgaycoidia töxogiav e%el xal ccTtayys-
\idxcov xd&aQöLV. e%ei de [irjxEga xov ye- kiav Ttga^sojv ysvo^isvcov , xav cjg iför]
Xcoxa xxX. yivofiEvag 6xr}^LCCt^tVL uvxdg, fj öe xcjucol-
öia TtXdö^iaxa tceqleiei ßicotixcöv Ttgayua-
xcov xal oxl xfjg [i£v xgayaidiag öxonbg
xb Eig &qy]vov xcvfjöai xovg dxgoaxdg, xijg
oh xco^icjiÖLag stg yikoxa.
Mit Tzetzes ist zunächst das Dionysscholion bei Göttling Theodos. p. 68, 31
zu vergleichen , das dieselbe Lücke zu Anfang in seiner Vorlage fand und sie
zu verdecken bemüht war: £6x1 öe xcoiLcudia fit/i^<?tg 7igd%£cog xa&agxixojv Tta&i]-
pdxcov xal tot» ßiov övöxaxixrj, xv7tov^£vrj oV rjöoviig xal yiXoxog, ota i] tov 'Aql-
12* h
54 • GEORG KAI BEL,
öTocpdvovg 7} xov MevdvÖQov. xal 7) ^isv xmyLcoidia xbv ßiov 6vvl6z7]6iv, 7) dl tqcc-
ycoiöia öiaXvEi. Ferner das Bekkersche Scbolion p. 747, 20 diayegsL de xco^icaidtag,
int h TQaycöidla [öroQtav e%bv xal dnayyeXiav TtQa^scov yEvo^itvojv , 7) de xco^Kotdia
itkdö^ccxa rtSQie%£i ßtojnxcbv ngay^idicov. Dieser Vergleich soll nicht nur bestä-
tigen dass , was wir schon wissen , Tzetzes bessere Dionysscholien benützt hat
sondern vor allem zeigen, dass die Quelle, aus der der Coislin. Tractat sowie
die Dionysscholien geschöpft haben, sich nicht mit der Behandlung der Komödie
begnügt sondern Komödie und Tragödie mit einander verglichen hatte. Diese
wesentliche Eigentümlichkeit der Quelle werden wir festhalten müssen. An die
groteske Parodie auf die Aristotelische Tragödiendetinition J) schlössen sich Er-
örterungen über den stofflichen Unterschied von Komödie und Tragödie — mit
Wendungen die wir bei Asklepiades und dann bei Proklos (in den Cramerschen
Dionysscholien) wiederlanden — und über den verschiedenen Zweck der beiden
Gattungen — mit einer Wendung, die ebenfalls wahrscheinlich Proklos vermittelt
hatte (xlv7]6ui tovg dxQoaxdg eig -fro^i/ov, eig yelcoxa, vgl. S. 16). Die Zahl der
Vergleichspuncte lässt sich vervollständigen aus Diomedes (p. 488) , der einen
besseren Wortlaut, und aus Euantliius (p. 7, 11), der einen vollständigeren Text
hat. Den letzteren schreibe ich aus :
inier tragoediam aatem et comocdiam cum mulfa tum inprimis hoc distat,
(1) quod in comoedia mediocres fortan ae hominum, parvi impetus periculi {peri-
ada Cod.) laetique sunt exitus actionum, at in tragoedia omnia contra, ingentes
personae, magni timorcs, exitus funesti habentur.
(2) et illic prima turbulenia, tranquilla ultima, in tragoedia contrario online
res aguntur.
(3) tum quod in tragoedia fugicnda vita, in comoedia capessenda exprimitur.
(4) postremo quod omnis comoedia de fictis est argumentis, tragoedia saepe de
liistorica fide petitur.
1) Die Komödiendefinition war in den Dionysscholien wol nicht gekürzt sondern durch Schuld
eines flüchtigen Abschreihers lückenhaft geworden; der Einschub von ypXoiag hinter ngagsag ge-
nügt nicht. Aber auch der Text des Tractats ist nicht in Ordnung. Dass hinter (isyi&oyg xsXsCov
die Worte rjdvG[iev(oi, Xdyou ausgefallen sind, ist eine einleuchtende Bemerkung Vahlens, unsicherer
alsdann . ob nach dem Muster der Poetik xaglg snäGrov x&v std&v iv xotg [togioig zu verbessern
ist. Sicher aber ist für dgüvxog -aal di cc7tayysXiag zu schreiben öqoovxcov -kcci <ov> öl ccnayys-
Uag: die Komödie erzählt doch nicht. Mit Entschiedenheit dagegen siud die abenteuerlichen Ge-
walttaten Bergks abzuweisen, der (Piniol. XLI 5bl) zu Anfang herstellen wollte [ii(it}6ls ngä^scog
ytXoiag v.ai ccXoiöoqov iiiys&og t%ovau xbXslov. Aber das Wesen der alten Komödie ist Aoidogice
und die alte Komödie hat keine abgeschlossene Handlung in demselben Sinne wie die Tragödie.
Sie kann in einer beliebigen Anzahl von lustigen Scenen fortgesetzt werden, die mit zur Handlung
gerechnet werden müssen, da sie aus der Haupthaudlung hervorgehen und die Personen der Haupt-
handlang au ihnen betheiligt sind. Daraus wurde für die Komödie ein willkommenes Distiuctiv
gegenüber der Tragödie gewonnen. Die Thatsache ist von den alten Kritikern nicht unbeobachtet
geblieben, wie die treffliche Glosse in Bekk. An. 253,19 zeigt: £7tSL6Ödtov MQiag (isv xö iv xeo/u,-
ündiai irtKpSQOfievov x&i dgäfiaxi yiXcaxog %&qiv s£co xrjg vito&EGsag xrX.
DIE FROLEGOMESTA IIEPT KflMHUTAS 56
Der erste Satz giebt die Theophrastischen Definitionen wieder, die Diomedes
griechisch bewahrt hat: Toaymdi'a iörlv rjQcaixf}g rv%r\g TtEoitiraöig und xiafiatdia
iötlv idiarixCov itgay^idrcov dxtvdvvog jrsp/opj. Nur der tragische resp. der hei-
tere Ausgang ist hinzugefügt, oder besser ans Theophrasts Werten richtig her-
ausgedeutet. Der zweite Satz liegt griechisch, soviel ich weiss, nicht vor. Der
dritte übersetzt die 'tolle Antithese', wie Bernays meinte (S. 147), r) plv rgay-
coidia Xvel rbv ßCov , r) de xcoyLwidia övviötyjölv. Die lvit% das Wesen der Tra-
gödie {proprium tragocdiae Diom. p. 488, 20), nicht als Unlustempfindung gefasst
sondern als tragischer Stoff, ist ein taoa%(öd£ g , ein cp&ccqtlxov; der yekag. das
Wesen der Komödie, erweckt dem Menschen Lebenslust und macht ihn zufrieden
und glücklich. Endlich der vierte Satz bei Euanthius entspricht genau den oben
citirten Dionysscholion, dass die Tragödie iGtoglav enthalte und a-jiayyeliav ngd-
^ecjv yevo^ievcov, die Komödie aber nldö^axa ßuDtLx&v Ttgay^idtcov. Wie der Ver-
gleich Schritt für Schritt durchgeführt war, zeigt ein an sich sehr auffallender
Ausdruck des Coislin. Tractats : e%ev de (r) xco^icoidta) {lyrega rbv yekcoxa. Der
weibliche yekcog ist sprachlich nur zu rechtfertigen, wenn die Worte eng mit dem
parallelen Satz, der nun im vorhergehenden Paragraphen (1) steht, verbunden ge-
dacht werden : e%ei de (r) rgaycoidia) ^r\xega trjv Xvtiyjv. Wenn im ursprünglichen Text,
wie ich nicht bezweifle, geschrieben stand e%Ei de r) fisv rgaycoidia inqrega r))v
XvTtrjv, rj de xcj[icoidia rbv yelcora, so ist das ein völlig tadelfreies Zeugina. Die
begrifflichen Anstösse, die man an dem Worte iirjrrjg genommen hat, scheinen
mir unberechtigt. Wenn die Komödie eine lächerliche Handlung erfinden muss.
so ist eben das Lächerliche die Quelle der Erfindung, ihre Grundlage, sowie die
Tragödie aufgebaut ist auf löroglai r&v jjqcocov e%ovöai Ttdd-rj xivd , e<5& ore xal
ftavdrovg xal &grjvovg (Schob Dion. p. 746, 6 B). Der Ausdruck ist geziert, aber
man weiss wie die griechischen Dichter und späteren Prosaiker die Worte 7carrjg
und yrjrrjQ vergewaltigt haben (Hectors ödxog heisst {irjrrig rgonaCcov Eur. Tro.
1221). Useners Aenderung \iirgov für ar^rega schafft neue Schwierigkeit; man
fragt vergeblich, wenn die Trauer der Massstab der Tragödie, das Lachen der
der Komödie heisst, was denn an diesem Massstab gemessen werden soll, ßergks
Vorschlag aergiav rr\v Xvnr\v und ustqlov rbv yelcora missversteht die Absicht
des Verfassers und bedarf einiger Ausreden, die Bergk selbst nicht für stich-
haltig ausgeben konnte.
Die komische 'Katharsis' stand im Coislin. Tractat der tragischen gegen-
über, von der nur wenige Worte (§ 2) übrig sind : rj rgaycoidia vcpaigel tu. q?o-
ßegä TtaftiqaaTa* tfjg i\}vyj\\g dt ol'xtov xal deovg. xal ort 6v(.i^iergiav &eXei £%civ
Toe cpoßov. Die gewaltsame Kürzung und die dadurch entstandene Verwirrung
des Tractats zeigt sich nirgend besser als hier. Der zweite Sitz , schon durch
die Form (ort) als Epitomirung gekennzeichnet, wiederholt sich in vollständigere:
Fassung, aber an unpassender Stelle § 6: öva^ergCa tov cpoßov frelei eivu.i iv
raig rgaycoidCaig xal rov yeXoiov iv ralg xcopcoidiaig.
Eine weitere und erheblichere Lücke zeigt sich § 3. An die Behauptung.
Lachen sei die Grundlage der Komödie, Trauer die der Tragödie, schliesst . i !i
56 GEORG KAIBEL,
von selbst die Frage an : welches sind die Quellen des Traurigen und welches
die des Lächerlichen. Der Tractat giebt nur auf die zweite Frage und zwar
eine ausserordentlich ausführliche zweigetheilte Antwort: yivexai de 6 ye'Xcog
1. ajtb xrjg Xe%ecog 2. dito xcbv itgay^iaxcov. Das ganze Capitel hat dem vorge-
legen, der die gemeinsame Quelle für Tzetzes (Pa 17) und für den VI. Anony-
mus war; er hat den ersten Theil sorgfältig und vollständig abgeschrieben und
sogar die belegenden Beispiele bewahrt, die im Coislin. Tractat fehlen, beim
zweiten Theil ist ihm die Geduld ausgegangen, so dass er von den neun Quellen
des yelcog ex xcbv itQayyLaxcov nur die zwei ersten beibehält mit der dreisten Ein-
leitungsphrase: kx ÖS XC3V 7tQCCy{ldtQ3V XaXCC XQOTCOVq ovo1).
Es folgen im Tractat zwei Sätze, die den Begriff und Umfang des Lächer-
lichen beschränken sollen : diacpegei fj xco^icoidta xrjg Xoidogiag, eitel rj ^iev Xotdooicc
cc7iccQecxcdv7txoog xä tiqoöövxcc xaxä die%eiöiv , r] de deixca xr)g xakov^ievrjg e^Kpdöecog.
6 axcoitxcov eXey%eiv fteXei d^iaQxri^axa xr\g tyvp]s xal xov öcopaxog. Das ist alles
sehr kurz gesagt , aber der Gedankengang lässt sich vervollständigen. Nic^t
jedes Lächerliche schickt sich für den Komiker, er soll nicht lästern und ver-
läumden, sondern spotten, ohne zu verletzen. Da aber das Tadeln und Bessern
seines Amtes ist, jeder offen und öffentlich getadelte aber sich verletzt fühlt, so
verdient die versteckte Andeutung (e{L<pa6ig) den Vorzug vor der unverhüllten
Schmähung, ja sie ist der Komödie allein würdig, da die Komödie eben keine
Aölöoqlcc sondern eine itaidid sein soll. Das letztere ergänzt sich, wie Bernays
ausgeführt hat, aus Aristoteles Eth. Nicom. IV p. 1128 a 20, von wo die ganze
Scheidung herstammt: r) xov eXevfreoiov itaidid diacpeaet xr)g xov dvdoaTtodcbdovg,
xal av xov 7te7tatdev{ievov xal xov dicaidemov l'öot <f av xig xal ex xcbv xco^oolÖlcov
xcbv naXaicbv xal xcbv xaivcbv xotg {iev yäo r)v yeXolov r) ai<5%QoXoyla, xolg de [iäX-
Xov r) vTtovoia. Darin liegt eine Verurth eilung der alten Komödie zu Gunsten
der des 4. Jahrhunderts , und nichts anderes hatte der Verfasser des Tractats
ursprünglich gemeint als was , zum Theil noch mit wörtlichem Anklang , bei
Tzetzes zu lesen steht (31a p. 113): xi\g [iev Ttocbxrjg {xco^icoidCag) i]v yvcjQiö^ia Xotdo-
Qta dnaoaxdXvTtxog xal öv^Kpavrjg' xr)g peörig de xb öv^ißoXixcjxeQcog
Xeyeiv xa 6xcj[i{iaxa (also epcpaöLg, vitovoia). Der Komödie im allgemeinen konnte
die XoidooCa von niemandem abgesprochen werden; bei Krates, Kratinos, Eupolis
u. a. wird das Xoidooeiv oft genug speciell hervorgehoben, der III. Anonymus
1) Viel reicheren Stoff über das Lächerliche hat Quintilian VI 3, 22 ff. Neben den von ihm
se'bst angegebenen Quellen, Domitius Marsus De urbanüate und Domitius Afer Urbane dicta, ist
eine griechische Vorläse leicht erkennbar (§ 22), die von der gleichen Theilung ccnb Xi&mg und
ccnb 7tQccy{LUTcav ausging. Aristoteles liegt § 37 zu Grunde: risus igitar oriuntur aut ex corpore,
eius in quem dicimus aut ex animo, qui factis ab eo dictisque colligitur, aut ex his quae sunt extra
posita , vgl. Rhetor. I 11 a. E. ava.yv.ri %a\ xä yzXoiu i]d£u sivccl, xat ccv&QooTtovg xal Xoyovg ncci
egycc ■ diajQioxca dh xeqI yeXoL<ov #a>(H£ iv xolg Tlsgi TtQir\xiv.f\g. Sollte Quintilians Quelle noch die
vollständige Poetik gekannt haben? Auf eine eingehende Prüfung des Quintilianischen Capitels
muss ich für jetzt verzichten.
DIE PROLEGOMEN k TIEPI KfLMflUJA^ 57
rühmt es erst dem Pherekrates nach, dass er xov Xolöoqeiv änE6xx\. Bezeichnend
aber für den Verfasser des Tractats ist, dass er auf die Menanderkomödie keine
Rücksicht nimmt und es für den eingestandenermassen einzigen Zweck der Ko-
mödie hält xä 7tQo6ovxa xccxä diE&Evcci. Das verbindet ihn auf das deutlichste
mit den früher besprochenen Darstellungen von der Geschichte der Komödie.
Der zweite Satz dagegen 'der spottende will Fehler der Seele und de« Körpers
aufweisen' ist ganz unverständlich und scheint nur ein einzelnes Glied einer
längeren Ausführung. Das öx&tcxeiv an sich ist weder recht noch unrecht, das
ev oder ki^iElCo^ öx&tlxelv ist witzig, das Gegentheil verletzend und darum un-
erlaubt.
Hiermit muss das Schlussstück des ganzen Tractats verbunden werden, eine
kurze Uebersicht über die Perioden der Komödie:
xf\g xaiicjidiccg
I
Ttcclaiü 7] nleovd^ovöa xcbt via 7) touro [iev 7tQOLE{ievi], ^liöiq 7) an? ä^cpolv [lE^iiy^EVT].
ysXoicjL. TtQog öe xb ös^ivbv qe-
Ttovöa. *
Diese Theilung stimmt nun offenbar gar nicht mit dem was der Verfasser vor-
her bemerkt hatte. Nach § 4 mussten wir annehmen, dass er nur eine zwei-
theilige Komödie kannte oder anerkannte: ihr gemeinsames Ziel war xä TtQoGovxa
xaxä öls^lbvccl , das erreichte die ältere Komödie vermittelst der änaQaxälvnxog
koLÖoQLcc, die jüngere durch eiKpaöcg. Jetzt linden wir eine ältere Art, die es
nur aufs lächerliche abgesehen hat, dazu eine jüngere die sich dem öe^lvov zu-
neigte, endlich ein (begrifflich, nicht zeitlich zu verstehendes) Mittelding, halb
ysXoiov, halb 6E[iv6v. Nun kann 6s[iv6v als Gegensatz zu yskolov nur als 'ernst-
haft' gefasst werden: wie ist das abermöglich in einer Lehre, die als Grundlage
und Quelle der Komödie insgemein das Lächerliche ansieht? Da giebt es nur
einen doppelten Ausweg. Entweder yelolov ist hier ein übel gewählter Aus-
druck für cci(5%QoloyCa und Xoidogia, entstanden durch falsche Interpretation von
6e[lv6v, das nicht 'ernsthaft' sondern 'anständig' bedeuten sollte. Dann haben
wir hier genau dieselbe Scheidung wie vorher und wie bei Aristoteles. Oder
aber es wird hier auf etwas verwiesen, wovon vorher keine Spur übrig geblieben
war, dass nämlich die ältesten Komödieudichter , um mit Diomedes (p. 488. '2h)
zu reden, iocularia quaedam minus seile ac venaste pronuntiabant, dass ihre kunst-
volleren Nachfolger alsdann der ziellosen Posse eine practische, sittlichwirkende
Bedeutung gaben (xb cspvöv): erst von dieser zweiten Form aus hätte sich als-
dann die Komödie als Spottgedicht in zweierlei Gestalt ausgebildet, zuerst als
a7tccQaxdlv7ixog koidogta , sodann als atviy^axcbdrjg und E^Kpaxixrj öxöj^ig. Ich
glaube, dass dies in der That die Meinung des Verfassers war, um so mehr als
sie sich genau mit dem Gedankengange d{'^ V. Anonymus deckt {= Tzetzes /*'/
16): (unter Susarion) pövog r\v yikag xb xaxaöxEva^o^tEvov ETiiysvö^Evog de 6
Kgaxlvog xaxi<5x7]6E {isv TtQibxov xä ev xrji xco^icjLÖLa Ttgoöcoita {lixQl xqlöjv, övörijöag
xi\v äxafyav, xal xodl %aQUvxi xf\g xatfimdiag xb G)(piXi(xov tiqoöe^xe, xovg xaxCog
Abhdlgü. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, * 8 .
58 GEORG KAIBEL,
itQaxxovxag dcaßdXXcjv xal &67t£Q örjfioöLCCL \ta6xiyi xr\i xo^icotdiai, xoXd^&v. Das
(byeXiiiov ist dasselbe was der Tractat 6s[iv6v nennt. Kratinos aber gilt als der
Hauptvertreter des i^icpavcög XoidooElv, als Nacheifrer des Archilochos, wie Pla-
tonios sagt. Wenn der Anonymus alsdann fortfährt al£ exl \i\v ((iriv't) xal
ovxog xijg äQ%cu6rr)Tog ^exeI%e xal r\Q£yia iccjg xr\g dxa^iag' 6 [ievxol ys'^Qiöxocpdvrjg
[lEd-odevöccg xe%vlxcjxeqov xi\v xco^icoLÖiav xcbv [ie& iavxov (der Text nach Tzetzes
verbessert) dviXa^Ev ev ccticcölv Eitiörj^iog ocpdslg xal ovxa %ä6av xofiotdYai' eue-
XtxvfiE ' xal ydo xb rourov doä[ia 6 ÜXovxog vecjxeql^el xaxä xb 7tlcc6[ia xxX. — so
wird hier Aristophanes als Führer der zweiten Periode characterisirt, als erster
Vertreter der i-EcoxEga, die die Xotöogta durch Eyupaöig mildert. Dass der Ano-
nymus auf den IlXovxog exemplificirt, ist dadurch erklärlich, dass er seine Quelle
auf eine Einleitung zur Interpretation dieses Stücks zugeschnitten hat (bei
Tzetzes fehlt das) :' er hätte ebensowol oder besser den KcoxaXog und AioXoötxcov
nennen können, wie es Platonios thut. Also hat der Coislin. Tractat wirklich
zwei Hauptperioden der Komödie geschieden: 1) die Posse des Susarion, 2) die
Komödie als staatliche Einrichtung, die Menschen zu höhnen und zu bessern.
Diese . die litterarisch überlieferte Komödie, zerfällt in zwei Theile : a) die in
ovouaxog xaucoidcccj wie Euanthios sie nannte, b) die Aotdopta xax E^i(pa6tv. Das
sind demnach drei Arten, die aber der Excerptor des Tractats nicht verstanden
hat, wenn er als dritte Art eine {i£6r] s% d^Kpolv ^E^iy^Evrj hinzufügt: die ^tEörj
ist ihm hier, wie es in aller triadischen Systematik zu gehen pflegt, eine be-
queme Verlegenheitsphrase gewesen.
Der 7. Paragraph ist wiederum eine getreue Nachbildung des Aristoteles
(Poet. c. 6), aber in dem Auszuge ist nur weniges von Belang stehen geblieben:
xcoyLcoidiag vXr\' ^ivd-og rjd-og dcdvoia Xi^tg [idXog btyig. {iv&og xco^iixog eöxiv 6 tceqI
ysXoLCcg TtQa^Eig e%cov xr\v 6v6xa6tv. ri&rj xco^GJtötag xd xe ßa{ioX6%a xal xä elqco-
vixä xal xd xiöv dXa^ovcov. öiavoCag {lioi] ovo, yvcb^irj xal TtCöxig' itCöXEig e, oqxol
övv&rjxai iiaQXVQiai ßdöavot v6{ioi. xöj^ilxt] eöxi X£%ig xoivrj xal dr}[i(bdr}g' öel xbv
xta {UDidoTtoibv xi\v ndxQiov avxov yXobööav xolg ngoödutoig TtEQixiftivai, xyjv öl etcl-
Icjqiov avxüi EXELvai. ybiXog xfjg {iov6ixr\g eöxlv lÖlov ' o&ev d% EXEivr\g xdg avxo-
xeXel? d(poQ{idg öeijöei Xa^ißdvELV. i] otyig \LEydXy\v iQEiav xolg dodybaöi xrjv öv^icpcj-
viav {xi]t 7pv%ayo3yCai Bernays) 7iaQE%si. 6 [ivfrog xal fj XE%ig xal xo [LEXog ev %d-
6uig XGjucudiaigd-ECüQOvvxaL, Öudvota Öe xal rj&og xal biptg ev bXiyaig.
E.s war nach der Ueberschrilt xco^coiöiag vXr\ keine Veranlassung bei jedem
einzelnen Tiieil anzugeben, dass er mit Rücksicht auf die Komödie gemeint sei,
(fivfrog xco^iixog, rför} xoD^iojidiag, xcj^iixrj X£%ig), wenn nicht die einzelnen Sätze nur
aus einem grösseren Zusammenhang herausgerissen wären, in welchem das dich-
terische Material der Tragödie und Komödie miteinander verglichen war. So
lässt sich auch verstehen, dass der Komödie ein fiv&og zugeschrieben wird, wo-
für das richtige Wort TcXdö^ia gewesen wäre (s. o. S. 25). Das ursprüngliche
lässt sich etwa so denken : 6 {ilv xQaycoidiag [iv&og tceqI ngd^Eig öTtovdatag, xb ös
xcj^icoiölag TtXdö^ia tieqI ysXoiag e%el xr)v avöxaö iv , oder auch: rj fihv xoaymdia
fiv&ov £%£i xal jtQa^Ecog önovdaiov 6v6xa6iv , r\ öe xca^eadCa TtXdö^ia ysXoLag itgd-
DIE PROLEGOMEN A IJEPI KflMflUIAS 59
%eag. Die Komödiencharactere (ihre ärmliche Begrenzung aus Arist. Eth. Nie.
II 1108 a 21) können ihr tragisches Correlat in der Poetik c. 13 (p. 1453 a 8)
oder auch in den Worten Plutarchs finden (de poet. aud. p. 26 a): tf&rj XQaycot-
ÖCag fiev ov xekeiav äv&Qa)7i(av ovde xcc&ccqcqv ovo' avE7tikrJ7tTcov navxanaöiv, ccllä
{i£[iLy[i£VG)v TtdfreöL xal do^eug ^svdeöi xal ayvoiaig. Plutarch spricht zwar von der
Poesie im allgemeinen als einer ^t^r}6ig rj&cov xal ßiav xal avd-Qaitcov , aber die
Komödie hat er sicher nicht im Sinne. Die Ötavoia, die in yvcb{irj und itiöxig zer-
fällt (nach Aristot. Poet. 1450 b 10 dtdvota de ev olg a7toÖ8ixvvov6i xt hg eöxiv rj
dyg ovx eöxiv rj xa&okov xi aTtocpaivovxai) , liess sich schwerlich für die Komödie
viel anders als für die Tragödie bestimmen (vgl. Poet. c. 19) M, es ist also wol
kein Zufall, dass hier der Zusatz (didvoia) xcj^iixr] fehlt. Die fünf Arten der %i<5xeig,
entlehnt aus Arist. Rhet. I p. 1375 a 24, sind (trotz Bernays S. 154) ein ganz unge-
höriger Zusatz, wie Cramer gesehen hat. Es folgt die le%ig, die in der Komödie
xoivr\ xal dreiadrig, in der Tragödie also öeavri xal iieyaloitQ eitrig oAex dgl. f;e^n s0^-
Der Zusatz verliert durch die Verderbniss kaum an Interesse: die einheimischen
Personen (xolg (e7U%(OQLOig) ngoGaitoig) soll der Komiker in seiner Sprache reden
lassen, die Fremden in ihrem Dialect2). Die Vorschrift ist aus Aristophanes'
Praxis in den Acharnern und in der Lysistrate abstrahirt, aber sie findet sich
wol nur hier. Die Behandlung des peXog lehnt der Grammatiker ab und weist
sie dem Musiker zu, daher ist auch hier keine Spur, dass dem pekog XQaycoidiag
das pekog xco^icoiöCag entgegengestellt wird : er überging beides. Ganz allgemein
gehalten ist auch was er von der oifrig sagt (nach Aristot. Poet. p. 1450 b IG i]
de oipig ^vxaycoyixöv {iev, dxeyvoxaxov de xal rptiöxa oixelov xfjg 7tOLriXLxf)g) ; man
merkt den erschlaffenden Eifer des Epitomators, da er hier doch wesentliche
Unterschiede zwischen der tragischen und komischen Bühne in seiner Vorlage
angegeben finden musste, also auch von der komischen wesentliches sagen konnte,
nebst anderem auch was Vitruv ausführt (V 8, l)3).
Vergeblich sucht man nach einer einleuchtenden Erklärung für die letzte
1) Natürlich lasseu sicli Unterschiede und Gegensätze auch der Slccvolcc construiren, aber
yvmfir] und Ttioxig sind der Komödie so unentbehrlich wie der Tragödie. Aristoteles (Poet. c. 19)
sagt iaxi ös Y.axk xr]v diavoiav xavxa 06a vnb xbv Xoyov 8si 7taQaayisvaad'j]vaL. [lsqt] dl xovxwv
xö Tf aito8uv.vvvcu xod xb Xvsiv -acu xo Ttä&T] 7zaQ<x6H£vä£8Lv oiov tXsov r\ cpoßov ?} OQyi]v xcu öaa
xoiccvxa, nui ixt, fieys&os ncci fit-ngoxrixa. Hier isi die Verbindung zwischen didvoia und Xe^cg (als
Xöyog) gegeben, aber der Verfasser des comparativen Tractats bat nicht so tief gegriffen, dass er
darauf eingehen konnte.
2) xr\v 8i Ithxcoqiov (Tt£Qixift{vcii 8sl) avxan x&i £,evo)i Bernays. Das ist besser, wie ich
glaube, als Vahlens Vorschlag <xö>l de t;6v<oi a.Tto8idovai> xr]v titi%wgiov avx&i i xf ivou , aber
weder ccvx&i hat rechte Beziehung, noch ist das nackte tnixcogiog ein Gegensatz zu ndxgiog; viel-
leicht xr\v de £ni%d)giov s>id.6xov xüi ^tvcoi.
3) Mit der merkwürdigen Beschreibung scenischer Einrichtungen bei Tzetzes (Pb 83. Mb p. 120)
weiss ich nichts anzufangen. Alt ist sie nicht, aber alte Bestandteile können eingemischt sein, sie
scheint aus den Scholien des Eukleides zu stammen, da der Sr.hhiss sianz ähnlich ist dem was
Tzetzes kurz zuvor (Pb 31) sicher jenen Scholien entnommen hat. Aber das fördert so weiii,- wie
das was Muhl dazu bemerkt hat, Synibolae ad rem scaeu. Acharn. et Avium. (Augsburg 187'J) p. 7.
60 GEORG KAIBEL,
Behauptung dieses Capitels, dass [iv&og, kE%ug und ptkog in allen Komödien, da-
gegen didvoicc, rjfrog und otyig nur ev oliyaig zu finden seien (d-Eaoovvxcci). Auch
Bernavs hat sich mit einem allgemeinen Hinweis auf das 6. Capitel der Poetik
begnügt: dass es drjd'Eig xoccycoidicu gegeben hat und ebenso auch drjd-Eig xcj^lcjl-
diai gegeben haben kann, macht den Gedanken um nichts klarer. Man könnte
bedenken , ob hier eine Vermischung der Komödie mit dem Mimos vorliegt, der
ja allenfalls ohne didvoicc und otyig , freilich nimmermehr ohne %frr\ auskommen
kann, aber abgesehen von dem übertreibenden ev oliyaig genügt die Erklärung
auch sonst in keiner "Weise. Nur soviel, scheint es, lässt sich erkennen, dass
der Verfasser, nachdem er die allen Exemplaren der beiden Dramengattungen ge-
meinsamen Elemente aufgezählt hat, nun das hervorzuheben beginnt, was die
einen haben und die anderen nicht haben, oder was bei den einen im Vordergrund
steht, bei den anderen zurücktritt. Von da war der Uebergang zu einer Erwei-
terung dieses Gesichtspunktes gegeben. Welches sind die quantitativen Theile,
so fragt es sich jetzt, die Komödie und Tragödie gemeinsam haben, und welches
die Theile, die entweder der Komödie oder der Tragödie so eignen, dass sie
von der anderen Gattung mit Noth wendigkeit ausgeschlossen .sind. Dieser Theil
des Tractats lässt sich mit Sicherheit vervollständigen.
Coislin. § 8. Tzetzes Pb 29.
{isQrj xfjg xancaidiag xe'ööccqcc ' ngoXoyog exl iQxiov ort xaxcc 4iovv6iov xccl Kgd-
%ogix6v S7CSL6odiov e%odog. itgokoyog eöxl xyjxcc xccl KvxXeC8y\v [lEgrj xcofMoidiag stöl
pogiov xcoiKOLÖLCcg xb l*>£%Qi> xfjg siöödov xiööccga ' TtgöXoyog pskog %ogov etieiöoSiov
xov %ogov ' %ogixov e6xl tb vTtb xov %o- xccl s^odog. xccl itgoXoyog [is'v eöxl xb
gov {lElog at,dö{i£VOv, oxccv e%y\i pEyEd'og p£%Qt> xov %ogov xr]g elöoöov. r\ öe cc^ia
IXCCVOV. ETtELÖOÖlOV EÖXL XO {lEXCc£,V OVO XY\l ELöÖdoJL XOV %OQOV X£yO[lEV7] QY\6tg
%OQixav {ieXojv. E^odög s6xi xb Eid xeXev {isXog xccXelxcci %ogov. ETtEiöödiov öe eöxl
AEyofiEvov xov %oqov. xb [isxa£,v [iEXäv xccl qyiGecov dvo %ogi-
xdv. E^odog öe eöxiv r) Ttgbg xm xeXei
xov %ogov QY\6ig.
Tzetzes fährt unmittelbar darauf fort {lEgrj de 7tagaßd6sojg Eicxd , und da er
es in Ma ebenso macht, so war das der Zusammenhang seiner Quelle. Mit der
Parabase war, wie früher gezeigt wurde (S. 9 f.), die Parodos und die epirrhema-
tische Composition der Chorlieder verbunden, also alle diejenigen Theile, die die
Komödie vor der Tragödie voraus hat. Eben dies hebt Tzetzes in den Iamben
7i. xQay. 178 (aus gleicher Quelle) mit Nachdruck hervor: er zählt die gemein-
samen Theile auf und sagt von der Komödie: xccl xr)v Ttagdßaötv ig jiXe'ov xovxcjv
(peaEi' r)g Tiagaßdösag etixcc xeXovöl xä ^legri xxX. Nicht anders Pollux IV 111:
xujv öe xogixav diGtidxojv xav xoöfuxcöv ev xb xccl fj Ttccodßccö'ig — xoayixbv öe ovx
eGxlv. Also die Besonderheiten der Komödie waren in der Quelle des Tractats
den beiden Gattungen gemeinsamen Theilen gegenübergestellt. Nur diese letzteren
sind im Coislin. Tractat erhalten, sie sind bekanntlich aufgezählt und beschrieben
genau nach Aristoteles. Der Parabase der Komödie entsprechend mussten alsdann
DIE PROLEQOMENA 7TEP/ KaMflUIAS 61
die Theile genannt werden, die der Tragödie allein zukommen und in der Ko-
mödie sich niemals zeigen können. Aristoteles (Poet. c. 12) giebt zwei verschie-
dene %ooixd als nothwendige Erfordernisse der Tragödie an , ndgodog und 6xd-
6i\iov , dazu zwei andere die gelegentlich vorkommen könnten, xö{ifxog und xä
änb 6xr\vr[g. Danach rechnet Tzetzes (lamb. %. xgay. 30), indem er die Exodos
des Chors mitzählt, fünf lyrische Theile der Tragödie, ndgodog Cxdöi^ov e^s^ata
xö^i^og E^oöog. Diese fünf Theile sind aber keineswegs erst von Eukleides
aufgenommen , sondern schon bei Pollux überliefert in dem Verzeichniss der
aidal und Ttoirjuaxa, das wenn auch lüderlich genug angefertigt, dennoch
deutliche Spuren derselben Quellen zeigt die auch Proklos benützt hat. Zu-
nächst ist die Anordnung die gleiche: etcyi (rjocöia E^dyiEXQa gaipcoidta)^ ekeyela
(itEVtd[i£TQa Einyga^axa)^ l'afißoi (ia^ißsta xQi^iEXQa ävaitaiötoi)^ [ieXt}1). Unter
dieser letzten Rubrik erscheinen nun bei weitem die meisten der von Photios
aus Proklos aufgezählten Arten lyrischer Dichtung, zum Theil in der gleichen
Reihenfolge, mitten darunter aber folgender: &qy\voi GlXXoi xcjfiaLdia xgccyai-
^/«, % dgo d o g öxdGLfjiov e {i[i 1 X s i a XQ{L[iax ixd (so) e%o d og , avxxixd e^i-
ßaxrjgta u. s. w. Die geniale Unordnung, die Pollux, als wollte er die Spuren
seines Plünderungszuges verwischen, zurückgelassen hat, macht es schwierig den
Character seiner Quelle zu bestimmen. An Tryphons 'Ovo^aßtai zu denken ist
verlockend (Bapp Leipz. Stud. VIII 119), aber die ausführlichen historischen Er-
örterungen, die Pollux an den ßcogifiog und XtxvEQörjg knüpft, scheinen mit Try-
phons Kürze kaum vereinbar. Aber wie dem sein mag, Pollux fand in seiner
Quelle die fünf %0Qtxd der Tragödie, darunter waren nur drei regelmässig wieder-
kehrende, die zwei anderen waren ausserordentliche Zuthaten , E^iXEia und
xofifiog, das ausschliessliche Eigenthum der Tragödie. Tzetzes, von dem wir es
jetzt wissen da.ss er die Quelle des Coislin. Tractats, und zwar durch Eukleides'
Scholien vermittelt, benützt hat. ist uns Zeuge dass die Parabase in der ur-
sprünglichen Fassung des Tractats eingehender behandelt war. Wir sehen uns
nach sonstigen Zeugnissen um. In der Abhandlung des Platonios findet sich als
Anmerkung oder besser als Einschiebsel eine Beschreibung der Parabase, die
folgendennassen lautet :
TtOCQdßttGig ÖE £6X1 XO XOiOVXO ' [lEZtt XO XOVg VTtOXQLXag XOV 7tQCOXOV {lEQOVg TtXtj-
QC3d-£vxog U7ib xijg öxrjvfjg dvaxa>Q7j6aL , cjg av ku?) rö ftEaxoov dgybv r\i (so der
Esten sis) xa\ 6 ör^iog dgybg xa^E^xat , 6 %ogbg ovx £%cov ngbg xovg vTtoxgtxäg
diaXavEöd-at ccTtoöxgocpov etioieixo Ttgbg xbv dfjuov ' xaxcc ds xi)v dnoöxgocpov exeivy^v
oi Tfoirjxccl dcä xov %ogov r] vtceq eccvxgjv ditEXoyovvxo r\ tieoI örjuoöicov Ttgay^idxcov
Ei6r,yovvxo. r\ 8e Ttagdßaötg sitXrjgovxo dcä fiEXvdgtov xal xouuaxiov xal öxgocpfjg
xal dvxio'xQOcpov xal E7tiQQr](iccxog xal dvxETaggrjaaxog xal ävaTtaiöxav.
Es wird nicht viel ausmachen, dass die Anapäste am Ende stehen ,* schlim-
1) In derselben Reihenfolge zählt auch Horaz die Dichtungsarteu auf (AP 73), und es ist
hier besonders deutlich, wie er die Dürre der literarhistorischen Vorlage durch gesteigerte Kunst
des Ausdrucks zu verdecken strebt.
Li
62 GEORG KAIIiEL,
mer ist oder scheint vielmehr, dass fisXvdgiov und xo^iidxtov als zwei verschie-
dene Theile gezählt werden, da doch offenbar ^eXvdgiov nur ein wolberechtigter
Nebenname des xo^dxtov ist, für den Fall nämlich dass dieses lyrische Form
hatte. Der Fehler aber ist nicht etwa von Platonios begangen worden, sondern
ist Jahrhunderte älter. Der einzige der das Wort [leXvdgiov ausserdem braucht
ist Pollux IV 111, dessen Parabasenbeschreibung auch sonst der des Platonios
nahe steht : xav de %ogixcav di6\idxcov xav xcoyLixCbv sv xi xal t) Ttagdßaöug , bxav
a 6 7tOLYjxr)g Ttgbg xb %-eaxgov ßovXexau Xeyeiv 6 %ogbg TtageXfrcov Xeyrji. xgayixbv
de ovx iöxLV — xrjg {levxoi nagaßdöecog eitxa dv sfy fiegr] ' xo^dxtov Ttagdßaöig
paxgov öxgocpv] eitCggii^a dvxi6xgocpog dvxeTCLggrj^ia' cov xb ^iev xo^dxiov xaxaßoXrj
(dvaßoXrj?) xig eöxl ßga%eog fieXovg, r) de Ttagdßaötg cjg xb tcoXv pev ev dvaitaiGxcoi
{ie'xqcoi, et <5' ovv xccl ev aXXcou , dvditaiöxa xr)v eitLxXrjv e%ei. xb de ovoua^ö-
{i ev ov paxgbv eitl x i]i naga ßd 6 eo ßga%i) ^ieXvd g löv eöxuv dnv evöxl
äud 6{i evov. xrjt de 6xgoyi)L ev xdyXobg 7tgoai6Q-eL6r\i xb eniggruia ev xexga^iexgocg
eizdyexai,, xal xijg dvxiöxgöcpov x^l öxgocpfji dvxcaö&eLörig xb dvxeTtiggr^ia xeXevxalov
ov rfjg Ttagaßdöeobg eöxi xexgduexga ovx eXdxxo) xbv dgid-^ibv xov einggri^axog. Es
ist natürlich ein Unding, dass jemals das {laxgov, das nicht gesungen wurde, ein
^eXvdgtov genannt . worden wäre. Pollux' Erklärung des fiaxgov ist identisch
mit. der des xo^dxiov , so zu sagen eine Dittographie , nur dass das eine ein
ßga^v peXog, d;is andere ein ßga%v (isXvöolov heisst. Dafür fehlt beim paxgov
etwas wesentliches, der Nebenname Ttvtyog, durch, den allein der Zusatz djtvevöxl
didopevov gerechtfertigt wäre. Das ist wiederum keine Nachlässigkeit des Pollux,
sondern ein Fehler seiner Vorlage, derselben die auch bei Hephaistion p. 135, 11
benützt ist. Was dieser sagt diä xb dnvevGxl Xtye<5%ai edöxei eivai {laxgöxegov,
stellt die Sache auf den Kopf: das ditvevQxX Xeyeöftai ist Erklärung des Aus-
drucks Ttvtyog, und der fehlt bei Hephaistion wie bei Pollux. Platonios nun
übergeht das {laxgöv oder Ttvtyog gänzlich : er las in seiner Quelle richtig xb uev
tiqCdtov xo[iiidxiov xccl peXvdgiov oder dgl., fand alsdann dass das ^laxgov in der
Quelle ganz ebenso erklärt wurde wie das xo^dxiov^ und hielt es für über-
iiüssig dasselbe Ding, wie er meinte, zweimal aufzuzählen. Die Siebenzahl er-
reichte er dadurch dass er xoa^idxiov und peXvdgiov als zwei verschiedene Theile
ansetzte. Platonios steht aber dadurch, dass er die beiden Ausdrücke neben-
einander hat, seiner Quelle näher als Pollux, bei dem sie ganz getrennt er-
scheinen. Mit Hephaistion ist Pollux noch durch weitere Verwandtschaft ver-
bunden. Zunächst wird bei beiden das Parabasencapitel ganz ähnlich eingeleitet:
Hephaistion Pollux
eöxi de xig ev xaig xco^ioidiaig xal r) xCbv de %ogixcbv dtö^dxcov xCbv xcoyaKav
xcXovaevi] Ttugdßaöig ev xi xal r) Ttagdßaöcg,
und das ist genau die Form , in welcher die ursprüngliche Fassung des Cois-
1 i n. Tractats, wo den Idia ttjq xgaycotdiag (e^eXeia , xö^i^og) die Idia xrjg xcj^lcol-
dtag entgegengestellt wurden , beginnen musste. Sodann aber weist ein nach-
lässiger Ausdruck des Pollux auf die gemeinsame Quelle: xrjg Ttagaßdöecog enxa
DIE PROLEGOMEN A IIEPI KaMfLUIAlE 63
av ely] iiEQr}' xoptiaxiov 7taQdßcc6ig {iccxqöv xxl. Allerdings war für das Haupt-
stück, die Anapäste, der Gesammtname TtaQaßaöig üblich geworden, aber wer
die Theile eines (Tanzen aufzählt, darf nicht einen Theil mit dem Namen des
Ganzen benennen, ohne es zu rechtfertigen. Die Quelle hatte offenbar was He-
phaistion hat: devxegov de f) b^icovv^Lcog xcbt, yevei xalov^ievr] TcagaßaäLg1). Der-
selbe Ausdruck nun kehrt bei Tzetzes überall da wieder wo er eingestandener-
massen seinen Gewährsmännern Eukleides, Krates und Dionysios folgt (Pb und
Ma, vgl. Iamb. n. xcop. 42). Seine Ueberlieferung ist in einer Beziehung besser
als die bei Pollux, Hephaistion und Platonios , insofern sie den Doppelnamen
paxQov xal itviyog bewahrt (wenigstens in Ma und in den Iamben2). Dass
Tzetzes das Parabasencapitel ebenso einleitete wie Pollux und Hephaistion, wurde
schon erwähnt: er begann mit der Bemerkung, dass die Parabase ein Idvov der
Komödie sei. Man sieht auf wie alte und wie gute Ueberlieferung Tzetzes'
Quelle zurückweist, wenn sie auch im Laufe der Jahrhunderte beträchtliche
Trübungen erfahren hat: die Erklärung der Parabase als solcher war so arg
verwirrt auf Tzetzes gekommen, dass er selbst darüber klagen durfte (s. o. S. 9).
Bevor ich die Summe ziehe, muss ich noch den ersten Paragraphen des
Coislin. Tractats einer Prüfung unterwerfen, die hoffentlich ein glaubhaftes Re-
sultat ergiebt. Der Tractat beginnt mit folgendem Schema:
tfjg Ttoirjösag
jj [iev d^L^rjtog rj de /ufiifri}4)
iGxoqlxyj 7iai8evxixr\ xb (iev xb de ÖQa^iaxi,xbv
ccTtayyelxtxov 5) xal %gaxxix6v
vyy\yr\xixv\ fi-ecoQrjXLxrj 3) xco{L(ül- xgay- ju- 6a-
öta cotöCa {iovg xvgovg.
Wer dies mit der Hoffnung liest Spuren einer Aristotelischen Systematik
zu finden, kann sich wol zu so harten Aeusserungen hinreissen lassen wie Ber-
nays sie gethan (S. 140). Die Neigung aber eine verlorene Schrift des Aristo-
teles aus dem Tractat wenigstens theilweis zu reconstruiren wird uns vergangen
sein. Das Schema ist im übrigen lehrreich genug. Die mimetische Poesie zer-
fällt in zwei Klassen, die erzählende (dirjyrjfiaxixrj oder a7tayyeXxixr\) und in die
dramatische [%Qaxxixr\ , activä). Während die letztere vier Unterabtheilungen
1) Danach ist Schol. Arist. Nub. 518 zu ergänzen rcagaßucig o^icovv^ag <rm yivsi kccXov-
(ih>r]>, um so mehr da es vorher heisst si'dri 7iccQccßc:68o)g tma.
2) Den Fehler in Ma und in den Iamben, wo /.war sieben Parabaseutheile angemeldet, aber
nur sechs genannt werden, habe ich schon früher erwähnt (S. 9 A. 1).
3) Die vqprjyTjrtxTj und ^fcoprjTix?}' sind in der Handschrift fälschlich unter i6roQiv.ri geordnet ;
Bergk hat den Fehler erkannt.
4) Doch wol fUju-rjTtxT; ?
5) tnuyytXTLyiov die Hdschr., verbessert von Bergk. li
64 GEORG KAI BEL,
aufzuweisen bat, bleibt die erstere ungetbeilt: welche Theile Hessen sich auch
denken? Das Lehrgedicht, die paraenetische Elegie, das genealogische Epos
haben wir früher schon als ganz nichtige Ausreden bedrängter Systematik er-
kannt (S. 29 f.). Aber was wir vermissen, sind Elegie, Lyrik und Iambos. Sie
können weder zum Drama noch, zur erzählenden (-J-attung gerechnet werden:
offenbar ist eine dritte Klasse, das xoivov oder {iixtöv, durch Schuld des Ex-
cerptora ausgefallen. Im übrigen stimmt alles aufs beste mit dem Cramersehen
Scholiasten und Photios, d. h. also mit Proklos , nur dass hier die {ilpot fehlen,
die im Tractat, die untrennbare Einheit von Tagödie, Komödie und Satyrdrama
störend, sich als späteren Eindringling erweisen. Nun aber die afu'fi^rog rcoti?-
6ig. Die iötOQixrj und die naidevTixr\ entsprechen deutlich zweien von den drei
Unterarten der erzählenden Gattung bei Diomedes (p. 482), der iötoqixtj und
didaöxcclixri, während seine dritte Unterart , die ayyeltixri (er meinte nagayysX-
%Cxr\) hier als v(prjyr}ttxrj und d'SCOQrjtLX^ erscheinen. Aber, wie früher bemerkt,
die Cgtoqlxyj kann mit keinem Schein des Rechts als genealogisches Epos specia-
lisirt, die Theognideische Elegie nicht von anderen zum ydvog xoivov gerechneten
Elegien getrennt werden, allenfalls durfte das Lehrgedicht des Empedokles oder
Arat als etwas besonderes gelten — Aristoteles hatte diese Leute ja aus der
Reihe der Dichter verbannt. Wir sahen, dass in der Schemati sirung bei Dio-
medes die drei Unterarten des genus narrativuni eine üble Zuthat waren: der
Coislinianische Tractat giebt uns Aufklärung über die Herkunft der Zuthat.
Hier wird eine a^i^irjtog itovipig abgesondert. Ihre erste Gattung ist die 16x0-
Qixrj, das kann doch nur entweder Erzählung sein oder Forschung. Nehmen wir
letzteres an, so wissen wir mit einer der Unterarten der zweiten Gattung, der
deaQijtixij, nichts anzufangen. Das Gedicht des Empedokles ist doch sicher ein
d-saQrjTLXÖv und zugleich im Sinne der Forschung ein iötoqlxöv. Also bleibt nur
übrig die Erzählung zu verstehen. Wer aber die Erzählung zur a^ii^rog %oir\6ig
rechnet, während er das ScTtayysXxixov zur {iLtirjnxri zählt, kaum überhaupt keine
Poesiegattung meinen. Vielmehr ist noir\6ig allgemeiner zu fassen als Schrift-
stellerei , wie Dionys (ep. ad Pomp. p. 59, 4 Us.) die Bücher des Herodot und
Thukydides Ttonjöstg nennt , freilich nicht ohne sich zu entschuldigen. Was für
ein anderes Wort sollte der Grieche auch sonst wählen, um Poesie und Prosa
zusammenzufassen: GvyyQan^ara würde der Bibliothekar sagen, aber niemand
kann in dem geforderten Sinne von övyyQaupata üni[ir}tcc oder von einer övyyoa-
cpixi] öiä iiiiirjösag reden. Die Prosa also ist gemeint, und ihre vornehmste Art,
die Geschichtschreibung steht voran ; daneben die Lehrprosa (itaidsvzixYi) , die
in die beiden Unterarten der anleitenden, methodologischen (vyriyriTixif) und rein
wissenschaftliehen (^ECDQrjTLXTJ) zerfällt. Die Gewähr für die Richtigkeit der Er-
klärung giebt die Analogie der Platonischen Dialoge , die man frühzeitig in
vcpr]yrizixoi und %r\x"i]%ixoi getheilt hat (Diog. L. III 49. Albinus Isag. c. 3). Die
Prosa ist damit völlig erschöpft, Novellen und Romane gehören natürlich zur
Poesie im engeren Sinne, so gut wie Sophrons Mimen und die Sokratischen Dia-
loge . auch ohne dass sie besonders unter der dramatischen Rubrik aufgeführt
DIE PROLEGOMEN A TIEPI K£IM£LIJIA2 65
zu werden brauchen. Die rednerische Litteratur würde allenfalls eine besondre
Art bilden , ein ^lxtöv, denn sie erzählt und belehrt. Dies Schema ist demnach
weit mehr Aristotelisch als es scheint: in diesem Sinne konnte auch Aristoteles
von einer itoi^ig afiLfirjtog reden , ob er es gethan hat , ist eine andere Frage.
Die nichtsnutzigen Unterarten aber der erzählenden Poesie bei Diomedes sind
Kukukseier, der Kukuk war ein richtiger Systematiker, der eine Gattung ohne
Arten und Unterarten nicht dulden konnte. Sie sind nicht für die poetische Lit-
teratur geschaffen : wer sie aber einmal, verführt durch den allgemeinen Ausdruck
TtoiYjGig, dahin verpflanzte, fand bei einigem Bemühen auch etliche Dichtungs-
arten , die scheinbar dahin gestellt werden durften. Ein auf diese Weise ent-
stelltes Schema war die Quelle des Diomedes.
Es hat sich ergeben, dass der Coisiiniansche Tractat aus einer ausführlichen
vergleichenden Darstellung der beiden Dramengattungen durch die Schuld eines
Epitomators unverständigster Art in seine jetzige Form zusammengeschmolzen
ist. Das verlorene Original dürfen wir eine Poetik der Tragödie und Komödie
nennen, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass uns nur zufällig das allein vorliegt
was Tragödie und Komödie betrifft, während das Original vielleicht eine Poetik
überhaupt war. Das an die Spitze gestellte Schema könnte dafür sprechen. Zur
Herstellung des Originals, soweit das möglich war, Hessen sich ausser den älte-
sten Zeugen Pollux und Hephaistion vor allem die Litteraturcompendien bei
Diomedes und Euanthius verwenden , sodann aber auch die von Tzetzes ausge-
schriebenen Dionysscholien. Da die letzteren nicht nur in der Fassung der Lon-
doner Handschrift sondern insgesammt, soweit sie litterarhistorischen Inhalts
sind, mit Wahrscheinlichkeit auf Proklos zurückgeführt werden konnten, so folgt
dass Proklos die Poetik benützt hat , dass also vieles von dem was in seinen
wichtigen Einleitungscapiteln über Begriff, Wesen und Technik der Poesie zu
lesen war, aus jener Poetik stammte. Es mag dafür auf eine früher schon er-
wähnte Thatsache hier mit verstärktem Nachdruck hingewiesen werden. Der
Verfasser des Tractats oder vielmehr der Poetik sagt (§ 1) von der Tragödie,
dass sie eine Reinigung von den (poßeQa %a^Y\^axa tfjg ipv%rjg bewirke dt? ol'xrov
xal dsovg, und meint damit natürlich nichts andres als dt sXiov xal cpoßov. Das
gleiche Bestreben , den Aristotelischen Ausdruck zu variiren , zeigt sich in deu
Cramerschen Dionysscholien, wo die Poesie definirt wurde als eine svzsXrjg vnö-
&£6ig sxovöu ctQ%ag xal piöa xal 7t£Qata. Hier schwebt offenbar die Aristote-
lische Tragödiendefinition vor (Poet. c. 7). Statt Ttgä^tg musste freilich, da es sich
um die Poesie überhaupt handelte, das allgemeinere vitodsöig eingesetzt werden,
aber auch unnöthiger Weise, ohne die Absicht einer inhaltlichen Modifikation ist
geändert worden, evTsXrfg steht für tsXeia , und vor allem statt ocqxtjv xal [isöov
xal TEAevrrjv, wie Aristoteles gesagt hat, ist das völlig gleichbedeutende ägxäg
xal iiE6a xal Ttegara eingesetzt. Ich denke doch, das sind Spuren eines und des-
selben Menschen, der absichtlich variirt, um wenigstens im sprachlichen Ausdruck
seine Selbständigkeit zu wahren. Erwägt man ferner, dass in den Cramerschen
Scholien die Poesie überhaupt definirt wird , so bestätigt das die Vermuthung,
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 4. 9
66 GEORG KAIBEL,
dass das Original des Tractats eine Gesammtpoetik war, nicht nur eine drama-
tische, und erwägt man endlich, dass die Definition in den Scholien beginnt itoiv\6ig
de xv q tag r\ öiä pttQ&v ivtskiig vitodeöig so bestätigt das die Annahme, dass
im Tractat die %oiv\6ig im engeren, eigentlichen Sinne einer icoCr\6ig im weiteren
Sinne, d.h. einer kunstmässigen (nenoirnLivri) Prosa gegenübergestellt war. Das
schliesst alles so eng und gut zusammen, dass mir wenigstens kein Zweifel bleibt:
die Poetik, das Original des Coislin. Tractats, ist von Proklos sogut benützt
wie vor Proklos von den Gewährsmännern des Pollux, des Diomedes, des Euan-
thius.
Aber natürlich war sie nicht des Proklos einzige Quelle über Poetik. Ein
Werk das sich XQrjöTOfiddsLa nannte versprach nicht eine einheitliche Lehre vor-
zutragen, es versprach vielmehr eine Fülle von wissenschaftlichem Material zur
Bildung und Belehrung des Lesers. Wir sahen, dass Proklos verschiedene Ety-
mologien, abweichende Ansichten , unvereinbare Traditionen neben einander ver-
zeichnete, selten wol so (wie bei den 0xohd), dass er zum Schluss sein eigenes
Urtheil beifügte. Solche Bücher entstehen zu allen Zeiten wo die wissenschaft-
liche Forschung zum Stehen kommt, wo sie oder wichtige Zweige von ihr aus-
zusterben drohen. Proklos hatte noch philologische Bildung geniessen können,
aber er erkannte wol, dass das Interesse für Literaturgeschichte im Schwinden
war : Philosophie und Grammatik im engeren Sinne drohten die Philologie zu
verdrängen. Da gedachte er zu retten was zu retten war und schrieb nach gu-
ten alten Quellen zusammen was er für jeden Gebildeten als unentbehrlich an-
sah, nicht als kritischer Forscher — das hätte ihm niemand gedankt — sondern
als Sammler. Bequem musste er es seinen Zeitgenossen machen: wenn sie auch
selbst nicht mehr lasen als die üblichen Schuldichter, so sollten sie doch wenig-
stens wissen was die übrigen Dichter geschrieben hatten; kurze Inhaltsübersich-
ten sollten die meist schon verlorenen Originale einigermassen ersetzen. Wenn
die Zeit auch kein Verständniss mehr für Poesie hatte , so sollte sie doch die
alten Regeln der Poetik nicht verlieren und nicht vergessen wie viel die alten
Grammatiker für die Sammlung, Erklärung und richtige Schätzung der hellenischen
Dichtung gethan hatten. Die aegyptischen Verskünstler jener Zeit waren vielleicht
durch die philologischen Anregungen der Alexandrinischen Schule, des Proklos und
seiner Lehrer auf ihre Wege gebracht worden. Also eine Sammlung wichtiger und
wissenswerther Thatsachen zur Geschichte der griechischen Poesie enthielt die Chre-
stomathie des Proklos, und unter diesem Titel war Raum für viele Urtheile und
Ueberlieferungen. Diomedes beginnt seine Capitel über Tragödie und Komödie
mit den Theophrastischen Definitionen , während er an Stilgattungen nicht drei
sondern vier aufzählt, also hier einem andren Gewährsmann als Theophrast folgt.
In den Cramerschen Scholien, also bei Proklos, finden wir peripatetische Anschau-
ungen über die Bedeutung der Poesie neben stoischen verzeichnet, wiederum bei
Diomedes finden wir eine altperipatetische Auftheilung der gesammten poetischen
Litteratur, aber der einen Gattung sind drei Unterarten thöricht hinzuconstruirt.
Eine einheitliche Urquelle auch nur zu suchen wäre Thorheit. Wie oft ist itegl
DIE PROLEGOMEN A T1EPI K£lM£lIJIA2 67
%oiv\xiXY\g , nsgl Ttoirjt&v, xegl Xs^scog, tceql yga^arcxflg^ nsgl x(ü[i(oidiag xul tga-
ymdiag u. dgl. geschrieben worden : es musste doch ein jeder der Verfasser glau-
ben seinen Vorgänger überbieten zu können, indem er mehr oder besseres lehrte
oder doch wenigstens anderes. Wie oft mag ein ernsthafter Gedanke von einem
späteren wieder aufgegriffen und für ein oberflächliches Publicum trivialisirt
worden sein. Die beiden vielbesprochenen Dionysscholien, über Tragödie und
Komödie sind dafür lehrreich (p. 746 und 748 Bekk). Da heisst es von den
Tragikern, dass sie ftsiovreg (bysÄslv xoivi\i tovg tfjg nokecog , Xa^ßccvovtsg nvag
ccg%ccCag iöxogCag zebv rjgcocjv i%ov6ag ixa$Y\ rtva, iä& oxe xccl &ccvcctovg xccl
ftgrjvovg , 4v ftaatgai tavtec STtsösLrtvvvto toig bgcaöL xul ccxovovöiv , svdsixvv^isvoi
7iaga({vXdLTT£6ftaL rö cc^iagrccvacv. Das ist aus der Aristotelischen Katharsis
schliesslich geworden. Der Dichter ist zum 6co(pgovi6trjg gemeinster Art gewor-
den, von seiner tyvyaytüyia ist nicht mehr die Rede. Und ebenso werden die
Komiker als Leute gerühmt elEy%ovxeg tovg xccxcbg ßiovvtccg xccl tovg tuig ccdixicug
lalgovrag, ccvaörskkovtsg rag ccxccigovg xccl äöCxovg avxav nga^sig xccl dxpsXovvrsg
xoivr\i tijV noXiteiccv rav 'Jd-rjvatcov. Man kann nicht schiefer und seichter reden,
und doch sind die beiden völlig parallel gefassten Scholien ein werthvoller Nach-
klang alter gelehrter Forschung, die die beiden Dramengattungen aus gleicher
Veranlassung, ja aus einer gemeinsamen Wurzel entstehen und sich zu gleicher
Form entwickeln Hess, die auf diese Erkenntniss gestützt die Sprache der Ko-
mödie aus der der Tragödie ableitete, so gut wie den Prosastil aus der Dichter-
sprache. Durch welche Rinnsale all das, was die verschiedensten Männer zu den
verschiedensten Zeiten gedacht oder doch geschrieben haben, schliesslich zu-
sammengeflossen ist, werden wir in den meisten Fällen niemals erfahren: wir
müssen uns begnügen und können es auch.
Eine Poetik nun aber kann für historische Darstellung nicht viel Raum er-
übrigen, noch weniger für widersprechende Erörterungen über die Geschichte der
Tragödie und Komödie, über Erfinderrechte, über Dichternachlass u. a. Trotzdem
finden sich bei Diomedes wie bei Euanthius , insbesondre in den Dionysscholien
(Tzetzesj historische und systematische Elemente nebeneinander, und zwar beide
mit vielfacher Uebereinstimmung auch in unwesentlichen Dingen. Folglich wer-
den wir auf Bücher verwiesen , die ihrer Natur und Aufgabe nach beides ver-
einen konnten und mussten , auf literarhistorische Sammlungen oder auch Dar-
stellungen. Die Lateiner konnten nicht wie die Dionysscholiasten den Proklos
benützen ; also hatten sie ältere Bücher. Rathen lässt sich hier vieles , wissen
und beweisen nichts. Ob man die Quelle des Diomedes Probus nennt oder Sue-
ton, damit ist nicht das mindeste gewonnen. Probus ist für die griechische Li-
teraturgeschichte naturgemäss unselbständig : aber weder er noch Varro sind
Leute, die sich ein Buch von der Bibliothek holen , um es zu Hause abzuschrei-
ben oder ins Lateinische zu übersetzen. Ob zwischen Proklos oder Orion und
Didymos Mittelsmänner eingetreten sind, ist ebenfalls zunächst nicht zu sagen.
Es läge ja nahe den Dionysios, den Tzetzes neben Eukleides und Krates nennt,
als den Mann anzusehen, der von Proklos als Gewährsmann citirt in die Excerpte
9*
68 ' GEORGKAIBEL,
der Dionysscholiasten hinübergenommen und von da zu Tzetzes gelangt wäre.
Aber die Movölx^ iöxoqlcc des Dionys ist ein Buch mit dem ich nicht operiren
mag, da ich gesehen habe, auf wie schwanker Grundlage das auf seinen Namen
errichtete Ueberlieferungsgebäude beruht (s. Zusatz). Ich weiss weder wer der
Krates bei Tzetzes ist noch welchen von den vielen Dionysien er meint, von
Eukleides ist ebenfalls nichts mit voller Sicherheit zu sagen. Die direct von
Tzetzes genannten Gewährsmänner also hat diese Untersuchung ebensowenig
fixirt wie es Consbruch und anderen vor mir gelungen ist.
Zusatz.
Seit 35 Jahren gilt es als feststehende Thatsache, dass die Movtäixri fotogicc
des jüngeren Dionys von Halikarnass eine der hauptsächlichsten Quellen des
Hesych von Milet gewesen ist. Man glaubt sogar ein sicheres Zeugniss dafür
zu besitzen, in der Herodiauvita bei Suidas : 'HgaLÖiavog 'AlEt.avdoevg, yga(i(iari-
xog, vibg 'AitoXlavlov xov yQa^i^iaxLXov xov STUxXrjfrevxog dvöxolov. yeyovs xaxä
xbv Kuiöaga ''Avxcovivov xbv xccl Mäoxov ' ug vscjxsqov eivau xccl zfiovvöiov xov
xijv Mov6ixr\v löxogiccv ygdxljavxog xccl Oiloivog xov BvßXcov. eyQcctye tcoXXu. He-
sych, so sagt man (Schneider Callim. II 31 , und nach ihm Wachsmuth Kohde
Daub u. a.) , habe hierdurch Dionys und Philon als seine Hauptquellen ange-
geben und die Kürze der Herodiauvita damit entschuldigen wollen, dass Hero-
dian weil jünger nicht mehr in ihren Büchern vorgekommen sei. Aber ist denn
die Vita kürzer als die vieler anderer Grammatiker, die vor Hadrian gelebt
Laben ? es steht ja alles da was Suidas zu geben pflegt, Heimath, Beruf, Vaters-
name. Zeit und Werke; nur das Verzeichniss der vielen Schritten ist. wie das
ja oft geschehe!!, vom Epitomator fortgelassen: wer aber wusste, dass er nokld
geschrieben, konnte auch wenn er wollte angeben, was er geschrieben hatte.
Aber es mag sein: was hat aber Dionys mit Herodian zu thun? er hätte doch,
auch wenn Herodian Zeitgenosse des Nero gewesen wäre, in seiner Mov6ixv\
iöxoqicc keine Gelegenheit gehabt den Grammatiker zu biographiren. Oder meinte
Hesych eigentlich nur Philon. der ihn ja freilich als berühmten Alexandriner
wol genannt haben würde? warum , nannte er aber den Dionys mit? waren
Philon und Dionys eine unzertrennliche Einheit, hatte Hesych eine Quelle, in
der beide zusammengearbeitet waren ? aber wie konnte jemand auf den Gedanken
kommen zwei Schriftsteller zu verbinden , die sich in den wichtigsten Dingen
decken mussten? bei weitem die meisten Berühmtheiten, die Dionys aufführte,
standen unter dem Namen ihrer Heimath auch bei Philon; die wenigen, deren
Heimath unbekannt war, die also wol bei Dionys aber nicht bei Philon vor-
h
DIE PRÖLEGOMENA IJEPI KilM£lIJJA2 69
kommen konnten , zählen nicht. Und wie kam das Buch des Unbekannten zu
seinem Doppelnamen, warum verschwieg der Verfasser seinen Namen? und wo-
her hatte er denn überhaupt Kenntniss von Herodian ? er konnte die Vita mit
ihren ausreichenden Details doch nur einfügen, wenn er fortsetzen wollte, und
wollte er das, so musste er Quellen dafür haben, und diese Quellen machten
eine solche 'Entschuldigung' überflüssig. Also fordert der sonderbare Zusatz bei
Hesych eine andere Erklärung , und folgendes lässt sich denken. Hesych hatte
seinen ^Ovo^iatoloyog oder seinen Iliva% t&v iv naideiai dvonaör&v nicht in
alphabetischer Folge angelegt, sondern hatte zunächst sachliche Gruppen geson-
dert (Dichter , Philosophen , Historiker , Grammatiker u. s. w.) , innerhalb der
Gruppen aber die Namen chronologisch geordnet (vgl. Daub Fleckeis. Jahrb.
Suppl. Bd. XI 404 f. Wentzel Texte u. Untersuchungen hg. von Harnack und
Gebhardt XIII 8 S. 57 ff.). Hesych mochte für die Grammatiker eine Quelle
haben, die mit den beiden Zeitgenossen Dionys und Philon abschloss, dann trat
eine neue Quelle ein, die mit Apollonios und Herodian etwa begann; diesen
Quellenwechsel konnte er einleiten mit den Worten 'soweit reichte das bisher
benützte Buch, nämlich bis Dionys und Philon ; die jüngeren entnehme ich einem
anderen Gewährsmann' oder dgl. Er konnte aber auch die Geschichte der Gram-
matik in Perioden getheilt und mit Apollonios und Herodian (Vater und Sohn
erscheinen auch sonst eng verbunden, vgl. Osann Philem. p. 306) ganz rationell
eine neue Periode begonnen haben. Aber auf die Richtigkeit dieser Erklärungen
kommt zunächst nichts an: nur dass die Schneidersche falsch ist, muss noth-
wendig zugegeben werden.
Aber was konnte denn etwa Hesych aus Dionys' Movöixij lötoqlcc ent-
nehmen? Er selbst sagt nur, dass es 36 Bücher gewesen seien: iv de tovroig
avlr\x^v xccl xid-aQmdav xccl itoir\xfov Ttccvtoicov ^e^vrjtai. Dionys war und
hiess {lovGixög im engsten Sinne , seine übrigen Schriften bestätigen das , 24
Bücher 1Pv&hlxcjv vito^vYi^idrav , 22 Bücher Movöixrjg ncudeCag r\ dicctQißCjv , 5
Bücher über das Thema TCva [lovöixiog eigrixai iv x^l llkcctavog UoXizdai.
Geschichte der Musik und Poesie waren bei den Griechen engbenachbarte
Gebiete , aber doch nur soweit bei der Poesie die Musik in Betracht kam ;
die navToloi noir\rai, die Hesychs Epitomator allzu kurz neben den Auleten und
Kitharoden nennt, waren gewiss lyrische Dichter. Aber trotzdem deutet man
die Movöixrj iözoqiu in so weitem Sinne , dass sie selbst Epiker umfasst haben
soll. Auch hier geht die grundlegende Combination von Sehneider aus : er findet,
dass die von Sopater excerpirte Mov6ixr\ loxoQia des Rufus , nach dem Referat
bei Photios Cod. 161 , dem Titel und Inhalt nach die grosste Aehnlichkeit mit
dem gleichnamigen Buch des Dionys gehabt haben müsse und hält es für un-
zweifelhaft, dass der sonst unbekannte Rufus den Dionys epitomirt habe: was
also bei Rufus stand, das habe noth wendig auch bei Dionys gestanden. Aber
Photios Angaben selbst zeigen, dass die Selbständigkeit des Rufus unterschätzt
wird. Aus dem ersten, zweiten und dritten Buch der Movötx)) i<5toqi<x des Rufus
hat Sopater das 5. Buch seiner 'Exkoyai zusammengetragen : iv col tQayixCzv re
13*
70 GEORG KAIBEL, DIE PROLEGOMENA TIEPI KflMfLUIAS
x<xl xcj^ixcjv 7t o ix i Xrjv 1 6 t o q Cav syptfösig, sagt Photios, ov pövov ds dXXä xal
ÖLd-VQcctißoTtOLcbv ts xccl avXrjtöbv xal xt&aQcoidcov , sjci^aXa^Ccav ts aidtibv xal vps-
icticav xal v7toQ%ruiaxG)v d(p7]yr}6iv , itsgi ts 6Q%r\6t(bv xal täv ccXXcjv ta>v sv tolg
'iJlXrjVLxolg dsdtQOig aycovi£o[idvG)v , dazu war zu lesen, wie diese Leute, Männer
oder Weiber, zu Ansehen gekommen sind, was die einzelnen zuerst erfunden und
betrieben, in welchen persönlichen Verhältnissen sie zu Königen oder Tyrannen
gestanden haben, ferner bei welchen Festen sie aufgetreten sind, welchen Ur-
sprung diese Feste hatten, speciell die sogtal 7tdvör}[ioi, in Athen. Das alles be-
trifft also nicht die Dichter schlechthin, sondern nur soweit sie öffentlich aufge-
treten sind: für die alten Elegiker, wie Theognis u. a., für die subjective Lyrik
der Sappho, des Alkaios war hier kein Raum. Es ist in der That Movölxyj
Lötogta, in weiterem Sinne zwar, aber doch in engerem als Schneider wollte ; es
ist aber eine %oixiXr[ lötoQia, wie die des Aelian , des Favorinus , wie die Atti-
schen Nächte des Gellius. Im vierten und fünften Buch gab Rufus avXrjt&v ts
(Männer und Weiber) xal avXrj^idtcov dcpijyrjöLv , er erzählte von Homer , Hesiod
Antimachos und von vielen anderen Dichtern tav elg tovto rö ysvog drayopsvcov.
Gemeint sind Epiker, und ihnen schliessen sich die weiblichen Vertreter hexa-
metrischer Poesie passend an, die Sibyllen , tivsg ts xal ödsv. Das vierte Buch
war demnach ganz Musikgeschichte , das fünfte hatte damit nichts zu thun.
Ausserdem hat Sopatros noch das achte Buch des Rufus ausgezogen , das den
Specialtitel ztga^iatixi} CötoQia trug: da waren, sagt Photios, zu finden itagado^d
ts xal d%L$ava \1dX16ta , xal tgaycoiöSiv xal xcj^KOid&v diacpogoi Ttga^sig xs xal
Xoyoi xal S7Utrjdsv[iata xal toiavtf stsga, also Schauspieler- und Sängeranecdoten,
wie die des Stratonikos bei Athenaeus und ähnliches. Wenn das alles ein Ex-
cerpt aus Dionys sein soll, so steigt unsere Achtung vor dem povöixog nicht
gerade hoch, aber, was wichtiger ist , dann konnte Hesych sich keine unpassen-
dere Quelle aussuchen, keine, deren Benützung ihm mehr Mühe zu verursachen
drohte. Wenn aber, wie ich meine, Rufus zwar die MovGixij ititogCa des Dio-
nys zur Hilfe nahm (daher das Citat (Povcpog xal Aiovvöiog in den Scholien zu
Aristid. III 537 Di) , um seine Anecdotensammlung zu bereichern , aber aus an-
deren Quellen ausserdem was ihm gut schien zusammenholte, dann giebt das
Werk des Rufus kein Bild mehr von dem des Dionys, das sich allem Anschein
und aller Ueberlieferung nach mit Musik und Musikern befasste. Diese rein
negativen Bemerkungen hielt ich für nothwendig : zu ihrer Empfehlung füge ich
hinzu, dass G. Wentzel, dem ich sie vorlegte, mir mittheilte, er sei bei seinen
Suidasuntersuchungen zu gleichen oder ähnlichen Resultaten, jedesfalls zur Ab-
lehnung der Schneiderschen Combinatiopen gekommen. Ich würde demnach diesen
unerfreulichen Zusatz unterdrückt haben , wenn ich nicht wüsste , dass bis zur
Veröffentlichung von Wentzels Untersuchungen, die zweifellos positiverer Art
sein werden, noch manches Jahr verstreichen wird.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH - HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 5.
Die einstämmigen männlichen Personennamen
des Griechischen,
die aus Spitznamen hervorgegangen sind.
Von
Fritz Bechtel,
auswärtigem Mitgliede.
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1898.
Die einstämmigen männlichen Personennamen
des Griechischen,
die aus Spitznamen hervorgegangen sind.
Von
Fritz Bechtel,
auswärtigem Mitgliede.
Vorgelegt in der Sitzung am 11. December 1897.
Der Komiker Anaxandrides hat sein Publicum mit den Worten apostrophiert:
'T^istg yaQ dXXrjkovg asl iksvdt.ez ', oid1 dxQißag'
"j4v [iev yäg fji reg £V7tQS7irjg, leqov ydpov xccXeixs'
iäv ös iiixqov Ttavrekög <xv&qg)1UOV, 6xdXay^iov '
layLTtQog xig ih,ElrjXv& , [«,t>'9"ug] okokvg ovxog iöxi'
5 XiTiaQbg itegntazsl Z/rj^oxXrjg, ^co^ibg xaxcov6\x,a<5xai'
%aiQ£i xig av%tiG)v rj qvtcojv, xoviogxbg ävccTtEcprjvsv '
Q7W5&EV axoXov&ei xöXat, xm, Xs^ißog iitixixlr{xai'
rä 7ioÄV adsiTtvog TtEQmaxEZ, xEöxQtvög iöxv vr\6xvg'
slg xovg xaXovg ff dv xig ßkt7tr\i^ ^xaivbg fteaxQoiioiog'
10 vcpecXex' ccqvcc jtOLtievog itai^ov, 'Axgsvg ExXrjd-rj '
iäv öe xqlov, <&QL%og, dv öe xcoödgiov, 'Idöcov
(Meineke 3. 177). Diese Iamben zeugen von der nämlichen Virtuosität in lu-
stigem Tadel und Spott, wie die Namen, deren Betrachtung die Aufgabe der
vorliegenden Abhandlung sein soll.
Ich glaube zeigen zu können, dass eine grosse Anzahl griechischer Männer-
namen aus einstämmigen Spitznamen hervorgegangen ist.
Der Spitzname ist seinem Herkommen nach ein Beiname , der durch ein im
körperlichen, geistigen oder gesellschaftlichen Leben des Einzelnen hervortre-
tendes abnormes Moment veranlasst wird l). Er tritt zunächst neben den bürger-
1) Ueber Spitznamen hat Grasberger in der Schrift Die griechischen Stichnamen (Zweite
Auflage 1883) gesprochen; einen Nachtrag dazu enthalten die Studien zu den griechischen Orts-
namen (1888).
1* 5
FRITZ BECHTEL,
liehen Namen, dessen Träger er ans der Schaar seiner Namensgenossen heraus-
hebt. Aber dieses Herausheben kann mit solcher Energie geschehen, dass der
bürgerliche Name darüber zu kurz kommt und der Spitzname allmählich an die
Stelle des bürgerlichen rückt. In einzelnen Fällen setzt der Spitzname eine aus
der Kinderstube stammende Bezeichnung fort. So verdankte Demosthenes , wie
man aus Aischines 1. 126 ersieht, die sitavvuia Bdxxalog seiner xfad-rj, in deren
Mund sie ein vitoxogiöyLa gewesen war. Ich verweise auch auf WSchulzes schone
Ausführung über die Anrede xvXXojiodiov , mit der sich Hera & 331 an ihren
Sohn Hephaistos wendet (Quaest. epic. 308).
Der Beweis dafür, dass ein Name aus einem Spitznamen hervorgegangen
ist, liegt zunächst in seiner Bedeutung. Es hat nie zu den Idealen des Hellenen
gehört mit einem dicken Bauche durch das Leben zu wandern. Eben darum ist
es unmöglich, dass der Name Ovöxcov, der uns schon im 6. Jahrhundert in Ko-
rinth begegnet, seinem Ursprünge nach etwas andres sei als ein Spitzname.
Der, der ihn zuerst getragen hat, hat ihn nicht an der dsxdxri empfangen. iVber
der Kampf, der sich zwischen Ernstnamen und Spitznamen entspann, kann zu
Gunsten des Eindringlings schon zu der Zeit entschieden gewesen sein , wo der
Träger seinen Namen m die Bürgerliste eintrug.
Der ursprüngliche Charakter eines Nam'ens offenbart sich aber oft auch
darin, dass er in der Function, die man ihm seiner Bedeutung nach zuschreiben
würde, wirklich gefunden wird. Um bei Ovöxav zu bleiben: der siebente Pto-
lemaier führt den Beinamen 6 <&v6xa)v. Oder es handle sich um Erklärung der
Namen Ka&cov und Mdöxog , die ursprünglich keine Ernstnamen sein können.
Sie ist gefunden, sobald man bei Atkenaios liest, warum der Athener Diotimos den
Beinamen Xcovr} empfangen hat : ivxid-msvog yccQ xcbi öxo^axL xd}vr\v aTtuvörcog BTttvEv
BTtL%so^ievov ol'vov o&ev xai Xcjvtj ETtexXrjd'rj, 63g (prjöt, IIole^KDV (Athen, p. 436 e).
Der sicherste Beweis für die Herkunft eines das Zeichen des Spitznamens
an der Stirne tragenden Namens würde der Umstand sein, dass neben ihm noch
ein zweiter überliefert wäre, der als der von ihm verdrängte betrachtet werden
könnte. Bei einer Anzahl Hetäreunamen kann dieser Beweis wirklich geführt
werden. Man lasse sich etwa, um Bekanntres zu übergehn , von Machon (bei
Athen, p. 578 b — d) erzählen, wie der Name Milixxa allmählich hinter den Spitz-
namen MavCct zurückgetreten ist. Als Beispiel für die Ersetzung des Geburts-
namens durch die Bitixlr^ig beim freien Manne pflegt man die Metonomasie des
Piaton geltend zu machen. Mir will aber scheinen , dass diese Geschichte nicht
die Ehre verdient hätte von Philologen wie Meineke (1. 288) und Müllenhoff
(Zur Runenlehre 53) geglaubt zu werben.
Die Nachricht steht bei Diogenes Laertius (3. 5). Piatons Lehrer im yv-
(ivccölov, heisst es, sei '/Iqlöxcov o'AQysiog Ttalcaöxtjg gewesen; ä(p ov xai Ukdxcov
diä xr\v evs&av ^sxcovo^idöd-rj , ngoxegov ^QiöxoxXfjg dich xov Ttannov xccXov{ievoq,
xcc&d (pri6iv 'AkelavÖQog iv <dLado%aig. Nach Andren (svlov) sei er diä xr\v jtlaxvxrjxcc
x)]g egfirivEiccg so genannt worden; nach Neanthes aber, oxi nXaxvg r\v xb [ie'xg)71ov.
Was die evlol wissen wollen, braucht nicht ernsthaft genommen zu werden.
OREECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 5
Von den beiden andren Varianten der Nachricht enthält keiner eine sprachlich
unmögliche Voraussetzung; nichts desto weniger fehlt mir zu der Botschaft
auch in diesen Formen der Glaube. Er fehlt mir darum, weil eine ganz ähn-
liche Nachricht über eine Umnennung des Theophrast verbreitet gewesen ist, in
der deutlich ein Anekdotenschwabe sein Wesen treibt. Ausführlich trägt sie
Strabon p. 618 vor: Tvaxa[iog ö' exccXeixo e^iiqo6%'ev ö ®e 6(pocc6xog , [itTGJVouaGS
d' ccvxbv 'Aoi6xox£fo]g &s6(pocc6xov , apa fiev cpsvyav xrjv xov tiqoxeqov vvö^iaxog
xaxocpcovLuv, apa da xbv xr\g cpQccöscog awroi) ^lov E7a6rj^iai,v6^svog. Kürzer Diog.
Laert. 5. 2, s : Tovxov Tvqxccuov Xsyo^ievov GsocpQaßxov dtä xb xrjg (pQ&öEcog &£-
öTisGiov 'AQi6xoxilx\g ^isxcov6^a6£v. Grasberger nennt diese Erzählung eine be-
deutungsvolle Angabe (Ortsnamen 332). Ich vermag nicht so günstig über sie
zu urtheilen. An sich Mögliches enthält sie nur, soweit sie das Factum einer
Namensänderung behauptet. Wenn sie aber auch wissen will , Aristoteles habe
den neuen Namen zu Ehren der göttlichen tpgd6cg seines Schülers gewählt , so
ist sie leicht zu widerlegen : Aristoteles hätte in der Lage , in die ihn die Er-
zählung versetzt, nicht cpQcc6ig sondern li^ig gebraucht. Nun würde das be-
hauptete Factum dadurch, dass spätre Schriftsteller es nur aus eignen Mitteln
zu begründen wissen, noch nicht selbst in das Reich der Erfindungen verwiesen
werden. Aber man beachte, dass wir nun schon dem zweiten, einflussreichen
Philosophen begegnen, von dem eine Metonomasie gemeldet wird. Da liegt doch
der Verdacht nahe, dass die Nachricht von der Namensänderung gerade so viel
werth sei wie ihre Begründung, von Biographen herrühre, die, weil ihnen nur
wenige verbürgte Data aus dem Lebensgange ihrer Helden zur Verfügung stan-
den, zu Anekdoten griffen, um die magre Erzählung herauszuputzen. Bekannt
ist, dass von Stesichoros ebenfalls eine Umnennung erzählt wird. Die des
Piaton braucht keinen festren Rückhalt zu haben, als den Wunsch zu erklären,
warum der Sohn des Ariston, der Enkel des Aristokles nicht Aristokles sondern
Piaton geheissen habe.
An die Stelle dieses angefochtnen Beispieles will ich ein unanfechtbares setzen,
das noch in andrer Beziehung lehrreich ist. Herodot erzählt von einem Spar-
tiaten Z£v%idr}{iog, xbv dij Kvvi6xov ^sxe^exsqol ZJTtccQxiiqxEcov ixdkeov (6. 7ij. Der
Name Kvvi6xog ist allerdings wol kein eigentlicher Spitzname sondern einer der
schmeichelnden Beinamen, denen wir nicht selten begegnen; immerhin aber doch
ein Beiname. Dass in diesem Falle der Beiname den offiziellen aus dem Felde
geschlagen hat, ersieht man daraus, dass die Enkelin des Zeuxidamos, die tiq&xyi t£
i7i7toxo6(pri6E yvvcuxcjv xal vixr\v avsCkexo ^Okvfi7tixrjv iZQcoxri (Paus. 3. 8. i), Kvvi6xa
hiess, auch auf der Basis, die sie nach Olympia gestiftet hat, sich selbst Kvvi6xu
nannte (Olympia no. 160). Man gewinnt aus diesem Beispiele auch einen Ein-
blick, wie ein Name, der ursprünglich nur den Werth eines Beinamens hat, von der
Familie adoptiert und als Ehrenname verwendet wird. Xenophon nannte seinen
Sohn rgvkog nach seinem eignen Vater; in Sparta wechselten in einer Familie
die Namen MoXoßgog und 'Emxadrig (vgl. Böckh CIG 1. 698). Sicher haben die
Familienglieder, die zuerst als Ferkel begrüsst wurden, die Namen Toykog und
5
G FRITZ BECHTEL,
MoXoßQog nur als ijiixXrjöeig getragen. Wenn aber ihre Enkel abermals rgvkog
und Möloßgog heissen , so folgt daraus, dass während der Zeit, die zwischen
dem ersten Empfange und der spätren Verleihung liegt, die sTtcxk^ösig ihres
odiösen Charakters entkleidet worden sind. Es ist leicht möglich, dass ein
grosser Theil der Namen, die auf diesen Seiten besprochen werden sollen, zu der
Zeit, für die wir sie belegen können, nicht mehr die Geltung von Spitznamen
gehabt haben. Einem 'O^icpccxicov, der seinen Sohn UtdcpvXog nennt, merken wir
an, dass er sich als Sauertopf nicht gefällt, seinem Sohne also eine leichtre
Lebensauffassung gönnen möchte. Ein Ui^icovdrjg dagegen, der seinen Sohn als
2Jl{icov in die Welt schickt, muss sich mit dem Geschenke der 6i^i6trjg abgefunden
gehabt haben: er würde sonst nicht auch seinen Sohn damit bedenken. In
diesem frühzeitigen Verblassen des Charakters der Spitznamen liegt wol der
Grand, warum es so selten gelingt neben dem Namen, der nach seiner Bedeu-
tung als Spitzname eingeschätzt werden muss, noch einen zweiten nachzuweisen,
der als der alte offizielle Name gelten könnte. Als .der Name Ukdtcov durch
den Philosophen Weltberühmtheit erlangt hatte, war es überall eine Ehre ihn
an der dsxdtr) zu erhalten. Aber schon der mit Aristophanes gleichaltrige Komiker
hat ihn geführt, und nirgends findet sich eine Andeutung, dass dieser ihn als
Spitznamen empfangen habe. Warum also die Möglichkeit läugnen, dass der
Name schon zur Zeit der Geburt des Philosophen die -Fähigkeit gehabt habe als
bürgerlicher Name verliehen zu werden?
Die Arbeit , die ich hier vorlege , berücksichtigt nur einen Theil der aus
Spitznamen entsprungnen Namen. Ausgeschlossen sind die Frauennamen , die
im Zusammenhange mit deu übrigen Frauennamen behandelt werden müssen.
Wen das Studium der griechischen Personennamen reizt, der findet hier eine
dankbare Aufgabe. Ferner habe ich grundsätzlich auf alle Namen verzichtet,
die nachweislich mehr als einen Stamm enthalten oder als Verkürzungen eines
Namens betrachtet werden können, der die Form eines Vollnamens hat. Man
findet also in diesem Buche KvXcjv, KvXiag, KvXog nicht, weil neben ihnen Kv-
loCöag und Kv Xatd-ig laufen, deren Koseformen sie vorstellen können. Die Namen
von dieser Gestalt sind, soweit sie mir zur Zeit meiner Betheiligung an der
zweiten Auflage von Ficks Personennamen bekannt waren , in den Abschnitt C
der neuen Bearbeitung aufgenommen worden. Hier dagegen handelt es sich
darum einer Gattung von Namen Anerkennung zu verschaffen, die in dem
Nanienbuche kaum gestreift wird, um eine Gattung ursprünglich einstämmiger
Namen, deren Alter und Umfang viel beträchtlicher ist, als ich früher ange-
nommen hatte. Möglich, dass einer oder der andre durch spätre Funde als Ver-
kürzung eines zweistämmigen erwiesen wird . dass sich z. B. zu dem Tgd%aXog^
den ich einstweilen als 'Mann der ganz Hals ist' verstehe zu können glaube, ein
MccxQOTQocxalog einstellt. Auf das Princip , das ich hier verfechte , üben solche
Berichtigungen keinen Einfluss : der Name rdörgcjv bleibt darum doch mit dem
Appellativuni ydötgcjv identisch, und wenn eine Verkürzung Statt gefunden hat,
5
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 7
so ist schon das Appellativum von ihr betroffen worden , in diesem Falle ein
Compositum wie yaöxQoidrjg. Eine weitre Beschränkung besteht darin , dass ich
nur die Namen aufgenommen habe, die ich aus dem Sprachgebrauche , vornehm-
lich der Komödie, verstehn zu können glaube. Ich zweifle keinen Augenblick
daran , dass der Halikarnassier KaXaßcaxrjg und der Styräer Xi^iagog Spitznamen
tragen. Aber ich bin nicht im Stande anzugeben , was für den Griechen den
Vergleichungspunkt zwischen einem Landsmanne und dem ccöxalccßaxrjg oder dem
%iyLUQog gebildet habe, da ich in der Litteratur nirgends Anhalt für eine Ver-
muthung finde. Endlich habe ich bei der Sammlung des Materiales die Grenze
vor dem ersten vorchristlichen Jahrhundert gezogen, da die Kraft der Sprache aus
eignen Mitteln Namen zu schaffen etwa mit dem Verluste der Freiheit erlischt.
Erstes Capitel.
Der Mensch als körperliches Wesen.
I. Der Körperbau.
An dem Manne, auf dem der kritische Blick seiner Verkehrsgenossen ruht,
wird in erster Linie Aufsehen erregen, wenn der Körper nachhänge oder
Breite oder nach beiden Richtungen das mittlere Maass nicht ein-
hält, das sie erwarten zu dürfen glauben. Die Zuschauer geben dann ihrer Über-
raschung in einem Beiworte Ausdruck , durch das sie ihren Nachbar als Riesen
oder als Zwerg, als Herrn Dick oder Herrn Mager charakterisieren.
Die griechische Litteratur, zumeist die Komödie, ist voll von Epitheta,
die abnormes Körpermaass constatieren. Es sei erlaubt an einige zu erinnern.
Eupolis unterscheidet im Marikas einen schielenden (öxQeßXog) Peisandros
von einem grossen (iisyag), dem er noch die weitre Bezeichnung Oivoxivdiog gibt
(Meineke 2. 501 fragm. 6). Der selbe grosse Peisandros war schon in den 'Aq-
t07tcbhdsg des Hermippos schlecht weggekommen (Meineke 2. 384 f.).
Zu den Verehrern des Sokrates gehörte AgLöxöd^ög reg, Kvdad-rjvcuevg, <5\li-
xgög, ävvTtöörjtog aeC (Piaton Symp. p. 173b); der gleiche, der bei Xenophon
(Ano{ivr}ti. 1. 4, 2) ^Qtöxödri^og 6 HpixQbg E7axcdov{ievog heisst. Mit Kleigenes
dem Zwerge macht sich Aristophanes Frösche 710 zu schaffen.
Dem Komiker Timokles muss der dicke Anytos in den 'Ixccqlol Zäxvgoi
(Meineke 3. 600 fragm. 1), der dicke Pheidippos in der Aij&rj herhalten:
TZccQiövtcc (beidimtov naltv
xbv XatQScpcXov TtÖQQCo&sv anidcov xbv Tta^vv
£Tt6Ttitv6\ eix sxekevös TtiyuiEiv öaQydvag
(Meineke 3. 606).
8 FRITZ BECHTEL,
Umgekehrt liefert die kentotrig des Kinesias der alten Komödie Stoff zu
guten und schlechten Witzen. Piaton bezeugt dem Dithyrambendichter sein Wol-
wollen mit der Begrüssuug qptfttyg jigoyrjtrjg (Meineke 2. 679 fragm. 2); eben
dahin zielt die Anrede OfricbT "A%ilkev, die ihm, wie man aus Athenaios p. 551 d
ersieht, Strattis zu Theil werden lässt. Sein Nachfolger in der Magerkeit ist
Philippides: Athen, p. 552 d — f werden Stellen aus Alexis, Aristopbon, Menander
ausgehoben, die ihr grausames Spiel mit seiner ka7tt6xr\g treiben. Einen /Jiovv-
öiog 6 A67trög, der doch wol ein dürrer Schulmeister ist, erwähnt Athenaios
(p.*475f).
Derartige Verbindungen von Personennamen mit Appellativen , die zu Bei-
namen geworden sind , stellen die erste Station auf dem Wege vor , an dessen
Ende der Beiname den Platz des bürgerlichen Namens einnimmt. Wir kennen
eine ganze Reihe einstämmiger männlicher Namen , die eine Aussage über ab-
norme Körperproportion enthalten, ihrem Ursprünge nach also nichts andres sein
können als Übernamen. Sie haben den Weg, den die Wörter {leyccg , {iiKQÖg,
%a%vg, leittog in den angeführten Beispielen beschreiten, schon hinter sich.
Das Übermaass der Länge und Breite ist ausgesprochen in den Namen
IlehdQYjg Styra (Ion. Inschr. rio. 19, ^si ; 5. Jahrh.);
KrjTav Execrationstafel aus Attika (CIA 2 Append. no. 42 is).
Ein Adjectivum itakctQiqg würde sich zu tcsXcoq verhalten wie vdccQjjg zu vöcjq ;
der gleiche Ablaut in xekagv^cj : keX&q • qpcovtj (Hes). Der Träger des Namens
war offenbar ein itskcbgiog1) avrjg. — Der Name K^xav deckt sich inhaltlich
mit TCYizadrjg, aus dem er durch Verkürzung hervorgegangen sein kann.
Von Länge allein ist die Rede in
46ki%og U^iLXQcovog Ilkaxauvg (IGS 1 no. 2724 Cb] 3. Jahrh.).
Der Gegensatz zwischen dem Namen des Vaters und dem des Sohnes ist viel-
leicht nicht zufällig: man wird an Exäcpvkog 'OiMpaxiavog zu lasos und ähnliche
Paare erinnert. Ohne den Vater 2J[ilxq<x)v würde man A6Xi%og auch als dofo-
XOÖQouog deuten, also auf gleiche Stufe mit ACavkog stellen können.
In andren Fällen ist die Körperlänge durch eine Vergleichung angedeutet.
Aristoph. Vögel 875 betet der IsQevg zu der öxQOv&og iieydkr) iirjtriQ frsav
xal av&QcoTtav. Pisthetairos unterbricht ihn mit dem Grusse
öeöTtüLva KvßeXr], 6xqov&£, {iyjxeq KksoxQuxov.
Wenn Kleokritos hier als Sohn der özQov&og ^leyalr] gefeiert wird, so gibt es
dafür nur Eine Erklärung: er muss in seiner Erscheinung an den Strauss er-
innert haben, also ein Mensch von auffallender Grösse gewesen sein. Er hätte
darum selbst den Spitznamen Strauss empfangen können, den nun seine Mutter
tragen muss. Man sieht nun, dass mit den Namen
UtQovd'og Tauromenium (IGSI no. 421 I ann. 26; 3. Jahrh.);
1) 7tslo3Qios ist die äolische Form, während Ionier und Attiker teXatgiog gesprochen haben
(Solmsen KZ 34. 5H6ff.). Der Name des Styräers stammt aus Büotieu oder Thessalien.
5
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. X)
2JtQo(v)&t,g 'HgaxkeCöov Kyzikos (BCH 14. 540 no. 7)1);
2JtQovd-cov Athen (»Simonides« fragrn. 148 Bergk) , Eretria CE<p.
aQX. 1895. 139 Im)
Leute von überragender Gestalt gemeint sein können. Dies ist jedoch nur eine
von drei Möglichkeiten.
Eupolis sagt in den z/ij^ot (Meineke 2. 475 fragm. 37):
Tadl Ö£ tä devdga AaiöitodCag xal Aapaöiag
avaiöi (Hermann, überl. avtaiöi) talg xvY\\iai6iv gcxoXo&ovöl [toi.
Dazu bemerkt Meineke : »Recte illam utriusque cum arboribus comparationem ad
proceram corporis staturam rettulit Raspius, allato Aristoph. Av. 1475, ubi
Cleonymus magnae homo staturae exroitöv xt öevöqov vocatur«. Folgt man dieser
Anregung und durchmustert man die Reihe der männlichen Namen , die durch
Übertragung aus dem Pflanzenreiche gewonnen sind (GP2 325 f.), so wird man
kein Bedenken tragen den Namen
Tlixvag Sparta (Xenoph. Hell. 2. 3, io)
als Spitznamen zu betrachten, in dem ein langer Mensch mit der nixvg ßXco&Qq
(iV390; [tccxQal nCxveg i 186) verglichen wird. Es liegt dann nahe auch
'Ekäx&v Smyrna (CGC Ionia 246 no. 102; 2./1. Jahrh.)
in dieser Weise zu verstehn: die Helden Krethon und Orsilochos vergleicht
Homer in ihrem Sturze iXaxr\i6i v^rjliiiöLv (E 560).
Viel reichlicher strömen die Namen für die kleinen Leute.
Hier stellen die Namen, die das Wort pixQog (öfiixQÖg) mit seinen Neben-
formen pixog und pLxxog in mehr oder weniger modiflcierter Gestalt wieder-
geben, die reichste Sippe vor. Sie sind vom 6. Jahrh. an aus allen Theilen
des griechischen Gebietes nachweisbar. Von ihrer Verbreitung gibt schon die
Zusammenstellung ein Bild , die ich folgen lasse , obwol ich mich darauf be-
schränke für jede Namenform eine einzige Belegstelle anzuführen.
UplxQog Athen (CIA 1 no. 432 In);
MiXQTjg *) öXQaxrjybg xäv 'AQxddav (Xenoph. Anab. 6. 3, 4) ;
MiXQir\g Styra (Ion. Inschr. no. 19, 255);
Mlxql&v Thasos (ebd. no. 78 III 3) ;
MixgCvag ®si67it,6vg (IGS 1 no. 4260 s);
UfiixQCjv Zovvisvg (CIA 2 no. 864 II 29).
Mtxog3) Henkel mit äöxvvö^og 4) (Becker Jahrb. f. Phil. Suppl,
10. 29 no. 23);
1) Überliefert in einer Vaticanischen Handschrift des Cyriacus. Im ersten Namen, der auch
als ZtQovfttg verstanden werden könnte, fehlt das Y.
2) Überl. Zfitugrig. Wenn der Strateg aber aus Arkadien stammte , war Mt'xpr]? die Form
seines Namens: Mlkicov Smlg. no. 1231 III 10 24, Mt-xvXog Le Bas-Foucart no. 337.
3) Die Länge in erster Silbe aus lat. mica erschlossen. Die Messung Mnuov (WSchulze An-
zeige von Meister Griech. Dial. 2, Berl. Philol. Wochenschr. 1890, S. 32 des Separatabzugs) be-
weist zu Gunsten von Mixog Nichts, da auch Zifimv neben SCfiog steht.
4) Als Heimath der Henkel dieser Gattung hat Becker bekanntlich Olbia in Anspruch ge*
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiae. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 6. 2
10 FRITZBECHTEL,
Mixccg Thasos (Thas. Inscbr. no. 14 1 7) ;
Mtxddr\g rvQcovog XaXxidsvg (IGS 1 110. 368 1) ;
MixaMcav Mtxtcovog "EQiievg (CIA 2 no. 2046);
Mixdllv\g Thasos (Thas. Inschr. no. 10 1 12);
Mixillog l4Xccibg i( Aiyäg (CIA 2 no. 2843);
Mixlcüv Mytilene (Mitth. 9. 88 Beil. 13);
Mixivug Aoxgög (CIA 2 no. 963 III 37) ;
Mixivvrig Halikarnassos (Ion. Inschr. no. 240 3s) ;
Mixv%og Rhegion (Herod. 7. 170);
Mixvxtiav MixvXCavog Chalkis (E(p. ccq%. 1892. 169);
Mixvkog Lindos (1GI 1 no. 761 21);
Mixcjv Kos (Paton-Hicks N. no. 20. 49).
Mlxxog ToQ&valog (CIA 4 Suppl. 1 no. 49116);
Mtxxddag Bovxrtog (IGS 3 no. 380 10) :
MtxxaXog Gortyn (Mus. Ital. 3. 637 no; 35 5) ;
MixxaXicav Athen (Demosth. 32. 11);
Mixxiag IIotd^Log (CIA 2 no. 420 52) ;
Mixxiag Elis (Olympia 5 no. .62 5);
Mrxxiddrjg 6 Xtog (Ion. Inschr. no. 53 1) ;
Mlxxlcov Tauagra (IGS 1 no. 538 24) ;
Mixxivag Qvöxevg (Smlg. no. 2097 ie);
Mixxvlog Thessalien (Smlg. no. 326 III 19);
Mixxcov XaXeievg (Smlg. no. 1734 2).
Eine andre Sippe beruht auf Weiterbildung und Umbildung des Stammes
ßQCC%V-.
BQa%vXog Tegea (Le Bas-Foucart no. 341 h) ;
BQdivUog 'Eqxisvq (CIA 2 no. 114Cio; 4. Jahrb.), Rhodos (IGI
1 no. 764 18), BgdxovXXog Chaironeia (IGS 1 no. 3343 1) ;
BQa%vlUdag Rhodos (1G1 1 no. 884 9) ;
BQa%vXXei Tanagra (IGS 1 no. 538 22 ; 4./3. Jahrb.) ;
Bga%ag Lieblingsname auf einer attischen Vase (Klein Lieblings-
inschr. 62; 6. Jahrb.), lB\oa%äg Argos (Smlg. no. 326664),
BQO%äg Thisbai (IGS 1 no. 4139 32);
BQa%idag Akrai (IGSI no. 225 a Add. ; 5. Jahrh.) ;
Bgoxxiog (Patron.) (^scß^og (IGS 1 no. 27246. 1; 4. Jahrh.).
Vgl. Pind. Isthm. 3. (i8 it. ovorbg id soften,, [logcpäv ßQ<x%vg von Herakles, im
Gegensatze zu den Riesen Oarion und Antaios l).
nommen. Nach einer Andeutung Latyschevs bei Pridik (Mitth. 21. 177 f.) ist auch diese Bestim-
mung nicht haltbar.
1) Kretscbmer Vaseninschr. 85: »Bemerkenswert ist eine Inschrift, die auf einer rotf. Am-
phora in Paris unter Herakles gesetzt ist: öoxsis [UY.gbg tlvcu«. K. verweist auf Wilamowitz
Herakl. 1. 333.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 11
Das Adjectivum tvvvog ist in Prosa ausgestorben. Aber die weite Verbrei-
tung der Namen, die das Wort mehr oder weniger verändert enthalten, lehrt,
dass es über das ganze griechische Gebiet hin verständlieh gewesen sein muss.
Tvvvog Thasos (Thas. Inschr. no. 9n; 5. Jahrh.)1);
Tvvvccdrig Styra (Ion. Insch.no. 19, 320; 5. Jahrh.)2), Delos (BCH
7. 1148t);
Tvvvig Styra (Ion. Inschr. no. 19, 321 ; 5. Jahrh.);
Tvvviag Tvvvcovog TgixoQvöiog (CIA 2 no. 2599) ;
Tvvvi%og b Xalxidevg ^Platon Ion p.534 d), Sparta (»Plut.« Apophth.
Lak. 51);
Tvvvi%Cdag Thespiai (IGrS 1 no. 1741 22 ; 3. Jahrh.);
Tvvvcjv Delos (CIA 2 no. 814« B29; 4. Jahrb.), TQixoQvötog
(s. Tvvviag) 3).
Unser Kinderlied spricht von einem spannenlangen Hansel. So hiess schon
ein thasischer Theoros des 5. Jahrh. :
ZTU&uiMxiog (Thas. Inschr. no. 9 12).
Unter den vergleichenden Namen stösst uns zunächst eine Sippe auf. deren
Sinn nicht fraglich sein kann :
ndzaixog Akragas (Herod. 7. 154; 6. Jahrh.) , Dyme (Paus. 5. 9, 1 ;
Ol. 71); häufig auf Steinen des 4. Jahrb., so in Athen (ein
Tli^svg CIA 2 no. 660 4), in Iasos (Ion. Inschr. no. 104« 2),
Pantikapaion (ebd. no. 119 1), auf Chios (Mitth. 13. 167 no. 67),
Thasos (CIA 2 no. 4 II 17); ferner bezeugt für Delos (BCH
6. 46i57.i6o), Eretria (E<p. ccq%. 1895. 133 I55), Dardanos
(Conze Inselreise 70), Seleukeia (CIA 2 no. 983 Im);
IJuTaiKicov Chios (Mitth. 13. 179 no. 32); die Heimath des al>
xXi%xY\g sprichwörtlich gewordnen naxaixittv , dem bei He-
rondas (4. 63) ein IlaxaixiQxog entsprossen ist, wird nicht
angegeben.
Die Erklärung ist in den Worten Herodots enthalten (3. 37): (Polvlxyjlolöl 11a-
xaixoiQi e{i<p£Qe6TaT0v , xovg ot ^oivixeg iv x\\iöi 7tQ<aQi]L<5i xCbv xonagitov neoiä-
yovöi. Vg de xovxovg pi] otkotib, eycb öe er^iavsco' Tivy^aiov ävÖgbg (iifiriGig toxi.
Griechischer Anschauung eigentümlich ist ferner die Vergleichung junger
Individuen mit frischen Thautropfen. In der Odyssee sind die soöai, junge Läm-
mer (t 222), Aischylos spricht von doöooi keovxav (Agam. 141). Sophokles ver-
bindet tyaxalovioi ^xegeg aiysg xs (fragm. 725 N.). Damit hängt zusammen, da —
kleine Leute Tropfen genannt werden :
1) Die Chronologie der thasischen Theoren ist von Jacobs (Thasiaca 16 ff.) ins Reine gebracht.
2) TVNANDE* das Täfelelien.
3) Die Sippe, die die Stumme nana-, nanna- zur Grundlage hat, gehurt mit andren Tändel-
namen nach Kleiuasieu (Kretschmer Einl. in d. Gesch. d. griech. Spr. 331 ff.). Einzelne ihrer Glie-
der sind sehr geschickt gräcisiert, so Nävvi%og in Magnesia am Maiandros (Mitth. 19. 19 no. b 1,.
<♦ 2* r
12 FRITZ B ECHT EL,
av \jl\v yaQ i]i xig svTtQSTtrjg, lsqov yd[iov xaXslrs ,
iäv de iiiXQOV itccvTskcbg av&Qaiiiov, örakay^iov
beisst es bei Anaxandrides (S. 3). Nun gibt es eine Reihe von Namen, die aus
Appellativen verwandter Bedeutung hervorgegangen sind; so
Stalagmits Sklave bei Plautus (Captivi);
ngovxo(g) freigelassen in Larisa (BCH 13. 38344; 2/1 Jahrh.);
Waxdg Olympiasieger, erwähnt Schol. Aristoph. Ach. 1150;
'Pdvig Delos (BCH 6. 47 163 ; rPdviog dvdd-a^ia) ;
Wccct, Vasenmaler in Attika (Klein Vasen mit Meistersign. 2 134;
6. Jahrh.).
Der Zusammenhang von ÜQOvxog, *Faxdg, 'Pdvig mit itgcbi» tpaxdg, QccvCg liegt am
Tage; zur Beurtheilung von Wcat, hilft eine Glosse des Hesych: iplaxw ipa-
xdöcc. Von vorn herein wird man geneigt sein die Namen IJQovxog, *Pccxdg, 'Pdvtg
und Wia.% nach der Anleitung zu beurtheilen , die die Komödie zur Auffassung
des Namens UtaXay^iög gibt. So weit ÜQOvxog in Betracht kommt, steht dem
Nichts im Wege. Dagegen werden Waxdg und 'Pdvig von der alten Schulgelehr-
samkeit anders interpretiert; wir müssen später auf sie zurückkommen.
Horaz empfiehlt als Lebensregel (Sat. 1. 3, 42 ff.):
Ac pater ut gnati, sie nos debemus amici,
siquod sit vitium, non fastidire : strabonem
adpellat Paetum pater, et Pullum, male parvus
sicui filius est, ut abortivus fuit olim
Sisyphus ; hunc Varum distortis cruribus, illum
balbutit Scaurum pravis fultum male talis.
Es liegt nahe anzunehmen, dass die Namen, die von Haus aus ein junges Thier
bezeichnen , den selben Ursprung haben wie der Schmeichelname Pullus der rö-
mischen Kinderstube. Solcher Namen besitzt das Griechische recht viele1): ich
nenne hier ZxvXa^ 2Jxv[ivog, besonders aber die auf veoööög aufgebaute Sippe:
Nöötiog Iasos (Dittenberger Syll. no. 777?; 4. Jahrh.), Thasos
(Thas. Inschr. no. 18 1 2) ;
NoööLxäg Thasos (ebd. no. 6 IV 2 ; 5. Jahrh.) ;
NoöövXog NooövXov Kos (Smlg. no. 3722 5 ; 3. Jahrh.) ;
Nööawv Kos (Smlg. no. 3624 d 49; um 200 v. Chr.),
und mache auf TLdxaixog xov UxvXaxog in Iasos (Ion. Inschr. no. 104^2) aufmerk-
sam. Andrerseits lehren die zahlreichen Frauennamen , die der Herkunft nach
Deminutive von Thiernamen sind, dass die Einreihung unter die kleinen Leute
lediglich der Zärtlichkeit entspringen kann, keinen körperlichen Fehler zur Vor-
aussetzung zu haben braucht. Damit fällt ein neues Licht auf die Namen dieses
Abschnittes, auch auf die beiden letzten, die ich zu nennen habe:
[K\6qwj> Theben (IGS 1 no. 3640; 5. Jahrh.).
1) Gebort auch fdgraXos in Thespiai (IGS 1 no. 1742 8) wegen ögtaXig, öqx&Xi%os zu ihnen'
GRIECIT. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 13
Ich identifiziere Koqvijj mit x6qvI ' veavißxog (Hos.) und vergleiche das Verhältnis
von böot. xÖQvifj zu xogvl* mit dem von böot. K6xxvil> zu xöxxv^1).
IlcudLxög (Meistername auf einem Alabastron des Louvre, Pottier
Revue des Stades gr. 6. 40 ff. ; 6. Jahrh.).
Da Vollnamen wie IlcudaQilg, llaiömitog zur Verfügung stehn, könnte man TTat-
Öixog auch als Koseform betrachten und sich auf die Verbindung 'JvÖQtxbg 'Av-
öqovlxov (CIA 2 no. 2756) berufen (Kretschmer Vasensinschr. 230 f.). Aber Ab-
hängigkeit vom Vollnamen braucht, wie man sieht, nicht zu obzuwalten ; man darf
noch auf die lateinischen Namen Päpus, Püpius und, si dis placet, auf das oski-
sche Cognomen Pukalaz verweisen.
Abnorme Dimension in der Breite wird verspottet durch die Namen
mXr}g Athen (Thuk. 3. 18, j), Delos (BCH 7. 109 no. 5 4);
Ila%LG)v Styra (Ion. Inschr. no. 19, 403; 5. Jahrh.);
IMzav Tegea (BCH 17. 17 no. 21 1) *).
Der Stamm na%rix- , der in dem ersten Namen erscheint, wird von Hippokrafp^
im Appellativum gebraucht: vjteQ7id%r}Teg (liegt ccbqcov 15).
Zwei andre Namen stellen Umbildungen von nXcctvg vor und haben gleichen
Inhalt wie itXarvg Soph. Aias 1250 f.
ov yccg ot TtXcLTEig
ovo' avQvvcoTOt cpG)T,eg döcpccXtözccroi.
Ich denke an
niccrfjg Aristot. IJsqI tä £&lcc iöxoq. 5. 19 : ngcbtri ös Asyerca
v(pr[vui sv K&l ncc(i(fiXr] ÜXcctsco (so cod. Ca) ^vydrrjQ ;
nxdrav in Athen seit dem 5. Jahrh. ; seit dem 4. Jahrh. überall
nachweisbar, doch lässt sich nicht feststellen, wie weit der
Name des Philosophen Anregung zu der Benennung gege-
ben hat3).
Zu Tlldtov beachte das Appellativum TiXdrcjV xcclxo^idrtov rt, ebb rbv vqov
ävrkovöiv .... (Hes.).
1) Neben xo(>u£ steht -aögLip (vsavi6xog, Hes.) aus nogfity. Das Verhältnis der Nachkommen
der labialisierten Gutturalis ist das gleiche wie in ßovxolog und ainolog und bestätigt die von
Saussure aufgestellte Regel.
2) Vermuthlich muss man auch Smlg. no. 1281 III 14 ndxco[vog] statt TTcfyw schreiben: der
Stein ist, wie der Abklatsch beweist, den ich besitze, so abgerieben, dass die letzten Buchstaben
spurlos verschwunden sein mögen. Die Inschrift berührt sich auch sonst mit der im Texte er-
wähnten: dem 'Iaodccfiog ©egöiccv (I 13) entspricht dort Pfsgöiccg 'Ißoddfiov (Z. 9).
3) Der Einfluss der Namen berühmter historischer Persönlichkeiten auf die Benennung Nach-
geborner ist noch zu wenig beachtet. Baunack bemerkt zu Smlg. n. 19086: >Zum Dialekte der
Olavd-ftg stimmt die Form Jr](ir]TQiov nicht«, zu no. 1922 6: »Die Form JrKirjrgiog kommt bei do-
rischen Freilassern öfters vor«. Der Grund ist der, dass der Name JrifirJTQiog seit Demetrios
Poliorketes in Griechenland populär geworden war. Umgekehrt spricht man in Athen 'Jftvvrug,
nicht 'Afivvtrig.
14 FRITZ B ECHT EL,
Die Rübe heisst von ihrer Gestalt yoyyvlig oder yoyyvlr\ (die Lakedaimonier
haben sie nach Apollas bei Athen, p. 3(>9a ydötpcc, die bauchige, genannt); der
Skythe vergleicht Thesmoph. 1185 die tit&icc der Tänzerin mit ihr. Es ist also
deutlich, wie der Mann ausgesehen haben muss, dem der Spitzname gegeben ward
royyvXog 6 'EoeTQLSvg (Thuk. 1. 128,4.), elg z&v KoQivfricav do%6v-
xcov (Thuk. 7. 2, i), Delos (Apollodoros bei Athen, p. 173 a)1).
Ein Synonymum von yoyyvXog ist örgoyyvXog. Aus ihm entsteht durch Wei-
terbildung der Name
ZtQoyyvUcöv Bildhauer des 5. Jahrb. (CIA 1 no. 406); ein jüng-
rer ZtQoyyvXCav CIA 2 no. 834 c 39 Add.
Der Komiker Xenarchos rühmt an den hoqvslcc, dass der Liebhaber nsigccxeg in
ihnen finde
cov stixiv sxXs^d^ievov i]i xig rfi&xai,
XsTttfiL, 7tu%£iai, öTQoyyvkrji, pccxQÜi, Qixvrji,
VECU, TZCcXcCLÜL, [ISÖOKOTICOI, 7tE7ZCUT8QCa
(Meineke 3. 617 fragm. l7ff.). Anschaulicher noch ist das Compositum ötQoyyv-
XÖTtXsvoog, das Strattis von wolgerathnen Aalen braucht:
xal KcoTtdiÖav ccTiaXcbv ZEudxrj
GTQoyyvXoTiXevocov
(Meineke 2. 779 fragm. 1). Wie man sieht, könnte HtQoyyvXCav als Verkürzung
von GtQoyyvXoTclEVQog aufgefasst werden.
Es ist möglich, dass die Namen, die den Menschen mit der Kröte vergleichen,
also
<&Qvvog und Genossen,
theilweise den Zweck verfolgen Leute von aufgedunsener Gestalt zu verspotten.
Man kann dies vermuthen wegen der Glosse yovvog ' ßdtQcc%og. r\ 7tu%vg (Hes.),
und wegen der Thierfabel. die von dem Versuche der jungen Kröte erzählt dem
Ochsen durch Aufblasen an itaivrrig ähnlich zu werden (Aesop no. 84 Halm).
Ich werde bei spätrer Gelegenheit, wo wir uns, wie mir scheint, auf festrem Bo-
den bewegen, die Verbreitung der Sippe anschaulich zu machen suchen.
Und noch eine Möglichkeit muss zur Sprache kommen. Die Sippe
1) Nach Apollodor soll es mit dem Namen royyvXog auf Delos eine besondre Bewandtnis
haben: tjv avtoig (denDeliern) cctco r&v itgägtcov övdfiara Maycdsg y.ai ToyyvXoi, insLÖi] rag (id£ag,
q:r,GLv 'Agiorocfävr\g (Frieden 28), iv rcag ftoivccig <V 7]usgag rgißovrsg nagu%ov 6i67ttg [iv] yv-
i c.t'^i yoyyvXag uspayfiivag. _Es ist zu fürchten, dass zu der Deutung von royyvlog die Worte des
Aristopbaiies Veranlassung gegeben haften. Denn dass ein Manu darum, weil er es verstand yoyyv-
Xag uä£ag zu backen, royyvXog genanut worden sei, will nicht recht einleuchten. Von den übrigen
!f lischen Namen, die anb r&v ngdi-tav hergenommen sind, Xoi'gaxog, 'Afivög, 'AgrvatXscog, Zrjcafiog,
'Agrv6Crgayog, Nswxogog, 'Ix&vßoXog , unterstützt kein einziger die Auffassung des gelehrten Athe-
ners: man kann ihm glauben, dass Xotganoi , 'Apvoi als ,AgxvGi%olguv.oi, 'Agrvaiafivoi zu denken
spku (vgl. Eoi8C(ov als Namen eines Kochs bei Sosipatros , Meineke 4. 482 11); dass ein royyvXog
ein royyvXoua£o7ioiog sei, folgt daraus noch nicht.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 15
Iltxakog Styra (Ion. Inschr. no. 19, 404 ; 5. Jahrb.), Thasos (Thas.
Inschr. no. 8II1), Larisa (Smlg. no. 358);
TlexakCag Kgawovyiog (Smlg. no. 345 «0), rvgxovvuog (ebenda 90;
3. Jahrb.), vgl. TlaxalVig Flexa foccccc Larisa (Smlg. no. 355) ;
ristaxog Styra (Ion. Inschr; no. 19, 285)
kann, sprachlich angesehen, Individuen nach keiner andren Seite bin bezeichnen
als nach der Ausbreitung ihres Körpers. IJexaXog hat den Sinn von exTtexcckog
in der Wendung: eöxl de %alx.iov ixnixaXov Xeßrjxadeg (Didymos bei Athen, p. 468 e,
von der W 270 beschriebnen (piccXri).
Es bleiben noch die Xamen für die magren Leute zu betrachten.
Directe Bezeichnung des magren Mannes ist durch das Wort Xsitxog und
seine namenartigen Umbiegungen möglich:
ÄEitzog Smyrna (Mionnet 3. 196 no. 993; 150—50 v. Chr.)1);
Asuxivrjg Paros (Archil. fragm. 70), oft in Athen (so Aenxiv-qg ix
Koih]g Demosth. 22. 60^, Samos (Num. Chron. 1884. 257
no. 6), Eretria (Amer. Journ. of Archaeol. 7. 247 no. 2),
fo&ovQyög auf Delos (BCH 14. 396); AsTixivag Syrakus (Bru-
der Dionysios I, vgl. CIA 2 no. 87), AenxCvag AejtxCva Dyme
(Smlg. no. 1612,35), AenxCvag Delphi (Smlg. no. 1715 7), Kos
(Smlg. no. 3722 is), Asxxivccg rvgxovviog (Smlg. n. 345 79);
AaTtrcov Styra (Ion. Inschr. no. 19, 6i ; 5. Jahrh.), Dardanos (Sil-
bermünze der Sammlung Imhoof- Blumer)2), 'AöxvTtaXauvg
(BCH 8. 26 B3, 15. 634 no. 85).
Andre Xamen werden durch Gleicbsetzung der dürftigen menschlichen Er-
scheinung mit dünnen Gegenständen oder mit andren magren Wesen gewonnen.
Für einen magren Menschen ist uns das Bild des Fadens geläufig. Da.-.< eä
auch den Griechen nicht fremd war , darf daraus geschlossen werden, dass ihre
Sprache eine ziemlich reiche Sippe von Männernamen besitzt, deren Basis das
Wort [itxog bildet , deren Träger also doch wol als Xenxoxaxov gekennzeichnet
werden sollen :
Mtxog Theben (IGS 1 no. 3599; 5. Jahrh.);
Mlxlcov Hyettos (IGS 1 no. 2829 5; 3. Jahrb.);
Mtxvg 6 Agyelog (Kaxä NeaiQag 33 ; 4. Jahrh.) ;
Mixav Thera (IGA no. 453; 7. Jahrb.);
MCtxtog (Patron.) 'EQio[iEvtog (IGS 1 no. 2724 a%\ 4. Jahrb.);
Mlxxlcjv Lindos (IGI 1 no. 764 1 11 ; 3. Jahrh.).
Auch an ein Rohr lassen wir uns von einem magren Menschen erinnern.
1) Die Lesung Cousinerys bestätigt mir Herr Director Riggauer in Mönchen, von dem auch
die Datierung stammt.
2) Mittheilung des Herrn Besitzers. C
1 1*
16 * FRITZ B ECU TEL,
Nicht anders ergieng es den Griechen, wie die gepfefferte Beschreibung des Ki-
nesias durch Piaton (Meineke 2. 679 fragra. 2) lehrt:
Mszä zavza ds
f EvccyÖQOv nötig ex itXevQiztöog Kivr\öCag
öxekezög, aitvyog, xaXdyava Gxeki] cpogcjVy
cpfröiig 7tQO(piqtijg, aö^aQag xexccv[ievog
■xleiözag vit1 EvgvcpCbvzog ev zebt öco^iazL.
Ich darf also wol als rohrdünne Gesellen die Personen betrachten, die den xd-
ka^iog im Namen führen :
KdXa^ng, Zeitgenosse des Deinomenes von Syrakus (Paus. 6. 12, i),
Thasos (Mitth. 22. 133 no. 11 4);
Kakadu Akraiphia (IGS 1 no. 2745; 5. Jahrh.) 1).
Von ihnen fällt auch auf die Leute Licht, die nach dem dovat, benannt sind:
Jovocl Apollonia 111. (Münzen des österr. Kaiserhauses 1. 29 no. 34;
3./2. Jahrh.);
Aovaxog Mytilene (Mitth. 9. 88 Beil. 21).
Bei Photios steht die Glosse 6%L&ag • 6 zezavbg xcel i6%vog' ovzag Kgazivog.
Eine entsprechende Erklärung hat MSchmidt (Hes. 4. 1, 119) aus den Scholien
des cod. Mod. zu Clem. IIqozqstiz. Xoy. ans Licht gezogen: 6xit,tag' kenzbg ticcq''
"Azzixolg. Das Wort <5%it,lag kann nur bedeuten 'ein Mann wie ein Spahn' ; so
hat es schon Fick übersetzt (Gurt. Stud. 9. 183). Dies ist also offenbar auch
der Sinn des Namens
£%idug Kyrene (Smith - Porcher no. 7 II 19), Artichia (Fouilles
d'Epidaure 1 no. 243).
In den gleichen Vorstellungskreis gehört vermuthlich
KaQcpivug AxaQvdv (CIA 2 no. 121 ; 4. Jahrh.).
Man erinnre sich , dass die Chorführerin der Lysistrate xuvovöa iirjde xuQ<fog 2)
zu Hause bleiben will, wenn man sie nicht ärgre (474). Der Grieche, der niesen
wollte , kitzelte sich mit einem Xenzbv xdgyog die Nase (Schol. zu Aristoph.
Frosch. 647). Der Name Kagcptvag würde sich also sehr gut zur Bezeichnung
eines Menschen von dürftiger Erscheinung eignen.
Das Wort ä%vri , das bei Homer die Spreu und den Schaum bedeutet, be-
zeichnet im spätren Sprachgebrauche jedes leichte Theilchen. Daher kann der
Sklave in den Wespen klagen (91 ff.) :
vTtvov d' öqul zfjg vvxzbg ovde 7Ca67tdXrjV
ijv (T ovv xuxaav6j]i xdv cfyi/^v, o^icog ixet
6 vovg nezezai zr\v vvx%a Ttsgl zr\v xkei^vÖQav.
Bei der Geläufigkeit dieses Gebrauches von ayyr\ ist es wol richtiger den Namen
1) Dazu Ktdci{ii6xog auf einer aus Phrygieu stammenden Inschrift der Kaiserzeit, die BCH
2. 50 ff. neu h'erausgegebeu ist.
2) Sie benützt dabei eine sprichwörtliche Wendung (vgl. Bauck De proverbiis aliisque locu-
riouihus ex usu vitae communis petitis apud Aristophanem comicum [Königsberg 1880] 84), die auch
Ilerondas anwendet (1. 54, 3. 67).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 17
"A%vav <$cox£vg (Arch. epigr. Mitth. aus Österr. 15. 111 u)
zu 'äyyy\ zu stellen als zu dem Namen der thessalischen Stadt "A%vca.
Überraschend kommt uns die (ileichsetzung des leicht gebauten Menschen
mit der Amsel, die von den Griechen vollzogen ist. Wir lesen bei Anaxilas
Meineke 3. 348 20. 21):
rj &6ccva) ö' ov%\ IJelqyjv sötiv ditozBxiX^ivv^
ßks^i^ia xccl cpavrj yvvaixog, zu öxslrj ds xoy\)i%ov.
Antiphanes aber setzt das Gewicht dreier Hetären, von denen er zwei ausdrück-
lich als XetixccC bezeichnet, dem der ®eav(b gleich:
cccpvag de Xenzäg tccööe xccl %r\v VQvyövcc
%G)Qig &savol devQ efrrjx' dvxiQQoitovg
(Meineke 3. 13 23. 2-1). Bei der Annahme , dass der Vergleichungspunkt zwischen
Mensch und Amsel die Leichtigkeit der Glieder bilde, erhalten wir eine einheit-
liche Deutung des Frauennamens KoGGvya , der schon im 7. Jahrhundert auf
Thera gebräuchlich war1), und der Männernamen
KÖTtvyog Pharsalos (Demosth. 18. 151 ; 4. Jahrb.), Larisa (Smlg.
no. 1308 8);
Koivtpiav Chalkis (Ecp. &qX. 1893. 107 no. 3) ,
die an sich auch anders verstanden werden könnten2).
Zweifelhaft ist, wie weit in diese Kategorie die Namen fallen, die eine Ver-
gleichung mit 6xQov&og aussprechen , also
UtQOvd-og, UtQovd-ig, UtQovd-av,
wofür die Zeugnisse früher (8 f.) gegeben worden sind. Dass ein Mensch von
ärmlicher Erscheinung Spatz hat genannt werden können, lehren die Worte des
Alexis (Meineke 3. 449 fragm. 5)
KaxCog s%ei(g)' ötQov&lg dxccQrjg vi] xbv z/t" ei3)'
7C£(pLXi7C7lLÖ(OÖai.
Aber ötgov&og selbst ist doppelsinnig, und dazu kommt, dass der Spatz neben
seiner äussren Erscheinung eine gewisse Charakterschwäche besitzt , die den
Griechen Anlass zu noch schnödrer Vergleichung bieten konnte.
Ausser den Namen, in denen Spott über Abnormität des Körpermaasses sein
Wesen treibt, gibt es nicht viele, in denen die sichtbare Abnormität nicht eines
1) Mittheilung des Herrn Dr. Hiller von Gärtringen. Ich kenne den Namen noch aus Ko:
kyra (IGS 3 no. 838), Delphi (Smlg. no. 1995 3, 20917; Sklavinnen).
2) Der IIv&ayoQiOTrig des Aristophon wird so geschildert (Meineke 3. 360 f.):
Tlgog {ilv xb neivfjv kod-tnv ts (ir\de $1»
völlig öq&v Ti^vtiaXXov 7) $iXimiCdr\v '
vdwQ ds TtCviiv ßdrgaxog, anoXccvocci frvficov
Xcc%ävcov rs x.d[4rtT), 7tgbg to firj Xova&cci (jvnog,
vn cc 1&Q 10 g %£iilü}vu di dys iv xöi/>t#os x. t. X.
3) vi) dC iyevov Kaibel Athen, p. 552 e.
Abhdlgu. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-bist. Kl. N. F. Band 2, &. 3
18 FRITZ
bestimmten Körpertlieiles sondern des ganzen Körpers oder doch wichtiger Theile
zugleich in Betrachtung gezogen sind. Ich kenne Namen für den Mann von
schreckhaftem, von affenartigem, von silen- und satyrmässigem Aussehen.
Auf schreckhaftes Aussehen weist die Sippe
MÖQtitg Knidos (Henkel bei Dumont 292 no. 127 f.);
MoQ[iiccg Oivalog (CIA 2 no. 1013 u ; 4. Jahrh.);
MoQiiv&iörig1) MiXrjöiog (Ion. Inschr. no. 992; 4. Jahrh.?);
MÖQiicoTtog*) Assos (Papers of the Amer. School 1. 78 no. 68).
Die Namen gehören deutlich zu [lÖQtiog . pöopr}, ^oq^ivvel und fallen inhaltlich
mit [lOQtiOQCüTtög zusammen. Der letzte ist das Participium ^lOQ^cotög.
Gleichsetzung mit dem Affen hat Statt gefunden in
ni&rixog Ornament aus dem Perserschutte (Journ. Hell. Stud. 13
pl. 6 no. 42), nföctxog Stratos (IGS 3 no. 443 io), Grab-
stein in Theben (IGS 1 no. 2770), Kyrene (Smith - Porcher
no. 63. 40. 4s) ;
Ilföav Athen (CIA 1 no. 433 II 26 ; 5. Jahrh.), Eretria ('Ecp. ägX. 1895.
140 III i6s), Naupaktos (IGS 3 no. 366 n), Aigiros (Mitth.
11. 288 no. 567), 'AkalaifdQBvs (CIA 2 no.966^435), Polyre-
nion (Journ. Hell. Stud. 16. 184 no. 15 b 3), ®i&av Theben
(IGS 1 no. 3682), ütd-ow Koavvovviog (Smlg. no. 345 55);
TLiftvlkog 6 Tsv&rjg (Klearchos bei Athen, p. 6c; hierher?)
Die Hässlichkeit des Affen leuchtet aus mancher drastischen Wendung hervor.
Semonides von Amorgos lässt das hässliche Weib aus dem Affen hervorgehn
(fragm. 7. 71 ff.). Ein Dichter der AP (5 no. 76) besingt die Reize einer altern-
den galanten Dame , unter ihnen auch den, dass sie ein runzliges Antlitz trage
olov yr\oa6ag ovöe %i$v\xog s%£t, ; ein andrer (11 no. 196) meint noch höflicher
'Pvy%og e%ov6a Bltcj xqitii^xivov , olov idovöav
xr\v *Exaxr\v avxr\v ofoft' cc7tay%ovL6cu.
Die Höflichkeit ist auch in das Sprichwort gedrungen : die Redensart ovog iv
7tiftr\xoig (Append. 4. 25) wird mit i%\ xcbv al6%Qcbv iv cd6%Qolg erklärt. Mit vol-
lendeter Deutlichkeit hat sie Menander gebraucht in den Versen
ix xr\g 0 ix tag
i^eßaXe xrjv Xv7tov6av iqv ißovlsxo,
lv cc7toßle7tco6t ndvxsg sig xb Kocoßvkrig
7Cq66g37Cov iji x Evyvcj6xog ovo' i{iij yvvi]
diöTtoivct ' xal xr\v ofyw tjv ixxr\6axo
ovog iv m%Y\xoig xovxo örj xb ksyo^ievov
€6zcv.
1) M6'Q[ivftog wie roQyv&og (Eretria, Blinkenberg Eretr. Gravskr. no. 25).
2) Ist MoQficorog zu schreiben? Das doppelte r in lesb. ZcoCrtag (Smlg. no. 266 3; die
Inschrift wird BCH 18. 536 no. 4 als neu publiciert) beurtheile ich nach dem tt von 'AyCxxa in
Myrina (Pottier-Reinach 1. 113 no. 2).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 19
(Kock 3. 115). Bei Aristophanes wird niftrixog als Schimpfwort in wechseln-
dem Sinne gebraucht; dass Panaitios mit ihm geschmückt worden ist (xarakiitaiv
TlavaCnov zti$r\%ov fragm. 347 Dind.), hatte er nach Didymos (Schol. Aristoph.
Vög. 440) dem Umstände zu danken, dass er atö^Qog xig v\v xi\v otyiv (nach an-
dren , weil er pixQotpvrig war). Man kann also nicht bezweifeln , dass die Ver-
gleiclmng einer hässlichen Person mit dem Affen für den Griechen nahe genug
lag. Es wird sich aber zeigen, dass sie auch andren als äusserlichen Fehlern
gelten kann.
Ähnlichkeit mit den Silenen und Satyrn wird nachweislich seit dem
5. Jahrh. durch Verleihung der Namen UiXrjvög, Udrvgog und ihrer Ableitungen
constatiert. Ich darf die beiden Namensippen als gleichwertig betrachten, da
zwischen Silenen und Satyrn vom 5. Jahrhundert an kein wesentlicher Unter-
schied mehr besteht. »Als jene Bockschöre auf die Orchestra des städtischen
Dionysostheaters verpflanzt wurden und Masken erhalten sollten, griff man, statt
einen neuen Typus zu schaffen, zu dem bereits künstlerisch ausgebildeten der Silene
und behielt als Erinnerung an die alte Costümierung nur den Ziegenschurz bei«,
sagt Robert GGA 1897. 44 f. Den bündigen Beweis für das Zusammenfallen
der beiden Gruppen dämonischer Wesen liefert die Erscheinung, dass der Vater
der Satyrn, die im Kyklops den Chor bilden, Etkrivog heisst.
Die Namen Zilr\vog und UdtvQog sind seit dem 5. Jahrh. in allen Land-
schaften gebräuchlich gewesen. Ich will hier nur die Belege mittheilen, die dem
5. Jahrh. angehören, von den Ableitungen jedoch alle, die ich zur Hand habe.
ZJiÄrjvög Halikarnassos (Ion. Inschr. no. 240 30 ; 5. Jahrh.), Thasos
(Hippokr. Epid. 1. 14), ßhegion (CIA 1 no. 33 3); Zikavog
aus der Phyle 'InitoftavtCg (CIA 1 no. 447 III 65), Maxlötiog
(Xenoph. Anab. 7. 4, ig) , Akragas (Head Hist. Num. 106) ;
Eikaviav Megara (Smlg. no. 3025 53 ; 3. Jahrb.), Ko&axLdrjg (CIA
2 no. 2195).
Ich mache auf die Verbindung KoQvpßog Hukavov l) (Messene ; BCH 5. 152 17)
aufmerksam : der Sohn trägt einen Haarschopf, der Vater gleicht dem cpalccxQÖg,
der Eurip. Kykl. 227 leider keine Prügel bekommen hat.
UdtvQog Halikarnassos (Ion. Inschr. no. 240 31), Thasos (Mitth.
22. 120 no. 1 1), Styra (Ion. Inschr. no. 19, 300), Athen (ein
Aevxovosvg CIA 1 no. 237 Ende);
UarvQiörjg Ucctvqov Iasos (Ion. Inschr. no. 104 «27), 'Iovktrjrrjg
(CIA 4 Suppl. 2 no. 54/; 3e). beide aus dem 4. Jahrb.;
EatvQiGxog Bv^dvtiog (Mitth. 15. 219);
2JuTVQi(ov UaxaiKov Pantikapaion (Ion. Inschr. no. 119 1 ; 4. Jahrh.),
Iasos (Le Bas- Waddington 110. 298), Delos (BCH 11. 273
no. 36 1), Chalkis (BCH 16. 114 no. 18), Ovkdetog (CIA 2
1) IIAANOY die Abschrift.
20 FRITZ B ECHTE L,
no. 983 II 125), 'Avd-ridoviog (CIA 2 no. 2792), Naupaktos
(IGS 3 no. 3599), Kranioi (BCH 7. 191 II 13), Trozan (BCH
17. 120 no. 34 4).
Ein Thessaler heisst Eaxvgtov 'TßQiöxatog <Smlg. no. 326 II 50 ; 3. Jahrb.): Be-
weis genug, dass die Ähnlichkeit zwischen Mann und Satyr auch auf der ethi-
schen Seite liegen kann.
Berühmt ist die Vergleichung des Sokrates mit den Silenen bei Piaton
(Symp. p. 215) und Xenophon (Symp. 5). Bei Xenophon wird sie nach der
körperlichen Seite theilweise durchgeführt: Sokrates-Silenos lobt seine Augen,
weil sie nicht nur xb xax1 ev&i) oqcdölv sondern auch tö ix nXayiov diä xb i%i-
jzöXaiot, tivai ; ferner die öLfiorrjg seiner Nase und die itajyx^g seiner Lippen.
Wäre das Bild vollständig, so würde auch der Kahlköpfigkeit, der Pferdeohren,
des zottigen Leibes und wol auch schon des dicken Bauches Erwähnung ge-
schehen. Wessen Körper nun eines oder mehrere *) der für die Silene charak-
teristischen Merkmale aufwies, für den war die Vergleichung mit den scurrilen
Gesellen gegeben, einer der Spitznamen ZiXr\v6g, Udxvgog der Umgebung auf die
Zunge gelegt.
Eine andre Reihe von Spitznamen bat auffällige Beschaffenheit einzelner
Theile des sichtbaren männlicheu Körpers zur Voraussetzung.
Der edelste dieser Theile ist der Kopf.
Die griechische Sprache besitzt eine stark ausgebildete , weit verbreitete
Sippe von Namen , die durch Umgestaltung des Wortes xeyaXr\ geschaffen sind.
KsyaXog Athen (Aristoph. Ekkl. 248 und sonst), Styra (Ion. In-
schr. no. 19, 50. 213— 2ie), ©sööaXög (CIA 4 Suppl. 1 no. 49114),
Syrakus (Jvöcag vibg v\v KsydXov xov Av6avCov xov Kscpd-
Aou, 2Jvqccxo6iov [iev yevog .... Zehn Redner Lysias 1),
Klazomenai (Plat. Parm.), Korinth (Plut. Timol. 24), Epi-
dauros {'Ecp. ccq%. 1892. 72 50) , KoXjccclog (Smlg. no. 1350 7),
Akarnanien (IGS 3 no. 531), Dreros (Mus. Ital. 3. 657
no. 73 A s);
Ke<pdX{X)u Theben (IGS no. 3634; 5. Jahrb.), KeydXXsig Hyettos
(ebd. no. 2826 11);
Ks(paXicov häufig in Athen seit dem 5. Jahrb. (CIA 1 no. 432
I5), VlvvÖLog (CIA 4 Suppl. 2 no. 3244&), 'HQuxXsäxrig (CIA
2 no. 614 2s), Henkel mit äötvvöfiov (Becker Jahrb. f. Phil.
Suppl. 10. 29 no. 22) ; Verdoppelung des X in Styra (Ion.
Inschr. no. 19, 212) wol nur durch Schreibfehler2);
KecpaXlvog Pharsalos (Smlg. no. 329 B) , Togvöalog (Smlg. no.
1339 4) ; ein iQrfixog wird CIA 2 no. 3849 erwähnt ;
1) Vgl. Zipiow raöötgovvsLOs, ZiiiCug $u}.üy.qzio<s Smlg. no. 326 II 17, no. 345 49; Zipunog
$>alcc7iQL<ovog Fouilles d' Epidaure 1 no. 2;;b>f>.
2) Ein KecpaXi(ov aus einer andren euhuisehen Stadt Mitth. 9. 271 Beil. «6.
r
GRIECII. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 21
Keyäkcov Tlskivva\uvg\ (BGH 20. 206 so; 4. Jahrb.), Delphi (BCH
20. 205 23), Diener des ältren Aratoa (Polyb. 8. 14, 5);
Ktcpukvxrjg Styra (Ion. Inseln-, do. L9, st7 f. ; 5. Jahrh.) l).
Stünden die Namen Keycckoe, Keyukl&v allein, so läge nichts näher als die
Annahme, dass Leute, die Kenalog heissen, namentlich Athener, nach dem Heros
genannt, die Kscpakicovsg dagegen als seine Nachkommen gedacht seien. Aber
die drei Formen Keyäkket , Kecpdkcov , Ks(pakvTr\g machen so sehr den Eindruck
von Spitznamen, dass man die Möglichkeit ins Auge fassen muss, in Kenalog
fallen zwei Namen verschiedner Herkunft zusammen : der auf den Menschen
übertragne Name des Heros, und der Spitzname für Leute, die einen dicken
Kopf haben. Bekanntlich gibt es auch einen Fisch nirpakog. Nach der Erklä-
rung des Euthydemos bei Athen, p. 307 b ist ihm dieser Name beigelegt diä rb
ßagvteQccv xr\v xscpakrjv exslv. Cuvier hat ihn mit dem Mugil cephalus identi-
ficiert (vgl. Aubert- Wimmer 'jQiöxoztkovg 'lötoQiai itsgl £cqicöv 1. 130'. Wenn
man nun erfährt, dass die Griechen aus einer Gattung von Fischen eine Art als
Dickköpfe herausheben, so wird man von ihnen erwarten, dass sie auch mensch-
liche Individuen, die ßagvrtgav xr\v x£cpakr}v e%ov(Siv , als Capitones bezeichnet
haben.
Weniger Worte sind zur Erklärung der nächsten Sippe nöthig, der (po%6g
zu Grunde liegt:
Oo^og 6 tvgavvog Chalkis (Aristot. Polit. 5. 4) ;
tpotydag Mskttaisvg (Polyb. 5. 63, 11 ; 3. Jahrh.) ;
Oo&ag 'AXoTtexfi^Ev (CIA 4 Suppl. 2 no. 775 b II % ; 4. Jahrh.) . He-
rakl. Pont. (IGS 1 no. 2531 ,);
Oo&vog Theben (IGS 1 no. 2420 2 ; 3. Jahrh.) , Thessalien (Smlg.
no. 326 III 27);
Oo^cov Orchomenos (IGS no. 3178 3 ; 3. Jahrh.).
Von Thersites sagt Homer (B 219) cpol-bg erjv xscpcckrjv ; die (po£,L%eLkog,AgyELr] %vki%
des Semonides von Amorgos wird bei Athen, p. 480 d als eine xvki% üg 6h,v avr\y\Livr\,
oIol stötv ot apßixsg xakov{i£voi, definiert. Also kein Zweifel, dass wir eine Ge-
sellschaft Spitzköpfe vor uns haben. Der Krannunier 0£g6irag, der Smlg. no.
345 77 das Bürgerrecht von Larisa erhält 2), könnte ebenfalls ein cpo%6g sein, wenn
sein klassisches Vorbild nicht so viele körperliche und seelische Vorzüge auf-
wiese, dass wir nicht wissen können, welche Gemeinsamkeit mit diesem ihm den
Ehrennamen eingetragen hat.
Neben dem Spitzkopfe darf der Langkopf nicht fehlen. Bahnen wir uns
1) Ich möchte, im Anschluss an Fick (GP2 30), die Frage aufwerfen, ob nicht die böotischen
Namen Kecpcov, Kscpmvi%og, Ktcpivug (IGS 1 no. 1751s, 3175 46, 3635 , für die sonst keine Erklä-
rung zu finden ist, aus KscpdXcov u. s. f. verkürzt sind (vgl. Kcccpm ans Kacpiom).
2) Eiu zweites Beispiel des Namens findet man Journ. Hell. Stud. 9. 341 : ein f)eo%Xijg
€>SQ6ttov MsXißoLSvg wird laut der zweiten dort abgedruckten Urkunde ngoi-svog von Iasos.
22 FRITZ BECHTEL,
den Weg zu ihm durch Bewundrung der Verse, in denen Kratinos den Kopf
des Perikles portraitiert hat:
rO 6%Lvoxi(paXog Zsvg oöl 71qo68q%£tcu
6 IleQixXerig, rCyiösiov STtl rot) xoaviov
£%(üv, sneidii xov6%oaxov 7iaQ0i%Brai
(Meineke 2. Gl). Plutarch, der sie mittheilt (Perikl. 13), hat seiner Quelle auch
die Erklärung des Beiworts 6%ivox8cpalog entnommen : 6%lvog sei synonym mit
öxilXa, der Staatsmann habe eine TCQo^xrj xscpaXrjv xal döv^^istgov auf die Welt
gebracht (Perikl. 3).
Der Langkopf ist durch einen vergleichenden Namen vertreten. Ich meine
Mccxqcjv x) Vasenmaler zu Athen (Klein Vaseninschr. mit Meister-
• sign.2 173; 5. Jahrb.), ferner beglaubigt für Styra (Ion.
Inschr. no. 19, 250), Halikarnassos (Dittenberger Syll. no.
6 c 47) , Chios (ebenda no. 350 27) , Alexandreia (ebenda no.
198 134), Byzanz (CIA 2 no. 2859 2-).
Wäre MdxQcov aus Euboia allein bezeugt, so würde man mit der Berufung auf
die Notiz des Steph. Byz. MdxoLg- r\ Evßota' ot oixovvtsg Mdxocovsg auskommen.
Bei der weiten Verbreitung des Namens aber halte ich diese Erklärung für
ausgeschlossen. Dagegen kann MdxQCJv überall verstanden werden als ein Mann
wie ein Makrone. Die Mdxo&veg sind von den Griechen frühzeitig mit dem
fabelhaften Volke der MaxaoxecpaloL identinciert worden, bei dem es für vor-
nehm galt den Kopf des Neugebornen dvaitkd66£iv xal dvayxd^uv ig rö [irjxog
av^eöd-at, so dass schliesslich der vö{iog zur cpvöig führte (Hippokrates TIsqI deocov
14). Herodot erwähnt die Mdxocovsg zusammen mit den TißaoYivoC, Moövv 01x01,
Maoeg und Mo6%ot (3. 94), setzt sie also in die Gegend, in der sie später Xeno-
phon rindet. In dem gleichen- Gebiete aber lässt Skylax die MaxaoxiyaXoi
hausen : Müller Geogr. Gr. 1. 62 § 85 Metü de Be%ei,Qccg MaxQoxicpakoi e&vog,
xal *Fa>Qa)v fopriv, ToaTtst.ovg %6lig 'EXXrjvig. § 86 Mstä dh Max^oxacpdXovg M06-
övvoixoi i&vog, xal Zscpvoiog Xl^iyjv , Xoioddsg nolig fEXkr\vlg,"AQE(og vfiöog. So-
bald diese Gleichsetzung vollzogen war, konnte der Volkswitz Leute, die mit
langem Haupte durch die Strasse zogen, als Landsleute der Mdxoaveg feiern.
Die auffällige Gestaltung der Stirne hat vielleicht ihre Würdigung ge-
funden in
MtzcoTtog 2JvßaQLzr}g (Iambl. De vita Pyth. 190 11 N.) , Mixovnog
AsovToiisveLog, M. zJaiiod-eoGsiog Koavvovvioi (Smlg. no. 345
62. 85; 3. Jahrh.).
Sprachlich ist es jedesfalls möglich Mixwitog als Mann mit breiter oder hoher
1) Dieser Name ist GPa 194 ohne Zweifel verkehrt beurtheilt. Au und für sich könnte
Mö.y.q(üv auch den langen Menschen bezeichnen. Aber die Griechen verbinden mit Mangav einen
bestimmten Begriff.
c
GBIECH. PERSONENNAMEN A.US SPITZNAMEN. 23
Stirno zu fassen, als Synonymum von {lexconiag , das Pollux bezeugt: xal ^r\v
ovo{idt;oix' äv xig svxecpaXog, r} b^vxtyaXog , bv r'0{ir}oog xaXsl cpo^ov , . . . rj cvpv-
[iST(D7iog cjg 'JXxißiddrjg ' 6 de xoiovxog xal ^isxcjTtiag ovo fidc^erat (2. 43). Es muss
aber hervorgehoben werden, dass auch andre Erklärungen sprachlich zulässig
sind, die durch die in Thessalien beobachteten Namenverbindungen nahe gelegt
werden , dass also Mexconog nicht mit Sicherheit als Äquivalent des lat. Fronto
in Ansprach genommen werden darf.
Mit dem Auge steht wieder eine grossre Anzahl Namen in Verbindung.
Eine Aussage über die Beschaffenheit der Augenbrauen enthält der
Name
"OcpovXXog Larisa (Mitth. 7. 226 no. 48);
vgl. etwa övvocpQvg xooa Theokr. 8. 72.
Die Schiel er bilden eine Gruppe unter sich, die durch zwei Wortstämme
und durch vergleichende Namen vertreten ist.
Zxoaßui Bildhauer in Athen (CIA 2 no. 1155; 4. Jahrh.) ;
UtQccßcov Thasos (Thas. Inschr. no. 19 I5; 3. Jahrh.) ; b'A^aösvg
cpiXötiocpog (Suid.); Hxgößcov Eretria ('Ecp. <xq%. 1895. 130 34),
ohne Zweifel eingewanderter Boioter oder Thessaler.
Vgl. Poll. 2. 51 .... dittötoocpog, 6xosßX6g ' 6 yäg öxoaßbg lökdxlxov, xal oC öxod-
ßaveg (überl. 6xoaßcov£g) iv xfji viat xco^icotdiaL.
fiXXayv Theben (IGS 1 no. 2431 10 ; 4./3. Jahrh.).
Vgl. Aristoph. Thesm. 846 IXXbg yeyivr\\iai 7tQo6doxöv, wozu in den Scholien aus
Sophron tXXoxsoa täv xogcjväv citiert wird *).
Als vergleichende Namen, die in dies Gebiet einschlagen , dürfen angesehen
werden
KaoxCvog Navitdxxtog (Charon bei Paus. 10. 38, 11 ; 6. Jahrh.),
Athen (Aristoph. Fried. 782 ff.), Halikarnassos (Ion. Inschr.
no. 239 8), 'Prjylvog (Diod. 19. 2, 2), Antiochia (CIA 2 no.
2808), Prokonnesos (ebd. no. 3278);
KaQXiVLcov Styra (Ion. Inschr. no. 19, 211 ; 5. Jahrh.)
und
[Kd]9aßog Chaironeia (IGS 1 no. 3300 25) 2).
Im Symposion des Xenophon (5. 5) rühmt Sokrates an seinen Augen , dass sie
ihm auch xb ix nXayiov bocoöiv diä xb ZTtmbXaioi elvai. Darauf erhält er die
Antwort: Xeysig 6v xaoxivov evocp&aX^ioxaxov slvai xCbv föicov. Über die Augen
der Languste urtheilt Aristoteles IIeqI rä £gh« iöxoq. (4. 2.1 : xä d' o^axa ....
1) Einen Naturfehler des Kräheiiauges kann Sophron nicht im Sinne gehabt haben. Die
Krähe schielt nur in dem Sinne, in dem es der Stier auf dem bei Herondas 4. 66 ff. beschriebneu
Bilde thut.
2) Ein Kagaßog war wol auch auf der verstümmelten Urkunde CIA 4 Suppl. 1 no. 116^5
erwähnt (erhalten ffF
24 • FRITZ BECHT EL,
i<5xl öxXrjgocp^aX^a, xal xivElxai xal ivxbg xal ixxbg elg xb nXayiov, wofür es etwas
später Leisst: elg xb nXdyiov ßXiitovGiv oi tiXelöxol. Den Alten lag also die
Gleichsetzung des Schielers mit Krabbe oder Languste recht nahe *). Der
Staatsmann Kallimedon hat nachweisbar den Beinamen 6 Kdgaßog mit aus dem
Grunde bekommen, weil er schielte. Dafür zeugen zwei von Athenaios (p. 339 f,
p. 340) ausgehobne Komikerstellen.
Timokles im noXimgayuav (Meineke 3. 609):
Eitf 6 KaXXt^iEÖ(ov acpva
6 KcCQttßog TCQO<5)]ld-8V, E{lßXe7t(DV Ö' EflOL,
ag yovv eöoxel, 7igbg e'xeqov uv&QcoTtov nva
iXdXEL, övvielg d' ovöev eixöxng iyco
cjv slsysv ETtevevov diaxEvrjg ' xCjl d' aga
ßXETCOVÖL %G)QLg XCcI ÖOXOVÖLV dl XOQCCl.
, Alexis im KgaxEvag tj <PaQtiaxo7tcbXr}g (Mein. 3. 431):
Tat KaXXiyLEÖovxi yäg &eqccti£vco xäg xögag
Yiör\ xExccQXtjv r^iEgav. — Höav xbgai
&vyccxEQ£g avxcbi; — Tag {iev ovv xcjv d^^idxcov,
ag ovc? 6 MsXd[i7tovg, og [lövog xäg TlQOixidag
ETtavQE [icuvoiievccg, xaxa6xiq6Ei£v dv.
Allerdings liebte er auch Langusten zu verspeisen, so dass sogar das <piXo<5o<pc}-
xccxov yivog der Fischhändler den ßeschluss fasste sein Bildnis auf dem Markte
aufzustellen, £%ov6av onxbv xdgaßov ev xy\i §£%iai, da Er allein ihr Gewerbe zur
Blüthe brächte (Alexis bei Meineke 3. 407). Aber er ist auch sonst kein Kost-
verächter; so wird es ihm äusserst schwer den Kopf eines yXavxog fahren zu
lassen (Antiphanes bei Meineke 3. 43), er allein versteht es xaxaitiElv ex £eövxg)v
Xoitadicov a&govg rstia%LXccg, &6x' ivslvca möe ev (Eubulos bei Meineke 3. 207),
und den Aal liebt er so getreulich, dass Menander noch den todten Mann als
Vetter des Aales feiert (Meineke 4. 161). Wenn ihm also der Witz der Komödie
von all diesen Lieblingen nur den xdgaßog als ständigen Begleiter mitgab, so
muss das geschehen sein, weil so mit Einer Klappe zwei Fliegen zu schlagen
waren: die Leidenschaft für die Languste und die Gewohnheit die Augen wie
die Languste zu stellen1).
Ferner machen wir die Bekanntschaft eines Blinzlers: .
dsvdiXog Thessalien (Smlg. no. 326 1 33. 34 ; 3. Jahrh.).
Vgl. Hom. 1180 dsvdiXXcov ig exccötov , 'jedem einzelnen zublinzelnd'; diavsvcov
xoig öy&ccXtLotg Schol. Ven. A.
1) Die Augen des yiag-uLvog eignen sich noch in einem andren Sinne zum Vergleiche. He-
rondas 4. 44 beschwert sich Kynno über die Langsamkeit ihrer Dienerin mit der Wendung
fffTijx* S' zig [i Öqsvocc %ccq'hivov [ie£ov.
Sie ärgert sich also über die Knopfaugeu der 8ov%r\.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 25
Den Triefäugigen muss man wol erkennen in
Fkrjuvg (Schalendeckel aus Phaleron , Kretsclimer Vaseninschr.
100) l).
Der Name ist auf ykrj^rj aufgebaut und sinnverwandt mit yldfiav, einem Worte,
das als Beiname verwendet worden ist. Bei Aristophanes werden zwei yXd^(oveg
durchgenommen: Frösche 588 'AQxsdrjpog 6 rXd^cov , Ekkl. 254. 398 NsoxXsLÖrjg
6 rXd{icov. Mit dem ersten von ihnen hatte sich schon Eupolis beschäftigt; er
nennt ihn, wir wissen nicht in welchem Zusammenhange, schlechtweg xbv TXd-
ficova : xr\v itavdoxevxQtav yäg 6 rXd^icjv b%u (Meineke 2. 432 fragm. 14). Beiname
also ist das Wort ykd^icov sicher gewesen ; vielleicht aber auch an die Stelle des
bürgerlichen Namens gerückter Spitzname. Zu 'AQ%t8r\aog 6 Ikdyictv bemerken
die Scholien zu den Fröschen (588) : yXd^icav ' 6 e%ov Xrjfiag , 6 dxdd-ccQxog ....
KaXXCöxQccxog cpr\<5iv ort ovxag exaksixo D.d^av, cog Xdgcov.
Über die der Erwartung zuwiderlaufende Form der Nase haben die
Griechen ihren Spott ebenfalls in einer Anzahl Namen niedergelegt.
Seit dem 6. Jahrhundert sind Namen zu belegen, die den Stamm tftfid- ent-
halten, also den Stumpfnasigen charakterisieren. In keiner Landschaft
fehlen sie. Ich begnüge mich auch hier damit für jede mir bekannte Namenform
einen einzigen Beleg zu geben; das Verbreitungsgebiet des Stammes wird sich
auch so erkennen lassen.
[2\ttioQ Korkyra (IGS 3 no. 870 1 ; 6. Jahrb.);
Uüfiäg Ionier unbekannter Herkunft (CIA 4 Suppl. 2 no. 1012 b 9) ;
Zifiddag Halos (BCH 11. 367 9);
ECybccKog zJavkievg (Smlg. no. 1969 4) ;
UtfidxcDv Samos (BCH 5. 482 9);
Zipakog Abdera (Num. Chron. 1892. 3);
UificcM&v Thasos (Thas. Inschr. no. 4 I10)2);
Zfyug Delos (BCH 9. 147, 9) ;
ZLuCag <&aXdxQ£Log üanö&Qcct, (Smlg. no. 345 48) ;
ZtiLiddag Karpathos (IGrl 1 no. 1034 s);
Zifi£dag Tegea (Smlg. no. 1231 II2.);
1) Die Aufschrift 9YKUOS TUEMYAO — ich vermag die Buchstabenformen nicht genau
wiederzugeben — bildet einen Kreis; zwischen dem Anfange des einen uud dem Ende des zweiten
Wortes ist ein Spatium gelassen. Kretschmer liest wie seine Vorgänger Rhusopulos, ECurtius und
Benndorf KvxXog rXr}(ivdov. Da mir eine Namenform TXr\yLv8r\g bedenklich vorkommt, denke ich
mir rUEMYAO als rXr\pv8o(g) und gewinne so einen Namen rXrifivg^ für den ich mich auf Kafifivg
und Genossen (Bekker Aneed. p. 1195) berufe. Zur Flexion vgl. Kovvvdog neben Kovvv auf der
Execrationsinschrift CIA 2 App. no. 57.
2) Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, dass sich dieser Name auch hinter dem *IMf|AlßN
Z. 56 des Verzeichnisses keischer Proxenoi verbirgt, dessen Bruchstück Mitth. 9. 271 Beil. fac-
similiert ist.
Abhandlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 6. 4 r
26 FRITZ BECHTEL,
ZL{ii6xog Tauromenion (IGSI no. 421 I ann. 1) ;
Ziuixtöag Theokr. (vgl. Paton-Hicks 355);
Ziaicov Korinth (Smlg. no. 3119a; 6. Jahrb.);
Hi^ivXog Styra (Ion. Inschr. no. 19, 87 f.);
Zifivkiav Jelcpog (BCH 20. 202 72) ;
Eiavklvog knidischer Henkel (Dumont 244 no. 98) ;
Zlikdv1) Klazomenai (CGC Ionia 27 no. 88);
Hi^KDVÖYiq Ui^icovog Eretria (E(p. ccqi. 1895. 131 II 4);
EiadvCdrig xrjg <pvlf\g TlavdiovCdog (CIA 4 Suppl. 1 no. 446a II 27).
Namenformen mit verdoppeltem fi sind mir aus mittelgriechiscken In-
schriften, die bis ins 4. Jahrb. hinaufreichen, bekannt :
2Jb[i[iog Koavvovviog (Smlg. no. 345 74);
Zipiifag Theben (IGS 1 no. 2429 1), Chaironeia (ebd. no. 3322 1),
Kgccvvovviog (Smlg. no. 345 01), Phalanna (Smlg. no. 1330 4),
V^iohsvg (BCH 20. 207 48) ;
ZLß{iL%og Hyampolis (IGS 3 no. 87 52) ;
£i{1[ilovv Kgavvovviog (Smlg. no. 345 51).
Diese ganze Masse von Namen geht von öi{iog aus, ist geschichtlich von
den Vollnamen Ziiica&og (Stratos; IGS 3 no. 446 12) und 'AvxCöi^og *) (Karpathos;
IGI 1 no. 1034 86), wie Horlmann (Beitr. 22. 137 f.) mit Recht betont hat. ganz
unabhängig. 'AvxCöi^og erinnert an avaGiuog bei Herondas (4. 67; so die erste
Hand), und ist einer der vielen zweistämmigen Spitznamen. ZCitcuftog (das Fe-
min. Ei^atxtr] seit dem 5. Jahrb.) macht wegen der Unübersetzbarkeit der Zu-
sammensetzung den Eindruck , als sei diese lediglich durch Wucherung des
zweiten Namenwortes zu Stande gekommen.
Nach Herodot (4. 23) waren alle Skythen cpaXaxQol .... xal 6i{iol xccl yeveicc
e%ovreg ^EydXa. Es würde also der Anschauungsweise des Griechen nicht fern
gelegen haben einen Stumpfnasigen Uxv&rig zu benennen. Aber mehr als die
Möglichkeit anzudeuten vermag ich nicht.
Kyros räth dem Chrysanthas eine öliit] zu ehelichen, da er selbst ein yQvjtög
sei; zu der 6L{iötr}g der weiblichen Hälfte werde die yQVTtöxtjg der männlichen
die wünschenswerthe Ergänzung bilden (Xenoph. Kyrop. 8. 4, 21). Wer einen
Knaben lieb hat, sagt Piaton (Polit. 5. 19), findet alles an ihm schön: 6 {lev,
OTt öitiog, ETiCxaQig xkrjd-elg ETtaivE&YfiExai vcp vpcüv , xov dh xb yQvnbv ßccöcXinov
(paTE sivca, xbv öe d») diä [ieöov xovxav E^EXQOxaxa e%eiv xzX. Grund genug,
nach der Betrachtung, der eifioi die Gesellschaft der Habichtsnasen auf-
zusuchen.
1) Mit kurzem i, vgl. MCtmov.
2) Die Vermuthung, dass ''AvxCölXXos auf dem Steine stehe (Beitr. 21. 2272), muss ich nach
brieflicher Mittheilung des Herrn Dr. Hiller von Gärtringen zurücknehmen.
5
GRIECn. PERSONDNNAMEN AUS SPITZNAMEN. 27
rpvTtog Athen (Aristopli. Ritt. 877; überl. Tgvxxov , doch hat
Suidas in den Aristophanesscholien , aus denen er schöpfte,
die Variante Tgimov gefunden) ;
[r]QV7Ccov Athen (CIA 2 no. 1010 1 ; 4. Jahrh.) , freigelassen in
Epeiros (Smlg. no. 1351 i);
rQVTcC&v Tenos (Anc. Gr. Inscr. no. 377 30 ; 3. Jahrh.).
Antiochos VIII erhielt wegen seiner Habichtsnase den Beinamen 6 rgvitög
(vgl. Athen, p. 153 b imb xov rgvicov xaXov^ivov ''Avxiöyov).
Wenn Männer die Namen von Vögeln führen, die durch krummen Schnabel
ausgezeichnet sind , so können sie wegen ihrer yQV7toxr\g dazu gekommen sein.
Daher darf ich hier einreihen
'IeqccZ, Sparta (Xenoph. Hell. 5. 1, 3), Amphipolis (Demosth. 1. 8),
'AvTio%evg (Poseidonios bei Athen, p. 252 e), Uskevxevg (CIA
2 no. 3310), Fabricant auf einem rhodischen Henkel (IGSI
no. 2393, 299);
'legaxog &eoxvöovg Delos (BCH 14. 401 73 ; 3. Jahrh.);
ferner
Bdgßat, Thera (7. Jahrh.; mitgetheilt von Dr. Hiller von Gärt-
ringen) ;
um
'Ixxlvog, Erbauer des Parthenon (Paus. 8. 41, 9).
Der Name Bagßuh, wird durch die Glosse ßdgßat, ' l8qcc% itagä AißvGi (Hes.) er-
läutert, die, wie der Stein von Thera zeigt, nicht angetastet werden darf. Übri-
gens gelten die grossen Vögel als Könige, daher ihre Namen auch als ehrende
Cognomina verwendet werden : Plut. Arist. 6 ö x&v ßccöLleav xcel xvgdvvcov ovöelg
e^rjXcoöEV, eckkä IIoIloqxyixccI xccl Kegccvvol xccl Nixdxogeg, svtot de 'Aexol xal cIegaxai
eiuLQOv 7tQo6ayoQev6[ievoi. . . . Auf Inschriften der Kaiserzeit trifft man den
Namen rIega^ so häufig, dass man ihn hier wol für Ehrennamen halten muss.
Auch der Besitzer einer starken Nase, der J\aso, kommt im Lexikon der
Spitznamen nicht zu kurz.
Zu qlv- wird gebildet
Pivcov 6 IlaiavLEvg (Aristot. '%-r\v. TIoXix. 38; 5. Jahrh.), Megara
(Smlg. no. 3025 36) ^.
Das Wort gvy%og wird nach Athenaios (p. 95 d) ursprünglich inl t&v gvCöv
gebraucht; aber auch den Vögeln wird ein gvy%og zugeschrieben (xotg d' oqvlölv
eöxL xb xalovfisvov gvyiog <5x6yLu, Aristot. liegt Z&uav ^logtcov 3. 1) , nicht minder
dem Hunde (Theokr. 6. 30). Wenn in vulgärer Redeweise auch der Mensch mit
einem gvy%og ausgeboten wird, so kann mit dem gvy%og nur ein rüsselartig ge-
bauter Mund oder eine schnabelartig gebaute Nase gemeint sein. Die Wen-
1) Evcpgovris 'Ptvcovog auf einem megarischen Steine des 5. Jahrh. (Class. Rev. 1891. 34 1,
Mitth. 21. 443). Der erste Name ist aus Evcpgovrjxog verkürzt; vgl lifioftvris bei Aischylos.
15 4* s
28 FRITZ RECHTE L,
düngen "Oörj xb gvy%og xov Ttavxoegxxeco xovde , Kotixe xb gvy%og ccvxov (Herond.
5. 41, 7. G) , die um einen Ton tiefer gestimmt sind als "Eine xfjg giv6g und
KoTtrs xr\v glvcc (Crusius Unters, zu d. Mimiamb. d. Herond. 103. 111), lassen es
räthlich erscheinen an die Nase zu denken. So entpuppt sich der
(PvyXcov Theben (IttS 1 no. 2573; 5. Jahrh.)
als ein Mann mit starker Nase.
Mit den Bedeutungen von gvy%og berühren sich die von gcc{upog nahe. Ari-
stophanes nennt den langen Schnabel des Wiedehopfs gd^Kpog (Vögel 99). Die
Nebenform gs'fupog wird bei Hesych mit öxöfia ' rj gig glossiert. Die ga^tprj er-
klärt Hesych mit noitig und iid%atga ; es wird also ein leicht gekrümmtes
Schwert mit ihr gemeint sein. Demnach darf man sich unter
'PccticpLccg Aaxedcutioviog (Thuk. 1. 139, 3)
einen Mann mit vorspringender Nase vorstellen.
Mindestens Ein vergleichender Name findet hier Unterkunft.
Aristoph. Vög. 1292 ff. lesen wir:
neodtt, [iev eig xccicrjXog cjvopd^exo
^co/ld?, MsvLTiTCcai d' i]v Xehdav xovvo{icc,
'ÖTtowricüL (5' bfpd'ak^bv ovx iyföv Kogcct,.
Die Scholien geben an, dass der Dichter der 'AxaXdvxr\ (Strattis) des 'Oitovvxiog
gedenke tag piya gvy%og E%ovxog , ebenso Eupolis in den Taxiarchen. Daraus
darf geschlossen werden, dass der Demagog wegen seines gvy%og zu seinem
Übernamen gekommen sei 1). Auf diese Weise ist eine Möglichkeit gefunden die
Bedeutung des Namens
Kogat, Thera (7. Jahrh. ; mitgetheilt von Hiller von Gärtringen),
Syrakus (Aristot. Rhet. 2. 24), (Hgaxk[ed)xrig] Le Bas-Wad-
dington no. 599 & 21)
zu begreifen.
Es fragt sich aber, ob nicht auch den übrigen Namen , die von Vögeln mit
langen Schnäbeln entliehen sind . der Sinn inne wohne , den wir für K6ga% aus
den Quellen erweisen konnten. Leider vermag ich die Frage nur aufzuwerfen,
nicht zu fördern. So mögen also die Krähe
Kögcovog Styra (Ion. Inschr. no. 19,22«; 5. Jahrh.), KricpLGisvg
(CIA 2 no. 1466 3), Kögovvog Kgavvovviog (Smlg. no. 345 57) ;
KoQcjviiog Eretria CEcp. ug%. 1895. 133 I«)j
Koqcovlcov 'Egoiddrjg (CIA 2 no. 2029),
die Dohle
Kohoiög Apollonia 111. (Münzen des österr. Kaiserhauses 1. 28
no. 24; 3./2. Jahrh.),
1) Koqcc£ ist auch Spitzname des KaXlwv8r\g , der den Archilochos tödtete (Plutarch IJsgl
xdv vnb tov ftsov ßgadscog TL(i(ogov(isvcov p. 560 d). Was ihn veranlasst hat, ist nicht bekannt.
QRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 29
und der Wiedehopf
"Eiioty (CIA 2 no. 3660; Sklave)
einstweilen nur der Vollständigkeit halber genannt sein.
Zum Ersätze sei es gestattet einen witzigen Spitznamen aus der Zeit der
zweiten Sophistik anzuführen, den ich Grasberger verdanke (Stichnamen 338tf):
Varus aus Perge hiess IJekaQybg diä xb xvqöov xf\g Qtvbg xal Qa^icpaöeg (Philostr.
BCot 6o(pi6xG3v 2. 250 K.).
Stark entwickelte Ohr läppen bilden den Gegenstand der Schadenfreude
in den Namen
Aößcov ix Kr\d(Jbv (CIA 1 no. 59 4; 5. Jahrb.), '/Igyslog (Diog.
Laert. 1. 1, s).
Der Silenenname Vpaxirjg charakterisiert die Pferdeohren des Silenos (Kretsch-
mer Vaseninschr. 64). Fick hat ihn mit dem mythischen Ovaxiag (Nikol. Damasc.
fragm. 53 M.) identifiziert (Odyssee 10).
Wer ein Paar tüchtige Kin nb acken in Bewegung zu setzen hat. bekommt
seinen Namen von der yvd&og. Die Sippe ist ;ilt und weit verbreitet.
rvd&cov Styra (Ion. Inscbr. no. 19. 17«; 5. Jahrb.), Halikarnassos
(ebd. no. 240a ig), XoXXetöqg (CIA 2 no. 943 II 27), Jinaievg
(Paus. 6. 7,9), Kos (Paton-Hieks no. 9«);
rvaftig ®e<3<5aUg (Paus. 5. 24, 8 ; 5. Jahrb.), 'EUvöiviog (CIA 4
Suppl. 2 no. 574/; 19), 'Agyelog (E<p. d9%. 1892. 70 34), Lokr.
Epizeph. (IGSI no. 2401 1) ;
Tva&iog 'Axrjvevg (CIA 2 no. 869 1 20 ; 4. Jahrb.), Euboia (Mitth.
9. 271 Beil. 07), Korkyra (IGS 3 no. 682 4), KQi}g TvU<Ho$
(Mitth. 11. 48 no. 3 2).
Bei rvd&cov entwickelt sich aus der Bedeutung 'wer starke yvddot hat'
nachweislich die Bedeutung 'wer die yvd&OL fieissig in Bewegung setzt' (äXoav
Xqyj xccg yvd&ovg Aristoph. fragm. 544 Dind.) , besonders auf fremde Kosten.
Einem Ttolvydyog hat Eupolis Eselskinnbacken zugeschrieben (Meineke 2. 572
fragm. 85). Zu dem Inventar eines jiaQaöixog gehört nach Nikolaos (Meineke 4.
579 f.) eine yvd&og dxd{iaxog ; mit dieser zerschmettert er die Tische, um sie für
die "Wettbewerber unzugänglich zu machen (Anaxippos, Meineke 4. 464). So
wird deutlich, warum ein tapfrer Mann, der ye'yova deivoxaxog xdlXoxQiet öeiitvelw
den Namen rvd&cov tragen konnte (Plut. 2Jvii7toö. TCQoßXrj^i. 7. 2).
Auffalliger Bau des Mundes hat zur Bildung von Spitznamen veranlasst,
in denen die Nomina öxöpcc und %eiXog benutzt erscheinen.
Von <5%6\lol geht aus
Zxopag AixaXög (Dittenberger Syll. no. 188 2 ; 3. Jahrh.), Hyettos
5
30 FRITZ BECHTEL,
(IGS 1 no. 2815 g), Trozen (AegCag Zto(iü BGH 17. 94
no. 10 3).
Am nächsten liegt er 2Jro^iag als Verkürzung von Htö^agyog zu fassen. Ich
bin auch weit entfernt zu läugnen, dass mancher Träger des Namens ihn seiner
Zungenfertigkeit zu danken habe. Aber die Verbindung eines Aegcccg mit einem
Ero^iag scheint mir dem Etopäg in diesem bestimmten Falle die Bedeutung 'einer
der einen grossen Mund hat' zu vindicieren , da Aegiag doch wol den be-
zeichnet, 'der einen langen Hals hat'.
An %sikog schliesst sich eine Sippe an, die vermuthlich Leute mit wulstigen
Lippen (Labeones) bezeichnet:
XCkov '), in Sparta seit dem 6. Jahrb., Elis (Olympia 5 no. 12 7),
XCk&v XCkovog IJaxQevg (Paus. 6. 4,6), unbekannter Prove-
nienz (Alterth. v. Pergamon. 8. 1 no. 4ß); [X]sikcov Krjyt,-
öcevg (CIA 4 Suppl. 2 no. 14c 3; 4. Jahrb.); N
Xtkecog ävr\Q Tsyeiqzii]g (Herod. 9. 9);
Xik&g Mezanovzlvog (Iambl. De vita Pythag. 189 g N.).
Xstkcjv verhält sich zu Xikcov wie ion. %sikLOi, zu att. %Ckioi, wie \iükiyog zu \x,C-
li%og (Kretschmer Vaseninschriften 133). Xikeag denke ich mir als ionische
Umformung von Xokrifog, Xikrjßog vergleiche ich mit zzkr\pog , ion. zekscog (Da-
nielsson De voce cci£r}6g 13 f.) ; die Ableitung mit -0- wird auch durch %Ekvvr\
nahe gelegt.
Als Anhang hat hier noch eine Sippe Erwähnung zu finden, die nicht auf
den Bau der Lippe sondern auf die Gestalt zielt, die diese im Affect oder viel-
leicht auch in Folge krankhafter Störung empfängt. Ich meine die Namen, die
das Wort \xvkkov enthalten :
Mvkkog Thasos (Hippokr. Epid. 1. 15, Ion. Inschr. no. 77 1 12),
Thessalien (Smlg. no. 326 II 14), Hermion (Smlg. no. 3398 II6)2) ;
Mvkkeag 6 Zcoikov BsQoialog (Arr. Ind. 1. 18,6);
MvkkCag 6 KQozcovtdzrjg (Iambl. De vita Pyth. 193 11 N.) ;
MvkkCvag Thessalien (Smlg. no. 326 I9; 3. Jahrh.)3).
Zur Beurtheilung dieser Namensippe sind wir auf Grammatikernotizen ange-
wiesen. Die ausführlichste steht bei Pollux (2. 90) : zb öl övvdyeiv tä %sikrj
^Oi^ivkketv r\ Ka{iGudLcc xccl [ioi{ivkkäv (prjöt, rö ds dtaxivslv zä %üky\ öia^vkkaivsiv '
xccl yccQ tä %£ikri [ivkkcc TiQOöccyoQSvovöiv.
1) So geschrieben auf einer rothfigurigen Schale aus Attika (Klein Vasen mit Meistersign.2
119 no. 7). Die Schreibung mit ft kenne ich aus einer einzigen Inschrift guter Zeit, der am Ende
genannten attischen, wo Köhlers Ergänzung wol richtig ist.
2) Über den angeblichen Komiker MvlXog sieh Wilamowitz Hermes 9. 338 f.
3) Ist MYAAENAX ©saöalos (Blinkenberg Eretr. Gravskr. no. 169) richtig gelesen?
GRIECO. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 31
Der Besitz eines langen Halses wird angedeutet durch die Namen
Jegiccg Trozen (BCH 17. 94 tio. 10 3 , der Vater heisst Uxofiag)]
TgaiaXog Jaxeöca^ioviog (BCH 20. 206 36 ; 4. Jahrh.).
Auch wer den Schaden eines verwachsenen Rückgrates hat, braucht
für den Spott nicht zu sorgen. Mindestens Ein Wortstamm kann hier mit
Sicherheit eingereiht werden:
rvQtdag unbekannter Herkunft (IGA no. 562 ; 5. Jahrh.) . ein
Spartaner Polyb. 4. 35, 5 ;
rvQcov Xalxidevg (IGS 1 no. 368 1 ; 3./2. Jahrh.; sein Sohn heisst
MiTtdörig).
Vgl. Hom. x 246 yvgbg iv co^iolölv.
Alle übrigen Stämme können mit gleichem Rechte auf krumme Beine ge-
deutet werden. Aber vielleicht ist es gestattet einen zweiten Spitznamen für
den buckligen Mann durch Conjectur herzustellen :
Kvqxcov Hermion (Smlg. no. 3398 Ie);
wenigstens weiss ich den überlieferten Kqvxoov aus dem Griechischen nicht auf-
zuhellen, während dem, der das Glück gehabt hat Homer vor der Schulreform
kennen zu lernen , bei dem Namen Kvqtcov sofort die anmuthige Gestalt des
Thersites vor Augen tritt , dem wjLtra xvgxcb , eiti 6tfjd-og övvoxcoxöxe zu eigen
waren. Man beachte Evayögag 6 Kvgxög (Athen, p. 244 f.) und xvgxcov selbst
in der Grabschrift des Krates (Bergk4 2. 369)
HxBi%ug öij (pils xvgxcov,
ßcciveig x sig 'Aidao d6(iovg xvcpbg dtä ffjgag.
Die Besitzer eines dicken Bauches sind durch eine doppelte Namenreihe
ausgezeichnet :
Tdaxgcov Athen (CIA 2 no. 836 79 ; 4. Jahrh.), Thessalien (Ui^ilow
raöGXQovvecog Smlg. no.3*26 II17), Naupaktos (IGS 3 no. 383 10);
rdöxQog Oiniadai (IGS 3 no. 517 1 ; 2. Jahrh.).
Den ersten Namen können wir als Appellativum nachweisen: Aristoph. Frösche
200 ovxovv xadsdst ör\x ivd-adi, ydoxgcov; mit HofFmann (Beitr. 22. 139) bin ich
jetzt der Ansicht, dass Tdöxgcov mit ydoxgcov identisch und der zweistämmige
Name raöxgodcogrj ganz ferne zu halten sei 1).
Ovöxcov Korinth (Smlg. no. 3119 d; 6. Jahrh.), Akrai (IGSI no.
225), ®e67tievg (CIA 2 no. 2986).
Nach Diog. Laert. 1. 4,9 hat Alkaios den Tyrannen Phittakos cpvöxcova xal yd-
1) rdctgav heisst übrigens bei dieser Anschauungsweise nicht 'Bäuchlein', wie Hoffmann
übersetzt, sondern 'Dickbauch'; denn dieses bedeutet ydaxQtov.
1 5 *
FRITZ BECHTEL,
öxQCöva gescholten. Der siebente Ptolemäer führte die Beinamen EvsQystrjg 6
(Pvöxcjv (Polyb. 34. 14, g).
Wer über stark entwickelte Hüften verfügt, heisst
'Oöcpvav Athen (Kratinos, Meineke 2. 152 fragm. 8).
Recht zahlreich sind die Namen, zu denen stark entwickelte Genitalien
die Veranlassung gegeben haben. Sie lassen sich in hohes Alterthum hinauf
verfolgen.
KQl&ig dorische Hexapolis (IGA no. 482 h; 7. Jahrh.);
Kpcd-av Styra (Ion. Inschr. no. 19,55; 9 zu B verlesen; 5. Jahrh.),
Eretria (E<p. äg%. 1895. 131 I6), Aigion (Smlg. no. 1609),
Tauromenion (IGSI no.421 I ann. 63), Akrai (ebd. no. 208 8);
KQL&sccg Argos (Smlg. no. 3278 &6; nach Fourmont).
Die richtige1) Beurtheilung der Sippe geben die Verse Aristoph. Frieden 964 ff.
an die Hand:
"OöOLTCSQ U6l TCOV d'£(0^l8V(OV
ovx s6tiv ovdslg oöxig ov XQt&riv £%ei.
— Ov% al yvvalneg y1 eXccßov. — ' AXk1 slg iö7tSQav
öcdGovölv avtolg avÖQsg.
Eine zweite Sippe geht von \iv6jr\g' vs(pQÖg (so Bergk für evQog), hg ' Aq%C~
Xo%og (Hes.) und von \jlv6%ov aus, wofür bei Hesych die Bedeutung tb ävdgstov
xal yvvcuxslov {iöqiov angegeben wird:
Mfazns Erythrai (CGC Ionia 138 no. 187; 2. Jahrh.);
Mv6Xtör}g CIA 2 no. 4291 3 ;
Mv6%G)v Athen (CIA 1 no. 434 24; 5. Jahrh.).
Bekannt ist die dritte Sippe :
Za&tvog Theben (IGS 1 no. 3668; 5. Jahrh.);
Zdd-Gjv Argos (Smlg. no. 3265 5; 5. Jhrh.) , Orchomenos (IGS 1
no. 31752i.2a), Leukas (IGS 3 no. 5346).
Vgl. Lysistrate 1119 fy iir\ didübi rijv %stQa, tr\g 6ad"r}g ccye. Der Komiker Tele-
kleides gebrauchte 6a&cov als vitoKogiöiia naiÖCav ccqqevcov (Meineke 2. 377, fragm.
22) 2) ; vermuthlich ist der Sinn der Form der gleiche wie der der Composita
avdQOöd&rig , dvögoöd^cov , die im Lex. Bachm. mit ävdgbg aidotta £%(ov , (tsydla
s%<av aldola glossiert werden.
Ein weitrer Name steht vereinzelt:
QMßav Korinth (Smlg. no. 3119 d; 6. Jahrh.).
Okeßcov zu qpAfi/; yovLfirj. Es ist nicht nöthig den Namen als Verkürzung des
1) Verkehrt aufgefasst GP» 177.
2) Also ganz wie Aristophanes das Wort noad'mv (Frieden 1300):
5 Eins (io l, m noG^av, stg rbv cavxov itaxsQ* aidsig;
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 33
Satyrnamens &Xeß-L7t(7i)og l) zu fassen : es ist durch die Formen Kql&g>v, Mv<5%<nv
Ud&cov 2), neben denen Vollnamen nicht existiert haben, als einsilbiger Spitzname
ausreichend gesichert.
Nicht ganz zweifellos ist, ob die an xigxog und cpaXXög anklingenden Namen
wirklich in die Reihe der bisher betrachteten gehören. Jedesfalls sind die Er-
klärungen, die GPa 161. 316. 272 von ihnen gegeben sind, durch die bisher bei-
gebrachten Analogien stark erschüttert.
Ksqxis Kalymna (Smlg. no. 3590 57 ; um 200 v. Chr.)3);
Ksqxlcjv Chios (Mitth. 13. 223), QeööaXög (CIA 3 no. 2490) 4);
Kegxav (CIA 2 no. 3847).
Vgl. Aristoph. Thesmoph. 239
rijv xeqxov (pvXdtrov vvv ccxqccv.
Auf tpccXXög, nicht auf <paXaxQÖg und Genossen, geht vielleicht
OccXXivog Kopai (IGS 1 no. 2781 5, 2787 15; 3. Jahrh.).
Es versteht sich von selbst, dass der Begriff des nsydXa aldola £%siv leicht
in den des Xayvsvsiv übergeht. Wie weit die Bedeutung der angeführten Namen
diese Richtung eingeschlagen hat, ist nicht auszumachen.
Von den Spitznamen, die an abnorme Gestalt der Beine anknüpfen, be-
schäftigen sich die meisten mit der 6xqs ßX6zy\g der Gliedmaassen.
Zunächst eine Sippe :
KvXXog Halos (BCH 11. 3647; 2./1. Jahrh.);
KvXXCag Argos (Smlg. no. 32786 1);
R6kk<ov KMXavog 'HXelog (BCH 7. 426; 2. Jahrh.).
Vgl. Aristoph. Vög. 1379
rC devQO itödct 6v xvXXbv dvä xvxXov xvxXelg]
und das epische Compositum xvXXoTtodcor.
1) Heydemann Satyr- und Bakchennamen 26. <&X{ß-ntnog wie der Satyrname Ltva-uixog auf
der gleichen Schale; das Element i'nnog »hängt bedeutungslos über« WSchulze GGA 1896. 255.
2) Wozu n66&<ov (Name eines Satyrknabeu, Heydemann 13) kommt.
3) KsQHid&s (Aqxccs. Demosth. 18. 295) wird von Herodian [liegt 6Q&oyQ., 2. 434 L.) unter
die Perispomena gerechnet. Der Name muss daher mit Hegnig im Zusammenhange stehn. Darl
man ihn als Verkürzung von hs Q-Kidonoiog , also als einen der Spitznamen ansehen, die sich über
ein Gewerbe lustig machen?
4) Es liegt nahe hier auch den Namen KEPKINOS einzuordnen, der für Byzanz (IGS 1
no. 2418 12; 4. Jahrh.), Herakleia Pont. (ebd. no. 25312), Apollonia 111. (CGC Thessaly to Aetolia
57 no. 21) nachgewiesen ist. Aber auf der zweiten Inschrift ist, worauf mich Dittenberger auf-
merksam macht, der Vocal der Mittelsilbe als Kürze gemessen. So kommt man auf die Vermuthung,
dass iu dem Namen eine Nebenform von Kccqkivos vorliege ; Dittenberger weist darauf hin, dass
der Name der am -nolnog KccQKivirrig erbauten Stadt als Kugnivtrig und KeQmviug überliefert ist.
Abhdlgn. d. K. Ge3. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 6 . 5 £
34 FRITZ BECHT EL,
Weiterhin die alleinstehenden
Mvöxekog Rhypes (Strabon p. 387; 8. Jahrb.), KQccvvovvLog (Smlg.
no. 34575) 1);
'Potxog Samos (Herod. 3. 60; 7. Jahrh.), Athen (CIA 2 no. 945 15);
'Pccißog Styra (Ion. Inscbr. no. 19,82; 5. Jahrh.);
ravöog Altcokog (Dittenberger Syll. no. 1842; 3. Jahrb.).
Mvöxslog empfängt Licht durch die Glosse ^iv6xeXog' 6 ötQaßojtovg Cyrill. Dresd.
(MSchmidt Hesych. 5. 38) 2). Ein Qccißög ist nach Poll. 2. 192 der, dem xccfiTtvla
stg tö i'vdov zä 6xElr\ sind. Die Erklärung des vierten Namens liefert die Glosse
yccvöov ' (fxapßöv, ötQsßXöv (Hes.).
Ausser diesen Namen, deren Sinn nicht zweifelhaft sein kann, gibt es andre,
von denen nicht gewis ist, ob sie gerade die Verkrümmung der Beine im Sinne
haben , nicht etwa die Verkrümmung des Rückgrates treffen wollen. Ich habe
sie bei der Behandlung der Buckligen zurückgestellt, um sie bei dieser Gelegen-
heit vorzuführen.
An erster Stelle ist eine alte, weit verbreitete Sippe zu nennen:
Xaßäg Tanagra (IGS 1 no. 585 Uli; 5. Jahrh.), Akraiphia (ebd.
no. 2716 «5);
Xdßrjg 6 ®l.vevg (Aristoph. Wesp. 234), Xdßßeig Thessalien (Smlg.
no. 326 36 I25);
Xdßcov (IGS 1 no. 2647 4);
Xaßgtag, verbreitet in Athen seit dem 5. Jahrb.; Iasos (BCH 13.
23 2), ZalvßQiuvog (Smlg. no. 3073), auf einem Henkel mit
a6Tvv6[iog (Becker Jahrb. f. Philol. 4. 465 no. 7).
Einigen Aufschluss über die Bedeutung der Reihe gibt die Glosse %aßöv Kayuiv-
lov . ötevov (Hes.). Mit %aßog hat Fick lat. hümus (aus *habmus) verbunden
(Beitr. 17. 322).
Ebenfalls alt, aber weniger verbreitet ist eine zweite Sippe:
"Avxovlog Kopai (IGS 1 no. 2788 10; 2. Jahrh.);
'AyxvUcov Anaphe (IGI 2 no. 255; 7. Jahrh.), Athen (Aristoph.
Wespen 1397).
Man kann diese Namen nach den Zusammensetzungen dyxvXo%r(Krig , dyxvköxcokog
beurtheilen.
Nur eine Vermuthung ist es, wenn ich hier noch den Namen
Ka[i7iäg Tegea (Dittenberger Syll. no. 317 15)
einreihe, indem ich ihn .als Verkürzung von xa^ijcvXog betrachte.
Früher (23 f) ist die Möglichkeit nachgewiesen worden, dass Leute, die
1) Der Rhypäer wird von Antiochos bei Strabon p. 262 als vnonvyo? und ßQcc%vvarog be-
schrieben.
2) Ich würde die Glosse nicht kennen ohne WSchulzes Hinweis (Hermes 27. 31). — Als Kür-
zung von Mvo-xslog Hesse sich der Name Mvckwv (Syrakus ; Thuk. 8. 85,3) deuten.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 35
KagxCvog heissen, darum so genannt seien, weil sie Augen haben wie der xaQxCvog.
Eine zweite Möglichkeit muss in diesem Zusammenhange erwähnt werden : das
tertium comparationis kann in der Art des Ganges liegen. Aristophanes ge-
braucht Frieden 1083 das Sprichwort Ovitoxs nonqöEig xbv xaQxivov oq&cc ßccöi&iv.
Dass dies »a cancri consuetudine retro eundi sumptum est«, wie Bauck De pro-
verbiis 18 meint, wird durch die Thierfabel widerlegt, die dem Sprichworte zu
Grunde liegt : 7/ ^x\xr\Q ngbg xbv xccqxivov ' TC dij Xo^yv , tb jial, ßadi&ig oööv,
oQ&rjv Uvea 7tQo6Y\xov ; x. x. X. (Aesop no. 187 Halm). Auch in der Batrachomyo-
machie heissen die xccqxivoi bekanntlich Xoloßdxai und ßXaitioi (296 ff.). Es ist
also klar, welchen Gang der Mann gehabt haben muss, den Aristonymos (Meineke
2. 698) einen xaQxivoßrjxiqg gescholten hat, aber auch klar, dass Leute, deren
Beine , wie die des xaQxivog, slg xb TtXdyiov xd(X7txovxcu (Aristoteles Ü6QL xä t^äia
töxoQ. 4. 2) , ganz dazu angethan gewesen sind den Spitznamen
KaQxCvog (23)
zu empfangen.
Neben dieser nicht verächtlichen Schaar von Krummbeinen gibt es meirfes
Wissens nur einen einzigen Langbein. Als solchen betrachte ich
Zxeliag Athen (CIA 1 no. 422 2; 5. Jahrh.).
Wir wissen aus Pollux , dass Kratinos einen mit starkem Ttaycov ausgestatteten
Zeitgenossen itaycovCag nannte (2. 10); von ^isxcjTtLccg war schon die Hede (23); es
sei auch an den Silennamen 'Opaxtrjg erinnert.
Von den Spitznamen , die sichtbare Abnormitäten des Körpers und seiner
Theile treffen, sind noch zwei Gruppen übrig : die Namen , die über die Behaa-
rung und über die Beschaffenheit der Haut eine Aussage enthalten.
Die Behaarung kann durch Quantität und Qualität Aufsehen erregen.
Grosse Fülle des Haares wird angedeutet durch den Namen
Tgix&g Delphi (Smlg. no. 16834; 5. Jahrb.), AlxcoX6g (Ditten-
berger Syll. no. 1842).
Ahnlich haben die xQL%lg und xQi%Cag genannten Fischarten ihre Benennung von
der Menge der feinen Gräten erhalten , die sie durchziehen (dxb xqi%g)v xqixiccl
il&vsg xal xQi%ldeg Pollux 2. 24).
Auf starkes Kopfhaar zeigt die Sippe
Xalxog Melos (Ross Inscr. gr. ined. no. 238) ;
rcuxeag1) Makedone (CIA 1 no. 42ci6; 5. Jahrh.);
Xccixig Styra (Ion. Inschr. no. 19, 338 ; 5. Jahrh.) ;
XaiXLÖr}g Thasos (Thas. Inschr. no. 7 II 8 ; 5. Jahrh.) ;
XaCxcjv Halikarnassos (Dittenberger Syll. no. 6642; 5. Jahrh.).
1) Nach Solmsen KZ 34. 550.
36
Ein Pferd auf einer schwarzfigurigen Vase aus Attika führt den Namen Xalxog,
den Jeschonnek (De nominibus quae Graeci pecudibus domesticis indiderunt 48)
richtig erklärt. Ebenso heisst ein Hahn auf einer schwarzfigurigen Hydria
(Kretschmer Vaseninschr. 209*). GPa 287 sind die einstämmigen Personennamen
als Koseformen zu Xrixmnog (IGS 1 no. 2814 e; 2. Jahrh.) betrachtet. Dieser
Auffassung wird durch das Dasein des Pferdenamens Xcclrog, der unmöglich eine
Kürzung von Xaixmnog vorstellen kann , der Boden entzogen. Es handelt sich
überall um Spitznamen, nicht um Kosenamen1); in XaCxirciiog »hängt Xnnog be-
deutungslos über«, wie in <&Aeß-i7t7iog, 2Jxv<5-i7i7tog (331).
Starke Behaarung der Brust und der Gliedmaassen ist charakterisiert durch
Jdöiog Katane (CGC Sicily 52 no.72; 2. Jahrh.), Iasos (Le Bas-
Waddington no. 259).
Der Name ist auch als Satyrname bekannt (Heydemann Satyr- und Bakchen-
nämen 26) 2).
Die starke Behaarung ist in andren Fällen durch eine Vergleichung ausge-
drückt.
Diog. Laert. (6. 4, 3) erwähnt einen Mavavdgog 6 E7CixaXov^ievog ^Qv^iög. Der
Sinn der Eitixlr\6ig wird durch Wendungen wie Lysistr. 800 xv\v Xöxfirjv 7tolXrjv
<poQ£ig, Ekkl. 60 f. jrpöroi/ {isv y e%co tag ^a6%dXag X6i[irig ddövreoccg nahe gelegt :
der dovyiög, über den Menander verfügt, ist der üppige Haarwald, dessen er sich
erfreuen darf. Nun ist das tertium comparationis errathen, das den ögypög mit
den Namen verbindet
zloviiog Argos (Eq>. äo%. 1885. 193 no. 94; »ix xav dXs^avdQLvcbv
XQÖvmv«);
jQvueig (IGS 1 no. 1912; 5. Jahrh.);
dovuLog (IGS 1 no. 2743; 5. Jahrh.); vielleicht aus dem Ethnikon
jQviiiog (IGS 3 no. 226 1);
4qvllg>v Kavlavidtrig (Iambl. De vita Pyth. 193 1 N.).
Der Politiker Eukrates ist von Aristophanes Msfoxevg Kanoog genannt wor-
den (fragm. 193 Dind.). Die Erklärung der Eitixlrfiig ist bei Photios und bei
Hesych erhalten. Sie läuft darauf hinaus, dass der Beiname auf die daövxrjg des
Eukrates ziele; denn er werde auch "doxxog und ZJvg genannt, doch könne der
Beiname £vg auch dadurch veranlasst sein , dass der Staatsmann iivX&vag exe-
xxv\xo iv olg 6vg hoEcpev. Wir können diese Angaben wenigstens in Einem Punkte
controllieren : dass Eukrates öaCvg war , wissen wir aus einem Fragmente des
Kratinos (Meineke 2. 184 fragm. 27): daövv e%cov xbv 71qcoxxov ccxe xvaijßS
iö&icov. Mag er nun auch darum zum Eber geworden sein, weil er Schweine
1) Hoflfmann Beitr. 22. 138.
2) Der gleichwertige Name däöcov auf einer Amphora von Vulci regt, wenn er richtig ge-
lesen ist (Kretschmer Vaseninschr. 64), die Frage an, wie weit die Personennamen dccavog (Jdavog
dccnvai BCI1 19. 380»), Jdaiov auf die Behaarung bezogen werden müssen.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 37
in seiner Stampfmühle hielt — den Beinamen Bär kann er darum nicht empfangen
haben. Da seine daövrrjg beglaubigt ist, die des Bären der Beglaubigung nicht
erst bedarf {\a.6iav%v\v Hymn. Hc-m. 7. 46), so scheint die Nachricht, dass der Po-
litiker die Bezeichnung als Bär seiner dichten Behaarung verdanke, Zutrauen
zu verdienen. So wage ich hier anzuschliessen den Namen
1 AgxTlvog Homeride aus Milet, Iasos (Anc. Gr. Inscr. no. 4433) l).
Da die Möglichkeit besteht, dass die litixXriöig KdiiQog ebenfalls in der dcc-
tivrrjg ihre Veranlassung habe, so muss auch der Name
KdnQog 'HXeZog (Paus. 6. 15,4 ; 3. Jahrh.), Koronta (IGS 3 no.440i)
hier berücksichtigt werden. Er ist übrigens so vieldeutig, dass sein Sinn ohne
weitre Andeutung, etwa durch den Namen des Vaters, nicht bestimmt werden
kann 2).
Aus einem unbekannten Komiker stammt der Trimeter (Meineke 4. 603
fragm. 11)
<D67tEQ öeXivov ot>Aa tä öxsXrj cpogelv.
Zu ihm halte man den Anfang des AP 5 no. 121 überlieferten Epigramms
Mixxt\ xccl tLsXavevöcc <&iXcclvlov, dXXä GsXlvcov
ovlottQr} xccl pvov XQüotct tsQSLVOtaQrj.
Man wird sich allerdings nur ungern entschliessen den männlichen Namen
EeXivig 'AxQayavxivog (Smlg. no. 1340 5)
von UeXivixog loszureissen. Aber dem Frauennamen UsXwdyi (Korinth; Smlg.
no, 3143, 6. Jahrh.) gegenüber fällt die Verbindung GsXlv&v ovXotBQri doch ins
Gewicht 3).
Von den Leuten mit üppigem Haare wenden wir uns zu denen , olg doxht,
datdav 6iXag s^svat xäx xsyaXfig.
Mit der Kahlheit haben es drei Namen (mit Ableitungen) zu schaffen. Alle
drei enthalten das Wort cpccXog' Xevxög (Hes.), dessen deutsche Verwandte von
ESchröder (Haupts Ztschr. 35. 237 ff.) glänzend behandelt worden sind. Die bei-
den ersten sind componiert; doch ist die Composition vermuthlich nicht mehr
empfunden, weshalb ich sie, aber ohne ihre Kürzungen, hier aufnehme.
Die grösste Verbreitung hat cpaXccxgog gewonnen. Als Name wird das Ad-
jectivum in unveränderter und in erweiterter Form verwendet:
OdXaxQog Ilcuavisvg (CIA 1 no. 321 31; o. Jahrh.), Thasos (Thas.
1) In der jfar&(186) heisst ein Kentaur "Ag-Kxog; man denke an die (prigag Xa%vr\tvxag B 743.
2) Auch der Persouenname Kqlos ist mehrdeutig. Er kann als Ehrenname gelten (vgl. Kgibg
üoXvhqlxov auf Aigina und die Beschreibung des ngiog Od. 1 447), aber auch tadelnden Sinn ent-
halten, da die Griechen das Sprichwort Kqibg xgocpsi' Scitixsictv besitzen. Vgl. Zenob. 4. 63 17
Tiagoi^iCa inl x&v cc%aQi6X(üv , intl rag rpäxvug nXr\xxov6iv ot kqlol Mt\t,vr\xai ukxf\g Mt-
vccvdgog.
3) Damen vom horizontalen Gewerbe können den Namen auch aus andrem Grunde führen :
ciXivov xb yvvcciKEiov bei Hesych (WSchulze GGA 1896. 246). r
Inschr. no. 6 IV ö), KQccvvovvLog (Smlg. no. 34549), Korkyra
(CGC Thessaly to Aetolia 150 no. 531 ff.), Apolloina HL
(ebenda 57 no. 17), Malla (Mus. Ital. 3. 629 3), Himera und
Tauroraenion (IGSI no. 313 6, no. 421 I ann. 49); BdXaxgog
in Makedonien seit dem 4. Jahrb. ;
OaXaxQtayv Dyrracbion (CGC Thessaly to Aetolia 7G no. 157;
3. Jahrb.), Theben und Thespiai (IGS 1 no. 2438 11, 1757 6),
Naupaktos (IGS 3 no. 366 10), Thyrreion (ebd. no. 492),
Aa\iuvg (Smlg. no. 2234 2) *), 'HTiEiQcjrrjg ccnb SsCitgorcbv
(Fouilles d'Epidaure 1 no. 238 6 ; der Sohn beisst EC^axog).
Beschränkter ist die Verwendung des zweiten Wortes, tpdXav&og, als Nomen
proprium :
OäXavftog Führer der nach Tarent ausziehenden Colonie (7. Jahrh.),
seit dem 5. Jahrb. in Attika häufig (3>. ' AXg)tcexyi%-bv CIA 1
no. 188 23), KuXXiitoXitug (Smlg. no. 2075 ö) ;
[<D]aX[a]vd-tdr}g Angehöriger der Kekropischen Phyle (CIA 2
no. 1007 I23; 4. Jahrh.).
Das dritte Wort ist (pdXagog, das bei Hesych mit cpccXiög, cpaXaxgög, Xevxo-
^eroTtog erklärt wird. Die Bedeutung Xsvxo^ercjTCog erhält in dem Selbstporträt,
das der cpccXaxQÖg Aristophanes Frieden 771 ff. gezeichnet hat, eine deutliche Pa-
rallele : der XEvxo[isTG)7tog beisst darin XctyniQbv to ^ihcjTtov £%(dv. Die ursprüng-
liche Bedeutung kommt noch bei Nikander zu Tage , der 0Qr\ %l6ve<5<5i (pccXrjQcc
verbindet (Ther. 461), auch noch bei Tbeokrit, bei dem 6 xvcov 6 (pdXccQog vXaxtsV
(8. 27) , und ein Widder den Namen 6 OaXccgog führt (5. 103). Buttmann hat
Hund und Widder als Thiere mit Blessen recognosciert (Lexil. 2. 248). Ersetzen
wir den Begriff der Blesse durch den der Kahlheit, so werden wir wol den Sinn
des Mannesnamens
(PdXccgog Tegea (Smlg. no. 1247 Rucks, e; 4. Jahrh.)
errathen haben, obgleich die Quantität des mittleren a nicht ersichtlich ist.
Zu (pdXaQog gehört als Femininum (paXaQig, att. <puXr\Qig. Buttmann hat mit
Recht die Vermuthung Schneiders acceptiert, dass der Vogel (paXrjgtg die Fulica
atra sei , deren Gefieder schieferschwarze Färbung trägt, während der Schnabel,
einschliesslich der Stirnplatte, blendend weiss ist. Wer nun als ein cpaXaxQats-
Qog evdoag (Sophron fragm. 123 Botzon) Strasse und Rednerbühne erleuchtet, den
kann die geistreiche Bosheit seiner xm^xki mit dem Blesshuhne vergleichen. Man
darf daher vermuthen, dass
(DaXagiow ZtaQÖovvtiog (Smlg. no. 326 I5; 3. Jahrh.)
die (pccXrjQig zum Vorbilde genommen habe -).
1) $a\d*Qios in Trozen (Smlg. 110. 3362 17. 31, 4. Jahrb.) ist der Bildung nach eher Ethnikon.
2) Ob QäXaQis in Thespiai und Stratos (IGS 1 no. 588 III 6, 3 no. 594 1) selbst nach der ya-
lr\qC<s genannt sind, kann nicht entschieden werden; der bekannte $dXccQis aus Akragas ist sicher
anders zu deuten.
GRIECH. TEESONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 39
Das Geschlecht der M i 1 c h b ä r t e ist vertreten durch
Xvodöccg Gerenia (IGA no. 66; 5. Jahrh.).
Mit Hilfe der Beschreibung
tolog sr\v Zlibg Vi6g, exi %vodovxag lovXovg
avxe'XXcov, hi (paidgbg iv '6\l\lcl6iv
(Apoll. Rhod. 2. 43 f.) kann man den Namen leicht verstehn.
Der Milchbart bringt uns in das Gebiet der Namen hinüber, die auf die
Qualität des Haares gemünzt sind. Sie berücksichtigen die Stärke und die
Farbe.
Rauhes, emporstarrendes Haar hat seinen Besitzern den Namen
&QL%og, dvrjQ Z%aQtidxif\g (Plut. Agesil. 32), Smyrna (CGC Ionia
247 no. 118), Iasos (Optj-og Zccxvqov Le Bas - Waddington
no. 285)
u ingetragen.
Auch eine Reihe hübscher vergleichender Namen sucht ihnen gerecht zu wer-
den. So zunächst
Zxvgog Hermion (Smlg. no. 3398 II i) ;
" Axavftog AaxEdai^oviog (Thuk. 5. 19, i).
Der Name Zxvgog ist aus öxvq weitergebildet, <5%vq wird mit i%Zvog glossiert
(Hes.), die Vergleichung von 6%vq mit sskr. churati (ritzt ein) liegt nahe1). Ari-
stoteles betrachtet die Stacheln des Igels als dxav&cbÖEig xQi%ag (IIeqI xä £(öicc
löxoq. 1. 6), Matron feiert den Seeigel als xaQrjxo^iöcjvxa dxdv%aig (Athen, p. 135 a).
So scheinen sich die Namen E^vgog und " Axav%og zu einer Gruppe zusammen-
zuschliessen , die zur Charakterisierung von Leuten dient, deren Haar wie die
Stacheln des Igels und der Distel in die Höhe starrt 2).
Aber die Reihe ist vielleicht noch umfangreicher. Die Namen
KÖQvdog Styra (Ion. Inschr. no. 19, 384 ; 5. Jahrh.) ;
KoQvdaAXog AvxixvQEvg (Herod. 7. 214) ;
KÖQv&og Melos (IGA no. 418; 6. Jahrh.);
Koqv^lov Styra (Ion. Inschr. no. 19, 225)
sind Vögeln entliehen , die durch eine Kuppe ausgezeichnet sind. Der xoQvdög
begräbt seinen Vater zu Schopfheim, in seinem eignen Schöpfe (Aristoph. Vög. 475 f.).
PseudoAristoteles unterscheidet zwei yivr\ xogvödllcov. 1) pev exeqcc iitiyEiog
xal Ao'qpov £%ov6cc, 7) d' exeqcc .... kocpov ovx e%ei (IJeqI xä £dka löxoq. 9. 25).
Den Vogel xÖQv&og kennen wir nur aus Hesych, wo er als ein xQO%CXog definiert
wird; indes lehrt der etymologische Zusammenhang, in dem sein Name mit xogvg
steht, dass eine avis cristata oder galerita (Lobeck Pathol. proleg. 367) mit ihm
1) Die Zusammenstellung ist, wie ich aus Curtius Grundzüge6 200 ersehe, schou von Pictet
vorgenommen.
2) Die Vergleichung mit dem Igel kann auch nach der ethischen Seite gewendet werden:
anctg ixivog tqcc%vs lautet ein Sprichwort, das nach Diogen. 2. 87 tnl xu>v dvanoXcov xai. övgtqotkov
gebraucht wird. r
40
gemeint sein rauss. Das Haar des Menschen wird demnach mit der Kuppe der
Vögel verglichen; diese Gleichsetzung aber ist nur möglich, wenn das Haar
einen ähnlichen Xöcpog bildet, wie der Federbusch. Aus den Vögeln des Aristo-
phanes (1295) erfahren wir, dass der Tragiker Philokles den Spitznamen K6qv-
öog geführt hat. In den Thesmophoriazusen aber heisst es (168)
Torör' ap1 6 OiXoxXsrjg ai6%Qog fov cdöxQäg noisl.
Hat also die Hässlichkeit des Poeten darin bestanden , dass sein Haar an den
Kopfschmuck der Haubenlerche erinnerte? Dies wäre dann auch wol die Veran-
lassung gewesen, die den Kogvdsvg in das Sprichwort gebracht hat (KoQvdeag
£LÖ€xd-s0TeQog Zenob. 4. 59).
Der Sinn , den wir den Namen KÖQvdog und Genossen beilegen zu müssen
glaubten, wohnt ganz unzweifelhaft dem Namen
KÖQ&vg Lato (Mus. Ital. 3. 648 no. 61 8)
inne. Homer sagt : xv[icc KsXaivbv xoQ&vexca (I 7), Hesiod : Zevg .... xöq&vvsv
ibv psvog (Theog. 853), Hesych weiss von einem Vogel xoQ&tXog, der sicher ein
Kuppenträger ist.
Dass auch die Farbe des Haares Ausgangspunkt von Spitznamen hat
werden können , lehrt die bekannte Thatsache der epischen Namengebung,
dass dem Neoptolemos, dem Sohne des Achilleus, aus dem Beinamen JJvQQog ein
zweiter Rufname IlvQQog erwachsen ist *). Wie weit dieser Vorgang in histo-
rischer Zeit Wiederholung gefunden hat, lässt sich nicht entscheiden, da Namen
wie AevKog, MsXag, Bdv&og, IlvQQog ebenso gut aus Vollnamen wie aus einstäm-
migen Beinamen haben hervorgehn , Aevnog , MtXag und IlvQQog ausserdem von
der Hautfarbe haben gebraucht werden können. Ich kenne nur Einen Namen,
der allen Anforderungen Genüge leistet: der keinen Vollnamen neben sich hat,
aus dem er gekürzt sein könnte , und nicht doppeldeutig ist , da das Farbwort,
das er enthält, nur von der Farbe des Haares gebraucht wird. Dies ist
Eov&iag da\udxi\iov JlXvyovevg (Smlg. no. 2045 2 ; 2. Jahrh.) a).
Ein paar vergleichende Namen , zu denen vielleicht die Haarfarbe Anlass
gegeben hat, kommen im nächsten Abschnitte zur Sprache.
Die Haut wird ebenfalls nach zwei Seiten dem kritischen Blicke unter-
zogen: nach Farbe und Reinheit.
1) Servitut Comra. ad Verg. Aen. 2. 263 Neoptolemus . . . Pyrrhus a capillorum qualitate vo-
eitatna est.
2) Der gov&iccg der bekannten, zuletzt von Meister (Leipziger Sitzungsber. 1896. 266 ff.) her-
au3gegebnen-I)epc-8itionsurkuude IGA no. 68 darf bier nicht mitsprechen. Sein Vater heisst $i\ol-
Xuiog, Sprache und Schrift der Bronze vertragen sich mit der Annahme achäischer Herkunft des
Denkmals (Fick Beitr. 5. 324 f.); man muss daher Ficks Urtheile zustimmen, dass Sov&fas nach
dem Vater des '/fytaög genannt sei.
ÜRIECII. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 41
Sehen wir von Aevxog und Genossen ab, so bleiben zwei Wortsippen übrig,
die eine Aussage über die Hautfarbe enthalten.
Die Phokaerin Aspasia war naeh Aelian Var. bist. 12. 1 rijv xöfirjv %av&ii
xal ovkrj xäg XQi%ag r}QS^ia, 6cpd-ak{iovg de el%e (jLeycöxovg, okiyov de rjv xal eitCygv-
nog, xd de (bxa el%e ßQa%vxaxa. Hv de avxfji xal degpa cc7tak6v ' eibtxei de r\ %Q(>a
7] xaxä xov JtQ06a)7tov gödoig. zJtä xavxd xol ot G>Goxaelg hi itaidiov ovöav exd-
kovv Mckxcj. Nach dieser Erzählung haben wir das Recht die Namen , die auf
dem Worte pikxog aufgebaut sind , für alte Beinamen zu erklären, die zur Gel-
tung von bürgerlichen Namen aufgerückt sind. Dahin gehören :
Mtkxevg Epidauros (Fouilles d' Epidaure 1 no. 249; 5. Jahrb.)1);
Mikxiag Thessalien (Smlg. no. 326 I45; 3. Jahrb.)'2), Orchomenos
(IGS 1 no. 3182 n);
Miktiddrig in Athen seit dem 6. Jahrb. , Keos (CIA 4 Suppl. 2
no. 57 fr 37), Chios (auch CGC lonia 338 no. (,)5) ; Mikxiadag
Tegea (Smlg. no. 1246 I 1«) ;
MCvxav'6) Argos (Smlg. no. 3260 9; 5. Jahrb.).
Die Griechen (vgl. Athenaios p. 32 c) unterscheiden drei Arten von Weinen
nach der Farbe: xcbv oi'vcov o {iev kevxög, o de xiQgog, ö de [tekag. Das Farbwort
XLQQÖg finde ich auch in dem Namen
KiQQia[g] oder KiQQid[dr\g\ 'Ayxvkrföev (CIA 4 Suppl. 2 no. 995fr 12;
4. Jahrb.).
Einen Hundenamen KCgga gebraucht Arrian (Kyneget. 18) , vgl. Jeschonnek 20.
Die Komödie liefert eine Anzahl Vergleichungen , die uns das Recht geben
auch in diesen Abschnitt einige vergleichende Namen zu ziehen.
Ein Parasit, mit dem sich die mittlere Komödie gerne beschäftigt, heisst
Tid-vpakkog (Athen, p. 240 c — f). Dromon (Meineke 3. 541) weiss von ihm zu
erzählen, dass er iQvd-QÖxegog xoxxov*) sei. Also eQv&QÖxegog xöxxov — folglich
dürfen wir auf die rothe Gesichtsfarbe deuten die Namen
Koxxog, QrjxcjQ, 'A&r\valog, ^ta^rjxrjg 'IöoxQaxovg (Suid.) ;
Koxxlcov dioneiftovg %Qi]6x6g (CIG 2 no. 2322 fr75 Add.).
1) Die Inschrift lautet: ASKAAPIOI TOI 4>ljA0MEA0 TO ^lAITEO ;. Mau könnte ihr auch die
Namenform MtXrTjg entnehmen. Man beachte, dass wir aus Kpidauros MiXtidg als Name einer
Phratrie kennen: Niv.ocpüvT]g MiXtiddog 'Ecp. &q%. 1892. 71 4<).
2) Plut. Dion 22 wird ein MiXtccg QhauXog erwähnt. Vermuthlich ist MiXrug Schreibfehler
für MiXxiag.
3) Diese Erklärung wird Prellwitz verdankt.
4) Bei diesem Vergleiche denkt man zunächst an den Howog itgivov. Da jedoch der Ver-
glichne Ti&vficcXXog heisst, da ferner aus Theophr. ITegl cpvr. tazog. 9. 11,7 ersichtlich ist, dass
xöxxo? auch Bezeichnung des ti&vficcXXog itccgccXiog gewesen ist, von diesem aber Plinius (NU 26.
41) berichtet, er sei ramis rubentibus ausgezeichnet: so scheint mir geboten unter dem %6v.v.og,
mit dem TiQ-vpccXXog verglichen wird, die erwähnte Species der Wolfsmilch zu verstehn. So wird
auch der Sinn des Namens Ti&vfiaXXog selbst erkennbar.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. Phil.-hiet. Kl. N. F. Band 2,». 6
42 ' FRITZ BECHT EL,
Eupolis hat einen gewissen Hipponikos, der eine rothe Gesichtsfarbe be-
sass, 'legsvg zJlovvöov und AlyCiivgog genannt (Meineke 2. 433 fr. 19). Hier
findet seine Rechtfertigung der Name
AiyCnvQog (von Keil bei PB angeführt ; mir nicht bekannt).
Den nämlichen Hipponikos hat Kratinos mit einem Skythen verglichen:
Kgarlvog Zlxvftixbv scprj xbv 'Imiov 'txov, dca xb tcvqqov sivai (Hes. unter ZJxvd'ixög,
Meineke 2. 199 fragm. 65). Die Vergleichung wird vollends verständlich, wenn
man sich von Hippokrätes sagen lä'sst, dass jcvqqov xb ysvog eöxl xb Exv&lxov
öiä tyv%og (Ilegl asQcov 20). Und man sieht, dass die Namensippe
Uxvd-rjg Zankle (Herod. 6. 23; 6. Jahrh.), Sparta (Xenoph. Hell.
3. 4, 20), Athen (Demosth. 45. 8) und sonst;
Uxv&cjv Samos (Dittenberger Syll. no. 131 2 ; 4. Jahrh.), attische
Execrationstafel (CIA 2 App. no. 42 5);
Zxv&ivog Teos (6. Jahrh.), Aigina (Smlg. no. 3418 a)
nicht nothwendig auf fremden Ursprung der Benannten hinzuweisen braucht
sondern auch eine Vergleichung aussprechen kann.
Der nicht näher bestimmte Vogel nvQaMg hat seinen Namen von der brand-
rothen Farbe. Nach ihm ist vielleicht !) genannt
FlvQßaXuov Argos (Papers of the Amer. School 6. 283 \ ; 5. Jahrh.),
IJvQaliav (Alterth. v. Pergam. 8. 1 no. 4ö).
Das Adjectivum Ttvgfög ist als Pferdename aus einem korinthischen Thontä-
felchen (Smlg. no. 3119h) bekannt. Es ist wol überflüssig zu bemerken, dass
der Name llvQfaXCav auch den Rothhaarigen signalisieren könnte.
Schwarze Pferde und Hunde erhalten bei den Griechen den Namen Koqcx.%
(Jeschonnek De nominibus quae Graeci pecud. dornest, indid. 37. 20, Kretschmer
Vaseninschr. 100). Leute, die einen der früher (28) besprochnen Namen
KÖQcct,, Kohoiög, Kögcovog
tragen, könnten damit als [lelccyxgcoxsg ausgezeichnet worden sein. Freilich auch
als {isXccy%alxai,.
Bleiches, lederfarbnes Aussehen regte zur Parallel isierung mit dem Holze
des Buchsbaumes, mit dem Safte der Thapsoswurzel, mit der Haut der Garnele
und Languste an. Chairephon heisst bei Eupolis xv^Lvog (Meineke 2. 516 fragm.
22), bei Aristophanes gleicht er yvvaixl d-ai}jivr}L, Ivol XQS^a^evrii ngbg zodav
EvQLitCöov (Wespen 1413 f.)2). Ein Unbekannter wird bei Eupolis geschildert
1) Die Einschränkung wegen des Namens IJvgaXog (IGS 1 no. 2323), der als TLvQfaXog ge-
deutet werden und zu IIvQfog stebn konnte wie ZXfiaXog zu Eipiog. Im Frauennamen TIvQCiXXCg
(IGS 1 no*. 3454) die gleiche Verdoppelung des X wie in JJsxaXXlg TletaXiaCa (Smlg. no. 355). Von
IJvQQog geht TIvQgaXog (IGS 1 no. 1673 1) aus; hierzu verhalten sich [TJ]vQQaX£vg (CIA 2 no.
977 u 5) und [I1]vqqccX£(ov (IGS 1 no. 2430 1) wie xXaQSvg, %X(OQl(av zu %Xü)Qog.
"2) Den Beinamen NvxTSQi'g, den er Vögel 1296. 1564 bekommt, lassen die Scholien zu Wol-
r.
GRIECH. PEESONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 43
als i%mv xb ngoöcoitov xagiöog \jLa<S%Xv\xivv\g (Meineke 2. 470 fragm. 21). Zu dieser
Stelle hat Raspe auf Luk. rExaig. ölccX. 14. 4 verwiesen : 'AXXä exstvo ov Xeyetg,
oXcov '6vxl övyxad-evdeig avxGbi' £xr\ [lev vtceq xä Ttsvxrjxovxa rtdvx&g, avatpuXuvxCag
xal xijv %g6av olog xdgccßog. Damit rückt der Name
Kdgaßog (23)
in neue Beleuchtung.
Bei Plutarch wird berichtet, die Hetäre Ogvvrj habe mit ihrem bürgerlichen
Namen MvrjGagsxrj geheissen , den Spitznamen <&gvvrj wegen ihrer dyxgoxrjg em-
pfangen (IJsgl xov pi} %gäv e^sxga vvv xi\v Hvftiav 14 ; die Stelle ist auch wegen
andrer i%ixXx\(5sig lesenswerth). Der erste Theil dieser Nachricht klingt wie ein
böser Witz; den zweiten halte ich für richtig. Durch Herodot (9. 16) kennen
wir den Thebaner 'AxxayZvog 6 (frgvvavog. Da sich wahrscheinlich machen lässt,
dass der erste Name auf die Hautfarbe geht , so ist die Möglichkeit gegeben,
dass es auch der zweite thue. Auf der bekannten Inschrift von Larisa, die
durch Philipp V. von Makedonien angeregt ist, erscheinen hinter einander ein
Agiöxocpdveig Kogovvsiog und ein Ogvvog 'Agiöxocpdveiog (Smlg. no. 345 57.5s), also
ein Grossvater Kögovvog und ein Enkel Qgvvog. Ist der Grossvater nach der
Rabenkrähe oder nach der Saatkrähe genannt, so steht der Enkel zu ihm im
Gegensatze ; hat seine Farbe aber mit dem Kleide der Nebelkrähe verglichen
werden sollen, so artet ihm sein Enkel Qgvvog nach. Ich stehe darum nicht an
der Notiz des Plutarch Zutrauen zu schenken , lasse daher die zahlreichen Na-
mensvettern der Phryne hier Revue passieren.
Qgvvog Athen (Künstler auf einer schwarzfig. Kylix des Brit.
Mus. Catal. 2. 223, CIA 1 no. 433 I4s), Lokr. Epizeph.
(IGSI no. 632), Thespiai (IGS 1 no. 1888 a *), Kgavvovviog
(Smlg. no. 34558), Delphi (Smlg. no. 1799 12);
Qgvväg folgt aus Qgvvalog Athen (CIA 2 no. 804/' 28.; 4. Jahrh.) ;
QgvveCdctg Messana (IGSI no. 401 4) ;
Qgvvig Mytilene (Aristoph. Wölk. 971), Tauromenion (IGSI no.
421 I ann. 70 und sonst);
QgvvCdug Tanagra (IGS 1 no. 669; 5. Jahrh.);
QgvvCxag /iuvoxXiovg i\ Utdovvxog (Mitth. 8. 19 36; 2. Jahrb.) :
QgvvCöxog 6 'Axcuög (Xenoph. Anab. 7. 2, 1), Ucprjxxiog (CIA 2 no.
1047 8), Theben (IGS 1 no. 2446 12), Thessalien (Smlg. no.
326 III 39);
Qgvvi%og häufig in Athen seit dem 6. Jahrh.; Akraiphia (IGS
1 no. 2716a 17), Oropos (ebenda no. 266), Q. 'OgxvyCavog Ere-
ken 504 in seiner taxvorrjg, zu Vögel 1564 darin begründet sein, dass ürs wv-tsglg i}[iSQ<xg ovrs
01 cpLloaoqioL (puCvovtcci. Ohne Zweifel bat die zweite Erklärung Recht. Sie stimmt vorzüglich zu
der Nachricht, dass Aristophanes den Chairephon auch Nvnxbg nccida titulierte (fragm. 486 a Dind.),
und zu der Charakteristik des IJv&ccyoQiarr]g bei Aristophon: Y.<xftsvdtiv (ir}d£ (il-kqöv wursgig
(Meineke 3. 361 9).
1 6 6*
44
tria ('E<p. agX. 1895. 143 33s), Alyzeia (IGS 3 no. 462), Ta-
rent (Iarabl. De vita Phyth. 190 8 N.);
<J>Qvvixldr\g Thasos (Thas. Inschr. no. 7 1 4 ; 5. Jahrh.) ;
&Qwiav Styra (Ion. Inschr. no. 19,335; 5. Jahrh.), häufig in
Athen ((Dqwlcov QqwCcjvoq MvQQivovöiog CIA 2 no. 2357),
Dyrrachion (CGC Thessaly 10 Aetolia 74 no. 136), iv 2Jd-
liat, (BCH 7. 192 II ig);
0Qvv(ov in Athen seit dem 7. Jahrh. (Strabon p. 599), BqßaSog
(Herod. 9. 16), Stratos (IGS 3 no. 446 11), Asovxlvog (Paus.
5. 22,7);
&QW(bvdccQ rvQtcbvLog (BCH 20. 202 72) ; die Heimath des schon
von Eupolis verfolgten {iLccgög ist nicht bekannt.
Häufiger Wechsel der Gesichtsfarbe kann verspottet sein in
XapaiXdcov Herakl. Pont. (4. Jahrh.),
freilich auch Wandelbarkeit der Gesinnung.
Endlich Unreinheit der Haut.
Durchsichtig ist der Name
Oaxäg KQccvvovviog (Smlg. no'. 345 75 ; 3. Jahrh.), auch in der
rhodischen Sage, die Polyzelos Athen, p. 361 c mittheilt.
Er ist auf (pccxög 'linsenartiger Fleck' aufgebaut; äxgo%OQd6v£g xal iieXcc6[iccTcc
xal (paxoi verbindet Plutarch (/legi tav ßgadsag Ufieag. p. 563 a).
Ferner glaube ich
(DONAS (IGS 1 no. 2898; bei Koroneia vermauert)
verstehn zu können. Ich erkenne mit Fick in OOI>l den Dat. PL tpapfai, in ®coi-
6iug einen Mann, der tpmölv e6tty(iEvog ist; vgl. itokvtQrixotg (p&idi bei Kratinos
(Miller Melanges 305, Kock 1. 78 fragm. 213) und Aristoph. fragm. 124 Dind.
^ndQSöo xaretQißsv Ipatiu. — KöcTCEita 7tcbg
cpcbtdag toöavzag Ei%e xbv iSLyiCbv oXov;
Zu (pmöt verhält sich &coL6Lccg wie Xegöiccg zu %eq6l , wie Tstgsöiag zu te Cqeöl ;
doch macht die Beziehung von XegGlag zu den mit Xeq6l- beginnenden Voll-
namen wahrscheinlich, dass auch <&(oi6lag einen zweistämmigen Namen zur Vor-
aussetzung habe1).
Zweifelhafter ist der Ursprung von
Kev%Qa{i,og Bildhauer in Athen (CIA 2 no. 1435; 4. Jahrh.).
Zusammenhang mit xsyxQcc^tg ist klar. Nach Galen (7. 722 f. K.) ist xey%Qiag
£Q7trig ein Ausschlag , der xiyxQoig oaotag i^oftug xaxä rö öeq[icc %oul. Eine
Schlange, die als iteQiötixrog cpolCöaööi beschrieben wird, heisst xey%QCvr\g
(Nik. Ther. 463 f.). Ist also mit KsyxQcc{iog ein Mann gemeint, der xeyxgcctiLdadri
i&v&riiiccta auf der Haut trägt ?
1) Auf den Namen $oidov.idas, der an ct>OISIA£ anklingt, gehe ich nicht ein, weil den Stein
(IGS 1 no. 1954), der ihn tragen soll, seit Pittakis Niemand gesehen hat.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 45
Ein vergleichender Name, der sicher auf den Teint Rücksicht nimmt, ist
'Axxayivog 6 Ogvvcjvog dv^g &rjßalog (Herod. 9. 16) , Axxaxlvog
Makedone (CIA 1 no. 42 d*)1).
Vom äxxayäg, der sich leider nicht bestimmen lässt, berichtet Alexandros von
Myndos bei Athenaios (p. 387 f) : ^ilxqcjl {iev iietfav iöxl nigdixog , ökog de xatd-
ygacpog tä 7tegl tbv vätov, xegapeovg tijv %goavy vtcotvvqql^cov [täkkov. Verbindet
man diese Beschreibung mit den Versen Aristoph. Vog. 760 f.
et de tvy%dvei tig vpav 5ga7ietrjg iötiy(ievog,
dttayäg ovtog nag'' r\^lv noixikog xexk^öetai %
so sieht man, dass den Griechen an dem Vogel die bunte Färbung des Gefieders
aufgefallen ist, die Veranlassung also einen Menschen mit ihm zu vergleichen
seine mit Flecken übersäte Haut gegeben haben muss. Zu einem Vater mit
blassem Teint (Ogvvav) passt ein Sohn mit Sommersprossen sehr gut.
Ein andrer Name dieser Art dagegen muss gestrichen werden.
Suidas führt unter den Ahnen des Hippokrates von Kos einen "Ekacpog auf:
rl7t7toxQccxrjg Kcbiog, taxgog, (HgaxkeCdov vtog, .... dnoyovog de Xgvöov xovvopa xal
'Ekäcpov xov ixeivov xaidög, taxgibv xal avxcbv. Da wir aus Lysias einen Spitz-
namen 'Ekaip66xixxog kennen {Qeoxgixov xbv xov ''Ekacpoöxixxov xakov^evov 13. 19),
dessen Sinn sich aus der Verbindung Cxixxbv xegdöxyv ekacpov (Sopb. El. 568)
leicht feststellen lässt, so scheint es erlaubt den Namen
"Ekatpog
als Aequivalent von 'Ekacpößxtxxog zu fassen. Aber die Nachricht des Suidas
beruht auf einem Misverständnisse , zu dem eine Stelle des ügeößevxixbg @e66a-
kov (Iit7toxgdxovg vlov (Hippokrates 9. 404 Littre) den unschuldigen Anlass ge-
geben hat. Thessalos erzählt, wie während des Krieges der Amphiktionen gegen
die Krisäer Krankheit im Heere der Belagrer ausgebrochen sei und diese den
delphischen Gott um Rath gefragt haben. Der Gott habe ihnen Erfolg in Aus-
sicht gestellt, rjv ig Köb eXfrövxeg ikdcpov TtcclÖcc ig eTiixovgCr\v dydycavxai \vv xqv-
6(öi, 6icev6avxeg d>g ^ Ttgöxegov oi Kgiöaloi, iv x&l ddvxcoi xbv tgcrcoda 6vXt]6(o6lv.
Darauf seien ihre Gesandten nach Kos gefahren ; aber kein Koer habe das Ora-
kel zu deuten gewusst , bis ein Asklepiade , der berühmteste der damaligen
Arzte, Neßgog mit Namen, die Entdeckung gemacht habe, dass sich der Spruch auf
ihn und seinen Sohn beziehe, eliteg 6 &ebg ovxa itagr\ive6ev v{ilv ik&6vxag ig Köj
ikdcpov Ttccldcc ig iitixovgit\v äyayetv. Kcbg ^lev yäg ccvxr), tä de ikdcpov e'xyova
veßgol xakeovtai, Neßgog de poi ovvo{ia, iitvxovgCri d' av dkkrj tig %gotegr\ yevoixo
öxgaxoitedcoi voQeovxi tr\xgov^ Kai {iyjv xö ye2) ev&v i%6\ievov ov doxeco oxi xovg xo-
Govxov 'Ekkrjvav okßm v7tegi%ovxag ig Kcj ngoekd-övxag exaZev 6 &ebg v6\Li6\ia %gv-
Hovv atxelv. 'Alka rouro xb fteöcpaxov ig xrp> i\LT\v otxCr\v eg%exai' Xgvöog ydg ^iol
xixkv\xai dggivav iraldcov 6 veaxaxog. Im Stammbaume des Hippokrates erscheinen
die Namen des Xgvöog und des "Ekacpog nur bei Suidas ; es scheint mir zweifel-
los, dass sie aus dem Tlgeößevxixog entnommen sind. Der Excerptor hat den
1) Nach Solmsen KZ 34. 550. — 2) xo ys Blass ; überl. rote.
46 ' FRITZ BECHTEL,
iXd(pov nötig in der Flüchtigkeit zum 'EXdyov nötig gemacht und hat seinem "E\a-
(pog einen Vater Xgvöog zugeschrieben , weil der Sohn des von ihm zum Sohne
des Elaphos gestempelten Neßgog den Namen Xgvöog führte. Bisher also ist
der Name "Ekayog nicht gesichert *).
II. Sprache und Geräusche.
Das Mitglied einer Verkehrsgenossenschaft kann auch durch die Art und
"Weise auffallen, wie es sich bei seiner Umgebung zu Gehöre bringt. Stärke
und Lage seiner Stimme kann Befremden erregen, Fehler seiner Sprachwerkzeuge
können sich vernehmbar machen , endlich kann es durch unarticulierte Laute
Spott und Tadel herausfordern.
> Dröhnende Stimme macht sich in vier nicht miszuverstehenden Namen
vernehmbar.
Kavaypg Sikyon (vgl. Löwy Inschr. griech. Bildhauer no. 153;
seit dem 5. Jahrh.)-,
Bqv%&v nXatcaevg (Smlg. no. 1636 3; 3./2. Jahrh.) ;
'Pö&og Zekevxov 'Avtio%£vg (CIA 2 no. 2816), Sklave in Delphi
(Smlg. no. 1733 2; 2. Jahrh.);
Boovtog Thasos (Mitth. 18. 260 10 ; spät)2).
Auf einen Mann mit dumpfer Stimme ist gemünzt der Name
BopßvXog ' Ayirpaviog (IGrS 3 no. 227 4; 2. Jahrh.).
Wer denkt bei ihm nicht an die Erfahrung , die Sokrates mit der Stimme des
Prodikos gemacht haben will: öiä ri]v ßccQVTrjzcc rfjg <pcovf\g ßöpßog xig iv tobt,
otMtfli&ti ytyvo^svog äöccyr} motu tä Xey6[ievcc (Plat. Protag. p. 316 a)?
Wir gelangen zu den Leuten mit Sprachfehlern.
Verständlich ist
BdcTTccgog , Name des Kupplers bei Herondas , durch TQavAi6[i6g
zu BdttaXog (vgl. 4) entstellt.
Schwieriger ist es über die Bedeutung von
Waxdg und
die schon früher belegt sind (12) ,, ins Klare zu kommen. Da wir zur Auf-
1) Die Namen Neßgog, Neßgidag, Neßgionog bezeichnen deD, der das Bacchantenkleid trägt
oder tragen soll. Sie gehören in den gleichen Kreis wie KCööog und Gvgoog und dürfen nicht als
Spitznamen gefasst werden.
2) Wegen Bgovtivog sieh Nauck zu Iambl. De vita Pythag. 969. — Über den Makedonen
BQOfxsgog spricht Solmsen Idg. Forsch. 7. 471.
GRIECH. PERSONENNAMEN A.ÜS SPITZNAMEN. 47
hellung von WCai, kein andres Material haben als die Glosse tpiaxa • ipaxdda , so
hängt das Urtheil über WCai, ganz an dem über Waxdg.
Zu den Versen des Aristophanes Acharn. 1150 ff.
' AvTlpa^ov xbv Waxddog, xbv ^vyyQacprj, xbv iieXeav jtot,rjxrjv,
ä>g pev djiXcbi Xoycoi xaxCbg i^oXeöeiev 6 Zevg'
ög y* e\ie xbv xartfiova Ax\vaia %OQr}y(bv dneXvd ddetitvov
bemerken die Scholien , Antimachos heisse Sohn des Wccxdg nach der einen Ver-
sion dtä xb 6vve%ix)g itxveiv (eitetdij tcqoös'qqcciis xovg GvvopiXovvxag diaXeyo^ievog.
"Hv de xig xal 'OXv^niaxog xaXovpevog Waxäg dtä xovto) — nach der andren did
xb [irjöev dvaXiööui (edoxei de 6 ' AvxC^a%og ovxog ip7]cpi6^ia TtSTioirjxevca, ^ delv
xco^iatdeiv e£, ovo^iaxog. Kai inl xovxcot tcoXXoI xcbv Ttoirjxibv ov TtgoöfjXd'Ov krj^ö-
Hevoi xbv xoqov, xal dy\Xov ort jroAAot xcbv %oqsvx(dv ircetvcov. 'E%OQrjyai, de 6 ' Avxi-
lia%og xoxe, öxe elöv\veyxe xb ipijcpLö^ia. 0[ de Xeyovöiv ort TtOLYixijg hv xaXbg %OQYiyobv
%oxe fitxQoXöycog xotg %0Qevxaig e%Qiq6axo). Die zweite Erklärung ist sicherlich
aus der Textstelle selbst gefolgert. Gegen die Glaubwürdigkeit der ersten lässt
sich der Einwand erheben, dass sie mit einer Angabe nicht übereinstimmt, die
in einer andren Quelle erhalten ist. Bei Pollux (6. 148) wird tyuxdg unter den
Ausdrücken erwähnt , die eig xbv bXiya vii dtöevelag Xeyovxa gebraucht worden
sind. Man könnte vermuthen , das Wort sei durch Misverständnis des [iixqoXo-
ycog, das in einer von Pollux und von dem Scholiasten gemeinsam benutzten
Quelle gestanden habe, in die Liste des Lexikographen gerathen. Dieser Aus-
weg wird aber dadurch abgeschnitten, dass in dem nämlichen Verzeichnisse auch
QavCg aufgeführt wird. Es stehn sich also die Nachricht der Scholien gegen-
über, Antimachos sei did xb övvexag %xveiv als Sohn des Waxdg gefeiert worden,
und die Notiz des Pollux, als tyaxddeg habe man Leute bezeichnet, die, was sie
zu sagen hatten, nur tropfenweise preiszugeben vermochten. Da der Sprachge-
brauch nach keiner Seite hin entscheidet, eine andre Art der Controlle fehlt, so
bin ich der Ansicht, dass wir mit beiden Möglichkeiten rechnen müssen *).
An letzter Stelle haben wir es mit den Namen zu thun, in denen über un-
articulierte Laute Beschwerde geführt wird.
Alt und weit verbreitet ist die Sippe, der der Wortstamm xgepe- (#p£fi£rt£w,
XQO^iadog) zu Grunde liegt.
XQSfirig in Athen seit dem 5. Jahrh. (Xgeprixog de vibg yjv (Theq-
ßoXog Schol. Aristoph. Frieden 681), in der mittleren Ko-
mödie der grämliche Alte (Xge^irig xig ij <&eidcov xig Anti-
phanes, Meineke 3. 106 21);
Xgepäg Akarnanien (Polyb. 28. 5, 1 u. s.; 2. Jahrh.);
XQepvXog Styra (Ion. Inschr. no. 19, 152 ; 5. Jahrh.) , Name des
unzufriednen Alten im Plutos des Aristoph.;
1) Man beachte, dass Theophrast unter die Merkmale des dvaxsQVS das rechnet, dass er
ngoaXccläv vtioqqCtixu &itb xov 6t6(iaxog (Charakt. 19. 4). r
1 R *
48 FRITZ BECHTEL,
Xqe[i<dv Athen (Xenoph. Hell. 2. 3, 2), Meyagevg (CIA 2 no. 834 c 59
Add.), 'Agyelog ('Eq>. aQ%. 1892. 69 25), Tegea (Le Bas-Fou-
cart no. 3406 g);
XQSiiavtdrig AföaUdrig (CIA 2 no. 332 7 ; 3. Jahrh.) ;
Xgo^vkog1) Styra (Ion. Inschr. no. 19, 341; 5. Jahrh.);
XQÖtiav 6 Msöörjviog (Thuk. 3. 98, 1), Notion (BCH 18. 216 no. 1).
Der Name Xgeprig fällt mit dem Namen eines Fisches zusammen, den Aelian
(IIsqI £m<nv 15. 11) erwähüt. Die Namen Xgo^vXog und Xgöfiav erinnern an
den Fischnamen xQo^Lg (%QÖ[iLog). Vom %q6(iiq berichtet Aristoteles {Ilegl xä
£öta i6tog. 4. 9) , dass er äöitsg ygvXiG^ov ertönen lasse. Aubert und Wimmer
(1. 144) sind geneigt den Fisch für die Sciaena aquila zu halten; von ihr heisst
es bei Brehm, sie lebe in grössrer Gesellschaft, »und wenn eine solche Gesell-
schaft schwimmend weiterzieht, vernimmt man ein laut tönendes Geräusch«
(Thierieben3, Fische 74). Augenscheinlieh ist diese, in ihren Anfängen bis in
das Epos zurück reichende, Sippe für Personen bestimmt, die als Brummbärte
an den Pranger gestellt werden sollen.
Eine zweite Sippe beschäftigt sich mit den Schnarchern, unter denen man
sich vielleicht Leute mit verstopften Nasen vorzustellen hat. Ich kenne sie nur
aus Böotien:
'PsyxCug Thespiai (IGS 1 no. 1740 5; 3. Jahrh.);
'Poyxav Akraiphia (IGS 1 no. 2716 au; 3. Jahrh.).
IQ. Geschlechtliches Unvermögen.
Die Glosse kiqchv advvaxog ngog övvovöiccv (Hes.) gibt Aufschluss über die
Bedeutung der namentlich in Attika verbreiteten Sippe
KiQog n^evg (CIA 4 Suppl. 2 no. 563 b 24; 4. Jahrh.);
KiQiag (CIA 4 Suppl. 1 no. 373111; 5. Jahrh.);
KCqcov Athen (Isaios 8, CIA 4 Suppl. 1 no. 37386, 37389; 5. Jahrh.),
Chios (Mitth. 13. 182 no. 42), Tarra (BCH 13. 72 no. 8);
KcQcovLdr}g Oropos (IGS 1 no. 385 1).
• Einen Namen gleichen Inhalts hat Hiller von Gärtringen auf Thera gefunden :
BdxaXog (7. Jahrh.).
Die Erklärung ergibt sich aus Phrynichos Epitome (Lobeck 272) : 6r\^aCvsv yäg 6
ßdxrikog xhv a7iozET^rjiiBvov xä cciöolcc, bv Bl&vvoI xal ' Aöiavol TdXXov xaXovöi, und
aus Lukians Evvov%og (8), wo evvov%og und ßdxr\Xoi verbunden werden. In wei-
trem Sinne hat Antiphanes das Wort- gebraucht (Meineke 3. 59) :
Ov% ÖQäig ÖQ%oviievov
xcclg %£Q6l xhv ßdxrjXov, ovo' at6%vvsxai
1) Man könnte auch Xgafivlog lesen und den Namen zu Xgcofitoitci ziehen. Bei dieser Ge-
legenheit sei zu GP2 293 nachgetragen, dass XQ&pig durch eine Inschrift aus Stymphalos (BCH 7.
491 no. 6 6) bezeugt ist.
ORIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 49
6 tbv 'Hq&xXeixqv naöiv elrjyovtievog,
6 xi\v Qeoöexxov fiövog dvrjVQrjxdig x£%vr\v,
6 xä xEcpaXcua övyyQ&cp&v EvQiitCdr\L.
Aber die theräischen Verehrer des Wunderpfeifleins, darnach sie alle tanzen,
haben es jedesfalls so ursprünglich wie möglich verstanden.
IV. Gebrauch der Gliedmaassen. Körperliche Fertigkeiten.
Die beiden Namen
Zxcctog 6 dovQiog Ud^icog xQaxtjöag Ttvy\x,ii\i Ttaldag (Paus. 6. 13, 5 ;
nach dem Exalog 6 %vyyia%£c3v Herod. 5. 60 benannt ?) ;
Zxacov Aiiavsvg (CIA 2 no. 1055 32; 4. Jahrh.)
sind an sich mehrdeutig. Da aber schon einer der zwölf Hippokoontiden ZJxaZog
heisst, den sein Name weder als Tölpel noch als Dummkopf berufen J) kann , so
scheint mir geboten in Uxatog den Linkhändigen, den Namensvetter des rö-
mischen Scaevola zu sehen.
Auf Schwerfälligkeit, namentlich unbeholfnen Gang, weist der Name
XeXgjvvcov Thasos (Ion. Inschr. no. 81 1 3 ; 5. Jahrh.), Athen (CIA
4 Suppl. 2 no. 7 b 4.),
den schon Wilhelm (Arch. epigr. Mitth. aus Osten*. 15. 2) mit der %EX6vri in
Zusammenhang gebracht hat. Die Schildkröte ist dem Hellenen das Sinnbild
der Plumpheit. Man erkennt dies leicht an dem Sprichworte XeX6vx\v IlrjydöcjL
(SvyxglvEig (Apostol. 18. 24), dem man das lateinische Testudo volat an die Seite
stellen kann, und aus den Fabeln von Schildkröte und Adler oder Hasen (Aesop
no. 419. 420 Halm), die beide an die ßQudvxrig des Panzerträgers anknüpfen 2).
Den Gegensatz hierzu stellen die Namen dar, die ein Ubermaass der
Beweglichkeit constatieren. Nach griechischer Anschauung verstösst solches
Ubermaass gegen die Gacpgoövvr] 3).
UtQotßog Athen, Lieblingsname auf einer Kylix des Britischen
Museums (Catalogue 2. 219), Thuk. 1. 105, 2;
Klvöcov, öipoydyog bei Athenaios (p. 345c).
Zu UtQolßog vgl. die Glossen öxQoißög' d(£)Zvog, 6xQOißäv avxitixQEcpEiv (Hes.) ;
zu Kuvöatv die Wörter ovoxivdiog (Eupolis in den Scholien zu Aristoph. Vög.
1556) und xCvda%' Evxivr\xog (Hes.).
1) Bei Alkraan empfängt er das Beiwort ayQOtag, wie Artemis 'Aygotcc (Smlg. do. 3221) uuil
'Aygotis heisst (IGS 1 no. 3100), Diels Hermes 31. 3423.
2) Übrigens wird die Schildkröte, die Hermes Hymn. Hom. 3. 25 findet, als accvlcc noalv
ßuivov6cc beschrieben. Also könnte mit XeXojvicov auch bezeichnet sein, wer gressu delicato et lan-
guido (Phaedr. 5. 1, 13) des Weges kommt.
3) Demosth. 45. 77 'Eycb d' a> avdgeg 'A%y\vaiQi rfjg (iiv öipsoag xf\i <pv6U nai tibi ra%t(og ßa-
tii&iv xai XaXilv (isycc ov tcöv svTV%cbg nscpvAÖTutv ificcvtöv kqivco.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttdngen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 6. 7
50 FRITZ BECHTEL,
Hierher darf man vielleicht, unter Berufung auf die oc^6vqol ^vQ^xEg des
Aischylos (Prometh. 452) und die antiken Wagnerianern nachgerühmten ixtga-
nsXoi pvQprpuaC des Pherekrates (Meineke 2. 330), als vergleichende Namen ziehen
MvQtLrjt, Athen (Aristoph. Frösche 1506 ; nach dem Heros ?),
Stoiker unbekannter Herkunft (Diog. Laert. 2. 11,2), Mo-
ßaXXsvg (BCH 10. 488 no. 2 7); Mvq^ Epidauros (E<p.
äQx. 1892. 69 29), Kos (Smlg. no. 3706 Via);
MvQiLidag auf einem Aryballos aus Korinth (Smlg. no. 3121 ;
6. Jahrh.)1).
Unsicher wird die Erklärung dadurch, dass MvQprfe auch der Name einer be-
rühmten Klippe ist (Herod. 7. 183), der er vermuthlich um der starken Ein-
schnitte willen beigelegt ward, die sie mit der Ameise theilt (Fick ßeitr. 22. 40).
So könnte man auch daran denken in Mvq^lyj^ einen Mann mit Ameisentaille zu
sehen.
Man ist auf den ersten Blick geneigt hier auch die Gruppe von Namen ein-
zureihen, die sich an Benennungen von Spielgeräthen anschliessen, bei denen es
sich um Herstellung einer schnellen Bewegung handelt. Als solche Namen sind
mir bekannt:
EtQo^ßog Grabschrift zu Tanagra (IGS 1 no. 1402 1), mit andrer
Vocalisation UtQa^ißog Olvoalog (Smlg. no. 2041 17, no. 2121 9 ;
2. Jahrh.);
ZkQÖiißig Melos (CIG 2 no. 24366 Add.);
ZtQoyLßiiog seit dem 5. Jahrh. (Thuk. 1. 45, 2) oft in Athen, ®cc6io$
(IGS 1 no. 348 1), Iasos (Journ. Hell. Stud. 9. 341 no. 3 s),
Vd&og (Smlg. no. 1951 5), ApyiöCsvg (Smlg. no. 1995 s), ' AnoX-
Xcjvidtag (Dittenberger Syll. no. 198 95);
UtQO(ißi%idfig Athen (Thuk. 8. 15, 1; Enkel des Urgöfiß^og),
EtQo^ß[i%Cd]ag Dyme (Smlg. no. 1612 31);
UtQo^ßvXtcjv Alyetdog cpvXfjg (CIA 2 no. 444 II 45 ; 2. Jahrh.).
Vgl. IL g 413
öTQopßov 6' ag 866SVE ßaXav, 7t£Qi d' edga^ie %avxv\i.
EtQoßiXog Syrakus (IGSI no. 85).
Vgl. Plat. Pol. p. 436 d ag 0% ys ötQÖßiXoi oXot, §6t&6i te a(ia xccl xvvovvtai.
'Pviißtg Styra (Ion. Inschr. no. 19,299; 5. Jahrh.).
Vgl. Schol. Ap. Rhod. 1. 1139 Qo^ißcot, ■ TQO%i6xog. bv ötQecpovöiv ipaöi xvntovrsg
xccl ovtcog xrvTtov cc7CoxeXov6i.
BeyLßaxldag Grabschrift zu Thespiai (IGS 1 no. 1881 1).
Von einem Nomen ßenßcct,, das mit ßaßcc^at' ÖQ%ij0a6d'tti (Hes.), ßaßaxxv\g bei Kra-
tinos (Meineke 2. 182) und mit ߣ\ißi% im Zusammenhange steht (Beitr. 23. 248 f.).
1) Der Künstler MvQw*.tdris (die Stellen bei Böckh CIG 1. 873) scheint seinen Namen der
Kunst verdankt zu Ijabeq Ameisen in Elfenbein nachzubilden. Vgl. Brunn Gesch. d. griech.
Künstler 2. 405 ff.
ORIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 51
Über ßs'fißit, vgl. Schol. Aristoph. Vog. 1461: 6 de ßeiißi% eoyccXeZov £<3tiv, ö fid-
dtiyi ötgecpovöiv 01 jtaldeg.
Toözstg Hyettos (IGS 1 no. 2811 ie; 3. Jahrh.);
To6x%r}g Grabschrift zu Tanagra (ebenda no. 1449).
Den Tooxö'g beschreibt Acron zu Hör. Carra. 3. 24 57: circulus aheneus , rotae si-
milis, quem pueri ludentes virga ferrea circumagebant u. s. f. (Hermann-Blümner Pri-
vatalterth. 2931)).
Misst man diese fünf Sippen an Exooißog, so ergibt sich, dass sie mit diesem
gleichen Inhalt haben können. Sie unterscheiden sich in diesem Falle von UraoZ-
ßog nur dadurch , dass sie durch das Mittel der Vergleichung das aussprechen,
was mit Ergolßog rund heraus gesagt wird: UtQo^ißog ist ein Mann wie ein
Brummtopf, Bs^ißa^ ein Mann wie ein Kreisel. Man erinnere sich, dass die tan-
zenden Söhne des Karkinos von Aristophanes ot KaoKivov GtQÖßiXot, genannt
werden (Frieden 864), und dass der Sykophant dem Pisthetairos das grosse Ge-
heimnis jedes erfolgreichen Strebens in dem Worte enthüllt : ßtfißixog ovösv dia-
(pBQScv dsi (Vog. 1461): ein Zweifel daran, dass die erwähnten Namen geeignet
seien das Übermaass von körperlicher Beweglichkeit, mag diese veranlasst se*in
wodurch sie wolle1), zum Ausdrucke zu bringen, kann dann nicht mehr auf-
kommen. Allein sprachlich betrachtet ist noch eine andre Auffassung möglich.
Wer sich in einer bestimmten körperlichen Fertigkeit vor seinen
Concurrenten auszeichnet, kann nach ihr genannt werden. Dies ist offenbar die
Veranlassung der Namen
Ucpcctoog Thasos (Ion. Inschr. no. 73 3), Athen (z. B. CIA 2 no.
10446 6 ; 2. Jahrh.), Rhodos (CGC Caria 261 no. 345), Fa-
brikant in Knidos (Dumont 263 no. 107), Sklave in Delphi
(Smlg. no. 2273 4);
Z!<paiQLG)v Fabrikant in Knidos (Dumont 284 no. 76);
JCöxog Eretria (A&rjvä 5. 360 no. 44), Rhodos (IGI 1 no. 1122);
Metöke auf Delos (BCH 7. 106 10 ; 3. Jahrh.), Sklave in
Delphi (Smlg. no. 2190 5),
die keines Commentares bedürfen 2). Vielleicht findet so auch
UöX&v, zuerst in Athen (7. Jahrh.), an andren Orten vielleicht
abhängig von dem berühmtesten Träger des Namens,
seine Erklärung: in der Ilias vertritt der <5olog die Stelle des dfaxog'6).
1) Bei dem öipocpdyog KCvd'cov könnte sie z. B. aus dem Magen kommen.
2) Neben Zepccigog steht Eti-6 cpcug og BCH 8. 26 B 3. Aber der Vater des Ev - 6tpaigog heisst
Ev-nlfjg, sein Name wird also auf die Gestaltung des Sobnesnamens Einfluss geübt . haben. —
JiöHog ist GP2 99 anders, aber, wie mir jetzt scheint, nicht richtig gedeutet.
3) Daran hat mich College Blass erinnert. — Es sei noch die Frage aufgeworfen, ob die
Leute, die mit der Heuschrecke verglichen werden, also Bqovy.i<ov auf Melos (1GA no. 414) und
'Angidicov auf Delos (BCH 6. 38 87), dies ihrer Gewandtheit im Springen verdanken. Der von An-
tiphanes (Meineke 3. 110 f.) eingeführte Parasit rühmt sich zu sein dGnr\8äv Sc-ngig.
7* S
52 PEITZ BECHTEL,
Wenn nun Zcpalgog ein Knabe ist, der gern 6(paCaai tiulIei, AiGxog ein guter
Diskoswerfer — leider vermag ich nicht auch auf einen JCxvxXog zu exemplifi-
cieren, da er unsrem geschmackvollen Zeitalter als Triumph aufgespart blieb — :
so können auch ZtQÖfißog, UtQÖßtXog, 'Pvußcg, Bs^ßaxvdag, TQO%eig als Leute
angesehen werden, die sich als Knaben auf die Behandlung des Brummtopfes,
des Kreisels und des Reifes in besondrem Grade verstanden haben. Die Namen
des Spielplatzes sind dann wichtiger gewesen als die Namen der 8sxdtr\.
Zweites Capitel.
Der Mensch als geistiges Wesen.
I. Intellect.
Der Einzelne kann bei seiner Umgebung ebensowol durch einen Mangel wie
durch einen Überschuss geistiger Regsamkeit Aufsehen erregen.
Dass auch die Griechen mit dem Beschränkten wenig Geduld gehabt
haben , lehrt die ziemlich grosse Liste von Spitznamen , in denen sie sich über
ihn lustig machen.
Xavvtg Thasos (Thas. Inschr. no. 3 I & ; 5. Jahrh.) ;
X[av\viog vielleicht herzustellen auf der Liste der aus der Erech-
theidischen Phyle Gefallenen (CIA 1 no. 433 II 6; 5. Jahrh.).
Xavvig, Xavvcog sind Variationen von %avvog, das sich begrifflich etwa mit lat.
vänus deckt. Ich erinnere an Solon fragm. 34
XcCVVCC {L&V TOT EtyQGGCCVTO, VVV §B /10t %oXovyLEVOl,
Xo^bv öcp&ccAiwlg oqcö6iv Tidvxeg co6zs drj'Cov.
Neben Xccvvcg , Xavviog steht das Appellati vum %avval in der Glosse %ccwdxG)v'
%ccwo71ol(jv, ol de xavvolöycov (Hes.).
[B]laxLC3v Theben (IGS 1 no. 2463 10; 3. Jahrh.).
Die Ergänzung rührt von Dittenberger her. Wäre IlXdxcov der Inschrift CIG 1
no. 1271 19 gesicherter, als der Fall ist (die Lesung beruht auf Fourmonts Auto-
rität), so käme auch die Ergänzung [IJ\XaxCcov in Frage.
Baßvgxag Delphi (Smlg. no. 2182 25 ; 2. Jahrh.), Messene (Polyb.
4. 4, 5).
Vgl. ßaßvgtag' 6 Tcagd^icogog Hes.
Mdgyog, Vater eines Bdgig, Hermion (Smlg. no. 3398 II 2).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 53
Mccgyog wird GP2 34 als Koseform von raötgt-^iagyog genommen. Aber ratstgi-
[iccgyog bezeichnet den Mann, der nginu yaötsgt pagyrit «£%£? cpays^iev xal ittefiev
(0 2 f.), während Vater Mdgyog, der einen Sohn Bdgtg erzeugt hat, sicher einer
von den Leuten gewesen ist, die nicht aussterben.
Zu Vergleichungen geben zunächst eine Reihe sprichwörtlicher Repräsen-
tanten der tiwQLCt Gelegenheit: Mögv%og, Kögotßog, Bovxaltav, KotxvXtav, Mag-
ytrrjg, MsXrjrtdrjg. Die Namen der beiden ersten kommen als Namen historischer
Personen wirklich vor ; es fragt sich nur , ob beabsichtigt gewesen ist Thoren
mit ihnen zu bezeichnen.
Mögv%og begegnet uns seit dem 5. Jahrh., von seinen beiden Ableitungen
wenigstens die eine:
Mögv%og Bovtäörjg (CIA 2 no. 652^4 12; um 400 v. Chr.); einen
Tragiker verhöhnt die alte Komödie;
MoQv%tdrig naXXrp/svg (CIA 1 no. 129 5), Mogv%tdug Tanagra (IGS
1 no. 585 II 12) ,*
Mogv%icav Tenos (Anc. Gr. Inscr. no. 377 41 ; 3./2. Jahrh.).
Mögv%og ist hUxXrfiis des Dionysos in Athen (vgl. Preller-Robert 1. 6754). Da
schon Sophron das Sprichwort [uogötegog st Mogv%ov gekannt hat (fragm. 117
Botzon), so muss man schliessen, dass die angeführten Namen sammtlich den
Zweck haben menschlichen fiagot ihr Recht widerfahren zu lassen.
Anders, glaube ich, hat man über die Geltung des Namens Kögotßog zu ur-
theilen. Auch er lässt sich seit dem 5. Jahrh. nachweisen ; so in Athen (vgl.
CIA 1 no. 433 I44), Plataiai (Thuk. 3. 22, 3), Lakedaimon (CIA 2 no. 50 11;
4. Jahrh.) , Megara (IGS 1 no. 27 13) ; dazu KogoißCdr\s auf Thasos (Ion. Inschr.
no. 78 III 9 ; 4. Jahrh.). Indessen, so viel wir wissen , ist Kögotßog erst durch
Euphorion von Chalkis zum Vertreter der Thorheit gestempelt worden (vgl. Mei-
neke Anal. Alex. 153 fragm. 153). Da die angeführten Zeugnisse, von dem aus
Megara abgesehen, sammtlich älter als Euphorion sind, so beweisen sie für die
Geltung von Kögotßog als Benennung des efafihiQ gar Nichts ; und auch der Kö-
gotßog aus Megara ist sicher kein Dummkopf, sondern ein Mann, dessen Vorbild
der Heros Kögotßog sein soll, an dessen Verdienste das Heiligthum des Apollon
zu Tripodiskos den Megarer jeden Tag erinnern konnte. Da, wie wir sehen, der
Heros der Linossage, lange bevor der Freier der Kassandra zu einer burlesken
Figur geworden war, historischen Personen seinen Namen hat hergeben müssen,
so wäre es ein eitles Bemühen für die spätre Zeit entscheiden zu wollen, bei
welchem Kögotßog der Heros und bei welchem der {icbgog zu Gevatter gestanden
habe.
Mehr positiven Ertrag wirft die Untersuchung der Frage ab, welche Thiere
die Hellenen für qualificiert gehalten haben die r\Xt&töxrig eines Vertreters der
Gattung Homo sapiens auf den eignen Namen zu nehmen. r
Platon spottet im Laios (Meineke 2. 636):
54
Ov% bgätg ort
6 plv Asaygog, rXavxavog c5v ^isydXov ys'vovg,
aßeXxsgoxoxxvfc r\XCfriog TtsgLegxstaL,
ölxvov Ttsitovog evvov%Cov xv^ag e%g)v ;
Das Wort ccßeXxsgoxoxxvt, ist von Bergk für das überlieferte xoxxv% aus Phry-
nichos eingesetzt; der Lexikograph schreibt (Bekk. Anecd. 1. 27 24): äßeXxego-
xoxxvl' dßeXxegog xal xevog' xoxxvya Xeyovöi xbv xevbv xccl xovcpov. In der glei-
chen Bedeutung gebraucht Aristophanes in den Acharnern (598) das Wort xöxxv%:
drei xoxxvysg haben den Lamachos zum Feldherrn gewählt. Ein drittes Beispiel
für diesen Gebrauch kann man mit Wilamowitz (Isyllos 1329) im 29. Fragmente
des Anakreon vermuthenj: "Eyco <T ari avxy\g cpvyov (überl. cpEvya) coäxe xoxxv£ 1).
So haben wir das Recht die Namen
Köxxvip Thespiai (IGS 1 no. 1888 «12; 5. Jahrh.);
Koxxovßiag Thespiai (IGS 1 no. 1745 10; 3. Jahrh.),
deren zweiter lehrt, dass KoxxvßCag bei Hesych nicht angetastet werden darf, als
ehemalige Spitznamen für Leute zu betrachten, die wir nach unsrem Sprachge-
brauche unter die Gimpel versetzen würden.
Ich erinnere ferner daran, dass das Geschlecht der ßösg den Griechen nicht
nur als Typus der Grösse und Kraft, sondern auch der geistigen Schwerfälligkeit
gegolten hat. Boav h\a £%sts , lautet ein Sprichwort (Apostol. 5. 13). Eusta-
thios schreibt (Meineke 4. 318 fragm. 187) : "Oxi de xal dg avai6%r\6iag öxöfifia Xap-
ßdvstai 6 ßovg, drjXol xal 6 Ttagä Msvdvdgcji ßotdrjg, o sGxt ngäiog, evtf&rig, xa#'
ofiOLÖtrjta xov ä[ivoxcjv. Ich halte darum für möglich, dass die Träger des Namens
Boidag Sikyon (Plin. NH 34. 66; 4. Jahrh.) Byzanz (Vitruv. 3. 2),
Kos (Smlg. no. 3624 c 13); unbekannter Herkunft der von
Diphilos verspottete Philosoph (Schol. Aristoph. Wölk. 96)
und die CIA 2 no. 835 77 , no. 1012 1 8 genannten peregrini
wenigstens theilweise Boiotier waren2).
Bekannt ist das Sprichwort r\ vg x^v 'Ad-rjväv (vgl. Leutsch zu Apost. 17.
73). Das Schwein ist für den Griechen der Repräsentant der aitaidevöia. In
Plutarchs Dialoge liegt xov tä äXoya Xoycoi %gr\6^ai ist TgvXog Charaktername :
der, in ein Ferkel verwandelte Gefährte des Odysseus verficht den Satz, dass die
tl>v%r} der Thiere geeigneter sei ngog yavsöiv dgsxfjg ' dvanixaxxog yäg xal ädldaxxog
aöTtsg ccöTtogog xal dviqgoxog ixcpageo xal av^ai xatä (pvötv xr\v axaöx&i 7tgo6rjxov6av
dgsxriv. Zu den Worten eneö&a {irjxgl %olgov (Aristoph. Plut. 315 = 308) be-
merken die Scholien: rovro de itagoi^iicbÖeg eivai tpaöiv ot yäg nalöeg xovxo eico-
1) Diese Stelle wird freilich als Beleg für die Feigheit des Vogels angeführt, von der auch
Ps. Ar. IIsqI ro: £coicc iötoq. 9. 29 die Rede ist (dia yag tö oweidsvat, avxäa xi]v öeiXlav).
2) Botöccg bei Plinius und Vitruvius (Boedas die Überlieferung) ist zuerst von Keil erkannt
(Anal. crit. et onomatol. 212 f.) und mit einer sprachlich vollkommen zulässigen Erklärung (der
gleichen die GP2 81 vorgetragen wird) gestützt worden. Möglicher Weise meinen Plinius und Vi-
truvius die gleiche Person (Robert bei Pauly-Wissowa 3. 594).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 55
%aöi Xeyeiv, eiteöfte pr\tQi %oIqol ' xcccQOi^ictxbv ovv ifixi , xal inl x<bv dnaidevx&v
<paöl Xsyeö&ai. Mag es in dem letzten Falle stehn wie es wolle — sicherlich
haben wir das Recht in diesem Zusammenhange der Namen zu gedenken , die
unsren Freund, das Schwein, zu Worte kommen lassen:
rgiöcov Halikarnassos (Ion. Inschr. no. 240 26 ; 5. Jahrh.).
Vgl. rgiöav (überl. rpiöjav) ' vg. ' AQi6xo<pdvr\g de ovo^ia dQo^ieayg vevixr\x6xog iv
'OXvpitlai öxddiov (Hes.).
rgvXog 'EQ%i£vg, Vater und Sohn des Xenophon (Diog. Laert. 2.
6,1), XaXxidevg (Diod. 17. 40);
rQvXig Ephesos (CGC Ionia 59 no. 94; 3. Jahrh.), Tanagra (IGS
1 no. 880) ;
rgvliov eig xcbv 'AQeoitayix&v (Athen, p. 513 d; 4. Jahrh.), IlXa~
xaievg (IGS 1 no. 2723 s) ;
rgvXcov (CIA 2 no. 3583).
Die grösste Verbreitung hat die dritte Sippe gewonnen:
XolQog Vater des Mixv&og aus Rhegion (Herod. 7. 170 ; 6. Jahrh.),
Thasos (Thas. Inschr. no. 12 III 8) ;
XoiQuxog in dem Patr. XvQccxiog Tanagra (IGS 1 no. 538 10; 4./3.
Jahrh.)1);
XoiQiXog Tragiker zur Zeit des Aischylos, ftegditav des Komikers
Ekphantides (Meineke 1. 37), Samos (Plut. Lys. 18), Ta-
nagra (IGS 1 no. 585 IV u) , Iasos (Steph. Byz. unter
"Iccöog), 'HXelog (Paus. 6. 17, 5) , Eretria \'Etp. ccqX. 1895. 131
II 13), XvgCXog Lato (Museo Ital. 3. 646 no. 58 6) ;
Xolqlcov Katane (Head Hist. Num. 116; 5. Jahrh.), Xvqicov Grab-
schrift zu Assos (Papers of Amer. School 1. 76 no. 59);
Xolqov Thasos (Thas. Inschr. no. 8 In, 4. Jahrh.).
Dem Ideale des xccXbg xdyad-ög entspricht Xiyeiv [tsv dvvaxbv eivcu, XaXetv de
Hexqlcc. Der Einzelne kann also nach zwei Seiten hin Anstoss erregen : dadurch,
dass er der Rede nicht Herr ist, oder dadurch, dass er nicht über seine Zunge
gebieten kann. Beide Fehler verrathen einen Mangel : entweder an Begabung
oder an Erziehung und Bildung.
Auf Ungewandtheit in der Rede weisen vielleicht die beiden schon
bei früheren Gelegenheiten (12. 46) erwähnten Namen
Waxdg und
'Pdvig,
da bei Pollux (6. 148) gavig und tyaxdg unter den Ausdrücken stehn, die eig xbv
bXiya. vri döfteveCag Xeyovxa im Gebrauche gewesen sind.
1.) Über den deliscben Namen XoiQcc*oe, von dessen Beurtheilung die von XotgvXos (z. B.
BCH 8. 313 no. 15 3) abhängig ist, sieh S. 141. 5
56 FRITZ BECHTEL,
Der Vorwurf der Geschwätzigkeit ist enthalten in
AdXat, (Gen. AdXaxog)1) Thera (5. Jahrh., mitgetheilt von Hiller
von Gärtringen) ;
vgl. XdXayeg' %Xcogol ßdtQa%oi itegl rag Atpvccg (Hes.) , Anakr. fragm. 90 (Bergk)
Mr\fr cjöts xv^ia %6vtvov
XdXa&, %v\i 7toXvxQ6tr\i
6vv raötQodcjQiijt xataxvdrjv
Tttvovßa xr\v iniöxiov,
und XaXdl^avtsg' ßorjöavrsg (Hes.).
Ferner steckt der Vorwurf wol in
0X6 pal Tanagra (BCH 20. 242, 'E<p. dQ%. 1896. 243; 5. Jahrh.),
da <$Xöpcc% im Ablautverhältnisse zu (pXva% stehn, also einen yXvccQog bezeichnen
kann2). Gehört der Name
&Xeag (-ccvtog) Priene (Anc. Gr. Inscr. no. 419 38 ; 2. Jahrh.)
in die gleiche Reihe?
Ganz deutlich wird der Vorwurf ausgesprochen in
nhtog Thasos (Ion. Inschr. no. 75 II n ; 4. Jahrh. ; der Sohn
heisst noXv&Qovg).
Die Kehrseite der Betrachtung bringt uns mit den durchtriebnen Köpfen
und mit den Leuten in Berührung, die sich in einer geistigen Kunst hervorthun.
Die Namen, die von Durchtriebenheit zu berichten wissen, sind fast
durchaus vergleichender Natur. Einen sittlichen Vorwurf brauchen sie nicht
auszusprechen; wie weit sie es im einzelnen Falle doch thun, kann nicht ent-
schieden werden.
Der einzige Name, der eine directe Aussage enthält, ist
rXccyoQidccg Akraiphia (IGS 1 no. 2718 3 ; 3. Jahrh.);
ich beurtheile ihn nach dem Sprachgebrauche des Alexis (Meineke 3. 430)
aAA' iya Gotpcbg
xavr! oixovo[itf6co xccl yXayvQag xal 7toixiXcog.
Alle übrigen Namen, die mir zur Verfügung stehn, benutzen die Form der
Vergleichung.
Eine von ihnen greift in die Heroenwelt:
Hiövcpog iv MsXirriL hoix(av (CIA 1 no. 324 «53; 5. Jahrh.), Phar-
salos (Theopompos bei Athen, p. 252 f).
Als Beiname ist ZJtövyog aus Sparta bekannt : dsQxvXXidccg 6 Aaxedca{i6viog ....
avfiQ öoxüjv elvau \xdXa \Lv\iavv\xiXQg' xal iTCsxaXalto de Eiövcpog (Xenoph. Hell. 3. l,g).
1) Mit AdXaxog vgl. ÖQtvnog bei Philemon (Meineke 4. 65 fragm. 123) und die Ausführungen
WSchulzes GGA 1896. 240.
2) Wie ist der Name $Xstcc£ (Delphi, BCH. 20. 209 85; 4. Jahrh.) zu deuten? Da die In-
schrift kein st für s vor Vocalen kennt , ist die Zurückführung auf $lscci- nicht gestattet. Nach
den Lauten könnte man $Aclag als Kürzung von ÜXeidoiog betrachten und ein analoges Beispiel
der Verkürzung in 'Potfai- aus 'Podtog erblicken.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 57
Drei andre rufen den Fuchs zu Hilfe und empfangen dadurch mehr oder
weniger einen Stich ins Unehrenhafte.
'AXcoTtexog Mstanovrlvog (Iambl. De vita Pythag. 189 10 N.) ').
Vgl. Solon fragm. 11. 5 f.
v^iBcov <f slg {ihv sxaör og cckcmexog L'%vs6l ßcctvEi,
6v[17Ccc6lv <?' v^ilv %avvog sveCti voog,
aber auch akaTtexi&Lv Aristoph. Wesp. 1241.
Kivdörjg Styra (Ion. Inschr. no. 19, 51 ; 5. Jahrh.);
Kiväöav Sparta (Xenoph. Hell. 3. 3, 4) ;
abgeleitet von xCvaöog: xovitCtQtntov xivaöog nennt Aias den Odysseus.
UxLQCxcpidag Sparta (Plut. Lys. 17) ;
vgl. die Glosse xigccyog' akanr\l. Aaxaveg (Hes.). Dass £xiQai> in der Komödie
als öVofta xvqiov vorgekommen ist, berichtet Choiroboskos (Bekker Anecd. 3. 1200).
Die Griechen besitzen das Sprichwort KavfraQov 6oq)6t6Qog, Kav&ugov ^iskäv-
teyog, das auf die alte Thierfabel (Fab. Aes. no. 7 H.) hinweist, die den Mist-
käfer die Eier des Adlers vernichten lässt (Crusius Anal. crit. ad paroem. gr.
147). Wenn also ein Mann Küv&aQog genannt wird , so kann sich in der Be-
nennung die Anerkennung unbequemer Schlauheit aussprechen. Der Name reicht
bis ins 5. Jahrh. zurück:
Kocvd-ccQog Dichter der alten Komödie (Meinekel. 251; ein Mvqql-
vovßtog CIA 2 no. 600 12), Sikyon (Paus. 6. 3, e), Per. Rhod.
(BGH 10. 253 II 28) ;
Kccv&ccqccov Athen (Mitth. 21. 93 2 ; 4. Jahrh.), 6 'Agxag (Plut.
Alna 'Ekkrjv. 39) ;
Kav&Cug Argos (Smlg. no. 3269 10 ; 5. Jahrh.) 2).
Auszeichnung auf dem Gebiete der Wissenschaft, des geistreichen
Spieles oder der Kunst hat ebenfalls Beinamen im Gefolge.
Auf Meisterschaft im Rechnen oder in der nstzeCa gehn die Namen
Wccyav Kyrene (Smith-Porcher no. 6 ss), auf Henkeln unbekannter
Herkunft (CIG 3 XX no. 200) ;
Zxinvdag Thespiai (IS 1 no. 1888 & 6; 5. Jahrh.);
ZtCal Epidauros (E<p. ccqx- 1892. 74 97 ; 4. Jahrh.).
Die Zusammengehörigkeit von 2Jri(ovöag und 27rt'a£ ist von Keil (Mitth. 20. 428 f.)
mit Recht betont worden. Auch der Erklärung der Namen, die er unabhängig von
Blinkenberg (Eretr. Gravskr. no. 75) vorgetragen hat , stimme ich zu : er be-
1) Die Zusammensetzung tqvn • ultonri^ (6 ötcc navovqyCav nävtcc tQvn&v xca igyci&ad'cu öv-
vd(isvog Bekker Anecd. 1. 64) liegt verkürzt vor in dem argivischen Namen Tgvit ig (CGC Pelo
ponn. 145 no. 121; 228—146 v. Chr.).
2) Dieser Name kann auch anders, gedeutet werden. Lysippos sagt (Meineke 2. 746):
El [IT] Tsd-£cc6cci ta? 'A&Tjvccg, aziXi%og sl,
st Ss Tsdeccaeci fii] rs^gsvacci 8\ övog,
sl 8' svccQsar&v anoTQt%£ig, Y.avftr\X 10g.
Abhdlgn. d. K. Gea. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 5. 8
58 FRITZ BECHTEL,
ruft sich darauf, dass nach den Scholien zu Apoll. Rhod. 2. 1175 öticu aC ^<jp<m
jcagä Xixvttvioig xaXovvxai.
Wer in der Kunst des Xiyuv ygCcpovg excelliert, erhält den Namen
rQl(pog (CIA 2 no. 1012 1 22 ; 4. Jahrh. ; »catalogus est peregri-
norum«), Imbros (BCH 13. 431 no. 42, ebenfalls in einer
Namenliste l).
Ein Handwerker, der für den Tholosbau zu Epidauros iyyXv^ata u. dgl. zu
liefern hatte, hiess
Knpmdiav (Ey. ccqX. 1892. 72 71 ; 4. Jahrh.).
Dieser Name erinnert an den Ilatavicjv des Philetairos (Meineke 3. 298) , an
AayvvCav bei Athenaios (p. 584 f) , IIl&(xxvl(dv bei Alkiphron (Meineke a. a. 0.)
und an die Märchenfigur Kagdoniav bei Aristophanes (Wespen 1178). Entweder
der yXv7ttrjg oder sein Vater zeigte neben seinem Berufsgeschäfte ein lebhaftes
Interesse für die xco^Kocdta.
Der Virtuose auf dem xv^ißaXov wird nach seinem Instrumente genannt :
K^ßaXog Tegea (Smlg.no. 1246 Uli,).
Frauennamen dieser Art sind in grössrer Anzahl belegt: Avqiov , IlrjxrLg, Wl-
d-vQa (Beitr. 21. 234). Dass der Kymbalonschläger gerade ein Arkader ist,
nimmt bei dem Ansehen , in dem die Musik bei dem arkadischen Stamme ge-
standen hat (Polyb. 4. 20, 4ff.)> nicht Wunder.
II. Gemüth.
Die ideale Norm des sittlichen Lebens bildet für den Griechen die öcocpQo-
övvrj, das xoö[ii(og ndvxa nqaxxuv xccl rjövxfji (so im Charmides p. 159 b), oder
nach der öfter wiederkehrenden Definition rö XQccrelv rjdoväv xccl iTtiftviuCbv
(Piaton Sympos. p. 196 c).
Das Nichteinhalten dieser Norm kann durch Temperament voder durch Cha-
rakter bedingt sein.
1. T empera m en t.
' Unter den Fehlern, die aus der Temperamentsanlage entspringen, sind unter
den Spitznamen zwei vertreten : Jähzorn und Verdriesslichkeit.
Der Jähzorn wird gerügt in den Namen
"AyQiog Rhodos (IGI 1 no. 698 7 ; etwa 3. Jahrh. , Vater eines
rH{ieQiog), Hyampolis (IGS 3 no. 87 34);
XdXsTCog NavTtdxtiog (BCH 5. 410 no. 16 1 ; 3. Jahrh.) ;
und vielleicht auch in
ÜLiupcov Kalymna (Smlg. no. 3572 23 ; so ist zu lesen) , 'Axagv&v
(BCH 6. 234 no. 78 2) ;
nCyLcpig Koronta (Fouilles d' Epidaure 1 no. 243).
1) TEKfcOS die Abschrift.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 59
Ich vermuthe, dass IIl^cov und üi^Kpig zu der Sippe 7ie'{iq)L%. dvöneiicpslog,
7tö{i(pog, 7iO{i(p6lv£„ Ticcyka^G) gehören , die auch in den baltischen Sprachen ver-
treten ist : lit. pampti (schwellen) , pampJfjs (Dickbauch) u. s. f. (Fick Wörterb.4
1. 475). Aischylos spricht von der 8v6%sC^EQog 7i£[Mpi£, des Sturmes (fragm. 195
Nauck2), von der n£\iyi% r\Uov (fragm. 170;. vgl. Soph. fragm. 313) uud aX^azog1)
(fragm. 183). Av(5%i\LyElog gebraucht Homer vom stürmischen Meere (IT 748 1 ,
Hesiod vom stürmischen Meere (Theog. 440) und von der Schifffahrt darauf
('Eoyu 618); auf den Menschen ist das Wort "Egycc 722 übertragen. Kleon heisst
IlcccpAccycjv, weil er wie eine xagadga nacpkdt.EL xccl xExXays (Wespen 1034, Ritter
919, Frieden 315). Eine ähnliche Bedeutung kann den Namen ÜC^Kpcov und Ui\i~
(pcg innewohnen ; ihr i wäre wie das i von 6xiv%ög zu beurtheilen.
Dazu ein vergleichender Name :
ZxognCcav Phistyon (IGS 3 no. 418 3).
Vgl. das Sprichwort ExoQitCovg ßeßocoxEv (Makar. 7. 72) mit Leutschs Note.
Den Vorwurf der Verdriesslichkeit erheben die Namen
Zoolog Athen (Aristoph. Ekkl. 846), ZJ[io[iog] auf einem thasi-
schen Henkel (Jahrb. f. Phil. Suppl. 4. 460 no. 12).
Vgl. 6{ioiög' %ale7t6g, cpoßsQÖg, özvyvog, und öpvög' öxydocoTtög (Hes.).
ZJzvcpcov Sparta (Thuk. 4. 38, 1), Thaumakoi (BCH 7. 44 no. 4 2).
Vgl. özvtyai' Ozvyvdöca (Hes.).
Drei andre Namen enthalten den Vorwurf in Form einer Vergleichung :
TovyCag Thespiai (IGS 1 no. 18882V, 5. Jahrh.).
Vgl. den Orakeispruch (Athen, p. 31 b) :
77u/ oivov tQvyiav, eitel ovx 'Av&rjdövcc vaietg
ovo' ieqmv (T7t£Qccv, ö&i y atQvyov oivov STtivsg.
'0{iq)cc7tLCöv Iasos (Dittenberger Syll. no. 77 hu] 4l. Jahrb.; der
Sohn heisst Zzdyvlog).
Vgl. d-vfibv 6{L(pccxLccv Aristoph. Ach. 352 f.. rag ocpgvg 6%d6a6$E xai tag o^icpaxag
Piaton in den 'Eooxal (Meineke 2. 626 fragm. 5).
Kagda^iCcov Ai^ivalög (Smlg. no. 1379 9 ; 3. Jahrh.)2).
Vgl. Aristoph. Wesp. 454 f. : o^vd-v^iojv xa\ öixaCcov xal ßlEitovzav xagdaua.
2. Charakter.
Die ärgste Feindin der öcocpgoövvrj ist die vßotg, die Üppigkeit der Ge-
sinnung, aus der Zügellosigkeit der Begierden, Frechheit, Streitsucht, Hoch-
muth, Undankbarkeit, Hohn und Spott entspringen.
Die allgemeinste Benennung, die es für den vßoi6zr\g gibt, geschieht durch
Einreihung des vßoitcov in den Reigen der Gesellen , die den Chor des Satyr-
1) Vgl. auch Pind. Pyth. 4. 121 iu d' ag ctvrai noficpoXv^av 8uy.qvu yrigatiav ylscpägav.
2) Der Ka[Q]6[afi]cvog bei Le Bas- Waddington uo. 205 2 hat Änc. Gr. Inscr. no. 403 2 einen
KaWC&ivos Platz gemacht.
17 b
60 FRITZ BECHTEL,
dramas bilden. Der grösste aller vßgiöxaC urtheilt bei Piaton Symp. p. 215 a
über Sokrates so: &rj{il yäg örj b^iotöxaxov avxbv eivcu xolg 6iXr\volg xovxovg xolg iv
xolg EQiioykvcpSLOig xa&rjfiLEvoig, ovg xivcg igyd^ovxai ot örj^tovgyol övgiyyag rj av-
Xovg E%ovxag, o'C ÖL%dÖE öioi%&EvxEg cpaCvovxai svdod'sv dydX^axa s%ovxEg ftscbv. Kai
<pri[il ccv Eoixivai avxbv xcol 6axvgcoi xcbi Magövai. r'Oxi {ilv ovv xö ys slöog opotog
sl xovxoig, d) ZJaxgaxsg, ovd'' avxbg öij nov a(i(pi6ßr}X7]6aiQ ' cog öe xa\ xaXXa Eoixag,
liExä xovxo axovs. *Tßgi6xrig ei ... . Hierzu nehme man nun die zuerst von
WSchulze (Quaest. epic. 23 adn.) gewürdigte Namenverbindung
Zlaxvgiovv 'TßQLöxaiog (Smlg. no. 326 II 50 ; 3. Jahrb.),
zu der 'Tßgiööxag dixaiEiog (ebenda II 22) einen anmuthigen Gegensatz bildet,
und man wird sich überzeugen, dass die S. 19 behandelten Sippen
2Jilrjv6g und Udxvgog
auch zum Ausdrucke eines sittlichen Vorwurfes geeignet gewesen sind.
'Die Zügellosigkeit der Begierden macht den Inhalt einer langen
Reihe von Namen aus. Unmässigkeit im Essen, Trinken, in der Geschlechtslust
empfangen in ihnen das Brandmal.
Für den Vielesser ist
'Agvöxag
ein recht bezeichnender Name. Xenophon berichtet von einem Arkader, der
ihn trug, Anab. 7. 3, 23. Er beschreibt den Helden als einen gewaltigen Esser,
der sich, als bei einem Mahle der Wein gereicht ward, keine Zeit nahm sich
seiner zu bedienen sondern den Weinschenken bat zu Xenophon weiter zu
gehn: 'Exsivm, scprj, öög' öyola^Ei yäg rjörj, iyco öe ovöeiig). Die Gewohnheit solch
gesegneten Appetit zu befriedigen hat dem tapfren Arkader offenbar seinen
Namen eingetragen : \4gv6xag bezeichnet den Mann , der die ihm als hinlänglich
erscheinenden Mengen von ^co^iög und sxvog ägvsxai; vgl. Schol. zu Aristoph.
Plut. 627 \le\lv6xiXt[\levoi ■ Evco%r\iibvoi, £co[ibv agvtiäpEvoL agxoig xoCKoig xal \jiv<5xgCa
\M\LQV\i,EVOig.
Der letzte Vers einer Speisevorschrift, die Athenaios (p. 126c) aus Nikan-
ders Georgika mittheilt, lautet (in Kaibeis Herstellung)
rjQE^ia öe %kiagbv xoCloig Exöa£vv<5o ^ivöxgotg.
Vielleicht ist der
Mvöxgcov (Fouilies d' Epidaure 1 no. 243)
als ein Mann zu definieren, der fleissig die ^v6xga gebraucht.
Ferner kann von der Lust am Essen benannt sein
[X}aQaÖQlvog Grabstein bei Theben (IGS 1 no. 2578; 5. Jahrh.).
Dies ist aus der dem Sokrates in den1 Mund gelegten Redensart %agaögiov xivä
av <5v ßiov UyEig (Piaton Gorg. p. 494b) zu schliessen. Freilich kann der Ver-
gleichung auch eine andre Gemeinsamkeit zu Grunde liegen : Höxi, <T 6 x^Quägibg
xal xy\v %göav xal xijv cpcovrjv yavkog, (paivExai öe vvxxcog, fj[iEgag ö' ccTtoöiögdöxEL
(»Aristoteles« Ilsgl xä £ma 16x0g. 9. 11).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 61
Eine Sippe von Trinkern stellt sich uns vor in den Namen
M&vUog Athen (CIA 1 no. 434 25 ; 5. Jahrh.) ;
Ms'&av Grabstein in Tanagra (IGS 1 no. 1190);
Meftvörccg Msd-vötcuog Pharsalos (BCH 13. 403 no. 18 2).
Diese Sippe erhält aber noch Zuwachs. Wir wissen, dass eine grosse Schaar
von Trinkern Beinamen nach den Maassen erhalten haben, die sie zu bezwingen
pflegten. So ist A^cpoQSvg Beiname eines Xenagoras aus Rhodos (Ael. V. H. 12.
26) ; von einem Demokies Aayvviav sitixXrjv berichtet Hegesandros (Athen.
p. 584 f); die E7iL7cXr}6ig MsTQrjtrjg trug Xenarchos aus Rhodos dcä trjv noXvno-
6ia.v davon (Euphorion bei Athen, p. 436 f) ; Xcjvy} nannte man Diotimos aus
Athen, weil er ivtL&e{ievog r&t ötofiart %qovy\v äjcavötcog btiivev ijtixso^isvov ol'vov
(Polemon bei Athen, p. 436 e); ein Grammatiker Demetrios aus Kyrene brachte
es zum Spitznamen Utd^ivog (Diog. Laert. 5. 5, 11). Den nämlichen Ursprung
nun haben ohne Zweifel die Namen
Mdötog Theben (IGS 1 no. 2455; 5. Jahrh.)
und
Kcj&cdv Byzanz (Polyb. 4. 52,4; 3. Jahrh.), Rhodos (IGI 1 no.
4689), Korkyra (IGS 3 no. 776).
Ich ziehe hierher auch
ZtcpMv Thasos (Thas. Inschr. no. 12 III 9 ; 5. Jahrh.).
Der Gtcpcov ist ein sehr nützlicher Vermittler zwischen Fass und Liebhaber:
6i(pcovi XsTttCbi T0V7tid-r}[icc TETQrjvag Hippon. fragm. 56. So kann ein Thasier, der
diese Vermittelung zwischen sich und dem Thasier gerne anruft, leicht nach ihr
genannt werden. Spricht doch auch Meleager von X(bvcj7tsg avaideeg, ai^axog
ävÖQGbv ötcpcoveg (AP 5 no. 151). Die obscöne Bedeutung, die der Chor Eurip.
Kykl. 439 im Sinne hat, braucht nicht vorzuliegen.
Geschlechtliche Ausschweifung wird dem vorgeworfen, der gerufen
wird mit
Aöpßai Thespiai (BCH 19. 332 no. 6 6 ; 2. Jahrh.) x).
Vgl. die Glosse: Ä6[ißcu' ul xy\i Agte^iidi ftvöiGov uQ^ovöca , anb rrjg xccra xi\v
nai8[s\iäv öxevrjg' ot yäg cpdXrjrsg ovxco KalovvTcti (Hes.). Dazu die Notiz bei
Pollux (4. 105): Xo^ßgotsgov 81 fjv ö ü>q%ovvto yv^ivol övv ai6%QoXoyica2).
Häufiger wird der Vorwurf in Vergleichungen ausgesprochen.
1) Die Inschrift gehört der gleichen Zeit an wie der Stein IGS 1 no. 1762, mit dem sie vier
Namen gemein hat.
2) Ein andrer, aber componierter, Name dieser Art ist Aai6no8Cu$, der GP3 183 falsch auf-
gelöst ist. Das zweite Namenglied hängt mit ßnodeiv in dem aus Aristophanes bekannten Sinne
(vgl. Ekkl. 906 ff.) zusammen. Das erste ist auch in dem Namen Aat6Tgarog enthalten , den mir
Dr. Hiller von Gärtriugen für Melos (BCH 2. 522 no. 4; 4. Jahrh.) bestätigt und für Nisyros
nachweist. Der GP2 lö3* ausgesprochne Zweifel muss diesen Zeugnissen gegenüber verstummen.
Das gleiche Element steckt offenbar in den Appellativen Xayiaxanvyoiv (Arist. Ach. 664), kx[x]«-
xÜQuza ot äyav KCCtagccTOi Phot. r
62 . FRITZ BECHTEL,
Silene führen auf den Vasen die Namen Oi'ycov, Iloöfrcov, Zrucav, 2Jxv6ut7tog9
Zvßccg, <PXeßi7t7tog. Diese Gesellschaft war also zu Vergleichungen vorzüglich
geeignet. Einen einzelnen Fall, aus dem die Gleichung deutlich herausgelesen
werden könnte, vermag ich freilich nicht nachzuweisen. Aber ich will doch nicht
unterlassen die heillosen Verse des Hermippos in das Gedächtnis zu rufen, in
denen dem Perikles Liederlichkeit und Feigheit zugleich vorgeworfen wird
(Meineke 2. 395) :
Bccöikev Ucctvqcjv, xC itox ovx id'Eketg
Öoqv ßaöxd&Lv, alXä köyovg {iev
tcbqI xov Ttols^tov dsivovg Xccq£%7]L9
ipv%iiV ös TeArjxog V7is6xr}g;
Als geile Thiere haben den Griechen Zuchthengst und Rebhuhn gegolten.
Die Namen beider sind als Personennamen bezeugt:
KrjXcov Styra (Ion. Inschr. no. 19, 38i ; 5. Jahrh.).
Vgl. Archil. fragm. 97 (Bergk):
r\ de oi <5a.\fY\
coösi x ovov IlQirjveog
%r\k(üvog £7iXyj{iiivq6v oxQvyrupdyov1).
nsQÖih, Athen (Aristoph. Vög, 1292, fragm. 148 Dind.), Thespiai
(IGS 1 no. 1888* n).
Phrynichos nannte einen Kleombrotos Sohn des Perdix. Athenaios , der dies
berichtet, fügt unmittelbar dahinter die Bemerkung an : xb dh £ghov etil kayveiag
Gviißofoxcbg 7taQertr}7ixcci (p. 389 a). Daraus hat Meineke (2. 599) den Schluss ge-
zogen, dass Kleombrotos um seiner Xayveia willen einen Vater Rebhuhn erhalten
habe, wie Aischines als dka^äv einen Vater Aufschneider.
Man weiss jetzt, wie viel Gewicht im alten Thera auf das oi'cpEw gelegt
worden ist (vgl. Hiller von Gärtringen Thera 25 f.). Ein Sprichwort, das ver-
mutlich aus der alten Komödie stammt (Kock 3. 400 fragm. 12. 13. 14), lautet
in der witzigsten Fassung
Ovdslg xo{irjxrjg ööxig ov tljrjVL&xcu.
Darnach wird man ermessen können, welche Gedankenverbindung zu dem Namen
Wtjv Thera (IGA no. 461; 7. Jahrh.)
geführt habe.
Weniger sicher ist, dass Leute . die nach der Maus und nach dem Spatze
genannt sind, dadurch als Gesinnungsgenossen des Kinesias haben gezeichnet
werden sollen.
Mvg häufig in Kleinasien : dvijQ EvQco^ievg (Herod. 8. 133), Iasos
(CIG 2 no. 26776 n), Halikarnassos (Mitth. 15. 252 no. 28)j
Lagina (BCH 11. 8 no. 2 t), Kiavog (CIA 2 no. 3067), Mv-
Qivalog (Conze Inselreise 67), 'EgeöLog (IGS 1 no. 4i) —
1) Dazu noch Kratinos (Meineke 2. 182 fragm. 22):
Xaigs, XQV60HEQCO ßaßd-Kta %r\l(ov,
Tldv
GRIECO. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 63
aber schon seit dem 0. Jahrh. auch in Griechenland: Lieb-
lingsname auf einer schwarzfig. Oinochoe des Brit. Mus.
(Catalogue 2. 246), Korkyra (1GS 3 no. 704), Thasos (Thas.
Inschr. no. 12 II 2), OaXrjgsvg (CIA 2 no. 834 ce, Add.) u. s. f.
Die XayvsCa der Mäuse ist im Alterthume viel besprochen. Kratinos benutzte
die Beobachtung für seine Zwecke :
<&SQ£ VVV 60i
f'| cd&Qiccg xccrccTtvyoövvrjv [ivbg döXQai^G) Esvocpavxog
(Meineke 2. 46 fragm. 4). Aber ich bezweifle, dass der Name griechischer Her-
kunft sei. Wie er am häufigsten in Kleinasien gefunden wird, so geht er ohne
Zweifel auch von Kleinasien aus; und zwar von Karien, wo auch die Personen-
namen IJava^ivrig (Ion. Inschr. no. 238 30), XrjQa^ivrig (Ion. Inschr. no. 211), Mvcov
(CIG- 2 no. 2771 1 1), MvatvCdns (IGS 1 no. 420 40, BCH 10. 488 no. 2 5, 11. 18
no. 17 2 und sonst) ihre Heimath haben und die Mvy\66ioi wohnen 1).
Aas einem andren Grunde ist nicht ganz sicher, ob die Leute, die
UtQovd-og, StQovd-ig, ÜXQOV^OV (8 f.)
heissen, dadurch i%\ Xayvdai diaßdXXovxai. Wir haben schon früher gesehen,
dass die Benennung vielleicht die Gestalt zum Ausgangspunkte hat. Aber
Meister Spatz zählt auch zu den Verehrern des "Egag ndvör^iog. Eine der
Schönen , die es nicht über sich vermag der Lysistrate Treue zu halten , wird
dabei betroffen, wie sie den öxgovd-og besteigt, um zu ihrem Eheliebsten zu ge-
langen — die passendste Fahrgelegenheit, die sie wählen konnte, nag ööov xb
öqvbov d-SQfibv ecg GvvovöCav.
Höchst zweifelhaft ist mir, ob Namen von Lüstlingen an Bezeichnungen des
atdolov yvvaixElov angeknüpft werden. Die Belege, die man für die Genossen
des lat. cunnio (Rhein. Mus. 52. 394) etwa beibringen könnte, sind alle unsicher.
Der wichtigste von ihnen wäre
Udgaßog Plataiai (5. Jahrh.),
wenn er fest stünde. Athenaios führt aus einem Satyrdrama des Achaios von
Eretria die Zeilen an (p. 173 d)
xig VTCoxsxQVfi^isvog \a(vu
öagocßdxcov xontdcov öwo^icow^ie :
Ein Fragment des Poseidippos aber, in dem Plataiai geschildert wird, lautet
(Meineke 4. 525) :
Nuol dv eCöl xccl öxoä xal xovvopa
xccl xb ßaXavstov xal xb Urjgd^ißov xXiog,
xb noXv p£v dxxrj, xolg tf fEXsvd-£QiOLg %6Xig.
Meineke combiniert den Namen des zweiten Verses mit dem öagaßdxcjv des zu-
erst erwähnten Fragmentes. Indem er für sicher hält, dass die zweite Zeile des
Achaios daktylisch gebaut sei, schreibt er bei dem Eretrier Zagaßixcbv, bei Po-
1) Auch Wilamowitz hält Mvg für ungriechisch: »Mvg, höchstens im Scherze vom Myser au
die Maus angeähnelt« Aristoteles und Athen 2. 176ie. 5
1 7 *
64 FRITZ BECHTEL,
seidippos Uagdßov; und die letzte Änderung hat dann im Gefolge, dass auch
bei Piaton Gorg. p. 518 b Zdgaßog statt des überlieferten Udga^ißog gelesen
werden muss. Hat Meineke mit seinem Vorschlage Recht, so stehn wir vor
einem Namen, der durch die Glosse ödgaßog' rö ywaiKsiov aidolov verständlich
gemacht werden kann. Aber Meineke ist hier in die Irre gegangen. Der Name
Zdgaßog müsste in der ersten Silbe eine Kürze aufweisen, da das Appellativum
adgaßog ein Tribrachys ist: den Beweis liefert die Lautgestalt der Ableitung
<5ccßaQixY\' ywaixbg aidolov (Photios ; die Buchstabenfolge verlangt 6agaßL%rj). Es
ist also klar, dass bei Poseidippos die Überlieferung gehalten und dass bei Pia-
ton mit leichter Änderung 2JTJga[ißog hergestellt werden muss ; um so eher, als
ZJ7JQcc{ißog ein auch durch Inschriften beglaubigter l) , Udgaßog ein bis auf den
heutigen Tag unbekannter Name ist. Besteht zwischen dem Uijga^ißog des Po-
seidippos und dem öagaßdxcjv des Achaios ein Zusammenhang, so darf der Ver-
such zu emendieren nur von Hyjga^ßog ausgehn, nicht umgekehrt2).
- Nach dieser Kritik wird man sich nicht mehr darauf berufen wollen , dass
der Megarer, der an Dikaiopolis seine beiden Ferkel verkauft, dem Namen Xolgog
einen Sinn abzugewinnen gewusst hätte , der seiner schmutzigen Phantasie Ehre
gemacht haben würde. Auch nicht darauf, dass neben Hilivig und Mvgrcjv die
Appellativa öilivov und pvgxog in obscön gewendeter Bedeutung liegen. Da die
genannten Namen ohne Unterschied anders interpretiert werden können , so
müssen sie nach Lage der Dinge auch anders interpretiert werden.
Frechheit in Handeln und Reden findet ihre Rüge durch die Namen
Aaidgiag Grabstein in Eretria (E(p. ag%. 1892. 146 no. 30);
Aigavog Grabstein in Tanagra (IGS 1 no. 1177);
Kogdat, 'AxccQvsvg (CIA 2 no. 9606 9; 4. Jahrb..).
Die freche Rede ins Besondre durch
Urviidgyrjg (PseudoHippokr. Epid. 2. 2, 4, 2. 4, 5), wozu
2Jto{iüg (oben 29 f.) vielleicht als Verkürzung gehört.
Aaidgiag ist vom Herausgeber richtig gedeutet : der Name geht aus von Kaidgog.
Dies Wort hatNikander zweimal gebraucht: Ther. 689 öxvhaxag yalerjg tj ^rjzsga
Xaidgyjv, Alexiph. 563 yegvvcov laidgovg xonfiag. An der ersten erklären die
Scholien : Aaiögrjv öe rr\v evxivrjTOv nal dvaiöf\ xa\ ftgaGslav xccl ccg7taxriX7]v; an
der zweiten : Xaiögovg rovg dvaiöslg öiä rö ßoäv äsl trji, cpcovfjc tga^vtegat. —
Zu Aigavog vgl. fogog3) bei Alex. Aitol. Apoll. 30 f. (Meineke Anal. Alex. 220):
1) Ich kenne ihn aus Aigina (Paus. 6. 10,9), Athen (CIA 4 Suppl. 2 110. 626 & 36), Hermion
(Smlg. no. 3398 I u), Tarent (Num. Chron. 1889. 210).
2) Blass vermuthet , dass Zr}QcciißLK&v zu lesen und dies in die vorangehende Zeile zu
ziehen sei.
3) Auf einem Steine aus Amorgos hat Dümmler (Mitth. 11. 111 no. 17) AIPOKAEOS tili, ge-
lesen. Nach seiner Angahe »scheint oben Nichts zu fehlen«. Also doch wol unten und au den
Seiten. Ist aber der linke Rand unvollständig, so liegt es nahe [XJcciQonXsog herzustellen. Ich
möchte also nicht wagen mit Hoffmann aus dieser einzigen Quelle einen Namen AiQonXfjs zu fol-
gern (Beitr. 22. 134).
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 65
Y} d' ini ol Xioä vosvöa yvvr\
aiKpoTEoccig ieiQ£66i {ivXaxQida Xäav ivrjöei,
und das Verbum kioaivei. — Den Namen Köodcd; stelle ich hierher, weil der
KÖodcct, zu den lasciven Tänzen gehörte. Bei Theophrast (Charakt. 6. 3) ist es
ein Zeichen von ccTtövoux, wenn jemand vr\cp&v 0Q%eixai xbv xöodaxa. — Die Rich-
tung auf die avaCdeicc, die für 6x6{i<xoyog charakteristisch ist, kommt Soph. El.
606 f. zum Ausdrucke :
xyjqv66b fi aig anavxag, el'xs %oi} xaxijv
si'xs öxofiagyov ei'r avcadsi'txg %Xiav.
Hier Hesse sich leicht der Name OeotiCxag (21) einreihen.
Der Streitsüchtige wird mit dem stössigen Bocke verglichen:
KoQvitxag Istron (Mus. Ital. 3. 641 no. 55 io).
Vgl. Theokr. 3. 4 f.
xal xbv svöqxccv
xbv Aißvxbv xvdxcova (pvXaööeo, fttj xv xoQv^r\i.
Die Sünde der Hoffahrt wird gegeisselt in der Sippe
r<xvgog Larisa (Smlg. no. 1286 3.17), Eretria (Pap. of the Amer.
School 6. 198 no. 2 2) ;
ravQig Vasenmaler in Athen (Klein Vaseninschr. mit Meister-
sign.2 213; 5. Jahrh.).
Der Name rccv[oo]g kommt, wenn man die von Blass herrührende Ergänzung
annimmt, als Pferdename auf einer korinthischen Vase vor (Smlg. no. 3129). In
dem Bündel Schimpfwörter, womit Alkaios den Pittakos überschüttet (Diog.
Laert. 1. 4,9), prangt auch das Adjectivum yarorfe (so Menage für yccvoi^ nach
der Glosse des Hesych yavorfe' 6 yavoi&v).
Zweifelhaft ist, ob mit
'OcpQvddccg Larisa (Smlg. no. 1301)
ein homo supercüiosus gemeint sei. Nach der Glosse ocpova&iv * rö xäg ocpovg
inaiQSiv xal <x7to6e[ivvvE(}d-cu (Bekker Anecd. 1. 53) könnte man dies vermuthen.
Aber der Name berührt sich so enge mit dem mythischen 'O&qv ddag, der mit der
Augenbraue Nichts zu thun hat, dass man auf jene Erklärung lieber verzichtet.
Dass ein Undankbarer mit dem Namen
Koiög
hat gezeichnet werden können, darf man aus dem Sprichworte Kotig xQOcpsf ant-
xslösv schliessen, dessen schon früher (37 x) gedacht worden ist. Es trifft sich
gut, dass die Grabschrift eines Kgiog auf uns gekommen ist, in der ausdrück-
lich dagegen protestiert wird, dass man von dem Namen auf tadelnswerthen
Charakter des Todten schliesse. CIA 2 no. 3880 (4. Jahrh.):
Kgiog.
Ovxog bg iv&dds xetxai eist yJhv xovvo[ia xqiov,
ycoxbg 81 ipvxrjv 86%s dixaioxdxov.
Abhdlgu. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, ». 9
66 • FRITZ BECHTEL,
Auf Hohn und Spott weisen zwei alte Sippen und ein einzelner Name.
Der Wortstamm, der in öiXXög *) und in dem von Herondas noch der leben-
digen Sprache entnommenen Verbum GtXXaCva enthalten ist, hat seit dem 5. Jahrh.
auch Personennamen getrieben :
ECXXat, 6 'Prjytvog , ov tivri[iov8vov6iv 'Eitixagtiog xal Ei^iojindyjg
(Athen, p. 210b);
ZCXXig Ei86viog (BCH 4. 146 ; 3. Jahrh.) ;
ZcXXiog (Patron.)2) Orchomenos (IGS 1 no. 3183 9 ; 3./2. Jahrh.);
UiXXevg Vater des Apollon. Rhod. (nach Suidas ; die Variante
'IXXevg in den Vitae a und ß bei Westermann).
Das lateinische Wort sanna , das auf griech. ödvvcc zurückschliessen lässt,
bedeutet nach den Scholien zu Pers. Sat. 1. 62 os distortum cum vultu: quod fa-
cimus, cum alios deridemus. Es ist also ein Synonymum von griech. [laxog, nach
der Definition, die Simplikios von {icbxog gibt: 6 ^ivxrriQLö^bg xccl 6 diä rotovrov
öxr^iaxog evteXiö^iög (die Stelle aus Jahn , Persius cum schol. antiqu. [1843] 9^).
Höhnische Geberde bildet demnach Gegenstand des Vorwurfs in den Namen
Edvvr\g (belegt Edvvov CIA 4 Suppl. 2 no. 834 & 44; 4. Jahrh.);
EavvccZog (Paton-Hicks no. 21 7) ;
Eavvicov in Athen vom 5. Jahrh. an (Uavvtcov Eipiov CIA 1
no. 3246 82), Paros {'E<p. ccqx. 1892. 70 3e), Iasos (Ion. Inschr.
no. 104a 15), Smyrna (ebd. no. 153 u), Naukratis (CIA 2
no. 3238);
Edvviog Athen (CIA 2 no. 944 II 42 ; 4. Jahrh.) ;
Euvvvqicov Dichter der alten Komödie (Meineke 1. 263).
Kommt für Eavvicov , Edvviog etwa auch ödvviov tö atdolov dvtl rov xeq-
xiov (Res.) in Betracht?
Für sich steht
Eagdav in dem Patr. ZJccQÖovveiog Thessalien (Smlg. no. 326 1 5. is ;
3. Jahrh.).
Ich bringe den Namen mit öagdaviog ye'Xag in Zusammenhang ; Gagddviog , 6ag-
dd£a sind verwandt mit öcciqco (Fick GGA 1894. 245).
Für den Trotzigen dürfen vielleicht in Anspruch genommen werden
2Jto[iLog 'HXsZog (Paus. 6. 3, 2 ; 4. Jahrh.), 'AXv%alog (Mitth. 6. 303
Beil. 2 I19), Maxetisvg (BCH 18. 236 3);
EtoiiUog Styra (Ion. Inschr. no. 19, 415).
Diese Deutung wird durch den Gebrauch von ötöfiig bei Aischylos (fragm. 442
N."2) an die Hand gegeben. Wer freilich in Ero^itog, ZxopCXog Synonyma von
GtcoyLvXog sehen will, der ist nicht zu widerlegen.
1) Das Material, das für die Bedeutung von glUos in Betracht kommt, ist von Wachsmuth
(De Timone Phliasio 1) gesammelt.
2) Überl. SIAAIO*.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 67
So weit spiegeln sich die aus der vßgig fliessenden Fehler und Laster in
den einstämmigen Spitznamen ab. Das Lexikon dieser Namen weiss aber noch
von andren Verstössen gegen die ö&yQoövvri zu berichten : von Arglist , von
wetterwendischem Sinne, von Kriecherei und Feigheit, von Geiz und Diebstahl.
Die Namen für den Arglistigen fallen mit denen für den Durchtriebenen
zusammen , die schon früher (56 f.) behandelt sind. Ich will hier nur daran er-
innern, dass öievcpi^aiv für 7tavovQysve6&ca xccl doXieveö&ai xccl doMag xi itQatzaiv
gesagt wird (Bekk. Anecd. 1. 64), dass Aischines den Demosthenes als 6 ZtCövyog
ode bezeichnet (2. 42), dass Demosthenes den Aischines als xivccöog ovösv i£ ccq-
lf\g vyieg TiETtoirjxbg ovÖy eksvxtegov und als einen ccvxoxQccyixbg rttörjxog charak-
terisiert (18. 242). Die letzte Wendung führt uns auf den Namen
nL&rjxog (18),
der Spitzname für einen boshaften, arglistigen Menschen sein kann. Ein Sprich-
wort lautet nC&rixog opcpccxccg GLXovpevog , ein andres Tlid-^xcoi naxxccXov (Makar.
7. 14. 15) ; beide haben die 7tovr}Qta des widerlichen Gesellen im Auge. Bei
Semonides wird das Weib, das drjvea nccvxa xccl XQonovg £%i6xccxai, cjötisq 7tcd"r]xog,
das xov& hgcci
xccl xovxo Tiäßav rj^iSQrjv ßovkevexcu,
oxcog xiv* hg {teyiöxov eq^slev xccxöv,
(fragm. 7. 71 ff.) als \i(yi6xov xccxbv aus dem Affen erschaffen. Der junge
Taugenichts , der bei Herondas (3. 40 f.) öxcjg xig xccXXcrjg xdxco xvitxcav mit aus-
gespreizten Schenkeln auf dem Dache sitzt, ist ein leuchtendes Beispiel der xa-
xor\&eicc (Crusius Unters, zu den Mimiamben d. Her. 64). Die itavovQyCa des Affen
äussert sich aber hauptsächlich darin , dass er 7ti%Y\xillu (Wespen 1290) ; davon
soll bald die Rede sein1).
Den wetterwendischen Sinn haben die Athener mit einem witzigen
Beinamen gekennzeichnet : sie nannten den Theramenes Kothurn , cjg d^icpoxegocg
7tELQG)fisvov aQ[i6xxeiv (Xenoph. Hell. 2. 3, 47). Der Philosoph Dionysios von He-
rakleia erhielt von seinen alten Gesinnungsgenossen, als er den Curs wechselte,
den Spitznamen 6 Msxa^E^isvog (Athen, p. 281 d). Aus einer in solchem Sinne
gedachten enixkrjöLg könnte auch der früher (44) erwähnte Name
Xa^iaikscov
erwachsen sein. Das Sprichwort Xcc{icukeovxog sv^isxaßoXcoxsQog (GCL 3. 32) er-
hält in Plutarchs Charakteristik des Alkibiades (23) eine lehrreiche Anwendung.
Hier muss auch des Namens
'Ixxivog (27)
Erwähnung geschehen. Theogn. 1261 f. wird ein Knabe so angeredet:
ixxCvov yccQ £%eig ayiiGxQocpov iv (pQSölv rjd'og,
aXXwv &v&Q<bxa)y qyj^iccöl jtEL&öiisvog.
1) Auch dem Rebhuhne wird xaxorj^fta xca 7tavovgyCa vorgeworfen , und manche Jagdge-
schichte ergeht sich darüber (vgl. Athen, p. 389 b). Auf die List, mit der es angeblich dem Jäger
entrinnt, spielt Aristophanes Vög. 766 ff. an. «
9* 5
68 FRITZ BECHTEL,
Wer als Schmeichler anrüchig geworden ist, für den stehn einige theil-
weise recht drastische Bezeichnungen in Bereitschaft. Er kann genannt werden
Oconiccg Q>vQxalog (Smlg. no. 1949 16 ; 2. Jahrh.) ;
EaCvov Telos (Smlg. no. 3488 I io) ;
vgl. Pind. Pyth. 2. 82
o^icjg [iäv öcclvcjv itoxl Ttavxaq äyäv ndyyy diankixEi.
Er kann aber auch mit dem Kahne verglichen werden :
Mpßog Theben (IGS 1 no. 3645; 5. Jahrh.);
oder mit dem Affen :
ntöaxog, nC&cav und vielleicht Uid-vXXog (18).
Den Schlüssel zum Verständnisse des ersten Vergleiches gibt der Vers des
Anaxandrides an die Hand
OTtLöQ-ev äxoAovd'Et xöXcct, xcjl, Xs{ißog STtixsxXrjXca.
Ein Herakleides aus Oxyrhynchos führt den Beinamen 6 As^ißog, angeblich, weil
er* einen Ae^ißsvxtxbg Xöyog geschrieben hat (Diog. Laert. 5. 6, s). Dass der
Affenname hier richtig untergebracht ist, lehrt der Sprachgebrauch. Aristophanes
gedenkt (Frösche 1085 f.) der driiioTtL&rjxcQv l) e^aTiaxcovxcov xbv dfj^iov asi, und
verwendet Ritt. 887 Ttid-qxLöyioig im gleichen Sinne wie drei Zeilen später fta-
neiaig. Piaton fragt in der üolixeia: KolaxsCa de xccl avskev^egia (ipeyExcu) ovx
öxav xtg xb avxb xovxo , xb fi-vuoeideg, V7tb xcbi 6%Xd)öei ftrjQiaL Ttoifjt , xal svsxa
XQ7j(idx(ov xal xfjg sxeivov cc7iXrj<5xLccg 7tQ07triXaxi^6(i6vov i&C%y]i ex vsov ccvxl Äsovxog
7tid"rixov ycyvsöd-ca; (p. 590b). Auch Pindar scheint mit den Worten xakög xov
itiftav , naget jtaiölv atel xaXög (Pyth. 2. 72) vor dem Schmeichler warnen zu
wollen. Wenn man nun sieht, dass in Kyrene ein TipoXag einen UCftaxog zum
Vater hat, so liegt der Gedanke nahe, dass IJtd-axog Spitzname für einen Mann
sei, dessen politische Gesinnung sich in dem Namen ausspricht, den er seinem
Sohne gegeben hat, also mit dem dripoitförixog des Aristophanes gleichen In-
halt habe.
Ein feiger Mann, der seine Gesinnung durch Laufen an den Tag legt,
findet seine Thätigkeit bezeichnet durch den Namen
zlgäiivg Thespiai (IGS 1 no. 1888 au; 5. Jahrh.),
den man 'als Verkürzung von dgaithrig fassen darf.
Bei den Griechen hat die Wachtel im Rufe eines feigen Thieres gestanden.
Dies ersieht man aus den Worten des Antiphanes (Meineke 3. 4 fragm. 3):
cog öij 6v xC
7toi£lv dvvd[iEvog oQXvyiov ipv%ijv e%G)v;
Also kann in den Namen
'ÖpTv[(j] Parion (Mitth. 9. 61 no. 42; spät);
'OQxvyfov Eretria ('Eq>. ag%. 1895. 139 II 159)
1) Vgl. 8r\^OY,aXXC\yi\a<s ' tovg nsgi tu drjfidffia ccvaGtQtcpovTag (Hes.), nach Meineke 1. 633
fra<'in. 114.
ORIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 69
der Vorwurf der Feigheit eingeschlossen sein. — In dem gleichen Rufe hat der
Kuckuck gestanden (54 l). Also müssen an dieser Stelle auch erwähnt werden
Köxxvip und KoxxovßCag (54).
Der Geizhals empfängt seinen Lohn in der Sippe
Kvt(pcov Kexgo-Jtidog cpvXr\g (CIA 4 Suppl. 1 no. 446 a II is; 5.
Jahrh.) ;
rvicpcjvcdrjg ®0Qaisvg (CIA 2 no. 944 IV u ; 4. Jahrh.) ;
Kvupäg Megara (IGS 1 no. 27 4; 3. Jahrh.).
Als Dieb ist der Rabe verrufen. Kratinos rechnet sich zum Ruhme an,
dass er (Meineke 2. 63 fragm. 3)
xovg xÖQccxag xk% Aiyvitxov %qv<jiu xXeitxovxag sticcvCev l).
Die gleiche Klage wird gegen den Falken erhoben:
oi)% ÖQcctg öxt
ixxlvog elg av rouro j/' ol%oi& aQTCaöag;
(Aristoph. Vogel 891 f.). Man sieht also, dass die Namen
K6qcc% und 'Ixxtvog,
die bei früheren Gelegenheiten (27. 28. 42. 67) herangezogen worden sind, eine
ganze Reihe von Deutungen zulassen 8). Wenn auf einem Krater zwei Krieger
die ßeischriften Av9og und 9ogah, tragen (Kretschmer Vaseninschr. 101), so erklärt
von diesen Charakternamen der eine den andren.
Zum Schlüsse noch ein paar Namen, in denen der Vorwurf der Nichtsnutzig-
keit in ganz allgemeiner Form erhoben wird.
AoC^cav (rkavxidiqg AoL{iavog CIA 2 no. 3570).
Vgl. Demosth. 25. 80 .... avxbg cov k%iXx\7Cxog Tta<5r\i novrigCai. Ovxog ovv ccvxbv
i%cuQrj<5Exai, 6 cpccQiiaxog, 6 koipog, ov oiaviöaix av xig päkkov tdav t) 7CQ06si7tetv
ßovAotro. Der Gemüthsmensch, der des Namens AoC^kov gewürdigt ward, besitzt
kein Ethnikon ; es handelt sich ohne Zweifel um einen Freigelassnen.
K<bvcoil> ®qv£ (CIA 2 no. 3404).
Mvaty (CIA 2 no. 3832 2 ; der Mann hat kein Ethnikon).
Wie diese beiden Namen verstanden werden müssen , lässt bereits das Attribut
ccvcadssg vermuthen, das die xd)vco7Csg AP 5 no. 151 i erhalten. Gewisheit ver-
schafft Büchelers Bemerkung zu der WvXla des Herondas: Pulex cur nomen sit
servae, eloquitur Plautus Cure. 501. Die Stelle redet eine deutliche Sprache:
Item genus est lenonium inter homines meo quidem animo
Ut muscae culices eimices pedesque pulicesque:
Odio et malo et molestiae, bono usui estis nulli.
1) snavösv Meineke, überl. k'navaav.
2) Auch mit KoXoiog könnte ein Dieb gemeint sein: 6 noloibg ccXXoxqCoi? nrsQOig ayäXXsrcci
(Luk. 'AnoXoyCu 4).
70
Drittes CapiteL
Der Mensch als Glied der Gesellschaft.
I. Sociale Stellung.
Dass in einer Gemeinschaft, die so streng auf ebenbürtige Abstammung
ihrer Mitglieder hielt wie die der Bürger der einzelnen griechischen Städte, das
Herkommen dessen, der irgendwie eine Rolle spielen wollte, unter die Sonde
genommen ward , ist selbstverständlich. Wie sich das Resultat dieser Unter-
suchung in der Sprache darstellen kann , mag die Behandlung lehren , die der
Tragiker Akestor von der Komödie zu erdulden gehabt hat. In den Vögeln
meint Euelpides , als es ihm nicht möglich ist den Weg zu den Geiern zu
finden (30 ff.) :
felsig ydo, (bvdoeg ol itagovxeg iv ÄöycoL,
vÖ6ov vo6ov{i£v xr\v evavxiav Edxai '
6 pev yccQ (üv ovx döxbg eiößtd^exav,
r}[islg de cpvkr]i xal yevei XL^icb^ievoi,
döxol [ist aOxcbv, ov öoßovvxog ovdevbg
35 avETtroyLetf ex xfjg naxoidog ä{i(polv rotv Ttodolv,
avx^v [i£v ov [ilöovvt exeivrjv xi]v %6\iv
xb [ir\ ov tieydkrjv eivai cpv6ei xevöai^iova
xal Ttäöi xoivr\v evanoxelöau %QYßLaxa.
Zu Udxag bemerken die Scholien: Ovxög eöxcv 'Axböxao, xoaymdCag 7toiY\xx\g' ixcc-
Xelxo de xal Udxag, diu xb t,evog eivai. Theopompos nennt den Tragiker einen
Mysier (Schol. Arist. Wespen 1221) , bei Metagenes erscheint^ er als Udxag 6
Mvöög (ebenda):
rSl itoklxai deivä 7tdc%G), — TCg %oXixx\g d' iöxl vvv
nXr\v dg rj Udxag 6 Mvöbg xal xb KaXXCov vö&ov)
Das Ethnikon Zdxag ist also von der Komödie an Stelle des bürgerlichen Na-
mens gebraucht , und um dem Tragödienverfasser das , was sie ihm so entzogen
hat, in schönerer Gestalt wiederzugeben, macht sie ihn zum Mvöög.
Unter den vielen Ethnicis, die in der Function von Eigennamen stehn, mag
der eine oder andre den gleichen Weg zurückgelegt haben , den Zldxag in der
Komödie zurücklegt. Aber nachweisen lässt sich dies in keinem concreten Falle.
Ein Name, in dem ganz offenbar das Herkommen bemängelt wird, ist
'TnoßoXiiialog Olymos (Le Bas-Waddington no. 335).
In grösserem Umfange kann der Einfluss des Standes auf die Namen-
gebung vor Augen geführt werden.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 71
Es ist bekannt *), dass der Spruch "Egyov d' ovdev oveidog, degycrj de x* ovei-
dog ("Eoya 311) in spätrer Zeit nicht mehr in Geltung gestanden, dass vielmehr
jeder Art von Erwerbsthätigkeit ein Makel angehangen hat. Den Grund
gibt Sokrates bei Aelian (VH 10. 14) mit den Worten an : rj Aoyla adeXyi] xfjg
'EXevfteoCag. Die Geringschätzung trifft namentlich den Handwerker im engren
Sinne : denn die ßavavöixal xe%vai xaxaXv^atvovxai xa öcj^taxa xcov xe eoya£o{ie-
vcov xal xcov e7ti^ieXo^iev(DV dvayxd^ovöai xa&rjöd-ca xal öxtaxQacpelö^at , eviai de
xal nobg TtvQ rj^iSQSvsLv. Tobv de ecofidxcov &rjÄwo(tivav xal at ipv%ccl %oXv dg-
QG>6x6xeQai yCyvovxcu. Kai a<5%oliag de [idXiöxa eyovöi xal yCXcov xal noXecog övve-
juiieketöd-ai aC ßavavötxal xaXov^evai (Xenoph. Olxov. 4. 2, ähnlich Piaton TLoXix.
p. 495 d). Es ist aber zu beachten, dass der Künstler, insofern er um seinen
ßiog arbeitet, nicht höher gewerthet wird ; daher sagt , wenn auch mit einiger
Übertreibung , TJaideia bei Lnkian (Evviiv. 9) : ei de xal Oeiduag tJ üoXvxXeixog
yevoio xal noXXä d-av^iaöxd e^egyaöauo, xrjv {iev xeyyx\v ditavxeg e TtatveGovxai , ovx
e'oxt de oöxig xcbv tdovxcov, et vovv £%oi, ev^aix av ö^iotog 6oi yeveö&ai ' olog yäo
ccv ijig, ßdvavöog xal xeiocovat, xal aTto%eiQoßicdxog vo(ii6d"rf6rii. Bei einem Volke,
das so urtheilt , wird es nicht ausbleiben , dass die Verachtung gelegentlich -in
Spitznamen ausmündet. Und es lässt sich zeigen , dass dies wirklich ge-
schehen ist.
Aus einer Komödie des Kratinos wird der Vers überliefert (Meineke 2. 194
fragm. 52 3)
UXr\v BevLOV vöfiotöi xal Hyroivicovog, co Xagcov.
Mit £%oivicov ist der Komiker Kallias gemeint , von dem Suidas berichtet , er
habe den Spitznamen Hyoivicov erhalten diä xb 6%oivo%X6xov stvat itaxQog (Mei-
neke 1. 213).
Ein gleichzeitiger Komiker, Aristomenes, führt den Übernamen ®vQ07toiög.
Sicher wegen seiner oder seines Vaters Beziehung zum Handwerke (Meineke
1. 210 ff.).
Demosthenes spricht von einem xaxdgaxog Kvgrjßtcov (19. 207). Wir wissen,
dass Kvgrjßucov nur ein Spitzname ist : Kvgrjßioov enexaXeixo ' Enixgdxr\g 6 Afajfvow
xov grjxogog xr\de6xr\g (Athen, p. 242 d). Hierbei denkt gewis jeder an den Poli-
tiker Eukrates, der es der Komödie büssen muss , dass er eine Mühle besitzt :
Ritter 254 heisst es von ihm
aöiteg Evxgdxr\g ecpevyev evd-v xcbv xvgrjßicov,
und die Scholien bemerken dazu: öxcbnxei, de xal xbv Evxgdxr\v eng xoiavxr\v xe-
%vy\v e%ovxa. 'Ev aXXoig yovv cpavegcoxegeog cpr\öl
Kai 6v xvQr}ßio7iobXa Evxgdxrjg 6xv7t7tah,2).
Einen ausgezeichneten etymologischen Witz enthält der fingierte Name Tly\-
Xevg bei Philetairos (Meineke 3. 293) :
1) Die in diesem Abschnitte benutzten Stellen sind den Privatalterthümern von Hermann-
Blümner (389 ff.) entnommen.
2) Urvnncc^ inccXsiro diu xb 6xvnn£ionmXr\<$ slvcci, Schol. Ritter 129. 5
72 FRITZ BECHTEL,
IlrjlEvg; 6 IlrjXevg <T sötlv övo[icc xEga^scog,
h,riQOv XvyyoTtoiov, Kav&dgov, tievi%qqv itdvv,
äXX ov xvgdvvov vi} ZlCa.
Der Komiker bringt den Peleus, wie mancher moderne Etymolog der es ernst-
hafter meint, mit jirjXog in Zusammenhang: so hat er es leicht vom Gemahle der
Thetis auf den Lampenfabrikanten zu kommen.
Diese Beispiele , die den vom Handwerke hergenommenen Namen in der
Function des Spitznamens zeigen, sind lehrreich für die Beurtheilung andrer, die
den gleichen Ursprung vermuthen lassen , neben denen aber ein zweiter Name
nicht überliefert ist, der als der bürgerliche gelten könnte. Als solche verdienen
Erwähnung
Styppax Cyprius, Künstler zur Zeit des Perikles (Plin. Nat. Hist.
34. 81; vgl. Mitth. 16. 153);
Kegdfiav , reicher Industrieller bei Xenophon (Mem. 2. 7, 3), ta-
liCag rolv dsotv (CIA 4 Suppl. 2 no. 8346 II 37);
KvQrjßog, vQTOTtoiog bei Xenophon (Mem. 2. 7, e) ;
Mv Xco&gög , Vater eines &cogaxo7iOLog Urecpavog (CIA 4 Suppl. 2
no. 611 b 24 ff.; 4. Jahrb.);
rgocpsvg, d-v^sXoTtotog in Epidauros (^Ecp.dgx. 1892. 73 124; 4. Jahrh.).
Der erste Name ist, wie schon Keil ausgesprochen hat (Anal, epigr. et onomatol.
219), identisch mit dem von Aristophanes gebrauchten Spitznamen des Politikers
Eukrates. Vermuthlich also ist der Vater des Künstlers ein 6TV7i7teio7i(bXr)g ge-
wesen. Die Namen Ksgdficov und Kvgrjßog könnten ebenso verkürzte Composita
vorstellen1), sei es, dass diese wirklich die Geltung von Namen gehabt, wie
'Eepdtoog in Pheneos (CGC Pelop. 196 no. 25; 146—31 v. Chr.), sei es, dass
sie als Vollnamen nur vorgeschwebt haben. Und da wir aus Nikobulos die Zunft
der fivGtQLOTtiüAca kennen lernen (Meineke 2. 852 fragm. 1 3), so könnte der S. 60
erwähnte Mvöxqcov auch einen Löffelverkäufer oder eines Löffelverkäufers Sohn
vorstellen 2). Keine Verkürzung haben jedesfalls die Namen Mv Xco&gög und, wie
ich gegen BKeil (Mitth. 20. 420 x) glaube, rgoys-vg durchgemacht.
Wir können aber noch etwas weiter gelangen. Einem gewissen Lamios hef-
tete die Komödie die Spottnamen 6 üglav , 6 üsXsxvg an, weil er als armer
Mann vom Holzmachen leben musste (Meineke 4. 643 fragm. 156. 157). Das
Werkzeug also, das der Erwerbende gebraucht, wird ihm zum Beinamen. Von
da bis zur Verdrängung des bürgerlichen Namens durch die iiitxKri6ig pflegt es
nicht weit zu sein. Ich glaube ein paar Beispiele dafür zur Verfügung zu
haben, dass der Schritt wirklich erfolgt ist.
H^ilUg Bildhauer aus Aigina (Paus. 7. 4, 4 ; 6. Jahrh.) ;
1) Kvgrißog mit ähnlicher Reducierung des Stammausgauges wie "Aanlunos , 'AanldTtav neben
'j6Y.Xani6-ö(üQOs.
2) Was bedeutet der Name Zxdcpcov'? Ich habe ihn aus Styra (Ion. Inschr. no. 19,305;
5. Jahrh.), Athen ('Ecp. ccq%. 1896. 27 no. 64), Eretria ('£9. ccqz> 1895. 137 II 135. 136) notiert.
5
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 73
Töq&v Bildhauer aus Argos (Mitth. 20. 213 no. 43).
Neben U^ilXcg liegt tffu'A^, neben Tögcw liegt töqov , nach Hesych Bezeichnung
eines Xid-(oxoii)iKbv öxevog. Ist es Zufall , dass Name des Künstlers und Name
des Instrumentes in so enger Beziehung stehn? Ist es keiner, so trägt auch
UfiiAav auf Thasos (Thas. Inschr. no. 20 Iu; 3. Jahrb.)
seinen Namen darum, weil in seiner Familie mit der Q\iiXr\ l) gearbeitet ward,
rglnog in Delphi (Smlg. no. 2100 2, 2150 s; 1. Jahrh.)
den seinigen darum, weil er, wie der Gripus bei Plautus, mit dem yglnog umzu-
gehn wusste (Baunack zu der ersten Stelle), und vielleicht auch
Kdvcov aus Thespiai (CIA 4 Snppl. 2 no. 1054^29, B 13; 4.
Jahrh.)
den seinigen darum , weil der xavoav zu seinem Handwerkszeuge gehörte : der
Mann der angeführten Urkunde hat die Lieferung von Steinen bestimmten Um-
fanges übernommen *).
Die Namen , die einen rein geistigen Beruf zur Voraussetzung haben , sind
dünn gesät.
Semos bei Athen, p. 622b berichtet von den Stegreifdichtern, die zuerst ccvto-
xccßöccXoi, später, wie ihre Gedichte, lapßoi genannt worden seien. Nun kennen
wir den Namen "Ia{ißog als Beinamen des Grammatikers Dionysios durch Athe-
naios (p. 284b). Aber auch als Namen des Vaters eines Schauspielers, der im
2. Jahrh. zu Iasos aufgetreten ist:
Evxkijg 'Iapßov (Le Bas-Waddington no. 284).
Ohne Zweifel hatte 'la^ißog selbst zur Zunft der ta^ißoi gehört und von ihr seinen
Namen empfangen.
Die Geringschätzung gegen den bezahlten Lehrerberuf kommt zum Aus-
drucke in der Schaffung des Namens
Ji8a6xak6vöag 6 KQrjg (Polyb. 16. 37, 3 ; 3. Jahrh.).
Wer der Notwendigkeit sich den Lebensunterhalt zu beschaffen enthoben
sein wollte , musste über ausreichendes Vermögen verfügen. Daher die Wert-
schätzung des Besitzes, und die Verachtung der Armuth: IlsvCa ö3 ati[iov xccl
xbv evysvYj noui lautet ein Spruch des Menander. Die Verachtung , in der der
Arme steht, kann auch aus der Namengebung constatiert werden. Sie ist
wahrzunehmen in
1) die übrigens eine weite Bedeutung hat; vgl. z. B. Herond. 7. 119 ei' xig ngbg i'%vog tj-ko-
V7jfff xj]v G\il\r\v, vom 6HVX£vg.
2) Die Erklärung ist nicht sicher. Bei Hippokrates (Tlsgl ätgav 24) heisst es : .... ovxoi
de (isydloL (isv ovh av hir\6av ovds %avovlait ig svgog ds 7ts(pvn6xsg neu aag-Kmössg. Und AP
11. 120 lesen wir von einem Buckligen, der mit Gewalt gerade gemacht werden sollte:
xs&vri-xEv, yiyovsv & ÖQ&oxsgog Kuvövog.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 6. 10 5
74 • FEITZ BECHTEL,
Exixav Sklave des Demokies aus Kroton (Herod. 3. 130; 6. Jahrh.) ;
xvccyevg xig xal evxeXrig iitl itovx\Qiai xanaidoviievog (Schol.
Aristoph. Ritter 635) ;
AaßeiQog Thespiai (IGS 1 no. 1888 «io; 5. Jahrh.).
Zur Erklärung des ersten Namens besitzen wir nur die dürftige Notiz des Pho-
tios: öxixcov (überl. öxixav)' ccö&Evrjg' ä^tog ovdevög' ovrco 0SQ6XQccxrjg. Man
bringt das Wort seit alter Zeit mit den ZxixuXol zusammen , die der Wurst-
händler mit andern Genien der ävaiösia anruft (Ritter 635). Ob mit Recht, muss
unentschieden bleiben. — Besser sind wir mit dem zweiten Namen daran. Er
muss aus dem Sprichworte gedeutet werden, das in verschiednen Variationen
umgelaufen ist. In der Recension des Zenobios, die Miller entdeckt hat, er-
scheint es in der Gestalt nxcj%6xsQog XsßriQidog und wird so interpretiert: 'Eni
xav 7cdvv 7tsvi]t(DV xccl äöd'svcbv El'QrjTcci r\ Ttagoifiicc ' XeßrjQLg yäg xov ocpecog tb
yfjQccg dödsveg xal a%Qr}6xov xal xevöv (Melanges 354). Ein Mann also, dem
Nichts gehört, wird dem abgestreiften Schlangenbalge verglichen, in dem nur
die Löcher für die Augen sitzen. Die Form des Namens macht keine Schwierig-
keit : zu IsßriQig verhält sich Aeßr\Qog wie der Name des Künstlers KevxQcc^iog
(44) zu xsyxQa^iig.
Für die Leute, die kein Herkommen oder keine vornehme Lebensthätigkeit
oder kein Geld oder überhaupt Nichts haben , besitzt die Sprache die Gattungs-
bezeichnung övQcpEtog, 6vQ(pcc£. Zum Kehricht also gehörte
2JvQ(pa£, Ephesos (Arr. Anab. 1. 17, 12 ; 4. Jahrh.).
Vielleicht wohnt der gleiche Sinn dem Namen
Mofrnv Branchidai (Anc. Gr. Inscr. no. 924 C 40 ; der Vater heisst
BaöiXldrjg) x)
inne : {töd-cov ist in Sparta der Sohn des Vollbürgers mit einer Helotin, also ein
minderwerthiger Mann, dessen Bezeichnung für Aristophanes schon den Sinn von
tpival hat (Plut. 279).
II. Lebensführung.
Die Gemeinschaft, deren Mitglied der Einzelne ist, verlangt von ihm, dass
er sich nach der jeweils herrschenden Weise bei Einrichtung seiner Lebensfüh-
rung richte. Erlaubt er sich seinen eignen Geschmack zu haben, so setzt er
sich der Gefahr aus die Selbstständigkeit durch einen Spitznamen bescheinigt zu
erhalten.
Die Abnormität kann in dem Zuschnitte der gesammten Lebenseinrichtung
wie in einzelnen Liebhabereien gefunden werden.
1) Der bei Paus. 2. 22,7 überlieferte Mo&mv hat leider nicht Stich gehalten: Löwy Inschr.
griecli. Bildhauer no. 66.
GKIECII. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 75
Perikles rühmt seinen Landsleuten nach , dass sie es verstünden (piXoxaXelv
Her' evteXeiag. Einfache Eleganz gilt in den besten Zeiten des Griechenthums
als Norm der Lebensführung. Nach zwei Seiten hin wird gegen sie Verstössen:
die Eleganz emancipiert sich von der Einfachheit, und die Einfachheit versäumt
sich die Eleganz zur Begleiterin zu wählen.
Die der Einfachheit entkleidete Eleganz führt zur Schwelgerei. Von
schwelgerischem Lebenswandel sprechen die Namen
Qißgog Kyzikos (Mitth. 10. 205);
®lßga%og Polemarch der Lakedaimonier (Xenoph. Hell. 2. 4, 33) ;
SCßgav Harmost der Lakedaimonier (Xenoph. Hell. 3. 1, 4), Thes-
salien (CIA 2 no. 8810, vgl. Smlg. no. 326 II 12), Koch in
Athen (Meineke 4. 589).
Die Scholien zu Nik. Ther. 33 führen aus Kallimachos ftißQrjg Kvitgtöog ccq[io-
vcrjg an, aus Euphorion d-ißg^v zs Us^lqcc^ilv. Bei Hes. die Glossen &Lßgrjv ' <pi-
Xöxoö^iov, aßgvvtixrjv (dggvvt. cod.), v7t£Qij(pccvov, xaxa(pagf\, xal &QCC6SLCCV; ftißgov
tgvyegöv. xaXov. ös^ivöv. aitaXöv.
Bavxog Eretria (E<p. dg%. 1895. 135 Ig);
Bavxtg Trozen (Paus. 6. 8,4; 4. Jahrb.);
Bavxidsvg ex Ksga^scov (CIA 2 no. 1620 d Add.) ;
Bavxcjv Styra (Ion. Inschr. no. 19, 22 ; 5. Jahrb.).
Araros verbindet im Ka^TCvXiav (Meineke 3. 275) ßavxd, paXaxd, tEgnvd, rgv-
(pEQa. — Bccvxidevg wie Maiaösvg bei Hipponax (fragm. 16; vgl. Fick Beitr. 11.
266), 'EgatLdsvg Anacreont. 33. 13.
MdXaxog Mccxedcov (IGS 1 no. 414 10; 4. Jahrh.), Andres (Mitth.
1. 236 2), Verfasser von agoo ZicpvC&v (Athen, p. 267 a);
MaXdxcjv 'HgaxXEcbrrig . vnb UeXevxcol rarrö^isvog (Memnon bei
Müller Fragm. Hist. Gr. 3. 532) , Henkel unbekannten Ur-
sprungs (Becker Jahrb. f. Phil. 5. 471 no. 47).
Vgl. 6 ^aXaxbg 'AnoXXcbviog Strabon p. 660.
XXidcov Theben (Plut. Pelop. 8; 4. Jahrh.), didxovog eines &Ca6og
zu Trozen (BCH 17. i20 no. 35 e).
Vgl. Plat. Symp. p. 197 d tgvcpr^g, aßgötrjTog, ^/Udrjg, %agi%Giv^ [[isqov, 7töd-ov nar^Q.
Tgvcp&v etwa von der Mitte des 2. Jahrh. an; die ältesten mir
bekannten Belege sind BCH 11.87 1s (Apollonis ; vielleicht
noch aus dem 2. Jahrb.), IGS 1 no. 3224 II 8 (Orchomenos).
Den Beinamen 6 Tgvcpcov führte der vierte Ptolemäer.
Zum Luxus der Lebensführung ward bei Männern der Gebrauch wol rie-
chender Salben gerechnet. Als Zeugnis dafür kann das Verhalten des So-
krates (Xenoph. Symp. 2. 2 f.) gelten, der das Gewähren des {ivgov mit den
Worten ablehnte: üötcsq ydg toi eö&i]g dXXr\ \lev yvvaixi , aXXr\ de dvögl xaXrj,
ovreo xal ö<5{Lrj dXXr\ \k\v dvögt, aXXr\ da yvvaixl ngiiiEi. Kai ydg dvdgbg pev drf-
nov evexa «1/1)9 ovdelg {ivgcji xQ^£TCCl- • • • Der dgEOxog ist nach Theophrast an
18 10* r
76 FRITZ BECHTEL,
der Gewohnheit kenntlich nXuGxaxig äjcoxeiQccöd-cci xal xovg ödövxag Xevxovg £%eiv
xal xä [[idtia de ^pr^ra ^ExaßäXXeöQ-av xal iQi6\Lax i äXsccps iv (Charakt. 5. 6).
Namen also, die eine Anspielung auf den Gebrauch von Salben enthalten, dürfen
unbedenklich als ehemalige Spitznamen betrachtet werden.
In erster Linie gehören hierher die Namen, die auf das Wort iivqov aufge-
baut sind.
Mtgcov Sikyon (Herod. 6. 126; 7. Jahrh.), QXvetig (Plut. Solon 12),
Boichxiog ij 'EXsv&eqqov (Polemon bei Athen, p. 486 d), IJqit]-
vsvg (Athen, p. 271 f) ;
MvQcovidrjg seit dem 5. Jahrh. in Athen (Thuk. 1. 105, 4), Mvqoo-
viöag Epidauros (Ecp. lxq%. 1892. 76 130) ;
Mvgtg Rhodos (IGI 1 no. 799, 800; 4./3. Jahrh.).
Nach Theophrast (üegl böpcbv 6. 27) "Aitavxa Gvvxi&evxat, xä hvqcc, xä phy
äri av&cbv, xä ds äitb (pvXXoov, xä de äitb xXcovög, xä d' änb Qc^rjg, xä tf äitb £v-
Xcov, xä <f äitb xccQTtov, xä ö' äitb daxgvcoy. Die Blüthe enthält xb qoölvov xal
xb Xevxoivov xal xb 6ov6ivov . . . ., exi de xb 6L6v[ißQcvov xccl xb bqtcvXXivov , xccl
7] xvitQog xal Ttgbg xovxoig xb xqoklvov. Diese Stelle verbreitet nicht nur Licht
über Frauennamen wie IJLöv^ißQiov , 'EQTtvXXcg, sondern auch über den männ-
lichen Namen
ZJtövtißQivog,
den der Vater des Lasos von Hermion geführt haben soll (Aääog XccqiiccvxCöqv
rj Etßv^ßQivov % hg 'Agtexö^eyog, XaßgCvov • EQiiiovevg, Diog. Laert. 1. 1, u), der
aber sicher nur Spitzname gewesen ist (Crusius Unters, zu d. Mimiamben d.
Herondas 46***). In die Atmosphäre der Dame 2Ji6v[ißQiov passen vorzüglich
die Ahnen des itogyoßoGxog Battaros, Grossvater Utöv^ißgäg und Vater Hi6v\i-
ßgiöxog (Crusius a. a. 0.).
Weiter müssen hier die Leute erwähnt werden, als deren Ideal der Parasit
Demokies gelten kann, der uns durch Anaxandrides (3) vorgestellt wird :
XiitccQbg 7tSQi7tax6t zJr}{ioxXrjg, £a{ibg xccxav6{icc6xcci.
Als solche Fettbrühen können bezeichnet sein r)
ACnccQog Thespiai (IGS 1 no. 1888 ci; 5. Jahrh.) , Keos (Pridik
De Cei ins. reb. 160 no. 39) , Orchomenos (ebenda no.
3179 25) ;
Al71ccqlcov Alkccqov Keos (Pridik a. a. 0.); 4. Jahrh.;
Ai7iaQ(ov Kvdcc&rjvcaevg (CIA 2 no. 1024 15 ; 4. Jahrh.).
Der entgegengesetzte Fehler ist der Mangel der (piXoxccXCcc ; sein Resultat
kann schmutzige Lebensweise sein. Dieser Art sich mit dem Tage ab-
zufinden sind einige recht deutliche Namen gewidmet.
1) Den Namen der nächsten Sippe ist nicht anzusehen, wie weit sie tadelnden Sinn haben.
Sie können sich inhaltlich auch mit ZyqCyuiv (Thespiai, IGS 1 no. 1888/" 10) berühren, einem
Namen, der nach Arist. Lys. 80 ebg 8' sv%Qoetg, ä>g Sh 6cpQiy&i tö 6ä>[ici aov zu deuten ist.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 77
OÖQvg MeXixevg (CIA 2 no. 7986 34; 4. Jahrh.), Eretria ('Ey. ccqx.
1892. 137 9);
OögvXXog Thasos (Thas. Inschr. no. 5 8 ; 5. Jahrh.) ;
Oogv6xog Asvxovoisvg (CIA 2 no. 1001 9), Orchomenos (IGS 1 no.
2724 6 ; 3. Jahrh.); .
OoQvöxcdrjg Athen (CIA 2 no. 986 II 25; 4. Jahrh.);
&ogv6xccg Tanagra (IGS 1 no. 530 1; 3. Jahrh.).
Der Namenreihe liegt das Wort (pögvg zu Grunde, das aus der Glosse (pÖQvg '
dccxxvXiog 6 xaxä xr)v edgav (Hes.) bekannt ist. Oogv6xag ist formell Nom. ag.
zu yogvco (vgl. cpogvxög).
Ebenso kräftig redet eine zweite Namensippe :
KÖ7tQ(ov Halikarnassos (Dittenberger Syll. no. 6c 7; 5. Jahrh.),
Iasos (Ion. Inschr. no. 104 16) ;
Ä(5jr(H£Me]os(Mitth. 1.248no.9; 4. Periode des melischen Alphabets).
So kräftig, Jass noch auf einer späten Grabschrift (Kaibel no. 313), an die
WSchulze (Hermes 27. 31) erinnert hat, eine Dienerin sich entschuldigt Koitgicc
geheissen zu haben:
Ovvo^ia [iev Maxexcug £itL%(Aigiov ' ovvexa n£[Mpfrrj
firjöh evC ' KoTtQiav {i (bv6[icc(jav ysvixai.
Im Unklaren über seinen Werth kann auch der nicht gewesen sein, der zu-
erst den Namen
MbXoßgog Sparta (IGA no. 696 B| Thuk. 4. 8,7)
geführt hat. Das Adjectivum poXoßgög wird in der Odyssee zweimal (g 219,
6 26) vom schmutzigen Bettler gebraucht. Was es bedeutet , kann man von
Nikander lernen. Von der Pflanze %cc{iccLXeog heisst es Ther. 662
lisöör} d' sv xscpaXrj dvexcu 7CsdÖ£66cc, {loXoßgrj.
Das Haupt der Pflanze verbirgt sich unter den Blättern und liegt auf der Erde
(7ted6s66a vom Scholiasten mit %a^ai%exy\g erläutert). Darum ist es schmutzig,
ganz wie das Thier schmutzig ist, dessen Junge poXoßgia heissen : xtbv 8e äygicov
vcbv tä xixva poXoßgict 6vo^icc^ov6lv ' äxov6stag d3 av xov rl7t7t(hvaxtog xal avxbv xbv
vv ^oXoßgtxr}v Ttov (fragm. 77 B.) Xiyovxog (Ael. liegt ^cbtcov 7. 47) l). Und wie
das Pflanzenhaupt schmutzig ist, weil es ya\mnttxi\g ist, so ist das poXößgiov
schmutzig, weil es das Sprichwort 'Tg iv ßogßögcot üXv6itaxai nicht Lügen strafen
will. — Der Vater des MbXoßgog heisst : 'Enixadrig ; er scheint als Widerpart
seines Sohnes gedacht zu sein.
Speisen und Getränke unterliegen ebenfalls dem wachsamen Auge der
Gesellschaft. Man gibt dem Menschen einen Namen nach dem, was er gerne zu
sich nimmt.
1) Aus dieser Stelle, die aus des Aristophanes Schrift liegt övo^aaiag tjXl-ki&v stammt (vgl.
Miller Mel. 431), hat zuerst Düntzer (KZ 14. 197) für die Erklärung des homerischen (10X0^
Nutzen gezogen.
78 . FRITZ BECHTEL,
Die Freude an Leckerei soll getroffen werden durch den Namen
Xvcciddrjg 6 naXkrjvsvg (CIA 4 Suppl. 1 no. 373 2*3).
Denn Xvaiddrjg gehört ohne Zweifel zu ivavco, xvccv^ia, %vavQog, in denen das
Behagen an der Leckerei überall zum Durchbruche kommt. Man ermesse das
Wolgefühl , womit der Berichterstatter bei Ephippos seine Erlebnisse schildert:
L'xqlcc, TQuyruiax fas, JcvQa^iovg, cc^rjg,
Guobv ixax6{ißr}' ndvxa xavx^ iyyavo^Ev
(Meineke 3. 327 f.).
Mehrfach wird von Leuten berichtet , denen aus ihrer Lieblingsspeise
ein Spitzname erwachsen ist. So führt der Komiker Piaton dem Publicum einen
Tlavxixx\g vor, der nach der tl>f}xxcc genannt war (Meineke 2. 652), und der
Staatsmann Kailimedon war nicht nur darum für den Übernamen Kdgaßog reif,
weil er schielte, sondern auch darum, weil zu den Thieren, für die er eine zärt-
liche Hinneigung verspürte , der xdgaßog gehörte (24). Man sieht , dass damit
eine neue Quelle von Spitznamen aufgefunden ist. Wer z. B. den Namen Uxdgqg
deuten will, der muss nicht nur mit der Möglichkeit rechnen , dass Mensch und
Meerpapagei wegen einer äusserlichen Ähnlichkeit (Ol'dccg Uxdgsiog Smlg. no.
345 72) *) gleichgesetzt worden seien, sondern auch mit der , dass der Mann den
Namen des Thieres empfangen habe, nach dem ihn gelüstet:
el $ elaßov ScQXiCjg öxdgov, iq 'x trjg ^Axxixr\g
ylavxiöxov, (b Zav ö&xsq, tj '£ "Agyovg xoctiqov,
ij "x xr\g Ucxvcbvog xrjg (pCkrig ov xoig fteolg
(pBQEi noösiöcbv yöyygov eig xbv ovqccvöv,
aitavxsg oC (payovxeg sysvovx' av fteoC
lässt Philemon einen Koch sagen, der doch seine Leute kennen musste (Meineke
4. 27 20 ff.).
Das normale Getränk der Hellenen war bekanntlich der gemischte Wein.
Wer Wasser trank, fiel auf, und erweckte bei seiner Umgebung wenig Zu-
trauen :
"Töcoq de rtLvcjv ovdhv av xsxot öoopov
heisst ein zum Sprichworte erhobner Vers des Kratinos (Meineke 2. 119 fragm.
6). Eine -lange Liste von vögoTtoxat hat Athenaios zusammengestellt. In ihr
findet man die schöne Contrastierung des Demosthenes und Demades (p. 44 f),
zu der man die ebenso schöne bei Demosthenes (19. 46) fügen kann : 'Eita-
vaöxdg d' 6 <X>LXoxQccxrjg fiaA' vßgLöxixcog Ovdev, £<pvi, &avfia6tbv ä) avögsg ^A\tv\-
vaioi, {ir} xavx"1 ifiol xal Ax\\io(5\fiv&i öoxelv ovxog {lsv yäg vöcjq, syco ff olvov 7tivco.
Die Komödie setzt nun die Wassertrinker den Fröschen gleich. Bei Phere-
krates (Meineke 2. 282 fragm. 4) gibt eine Schöne der Weinschenkin , die ihr
ovo vdccxog 7tgbg xexxccQag oi'vov gegossen hat, den entrüsteten Rath
eqq1 ig xoQccxag' ßaxQcc%0L6LV olvo%oslv Cs del2).
1) So nach WSchulzes Lesung (Hermes 27. 31).
2) Vgl. BaxQä%G)i vdcoQ Zenob. 2. 79.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 79
Und der Adept des Pythagoras bei Aristophon (Meinekeg3. 360 f.) wird als ein
Mann geschildert, der vdayg de nivuv ßdxoccxog sei. So gewinnen wir Einsicht
in die Bedeutung l) des seit dem 5. Jahrh. nachweisbaren Namens
Bodxuxog Halikarnassos (Dittenberger Syll. no. 6^29), Bgoxaxog
roQtvviog (Simonides fr. 127), Ephesos (Anc. Gr. Inscr.
no. 454 1) , Pantikapaion (Ion. Inschr. no. 117), BatQa%og
Athen (Lys. 12. 48 und sonst) ;
BaxQa%i(x)v Koch in Larisa (Luk. Ilgbg xov ditcaö. 21 ; 3. Jahrh.).
Der Anhänger sitzender Lebensweise bekommt den Spottnamen
JupQidccg Feldherr der Lakedaimonier (Xenoph. Hell. 4. 8, 21).
Fick (Curt. Stud. 9. 176) verweist auf die Glosse 8C(pQig' 6 sögatog, xal xa&rj-
{isvog asi, olov dpyög (Hes.) ; vgl. die vulgäre Redewendung ^dXitevv xov diyoov
bei Herondas (1. 37).
Endlich unterliegt Alles, was zur äussren Ausstattung gehört, der
Kritik : die Haartracht, die Art sich zu kleiden und zu bewegen.
Die Haartracht hat den Ausschlag gegeben bei Schaffung der Namen
KCxvv{v)og Thera (7. Jahrh.; mitgetheilt von Dr. Hiller von
Gärtringen).
Vgl. Aristoph. Wespen 1067 ff.
cjg iycj xov^ibv vo{ll£g)
yfJQccg elvai xqeZxxov r) jroA-
Xcbv xixvvvovg veciVL&v xal
6%i}{ia xevQVTCQCoxtCav.
Da schon Pherekrates (Meineke 2. 355 fragm. 67) ~Sl %av$oxdxoig ßo[6]xQvxoi(5i
xop&v verbindet, Euripides (Phoin. 1485 f.) von einer ßoxQvxcbdrjg TtaQ^tg, Apollo-
nios (2. 679) von Ttkoxpol ßoxgvösvxsg spricht, so liegt die Vermuthung nahe,
dass der Name Böxovg Leuten mit Locken gegeben worden sei. Aber Verbin-
dungen wie Bgöfiiog Boxgvog (CIA 2 no. 3561), BöxQixog Jiovvölov (Kos; Smlg.
no. 3624 c 70) weisen in eine ganz andre Richtung.
Koaßvlog Dichter der neuen Komödie (Meineke 1. 490 f.) ; die
Heimath andrer KoaßvXoi, so eines CIA 2 no. 3884 er-
wähnten xQyä'toSj ist nicht zu bestimmen.
KgoßUog Delos (BCH 7. 331).
Der Redner Hegesippos von Athen führte den Spitznamen KoaßvXog. Bei
seinem politischen Gegner Aischines wird er bloss mit diesem genannt. Vgl.
Schol. Aeschin. 1. 64 KocoßvXov xccXet xov ddekybv xov 'HyrjödvdQov xov rHyrj6i7i-
Eine andre folgt daraus, dass der Frosch nur Wasser trinkt. Sie ist bei Piaton Theait. p.
161c erkennbar: rjfistg P^v avtbv a>07iSQ &EÖV ed-avpdfrfiEv snl cocpCai, 6 d' ccqu srvyxccvsv cav
ft's cpQ0vr\6iv ovösv ßeXticov ßargdxov yvqCvov. c
1 6 *
80 . FRITZ B ECHT EL,
nov rbv piöoyiXntTiov , xcc&a avrbg ^Xaicps zv\v xecpaXrjv xal icptXoxdXsL tag tgC%ag.
Über das Verhältnis des Haarschopfes , den der Redner dieser Nachricht zu
Folge trug, zum altattischen KgcjßvXog äussert sich Studniczka (Jahrb. d. Instit.
11. 256) so: »Empfieng Hcgesippos den Spitznamen 6 KgcoßvXog wirklich von
seiner Haartour, dann hat das Wort damals gewiss eine andere bezeichnet , als
bei den Marathonkämpfern«.
Ein Synonymum von xgcoßvXog ist xögv^ßog] es bildet die Grundlage der
Namen
KÖQV[ißog ZiXavcb Messene (BCH 5. 152 17 f. ; gute Schrift) ; Grab-
schrift auf Telos (Smlg. no. 3494), Elis (Olympia 5 no. 59 5),
Aphrodisias (CIG 2 no. 2843 3 ; s. unter Käitog), auch sonst
in der Kaiserzeit häufig;
Kogvpßlag AltaXög (Dittenberger Syll. no. 404 35 ; 3./2. Jahrh.).
Das Wort scheint aus Ionien zu stammen, »da es nicht nur der Pontiker Hera-
kleides gebraucht , sondern schon Xanthos mit xö\^r\ xsxogv^ißcj^Evrj und ....
auch Asios mit den goldenen xogv^ißat, d. h. Fesseln des xögvpßog, voraussetzt«
Studniczka 255.
Ein drittes Wort, das für das Wörterbuch der Spitznamen Bedeutung ge-
wonnen hat, ist öxöXXvg, die östgä rgL%cbv , die stehn bleibt, wann der Ephebe
sein Haupthaar dem Gotte darbringt (vgl. Athen, p. 494 f). Nicht nur der
Bergname UxöXXig geht von ihm aus, sondern auch
UxöXXog in UxöXXatog Pharsalos (Smlg. no. 327 A 5).
Der Name könnte einen Kahlkopf verhöhnen, dem gerade noch ein öxöXXvg er-
halten geblieben ist.
Weiter kommt xövvog in Betracht. In zusammenhängender Rede ist das
Appellativum nur aus dem Lexiphanes des Lukian nachweisbar: xal yäg ov
xi]7itov , dXXä öxdcpiov exexdg^irjv cog ccv ov Ttgb TtoXXov rbv xövvov xal xr\v xogv-
(patav anoxsxoiirixcDg (§ 5). Aus dieser Stelle ist wenigstens das ersichtlich, dass
xövvog das Haar an einer bestimmten Partie des Hauptes bezeichnen muss. Von
den beiden sich widersprechenden Erklärungen, die bei Hesych gegeben werden
(xövvog' 6 ncbycov, ij imr\vy\ und xovvocpögov öxoXXv cpögcov) , kommt also die
zweite dem Sprachgebrauche, den Lukian nachahmt, näher als die erste, für die
bisher die Beglaubigung fehlt. Wenigstens annähernd können wir also den
Sinn errathen, der den ziemlich alten Namen inne wohnt:
Kövvog 6 xid-agcötrjg , bg £fie diddtixei exi xal vvv xi&agit,£LV (So-
krates bei Plat. Euthyd. p. 272 c), Styra (Ion. Inschr.
no. 19, 224);
Kovväg verhöhnt von Kratinos (Mein. 2. 222 fragm. 143);
Kovvlcov Kolophon (CGC lonia 37 no. 9; 4. Jahrh.).
Diese Gruppe von Namen wirft auch auf eine Sippe Licht, die bisher ganz
abweichend beurtheilt worden ist:
Känog Thespiai (IGS 1 no. 1888c 1; 5. Jahrh.);
Krjnig Athen (Plat. Protag. p. 315 c);
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 81
KanCcav, seit dem 3. Jahrh. sehr verbreitet in Böotien (vgl. IGS
1. 782), Krintcov Eretria ('Etp. aQx. 1895. 138 III u2);
KdTtov, seit 300 v. Chr. verbreitet in Böotien (vgl. IGS 1. 782).
Im Namenbuche sind diese vier Namen als Verkürzungen eines zweisilbigen
Namens aufgefasst. Da aber der einzige, der bisher bekannt geworden ist, <&i-
Aöxccrtog, der Aurelierzeit angehört und durch die Verbindung mit KÖQv^ißog
(&iA6xcc7tog Oikoxdnov xov KoQvpßov CIG 2 no. 2843 3) selbst Beziehung zu
einer bestimmten Haartracht erhält, so scheint es sich um lauter einstämmige
Namen zu handeln , zu denen das Tragen des xrjitog Veranlassung gegeben hat.
Zum xr\%og vgl. Schol. zu Aristoph. Vög. 806: Avo de el8r\ xovgäg, Gxdcpiov xccl
XY\7tog. Tb (isv ovv 6xd<piov rö iv xptöt, 6 de xf}7iog rö itgb fiercoTtov xexoöfifjö&ac.
Man beachte, dass die Sippe in Böotien am reichsten vertreten ist, Athen und
Eretria nur je einen Beleg beisteuern.
Von Schmuck und Kleidung sind hergenommen:
Odlagug Akragas (6. Jahrh.), Tanagra (IGS 1 no. 585 III 6), Stratos
(IGS 3 no. 594,).
Qdkagig muss einen Mann bedeuten, der cpdkaga trägt. Herodot, Euripides, Xe-
nophon, Polybios verwenden cpakccga nur für den Pferdeschmuck; aber Aischylos
wagt ßaötketov tidgag cpdkagov (Perser 658). Den Qdkagig in Tanagra und
Stratos könnte man als 'Blesshuhn' deuten und zu den Kahlköpfen rechnen ; für
den Sohn des Laodamas ist diese Auffassung durch die Quantität des mittlem a
ausgeschlossen, die seit Pindar fest steht (Pyth. 1. 96 i%&gä Qdkagiv xaxexei
jiccvTÜL (pdrug).
(pögpog Trierarch der Athener (Herod. 7. 182), Anaktorion (IGS
1 no. 24188);
<&ÖQ[iLg, bg ix Maivdkov öiaßäg ig ZlixekCav nagu rikcova tbv
4eLvo{iivovg .... (Paus. 5. 27, 1), vielleicht identisch mit dem
Komiker Oögpig (Arist. Poet. 5) , der bei Suidas Oög^iog
heisst ;
QoQiiicov Kgorayvidtrjg (6. Jahrb.; vgl. Meineke 2. 1227), Hali-
karnassos (Ion. Inschr. no. 238 15), vom 5. Jahrh. an in
jeder griechischen Landschaft nachweisbar.
Zu Grunde liegt cpog{iog, das Kleid des Schiffers: 6 de 'EkTt-qvcög d^iteierat cpog-
libv dvxl iöd-rjrog, övvrjdsg rolg vccvruig (pogr^Mx, (Paus. 10. 29, s).
BaCxcav 6 'Aketdvdgov ßy\^axi6xr\g (Athen, p. 442 b);
BaCx{si)g Grabschrift zu Larisa (Smlg. no. 357);
Brjttdag Orchomenos (IGS 1 no. 3180 35 ; 3. Jahrh.).
»Von ßaixr\ Hirtenrock aus Fellen .... abzuleiten wie z. B. Xkaiviag von %katva
Mantel« Fick (KZ 22. 223).
Kö6v{[i)ßog Styra (Ion. Inschr. no. 19,227; 5. Jahrh.).
Wer so hiess, hatte vermuthlich den Chiton mit Fransen verziert. Über xoöv^ißca
zuletzt Studniczka (Jahrb. d. Instit. 11. 277 f.).
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, b. H 5
82 • FRITZ BECHTEL,
ToL'ßcov Styra (Ion. Inschr. no. 19, 419; 5. Jahrh.).
Ocbecav Thespiai (1GS 1 no. I888A3; 5. Jahrh.).
Vgl. Poll. 7. 71 eöxi de xal 6 qpcotfrav %ixcov Alyvitxiog ex na%eog XCvov.
Xkaiveag Aetolien (Polyb. 9. 31,7; 3. Jahrh.).
UtövQvog Phoitiai (Fouilles d' Epid. 1 no. 243).
Vgl. Schol. Aristoph. Wespen 778 CiGvoav. Ulövqcc xakelxai nagä \iev xiöiv fj
ßaixr\ • £6x1 de TtegißoXaiov ex degpaxcov ßwegga^evcDV ngoßaxeCtov ixövxuv tä
egta' ol de dxgtßeöxegoi cpaöt, xXalvav nakaiav elvai anXotda. T^v avxijv de xal
(JLÖVQCCV XCiXovÖL Xal ÖIÖVQVCCV.
Eine Reihe von Namen bezeichnen den Mann nach den Waffen, die er
mit Vorliebe trägt. So
Gcbgah, Larisa (Pind. Pyth. 10. 64; 6. Jahrb.), Aaxedaipoviog
(Xenoph. Hell. 2. 1, is), Boinziog (Anab. 5. 6, 19), Hierapytna,
Oleros (Mus. Ital. 3. 617 no. 37 13 , 640 no. 54 6) ; @<bgrt
Styra (Ion. Inschr. no. 19, 205).
®cogaxidrig KogCvüiog (CIA 3 no. 2523 ; der Sohn heisst Meve-
exgaxog).
Als Beiname fungiert Gcogat, auf der Inschrift von Patara CIGr 3 no. 4295:
ütoXeiiaCov tilg xov xal 0cbgaxog.
rägvrog Paros (CIG 2 no. 2378 3).
Die Erklärung schon bei Böckh in der Addenda: »Nomen proprium rcbgvxog nota
ex appellativo yagvxbg traductum esse«.
Ervoal Xtog (Mitth. 19. 399 III 2) x), Fabrikant auf Rhodos (Du-
mont 109 no. 238), Aigion (?E<p. ägX. 1884. 89 no. 4; spät).
Im Kvvr\yexixog des Xenophon wird der Hundename Uxvgat, zwischen Tlogitai,
und A6y%v\ erwähnt (7. 5). Da der Chier 2Jxvga% Vater eines Hv^a%og , der
Aigieer Vater einer AXxaivexri ist, habe ich vorgezogen den Mannesnamen ebenso
zu deuten, wie der Hundenamen gedeutet werden muss. An sich hat die Auf-
fassung, Xxvga% sei ein nach Weihrauch duftender Mann, gleiche Berechtigung.
Das Tragen eines Stockes hat Veranlassung gegeben zu dem Namen
ZJxLitav (CIA 1 no. 412 5; 5. Jahrh.), QogCxiog (CIA 2 no. 1722o;
4. Jahrh.); Freigelassner in Larisa (Mitth. 7. 227 31).
Zur Zeit der alten Komödie ward das Tragen des cxlitcov als xgv<piq betrachtet.
Vgl. Athen, p. 553 e Kai xbv inl &e^LöxoxXsovg de ßiov Tr\XexXeidrig ev Hgvxaveöw
aßobv ovxa itagadCdmöi. Kgaxtvog de iv Xcqcoöl xr\v xgv(pr\v epyavl&v xijv xäv
nakauxegcov (pYlölv
aitaXbv de öiGv^ßgLOv rj gödov rj xqlvov itatf ovg eftaxec,
fiexä %eo6l de {irjXov exaöxog e%cov öxiTtcnva r' r)yöga£ov
1) L.MMAXOI ITYPAIOI die Abschrift, vom Herausgeber mit Z[v[i][icc%09 Zxvqccios um-
schrieben. Aber hinter dem ersten Namen ist ein zweiter im Genitive zu erwarten, und Zxvquios
ist kein Ethnikon.
GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN. 83
(Meineke 2. 146). Die erste der oben erwähnten Persönlichkeiten kann also
durch den Namen Uxincov als rgvyüv an den Pranger gestellt worden sein. Da-
gegen hat Jemand, der einen Stock trug, in der Zeit des Demosthenes als Ple-
bejer gegolten: Demosth. 37. 52 NixößovAog (T s7ti(pfrov6g iöu xal raxscjg ßccdi&c
xal [isycc (p&syyeTcu xal ßaxtrjQiav cpogsi 1). Folglich kommt auch der ©ogfaiog, der
auf einer der Zeit des Demosthenes angehörenden Urkunde erwähnt wird, durch
den Namen Zlxiitav in einen ganz andren Geruch , als der Athener des voran-
gehenden Jahrhunderts.
1) Hingegen verräth es uQ£6Y.tla einen krummen Stock zu tragen: afisXsv di xal 7itör\Y.ov
ftgeipat, dsivbg xal xlxvqov xrijcaff-ifau xal Ziv.iliv.ug 7tSQiarsQccg xal dognadsiove aötQuyäXovg xal
&ovQiayiäg xcbv GXQoyyvXav Xr\%vft'ovg neu ß axr t]Q tag xtöv öko Xi üv Ix Accnsdcu'fJiovog . . . .
Theophr. Charakt. 5. 9 vom ägs6v.og.
Nachträge.
S. 11 ist bei den Zeugnissen für Jlaxaixog die melische Grabschrift Japo-
Titiog IlataCxov (Ross Inscr. ined. no. 241) übersehen.
S. 34 ist ein Erklärungsversuch des Namens Kafucäg unternommen, der durch
Kccfi7tog (Pridik De Cei insul. reb. 160 no. 39 n) erschüttert wird.
Namenverzeichnis.
(Die mit t bezeichneten Namen sind im Texte bestritten).
'AyuovXog, 'AyxvXtcov 34.
'AyQiog 58.
Aiyinvgog 42.
'Anctvdog 39.
'AnQidiav 51 3).
'AXmits-nog 57.
'AQKTivog 37.
'Agvarag 60.
'AtrctyCvog 45.
"A%v(xiv 17.
BaßvQtag 52.
Batrov und Sippe 81.
BaxorÄo? 48.
BapfJag 27.
Barpor^og, BatQa%i(ov 79.
Barrapog 46.
Baöxog und Sippe 75.
BtfißciHiSccg 50.
[BJiaxiW 52.
Boidctg 54.
Bop/Mos 46.
B(ja;nUos und Sippe 10.
Bporros 46.
B{iovY.C(av 51 8).
Bpt'^ojv 46.
Ftutiag (raaked.) 35.
rdatQtov, ra-crpog 31.
retvoog. ravgtg 65.
ruvoog .'54.
riccpoyidctg 56.
F;U,af<e '25.
rW<{hav und Sippe 29.
ri'iqaiVLÖT]g 69.
rpyyiUog 14.
Tginog 73.
rniooiv 55.
ryicfog 58.
rgocfi-vg 72.
rpüAog und Sippe 55.
rpi'ffog und Sippe 27.
rvQidag, rvQav 31.
rcöpiTO? 82/
^Jffdt'^o? 24.
^Jfptfiff 31.
didccGKCiXmvdccg 73.
di'6-H.og 51.
JicpQiSccg 79.
z/o^t^o? 8.
Aövat,, zlovccHog 16.
dq&Ttvg 68.
jQvfiog und Sippe 36.
'EAarojv 9.
f'EÄaqpo? 45.
"Enoip 29.
faprailog 121).
f)sQ6itag 21. 65.
f)i!ßQog und Sippe 75.
f)a7t tag 68.
(9copai;, S(oQccY.C8if\g 82.
7a/i|?os 73.
'legal-, 'itQccnos 27.
'IvTivog 27. 67. 69.
KdXafitg, KaXdfifiet, 16.
Kaiiit&g 34, sieh Nachtr.
Käva.%og 46.
Kuv&ugog und Sippe 57.
Kävav 73.
Känog und Sippe 80.
KditQog 37.
KdQccßog 23. 43.
Kagöauicov 59.
KccQKLvog, Kccgmvicov 23. 35.
XapqpiVa? 16.
KfyxQccfiog 44.
Kegdyuov 72.
KegmÖäg 33 3).
Kegnivog == Kocgnivog 33*).
Kt'gmg und Sippe 33.
KecpccXog und Sippe 20 f.
KrjXav 62.
KrjTojv 8.
Kiv.ivvog 79
Kivä8r\g, Kivddav 57.
KCvöiov 49.
Ät'pos und Sippe 48.
Kiggia .... 41.
KvCcpav, Kvup&g 69.
Äoxxo?, Xoxxt'cov 41.
Üloxxdt/), KoKKOvßiccg 54. 69.
Xo/loto? 28. 42. 69 2).
Xdvi>o? und Sippe 80.
Ko-JtQüiv, Koitgig 77.
Xd?a£ 28. 42. 69.
Äd(>da£ 64.
Äoe#vs 40.
Kogoißog, KogoißC8r\g 53.
Äoptxjog, ÜLO(n>#cdÄos 39.
Äopu-frog. KogvfrCatv 39.
KoQV[ißog, KoQVfißiccg 80.
KoQvrttug 65.
Äopvi/j 12 f.
Kogcovog und Sippe 28. 42.
Xö<>v(|u,)ßos 81.
Korzvcpog, Ko^vcpCoiv 17.
Kgtöig und Sippe 32.
Äptd? 87 2). 65.
KgcoßvXog 79.
KvXXog und Sippe 33.
Kvpßctlog 58.
Kvgrißog 72.
Ä(vp)rcov 31.
Km&oiv 61.
Kcoficütdioiv 58.
Kmvcoip 69.
AcuÖQiccg 64.
AdXcc^ 56.
Aüoiog 36.
Atßeigog 74.
Aepßog 68.
Aeitrog und Sippe 15.
AiitdQog und Sippe 76.
ACguvog 64.
Jdßrov 29.
Aol'[mov 69.
A6pßa£ Gl.
Mdv.gmv 22.
A/aAaMOg, MaXdnav 75.
Mapyog 52.
Mccarog 61.
MfrÖvHoe, Mf'tfw, Metfvffras 61.
FRITZ BECÜTEL, GRIECH. PERSONENNAMEN AUS SPITZNAMEN.
85
Mexcoizog 22.
MiTigog und Sippe 9 f.
MiXxsvg und Sippe 41,
MCxog und Sippe 15.
Mo&av 74.
MöXoßgog 77.
MoQuig und Sippe 18.
M6qv%og und Sippe 53.
MvXXog und Sippe 30.
MvXco&gog 72.
MvQfir}xidctg 501).
iWt'pjtxrj^, MvQiiidag 50.
Mvqcov und Sippe 76.
Mü? 62.
Mi'xxxfXcg 34!
7V7t'<7tr£>(üi> 00. 72.
Mva%r]g und Sippe 32.
Mvwty 69.
Nocaog und Sippe 12.
Eovfriccg 40.
'OfjLcpccxicov 59.
'Öprt'l, 'Ogxvyicov 69.
'Oöqpi'ojv 32.
'Ocpgvddccg 65.
"Oqp()vHos 23.
Tlcudinog 13.
nürcu-Kog , Tlatai¥.i(ov 1 1 ,
Nachtr.
Ud%r\g und Sippe 13.
Il£Xdgr]g 8.
77fp<?<£ 62. ^
nhccXog, näxa%og 15.
JlCQ"r\%og und Sippe 18. 67.
Jli'fiqxov, IlifMpig 58.
ntjros 56.
IJixvag 9.
IJXaxfig, TLXdtav 13.
IZeoibto(s) 12.
TIvQjraXLcov 42.
'Pafßos 34.
fPct{icpLctg 28.
'PaviS 12. 55.
'Pfyxt'a?, 'Pdyxtov 48.
'PiWj/ 27.
;Pd#os 46.
'Porxos 34.
sieh
68.
'Pvy^cor 28.
'P^j?t? 50.
Ud&cov, Uct&ivog 32.
£ulv(üv 68.
£dvvr\g und Sippe 66.
tÄpaßos 68.
Zdgdovv 66.
Zdxvgog und Sippe 19. 60.
(Ä'Atj/if 37).
-ZUrjvdg, HiXavlmv 19. 60.
27t-üa£ und Sippe 66.
HC^qg und Sippe 25.
ZLGvfißgivog 76.
Z!i6vgvog 82.
ZCovcpog 56.
Ziqxov 61.
£*a.iog, Endcav 49.
ÄfXi'as 35.
Unincov 82.
Ev.igacpC8ag 57.
Z%Cx(üv 74.
ÄtdUos 80.
[^JxopTrtcov 59.
.Sxv-ibjs und Verwandtes 26. 42.
UfiiXig, UpiXcov 72 f.
Upoiog 59.
27dAcöv 51.
Zrtid-cciiaiog 1 1 .
ZxaXciyixog 12.
Zxitovbccg, £xta\ 57.
^TO^äs 29. 64.
Exopiog, 2aXO[iiXog 66 f.
2Jxgdßal-, Uxgdßiov 23.
ExgoßiXog 50.
ExgoyyvXCav 14.
Zxgotßog 49.
27rpd|u.|?off und Sippe 50.
Zreoi)#os und Sippe 8 f. 17. 63.
Uxvfidgyrig 64.
JEry7t7ra£ 72.
2;rv(>a£ 82.
Sxvtpcov 59.
i .Svpqpai; 74.
UepciLQogi Urpcugiav 51.
£%iöäg 16.
■^t^off 39.
T^Va^os 41 *).
Tdpcov 73.
Tpa^cdos 31.
7Vß<öi/ 82.
Tpi^ä? 35.
Tgö%sig, Tg6*.%r\g 51.
TgvyCag 59.
Tgvcpoiv 75.
Tvvvog und Sippe 11.
'TitoßoXifiaiog 70.
<£axä? 4 1.
4>ccÄax(>os, ^uXctyigCcav» 37 f.
^a-lav^os, $uXuvftCdrig 38-
^a^ptg 38 2). 81.
$>uXugCovv 38.
<$dXetgog 38.
^aUtrog 83.
$Zf'ag 56.
QXißtov 32.
$;Uta£ 561).
Sttd^ 56.
$d£o? und Sippe 21.
$d(>|tios und Sippe 81.
$dpvs und Sippe 77.
$P^£off 39.
$pi)vos und Sippe 14. 43.
$V6Y.G>V 31.
<&coi6iag 44.
3>cb(7wv 82.
Xccßäg und Sippe 34.
Xccixog und Sippe 35.
Xa^fTto? 58.
Xccfituliav 44. 67.
XccQccdgivog 60.
[X]fAcoi/ 30.
XfXcovi'av 49.
Xtlav, Xi'Xscog, XiX&g 30.
XAan/«*s 82.
XXidav 75.
Xvcciddris 78.
JTvoate 39.
Xotipos und Sippe 55.
Xgsfirjg und Sippe 47.
3WS 12. 46. 55.
Wdcpcov 57.
gty* 62.
Wa£ 12. 46.
Abhdlgn. d. K. Gee. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. EL N. F. Band 2, s.
12
Inhaltsverzeichnis.
Salt«
Einleitung 1
Erstes Capitel: Der Mensch als körperliches Wesen 7
I. Der Körperbau.
Unproportionierte Gestalt 7. Übermaass der Länge und Breite 8. Lange Leute 8. Kleine
Leute 9. Dicke Leute 13. Magre Leute 15. Leute von schreckhaftem (18), von affenartigem
(18), von silenartigem Aussehen 19. Dickköpfe 20. Spitzköpfe 21. Langköpfe 22. Breit-
stirnen 22. Leute von auffälligen Augenbrauen 23. Schieler 23. Blinzler 24. Triefaugen 25.
Stumpfnasen 25. Habichtsnasen 26. Grossnasen 27. Leute mit starken Ohrlappen 29; mit
starken Kinnbacken 29; mit grossem Munde 29; mit wulstigen oder zuckenden Lippen 30.
Langhälse 31. Bucklige 31. Dickbäuche 31. Leute mit starken Hüften 32; mit grossen Ge-
schlechtstheilen 32. Krummbeine 33. Langbeine 35. Leute mit üppigem Haare 35. Kahl-
köpfe 37. Milchbärte 39. Rauhhaarige 39. Leute, die nach der Haarfarbe (40), nach der
Gesichtsfarbe (41) benannt sind.
II. Sprache und Geräusche.
Leute mit dröhnender (46) und mit dumpfer Stimme 46. Leute mit Sprachfehlern 46.
Brummbärte 47. Schnarcher 48.
III. Geschlechtliches Unvermögen 48.
IV. Gebrauch der Gliedmaassen. Körperliche Fertigkeiten.
Linkhändige 49. Leute mit schwerfälligem Gange 49. Zappler 49. Leute, die in
körperlichen Spielen gewandt sind 51.
Zweites Capitel: Der Mensch als geistiges Wesen 52
I. Intellect.
Beschränkte und Ungebildete 53. In der Rede Ungeschickte 55. Schwätzer 55. Durch-
triebne Köpfe 56. Leute, die sich in der Wissenschaft, in geistreichem Spiele oder in der
Kunst auszeichnen 57.
II. Gemüth.
1. Temperament.
Jähzornige 58. Verdriessliche 59.
2. Charakter.
'TßgiGTcci 59. Vielesser 60. Trinker 61. Adyvoi 61. Freche 64. Streitsüchtige 65.
Hoffährtige 65. Undankbare 65. Spötter 66. Trotzige 66. Arglistige 67. Charakterlose 67.
Schmeichler 68. Feiglinge 68. Knauser 69. Diebe 69. Taugenichtse 69.
Drittes Capitel: DerMenschalsGliedderGesellschaft 70
I. Sociale Stellung.
Leute von unebenbürtigem Herkommen 7*0. Leute, die auf Erwerbsthätigkeit angewiesen
sind 71. Arme Leute 73.
II. Lebensführung.
Schwelger 75. Schmutzfinken 76. Leckermäuler 78. Wassertrinker 78. Anhänger sit-
zender Lebensweise 79. Liebhaber bestimmter Trachten 79.
Nachträge 83
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH - HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 6.
Die Spaltung des Patriarchats Aquileja.
Von
"Wilhelm Meyer aus speyer
Professor in Göttingen.
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1898.
Die Spaltung des Patriarchats Aquileja.
Von
Wilhelm Meyer aus Speyer
Professor in Göttingen.
Vorgelegt in der Sitzung am 8. Januar 1898.
Nächst dem vom h. Petrus selbst gegründeten Stuhle des Pabstes in Rom
genoss den höchsten Hang der vom Apostel Marcus und seinem Schüler Herma-
goras gegründete Stuhl von Aquileja; und doch hat dieser Stuhl nie eine ent-
sprechende Rolle gespielt. Das lag daran, dass das ganze Mittelalter hindurch
neben einander und in nächster Nähe zwei Stühle bestanden, von denen ein jeder
der direkte Rechtsnachfolger des alten Stuhls von Aquileja sein wollte , jeder
den hohen Titel 'Patriarch' beanspruchte und auch vom Pabst erhielt.
Das eine Patriarchat war das binnenländische des Friaul's ; in seinem Spren-
gel lag die herabgekommene- Stadt Aquileja, und desshalb hiess dies Patriarchat
vorzugsweise das Patriarchat von Aquileja. Die Patriarchen selbst residirten
nicht in Aquileja, dessen Klima zu mörderisch und das Angriffen von der See aus
zu offen war, sondern seit 607 in Cormons, dann in Foroiulii, dem spätem Civi-
dale , der Hauptstadt ihres Sprengeis , zuletzt in Udine. 1751 wurde dies Pa-
triarchat aufgehoben. Das andere Patriarchat war das küstenländische ; seine
Patriarchen residirten seit 568 auf der kleinen, felsigen Insel Grado in den La-
gunen zwischen Aquileja und Triest , welche Insel natürlich von der See aus
weit leichter als vom Land aus beherrscht werden konnte; 1451 wurde dies
Patriarchat nach Venedig verlegt.
Der stete Kampf der beiden Patriarchate war desshalb bedeutend, weil das
binnenländische vom Kaiser unterstützt^wurde, wie auch viele seiner Patriarchen
vornehme Deutsche waren , dagegen das küstenländische ganz unter Venedigs
Macht stand und die meisten Patriarchen den vornehmsten venezianer Familien
angehörten. Die Vorrechte des einen alten Aquilejer Stuhls waren untheilbar ;
bei dem Kampfe der beiden Erben kam Alles darauf an, in welcher Weise die
W ILIIELM MEYER
Spaltung des einen Patriarchats in die späteren zwei sich vollzogen hatte. Die
eigen thümlichen Verhältnisse bedingen, dass man bei Prüfung dieser Sache die
Geschichte dieser Spaltung trennen muss von den später darüber gemachten
Sagen und Theorien.
I. Das Ende des Dreikapitelstreites in Venetien.
Der Kaiser Justinian setzt es durch, dass auf der Kirchenversammlung zu
Konstantinopel 553 Theodor von Mopsuestia, dann bestimmte Schriften des Theo-
doret und der Brief des Ibas an Maris verdammt wurden, weil von diesen Män-
nern zeitweilig oder an einzelnen Stellen gelehrt worden war, die menschliche
und die göttliche Natur seien in Christus streng geschieden gewesen. Nun hatte
schon das 4. Concil in Chalcedon 451 diese Lehren verdammt, aber weder jene
Personen selbst noch ihre ganzen Schriften. So entstand die Streitfrage, ob das
5. Concil die Beschlüsse des 4. nur sinngemäss ergänzt oder ob es dieselben ab-
geändert habe. Diese unbedeutende Frage erweckte den sogenannten Dreikapitel-
streit.
In den griechisch redenden Ländern , welche fast alle unter der Herrschaft
des Kaisers standen , fügte man sich bald der von Kaiser und Pabst stets fest
gehaltenen Erklärung, dass die Beschlüsse des 5. Konzils nur eine berechtigte
Ergänzung der Beschlüsse der früheren 4 Konzile seien. Anders in den la-
teinisch redenden Ländern. Das unwürdige Schwanken des Pabstes Vigilius,
mehr noch die Strenge, mit welcher der Kaiser ihn behandelt hatte, weckten hier
Widerstand gegen jene vom Kaiser veranlassten Beschlüsse der Konstantinopoli-
taner Kirchenversammlung von 553. Da aber Pelagius I. (556 — 561), der Nach-
folger des Vigilius, und die folgenden Päbste alle für jene 3 Verdammungssätze
eintraten, so erlosch nach und nach der Widerstand.
Merkwürdig ist , dass , während in den andern Ländern der lateinischen
Christenheit , besonders in Afrika , dieser Streit nach etwa 20 Jahren beigelegt
war, er in der Lombardei 50, in Venetien gar 150 Jahre gedauert hat.
Ueber die endliche Beilegung dieses Streites steht die bekannteste Nachricht,
dass 698 auf einer Synode in Aquileja die Schismatiker ihren Widerspruch auf-
gegeben hätten, zuerst bei Beda (de sex aetatibus mundi), ist also etwa 30 Jahre
später niedergeschrieben ; Beda's Nachricht ist dann wörtlich abgeschrieben von
Paulus Diaconus (Hist. Langob. VI 14) und ist von mittelalterlichen Chronisten,
wie Sigbert Gembl. in seiner Chronologia, und von vielen neuern Historikern,
z.B. Hefele (Conciliengeschichte II 923) nachgeschrieben. Doch ist dieser Bericht
des Beda, wie Piper (Zeitschrift für deutsche Theologie, 21, 1876, S. 100) be-
merkt hat, nur aus dem Liber pontificalis ausgeschrieben und das mit solchen
sinnentstellenden Aenderungen , dass er völlig werthlos , ja geradezu irrefüh-
rend geworden ist.
Der Liber pontificalis berichtet (bei Duchesne I 1886 S. 376): Huius
DIE SPALTUNG DES 1'ATHIARCHATS AQUILEJA Ö
(Sergii I 087 — 701) temporibus Aquilegensis ecclesiae archiepiscopus et synodus.
qui sub eo est (congregata haben Spätere fälschlich zugesetzt), qui sanetum quintum
universalem eoncilium utpote errantes suseipere diffidebant, eiusdem beatissimi
papae spiritalibus monitis atque doctriDis instrueti conversi sunt, eundemque ve-
nerabilem eoncilium satisfacti suseiperunt. et qui prius sub erroris vitio tene-
bantur , doctrina apostolicae sedis inluminäti, cum pace consonantes veritati ad
propria relaxati sunt. Beda, der meldet von einer 'sinodus Aquilejae facta'
hat den Liber missverstanden; Ducbesne sagt mit Recht: Beda prend synodus
dans le sens de reunion conciliaire, tandis qu'il signifie dans le Liber pontificalis
le corps des eveques suffragants d'Aquilee. Der Liber pontificalis , bei dem
J. Langen (Geschichte der röm. Kirche II 1885 S. 593) stehen geblieben ist,
meldet also nur, dass unter Sergius der Erzbischof von Aquileja und die ihm
unterstehenden Bischöfe zur Kirche zurückgetreten seien ; in den Worten 'syno-
dus qui sub eo est' hat das Präsens ziemliches Gewicht. Sicherlich spricht der
Liber pontificalis nicht von einer Synode zu Aquileja : diese hat es überhaupt
nicht gegeben und sie ist zu streichen. Unsicher ist, ob man aus den Worten
des Pabstbuchs folgern muss, dass der Erzbischof von Aquileja oder seine Bischöfe
selbst alle in Rom gewesen seien.
Viel mehr lehrt über das Ende des Dreikapitelstreites in Venetien ein Ge-
dicht, das ein Magister Stefanus nach Abschluss der Verhandlungen im Auf-
trag des Langobardenkönigs Cunincbert verfasst hat *). Dieser lebensvolle Be-
1) Dieses Gedicht ist erhalten in 2 aus Bobbio stammenden, dem Verfasser wohl gleichzeitigen
Abschriften in Mailand. Gefunden und zuerst herausgegeben ist es von Oltrocchi, der wahr-
scheinlich durch diesen Fund zu seinem Buche Ecclesiae Mediolanensis Historia 1795 (vgl. beson-
ders S. 624) veranlasst worden ist; denn wesshalb hätte er sonst jene Geschichte nur 'usque ad
finem schismatis Aauilejensis' d.h. bis zu diesem Gedicht geführt? Abgedruckt haben es dann
Troya, Storia d'Italia, Tom. 4 (Codice diplomatico), parte II und III no. 330 333 364 aus Oltrocchi,
Rei ff er s ch eid als unbekannt in den Wiener Sitzungsberichten 1871 S. 473 und L. Bethmaun
in den (Monumenta Germ Ilist.) Scriptores rerum Langob. S. 139—191 und am Schluss der Text-
ausgabe des Paulus Diaconus (Historia Langob.): Reifierscheid wie Bethmaun direkt nach den
Handschriften. Das Akrostichon Stefanus mg. hat erst II ol d e r -E gge r bemerkt; desshalb
findet man das Gedicht bald als Rhythmus de Synodo Ticinensi, bald unter Stefanus, bald (wie bei
Potthast) unter beiden Titeln citirt. Die früheren Herausgeber haben die bei Oltrocchi ganz
faesimilirte Handschrift C 105 inf. bevorzugt, Bethmaun die andere E 147 sup.. Die erstere lässt
Langzeilen ganz aus; der zweiten würde man durchaus sich anschliessen können, wenn nicht
eine Stelle (8 Z. 3, wo Aquiligenses sicher mit rex Cunincperctus vertauscht werden muss) bewiese,
dass beide Handschriften von einander unabhängig sind. Die Versform hat zuerst Bethmaun
erkannt; es sind rythmische Trimeter (vgl. meine Abhandlung Ludus de Antichristo in den Münch-
ner Sitzungsberichten 1682 S. 87 110. 22), also Laugzeilen zu je 12 Silben; die erste Kurzzeile zu
5 Silben hat fast immer den Wortaccent auf der vorletzten, die 2. Kurzzeile zu 7 Silben hat ihn
meistens auf der drittletzten Silbe (Str. 7, 3 muss natürlich heissen: 'quiuta qui totus coueordat
cum quatuor', dreisilbig, IUI die Handschriften, quarta Bethmann). Vor den Schlüssen der Kurz-
zeilen werden die Silben nur gezahlt; Hiatus ist gestattet. Wie oft, bilden je 5 rythmische Tri-
meter eine Gruppe oder Strophe mit starker Sinnespause; die Anfangsbuchstaben der 19 Strophen
ergeben das Akrostichon. (
(i . WILHELM MEYER
rieht meldet : Nachdem König Aripert (G53 — 661) die Arianer und sein Sohn
JSertarit (671 — 688) die Juden bekehrt habe, habe jetzt sein Enkel Cunincbert
durch Gewinnung der Aquilejer im Abendland volle Glaubenseinheit hergestellt.
Er habe sie in seine Residenz Pavia kommen lassen. Im Saal des Palastes hät-
ten die Rechtgläubigen (orthodoxi) ihnen an der Hand der anerkannten Schriften
der Väter die Ketzerei des Paulus und Pyrrus, des Theodor Ibas und Theodoret
nachgewiesen. Die Irrgläubigen (pravi) hätten, widerlegt, vom König verlangt,
die orthodoxi sollten beschwören , dass sie den Beschlüssen der 5. Kirchenver-
sammlung bessern Sinn zuschrieben als sie selbst bisher (melius quintam recipere
synodum) ; dann würden sie eidlich dieselbe annehmen. In der Kirche geschah
dies, worauf alle gemeinsam das Abendmahl nahmen. Auf Befehl des Königs
wählte jede Partei Gesandte an den Pabst ; unter den Paviensern war der Geist-
liche Thomas und der Rechtsgelehrte Theodoald1). Umgeben von seinen Bischöfen
empfing Sergius die Gesandten ; er nahm die Acten der Synode entgegen, welche
Damian, der Bischof von Pavia, abgefasst hatte , verkündete für König Cuninc-
bert Vergebung seiner Sünden und Hess die Schriften der oben genannten Männer
verbrennen.
Aus diesem deutlichen Zeugnisse sehen wir , dass die Hauptverhandlungen
auf einer Synode in Pavia geführt wurden, welche bis jetzt unbekannt ist, aber
von Piper mit Recht als entscheidend bezeichnet worden ist. Die Bedeutung der
Nachverhandlungen in Rom, wTelche allein in dem Liber pontificalis genannt wer-
den, ist zunächst nicht klar; klar ist nur, dass Oltrocchi seltsam irrte, wenn er
(S. 655) ausruft 'sie tandem hac Rom an a synodo, quam hactenus universi scri-
ptores, huius rhythmi lumine destituti, Aquilejensem appellavere, finis impositus
diuturno schismati et tarn periculoso' 2).
So viel lehrt uns das Gedicht des Magister Stefanus; aber es belehrt uns
nicht, wenn wir fragen, wesshalb denn dieser dogmatische Streit in der Lom-
bardei sich 30 und in Venetien gar 130 Jahre länger erhalten hat als in der
übrigen Christenheit. Da ich auf diese Frage auch bei den neuern Gelehrten
keine Antwort fand, lege ich Folgendes zur Prüfung vor.
In der Lombardei und in Venetien hielt der an und für sich inhaltslose
Dogmenstreit sich so lange, nicht weil diese Stämme besonders hartnäckige Glau-
nenseiferer gewesen sind, sondern weil hier politische Interessen sich mit den
religiösen Interessen verflochten haben.
Der griechische Kaiser und der Pabst kämpften seit 553 vereint für die Aner-
kennung des 5. Konzils, insbesondere der 3 Verdammungsartikel. Da, wo der Arm
1) Auch die Aquilejer sandten nur ausgewählte Gesandte; wie Damian, so wird auch der Erz-
bischof der Aquilejer gefehlt haben.
2) Diese Synode von Pavia heben auch hervor, Bethmann, Duchesneim Nachtrag zum
Liber pontif. II 565 und W. Mo eil er Lehrbuch der Kirchengeschichte II 1891 S. 80. Freilich,
wenn Moeller dazu Paulus bist. Laugob. VI 14 citirt und dabei Paulinus von Aquileja sich dem
.Sergius unterordnen lässt, scheinen Irrthümer und sogar ziemlich grobe mitzuspielen.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA <
des Kaisers kräftig war, wie in Afrika, war bis 565 der Widerstand erloschen.
Oberitalien wurde 568 von den arianisclien Langobarden unter Alboin erobert.
Ihr Interesse war es, dass die ihnen untergegebenen Lateiner mit Kaiser und
Pabst verfeindet blieben, und desshalb genossen die Gegner der 3 Kapitel einen
gewissen Schutz von ihrer Seite. Als mit Tbeodelinde eine entschiedene Katho-
likin Königin wurde, versuchte Gregor der Grosse, dem es in Venetien eben
schlecht geglückt war, im Jahre 593 zuerst durch gerades Vorgehen (Briefe IV
2/3) Theodelinde zur Anerkennung des 5. Konzils zu bringen, dann aber schlug
er den vorsichtigen Umweg ein, indem er nur seinen festen Glauben an das
4. Konzil betheuerte (Briefe IV 38/39). So wurde am Königshof und in der
ganzen Lombardei durch kluges Nachgeben bis etwa zum Jahr 600 das Ziel
erreicht, dass der Widerstand gegen das 5. Konzil vergessen wurde.
In dem östlichen Theile Oberitaliens ging es ganz anders und noch 100 Jahre
lang wurde hier der Streit um das 5. Konzil als Waffe für politische Kämpfe
benutzt. Die Langobarden hatten 568 den westlichen Theil des Erzbisthums
Aquileja besetzt ; der Erzbischof Paulus war mit dem Kirchenschatz nach Grado.
also auf kaiserliches Gebiet, geflohen, und dort blieb nicht nur er, sondern auch
alle seine Nachfolger. So stand der westliche Theil dieses Erzstiftes unter lan-
gobardischer , der östliche unter kaiserlicher Herrschaft. Beide Theile waren
Gegner des 5. Konzils. Dieser Widerstand wurde leidenschaftlich, als der Erz-
bischof Severus (586 — 607) zuerst in Ravenna streng behandelt oder misshandelt
und dann wieder 591 von Gregor, der hier zuerst die Gegner der 3 Kapitel an-
fassen wollte, nach Rom geladen worden war. Damals schrieben die Bischöfe
des ganzen Erzbisthums Aquileja an den Kaiser ; allein der Kaiser erhielt nicht
ein gemeinsames Schreiben, sondern 2: unam episcoporum civitatum et castrorum.
quos Langobardi teuere dinoscuntur, aliam Severi, Aquileiensis episcopi, aliorum-
que episcoporum, qui cum illo sunt (Monumenta. Epistolae Gregorii I 16b), d. b.
es schrieben gesondert die unter langobardischer und die unter kaiserlicher Herr-
schaft stehenden Bischöfe. Die ersteren drohen geradezu: nullns plebium nostra-
rum ad Ordinationen! Aquileiensis ecclesiae post hoc patietur accedere . . et dis-
solvetur metropolitana Aquileiensis ecclesia sub vestro imperio constituta , per
quam ecclesias in gentibus possidetis (ebenda epist. I 16 S. 20). Für dieses Mal
gebot der Kaiser dem Pabst, die Aquilejer in Ruhe zu lassen (ep. I 16b und II 45).
Doch im Ganzen wollten ja der Kaiser und der Pabst dasselbe, und so war
es natürlich, dass der östliche, kaiserliche Theil des Erzbisthums doch bald
bekehrt wurde. Als Severus 607 starb , wurde ein entschiedener Anhänger des
5. Konzils Erzbischof in Grado. Die Bischöle des westlichen, langobardi-
schen Theils konnten längst unzufrieden sein, dass ihr Erzbischof, statt mit
ihnen Leiden und Freuden der Langobardenherrschaft zu theilen. samt dem Kir-
chenschatz1) in dem kaiserlichen Grado sitzen blieb. Die kirchliche Zugehörig-
1) Solche Gedanken scheinen schon 628 den Fortunat beherrscht zu haben. Denn der grade n
ser Fatriarchenkatalog (bei Monticolo, Cronache Veneziane 1890 S. 10 und Scriptores rerum Lau
C
8 • WILHELM MEYER
keit ihrer Sprengel zu einem griechischen Erzbisthum war unnatürlich und die
Trennung wurde von den Langobarden gewiss begünstigt: der schon 591 ange-
kündigte Schritt wurde also jetzt, 607, von ihnen gethan und ein eigener Erz-
bischof für den langobardischen Theil des Erzbisthums gewählt 1), welcher wahr-
scheinlich damals, um gegen Rom und Konstantinopel selbständiger zu sein, den
hohen Titel 'Patriarch von Aquileja' annahm. Wie die politische , so war jetzt
auch die kirchliche Herrschaft der alten Diöcese Aquileja getheilt, welche Thei-
lung dann über 1000 Jahre bestand und wiederum alle politischen Vereinigungen
überdauerte. Diese politische und kirchliche Trennung des alten Erzbisthums
Aquileja wurde durch die dogmatische Grenzmauer, die Anerkennung oder Ver-
werfung des 5. Konzils, markirt. Das ist der Grund, wesshalb diese Grenz-
mauer so lange aufrecht erhalten wurde. Denn wenn heute der langobardische
Theil des Erzbisthums Aquileja das 5. Konzil anerkannte, so musste doch lo-
gischer Weise die Erzdiöcese wieder vereinigt werden : allein Aquila-Grado hatte
stets treu zum Pabst , die Bischöfe des neu-gegründeten Aquileja treu zu den
Langobarden gehalten, und Kaiser wie Langobardenkönig mussten dagegen sein,
dass ihre Unterthanen zu einem auswärtigen Erzbisthum gehörten. Diese sehr
realen politischen Gründe hielten die innerlich längst unbedeutende Kirchenspal-
tung so lange aufrecht, bis die Betheiligten , vor Allen der Pabst, einsahen, die
Trennung des alten Erzbisthums Aquileja sei nicht mehr rückgängig zu machen.
Anderseits hatte der Pabst zwar auf dem Konzil zu Konstantinopel im Jahre 682
noch einen Sieg errungen, indem sogar der Patriarch von Konstantinopel sich unter-
warf; allein auf dem Konzil zu Konstantinopel im J. 692 wurde schon der offene
Kampf der Griechen gegen die Herrschaft des Pabstes und der lateinischen Kirche
begonnen, und es wurde klar, dass der Pabst mit dem Westen Europas Frieden
haben müsse, wenn er in dem grossen Kampfe mit dem Osten siegen wolle.
So ergab sich die Regelung der aquilejischen Wirren. Die Hauptsache war,
ob der Pabst das Bestehen des neuen, langobardischen Erzbisthums Aquileja
de jure anerkannte. Dies muss der schwierigste Theil der Verhandlungen ge-
wesen sein. Die Langobardenkönige waren für die Anerkennung ihres Bisthums
gob. S. 394) berichtet in cap. 5: Fortunatus quidam hereticus pontificatum arripuit ; qui quintam
synodum mininie credens , . . totam aecclesiam Gradensem metropolitaDam denudans in auro et
vestibus vel ornamento, simul et ecclesias baptismales provinciae Hysteriae et xenodochia . ., fugam
in LoDgobardiam petiit, apud castrum Cormones super civitatem Aquilejam miliario XV. Auch
der Pabst Honorius will nicht ablassen vom Langobardenkönig 'res, quascunque secum aufugiens
abstulisse monstratur, expetere et repetere'. Und aus etwas späterer Zeit, um 660, erzählt Paulus
Diaconus (Hist. Langob. V 17) vom Friauler Herzog Lupus 'in Grados insulam cum equestri exer-
citu per stratam, quae antiquitus per mare facta fuerat, introivit et . . Aquileiensis ecclesiae the-
sauros exinde auferens reportavit'. Noch Poppo (1019 — 1044) will das alte Unrecht gut machen
(vgl. De Rubeis, Monumenta, Append. S. 10).
1) Paulus, hist. Langob. IV 33 defuncto Severo patriarcha ordinatur in loco eius Johannes
abbas patriarcha in Aquileja vetere cum consensu regis et Gisulfi ducis ; in Gradus quoque ordi-
natus est Romanis Candidianus antistes. . . Et ex illo tempore coeperunt duo esse patriarchae.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 9
sehr interessirt, desshalb übernahmen sie die Vermittlerrolle. DerDiacon Thomas,
welchen schon vorher der Bischof Damian mit unangenehmen Botschaften zum
Alachis gesendet hatte (Paulus Hist. Langob. V 38), war auch bei diesen Ver-
handlungen betheiligt. Die Schlussverse seiner Grabschrift (Troya IV, 3 S. 44
und de Rossi Inscr. II 171) :
Errore veteri diu Aquileia caeca
diffusam caelitus rectam dum rentieret fidem:
aspera viarum ninguidosque montium calles
calcans indefessus glutinasti prudens scissos
kann ich nicht verstehen von Reisen aus Pavia nach Aquileja und Umgegend, wohl
aber von Reisen aus Pavia über den winterlichen Apennin nach Rom. War
vomPabste das Fortbestehen des langobardischen Erzbisthums zugestanden, dann
konnten die theologischen Parade- Verhandlungen in Pavia und Rom vor sich
gehen. Das Ergebniss all dieser Verhandlungen lässt sich in die Worte fas-
sen : die Vereinigung der Kirchen hat die Spaltung des Patriarchats sanc-
tionirt.
Nur so kann ich die Verhältnisse und die Berichte ausdeuten. Die Sache
ist wichtig; denn hier liegt der dunkelste Punkt in der Geschichte des aquile-
jischen Patriarchats. Die Gründe sind also kurz folgende : der langobardische
Erzbischof, den Paulus Diaconus stets Patriarch nennt, war vorhanden; nach
dem Gedicht des Stefanus und dem Liber Pontificalis fanden unter Cunincbert
und Sergius Verhandlungen statt, in Folge deren die Aquilejer sich wieder an
den Pabst anschlössen; das langobardische Patriarchat besteht ruhig weiter: also
muss es damals vom Pabste anerkannt worden sein.
Es wäre sehr wichtig, die politischen Verhandlungen und Abmachungen zu
kennen, unter welchen das Fortbestehen des langobardischen Patriarchats neben
dem gradenser vom Pabst gestattet worden ist : allein es fehlen alle Nachrichten.
Der Pabst scheint sich auf die Duldung des Unvermeidlichen beschränkt zu ha-
ben. Er muss gewünscht haben, die Rechte des langobardischen Stiftes möglichst
zu beschränken und die des gradenser möglichst zu wahren1): allein der Lango-
bardenkönig hat jedenfalls das Gegentheil erstrebt, und so scheint eine feierliche
Regelung der Rechtsverhältnisse unterblieben zu sein. Das ist die Quelle vielen
Unheils geworden.
1) Es ist natürlich, dass dieser Theil der Verhandlungen dem I'abst unangenehm war, ebenso
die Leute, welche die Ursache dazu waren. Vielleicht deutet darauf auch Magister Stefanus. In
seinem recht überlegt geschriebenen Gedicht wird der Empfang der Gesandten des Königs geschil-
dert mit den warmen Worten 'gaudens recepit Thomam Christi ministrum , Theodoaldo
simul legum peritissimum' : dagegen der Empfang der Aquilejer mit der trockenen Bemerkung
'aderant quoque Aquileienses pariter'. Auch noch in den Schreiben Gregor's II. und III. (715
741) ist der Ton gegen den antistes Foroiuliensis stets wenig liebenswürdig.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. K. F. Band 2, e. 2 (
10 WILHELM MEYER
II. Das gefälschte Schreiben des Pabstes Gregor III. über die roemische
Synode von 731.
(Die roemische Synode von 731) *). Um 727 begann der Kampf des
griechischen Kaisers Leo gegen die Bilder Gottes und der Heiligen. War schon
der Pabst Gregor II. dem Kaiser entgegen getreten, so that dies nicht minder
sein Nachfolger Gregor III (731 — 741). Bereits im Jahre 731 hielt er eine
Kirchenversammlung in Rom, über welche der Liber Pontificalis (Duchesne I 416)
berichtet: maiore fidei ardore permotus synodale decretum cum sacerdotali con-
ventu quoram sacrosaneta confessione sacratissimi corporis beati Petri apostoli,
residentibus cum eodem summo et venerabili papa archiepiscopis id est Antonino
Gradense archiepiscopo Johanne archiepiscopo Kavenne cum ceteris episcopis
istius Sperie partis numero [XCIII] seu presbiteris sanetae huius apostolicae sedis,
adstantibus diaconibus vel euneto clero , nobilibus etiam consulibus et reliquis
christianis plebibus stantes (statuit?), ut si quis deineeps antiquae consuetudinis
apostolicae ecclesiae tenentes fidelem usum contemnens, adversus eandem venera-
tionem sacrarum imaginum, videlicet dei et domini nostri Jesu Christi et geni-
tricis eius semper virginis immaculate atque gloriosae Mariae beatorum aposto-
lorum et omnium sanetorum, depositor atque destruetor et profanator vel blasphe-
mus extiterit, sit extorris a corpore et sanguine domini nostri Iesu Christi vel
totius ecclesiae unitate atque conpage. Quod et subscriptione sua solemniter fir-
maverunt et inter cetera instituta probabilium praecessorum orthodoxorum ponti-
ficura annectenda sanxerunt.
Die Bischöfe haben zwar ausdrücklich die Eintragung des Beschlusses in
die Sammlung der rechtsgiltigen Verordnungen beschlossen 8), allein von diesem
Beschlüsse selbst ist uns Nichts erhalten. Dagegen wollen nicht weniger als
2 Nachrichten uns von andern Verhandlungen derselben Synode berichten.
Erstlich schreibt Mansi (Concil. XII 302) : Ad hoc idem concilium pertinent
1) Im Folgenden citire ich öfter : Johannes Diaconus , Chronicon Venetum , nach der
Ausgabe von Monticolo in Cronache Veneziane antichissime 1890 = Fonti per la storia d'Italia
no. 9; dann als Patriarchen-Katalog jenes kurz nach 1045 abgeschlossene Verzeichniss
der gradenser Patriarchen (mit Abschrift oder Regesten von Urkunden und einigen Stellen aus
Paulus Diaconus), welches in den Scriptores rerum Langobardicarum 1878 S. 392 — 397 als Chronica
patriarcharum Gradensium und bei Monticolo, Cronache Veneziane S. 5 — 16, als Chronica de sin-
gulis patriarchis Novae Aquileiae gedruckt ist; dann das Chronicon Gradense, eine Venezia-
ner-Gradenser Urgeschichte, an welche der Anfang des Patriarchenkatalogs geschoben oder ge-
schrieben ist, gedruckt bei Monticolo, Cronache S. 19 — 48 — 51. Hie und da citire ich Andreae
Danduli Chronicon, gedr. bei Muratori, Scriptores XII 1728 Sp. 9 — 524; Monticolo, I manoscritti
e le fonti della cronaca del Diacono Giovanni , im Bullettino dell' Istituto storico Italiano no. 9
(1890) S. 37—328.
2) Bencini vergleicht diese für die Geschichte der Canonistischen Sammlungen wichtige Stelle
mit jener im Leben des Pabstes Leo IV. (§ 545): quae etiam capitula, ut in futurum ab omnibus il-
libata serventur, post caetera decreta pontificum in sanetis canonibus iussit ascribi, quatenus omnes
episcopi huius auetoritatis exemplum ante oculos habeant.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUTLEJA 11
ca, quac in epitome Chronicorum Casinensium sub ementito Anastasii bibliothecarii
nomine vulgavit Muratorius (Scriptt. rer. ltal. II, 1 357). Scd de veritate eorum,
quae ibidem narrantur , vadetn nie neqnaquam constitno. Ita vero scriptor ille: Gre-
gorius 111. zelo s. religionis 'permotus synodali decreto cum sacerdotali conventu
corara sacrosancta eonfessione sacratissimi corporis B. Petri apostolorum principis
residentibus cum eodem summo et venerabili papa Antonino Gradensi archie-
piscopo uecnon Johanne Ravennatensi arcbiepiscopo' et aliis 'XCIII episcopis
seu presbyteris s. apostolicae sedis, astantibus' quoque 'diaconibus et cuncto clero
et nobilissimis etiam consulibus et' omni Romano populo, statutum est: 'Ut
si' Aurelianense.s et Cenomannenses sanctas reliquias , quas eatenus retinuerant,
reddere 'contemnerent', 'essent exortes a corpore et sanguine Christi et totius
ecclesiae unitate atque compage'. 'Post peractum igitur hoc constitutum misit
scripta commonitoria pro' requirendis sacrosanctis reliquiis , 'quae similiter, ut*
reliquorum antecessorum suorum contempta sunt. Agitur hie de restitutione
sacrarum reliquiarum S. Benedicti et SeJtoJasticae, quas in Gallias sublatas historicus
hie in superioribus narraverat.
Darnach wird dieser Synodalbeschluss oft erwähnt, z.B. von Hefele III2
S. 406, bei Jaffe Reg. no. 2233a, J. Langen Geschichte der roem. Kirche II 619:
Mansi folgend , bezweifeln sie alle die Echtheit dieser Nachricht. Ich habe
Mansi's Worte in ihrer ganzen Breite ausgeschrieben, damit man die grobe Fäl-
schung klar sehe und endlich von diesem Bericht nicht mehr spreche: Alles, was
ich mit ' ' drucken liess, ist wörtlich aus dem Liber pontificalis §. 192 und aus
dem Anfang des §. 193 ausgeschrieben.
Dagegen glaubte man in unserm Jahrhundert einen andern echten und treff-
lichen Bericht über einen Beschluss dieser römischen Synode von 731 gefunden
zu haben. Hormayr veröffentlichte 1808 im Historisch - statistischen Archiv für
Süddeutschland II S. 209—213 ein langes Schreiben Gregor's III. , worin jene
römische Synode und der Pabst nebenbei auch noch einen Streit zwischen den
Erzbischöfen von Grädo und von Aquileja über die Rechte ihrer Aemter und
über den Umfang ihrer Sprengel schlichten. Dieser lange lebendige Bericht
passte inhaltlich trefflich zu dem Einladungsschreiben Gregor's III. zu dieser
Synode (Jaffe 2232, Mon. Epist. III 703) und zu andern Schreiben Gregor des II.
Also haben Kandier, Codice diplomatico Istriano, zum Jahr 732 und Mon. Epist.
III 704 dieses Schreiben gedruckt, Jaffe unter no. 2234, J. Langen, Geschichte d.
röm. Kirche II S. 619 und Monticolo im Bullettino dell'Istituto storico Italiano IX
1890 S. 179 und 181 , dann in Fonti per la storia d'Italia IX 1890 S. 6 es als
echt registrirt und verwerthet (Hefele III2 S. 406 scheint es übersehen zu ha-
ben): überliefert ist es durch eine Abschrift des 12. Jahrhunderts (im Venezia-
ner Archiv: Atti diplomatici restituiti dal Governo Austriaco no. 140).
Dieses lange Schreiben scheint ein weisser Rabe unter den vielen langweili-
gen Pabstschreiben zu sein. Jene wiederholen meistens , ganz oder zum Theil,
nur die Sätze des Formelbuchs, des Liber diurnus , und höchstens bieten einge-
setzte Namen oder Sätze etwas Neues : dagegen hier wird in lebhafter Sprache
2* ^
12 WILHELM MEYER
eine dramatische Scene geschildert. Auf jener römischen Synode habe der Erz-
bischof von Grado, Antoninus, dem Erzbischof Serenus von Foroiulii Einbruch in
seine Erzdiözese vorgeworfen und den Urtheilsspruch der Synode angerufen ;
da habe Antoninus einen vom Pabst Pelagius bestätigten Synodal-Beschluss vor-
gelegt, wodurch die Verlegung des Sitzes von Aquileja nach Grado, Neu-Aqui-
leja, beschlossen war; dagegen Serenus habe nur ein Schreiben Gregor's II. vor-
legen können , worin er daran erinnert wurde , er sei nur unter der Bedingung
geweiht worden, dass er nie Ansprüche auf Theile des gradenser Erzbisthums
erhebe. So hätte Serenus abgesetzt werden können, doch habe der Pabst dem
Reuigen verziehen. Dagegen bestimmt der Pabst nach dem ßeschluss der roemi-
schen Synode, dass der Patriarch Antonin von Neu-Aquileja, d.h. von Grado, und
seine Nachfolger zu allen Zeiten Primas von ganz Venetien und Istrien sein
solle, dagegen 'Foroiulensem antistitem Serenum suosque successores Cormonensi
Castro, in quo ad praesens cernitur sedere in finibus Langobardorum, solummodo
semper esse contentos'. Dem Text folgen die Unterschriften von vielen Bischöfen,
Presbytern und Diakonen.
Das Verblüffendste an diesem Aktenstücke sind die zahlreichen Unterschrif-
ten ; diese verrathen aber auch auf das Deutlichste den ganzen Betrug. Es ist
eben nicht das beste Zeugniss für die Geschichtsforschung unseres Jahrhunderts,
dass Niemand gesehen hat, dass die ganze lange Liste, mit Ausnahme weniger
eingeschobener Namen , und das genau in derselben Reihenfolge abgeschrieben
ist aus einem bekannten Aktenstück, den Beschlüssen der römischen Synode von
721 (Mansi XII 262). Diese nimmt in den Handschriften der reinen Hadriana
den augenfälligen letzten Platz ein (Maassen, Quellen I S. 448) und desshalb
ebenso im Druck, z. B. bei Migne Bd. 67 S. 342. Hieraus können grobe Schreib-
fehler in der Fälschung verbessert werden ; z. B.
Maiorinus episcopus sancte ecclesiae Hispanie (*) subscripsi. Vinderedus
episcopus sancte ecclesie Polimartii (*) subscripsi.
Mansi: Maiorinus ep. eccL Polimartii subscripsi. Sinderedus (s. Hefele III2
S. 362) episcopus ex Hispania huic constituto a nobis promulgato subscripsi.
Sedulus episcopus de genere Scotorum subscripsi. Sergastus" episcopus
huic constituto a nobis promulgato subscripsi.
Mansi : Sedulius ep. Britanniae de genere Scotorum huic constituto a nobis
promulgato -subscripsi. Fergustus episcopus Scotiae Pictus huic constituto a
nobis promulgato subscripsi (vgl. Beilesheim, Geschichte der kath. Kirche in
Irland I 1890 S. 115).
Dieser Nachweis allein genügt schon, die grobe Fälschung klar zu legen.
Wer diese Fälschung im Einzelnen kennen lernen will, der mag noch die folgen-
den Ausführungen lesen.
Veranlassung und Zeit der Fälschung.
(Unklarheit der Rechtsverhältnisse). Die im Jahre 607 eingetretene
und um 695 sanctionirte Trennung des alten Erzbisthums Aquileja in 2 Theile
i
Dil: SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 13
war eine Folge der politischen und religiösen Vorgänge in Oberitalien im 6. und
7. Jahrhundert, allein unnatürlich war doch die zu enge Nachbarschaft zweier
Erzbisthümer. Das Erzbisthum des Friaul kam besonders zu Ansehn unter Pau-
lin, dem von Karl dem Grossen begünstigten Dichter und Bischof, und, nachdem
die Drau als Grenze gegen das Erzbisthum Salzburg festgesetzt war , hatte es
seine Kraft besonders in den Alpen; die Patriarchen waren kaiserlich gesinnt
und zum Theil vornehme Deutsche. Grado dagegen wurde mehr und mebr die
Puppe in der Hand der Venetianer; sein Stützpunkt war hauptsächlich das
Küstenland und die Patriarchen waren zum grössten Theile Söhne vornehmer
venezianer Familien. Zwischen den beiden Stiften herrschte zu allen Zeiten
Zwietracht, die oft zu heftigen Kämpfen führte. So waren zwei kräftige Gegner
der Aquilejer Maxentius und der Gradenser Venerius, deren Streit das Konzil
in Mantua 827 beschäftigte. Noch gewaltigere Gegner waren der Aquilejer
Poppo, ein kräftiger Deutscher und Parteigänger Konrad des IL, aber hoch be-
geistert für die Macht und den Glanz seines Bisthums Aquileja, anderseits der
Gradenser Ursus. der Bruder und zeitweise Vertreter des Venezianer Dogen.
In solchen Streitigkeiten handelte es sich meistens zunächst um einzelne
Rechte oder Besitzungen, und gefochten wurde meistens mit Soldaten mit Gunst
oder Geld. Allein es handelte sich doch auch um höhere Güter : das aquilejer
Bisthum war ja durch seinen Zusammenhang mit Marcus allen andern vorange-
stellt und das erste nach Rom , dann stand ihm aus ältester Zeit die geistliche
Herrschaft in Venetien und in Istrien zu ; die Frage war nun , ob diese Rechte
an Aquileja-Foroiulii (d. h. Cividale , seit 733 dem gewöhnlichen Wohnsitz der
Patriarchen) oder an Aquileja-Grado geknüpft seien.
Um diese Frage zu entscheiden , brauchte man geistige Waffen : Urkunden,
Geschichtswerke oder Aehnliches. Aber gerade damit stand es schlecht. Dass
vor den einbrechenden Langobarden um 568 der Erzbischof Paulus aus dem al-
ten Aquileja nach Grado geflohen sei, das stand aus Paulus Diaconus fest. Un-
klar ist, was Paulus Diaconus (III 26) über den Dreikapitelstreit in Grado um
589 berichtet. Vollends das wichtigste Ereigniss, die Spaltung des einen Erz-
bisthums in zwei um 607, wird von Paulus (IV 33) also geschildert: His diebus
defuncto Severo patriarcha ordinatur in loco eius Iohannes abbas patriarcha in
Aquileia vetere cum consensu regis et Gisulfl ducis. In Gradus quoque ordinatus
est Romanis Candidianus antistes . ., Candidiano quoque defuncto aput Grados
ordinatur patriarcha Epiphanius . . ab episcopis qui erant sub Romanis. Et ex
illo tempore coeperunt duo esse patriarchae. Dass jener langobardische Pa-
triarch 607 im Gegensatz zum Pabst gewählt wurde, dass alle die in Aquileja
zunächst folgenden Patriarchen Schismatiker waren, das verschweigt der Lango-
barde Paulus Diaconus. Den Rücktritt der Schismatiker zum Pabst kennt er
gar nicht ; er selbst weiss nicht , was er (VI 14) mit den aus Beda abgeschrie-
benen Worten berichtet : 'Hoc tempore sinodus Aquileiae facta ob imperitiam fidei
quintum universalem concilium suscipere diffidit, donec salutaribus beati papae
Sergii monitis instructa et ipsa huic cum ceteris Christi ecclesiis annuere con-
14 W I L H E L M M EYER
sentit', als ob etwa 695 auf einer Synode nur vorübergehende Glaubensstreitig-
keiten vorgekommen seien. Die Patriarclienreihe von Aquileja berichtet er
ruhig weiter , ohne um Schisma oder um Grado sich zu bekümmern ; so VI 33
mortuo Petro regimen Aqu. ecclesiae suscepit Serenus; VI 45 apud Foroiuli
sublato e rebus humanis patriarcha Sereno , Calistus . . adnitente Liutprando
principe Aquileiensem ecclesiam regendam suscepit. Damit stehen wir aber schon
in der Zeit, wo auch der langobardische Patriarch in Aquileia vom Pabst aner-
kannt ist und das geweihte Pallium empfängt.
Paulus war für die Urgeschichte der Patriarchate Aquileja und Grado den
Meisten die einzige, den Andern weitaus die bedeutendste Autorität; desshalb
ist nicht zu wundern , wenn Niemand später sich dessen bewusst war, dass das
langobardische Patriarchat von 607 eigentlich eine schismatische Neugründung
sei und dessen Patriarchen bis um 695 nur vom Pabst getrennte und nicht an-
erkannte Schismatiker gewesen seien. Die von mir in dem ersten Abschnitt be-
sprochene Zeit des Ueberganges war vollkommen im Dunkel. Der Langobarden-
könig hatte offenbar verhindert, dass sein aquilejischer Patriarch irgendwie hinter
dem in Grado residirenden kaiserlichen zurückgesetzt wurde. So war das Rechts-
verhältniss der beiden Erzstifter nicht klar festgesetzt worden. Zwei zufälliger
"Weise erhaltene Schreiben werfen darauf ein Licht. Zuerst war 723 der lan-
gobardische Patriarch Serenus , bald darauf sein Nachfolger Calixtus von dem
gradenser Patriarchen beim Pabst verklagt worden wegen Eingriffe in die Rechte
und Besitzungen des gradenser Stifts. Da schreibt Gregor IL 723 — also etwa
30 Jahre nach der Anerkennung des langobardischen Patriarchats — an den Se-
renus (Mon. Epist. III 699 und Bulletino dell' Ist. stör. ital. no. 9 S. 181): pre-
cibus eximii filii nostri regis flexi . . pallium tibi direximus interdicentcs et inter cetera,
ne umquam aliena iura invaderes aut temeritatis ausu usurpares iurisdictionem cuius-
quam, sed in Ms esses contmtus, quae usque hactenus possedisti, dann an die Gegner
des Serenus (Mon. Epist. III 700) ei concessum pallium sub hac esse conditione,
dilectissimi, sciatis; und vielleicht 10 Jahre später schreibt Gregor III. an Calixt
(Mon. Epist. III 707) dilectionem tuani . . pallii promeruisse benedictionem ; commo-
nitum te quoque, ut in sanctae nostrae ecclesiae scrincis testantur volumina, fuisse, ne
umquam anderes tu vel tue futuri successores aliena invadere iura aut temer itate qua-
iibet ülicila penetrare (jicrpetrare?). Daraus folgt, dass diese Päbste bei der Ueber-
gabe des Palliums an den aquilejer Patriarchen eine scharfe Warnung , fremde
Rechte nicht zu verletzen, hinzuzufügen pflegten; selbst diese Warnung lautete
nur allgemein und erwähnte nicht ausdrücklich das gradenser Erzstift. Die Haupt-
sache ist, dass schon um 730 im päpstlichen Archiv trotz Suchens kein Schrift-
stück zu finden war, worin die Rechtsverhältnisse beider Patriarchate fest be-
stimmt gewesen wären. Es waren also — diesen Schluss müssen wir machen
— auch 30 Jahre vorher bei der Anerkennung des langobardischen Patriarchats
vom Pabst- in keiner Weise jene Rechtsverhältnisse schriftlich bestimmt worden.
Selbst die eben genannten Drohbriefe der beiden Päbste Gregorius lagen bis
ins 10. Jahrhundert unbeachtet in einem Wrinkel des gradenser Archivs. Dess-
6
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUTLEJA 15
halb müssen wir sagen : seit etwa 750 fehlte jede Sicherheit, welches der beiden
Patriarchat die Vorrechte des alten aqnilejischen Erzbisthums zu beanspruchen
habe. Diese Rechtsunklarheit hat jene nie endenden Streitigkeiten veranlasst.
Da klare Beweise fehlten, so stützte man sich bald auf diese bald auf jene That-
sache, oder man benützte diese oder jene Notiz, um darauf Theorien aufzubauen.
Die Thatsachen sprachen nun sehr für die Langobarden. Ihr Patriarchat trug
den Namen Aquileja und die Stadt Aquileja lag in seinem Sprengel: dieser
leuchtenden Thatsache gegenüber konnten keinerlei sichere Urkunden oder Be-
richte angeführt werden.
Bei dieser Rechtsunsicherheit begreift es sich, dass die istrischen Bischöfe
das vom griechischen Kaiser schwach unterstützte gradenser Patriarchat ver-
lassen und dem mächtigen und von den langobardischen , dann von den fränki-
schen Königen und Kaisern begünstigten langobardischen Patriarchat sich an-
schliessen wollten. Hierum drehte sich oft der Streit. So schon um 770 (vgl. die
Briefe des Pabstes Stephanus III. und des gradenser Patriarchen Johannes in Mon.
Epist. III 715), dann noch entschiedener nach 800 *).
Die Rechtstheorie der Aquilejer2).
Paulin war von Karl dem Grossen begünstigt und , wie er von Aquileja
seinen Beinamen erhielt, so hat er zuerst dem Patriarchat Glanz verliehen. Doch
war er mehr ein Gelehrter und Dichter , und das ihm zugeschriebene Gedicht
über Aquileja's Schicksal (zuletzt in Monumenta, Poetae aevi Karolini I S. 142)
passt in Form und Inhalt zu seiner Art : mit Benützung des Jordanes (cap. 42)
wird lyrisch geschildert, wie das grosse und glänzende Aquileja von Attila zerstört
worden sei, wie jetzt nur einige Hütten dort stehen und in den Kirchen Füchse
und Schlangen hausen. Die Absicht diesen Zustand zu ändern (Paulin selbst re-
sidirte nur in Foroiulii) wird in keiner Weise ausgesprochen, ja das Gegentheil
verkünden die Worte 'iaces pressa ruinis, numquam reparabilis tempus in omne'.
Sein Nachfolger Maxentius war kein Dichter, aber klug und thatkräftig.
Karl der Grosse schreibt am 21. Dez. 811 'Maxentius patriarcha . . sedem quae
in Aquileja ci vi täte priscis temporibus constructa fuerat et ob metum vel
perfidiam Gothorum et Avarorum seu ceterarum nationum derelicta et destituta
hactenus remanserat, cum nostro adiutorio construere atque reparare ad pri-
stinum honorem expetit' (De Rubeis, Monumenta ecclesiae Aquil. Sp. 402).
Doch Maxentius ging weiter. Er fühlte sich durchaus als Nachfolger des
Apostels Marcus und des Hermagoras, wie auch seine Kirche von den Kaisern
genannt wird mater ecclesia S. Marci evangelistae et S. Hermagorae martyris
et pontificis. Da stand ihm der Patriarch von Grado mit den gleichen An-
1) Johannes Diaconus, Chronikon (S. 111 bei Monticolo, Cronache Veneziane, 1890): Istrienses
episcopi, qui consecrationis donum a Gradensi patriarcha more solito recipiebant, Aquilegensi me-
tropolitano, Longobardorum regis virtute coacti, sese subdiderunt.
2) Vgl. besonders Ughelli, Italia sacra, V 1720 8p. 1 — 142, und De Rubeis, Monumenta eccle-
siae Aquilejensis 1740.
6
IG • WILHELM MEYER
Sprüchen entgegen. Der Streit zog sich durch mehrere Jahre. Endlich erfocht
Maxentius auf der grossen Synode zu Mantua 827 einen glänzenden Sieg
(Acta bei Mansi XIV 494 und De Rubeis Sp. 414).
Hier ist die Theorie ausgesprochen , welche die Patriarchen von Aquileja
während des ganzen Mittelalters verfochten haben. Von dem Apostel Marcus und
von Hermagoras gegründet , sei Aquileja stets discipula und vicaria Rom's ge-
wesen ; Paulus sei nur vor den Langobarden nach Grado, einer befestigten Som-
merresidenz der aquilejer Patriarchen, geflüchtet (ad Gradum insulam , plebem
suam ; auch castrum Gradus genannt), durchaus nicht in der Absicht, dorthin sei-
nen kirchlichen Sitz zu verlegen. Dann seien Probinus, Helias und Severus dort
geblieben. Defuncto Sevcro ordinatur loco eius Iohannes patriarcha eo tempore, quo
Agilulplius rex Longobardorum regnabat ; in Gradu quoque ordinatus est haereiicus
Candidianus. Das ist Alles aus Paulus Diaconus genommen. Der Zusatz haere-
iicus bezieht sich nicht auf den Dreikapitelstreit , von dem Paulus kaum spricht
und an den hiebei nie ein aquilejer oder gradenser Geschichtschreiber gedacht
hat, sondern auf die Ausdeutung der "Worte des Paulus. Sagt dieser IV 33 'ex
illo tempore coeperunt duo esse patriarchae', so sagt unser Aquilejer 'hie enim
Candidianus nee per consensum comprovincialium episcoporum nee in civitate
Aquileia, sed in dioecesi et plebe Aquileiensi Gradus, quae est perparva insula,
contra canonum statuta et sanetorum patrum decreta ordinatus est' und 'Candi-
dianus hanc divisionem cum Graecis, qui Histriam tenebant, gessit'. Dazu wur-
den gegen Candidianus gerichtete Stellen aus einem Schreiben des langobardi-
schen Patriarchen Johannes an seinen König von 607 citirt (vgl. auch Monum.
Epist. III S. 693) : die Istrier und ihre Bischöfe seien damals von ihren Herren,
den Griechen, gezwungen worden, dem Candidianus sich unterzuordnen.
Es wird dann von der Synode anerkannt, dass Gradus nur eine plebs, eine
Gemeinde, von Aquileja sei; dass Aquileja immer domina Gradensium gewesen
sei , dass das alte Erzstift gegen die kirchlichen Gesetze getheilt sei und Aqui-
leja für alle Zeiten prima et metropolis bleibe, dass also auch die Istrier ihm
untergeben seien.
Wir haben jetzt allerdings durch sorgfältige Vergleichung aller Nachrichten
erkannt, dass vom Standpunkt des Kirchenrechts aus diese hauptsächlich auf dem
Schreiben des Patriarchen Johannes aufgebaute Darstellung der Ereignisse un-
richtig ist;' allein damals sah Niemand klarer und konnte Niemand klarer sehen,
und es ist ungerecht, der Mantuaner Synode absichtliche Verdrehung der ge-
schichtlichen Wahrheit vorzuwerfen. Es ist ja charakteristisch, dass im Mittel-
alter auch nicht die heftigsten Feinde Aquileja's die Irrgläubigkeit der aquilejer
Erzbischöfe nach Severus bis zur Wiedervereinigung mit Rom hervorgehoben ha-
ben; es hat sie eben Niemand gekannt.
Die in Mantua gebilligte Theorie der Aquilejer ist die Grundlage ihrer spä-
teren Erklärungen geblieben: 'etiam de Gradensi plebe proclamavit' ist in den
aquilejer Annalen das Prädikat manches Patriarchen. Zunächst erkannte nach
mehreren Verhandlungen Ludwig IL am 30. Üct. 854 die Beschlüsse der
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 17
mantuaner Synode vollständig an (freilich mit dem nahe liegenden Fehler, dass
hier der Patriarch Paulus vor Attila flieht) ; die aquilejer Rechtstheorie wird
ergänzt durch einen Vergleich Aquilejas und Grado's mit Mailand und Genua:
wie der Patriarch Paulus nach Grado , so sei damals auch der mailänder Erz-
bischof nach Genua geflohen ; allein post redditara pacem Mediolanensis ecclesia
pristinam recuperaverat dignitatem et Januensis episcopus sub Mediolanensi in
suffraganei ordine manserat : ebenso sei der Stuhl des Erzbischofs von Aquileja
nur vorübergehend in Grado gewesen , von Paulus bis Severus. Das blieb
der Standpunkt der Aquilejer Patriarchen.
Verdächtig ist das bis jetzt nur aus jungen Handschriften (vgl. Kehr in
Göttinger Nachrichten 1896 S. 280) bekannte Privileg Leo's VIII. vom Jahr 963
für den Patriarchen Rodoaldus (JafFe 3701) : von der vollständigen langen For-
mel des Liber diurnus no. 45 de usu pallii (S. 32 — 35 Sickel) ist nur der vor-
letzte Satz weggelassen und an seine Stelle gesetzt die Erklärung, 1) dass
das alte von dem h. Petrus dem Hermagoras übergebene (contraditum) Privileg
für Aquileja, welches die heidnischen Feinde verbrannt hätten, durch das gegen-
wärtige ersetzt werden solle; 2) volumus, ut inter omnes Italicas ecclesras
dei sedes prima post Romanara Aquileiensis habeatur; 3) dass die künftigen
Erzbischöfe nur aus Angehörigen der Aquilejer Kirche gewählt werden dürften.
Fast plumb erscheint diese Erfindung eines Stiftungsbriefes, den der h. Pe-
trus selbst ausgefertigt hatte und der dann verbrannt war. Die Anerkennung
des Stuhls als des ersten nach Rom stimmt freilich mit der Einleitung der man-
tuaner Beschlüsse, ist aber auch stets das Ziel der stolzen und mächtigen Pa-
triarchen Aquileja's gewesen1).
Diese Theorie war gegen die Patriarchen von Grado gerichtet. Ja, die
mächtigen Aquilejer wollten ihre zu Mantua anerkannte Theorie, dass Grado
eine von den Aquilejern angelegte Sommerresidenz , also nur eine Besitzung
(plebs, castrum) von Aquileja sei, oft zur Wirklichkeit machen : sie suchten sich
des Ortes selbst mit Waffengewalt zu bemächtigen. Allein mehr und mehr wurde
Grado von den Venezianern als ihre heimathliche geistliche Oberbehörde ange-
sehen, und mit der Macht Venedigs wuchs auch der Schutz, den Grado genoss:
in den Jahren 880 und 944 musste der aquilejer Patriarch dem Dogen versprechen,
seine Soldaten nie wieder Grado belästigen oder betreten zu lassen.
Im Jahre 1019 kam Poppo auf den Patriarchenstuhl, der eifrigste Vertre-
ter der Ansprüche Aquileja's, mehr noch als einst Maxentius. Er war ein vor-
nehmer Deutscher, ein kriegstüchtiger Mann und eifriger Anhänger des Kaisers;
zugleich schwärmte er für den ßuhm seines Patriarchats. Zunächst setzte er
ins Werk , was schon Maxentius gewollt hatte ; er erbaute und schmückte den
prächtigen Dom, der noch jetzt die Zierde des einsamen Aquileja ist, und ver-
mehrte das Domkapitel auf 50 Geistliche. Als dann Venedig durch innern Auf-
1) Prof. Kehr ist der Ansicht, alt sei nur der Theil, welcher aus dem Liber diurnus genom-
men ist, das Andere jüngerer Zusatz.
Abhandlgn. d. £. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, e. 3 £
18 WILHELM MEYER
rühr unmächtig war, besetzte er Grado selbst und brachte Reliquien und vielen
andern Schmuck — angeblich den von Paulus 568 nach Grado gebrachten Kirchen-
schatz des alten Aipileja — in seine Nenschöpfung. Freilich von den geeinigten
Venezianern wurde ihm bald Grado wieder entrissen.
Hartnäckiger war der Rechtskampf. Genau 200 Jahre nach der grossen Sy-
node von Mantua hat Poppol027 auf der glänzenden von Kaiser Konrad II. und
dem Pabst Johann XIX. geleiteten Kirchenversammlung in Rom, welche sich an
die Kaiserkrönung anschloss, sein Ziel erreicht ; die Beschlüsse der mantuaner
Synode wurden feierlichst bestätigt, unter Anderm mit den Worten: Popponem
patriarcham de Gradensi plebe cum suis pertinentiis ad ius Aquilegiensis eccle-
siae revestiri, ita ut pontificali sede ibidem (d.h. in Grado) prohibita perpetuis
temporibus sanctae Aquilegiensi ecclesiae dioecesis iure subjaceat (Mansi XIX
479; De Rubeis, Monumenta S. 514).
Hieran sich anschliessend gab der Pabst Johann XIX. im September 1027
dem Poppo ein Privileg (Jaffe 4085, Ughelli V 49), worin er nach dem Vorgang
des h. Petrus, des Eugen (in Mantua 827) und des Gregor (V.?) erklärt: pa-
triarchatum s. Aquileiensis ecclesiae fore caput et metropolim super omnes Italiae
ecclesias, quoniam ante omnes constitutam et in fide Christi fundatam fuisse cog-
noscimus, atque volumus sedem Aquileiensem in cunctis fidei rebus peculiarem
et vicariam et secundam esse post hanc almam romanam sedem . .. Nee non
confirmamus vobis . . insulam, quae Gradus vocabatur , cum omnibus suis perti-
nentiis , quae barbarico impetu ab eadem Aquileiensi ecclesia subtraeta fuerat et
falso patriarchali nomine utebatur.
Die Erregung jener Zeiten, wo nicht nur leibliche Güter und Würden leicht
gewonnen und verloren wurden , sondern auch Ansichten und Ueberzeugungen
leicht gewechselt wurden , spiegelt sich darin , dass wahrscheinlich *) schon im
1) Es handelt sich um ein vom Pabst Johann XIX. dem gradenser Patriarchen Ursus 'indictione
oetava' ausgestelltes Privileg (Ughelli V 1110/2, Jaffe no. 4063). Nach den Ausführungen Bresslau's
(Jahrbücher Konrad's II., Bandl S. 150/8 und 456/9, und in den Mittheiluugen d. Inst. f. öst, Geschichts-
forschung IX 1888 S. 27 Note) hat Johann, eben geweiht, im Spätsommer 1024 dem Poppo die
Insel Grado als Eigenthum zugesprochen (also auch das gradenser Patriarchat ihm untergeordnet),
dann im Dezember 1024 mit der bezeichneten Constitution (Jaffe 4063, Ughelli V 1110) den schänd-
lichen Betrug Poppo's mit den stärksten Ausdrücken gebrandmarkt und alle Rechte des gradenser
Patriarchen anerkannt, hat dann sicher in denselben Dezembertagen mit der im Original erhaltenen
Urkunde (bei Pflugk-Harttung Acta II S. 66 und bei Jaffe irrthümlich unter 1025 als no. 4070 ein-
gereiht) die Privilegien Grado's de statu ecclesiae suae sive de rebus ac possessionibus (nach einem
Muster aus der Ottonenzeit; vgl. Ughelli V 11 15 ab) bestätigt, allerdings höchst auffälliger Weise
in dem harmlosesten Ton , ohne jenen aufgeregten Rechtshandel auch nur mit einem Worte zu
berühren; schon 2* Jahre später hat dann Johann zuerst am 4. April und dann im September 1027
(Jaffe no. 4085) mit starken Ausdrücken wieder dem gradenser Patriarchen alle Rechte aberkannt
und dem aquilejer nicht nur das Eigenthum über Grado zuerkannt, sondern auch erklärt, dass die
Gradenser 'falso patriarchali nomine utebantur'. Diese Ordnung der Schreiben ist nicht ohne
Bedenken (etliche hat schon De Rubeis hervorgehoben), aber so lange das Schreiben Johann's XIX.
(Jaffe' 4063) als echt gelten muss, kann man wohl nicht anders auskommen.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 19
Spatsommer 1024 derselbe Johann dem Poppo das Eigenthum über Grado , also
auch die Unterordnung jenes Patriarchats zugestanden und im Dezember dessel-
ben Jahres als durch Lug und Trug erschlichen wieder abgesprochen hatte.
Jedenfalls hat die Macht Venedig's den Bestand Grado's gesichert und es haben
sich Päbste genug gefunden , welche die Ansprüche Grado's anerkannten. Der
Ruhm aber bleibt Poppo , dnss er durch seine glänzenden Bauten in der Stadt
Aquileja und durch sein unablässiges Pingen die Ansprüche Aquileja's am deut-
lichsten zum Ausdruck gebracht und Vorrechte für dasselbe errungen hat, wie
keiner seiner Vorgänger oder Nachfolger.
(Die Gradenser Rechtstheorie). Wie die Gradenser ihre Ansprüche auf
die Vorrechte des alten aquilejer Patriarchats begründen mussten, das zeigte die
Weise , wie ihre Gegner die ihrigen begründet hatten. Behaupteten die Aqui-
lejer, dass einst das Patriarchat nur vorübergehend nach Grado verlegt worden
sei, so mussten die Gradenser behaupten, dass es feierlich dorthin verlegt wor-
den sei; dann aber mussten sie das Aufkommen des neuen Patriarchats beleuch-
ten und gegebenen Falls die Anerkennung desselben durch die Päbste. Wie sie
im Lauf der Jahrhunderte diese Theorie entwickelten, das will ich darzulegen
versuchen.
Der Brief, mit welchem nach dem glänzenden Sieg der Aquilejer zu Mantua
der gradenser Patriarch Venerius sich an den Pabst wendete (Ughelli V 1105),
ist inhaltslos. Die Gradenser wehrten sich heftig gegen die Ansprüche Aqui-
leja's. Gregor IV. (827 — 844) fällte ein Urtheil in diesem Streite und Sergius IL
(844 — 847) hatte ebenfalls die beiden Patriarchen vorgeladen, um ihren Rechts-
streit zu entscheiden, und wollte ihn dann auf einer allgemeinen Synode behan-
deln (Jaffe 2592, Ughelli V 38). Aber die Aquilejer waren Günstlinge der Ka-
rolingeriursten und Ludwig IL bestätigte 854 einfach die mantuaner Beschlüsse.
In dieser Zeit, wo Ludwig und Lothar (sie regierten Italien gemeinsam von
844 — 855) mit dem Rechtstreit beschäftigt waren und ein entscheidendes Urtheil
von ihnen erwartet wurde, ist der Rythmus de Aquileja numquam restau-
randa geschrieben (Honumenta , Poetae Kar. II 150). Aeusserlich ist er eine
Antwort auf jene dem Paulinus von Aquileja zugeschriebene, lyrische Klage über
den Verfall der Stadt Aquileja (Poetae kar. I 142; oben S. 15), aber in Wahrheit
eine Vertheidigung der gradenser Rechte gegen die Aquilejer und gegen die
mantuaner Beschlüsse.
Der Verfasser ist ein Venezianer oder Gradenser: Venetiarum gens . . om-
nes nationes superat per gratiam . . firma fide; dagegen — so wird dem frühe-
ren Rythmus geantwortet — haben die Aquilejer durch ihre Ruchlosigkeit ver-
dient, dass in der Stadt jetzt nur Schlangen und Frösche hausen, und die Für-
sten werden gewarnt, dieselbe ja nicht wieder aufzubauen (Maxentius scheint
also seinen Bauplan von 811 nicht ausgeführt zu haben). Dem Betrüger Maxen-
tius habe Karl d. Gr. das Recht über Dalmatien zuerkannt, Ludwig der Fromme
es abgesprochen ; bei den Verhandlungen unter Ludwig des Frommen und
\i
20 WILHELM MEYER
Lotbars gemeinsamer Regierung (822 — 840) Labe stets die Gerechtigkeit den
Betrüger Maxentius überwunden (dass die mantuaner Synode 827 die Vorrechte
der Aquilejer über Istrien anerkannt hat, wird also übergangen); so möge auch
jetzt vor dem Richterstuhle Lothar's und Ludwig's IL Gott der Gerechtigkeit
Sieg verleihen (fac devincere fallaces), d. h. wohl, den Aquilcjern die Patriarchal-
rechte über Istrien absprechen lassen.
Die Rechtsfrage wird in Str. 15 — 19 berührt. Hat das Konzil von Man-
tua 827 gesagt , 607 sei Johannes in Aquileja richtig gewählt worden, dagegen
habe sich Candidianus in Grado, der aquilejischen Gemeinde, einen geleisteten
Schwur verletzend neben Johannes contra canonum statuta et sanctorum patrum
decreta zum Patriarchen wählen lassen und sei so haereticus geworden, so er-
widert der gradenser Dichter : Johannes abbas haereticus,
Reus et periurus suo Viuentio pontiflci
Iohannes Foroiulensi isdem in plebicula
erectus atque rebellis praesulatum. arripuit.
Dümmler verzeichnet hiernach einen 'Viventius patriarcha Aquilejensis' : allein
einen solchen gab's nie. Es ist vielmehr einfach zu schreiben : suo viventi pon-
tiflci1). Der Dichter hat also nur den Spiess umgedreht und die Beiwörter
haereticus, periurus, praesulatum arripuit, plebicula zurück gegeben : offenbar hat-
ten die Gradenser über die Geschichte der beiden Patriarchate noch nicht nach-
geforscht oder nachgedacht und hatten noch keinerlei Theorie sich gebildet.
Ein wichtiger Fortschritt zeigt sich zuerst in einer Urkunde Otto's IL vom
2. April 974. Otto IL erwähnt eine von seinem Vater auf der römischen Synode
am 2. Januar 967 für den Gradenser Patriarchen ausgestellte Urkunde und sagt
von jenen Synodal-Verhandlungen 'ubi tunc omnium invidorum inimititiam (iusti-
tiam hat die Handschrift) in synodo divini Spiritus praecibus praedictorum sancto-
rum (S. Marci et Hermachorae) atque confessoris papae Gregorii discretione, qui
lites sanctorum amborum patriarcharum disecans patriarchales concesseiat infulas
utrisque' usw. (Monum., Kaiserurkunden II, 1888, S. 86). Hieraus ergibt sich:
auf der römischen Synode im Jahre 967 wurde eine Urkunde eines Pabstes Gre-
gor vorgelegt, v/elcher Streitigkeiten zwischen den Patriarchen von Grado und
von Aquileja dadurch beendigt hatte, dass er beiden die Patriarchenwürde ver-
lieh. Damit kann nach meinem Wissen nur der schon öfter (S. 9 und 14) benützte
Warnungsbrief Gregor's IL von 723 gemeint sein, worin er dem aquilejer Pa-
triarchen Serenus erklärt, er sei nur unter der Bedingung geweiht worden, dass
er die Rechte seiner Nachbarn nicht antaste. Wie schon der Pabst Gregor III.
im päpstlichen, so hatten also um 967 die gradenser Patriarchen in ihrem eigenen
Archiv kein anderes Aktenstück , um die Entstehung der 2 Patriarchate zu be-
leuchten. Viel Licht spendete dieses Aktenstück freilich nicht.
1) Ebenso schreibt um 1008 Johannes Diaconus (bei Monticolo, Cronache veneziane S. 105, 3)
von Johannes, welcher den Stuhl des Fortunat eingenommen hatte, 'Iohannes patriarcha, qui . .
Gradensem sedem vivente pastore usurpavit, sinodali censura depositus est'.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 21
In denselben Urkunden der beiden Otto wurden weiterhin die Besitzungen
des gradenser Patriarchen im Reiche ausführlich bestätigt. Die betreffenden
Urkunden sah Dandolo und berichtet demnach über jene Synode von 9G7: 'visis
et discussis privilegiis Gradensis ecclesiae definitione synodi terminatum est, dic-
tam ecclesiam esse patriarchalem et metropolim totius Venetiae'. Das sind aber
die Anschauungen seiner Zeit, die alten Gradenser wagten noch nicht, solche
Folgerungen zu ziehen.
Doch unter dem immer mächtigeren Schutze Venedigs *) wuchs auch das
Selbstbewusstsein der gradenser Geistlichkeit. Je mehr die Aquilejer auf ihre
Rechte pochten, ja sogar Grado als ihr Eigenthum in Anspruch nahmen , um so
mehr mussten die Gradenser darnach streben , zu beweisen, dass die Ansprüche
des ursprünglichen aquilejer Patriarchat's rechtmässig auf das gradenser über-
gegangen seien.
Der kurze Bericht über die Provinzial- Synode des Patriarchen Elias in
Grado. Für die Gradenser war es die empfindlichste Blosse, dass sie die feier-
liche Verlegung des Patriarchats von Aquileja nach Grado nicht beweisen
konnten. Diese bedurfte zu allen Zeiten der schriftlichen Genehmigung des
Pabstes. Da die Gradenser eine solche Urkunde nicht hatten, so machten sie
sich eine. In dem Konzil zu Mantua 827 lasen sie die Aussage eines Graden-
ser's 'nihil amplius habere (von authentica exemplaria auetoritatum) nisi synodum
ab Helia Aquileiensi patriarcha in Castro Gradensi, quod plebs eius erat, aetam
fuisse, cuius initium est 'Cum in Castro Gradensi ac plebe sua Helias patriarcha
s. Aq. ecclesiae cum Marciano . . et reliquis consacerdotibus suis consedisset et
reliq.' . . item subscriptiones episcoporum huius synodi in plebe Gradensi aetae,
videlicet 'his gestis apud nos habitis subscripserunt: Marcianus Opitergiensis'
u.s.w. (folgen noch 17 Namen von Bischöfen und ihrer Sitze)2); von dem Be-
rathungsgegenstand dieser Synode war absolut nichts berichtet. Anderseits lasen
die Leute in ihrer Lieblingsquelle , der Historia Langobardorum des Paulus III
20, dass der Pabst 'Pelagius Heliae Aquileiensi episcopo nolenti tria capitula
Calchidonensis synodi suseipere epistolam satis utilem misit'.
Diese Andeutung über den Irrglauben des Elias verstanden sie weiter nicht;
sie machten aber schnell fertig die Erzählung zurecht: Elias habe eine Provin-
zialsynode abgehalten, in welcher über das Konzil von Chalcedon gehandelt, dann
aber die feierliche Verlegung des Patriarchats von Aquileja nach Grado mit
Wissen des Pabstes Pelagius (II 578 — 590) beschlossen worden sei; so sei also
1) Schon das Schicksal des Fortunatus beweist, dass die Venezianer es übel aufnahmen, wenn
der gradenser Patriarch zwei Herren, dem deutschen Kaiser und den Venezianern, zugleich dienen
wollte. Um 991 wandte der tüchtige Doge Peter viel Eifer an die Herstellung der Bauten Grado's.
2) Dieselben Namen findet man fast alle schon bei Paulus Diac. Hist. Langob. III 26. Wenn
diese im Mantuaner Konzil vorgebrachten Unterschriften gefälscht waren, so waren sie aus Paulus
zusammengestellt. Doch ist kein rechter Grund zu sehen, wesshalb diese magere Notiz gefälscht
sein sollte. 6
2 0
22 WILHELM MEYER
Grado die Metropole für ganz Istrien und Venetien geworden. Dieser Bericht
findet sich zum grössten Theil wörtlich übereinstimmend bei Johannes Diaconus
(ed. Monticolo in Cronache Veneziane 1890 S. 62 und 70) und im Patriarchen-
katalog (ebenda S. 5 — 8).
Die Unterschriften sind aus dem Konzil von Mantua abgeschrieben ; nur fin-
den sich z. B. ein Solatius episcopus Veronensis und am Schlüsse 3 Namen von
Presbytern zugesetzt. Die hineingedichtete Rede des Elias erwähnt die früheren
Zerstörungen Aquilejas durch Attila und durch die Ostgothen und die jetzigen
Verfolgungen durch die Langobarden; desshalb wolle er in hunc castrum
Gradensem nostram confirmare metropolym; das beschliessen die Bi-
schöfe einmüthig. Nach der Rede ist in beiden Texten (S. 7 und 70) der
Satz zu lesen 'facto libello statutae suae id est de memorata Calcidonensi
synodo et de hac ipsa sede'. Dieser Satz ist richtig im Katalog, wo S. 5 die
Vorbemerkung steht 'in qua synodo quicquid de Calcedonense concilio dubi-
tabatur pulsa dubietate confirmatum est ibique statuit ecclesiam Gradensem caput
et metropolim totius provinciae Histriensium et Venetiarum, cuius Veneciae ter-
minus a Pannonia usque ad Adam fluvium protelatur, aepistolamque pro his sta-
tutis accepit a b. papa Pelagio, consentientibus universis episcopis iam dictarum
provinciarum ; dagegen bei Johannes Diaconus ist (S. 62) nur die Vorbemerkung
zu lesen 'Helyas . . ex consensu b. papae Pelagii facta synodo viginti episcoporum
eandem Gradensem urbem totius Venecie metropolym esse instituit': also zeigt
das S. 70 stehende Wort 'memorata', dass Johannes die ursprüngliche Vorbemer-
kung gekürzt hat.
Aus all dem erhellt, dass als Antwort auf die Theorie, welche die Aquilejer
auf der Synode von Mantua 827 aufgestellt hatten, von den Gradensern aus den
Nachrichten des Paulus Diaconus und aus den Acten der Synode von Mantua
schon vor dem Jahr 1008 (damit endet die Chronik des Johannes Diaconus) ein
Bericht zusammengesetzt war , wornach mit Wissen des Pabstes Pelagius der
Patriarch Elias eine Synode in Grado abgehalten habe; daselbst sei über das
Konzil von Chalcedon verhandelt und (nach dem Katalog) demselben zugestimmt
worden ; vor allem aber sei die feste Verlegung des Patriarchats nach Grado
beschlossen und so Grado zur Metropole von ganz Venezien und (nach dem Ka-
talog) von Istrien erklärt worden.
[(Die vollständigen Synodalakten des Elias und der Brief des Pabstes Pe-
lagius *). Die Weiterentwicklung dieser Sage will ich , obgleich diese Ab-
schweifung die Darstellung unterbricht, hier skizziien. Bei Dandolo liegen die
vollständigen Akten der Synode des Elias vor sammt dem vollstän-
digen Schreiben des Pabstes Pelagius (JafFe no. f 1047), deren Text bei Mura-
tori Script. XII Sp. 98 — 102 nicht so rein zu sein scheint, wie bei Ughelli V
Sp. 27—29. Manche, wie noch 1890 Monticolo (Cronache Veneziane S. XXXIX
1) Vgl. hierüber besonders De Rubeis Sp. 236—256.
6
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQÜILEJA 23
[und S. 5) halten sie für echt. Der Dichter dieses Aktenstücks hat den obi-
gen Bericht, den er in der Fassung des Johannes Diaconus gekannt hat (vgl.
ex co n sensu b. apostolicae sedis papae Pelagii) verwoben mit dem Texte der
Synode von Mantua. Das zeigt klar die Contamination in den Unterschriften :
las er dort Fontegius episcopus Feltrensis, in Mant. Laurentins Fcltrinits, so machte
er daraus Laurentius presb. superveniens in sancta synodo, locum facicns viri beatis-
simi Frontci cpiscopi s. ecclesiae Feltrinac; las er weiter dort lngenuus episcopus
secunde Rede, hier an derselben Stelle Martinus Sabioncnsis, so machte er daraus
Martianus episcopus, locum facicns beatissimi Ingenuini episcopi s. ecclesie Sederestiae usw.
Den Anfang der Acta nahm er aus der Mantuaner Synode (s. oben S. 21),
dann dichtete er einen Anfang zur Rede des Elias und aus der Vorbemerkung
des Johannes Diaconus (S. 62) den sehr vorsichtigen Satz 'ex consensu b. aposto-
licae sedis papae Palagii , cui iam ante communi nostrum intuitu descripsimus
necessitudinem . . novamque eam vocare Aquilejam* (bei Ughelli steht dieser Satz
2 Mal) ; dann dichtet er flott weiter : zunächst lässt er den unvermeidlichen Lau-
rentius presbyter legatus apostolicae sedis das Privilegium Pelagii papae über-
reichen.
Die 7 ersten Zeilen dieses Privilegs schrieb er ab aus dem Liber diurnus
und zwar aus der Formel no. 90 (S. 119 Sickel), die 6 Zeilen am Schluss nicht
aus derselben Formel, sondern der Abwechslung halber aus der nächsten no. 91 ;
in der Mitte heisst es kurz und gut: quia petisti . . consentientibus sufFraganeis
. ., castrum Gradense totius Venetiae fleri . . etiam Istriae metropolim perpetuo
conflrmamus. Auf den erdichteten früheren Brief des Elias hin hatte also Pela-
gius sofort sein Schreiben fertig gemacht und wohl als braver Mann die Zustim-
mung der Suffraganbischöfe zu Allem als sicher vorausgesetzt.
So war der libellus de ipsa sede fertig : nun musste noch die andere Hälfte
de memorata Calci ledonensi synodo gedichtet werden. Da der Dichter aber gar
nicht weiss, dass es sich darum handeln sollte, ob das 5. Konzil die Beschlüsse
des 4., zu Chalcedon, geändert und gekränkt habe oder nicht, so wird dieser
Theil fad: zuerst macht der Dichter ein langes Gerede über das Konzil von
Chalcedon und einige andere, dann schiebt er das Glaubensbekenntniss an.
Die Unterschriften hat er, wie gesagt, combinirt , dazu am Schlüsse noch
eine Reihe von Presbytern gefügt, wobei unter Anderm aus den provinciales et
ceteri presbyteri des Johannes Diaconus ein Provincialis presbyter geworden ist.
Dies Stück ist wohl erst nach dem Abschluss des Patriarchenkatalogs (nach
1045) gedichtet worden; denn die Worte des Katalogs (S. 6) 'epistolam pro his
statutis accepit a beato papa Pelagio' können auf jene Notiz des Paulus Diaco-
nus gehen , dass Pelagius über das Konzil von Chalcedon an Elias geschrieben
habe ; hätte aber dem letzten, kurz nach 1045 arbeitenden Redactor des Katalogs
diese ganze Fälschung sammt dem Wortlaut des päbstlichen Privilegiums schon
vorgelegen, so müsste er sie bei ihrer ungemeinen Wichtigkeit breiter erwähnt
haben und hätte sich nicht mit der wörtlichen Abschrift des kurzen Berichtes
(S. 21) begnügt, der auch bei Johannes Diaconus wörtlich abgeschrieben ist.
24 ' WILHELM MEYER
[(Die Gradenser Sage Yermengt mit der ältesten Venezianer Sage). Die
Priestersage über die älteste Geschichte des gradenser Patriarchats genügte den
Venezianern nicht; sie wollten mit dem heimischen hohen Priesteramte enger
verknüpft sein und ihre Rechte an demselben fester begründet sehen. So ent-
stand die venezianer Sage von der ITebertragung des aquilejer Patriarchats
nach Grado. Sie findet sich in dem (mit Unrecht so genannten) Chronicon Gra-
dense (bei Monticolo , Cronache Veneziane S. 19 — 48 oder richtiger S. 37 — 43) ;
ein im 13. Jahrhundert gemachter Auszug der historischen oder rechtlichen
Hauptsachen ist bei Monticolo S. 55 gedruckt; der Inhalt des Chronicon (S. 19
— 48) findet sich auch in dem Chronicon Venetum (vulgo Altinate), das zu-
letzt Simonsfeld in den Monum. Scriptores XIV herausgegeben hat, S. 6 Z. 10 —
S. 14 Z. 39 (unsere Sage S. 11 Z. 40 bis etwa S. 14 Z. 4, vgl. S. 37), freilich hier
umgesetzt in ein barbarisches Latein , dessen Entstehung und Bestimmung mir
nicht klar ist *).
Nach der venezianer politischen Sage sind vor dem verwüstenden und
mordenden Attila um 450 die Bewohner der Küstenstädte des alten Venetiens
auf Inseln am Rand der Küste geflüchtet und haben so die Stadt Venedig, die
nova Venetia, gegründet. Diese Erzählung wäre nun sofort discreditirt worden,
wenn sich daran unsere Priestersage geschlossen hätte, die Patriarchen seien erst
5G8 vor dem Langobarden Alb o in von Aquileja nach Grado geflohen. Denn
wenn 450 die Patriarchen mit ihren Priestern in Aquileja bleiben konnten, wa-
rum nicht die Bürger? Desshalb wurde die kirchliche Urgeschichte Venedigs
hier zugeschnitten nach der politischen, d. h. die Verlegung des Patriarchats aus
Aquileja nach Grado wurde um jene Stufe hinaufgeschoben, aus der Zeit Alboins
in die Zeit des Attila.
Nachdem im Chronicon Gradense die politische Urgeschichte Venedigs oder
Venetiens geschildert ist, beginnt die kirchliche Urgeschichte. Universa Ve-
netiae populi multitudo kommt in Grado zusammen und baut sich einige Kirchen.
Dann tritt ein dux Beatus und (statt des Pabstes Pelagius und des Patriarchen
Elias) der Pabst Benedict (574 — 578) und der Patriarch Paulus auf; diese letz-
tern verband der Dichter nach dem Bericht in der Historia Langobardorum II 10
'Romanam ecclesiam vir sanctissimus Benedictus papa regebat : Aquileiensi quo-
que civitati eiusque populis beatus Paulus patriarcha praeerat'. Dieser dux
Beatus wandert nun mit etlichen Tribunen von Venedig nach Rom und, wie Elias
meinen Suffraganbischofen , so hält er dem Pabst Benedict eine Rede , worin er
die Geschichte der aquilejer Patriarchen von der Zeit des Nicetas, d.h. von der
Zerstörung Aquileja's durch Attila bis zur Gegenwart erzählt; bei jener Zer-
1) Waitz hat im Neuen Archiv II 375 die Widersprüche in diesem Chronicon Gradense be-
leuchtet und' behauptet, dass hier verschiedene Berichte roh zusammengeschoben seien: ich glaube
vielmehr, dass die Tendenz des Verfassers und die dadurch veranlassten Zudichtungen die Haupt-
sache sind ; auch diese meine Auffassung schliesst aus, dass Johannes Diaconus dies Chronicon zu-
sammengeschrieben habe.
6
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUTLEJA ZÖ
[storung Aquilejas sei Marcellian nach Grado geflohen, ihm seien dort Mareellin,
Stephanus, Maurus (Laurentius hat eine junge Abschrift, Maurentius das Chro-
nicon Altinate) und Macedonius gefolgt1 (ob diese Namen ausser in dieser Sage
sonst noch bezeugt sind, weiss ich nicht); diese 5 Patriarchen hätten ohne Er-
laubniss der Päbste in Grado residirt; der Dux bittet also, Benedict möge das
castrum Grado als Nova Aquileja und als die Metropole von ganz Venezien und
Istrien anerkennen. Mit Zustimmung von 39 Bischöfen thut das der Pabst ;
in dem Privileg wird ferner bestimmt — und das war ein Hauptziel der Fa'l
schung — , dass den Patriarchen Klerus und Volk wählen, dann der Dux einsetzen
und die Suffragane weihen dürften, endlich solle der Patriarch zum Pabst kom-
men ad pallii beuedictionem suscipiendam. Diese Theorie wird sogleich praktisch
probirt: der Pabst lässt einen seiner Cardinäle Namens Paulus von den Beglei-
tern des Dux wählen, vom Dux bestätigen, dann weiht er ihn als Patriarchen
und mit dem geweihten Pallium sendet er ihn mit jenen nach Neu- Aquileja, wo
er als 'primus per apostolicam concessionem novae Aquileiae ecclesiam rexit' 2).
Nun lenkt der venezianer Dichter wieder in die gradenser Priestersage ein.
Es folgen die Patriarchen Probinus und Elias. Der Brief des Pelagius und die
Synodalbeschlüsse über Verlegung des Stuhles oder über das Concil von Chalce-
don waren theils unbrauchbar für unsern venezianer Dichter, theils überflüssig:
also wurden jene Stücke in die venezianer Kirchengeschichte folgendermassen
umgedichtet 'congregata multitudine episcoporum a Verona usque Pannoniam (das
ist ein Ueberbleibsel aus jenem gelehrten Einschiebsel in der Vorbemerkung bei
Johannes Diaconus, oben S. 22: cuius Veneciae terminus a Pannonia usqnc ad Adam
fluvium protelatur) cunctoque Venetiae populo convocato, generalem sinodum cele-
bravit; auf dieser Synode selbst macht Elias kurzer Hand die kirchliche Organisa-
tion von ganz Venetien und Istrien ab: ordinavit sedecim episcopatus inter Foro-
gulensium nee non et Hystriae sive Dalmatiae partes . . ; in Venetia autem sex
episcopatus fieri constituit, welche ebenfalls nach des Pabstes Benedict Bestim-
1) In der Synode von Mantua wurde ebenfalls eine Reihe von 5 Patriarchen ausgeschieden:
jene, welche von der Uebersiedlung nach Grado bis zur Theilung des Patriarchats lebten.
2) Hier ist also Paulus .an die Stelle des Elias gesetzt. Daher mag folgende Unklarheit rüh-
ren. Das Privileg, durch welches Peiagius das Veronenser Kloster S. Maria in Organo unter deu
Aquilejer Patriarchen gestellt haben soll (gedruckt bei Ughelli V 697, bei Jaffe no. f 1053), ist
dem 'Paulo Aquil. ecclesiae patriarchae' zugesendet (der Anfang und die Mitte dieses Schreibens
sind aus no. 89 (S. 117) des Liber diurnus abgeschrieben, der Schluss zur Abwechslung aus no. -t;
S. 113. Hier unterschreibt auch 'Solacius Veronensis episcopus': ausser in dieser Fälschung kommt
dieser Solatius nur noch vor in den Unterschriften der Elias- Synode, aber nicht in deren alter
Ueberlieferung in den Acten der Mantuaner Synode von S27, sondern erst eingeschoben in der „
fälschten Umarbeitung bei Johannes Diaconus und im Patriarchenkatalog — oben S. 22 — und dann
in der Contamination beider Quellen bei Dandolo: also eine recht zweifelhafte Existenz). Dagegen
Pabst Johann XIX. in seinem 1025 für jenes Kloster ausgestellten Privileg (Biancolini, Notizie
storiche delle chiese di Verona V, I, S. 14; Jaffe 1071) kennt die Bedeutung des Elias besser und
spricht desshalb 2 Mal von der Zeit der Patriarchen Paulus uud Elias.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, e. 4
26 WILHELM MEYER
[mung durch Wahl des Klerus und Volks mit Bestätigung von Seiten des Dux
besetzt wurden; diese 6 venezianer Bisthümer und andere kirchliche Einrichtungen
des Elias in Venetien werden noch näher geschildert; damit endet diese vene-
zianer Sage vom Beginn des gradenser Patriarchats. Wie gesagt, ist sie um
1032 bereits schriftlich vorhanden.
Im Chronicon Altinate (Script. XIV S. 12 Z. 28— S. 13 Z. 1) ist ein Stück
aus dem Brief des Pelagius und der dazu gehörigen Fälschung, welche Dandalo
überliefert hat , zu lesen , natürlich ohne den Namen des Pelagius. Dies Stück
fehlt aber in der alten Fassung im Chronicon Gradense (S. 39 bei Monticolo),
ist also erst nach der Erdichtung jenes Aktenstücks in die Handschriften des
Chronicon Altinate eingeschoben worden *).
Die vollständigen Acten der Synode des Elias sind also wahrscheinlich erst
gegen Schluss des 12. Jahrhunderts erdichtet; die venezianer Sage vom Beginn
des gradenser Patriarchates war in den Kreisen der Geistlichen unbekannt: in
den offiziellen Streitigkeiten der beiden Patriarchate wird nur die oben S. 21/22
besprochene gefälschte Rede des Elias und die kurze Notiz über ein Sehreiben des
Pabstes Pelagius verwendet.]
Das Schlagwort: Neu-Aquileja. Die Ansprüche des langobardischen Pa-
triarchats waren zu allen Zeiten verkörpert in dem Namen 'Aquileja'. Solche
Schlagwörter nützen stets und überall mehr als solide Gründe. Die Gradenser
mochten ihre Lehre, das Patriarchat sei von Aquileja um 568 nach Grado ver-
legt und nie rechtmässig nach Aquileja zurückverlegt worden, noch so gut mit
Schriftstellen und Urkunden zu schützen versuchen, mehr wirkte es, dass sie
für ihre Theorie das Schlagwort 'nova Aquileia' erfanden. Nachdem einmal
die Theorie da war, lag dies Schlagwort sehr nahe. Paulus Diaconus gab (IV
33) schon Anleitung dazu, indem er von der Spaltung des Patriarchats sprechend,
den einen Patriarchen in Aquileia vetere, den andern in Gradus gewählt werden
lässt. Dann scheint um 1000 ein anderes, minder häufiges Schlagwort aufge-
kommen zu sein : 'nova Venetia'. der seit 450 auf den Inseln neu entstehende
Staat, im Gegensatz zur antiqua Venetia, der römischen Provinz, welche von
1) Dandolo bewährt auch hier seine Neigung zum Mischen. Er kennt die Venezianer Sage,
dass die Patriarchen schon vor Attila , er kennt die Gradenser Sage, dass sie erst vor Alboin von
Aquileja nach Grado geflohen seien: aber er weiss sich zu helfen. Schon zuerst lässt er vor At-
tila die Einwohner von Aquileja gerade nach Grailo fliehen (Muratori Scriptores XII Spalte 75)
'reliquias sanctorum cum parvulis ac mulieribus ac thesauris in castro Gradensi tutaverunt'. Wie
die venezianer Sage lässt er den Marcellian als den ersten in Grado sein (Sp. 81), doch erst von
seinem 4. Jahr ab ; auch der arme Marcollin und Stephanus müssen, damit jeder Sage Genüge ge-
schehe, zwischen Aquileja und Grado hin und her reisen (Sp. 83 A und 85 E 'aliquando in Aqui-
leja aliquando in Grado residens'); dagegen den unsichtrn Maurus-Maurentius-Laurentius lässt Dan-
dolo lieber ganz weg; die Geschichte des Macedouius und Paulus wird durch die (wohl aus dem
Decretnm Gratiani gewonnene) Ketzergeschichte abgeändert; dann endlich flieht (Sp. 94) Paulus vor
Alboin nach Grado. So wachsen Nachrichten Sagen und menschliche Berechnungen in einander
und dies Werden wiederholt sich immer wieder.
6
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 27
Pannonien bis zur Etsch reichte. Sagt Johannes Diaconus S. 150, 1 (bei Mon-
ticolo) 'Gradensis civitas, quae totius novae Venetiae metropolis fore dignoscitur',
so fordert die andere Stelle S. 64, 1 'Gradus dum constat altis menibus eccle-
siarumque copiis decorata sanctorumque corporibus fulta, quemadmodum antiquae
Venetiae Aquilegia, ita et ista totius novae Venetiae caput et metropolis fore
dignoscitur' geradezu die Entstehung des Schlagwortes 'nova Aquileia'.
Dies Schlagwort 'Neu- Aquileja' war den Gradensern so geläufig, dass die
Schreiber und Ausschreiber es oft einsetzten , wo ihre Vorlage es nicht hatte.
So heisst es im Katalog der Patriarchen (S. 9 Z. 17 bei Monticolo) einfach 'mortuo
ipso (Marciano) apud Gradum sepultus est . .', dagegen in einer andern, um 1032
geschriebenen Copie dieses Textes (S. 50 Z. 21 bei Monticolo) 'mortuo ipso apud
Gradus id est novam Aquileiam sepultus est'. Desshalb lässt sich die Zeit,
in welcher dies Schlagwort aufgekommen ist, nicht genau bestimmen. Bei Jo-
hannes Diaconus findet es sich S. 62, 13 : Paulus . . ex Aquilegia ad Gradus in-
sulam confngit . . ipsamque urbem Aquilegiam novam vocavit. in quo etiam
loco . . Helyas . . facta S3'nodo . . eandem Gradensem urbem totius Venecie me-
tropolym esse instituit. Diese Stelle hat zwar der Fälscher der vollständigen Acten
der Elias-Synode ebenso gelesen, da er schreibt 'hanc civitatem Gradensem no-
stram confirmare metropolim novamque eam vocare Aquilejam' , ja schon der
Dichter der venezianer Sage von den Anfängen des gradenser Patriarchats scheint
sie so gelesen zu haben, wenn er S. 38 (bei Monticolo) den Pabst Benedict bit-
ten lässt 'quatinus Gradense castrum novam Aquileiam institueret et totius Ve-
netiae et Hystriae metropolim ordinaret (ebenso S. 39 Z. 17 und 22; vgl. die Satz-
trümmer im Chronicon Altinate , Script. XIV S. 12, 2: inquisivit ad eum, nove
Aquilegie civitatis Gradense ut metropoli institeret secundum veteris Aquilegie
civitatis consuetudo, und Z. 26 : constituerunt, nove Aquilegie Gradus civitate me-
tropolitanum esset instituerunt totius Venecie fieri iramo et Ystrie). Aber den-
noch zweifle ich , ob die Worte 'ipsamque urbem Aquilegiam novam vocavit' in
der Handschrift des Johannes Diaconus nicht vom Schreiber zugesetzt waren;
denn 1) muss doch diese Namengebung erst an die folgende Elias-Synode geknüpft
werden, welche die Verlegung des Stuhls beschloss, 2) findet das Schlagwort 'nova
Aquilegia' in dem ganzen Werk des Johannes Diaconus sich nicht mehr. Desshalb
glaube ich kaum, dass dies Schlagwort schon vor 1008 erfunden war.
Nachdem dann Poppo begann , das alte Aquileja durch herrliche Bauten zu
schmücken, wurde in den Zeiten des heissesten Rechtsstreites um Grado und um
die Vorrechte des Patriarchats, also von etwa 1020 ab, das vom Dogen Petrus
glänzend erneuerte Grado sehr oft 'Nova Aquileia' genannt. Der Gebrauch die-
ses Schlagwortes wurde so allgemein , dass es sogar in Schriftstücke der päbst-
lichen Kanzlei Eingang fand; so schreibt Benedict a. 1044 (Ughelli V 1114)
1 Mal 'Ursonem Gradensis ecclesiae novae Aquileiae patriarcham' und Leo IX.
gebraucht in einem kurzen Schriftstück das Wort 3 Mal , ja er interpoiirt es
ohne Weiteres in den Beschluss der mantuaner Synode von 827. So ist natür-
lich, dass Leute wie Daudolo dieses Schlagwort freigebig gebrauchen.
28 WILHELM METER
Die Gradenser Theorie Ton der Spaltung des Patriarchats. Die Wahl
zweier Patriarchen im Jahre 607 berichtet der vorsichtige Paulus Diaconus also
(IV 33): ordiuatur in loco Severi Iohannes abbas patriarcha in Aquileia vetere,
cum consensu regis et Gisulfi ducis ; in Gradus quoque ordinatus est Komanis
Candidianus antistes. . . Candidiano quoque defuncto aput Grados ordinatur
patriarcha Epiphanius, qui fuerat primicerius notariorum, ab episcopis qui erant
sub Komanis. et ex illo tempore coeperunt duo esse patriarchae. Dass hie-
bei der Stieit um das 5. Konzil eine Hauptrolle spielte, verschweigt Paulus Dia-
conus. und Keiner der Späteren wusste es. Sie verwerthen nur den von Paulus
angedeuteten politischen Gegensatz. Der Aquilejer Maxentius führt in der man-
tuaner Synode die Andeutung des Paulus 'sub Romanis' dahin aus, dass die un-
ter den Griechen stehenden Geistlichen von Grado und von Istrien eben von den
Griechen gezwungen worden seien, den Candidianus zu wählen. Die Theorie
der Gradenser hat diesen Punkt erst später behandelt. Johannes Diaconus schreibt
(S.VG, 1 und 77, 21) ruhig den Paulus Diaconus ab. Dagegen in dem kurz nach
1045 abgeschlossenen Katalog der gradenser Patriarchen ist die neue, nach 1008
gefundene gradenser Erklärung der Thatsachen durch eine einfache Abänderung
der Worte des Paulus Diaconus gegeben : Iluic successit Candidianus patriarcha
in ipsa suprascripta metropoli Gradensi, sub cuius tempore per consensum Agiulfi
regis Longobardorum Gisulfus dux per vim episcopum in Foroiulii or-
dinavit Iohannem abbatem ; also ist nach der gradenser Theorie das 2. Patriarchat
auf den Befehl der Langobardenkönige geschaffen worden. Die Worte des Ka-
talogs sind von Dandolo Sp. 109c und 1106 etwas gemildert.
Die Anerkennung des 2. Patriarchats durch den Pahst, nach der gra-
denser Theorie. Schon vor der Zeit des Paulin von Aquileja stehen Päbste
in freundlichem Verkehr mit Patriarchen von Aquileja, wie mit Patriarchen von
Grado. Die Aquilejer bemühten sich nicht das aufzuklären, wohl aber die Gra-
denser. Von den oben geschilderten Verhandlungen zwischen König Kunincbert
und Pabst Sergius um das Jahr 695 hatte Niemand eine Ahnung; man suchte
also die Lücke mit Hilfe andern Materials zu überbrücken. Die Gradenser hat-
ten schon 967 (s. S. 23) ein Schreiben Gregor's IL an den Serenus von Aquileja
zur Hand, worin er gewarnt wurde, seinen Nachbarn, den Patriarchen von Grado,
nicht in seinen Rechten und Besitzungen zu stören; auf Bitten des Langobarden-
könig? sei ihm das geweihte Pallium vom Pabst gegeben worden, jedoch unter
der Bedingung, dass er die Rechte seiner Nachbaren nicht antaste (Monum. Epist.
111 723; Bullettino dell' Ist, stör. ital. IX 181). Dies Schreiben wurde 967
auf der römischen Synode nur verwerthet zum Schlüsse, dass langjährige Strei-
tigkeiten der beiden Patriarchate vom Pabst Gregor IL dadurch entschieden
worden seien, dass sowohl Serenus als sein Gegner vom Pabst die Patriarchats-
würde erhalten habe; diese wäre also der Gegenstand des Streites gewesen.
Später zogen die Gradenser aus jenem Schreiben weitergehende Schlüsse, und
zwar geschah dies schon vor 1008, da derselbe Urtext sowohl der Vorbemerkung
bei Johannes Diaconus als der im Patriarchen-Katalog zu Grund liegt. Johannes
C
DIE SPALTUNO DES PATEIARCOATS AQUILEJA 29
(S. 96. 13 bei Monticolo) giebt die Vorbemerkung 'hisdem etiam diebus Foroiu-
lensis ecclesia a Sereno presule regebatur, qui nullius iustitie expertus, sed usur-
pationis causa regia potestate ab apostolica sede pallium primus tantum-
modo acquisivit', dagegen der Katalog (S. 11, 22 bei Monticolo) 'huic suocessit
Donatus antistes, cuius tempore Longobardi per fortiam Sereno Foroiu-
lensis ecclesiae archiepiscopo a summa sede palleum detuleiunt apostolica pri-
mitus'. Dann folgt bei Jobannes Diaconus nur der Brief an Serenus selbst, im
Katalog ausser diesem noch ein (wohl vor 1045 im Archiv gefundener) Brief des
Gregor II. an die communitas, zu welcher der Gradenser Patriarch gehört (also
wohl an die Bischöfe seines Sprengeis) mit ziemlich derben Ausdrücken über die
Langobarden1).
'Per fortiam' ist ein Licht, das wohl erst der Redactor des Patriarchen-Ka-
talogs aufgesetzt hat (auch Dandolo kennt es nicht). Aelter ist der Zusatz 'pri-
mus' = 'primitus' : er ist ein voreiliger und unrichtiger, nur aus Gregor's Brief
gezogener Schluss: aber er ist wichtig. Denn Dandolo (Sp. 132 B) fühlt ihn aus
in den Worten 'pallium . . , quem a tempore renovationis suae sedis praedeces-
sores sui obtinere minime potuerunt', und auf ihm beruht es, wenn wir heutzu-
tage in Lehrbüchern lesen, etwa 716 (Gregor II 715 — 731) seien die Patriarchen
von Aquileja vom Pabst anerkannt und geweiht worden. Nach meinen obigen
Ausführungen (S. 8/9) muss schon um (395 das langobardische Patriarchat vom
Pabste anerkannt worden sein, aber es ist immerhin wichtig zu sehen, wie schon
die gradenser Gelehrten um das Jahr 1000 diese Schwierigkeit zu lösen versucht
haben 2).
Die definitiva Divisio zwischen Aquileja und Grado, d.h. das gefälschte
1) Der Text des 1. Briefes beruht hauptsächlich auf der Handschrift des Katalogs und der
des Johannes Diaconus (vgl. Monticolo im Bullettino dell' ist. stör. Ital. IX 177 — 184). In den
"Worten 'precipimus ne ullo modo terminos excedas ab eo possessos, sed solum sufficias in hisque
te habeto , que modo usque possedisti' kann 'ab eo' nicht mit dem Redactor des Katalog's inter-
pretirt werden als 'ne ullo modo terminos excederet a Donato presule Gradense possessos', sondern,
da die Handschrift des Johannes Diaconus 'ad eum' hat , so ist entweder 'adeo usque' oder 'adeo'
mit derselben Bedeutung zu schreiben. Im Schlüsse 'ut non . . apostolici vigore concilii si iuobe-
diens fueris conprobatus indiguus iudiceris' hat nach Monticolo die massgebende Handschritt des
Johannes Diaconus 'multus et indignus', woraus er 'inultus et indignus' macht ; schlechtere Hand-
schriften haben 'multum et indignus', woraus Dandolo 'ultione dignus' gemacht hat: am besten
würde dann wohl geschrieben 'inutilis et indignus', wozu vgl. Mon. Epist. III 693, 13 Caudidianus
inutilis. Der Ausdruck 'vigore' ist im gefälschten Brief Gregor's III. nicht verstanden.
2) 626 schreibt Pabst Ilonorius den Gradensern: au Stelle des ketzerischen entflohenen Erz-
bischofs Fortunatus 'Primogenium subdiaconum et regionarium nostrae sedis Gradensi ecclesiae
episcopali ordine cum pallii bcnedictione direximus consecrandum' (Monum. Epist. III Gl>5 Z. 2h).
Dieses Schreiben ist im Patriarchen- Katalog erwähnt und daran (S. 10 Z. 25 bei Monticolo) die
Bemerkung geknüpft 'et usque hodie pontifex civitatis Gradensis pallei benedictionem a summa sede
apostolica promeruit'. Da dieser Redactor des ratriarchen-Katalogs gewiss nicht angenommen hat,
die früheren Patriarchen hätten das geweihte Pallium nicht erhalten, so ist der Sinn dieses Zu-
satzes, den ich in keiner andern Schrift fand, mir dunkel geblieben.
6
30 WILHELM MEYER
Synodalschreiben Gregor's III. von 731. Obgleich das langobardische Pa-
triarchat in Gregor's II. Briefen, wenn auch nur mit einer Warnung, anerkannt
zu sein schien, so war doch nicht klar, welches die Rechtsverhältnisse beider
Patriarchate hatten sein sollen, insbesondere nicht, wer der Erbe und Rechts-
nachfolger des h. Marcus und Hermagoras sei. Da nun in Grado ein Schreiben
Gregor's III. lag, durch welches er den Gradenser Patriarchen Antonin zu einer
grossen Synode gegen die Bilderstürmer nach Rom lud und da auch das Pabst-
bucli meldete, auf dieser Synode sei im Jahre 731 Antonin zugegen gewesen, so
fabricirte ein Gradenser ein Schreiben Gregor's III. , worin dieser kurz andere
Verhandlungen der Synode und ausführlich den Rechtsstreit der Patriarchen von
Grado und von Aquileja und den entscheidenden Spruch darüber berichtet (s.
oben S. 11 und 12).
Dies Schriftstück ist nicht lange vor 1045 gemacht. Denn in dem Katalog
der gradenser Patriarchen (S. 14 Z. 7 — 17 bei Monticolo) ist es ausgeschrieben:
Hie Antoninus patriarcha ammonitus est a predicto Gregorio papa Romam ad sy-
nodum oecurrere , ad quam synodum Iohannes archiepiscopus Ravenas vocatus
est, propter imagines, quae in regia urbe deponere iubebant Leo atque Con-
stantinus augusti et inlicita coniugia1) quae per diversa loca fiebant.
post hanc vocationem Antoninus patriarcha. cum suis suffraganeis Romam ad
synodum perrexit ; in qua synodo definitive divisio facta est inter An-
toninum Gradensem patriarcham etSerenum Foroiulensem an-
tistitem iuxta edictum beati Gregor ii seeundi confirmante tota
synodo et sententiam anathematis in huius confirmationis vio-
latores dietante. Hier ist also um 1045 jenes gefälschte Schreiben aus-
geschrieben. Dandolo hat sonst mehrere Berichte, welche sich nur in diesem Ka-
talog finden , mit demselben gemeinsam (das Testament des Severus , die lange
Geschichte des Fortunat, des Primogenius Sendung nach Konstantinopel, den 2.
Brief des Gregor gegen Serenus, den Brief Gregor's über Petrus von Pola); er
kennt auch das Einladungsschreiben an Antonin , das sonst Niemand kennt, und
erwähnt es (Sp. 13GD) mit ähnlichen Worten wie der Katalog (huic synodo An-
tonius patriarcha cum episcopis Venetiae et Istriae, suffraganeis suis, per literas
papales admonitus personaliter adfuit et inconeussam fidem tenens quod gestum
est comprobavit) : allein selbst er weiss nichts von dem grossen Schreiben Gre-
gor's III. über die römische Synode von 731. Von diesem weiss also nur der
Redactor des nach 1045 abgeschlossenen Patriarchen-Katalogs. Desshalb müssen
wir die Fälschung ganz in die Nähe dieses Redactors rücken; anderseits dürfen
wir wohl schliessen , dass Dandolo eine etwas verschiedene Redaction des Pa-
triarchen-Katalogs benützt hat.
1) Mansi (XIV 262) überschreibt die Acta der Synode von 721 (doch wohl nach seinen Hand-
schriften) mit 'adversus illicita coniugia', unser Fälscher dunkel 'inlicitas quasdam coniunetiones',
dagegen der Redactor des Patriarchenkatalogs wiederum 'illicita coniugia': ist das nicht merkwür-
diger Zufall , so ist der Fälscher des Gregorbriefes und der Redactor des Patriarchenkatalogs ein
und dieselbe Person.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 31
Die Fälschung ist nicht besonders geistvoll. Der Synodalbeschluss lautet
dahin : 1) ut novae Aquilegiae (dieses Schlagwort ist 3 Mal von dem Fäl-
scher gebraucht) id est Gradensis civitatis Antoninus patriarcha suique succes-
sores tocius Venetiae et Istriae primates perpetuo habeantur , 2) Foroiulensem
antistitem Serenum suosque successores Cormonensi castro , in quo ad praesens
cernitur sedere , in finibus Longobardorum solummodo seraper esse contentos *).
Beides hilft keinen Schritt weiter, als der Brief Gregor's II. , höchstens dass es
jetzt durch eine grosse Synode bestimmt wird. Ob ferner der Fälscher wohl
das Schreiben desselben Gregor III. an den Callistus , den Nachfolger des An-
tonin gekannt hat? Da findet Gregor in seinem Archiv nur das allgemeine Ver-
sprechen des Callistus, seine Nachbarn nicht zu belästigen, diesen feierlichen Sy-
nodalbeschluss und sein langes Schreiben darüber hat Gregor III. völlig verges-
sen. Endlich ist es doch ein seltsames Schwanken, dass früher gedroht wird,
wenn Serenus fremde Rechte kränke, mache er sich 'gratia collati pallii indignum',
jetzt aber , wo ers gethan hat , er zwar zuerst sogar 'sacerdotali officio nuda-
tus' erklärt, dann aber gar nicht bestraft wird. Diese und ähnliche Schwächen
der Fälschung waren vielleicht den Gradensern selbst zu offen und zu stark und
haben damals die weitere Benützung des Schriftstücks verhindert2).
1) So ist doch wohl zu interpungiren; 'castro, in quo ad praesens cernitur sedere iu finibus
Longobardorum, solummodo semper esse contentos' gibt doch eine unglaubliche Uebertreibung; auch
Z. 9 steht contentus . . in eo sc. Foroiulensi episcopatu.
2) Ich freue mich, den oben S. 12 gemachten Vorwurf zurücknehmen zu müssen. Während
der 4 Bogen dieser Arbeit gesetzt wurde, sah ich, dass das Schreiben Gregor's III. über
die römische Synode von 731, welches in den Monumenta 1892 Epistol. III 704 — 706 als echt ge-
druckt ist, ebenda bereits 20 Seiten nachher von K. Rodenberg als Fälschung erklärt wor-
den isf: Pag. 704 epistola 14 spuria est, quam Gradensis quidam ex actis synodi Romanae
a. 721 vel 722 et ex iis, quae scivit de synodo a. 731, composuit. Antoninum patriarcham Graden-
sem synodo a. 731 de imaginibus (cf. pag. 704 lin. 19) celebratae interfuisse legit in Libro pon-
tificali, vita Gregorii III ed. Duchesne I 416; vide supra epistolam no. 13; ex actis synodi a. 721
vel 722 (Mansi XII 261), in qua de inlicitis coniunctionibus (cf. pag. 704 lin. 21) neque vero de
imaginibus tractatum est, sumpsit initium epistolae et testes subscriptos, quos per nonnullos epi-
scopos, qui de provincia Romana non erant, complevit. . . Epistola no. 14 tempore concilii Man-
tuani a. 827 nondum exstitit ; Mansi XIV 497. Auetor Chronici patriarcharum Gradensium ea usus
est, Scriptores rerum Langobardicarum 396.
Ich darf demnach den geplanten letzten Abschnitt dieser Arbeit mit einem Nachweis der Fäl-
schung im Einzelnen weglassen und mich auf einige Bemerkungen beschränken. S. 704 Z. 13
ist zu bessern: ne de creditis frustratis quod absit animabus, dann pastorem. S. 704 Z. 19 — 21
hätte der Fälscher das Praesens gebrauchen müssen. S. 704 Z. 19: die Vorlage, welche S. 703
Z. 16 zu bessern ist sauetorum imagines ac (ab Handschrift, ad Herausgeber) ipsius domini . .
instar (= imagines) omnes, hat auch der Fälscher nicht verstanden. S. 705 Z. 2 Pelagii au-
ctoritate und viginti: vgl. Johannes Diac. S. 62 Z. 16 und 13. S. 705 Z. 9 sed esset quasi
non aeeepisset : das Citat in Gregor's II. Brief (S. 699 Z. 6) ist entweder nicht erkannt oder nicht
verstanden. S. 705 Z. 13—18: in der Vorlage bessere S. 701 Z. 19 'sed semper retineat me-
moria nimia compassione iuisse (fuisset Handschrift) concessa'. S. 705 Z. 20 tocius Venetiae
et Istriae, quae nostra sunt confiuia : daran durfte 20 oder 40 Jahre vor Pippins oder Karls Sehen-
32 WILHELMMEYER
Die gradenser Theorie in den päbstlichen Schreiben. Die gradenser
Theorie, das Patriarchat von Aquileja sei auf der Synode des Elias mit Zustim-
mung des Pabstes Pelagius endgiltig nach Grado verlegt worden , das langobar-
dische Patriarchat sei um 607 durch das Eingreifen der Langobardenkönige ent-
standen und erst der Patriarch Serenus sei um 710 vom Pabst anerkannt wor-
den , wurde hauptsächlich in den heftigen Kämpfen des Poppo und Ursus von
1019 — 1044 ausgebildet und fest formulirt; es ist interessant zu sehen, wie diese
Theorie sogar in die päpstlichen Privilegien eingedrungen ist, eine Thatsache,
welche ebenfalls beweist, dass der Wortlaut dieser Privilegien oft auf den vom
Bittsteller gelieferten Angaben und Wendungen beruht. Von den päbstlichen
Privilegien für Grado aus den Zeiten vor dem Jahre 1000 scheinen wir zwar
Vieles zu wissen, in Wahrheit wissen wir davon fast nichts.
[Dandolo gibt in seinem Chronikon (Muratori, Scriptores XII) Nachricht
von vielen Privilegien vor 1000 (von ihm hängt hier, wie sonst oft, Ughelli voll-
ständig ab): Sp. 152/3 Leo III. für Fortunat mit vollständigem Text (Ughelli
1094, Jaffe 2512); Sp. 170b Gregor IV. (beruht wohl nur auf Dandolo's Con-
jectur; fehlt bei Jaffe?); (von Sergius IL notirt Dandolo Sp. 178b nur ein
Einladungsschreiben, Jaffe 2593); Sp. 178d Leo IV. a. 852 (Jaffe 2616, erhalten
im Codex Trevisaneus); Sp. 180b Benedict -III. a. 858 (Jaffe 2672, erhalten im
Cod. Trevis.); Sp. 187d Hadrian III., Jaffe 3400; Sp. 194b Bonifatius VI.,
Jaffe 3509; Sp. 195a Romanus, Jaffe 3517; Sp. 195b Theodor IL, Jaffe 3518;
Sp. 197d Anastasius IIL, Jaffe 3552; Sp. 209c und Sp. 210b Johann XIII.
(Ughelli 1108c; fehlen bei Jaffe?). Den Inhalt des ersten Schriftstücks von
Leo III. gibt Dandolo (Sp. 152 = Ughelli 1094) vollständig; von dem 2. Stück,
Gregor's IV., gibt er (Sp. 170 b) als Inhalt an 'Gradensem sedem approbando,
Venerio patriarchae pallium concessit, utendum in diebus resurrectionis, natalitiis
apostolorum, S. Iohannis Baptistae, assumptionis BVMariae et nativitatis domini
et solemnitatibus ecclesiae suae et anniversariis ordinationis eins' ; bei allen fol-
genden Stücken gebraucht Dandolo für die Inhaltsangabe die stehende Formel 'pal-
lium recepit utendum diebus praodecessoribus suis concessis', welche Formel zu-
recht geschnitten ist aus dem Sp. 152 vollständig mitgetheilten Privileg Leo'sIII.
'pallium . . dedimus quo ita uti memineris, sicuti praedecessores nostri tuis prae-
decessoribus concessere'.
Diese Angaben Dandolo's sind für uns werthlos ; er hat höchstens die 3 Pri-
vilegien gesehen, welche uns jetzt im Codex Trevisaneus erhalten sind1); aus
kung kein Pabst denken ; er war so gut griechischer Untertban wie die Istrier. S. 705 Z. 23 :
Lest frucht aus Paulus Diac. Hist. Latigob. VI 51 'sedem non in Foroiuli, sed in Cormones habe-
bant*. Die Unterschriften der Synode von 721 sind jetzt zu vergleichen auch mit jenen der
Synode von 732 bei De Rossi, zuletzt Inscr. Christ. II 416, und Otto Günther im N. Archiv XVI
1891 S. 235. Hei Mansi ist Einiges zu bessern: so ist am Schlüsse umzustellen: Muscus (d.h.
Moschus) diac. und Gregorius diac; die Fehler der Fälschung zu vergleichen, lohnt sich nicht: die
Zahl der Handschriften ist zu gross.
1) Die Kenntniss dieser Texte verdanke ich der freundlichen Mittheilung meines Kollegen Kehr.
Vielleicht ergibt seine Durchforschung des aquilejer Materials noch andere Erkenntnisse hierüber.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 33
[diesen hat er Einiges genommen : alles Uebrige ist nur sein Kunstgriff. In den
Privilegien der Päbste Johann XIX. und Benedict IX., welche er beide kennt und
Sp. 237e 238a_c und Sp. 242c ausgenützt hat, las er nur die Namensreihe der
Päbste, welche den gradenser Patriarchen Privilegien ertheilt hätten. Er hatte nun
zunächst vor sich das Privileg Leo's III. vom 21. März 803 für Fortunat (Jaffe
2512, Trevisan. fol. 15 und 17, beginnend Diebus vitae tuae tantummodo. Offi-
cium sacerdotis usw., wörtlich gleich der Formel des Liber diurnus no. 46 S. 35,
10 — 37,5 und S. 38, 6 — 8 bei Sickel); dieses Stück schrieb er vollständig ab
unter Leo III. Dann sah er ein, dass die Reihe bei Johann XIX. und Bene-
dict IX. 'Stephani Gregorii Leonis Sergii' falsch sei ; denn zwischen Stephan III.
768—772 und Leo III. 795—816 gibt es keinen Gregor (III 731—741, IV 816—
847). Hier muss jedenfalls umgestellt werden und zwar ziemlich sicher 'Gre-
gorii' vor 'Stephani', indem gemeint war das wichtige Schreiben Gregor's IL
(715 — 731) an Serenus , welches die Gradenser schon 967 Otto dem I. vorgelegt
hatten und auf welches noch 1053 Leo IX. seine ganze Constitutio aufgebaut
hat. Dandolo aber schlug aus Irrthum einen andern Weg ein. Er las nemlich
das uns im Trevisaneus Bl. 54 erhaltene Privileg Leo's IV. vom 1. April 8o2
für Victor (Jaffe 2616) und das völlig gleichlautende Privileg Benedict's III. für
Vitalis vom 30. März 858 (Jaffe 2672, Trevis. Bl. 47); deren Wortlaut stimmt
nach der Eingangsformel 'Diebus vitae tuae tantummodo' wörtlich mit der For-
mel des Liber diurnus no. 45 S. 32 (bei Sickel): Si pastores ovium etc., doch
statt der Worte 'non aliter . . uti concedimus quam decessores prodecessoresque
tuos usos esse incognitum non habes' steht hier: non aliter . . uti largimur, nisi
solummodo in die s. ac venerandae resurrectionis domini nostri Iesu Christi seu
in natalitiis s. apostolorum atque beati baptistae Iohannis necnon in assumptione
beatae dei genitricis Mariae simulque in dominicae domini dei nostri nativitatis
die pariterque in solemnitatis ecclesiae tuae die , verum etiam et in ordinationis
tuae natalitio concedimus die ; sicuti a beatissimo predecessore nostro domno
Gregor io huius almae sedis presule sancitum est; in secretarium vero induere
tua fraternitas pallium debeat et ita ad missarum solemnia proficisci; et nihil
sibi amplius ausu temerariae praesumptionis adrogare ne, dum in exteriori habitu
inordinate aliquid arripitur, Ordinate etiam quae licere poterant amittantur.
Dandolo meinte, den gesuchten Gregor hier gefunden zu haben, was sicher
falsch ist1), setzte also Sp. 170b die oben ausgeschriebene Notiz ein, dass Gre-
1) Unter den früheren Pallienverleihungen fand ich nur eine, welche diesen Zusatz hat: es ist
Jaffe 2580, gedruckt bei Kleinmayru, Nachricht von Juvavia, Anhang S. 82. Der ganze Text stimmt
vollständig mit den gradenser Privilegien Leo's IV. und Benedict's III. überein, also auch der eben
ausgeschriebene Zusatz. Da nun dies Privileg für Liuprammus von Salzburg von Gregor IV. am
31. Mai 837 ausgestellt ist, so kann natürlich der darin citirte beatissimus praedecessor Gregorius
nicht Gregor IV. sein. Es ist höchst wahrscheinlich Gregor 1. Dieser berührt in seinen Briefen
oft die PallienVerleihung, insbesondere erlaubt er in dem Briefe V 11 dem Johannes von Ravenna
nicht nur bei Messen, sondern auch an einigen litaniis sollemnibus das Pallium zu tragen. Da jedoch
die dort genannten Feste wenig zu den hier genannten stimmen, dagegen die Bestimmung 'in secie-
AbhandlgD. d. £. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hidt. Kl. N. F. Band 2, 6. 5 ,
34 . WILHELM MEYER
[gor IV. dem Venerius das Tragen des Palliums an den genannten Tagen er-
laubt habe , dagegen bei Leo IV. und Benedict III., wie bei all den folgenden,
nur von Johann XIX. genannten Päbsten setzte er nur die gleichmässige Formel
'pallium suscepit utendum diebus praedecessoribus suis concessis' ; nur bei Ser-
gius II. vergass er ausser dem Einladungsschreiben (Sp. 178b) diese Pallienverlei-
hungsformel einzuschieben. Gewährt uns diese Erkenntniss einen nützlichen
Einblick in das Schaffen des Historikers Dandolo (freilich auch Jaffe hat sich
nur aus jenem Schreiben Johann's XIX. seine no. 3400 3509 3517 3518 3552
zurecht gemacht), so gewährt sie uns auch die Gewissheit, dass wir von dem
Inhalt der ältesten Privilegien nur Weniges wissen.]
Dagegen die Privilegien Silvester's II. (999 — 1003) und Sergius' IV.
(1009 — 1012) notirt Dandolo in anderer Weise : Sp. 231 e 'nietropolitana iura Gra-
densis sedis super episcopos Venetiarum et Istriae . . per Privilegium renovavit'
und Sp. 235d 'patriarchae Gradensis ius metropolicum et ecclesiae suae (super?)
suffraganeos Venetiae et Istriae per Privilegium approbavit'. Diese Privilegien
hat also Dandolo selbst gesehen oder ihren Inhalt aus einer andern Quelle no-
tirt : also hätte Jaffe zu no. 3933 und 3981 Dandolo citiren müssen. In jenen 2
Privilegien scheint nur der alte Streit um Istrien berührt gewesen zu sein , zu-
nächst nicht die gradenser Rechtstheorie.
In den beiden Constitutionen Johann's XIX. und Benedictes IX. von
etwa 1024 und von 1044 (Jaffe no. 4063 — siehe oben S. 18 — und no. 4114,
Ughelli V 1112c und 1114°) werden vor allem die aquilejer Ansprüche auf Ei-
gentumsrechte über die Gemeinde Grado und auf Unterordnung (subiectio) der
gradenser Kirche unter die aquilejer zurückgewiesen; die gradenser Begründung
ihrer Rechte kommt nicht zum Ausdruck; wichtig dagegen ist die in beiden
Stücken ganz gleiche Aufzählung der 'privilegia a nostris antecessoribus Gra-
densi sedi concessa' nemlich Pelogii (II, die Eliassynode fand statt 'ex consensu
Pelagii'), Gregorii (I?: vielleicht wegen des Briefes des Pelagius an Elias, den
Gregor I. verfasst hatte) , Honorii (I , vgl. Primogenius) , Stephani (III : Brief-
wechsel mit Patriarch Johannes a. 768—772?), Gregorii (II und III, 715—731
und 731 — 741) , Leonis (III) , Sergii Leonis Benedicti Adriani Bonifacii Romani
Theodori Anastasii loannis Sylvestri et Sergii (s. oben S. 32 bei Dandolo). Von
tarium vero . . poterant amittantur' fast wörtlich mit Gregor's I. Brief übereinstimmt, so sind von
einem Nachfolger Gregor's I. die Worte 'sicut a . . Gregorio . . sancitum est' vielleicht mehr we-
gen des ihm folgenden , als wegen des ihm vorangehenden Satzes eingeschoben. Nachträglich
theilt mir noch Herr Graf Curt Boguslav von Hacke, dessen göttinger Dissertation über die Pri-
vilegien der Pallien Verleihung nächstens erscheinen wird, freundlichst mit, dass vor dem Jahr 1024
ausser in dem Privileg Gregor's IV. für Salzburg (und also in den oben besprochenen Leo's IV.
und Benedicts III. für Grado) der oben gedruckte Zusatz samt der Erwähnung Gregor's sich noch
in folgenden späteren Pallien- Verleihungen findet: Jaffe 2681: Mai 860; 2798: Dec. 865; 2904:
Febr. 868 (für einen Bischof); f 3406: Nov. 885; 3457: Mai 890; f 3549: Juni 911; 3550: Febr.
912 (für einen Bischof); f 3602: c. 937; 4042: Sept. 1022; ausserdem werde in Betreff der
Pallien- Verleihung Gregor noch citirt in Jaffa no. 2603 2759 3568.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 35
den genannten Schriftstücken mögen manche keine Privilegien im strengen Sinne,
sondern andere gelegentliche Schreiben gewesen sein; allein aus dieser Liste, wie
aus den im Patriarchenkatalog verwertheten Schriftstücken , erhellt immerhin,
mit welchem Eifer damals die einschlägigen Belege im gradenser Archiv gesam-
melt und studirt wurden.
Die von Kehr in den Göttinger Nachrichten 1896 S. 294/6 veröffentlichte und
als Pallienverleihung Leo's IX. 1050 an den gradenser Patriarchen Dominicus
gedeutete Urkunde stimmt wörtlich mit der Formel 45 des Liber diurnus (S. 32
bei Sickel), nur dass die Tage eingesetzt sind , an denen das Pallium zu tragen
ist: enthält also nichts Wichtiges für die vorliegende Frage.
Dagegen ist die Rechtstheorie und Gelehrsamkeit der Gradenser völlig zum
Sieg gelangt in der Constitutio, welche der eifrige Neuere:-, Leo IX., den Gra-
densern 1053 ausgefertigt hat (Jaffe 4295) ; sie ist ganz nach dem Vorbild des
Warnungsbriefes Gregor's II. an Serenus und Gregor's III. an Calixtus geschrie-
ben. Schon die zweimalige Bezeichnung 'Gradensem imo novae Aquileiae
patriarcham' und 'Foroiuliensis antistes' statt 'Aquileiensis patriarcha' drücken
den neuen Geist genügend aus ; dann melden die Worte ausdrucklich : ut nova
Aquileia totius Venetiae et Istriae caput et metropolis perpetuo haberetur, se-
eundum quod evidentissima praedecessorum nostrorum astruebant privilegia: Fo-
roiuliensis vero antistes tantummodo finibus Longobardorum esset contentus iuxta
Privilegium Gregorii IL et retraetationem tertii.
Welch starken Eindruck Form und Inhalt dieses leonischen Privilegs ge-
macht hat, das zeigt der Urkundenpassus der späteren Privilegien. Von
denselben sind gedruckt: Innocenz IL 1136, Jaffe 7783. bei Ughelli V 1120;
Lucius II, 1144, Jaffe 8560, bei Ughelli Sp. 1121 ; Jaffe 9009» und Cornelius (im
Index) citiren eine Urkunde Anastasius' IV. 6. April 1154, welche ich nicht
finden kann; Hadrian IV. 1157, Jaffe 10295, bei Ughelli Sp. 1124; Alexan-
der III. 1161, Jaffe 10665, Migne 200 S. 118; Urban in. 1186, Jaffe 15619,
bei Ughelli Sp. 1131; Alexander IV. 1256, Potthast 16481, gedruckt in Fontes
rerum Austriacarum IL Abth., 14. Band 1857 S. 19. In dem letzten heisst die
betreffende Stelle: predecessorum nostrorum felicis memorie Pelagii , Alexandri
(II, 1061, Ughelli 1117c), Urbani seeundi, Adriani (IV, oben), Alexandri (III
1161, oben), Lucii (III, 1182, Jaffe 14624, Ugh. 1131b), Urbani tercii (1186, oben),
Clementis (III) et Innocentii tercii (1213 , Ugh. 1135) l vestigiis inherentes
(in den zivei frühesten Privilegien von 1136 und 1144 steht: auetoritatem sequentes),
illius preeipue constitutionis tenorem servantes, quam prede-
cessor noster Leo nonus papa saneivit (sanetissimus Ughelli bei Inno-
cene III. und Adrian IV.) et synodali iudicio et privilegii pagina con-
firmavit' etc. Nur das Schlagwort 'nova Aquileia' wird von keinem Pabst mehr
gebraucht ; freilich wird auch Foroiuliensis vermieden ; es stehn sich fortan nur
Gradensis und Aquileiensis gegenüber.
1) In den früheren Privilegien . :n natürlich entsprechend weniger Namen.
36 . WILHELM MEYER
Hieraus erhellt, dass bei den Päbsten die gradenser Theorie gesiegt hat.
Das fast stets kaiserlich gesinnte friaulische Patriarchat trat mit dem Sinken
der kaiserlichen Macht und des kaiserlichen Ansehns in Italien immer mehr zu-
rück, während das gradenser Patriarchat mehr und mehr den Vorrang gewann
unter dem Schutze des mächtig aufstrebenden Venedig's. Gregor VII. sagt in
einem Schreiben von 1074 (Jaffe 4913 und Ughelli V 1118), worin er die gerin-
gen Einkünfte des gradenser Patriarchats beklagt , diesem Patriarchate hätten
die Venezianer es zu verdanken, dass 'post apostolicam sedem omnibus, quae sunt
in occidente, gentibus clariores extiterunt'. Also hier sind Grado die Vorrechte
des ältesten aquilejer Patriarchats zugestanden.
Noch mehr wuchsen die Vorrechte des gradenser Patriarchats unter der lang-
jährigen Leitung des klugen Henricus Dandolo : 1157 ward ihm das riecht, im
Orient überall, wo die Venezianer Kirchen besässen, Bischöfe einzusetzen, und
in demselben Jahre wurde ihm das Erzstift Zara untergeordnet. Nachdem noch
1164 der aquilejer Patriarch Grado angegriffen hatte, dabei aber sogar selbst in
Gefangenschaft gerathen war (Monum. Scriptores XIV 77), suchte der gradenser
Patriarch den Kampf mit den Aquilejern 1180 durch einen Vertrag (Jaffe 13687)
zu beenden , worin denselben die Gewalt über ihre damaligen , ausdrücklich ge-
nannten (Ughelli V 1129c, 62 c, 62 d) Diücesen zugestanden wurde. Hierdurch war
allerdings die stärkste Quelle des Streites verstopft, und wohl dementsprechend
werden auch in dem Privileg Alexander's IV. von 1256 die dem gradenser Pa-
triarchen untergebenen Bischöfe ausdrücklich aufgezählt *). Nachdem endlich 1440
sogar ein Venezianer Patriarch von Aquileja geworden war und 1444 die Ober-
herrschaft Venedigs anerkannt hatte , wurde dann natürlich auch 1451 der alte
Plan (vgl. ausser Paschalis II. vom 31. Oct. 1110/1 = Jaffe no. 6285, besonders
Alexander III. an den Dogen von 1178?, Migne 200 S. 1284 und Jaffe no. 14247)
ausgeführt und aus dem einsamen Grado das Patriarchat in das glänzende und
weithin gebietende Venedig verlegt, wobei Nicolaus V. ausdrücklich verfügte, ut
'quondam Gradensis' deinceps 'ecclesia patriarchalis Venetiaruni' futuris perpetuis
temporibus appelletur.
Das langobardische Patriarchat seit 607 war nach dem kirchlichen Recht
eine schismatische Neugründung und Grado war der einzige berechtigte Erbe des
h. Marcus und Hermagoras gewesen. Diese Rechtslage wurde aber um 695 dadurch
verwirrt , dass der päbstliche Stuhl neben dem gradenser auch das langobar-
dische Patriarchat anerkannte, offenbar ohne festzusetzen, welches von beiden der
berechtigte Erbe sei , und dass nachher Jahrhunderte lang der päbstliche Stuhl
1) Es ist merkwürdig, dass, während die Aquilejer nach ihrer schon in Mantua verfochtenen
Theorie oft den Flecken Grado für ihr Eigenthum und das dortige Patriarchat für ihnen unterge-
ordnet erklärt haben, die Gradenser nie die Consequenzen ihrer eigenen Theorie gezogen und Aqui-
leja, ihre ursprüngliche verlassene Residenz, als ihr Eigenthum in Anspruch genommen haben.
DIE SPALTUNG DES PATRIARCHATS AQUILEJA 37
bald Grado bald Aquileja als berechtigten Erben des h. Marcus und Hermagoras
anerkannt hat.
In diesem Rechtsdunkel entwickelten sich Sagen und Theorien. Ihre Ent-
wicklung folgt der Entwicklung der politischen Macht ; seit etwa 800 war Aqui-
leja mächtig : da gedieh auch seine Rechtstheorie ; dann wurde Grado mächtig :
da ersann es seine Rechtstheorie und mannigfache Belege für dieselbe. Als die
politische Macht Venedigs über Aquileja und den Friaul gänzlich gesiegt hatte,
dachte Niemand mehr an die Rechte des aquilejer Patriarchats, ja zuletzt zerfiel
es ; dagegen das venezianer Patriarchat galt und gilt als der berechtigte Nach-
folger des h. Marcus. So ist in dieser Sache das Recht den politischen Macht-
verhältnissen gefolgt.
Uebersicht.
I. Das Ende des Dreikapitelstreits in Venetien um 695 S. 1 — 9.
IL Die mittelalterlichen Sagen und Theorien über die Spaltung des Patriarchats
Aquileja.
S. 10 Das gefälschte Schreiben Gregor's III. über die römische Synode von 731 (vgl.
S. 31 Note).
S. 12 Unklarheit der Rechtsverhältnisse.
S. 15 Die Rechtstheorie der Aquilejer. Paulin's Rythmus. Synode von Man-
tua. S. 17 Patriarch Poppo und Pabst Johann XIX.
S. 19 — 36 Die Gradenser Rechtstheorie.
S. 19 Der Rythmus de Aquileja numquam restauranda. S. 20 Otto 's Privileg. S. 21
Der kurze Bericht über die Synode des Patriarchen Elias. [S. 22 Die vollständigen
Synodalakten des Elias und der Brief des Pabstes Pelagius. S. 24 Die gradenser Sage
vermengt mit der venezianer Sage im Chronicon Gradense imd Altinate und bei Dan-
dolo]. S. 26 Das Schlagwort 'Neu-Aquileja'. S. 28 Die Spaltung des Patriarchats
und die Anerkennung des 2. Patriarchats durch den Pabst, nach der gradenser Theorie.
S. 29 Die definitiva Divisio zwischen Aquileja und Grado in dem gefälschten Schreiben
Gregor's III. von 731. S. 32 die gradenser Theorie in den päbstlichen Privilegien für
Grado, besonders S. 35 in jenem Leo's IX. S. 36 Des Streites Ende.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wise. zu Göttingen. Phil.-hiet. Kl. N. F. Band 2, e.
ABHANDLUNGEN
DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH -HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND 2. Nro. 7.
Die
romische Flurteilung und ihre Reste.
Von
Adolf Schulten.
Mit 5 Figuren im Text und sieben Karten.
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1898.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung: Beständigkeit agrarischer Institutionen. Stadt- und Flurteilung. Fortbestehen
der römischen Flurnamen in heutigen Ortschaften. Die römische Flurteilung noch
heute kenntlich 5 — 7
I. Methode der römischen Flurteilung (Centuriation). Die Centurien und ihre Einteilung
in Landloose. Die Richtlinien : cardo und decumanus. Ihre Orientirung. Breite
der Koppelwege 7—11
II. Bisherige Behandlung der römischen Flurteilung. Kartenmaterial. Sichere Identität
des Wegenetzes bei Parma, Bologna, Padua etc. mit der Centuriation. Ueberein-
stimmung der Centuriation mit den Grenzen der Territorien. Römische Flurnamen
in centuriirtem Gebiet 11 — 15
III. Die erhaltene Centuriation: 1. Brixia (S. 15). 2. Cremona (S. 16). 3. Placentia (S. 16).
4. Veleia (S. 17). 5. Florentiola und Fidentia (S. 19). 6. Parma (S. 21). 7. Tannetum
und Brixellum (S. 22). 8. Regium Lepidum (S. 22). 9. Mutina (S. 23). 10. Bo-
nonia (S. 24). 11. Claterna (S. 2G). 12. Forum Cornelii (S. 26). 13. Faventia (S. 26).
14. Forum Livi (S. 26). 15, Patavium (S. 27). 16. Tarvisium (S. 28). 17. Ve-
rona (S. 29). 18. Opitergiuni (S. 29). 19. Aquileja (S. 29). 20. Pola (S. 29).
21. Capua (S. 30—36). 22. Florentia (S. 36). 23. Carthago (S. 36—38) .... 15—3-
1*
Die römische Flurteilung und ihre Reste.
Von
Adolf Schulten.
Vorgelegt von H. Wagner in der Sitzung vom 5. März 1898.
Einleitung.
Beständigkeit agrarischer Institutionen. Stadt- und Flurteilung. Fortbestehen der römischen
Flurnamen in heutigen Ortschaften. Die römische Flurteilung noch heute kenntlich.
Agrarische und bodenrechtliche Institutionen haben eine wunderbare Be-
ständigkeit. Die Erde ist das konservative Element. Stäten Sinnes teilt der
Bauer, der echte Bewahrer der Landesart, die von den Vätern überkommenen
Sitten und Bräuche den Kindern mit. Ihn weist der ewig gleiche Kreislauf der
Natur in feste Bahnen, und wie sich die Natur nicht ändert, so ändern ihre
treuesten Söhne nichts an ihrem uralten Dienst. Derselbe leichte Pflug — die
mit einem Querholz versehene Hacke — den die scriptores rei rusticae beschreiben,
ritzt noch heute die dünne Humusschicht der römischen Campagna, heute wie
zu Horazens Zeit „vermählt" der italische Winzer die Rebe mit der Ulme und
die von Baum zu Baum gezogenen Rebenguirlanden sind, wie die campanischen
Gemälde zeigen, schon im Altertum der Schmuck der Campania felix gewesen.
Darum ist das heutige Italien für den Altertumsforscher eine Urkunde römischen
Lebens: wer Augen hat zu sehen erkennt auf Schritt und Tritt im modernen
Italien das alte.
Wie sich die natürlichen Grenzlinien des Landes, Berge und Flüsse nicht
geändert haben, so sind die durch sie begrenzten Gebiete : die Poebene, Etrurien,
die Gebirgsfestung der Abruzzen, Campanien, das apulische Flachland u. s. w.
heute wie im Altertum die natürlichen Landesteile. Auch der Lauf der Ver-
kehrsstrassen ist derselbe geblieben und auf oder neben der römischen via läuft
die Eisenbahn, die via der Neuzeit. Aber nicht allein die grc^en Heer-
strassen haben die Jahrhunderte überdauert : die folgenden Blätter sollen zeigen,
<; ADOLF SCHULTEN,
dass sich sogar die Feldwege der römischen Flurteilung (Centuriation) erhalten
haben.
Für die Limitation — so nennt man bekanntlich die bei den Etruskern
und Römern übliche Methode, die Stadt und ihr Gebiet durch ein System sich
rechtwinklig kreuzender Wege (limites) in Quadrate zu teilen — der Städte hat
Nissen in seinen diese Materie zuerst behandelnden Untersuchungen ,das Tem-
plum' und ,Pompeianische Studien' die Nachweise geliefert, für die Teilung der
Feldmark erübrigt noch ein Gleiches. Noch heute ist in Turin, Aosta, Florenz,
Neapel etc. das ein Schachbrettmuster darstellende römische Strassensystem
kenntlich. Schon a priori ist es wahrscheinlich, dass sich ebenso von der Flur-
teilung. welche die Feldmark in Quadrate von 2400 Fuss (= c. 710 Meter) Seite
| ( lenturien) zerlegte, Spuren erhalten haben. Denn ein solches Wegenetz braucht
nicht durch Veränderungen sdes Bodenbesitzes und nicht einmal durch neue Flur-
teilung und Veränderungen der Territorialgrenzen alterirt worden zu sein; es
war vielmehr, einmal angelegt, für alle Zeit ein ausgezeichnetes Hülfsmittel zur
Verteilung des Landes und zur Identifikation der einzelnen Besitzstände. Noch
heute giebt der Bauer im Paduanischen Entfernungen nach den grade dort vor-
züglich erhaltenen ,quadrati\ den römischen Centimen, an (s. Legnazzi, Storia
del eatasto Romano, Padua 1887 p. 220). Von den römischen Institutionen haben
die Nachfolger der Römer in Italien besonders die agrarischen wegen ihrer natür-
lichen Stabilität bewahrt. Neben den neugeschaffenen langobardischen Grund-
stücken, die der Name kenntlich macht, erscheinen in den mittelalterlichen Ur-
kunden zahlreich die römischen fundi wie /'. Cornelianus, Baebianus etc. Beson-
ders reiches Material bieten die ravennatischen Urkunden (s. Fantuzzi , Monu-
menti Ravennati). Ein fundus Cornelianus des neunten Jahrhunderts ist natür-
lich altrömischen Ursprungs, wenn er auch, da bei Teilung jede portio fundi den
Namen des ganzen fundus erhält l). nicht mehr die alte Ausdehnung zu haben
braucht. Auch die Uneialteilung des römischen fundus besteht in den .ravenna-
tischen Urkunden noch fort. Aber die Continuität geht noch weiter: bis
auf den heutigen Tag haben sich die Namen vieler römischer Landgüter in den
heutigen Ortsnamen erhalten. Die Entwicklung verläuft so : ein aus mehreren
fundi gebildetes Landgut (massd) wird nach einem der combinirten fundi benannt
— denn nur grosse Güter kommen in Betracht — , nach dem fundus heisst dann
die villa, der Gutshof, oder der viats, das Colonendorf. Schliesslich bezeichnet
man das Gut nach diesen Centren (also z. B. possessio vicus Aurcliu): an die
Stelle des Territoriums tritt die Ortschaft (s. meine Schrift : die röm. Grundherr-
schaften p. 21 f.). Dieser Name geht auf das von dem mittelalterlichen Feudal-
herrn , dem Nachfolger des römischen Possessor, erbaute Castell über ; an das
Castell baut sich eine Ortschaft an: so wird aus dem fundus Cornelianus ein Ort
CornirjJiano2). Dieselbe Entwicklung liegt in Frankreich vor. Aus einem fundus
1) S. Mommsen, die italische Bodenteiliing (Hermes XIX p. 395).
2) Zahlreiche Beispiele für diesen Prozess bietet Tomasetti: „Storia della Campagna Ro-
raanau (Archivio della soc. Rom. di storia patria vol. 1 f.).
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE KESTE. 7
Sabiniacus — die keltische Endung -acus entspricht dem rön i sehen -anus — ist
Savignv, aus Floriacus Fleury und Floirac (a. Meuse), aus Juliacus Juillac ge-
worden *).
Was nun das Fortbestehen der römischen Flurteilung angeht, so kommt in
einer langobardischen Urkunde des VIII. Jahrhunderts (s. unten) ein limes decu-
manus — so hiessen die zum decumanus maxunus , der Hauptlinie, parallel gezo-
genen Flurwege — vor. Immer klarer sehen wir heute , dass die „Stürme der
Völkerwanderung" weit mehr römische Institutionen haben bestehen lassen als
man früher glaubte. Das gilt in erster Linie von den agrarischen Dingen. So
soll denn im Folgenden gezeigt werden , dass thatsächlich von der römischen
Centuriation besonders in der Poebene, aber auch auf dem ager Campanus und
sogar im Gebiet von Carthago noch sehr bedeutende Reste vorhanden sind, trotz
aller Wandlungen des Bodeneigentums und aller Veränderungen des Wegenetzes
in Mittelalter und Neuzeit.
I.
Methode der römischen Flurteilung (Centuriation). Die Centimen und ihre Einteilung in Land-
loose. Die Richtlinien: cardo und decumanus. Ihre Orientirung. Breite der Koppelwege.
Bei der Anweisung öifentlichen Landes an Private (assignatio) bedienten sich
die Römer verschiedener Flurteilungsarten (divisio): für die mit Colonieanlage
verbundene Assignation ist charakteristisch die Teilung des zu vergebenden
Landes in ein System von Quadraten 2). Diese Quadrate enthielten 100 Doppel-
iugera — 2 Iugera bilden die altrömische Hufe, das „heredium" — also 200 Iu-
gera (1 Iugerum ist ziemlich = 1 preuss. Morgen) 3J. Ein solches Quadrat heisst
von den 100 Hufen centuria und die Flurteilung nach Centurien centuriatio (s.
Schriften d. röm. Feldmesser 4) II, 405). Die Centurie hatte als Quadrat von 100
Heredien = 400 actus 5) Fläche eine Seite von 20 actus = 2400 Fuss.
Vereinzelt sind auch Centurien zur Anwendung gekommen, die weder qua-
dratisch waren noch 100 heredia = 200 Iugera enthielten. Die Feldmesser (I,
1) S. Fustel de Coulanges „Institutions politiques de la France" T. III p. 1 f. (la villa Gallo-
romaine); Arbois de Jubainville „La propriete fonciere et les noms des lieux en France" p. 12 1.
2) In Nordamerika kommt dasselbe System zur Anwendung. Parallel zum Meridian zieht
man die den cardines und von Osten nach Westen die cIpii decumaui entsprechenden ,base-lines\ Die
entstehenden Quadrate sind 1 engl. □Meile gross. Diese divisio heisst survey (s. Röscher, Co-
lonien p. 305).
3) Die Bedeutung von centuria ist richtig erkannt schon von Varro r. r. 1, 10: „bina iugera
quod a liomulo primum divisa dicebantur riritim. quae heredem sequerentur, heredium appellarunt.
Jiaec postca centum centuria. Centuria est quadrata , in omnes quattuor partes ut haheat latera
longa pedum oc oc CD." Ebenso Frontin de Umitibus (Feldmesser I, 30, 14): „ . . deinde haec
duo iugera iuneta in unuw quadratum agrurn effteiunt ..; quidam primum appellatum dieunt mor-
tem et centies duetum centuriam. . ."
4) Wo ich im Folgenden einfach die Seite und Zeile citire, ist der erste Band gemeint, der
den Text enthält.
5) 1 heredium = 2 Iugera = 4 Actus. n
8 ADOLF SCHULTEN,
159, 22) wissen von oblongen Centurien zu berichten, deren eine Seite 25 und
deren andere Seite 16 Actus lang war, die mithin eine Fläche von 16 x 25 = 400
Quadratactus, also auch 200 luger a hatten wie die quadratische Centurie mit
dem Seitenverhältnis 20 : 20 Actus. Das Maass 16 : 25 kam zur Anwendung
z. B. in Beneventum , Velia (Feldm. I, 204, 10) und Vibo (209, 19) *). Wieder
andere Centurien waren weder quadratisch noch 200 Iugera gross. In der augu-
steischen Colonie Emerita in Spanien wurden die Centurien zu 20 x 40 Actus =
400 lug. ausgelegt (Hygin, Feldm. I, 171).
Ein anderes Verhältnis war 21x20 Actus = 210 Iugera; es soll in Cre-
mona angewendet worden sein (Frontin in Feldm. I, 30, 19 und darnach Hy-
gin : I, 170, 19). Mommsen (a. a. 0. p. 81) weist darauf hin, dass die quadratische
Centurie von 200 Iugera nicht wohl das normale Flurmaass der älteren Assigna-
tiunen gewesen sein könne, weil die damals vergebenen Landloose mit der Zahl
200 incongruent seien; es kommen nämlich vor als Loose : 6 iug. (Potentia, Pi-
saurum), 8 (Parma), 15 (Vibo), 140 (Reiterloos in Aquileia). Sicher war ja
bei der Assignation das angesetzte Landloos und nicht die Centurie von 200
Iugera das maassgebende Prius. Umgekehrt lässt freilich der jüngere Hygin
(p. 201) die Centurie von 200 Iugera in 3 Loose a 66^/3 iug. geteilt sein, aber
niemand wird glauben, dass man, um Loose von 6673 iug. zu vergeben, Centurien
von 200 iug. gebildet hat. Ebensowenig wird man je , wenn die Centurie zu
200 iug. gegeben war — etwa bei einer Neuverteilung bereits centuriirten Lan-
des — sich darauf caprizirt haben sie in Loose zu 662/3 iug. zu teilen. Das
war bei den primitiven Hülfsmitteln der römischen Agrimensoren keine Klei-
nigkeit. So unpraktisch waren die Römer doch nicht, und das von Hygin ge-
wählte Exempel ist für das Verkommen der ehrbaren Feldmesskunst in mathe-
matischen Abstractionen bezeichnend. Für die Assignationen der cäsarischen
und späteren Zeit (50 iug. in der Regel s. Frontin: I, 30) ist dagegen die Cen-
turie zu 200 Morgen das typische Feldmaass.
Die Centuriation d. h. die Teilung des zu assignirenden Landes in Centurien
ist zuletzt von Mommsen in der genannten Abhandlung (p. 90 f.) kritisch unter-
sucht worden. Besonders hat Mommsen die Bedeutung der Grundbegriffe cardo
und deciananus endgültig festgestellt. Bei der Orientation, der die Flurteilung inau-
gurirenden Ziehung der Hauptlinien, lässt der Feldmesser zunächst von der groma,
dem nach seinem Messinstrument benannten Mittelpunkt (daher auch umbilicus)
der Flurteilung aus in dem zu teilenden Gebiet zwei Richtlinien, die sich in der
groma senkrecht schneiden, abstecken. Sie können verschieden orientirt sein.
Als die beste Orientirung gilt unseren Agrimensoren (s. Feldm. II, 345 f.) die
der einen Linie nach Norden oder Süden 2) und die der anderen nach Osten gen
Sonnenaufgang. Die Nord - Südlinie heisst cardo, die West - Ostlinie decumanus.
1) S. die Erörterung dieser Verhältnisse bei Mommsen, Zum römischen ßodenrecht (Hermes
XXVII p. 81).
2) In der Orientirung des Cardo herrscht grosse Unsicherheit; man vergleiche Frontin p. 29, 9
(Süden) mit Hygin 108, 11 (Norden). Derselbe Hygin will p. 108, 16 den Cardo nach Süden orientirt
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNÜ UND IHRE RESTE. 9
Der substantivische Begriff „cardo", die „Axe", muss, wie Mommsen hervor-
hebt, der Hauptbegriff, also der Cardo die Hauptlinie sein. Dagegen ist der de-
cumanus (seil, limes) benannt von den im Abstand von je decem actus durch den
Cardo gelegten Querlinien (vgl. Siculus Flaccus in Feldm. I p. 153 2) und Momm-
sen dazu a. a. 0. p. 91). Im gleichen Abstand müssen parallel zum Cardo andere
Cardines gezogen worden sein, denn die Feldmesser überliefern, dass der ager quae-
storius, d. h. das von den Quästoren verkaufte Staatsland, in Quadrate von 50
iug. (= 100 Actus) d. h. 10 x 10 Actus parzellirt gewesen sei (Sic. Flaccus 152,
23 f.) 3). Auf dem ager quaestorius findet man also die ursprüngliche Bedeutung
der decumani. Demnach scheint die Limitation zuerst auf dem ager quaestorius,
nicht auf dem ager divisus assignatus der Colonien angewandt worden zu sein.
Wie gesagt, liegen der klassischen Limitation Centurien von 20 Actus Seite,
nicht jene kleinen Quadrate von 10 x 10 Actus, zu Grunde. Aber auf die Tei-
lungslinien dieser Limitation, die eigentlich von den XX Actus Intervall ,vice-
sumani1 hätten heissen müssen, ist der alte Name deeimanus übertragen worden.
Während es beim ager quaestorius scheinbar nur die eine Hauptlinie, den cardo,
gegeben hat 4) und als sekundäre Linien Quer- (deeimani) und Parallellinien (car-
dines) , tritt in der neuen Limitation zu dem Cardo eine zweite — westöstlich
gezogene — Hauptlinie, die von den anderen Querlinien als decumanus maxi-
mus unterschieden wird (in litt er ae Singular -es: D.M.) hinzu. Entsprechend heisst
die nach Norden gezogene Linie cardo maximus (C. M.).
In unserer Ueberlieferung gilt dann sogar der Decumanus maximus als die
Hauptlinie und es wird als Fehler gerügt, wenn ein Feldmesser ihn und nicht die
nunmehr sekundäre Linie, den cardo, nach Süden zog, wie es bei Cap'ua vorgekom-
men sein soll (Frontin : I, 29, 4) 5). Da die spätere Hauptlinie , der D. M. , von
-Westen nach Osten gezogen wurde, war der östliche Teil des Templum, d. h. des zu
limitirenden Bezirks, vom Standpunkt des Feldmessers aus der vordere und hiess
daher pars antica, der westliche lag hinten: pars postica. Ihre Grenze bildete
der durch den Fusspunkt des Feldmessers nach Süden und Norden gezogene Cardo
haben. Es war auch ganz einerlei, wo bei den Cardines Nord und Süd war , da die Orientirung
des Decumanus genügte ; denn die Cardines wurden senkrecht zum Decumanus ohne nochmalige
eigene OrieDtirung (nach der Sonne) gezogen.
2) . . limites a mensura denum actuum deeimani dicti. . .
3) „quaestorii dieuntar agri , quos ex hoste captos p. E. per quaestores vendidit. Hi autem
limitibus institutis laterculis quinquagenum iugerum ejf'ectis venierunt, quem modum decem actus per
limites demensi efficiunt: unde etiam limites decumani sunt dicti." Vgl. denselben p. 136, 18.
4) Vielleicht gehört hierher der merkwürdige von Barnabei (Not. degli Scavi 1897 p. 120)
mitgeteilte Stein, der ausser den Namen der „III viri a(gris) i(udicandis) a{dsignandis)u die In-
schrift K • VII = k(ardö) septimus trägt. Während auf dem analogen Stein aus der Gegend von
Capua (C. X, 3861) der Cardo und der Decumanus, auf deren Schnittpunkt der Cippus stand, no-
tirt sind, ist hier nur der Cardo genannt; bei der Limitation waren also nur die Cardines nu-
merirt.
5) „. . ut in agro Campano . . qui est circa Capuam tibi est kardo in orientem et deeimanus
in meridianum."
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phü.-hist. Kl. N. F. Band 2, 7. 2
10
maximus. Die rechts vom Agrimensor liegende südliche Hälfte ist die pars dex-
trata, die linke, nördliche, die pars sinistrata (s. Mommsen a. a. 0. p. 90; Ru-
dorff, Feldm. II, 341 ; Nissen, Templum p. 1 f.).
So die Theorie. In der Praxis orientirte man sich oft nicht nach Osten
und Süden, sondern nach der „natura loci'L, d. h. gemäss den lokalen Bedürf-
nissen in beliebiger Richtung. Hinzu kam, dass bei Orientirung nach der Sonne
der eine Agrimensor nach dem wirklichen , der andere nach dem scheinbaren
Sonnenaufgang seinen Decumanus zog (Feldm. I, 170, 3; II, 348). Galt es ein
an bereits limitirtes Land stossendes Gebiet zu limitiren, so Hess man gern
die neuen limitcs zur Unterscheidung von den alten im Winkel auf diese
stossen (Feldm. I, 170, 9 — 12). Ebenso natürlich war es, dass man bei einem
sehr schmalen, aber sehr langen Territorium die Hauptlinie, den Decumanus, in
der Längsrichtung zog (170, 12). Der „natura loci" wurde auch bei der Anlage
der Flurteile, der Centimen, Rechnung getragen. Auf schmalen aber langen
Flächen waren z. B. die quadratischen Centurien von- 710 Meter Seite schlecht
zu gebrauchen. Man ersetzte sie durch Oblonge, die sogenannten scamna und
strigae. Aehnliche subsidiär neben den Centurien verwendete Figuren sind die
praecisurae und laciniae (s. Feldm. II, 418 f.). Am Augenfälligsten ist das
praktische Bedürfnis , die Hauptlinie nicht nach Osten zu legen , wenn durch
das zu limitirende Gebiet eine Heerstrasse — via publica — in anderer Rich-
tung ging : sie bildete die natürliche Richtlinie der Limitation. Je nachdem
ihre Richtung sich der westöstlichen oder nordsüdlichen näherte, wurde sie Decu-
manus oder Cardo maximus. So hat man denn auch im Poland die via Aemilia
meist zum Decumanus gemacht (s. unten) — merkwürdigerweise nicht durchweg.
Für Anxur ist die via Appia Decumanus gewesen (Feldm. I, 179, 11). Anders-
wo wurde der Lauf der Küste oder der Apennin als die Normale angesehen,
zu der der cardo maximus parallel und der decumanus maximus senkrecht zu
ziehen sei. Darnach hiessen die limitcs: limitcs maritimi, mohtani (Feldm. II, 348).
Die beiden Hauptlinien wurden als breite Strassen angelegt, ebenso er-
hielten die um 5 Centurien von einander entfernten limitcs (quintarii) eine grössere
Breite; die übrigen waren ursprünglich nur mathematische Linien, wurden aber
später auch als schmale Feldwege hergestellt. In den augusteischen Militärko-
lonien war der Decumanus maximus 40. der Cardo maximus 20, der quintarius 12,
die übrigen limitcs 8 Fuss breit (Feldm. I, 194).
Die von vier quintarii eingeschlossenen 25 Centurien bilden einen ,,saltusu
(158,21), ein Quadrat, dessen Seite 5 Centurienbreiten enthält.
Innerhalb der Centurien wurden öffentliche Wege (viae) nicht gezogen. Ihre
Stelle vertraten die Grenzraine der- einzelnen Grundstücke (rigores). So reden
denn auch die Feldmesser bei der Besprechung der controversiae, der agrarischen
Streitfälle, des Langen und Breiten von den ,pedes quini', dem 5 Fuss breiten
Grenzsaura (finis) der ländlichen Grundstücke (s. Feldm. II, 433 f.). Jeder der
Adjacenteh hatte eine Servitut auf diesem Rain, um zu seinem Grundstück ge-
langen und beim Pflügen bequem umwenden zu können. Von den viae publicae,
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 11
den limites, unterschied sich dieser Grenzrain nur dadurch, dass er nur den An-
liegern offen stand, nicht dem ,popnlns\ dem beliebigen Dritten: ,iter populo de-
hetur' hiess es von den viae, ,iter vicino debetur' könnte man vom finis sagen.
Es ist evident, dass schon bei der Assignation zwischen den einzelnen sortes
dieser Rain belassen wurde, nur wird jedem Anlieger die Hälfte der quini pedes :
2x/2 Fuss angerechnet worden sein, während die via nicht angerechnet wird.
Jedem Anlieger gehörten also 21/« Fuss des Grenzrains ; sie bildeten mit einer
Servitut belastetes Eigentum.
IL
Bisherige Behandlung der römischen Flurteilung. Kartenmaterial. Sichere Identität des Wege-
netzes bei Parma, Bologna, Padua etc. mit der Centuriation. Uebereinstimmung der Centuriation
mit den Territorien. Römische Flurnamen im centuriirten Gebiet.
Dass von der soeben geschilderten römischen Flurteilung noch bedeutende
Reste vorhanden sind, hat man schon lange bemerkt. Auf die Centuriation von
Carthago wies schon 1833 hin der Däne Falbe1). Das grosse Centuriennetz im
Gebiet von Padua deutete richtig der Hydrauliker Lombardini (Studi idrologici
e storici sopra il grande estuario Adriatico , Mailand 1868) 2). Seitdem ist
der Gegenstand von den Localgelehrten öfter behandelt worden , nie in genü-
gender Weise 3).
Jetzt, wo für fast ganz Oberitalien — hier hat sich die Centuriation am
besten erhalten — die Karte 1 : 100000 des Istituto geografico militare vorliegt,
wird es an der Zeit sein, die Spuren der römischen Flurteilung eingehender und
1) Recherches sur Templacement de Carthage (Paris 1833) p. 54 f.
2) Darnach Reclus, Geographie universelle I p. 344 (mit Karte).
3) Ich nenne: Legnazzi , Storia del catasto Romano (Padua 1887). Legnazzis Buch ist ein
lehrreiches Beispiel für die den meisten Lokalgelehrten anhaftende Unfähigkeit, einen noch so kon-
kreten Stoff anders als phantastisch zu behandeln. Man würdigt eine wirklich wissenschaftliche
Lokalforschung wie die von Carlo Promis doppelt, wenn man sie in einsamer Grösse aus einem
Meer von Absurditäten herausragen sieht. Von den in Legnazzis Text citirten Karten ist nur
eine (Taf. XIV) zur Ausführung gekommen. Man kann das Fehlen der andern nicht bedauern, da die
vorhandene eine gänzlich wertlose Schematisirung giebt, an der das einzige Thatsächliche die Namen
Imola und Faenza — diese Territorien sollen dargestellt sein — sind. Wenig besser ist Rubbiani,
Tagro dei Galli Boii diviso ed assignato ai coloni Romani (Atti e memorie della reale deputazione
di storia patria per la Romagna , III sezione fasc. II p. 65 — 120), brauchbar dagegen: A. Gloria,
l'agro Patavino dai tempi romani alla pace di Costanza : studi topografici di A. G. (Venezia 1881).
Ebenfalls über die Centuriation des Gebiets von Padua handelt ein Aufsatz im Bulletino della so-
cietä geografica 1894. Die Centuriation des agcr Campanus haben besprochen Beloch, Campauien8
p. 309 und Meitzen, Siedlung und Agrarwesen I p. 284 f. (die römischen Landmessungen und Feld-
teilungen, mit Karte der Umgebung von Capua).
2* 7
12
kritischer als bisher geschehen zu verfolgen. Für Detailuntersuchung sind die
Messtischblätter 1 : 25000 heranzuziehen.
Dass wir in der Schachbrett- oder netzförmigen x) Flurteilung des Gebiets
von Parma, Bologna, Padua, Capua — um nur die besten Beispiele zu nennen —
die römische Centuriation vor uns haben, ist nicht zu bezweifeln. Die Seite der
Quadrate ist auf der Karte 1 : 25000 (s. Tafel VII) 28 bis 29 mm lang, die
Wege nicht mitgerechnet. Das giebt bei einer Reduktion von 1 : 25000 700 —
729 m. Nun hat aber die Centurie eine Seitenlänge von 20 actus = 2400 römi-
schen Fuss ; das sind — den Fuss zu 0,296 m gerechnet (s. Hultsch, Metrologie 2
p. 87 Anm.) 710400 mm = 710 m oder, den Fuss zu 0,295 m gerechnet, 708000 mm
= 708 m. Die Centurie hatte also eine Länge von rund 710 m. Erwägt man,
dass im Lauf von zweitausend Jahren die Breite der Wege zwischen den Cen-
turien naturgemäss alterirt worden sein muss, so ist das eine überraschend prä-
zise Uebereinstimmung. Aber auch bei viel geringerer Congruenz könnte kein
Zweifel an der Identität des Reticulats von Parma, Bologna etc. mit der römi-
schen Centuriation sein, denn ein Blick auf die Karten zeigt dieses Reticulat
so vielfach durch neuere Flurteilung und Wegeanlagen zerstört, dass sein hohes
Alter einleuchtet. Die das Iieticulat bildenden Wege sind keine Verbindungs-
wege zwischen Ortschaften, sondern Flurwege. Wer die Identität dieses Wege-
systems mit der römischen Centuriation leugnen will , müsste schon behaupten,
dass man in Mittelalter oder Neuzeit eine Flurteilung vorgenommen habe , die
der römischen zum Verwechseln ähnlich sieht. Wer diese Auffassung vertreten
will, mag es thun. Ausserdem stimmt die Ausdehnung der Limitation genau
mit den Grenzen der römischen Territorien überein. So treffen z. B. am Po die
Umites von Placentia. der agrimensorischen Ueberlieferung entsprechend, in einem
Winkel auf die von Cremona. Vielfach lassen sich innerhalb der Centuriation
die Hauptlinien , Cardo und Decumanus maximus , deutlich unterscheiden (vgl.
Parma). Ebenso sind die quintarii, die fünf Centurien einschliessenden zweiten
Hauptlinien sehr oft kenntlich 2). Es scheint, dass sogar von den innerhalb der
Centurien gezogenen Wegen Spuren vorhanden sind. Schon auf den im Maass-
stab 1 : 100000 gezeichneten Blättern lassen sich vielfach die eine Centurie hal-
birenden Wege erkennen (s. Tafel V) ; besonders deutlich aber ist die innere
Teilung der Centurien auf den Messtischblättern im Maassstab 1 : 25000 kennt-
lich. Man vergleiche das Blatt S. Giovanni in Persiceto (Gebiet von Bologna)
auf Tafel VII. Hier sind die Quadrate teils in zwei Hälften , teils in 4 , teils
in G Teile geteilt. Auf diesen detaillirten Kartenblättern sind auch besonders
gut die fossae limitales , die an Stelle eines Times die Centurien begrenzenden
1) Legnazzi (p. 208 f.) spricht passend von einer scacchiera, einem reticolato und quadri-
gliato (p. 41). Auf der Karte des Istitnto geog. mil. von Padua steht inmitten der Centuriation
„graticolato römano" (von graticola = Rost).
2) Vun der Centuriation des römischen Brixia (Brescia) sind nur 4 quintarii erhalten (s.
unten).
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 13
Wassergräben1) sichtbar. Besonders in der wasserreichen Poebene spielen die
nassen Grenzen eine grosse Rolle. Jedes Blatt der mitgeteilten Karte giebt
davon Zeugnis, lieber das Alter dieser innerhalb der Centurien gezogenen
Wege mag man streiten: es bleibt, auch wenn sie modern sind, übrig, dass bei
neuerer Flurteilung die römischen Centurien zu Grunde gelegt worden sind.
Entsprechend der Ueberlieferung sehen wir, dass den Flüssen ein Ueberschwem-
mungsgebiet als ager exceptus assignirt ist (s. Feldm. II, 399) 2). Kleinere
Wasserläufe finden wir mit assignirt also ,m mediis eenturiin1 (157, 19). Einige
Assignatoren gingen so weit, selbst grössere Flüsse mit zu assigniren , so dass
die betroffenen Loosempfänger ihre Aecker zum Teil im Wasser suchen konnten
(51, 3 — 17) 3). Grade das Poland, dessen Centuriation wir gleich kennen lernen
werden, wird als Beispiel angeführt (124,11): ist es doch wegen seiner zahl-
reichen Wasserläufe von jeher der klassische Boden wasserrechtlicher Fragen
gewesen. Dem Po, dem grossen Nutzen- und Schadenstifter, ist ein bedeutendes
Ueberschwemmungsgebiet zugewiesen; nirgend reicht die Limitation bis an den
Fluss.
Besonders interessant ist es , dass sich auf dem centuriirten Gebiet ausser
den auf einen römischen fundus zurückgehenden, an der Endung -ano kenntlichen
Ortsnamen (Bassano = f. Bassianus), zahlreiche aus den Agrimensoren bekannte
termini technici der römischen Centuriation finden. Mehrfach heisst in der Ro-
magna eine Strasse desmano , wofür noch in mittelaltrigen Urkunden decumanus
vorkommt (s. Rubbiani a. a. 0. p. 89) 4). Desmano heisst z. B. die Ravenna mit
der via Aemilia verbindende (bei Cesena einmündende) Strasse (s. Rosetti , La
Romagna 5) p. 254). Ebenso führt ein an dem Decumanus maximus der paduaner
Flurteilung liegender Ort den Namen ,Desman' (= italienisch „Decumano") ü).
Im ager Campanus kommt Cardito (ein in der Richtung der Cardines fliessender
kleiner Bach, also vielleicht eine ehemalige fossa limitalis) und Carditello (Flur-
name) vor. Cardeto findet sich ferner noch im Bolognesischen (Urkunde bei
Rubbiani p. 87) 7), aber ich zweifle, ob diese Namen nicht vielmehr ein cardetum,
(s. Ducange s. v., italienisch cardeto) ein Distelfeld, bezeichnen. Dicomano (= de-
1) Vgl. lex Ursonensis cap. CIIII (ßruns, fontes* p. 134): „qui limites decumanique intra
fines coloniae Genetivae deducti factique erunt, quaecumque fossae limitales in eo agro erunt:'
2) 125,5 (Hygin): „scio enim quibusdam regionibus cum adsignarentur agri adscriptum ali-
quod per centurias et flamini."
3) „si sors ita tulerat, aequo animo ferendutn habebat."
4) „. . limes decumanus . . inter Gaucianum et villam Ulianam" (Urk. des VIII. Jahrh.). Die
ganze Stelle auf S. 14.
5) La Romagna, geografia e storia per l'ing. Emilio Rosetti (Milano 1894). Dies ist ein vor-
zügliches Buch, eine statistische Darstellung der Romagna in Lexikonform. Hoffentlich folgen ähn-
liche Provincialhandbücher für die übrigen Landschaften nach.
6) Legnazzi teilt mit, dass die ganze Strasse so heisse (p. 221).
7) „tercia pecia in cardeto a mane limizunculus" (Saec. XIII). n
14 ADOLF SCHULTEN,
cumanus?) wird als Ortsname des florentiner Gebiets erwähnt (Not. degli Scavi
1887 p. 133). Ob der an einem limes gelegene Ort Quinzano b. Verolanuova
(s. Tafel I) vom limes quintanus (qaintarius) heisst, lasse ich dahin gestellt. Li-
midi (von limes) findet sich an einem limes bei Carpi (s. „Regium Lepidum"),
und im Gebiet von Florenz (s. unten „Florentia") „Limite".
S. Angelo in Formis, der Fundort des gracchanischen Centuriensteins, der
den decumanus primus und hardo XI bezeichnete, heisst vielleicht so von den
römischen formae = fossae limitales l). Sehr häufig ist in Oberitalien der Orts-
name Monticelli -). Ich halte es für möglich, dass der Name nichts anderes be-
zeichnet als die bei den Feldmessern so oft vorkommenden monticelli d. h. die
zur Bezeichnung der Grenzlinie dienenden kleinen Hügel. Monticelli kommt vor
z. B. südwestlich von Cremona am Po, westlich von Pontevico am Po, Östlich
von Verona, nördlich von Lonigo. Die Mitte der Centuriation von Padua be-
zeichnet der Ort S. Giorgio delle Pertiche, sicher so genannt von der pertica, der
Messlatte der Agrimensoren.
Es liegt nahe, zu fragen, wie lange die römische Centuriation als solche be-
standen hat. Noch in einer Urkunde des VIII. Jahrhunderts wird ein limes decu-
manus des Gebiets von Mutina (Modena) erwähnt. Die Stelle steht in der über
eine Schenkung des Langobardenkönigs Aistulf an das Kloster Nonantula aufge-
nommenen Urkunde vom J. 753 bei Troya, Codex diplomaticus IV, 4 p. 452 (num.
DCLXXI). Der Text bei Ughelli, Italia sacra (Roma 1647) Vol. II p. 105
weicht vielfach ab and ist, wie es scheint, fehlerhaft. Die Stelle lautet : „curtem
quoque Canetulo in territorio Mutinensi . . sive duas portiones de sylva LupuJeto seu
silvctm Murianese, Madcgaticum, Caprinam , Pontenariam et paludes Grumulenses
usque in limitem dec i m a n u m qui percurrit inter Gaucianum et villam Ulianam
et de ipso Jimitc in Panarium (= Panaro) veniente et de via decimanense ha-
bcatis communiter usque in fossätum finale cum decimanense et Ulianense seeun-
dum forum cohacrentias atejue ex parte fines Delamense in casale Modenulam.u
Es ist mir nicht gelungen die Ortsnamen aufzufinden und den decumanus
festzustellen.
Häufig sind auch nach römischen Zahlen benannte Orte wie Cento, Nonagin-
tula, Ducentola, Trecentola : alle im Gebiet von Bologna. Doch sind diese Namen
kaum von einem so und viele lugera umfassenden Gut herzuleiten, wie Erri
(Dell' origine di Cento, Bologna 1759) angenommen hat. Sie werden erst im
Mittelalter entstanden sein. Dass im Mittelalter ducentum ein Flurmaass ist, (s.
Ducange s. v.) ist aber vielleicht aus der 200 iug. umfassenden Centurie abzu-
leiten.
Innerhalb der Centuriation finden sich besonders häufig die sonst selteneren
Namen römischer Höfe wie Cornigliano, Gaiano, Damiano etc. Es wird unten bei
1) Im Mittelalter ist forma = fossa (s. Ducange s. v.).
2) Vgl. das Dizionario corografico im 5. Band des Werkes „L'Italia" s. voce.
n
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 15
der Besprechung des Einzelnen hervorgehoben werden, dass diese römischen
Flurnamen besonders an Kreuzpunkten der limites häufig vorkommen.
Man ist gewohnt die von römischen Ordinalzahlen (Quinto, Quarto, Decimo
etc.) benannten Ortsnamen von der römischen Milienzählung herzuleiten ; meistens
trifft das gewiss zu , aber zuweilen passt weder die Entfernung zweier so be-
nannter Orte zu der Milienzählung, noch liegen die Orte an einer grösseren
Strasse. Da wir nun aber bereits die Namen decumanus und cardo (?) in heutigen
Ortsnamen wiedergefunden haben, liegt es nahe in solchem Fall in Namen wie
Quinto, Quarto die Bezeichnung eines cardo oder decumanus quintus , quartus zu
finden.
III.
I>ie erhaltene Centuriation : 1. Brixia. 2. Cremona. 3. Placentia. 4. Veleia. 5. Florentiola und
Fidentia. 6. Parma. 7. Tannetum und Brixellnm. 8. Regium Lepidura. 9. Mutina. 10. Bononia.
11. Claterna. 12. Forum Cornelii. 13. Faventia. 14. Forum Livi. 15. Patavium. 16. Tarvisium.
17. Verona. 18. Opitergium. 19. Aquileja. 20. Pola. 21. Capua. 22. Florentia. 23. Carthago.
Ich gehe nun zur Besprechung der erhaltenen Centuriation über und beginne
mit den römischen Territorien der Poebene, wo sich die besten Beispiele finden.
Die beigefügten Tafeln I — YI sind zusammengestellt aus der italienischen Gene-
ralstabskarte, die im Massstab von 1 : 100000 auf Grund der Messtischblätter
1:25000 gezeichnet ist. Die Tafeln sind eine Beduction der Originalblätter
(1 : 100000) auf den Maassstab 1 : 150000. Tafel VII ist die Reproduction des
Messtischblattes (1 : 25000) Castelfranco dell' Emilia (Nordosten Blatt IV des
Blattes 87 der Generalstabskarte). Bei dem Arrangement des Kartenmaterials
habe ich mich der sachkundigen Hülfe des Herrn Professor Wagner zu er-
freuen gehabt, wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen wärmsten Dank
ausspreche.
Der Maassstab in der Ecke von Tafel IV zeigt eine Strecke von zehn Cen-
turien = 7100 m in der Reduction der Karten (1 : 150000), der auf Tafel VII
dieselbe Strecke in der Reduction der Tafel (1 : 25000). Zur Prüfung meiner
Ausführungen übertrage man sich den Maassstab auf einen Papierstreifen.
Um das Auffinden der im Text genannten Orte zu erleichtern, sind die
Karten in Quadrate geteilt. Mit o. 1., o. r., u. L, u. r., m. bezeichne ich : oben
links, oben rechts, unten links, unten rechts, und Mitte innerhalb der Quadrate.
1. Brixia (Brescia) (s. Taf. I). Südwestlich von Brescia laufen in einem
Abstand von 10 Centurien zwei parallele Wege; in ihrer Mitte, von jedem 5
Centimen entfernt, ist noch teilweise ein dritter vorhanden (über Verolanuova:
1 C.) : es sind 3 limites (cardines) quintarii der römischen Limitation. Der öst-
lichste (über Manerbio : 2 C.) ist — in seinem oberen Teil nach Nordosten, in seinem
unteren Teile nach Südwesten verlängert — die Verbindung von Cremona und
16
Brescia; gradlinig ist er nur bis Pontevico am Oglio (1 D.) : offenbar, weil hier
das Gebiet von Brixia und dessen Limitation endete. Wäre er ein später zur
Verbindung der beiden genannten Städte angelegter Weg, so würde er sie in
grader Linie verbinden. An römischen Flurnamen findet sich in dieser Gegend
z. B. Porzano (= fundus Porcianus) und Frontignano (= /'. Frontinianus).
Westlich von Brescia findet sich eine andere Limitation, deren Cardines von
Korden nach Süden und deren Decumani von Westen nach Osten laufen (s. das
Quadrat 1A.). Zu erkennen, wenn auch stark verschoben, sind noch vier in
einem Abstand von etwa 3 Centurien gezogene Cardines. Meano (1 B.) liegt auf
dem Schnittpunkt eines Cardo und Decumanus. Die Decumani sind schlecht er-
halten; doch sind der durch Trenzano (IB.) und der durch Meano führende
Weg Decumani : ihr Abstand beträgt 7 Centurien.
2. Cremona. Südlich vom Oglio beginnt eine andere Centuriation : die von
C remo na (s. Tafel I). Ihr Cardo maximus ist offenbar die vonRobecco am Oglio
(IX).) schnurgrade bis Crernona (1 E.) laufende Strasse. Von den östlichen Cardines
ist besonders deutlich der zehnte (bei Pieve Delmona : 2 E.) kenntlich. Die Centu-
riation geht im Osten etwa bis Rivarolo (4 F.), im Westen bis Corte dei Cortesi
(1 D.) , wenigstens reichen die Cardines nicht weiter. Im Süden ist natürlich
der Po, im Korden der Oglio die Grenze. Südlich der Strasse, die von Eiva-
rolo nach Cremona führt, beginnt eine andere Limitation, deren Cardines sich
mehr der nordsüdlichen Richtung nähern. Zu welchem Territorium sie gehören,
ist schwer zu sagen.
Die Agrimensoren berichten (Feldm. I, 170, 19) , dass in Cremona die Cen-
time 210 Iugera enthalten habe. Eine solche Centurie bildet ein Rechteck von
21 X 20 actus, während die gewöhnliche Centurie von 200 Iugera 20 X 20 actus
Seitenlänge hat. Katürlich lässt sich bei den geringen Resten der Centuriation
von Cremona die Centurie von 21 x 20 actus nicht mehr als solche erkennen.
3. Placentia (Piacenza) (s. Taf. II). Die Westgrenze der Colonie scheint
der Fluss Tidone (1 A.) gebildet zu haben, nicht die Trebbia, da die zu Placentia
gehörigen Inschriften Corp. Inscr. lat. XI, 1222 (aus Momeliano : 1 B.) und 1224
westlich von der Trebbia gefunden sind. Demnach muss die Centuriation westlich
der Trebbia placentinisch sein, während die östlich der Trebbia erhaltene und von
jener deutlich unterscheidbare zu Veleia gehören muss, wie wir gleich sehen
werden. Kach Osten zu stiess die Stadtflur von Placentia an die von Veleia, dessen
Gebiet sich wie das aller dieser auf dem rechten Poufer gelegenen Städte bis zum
Po erstreckt haben wird. Als Grenzfluss kommt in betracht Trebbia und
— weiter östlich — Kure (3 A.B.). Dass zum mindesten in ihrem Oberlauf die
Trebbia die Grenze gebildet hat, lässt sich mit Hülfe der aus der veleiatischen
Alimentarurkunde bekannten placentinischen Flurnamen feststellen. Auf der
Grenze von Placentia und Veleia lag der pagus Ambitrebius , dessen Kamen der
heutige Ort Travo an der oberen Trebbia (1 C.) bewahrt. , Ambitrebius'1 heisst
der Gau von der Trebbia (ambi- ist keltisch = griechisch a^icpt) wie die Ambilici
in Raetien vom Licus (Lech), die Ambidravii in Koricum vom Dravus (Drau)
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 17
heissen (s. meinen Aufsatz : „die peregrinen Gaugemeinden", Rh. Museum L, 532).
Im pagus Ambitrebius liegt der fundus Cabardiacus (für diesen und alle folgenden
Flurnamen der Tabula Veleias siehe die Zusammenstellung CIL. XII p. 226), dem
das heutige Caverzago (1 C. : südwestlich von Travo) entspricht. Von placenti-
nischen fundi auf dem linken Trebbiaufer lassen sich ferner identifiziren : f. Ma-
tellianus = Madelano (1 C.) , f. Licinianus = Lisignano (1 B.) , f. Passianus =
Passano (1 B.), f. Castricianus = Casturzano, f. Plautianus = Piozzano (1 B.). Lassen
sich so mehrere Punkte des placentinischen Gebiets auf dem linken Ufer der
Trebbia nachweisen, so sind andererseits mehrere veleiatische fundi auf dem
rechten Ufer bekannt, keiner auf dem linken. Dem f. Naevianus entspricht Ni-
viano (2B.). Bis hierher mindestens ist also das rechte Trebbiaufer veleiatisch
gewesen. Da Placentia selbst östlich von der Trebbia liegt, muss die Grenze
freilich südlich der Stadt von der Trebbia nach Osten abgebogen sein. Die Li-
mitation ist westlich von der Trebbia weniger gut erhalten, aber offenbar anders
(genau nach Norden und Osten) orientirt als die östlich der Trebbia vorhandene
und deutlich kenntliche. Da es aber agrimensorisches Prinzip war die Limitation
benachbarter Stadtfluren verschieden zu orientiren (s. oben p. 10) , um schon so
die Grenze kenntlich zu machen, so scheint das rechte Ufer der Trebbia bis auf
einen schmalen Streif, in dem Placentia lag, veleiatisch gewesen zu sein. Wie
bereits gesagt wurde, ist die Limitation des placentinischen Gebiets westlich
von der Trebbia schlecht erhalten, doch sind vielleicht zwei einen saltus begren-
zende also 5 Centurien von einander entfernte Cardines kenntlich (1 A. B.). Der
Östliche der beiden Cardines lässt sich in seinen Resten vom Apennin bis Grag-
nanino (1A.) verfolgen. Zwischen ihm und dem ersten Cardo östlich von der
Trebbia ist für den Fluss ein Gebiet von etwa 3 km frei gelassen (B. 1 — 2).
Die „fines flumini assignati" sind aus den Agrimensoren bekannt (s. oben S. 11).
Nirgendwo musste den Flüssen ein so breites Bett zugewiesen werden als im
Poland, wo die torrenti des Apennin im Frühjahr ungeheure Flächen zu über-
schwemmen pflegen. Der westliche der beiden Cardines läuft in der Mitte des
Quadrats 1 B.
Im Gebiet von Piacenza findet sich eine Menge römischer Flurnamen. Ich
nenne ausser den oben genannten noch : Gragnano (1 A.) = f. Granianus , Sar-
turano (IB.) = f. Sartorianus, Tavernago (IB.) = /. Taberniacus1).
4. Veleia (bei Macinesso : 3D.) (s. Taf. II). Im Osten stiess das Territorium
von Veleia an das von Parma, wie daraus hervorgeht, dass Grundstücke der ve-
leiatischen Urkunde nin Parmense" (pago Mercuriale: pag. V 82; 84; 85) oder
vin Veleiate et Parmcnse" (pago Salutare et Salvio: III 37) liegen. Die West-
grenze von Parma ist der Taro (s. Taf. III). Darum reichte aber das Gebiet von
Veleia keineswegs von der anderen Seite bis zu diesem Flusse, sondern berührte
sich mit dem ager Parmensis wohl nur im Appenin. Das Land zwischen Arda und
1) Die im Poland zahlreichen Namen auf -ago sind keltisch (-äcus). Man müsste ihre Ver-
breitung einmal verfolgen. In den mittelalterlichen Urkunden finden sie sich in Menge.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Pliil.-hist. Kl. N. F. Band 2, 7. 3 7
18 ADOLF SCHULTEN,
Taro muss im Uebrigen zu Florentiola und Fidentia gehört haben, denn die veleia-
tische Limitation endet an der Arda, die also als Ostgrenze von Veleia zu gelten
hat. Im Norden kann Veleia schon apriori nicht bis zum Po gereicht haben, da
seine westöstliche Ausdehnung so bedeutend ist. So ist denn auch das Land nörd-
lich der via Aemilia anders limitirt als das sicher veleiatische Gebiet. Die beiden
Limitationen stossen an der Aemilia in ziemlich starkem Winkel aufeinander.
Man wird dies Gebiet den beiden an der Aemilia gelegenen Gemeinden Fidentia
(Borgo S. Donnino: 5 C.) und Florentiola (Fiorenzuola : 4 B.) zuweisen müssen.
Als östliche Grenze von Veleia kommt neben der Arda auch die Chiavenna in
betracht. Alles östlich von Arda oder Riglio, auch das südlich der Aemilia ge-
legene, Land gehörte demnach zu Florentiola und Fidentia. Dazu stimmt, dass
die Limitation dieser Gegend die Fortsetzung der nördlichen (jenseits der Ae-
milia) nicht der westlichen, veleiatischen, bildet.
Was die Limitation des veleiatischen Gebiets angeht, so läuft der erste Cardo
östlich der Trebbia, Östlich von Molinazzo (2B.) und Gossolengo (2 A.). Die über
Suzzano, Settima (2 B.) nach Piacenza führende Strasse ist der fünfte Cardo. Der
zehnte lief über Podenzano = fundus Potentianus (2B.), der vierzehnte über S. Gior-
gio Piacentino (3 B.). Die Distanz zwischen den letztgenannten Ortschaften ist die
Breite eines saltus d. h. des vom ersten und sechsten Cardo (und den entsprechenden
decumani) begrenzten Quadrats von 25 Centurien (s. o. S. 10). Wir haben schon ein-
mal gesehen und werden noch öfter sehen, dass zuweilen nur je die sechsten Car-
dines, also die Seitenlinien der saltus, erhalten sind. Nun überliefern die römi-
schen Feldmesser, dass man bisweilen nur die limites qaintarii, je den sechsten
limes, als Strasse von 12 pedes (= 3,5 m) dagegen die anderen a]s limites linearii,
als blosse Messlinien oder aber nur 8 Fuss breite Wege , angelegt habe (vgl.
Feldmesser II, 350). Auf den Cardo von S. Giorgio folgt ein cardo quintarius:
der neunzehnte, welcher durch Valconasso (3 B.) läuft. Die beiden letztgenannten
Cardines sind bis zum Appennin c. 13 km. lang erhalten. Der von Valconasso
ist zweimal unterbrochen. Den Torrenti Nure und Riglio ist nur scheinbar kein
Gebiet zugewiesen, denn dass die limites durch die Flüsse hindurch gezogen sind
ist natürlich : so brauchte der Feldmesser nicht hinter dem Fluss aufs neue ein-
zuvisiren. Aber dem Flusse blieben die nächsten Centurien überlassen. In dem
Raum zwischen Arda und Riglio (3B.) einer- und via Aemilia und Apennin an-
dererseits sind deutliche Spuren von Limitation nicht erhalten. Der letzte er-
kennbare Cardo von Veleia ist der über Valconasso. Demnach reichte die Limi-
tation von Veleia und deshalb auch die Feldflur vielleicht nur bis zum Riglio
nicht bis zur Arda. Auffallend ist die Strasse, welche , dem Cardo von Valco-
nasso genau parallel, c. 1100 m weiter östlich (zwischen via Aemilia und Ri-
glio: 3B.) läuft. Die Distanz vom Cardo zeigt, dass sie nicht in das System
der Centuriation passt ; sie mag aber trotzdem römisch sein, denn sie hat genau
die Richtung der Cardines.
Weniger gut als die Cardines sind die Decumani zu erkennen. Der
nördlichste noch sichtbare läuft südlich von Quarto (der Ort liegt südlich von
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 19
Piacenza : 2 A.) l). Festzustellen sind ferner der nächstfolgende bei Gariga
(2B. oben), der vierte (Settima : 2B.) und der sechste, dessen Schnittpunkt mit
dem zehnten cardo (s. o.) der Ort Podenzano (2B.) bezeichnet. Dieser decu-
manus geht auch durch S. Giorgio (3 B.), wo er den fünfzehnten cardo schnei-
det. Ich mache schon hier darauf aufmerksam, dass solche grösseren und durch
ihre Namen als römisch kenntlichen Ortschaften sich häufig an den Schnitt-
punkten der grösseren limites finden. Es ist ja auch sehr wahrscheinlich, dass
die Colonisten Höfe an solchen Schnittpunkten anlegten , da diese die compita
der umliegenden Centurien bildeten. Von den weiter südlich gezogenen Decu-
mani sind sichere Spuren nicht erhalten.
5. Florentiola (Fiorenzuola) und Fidentia (Borgo S. Donnino) (s.
Taf. II). Der erste Cardo der jenseits (nördlich) der Aemilia angelegten Limi-
tation (s. Taf. II) läuft westlich vom torrente Nure bei Borghetto (3 A.). Dann
ist erst wieder der 7. — statt des 6., des quintarins, wie man erwarten sollte —
bei Mendolina (A. 3/4) sichtbar, dann der 11. an der Chiavenna (4B. oben links).
Der 15. fällt mit dem Kanal Le Fontana (4 A.) zusammen, der 17. ist c- 6 72 km
weit erhalten: es ist der letzte Cardo vor Cortemaggiore. Der 18. Cardo läuft
durch den grossen Ort Cortemaggiore. Zwischen diesem und dem nächsten (Mu-
lini: 4B. oben rechts), dem 21. Cardo, dem ersten jenseits der Arda, liegen drei
Centurienbreiten. Der Raum zwischen den beiden limites (18. und 21) , eine
Breite von drei Centurien (=== c. 2 km), könnte der Arda assignirt worden sein.
Weiter nach Osten sind noch kenntlich Cardo 24 (Castel d'Arda: 5B. oben links),
2^ (Mercore bis Carretto : 5B.), 29 (S. Andrea bis S. Rocco : 5B.), 30 und 31,
zwischen denen oben die Stadt Busseto (5B. o. r.) liegt, 32, 33 (durch Malcan-
tone : 5 B. u.); 34, nur als Feldweg erhalten, geht durch Castione dei Marchesi).
Es folgt: 35, 37, 38 (Bastelli-Stirone : 5C. 0. r.), der westlich von San Donnino die
via Aemilia trifft , 39 (Feldweg) , 40, 41 (als Feldweg bis zur via Aemilia rei-
chend), 42 (Soragna: 6B.). Oestlich von der Rovacchia (s. Taf. III oben links)
ist die Limitation zu sehr zerstört. Sehen wir nun die Decumani an.
Der dritte Decumanus dieses Gebiets (im Norden) geht durch Polignano (4A.)
vom ersten (Palazzina) sind nur einige Stücke erhalten. Polignano liegt auf
dem Schnittpunkt dieses Decumanus mit dem 13. Cardo. Die Strasse , welche
von Cortemaggiore nach dem Nure (und von diesem Fluss ab in anderer Rich-
tung nach Piacenza) führt, stellt den 10. Decumanus dar (den 8., wenn der bei
Polignano als der erste gilt). Daraus, dass er nur bis zum Fluss Nure reicht
— jenseits verändert sich die Richtung — folgt, dass der Nure die Grenze der
Limitation im Westen bildete. Das Gebiet von Florentiola und Fidentia wird
also begrenzt : im Norden durch den Po, im Westen durch den Nure, im Süden
durch die via Aemilia und im Osten (gegen Parma) durch den Taro. Als die Grenzt'
1) Der durch den Ort selbst, etwa 500 m weiter nördlich, laufende Weg muss unrümisch
sein oder aber einem anderen System angehören.
22 . 3*
20
der beiden kleinen Gemeinden wird der Stirone (5 C.) gelten können : die Limi-
tation scheidet die Territorien nicht.
6. Oestlich vom Taro liegt das Gebiet von Parma (s. Taf. III). Dass der
Taro die Westgrenze von Parma bildete, zeigt die Stelle des Itinerarium Hiero-
solymitanum p. 616 „matatio ad Tartim VII m. a Parma VIII a Fidentia" (s. CIL.
XI p. 189). Sieben Milien sind etwa 10 km. Heute ist der Taro 8V2 km von Parma
entfernt , er muss also seinen Lauf nach Osten verschoben haben ; die antike
Grenze wird bei Castelguelfo (1 D.) gewesen sein , welches genau 10 km vom
Mittelpunkt Parmas entfernt ist. Der erste Cardo (im Westen) scheint der durch
Castelguelfo, Noceto (1 D.) und (nördlich der Aemilia) durch Ronchetti (1 B.), S.
Secondo Parmense (2B.) und Gramignazzo bis zum Po gehende zu sein. Dass
der Taro früher weiter westlich geflossen ist , zeigt auch die Limitation : die
Decumani laufen nämlich bis dicht an das heutige Flussbett, während man bei
einem so bedeutenden torrente, wie es der Taro ist, die limites nicht bis in den
Fluss als Wege angelegt haben kann. Ferner macht die via Aemilia bei Castel-
guelfo eine Biegung , offenbar weil sie , zugleich als Decumanus dienend, durch
veränderte Richtung die Limitation schied. Im Osten muss die Enza (Streifen 5)
die Grenze gebildet haben, da jenseits eine andere Limitation beginnt. Auch
ist die Enza stets die Grenze des parmensischen Gebiets gewesen und bis heute
geblieben. Im Norden reichte Parma bis zum Po, denn die limites gehen bis
dicht an den Strom und die im Dorfe Sanguigna (4A.), wo ein römischer
vicus gewesen sein muss, gefundenen Inschriften sind parmensisch (C. XI p. 189).
Im Süden bildete, wie wir es von Veleia wissen, natürlich der „smnmus Apenni-
nusa die Grenze. Da einige veleiatischen Possessoren gehörige Grundstücke ,in
Parmensi' lagen *) , so müssen sich die beiden Territorien berührt haben. Dies
confinium kann nur im Gebirge gewesen sein.
Im ager Parmensis hat sich die Flurteilung so vorzüglich erhalten wie sonst
nur im Gebiet von Padua und Imola. Die Flurkarte von Parma ist das beste
Bild der römischen Limitation, welches denkbar ist. Als Cardo maximus muss die
noch heute schnurgrade laufende Strasse gelten, welche — ehedem die Ostseite der
Stadt streifend; heute ist sie vom torrente Parma unterbrochen — vom Apennin
bis fast zum Po läuft (über 22 km). Grade dass sie eine Strecke von 5 km (von
Parma bis Cortile S. Martino : 4 C.) nur noch als Weg erhalten ist, beweist ihr
Alter. Wie würde man eine Strasse an beiden Enden als Strasse und in der Mitte
als Weg anlegen ! Decumanus maximus ist die via Aemilia von Castelguelfo bis zum
Ostthor. Nicht ist sie es für die östliche Hälfte des S+adtgebiets, da sie am Ost-
thor nach Südosten abbiegt also nicht mehr lotrecht zu den Cardines läuft. Doch
ist ein anderer Decumanus maximus, die Verlängerung des westlichen, nicht vor-
handen. Existirt hat er jedenfalls: er muss östlich von Gazzano auf die Enza
gestossen sein und dort den über Sorbolo (5 C.) laufenden Cardo berührt haben.
1) tab. Veleias V 82: „in Parmense pag(o) Mercuriali" ; III 37: „in Veleiate et Parmense
pagis Salutare et Salvio."
n
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNO UND IHRE RESTE. 21
Dem Fluss Parma, der das Stadtgebiet in der Mitte durchfliesst, scheint
ein Gebiet von etwa 2 Centimen Breite assignirt worden zu sein (vgl. 3C).
Durch den Cardo maximus und die via Aemilia (Decumanus maximus bis zum Ost-
thor) wird das Territorium in vier ziemlich gleiche Teile geteilt. Agrimensorisch
heisst der östliche Teil pars antica (citra caräinem maximum), der westliche pars
posiica (ultra c. m.) — denn der orientirende Feldmesser blickt nach Osten — der
nördliche sinistra decumanum maximum, der südliche dextra decumanum maximum
(vgl. Feldmesser II p. 345 f. ; Mommsen, zum röm. Bodenrecht : Hermes XXVII.
90 f.). Das Ideal der römischen Flurteilung ist, dass die beiden Hauptlinien, De-
cumanus und Cardo maximus , sich im Mittelpunkt der Stadt schneiden (Feld-
messer II, 339). Diesem Ideal kommt die parmensische Limitation sehr nahe,
indem der Decumanus maximus die Stadt halbirt und der Schnittpunkt der
beiden Wege wenn auch nicht in das Centrum so doch in die Peripherie der
Stadt fällt, da der Cardo maximus die Ostfront tangirt. Genau so ist es bei
Capua (s. unten). Von Castelguelfo aus gibt es etwa 28 Cardines, der Cardo
maximus ist der 18. Der 17. geht durch den Mittelpunkt der Stadt. Er ist
in der Stadt als via Garibaldi und weiter nördlich bei Cortile S. Martino,
westlich der Eisenbahn, 2 km lang (3 C.) und wieder von der Station Torrile an
4 km lang (4 C. o. 1.) erhalten. Auf der letztgenannten Strecke fällt er mit der
Eisenbahn zusammen. Vielleicht ist er und nicht der folgende der Cardo maximus
gewesen. Südlich der via Aemilia fehlt er ebenso wie der Decumanus maximus
im Osten. Am besten sind von den übrigen Cardines die cardines quintarii er-
halten. Geht man vom Cardo maximus aus, so läuft der nächste quintarius im
Westen über S. Pellegrino Scarzara (2 E. o. r.) , der zweite, vortrefflich erhal-
tene (11km lang), vom Apennin (2E. u. 1.) bis Cornazzano (2C. o. r.). Nach
Osten geht der nächste quintarius über Ramoscello (im Norden) bis Marano
(im Süden: 4 F.), der zweite über Martorano (4 E. u. r.) und Pecorile (4 F. o. r. ).
Was die Decumani anbelangt, so sind südlich des Decumanus maximus 3 quin
tarn feststellbar, nördlich ebenfalls drei.
Im Ganzen lässt sich das limitirte parmensische Gebiet darstellen als ein
Rechteck von 17 + 10 = 27 Centurien Breite und 15 + 18 = 33 Centurion Länge
(Süd-Nord), denn in der linken Hälfte (zwischen Cardo maximus und Castelguelfo)
lassen sich 17, in der rechten (bis zur Enza) 10, in der oberen (bis S. Secondo) 15
und in der unteren Hälfte (bis zum Apennin) 18 Centurienbreiten abmessen.
Dieses Rechteck enthält 890 oder rund 900 Centurien. Das sind 180000 lugera.
Aus Livius (39, 5) wissen wir , dass in der Colonie Parma jeder der 2000 Co-
lonisten 8 lugera erhielt; alle zusammen hatten also 16000 lugera inne. Das
ist noch nicht einmal !/io des sicher centuriirten Gebiets. Ein grosser Teil des
übrigen Landes wird den alten Besitzern, dem ,vetus possessor' (s. Feldmesser
II, 384), belassen worden sein und ein anderer den Colonen als Gemeindeland
(pascua publica) gedient haben. Aber bei solch kleinen Loosen, wie es acht
Morgen sind, muss eine grosse Landfläche im Sammteigentum der Colonisten
gestanden haben: das sind die compascua publica, die jedem Ansiedler freiste-
22
hende Weide , die Ergänzung des zu vollem Eigen assignirten Looses (s. Feld-
messer II, 395).
Auch im Parmensischen findet sich eine Menge von Orten mit römischen
Namen, besonders an den Schnittpunkten der Centurien. Auf eine wichtige
That sache muss noch aufmerksam gemacht werden, dass nämlich fast über-
all nur im Abstand von je zwei Centurien Decumani vorhanden sind. Es
scheint fast, dass die Flur von Parma nicht in Centurien sondern in Rechtecke
von zwei Centurien geteilt gewesen ist. Ob man diese Rechtecke in der
Längsausdehnung von Nord nach Süd strigae (s. Feldm. II, 290) nennen darf,
lasse ich unentschieden. Man vergleiche 4C. und D. Centurien von 400 Iugera
kommen in Spanien vor (Feldm. I, 159, 10). Nur vereinzelt sind einfache Cen-
turien erhalten, wenigstens solche , die von breiteren, auf der Karte 1 : 100000
als Strassen gezeichneten Wegen umgrenzt sind (4C). Bedenkt man, dass die
parmensische Centuriation gut erhalten ist, so muss man sagen, dass sich auch
im Gebiet von Parma statt der Doppelcenturien einfache wie in Padua finden
würden, wenn sie vorhanden gewesen wären.
7. Tannetum und Brixellum. Oestlich von der Enza beginnt eine
neue Limitation (s. Taf. III). Während die limites der östlichen Hälfte des par-
mensischen Gebiets mit der via Aemilia einen spitzen Winkel bilden, stossen
die limites jenseits der Enza fast senkrecht auf die Strasse, die für Regium Le-
pidum (Reggio) den Decumanus maximus bildet. Die nächsten römischen Ge-
meinden jenseits der Enza sind Tannetum (Tanneto bei S. Ilario: 5E.) an
der via Aemilia und Brixellum am Po (Brescello : 6B.) (s. C. XI p. 181
u. 182). Die Ostgrenze der beiden Stadtfluren kann nur der torrente Cro-
stulu (Streifen 8) gewesen sein. Die Centuriation dieses Gebiets ist vor-
züglich erhalten; der Cardo maximus läuft durch Poviglio (7.C.), bei Calerno
(6 F. o. r.) durchschneidet er die via Aemilia. Decumanus maximus ist wohl
der nördlich von Castelnuovo (7D.) laufende limes. Kenntlich sind von Car-
din e s östlich des Cardo maximus ausser ihm noch 7 (der 7. nicht weit von
der Grenze), der 4. geht durch Castelnuovo; westlich sind 6 kenntlich. Decu-
mani sind nördlich des Decumanus maximus 8 gezogen — der 4. und 6. sind
besonders gut erhalten — südlich des D. M. ebenfalls 8. Das centuriirte Ge-
biet hat etwa eine Breite von 13 und eine Länge von 14 Centurien also eine
Fläche von 182, rund 180 Centurien = 36000 Iugera. Die südliche Hälfte, in
der die Decumani fehlen, ist ausser Acht gelassen. Ueber die Grenze zwischen
Tannetum und Brixellum lässt sich nichts ausmachen: die Limitation ist wie
bei Florentiola und Fidentia einheitlich. Der Norden muss zu Brixellum, der
Süden zu Tannetum gehört haben.
8. Jenseits des Crostolo beginnt das Gebiet von Regium Lepidum
(Reggio) (s. Taf. III). Seine Grenze gegen Mutina (Modena) muss der Secchiafluss
(13 Gr.) gebildet haben. Regium liegt genau auf dem Schnittpunkt der via
Aemilia und der grossen Strasse Reggio-Novellara (10 C). Diese ist der Cardo, die
via Aemilia der Decumanus maximus. Westlich vom Cardo maximus sind noch 8
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 23
andere Cardines erkennbar. Im Osten des Cardo maximus ist etwa 8 km weit
(bis Correggio : 10 E.) fast keine Limitation sichtbar, erst östlich von Correggio
läuft ein gut erhaltener Cardo (11 D.). Wenn auch in diesem Gebiet die Limi-
tation nicht ganz gefehlt zu haben scheint, so bildet doch jedenfalls die Centu-
riation bei Carpi (12 E.) eine selbständige Gruppe. Der Cardo bei Correggio
ist vom Cardo maximus 12 Centurienbreiten entfernt. Man muss annehmen, dass
dieses 12 Centurien breite Gebiet von der Assignation eximirt worden ist, dass
es ,ager exceptus1 und als solcher gar nicht vermessen war. Oestlich von Correg-
gio beginnt ein neues Centuriennetz, dessen Centrum Carpi darstellt. Mit Recht
haben die Editoren des Corpus Inscr. lat. (XI p. 170) angenommen , dass hier
eine Gemeinde lag: die Limitation bestätigt dies vollständig. Freilich ist es
schwer, die Grenze zwischen ihr und Regium anzugeben, da ein Flusslauf fehlt.
Vielleicht bildete der ß Naviglio1 genannte Kanal die Grenze (10 E.). Carpi
liegt wohl am Kreuzungspunkt des Cardo und Decumanus maximus. Der De-
cumanus maximus läuft südlich von Carpi bis zur Secchia, der Cardo maximus
ist 9 Centurienbreiten lang erhalten (12 D. u. E.). Westlich von ihm laufen 9
(der 9. östlich von Correggio), östlich 10 Cardines (der 10. fällt mit der Secchia
zusammen). Decumani giebt es nördlich vom D. M. etwa 9, südlich etwa 13.
Das Gebiet der Centuriation von Carpi hat eine Breite von c. 20 und eine
Länge von c. 23 also eine Fläche von 460 Centurien = 92000 Iugera. Innerhalb
dieser Centuriation finden sich die römischen Flurnamen Mariano (Marianas),
Trignano , Panzano , Bottignana , Fazzano. Am Decumanus maximus liegt ein
Hof Limidi (13 E.). Ob der Name von den limites herkommt?
9. Mutina (Mo den a) (s. Taf. IV). Die eigentliche Limitation des Gebiets
von Mutina beginnt erst jenseits des Panaro (Streifen 2); das Land zwischen
dem Grenzfluss Secchia und dem Panaro weist nur geringe Zeichen von Limi-
tation auf. Fünf Centurien sind von einander entfernt die beiden Cardines
von denen der eine bei Gorzano , der andere bei Spezzano — beide Orte am
Apennin: IC. — beginnt. Der westliche tangirt den torrente Cerco (IB.) und
ist 9 , der andere l1^ km lang erkennbar. Der südlichste Decumanus läuft
bei Maranello (IC), ferner sind kenntlich der 6. 12. 16. Das ganze Land
zwischen Panaro und Samoggia (Streifen 4) — dem Grenzfluss nach Osten
s. C. XI p. 133 — ist limitirt. Als Cardo maximus wird man den zwischen
Castelfranco und F. Urbani (3B.) laufenden Cardo anzusehen haben. Decu-
manus maximus wird der südlich von S. Giovanni Persiceto (4B.) und durch
Xonantola (3 A.) laufende Decumanus sein. Als erster Cardo des Gebiets zwi-
schen Panaro und Samoggia kann der Cardo gelten, welcher bei Grande (2 B. o.
r.) auf den Panaro stösst und mit dem Fluss östlich von Bomporto (3 A. o. 1.)
zusammenfällt. Kenntlich sind ferner der 3. 4. 5. (zwischen 4 und 5 liegt Xo-
nantola), 8 — 22. Der 10. ist der Cardo maximus, der 12. geht durch Crevalcore
(3A.), der 22. durch S. Giovanni (4B.) Dieser 22. Cardo von S. Giovanni in
Persiceto ist vorzüglich erhalten : er lässt sich fast durch das ganze K*rtenblatt
(von 4A. — 3D.) verfolgen auf eine Länge von über 35 km (10 vom Apennin
24 ADOLF SCHULTEN,
bis zur via Aemilia, 10 bis S. Giovanni, 15 bis zum Rand der Karte). Zwischen
der via Aemilia und S. Giovanni ist er zerstört. Zwischen diesem grossen,
dem 22. Cardo und dem gradlinigen Teil der Samoggia in Quadrat 4 B liegen noch
5 Cardines ; die Samoggia deckt sich an dieser gradlinigen Partie mit dem 6.
Cardo, dem 28. der ganzen Reihe. Vom Panaro bis Castelfranco sind die Cardines
nur nördlich der via Aemilia gut erhalten, dagegen die folgenden (11. — 28.)
bis zum Apennin. Im Norden reichen sie nicht über Crevalcore (3 A.) hinaus : der
durch diesen Ort gehende Decumanus macht die Grenze. An zwei Stellen läuft
die Samoggia einmal auf 2 (3 C. o. r.), das andere Mal auf 4 km (4 B.) genau in
der Linie eines Cardo, stellt also hier, ohne subsiciva zu lassen , den Abschluss
der Limitation dar ; das eine Mal bildet sie ein Stück des 22. , das andere Mal
ein Stück des 28. Cardo.
Decumani zähle ich südlich des Decumanus, der südlich von S. Giovanni
und durch Nonantola geht (Decumanus maximus?) bis zur via Aemilia 13; sie
selbst ist der 13. Jenseits der via Aemilia ist zwischen dem 13. und 22. Cardo
noch Raum für 9 weitere Decumani, weiter östlich nur für 7; der durch Cres-
pellano (3 C.) laufende Decumanus bezeichnet die Südgrenze der Decumani. Nörd-
lich des Decumanus maximus, finde ich 11 Decumani; Crevalcore liegt am
Schnittpunkt des 11. Decumanus mit dem 12. Cardo. Sucht man den Flächen-
inhalt des Gebiets von Mutina zu bestimmen , so bildet der nördlich der via
Aemilia liegende Hauptteil ein Quadrat, das im Norden von dem durch Creval-
core gehenden Decumanus , im Westen vom Panaro , im Süden von der via
Aemilia und im Osten von der Samoggia begrenzt wird. Seine Dimensionen
sind etwa 22 x 22 Centurienbreiten , die man für die Höhe auf den Cardo ma-
ximus (bei Crevalcore), für die Basis auf der via Aemilia abmessen kann.
Das giebt 484, rund 500 Centurien = 100000 Iugera Fläche. Das ist aber
nur das Minimum, das sicher centuriirte Land. Hinzu kommt der südlich
der via Aemilia zwischen Secchia und Samoggia gelegene Teil. Nach Livius
(39, 51) erhielten die 2000 nach Mutina deducirten Colonisten je 5 also zusammen
10000 Iugera. Diese Loose nehmen nur 1/io des sicher assignirten Landes
ein. Alles übrige Land war Allmende (pascua publica) und den alten Bewoh-
nern belassener Besitz {agri adsignati veteri possessori).
Ein ungemein interessantes Zeugnis der Centuriation des mutinensischen
Gebiets enthält die oben (S. 14) mitgeteilte langobardische Urkunde. Sie erwähnt
einen limes decimanus und eine via decimanensis am Panaro. Trotzdem das Do-
kument verschiedene Ortsnamen nennt, habe ich vergeblich versucht, den decu-
manus zu localisiren.
10. Bononia (Bologna) (s. Tafel IV u. V). Wie gesagt, scheint an der Sa-
moggia das Gebiet von Bologna (Bononia) zu beginnen. Die Ostgrenze bildet
der Idice (Idex, s. Tafel IV, Streifen 6) *). Durch den Reno (Streifen 5) wird
1) Denn die Tabula Peutingeriana bezeichnet ihn deutlich als Grenzfluss, der von Bononia
IV, von Claternae VI Milien entfernt sei. Heute ist der Idice weiter als 4 Milien (= 6 km.) von
Bologna entfernt.
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 25
das Gebiet von Bologna in zwei ungleiche Teile geteilt; der östliche ist der
grössere. Orientirt sind die Flurteilungslinien nach der via Aemilia als Decu-
manus maximus. Cardo maximus kann nur der die Westseite des antiken Bo-
logna tangirende , im Norden (auf 10 km) mit dem Kanal Naviglio (B. 5 u. 6)
zusammenfallende Cardo sein.
Die Limitation des zwischen Samoggia und Ueno liegenden Gebiets ist am
Besten südlich der via Aemilia, also — agrimensorisch zu reden — sinistra, dextra
decumanum, erhalten. Zwischen dem durch Ponte Samoggia (3C. o. r.) gehenden
und dem dicht am Torrente Ghironda (4 C.) vorbei laufenden Cardo (der weiter
nördlich mit der Samoggia coincidirt) liefen noch fünf Cardines. Weiter östlich
ist als nächster Cardo ein quintarius erhalten (4 C), dem zum Teil der Torrente
Lavino folgt. Bis zum Ueno giebt es dann noch sieben Cardines. Die zwischen
dem Reno und dem Cardo maximus gezogenen Cardines und Decumani (5 C.) enden
alle, bevor sie den Fluss erreichen; dadurch entsteht (schematisirt) folgende
Figur :
■H4JV~H~n
Das entstehende Zickzack bezeichnet die Grenze des dem Fluss assignirten
Gebiets. Ich wies schon darauf hin (S. 18), dass, wenn bei einigen Flüssen die
limites bis an den Fluss gezogen sind, dies nicht verleiten darf, anzunehmen, der
Fluss sei mit assignirt worden. Um nicht jenseits des Flusses sich von neuem
orientiren zu müssen, visirte man über den Fluss hinweg, so dass der Fluss mit
centuriirt wurde, wenn auch die Wege natürlich nur bis an sein Ufer gezogen
wurden. „Fines flumini assignare" bedeutet nicht Exemption von der Centuriation,
sondern von der Assignation an die Loosempfänger. Die seinem Bett zunächst
liegenden Centurien erhielt der Fluss assignirt. Nur bei sehr breiten unüber-
sehbaren Flüssen kam die „fluminis varatio", die Uebermessung des Flusses, zur
Anwendung (Feldm. II, 341). Am Besten ist die Limitation zwischen dem Cardo
maximus und dem Idice (Streifen 6) erhalten.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, i. 4
26 ADOLF SCHULTEN,
11. Jenseits des Idice beginnt das Territorium von Claterna = Quaderna
am gleichnamigen Fluss (Taf. IV, 6 D.). Im Osten gegen Forum Cornelii (Imola
Taf. VI) wird der Torrente Silaro, der die via Aemilia bei Castel S. Pietro schneidet,
die Grenze gebildet haben (s. C. XI p. 128), da die peutingersche Tafel die Ent-
fernung des Silaro von Claternae und Forum Cornelii angibt (je 7 m. p. =
1072 km)1). Die limitcs Östlich vom Idice gehören demselben System wie die
westlichen an. Dem Fluss scheint man in der oben bezeichneten Weise „fines"
assignirt zu haben. Erhalten ist die Centuriation besonders bei Fiesso (am Idice)
und Budrio. Der „Via di Cento" genannte Weg ist ein Cardo. Weiter östlich
liegt Medicina am Schnittpunkt von Cardo und Decumanus.
12. Forum- Cornelii (Imola). Im Gebiet von Forum Cornelii ist die
Centuriation vortrefflich erhalten (s. Taf. VII). Decumanus maximus ist immer
noch die via Aemilia , als Cardo maximus wird man den mit dem Canale dei
Molini zusammenfallenden und Imola östlich der Station schneidenden Cardo
bezeichnen müssen. Die Tabula Peutingeriana bezeichnet den Senio (ßinius) als
Grenze2) nach Osten (s. Taf. VI unten rechts). Wie Parma liegt Imola auf
dem Decumanus, der via Aemilia. Westlich vom Cardo maximus sind 11, östlich
bis zum Senio 14 Cardines gezogen. Der 14. Cardo geht durch Lugo. Die weiter
Östlich laufenden Cardines gehen über den Senio in das Gebiet von Faenza über,
zum mindesten im Süden. Ebenso ist es bei den Decumani. Ich habe schon
gesagt, dass der Fluss, trotzdem die limites über ihn hinauslaufen, sein Gebiet
gehabt hat, indem man die nächstliegenden Quadrate nicht den Colonisten son-
dern ihm assignirte.
Decumani zähle ich ausser der via Aemilia, dem Decumanus maximus, 30.
13. Faventia (Faenza). Das Gebiet von Faventia3) muss bis zum
Montone gereicht haben. Der Cardo maximus geht auch hier mitten durch
die Stadt und läuft nördlich bis Bagnacavallo. Westlich von ihm sind noch 5 Car-
dines gezogen, ebenso viel östliche bis zum Torrente Lamone. Zwischen Lamone
und Montone lassen sich noch 6 oder mehr Cardines feststellen. Im Norden
scheint die Limitation nicht über die Höhe von Cotignola am Senio hinausge-
gangen zu sein. Bis dorthin giebt es 18 Decumani. Im mittleren Teil des
Stadtgebiets, am Montone , ist von Limitation heute wenig zu sehen , aber die
Ansätze der Cardines sind da.
14. Forum Livi (Forli). Cardo maximus der Feldteilung von Forli
1) Heute ist der Silaro von Imola 11, von Quaderna c. 71/» km entfernt; das antike Clater-
nae muss also etwa 21/2 km westlich von Quaderna gelegen haben.
2) Nach Forum Coruelii sind es VI nach Faventia III Milien = 9 bezüglich 472 km. Die
Entfernungen stimmen ganz genau, der Fluss hat also seinen Lauf nicht verändert.
3) Für die Territorien Faenza und Forli fehlt noch die Karte 1 : 100000. Zur Aushülfe be-
diente ich mich der im Maassstab 1 : 86400 aufgenommenen österreichischen Generalstabskarte,
welche die italienische Regierung auf den Maassstab 1 : 75000 hat vergrössern lassen (Carta topo-
grafica della Lombardia, del Veneto e dell' Italia centrale: No. 12 des Catalogo di carte e libri
pubblicati dell' Ist. Geogr. Mil.).
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 27
scheint der mitten zwischen der Stadt und dem Montone die via Aemilia
schneidende Cardo zu sein, wenigstens hat er die grösste Länge. Die Limitation
geht im Osten nur wenig über den Ronco hinaus: dieser Fluss wird die Grenze
von Forli gewesen sein.
15. Patavium (Padova)1) (s. Taf. V). Im Nordosten von Padua. in dem
von der Brenta im Süden, dem Flusslauf MuSone dei Sassi im Westen, dem Mu-
sone vecchio im Norden und dem Canale Mirano im Osten eingeschlossenen Ge-
biet (3 C), ist das Netzwerk der römischen Centuriation fast bis auf die letzte Cen-
turie erhalten, also noch weit besser als im Gebiet von Parma, Bologna, Imola
und Faenza. Jenseits des Musone vecchio beginnt eine andere Limitation (3B.),
deren Cardines nord-südliche und deren Decumani west-östliche Orientirung haben.
Nach Norden bildet also der Musone vecchio die Grenze des Gebiets von Padua.
Im Westen hat der ager Patavinus bis halbwegs Vicenza gereicht (also etwa
bis Grisignano : IC), denn die Station „ad fincs" liegt X mil. von Padua, XI
von Vicenza entfernt (Itin. Hierosol. p. 559 vgl. C. V. p. 240). Ohne dies Zeug-
nis würde man annehmen, dass die Grenze dem Brentafluss gefolgt sei , der die
natürliche Grenzlinie bildet und auch die Limitation wirklich begrenzt. Tachia
liegt ausserhalb des centuriirten Gebiets — dasselbe fanden wir bei Piacenza —
bildet also eine Exclave seines eigenen Territoriums. Auf Grund der Topo-
graphie würde man annehmen, dass es durch den Canal Brentella , der Brenta
und Bacchiglione verbindet (2C. D.), im Osten, durch den Canale Scaricatore im
Süden und durch die östlichen Wasserläufe an die Brenta und das centuriirte
Gebiet angeschlossen gewesen sei (2D.). Wegen der Station ad fhics ist aber
die Westgrenze weiter nach- Westen anzusetzen. Sie wird von Citadella (1A.
u. r.) bis etwa Piazzola (2B. u. 1.) dem Flusse gefolgt und dann nach Grisi-
gnano - Montegalda (IC.) zu, also südwestlieh, abgebogen sein. Der Bacchiglione
bildet die Südgrenze. Südlich der Brenta, also in der Umgegend von Padua.
fehlt Limitation ; südlich vom Bacchiglione ist limitirt aber mit anderer Orien-
tirung. In dieser Region liegt Abano Bagni (1 D.). das antike Aponus (CIL. V
p. 271). Cardo maximus ist die Strasse Padova-Monselice (parallel der Eisenbahn:
2D.). Die Inschriften scheinen zu ergeben, dass auch dieses Gebiet zu Padua
gehörte. Die Grenze gegen Ateste (Este) läuft weiter südlich und Plinius (N.
H. II § 103) nennt die Bäder von Aponus patavinisch. Wir haben also inner-
halb des Gebiets von Padua zwei verschiedene Limitationen. Dasselbe ist für
Minturnä bezeugt (Feldm. I, 178). Dort lag jenseits des Liris die „ath'ujnatio
nouau, von der alten Assignation durch andere Orientirung geschieden.
Eine dritte Limitation scheint sich südlich von der eben besprochenen zu
finden. Ihr Decumanus maximus ist die Strasse Monselice-Consalvc-Concadalbero,
an der ein in Urkunden genannter Ort Decumanus (Dcsman) lag, ihr Cardo ma-
ximus war die von Hadria (heute Adria) nach Altinum führende via Popilia.
Als Decumanus maximus der Centuriation zwischen Brenta und Musone
1) Ueber die Centuriation von Padua handelt Gloria, L'agro patavino dai tempi romani alla
päce di Costanza (Venezia 1881).
28 . ADOLF SCHULTEN,
vecchio wird die noch heute den Namen Desman (= decumanus) erhaltende
Strasse l) Desman — Borgoricco — S. Michelo delle Badesse — S. Giorgio delle Per-
tiche gelten dürfen (3 C. oben). Sie wird durch den Musone dei Sassi nach einem
Lauf von 14 km unterbrochen, setzt sich aber über S. Giorgio delle Pertiche bis
zum Fiume Piovego fort. Der nächste Decumanus nach Süden zu lässt sich vom
Musone vecchio im Osten bis zur Brenta im Westen verfolgen. Die übrigen Decu-
mani reichen nur bis zum Fiume Piovego. Der Name des Orts S. Giorgio delle Per-
tiche kommt von der pertica, der Messlatte, her. Mit dem Namen muss man das
Centrum der Limitation bezeichnet haben, welches sonst von dem Visirkreuz groma
heisst. Cardo maximus ist offenbar die am Musone dei Sassi entlang laufende
Strasse über Camposampiero (2B.). Es ist die antike via Aurelia, die von
Padua nach Asolo führte. Bei Vigodarzere (2 C. u. m.) soll nach Gloria der
Name Contrada de Aurella vorkommen. Die via Aurelia bestimmte die Orienti-
rung der patavinischen Limitation ebenso wie die via Aemilia die der anliegenden
Städte. Cardines sind etwa 25 — der Cardo maximus ist der 20. — gezogen, De-
cumani etwa 17. Wenn man Legnazzi glauben darf, so geben die Bauern im
Paduanischen noch heute Entfernungen nach den quadrafi , also den Centimen,
an (Legnazzi p. 220). Nach Gloria (bei Legnazzi p. 223) sollen an der Strasse,
die von Desman (3 C. o. r.) nach Borgoricco führt, gelegene Höfe ,Case al Des-
man' heissen und die Gegend selbst , Contrada dei desmano' genannt werden. Dann
würde sich der alte Name des Wegs bis heute erhalten haben.
IG. Tarvisium (Treviso) (s. Tafel V). Jenseits des Musone vecchio ist
mit der Orientirung nach Osten und Süden centuriirt. Wir haben es hier offen-
bar mit der Flurteilung von Tarvisium (Treviso) zu thun. Die der
Eisenbahn fast parallel laufende Landstrasse nach Treviso (über Mogliano
und Preganzol : 4 B.) bildet einen Cardo ; bis Preganzol hat sich ihre ursprüng-
liche Richtung erhalten. Die Centuriation reicht im Osten bis zu dieser Strasse,
im Westen etwa bis zum Musone dei Sassi, im Norden kaum viel über Treviso
hinaus , im Süden, wie gesagt , bis zum Musone vecchio , wo sie in einem deut-
lichen Winkel auf die von Padua stösst (s. die Nordgrenze der Quadrate 3 B.
und C). Westlich vom Musone dei Sassi beginnt wiederum eine neue Centuria-
tion. Ihr Decumanus maximus ist die via Postumia (sie durchschneidet die Qua-
drate A. 1 — 4 von oben rechts nach unten links), ihr Cardo maximus die schnur-
grade Strasse von Citadella nach Bassano (1A.). Im Westen reicht diese Per-
tica bis zur Brenta, im Norden bis zu den Alpen. Wo sie sich im Süden (2B.)
mit der Centuriation von Padua berührt hat, ist nicht mehr zu erkennen. Weit
1) Dieselbe Erscheinung, dass der Name einer via im Namen eines an ihr gelegeneu Orts
erhalten ist, findet sich auch bei der via Postumia, an der der Ort Postioma liegt (4 A. o. 1.). Eine
„cilla . . quae dicebatur Decumanus" kommt in einer von Gloria (a.a.O.) citirten Urkunde von
1489 (?) vor; derselbe Ort ist in anderen Dokumenten Desman genannt. Er liegt an der Strasse
Monselice - Concadalbero, die wohl der Decumanus maximus der südöstlich von Padua vorhandenen
Limitation ist (s. Gloria).
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 29
über Oamposampiero (2B.) scheint das Territorium von Padua nicht hinausge-
reicht zu haben. Die kleine Stadt Citadella wird in der Mitte durchschnitten
von dem Cardo maximus und dem 3. Decumanus südlich der via Postumia. Sie
bildet den natürlichen Mittelpunkt der Pertica. Nach allen vier Himmels-
gegenden laufen aus ihren Thoren Strassen aus : nach Osten (Treviso) , nach
Westen (Vicenza), nach Norden (Bassano), nach Süden (Padua). Citadella kann
— obwohl im Mittelalter gegründet — seiner Anlage nach das Ideal einer rö-
mischen Stadtanlage veranschaulichen: die beiden Hauptwege teilen zugleich
Stadt und Feldmark in vier Quartiere, wie es die agrimensorische Theorie ver-
langte. Auf ihrem Marktplatz möchte man sich die groma des Feldmessers auf-
gestellt denken . mit der er nach vier Seiten hin visirte. Zu welchem Stadtge-
biet diese Centuriation gehörte, ist nicht auszumachen (vgl. auch C. I. L. V p.
198), kaum zu dem trevisianischen, da dessen Orientirung eine andere ist. In
Betracht kommen noch Padua, Vicenza, Feltria (in den Alpen).
17. Auch im Gebiet von Verona1) (Blatt 49 der Karte 1:100000) sind
Spuren der Centuriation erhalten und zwar besonders in den beiden Thälern
des Torrente Valpanteno und Progno d'Illasi (beide östlich von Verona). Die
Cardines folgen der Längsrichtung des Thals. Auch weiter östlich bis Lonigo
sind Reste einiger Cardines erhalten, aber mit anderer Orientirung.
18. Zur Flur t eilung von Opitergium (Odergo) gehören die vier Cardines
bei S. Dona di Piave und der Decumanus von Noventa di Piave (vgl. die k. k.
österreichische Karte 1 : 86400 Blatt G. 4).
19. Ebenso sind von der Centuriation von Aquileia noch Spuren erhalten
(s. d. österr. Karte 1 : 75000).
20. lieber die Centuriation des Gebietes der Colonie Pola handelt der um
die istrische Lokalforschung hochverdiente, aber in diesen Dingen höchst unkri-
tische Kandier (Notizie storiche di Pola , Parenzo 1876 ; vgl. auch Legnazzi,
Catasto p. 170 f.). Aus der österreichischen Generalstabskarte lässt sich fol-
gendes feststellen : Der Cardo maximus läuft westlich von Pola nach Galignano
und Pedena, der Decumanus maximus nach Sissano (vgl. die Österreich. General-
stabskarte 1 : 75000, Zone 26, col. X, Blatt Pola und Lubenizzo). Ausser den
beiden Hauptlinien sind noch mehrere (5) Cardines erkennbar. Im Gebiet von
Pola finden sich nach Kandier besonders viele agrimensorische Ortsnamen (s.
Legnazzi p. 170 f.) wie Gromazzo (von groma?), Limeto, Arcelle (arcellae s. Feld-
messer I, 227,5; 252,15; 308,25), Monte delle Sorti (von den assignirten sor-
tes ?). Eine höchst interessante Urkunde der Limitation von Pola ist in der
Nähe von Parenzo (Parentium) gefunden worden, nämlich ein Cippus mit der
Inschrift (CLL. V341): VIA -PVB • LAT • P XX. Da 20 Fuss die Breite des
Cardo maximus ist (Feldm. II, 350), kann kein Zweifel sein, dass der Cippus
1) Bei dieser Stadt und den folgenden habe ich die Beifügung von Karten unterlassen, weil
die Reste der Flurteilung nur gering sind. ,
30 ADOLF SCHULTEN,
sich auf den durch Parenzo gehenden Cardo maximus des Gebiets von Pola
bezieht.
Es Hessen sich in Oberitalien wohl noch manche Spuren der römischen Cen-
turiation nachweisen, aber es sollten nur die bedeutenderen besprochen werden.
Meitzen will auch bei Tarent. Bari, (Chieti an der Küste) und bei Sepino (Sae-
pinum), Venasso (Venair um), Pontecorvo Spuren von Centuriation bemerkt haben
(Siedelung I p. 320); ich habe an diesen Orten nichts finden können.
Ausser in der Lombardei hat sich in Italien das Wegenetz der römischen
Flurteilung noch erhalten bei Capua und Florenz.
21. Capua (s. Taf. VI). Das alte Capua heisst heute S. Maria di Capua
vetere , das neue Capua liegt am Volturnus , etwa 5 km nordwestlich , auf der
Stelle des antiken Casilinum. Das Gebiet von Capua wurde im Norden durch
den Volturnus, im Osten durch den Apennin , im Süden durch den Clanis (Regi
Lagni) und im "Westen wohl durch das Meer begrenzt. Die Centuriation des
Stadtgebiets ist vortrefflich erhalten. Für sie besitzen wir eine einzig da-
stehende gleichzeitige Urkunde. Am Berge Tifata, bei S. Angelo in Formis ist
nämlich ein Centurienstein von der gracchisehen Assignation mit dem Namen
der .All viri a(gris) i(udicandis) a(dsignandis)u gefunden worden: CIL. X, 3861.
Auf der Oberfläche des Cippus steht die Inschrift : K(itra) K(ar Hinein) XI — , S{i-
nistra) D(ecumanum) I — . Neben den Zahlen sind die Richtlinien des Cardo
und Decumanus eingemeisselt. Die richtige Lesung des Steins statt der alten
(K • XI -DI) verdanken wir Herrn Commendatore Barnabei (Not. degli Scavi
1897 p. 123); die beiden früher übersehenen Buchstaben K(itra) und S(inistra)
sind auf der Photographie (Scavi S. 123) vollkommen deutlich. Die glän-
zende Entdeckung zeigt, dass Inschriften nie oft genug revidirt werden
können. Sie ist um so verdienstlicher , als sie nicht dem Zufall , ''sondern
der Methode verdankt wird, nämlich der Erwägung, dass eine Discrepanz
zwischen der Praxis und den Angaben der Feldmesser auffallend wäre.
Eine solche ist nun allerdings durch den neuen bei Atena, dem antiken
Atina , in Lucanien gefundenen Cippus der triumviri a. i. a. der Jahre 133 — 129
v. Chr. gegeben. Auf ihm steht nämlich wirklich nur K • VII = Cardo septu
was ohne irgendwelche Bezeichnung der Regionen sogar ohne Angabe des De-
cumanus. Barnabei irrt, wenn er das an die Richtlinie ansetzende Zeichen
für ein D nimmt und D(eeunumus) interpretirt. Diese Richtlinie bezeichnet den
Cardo VII, denn K • VII steht (vertikal an der Seite) in der Richtung der Richt-
linie (a. a. 0. S. 119). Wir haben also einen Stein, der nur den Cardo bezeichnet.
Der Stein bezieht sich auf die Centuriation des Vallo di Diana, des breiten Thals
bei Vallo di Lucana. Die Centurien der praefectura Almas sind im Über colo-
niarum (Feldm. I, 209) erwähnt: „in provincia Lucania praefecturae : .. Vidcentana,
Pestana, Potentina, Atena et Consilina (= Sala Consilina) Tcgenensis; quadratae
centuriae* in iiigera n. CC.U
Doch nun zurück zu dem den Schnittpunkt des 11. Cardo der regio citrata mit
dem 1. Decumanus der regio sinistra bezeichnenden Stein von S. Angelo in Formis.
DIE KÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE. 31
Der ursprüngliche Standort des Steins und damit die Richtung des Cardo und Decu-
manus lässt sich aus den Fundnotizen nicht mehr ersehen, ist aber dennoch mit
grösster Evidenz feststellbar. Die das heutige S. Maria di Capua vetere halbirendc1),
in nordsüdlicher Richtung laufende Strasse läuft an S. Angelo in Formis vorbei :
auf sie bezieht sich die Bezeichnung S(inistra) D(ecumanum) /(= primum), denn im
Gebiet von Capua heissen die von Norden nach Süden laufenden Wege decumani,
statt wie sonst cardincs. So berichten die Feldmesser und zwar sowohl Frontin 2)
wie Hygin 3). Dieser erste limes einer Region wurde von einem Teil der Agri-
mensoren als der zweite gezählt, indem man den Decumanus (oder Cardo) ma-
ximus als den ersten limes rechnete. Für die Vertreter dieser Ansicht (s. Feldm.
I, 112, 174) bezeichnete sinistra decimanum primum den auf den Decumanus ma-
ximus folgenden limes (s. Seite 32 Fig. 1). Andere Feldmesser, die den decumanus
ptimus als den auf den D. M. folgenden limes auffassten (a. a. 0.), sahen in dem
mit S. D. 1. = sinistra decumanum primum bezeichneten limes den übernächsten,
den zweiten nach dem Decumanus maximus, denn der nächste links vom decu-
manus primus (dem auf den D. M. folgenden limes) gezogene Weg war allerdings
der zweite nach dem Decumanus maximus (Fig. 2). In der Auffassung der Be-
zeichnung primus hatten diese Agrimensoren unbedingt Recht, denn der decu-
manus primus war nicht der decumanus maximus sondern der erste folgende,
aber die Interpretation der Verbindung sinistra decumanum 1 war falsch : 8. D. I.
bezeichnete nicht den links vom ersten Decumanus folgenden Weg , sondern
den ersten limes selbst. „Sinistra decumanum primum" kann nicht bedeuten
„links vom decumanus primus der nächste limes" — denn wie kann man so ohne
weiteres „proximus" suppliren? — , es kann nur heissen „in der linken Region
(sinistra absolut) der erste Decumanus" (Fig. 3). Die Feldmesser, welche die
uns erhaltenen Schriften aufzeichneten, verstanden also die alten litterae
singulares S. (oder D) D. falsch. Der Irrtum war ein doppelter , denn 1) er-
gänzten sie fälschlich zu „sinistra decumanum I" ein unmögliches „limes pro-
ximusu, 2) sahen sie nicht, dass die Bezeichnung einer Linie mit „links vom
ersten Decumanus" gar keine Bezeichnung ist, denn links vom ersten Decumanus
liegen sehr viele Decumani, nicht nur der nächste. Desselben Irrtums machten
sich die Vertreter der anderen Auffassung schuldig: für sie ist „sinistra decima-
num I" = „links vom decumanus I (= maximus) der erste limes." Nur sachlich
schadete dieser Irrtum nicht, da ihr „links vom Decimanus maximus" gelegener
limes mit dem nach meiner Auffassung ersten der Region zusammenfällt. Die
1) Sie tangirte die Westfront der antiken Stadt (s. ßeloch, Campanien2 p. 310).
2) p. 29,5: itaque non ortum speetant {exspeetant: Hss.) sed ita adversi swit {decumani) ut
sint contra septentrionem, ut in agro Campano qui est circa Capuam ubi est Kardo in orientem et
decumanus in meridianum.
3) p. 170,16: .. quidam in totum converterunt et fecerunt decimanum in meridianum et kar-
dinem in orientem sicut in agro Campano qui est circa Capuam. n
2 3
32
ADOLF SCHULTEN,
folgenden Figuren sollen die beiden Interpretationen der Feldmesser und die
meinige erläutern:
D
M
-M C-
D
I!
r
-M C
M
M
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Es mag kühn erscheinen die Agrimensoren eines solch fundamentalen Irr-
tums zu zeihen, aber man bedenke, dass er praktische Consequenzen nicht hatte,
da die meisten Feldmesser einen Stein mit der Aufschrift: S. B. I. auf dem
nach ihrer Ansicht zweiten, in Wirklichkeit aber ersten Decumanus, trotz des
Irrtums das Richtige treffend , suchten. Als rein theoretischer Fehler aber
mochte er ungestört in den Schriften der agrimensorischen Epigonen fortexi-
stiren. Wäre die andere, in unserer Ueberlieferung perhorrescirte Interpreta-
tion, die aus dem ersten Times der Region den zweiten machte' (s. Figur 1), zur
Geltung gekommen, so hätten ihre Vertreter innerhalb einer alten Centuriation
sich allerdings nicht zurecht gefunden, denn sie fanden die Bezeichnung S. D. 1.
an dem auf den Decumanus maximus folgenden Weg statt, wie sie jene Zeichen
setzten, auf dem zweiten Times vom Decumanus maximus aus.
Was von der Bezeichnung sinistra und dextra gilt, gilt natürlich auch von
citra und ultra. K-K-XI heisst nK(itra) , K{ardo) XI" und nicht „Kitra Kar-
dinem XI. "
DIE KÖMISCHE FLURTEILUNG UND IHRE RESTE.
33
Der bei Capua gefundene Stein S. I). L, K- K- XI hat in dem nachstehenden
Centurienschema in Punkt A seinen Platz :
D
A
i i
XI
-x
JX
-VJ1F
_777T
-VI
-v
-w
-in
— TT
fr I §<J J. J
-Cardül
Lariol
—H
k,jrf
Der elfte Cardo, den der Stein nennt , wird die etwas nördlich von S. An-
gele- in Formis über Vetta laufende Strasse sein. Dann war Cardo maximus
der Cardo , welcher durch Macerata und Caturano (südlich von Capua vetus)
geht. Ohne den Centurienstein würde man den Capua durchschneidenden Weg
für den Decumanus maximus gehalten haben; die Inschrift bezeichnet ihn aber
deutlich als den ersten links vom Decumanus maximus gezogenen Times. Der
Decumanus maximus lässt sich vom Apennin, auf den er bei San Marco stösst,
bis zum Lagni, den er östlich von S. Venere erreicht, verfolgen. Er ist lOVs km
lang. Im Folgenden werde ich, statt mit ihm, mit dem besser hervortretenden
^decumanus primus: sinistra", auf den sich der Stein bezieht, operiren. Ebenso
würde man den Cardo maximus in der die Nordseite von Capua vetere begren-
zenden oder in der zwischen Marcianise und Capodrise nach S. Marco Evange-
lista führenden Strasse gesucht haben x) ; im ersten Fall lag Capua im Schnitt-
punkt der beiden Hauptlinien, wie es agrimensorisches Ideal ist. Aber die That-
sachen widerstreiten hier dem Augenschein und Zweifel sind nicht möglich. In
der ixxrs dextrata, also — da die Decumani nach Norden laufen — östlich vom
„decumanus lu sind ausser ihm noch etwa 15 Decumani gezogen, in der pars
1) Wie es Beloch, Campanien 2 p. 310, thut.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hiet, Kl. N. F. Band 2,7.
34 ADOLF SCHULTEN,
sinistra — westlich von Capua vetere — sind nördlich der Clanis 17 Decumani
anzunehmen; der 19. läuft durch Grazzanise (am Volturno). Ausser dem
durch Capua gehenden decumanus I fällt besonders ins Auge der Casapulla, Ca-
turano und Marcianise verbindende Decumanus. Er bildet mit dem langen durch
Marcianise über S. Marco Evangelista nach Maddaloni laufenden Cardo ein viel
ausgeprägteres Kreuz als Decumanus maximus und Cardo maximus.
Was die centuriirte Fläche anbelangt, so lassen sich feststellen für 1) die
pars citrata dextrata , (nordöstliches Viertel) in der ersten Centurienreihe nörd-
lich des Cardo maximus (über Macerata - Caturano) und östlich des decumanus
I: 13, in der 2.: 12, in der 3.: 12 (Capua nimmt 1 Centurie ein) Centurien; die
4. Reihe wird durch den Monte Tifata (bei Coccagna) eingeengt und weist in ihrem
westlichen Teil 5, im östlichen (jenseits Coccagna) 4 also zusammen 9 Centurien
auf; 2 — 3 andere werden durch den Monte Tifata zu subsiciva. Die 5. Reihe
enthält (westlich vom Tifata) 4, die 6. : 2, die 7. : eine Centurie.
- Für den nordwestlichen Teil des centuriirten Gebiets, die regio citrata sinistra
lässt sich die Anzahl der Centurien auf Grund der Reste nicht berechnen, da die
Limitation zu sehr zerstört ist. Für den nördlichen Teil des Gebiets, von Capua,
die regio citrata sind also sicher feststellbar 13 + 12 + 12 + 9 + 3 + 2 + 1 = 52
Centurien. Weil aber auch das westliche Viertel centuriirt war — wie die
Reste der Decumani zeigen — wird man seinen Flächeninhalt in Centurien berechnen
dürfen. Da der Cardo maximus in der westlichen Hälfte fehlt — er reicht nur
bis zu der Chaussee Capua vetere-Aversa — , lässt sich die Westhälfte nicht wohl
in eine regio sinistra citrata (diesseits d. h. nördlich des Cardo maximus) und regio
sinistra ultrata (jenseits d. h. südlich des Cardo maximus) teilen. Ich betrachte
also 2) die Centuriation der ganzen Westhälfte ohne Rücksicht auf die beiden Re-
gionen. Diese Region lässt sich darstellen als ein Rechteck von 18 Centurien Länge
und 8 Centurien Höhe, also 144 Centurien Fläche. Als Westgrenze ist ange-
nommen der über Grazzanise (am Volturno) laufende Decumanus (der 19. links
vom Decumanus maximus), als Ostgrenze der „decumanus primus sinisfrau; im
Norden begrenzt der Volturno , im Süden der Regi Lagni (= Clanis) das cen-
turiirte Gebiet. So kommen denn zu den 52 Centurien des nordöstlichen Vier-
tels noch 144 der nordwestlichen und südwestlichen Region hinzu, sodass sich
die Fläche : regio citrata dextra und sinistra + regio ultrata sinistra berechnen lässt
auf 52 + 144 = 196 Centurien.
3) Pars ultrata dextra. In der südlichen Hälfte des Stadtgebiets
ist die Centuriation ebenfalls nur im östlichen Viertel so erhalten , dass
man die Zahl der Centurien berechnen kann. Es liegen südlich des Cardo
maximus in Reihe 1 : 14 , in II : 14, in III : 15, in IV : 15 (in der 15. Cen-
turie liegt der Ort Maddaloni) ; in V (südlich der grossen Strasse Marcianise-
Maddalöni) ist Raum für 18, in VI für 18 (?J Centurien. Weiter südlich wird
man noch. 2 Reihen mit je 18 Centurien annehmen können. Die Reihen südlich
der 4. Reihe sind so wenig gut erhalten, dass die Berechnung ihres Inhalts sich
nur auf den Raum, nicht auf die Limitation gründet. Sicher feststellbar sind also
DIE RÖMISCHE FLURTEILUNG UNI) IHRE RESTE. 35
- in dem südöstlichen Viertel 14 + 14 + 15 + 15 + 18 + 18 + 18 + 18 = 130 Centimen.
Das ganze Gebiet von Capua mag also 62+196 (Norden und Südwesten), + 130 (Süd-
osten) = 378 Centurien enthalten haben ; das sind 75600 lugera. Diese Zahl stimmt
ganz gut zu den bei Granius Licinianus !) und Cicero 2) über den Flächeninhalt des
ager Campanus erhaltenen Nachrichten, denn diese Autoren geben 50000 lugera
assignationsfähigen Landes an. Im Jahre 59 verteilte Cäsar, der Nachfolger der
Gracchen, den ager Campanus an 20000 Bürger (Marquardt, Staatsverwaltung
I2 p. 114). Wieviel lugera dem Loosempfänger gegeben wurden, ist nicht über-
liefert. An centuriirtem Lande kann der Einzelne kaum mehr als höchsten 9 'i
lugera erhalten haben, da nur c. 65000 lugera sicher nachweisbar sind. Aber
das Gebiet von Capua umfasste wohl auch das ganze Litoral, eine Fläche, welche
die centuriirte an Ausdehnung übertrifft. Auch dieses Gebiet eingerechnet
kann der Colonist aber nicht mehr wie etwa 6 lugera erhalten haben. Dazu
können höchstens Wald- und Weideteile im Apennin gekommen sein.
Südlich vom Lagni, dem antiken Clanis, findet sich eine andere Limitation.
Auch ihre limites laufen von Norden nach Süden und von Westen nach Osten.
aber sie fallen nicht mit den capuanischen zusammen. Innerhalb dieser Centu-
riation liegt die antike Stadt Atella (S. Arpino). Acerrae (Acerra) ist durch
den Lagni von ihr getrennt und hat wohl kaum hier Landbesitz gehabt. Im
Westen, am Meer, lag Linternum (Torre di Patria), am Golf ausser Neapolis noch
Cumae und Puteoli. Aber im Gebiet der drei letzgenannten Griechenstädte ist
wohl nie Ackerland assignirt worden , wenn auch der Über coloniarum darüber
allerhand verworrenes Zeug angiebt (Feldm. I, 235 ff.) 3).
Als Cardo maximus (der hier wohl nicht wie im Capuanischen nach Osten,
sondern wie gewöhnlich nach Süden lief) dieses Gebiets muss man die schnurgrade
über Aversa (im Norden) nach Giugliano und Mugnano (im Süden) laufende Strasse
bezeichnen, die eine Länge von 14 l/s km hat. Weniger augenfällig ist der De-
cumanus maximus. Da der „umbilicus", der Schnittpunkt von C. M. und D. M..
1) p. 15 ed. Bonn.: .. ei (Cn. Domitius Lentulus, Consul des J. 162 v. Chr.) praetori urbano
senatus permisit, agrum Campanum, quem omnem privati possidebant, coemeret ut publicus fieret . .
nee fefellit vir aequus, nam tanta moderatione usus est, ut et rei publicae commoda et 2>ossessorum
temperans . . . [iugerum milia] quinquaginta coemeret
2) Ad Att. II, 16, 1 : omnis expeetatio largitionis in agrum Campanum videtur esse äeri-
vata, qui ager, ut dena iugera sint, non amplius hominum quinque milia potest sustinere. — De
lege agraria II, 23 §76: .. quinque milia colonorum Capuam scribi iubet . .; . . ista dena
iugera continuabunt . . ; § 79: si non modo dena iugera dari vobis , sed ne constipari quidem
taut um uumerum hominum posse in agrum Campanum intellegetis.
3) p. 235: Neapolim . . sed ager eins Sirenae Parthcnopac a Grecis est in iugeribu* a<l-
signatu* et limites intercisici sunt constituti inter quos postea et miles imp. Titi lege modiim iugera-
tionis ob meritum aeeepit.
p. 23ti : Puteol is, colonia Augusta. Augustus deduxit, .. ager eins in iugeribus veteraais
et tribunis legionariis est adsignatus.
p. 232 : Cumis, muro dueta colonia; ab Augusto dedueta, . . . ager eins in iugeribus veterauit
pro merito est adsignatus iussu Claudi Caesaris.
2 3 •
36 ADOLF SCHULTEN,
gewöhnlich durch ein Siedlungscentrum bezeichnet ist, möchte man den von A versa
nördlich von Ducenta und Trentola nach dem Meer zu laufenden Decumanus für
den I). M. halten; im Osten berührt er Gricignano. Er ist 14 km weit zu ver-
folgen. Die Centuriation ist nur im nördlichen Teil, und zwar in der pars sini-
strata, gut erhalten, besonders reichen die Decumani hier bis in die Nähe des
Meeres, während die Cardines von Capua, wie oben gezeigt, nur eine geringe
westliche Ausdehnung haben. Westlich vom Cardo maximus sind mindestens 15
Cardines gezogen, östlich nur 7 erkennbar. Decumani lassen sich in der süd-
lichen Hälfte — zwischen dem Decumanus maximus und Mugnano — 11, in der
nördlichen 10 feststellen. Während die Cardines nicht mit denen von Capua zu-
sammenfallen, sind die Decumani die Fortsetzung der capuanischen. Man ver-
gleiche besonders den zwischen Marcianise und Capodrise laufenden capuanischen
Cardo mit den östlich vom Lagni erhaltenen Resten des Decumanus von Atella (?)
oder zu welcher Gemeinde sonst die Limitation südlich des Clanis gehören mag.
Ebenso lässt sich der über Loriano (südlich von Marcianise) laufende Weg jen-
seits des Lagni verfolgen.
Zur Berechnung der Centurienzahl lässt sich zunächst im Norden über dem
Decumanus maximus als Basis ein Rechteck von 14 Centurien Länge und 6 Höhe
bilden, das also 84 Centurien enthält. Im Süden scheint mindestens ein Recht-
eck von 7 Centurienbreiten Höhe und 14 Breite also 98 Centurien Fläche limi-
tirt gewesen zu sein. Als südliche Grenze ist der Decumanus von Giugliano an-
genommen. Ausser den 84 + 98 = 182 Centurien. welche die beiden Rechtecke
ergeben, kann noch eine grössere Anzahl von Centurien im Südosten von Averso
existirt haben.
22. Florentia (Florenz) (s. Tafel VI oben rechts). Auch die Centuriation
der Colonie Florentia, des heutigen Florenz, ist noch deutlich kenntlich. Die
Decumani laufen der Richtung des Arnothals entsprechend von NW. nach SO.,
die Cardines von NO. nach SW. Der Decumanus maximus ist in der Stadt die
via Guelfa , weiter die an der Festung vorbei laufende Landstrasse nach S.
Cristofano. Es sind etwa 22 Cardines und 10 Decumani feststellbar. Westlich
scheint nicht weit über Prato hinaus centuriirt worden zu sein. Das ganze
Areal umfasst zunächst ein Rechteck von 18 Centurien Länge, 11 Breite also
198 Centurien Fläche. Dazu kommen noch etwa 50 Centurien zwischen Sesto
und Florenz in der Verengerung des Arnothals.
Hervorzuheben ist von Flurnamen Limite l) (von limes) südwestlich von Sesto.
23. Carthago. Das quadratische Wegenetz der Umgegend von Car-
thago hat zuerst der dänische Kapitän Falbe bemerkt und auf die römische
Centuriation gedeutet 2). Nachmessungen ergaben , dass in der That die Qua-
drate eine Länge von 710 m = 2400 römischen Fuss hatten. Das ist, so
1) Dieser Name kommt auch in den Bergen am unterem Arno zweimal vor: Capraja e Li-
mite und Limite und bezeichnet dort wohl die Grenze des Stadtgebiets.
2) Recherches sur Pemplacement de Carthage, Paris 1833, p. 54—57.
DIE RÖMISCHE FLTJRTEILÜNG UNI) IIIRK RESTE. 37
viel ich sehe, überhaupt, die erste Feststellung des Fortbestehens der römischen
Limitation. Falbe erkannte 28 Centurien und nahm an, dass jeder der 3000
augusteischen Colonisten (Appian, Punica 136) ein heredium (2 Iugera) erhalten
habe , also alle zusammen 3000 x 2 = 6000 Iugera = 30 Centurien einge-
nommen hätten. Die beiden fehlenden Quadrate Hessen sich bei la Marsa leicht
ergänzen. Ohne sich weiter um das Wesen der Limitation zu kümmern, glaubte
Falbe doch zu bemerken, dass jenes Wegenetz von zwei Standlinien beherrscht
sei, von denen die eine von Sidi-bou-Said nach Tunis, die andere von der Byrsa
am Rande des Sebkrat el Ariana entlang laufe. Die erstere ist der Weg,
welcher von Sidi-bou-Said über Malga bis nahe an die Bai von Tunis — aber
nicht bis Tunis — läuft, der zweite geht von Malga nach Nordwesten und ist
noch heute 7 km lang gradlinig erhalten ; er reicht bis an das Ende der Landzunge
zwischen der Lagune Sebkrat und. den Dünen. Falbes Entdeckung wurde be-
stätigt von Barth (Wanderungen durch die Küstenländer des Mittelmeers I.
p. 87). Neue Beobachtungen hat er nicht hinzugefügt.
Seitdem hat sich bei der Beständigkeit aller Dinge auf arabischem Boden
wenig verändert. Noch heute ist das Centuriennetz der carthagischen Flur-
teilung vortrefflich erhalten. Die folgenden Ausführungen beruhen auf den
Blättern 13 (El Ariana) und 14 (La Marsa) der Karte 1 : 50000 der Regent-
schaft Tunesien1); die grosse Karte 1:20000 {Environs de Tunis et de Cur-
thagc, in 9 Blättern, 1883) glaubte ich entbehren zu können.
Das limitirte Gebiet umfasst die ganze Ebene zwischen dem Golf von
Utica (Bizerte) im Norden, der Bai von Tunis im Süden, dem Meer im Osten
und dem Gebirge im Westen. Entsprechend der Angabe der Feldmesser , dass
man bei langem aber schmalem Assignationsgebiet die Decumani statt von
West nach Ost in der Längsrichtung des Territoriums ziehen könne (1 170,
12 f.) , werden die in der Längsrichtung d. h. von NO. nach SW. laufenden
limites als Decumani , die von NW. nach SO. gezogenen als Cardines zu
gelten haben. Decumani zähle ich auf der Karte 1 : 50000 neun ; der süd-
lichste läuft über Sidi-bou-Said und Malga, der nördlichste über El xlriana.
Cardines sind deutlich nur im Nordosten des Gebiets erhalten, doch lassen sich
Reste von ihnen bis nach Ariana als Feldwege verfolgen. Gut zu erkennen ist
das Centuriennetz in der östlichen Hälfte: mindestens 12 Centurien sind dort
noch völlig erhalten. Das ganze centuriirte Gebiet enthält zunächst ein Recht-
eck mit der Ausdehnung La Marsa- Ariana (c. 12 km) als Länge und einer Breite
von 3 km. Dazu kommt hinzu ein kleineres Rechteck, welches dem Gebiet zwi-
schen dem Meer im NO., der Chaussee La Marsa — Tunis im NW., dem See
von Tunis im SW. und dem Weg von Sidi-bou-Said nach Malga im SO. ent-
spricht. Seine Länge beträgt c. 6, seine Breite l'A» km. In Centurien ausge-
drückt ist jenes grössere Rechteck etwa 16 Centurien lang und 4 Centurien
1) Nach derselben Aufnahme ist angefertigt der „Atlas archcologique de la Tunisie"', von
dem bis jetzt 5 Lieferungen vorliegen, darunter die beiden genannten Blätter.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. PMl.-hist. Kl. N. F. Band 2,7. o
3S ADOLF SCHULTEN, DIE RÖMISCHE FLUKTEILUNG UND IHRE RESTE.
breit, enthält also etwa 64 Centurien. Das kleinere Oblong fast bei c. 7 Cen-
turien Länge und 2 Centurien Breite etwa 14 Centurien. Das ganze centuriirte
Gebiet von Carthago lässt sich somit auf etwa 64 + 14 = 78 Centurien be-
rechnen. Nach Appian , der allein hierüber berichtet , betrug die Zahl der
von C. Gracchus nach Carthago dedazirten Cölonisten 6000 (bell. civ. 1,24; Fn-
nka 136), die der augusteischen 3000 (Ihm. 136). Die vorhandene Centuriation
mu.s.s noch die gracchanischc sein, da an eine neue Division für die augusteischen
Culonisten nicht zu denken ist. Man muss also den noch kenntlichen Centurien-
bestand nicht — wie es Falbe that — mit den 3000 augusteischen, sondern mit
den 6000 gracchanischen Cölonisten combiniren. Was das Maass des dem ein-
zelnen Assignatar zugewiesenen Looses anbelangt , so werden in der lex agraria
vom Jahre 111 v. Chr. in Zeile 59/60 200 Iugera, also eine volle Centurie, er-
wähnt (. . ne amplius CG. iugera) aber der Zusammenhang ist keineswegs sicher
festgestellt, und man wird Bedenken tragen müssen mit Mommsen (CIL. I p. 97)
die 200 Iugera für den assignirten Modus — selbst wenn es andere, kleinere
sortes gab — anzunehmen. Nimmt man auch an, dass nur die Hälfte der An-
siedler, also 3000, je eine Centurie und die anderen weniger bekommen hätten,
so ergiebt das doch schon über 3000 Centurien. Es ist lehrreich hiermit die fak-
tisch vorhandenen Centurien — sicher nicht mehr als höchstens 100 (78 stellte ich
fest) — zu vergleichen : der Vergleich lehrt , wie interessant es ist , wenn man
mit der Karte in der Hand die Probe auf unser Wissen und Meinen machen kann.
Zu bemerken ist noch , dass die grosse Chaussee , welche La Marsa und
Tunis verbindet, etwa 7 km weit auf einem Decumanus läuft.
Die Seitenlänge der Centurien lässt sich nach der Karte 1 : 50000 auf rund
7<>0 Meter angeben, würde aber auf grösseren Karten zweifelsohne genau
24<J0 pedes = 708 m lang sein.
In den anderen Provinzen habe ich Spuren der römischen Flurteilung nicht
gefunden: weder in Spanien, für welches es die schöne in Farben ausgeführte
Generalstabskarte 1 : 50000 giebt, noch in Oesterreich (1 : 75000) und in der Nar-
bonensis (Generalstabskarte 1 : 82000) , deren Centuriation durch das Flurkar-
tenfragment von Arausio bezeugt ist. Vielleicht sind bei Friedberg (Wet-
teiau) in Oberhessen noch Reste von Centurien vorhanden (s. Meitzen, Siedlung
III p. 157).
Wie es gekommen ist , dass sich nur in der Poebene , bei Florenz , Capua
und Carthago die römische Centuriation erhalten hat , ist eine Frage , die nur
durch die spätere Geschichte der anderen ehemals centuriirten Territorien be-
antwortet werden kann.. Je mehr agrarische Umwälzungen das betreffende Ge-
lnet durchgemacht hat, je weniger konnte von der römischen Flurteilung übrig
bleiben. Dass sich aber noch mehr als das von mir Beigebrachte feststellen
lässt, ist sicher. Vielleicht regen diese Blätter die Lokalforscher, besonders die
italienischen an, das Wegesystem ihrer Gegend auf die römische Centuriation
hin zu untersuchen.
Göttingen, Druck der Univ.- Bachdruckerei von W. Fr. Kaostnor.
ibhdlgn. d. K. Ges. d.Wiss. zu Geltungen. Phil.-hist. Kl. N. V. Band II N
MaJsstab 1:150 000
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Abhdlgn. d. K. Ges. d Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band II Nr. 7.
Weidmauusche Buchhandlung in Berlin..
Abhdlgn. d. K. Ges. d.Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band II Nr
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Z =, :\ 1 — _JL
Malsstab 1:150000
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Abhdlgu. d. K. Ues. d.Wiss. zu Göttingon. PJiil.-hist. Kl. N. F. Band II Nr. 7.
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Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band II Nr. 7.
PhotolitKigeogr-li'iv.AnetuSteindrv.C.L.KQUer. Berlin S
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DER KÖNIGLICHEN GESELLSCHAFT DER WISSENSCHAFTEN ZU GÖTTINGEN.
PHILOLOGISCH -HISTORISCHE KLASSE.
NEUE FOLGE BAND II. Nro. 8.
Die
Reimvorreden des Sachsenspiegels.
Von
Gustav Roethe,
Berlin,
Weidmannsche Buchhandlung.
1899.
Die Reimvorreden des Sachsenspiegels,
Von
Gustav Roethe.
Vorgelegt in der Sitzung vom 23. Juli 1893.
Die früher viel erörterte Frage, ob der Sachsenspiegel hoch- oder niederdeutsch
abgefasst sei, gilt heute kaum mehr als Frage. Man zweifelt nicht : das älteste
grössere Denkmal profaner deutscher Prosa, die unschätzbare erste Codiücirung
deutschen Rechts in der Muttersprache ist nicht nur das Werk eines Sohnes nie-
derdeutschen Bodens, sie ist auch im niederdeutschen Sprachgewande an den Tag
getreten ; wenn Eike sein lateinisches Rechtsbuch an dütisch ivante (praef. rhythm.
277. 264) *), so hiess ihm dütisch nichts anderes als sassisch. Gerne sehen wir am
Eingange der mittelniederdeutschen Litteratur ein Werk von weltgeschichtlicher
Bedeutung. Und welche merkwürdige Parallele : ein niederdeutscher Dichter,
Heinrich von Veldeke, wird durch niederdeutsche Reime der anerkannte Vater
der hochdeutschen höfischen Kunstpoesie ; ein niederdeutscher Jurist gewinnt
durch ein sächsisch geschriebenes Rechtsbuch einen fast wunderbaren Einfluss
bis in das oberdeutsche Rechtsleben hinein; beides trotz dem empfindlichen Un-
terschied der Sprache. Darin liegt nicht nur ein litterarisches, sondern auch ein
sprachgeschichtliches Phänomen , mit dem man sich wol zu leicht abzufinden ge-
wöhnt ist.
Die Philologen haben das eminent philologische Problem der Sprache Eikes
merkwürdigerweise fast ganz den Juristen überlassen. Als vor einigen Jahren
C. Walther, er allein rühmliche Ausnahme, eine wichtige aber nicht entscheidende
Einzelheit fördernd aufklärte (Niederd. Jahrb. 18, 61) , da hatte er lediglich mit
1) Ich citire den Sachsenspiegel durchweg nach Homeyer, das Landrecht nach der '6. Ausg.
(Berlin 1861) und behalte in der Regel auch die Sprachformen seines Textes bei, ohne mich damit
für ihre Richtigkeit zu entscheiden. Die Längezeichen hab ich in der Art unsrer mittelhochdeut-
schen Texte gesetzt; das dient der Deutlichkeit. g
1*
Grupen, Homeyer und Stobbe zu tun. Dass Homeyers grundlegende Beweisfüh-
rung für das Niederdeutsch des Sachsenspiegels heute der Revision und Ergän-
zung beträchtlich bedarf, unterliegt mir keinem Zweifel. Die philologische Un-
tersuchung wird freilich durch den Charakter der Homeyerschen Ausgabe sehr
erschwert. Zu Grunde liegt dem. Texte die Berliner Handschrift En, ein Codex
der dritten Ordnung dritter Classe von 1369, eine Handschrift also, die die Vul-
gata gut repräsentiren mag, aber dem ursprünglichen Text ferner steht als
viele andere Handschriften. Von den Varianten der sehr zahlreichen übrigen
Manuscripte, die Homeyer eingesehen hat, gibt er nur eine karge, oft willkür-
liche Auswahl , welche auf sprachliche Differenzen nur ganz gelegentlich einmal
Rücksicht nehmen kann und nicht einmal die abweichenden Synonyma der ver-
glichenen Codices -irgend vollständig oder consequent verzeichnet1): man dai
zwar Homeyers positiven Angaben im Ganzen trauen, nie aber aus seinem
Schweigen Schlüsse ziehen. Es kommt hinzu, dass die bequemen, scharf sondern-
den, aber äusserlichen Kennzeichen , nach denen Homeyer die Handschriften zu
grossen Gruppen summarisch ordnet, Büchereinteilung, Zusätze, Glosse, wol fü
die Entstehung der Vulgata den Weg weisen, für die intimere Erkenntnis der
Textgeschichte und Textverwantschaft aber zu plump sind. So wird es erneuter
und eindringender Handschriftenstudien bedürfen , wenn es gilt , dem ursprüng-
lichen Texte Eikes so nah wie möglich zu kommen: den Juristen Homeyer hatte
eben in erster Linie die Textgestalt interessirt, in der der Sachsenspiegel einst
seine weiteste Verbreitung gefunden hat ; der Philologe darf sich dabei nicht be-
ruhigen. Der Einblick in einzelne Handschriftenabdrücke und Handschriften *)
hat mich nur in der Ueberzeugung bestärkt, dass es mit solchen Einzelbeobach-
tungen nicht getan ist. Ob nun freilich auch bessere Erkenntnis des Hand-
schriftenverhältnisses uns bis zu der Lautform Eikes zurückführen wird , das
lass ich dahingestellt. Bei einem nach Zeit, Ort und Art beinahe isolirten Prosa-
denkmal, wie der Sachsenspiegel es ist, da versagen die meisten unsrer philolo-
gischen Hilfsmittel.
Aber das Rechtsbuch zeigt ja nicht nur Prosa. Ausser ganz wenigen ein-
gesprengten Verschen bringt es eine grössere poetische Vorrede , die uns grade
1) Als besonders hinderlich empfand ich es, dass sich grade der regelmässige Ersatz gewisser
Worte durch andre aus Homeyers Angaben nicht constatiren lässt ; er begnügt sich da nicht selten
mit einmaliger Notiz, ohne ein „immer" dazu zu setzen.
2) Benutzt habe ich die Quedl inburger Handschrift Aq (angeblich des 13. Jahrhunderts) in
Göschens Abdruck (Halle 1853), die Oldenburger Bilderhandschrift von 1336 Ei nach Lübbens Aus-
gabe (Oldenburg 1879), die Heidelberger Handschrift cod. pal. 167 Eb (14. Jahrhundert) in Sachses
Druck (Heidelberg 1848), die Leipziger Handschrift El (Univ.- Bibl. 946) nach Weiske-Hildebrands
5. Ausgabe (Leipzig 1877); ausserdem hab ich mehr oder weniger eingesehen die Bremer Hand-
schriften von 1342 (Aw) und 1417, die ich Cz nenne, die schöne Berliner Handschrift fol. 631
(D<y), die Breslauer Handschrift II fol. 8, Bv, deren Datirung 1306 aus der Vorlage abgeschrieben
sein muss — sie gehört nach Laut- und Schriftform unzweifelhaft der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts
an, was Homeyer richtig erkannte, Andere mit Unrecht bestritten haben — , endlich die späten und
wenig ergiebigen Göttinger Papierhandschriften cod. jur. 60 und 394 (Cy).
8
DIE REIMVOKKEDEN DES SACHSENSPIEGEL«. 5
dadurch unschätzbar wird, dass sie gereimt ist. Vers und Reim bieten Hand-
haben, um den Schleier verdunkelnder Ueberlieferung hier und da zu zerreissen,
wo uns die Prosa ratlos lässt. Ich hoffe, dass die Anschauungen, in denen mich
wiederholte Beschäftigung mit Eikes Reimprolog bestärkt hat, geeignet sind,
über ihn hinaus einen vorläufigen Ausblick auch auf jenes grössere sprachliche
Problem zu ermöglichen, das notwendig im Hintergrunde stehen muss.
Die Praefatio rhythmica des Sachsenspiegels zerfällt in zwei, durch
Ueberlieferung, Inhalt und Form deutlich sich scheidende, unter einander nicht
zusammenhängende Teile. Dass nur die in Reimpaaren abgefasste, an zweiter
Stelle stehende Partie (ich bezeichne sie demgemäss als II), V. 97 — 280, Eikes ur-
sprüngliches Begleitwort darstellt, wird schon äusserlich dadurch sehr wahr-
scheinlich, dass die Handschriften-Gruppe der ältesten Gestalt A nur sie enthält,
wie sich denn auch andre Handschriften, namentlich der Gruppe C, auf sie De-
schränken. Das Gros der Gruppen B und D, auch viele Handschriften der Ord-
nung E , schicken der Praefatio II nun aber noch 12 gereimte Strophen voran
(I), die man als Eikes Vorrede zu einer zweiten Ausgabe anzusehen pflegt, da
sie bereits Angriffe auf das erschienene Rechtsbuch voraussetzen. Die Sprache bei-
der Vorreden bezeichnet z.B. Richard Schröder (Lehrb. d. deutschen Rechtsgesch.3
649) als „mittelhochdeutsch", während er doch Eikes Werk selbst als nieder-
sächsisch ansieht.
Dass Praefatio II von Eike selbst geschrieben ist, daran hätte man nie-
mals zweifeln dürfen : schon die bekannten Schlussverse (261 ff.) , die von dem
Anlass des Werkes berichten, sind entscheidend. Die geistige Physiognomie des
Autors tritt einheitlich und schlicht zu Tage , in seinem Stolz wie in seinen
Sorgen. Als die Hauptschwierigkeit empfindet Eike nicht die Sammlung des
Rechtsstoffes und seine Anordnung, die er sich ja freilich bequem gemacht hat;
zu fwere (V. 276) erschien ihm die Uebertragung des zunächst lateinisch redigir-
ten Werkes ins Deutsche. Das darf nicht befremden. Sehr gross war der
Schritt von der gewohnheitsmässigen Uebung deutscher Sprache in dem münd-
lichen Rechtsverfahren bis zu seiner schriftlichen Fixirung. Es stimmt vortreff-
lich zu Edward Schröders Ausführungen über das spätere Aufkommen der deut-
schen Urkundensprache (GGA 1897 S. 450 ff.) , wenn auch hier zuerst ein Mit-
glied des hohen Adels, ein Graf von Falkenstein, die geistige Freiheit besitzt,
dem Latein seine ausschliessliche Herrschaft in der Rechtslitteratur zu rauben:
der Schöffe Eike schreckt anfangs zurück, es war ein Act der Selbstüberwindung
und der Treue (V. 271), der ihm die Unsterblichkeit gab. Und er war sich voll-
kommen bewusst, wie neue Bahnen er einschlug, da er ein deutsches Rechtsbuch
schrieb.
* Als das schwierige Werk dann aber gelungen war, da bricht in der Vorrede
8
die berechtigte Befriedigung mit offenherzig warmem Selbstgefühl durch. Erst
die deutsehe Fassung verwirklichte ganz Eikes Wunsch, den Schatz seiner Wis-
senschaftx) aller Welt zugänglich zu machen (V. 99. 154 — 174). Jetzt erst darf
er die Sachsen glücklich preisen, dass es ihnen beschieden ist, wie in einem Spie-
gel zu ersehen, was recht und unrecht sei (V. 97 f. 175 — 182). Er glaubt an die
moralische Kraft seines Buches und legt es seinen Lesern nicht zum wenigsten
um ihres Seelenheiles willen ans Herz (V. 183 — 194). Aber so hoch er den Wert
seines Werkes anschlägt, er bleibt sich bewusst, dass sein Verdienst lediglich
die gewissenhafte Wiedergabe des ererbten Rechtes der Vorfahren sei (V. 151—3). i
Die Möglichkeit von Lücken und Versehen gibt er ohne Weiteres zu und empfiehlt
den Benutzern,' dass sie weise Leute befragen, wo seine Angaben ihnen nicht
ausreichend erscheinen (V. 195 — 211.141 — 150): wen vi/ litte leren, dies an gut
Teeren, is besser den min eines si ; es ist das dieselbe bescheidene Ueberzeugung,
die auch der Prosaprolog (Hom. Landr. S. 136) ausspricht: des ne Jean ik al eine
iiicJit dun, darumme bidde iJc tö helpe edle güde lüde. Nur eins nimmt der Autor
unbedingt für sich in Anspruch: den Ruhm, das überlieferte Recht nach bestem
Wissen und Gewissen, mit peinlicher Treue dargestellt zu haben (V. 212 — 220).
Um so mehr erregt ihn die Sorge, dass die irrere, die Fälscher, ihm sein Buch
ändern und mehren könnten: schon im Eingang denkt er ihrer, da noch ruhig
(V. 103 ff.); gegen Schluss aber (V.221 — 260) reisst ihn die Uebles besorgende Ent-
rüstung gegen diese Feinde des wahren Rechts zu Flüchen und Verwünschungen
fort, die Eikes ruhig schlichter Rede auf kurze Strecke schnelleres Tempo und
kräftigere Farbe geben. Hatte er etwa schon mit der lateinischen Fassung böse
Erfahrungen gemacht ? Sein Ingrimm macht keinen bloss hypothetischen Eindruck.
Für Eike gibt es im Grunde nur ein Recht, das alte Recht der Vorfahren, und
jede Neuerung, ja Ergänzung ist wider Gott, in dessen Dienst2) der Sachsen-
spiegel zusammen gestellt ward. Glimpflicher als die Rechtsverkehrer kommen
die Leute fort, die auf unbequemes Recht schelten, es ignoriren möchten und
selbst doch kein Unrecht erfahren wollen (V. 113 — 124); daneben erklingt wieder-
holt die Mahnung recht zu sprechen und zu handeln, weine lieb weme leit , ohne
Ansehn der Person (V. 125—140. 148—150. 175). Die einlachen Gedanken reihen
sich aneinander ohne strenge logische Folge, ohne scharfe Disposition, nicht
selten sich wiederholend bis in den Ausdruck hinein, aber klar und in eindring-
licher Wärme : zu dem unschuldigen Stolze des Autors passt eine leise Unbe-
holfenheit recht gut, die doch so Treffliches gelingen lässt wie das Gleichnis vom .
Schatze der Wissenschaft.
Die Praefatiol hat mit II in Gedanken und Wendungen sehr viel gemein.
Um so greller sticht der andre Geist ab, der aus ihr redet. Es ist kein Zufall,
dass ihr erstes Wort Ick lautet, während Eike von Got anhebt. Eike redet zu
1) Nur das bedeutet Jcunst V. 159; vgrl. meinen Reinmar von Zweter S. 186 ff.
2) Dass es V. 260 durch got , nicht durch gut heissen muss, lehrt wol das ähnliche durch got
Lehnr. 78 § 3.
8
DIE BEDiVORREDB» DES SACHSENSPIEGEL*. 7
einem Publikum, zu den stolzen Helden, für die er sein Buch geschrieben hat
(V. 148— 150. 191. 261); der Verfasser der Strophen hält einen Monolog l) ; um
sich sieht er nichts als Mäkelnde und Feinde. Sie schelten sein Buch , das sie
nicht zu lesen verstehn (Str. 2) ; sie intriguiren, hassen seine Lehre und fragen
ihn doch aus (Str. 4) ; sie wollen ihn in Verruf bringen (Str. 7); selbst die Ver-
ständigsten scheuen sich vor ihm (Str. 8) ; sie sagen ihm Worte nach, an die er
nie gedacht hat, und treiben lügnerische Verleumdung (Str. 11); sie kläffen ihn
an (Str. 12) und wollen ihn meistern (Str. 1. 12), Menschen, die neben ihm höch-
stens armselige meisterlin sind. Dem gegenüber verschanzt sich der Dichter
hinter dem höchsten , auf den Gipfel getriebenen Selbstgefühl : wer mich nicht
verstehen kann, der lerne besser lesen ! (Str. 2) *) ; niemand kann mich irre machen ;
was schiert mich der Hass der Bösen? (Str. 3); den Fälscher des Rechts erkennt
man leicht, wenn man nur aufmerkt, wie falsch er persönlich ist 3) (Str. 6) ; wer
sich einbildet, tiefer unde vorebaz als ich zu lehren aller Welt zu Beifall, der
plant Unmögliches (Str. 7) ; mögen mich selbst die Gescheitesten angreifen, so ist
mir doch de wärheit lunt mit wirt min volge grbz zu lefi, d.h. der Wahrheit und
des Sieges bin ich sicher (Str. 8) ; die Ueberzeugung „ich kann und werde nicht
aller Welt zu Gefallen reden, denn Gott hat Böse und Gute geschieden, und es
geht über mein Vermögen, alle Leute vernünftig zu machen" (Str. 9. 10. 1) ist hier
der Grundton einer fast trotzigen Selbstsicherheit. Wirklich neue Tatsachen
oder Gedanken bringen die Strophen sonst nicht: in ihren mancherlei Vorwürfen
und Bildern löst sich immer wieder nur die eine Empfindung des beleidigten und
dadurch verhärteten Selbstgefühls aus, die himmelweit absteht von dem belehrbar
bescheidenen Stolze der Reimpaare. Zu grösserem Zusammenhange kommt es
nirgends; die Strophen sind geradezu gedankenarm; um so frappanter ist ihre
stilistische Ueberlegenheit über Eikes frühere Vorrede. Was war geschehen,
das eine so radikale Veränderung in der geistigen Verfassung des Autors her-
vorgebracht hatte ?
Die seit Homeyer übliche Erklärung, das Schicksal seines Werkes sei dem
Autor zu Herzen gegangen und er habe daher diese aggressive Vorrede einer
neuen Ausgabe beigegeben, befriedigt mich nicht. Sollte der Erfolg des Sachsen-
spiegels nicht von je her die Tadler in den Schatten gestellt haben? Dass Eike
gegen die irrere empfindlich war, lassen freilich auch die Reimpaare ahnen: aber
auch an den erregtesten Stellen spricht ein anderer Mann aus ihnen als aus den
Strophen, und ein litterarischer Neuling, der beim ersten besten Angriff das
Gleichgewicht verliert, war doch schon der Autor der Reimpaare nicht mehr:
1) Das einzige üch V. 40.
2) Vgl. Otto des Raspen Beiial 665 ff. (Schönbach , Miscellen aus Grazer Hss. S. 39) : toildu
die rechtpüch pas verstau, so scholtu mer ze schule gän.
3) Hinter V. 42 muss Komma, hinter 43 Semikolon stehn ; ivie recht daz er sehen si ist indi-
recte Frage, abhängig von merke V. 41; das lehrt schon das wie V. 43 neben dem svie V. 26. 113.
Die Handschrift scheidet swer und wer noch streng: weme lieb weme leit V. 126.175 ist elliptische
Frage; vgl. Gramm. IV2, 1311. p
8 GUSTAV ROET HE,
lag doch mindestens die lateinische Ausgabe seines Rechtsbuchs bereits hinter
ihm. Und weiter: ist Praefatio I die Vorrede einer zweiten Ausgabe, wie selt-
sam, dass wir sie nicht in einer Handschrift allein erhalten haben ! Die moderne
Unsitte, auch in neuen Auflagen die Vorreden der alten immer mit abzudrucken,
darf doch nicht ohne Weiteres ins .13. Jahrhundert zurückgetragen werden, am we-
nigsten hier, wo sich die beiden Vorreden formell scharf von einander sondern,
inhaltlich jedesfalls nicht vertragen, teils weil sie zu ähnlich, teils weil sie zu
unähnlich sind.
Der Ausweg, die erste Vorrede einem andern Verfasser zuzuweisen, ist
nicht neu: schon Homeyer erwog die Möglichkeit, wies sie aber (Landr. S. 51)
ab aus der Erwägung, dass „wohl nur der Verf. selber die Schicksale des Wer-
kes so tief zu empfinden und nach allen Seiten hin darzustellen vermochte".
Dieser Grund zwingt mich umso weniger, als ich eine allseitige Darstellung jener
Schicksale in den Strophen durchaus nicht zu sehen vermag : sie sind eminent
einseitig. Dass ein Nachdichter im Namen eines berühmten Autors redet, be-
fremdet im Mittelalter garnicht: wie oft ist Wolframs Name gemisbraucht worden!
Und dass ein temperamentvoller Bewunderer des Sachsenspiegels, gereizt durch
irgend welche Angriffe, nun im Anschluss an Eikes echte Vorrede den beschei-
denen Stolz des Autors zum schroffsten Selbstgefühl übertrieb, hat nichts Un-
begreifliches, nein, grade diese Uebertreibüng würde dem autoritätsfrohen Epi-
gonentum entsprechen ; die Verbindung von Gedankenarmut und stilistischer
Kraft würde sich gut so erklären. Aber zwingend ist auch das nicht. Wer
kann wissen, was Eike etwa zu dieser ersten Vorrede veranlasst haben möchte?
Die Entscheidung muss von Momenten hergenommen werden , die weniger von
Stimmung und unbekannten äussern Erlebnissen abhängen.
Frommhold legt in einem Aufsatz der Savignyzeitschrift (26, 125 ff.), der
sich in Diesem und Jenem mit meiner Auffassung berührt, besondern Wert dar-
auf, dass die Reimpaare eine sehr wohl überlegte und gegliederte Disposition
aufweisen, die den Strophen völlig fehle. Nun , die scharfe Gliederung ist auch
Eikes Stärke nicht ; seine Gedanken reiht er sorglos ohne Scheu vor Wieder-
holung an einander; Frommholds Versuch schärfer abzuteilen überzeugt mich
gar nicht. Aber eins ist freilich richtig: die Praefatio II, die vielerlei mitzu-
teilen hat, schreitet doch vorwärts; die Strophen dagegen, einzig gestimmt auf
die Scheltweise, die der Autor fast mit der stilistischen Routine des fahrenden
und gehrenden Sängers zu singen versteht, springen ab und kehren zurück, wie
es grade der Impuls der alles beherrschenden Autorempfindlichkeit gebietet :
sonst sind sie ja doch stofflos. Dieser Unterschied lag teils in Anlass, Thema
und Stimmung , teils schon in der Form : die strophische Dichtung ist mehr zu
Sprüngen genötigt als die laufenden Reimpaare1). Verschiedenheit des Dichters
lässt sich von dieser Betrachtung aus nicht erweisen.
1) Frommhold ist gegen die Strophen gradezu ungerecht, wie er anderseits Eikes künstleri-
sche Leistung überschätzt. Die Vorwürfe, die er der Praefatio I macht, beruhen zum guten Teil
DIE KEIMVORRKUEN DES SACHSENSPIEGELS. 9
Weit gewichtiger scheint mir <in Andres. Auch Eike ist bi 1 d 1 icher Rede
nicht grade abhold. Schon der Titel seines Werkes „Spiegel der Sachsen" w.ir
ein Bild, das er in der Praefatio II erklärt (V. 178 182) ; wenn er dann frei-
lich noch weiter damit spielt CV. 188), so löst er durch das anschaunngslose Wort-
spiel sein Bild selbst unglücklieb auf. Weit besser gerät der tiefsinnige Ver-
gleich seines Wissens mit einem Sehatz, den er nicht in der Erde vergraben,
sondern aller Welt zu Gute kommen lassen will (V. 155 ff.), und auch der Ver-
gleich des Kupferstücks, das als Silber gelten soll, mit dem unechten Hecht ver-
läuft glatt (V. "249 ff.) ; wenn solch eine falsche Rechtsschrift des tübeles hantveste
heisst (V. 242). so war das für Eike kaum ein Bild; auch die uralte Parallele
zwischen Menschenleben und Tageszeiten (V. 192 f.) hat er kaum mehr so em-
pfunden. Allen diesen Bildern gemein ist, dass eine einfache Gleichsetzung zu
Grunde liegt: spigel der Saxen sal diz buch sin genant; kunst ist ein edel scheut;
unrecht ivirt ivol behaut ah ein kopperpenning ; die weitre Ausmalung ist dann erst
der zweite, mehr oder weniger geglückte Schritt. — Ganz anders bildert der
Dichter der Praefatio I. Er sieht lebende Wesen, meist sich selbst, in einer be-
stimmten Situation, meist in einer Tätigkeit: ich zimmere am Wege (V. 1); ich
habe nützliche Pfade gebaut, an denen leider Viele vorbeigehn (V. 3 f.) ; ich bin
ein gehetztes Wild, das die Hunde anbellen (V. h9 f.) ; wer mit mir in die Wette
liefe, würde sich als blosses meisierltn erweisen (V. 95); der Vogel singt, wie ihm
der Schnabel gewachsen ist (V. 47 f.»; ein Narr, wer das Wasser schilt, weil er
nicht schwimmen kann! (V. 12 lf.). Der Gegensatz ist tief und ausnahmslos, er
weist auf eine Verschiedenheit der Phantasie hin; dass es sich in beiden Vor-
reden gutes Teils um traditionelles Gut handelt, mindert die Beweiskraft kaum.
Die erste Praefatio ist obendreiu der andern schon in der Zahl ihrer Bilder
überlegen, obgleich sie nur die Hälfte ihres Umfanges besitzt.
Gleich das zweite dieser Bilder knüpft an eine Stelle der Praefatio II an:
heisst es V. 3 ich have bereitet nütze Stege, dar manich bi beginnet f/än , so hat der
Dichter damit lediglich Eikes Wendung swer büzen miner lere gät (V. 133) von der
Phrase zu einer Anschauung erhoben, die Eike selbst eben nicht besass. Das kenn-
zeichnet Zusammenhang und Verschiedenheit. Der Dichter der Praefatio I kannte
II sehr genau und benutzt sie ausgiebig. Eine derartige Selbstcitirung
auf Misverständnissen. Der Gedankengang von Str. 3 ist völlig deutlich: „In meinem Tun und
Lassen soll mich Niemand beirren; denn was kümmert mich ungerechter Neid? Anderseits gönn
ich Jedermann alles gerechte Gut und Glück. Wollte sich nur alle Welt mit dem gerechten Gut
begnügen und auf ungerechtes verzichten !k' Daran knüpft Str 4 an, wo man natürlich valschen mui
einzig verstehn darf als „falsche Gesinnung": Frommholds Erklärung scheint mir sprachlich und
inhaltlich verfehlt. V. 33 ff. beziehen sich auf die Leute, die lärmend die rechte Lehre Kikes ver-
schreien wollen: dass er sich zur Selbstverteidigung auf seine Quelle, die Tradition der Vorfahren,
beruft, ist damit vollkommen motivirt. Auch zwischen V. 49 — 51 und 57—60 besteht kein Wider-
spruch; der Verfasser lässt keinen Zweifel, dass er auch an der ersten Stelle es für wenig wahr-
scheinlich hält, dass Jemand tiefer unde vorebaz rede als er: die scheinbare Aufforderung mündet
darin aus, dass sie ad absurdum führt; schon das übertreibende manlich V. 49 verrat den Huhn.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Götüngen. Phi l.-hist. Kl. H. F. Band 2, s. 2
£
10
wäre nicht unbedingt gegen Eikes Art: schon Homeyer (I S. 52 der 3. Ausgabe)
hat bemerkt, dass Eikes Verse 141-150 fast wörtlich zu dem Prosaprolog (Hom.
I S. 136) stimmen ; loser berühren sich, was Stobbe sah (Rechtsq. I *^95 Anm. 9),
V. 113 ff. und andre Stellen in Gedanken oder Ausdruck mit Lehnrecht 78 § 2 x) ;
auch die unerheblichen Wiederholungen, die Praefatio II in sich selbst aufweist2),
seien nicht vergessen. Aber die Abfassung der Prologe und der Schlussstücke
des Lehnrechts3) mag sich zeitlich nahe stehn, was für die beiden Versvorreden
undenkbar ist; auch ist es doch etwas Andres, ob einmal Vers und Prosa zu-
sammenklingen oder ob ein Reimprolog den andern ausschreibt. Was aus Eikes
Feder, zumal wenn er die erste Praefatio der zweiten einfach vorzuschreiben
dachte , ein arges Armutszeugnis wäre , wird bei einem Dichter, der in Eikes
Namen dichten will, die naive Stütze der Fiction. Und er verfährt dabei nicht
ungeschickt oder plump. Eikes beiläufiger Stossseufzer V. 122 iF. daz recht nieman
leren kan, daß den täten allen künne ivol gevallen wird als das Leitmotiv der Prae-
fatio I, wie billig, wiederholt variirt, zumal V. 54 nieman den lüten allen zu danke
levete noch ne sprach und fast wörtlich ebenso 65 allen lüten ich nekan zu danke
sprechen noch ne sol , beidemal ohne ängstliche Anlehnung an das Vorbild. Die
Verse 151 ff. diz recht hän ich selve nicht ir dächt , iz haben von aldere an unsich
brächt unse gute vorevaren entlehnt der zweite Dichter freilich ziemlich wörtlich
V. 36 : diz recht habent von alder zit unse vorderen her gebrächt ; aber die erste
Zeile überträgt er doch ins Positive umgekehrt auf den Gegner : iven selve hat
erz underdächt. Eine ähnliche Umwendung erfuhr die gegen den irrere gerichtete
Bemerkung 108 manich, ob er künde, gerne scaden tele; die Praefatio I sagt bestimm-
ter (V. 44): so ne kan er scaden mir nicht vil. Die Worte manich, ob er künde,
klingen dann gleich darauf nach V. 49 nu spreche manlich, ob er müge, tiefer ande
vorebaz, denne ich hän; sie leiten zu einem Gedanken über, der die ehrliche Pa-
rallelaufforderung Eikes V. 146 f. ins Ironische wendet 4). — Befremdlicher, aber
1) V. 113 swie unrecht daz si der man, kan er sich des verstän, daz im recht mach gevromen,
hm ers denne bekomen , gerne er des genüzet ; .... unde dünket seiden gut recht, sivar it
scaden tut; dazu Lehur. 78 § 2 wende't n'is nieman so unrecht, it ne dünke ine unbillik, of
man ime unrechte dit. Weiter dort im Lehnr. er man die lüde des in künde bringe, war an
man unrechte dö; ähnlich Praefatio 215 wie her die lüte gemeine . . . rechtes brechte in
künde, unrecht verlegen ebda, im Lehnrecht und Praefatio 254; recht bescheiden ebda,
und Praefatio 147; an recht leeren ebda, und Praefatio 210.
2) iceme lieb weme leit 126. 175; alle lüte mane ich darzö 141. 183; vgl. noch 99 und 215,
128 und 142, 102 und 210, 264 und 277 u. a.
3) Das Lehnrecht erscheint in den Handschriften bekanntlich nicht selten als 4. oder als 4. und
5. Buch des Spiegels oder sonst als unmittelbare Fortsetzung des Landrechts: wol möglich, dass
Eike selbst es so meinte und die Praefatio erst schrieb, als er auch mit dem Lehnrecht fertig war.
4) Auch einige unerhebliche Uebereinstimmüngen seien noch verzeichnet. Das Reimwort sän
V. lü kann aus Praefatio II V. 121 stammen; der Reim aleine : deine V. 22. 24 aus V. 173. 174
(auch die gire, der girege in beiden Reimpaaren) ; die Wendung swie . daz er si V. 2(3. 43 gemahnt
an V. 113; recht verkeren steht V. 33 und 137, recht sin V. 43 und 139; das Recht missehaget
oder behaget V. 68 und 197; so Hesse sich noch dies und jeues anführen, was beweist, wie Eikes
Reimpaare dem Dichter der Strophen im Sinne lagen.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS 11
sehr charakteristisch ist das Verhältnis der Vv. 81 — 85 zu 225 f. ; wol fürchtet
Eike, daz manich man . . zie des (unechter Zusätze) ane mich] aber er tröstet
sich: so iveiz mich got unscüldich. Wie viel schwächer die Selbstbernhigung des
ersten Prologs: mich ziet manich man durch haz worte, der ich nie gewuch ; . . . so
is der lüte doch genück, die wich unsculdich wiesen wol. Eike verlässl sich auf
Gott, der zweite Dichter auf die Leute: ist Eike eine solche Selbstparodie ins
Niedrige zuzutrauen? Er wäre gradezu moralisch heruntergekommen. Nun,
auch das ist möglich. Aber entscheidend scheint mir die Beziehung der Vv. 1 V ff.
zu 131 f. Eike verlangt da von dem Rechtskundigen, dasa er Niemandem das
wirkliche Recht vorenthalte, weme lieh weme leit , ivcme scade oder vrome immer
dar nach kome: er soll rechtsprechen, die ni/e er sprechen wille oder er swige stille]
wenn er nicht unparteiisch zu raten und zu urteilen den Mut hat oder wenn
ihm die Kenntnisse fehlen , dann soll er wenigstens schweigen. Diese zweite
Möglichkeit ist natürlich nur ein Notausgang iür den Mutlosen. Der Dichter der
ersten Praefatio hat das anscheinend falsch aufgefasst. Er lässt Eike sagen: ich
steige oder h<dde rechten stuf, mewan daz irwenden lan : „mich soll Niemand irre
machen, ob ich nun schweige oder das Recht bekenne". Hier ist mir die stolz
ausgesprochene Alternative des Schweigens, das, schwächlich wie es wäre, grade
Eike niemals ziemte, nur so begreiflich, dass der Dichter die Aufforderung „oder
er swige stdle" V. 132 als bedingungslos aufgefasst, also misverstanden hatte. —
Den inhaltlichen oder stilistischen Kriterien, die den Prolog I von Eike los-
lösen, reihen sich metrische und sprachliche ergänzend an: beide zum Beweis
unentbehrlich, weil sie durch die uncontrolirbaren Zufälligkeiten des individuellen
Lebens nicht ganz so unmittelbar betroffen werden wie jene.
Eike schrieb seine Praefatio in Reimpaaren von mannigfaltiger Tactfüllung.
Der erste Prolog zeigt achtzeilige Strophen, die gekreuzte Reimstellung (a b a b
c d c d) und scharfe Trennung des stumpfen Reims (1:3; 2:4; 5:7) vom klingen-
den (6:8) aufweisen; der künstlicheren äusseren Form entspricht eine saubere
Gleichmässigkeit der Tactfüllung, von der die zweite Vorrede sich scharf abhebt.
Hotneyer u. A. haben sich diesen Unterschied so zurecht gelegt, dass sie in Prae-
fatio I starke technische Fortschritte über die Anfängerversuche des II. Prologs
sahen. Das ist so nicht richtig: Eikes Praefatio steht der frühepischen Technik
Veldekes und Hartmanns nahe, die Strophen wandeln die Bahnen der reifen
Kunstlyrik: nicht Stümper und Meister scheiden sich da, sondern zwei verschie-
dene metrische Stilformen : im metrischen Modejargon würde man Eikes Verse
wol als dipodisch, die der Strophen als monopodisch gebaut bezeichnen1); ich
scheide sie als Verse von freier und von gleicher Tactfüllung.
1) Der Ausdruck „monopodisch" ist unschädlich. Dagegen kann ich es nur bedauern , dass
„dipodisch" in weiter Ausdehnung zum Terminus technicus zu werden droht. Ich stimme Heusler
uneingeschränkt darin zu, dass in deutscher Metrik nur der Typus 1 . 3 (Sievers A) die Bezeichnung
„dipodisch" verdient; ich bezweifle anderseits nicht, dass dieser Typus, so hoch man seine Be-
deutung einschätzen mag, im altdeutschen Verse der historischen Zeit nirgend ausschliesslich
herrscht. Schon darum misfällt mir der Ausdruck. Schlimmer aber ists, dass man neuerdings die
8
12 GUSTAV ROETHE,
Die strophische Vorrede lässt Hebung und Senkung mit reinster Regel-
mässigkeit wechseln1). Niemals scheint eine Senkung zu fehlen; auch V. 36
und 43 möeht ich lieber lesen die recht hdbent und wie recht däz , als dass ich
hinter recht die Senkung entbehrte; es müsste denn Eikes vorbildliches Vor-
wort, in dem grade hinter recht die Senkung wiederholt ausbleibt, hier gute
Sitten verderbt haben. Der Auftact fehlt unbedenklich, im Fortschritt der
Dichtung immer häufiger : in den ersten beiden Strophen vermeidet der Dich-
ter auch diese Freiheit. Von den 16 auftactlosen Versen sind nur 2 klingend.
Man kann durchaus nicht sagen, dass gewichtiger Verseingang die Auftact-
losigkeit rechtfertigte: in der Hälfte der Fälle (36. 37. 43. 68. 74. 79. 90. 94)
setzt die auftactlose Zeile schwächlich ein ; die enge syntaktische Verbin-
dung zweier Verse mag namentlich V. 82, etwa auch 37. 50. 79. 94 mitspielen. —
Zu starke Tactfüllung zeigen die Vv. 47 singet als, 73 bringen an, 93 wcenet
ein; es ist gewiss kein Zufall, dass in allen 3 Fällen das folgende Wort voca-
lisch beginnt; ich nehme für singt und ivcent unbedenklich Synkope an; in V. 73
liegt die Umstellung bringen künde vielleicht näher. — Die Worte der Form uX
werden meist als Auflösung gebraucht: (ver)nemen 16, mane(yen) 2.' 57. 61. 93,
lüyenilich) 88, saget 1, (be)hage[te) 68, rede 33, leve(te) 55, habent 36, have 3 (wenn
man nicht liän lesen will), mite 40, (here 37). in der eisten Senkung oder 17.
Dazu mindestens 9 Fälle im Reim : ivege : siege 1:3, 'verneinet : nrissczemet 9 : 11,
müge : tilge 49 : 51, gere : here 61 : 63, (wilt :) hevüt 91. Von den ursprünglich zwei-
silbigen Formwörtchen auf Liquida und Nasal, wie wil, vil (wil : vil 33 : 35. 42 : 44),
ivol (: sol 68. 85), vor, dar, in, im, dem u. ä. , die meist unbedenklich auch in der
Senkung stehn und dadurch die vollzogene Einsilbigkeit wahrscheinlich machen,
seh ich dabei ganz ab. Dem gegenüber ist der tactfüllende Gebrauch jener Worte
etwas seltener : dreimal manich (4. 25. 81 , wo überall die Möglichkeit besteht,
dass maniger gemeint ist), sichrer unbereu 21, vorebaz 50, vogel 47, betrogen 64,
pldcgen 87, senden 44, haven 23, lesen 15, fünf von diesen 8 Fällen in dem mit
leichterer Füllung zufriedenen dritten Tacte. — Es stimmt zu dieser sich der
Silbenzählung nähernden Technik, wenn einige leichte Tonverschiebungen vor-
kommen: im Eingang die schon erwähnten Fälle 36. 43; im Innern unrechten
19. 34, üfbringen 42. — Hiatus wird anscheinend gemieden.
Bezeichnung „dipodisch" nicht selten schon da verwendet, wo man lediglich bunte Tactfüllung, zumal
fehlende Senkungen, constatirt hat. So gebraucht verquickt dies Wort Fragen der Tactfüllung mit
einer Theorie, die man schon darum streng aus der Terminologie fern halten sollte, damit der
Terminus nicht die Theorie mit einschleppe. Davon ist bei Kike keine Rede, dass sich regelmässig
2 Hebungen über die andern erhöben; er hat oft mir ein überragendes Wort, zuweilen auch drei.
1) Homeyers Text, der lediglich eine Hs. zweiton Hanges abdruckt, zeigt das nicht mit voller
Deutlichkeit. Ich bemerke namentlich, dass die zweite Negation uc wiederholt (V. 5. 8. 9. 16. 27.
44. 53. 82) zu entfernen, dass unt stets einsilbig zu iesen ist, dass endlich die Endungen -ere, -eine,
-den u. ä. nur je eine Silbe vertreten; ferner empfiehlt es sich wol zu lesen V. il. 47 im, V. 12
wen, V. 20 ieiceme, V. 51 söz, V. 83 liezc er däz, was ich dem Hiatus lieze erz vorziehe. Die sonder-
baren, aber grade unter den Germanisten nicht ganz selte.nen Käuze, die auch für derartige Äendeiun-
gen nach handschriftlicher Gewähr lechzen, werden, wenn ich nach der II. Praefatio urteilen darf,
die ich aus mehr Handschriften kenne, das Meiste auch aus irgend einem Pergamen belegen können.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 13
Das metrische Gesamtbild der ersten Praefatio ist sehr einheitlich : die recht
gleichartige Tactfüllung, die sich von der Normalform -l.x nur geringfügig,
etwas mehr nach oben (Jux) als nach unten (J x) entfernt, hat zu einem fast
regelmässigen Wechsel von Hebung und Senkung geführt, in den nur der Auf-
tact nicht hineingezogen wurde.
Eikes Verse stehn dazu im denkbar schroffsten Gegensatz. Aber grade
darum ist ihre metrische Charakteristik weit schwieriger, zumal auf Grund von
Homeyers unbefriedigendem Text. Die Praefatio I corrigirt sich aus sich selbst;
wer möchte das bei Eikes freier Manier aus dem kurzen Stücke heraus wagen ?
Die Praefatio I hat durch ihren deutlichen Bau auch die Schreiber eher im
Zaume gehalten , als Eikes mehrdeutige Verse das konnten. Homeyers dürftige
Varianten und was mir sonst von handschriftlichem Material zugänglich war,
geben keine ausreichende Grundlage für eine kritische Herstellung. So muss
ich wol oder übel an den von ihm abgedruckten Text anknüpfen, den von mir
benutzten Handschriften nur kleine Aenderungen entnehmend *). Wie grund-
verschieden der Versbau der beiden Prologe ist, das wird auch so klar werden.
Die erste Praefatio kennt nur die Formen : vierhebig stumpf oder dreihebig
klingend. Bei Eike sind auch die beiden alten Nebenformen der Kurz-
zeile, dreihebig stumpf und vierhebig klingend, jene vielleicht, diese bestimmt
vorhanden. Die Form 3 könnte vorliegen 213 das niemännes mü't, wo allerdings
die Handschriften Cz Dtf lesen das nu nenes (ny keines) mannes müt und auch ein
Accent auf das nicht ganz ausgeschlossen ist ; zwingender 205 ob er an in dein {che
er??) und 268 dö' er aber vornäm, beides sehr hässliche, unrhythmische Verse, die
vielleicht doch verderbt sind. Dagegen rechne ich V. 265 dis bü'ch durch si'ne bete
1) Ich lese 101 got (das metrisch erwünschte also einiger Handschriften ist vielleicht nur Nach-
besserung); 109. 117 streiche ich vil, 1 10 nu, 222 sere, alles wol nur Flickworte, die aus metrischem
Anstoss hervorgiengen , auch wiser 209, das den Gegensatz von vil 209 und eine 211 abschwächt,
ist mir verdächtig; 106. 172 scheint meret besser bezeugt als gemeret; 111 jedesfalls iclich (nur Aq
zeigt dreisilbige Schreibung); 115 lese ich gevromen (so Aq Bv Cz Eb, also alle Handschriften,
die ich für diese Stelle einsehen konnte); 118 in; 122 leren kan (Aq Bv Eh); 125 understeü;
133 miner (Aq Bv Cz) ; 134 spricht (Bv Cz Eb); 151 recht hän (Aq Bv Cz Da Eb); irddeht
(Aq Bv Da Eb, bedächt Cz ; der Dichter der Praefatio I hat freilich under dächt geschrieben, viel-
leicht auch gelesen); 152 vielleicht brächt, wie 260 nach Aw Cz, 274 nach Aw Eb, an allen
drei Stellen Bv (das unsich V. 138. 189 und hier möcht ich nicht antasten, obgleich uns in den
Handschriften zu überwiegen scheint); 180 wen (meist), so auch 209; 182 schouwen (Aqw üv Cz
Da); 185 zun eren (Aqw Bv Cz Eb ; D<? weicht anders ab), danach wol auch 2 IS rar zur helle,
189 zur erde; 187 nicht rüice (meist); 207 albahle (immer, wo nicht nur balde steht); 211 den
(meist); 225 Und z. d. ane (Aq Bv) ; 227 wol be- oder getriegen ; 228 weiz ouch (oder wol) duz
(wetz, icet Aw Bv Cz Da; ouch, 6k Aq Bv Cz Eb , wol Aw Da) ; 250 an oder in? (in Aq Bv
Cz Da); 251 röter (meist); 267 aber fehlt Aqw Cz D<y, es stammt wol aus 268. Formen wie deme
u. ä. betrachte ich in der Senkung auch hier stets als einsilbig, her, er behandle ich als vocalisch
anlautend. — Ich bin mir wol bewusst, dass sich auch gegen eine so bescheidne Ausnutzung meiner
halb zufälligen Kenntnisse der handschriftlichen Lesung methodisch viel einwenden lässt: die Un-
zulänglichkeit des Homeyerschen Apparats ermöglicht mir kein besser gesichertes Vorgehu, und
ich werde weiterhin auch bei gewichtigeren Momenten nicht anders verfahren können. Dies ein für
alle Mal! ß
2 4 *
14 GUSTAV ROETHE,
schon darum nicht hierher, weil bete : tete von Eike vielleicht als klingender Reim
gebraucht wurde (s. u.). — Die Form 4u ist gesichert durch die zusammenhän-
genden Reimpaare 145 — 150, wo mindestens V. 148 nu sc't daz üch niemannes
Hebe noch leide jede andere Lesung ausschliesst ; er verbindet mit der ausgedehn-
ten Gestalt noch besonders starke Tactfüllung. V. 171 — 174 hätten wir, wenn
wir nur drei Hebungen messen , viermal hinter einander den sonst nicht sehr
häufigen doppelten Auftact anzunehmen. Von den Vv. 199 — 203 legen 199 und
ivcge de säche an si'nem sinne und 201 unde ervrä'ge sich mit wi'sen lü ten die Vier-
hebigkeit dringend nahe, die beiden andern sind ihr wenigstens günstig. Dass ein-
zelne Verspaare oder gar einzelne Verse so zu messen seien, davon hab ich mich
nicht überzeugen können, wenn die Möglichkeit auch hier und da besteht.
Die sicher klingen den Reimpaare betragen 39, die sicher stumpfen 50;
die sehr hohe Procentzahl der klingend endenden Verse* verrät eine archaistische
Art, die über Hartmann zurück bis in die Technik Veldekes weist1). Nicht mit-
gezählt hab ich die drei Reime bete : tete 235 f. 265 f. 279 f. : alle drei Reimpaare
sind so silbenarm, zumal V. 235 und 265, dass sie den Verdacht nahe legen,
Eike habe tete : bete ebenso klingend gebraucht wie 109 f. tete : bete. Ist das rich-
tig, so könnte es den niederdeutschen Autor verraten. Im Uebrigen freilich ge-
braucht auch Eike die Reime auf uX als stumpf. Er hat ihrer 9 Fälle : warnen :
Jcomen 115 f., vrome : home 127 f. , varen : bewaren 153 f. 229 f. , vare : spare 129 f.,
gere : were 269 f., graben : laben 165 f., missehage : clage 197 f., geveget : verleget 253 f.,
site : mite 203 f . ; ähnlich wie Praefatio I.
Dagegen ist die Verwendung der Worte uX zur Tactfüllung im Vers-
innern bei Eike weit häufiger als in I: vore 98. 153, varen 206, gire(ge) 173(?), vile
209 (?) , iveme 126 (zweimal). 127. 175 (zweimal) , vrome 176 (sogar im Hiat), ime
115(?). 161. 273, ane 225. 267, manich 108. 222, wese 163, disem, dise 195. 231.
232. 258, iivel 106, abe 172, haben 174, tage 192, jegen 135, (belegene 143, scaden
109.120, sende 127 (im Hiat!). (ver)meden 144, rede 196, oder 127, gotes 157.256;
eine Bevorzugung des dritten Tactes ist nicht wahrzunehmen. Die Auflösungen
sind weit seltner : wesen 246, (meselsucht 234?), sament 241, samene 260, vare 248,
wege 199, abe 253, habe 243, aver 118. 212, oder 132 2), und sie sagen um so we-
niger, da sie meist schwächste Senkungen neben sich haben und Eike dreisilbige
Tacte auch bei langer erster Silbe unbedenklich zulässt. Cx ist für ihn, wie
1) Zur Ergänzung noch ein Blick auf ein paar Dichter niederdeutscher Herkuuft: Grade um-
gekehrt wie bei Eike ist das Verhältnis der stumpfen und klingenden Reime bei dem weit älteren
Wernher von Elmendorf (nach einer Untersuchung Edw. Schröders dichtete er zwischen 1162 und 1186),
über dessen Versbau Eike durchweg hinaus ist; und die klingenden Reime überwiegen bei gleicher
Zählweise (also ^x stumpf gerechnet) sogar noch mehr in der Gandersheimer Chronik (fast60°/0):
Eberhard war eben litterarisch zurück. Schon bei Eilhart dagegen haben die stumpfen Reime einen
ähnlichen Vorsprung wie bei Eike, erst recht bei den späteren, bei Brun und dem Braunschweiger
Reimchronisten ; in Bertholds Crane, der allerdings alle andern weit überbietet, betragen die klingen-
den Reime in -den ersten 1000 Versen nur noch 16 %•
2) im 197. 247. 253, gar 271 werden einsilbig sein; für an wird die einsilbige Nebenform
durch den Reim 103. 221 erwiesen; haben 152, vielleicht auch 203 könnte hän meinen, das im
Reim erscheint.
8
DIE REIM VORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 15
das dem Niederdeutschen ziemt, ein wohlgefüliter Tact; sehr viel weniger für
Praefatio I.
Jene dreisilbigen Tacte, deren ich ca. 3 Dutzend zählte, beginnen in der
Regel mit einem zweisilbigen Wort, dem sich ein Präfix oder Formwort anreiht.
Die ganze Tactgruppe bleibt ungefähr in den Grenzen , die auch die epischen
Reimpaare der guten Kunst Hartmanns und Wolframs sich gestatten *) ; als be-
sonders gefüllt erwähn ich den Tact tu beles an 245 und mischet zur 189. Ob 180
Sdxenrecht als erster Tact (nach Auftact !) zu gelten hat, ist nicht sicher (vgl. V. 234) :
möglich wäre auch Sdxenrecht ist hir. Dadurch entstünde freilich ein Dreisilber aus
3 einzelnen Worten, wie 151 recht hän ich, nur dass 180 keine Inclination oder
sonstige sprachliche Schwächung der Wortkörper zulässt, wie sie 151 und leich-
ter noch in andern Fällen sich böte 2). Alle diese Dreitacter gehören dem 1. und
2. Tacte an ; der 3. Tact hat drei Silben in den Normalversen nur 146 vliz dar
zu (dar?) und leichter 200 nä dem be-, beidemal in der verlängerten Form 4u.
Ein paarmal indessen hat Eike nicht nur einen, sondern mehrere, alle Tacte
des Verses, auch den letzten, so gefüllt, dass eine Art von Schwellversen3)
entsteht. Das brauchte zunächst nur eine, freilich auch für Eikes metrische Art be-
sonders archaische Technik zu sein. Nun war aber grade -auf niederdeutschem Bo-
den die starke Füllung, die schon der Heliand liebt, zu Hause: ich erinnere an
die von hochdeutscher Kunst nur flüchtig gestreifte Gandersheimer Reimchronik,
in der Vollverse überwiegen , die man oft als Langverse lesen möchte. Spielt
hier eine niederdeutsche Neigung herein in Eikes sonst reifere, silbenärmere
hochdeutsche Schulung ? Jedesfalls bewährt er dabei glücklichen Instinct. Stark
gefüllte Tacte, die doch für den Sprecher keine grössere Zeit zur Verfügung haben
als normale, nötigen zur Beschleunigung des Tempos und tragen dadurch in den
Vortrag ein erregendes Moment: Niemand, der die Seligpreisungen des Heliand
recht liest, wird sich dieser Wirkung entziehen, die dort noch durch ein glückliches
An- und Abschwellen der Tactfülle unterstützt wird. Eikes Schwellverse stehen
freilich nicht in Gruppen ; dafür trägt jeder seinen auszeichnenden Charakter an
der Stirne. Besonders deutlich am Eingange des schönen Gleichnisses vom
Schatze der grosse Vers 159 : Jcünst ist ein edel schätz und also getd'n • jeder Kür-
zungsversuch wäre hier vom Uebel. Auch für die dringliche, im Prosaprolog
wiederholte Mahnung V. 148 nu se't daz üch niemannes li'be noch leide (blende) war die
1) Nicht dreisilbig nach Eikes Sprache sind wol Fälle wie brichet der 136, siget der 194,
Nicket sin 251, höret iz 121 ; überall zulässig auch lüte ge- 215, ende be- 255, sinne der 162, alle
de 230; wenig schwerer: alder an 152, werben an 231, rechtes in 118; lüte man 141. 183, mische
zu 258, wize wirt 253, werde mit 241, Eike von 266; härter under der 155 (lies underr?) , halven
de 157, Spiegel de 181, (pennjingen de 252(?), (arjbeites und 279 (?), Aren nicht 185. Für den sehr
schweren Tact dennoch wirt 249 ist, da er auftactlos am Anfang steht, schwebende Betonung zu
erwägen; ebenso 140 (und) unrecht uns. Die Scansion von 235 (Helijseus ge- ist mir zweifelhaft.
2) man ez nä 147; daz er al- 207 ; tu er zu 198 ; si er ver- 256.
3) Ich fasse, wie man sieht, Schwell verse als stärker gefüllte, nicht als tactreichere Verse.
Einen entscheidenden Wesensunterschied zwischen ihnen und den Normalversen nehm ich natürlich
nicht an: es gab immer Uebergänge. 8
16 GUSTAV ROETHE,
eindruckstärkende Schwellform angemessen. Sie bebt vielleicht die zornigen Flüche :
de mrselsucht miize in bekli'ben 234 und des tüveles hdntveste bli'be (ir schrift)1) 242,
die sich so wirksamer lesen als etwa vierhebig. Auch am Schluss der Absätze findet
sie ihren Platz: unrechten lüten ich iz nene gän 112 und des gebe ich zu Urkunde diz
bücheli'n 220 -). In diesen Schwell versen scheinen also auch Worte der Form _*_ -i_X
als Tact verwendet, während sie sonst3) noch absteigend gesprochen zwei Tacte fül-
len ; die Betonung der ersten Vorrede — _z_x ist für Eike wenigstens nicht gesichert.
Praefatio I kennt nur einsilbigen und fehlenden, nie zweisilbigen Auftact;
Eike hat ihn, doch ohne besondere Vorliebe, etwa in dem zwölften Teil seiner
Verse: fast durchweg4) zwei einsilbige Formwörtchen oder ein Formwort und
Präfix : der schwerste Fall ist V. 134 er spricht Wehte des er läster hä't, aber auch
er wahrscheinlicher als ein viersilbiger zweiter Tact. — Um so häufiger, in
ungewöhnlichem Masse beliebt, ist bei Eike das Fehlen des Auftacts. Er fehlt in
75 Versen, ein wenig häufiger im 2. als im 1. Verse des Reimpaars: also in ca
40 °/o aller Zeilen. Das geht wieder hinaus über Veldeke, Eilhart und Hartmann 5),
die , soweit ich nach Stichproben urteilen darf, nicht mehr als ein Drittel
ihrer Verse auftactlos lassen ; in der eigentlichen metrischen Kunstblüte scheint,
wto es hoch kommt, kaum mehr als ein Viertel den Auftact zu entbehren;
Wolfram , vor Allem Grottfried sind noch auftactreicher 6) ; auch der Dichter
der ersten Praefatio hat nur ein Sechstel auftactloser Verse. Bemerkenswert
scheint mir, dass die auftactlosen Verse sich zuweilen in Gruppen zusammen
scHliessen ; 116 — 129 z.B. haben nur ein Reimpaar mit Auftact zwischen sich,
169 — 179 gar nur einen solchen Vers (173 ?). Eike zeigt auch sonst hier und da
die Neigung, silbenärmere und silbenreichere Verse für sich zu gruppiren.
Während die erste Praefatio wol den Auftact, kaum aber die inneren Sen-
kungen entbehren kann, lässt Eike auch diese oft ausfallen. Er bevorzugt
das Wortinnere nicht (25 Fälle), wie das in der entwickelten Kunst geschieht;
nach einsilbigem Wort fehlt die Senkung bei ihm sogar häufiger (29mal), zumal,
wie billig, nach Worten von stärkerem Satznachdruck, z.B. got 101. 110. 226.
238, gut 102. 116. 210, recht 115. 122. 204, groz 107. 216. 221, buch 179. 184.
1) Oder tü'vels hantveste belibe? Beide Fluchverse stell ich, schon weil sie dreihehig, nur zö-
gernd hierher.
2) Oder Urkunde diz bücheli'n'} Die Scansion ist nicht sicher, sicher die starke Füllung. Die
Betonung diz bücheli'n halt ich um so eher für möglich, als die Reimsilbe -lin für Eike Lehnsilbe war.
3) ni' manne u. ä. 130. 213, irrere 105(?), äntlitze 182; Urkunde 168. 247, pennmgen 252,
drbeites 279 (möglich wäre immerhin auch penningen, ärbeifcs) ; bei un-\ iingeme 121. 267, unrechte
230; nur J26 im Reim tinscüldich. albälde 207 ist natürlich in Ordnung.
4) daz diz 111, daz min 144 (155 vielleicht daz min schaz : min hat rhetorischen Nachdruck),
des ne 198, den da 227, de de 202; als an 181, als iz 185, als ein 250; und der 173. 233; (swen
im 251?); und be- 224 (und un- 140?); schwerer dazs ir 102, obz ein 105. und seh ich im Auf-
tact stets als einsilbig an; ebenso ist wol auch swen 188. 255, an 275 zu beurteilen; oder 258.
5) Die silbenreichere niederdeutsche Technik des Elmendorfers und Gandersheimers bietet in
diesem Puncte gar keine Parallele zu Eike.
6) Vgl. auch die freilich sehr ärmlichen Zählungen Janders, Metrik u. Stil in Wolframs Titurel S. 6.
8
DIE REIMVORREDEtf DES SACHSENSPIEGELS. 17
223, müt 219, valsch 233, gift 149; bei lieb 126. 175 und recht 120 *) begünstigt
der Siuneseinschnitt die fehlende Senkung. Doch dehnen sieh auch Wört-
chen von schwachem Satzton über den Tact aus, z.B. sich 114, uns 1 <*>!>. man
170, ouvh 203 2), zu 214; vgl. denne 116 , kü'nnm 202 u.a. Immerhin keimzeich-
net Fehlen der Senkung im Grossen und Ganzen die vorhergehende Silbe als
rhythmisch haupttonig oder doch als stärker denn die folgende. Da bleib ea
denn nicht unbemerkt , dass von den vierhebig stumpfen Versen kaum weniger
als ein Viertel der Gesamtzahl, nämlich 23 (dazu 3 vierhebig klingende Verse),
14 ohne, 9 mit Auftact, die sattsam bekannten Cretici zeigen, während die drei-
hebig klingenden Verse nur 6mal der Senkung im zweiten Tacte entbehren.
Umgekehrt ist in ihnen der erste Tact um eine Kleinigkeit reicher vertreten
(8mal) , während er bei den stumpfen Vierhebern nur llmal ohne Senkung ist.
Am seltensten fehlt die Senkung des dritten Tactes (111.128.219.240, vielleicht
auch 239), den eben auch Eike vorsichtiger behandelt als die andern. Stich-
proben bei Veldeke und Hartmann ergaben mir für den stumpfen Vers vergleich-
bare Verhältnisse, während bei Wolfram und Gottfried das Uebergewicht der
Verse mit einsilbigem zweitem Tact sehr viel geringfügiger scheint. Auch d*as
mag also ein archaischer oder doch unmodern volkstümlicher Zug in Eikes Kunst
sein und immerhin auf die Nachwirkung des Rhythmus 2. (4) grade im stumpfen
Verse zurückgeführt werden 3). Zur fruchtbaren Verfolgung derartiger Möglich-
1) Ein so scharfes Enjambement wie das überhängende recht 120 zeigt nur noch 243 ir
scrift ; Schatzes 165 mit anschliessendem Relativsatz und tvolle wesen 246 sind weit milder. Eike
respectirt die Versgrenze nach Kräften und sucht ihr die stärkern Satzeinschnitte zuzuweisen. Die
erste Praefatio verhält sich übrigens ähnlich : das Enjambement nicht sien 28 und das leichtere
uorte mit Relativsatz 82 lassen nicht verkennen, dass auch sie nur am Versschluss stärkere Sinnes-
einschnitte liebt.
2) unde 203 hab ich lieber mit Hiat angesetzt, als dass ich vor dem schwachen Tact ouch
gar den noch schwächeren und duldete ; der Hiat ist Eike nicht abzusprechen , auch das wieder
gegen die Technik von I. Er wird mir wahrscheinlich durch die Verse 127 weme seäde öder vröme
und 176 vröme ünde salicheit, wo bei Vollzug der Elision eine kurze offene Stammsilbe den Tact
füllen müsste. Demgemäss les ich auch sele ünvro 240; vielleicht auch reche iz 239. Es ist mir
überhaupt fraglich, ob Eike zwei Senkungen hinter einander fehlen lässt : da nach 128 konnte
däre nach meinen, und für 113 könnte man aus den ihm nachgemachten Versen 20. 43 die Gestalt
8irie ünreht daz si' der man erschliessen.
3) Wollt ich den Ansprüchen moderner Metrik genügen , so müsst ich hier wahrscheinlich
eine Rhytbmenstatistik bringen , wie sie zuletzt Leitzmann in seinem Gerhard v. Minden zum
Besten gegeben hat. Ich würd es für keinen Fortschritt halten, wenn diese Mode, mhd. oder mnd.
Verskunst darzustellen, zur Regel würde. Beruht sie doch von vornherein auf einer petitio priu-
cipii , auf dem Dogma von den zwei obligaten und ausnahmslos herrschenden Haupthebungen.
Leitzmann macht auch nicht den leisesten Versuch, die Berechtigung seines Vorgehns zu erweisen:
dass es ihm mühelos gelingt, Gerhards Verse in das Typenfachwerk einzupferchen, wird er hoffentlich
selbst nicht für den Schatten eiues Beweises halten : das ist in mhd. und mnd. Viertaktern, zumal
silbenreichereu Zuschnitts, wahrhaftig kein Kunststück. Du lieber Himmel, was verträgt der Straussen-
magen der Typentheorie nicht alles ! Die Controle der Alliteration fehlt ; über den mhd. Satzaccent,
der sicherlich weit weniger starr war, als der altgermanische, wissen wir sehr wenig, über den
mnd. gar nichts ; und Leitzmann hält es nicht einmal für nötig, über die Grundsätze Rechenschaft
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hist. Kl. N. F. Band 2, s. 3
O
18 GUSTAV ROE THE,
keiten ist Eikes Praefatio viel zu kurz. In ihren dreihebig klingenden Versen
überflügelt der einsilbige erste Tact den einsilbigen zweiten weit weniger als etwa
bei Veldeke u. A.
Es ist an dieser Stelle kein Anlass, die metrische Analyse fortzusetzen, so-
viel Fragen sie unbeantwortet lässt. Ich notire nur noch, dass unde, in Praefa-
tio I stets einsilbig, bei Eike öfter den Tact füllt (129. 176. 238), dreimal sogar
den auftactlosen ersten Tact (107. 119. 203); ferner dass Eike, abgesehen natür-
lich von den grossen Absätzen, für das Satzende den ungraden, die Praefatio I
ebenso unverkennbar den graden Vers bevorzugt. Die Differenzen offenbaren sich
auf der ganzen Linie. Eikes Versbau verrät, an der Kunst der führenden mittel-
hochdeutschen Meister gemessen, überall den Abseit^stehenden , für seine Zeit
Zurückgebliebenen, bei dem für den Mangel modischer Virtuosität ein wertvolles
Stück lebendiger und individueller Freiheit entschädigt: die Praefatio I könnte
jeder mittelhochdeutsche Normaltechniker gebaut haben. Und dieser radikale Um-
schwung der metrischen Art sollte sich zwischen der ersten und der zweiten Aus-
gabe des Sachsenspiegels vollzogen haben ?
Man wird mir eins, nicht ganz grundlos, entgegen halten : Praef. I sind eben
Strophen, Praef. II Reimpaare ; anders baut Hartmann von Aue den Iwein , an-
ders seine Lieder. Richtig, aber nicht treffend! Zwischen Iwein und den zu
abzulegen, nach welchen er seine Acute und Graves verteilt; nur so viel seh ich, die Gesetze des
altern germanischen Satzaccentes , wie die Alliteration sie lehrt, sind es nicht. Unter diesen Um-
ständen haben die kargen Zahlen S. CXIV, die Leitzmauns Resultat bilden, höchstens für ihn selbst
Wert. Nicht das kleinste Uebel aber an dieser seiner unlebendig künstlichen Typenscholastik scheint
mir, dass sie nicht nur willkürlich und steril, sondern so abscheulich unübersichtlich ist: wer sich
über die Fragen der Tactfüllung, des Auftactes, des Versschlusses, der Betonung, der metrisch fest-
stellbaren Sprachformen, der individuellen metrischen Züge u. s. w. orientiren will, der tut wahrlich
besser, die Arbeit von Anfang an selbst zu machen, als dass er sich das Material aus dieser dogma-
tisch zerstückelnden Statistik zahlloser gleichgiltiger Typen und Typchen zusammensucht. Auch ich
halt es für geboten, dass man sich frage, ob und wie weit sich eine Nachwirkung der noch bei
Otfrid bezeugten Lieblingsrhythmen 1. 3, 2, 2. 4 (für obligate zwei Haupthebungeu zeugen bekannt-
lich weder seine Accente noch die Alliteration) beweisen lasse. Jede neue Fragestellung erweitert
unsere Erkenntnis, und die von Sievers gegebenen Anregungen, auf die sich Leitzmann beruft, er-
öffnen immerhin eine Perspective. Aber man soll wirklich fragen, man darf das zu Beweisende
nicht als bewiesen voraussetzen, und man darf nicht einen Gesichtspunct, der, selbst wenn er richtig
sein sollte, auch nach seiner metrischen Wichtigkeit, mindestens für unsere Erkenntnis erst in zweiter
Linie stehen kann, zum ersten Einteilungsprincip heraulschrauben. Dass es in Gerhards v. Minden
Viertactern zahlreiche Verse gibt, in denen sich zwei Hebungen über die andern sichtlich zu erheben
scheinen, ist selbstverständlich ; wie er anderseits nicht wenige Verse hat, in denen man eine oder
auch, zuweilen sehr deutlich, drei Hebungen zu bevorzugen Anlass hat. Die wissenschaftliche Aufgabe
ist grade, das metrisch Gewollte oder Herkömmliche von dem sprachlich Natürlichen zu scheiden;
es gilt vor Allem, die Selbsttäuschung auszuschliessen. Dass Leitzmann bei all seinem Fleiss dazu
irgend einen Ansatz genommen hätte, kann ich wenigstens in dem, was er ausspricht, nicht finden.
Dazu brauchts freilich eine zarte Hand und keinen aroben Schematismus. Wäre Leitzmann nur von
der unbefangenen Untersuchung der Tactfüllung ausgegangen , für die er an Wilmanns metrischeu
Arbeiten so vortreffliche Vorbilder finden konnte! Selbst für die Erkenntnis etwaiger Haupthebungen
hätt er da mehr gelernt, als aus seiner Statistik.
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 19
singenden Liedern besteht ein schroffer Unterschied des Vortrags : die Strophen
des Sachsenspiegels, die Vorrede eines Prosawerkes, waren gewiss nicht auf
Gesang berechnet; schon die sehr einfache, unmittelbar in den Reimpaaren wur-
zelnde Strophenform bestätigt das. Die metrischen Grundsätze dieser ungesun-
genen Declama tionsstrophik dürfen nicht nach gesungener Lyrik beurteilt
werden. Die ungleichstrophigen Schi usstira den von Hartmanns erstem Büchlein,
an deren Echtheit ich nicht zweifle, vermitteln, aus gekreuzten Reimen aufge-
baut wie die Praefatio I, zwischen der Lyrik und Epik ihres Dichters, setzen
die Senkungen etwas regelmässiger als seine epischen Reimpaare (Saran, Hart-
mann als Lyriker S. 64), gehören aber doch im Ganzen der epischen Technik zu.
Wolframs Titurellieder, ebensowenig zum Gesang bestimmt wie etwa Nibelungen
und Gudrun in ihrer erhaltenen Gestalt, sind rhythmisch sogar übler geraten
als die Epen, da der Dichter den Schwierigkeiten der epischen Strophe erlag:
die strengere Kunst der Lieder auch in den Titurel zu übertragen, ist Wolfram
gar nicht eingefallen. Die einreimigen Vierzeiler, die Gottfried, im Eingang wie
im Verlauf seinem Tristan einstreut, sind, mit den Reimpaaren verglichen, etwas
strenger gebaut; aber auch sie lassen den Auitact (1866. 11877) und die Senkung
(11. 36. 1751) ein paar Mal fehlen, von zweisilbigem Auftact (35. 11877), Tact-
überfüllung (1. 6. 12508 [?]) und schwebender Betonung (12508 u. ö.) zu schweigen:
jedesfalls erstreckt sich der Unterschied nur auf Nuancen '). Konrads von Wiirz-
burg Klage der Kunst stellt sich schon durch die freiere Behandlung des Auftacts
näher zu Konrads Epen als zu seiner starren Liederkunst : in seiner Tech-
nik scheiden sich epischer und lyrischer Versbau ohnehin nicht mit der früheren
Schärfe. Zwischen Ulrichs von Lichtenstein strophischem Frauendienst und unr
strophischem Frauenbuch besteht keine markante Differenz ; beide gestatten
sich Freiheiten namentlich in der Betonung, die den sorgsamer gearbeiteten
Liedern Ulrichs fremd sind (Knorr, Ulrich von Liechtenstein 52). Heinzelins
von Constanz Strophen von den beiden Johansen, aus drei gekreuzten Reim-
paaren gebildet, sind zwar in der Festigkeit des Auftacts und der Senkungen
den Reimpaaren von dem Ritter und von dem Pfaffen überlegen; aber der
1) Sievers Andeutungen (Forschungen für Hildebrand 14 ff.), der die Vierzeiler dipodisch,
die Reimpaare monopodiscli fasst, Laben mich nicht überzeugt. Ich fühle vielleicht einen kleinen
stilistischen Unterschied, insofern Gottfried das geliebte Antithesenspiel in den Ströphchen , deren
jede ihre eigne Antithese hat, etwas breiter zerren muss, als in schärfer und gediäugter pointirten
Reimpaaren wie 60 ff. : die Strophen, in denen schon die 4 gleichen, zur Hälfte ruhrenden Reime
den reichern Inhalt erschweren, mussten zur Breite verführen. Irgend eine zwingende, pnncipielle
rhythmische Differenz gegenüber Versreihen wie z.B. 1329 ff. 11720 ff und den vielen ähnlichen
antithesenreichen Betrachtungen vermag ich nicht wahrzunehmen. Dass in den Senkungen der Vier-
zeiler nur sprachlich ganz unbetonte Silben stelm , kann ich nicht finden, wenn i< h mir die Anf-
tacte von 17. 21. 25. 29 33. 41. 1789 ansehe, wenn ich an das doch 10, ir 133, süeze 230, ie 1790.
1791 , an die antithetischen ir (gegen unser) 2:;7, (^egen der lebenden) 240 denke. Und kommt
Sievers z.B. 237. 240. 36 mit zwei Haupttönen aus? Oder beanstandet er 237. 240 und ihre Um-
gebung, wie das hie und da geschehen ist? Wie dem sei: existiert ein rhythmischer Unterschied
zwischen Vierzeilern und Reimpaaren , für den nur mein Gefühl zu stumpf ist, so ist er difficiler
Natur, nicht vergleichbar den grellen metrischen Differenzen der beiden Sachsenspiegelvorreden.
3' E
20 . GUSTAV ROETHE,
Gesamtcharakter des Versbaus rückt die beiden Gedichte doch nah zusammen*
erst die von Pfeiffer demselben Dichter beigelegte Minnelehre steht in ihrer Tact-
füllung weiter ab; für sie aber ist Heinzelins Autorschaft mit bestem Recht be-
stritten worden : fehlt ihr doch schon die äussere Beglaubigung (Höhne, Die Ge-
dichte des Heinzelein v. Constanz S. 8 ff.). — Unleugbar also haben die auf Sprech-
vortrag berechneten Strophen an gleichmässiger Sauberkeit nicht selten einen Vor-
sprung vor den Reimpaaren derselben Dichter: aber der Unterschied ist stets nur
graduell, schneidet niemals so tief ein wie zwischen Sprech- und Gesangsversen.
Auch von dieser Seite aus ist die Identität des Verfassers von Praefatio I und II
nicht glaublich zu machen. —
Nun noch ein letzter Schritt ! Schon in der metrischen Behandlung der
Worte und Reime, von der Form u x glaubte ich bei Eike Spuren mehr nieder-
deutscher Art zu bemerken, die bei dem ersten Prologisten ausblieben. Das be-
währt sich weiter. Die Reime der Praefatio I zeigen nirgend niederdeutsche
Sprachzüge, während sie in II nicht fehlen. Der Reim gescliach : sprach 53 : 55
ist sogar ausgesprochen hochdeutsch *). baz : widersats 50 : 52 könnte man vielleicht
auf bat : -sat deuten ; doch ist der Reim mitteldeutsch auch sonst bezeugt ; den
Ansprüchen mitteldeutscher Technik genügt er durchaus, kränge : lange 94 : 96
(oder krenge : lenge, die Handschriften gehn auseinander) weist ins Mitteldeutsche,
nicht auf das niederdeutsche hing hin. tören : hceren 78 : 80 ist auch mitteldeutsche
Reimfreiheit. Im Uebrigen lauter Reime, die jeder mittelhochdeutsche Dichter
hätte brauchen können. Durch den Reim erwiesen wird die Wendung mich bevilt 91;
niederdeutscher wäre mek vorlanget, doch hat Konemann im Wurzgarten (cod. theol.
Gotting. 153) 191d mik ervelet ; vgl. auch Elmend. 1108 2). miige: tilge 49:51 bezeugt
das Hilfsverb tugen] das in Eikes ganzem Sachsenspiegel nicht einmal vorkommt;
der Zusatz III 51, 1 beweist natürlich nichts dagegen. Auf die hochdeutschen Reim-
formen hat 74, hän 2, sän 10, meisterlin 95 leg ich hier nicht Wert, da sie auch
Eikes Versen nicht fremd sind. Wenn dagegen in Praefatio I vier Reime auf
baz auftreten (13. 29. 50. 81), wenn I vil : wil zweimal (33. 42), sol : wol gar drei-
1) Leitzmanns Anschauungen Beitr. 16, 46 ff. teile ich ebensowenig wie Vogt. Dass in nieder-
deutschen Handschriften gar nicht selten auslautend ch für Je geschrieben wird , das ist für die
lautliche Beurteilung der Bertholdschen Reime um so gleichgiltiger, als die oft von mir beobachtete
Erscheinung weit überwiegend -lieh trifft (schon im Monacensis des Heliand ; vgl. noch unten S. 25),
daneben ich, mich, dich, sich: also nach i und in schwach betonten Silben : das mag auf eine pala-
tale Färbung des k hindeuten, soweit die Schreibung überhaupt phonetische Bedeutung hat. Da-
neben öfter noch das unbetonte och. Nd. sprach wird, wenn überhaupt, nur sehr selten vorkom-
men ; hie und da erscheint spricht, bricht (wieder nach i). Dass nicht Alles hochdeutsche Einwir-
kung ist, glaub auch ich: aber oft genug wird sie's sein: im alten Braunschweiger Stadtrecht z.B.
steht neben sicelich anch ein paarmal sicaz. Beiläufig, wenn Lübben in der Mnd. Gramm. S. Gl sich
für diese ch auf das älteste Lübische Stadtrecht beruft, so trifft die Bemerkung grade für die älteste,
Elbinger, Itandschrift , die ich in einer Abschrift Frensdorffs einsehen durfte, nicht zu. Auch der
Text Bardewieks hat jenes -ch nur sporadisch, allerdings gleich im Eingang '6 Fälle {buch, Hinrich
und Bardewich). Einige weitere Belege dieser Schreibung gibt Lübben, Sachsenspiegel S. VI.
2) Ein ausgesprochen hochdeutsches Wort, das dem Sachsenspiegel sonst fehlt, ist ferner sam 8aj
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 21
mal (21. 66. 85) reimt und Eike diese sämtlichen, höchst bequemen Reime in der
doppelt so langen Vorrede II strenge meidet, aus welchem Grunde auch immer,
so wird das kein Zufall sein; ebensowenig, dass „sunt" in 1 als sint 77, in II
als shi 252 gereimt wird l).
Welchen Standpunkt ich auch einnahm, von allen Seiten zeigen die beiden
Vorreden verschiedne Physiognomie. Wer nicht mit radikalen litterarischen und
geistigen Wandlungen rechnen will, wie sie bei jedem deutschen Dichter des Mit-
telalters, bei diesem Niedersachsen abseits vom grossen Strome des litterari.schen
Lebens aber besonders befremdlich wären , der wird die subjeetiv forcirte, tech-
nisch glatte Dichtung des an virtuoser hochdeutscher Kunst geschulten Mittel-
deutschen wohl sondern von Eikes Art, die mit Stoff und Form bedächtig ringt,
die ihre Persönlichkeit keuscher verbirgt, dabei aber weit mehr Persönlichkeit
verrät. Wer also für die Sprache des Sachsenspiegels etwas lernen will aus Eikes
Reimen, der muss die Untersuchung auf die Reimpaare beschränken.
II.
Eikes Heimat Reppichau, die noch heute eine mit seinem Namen gezeich-
nete Glocke bewahrt (Schubart, Glocken in Anhalt S. 434) und deren Mundart
wir auch bei ihm voraussetzen dürfen , liegt wenige Kilometer südlich des elbi-
schen Hafenstädtchens Aken auf einem Boden, der, heute völlig hochdeutsch, im
13. Jahrhundert noch unbedingt ins niederdeutsche Sprachgebiet gehört hat. In
diesem Umstand liegt bei sprachlichen Fragen eine grosse Erschwerung : nicht
nur die heutige Mundart, sondern schon die Sprachquellen des 15. Jahrhunderts
und noch Früheres müssen als Zeugnisse für die Sprache der nachträglich ver-
hochdeutschten westelbischen Gebiete in der Zeit Eikes meist ausscheiden. Und
das nicht nur für diese oder jene Einzelfrage. Das Vordringen der hochdeut-
schen Lautverschiebung an der Elbe bedeutet mehr als die Ausdehnung des
Gebiets von daz und ich ; es handelt sich da um ein Stück Culturentlehnung,
deren Umfang wir aus dem unsäglich dürftigen, ihr voran liegenden Sprach-
material um so weniger beurteilen können , wenn wir vorsichtig die beiden
grossen litterarischen Denkmäler Reppichaus bei Seite lassen. Es ist von vorn-
1) sint auch in dem uneikischen Reime Landr. 14. — Ich will eine syntaktische Kleinigkeit
nicht verschweigen, trotzdem sie ihre Bedenken hat. In I kommt das so des Nachsatzes mindestens
viermal vor (11. 14. 53. 59, vielleicht auch 63), in II gar nicht. Das scheint an Gewicht zu ver-
lieren, wenn man sieht, dass Eike dies so sonst gehraucht : im 3. Buch des Landrechts hat» ich z. B.
15 Fälle gezählt. In Wahrheit ist diese Zahl (auf 70 Seiten Homeyers !) sehr gering, zumal wenn
man bedenkt, dass Bedingungssatz und Nachsatz gradezu die typische Form dieser Rechtssätze ist ;
in Wahrheit neigt Eikes hartes Juristendeutsch dahin, den Nachsatz ohne Vermittlung an den Vor-
dersatz zu reihen , und in einem kritischen Text wird diese seine Manier vielleicht noch scharfer
hervortreten: möglich etwa, dass die Jüngern Handschriften den Spielraum des so in der Prosa
ausdehnten, während der Vers einigen Schutz gab. Homeyers Apparat beachtet derartige Varianten
lefder gar nicht: Aw list z. B. I 45, 1 se is statt so is se. g
22
herein Lochst wahrscheinlich , dass auch Wortbildung und Wortschatz, weniger
vielleicht die Syntax, von jener hochdeutschen Culturwelle berührt worden sind.
Die Aufnahme des Schibboleths z in die Schrift war ihrer Zeit nur der äussere
Ausdruck für eine Sprachbewegung, die weit früher begonnen hatte und immer
noch fortschritt. Dass Reppichaus Mundart schon zu Eikes Tagen von solchen
hochdeutschen Einflüssen ernstlich berührt war, ist freilich unwahrscheinlich:
so schnell kann die junge Ueberlegenheit des obern Deutschlands, die wir für
diese sprachliche Frage gewis nach seiner litterarischen Bedeutung abschätzen
dürfen, in die breitern Schichten des Volkslebens unmöglich gewirkt haben; erst
zu Ende des 13. Jahrhunderts oder noch später erstarkte Mitteldeutschland so,
dass es den selbst empfangnen geistigen Impuls nun aus eigner Kraft auch über
das rein litterarische Gebiet hinaus fortzupflanzen vermochte.
Wir verdanken es mittelbar vielleicht Eike, wenn wir über die Sprache
seiner Heimat überhaupt etwas wissen. Eecht eigentlich in dem Geltungsgebiete
des Sachsenspiegels sind die städtischen Schöffenbücher zu Hause, die, um
umständliche Urkunden zu ersparen, über die Ergebnisse namentlich privatrecht-
licher Geschäfte, die vor dem Schöffen stuhl erledigt waren, kurz und formelhaft
Protokoll führen. Im Ganzen bedienen sie sich bis in die zweite Hälfte des
14. Jahrhunderts lateinischer Sprache. Ein freundlicher Zufall — oder hat Eikes
Vorbild doch in der engern Heimat weiter gewirkt als anderswo? — will, dass
wir grade aus Aken, wenn auch geringe, Reste eines Schöifenbuchs1) haben, das
mit dem Jahre 1265 und zwar niederdeutsch beginnt. Seltsamer und bedauer-
licher Weise geht die Muttersprache 1272 ins Lateinische über, das nur in Namen
und eingestreuten Worten die heimische Mundart durchschimmern lässt. Erst
1330 setzen wieder sehr vereinzelt niederdeutsche Aufzeichnungen mitten in dem
lateinischen Text ein : als dann 1394 von Neuem fortlaufender deutscher Text
beginnt, da lesen wir gleich in der dritten Nummer (Nr. 1582) : uff der kothinschin
straze) das Hochdeutsche hat Einzug gehalten. Freilich tritt es bald wieder zu-
rück, und noch bis 1453 finden wir niederdeutsche Aufzeichnungen mit ganz ge-
ringen und seltenen hochdeutschen Elementen ; erst die Reste des 16. Jahrhun-
derts sind ausgesprochen hochdeutsch 2). Immerhin wird es sich empfehlen, mög-
lichst mit dem vor 1394 liegenden Material zu arbeiten. Wenn die Akener Auf-
zeichnungen, wie Sickel aus graphischen Gründen mutmasst, nicht Original, son-
dern Abschriften oder Auszüge des Originals sein sollten (vgl. Hertel, die Halli-
schen Schöffenbücher I, XVI), so würde uns das wenig berühren, da die Schrift-
züge der ältesten Partien doch ins 13. Jahrhundert weisen, da obendrein diese
Register von kleinen Alltagsgeschäften doch nur am Orte und nicht allzu lange
nach den verzeichneten Vorgängen selbst zu einer Abschrift reizen konnten.
1) Abgedruckt ist es von Neubauer, Geschichtsblätter für Magdeburg 30, 251 ff. 31, 148 ff.
32, 33 ff.; der Herausgeber zählt sehr praktisch die einzelnen Einträge durch; nach diesen Num-
mern werde ich citiren.
2) Auch die Akener Willkür von ca. 1520, die Zahn in den Geschichtsblättern f. Magdeburg
18, 7 9(3 ff mitteilt, ist ganz hochdeutsch und für uns dadurch wertlos.
C
DIE KEIMVOKKEDEN DES SACHSENSPIEGELS. 23
Und documentirt sich der nachträgliche Auszug etwa grade in der deutschen
Form der ältesten Notate, um so besser, dass uns dieser Auszug blieb und nicht
das Original. Ich sehe keinen Grund zu bezweifeln , dass diese Akener Blätter
in soweit ein treues Bild der Akener Geschäftssprache geben , als das bei belie-
bigen Schreibern des 13. und 14. Jahrhunderts, überhaupt zu erwarten ist: schon
der Wechsel der Hand, die Mehrheit der Zeugen ist sprachlich ganz erwünscht.
Schlimm ist nur der überaus formelhafte Inhalt, die ärmliche Eintönigkeit, die
das gleichmässig Wiederkehrende immer wieder genau mit den selben Worten
mitteilt: unglaublich, mit welch winzigem Ausschnitt des Wortschatzes diese
Schöffenbücher auskommen ! Dadurch wird der sprachliche Ertrag beeinträch-
tigt. — Zu Ergänzung und Controle hab ich gelegentlich auch die umfängli-
chen Schöffenbücher von Halle (herausgegeben von Hertel im 14. Bande der Ge-
schichtsquellen der Provinz Sachsen , Halle 1882) , auch sie keine Originalauf-
zeichnung, in ihren ältesten, gleichfalls niederdeutschen Partien (sie beginnen mit
1266) herangezogen; sie sind schon darum minder günstig, weil sie der hoch-
deutschen Grenze so nah entstanden sind. Das niederdeutsche „Wetebok" des
Reppichau nähergelegenen Calbe (herausgegeben von Hertel, Geschichtsblätter f.
Magdeburg Bd. 20, 43 ff. 125 ff. 217 ff. 349 ff. 21, 72 ff.) beginnt leider erst 1381,
hat aber den Vorzug, Original zu sein und ist reichhaltiger als die Akener No-
tizen J). — Von Urkun denma terial hab ich lediglich den Codex dipl. Anlial-
tinus hie und da eingesehen (älteste deutsche Urkunden dort von 1294, häufiger
werden sie erst seit 1308) : spielen doch in die Entstehung jeder Urkunde sehr viel
mehr uncontrolirbare sprachliche Factoren herein als bei jenen gleichmässig fortlau-
fenden localen Aufzeichnungen. Und ich durfte mich grade in diesen Dingen um
so eher bescheiden, als jetzt Tümpels treffliche „Niederdeutsehe Studien" (Biele-
feld 1898) auf eine Reihe von Fragen der mittelniederdeutschen Sprachgeschichte
aus Urkunden und andern Denkmälern um- und vorsichtige Antwort erteilen.
Den Sachsenspiegel lässt er besonnen bei Seite. Ich hätte freilich auch die Go-
thaer Handschrift der Weltchronik nicht so unbedenklich als Zeugen für die
Sprache von Reppichau verwendet, wie Tümpel das tut -).
1) Was Neubauer in den Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte 7, 376 ff. bisher
von dem Zerbster Schöffenbuch publicirt hat, ist bis auf wenige Worte ganz lateinisch; bis zu den
deutschen Partien (seit 1399) ist der Abdruck noch nicht gelaugt.
2) Weiland bezeichnet die Handschrift (Deutsche Chroniken II 1, 17) seltsam als ein „Ori-
ginalexemplar im weitern Sinne", ohne jede sticiihaltige Begründung; er verkennt keineswegs, dass
sie Abschreibefehler und Auslassungen zeigt. Meint er \ielleicht, sie sei im Auftrage des Verfassers
copirt? Das schwebt in der Luft. Textlich überragender Wert (mir scheint selbst der nicht un-
bestreitbar) entscheidet noch keineswegs für die Authentie der Lautgestalt. Schon die hochdeut-
schen Spuren der (Juthaer Handschrift, wie man sie auffasse, müssen warneu. Soweit nicht der
Reim bürgt, wird die einzelne Handschrift grade so verbreiteter Literaturdenkmäler nur unier un-
gewöhnlich günstigen und gesicherteu Umständen für die Originalmundart zeugen dürfen. Und
wie complicirt, rätselreich ist grade die Textgeschichte der Weltchronik ! Stimmt die Mundart der
Gothaer Handschrift zum Dialect von Reppichau, gut: das mag ihren Wert stützen. Aber sie
selbst als mundartliche Quelle ist mir verdächtig.
8
24 GUSTAV ROETHE
Nun zu Eikes Reimen! Billig steht voran der lehrreiche Reim wat :
hat 143 : 144, dessen Doppelgesicht ebensogut für niederdeutsche als für hoch-
deutsche Sprache zeugt. Dass man in Reppichau ivat gesagt hat, versteht sich.
Aber kann Eike hat oder hat gesprochen haben? In den Akener Büchern heisst
es zunächst heuet 1267 (56). 1272.(132) u. ö\, lieft 1330 (641) u. ö. ; het, hcd zuerst
1365 (1108. 1109) und seitdem die herrschende Form; had dagegen hab ich le-
diglich im Jahre 1394 und 1395, also grade in einer Partie gefunden, die deut-
lich hochdeutsche Elemente zeigt (1581. 1583. 1584 u. s. w.). In Calbe gehn het
(hcd) und heft bunt durcheinander , hat auch hier nur in der Nachbarschaft ver-
schobner Formen (Magd. Geschichtsbl. 21, 75). Halle setzt mit hevet ein, schon
1286 treten lieft und het daneben ; het behält den Sieg ; bei der Häufigkeit hoch-
deutscher Formen .in den Hallischen Büchern sind die mancherlei, aber stets ver-
einzelten hat schon im Anfang des 14. Jahrhunderts nicht auffällig. Auch Tüm-
pels Sammlungen schliessen ein lebendiges niederdeutsches hat aus : Eike muss
hi5vd und lieft gesprochen haben, nicht einmal het ist. für seine Zeit glaublich.
hat ist hochdeutsche Lehnform. Dass hat und andre Formen von htm später in
den Reimen mittelniederdeutscher Gedichte massenhaft mechanisch fortgeschleppt
werden, kommt für Eike noch nicht in Betracht.
Der schillernde Reim weist den Weg: wir dürfen in Eikes Reimvorrede auf
niederdeutsche wie auf hochdeutsche Elemente gefasst sein. Ich beginne
mit jenen.
Zweimal reimen so (nd. tö, mhd. zuo) auf so (141 f. 183 f.). Verrät sich hier
Eikes niederdeutsches tö? Ja, sprach er denn überhaupt tö? In Reppichau heisst
es heute, «sm. Die Akener SchöfFenbücher haben in ihrem ersten deutschen Stück ein-
mal tfrvoreii (Nr. 32, 1266), sonst stets und oft tu, tu, wie denn auch in andern Wor-
ten mit hd. uo hier das ü, ü weit über das 6 hinausgeht. Genau dasselbe Resultat
für tu ergeben Calbe und Halle; ich zähle z. B. auf den ersten 10 Druckseiten der
Halleschen Bücher (1266 fi°.) 21mal tu, 4mal tu, 2mal tö, und dies Uebergewicht des
tu und tu dauert im Ganzen fort, wenn es auch einige /o-Strecken gibt. Die Ur-
kunden des Anhalter Urkundenbuchs schwanken; doch hebt sich deutlich heraus,
dass die Urkunden rein localen Charakters und die für Anhalt ausgestellten (also
wol von Anhalt aus vorbereiteten) tu oder tu haben *). Von den Handschriften des
Sachsenspiegels bevorzugt grade die von Homeyer abgedruckte gleichfalls das
tu, tu entschieden, und seine Varianten bezeugen das tu auch für andre nieder-
deutsche Handschriften (z. B. vgl. Landr. II 66 N. 37. 68 N. 7), während in den
von mir darauf hin eingesehenen niederdeutschen Handschriften (Aw Cz Ebi)
tö herrscht2). Das Alles macht es allermindestens zweifelhaft, ob Eike tö
1) tu- und ^-Urkunden sind z. B. Cod. dipl. Anh. II 775. 776. III 183. 246. 247. 255. 262.
286. 298. 322. 323 u. s. w. ; vgl. auch Nr. 409, die Beurkundung der Gewandschneiderinnung von
Zerbst. — tö im selben Zeitraum III. 175. 217. 226. 301. 315. 320. 346: da spielt überall die
Magdeburger oder sonst eine fremde Canzlei herein.
2) Dass sie bei andern Worten (namentlich bei gut, dun, auch bei müt, büte, müsdele, hüve
DIE REIMVORREDEN DES SACHSE NSPIEGELS. 25
sprach, ob to : so für ihn der gegebne Reim war. Unmöglich scheint mir nicht,
dass er den bequemen Keim litterarisch (etwa von Veldeke, Eilhart, Herbort)
bezogen hat. Zwingend niederdeutsch ist der Reim keinesfalls : hat doch noch
der Meissner Frauenlob Reime von ö : uo.
Ganz glatt erklärt sich auch gestüt : mnt 213 f. nicht als nd. gestöd : möd.
Nirgend, weder in den Schöffenbüchern noch in den anhaltischen Urkunden hab
ich eine Spur dieser Bildung ohne n entdeckt. Freilich sie sind alle jünger. Aber
auch im Sachsenspiegel selbst ist mir neben den zahlreichen stunt nie ein stüt
oder stöd aufgestossen. Endlich reimt Eike 4 Zeilen weiter famde : vorstunde 218.
Die Form stüt war im Veralten ; als bequem für den Reimgebrauch hat auch die
archaische mitteldeutsche Dichtung sie geschätzt (Weinhold, Mhd. Gramm. S. 365) :
Eike wird das M-lose Präteritum , das in andern Gebieten Niederdeutschlands
lebendiger war, auch schon als archaisch empfunden und nur als litterarische
Reimlicenz benutzt haben.
Was sich sonst als niederdeutscher Reim verwerten Hesse, kann stets auch
mitteldeutsch sein : lere : swere 275 f.; vart : hart (keret) 187 f.1); steit : leit 125 f.;
bedacht : nacht 191 f.: vromen : körnen 115 f. 127 f. ; is : geicis 243 f.; jegen yot (also
jegen c. Aec.) : gebot 135 1'.; am bemerkenswertesten noch wille (3. Pers. Conj.) :
stille 131 f. Das Reimen umgelauteter und umlautloser Vokale (buche : vlüche
231 f.) ist technisch, nicht sprachlich von Interesse. Unzweideutig niederdeutsch
bleibt lediglich das auf das unzweideutig hochdeutsche hat gereimte ivat; dazu
tritt höchstens noch jenes stüt von unsichrer niederdeutscher Herkunft.
Die hochdeutschen Reime sind zahlreicher. Ausser hat, das 134 ein
zweites Mal belegt ist und zugleich hd. gät mitzieht (Eike sprach wol gheit wie
steit 126, Aken 1807), ist auch hän (nd. hebben) durch den Reim : getan 160 gesichert.
— mich : unseiddich 225 f. lässt sich unbefangen nur auf den verschobnen Pronominal-
aecusativ deuten; Eike sprach das Adjectivsuffix natürlich -i%, wie denn die Akener
Bücher stets auslautend eh für inlautend g schreiben ; wenn es auch Tatsache ist,
dass mittelniederdeutsch die Endungen -lik und -ich sich zuweilen mit ihren Aus-
lauten verwirrt haben, so hat diese Verwirrung doch in der Regel -#& zu -lieh ge-
macht, nicht -ich zu -ik. Dass in niederdeutschen Denkmälern zuweilen mich geschrie-
ben wird (vgl. S. 20), schwächt die Beweiskraft des Reimes nicht ab. — Hochdeutsch
reimt büchilin : min ; schon der consensus codicum entscheidet; die niederdeutsche
Diminutivform -ken gäbe, kommt sie auch hier und da einmal -hin geschrieben vor-),
stets einen schlechteren Reim (vgl. unten). — Auch ivante : genante („audebat") 2771.
wird entlehnt sein, ebenso wie Albrecht von Halberstadt und Konemann3) das be-
ll, a.) das u, ü, ü f. hd. uo lieben, sagt wenig: sie teilen das Schwanken mit vielen mittelnieder-
deutschen Handschriften.
1) In den Hallischen Schöffenbüchern steht streckenweise oft der Titel hare (f. herre) I S. 5 f.
36 ff. ; daneben aber auch dhame (dewe). dhan (den).
2) Die Akeuer Bücher habeu deutsch -ken, latinisiren aber zu -kinus.
3) In Koneinanus Wurzgarten folgt auf gehenden : penden 202c bald das der Mundart des
Dichters gemässe nheneden (: ioden) 204c ; im Versiuuern veden lMd. Arnold von Immessen , den
Abhdlgn. d. Ü. Ges. d. Y\ iss. zu Gottingtn. Phil.-hist. Kl. -V F. liand 2, t 1
26
queme Reimwort dem hochdeutschen Reimvorrat entnommen haben. Wo Eike
genenden^ im Landr. II 27, 2 ein zweites Mal verwendet, da ist es von den Hand-
schriften grösstenteils misverstanden oder anderweit ersetzt worden, von nieder-
deutschen wie von mitteldeutschen ; die Misverständnisse (genennen oder gewenden)
deuten auch auf eine w-Form der Vorlage, also auf hochdeutschen Lautstand.
Leider find ich das Wort sonst in Eikes Heimat nicht; es ist mittelniederdeutsch
wenig gebräuchlich, dort wol im Aussterben begriffen, während es sich hoch-
deutsch hielt. Hochdeutsch wirkt auch das a von genande, das freilich durch
den Reim: wände nicht erwiesen ist: gesichert sind nur die Part, gewant 193,
hekant 249, beide auch niederdeutsch reichlich belegt.
Die 3. Pers. Plur. Indic. Präs. endet nach Reimausweis auf -en : sehouwen 182
(: vrouiven), leeren 210 (: leren Infin.), liegen 228 (: getriegen Infin.), vuren 230 (: be-
ivaren Infin.), sertben 233 '(: bekliben Inf.). Da/u steht in entschiedenem Gegen-
satze, dass die niederdeutschen Handschriften des Spiegels, so weit ich sie kenne,
-et durchaus vorherrschen und -en nur mehr oder weniger sparsam dazwischen
auftreten lassen, zuweilen in buntem Wechsel (z. B. Lehnr. 2, 4 anspreken unde
bedet, Ebi III 45, 4 heten linde söket); ja selbst in mitteldeutschen Handschriften
schimmert das -f£ Dank Irrtümern und Versehen ein paar Mal durch (s.u.). Wie
hat Eike gesprochen ? Jetzt ist in Reppichau das nd. -et längst geschwunden.
In den wenigen sichern Beispielen der Akener Acten, deren anfangs präteritale
Darstellung dem Präsens erst später einigen Raum lässt, hab ich nur -en ge-
funden (zuerst 1381, Nr. 1319 des bekennen dy srhepni ; dann Nr. 1580. 1710 u. ö\).
Ebenso in Calbe nur -en. In Halle kommt -et grade in den älteren Aufzeichnun-
gen eine kurze Strecke lang mehrfach vor (Buch I Nr. 354. 355. 359. 364): dann
schneiden die Präteritalformeln die Belege ab ; im Ganzen herrscht auch in Halle
-en. Das anhaltische Urkundenbuch zeigt -et nicht selten, namentlich in der Ein-
gangsformel (we bekennet, döt wetlik) , nicht gerne bei Inversion der 1. Person
(hebbe tue), oft in denselben Urkunden schwankend: es lässt sich wahrnehmen, dass
die tö- Urkunden meist -et haben; sie gelten dem diplomatischen Verkehr mit
Magdeburg und Braunschweig, allerdings auch dem grossen Aschersieher Erb-
schaftsstreit mit Halberstadt, in dessen Urkunden auch tu, tu häufig ist1). Da-
gegen die Urkunden localen Charakters deuten entschieden auf -en hin. Es ist
also mindestens sehr möglich, dass Eike lediglich -en geläufig war und die nie-
derdeutschen -et der Sachsenspiegelhandschriften samt und sonders der verfäl-
schenden Ueberlieferung zur Last fallen : die Sächsische Weltchronik mit ihren
Goedeke gleichfalls nach Goslar setzt (ich weiss nitht warum), hat immer neden. Oass dies neden
nicht — mhd. nieten ist, wie Walther (Mnd. Handwb 244*) anzunehmen scheint, das erweist mir neben
der Bedeutung die feste Verbindung mit dorren, die genau dem mhd. ich forste genenden entspricht.
Die Form mit n ist mir mittelniederdeutsch nicht bektnnt: das genendeäiche Bertholds v. Holle und
der Braunschweiger Reimchronik besagt natürlich gar nichts. Schiller und Lübben führen ein zwei-
felhaftes genent aus Lübeck an.
1) Magdeburg Cod. dipl. Anh. III 175. 217. 226. 268. 320. 321. 410. 420. 438; Braunschweig
502. 580/2. 594. 662/3 ; die Aschersleber Sache 322/3. 429. 438. 490. 492. 498 u. s. w.
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 27
-et ist mir kein Gegenzeugnis (vgl. auch Tümpel, Niederd. Stud. 118). Doch will
ich nicht verhehlen, dass die Reime die -en-Formen nur in Relativsätzen aul-
weisen, wo der Conjunetiv nicht ganz ausgeschlossen wäre: in der Vergleichung
V. 182, die conjunetiviseher Auffassung besonders ungünstig ist, steht der Text
nicht ganz fest. Auch für einen -c/- sprechenden Niederdeutschen wären also
Eikes Reime erträglich.
Was ergibt sich ? Lautet die Frage : entweder — oder — , hochdeutsch oder
niederdeutsch, so wird die Entscheidung nur zögernd für das Hochdeutsche1) aus-
fallen dürfen. Die Reimkriterien reichen nicht recht aus. Zumal hän, hat, gät,
-hu sind bequeme hochdeutsche Reimsilben, die im 14. und 15. Jahrhundert zur
ständigen Reimpraxis auch niederdeutscher Gedichte gehören. Aber diese tra-
ditionelle Reimpraxis konnte für Eike kaum schon bestehn, wie denn der freilich
noch ältere Wernher von Elmendorf, der in ähnlicher Lage war den hochdeutschen
Reimen gegenüber, sich von jener Gruppe nicht einen aneignet, während er
z. B. das bei Eike fehlende sagen im Heime abhetzt. Zu Eikes Zeit sind die
später nichtssagenden Heime also noch von individuellerer Bedeutung. Immerhin,
man wünschte schlagendere Belege1. — Auch der Wortschatz bietet nur un-
sichere Stützen, antlitze 182 ist hochdeutsch; das Schwanken der niederdeutschen
Handschriften zwischen ai'tlät, ang/teziehte, antlüte (Eh) verdächtigt sie: Eike las
antlitze bei Wernher von Elmendorf 1 317) ; aber gesichert ist diese Wortgestalt
ausser dem Reime eben nicht. Das hochdeutsche gefallen „placere" (nd. bevallen)
124, niene „nicht" 112 steht gleichfalls nicht wider allen Zweifel fest. Ueber
säri später, genant (: Ixkcuit) 179. 263 sieht hochdeutsch aus, im Sachsenspiegel
selbst scheint nomen , benömen fast allein zu herrschen: aber auch die Akener
Schöffenbücher haben wenigstens in ihren spätem Partien sehr oft vorgenant
u. ä. (Nr. 1710. 1715 u. s. w.) ; in Halle zuerst Nr. 1182, ca. 1320; früher (Nr. 431)
benömet ; in den Anhalter Urkunden herrscht durchaus benümt, benömet. aber schon
111 175. 226. 298. 300 daneben in derselben Urkunde benant. nennen war für
Eike, wenn es seiner Sprache angehörte, jedesfalls der minder alltägliche, ge-
wähltere Ausdruck. — Die Verbindung des ime was eil ungedacht 273 und man-
ches andre ist mir niederdeutsch minder bekannt: aber was will das sagen?
Es würde höchstens auf eine von vornherein wahtfeheinliche Bekanntschaft mit
hochdeutscher Litteratnrsprache hindeuten, wie sie Richard Schröder, Zeitschrift
f. Rechtsgeschichte 14. 247, constatirt hat. Andrerseits schmecke ich aus angest
221 im Sinne von „Furcht", aus bejegenen 143 „sich ereignen" und aus bliben
242, in dem ich die von mir schon bei Wampen und sonst2) beobachtete Be-
deutung „werden" zu finden glaube, niederdeutsche Nuancen heraus.
1) d.h. für das Mitteldeutsche. Es sei mir auch weiter gestattet, allgemein „hochdeutsch"
im Gegensatz zum Niederdeutschen zu sü^en. Ganz gewis war Mitteldeutschland lür den platt-
deutschen Norden der nächste Vertreter und gegebene Vermittler hochdeutscher Sprache und Cultur;
ich mag das aber nicht für jede Einzelheit behaupten und entscheiden.
2) Vgl. ADH 41, 133, wo ich darin fälschlich einen suecismus sah; ferner Sachsenspiegel II
54, 3 durch dat dat dorp nicht hirdelös ne blive (d.i. werde; vorher hat es einen Hirten gehabt);
4*
8
28 GUSTAV ROETHE,
Charakteristischer als das Hochdeutsche und als das Niederdeutsche scheint
mir schliesslich doch der Mangel ausgeprägter sprachlicher Physiognomie. Jener
Reim ivat : hat ist gradezu symbolisch. Und ich kann mich dem Eindruck nicht
entziehen , dass Eike den prononcirten Sprachcharakter gemieden , den gemein-
samen Besitz des Mittel- und Niederdeutschen bevorzugt hat. Jene -en-Formen
nur in Nebensätzen, wo sie dem Hoch- und Niederdeutschen allenfalls angemessen
waren, könnten Absicht sein. Es kann Absicht sein, dass Eike den naheliegenden
Reimen auf -az aus dem Wege gegangen ist, um nämlich das entscheidende z aus der
kritischen Versstelle fern zu halten. Die bequemen Reime sol : wol, vil : teil mied er
etwa, weil sie, obgleich hochdeutsch gut, ihm niederdeutsch nicht behagten. Im
Grunde ist Eikes Praefatio ungefähr ebensogut im niederdeutschen wie im mittel-
deutschen Lautstand wiederzugeben : beides geht nicht glatt auf. Dem Niederdeut-
schen ist Niederdeutsches entschlüpft ; der Schüler hochdeutscher Dichtung verleug-
net die bequeme hochdeutsche Reimtradition nicht ganz. Die hochdeutschen Spuren
sind freilich gewichtiger, weil sie bewusstere Anlehnung voraussetzen, zumal bei
Eike, für den die Reimgepflogenheiten der spätem mittelniederdeutschen Dichtung
noch nicht existirten. Das Wesentliche in der Sprache der Vorrede bleibt, dass
sie die markanten Idiotismen beider Sprachgestalten leidlich fern hält.
Was trotzdem allgemein Ausschlag gegeben hat für die Entscheidung „hoch-
deutsch", ist fast ein Zufall. Die von Homeyer zu Grunde gelegte nieder-
deutsche Handschrift En bringt die Praefatio in mittel deutscher Sprache.
Das ist gewis beachtenswert, aber wahrscheinlich der einzige Fall ') und um so
mindern Gewichts , als die junge Handschrift bereits die mitteldeutsche erste
Praefatio vorgesetzt zeigt. Indessen hab ich in Aw ein zweimaliges daz eben-
falls nur in der Praefatio gefunden, die dort auch sonst an hochdeutschen Spuren
etwas reicher ist als die übrige Handschrift. Solche Tatsachen deuten zurück auf
eine mitteldeutsche Vorlage jener Handschriften, beweisen aber nicht, dass in ihr
grade nur die Praefatio mitteldeutsch war : die bessere Erhaltung des mittel-
deutschen Sprachtypus in der Reimvorrede erklärt sich hinreichend aus dem Re-
spect, den der Abschreiber den Versen erfahrungsmässig und begreiflicher Weise
mehr zollte als der Prosa : war doch der Reim eine Controle seiner Treue. Dass
die Praefatio Eikes früh in mitteldeutscher Form verbreitet war, dafür spricht
auch ihre Ergänzung, die erste Vorrede, die, unzweifelhaft mitteldeutsch, doch
nur einem mitteldeutschen Text vorgeschoben werden konnte. Indessen an dem
frühen Auftreten mitteldeutscher Sachsenspiegelhandschrilten zweifelt Niemand : ist
doch schon die älteste datirte Handschrift, die wir haben (von 1295), mitteldeutsch.
Gandersheimer Chronik 1542, wo der jüngere Herzog Hinrieb, als noQyvQoytvvrixos beansprucht,
he scholde vil hüker konnig hliven\ Brauusehw. Chronik 436, wo von der Herzogin Ote gesagt
wird : verliehe der Kaiser Königreiche nach icerdicheit, . . . se icere koninginne hieven (d. i. gewor-
den; die Gandersheimer Quelle des Dichters sagt 203 dannoch mochte se sin gewesen konniginne).
C. Kraus schrieb mir, dass er diese Bedeutung von bliven schon im Heliand beobachtet habe.
1) Allerdings führt Homeyer I 49 die niederdeutsche Göttweiher Handschrift D% (Rechtsbücher
S. 100), in der die Reimvorrede steht, nicht unter den Handschriften mit niederdeutscher Reimvorrede
an: leider sind Homeyers Angaben nicht so präcis, dass ich daraus einen Schluss zu ziehen wagte.
e
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 29
III.
Ich habe bisher Eikes Reime nur aus sich heraus zu fassen versucht. Aber
sie sind kein Phänomen für sich : wir dürfen nicht länger auf die Hilfsmittel
verzichten, die uns Zeit und Ort der Entstehung für das Verständnis der sprach-
lichen Gestalt an die Hand geben. Der naive Mensch schliesst etwa : Eike war
Niederdeutscher, also wird er doch wol niederdeutsch gedichtet haben. Die harm-
lose Vorstellung, es sei natürlich, dass der Dichter in der heimischen Mundart
dichte , ist , obgleich auch der Wissenschaft nicht ganz fremd , so schief wie ir-
gend möglich. Sie ist etwa ebenso richtig, wie wenn man in der künstlerischen
Darstellung den individualistischen Naturalismus für die „natürliche^ Gestaltungs-
form halten wollte. Leider Gottes ist nichts schwerer, als mit eignen Augen zu
sehen und mit eignen Ohren zu hören, und der Weg vom Auge zum Pinsel, vom
Ohre zur Feder ist weit. Den Unterschied zwischen gesprochner Sprache und
geschriebner kann man noch heute zur Genüge studiren ; wie viel grösser war
er in den Tagen des Pergaments und der schönen Bücherschrift, die bereits
äusserlich beweist, welchen Respect man dem geschriebnen Worte zollte. Lehrt
doch schon die obligate Versform für Alles und Jedes, dass man die litterarische
Rede aufs Stärkste stilisirt verlangte, dass man die Alltäglichkeit geflissentlich
floh. Stil aber ist zugleich Tradition. „Natürlich" ist, war und wird sein für
den Durchschnittsmenschen, dass er nicht seine, sondern seiner Vorbilder Sprache
schreibt, wenn er sich litterarisch betätigen will ; und wer in der Nähe keine
Vorbilder hat, der sucht sie sich in der Ferne; wie weit die bewusste oder un-
bewusste Nachahmung glückt, ist eine andere Frage. „Natürlich" war für Eike.
dass er sein Rechtsbuch lateinisch schrieb , obgleich er vom SchölFenstuhl her
nur das Deutsche gewöhnt war. Der Wunsch seines Grafen zwingt ihm dann
freilich die deutsche Sprache auf, und er ist präciser Jurist genug, um der Ge-
setzsammlung die poetische Form zu ersparen: „natürlich" aber ist ihm doch,
dass er bei der ersten Gelegenheit, also in der Vorrede, zum Reime übergeht;
selbst den winzigen Prosaprolog, den er sich dazu abquält, beginnt er mit einem
Reime; die Reimsprache fand er eben litterarisch geprägt, und der Mensch steht
nun einmal höchst ungern auf eignen Füssen.
Dass Eikes Reime im Ganzen mit dem Wort- und Reimschatz der hoch-
deutschen Literatursprache operiren , hat man längst bemerkt. Ich kann auch
die unmittelbar sichere Anlehnung nachweisen, aber freilich für das kurze Stück
nur an einen Dichter, und das war ein in Thüringen reimender Niederdeutscher.
der Didaktiker We ruber von Elmendorf. Sein Lehrgedicht musste Eike
um so sympathischer sein, als es alle Tugend beim Recht einsetzen lässt: alL
tugent saltu minnen, daz saltu an dem recht beginnen! (239). Dass die Weisheit
der alten Heiden dort das grosse Wort führt, war Eike gewiss nur genehm, der
selbst den .Königsfrieden auf Vespasian, den Ausschluss der Frau vom Vor-
sprechertum auf die antike Juristenanekdote von der streitsüchtigen Calefurnia
30 GUSTAV ROETHE,
(Afrania) zurückfuhrt. So entnahm er Wernher gerne jenes schöne Gleichnis
vom Schatz des Wissens, das gradezu den Kern von Eikes Praefatio, vielleicht
seiner gesamten Schriftstellerei bildet. Wernher schilt, und das in der Einleitung
(V. 43 ff.), die sich in der von Schönbachs fruchtbarer Gelehrsamkeit erwiesenen
Quelle des Gedichts nicht findet, die säumigen Christen, die von heidnischer Moral-
lehre nur lernen könnten: iz ist manic cristenman, der gnüc wisheit kan und si an sich
selben inne keret; nocheiner den andern nicht leret und intüt doch so vile, daz her si
mit last oder mit spile an ein hlat gescrihe. Und doch : was nützt es , das Licht
unter den Scheffel zu stellen: und nun fährt er fort: ouch ensal her nummer riche
werden , der sinen schätz hegrehet under der erden ; diz selbe gediite get an di litte,
di di andern ivol geierin kuunen und in der selikeit nicht gunnen (V. 59 — 64). Zu
Grunde liegt natürlich Eccles. 20, 32 sapientia absconsa et thesaurus invisus: quae
idilitas in utrisque? invisus durch begraben zu übersetzen, war offenbar deutsche
sprichwörtliche Fassung (Schulze, Bibl. Sprichw. S. 112 ff.). Dass aber nicht das
Sprichwort oder die Bibelstelle Eike unmittelbar anregten, lehrt einmal der
Reim Eikes under der erde: werde, dann die Vorstellung, dass Gott den Freige-
bigen reicher mache (Praef. 172), was Eike aus Wernhers Worten V. 59 heraus-
las x) ; vor Allem die entscheidende Moral: also schriftstellert , ihr Wissenden!
Dass Eike gleich vorher (V. 153), Wernher gleich nachher (V. 67) sich auf die
Vorfahren beruft, verstärkt die Sicherheit. Aber der Zusammenhang bestätigt
sich noch weiter : aus Wernher V. 243 hat Eike den Gedanken , dass niemant is
so beese, dass er sein Recht nicht festzuhalten suchte, wenn ein Andrer ihn quäle.
Wernher meint beese wol als „jämmerlich, schwach'4 : „selbst der Wurm krümmt
sich" ; Eike fasst es V. 113 als unrecht : sivie unrecht si der man, er sucht sein
Recht festzuhalten ; ähnlicher noch im Lehnsrecht 78, 2 : it n' is nieman so un-
recht, it ne dunke ine unbillik, of man ime unrechte du. Dazu sichernd manch Ein-
zelnes : gros angist get in ane sagt Wernher 320 (vgl. 173) , wörtlich so Eike
221 2) ; — die Mahnung nu müz der riche dem armin gebin Wernh. 290 heisst bei
Eike, mitten im Schatzgleichnis: der riche sal den armen laben (Praef. 166) ; —
der Richter soll nach Wernher so zu Gericht sitzen , daz in br engen von sinen
witzen wedir gut noch zorn (V. 277) ; Eike lehrt die Richter: nu set, daz üch ne-
manncs liebe noch leide noch zorn noclt gift so ne blende, daz man üch von dem
rechte wende (Praef. 1491'.): Wernhers gut hat er, vielleicht falsch, mit gift umschrie-
ben , während es wol „Studium" neben der „ira" meint: so erklärt sich Eikes
.sonderbare Verbindung zorn noch gift9). Die sämtlichen Anklänge drängen sich
im Anfange der Wernherschen Dichtung4).
1) Simrock, Sprichw. 7024 bat Eikes Grundgedanken in epigrammatischer Form : „Der Milde
giebt sich reich, der Gt-izhals nimmt sich arm".
2) daz icirrit mir Wernher 185. Eike 103.
3) In dem Prosaprolog (Hom. I S. 136) , der diese Stelle aus der Versvorrede wiederholte,
hat eine späte Handschrift, Da, statt zorn noch gift „hat edder gut".
4) Praefatio I zeigt keine einzige greifbare Beziehung ; die auf das Wild los buffenden Hunde
V. 90 haben mit Wernhers Bilde von der Zunge, die einem bellenden Hündchen gleiche (V. 1062)
weder im Ausdruck noch im Gedanken etwas zu tun.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. .*} 1
In welchem Lautstand las nun aber Eike jene Reime? Oder, anders ge-
fragt: welche Sprache schrieb Wernher? Auch das ist umstritten: Sehönbach
(Zs. f. d. Alt. 34, 75) glaubt unter der hochdeutschen Tünche der Handschriften die
niederdeutsche Originalfassung durchschimmern zu sehn ; Edward Schröder (Anz. f.
d. Alt. 17, 79) und seitdem auch Behaghel (an gleich zu nennender Stelle) halten
die überlieferte hochdeutsche Sprachform für ursprünglich. Und dieselbe Frage
wiederholt sich mit ziemlicher Regelmässigkeit bei sämmtlichen dichterischen
Erzeugnissen der mittelniederdeutschen Frühzait, die ich bis ca. zum Jahre 1300
rechne. Einzeluntersuchungen, so dringend sie da Not tun, machens nicht allein.-.
Es ist gradezu die Frage: gab es im 13. Jahrhundert überhaupt eine mittelnie-
derdeutsche poetische Litteratur? Drei Gesichtspuncte kommen für die Antwort
in Betracht.
Dass die gesamte mittelniederdeutsche Dichtung bis tief in das Jahrhundert
der Reformation hinein eine nicht geringe Dosis hochdeutscher Reime mit
sich schleppt, das hat über frühere Einzelbeobachtungen hinaus kürzlich Beha-
ghel in seinem klärenden, von wohltuender Unbefangenheit getragenen Programm
„Schriftsprache und Mundart" (Giessen 1896) beinahe drastisch erwiesen. Ge-
wisse stereotype hochdeutsche Reimverbindungen gestatten im 15. Jahrhundert
und schon etwas früher tatsächlich keine Rückschlüsse mehr- auf die übrige
Sprache der Dichtung. Aber woher stammen sie? Sie sind der ererbte, tech-
nisch versteinerte Rest aus einer Periode, wo man in Niederdeutschland nicht
nur hochdeutsch reimte, sondern auch hochdeutsch schrieb, so gut es gehn
wollte. Welch absurde Vorstellung im Grunde, dass ein niederdeutscher Dich-
ter in den Reim ganze Gruppen hochdeutscher Elemente aufnehmen sollte, wäh-
rend er sonst sich des Hochdeutschen enthielt! Solch Widerspruch kann sich
in der Entwicklung herausbilden, aber nicht wol an ihrem Eingang stehn. Die
im 15. Jahrhundert fossilen hochdeutschen Reime waren im 12. und 13. lebendig,
sind für diese Zeit also beweiskräftig auch über den Reim hinaus. Es kommt
aber hinzu, dass die mittelniederdeutschen Dichter des 13. Jahrhunderts vielfach
hochdeutsche Reime aufweisen, die ausserhalb der später traditionell erstarrten
hat-, lät-, lin-j saget-Keime liegen, vor Allem Reime von niederdeutschem /. /.. /> :
s, ch, f. Und endlich: grade die Frühzeit gestattet oft die entscheidende G-egen-
probe, die freilich nur bei Dichtungen einigen Umfangs Bedeutung gewinnt: es
werden gewisse Kategorien von niederdeutsch unbedenklichen Reimen (z. B. aus-
lautendes hochdeutsches t : z, die Reime von Participien Praet. und den Plural for-
men auf -et, die Reime zwischen indicat. weren „erant" und treu, zwischen d raget
„ferta und maget, zwischen old „vetus" und gohl, zwischen kende „eognovit" im !
ende u.a.) gemieden oder wenigstens stark beschränkt. Volle Consequenz darf mal
nirgend erwarten: wie sollte der Niederdeutsche,- dem das Hochdeutsche lediglich
Litteratursprache war. nicht Öfter einmal unbefangen in die Mundart verfallen ? I Ja-
positive Streben, Schriftdeutsch zu schreiben, war oft genug bewnsster als die nega-
tive Folgerung, das Dialektische zu meiden. Es hat unzweifelhaft Poeten geg<
die sich in der hochdeutsch gefärbten Dichtung auch niederdeutsche Keime ruhig
E
32
gestattet haben. Behaghel hat a. a. 0. S. 35 ff. in schneller, ruhiger Abschätzung,
wenn auch etwas bunt und summarisch, die niederdeutschen Dichter aufgezählt,
die ihm nach den Reimen hochdeutsche (d. i. mitteldeutsche) Sprachform ange-
strebt zu haben scheinen. Ich selbst möchte den Kreis noch weiter ziehen 1).
Aber ich verkenne nicht, dass die Grenze zwischen dem Hochdeutsch mit nieder-
deutschen Heimatsspuren und dem Niederdeutsch mit nachwirkenden hochdeut-
schen Traditionen nicht immer mit Sicherheit gezogen werden kann.
Die Reime müssen den Ausgangspunct bilden. Aber man darf nicht bei
ihnen stehn bleiben. Wer niederdeutsche Gedichte aus der zweiten Hälfte des
14. oder aus dem 15. Jahrhundert etwa mit Wernher v. Elmendorf vergleicht,
dem drängt sich alsbald der Unterschied des Wortschatzes auf: hier geringe
niederdeutsche Spuren, dort meist eine reiche Fülle von Idiotismen, die über des
Autors Herkunft keinen Augenblick zweifeln lassen. Das derbere Material des
Wortschatzes lässt sich im Ganzen sicherer und leichter fassen als die feineren
Unterschiede der Syntax, die schon der des Hochdeutschen beflissene sächsische
Poet nicht selten übersah, die zum Teil obendrein in der Ueberlieferung stärker
gefährdet waren. Keine Untersuchung über die Sprache der frühmittelnieder-
deutschen Dichtung darf sich der Rechenschaft über den Wortschatz entschla-
gen : es ist eine arge Schwäche der deutschen Philologie , dass sie ihre sprach-
liche Forschung so gern mit den Lauten nicht nur anfängt , sondern auch endet,
und ich rechne Kugel die mutige Entschlossenheit, mit der er die Heimat des
Hildebrandsliedes aus dem Wortschatz zu bestimmen versucht hat, als metho-
disches Verdienst hoch an , obgleich ich sein unter ungünstigen Verhältnissen
gewonnenes Resultat nicht für richtig halte. Sein Beispiel zeigt freilich das
Gefährliche einer solchen auf dem Wortschatz aufgebauten These. Die Gefahr
aber darf auch in der Wissenschaft den Mann nicht schrecken. — Für das Mittel-
niederdeutsche des 13. Jahrhunderts liegen die Verhältnisse günstiger, wenn
gleich nicht einfach. Die Grenzen zwischen mitteldeutschem und niederdeutschem
Wortschatz sind an sich oft fliessend und verschwimmen unsrer Erkenntnis noch
öfter, zumal bei der Schwäche unsrer lexikalischen Hilfsmittel; jede neue Publi-
cation. jede der reichhaltigen lexikalischen Studien Bechs erweist uns, wie wenig
wir da wissen. Trotzdem ! Was lediglich der geläufigen hochdeutschen (oder
mitteldeutschen) Litteratursprache angehört, hebt sich im Ganzen doch mit aus-
reichender Schärfe ab von dem specifisch niederdeutschen Sprachgut; und nur
das entscheidet hier. Das mindere Gewicht leg ich auf die Frage, ob der mittel-
niederdeutsche Dichter Worte gebraucht, die seiner Mundart fremd sind. Auch
dem hochdeutsch Belesensten erlegte da schon sein niederdeutsches Publikum
Beschränkung und Auswahl auf: es ' handelt sich tatsächlich um einen ziemlich
engen Wortkreis. Gerade für diese Frühzeit der mittelniederdeutschen Dichtung ist
1) Anderseits halt ich für die beiden Stücke aus der livländischen Sammlung, die auch in
Behaghels Notizen eine ganz exceptionelle Stellung einnehmen, zunächst an Seelmanns Auffassung
fest, sie seien aus hochdeutschen Originalen übertragen.
B
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 33
zudem nicht immer abzugrenzen, was von ihren hochdeutschen Lehnworten littera-
rischer Herkunft ist, was dem lebendigen Verkehr entstammt; was individuell
und neu, was gemeinsprachlicher Besitz ist: so manches Wort, das im 15. Jahr-
hundert kaum mehr als hochdeutsch empfunden wurde, wird im 12. und 13.
der einzelne Schriftsteller litterarisch eingeführt haben : nicht zagel und ziehe,
aber vielleicht stren, zage mit seinen Ableitungen u. ä. Auch das erschwert die
Untersuchung, dass die mittelniederdeutsche Dichtung der frühern Zeit, mit dem
reicher bezeugten Sprachschatz der Folge verglichen , manche Eigenheiten der
Wortwahl zeigt, für deren Verständnis nicht nur die hochdeutsche Einwirkung,
sondern auch das höhere Alter der Werke in Betracht käme. — Um so bedeutungs-
voller scheint es mir, wenn ein niederdeutscher Poet in seiner Wortwahl dem beson-
dern niederdeutschen Element einen geflissentlich kleinen Raum lässt. Dass man
zu vollständiger Ausschliessung bei bestem Willen auch nur im Stande gewesen
wäre , das freilich ist unwahrscheinlich : ein derartig klares , wissenschaftliches
Bewusstsein über Schriftsprache und Mundart, über Hoch- und Niederdeutsch
dürfen wir nicht erwarten. Die von Philologen gern erwogene Rücksicht auf
ein grosses gemeindeutsches Publikum, über die Grenzen der Madersprake hinaus,
hat gewis nicht die entscheidende Rolle bei jener ausschliessenden Wortwahl
gespielt: würde sie doch schon den weiteren Gedanken voraussetzen, man könne
überhaupt höhere, litterarischer Verbreitung würdige Poesie in andre als die
überkommene Litteratursprache kleiden.
% Wenn ein niederdeutscher Dichter Reime hochdeutschen Lautstandes reichlich
braucht, niederdeutsche Worte sichtlich meidet, nun, dann dichtet er nicht nieder-
deutsch, mögen ihm in seiner Kladde auch so und so viel Saxonismen echappirt
sein/- Aber die Gunst der Ueberlieferung hilft dem, der sehen will, sogar
noch weiter. Die gesamte mittelniederdeutsche Dichtung des 13. Jahrhunderts
ist in hochdeutscher Sprache oder mindestens in einer Sprache mit deutlichen
hochdeutschen Spuren auch ausser dem Reime erhalten. Diese Tatsache spricht
so laut, dass ein gut Stück dogmatischen Vorurteils dazu gehört, am sie zu
überhören. Ich will von den Lyrikern nicht reden, die bei der Aufnahme in die
grossen oberdeutschen oder mitteldeutschen Sammlungen freilich an der Original-
sprache einbüssen mussten. Aber man denke : wir haben hochdeutsch ganz oder
fragmentarisch für Eilhart v. Oberge 2 Handschriften des 12. und 13. Jahrhun-
derts, für Wernher von Elmendorf 2 Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts,
für Albrecht v. Halberstadt, Konemanns Kaland und die Braunschweiger Reim-
chronik je 1 Handschrift des 13. Jahrhunderts, für Brun von Schonebeck 2 Hand-
schriften des 14. Jahrhunderts, für Berthold von Holle sogar ein halbes Dutzend
hochdeutscher Manuscripte aus dem 14. und 15. Jahrhundert, darunter die Pommers-
felder, die den Crane hochdeutsch bringt, während sie den Rosengarten in nieder-
deutscher Lautgestalt enthält. Die Gandersheimer Reimchronik freilich, Konemanns
Wurzgarten Maria und Bruns Theophilus sind nur niederdeutsch erhalten, aber erst
in späten Handschriften des 15. Jahrhunderts und durchsetzt mit hochdeutschen
Lautelementen, die Rückschlüsse auf die Vorlage nahe legen. Und diese völlig
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wiss. zu GöttiDgen. Hist.-phil. Kl. N. F. Band 2, a. 5
34
lückenlos zusammenstimmende Ueberlieferung soll trügen ? Das sollen alles
mitteldeutsche Schreiber verschuldet haben, die systematisch uns die niederdeut-
schen Originale verfälscht hätten? Fast widerstrebt es mir, diesen nichtigen,
gewalttätigen Einfall Leitzmanns (ßeitr. 16, 9) zu bekämpfen, dessen einzige
Begründung doch eigentlich eine Theorie ist. Anscheinend steht Leitzmann dem
Standpuncte nahe, von dem aus vor 25 Jahren Pauls eigensinniger, leichtge-
zimmerter Habilitationsvortrag mit jugendlicher Einseitigkeit die Lehre von der
mittelhochdeutschen Schriftsprache bekämpft hat. Der Widerspruch Pauls hat
sein Verdienstliches gehabt: er hat die wohlbegründete Ansicht, die er bestritt,
immerhin vor schulmässiger Erstarrung bewahrt, er hat mittelbar einen gewissen
Anteil daran, dass sich das Bild der mittelhochdeutschen Schriftsprache uns ge-
klärt, die Beweise ihrer Existenz sich gemehrt haben. Pauls Grundanschauung
ist nicht die meine. Aber wenn er die Mundart auch litterarisch zu erweisen
suchte gegen die Schriftsprache, so berief er sich auf die Ueberlieferung, gleich-
viel mit welchem Recht: Leitzmann muss sich grade sie vom Halse schaffen.
Im einzelnen Falle ist es ja möglich , dass der hochdeutsche Schreiber hie und
da niederdeutsche Züge verwischte; bei Wizlaw von Rügen z. B. lässt sich das
wahrnehmen, freilich in der Jenaer Sammelhandschrift. Aber es handelt sich in
der frühen niederdeutschen Litteratur nicht um Einzelheiten, es handelt sich um
ein? geschlossene Reihe in einander greifender, zum Teil fast gleichzeitiger
Zeugnisse: das hochdeutsche Dedicationsverschen, mit dem der Hamburger
Bürger Joh. v. d. Berge vor 1281 dem Grafen Gerd v. Holstein die nieder-
deutsche Handschrift der sächsischen Weltchronik darbringt (in Weilands Ausg.
S. 11), documentirt sich schon durch seine Goldbuchstaben als Originalausgabe.
Ich weiss mich völlig frei von der törichten Handschriftenanbetung, die Leitz-
mann mit Recht an der deutschen Philologie rügt. Aber gegen seine radicale
Misachtung der Ueberlieferung sträubt sich mein Tatsachensinu. Und warum,
warum diese Misachtung? Was gewinnt es auch nur für seine Ansicht dadurch?
Jene Gedichte waren doch , soweit die Autoren nicht direct auf hochdeutschen
Boden dichteten , zunächst auf ein niederdeutsches Publikum berechnet ; selbst
Wernher v. Elmendorf schrieb zwar in Heiligenstadt, aber für einen niederdeut-
schen Gönner. Tatsächlich sind die genannten Handschriften zum grössten Teil
auch auf niederdeutschem Boden gefunden. Es wären demnach im 12 — 14. Jahrh.
in Niederdeutschland besonders viele hochdeutsche Schreiber für Bücherschrift be-
schäftigt gewesen, oder aber man Hess sich seine Handschriften im hochdeutschen
Süden anfertigen. Gleichviel: wie war ein solcher Zustand möglich, wenn das
niederdeutsche Publikum nicht gerne und leicht hochdeutsch gelesen hätte? Und
wie uns die hochdeutschen Schreiber auf ein hochdeutsch lesendes Publikum
schliessen lassen, annähernd ebenso sicher weist dieser Geschmack des Publi-
kums auf hochdeutsch dichtende Poeten zurück. Genau das Gegenteil von Leitz-
manns Ansicht hat innere Wahrscheinlichkeit : als es im 14. und 15. Jahrhundert
wirklich eine mittelniederdeutsche Litteratur gab, da lag es nahe, die heimischen
hochdeutschen Dichtungen niederdeutsch umzuschreib-n. Und das bestätigen
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 35
wiederum die Tatsachen. Die wenigen niederdeutschen Aufzeichnungen früh-
mittelniederdeutscher Dichtungen stehn den hochdeutschen wie an Zahl so an
Alter und Wert nach. Die niederdeutsche Wolfenbüttler Handschrift der Braun-
schweiger Chronik ist eine jüngere niederdeutsche Bearbeitung des in der altern
Hamburger Handschrift hochdeutsch erhaltnen Originals und wimmelt demgemäss
von hochdeutschen Resten. Konemanns Kaland steht hochdeutsch in einer wert-
vollen Handschrift des 13. Jahrhunderts, die 3 niederdeutschen Manuscripte des
Kaland sind weit Jüngern, ja jüngsten Datums; Euling wird seinen Versuch
(Niederd. Jahrb. 18, 19 ff.), den überlegnen Wert jener alten Handschrift anzu-
fechten zu Gunsten der niederdeutschen Nachfahren , voraussichtlich selbst als
gescheitert ansehen, wenn er erst Konemanns umfänglichen Wurzgarten kennen
gelernt hat *). In derselben Göttinger Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts
(cod. theol. 153) stehn noch die Theophiluslegende Bruns v. Schonebeck und
andre geistliche Gedichte, ebenso wie Konemanns Verse in der Hauptsache von
niederdeutscher Schriftfärbung, doch mit hochdeutschen Spuren. Am Schluss
des Wurzgartens (Bl. 210c) stellt sich uns der Schreiber vor:
Les vTi laue mek
Johänes screff mek
Johänes ys he ghenät
Benediget sy sin haut
5 Nu vn to allen stunden
Des help my got vn syn h viff ivüden
Dat ik nümer mote scriue ofte dichten
Höre dat seyn vn lesen lichten 2)
Dat jnnich vn gut to gode sy
10 Des helpe maria de reyne my. Amen.
Der Vers ist niederdeutsch in Schreibweise und Reim {viff „fünf, si : ml „mira),
Johannes war also ein niederdeutscher Schreiber. Aber schon auf dem Blatte
vorher schreibt dieselbe Hand in Konemanns Dichtung nicht mek, sondern mich :
dich, hier der Vorlage getreu ; es ist nur wahrscheinlich, dass eben der Schreiber
Johannes an dem niederdeutschen Typus der Handschrift starken Anteil hatte3).
1) Ich betone insbesondere, dass die gleichmässig kurzen Verszeilen, die Dreireime, die reim-
losen Zeilen dem Kaland A mit dem Wurzgarten gemein sind, während der Hornburger Kaland (II)
vielfach stärker gefüllte Verse uud regelmässige Reimpaare einführt : wie denn auch ein Corrector
des Wurzparten die scheinbar fehlenden Reimzeilen , schwerlich authentisch , ergänzt ; auch Eber-
hard v. Gandersheim entbehrt der zweiten reimenden Zeile mehrmals. Der typische Reim uas :
das (Kaland A 350), im Wurzgarten so und gleichartig 12mal belegt, ist in H beseitigt; ebenso
hat H das auch von Euling (S. 20 f.) falsch verstandene, starr gewordene hochdeutsche göder (Ka-
land A 103. 285) beidemal geändert , während der Wurzgarten dies göder u. ä. nicht weniger als
14 mal gebraucht. Eulings textkritische Bedenken S. 24 teil ich nicht. Sellos gewissenhafte Aus-
gabe des Kaland (Zs. des Harzvereins 23, 116 ff.) wird in allem Wesentlichen ein zutreffendes Bild
der Dichtung geben ; nur sie darf jeder Untersuchung zu Grunde gelegt werden.
2) Ich versteh diese Zeile nicht. Sollte sie corrupt sein , so würde der Schreibervers schon
in der Vorlage gestanden haben. Sachlich ist das kaum von Belang: dann fällt der als nieder-
deutsch durch den Reim gesicherte Schreiber und seine Wirkungen um eine Etappe früher.
3) Von hochdeutschen Lauterscheinungen im Wurzgarten notire ich vor Allem das häufige
5* 8
36
Unter diesen Umständen ist es geboten, die hochdeutsche Ueberlieferung
niederdeutscher Dichter *) zu schonen : wir können Waitz nur dankbar sein, dass
seine reife Erfahrung Weiland abhielt, an der Braunschweiger Reimchronik ein
philologisches Experiment zu üben. Schimmern neben hochdeutschen Reimen und
Worten mehr oder minder reiche niederdeutsche Elemente durch die hochdeutsche
Hülle durch, nun, so braucht das zunächst nur zu beweisen, dass die Nieder-
deutschen des 13. Jahrhunderts hinter ihren litteratursprachlichen Idealen zurück-
geblieben sind: bedurfte es doch fast gelehrter Kenntnisse, um zu wissen, was
von niederdeutschen Reimen hochdeutsch unzulässig war : das Hochdeutsche diffe-
renzierte bunter, in Consonanten wie in Vocalen. Was insbesondere W ernher
von Elmendorf betrifft, so seh ich nicht den geringsten Grund, die überlieferte
hochdeutsche Sprachform in der Hauptsache anzuzweifeln, wenn sie auch hie und
da eine niederdeutsche Nuance verwischt haben wird. Auf die Reime hin entschei-
det sich auch Behaghel (a. a. 0. S. 37) für hochdeutsche Abfassung des Lehrge-
dichte : leider wird der Ertrag durch Wernhers unreine Reimtechnik beeinträch-
tigt 2). Die Wortwahl aber ist ganz entschieden hochdeutsch , ohne dass ich
z und s für nd. t: z.B. vorstoczen : genoczen 161c, maczen : vorlaczeu 105b, icortzen 21Öb, sozen
164b, vorbosen : Torstosen 183b, buse : suse 183b u. ä., iczo (sehr oft), icitze (öfter), icys ,, weiss'' 174»
(öfter), bestes : st es 182d, tuas, das (f. nd. wat, dat) 182.c. 169c und mehr (ja 187d ist sogar misverste-
hend wat für tvas „war" eingesetzt worden, vielleicht id 196a u. ö. für is), beserunge 183c, das
„dies" 170d, us für üt z.B. 171a, anlautend meist s : so 174a. 184b. 195b (neben zo „zut; 163*),
Sit „Zeit" 164b, ghesam „geziemte" 178a. 188c {gezam 180a), suchten „Züchten" 169d, doch auch
zet 209a, zücke 199a , irzeighet 193d. 201c; das wiederholte hvar f. sicar 159b. c. i60b u. ö., to f.
so 182d erklärt sich so, dass schon in der Vorlage s und z promiscue gebraucht wurden; — ferner
t für nd. d: ture „teuer", trophe, tongen (fast immer), to (hd. tuo) 160c, ghetan (z.B. 174d. 179c.d),
gute (sehr oft), blote 186a, vtote 190c, ghemote (sehr oft), Tater 181c, ritter 200d ö., moter 205a ;
twingen (sehr oft, aber auch sonst ist tw<dw mnd. Hss. nicht ganz fremd); — /' für nd. p in gescaffen,
schafu.ö.; — ch für nd. k, besonders oft im Reime; ausserdem nicht nur auslautend, wie in zahl-
reichsten Fällen, sondern auch im Inlaut, z. B. sacke 190b, ivunderliche 190b, ivystichide : rychede (?)
160a (herlichte : richte 176d ist wol aus herliche : riche misverstanden); es ist lehrreich, wie der
Schreiber 203a schon dek geschrieben hatte und dann dich nachschrieb , um den Reim aufrecht zu
erhalten; — vereinzelt wer „quis" 200b, der 166c, er(e) 206d, mir 204a u. ö. ; Torposen 178a. Von
vocalischen Schwankungen, wie u neben o für hd. no, u, ü seh ich ab, ebenso von hochdeutschen
Formen wie han, sagen, brüst etc. Die Masse der hochdeutschen Wortbilder ist jedesfalls zu
reich , als dass sie wie die gelegentlichen hochdeutschen Ausweichungen dieser und jener beliebi-
gen mittelniederdeutschen Handschrift beurteilt werden dürften. Ganz ähnlich liegts in den übri-
gen deutschen Stücken des Codex (z.B. ridderlikes Ntr. Sing. 218b).
1) Ob es auch nur bei Veldeke richtig war, mit Entschiedenheit bis zur Maestrichter Mund-
art zurückzugehn, das will ich hier um so weniger erörtern, als Kraus eine Untersuchung, die in
diese Richtung schaut, in Aussicht gestellt hat. Dass dieser und jener Punct der Frage Parallelen
zu dem mittelniederdeutschen Problem bietet , ist dem Herausgeber selbst nicht entgangen. Aber
schon die litterarhistorischen Voraussetzungen sind bei Veldeke Braunes und Behaghels Auffassung
unvergleichlich günstiger als bei den mittelniederdeutschen Poeten des 12. und 13. Jahrhunderts.
2) Zu streichen ist bei Behaghel der Reim hüs:blöz, den Sauerland Zs. 30, 25 einleuchtend
emendirt. Hochdeutsch sieht ausser dem von Behaghel Verzeichneten etwa noch aus Terre : deferre
774 (aber vielleicht unrein Terne), die Reimformen giht, geschiht 963. 1159 (spricht : gesiht 679. 913
kann auch giht : gesiht meinen), Im (d. i. nd. liggen) : Torzien 624 (vgl. auch 133), ziet : Vit (nd. in
8
Dil; REIMVORREDES DES SACHSENSPIEGELS. 37
darum die oldenburgische Heimat beanstanden möchte : denn das von Haupt fort-
conjicirte zweimalige nösen (244. 605) „schädigen" weist, sicherlich zu dem nösada
der Lipsianischen Glossen, mnl. niederrheinisch nösen gehörig, frappant ins tiefe
Niederdeutschland, vielleicht auch in seinen "Westen l). Darüber hinaus freilich
nichts Schlagendes 2) im Wortmaterial ! Kein Wunder, dass man Wernher lange
für einen Thüringer gehalten hat und noch hält 3). Der Heiligenstädter Caplan
hatte auf hochdeutschem Sprachgebiet lebend ebensowohl von seiner Umgebung
gelernt , wie es der Scholasticus von Jechaburg getan zu haben scheint. Dass
Behaghel Alb recht v. Halberstadt nicht unter den hochdeutsch Dichten-
den nennt, soll einen Zweifel schwerlich bedeuten : er schien ihm wol selbstver-
ständlich. Längst als hochdeutsch anerkannt ist von Reimpaardichtern ferner Eil-
hart v. Ob erge4) ; ebenso Brunv. Schonebeck, bei dem sich die niederdeut-
schen Elemente freilich in Reim und Wortschatz schon weit stärker fühlbar machen
als bei den Frühem. Zu dem sprachlichen Bilde Bruns , das Arw. Fischer auf
Grund des Hohenliedes gezeichnet hat, stimmt sein Theophilus und die anschliessen-
den geistlichen Reime der Göttinger Handschrift 5) , abgesehen von den platt-
der Regel liggt) 1198; tritit : stritit 827 hat Haupt z. Neidh. 48, 14 emendiert. Dagegen wird zen
(ziehen) : gejen 10ö7 als niederdeutsch gelten dürfen, kurz : dürft (d. i. durht , vgl. vorchte : dorfte
280 und durchtige 386. 401 in b) 583 führt zwar auf kurt (so 579), aber das ist dem Mitteldeutschen
nicht fremd. Selbst tuon : geruo(we)n 269. 825. 929. 1077 ist besser als md. tun : gerün denn als
nd. dun: gerauvtn (geroteen) zu verstehn.
1) Doch auch Erun von Schonebeck schätzt das bequeme Reimwort: vgl. Fischers Glossar
417b und Van der almisse 212c (wo die Handschrift nv se, im Reim zu almuse schreibt).
2) Ich notire als nd. noch sich flien 133, undige 916 (auch in der Braunschweigischen Reim-.
Chronik; vgl. Elm. 912), vermnoten c. gen. „begehren" 435. Andres was etwa noch auffällt, wie
aleine „obgleich'', enträten „fürchten", enteren , gelenden ist der mitteldeutschen Literatursprache
auch gemäss.
3) Ich bin Sauerlands Aufstellungen oben gefolgt, ohne zu verkennen, dass sie auf unsichern
Stützen stehn; vgl. Edw. Schröder, Anz. 17, 77. Wie dem sei, dass Wernher Niederdeutscher war,
scheint mir durch die Reime von hd. t: z bewiesen (3 sichere, vielleicht gar 8 Belege: 197. 831.
1193 ; 583. 603. 867. 919. 1 167) : denn von unreinen Consonantenbindungen ist häufiger nur b : d :g; f :
ch 125, nn : nd 571 , mm : nd 987 (heizet : leistet 603) sind alle nur je einmal vertreten und, zumal
im klingenden Reim, immer noch leichter als t : z wäre.
4) Edw. Schröder schreibt mir an den Rand: „Ich bin längst der Ueberzeugung , dass auch
der Graf Rudolf auf niederdeutschem Boden entstand''.
5) van Schonebeke Brun nennt sich cod. theol. Gott. 153 fol. 2l2b im Schlussgebete der
kleinen Theophilusdichtung, die, obgleich streckenweise in wörtlichem Zusammenklang mit der
Theophilusepisode des Hohen Liedes , doch bis in den Inhalt hinein einen selbständigen Charakter
trägt. Das ihr in der Handschrift unmittelbar folgende Gedicht, „van der almissen" u. s. w. , das
in losester Folge, oft sprungweise, auch wol lückenhaft (vgl. W. Meyer, Verzeichnis der Göttinger
Hss. 2, 384) den Wert von Almosen, Gebet, wahrer Minne, Messe, zum Teil durch gut erzählte
Beispiele, erweist und dann zu den Seligpreisungen überlenkt, dies Gedicht ähnelt in Reimtechnik
und Wortgebrauch , in stilistischer Manier und wörtlichen Uebereinstimmungen den für Brun ge-
sicherten Dichtungen so schlagend, dass es nur von ihm selbst, was ich kaum bezweifle, oder einem
unmittelbaren Nachahmer herrühren kann. Dass Brun auch ausser den Cautica noch vele güdes
gedicktes verfasst hat, bestätigt die Magdeburger Schöppenchronik. Ich gedenke auf die auch in-
haltlich interessierende Dichtung demnächst zurückzukommen und dann auch zu erörtern , ob wir
es da mit einem oder mehreren Gedichten zu tun haben. g
38 . GUSTAV ROETHE,
deutschen Formen des Schreibers, in den wesentlichen Zügen so genau, dass
ich an dieser Stelle von der näheren Erörterung ihrer Sprache absehen darf1).
Behaghel fügt auch die Braunschweigische Chronik hinzu; ich
stimme unbedingt bei; nur bedürfen seine Angaben, die im Wesentlichen auf
den ersten 2000 Zeilen beruhen, der Ergänzung, ebenso wie Weilands kurze
Bemerkungen (Deutsche Chron. II 1,457 f.). Ich hebe die Hauptsachen heraus.
Die Untersuchung wird wiederum behindert und unsicher durch die Unreinheit
der Keime, die sich namentlich im Vocalismus fühlbar macht. Behaghel legt
berechtigten Kachdruck auf die consonantische Tatsache, dass in mehr als
9000 Versen nur dreimal [nicht zweimal] hd. t : hd. z gebunden wird (4570. 5672.
Arnolt : holz 6087) ; die dadurch empfohlene Verschiebung des t > z wird gestützt
durch döz (Lehnwort) : gröz 3339. 9072, wiz : gliz 2422 (nd. witt ': gliz , das Lehn-
wort ist), glize : vlize 2892, und vlize : antlitee 2775 (avtlitze ist Lehnform für nd.
antldt) -). In der Labialreihe steht dem einmaligen strafen, straffen (Lehnwort) :
pfaffen 174 °) zwar in vier Fällen der Reim geschapen : knappen gegenüber (6779.
8437. 9037. 9114), ferner papen : knappen 4834: aber das sicher unreine straffen :
knappen 8899 lässt auch die Autfassung geschaffen, pfaffen : knappen zu, umsomehr
als die Verschiebung in den md. Reimen biscof(: orlof, lof, hof, stöf, 9 Belege oder mehr),
hotif (: roitf) 8284, scaf(: gaf, af\ sehr oft) und traf (: af) 7018 keinen Bedenken unter-
liegt, sprach (: tack, untwach, mach, lach, mäch, nach, sach , jach, geschach u. s.w.) ist un-
gefähr 20malr aber auch stach 3052, dach 3943, gemach 4425, brach (5mal), back
6291. 9229 belegt; loch (: hoch) 6190, buoch (: genuoch) 981 ; zu Dutzenden wider -lieh,
-rieh, Brüneswich (: zwich „Zweig" ; wich „Kampf"; sich „siehe"; -ich [kreftichu. s.w.,
twentich u. s. w.]) ; auch brachte : machte 7766, overdacht : gemacht 4157 3). Der Reim
werken ,, wirken4' : kirchen4&§8. 6535 erweist noch kein kerben, da auch iverch : -bereit
(1370. 1393. 8011. 8121) für eine Ueberverschiebung von -rc zu -rch spricht. Die
zahlreichen (mindestens 17) Reime Hinriche , -liehe : ivige (Ludewige) werden demge-
mäss besser als -ichei-ye, denn als -ike\-ige aufgefasst 4) ; ebenso wachet : vorstächet
9121 (?). — Für hochdeutsch t könnte man ins Feld führen Reime wie rate : Senate
2765, stntc : quite 2230. 8219. 8775, geböte : rotte 3231. 5042. 5484. 5855. 5966. 6607 5),
orteiraorte 5118, : horte 5500 s), irkcntcpavimcnte 4537, irJiante : presante 8425 (vgl.
auch 5284.5488.7142); da aber Reime wie nöte : töde, strite : vride, leide : seile ., sagte"
nicht minder zahlreich sind, die nur niederdeutsch consonantisch rein wären, so wage
ich den Schluss auf hochdeutsch / nicht. Dass aber eher die zweite Gruppe unrein
ist, bestätigt die Behandlung des dd: Otto reimt nicht nur auf spotte (9malj, sondern
1) Den Keim get (3. Pers. Plur. Ind. als uns de teisen papen get, d.i. jehent) : dröffiet 218a
kennt Fischer freilich bei Krim nicht; doch könnte auch lugent (Hs. beati qui lugent van der dröfhet)
das Reimwort gewesen sein. Bruns normale Pluralenduug wäre md. -en.
2^ Unklar ist der Keim Adelize : vlize 8576 ; die Dame heisst sonst Adelheid.
3) Der Reim fehlt in der Wolfenbüttler Handschrift, die ich nach Leibnitz Abdruck Script.
Kruusv. illustr. 3, 1 ff. hie und da heranziehe.
4) Auch Krun v. Schonebeck reimt z. K. kluge : buche Cant. 1152. Alm. 220a.
5) Die Wolfenbüttler Handschrift schreibt für rotte meist rade oder läge.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 39
auch auf hoddc „hütete" (8mal), das also wol als hotte (nicht niederdeutsch hodde)
anzusetzen ist; Attc : hatte 1597; satte „setzte" -.hatte 4532. — Ausgesprochen
hochdeutsch ist endlich der Reim sehse : eise „Axt" 8966; ich notire noch braste (nd.
barste) : glaste 3330. 8000 , bntnne (nd. borne) : sunne 9*227. — Demgegenüber nur
eine scharf niederdeutsche Eigenheit des Consonantismus , die zahlreichen Keime
cht : ft; den beliebtesten, berichte : gestickte könnte der Chronist aus seiner Ganders-
heimer Quelle gelernt haben '). Auf die Annahme, dass diese Reime ft : cht eher
als unrein denn als niederdeutsch anzusehen seien, könnte Schrift : Ecbricht 1730
führen; Schrift (sonst auf giff't reimend) ist schwerlich zu schrickt geworden.
Aber dieser vereinzelte Fall wiegt doch kaum schwer genug. — Von voc a li-
sch en Erscheinungen hebe ich hervor: mitteldeutsch ü (mhd. uo) wird erwiesen
durch die Reime gut : trüt (1740. 1844. 1927. 2100. 2209. 2577), : ICU 2860, : Assut
8547, behüt : Gertrüt 1955, müt : Gertrüt 2067, gute : Hute 3760 , buche : siuehe 4597 ;
mitteldeutsch { (mhd. ie): kni : si 1316. 1345, hl (nd. hu) : st (oft)2): die für nieder-
deutsch ö, resp. e beweisenden Reime überwiegen allerdings beträchtlich (ö zumal vor
rd und in den Reimen mochte, tochte : suochte, mochte), ü (nd. o, auch md. oft) steht
fest durch die Reime: suu : Br/hi 1520, : Lugdün 7645, wol auch durch lügen '.sin-
gen 1485 3), beschürte : gehurte 9253; i (nd. e, auch md. oft) wird fixiert durch die
häufigen Reime site, mite, vride : wite, strtte, eite (17 Belege), vile : teile 5856. 6285,
sige : steige 7110, pfliget : uiget 33594), istiget 8205, schinen : sinen 5844, wissen ■ vli-
sen 7025 (IHt-h : Brüneswich 2035 u. a.) ; stets hin b) und vil (oft : teil) ; anderseits ist
auch nd. md. o, e reichlich gesichert (i). Der niederdeutsche Uebergang von a > o
vor Id, It prägt sich in den Reimen nicht aus : manicvalt, halt, geivalt reimen nicht
nur unter einander, sondern auch auf gesatt 1384. 3073. 3078.3108. 5508. 6941. 7370.
8130, auf gemalt 8322, auf galt 8405. 9336, auf gestaut 8575. 8963, Reimworte, die
der o-Färbung nicht günstig sind; geholt „geholt" : halt 2055 beweist nicht für holt,
da auch gehtdt gemeint sein kann, wie beide Hss. schreiben. Im Ganzen betrachtet
verrät der Vocalismus der Reime den niederdeutschen Autor deutlicher als ihre Con-
sonanten : fast jede Einzelerscheinung, nicht aber das vocalische Gesamtbild wird
1) Ausser stiften wird so gereimt: hafte (: achte) 3102, vgl. 5 U.S. 7370; luft (: vrucht) G4ö5;
vielleicht auch besäße (: lachte) 819, wo Strauch allerdings an besuochen denkt; der Siuu scheint
bevruchte zu verlangen, echte: siechte 1114.
2) Unsicher Mit : schilt 4210.
3) mugen : zügen 2886 könnte auch mögen : tagen meinen.
4) Die Wolfenbüttler Handschrift hat neget.
5) hin : in 3200. 3803. 3954 6071. 9112; : sin 3324. 6677; : juncvroivelhi 6575; : Conradin
2684 ; : begin 347.
6) Ein unreiner Reim wie rike : breke (breeche) 2259 schwächt die Beweiskraft beider Reihen,
ist aber doch isolirt. Hat der Dichter etwa an ein hyperhochdeutsrhes briche gedacht, auf Grund
der Gleichung hd. ich briche = nd. ek breke?
7) So reimt z.B. sehen, jehen, spehen : ziehen, vliehen {sen, jen, spen : ten, rlcn) 87. 168. 1693.
1925. 3985. 4691. 8147. 8472; nicht nur hd. uo : hd. 6, o (sehr oft, aber auch md.), sondern wei-
ter hd. uo : hd. ou (-tuom : boum 620. 3744. 4935. 7813 ; ruowe : vroiiue, ouwe 391. 401. 426. 4758. 5514.
5806. 7782. 7791); nicht nur hd. ie : hd. e, e (sehr oft, aber auch md.), sondern weiter hd. je: ei
8
40 • GUSTAV ROETHE,
Pluralendung -et fehlt in der 1. und 3. Person Praesens vollständig; es heisst stets
-en, ja 8860 hänt (: vcrbrant), 1919. 7504. 9306 sm£. ir sin 7245. 9326 (ir sit 4748).
Dass die 2. Plur. Praet. auf -en ausgeht (1379. 2504. 4337. 4724) , verträgt sich
auch mit mitteldeutscher Sprachform. Ob der Dichter im Plur. Praet. wären
oder weren gereimt hat, ist darum zweifelhaft, weil er unreine Reime von ä : re
nicht scheut *) : die sichern Belege für die hochdeutsche d-Form überwiegen so
weit 2) , dass trotzdem die Absicht des Dichters auf die hochdeutsche Form als
gesichert gelten darf. Die hochdeutschen Praeterita irkande , nande , sande,
brande, rande (27 Belege oder mehr) schlagen die niederdeutschen sende 991, irkente
453S. 4695 3) weit aus dem Felde; die Participia genant, bekant , gesant , gebraut,
gewant, gerant u. s.w. haben überhaupt kein gesent u. ä. neben sich4). Auch die
umlautlosen Praesensformen wie draget, valt (volt) 5) fehlen. Von geben heisst die
3. Pers. Sing. Praes. in niederdeutscher Art gift (: schrift) 209. 296. 671. 1411.
1536. 1923 u. s. w. 6) ; von liggen aber mehr hochdeutsch lit 6089. 7318. 9240, von dun
nie deit, wie niederdeutsch zu erwarten wäre, sondern nur tut. Neben dem sehr
häufigen git (d.i. hd. giht) steht hd. gicht 4072, geschieht 1872. Hochdeutsch ist
(:list) 134. 2022, (: vrist) 1985. 3296. 4740, (: vermist) 7324 überwiegt über das
ganz seltne is 47 und 6952. du wilt (: schilt) 4687. Das Praet. von stein stets
stiint. Für die hochdeutschen Formen handhaben, habe (4342), hat1)-, sagen, saget,
(z. B. diet: streit 691. 1079. 1750 u. s. w., : reit 5615, riet : streit 4115, seiltet : leit G308 (4435); liep : bleip
4663. 4773, : treip 3245. 8276 ; brief : bleip 7991. 8223, : screip 4494 ; hiez : siveiz 3640, : Jcreiz 2104;
liez : veie 8264 , : wetz 7319; schiede : beide 1014; geheizen : liezen 60A0); hd. ei : £, e (sele : teile,
veile,hcile 1020. 1834. 7223. 7296. 8350. 9190; mc7*e : /esefte 4625 ; Michahel : iei7 8852) ; hd. ei:*(nd.J
e : versteigen \ eigen 2475. 2531, -.neigen 8492; also vielleicht auch phliget : neiget 3359). Daneben
massenhafte Reime kurzer und langer Vocale , auch im klingenden Ausgang , umgelauteter und
nicht umgelauteter. Da selbst e und a reimen [rent „rennt" : gewant 4805, geslagen : segen 5510,
gereile: alle 4085. 8362. 8835), so wird auch zamt (: amt) 4644. 9176 wol besser als zemt (so die
Wolfenbüttler Hs.) verstanden , denn als falscher hochdeutscher Vertreter eines niederdeutschen
temede (Behaghel) : ist es doch beidemal Praesens.
1) So Bare : wäre 2409; wccrc-.järe 2624. 7209. 7848. 8655, iscare 2663. 2750. 2937. 3433,
: väre 4269; meere : järe 3570; mecren : sparen 3461; hursame : quame 6032; tage : sage 4285,
: plihcye 3866; 6ra/*/e : dÄ e 4287.
2) ?m/TH z.H. reimt auf ere» (609. 1070) 4034 (4377. 6520. 7734. 7930), : bürgeren (5369.
7496), : sioeren (5138); quämen : nesmen 748. 3609 (?j; ndmen: queemen 2835; quämen: nemen 6306,
: 2?re»im (5744) ; gäben : bliben (5131 V), : gescriben (1071); phlägen : segen (6764); träten : grtten
6762; ketew : ste^M (6610) : im Grunde nur fünf sichere Fälle, da die eingeklammerten Zahlen auf Ne-
bensätze verweisen, in denen der Conj. wenigstens nicht gradezu ausgeschlossen ist, so unwahrschein-
lich er namentlich in der Formel dlie da weren sein mag ; die unsichern Belege Hessen sich vielleicht
noch mehren. Dagegen fand ich wären (: jären, raren, sparen, barn) llmal, quämen (: namen, saniert)
8mal, gäben (: Swäben, Walraben) 1379. 49(i2, phlägen (: slagoi, tagen) 3479. 8731, lägen (: slagen,
Hagen) 2730. 7500, sägen (-.tagen, hagen, irslagen) 4794. 4972. 6139, bäten {-.raten) 4040, säzen
{-.läzcn) 6650, brächen (: swachen) 3059, im Ganzen 30 Fälle.
3) Von vielleicht conjunetivischen Formen seh ich ab.
4) gczalt oben S. 39 ; gezelt 2762.
5) hd. bereit vielleicht 731. 930 (: helt „hielt").
6j Ob auch hd. git? V. 5599 so mir de scripht Urkunde git spricht dafür, verglichen mit
j717. 7472 M38 u. m. Aber 694 nehein scripht mir Urkunde jach legt doch die Ableitung \onjcn näher.
7) ad. Part, gehat (: stat) 5346. 7593. 7770.
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 41
seit, gesagel (3647. 4243. 7083. 8591), geseit, seite (5546. 6986. 8381), sagett
(7346) *) genügen im Ganzen Behaghels Belege; leite z. B. 5027. 5315. 5477.
5585 u. ö\, geleit 4281. 4435. 7451. 7508 u. ö. Hd. Idn steht 5288. 7029
fest2). — guter als nachgesetztes starkes Adj. Femin. (!) , auch nach Artikel
(2072. 4241. 4262. 8169) ist anscheinend gradezu ein Kennzeichen dieser hoch-
deutsch dichtenden Sachsen : man wusste bei der Anwendung der den Nieder-
deutschen ursprünglich fremden Endung -er nicht Bescheid und geriet so in eine
starre „ungrammatische" Formelhaftigkeit hinein, die Arw. Fischer bereits (Brun
v. Schonebeck S. LIV) für Brun und unser Gedieht beachtet hat und die wir
bei Konemann wiederfinden werden. Dass bei allen drein grade guter so bevor-
zugt wird oder allein so vorkommt, mag lediglich an dem bequemen Reimwort
müter liegen, laezer , das man masculin 4060. 4628. 9043 : wazzer reimen findet,
kann alle drei Mal allenfalls auch Comparativ sein. Auch das Versinnre zeigt
die hochdeutsche Endung -er oft8), besonders in der Verbindung werdet vrowe
u. ä. 401. 455. 697. 715. 1955 (ausserdem 12 Masculinfälle), die wol für den
Dichter in Anspruch genommen werden darf4). — Hd. her „er" reimt 53 auf
den Gen. Sing. Fem. dher, 8327 auf ser, 1525. 7409 macht er : tochtcr; mir : ir 4298:
dagegen ist niederdeutsch der nicht seltene, anscheinend dativische Gebrauch des
reflexiven sich, z. B. 3027. 4471. 4491 im Reim. — Gesichert sind im Reim die
hochdeutschen Wortformen 5) wochen (-.gesprochen) 3906. 5579, Lach 6291. 9229,
wol (nur : sol und : vol), hin (s.o.). hi 177. 858. 1051. 1380. 4761. 6183, da 569.
2707. 2754. 2949. 2955. 3155. 8038 (etwas seltner dar), e, mc (14 beweisende Reime,
nie er, mir), dannen 1808. 2977. 3179. 3852. 6580. 8310 (nd. dem 2025. 3437):
die hochdeutschen Endungen -lin (sehr oft) 6), -scaf, -scaft (nie die nd. Form), -unge
968. 2088. 3542. 4275. 6664. 6758 7) ; die niederdeutsche Endung -te fehlt in den
Collectiven geheine (: eine) 51i)b), gesteine (: reine) 4547, die niederdeutsch beliebte
Endung -de in den oft reimbildenden Abstracten schone „Schonung" und Jiom.
-har und das hd. -here sondern sich in der guten Hamburger Handschrift annähernd
nach bestimmten Worten: im Reim offenbar (sehr oft) 9), achbar, aber auch vluchtbai
1) seggen : leggen 1453 , \ligen 5567. secltt .gerecht 405 nur in der Wolfenbüttler Hand-
schrift und sicher unrichtig.
2) Dagegen sieht mehr nd. aus bevilte {-.mute) 4860, bevnol 7423; vorslnzen d. i. vorsJuten (: tfeen) 606**.
3) Fem. gruzer 3413; britncr 8504; schöner 2649; sigehafter 2188; in der Wolfenbüttler Hs
alle beseitigt, die auch das feminine verder nie duldet und selbst von dem masculinen -er nur flies
und das Beispiel versehentlich stehn lässt.
4) Als nd. vermerke ich dre (: e) 3002. 5682. Audi das Ntr. Plur. büke 2021. 6624 entspricht
mehr niederdeutschem Gebrauch.
5) Das im Reim auf knappen oft bezeugte uäpcn, ivappen ist auch md , nicht nur nd.
6) -hin nur in dem Eigennamen Willekin 8060.
7) Für -inge könnte sprechen iciginge 6657, Groninge 8702, lusinge 4975, alle: de<j>
Da aber die ältre hochdeutsche Handschrift immer , die jüngre niederdeutsche meist degedunge zu
schreiben scheint, so liegt der Verdacht nahe, ob der Dichter nicht misverständlich und hyperhoch-
deutsch auch das i von degedinge zu u gemacht habe.
8) Die Gandersheimer Chronik hat an entsprechender Stelle, 339, gebeinte; die Wolfenbüttler
Handschrift schreibt 1285 im Versinnern gebeten (d. i. gebente).
9) offenbare : wäre „esset" 2885: .mar* 7333
t\ 5
42 < GUSTAV HOETHE,
9127; dagegen tugentbere 344. 432. 966. 1288, seldenbere 8118, sorgenbere 3994,
auch vluchtbere 9097; im Versinnern hat die hoehdeutsche Handschrift ausser-
dem das ausgesprochen nd. vorbar , kostenbar 2892, vrnchtber 2655; dagegen
wunderbare 10 *). 1042, vlustbere 7084 2); es ist schwerlich ein Zufall, dass das
mittelniederdeutsche Wörterbuch die -^-Bildungen alle verzeichnet (ausser dem
doppelt gebrauchten vluchtbyr), die -lere- Bildungen alle nicht kennt; es wer-
den vornehmere hochdeutsche Entlehnungen sein. — Sie fuhren uns zur Wort-
wahl. Bei der Lückenhaftigkeit unsrer mittelniederdeutschen Lexika, die icli
aus eigner Belesenheit nicht befriedigend zu ergänzen weiss, können meine Bemer-
kungen zumal über die hochdeutschen Elemente nur einen provisorischen Cha-
rakter tragen2*). Voran stell ich das zahllos bezeugte hd. *nennen, das nur einmal,
7817, *nömen3) neben sich hat; die ständigen Lehnverba ziren 2115. 4529. 4536.
S577 (*zirheit 6753. 6992), *sagen 3282 4), *vormgen 3066. 3256 (*mgeheit 4019. 9092,
zagehaft 5381. *unzachaftigkeit 1874. *unvorzaget oft), ^strafen 174. 8899 5) fehlen nicht!
*hdhen (nd. ndlcn, nahen) steht, 5387 im Keim auf das mittelniederdeutsch gleich-
falls gemiedene *yäken% vielleicht auch 885 (: machte), oft im Versinnern ; *va!icen
(nd. sehr selten valen) 7059 (vgl. 4937). *uordogen 1362 Tj „verschweigen", obgleich alt-
sächsisch8), ist dem mittelniederdeutschen sonst fremd; ebenso *ziinden l)) 1899. 4611.
4021. 8917 (wol aber nd. tunder); dulden sichert das vereinzelte Zeugnis im Innern
V. 5113 nicht hinreichend. Auch *sahcen „beschmutzen" 3500.4936.7060, *glesten
4076, die starken Verba niden 4214, *erdbUen „warten" (mnd. beiden) 6978. 7045,
"Irinnen (Inf. 2428 4), bran 7934. 8855 10); mnd. brennen, brende) gehören meines
Wissens nicht zu dem geläufigen mittelniederdeutschen Sprachschatz. Von Sub-
1) Die Wolfenbüttler Handschrift hat hier denn auch die Var. iconderUJcen.
2) In der Wolfenbüttler Handschrift fluchtigen.
2^) Vorgesetzte Sternchen deuten an, dass unter den Belegen des Wortes auch ein Reim ist.
3) In der Wolfenbüttler Handschrift auch 1500. 1919. 2386 u. 0., aber nicht im Reim.
4) In Wolf, ganz anders.
5) Doch hat die Wolfenbüttler Handschrift zufällig beide Belege nicht. — Wenn in ihr
minne, minneri zuweilen durch lere ersetzt und zu icinnen misverstanden, wenn es in der Ganders-
heimer Chronik durch Uve glossirt wird, so deutet das wol nur darauf hin, dass das Wort im
15. Jahrhundert nicht mehr edeln Sinnes geläufig war.
6) Die niederdeutsche Handschrift reimt hier jageden : naleden, schreibt 885 naede.
7) Wolf, hat misverstanden vordragen.
8) Die Erscheinung kehrt, ohne dass ichs jedesmal betone, öfter wieder, dass Worte, die das
Aitsächsische recht gut kennt , im Mittelniederdeutschen der Entlehnung aus dem Hochdeutschen
verdächtig sind. Litteratur wirkt auf den in sie eingetretenen Wortschatz nicht nur verbrauchend,
sondern auch erhaltend: so kann es nicht auffallen , dass sich in der um mehr als zwei Jahrhun-
derte älteren hochdeutschen Litteratur manches Wort lebendig conservirt hat, das der nieder-
deutschen Rede veraltet oder verloreu war. Natürlich bleibt der Lehucharakter solchen Wortes
iiumer etwas zweifelhafter, ais wenn auch das altsächsische Zeugnis fehlt.
9) In Wolf, stets mit z geschrieben.
10) Der Reim 1910 gebrunnen : untrunnen ist unsicher, da er in gebraut: untrant (so in der
niederdeutschen Handschrift) umsetzbar wäre : wahrscheinlicher ergibt er noch ein zweites mehr
hochdeutsches Verbum, rinnen (nd. in diesem Sinne meist rennen). 2428 hat Wolf, ganz umgeändert.
7934 reimt brau auf '■unstän, in der hd. Bedeutung „entstehn".
8
DIK REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 4ö
stantiven kennzeichnen sich als Lehnworte ohne Weitres *megettn (sehr oft), eagel
949, *glie 2423. 2892, *dfa 3339. 9072. *antlitze (nd. anilät) 2775; wo] auch angei
16771). 5409; in zärn „Zähre6 3246. 6435*) ist dem entlehnten md. zär eine Um-
bildung nach dem Muster des nd. trän widerfahren. Einer gehobenen, unmund-
artlichen Sprache entstammt, weiter *jungelinc oft, *han/ 4904 3). 6293. 7r>:w. 7958.
8770. Hochdeutsch sieht ferner aus *dtd! „Fest* 3806 (?, die Bedeutung doch frag-
lich), vinsternisse 2S3 (im Versinnern. nicht sicher; Wolf, düsternisse) , ast 4343
(?, seltsam feminin); auch die häutige Redensart *sunder ttcäl ist wol nicht echt
niederdeutsch. almöse (nd. almisse) steht 204. 4585, aber nicht im Reim; da-
regelmässige Masc. der ternf ist dem Niederdeutschen fremd4). — Das Adjecti-
viiin michel, sicher entlehnt, konnte der Chronist ebenso bei Eberhard v. Gran-
dersheim wie in der Sächsischen Weltchronik5) finden; eine gewisse Unfreiheit
des Gebrauchs verrät sich darin, dass das Wort nur (23mal) nach ein und zwar
mit 3 Ausnahmen sogar nur in den festen Bindungen ein michel her, Itervart,
strit, tril vorkommt6). Hochdeutsche Lehnadjectiva sind ferner *zart (Lehnreim!»
1647. 3975. 7942.8120. 9230. *glav* (Lehnreim!) 2(504. 3357. 8254 7), *trüt(?), wo!
auch nendelich 2410, das die Wolfenhüttier niederdeutsche Handschrift falsch ver-
standen hat. Man erwäge ferner spche ..hübsch" 8949 (nd. spe hat ganz andre
Bedeutung), üppiclkhen 676 8), *offenttche S05. 5097 (fehlt Wolf.), roselicht (poetisch
gehobner Ausdruck?) 3248, namhaft 4059. 0210 9); auch die Construction *eine c.
Gen. rohne" 764. 1958 10). 7718. 7985. 9270 ist meines Wissens im Mittelnieder-
deutschen nicht üblich, das auch die bequem reimenden Adjectivbildungen aut
•rar*1), zumal in übertragnem Sinne, minder zu begünstigen scheint als das Hoch-
1) In der niederdeutschen Wolfenbüttler Handschrift in ander misverstanden.
2) Wolf, hat an erster Stelle trän, an zweiter torxe.
3) In Wolf. Mnt ; das alts. Wort bunt (in friesischen Gegenden noch heute) war mnd. völlig
veraltet; zur Entlehnung stimmt das häutige Auftreten im Reim. Freilich, barn : wären reimt nd.
schlecht, aber auch dieser zweisilbige Reimgebrauch lässt sich aus hd. Reimvorbildern wie bar»
icrn (mnd. vüren) ableiten.
4) Die Wolfenb. Handschrift pflegt denn auch das Feminin einzuführen. — Ich verzeichne
noch als in dem mittelniederdeutschen Wörterbuch fehlend , hochdeutsch aber geläutig brutud 5
*iip „Landban" 971. 2854, *wage „Wiege- 3364 (Wolf, icege), hae „Jagd" 8059, *grim „Grimm1*
9226, *blic im Sinne von „Augenblick" 9189. Von den zahlreichen ritterlichen Worten romani-
scher Herkunft, die meist auch hd. vermittelt wurden, seh ich hier ab. Manches, wie räme, or t.
albe, ovde, zime u. ä. mag der Dichter auch direct aus dem Latein oder sonsther übernommen haben.
5) Strauch verzeichnet aus ihr im Giossar 8 Belege: davon ist einer. 92, 36, sicher nach
Kaiserchr. 1117 gearbeitet; 91,33 weist mindestens auch auf eine poetische Vorlage zurück (Reim
tereiere)] die dritte Stelle 78,10 steht in einer Umgebung, die mehrfach auf hochdeutschei.
Lautstand hindeutet. Doch kommt das Adj. in der Weltchronik auch weiterhin noch vor.
B) lützel 1131 hat Wolf, nicht in luttel, sondern in das mnd. weit vorherrschende luttk umgesetzt
7) Von *ganz und *kranz seh ich hier und später ab; ihre frühe und weite Verbreitung üb< i
die hd. Grenzen hinaus raubt ihnen für diesen Zusammenhang die Beweiskraft.
8) An der entsprechenden Stelle Eberhards V. 500 fehlt das Adverbium.
9) Leibnitz druckt hier manhaff'tiy.
10) In Wolf, beidemal rein«; die übrigen Fälle stehn in Wolf, nicht mehr.
11) Kolfievar 7921. 7994.8683, purpurcar 7818. 9237, tugentvaMöl (Wolf. War) 8510, blvtcar 2772
6*
deutsche. — Von hochdeutschen Partikeln der Chronik stehn niene (sehr oft) '),
sam, alsam (7 Belege2)), unz (sehr oft3)), dort 2866. 8386 nicht im Reime, ohne
dass ich sie irgend anzweifle ; *sän , worüber unten , tritt 6054. 6340 im Reim,
7325 4) im Versinnern auf5). Wichtiger ist, dass es z.B. stets dannoch , nie
nochtan, stets dicke, nie vahen heisst u. it. — Gegenüber diesen mehr oder minder
sicheren hochdeutschen Zügen des Wortschatzes, deren Zahl natürlich noch manche
Erweiterung verträgt, fehlt denn freilich eine grosse Anzahl rein niederdeut-
scher Elemente nicht, die doch, da es sich meist nur um vereinzelte Erschei-
nungen handelt, nicht ausreichen, der Rede des Chronisten ein eigentlich nieder-
deutsches Gepräge zu geben. So gebraucht er die dem Hochdeutschen fremden
Verba *behoven „bedürfen" 74. 1566, *bestriden „beschreiten'4 2987. 4788 (?), *schurren
7010, die Substantiva *echt (tö echte) 1114. 3105. 4216. 4258. 4372, Mach „Tinte"
1634, *stovere „Badeknecht" 1887. 1905, mich „Fleck" 2034. 2561. 2676. 2738,
*lote „Sprössling" 2649, anere „Vetter" 3281, *haf „Meer" 3617. 6265. 7002. 7858,
pcrscm „Wucher" 4552 (fehlt Wolf.) , *vlucht „Flug" 4791, grU „Wiese" 5411
(Wolf, vdt), *wrcde6) „Streit" 6487, weddcrstow „Stauung" 6621, tagerät „Morgen-
rot" 6749, *spe „Spott" 8315, *grät „Hunger, Gier" (?) 8713, die Adjectiva vorbar
423. 5229. 5858. 6212 7), *imv2tich „unsicher" 5010, *yreselich 7290, das häufige
*worch „lässig" 8), die Adverbia men „nur" 346, *ummentrmt 2803. 7069, of „oder"
7020 , wobei ich absehe von dem niederdeutschen Sprichwort 7004 , von den
mannigfachen Form9)-, Bedeutungs 10)- und Geschlechtsdifferenzen n), die nach Nie-
derdeutschland Hinweisen, absehe endlich von allerlei Zweifelhaftem12). Nicht
1) Die Wolfenbüttler Handschrift setzt dafür gern nicht en oder beseitigt das Wort sonst.
2) In Wolf, zuweilen ausgelassen oder durch also ersetzt.
3) In Wolf, meist durch iventc ersetzt.
4) Im Reim geschützt, wurde das Wort doch im Innern des Verses von Wolf, beseitigt.
5) ishmt „jetzt" 5418. G338. 6393. 6483 u. ö. (nicht im Reim), in Wolf, ausgelassen oder
ersetzt, meint vielleicht nur das hd. ietzunt.
6) Der Anlaut icr auch in wringen, wracke.
7) Wolf, schreibt für vorbar esten lieber cornemesten, vornomesten.
8) Wenn die Wolfenbüttler Handschrift dies Wort anscheinend nicht verstand , so prägt ihm
das archaischen Stempel auf.
9) z. B. *zoln i: Coln) 3881 ; ich turne (hd. turre) 6205 (aber nicht im Reim); kunst (md. selten,
hd. Jcunft) oft; *verne, so immer im Reim, nie vcrre: die beliebten Geoitivadverbia wie overmiddes;
die bildungslosen Adj. Adv. wie rüm „geräumig" 74, mäze „massig" 5460, *dranc „gedrängt" 6123,
clthe „flehentlich" 7279.
10) z.B. einem bestän „zugehören" 1426 u. ö.-. einen wringen „schmerzen" 1550. 8679; *unt-
•reyen „erwägen", oft; *zöquemen „zergehn- 2019; *sic7i prisen nach 5109 u. 0.; midi verlanget »mich
i>eciltu 4503; *sich aneicinden c. Gen. „sich unterwinden" 5705: rerschiezen „excommuniciren" 6045;
'ruhten „warten" 6768; üzläzen „Sprossen treiben" 7S15: *sl/:en, ersitzen intr. „enden", oft; *buole
..Bruder1- 7422; *sträle (am Pterdefuss) 8973; liep „teuer" 6086 u. a. m.
11) der ende 237. 794, der bant 2771, die gruoze 2960. 9292, die grünt 2996. 3426. 5348. 5457.
7345. 7973.^ 8814, die eischc 4625, daz stceiz 3641, das ludm 7458, daz gürtel 7345 u. a., alles
nach der hochdeutschen Hamburger Handschrift.
12) Das ausgesprochen niederdeutsche betengen der Wolfenbüttler Handschrift 7167 gehörte
dem Original sicher nicht an.
8
DIE KELMYOKREDKN DES SACHSENSPIEGELS. 4.'J
aber darf ich absehen von einigen Worten, die auch mitteldeutsch (selbst ober-
deutsch) zwar vorhanden sind, dort aber zur niedrigen Sprache gehören,
während der Braunschweiger Reimchronist sie als edel und poesiegemäss empfindet,
so Hrecken, getrecke, ferner *kif „Kampf", *quit, kerl, *kaf, *vorvärt „erschreckt",
*zögatere, *algater, die Adv. Präp. bauen, beneven, binnen '), meist sehr häufig 2). So er-
weist der Wortschatz der Chronik mehr als ihre erkennbaren lautlichen und fiexi-
vischen Verhältnisse, dass beträchtliche niederdeutsche Eigenheiten in der braun-
schweigischen Dichtung dem Hochdeutschen beigemischt sind : das entspricht aber
ganz der Zeit ihrer Entstehung und macht mich an der, mir zweifellosen, hoch-
deutschen Abfassung der Chronik in keiner Weise irre. Freilich , sie redet ein
papiernes Hochdeutsch : . site : stritt ist nur ein Augenreim ; ihr Verfasser kannte
die Literatursprache wirklich nur litterarisch.
Vermisst hab ich bei Behaghel Bert hold v. Holle. Sollte ihn Leitzmaim
an der hochdeutschen Sprache des Demantin und Crane ernstlich irre gemacht
haben? Mir genügen schon die vielumstrittenen Reime, um an des Dichters
schriftsprachlichen Bemühungen nicht zu zweifeln. Das gravirende Moment ist
lediglich der Umstand, dass Berthold zwar zahlreiche sichere Belege für den
niederdeutschen Reim von hd. t:z {bat „bat" : dat „das"), aber nicht einen sichern
Beweis für hd. z biete. Nun, unreine Reime wie daz : ivas konnte er auch in
seinen hochdeutschen Quellen nicht finden, und aus den Reimen auf döz (s. S. 47)
wenigstens möcht ich auch gros und schoz erschliessen. Umgekehrt ist wohl
zu beachten, dass er — ich zähle nach Leitzmanns Listen 3) — nur verschwin-
dend selten (4mal) hochdeutsch inlautendes d auf t reimt4). Die eclatant hoch-
deutschen Reime der Gutturalreihe halten den niederdeutschen der Dentale völlig
das Gegengewicht. Den Reim hd. uo : ö hat Berthold 8mal vor r, resp. vor rt,
rd, ähnlich wie der Hochdeutsche Herbort, sonst nur 3mal. Einen Reim hd.
iie : in macht Vogt Btr. 16, 462 für Crane 1571 wahrscheinlich , während Dem.
7249 anders zu beurteilen ist; Mieten wird da = ags. hydan sein (s. u. S.49. 55
Berthold reimt hd. ei : e nie(!), hd. le (hildesheimisch e) : hd. e nur, wo dies
t aus ehe entstand , aber auch in md. Weise ie : l. Ständig reimen cd : wil ;
immer heissts im Reime hin (isin, gewin, künigin u. a.) ; keine Spur eines
old, holden {alt, gewalt : g est alt, gevalt, galt), brüste : laste Dem. 6847, brüst : tust
3334 ; brast : gast 3336. Die Verhältnisse werden noch deutlicher , wenn man
auf das Gebiet der Wortbildung und Flexion übergeht, was Leitzmann nur
1) Die Wolfenbüttler Handschrift hat die Zahl derartiger Adverbia und der von ihnen abge-
leiteten Adjectiva (z. B. de bütere) noch reichlich vermehrt.
2) Mehr niederdeutsch als mitteldeutsch wirken auch *vomomen „berühmt" 636. 3660. 3075.
7342. 9093, Hot „Kate" 3790 (in Wolf, anders), *vld(je 3794. 8004, *.sloz in der Bedeutung .,Schloss-
5710, bäte „Vorteil" 7354 u. a.
3) Diese Listen (Btr. 16, 15 ff.) und die sprachlichen Bemerkungen Bartschs (Einl. z. Berth.
v. Holle XLI ff.) und Vogts (Btr. 16, 452 ff.) setz ich voraus, im Folgenden nur einiges stärker be-
tonend und namentlich ergänzend, was mir grade aufstiess.
4) Hd. t (nd. d) wird wol gar erwiesen durch luden : (ritten Cr. 4488. Vgl. auch Cr. 1
2 & * p
46
unzureichend und befangen getan hat. Berthold hat die Endungen -schaff und
-An, dies besonders reich im Crane, während der Demantin noch zurückhaltender
ist und im Versinnem (4828. 5956 6904. 8913) sogar -chen, -chin zeigt (wenn das
nicht das Werk eines, jedesfalls nicht verhocbdeutscbenden, Schreibers ist) ; ausser
dem Reim haben beide auch -el (mundel). Die hochdeutschen Formen gät, get, stät,
.stet, tut (Sing.) [hildesheimisch in der Regel geit, steit, deit] herrschen ausschliess-
lich oder mit verschwindenden Ausnahmen, ebenso hd. hän, lan, sagen ; dazu seit,
leit (neben leget) u. ä., kein leggt , seggt , heft , gift u. ä. Die 3. Pers. Sing. Ind.
Präs. geschieht steht durch den Reim auf nicht fest , das sonst fest mit bericht
gebunden wird. Das Prat. von stdn heisst stunt (: kunt). Die 3. Pers. Sing.
Ind. Präs. von tragen, varn lautet stets treget (treit), vert (z.B. Dem. 1199. 1805.
8822; 1155. 1654. 7429. 10334), ist nie ohne Umlaut erweisbar. wären (nd.
teeren) wird durch den Reim: jären (Dem. 100. 7109. 7342. 7669. Cr. 682), -.sparen
(Cr. 4848) erwiesen ; kein e. Stets lande, nande, sande, wände u. ä. ; ebenso ge-
nant1), geschant, gerant, gehint (von lenden, Dem. 10621) u. ä.; der Reim ungezalt
: maniyvalt (nd. vngetclt : manujvold) Dem. 301. 8569. 9695. Cr. 1005. 1867. 2457.
Leber Wochen : gesproclien u. ä. Vogt Btr. 16, 459. Dass Berthold die 1. Pers.
Sing. Ind. Präs. auf -et kennt, belegt Leitzmann (Btr. 16, 48) ; über das Verhält-
nis der pluralen -et- und -e^-Formen hat er kein Wort. Die Sache wird dadurch
schwierig, dass, wie syntaktisch begreiflich, die grosse Mehrzahl der Reimbelege
im Nebensatz steht und da die Notwendigkeit, mit dem Conj. zu rechnen, den Wert
der -en- Zeugnisse ein wenig beeinträchtigt. Immerhin steht das md. -en im
Hauptsatz fest Dem. 11662. Cr. 3182 , daneben viele Dutzende von Belegen im
Relativsatz, nach daz, sint, ob, alsöxx. s.w., wo der Conj. höchst unwahrscheinlich ist.
Das nd. (hildesheim.) -et in der 1. und 3. Pers. Plur. hab ich im Demantin 21mal,
im Crane an 5 sichern Stellen gezählt, was immerhin auf einen Rückgang der nieder-
deutschen Form bei dem Dichter deuten könnte. Wie unsicher Berthold im Ge-
brauch der ihm fremden -en-Yovm ist, zeigt vielleicht grell der Vers Dem. 952 di
betten, die de erde tragen (-.tagen; 8822 richtig treget -.iriveg et): ich erkläre mir den
sinnlosen Plural so, dass der Poet hier, dafür ihn Sing, und Plur. draget zusammen-
fiel, fälschlich hd. tragen statt des hier zutreffenden hd. treget setzte 2). sint : blint
Dem. 7251. — Der niederdeutsche Plur. Ntr. kinde nur zweimal Dem. 8128. 8846,
nicht im Crane; niemals lande u. ä., so günstig der Reim dem war. Hd. der „ille"
(•.her) Cr. 4079; nie im Demantin. Bertholds hochdeutsche Absichten stehn
mir schon durch die Reime fest. Vogt hat (Btr. 16, 462 f.) gut gezeigt (und meine
eignen Beobachtungen stimmen dazu) , wie sich im Fortgange von Bertholds
Dichtung die bewusste Vermeidung der niederdeutschen Formen steigert. Und
die Absicht entscheidet, nicht das Gelingen. —
Dazu kommt nun aber die geschlossne reichliche Ueberlieferung, die mittel-
deutsche Grundlage mit niederdeutschen Einzelheiten verbindet, und nicht zum
1) ungenennet Dem. 11249. Cr. 1246.
2) Aehnlich als pseudohochdeutsch Hesse sich z.B. Dem. 11665 die Pluralform enspricht st.
entsprechet oder ensprechen erklären, die allerdings nicht im Reime gesichert ist.
8
DU KEIMYOKRKDKN DES SACHSENSPIEGELS. 47
wenigsten die Wortwahl. Es ist geradezu überraschend, wie gering die Bei-
mischung niederdeutscher Worte in Bertholds epischer Rede sich erweist. Bei
einer allerdings hastigen Leetüre hab ich mir notirt *knuken Deraantin 859, bol-
dern ebda. 4799. 7481 (hd. erst später auftauchend) , sparte ebda. 5590. Crane
3533, *gropelln Dem. 7284 (Verbindung des niederdeutschen Wortes mit dem hoch-
deutschen Suffix), nälen ebda. 7484. 8741 (nicht gesichert), pas ebda 4001 (nicht
sicher), vormiddens Cr. 2976, inte Dem. 10560 u.ö\, dazu etwa noch das häufige, aber
auch mitteldeutsch belegte trecken Dem. 625. 637. 647. Cr. 1219 u. ö. (ausser Reim) ') ;
auch die Redensart duz vöder binden Dem. 8560. 9025. 10921. Cr. 250. 1610 ist wol
niederdeutsche Gepflogenheit. Dies in 17000 Versen. Die Liste mag grosse
Lücken haben: das Gesamtbild wird sich auch bei ruhigerer Sammlung schwerlich
anders gestalten. Diese Kargkeit des niederdeutschen Wortschatzes , von der
schon der Braunschweiger Chronist und Konemann auffallig abstechen, gibt einen
Begriff davon , welche Kluft hier gähnt zwischen Schrift- und Muttersprache :
die geprägte Norm des hochdeutschen Epos hat, sorgsam befolgt, die Idiotismen
der Bertholdschen Sprache überraschend verkümmern lassen; die Erscheinung
stimmt gut zu der reimtechnischen Anlehnung an hochdeutsche Kunst, die ich
S. 14 streifte. — Die Gegenprobe, ein Verzeichnis der hd. Lehnworte, muss und dari
ich kurz halten (vgl. oben S. 32 f.). Wesentlich aus V. 1 — 1500 des Demantin hab ich
das Folgende notirt: vor Allem sagt auch Berthold stets *nennen, sehr oft im Reim
(nie bei Berthold nömen !). *nähen (nd. nälen oder nähen), im Versinnern 255. 1001.
wird 3165 durch den Reim gestützt. Ich nenne von Verben ferner blicken (nd.
„glänzen") im Sinne unsres „blicken^ 57 (blic 1471 u.ö.); *ergeteen 140; strüchen 394
und sehr oft, stächen 1169 (nd. nur strükeln so); *erhellen „erhallen" 426 (das Adj.
hei z. B. Dem. 9950) ; *viren „schmücken" 499; unteunden „entzünden" 731 u. ö. ;
gekrochen 872 (?); vorstechen „verstechen'' 1348; *entstän „entstehn'' 1407.1423; vgl.
auch dulden Cr. 2149, (*rinnen,) *trüten, dazu *zireu, *voreagen (und andre Ableitungen
von zage), strafen; von den romanischen termini technici des Ritterwesens seh ich
wieder ab. Von Substantiven *megetin, ferner Collectiva auf -e wie *gcstcine 1005 (: reim .
oft), gestöle u. a. Dann das hochdeutsche Lehnwort kolze (mehrfach): spitze 1238 (?);
sprizeln, sprinselen 748.799 (oft); *döz „Getöse" 667.10203. als Prät. von *diezen
2567. Cr. 1405; schorge „Angriff" 857.875; anger (oft); *bach (Vogt Btr. . 16, 460) ;
vels (in hd. Bedeutung) 2568; getemere 1162 2). Adjectiva und Adverbia: michel oft;
*mndicliche 522 a. oft; *gfanz b32] roselehtßS) auch gevöge im höfischen Sinne (nd.
1) Noch weniger beweisen *gruoze Fem. „Cüruss" oft (im Reime Dem. 9440. 10933. Cr. 15.">7.
1592. 3173), getlich Dem. 35t), zw'tden ebda. 3572, *unvorvert ebda. (iOlö, *untfinc „entzündete- ebda.
2oil. 6598, das adverbielle misse ebda. 3741. versetzen „ersetzen" Cr. 393, komsi „Kunft" Cr. 1511.
1560. 2987, zökein (nd. teyen) Dem. 423, mir „ausser" ebda. 2291 u. ä., alles auch oft mitteldeutsch.
V«.gts Deutung von Dem. 752 {*spren — Staar) leuchtet mir nicht ein: steckt rate ,,Unkrautu und
spriu darin, so wurde das die hochdeutschen Worte mehren. Uebrigens mag noch dies und jenes
niederdeutsche Wort an eiu paar mir unklaren Stellen Bertholds zu finden sein.
2) *sturz (von der Kleidung) ist zwar im mittelniederdeutschen Wörterbuehe nicht belegt: die
Reimform stört 1466 erweist die Bedeutung aber wol als auch niederdeutsch.
u
48 • GUSTAV ROETHE,
„klein") 38 u. oft, ja selbst das beliebte *ivolgezogen schmecken hochdeutsch;
ebenso *zart Cr. 3454 ; vor Allem das im Reime sehr häufige *dort, ein in mittel-
niederdeutscher Zeit anscheinend wesentlich hochdeutsches Wort *). —
Schwerer wird mir die Entscheidung bei zwei andern Reimpaardichtern :
doch will ich den vorläufigen Eindruck nicht zurückhalten, wie er sich mir aus
raschen Sammlungen ergab, die zur Orientierung ausreichen werden. Die Reimchronik
Eberhards von Gandersheim ist nur niederdeutsch erhalten, erst in einer
Handschrift des 15. Jahrhunderts. Schon die hochdeutschen Spuren der Orthographie
(namentlich t für d: gute, state, geleite, bereite, wisete, turesten, tagende, twinge u. a. ; se [d. i.
ze\ f. nd. tb 91, alles [d. i. alles] 733, uns [um] 872, auch röche 1941, öfter -lieh2) ; ie, i,
ü, ti, ei f. hd. ie, uo, ei; side [nd. sede]; unser 599 ; er, her f. he 516. 543; von; samfte
(331. 1890: auch luttel 1271, hegen 1740 sei wenigstens verzeichnet3)) deuten auf eine
hochdeutsche Vorlage zurück: besonders gewichtig scheint mir das wat 339. 873
für was „erat", also eine misverständliche Rückverniederdeutschung : im Ori-
ginal hat s statt hd. z gestanden , wie sich das noch in unvor saget 1163 , saget
1390 zeigt (vgl. oben S. 36) 4). Die Reime werden durch ihre archaische
Unreinheit in der Beweiskraft stark beeinträchtigt: doch ist es deutlich , dass
Eberhard hd. 6 : uo unbedenklich reimt5); hd. ie reimt auf ei {riet : geit 295,
gedient : gesteint 277) . aber auch auf e (vlen {= vliehen] : besten 1316 ; vgl. sc
[hd. sie] : we 706) und ehe (vlen : gesehen 694. 1137, : gesen 1444; ittcswe : sc [ek
sehe] 1613), dies ehe6) widerum auf e (sehe, sc [sehe] : we 120. 365); ferner ei : e [i]
{Hildensem : em 1925) und hd. m {kleäe [Meide] : hedde [heete] 418) ; all das ent-
schieden niederdeutsch, wenn ich gleich nicht abgrenzen will, ob überall der
Monophthong c oder auch ei vorauszusetzen ist und wie weit Unreinheit vorliegt.
Auch vrauiven : gerauiven (ruhen) 1859 ist wol niederdeutsch, ebenso leren : werden 234.
berichten \stichten u.a. ist ein Lieblingsreim Eberhards, auch nickten : berichten 1657,
h'eften 7) : vecJäen 1800 können rein sein ; verdächtigt werden diese Reime aber
doch durch stiftedc : begiftede 112 und nicht : senft 431, wo nur Unreinheit wahr-
1) Dagegen heisst es da nur im Text (im Reime dar, dar und im Dem. gauz selten dö) ; hi
nie im Reim, so bequem es dafür gewesen wäre; ebenso nie verre im Reim, sondern stets nd. ferne;
wit oft im Texte, aber nicht im Reime belegt (nd. ico).
2) michel, regelmässig, darf als hochdeutsches Lehnwort nicht hierher gerechnet werden.
3) Weist das falsche oppem 1557 für openen auf ein offenen der Vorlage zurück ? Das würde
das iq> erklären. Freilich steht oppere zwei Zeilen vorher. — Das Hjd 491 meint vielleicht liggt,
nicht hd. Mt; doch schreibt die Handschrift auch tijt „Zeit".
4) Auch in dem Misverständnis 1103 schimmert ein hd. tagende des Originals sicher durch;
ebenso durch das vor 1735 ein hd. von.
5) to (hd. zuo) : so 77. 121. 460; dö (hd. tuo) : so 363; dön : Salomön 324; möt (= mö-
tett hd. miiezen) : not 768; tode : mode (mnote) 1797; Home : -dorne {-tuome) 70, 342.814. 1893.
1927; romen: mögen 240; mochte : geröchte 213, : sochte 800. 1386. 1410; zweifelhaft ist tö dönde :
begonde 270. 609 neben shinde : begunde 869; ferner heimöden : behöden 1199 (vgl. S. 49).
6) Merkwürdig gescheht „geschehen" : anevdn 1279.
7) Die Handschrift schreibt auch krechtig 981, klucht 1078.
8
DIE RKIMYORKKDKN DES SACHSENSPIEGELS. 49
scheinlich ist. Hd. t : z reimt nur ein einziges Mal1), State : male 532, mit
Sicherheit; das in jeder Hinsicht abnorme-) leit : not (liez : not) 1441 muss ge-
wis in (ge)bot : not corrigirt werden ; Eberhard hat sich grade dieser belastend-
sten niederdeutschen Reime mit offenbarer Absicht] ichkeit enthalten. Hd. t : d
lässt er intervocalisch gegen niederdeutsches Recht nur dreimal reimen (kleide
: hete 418, riten : nriden 1708, töde : muote 1798) : bei Eberhards anspruchsloser
Reimtechnik auch das bemerkenswert selten. Man beachte weiter, wie er i und
e in offner Silbe nur zweimal bindet (vorgeten : gescreven 89, geven : hieven 1774')),
wie er selbst die Tonlängung nur sehr sparsam im Reime zum Ausdruck bringt
(r ömen : mögen 240, her toge : högen 475 4)). Nd. reimt we [iver] : se [sihe] 1615. Von
niederdeutschen Flexionsformen bemerke ich claget : draqrt 29 (?) 5). Ueber die
seltnen niederdeutschen Pluralformen auf -et (1. Pers. 768 [?] , 2. Pers. 1293,
3. Pers. 217) dominirt die Endung -en (2. Pers. 52. 1920, 3. Pers. 162. 170. 181.
196. 311. 457. 841. 953. 1129. 1753, St« 12 u. ö. , lauter Nebensätze; im Haupt-
satz nur 17) ; ja das prononcirt hochdeutsche begänt (3. Plur.) reimt 193 auf genant.
Und damit sind wir bei den positiv hochdeutschen Reimen, die Rehaghel a.a.O.
S. 32 grösstenteils verzeichnet, alt (nd. olt) reimt 1314, gewalt 1917, balde (öd.
holde) 1400 auf gczalt (nd. meist gefeit) 6). Gegenüber den Reimen hd. 6 : uo möchte
man etwa verweisen auf md. üe : in in behiiden : brüden 262. Doch wird beilüden
hier in der Bedeutung „verhehlen1' auch mnd. ü haben ; V. 1200, wo das Verbum
auf heimbden reimt, gehört es trotz einer gewissen Aehnlichkeit des Gebrauchs,
doch wol zu „hüten". Ich zweifle , ob die beiden , in der Bedeutung verwanten
und mnd. wol wirklich vermischten Verba sich scharf aus einander halten lassen.
Und diese Vermischung wird Mitschuld tragen, wenn grade höden zuweilen auf ü, iu
reimt. Die Reime Idagcdcn : hadden, hedden 482. 1058 weisen, wie man sie auffasse,
auf die mehr hochdeutsche Contraction des -oge- zu a oder ei hin. Für nd. Je : ch hat
Behaghel drei Fälle (sprach : plaeh 904, : geschach 1612, lesterlich : nicht 1229).
Dazu tritt loh : gen och 777 und wol auch sachte „verursachte" (nd. saledc) -.brachte
1471: etwa noch sprechen ibcu-egcn 107? -schaf : dach 65 wäre reiner als schop
-.dach. Neben der niederdeutschen Form nicht (:-lich 1230, : lieht [liggt] 1236.
1284, : scrif t 431, : sticht 67) kennt und reimt Eberhard das md. niet , nit , neit,
1) Reiner wäre auch icat : schat 5G2, dat : sehat 7G1. 909 als teaz, da: : schätz; aber das
beweist bei Eberhards Technik gar nichts. Dagegen ist netten : vonneten 1207 in beiden Mund-
arten unrein, und in Sitten „?edere" : netin ,.scire" 358 spricht der Vocalisrnns mehr für die hoch-
deutsche Form sitzen : icizzen (doch ist der Reim nachlässig auch niederdeutsch möglich , zumal
grade in der Rraunschweiger Gegend).
2) Eine gewisse Parallele bietet Konemanns Reim beslSa {Jbeslöz) \_Got dorch tvbrolenc bot dem
poradys beslcs] : stes (stitz) Wurzgarten lbüJ, wo der Dichter auf md. sitzen (nd. slüten) wol die
Flexion von nd. süten (hd. sli.icn) übertragen bat. Oder knüpfte er ein halbhd. siezen an hezen
(hd. heizen, nd. heten) an?
3) sjn-eMt : timebit 372.
4) sege, sage (hd. sähe) 303, 798. b 24. 1115.
5) Oder meint Eberhard hd. eleu : treit?
G) Aber golt : gemalt 9.
Abbdlgn. d. K. Ges. d. Wiw. zu Göttingen. Piiil.-hist. Kl. K. F. Band 2, g. 7 _
60
oft mit steit, dann mit diet 976. 1451, riet 1465. 1760, tit 1556 gebunden : die nie-
derdeutsche Handschrift nimmt an dieser Gestalt der Negation denn auch Anstoss
und glossirt nit 586, neit 970. 1076. 1452. 1759. 1815 : id est nicht, schickt (nd.
meist schilt) wird durch den Reim auf nicht 370 bei der Doppelform dieses Wortes
nicht gegen jeden Zweifel an der überlieferten hochdeutschen Flexion gesichert.
Neben steit (oft), geit 295, entpheit steht im Reime einmal auch nd. deit 54, sonst
döt, was md. tut meinen könnte (34. 355. 428. 1696). Der Indic. Prät. iveren u. ä.
ist nirgend sicher (auch 481. 1500. 1581, neinen 1845 werden Conj. sein), todren
aber 1025. 1164. 1781. 1834 wahrscheinlich1), plagen 316, lägen 1422, braken 1497
(ddden 59. 436. 1501 u. ö. , baden 1655. 1069). In die Augen fällt das sehr häu-
fige und völlig durchgehende hd. Part, genant2). Für die zahlreichen typischen
Reime mit sagen, hän 3), ist verweise ich auf Behaghel a. a. O. Im Reim Part.
begannen 289. 492 (die Handschrift schreibt im Versinnern begunt4)). Voten : be-
hnoten 546 wäre reiner als Oden : behodden. entverren : werren 642 ist, wenn rein,
hochdeutsch; überliefert ist entvernen. Ueber sitten : wetten 358 sprach ich oben.
zwä (Hs. tum) 424 ist md. Die Endung -unge scheint 1571 erwiesen (Hs. meist
-inge, doch auch -unge). Auch dass da (nd. dar reimt 1056, dare 655) im Reime
vorherrscht (88. 227. 415. 588) , sei beachtet ; im Versinnern stets dar. ivole (: hole)
1264. Das Ergebnis spricht nicht unzweideutig für sich, muss interpretirt wer-
den : eine Zurückhaltung gegen die scharf niederdeutschen Lauterscheinungen, die
Aufnahme gewisser hochdeutscher Züge scheint mir gesichert. — Auch die Wort-
wahl redet nicht deutlicher. Immerhin erscheint an markanter Stelle 1260 in
durchaus edelm Sinne das Adj. driste f. „tapfer", hochdeutsch etwa kiiene,
balt] sehr beliebt ist *nochtan (neben dannoch 203), 843. 980 auch, im Reime
bägen „prahlen" 181. 430, *erheven „überheben , eines Dinges schonen" 1256.
1271, vorheven „unterlassen" 1815, *vorlangen „zu lang werden" 1901, *tö räde
ten „entraten" 993, angest „Angst" (öfter) zeigen wenigstens eine besonders
niederdeutsch belegte Bedeutung; auch unecht 197, mutte 912, drechlih „erträglich"
1675, men „nur" 564, icJit „wenn" 582 fallen ins Gewicht; dies und das könnte
dem niederdeutschen Schreiber gehören 5). Abgesehen von nochtan durchweg ganz
1) Zweifelhaft ist der Reim 1433 wären '.bewären (mhd. bewcereri), das mnd. meist umlautlos erscheint.
2) Verdächtig ist auch das Prät. bekande (ud. bettende bei Eberhard nie bezeugt, da 1104
Conj. ist) 116. 302. 468 u. ö. , wände 509, aber dem Reime auch sonst mnd. nicht ganz fremd;
ebenso das Part, vorwant 661. 942. 1176, gesant 1223 u. ä.
3) Besonders häufig reimt hadde, hadden : dräde, räde, däde, baden [das meint wol häte : dräte,
rate, täte (als Ind. Prät. nur pseudohochdeutsch), bäten] und hedde:dede, stede [d. i. hcete : teste,
State]. 758 hedde : redde [redete, rette].
4) Dass in der Braunschweiger Chronik; wo sie Eberhard benutzt, diesem begunt stets be-
gannen entspricht (490 begunt m der Wolfenbüttler Hs.) , das gestattet noch keinen Schluss auf
durchgängiges begannen der Vorlage : der Vergleich ergibt auch sonst , wie viel entschiedner der
hochdeutsche Charakter des Brauuschweigers ist.
5) Diese naheliegende Möglichkeit beeinträchtigt die Bedeutung von Worten wie leng „länger"
261, drte „dreimal" (md. dries) 1027, bevellich „passend" (hd. gevellic) 390, *bevallen (hd. gevallen)
1520, hopene „Hoffnung" (hd. hoffe) 5?<?, rust „Rast" 911, antlät (hd. antlitze) 1153, entigen 1801,
8
DIE REIMVORREDEN DBB SACHSENSPIEGELS. 51
Vereinzeltes und wenig Augenfälliges ; es fehlen grade die eigentlichen mittel-
niederdeutschen Lieblingsworte einer spätem Epoche. Doch auch das Wenige ist
um so weniger zu übersehen , als der Wortschatz Eberhards im Ganzen gering
und einförmig ist. Demgemäss sind auch die hochdeutschen Erscheinungen des
Wortschatzes ärmlich. Aber auch Eberhard hat sehr oft *nennen (nicht nömen),
dann die verbreiteten ^-Worte zirheit 6. 1663, unvorzaget 1163, zagel 1390, kerzel7;
ferner michel , das er besonders gern zu michellich weiterbildet, in der Form der
Handschrift michelk eine sonderbare Mischung von hoch- und niederdeutsch l) ; dass
*niden 196 ihrem Schreiber fremdartig war, zeigt die Glosse haten; *rinnen stark
flect. (nd. in engrer Bedeutung) 1273 ; lernen 1028 (im Innern, unsicher) ; end-
lich *alsameliche 1245, etwa grim (Subst. ; mnd. wäre eher gr am) 706. 1270 2);
durch das Suffix gehören her luttel 1271 und die Deminutiva auf -Un 878. 1393.
1763 (ausser Reim !). Nichts Entscheidendes. Aber gewis auch hier nicht die
unbefangne Heimatssprache. — Die Gandersheimer Chronik stammt schon aus
dem Jahre 1216 , gehört also unter die frühsten mittelniederdeutschen Dich-
tungen ; der rein locale Charakter ist ihr viel schärfer aufgeprägt als dem
grossen Braunschweiger Reimgedicht. Während sein Verfasser aus der mittel-
hochdeutschen Ritterdichtung wohl zu lernen verstand , lag für Eberhards ärm-
liche Klosterhistorie ein irgend zwingendes Vorbild hochdeutsch nicht bereit.
Die von der höfischen Poesie ganz unberührte Technik des Gedichtes zeigt sich
obendrein in den durchweg sehr stark gefüllten Versen, die uns eine Vorstellung
von leidlich unbeeinflussten mittelniederdeutschen Reimzeilen geben mögen ; jedes-
falls heben sie sich von der Tactfüllung der übrigen mittelniederdeutschen Ge-
dichte des 13. Jahrhunderts deutlich ab : die Braunschweigische Reimchronik
kürzt, wo sie Verse Eberhards übernimmt, regelmässig, Worte auslassend oder
den Vers zerteilend, was ihr bei ihrer Enjambementsfreiheit keine Schwierig-
keiten macht. Mit dem Nachlassen des hochdeutschen Einflusses •im 14. Jahr-
hundert steigert sich die Silbenzahl der mittelniederdeutschen Verse alsbald wie-
der. Das Gedicht entstand abseits vom litterarischen Leben der neuen Art.
Um so gewichtiger freilich die hochdeutschen Reime: wo sollte Eberhard ums
Jahr 1216 eine niederdeutsche Tradition dafür vorfinden? Auch er konnte,
wenn er deutsche Verse schrieb , die Anknüpfung an hochdeutsche Gedichte,
gleichviel ob hochdeutscher oder niederdeutscher Autoren, nicht umgehen: aber
ohne jede Fühlung mit höfischem Leben und höfischer Poesie wird er, des Hoch-
cvertüeken „erweichen" 1729, düsternisse 1432 (md. dinsternisse), luttic öfter (243. 316. 562. 596 u.s.w.,
aber luttil 1271), nein sehr oft (hd. kein oder enhein)\ hier überall genügte ein Federstrich, um daz
specifisch Niederdeutsche aus etwaigem Hochdeutsch herzustellen. Anderes wie tuiden 1842, drovich „be-
trübt" 481 , erwerdikeit „Ehrfurcht" 734, *^vat c. Gen. „etwas" 562 ist auch dem Mitteldeutschen nicht fremd.
1) Die Braunschweiger Chronik ersetzt das michelk Eberh. 380 denn auch V. 521 durch gröz.
2) Für grimmich (mnd. meist gremich) 1145. 1237, grimme 1370 ist die Entlehnung minder gesi-
chert. Leitzmann belegt grim, grimmich bei Gerh. v. Minden zu 10, 57. 47, 37, aber nur im Vers-
innern und aus einer hochdeutschen Handschrift. — Auch einmöde 1650, eintmutUkcn, einmödichlik
965. 978. 1496, von dem Braunschweiger Reimer 769 übernommen und öfter angewendet, fehlt
im mittelniederdeutschen Wörterbuch. 0
T 8
52 . GUSTAV ROETHE,
deutseben nicht frei mächtig, sein Niederdeutsch dämmend, nur reim- und wort-
arm, und für uns ist die schlecht aufgetragene hochdeutsche „Tünche" bis auf
ärmliche Reste abgefallen; man mag hier wol von Tünche sprechen, nur tünchte
der Dichter selbst.
Der Pfaffe Konemann umgekehrt steht ganz am Ausgange der Periode,
die ich hier ausschliesslich ins 'Auge fasse. Seinen grossen „Wurzgarten Maria"
(Göttingen, cod. theol. 153, fol. 159 ff.) *) vollendete er an Sünte Mathias nacht
1304 zu Goslar. Schon früher hatte er (Wurzg. 199a) an eynem breff über die Messe
(van ausser misse vnd deme stilnisse) die Einsetzung des Abendmahls behandelt,
jedesfalls auch deutsch und poetisch, da er die Leser des „Wurzgarten" dorthin
verweist. Ebenfalls früher hätte Konemann den Kaland abgefasst, den er, da-
mals Priester zu Dingelstedt am Huy, für den Kaland des nahen Eilenstedt ge-
schrieben hat: vorausgesetzt dass die Handschrift wirklich noch dem 13. Jahr-
hundert angehört2); es empfiehlt sich wol, einfach zu datiren : um 1300. Grade
diese Handschrift, die wirklich früher dem Eilenstedter Kaland gehört hat, be-
sitzt für uns hohen Wert dadurch , dass sie entweder direct das Dedications-
exemplar Konemanns bildet — Sellos Gegengrühde (Zs. d. Harzvereins 23, 102)
sprechen höchstens gegen die Eigenhändigkeit — oder doch aus ihm abgeleitet
sein wird: Ort, Zeit und Wert (vgl. oben . S. 35) stimmen trefflich zusammen.
Und diese Handschrift ist hochdeutsch ; auf eine hochdeutsche Vorlage lässt so
Manches in der Handschrift des „Wurzgarten" zurückschliessen (s. oben S. 36).
So besteht von vornherein eine Wahrscheinlichkeit für die hochdeutsche Ab-
fassung. Obendrein wird sich voraussichtlich beweisen lassen , dass Konemann
mit hochdeutscher Dichtung bekannt war : ßrun von Schonebeck hat er höchst-
wahrscheinlich gelesen ; seine saubere, massige Tactfüllung deutet auf hochdeut-
sche Schulung. Dem entspricht denn auch eine ganze Anzahl hochdeutscher
Worte: Halden (oft im Reim), seswe und *linh Kai. 1104. 1107, *gufl(:lufi) Kai.
1059. Wurzg. 195b, *nennen (sehr oft im Reim ; *nömen nur KaL 87. Wurzg. 171d,
öfter im Versinnern), *dort Kai. 920. 1281. 1407. Wurzg. 187bd. 210b (im Reim ; öfter
im Versinnern), *sän (?) Wurzg. 170b. 19P. 203d. 20öa, *sam, alsam (oft, auch im
Reim), *megetän Wurzg. 172d. 174a. 175a. 186c. 189a; von z- Worten *vorzaghen, *un-
vorzaghet (sehr oft im Reim), *ziren, zlrheit Kai. 1294. 1336. Wurzg. 177a. 187b.
1) Borchling hat einiges über ihn mitgeteilt in einem Vortrag, der auf der Pfingstversamm-
lung des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung zu Eimbeck 1898 gehalten wurde und im
Niederd. Jahrb. 23, 103 ff. erschienen ist. Eine Ausgabe des Gedichtes wird vorbereitet.
2) Sello schliesst (Zeitschr. des Harzvereins 23, 102), das Gedicht müsse „um diese Zeit"
(1272) vorhanden gewesen sein, weil in der jetzt Magdeburger, früher Eilenstedter Handschrift
hinter ihm ein 1272 bezeugter Weruerus de Serstede als tot verzeichnet werde. Er kann damit
nur meinen, die Handschrift werde nicht grade Generationen später fallen : denn sonst versteh ich
nicht, warum nicht ein 1272 lebender Mann zum Beispiel 1310 und später als verstorben registrirt
werden konnte. — Der von Schatz (Progr. d. Halberstädter Domgymn. 1851 S. 2) seit 1185 (!)
nachgewiesene „Dominus Hinricus de Eylenstede" ist natürlich nicht der frater antiquus vivens, den
die Handschrift Bl. 35, Col. 1 nennt.
8
DIE BEDtYOBBKDBN DES BACHSKKSFIEOILB. 53
194c, "irzeighet (: neighet) 193d. Kai. 896, "untzunden Wurzg. 174b. 197a, *irczegelt
207c(?), {zetern 165c. 182b,) reizen 210b, glänz 169», »antftow 200* V** 174- »frä
177b. 204b, "trütinneVJW, Hruten 20Bd, *Wfefi „warten" (:*2/«0 Kai. 678. Wurzg. 165b.
189d. 196a, *strafen, *nähen(?)1), "lernen „lehren" (md.) 202**), "irschrecken Wurzg.
179b. 200b; tnichel Wurzg. 181 c. 203c, *barn 166c. 201«. 203a (nur im Reim), "ast
176\ \t)reehtin (ischin) 165b3), "tougen4) 187''. 198c. 202d. 204b. 20GC , vlins,
vlinsich 172a. 182b. 206c, *hantgetät „Geschöpf" 164c, gheschefte „Geschöpf" 182c, *selde
„Wohnung" 182d (?, as., aber nicht mnd.), vinstemisse Kai. 1003, *untstän „entstehn"
Kai. 240. Wurzg. 165a. 169». 192d; 188b reimt kumpst : vornuft, was auf hd. *kunft
(sonst im Wurzg. kamst „Kommen"; Kai. 1073 im Innern zökumft) hinführt5): die
Fälle werden sich mehren lassen. — Andrerseits aber unbefangne Verwendung der
alltäglichen, auch rein niederdeutschen Rede: im Kaland z. B. *rive „freigebig"
237 (Wurzg. 160c. 172b. 193b. 197a), *queU 287. 399. 1129. 1401 (Wurzg. 205d), *picht
375. 534, Mverne 435, *schülm „verborgen sein" 451. 1089 (Wurzg. 173b. 196c),
"böte „Bruder" 600, echt 483, "unecht 719, *ndken im Reim 754 (Wurzg. 176b im
Versinnern ndlen), "küle „Höhle" 1088 (Wurzg. 196c), "alle gader 1116 (im Wurzg.
ein ganz ständiges Reimwort: vater , blater; ich zählte 19 Fälle), Ureter „Sach-
walter" 1139, *rilcedage 1365 (auch Wurzg. 160c. 164d. 207d; "woldage 181b),
*antlät (: trinität) 1321, (: dat) 1234, wispehi „sich bewegen" 1352, wankein 202,
"dichte „dicht" 1096, bernendkh 1328 (Wurzg. 172d) , ivichtich , even-, overwichtich
958 (Wurzg. 164b. 165* 184c), külde 1000 (Wurzg. 186d) ; im Wurzgarten ausser-
dem noch lister 205c, vorbistert 163b, hupen 162b, "sachte, sachten 167a. 203b (im
Versinnern noch öfter), "kolk 172a. 200a, icht „wenn" 160c. 178b. 179b. 180a. 185c.
187a. 199d (natürlich ausser Reim), "qitädle 187a, bademöder „Hebamme" 192b,
rüste 192c, "velich „sicher" 193c, vaken 196d. 198d, "bräke „Mangel" 164b. 175a,
"hast 178b. 191d. 203d, "loch „Zeugnis" 16P. 167\ "ivelde „Gewalt" 185a. 193 d
196b, breghen „Hirn" 207a, "wränge „Krummholz" 198a, sit „niedrig1' 187c, "bange.
184b, vorvencliken „gefährlich" 181d, bedenst „dienstbar" 191d, "berichtich „unruhig"
1) Der Reim swachte : nachtede "Wurzg. 182d könDte zwar auch sieakede : näkede meinen,
führt aber wahrscheinlicher auf swackU : nähte.
2) Kai. 937 hat die Handschrift lernen im hochdeutschen Sinne; der Reim auf leeren erweist
da aber leren in der niederdeutschen und mitteldeutschen Gebrauchsweise.
3) Dass dies vom Schreiber schon nicht mehr verstandene Wort nicht nur archaisch, sondern
auch hochdeutsch sei, legt wol der e-Vocal der Stammsylbe nahe.
4) Die Entlehnung verrät sich ebenso durch die vorherrschende t- Schreibung wie durch
den festen Reim : ougen.
5) Vgl. noch *ungeviret Wurzg. 187*», *habedanc 178c. 208a, *er(Jt \7Qhm 182^, *grim (Subst.) 195d
und seine Ableitungen (sehr oft), *zü (? öfter), *l6sen „betrügen, scherzen"' 178a. 171bu. ö., *rinnen 203d,
*entwenken 165a. 181a, ^scheinen „zeigen" 159b. 208c. Kai. 4G7 (Wurzg. 201c, Hs. irzeigen : stenen),
*besachen „einrichten" 168b. 170b, gen{i)slich 209a, auch die Composita *dnrch(jrundich 171a. 188b,
gründe-, kunste-, vroudelus, *~uclüen-, *suften-, *icunnenbar, *nhccn-, *sunne)ivar gehören der ge-
hobnen, hochdeutsch bestimmten Sprache an. *amme 172b kommt zwar auch mnd. vor (so Dorows
Denkm. I 37. 38. Zeno 607), aber (es fehlt im mnd. Wb.) nicht oft : bei Konemann könnte es mit
dem hd. Reim eingeschleppt sein. — Ist *nusche 169d das bairische nuosch „Traufe" V
54 . GUSTAV BOKTHE,
200a, *sik gehxütten 167d, *bchöven „bedürfen" 183d, sik düpen 186c, *dwerlen „wir-
beln" 193d, bliven „werden" 170d (vgl. oben S. 27 f.), *uordroghen 208% echter, echt
„wieder" 174a. 186a, vormiddelst 175d, men „sondern" 178cl). Ich sehe dabei ab von
Worten wie *bigen , *voäeni *mang „zwischen", qulten „frei machen", *trecken,
getrecke, *leren „lernen", * sunder mis, *blas „Licht", *begaden „bearbeiten", *slicht
„schlecht" (im bösen Sinne), *kaf, wrangen, *entegen „entgegen", hopen (st. ivernen),
*tuidcn, *nömen, *boeren „erheben", *uor-, *ervceren „erschrecken", *boven „oben",
*cnboven, wat c. Gen. u. ähnl., die zwar auch mitteldeutsch vorkommen, aberjedes-
falls nicht zur gewählten Schriftsprache gehören und ein niederdeutsches Präjudiz
erwecken dürfen. —
Auch die Reime2) zeigen, dass Konemann sich der rein nieder deutschen
Formen ganz sorglos bedient, um so mehr als seiner lässigen Reimweise zumal der
bequeme Vocalismus behagt. Die erschöpfende Darstellung der Reime, zumal der
niederdeutschen , bleibe dem künftigen Herausgeber des Wurzgarten überlassen :
ich gebe hier zur Charakteristik nur, was ich gerade zur Hand habe. Hd. 6, oe,
o,u, ü, ou, öu, uo, iie3), andrerseits hd. e, ce, e, i (in offner Silbe), ie, ehe, iehe, ei reimen
aufs Bunteste unter einander ; dort wird langes oder tonlanges o, hier langes oder
tonlanges e (seltner ei) in der Regel den Vereinigungspunct bilden. Kurze und
lange Vocale reimen auch in Zweisilblern (dragen : vrägen) sehr oft. e und a tren-
nen sich nicht streng, z. B. maken : irbreken Wurzg. 169d, Jenecht : gedeckt 160a, dam
: kern 184b, berch : unkarch 175b, jären : geberen 187a, namentlich was : des (vgl. S.56).
nie „neu" reimt massenhaft auf i. a wird o vor Id : icolde : balde 191a4). Der Um-
laut stört die Reimfähigkeit nirgend. Ueberschiessendes e, wie bade „Bad" Wurzg.
194c, möte „Mut" 170b, blute 170c, schüre „Schutz" 172c, järe 201d u. ä. ist nicht selten ;
der Umfang der Erscheinung ist nur in metrischer Untersuchung festzustellen: die
Ueberlieferung gibt da keinerlei Sicherheit. — Der Reim verrät niederdeutsche Meta-
thesis, z.B. vrochte „Furcht" : brochte Wurzg. 178b, dorsteivrorste „Froste" 195c, -.börste
205c. — Reime von hd. d : t [rede : vermede [vermite]) sind nicht selten, von hd. t\z sehr
1) Nicht gesiebert sind natürlich Worte wie nein (nin) „kein", jenich „irgendein", die auch
dem Schreiber angeboren können, selbstverständlich wie sie in niederdeutschem Texte sind. Ich
verzeichne noch *killen „Qualen" Kai. 773. Wurzg. 161a. 167a. 204c. 206a, düstemisse Wurzg. 172c.
201b. 207c, stäpe 200d, *nanne als Kosewort 200c, *natsamekeit 176a (diese umständlichen Bildungen
sind niederdeutsch beliebter als hochdeutsch), middehnan 184b, spe „feindselig" Kai. 83 ('?), *bar-
haft (: teärhaft) Wurzg. 192a, warachtich 176b. 177d, lustafftich 207d, wemie „einst" 194* (?),
*b(igen „rühmen" 191b, sik vUcken I92d, *spcr(r)cn „hindern" 196b, *gischen „seufzen" 204b, *up schüren
201J(V), sik geceUigen Kai. 427, erstem c. Gen. „zugestehn" Kai. 1193. Geschlechtsverschiedenheiten
beachte ich hier nicht, da die späte niederdeutsche Handschrift des W'urzgarten in dieser Hinsicht
keinerlei Gewähr gibt. Er enthält auch Worte, die ich weder hochdeutsch noch niederdeutsch
kenne und an dieser Stelle um so mehr bei Seite lasse, als ich sie nicht alle verstehe.
2) Bebaghels Zusammenstellungen über die Reime des Kaland (a. a. 0. S. 33) sind schon
darum unzulänglich, weil sie von Eulings Ausgabe ausgehen.
3) Auch ouw.iuw {vromeen :riuucn).
4) Doch auch mochte '.brächte (brochte?) Wurzg. 205d (1 78b), : dächte 204b u. ö. ; jären : gebo-
ren 189'1 (schwerlich schon = gebären); nphör : vär Kai. 83, : war Wurzg. lGGb; gehört: wart 199d-
8
DIE REUiVORRH/EN DES BACHSEN8PIEGELS. 55
häufig (besonders im Auslaut, aber aueh im Inlaut : propiieten : heten [hiezen] Wnrzg. 168c.
175a, düten : gräten 186c, sneden : reten [rizzcn] 202d, böte [Imoze] : mute [muotc] 166b.
170d u. m. ; ferner z. ß. rät : ik ent/cVt 202° u. s. w.). Nichts beweisen die auch mittel-
deutsch normalen Reime von inl. hd. b : v (live : brave, pröven [priieven] : bedröven
[betriieben], auch gheven: neuen „Neffen"), ausl. hd. p : f (lif : /,•/'/'), sowie das inlau-
tende ij in höghe „Höhe" : moghe Wurzg. 161% 177a. 1871'. 207% hdgen : bögen [böugen\
175c, höghest : ghevögest 167d, : soghest 194d, geschäge [geschaht ] -Jage 166b, säghen : singen,
plagen 203cd, vrägest : näghest 104d. Unumgelautetes ä scheint gesichert : irschrac :
sprak Wurzg. 179b. 200b, sik : strik 196d, Öfc : sfoÄ 160d, st ok : brok 17 fr , weihen:
näktn Kai. 753, nofrd : gesaket 834 l); unumgelautetes /7 gleich im Eingang des
Kaland papen : knappen *), minder sicher t/acoi : scÄop Wurzg. 188b. — Der Reim be-
weist die Formen sticht, bracht Kai. 961. 1278. Wurzg. 206% lacht 209% behackt 166d.
180d. 188c. 196d.199d, ««cMc 167a. 183c. 203b, gherochte 169c. 195% echte Kai. 719, zum Teil
noch öfter. Ueber geneden vgl. S. 25. was [hd. wahs] : das Kai. 350. — Die Dative
mi, di, die mit den Acc. mik, dik nach niederdeutscher Art syntaktisch oft durch ein-
ander geraten 3), reimen z. B. auf vri 163c. 179c. 185c, si Kai. 795. Wurzg. 163c. 205b,
U 190c. 202d, die 169% Hell 205% gesche 160a. 190d, sc [sihe] Kai. 1303, beghe Wurzg. 189c ,
ive Kai. 1125. Durch Reim erwiesen sind z. B. die Formen is „ist" (mindestens
23 Fälle), giß „gibt" Wurzg. 162b. 171b, plicht „pflegt" (: nicht) Kai. 574, beiecht
(iknccht) 160% gesteht „gesagt" 184% sechte 183b, se#^ (: %d) 180% (ipfliget) Kai.
170, (:%e*) Wurzg. 209% (: beweget) Kai. 1074; tieft Kai. 569. 599. 851. 971.
Wurzg. 159d. 169b. 170d. 177b. 180b. 192a. 201d; steit Kai. 690. 890. Wurzg. 163c. 165c.
169c. 176a. 185au.ö., geit 177a. 179*. 187c. 191b. 201d, veit 190% entfeit 172d. l92a. 193d.
201% beveit 188c. 190a; ghehat „gehabt" 208a; geschüde „geschah" 202d, vorgude
»vcrjachu 191d; wel „volo" (: düvel) 182b, (: snel) 193%. ik iville 179\ 197b, ivult „vis"
(-.schalt, irvalt) 167b. 180c; Prät. wie wende „wandte", sende, kende, blende 161c. 162p.
166d. 180% das Part, irheven, vorheven z. B. Kai. 66. Wurzg. 169d. 170% 175a.
196b, begunt Kai. 271. Wurzg. 164a. 196% die 3. Pers. Sing. Präs. bevalt (: ma-
mcvalt, balt) 169d. 196d, halt „hält" (: scalt) 180c; ik dam 184b. 203a u. ö. ; die Neutra
Plur. auf -e, wie kinde Kai. 1306, dinge Wurzg. 107d. I94d u. a. ; das Pron.
desse (: Yesse) 171c. 174b, de jüwe (irüive) 203d ; amber, number (: knmber, dumber)
Kai. 709. Wurzg. 182% höre, der Compar. leng „diutius" 192b. 208% die Endung
•inge 165c. 171a. 180c. 184d. 188% sehr selten die Pluralendung -et (so Wurzg. 177c. 184d.
191b. 193d), das Adv. verne [hd. verrc].
Aber der Speer lässt sich wieder umdrehen. Hd. ie reimt in md. Weise auf I : so
mi : die Wurzg. 169% knie : si 186\ 200d, bl : nie Kai. 732 ; uo ebenso auf ü, iu : gut : brüt
1) Unsicher ist deken : spreken Kai. 277. 540, : wreken 415.
2) Allerdings würde pf äffen : knappen vocalisch reiner reimen, wie denn auch gescaffen :
rasten Wurzg. 191c (wenn richtig) besser reimte als gescapen : rasten. Auch drapen (Tropfen)
: open 202c. 206d ist nicht unzweideutig.
3) Ein hochdeutsch unmögliches dativisches mik , dik im Reim z. B. Wurzg. 176% 177b.
181». 188b. 189*. 206b. 208b. 8
50
167c. 191b, : trüt 177b. 204b; rün „ruhen" ipaulün 171 a, düden [diäten] : grüten [grüezen]
186c (?), mäste [miwste] : huste 206b, must [muost] : lust (schwerlich lost) 190b l). u, ü (nd. o),
tritt zu Tage in müre „mürb" : näture l61d, : tiire 166b; Jcumt : versümt Kai. 939. 1046.
Wurzg. 191d. 202a ; ebenso 1 in hin : sfet Kai. 286. Wurzg. 182a, in „eum, eis" : sin 20O.
Kai. 406, hinne : sinne Wurzg.203c, : minne 165a. Das a in holden, gewalden u. ä. sichert
namentlich der Reim : Salden Kai. 25. 206. Wurzg. 166a. 206a, aber auch Reime wie
ivalt, halt : gcstalt 159d. 176d, : gevalt 177c. 185% : geseilt 192c, : geaalt Kai. 212.
Wurzg. 169*. 189b. — Die hochdeutsche Form von (neben seltnerem van) ist durch
Reime auf son (159d. 173a. 191c. 204d), Abiron (174d), dön (185a), Salonion (Kai. 107),
vone : schöne (Wurzg. 186c) reichlich gesichert, sol (neben scal) reimt oft auf wol,
z.B. 159c. 168b. 178d. 191a. 195c; da nun wol 159d. 187d : stol, Kai. 369 : W, Wurzg.
160b-d. 162d. 169b. 171a u. ö. Kai. 1207. 1387 (13 Belege) : vol reimt, so wird es auch
das Reimwort sol ergeben, das 173a in dem Dreireim scal : wol : vol , ferner
178c : vol unumgänglich ist2). Hd. nase reimt Wurzg. 207b auf äse; nd. wäre
nese. — Stets vrist, Crist (nd. oft verst, Kerst) im Reime; hrunne reimt 169b :ho-
penunge , brüst 192a : lust, 205d : ghekust. — Den sicher hochdeutschen Reim z : s
hat der Kaland nur einmal (mäze : quäse 314) ; im Wurzgarten kommen dazu :
iviz : gliz 174a (glit gibt es mnd. nicht), vlife : antlitze 200d3); vöte : moste
[vüeze : müese] 207d; eriiee : uz güze 202d ; vielleicht auch ein paarmal was : daz 4);
endlich sind einige Reime von sliiten auf ein Verbum liiten oder lücen zu
1) 193a würde ich den Reim: du uiflilie bilde Mariam uns bedürfet, de dar decket und hüdei
zwar zunächst fassen dintet : hiietet; da aber sonst an klaren Stellen (162b. 172b. 184b. 188d, un-
sicher 160b) bei Konemann hilden im Reim auf düden, lüden „verbergen" bedeutet, so seh ich
auch hier lieber das Verbum mnd. hilden (ags. hydan), das auch sonst in Bedeutungsberührun-
gen und weiter in lautliche Verquickung mit höden (Wurzg. 198b. Kai. 804. 815) geraten ist.
Auch Kai. 1087 heisst gellüde „Versteck". Vgl. oben S. 49.
2) 190* sol:8töl? (Hs. scal : staJ).
3) Vielleicht auch 209a : dort heisst es vom Kaladrius: he lieft minsclicn antlis, sin yheverde
dat is uys. Ich würde dies uys zunächst als „weise" fassen; zu der Farbenbezeichnung „weiss"
passt das Wort gheverde minder und muh wol der Zusammenhang, dem es lediglich auf die ärzt-
lichen Frognoslika des Wundertiers ankommt. Aber freilich der Kaladrius ist nicht nur ein wei-
ser, sondern auch ein weisser Vogel ; Megenberg 173, 23 beginnt gleich mit dieser Angabe. — gezzeni
letzen, setzen lG7a. 179a. 193b ist reiner und also wahrscheinlicher als ylicten : leiten, setten; be-
sonders aber wird tiefen: hüten 18(id vielmehr icizzen : hitzen meinen. Auch ichiemaz -.mach 159a
wäre um eine Jsüanee reiner als nd. wat : mach.
4) Im Kaland 350 reimt uinuas, 543 Gracias auf das, beidemal so, dass das den Gen. des zu
meinen scheint. Ebenso liegt Wurzg. 102c. Iü8d. 173c. isi^-d. I88a. 200^. 206c. 20&b-c der Genetiv
nah, ohne überall sicher zu sein; geschrieben ist stets das. Und daz scheint vorzuliegen 163b da
de minsche sus icas vorbistert unde das worden was an imme, dat he tu yodes minne . . . mochte
dornen; 185b Got sulven ghelovcn scal das, de des minschen sclicppcr aas (vgl. auch 177d); wer auch
in diesem das den Gen. sehen will, wird die syntaktische (?) Vermischung von dat und des heran
ziehen, die Lübben Mnd. Gr. 110, Mnd. Wh. 1, 509 und Nissen Middelnedertysk Syntax S. 53 con-
statieren. Ob aber nicht auch dieee Vermischung durch die Klang- und Schriftähnlichkeit von hd
daz, dez (Hss. oft das, des) mit dem nd. hd. Genetiv des begünstigt wurde? Konemanns sonder-
barer Reimgenetiv das Hesse sich so gleichfalls begreifen.
8
DIE REIMVORREDEN DES 81.CH8EN8P1 I ' -i:i.s. .~>7
erwägen (179d. 185b. 188c. 206b) , das sonst (169*. L68e. L96b. 204«) auf
reimt: gemeint ist wol lüzen, lüschen „latitare" (Schiller -Lübben 6, 205*. Brun
12618) und lüten eine hyperniederdeutsche Entstellung, so dasa Bicfa in jenen
Reimen slüzen ergäbe; doch wird das noch der Nachprüfung bedürfen. Hoch-
deutsches t empfehlen die Reime bitter : ridder l(.^b . luden : träten 205d, porte
: hörde 175a, porten : börden 203d. Die Verschiebung von j> : / li.ii Kai. 74. Wurzg.
210a in dem Reim papen : straffen, an dessen hochdeutschem Charakter Euling
nicht hätte mäkeln sollen. Auch schuf : af 163b (lid. schäf : ap . od. schäp : «/'),
schuf : grüf „grub" 196c, -schaf : gaf , Jcaf (S. 58), >-'•/' : drtf (hd. rt>f : /.
l»)4a u. ä. sind offenbar mitteldeutsch und verschoben. Besonders reich ist wie-
der hochdeutsches ch vertreten: sprach \ geschart/ Wurzg. L80b. L91d. 205d. 208
mach (Hs. zuweilen nah) 167d. 199d. 20O. 201b. Kai. r>17, -.sach Wurzg. L63*.
169c. 173d. 175ad. 181d. 183c. 190d. 198b. 199c. 201cd. Kai. 849, : jach Wurzg. 1 ••• .
188a; ghemach : sach 20Gb, : geschach 161d. 180b ; mich \ sich „vide" 189d. 206*;
sech „krank": sunder vech 209a (?) ; spricht : sieht 207c, : nicht 174c. 208a, iplieht
208a; ferner: sj>r«c// : mach1) 10Ob-b. 180'1. 182c. 194* u. m., : JocA Kai. 860.
Wurzg. 166a, : dach Kai. 1036; brach ■.mach Wurzg. I84a, : lach 197d, -.nach L96 ;
stach : roacÄ 202a; hoch : genöch 169a. 186d. 210a; dicÄ : krtch 203b, : fftricA „schweige*
182d, : stich 187b; -lieh, dich : umbevindich 170a. 187b ; dtcÄ : alweldich 164a; rmc/i
(Dat.) : gnedich 164c ; billich : iviUich 197a u. s. w. Hierher gehört auch söÄ'ßii :
irkloken (d. i. suochen : irklnogen) Kai. 1354. Wurzg. 199c. 204c; ferner fereA :
wireft Wurzg. 175a. 197c. — Neben #«, #«s, //o und na stehn auch gäch 159c. 163
u. ö. , hoch 175d und »?«<?/* (S. 56) im Reime fest, geneden zeigt bei Konemann auch
die hd. Reimvariante genenden (oben S. 25). — Neben mi ist auch mir im Reime
: gir Wrurzg. 179a, mer : loser 166d (?), der : vinder 190c (?) erwiesen ; im Reime stehn
ferner die Pron. in „eum" (: sin) 200a, „eis" Kai. 406. imme „ei" (iminne) 163b
(eme Kai. 183). Md. zuä (Fem.) Kai. 488. Das starke masc. Adj. guoter y als
erstarrter Casus (s. oben S. 41), wird gebraucht für den Plural Kai. 103. 285,
für das Feminin Wurzg. 169a. 170a. 189c. 194a-b. 202» (Dat. Fem. 198b), für das
Masc. nach Artikel Wurzg. 166<\ 184b. 195a. 201\ attributiv nachgestellt
im Acc. 204a , im Voc. 204b. 266*. Aber Konemann beschränkt sich nicht auf
das eine Wort, sondern construirt du dummer! Wurzg. 183c (Voc. Fem.) -) und
cloker 176c (prädicativ: de seger is so clöker , auch hochdeutsch nicht anmög-
lich) nach demselben Beispiel. Und im Versinnern hat die authentische Ka-
landhandschrift 781 ein vüler äs, obgleich äs natürlich auch nd. Neutrum ist;
die Endung -er wurde von Konemann lediglich als hochdeutsch, aber nicht als
masculinisch empfunden. Die Wurzgartenhandschrift hat ebenso 186° ein g
1) mach : geschach z. B. Wurzg. 196*. Kai. 186, : gäch 183*-*, : nach Kai. 680. Wurzg
loch : doch „log" Wurzg. 166*, :toch 166*; droch „Trug" : doch 200»; dröch „trug" : ■■ slucli
: loch 200»; ghenöch : töch\88*. 206b; lach : sach 203*. mäch 20le, : geschach 207*; plach : geschach
187c; dach : nach Kai. 570. Aber mac : Ysaac 196a.
2) mi tamber (: number) Kai. 709.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. Phil. -bist. Kl. N. F. Band J. -
58
delöser mere , 204* ein grimmiger lüt (niederdeutsch meist Neutrum) : beides
mehr hd. Adjectiva. Charakteristisch ist ferner in ihr de ütiuorpender dich
171* und die festen, vom Hochdeutschen übernommenen Verbindungen ein sige-
riker , starker degen 197d. 208d , min dummer sin , möt 159c. 165d. 202c : der
Gebrauch dieses -er ist unfrei 1). — ist : bist 164a. 194a , : genist 181d, : bewist
208b , : gevrist Kai. 949. Die Pluralendung -en überwiegt sehr beträchtlich
über das nd. -et; sichere Indicativbelege des -en aus dem Hauptsatze sind
Kai. 917 (wir). 1131. Wurzg. 176a. 182c. 193a; der wahrscheinlichen en-Indi-
cative in Nebensätzen Hesse sich das Zehnfache und mehr anführen : ich
verzeichne hier nur Belege der 2. Pers. Plur. : ge bUen Kai. 678 , gi leren
Wurzg. 160c, gi van 198d, gi sin 199b, gi söken 199c, gi willen 204c. sint : kint
Kai. 1196. Wurzg. 189d. 198b. 203 c , : blint 164d. — Die regelmässigen hoch-
deutschen Formen von sagen, hän haben, län, contrahierte Formen wie treit, geleit,
ferner tut, gät, stät, Ut sind alle reichlich im Reim bezeugt2), sieht (: cricht) 172c,
(: nicht) Kai. 203 (neben süt Wurzg. 162c. 209a) ; geschieht (: plicht) Kai. 597,
(: nicht) Wurzg. 201b ; die Präterita geschach, jach, sach stechen die ganz verein-
zelten nd. geschüde, vorgüde, geschä (Wurzg. 175c) weit aus. Eine 3. Pers. Sing,
mit Umlaut ist z.B. vert (-.beschert) Kai. 928. 1135. Wurzg. 186b. Nd. Präterita
wie nende haben z. B. brande (: pande) Wurzg. 172a, sande (: lande) 207c, (: Ka-
lande) Kai. 348, (: mande) Wurzg. 200c zur Seite; die zugehörigen Participia
heissen ausnahmslos genant, gewant, gezalt, gesaltu. s.w. Das starke Part, verstoßen
(nd. vorstot) steht Wurzg. 161ac. 176d. 183b. Ueber bestes [beslöz'] vgl. S. 49 Anm. 2.
Plur. Prät. wären (: naren „Narben") 164c. 165a, (: barn) 201c u. Ö. ; säten (: geläten)
177b, (: mäten) 166a; quämen (: samen) Kai. 36; sägen „viderunt" (: slagen, plagen)
Wurzg. 203cd, während weren u. ä. nicht erwiesen ist, da ivärenisivceren (Hs. swaren !)
201c (: missebären 206b) bei Konemanns Reimart nichts ergibt und spreken (: teken , Rei-
chen") 208d Conj. sein wird. Sehr bemerkenswert die 2. Pers. Sing. Prät. du tveere
Wurzg. 194d (sonst immer -est). Immer stunt ,, stand". — Im Reim nur -Un (minsche-
Itn Kai. 1351, ivortelm Wurzg. 179d), während das Versinnere wenigstens im Wurz-
garten neben vogelin (öfter) und lovelin (174a) auch nichteken 191d besitzt 3). -unge ist im
Reim weit öfter bezeugt als -inge, im Wurzg. 166a. 169b. 170a. 175d. 184a. 186a-d. 188b.
204c. Kai. 662. -schaß wird in dieser Form durch den Reim: haft Kai. 48, : kraft
1) Ich habe mir ausserdem notirt ik vil armer wicht 202b, lever herel 166d, ik bin einer 164c ;
im Kalant 1025 alle degeliker, auf ordeil bezüglich; 419 dummer man, 952 lever seile!
2) Im Wurzgarteu z. B. sagen (-.zagen, wagen, tagen, vrägen) 165d. 1 73d. 199d. 202*, Imper.j
sage (: vräge) i62a. isga. I90d. 202d, ik saghe 170c. 174a. 201d, saget 3. Pers. Sing. (: maget, geplä-
get) 174d. 188c. 199^ part. gesaget 169a.c. ^02*. 210a, sageten (: clageten) 200c, seit (: wärheit) 166c.
195*; hän 168d. 199*>-c. 210», hat, hat 163c. 167/. 169^>. 173». 174a Und sehr oft, hast 177d. 200^,
haben 206b, habe Conj. (1 gäbe) 189d; (län Kai." 387. 470;) treit 168c; geleit (: -heit) 168b. 169b-c.
173b. 177c. 178d u. ö.; döst Kai. 813. Wurzg. 177d. 204b, dot 186c. 206c u. 0.; stäst 166», gast 177d, gät
169c ; Ut (:zU) Kai. 660. Würz. 206c, (: vut) 174d (: git „sagt" 169a könnte auch licht: gicht meinen).
ml (: vil, zil) ist nicht unzweideutig : doch spricht die herrschende Schreibung für i ; auch könnte
das mnd. seltne zil (Leitzmann zu Gerh. v. Minden 6, 9) poetisches Lehnwort sein.
3) voteken 198c versteh ich nicht.
8
DIE REIMYORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 59
Wurzg. 161d, sonst als -schaf (nd. wäre -scop , -scup) im Gleichklang mit Jcaf
Kai. 224, mit gaf Wurzg. 171c. 198d erwiesen. — Das weit vorhersehende nd. dar,
dare, war hat doch auch das hd. da, icä an der Seite (: Manna Wurzg. 173b, : ghä
182b, : nd 205a, besonders im Kaland : nd 268, : nntfd 442, : zwd 488, : dwd 527,
: gd 877, : pessima 982). me ,.mehr" reimt : e „Gesetz" Kai. 160, : dre 215, : sc
Wurzg. 190atl (ineist mere; mar Wurzg. 185d. 207d). daunen 179\ Können sich
diese hochdeutschen Reime an Zahl mit den niederdeutschen nicht messen , so
sind sie doch durch ihre Existenz gewichtig genug. Ich zweifle nicht, auch
Konemann wollte, wie seine Vorgänger, auf seine Art hochdeutsch schreiben.
Aber er tats, ohne sich darum Entsagung in der Ausdrucksweise aufzuerlegen,
ohne auf bequeme Reime, wie sie ihm die Muttersprache reichlich bot, zu ver-
zichten : die alte Kaiandhandschrift mag ein ganz leidliches Bild davon geben,
wie ein Manuscript dieser Sorte zwiefarbiger Poesie aussah. Grade Konemann
in seiner Nachgiebigkeit zugleich gegen die hochdeutsche Tradition und gegen
die eigne sprachliche Gewohnheit lässt ahnen , wie ohne schöpferische Tat aus
diesem hochdeutschen Missing doch so etwas wie eine mittelniederdeutsche Schrift-
sprache entstehn konnte. —
Von Lyrikern hat Behaghel lediglich Heinrich v. Morungen als hoch-
deutsch dichtenden Niederdeutschen vermerkt. Nun, auch der Graf von An-
halt und Markgraf Otto IV. von Brandenburg, beide, oder doch der
zweite, Nachzügler des Minnesangs aus einer Zeit, da er im Süden schon zum
Welken sich geneigt, auch sie waren sicherlich niederdeutsch zu sprechen ge-
wöhnt, und doch enthielten sie sich in der Dichtung jeder niederdeutschen Nuance :
ihre Reime schimmern hie und da höchstens ins Mitteldeutsche, ihr Wortschatz
weicht von der guten oberdeutschen Tradition kaum ernstlich ab 1). — Die Spruchdich-
tung, stoffreicher, minder vornehm und minder gebunden als der Minnesang, lässt
auch sprachlich die Eigenheiten des Poeten leichter durchkommen. Reinolt von
der Lipp e, schon durch seinen Namen verraten, offenbart sich in dem Reim leben
: heben (d. i. Himmel, engl, heaven) II 1 als Niederdeutschen, seine übrigen Reime
sind ausgesprochen mitteldeutsch 8). Dass Raumsland von Sachsen nicht
die Sprache seiner Heimat geschrieben, hab ich schon ADB. 30, 97 betont;
1) Der Brandenburger hat, um von anderm abzusehen, den durchschlagend hochdeutschen
Reim machen : lachen : sivachen V 2; md. reimt ice : ich se VI 1, Inf. sehen : jehen klingend V 1 ;
sein Wortvorrat ist streng conventionell hochdeutsch, abgesehen etwa von sich prisen ze VI 1. —
Die zwei Liedchen des Anhalters haben einen leidlich charakteristischen Reim nur I 3: getan
: län (also nicht niederdeutsch) : geh an (ebenso) : versmän (mitteldeutsch). Auch die Reimworte
nieten I 3 (in dieser Bedeutung), dreejen „duften4, II 1 sind mir mittelniederdeutsch nicht bekannt, al
„obgleich" (I 1, 2) das Bartsch wol richtig herstellt, ist nicht nur niederdeutsch, wie er Liederd.3
344 behauptet. Wenn uht und uht II 1 (nicht im Reime) wirklich id und id (vtz und uz) meinen
sollte , so würde das höchstens auf einen niederdeutschen Schreiber in der Textvorgeschichte zu-
rückdeuten.
2) Er reimt z. B. brach : pflach I 3, loch : och : Joch : noch I 1, ist : list I 3, hat im Reime
hat, stät, git, gesaget.
60
genaures jetzt bei Panzer, Ruinzlants Leben und Dichten S. 25 ff. Die hoch-
deutsche Grundlage ist durch die Reime gesichert, und die niederdeutschen Züge
in Lauten und Wortwahl berühren den sprachlichen Gesammtcharakter auf-
fallend wenig für einen Poeten, der sich auf sein Sachsentum etwas zu Gute
tut. Dass das Wolfenbüttler Fragment einer Handschrift, die vielleicht nur
Sprüche Raumslands enthielt, hochdeutsch ist (Zeitschr. f. d. Alt. 32, 85), sei
immerhin bestätigend erwähnt. — Endlich Hermann Damen. Auch von
seinen Gedichten haben anscheinend Separatausgaben in hochdeutscher Sprache
existirt (Germ. 24, 16). Die lautlichen Spuren des Niederdeutschen sind et-
was stärker: die Tonlängung kurzer Vocale in offnen Silben ist häufiger (I 39.
III 3. 10. V 4. 5. 7. 7); die beiden Reime swein : drein, zwler : einer (IV 3. 4)
stimmen glatter zu niederdeutscher als zu mitteldeutscher Sprachgewohnheit ;
vrint (: sint IV 7, : gewint IV 8) mag auch eher niederdeutsch sein ; vgl. snide :
strite IV 4. Anderseits kein Zweifel , dass der Dichter an der hochdeutschen
Tradition fest hielt (er : ger IV 11, mir : ir VI 1; verre : ere V 1, vgl. I 8;
Cr ist : ist I 22. III 1. IV 3. 5. VI 2; du weere : du gebeere : sivcere I 22 ; uns : suns
III 1; niht -.bricht II 6, -unge I 11. III 5, daneben das Uebliche) , was sich um
so bestimmter constatieren lässt, da er keineswegs die abgetretenen Pfade der
Reimtechnik wandert. Und eine lexikalische Betrachtung, in die ich hier
nicht des Näheren eintrete , ergibt das Gleiche : Damen gehört zu den Mäu-
nern , denen die Grenzen des classisch abgestempelten mittelhochdeutschen
Sprachschatzes zu eng sind ; und doch, wenn er darüber hinaus geht , z. B.
in seiner grossen Prunkstrophe VI , er bereichert sich aus mitteldeutschen
Worten, spricht von duz , gräz , glänz, glizen , hat aber, soviel ich sehe, nicht
ein Wort von ausgeprägt niederdeutschem Charakter. Und dabei hat er wie
Raumsland ausschliesslich an norddeutschen Höfen gesungen. Das litterarische
Centrum aber, das zeigen sie in Lob und Schelte , es liegt für sie im Süden.
Wenn so die Lyrik noch viel schärfer die hochdeutsche Gestalt der norddeut-
schen Poesie im 13. Jahrhundert beweist, so zwingt uns das wiedrum einen
Schluss auf das Publikum auf. Wenn es las, fühlte es sich trotz den Versen dem
Alltag näher ; im Gesang aber verlangte es die ideale hochdeutsche Gestalt rein
und unverfälscht, und es muss sie gut verstanden haben, vielleicht besser als das
litterarisch ungewohnte und zu höfisch poetischer Formung wenig vorbereitete Platt.
Auch rein hochdeutsche Dichter haben im Norden bis nach Dänemark hin eine ge-
eignete Stätte des Wirkens gefunden : unzweifelhaft begünstigte die musikalische
Kraft des Südens diese litterarische Herrschaft. Aber sie bestand, über die
höfischen Hörer anscheinend noch stärker als über die höfischen Leser.
Die einzige Abweichung von dieser Regel zeigt Fürst Wizlaw v. Rügen,
vielleicht der talentvollste niederdeutsche Dichter des 13. Jahrhunderts. Er
macht uns Philologen Not, will sich unsern Kategorien nicht recht fügen.
Früher hat man ihn allgemein für niederdeutsch erklärt, und Ettmüller hat ihn
ins Niederdeutsche zurückübersetzt , was er freilich auch dem ersten Vorredner
des Sachsenspiegels hat angedeihen lassen; dann hat Seelmann den Fürsten
e
DIE REIMVORKKDKN DES s.\< SHMN8PD D I BLB. Gl
ebenso bestimmt für einen hochdeutschen Dichter erklärt, und Bchaghel hat das
non liquet proclamirt. Unsre Ratlosigkeit deutet hier vielleicht auf die Keim-
zelle neuen Lebens. Der fahrende Sänger war an das höfische Publikum und
seine Wünsche oder Gewohnheiten gebunden : der Fürst konnte diese Fesseln bei
Seite werfen, konnte es um so eher, wenn er so abseits sass wie Wizlaw. Und
dieser Fürst, auch melodisch begabt, tut wirklich einen befreienden Schritt.
Freilich nur einen, wo ein Dutzend nötig gewesen wäre. Das Forum der Meister
respectirt auch er. Aber die Meister liebten eine caprieiöse , schwierige Aus-
drucksweise, wo der normale Minnesang nur die geprägtesten Wendungen gelten
Hess. Vielleicht hat kein deutscher Poet des Mittelalters der poetischen Sprache
mit Bewusstsein so viel neues Material zugeführt, wie das Frauenlob aus seiner
Mundart getan hat. Es lässt sich doch vergleichen , wenn Wizlaw Wendungen
von fast gesuchter Mundartlichkeit in den Reim schob, wie etwa grät (ber-
linischem^, Nd. Correspondenzbl. 14,24), noch dazu in der minniglichen Wen-
dung „üz herzen gräte" IX 2. XI 2, „aus herzlichem Verlangen": das muss be-
fremdend gewirkt haben, zumal im Minneliede , wie wenn heute etwa ein Mo-
derner reimen wollte „aus Herzensgieper" oder ähnlich. Und solche, auch für
ihn schwerlich nächstliegende, niederdeutsche Dinge hat Wizlaw grade in den
Reim1) gerne gepackt: lach „Gesetz" XII 2 2), Ur „Wange" XVI 2, ger „Gäh-
rung, Duft" (?) XVI 2. külde „Kälte" XII 1. XVI 2 (im Innern X 1) ; ert .. Erbse« I 5
(wahrscheinlich hat Wizlaw so gar nicht gesprochen); aflät (?) I 3; echter VII 2.
Nun, hier hat er zum Sprachgut der Mundart gegriffen, nicht weil er in ihr den na-
türlichen und gemässen Ausdruck fand, nicht weil er unwillkürlich in sie verfiel
wie so oft die Reimpaardichter, sondern lediglich als Reimneuerer ä la Frauen-
lob : ich beurteile jene niederdeutschen Ausdrücke nicht anders als andre ge-
suchte , nicht speeifisch niederdeutsche Reimworte , wie etwa die gezierten
Verba gJüeten X 2, blüeten X 2. XI 2, nozzen X 1, wie entzwicken X 2, entlücken
u. s. w. XV 1, steiften XII 2, krachen XII 3, strengen, mengen XIV 3, zomeen
XI 2, speren X 3, gebit (schw. Part.) XV 3, gezarte V11I. druhi I 2. XV 3,
kerze V 3. X 3, drü VII 1, bwvf XV 3 und manche ähnliche, die zumal
im Reim der Minnedichtung ungewöhnlich waren und grade dadurch Wizlaws
Geschmack zusagten. Im Versinnern hat er derartige Wendungen nicht so ge-
sucht. Sehen wir von jenen niederdeutschen Reimworten ab . so bleibt der
schlagenden Saxonismen nicht besonders viel im Reime: gekleidet : bereitet '.breitet
(3. Plur.): feitet XI 1, bliietet (? Hs. htuozrt) ■ grüeset (3. Plur.): sueaet : bnezet XI 2.
beide in milderndem Vierreim, vielleicht auch g<><t'>eket : entzwicket X 2
süeze XIII 1; dt (dir) : bt XII 2; IU : wit (weiss* XV 1 hat schon ein doppi
Gesicht, da IU hochdeutsche Form, wit niederdeutsch kurzvocalisch ist: dass
1) Ausser dem Reim fand ich von ausgesprochen niederdeutschem Sprachgut nur wort 1 3
V. 2, wenn Ettmüllers Deutung richtig sein sollte; das Wort ist rutsch (vgl. Fabricius, Urkunden
z. Gesch Rügens 4, 35a). — entsen ..fürchten", aperen „hindern", ape ..feindlich", alle X 3 im Reime
zeigen nur in der Bedeutung die niederdeutsche Farbe.
2) Leitzmann zu Gerh. v. Minden 92, IS sieht in loch mit Ettmüller das ml. ldk ..Fehler".
62 GUSTAV ROETHE,
Wizlaw Accusativ und Dativ nicht sauber trennen kann , sagt über seine dia-
lektischen Absichten nichts aus l). Und die hochdeutschen Reime sind zum Teil
sehr gewichtig (Seelmann Anz. XX 348 ff.) : ich hebe hervor nähen : enpfähen IX 1,
nahet : versmähet : gähet VI (das erste Mal sicher , das zweite Mal sehr wahr-
scheinlich zweisilbig; obendrein nicht nähen oder nälen ; gälten ist mnd. ungeläufig;
mhd. versmähen heisst mnd. meist vorsmän oder noch lieber vorsmäden; nät : en-
pfät noch XI 2) ; herze : herze V 3. X 3 ; nente : lente : rente I 2 ; du beere (nd.
bärest) : sweere I 2 ; genuoch : ruoch (nd. rohe) XVII 1 ; tuoch (so die fls.) : unge-
vuoch XII 1 ; geschach : brach I 4 ; (lach : dach XII 2? ;) du : eü II l2) ; (Hüten : Meten?
XII 1;) brüst: tust I 7. XV 2; ferner Belege für hau, hat, gät , stät (rüg. steit),
tuot (rüg. doit), tat, git (rüg. gift), lit (rüg. licht), meit, treit, ist, hin, -Im u. a. ;
die 2. 3. Plur. auf -en ist wiederholt bezeugt (I 1. X 1. XII l)2); die Ton-
längung, fast regelmässig im Reim (ßalt. Stud. 34, 287), herscht doch noch nicht
ausnahmslos (I 1 geben \ leben) I 10 jugent : tugent ; V 3 gevlogen : betrogen : ge-
zogen). Das Alles genügt jedesfalls, um es unwahrscheinlich zu machen, dass
Wizlaw mit der hochdeutschen Grundform , in der seine ganze poetische Aus-
drucksweise wurzelt3), gebrochen haben sollte. Allerdings darf nicht ausser Acht
bleiben, dass der Text der Jenaer Handschrift grade bei Wizlaw Erscheinungen
zeigt, die auf eine Vorlage mit stärker niederdeutschen Elementen zurückdeuten
möchten4). Jedesfalls geht Wizlaw in der Aufnahme heimischer Sprachzüge über
1) Behaghel citirt noch ze muote :blüete : verhüeie XI; aber muote (statt muoze) ist doch auch
hochdeutsch eine geläufige Form. Ettmüllers Reim (I 2) vroht ;,Furcht" : droht beruht auf falscher
Conjectur : din süeze vruht steht jedesfalls in nordischer Weise (Gramm. IV2 352 f.) für du süeze
vruht. Ob vlughet I 9 den Plural vUghet meint, ist mindestens zweifelhaft. Dagegen sind noch zu
erwägen, wenn gleich auch mitteldeutsch denkbar: scliane : keene „kühn" I 7, gröz : buoz VII 3
(Dicht ganz sicher), bliletet '.geratet X 2, deben : leben X 3 (falls so richtig, ist die Stelle ein wei-
terer Beleg für mhd. läzen c. Dat., vgl. Meissner Zs. 42, 125); der Plural Ntr. auf e (velde) steht
XI 1 , andre überschiessende e IV. XIII 2. Von der sehr wenig einleuchtenden Conjectur böte IV
(für lutc) seh ich natürlich ab; ist lute „Laut", so würde der Reim für ruote einen mehr mitteldeut-
schen Vocalismus ergeben (doch vgl. Anm. 2).
2) Doch schwanken auch die rügischen Urkunden zwischen 6 und ü (hd. uo), -en und -et.
3) Aus hochdeutscher (meist litterarischer) Anregung dürften von Einzelheiten etwa stammen :
von Substantiven *ast XVI 1, anger (oft), "albe XIII 1, "swanz XV 2, "kerze V 3. X 3, *haft I 9
(technisch poet. Ausdruck), *blic „Blick" XIII 2, "tuäl I 7, die Abstracta *hcene I 7 und *melde
XI 1, die poetisch vielgebrauchten Worte * 'wunderecre 16, *leitvertrip XIII 2. 3; selbst die Vorliebe
iür das Wort wunne beruht wol auf dem Einfluss der hd. Dichtung; — von Adjectiven : *triit III.
VII 2, *hel XIII 3, der Reim *sal (:*kal; auch dies mnd. nicht oft) XVI 1; *broede II 2, *zündic
I 4, "gezarte VIII, die die wol poetischer Sprache entnommenen "vröudenbcere V 1 {^offenbar XV 2,
vgl. S. 41 f.), grundelös I 3, senende IV. V 1 (öfter); — von Adverbien: Hougen III. XIII 2, *dort
XV 2, sam I 10. X 3, *sän 14. X 2. XIII 2 ; — von Verben "nennen I 10, "zieren : *ivieren : *vieren
X 2, :! feiten XI 1, "biten XV 3, "entzwicken X'2, "entnücken XV 1, zünden V 3. X 3, brinnen (bran,
durch die stumpfe Caesur sicher) I 4, triuten VII 2 ; auch "surften XII 2 lässt sich ebenso gut aus
dem Hochdeutschen als aus dem nl. , höchstens westnd. su-ichten herleiten. — Viel gewichtiger
als dies Einzelne ist der hd. Gesamtcharacter der Wizlawschen Dichtung.
4) Von dem, was Knoop Balt. Stud. 34, 278. 303 ff. fleissig zusammenstellt , ist manches mit-
teldeutsch ganz geläufig, vieles beruht auf Misverstehn der elenden Ettmüllerschen Varianten,
vieles schlechthin auf Ettmüllers zahllosen groben Fehlern : v. d. Hagens Angaben sind weit zuver-
DIE REIMVOKRKDKN DES 8A0HSUN8PIEQKU3. 63
seine lyrischen Vorgänger bereits beträchtlich hinaus. Aber auch er dichtet,
wie Konemann, ganz zu Ende des Jahrhunderts. —
Ich habe diese grob und ungleich gearbeitete Uebersicht über die niederdeut-
schen Poeten des 12. und 13. Jahrhunderts nicht unterlassen wollen, so sehr ich mir
bewusst bin, dass sie aller Orten der Ergänzung und wol auch Berichtigung be-
dürfen, dass schon die Auffassung der durchmusterten Tatsachen zu manchen
Zweifeln1) Anlass geben wird. Aber auch so wird der Gang gelehrt haben
dass es bis zum Schlüsse des 13. Jahrhunderts keine einzige Dichtung Nie-
derdeutschlands 2) gibt, die nicht dem Verdacht hochdeutscher Abfassung un-
terläge; am schwächsten noch ist er für die rein locale Gandersheimer Chro-
nik. Wer nicht annehmen will, dass uns die Ueberlieferung gebend und
zerstörend den seltsamsten Streich gespielt habe, dem drängt die Summe der
auffallenden Einzelerscheinungen notwendig die gleiche Erklärung für sie alle
auf: im 13. Jahrhundert war die sogenannte mittelniederdeutsche poetische
Litteratur lediglich ein provincieller Auswuchs der hochdeutschen , innerlich
und des zum Ausdruck auch äusserlich unselbständig; eine schöne Litteratur, die
den Namen „mittelniederdeutsch" verdient, entstand erst im 14. Jahrhundert3).
Nicht als ob man nicht auch früher auf norddeutschem Boden gedichtet und gesun-
gen und gesagt hätte: aber dieses poetische Leben von Mund zu Munde, das man
sich nach seinen Spuren würdig und reich vorstellen mag, war eben keine Lit-
teratur, die sich mit dem Anspruch wörtlicher Dauer an Leser wendet. Dass es
zu einer wirklichen nd. Litteratur erst so spät gekommen sein soll, darf nicht
lässiger : man sollte nie nach Ettmiillers Machwerk citiren. Gewichtig scheint mir nur etwa e f. ei
(reph „rieb" I 7), t f . z (tonwen f. zouicen XI 2 ; dagegen ist putte I 3 und vielleicht blot XVI 1 auch
mitteldeutsch), k f. ch (tcelh X 2), cht f. ft (suchtest, swichtest XII 2, bedrocht XVI 2), die 3. Pers.
Sing, trift, ripht, koyft I 5. 8. II 2, der falsche scheinbare Siug. tuot 19, unphat XV 1, weren f. wären
I 7, steten „gestatten" I 6. II 1, vor Allem die hyperhochdeutschen Formen kürzet XV 2, haz I 10
Z. 8 (später in hat verbessert), druft XV 3, tucht I 7 (dühte; vorterben, mitten dagegen sind nicht
beweiskräftig); vielleicht deutet auch die offenbar verderbte Stelle III Z. 3 herzctrute sich min ein
par vrouwe auf ein nd. enparmen [herzctrüt, sich [dich?] min enparme vrouwe) zurück, der grözer
18 kann sehr wol von WizJaw herrühren: vgl. oben S. 41. 57 f. und einer (f. einiu?) XV 2.
1) So liegt es nahe, z. B. die starken Verba brinnen, rinnen, die starken Part, begannen,
verstözen, das Adv. dannen (s. u.) nictit für hd., sondern für frühmnd. zu halteu, liegt um so näher,
als die Gothaer Hs. der Weltchronik manches davon enthält. Aber die Weltchronik mit ihren hd.
Quellen und ihrer doppelsprachigeu Ueberlieferung ist an sich schon ein sehr verdächtiger Zeuge
für echten mnd. Sprachgebrauch (s. u.) ; die Gothaer Hs. zeigt obendrein mehrfach hd. Spuren. —
Aehnliche Scrupel betreffen die Wortwahl (vgl. S. 33. 42 ö.). Ich fasste, wo ich zweifelte, das als
hochdeutsch auf, was sich aus hochdeutschern Reimjiebrauch ableiten Hess.
2) Das Gerhard v. Minden um ein Jahrhundert zurückzudatiren sei , davon haben mich
Leitzmanns Gründe nicht überzeugt, trotz Seelmanns gewichtiger Zustimmung (Nd. Correspondbl.
1898 S. 47); ich sehe von ihm als einem dichter des 14. Jahrhunderts hier um so mehr ab, als
Seelmann eine Untersuchung seiner Sprache in Aussicht gestellt hat.
3) Edw. Schröder, dem diese Bogen im ersten Abzüge vorlagen, schreibt mir au den Rand:
„Also fällt die Entstehung der eigentlichen niederdeutschen Litteratur mit dem Emporkommen der
niederdeutschen Urkundensprache um 13*20 zeitlich zusammen, genau so wie gute zwei Menschen-
alter früher die mittelniederländische Litteratur mit der mittelniederländischeu Urkundeuspruche".
64 • GUSTAV ROETBE,
Wunder nehmen. Wie alt war sie denn im hochdeutschen Gebiet ? Auch da ent-
stand sie nicht vor der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Denn jener Trümmer-
haufen von Formeln, kleinen Reimen und Uebersetzungen, den wir „althochdeutsche
Litteratur" zu nennen pflegen und dessen Perlen zufällige , durch schreibfrohe
Hände erhaltne Reste der unlitterarischen Poesie sind, verdient jenen Namen
weder selbst, noch erlaubt er den Rückschluss auf die einstige Existenz einer
verlornen Litteratur. Es sind wol Ansätze vorhanden, der rühmlichste, aussicht-
und wirkungsreichste durch Otfrid gemacht; aber auch er ist im Grunde nur
ein deutsch dichtender Vertreter der lateinischen Poesie jener Tage, seine künst-
lerische Würdigung muss in erster Linie aus dem Gesichtspunct der lateinischen
Litteratur gewonnen werden1). Zu litterarischem Sonderleben der althochdeut-
schen Dichtung aber, zu grösserem Zusammenhange in ihr kommt es nicht: es
fehlt Gehalt, Publikum, Verkehr und in Folge dessen auch die lebendige Dauer.
Die lateinische Poesie dominirt litterarisch vor dem Ausgange des 11. Jahrhun-
derts in ganz Deutschland ebenso unbedingt , wie nun im 13. Jahrhundert die
hochdeutsche Dichtung das eigne litterarische Leben im Sachsenlande zunächst
erdrückt oder doch auf die Prosa einschränkt.
Man constatire nur ruhig die Tatsachen. Vor unsern Augen übernimmt
Mitteldeutschland, zumal Thüringen und Meissen, die litterarische Vermittler-
rolle. Die ganze ältere Gruppe der mittelniederdeutschen Dichter , Eilhard
ausgenommen , sitzt entweder auf mitteldeutschem Gebiet oder doch dicht an
der Grenze , die sich hier deutlich fruchtbar erweist (trotz Behaghel a. a. 0.
S. 8). Wernher von Elmendorf und Albrecht von Halberstadt werden erst in
der neuen Heimat productiv ; Heinrich von Morungen hat dienstliche Beziehun-
gen ins Meissnische herüber; noch die beiden Reppichauer und der Graf von An-
halt gehören nahe an die Grenzsphäre. Albrecht, er hat es ganz unbefangen aus-
gesprochen 2), denkt an ein hochdeutsches Publikum und empfindet es unbehaglich,
dass er geborner Sachse ist ; er fürchtet sich Blossen zu geben in der fremdar-
tigen Sprache und bittet im Voraus um Nachsicht. In der 2. Hälfte des Jahrhun-
derts ist das Selbstgefühl dann freilich grösser geworden: Raumsland entschuldigt
es nicht, sondern betont mit nachdrücklichem Stolz, dass er Sachse ist: um so
gewichtiger, dass auch er hochdeutsch dichtete; indem er den Uebermut des Schwa-
ben abwehrt, der der beste deutsche Sänger sein will, verrät er doch selbst, wo
sein Massstab litterarischer Leistung liegt : nicht in der Heimat , obgleich er
1) Seemüllers „Studien zu den Ursprüngen der altdeutschen Historiographie" dehnen diesen
von Schönbach u. A. mit RecLt vertretenen Gesichtspunct erfolgreich jetzt auch auf kleinere Er-
zeugnisse der althochdeutschen Dichtung aus.
2) Die künstliche Erklärung, durch die Paul das Zeugnis Albrechts (Gab es eine mittelhoch-
deutsche Schriftsprache S. 10 f.) zu entwerten sucht, will ich hier nicht erörtern. Nur das sei
bemerkt, dass rim mhd. nicht nur „Reim" sondern auch „Reimvers" bedeutet, dass also kein
Anlass vorliegt, bloss an die unreinen Reime zu denken, die entstehen sollen, wenn — das setzt
Pauls Albrecht als selbstverständlich voraus , ohne ein Wort davon zu sagen — hochdeutsche
Schreiber (und Leser) sein Niederdeutsch ins Hochdeutsche umsetzen werden.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 65
die Braunschwoiger Chronik gekannt haben mag: der Meissner und Konrad
von Würzburg fallen ihm zuerst ein, wenn er der besten Dichter denkt. In-
zwischen hatte sich das litterarische Produetionsgebiet in Sachsen ja erweitert:
aber doch: Gandersheim , Braunschweig . Hildesheim, Magdeburg, Goslar, der
Huy, es ist — von den fahrenden Sängern müssen wir natürlich absehen —
durchweg nur die nächste Zone: die grosse Masse des sächsischen Gebiete im Nor-
den und Westen ist noch ganz unbeteiligt: der Zusammenhang mit dem littera-
rischen Mutterlande wirkt eben noch fort. Eine selbständige Physiognomie fehlt
denn auch formell wie inhaltlich. Dass Wolfram für die Spätem der massgebende
Meister ist, stimmt wieder gut zu den thüringischen Anregungen/ Die Lyrik
und Epik unterscheidet sich nicht charakteristisch von der höfischen hochdeutschen
Art ; auch die Braunschweiger Reimchronik verleugnet den Einflnss des höfischen
Epos nicht, während Eberhard auch litterarisch abseits steht; der dem Norden
später so glücklich zufallende Ton humorvoller Didaktik erklingt nicht einmal
bei Raumsland, der bei realistischer Beobachtungskraft doch humorlos ist. Und
die lehrhaften Reimpaardichter werden schon dadurch gehemmt, dass sie lateinische,
meist geistliche Texte übersetzen oder paraphrasiren : samtnt und sonders küniren
sie es nicht lassen, ihr Latein bis in die deutschen Verse hineinzutragen: die
lateinischen Citate finden sich bei Wernher, Eberhard , Brun von Schönebeck,
noch bei Konemann in oder ausser der Reimzeile : Raumsland verstand zum
Glück kein Latein. Solche Sprachmischung erweist wieder die in sich unsichre
Form : die gute hochdeutsche Dichtung hatte solche archaische Geschmacklosigkeit
längst überwunden.
Der Nährboden, auf dem diese hochdeutsche Poesie des plattdeutschen Nor-
dens erwächst, ist zunächst der Hof; für ihn, für den geistlichen und weltlichen
Adel sind diese Dichtungen zunächst bestimmt; erst später folgt das Patriciat
der Städte. In adlicben Kreisen las man die berühmte und verbreitete höfische
Litteratur des Südens, las sie für sich und las sie vor: im Munde des nieder-
deutschen Lesers mag da manchmal ein seltsames Hochdeutsch zu Tage getreten
sein, wie es sich in den unmöglichen Schriftreimen z. B. der Braun Schweiger
Reimchronik uns widerspiegelt. Welch starken Anteil an diesem mittelnieder-
deutschen Hochdeutsch die rein litterarische Entlehnung hat, das bewährt schon
die verhältnismässig grosse Menge der hochdeutschen Worte, die recht eigentlich
durch den Lehn r e i m eingeführt worden sind. Nicht ganz lückenlos aber erklärt
sich so, rein litterarisch, der ausgesprochen mitteldeutsche Reimcharakter dieser Dich-
tung (mach '.sprach, vgl. Behaghel S. 38 ; klugen : suchen ; gut : tritt ; knt : si ; bischof'i loft
-schaf'.gaf u. s. w. ; vor Allem die 2. 3. Pers. Plur. auf -cn). Man wird ja die
Leetüre der sprachlich ähnlicheren mitteldeutschen Dichter bevorzugt, auch die
oberdeutschen Classiker oft in mitteldeutschen Handschriften gelesen haben; bei
der überragenden Bedeutung und Verbreitung der oberdeutschen Dichtung em-
pfiehlt es sich doch , hier noch einen andern Factor , wenn auch zweiten oder
dritten Ranges, den mündlichen Verkehr mit den mitteldeutschen Nachbarn, in
dre Rechnung einzustellen. Für die ältere Gruppe steht dieser Verkehr fest.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. Hist.-phil. Kl. N. F. Band 2, s. 9
66 GUSTAV EOETHE,
Gaben sie den Ausschlag? Oder waren mitteldeutsche Hofe und Burgen dem
Sachsen zeitweilig Schulen höfischer Bildung ? Galt es etwa gar hie und da
bei dem sächsischen Adel als elegant, ein wenig zu thüringern oder meissnern,
nicht nur im Verse , nicht nur mit der Feder , sondern auch in der höfischen
Conversation? —
Jedesfalls : im 13. Jahrhundert lediglich hochdeutsche Dichtung auf niederdeut-
schem Boden.
Individuellen Zügen der Selbständigkeit hab ich hier nicht nachzugehen.
Der Trieb zur Befreiung von der übernommnen hochdeutschen Sprachform
ist aber doch nicht nur individuell. Und er war des Sieges um so sichrer, als auch
er ein Trägheitsmoment zum Bundesgenossen hatte. Es war nicht bewusste
Emancipation, wenn man zuerst die, lässig gehandhabt, sehr viel bequemeren
niederdeutschen Reime unter die hochdeutschen zuliess , wenn man dem littera-
risch geprägten Wortschatz dann auch aus der eignen Sprache dies und das bei-
mischte. Nicht bewusst; aber diese Duldsamkeit trug den Keim zur Steigerung
in sich. Ist die älteste Grenzgruppe spröde, so nimmt diese Sprödigkeit sicht-
lich, fast chronologisch ab : die niederdeutschen Reime und , etwas langsamer,
die niederdeutschen Worte schwellen immer mehr an : Eberhard ist autfallend
weit darin für seine Zeit, Berthold und Raumsland sind zurück für die ihre ; im
Uebrigen stimmt die Stufenleiter ganz gut: der Braunschweigische Reimchronist,
dann Konemann und Wizlaw zeigen den Umschlag ins rein Niederdeutsche durchaus
vorbereitet, obgleich wenigstens den ersten beiden der revolutionäre Gedanke sicher
fern gelegen hat. Wizlaw vielleicht nicht so ganz : er ist deutlicher berührt von
der parallelen Erscheinung in Mittel- und Süddeutschland, dem Aufsteigen der Mund-
arten namentlich mit ihrem Wortschatz in die Schriftsprache hinein. Die hoch-
deutsche Litteratursprache musste auch im Norden ihre Macht verlieren, als sie
aufhörte , sich ihre aristokratische Abgeschlossenheit zu wahren , als ihre impo-
nirende Vornehmheit aus der Rede des Tages heraus vulgarisirt wurde. In dem
Masse, wie es mit der mittelhochdeutschen Kunstsprache auf ihrem eignen Boden
zurückgeht , erstarkt auch die sprachliche Selbständigkeit der sächsischen Dich-
tung. Nicht dass es da je zu einem scharfen, durch eine bestimmte litterarische
Tat bezeichneten Abschnitt gekommen wäre. Die Grenzen verfliessen : es gibt
hochdeutsche Dichter plattdeutscher Mundart noch durchs ganze 14. Jahrhundert
und weiter: ich brauche nur an Eberhard von Zersen zu erinnern. Aber das ruhige
Zunehmen der niederdeutschen Reime und Worte führte bald an den Punct, wo
das hochdeutsche Gewand im Ganzen als überflüssig und lästig fällen konnte.
Nun aber ereignet sich ein Seltsames , das sich grade durch den Mangel jedes
schroffen Absatzes erklärt. Im 12. Und 13. Jahrhundert hat man hochdeutsch
dichten wollen , so gut oder übel es auslallen mochte ; im 14. und 15. Jahrhun-
dert will man im Ganzen niederdeutsch sein, aber die Periode der hochdeutschen
Dichtungen wirkt nach: schlichen sich früher unwillkürlich die niederdeutschen,
so drängen sich jetzt ebenso unwillkürlich die hochdeutschen Elemente in die
Dichtung ein. Ganz ist die mittelniederdeutsche Litteratur die Reste ihrer ar-
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 67
chaischen hochdeutschen Periode in Reimkunst und Wortschatz niemals los ge-
worden : und grade diese Reste legen Zeugnis dafür ab, welche teste Herrschaft
die hochdeutsche Dichtung gewiss mehr als ein Jahrhundert auf sächsischem Bo-
den ausgeübt hat. Auch die weitere Betrachtung der litterarischen Entwicklung
Niederdeutschlands wird die dauernden Einliüsse der ihren Anfang völlig leiten-
den hochdeutschen Poesie stets zu einem wichtigsten Gesichtspunkt nehmen müssen :
jene Einflüsse schleppen sich bei den conservativen Sachsen, unter manchen Rück-
fällen schwächer und schwächer werdend, doch fort, bis eine neue Hochflut hochdeut-
scher Cnltur im 16. Jahrhundert dem Sonderleben einer niederdeutschen Litteratur
überhaupt ein Ende macht. Es wiederholte sich da im Grunde nur ein schon
Dagewesenes : jetzt aber erwies sich die Kraft der hochdeutschen Schriftsprache,
Dank dem Druck, als dauerhafter, und sie verlor das niederdeutsche Terrain
nicht wieder, weil sie sich selbst nicht verlor, wie ihrer Vorläuferiu das einst
im Gange des 14. und 15. Jahrhunderts geschehen war. —
IV.
Ich kehre zu meinem Ausgangspuncte zurück. Die lange Abschweifung wird
uns jetzt doch bestimmter sprechen lassen. Eikes Praefatio fügt sich nach Zeit
und Ort gut in die Reihe. Freilich sind die Symptome der sprachlichen Mi-
schung hier noch gedämpfter als sonst ; zumal der Wortschatz bietet nirgend
eine grellere diabetische Färbung. Aber vorhanden sind auch hier geringe nie-
derdeutsche Züge neben etwas reicheren hochdeutschen. Die leisen Winke der
Ueberlieferung kommen hinzu. So spricht grade aus der sprachgeschichtlichen
Gesamtbetrachtung heraus eine hohe Wahrscheinlichkeit für mitteldeutsche Ab-
fassung der Reime.
Nur eins bleibt unbehaglich. Wie seltsam! Mitteldeutsche Vorrede
zu niederdeutschem Werk? Welch Widerspruch in sich! Die Hand-
schriften des Sachsenspiegels, mit Ausnahme von £n, zeigen einen solchen Ge-
gensatz denn auch nicht (vgl. oben S. 28). Eine niederdeutsche Handschriften-
Gruppe des 15. Jahrhunderts, die dem Landrecht einen poetischen . Epilog
hinzufügt (Hom. I S. 379. 53) , hat diesen in der Sprache des Uebrigen , also
niederdeutsch , gehalten : sollten wir das vom Autor nicht erst recht er-
warten ? Jener Gegensatz von Reim und Text ist doch nicht ganz undenkbar:
waren poetische und hochdeutsche Form unlöslich verbunden , so könnte man in
der sprachlichen Verschiedenheit die grade Folge des formalen Unterschiedes
von Poesie und Prosa sehen1). Und das um so mehr, als der Zwilliugsbruder
1) Unter diesem Gesichtspunkt sieht Walther (Nd. Correspbl. 19, 38) die schon oben (S. 34)
erwähnte Tatsache an , dass der niederdeutschen Bremer Handschrift der Weltchronik eine hoch-
deutsche Widmung vorangeschickt wurde. Aber diese Dedication hat einen andern Autor : das
Merkwürdige läge in dem verschiedenen Verhalten desselben Autors bei demselben Werk.
9* e
68 GUSTAV HO ET HE,
des Sachsenspiegels, als die sächsische Weltchronik, einen ähnlichen Zwie-
spalt aufweist : auch dieses niederdeutsche Prosawerk hat eine poetische Vor-
rede, die dem dringenden Verdacht hochdeutscher Sprache unterliegt (FrensdorfT,
Hans, Geschichtsbll. 1876 S. 113; Behaghel a. a. 0. 36). Ihre hochdeutschen
Keimformen hat (9. 24), hds (30), stät (79. 90 neben steit 68), IU (39), sol (: wol 83
neben sal 20), da (: stä 53) haben, an sich schon unverkennbar, obendrein nichts
ausgeprägt Niederdeutsches neben sich ^auch van 69 kann mitteldeutsch sein).
Und Behaghel legt mit riecht Gewicht darauf, dass drei der niederdeutschen
Handschriften des Werkes grade in der rleimvorrede viele hochdeutsche Spuren
zeigen: in der Gothaer Handschrift ist sie nahezu so hochdeutsch geschrieben,
wie die Reimvorrede der Sachsenspiegelhandschrift En. Aber freilich, grade diese
Handschrift zeigt .auch sonst vereinzeltes Hochdeutsche, und die Bremer Hand-
schrift 16 , mit der die Berliner 17 anscheinend nur als eine Quelle gelten
darf, hat ein z grade nur in den Reimworten zit . zorn , so dass auch hier
Möglichkeiten sich aufdrängen, wie ich sie oben S. 28 für die ganz gleichartigen
Erscheinungen der Eikeschen Praefatio erwägen musste. Immerhin , die Wahr-
scheinlichkeit spricht für die hochdeutsche Abfassung. Es ist weiter angezwei-
felt worden, ob die Vorrede überhaupt vom Verfasser der Weltchronik herrühre:
ihre blasse Inhaltlosigkeit Hesse einen Zweiten als Autor wol zu ; Weiland, dem
z. B. Wattenbach beistimmte, fasste sie als ein Begleitwort Eikes auf; die Ver-
schiedenheit der Verfasser würde für uns die verschiedne Sprache von Leitreim
und Text gut erklären. An Eikes Autorschaft glaub ich nun freilich nicht,
schon Gründe der Vers- und Reimtechnik sprechen dagegen *), und die Anklänge,
die Weiland S. 56 sammelt, würden, wenn sie überhaupt etwas beweisen 2), zu
der Annahme zwingen , dass der Vorredner der Weltchronik schon die Doppel-
vurrede des Spiegels gekannt hätte 3). Das ist an sich wol möglich : bildet der
1) Der Prolog der Weltchronik zeigt bei dem gleichen frei fallenden ^Grundcharacter der
Verse doch unverkennbar jüngere Technik: die Tactfüllung ist gleichmässiger, die Senkung fehlt
seltner und meist im Innern der Worte; es fehlen die geschwellten Verse, auch die allzukurzen;
die klingenden Reime bilden kaum ein Drittel der Gesamtzahl. Dazu das wiederholte Reimwort
seil und stät , beide in doppeltem Gebrauch , das in Eikes Reimen vermiedene daz : baz, die Beto-
nung Urkunde 96. Auch das niederdeutsche Wort vcKch 38 hat Eike sonst nicht. Zu wenig,
um eine überlieferte Identität des Autors anzuzweifeln, aber genug, um zu der vermuteten ein
dickes Fragezeichen zu setzen. Freilich wurd ich Eikes gesunder Weltkunde auch sonst diesen
in frommer Betrachtung sich erschöpfenden Prolog nur ungerne zutrauen : Eike hätte bei diesem
Anlass wol Besseres zu sagen gewusst.
2) Der Reim algemeine: got der reine Weltchronik V. 1. 2, Sachsenspiegel V. G. 8; unde
iegelichen man sines rehten gudes gan Weltchronik 11 f. ist ähnlicher Sachsenspiegel 20 iegeiceme
ich rechtes gutes gan als Sachsenspiegel 111. Dazu kommt noch der Zusammenklang von Welt-
chronik 77 f. und Sachsenspiegel 97 f. , der aber die bei Eike schlechter bezeugte Lesart vollen-
bracht voraussetzt. Man bezog früher Weltchronik 88 logene sal uns icesen leii, daz ist des von
liepegouice' rät auf die Sachsenspiegel 88 gescholtene lügenlich achterspräche, nicht grade ein-
leuchtend.
3) Die andere Möglichkeit, dass der Verfasser der 1. Praefatio die Reime der Weltchronik
DIE REIMVOREEDEN DES 8A.CHSEN8PDZQ] 69
Prolog der Weltchronik doch erst in ihrer jüngsten E&ecension C einen regel-
mässigen Bestandteil. Aber Eike wäre damit als Dichter der Weltchronikreime
ausgeschlossen. Wie dem nun sei, dass der Chronist den Spiegel gekannt hat,
ist sicher; dass der Vorreimer mit seinem Hinweis auf des van Repegouwe rät
Eike citiren oder gar als Dichter der Verse fingiren wollte, liegt wenigstens nahe :
ich glaube an den merkwürdigen Zufall nicht recht, dass grade die beiden ein-
zigen niederdeutschen Prosaiker des 13. Jahrhunderts , beide in ihrer Art epo-
chemachend , demselben Geschlecht angehört haben sollten. Unter allen Um-
ständen besteht eine Beziehung, ein Zusammenhang. Damit aber wird aus dem
doppelten seltsamen Phänomen der mitteldeutschen Vorrede zu niederdeutschem
Werk ein einfaches: das zweite kann das nachgeahmte erste höchstens bestä-
tigen, nicht erklären. Wenn eine Erklärung möglich und nötig ist — and ich
halte sie für nötig — , so kann sie nur der Sachsenspiegel selbst uns geben.
Sachsenspiegel und Weltchronik bilden ein völlig isolirtes Litterarisches Paar.
Was sonst das 13. Jahrhundert an niederdeutscher Prosa hervorgebracht
hat1), vielleicht (?) die abseits entstandnen. örtlicher Heiligenverehrung dienen-
den kunstlosen Freckenhorster Legenden . sicher eine ganze Reihe von Stadt-
rechten (Hamburg, Lübeck, Braunschweig, etwa noch Hildesheim), das ist Alles
locale Arbeit, zunächst nur für den Bedarf des Orts, ohne jeden litterarischen
Anspruch und also niederdeutsch , wie man bald Urkunden lernte. Merkwürdig
genug, dass doch eine niederdeutsche Stadt und zwar grade die Eikes* Sphäre
zunächst gelegene, die zudem anscheinend zuerst ihr Recht deutsch nieder-
schrieb und den Sachsenspiegel oft und stark benutzt , dass grade Magdeburg,
so viel wir wissen , für seine systematischen Rechtsaufzeichnungen von je die
mitteldeutsche Gestalt bevorzugt hat2): hat man dabei wirklich nur an die Wir-
kung in die Ferne gedacht? und zwar an die hochdeutsch redende Ferne? Oder
war die Wahl der mitteldeutschen Sprache auch in diesem Falle der Ausdruck
einer gewissen Würde? Jedesfalls darf man diese ganze Production den beiden
grossen Prosawerken in keiner Hinsicht vergleichen. Eikes Verse, wie eventuell
die der Chronik, erweisen, dass sich die Autoren mit dem Bewusstsein einer lit-
terarischen Leistung an ein grosses Publikum wenden: Eike weiss, welch einen
Sehritt er tut. Für die Verse hatte er hochdeutsche Vorbilder; für die sprach-
liche Gestaltung des Rechtsbuches nicht. Der Einfluss einer litterarischeu hoch-
deutschen Tradition kann ihn nicht bestimmt haben. Aber auch die Tradition
der mündlichen niederdeutschen Rechtssprache bedeutete ihm keine innere Nöti-
gung: hatte sie. ihn doch nicht verhindert, zunächst lateinisch zu schreiben.
Eike war frei: a priori war es ebenso wol möglich, dass er sich der litterarisch
gekannt haben sollte, ist minder wahrscheinlich, da ciue Beziehung der Chronik, auch wo] dei
Vorrede, zu Eike doch besteht.
1) Von Augenblicksproductionen wie Urkunden, Protokollen und ähnlichem seh ich natürlich ah
2) Nur das winzige Recht der Dienstmauuen des Gotteshauses zu Magdeburg (Gaupp, Das alte
Magdeburger Recht S. 353) ist niederdeutsch geschrieben.
8
70 GUSTAV ROET HE,
üblichen hochdeutschen Rede auch für die Prosa bediente, wie dass er das jung-
fräuliche Gebiet mit den ungenützten Waffen der heimischen Rede eroberte.
Fällt die mitteldeutsche Sprachform der Vorrede für jene Annahme ins Gewicht,
so steht der consensus doctorum bekanntlich für diese ein. Dass der Welt-
chronist ,' nachdem Eike einmal voran gegangen , dessen Wege gleichfalls einge-
schlagen habe, ist möglich, vielleicht wahrscheinlich. Sprachliche Rückschlüsse
von der Chronik auf den Spiegel möcht ich trotzdem nicht empfehlen : ein tie-
ferer Unterschied in der Wortwahl wenigstens scheint mir fühlbar , und oben-
drein: die beiden Denkmäler sind sich leider auch darin ähnlich, dass sie die
sprachlich zwiespältige Ueberlieferung mit einander teilen, die ein jedes begrün-
dete Urteil über den Wortlaut des Originals so sehr erschwert.
Ein entscheidendes Wort über die Sprache der Eikeschen Reimvorrede setzt
voraus, dass, wer es wagt, sich auch über die Sprache des Spiegels selbst eine
Ansicht erworben hat. Ich will mit meiner Meinung nicht zurückhalten.
Homeyers Ueberzeugung, dass der Sachsenspiegel in niederdeutscher Sprache
abgefasst war, ruhte auf 3 Säulen: Verfasser, Gesamtcharakter der Ueberlie-
ferung, einzelne Lesarten. Ich fürchte, alle drei haben Sprünge bekommen.
Gewis, Eike von Repkow war auf niederdeutschem Boden ge-
boren; sein Handgemahl und sein Scböffenstuhl stand in einer niederdeutschen
Grafschaft; er war gewohnt, in niederdeutscher Sprache das Recht zu finden.
Aber der treffliche Rechtskenner war über die Grenzen seines Gaus tätig: wir
wissen jetzt, dass er auch Rechtsgeschäften beigewohnt hat, die in andern Graf-
schaften sich abspielten : er ist 1218 in Grimma, 12*24 in Delitzsch, wahrschein-
lich im Landding tätig, bezeugt (v. Posern-Klett, Beitr. z. Gesch. d. Verf. Meis-
sens S. 29 f.; Winter, Forschungen z. d. Gesch. 14, 307 ff.). Also auf hoch-
deutschem Boden , im meissni sehen Osterlande : und das schon , bevor er den
Sachsenspiegel schrieb. Er hat sein Rechtsbuch, darüber lässt die Reimvorrede
keinen Zweifel, ausdrücklich und ausschliesslich für Sachsen bestimmt: er weiss
sehr wohl, dass anderswo andres Recht zu Rechte besteht. Aber was versteht
er unter Sachsen als rechtlichem Bezirk ? Von der Vorrede über der sächsischen
Herren Geburt, die in der ältesten Recension ganz fehlt, will ich absehen : aber
Landr. III 62 erscheinen als vanUn innir lande to Sassen neben einander die
lantgrafscap tö Dornigen, die marke tö Misene , die marke tö Lusitz, gleich drauf
als sächsische Bistümer auch Naumburg und Meissen ; unter den 4 sächsischen
Königspfalzen sind Wallhausen und Allstedt; im Lehnrecht 4 § 1 werden für
die Männer in österhalf der Säle ( Var. in Osterlant ) besondre Bestimmungen
gemacht ; Eike hat diese hochdeutsch sprechenden Gegenden , in denen er auch
persönlich gewirkt hat , in vollem. Masse mit berücksichtigt , wenn er für
die Sachsen schreibt. Hat er bei der Wahl seiner Sprache an dies grosse
Publikum gedacht — und wie sollte er anders ? — , so lag es gewis näher,
den Niedersachsen das litterarisch geläufige Hochdeutsch zuzumuten , als den
Thüringern und Meissnern die fremde plattdeutsche Mundart. Ich will nicht
mit solchen Erwägungen operiren : jedesfalls sind die Schlüsse höchst an-
8
DIE REIMVORREDEX DES 8ACHSKNSPIEQELS. 71
fechtbar, die Homeyer aus Eikes Wirkungskreis und Herkunft sieht. Data für
Eike, wenn er Schriftstellern sollte, die litterarisch ganz anausgebildete nieder-
deutsche Sprachform an sich näher gelegen hätte, muss ich unbedingt bestreiten.
Wählte er sie für sein Rechtsbuch, nun, so musste er statt eines schöpferischen
Schrittes zwei vollziehen. Ich bilde mir nicht ein, dem Schaffen des bedeutenden
Mannes so nachrechnen zu können. Der schaffende Geist geht seinen eignen Weg.
Man soll nur nicht behaupten, dass a priori ein Wahrscheinlichkeitsgrund für
die niederdeutsche Form spräche. Eike stand eben nicht abseits vom litterari-
schen Leben wie etwa der Freckenhorster Legendenmann.
Nun Nr. 2. „In derjenigen Ordnung der Handschriften, welche die
älteste Entwicklungsstufe des Sachsenspiegels darstellt", überwiegt die Zahl
der niederdeutschen Texte durchaus. Die Tatsache ist richtig. Gruppe A hat
nur 2 mitteldeutsche Glieder (ausserdem ein oberdeutsches , über das ich nicht
näher orientirt bin), und von diesen geht die alte Quedlinburger Handschrift (Aq)
unzweifelhaft auf eine niederdeutsche Vorlage zurück; Ai, die Mainzer, ist lei-
der zu Grunde gegangen. Trotzdem ist Homeyers Schluss unzulässig. Alter
der Recension und sprachliche, textliche Verlässlichkeit ist keineswegs identisch.
Mit demselben Grunde miisst ich schliessen, die sächsische Weltchronik sei mit-
teldeutsch oder gar oberdeutsch abgefasst: denn von den 13 Handschriften der
kürzesten und nach Weiland ältesten Gestalt sind 10 bairisch, 2 mitteldeutsch,
1 kölnisch. Weiland hat sieh aber wohl gehütet, jenen Schluss Homeyers v.w
ziehen. Wenn der Deutschenspiegel nach einer niederdeutschen Handschrift ge-
arbeitet ist J), so ergibt das zwar, dass in den sechsziger Jahren etwa, also min-
1) Von den Irrtümern, aas denen Ficker WSB. 23, 195 f. 215 die niederdeutsche Vorlage
des Deutscbenspiegels erschliesst, ist im Grunde nur Dsp. 162 emeeiz von Gewicht, das aus nd.
hevet (Ssp. II 50) misverstanden scheint. Die übrigen Momente seines Beweises sind schwach :
füret Dsp. 149 kann das folgende Verbum vurt vorweg genommen haben und braucht nicht grade
aus nd. vret (Ssp. II 39, 2) entstellt zu sein; das berühmte dike Dsp. 136 wäre auch aus einem
md. diche zu begreifen. Und man leiten Dsp. Lehnr. 152 führt eher auf hd. manliehen (oder mit
andern Hss. maniechen) als auf nd. manlike. Aber Ficker hat trotzdem Recht. Schon in der
ersten, frei umgestaltenden Partie des Deutschenspiegels deutet sich mir Dsp. 40 die Doppellesung
man .... tünt oder ziehent nur aus einem tiet (Vu'g. sculdeget) der Vorlage und aus der Neigung,
nd. -et in -ent umzusetzen (Dsp. 290 sagent man). Dsp. 113 ist mit aus nd. mut (hd. muoz ; Ssp.
II 15, 1) grell misverstanden. Und diese Misverständnisse hänfen sich weitprhin im Landrecht, wo
der Deutschenspiegel uur eine Sachsenspiegelhs. bildet: Dsp. 138 ßuz (Ssp. II 28, 3 vlut d. i. ■
vliuzet), 165 mite (Ssp. II 54, 6 mute d. i. müeze), 203. 337. 346 tun (III 5, 2. 78, 2. 79, 3 tö d. i.
zu), 270 suchte (III 38, 4 slite d. i. sitze), setzet ez (sette't), 283 pote (III 45, 1 butt d. i. büzc),
305 wendet (III 58, 2 wend it d. i. ez), 315 heten (III 62, 1 = heizen, schon ron Homeyer, Ab-
handlungen d. Berl. Akad. 1859 S 109 bemerkt), 348 lande sit (III 80, 2 landsäen), 849 und
(III 81, 1 üt) u. m. ; falsche Umsetzung in z 332 {aller zeit) ; falsche Auffassung des nd. -et 235.
247. 319. 340 (Lehnr. 1. 3) u.ö.; 276 von (aus neu Ssp. III 41, 1), 347 wem (aus van III 80 1) ;
(Lehnr. 1 die herscilt, d. i. der h. ;) den man als Nom (aus en man'? oder nd. f. der V) Dsp. K>5.
169 u. m.; auch d (hd. t), gerückte, echt stand in der Vorlage. Dem gegenüber sind die Spuren
md. Lautstandes ganz zweifelhaft: im Landrecht stiess mir auf richten , gtrichU Dsp 1 280 (f.
riten, gerete), schepfrechteu 146 (f. schifrichc), richtes 187. 229 (f. riches) , was sich Alles leichter
8
72 " GUSTAV ROETHE,
destens 30 Jahre nach dem Entstehen des Werkes, schon niederdeutsche Aus-
gaben des Sachsenspiegels existirt haben müssen, weiter aber auch nichts. Zäh-
lungen, wie die Homeyers I S. 48, wonach unter den Pergamenthandschriften die
niederdeutschen , unter den Papierhandschriften die mitteldeutschen ein (nicht
sehr starkes) Uebergewicht zeigen, sind lehrreich für die Verbreitungsgeschichte
des Buches; für die Frage der Originalfassung sagen sie gar nichts aus. Nicht
stichhaltiger war es freilich, wenn ich aus dem Umstand, dass die ältesten
datirten Handschriften mitteldeutsch sind (Frensdorff, Hans. Geschichtsbll. 1876,
S. 110) , irgend etwas für mitteldeutsche Abfassung folgern wollte. Das Werk
hat alsbald eingeschlagen , hat sofort eine Reproductionstätigkeit hervorgerufen,
die in wenigen Decennien das originale Bild bunt verkehrt haben wird. Grade
die sprachliche Geschichte der Sachsenspiegelhandschriften ist keineswegs so ein-
fach , dass man ohne Weiteres hochdeutsche Handschriften für hochdeutsches
Original, niederdeutsche Manusoripte für niederdeutsche Abfassung ins Feld füh-
ren dürfte. Die Handschriften selbst verraten oft ein gut Stück Geschichte,
das vor solchem plumpen Argument warnen sollte.
Homeyer ist es nicht entgangen , dass gerade der sehr alte und hochge-
schätzte Quedlinburger Codex (Aq), obgleich hochdeutsch, doch viel mehr
der Zeuge einer älteren niederdeutschen Handschrift sei. Er be-
gründet das hauptsächlich (S. 17 Anm.) durch Fälle, in deneu der hochdeutsche
Schreiber das niederdeutsche Plural-^ für einen Singular angesehen hat. Das
ist nun allerdings bei vorsichtiger Anwendung — zuweilen kann bei solcher
Differenz eine syntaktisch verschiedne Auffassung zu Grunde liegen (vgl. II 13,
5. G. 56. 1), zuweilen kann das Misverständnis auch auf der niederdeutschen Seite
sein — ein wertvolles Kennzeichen niederdeutscher Vorlage , wenn es auch
schwerlich auf die Fassung des Originals zurückweist : sprach Eike doch wahr-
scheinlich -cn. Aber man braucht auch sonst nur in Göschens Abdruck zu bli-
cken , um sich zu überzeugen , wie durchsichtig die hochdeutsche Hülle ist,
nicht mehr als eine inconsequente Lautumsetzung, die gedankenlos gemacht vor
Unformen wie tarn (nd. darn) oder gar sumeie (Vorlage turneie) II 71 § 2 nicht
zurückschreckt. Und dass die verlorne Mainzer Handschrift Ai an dieser Stelle
gleichfalls znrneie las, verdächtigt sie mit, wie denn Ai auch sonst niederdeutsche
Formen durchblicken lässt (vgl. Var. zum Sachsenspiegel I (i N. 3). — Die
andre gedruckte mitteldeutsche Handschrift, der Leipziger Codex El, weist nicht
minder auf niederdeutschen Ursprung zurück : von anderm abgesehen heb ich
nur Sachsenspiegel I '22 § 3 alle Itonbete spise hervor, misverstanden aus nd. ho-
vede d. i. gehovete, und namentlich II 58 § 2, wo nach der Handschrift der zehnde
über die Saat geht, nd. de tcr/ede , was aus egede vEggeu um so eher werden
aus den hochdeutschen Formen erklärt; ein hd. der schimmert vielleicht 118 (der sunder g etat,
Ssp. II 17, 2 die sone dir dat), 253 {iener dar, Ssp. III 32, 9 iene die) durch; das so verschwindend
und unsicher , dass ich auf irgend welche hd. Elemente in der Vorlage des Deutschenspiegeh
nicht zuruckzuschliessen wage.
8
DIE REIM VORREDEN DES SACHSENSPIEGKI.S. 73
konnte, als rings herum vom Zehnten die Rede ist. — Wenn die mitteldeutsche
Berliner Handschrift Dct III 45 , 7 die Lassen des Sachsenspiegels laiin , 44 . 3
gar latinen und I 6, 2 lute nennt, so hat sie in der Vorlage sicher lutcn gefun-
den und nicht begriffen. Das wird bestätigt durch Singulare wie schrikei I 3, 3
(auch die mitteldeutschen Handschriften Bht lesen hier -et) oder gibt 111 45, 10,
wo der Plural zu erwarten wäre , vielleicht auch dureh Hyperhochdeutsches
wie entzwer „entweder" 1 63 , 1 oder thumhantschun I 63, 4, das freilich auch
sonst nicht unerhört ist, wie ich denn enezwider auch in der mitteldeutschen
Breslauer Handschrift Bv finde. Dass auch diese irgend einen niederdeutschen
Ahnen gehabt hat, darauf könnte es deuten, wenn z. B. I 2, 4. 111 91, 1 f\
f. ;.rügen", nd. wrögen , I 19 , 2 entweicht f. nd. entweiet (hd. enzweiet), 1 24, 3
aken (mhd. lachen) steht; dass auch diese Handschrift oder eine ihrer Quellen
sich gewöhnt hat, aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche umzusetzen, darauf
weisen Versehen wie füren „führen" I 3, 2 st. fort (Adv.), weist eine unsichere
Doppelangabe wie tut adir czeivhit II 4 , 2. Diese Stichproben ') mögen hier ge-
nügen : auch der Deutschenspiegel gehört hierher; Homeyers Varianten aus
hochdeutschen Handschriften enthalten noch dies und das, was man auf nieder-
deutsche Spuren zurückführen könnte-). Der Vorsprung des Niederdeutscheu
scheint unverkennbar.
Nun aber die Gegenprobe. Sind die niederdeutschen Handschriften
von hochdeutschen Spuren frei? Keineswegs. Freilich die besonders
überzeugenden Misverständnisse darf man hier nicht leicht erwarten : der man-
nigfaltigere Lautstand des Hochdeutschen, die reicher differenzirte Orthographie
hinderte die groben Irrtümer: ausserdem waren die niederdeutschen Abschreiber
des Hochdeutschen begreiflicherweise kundiger als umgekehrt. Dafür dürfen
hier erhaltene Reste des hochdeutschen Lautstandes eintreten. Die hochdeut-
schen Züge der berühmten Oldenburger Bilderhandsehriit hat schon Lübben
S. 7 seiner Ausgabe bemerkt; sie sind um so beachtenswerter, als grade diese
Handschrift den niederdeutschen Lautstand viel exclusiver darstellt als etwa
En; hinzufügen möcht ich noch niflele I 20, 7, das häufige verre und keghen
„gegen", das neben o für hochdeutsch uo nicht ganz seltene u, die wiederholten
over, in, an f. boven, binnen ; von synonymischen Momenten (z.B. utenen 11 62 § 1,
irarnen II 66 § 2 u. ä.) nicht zu sprechen. — Aus der niederdeutschen Heidel-
1) Ich bemerke gleich hier, dass es mir gar nicht einfällt, aus solchen Einzelheiten, die aus
irgend einer niederdeutschen Handschrift hereingeweht sind, für alle diese Handschriften wirklich
eine niederdeutsche Vorlage zu erschliessen. Für Bv und De seh ich dazu keinen ernstlichen Grund,
für El ist mindestens eine niederdeutsche Mitquelle wahrscheinlich, für Aq die niederdeutsche Vor-
lage wol sicher; s. u. S. 74 f.
2) So Hesse sich I 3 N. 40 das erkennet in Ucotu gegenüber der Vulg. nd. nkont, hd. /. -
dienet aus nd. relcenet bequem herleiten: allerdings kann das inhaltlich mögliche ßffcei
nymische Variante sein. Sicherer entstand aus rekenen (schwerlich aus rcduncn) das irkcnneu der
Celler Lehnrechtshs. Vx 26 § 1 N. 13. — geteiling in Hg II 31, 1 soll vielleicht gedi
grijffrt in Bh III 90, 1 das begrevet der Vorlage verhochdeutschen.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. Wies, zu Göttingen. PhiL-hist. Kl. N. F. Band 2, s. 1(J
74 GUSTAV ROETHE,
berger Handschrift Eb hab ich mir gelegentlich, ohne zu suchen, nach Sachses
Abdruck notirt dritte I 3, 1, urveide I 7, 3, getript (f. gedrept) I 22, 1 , alter I
42, 1, mortbrenner II 13, 4 ; auch das antlüte des Prologs setzt ein hochdeutsch
geschriebenes antlütze voraus, und das sonderbare ivetle, ivetlen I 52, 1 sieht aus
wie der hyperplatte Misverstand eines mitteldeutschen wezle , wezlen. — Die
Bremer Handschrift Aw , von dem niederdeutschen Schreiber Hinric Bese v.
Rostock geschrieben , hat ausser auslautendem ch f. nd. Je auch inlautendes,
hat daz (nur in der Reimvorrede), ist, her (f. he), der (f. de), tivinghen, ghetan, irwer-
ben, ober (f. über, nd. over), ob, umbe, durch, heilighen, verre, recht oft vater, muter,
auch sonst ü {buch, müt u. ö.) ein paarmal, gutes, mitlesten, ferner ouc (f. hd. ouch),
vereinzelt iegheliker, jener, dirre, die Pluralendung -ent 1). Aw teilt mit andern
niederdeutschen Handschriften Fehler wie hebben f. erheven II 26, 4 und richte f.
riJce I 18, 3, die sich am besten aus voranliegendem hd. erheben und riche erklä-
ren ; auch dass Aw loten ähnlich entstellt wie 1)6, könnte auf eine hochdeutsche
Vorstufe deuten. — Wenn Cz und andre niederdeutsche Handschriften II 27, 2
qenennen f. nd. geneden schreiben, wenn niederdeutsche Handschriften anderswo
(z. B. II 22, 3) tut „zieht" statt nd. döt zeigen, wenn niederdeutsche Hand-
schriften II 62, 1 ut theen für üteren, III 42. 4 rechte, gerechte f. gerede lesen, so
erklärt sich das alles aus den misverstandnen hochdeutschen Formen genenden,
tut, üzenen, (ge)rete-, und der alte niederdeutsche Druck, der II 41, 1 aus dem
crüze ein strankelken criides machte , liefert einen Beleg für hyperplattdeutsches
Zurückschrauben eines für hochdeutsch gehaltnen Wortes. Das hd. swie, swe
„wie" statt nd. wo, ivü finde ich z. B. in En III 9, 2, in Cz Praef. 113. Es
würde keine Mühe kosten, derartige Dinge zu mehren.
Mir geht aus diesen schnell herausgegriffenen Kleinigkeiten nur eben das
hervor, dass in der Ueberlieferung des Sachsenspiegels sich hoch- und nieder-
deutsche Texte aufs Bunteste gemischt, beeinflusst, abgelöst haben: der Stamm-
baum so mancher Handschriften wird sowol hochdeutsche wie niederdeutsche
Vorfahren zählen: sehr oft haben sicherlich vereinzelte Züge einer niederdeut-
schen Ueberlieferung sich in eine im Grunde hochdeutsche eingemischt und umge-
kehrt: wir kennen diese seltsamen Mischungen der Lesarten ja auch sonst zur
Genüge, und der starke praktische Bedarf hat hier besonders complicirte Ver-
hältnisse geschaffen. Ein Argument für hochdeutsche oder niederdeutsche Fas-
sung des Originals ist unter diesen Umständen aus dem sprachlichen Haupt-
charakter der Handschriften nicht zu gewinnen : wie spät sind unsere datir-
baren Codices in der Gesamtgeschichte des Textes! Wenn wirklich die nie-
derdeutschen Handschriften in der Textgeschichte eine etwas grössere Rolle
zu spielen scheinen, so erklärt sich da,s einfach daher, dass auf niederdeutschem
1) Dass der Schreiber selbst nicht frei von hochdeutschen Schreiberneigungen war, zeigt
sein Schlussvers (abgedr. v. Lonke , Beitr. z. Brem. Gesch. S. 177). Aber diese Schreiberverse
wollen wol wieder hochdeutsch sein, wie Bese sich denn auch bei der ihnen vorhergehenden Ab-
schrift der goldnen Schmiede an die hochdeutsche Vorlage einigermassen zu halten sucht.
8
DIE REIMVORREDEN DBS SACHSENSPIEGELS. 75
Boden der Sachsenspiegel am stärksten benutzt wurde; jeder Rückschlags mit
das Original wäre vom Uebel.
Die geschilderten Verhältnisse gefährden auch Homeyers drittes Argument,
Er glaubt ein paar Mal die echte Losart nur auf der plattdeutschen
Seite und drüben Misverstand oder mechanisches Abschreiben za finden. So
einfach liegt aucli das nicht: aber tatsächlich hat Homeyer aui einige beweis-
kräftige Momente hingewiesen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass I 59,2 im Ori-
ginal dingslete „Gerichtsauflösung", das offenbar zu hd. slUen gehört, in dieser
niederdeutschen Form gestanden hat: auch die hochdeutschen Handschriften halten
das t durchweg fest, wenn sie das unverstandene Wort nicht einfach ersetzen:
nur eine einzige Handschrift (und das — eine niederdeutsche! wieder ein Beweis
der Kreuzungen) schreibt dingeslise, das meint hd. dingeslie1). Kaum zweifel-
hafter steht es im Lehnrecht 4,1: nach Walthers überzeugenden Ausführungen *)
(Nd. Jahrb. 18, 61 ff.) wird im Original scatrouiue („Lanzenruhe") oder allenfalls
scachtro ive gestanden haben: das hd. schaftrüwe zeigt nur eine hochdeutsche Hand-
schrift. Nun beachte man aber: beides sind termini technici, deren Bedeutung
kaum mehr lebendig empfunden wurde: dingeslete ist gepaart mit dem gleichfalls
grundarchaischen Unlust „Lärm": dass Eike diese und jene festgeprägten Aus-
drücke des ihm zunächst geläufigen niederdeutschen Rechtslebens, gleichsam in
Gänsefüßchen, benutzt hat, sagt für die Gesamtsprache nichts aus: sie zu ver-
meiden oder in hochdeutsche Laute umzuzwingen, wäre gesucht gewesen.
Es wird noch mehr derartige Symptome geben : das anscheinend viel misver-
standne Taten (Homeyers Angaben geben kein Bild ; vgl. S. 73. 74) könnte auf Eike
zurückweisen; auch Worte wie echt und geriiehte sind solche in niederdeutscher
Lautform fest gewordneu Termini, die uns nur darum nicht mehr auffallen, weil
sie sich auch hochdeutsch durchgesetzt haben. — Was Homeyer aber sonst
anführt, hält minder Stich, blöt geriiehte I 62, 3 ,, blosses Gerücht" würde nach
seinen Angaben nur in 3 hochdeutschen Handschriften richtig als „bloss" gefasst,
sonst zu „Blut" misverstanden sein, was auf die Grundform blot zurückführe.
Erstens ist Uöz doch viel häufiger: es steht auch in der Leipziger Sands hrift
Nr. 948 (Sachsenspiegel hsg. y, Hildebrand S. 32 Anm.), es steht ferner in der
Berliner Handschrift Dtf und endlich auch in Bv , freilich am Kande, während
im Texte blnt steht: wenn ich aus meiner ganz geringen Handschriftenkenntnis
gleich 3 Zeugen nachtragen kann (d. h. sämtliche von mir eingesehnen hochdeutschen
Handschriften ausser den sicher auf niederdeutsche Vorlage zurückgehnden Hand-
schriften Aq, El und dem Deutschenspiegel), so muss hier irgend etwa- bei
Homeyer nicht in Ordnung sein. Uebrigens darf auch die Variante von Em ein
schlecht als Zeugnis für blöz (nichtig) gefasst werden. Aber gesetzt Belbst, dass
1) Auch das dingslit von Aw dürfte unmittelbar auf ein voranliegendes dingsliz hindeuten.
2) Vgl. dazu jetzt auch Edw. Schröder, Zs. der Savignystiftuug 19, 144, der ;ms einem Lehn-
rechtsfragment des 14. Jahrhunderts die Variante scat roivc für die Gruppe O nachweist Der
Deutschenspiegel liest schaitrovu-e.
10'
76 • GUSTAV ROETHE,
die Ueberlieferung ein originales hsl. blot oder blut nahe legte, grade dies Wort ist
zweideutig. Zu den mitteldeutschen Worten mit zuweilen unverschobnem t, wie
der Sachsenspiegel an houbctgat I 63, 1 eins aufweist, scheint es nicht zu gehören l).
Aber es hat nicht nur oberdeutsch , sondern auch im Norden (hessisch z. B. bei
Vilmar S. 45, nassauisch bei Kehrein, Volksspr. in Nassau 83, westerwäldisch bei
Schmidt Idiot. S. 28, nach Beitr. 12, 535 auch siegerländisch) eine bedeutungsver-
wante Nebenform blutt gegeben , deren specielle Nüancirung „unfertig, kümmer-
lich1' für diese im Anfang stecken gebliebne Klage nicht übel passen würde :
das Misverstehn zu „Blut" bot sich von diesem minder nahliegenden Wort aus
besonders leicht. — Ganz nichtig endlich ist Homeyers Argumentation zu I 55, 2.
Die mannigfachen Irrtümer, die da, nicht nur in hochdeutschen Handschriften,
passirt sind, gehn aus von dem Worte gaen oder geen , das verschiedentlich als
„gehn" statt „jähen" gefasst worden ist: diese falsche Auffassung hat Weiteres
naph sich gezogen. Für den zu Grunde liegenden Text ergibt sich allenfalls
die Schreibung die gaen dat „die jähe Tat", und das ist ebensogut mitteldeutsch
als niederdeutsch : man mag meinetwegen schliessen, Eike hat intervocalisches h
zuweilen fortgelassen und germanisches d im Anlaut zuweilen d geschrieben,
beides für unsre Frage von geringer Bedeutung. Das Gesamtergebnis von Ho-
meyers drittem Argument bleibt also wesentlich, dass Eike juristische Termini
zuweilen in niederdeutscher Lautgestalt seinem Werke einverleibt hat.
Demgegenüber stehn mindestens 2 Fälle, die nach genau demselben Princip
für die Grundgestalt hochdeutsche Formen erweisen. Der eine ist Homeyer
nicht entgangen, aber in seiner Bedeutung von ihm merkwürdig verkannt worden.
II 47, 3 ist die Rede von einem Pferde , dat ivrensch is („brünstig"). Mit Aus-
nahme von En und einer späten Wolfenbüttler Handschrift (Dw ; vgl. noch die
mitteldeutsche Handschrift Dq) scheint die Ueberlieferung leidlich einig 2) über
den Anlaut r, so wenig sonst das Wort immer verstanden sein mag. Eike hat
also mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichfalls r geschrieben , nicht ivr , und
das hat sich glücklich auch in ndd. Texten gehalten , eben weil das Wort
den Schreibern wenig geläufig war; gesprochen hat wol auch Eike wr : leider
kommt in den wortarmen Akener Büchern nichts Beweisendes vor, doch sei auf
Namen wie Wraghe Nr. 922. 1047, Wrensch 493. 586 (meist Wiens, Wrensz,
Wrenz) u. a. hingewiesen , die freilich slavisch sein mögen. Wenn Scham-
bach , Gütting. Wörterb. 170a, als göttingisch reisch verzeichnet , so stammt
diese Wortgestalt sicher lehnweise von dem nahen hochdeutschen Gebiet :
auch Göttingen ziemt nur wr im Anlaut. — Und ebenso hat sich in
einem zweiten unverstandnen Wort die hochdeutsche Lautform fast einhellig er-
1) Das blot der Jenaer Handschrift Wizl. XVI 1 kann aus der niederdeutscheren Vorlage
stammen. Aber auch Aq schreibt Lehnr. 74, 2 blot.
2) Bestimmter zu sprechen verbietet wieder die Beschaffenheit des Homeyerschen Apparats ;
man würde gewis fehlen, schlösse man, dass die nicht citirten Hss. wrensch haben; ich fand in
den von mir eingesehnen Handschriftabdrücken (ausser En) n u r r im Anlaut , so auch in den
bei Homeyer fehlenden ndd. Codd. Cy Cz.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 77
halten: es heisst 144 mit grosser Uebereinstimmung (ein paar hochdeutsche
Handschriften haben irsale) man gift egen in ursale. Das Wort urmle ist nicht klar,
ist Terminus ; ich mocht es mit Hildebrand für das Subst. zu irsellen halten : Ho-
meyer wagt die Conjectur ursate „Ersatz" (Glosse irstadinge; aber ihr ist auch
vluchtsah en irstadinge siner vlucht). Wie dem sei , das unterliegt kaum einem
Zweifel, dass ur- das betonte Präfix ist. Und das wäre ausgeprägt hochdeutsch
statt niederdeutsch or- , das hier nirgend bezeugt ist. — So schwankt bei die-
sem dritten Teile von Homeyers Beweisführung die Wage hin und her : mir
will sogar scheinen, sie sinke nach der hochdeutschen Seite.
Mich aber befriedigt dieses Beweisen aus Buchstaben überhaupt nicht. Wer
steht uns denn dafür, dass Eikes Originalhandschrift eine gleichmässige Laut-
form hatte? Warum soll er nicht selbst bloz und blot, tat und dat, nr- und or«
neben einander geduldet haben? Auch die volle Gleichmässigkeit der Schreibung
muss erst erlernt werden , und wo sollte Eike die erlernt haben ? Mag der
Anatom sich aus einem Knöchelchen ganze grosse Organismen mit Sicherheit
construiren können, der Philologe erdreistet sich solcher schefaatischen Schlüsse
besser nicht ; am wenigsten da wo es sich um geschichtliche Wendepuncte han-
delt. Je bedeutender der Mensch , um so weniger ist er durch die verallgemei-
nernde Methode zu fassen. Es ist die Wonne und der Schmerz der Philologie,
dass der Wert ihrer Objecte und ihrer Ergebnisse so oft im umgekehrten
Verhältnis steht zu ihrer methodischen Sicherheit. Und Eike ragt über den
berechenbaren Durchschnitt.
V.
Das Eine hoff ich gezeigt zu haben, dass Homeyers gesamte Beweisführung
hinfällig ist. Manch Körnlein feiner und sorgsamer Beobachtung bleibt übrig :
aber selbst diese Körnlein fallen, recht betrachtet, nur teilweise für niederdeut-
sche Abfassung ins Gewicht. Homeyers Weg führt mit Notwendigkeit in eine
Sackgasse. Gleichviel : die Bahn ist frei.
Haben wir erst einmal eine kritische Ausgabe des Sachsenspiegels, die die
Handschriftenfiliation deutlich übersehen lässt und das sprachliche Varianten-
material ausreichend angibt, so wird man vielleicht eine Auswahl von Wegen
haben. Vielleicht auch nicht. Wenn ich mich in diesem Augenblicke frage: an
welcher Stelle kann ich mit irgend einer Aussicht auf Erfolg einsetzen ? wo ist
bei aller Buntheit und Willkür der Ueberlieferung, bei aller Unzulänglichkeit
der kritischen Vorarbeit und des von mir überschauten Materials noch am ehe-
sten die Möglichkeit geboten, zum Ursprünglichen durchzudringen? — nun ich
sehe nur einen Weg, der nicht schon nach wenigen Schritten ungangbar würde.
Und das ist die Wortwahl.
Darin liegt von vornherein eine Art Verzicht. Wenn wir fragen, ob Eike
hochdeutsch schrieb oder niederdeutsch , so wollen wir zunächst wissen : hat ei
2 s * e
78 GUSTAV ROETHE,
daz und ich geschrieben oder dat und ik: gleichgiltig an sich, ist das doch ent-
scheidend als Symptom. Eine directe Antwort auf diese Frage halt ich vor-
läufig nicht für möglich : das reimlose Prosawerk in seiner complicirten und
mannigfaltigen sprachlichen Erhaltung versagt sich der unmittelbaren Erkenntnis
des ursprünglichen Laut stand es, wo nicht vereinzelt ein besonders glück-
licher Zufall hilft. Die Uebereinstimmung hochdeutscher und niederdeutscher
Handschriften scheint zu verraten, dass für mhd. ei, no, ie bei Eike wenigstens
vereinzelt (schwerlich ausnahmslos) ei, n, i gestanden hat: ich möchte glauben,
dass die Ueberlieferung den Auslaut ch (inl. g), dass sie sai, holden (nicht sol,
holden) , aber ivol , ferner sus (nicht dus) , das Präfix vor-, vielleicht die Gerun-
dialendung -nde, volle Dativformen wie deme, das Prät. stitnt1), das Pron. uns2)
(nicht iis) und so noch dies und das durchschimmern lässt : aber selbst das ist
vielleicht schon zu viel gesagt; es sind das obendrein alles Grenzerscheinungen,
die das Mitteldeutsche und das Niederdeutsche auf weite Strecken hin teilt ; für
selp (resp. seif) und verre, die etwas deutlicher sprächen3), wag ich mich auf die
Spuren einer handschriftlichen Eintracht schon kaum mehr zu berufen. Nur diese
und jene Einzelheit ist vielleicht zu fassen4).
Zunächst zwei wenig ergiebige Etymologien Eikes : II 66, 2 leitet er sundach
von besünen ab, was allenfalls auch sondach und besönen meinen kann. Wenn
er III 58, 2 vorste erklärt ais vorderste und daraus sogar juristische Folgerungen
zieht, so empfiehlt das höchstens die nd. md. Lautgebung vorste, der das be-
sprochne ursale nicht grade günstig ist.
Einträglicher sind immer noch die eingestreuten Reime : sie legen wenigstens
(I 16,2. 51, 1) die Form echt (: recht) fest. Das Wort dringt, gewis bestenteils
durch den Sachsenspiegel, bald auch in den mitteldeutschen Sprachschatz ein:
dass es doch mit seiner Sippe {echt, „Ehe", unecht, cchtlös, ecldUche) im 14. Jahr-
hundert noch als eigentlich niederdeutsch empfunden wurde, zeigen die mittel-
deutschen Handschriften; El z.B., das I 51, 1 das echtelos des Reimes duldet, geht
doch unmittelbar darauf zum clich über, wie es denn gerade im Sinne von
,.ehlich. Ehe" überall ändert; aber auch recht setzt es gern an die Stelle und
respectift höchstens in den terminologischen Bindungen echt not, ding, hof das
fremde Wort; Dtf zieht auch da zuweilen das chaft vor. So tritt das cht von
echt neben scachtrowe. Es liegt nahe, weiter zu schliessen auf das auch in
1) Vielleicht auch leich st. mhd. Icch, ebenfalls sowol md. wie nd. : in Aken bezeugt vorteich.
2) gense, ohne Varr., (?) II 40,5 in einem Zusatz. Calbe 232 hat gense (so heute), aber 21,
70 gase.
3) In den Stadtbüchern stets verne; sulf und seif wechseln (Halle sehe, silve).
4) Ich bemerke ein für allemal, dass ich lediglich den in der Handschriftengruppe A stehen-
den Bestand des Sachsenspiegels meinen Beobachtungen zu Grunde lege und die Zusätze der
umfänglicheren Fassungen nur ausnahmsweise heranziehe : ist für sie Eikes Autorscbaft doch
minder gesichert. — Citirt werden weiterbin die Hallischen Protokolle nach den Nummern des
ersten Schüffeiibuchs, das Calbische Wetebuch nach den Seitenzahlen des 20. Bandes der Magdeb.
Geschichtsbll. Das 2.-4. Schöffenbuch Halles und die nach 1410 liegenden Partien des Wetebuchs
sind nur gelegentlich herangezogen.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. ~( \)
mitteldeutschen Handschriften bezeugte gerächte (rächte); Aq El lesen so, Da Bv
aber geräfte1). Horaeyers Angaben lassen im Stich; wenn ich auch liier an die
Echtheit des cht glaube, so ruht mein Glaube nicht sowol auf den Sachsen-
spiegelhandschriften als auf der Verbreitung der -cht-Form weit über die nieder-
deutschen Grenzen hinaus: sie wird z. B. im Breslauer Recht von 1261 verwant.
während allerdings das spätere Breslauer Schöffenreeht geräfte hat. Noch weiter
kommen wir mit dem cht nicht : bei niftel - nichtel trennen sich wieder die hoch-
deutschen und niederdeutschen Codices (Ei einmal niftel); das vereinzelte in hechti
(II 34, 2) wird sogar schon durch die meisten niederdeutschen Handschriften
widerlegt (Ei2) hat hechte, aber Aw Cz Eb ft), wie denn die Ueberlieferung
für ein cht ausser jenen 3 Worten nicht zu sprechen scheint. Und jene 3 Worte
sind sämtlich juristische Termini3).
Dass t in dingeslete unverschoben blieb, sahen wir; Itoubitgat tritt auch sonst
mitteldeutsch als Lehnwort auf (hochdeutsche Varianten haben vielfach houbtloch) :
das häufige Falschverstehen und Umdeuten von leiten würde sich am leichtesten aus
einem leiten des Originals erklären, das hochdeutsch oft verschoben wurde. Wieder
geprägte Termini, die eine Verallgemeinerung ausschliessen. — Eher wäre man dazu
versucht für den Anlaut von dät (s. o.). Wirklich zeigen auch hochdeutsche
Handschriften Spuren dieses (/-Anlauts, z. B. dagen in El 161, 1. III 12, 2, dar
f. tar in D<5. Bekanntlich schwanken aber gerade in diesem Puncte die mittel-
deutschen Handschriften sehr stark ; dies anlautende d (germ. d) vertrüge sich
sporadisch auftretend mit mitteldeutschem Text vortrefflich. Aber dasselbe d
tritt, nicht mehr sporadisch, in dem Worte räde, gerade, üzrdden „weibliches Erbe.
Ausstattung, Mitgift" auf, das trotz seinem weiblichen Geschlechte und trotz
seinem d nichts Anders ^sein wird als hd. gerate: das Neutrum bricht in hd.
Handschriften hie und da durch4). Nur, es ist wieder ein juristischer Terminus.
der mit seinem erstarrten d auch sonst in md, Sprachgebiet herüberreicht5).
Eine Tatsache des Vocalismus enthüllt sich etwa II 28, 2 barende bäume
und I 33 barthaft. In beiden Fällen , namentlich aber im zweiten , bestätigen
Misverständnisse auch hochdeutscher Handschriften das a ; für barehaft oder bar-
haftich hat man, häufiger als Homeyer augiebt, wäraftich verstanden, das a donii-
nirt durchaus, und bei barende weisen vereinzelte war ende , gebraute denselben
Weg. — Möglicherweise hat in Eikes Manuscript entsprechend auch waren
(„Gewähr bieten-'' und „dauern") gestanden, wie in der Sachs. Weltchronik: die
niederdeutschen Handschriften (Aw Cy Ei , vgl. Homeyers Var. zu Lehnr. 78, 1)
1) Der Deutschenspiegel, der echt nicht gebrauchen kann, hat das ch von gerückte darum
meist bewahrt, weil er es in gerichte misverstaud ; im Landrecht hat er rufe 300, gervfft 329.
2) Ei liest aber auch Ufhagtich I 33, ivonachtich I 60, 3, uncracht I 49 ; derartiges z. B. auch
in Aw (achter, bar achtig, pJechachten, hanihachtich), alles bedeutungslos weil vereinzelt.
3) In Halle luft 644.
4) in (von) deme rade hat Aw I 5, 3. III 38, 5.
5) Auf inlautendes d weisen vielleicht auch die Varianten zu I 50, 2 hin, wo leiden, geleiden
st. hd. leiten auch in hochdeutschen Handschrifteu erscheint. r
80 . G ÜSTA V KOETHE,
geben viel Belege1); nirgend aber die hochdeutschen , und so fehlt gerade, was
das a von baren stützt 2).
Nd. ö f. hd. ou ist wahrscheinlich in gelöf (s. u.) : wieder in versteinerter ju-
ristischer Formel.
Was so von Lauten leidlich festzulegen war, schien wesentlich niederdeutsch :
aber alles vereinzelt, meist prononcirte Rechtsausdrücke und schon darum nicht
entscheidend; das hd. ur- und anl. r < ivr behält sein Gewicht.
Etwas greifbarer bereits ist Eikes Wortbildung. Von Abstractsuffixen do-
minirt -unge, das namentlich in der einförmigen Casuistik des Lehnrechts sehr reich
vertreten ist. Dass Eike oft -unge geschrieben hat, ist nahezu sicher, vielleicht
schrieb er es immer: die hochdeutschen Handschriften kennen nur -unge, von den
niederdeutschen ist, so weit ich sehe, nicht eine ohne Belege des -unge. Wenn
Homeyers En z. B. I 3, 3 tveinge hat, so haben Aw Cyz Ebi ebenda tweyunghe
oder twninge, und ob das Uebergewicht des -unge in diesem Falle auch stärker sein
mag , als sonst (Ei scheint das -wnghe auf dies Wort zu beschränken , wol weil
ihm das Zusammenstossen von ei und i misfiel), so bestehn Doppelformen in den
niederdeutschen Handschriften wol durchgängig; in der späten niederdeutschen
Handschrift des Lehnrechts cod. jur. Gott. 60 herscht das -unglie sogar weit vor.
In Aken aber sprach man wol -inpe (1343. 1390 vesting, 1674 ser.czinge, 1850. 1851
teringe; vestunge 1652, wonunge 1614 stehn in der Nähe hochd. Sprachspuren,
auch dclunge 2000 mag also auf hochdeutschem Einfluss beruhen); ebenso herscht
-inge in den ältesten Aufzeichnungen von Calbe (yestinghe, missehandelinghe 52,
beivysinge, betalinge 46 u. s. f., aber schon S. 58 [1386] ein -unge, wofür sich die
Belege dann schnell mehren, doch treten zugleich auch andre sicher hochdeutsche
Erscheinungen auf) ; die Hallischen Bücher setzen gleich mit -unge ein, ohne es
immer fest zu halten; die Anhalter Urkunden schwanken. Schrieb Eike nur eine
Form, so wars die hochdeutsche; aber auch er könnte geschwankt haben. — Da-
neben -schaft (so hd. Codd.) ; in nd. Hss. -scap und -scup neben einander, in den
Stadtbüchern -schap und -schop. Eike sprach wol -schop, schrieb etwa -schaf. —
Das niederdeutsche -clage hat Eike Abstracta bildend nicht gebraucht, Lehnr.
24 N. 60 ist sükedage nur ganz schwach bezeugt3). — Die juristische Bildung
auf -ml (-tal) ist in järzal , sibbezal , erbczal auch dem mitteldeutschen Sprach-
gebrauch nicht fremd; daneben im Sachsenspiegel noch dingzal , aber nur in
einem Zusatz III 87, 3, und ganz unsicher mächtale II 30 N. 2. — Das nieder-
deutsche Suffix -sie erscheint in dem lemesle mancher niederdeutschen Hand-
schriften, so I 63, 2, nach Homeyers Angaben fast ohne Varianten: das ist nicht
richtig : ausser den hochdeutschen Handschriften, die lamheit, lemede lesen, steht
1) Vgl. auch die Variante wärmt st. getvere II 26 N. 10. 36 N. 36. 40.
2) Ob barch „Getreidehaufe" III 45, 8 (seltene Var. berch) hierhergehört, ist sehr fraglich;
vgl. Hildebrands Glossar z. Sachsensp. S. 127.
3) levedage in Calbe belegt.
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 81
hier auch in Aw Eb lemede, in Cy Ei stets lemnisse *) ; dass Eike lemesle geschrie-
ben habe, ist also mindestens nicht erwiesen. — Die niederdeutschen Collectiva
auf ~te (gedingete, tünete) wären an sich auch mitteldeutsch denkbar (Germ. 10,
395 ff.) , und das czinss Bvw (I 20 Nr. 4) könute etwa ein mitteldeutsches {ge)~
ziuneze meinen ; indessen lässt das sehr reich , auch niederdeutsch, bezeugte ge-
dinge, geziune zweifeln, ob Eike jenes 4e überhaupt gebraucht hat.
Wichtiger ist die D e m i n u t i v b i 1 d u n g. Das niederdeutsche Suffix -ke, -ken,
md. -cltin, ist II 61, 5 mit einiger Wahrscheinlichkeit anzusetzen, in der Wendung
„wenn das Korn ledeken hat": zwar wimmelts von Varianten, namentlich in hochdeut-
schen Handschriften, aber die verschiedne Weise, wie sich diese mit dem Ausdruck
ablinden, verdächtigt sie: möglich wäre nur etwa, dass Eike gelide „Glieder"
(Jede, in hd. und nd. Hss. bezeugt) geschrieben hätte. Es wird sich hier um einen
formelhaften Ausdruck handeln, den Eike nicht ändern mochte. Denn sonst
scheint er allerdings -Im gesagt zu haben. III 69, 1 heisst es in der Verbindung
noch hüt noch hiitelin weit überwiegend eben 4m, soviel ich sehe auch in den nd.
Hss. ; hüdeken haben die niederdeutschen Aw En, hütechin hat El (nach nd. Vor-
lage?), dagegen hütclin , hodelin Aq (nach nd. Vorlage!) Bv, Dsp. 328, die nd. Cy
Cz Eb Ei. Dazu stimmt das fast durchgängige hd. zickelin III 51 (nd. hohen ganz
selten), allerdings in einem Zusatz ; II 54, 1 sondern sich die verkene (für Calbe und
Halle bezeugt) und die verkel [verkeim) annähernd nach nd. und hd. Hss., doch fand
ich in der nd. Cy verkelen. Aehnlich trennen sich vingeren und vingerlin; doch dies
auch in der nd. Göttinger Lehnrechtshandschrift (Lehnr. 67, 1). Ausgesprochen hoch-
deutsch ist wieder das allgemein herrschende ermel (ermelin Aq Ei) I 63, 4 ; mundet
„Mündel" (142, 2, mundelin Ebi Cy) und niftel sind auch dem Niederdeutschen ver-
traute -/-Formen. Das Gesamtergebnis deutet auf -Un hin. Stünde das fest, so wäre
es von hoher Bedeutung. Denn so verbreitet das -lln in der mittelniederdeutschen
Dichtung ist, so fremd ist es der Prosa : selbst die Gothaer Handschrift der Säch-
sischen Weltchronik sagt in der Regel -hin, -ken 2). Dass Eike nicht unbefangen
dem heimischen Deminutivgebrauch mündlicher Rede folgt, verrät vielleicht schon
die Seltenheit der Fälle : wie wimmelts in den Akener Schöffenbüchern von demi-
nutiven Namen , natürlich auf -ke, -ken (sogar Müsekensteker 874) , und ein stre-
teken (106) hat sich selbst in diese unsäglich wortarmen Protokolle geschlichen3).
Wesentlich niederdeutsch ist das feminine Geschlecht von: die räde (nur
vereinzelt das Neutrum), die wesle (Lehnr. 71, 6, sonst nur in Zusätzen; einige
hochdeutsche Handschriften haben Masculinum), die wäge II 28, 1 (Bv uilden statt
wilder). Dazu vielleicht noch die nut („Nutzen" ; so auch Halle 622) und die plüch
„Pflug" ; bei beiden Worten, namentlich bei plüch, ist aber das Masculinum auch in
niederdeutschen Handschriften belegt. Das nd. Neutrum vrt „Freiheit" 11132,5. 7
1) So Halle; aber erst im vierten Schöffenbuch Nr. 1057.
2) Wo sie -Un hat (so vingerlin in der Astrolabiusgeschichte) , da deutet das auf hoch-
deutsche Quellen und Vorbilder zurück.
3) Auch in Halle und Calbe stets staveken, ömeken, vedeken u. s. w. ; vingerlin (neben grosche-
ken) erst im 4. Schöffenbuch Nr. 119; vorher (1, 1395) vingerlinc.
Abhdlgn. d. K. Ges. d. WisB. zu Göttingen. Pb.il.-b.ist. Kl. N. F. Band 2, «. 1 1
82 GUSTAV ROETHE,
steht so vielen Zeugen für vriheit gegenüber , dass es gar keine Gewähr hat.
des bankes bitten III 69 , 3 sieht dagegen hochdeutsch aus , obgleich ich zufällig
grade nur aus hochdeutschen Handschriften die schwach gestützte Variante der
Innig kenne; alle drei SchöfFenbücher haben das Femininum. — Die Zehe heisst
II 16, 6 nd. ten (Singular, nicht Plural, wie Homeyer meint); das n wird gesi-
chert durch die häufige Verwechslung mit zan , namentlich in hochdeutschen
Handschriften; Eike kann sehr wohl zen geschrieben haben: die Formen zin,
zlen sind noch heute thüringisch lebendig (Hertel, Thür. Sprachsch. 263).
In Homeyers Text erscheint teils luttel, teils luttic; besser bezeugt ist
luttil ; einmal bringen es die hochdeutschen Handschriften (lülzel), soweit sie nicht,
namentlich bei jüngerem Datum , deine oder tvenic an die Stelle setzen ; dann
aber hat auch in den niederdeutschen luttel stets diesen und jenen Vertreter :
z, B. III 42, 2 steht luttel in Aw C^z Ein gegen luttic Eb ; 45, 10 bringt grade
Eb luttel gegen Avv Cy En (Ei Cz denen) ; 47, 1 (Zusatz) nur luttel Cz Ein ;
Lejmr. 7 , 1 vertritt Aw Ei luttel. Möglich dass Eikes Sprache beide Formen
geläufig waren (das älteste Hallische SehÖffenbueh zeigt nur luttic): wenn er
luttel wählte oder bevorzugte , so war das die Form , die er für hochdeutsche
Fassung allein brauchen konnte. — Von den niederdeutsch besonders be-
liebten Grenitivadverbien1) ist wiUes (willens , willinges , ivillendes) II 36, 2
dem Hochdeutschen fremd; das hd. danlies ist wol gesichert in dem Zusatz III 48;
an jener Stelle aber mag ivilles im Recht sein, zivies, dries, obgleich namentlich
in hochdeutschen Handschriften zuweilen durch zwir, dristunt, zu drin malen u. ä.
ersetzt, ist gewis im Recht und auch mitteldeutsch möglich. — Hat Eike Lehnr.
67,8 wirklich stilleken geschrieben? Die Varianten (stille, stillicUchen u. ä.) lassen
das nicht erkennen, in Aw und der Göttinger Lehnrechtshandschrift fehlts 2), I 62,
9. 11 findet sichs nur in wenigen niederdeutschen Handschriften. Und II 16, 9,
wo niederdeutsch eher süverken (stwerlikcn) zu erwarten wäre , steht einfach
siiver. — unhälinge 1136,1 ist auch niederdeutsch selten, aber doch bezeugter
als hochdeutsch. Das Adverb steht so bei Eike nicht allein 3) ; für das an
sich unsicher bezeugte nöhveringe II 62 , 2 könnte grade die befremdliche Bil-
dung sprechen. — Ob Eike II 53. 68. III 68 dannen gesagt hat, ist nicht ganz
sicher, da in nd.Hss. (Aw Cz Eb) die mnd. herschenden Formen dennen*), dan oder
auch af gerne dafür eintreten : die Ueberlieferung spricht immerhin für dannen. Aber
selbst wenn dies feststünde, möcht ich hier im Sachsenspiegel weniger Wert darauf
legen als bei den hd. beeinflussten Reimen der Braunschweiger Chronik: so unerhört,
wie es nach Lübbens Angaben scheinen möchte, ist die Wortform auch mnd. nicht.
1) Ich notire die merkwürdige adjeetivische Construction von jährliches, tegeliches III 2. 56, 3,
die offenbar von Eike stammt und in den Handschriften nur vereinzelt corrigirt wurde. — vor-
middes in dem Zusatz II 56, 3 hat sehr viele Varianten neben sich.
2) stilleichen Dsp. Lehnr. 205 mag aber wol auf einem stilleken der nd. Vorlage beruhen.
3) unhälinge noch in dem Zusatz III 89.
4) van dennen Anh. Urk. 3, 328 Nr. 492 v. J. 1325 (gleichzeit. Copie).
C
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 83
Von Verbalbildungen erwähne ich nur schnell die auf -igen '.beköstigen,
bescheinigen, bestätigen, bepfli cht igen, beschuldigen, ge-, entweldigen; hochdeutsch sind
die Verba ohne -ig- {behosten u. s. w.) üblicher oder allein üblich, so dass jene
Verba in hd. Hss. zum Teil ersetzt werden, bescheinigen z. B. durch beivisen. In-
dessen es handelt sich hier wieder durchweg um feste juristische Wendungen,
an die Eike nicht wol Hand hätte anlegen können, selbst wenn sie dem Mit-
teldeutschen fremder gewesen wären, als es in Wahrheit der Fall ist ').
Auch die Wortbildung lässt wieder den niederdeutschen Autor erkennen,
der, ohne die niederdeutsche Grundfarbe seiner Sprache ganz zu verleugnen,
doch das grell Niederdeutsche meidet, das Gemeinsame des Mitteldeutschen und
Niederdeutschen bevorzugt und hie und da auch wol ein wenig hochdeutsche Re-
touche aufsetzt (-Un ; vgl. auch -unge, lützel, dannen?).
Ueber die S y n t a x darf ich — oder muss ich schneller hinweg gehen ; ich
fühle mich ausser Stande , auf diesem Gebiete zusammenhängende Grenzlinien
von einiger Verlässlichkeit zwischen niederdeutscher und mitteldeutscher Art
zu ziehen *-). Zudem ist der Satzbau des Sachsenspiegels , ein paar Capitel des
Landrechts ausgenommen , höchst einförmig in seiner kunstlosen Schärfe : voran
die Voraussetzung im Vordersatz , im Nachsatz die gesetzliche Bestimmung,
nähere Bedingungen dazwischen gepackt , wenig Partikeln (s. oben S. 21) , gar
keine stilistischen Winke ; die Inversion im Nachsatz wird , selbst für einen
mittelniederdeutschen Autor, besonders karg angewendet; auch sonst bietet die
Wortstellung , in der die Handschriften allerdings merkwürdig auseinander
gehn , oft mehr Erschwerung als Hilfe. Die knappe Sachlichkeit , die eins
unvermittelt, aber in gehöriger Ordnung ans Andre reiht, soll für sich sprechen.
Das ermüdet den Leser und strengt ihn an ; juristische Vorzüge wird es haben :
ich hörte von FrensdorfF, dass grade das Lehnrecht, mir eine qualvolle Leetüre
in seiner tiftelnden Unanschaulichkeit , bei Juristen auch stilistisch hoch ge-
schätzt wird. Unleugbar überragt Eikes Satzbau an fester Klarheit das Gros
der spätem (nicht juristischen) mittelniederdeutschen Prosaschriften bei Weitem;
aber wenn man seinen Sätzen das litterarische Debüt einer bisher nur ge-
sprochnen Prosa so wenig anmerkt, so dankt er das seiner lateinischen Autor-
schaft, nicht hochdeutschen Vorbildern.
Leider hat die spröde Stilform syntaktische Armut zur Folge gehabt.
Hier mögen wenige Einzelheiten genügen. Die niederdeutsche Unsicherheit
zwischen Accusativ und Dativ fehlt in den niederdeutschen Handschriften
nicht , zumal nach Präpositionen ; was davon auf Eike zurückgeht , weiss ich
nicht festzustellen ; die hochdeutschen Handschriften scheinen im Ganzen
1) Das in den Stadtbüchern häufige begiftigen hat er gemieden.
2) Nissens Forseg til en meddelnedertysk Syntax (KJ0b. 1884) bietet eine recht nützliche
Zusammenstellung: doch ist der Verf. im älteren Hochdeutschen anscheinend nicht so bewandert,
dass er gerade mittelniederdeutsche Sonderheiten als solche zu erkennen und zu betonen im Stande
wäre. Und das Gebiet der speciell mitteldeutschen Syntax ist noch so gut wie unangebaut.
11*
84 GUSTAV ROETHE,
frei ; doch haben auch sie öfters gegen e. Acc. , wie Eike wol auch in der
Praefatio (V. 135) schrieb und wie man in Aken (nr. 2071. 2072) und
Halle sprach. Adjectivische Nominative auf -en (sehen) fehlen in den
niederdeutschen und den ihnen nahestehenden hochdeutschen Handschriften
nicht , weisen aber , da sie doch nur vereinzelt auftreten , auf das Origi-
nal schwerlich zurück ; wer weiss , ob Eike das -en überhaupt schon sprach ;
anderseits scheint er auch das hd. -er nicht gesagt zu haben1). Abgehetzt
werden die Constructionen mit zu c. Inf. , in dieser ihrer Ausdehnung der
guten mittelhochdeutschen Syntax ganz fremd. Dagegen sind die sonst charak-
teristisch niederdeutschen Bindungen des Part. Präs. mit sin und werden im Sach-
senspiegel nur sehr schwach vertreten, nicht über hochdeutschen Sprachgebrauch
hinaus 2). Die Verbindung von läsen mit dem Part. Prät. (z. B. II 36, 3 er hob ez
geworht läeen) ist in den niederdeutschen Anhalter Urkunden sehr beliebt, auch
in den Calber (S. 127) und Hallischen Schöffenbüchern (z. B. S. 339) belegt,
dem Hochdeutschen dagegen ziemlich fremd (doch.z. B. auch thüringisch:
vgl. Gramm. IV2 147). Eike scheint das Prät. von ;.sein" mit haben ge-
bildet zu haben (z. B. III 34. 45, 2), niederdeutsche Weise, die sich aber
auch ins Mitteldeutsche verbreitet hatte : übrigens setzt Bv Da stets sin,
Die häufige weite Trennung des dar von den dazu gehörigen Präpositionen wie
abe, von etc., die auch Jacob Grimm auffiel, als er nach Göttingen kam, ist heute
wol mehr als im 13. Jahrhundert niederdeutsches Symptom. Die Phrase tu glilcer,
dirre icis (z. B. I 2, 2. 3, 2) findet sich, mir sonst wenig vertraut, auch in den
Haliischen Schöffenbüchern, koufen wider II 36, 4 („von einem kaufen", Gramm.
IV2 1015 ) ist abermals auf das Niederdeutsche und seine Grenznachbar-
schaft beschränkt ; niederdeutsch die Präpos. under zur Bezeichnung des Inhabers
(Nissen S. 109). Im Ganzen verleugnen diese syntaktischen Kleinigkeiten den
niederdeutschen Autor nicht : ich wüsste ihnen keinen scharf hochdeutschen Zug
entgegen zu setzen, den ich mit Sicherheit für Eike in Anspruch nehmen könnte 3).
Der Eindruck bestätigt sich und modificirt sich zugleich bei einem Blick
auf die syntaktischen Formwörter, deren Eike sich bedient zu haben
scheint. Er hat oft die zusammengesetzten Präpositionen wie binnen, büzen, bo-
ven, beneden gebraucht, aber schwerlich in der Ausdehnung, wie Homeyers Aus-
1) Schon im ersten Hallischen Schöffenbuch neben häufigem seinen auch vereinzelt seluer, so
752. 984, dies natürlich von hd. Anregung. — Das feminine -er nach Artikel I 18, 3 der kristenliker
e hat nicht einmal die niederdeutschen Handschriften für sich (Eb cristeliken, Ei kerstene) und
wird auch durch den sonstigen Sprachgebrauch des Sachsenspiegels nicht gestützt.
2) Wenn Eike nie das aecusat. und nominat. Relativum fehlen lässt , wie das z. B. in dem
ersten Hallischen Schöffenbuch N. 9 {den hvf [de] bi heren Tylen Kozzen leget) und oft vorkommt,
so bewährt das seine Abneigung gegen die Lässigkeiten der Alltagsrede. Die Auslassung ist nicht
etwa nur niederdeutsch (Gramm. IV2 545).
3) Wenn die im Sachsenspiegel sehr beliebte Verbindung ein sin genöz, ein sin böte u. ä.
sonst mittelniederdeutsch seltner scheint als mittelhochdeutsch, so mag das mehr Gründe der Zeit
als des Orts haben: die Coustruction ist im Veralten, und die mittelniederdeutschen Denkmäler sind
im Ganzen jünger als die hochdeutschen.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 85
gäbe das darstellt: die hochdeutschen Handschriften räumen ihnen durchgehend
ein weit geringeres Gebiet ein , zu Gunsten von in , üz (üzer) , über , nnder, und
auch niederdeutsche, wie die alte Oldenburger Bilderhandschrift, verwenden sie
sparsamer. Auffällig ist das wilde Schwanken der Handschriften zwischen in
und an: auch das könnte schon bei Eike sich vorbereitet haben. Auffälliger
noch das vollständige Fehlen der niederdeutschen Präposition teghen , die Eike
doch in der heimischen Sprache geläufig war (Akener Schöffenb. 1684. 1719,
tögen 1714 *)); nur in dieser und jener Handschrift des Sachsenspiegels hat sich das
Wort vereinzelt eingeschmuggelt (II 24 N. 12 ; Lehnr. 31 N. 7). Eike hat das
niederdeutsche Wort also vermieden. Warum ? die Antwort wird sich finden. —
Die Pronomina geben nichts Aufklärendes. Dass wo niederdeutsche Handschriften
ienich und nen haben, es hd. ichein und nichein, dehein heisst, das versteht sich
fast von selbst. Es sieht so aus, als ob im Lehnrecht wiederholt (29, 2. 65, 16.
69, 3) das niederdeutsch2) flectirte swelkir (so auch Fem. und Neutr., Gen. sivel-
Icires, Dat. swelkirme) aufträte, das mir im Landrecht nicht aufstiess 3) : dass
Homeyer zu den fraglichen Stellen des Lehnrechts keine Varianten angibt,
sagt noch nichts aus; Aw Ei stimmen zu Homeyers Text; leider fehlt mir
grade hier eine geeignete hochdeutsche oder sonst reichere handschriftliche Con-
trole 4). Ebenso enthält sich das Landrecht durchaus des niederdeutschen indefi-
niten ivat : nur im Lehnrecht steht gutes ivat („boni aliquid") 8, 1 im Contexte ;
wenn Ei III 47, 1 (in einem Zusatz) des slnes ivat sagt gegen ieht der Vulgata,
ebenso Aw I 70, 2 (gegen Ende), so bestätigt das eben nur, dass niederdeutschen
Schreibern das ivat näher lag als das ieht des Verfassers. Ob Eike in Land- und
Lehnrecht wirklich verschieden verfuhr , will ich nicht entscheiden : jedesfalls
entspricht die Art des Landrechts , die swelkir nur unflectirt , also auch dem
Hochdeutschen gemäss, gebraucht und das ivat als vulgär fortlässt, besser Eikes
sonstiger Sprachgewohnheit. — Das in der Praefatio mehrfach überlieferte niene
(V. 112. 164) ist mir auch in der alten niederdeutschen (!) Bremer Handschrift
Aw begegnet, so II 61, 4 (statt nicht ne).
Im Conjunction engebrauch hat der Sachsenspiegel manches Lehrreiche.
Für „obgleich" sagt Eike al; sehr oft, namentlich in Jüngern und in hochdeutschen
Handschriften, aber doch auch schon in den alten niederdeutschen Handschriften
Aw und Ei (allen, dlne) ist dafür aleine, aleine daz geschrieben ; auch das blosse
al ist in jenem Sinne dem Mitteldeutschen nicht fremd (Bech , Germ. 5, 503);
rein niederdeutsch wäre ivattan (so in Ck II 23, N. 5). — „So dass" heisst im
1) tögheghen in Halle z. ß. N. 156, tgegen 652. 665 u. ö. thegen in Calbe S. 360, tigen
366 u. o.
2) Dies swelkir entsprach doch wol Eikes Mundart : vgl. Halle N. 677. 685.
3) Die beiden Fälle I 61, 2 stehn in einem Zusatz; die hochdeutschen Handschriften schrei-
ben da statt welkirme einfach ivilcheme, weme.
4) Bv sagt zwar in der Regel einfach hd. welchir, welch, aber 29, 2 verrät die Schreibung
weichin iren, dass welchirn zu Grunde liegt ; mau könnte auch im Landr. II 7 das u-clchir dirre
Sachen ebenso auffassen. £
86
Sachsenspiegel gern aJse (z. B. I 50, 2. 63, 1. III 45, 8. Lehnr. 24, 1. 65, 18 a. E.,
aber auch in den Zusätzen II 48, 7. III 71. 1), ein Gebrauch, den ich nicht lo-
calisiren kann '). Noch häufiger deste , dies bestimmt niederdeutsch (auch in der
Bedeutung „falls"), aber in der Ueberlieferung sehr stark schwankend: die hoch-
deutschen Handschriften schreiben, ohne es ganz auszumerzen, oft daz, ob ; die
niederdeutschen sind zum Teil noch ablehnender; Ei schreibt ganz consequent
erste] auch in AwEb fand ich mancherlei Ersatzversuche. Offenbar hat diese
Verwendung von deste hochdeutsch wie niederdeutsch befremdet, ohne ganz un-
möglich zu erscheinen; es mag hier eine Art Kanzleimanier in Eikes Buch ge-
raten sein. — Für „bis" hat Eike wol weilte wie bis gesagt; in hochdeutschen
und auch sonst in Jüngern Handschriften gewinnt Uz (bet) an Terrain ; bekannt-
lich ist auch das eigentlich niederdeutsche wente dem mitteldeutschen Sprach-
gebiet lehnweise ganz eigen geworden. wan „ausser, als" nach Negation und
auch nach Comparation , neben denne , hat noch einen weitern Concurrenten an
drem nd. md. mer („ausser, aber, sondern"), das Eike offenbar gebraucht hat, wenn-
gleich ihm in den Handschriften wiederum viel Boden abgegraben ist; nicht da-
gegen hat Eike men in dem Sinne von „ausser, nur, aber" gesagt, obgleich es spora-
disch in niederdeutschen Handschriften (z.B. vgl. I 62 N. 20; in Cz Praef. 230 ;
in Aw II 34, 1 nicht men u. ö\), besonders oft für wen und mer in Ei, auftritt.
Die bei Eike dominirende Adversativpartikel 2) ist aver (nicht over, wie mnd. in
diesem Sinne meist); das an sich hochdeutscher Einwirkung verdächtige Wort3)
steigert den Verdacht hier durch seinen gebundnen Gebrauch, nie im Satzanfang,
was schon Jacob Grimm beobachtete. Es ist jedesfalls bemerkenswert, dass bei
Eike das hd. geläufige aber dem nd. mer den Rang abläuft und dass er das
bestimmt nd. men gemieden hat, .grade so wie er nicht dus , eddus gesagt
haben wird (so. sns, alsus in Eb En Cz, dem Gott. Lehnrecht, dus häufiger in Aw, es
herrscht in Ei), wie niederdeutsche Specifica, z. B. ivattan, nochtan „dennoch", ieht
„wenn", al und rede „schon" (dies Calbe S. 224. 237 ö.) ausgeschlossen sind; es ist
wiederum lehrreich und bestätigend, dass niederdeutschen Schreibern das störend
war: nochtan taucht in Homeyers Varr. II 58 N. 35, III 1 N. 7. 14. 90 N. 8.
Lehnr. 59 N. 13 auf, icht in Cy I 3, 3. Dem entsprichts weiter, dass Eike oder
sagt, vielleicht auch eder , aber nie in diesem Sinne ofte , efte , während seiner
Mundart das keineswegs iremd war (Aken. Schöff. N. 2083, echte Halle N. 663) 4).
1) Nissen, Mut. Syntax S. 126, belegt das consecutive als nur aus dem Sachsenspiegel;
hochdeutsch kenn ich es gar nicht. Bildete Eike lat. ut („wie" und „so dass") nach ? Schwer-
lich. Er verschluckte eher ein dat hinter alse.
2) 6k (ouch) ist im Sachsenspiegel wesentlich fortleitend, hd. und nd. Art entsprechend.
3) Bekanntlich fehlt es alts. , fries., nl. , ags. ; der heutigen sächsischen Sprache ist es in
Fleisch und Blut übergegangen. Die Ausdehnung und der Charakter des mnd. Gebrauchs bedarf
noch der Untersuchung. Dass es in den Hallischen SchöfFenbüchern vereinzelt vorkommt ( so
13G8; öfter '== „iterum"), widerspricht natürlich der hochdeutschen Entlehnung nicht.
4) Diese Bevorzugung von eder, oder braucht allerdings nicht individuel zu sein, da nach
Tümpels Beobachtungen (Nd. Stud. S. 18 ff.) jene Formen im altern Mittelniederdeutsch durchweg
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 87
So verwendet er denn darummc lediglich in dem auch hochdeutschen Sinne von
„deswegen" (die niederdeutschen Handschriften , z. B. Ei, setzen gerne dar dat,
up dat) , während er für die niederdeutsch nicht minder beliebte conjunctio-
nelle Bedeutung sint oder doch darumme dat (II 12, 6. IV 71 , 21) zu wählen
scheint. Dass Eike sonst den behaglichen mnd. Pleonasmus des dat bei Con-
junctionen (sint, de itile, aleine u. m.), bei Frageworten etc. (Nissen §§ 17—20)
nicht liebt, stimmt zu gut zu seinem ganzen lakonischen Stilcharakter, als dass
es da hochdeutsche Rücksichten brauchte. Fremd sind ihm solche Rücksichten
grade im Conjunctionsgebrauch nicht.
Eine Sonderbetrachtung verlangt sän. Eike liebt das Wort heiss, aber
was er eigentlich für eine Bedeutung damit verknüpft, weiss der Himmel: ich
verweise nur auf Hildebrands Glossar S. 163. Den Schreibern hat das Wort
denn auch viel Kopfschmerzen gemacht. Von hochdeutschen schonen es ganz
Aq El, meist Dtf, das es aber zuweilen auch durch ouch ersetzt oder fortlässt ;
Bv streicht es in der Regel , ein paar Mal bleibt es aus Trägheit stehn oder
lugt durch Misverständnisse hervor (in 78, 2 liest Bv statt sän vielmehr ml is,
ebenda § 5 sam), auch durch sühand oder ouch wird es verdrängt. Von nieder-
deutschen behält es das conservative En, Eb gestattet sich nicht ganz selten die
Auslassung , Aw beseitigt es in der Regel streichend oder ersetzend (jo , Joch),
auch in Cz und Cy sind nur noch geringe Trümmer des alten Bestandes, zum Teil
inisverständlich stehn geblieben, und Ei räumt radical auf: ein einziges Mal (I 5»
2) hat es der Schreiber stehn lassen, eben genug um zu verraten, dass ers in der
Vorlage fand, sonst blieb es fort oder ward in dan, den verwandelt 1). Dass auch
in andern Handschriften die Verhältnisse ähnlich liegen, lassen Homeyers dürf-
tige Angaben vermuten. So weit ich sehe , ist das Wort den Niederdeutschen
noch störender als den Hochdeutschen : Lübben bezeichnet es (Sachsenspiegel S. VII)
gradezu als „dem Niederdeutschen sonst unbekannt". Häufiger als das mittelnie-
derdeutsche Wörterbuch zeigt ist es nun doch , und der Gredanke an alts. fries.
sän, ags. söna scheint jeden Zweifel an dem niederdeutschen Charakter des Wortes
zu verbieten. Dennoch wird Lübben Recht haben. Als ich sän in der sächsi-
sehen Weltchronik suchte, musste ich bis 81, 9 lesen, und da fand ichs in einem
Reim, der aus der Kaiserchronik herrührte. Auch in Eikes Praefatio fehlt es
nicht als Reimwort (V. 121) , und im Reim kennen es so Eilhard , Berthold v.
Holle, Brun v. Schonebeck, Konemann in beiden Werken, Damen, Wizlaw, durch
den Reim hat sichs in der mittelniederdeutschen Dichtung auch noch weiter
gehalten 2). Und in den Reim wird es aus der hochdeutschen , speciell mittel-
das ofte, efte zurückdrängen : das liegt eben an dem Uebergewicht des Hochdeutschen, das selbst
solche Gesamterscheinungen hervorzubringen vermochte.
1) Wenn der Deutscheuspiegel das seiner hd. Sprache gemässe sä, sä zehant nur verschwin-
dend selten aufweist, so wird diese Zerstörung des alten Bestandes auf die nd. Vorlage zurückgehn.
2) Die von Lübben im Nachtragsbande des mittelniederdeutschen Wörterbuchs gegebneu Be-
lege aus dem Spiegel der Sünden könnten auch auf mnl. Einflüssen beruhen.
88 GUSTAV ROETHE,
deutschen Poesie ') gelangt sein ; höchstens dass man dabei an ein veraltetes nie-
derdeutsches Wort anknüpfen konnte. Trifft das zu , so hätten wir Eike hier
auf einer hochdeutschen Litteraturvocabel ertappt , deren Sinn ihm ersichtlich
unklar geblieben war.
Eh wir uns in die Untersuchung der Wortwahl noch weiter vertiefen,
ein Blick auf das Material, mit dem wir arbeiten müssen. Wie ganz unge-
wöhnlich stark die lexikalischen Abweichungen der Handschriften grade beim
Sachsenspiegel sind, das lehrt selbst Homeyers Apparat schon. Für diese Art
von Varianten hat Homeyer sichtliches Interesse gehabt, er hat sehr fleissig ge-
sammelt und verzeichnet, und von der Buntheit dieser variabeln Synonyma legt
er ausreichend Rechenschaft ab, wenn er sich auch oft begnügt, regelmässige
Abweichungen nur einmal zu vermerken, und wenn ers auch nie für seine Auf-
gabe gehalten hat, alle Handschriften zu registriren , die eine abweichende Le-
sung bezeugen. Sicher also ist unser Boden noch immer nicht, aber doch fester
als bisher, und jeder Philologe wird sich freuen an dem Verständnis, mit dem
Homeyer in seinen Glossaren der varia lectio Rechnung trägt , besonders gut
beim Lehnrecht, das leider weit weniger Material bietet. Sie verdient dieses
liebevolle Interesse. Grade sie erweist , wie tief der Sachsenspiegel auch in
seiner Nachgeschichte dem frischen Leben angehört : als praktisches vielbe-
nutztes Handbuch muss er sich bei aller Ehrfurcht , die er geniesst , wandeln
können nach Zeit und Ort. Dazu reichen nicht Zusätze und Glossen aus, dazu
brauchts auch eine stete leise Modelung der Sprache. Und der Sachsenspiegel
erlebt sie. Sehr oft mit respectvoller Zurückhaltung : dann wird das dem
Schreiber geläufige Wort mit einem „oder" an das alte gereiht; noch häufiger
ohne solche Umständlichkeit. Der sprachlichen Untersuchung des Originals
legt diese Verjüngungsfähigkeit des Buchs freilich Schlingen. Indessen, das
Gesetz der Trägheit sorgt schon dafür , dass vom Alten doch immer ein gut
Teil bewahrt bleibt , und die Varianten haben anderseits für den Philologen
ihre gute Seite. Sie schärfen ihm das Auge, sie lassen ihn merken, dass dies
oder jenes Wort später oder in andrer Gegend nicht mehr gang und gäbe war ;
sie erleichtern es ihm also auch wahrzunehmen, was dem Hochdeutschen, was
dem Niederdeutschen geläufiger war. Ich denke dabei nicht zumeist an jene
Fälle, wo sich hochdeutsche und niederdeutsche Handschriften in grosse Gruppen
scheiden : ausnahmslos ist das bei der Kreuzung der Handschriften sowieso fast
nie. Wenn etwa II 28, 4 die hochdeutschen Handschriften fast alle sehnten, die
niederdeutschen fast alle Striaen haben, so sehn wir wol: dies ist niederdeutsch,
jenes hochdeutsch, aber, was Eike schrieb, das geht dabei verloren. Nein, grade
die vereinzelten Varianten, die das Original nicht verdunkeln, auch nicht in der
grossen Gefolgschaft einer Urhandschrift unbekannter Sprachform einherziehen,
sondern dem einzelnen unbefangen Schreibenden halb unwillkürlich ihr Dasein
danken , grade sie können uns oft sehr förderlich sein , indem sie zeigen : was
1) Bekanntlich schätzte auch Wolfram das Reimwort, wenigstens in den Anfängen seiner Dichtung.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 89
lag hier dem Hochdeutschen oder Niederdeutschen ? Mir scheint , dass die nie-
derdeutschen Handschriften an solchen Varianten beträchtlich reicher sind : viel-
leicht weil ihre Schreiber doch minder disciplinirt waren als die der altern hoch-
deutschen Buchlitteratur, die an einen Verzicht auf die Worte des täglichen Le-
bens längst gewöhnt hatte; gewis aber auch darum, weil Eikes Sprache sich ge-
flissentlich der niederdeutschen Idiotismen enthalten hatte.
Wenn ich mich nun anschicke , möglichst mit Hilfe der Varianten Eikes
Wortschatz auf seine mundartlichen und seine litterarischen Elemente hin —
darauf läuft niederdeutsch und hochdeutsch in diesem Falle hinaus — zu durch-
mustern, so sondere ich zunächst zwei Gruppen von Worten aus, die, kaum von
einander trennbar, beide hier, wo es sich um die sprachliche Heimat handelt,
besser für sich gestellt werden : das sind gewisse archaische Worte und die
termini technici der Rechtssprache.
Der Sachsenspiegel enthält eine Anzahl von Ausdrücken, die schon zu
Eikes Tagen einen Schimmer altertümlicher Würde an sich getragen haben
mögen, die aber Eike vielleicht grade um dieses unmodernen Hauches willen
gerne benutzt hat, da er das gute alte Recht kündete. Zum Teil hatten sie
sich in der formelhaften Rede des Rechts eine erstarrte Dauerhaftigkeit erworben ;
auch sonst wird der conservative Geist des litterarisch unverbildeten Sach-
senlandes für den feierlichen Reiz solcher altersschwachen Elemente empfänglicher
gewesen sein als die litterarisch schnellebigeren Hochdeutschen. Natürlich musste
sich über diese Archaismen in Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts unwei-
gerlich eine Flut von Varianten und Misverständnissen ergiessen, für die wir nicht
nach dialektischen Gründen suchen dürfen. Ich zähle hierher z. B. neben den gleich-
artigen Terminis dingeshte und scatrowe das jenem gepaarte unlust „Unruhe"
(ein echt niederdeutsches Wort, zu alts. hlust), das wol nur darum ohne ernstliche
Varianten blieb, weil man es falsch verstand; als gerichtlicher Terminus hat es
denn auch ausser dem Sachsenspiegel noch, selbst über die niederdeutschen Gren-
zen hinaus , ein Scheinleben geführt. Aehnlich steht es mit juristischen Phrasen
wie bedemunden 141, wie müsdele (oftmd.), Mergeide, mit overvundich 1113,3, mit
dem schwierigen ertstadelege oder wie es sonst heisst (III 56, 3) u. a. '). Das völlig
veraltete dar „passend" I 63,2 hat erst Homeyers und Hildebrands Scharfsinn aus
dem Schutt der Ueberlieferung hervorgegraben; in demselben Cap. § 1 steckt ein
andrer verzwickter Ausdruck, der die schöpferische Kritik der Schreiber lebhaft
anregte, die Wendung dat ik nicht undürer ensi u. s. w. ; auch das isohrte al
ivedtr die 11164,10 entfesselte eine Veränderungslust , die jedesfalls beweist,
dass man Eike bald nicht mehr verstand. Das häufige ort, im Sinne von „Boden"
(Belege in Hildebrands Glossar zum Landrecht S. 127) völlig sinnlich gefasst
{uppe, binnen sessischer ort) , wird von Varianten wenig behelligt; doch haben
1) Ich uotire noch afswehe (mit vielen Varianten) Lehur. 72, 2; gelöset sin im Sinne von
„verloren gegangen sein" (Varianten verlorn, abgegangen) I 23, 1, vgl. HI 6, 2; borclncart (mlat.
bureteardid) Lehnr. G5, 22, vgl. Hech, Fetr. v. Naumburg S. 25.
12
Abhdlgn. d K. Ges. d. Wiss. zu Göttiiigen. Hist.-phil. Kl. N. F. Band 2, ». f
90 GUSTAV RO ET HE,
hochdeutsche Handschriften ein paarmal (II 25, 2. III 33, 3. Lehnr. 69, 7) die erklä-
rende Lesung kuit , auch ort. Geläufig war das alte Wort dem Hochdeutschen
längst nicht mehr, aber auch dem Niederdeutschen schwerlich in dieser Bedeu-
tung1), während es als „aratio" noch in beiden Sprachen lebte: offenbar hat Eike
abermals eine archaische Formel gewählt; ich glaube grade bei diesem formel-
haften Charakter des Ausdrucks zunächst nicht, dass er Lehnr. 4, 1 selbst zunge
dafür eingesetzt haben sollte, obgleich alle nd. und viele hd. Hss. dafür zu
stimmen scheinen und obgleich Eike Wechsel der Ausdrücke (z. B. twtwort und
gegenwart) auch sonst nicht ganz fremd ist, wenn unsre Texte nicht trügen. Es
war auch nicht eigentlich die Mundart, die besiväs I 27. III 42, 1 meist durch liep,
na, besibbe verdrängen machte : auch dies Wort ist mnd. im Aussterben, während
hd. gcsiväs und verwandte Bildungen etwas länger bestehn; Wernher von Elmen-
dorf mag sein gesiväsheit dem md. Wortschatz der neuen Heimat entnommen haben,
für Eike wäre die gleiche Vermutung gewiss falsch. Archaisch sieht endlich noch
eine Wendung wie die erde wunden 120,2 aus; hierher vielleicht auch gewunnen,
nngewunnen lant (II 27, 4. 47, 5, Variante geeret, gewuchtet), sonst nur niederld.
nachgewiesen 2).
Wie sich Eikes formelhafte und seine freigewählte Sprache trennen können,
machen deutlich die Ausdrücke für „Erlaubnis". Eike sagt in der Hegel urloub,
nd. wie md. geläufig. Daneben aber in der festen Verbindung mit erven gelove (I 20,
1. 21, 1. 34, 1. 52, 1.2) ein Wort, das seine Bedeutung von md. gelübe, nd. lof (III
41, 1) zu trennen scheint und das, abgesehen von der Formel, auch nd. kaum mehr
lebendig war. In Homeyers Ausgabe kommt gelof zwar auch ausser jener Bin-
dung mit erven ein paarmal im Sinne von urloub vor (I 25, 4. 45, 2. Lehnr. 31, 1),
aber auch hier stets nur nach mit oder äne und neben einem Genetiv, dazu jedes-
mal mit so viel Varianten, dass es zweifelhaft wird, ob Eike da nicht urloub (wil-
len, vulborf) geschrieben hat. Grade mit erven gelove ist eine ständige nd. Rechts-
phrase, zumal eben der Hallischen SchöfFenbücher (Nr. 11. 19. 20. 44. 78 u. s. w.),
in denen andre Genitive bei gelof verschwindend selten sind; Eike fand die ge-
prägte Bindung vor und behielt sie bei, als ob sie ein Wort war 3).
Das vielgebrauchte Verbum ivinnen mit seinen Compositis ist in seiner selb-
ständigen Existenz um diese Zeit auch hochdeutsch gefährdet : es geht in winden
1) Die niederdeutsche Handschrift Eo versteht in hübschem Localpatriotismus binnen dildescher
art zu binnen Duder stat um.
2) Auch sume III 42, 3 (Cz En, sonst hochdeutsch und niederdeutsch ganz oder teilweise
misverstanden oder geändert) wirkte auf die Jüngern Schreiber wol archaistisch befremdend. Die
Braunschweiger Reimchronik liebt das Wort noch.
3) Es liegt nahe in gelof hd. ou zu suchen , so dass gelof (geloup) unmittelbar neben urloup
gehörte (Lübben verzeichnet auch ein mnd. mit lof „mit Verlaub"') : ist das richtig, so würde sich
wieder einmal in der Ilechtsformel die niederdeutsche Heimat enthüllen, und nur in ihr. Bedenk-
lich wird diese Auffassung durch die Nebenform gelaue der Hallischen Bücher (Nr. 781. 785. 786
u. ö.), die zunächst auf 6 zu führen scheint: aber sie steht grade in einer wesentlich hochdeutschen
Partie der Protokolle und hat weithin keine andern nd. ä < 6 neben sich: so mag md. ä < ou
gemeint sein.
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 91
auf; wenn sich vorwinncn in den Handschriften des Sachsenspiegels allmählich
zum überwinden wandelt, so ist das beiden Sprachen gemein. Die Verwandlung
des vor- in über- [over-) kennzeichnet noch eine andre Art Veralteus, der grade
die Rechtssprache des Sachsenspiegels vor unsern Augen unterliegt. Sie hat eine
Stärke in der feinausgebildeten Terminologie ihrer Verba, die sich, durch Präfixe
präcis geschieden, ebenso leicht wie scharf anwenden lassen. Aber dies wohlge-
schliffne Instrument stumpfte sich grade darum schnell ab, weil die Unterschiede
fein waren; man sucht zu verstärken, und so verwandelt man etwa das nemen
ins benemen, das besetzen ins versetzen, das geboren ins zuhören, das entsagen ins
widersagen , das bereden über vorreden ins überreden, bis das Alles nicht mehr
ausreicht und für besaehen etwa das plumpere lougnen eintritt. Mag sein , dasa
das Hochdeutsche schneller zu diesen Verstärkungen und Vergröberungen greift:
es würde doch falsch sein, solche Unterschiede zu dialektischer Gruppirung zu
benutzen, mögen auch Ueberlieferung und Lexikon dazu gelegentlich verlocken.
Dass Eikes Re cht sspr ache in seiner Heimat wurzelt, das lehrten uns
schon lautliche Tatsachen, wie sie für echt, gerade, dingeslete u.a. zur Sprache
kamen, das lehrt uns weiter, wenn es dessen noch bedarf, die volle Abwesenheit
.-peeiell hochdeutscher Termini wie etwa strafen, gesuoch „Zins", schup ,, Beweis",
geschefte „Testament" etc., die nur ganz selten einmal in einer hochdeutschen
Variante auftauchen. Doch braucht darum diese Rechtssprache des Sachsen-
spiegels keineswegs einen einseitig niederdeutschen Charakter in ihrer Wortwahl
tragen. Laut- und Wortgrenzen sind verschiedne Dinge : wie sich das Gebiet
des sächsischen Rechts an die Linie der Lautverschiebung nicht bindet, ebenso
wenig sicherlich das Gebiet seiner Rechtssprache, vom rein lautlichen abgesehen.
Tatsächlich lässt sich der juristische Wortschatz des Sachsenspiegels der Haupt-
sache nach in niederdeutschen wie in mitteldeutschen Rechtsbüchern nachweisen,
und wenn uns erst das Wörterbuch der deutschen Rechtssprache vorliegt, auf
das wir hoffen dürfen, dann wird auch der geringe Rest, den ich heute bei der
Unzulänglichkeit meiner Hülfsmittel und meiner Belesenheit noch als specirisch
niederdeutsch ansehen müsste. voraussichtlich ganz einschrumpfen: Eikes juristi-
sche Terminologie stellt sich uns, zum Teil vielleicht Dank eben seinem Erfolge,
als norddeutsch, nicht als speciell niederdeutsch dar; jeder Versuch, in ihr das
Niederdeutsche und das etwa vorhandne Mitteldeutsche zu sondern, scheint mir bei
der vorbildlichen Macht, die der Sachsenspiegel über alle seine litterarischen Nach-
fahren ausgeübt hat, fruchtlos: er würde nur Zufallsentscheidungen zur Folge haben.
Was will das sagen , dass etwa für wette einmal eine md. Hs. pfant , dass für
schelten eine ganze Anzahl hd. Hss. strafen schreibt: wissen wir doch, dass wetU
wie scltclten dem mitteldeutschen Rechtsleben geläufigst waren. Und an andern
Stellen sind es grade nd. Hss., die etwa für Eikes gespreche (I 62, 9. 11. 1)3, 1)
lieber achte oder berät schreiben; hantgemäl I 51,4 ist hd. weit verbreiteter als in
unsern nd. Quellen; in den Varr. tauchen neben hochdeutschen auch nd. Rechtsaus-
drücke auf. die Eike verschmäht oder nicht gekannt hat, z.B. momber „Vormund" 1
42 N. 18. Vvlr ..Angeklagter" I 63 X. 63 (vgl. die Glosse zu III 16). Ueberhaupt
12* e
92 GUSTAV ROETHE,
wäre es wol eine falsche Vorstellung, wenn wir bei Eike einfach die gewöhnliche
Kechtssprache des Gaues Serimunt suchten. So überaus arm lexikalisch die Akener
Bücher sind, das zeigen sie doch, dass ihre juristischen Kunstausdrücke sich
nicht mit Eike decken: gleich in Nr. 1 die typische Wendung an sime redesten
(jude (auch Halle und Calbe) sticht ab l) ; das häufige rädeleve (730 u. oft , auch
Halle und Calbe; Ssp. gerade), dann ingcdümde „Eingebrachtes der Frau" (1807, auch
Halle; Ssp. swaz sie zu irme manne brächte), rechticheit (1874 u. ö. , auch Calbe;
Ssp. nur anspräche), overtael (1098; Ssp. nur vestunge), unmunder ,, unmündig" (1845),
bavegelich (1921, auch Calbe; Ssp. vrmide) , mechtich „potens" u. s. w. 2) fehlen im
Ssp., insbesondre und sehr auffallend die Verbindung ding, hank hegen, die zumal
in den Hallischen Büchern das tägliche Brod ausmacht. Zu dem festesten Bestände
der Stadtbücher gehören die Phrasen lös und ledich, dön und läten, beide von Eike
lakonisch verschmäht. Das in den Protokollen ganz unentbehrliche, immerfort auf-
tretende redelik „den gesetzlichen Anforderungen entsprechend" braucht Eike ad-
jeetivisch nur Lehnr. 4, 2 (wenig häufiger adverbiell). In Halle ist ein besonders
beliebter Terminus dursal (dürsed? „traditio durans"?, vgl. ur seile) ; weiter abwei-
chend vom Ssp. ingelt „Zins" (auch Calbe), blticht „Anklage" (Calbe- tich), krich
„Streit", medegift, medeban (FrensdorfF, Hecht und Rede 486 ff.); in Calbe irclaghen,
irwerven „vor Gericht durchsetzen" (sehr oft), seilen „tradere" (Eike üfläzen), sche-
linge „Rechtsstreit", besäte „Arrest"3), aftxcht „Verzicht", ein dinc idstän u. s.w. In
Halle und Calbe heisst es oft untrichten, nnt scheiden, erscJieiden, wo der Ssp. nur
richten und {er)teilen kennt4). Es ist nicht wahrscheinlich, dass das Alles Neurun-
gen sind: grade der Sachsenspiegel hat eher zur Festigung des Sprachgebrauchs
beigetragen. Gleichviel wie sich jene Differenzen erklären, man darf schwerlich
in Eikes Rechtssprache das getreue Spiegelbild von den Gepflogenheiten sei-
1) In den Städten spielte die reideschop „Baarschaft" (Aken, Halle, nicht im Ssp.) allerdings
eine grössere wirtschaftliche Rolle als auf dem Lande, an das Eike zunächst denkt; doch meint
das rödeste, redigiste gut der Stadtbücher offenbar nicht nur Baarschaft, sondern jede varnde have,
jedes gfä, das nicht zum erce gehörte.
2) Dies mechtich (seltner weldich , ein here) sin der Stadtbücher entspricht etwa dem under
ime haven, halden, besitten u. Ä. Eikes Er sagte adjeetivisch wol geweldich (III 44, 1, aber nicht
streng juristisch), vgl. auch ge-, entweldigen.
3) Eike sagt bestetigen, üfhalten; besetzen nur in vereinzelten Varianten.
4) Aken hat ferner von wichtigeren abweichenden Rechtsausdrücken vergiften , begiftigen
(auch Calbe; Halle begäven [sehr oft], under giftigen) , vorläten „relinquere" (f. erven, erve geven,
erst in deu spätem Partien), bevreden; Halle: engen „gerichtlich zusetzen", vellich werden
„unterliegen" (vor Gericht), na duder hant; Calbe: to güder hont, in sinen ver pelen (bepelen Halle),
vor sittenen räde, vordiistern oder vor deigen (von einer Schuld), untwei setten, overlofte, inholt etc.
Edw. Schröder weist mich hin auf Inge „Hofgehöriger", das im Halberstädter Urkundenbuch mehr-
fach vorkommt und dem Sachsenspiegel gleichfalls fehlt. Auch aus den Schöffenbüchern Hesse sich
noch recht Vieles anführen. Zum Teil liegen die Unterschiede der Rechtsterminologie im Stoffe :
dass z. B. die Schiedsgerichte und Sühnungen in den Stadtbüchern eine grosse Rolle spielen, prägt
sich in Ausdrücken, wie middeln, vruntschoppen, sik vorminnen, overman, schedebode u. s. w. deutlich
aus (hierher auch nnt-, erscheiden ?) : der Sachsenspiegel braucht sie nicht. Aber dieser stoffliche
Gesichtspunct reicht nicht aus.
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 93
nes Dinges suchen, Es ist unlebendig, aber wissenschaftlich für jeden Begriff nur
einen, den Ausdruck zu haben : der erfahrne, weit über die Grenzen seines Gaus
kundige und geschätzte Rechtskenner wird in der mannigfaltigen, ihm bekannten
Terminologie Auswahl geübt und vielleicht selbst tiftelnd construirt haben, wie
er das sonst auch tat. Wie weit er dabei etwa auf Verständlichkeit auch in den
hd. Gebieten des Sachsenrechts bedacht war, das wag ich grade für die Rechts-
sprache nicht zu entscheiden1): der Sachsenspiegel selbst in seiner überschat-
tenden Bedeutung hat uns das Material für diese Untersuchung verdunkelt.
Sie lässt sich eher führen, wenn wir, ohne ängstliche Abgrenzung, von den
feststehnden Kunstausdrücken absehen; sie lässt sich da, wo Eike freiere Be-
wegung hatte, führen direct und indirect. Ich gehe so vor, dass ich, das weit
überwiegende indifferente Sprachmaterial bei Seite lassend, lediglich die Worte
mustere, die nach Form oder Bedeutung eine sprachgeographisch fassbare Phy-
siognomie zur Schau tragen. Das ist nicht viel, aber hoffentlich genug, um die
Sachlage zu veranschaulichen ; schon dass es so wenig ist, klärt.
Zunächst die niederdeutschen Elemente des Wortschatzes.
Dahin zählen voran einige Concreta des täglichen Lebens : barch „Getreide-
haufen'' III 45, 8 könnte rechtsymbolisch sein 2) ; aber auch spade (III 66, 3. 68, 1 ;
in hochdeutschen Handschriften zuweilen grabeschlt) und bromese (Lehnr. 68, 7)
sind niederdeutsch. Vor Allem wort „Hofstatt" (I 34, 1. Lehnr. 13, 4. 65, 3. 72, 1;
in hochdeutschen Handschriften oft hovestat, daneben Misverständnisse , die das
Wort für das Original sichern) : Eike kannte es aus Reppichau , die Sehöffen-
bücher von Aken und Halle brauchen es oft; dass es im Lehnrecht auch einen
gerichtlichen Nebensinn (,,Gerichtsstätte") zeigt, mochte immerhin dazu beitra-
gen, dass Eike es aufnahm. Wahrscheinlich hat er auch nd. warf verwendet
„Kampfplatz" (I 63, 4. II 12, 15): auch das konnte der juristische Nebengeschmack
empfehlen ; die häufige hochdeutsche Variante kreie (auch nd. Ter et e) hat minderen
Anspruch auf Authentie. Ob Eike II 51, 2 das nd. sparlce oder das zugleich hd.
vunke geschrieben hat, ist nicht sicher ; noch zweifelhafter das nd. stake III 66, 3
(oft stecke, stange, planke). Zahlreiche hochdeutsche Varianten kennzeichnen ovese
II 49, l3) (hd. oft trouffe), leide III 39, 1 (hd. oft vezzir\ telge II 52, 2 (hd. zweige,
ewige, este), griive „Dorfgraben" II 66, 1 (hd. grabe), mesgrepe, mistgrape III 4b, 8 (hd.
misthacke, mistgabel), höveigat I 63, 1 (hd. oft houbtlocli, -venster) als Worte, die
nicht überall der mitteldeutschen Rede bequem lagen : sie sind aber sämtlich auch
hochdeutsch, namentlich thüringisch, nachzuweisen. Merkwürdig sondern sich
1) Ich will aber doch nicht unbemerkt lassen, dass Eike das wesentlich nd. plegt (III 76. 77.
Lehnr. 60,2; Hall. Schöff. 3, 1381) niemals allein, sondern stets nur in der Verbindung Um oder
plege anwendet, während Uns oft für sich gebraucht wird.
2) Auch den oberdeutschen Dialekten fehlt das Wort nicht ganz, wohl aber der mhd. md
Schriftsprache (Lexer belest es nur aus Jeroschin und da übertragen). Eike entnahm das Wort
gewis aus dem Niederdeutschen, aus der Heimat der ..Heuberge''.
3) Das in Halle und Calbe geläufige Alltagswort ist aber nicht etwa ovese , soüdern druppe ;
doch hat Halle 2, 390 osene und ebenso Calbe S. 138 bzen, bsvall.
2 9. 8
94 GUSTAV ROETHE,
I 63, 4 ortisern (anscheinend nd.) und ortbant (in hochdeutschen Handschriften und
in A\v) : dies mehr technisch als sprachlich von Interesse. Dass Eike den hei-
matlichen, übrigens auch mitteldeutsch nicht unbekannten liellinc III 45, 7 einem
hd. helbelinc vorzieht, ist grade bei dem Namen der kleinen Münze begreiflich;
auch sprach da wieder das traditionelle juristische Element mit1). Die vlreldage
Lehm*. 4, 4 haben etwas Niederdeutsches nur in ihrem /*); Homeyers Varianten
lassen wieder nicht erkennen, ob dies l für Eike gesichert ist. — Andere Sub-
stantivs bekommen durch ihre Bedeutung einen niederdeutschen Geschmack, vadem
als Längenmass III 45, 8 ist niederdeutsch (hd. Variante cJäfter). Ueber plege
..Zins" sprach ich schon (oben S. 9.3) 3).
Auf niederdeutsche Rede würd ich auch das in Homeyers Text häufige
borst ,. Bruch" zurückführen, das md. zwar nicht fehlt (Germ. 23, 144), aber ein
n d. Vorurteil für sich erwecken darf. Jedoch scheinen nicht bloss die hoch-
deutschen Handschriften, was Homeyer nur im Glossar ahnen lässt, dem ge-
genüber geschlossen bruch zu bieten4), sondern brake, broc fand ich auch in
niederdeutschen Handschriften nicht selten : so schreibt II 15, 2. 36, 5 Cy, Lehnr.
68, 6. 69, 3 die Gott. Lehnrechths. brok , II 15, 2 Ei brake. Für bruch spricht
obendrein II 15, 2 (und I 15, 1) die enge stilistische Verbindung mit dem Verbum
brechen und weiter der Sprachgebrauch Akens (1932), Calbes (S. 129), Halles (486.
1459) und der Anhaltischen Urkunden (Bd. ' III S. 143. 270) , endlich auch der
Weltchronik in der Gothaer Handschrift. Das Alles entscheidet nicht , nimmt
aber dem Worte borst jede Sicherheit. Und bruch ist gut hochdeutsch.
Von Adjectiven sehen niederdeutsch aus stamer5) 161,3, heute aber z.B.
auch thüringisch, und namentlich die Umschreibung vordere hant st. „rechte Hand"
118,3. II 12. 8. 15, 1 6) ; ebenso das Part, glumende, glüpenüe 1162,1, das den
hochdeutschen Schreibern manche Schmerzen gemacht hat.
Nun die Verba. Ob Eike II 28, 4 Striaen oder schriten geschrieben hat, weiss
ich nicht. Wohl aber hat er das nd. bilden (hilden) „verstecken" II 13, 6. Lehnr.
1) Dafür zeugt vielleicht, dass in den Schöffenbüchern , soviel ich sah, liellinc nicht vor-
kommt, sondern nur scherf und später heller, die Eike beide nicht hat. Ihm fehlt von den geläufi-
gen Münzen jener Protokolle auch gülden, grosche, quint, vor Allem der häufige ferdinc.
2) In den Schöffenbüchern häufig ticischehvant, twischcltün.
3) beschert, das als „Bedingung" (so Lehnr. 57, 1) auch hochdeutsch belegt ist, scheint 1126,5
den hochdeutsch unerwieseneu Sinn von vnderscheit oder von hd. gebrache (so eine hd. Hs.)
zu haben; ich weiss das freilich auch niederdeutsch sonst nicht nachzuweisen; doch zeigt das
Wort da bunteren Gebrauch. — Der geistliche Sinn von bisorge III 59, 1, der verwantschaftliche von
grdclinc II 31, 1 scheint überwiegend in niederdeutschen Zeugnissen zu Hause. — Ob 123, 1 das
mehr nd. bederp oder das auch hd. mit {nutz) gestanden hat, kann ich nicht entscheiden.
4) Das gebreste des Dsp. weist natürlich auf ein brost oder borst der nd. Vorlage zurück.
5) Die Varianten stamerohi , stamernde bestätigen die r-Form für Eike; doch gibt es jedes-
i'alls auch hochdeutsche Belege mit /; Homeyer schweigt, aber Bv liest stammelnde.
6) Die hochdeutschen Handschriften ändern freilich öfters in rechte; aber in der Form rechter,
lie z. B. Dg I 18, 3, andere Handschriften an den andern Stellen zeigen, tritt der niederdeutsch
vorherrschende Comparativ, vielleicht im Anschluss an die Originallesart, doch zu Tage.
E
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 95
50, 3. 66, 1 : es gibt zu denken , dass sich neben den vielen hochdeutschen Va-
rianten (behalden, verbergen, kein) doch auch das nd. schulen findet. Das aus-
schliesslich nd. hüdetl geriet mit dem bedeutungsnahen höden, hüden in so enge
Berührung, dass sie zumal in einer Gegend, der mhd. iu und no ziemlich zusam-
menfiel, sich direct mischen mochten : scheidet sie doch nicht einmal das mittel-
niederdeutsche Wörterbuch. So mag auch Eike das Wort gar nicht als speciell
niederdeutsch empfunden haben. Eine besonders niederdeutsche Phrase ist sige-
vechten I 63, 4. benümen „nennen" ist auch mitteldeutsch sehr verbreitet' und ich
führe es hier nur an, weil seine Herrschaft im Text einen Gegensatz zu dem
nennen der Praefatio bildet l). Ich verzeichne ferner ihrer Bedeutung wegen
bcjegenen „widerfahren" (hd. Varr. gesch cn) 1 55, 2. 60, 1, bliuen „werden" (s.o.), ivar-
den „warten" (?) (I 28. III 40, 1 ; hd. und nd. Varr. betten). Nicht kenn ich hoch-
deutsch in der Bedeutung des Sachsenspiegels die 4 Composita mit up- : uphouwen
121,2.1111 „ab-, niederhauen" (so auch in der Weltchronik ; hd. Var. abehouwen).
upbreken III 74 „abbrechen", upschctcn III 66, 3 „Erde aufwerfen", itpncmen I 3, 1
„ansetzen, berechnen", niederdeutsch sind sie so nachweisbar; ein fünftes, upheven
124,3 war in seiner Anwendung, wie die Varianten zeigen, den Schreibern
vielfach unverständlich. Schliesslich : der fast regelmässige Gebrauch des Hilfs-
verbums müezen = „dürfen" {dürfen bedeutet im Sachsenspiegel meist „brauchen"),
allenfalls „können", ist, grade in seiner ßegelmässigkeit, niederdeutschen Cha-
rakters; der Deutschenspiegel bezeugt das indirect dadurch, dass er so und so
oft mugen (auch sohl) f. müezen eingesetzt hat.
Das ist zugleich ungefähr der wertvollste Ertrag der Jagd auf niederdeut-
sches Gut. Eike hat seiner Mundart sehr wenig, überraschend wenig Zutritt
gestattet bei der Wortwahl: seh ich vom Unsichern ab und von dem speciell ju-
ristischen Sprachgut, dann bleiben fast nur Bagatellen.
Wie stehts nun mit der Gegenprobe? Von vornherein ist wol ausgeschlossen,
dass Eike in ein Buch dieser Art hochdeutsche Worte aufnehmen konnte,
deren Verständnis seinen niederdeutschen Volksgenossen Schwierigkeit be-
reiten musste. Aber das wäre möglich, dass er etwa die täglich geläufigen
besondern Worte der engern Heimat zurücktreten liess zu Gunsten von Wor-
ten einer weitern und höhern Sphäre. Ich glaube, er hat wirklich so ge-
handelt : ein paar positive Symptome dafür finden sich wol. Hier stehn die
Verba, meist die Träger der feineren, geistigeren Beziehungen im Satze, billig im
Vordergrunde, dulden fehlt im grossen mittelniederdeutschen Wörterbuch. Es ist
tatsächlich kein niederdeutsches Wort, am wenigsten in der Bedeutung „leiden".
Aber es ist damit ähnlich gegangen wie mit satt (s. o.). Der bequeme Reim:
schulden, Imlden hat es in die mittelniederdeutsche Litteratur getragen : es dauert
1) Für nödegen „notzüchtigen" I 37. II 13,5. III 1 u. ö. sagen die hochdeutschen Handschriften
meist notzogen, auch ein nd. vorcrachten tritt als Var. auf; noetegcn ist auch dem Mitteldeutschen
nicht ganz fremd. — geboren „aufheben" (auch md.) III 45, 8 wird von hd. Schreibern z. T. durch
heben, erheben ersetzt. 8
96 G U S T A V H 0 E T II K ,
bis auf Arnold von Immessen ; Konemann lässt es aus dem Reim wol auch einmal
ins Versinnere. Dennoch ward es als fremd empfunden: auch im Sachsenspiegel
ist es stets von einem Gefolge niederdeutscher Varianten (liden , dolen , doghen)
begleitet : zuweilen verdrängen es diese Varianten aus dem grössten Teil der
niederdeutschen Zeugen (so I 31, 1) ; andre Stellen (z. B. I 54, 1. Lehnr. 60, 1)
sorgen dafür, dass kein Zweifel bleibt, Eike hab es mit Vorliebe gebraucht. Ein
häufiges und für Eikes Methode wichtiges Wort. — Die Varianten deuten darauf
hin, dass irregen, varen den niederdeutschen Schreibern anstössig war: im Prolog
(Hom. S. 138) wird irre in niederdeutschen Handschriften durch bister (so auch Cz),
divelende ersetzt , andre lassen es aus (so Ei) , An hat es töricht misverstanden
als irre und übersetzt vortiden. Das wiederholt sich, mutatis mutandis, 11142,3:
da versteht alle Welt, wenigstens die niederdeutsche, irre varen als irvaren, um
so sonderbarer als irvaren keineswegs ein niederdeutsch naheliegendes Wort
ist : jedesfalls hat man sich an irre varen gestossen. Das Gleiche bestätigt sich
weiter am Verbum irren : es ist im Texte des Sachsenspiegels nicht selten (I 34, 3.
63, 4. 5. II 7. Lehnr. 24, 9. 59, 4. 69, 10), aber wenigstens im Landrecht fast aus-
nahmslos umrankt vom buntesten Kranze der niederdeutschen Varianten, die
lieber hindern, weigern, verkeren, ivern, bespreken, raren, sümen, merren, vernen
sagen: wo solche Varianten bei Homeyer fehlen (II 7), da mistrau ich zunächst
Homeyer , ohne ihn aus dem mir Zugänglichen widerlegen zu können. Offenbar
sind irre, irren im Sinne von „auf falschem Wege", resp. „hindern", obgleich sie
mittelniederdeutsch nicht fehlen, doch Worte edlerer Gattung, haben etwas Ge-
wähltes, vielleicht unter hochdeutsch litterarischem Einfluss : gut niederdeutsch be-
deuten sie „zornig", ,, erzürnen". So gebraucht Eike sie aber nie. Die Schöffen-
bücher sagen im Sinne von Eikes irren stets hindern. — Fiel es uns eben auf,
dass niederdeutsche Handschriften irrevaren durch irvaren ersetzten, so muss es
um so mehr auffallen, wenn im Lehnrecht Art. 80, 1 tatsächlich irvaren ,,certior
fieri" variantenlos aufzutreten scheint; Jac. Grimm hat behauptet, dass dies
,,ein specifisch hochdeutsches Wort" sei. Im Grunde hat er wol Recht. Spär-
liche Belege für irvaren im Sinne von „erforschen , in Erfahrung bringen"
kommen mnd. aber doch vor : auch das Calber Wetebok hat S. 49 dirvaren ; hier
aber ist schon das (bairisch, mitteldeutsch, ostelbisch auftretende) Präfix dir- der
Annahme md. Herkunft günstig, ohne sie zu entscheiden. — Gehört das md.
innern (16,2. 11125,1. Lehnr. 57, 1. 4) zum geläufig niederdeutschen Wortschatz?
Das Wörterbuch gibt fast nur Belege, die aus dem Sachsenspiegel selbst stam-
men oder sonst in Beziehung zu ihm stehn ; die niederdeutschen Handschriften
variiren wenigstens im. Landrecht wieder sehr lebhaft {vorwinnen, overtügen, ma-
nen, informeren) , und die Variantenangaben des Lehnrechts sind unzuverlässig.
Als niederdeutscher erschien vielleicht innen (er innen), das ich, nicht regelmässig,
in den nd. Handschriften Aw, Cz und dem Gott. Lehnrechtscodex (eynen) finde.
Das Material reicht zum Urteil nicht aus. — Auch krenken, ein niederdeutsch
gut belegtes Wort (im Sachsenspiegel 15, 2.. 42, 1. 11154,2. 63,2. 79,1), ist in
niederdeutschen Handschriften oft ersetzt worden (breken, teeren, kroeden, nemen,
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 97
mindern, ergern); das ist an sich unerheblich, deutet aber doch wo] darauf bin,
dass auch dieses Wort vielen Niederdeutschen einen gewählten , unverbauten
Klang hatte. — sogen (Lehnr. 69, 4) hebt sich (neben vorzihen) deutlich von
der niederdeutschen Ueberlieferung ab, die togern verlangt: die hochdeutsche
Form hat in der Ueberlieferung ausreichende Unterstützung. — nennen fehlt
der Prosa des Sachsenspiegel; so weit .wir sehen können, hat Eike das
im Reim so gern gebrauchte Wort hier gemieden. Indessen, nicht nur
in dem Zusatz I 24, 3 taucht nennen auf — und auch das ist nicht gleich-
giltig, da die Zusätze die Sprache des Originals, wie sie sie kennen, geflis-
sentlich copiren — , sondern, was wichtiger, III 57, 2 in einem Zusammen-
hang, der benümen tatsächlich ausschloss : hier hat Eike sicher nennen gesagt.
Ob nicht auch in der Prosa des Originals nennen eine grössere Rolle gespielt
hat als jetzt erkennbar, kann ich nicht entscheiden: die mitteldeutschen Hand-
schriften zeigen es nicht selten für benümen, mimen, das ihnen an sich doch
genügen konnte. — II 62, 1 weisen die Missverständnisse niederdeutscher Hand-
schriften vielleicht auf ein üzenen der Vorlage hin, dem die Ueberlieferung auch
sonst günstig ist ; dies üzenen wäre hochdeutsches Lehnwort ; in Eikes Heimat
lebte wol nur üteren, so in den Oalber Stadtbüchern S. 54. 57. 127. — Ueber ge-
nenden vgl. oben S. 26 x).
Hochdeutsch sind weiter: crmel (nd. Hss. mouive2)) I 63,4, ririke Lehnr. 67, 1,
spange*) ebda.; gare 163,4 ist mir' in dieser Form mittelniederdeutsch sonst nicht
bekannt, und auch garwe, gerwe pflegt sich da nach dem Lexikon auf das Priester-
gewand, nicht auf die Rüstung zu beziehen. — Hochdeutsch ist vielleicht auch gadem
III 66, 3, in der Bedeutung ,, Stockwerk" : der niederdeutsche Ausdruck wird dele
sein, wie Eike daneben hat: der Deutschenspiegel hat es misverständlich in taue
verwandelt und der Schwabenspiegel beidemal gadem geschrieben. Im Nieder-
deutsch des 18. Jahrhunderts war gäm heimisch (DWb. IV1, 1131), aber es fehlt
dem Altsächsischen und den verwanten altniederdeutschen Sprachen, es fehlt auch
noch den altern Partien der an Ausdrücken für das Haus und seine Bestandteile
nicht armen Stadtbücher ; erst in dem vierten, zum Teil schon hochdeutschen Hal-
lischen SchöfFenbuche kommt es vor, synonym mit kamer oder dornse. — die meiste
oder mere menie ist niederdeutsch so häufig in meninge*) verwandelt worden, dass
diese, natürlich unfreiwillige, Satire auf die Majoritätsverehrung des Sachsen-
spiegels eine geringere Gängigkeit des hochdeutsch abgetretnen Ausdrucks zu
1) Ich registrire noch in künde komen, bringen Lehnr. 68, 9. 78,2 (dies = Präf. 217); ferner,
ganz zweifelnd, die Zusammensetzungen mit zu- d. i. „zer-" (züstän, zutun, nd. töstäu, tödun,
vgl. Hom. S. 482), die im Sachsenspiegel mehr blühen als sonst mittelniederdeutsch.
2) Dass man in Eikes Heimat mouue sprach, darauf deutet vielleicht der Zerbster Name
Buntemouwe (Calbe S. 45).
3) spange im vierten Haliischeu Schöffenbuch N. 324 wird mitteldeutsches Lehnwort sein
(nd. span).
4) Dies meninge mit Lübben Mnd. Gr. S. 40 nur phonetisch aus Nasalirung zu erklären, hin-
dert mich ebenso die weitre Variante meininge, wie die Variante volge, vulbaii.
Abhdlgn. d. K. ües. d. Wiss. zu Göttingen. Phil.-hiet. Kl. N. F. Band 2,8. 13 8
98 GUSTAV ROE THE,
verraten scheint. — Der rechte niederdeutsche Ausdruck für Ehebruch ist auch
nicht overhüre (II 13, 5) , sondern overspel , das hier nur in wenigen niederdeut-
schen Zeugnissen zu Tage tritt. — Wenn der Mörder aus Notwehr bei seinem
Opfer nicht bleiben will vor sines lives angeste „wegen seiner Lebensgefahr'
(1114,1), so ersetzen niederdeutsche Handschriften das angest durch not, weil
in dem niederdeutschen Wort der Gefühlsgehalt unsers heutigen ,,Angstu, der
hier nicht hingehört , viel lebendiger ist als hochdeutsch (vgl. die Var. III 41,
N. 13 van angestes wegen ,,aus Angst*'); Eike weist angest die objectivere hoch-
deutsche Bedeutung zu l). — Dass süver II 16, 9 f. ,,ganz und gar" keineswegs
der nächstliegende Ausdruck war, lehren die Varianten, und zwar war man auf
niederdeutschem Boden befremdeter als hochdeutsch : niederdeutsch sagt man
süverk, nicht süver , und dies süverk entspricht nicht ganz der hier gemeinten
Bedeutung.
Endlich noch ein paar adverbielle Wendungen , die uns den Weg zu der
indirecten Betrachtung hochdeutschen Einflusses weisen. Eike sagt II 53 hin-
den: gewis, das kennt man ja auch niederdeutsch; aber der rechte nieder-
deutsche Ausdruck ist achter , für ihn zeugen denn auch die Varianten , die Ho-
meyer wieder unvollständig angibt (so hat auch Aw hier achtere)] aber freilich,
Milden ist besser bezeugt. Aken wechselte zwischen den beiden Worten. — Hat
Eike andenverve oder anderweide gesagt? Beide Worte sind weder dem Hoch-
deutschen noch dem Niederdeutschen ganz fremd ; aber andenverve ist mehr nie-
derdeutsch . anderweide (staut , -mal) mehr hochdeutsch das rechte Wort, ander-
iveide bevorzugen demgemäss die hochdeutschen Handschriften ; aber es steht
Lehnr. 60, 2 auch in En ; und an der ersten Stelle seines Auftretens, I 39,
stimmen sogar Cy Eb Ei ein , auch anderen ivech Aw ist aus anderweide mis-
verstanden , wie denn Aw auch sonst noch öfter anderweide zeigt ; das Gleiche
gilt von Cy und dem Göttinger Lehnrecht. Nach dem Material, das ich kenne,
hat das hochdeutsche anderweide, das übrigens in dem vor ander weiden der Hallischen
Schöffenbücher 276 steckt , mehr für sich : doch mag Eike gewechselt haben,
die Handschriften gruppiren sich an verschiednen Stellen verschieden. — I 27, 2
heisst es , anscheinend übereinstimmend , zweier xvegene ; dass der Ausdruck den
Hochdeutschen unbehaglich war , zeigen die Varr. zu II 48 , 8 ; doch hat Eike
sicher so geschrieben. Gestossen aber hat er sich an der vom selben Worte
gebildeten und mitteldeutsch sehr verbreiteten Verbindung von- wegen) sie fehlt
zwar in niederdeutschen Handschriften keineswegs, tritt aber , soviel ich sehe,
immer nur so vereinzelt auf, dass sie als überliefert nicht mehr in Betracht
kommt als das hochdeutsch hie und da auftauchende von - willen ; Eike aber
hat stets von - halben gesagt. Ich lege um so mehr Wert darauf, als die Akener,
Calber und Haller Protokolle und die Anhalter Urkunden regelmässig und oft
von-weghen sagen: Eike hat seinen Alltagsausdruck verschmäht.
1) Wenn, der kerkener 1171,3 in niederdeutschen Handschriften den opperman, den koster,
den kerkhoyder neben sich hat, so spiegelt das kleinere Localunterschiede , die für die Frage:
„hochdeutsch oder niederdeutsch?" nicht in Betracht kommen.
e
DIE REIM VORREDEN DES SACHSENSPIEGEIS. 99
Und was hat er nicht sonst noch Alles verschmäht ! Die Varianten der
niederdeutschen Handschriften geben eine überraschende Lese niederdeutscher
Worte her, die Eike nicht gebraucht hat, obgleich sie nahe lagen, wie eben die
Handschriften zeigen. Ich erwähnte bereits die geläufigen Eormwörtchen wie
nochtan „dennoch", ivattan „obgleich", men „nur", al und rede „schon", ef't „oder",
icht „wenn", dus „so" (?), die Präp. und Adv. legen und achter] hinzuzufügen ist
elk „jeder" (II 28 N. 4; Sachsenspiegel munlich) , somich (II 20 N. 5; Text ette-
lieh), wanner (I 71 N. 2; Ssp. swenne), das niederdeutsch sonst so überaus
häufige vahen (II 2 N. 3. Lehnr. 80 N. 37; Ssp. ofte, dicke), deger „ganz" (JJ 10
N. 32; Ssp. süver) , älinc „ganz" (Lehnr. 71 N. 53; Ssp. ganz)] das allbe-
herrschende an samen lässt neben sich noch zu male (I 63, 1) zu, nicht aber die
recht eigentlich niederdeutschen Phrasen to gadder (I 3 N. 38l ; vgl. Leitzrnann
zu Gerh. v. Minden 53, 28), up en (I 63 N. 24), to höpe (Calbe 8. 144). Von
Adjectiven und Adverbien nannte ich bereits bister , divelende (Ssp. irre)\ ich
finde ferner nur in Varr. veilig „sicher" (II 27 N. 12), late „spät" (I 36 X. 6,
Anh. Urk. 3, 278. 349; Ssp. späte), behaghel (Praef. öS), mbderstüle (ebd. 132), halfte
„halb" (II 28, 1 in Aw Cy Cz ; die Stadtbücher wie der Ssp. half), den Comp, lenc
„mehr" (Lehnr. 73 N. 6) ; ja sogar quät, quätlic (Praef. 1U6. 1 63 N. 40; Text übel,
ivirs) ist nicht vertreten. Von Substantiven wurde erwähnt mouwe, lider, momber]
ich reihe dem an behöf (I 23, 8, Aken 1894; hd. nutz), bederf (ebd.), tale (I 62 N. 15 ;
Ssp. rede), quec „Vieh" (II 36 N. 47; Ssp. vi) , putte „Brunnen" (II 38 X. 4a ;
Ssp. brunne), scheme (III 45 N. 35 ; Ssp. schate), achterding (I 2 N. 9), treck, getrecke
(III 42 N. 52 ; Ssp. gercete), wanhoed (II 38 N. 2 ; Ssp. ivarlöse) ; ferner liclauive,
Uteken (I 63 N. 19; Ssp. nar), strunkelken (II 41 N. 6), mengelen (II 12 N. 18;
Ssp. becher), dorstel (II 41 N. 8; das Wort ist in den Hallischen Acten häufig),
schelinge (Lehnr. 11 N.18, Calbe 52), opperman (II 71 N. 9) u. A. Von Verben nannte
ich schon dolen, doghen (I 31 N. 10 ; Ssp. dulden), schulen (Lehnr. 50 N. 14 ; Text
hüten), dazu lien „zugestehn" (Hom. Gl. S. 456 , aber nicht nur nl.), beteugen
(Lehnr. 65 N. 74; Ssp. beginnen), legeren „entschädigen" (Lehnr. 4 N. 25; Text
lösen), kroeden (III 63 N. 11 ; Eike krenken), beschütten (Lehnr. 72 N. 33 ; Ssp. be-
sliezen), wicken, Subst. wickelinge, wickelte (II 13 N. 31 ; Ssp. zouber) x), bomen
(II 40 N. 13; Ssp. trenken), behöven (I 1 N. 19 u. ö\; Ssp. bedurven), poten „pflan-
zen" (II 28 N. 7; Ssp. setzen), rensen, vresen (Lehnr. 68 N. 21a. 22; Ssp. jeschet,
nüset), underschöten (I 63 N. 72; Ssp. understechen) u. s. w 2).
Die Liste spricht für sich. Ein niederdeutscher Schriftsteller, bei dem all
das fehlt, obgleich seine Darstellung ihm das nahe legte, bei dem man nach cha-
1) Lercheimer, Christi. Bedenken herausg. v. Binz, S. 10: Zauberey ist ein vermeyntc anzei-
gung verborgener ding (welches auff altfränekisch heisst vorsagen, in Sachsen wichen, bi>
warsageri).
2) Die Zahl dieser niederdeutschen Varianten Hesse sich aus den Zusätzen noch beträchtlich
mehren ; neue Züge kommen doch nicht ernstlich dazu , wie denn die Sprache der Zusätze sehr
ähnliche Verhältnisse zeigt wie der Haupttext; sie haben sich, soweit sie nicht Eikes Werk siud,
jedesfalls eng an sein Vorbild geschlossen. p
13* B
100 GUSTAV ROETHE,
rakteristisch niederdeutschen Worten mit der Laterne suchen muss, ist jedes-
falls eine Merkwürdigkeit: alle die hochdeutsch schreibenden Dichter wie Eber-
hard, der Braunschweiger Reimchronist, Brun von Schonebeck, Konemann, Wizlaw
sind reicher an niederdeutschem Sprachgut, wenn das auch auf den ersten Blick
durch Eikes niederdeutsche Kunstausdrücke verwischt wird. Wie ist die Tat-
sache aufzufassen?
Ein Gedanke läge nahe: vielleicht gehörte Eikes Heimat Reppichau, wenn
sie auch dat und ek sagte, doch in ihrem Wortgebrauch nicht zu dem nieder-
deutschen Gebiet : die niederdeutschen Wortgrenzen haben mit der Grenze der
Lautverschiebung keinen innern notwendigen Zusammenhang, und Eike lebt in
einer Uebergangsgegend , wie die spätre Sprachentwicklung verrät. Das ist
Alles richtig, es reicht aber nicht aus. Wer die Gothaer Handschrift der Welt-
chronik als Zeugnis gelten lässt , kann schon in ihr einen beträchtlich sächsi-
scheren Wortschatz finden: da gibt es z. B. behöven, dogen „dulden", schulen „ver-
stecken", velich „sicher", teile „Rede", deger , vormiddes , Deminutiva auf -ken,
Abstracta auf -inge ; da giebt es daneben eine reichste Fülle niederdeutscher Aus-
drücke wie böten „feuern", krüpen, nälen, öken, reven, rüge)?, bule „Bruder", düster,
grope „Topf", huf „Meer", heven „Himmel", hoke, kot „Hütte", lerse „Stiefel", picht
„Streit", spök, start , storlinge, Adverbia wie ävelinge u. s. w. ; allein schon aus
Strauchs Glossar ist es leicht, Beispiele zu' häufen. — Aber auch die Akener
Schöffenbücher mit ihrem winzigen Wortmaterial raten von jener Erklärung ab.
Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, dass Eikes Rechtssprache sich mit
den Termini jener Protokolle nicht immer deckt; ich erinnere daran, dass in
ihnen Deminutiva auf -Jcen, dass von-wegen, achter, teghen, behüf, efft „oder", yo „je"
vorkommen; ich notire noch grope „Topf", möne, medder „Muhme", bode „Bude",
halle, hop , scher ne , harke, knuppel , over legge „übrig" (Calbe overlei) , brederinne
„Strickerin", die beliebte Phrase tö kort werden für „sterben" (Germ. 10, 405):
auch die Namen zeigen vielfach niederdeutsche Bildung. Es ist , um auch den
für Halle und Calbe bezeugten Wortschatz zu streifen, gewis charakteristisch,
dass Eike, wie er ermel wählt st. momve , so auch mantel sagt und nicht hoike,
fürspan und nicht hetze, käste oder lade nnd nicht schidele, bütel und nicht neser,
küssen und nicht pust oder kolte, koiiflüte und nicht hoken, becher (als Mass) und
nicht notsei oder stoveken, stat und nicht blek u. s. w., dass er mit einem Worte
der rein localen Ausdrücke seiner Heimat sich enthält zu Gunsten des Ge-
meindeutschen *).
Ich notire endlich aus den Aken er Aufzeichnungen (auch in Halle oft)
die sehr häufige Wendung k Inder telen oder krigen , ferner roden „ernähren"
2067, quit 1955. Auch diese Worte, denen ich noch trecken und Mfen anreihe, feh-
len im Sachsenspiegel, während allerdings niederdeutsche Handschriften sie brin-
gen. Ich habe diese Gruppe für sich genommen , weil sie nicht exclusiv nieder-
1) echt „ferner" ist in den Anhalter Urkunden sehr beliebt: wie nahe lag es für Eike statt
des überleitenden uk (ouch) !
8
DIE KELMVORREDEX DES SACHSENSPIEGELS. ll»l
deutsch ist: trecken, vöden und Ufen kommen mitteldeutsch nicht ganz selten, 'Äv/'v™
und das Lehnwort quit sogar sehr häufig vor: ihr eigentümliches Gebiet ist/freilich
durchaus der niederdeutsche Boden, wo sie sämtlich beliebteste Worte sind. Die
andern, auch die hochdeutsch dichtenden Schriftsteller Sachsens im 13. Jahr-
hundert teilen denn auch Eikes Sprödigkeit nur sehr bedingt. Ja, warum ziehl
denn nun Eike I 62 N. 6 das züt dem trecket vor, warum II 36 N. 17. 46. 40 N. 12.
54 N. 5 ebenso das zin oder etzen dem vöden, warum lässt er nicht kifen, das
niederdeutsch durchaus einen edeln Begriff haben kann, statt zweien zu (Lehnr. 70
N. 3), warum sagt ihm gewinnen und bekomen (c. Gen.) mehr zu als krtgen , das
I 31 N. 14. 48 N. 8a. 70 N. 19 und jedesfalls noch öfter in niederdeutschen Hand-
schriften sich zeigt? Was empfahl ihm ledie, ante, gelöset 11(11 N. 20.) 24 N. 4.
III 6 N. 5. 10 N. 12. 34 N. 9 u. ö. vor diesem quit, zu dem niederdeutsche Hand-
schriften so gern greifen? Hier war nicht die Frage: hochdeutsch oder nieder-
deutsch; hier entschied ein Umstand, den wir namentlich bei kr/gen und Mfen. aber
auch bei den andern, Eike noch heute nachfühlen können: es waren Worte
der Alltagsrede1). Und das bestimmte wol auch sonst Eikes Wortwahl.
Eike strebt nach einer erhöhten Sprache, die litterarischen Ansprüchen ge-
nügen kann, und das verbannt im Ganzen die niederdeutschen Besonderheiten
der Heimat, nicht weil sie niederdeutsch, sondern weil sie vulgär waren.
Denn den Massstab musste bei solchem Bemühen das Hochdeutsche abgeben :
auch Eike hat nicht den Mut , gegenüber der herschenden Schriftsprache dem
Wortschatz der Mundart sein Recht auf edlen Gebrauch zuzugestehn : diesen
Mut erwirbt sich die mittelniederdeutsche Litteratur erst ganz allmählich, ihn
steigernd bis ins 15. Jahrhundert herein.
Dass Eikes eigentümliche Wortwahl aus seinem Thema , aus den Anfor-
derungen juristischer Darstellung hervorgegangen sein sollte, ist von vornherein
unwahrscheinlich : stammten doch aus der Rechtssprache grade die frappantesten
plattdeutschen Bestandteile seiner Rede. Das ist ja wahr : das Recht drängt
zu einer gleichmässig präcisen Darstellung, die zu verarmender Auswahl nötigt,
und unzweifelhaft erlegen sich auch spätere mittelniederdeutsche Rechtsdenk-
mäler Beschränkungen im Wortgebrauch auf, die das freie Spiel der Mundart
ausschliessen. Aber , für sie bildete einmal der Sachsenspiegel selbst das
übermächtige Vorbild, und anderseits: von der leidlich geschlossnen . jedesfalls
bewussten Enthaltsamkeit Eikes ist in ihnen keine Rede. Selbst die Richt-
steige, die schon durch ihren Inhalt sich zu engstem Anschluss an Eike bekennen,
sagen doch z. B. wanner, nachtun, Vister, deger, tegen, krigen, kif\ führen Worte
wie dr'tst, enkede, twiden, stolinge, side „niedrig", echt „abermals" und manches
Aehnliche, schroff Niederdeutsche ein. Und das lübische Recht, das ich durch
Frensdorffs Güte in der ältesten Elbinger Handschrift2) lesen durfte, hat von
1) Ich verkenne nicht, dass über das, was in Mitteldeutschland als alltäglich, als uicht litte-
raturfähig galt, zum Teil der oberdeutsche Sprachgebrauch entschied.
2) Auch seine Abschrift der Kopenhagener Handschrift hab ich eingesehen. «
102 GUSTAV ROET1IE
Worten, die wir bei £ike gradezu verraissten, ofte „oder" (sehr häufig), to höpe,
tö gadder, achter, deger, dus, ferner krigen, vöden, behöven, behöf, blster, legem, tö
kort werden, schelinge, van - ivegen, lenc, halfte, gar nicht zu reden von den vielen
ausgesprochen niederdeutschen Worten , die es sonst auf viel , viel kürzerra
Räume als der Sachsenspiegel vereinigt. Jeder solcher Vergleich bestätigte mir
Eikes sprachliche Sonderstellung.
Ihr Wesen ist, dass Eike eine temperierte Sprache wählte. Ich bilde mir
nicht ein, erwiesen zu haben, dass er hochdeutsch schrieb ; das aber hoffte ich er-
weisen zu können, dass er nicht in unbefangnem Niederdeutsch sich bewegt. Die
gewählte Litteratursprache temperirt stets: temperirend steht gleich die mittel-
hochdeutsche Dichtersprache über den Mundarten. Sie erreicht damit ein Dop-
peltes: sie ist weit über die engen Grenzen des Dialekts verständlich und wahrt
sich ausserdem eine über das Alltägliche herausragende Würde. Beides konnte
auch Eike brauchen. Die Grundstimmung des Sachsenspiegels ist immer noch
niederdeutsch: wie sollte es anders sein? Aber was Eike selbst als dialektisch
empfand , das hat er wol gemieden. Nicht die paar hochdeutschen Ausdrücke,
die sich vielleicht im Sachsenspiegel aufspüren liessen, sind die Hauptsache:
das Entscheidende liegt mir in dem, was Eike fern hält.
Im Grunde ists mit der Sprache der sogenannten mittel u lederdeutschen
Dichter des 13. Jahrhunderts nicht viel anders. Trug Eike chh? Rechtssprache
obligate, meist niederdeutsche Termini zu, so mussten die Epiker und Lyriker
eine ebenso obligate süddeutsch gefärbte Minne- und Ritterterminologie über-
nehmen. Was sonst übrig bleibt , trägt ähnlichen Charakter : ja Eike ist fast
spröder gegen die niederdeutschen Idiotismen. Hatte ich Recht, wenn ich bei
den hochdeutsch scheinenden Worten dulden, und sän an den Reimgebrauch
erinnerte, so ist die Anknüpfung an die hochdeutsche poetische Litteratursprache
noch näher gelegt.
Und nun greifen wir zurück zu der Reimvorrede ! Sie trug genau denselben
sprachlichen Charakter , wie wir ihn jetzt dem ganzen Texte vindicirt haben :
nicht ausgeprägt hochdeutsch, nicht deutlich niederdeutsch, und doch mit Spuren
von beiden, alles Scharftrennende grade im Reime fast geflissentlich vermeidend,
daher in beiden Lautgestalten allenfalls denkbar und in beiden Lautgestalten
tatsächlich verbreitet. Bei der Reimvorrede aber entschied der Gesamtcharakter
der mittelniederdeutschen Reimsprache des 13. Jahrhunderts; wir können kaum
zweifeln , dass es in ihr daz heissen sollte. Es ist nicht der geringste Grund,
die Sprache des Textes anders zu beurteilen. Wenn Eike das Dialektische mied,
nun, sollte er dat nicht als dialektisch empfunden haben? Ich bin überzeugt,
dass in Eikes Originalhandschrift meist daz und zu gestanden hat ; sie mag
sonst orthographisch bunt genug ausgesehen haben. Musste Eike wählen , so
diente er dem zwiesprachigen Publikum , für das er schrieb , durch die mittel-
deutsche Lautform — nur sie ist natürlich gemeint, wenn ich an eine hoch-
deutsche Abfassung denke — weitaus am besten. Es war ebenso für ihn , den
auf mitteldeutschem Boden Vielbekannten, natürlicher wie für seine Leser prak-
8
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 103
tischer, wenn er die geprägte Literatursprache auch in der Lautform wählte,
wie sie ihn sonst leitete. Wohl möglich, dass die Sprache des Magdeburger
Rechts unmittelbar an Eikes entscheidenden Vorgang anknüpfte.
Aber ich tue alsbald einen Schritt zurück. Müssen wir denn wirklich sagen
aut — aut? Gibt es hier nicht auch ein et — et? Soll tatsächlich die grosse, von
eigentümlichen Vorzügen begleitete niederdeutsche Ueberlieferung nur quasi per
nefas entstanden sein? Soll sich Eike, dem Menschenkenner, nicht alsbald auf-
gedrängt haben, dass die hochdeutsche Fassung grade bei einem Werke, wo
jede Silbe ins Gewicht fallen konnte, die niederdeutsch Sprechenden unter Um-
ständen irreführen oder doch unsicher machen musste? Warum soll er nicht
selbst niederdeutsche Ausgaben veranstaltet haben? Warum soll er die Tem-
perierung nicht alsbald unter dem praktischen Gesichtspunct einer möglichen
sprachlichen Doppel form angesehen haben?
Die deutsche Philologie beachtet, will mir scheinen, nicht genug die Wahr-
scheinlichkeit , dass das Interesse, ja die Arbeit eines Schriftstellers an seinem
Werke nicht aufhöre mit dem Augenblicke, da er es publicierte. Mit doppelten
Fassungen, die bis auf den Autor zurückgehn, wie sie Edw. Schröder für das
Passional erwiesen hat, sollte man wahrscheinlich mehr rechnen als geschieht.
War doch der Dichter in der Regel wol auch sein Verleger , wenigstens der
Epiker und Didaktiker. der nicht durch den musikalischen Vortrag seiner Dich-
tungen ernten konnte. Sollte denn der Gedanke, eine erfolgreiche, vielverlangte
Dichtung für sich selbst gewinnbringend zu machen , diesen mittelalterlichen
Autoren so fern gelegen haben? Dass die berühmten althochdeutschen Schrift-
steller Otfrid, Notker, Williram Abschriften vertrieben, wissen wir, bei Williram
zumal sind wir der finanziellen Hintergedanken ganz sicher. Warum sollte es
im 12. und 13. Jahrhundert anders gewesen sein ? Jedes Dedicationsexemplar
konnte einen Anspruch auf Lohn in sich schliessen : wir wissen das aus den
Tagen der Humanisten. Noch Hans Sachs veranschaulicht die geschäftliche Be-
triebsamkeit des mittelalterlichen Poeten. Ich zweifle z. B. gar nicht, dass
Wolfram für Vervielfältigung seiner Dichtungen auch geschäftsmässig gesorgt
hat : erleichterte er sich doch die Controle, ob die beauftragten Schreiber richtig
schrieben, nichts ausliessen, durch seine bekannten dreissigzeiligen Spalten. Es
ist nur wahrscheinlich, dass eine solche Production unter den Augen des Autors
auch vermehrte und verbesserte Auflagen zur Folge hatte.
Weiland sieht bekanntlich in den verschiednen Fassungen der sächsischen
Weltchronik lauter verschiedne Bearbeitungen des Verfassers. Auch die Ansicht,
Eike habe wenigstens einen Teil der Zusätze verfasst, die in der A-Redaction
des Sachsenspiegels fehlen, ist viel vertreten. Nichts hindert anzunehmen, dass
Eike auch sprachlich verschiedne Redactionen ausgehn Hess , wie sie der prak-
tische Bedarf schnell heischen musste : die gewählte Sprachform machte eine
Uebertragung ins Niederdeutsche zum Kinderspiel. So würde sich alles gut
erklären. Zuerst ein einheitliches Werk in der Eike geläufigen mitteldeutschen
Literatursprache ; dann niederdeutsche oder hochdeutsche Ausgaben, nach Ver-
e
104 GUSTAV ROETHE,
langen; dabei mags denn vorgekommen sein, dass auch einmal die hochdeutsche
Reimvorrede neben den niederdeutschen Text geschrieben wurde. Eine derartige
niederdeutsche Ausgabe könnte dann der niederdeutschen Originalprosa direct
den Weg gebahnt haben ; sie würde es allenfalls erklären, wenn in der Sächsi-
schen Weltchronik wirklich auf hochdeutsche Verse ein niederdeutscher Text
von vornherein folgte. Der Text der Gothaer Handschrift scheint mir, trotz
sehr beträchtlichen hochdeutschen Zügen, in der Hauptsache niederdeutsch, auch
abgesehen von dem Lautlichen Aber das schliesst nicht aus, dass etwa das
Original der (nur hochdeutsch erhaltnen) ältesten Redaction A auch hier zu-
nächst hochdeutsch war. Ich bin nicht gewillt und nicht gerüstet, in diese ver-
wickelte Frage einzutreten , und es bedarf dessen hier nicht. Die Verbindung
hochdeutscher Verse mit niederdeutschem Text, bei Eike erst ein Resultat der
Textgeschichte, kann der Nachfolger nach dem gegebnen Muster von vornher-
ein gewagt haben.
Und so stünde Eike schliesslich doch am Eingang der wirklich mittelnieder-
deutschen Litteratur, stünde etwa da mit einer Selbstübertragung. Den Schritt
von der mitteldeutschen Schriftsprache zur niederdeutschen, wozu die niederdeutsche
Dichtung anderthalb Jahrhunderte brauchte, ihn würde der erfahrne, vielbewan-
derte und selbständige Mann gefunden haben schlechthin aus dem Drange des
Lebens heraus. Die Befreiung von der hochdeutschen Tradition vollzog sich nur
halb ; die niederdeutschen Ausgaben erschienen auch ihrem Autor gewiss, als
Ausgaben zweiten Ranges : aber jeden Folgenden drängten sie weiter auf der
Bahn. Und solchen Fortschritt könnte immerhin schon die Weltchronik bedeuten :
wie ihre erste Fassung auch beschaffen war, ihre letzte (C) scheint in der Wort-
wahl über Eike hinausgegangen.
VI.
Als stud. Wolfgang Goethe anno 1771 die Positiones juris rüstet, über die
er pro licentia disputiren will, da fällt ihm auch (LIV) die lex Saxonica ein,
„quae non nisi confessum et convictum condemnari vult". Kein sehr präcises
Resume ; man möchte zweifeln, ob er den Sachsenspiegel überhaupt meint : doch
zielt er vielleicht1) auf das seltsame sächsische Sonderrecht 118,2, das dem
Sachsen den Reinigungseid gestattet, selbst wenn seine Schuld offenkundig ist.
Freilich: lex aequissima ? Vier Jahre drauf bewährt er eine um so bessere Kennt-
nis der ersten Praefatio, die er, wie Homeyer wusste längst eh die Philologen
das nochmals entdeckten , zu köstlichen Spottversen auf Nicolais philisterhaft
niedrige Wertherkritik verwertete : es ist gesund und wolbegreiflich , dass den
in allen Stürmen des Beifalls und der Entrüstung seiner selbst Frohsichern
grade diese Praefatio anzog, die mit einem übermütigen Selbstgefühl die Kläffer
scheucht, .wie es das Mittelalter selten so herzhaft aussprach. Vielleicht aber
« 1) Ich gebe hier einen Gedanken Frensdorffs wieder.
DIE REI.MVORREDEX DES SACHSENSPIEGELS. 105
hat sich noch ein weitres Mal jene Reimvorrede, und diesmal Eikes eigne Verse
für den jungen Juristen bewährt, der grade an dem alten Juristen deutsche Art
und Kunst wol schätzen durfte.
Ich meine das Epigramm „Sprache", das Goethe im Frühjahr 1773 verfasst
haben wird *) :
„Was reich und arm! Was stark und schwach!
Ist reich vergrabner Urne Bauch?
Ist stark das Schwert im Arsenal?
Greif milde drein, und freundlich Glück,
Fliesst Gottheit von dir aus !
Fass an zum Siege, Macht, das Schwert,
Und über Nachbarn Ruhm!"
Das Ganze ist eine Art Rätsel, dessen Auflösung der Titel gibt. Ein Ge-
spräch ist etwa vorangegangen über Reichtum und Kraft deutscher Sprache im
Vergleich zu andern, und Vorwürfe sind vielleicht laut geworden, wie sie der
Dichter der Venetianischen Epigramme besser verstand. Aber der Jüngling glaubt
mit Klopstock die Muttersprache ,,an mannigfacher Uranlage zu immer neuer,
und doch deutscher Wendung reich"; nur der Mann tut Not, der ihre Schätze
hebe und spende, der ihr den rechten Arm leiht und sie zu brauchen weiss.
Und auch den Mann glaubt er wol zu kennen, die Männer. So wagt er denn
auf der Stelle etwas. Das Epigrathm ist trefflich gegliedert : zwei Bilder für
die schlummernde Fülle und Kraft der Sprache wechseln gleichmässig, in genau
entsprechender Construction, jedesmal etwas voller: zuerst je ein Halbvers, dann
je ein Einzelvers, endlich je ein Verspaar; der Parallelismus geht bis ins Kleine,
er muss und kann bei der Erklärung leiten. Und trotzdem macht das Gedicht-
chen dem Verständnis Schwierigkeit : der Poet hat, in dem Wunsche die „wahre
In Schriftsprache" zu treffen, Wortstellungen gewagt, die der antike Dichter
wagen durfte, nicht der deutsche. Man erinnre sich: es ist die Zeit, da Goethe
feiert „tändelnden ihn Anakreon", italtpvx cwtöv. Das Schwere sind die letzten
Zeilen. Voran je einer jener hübschen conditionalen Imperative: , .Greif milde
drein", „Fass an zum Siege", d. i. wenn du herein greifst, anfasst. Den Nach-
satz leitet beidemal „und" ein. Beide Nachsätze haben das gemeinsame Verbum
„fliesst von dir aus", ein leises Zeugma kann nicht beirren. Und beide Nach-
sätze zeigen zwei asyndetische Subjecte. In Prosa also: „Greifst du, freigebig
auszustreuen, in die Schatzurne, so fliesst freundliches Glück, fliesst Gottheit
von dir aus. Greifst du , Sieg zu erringen , zum Schwerte , so ist Ruhm über
die Nachbarn, ist Macht über die Nachbarn dir beschieden". Das Stärkste
vom Starken ist die Stellung von „Macht", das eigentlich letztes Wort des
ganzen Gedichtchens sein müsste und jetzt, obgleich Subject des Nachsatzes, sich
zwischen Verbum und Object des Vordersatzes drängt. Hier mutet Goethe den
„am Kreuz der Grammatik" steif gewordnen Gliedern der Sprache denn doch
1) Ich interpungire genau, wie es der Göttinger Musenalmanach von 1771 (S. 75) tut.
idi
3 0
Abbdlgn. d. £. Ges. d. Wiss. zu Göttingen. PkU.-bist. Kl. ^ F. Hand 2. i. J *
106 GUSTAV ROETHE,
etwas zu, was sie nicht leisten konnte; Lier spielt er und künstelt in iorcirter
Verwegenheit. Immerhin, es vergleicht sich, wenn einst Logau (II 1, 59), frei-
lich einfacher, wagte:
Das Reichthum ist die Frau ; die Tugend ist die Magd ;
Der mit der Magd, der triffts, es für die Frau gewagt.
Auch hier der Vordersatz durch den Nachsatz zerrissen : ungeduldig drängt
sich das Resultat herein in die Vorbedingungen. Zu Beobachtungen über eine
künstliche Symmetrie, wie man sie grade in dieser Zeit und in diesen Gedichten
am Wenigsten erwartet, geben auch die übrigen freirhythmischen Gedichte jener
Frankfurter Jahre überraschende Gelegenheit.
Minor hat an verschiedenen Stellen (vor allem Stud. z. Goethephilol. 47 ff.
85 ff.) den Gedankengehalt des Goethischen Epigramms mit Hamann und Herder
in Verbindung gebracht. Im Kerne gewis richtig: sie waren die begeisterten
Propheten des sprachlichen Schatzgräbertums, zu dem sich auch Goethe bekennt.
Aber das Bild vom Schatze, wie Goethe es braucht, stimmt nicht zu den ähn-
lichen und doch verschiednen Schatzbildern, die Minor anführt: wenn Hamann
von dem Schatze redet, des das Genie allein würdig waltet, so denkt er an einen
grossen Staatsschatz, und wenn Herder mahnt, das Innere unsrer Erde, in deren
Schooss noch unbekannte Schätze ruhen, hervorzugraben , so nimmt er das Bild
vom Bergbau : das Genie „gräbt in die Eingeweide der Sprache wie in die
Bergklüfte, um Gold zu finden". Goethe aber denkt an den Geizhals, der ängst-
lich seinen Schatz verbirgt: ihn mahnt er: „greif milde drein!" Das Bild hat
mit Herder und Hamann nichts zu schaffen.
Es ist dasselbe Bild , das uns schon oft beschäftigt hat , das Bild vom
Schatze der Kunst, das beherschend im Mittelpunct von Eikes Versen steht.
Und zwar verwendets Goethe grade in der Ausprägung, die Eike dem biblischen
Gleichnis gegeben : auch bei Goethe liegt neben Jesus Sirachs Spruch der Ge-
danke des Sprichworts „der Milde gibt sich reich, der Geizhals nimmt sich arm"
im Hintergrunde. „Greif milde drein" und du bist reich ; „fass an das Schwert"
und du bist stark.
Wie sollte Goethe hier nicht wirklich an Eike gedacht haben, dessen Verse
er so gut kannte ! Nur bei ihm fand er Alles , was er brauchte , zusammen :
den vergrabnen Schatz des Geizigen, das Thema: was reich und arm?, die ab-
stracte Anwendung auf den geistigen Schatz , auf die Kunst , die Goethe natür-
lich als unser „Kunst" gefasst hat; ja, er fand hier auch die Mahnung: und wese
milde \ „greif milde drein!" Vielleicht verrät ihn dies „milde". Burdach hat schon
Zs. f. östr. Gymn. 1882 S. 668 sich feinfühlend an dem Worte gestossen ; er
zieht seine Bedenken dann freilich zurück. In dem alten Sinne von , freige-
big" war das Wort dem 17. Jahrhundert noch geläufig, im 18. veraltet es sicht-
lich. Das ist ja richtig: die altern Dichter brauchen es noch unbedenklich:
1779 leugnet AlHafi Nathans „Milde" und beklagt sich über Saladins „Milde".
Aber eben zwischen Lessing und Goethe liegt die sprachliche Kluft, die in
e
DIE REIMVORREDEN DES SACHSENSPIEGELS. 107
diesem Falle Volkslied und Sprichwort immerhin überbrücken mochten. Burdach
hat gewis richtig gefühlt : Goethe braucht das Wort hier anders , als es ihm
sonst geläufig ist: warum eine andre Quelle suchen als Eike? Der Dichter hat
das Ethos der Eikischen Mahnung gradezu misverstanden , er bemüht sich, das
,, milde" der Quelle mit dem ,, milde" seines Sprachgefühls zu vermitteln und
lässt nicht „Reichtum", sondern „freundlich Glück", ja „Gottheit" von dem Spen-
denden ausfliessen; er trägt mehr Gemütsgehalt in das Wort herein als das bei
Eike der Fall und als es im Zusammenhang des Goethischen Epigramms irgendwie
erfordert wird: es sieht aus, als ob die Differenz sprachlichen Empfindens ihm
die Gedankenbahn störend gekreuzt habe.
Und statt Eikes „Kunst" setzt Goethe „Sprache". Fiel grade dem Dichter
doch beides nahe zusammen ! In diesem Tausch wird wirklich Herders, Hamanns,
Klopstocks Einßuss sich fühlbar machen. Uns aber hat das Quidproquo einen
erwünschten Nebensinn. Es ist doch ein hübscher Zufall, dass der Gewaltigste
deutscher Sprache in seinen frühsten Versen zu ihrem Lobe, in dem Almanach
niederdeutschen Bodens nicht nur die grossen norddeutschen Erneurer der
modernen deutschen Sprache Klopstock, Hamann, Herder zu Worte lässt, dass
hier auch Worte und Gedanken des alten Juristen erklingen, der mehr als ein
halbes Jahrtausend früher der norddeutschen Literatursprache , im Grunde als
Erster, den Weg geöffnet hat.
Inhalt.
I. Die beiden Reimvorreden haben verschiedene Verfasser. 5
Inhalt und Gedankengang der beiden Vorreden 5; Disposition 8; bildliche Rede 9;
Anklänge und Citate 9; — Metrik: Gesamtcharakter 11; Versbau der strophischen
Vorrede 12 ; Eikes Keimpaare 13 (Versumfang 13, Reimgeschlecht 14, Tactfüllung 14,
Auftact 16, Fehlen der Senkungen 16); metrischer Charakter der Declamationsstro-
phik 19; — Sprache der strophischen Vorrede 20.
II. Die Sprache der Eikischen Reime 21
Eikes Heimat Reppichau 21; sprachliche Quellen (Schöffenbücher und Urkunden) 22;
der Reim tcat : hat 24; niederdeutsche Reime 24; hochdeutsche Reime 25; die 3. Pers.
Plur. Präs. Indic. 26; Wortschatz 27; Eike dichtet in temperirter Sprache 28.
III. Die Dichterspraehe Niederdeutschlands im 12. und 13.
Jahrhundert 29
"VVernher v. Elmendorf hat Eike beeinflusst 29; hochdeutsche Reime der frühmittel-
niederdeutschen Dichter 31 ; ihr Wortschatz 32; sprachlicher Charakter der Ueber-
lieferung 33; der Göttinger cod. theol. 153: 35; — Wernher v. Elmendorf 36 ; andre
Reimpaarpoeten 37; Brun von Schonebeck 37; die Braunschweigische Reimchronik 38
(Lautliches 38, Flexion 39, Wortbildung 41, Wortwahl 42); Berthold von Holle 45
(Reime 45, Wortwahl 47); Eberhard von Gandersheim 48 (Reime 48, Wortwahl 50);
Pfaffe Konemann 52 (Wortwahl 52, Reime 54); Loccumer Fragment 110; — Lyriker:
Graf von Anhalt und Otto IV. von Brandenburg 59; Reinolt von der Lippe 59; Raums-
land von Sachsen 59; Hermann Damen 60; Wizlaw von Rügen 60; — Alter der
mittelniederdeutschen Litteratur 63; ihr abhängiger Charakter im 13. Jahrhundert 64;
Phasen ihrer selbständigen Entwicklung 66.
IV. Homeyers Be. weise für die niederdeutsche Abfassung
desSachse n spiegeis 67
Mitteldeutsche Vorrede zu niederdeutschem Werk? 67; die Vorrede der sächsischen
Weltchronik 6S ; die mittelniederdeutsche Prosa des 13. Jahrhunderts 69; — Eikes
Heimat und Publikum 70; Sprache der Sachsenspiegelhandschriften 71 (hochdeutsche
Handschriften 72 ; niederdeutsche Handschriften 73); durchschimmernde Originalles-
arten 75 (Niederdeutsches 75 ; Hochdeutsches 76).
INHALT. 10 9
V. Die Sprache des Sachsenspiegels 77
Spuren des ursprünglichen Lautstandes 78; Wortbildung 80 (Deminutiva 81 , Substan-
tivgeschlecht 81, luttel, luttic 82, Adverbia 82, Verbalbildung 83); Syntax 83 ; syn-
taktische Formwörter 84 (Conjunctionen 85, sän 87); — Wortwahl: Bedeutung der
handschriftlichen Varianten 88 ; altertümliche und veraltende Worte 89 ; Termini der
Rechtssprache 91; niederdeutsche Worte Eikes-93; hochdeutsche Worte 95 (Verba 95,
Nomina 97, Adverbia 98); verschmähte niederdeutsche Worte 99; Vergleich mit dem
Wortschatz der Eikischen Heimat 100; Abneigung Eikes gegen die Alltagsrede 101;
aus dem Wortschatz andrer niederdeutschen Rechtsbücher 101 ; die Sprache des
Sachsenspiegels war temperirt hochdeutsch 102; hatte Eike auch an der niederdeutschen
Gestalt des Sachsenspiegels Anteil? 103.
VI. Goethes Epigramm „Sprache" 104
Nachträge und Berichtigungen 110.
AMidlga. d. K. Ges. d. Wiss. zu Gfittingen. Phil.-hiet. Kl. H. F. Band 2, 8. 15
1
110
Nachträge und Berichtigungen: S. 38 Z. 31 streiche man die Worte: „orte —
5500 3)«. _ s. 43 Z. 7: Bech schlägt Germ. 23, 153 rast st. ast vor. — S. 43 Z. 19 ist off etliche
besser zu streichen; das mnd. Wörterbuch kennt freilich nur openbarliken und opekeliken, opelken,
und Walther bezeichnet opentlik ausdrücklich als spätes Wort: aber as. ist opanliko vorhanden,
und z. B. in den Anhalter Urkunden dient openlike, opentlike u. ä. als ständiges Einleitungsingre-
diens (z. B. III 194 N. 299, Apr. 1315 [Cop.], 268 N. 409, Mz. 1321 [gleichzeit. Cop.], 438 N. 611,
Oct. 1332 [Orig.] ; opeliken oft). Das mnd. -like, das so oft zu -leke, -Ike wurde, war zu Reimen
z.B. auf rffce, rieht überhaupt weniger geeignet als hd. -liehe; für off ertlich \ kreftich : Heinrich 5006
ist auch diese Erwägung nicht von Belang. — S. 44 Z. 15: vlucht ist vereinzelt auch hd. ; *twint
8359 (hd. quini) ist sonst nur mnl. belegt (Weiland vermutet wint). — S. 59. 63. 65 : Ob in diese
Reihe auch das Loccumer Fragment eines nd. überlieferten Artusgedichtes gehört,
das Borchling eben GGN, gesch. Mitt. 1898 S. 186 ff. mitteilt? Es zeigt engen Zusammenhang mit
Wolfram ; unter den wenigen gesicherten Reimen befindet sich gescah : sprach ; auch seluer und an-
dere -er-Formen, dann etwa hertes gewige (nd. tünch, hörn), kaum die ,?-Worte ciren, struz, sc je (?),
Hessen sich für md. Einflüsse oder Vorlage anführen. Andere möglicherweise md. Züge, wie die
Negat. niet, wie hir, dannen (mnd. selten), jungelinc (mnd. selten und nur poet.) , an sich schon
wenig beweisend, sind hier besonders zweideutig, da gewisse Spuren in der Schreibung der Hs.
(so ch, ons) nach dem fränkischen Westen deuten und mnl. Einwirkungen in Gesichtsweite
rücken. Alter und Charakter der nd. Ueberlieferung trennen das Gedicht von den übrigen be-
sprochenen. Zu einer Antwort auf die Frage reichen die geringen , schlecht erhaltnen Reste
rieht aus.
015 14
BINDING SECT. JUN 23 1970
demie der Wissenschaft
Gbttigen. Fhilologisch-
G812 Historische Klasse
Abhandlur:
Bd. 2
ULATE AS MONOGRAPH
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