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ABHANDLUNGEN 
DER  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN  IN  GÖTTINGEN 


ABHANDLUNGEN 

DER  AKADEMIE  DER  WISSENSCHAFTEN 

IN  GÖTTINGEN 


PHILOLOGISCH-HISTORISCHE   KLASSE 

Neue  Folge 
Band  2 


Unveränderter  Nachdruck 

mit  Genehmigung 

der  Akademie  der  Wissenschaften 

in  Göttingen 


Kraus  Reprint 

A  Division  of 

Kraus-Thomscn  Organization  Limited 

Nendeln/Liechtenstein 

in  Verbindung  mit  Vandenhoeck  &  Ruprecht 

Göttingen 

1970 


s 

blij 


Printed  in  Germany 
Lessingdruckerei  Wiesbaden 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN 


ZU  GÖTTINGEN. 


PHILOLOGISCH -HISTORISCHE  KLASSE, 


NEUE  FOLGE.     BAND  II. 

AUS  DEN  JAHREN  1897  —  1899. 

Mit  2  Tafeln  und  7  Karten. 


BERLIN. 

WEIDMANNSCHE   BUCHHANDLUNG. 

1899. 


Inhalt. 


M.  Wellmann,  Krateuas.     Mit  2  Tafeln. 

R.  Smend,    Das  hebräische  Fragment  der  Weisheit  des  Jesus  Sirach. 

A.  Schulten,    Die  Lex  Manciana. 

G  Kaibel,  Die  Prolegomena  nsgl  xay^Kpdiag. 

F.  Bechtel,  Die   einstämmigen   männlichen  Personennamen  des  Griechischen,    die 

aus  Spitznamen  hervorgegangen  sind. 

W.  Meyer,    Die  Spaltung  des  Patriarchats  Aquileja. 

A.  Schulten.   Die  römische  Flurtheilung  und  ihre  Reste.     Mit  5  Figuren  in  Text 
und  7  Karten. 

G.  Roethe,    Die  Reimvorreden  des  Sachsenspiegels. 


ABHANDLUNGEN 
DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH -HISTORISCHE  KLASSE. 
NEUE  FOLGE   BAND  2.  Nro.  1. 


KRATEUAS. 


Von 


M.  "Wellmann 

in  Stettin. 


Mit  zwei  Tafeln. 


Berlin, 

Weidmannsche   Buchhandlung. 
1897. 


Krateuas. 

Von 

M.  Wellmann  in  Stettin. 

Mit  zwei  Tafeln. 
Vorgelegt  von  Herrn  F.  Leo  in  der  Sitzung  vom  20.  März  1897. 


Von  dem  botanisch  -  pharmakc  ogischen  Werke  des  Krateuas,  des  Leib- 
arztes des  grossen  Mithridates  VI  Eupator  ,  sind  zwar  Bruchstücke  in  nicht 
geringer  Zahl  von  Dioskurides,  Plinius,  Galen  und  von  den  Commentatoren  des 
Theokrit  und  Nikander  erhalten ,  sie  sind  aber  bis  auf  wenige  Ausnahmen  so 
wenig  umfangreich,  dass  sie  einen  volleren  Einblick  in  seine  Art  der  Behand- 
lung jenes  seit  dem  Beginn  des  4.  Jhs.  oft  genug  von  den  Aerzten  tractierten 
Zweiges  der  medicinischen  Wissenschaft  nicht  gestatten.  Die  Erkenntnis ,  die 
wir  durch  sie  gewinnen,  dass  er  die  von  ihm  behandelten  Pflanzen  beschrieben  '), 
mit  Synonymen  versehen2)  und  ihre  medicinischen  Wirkungen  angegeben  hat3), 
ist  nur  insofern  von  Bedeutung,  als  sie  uns  zu  der  Schlussfolgerung  zwingt,  dass 
sein  Werk  im  Allgemeinen  in  der  Behandlung  des  Stoffes  dem  des  Dioskurides 
geglichen   hat.     Der  Titel   lautete   nach   dem   unanfechtbaren  Zeugnis  des  Scho- 


1)  Vgl.  Diosk.  praef.  2.  I  28,  43.  II  153,  271.  II  185,  296.  Schol.  Nik.  Ther.  617  =  D.  IV 
162,  651.  Schol.  Nik.  Ther.  856.  860.  Schol.  Theokr.  U  48.  Vgl.  Herrn.  Köbert  de  pseudo- 
Apulei  herb,  medicaminibus,  Bayreuther  Programm  1888,  17. 

2)  Plin.  XIX  165.  D.  II  185,  296.  IV  35,  531.  IV  75,  569.  Schol.  Nik.  Ther.  617.  656. 
858.  860. 

3)  Plin.  XXIV  167  =  D.  IV  116.  Plin.  XX  63  =  D.  II  165.  Plin.  XXII  75.  Schol.  Nik. 
Ther.  680.  683.    Schol.  Theokr.  XI  46.    D.  II  185,  296. 

1* 


4  W.    WELLMANN, 

liasten  zu  Nikander  Ther.  681  pt£orofwxoV 4)  d.  h.  Wurzel-  oder  Kräuterbuch, 
ein  Titel ,  der  ihm  den  Beinamen  des  Kräutersammlers  (pt^ordfiog)  xaz1  i%oxtfv 
einbrachte,  und  über  die  Bücherzahl  erfahren  wir  von  dem  Verfasser  der  pseu- 
dogalenischen  Schrift  de  virtute  centaureae,  dass  es  aus  mindestens  drei  Büchern 
bestanden  hat.  Mit  diesem  Titel  ist  eine  Notiz  des  Galen  (XV  134)  unverein- 
bar ,  in  der  ausdrücklich  von  ihm  auch  die  Behandlung  der  medicinischen  Wir- 
kungen der  Metalle  in  der  Art  des  Dioskurides  bezeugt  wird :  iya  psv  ya,Q  ov 
cpsvya  xä  nccXccia  xqityjqlcc  xccl  tr\v  6v^,(pcovCav  tav  l<SxoQY\<5dvT&v ,  xccl  {idliözcc  dv 
stineiQog  xi]g  löroQOv^tvrjg  vXrjg  sl'rjv,  (öötisq  Evdr}{iog  ^lbv  xccl  'HgocpiAog  dvato^rlg, 
Kgccrevag  Ö£  xccl  4ioöxovQidr\g  r&v  yLsraXlixüv  (pctQudxcov.  Gestützt  wird  dies 
Zeugnis  des  Galen  durch  die  Charakteristik ,  die  Dioskurides  in  der  Vorrede 
seines  Werkes  von  ihm  giebt :  „  Jollas  von  Bithynien  und  Herakleides  von  Ta- 
rent  haben  diese  Materie  nur  oberflächlich  abgehandelt,  da  sie  die  Beschrei- 
bungen der  Pflanzen  gänzlich  bei  Seite  gelassen  sowie  die  Metalle  und  Specereien 
nicht  alle  behandelt  haben.  Krateuas  dagegen  der  Rhizotom  und  Andreas  der 
Arzt,  welchen  das  Verdienst  gebührt,  dass  sie  die  Arzneimittellehre  genauer  als 
alle  übrigen  behandelt  haben,  haben  viele  sehr  wirksame  Wurzeln  und  einige 
Pflanzen  unbeschrieben' (cc7taQa67]U£icjtovg) 5)  gelassen".  Hätten  die  beiden  zuletzt 
genannten  Vorgänger  die  Metalle  und  Specereien  überhaupt  nicht  behandelt,  so 
hätte  Dioskurides  ihnen  nicht  das  wenn  auch  nicht  uneingeschränkte  Lob  den 
beiden  zuerst  genannten  Aerzten  gegenüber  zu  Teil  werden  lassen.  Die  That- 
sache  lässt  sich  also  durch  keine  Ausflucht  aus  der  Welt  schaffen,  dass  Kra- 
teuas die  Specereien  und  naturgemäss  auch  die  daraus  zusammengesetzten  Sal- 
ben sowie  die  Wirkungen  der  Metalle  behandelt  hat.  Mithin  kann  das  von 
Dioskurides  und  Galen  benützte  Werk  nicht  dasselbe  sein,  dessen  Titel  wir 
dem  Nikanderscholiasten  verdanken ,  sondern  entweder  hat  Krateuas  neben 
seinem  Kräuterbuch  noch  eine  zweite  pharmakologische  Schrift  tcsqI  iistaXfaxcbv 
(puQiiccxav  xccl  ccQcoiidtcov  verfasst,  oder  wir  haben  anzunehmen,  dass  er  ausser 
dem  QiloToyLixov  noch  ein  umfassenderes  pharmakologisches  Werk  in  der  Art  der 
dioskurideischen  Schrift  itsgl  vlr\g  i'atQixijg  verfasst  hat 6). 


4)  Vgl.  Ps. -Galen  de  virtute  centaureae  Vol.  XIII  (ed.  Charterius  Lutetiae,  Paris.  1679),  1010  : 
ut  Crateuas  dicit  in  tertio  libro  eorum,  quae  eradicantur.  Dieser  Titel  ist  dem  Kräuterbuch  des 
Diokles  von  Karystos  (Schol.  Nik.  Ther.  647)  entlehnt,  das  die  letzte  für  uns  erreichbare  Quelle 
(etwa  380)  auf  diesem  Gebiete  ist.  Vgl.  M.  Well  mann,  das  älteste  Kräuterbuch  der  Griechen, 
Festgabe  für  Prof.  Susemihl  Leipz.  1897  S.  lff.  §i£oroiiiy.ä  schrieb  der  Uebersetzer  des  Mago 
Cassius  Dionysius  (Steph.  v.  Byz.  s.  7rvx?]),  QifrrotLovfisvcc  Mikkion  (1.  Jh.  v.  Chr.),  eine  STtirofii} 
Qi£oToiiov[itv(ov  Metrodoros  (unter  Augustus,  vgl.  Plin.  XX  214),  ein  ^oro^txov  ein  sonst  unbe- 
kannter Eumachos  aus  Korkyra  und  mehr  in  lexikalischer  Art  der  Glossograph  Amerias  (Ath. 
XV  681  f.).    'Des  Andreas  Hauptwerk  führte  den  Titel  v&Qd-r\%  (Arzneikästchen). 

5)  Die  richtige  Erklärung  dieses  Wortes  hat  H.  Köbert  gegeben  a.a.O.  17.  Vgl.  dagegen 
E.  Meyer  Geschichte  der  Botanik  I  251. 

6)  Die  Behauptung  von  Rosenbaum  -  Sprengel  Gesch.  d.  Med.  I  593  A.  43,  dass  in  der 
Wiener  Hofbibliothek    eine  Schrift  des  Krateuas    unter  dem  Titel  'JaiQoaocpov  (sie)  Kgccrevov  rov 


KRATEUAS.  5 

Wenn  endlich  Plinius  an  berühmter  Stelle  seiner  Naturgeschichte  (XXV  8) 
ein  illustriertes  Herbarium  des  Krateuas  erwähnt,  so  versteht  es  sich  von  selbst, 
dass  es  von  dem  Qit,oxo\iix6v  des  Nikanderscholiasten  sowie  von  dem  Quellen- 
werk des  Dioskurides  und  Galen  verschieden  ist.  Dies  folgt  weniger  aus  dem 
völligen  Schweigen  der  betreffenden  Schriftsteller  von  solchen  Abbildungen  als 
aus  der  verschiedenen  Anlage  dieses  Herbariums  :  das  Quellenwerk  jener  Au- 
toren enthielt  nach  ihrem  eigenen  Zeugnis  Pflanzen  beschreib  ungen,  in  dem 
illustrierten  Herbarium  des  Krateuas  dagegen  waren  nach  dem  unantastbaren 
Zeugnis  des  Plinius  die  Beschreibungen  durch  Pflanzenabbildungen  ersetzt. 

Die  Originalwerke  dieses  Rhizotomen  sind  für  uns  unwiderbringlich  ver- 
loren, trotzdem  die  Anführungen  bei  Galen  es  ausser  Zweifel  setzen,  dass  er 
noch  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  gelesen  wurde :  sie  wurden  all- 
mählich von  der  epochemachenden  Pharmakopoe  des  Dioskurides  verdrängt. 

Der  bekannte  Paduaner  Botaniker  Luigi  Anguillara  aus  der  Mitte  des  16. 
Jahrhunderts  hatte  in  seiner  kleinen  Schrift  über  die  einfachen  Arzneimittel 
(Semplici  delF  eccellente  Luigi  Anguillara  Vinegia  1561)  eine  Reihe  von  angeb- 
lichen Bruchstücken  des  Krateuas  aus  einer  griechischen  Handschrift  herausge- 
geben 7) ,  und  seit  der  Zeit  mühten  sich  die  modernen  Botaniker ,  die  von  ihm 
benützte  Handschrift  aus  dem  Staube  der  italienischen  Bibliotheken  hervorzu- 
ziehen. C.  Sprengel 8)  glaubte  sie  mit  einer  von  seinem  Freunde  Dr.  Weigel 
auf  der  Markusbibliothek  in  Venedig  eingesehenen  Hds.  identificieren  zu  dürfen  : 
dass  seine  Meinung  irrig  war,  hat  E.  Meyer  in  seiner  Geschichte  der  Botanik  9) 
schlagend  erwiesen.  Ich  kann  nach  genauer  Prüfung  der  in  Betracht  kom- 
menden Handschriften  versichern,  dass  sich  auf  der  Markusbibliothek  keine  Kra- 
teuashds.  befindet ,  wohl  aber  zwei  Dioskurideshdss. ,  die  allerdings  mehrere  der 
vom  Constantinopolitanus  bewahrten  Krateuas fragmente  enthalten,  aber  nicht 
die   von  Anguillara   edierten10).     Die  Handschrift   des   Anguillara  ist   also   ver- 


Qi£ot6(iov  Ttsgl  vXr\g  largmiig  erhalten  sei,  beruht  auf  einem  Missverständnis  der  citierten  Stellen 
aus  den  Commentarien  des  Lambecius.  Darnach  wird  im  cod.  histor.  gr.  98  (beschrieben  im  Sup- 
plementum  Kollarii  sub  no.  CXXXIII)  fol.  33 r  unter  den  Schätzen  des  Antonius  Cantacuzenus  eine 
Hds.  mit  folgendem  Inhalt  angeführt:  »BißXCov  tu''  'IccrQoooyiov  btsqov,  ßißXi'ov  [isyäXo.  ncci  i%ti 
ccQXV  *ov  yaXr\vov.  xov  ^svävos-  (ieXetiov  tov  üocpov.  ■nQarsvcc  rov  qi£ot6[iov  ^sqi-a.öv  eis  rrjv  vXr\v 
tr\v  laxQiv.rivu  etc.  Ich  verdanke  die  Richtigstellung  dieses  Irrtums  der  liebenswürdigen  Mitteilung 
des  Herrn  Custos  der  k.  k.  Hofbibliothek  Dr.  Alfred  Göldlin  von  Tiefenau. 

7)  Vgl.  Semplici  p.  27  :  mi  ritrovo  nelle  mani  alcuni  fragmenti  di  diversi  autori  Greci  scritti 
ä  penna  antichi,  ne'quali  si  legge  quanto  dell'  asaro  scrisse  Crateua. 

8)  Gesch.  d.  Med.4  S.  593. 

9)  Vgl.  S.  253  f. 

10)  Die  beiden  Hds.  sind:  cod.  Marc.  CCLXXI  s.  XV  (vj,  ein  Vertreter  der  interpolierten 
Handschriftenklasse,  und  der  cod.  Marc.  XCII  s.  XIII  (v)  ,  der  den  alphabetisch  umgearbeiteten 
Dioskurides  enthält  fol.  92 v  ff.  Auf  fol.  1  dieser  Hds.  steht  ein  von  moderner  Hand  beigefügtes 
Inhaltsverzeichnis,  das  zu  dem  in  ihr  fol.  36 r  —  38 v  enthaltenen  Xit,iv.bv  rfjs  rüv  ßoravätv  fp^/j- 
veicce  xara  6toi%eiov  die  willkührliche  Zusatzbemerkuug  trägt :    forse  di  Crateua.     In  Wirklichkeit 


6  M.    VELLMA  N  N  , 

schollen,  keine  Kunde  hat  sich  von  irgend  einer  Bibliothek  erhalten,  die  je  diese 
Bruchstücke  besessen  hätte.  Ihr  Verlust  wäre  an  sich  ein  bedauerliches  Factum; 
wenn  nun  aber  die  Confrontation  der  von  Anguillara  angeführten  Proben  mit 
dem  Texte  des  alphabetisch  umgearbeiteten  Dioskurides  zu  dem  überraschenden 
Ergebnis  führt,  dass  die  Mehrzahl  seiner  angeblichen  Krateuasfragmente  aus 
dieser  Quelle  geflossen^  also  auf  den  Namen  des  Krateuas  gefälscht  sind,  so  zer- 
fallen die  hochgespannten  Erwartungen,  die  sich  an  das  Wiederauffinden  dieser 
Handschrift  geknüpft  haben ,    in  Nichts. 

Das  umfänglichste  der  von  Anguillara  angeführten  Bruchstücke  handelt 
von  der  Haselwurz  (ccöccqov  Asarum  europaeum  L.  Fraas  267)  und  lautet  nach 
ihm  S.  27 :  ßozdvr}  svcodrjg ,  özscpavco^iazixrj ,  xavMa  ycoviosidi] ,  (pvlla  daösa, 
av&ri  ds  itogcpvQä,  svadrig  q%cc  (sie),  oftota  zfi  zov  slksßoQov,  iotxvla  zr\  dö^ifj 
xlvcciujug).  ysvvazai  ds  sv  zgaftsöt,  %cjQLOLg  xal  avCxpoig)  zavzrjg  r\  Qit,a  sifjYjd'sZöa 
iv  vdazi  ßorj&st  Qr]y^ia6L  <57ta<5yia6i ,  dvöitvoia ,  ßrjxl  %QOvia ,  dvöovQia.  äysi  ds 
xal  Spiriva  xal  &YiQiodrjxzoig  xQ^öifiog  6vv  ol'va)  dido{iEvr}.  zä  tpvXla  özvitzixa 
ovza  xal  xara7tla666[isva  (bcpslsl  sCg  xstpalaXyiav ,  ocpfraliicbv  cpksypoväg  xal 
aiyiXcjnag  ccQiO{isvovg  xal  paözovg  ix  zöxwv  (plsy{iaCvovtag  xal  SQv6i7tsXaza. 
s6ti  ds  xal  vTtvoitoibg  rj  oö^ij.  Darüber  dass  die  Worte  des  Krateuas  so  hätten 
lauten  können ,  wird  Niemand  Zweifel  hegen ;  aber  eine  vortreffliche ,  unan- 
tastbare Ueberlieferung  bezeugt ,  dass  sie  thatsächlich  anders  gelautet  haben. 
Sein  Bericht  ist  im  Constantinopolitanus n)  auf  fol.  31 r  unter  dem  Text  des 
Dioskurides  erhalten: 

Kgazsvag  Qt^oto^LLXÖg  (mit  roter  Tinte) 
"Aöagov    dvva^iLv    s%sl    &SQ[iavzi,xriv    xal    diovgrizLxyjv ,    ccQ[i6£ov6av   vdQ(x)7tixolg, 
L6%id8i    %QOvCa'    ayovöiv   (ai    QL^ai)    xal    su[irjva '    [isza   [isfoxgdzov   ds   Tto&siöai, 
7ik)]frog    ?5    &$    skksßoQog    Xsvxbg     xad-atQOvöi'    \Liyvvvzai    ds    xal    ^ivgotg    xal 
ccvztdozoig. 


1  ügii,6t,ov6(x,  C  v.  uQnogovoav  die  in  Minuskeln  (14.  Jh.)  beigefügte  Umschrift  sowie  p  und 
v.  .  2  iGxiccÖiY.oig   xQOvCa,    Cv.     l6%iudiK0Lg  %govioig  p.  vt  .     ccyov6iv  C.  Ttoftstou  C  v. 

Tio&tiaca  ccl  Qifri  p.  v,.  3  y.uQ'uCqu  C  v.         MHTGYGT^I  so  C.     tyerca  ?x. 

Sonach  ist  es  sonnenklar,  dass  die  von  Anguillara  angeführten  Worte  nicht 
aus  der  Feder  des  Krateuas  geflossen  sind.  Vielmehr  stammt  das  ganze  Bruch- 
stück aus  dem  alphabetisch  umgearbeiteten  Dioskurides ,  dessen  Text  ich  der 
Controlle  wegen  nach  den  beiden  ältesten  Hdss. ,  dem  Constantinopolitanus  (C) 
und  dem  Neapolitanus  (N)  herzusetzen  für  geboten  halte: 


ist  es  ein  spätes  Machwerk.     Vgl.  über  diese  Hds.  Mingarelli  Graeci  Codices  manu  scripti  apud 
Nanios  patricios  Venetos  asservati,  Bononiae  1784  S.  445. 

11)  Aus  derselben  Ueberlieferung  ist  dies  Bruchstück  des  Krateuas  in  den  Text  des  Dios- 
kurides übergegangen.  Zeugen  dafür  sind  die  beiden  Hauptvertreter  der  nach  der  alphabetischen 
Umarbeitung  interpolierten  Handschriftenklasse,  der  bereits  erwähnte  cod.  Marc.  n.  CCLXXI  und 
der  illustrierte  cod.  Paris,  gr.  2183  s.  XV,  in  denen  das  Kapitel  über  die  Haselwurz  folgeudea 
Schluss  hat :  xai  Kgccnvccg  QL^ovofiiyibg  elg  tö  ctvto  '   "Agccqov  Svvccfiiv  i%u  %xX. 


KKATEUAS.  7 

ßoxdvrt  evd)dr]g ,  6xeyav<o\Laxixr\ '  %g  xä  (pvXXa  jiiye&og  e'xovxa  {iexa%i>  lov  ij 
(pl  .  .  .  v  xavXCa  y&vioeidf],  vKoxgaiea  ,  ägaid ,  qpiUÄa  daöta  ■  «vO^  df  jrop- 
qpvptt,  evadrj'  i]  git,a  b^ioCa  xf{  xov  piXavog  iXXeßogov ,  ioixvla  xf[  o6{ifi  xivva- 
tiijuco '  (piXtl  de  xquieu  %G)Qia  xal  ccvixfiu.  Tavxr\g  r\  gC^a  i\l>Y\&ei6a  iv  vdaxi 
5  ßorj&H  (jrjyiiaöi  ,  6na6ynx<5i  ,  dvöTtvoioc,  ßr\yl  %qovlcc,  dvöovgta'  ayei  de  xal  i{i- 
lirjvcc  xal  &r}Qioörjxxoig  xQ'H61^0?  6vv  otvqj  dudoyievov  xä  de  cpvXXa  öxvTtxuxä 
ovxa  xaxa7tXa6d6^eva  (bcpeXet  xecpaXaXyiav,  ötp&aXticbv  <pXey{ioväg  xal  alyCX&itag 
ocQxo^Bvovg  xal  ^aöxovg  ix  xoxav  (pXeyftaivovxag  xal  igv6nceXaxa'  eoxu  de  xal 
vnvoTtoibg  rj  d6[irj. 


a 
1  (i£to£v  lov  xccvXia  C       nsra^v  lov  r\  q>X  .  .  .  v  N  (die  drei   Buchstaben  sind  abgesprungen) 

2  vnoTQC£%iu.  t%(ov  insQSccTpvXXccdcc6uicc  C        v7tOTQci%£u.  c<QS  .   <pvXXtc  dccoscc,  tqp'  öiv  ccvftr}  N.  2 

itoQcpvQä  Xiiiru  tvto8r\  N.         3  Qltai  öfioicci  N.     tccig  für  tj)  CN.         4  TS0GA6I  so  C,  in  dem  von 

späterer  Hand  :    ysv&rs  de  iv  xqa%e6i  %(öqioi<s  hccl  ccviy(iois  übergeschrieben  ist.  7  övtcc  xal 

C.         -necpaXaXyiag  v.a.1  N. 

Die  Uebereinstimmung  dieser  Fassung  des  dioskurideischen  Textes  mit  dem 
angebliehen  Krateuasbruchstück  des  Anguillara  zwingt  uns  zu  der  Schluss- 
folgerung ,  dass  beide  identisch  sind ,  und  wenn  Anguillara  die  Worte :  f\g 
xä  cpvXXa  —  xavXCa  fortgelassen  hat ,'  so  schliesse  ich  daraus ,  dass  sie  in 
seiner  Hds.  in  derselben  unverständlichen  Fassung  gestanden  haben  wie  in  C. 
Demnach  sind  wir  berechtigt  den  allgemeinen  Schluss  zu  ziehen ,  dass  seine 
angeblichen  Krateuasfragmente,  den  Text  des  alphabetisch  umgearbeiteten 
Dioskurides  repräsentieren ,  wobei  ich  die  Frage  offen  lasse ,  ob  sie  in  seiner 
Handschrift  fälschlich  den  Namen  des  Krateuas  trugen  oder  aber  von  ihm  viel- 
leicht auf  Grund  der  in  seiner  Hds.  beigefügten  Illustrationen  vermutungsweise  für 
Bruchstücke  des  Krateuas  ausgegeben  worden  sind.  Was  die  von  ihm  benützte 
Hds.  anlangt,  so  führt  uns  abgesehen  von  sonstigen  kleinen  Textesabweichungen 
die  von  ihm  aufgenommene  Lesart:  yevvaxai  de  iv  xga%e6t,  %(üQioi,g  xal  ävCxpoig 
zu  der  Annahme,  dass  sie  weder  der  cod.  C  noch  der  cod.  N  gewesen  ist,  son- 
dern eine  dritte  Hds.  derselben  Klasse,  nach  welcher  der  Corrector  des  Con- 
stantinopolitanus  die  Variante  angemerkt  hat. 

Damit  jedoch  jeder  Zweifel  an  dem  von  mir  aufgedeckten  Thatbestande 
von  vornherein  erstickt  wird,  scheint  es  geraten,  die  übrigen  Bruchstücke  des 
Anguillara  in  Gegenüberstellung  mit  dem  Texte  des  alphabetischen  Diosku- 
rides folgen  zu  lassen. 

Ang.  125 :  C.  fol.  96  \  N.  fol.  64.  vgl.  D.  II,  195, 307. 

dgaxovxla  (leydXrj  (pvexai  iv  6v6xioig  xal  Agaxovxia  fieydXtj. 

ygayfioig'  xavXbv  de  £%u  Xelov,  ögfrov,  Synonyma. 

ag  di7tri%vaiov  xal  Tta%vv  ag  ßaxxr\glav,  (pvexai  iv  6v6xioig  xal  ygaypoZg'  xavXbv 

noixiXov    xaxd    x^v  j^pdav,    cjg  ioixivai  d'  e%ei  Xelov,  ög&ov,  ojg  dt,7irj%vatov  xai 


2  de  fehlt  N.  6i.mi%aiov  C  Sutr\xe(os  N. 

xai  fehlt  N. 


M.    WELLMANN, 


dgdxovxij  xal  nXeovd&i  pev  iv  xolg  dia- 

7tOQ(fVQOlQ    ÖTClXoig'     (fvXXa    ÖS    G)g    ka7tCC- 

d-oEidr]  dvxe\iitXexö\ieva. 


ita%vv  fog  ßaxxrjgiav,  TtoixiXov  xcctä  xi\v 
XQÖav,    63g  ioixevai  dgdxovxij  xccl  7tXeo- 
5  vd%ei  pev  iv  totg  dia7tog<pvgoig  öitiXoig' 
<pvXXa  d"  ojg  Xanad-oeidij  dvxeyutXexopeva. 

3  xarcc  %qwuv  C.  4  xca  fehlt  in  N,  dafür 

nlsovd&t  di.  6  Iccnccfrov  N. 

In  den  beiden  Wiener  Handschriften  schliesst  sich  an  die  ausgeschriebenen 
Worte  die  Beschreibung  der  Frucht  und  Wurzel,  die  sich  mit  derjenigen  deckt, 
die  Dioskurides  vom  dgaxovxiov  12)  gab.  Dass  sie  auch  in  der  Hds.  des  Anguillara 
zu  lesen  war ,  beweisen  seine  eigenen  Worte :  il  resto  del  testo ,  che  seguita  e 
di  Dioscoride. 


Ang.  125: 
zlgaxovxia  yiixgä  cpvXXa  avivfii  xolg  xov 
dgaxovxiov  b[ioia  döitiXcaxa '  xavXbv  67ti- 

ftapiaiOV,     VTtOTtVQQOV,      £Cp'    OV    6    XCtQTtbg 

XQOxCt,03V  gi£av  Xevxijv  itgbg  xi)v  xov 
dgaxovxiov,  iqxig  xal  iöftiexai  tjxxov  oi)6a 
dgi^iela '    xagi%evexai  de  xä  cpvXXa. 


Ang.  141: 
KgoxodeiXiov  ofioiöv  iexi  x<p  piXavi  %a- 
liaiXeovxi,  cpvexai  iv  xÖTtoig  dgvfid)de6i9 
git,av  e%ov  piaxgdv,  dgipelav,  o6(i^v  de 
öuoiav  xaQddfjiGi '  %£6&ei6a  de  ij  git^a  iv 
vdaxi  xal  %ivo\JL£vr\  ayei  cci[ict   noXv  diä 

QG)&CJVG)V    (gCD&CJV    A.). 


Ang.  149: 
'AxgaxxvXig '  axavftd  iöxiv  ioixvia  xvixa, 
(iixgoxega    de  tioXXgj,   tpvXXa  e%ov6a  in1 
axgav  xg3v  gaßdicov  xb  de  nXetov  yv^ivov, 


C  fol.  97 v  N.  fol.  65. 
Agaxovxia  {iixgd. 
Synonyma. 
cpvXXa  dvir\6i  xolg  xov  dgaxovxiov  o[ioia 
aGitCXaxcc'    xavXbv    6%iftu\Liaiov ,     vtcö- 
itvg'gov,    Ttmegoeidi] ,    i(p'  ov    6   xagnbg 
XQOXl^CJV     gi£,UV    Xevxrjv    xgbg    xr\v  xov 
dgaxovxiov ,    ijxig    eiftexai    xal    iö&i'exai 
i\xxov    ov6u   dgi\\,eia'   xagi^evexai  de  xd 
fpvXXa  eig  ßg&6iv. 


6  Die  Worte  xuQi%everca  —  ßgüoiv  fehlen  in  N. 
C.  fol.  177 v.  N.  fol.  55,  vgl.  D.  III 10, 354. 
KgoxodiXea  (N :  r)  xgoxodCXeov) 
bfioiöv  i6xi  tg5  [isXavi  %a[iaiXeovxi '  g>ve- 
xai  <$'  iv  xoitoig  dgvticodeöi,  gi^av  e%ov 
paxgdv ,  dgifieiav ,  ööpriv  bpoiav  xag- 
ddpc)'    %e6%-eio*a  d'  rj  git,a  iv  vdaxi  xal 

5  7tivo[iEvr}  ayei  aifia  TtoXv  did  gwd'cjvav' 
didoxai  de  xal  xolg  öitXrjvixoig  ivegyag 
cjcpeXovöa. 

1  di  fehlt  in  C.         4  Jvvaxai  d'  f)  $i!;a  gsaftsiccc 
f.v  vdaxi  .  .  .  ccysLV  N.  5  diu  zfjg  geivris  N. 

6  di  fehlt  in  C.       toig  fehlt  in  C. 

C.fol.63r.  N.M.  22.  vgl.  D.  in 97,  445. 

'AdguxxvXXig. 

Synonyma. 

"Axavftd  iöxiv  ioixvia  xvtfxG),  [iixgoxega 


12)  Dioskurides  unterscheidet  nach  der  besten  handschriftlichen  Ueberlieferung  zwischen  dem  dgcc- 
■xovztov  und  ccqov:  die  Unterscheidung  von  dgccnovricc  (isydlri  und  fttxpa,  deren  Text  dem  des  dios- 
kurideischen  ocqov  entspricht,  ist  ihm  unbekannt.    Vgl.  de  herbis  fem.  ed.  Kästner  Herrn.  XXXI 619. 


KRATEUAS.  V 

xga%v,  cd  xal  aC  yvvalxeg  xgavxat,'  e%ei  Öe  jtoAAco  <pvlka  E%ov6a  in1  dxgov  xcbv 
de  XE<pdlia  iri*  dxgov  dxavd-adrj '  av&og  gaßdtcov '  xb  de  itkeiov  yvfivov,  xga%v, 
itogcpvgovv,  ivCoig  (sie)  xoitoig  ä>xgov.  c5  xal  ai  yvvalxEg  %gcbvxai  dvxl  ddgdxxov 

5  e%el  ds  xstpdfoa  in''  ccxqov  dxav&cbdrj' 
av&og  itogyvgovv ,  ivtoig  (sie)  xonoig 
&%q6v. 

7  iva%QOv  N. 

Ang.  171.  C.fol.79v.  N.M. 33.  vgl. D. IV 197, 591. 

&£Qri7tidLOv  (pvETca  iitl  Mftcüv  xal  oöxgd-  ßgvov  ftalaGGiov  l) 

xav  itagä  frdlaööav,  ftgidaxadsg,  iöyvbv  Synonyma. 

xavkbv  (sie),  ixavcbg  oitxixöv  (sie),  itoiovv         Ovsxat    iitl  li&cov   xal   oöxgdxmv    nagä 

itgbg  (pXey^iovag  xal  itoddygag  rag    6xv-         &dla66av  ftgidaxcödeg,  i6%v6v,  dxavXov 

ipEcog  deo{Lsvag.  Cxavag  6xvitxixov ,    itoiovv    itgbg    (pXsy- 

fiovag    xal    itoddygag   rag    öxvijJEcog  öeo- 

{livag. 


1)  So  ist  dies  Capitel  in  N  überschriebet).     Iu  C    ist  versehentlich    der  Text   des    ßgvov    ftu- 
Xäaaiov  für  den  der  ßgveovice  Xsvn-q  eingesetzt. 

Auffällig  ist  in  dem  zuletzt  ausgeschriebenen  Text  des  xlnguillara  das  sonst 
in  der  Litteratur  nicht  nachweisbare  Synonymon  bsQvptldiov  für  den  Meersalat 
(ulva  lactuca  L.).  Es  findet  sich,  soweit  meine  Kenntnis  reicht,  nur  noch  in  einer 
Randnotiz,  die  in  C  von  der  Hand  des  Correctors  zu  der  bildlichen  Darstellung 
des  ßgvov  %-akd<56iov  auf  fol.  80 r  hinzugefügt  ist:  xovxo  ovx  iygdcpri  (Irrtum!)' 
xivig  cpaöiv  avxb  dsgaitidiov ,  das  heisst  doch  wohl,  in  einer  andern  Hds.  heisst 
diese  Algenpflanze  dsgaitidiov.  Dadurch  erhält  meine  obige  Vermutung  eine  er- 
wünschte Bestätigung,  dass  die  Excerpte  des  Anguillara  aus  einer  dem  Constan- 
tinopolitanus  verwandten,  seinem  Corrector  (15.  Jh.)  bekannten  Hds.  entnom- 
men sind. 

Schwierigkeiten  macht  nur  ein  von  Anguillara  S.  145  angeführtes  Bruchstück : 
alyiitvgog  iöxiv  dxav&cbdEg  cpvxbv  r\  sldog  ßoxdvrjg'  xb  ds  cpvkXov  e%ei  coöitsg  cpaxbg 
yXavxi£ov6a.  Anguillara  identifiziert  diese  Pflanze  des  Krateuas  mit  der  avavig 
{oveovig)  des  Dioskurides  (III  18.  360) :  in  C  und  N  fehlt  sowol  die  Beschreibung 
der  dvcovCg  wie  die  des  alyiitvgog.  Bevor  man  aber  dies  Bruchstück  dazu  ver- 
wertet, an  dem  von  mir  gewonnenen  Resultat  zu  rütteln,  prüfe  man  die  ange- 
führten Worte  einmal  genauer.  Ist  es  denkbar,  dass  ein  Botaniker  von  Fach. 
der  unzählig  viele  Pflanzen  gesehen  und  beschrieben  hat.  eine  Pflanze  mit  fol- 
genden Worten  beschrieben  hätte:  „der  alyiitvgog  ist  ein  dorniges  Gewächs  oder 
eine  Art  Pflanze  u.  s.  w.  ?"  Mich  dünkt,  diese  Art  von  Pflanzenbestimmung  ver- 
räth  vielmehr  ganz  unzweideutig  den  um  den  richtigen  Ausdruck  verlegenen 
Grammatiker,  der  die  Pflanze,  die  er  kurz  und  knapp  beschreiben  will,  niemals 
zu  Gesicht  bekommen  hat.  Es  gehört  nunmehr  nicht  viel  Belesenheit  dazu,  um 
in  diesem  Bruchstück  die  keineswegs  verächtliche  Grammatikernotiz  zu  der  von 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttinnen.    Phil.-hist.  Kl.   N.  F.    Band  2,  i.  2 


10  M.    WELLMANN, 

Theokrit  im  4.  Idyll  (v.  25)  erwähnten  Pflanze  dieses  Namens  wiederzuerkennen, 
deren  Wortlaut  nach  dem  Ambrosianus  folgender  ist:  dxavd'aydeg  cpvtbv  ?}  slöog 
ßordvrjg,  rö  de  (pvXXov  s%ei  iclatv  coütieq  cpaxög'  eöti  de  ylavxi^ovöa ,  sig  k'lxr, 
(pXsy^aCvovxa  aya#rj.  Ich  will  gerne  zugeben,  dass  die  Angaben  über  die  cha- 
rakteristische Beschaffenheit  des  Blattes  sowie  über  die  Farbe  dieser  Pflanze 
aus  Krateuas  entlehnt  sein  können,  zumal  sich  verschiedentlich  Spuren  seiner 
Doctrin  in  diesem  Scholiencorpus  nachweisen  lassen ,  aber  in  der  Fassung ,  in 
der  sie  der  Scholiast  verwertet,  kann  das  Scholion  nimmermehr  aus  seiner  Feder 
geflossen  sein. 

Hiernach  ergiebt  sich  als  sicheres  Resultat  der  vorstehenden  Untersuchung, 
dass  für  eine  Reconstruction  des  pharmakologischen  Werkes  des  Krateuas  die 
von  Anguillara  angeführten  Bruchstücke  wertlos  sind.  Diese  schwere  Einbusse 
an,  scheinbar  wertvollem  Material  wird  aber  reichlich  aufgewogen  durch  die  un- 
zweifelhaft echten  Bruchstücke  dieses  Rhizotomen,  die  uns  im  Codex  Constan- 
tinopolitanus  erhalten  sind  l3).  Diese  kostbar  ausgestattete ,  für  die  Juliana 
Anicia ,  die  Tochter  des  weströmischen  Kaisers  Flavius  Anicius  Olybrius  ge- 
schriebene Pergamenthandschrift  der  wiener  Hofbibliothek  14)  aus  dem  Ende  des 
5.  Jhs.  enthält  von  fol.  12 v  bis  fol.  387r  '  alphabetisch  geordnete  Beschrei- 
bungen officineller  Pflanzen  mit  vorzüglich  erhaltenen  Abbildungen  derselben. 
Sie  ist  von  fol.  16 r  bis  fol.  82 v  in  der  Weise  angelegt,  dass  unter  dem  viel- 
fach gekürzten  und  teilweise  umgearbeiteten  Text  des  Dioskurides  von  derselben 
Hand  nur  in  kleinerer  Uncialschrift ,  natürlich  mit  häufigen  Auslassungen,  die 
Parallelüberlieferung  aus  G-alens  Schrift  7Cbq\  dwapecog  cpagfiaxcov  und  aus  Kra- 
teuas 15)  steht  mit  der  regelmässig  wiederkehrenden,  mit  roter  Tinte  geschriebenen 
Ueberschrift :  raXrjvog  und  Kgarsvccg  QL%OTO{iixög.  Da  sie  auf  denselben  Arche- 
typus zurückgeht  wie  der  gleichfalls  illustrierte  Neapolitanus  derselben  Biblio- 
thek ,  so  fällt  die  Entstehungszeit  dieser  ursprünglich  compilatorisch  ange- 
legten illustrierten  Pharmakopoe  in  das  3.  oder  4.  Jh. ,  d.  h.  in  jene  Zeit ,  der 
die  grossen  medicinischen  Compilationen  eines  Philumenos,  Philagrios,  Oribasios 
und  die  landwirtschaftliche  Compilation  des  Anatolios  angehören.  Trotz  ihrer 
geringen  Zahl  sind  die  Bruchstücke  des  Krateuas ,  die  der  treffliche  leipziger 
Arzt  Dr.  Gr.  Weigel  am  Ende  des  vorigen  Jhs.  collationiert  hatte  und  in  seinen 
Anecdota  Bibliothecae  Vindobonensis  herausgeben  wollte  16) ,    von   dem    grössten 


13)  Auf  der  Wiener  Hofbibliothek  giebt  es  noch  eine  zweite  Hds.  mit  Bruchstücken  des 
Krateuas.  Es  ist  der  cod.  med.  gr.  V,  eine  im  16.  Jh.  geschriebene  Papierhds.  von  10  Folioseiten, 
deren  Excerpte  aus  Krateuas,  Galen  nsgi  dvvdiisas  qpa^uanwv  und  Dioskurides  dem  Constant.  ent- 
nommen sind. 

14)  Die  genauere  Beschreibung  der  Hds.  behalte  ich  mir  für  meine  spätere  Abhandlung  über 
die  Hdss.  des  Dioskurides  vor. 

15)  Diese  Bruchstücke  kehren  zum  Teil  wieder  in  späteren  Hdss.  dieser  Sippe,  so  in  dem 
bereits  erwähnten  cod.  Marc.  n.  XCII  (v). 

10)  Vgl.  K.  Sprengel,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Medicin.     Halle  1796  S.  268  f. 


KRATEÜAS. 


11 


Wert  für  die  Würdigung  der  litterarischen  Bedeutung  dieses  Mannes  und  für 
die  richtige  Beurteilung  der  Arbeitswerke  des  Dioskurides. 

Es  muss  auf  den  ersten  Blick  auffällig  erscheinen,  dass  diese  Bruchstücke 
nur  die  medicinischen  Wirkungen  der  Pflanzen  behandeln,  ohne  sie  einzeln  zu 
beschreiben.  Das  stimmt  aber  vortrefflich  zu  dem  Bilde,  das  wir  uns  nach  den 
Worten  des  Plinius  XXV  8  von  dem  mit  Abbildungen  versehenen  Herbarium 
des  Krateuas  machen  müssen :  pinxere  namque  efligies  herbarum  (sc.  Crateuas, 
Dionysius ,  Metrodorus)  atque  ita  subscripsere  effectus.  Mich  dünkt ,  dies  sicher 
nicht  zufällige  Zusammentreffen  ist  ein  schlagender  und  jeden  andern  entbehr- 
lich machender  Beweis ,  dass  die  Krateuasbruchstücke  des  Const.  aus  seinem 
illustrierten  Herbarium  entnommen   sind. 

Das  erste  Bruchstück  handelt  von  der  Heilwirkung  der  Osterluzei ,  von 
welcher  Krateuas  im  Anschluss  an  die  ältere  Botanik ,  vermutlich  an  Diokles, 
zwei  Abarten  kannte ,  in  deren  Bezeichnung  er  allerdings  insofern  von  der 
alten,  noch  bei  Nik.  Ther.  509  f.  vorliegenden  Tradition  abwich,  als  er  sie 
nach  der  charakteristischen  Beschaffenheit  ihrer  Wurzeln  als  aQi6xoXo%Ca  {Laxod 
und  ötQoyyvXr}  benannte. 


C.  fol.  18 v: 
Kgatsvag  Qi^oxopixög. 
'AQi6xolo%Ca  {iccxQa  tcoiei  nobg  ioitExä  xal 
&avdöi{ia,  oXxij  Tavo^ivrj  fi£r'  olvov  xal 
xctTcc7tXcc6Go[ievri'  xd  <f  iv  lirjxoa  övvcöxd- 
psva  \6%ia  xccl  E^rjva  xal  E{ißova  ix- 
ßdXXsi  ito&siöa  {lExd  nsitsQscog  xal  öpvQ- 
vr\q'  xal  iv  itEööa  ös  7iQ06ze&El6a  xb 
avxb 


D.  III  4,  344  17): 
IIoieZ  de  itgbg  (ihv  xd  dXXa  (pag^axa  r\ 
GTQoyyvXri,  7tQog  de  xd  ioTtExä  xal  &a- 
va6L[ia  r\  iiaxQa,  ÖQa%{irjg  [nag  öXxt) 
jtLVOfisvrj  ftst'  olvov  xal  xaxaitXaööo- 
5  {ievt}'  xal  xd  iv  {irftoa  övviöxd^isva  ndvxa 
X6%ia  xal  eyL^iriva  xal  e{ißgva  ixßdXXsi, 
ito&Eiöa  pexä  TtETtioscog  xal  6^ivQvr\g' 
xal  iv  7tE66<a  de  7tQ06xed-elöa  xd  avxd  öqü. 


2  ccQioToX6%tos  C  v.  vgl.  Ps.  Diosc.  de  herb.  fem. 
ed.  Kästner  Herrn.  XXXI  597 :  aristolochiuin. 
So  C  im  folgenden  Bruchstück.  Es  ist  dies  eine 
spätere  Form.  Nach  Aristoteles  soll  das  Kraut 
von  einem  Weibe  entdeckt  seiu  (schol.  Nik.  Ther. 
509),  nach  einer  späteren  Version  von  dem  Ephe- 
sier  Aristolochos  (Schol.  Nik.  Ther.  937).  Die 
Beischrift  der  Pflanzendarstellung  in  C  ist  ccql- 
cxoXo%Ca.   ficcngd.   sgnexccg  C   {iQTtr\rccg  Umschrift 

M 
des  Correctors  in  C)  sQTtsxdc.  v.      3  0ANACA  so 

von  derselben  Hand  in  C  verbessert. 


1  xd  loinä  (pccgfia-KCC  xca  C.         3  dgcc%(ii]s  oXv.i] 


Ttiv.  C  <öly.rj 
Ttccvxa  fehlt  in  C. 


p.  5  iv  xfj  [irjxQoc  C 

6  X6Xsl<x  PHFV  \6%icc  C 


17)  Ueber  die  Hdss.  des  Dioskurides  geniigen  für  diesen  Zweck  folgende  Bemerkungen  ;  die 
beste  Ueberlieferung,  die  sich  mit  den  Excerpten  des  Oribasius  (B.  XI— XIII  nach  cod.  Paris.  2189 
s.  XVI  =  0)  deckt,  wird  durch  4  Hds.  vertreten  : 

P  =  cod.  Paris.  2179,  Pergamenthds.  s.  IX  unvollständig. 

V  =  cod.  Marc,  n.  273  s.  XII  Pergamenthds.  unvollständig,  stammt  aus  P. 

F  =  cod.  Laur.  LXXIV  23  s.  XIV  vollständig. 

2* 


12 


M.    WELLMANN, 


C  fol.  19*: 
Kgatsvag  QL^otopixog. 
'AQi6Toko%Ca  (öTQoyyvkrj)  %ivo\iivr\  pst 
oi'vov  (is'Xavog  Ttoisl  nabg  sonst  gdv  örj- 
yfiaTCt'  %aQ8L  ös  xal  slg  ävtidotovg  tag 
d-Y]Qiaxdg,  %coqsi  xal  sig  tag  itodayoixäg 
övv&eöeig,  sti  8'  ifiTcXäötQovg'  dysi  de 
xal  s^i^irjva  xal  spßova  sxßälXsi'  ßori&sl 
aö&liati,  Avy{icp,  Qtysi,  a7tXr]VL,  QtjyiiaGi, 
öTtdöuaaiv  Tto&siöa  8  s  ft£#'  vöatog  äva- 
ysi  öxoXonag ,  äxiöag '  kenidag  oötcöv 
xa-iaTt'ka<5<5o\x,ivr\  ä(pi6ty]6i  xal  6r(7ts86- 
vag  7tEQi%aoa66E(,  xal  tä  QVitaoä  xaftai- 
qsl  eXxy]  •  6{ir]xEi  8  s  xal  686vtag  xal 
ovXa. 


D.  III  4,  345: 
fH  8s  ötQoyyvXrj  itoisi    {isv   7tobg   a   xal 

7]    7tQ0SLQrj^lSVr]'      EX     TtEQLÖÖOV     8s    ßoTjdsZ 

aG&tiatL,  kvyiicp,  Qiysi,  öTtXrjvi,  Qrjy^iaöt, 
67td6^ia6iv,  äXyrj(ia6i,  JtXsvoäg,  7to&sZ6a 
5  {lE^',  vdatog'  äväysi  8s  GxöloTCag,  dxiöag' 
XsitC8ag  oötcöv  xataitXa66o\isvr\  äcpLötrjGf, 
xal  örjTtsdovag  itEQi%aQa66EL  xal  tä  qv- 
Ttaoä  TiEQLxad-atQEt  s'Xxrj  xal  tä  xolXa 
itXrjooi  <5vv  Iql8l  xal  \isXiti '  ö^irj^si  8s 
10  xal  ovka  xal  ödovtag.  Zloxsl  8s  xal  r) 
xXr]aattttg  7tobg   tä    at»r«    TtoislV   sXat- 

tOVtai    {ISVtOL    tf\    dwä^LEl     tß)V     710081,07]- 

\jlsv(ov  18). 


2  UQL6TOX6%LOV    7Civvoiiivr\    Ss  oi'vov  C. 
Xo%la  nivouEVT]  {isxü  oi'vov  Umschrift . 


OCQLCZO- 


1  7]  tiqo  uvxfjg  C.  3  al'iiati  C  4  nXev- 

o&g  cclyriiiaöL  C  Ttoftsiöcc    fts-fr'    vöatog    die 

beste  Ueberiieferung    und  Ps.  Diosc.    de   herbis 
fem.  a.a.O.  5'JS,   14.  6  a.cpl6zr\ai  fehlt  in  C 

flCt 

7  6r}7isd6vcig  r)ug  Ttugu   Av.xivoig   7toöts      7i8Qi- 

postema 
XCCQCC66S i  V  nach  P :  6r\ns dovug  xud'aiQSi  C 

p  v,  .  8  xu  de  %olXu  öagyioi  C.  10  Die 

Worte  Joksl-  Ttoosiorifisvcov  fehlen  in  C. 


Diese  Wirkungen  der  heilkräftigen  Osterluzei  waren  zum  Teil  schon  der 
älteren  Pharmakologie  bekannt :  der  Athener  des  4.  Jhs.  wusste  aus  seinem 
Kräuter  buch,    dass    er   gegen  Schlangenbiss   ein  Absud   ihrer  Wurzel   in   säuer- 


xv} 


•aus  derselben  Quelle. 


H  =  cod.  Vaticano-Palatinus  77  s.  XIV  interpoliert. 

Dazu  kommen  als  älteste  Vertreter  der  alphabetischen  Umarbeitung  des  D.  die  beiden  Wie 
nerhds.  C  und  N  und  als  Hauptvertreter  der  dritten  Handschriftenklasse,  die  mit  Hilfe  des  alpha- 
betischen D.  interpoliert  ist : 

p    r=  cod.  Paris.  2183  s.  XV 

v,   =  cod.  Marc.  CCLXXI  s. 

18)  liier  scbliesst  das  Capitel  in  der  besten  Ueberlieferung  des  Dioskurides.  Die  bei  Spren- 
gel 345  in  den  Text  aufgenommene  Interpolation,  die  bis  auf  den  Schlusssatz  in  p,  vt  im  Text  und 
in  //  am  Rande  erhalten  ist ,.  stammt  in  ihrem  ersten  Teil,  der  die  Pflanzensynonyma  giebt,  aus 
dem  alphabetisch  umgearbeiteten  Dioskurides.  Vgl.  C,  doch  sind  p  und  Vj  reichhaltiger,  der  beste 
Beweis  dafür,  dass  C  nicht  die  Quelle  dieser  Interpolation  ist.  Der  zweite  Teil  der  Interpolation 
scheint  aus  der  Paraphrase  des  uns  leider  unvollständig  erhaltenen  Carmen  de  herbis  geflossen  zu 
s>in,  aus  dem  eine  sicher  nachweisbare,  in  p  v,  und  H  erhaltene  Interpolation  III  (3,  349  steht. 
Vgl.  carm.  de  herbis  c.  9.  Der  Schlusssatz:  -au\  Kouxsvug  6  QifaxoixiHÖg  nui  r<xXt]vbg  (ruXög  H) 
tu  uvxu  tcsqI  uvxfig  stgrjyiaaL  xal  öxi  xotg  nadccyQiyioig  axpeXtt,  der  nur  in  H  am  Rande  erhalten 
ist,  stammt  wieder  aus  der  alphabetischen  Umarbeitung. 


KRATEUAS.  13 

lichem  Wein  zu  trinken  oder  die  Wurzel  auf  die  Bisswunde  zu  legen  habe  19), 
desgleichen  kannte  er  ihre  Verwendung  als  Schlafmittel ,  gegen  Blutungen  und 
gegen  Erkrankungen  der  Gebärmutter  20).  In  den  folgenden  Jahrhunderten  wurde 
dann  die  Arzneimittellehre  wie  um  die  Unterscheidung  neuer  Abarten  so  auch 
um  neue  Verwendungen  der  beiden  Hauptarten  bereichert.  Das  pharmakolo- 
gische Material,  das  Krateuas  beibringt  und  das  bei  Dioskurides  in  so  wört- 
licher Uebereinstimmung  wiederkehrt,  dass  die  direkte  Benützung  des  Krateuas 
durch  ihn  kaum  mehr  zweifelhaft  sein  kann,  lesen  wir  auch  bei  Plinius  in  den 
beiden  Büchern  XXV  und  XXVI,  als  dessen  Hauptquelle  für  die  mit  Dioskurides 
übereinstimmenden  Partieen  nach  meinen  Ausführungen  im  Hermes  21)  nach  wie 
vor  Sextius  Niger  gelten  muss  2:i).  Auch  in  der  Beschreibung  der  Osterluzei, 
die  leider  in  der  Fassung  des  Krateuas  nicht  erhalten  ist ,  sind  die  Ueberein- 
stimmungen  zwischen  Plinius  (XXV  95  sicher  Niger,  nach  dem  n  o  s  t  r  i  zu  schlies- 
sen)  und  Dioskurides  a.  a.  0.  nicht  so  auffallend,  dass  ihre  Herleitung  aus  der- 
selben Quelle  ohne  weiteres  als  notwendig  erscheint 23).  Zunächst  beachte  man, 
dass  Plinius  vier  Abarten  unterscheidet ,  während  Dioskurides  nur  drei  kennt ; 
sodann  finden  sich  zwischen  beiden  Berichten  verschiedene,  keineswegs  unerheb- 
liche Abweichungen ,    die    sich    unter    der    Voraussetzung ,    dass    beide    dieselbe 


19)  Vgl.  Theophr.  h.  pl.  IX  20,  4.  IX  13,  3  (aus  Diokles).  Die  genauere  Dosis  von  einer 
Drachme  stand  beim  Jologen  Apollodor :  aus  ihm  schöpfen  Numenios  (Schol.  Nik.  Th.  517)  und 
Nik.  Th.  517. 

20)  Theophr.  a.  a.  0.  Schon  in  der  Ilias  A  846  wird  die  Wunde  des  Eurypylos  mit  der 
iii%q}}  qi£cc  geheilt,  wozu  der  Scholiast  bemerkt :  Xeyovaiv  avxr\v  slvai  xr\v  %ccIov[L£vt)v  ccQiaxoXoxi'av, 
r\v  nai  i'axcafiov  nalov6iv.  Andere  Erklärer  verstanden  unter  der  tuhqt]  §l£cc  die  gleichfalls  blut- 
stillende Schafgarbe. 

21)  Herrn.  XXIV  530  f. 

22)  Die  bei  Plinius  versprengten  Notizen  mögen  hier  in  Zusammenstellung  folgen  : 

XXV  97:  maxime  tarnen  laudatur  Pontica  (sc.  aristolochia)  et  in  quocumque  genere  pondero- 
sissima  quaeque  ,  medicinis  aptior  rotunda,  contra  serpentis  oblonga.  XXV  101:  datur  ad  ictus 
(sc.  serpentium)  aristolochia  radicis  drachma  in  vini  hemina,  sed  saepius  bibenda.  prodest  et  in- 
lita  ex  aceto.  XXV  109:  scorpionibus  (se.  adversafur)  aristolochia.  XXV  128:  Poto  veneno  ari- 
stolochia subvenit  eadem  mensura  qua  contra  serpentes.  XXVI  154  :  plurimis  tarnen  modis  aristo- 
lochia prodest ;  nam  ot  menses  et  secundas  ciet  et  emortuos  partus  extrahit,  murra  et  pipere  ad- 
ditis  pota  vel  subdita.  XXVI  33  :  stomacho  et  dyspnoeae  raedetur  .  .  .  aristolochia  vel  agaricum 
obolis  teruis  ex  aqua  calida  aut  lacte  asini  potum.  XXVI  41  :  Singultus  hemionium  sedat,  item 
aristolochia.  177:  et  aristolochia  perfrictionibus  resistit.  75:  aristolochia  ut  contra  serpentes  (sc. 
bibitur  contra  lienem).  137:  ruptis  convolsisque  .  .  .  aristolochia  pota  (sc.  adversatur).  39: 
Ischiadici  .  .  .  sauantur  .  .  .  aristolochiae  decocto  folii.  XXV  141  :  Vulneribus  capitis  medetur 
aristolochia.  fracta  extrahens  ossa  et  in  alia  quidem  parte  corporis,  sed  maxime  capite  .  .  .  XXVI 
142  :  aristolochia  quoque  putria  ulcera  exest,  sordida  purgat  cum  melle  vermesque  extrahit,  item 
clavos  in  ulcere  natos  et  infixa  corpori  omnia,  praecipue  sagittas  et  ossa  fracta  cum  resina,  cava 
vero  ulcera  explet  per  se  et  cum  iride,  reeentia  volnera  ex  aceto  .... 

23)  Man  vergleiche  dagegen  nur  die  dioskurideische  Beschreiburg  mit  Nik.  Tber.  509  f.  Aus 
dieser  Ucbereinst'.mmung  ergiebt  sich,  wie  ich  an  einem  andern  Orte  bewiesen  zu  haben  ulaube, 
dass  die  Urquelle  des  Dioskurides  das  ql^otouikov  des  Diokles  ist. 


14 

Quelle  benützen,  nur  schwer  erklären  lassen:  die  Blätter  der  runden  Abart  sind 
nach  Plinius  halb  wie  Malve,  halb  wie  Epheu,  aber  dunkler  und  weicher,  Dios- 
kurides  vergleicht  sie  nur  mit  denen  des  Epheus;  die  Wurzel  der  langen  Abart 
hat  nach  Plinius  die  Dicke  eines  Stabes ,  nach  Dioskurides  die  eines  Fingers, 
woraus  ihr  Name  daxxvXlxtg  erklärt  wird ,  der  Plinius  unbekannt  ist ;  die  dritte 
Art  ist  nach  Plinius  die  wirksamste,  nach  Dioskurides  steht  sie  in  ihrer  Wirk- 
samkeit hinter  den  anderen  zurück;  alle  drei  Arten  haben  nach  Plinius  kurze 
Stengel  und  eine  purpurfarbige  Blüte ,  Dioskurides  giebt  dagegen  der  runden 
Osterluzei  lange  Stengel  und  eine  weisse  Blüte.  Wenn  trotz  dieser  Abwei- 
chungen noch  genug  Uebereinstimmungen  vorhanden  sind,  so  meine  ich,  sind  sie 
so  zu  erklären ,  dass  die  Quelle  des  Plinius ,  Sextius  Niger ,  dieselbe  Vorlage 
benützte  wie  Dioskurides,  d.  h.  den  Krateuas.  Natürlich  ist  die  Möglichkeit 
ausgeschlossen,  dass  die  Vorlage  des  Dioskurides  die  illustrierte  Pharmakopoe 
dieses  Arztes  gewesen  ist ;  er  benützte  vielmehr  die  von  mir  auf  Grund  von 
ganz  sicheren  Kriterien  gewonnene  pharmakologische  Hauptschrift  dieses  Rhizo- 
tomen,  und  für  die  illustrierte  Pharmakopoe  desselben  Verfassers  ergiebt  sich 
daraus  die  weitere  Schlussfolgerung,  dass  sie  nach  jener  Schrift  verfasst  ist  und 
lediglich  den  Wortlaut  des  pharmakologischen  Teiles  mit  Beschränkung  auf 
die  mit  Abbildungen  versehenen  Pflanzen  wiedergab. 

Das  zweite  Bruchstück  behandelt  die  Heilwirkungen  der  zur  Gattung 
Achillea  gehörigen  Schafgarbe  (a%ikkeLog  vgl.  Fraas  215),  deren  Name  damit  er- 
klärt wurde ,  dass  Achilleus  ihre  wundenheilende  Kraft  entdeckt  habe  *4).  Die 
Alten  legten  den  Namen  fünf  verschiedenen  Pflanzen  bei :  Dioskurides  kennt 
nur  eine  Pflanze  dieses  Namens  und  stimmt  wieder  in  seinem  pharmakologischen 
Abschnitt  mit  Krateuas : 

C  fol.  25 r:  D.  IV  36,  532: 

Kgaxevag  QL^oxopog.  KakovßC  xiveg  xal  xx\v  a%ikkeiov   ölöh]- 

'A%ikXeiog'    xavxr\g    xfjg   ßoxdvqg  rj  xö^r}  Qixr\v    (peget,    de    QaßöCa   Qni^ayaala  rj 

leia  ivaipcav  iöxl  xoHYpixi]  xal  dcpXiy-  xal  {iei£co,  dxQaxxoeidi],  xal  negl  avxolg 

pavxog  al^o^gayuag  xe  i<pexxixij  xal  xr\g  cpvklaQia  leitxd ,  ivxo^iäg  itvxvag  ix 
ix  \LX\x$ag  iv  ngoß^exco '    xal  xb  dcpi^r^ia       5  itlayvcov    eyovxa  ,     7tQ06e^i(peQYJ    xoqlg), 

d'  avxr\g  itixiv  iyxd^i6\ka  QO'Cxalg'  itive-  v7töxi$Qa,  ykiö%Qa,  itokvo6\ia,  ovx  drjdrj, 

xai  xal  7igbg  8v6evxeQiav   xlcogä  de  xo-  cpagiiaxdidy]  de  xr\v  oö^irjv  Gxiddiov  iri 

Ttetöa  jttfr    ä^ovyytag  itakaiag  xa  itakaia  ccxqov  TteQupeQeg,  ävd'tj  kevxd,  elxa  %qv6l- 


6  Xia  C  XCuv  Umschrift        6  Qtvoig  C   Qoivuig  2  tpsi  Ss  P.  cpvu  de  V.         2  dißm&cciiiciicc  CN 

Umschrift       8  axiaxog  für  cci-ovyyiccg  v      9  dvga-  eatt&afuaBot  Umschrift  in  C.        3  avxolg  PFCN 

ttovXoxu  C  düsa7röZajra  v.  ccvtovY,  avxct  die  übrigen  Hds.     4  Xsnxä  iv  nXa- 

Plin.  XXV  4n  :  yCcov  ivxofiäg  %%ovxa  itvvväg  CN        6  vtcomqqcc 

Aliqui  et  hänc   (sc.  Achilleon)    panacen   Hera-  PFVH  Orib.  v%6^ivqa  C.     vn6ni%Qa  N.      8  et- 

cliam,  ali  sideriten  et  apud  nos  millefob'am  vo-  xa  %q.  PFVH  Orib.  ccvfrri  Xsvv.ec  val  nogcpvQä  xai 

cant ,    cubitali    scapo  ,    ramosam  ,    minutioribus  %qv6%ovxcc  C  p.  av&r\  Xbvv.cc   rj  nogcp.  t)    %q.   N. 


24)  Vgl.  Plin.  XXV  42.    Ps.  Apul.  88.     Kästner  de  herb.  fem.  a.  a.  0.  613. 


KRATEÜAS. 


Lo 


xdv  ikxCbv  xal  dvGaitovXcora  d'SQaizsvsf 
Iyiqoc  da  xo7ist6a  xal  utXitt  paystöd  iönv 
ccvuxtx&aQZixri. 


t,ovta'  (pvsrca  iv  evystoig  TOTtoig. 
10  Kai  tovrov  r)  xö(ir}  XsCa  ivaip&v  iöt\ 
xolXr\ttxri  xal  dcpliy^avtog  aifioQQayiag 
T£  icpexTLxi]  xal  rrjg  ix  [lYJTQag  iv  tcqoö- 
d-ita'  xal  th  a(psiprj[ia  d'  avrrtg  iönv 
iyxdJi0{ia  QOixalg'   nivEtai  de  xal  itQog 

15    ÖVÖEVTEQiaV. 


quam  feniculi  folis  vestitam  ab  imo  .  .  . 

XXVI  131:  Sistit  (sc.  sanguinis  profluvia)  et 
ischaemon  et  Achillia. 

XXVI  151:  menses  nimics  sistit  Achillea  inpo- 
sita  et  decoctum  eius  insidentibus. 


12  iv  [irjTQccg  P    iv  [iiJtqcc  VCN.  15  dvstvre- 

Qiug  CN.  N  fügt  folgende  Worte  hinzu:  itavet 
Sf  iiai  qilsyfioväg  6q>6d(>a  Xiiov  ju^'  vdutog  nu- 
tccxQLOfisvov    diacpoQeiipvH.TfH.bv  vnäQ%ov. 


Von  dem  zur  Familie  der  Ranunculaceen  gehörigen  Windröschen  kannten 
die  alten  Botaniker  zwei  Arten,  das  wildwachsende,  das  bei  Theophrast  (VI  8,  1 ) 
wieder  in  zwei  Abarten  (oqeCu  und  Xe^navaCa)  vorkommt  und  das  zahme.  Dios- 
kurides  (II  207,  323)  nennt  sie  in  Uebereinstimmung  mit  Plinius  (XXI  165)  ävs- 
iicovr]  äyQia  (Kranzwindröschen?  Anemone  coronaria  Fraas  130)  und  rj^iegog  (Grar- 
tenwindröschen,  Anemone  hortensis  L.),  Krateuas  dagegen  nach  der  Blütenfarbe 
liilaiva  und  yoivixfj  (Sehol.  Theokr.  V  02).  Bei  dieser  Pflanze  sind  wir  in  der 
glücklichen  Lage  mit  Hilfe  der  parallelen  Ueberlieferung  bei  Plinius  ein  sicheres 
Urteil  über  die  Arbeitsweise  des  Dioskurides  zu  gewinnen.  Die  Uebereinstim- 
mung, die  zwischen  beiden  Autoren  sowohl  in  der  Beschreibung  als  auch  im 
pharmakologischen  Teil  besteht,  beweist,  dass  der  plinianische  Bericht  aus  Sex- 
tius  Niger  entlehnt  ist.  Andrerseits  tritt  alter  in  dem  pharmakologischen  Teil 
der  dioskurideischen  Beschreibung  dem  Plinius  gegenüber  eine  viel  nähere,  nicht 
blos  auf  die  Reihenfolge  der  Heilwirkungen,  sondern  auch  auf  die  Fassung  sei- 
ner Darstellung  bis  in  die  einzelne  Wendung  hinein  bezügliche  Uebereinstira- 
mung  mit  Krateuas  so  deutlich  zu  Tage,  dass  die  directe  Benützung  dieses  Khi- 
zotomen  durch  Dioskurides  als  eine  unanfechtbare  Thatsache  bezeichnet  wer- 
den muss. 


C  fei.  26 r: 

KgatEvag. 
Ava^iavr}  r\  (poivixij. 
'Aveucbvrj    dvvauiv]   s%el    ÖQt>- 
lieiav,  o&sv  6  %vlbg\  trjg  §iZ,r}g 


D.  II  207,  323: 

zlvvauiv  (f  t%ov6i  dgifistav 
d(i(p6rEQaL '  ofrev  6  %vkbg  rijg 
Qi^Yjg  avräv  qlvI  iyxv&elg  TCQog 
XE(palrjg  xafraQöiv  uguö&i'  xal 


avTovyiyvETai£y%vTog%QbgxE-  5  ^laßrjd'ELöa  ö'  rj  gic^a  uysc 
(palrjg  xd&aQöiv  iiaörj&etöa  d'  (pXiyfia'  iipr}&sZ6a  d'  iv  ykv- 
f}  Qi£a  dysi  cpliypa'  ip^al^a       xsl    xal    xata7cXa66o^iivrj    öq>- 


3  §iv£y%vxT\s  C  QSivsyxv&eis  N 
6  (pX^yfiara    CN. 


Plin.  XXI  164 

Duo  eius  genera:  prima 
silvestris ,  altera  eultis 
nascens,  utraque  sabulosis 
....  prosunt  anemonae  ca- 
pitis doloribus  et  inllam- 
mationibus,  vulvis  mulie- 
rum,  lacti  quoque  et  men- 


4  uqiio&i  fehlt  CN, 


m 


M.    WELLMANN 


ö  iv  ykvxEl  xal  xcaanXccö-  daXpCov  cpXEy^ovdg  laxac  xal  strua  cient  cum  tisana 
oouivij  6(pfru?.ncöv  tpkEyaovdg  tag  iv  6<p^ak^,oig  ovkdg  dno-  sumptae  aut  veilere  acl- 
uiQsr    bfioiag  xal  rag  ovkdg  10  <7,u^£i  dvaxad-aioEi  xe  xal  xd     positae.  radix  commandu- 


(cnoöui'ixEf  xd  öe  cpvÄXa  xal 
01  xavkol  6vv£il<r]&ivxa  nxi- 
odi'ij  xal  iö&iöfiEva  ydka  xa- 
xaöncc    iv  nQ06&ixa  ö'  sy,- 


QVJiaQt'.  xäv  ikxdv  xd  Öe  (pvkka 
xal  01  xavkol  övvei'tföivxa 
Ttxiöävi]  xal  iö&iöuEva  yä"ku 
xaxaöTic)'  iv  Ttoog&ixa  Ö'  E{i- 


f.nti'C(  ayti'  xaxanla6%El6a  Öe   15  \ir\va  äysi'  xaxanlaßfrivxa  Öe 
linoag  acpiöxrjöiv.  Xiitoug  acpiöxrjötv. 


cata  pituitain  trahit,  den- 
tes  sanat.  decocta  oculo- 
rnm  epiphoras  et  cica- 
trices. 


9    ovXäg   y.al    ccfißJ-vcortiag    cc7ioG[iä  CN    oilas    v-ul  dfißXvaniiag    uTtoGnu 
p.  v,  .    ci7T007tü  V.  11    dt  v.uC  CN  p.  1'2  Gvvnpr}&ivT£g  HC 

13    GVV    7TT16CV7]    CN. 

Drei  weitere  Bruchstücke  des  Krateuas .  die  von  den  medicinischen  Wir- 
kungen des  Affodill,  der  Haselwurz  und  der  beiden  G-auchheilarten  handeln, 
bestätigen  voll  und  ganz  das  gewonnene  Resultat.  Ein  gegenüberstellender 
Abdruck  der  drei  Massen  wird  zur  Darlegung  des  Verwandtschaftsverhältnisses 
genügen. 


C  fol.  27  r-'5). 

Koaxevag  Qi^oxofiixog. 
JtitpöÖetog;  xovxov  ai  Qt^at  Övva^iv 
B%ov6i  öiovQrjXLxt)v  xal  i^fnqvcov  xaxa- 
d7tu6xLXi]V  ftEoansvEi  xal  noÖdygag  al- 
y^uuxa  xal  öndöfiaxa  xal  ß?i%ag  xal 
Oy/uaTu  uia  xb  TtXyföog  x?tg  qi&S  &  oi- 
voi  3tivo(iivt]'  710LEL  xal  (sv£[i£6xiQ0vg 
tißov  daxodyakog  ßoa&Eiöa  xal)  eqtiexo- 
öys.xoig  öiöoxai  ucpsMucog  7ifa~ftog  xoiibir 
xuxuicldSGEiv  dt  öel  xd  driypaxa  oly  tij 
fioxuvi}  <5xw  ou'üt  fteoaTtevEi  (xal)  xu 
(jvirut)(i  xal  v£(x6uEva  t'Xxy  tzoleI  xal 
jToiu    fiaGxüv    xa\    ölövvoov    (pfayfioväg 


D.  il   19(J.  312: 

.  .  .  xlvovöl  (sc.  al  Qit/aC) 
öe  xal  ovQr\6LV  xal  Efi^iyjva 
Tto&Elöai'  idxai  xal  nXevoäg 
dXyijuaxa  xal  ßr\%ag  xal  67td- 
5  (j^iaxa  xal  Qrjy^iaxa  ÖQa%{irig 
piüg  xb  TtXrftog  xr)g  QL^rjg 
iv  oi'vcj  TiLvo^evijg'  tcoiei  Öe 
xal  EVEfiEöxtQOvgböovdöxQd- 
yaXog  ßocofrElöa  xal  eoke- 
10  xoöyxxoig  öidoxui  (bcpEAL^iag 
oöov  doayjiiöv  xqiüv  xb 
nXiföoq'  xaxa7t?.a66£iv  Öl 
öei  xd  Öy/paxa  xoig  xe  cpvX- 


Plin.  XXII  68: 

folia  quoque  inlinuntur 
venenatorum  volneribus 
ex  vino.  lmlbi  nervis 
articulisque  cum  polenta 
tunsi  inlinuntur.  prod- 
est  et  concisis  ex  aceto 
lichenas  fricare .  item 
ulceribus  putrescenti- 
bus  ex  aqua  imponere. 
mammarum  quoque  et 
testium  inHammationi- 
bus.  decoeti  in  faece 
vini  oeulorum  epiphoria 


'.'<  y.f'.rfta7ruTiv.r,v  C 
/IM»-)C  nlf.9os  C 


7  noai  v.ul   bijTiiroöijY.Toig 


o  ürtu%ti:aai  Y.  l&vxui  II    fehlt    in  C  5  öqc.%- 

ui)g  nfa'i&og  C  7  qccol  6i    y.lu    tvt-fiirovg  (in  der  f  m- 

schrift  ist  nouiv  eingeschaltet)  ooov  ACTP^AOC   ßt>ai^(':GU 
v.ul  £qk.  fil  öiÖOTiu   C  10  öxptXinüjg   itXfföog    ooov 

dfiayjiai  rytig  C  11   to  fehlt   in   F 


-^">j  Ein  kleiner  Teil  des  Kraleuasfragmentes  ist  in  die  interpolierte  Handschriftenklass«  über- 
lic-gangen.  p  und  v,  niaclien  folgenden  Zusatz:  xat  Kgurtvag  bi  ö  QL^oroutnog  tu  (xvra  eint  xal 
ort   &t(ittittvet   ij  {>i"£u  übt    oi'vov  7ttvou.ivr\  <a    noödyQag  ülyrjfiaru. 


tat  (pvuaxa  xal  Öo&ifivag  6vyxa&6il>o- 
ievr)  TQvyl  oivov  t)  Qifo'  itobg  de  xäg 
tooGcpdxovg  (pXay^ioväg  ftfr'  äkcpixov  6 
)e  %vXbg  xf^g  Qt^]g  nooGhaßiov  oivov 
takcaov  xi  ykvxeog  xal  6pvQvr\g  xal 
iqoxov  Gvvety-q&avxa  im  xb  avxb  ey- 
Iqlöxov  yiyvexai  bcp&akyicbv  xal  TCQog 
bxa  7tv0QQ00vvxa  6vv  hßdvG)  xal  {ie- 
Uxl 


hoig    xal    xr]   Qit,ri    xal  xotg 

15  av&eöi  övv  ol'vc)'  xal  xä  qv- 
xaoa  xal  ve(iö{ieva  eXxr\  xal 
[taöxöv  xal  didv^av  ykey- 
(ioväg  xal  (pvuaxa  xal  öo- 
&ii]vag  6vyxad£ipoti8vr)g  xqv- 

20  ybg  oivov  xij  Qtt,r\'  ngbg  de 
xäg  7cgo6(pdxovg  cpley^ioväg 
fiex'  äkcpCxov  6  de  %vXbg  x>]g 
Qi£,r]g  TiQoölaßav  oivov  na- 
Xaiov  (xi)ykvxtog  xal  Ofivo- 

25  vi]g  xal  xgoxov  öwetyiföevxa 
enl  to  avxb  ey%Qi6xov  yC- 
vexai  öcpd-aX^iolg  cpäouaxov 
xal  nobg  axa  icvoQQOOvvxa 
xafr  eavxbv  xal   6vv    Xißa- 

80  vaxco  xal  pahixi  xal  oiva> 
xal    C^vgvi]    jiktavittlg   äg- 

(XO&L    XXA. 


17 

supposito   linteolo   me- 

dentur proclcst  et 

urinae  pota  modice  ra- 
dix  et  menstruis  et  la- 
teris  duloribus ,  item 
raptis.  convolsis,  tus- 
sibus  drachmae  pondere 
in  vino  pota.  eadem  et 
vomitiones  adiuvat  com- 
manducata. 


14  Öo&Lovus  C        15  TQvyös  C  TQvyl  Umschrift. 

XY 

17  K^YAOC   mit  ausradiertem    K   C. 

GflVQ 

18  TT6PNHC  so  C.    cpvQvris  Umschrift. 

21  TioicoQO  .  .  .  tu  C     nvoQQÖovvra  Umschrift. 


C.  fol.  31 r. 


20  OIONI  so  C  25  cvvs-ip^tvtav     C.  avv...u  FHp. 

26  6NAP6T0N  niN€TA|OcD0AAM«NOAPMAKCON  so  C 

31  Xiav&eig  C. 


D.  I  9,  19: 


Plin.  XXI  134: 


Kgaxevag  Qit,oxo{iixog. 
Aeugov  dvvafiLv  e%et  ^eQ^iavxixijv  xal 
diovorjxixrjv ,  aQ[i6£ov6av  vdoonixotg, 
i'öxidÖL  xqovCu'  ayovötv  (ai  Qt^ai)  xal 
ifHirjva'  uexä  iiefoxodxov  de  Jto&etöai 
nkiftog  eh,  ag  ehkeßooog  Xevxbg  xa&ai- 
qovöl'  \iCyvvvxai  de  xal  pvooig  xal  äv- 
xiööxoig. 


dvva\iig  d'  avxav  (sc.  xiöv 
Qt^CÖv)  0VQ1]XIX1],  dsQ^iav- 
xixii],  aQuo£,ov6a  vdoconixotg, 
löXic.di  xqovlcc  äyovöi  de 
5  xal  ippiiva'  pexic  nefoxod- 
xov  de  ito&EiGai  Tihyftog 
ovyytcöv  £'  cog  eh?.eßooog 
Xsvxbg  xa&aiQOvac  pCyvvv- 
tat  de  xal  {ivooig. 


Asarum  iucinerum  vi- 
tiis  salutare  esse  tra- 
ditio uncia  sumpta  in 
bemina  mulsi  mixti.  al- 
xum  purgat  ellebori 
modo,  bydropieis  prod- 
est  .  .  .  in  mustum  si 
addatur .  facit  vinum 
urinis  ciendis. 


3  UQfi6£ov6u  Cv  l6%iu8iY.oi?  xqoviu  Cv  2  ÖiovQr\Tiv.i]  v,  .  p.  vor  c'cQuo^ovau   iu    v,  .  j)  :    xc-i    f'uf- 

5  no&fiaa  Cv  6  HU&aiQU  Cv  MH"  n«Jj"  4  In  H  steht  hinter  XQOvia  noch   v.ccl   $t[%(. 

r€Y€TA|  so  C.  Si  fehlt  H.  5  jufrä  Si  H.  7  F :  ££• 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.  N.  F.    Band  2,  i.  3 


\x 


C.  foL  40' 


Kouxevag  Qi£,oxoiiLx6g. 
'AvayccXlldeg  än<p6xeoca  xqccvuccxlxcu', 
acpXeyuavxoL'  öxoXöticjv  xe  eiti<5Ttcc(Sxi- 
xccl  (xcd)  vofiüv  ecpexxixat'  6  öe  %v- 
kbg  avxtov  qlvI  eyxvxog  odovxav 
novov  navöet,  iäv  etg  xbv  ccvxixeC- 
pevov  pv|cDrf}pa  xov  ccXyovvxog  ey- 
Xt'tjg'  xa-d-cciQSL  xccl  ägye^ia  {lexcc  [ie- 
Aixog  ccxxlxov  xccl  cc{ißXvG3Jiiaig  ßor\- 
%el'  cpccölv  d1  evioi  xrji>  pev  e%ov6av 
xb  xvavovv  uvftog  7iQÖ7txco<5iv  dccx- 
xvliov  ÖTsXkeiv,  xr\v  de  (poivtxovv 
e%eQE&Ct,ei  v  xaxa%XccQ%el6av  %q(övxccl 
ö'  avxt]  xccl  eig  xccg  /J)]^loxqlxov  dv- 
vcc^ieig. 


M.    WILLMANN, 

D.  II  209,  327 : 

Etol  d'  u^itpöxegai  xqccv[icc- 
xixccl,    äcpXeyiiavxoL ,    6xo- 

XÖTfCOV     e7tl()JtCC6XLXCCL  ,      vo- 

{iäv  ecpexxLXccC'  6  de  %vkbg 
5  ccvxcov  ccvccyccQytxQLtl6[Levog 
caiocpkeyyiccxLClei  x£(pccki]v 
xccl  qusIv  eyxvxog  [ftfrt] 
xccl  ödövxcov  tiövov  itccvei, 
eicv    etg   xbv    uvxixeipevov 

10  {iv£,(oxriQcc  xä  älyovvxL 
&YX&W'  KDC^aiQ£L  de  xccl  ccq- 
ye\ia  ycexa  pefoxog  ccxxlxov 
xccl  d^ißXvcojiLKig  ßori&et' 
acpeXel  xccl  exLodrjxxovg  pex' 

15  oi'vov  7tiv6yievog  xccl  ve- 
(pQixtxovg  xccl  rjTcaxLxovg 
xcd  vdoojTiiGbvxccg'  cpccöl  dJ 
evLOL  xi]v  ycev  e%ov6ccv  xb 
xvctvovv  avd'og  TtQOTixäöeig 

20  dccxxvXiov  öxeXXeLV,  xr\v  de 
(xb)  (poivixovv  ioe&L&Lv 
xaxuTtXcc<5%eZ<5av. 


Plin.  XXV  144: 

.  .  .  utriusque  sucus  ocu- 
lorum  caliginem  discutit 
cum  melle  et  ex  ictu 
cruorem  et  argema  ru- 
bens ,  magis  cum  attico 
melle  inunctis  .  .  .  sucus 
caput  purgat  per  nares  in- 
fusus  .  .  .  bibitur  et  contra 
angues  suci  drachma  in  vino. 
XXVI  35 :  iocineri  anagal- 
lides  mire  prosunt.  144: 
praestant  hoc  et  anagalli- 
des  cobibentque  quas  vo- 
cant  nomus  et  rheumatis- 
mos,  utiles  et  recentibus 
plagis,  sed  praecipue  se- 
num  corpori. 

XXV  166:  (ad  colluendos 
dentes) :  colluuntur  et  peu- 
cedani  suco  cum  meconio 
vel  radicum  anagallides 
magis  feminae  suco  ab  al- 
tera nare  quam  doleat  in- 
fus o. 

XXVI 90 :  anagallidum  cae- 
rulea procidentiam  sedis 
retro  agit ,  e  diverso  ru- 
bens  proritat. 


5  Qivhyvxog  C 


6  navosig  C 


7  TO  AArOYNTOC  so  C. 

11     KVUVtOV    C. 


1  auyÖTSQU  TtQuvvxaiu.  y.u.1  äqileyfiavta  CNpv,.  2  ox-oXÖTtav  ts 

CN.  3    vofiütv  —  KScpaXriv  fehlen  ia  CN.  7    ql6lv 

ty%vx6g  sau    nai    PVFH.     xat    qiv£v%vtr]g    xcä    C.     neu    quvsyxvxiY.k 
Y.ui    N.         ödovtog    V.  11    lm%£rjg    PVFH.         tvxfyg  CN. 

14  de  xca'  V.  s%lo8.  Ttivöfisvov  (isru  oi'vov  xai  vdocoJiLiiovg  '    cpaai 

C.         t'xioS.    nivöfievov    fier'  oi'vov  xai  vdQco7Uyiovg  v.al  fjiiatiHOvg  N. 
19  Kväviov  C  y.vuvov  N.  21  zo  steht  iu  CNp.  vx . 


C  fol.  30 r  ist  ein  kurzes  Bruchstück  über  den  Wegetritt   erhalten  26) :    Aq- 
voyXcoööov  dvva^iiv  e%ei  xr\xxixv\v  xccl  cccpA.ey[iccvxov    xo%el6a  yaQ    [texä    öxeccxog   xccl 


26)  Der  cod.  med.  gr.  V  der  Wiener  Hofbibliotliek  bietet  ein  recht  artiges  Beispiel  dafür, 
wie  grosse  Vorsicht  späteren  Hdss.  gegenüber  geboten  ist.  Er  ist  nämlich  scheiubar  reichhaltiger 
iu  diesem  Bruchstück  als  der  Const.,  auf  o%fd6v  folgen  in   ihm   noch   folgende  Worte:    -nul  mvotig 


KRATEUAS.  19 

(x  in  C,  xcu  Umschrift)  iitixi%i\Livr\  tolg  tä  %uq&v iv.  £%ov6iv  svdsrsl'  7tQog  ös  tä  Xomä 

7toisl  öxsöbv  (exe  C  6xn9"  Umschrift) Dies  Fragment  füllt  zusammen  mit 

dem  bedeutend  gekürzten  Excerpt  aus  Galen  itegl  dvvdfiecjg  (pag^dxcov  (XI  838  K.) 
etwa  das  untere  Viertel  der  Seite.  Es  unterliegt  für  mich  keinem  Zweifel,  dass 
der  Schreiber  des  Constantinopolitanus  es  wegen  Raummangels  willkührlich  ab- 
gebrochen hat :  der  Bericht  des  Krateuas  war  ohne  Zweifel  viel  reichhaltiger. 
Ob  aber  die  grosse  Fülle  des  pharmakologischen  Teiles  der  dioskurideischen  Be- 
schreibung (II  152,  268  ff.)  aus  ihm  entlehnt  ist,  ist  mir  zweifelhaft,  zumal  wir 
von  Plinius  (XXV  80)  erfahren,  dass  der  spätere  Themison,  der  Stifter  der  so- 
genannten methodischen  Schule  in  augusteischer  Zeit,  die  Heilkräfte  dieser  Pflanze 
in  einem  besonderen  Werke  ausführlich  behandelt  hat.  Ich  glaube  deshalb,  aus 
der  doch  immerhin  bemerkenswerten  Thatsache ,  dass  das  kurze  Fragment  des 
Krateuas  nicht  die  auffallende  enge  Berührung  mit  Dioskurides  aufweist  wie  die 
vorhergehenden,  den  Schluss  ziehen  zu  dürfen,  dass  Dioskurides  in  diesem  Ca- 
pitel  den  reicheren,  auf  der  Schrift  des  Themison  aufgebauten  Bericht  des  Sex- 
tius  Niger  dem  des  Krateuas  vorgezogen  hat. 

Nicht  so  sehr  für  die  Quellenanalyse  des  Dioskurides  von  Wichtigkeit, 
aber  um  so  mehr  durch  die  Seltenheit  des  Inhalts  ausgezeichnet  sind  die  beiden 
letzten  von  den  Heilwirkungen  der  Argemone  und  der  kleinen  Aster  (aster 
Amellus  L.  Fraas  210)  handelnden  Bruchstücke,  die  keine  Parallele  bei  Diosku- 
rides haben,  aber,  da  sie  das  Material  bereichern,  von  der  interpolierten  Ueber- 
lieferung  (p  vi)  in  den  Text  des  Dioskurides  aufgenommen  worden  sind : 

C  fol.  29r.  vgl.  D.  II  208,  326. 
Kgatsvag  QL^oto^iLXog. 
'AQysiicavri '    avtrj   r\    ßotdvrj  xojtstöa   [ist1  d^ovyyCag   %oiQadag    diakvei '    novel  xai 


1  6£vyyiov  vx  p. 


irtsX*!'  ccl'ficcrog  ngog  rs  xa  iv  y-vatSL  (istec  ylvusog'  (päd  81  rag  Qi£ccg  tgsig  no^il6ag  olag  l'aov 
TQiTaC<a  ßori&siv,  tixaqxaiat  de  x£66ccgcig  Qi£ccg~  ngbg  %oiQädug  -aal  dia(p0Q0v6i\  —  Das  Plus  findet 
darin  seine  Erklärung,  dass  der  Schreiber  nicht  den  Majuskeltext,  sondern  die  Umschrift  desselben 
in  Minuskeln  benützt  hat,  die  in  C  fol.  29 v  zu  beiden  Seiten  der  Illustration  in  folgender  Weise 
verzeichnet  ist : 


Umschrift  des  Galen 


Darstellung 
Umschrift  des  Dioskurides 


des  Umschrift  des  Krateuas 

CCQv6yX(OG60V  


Fortsetzung 

der  Umschrift 

des  Dioskurides. 

Der  Schreiber  hat  also  versehentlich  den  unteren  Teil  der  Umschrift  des  Dioskuridestextes ,  der 
rechts  von  der  Pflanzendarstellung  steht,  für  Fortsetzung  des  darüber  stehenden  Krateuastextes 
gehalten. 


20  M.    WELLMANN, 

7tgbg  alcpovg  pikavag  {ista  vCxqov  xal  ftetov  äitvQOv  %r}Qa  xoitslöa  %a\  6r\6freZ6u' 
iv  ßaXavsi'a  (de)  tovg  XQCo^iivovg  d-egaitevec  7tQo%rjQOtQißrid,evtag '  jzolsI  xal  Jtgbg 
rpcoQav. 

3  Ss  fehlt  in  C. 

C  fol.  33 r.  vgl.  D.  IV  118,  605. 
Kgarevag  QL%0T0[iLx6g. 
'AQxeqiqv    avtrj    x^OQa  xoitelöa  [iet'  a%ovyyiag  itaXaiag  itoiel  Ttgbg  Xvööodrjxtovg 
(xal)  ßgoyxoxrifoxovg '    vTtod'v^tcjfisvrj  de  (pvyadevet,  d'rjgoa. 

2  xat  fehlt  in  C.  erhalten  in  p.  v,. 

,  Wir  haben  oben  gesehen,  dass  von  dem  botanisch  pharmakologischen  Werke  des 
Krateuas  die  illlustrierte  Pharmakopoe  verschieden  ist,  von  der  in  der  Litteratur 
der  einzige  Plinius  (XXV  8)  Kunde  erhalten  hat :  Praeter  hos  Graeci  auctores 
prodidere  quos  suis  Jocis  diximus ,  ex  his  Crateuas ,  Dionysius ,  Metrodorus  ratione 
blandissima,  sed  qua  nihil  paene  aliud  quam  difßcultas  rei  intelleg atur .  pinxere 
namque  effigies  herbarum  atque  ita  suhscripsere  effectus.  Verum  et  pictura  fallax 
est  coloribus,  tarn  numerosis  praesertim  in  aemulationem  naturae,  multumque  generat 
transscribentium-fors  varia.  praetcrea  parum  est  singidas  earum  aetatis  pingi}  cum 
quadripertitis  varietatibus  anni  faciem  mutent, 

Plinius  unterscheidet  drei  Klassen  von  botanisch-medicinischen  Schriften,  je 
nachdem  in  ihnen  die  Pflanzen  abgebildet  oder  beschrieben  oder  mit  Verzicht  auf 
Abbildung  und  Beschreibung  nur  benannt  waren.  Zu  der  ersten  dieser  Klassen 
rechnet  er  die  Werke  des  Krateuas,  Dionysios  und  Metrodoros ;  sie  waren  also  in 
ihrer  Anlage  völlig  gleichartig,  d.  h.  an  die  Stelle  der  Beschreibungen  waren  in 
ihnen  die  Abbildungen  der  Pflanzen  getreten ,  unter  denen  ihre  medicmischen 
Wirkungen  verzeichnet  standen.  Der  älteste  dieser  drei  Pharmakologen  ist 
Krateuas  27) :  folglich  ist  durch  ihn  in  der  pharmakologischen  Litteratur  die  Ver- 
einigung von  Bild  und  Wort  inauguriert  worden,  und  wenn  Plinius  a.  a.  0.  aus- 
drücklich als  Nachteil  dieser  Behandlungsweise  die  vielfache  Entstellung  des 
Originals  durch  die  verschiedene  Geschicklichkeit  der  Abschreiber  hervorhebt, 
so    werden    wir   nicht   irren,   wenn  wir  die  illustrierten  Pharmakopoen  des  Dio- 


27)  Der  an  dieser  Stelle  genannte  Dionysios  ist  der  bekannte  Cassius  Dionysius  aus  Utika, 
der  Verfasser  der  griechischen  Uebersetzung  des  magonischen  Werkes  über  den  Ackerbau.  Dass 
er  auch  Qi^oxoy.iY.ä  geschrieben,  bezeugt  Steph.-  v.  Byz.  s.  v.  'iTvnri,  wo  Meineke  statt  des  überlie- 
ferten z)iokXj]s  ohne  Zweifel  richtig  liest:  a<p'  ov  diovv6ios  6  'Irv%atog  QL^OTOfiincöv  nQ&xcp.  Vgl. 
Kuhn  addit.  ad  elench.  med.  vet.  a  Fabricio  exhibitum  XIV  8.  Vgl.  Schol.  Nik.  Ther.  519  (Diosk. 
III  113.  Plin.  XXI  152).  Aerzte  des  Namens  Metrodoros  kennen  wir  drei:  den  Lehrer  des  Era- 
sistratos,  Schüler  des  Chrysipp  von  Kuidos  (Sext.  Empir.  657,  23  f.  Bekk.  Vgl.  R.  Helm  Herrn. 
29,  16:}),  den  Schüler  des  Sabinos  aus  dem  Ende  des  1.  Jh.  v.  Chr.  (Gal.  XVII  A  877.  508)  und 
einen  Schüler  des  Asklepiades  (Gal.  XI  432.  442).  Dieser  war  unzweifelhaft  der  Verfasser  der 
illustrierten  inirofir]  ql£otouov[1£vcov  (Plin.  XX  214).  Vgl.  Plin.  Ind.  20—27.  E.  Meyer  Gesch. 
der  Botanik  I  257. 


KRATEÜAS.  21 

nysios  und  Metrodoros  als  Wiederholungen  seines  epochemachenden  Werkes  an- 
sehen. Da  diese  drei  illustrierten  Herbarien  oder  wie  man  sie  nennen  will  in 
der  späteren  Fachlitteratur  ausser  bei  Plinius  keinerlei  Berücksichtigung  ge- 
funden haben,  so  glaube  ich  annehmen  zu  dürfen,  dass  sie  in  der  Art  der  illu- 
strierten Pflanzenkunden  der  Humanistenzeit  eine  mehr  für  das  Bedürfnis  des 
Volkes  bestimmte,  populäre  Form  der  Qi£oTO[iLxd  darstellen.  Ueber  die  Anord- 
nung der  illustrierten  Pharmakopoe  des  Krateuas  liegt  kein  direktes  Zeugnis 
vor:  doch  macht  es  seine  Bestimmung  wahrscheinlich,  dass  sie  in  der  Art  der 
Botanik  des  Pamphilos  alphabetisch  geordnet  gewesen  ist.  Dass  diese  Art  der 
Anordnung  auf  ältere  Werke  zurückgeht,  folgt  aus  der  Einleitung  des  Diosku- 
rides  I,  3:  "HpaQxov  de  xal  itegl  xijv  xd%iv  ot  {ie.v  döv^icpvkovg  dvvd^etg  övyxgov- 
aavxeg,  oX  de  xaxä  Qxoi%elov  dvaygdipavxeg  die£ev%av  xrjg  ofioyevetag  xd  xe  yevr\  xal 
xdg  ivegyeiag  avxcbv,  cog  diä  xovxo  d^v^^ivrj^ovevxa  (so  F)  yiveö&cti.  Dioskurides 
polemisiert  hier  gegen  die  Anordnung  des  Stoffes,  die  seine  Vorgänger  befolgt 
hatten.  Er  kennt  von  ihnen  eine  doppelte  Behandlungsweise  :  entweder  hatten  sie 
die  Pflanzen  alphabetisch  oder  nach  rein  äusserlichen  Merkmalen  abgehandelt.  Da 
nun  Dioskurides  nur  zwei  Quellenschriftsteller  benutzt  hat,  Niger  und  Krateuas, 
und  das  Werk  des  Niger  nach  den  von  Plinius  erhaltenen  Excerpten  thatsächlich 
den  Eindruck  einer  ungeordneten  Compilation  macht ,  so  ist  meines  Erachtens 
die  Annahme  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  Krateuas  die  alphabetische 
Behandlung  des  Stoffes  wenn  auch  nicht  aufgebracht,  so  doch  angewandt  und  in 
seinen  beiden  Werken  befolgt  hat.  Das  dioskurideische  Werk  negl  vXrjg  tccxQLxfjS 
gehört  zu  der  zweiten  der  von  Plinius  charakterisierten  Klassen  von  botanisch- 
medicinischen  Schriften:  die  Bäume  und  Pflanzen  sind  einzeln  beschrieben  und 
ihre  medicinischen  Wirkungen  angegeben.  Der  Fortschritt,  den  es  den  älteren 
Werken  gegenüber  bezeichnet ,  besteht  in  der  grösseren  Vollständigkeit  der  be- 
handelten Materie  und  in  der  originellen  Anordnung  des  Stoffes 2S).  Die  That- 
sache,  dass  er  die  Pflanzen  beschrieben  hat,  schliesst  also  von  vornherein  die 
Möglichkeit  aus ,  dass  er  seinen  Beschreibungen  Abbildungen  der  Pflanzen  bei- 
gegeben hat.  Wenn  nun  trotzdem  eine  ganze  Reihe  von  illustrierten  Hdss.  des 
Dioskurides  erhalten  sind,  so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Illu- 
strationen spätere  Zuthat  sind. 

Die  in  Betracht  kommenden  Hdss.  zerfallen  in  zwei  Gruppen,  deren  eine 
durch  die  alphabetische  Umarbeitung  des  Dioskurides  vertreten  ist,  während  die 
andere  die  illustrierten  Hdss.  des  vollständigen  Dioskurides  umfaßt.  Diese  zweite 
Gruppe  ist  wiederum  zweiteilig,  je  nachdem  die  Hdss.  nach  der  alphabetischen 
Umarbeitung  interpoliert  sind  oder  nicht.     Zu  der  ersten  Gruppe  gehören: 

1.  Die  beiden  alten  Pergamenthdss.  der  Wiener  Hofbibliothek ,  der  Con- 
stantinopolitanus  (C)  in  Folio  und  der  aus  dem  Augustinerkloster  S.  Giovanni  di 
Carbonaria  zu  Neapel  stammende  Neapolitanus  (N)  in  Quart.  In  beiden  Hdss.  ist 
nicht  nur  die  ursprüngliche  Anordnung  der  Blattlagen  gestört,  sondern  sie  haben 


28)  R.  Kobert,  über  den  Zustand  der  Arzneikunde.     Halle  1887,  8  ff. 


22  BL    WELLMANN, 

auch  im  Innern,  besonders  C,  verschiedene  Blattverluste  erlitten.  C  enthält 
387  alte  Pergamentblätter  (0,312  m.  breit,  0,376  m.  hoch),  die  Illustrationen  be- 
ginnen auf  fol.  12v  mit  dein  asi^av  tb  \aiya  und  schliessen  fol.  387  r  mit  der 
Darstellung  des  loM{iov.  Auf  fol.  1 v  stehen  die  aus  Lambecius  (II  c.  7,  519) 
bekannten  bildlichen  Darstellungen,  die  an  anderer  Stelle  ausführlicher  zu  be- 
handeln sind,  und  das  in  Majuskeln  abgefasste  Verzeichnis  der  behandelten  Pflan- 
zen nebst  der  Minuskelumschrift.  Die  Handschrift  enthält  im  Ganzen  380  Dar- 
stellungen, die  von  der  Hand  des  späteren  Correctors  (saec.  15.)  durchnumeriert 
sind :  bei  einer  Reihe  von  Pflanzen  fehlt  infolge  von  Blattausfall  die  Illustration, 
bei  andern  der  Text.  In  den  weitaus  meisten  Fällen  nimmt  die  bildliche  Dar- 
stellung eine  eigene  Seite  ein,  ebenso  der  Text,  bisweilen  sind  die  verschiedenen 
Arten  einer  Gattung  auf  einer  Seite  vereinigt,  z.B.  fol.  152 v  kow^cc  XsnTocpvMog 
und  növvtjüL  7tkcctv(pvXlog,  vereinzelt  ist  auch  der  Text  der  bildlichen  Darstellung 
beigefügt.  Illustrationen  und  Text  tragen  als  Ueberschrift  den  Namen  der 
Pflanze  (rot  geschrieben) ,  ausserdem  stehen  unter  den  Pflanzenbildern  die  ara- 
bischen Namen  und  nicht  selten  am  oberen  Rande  mit  noivcbg  oder  Idicbtcu  ein- 
geleitet ein  weiterer  griechischer  Name  von  der  Hand  des  15.  Jh.  Der  Text 
beginnt  fast  regelmässig  mit  den  Pflanzensynonyma,  die  in  dieser  Fassung  nichts 
mit  Dioskurides  zu  thun  haben.  Die  alphabetische  Anordnung  ist  innerhalb  der 
einzelnen  Buchstaben  nur  selten  gewahrt.  Der  Neapolitanus  (0,14  m.  breit, 
0,297  m.  hoch)  aus  dem  7.  Jh.  besteht  aus  172  Pergamentblättern,  von  denen  meist 
nur  die  Vorderseite  beschrieben  ist.  Auf  der  oberen  Hälfte  jeder  Seite  befinden 
sich  die  Pflanzenbilder,  zwei,  doch  auch  drei  und  vier  auf  einer  Seite,  im  ganzen 
409.  Unter  jeder  Pflanze  steht  der  Pflanzenname  mit  roter  Tinte  und  darunter 
der  Text  wie  in  C  mit  den  Synonyma  beginnend.  In  den  meisten  Fällen  sind 
die  Pflanzendarstellungen  mit  weiteren  Namensbeischriften  versehen,  die  von  zwei 
verschiedenen  Händen  herrühren,  fast  ausschliesslich  in  lateinischer  Schrift.  Die 
Abbildungen  sind  in  beiden  Hdss.  farbig ,  jedoch  in  C  weit  vorzüglicher  und 
prächtiger  als  in  N  und  zum  Teil  der  Natur  entsprechend;  daneben  giebt  es 
aber  auch  eine  Reihe  von  monströsen  Pflanzendarstellungen.  Die  Abbildungen  und 
der  Text  stammen  in  beiden  Hdss.  aus  demselben  Original,  dessen  Entstehung  in 
die  Zeit  nach  Galen  und  vor  450  fällt. 

2.  cod.  Bononiensis  gr.  bibl.  univers.  n.  3632.  Es  ist  eine  Papierhds.  aus 
dem  16.  Jh.  -9),  deren  Blätter  0,296  m.  hoch  und  0;219  m.  breit  sind.  Vgl.  die 
Beschreibung  von  Olivieri  Codices  graeci  bononienses  in  den  Studi  italiani  di  filo- 
logia  classica  Vol.  III  Firenze-Roma  1895,  387.  Die  Hds.  enthält  von  fol.  385 r 
an  bis  416 v  farbige,  mit  ziemlicher  Sorgfalt  des  Details  gemalte  Pflanzenbilder, 
der  Text  des  Dioskurides  fehlt.  Die  durchnumerierten  Illustrationen  sind  will- 
kührlich  geordnet,  auf  jeder  Seite  stehen  höchstens  6,  mindestens  2  Darstel- 
lungen, je  nach  der  Grösse  der  dargestellten  Pflanze.  Jeder  Darstellung  ist  der 
Pflanzenname,    nicht    selten  auch  die  Synonyma  beigefügt.     Auf  fol.  417 r — 418 r, 


29)  Vgl.  II.  Schöne  Apollonius  von  Kitium  XXXVII  f. 


KRATEUAS.  23 

425v,  428v,  377r,  377*,  378r  stehen  dieselben  bildlichen  Darstellungen  (Aerzte- 
darstellungen,  Auffindung  der  Mandragoraswurzel  u.  s.  w.)  wie  in  C  fol.  2V — 6V, 
auf  fol.  380',  381v,  382v,  383r,  384v  dieselben  Bilder  von  giftigen  Tieren  und 
Schlangen  wie  in  C  fol.  394 r  ff.  zu  der  Eutekniosparaphrase  von  Nikanders  The- 
riaka.  Die  Uebereinstimmung  dieser  Illustrationen  mit  dem  Constantinopolitanus 
setzt  es  ausser  Zweifel,  dass  sie  Kopieen  dieser  Handschrift  sind,  doch  sind  sie 
in  den  seltensten  Fällen  in  der  Grösse  des  Originals  ausgeführt. 

3.  Cod.  Marcianus  XCII,  eine  Bombycinhds.  des  13.  Jh.  in  Octav  (0,145  m. 
hoch,  0,10  m.  breit),  168  Blätter.  Auf  fol.  92 r  beginnt  der  Text  des  Diosku- 
rides  mit  der  Ueberschrift :  /Jio6koqC8ov  tceqi  ßotavöjv  xal  ^cocov  d-aXarttcjv  nal 
Xsq6ccl(dv.  Fol.  163v  schliesst  der  Text  des  Dioskurides  mit  der  Mandragoras- 
wurzel. Am  Rande  stehen  flüchtige  Federzeichnungen  der  behandelten  Tiere 
und  Pflanzen.  Die  Pflanzenbilder  des  Originals  waren  farbig  ausgeführt:  der 
Schreiber  hat  häufig  die  Farben  in  griechischer  Sprache  seinen  Federzeichnungen 
beigefügt,  gegen  Ende  werden  die  Zeichnungen  spärlicher. 

4.  Athoshandschrift  vom  Kloster  Lavra30).  Es  ist  eine  Pergamenthds.  des 
12.  Jahrhunderts  (0,235  m.  hoch,  0,185  m.  breit),  292  Blätter  enthaltend.  Sie 
geht  wegen  ihrer  Anlage  auf  eine  ähnliche  Vorlage  zurück  wie  der  eben  be- 
sprochene Marcianus.  Die  Hds.  enthält  404  Illustrationen :  sie  sind  farbig, 
durchschnittlich  5 — 12  cm.  hoch  und  mit  den  Namen  versehen.  Sie  stehen  im 
Text  des  Dioskurides,  meistens  zwei  oder  drei  neben  einander.  Abbilden  wollte 
der  Schreiber  alle,  er  hat  für  alle  Platz  gelassen  und  die  Namen  beigeschrieben: 
es  fehlt  aber  eine  Reihe  von  Darstellungen.  Die  Hds.  ist  sehr  beschädigt:  mit 
der  rechten  unteren  Ecke  derselben  sind  Stücke  der  Illustrationen  verloren  ge- 
gangen. Auf  mehreren  Bildern  ist  ein  Mann  mit  einem  Beil  der  Pflanzendar- 
stellung beigefügt  (z.  B.  cciqcc,  a^TCskoitQaöov ,  ßovviov)  oder  zwei  Männer  {£%C- 
ftviiov)  oder  Mann  und  Frau  (€qv6l[iov,  ekvpog,  evcpogßiov)  oder  zwei  Frauen  mit 
Gefässen  (l'ov  izoQyvgovv)  oder  eine  Frau  mit  einem  Zweig  und  einem  Heiligen- 
schein   (<XQTStlL6LCc). 

Die  zweite  Gruppe  umfasst  drei  Handschriften : 

5.  Cod.  Parisinus  n.  2179 ,  die  beste  Hds.  des  Dioskurides.  Sie  ist  eine 
Pergamenthandschrift  in  Uncialschrift  (0,267  m.  breit,  0,35  m.  hoch)  aus  dem  9. 
Jh.  mit  171  Blättern.  Sie  enthält  den  Text  des  Dioskurides  von  II  c.  204  — 
Y  124  mit  häufigen  durch  Blattverlust  entstandenen  Auslassungen.  Jedes  Ca- 
pitel  ist  mit  Pflanzenbildern  versehen,  die  im  Texte  stehen  und  deren  Zahl  sich 
genau  nach  dem  Texte  des  Dioskurides  richtet.  Sie  sind  farbig,  aber  ziemlich 
ungeschickt  in  der  Ausführung,  zum  Teil  monströs  und  mit  arabischen  Zahlen 
und  arabischen  und  lateinischen  Pflanzennamen   (von  drei   verschiedenen  Händen) 


30)  Die  Beschreibung  der  Athoshds.  verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit  des  Herrn  Dr.  C. 
Fredrich,  der  die  Hds.  für  mich  eingesehen  hat.  Eine  verwandte  Hds.  ist  der  cod.  Philipp.  21975, 
Pergamenthds.  des  XI.  Jh.  in  Cheltenham  ,  dessen  Nachweis  ich  einer  liebenswürdigen  Mitteilung 
des  Herrn  Prof.  V.  Rose  verdanke.  Die  zahlreichen  Pflanzen  und  Tierbilder  stammen  nach  den 
Mitteilungen  Roses  aus  der  alphabetischen  Umarbeitung  des  Constantinopolitanus. 


24  M.    WELLMANN, 

versehen.  Es  sind  402  Pflanzenabbildungen;  sie  reichen  bis  zum  Ende  des  4. 
Buches,  in  6  Fällen  ist  ihnen  wie  im  Athous  die  Gestalt  eines  Mannes  beigefügt: 

Fol.  2r :  Die  avayakkCg  hat  zwei  Darstellungen ,  die  eine  mit  blauer ,  die 
andere  mit  roter  Blüte.  Links  von  der  ersten  Darstellung  steht  eine  männliche 
Figur  mit  goldener  Chlamys,  die  L.  zur  Pflanze  erhoben,  die  R.  auf  dem  linken 
Knie  ruhend. 

Fol.  3V:  %bXi86vlov  piya.  R.  von  der  Darstellung  liegt  eine  männliche 
Figur  mit  goldenem  Heiligenschein,  in  einen  hellfarbigen  Mantel  gehüllt. 

Fol.  4V:  6d-6vva.  R.  von  dem  Bilde  eine  in  ein  bläuliches  Fell  gehüllte 
männliche  Figur  mit  einem  Stab  in  der  Rechten,  auf  den  sie  sich  stützt. 

Fol.  5r:  [ivbg  atcc.  L.  unter  der  Pflanze  liegt  eine  männliche  Figur  auf 
die  R.  gestützt,  die  L.  zum  Gesicht  erhoben,  die  Beine  an  den  Körper  gezogen. 
Die  Brustbekleidung  ist  goldfarben,  die  Beinkleider  und  Aermel  blau. 

Fol.  5V:  tr\X£cpLOv  mit  zwei  Pflanzendarstellungen.  R.  von  der  zweiten  eine 
knieende  männliche  Figur  mit  goldfarbener  Kopfbedeckung  und  gleichfarbigem 
Mantel,  die  R.  nach  der  Pflanze  ausgestreckt. 

Fol.  7 T :  ysvtLccvr].  Eine  knieende  männliche  Figur  1.  von  der  Darstellung, 
welche  mit  beiden  Händen  nach  derselben  greift.  Vgl.  Bordier,  Description  des 
peintures  et  autres  ornements  contenus  dans  les  manuscrits  grecs  de  la  biblioth. 
nat.  Paris  92. 

ß)  Cod.  Paris,  n.  2183,  Papierhds.  aus  dem  15.  Jh.  165  Blätter  (0,21  m.  breit, 
0,28  m.  hoch),  interpoliert  nach  der  alphabetischen  Umarbeitung  des  Dioskurides. 
Am  Rande  steht  zu  den  meisten  Capiteln  die  Parallelüberlieferung  aus  Galen 
nsgl  8vvd\iBC3s  q)ccQ{idx(ov  von  jüngerer  Hand  (16.  Jh.).  Die  in  Wasserfarben 
ausgeführten  Pflanzendarstellungen  beginnen  auf  fol.  lv  und  stehen  am  Rande 
der  Hds. ,  3—4,  bisweilen  6  auf  einer  Seite  in  verkleinertem  Massstabe.  Auf 
fol.  27 v  bei  dem  Capitel  71sqI  Iteccg  (I  135,  130  Spr.)  hören  die  Darstellungen 
des  1.  Buches  auf  bis  auf  drei  Darstellungen  auf  fol.  33v  und  35v.  Mit  fol.  34r 
beginnt  das  zweite  Buch,  am  Rande  stehen  zu  Anfang  des  Buches  einfache  Fe- 
derzeichnungen der  von  Dioskurides  behandelten  Tiere.  Die  farbigen  Pflanzen- 
darstellungen beginnen  erst  wieder  fol.  46 r  mit  dem  Capitel  jisqI  tivqmv  (II  c.  107, 
233  Sp.),  und  reichen  bis  zum  Ende  des  vierten  Buches. 

7)  Cod.  Paris,  n.  2180 ,  Papierhds.  des  XV.  Jahrhunderts ,  bestehend  aus 
109  Blättern,  die  eine  Grösse  von  0,285  m.  x  0,397  m.  haben.  Die  Hds.  ist 
nach  der  Subscription  von  der  Hand  des  Georgius  Midiates  (c.  1481)  geschrieben. 
Sie  enthält  von  fol.  5l— 56v,  fol.  67r-—  72v  Auszüge  aus  Dioskurides,  die  zum  Teil 
mit  farbigen  Abbildungen  versehen  sind ;  wo  sie  fehlen,  ist  Raum  gelassen.  Die 
Darstellungen  sind  ziemlich  flüchtig  angefertigt  und  entsprechen  am  meisten 
denen  der.  Bologneser  Handschrift. 

Die  Uebereinstimmung  der  in  sämmtlichcn  illustrierten  Handschriften  erhalte- 
nen Pflanzenabbildungen  zeigt,  dass  ihnen  dieselben  Vorbilder  zu  Grunde  gelegen 
haben.  Da  nun  der  echte  Dioskurides  ursprünglich  nicht  illustriert  gewesen  ist, 
der  alphabetisch  umgearbeitete  dagegen,  wie  sich  später  ergeben  wird,   den  lllu- 


KRATEUAS.  25 

strationen  seine  Entstehung  verdankt,  so  bietet  sich  die  Vermutung  von  selbst 
und  darf  wohl  für  Gewissheit  gelten,  dass  die  Uebereinstimmung  in  den  Illu- 
strationen sämmtlicher  Handschriften  daraus  zu  erklären  ist,  dass  diejenigen  des 
alphabetischen  Dioskuridcs  den  Grundstock  der  Pflanzenbilder  der  anderen  Hand- 
schriftengruppe bildeten  und  daß  sich  an  sie  später  die  im  alphabetischen  Dios- 
kurides  fehlenden  Illustrationen  nach  dem  Texte  des  Dioskurides  angegliedert 
haben.  Von  der  Gemeinsamkeit  der  Herkunft  der  Illustrationen  kann  sich  ein 
Jeder  durch  die  auf  den  beigegebenen  Tafeln  reproducierten  Bilder  des  iidlv 
und  der'  Xv%vlg  6te(pavco{icczi7t7J  (Agrostemma  coronaria  L.)  überzeugen. 

Durch  die  bisherige  Erörterung  haben  sich  zwei  wichtige  Thatsachen  er- 
geben :  erstens  dass  der  Grundstock  der  Illustrationen  in  den  Bilderhandschriften 
des  Dioskurides  auf  ein  und  dieselbe  Vorlage  zurückgeht  und  zweitens ,  dass 
diese  Vorlage  die  alphabetische  Umarbeitung  des  griechischen  Textes  des  Dios- 
kurides gewesen  ist.  Dass  die  Aehnlichkeit  der  Bilder  häufig  nur  noch  schwer 
zu  erkennen  ist,  ist  einzig  und  allein  auf  Rechnung  des  häufigen  Copierens,  das 
sie  durchzumachen  hatten,  zu  setzen,  ein  Uebelstand,  den  schon  Plinius  a.  a.  0. 
in  seiner  Kritik  der  illustrierten  Pharmakopoen  zu  rügen  wusste. 

Demnach  hat  sich  die  Untersuchung  über  die  Herkunft  dieser  Abbildungen 
auf  die  älteste  der  uns  erhaltenen  Handschriften  des  alphabetischen  Dioskurides, 
auf  den  Constantinopolitanus  zu  beschränken.  Da  ergiebt  sich  zunächst  die 
Frage:  sind  die  Illustrationen  im  Anschluss  an  den  Text  des  Dioskurides  ent- 
standen ?  Diese  Frage  ist  mit  grosser ,  an  Gewissheit  grenzender  "Wahr- 
scheinlichkeit dahin  zu  beantworten,  dass  die  Pflanzenbilder  das  gegebene  waren 
und  dass  der  dioskurideische  Text  nach  ihnen  umgearbeitet  worden  ist.  Wenn 
die  Pflanzenbilder  zur  Illustrierung  des  Textes  hätten  dienen  sollen,  so  wäre  es 
doch  höchst  wunderbar ,  dass  nur  eine  verhältnissmässig  geringe  Zahl  von 
Pflanzen  illustriert  worden  ist.  Später  ist  doch  der  vollständige  Dioskurides 
bis  auf  das  letzte  von  den  Kunstproducten  und  Metallen  handelnde  Buch  illu- 
striert worden !  Warum ,  so  fragt  man  weiter ,  musste  zu  diesem  Zweck  der 
Text  alphabetisch  umgearbeitet  werden,  warum  sind  die  Illustrationen  grade  auf 
die  in  einem  pigorofuxöV  zu  behandelnden  Kräuter  und  Sträuche  beschränkt 
worden?  Ferner  fällt  ins  Gewicht,  dass  mehrere  der  mit  Abbildungen  verse- 
henen Pflanzen  im  Dioskurides  vollständig  fehlen31)  und  dass  ihre  Beschrei- 
bungen aus  andern  Quellen  entlehnt  werden  mussten,  die  dann  später  in  den 
Text  des  Dioskurides  interpoliert  worden  sind. 

Weitaus  am  Wichtigsten  aber  ist  es,  dass  die  den  Pflanzenabbildungen  und 
dem  Text  beigefügten  Namen  zum  Teil  eine  andere  Ueberlieferung  repräsentieren 
als  die  des  Dioskurides.  Denn  dass  der  Schreiber  des  Originals  diese  Namen 
willkührlich  geändert  haben  sollte,  ist  bei  der  bemerkenswerthen  Thatsache,  dass 


31)  So  die  ccgysfimvri  stsqcc  C  fol.  58r  (vgl.  D.  326),    das  Xsvxoiov  ftul&G6iov  C    fol.  69r    und 
203^,  wo  die  Darstellung  steht  (vgl.  D.  471),  und  das  aai-icpQayov  C  fol.  290r  (vgl.  D.  518). 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.   N.  F.    Band  2,  i.  4 

3 


26  M.    WELL  MANN, 

sie    sich  in  den  meisten  Fällen  durch   anderweitige  Ueberlieferung   als    unantast- 
bares Gut  des  Altertums  erweisen,  schlechterdings  undenkbar. 

Dioskurides  (IV  88,  584  f.  vgl.  Plin.  XXV  160)  beschreibt  dr ei  Hauswurz- 
arten (Sempervivum  L.),  das  dec^ejov  tö  [taya ,  dei^oov  tb  [ilxqov  und  das  trjXe- 
epiov ,  der  Verfasser  des  Constantinopolitanus  nennt  die  dritte  Art  aei£<oov  tb 
XsTttocpvXlov.  Dem  Text  des  D.  konnte  er  diese  Benennung  nach  der  Beschaf- 
fenheit der  Blätter  nicht  entnehmen,  weil  D.  beim  Telephion  davon  redet,  dass 
seine  Blätter  behaart  und  ziemlich  breit  seien  wie  die  des  Portulak.  Dazu 
kommt,  dass  die  in  C  (fol.  14 v  Text,  fol.  14r  Darstellung)  beigefügten  Syno- 
nyma: oi  de  dei^cov  tb  [ilxqov,  ol  de  7tetQO<pveg9  ot  de  aei%cov  dygtov ,  'Paualot 
6eii7feQßißovu  iLcvovg  die  Identificierung  mit  dem  tt\ke^iov  ausschliessen ,  was 
noch  dadurch  bestätigt  wird,  dass  das  trjlecpiov  in  C  fol.  356 v  beschrieben  und 
mit  Darstellung  versehen  ist.  Folglich  kannte  die  Vorlage  von  C  einschliesslich 
des  Telephion  vier  bildliche  Darstellungen  von  Hauswurzarten,  und  es  ist  uns 
hier  einmal  vergönnt ,  an  einem  urkundlichen  Beispiel  zu  zeigen ,  dass  nicht 
Dioskurides.  sondern  die  mit  Namen  versehenen  Illustrationen  für  den  Verfasser 
der  A^orlage  des  Constantinopolitanus  das  Gegebene  waren.  Daraus  erklärt  sich 
am  einfachsten,  dass  dieser  Piianzendarstellurig  ein  Text  beigefügt  ist,  der  im 
Dioskurides  fehlt32)  und  höchst  wahrscheinlich  vom  Verfasser  in  seiner  Verle- 
genheit von  demjenigen  der  zweiten  Art  abgeleitet  ist:  (pvetat  xal  avtb  (wie  das 
äei^coov  tö  [ilxqov)  ev  toi%oig  xal  itetoaig  xal  &oiyxoig'  xavXia  TteoiTtXea  cpvXXaQicov 
\[ilxqcjv]  [iccxq&v,  v7toötQoyyvXcov '  dvva^iiv  d'  e^ei  xai  avtb  trjv  avtr\v  tolg  7tQoet- 
Qrj[isvoig. 

Zur  Familie  der  Nachtschattengewächse  gehören  nach  D.  fünf  Arten:  das 
6tQv%vov  xrjTtalov ,  6tQv%vov  ccXtxdxxaßov ,  6tov%vov  V7tv<x>tixöv ,  pavixov  und  das 
doovxviov  (D.  IV  71,  565  f.),  während  in  C  nur  drei  Arten  mit  Illustrationen 
und  Text  versehen  sind:  6tov%vog  peXag  xt\TtaZog  (fol.  292 v,  293 r),  (pvöaXXig  (fol. 
359  \  360 r)  und  der  aXixdxxaßog  (fol.  35 v,  36 r).  Die  cpvöaXXtg,  deren  Name  dem 
Dioskurides  unbekannt  ist 33),  ist  ohne  Zweifel  mit  dem  6tov%vov  ccXtxdxxaßov  des 
D.  identisch,  da  dieser  Pflanze  nach  der  dioskurideischen  Beschreibung  eine  bla- 
senartige Fruchthülle  eigenthümlich  ist.  aus  der  sich  der  Name  cpvöaXXig  zur  G-e- 
nftge  erklärt.  Mithin  ist  der  aXixdxxaßog  des  Constantinopolitanus  von  dem 
Gtgvyvov  dlixdxxaßov  des  D.  verschieden .  und  wenn  ihm  trotzdem  der  Text 
dieser  Abart  beigegeben  ist,    so  ist  dies  Versehen  nur  daraus  zu  erklären,    dass 


32)  Im  coil.  Marc  XCII  fehlt  dieser  Text,  trotzdem  dieselbe  Dreiteiluug  zu  Grunde  Hegt. 
Er  unterscheidet  aber  ausdrücklich  wie  C  das  rr\X4cpiov  vom  aeftcoov  XeitxoyvXXov  und  beschreibt 
eine  vierte  Art  mit  folgenden  Worten:  eregov  de  \yevvaxai  ev  xjj  'Ivdca-  cpvexat,  de  %a\  iv  xjj 
'Aai'u  v.cu  ev  xoig  7iccQCi&ccXci6Gioig  tOTtOi?  ncci  vr\6oig. 

33)  Her  Anfang  von  c.  72  lautet  nämlich  im  echten  Dioskurides:  "Egxl  de  nal  exeqov  axQvxvov, 
o  Id  tag  ccXtyKXHHußov  ■KaXovai  (so  PFH  ot  de  äX.  v.aX.  Orib.)-  cpvXXotg  opoiov  xä  n^oetg^ievco  ytxX. 
Das  Synonymon  cpvauXXtg,  das  wir  im  Texte  der  Sprengeischen  Ausgabe  lesen,  ist  also  spätere  In- 
terpolation. 


KRATEUAS.  27 

der  Text  des  Dioskurides  später  hinzugefügt  ist,  also  zur  Illustrierung  des  ge- 
gebenen Bildes  hat  dienen  sollen.  Der  aXLxdxxaßog  des  Const.  ist  vielmehr  mit 
dem  6xqv%vov  imvcotixov  identisch,  das  nach  der  besten  Ueberlieferung  des  D. 
(567)  gleichfalls  diesen  Namen  führte:  6xqv%vov  vtcvcqxlxov  ol  de  aXLxdxxaßov, 
ol  de  xaXXiav  (so  Orib.  vgl.  Plin.  XXI  177  xaxxaXCav  PV  xaxxaXlda  F)  xaXovöi' 
Eine  erwünschte  Bestätigung  für  diese  Identificierurg  ist  es,  dass  die  Synonyma, 
die  in  C  zum  aXixdxxaßog  erhalten  sind,  in  dem  interpolierten  Dioskurides  that- 
sächlich  zum  6xqv%vov  v7tvcoxixov  gezogen  sind,  wie  p  und  vi  bezeugen :  öxovyyov 
vTtvatixöv  ol  de  ccXtxdxxaßov  ol  de  dioxaiov  ol  de  0xqv%vov  pavixov'  ol  de  dogvxvLov 
01  de  xaXXCav  (xaXXa'tda  p  vi  fehlt  in  CN)'  'Pco^iatoL  ditoXXivdoiq  ulvoq'  ol  de  eoßcc 
ovatLxdva  (ovXxLxdva  pvi)-  ol  de  b^dyLve^i  {bipayev  C  bipayep  N)*  <ddxoi  xoLxoXCda'61) 
(so  N  ,  xoLXodCXa  C  xvxcoXtda  p  vi) '  "AtpQOL  xaxxaßovp.  Dass  die  Unterscheidung 
von  drei  Nachtschattenarten  nicht  etwa  willkührliche  Aenderung  des  Verfassers 
von  C  ist,  sondern  auf  guter  Ueberlieferung  beruht,  beweist  Plinius  (XXI  177  f.), 
der  ebenfalls  nur  drei  Arten  kennt.  Eine  ganze  schwache  Spur  scheint  sogar  auf 
den  Urheber  dieser  Einteilung  zu  führen.  Zu  Anfang  des  vom  doQvxvtov  handeln- 
den Capitels  (IV  75,  569)  des  D.  lesen  wir :  zJoqvxvlov,  b  Kgaxevag  aXLxdxxaßov  tf 
xaXXCav  xaXel'  &d{ivog  b[ioLog  eXaCa  doxLcpvel.  Krateuas  identifizierte  also  das 
doovxvLov  mit  dem  aXixdxxaßog :  dasselbe  geschieht  in  der  Synonymenüberliefe- 
rung von  C  und  nun  wird  es  auch  mit  einem  Schlage  klar,  weshalb  das  doovxviov 
in  C  keine  bildliche  Darstellung  hat. 

Die  kißavatig  (D.  III  79,  422.  C  fol.  176 r.  N  fol.  56),  von  der  D.  nach  älterem 
Vorgange  (Theophr.  IX  11,  10.  Zopyros  bei  Orib.  II  555.  591)  zwei  Hauptarten 
unterscheidet,  die  fruchttragende  und  fruchtlose,  führt  in  C  den  Namen  Kdxov. 
Da  dieser  Name  für  die  ältere  Zeit  der  griechischen  Botanik ,  für  Aerzte  wie 
Hippokrates  35)  (II  558  K.) ,  Apollonios  aus  Memphis  (Gral.  XIV  188) ,  Andreas 
(Gal.  XIV  181),  Herakleides  von  Tarent  (Gal.  XIV  182)  und  Zopyros  (Orib.  II  553) 
zur  Grenüge  beglaubigt  ist,  von  Dioskurides  aber  nur  zur  Bezeichnung  der  Frucht 
verwandt  wird,  so  kann  er  unmöglich  dem  Text  des  Dioskurides  entnommen  sein. 

Die  Eselsdistel  (Onopordon  illyricum  L.  Fraas  205)  heisst  bei  Diosku- 
rides (III  157,  494)  dvdyvgov  ol  de  ävdyvQLv,  ol  de  axoitov  xaXovöL  (so  PVFH 
dvdyvQov,  ol  de  axoitov  Orib.),  in  C  fol.  251 v  und  in  N  fol.  98:  bvoyvgog.  Da.<s 
dieser  Name  auf  antike  Ueberlieferung  zurückgeht ,  bezeugt  Nik.  Ther.  71 : 
dyvov  xe  ßgva  Xevxcc  xal  e^ltQLOvx,  bvoyvoov ,  wozu  der  Scholiast  folgendes  be- 
merkt :  6  de  bvoyvQog  eöxLv  eidog  ßoxdvrjg  [xal  bvoyvoog  de  eidog  d-duvov.  xaXovöi 
de  avxbv  ol  [iev  dvdyvgov,  ol  de  bvoyvoov ,  ol  de  axoitov ,  ol  de  äyvdxogov ,  ol  de 
b^oyvgov  Gr.]. 

Das  Mutter  kraut  (Matricaria  Parthenium  Fraas  214)  führt  in  C  fol.  31 v 
und  32 r  (vgl.  N  fol.  7)  den  Namen  dudoaxov,  bei  Dioskurides  (III  145,  485.    Vgl. 


34)  Vgl.  Tomaschek,    die  alten  Thraker  II.     Sitzungsberichte    der  Wiener   Akademie   Bd. 
CXXX  Wien   1893  S.  31. 

35)  D  i  e  r  b  a  c  h,  die  Arzneimittel  des  Hippokrates  S.  192. 

4* 


28  W.    WELLMANN, 

Plin.  XXI  176)  den  Namen  Ttag&iviov ;  doch  macht  derselbe  Dioskurides  den 
Zusatz,  dass  er  von  einigen  Autoren  auch  dudgaxov  genannt  werde:  itagfteviov 
ot  de  apdgaxov,  oC  de  Xevxdv&euov  xal  xovxo  xaXovöi.  Daraus  dürfen  wir  ge- 
trost den  Schluss  ziehen,  dass  die  Ueberlieferung,  welche  die  (Jen  Illustrationen 
in  C  beigefügten  Namen  repräsentieren  und  damit  auch  die  Bilder  einer  äl- 
teren von  Dioskurides  benützten  Ueberlieferung  angehören. 

Der  Erdrauch  (Fumaria  officinalis  L.  Fraas  125)  hat  in  C  als  Beischrift 
sowohl  der  Abbildung  als  auch  des  Textes  (C  fol.  156 v,  157 r  =  N  fol.  46)  den 
Doppelnamen:  xaitvbg  r\  xogvddXXtov.  Von  dem  zweiten  Namen  hat  sich  bei  D. 
IV  108,  599  nicht  die  geringste  Spur  erhalten.     Vgl.  Plin.  XXV  156. 

Das  grosse  Löwenmaul  (Antirrhinum  maius)  heisst  bei  D.  (IV  131,  614) 
avxldgivov,  dvdggivov ,  Xv%vlg  aygta,  in  C  (fol.  159 v,  wo  die  Darstellung  und  fol. 
l()()r,  wo  die  Beschreibung  steht,  vgl.  N  fol.  51)  KvvoxecpdXtov.  Dieser  Name 
des  Löwenmauls  steht  in  unserer  Ueberlieferung  nicht  vereinzelt  da,  sondern  ist 
sicher  verbürgt  durch  den  Scholiasten  zum  Oribasius  (cod.  Par.  2189  s.  XVI  z,u 
Buch  XI,  herausgegeben  von  Bussemaker  und  Daremberg  Orib.  II  744 :  'Avxig- 
givov  ?j  xvvoxeydXiov '  zJiogxovgidrjg  xal  Uagävbg  ov  \ie\ivx\vxai  avxrjg  (d.  h.  unter 
dem  Namen  xvvoxecpdXtov) '  6  de  'Povcpog  iv  ßoxavixcov  y  xal  nd^icpLXog  iv  xcS 
negl  ßoxavcbv  [isuvrivxaL  avxrjg'  6  de  &eocpga6xog  (IX  19,  2)  dvxiggt^ov  avxfjv 
xaXel  sv  cpvTLXotg'  6  de  raXrjvbg  ev  ccitXolg  dvxiggivov  (d^iTtgtvov  hds.)  rj  dvdggivov. 
^evoxgdxr\g  .  .  .  .  rj  xvvoxecpdXtov ,  xal  IJa^cpiXog.  Dem  Xenokrates ,  Rufus  und 
Pamphilos  war  also  der  Name  geläufig ;  demnach  empfiehlt  sich  angesichts  der 
Thatsache,  dass  diese  drei  Aerzte  in  ihren  botanischen  Werken  auf  alter  Tra- 
dition fussen,  die  Vermutung,  dass  der  Vertreter  dieser  Ueberlieferung  der  Zeit 
vor  Dioskurides  angehört. 

Das  £g>6vv%ov  des  Constantinopolitanus  (fol.  124r  Darstellung,  fol.  123 v 
Text)  heisst  bei  Dioskurides  nach  der  besten,  durch  Plinius  (XXVII  57)  ge- 
stützten Ueberlieferung  xf^iog.  Vgl.  D.  IV  129,  612 :  xfj^iog  diddxxvXöv  etixi  ßo~ 
xdviov,  e%ov  cpvXXdgia  öxevd,  i<5%vgd,  cog  xeöödgav  daxxvXav  xal  xgicbv  xb  {irjxog  xxX. 
(So  PFH,  wo  am  Rande  Xeovxoitödiov  steht ,  was  C  123 v  zusammen  mit  xr^iog 
als  Synonymon  von  £co6vv%ov  anführt).  Der  Name  tfabw^ov  ist  dem  Dioskurides 
fremd,  also  auf  Rechnung  einer  anderen  Ueberlieferung  zu  setzen.  Das  nay- 
xgdxtov  des  Dioskurides  (II  203,  318.  Vgl.  Plin.  XXVII  118.  Pancratium  ma- 
ritimum)  hat  wieder  in  C  (fol.  126 v  Text,  fol.  127 r  Darstellung)  einen  Doppel- 
namen :  r\gdxXeiov  rj  nayxgdxiov. 

Vom  Berufkraut  (Erigeron  viscosum  und  graveolens  Fraas  209)  unter- 
scheidet Dioskurides  III.  126,  468  drei  Abarten:  K6vv£a  iiei&v,  {iixgd  oder  Xenxx\, 
die  dritte  ist  unbenannt.  C  (fol.  152*.  N  fol.  49)  kennt  nur  zwei  Abarten  mit 
den  Namen:  xbvv%a  XeitxoyvXXog  und  nXaxvcpvXXog ,  während  unter  den  Syno- 
nyma die  dioskurideische  Bezeichnung:  xovvt,a  pixgd  und  ^leydXrj  (fol.  153 r)  wie- 
derkehrt. Dass  die  Bezeichnung  der  beiden  Arten  nach  der  charakteristischen 
Blattform  nicht  aus  den  Fingern  gesogen  ist,  wird  Jeder  zugeben. 

Das  öxokoTtevdgiov  in  C  (fol.  290 y  Darstellung,    fol.  291 r  Text)    heisst   bei 


KRATEUAS.  20 

Dioskurides  (III  141,  480)  äöitXrivov,  ebenso  bei  Plin.  XXVII  34:  Asplenon  sunt 
qui  hemionon  vocant,  und  das  war  zu  jener  Zeit  der  gebräuchliche  Name ;  jedoch 
erwähnt  D.  den  Namen  öxoXotcevöqlov  unter  den  Synonymen:  ol  de  öxoXotcevÖqlov, 
ol  öl  rj^LÖvLOv ,  ol  öl  6iiXr]v iov  ,  ol  dl  nxeovya  xaXovdi  (so  PFH)  und  C  den  des 
a6%Xr\vov  in  seiner  Synonymenliste  :    ol  61  döitX^vov,  ol  öl  ö7tXrjviov,    et  öl  j^utd- 

VtOV,     Ol     Öl     IlTEQVycC,      OL     Öl     Xoy%ltig,      OL    Öl    (XTOVQLOg    (SO    N  Vi  p      CCTF/VXQLOg    C),      OL 

öl  cpgvyLcc,  ol  öl  cpovylug,  ol  öl  yiXtooöoTig,  tfpoqpijtrca  aipa  yccXfjg.  Die  Benen- 
nung dieser  Pflanze  als  6xoXotiev8qlov  rührt  von  keinem  geringeren  her  als  dem 
Arzte  Andreas ,  dem  Verfasser  des  v&Qftrfe ,  einem  Vorgänger  des  Dioskurides 
(Schol.  Nik.  Th.  684),  und  wenn  die  bildliche  Darstellung  in  C  diesen  Namen 
trägt,  so  liegt  darin  ein  urkundlicher  Beweis ,  dass  sie  auf  guter  Tradition ,  die 
älter  ist  als  Dioskurides,  beruht. 

Vom  Feldbeifuss  unterscheidet  Dioskurides  (III  117,  463)  zwei  Arten,  beide 
strauchartig ,  die  eine  mit  breiteren  Blättern  und  Zweigen ,  die  andere  mit  dün- 
nen Zweigen  und  kleinen ,  feinen ,  weissen  Blüten  von  unangenehmen  Geruch. 
Er  verzeichnet  aber  ausdrücklick  die  abweichende  Tradition,  nach  der  unter 
artemisia  eine  im  Binn  nlande  wachsende  Pflanze  zu  verstehen  sei  mit  einem 
einzigen  dünnen,  sehr  kleinen  Stengel,  der  voll  von  wachsfarbenen,  feinen  Blüten 
sitzt:  "Evlol  öl  rö  iv  {isGoyeioig  Xs7ttoxaQcp6t8Qov  (so  PV  Orib.  CN  leTiroxccorpov 
FH)  ßotdvLOV,  anXovv  rc3  xccvXti),  öcpööocc  {ilxqov,  av&ovg  tceoitcXeov  tr\v  %qöccv  xtj- 
gosLÖovg  (so  PV  Orib.),  Xetitov  xaXovöiv  doxE\ii6lav.  Vgl.  Plin.  XXV  73.  Wenn 
nun  in  C  (fol.  20r.  20 \  21 r.  N  fol.  3)  Darstellung  und  Text  die  Beischrift: 
aoTzpiöia  [lovoxXavog  und  <xqts[il6lcc  eteqcc  TtoXvxXcovog  haben,  so  sieht  jeder,  dass 
dieser  Unterscheidung  die  von  Dioskurides  bekämpfte  Ueberlieferung  zu  Grunde 
liegt,  d.  h.  dass  die  Darstellungen  und  Beischriften  mit  Dioskurides  nichts  zu 
thun  haben ,  sondern  auf  eine  ältere  von  Dioskurides  benützte  Ueberlieferung 
zurückgehen. 

Vom  TtSQLötSQEcbv  unterscheidet  C  (fol.  268 r  und  268 v)  zwei  Arten:  iteoiöxE- 
QEC3V  öo&og  und  vitxiog.  Es  sind  dieselben  beiden  Arten,  die  Dioskurides  (IV 
60,  61,  548)  kennt,  aber  folgendermassen  benennt:  IV  60:  tceqlOxeqlov ■  cpvEzca 
iv  rolg  icpvöooig  toitoig  (so  PVFH  Orib.).  IV  61  :  leqlx  ßordvrj'  ol  öl  tieqiöte- 
QEtbva  ixdXeöav  gdßöovg  dvirjöi  7tr}xvaiovg  (so  PFHV).  Vgl.  Plin.  XXV  105. 
Schol.  Nie.  Ther.  860. 

Der  wilde  Knoblauch  heisst  bei  Dioskurides  (II  181,  290)  ocpioö'xoQÖov,  in  C 
(fol.  116 r)  iXacpööxoQÖov  und  das  allium  ampeloprasum  bei  Diosk.  (II  179,  289) 
uiLTtEXoTtQaöov,  in  C  (fol.  209 r)  Xvxööxoqöov. 

Diese  Zusammenstellung,  die  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen 
will,  erhebt  die  Annahme,  dass  die  Abbildungen  nicht  nach  dem  Text  des  Dios- 
kurides gearbeitet  sind,  zur  Gewissheit.  Sie  beweist,  dass  das  Verhältnis  von 
Text  und  Illustrationen  vielmehr  ein  umgekehrtes  ist :  es  sollte  nicht  der  Text 
durch  die  Illustration,  sondern  die  bildliche  Darstellung  durch  den  nicht  selten 
zurechtgeschnittenen  Text  des  Dioskurides  erläutert  werden.  Weiter  hat  sie 
ergeben ,  dass  die  botanische  Doctrin ,  die  den  Illustrationen  in  C  zu  Grunde 
3   • 


3()  M.    WELLMANN, 

liegt,  auf  eine  vor  Dioskurides  liegende,  von  ihm  benützte  Ueberlieferung  zurück- 
geht. Mich  dünkt,  bei  diesem  Thatbestand  ist  der  weitere  Schluss  vollauf  be- 
rechtigt, dass  in  den  Abbildungen  des  Constantinojjulitanus  ein  illustriertes  Her- 
barium vorliegt  in  der  Art  und  aus  der  Zeit  des  Krateuas,  Dionysios  und  Me- 
trodoros.  Bedenkt  man  nun,  was  ich  im  ersten  Teil  dieser  Abhandlung  (S.  11) 
erwiesen  habe ,  dass  der  Verfasser  der  Vorlage  des  Constantinopolitanus  that- 
sächlich  das  illustrierte  gi^oro^tixov  des  Krateuas  für  die  von  ihm  hinzugefügte 
Parallelüberlieferung  dieses  Arztes  benützt  hat  und  dass  die  Anlage  der  illu- 
strierten Pharmakopoe  in  allen  Stücken  derjenigen  des  Krateuas  entspricht ,  so 
ist  der  Schluss  ganz  unabweislich ,  dass  die  Illustrationen  des  Constantinopoli- 
tanus auf  eine  Copie  der  Illustrationen  jenes  Werkes  zurückgehen  36). 

Wie  wahrscheinlich  nun  auch  für  jeden  Verständigen  diese  Zurückführung 
sein  mag ,  so  seien  doch  noch  mehrere  Zeugnisse  hervorgehoben ,  welche  für  die 
den  Illustrationen  beigefügten,  von  Dioskurides  abweichenden  Benennungen  den 
Krateuas  als  Quelle  gewährleisten. 

Das  Windröschen  kommt  nach  Dioskurides  in  zwei  Arten  vor,  die  er  dve- 
pa>vr}  aygia  und  r^iegog  nannte :  von  der  Waldanemone  kennt  er  eine  Abart  mit 
dunklen  Blättern.  Seine  Beschreibung  lautet  folgendermassen  (II  207 ,  323) : 
"Ave^covrj'  oi  de  ijyeiioviov,  ot  de  ^gdfiiov  (so  VFH.  Plin.  XXI  184:  fremion  RV 
fremeon  g)  xaXovöi'  di66rh  rj  [iev  aygia,  fj  d*  fj^iegog'  xal  tfjg  fjpegov  i)  ^iev  ng 
(poivixä  (peoei  xd  av&rj,  fj  <f  fmöXevxa,  yaXaxxi^ovta  f]  Ttogcpvgä  (so  Orib.  VCX)' 
cpvkka  de  xogioeidfj ,  Xeitxo6%ide6xega  ngbg  xfi  yfj'  xavXia  %vo(bdrj9  Xejtxd,  viteg 
cjv  xd  avd-rj  coGTteg  (irjxavog  xal  {ie6cc  xecpdXia  peXava  rj  xvavi^ovxa'  gi£a  xaxd 
peye&og  eXaiag  r]  fiei^cjv,  oiovel  yövccGi  dieiXrj^evrj.  'H  d'  aygia  xaxd  itdvxa  {iei£cov 
rrjg  fftiegov  xal  roig  (pvXXoig  JtXaxvxega  xal  öxXrjgoxega  xal  xfjv  xecpaXfjv  eTti^irjxe- 
öxegav  e%ei'  av&og  cpoivixovv,  git,ia  Xeitxd  xal  jeXeiw  fj  de  ng  e%ei  cpvXXa  fieXava, 
dgipvrega  ot^a.  Plin.  XXI  164  f.,  der  sich  im  Wesentlichen  mit  Dioskurides 
deckt,  unterscheidet  gleichfalls  zwischen  dem  angepflanzten  und  wildwachsen- 
den Windröschen.  In  C  (fol.  25 v  Abbildung  der  dvetMovrj  fj  cpoivixfj  =  N  fol. 
12.  C  fol.  26 r  Darstellung  der  dve{id>vrj  aygia  peXaiva  =  N  fol.  12)  sind  dagegen 
die  beiden  Abbildungen  mit  der  Beischrift  versehen :  dve^icovrj  fj  cpoivixfj  und 
peXaiva.  Dass  diese  Benennung  aus  der  Beschreibung  des  Dioskurides  entnom- 
men sei,  halte  ich  aus  dem  einfachen  Grunde  für  ausgeschlossen,  weil  er  beiden 
Arten  gleichfarbige  Blüten  zuschreibt.  Wenn  nun  der  Scholiast  zu  Theok.  V  92 
auf  das  unzweideutigste  erklärt,  dass  diese  Unterscheidung  nach  der  Blüten- 
larbe  auf  Krateuas  zurückgehe  :  Kgaxevag  de  dvo  cprjOi  (sc.  dve^icavag) ,  xfjv  pev 
uv&og  exovaav  peXav,  rr\v  de  cpoivixeov.  ein  Zeugnis,  das  eine  erwünschte  Bestä- 
tigung durch  die  Ueberschrift  des  in  C  (fol.  26 v)  aus  Krateuas  bewahrten 
Bruchstückes  erhält,  so  lässt  diese  Uebereinstimmung  keinen  Zweifel,  dass 
jene  Benennungen  in  C  und  damit  auch  die  Pflanzendarstellungen  auf  ihn  zu- 
rückgehen. 

36)  Vgl.  E.  Bethe,  Rh.  Mus.  48,  97  A.  1. 


KRATEUAS.  31 

Die  zweite  Uebereinstimmung  bezieht  sich  auf  die  Osterluzei  (aristolochia). 
Dioskurides  (III  4,  343)  unterscheidet  drei  Abarten  dieser  heilkräftigen  Pflanze, 
die  uQi(JxoXo%Ca  Q-yiXelu,  utfgrjv,  die  er  auch  GzgoyyvXr]  und  [locxQa  oder  daxzvXitig 
nennt,  und  endlich  die  aQiözoXoiia  xXrjuazizig,  zu  denen  bei  Sextius  Niger  (PI in. 
XXV  95)  als  vierte  Art  die  %XEi6zoXo%ia  tritt.  Krateuas  kannte  dagegen  nach 
dem  Vorgange  der  älteren  Botanik  (Nikander  Ther.  509  f.  Quelle  Diokles)  nur 
zwei  Arten,  die  er  im  Gegensatz  zu  Nikander  nach  der  charakteristischen  Be- 
schaffenheit ihrer  "Wurzel:  iiccxqcc  und  özgoyyvXr}  nannte.  Das  folgt  wieder  aus 
den  Ueberschriften  der  Krateuasfragmente  in  C  (fol.  18 r):  Kgazsvag  gtt,ozo^iix6g  ' 
ctQi6toXo%ict  iiccxqcc  xtX.  Wenn  fol.  19 T  in  dem  von  der  zweiten  Art  handelnden 
Bruchstück  des  Krateuas  nur  der  Name  der  Pflanze  erhalten  ist,  so  macht  meines 
Erachtens  der  Gegensatz  zu  der  ersten  Art  die  Ergänzung  des  der  bildlichen  Dar- 
stellung beigefügten  Adjectivs  özQoyyvXrj  zu  jenem  Namen  sehr  wahrscheinlich  37). 
Nunmehr  wird  es  mit  einem  Schlage  verständlich ,  wie  der  Verfasser  des  alpha- 
betischen Dioskurides  dazu  kam,  nur  zwei  Abarten  abzubilden  und  sie  als 
uQi6toXo%£a  iiccxqcc  (fol.  17 y.  N  fol.  1)  und  ccqi6zoXo%icc  <5ZQoyyvXr\  zu  unterscheiden. 

Die  rot-  und  schwarzfrüchtige  Zaunrübe  nannte  Dioskurides  (IV  181.  182, 
673  ff.)  nach  dem  Vorgange  des  Theophrast  (IX  20,  3)  cc^7CsXog  Xsvxrj  und  jti- 
Xaiva.  In  C  und  N  (C  fol.  79 r.  82 r.  N  fol.  30)  heissen  die  beiden  Arten  ßgva- 
vicc  Xevxri  und  piXaiva,  Namen,  die  unter  den  Synonymen  dieser  beiden  Kürbis- 
pflanzen bei  Dioskurides  wiederkehren.  Wieder  ist  uns  von  Krateuas  dieselbe 
Benennung  überliefert,  diesmal  vom  Scholiasten  zu  Nik.  Ther.  858:  xccXelö&ccl  de 
(pr}6tv  6  KgcczEvccg  (sc.  zrjv  ßgvcoviav)  v%b  piv  ziv&v  özccyvXlvov,  vitb  öe  aXXcav 
ainteXov  ccyQiocv  xcel  vcp'  ezeqcov  %elq(dvelov^  und  es  lässt  sich  beweisen,  dass  sie  in 
der  älteren  Medicin  die  gebräuchliche  gewesen  ist :  so  wird  sie  von  Andreas  (Gal. 
XIV  180) ,  Nikander  (Ther.  859)  und  Herakleides  von  Tarent  (Gal.  XIV  186) 
d.  h.  Apollodor  genannt. 

Von  der  wilden  Münze  {xaXa^iivd'ri)  zählt  Dioskurides  (III  37 ,  383)  drei 
Arten  auf:  die  erste  wächst  hauptsächlich  auf  Bergen,  ihre  hellen  Blätter  glei- 
chen denen  der  Basilie ,  die  Stengel  sind  kantig  und  die  Blüten  purpurfarbig. 
Die  zweite  Art  ist  dem  stinkenden  Polei  ähnlich  und  heisst  deshalb  auch  wilde 
Poleimünze,  die  dritte  ist  die  grösste  von  allen  und  hat  mit  der  Gartenmünze 
die  meiste  Aehnlichkeit :  sie  hat  die  geringste  Wirksamkeit.  Der  gemeinsame 
Standort  sind  Felder,  Berge  und  feuchte  Niederungen.  In  C  (fol.  153  v.  N  fol.  48) 
stehen  nur  zwei  Abbildungen  von  der  xaXapiv&Yi  oQEivrj  und  der  xaXa^iLvd-rj, 
trotzdem  in  dem  dazu  gehörigen  Text  nach  Dioskurides  drei  Arten  aufgeführt 
werden.  Die  Bestimmung  der  Quelle  dieser  Zweiteilung  hat  von  Nikander 
Ther.  59  f.  auszugehen  ,  der  die  Wasserminze  ( v$Qr}Xi)  xaXa\Liv§r\ )  gegen 
Schlangenbiss    empfiehlt a8).      Der  Scholiast   zu    dieser  Stelle    kennt    wie  C    nur 

37)  In  der  Unterscheidung  des  aQiGto\o%Ccc  (langd  und  argoyyvXri  ging  dem  Krateuas  schou 
der  Arzt  Herakleides  von  Tarent  voraus :  vgl.  Gal.  XIV  186.  Dieselbe  Benennung  bei  Damo- 
krates  Gal.  XIV   193. 

38)  Ebenso  Ael.  h.  a.  IX  26  aus  Sostratos. 


32  M.    WELLMANN,     KRATEUAS. 

zwei  Arten:  die  Berg-  and  Wassermünze:  vdQrjkriv  de  elitev  (sc.  Nikander), 
EitBidri  e6xi  xccl  OQSLvi}  7töa.  diaöxellet  de  xb  eidog.  xtveg  de  uyQiav  ykYi%avoc  avxi\v 
xakovöi.  itdvxa  de  xä  etgr^ieva  ßccQVoducc  xccl  ftegiia  xccl  dsgaitevei.  i\  de  xccld- 
liiv&og  ev  b$Q(p  ydkccxxog  itivopivri  ikecpccvxLccöLV  xai  %0LQccdccg  xaxa7tkaxxo^evr\  luxcci. 
{lexu  oL'vov  do&eiöa  l'xxegov  navei.  Dass  der  Scholiast  von  Dioskuridos  unab- 
hängig ist,  beweist  der  Zusatz,  dass  die  Münze  auch  angeschwollene  Drüsen 
heilt,  der  nach  Plinius  XX  146  in  der  beiden  gemeinsamen  pharmakologischen 
Quelle  zu  lesen  war.  Andrerseits  beweist  die  nahe  Berührung  des  Scholiasten 
mit  Dioskurides  besonders  in  der  Notiz  über  die  Wirksamkeit  des  mit  Mol- 
ken genossenen  Krautes  gegen  Elephantiasis  dem  Berichte  des  Plinius  gegen- 
über, dass  er  nicht  aus  Niger  geschöpft  hat.  Wir  haben  also  anzunehmen,  dass 
der  pharmakologische  Teil  der  Beschreibung  des  Dioskurides  und  der  Scholiast 
auf  die  Quelle  des  Sextius  Niger  d.  h.  auf  Krateuas  zurückgehen.  Mithin  ist 
die  zweite  der  von  Dioskurides  angeführten  Arten,  die  er  wie  der  Scholiast  mit 
der  dygCa  ykri%(ov  identifiziert ,  die  Wassermünze  ,  und  Krateuas  die  Quelle  der 
Zweiteilung,  die  den  Darstellungen  im  Constantinopolitanus  zu  Grunde  liegt. 

Zum  Schluss  will  ich  noch  auf  eine  Uebereinstimmung  verweisen,  die  zwi- 
schen einem  direkten  von  Plinius  erhaltenen  Zeugnis  über  eine  Abbildung  jener 
alten  illustrierten  Herbarien  und  der  entsprechenden  Illustration  in  C  besteht 
und  die  in  diesem  Zusammenhang  einige  Beachtung  verdient.  Es  handelt  sich 
um  das  Kraut  ficbkv ,  unter  dem  die  Alten  eine  Alliumspecies  verstanden, 
dessen  Blüten  Dioskurides  (III  47,  395)  nach  alter  Ueberlieferung  (vgl.  Hom. 
x  302)  als  hellfarbig  (ycckccxx6%Qou)  beschreibt,  während  sie  nach  Plin.  XXV  27 
in  den  illustrierten  Herbarien  des  Krateuas  und  seiner  Copisten  mit  oran- 
gegelber Farbe  dargestellt  waren:  Graeci  auctores  florem  eius  luteum  pinxere, 
cum  Homerus  candidum  scripserit.  Nun  weisen  thatsächlich  die  Blüten  des 
xtokv  auf  der  bildlichen  Darstellung  von  C  und  auch  der  meisten  übrigen  Hdss. 
abgesehen  von  P,  dessen  Schreiber  die  Bilder  seiner  Vorlage  dem  Text  des  Dios- 
kurides anzupassen  sich  bemühte ,  eine  rötlich  braune ,  ins  orangegelbe  spielende 
Farbe  auf.  Sollte  das  wirklich  nur  ein  tückisches  Spiel  des  Zufalls  sein?  Ich 
für  meine  Person  sehe  darin  eine  willkommene  Bestätigung  des  im  Vorherge- 
henden gewonnenen  Resultates,  dass  die  Illustrationen  der  Vorlage  des  Constan- 
tinopolitanus und  Neapolitanus  Copien  der  illustrierten  Pharmakopoe  des  Kra- 
teuas sind. 

Hiermit  bin  ich  am  Ende  meiner  Untersuchung.  Sollte  sich  das  überra- 
schende Resultat  als  stichhaltig  erweisen,  so  wäre  es  im  Interesse  der  Wissen- 
schaft dringend  zu  wünschen,  dass  endlich  mit  der  Publication  der  Illustrationen 
des  Constantinopolitanus  Ernst  gemacht  würde:  der  dioskurideische  Text  ist  in 
C  trotz  seines  hohen  Alters  wie  so  oft  in  wertvolleren  Bilderhandschriften  ab- 
gesehen von  den  Synonymenlisten  von  untergeordnetem  Wert  und  eine  kost- 
spielige Publikation  desselben  überflüssig. 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZI  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH  -  HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE  BAND  2.  Nro.  2. 


Das  hebräische  Fragment 


der 


Weisheit  des  Jesus  Sirach 


herausgegeben 


von 


Rudolf  Smend. 


Berlin. 

Weidmannsche    Buchhandlung. 


1897. 


Das  hebräische  Fragment  der  Weisheit  des  Jesus  Sirach 

herausgegeben 

von 

Rudolf  Smend. 


Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  19.  Juni  1897. 


Auf  einer  Studienreise ,  die  ich  mit  Unterstützung  des  vorgesetzten  hohen 
Ministeriums  unternahm,  habe  ich  vom  22.  März  bis  zum  2.  April  d.  J.  die  Ox- 
forder Blätter  mit  der  Cowley- Neubau  er' sehen  Ausgabe1)  verglichen.  Sodann 
habe  ich  Photographien  dieser  Blätter  untersucht,  die  ich  der  Liberalität  der 
Clarendon  Press  verdanke.  Das  Cambridger  Blatt  hat  S.  Schechter  von 
neuem  sehr  sorgfältig  verglichen  und  mir  das  Gefundene  mit  höchst  dankens- 
werther  Gefälligkeit  zur  Verfügung  gestellt.  Ausserdem  beschenkten  Mrs.  Lewis 
und  Mrs.  Gibson  mich  wie  manche  Fachgenossen  mit  ausgezeichneten  Photo- 
graphien dieses  Blattes,  die  fast  jeden  Buchstaben  mit  Sicherheit  erkennen  lassen. 
Was  S.  Schechter  vor  mir  gelesen  hat,  habe  ich  als  sein  Eigentum  bezeichnet  *). 
Uebrigens  bin  ich  A.  Cowley,  A.  Neubauer  und  S.  Schechter  auch  dafür 
verpflichtet,  dass  sie  mir  nachträglich  mehrfache  Anfragen  bereitwilligst  beant- 
worteten. Meine  Abweichungen  von  Cowley-Neubauer's  Lesungen  schienen 
mir  eine  eigene  Ausgabe  zu  erfordern,  überdies  musste  ich  mir  einen  Text 
schaffen,  auf  den  ich  in  einem  demnächst  zu  veröffentlichenden  Commentar  ver- 
weisen kann.  Dem  Verdienst  der  Oxforder  Ausgabe  trete  ich  damit  nicht  zu 
nahe.  Viele  Stellen  der  Handschrift  sind  so  schwer  zu  lesen,  dass  die  erste 
Lesung  unmöglich  überall  das  Richtige  treffen  konnte. 


1)  The  Original  Hebrew  of  a  portion  of  Ecclesiasticus.     Oxford,  Clarendon  Press,  1897. 

2)  S.  Schechter,  dem  das  Verdienst  gebührt,  den  hebräischen  Sirach  zuerst  entdeckt  zu 
haben,  beabsichtigte  das  Cambridger  Blatt,  das  er  im  Expositor  (1896  Juli  S.  1  rT.)  nur  in  vor- 
läufiger Lesung  bekannt  gemacht  hatte,  zum  zweiten  Male  herauszugeben.  Ich  würde  ihm  hierfür 
den  Vortritt  gelassen  haben,  wenn  er  mir  nicht  ausdrücklich  erklärt  hätte,  dass  er  vorerst  zu  sehr 
anderweitig  beschäftigt  sei.  Uebrigens  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  bemerken,  dass  das  Ver- 
dienst der  Auffindung  des  Cambridger  Blattes  ebenso  sehr  der  Mrs.  Gibson  wie  der  Mrs.  Lewis 
gebührt.  2 

1* 


4  RUDOLF    SM END, 

Von  den  9  Oxforder  Blättern  bilden  die  8  ersten  eine  Quaternion.  Aber 
das  neunte  wird  ebenso  mit  dem  Cambridger  Blatt  zusammengehören .  das  un- 
gefähr in  derselben  Art  wie  jenes  am  unteren  Rande  beschädigt  ist.  Es  liegt 
also  wohl  eine  Quinion  vor  und  zwar  die  fünfte  einer  vollständigen  Sirach- 
Handschrift.  Jede  Seite  enthält  auf  18  Zeilen  36  Stichen ,  im  Ganzen  enthielt 
diese  Quinion  also  etwa  720  Stichen.  Der  griechische  Text  hat  im  Codex  B 
dafür  724  Stichen.  Der  Umfang  der  vollständigen  Handschrift  lässt  sich  daraus 
aber  nicht  sicher  erschliessen.  Der  griechische  Text  hat  im  Codex  B  für  1,1 — 
39,  14  nach  meiner  Zählung  2333  Disticha.  Diese  Zahl  ist  für  drei  Quinionen 
zu  gross  (2333  :  3  =  778)  und  für  vier  zu  klein  (2333  :  4  =  583).  Vielleicht 
enthielt  aber  die  Handschrift  für  1,  1 — 39.  14  viel  mehr  Stichen  als  der  grie- 
chische Vulgärtext.  Eine  Gruppe  von  griechischen  Handschriften  weist  nämlich 
für  diesen  Theil  des  Buches  ein  Plus  von  etwa  120  Stichen  auf,  die  sich  grossen- 
theils  deutlich  als  aus  dem  Hebräischen  übersetzt  verrathen,  dabei  aber  für  se- 
cundär  gelten  müssen.  Sie  gehören  einer  zweiten  griechischen  Uebersetzung  an, 
die  auf  einer  erweiterten  Gestalt  des  Buches  beruht.  Vielleicht  ist  aber  nur 
ein  Theil  dieser  späteren  Zusätze  in  den  griechischen  Handschriften  erhalten. 

Für  das  Alter  der  Handschrift  ist  eine  obere  Grenze  damit  gegeben ,  dass 
eine  Papierhandschrift  vorliegt.  Sie  könnte  deshalb  schon  aus  dem  9.  Jahr- 
hundert stammen.  S.  Schechter  und  A.  Neubauer  datiren  sie  aber  an  das 
Ende  des  elften  oder  den  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts.  Mir  steht  zu 
wenig  paläographische  Erfahrung  und  auch  zu  wenig  Material  zu  Gebote,  um 
hierüber  urtheilen  zu  können  1). 

Als  die  Heimath  der  Handschrift  betrachtet  man  wegen  der  beiden  persi- 
schen Glossen  auf  foll.  1  recto  und  5  verso  (Oxford)  das  persische  Sprachgebiet. 
Aber  die  Glosse  auf  fol.  1  ist  im  Einzelnen  bisher  nicht  befriedigend  erklärt. 
A.  Bevan  (Athenaeum  vom  3.  April  1897  S.  445)  fordert  dort  Z.  4  Fö  für  XD. 
Indessen  steht  das  fehlerhafte  KD  wirklich  da  und  übrigens  ist  die  Glosse  auf 
fol.  5,  wenngleich  vom  Schreiber    selbst,    nachträglich   corrigirt.      Vielleicht   ist 


1)  In  erster  Linie  kommt  liierfür  der  Ductus  der  Randnoten  in  Betracht.  Dagegen  sind 
mir  im  Ductus  des  Textes  folgende  Eigentümlichkeiten  aufgefallen.  Der  rechte  Arm  des  n  ist 
meistens  ein  wenig  nach  oben  ausgebogen.  Die  untere  Spitze  des  )  ist  regelmässig  nach  links  um- 
gebogen, kaum  einmal  geht  sie  nach  rechts  über  die  Verticale  hinaus.  Bei  fi  ist  die  linke  Stütze 
zuweilen  stark  geschwungen ,  öfter  (besonders  am  Schluss)  steht  sie  mitten  unter  dem  Oberstrich. 
Der  Kopf  des  t  ist  stets  nach  rechts  geneigt."  Der  horizontale  Oberstrich  des  rr  geht  nie  über  die 
linke  Stütze  hinaus,  meistens  aber  die  letztere  über  die  ersteren.  Die  rechte  (obere)  Spitze  des  * 
liegt  zuweilen  fast  horizontal.  Bei  a  ist  die  untere  Horizontale  lang  und  zuweilen  unter  135  Grad 
geneigt.  Dpr  linke  Arm  des  3»  ist  nach  aussen  gebogen,  der  Fuss  lang  und  liegt  meist  ganz  ho- 
rizontal. Der  rechte  Arm  von  ü  reicht  weit  über  die  Grundlinie  hinaus.  Bei  n  ist  der  linke  Fuss 
in  der  Horizontale  lang  gezogen.  An  den  Fuss  von  asjyEsr  sind  nnirrin  oft  eng  angeschlossen. 
Bei  a,  s  und  namentlich  bei  y  reicht  die  Fussspitze  oft  an  die  eines  nachfolgenden  h.  Die  Schweife 
der  Finalbuchstaben  7  ■)  t)  y  sind  meistens  stark  geschwungen  und  laufen  unten  spitz  aus,  dagegen 
ist  das  untere  Ende  des  p  fast  immer  gleichmässig  stark  und  gerade,    n  hat  unten  links  eine  Spitze. 

2 


das    HEBRÄISCHE   FRAGMENT   DER   WEISHEIT   DES  JESUS    SIRACH.  5 

also  nur  eine  Vorlage  der  Handschrift  aus  dem  persischen  Sprachgebiet  herzu- 
leiten 1). 

Die  Blätter  sind  19,  0—19,  S  cm  hoch  und  16,9 — 17.2  cm  breit  und  in  Ab- 
ständen von  5.  5 — 5.  6  mm  in  ihrer  ganzen  Breite  liniirt.  Diese  Abstände  sind  an 
beiden  Seiten  durch  doppelte  Nadelstiche  vorgezeichnet.  Ausserdem  ist  der  Rand 
rechts  und  links  ebenfalls  durch  Linien  abgeschiert.  Der  Text  steht  unter  der 
Linie.  Er  ist  übrigens  stichisch  geschrieben  und  zwar  so.  dass  zwischen  den 
beiden  Stichen  in  der  Regel  ungefähr  derselbe  Raum  freigelassen  ist.  Der  An- 
fang des  zweiten  Stiehus  verschiebt  sich  deshalb  je  nach  der  Länge  des  ersten. 
Aber  überall  ist  dies  Gleichmass  nicht  eingehalten.  Ausserdem  ist  zuweilen  der 
zweite  Stiehus  ohne  Zwischenraum  an  den  ersten  angeschlossen.  Dreimal  ist 
das  bei  Versen  von  gewöhnlicher  Länge  geschehen  (42,  8.  46,  8cd.  49,  7b) ,  öfter 
da.  wo  mehr  als  zwei  Stichen  in  eine  Zeile  zusammengedrängt  sind  (43,  30.  45,  26. 
46,  llcd.  12\  46.19.  46.20.  48,  23«*).  Hierbei  fällt  der  Schreiber  am  Schluss  der 
Zeilen  öfter  in  die  Form  der  Notenschrift.  Augenscheinlich  beruhen  diese  und 
andere  Verstösse  gegen  die  stichische  Schreibung  auf  Nachlässigkeit  des  Schrei- 
bers resp.  seiner  Vorgänger.  —  Abschnitte  sind  zweimal  durch  Ueberschrifttm 
(41,  14.  44,  1),  zweimal  nur  durch  Freilassung  einer  Linie  bezeichnet  (42.  9.  42.  15). 

Mit  den  heiligen  Texten  theilt  der  vorliegende  den  Sof  Pasuk ,  der  43,  30. 
46,19.20,  wo  mehr  als  zwei  Stichen  in  der  Zeile  stehen,  auch  mitten  in  der 
Zeile  vorkommt  (vgl.  auch  42,  ßa).  Vocalzeichen  finden  sich  39,15.  40,9.10  und 
öfter  in  *** .  an  anderen  Stellen  könnten  sie  unkenntlich  geworden  sein.  Auf- 
fällig ist  aber ,  dass  sie  sich  gerade  am  Anfang  des  Cambridger  und  des  Ox- 
forder Fragmentes  finden.  Bei  42,  3a  ist  es  zweifelhaft ,  ob  ein  Zakef  oder  ein 
sog.  babylonisches  Cholem  vorliegt.  Uebrigens  kommt  der  Sof  Pasuk  noch  im 
12.  Jahrhundert  in  nichtbiblischen  Texten  vor  (vgl.  z.  B.  Palaeographical  Society 
ed.  W.  Wright.  London  1875—83,  PI.  XV). 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Correcturen  und  Randnoten  der  Hand- 
schrift, sofern  man  annehmen  darf,  dass  sie  hierin  einigermassen  den  vormasso- 
rethischen  Handschriften  der  kanonischen  Bücher  ähnlich  ist. 

Correcturen  sind  mehrfach  dadurch  bewerkstelligt ,  dass  die  Correctur  in 
den  Text  über  (42,  8b  unter)  das  Corrigendum  gesetzt  ist  (41,  5.  43,  3.  8.  47,  10). 
In  derselben  Weise  ist  aber  auch  41,  20  ein  Buchstabe  (das  n  in  Tmnrra)  und 
43,  21  und  in  der  persischen  Glosse  auf  fol.  5b  ein  Wort  nachgetragen.  Nur  wird 
das  Addendum  mitten  über  den  Zwischenraum  zwischen  den  beiden  Buchstaben 
oder  Wörtern  gesetzt,  zwischen  denen  es  eingeschaltet  werden  soll.  Unmöglich 
ist  das  aber,  wenn  das  erste  der  beiden  Wörter  mit  b  schliesst.  In  diesem  Fall 
sind  Correctur  und  Addendum  äusserlich  nicht  zu  unterscheiden  (43,  21).  — 
43,  3a.  9a  sind  einzelne  Buchstaben  durch  einen  verticalen  Strich  getilgt. 


1)  Dieser  Zweifel  wird  mir  durch  eine  briefliche  Mittheilung  S.  Schechters  einigermassen 
bestätigt.  Er  fand  das  Cambridger  Blatt  unter  einem  Haufen  von  Stücken,  von  denen  manche  als 
in  Fostat  geschrieben  bezeichnet  sind  (vgl.  Jewish  Quarterly  Review  IX  S.  115  f.). 

2 


6  RUDOLF    SMEND, 

Auf  Randlesarten  wird  durch  einen  Ring  verwiesen.  Weicht  die  Randlesart 
lediglich  in  Betreff  eines  einzelnen  Buchstabens  ab,  so  steht  der  Ring  wie  in 
der  Bibel  sehr  oft  über  eben  diesem  Buchstaben.  Beziehen  sich  auf  ein 
Wort  zwei  (oder  drei)  Randlesarten,  so  erhält  das  betr.  Wort  zwei  (oder  auch 
drei)  Ringe  (vgl.  z.B.  43,  26a.  41,  2a).  Bezieht  sich  eine  Randlesart  auf  mehrere 
auf  einander  folgende  Wörter,  so  erhält  zuweilen  jedes  der  betreffenden  Wörter 
einen  Ring  (z.  B.  43,  8a).  Aber  meistens  steht  in  diesem  Fall  ein  Ring  über  dem 
Zwischenraum  der  beiden  Wörter  (41,  6a),  oder  bei  mehreren  zwischen  dem  ersten 
und  zweiten  und  dem  zweiten  und  dritten  (40,  I4a).  Zuweilen  steht  der  Ring 
dann  aber  auch  über  dem  Anfang  des  zweiten  Wortes  (40,  18).  Ueber  dem  Zwi- 
schenraum zweier  Wörter  bedeutet  der  Ring  ausserdem  auch  die  Einschaltung 
eines  Wortes  (47,  9a)  und  ebenso  steht  er  vor  dem  Stichus  (44,  lb.  47,  8C)  und  am 
Schluss  (44,  7 a).  43,22  steht  er  zwischen  zwei  Stichen,  um  eine  andere  Abthei- 
lung der  Stichen  anzuzeigen.  Oefter  sind  ganze  Stichen  oder  auch  ein  oder 
mehrere  Verse  an  den  Rand  geschrieben,  ohne  dass  ihre  Stelle  im  Text  bezeichnet 
wäre.  Die  Randlesarten  stehen  wie  die  Zeile  des  Textes  selbst  regelmässig 
unter,  seltener  über  der  Linie.  Ihre  Reihenfolge  entspricht  fast  immer  (doch 
vgl.  41,  12b)  der  der  Textesworte.  Ausnahmsweise  steht  eine  Randnote  wegen 
Mangel  an  Raum  auch  wohl  auf  dem  rechten  Rande  statt  auf  dem  linken  (41,  6b). 
Wie  viel  Textfehler  aber  aus  dieser  Art  von  Correctur  und  Glossirung  entstehen 
mussten,  leuchtet  ein. 

Die  meisten  Varianten  sind  jedenfalls  der  Handschrift  entnommen,  die  nach 
der  Randbemerkung  auf  fol.  5b  nur  bis  45,  9  reichte.  Augenscheinlich  war  diese 
Handschrift  selbst  schon  mit  Varianten  versehen.  Später  finden  sich  Randles- 
arten nur  vereinzelt  (47,8.9.15).  Die  Schrift  der  Randnoten  gleicht  meistens 
durchaus  der  des  Schreibers  da,  wo  er  am  Schluss  längerer  Stichen  des  Raumes 
wegen  in  kleineren  Characteren  schreibt.  Aber  der  Ductus  der  Randnoten  bleibt 
sich  nicht  überall  gleich.  Möglicher  Weise  rühren  einzelne  Randnoten  (z.  B.  das 
■paHE  41,  15b)  von  anderer  Hand  her. 

Leider  ist  die  Handschrift  stark  beschädigt.  An  manchen  Stellen  ist  sie 
so  mit  Schmutz  überzogen,  dass  man  nur  mit  Mühe  die  Buchstaben  erkennt.  Im 
Text  ist  die  Tinte  zuweilen  auf  die  gegenüberstehende  Seite  abgekleckst,  noch 
öfter  bat  sie  das  Papier  durchmessen ,  so  dass  manche  Zeilen  ganz  oder  theil- 
weise  herausgefallen  sind.  Nicht  immer  gestatten  dann  Reste  von  Buchstaljen, 
die  an  den  Rändern  der  Löcher  erhalten  sind,  eine  sichere  Lesung.  Allerdings 
sind  die  Stellen  des  Textes,  an  denen  das  Papier  erhalten  ist,  fast  alle  mit 
Sicherheit  zu  entziffern.  Wo  die  Ausgaben  im  Text  statt  der  Buchstaben  Puncte 
haben  oder  Buchstaben  in  Klammern  ergänzen,  handelt  es  sich  deshalb  fast  über- 
all um  Löcher.  Dagegen  ist  die  Schrift  der  Randnoten  vielfach  verblichen, 
manche  sind  kaum  noch  zu  entziffern.  Einige  habe  ich  vielleicht  ganz  übersehen, 
weil  auch  die  Ringe,  die  auf  Randnoten  verweisen,  nicht  immer  sicher  zu  er- 
kennen sind.  Freilich  ist  dieser  Schaden  vielleicht  nicht  allzu  gross  ,  weil  die 
Kandlesarten  meistens  werthlos  sind. 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT    DER    WEISHEIT    DES    JESUS    SIRACH.  7 

Meine  Abweichungen  von  der  Co  wley- Neubau  er' sehen  Ausgabe  habe  ich 
grossentheils  schon  in  der  Theologischen  Literaturzeitung  (1897,  265  ff.)  mitge- 
theilt ').  Auf  eine  vollständige  Aufzählung  glaube  ich  hier  verzichten  zu  dürfen, 
da  ich  für  die  Correctheit  des  Druckes  einstehen  zu  können  glaube. 

Im  Folgenden  gebe  ich  den  Text  der  Handschrift,  wie  ich  ihn  gelesen  habe. 
Ich  setze  dabei  wie  Cowley-Neubauer,  deren  grosse  Müh  waltung  mir  auch 
hierin  zu  Statten  kam ,  die  Randnoten  an  dieselbe  Stelle ,  die  sie  in  der  Hand- 
schrift einnehmen.  Bezüglich  der  zweifelhaften  Buchstaben,  der  Lücken  und 
ihrer  Ergänzung  bitte  ich  die  Anmerkungen  am  Schluss  zu  beachten.  Unter 
dem  Text  theile  ich  Emendationen  mit,  die  ich  für  sicher  oder  wahrscheinlich 
halte  2).  Dass  der  Text  noch  an  vielen  anderen  Stellen  verderbt  ist,  brauche  ich 
nicht   hervorzuheben. 

Zunächst  hoffe  ich  dieser  Ausgabe  eine  hebräische  Concordanz  zu  dem 
Fragment  und  den  rabbinischen  Citaten  sowie  eine  griechisch-syrisch-hebräische 
Concordanz  zum  ganzen  Buche  folgen  zu  lassen. 


1)  Ich  bitte  dort  zu  45,  2oa  das  p  zu  streichen ,  das  auf  einem  Versehen  beruht. 

2)  Vgl,  dazuNöldeke  im  Expositor  1897  Mai  S.  347  ff.,  bes.  S.  356 f.  Hale"vy,  Revue  Semi- 
tique  1897  April  S.  148  ff.  Israel  Levy,  Revue  des  Etudes  juives  XXXIV.  S.  1  ff.  F.  Perles, 
Wiener  Zeitschr.  f.  d.  Kunde  des  Morgenl.  XI  S.  95  ff.  und  die  Nachträge  von  D.  H.  Müller 
ebenda  S.  103  ff.     S.  F  r  ä  n  k  e  1 ,    Monatschr.  für  Gesch.  u.  W.  d.  Judenth.  XLI  S.  380  ff. 


RUDOLF    S  M  ENI), 

Ebcfc.  XXXIX. 

15c— 28d. 

(Cambridge, 

recto.) 

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XXXIX. 

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sna  Di»  ^n  b=i5  .  .  .26 
©am  abn  [ünan  abrv26c 
laTor*  D^aiLD]b  [nb]«  ba27 


v*[^ 


nimii  12^28 


28' 


XXXIX.  15c  ö"<r».  —  15d  -nnan  (Gr.  Syr.).  —  16b  ip^DCT  und  wohl  auch  bsb 
(v.  33).  —  17c  o-hö£  bs>  nur  (2  Chr.  30,16.  Neh.  13,11).  Gr.  £&j?  ä>g  $w<avia  (= 
Q">1733>?)  {JScap.  --  17d  KSITaai  (Gr.  Syr.).  —  20b  Statt  iraniün  ein  Derivat  von  TtTU 
(Wellh.  D.  II.  Müller).  —  v.  21  hinter  v.  IG  (Gr.).  —  22*  Vßia  (Gr.  Syr.).  —  tpsn  hier 
=  überfliessen  (wie  Syr.  ^a^J).  —  24a  CD^nb  rmniN  (Gr.).  —  24b  E3"HTb  (Gr.  Syr. : 
Frevler)  und  ibnsm  (?  vgl.  Ps.  18,27  und  Syr.  ^jl2>aoo).  —  25b  y^b  (cf.  Syr.  ^1  vJo 
ju^  v)o).  —  2Ga  Q"73  gehört  zu  b.  —  26c  Syr.  j£~o  Jafc  (leg.  ^uj);  vgl.  Ps.  81,  17. 
147,  14. 
2 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT   DER 
Eccli.  XXXIX. 


WEISHEIT    DES   JESUS   SIRACH. 

29— XL.  8b. 


(Cambridge 

verso.) 

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XXXIX.  29a  3*->  (Gr.  und  vgl.  40,  9).  —  33a  ^UJyft  und  "lpw  oder  ban  und  p-«DC^ 
(vgl.  v.  16).  —  34*  RTO  (Gr.  Syr.  vgl.  v.  21).  —  35a  add.  Wl  (Gr.).  —  XL.  3b  n^b 
-)B3>a  (Gr.).  —  5a  P)N  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.  Syr.).  —  5b  mnn  (Syr.).  —  6a  rn^.bV 
—  6b  J^Stt*  (^aam)  =  nai  dn  ineivov?  —  Der  Armenier  drückt  nach  Edersheim  (ivY) 
ivvxrioig  und  xoizia  aus.  —  6C  D3>73  fehlerhaft  aus   6a  eingedrungen  (Nöld.).  —  7a  *my  ? 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zn  Göttingen.    Phil.-hiet.  Kl.    N.  F.  Band  2,  a.  2  - 


10 


RUDOLF   SMEND 

Ecdi.  XL. 


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.   9  — 26b. 

(Oxford,  fol.  1  recto.) 

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40.  9b  35-n  (Gr.  vgl.  39,29).  —  10b  mawi  (vgl.  Gr.).  —  13a  biytt  b^n  (vgl. 
Gr.  Syr.).  —  13b  p^o«=n  (vgl.  Gr.  Syr.).  —  14a  del.  cj  2°.  -  Sprich  Gpds  (Jer.4,29) 
und  lies  übjjP  (=  Syr.  ^^).  —  14b  70  (Gr.).  —  15a  D?on  1Ä3  (vgl.  Gr.  Syr.).  — 
in  pr  «b  =  o^  nXrj^wEi  xXddovg  (Hos.  14,7  LXX).  —  16a  ta^öntp^.  Vgl.  Buxtorf 
s.v.  •ptt-np  und  Gr.  ^£z  ini  navros  vSarog  =  X+Ö^B.  —  16b  "»30b  (Gr.  Syr.)  und 
nun  oder  besser  -psn  (Job.  8, 12)  für  naa  (Gr.  Syr.).  —  17a  rrD-^n  ]15D  iom  =  aber 
die  Frömmigkeit  gedeiht  wie  Eden  (vgl.  Gr.  Syr.).  —  18a  ^DUJn  nni"»  «H  =  das  Leben 
dessen,  der  Ueberfluss  hat,  und  dessen,  der  etwas  verdient.  Vgl.  Gr! :  B,<mr\  avtäpxovg  ip- 
yätov.  —    22 a  -n-iTam  (Cowley-Neubauer).    —    24b  npn».  —  In  der  Glosse  unten  rechts 

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DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT    DER   WEISHEIT    DES   JESUS    SIRACH. 

Ecdi.  XL.  26c— XLL  9. 


11 


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(Oxford,  fol.  1  verso.) 

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srap  wri  B^a»  ra^b 

jffipn  na»n  nie 

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ban  mbröi  "pb©  ü^i  c 
l^pn  itd-  *a  miab  n«n2 
baa  ©pr  bttro  «i«2c 
Tpin  rmaia  "insn  bx3 
bau  nrca  ba  pbn  nr4 
■rari  nx-o  D^sto  qbxb4c 

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XLL        -in 


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XL.  27b  b*1  für  "pi  (Gr.  Syr.).  Am  Rande  stand  vielleicht  b?  "O,  was  Israel 
Levi  conjicirt.  —  28a  13s  (Gr.  Syr.).  —  29c  bJUE  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.  Syr.)  und 
.  .  .  "Eyütt.  —  29 d  *»!©■;  (vgl.  Syr.).  —  30a  "EO  (Gr.  Syr.)  für  tt-Nb  (das  aus  v.  29d 
eingedrungen  ist)  und  T3>  (vgl.  Gr.  Syr.).  —  XLL  la  "in  und  -pr>T  (beides  Cowley-Neu- 
bauer nach  Gr.).  —  2b  Zu  ä^3d  vgl.  Neuhebr.  n:":N.  (Syr.  JM).  —  2C  b^iDi  3TD  UTK 
(Nöld.)  und  UJpisi  (in  der  aram.  Bedeutung  =  anstossend).  —  2d  ("iaii3)  nno   od«  für  nno 


(vgl.  die  Randlesart  und   Syr.).   —   4h  npirQ  ?  —   5a  m? 
(Syr.).  —   9a  *r  by  -non  (vgl.  Gr.). 


5b  ib  "IN  oder  Qnb  "IN 


12 


RUDOLF   SMEND, 

Ecdi.  XLL  9— 22d. 


(Oxford,  fol.  2  recto.) 


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XLL    li»  bs«  (Gr.).  —  I2b  man.  —  I3a  a^n  für  -»n.  —  l7a  by.  —  I7b  nu?i 

b?   (Gr.).   —    19a  IT?    —    19d  Rand.      D3>173»   s   ^tto  ÖHopamöpiov?    —     21a  ^D   a^ttJn» 
(Gr.)?  —  21b  mawna.  —  22ab  Rand      ni3>3  (Cowley-Neubauer)  ? 


jheni  hen 


DAS    HEBRÄISCHE   FRAGMENT   DER   WEISHEIT   DES  JESUS    SIRACH. 

Ecdi.  XLIL   1  —  lld. 


13 


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sisri  ^Bpa]  wwn  ba>i5 

:nnsn  msi  D'Hi  oiptii 

:nnsn  bsn  npb°i  nrai 


(Oxford,  fol.  2  verso.) 

ttatari  "in  rvtitflfli     xlii. 
raita  wn  n^mic 
tnan  b«  nb«  &  l»ie  *>* 

pttti  ■pb?  n-nn  b*2  h* 

■jYian  nun  fiatün  ba?3  rr'^ 

obs*i  tr»snna  prra  ban4a 
artab  ai  pa  nspaa  b?4b   *      "a:D~ 

ddh  :  orvn  nan  ntc«  b?  6 


■viBon  *r»  "ipsn  mpo  ba?7 
:m3ra  w  btaiai  tr«^  atvi'Vwi  nms  nora  b^s 
^n  bD  ^:tb  ana  vnvt)  ra»a  T»nt  rwns' 


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§   2 


9     £ 


XLII.  lb  nno  nar?  (cf.  Gr.).  —  le  Nüfib  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.).  —  2b  uoiZJtt 
für  p-»lS73  (Gr.).  —  3a  inn  n«  p3Wn  ?  —  mal  für  iviKi  (Gr.).  —  4a  pniö  (Gr.  dnpi- 
ߣia  =  Infinitiv,  denominativ  von  pniz?  (Jes.  40,15)?  —  4b  mTtQSl  (Neuhebr.  =  prüfen) 
für  mrpan.  —  5a  -pnan  (Gr.  Sidcpopov  =  vnn)  oder  ■vn?an  (=  feilschen)  ?  —  6a  del. 
tsan:?  —  6b  man  (Gr.)  und  nnsjö  (=  wAflöoi').  —  7a  Jedenfalls  npon  und  wohl  auch 
1DD73  (vgl.  Gr.).  —  8b  Nach  der  Randlesart,  nur  ohne  1  vor  n313>  (=  xpivoßtivov;  vgl. 
Job.  5,1  und  Wellhausen  zu  Mal.  2,12  sowie  Lateinisches  respondere  vom  Angeklagten). 
—  8C  snDir  =  klug  (Nöld.).  —  9a  npuj  (Gr.).  —  9C  niaan  (so  auch  Israel  Levi;  vgl. 
nnas  im  talmudischen  Citat)  =  Ttapanndöp?  —  9d  nbt^m  und  ergänze  N3U?n  (Gr.  Syr.). 
Am  Rande  Z.  1  für  nu)3n  entweder  NUJDn  oder  notön.  —  10c  In  der  Lücke  stand  im 
Text  eher  narn ,  lies  aber  n"inn  (Gr.).  —  10d  ^X9n  (=  ötEipooöy),  —  Der  hebr.  Text 
ordnet  die  Stichen  von  v.  9.  10  richtig.  —   lld  ^nizrmm  (Gr.)  0 


14 


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RUDOLF   SMEND, 

JMi.  XLIZ.   II6—  23t». 


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(Oxford,  fol.  3  recto.) 

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XLII.  1  lf  man  für  ö^E  =  und  wo  sie  übernachtet,  (sei  kein)  Zugang  ringsum. 
Aram.  NnnE  mn  =  Schlafraum.  —  14a  mü  für  31D73  und  31DÖ  für  3"<D73  (Gr.).  — 
14b  nun  anan  n-isma  nai  (G-r.).  —  15c  t^io»73  für  laiarn  (Gr.  Syr.).  —  15d  ipnb  (Gr. 
cod.  Sca  xara  xpi/na).  —  19a  nvnai  (Gr.).  —  21c  "ipia  (=  es  wurde  schwerer  gemacht)? 
Es  ist  von  den  Werken  Gottes  die  Rede  und  pn  v.  20  kann  „abwägen"  bedeuten.  Dann 
müsste  freilich  v.  21d  -pitt  (Gr.  övfißovXov)  falsch  sein.  Vgl.  die  Anmerkungen  am  Schluss 
z.  St.  —  23a  ban  für  «in  (so  auch  HaleVy  nach  Gr.  Syr.).  —  Hinter  23a  gehören  23*. 
24.  25.  —  24a  p^3»  und  etwa  m  IM  für  ntn  (beides  nach  Gr.  Syr.).  —  25a  31D  nbn 
=  schöne  Abwechslung?  —  XLIIL  la  Rand,  -jnta  anpn  (Gr.).  —  lb  QSy  und  viel- 
leicht -nn  12373  (Gr.). 


DAS  HEBRÄISCHE  FRAGMENT  DER 

h'ccli.    XLII.    24- 

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»Sftßri] inS[i"a3]i6a 

s  mwi  ns^o  pB[x]  mssbr 


WEISHEIT   DKS   JESUS   SIRACH. 

■X7,2IZ.   17b. 

(fol.  3  v.) 

nTtt   7\1    CT»    D53  24 

rran  vnota  *"»3ia  Tfcr  2 

bnn  mn*»  wnxm^ 

pisü  oma  ma:  to  4 

P3«i:  itt>n  11X72  ^x°Trb4c 

int5iy°m  b^"S  ^2  5 

ni3»  8  riny  rrv  rm  er  6 

P^n    nWPl    13>Ta°C37 

rinnia  inri  -nznm  eins 

arm  ib3:  xni:  ib3  8c 

33"3  nni  u^w  ixin9 

pn  iw*  b«  1313  io 

mW  im  nep  piki  1 1 

nii323  nEipn°p-n,2 

pi3  mnn  imrasi3 

[l]n«    «13    ^bi4 

1 

ixiK  bim  iio?i  bipi7 


L5 


3  j  a   !  XLHL 


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rtt.iz  y 


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XLII.  24  s.  S.  14.—  XLIII.  2a  inNSsa  anaa  (=  G r.).  —  2»  Für  rra  entweder  "b: 
(Nöld.)  oder  ■j'D  (so  auch  Fränkel,  nach  Gr.  Syr.).  —  ntDy$a  (Gr.  >Syr.)  —  'M  "nTiSna 
von   CPlttX   (Bevan,   Fränkel);   ebenso   Hiob  24,11    (G.   Iloffmann).   —    la  EanTa?  —  pxna. 

—  4b  ttibiü  (Nöld.  Halevy ;  vgl.  48, 3).  —  4C  TIN73  iTOyi  (vgl.  Gr.  drßiiSag  xvpäSsig  nnd 
Syr.  Jiai?  J-^jl  ^1)?  —  i-PEn  (vgl.  Syr.  o^o^  und  n^n  b*«ö  11SP  und  n:2b  '•£  -nsn  bfi 
Buxtorf  s.v.).  —  mtzn:  (vgl.  3"OU))  gehört  wohl  zu  d  (Nöld.  vgl.  Gr.  Syr.).  —  4d  mi273.  — 
rtnDn  (Halevy  nach  Gr.).  —  .">a  bin^.  —  öb  vimai  (Gr.  Syr).  —  ^n^ti  (Gr.  Syr.)'.-'  — 
7b  ycin  oder  dgl.  statt  yDin  (Gr.  (pcoört/p.  Syr.   )-^op)  ?  —  <Sa  td^d  fiir  ri'nn  (Gr.  Syr.). 

—  8C  del.  ^b3D  (Cowley-Neubaucr,  Nöld.  nach  Gr.  Syr.).  —  .S'1  inrnrn.  —  0a  in-  (Gr. 
SyT.).  —  9b  ^yi  (Gr.  Syr.).  —  10a  pn2)  VW«  (Nöld.  Halevy  nach  Gr.  Syr.).  — 
10b  15U3""»  (Cowley-Neubaucr).  Syr.  las  wohl  iDtfjr  —  12a  jin  (Cowley-Neubauer,  Nöld.  cf. 
Gr.).   —   14a  irt3y72b  (cf.  Gr.).   —    17a  b^nr  —  17b  a^T  oder  y^v  (t*r.  öaAtvBtöoi'Tai)'? 

—  lGb  Rand.   in*"VnK3?  (Gr.  iv  StXrjßctTi  avrov)  und  Cjbnn  ?  —    17b   b"iyb3>   ((Jr.   xaraiyis)- 


lü 


RUDOLF   SMEND, 
Ecdi.  XLIII.  17c-33b. 


— a* 


»«[.] 


:mn  ■jidc  n3i«Di 

:aab  rwm  itjooi 

•  tr*n*  TBos  ftn 

tTnpfü  «nBp-»  np-iDi 

:mpo  tünbi  ynwi 

:nnnbD  a^nox  n°i:i 

:31c  -park  JTflfi 

stF"*  mnna  0*1 

iWfin«:  i::t«  yo©b 

:mi  mosn  ^n  bo  ■po 

:yi£i  bwi  m3i3i 

tbsn  «in  131  ppi 

:vwr  bso  btia  Kim 

:  mai  mabsn 


(Oxford,  fol.  4  recto.) 
13510   gpSfi   qfcl  3 '  i7( 

OW  nnjp  n:3b  i«ini8 

TW    nbED   11ED    331  19 

mur  -jibs  n*i  nrs2o 
o^ip^  cwa  naro  bo  by2o( 

p^TU-»    31HD    bl3^2i 

b-j   ]:r   ;pjflQ   bD  «BIO  22 

S131    plffiT   in3Wn,0  23 

insp  iiso"1  D^n  ^11^24 

inwia  Tran  m«bB  3^25 

1«bo  nban  1:212b  26 

qoi:  «b  nb«D  113*27 

iipn:  «b  13  113*  nbi3':2s 

■wo  i«  a  w  mi%  29 


i  :  kipn  r  «b  ~o  i«bn  b«i  hd  iB^bnn  ararra  3oc  :li3>  «n  ^3  ibznn  bD3  bip  wr^n  [*"  *  |b(  llätt  30 
jf!  jtwwöh  tp«i  -jjra  nbito;  &im  «;b,s~:  311 32 
jf  bi  bon  n«33 


.  :*  'na 


1"- 


1MP95 


XLIII.  17c  r|\zn::  (Gr.).  —  17d  imi  (Gr.).  —  19a  ^Dtt"«  (Gr.).  —  20b  nipi  fiir 
apiSI  (V  Nöld.  nach  Gr.)  und  iip^  (Nöld.)  öder  vielleicht  besser  ypisi  und  mp»  (Wellh. 
Bacher)  —  22a  bu  zu  b.  —  23a  iraiomaa  (Gr.)  und  3M1.  —  23b  3>u*n  (Cowley-Neu- 
bauer).  —  25b  nan  (Gr.).  —   29*  innn;  (Gr.).  —    30c  abritt  bTOBTOB. 


\r--t 

34 


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3  » 
3  ?4 


DAS    HEBRÄISCHE   FRAGMENT   DER   WEISHEIT    DES   JESUS    SIRACH. 

Eceli.  XLIV.   1—1 6b. 


17 


(Oxford,  fol.  4  verso.) 


:obiy  ma»  nat^ 


:Dnvrna  irmaa 

jtfctp  nwna  ■frm' 

:Drrroaa  de>  to*i 

toninaaa  bo  mm 

♦.onnprnai  nrwffi 

JttYnWWaa   D^ÜTöl 

:nnDa  btwa  '»«Via 

jonrott  b?  anspwi 

iDmasn  Esrwffi 

!Dnbn:a  msirtiwib 

nna«  iid»3  maan 

:n[3tDn]  ab  nrnpnn 

[:ma  lajab  onbnn 

[t  V]5  ....  [a]b  ömpnn 

:*vrr  pn]b 


non  to:»  xd  nbbn^i     xliv. 
p->ba?  pbn  1133  a-i2 

onansra  n^nVi3c 

Df!W33  D^  *m4 

onnsoa  itod  ^Dn4c 

pn  b?  Trara  ^npnn  5 

hd  ^sttioi  bTi  *•©:&<  6 

dths  nba  b^7 

Dir  irren  nn»  w& 

ist  nb  "pa  lü»  ÜTTü  ttni9 

in  T»n  ab  moÄ39c 

non  ^tDD^  nba  ob^iio 

aaita  psaa  amt  cffu 

D1DT   -W»   Obl?   ^13 

.  .  .  .  rnilb'wnl  .  .  .  .  14 


:  mm  irrft  nin  nix  npbsn  **  oa?  ibnnm  tnon  xsed  7m  16 


'0*3 


XLIV.  3a  vn-i  (Gr.)  —  3C  t=P£:n\  —  4b  Etwa  ömpnE  (vgl.  Prv.  8,  15).  — 
6a  -017301  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.  Syr.).  —  7a  add.  1*1333  (Gr.  Syr.).  —  7b'Dn^3i 
(Gr.  Syr.).  —  8b  myrironb  und  DnbnnS  (beides  nach  Gr.  Syr.),  —  10b  anpixi  (Gr. 
Syr.)  und  rtSttn  (Gr.).  —  13b  rzanpisti  ist  Fehler  für  nmNsn  oder  dgl.  (nach  Gr.  Syr.).  — 
16  del.  T  Q^72n  tt£?2D  als  aus  v.  17  eingedrungen  (Halevy,  D.H.  Müller;  vgl.  Gr.).  Der 
erste  Stichus  endet  mit  npbsi.  0 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  WiBS.  zn  Göttingen.    Pbil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  2.  3 


18 


■B*1 


RUDOLF 
Eccli.   XLIV. 

:cpbnn  n^n  nbs  n*b 
;Voia  bin  winm 

o 

:ircn  bD  mnion  Tibnb 

jD^rrnDn  -jna  ab 

:7a*  nmmn  «ni 

:n^a  7*irn  Tab 

:p»  iD5D»  i*i  in^ni 

r-w  onina  to*d 

:b*rrc^  ictfi  b*  nnD  nDinn23 

nnbrc  ib  jmi 

mur  mso  pbnb 

pn  bD  wa  in  »an» 

jnaTtab  tot  twü 

itrwraa  Tmamm 

Hb»  ^s>b  inptmi 

f78TK]1sn 

[:n]tö[n  ^]a  bDia  in  ms 


SMEND, 

17—  XL  F.  4b. 

(Oxford,  fol.  5  recto.) 

D^n  «staa  piix  np]  i7 
rwwD  nr<n  wwii7c 

70*   niDD   nbl*   m«ai8  ma 

D^a  i"»n  n«  Drra«i9 
•pib*  mw  iwb  tid«2o 
pn  ib  rro  *nran2oc 

ib  o^pn  n*[n~|iDa  p  b*2i 

D^  1*1  ff*o  Db^n3nb2ie 

p  o^pn  pn^b  Dan  22 

iah!  ynöKi  bD  min  22 c 

nnmn  in:°DiD^23b 

D^taatDb  inn7rn23d 

ca  tsim  tf[3m]23f 

twain  a^nb[«  am]*  i   xlv 

D^nbfKD  °ininD*'i]  2  *"  >* 

mo  [rnni]»  pnVin]in3        t«  rtra 
.  .  .  b[K]  irwi3c 


traaa 
[*>rt]»[,']»,"i 


XLIV.  22a  p  (Gr.)  —  22c  mrvnin?  —  23*  rtliaaa  *wn  (Syr.).  —  23d  add. 
DK  vor  ö^omöb  (Syr.)  ?  —  236  Q^aiöb  (vgl.  Gr.  Syr.)  =  damit  er  zutheilte  den  Zwölfen 
(Gen.  49)?  —  XLV.  2b  OHnwa  (Gr.  Syr.)  —  3C  1733>  b«  (Cowley-Neubauer  nach  Gr. 
Syr.). 


DAS   HEBRÄISCHE    FRAGMENT   DER   WEISHEIT   DES    JESUS    SIRACH. 

Ecdi.  XLV.  5— 13d. 


19 


\\>tnsb  ttwwi 

.    :nmnni  o^n  rrt\r 

ilanrt  "ntaswi  wwi 

:nbi?  pnb  ma^iy 

tVToan  innim 

$wi  TfiSa  wun 

:TOsn  n-o^D  nnb 

na?  ^ib  "pistb 

:iton  nir^'a 

tyn»  rwvn  nybm  Win 

jD^ibttn  nnin  ^nins 

:bfco[im  najäö  nso^b 

jtfip  D[mn  itir»]  p*tt 

f*^]  .  .  .  fii  ?[■*  il^ms 

s  1»  b"[D].  . . .  [*}b  Db'ir  [V]  j5 

torrnrib'  v»aa  pi 


(Oxford,  fol.  5  verso.) 

ibnp  na  iny.i'myns 

maa  Tra  DtD^5c  ^. 

Tpn  np^n  Tübb5e  S 

^  ntjttb  pn»  nx  OTp  om  6 
"rmS^  irm7b 


m»sn  b">bD  m^nb^s 

nbnp  wd  ^tnönb9d 
floäTO  nbDn  nnr  innp  ^isio 
Htm  tft«  Dsm  iünioc 
ffimn  b?  psn  ^n»nb 
rrnn  nnDi  frotb  mp^  pa  bs  nd 
tiBim  yya  tb  mt3*i2 
w  nbnm  tqd  Wim0 

T [*}b  [P}\*P  13 

ntb  i^nb  .  .  .  p  mn  i3c 


Hirt    £ 

-isin 


XLV.  6  add.  imöD  hinter  ©Tip  (Nöld.  nach  Gr.  Syr.).  Zwei  Stichen.  —  7b  -jrm 
Ö*  niüs  ib  (Gr.)?  —  7C  isrniON^  (?  Nöld.  nach  Gr.  i^axdpidEr). —  7d  -imn  ms^bm 
(Gr.  (JroA^y  86B,r)q.  Syr.  )^j  |xx>^)?  —  7e  del.  (Nöld.).  —  8b  im«D^  =  iöTepiaoöev 
(leg.  iöTEcpävcoöey  =  VL  coronavit).  —  n*  "<bS3  für  nsn  113M  (Nöld.  nach  Gr.  Syr.).  — 
8C  Wttl  =  Hai  incüßiSa  (leg.  SntXotöa)  ?  Vom  Efod  darf  hier  noch  nicht  die  Rede  sein.  — 
9ab  Vertausche  0->3l733>s  und  tD^DlTan  (Nöld.  Halevy  nach  Gr.).  —  10a  nb^m  (Gr.)  und 
1»3^K1  zu  b.  —  10c  Crom  te-ni*  für  1iT*n  ms«  (?  Nöld.  nach  Gr.).  —  lla  1310  (Gr.). 
—  llb  del.  ]iünn  bs>  (Gr.).  —  lic  tamn  ^mns  zu  b  (Gr.),  i.  f.  add.  p«  izj-.n  nra*» 
(Gr.  vgl.  Ex.  28,11).  —  lld  del.  n-ip-  p«  bs  (Gr.).  —  12a  ns:itE  bsra  (so  auch  Ha- 
leVy  nach  Gr.).  —   13a  ^  irn  ab  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.).  0 

3* 


20 


RUDOLF   S 

Ecdi.  XLV. 
JDTQOTD  Tflan   DT  bai 

:impn  pon  inrww 

jd^äw  ^a  tmibi 

niaton  to*  na  "pabi 

:D^abm  nb?  to^nb 

:b&nim  ■«  b*  nsabi 

jtfflwofi  pinn  inb^ttwn 

:  b«-itD^  "»aa  nx  tamnen 

na^naa  ia  iswpi 

:db»  nrrn  mp  trvsn 

stat  "pna  öbDi- 

:ivm  a-arca  Dba*n 

nnbre  ib  frm 

:wtVi  ib  n3mai2ib 
:nbro  pbm  ab  aaiinai 

ibvno* 

,^wriW  [-naa]  Snä  rmwa 


MEND, 

14— 23b. 

(Oxford,  fol.  6  recto.) 

ittpn  b^bD  innpa]i4 
TT  n»  ntott  ifcB[^]i5 
Dbi?  ma  ib  ^nnii5c 
ib  jtdVi  mttbi5e 
^n  baia  ia  ina*>ii6 
mawi  nm  rm  nit3pnbii6c 
vmsia  ib  ^117 
pn  to*  htt  mab^i7c 
d^it  ia  mm  18 
a-paai  im  ^ai8c 
Spam  w  s^ii9 
nia  onb  »a^i9c 
trab  pnabS  ....  1 20 
onb  ib  im  unp  Tmttn]n2oc 

ipbn 2od 

bw  ab ^22 

...  b  ....  b  .  ppi  ^«22c 
wb»  i[a]  dwb  an  23 


XLV.  14b  Tan  =  Nomen  (Bevan).  —  19c  &na"n  (nach  Syr.  und  Num.  16,30). 
—  20c  naiin  (nach  Num.  18,8).  —  20d  ipbn  na 'Wo  &nb  (Nöld.  nach  Syr.).  — 
22a  '*  «b  ö*H  ynaa  fN  (vgl.  Gr.  Syr.  und  Num.  18,  20)?  —  22c  Vgl.  Num.  18,20: 
^  »aa  -pna  ^nbn:i  -jpbn  ">dn. 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT   DER   WEISHEIT   DES   JESUS    SniACH. 

Eccll  XLV.  23c— XLV1.  6d. 


21 


:ltt*  pes  Wl 

ibamm  i»  br  isa-n 

JVipia  bsbab  DibtD  tv^a 

:nbiy  to  nb™  reife 

:nni^  nuttb  ^  p 

Jini  bsb  prm  nbru  .  .  a 


(Oxford,  fol.  6  verso.) 

bD  mb»b  -i^pl23,: 

lab  in^D  fcTOÄ23e 

pn  trpn  ib  na  pb24 

wrbi  ib  mnn  Tfij«24c 

mn  d*  nwa  mi25 

-rnaa  ^sb  m  nbn:25c 

aion  w  n«  xd  ma  nnm25e 


:  ob v  mvnb  aarn^em  oaaitD  rw  ab  pab  26c  ab  nton  nab  fm  26 


jnxinDn  tob  trwn 

jTnTob  nbna  n*i»n 

:b&rw  n»  b^nsnbi 

:to?  br  ]"itd  isn:na 

pon]ba  ■**  rrvanbtt  *a 

: .  .  .  ptijPjV]  """is  et* 

ja^aoa] [i]b  nöa»a 

t »  . .  b . . . .  [njti 

tj*» a5 

ton^nbE  wi  nsix  "»a 


I13  p  Wim  b-»n  p  tcüi    xlvi. 
wa  nmb  ins  i©kic 
a*n»  ^*apD  Dp:nb  ie 
T  imtssa  ^"ina  ntt2 
arrn  tosäS  »in  na3 
tram  top  rpa  «bn4 
pb*  b»  ba  *np  ^5 
^aaa  TPb*  b»  uwi5c 

b  .  .  .  .6 

Din  *«  ba  h[n]  p^ab6c 


XLV.  25c  mb  l^aaa  «Pub  fb»  nbH3  (vgl.  Gr.  Syr.)?  Jedenfalls  will  er  sagen, 
dass  die  hohepriesterliche  Succession  genau  der  königlichen  entspricht.  —  25d  isnTbt  ib 
fiir  't  b^b  (Syr.).  —  26b  nach  Gr.  und  Syr.  einzusetzen.  —  26c  nau)-1  nach  d<pavi65y 
des  Gr.  (ait3  =  Glück).  —  XLVI.  lb  vgl.  Ex.  33,11.  —  la  iö»3  für  WS  (so  auch 
Nöld.  nach  Gr.).  — -  5C  ->33N3.  zu  d.  —  Am  Schluss  waabN  (Nöld.  Halevy  nach  Ez.  13, 
11.13)?  —  6b  tm 73 m  (Cowley-Neubauer  nach  Gr.).    —    6C  Zu  dnn  vgl.  Syr.  zu  16,9. 


22 


RUDOLF   SMEND, 

Ecdi.  XLV1.  6e— 18. 


non  rmv  rwn  ^a*i7 
:bnp  nsa  ar>nnb- 
mn  nan  r^atDnbn 

j^bn  cjb»  rnwa  twwa 

nta*  mw  na^w  w 

:nbnD  «rm  tro  ow 

jwi  -nna  xbttb  alt:  ^a 

nab  XTD5  ab  tob  ba 

tomaab  (pbnri  dbrbti  i2brchab  d*dt  w 

:H9tt  pxn  bara^n 

tinatfi  tasito  barra» 

;d*  b?  d^^d  hbwfi 

tapyi  ^nbx  ips-'i 

:n*n  pati  na^a  d» 

♦.arnoa  vo^to  i]b  [nsaaa] 

;w [D^i7 

jD^nraba  wo  b5  [n«  ta]**! 


(Oxford,  fol.  7  recto.) 

ba  'nnu  »b«  *o  [a]5i6e 
ro&i  p  abm  »nr7b 
mma  fnti  a^nb7d 
ibarK5  n^tta  an  a*  DDbs 
twti  abn  naT  p«  nnbri:  b«  D^anbsc 
n^sr  abab  in^9 
p*  ^rraa  b*  D^-nnb9c 
apy  Pnt  ba  n^n  "pabio 
ittüa  tma  Dwronn  H 
b«  ■nna1»  äio5  Kbinc 
mww  "nrti  nw  am»  i3 
nanasa  **  T*»i30 
roböo  i^n  ba  pan]ai3e 
rro  mp]  .  .  .  .  aH 
Htm  «Wi  Wpnanjiis 
b[a]  b[K  anp  »n]n  däIiö 
[a]b[n  nbo]  inb*ai6c 
ns  ■»a1*»  »rn  18  nbip  ^üed  i^iä  rpsa  i7b 


XL  VI.  7C  y-isa  (Syr. ;  vgl.  45,23).  —  8a  pb  und  i"bi23  (Cowley-Neubauer  mit 
Gr.  Syr.).  —  9C  ,o^*nfib  (Cowley -Neubauer  mit  Gr.  Syr.).  —  12b  Es  fehlen  wahrschein- 
lich drei  Stichen  (cf.  Gr.  Syr.).  —  13a  aittR  (Cowley-Neubauer).  —  13b  baizn»!!  (Cowley- 
Neubauer)  V  —  v  14b  **  n«  (b«)  Ö^nb»  (Gr.).  —  15  Vgl.  1  Sam.  9,9.  —  15b  !T»V1 
(Cowley-Neubauer-,  vgl.  Gr.)  —  1GC  mb^tta  (Gr.  Syr.)  und  nbh  nbü  (Cowley-Neubauer 
nach   1   Sam.   7,  9).   —  Es  fehlt  ein  Stichus. 


DAS   HEBRÄISCHE   FRAGMENT   DER   WEISHEIT   DES  JESUS   SERACH. 

Ecdi.  XLVL   19—XLVII   10d. 


23 


:in  n:? 


(Oxford,  fol.  7  verso.) 

ab  D=fa  bDi  ->n[npb  ^12  Db*:i  nsiD  i9c  :  irrttün  **  Wh  isaFo  b?  irn:  nm  19 
pn  bD  "W31  wi  -wi  «sttD  iias  isp  n*  T*  ami9e 
:hki323  ibip  pma  xtd^2oc    jwti  "jb-ob  tm  tma  imo  "nn»  0*120 

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*rm  ron  i^i^a4 
*bp  b*  Tr  i£p:nn4c 
pb*  ba  ba  anp  *o5 
niianbtt  am*  ü^»  na  ^nb5c 
m»  nb  t»  p  b^6 
onba  epaat  irrvasaö0 
ffn*  Dihttbsn  inii7b 
nrnn  ins  incina  bDis 
ito*  nmx  mb  bsns0 
nnfiö  j^a&]b°-p©  r»i3^59 

b  .  .  ,0 

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jn^a  m[»s]n  *a»*i 

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iw  pp  n»  D'nnbi 

jnnana  irra^i 

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[:oa]np  =niD  dtü  nrn 

tta[3]  ...  3  fnba?  b«b 

tT\m]  ....  p»&]5  bD3n 

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xlvh. 


■pn 


XLVI.     19c    a-»b*ai    (?  Cowley-Neubauer    nach    Gr.    und    1   Sam.   12,  4  LXX).    — 
20c  Es  fehlt  ein  Stichus  (Gr.  Syr.).  —  XLVH.  3b  }«x  für  ^3  (auch  HaleVy  nach  Gr.  Syr.). 

—  4*  ö*a  rtBin  (Hal^vy  nach  Gr.  Syr.).    — »    8C  Sin«  (nach  Gr.).  —  9b  '3  /ITOra  Vipr 

-  10*  »np»  (Gr.).  2 


24 


RUDOLF   SMEND 
Ecdi.   XL  VII. 


iwp  abnyb  dw 

tobten^  b?  jon  ixD3i 

:nt:ib  pitD  b-orca  p 

:rooa  ib  msn  b«n 

itrrpn  i?b  am 

now  i«^  qsm 

jjty»«  omaä  •übpm 

jnmyon  tma* 

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:cjdd  mnn  mrön 

nrvnra  ab^-arr 

:T^^  n»  bbnm 

j^pDiöa  by  nrßtfi 

:oan  robwa  o-nsaan 

:nn»  Ynara  b^  ab^ 

:TW*  xb  va[rra]  .  .  . 

b^ 

tfB5  p  [m]n*  at^-1 


11— 23b. 

(Oxford,  fol.  8  recto 

WWD  Tarn  **  p]5u 
robaa  pn  =ib  ][n^]-uc 
vnn»  Tay  TfiSWu 
mbtD  ^ia  ^ba  nabtt>i3 
itt»b  rra  pn  iWi3c 
T^tt»  nasn  naH 
1 .  .  .  !n  rröö  p«i5 
nrbai  srrn  b[iö]a  thi? 
laMn  nun  n*np:i8 
nnr  bma  -oxmi8c 
TbDD  D^ffiDb  ]nnii9 
'  iTiaaa  ma  jnjrvpao 
"pKttti  by  qa  x^nn^b2oc 
onaato  ^iöb  .  .  .  .  b2i 
Ton  idw  ab  b[K]  ...  .22 

toi  "p  ^ »b22c 

b  ijn^22e 


XLVTL     lld   b&niZP  für  öbiöTV    (NÖld.  nach  Gr.  Syr.).    —    15b  a*»  1D3  (vgl 
1333  40,30)  für  QlTiaa.  —   17b  myfcn.  —    18ä  Vgl  2  Sam.   12,25.  —  20d  fnrtBU 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT    DER    WEISHEIT    DES   JESUS    SIRACH. 

Eccli.  XLVII.   2&—XLVIII.   12d. 


25 


d*  pns]*n  imen  ararn 


(Oxford,  vol.  8  verso.) 

wo  nom  nbia  am  23° 


[t]ärw  n»  imjpwn  *B]n  1«»  ua:  p  tot  "ö?  ib  w  bx  op  nrcx  -i?2; 


t^ättnn  rm  babi25 
:-i3na  Tanä  maT 
:Dü^»n  ^na:pai 
jnmS  [tDn]bLto  t>ti  n  öS 

soniDDpa]  o-naaai 

;TWtti  cpbnn  «-»an 

töpa  ^t3BWa  a-nnai 

J .  .  .  .  H-£b  *|K  maiönb 


:ir[nn  rr>n  ^a]  ij^SD  vYjttMp] 

!  r[»^K] b  .  .  . 

M»T«  an1»  bs  D^näiü 


blTÖDÜ   D"nS*6    •jn"»l23g 

tesd  «^a:  op  mna  n*i      xlviii. 

onb  nott  anb  1310^2 
di^td  nfsföi  ba  "iaia3 

L    J  ° 

irpb«  nn«  *T3  ma4 

nntD  br  o-obtt  Tran  6 

mwibiBn  abtt  ntD-nang 

mnann  w»  arveicmy 

nb?tt  m*o3  npbDn9 

nyb  pD3  amDHio 

d-03  b?  maa  ab  aiit?nbioc 

Snop] [wf  [»]  12 

nann  ninä  rn^l©  ^i2c 


XLVII.  23e  Dp^i  für  ap  -lttJN  15>  (nach  48,  1  verderbt).  —  '2  '3  S3»nT  ist  der 
zweite  Stichus.  —  24a  vor  24b.  —  anNün  (Gr.  Syr.).  —  25  nwann  (cf.  Gr.).  —  XLVIII.  la 
Etwa:  im  &T33  t=p-<-i  »Dmb»  »3"»  öps  ittN  iy  (nach  Gr.).  —  6a  b«  für  b?  (Halevy). 
—  8  hinter  7.  —  7a  y?3iu;n  (Gr.).  —  8a  -obtt  (Gr.).  —  10d  3p»"1  für  bms'  (Nöld. 
nach  Gr.  Syr.  und  Jes.  49,  6).  —  lla  "nu)N.  Allerdings  ist  der  Sinn:  selig,  wer  .  .  .  aber 
seliger  du  selbst  usw.  —  12a  nnDD   =  iöxendö^tj.  —  12b  Vielleicht:  rt»"l33  b3p"n  (cf.  Syr.). 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wise.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.   N.  F.    Band  2,  2.  4 

5 


26 


RU 

Eccli. 

jYTOa  *on:  ninnmai 

:mö^a  ^nan  irnaai 

•.Dnaurna  nbin  abi 

:p«n  bD2  wn 

fpsp  m^  rnab  Tin 

tbyw  i^bsn  orra  w 

:D^*a  roin  ba  mara 

:ffipa  D"nn  own 

:nprc  ah  n«  nb©^ 

iwiöo  ba  cpafi 

jc-ed  "nb«  Wim 
nrrw  to  HWM 

:th  wn  prm[Yj 


DOLF   SMEXD, 

XLV1U.  12e— 23. 

(Oxford,  fol.  9  recto.) 

bDa  ?T  ab  irtr>,ai2e 

i:ee  abs:  ab  w  bDi3 

nnabs:  nw  inna  i4 

orn  am  xb  nar  br>ai5 

Qsi»ti  *no:  ins«  i?isc 

n*ra  nwv»b  natri  ise 

wr»  itd?  ania  ©">i6 

mir  pm  wprrpiy 

d^s  nrcn::>  asmi7c 

a-nn:o  nb?  Twnis 

•pX   b?   IT   0^18° 

oab  piea  wtap]  .  .  19 
TV»b*  ba  ba  n»[np]^2o 

pnbsn  b^pä  .  .  .  *i2oc 

-nta  n:npj *2i 

[a]ion  na  irpp[mi] 22 

22° 

23 


XLVin.      13b  N3:  (Gr.).  —   17«  nwmn  (Gr.).  —  17d  Q^n  (cf.   Gr.)?  —  19a  W 
(rdtt).  —   20c   yaizm  (cf.   Gr.  Syr.). 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT   DER    WEISHEIT    DES    JESUS    SIRACH. 

Ecdi.   XL  VIII.  24— XL IX.   12. 


27 


ifra  "^nx  onrn 

:jma  n:tb  rmnwi 

:npvi  niztfE  nbran 

{■pn  nnwa  b?  'ronas'i 

:bnn  mnmn  nwi 

:non  rw»  oian  -^m 

:-na:  bn:  *öb  o'nnai 

:mnma  nwi 

jÄ^ia  in:  on-na  «im 


XLIX. 


(Oxford,  foL  9  verso.) 

rmnx  nm  rrnaa  min  24 

mra  Tan  abny  1^25 

D^tto  tnopa  imw  dtüi 

i-idt  p-rw  »an:  iroic 

^micti  b?  bn:  ia2 

-ab  bx  bx  arm  3 

wprrp  wno  -inb4 

■pk*  rrnn  nn.Tm4c 

-nnxb  o:ip  pr*^ 

mp  rrnp  warn  6 


:n*>cnbi  yt::b  r:ab  pi  onnb  Ta«nbn  pnsVi  Tü^nrb  7b 
:ma-na  ist  wi                     n&nia  n»i  bapims 
:p*fs  rrvi  ba  baba^n            arrä:  n^tf  rs  Tütn  mig 
:  an[nr  nn"  ns  amas*  ^nn               D^^:n  nur?  a^:ic  am  10 
.  .  nn  ttiSPV»i                npy>  n»  wbnn  nirsioc 
b b  .   .   .  .  n-än 


XLIX.  2a  nbm  (Cowley-Neubauer  nach  Am.  G,6)? 
(Gr.  Syr.  vgl.  1  Macc.  2,48).  —  5b  del.  baa  (Gr.  Syr.)?  - 
■VSTK  und  wahrscheinlich  N^n:  (Gr.  lv  8ßßpooy  Syr.  om.). 


5a  inNb  (Nöld.)  und  tarni 
'!■•  DinVi.  —  9a  Jedenfalls 


28  RUDOLF    SEIEND, 


Bezüglich  auffälliger  Abweichungen  von  der  Oxforder  Ausgabe,  schwieriger 
und  zweifelhafter  Lesungen  sowie  der  Ergänzung  von  Lücken ,  soweit  ich  dafür 
in  Spuren  von  Buchstaben  Anhalt  habe,  bemerke  ich  Folgendes. 

XXXIX.  15c  Von  un  scheinen  die  Grundlinien  und  von  u>  der  linke  Arm  erhalten 
zu  sein.  —  Vielleicht  stand  hinter  "^"73  ein  CD.  —  16a  Am  Rande  liest  Schechter  bsn 
(vgl.  v.  33).  Ich  kann  es  auf  der  Photographie  nicht  erkennen.  —  17c  Das  y  in  by  hat 
schon  Schechter  erkannt.  Von  b  ist  der  obere  Schweif  nicht  sicher  zu  erkennen,  die  Spitze 
meine  ich  aber  unter  der  rechten  Ecke  von  ü  (in  Gpa.itt)  zu  sehen.  Möglich  wäre  sonst 
n  ,  aber  der  Fuss  von  n  wird  nicht  durch  den  von  y  gezogen ,  wie  das  hier  der  Fall  ist. 
Statt  CD^IDy  las  Schechter  früher  CDS  "*):>,  wogegen  Cowley-Neubauer  hier  nichts  zu  er- 
kennen meinen.  Aber  namentlich  das  1  ist  unbestreitbar  und  m.  E.  auch  das  etwas  tiefer 
stehende  \  —  17d  N5217331  scheint  auf  Correctur.zu  beruhen,  ursprünglich  stand  da  viel- 
leicht N1C17373  ,  das  Schechter  annimmt.  —  20b  Auf  ■)  in  j!D  machte  mich  Schechter  auf- 
merksam. —  23a  "p  hat  Schechter  erkannt.  —  26a  Von  d  ist  nur  die  untere  Horizontale 
und  die  obere  z.  Th.  erhalten.  Möglich  wäre  auch  CD  (statt  id)  ,  aber  vor  b  ist  für  die 
linke  obere  Spitze  eines  CD  kein  Raum.  b  steht  zu  weit  von  n  ab ,  um  Präfix  zu  sein. 
—  26c  Von  d  ist  die  untere  linke  Ecke ,  von  i  der  untere  Schweif,  von  CD  die  Grund- 
linie angedeutet.  —  28a  Auf  D^iL'3>3  wurde  ich  durch  Schechter  geführt.  —  28b  Wie  viel 
vor  D*nn  fehlt,  ist  ungewiss.  —  29b  ißoaa  vermuthete  schon  Schecliter.  —  3 0b  Am  Rande 
übernehme  ich  napia  Clin  von  Cowley-Neubauer,  auf  der  Photographie  erkenne  ich  davon 
nichts.  —  Vor  üD  ist  ein  Loch,  doch  erkennt  man  am  unteren  Rande  Spuren,  die  öBSJttb 
zulassen.  —  32a  In  "»n3222nn  ist  das  :  in  sofern  unsicher,  als  die  Vertikale  nicht  klar 
ist.  Es  ist  aber  eine  untere  Horizontale  da ,  die  nicht  für  die  Verlängerung  des  Fusses 
von  n  gelten  und  des  Raumes  wegen  wohl  nur  einem  3  gehören  kann.  Von  22  sind  nur 
die  oberen  Spitzen  und  die  Grundlinie  da,  y  erscheint  aber  als  unmöglich.  Für  1  wäre  D 
denkbar.  —  33b  Vielleicht  steht  nur  pioo  da. 

XL  4b  Von  U),  dessen  Stelle  ein  Loch  einnimmt,  scheint  die  rechte  und  linke  obere 
Spitze  erhalten  zu  sein.  Auf  *  folgt  vor  einem  weiteren  Loch  scheinbar  eine  Verticale, 
wie  von  t  oder  dgl.  Aber  über  dem  Loch  findet  sich  eine  Spitze,  wie  die  eines  y,  dessen 
unteres  linkes  Ende  hinter  dem  Loch  erhalten  zu  sein  scheint.  Die  Vertikale  kann  auch 
auf  einem  Schmutzflecken  beruhen.  —  '6a  Statt  i  wären  auch  n  (Cowley-Neubauer)  oder 
n  denkbar.  —  6b  Vor  b  ist  n  wenigstens  wahrscheinlicher  als  n.  Hinter  b  meine  ich 
die  vordere  untere  Spitze  und  schattenhaft  auch  die  Grundlinie  von  73  zu  erkennen.  Da- 
hinter scheint  auch  die  obere  und  die  untere  Spitze  von  t  erhalten  zu  sein.  Vor  x  eine 
untere  Horizontale,  die  einem  ;»  gehören  kann,  löaü"*  ergänzten  auch  Cowley-Neubauer.  — 
6d  Auf  n  folgt  zunächst  wahrscheinlich  ein  1 ,  dahinter  sind  zAvei  obere  Horizontalen  zu 
erkennen.  —  7a  Die  oberen  Spitzen  von  yi  scheinen  erhalten  zu  sein.  —  Am  Schluss  stund 
schwerlich   yp^") ,  das  Cowley-Neubauer  vermuthen ,  sondern  eher  p^P\       Davor  eine  obere 


DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT    DER   WEISHEIT    DES    JESUS    SIRACH.  29 

Horizontale.  —  7b  Denkbar  wäre  auch  .IN'V:  oder  ,i»nö.  —  Der  vorletzte  Buchstabe  kann 
kein  1  sein,  weil  der  Abstand  nach  vorn  zu  gross  wäre,  der  letzte  kein  n,  weil  die  Ho- 
rizontale über  die  linke  Stütze  hinausreicht.  Die  rechte  Stütze  ist  nicht  klar.  Vorher 
habe  ich  a  angenommen,  weil  die  Folge  3D  in  sich  unwahrscheinlich  ist.  Aber  der  Fuss 
des  Buchstabens  ist  zerstört.  —  8  Am  Rande  stand  v.  8  in  abweichender  Lesart.  Aber  nur 
die  Anfangsworte  der  beiden  Stichen  sind  erhalten,  der  Rest  ist  wie  der  Text  selbst  zerstört. 

—  9iV  Das  Patach  im  Ohatef  ist  nicht   deutlich.    Vielleicht  war  der  ganze  Stichus  vocalisirt. 

—  18b  Möglich  wäre  auch  H73TO  (vgl.  41,12b  am  Rande).  —  19c  In  nattJ  erscheint  mir 
U)  jetzt  als  sicher.  —  21a  Ueber  Vbm  steht  am  Rande  entlang  eine  Note,  die  vielleicht 
bis  zu  b^iZJ  im1  sich  erstreckt,  übrigens  unlesbar  ist.  —  23a  Das  mj  am  Anfang  scheint 
corrigirt  zu  sein,  der  untere  Strich  ist  doppelt  da.  Von  dem  nachfolgenden  72  ist  die  un- 
tere Horizontale  erhalten.  Von  b  ist  das  untere  Drittel  erhalten ,  der  obere  Schweif  un- 
sicher. Davor  erlauben  Spuren  die  Ergänzung  -mm.  —  24a  Das  i  ist  zwischen  TN  und 
[c]m]tf/  eingezwängt,  als  ob  es  nachgetragen  wäre.  Uebrigens  ist  nur  die  obere  Spitze  deut- 
lich, die  zur  Noth  auch  einem  *  gehören  könnte.  Von  C]  scheint  der  Schweif  erhalten  zu 
sein.  —  Vor  n  an  erster,  zweiter  und  vierter  Stelle  untere  Horizontalen.  Die  erste  könnte 
einem  V  gehören.  —  25a  Hinter  5]ODT  die  untere  rechte  Ecke  eines  Buchstabens,  die  am 
ersten  einem  73  gehören  kann.  Vor  b[:n]  eine  untere  und  vielleicht  auch  eine  obere  Ho- 
rizontale. Der  Raum  reicht  eher  für  a"^3?3  als  für  tZPT^p^.  —  26a  In  sbb  lbb*:P  ist 
vom  zweiten  b  nur  die  Ecke  erhalten  ,  die  die  Horizontale  mit  dem  unteren  Strich  bildet, 
und  ausserdem  vielleicht  die  untere  Spitze  des  letzteren.  Vom  dritten  b  ist  mir  der  untere 
Strich  da.  Zwischen  diesen  beiden  b  wäre  für  1  Raum.  —  26d  In  "p5>73  fehlt  von  73  die 
obere  linke  Spitze  und  die  Nase.  Nicht  ausgeschlossen  sind  D  oder  auch  3.  Von  y  ist 
das  (linke)  Fussende,  die  linke  und  die  rechte  Spitze  da.  Letztere  kann  kaum  ein  ■*  sein. 
Wozu  die  unlesbare  Randnote  gehört,  ist  unklar.  —  27b  (Rand).  Ob  hinter  b  noch  Buch- 
staben folgten,  ist  nicht  festzustellen. 

XLI.  2b  ta^aafct  ist  sicher  nach  der  Photographie.  —  4d  :  tD^n  ist  kleiner  ge- 
schrieben und  Cowley-Neubauer  betrachten  es  als  Randlesart.  Aber  das  b  vor  ö^n  steht 
zu  nahe  an  n,  als  dass  ein  Sof  Pasuk  dazwischen  Platz  hätte,  und  zu  weit  von  un,  als 
dass  es  das  b  von  blNU;  sein  könnte.  Ueberdies  steht  unter  b  die  linke  Fussspitze  eines 
y  oder  dgl.  —  5a  Im  Text  steht  über  tzr?^  ebenfalls  n^n^.  —  7b.  8a  Das  Ende  der 
Stichen  ist  nicht  zu  bestimmen.  —  8b  Der  Anfang  des  Stichus  ist  nicht  zu  bestimmen.  — 
18c  Eine  dritte  Randnote  zum  ersten  Wort  ist  wenigstens  nicht  mehr  zu  lesen,  wenn  sie 
überhaupt  da  stand.  —  19b  Von  tf)  ist  der  rechte  Arm  und  ein  Theil  der  Grundlinie  er- 
halten, dahinter  eine  Fussspitze  wie  von  einem  :.  —  22ab  Das  l  steht  auf  der  Fussspitze 
sine«  Buchstabens,  der  nur  n  oder  3  sein  kann.  Es  gehört  mit  ihm  zu  einem  Wort.  Da- 
vor noch  unsichere  Buchstabenreste.  Wahrscheinlich  folgten  die  Stichen  auf  einander  ohne 
Zwischenraum.  Vom  zweiten  n  ist  der  Oberstrich,  die  rechte  Stütze  und  vielleicht  der 
linke  Fuss  erhalten.  Von  dem  '£  hinter  p  ist  nur  die  obere  linke  Spitze  erhalten.  Zur 
Noth  wäre  auch  N  denkbar.  Von  dem  folgenden  n  ist  auch  nur  die  obere  linke  Spi^e 
erhalten.  Doch  erscheint  hier  73  als  ausgeschlossen.  —  Das  :m,  das  Cowley-Neult-mer  wi 
?V\3D]  ergänzen,  ist  so  gross  geschrieben,  dass  es  noch  zum  Text  gehören  könnte.  Aber 
der  Ring  über  der  Zeile  spricht  dagegen.  2 

5    * 


3i  >  RUDOLF   SMEND, 

XLII.  lb  Hinter  tt¥3>  ist  ein  Loch,  das  den  Raum  von  etwa  zwei  Buchstaben  ein- 
nimmt. An  seinem  oberen  Rande  findet  sich  links  eine  Horizontale,  wie  von  n,  unten 
in  der  Mitte  eine  Spitze  wie  von  i ,  die  aber  auch  einem  ö  gehören  könnte.  Hinter  dem 
Loche  ist  für  ein   1    kaum    noch   Platz.      Aber    einen  Schatten  von  n  meine  ich  zu  sehen. 

—  3a  Hinter  ]131B?1  steht  für  sich  allein  ein  durchgestrichenes  n.    Ueber  "pi&n  steht  mtn. 

—  5a  Der  letzte  Buchstabe  in  *vü727a  kann  des  Raumes  wegen  kein  i  sein.  —  8b  Unter 
bö*!3l  steht  im  Text  betnzn.  —  9C  Hinter  *nan  steht  für  sich  allein  ein  durchstrichenes  i 
oder  dgl.  —  10b  Am  Schluss  wäre  vor  n  statt  ra  auch  UJ  oder  o  möglich,  nur  die  linke 
untere  Ecke  des  Buchstabens  ist  erhalten.  —  10c  Die  Randlesart  ist  nicht  mehr  zu  ent- 
ziffern. —  10d  Von  X  nur  der  Fuss  erhalten.  Ich  habe  s  der  Randlesart  wegen  ange- 
nommen. Uebrigens  scheint  vor  12  der  Fuss  von  y  erhalten  zu  sein.  —  lla  Hierher  ge- 
hört die  Variante  ntriD  'n  ,  die  des  Raumes  wegen  nicht  neben  ihrer  Zeile  steht.  — ■ 
llb  Der  Anfangspunct  des  Stichus  ist  nicht  zu  bestimmen.  —  21c  Auf  b  folgte  ein  d  oder 
72  (die  untere  rechte  Ecke  scheint  erhalten  zu  sein).  Von  p  ist  nur  der  untere  Schaft  er- 
halten, der  aber  wegen  seiner  Gestalt  wohl  nur  einem  p  gehören  kann.  Vorher  an  zweiter 
(dritter)  Stelle  vielleicht  die  linke  untere  Spitze  eines  N.  Dann  folgt  eine  untere  Horizon- 
tale, die  wohl  einem  a  gehören  könnte.  Aber  zwischen  ihm  und  dem  p  stand  wohl  noch 
ein  *  oder  \  Hinter  p  die  Fussspitze  eines  *i  oder  n  oder  dgl.  (aber  nicht  l).  —  24b  In 
■Vfit'irtfJ  ist  n  kaum  zweifelhaft. 

XLIII.  la  Der  Stichus  ist  fast  ganz  zerstört.  Der  Anfang  ist  vielleicht  erhalten, 
aber  unlesbar,  weil  42,  11  darauf  abgekleckst  ist.  —  lb  In  rPSiib  ist  von  b  nur  die  un- 
tere Spitze  erhalten  (vgl.  Syr.  j)»,„V)\  in  43,  2a,  eher  =  43,  la  Gr.).  — 7b  Tt  und  d  sind  so 
gut  wie  sicher,  inmuira  gehört  zu  7b.  —  8d  Das  y  in  y"}3>73  ist  etwas  zweifelhaft,  viel- 
leicht könnte  man  auch  e  annehmen.  —  Hinter  14b  ist  von  f  nur  die  untere  Spitze  er- 
halten. —  16a  Von  N  ist  nur  der  linke  Fuss  erhalten,  dann  folgt  i  oder  i  oder  !-j.  Vor 
N  ist  ein  grosses  Loch.  —  21a  Ueber  mro  steht  CD"n:i.  —  30  Von  a  ist  die  untere 
Spitze  erhalten. 

XLIV.  2a  Der  Ring  steht  mehr  über  der  rechten  Spitze  des  y,  als  über  der  Lücke, 
soll  aber  doch  wohl  die  Einschaltung  von  tanb  bedeuten.  —  13b  Von  b  ist  nur  die  untere 
Spitze  da,  diese  aber  unverkennbar.  —  15a  (Rand).  Das  a  in  JiaiDn  ist  deutlich,  die 
Füsse  des  ti  sind  wunderlich  geschwungen.  Aber  für  y?a^n  (Cowley-Neubauer)  reicht  schon 
der  Raum  nicht.  —  16  a  in  npbai  fast  ganz  erhalten.  —  19b  Der  Ring  steht  zwischen 
den  beiden  Wörtern.  —  23e  Rand.     Wie  viel  hinter  dem  zweiten  b  noch  folgte,  ist  unklar. 

XLV.  2a  Vor  E3">nbN  stand  ein  Präfix.  Im  anderen  Fall  wäre  der  Ring,  der 
zwischen  beiden  Wörtern  stehen  muss,  viel  zu  weit  nach  vorn  gesetzt.  Wirklich  ist  die  obere 
Horizontale  von  D  erhalten.  —  3C  Die  Länge  des  Stichus  ist  nicht  zu  bestimmen.  —  8  In 
der  Randbemerkung  ist  Nn  über  der  Zeile  nachgetragen.  —  12b  Hinter  y»£  an  zweiter 
Stelle  die  Fussspitzen  eines  Buchstabens,  die  zur  Noth  einem  n  gehören  können.  Von  Ca 
ist  die  untere  Horizontale  und  die  linke  untere  Ecke  erhalten.  Obere  und  untere  Schweife 
sind  nicht  zu  erkennen.  —  12d  Von  "j  ist  der  untere  Schweif  und  vielleicht  die  obere 
Spitze  erhalten,  davor  obere  Spitzen  wie  von*  ■»*.  Hinter  •]  vielleicht  die  obere  Spitze  von 
l  und  sodann  eine  untere  Horizontale  und  darüber  vielleicht  die  Spitzen  von  72.  Dahinter 
sind  obere  oder  untere  Schweife    nicht    zu    erkennen.   —   13a  Von  aD  und  n    scheinen   die 


DAS    HEBRÄISCHE   FRAGMENT    DER   WEISHEIT   DES   JESUS    SIRACH.  31 

oberen  Spitzen  erhalten  zu  sein.  Dahinter  ist  nur  für  ")  (nicht  ts)  Raum.  Am  Schluss 
ist  von  ■)  nur  die  untere  Spitze  erhalten.  —  13b  Hinter  dem  ersten  b  eine  obere  Hori- 
zontale, die  einem  Ca  gehören  kann.  Vorher  sind  obere  Spitzen  wie  von  "\y  sichtbar. 
Weiter  rückwärts  ist  anscheinend  von  einem  zweiten  3>  die  rechte  obere  Spitze  erhalten. 
Von  D  ist  die  untere  Horizontale  nicht  ganz  klar.  —  Vor  -it  scheint  sich  die  untere  Spitze 
eines  b  mit  einer  Horizontale  zu  schneiden.  Der  obere  Schweif  des  b  ist  nicht  zu  erkennen, 
die  betr.  Stelle  ist  völlig  schwarz.  Vorher  ist  übrigens  iüaV  unmöglich.  —  13°  Oberstrich 
und  Spitze  von  tn  sind  nicht  deutlich.  ]i  sieht  genau  so  aus  wie  48,  23b.  Dann  folgen 
wahrscheinlich  zwei  untere  Horizontalen  und  dann  die  Fussspitze  eines  b  oder  t  oder  -i 
oder  i  oder  n.  An  erster  Stelle  wären  y  oder  ic  oder  auch  b  oder  *  mit  noch  einem 
Buchstaben  denkbar.  Der  obere  Rand  der  Zeile  ist  hier  zerstört.  —  20c  Von  n  ist  nur 
die  rechte  Hälfte  erhalten,  ein  n  ist  mir  aber  wahrscheinlicher  als  ein  "y  —  20d  Vor 
ipbn  eine  obere  Horizontale,  die  einem  n  oder  Q  gehören  könnte.  Vorher  Spuren,  nach 
denen  naiya  nicht  unwahrscheinlich  ist.  Am  Anfang  der  Zeile  Spuren ,  die  (:2n)b  nicht 
ausschlössen.  —  22c  Wahrscheinlich  hatte  der  Stichu3  die  angegebene  Länge.  Ausser  den 
beiden  b  keine  oberen  Schweife.  —  22d  Vor  btf^tü"»'  Spuren,  die  ma  (Syr.)  zulassen.  Der 
Anfangspunct  des  Stichus  ist  nicht  zu  bestimmen.  Keine  oberen  Schweife.  —  23b  An 
zweiter  Stelle  hinter  bn:  eine  horizontale  Grundlinie  und  weiter  vielleicht  eine  Fussspitze 
wie  von  *j.  —  25cd  Statt  n  könnte  man  v'-.lleicht  auch  D  annehmen  und  sogar  zweifeln, 
ob  dort  überhaupt  etwas  stand.  Aber  der  Abstand  zwischen  ma5  und  nbm  wäre  unver- 
hältnissmässig  gross  und  auf  dem  ganzen  Zwischenraum  finden  sich  Tintenspuren  (sofort 
hinter  i  anscheinend  der  Rest  einer  Verticalen) ,  die  von  der  gegenüberstehenden  Columne 
nicht  abgekleckst  sein  können.  —  Uebrigens  steht  über  dem  ti  von  "pi-tN  (unter  dem  i 
von  mim)  ein  n,  vor  dem  noch  eine  untere  Horizontale  zu  erkennen  ist. 

XL  VI.  4b  Vor  «D  ein  Loch ,  das  in  seinen  Umrissen  der  unteren  Hälfte  eines  b 
entspricht.  Aber  darüber  ist  der  Schweif  nicht  zu  erkennen.  Am  Schluss  eine  Verticale 
und  eine  obere  Horizontale,  die  einem  &  (a"^"'),  aber  auch  einem  n  (rrn)  gehören 
können.  —  5b  Unter  n  noch  ein  zweiter  Horizontalstrich,  der  ebenfalls  einem  n  gehören 
wird  (vgl.  v.  16b).  —  5d  Von  U)  ist  nur  die  linke  untere  Ecke  erhalten.  Für  ;z?N  "»bm 
(Cowley-Neubauer),  das  mit  Jos.  10,  11  nicht  stimmen  würde,  ist  auch  der  Raum  zwischen 
b  und  v  reichlich  gross.  —  13e  Vor  b&*  scheinbar  noch  Spuren  von  13.  —  16L  An 
zweiter  bis  vierter  Stelle  vor  b  sind  die  oberen  Ränder  von  Buchstaben  erhalten,  die  stark 
an  eon  in  HEOND  v.  5   erinnern.     Davor  vielleicht  noch  der  Schatten  von  D. 

XLVH.  8d  Vor  i  ein  Buchstabe  mit  horizontaler  Grundlinie  darüber  vielleicht  die 
Spitzen  von  iü.  —  9b  Auf  Vipi  folgt  die  Fussspitze  eines  l  und  dann  die  Grundlinie  und 
die  untere  Ecke  eines  73.  —  10ab  Wie  viel  hinter  b  und  vor  n:iö  stand,  ist  nicht  zu 
bestimmen.  —  10c  Die  Stelle  von  E3  1°  nimmt  ein  Loch  ein,  das  seinen  Umrissen  ent- 
spricht. —  10d  In  "jtv  ist  das  1  sicher,  die  obere  Spitze  passt  zu  3  nicht.  —  Ueber  oetön 
steht  im  Text  iznpE.  —  15a  Zwischen  3  und  "j  keine  Buchstaben  mit  oberen  oder  unteren 
•Schweifen.  —  15b  Für  ü,  dessen  Raum  grossenteils  ein  Loch  einnimmt,  könnte  man  auch 
0  (Cowley-Neubauer  ergänzen  es)  lesen  wollen.  Ich  erkenne  aber  auf  der  Photographie 
rechts  oben  den  Bogen  des  u.  Statt  3  wäre  auch  3  möglich.  —  22d  Wahrscheinlich  stand 
vor  varn»    noch    ein   kurzes  Wort.  —   23*  In  »ST»  ist  73  kaum  zweifelhaft.     Von  y  ist 


•32  RUDOLF   SM  END, 

der  linke  Arm  nicht  klar,  aber  der  rechte  und  die  Basis  sind  deutlich  und  schliessen  jeden 
anderen  Buchstaben  aus.  Vielleicht  ist  der  Buchstabe  aber  corrigirt.  —  23b  In  "p3ft  sind 
von  1373  die  Füsse  und  von  73  auch  die  untere  Spitze  erhalten. 

XLVIII.  3b  Von  a  ist  der  untere  Schweif  und  die  (rechte)  untere  Ecke,  von  ö  die 
obere  und  untere  Horizontale,  von  n  die  obere  Horizontale  und  die  Ecke  und  von  i  die 
obere  Horizontale  erhalten.  —  lla  Auf  n73  folgt  ein  grosses  Loch.  Ob  da  noch  etwas 
stand,  ist  zweifelhaft.  Allerdings  ist  der  Abstand  der  beiden  Stichen  im  anderen  Fall 
unglcichmässig  gross.  —  llb  N  steht  unter  einem  Schmutzflecken.  Deutlich  sind  aber  der 
rechte  obere  Arm  und  die  Enden  der  Diagonale.  Von  izj  ist  das  erste  Drittel  erhalten. 
Dann  folgt  ein  Loch,  das  sich  bis  zu  m  erstreckt.  Erhalten  ist  der  Schweif  eines  Final- 
buchstabens, der  eher  einem  ^  oder  v\  als  einem  "]  oder  y  gehört.  Davor  die  Spur  einer 
nach  vorn  geneigten  unteren  Horizontale  (wie  von  tu  oder  n).  Weiter  rückwärts  sind  die 
Grundlinien  zweier  Buchstaben,  die  sehr  wohl  e>3  sein  können,  durcheinandergezogen.  Davor 
bleibt  Kaum  für  **i  oder  wenigstens  für  1.  —  12a  Am  Schluss  die  linke  untere  Spitze  eines 
D  (oder  ta  oder  ©) ,  weiter  links  der  linke  Fuss  eines  n  mit  nachfolgendem  *i  (oder  i 
oder  i).  —  12b  Wie  viel  vor  b  fehlt,  ist  nicht  zu  bestimmen.  —  20c  Von  a  ist  nur  die 
untere  linke  Spitze  erhalten.     Denkbar  wäre  auch  n.  —  22cd  23   sind  ganz  zerstört. 

XLIX.  9a  In  |Hd2  sind  kv  3  nach  der  Photographie  sicher,  über  id  lässt  die  Hs. 
kaum  einen  Zweifel.  —  10d  Der  letzte  Buchstabe  könnte  auch  n,  i,  n  oder  73  sein.  Die 
Länge  des  Stichus  ist  nicht  zu  bestimmen.  —   12  ist  ganz  zerstört. 


Während  des  Druckes  ging  mir  das  Juli-Heft  der  Jewish  Quarterly  Review 
zu,  in  dem  A.  Co  wley  und  A.  Neubauer  zu  den  von  mir  in  der  Theologischen 
Literaturzeitung  (a.  a.  0.)  veröffentlichten  Lesungen  Stellung  genommen  haben 
(S.  563 — 67).  Unsere  Differenz  ist  z.  Th.  eine  prinzipielle.  Die  Oxforder  Blätter 
mussten  behufs  sicherer  Lesung  gereinigt *)  und  wegen  der  Brüchigkeit  des  Pa- 
piers mit  transparentem  Papier  überklebt  werden.  Vorsichtshalber  hat  man 
aber  die  Blätter  vorher  photographirt  und  von  den  Platten  sind  die  Kohledrucke 
genommen,  die  ich  neben  meiner  in  Oxford  angefertigten  Collation  benutzt  habe. 
Die  Herausgeber  sind  nun  der  Meinung,  dass  die  von  mir  auf  den  Kohledrucken 
gelesenen  Buchstaben  und  Wörter  nicht  für  sicher  gelten  könnten,  wenn  sich 
Spuren  von  ihnen  nicht  auch  in  der  Handschrift  selbst  nachweisen  Hessen,  was 
sie  betreffs  mancher  meiner  Lesungen  bestreiten.     Ich  bin  nun  vorläufig  nicht  in 


1)  d.h.  gebürstet.      Ich  war  ungenau  berichtet,    wenn    ich   in   der  Theologischen  Literatur« 
zeitupx  (a.  a.  0.)  von  Waschung  der  Blätter  redete. 
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DAS    HEBRÄISCHE    FRAGMENT    DER    WEISHEIT    DES    JESUS    SIRACH.  33 

der  Lage,  die  Kohledrucke,  die  mir  nach  Deutschland  nachgesandt  wurden,  selbst 
mit  der  Handschrift  zu  vergleichen.  Indessen  sind  photographische  Platten  für 
gewisse  Farbentöne  weit  empfindlicher  als  das  menschliche  Auge.  Sodann  kann 
die  Handschrift,  nachdem  sie  überklebt  ist,  unmöglich  in  demselben  Maasse  die 
Buchstaben  erkennen  lassen  wie  vorher.  Uebrigens  kommt  alles  auf  den  Grad 
von  Deutlichkeit  an,  in  dem  die  Photographie  einen  Buchstaben  erkennen  lässt, 
ob  sie  an  der  betreffenden  Stelle  lediglich  Schwärze  oder  auch  die  Spuren  des 
Federzuges  aufweist.  Eben  das  letztere  muss  ich  bezüglich  der  von  mir  nur  auf 
der  Photographie  gelesenen,  aber  als  sicher  bezeichneten  Buchstaben  behaupten. 
So  ist  z.  B.  das  K  in  "TOWB  42,  24b,  von  dem  die  Herausgeber  in  der  Handschrift 
keine  Spur  entdecken  können,  auf  dem  Kohledruck  mit  zweifelloser  Sicherheit 
zu  erkennen.  Ich  hebe  das  hervor,  weil  die  vorstehende  Ausgabe  noch  manche 
Lesung  aufweist,  die  ich  nur  aus  den  Photographien  gewonnen  habe. 

Die  von  den  Herausgebern  bestrittenen  oder  bezweifelten  Lesungen  habe 
ich  noch  einmal  mit  den  Photographien  verglichen.  Von  meinem  Zweifel  an 
iStD  40,  19c  und  Pjn"h[3fc"|b  45,  13a  war  ich  inzwischen  selbst  zurückgekommen,  über 
das  Versehen  zu  45,  20a  bitte  ich  oben  S.  7  Anm.  1  zu  vergleichen,  übrigens  halte 
ich  an  meinen  Lesungen  fest  und  verweise  dafür  im  Allgemeinen  auf  die  vor- 
stehenden Anmerkungen.  Im  Einzelnen  bemerke  ich  noch  Folgendes.  40,  22*. 
Vorn  ist  ■»  deutlich  auf  der  Photographie.  Vor  YTW  sind  zwei  untere  Horizon- 
talen und  über  der  ersten  auch  eine  obere  erhalten,  die  D^FD]  gestatten.  —  41,  2b 
D^ütf.  Der  Fuss  des  ersten  3  ist  deutlich  auf  der  Photographie.  —  41,  6b.  Am 
Anfang  ist  T  unmöglich,  weil  der  Kopf  des  Buchstabens  nach  links  geneigt  ist; 
vgl.  oben  S.  4  Anm.  (Aus  demselben  Grunde  kann  49,  7b  in  nitDnb  kein  T  statt  ■» 
angenommen  werden).  —  41,  19d  Rand  Wüö.  Von  der  inneren  Spitze  des  "ü  ist 
die  Tinte  abgesprungen,  aber  die  Spur  der  Feder  ist  zu  erkennen.  Zwischen  den 
Armen  von  2  reicht  ein  Riss  im  Papier  vertical  durch  den  ganzen  Buchstaben, 
mir  erscheint  aber  9  als  sehr  wahrscheinlich.  In  Betracht  käme  höchstens  noch  ü, 
aber  der  Fuss  des  Buchstabens  spricht  dagegen.  —  41,  21a.  In  2WH12  ist  n  sicher 
und  n  unmöglich  (vgl.  über  die  Gestalt  des  H  oben  S.  4  Anm.).  —  42,  9b  IC  ?*ntn 
(fol.  2  v.).  Hier  sollen  nach  Meinung  der  Herausgeber  W  V  auf  der  Photographie 
durchscheinen  von  Ü2  41,  4d  (fol.  1  v.).  Aber  die  Blätter  sind  einzeln  photo- 
graphirt  und  ?  ist  auf  der  Photographie  vollkommen  deutlich.  Der  rechte  Arm 
ist  auch  in  der  Handschrift  noch  erhalten,  das  Weitere  stand  auf  einem  Fetzen, 
der  beim  Reinigen  der  Hs.  verloren  gegangen  ist.  Gr.  hat  hier  wie  47,  23  für 
ynsn  ayiörruLi,  was  ich  übrigens  erst  nachträglich  bemerkt  habe.  —  42,  1 0b.  Die 
bei  meiner  Ergänzung  entstehende  grammatische  Construction  entspricht  dem  von 
mir  angenommenen  und  vom  Zusammenhang  geforderten  Sinn.  —  42.  10c  Rand 
Z.  2.  In  nsrn  ist  1  m.  E.  zweifellos  und  p  dafür  unmöglich.  —  Ebenda  Z.  3. 
Statt  tt  kann  kein  abgekürztes  tt?  angenommen  werden,  weil  die  beiden  Vertical- 
striche  oben,  aber  nicht  unten  verbunden  sind.  —  43,  7b  HEI?  pBin.  Am  i  1°  ist 
oben  links  der  Haken  deutlich.  Sodann  stehen  die  beiden  ersten  Verticalen 
erheblich  weiter  von  einander  ab,  als  die  dritte  von  der  zweiten.     Da  schliesslich 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.  N.  F.    Band  2,  2.  5  2 


31  RUDOLF   SMEND,     DAS    HEBRÄISCHE   FRAGMENT    DER    WEISHEIT    DES   JESUS    SIRACH. 

der  Oberstrich  von  der  ersten  bis  zur  aritten  Verticale  reicht  und  von  der 
mittleren  nicht  berührt  wird,  so  kann  nur  fDin  gelesen  werden.  Ferner  ist  3? 
das  auch  die  Herausgeber  früher  (jetzt  HD1©)  annahmen,  dadurch  gesichert,  dass 
der  zweite  Arm  des  Buchstabens  senkrecht  steht,  was  bei  dem  mittleren  Arm 
von  W  nie  der  Fall  ist.  Weiterhin  ist  2  unmöglich,  weil  die  rechte  (untere)  Ecke 
des  2  nie  eine  solche  Rundung  hat.  Der  mittlere  Horizontalstrich  des  t>  scheint 
mir  deutlich  vorzuliegen.  —  43,  23a  piTD?\  Der  rechte  Arm  und  der  Fuss  von  2 
sind  deutlich,  der  (linke)  Fuss  eines  fi,  den  die  Herausgeber  darin  sehen,  ist 
ganz  anders  gestaltet.  Uebrigens  scheint  mir  auch  der  linke  Arm  des  2  unbe- 
streitbar zu  sein.  —  45,  13b  Der  Raum  reicht  für  Dbn?  12,  48,  25  nehmen  dieselben, 
dort  ziemlich  weit  geschriebenen,  Worte  einen  nur  um  1  mm  grösseren  Raum  ein. 

An  einzelnen  Stellen  habe  ich  in  den  textkritischen  Anmerkungen  auf  die 
in  demselben  Heft  der  Jewish  Quarterly  Review  enthaltene  Abhandlung  von 
W.  Bacher  (S.  543  ff.)  verwiesen.  Mit  Recht  ist  dort  übrigens  für  39,  17d 
rrTOflÄ  (Gr.  <x7todo%slcc  vddzav)  statt  *nn»  gefordert. 

Schliesslich  bitte  ich  S.  5  Z.  21  hinter  40,9.  10  nachzutragen  „41,  17b(Rand)u 
und  Z.  24  hinter  42,  3a  nachzutragen  „und  42,  18a". 


Göttingen,   Druck  der  Univ.-Buchdruckerei  von  W.  Fr.  Kästner. 

2 


Bei  der  Correctur ,  die  ohne  mein  Verschulden  überstürzt   werden   musste, 
habe  ich  folgende  Druckfehler  übersehen. 

39, 16b  Ran(j  ües  fv-tt 

41,  5»  lies  OKED 
41,19b  Rand  lies  41,  19* 

42,  17c  lies  "p^H 
48, 12d  lies  cnäTDI. 

»Sodann  sind  im  Reindruck  eine  Reihe  von  Buchstaben    und  Zeichen  wenig- 
stens in  vielen  Exemplaren  gar  nicht  oder  schlecht  gekommen. 

40, 14b  Rand  lies  p 

43,  30cd  Rand  lies  TOtmä 
ebenda        lies  Itfbn  btfl 

44,  7b  Rand  lies  om^m 
44, 15b  Rand  lies  onbnm 
44,  23b  Rand  lies  lrttD*l 


45,  13* 


lies  p 


Schlecht  gekommen  ist 


40,  28b 

in  ntta 

46,  6b     in  SR 

42,6» 

in  nnin 

46,  I5a  in  wrri 

43,  20a 

in  mi 

47,  10c  in  Wip 

44,  14b 

in  im 

47,  i9b  in  DVnmam 

44,  19a 

in  pm 

47,  22b  in  «bl 

44,  19b 

in  rnaoa 

47,  23b  in  IW 

44,  20c 

in  rraaa 

48,  ub  in  imaai 

44,  22b 

in  l^n« 

48, 15c  in  iriD2 

45,  lb 

in  TOT 

48,  18c  in  OT 

45,  19b 

in  DbD^I 

49,  7a     in  Itrop 

45,  26cd 

in  DDiTH  und  rrrvttb 

49,  7b    in  «inab. 

Die  Abkürzungspuncte  oder 
sind   öfter   nicht   gekommen.      So 


•striche,  die  in  den  Randlesarten  stets  stehen, 
z.  B.  42,  6  Rand   über   P  und  "I  und  ti  und  1. 
Ein  Punct  steht  aber  auch  41,  21a  Rand  (rechts)  über  dem  fi  in  PWn. 

Nicht  gekommen  sind  öfter  auch  die  Striche  über  den  Buchstaben,   die  die 
Unsicherheit  der  Lesung  anzeigen. 

39,  2ib  in  nnnu  44,  I6a  in  aröD 

40,  7a     in  f^p  45,  12d  in  W\ 


45,  25< 


m 


41,  21»  Rand  (links)  in  STOn 

42,  iob  in  rraai 

In  der  Zeile  hinter  43,  14  in  ) 
44,  llb  in  [i3]5b 
Im  Uebrigen  entspricht  der  Druck  meinen  Lesungen 


46,  16»  in  n  Dan 

47,  23d  in  D*. 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH  -  HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE  BAND  2.  Nro.  3. 


Die 


LEX  MANCIANA, 


eine  afrikanische  Domänenordnung. 


Von 


Adolf  Schulten. 


Berlin. 

Weidmannsche    Buchhandlung. 
1897. 


Die  lex  Manciana,  eine  afrikanische  Domänenordnung. 

Von 

Adolf  Schulten. 


Vorgelegt  von  F.  Leo  in  der  Sitzung  vom  17.  Juli  1897. 

Dem  regen  archäologischen  Interesse  der  französischen  Offiziere ,  die  mit 
der  topographischen  Aufnahme  der  Regentschaft  Tunis  beschäftigt  sind,  verdanken 
wir  eine  neue  Inschrift  aus  dem  Bereich  der  „saltus",  der  kaiserlichen  Do- 
mänen am  Bagradasflusse  (Medjerda).  Herr  Lieutnant  Poullain  fand  auf  einer 
topographischen  Streife  in  Henchir  Mettich  ca.  10  Kilometer  nordwestlich  von 
Testur  !)  einen  grossen  auf  den  vier  Seiten  mit  Inschriften  bedeckten  Kalkstein- 
block. Um  den  Fund  zu  sichern,  vergrub  er  ihn  so  gut  es  ging  und  erstattete 
Anzeige.  Daraufhin  wurde  der  800  Kilo  wiegende  Stein  „ä  bras  d'homme"  auf 
die  Strasse,  die  Testur  mit  der  nächsten  Station  Medjez-el-Bab  verbindet,  und 
auf  ihr  zu  Wagen  weiter  nach  Medjez  gebracht,  um  von  da  mit  der  Bahn  nach 
Tunis  zu  gelangen.  Dort  hat  er  in  dem  prächtigen  Bardomuseum  —  einem  ehe- 
maligen Palais  des  Bey  —  neben  der  in  Ai'n  Wassel  gefundenen  „ara  legis 
Hadrianae"  (vgl.  meinen  Commentar  im  Hermes  1894  p.  204  f.)  einen  Ehren- 
platz erhalten.  Ueber  den  wichfigen  Fund  berichtete  R.  Cagnat  im  März  der 
Academie  des Inscriptions.  Der  Freundschaft  Herrn  Paul  Graucklers,  des  „di- 
recteur  au  Service  des  Antiquit^s  de  la  Tunisie",  verdanke  ich  die  Zusendung 
eines  Abklatsches  und  einer  ausgezeichneten  Photographie  der  vier  Inschrift- 
seiten des  Steins. 

Der  Stein  ist  ein  harter  Kalkstein  von  gelblicher  Farbe,  der  ein  vortreff- 
liches Baumaterial  abgiebt,  aber  zur  Anbringung  einer  Inschrift  sich  schlecht 
eignet,  weil  er  zu  kristallinisch  ist  und  an  der  Oberfläche  leicht  abblättert.  Dem- 
entsprechend sind  alle  vier  Seiten  mehr  oder  weniger  lädirt,  am  meisten  die  vierte. 
Oben  und  unten  erbreitert  sich  der  Steinkörper  in  der  üblichen  Weise  zu  einem 
Pyramiden  stumpfe ;  der  untere  ruht  noch  auf  einer  rechteckigen  Basis.  Während 
auf  der  Basis  nur  unterhalb  der  ersten  Fläche  eine  Inschrift  und  zwar  ein  Vermerk 


1)  Testur  (frz.  Testour)    das  römische  Tichilla  (s.  C.  VIII  Suppl.  I.  p.  1449,    Tissot,  Geogr. 
comp,  de  l'Afr.  rom.  II.  334)  liegt  etwas  östlich  der  Einmündung  des  Wed  Siliana  in  den  Medjerda. 

1* 


4  ADOLF    SCHULTEN, 

über  die  Niederschrift  der  „lex"  angebracht  ist,  beginnt  auf  der  vierten  Seitenfläche 
die  Schrift  schon  auf  dem  Aufsatz,  offenbar  weil  der  Raum  sonst  nicht  gereicht 
hätte.  Eine  der  oberen  Ecken  des  Steins  ist  abgebrochen,  wodurch  der  obere 
Teil  der  vierten  Seite  beschädigt  ist.  Obwohl  auch  die  dritte  Seite  durch  diesen 
Schaden  verstümmelt  ist,  hat  doch  ihre  Inschrift  keinen  Schaden  genommen,  weil 
sie  erst  unterhalb  der  abgebrochenen  Kante  beginnt.  Daraus  folgt,  dass  die 
Ecke  schon  vor  Anbringung  der  Inschrift  abgebrochen  gewesen  sein  muss,  wel- 
chem Schaden  man  aber  nur  auf  der  dritten  Seite  Rechnung  trug,  während  man 
auf  der  vierten  die  Inschrift  auf  der  wiederaufgesetzten  Kante  beginnen  liess, 
um  Raum  zu  sparen.  Die  Schriftcolumne  ist  auf  der  ersten  Seite  7t,  auf  der 
zweiten  70.  auf  der  dritten  61  und  auf  der  vierten  Seite  77  cm.  hoch1).  Die 
Breite  der  Columnen  beträgt  bei  der  ersten  Seite  49 ,  bei  der  zweiten  45 ,  bei 
der  dritten  47  und  bei  der  vierten  45  cm. 

Der  Ort,  an  dem  der  Stein  gefunden  worden  ist,  heisst  bei  den  Arabern 
Henchir  Mettich.  Die  Gegend  des  Fundorts  ist  ödes  Hügelland,  nur  hier  und  da 
stehen  einige  wilde  Oliven,  der  verkümmerte  Rest  der  in  der  Inschrift  genannten 
Olivenwälder.  Hr.  Mettich  liegt  in  nächster  Nähe  von  Ai'n  Wassel,  dem  Fundort 
der  ara  legis  Hadrianae.  Wir  haben  durch  die  neue  Inschrift  einen  Ansatz  für 
die  östliche  Ausdehnung  des  grossen  Domanialgebietes  am  Bagradas  gewonnen. 
Der  westlichste  Punkt  ist  bisher  der  Fundort  der  Inschrift  des  saltus  Massi- 
pianus  (C.  VIII,  14603^  bei  Schemtu  (Simittu).  Schemtu  ist  in  gerader  Linie 
c.  80  Kil.  von  Testur  entfernt.  Der  nördlichste  Punkt  ist  der  Fundort  des 
Grenzsteins  -C.  VIII,  10567  bei  Vaga  (s.  über  diese  Inschriften  meinen  oben- 
genannten Aufsatz  über  die  ara  legis  Hadrianae  p.  204  f.).  Die  kaiserliche  Do- 
mäne umfasste  offenbar  das  ganze  Gebiet  des  Medjerda  bis  hinauf  zu  der  Hohe 
der  Berge,  die  das  Thal  begrenzen,  d.  h.  im  Norden  bis  Vaga,  im  Süden  bis 
zu  dem  Plateau,  auf  dessen  Nordostrand  Thubursicum,  und  auf  dessen  Südwest- 
rand Sicca  Veneria  (El  Kef)  liegt.  Man  wird  die  bisher  bekannte  Ausdehnung 
dieses  Domänengebiets  annähernd  darstellen  können,  indem  man  als  seine  Länge 
die  Entfernung  von  Schemtu  bis  Testur  =  c.  80  Kil.  und  als  seine  Breite  die 
von  Bt'ja  (Vaga)  bis  Thebursuk  (Thubursicum)  =  c.  50  Kil.  annimmt2). 


1)  Da  ich  keine  Angaben  nach  dem  Original  zur  Verfügung  habe,  gebe  ich  die  obigen 
Maasse  nach  dem  Abklatsch;    sie  sind  also  nur  annähernd  genau. 

2)  Das  bedeutet  eine  Fläche  von  4000 D  Kil.  oder  c.  72  D  Meilen,  wenn  es  erlaubt  ist  die 
bezeichnete  Flacht!  als  Rechteck  aufzufassen.  Den  Umfang  dieser  Domäne  wird  am  Besten  ein 
moderner  Vergleich  klar  legen.  Das  Staatsgut  des  preussischen  Staates  umfasst  c.  1,5  Mill. 
Morgen  Domänen  und  ca.  8  Millionen  Morgen  Forsten,  also  zusammen  c.  9,5  Mill.  Morgen;  das 
Gut  der  Krone  und  kgl.  Familie  nur  c.  l/s  Million  Morgen.  Der  ganze  in  königlicher  Ver- 
waltung befindliche  Domänenbestand  beträgt  also  c.  10  Millionen  Morgen.  (Ich  entnehme  die 
Zahlen  dein  Werke  von  A.  Meitzen,  d.  Boden  u.  d.  landwirtschaftl.  Verhältnisse  d.  preuss, 
Staats,  I.  Band  (1868)  p.  521  und  522).  4000  D  Kil.  sind  1600000  Morgen.  Allein  die  Domäne 
des  ßagradasthales  beträgt  also  ein  Fünftel  des  gesammten  Domänenbestandes  des  preussi- 
schen Staates.  Ich  brauche  kaum  zu  sagen ,  dass  diese  Zahlen  nnr  eine  ungefähre  Schätzung 
geben  sollen.     Trotz  seiner  Ausdehnung  ist  dieses  Domanialgebiet  des  Sahel    —  so  nennt  man  das 


DIE    LEX    MAXCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE   DOMANENORDNUNG.  O 

Die  Domäne,  auf  die  sich  die  vorliegende  Urkunde  bezieht,  die  „Villa  Magna 
sive  Mappaliesiga"  muss  an  die  in  der  Inschrift  von  Ai'n  Wassel  genannten  sal- 
tus  (Thusdritanus,  Lamianus,  Domitianus,  Blandianus,  Udensis)  angegrenzt  haben, 
da  Ai'n  Wassel  und  Henchir  Mettich  nahe  beieinander  liegen.  Wir  kennen  bis- 
her folgende  saltus  des  grossen  Domänencomplexes  zwischen  Schemtu  und  Testur : 
saltus  Philomusianus  (Schemtu) ,  saltus  Burunitanus  (Suk-el-Khmis) ,  die  fünf 
saltus  der  ara  legis  Hadrianae  und  die  Villa  Magna  genannte  Domäne.  Unbe- 
kannt ist  der  Name  der  Domänen,  auf  die  sich  die  Inschriften  von  Gasr  Mezuar 
(Bittschrift  der  Colonen),  Ai'n  Zaga  und  der  Grenzstein  von  Vaga  beziehen 
(s.  Abdruck  bei  mir  a.  a.  0.).  Für  eine  Specialkarte  dieses  Domänencomplexes 
würde  man  den  französischen  Gelehrten  zu  Danke  verpflichtet  sein. 

Die  Inschrift  ist  geschrieben  in  Capitalschrift  mit  cursiven  Elementen.  Cur- 
siv  sind  die  Buchstaben  A,  B,  D,  G,  M,  Q,  R,  S.  Die  Aehnlichkeit  der  Buch- 
staben A  mit  R,  und  I,  L,  E,  F  mit  S,  die  Nachlässigkeit  der  Schrift,  die 
vielen  Fehler  und  die  zahlreichen  Beschädigungen  machen  die  Lesung  der  In- 
schrift zu  einer  ziemlichen  Geduldsprobe.  Mit  Hülfe  der  ausgezeichneten  Photo- 
graphie —  der  Abklatsch  versagte  an  schwierigen  Stellen  — ist  es  mir  gelungen 
fast  ebenso  viel  zu  lesen,  wie  die  Herren  Cagnat,  Toutain  und  Gau  ekler 
vor  dem  Stein  selbst  gelesen  haben;  an  einigen  Stellen  glaube  ich  sogar  über 
die  Lesungen  Cagnats1)  hinausgehen  zu  können.  In  der  That  kommt  eine 
Photographie  wie  die  mir  vorliegende  dem  Original  sehr  nahe.  Ich  glaube  nicht, 
dass  eine  Nachvergleichung  des  Steins  viel  Neues  ergeben  wird. 

Ich  gebe  nun  den  Text  der  Inschrift  zuerst  in  grossen  Buchstaben  als 
Facsimile ,  dann  mit  den  Herstellungen  in  gewöhnlicher  Schrift.  Die  Punkte 
unter  den  Buchstaben  bedeuten,  dass  die  Lesung  unsicher  oder  der  Buchstabe 
schlecht  geschrieben  ist.  Die  Ziffern  in  den  Lücken  geben  in  etwa  die  Zahl  der 
zu  ergänzenden  Buchstaben  an. 

nördliche  Tunesien,  den  fruchtbaren  Teil  des  Landes  —  nur  der  zwölfte  Teil  des  gesammten  Do- 
mänenbestandes gewesen:  Plinius  (Nat.  Hist.  XVIII,  6  §  35)  sagt  an  der  berühmten  Stelle  über 
die  Latifundien  ..sex  domini  semissem  Africae  possidebant,  cum  interfecit  eos  Nero  prineeps"  also 
die  durch  Nero  confiscirten  Latifundien  nahmen  die  Hälfte  der  Africa  proconsularis  ein.  Nun  beträgt 
das  Areal  des  heutigen  Tunesien,  welches  man  mit  der  Africa  proconsularis  annähernd  identifiziren 
darf,  91600DKil.  (s.  Hübner,  Geogr.  stat.  Tabellen  1896  p.  19);  der  „semissis  Africae'  umfasste 
also  c.  50000 DKil.  d.  h.  12mal  mehr  als  das  Domänengebiet  am  Bagradas.  Ausser  diesen  saltus 
kennen  wir  bisher  in  der  Proconsularis  noch  die  Domänen  östlich  von  Tebessa :  den  saltus  B^- 
guensis,  Massipianus  und  den  des  Iunius  Faustinus  Postumiauus  (s.  meine  Schrift  „d.  röm. 
Grundherrschaften"  p.  32).  Wir  kennen  also,  wenn  auch  nach  Nero  viel  Domanialland  an  Städte 
vergeben  worden  ist,  nur  einen  kleinen  Teil  der  saltus  von  Africa  proconsularis. 

1)  Ich  habe  meine  Lesarten  noch  mit  der  Publikation  der  Inschrift  durch  Herrn  Cagnat 
(Comptes  rendus  de  l'Academie  d.  I.  Mars — Avril  1897  p.  146  f.)  veigleichen  können.  Die  franzö- 
sische Publikation  giebt  die  Inschrift  in  Facsimile  wieder  und  fügt  eine  von  H.  Toutain  verfasste 
Uebersetzung  bei.  In  letzter  Stunde  konnte  ich  noch  den  ausführlichen  Commentar  der  Inschrift 
von  H.  Toutain  in  den  „Memoires  presentes  par  divers  savants  ä  l'Academie  des  Inscr.  et  Beiles 
L.  lere  s£rje  tome  XI,  lere  partie  (55  pp.  mit  Lichtdrucktafeln  der  Inschrift)  einsehen.  Ich  habe 
die  wichtigsten  Differenzen  zwischen  H.  Toutain  und  mir  am   Schlüsse  erörtert.  3 

6 


ADOLF   SCHULTEN, 


1 1  [Pro  salu]TE 

2  a]VGN[imp]CAESTRAIANI 

2a  TOTIVSQV[e]DOMVSDIVINE 

3  op]TIMIGERMANICIPA[r]THICIDATAALICINIO 

4  ma]XIMOETFELICIOREAVGLIBPROCCÄDEXEMPLV[m 

5  leg]ISMANClANEQVIEORVM[i]NTRAFVNDOVILLAEMAG 

6  n]EVARIANIIDESTMAPPALIASIGALISEOSAGROSQVISV 

7 .  bc]ESI VAS VNTEXCOLEREPERMITTIT VRLEGExMANCIANA 

8  .  .  3  .  .]  ITAVTEASQVIEXCOLVERITVSVMPROPRIVMHABE 

9  AT         EXFRVCTIBVSQVIEOLOCONATIERVNTDOMINISAV[t 

1 0  COND  VCTORIB  VS  VILICIS  VEEI VSFP  ARTESELEGEMA 

1 1  NCIANAPRESTAREDEBEBVNTHACCOISIDICIONECOLONI 

12  FR  VCTVSC  VI  VSQVECVLTVREQVOTAD  ARE  ADEPORT  ARE 

13  e]TTEREREDEBEBVNTSVMMASDE[fer]ANTARBITRATV 

14  s]VOCONDVCTORIBVSVILICIS[veei]VSFETSICONDVCT[o 

15  r]ES  VILICIS  VEEI  VSFINASSEM[.  .  10  .  .]ICASDATVR 

16  ASRENVNTIAVERINTTABEL[lis 10 ]ESCAVEA 

17  NTEIVSFRVCTVSPARTESQV[. .  .  .  12  .  .  .  .]DEBENT 

18  CONDVCTORESVILICISVEEIVS[.  .  3  .  .]ONICOLONIC 

1 9  ASP  ARTESPREST  AREDEBE  A  NTQ  VI[i]NF  VILLAEMAG 
2  0  N  AESI VEM  APP  ALI  ASIG  A  VILL  ASHÄBENTH  ABEB  VNT 

2 1  DOMINICASEI  VSFAVTCOND  VCTÖRIBVS  VILICIS  V[e 

22  EORVMINASSEMPARTESFRVCTVMETVINEAMEX 

23  CONSVETVDINEMANCIANECVIVSQVEGENE 

24  RISHABETPRESTAREDEBEBVNTTRITICIEXA 
2  5  RE  AMP  ARTEMTERTI AMHORDEIEXARE  AM 

2Q  parte]MTERTIAMFABEEXAREAMPARTEMQV 

27  inta]MVINVDELACOPARTEMTERTIAMOL 

28  eico]ACTIPARTEMTERTIAMMELLISINALVE 

29  ism]ELLARISSEXTARIOSSINGVLOSQVISVPRA 

30  H]ECLEXSCRIPTAALVRIOVICTOREODILONISMAGISTROETFLAVIO 

GEM 

3 1  INIODEFENSOREFELICE  ANNOBALISBIRZILIS. 

3 


DIE   LEX    MANCIANA,   EINE   AFRIKANISCHE   DOMANENORDNUNG. 


Annotatio  critica. 

2a  totiusqu[e]  donius  divine  ist  über  Zeile  3  übergeschrieben  und  soll  hinter  Parthici  eingeschoben 
werden. 

6  IDEST.  Das  Iota  ist  sehr  unsicher;  doch  kann,  da  DEST  ziemlich  deutlich  ist,  kaum 
etwas  anderes  angenommen  werden.  Statt  SVJbcJESIVA  las  ich  in  INSILVA  aber  H.  Ca- 
gnat  schreibt  mir,  dass  SV|. .  ESIVA  sichere  Lesung  ist.  Die  Photographie  zeigt  den  Rest  des 
C  nicht.     Hinter  SV  ist  ein  freier  Raum,  BC  stand  aber  am  Anfang  der  folgenden  Zeile. 

8  vor  ITA  ist  der  Stein  beschädigt. 

9  vor  EXFRVCTIBVS  freier  Raum. 

12  QVOT.     Der  Buchstabe  ist  kaum  ein  S. 

13  DE[fer]ANT.    Cagnat  giebt  R[edd]ANT.   Mir  scheint  der  erste  Buchstabe  ein  D,  nicht  ein  R 
zu  sein. 

16    CAVEA.    So  auch  Cagnat.     Statt   des  ersten  A  ist  bei   der  grossen  Aehnlichkeit  der  beiden 
Buchstaben  vielleicht  ein  R  zu  lesen;  denn  die  unterscheidende  Haste  ist  gekrümmt:   \,  während 

die   des  letzten  Buchstaben  grade  ist:  -A.     Cagnat  liest  TABELLIS.    Ich   dachte  zuerst  an 

LABES  .  .  . 
16/17.    AS.     So  glaube  ich  zu  lesen.     Cagnat  lässt  die  Lesung  offen. 
20    VILLAS.     Das  S  ist  ziemlich  sicher,  ebenso  das  Schluss-A  in  Mappdliasiga. 
23     Manciane  ist  sicher. 
30    Statt  [hjECLEXSCRIPTA  las  ich  zuerst:    [el]EGEEXSCRIPTA  was  sachlich  —   s.  unten  — 

sehr  verführerisch  ist.    LVRO;   Cagnat:  LVRIO,  aber  das  i  fehlt. 
Toutain   hat   folgende  Abweichungen : 

Die    über  der  zweiten  Zeile  sichtbaren  Buchstaben  liest  T.:  TE   und  ergänzt  [ex  aucioritaf\te. 

Die  Lesung  ist  glücklich  aber  die  Ergänzung  verfehlt:   es  muss  natürlich  [pro  salujte  ergänzt 

werden,  wegen  des  folgenden  „domusque  divinae." 
Z.  2a]  divinae  statt,  wie  auf  dem  Stein  steht,  divine. 

5  [w]Z£ra   wäre  epigraphisch  möglich,  geht    aber  sachlich  nicht,  da  es  sich  überall  um  innerhalb 
(intra)  der  Villa  gelegene  Ländereien  handelt,    intra  steht  sicher:  III  17;  IV  23. 

6  T.    liest:  Mappaliasiga  eis  ...    Die  Lesung  ist  in  der  That  ebenso  gut  möglich  wie  Mappalia- 
sigalis. 

11  T.:  condecione. 

12  quota  dare  adpportare.  Aber  1)  ist  das  relativische  quot  notwendig  und  2)  wird  man  trotz 
aller  Fehler  der  Inschrift  nicht  unnötig  adpportare  annehmen  wo  quot  ad  area{m)  deportare 
gute  Lesung  ergiebt;    3)  ist  der  Buchstabe  vor  PORT  ARE  kein  P  sondern  ein  T. 

16    Für  datur  |  as  liest  T.  detur  \  et{?). 

30  Das  in  LVRO  fallende  Iota  soll  nach  T.  über  R  und  0  nachträglich   zugesetzt  sein. 

31  T.:  Gern  \  rao,  aber  vor  nio  steht  doch  wohl  noch  ein  Iota. 


ö  ADOLF   SCHULTEN, 

II  1     QVINQVEALVEOS 

2  HABEBITINTEMPOREQV[ovin 

3  DEMIAMELLARIAFACT[a  erit 

4  DOMINISAVTCONDVCTO[ribusvili 

5  CISVEEIVSFQVIINASSEM[. .  .  7  . .  . 

6  DDSIQVISALVEOSEXAMINAA[pesvasa 

7  MELLARIAEXFVILLAEMAGNESIVEM 

8  APPALIESIGEINOCTONARiVMAGRV[m 

0  TRANSTVLERITQVOFRAVSAVTDOMINISAV[t 

10  CONDVCTORIBVSVILICISVEEISQVAMFIATA  .. 

1 1  TISEXAMAAPESVASAMELLARIAMELQVIIN[. .  .  3 

1 2  ERVNTCOND  VCTORIBVS  .  .  .  ORVMVEINASSEML-  .  3  .  . 

13  FERVNTFICVSARIDEARBOR[es  .  .  .  q']VEEXTRAPOM[a 

14  RIOERVNTQVAPOMARIV[.  .  .  9  .  .  ,]VILLAMIPS[.  .  3  .' . 

15  CITVTNONAMPLIVSIV[.  .  .  15  .  .  .]ATCOL[on 

16  ISARBITRIOSVOCO[.  . '.  15  .  .  .]MCON[ducto 

17  RIVILICISVEEIVSFPAR[tes  .  .  [  10  .  .  .]FICETAVE[te 

18  RAETOLIVETAQVEANTEHACf.  .  .  3]MFDI[.  .  .  3]VICONSVET[u 
10  DINEMFRVCTVMCONDVCTORIVILICISVEEIVSPRESTAR[ed 

20  EBEATSIQVODFICETVMPOSTEAFACTVMERITEIVSFIC 

2 1  FRVCT  VCT  VMPERCONTINV  ASFICATIONESQ  VINQVE 

22  ARBITRIOSVOEOQVISERVERITPERCIPEREPERMITTITVR 

23  POSTQVINTAMFICATIONEMEADEMLEGEMQVASSEST 

24  CONDVCTORIBVSVILICISVEEIVSFPDVINEASSERERE 

25  COLERELOCO  VETER  VMPERMITTIT  VRE  ACONDICIONE[ut 

26  EXE  AS  ATIONEPROXIMIS  VINDEMISQVINQVEFRVCT  V[s 

27  EARVMVINEARVMISQVIITAFVERITSVOARBITROPER 

28  CIPEATITEMQVEPOSTQVINTAVINDEMIAQVAMITASATAffu 

29  ERITFRVCTVSPARTESTERTIASELEGEMANCIANACONDVC 

30  TORIBVS 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AEIUKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  9 

1  QVINQVE.  Das  Q  hat  eine  ungewöhnlich  lauge  Hasta  °\  und  V  ist  mit  derselben  durch  einen 
Strich  verbunden:  °\V,  sodass  es  wie  ein  N  aussieht.  Mit  ALVEOS  endet  die  Zeile,  da  die 
Randleiste  der  oberen  Verzierung  des  Steins  in  schräger  Linie  die  Columne  abschneidet. 

3  FVE[rit]:  Cagnat;  vielleicht  ist  FACT[a  eritj  zu  lesen,  denn  vor  dem  vermeintlichen  V  ist 
noch  der  Rest  einer  schrägen  Hasta  sichtbar  (/]/)  und  die  zweite  Hasta  des  V  ist  gekrümmt, 
also  -AC  nicht  V. 

6     A[pes].     Nur  A  ist  erhalten;    von  PES  sind  noch  die  unteren  Teile  der  Hasten  zu  sehen. 

10  EIS  sicher,  ebenso  QVAM.  Der  Buchstabe  hinter  FIAT  muss  wegen  der  z.  Teil  erhaltenen 
schrägen  Haste  ein  A  oder  R  gewesen  sein.     Hinter  FIAT  ist  Raum  für  drei  Buchstaben. 

11  TIS.     Das  T  scheint  sicher. 

12  Auf  conductoribus  kann  nicht  vüicisve  eorum,  wie  sonst,  gefolgt  sein.  ORVM  ist  ziemlich 
sicher  also  [e]ÜRVM:  vorher  könnte  nur  der  Anfang  von  vilicisve,  etwa  VIL  gestanden  haben, 
wahrscheinlich  aber  mit  Auslassung  von  vilicis  nur  ve.  VI[licor]VM  (Cagn  at)  ist  nicht  wahr- 
scheinlich. Die  beiden  Buchstaben  VE  hinter  ORVM  sind  das  fälschlich  wiederholte  ve  {vüi- 
cisve eorumve).  Hinter  INASSEM  ist  noch  eine  senkrechte  Hasta  sichtbar;  Cagnat  schreibt 
E[ius],  aber  „in  assem  e[ius]  ferunt"  verstehe  ich  nicht. 

14  VILLAM.  LAM  ist  sicher;  statt  [vil]lam  könnte  auch  [nul]lam  gelesen  werden.  Auch  Ca- 
gnat liest  VILLAMIPS[am]. 

15  Cagnat  giebt  AMPLIVSQ[uam].  Das  Q  scheint  mir  nicht  sicher.  Vor  ATCOL[oni]  sind 
zwei  Buchstaben  sichtbar  also  vielleicht  FIAT? 

16  Vor  con[äuctor~\  sind  noch  einige  Buchstaben  sichtbar,  der  letzte  scheint  mir  ein  M  zu  sein. 

17  PAR[tes]  scheint  sicher. 

20  Hinter  FIC,  wo  der  Stein  abgesprungen  ist,  könnte  nur  ein  Buchstabe  gestanden  haben;  doch 
ist  wohl  FlC(eti)  zu  lesen. 

22  EO  QVI.    Da  das  0  sicher  ist  kann  nur  EO  gelesen  werden. 

To  utain  hat  folgende  Abweichungen: 
10/11    fiat  a[lveys. 

11  T. :  mel  qni  in  [iis  ?)  enmt. 

12  T. :  v[ili]corumve  in  assem  e[ius  \  f(undi)  erunt 

13  T. :  ar[b]o[rum  earum?]  que. 

15  T. :  sit.     Aber  der  erste  Buchstabe  scheint  mir  ein  C  zu  sein. 

16  T. :  co[ ]«. 

23  T. :  eadem  lege  M(anciana).  Diese  Lesung  ist  vielleicht  anzunehmen,  nicht  so  T.'s  Ansicht, 
dass  eadem  l.  M.  qua  s.  s.  est  stehe  für  „lege  M.  idem  quod  s.  s.  et"  denn  was  hindert  eadem 
als  Accusativ  Pluralis  (statt  idem)  zu  nehmen?  aber  eadem  legem  ist  wohl  nur  ein  Schreib- 
fehler. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.  N.  F.   Band  2,  i. 


10  ADOLF    SCHULTEN, 

III  l  V[ilicis]VEEIVSINAS.SEMDAREDEBE 

2  BV[nto]LIVETVMSERERECOLEREIN 

3  EOLOC[o]QVAQVISINCVLTVMEXCOLV 

4  ERITPERMITTITVREACONDICIONEV 

5  TEXEASATIONEEIVSPRVCTVSOLIVETIQ 

6  VIDITASATVMESTPEROLIVATIONESPRO 

7  XIMASDECEMARBITRIOSVOPERMITTE 

8  REDEBEATITEMPOS[t]OLlVATIONESOLE[i 

9  COACTIPARTEMTERTIAM[c]ONLWCTO 

1 0  R1BVSYILICIS  VEEIVSFDD[q]  VI1NSERVE 

11  RITOLEASTRAPOST  ...  12  ...  |  .  NQVEPAR 
12-  TEMTERTIAMDD  .  .  .  12  |  .  .  .  INF 

13  VILLEMAGNEVAR[iani]SI[vem  |  app]ALIAE 

14  SIGESVNTERVNT  ...  9.  .  .  |  AGROSQVI 

15  VICIASHABENTEORVMfa  |  gr]ORVMFRVCT 

16  VSCOXDVCTORIBVSVILICISV[edebe]NTVRCVSTODESE 

17  XIGEREDEBEBVTPROPECORA  [.  .  .JXTRAFVILLEM 

1 8  AGNEEMAPPALISIEG[e]PASCENTVRINPECORASIN 

1 9  GVLAAERAQVATTVSCOND  VCTORIBVS  VILICIS  VEDO 

20  MINORVMEIVSFPRESTAREDEBEBITSIQVISEXFVILLE 

2 1  MAGNESI VEMAPPALIESIGEFR  VCT  VSST  ANTEMPEN 

22  DENTEMMATVRVMIMMATVRVMCAECIDERITEXCIDER 

23  ITEXPORTAVERITDEPORTAVERITCONBVSERITNSEQVEA 

24  .  .  .  11  .  .  .]ENIIDETRIMENTYMCOND  VCTORIBVS  VILICIS  VEEIV[s]F 


DIE   LEX    MANC1ANA,   EINE   AFRIKANISCHE   DOMÄNENORDNUNG.  11 

10  DD  ist  deutlich  zu  lesen;    Cagnat  ergänzt  es. 

11  Der  senkrechte  Strich  iu  den  Zeilen  11  f.  bezeichnet  einen  Riss,  den  der  Stein  an  dieser 
Stelle  zeigt. 

13  Statt  [Mappjaliesige   steht  hier  deutlich  [Mapp]aliaesige;    Cagnat   schreibt  Mappaliesige. 

15  Die  Lesung  VICIAS  verdanke  ich  der  französischen  Publikation. 

16  VILICISV[e  debe]NTVR.    Die  Lesung  ist  sicher;    Cagnat  giebt  V[e  eius  f.]. 

17  DEBEBVT.     Das  N  fehlt. 

18  MAGNEE.     Das  E  ist  doppelt  gesetzt. 
i9  QVATTVS.     Die  Lesung  steht  fest. 

22  CAECIDERIT.     Cagnats  Lesart  CRECIDERIT  ist  wohl  Druckfehler. 

23  EXPORT AVERIT.  Cagnat  schreibt  IAPORTAVERIT  aber  EX  steht  da,  nur  ist  die 
eine  Haste  des  X  etwas  kurz  geraten,  sodass  es  einem  -A  freilich  sehr  ähnlich  siebt.  —  Ca- 
gnat liest  CONTVSER1T  aber  der  vierte  Buchstabe  ist  kein  T  und  das  Perfect  von  contundo 
heisst  contudi.  Man  kann  auch  CONBVSEASINT  (NT  legirt)  lesen.  Fast  möchte  man  co<m>- 
bus(s)erit  (von  comburere)  vermuten,  vgl.  „usscrit"  in  der  pu  30  angeführten  Digestenstelle  (L. 
27  §  5  D.  9,  2). 

24  Vor  detrimentum  steht  eine  Reihe  von  Buchstaben,  die  gut  erhalten,    aber  unverstandlich  sind. 

25  Auf  dem  Sockel  des  Steines  stehen  die  Buchstaben  V  und  F;    sie  gehören  zur  letzten  Zeile  und 

es  ist  VILICISVE  EIV[s]  F(undi)  [d.  d.]  zu  lesen  (s.  den  Commentar). 
To utain  hat  folgende  Abweichungen: 
7    permittere  hält  T.  wohl  mit  Recht  für  Schreibfehler  statt  peräpere. 

18  [n]ascentur  statt  pascentur. 

19  quae  jus(?)  (est)  statt  quattus.  T.  giebt  QVATIVS  und  bezeichnet  selbst  seine  Vermutung  als 
sehr  unsicher. 

23/24     contuserit  deseque[rit  J  et  si  quid  .  . .?  ?  detrimentum. 


12  *         ADOLF   SCHULTEN, 

TVl  COLONIERITEICVIDET[.  .  .  25  .  .  . 

2  TANTVMPRESTARED[ebebit  .  .  .  25  .  .  .  mag- 

3  NESIVMAPPALIESIG[e  ...  25  ...  se- 

4  VERVNTSEVERIN[t  .  .  .  27  .  .  . 

5  QVIELEGITIMfa  .  .  .  25  .  .  . 
G  TEST  AMEN  '[.'..  23  ..  .  sup- 

7  ERFICIES  .  .  .  OTEMPVSLEGEMA[nciana  .  .  .  12  .  .  . 

8  RITV  f.  3  .]  FIDVCiEVEDATAgVNTDABVNTVRf  .  .  .  10  .  .  . 

9  .  .  5 '.  .]   VSFIDVCIAELEGEMANCIANESERVA[ '.  .  .  10  .  .  . 

10  su]PERFICIEMEXINCVLTOEXCOLVITEXCÖLVE[rit  .  .  .  10  .  .  . 

11  .2  .']TAEDIFICIVMDEPOSVITPOSVERITEIVEQVI[  .  .  .  10  .  .  . 

1 2  DESIERITPERDESIERITEOTEMPOREQVOITAEASVPERFIfcies 

13  COL1DESITDESIERITEAQVOFVITFVERITIVSCOLENDIDVMT  [.  3 

1 4  DBIENNOPROX1MOEXQVAD1ECOLEREDESIERITSERVAT V[r 

15  .  SERVABITVRPOSTBlENNIVMCONDVCTORESVILIClSVEEOR[um 

1 6  ej AS VPERFICIESQVEPROXIMOANNOFCVLTAF VITETCOLIfdesi- 

1 7  ERITCONI) VCTÜRVILIC VS VEEIVSFEÄS VPERFICIESESSEDpcit- 

18  VRDENYXTIETSVPERFICTEMCVLTAMESSEEACONEGESTV  .  .  . 

19  DENVNTIATIONEMDENVNTIATVRX  .'.'.'  SIGALISEST  '.  '.  '. 

20  .  1TEMQVENXSEQVENTEMANNVMSIGALIAS1NTQVE  .  .  . 

2 1  AEIVSEIVSFPOSTBIENIVMCONDVCTÖRViLicVSVECOLE[reiu- 

22  BETOXEQVISCONDVCTORVILICVS[veeoru]MINQVILINV[m  .  .  . 

23  FCOLOXIQVIINTRAFVILLEMAGN[esivemappa]LIESIGEHA[bit 

24  ÄBVXTDOMINISAVTCONDVCT[oribusvilicisveeorumin]ASSEM  [q- 

25  u[ODANXISINHOMINIBVS[  .  .  .  13  .  .  .]  NESOPER 
20  ASNIIETINMESSEMOPferas  .  .  .  10  .  .  .]  EGENERIS 

27  s]IXGVLASOPERASBIN[as]PR[estaredebebun]TCOLÖNI 

28  INQVILINIEIVSFINTRA[  .  .  .  20  .  .  .]  ANNIN 

29  OMINASVACONDVCTORIBV[svilicisveeorumi]NCVSTO 

30  DIASSINGVLASQV[  .  .  .  RTI  .  .  .  25  .  .  .]  NENT 

31  RATAMSEORSVMf  .  .  .  VM  .'  .  .  25  .  .  .]  SVM 

32  STIPENDIARIOR[  .  .  .  25  .  .  .]  MAPPA 

33  LIESIGEHABITAB[  .  .  .  25  .  .  .]  VASC 

34  ONDVCTORIBVSVlLpcisveeorum  .  .  .  25  .  .  JICVS  [t 

35  ODIASSERVISDOMINiq  .  .  .  20  .  .  .]  VEST 

36  .  .  4  .  .]MSINGVLAR[um  .  .  . 
37 

38  GRA 

39  .  .  P  par]TEM 

40  QVINTAM 
3 


DIE   LEX    MANCIANA,   EINE   AFRIKANISCHE   DOMÄNENORDNUNG.  13 

1  Vielleicht  ist  COLONIS  RESTITVIDE[bent]  zu  lesen.  Die  Buchstaben  der  abgebrochenen 
Ecke  sind  so  wenig  differenziert,  dass  mau  jeden  Augenblick  etwas  anderes  zu  lesen  glaubt. 
Zeile  1 — 4  stehen  auf  dem  sonst  freigelassenen  oberen  Rand  des  Steins. 

3     SIV.     Das  E  fehlt. 

5  QVIELEGITIM[a].  Cagnat:  QVIELEGEIIA.  qui  c  legitim[a]  giebt  einen  Sinn  und  passt 
völlig  zu  den  Buchstaben. 

6  Cagnat:  IISTRABI A. 

7  Cagnat:  IIMIVSIICOIA. 

8  Cagnat:  ISDVLIIVIDATASVNT. 

14  Das  D  vor  bicnn{i)o  ist  sicher.  DVMT  am  Ende  der  Z.  13  kann  wohl  nur  zu  DVMT[axat] 
ergänzt  werden.  Sollte  DVMT[axa]D  geschrieben  worden  sein?  —  EXQVADIE  nicht  ex  quo 
die  wie  Cagnat  giebt. 

16  ANNOF.  Cagnat  giebt  statt  F  S.  Beides  ist  möglich.  Liest  man  ANNOS  so  liegt  die 
Emendation  nahe:  „ea  superficies  que  (decem?)  proximo(s)  annos  eulta  fuit  .  ." 

20     Statt  INSEQVENTEM  ist  NNSEQVENTEM  geschrieben. 

22  Nach  VILICVS  würde  man  VEE1VSF  (vgl.  Z.  17;  erwarten;  statt  dessen  scheint  aber  minde- 
stens .  .  .  VM  also  [serv]um  oder  [eorjum  vor  vilicu[m]  sicher  zu  sein;  dann  ist  nur  noch 
iüfevilicus[ve']  Raum. 

23  Der  erste  Buchstabe  scheint  mir  ein  F  nicht  ein  E  (Cagnat)  zu  sein.  Cagnat  liest  Z. 
22/23:  [se?']r[M]m  inquüinu[mv  \  e;   ich:  eor]um  inquilinu[m  eins  \  f{undi).  * 

26    ETINMESSEM.     Cagnat  setzt  irrtümlich  IN  doppelt. 

40  QV1NTAM  ist  mit  Ligatur  geschrieben:  <W/VA  Cagnat  und  To utain  haben  es  nicht  ge- 
lesen.    C.  giebt  IANTMI. 

Toutain  hat  folgende  Abweichungen: 

5  T.:  qui  e  lege  ita(?). 

6  T.:  testamen[to. 

11     Statt  EIVEQVI  liest  T.:  eloeavit  [locaverit],  was  kaum  wahrscheinlich  ist. 

13/14     dii7nta[xa]t.     Aber  in  Zeile  14  steht  sicher  d  nicht  t. 

14     ea  qua  die:  das  x  in  ex  qua  die  ist  deutlich,    die   eine  Hasta   durchschneidet   die  andere  also 

nicht  A  wie  T.  meint,  sondern  X. 
18     .  .  ua  denuntiet.  —  cultum  eins  non  egis  nav  .  .  . 
19/20    „Siga  iis  testa  .  .  .  |  s  itemque  in   sequentem  annum  [et  si  vac]at  ea(?)  sine  quer[el]a  eins 

f(undi)".   —   quer[el]a  ist  sehr  bestechend,   passt  aber  nicht   in  den  Zusammenhang  besonders 

nicht  zu  eins  fundi. 
22    ne  quis  servum  inquilinu[m  v]e  coloni  .  .  .  [prestare  cogat]. 


14 


bezeichnet  Ergänzungen  zerstörter  Partien  ; 

(  )  Ergänzung   von  Abkürzungen,  z.B.  vilicisve  eins  f(undi),    und    Auslassungen. 

In  (     )  sind  zu  beseitigende  Buchstaben  gesetzt,  z.  B.  fruct(uct)um. 
Eraendationen  sind  cursiv  gedruckt  (ohne  Klammer). 

I  l  [Pro  salujte 

2  Ä]x\g.  n.  \[mp.]  Caes.  Traiani 

2a  totiusqufe]   domus  divine 

3  o^]timi  Germanici  Pa[r]thici  |:  (lex)  data  a  Licinio 

4  Ma]ximo  et  Feliciore  Aug.  üb.  procc.  ad  exemplu[m 

5  leg]\s  Manciane:     (§1)  Qui  eorum  [ijntra  fundo  villae  Mag- 
G  na]e  Variani  id  est  Mappaliasigalis  eos  agros  qui  su- 

'    7  6c]esiva  sunt  (excolere  volunt)  excolere  permittitur  lege  Manciana 

8  .  .  ita  ut  eas  qui  excoluerit  usum  proprium  habe- 

9  at.  Ex  fructibus,  qui  eo  loco  nati  erunt,  dominis  aut 
10  conductoribus  vilicisve  eius  f(undi)  partes  e  lege  Ma- 
ll nciana  prestare  debebuut  hac  coudicione :  coloni 

12  fructus  cuiusque  cultnre,  quot  ad  area(m)  deportare 

13  et  terere  debebunt,  summas  de[/er]ant  arbitratu 

14  s]uo  conductoribus  vilicisve  ei]ns  f(undi)  et  si  conductfo- 

15  res  vilici(s)ve  eius  f.  in  assem  [partes  colon]ica,s  datur- 

16  as  renuntiaverint  tabel[/is  coloni  .  .  .]es  cavea- 

17  nt  eius  fructus  partes.  qu[as  prestare]  debent, 

18  conductores  vilici(s)ve  eius  [/'.  coZ]oni(coloui)c- 

19  as  partes  prestare  debeant.     (§  2)  Qui  [i]n  f.  villae  Mag- 

20  nae  sive  Mappaliesiga  (!)  villas  habent  habebunt 

21  dominicas  (dominis)  eius  f.  aut  conductoribus  vilicisv[e 

22  eorum  in  assem  partes  fructum  et  vinea(ru)m 

23  ex  consuetudine  (legis)  Manciane  cuiusque  gene- 

24  ris  habet  prestare  debebunt :  tritici  ex  a- 

25  ream  partem  tertiam,  hordei  ex  aream 

26  parte~]m.  tertiam,  fabe  ex  aream  partem  qu- 

27  ^]tam,  vinu(!)  de  laco  partem  tertiam,  ol- 

28  ei  cojacti  partem  tertiam,  mellis  in  alve- 

29  is  wjellaris  sextarios  singulos.     (§  2R)  Qui  supra 

II  1  g]uinque  alveos 

2  habebit  in  tempore  qu[o  vin- 

3  demia  mellaria  factfa  crit 

4  dominis  aut  con&i\cto[ribu$  vili- 

5  cisve  eius  f(undi)  QVI  (?)  in  assem  [partem  tertiam  ? 

6  d.  d.     (§  3)  Si  quis  alveos  examina  a.[pes  vasa 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  15 

7  mellaria  ex  f(undo)  villae  Magne  sive  M- 

8  appaliesige  in  octonarium  agru[wz 

9  transtulerit,  quo  frans  aut  dominis  aup 

10  conductoribus  vilicisve  eis(!)  quam  fiat,  a  .  .  . 

11  tis  exam(in)a,  apes,  vasa  mellaria,  mel  qui  in  [tuU 

12  erunt  conductoribus  (vilicis)v[ee]orum(ve)  in  assem  [d.  d.   (§  4)  Qaae  in 

13  f(undo)  erunt  ficus  aride  arbor[es  .  .  .  q]ue  extra  pom[a- 

14  rio  erunt,  qua  pomariujm  apud  w/?]lam  ips[am 

15  sit,  ut  non  amplius  [ ]  at,  col[em- 

16  is  arbitrio  suo  o,o[Jere  licebit  nee  fructu]m  con[ducto- 

17  ri  vilicisue  eius  f.  partes  d(are)  d(ebebunt)].     (§  5)  Ficeta  ue[fe- 

18  ra  et  oliveta,  que  ante[Aoc  tempus  sota  sunt,  iuxta?]  consuetfw- 

19  dinem  fruetum  Conducton  vilicisve  eius  prestarfe  d- 

20  ebea(n)t.     (§  0)  Si  quod  ficetum  postea  factum  erit,  eius  fic(eti) 

21  fruct(uct)um  per  continuas  ficationes  quinque 

22  arbitrio  suo  e(i)  qui  seruerit  pereipere  permittitur, 

23  post  quintam  ficationem  eadem  legem  (!)  qua  s.  s.  est 

24  conductoribus  vilicisve  eius  (?)  p(artes)  d(ebebit).     (§  7)  Vineas  serere 

25  colere  loco  veterum  permittitur  ea  condicione  [ut 

26  ex  ea  satione  proximis  vindemis  quinque  fructu[s 

27  earum  vinearum  is  qui  ita  fuerit  suo  arbitro  (!)  per- 

28  cipeat(!)  itemque  post  quinta(m)  vindemia(m)  quam  ita  sata  [fu- 

29  erit  fruetus  partes  tertias  e  lege  Manciana  conduc- 

30  toribus 

III  1  v[ilicisv]e  eius  (f.)  in  assem  dare  debe- 

2  bu[w/].     (§  8)  [OJlivetnm  serere  colere  in 

3  eo  loc[o]  qua  qi\is  incultum  excolu- 

4  erit  permittitur  ea  condicione  u- 

5  t  ex  ea  satione  eius  fruetus  oliveti  q- 

6  uid  ita  satum  est  per  olivationes  pro- 

7  ximas  decem  arbitrio  suo  permitte- 

8  re  debeat  item  pos[l]  olivationes  (decem)  o\e[i 

9  coacti  partem  tertiam  [c]onducto- 

10  ribus  vilicis  eius  f.  d.  d.     (§  9)  [Q]ni  inserue- 

11  rit  oleastra  post  [annos  quinque  par- 

12  tem  tertiam  d.  d.     (§  10)  [Agri  herbis  eonsiti  qui]  in  f(undo) 

13  ville  Magne  Var[iam]  s\[ve  Mapp]a\ia.e  (!)  - 

14  sige  sunt  erunt  [praeter]  agros,  qui 

15  vicias  habent,  eorum  a[^r]orum  fruet- 

16  us  conductoribus  vilicis[t'e  debe\xitur ;  custodes  e- 

17  xigere  debebut(!).     (§  11)  Pro  pecora  [que  i]ntra  f.  ville  M- 

18  agne(e)  Mappaliesig[e  p]ascentur,  in  pecora  sin- 


ll)  ADOLF    SCHULTEN, 

19  gula  aera  quattu(or)  conductoribus  vilicisve  do- 

20  minorum  eius  f.  prestare  debebit.     (§  12)  Si  quis  ex  f.  ville 

21  Magne  sive  Mappaliesige  fructus  stantem  pen- 

22  dentem,  maturum  immaturura  oaec[?7^]rit  excider- 

23  it,  exportavcrit  deportaverit  CONBVSERIT  N  seque|n 

24  tis  quinque?\m\  detrimentum  conductoribus  vilicisve  eiu[sj  f.  [p.  d. 


IV  1  Culpa  si?]  coloni  erit,  ei,  cui  &e[trimentu»i  factum  est? 

2  tantum  prestare  ü[ebebit].  —  (§  13)  [Si  qui  in  /'.  ville  Mag- 

3  ne  sive  Mappaliesig[e se- 

4  verunt  severint  [ 

5  qui  e  legitim  [ 

0  les  tarnen  [ (§  14)  ....  sup- 

7  erficies  [ tempus(?)  lege  M.a,[nciana 

8  RI  .  .  .  [f']iducieve  data  sunt  dabuntu[r 

9  fiduciae  lege  Manciane  seYva,[bunt'ur]  .  .     (§  15)  [Qui 

10  s?<]perficiem  ex  inculto  excoluit  excoluerf^  ibique 

11  ...  aedificium  deposuit  posuerit  (is)ve  qui  [coluit  postea 

12  desierit  per(?)  desierit  eo  tempore,  quo  ita  ea  superfifdes 

13  coli  desit  desierit,  ea  quo  i'uit  fuerit  ius  colendi  dumt[«^a 

14  d  bienno(!)  proximo  ex  qua  die  colere  desierit  servatu[r 

15  .  servabitur,  post  biennium  conductores  vilici(s)ve  eor^m  c(olere)  d(ebebunt)? 

16  (§  IG)  E\a,  superficies,  que  proximo  anno  f.  (?)  culta  fuit  et  coli  [desi- 

17  erit  conductor  vilicusve  eius  f.  (ei,  cuius)  ea  superficies  esse  &[icit~ 

18  ur  denuntiet  superficiem  cultam  ESSE  EACONEGESTV  .  .  . 

19  denuntiationem  denuntiatur  .  .  A'.  .'  SIG ALISTEST 

20  .  itemque  (i)nsequentem  annum  SIGALIASlNTQVE 

21  .  Ja  eius  (eius)  f.  post  bienium(!)  conductor  vilicusve  co[lere  iu(?)- 

22  beto.  —  (§  17)  Ne  quis  conductor  vilicusve  ejorum  inquilinu[w  eius 

23  f .   .  .  .   (fehlt   mehreres).    —   (§  18)  Coloni ,    qui   intra   f.  ville  Magn[e  sive 

Muppa]\iesige  ha[6^- 

24  abunt  dominis  aut  conduct [oribus  vilicisve  cor  um  in]  assem  [q- 

25  uodannis  in  hominibus  [singulis  in  arati]ones  ope- 

26  ras  n(umero)  II  et  in  messem  oip[cras  n.  II.  et  in  sarritiones  cuiusque]  generi 

27  s]  singulas  operas  binfas]  \>v[estare  debebunt].  —  (§  19)  Colon[i 

28  inquilini  eius  f.  intra  [ ]  anni  n- 

29  omina  sua  conductor  [Ums  vilicisve  eins  f.  edere  et  operas  i]n  custo- 

30  dias  singulas  qu[attuo]r  [pracstare  debcnt ;    ......  perti  ?]nent 

31  ratam  seorsu[w seorjsnm 

32  (§  20)  Stipendiarior[wm  qui  in  f.  ville  Magne  sive  Ji]appa- 

33  liesige  habitab[w^ operas  s]uas  c- 

34  onductoribus  vi\[icisve  eius  /'.  .  .  .  .]t  cus[t 

35  odias  servis  dominicf^ ]  VEST 


DIE   LEX    MANCIANA,    EINE   AFRIKANISCHE   DOMÄNENORDNUNG.  17 

36  .  .  .  M  singular[mM 

37     

38     GRA 

39     [par]tem 

40  quintam. 

Auf  der  Plintbe  steht  unter  der  ersten  Seitenfläche: 
„h]ec  lex  scripta  a  Lurio  Victore  Odilonis  magistro  et  Flavio  Geminio  de- 
fensore;  Feiice  Annobalis  Birzilis". 

Zur  Beurteilung  der  Ergänzungen  bemerke  ich ,  dass  die  Zahlen  innerhalb 
der  Klammern,  durch  die  ich  die  Zahl  der  zu  ergänzenden  Buchstaben  bezeichnet 
habe,  für  den  ganzen  Raum  der  Klammern  gelten,  dass  also  die  ergänzten  Buch- 
staben mit  in  Anrechnung  zu  bringen  sind. 

Die  Inschrift  beginnt  mit  der  Formel  „[pro  salu]te  .  .  .  Traiani"  und  dem 
Vermerk  über  die  Aufstellung  der  Inschrift.  Die  Entzifferung  der  Praescriptitm 
macht  grosse  Schwierigkeiten  ,  doch  ist  sicher  der  Name  CAES.  TRAIANI  und 
die  Cognomina  G-ERMANICI  PARTHICI.  Dann  ist  die  Urkunde  niedergeschrie- 
ben nach  dem  29.  August  116,  seit  welchem  Tage  der  Kaiser  „Parthicus"  beisst 
(Dessau,  inscr.  lat.  sei.  297)  und  vor  dem  August  117,  in  welchem  Monat  der 
Kaiser  starb. 

Dass  zwischen  Germania,  Parthici  das  sonst  stets  an  zweiter  Stelle  stehende 
Cognomen  Bacici  fehlt,  ist  höchst  auffallend,  doch  ist  die  Lesung  sicher  und  un- 
sere Inschrift  reich  an  Absonderlichkeiten. 

Auf  die  Praescription  folgt:  „data  a  Licinio  [Mo]ximo  et  Feliciore  Aug.  Hb. 
procc.  ad  exemplu[m  leg]is  Mancianae".  Zu  data  ist  lex  zu  ergänzen.  Gesagt  wäre 
also,  dass  zwei  —  PROCC  ist  sicher  —  kaiserliche  Freigelassene  nach  einer 
lex  Maneiana  (ad  exemplum  1.  M.)  eine  neue  lex  zusammengestellt  haben.  Durch 
diesen  Passus  wird  meine  Vermutung,  dass  am  Anfang  der  ara  legis  Hadrianae 
zu  lesen  sei:  „  .  .  legem  infra  scriptam  intulit  (ad)  exemplum  legis  Hadrianacu  be- 
stätigt (s.  Hermes  1894  p.  230). 

Wie  der  „sermo  procuratorum"  der  Inschrift  von  Ai'n  Wassel  einer  lex  Ha- 
driana,  so  ist  die  Verfügung  der  beiden  Procuratoren  unserer  Inschrift  einer  lex 
Maneiana  entnommen.  Das  ist  so  zu  verstehen:  die  lex  Hadriana  und  Maneiana 
waren  allgemeine  Verfügungen  über  die  Domänen  (lex  saltus);  ihnen  entnahmen 
die  Procuratoren  des  Saltus  die  für  ihre  Zwecke  passenden,  d.h.  für  die  vorlie- 
gende Controverse  zwischen  Colonen  und  conduetores  entscheidenden  Paragraphen. 
Bei  dem  grossen  Umfang  des  Originalstatus  ist  es  naturgemäss,  dass  nicht  auf 
jedem  fundus  des  Guts  eine  Copie  der  ganzen  lex  stand,  sondern  nur  in  beson- 
deren Fällen  einzelne  Kapitel  derselben  „ad  exemplum"  der  lex  aufgestellt  wurden. 

Das  Original  der  lex  saltus  befand  sich  im  Archiv  der  kaiserlichen  Domänen 
in  Rom,  wo  der  Generaldirektor,  der  „a  rationibus",  seinen  Sitz  hatte.    Eine  Copie 

Abbdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hiet.  Kl.    N.  F.  Band  2,  a.  3  , 


18  ADOLF   SCHULTEN, 

davon  auf  Kupfer  war  auf  der  Domäne x)  angeschlagen.  Eine  solche  wird  im 
Dekret  des  Commodus  erwähnt,  eine  andere  ist  als  lex  metalli  Vipascensis  erhalten. 
Bei  Controversen  wurde  nach  ihr  entschieden  und  eine  Abschrift  der  betreffen- 
den Kapitel  im  Bereich  der  Parteien  aufgestellt.  Die  vorliegende  Inschrift  ist 
davon  das  fünfte  Beispiel  (1.  Dekret  des  Commodus,  2.  Ära  legis  Hadrianae,  3.  In- 
schrift von  Gasr  Mezuar,  4.  Inschrift  von  Ai'n  Zaga ;  s.  Hermes  1894  p.  204  f.). 
Die  Urkunde  giebt  sich  als  eine  lex  data  a  procuratoribus.  Schon  aus  der  ara  legis 
Hadriana  lernten  wir  dies  Verfügungsrecht  der  procuratores  saltus  kennen.  Es 
ist  von  dem  des  Kaisers  und  den  epistulae  der  procc.  tractus  (Dekret  des  Com- 
modus) scharf  zu  scheiden.  Neue  Verfügungen  konnte  nur  der  kaiserliche  Grund- 
herr erlassen,  nicht  als  Kaiser,  sondern  als  dominus  praediorum,  wie  jeder  Pri- 
vate seinem  Eigentum  eine  lex  geben  kann. 

Die  beiden  uns  bekannten  Erlasse  der  freigelassenen  Procuratoren  sind  Aus- 
zuge aus  der  lex  saltiii  dicta  und  sicherlich  hat  das  ius  dicendi  legisque  dandae 
dieser  Beamten  nicht  weiter  gereicht. 

Von  den  beiden  Freigelassenen  scheint  zunächst  der  eine  Licinius  Maximus, 
der  andere  mit  blossem  Cognomen  Felicior  zu  heissen.  Doch  würde  die  Ungleich- 
heit der  Nomenclatur  so  auffallend  sein,  dass  man  das  Grentile  Licinio  wohl  auch 
auf  Feliciore  beziehen  muss.  Die  anderen  uns  bekannten  procuratores  saltus, 
alles  wie  hier  Freigelassene,  führen  nur  das  Cognomen  (s.  Momrasen  a.  a.  0.  p.  400). 
Das  ist  die  gewöhnliche  Nomenclatur  der  Freigelassenen.  Daneben  führen  Freige- 
lassene auch  den  vollen  aus  Praenomen.  Nomen  und  Cognomen  bestehenden  Namen 
oder  auch  zwei  Cognomina  in  der  Form:  Calamus  Ti.  Claudii  Caes.  lib.  Pamphi- 
lianus  (Dessau  1820),  aber  nur  sehr  selten  Grentile  und  Cognomen  wie  hier.  Als  Bei- 
spiele nenne  ich  Dessau  1669  :  Aurelius  Alexander  und  1678  :  Aurelius  Symphorus. 

Die  lex  Manciana  erscheint  hier  zum  ersten  Mal.  Benannt  ist  sie  nach  einem 
Träger  des  Cognomen  Mancia ,  welches  ich  im  Corpus  nur  an  folgenden  Stellen 
finde:  CIL.  1X5107:  C.  Licinius  C.  f.  Val.  Mancia  (Interamna),  V  7601:  L.  Ge- 
minio  L.  f.  Cam.  Manciae  (Alba  Pompeia).  Im  Bereich  der  Aristokratie  kenne  ich 
nur  einen  Mancia,  nämlich  den  Consul  suffectus  des  Jahres  55,  der  im  J.  56  lega- 
tus  exercitus  Germaniae  superioris  war  (Tacitus  Ann.  XIII  56 ;  s.  über  ihn  Proso- 
pographia  imp.  Romani  I  unter  ,,Curtilius").  Seinen  weiteren  „cursus  honorum" 
kennen  wir  nicht ;  es  ist  sehr  gut  möglich,  dass  er  später  Proconsul  von  Afrika  war 
und  als  solcher  die  lex  Manciana  gegeben  hat.  Das  Auftreten  einer  nach  einem 
Magistrat  benannten,  also  nicht  vom  Kaiser  sondern  vom  Volk  gegebenen  lex  auf 
dem  Gebiet  der  kaiserlichen  Domanialverwaltung  erklärt  sich  nur,  wenn  man  an- 
nimmt, dass  die  lex  Manciana  als  „lex  praediis  populi  Romaui  datau  ursprünglich 
auf  einer  zum  Aerarium  gehörigen  Domäne  stand,  die  dann  in  kaiserliches  Eigen- 
tum übergegangen  ist.     Die  lex  M.  könnte  auch  eine  lex  data,  ein  statthalterlicher 


1)  Im  Dekret  des  Commodus  für  den  Saltus  Burunitanus  wird  gesagt,  dass  sich  die  „Utterae 
procuratorum"  „in  tabulario  tractus  Karthaginiensis"  befinden  (Mommsen,  Hermes  1880,  p.  388). 
Was  von  den  die  lex  ergänzenden  litterae  procc.  gilt,  gilt  nicht  von  der  lex  selbst:  sie  steht  „in 
aeie  incisa  ab  omuibus  undique  vicinis  visa"  (Dekret  des  Commodus)  auf  der  Domäne. 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  19 

Erlass  sein  (s.  Mommsen,  Staatsrecht  III  309),  vergleichbar  der  lex  Pompeia 
für  Bithynien  und  Pontus ,  aber  die  Angelegenheiten  ihrer  Domänen  wird  doch 
wohl  die  Regierung  in  Rom  selbst  geregelt  haben.  Die  lex  M.  entspricht  völlig 
der  für  Sizilien  geltenden  lex  Hieronica,  d.  h.  der  aus  der  Verwaltung  König 
Hieros  übernommenen  lex  agraria.  Andere  Ordnungen  der  Art  kenne  ich  nicht: 
die  lex  agraria  vom  Jahre  111  v.  Chr.  gilt  für  den  ganzen  ager  publicus ,  wäh- 
die  1.  Manciana  doch  wohl  nur  für  Afrika  gegeben  ist.  Singular  ist  die  Benen- 
nung einer  lex  nach  dem  Cognomen ,  wo  doch  sonst  stets  das  Nomen  den  Ge- 
setzesnamen giebt  (Staatsrecht  III  315). 

Während  auf  der  Domäne  Villa  Magna  die  lex  Manciana  gilt,  finden  wir  so- 
wohl im  saltus  Burunitanus  als  auf  den  fünf  saltus,  welche  die  „ara  legis  Ha- 
drianae"  nennt,  die  lex  Hadriana.  Das  wird  sich  nur  mit  der  Annahme  erklären 
lassen,  dass  Hadrian  mit  seiner  lex  Hadriana,  die  in  der  Zeit  des  Commodus 
(Dekret  des  Commodus)  und  Septimius  Severus  (ara  1.  Hadr.)  auf  den  Domänen 
galt,  ein  neues  Domanialstatut  geschaffen  hat. 

Ueber  die  Zeit  der  lex  Manciana  ist  kaum  etwas  auszumachen.  Ihr  Inhalt 
liefert  irgendwelche  Indizien  nicht.  Sie  kann  sehr  wohl  aus  republikanischer 
Zeit  sein,  vielleicht  eine  der  vielen  leges  agrariae  der  zweiten  Hälfte  des  VII. 
Jahrhunderts  der  Stadt. 

Mit  Zeile  5  beginnt  die  Verordnung,  sonderbarerweise  relativisch  eingeleitet:  §  i, 
rqui  eorum.  .  .  .  excolere  permittitur" .  Zu  qui  ist  als  Prädikat  zu  ergänzen  etwa 
„excolere  vultu.  Auf  EOS  AGROS  folgt  QVI  SV||bc]ESIVA  SVNT.  Die  Lesung 
su[bc]esiva  ist  keines  der  geringsten  Verdienste  der  um  die  Entzifferung  der  In- 
schrift hochverdienten  Herren  Cagnat,  Gauckler  und  Toutain.  Subsiciva, 
wofür  auch  sonst  noch  subcisiva  (oder  subcesiva)  vorkommt *),  sind  in  der  Sprache  der 
Agrimensoren  die  „Centurienschnitzel*  :  das  Wort  stammt  aus  dem  Schuhmacherge- 
werbe und  bedeutet  ursprünglich  „Lederschnitzel"  (von  subsecare)  (s.  Rudorff  in 
Schriften  d.  röm.  Feldmesser  II  390  f.).  Solche  Schnitzel  entstehen  an  der  Grenze  der 
assignierten  Feldflur,  da  bei  der  krummlinigen  Begrenzung  derselben  zwischen  den 
äussersten  limites  und  dem  finis  unvollständige  Centimen  übrig  bleiben.  Dies  ist  die 
eigentliche  Bedeutung  von  subsiciva.  Der  Begriff  ist  dann  übertragen  worden  auf 
das  Land,  welches  innerhalb  einer  vollen  Centurie  nicht  assigniert  wurde,  weil  es 
unbrauchbar  war.  Ich  möchte  die  eigentlichen  subsiciva  als  s.  limitationis  und  die 
zweite  Klasse  als  s.  assignationis  bezeichnen :  die  linea  subsecans  ist  im  ersteren 
Falle  die  Grenze  der  Stadtflur,  im  zweiten  die  der  assignierten  Loose  *).    Dass  das 


1)  subcisivorum  hat   die  Handschrift   des  Feldmessercorpus  R  (Rostochiensis)  Feldm.  I  p.  369, 
18  in  den  Exzerpten  aus  Isidorus. 

2)  Die  saltus  sind,  weil  limitiert  aber  nicht  assigniert  „ager  per  extremitatem  mensura  com- 
prehensus."  Die  Limitation  des  Domaniallandes  ist  auch  sonst  bezeugt  (s.  Feldmesser  II  p.  300; 
Mommsen,  Hermes  XXVII  p.  87).  Die  „partes  quae  ex  Lamiano  et  Domit[iano  salta  iun]ctae 
Thusdritano  sunt"  (Ara  1.  Hadr.)  sind  mit  den  einem  städtischen  Territorium  aus  dem  Territorium 
der  Nachbargemeinde  zugefügten  „praefecturae"  (s.  Feldm.  II  p.  403)  zu  vergleichen.  Das  Doma- 
nialland  war  abgesehen  von  der  hier  fehlenden  Assignation  dem  Colonialland  völlig  gleichartig. 

3*  3 


20 

Domanialland  am  Bagradas  centuriiert  war,  lehrte  schon  die  ara  legis  Hadriana, 
in  der  centuriae  [finitini]ae  saltus  Blandiani  Uden\_sis~]  vorkommen  (Col.  II 2).  Die 
Zugehörigkeit  der  subsiciva  spielt  in  der  römischen  Agrargeschichte  eine  grosse 
Rolle.  Vespasian  vindicierte  die  subsiciva  als  nicht  assigniertes  Land  dem  fiscus 
als  dem  aactor  assignationis,  aber  Domitian  gab  alle  italischen  subcisiva  den  Besitzern, 
vgl.  Hyginus  de  gen.  contr.  (Feldm.  1 133,  9 — 13):  „cum  divus  Vespasianus  subsi- 
civa omnia  quae  non  venissent  .  .  sibi  vindicasset,  .  .  Domitianus  per  totam  Ita- 
liam  subsiciva  possidentibus  donavit"  (vgl.  Sueton,  Dom.  9 :  subsiciva  .  .  .  veteri- 
bus  2>osscssoribus  .  .  .  concessit).  Wir  besitzen  noch  einen  Brief  dieses  Kaisers 
an  die  Gemeinde  Falerio  in  Picenum,  in  dem  er  in  diesem  Sinne  entscheidet 
(Bruns  fontes  6  p.  242).  Durch  die  vorliegende  Stelle  wird  klar,  dass  in  der  ara 
1.  Hadr.  die  „partes  agrorum  .  .  quae  in  centu[ms  finiti?n]ia  saltus  Blandiani 
Udenf.s isqtie]  .  .  sunt'4  solche  subsiciva  waren.  Dadurch  wird  die  Ergänzung 
[finitim]ia  gesichert,   denn  die  subsiciva  sind  unvollständige  centuriae  finüimae. 

„inira  fundo  villae  Mag[nae]  Variani  sive  Mappaliasigalis" .  Dies  ist  der  volle 
Name  der  Villa,  der  nur  noch  einmal  vorkommt  (III  13) ;  gewöhnlich  A)  heisst  sie 
nur  „villa  Magna  sive  Mappaliesiga"  2)  (oder  wie  hier  Mappaliesigalis).  Eine  andere 
Villa  Magna  kennen  wir  aus  der  Inschrift  C.  VIII  p.  113  und  den  Bischofslisten. 
Diese  Villa  Magna  liegt  bei  Leptis  Magna:  Der  Genetiv  Variani  stammt  von 
dem  ersten  Eigentümer  Varius  her.  Villa  Magna  Variani  ist  der  römische,  Map- 
paliesiga 3)  der  einheimische  Name  der  Villa.  Solche  zugleich  den  Namen  des 
römischen  Possessor  und  den  punischen  Lokalnamen  tragende  Güter  kommen  in 
Afrika  häufiger  vor  z.  B.  „Megrada  villa  Aniciorum"  (It.  Anton,  p.  62  Parthey), 
Miuna  villa  Marsi  (It.  Antonini  p.  29  Parthey).  Der  Ausdruck  „intra  fundo 
villae  Magnaeu  bestätigt  meine  Ausführungen  über  die  Einteilung  der  saltus  in 
fundi  (Grundherrsch.  105).  Im  saltus  Horreorum  bei  Sitifls  werden  die  coloni 
nach  den  castella  benannt  (coloni  castelli  Dianensis),  im  saltus  Massipianus  nach 
fundi  (C.  VIII  11735:  coloni  fundi  Ver.  .  .).  Die  fundi  entsprechen  den  pagi, 
die  castella  den  vici  der  Stadtflur:  die  ländlichen  Gemeinden  werden  bald  nach 
ihrer  Ortschaft  bald  nach  deren  Gebiet  benannt. 

Da  die  Domäne  Villa  Magna  aus  mehreren  fundi  besteht,  giebt  es  auch 
mehrere  villae,  vgl.  I  18  :  „que  in  f(undo)  villae  Magnae  .  .  villas  habent  habebunt 
dominicas  ..."  Zu  jedem  fundus  gehört  eine  villa,  denn  die  villa  ist  „pars  fundi* 
vgl.  L.  15  §  2  D.  33,7:    „villa  autem    sine  ulla   dubitatione  pars  fundi  habetur." 


1)  Der  Name  steht  an  folgenden  Stellen:  I  6;   20;    II  7;   III  13;   18;   21;    IV  2;  23;  32. 

2)  Es  kommt  auch  Mappaliasiga  vor:  I  G;  20.  Dagegen  steht  Mappaliesiga:  II  8;  III  13 
(mit  -ae),  18,  21  ;  IV  3;  23;  33.  Statt  des  Genetivs  Mappalie(a)sig(a)e  steht  zweimal  (I  6;  20)  Map- 
paliasiga  uud  zwar  an  den  Stellen,  die  auch  im  Innern  des  Wortes  a  (Mappaliasiga)  schreiben. 
Offenbar  ist  das  zweite  a  dem  ersten  assimiliert. 

3)  Der  erste  Teil  des  Wortes  erinnert  au  das  bei  den  römischen  Autoren  vorkommende  pa- 
nische Wort  mapalia  =  Hütten,  das  dem  punischen  magaiia  (magaria)  zu  entsprechen  scheint, 
(Schröder,  d.  phöniz.  Sprache  p.  104).  Der  zweite  Theil  des  Wortes  siga  kommt  als  Städte- 
namen vor:  so  heisst  z.  B.  die  Hauptstadt  des  Bocchus  von  Mauretanien  (Schröder  p.  94),  vgl. 
den  Meilenstein  C.  VIII  10470:  POMAR(io)  M.  P.  XXVIII  SIG(am). 

3 


DIE    LEX    MAXCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  21 

Auf  „excolere  permittituru  folgt  die  nähere  Bestimmung  des  ins  colendi:  vita 
ut  eas  qui  excoluerit  usum  proprium  habcat." 

Der  Oceupant ,  der  „cultor  agri  rudis1)",  soll  also  den  personlichen  usus 
des  urbar  gemachten  Ackerlandes  haben ,  d.  h.  Fruchtgenuss  nur  zum  Unterhalt 
nicht  zum  Gewinn  durch  Verkauf  etc.  Für  eas  (qui  excoluerit)  müsste  eos  oder 
ea  stehen,  da  sich  das  Relativ  auf  agros  oder  subcesiva  bezieht.  Vor  ita  ut  ist 
noch  Raum  für  ein  kleines  Wort;  ich  kann  es  nicht  finden,  und  sachlich  wird  es 
nichts  ausgemacht  haben. 

Vor  dem  nächsten  Satz  ist  ein  kleiner  Raum  freigelassen  ,  leider  nur  hier, 
während  sonst  alle  Sätze  ohne  Absatz  auf  einander  folgen,  was  das  Verständnis 
der  Urkunde  erschwert.  Der  folgende  Satz  lautet:  „ex  fructibus  qui  eo  loco 
nati  erunt  dominis  aut  conductoribus  vilicisve  eius  f(undi)  partes  e  lege  Man- 
ciana  prestare  debebunt  hac  condicione."  Von  den  Früchten  des  umgebrochenen 
Landes  soll  der  Emphyteuta  also  Quoten  entrichten.  Wie  sind  diese  Quoten  auf- 
zufassen ?  Sind  sie  von  der  ganzen  Ernte  oder  abzüglich  des  usus  zu  ver- 
stehen ?  Ich  glaube  letzteres,  denn  auch  in  der  Ära  legis  Hadrianae  sollen 
Quoten  nur  von  den  zu  verkaufenden  Früchten  geleistet  werden,  also  „salvo  usu", 
s.  Col.  III  12:  „nee  alia  pom(a)  in  divisione(m)  umquam  cadent  qu(a)m  quae  ve- 
nibunt  a  possessoribus."  Die  Analogie  ist  frappant.  Was  sollte  auch  sonst  die 
Zusicherung  des  „usus  proprius,"  wenn  derselbe  sich  nur  auf  den  Anteil  des 
Occupanten  an  der  Ernte  bezog :  dessen  usus  hatte  er  ja  eo  ipso.  Eine  Pan- 
dectenstelle  scheint  mir  meine  Ansicht  zu  bestätigen  L.  42  D.  de  usufruetu  (7.  1)  : 
„si  alii  usus  fruetus  eiusdem  rei  legatur  id  pereipiat  fruetuarius  quod  usuario 
supererit."  Der  Fall  ist  ganz  analog,  nur  dass  „id  quod  usuario  supererit"  wegen 
der  colonia  partiaria  zwischen  coloni  und  conduetor  geteilt  wird.  Den  Begriff 
partes  fruetuum  kennen  wir  aus  der  „ara  legis  Hadrianae",  wo  bestimmt  wird, 
dass  der  Oceupant  nicht  bebauten  Landes  „tertias  partes"  leisten  soll  2). 

Zu  entrichten  sind  die  Quoten  an  die  domini  oder  conduetores  (resp.  ihre 
vilici)  des  fundus,  innerhalb  dessen  „ager  rudisu  bebaut  worden  ist.  Dominus 
steht  hier  durchaus  synonym  mit  conduetor,  da  der  wirkliche  dominus,  der 
Kaiser,  seine  Domäne  nicht  selbst  bewirtschaftet.  Die  Bezeichnung  der  condue- 
tores als  „dominiu  ist  aus  dem  Codex  Justin,  sattsam  bekannt3):  die  langjährige 
Pacht  des  conduetor  machte  ihn  zum  facti  sehen  dominus  der  Domäne.  Die  For- 
mel „dominis  aut  conductoribus  vilicisve  eius  f."  steht  an  folgenden  Stellen:  114; 
94);    IV245),  sonst  wird  das  in  der  That  überflüssige  dominis  fortgelassen.    Ein- 

1)  „de  rudibus  agris"  ara  1.  Hadr.  II   12. 

2)  Im  Dekret  des  Commodus  sind  die  „partes  agraria?1  doch  wohl  mit  Mommsen  (a.  a.  0. 
p.  402)  als  „Ackerfrohnden"  (opera  iugave)  zu  fassen,  da,  wie  Korneman  n  (Berl.  Phil.  Wochen- 
schrift, 5.  Juni  1897.  Sp.  719)  hervorhebt,  im  Dekret  des  C.  nur  von  den  Frohuden  nicht  von 
Fruchtquoten  die  Rede  ist.     Demnach    ist   p.  97  meiner  Schrift,  „d.  röm.  Grundh."  zu  corrigieren. 

3)  Vgl.  Kuhn,  Stadt,  u.  bürg.  Verf.  d.  röm.  Reichs  I.  p.  273. 

4)  Statt  eius  f{undi)  steht  hier  EIS,  offenbar  ein  Fehler;  vor  dominis  ist  das  dem  zweiten 
aut  entsprechende  aut  hinzugefügt. 

5)  Dominis  aut  conduct[oribus  vilicisve  eius  f.).  5 
7 


*J2  ADOLF    SCHULTEN, 

mal  (III  14)  kommt  vor  „conductoribus  vilicisve  dominorum  eius  f(undi)."  Auch 
hier  ist  der  Begriff  dominorum  überflüssig,  da  der  conductor  natürlich  conduc- 
tor  eines  dominus  ist.  1  21  ist  dominis  vor  „aut  conductoribus  vilicisve  eorum"' 
zu  supplieren.  Statt  „conductores  vilicive  eius  f."  kommt  dreimal  „conductor 
vilicusve  eius  ta   vor  (IV  17;  21;  22). 

Der  (servus)  vilicus  ist  wie  der  actor  der  Vertreter  des  conductor,  der  Inten- 
dant. Er  kommt  nur  vor,  wo  sein  Herr  nicht  selbst  auf  dem  Gute  lebt  und  ist 
nicht  etwa  ein  blosser  mit  dem  conductor  zugleich  wirtschaftender  Beamter,  denn 
er  wird  hier  genannt  als  Inhaber  der  Rechte,  also  als  Vertreter  des  conductor. 
Ebenso  erscheint  in  der  lex  metalli  Vipascensis  der  actor:  es  heisst  dort  „Con- 
ducton socio  actorive  eius."  Zu  dem  vilicus  und  actor,  die  Sklaven  sind,  tritt 
als  dritte  Art  von  Intendanten  der  procurator,  ein  Freigelassener,  hinzu.  Er  ist 
von  den  beiden  anderen  nur  graduell  verschieden :  was  auf  kleinen  Betrieben 
actor  und  vilicus  sind ,  ist  im  Grossen  der  procurator.  So  werden  z.  B.  die 
kleineren  Güter  des  Kaisers  von  vilici  oder  actores ,  die  grösseren  —  wie  die 
afrikanischen  saltus  —  von  Procuratoren  verwaltet  v).  Pächter  haben  meist  keinen 
Procurator  sondern  einen  vilicus  oder  actor.  Bekannt  sind  die  vilici  und  actores 
der  Zollpächter  der  illyrischen  und  asiatischen  Zölle-). 

Der  Plural  conductores  ist  wohl  so  zu  verstehen,  dass  die  Domäne  von  einer 
societas  gepachtet  war,    was   bei    der  Grösse  des  Pachtobjekts  das  Natürliche  ist. 

Der  Inhalt  des  Satzes  Zeile  11  f.  ist  nach  meiner  Herstellung  folgender: 
die  Colonen  müssen  den  gesammten  Betrag  (summas)  der  Ernte  dem  conductor 
angeben  (de[fer]ant),  und  wenn  die  conductores  auf  Grund  dieser  Angabe  die  An- 
teile der  coloni  ([partes  colon]icas)  festgestellt  und  mitgeteilt  haben  (renuntiaverint), 
sollen  die  coloni  schriftlich  (tabellis)  sich  zur  Ablieferung  der  den  conductores  zu 
liefernden  Quoten  verpflichten  (caveant)  und  die  conductores  sollen  ihrerseits  den 
coloni  ihre  Anteile  gewähren  (partes  colonicas  praestare  debeant).  Ich  denke,  dass 
diese  Interpretation  der  schwierigen  und  schlecht  erhaltenen  Stelle  gerecht  wird. 
Einzuwenden  wäre  nur  eins,  dass  nämlich  nach  meiner  Auffassung  die  Teilung 
der  Früchte  zwischen  conductores  und  coloni  vor  der  deportatio  in  aream,  zu  der 
die  coloni  verflichtet  sind  (Z.  12),  stattfindet  und  nicht,  was  man  naturgemässer 
finden  könnte,  in  re  praesenti.  Aber  man  muss  bedenken ,  dass  die  Teilung  not- 
wendigerweise auf  die  volle  Ernte,  d.  h.  auf  die  separierten  Früchte  gestellt  ist, 
nicht  auf  das  perzipierte  Quantum,  welches  vielleicht  durch  den  Transport  oder 
etwaige  Schäden  reduziert  ist,  denn  das  Recht  der  conductores  auf  die  Früchte 
ist  durchaus  das  des  Grundeigentümers  ,  der  durch  die  Separation  der  Früchte 
ihr  Herr  wird  (Dernburg,  Pandecten  I  474).  Da  nun  aber  die  coloni  partiarii, 
Teilpächter  sind,  müssen  auch  ihre  Anteile  gleich  nach  der  Separation  berechnet 
werden.  Als  gewöhnliche  Pächter  würden  sie  freilich  erst  durch  Perzeption  in 
den  Besitz    der  Früchte    gelangen.     Ueber    das    Rechtsverhältnis    dieser   Colonen 


1)  Kaiserliche  vilici  und  actores  bei  Dessau,  Inscript.  sei.  p.  341  f. 

2)  Dessau,  Inscr.  sei.  p.  3b'Ö  f.  actor  ist  griechisch  ■jiQuypaxBvTris,  vilicus  oUovopos. 


DIE    LEX    MAXCIAXA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄXEXORDXÜNG.  23 

wird  unten  zu  handeln  sein  :  hier  ist  nur  festzustellen,  dass  sie  wie  die  conduc- 
tores  die  ihnen  zufallenden  partes  fructuum  mit  der  Separation  erwerben .  also 
dasselbe  Recht  wie  jene  haben,  dass  sie  darum  äusserlich  mit  ihnen  in  societas 
stehen.  Denn  so  sieht  ein  auf  divisio  fructuum  zielendes  Rechtsgeschäft  aus. 
Freilich  sind  sie  darum  nicht  weniger  coloni,  also  Pächter  der  conductores :  das 
Rechtsverhältnis  des  colonus  partiarius  ist  eben  äusserlich  societas,  innerlich  locatio 
condictio. 

§  1  behandelt  also  die  divisio,  die  Teilung  der  Ernte  zwischen  Occupant 
(colonus)  und  conductor.  Schon  die  ara  legis  Hadriana  lehrte  uns  den  Begriff 
kennen :  Col.  III  12 :  „nee  alia  pom(a)  in  divisione(m)  umquam  cadent  quam  quae 
venibunt  a  possessoribusa . 

Den  Grund  der  Fruchtteilung  gleich  nach  der  Separation,  also  „par  distance", 
bevor  die  Früchte  noch  geborgen  sind ,  habe  ich  angegeben  ;  dass  es  so  üblich 
war,  zeigt  eine  Parallele  aus  hadrianischer  Zeit,  nämlich  das  Edict  Hadrians 
über  die  von  den  attischen  Oelbauern  der  Stadt  zu  verkaufenden  tertiae  partes 
(C.  I.  Attic.  III  1  p.  21  N.  38) :  auch  hier  geschieht  die  Berechnung  der  Quote 
„par  distance"   und  der  Bauer  muss  eidliche  Garantie  für  seine  Angaben  leisten. 

Ich  bespreche  nun  das  Einzelne :  colonicae  partes  sind  die  dem  Colonen  zufallen- 
den Quoten :  wie  wir  unten  sehen  werden,  meist  zwei  Drittel  der  Ernte,  während 
der  conductor  ein  Drittel  bekommt  (tertiae  partes).  DATVRAS  (Z.  15/16)  macht 
Schwierigkeiten:  Es  muss  hier  eine  Corruptel  vorliegen.  Für  conductores  vilicisve 
ist  offenbar  conductores  vilieive  zu  emendieren,  nicht  etwa  conductor  (ibus)  vilicisve, 
denn  vilicisve  ist  Assimilation  an  die  Formel  conduetoribus  vilicisve,  während  bei 
conductores  kein  Grund  vorliegt,  eine  Corruptel  anzunehmen. 

Aus  §  1  geht  hervor,  dass  der  Anbauer  der  subsieiva  in  die  Rechtsstellung 
des  colonus  partiarius  eintritt,  ganz  wie  der  Occupant  des  „ager  rudis  sive  per 
clecem  annos  continuos  incultus"  der  lex  Hadriana,  nur  dass  er  nicht  wie  dieser 
sein  Recht  vererben  kann ,  also  nicht  Emphyteuta  im  vollen  Sinne  wird.  Noch 
ein  Unterschied  ist  der,  dass  in  der  „lex  Hadriana"  der  Emphyteuta  wie  der 
Colone  behandelt  wird,  während  in  der  Domäne  Villa  Magna  der  Emphyteuta 
selbst  Colone  ist.  Auffallend  ist  nur,  dass  der  Begriff  colonus  nicht  gleich  am 
Anfang  des  Paragraphen,    sondern  erst  mitten  inne  auftritt. 

Uebersehen  wir  nun  den  ersten  Abschnitt  der  Inschrift,  so  ist  in  ihm  die 
Rede  von  den  Normen,  die  auf  den  Emphyteuta  ,,eorum  agrorum  qui  subeesiva  sunt" 
anzuwenden  sind.  Dieses  Rodeland  heisst  in  der  lex  Hadriana  „ager  rudis. "  Ich 
habe  das  „is  qui  exeoluerit"  wiedergegeben  mit  „Emphyteuta",  denn  so  muss 
man  jeden,  der  gegen  eine  Fruchtquote  unbebautes  Land  besät  oder  bepflanzt, 
bezeichnen.  Andere  Paragraphen  der  Inschrift  (§  6  f.)  geben  denn  auch  das 
andere  charakteristische  Merkmal  des  E.:  die  Abgabenfreiheit  für  eine  Reihe  von 
Jahren.  Sie  beziehen  sich  auf  die  Emphyteuse  von  Baumland.  Offenbar  hat 
der  Emphyteuta  von  Ackerland  keine  Zinsfreiheit  für  die  folgenden  Jahre,  was 
sich  daraus  erklärt,  dass  Ackerland  "acht  erst  wie  Baumpflanzungen  nach  Jah- 
ren sondern  sofort  Frucht  giebt.  3 


24  ADOLF    SCHULTEN, 

Die  Quoten  sollen  von  den  Früchten  zu  entrichten  sein,  welche  die  Colonen 
zur  Tenne  bringen  und  dreschen  sollen  (Z.  11).  Scheinbar  ganz  entsprechend 
wird  unten  gesagt  (Z.  24  f.) :  „tritici  ex  aream  partem  tertiana  etc. ,  aber  es  ist 
ein  Unterschied,  denn  die  Quoten  werden  nach  §  1  abgemessen  nicht  auf  der 
Tenne,  d.  h.  nicht  von  den  perzipierten  Früchten,  sondern  gleich  nach  der  Sepa- 
ration. Die  Differenz  erklärt  sich  aus  der  verschiedenen  Rechtsstellung  der  in 
§  1  und  in  §  2  f.  behandelten  Personen :  in  §  1  ist  die  Rede  vom  Occupanten  der 
subsiciva,  dagegen  betrifft  §  2  die  Inhaber  einer  villa,  also  die  ordentlichen 
Pächter.  Der  Üccupant  wird  Eigentümer  der  Früchte  durch  die  Separation, 
leistet  also  die  Quoten  von  den  separierten  Früchten ,  der  gewöhnliche  Pächter 
dagegen  wird  Eigentümer  erst  durch  die  Perzeption ,  leistet  also  die  Quoten  ex 
area,  d.  h.  nach  der  Perzeption. 
§  2.  Zeile  18    beginnt    der  zweite  Paragraph :    er   geht   bis  Col.  II  13.     Das   von 

ihm  betroffene  Rechtssubject  sind  „qui  in  f(undo)  villae  Magnae  .  .  villas  habent 
habebunt  dominicas.a  Von  ihnen  gilt,  wie  folgt:  „(dominis)  eius  f(undi)  aut  con- 
ductoribus  vüicisve  eorum  in  assem  partes  fructum  et  vinea(ru)m  ex  consuetudine  (legis) 
Manciane  cuiusque  generis  habet  prestare  debebunt:  tritici  ex  aream  partem  tertiana 
etc.  Vor  eius  f.  ist  zweifellos  dominis  zu  ergänzen  wie  das  folgende  aut  zeigt. 
Da  die  partes  fructuum  an  die  conductores  zu  leisten  sind ,  können  die  Inhaber 
der  villae  dominicae  d.  h.  der  zu  jedem  fundus  gehörigen  Höfe  *)  nur  Colonen 
oder  eine  ihnen  gleichstehende  Kategorie  sein.  Die  conductores  bewohnen  also 
nicht  selbst  die  Gutshöfe,  sondern  überlassen  sie  den  Colonen.  Dieser  Zustand 
bestätigt  vollständig  meine  Ansicht  (Grundherrschaften  p.  88  f.),  dass  die  Colonen 
Afterpächter  der  conductores  also  Inhaber  der  Domäne  und  die  conductores 
Pächter  der  von  den  Colonen  zu  leistenden  Gefälle  gewesen  seien  2).  Es  ist  klar, 
dass  nicht  jeder  eine  villa  dominica  bewohnte  —  die  Colonen  wohnen  in  den 
casae  colonicae  oder  in  den  castella  —  aber  jedenfalls  gab  es  unter  ihnen  solche  : 
es  müssen  das  die  Pächter  des  Hoflandes  der  verschiedenen  fundi  gewesen  sein, 
welches  hiernach  der  Conductor  nicht  selbst  inne  hat.  Der  Ausdruck  „partes  in 
assem  praestare"  kam  schon  oben  vor  (Z.  14).  Er  bedeutet  „die  Quoten  unver- 
mindert, ohne  irgend  welchen  Abzug  leisten". 

Statt  cuiusque  —  habet  würde  man  cuiuscunque  —  habet  erwarten.  Quisque 
kommt  relativisch  gebraucht  auch  sonst  vor  z.  B.  C.  IV  1937:  „quisque  me  ad 
cenam  vocarit  v(aleat)"  und  C.  XIV  1736:  „quisque  heres  meus  corpus  meum  in 
hoc  sarcophago  non  adiecerit" ;  (man  vergleiche  die  Indices  des  Corpus  unter 
rGrammaticaa).  Für  VINEAM  ist  wohl  vineairu)m  zu  schreiben.  Aehnlich 
steht  Col.  II  11  statt  examina  EXAMA.    „Ex  consuetudine  (legis)  Mancianaeu  soll 


1)  Vgl.  Columella  IX  praef. :  „dominicas  habitationes"  (=  villas). 

2)  Korneraanu  führt  in  der  oben  citierten  Rezension  meiner  Schrift  dagegen  an,  dass  die 
Colonen  des  saltus  Burunitanus  sich  dem  Kaiser  gegenüber  als  „rustici  tili  vernulae"  bezeichnen, 
also  als  Hauern  des  Kaisers,  nicht  der  conductores.  Aber  der  devote  Ausdruck  bezeichnet  doch 
nur  <las  Unterthunenverhältnis  der  kleinen  Pachtbauern  dem  kaiserlichen  Grundherrn  gegenüber, 
nicht  das  Pachtverhältnis.     „  Vernulae"  ist  doch  auch  nicht  wörtlich  zu  nehmen. 

3 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  25 

heissen  „gemäss  der  Praxis  der  1.  M."  Streng  genommen  i3t  lex  und  consuctudo 
ein  Widerspruch. 

Zu  J'abae  ex  areamu  vergleiche  man  L.  14  D.  de  alimcnt.  et  cib.  leg.  (34,  1): 
„.  .  vel  areae  tuae  ad  frumenta  ceteraque  legumina  exprimcnda  utendi".  Auf 
der  Tenne  werden  nicht  allein  die  Halmfrüchte  (frumentum)  gedroschen,  sondern 
auch  die  Hülsenfrüchte  (legumina)  enthülst.  Die  beiden  Gattungen  gehören  über- 
haupt zusammen  (vgl.  L.  77  D.  ad  raun.  50,  16).  Der  Zusatz  „ex  areau  bedeutet,  dass 
der  Colone  von  den  zum  Gebrauch  fertigen  Früchten,  nicht  von  dem  Ruhmate- 
rial, den  Dritten  geben  soll,  wie  er  entsprechend  auch  vom  gekelterten  Wein, 
vom  gepressten  Oel  und  vom  flüssigen  Honig  .seine  partes  zu  leisten  hat. 

Dem  „triticum,  hordeum,  faba  ex  areau  entspricht  „vinum  de  laco".  Lacus 
ist  der  Behälter,  in  den  der  ausgepresste  Traubensaft  fliesst  (s.  Varro  r.  rust.  I, 
54  Keil;  Columella  d.  r.  r.  XII  19).  OL  |  .  .  ACTI  ist  sicher  in  o\[ei  cojacti 
zu  ergänzen  :  oleum  cogere  kommt  z.  B.  bei  Cato  64,  144  (Keil)  vor.  Der  Honig 
soll  flüssig  in  den  Honigbehältern  (alvei  mellarii  =  unten  (Z.  11)  „vasa  mdlaria") 
zur  divisio  gelangen.  Die  alvei  mellarii  sind  nicht  mit  den  alvei  oder  alvearia,  den 
Bienenstöcken,  zu  verwechseln.  Von  den  zur  Aufnahme  des  flüssigen  Honigs  die- 
nenden alvei  handelt  Columella  IX  15 :  „deinde  ubi  liqaatum  mel  in  subiectum  alveum 
defluxit.  ..."  „In  alveis  mellaris"  ist  dem  „ex  area"  und  „de  law  correlat,  und 
bezeichnet  die  Art  der  Lieferung  wie  jene  Zusätze.  Diese  Auslegung  erfordert 
die  Analogie ,  ausserdem  sind  die  alvei  mellarii  kein  Maass.  Beim  Honig  wird 
also  nicht  eine  „pars  quotau  sondern  ein  „quantum"  geleistet,  nämlich  ein  sex- 
tarius  pro  Gefäss.  Diese  Anomalie  erklärt  sich  wohl  daraus,  dass  man  bequemer 
aus  jedem  Honigtopf  einen  sextarius  abmessen  als  die  ganze  Honigmenge  in 
partes  teilen  konnte.  Der  Fall  ist  lehrreich,  denn  er  zeigt,  dass  die  Grenze 
zwischen  Pacht  gegen  merces  und  Teilpacht  (colonia  partiaria)  da,  wo  die  merces 
in  einem  Fixum  an  Früchten  statt  an  Geld  zu  leisten  ist,  sehr  unbestimmt  ist1). 
Diese  Normirung  der  Honigleistung  steht  thatsächlich  in  der  Mitte  zwischen 
einem  bestimmten  Quantum  und  einem  bestimmten  Quotum :  Die  Quote  nähert 
sich  dem  Quantum  dadurch,  dass  sie  als  Quantum,  nämlich  so  viele  Sextare  als 
Töpfe  voll  werden,  angegeben  ist,  sie  bleibt  Quote,  weil  jeder  Topf  einen  Teil 
der  ganzen  Ernte  darstellt.  Unterscheidbar  ist  Quantum  und  Quotum  stets  da- 
durch,   dass  das  Quantum  schon  vor,    das  Quotum  erst  nach  der  Ernte  feststeht. 

An  die  Angabe    der    vom  Honig   zu    entrichtenden   partes   schliesst   sich    ein 

Zusatz  an:    „qui  supra  quinque  alveos  habebit conduetoribas  .  .  d(are)  d(ebe- 

bit).u  In  Col.  II  Zeile  5  muss  hinter  ..in  as8emu  die  Angabe  der  partes  ge- 
standen haben  wie  sonst  immer.  Es  kann  in  der  Zusatzbestimmung  wohl  nur 
gestanden  haben,  dass,  wer  mehr  als  fünf  alvei  —  das  heisst  doch  wohl  auch 
hier  Honiggefässe  —  nach  der  Ernte  (vindemia  meüaria,  s.  Columella  IX  15) 
besitzt,  davon  so  und  so  viel  partes  entrichten  soll  —  während  die  vor- 
stehenden Colonen ,   also  wer  weniger  als  fünf  alvei  hat,  pro  alveus  einen  Sextar 

1)    Ueber    die  Identifizierung    des    rechtlichen  Charakters    von   pars    qnota    und   p.    quanta 
s.  W  aaser,  col.  part.  p.  24. 

Abhandlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wisa.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  3.  4  3 

7    * 


20  ADOLF   SCHULTEN, 

abzugeben  baben.  Qu[o  vin]demia  mellaria  fact[a  erit]  nicbt  fue[n£]  ist  *  zu  lesen. 
J  las  ist  aucb  sachlich  besser,  da  die  Zeit  nach  der  Ernte  mit  facta  erit  schärfer 
bezeichnet  ist  als  mit  fuerit.  Alvei  müssen  auch  hier  die  Honigtöpfe  sein ,  weil 
es  sieb  um  die  fruetus  apium,  nicbt  um  den  Bestand  an  Bienenkörben,  die  sonst 
aucb  alvei  beissen,  bandelt 1).  Die  bei  einer  Ernte  von  mehr  als  fünf  alvei  zu  lei- 
stenden partes  werden  wohl  tertiae  partes ,  d.  h.  die  normale  Quote  gewesen  sein. 
Sie  kam  offenbar  in  Anwendung,  wenn  die  Ernte  erheblich  mehr  betrug,  als  der 
Colon  zum  eigenen  Usus  gebrauchte:  ein  Sextar  pro  alveus  müsste  demnach  eine 
geringere  Quote  als  ein  Drittel  sein.  Leider  wissen  wir  nicht,  wie  viele  Sextare 
ein  alveus  enthielt. 

Was  QVI  in  Z.  5  (Col.  II)  ist,  weiss  ich  nicbt. 

Man  kann  kaum  zweifeln,  dass  „in  tempore  quo  vindemia  mellaria  fact[a  erit]0, 
zu  „alveos  habebitu  und  nicbt  zu  ,,dare  debebit"  gehört. 
§  3.  Zeile  6  beginnt  ein  neuer,  der  dritte  Paragraph. 

Aucb  er  betrifft  die  Bienenkultur.  Die  Rede  ist  von  solchen  Colonen  .  die 
in  unrechtlicher  Absiebt  —  „quo  fraus  conduetoribus  fiat'1  —  Bienenschwärme  und 
zur  Honigbereitung  gehörige  Geräte  von  dem  fundus  entfernen.  Da  diese  Dinge 
zum  „instrumentum  fundiu  gehören2),  schädigt  ihre  Entziehung  und  damit  die 
ihrer  Früchte  den  conduetor.  Die  „alveiu  sind,  da  vasa  mellaria  nachber  genannt 
werden,  diesmal  nicht  die  obengenannten  alvei  mellarii,  sondern  die  alvearia,  die 
Bienenkörbe.  Aus  dem  fundus  villae  Magnae  bringen  die  Colonen  die  Bienen 
und  das  Gerät  „in  ootonarium  agrum"  (Z.  8).  Was  ist  das  für  eine  Kategorie 
von  Grundstücken?  Der  Zusammenhang  zeigt,  dass  die  Colonen  die  Bienen  dort- 
hin bringen,  um  sich  der  Leistung  der  partes  zu  entziehen.  Der  oct.  ager  muss 
also  ausserhalb  des  fundus  villae  Magnae,  ausserhalb  des  Bereiches  der  conduc- 
tores  liegen.  Ortonarius  kann  alles  mögliche  heissen,  je  nach  dem  zu  octoni  zu- 
gehörigen Nomen :  octonaria  ftstula  z.  B.  (Frontin  de  aquaed.  28,  42)  ist  ein 
Wasserrohr  von  acht  digiti  Umfang.  Unter  den  nomina  agrorum  der  Feldmesser 
(I  p.  24*5)  kommt  oct.  ager  nicht  vor. 

Im  Nachsatz  stellt,  dass  die  Colonen  im  Falle  doloser  Entfernung  der  Bienen 
etc.  „conduetoribus  .  .  in  assem  [.  . .  partes  d.  d.]a  So  ist  der  Rest  sicher  zu  er- 
gänzen,  aber  die  Modifikation  dieser  Leistung  wegen  des  begangenen  dolus  ist 
mir  nicht  gelungen  herzustellen,  da  ich  nicht  weiss,  was  zwischen  fiat  a.  .  und  .  .  tis 
cxam{in)a  gestanden  haben  kann.  Vielleicht  war  gesagt ,  dass  im  Falle  einer 
solchen  Defraudation  die  ganzen  „in  octonarium  agrum"  deportierten  Objecte  con- 
fisziert  werden  sollen.  Man  könnte  auch  A[b  ül]is  vermuten  und  annehmen,  dass 
wie  so  oft  statt  des  Ablativs  examinibus,  apibus  etc.  der  Accusativ  gesetzt  sei. 
Dass  die  Colonen  auch  von  den  entwendeten  fruetus  Quoten  leisten  sollen,  war 
eine  sehr  natürliche  Bestimmung.  Freilich  würde  man  vor  „ab  illisu  etiam  erwarten. 

1)  Toutain  fasst  aheus  stets  als  Bienenkorb  („ruebe"):  „pour  le  miel  en  rnebes"  ;  „ceux  qui 
anront    pius  de  <.inq  ruches". 

2)  L.  10  Ü.  de  instrueto  et  instrumenta  legato  (33,7):  si  reditus  etiam  ex  melle  constat,  alvei 
ajje.sque  continentur  (seil,  instrumento  j'undi). 


DIE   LEX   MAXn.VN'A,   EINE   AFRIKANISCHE   DOMÄNENOBDNÜNG.  27 

Der  vierte  Paragraph  (Z.  12 — 17)  enthält  Bestimmungen  über  ^ßeus  (nahte  ar-  §  4. 
boresly.  Das  sind  doch  wohl  dürre,  oder  nicht  mehr  ganz  fruchtbare  Feigenbäume 
und  nicht  etwa  solche  Feigenbäume,  deren  Früchte  getrocknet  werden,  denn  arbores 
fici  sind  Bäume,  die  Feigen  tragen,  „aridae  arbores  ficv'  würden  also  Bäume,  die 
trockene  Feigen  tragen,  sein,  welche  allein  mögliche  Interpretation  auch  Herrn 
Toutain,  der  „figues  seches  provenant  d'arbres  .  ."  übersetzt,  nicht  gefallen 
wird.  Freilich  trägt  auch  ein  dürrer  Baum  (arida  arhor)  nach  dem  Sprichwort 
keine  Früchte,  aber  aridus  braucht  nicht  zu  scharf  genommen  zu  werden.  Hinter 
arbores  ist  wohl  nicht  „et  oleae"  zu  ergänzen  (obwohl  im  folgenden  Paragraphen 
Feigen-  und  Oelbäume  zusammen  auftreten),   sondern  etwa  [aliaevc  arbores]. 

Die  betreffenden  Bäume  scheinen  ausserhalb  des  Obstgartens  {extra  pomario) 
gestanden  zu  haben. 

Der  Relativsatz  „qua  pomarium  .  .  ."  wird  eine  nähere  Bestimmung  des  extra 
enthalten  haben,  etwa  die  Angabe  der  passus,  welche  das  pomarium  von  der  villa 
entfernt  war.  Offenbar  sollen  von  solchen  entfernt  von  der  villa  gelegenen  Pflan- 
zungen geringere  Leistungen  gegeben  werden ,  wie  ja  auch  in  der  Constitution 
rde  omni  agro  desertou  (Cod.  11,  59)  „agri  desertta  und  „lange  positi"  zusammen 
genannt  werden  (L.  8).  Auf  solche  entlegenen  Kulturen  ,  deren  Bewirtschaftung 
vom  Hofe  aus  lästig  war,  wurden  naturgemäss  emphyteutische  Bestimmungen  an- 
gewendet wie  auf  das  Oedland  ,  denn  überall  da  setzt  die  Emphyteuse  ein ,  wo 
der  Inhaber  der  Villa  das  Land  liegen  lässt.  Daraus  folgt  doch  wohl,  dasa  von 
diesen  Bäumen  keine  Quoten  zu  entrichten  waren.  Etwas  anderes  —  etwa  dass 
(wie  im  folgenden  Paragraphen  steht),  die  Colonen  während  einiger  Jahre  die 
ganze  Ernte  haben  und  erst  dann  partes  leisten  sollen  —  kann  im  Nachsatz 
nicht  gestanden  haben  — ,  denn  für  eine  solche  Zeitbestimmung  ist  in  den  Lücken 
kein  Raum.  Man  kann  nur  ergänzen:  „col[ow]is  arbitrio  suo  co[lere  licebit  nee 
fructuu]m  Conducton  vilicisue  eius  f.  parj/es  d(arc)  d(ebebunt)u. 

Für  Z.  14  liegt  die  Herstellung  nahe  :  „qua  pomariu[wj  extra  ©tTjlam  ipsfam]  sit". 

Der  folgende  Paragraph    bestimmt    über   die    von    vor    oder  nach    Erlass  der  §  :>. 
neuen  Ordnung  gepflanzten  Oel-  und  Feigenbäumen  zu  leistenden  Abgaben.     Vostea 
und  ante  [hanc  legem?']  kann  nur  auf  die  neue  Ordnung  bezogen  werden. 

Zwischen  „oliveta  quae  ante"  und  „consuetudinem"  ist  etwa  zu  supplieren 
[hanc  legem  sata  sunt  iuxta].  Zu  fructu(u)m  muss  partes  suppliert  werden.  Zu 
consuetudinem  ist  zu  vergleichen  oben  123:  „partes  fruetum  ...  ex  consuetudine 
Manciane  .  .  prestare  debebunt". 

Die  Anordnung,  dass  für  alte  Bestände  von  Feigenbäumen  und  Oliven  die 
bisher  üblichen  Normen  gelten  sollen,  ist  an  sich  völlig  klar,  scheint  alter  über- 
flüssig zu  sein,  da  schon  oben  (§  2)  von  den  partes  olei ,  welche  die  Inhaber  der 
villac  ex  consuetudine  legis  M.  leisten  sollen,  gehandelt  ist.  Die  „oliveta  et  ficeta 
partem"  müssen  deshalb  entweder  nicht  im  Bereich  jener  villae  gelegen  gewesen  sein. 


1)  arhor  fici  (wie  pecus  ovium)  oft   bei  den  Scriptores  rei  rast. 

4* 


28  ADOLF    SC nüLTEN, 

oder  der  Satz  ist  überflüssig  und  nur  Einleitung  zum  folgenden,  der  Im  Gegen- 
satz zu  den  alten  Beständen  auf  dem  Gebiet  der  Villa  von  Neupflanzungen  handelt. 

§  6.  Der  folgende  Paragraph  (§  6)  schliesst  sich  unmittelbar  an  den  vorstehenden 

an  und  bestimmt,  dass  von  später  (postea) ,  d.h.  nach  Publikation  der  Urkunde 
angelegten  Feigenpflanzungen  —  im  Gegensatz  zu  den  ficeta  vetera ,  den  bereits 
vorhandenen  —  der  Colone  während  der  ersten  fünf  Feigenernten  (ficdtiones)  die 
Früchte  selbst  behalten  und  erst  dann  Quoten  leisten  soll.  Hinter  arhitrio  mo 
lese  ich  EOQVISERVERIT ;  man  würde  erwarten  „ei  qui  severit".  Z.  27  wird 
der  Pflanzer  bezeichnet  mit  „is  qui  ita  fuerit",  was  ebenso  unverständlich,  aber 
sicher  überliefert  ist. 

Neu  ist  der  Ausdruck  ficatio  für  Feigenernte,  wogegen  olivalio  (III  6)  durch 
eine  Glosse  *)  belegt  ist. 

Dieser  Paragraph  ist  unzweifelhaft  eine  Bestimmung  über  die  Emphyteuse, 
deren  charakteristische  Merkmale  das  serere  ((pvrsvstv)  und  die  mehrjährige  Frei- 
heit vom  Pachtzins  sind.  Die  beiden  vorstehenden  Paragraphen  (4  und  5)  sind 
nur  der  Ordnung  der  Emphyteuse  vorausgeschickte  Normen  für  unbrauchbares 
Baumland.  Fünf  Jahre  Vollgenuss  der  Früchte  wird  auch  in  der  bekannten  In- 
schrift von  Thisbe  -)  dem  xctrcdaßcjv  (=  oecupator  agri  inculti)  garantiert.  Schon 
oben  im  ersten  Paragraphen  unserer  Inschrift  fanden  wir  Emphyteuse  und  zwar 
bei  Umwandlung  von  „subsieiva"  in  Ackerland,  aber  ohne  andere  Angaben  als: 
1)  „agros  qui  su[bc]esiva  sunt  excolere  permittitur",  2)  „usum  habeat",  3)  ..partes 
e.  1.  Manciana  dare  debebit".  Dass  dort  von  dem  bezeichnendsten  Merkmal  der 
Emphyteuse,  dem  Erlass  des  Pachtzinses  für  mehrere  Jahrgänge  keine  Spur  ist, 
habe  ich  bereits  dadurch  erklärt,  dass  für  den  sich  sofort  rentierenden  Getreide- 
bau keine  mehrjährige  Abgabenfreiheit  am  Platze  war. 

§  7—9.  Um  gleich  die  folgenden,  ebenfalls  die  Emphyteuse  behandelnden  Paragraphen 

heranzuziehen,  so  wiederholt  §  7  die  Normen  des  §  6  für  Wein-  und  §  8  für  Oli- 
ven-Anpflanzungen;  nur  sind  letztere  statt  für  fünf,  für  zehn  Jahre  zinsfrei. 
§  9  bestimmt ,  dass ,  wer  wilde  Olivenbäume  (oleastri)  pfropft,  tertiae  partes  nach 
fünf  Jahren  —  also  wie  bei  Feigen-  und  Weinanpflanzungen  —  geben  soll. 

Diese  Normen  stimmen  in  frappanter  Weise  mit  denen  der  „lex  Hadriana 
de  rudibus  agris"  (Hermes  1894  p.  203  f.)  überein 3).  Auch  nach  der  lex  Ha- 
driana sind  die  Oliven  10  Jahre  frei;  dagegen  die  anderen  Bäume  (poma)  nur 
sieben  Jahre,  während  nach  der  lex  Manciana  Feigen-  und  Weinpflanzungen  nur 
fünf  Jahre  zinsfrei  sind.  Die  fünfjährige  Freiheit  vom  Pachtzins  kommt  wohl 
von  der  bei  locatio  conduetio  üblichen  fünfjährigen  Pachtzeit,  dem  quinquennium 
her.     Dass   für   Olivenpflanzungen   die   doppelte   Zeit   Zinsfreiheit   gegeben   wird, 

1)  Glossae  ed.  Goetz  II  p.  224:  „iXaionoiiu.  olivatio". 

2)  Ditteu  berger  im  Ind.  lect.  von  Halle  1d91/1892. 

3)  „de  oleis  quas  quisq[ue  e  possessojribus  posuerit  aut  oleastris,  [quas  in  sejruerit,  captornm 
fruetum  nu[lla  pars]  decem  proximis  annis  exigat[ur]  set  nee  de  pomis  septem  annis  proximis.  .  . 
.  .  .  quas  partes  aridas  t'ructum  quisque  debebit  dare  eas  proximo  quiuquennio  ei  dabit,  in  ruius 
conduetione  a^r(um)  oecupaverit,  post  it  tempus  rationi[bus]". 


DIE   LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE   DOMÄNENORDNUNG.  29 

möchte  ich  damit  erklären ,  dass  die  römischen  Landwirte  nur  auf  jedes  zweite 
Jahr  eine  gute  Olivenernte  rechneten,  s.  Columella  V  8 :  „nam  quamvis  non  con- 
tinuis  annis,  sed  fere  altero  quoque  (olea)  fructum  afferat  — u. 

Die  nach  Ablauf  der  fünf  (zehn)  Jahre  zu  leistende  Quote  ist  ein  Drittel, 
wie  ja  auch  der  Inhaber  einer  „villa  dominica"  von  Weizen,  Gerste,  Bohnen, 
Wein  und  üel  tertiae  partes  zu  geben  hat  (I  24  f.). 

Der  folgende  (zehnte)  Paragraph  handelt  offenbar  von  den  mit  Futterkräutern  §  lö« 
(pabulum)  bestellten  Aeckern.  Das  geht  1)  aus  der  Erwähnung  der  Wicken 
(viciae) ,  2)  daraus  hervor,  dass  im  anschliessenden  Paragraphen  von  dem  für 
Viehweide  im  fundus  villae  Magnae  zu  entrichtenden  Weidegeld  gehandelt  wird- 
Hierzu  kommt  die  Negative,  dass  das  mit  Getreide  bestellte  Land  oben  behan- 
delt ist  (I  24).  Da  alle  Futterkräuter  an  die  conductores  abzuliefern  sind  und 
für  die  Viehweide  ein  Weidegeld  zu  zahlen  ist,  erhellt,  dass  das  Weideland  Regal 
der  conductores  war.  Es  war  offenbar  Prinzip  der  conductores,  die  viel  Arbeit 
erfordernden  Betriebe,  also  die  Getreide-  und  Baumkultur,  zu  verpachten,  dagegen 
die  extensiven  Wirtschaftsarten,  die  Viehzucht  und  den  dazu  gehörenden  Bau 
der  Futterkräuter  in  eigener  Regie  zu  behalten.  Auch  dies  zeigt,  dass  die  con- 
ductores ,  ebenso  wie  die  „Possidenti"  des  modernen  Italien ,  keine  Landwirte, 
sondern  Kapitalisten  sind,  bedacht,  ihr  Kapital  gegen  feste,  wenn  auch  vielleicht 
kleine  Rente  arbeiten  zu  lassen  und  die  landwirtschaftliche  Arbeit  auf  die  After- 
pächter abzuwälzen. 

In  Col.IIIZ.  16  hat  sicher  gestanden  VILICISV[e  debeJNTVR  und  nicht,  wie 
Cagnat  ergänzt,  VILICISV[e  eius  f.].  NTVR  ist  deutlich  zuerkennen.  Auch 
ist  „fruchts  condudoribus  .  .  custodes  exigere  debebunt"  sprachlich  unzulässig :  es 
müsste  heissen  „pro  condudoribus  u .  Ferner  folgt  auf  den  Dativ  „condudoribus 
vilicisve"  stets  der  Begriff  deberc.  Warum  sind  aber  die  Wicken  ausgenommen  ? 
ich  denke,  weil,  wie  der  folgende  Paragraph  zeigt,  auch  die  Colonen  Vieh  haben, 
also  Futterung  für  dasselbe  bedürfen. 

Die  custodes  sind  vom  conductor  zur  Ueberwachung  der  Ernte  und  richtigen 
Ablieferung  der  Leistungen  angestellte  Leute.  Solche  stellt  auch  Plinius  —  nach 
der  berühmten  Stelle  epist.  IX  27  x)  —  an,  um  die  richtige  Leistung  der  Frucht- 
quoten zu  überwachen.  Das  Amt  des  custos  ist  das  ..exigere  fructus".  Lnten 
(§  19)  erscheinen  die  custodiae  unter  den  operac  der  gutsherrlichen  Leute. 

Wie  sich  §  10  mit  den  Futterkräutern,  so  beschäftigt  sich  §  11  mit  dem  Vieh.  §  11. 
welches  innerhalb  der  Domäne  weidet2).     Für  jedes  Stück  sollen  vier  As3),  also 
ein  Sesterz  Weidegebühr   an    die  conductores   als  Inhaber    der  Weide   (s.  o.)    zu 


1)  medendi  una  ratio  si  non  nnmmo  sed  partibus  locem  ac  deinde  ex  meis  aliquos  operis 
exactores  custodes  fructibus  ponam. 

2)  Es  steht  da  „peeora  [quae  .  .  .  p]ascenturu,  nicht  „pecora  [quae  colouus]  pascit",  obwohl 
Toutain  übersetzt  „Quant  aux  troupeaux  que  Ton  fera  paitre". 

8)  AERA  QVATTVS  ist  natürlich  in  „aera  qttattuor*  zu  emendieren.  Toutain  übersetzt 
statt  dessen:  „les  colons  devront  payer  pour  chaque  tete  de  betail  la  redevance  due  aux  locataires" 
und  liest :  quae  ius  (est). 


30  ADOLF    SCHULTEN, 

entrichten  sein.  Der  Begriff  der  scriptura,  des  Weidezinses,  ist  aus  der  lex  agraria 
vom  Jahre  111  v.  Chr.  wohl  bekannt  (s.  Zeile  19:  „. .  proque  scriptura  pecoris'4); 
doch  haben  wir  andere  Angaben  über  seinen  Betrag  nicht.  Vier  As  =  1  Sesterz 
ist  wenig  genug  und  wohl  nur  der  übliche  Recognitionsschilling,  wie  er  bei  dem 
die  Schenkung  involvierenden  Scheinverkauf  vorkommt.  Ich  verstehe  die  beiden 
Paragraphen  so:  Dafür,  dass  die  Colonen  alle  Futterkräuter  an  die  conduetores 
ablieferten,  hatten  sie  das  Recht  der  Viehweide 1). 

§  12.  Der  folgende  §  12    handelt   von    solchen,    die    auf  der   Domäne  Villa  Magna 

hängende  (Baum-)  oder  stehende  (Feld-)Früchte.  einerlei  ob  reife  oder  unreife, 
abschneiden  (caedere.  excidere)  und  ausführen  (exportare,  deportare).  Der  Be- 
griff detrimentum  in  Z.  24  zeigt,  dass  bestimmt  wurde,  wer  den  Schaden  zu  tra- 
gen habe. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Behandlung  eines  solchen  Falles  in  den  Rechts- 
quellen, um  mit  Hülfe  der  Analogie  das  Dunkel  dieses  Paragraphen  zu  erhellen, 
so  gilt  den  Juristen  Wegnahme  stehender  oder  hängender,  also  noch  nicht  per- 
cipierter  Früchte  als  damnum  und  wird  lege  Aquilia  de  damno  belangt;  vgl. 
L.  27  §  25  D.  ad  1.  Aq.  (9.  2) :  si  olivam  immaturam  decerpserit  vel  segetem  de- 
secuerit  immaturam  vel  vineas  crudas  Aquilia  tenebitur  .  .  .  sed  si  collecta  haec 
intereeperit,  furti  tenetur"  '-). 

Die  Klage  hat  sowohl  der  Pächter  als  der  Eigentümer,  vgl.  L.  27  §  14  cit. : 
„  .  .  si  lolium  aut  avenam  in  segetem  alienam  inieceris  non  solum  quod  vi  aut 
clam  dominum  posse  agere  vel,  si  locatus  fundus  sit,  colonum  sed  et  in  factum 
agendum  et  si  colonus  eam  exereuit,  cavere  eum  debere  amplius  non  agi,  scilicet 
ne  dominus  amplius  inquietet".  Die  Klage  ging  auf  „quanti  ea  res  erit  in  die- 
bus  triginta  proximis",  vgl.  L.  27  §  5  cit. :  „tertio  autem  capite  ait  eadem  lex 
Aquilia :  ceterarum  rerum  praeter  hominem  et  peeudem  occisos  si  quis  alteri  dam- 
num faxit  quod  usserit,  fregerit.  ruperit  iniuria  quanti  ea  res  erit  ..."  etc. 
Wenn  die  Klage  nun  nicht  zum  Ziele  führt,  so  erhebt  sich  die  Frage,  ob  der 
Colone  vom  Gutsherrn  —  oder  hier  dem  conduetor,  der  ja  domini  vicem  ist  — 
Entschädigung  beanspruchen  kann,  wie  sie  ihm  wegen  vis  maior  zusteht.  Die 
Pandektenjuristen  entscheiden  zu  Gunsten  des  wirtschaftlich  Schwachen,  des  Co- 
lonen, wie  aus  folgenden  Stellen  folgt:  L.  9  §  4  D.  locati  condueti  (19.2):  „si  ca- 
pitis latrones  citra  tuam  fraudem  abegisse  probari  potest  iudicio  locati  casum 
praestare  non  cogeris  atque  temporis,  quod  insecutum  est,  mercedes  ut  indebitas 
reeiperabis"  ;    ähnlich  L.  15  §  2  cit.  :    „idemque   (damnum  domiui  futurum)    dicen- 

1)  Freie  Viehtrift  wird  auch  in  der  p.  38  abgedruckten  Stelle  aus  Dio  von  Prtisa  dem  Emphyteuta 
garantiert.  Eine  höchst  interessante,  auf  Viehweide  bezügliche  Inschrift  ist  in  Hcnchir  Sguigga  (s.  C. 
VIII  819)  in  der  Nähe  von  Zaguän  (Tunisie)  gefunden  worden,  s.  Rev.  Arch.  1894  p.  413  (aus  Bull.  arch. 
du  l'omite  1893  p.  231).  Sie  enthält  eine  Beschwerde,  welche  Possessoren  im  Gemeinderat  darüber 
führen,  d;iss  ihre  Aecker  durch  fremdes  Vieh  geschädigt  würden.  Als  Anlage  wird  ein  kaiserliches 
Rescript  mitgeteilt.  Leider  ist  die  Inschrift  augenblicklich  nicht  aufzufinden  (Mitteilung  von 
Gauckler),  sodass  eine  genaue  Revision  mit  Hülfe  eines  Abklatsches  noch  aussteht. 

2)  Zum  furtum  von  Früchten  vgl.  L.  83  §  1   1).  de  furtis  (47.  2). 


DIE    LEX    MANTIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  31 

dum  si  exercitius  praeteriens  per  lasciviara  aliquid  abstaut".  Dagegen  vertritt 
der  Codex  Iustinianus  das  Recht  des  Verpächters:  L.  1  C.  de  locato  et  cond. 
(4.65);  „dominus  horreorum  periculum  vis  maioris  vel  efFracturam  latronum  con- 
ductori  praestare  non  cogitur"  und  L.  12  cit. :  ..damnum,  quod  per  adgressuram 
latronum  in  possessionibus  locatis  rei  tuae  illatum  esse  proponis,  a  domina  earun- 
dem  possessionum  .  .  sarciri  nulia  ratione  desideras". 

Im  vorliegenden  Paragraphen  war  sicherlich  zunächst  die  Rede  von  dem 
praestare  deberc  des  Schadenstifters,  denn  in  der  ganzen  Inschrift  wird  von  der 
Leistung,  welche  das  Subject  des  mit  si  quis  oder  qui  beginnenden  Satzes  schul- 
det, gehandelt.  Dem  „si  quis  .  .  .  exciderit"  etc.  könnte  als  Nachsatz  a  priori 
„tantum  praestare  d[cbebit]u  (Col.IV2),  was  ja  völlig  zu  der  oben  besprochenen 
Rechtspraxis  passt ,  entsprechen,  aber  „conductoribus  vilicisve  eiu[s]  f[undi)a  (III 
24)  und  coloni  (IV  1)  kann  nicht  wohl  im  selben  Satze  gestanden  haben  —  denn 
das  ergäbe  „conductoribus  .  .  coloni  praestare  d[ebent]u,  was  sinnlos  ist,  da  der 
Colone  doch  zunächst  selbst  von  dem  damnum  betroffen  wird  ;  auch  ist  die  Wort- 
stellung unerhört :  es  heisst  stets  vcoloni  conductoribus  p.  d.u .  Mir  scheint  es 
unzweifelhaft,  dass  hinter  „conductoribus  vilicisve  eiu[s]  f.u  wie  auch  sonst  stets 
„praestare  debebit*  gestanden  hat.  Die  beiden  Buchstaben  P.  D.  (s.  II  24)  müssen 
wie  V[s]  F.  auf  dem  unteren  Rande  gestanden  haben.  Nur  wenn  der  Schreiber 
noch  das  Satzende  auf  die  Seite  bekommen  wollte ,  versteht  man ,  dass  er  die 
letzten  Buchstaben,  also  VS.F.P.D  auf  den  Sockel  schrieb. 

Es  fragt  sich  nun,  was  der  Schadenstifter  zu  prästieren  hat.  Am  Ende  der 
Zeile  steht  SEQVE ;  vor  detrimenti  ist  ENII  sicher,  ich  möchte  also  lesen  SEQVEN- 
TIS  QVINQVENII  oder,  da  vor  ENII  eine  grade  Hasta  steht,  die  zu  keinem  V 
zu  passen  scheint.  BIENII.  Dann  würde  der  Beschädiger  also  den  aus  der  Beschä- 
digung entstehenden  Verlust  für  die  folgenden  zwei  (?)  Jahre  zu  ersetzen  haben, 
das  heisst  für  die  direct  beschädigte  Ernte  und  die  folgende,  die  ja  auch  in 
dubio  durch  gewaltsames  Abreissen  der  Früchte  geschädigt  ist.  Den  folgenden 
Satz  möchte  ich  so  herstellen:  „{culpa  si]  coloni  erit  ei  cui  de[irimentum  factum 
erit]  tan  tum  praestare  d[ebebit]u ,  das  heisst:  wenn  ein  Colone  sich  des  Feld- 
frevels schuldig  gemacht  hat,  so  soll  er  dem  Beschädigten,  d.  h.  dem  anderen  Co- 
lonen, den  Verlust  ersetzen1). 

Der  Fall  würde  also  processualisch  so  liegen,  dass  ein  fremder  Schadenstifter 
den  conductores,  ein  Colone  dem  geschädigten  Colonen  selbst  den  Schaden  zu  er- 
setzen hat.  Ich  hoffe,  dass  diese  Construction  befriedigt:  es  scheint  mir  völlig 
normal,  dass  die  Colonen  sich  für  Beschädigungen  gegenseitig  haften,  dagegen 
fremde  Beschädiger  den  conductores  als  den  Vertretern  der  Domäne  nach  aussen. 


1)  Die  Uebersetzung  Toutains  umgeht  ilie  Schwierigkeiten:  „Si  quelqu'un  coupe ,  detruit 
.  .  .  quelque  recolte  sur  pied  ou  eu  branches  müre  ou  non  müre,  et  si  quelque  prejudice  est  causa 
de  ce  fait  aux  locataires  ou  aux  regisseurs  [dudit  fundus]  .  .  .  .  ä  celui  qui  aura  souffert  ce  pre- 
judice l'auteur  devra  payer  une  somrae  equivalente  au  prejudice  cause". 


32  ADOLF    SCHULTEN, 

13.  Col.  IV  Zeile  2  beginnt  ein  neuer  Paragraph  (13).  Von  seinem  Inhalt  ist 
jedoch  nur  soviel  erhalten,  dass  man  sagen  kann,  es  ist  in  ihm  von  severe  {[se]- 
verunt  severint:  Zeile  4)  die  Rede.  In  Z.  7  erscheint  der  Begriff  superficies,  der 
im  Folgenden  öfter  genannt  wird,  zuerst.     Man  wird  also  annehmen  dürfen,  dass 

14.  mindestens  in  Z.  (>  der  auf  die  superficies  bezügliche  Paragraph  (14)  begonnen 
hat.  Der  Anfang  ist  jedoch  schlecht  erhalten :  man  sieht  nur,  dass  von  Grund- 
stücken —  superficies  ist  hier,  wie  das  Folgende  zeigt,  die  Bodenfläche,  nicht, 
was  es  technisch  bedeutet,  das  Gebäude  superficiarischen  Rechts  —  „quae  fiduciae 
data  sunt  dabuntur"  (Z.  8)  gehandelt  und  bestimmt  wird,  dass  eine  solche  fiducia- 
risch  verpfändete  superficies  auf  Grund  der  lex  Manciana  in  diesem  Rechtszustand 
bleiben  soll  (. .  fiduciae  lege  Manciana  serva[buntur]). 

15.  Erst  von  Zeile  10  an  wird  der  Zusammenhang  deutlich.  Mit  ,,[is  qui  sup]er- 
ficiem  ex  inqulto  excoluit  .  .*  wird  ein  neuer  Paragraph  (15)  beginnen  ,  denn  im 
Folgenden  kommt  der  die  vorstehenden  Zeilen  beherrschende  Begriff  der  „fiduciae 
data  superficies"  nicht  mehr  vor,  sondern  es  ist  von  agri  derelicti  die  Rede.  Der 
§  15  ist  vollkommen  klar:  wenn  jemand  eine  unbestellt  gelassene  Bodenfläche  in 
Kultur  genommen  {ex  inculto  excoluit)  oder  ein  Gebäude  angelegt  hat  {aedificium 
deposuit)  —  doch  wohl  zu  landwirtschaftlichen  Zwecken  —  dann  aber  die  Ex- 
ploitierung  eingestellt  hat,  so  soll  er  noch  auf  zwei  Jahre  hinaus  das  Recht  des 
Anbaus  behalten  [ins  colendi  servatur) ,  dann  aber  soll  es  an  die  conductores 
übergehen.  Das  zu  conductores  gehörige  Verbum  ist  leider  nicht  erhalten ,  doch 
kann  dem  Sinn  nach   nur  „conductores  vilici(s)ve  [id  ius  habeant]"  suppliert  werden. 

Wie  bei  der  lex  Hadriana  de  rudibus  agris  stehen  wir  auch  hier  vor  dem 
Fall ,  die  Normen  des  Domanialstatuts  in  den  kaiserlichen  Constitutionen  des 
IV.  Jahrhunderts  wiederzufinden. 

Der  vorliegende  Paragraph  gleicht  sehr  der  L.  8  C.  de  omni  agro  deserto 
(11.  59),  einer  Constitution  der  Kaiser  Valentinianus  Theodosius  und  Arcadius  (388 
— 392) :  „qui  agros  domino  cessante  desertos  vel  longe  positos  vel  in  finitimis 
ad  privatum  pariter  publicumque  compendium  excolere  festinat,  voluntati  suae  no- 
strum  noverit  adesse  responsum :  ita  tarnen,  ut,  si  vacanti  ac  destituto  solo  novus 
cultor  insederit,  ac  vetus  dominus  intra  biennium  eadem  ad  suum  ius  voluerit  re- 
vocare,  restitutis  primitus  quae  expensa  constiterit  facultatem  loci  propra  con- 
sequatur.  Nam  si  biennii  fuerit  tempus  emensum,  omni  possessionis  et  dominii 
carebit  iure  qui  siluit". 

Nur  in  einem  Punkte  differieren  die  beiden  Fälle :  in  der  Constitution  ist 
von  bereits  bebautem ,  aber  vom  einstigen  Bebauer  verlassenem  Land  die  Rede, 
während  der  Paragraph  der  Inschrift  sich  auf  terra  vergine  (ager  rudis)  bezieht, 
die  jemand  in  Kultur  genommen,  dann  aber  wieder  liegen  gelassen  hat.  Dem- 
entsprechend handelt  es  sich  in  jenem  Fall  um  das  Recht  des  ersten  und  des 
zweiten  Bebauers ,  in  diesem  Fall  um  das  Recht  des  ersten  Bebauers  und  des 
conductor.  Man  könnte  geneigt  sein,  den  vorliegenden  Paragraphen  mit  der  Con- 
stitution in  diesem  Differenzpunkte  auszugleichen  und  anzunehmen ,  auch  hier 
würde  ein  erster  und  zweiter  cidtor  unterschieden.    Das  geht  jedoch  nicht,    denn 


DIE   LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  33 

sonst  müsste  am  Schlüsse  stehen:  „ius  colendi  a  conductoribus  veteri  cultori  serva- 
bituru :  es  ist  aber  für  einen  Nachsatz  des  Inhalts,  dass  der  conductor  den  zwei- 
ten Bebauer  in  sein  Recht  einsetzen  werde ,  wenn  sich  innerhalb  zweier  Jahre 
der  erste  nicht  gemeldet  haben  sollte,  kein  Raum;  vielmehr  kann  conductores 
vilici(s)ve  .  .  .  nur  durch  [id  ius  habeant]  dahin  ergänzt  werden,  dass  bei  wieder 
eingestellter  Possession  das  Land  des  Possidenten    an  den  Conductor  fallen  soll. 

In  der  ara  legis  Hadrianae  wird  die  Occupation  von  „ager  per  decem  annos 
incultus"  freigegeben ,  da  solches  Land  dem  ager  rudis  gleich  galt.  Es  ist  be- 
merkenswert, dass  die  spätere  Gesetzgebung  wieder  auf  die  strenge  Praxis  der 
lex  Manciana  zurückgeht,  offenbar  hatte  sich  gezeigt,  dass  die  zehnjährige  Frist 
zu  lang  war.  Durch  die  Festsetzung  des  biennium  wird  die  Pflicht  des  Bebauers 
accentuirt,  während  beim  decennium  nur  die  Verjährung  in  Frage  kommt.  Ich 
möchte  sagen,  dass  im  Falle  des  Biennium  der  Bebauer  für  culpa  levis,  in  dem 
des  Decennium  für  culpa  lata  einstehen  muss. 

In  Z.  11  muss  für  EIVE  isve  gelesen  werden,  denn  Zeile  11/12  muss  gestan- 
den haben :   [is]ve  qui  [coluit  postea]  desierit  .  . 

Was  in  dem  Wort  PER  (Z.  12)  zwischen  dem  ersten  und  dem  zweiten  de- 
sierit steckt,  weiss  ich  nicht1).  Zu  eo  tempore  (Z.  12)  ist  ex  zu  supplieren.  In 
Z.  14  wird  noch  einmal  der  Zeitpunkt,  mit  dem  das  ius  colendi  verfällt,  angegeben: 
von  solchen  Nachlässigkeiten  strotzt  die  Urkunde. 

Der  folgende  Satz  (Zeile  16)  scheint  zunächst  nur  die  nähere  Ausführung  §  16. 
des  vorhergehenden  zu  geben,  denn  soviel  ich  sehe,  stand  in  ihm  etwa  Folgendes : 
„Wenn  ein  Grundstück  im  letzten  Jahre  {proxumo  anno)  bebaut,  dann  aber  liegen 
gelassen  wurde,  so  soll  der  conductor  dem  Besitzer  ((«,  cuius)  ea  superficies 
esse  d[i«Y]ur)  ansagen,  sein  Grundstück  habe  einen  neuen  Bebauer  gefunden  (denun- 
tiet  superficiem  cultam  esse) ;  diese  Denuntiation  soll  er  im  nächsten  Jahre  wieder- 
holen ;  wenn  auch  dann  der  ehemalige  Besitzer  noch  nicht  reagiert,  soll  der  con- 
ductor dem  Occupanten  das  Grundstück  übergeben  (cole[re  iu]beto)u. 

Dieser  Satz  schliesst  sich  also  freilich  unmittelbar  an  den  vorhergehenden 
an ,  ist  aber  doch  nicht  etwa  eine  Fortsetzung  desselben ,  was  abgesehen  von 
dem  oben  Angeführten  schon  aus  der  Unmöglichkeit,  „conductores  vUici(s)ve"  in 
Zeile  15  und  „conductor  vilicusve"  in  Zeile  17  in  einen  Satz  zu  bringen  ,  hervor- 
geht. Der  Satz  ist  vielmehr  erstens  dadurch  vom  vorigen  verschieden,  dass  er 
sich  nicht  auf  Rodeland  (ager  rudis)  sondern  wie  die  eben  citierte  Constitution 
und  der  Paragraph  der  lex  Hadriana  auf  seit  längerer  Zeit  bebautes  Land  bezieht 
und  zweitens  dadurch ,  dass ,  wenn  dasselbe  unbebaut  gelassen  wird ,  der  con- 
ductor zwei  Jahre  hindurch  dem  Inhaber  die  Occupation  denuntiieren  muss.  wäh- 
rend der  ager  rudis  qui  coli  desiit  nach  zwei  Jahren  ohne  vorherige  Denuntiation 
dem  conductor  anheimfällt  nach  dem  Satze  :  „dies  interpellat  pro  nomine".  Der 
Emphyteuta  ist  also  prozessualisch  vor  dem  gewöhnlichen  cidtor  benachteiligt: 
mit  Recht,  denn  Besitz  geht  über  Occupation. 


1)  To  uta  in  giebt  es  durch  „completemeut"  wieder,  aber  per  kommt  nicht  so  absolut  vor. 

Abhdlgn.  d.  K.  Gea.  d.  Wiea.  zu  Göttingen.     Phü.-hist.  Kl.     N.  F.  Band   2,  a.  5 

3 


34  ADOLF   SCHULTEN, 

§  18.  Mit  Zeile  23  (coloni  .  .)  beginnt  ein  neuer  Paragraph,  der  von  den  operae,  den 

Felddiensten  der  Colonen  handelt.  Zwischen  diesem  und  dem  eben  besprochenen 
Paragraphen  steht  aber  noch  ein  mit:   „Ne  quis  conductor  vilicusve  .  .  ."  beginnen- 

(§17?) der  Satz,  der  unmöglich  mit  dem  folgenden  zusammenhängen  kann:  es  genügt 
darauf  hinzuweisen,  dass  die  Nennung  der  Villa  Magna  stets  den  neuen  Para- 
graphen bezeichnet1).  Cagnat  liest  hinter  vilicusve:  SERVVMINQVILINVMVE. 
In  der  That  ist  ...  M  IN  •  VILINV  .  .  .  lesbar.  Ich  möchte  aber  statt  „vili- 
cusve [servu]mu :  „vilicusve  [eorwjm"  lesen;  servum  ist  durchaus  unsicher.  Ferner 
ist  der  letzte  Buchstabe  nicht  E  sondern  F :  [v]e  ist  also  falsch  und  eher  .  .  in- 
quilinu[m  eius]  f(undi)  zu  lesen.  Auch  hat  in  dem  Rest  der  Zeile  mehr  als  MV 
gestanden :  MEIVS  füllt  den  Raum  gut  aus.  Welches  Prädikat  conductor  vili- 
cusve gehabt  hat,  ist  mir  völlig  unklar. 

Der  mit  „coloni  qui"  beginnende  §  18  ist  inhaltlich  völlig  klar.  Er  fixiert 
die  aus  den  Inschriften  von  Suk-el-Khmis  und  Gasr  Mezuar  (s.  Hermes  1894 
p.  205)  wohlbekannten  Frohndienste,  welche  die  Colonen  dem  conductor  zu  leisten 
haben. 

Zu  leisten  sind  ,,quod  annis  in  hominibus  [singulis2)  in  arati]ones  operae  n(umero) 
II  et  in  messem  op[e/rre  II  et  in  sarritiones  cuiusque]  generis  singulas  operae  bin[ae]u. 
Die  Ergänzungen  sind  ziemlich  sicher,  denn  sowohl  im  Dekret  des  Commodus 
als  in  der  Inschrift  von  Gasr  Mezuar  werden  drei  Arten  von  Frohnden  genannt : 
operae  aratoriae ,  sur(i)toriae ,  messiciae  (messoriae:  Dekret  des  Commodus).  Statt 
dnas  steht  hinter  ,.[  .  .  in  .  .  .  cuiusque]  generis  singulas":  bin[a.s]  dem  vorher- 
gehenden singulas  entsprechend.  Bedenklich  ist  nur,  dass  die  Jätetage  (sarri- 
tiones) nicht  wie  es  in  den  beiden  anderen  Inschriften  geschieht,  und  wie  es 
sich  gehört,  vor,  sondern  hinter  den  Erntetagen  genannt  sein  sollen.  Anderer- 
seits können  sie  nicht  wohl  ausgelassen  und  vor  „..  cuiusque  generis"  eine  andere 
Feldarbeit  genannt  sein. 

§  19.  Im   folgenden  Paragraphen  (19)  scheint  gesagt  zu  sein,  dass    die   coloni   und 

inquilini  innerhalb  einer  bestimmten  Jahreszeit  (intra  [.  .  .  .]  anni)  ihre  Namen  bei 
den  conductores  angeben  und  bei  den  custodiae  Dienste  leisten  sollen.  Die  custo- 
diae  sind  schon  oben  besprochen:  es  handelt  sich  um  die  Ueberwachung  der 
Colonen  bei  der  Ernte  und  Ablieferung  der  partes  fructuum.  Die  inquilini  werden 
zusammen  mit  den  servi  vielleicht  schon  in  Zeile  22  genannt,  ohne  dass  sich  der 

1)  Die  französische  Uebersetzung  umgeht  die  Schwierigkeiten.  Es  heisst  dort:  „Q'aucun 
locataire  ou  regisseur  n'oblige  im  esclave  ou  un  inquüinus  d'un  colon  .  .  .  ä  fournir  .  .  .  aux  pro- 
prie'taires  ou  aux  locataires  ou  aux  regisseurs  dudit  funilus  plus  de  deux  journ^es  de  travail.  .  ." 
Es  ist  aber  völlig  ausgeschlossen,  dass  im  Original  gestanden  hat:  „ne  quis  conductor  vilicusve  .  . 
servum  inquilinufm  ve]  coloni  .  .  dominis  aut  conductoribus  .  .  .  quod  annis  .  .  operas  praestare 
cogat:'  Wie  kann  überhaupt  gesagt  sein,  dass  der  conductor  dem  conductor  eine  Leistung 
verschaffen  oder  nicht  verschaffen  soll?!  conductor  und  conductoribus  kann  nie  in  demselben  Satz 
Stehen.  Es  ist  vielmehr  klar,  dass  von  Leistungen  der  Colonen  an  die  conductores  die  Rede  ist: 
„coloni  .  .  conductoribus  .  .  praestare  debento." 

2)  Vgl.  lex  Ursonensis  cap.  94:  „.  .  dum  ne  amplius  in  annos  singulos  inque  homines  sin- 
gulas .  .  .  operas  decernant." 

3 


DIE    LEX    MAJs'ClANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNü.  35 

Zusammenhang  feststellen  Hesse.  Coloni,  inquilini  ist  ein  Asyndeton,  denn  die 
Inquilinen  sind  bei  aller  Aehnlichkeit  keine  Colonen.  Sie  kommen  in  den  nach- 
constantiuischen  Rechtsquellen  oft  vor  und  nehmen  dort  eine  Mittelstellung  zwi- 
schen Sklaven  und  Colonen  ein  l). 

Die  Inquilinen  unterscheiden  sich  wohl  von  den  Sklaven  durch  ihre  libera 
conditio,  und  von  den  Colonen  dadurch,  dass  sie  nicht  eigentlich  Bauern,  sondern 
Handwerker  sind  (His,  „d.  Domänen  d.  rom.  Kaiserzeit"  p.  89).  Sie  gehören 
als  solche  zum  „instrumentum  fundi"  wie  die  unten  angeführte  Digestenstelle 
(L.  112  D.  30)  deutlich  zeigt,  während  die  Colonen  nicht  Inventar  sind:  denn 
das  Gut  kann  auch  ohne  Pächter,  nämlich  durch  eigene  Regie,  bewirtschaftet 
werden. 

In  Zeile  30  scheint  hinter  singulas  QV[attuo]R  zu  lesen  zu  sein :  vor  custo- 
dias  singulas  qu[attuo]r  muss  das  zugehörige  operas  gestanden  haben;  man  ver- 
gleiche Zeile  27:  „[in  sarritiones (?)  cuiusque]  generis  singulas  operas  bin[a.s]." 
Singalae  gehört  zu  custodiae  wie  Z.  27  zu  sarritiones,  qu[attuo\r  zu  operae  wie  Z. 
27  zu  bin[as] :  für  jede  einzelne  Feldarbeit  oder  Wachtdienst  sind  so  und  so  viel 
Tage  angesetzt.  Demnach  hätten  also  die  Inquilinen  doppelt  soviel  operae  zum 
Wachtdienst  als  die  Colonen  zur  Feldarbeit  leisten  müssen. 

Von  den  im  folgenden  genannten  stipendiarii  scheinen  ähnliche  operae  in  cu- 
stodias  verlangt  zu  werden.  Weiteres  lässt  sich  aus  den  wenigen  hier  erhaltenen 
Buchstabenresten  kaum  entnehmen. 

Bei  dem  Wort  siipendiariorum  erinnert  man  sich  der  in  der  lex  agraria  vor- 
kommenden „stipendiarii"  d.  h.  der  ausserhalb  der  Gemeinde  stehenden  eingebo- 
renen Grundherren  (s.  Weber,  röm.  Agrargesch.  p.  187).  Damit  ist  natürlich 
nicht  gesagt,  dass  die  stipendarii  unserer  Inschrift  mit  jenen  identisch  seien. 
Stipendiarius  ist  vielmehr  jeder  das  Stipendium  zahlende  Provinziale,  also  jeder 
Bewohner  der  stipendiären  Provinz  Africa  proconsularis.  Wahrscheinlich  haben 
wir  es  also  mit  innerhalb  der  Domäne  ansässigen  Eingeborenen  zu  thun,  mit 
„Afri  qai  consistunt  in  saltu  Villa  Magna",  wie  eine  solche  Gemeinde  heissen 
würde  2). 


1)  Man  vergleiche  L.  11  C.  3,  26:  .  .  colonus  aut  inquilinus  aut  servus;  L.  11  C.  3,38:  .  . 
servorum  vel  colonorum  adscripticiae  condicionis  seu  inquilinorum;  L.  6  C.  11,48:  colonus  vel  in- 
quilinus; L.  12:  servus  vel  tributarius  vel  inquilinus;  L.  1  C.  11,53:  colonus  inquiliuusque;  s. 
Gothofredus  zu  L.  un.  C.  Th.  de  inquil.  et  col.  5,  10.  In  den  Digesten  kommen  die  I.  vor  L.  112 
D.  de  fideicom.  30:  „siquis  inquilinos  sine  praediis  quibus  adhaerent  legaverit." 

2)  In  Hr.  Bent-el-Bey  (bei  Tbuburbo  Maius)  im  Süden  der  Re'gence  de  Tunisie  ist  folgende 
Inschrift  gefunden  worden  (Bull.  arch.  du  Comitä  des  trav.  bist.  1893  p.  222): 

fl[AMINIO  SABINIA[no 
centurioni  ?]  LEG  VII  CL.  CIVES  S  .  .  .  . 
consistent.es  in]SALTV  FECERVNT 
idemqu[E  DEDICAVERVNT. 
Auch  diese  Gemeinde  consistiert  auf  einem  saltus.    Solche  Gemeinden  wird    es    bei  dem  quasimuni- 
cipalen  Charakter  der  gutsherrlichen  Territorien  noch  mehr  gegeben  haben;    bekannt    ist   mir   nur 
dies  Beispiel. 


36  ADOLF   SCHULTEN, 

In  welchem  Zusammenhang  die  servi  in  Zeile  35  auftreten,  lässt  sich  nicht 
sagen.   -   Am  Ende  der  Inschrift  steht  [parJTEM  QVINTAM.  - 

Zu  guter  Letzt  ist  die  auf  dem  unteren  Rande  der  ersten  Seite  angebrachte 
Inschrift  zu  besprechen.  Sie  lautet:  „[A<?]c  lex  scripta  a  Lur(i)o  Victore  Odilo- 
nis  magistro  et  Flavio  Geminio  defensore ;  Feiice  Annobalis  Birzilis."  Diese 
Lesung  scheint  den  Vorzug  zu  verdienen  vor  „[e  leg\e  exscripta",  wie  ich  zuerst 
las.  „E  lege  exscripta11  bedeutet  „ausgezogen  aus  der  lex"  nämlich  der  1. 
Manciana.  Der  Vermerk  entspräche  dann  völlig  dem  Passus  am  Anfang  der 
Urkunde:  „(lex)  data  .  .  ad  exemplum  legis  Mancianae"  und  der  gleichartigen 
Angabe  der  Inschrift  von  Ain  Wassel :  „.  .  .  legem  infra  scriptam  intulit  [ad] 
exemplum  legis  Hadrianae".  Die  „lex  Manciana"  befand  sich  auf  Kupfer  ge- 
schrieben im  Bereiche  der  Domäne  wie  die  lex  Hadriana,  von  der  es  im  Brief  der 
Colonen  des  saltus  Burunitanus  heisst:  „utpote  cum  in  aere  incisa  et  ab  omnibus 
omnino  undique  versum  vicinis  visa  perpetua  in  hodiernum  forma  praescriptum." 
x[h]ec  lex  scripta"  wäre  die  einfache  Angabe  der  Niederschrift.  Die  Niederschrift 
ist  angefertigt  von  dem  magister  Lurius  Victor  Odilonis  (filius)  und  dem  defensor 
Flavius  Geminius.  Ausserdem  wird  eine  dritte  Person  mit  punischem  Namen  genannt 
ohne  Zusatz,  so  dass  ich  nicht  weiss,  in  welcher  Beziehung  sie  zu  der  Urkunde 
steht1).  Der  magister  ist  der  Vorsteher  der  gutsherrlichen  Leute:  wir  kennen 
ihn  aus  dem  Dekret  des  Commodus,  wo  amSchluss  der  Vermerk  steht:  „feliciter 
consummata  et  dedicata  .  .  .  cura  agente  C.  Julio  [Pt^?]ope  Salaputi  magistro." 
Ausserdem  kommt  ein  magister  der  „plebs  fundi  .  .  .  itani"  in  der  Inschrift 
aus  Hr.  Salah  (bei  Kairuan)  vor  (s.  meine  „Grundherrschaften"  p.  39).  Der  de- 
fensor ist  als  gutsherrlicher  Beamter  neu.  Er  kann  seinem  Namen  nach  kaum 
etwas  anderes  gewesen  sein  als  ein  Beamter,  der  die  Colonen  gegen  Uebergriffe 
der  conductores  schützen  sollte,  ganz  ebenso  wie  der  defensor  plebis  des  IV.  Jahr- 
hunderts 2)  die  städtische  plebs,  das  Gegenstück  der  Gutsunterthänigen,  gegen  die 
Statthalter  schützen  sollte.  Das  Auftreten  einer  solchen  Behörde  ist  ein  ebenso 
beredtes  Zeugnis  für  die  gedrückte  Lage  der  kaiserlichen  Colonen  schon  unter 
Traian  wie  die  Klageschrift  der  Colonen  des  saltus  Burunitanus.  Und  wae  sind 
denn  alle  die  bisher  bekannten  Urkunden  von  den  saltus  anderes  als  Regelungen 
der  den  Colonen  abzufordernden  Leistungen  an  Früchten  und  Frohnden?  Jede 
dieser  Urkunden  setzt  eine  Controverse  zwischen  Colonen  und  conductores  voraus, 
von  der  ja  in  der  Inschrift  von  saltus  Burunitanus  und  der  von  Gasr  Mezuär 
(s.  Hermes  1894  p.  204)  ausdrücklich  geredet  wird.  Weil  diese  Abschriften 
oder  Auszüge  „ad  exemplum"  der  auf   der  Domäne  geltenden  lex   die  Interessen 


1)  T  out  ain  giebt  ihr  den  Titel  defensor;  dagegen  muss  Flavius  Geminius  protestieren,  da 
ihm  1 )  der  Stellung  nach  2)  weil  er  Römer  ist  wie  der  magister,  das  Amt  zukommt.  Vielleicht 
ist  Felix,  Sohn  des  Annobal,  Enkel  des  Birzil,  der  quadratarius  :  einem  Punier  möchte  man  die 
vielen  Fehler  der  Urkunde  am  ehesten  Zutrauen.  Der  Name  Annobal  findet  sich  z.  B.  C.  VIII 
9129,  der  Name  Birzil  ebenda  2564,  4925,  5315,  6402. 

2)  L.  uu.  C.  1,47;    Marquardt,  R.  St.-Verw.  I2  p.  214. 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  37 

der  Colonen  vertreten,   werden  sie  von  den  Vorstehern   der  Colonen  angefertigt, 
nachdem  der  kaiserliche  Procurator  in  diesem  Sinne  verfügt  hat. 

Die  Inschrift ,    an    deren    Schlüsse   wir    nun    angelangt    sind ,    zerfällt    nach 
meiner  Herstellung  in  20  Paragraphen. 

§  1  (Col.  15—19):  Erlaubnis  der  Kultur  von  „agri  qui  su[6c]esiva  sunt" 
und  Bestimmungen  über  die  Leistungen  von  denselben. 

§  2  (I  19 — 29):  Fruchtquoten  der  Inhaber  einer  villa  dominica  an  Weizen 
Gerste,  Bohnen,  Wein,  Oel  und  Honig. 

§  2a  (129— 116):  Quoten  im  Falle  einer  Ernte  von  mehr  als  fünf  Honig- 
töpfen. 

§  3  (II  6 — 12) :  Busse  für  den ,  der  Bienen  und  Bienengeräte  aus  der  Do- 
mäne auf  einen  „ctger  octonarius"  überträgt. 

§  4  (II  12 — 17):  Leistungen  von  ,.ficus  aridae  arbores  extra  pomarium". 

§  5  (II  17 — 20):  Leistungen  von  „ficeta  vetera  et  oliveta." 

§  6  (II  20 — 24) :  Leistungen  von  neugepflanzten  Feigenbäumen. 

§  7  (II  24—  III  2):  Dasselbe  von  Weinpflanzungen. 

§  8  (III  2 — 10):  Dasselbe  von  Olivenpflanzungen. 

§  9  (III  10 — 12) :  Dasselbe  von  gepropftem  Oleaster. 

§  10  (III  12—17):  Mit  Futterkraut  (ausser  Wicken)  bestellte  Aecker. 

§  11  (III  17—20):  Weidegeld  für  Vieh. 

§  12  (III  20— IV  2) :  Busse  für  Felddiebstahl. 

§  13  (IV  2 — 6?):  qui  severunt,  severint  .  .  . 

§  14  (IV  6?— 9?):  Fiduciarisch  verpfändete  Grundstücke. 

§  15  (IV  9? — 15):  qui  superficiem  ex  inculto  excoluit  et  postea  colere  desiit. 

§  16  (IV  16 — 22):  qui  superficiem  cultam  colere  desiit. 

?  §  17  (IV  22 — 23) :  si  quis  conductor  vilicusve  [eor]um  inquilinum  eins 
f.  (?) 

§  18  (IV  23—27):  Frohnden  der  Colonen. 

§  19  (IV  27—31?):  Frohnden  der  inqinlini. 

§  20  (IV  32?—?):  Frohnden  der  stipendiarii. 

Fragen  wir  nun  nach  der  Disposition  dieser  verschiedenartigen  Bestimmun- 
gen, so  giebt  die  Inschrift  selbst  eine  gewisse  Disposition  an,  indem  die  Formel 
,,in  fundo  villae  Magnae  sive  Mappaliesige  .  ,u  nicht  in  jedem  Satz,  sondern  nnr 
an  folgenden  Stellen  steht: 

§  1  (15):  Qui  eorum  intra  fundo  V.  M.  Variani  sive  M.  eos  agros  qui  su- 
[6c]esiva  sunt  (excoluerit). 

§  2  (I  19):  Qui  in  f.  V.  M.  sive  M.  villas  habent  habebunt  dominicas. 

§  3  (II  6):  Si  quis  alveos  .  .  ex  f.  villae  M.  sive  M.  in  octonarium  agrum 
transtulerit  .  .  . 

§  10  (III  12):  [agri  pabulo  consiti  qui]  in  f.  villae  M.  Variani  sive  M.  sunt 
erunt  ... 

§  11  (III  17) :  Pro  pecora  [qui  i]ntra  f.  villae  M.  M.  pascentur  .  .  . 

§  12  (III  20):  Si  quis  ex  f.  villae  M.    sive  M.  fructus  stantem  pendentem  .  . 


38  -ADOLF    SCHUL  TEX, 

§  13  (IV  ?) :  [St  qui  in  f.  villae  Mctg]ne  siv(e)  Mappaliasigfe  ....  sejverunt 
severint  .  .  . 

§  18  (IV  23) :  Coloni  qui  intra  f.  villae  M.  sive  M.  habitabunt  .  .  . 

Offenbar  ist  die  Einleitung  grade  dieser  Paragraphen  durch  die  volle  For- 
mel kein  Zufall,  denn  jeder  dieser  Paragraphen  beginnt  abgesehen  von  §  3  einen 
neuen  Abschnitt:  §  1  handelt  von  der  Occupation  der  „agri  qui  su[ta}esiva  sunt", 
§  2  im  Gegensatz  dazu  von  dem  unter  Kultur  befindlichen  Land.  Dass  mit  §  3 
ein  neuer  Abschnitt  beginnt  ist  aurfallend;  es  hätte  vielmehr  bei  §  4,  wo  die 
Bestimmungen  über  die  Baumpflanzungen  beginnen,  oder  sowohl  bei  §  3  als  bei 
£  4  ein  Abschnitt  bezeichnet  werden  müssen.  Bei  §  10  beginnt  mit  Recht  ein 
neuer  Teil  (Futterkräuter),  ebenso  mit  §  11  (Viehweide),  §  12  (Felddiebstahl)  und 
g  13  (qui  severunt  severint).  Dass  erst  wieder  in  §  18  die  einen  neuen  Ab- 
schnitt bezeichnende  Formel  gesetzt  wird,  ist  wichtig:  es  wird  dadurch  deutlich, 
dass  §  13—17  zusammen  gehören.  Es  muss  also  in  ihnen  allen  von  einer  Ka- 
tegorie, nämlich  von  dem,  der  Land  angebaut  (.  .  qui  severunt)  aber  dann  liegen 
gelassen  hat,  gehandelt  sein. 

Wenn  wir  ausser  §  3  auch  noch  bei  §  4  einen  Abschnitt  machen ,  können 
wir  die  durch  die  Formel  ,.qui  in  f.  villae  M.  sive  M.  sunt"  gegebene  Einteilung 
durchaus  annehmen.     Die  Urkunde  zerfällt  demnach  in  folgende  Hauptteile  : 

I.    (§  1) :  Bestimmungen  über  Occupation  von  Ackerland. 

IL    (§  2—3) :  Ueber  Kulturland. 

III.  (§  4 — 9) :  Ueber  Emplvyteuse  von  Baumpflanzungen. 

IV.  (§  10  u.  11) :  Ueber  Futterland  und  Viehweide. 

V.  (§  12):  Ueber  deportatio  fructuum. 

VI.  (§  13 — 17) :  Ueber  unbestellte  superficies. 

VII.  (§  18 — Ende) :  Ueber  Frohnden  (operae  und  custodiae)  der  Colonen,  In- 
quilinen,  stipendiarii. 

Die  neue  Inschrift  ist  mit  Recht  im  Musee  du  Bardo  an  der  Seite  der  Ara 
legis  Iludrianae  aufgestellt  worden,  denn  die  beiden  sind  Schwestern.  Beide  Ur- 
kunden sind  von  den  kaiserlichen  Procuratoren  erlassen  worden,  um  die  Erlaub- 
nis zur  Occupation  und  die  Rechte  des  Occupanten  von  ager  rudis  sive  per  tot 
annos  incultus  d.h.  von  wildem  und  von  mehrere  Jahre  hindurch  vernachlässigtem 
Land  zu  ordnen. 

Während  sich  die  ara  legis  Hadrianae  nur  mit  den  partes  fructuum  beschäf- 
tigt, giebt  die  neue  Inschrift  ein  Reglement  sowohl  über  die  Fruchtquoten  als 
über  die  operac.  Das  Dekret  des  Commodus  wiederum  behandelt  nur  die  Frohn- 
dienste.  So  bilden  denn  die  drei  wichtigen  Inschriften  eine  Gruppe  von  Doku- 
menten, wie  wir  sie  so  leicht  nicht  für  einen  anderen  Zweig  der  römischen  Ver- 
waltung besitzen.  Die  Ara  1.  Hadr.  schliesst  sich  einerseits  an  die  neue  Ur- 
kunde an.  weil  auch  sie  die  Occupation  auf  den  kaiserlichen  Domänen  behandelt, 
andererseits  gehört  sie  zum  Dekret  des  Commodus ,  weil  sie  wie  dieses  Bestim- 
mungen der  lex  Hadriana  giebt,  während  das  neue  Dokument  einen  Auszug  aus 
einer    älteren    Domanialordnung,    der    lex    Manciana,    bildet.    Die    neue  Inschrift 


DIE    LEX    MANTIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  39 

ist  das  älteste  bisher  vorliegende  Dokument  aus  dem  Bereich  der  afrikanischen 
saltus,  denn  sie  ist  noch  unter  Traian  niedergeschrieben  worden.  Sie  ist  da- 
mit zugleich  das  älteste  Zeugnis,  wenn  auch  nicht  für  die  E  m- 
phyteuse,  so  doch  für  da  s  Occupatio  n  sr  echt ,  aus  dem  sich  die 
E.  entwickelt  hat.  Aus  der  ara  legis  Hadriana  lernten  wir,  dass  Hadrian 
über  nager  rudis  sive  per  X  annos  continuos  incidius"  (Col.  II  13)  Verfügungen 
erlassen  hatte;  jetzt  sind  wir  einen  Schritt  weiter  geführt  und  wissen,  dass 
schon  vor  Hadrian,  vielleicht  lange  vor  Hadrian,  auf  den  Domänen  dies  Occu- 
pationsrecht  existierte. 

Der  bekannte  Erlass  des  Proconsuls  von  Achaia  an  die  Stadt  Thisbe  zeigt 
uns  die  Emphyteuse  —  ohne  den  Namen,  der  ausser  bei  Ulpian  (s.  u.)  zuerst  in 
der  Constitution  vom  Jahre  315  (L.  1  C.  11,  62)  vorkommt  —  als  geltende  Praxis 
im  Bereiche  einer  griechischen  Stadtgemeinde  *).  Das  Edict  scheint  etwa  um  die 
Wende  des  IL/III.  Jahrhunderts  erlassen  zu  sein  2).  Die  thisbensische  Emphy- 
teuse ist  durchaus  auf  griechischem  Rechtsgebiet  entstanden:  das  zeigen  deutlich 
die  Ausdrücke  nntQaöKEiv,  yLstaiioXelv  für  „verpachten" :  das  griechische  Recht 
ist  zu  einer  Scheidung  der  locatio  conduetio  von  der  emptio  venditio  bezeichnender 
Weise  nicht  vorgedrungen.  Diese  griechische  Emphyteuse  kennt  schon  Ulpian, 
der  von  einem  ius  i{icpvxsvxLx6v  vel  i[ißccx£vxLx6v  spricht  (L.  3  §  4  D.  27,  9),  ohne 
Näheres  mitzuteilen. 

Das  Recht  des  thisbensischen  xaxcdaßav  —  so  heisst  der  Occupant  oder 
Emphyteuta  in  der  Inschrift  —  unterscheidet  sich,  wieHis  (d.  Domänen  d.  röm. 
Kaiserzeit  p.  100)  richtig  anführt,  von  dem  Recht  des  Occupanten  der  ara  legis 
Hadrianae ,  aber  nicht  in  den  Punkten  die  er  anführt,  sondern  in  anderen. 
Dass  der  Occupant  der  ara  1.  H.  nur  zum  Anbau  nicht  zum  (pvxsvsLv  verpflichtet 
gewesen  sei  (p.  100)  ist  falsch:  denn  1)  ist  er  zu  nichts  verpflichtet,  son- 
dern hat,  wenn  er  oecupiert,  das  Recht  des  Fruchtgenusses  gegen  eine  Frucht- 
quote, 2)  ist  ebenso  wie  von  aridae  fmetus  (Getreide) ,  von  partes  olei  und  poma- 
rum  die  Rede,  galt  dies  Recht  also  so  gut  für  Anpflanzungen  wie  für  Ackerland. 

Als  zweiten  Unterschied  bezeichnet  His  die  verschiedene  Dauer  der  Immu- 
nität —  in  Thisbe  fünf,  in  der  1.  Hadriana  sieben  Jahre  für  porna  und  zehn  für 
Oliven.  Diese  Differenz  ist  ohne  jede  Bedeutung,  denn  in  der  lex  Manciana  finden 
wir  wieder  andere  Immunitätsfristen. 

Es  bleibt  dagegen  als  fundamentaler  Unterschied    bestehen ,    dass    im  Erlass 


1)  Ein  sehr  interessantes  Zeugnis  für  die  griechische  E.  finde  ich  in  dem  für  die  Volkswirt- 
schaft des  sinkenden  Griechenland  so  überaus  wichtigen  „Ex>j3otxos"  des  Dio  Chrysostomus  (p.  263 
Reiske).  Der  Gegner  des  Sykophanten  empfiehlt  zum  Anbau  des  unbenutzt  liegenden  Gemeinde- 
landes die  E.  wie  folgt:  nenl  deute  uev  ovv  exr\  tcqoiy,o.  e%6vxcov ,  iierä  de  tovtov  xbv  %q6vov  xa\u- 
uevoi  uoigctv  6liyr\v  ■nciQe%£,Tto6ccv  anb  xäv  Kccgnäv,  artb  de  xeov  ßoOY.riuäxajv  urtdev.  Eäv  de  t<* 
JZtvog  yecoQyj)  nevxe  exr\  xat  ovroi  \ir\dev  cejtorelovvrcov,  vategov  de  dinluciov  rj  ot  TtoXixuir  Wie 
in  der  Inschrift  von  Thisbe  gelten  auch  hier  für  den  £evog  andere  Normen,  als  für  den  noXCx7\q. 
Quinquennium  und  üecennium  sind  wie  sonst  die  Fristen  der  Immunitat. 

2)  Dittenberger,  Index  scholarum  v.  Hallo  W.  S.   1891/92  p.  VIII.  5 


40  ADOLF   SCHULTEN, 

des  Proconsuls  eine  schriftliche  Anzeige  (ftußMov)  des  Occupanten  über  die  beab- 
sichtigte Emphyteuse  verlangt  wird,  während  in  der  lex  Hadriana  der  Occupant 
durch  die  Occupation  emphyteutisches  Recht  bekommt.  Die  schriftliche  Anzeige 
ist  bezeichnend  für  den  griechischen  Rechtsbrauch,  der  ja  Schriftlichkeit  liebt  — 
ich  verweise  auf  die  x£LQoyQc^poc  und  die  6vyyQ<x<prj  —  während  das  römische 
Recht  concludenten  Handlungen  und  mündlichen  Abreden  Rechtskraft  verleiht. 

Einen  anderen  wesentlichen  Unterschied  —  den  H  i  s  übersehen  hat  — 
macht  die  Art,  wie  der  Pachtzins,  der  canon  emphyteuticarius,  geleistet  wird:  der 
thisbensische  xcctcdaßcbv  entrichtet  ein  bestimmtes  Quantum  von  Früchten,  so  und 
soviel  vom  tiIe&qov,  wogegen  der  Occupant  vom  Domänenland  nach  der  lex  Hadri- 
ana —  und  ebenso  nach  der  lex  Manciana  —  partes  fruetuum,  Fruchtquoten, 
giebt.  Der  eine  gewöhnliche  merces,  allerdings  in  Naturalien,  leistende  griechische 
Emphyteuta  steht  dem  gewöhnlichen  Pächter ,  z.  B.  dem  ägyptischen  Pächter, 
der  so  und  soviel  pro  ccqovqcc  leistet x),  sehr  nahe ;  dagegen  ist  der  Occupant 
der  beiden  Domanialordnungen  als  colomis  partiarim  ein  Mittelding  zwischen  co- 
Jonus  und  socius  2). 

Die  Verbindung  der  colonia  partiaria  mit  der  Emphyteuse  ist  eine  ausseror- 
dentlich wichtige  Erscheinung.  Der  Emphyteuta  des  IV.  Jahrhunderts  leistet 
einen  festen  Canon ,  keine  Quoten.  Unter  Septimius  Severus  (ara  legis  Hadria- 
nae)  gilt  noch  die  Teilpacht ;  im  Lauf  des  III.  Jahrhunderts  hat  man  sie  also 
aufgegeben.  Das  entspricht  ganz  der  kapitalistischen  Entwicklung  der  römischen 
Finanzverwaltung:  man  wollte  lieber  eine  feste  Rente  als  die  schwankenden 
Fruchtquoten  haben. 

Vergleicht  man  die  Bestimmungen  über  die  Occupation  in  den  beiden  leges, 
der  lex  Hadriana  und  Manciana,  so  ergänzen  sie  sich  vollkommen.  Wie  nach  der 
1.  Hadriana  es  Emphyteuse  für  nagri  rüdes"  und  „agri  per  X  annos  incuUi"  gab,  so 
finden  wir  in  der  neuen  Inschrift  in  den  §§  1  und  4 — 9  das  ins  colendi  für  Ge- 
treide- (oder  Bohnen-)  und  Baumkultur  auf  ager  rudis,  in  §  13 — 16  für  „ager  per 
duos  annos  incidtus"  geregelt.  Zwischen  diesen  beiden  Hauptteilen  stehen  die  für 
die    gewöhnliche    Teilpacht    geltenden    Normen    (§  2    und  3).     Diesem    Teil    ent- 

1)  Ueber  die  in  Aegypten  übliche  Pacht  gegen  ein  Quantum  von  Früchten  sind  wir  durch 
die  Papyri  ausgezeichnet  unterrichtet.  Der  erste  Band  des  Corpus  Papyrorum  Rainer  (Wien  1895) 
bietet  eine  Menge  von  Pachturkunden.  Es  sind  das  eben  solche  ßißXiu  wie  sie  in  der  Inschrift  von 
Thisbe  gefordert  werden,  d.  h.  schriftliche  Anzeigen  des  Pächters,  dass  er  so  und  soviel  Land 
auf  so  und  so  lange  Zeit  für  ein  bestimmtes  Quantum  (ezcpoQiov)  (2—5  uud  mehr  Artaben  pro 
Anna)  pachten  wolle.  Die  thisbensische  Emphyteuse  ist  offenbar  an  diese  Pacht  gegen  ein  Fixum 
von  Naturalien  angelehnt;  die  emphyteutische1  ist  von  der  gewöhnlichen  Pacht  nur  durch  die  Immu- 
nität und  die  längere  Pachtzeit  —  aus  der  das  (übrigens  in  der  I.  von  Thisbe  ziemlich  beschränkte) 
Veräusserungsrecht  folgt  —  verschieden. 

2)  Bekanntlich  hat  W aas  er  (die  colonia  partiaria  Berlin  1890)  die  c.  p.  für  eine  Spielart 
der  soeietas'erklärt.  Trotz  allem  Scharfsinn  ist  der  Nachweis  nicht  gelungen  :  die  colonia  p.  ist 
und  bleibt  bei  aller  äusserlichen  Aehulichkeit  mit  societas  eine  colonia,  ein  Pachtverhältnis.  Von 
der  Pacht  gegen  ein  Quantum  von  Früchten  bis  zur  Pacht  gegen  eine  Quote  (col.  p.)  war  nur  ein 
Schritt :  durch  diese  Modifikation  wird  die  Pacht  noch  nicht  zur  societas! 


DIE   LEX    MANCIANA,   EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNÜNG.  41 

spricht  der  Schlussteil  (§  18 — 20),  der  die  von  den  Gutsinsassen  zu  leistenden 
Frohnden  angiebt.  Die  Inschrift  behandelt  also  sowohl  die  Pflichten  des  Occu- 
panten  als  die  des  gewöhnlichen  Teilpächters ,  während  sich  die  ara  legis  Ha- 
drianae  nur  auf  die  Occupation  bezieht.  Bei  der  mangelhaften  Disposition  der 
römischen  Gesetze  kann  es  nicht  autfallen ,  dass  die  zusammengehörigen  Teile : 
Occupation  von  Acker-  und  Occupation  von  Baumland  einer-,  Teilpacht  der  Co- 
lonen und  Frohnden  andererseits  nicht  zusammenstehen,  sondern  abwechseln. 

Aber  in  einem  wichtigen  Punkte  unterscheidet  sich  die  Occupation  der  lex 
Manciana  von  der  der  lex  Hadriana:  in  der  lex  Manciana  fehlt  die  Garantie  des 
..ins  heredi  relinquendi",  die  Vererblichkeit  des  Rechts,  welche  die  lex  Hadriana 
(Col.  II  9)  ausdrücklich  zusichert.  Die  lex  Manciana  kennt  also  noch  keine  Erb- 
pacht, aber  ihr  ins  colendi  ist  durch  nichts  als  die  Länge  der  Pachtfrist  von 
dem  der  lex  Hadriana  und  damit  von  der  E.  unterscheiden.  Wir  sind  gewöhnt 
in  der  Vererblichkeit  ein  Hauptmerkmal  der  Emphyteuse  zu  sehen  und  das  trifft 
auch  für  die  ausgebildete  E.  gewiss  zu,  aber  der  neuen  Inschrift  verdanken  wir 
die  Einsicht,  dass  dieses  Recht  erst  später  zu  den  übrigen  Merkmalen  der  E. 
hinzugetreten  ist.  Die  ara  legis  Hadriana  bleibt  für  die  E.  das  erste  Zeugnis  l), 
aber  wir  haben  in  der  neuen  Urkunde  eine  Institution  vor  uns,  die  unbedingt 
als  directe  Vorstufe  der  Emphyteuse  zu  bezeichnen  ist.  Der  Occupant  der  lex 
Manciana  ist  nämlich  nur  durch  die  Immunität  des  ersten  Quinquennium  vom  ge- 
wöhnlichen Colonen  unterschieden ;  nach  Ablauf  dieser  Frist  ist  er  Colone  wie 
jeder  andere.  Die  Identität  ist  frappant :  der  Occupant  entrichtet  tertiae  partes 
wie  der  Colone.  Aus  der  ara  legis  H.  konnten  wir  nur  entnehmen ,  dass  der 
Emphyteuta  dem  Colonen  gleichgestellt  sein  sollte  (Col.  III  1 :  .  .  nee  maiores 
partes  fruc[tuam  qua]m  co\loni  dare  debe\bit) ;  in  unserer  Inschrift  wird  der  Anbauer 
von  Rodeland  klar  und  deutlich  als  „colonus"  bezeichnet  (I  11).  Es  ist  ja  auch 
ganz  natürlich,  dass  der  Colone  ausser  seinem  Pachtland  noch  wildes  oder  ver- 
wildertes Land  in  Kultur  nehmen  durfte ;  that  er  dies,  so  wurde  er  damit  zum 
Pächter  auch  dieses  Landes.  Ein  Grund,  ein  neues  Rechtsverhältnis  zu  schaffen, 
lag  nicht  vor:  nur  wurde  ihm  für  das  nächste  Jahr  der  Pachtzins  erlassen,  wenn 
das  neuumgebrochene  Land  —  also  z.  B.  das  Baumland  —  erst  nach  Jahren 
Früchte  gab  ;  wo  er  Getreide  säte,  hatte  er  natürlich  schon  im  nächsten  Jahre  die 
üblichen  Quoten  zu  leisten.    Zeigte  schon  die  Emphyteuse  der  Inschrift  von  Thisbe 


1)  Herodian  schreibt  (II  4,  6)  die  Erlaubnis  der  Occupation  von  ager  rudis  sive  incultus  dem 
Pertinax  zu:  .,7Vqcüxov  (ilv  yccg  naoav  xr\v  neex  'IxaXiav  neu  iv  rot?  Xontoig  iftveöiv  ayEcogynxov  ra 
wri  Tia.vxa7ia.6iv  ovaccv  ccQyov  (=  agrum  incultum  sive  plane  rudern)  ETthgsipsv  bno6i\v  xig  ßovXsxut, 
xod  dvvaxcci,  sl  xai  ßuöiXecog  xrj)fta  sin,  yiaxaXafißdvsLv  (=  oecupare),  STiiprtrifttvxi  xs  xort  yscog- 
yt]6uvxi  dsGTCoxt]  elvai.  "EdeonE  xs  y£u>gyov6Lv  ctxiXsiav  nävxcov  stg  dsna  hr\  %a\  Sicc  navxbg  öeotio- 
xiCag  afisgipviav."  Die  «-rste  Bestimmung  über  die  Emphyteuse  im  justinianischen  Corpus  rührt 
von  Aurelian  her  (L.  1  C.  11,59).  Wir  haben  nun  folgende  Daten  für  die  Emphyteuse  auf  den 
kaiserlichen  Domänen:  1)  lex  Manciana  (die  neue  Inschrift  aus  der  Zeit  Traiaus),  2)  lex  Hadriana 
(Ara  1.  EL  aus  der  Zeit  des  Sept.  Severus),  3)  die  Herodianstelle  über  Pertinax,  4)  ara  1.  II.  des 
Procurators  Patroclus  (Sept.  Severus),  5)  Constitution  Aurelians. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  ».  63 


42 

die  grösste  Aehnlichkeit  mit  der  aus  den  Papyri  bekannten  griechischen  Pacht 
gegen  ein  Fruchtquantum  (s.  oben),  so  kann  man  das  ius  colendi  der  lex  Manciuna 
nicht  anders  denn  als  eine  modifizierte  Teilpacht  bezeichnen.  Nichts  als  die  Re- 
mission der  Pachtzinsen  unterscheidet  dieses  Recht  von  der  Pacht,  und  Remission 
des  Pachtzinses  tritt  ja  auch  bei  der  gewöhnlichen  Pacht  unter  Umständen  ein, 
freilich  nicht  bei  der  gewöhnlichen  Teilpacht,  denn  „partiarius  colonus  quasi  socie- 
tatis  iure  et  damnum  et  hierum  cum  domino  fundi  partitur"  (L.  25  §  6  D.  loc.  cond. 
19,  2).  So  enthält  denn  das  Occupationsrecht  der  lex  Manciana  kein  Element, 
welches  der  Pacht  fremd  wäre. 

Man  hat  bisher  die  Emphyteuse  aus  dem  griechischen  Städterecht  ableiten 
wollen,  und  den  Namen  haben  die  Juristen  Constantins  zweifellos  dem  griechi- 
schen Rechtsgebiet  entlehnt.  Dass  aber  aus  der  colonia  eine  rein  römische  E. 
entwickelt  wurde  und  zwar  durch  Hadrian,  das  zeigt  die  neue  Urkunde  und  da- 
durch macht  sie,  wenn  ich  nicht  irre,  in  der  Rechtsgeschichte  Epoche. 

In  der  unter  Traian  auf  den  afrikanischen  Domänen  geltenden  lex  Manciana 
giebt  es  eine  Emphyteuse,  eine  Erbpacht  noch  nicht,  aber  das  ius  colendi  dieser 
Urkunde  unterscheidet  sich  in  nichts  von  dem  ius  colendi  der  lex  Hadriana  als 
in  dem  Fehlen  des  „ius  heredi  relinquendi."  Die  Verwandlung  des  ius  co- 
lendi in  dieErbpacht  ist  also  mit  absoluter  Sicherheit  dem  K  aiser 
Hadrian  zuzuschreiben.    Er  ist  der  Schöpfer  der  domanialen  Emphyteuse. 

Hadrian  hat  sein  ins  colendi  dem  griechischen  Recht  sicher  nicht  entnommen, 
denn  sonst  würde  es  den  Namen  Emphyteuse  führen ,  aber  auch  dem  als  zweite 
Quelle  der  E.  genannten  „ius  in  agro  vectigali",  der  municipalen  Erbpacht,  ist 
dieses  Recht  nicht  entnommen ,  denn  das  ius  i.  a.  v.  ist  eine  ordentliche  Pacht, 
keine  Occupation.  Das  charakteristische  Moment  des  ius  colendi  der  lex  Man- 
ciana und  Hadriana :  die  Immunität  vom  Pachtzins  lässt  sich  für  uns  wohl  in 
der  späteren  Emphyteuse  wieder  finden,  aber  nicht  vorher,  also  nicht  vor  Traian 
nachweisen.  Dass  es  sich  an  die  gewöhnliche  fünfjährige  Pacht  angeschlossen 
hat,  zeigt  m.  E.  der  mit  der  Pachtzeit  identische  Zeitraum  der  Immunität.  Die 
fünf  Jahre  Immunität  für  Baumfrüchte  sind  eine  Pachtperiode,  die  zehn  Jahre 
für  Oliven  zwei.  Die  siebenjährige  Freiheit,  welche  die  ara  legis  Hadriana 
für  die  poma  gewährt ,  ist  offenbar  ein  Mittelding  zwischen  den  sonst  für  poma 
üblichen  fünf  und  den  für  Oliven  üblichen  zehn  Jahren. 

Das  „ius  heredi  relinquendiu  an  und  für  sich  könnte  Hadrian  sehr  wohl  dem 
„ius  in  agro  vectigali"-  entlehnt  haben,  wie  ja  so  vieles  in  der  Verwaltung  der 
Domänen  dem  Municipalwesen  entlehnt  ist  (s.  Grundherrschaften  p.  107  f.),  aber 
wir  finden  die  Erbpacht  oder  besser  ,den  unbefristeten  aber  kündbaren  Besitz  in 
einer  anderen  Institution,  die  dem  ius  colendi  näher  steht  als  die  municipale  Erb- 
pacht :  ich  meine  das  alte  Occupationsrecht  auf  dem  ager  publicus,  wie  es  Appian 
an  der  berühmten  Stelle  (i(iq).  I  7)  schildert.  Mit  dem  Recht  der  Possessionen 
auf  den  ager  publicus  zur  Zeit  der  Gracchen  hat  das  ius  colendi  der  lex  Hadriana 
nicht  nur  wie  die  municipale  Erbpacht  die  Erblichkeit,  sondern  auch,  was  dem  ius 
i.  a.  vect.  fehlt,  das  Moment    der  Occupation  d.  h.    der  Bebauung   wilden  Landes 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  43 


geraeinsam.  Man  wird  nicht  juristisch  ganz  ungleichartige  Dinge  wie  Occupation 
mit  Erblichkeit  und  Erbpacht  d.  h.  ordentliche  Pacht  auf  unbefristete  oder  sehr 
lange  Zeit  (100  Jahre  und  mehr  *))  zusammen  werfen  dürfen.  Dasselbe  ist  über 
die  übliche  Herleitung  der  Emphyteuse  aus  dem  ins  i.  a.  v.  zu  sagen.  Erblicher 
Besitz  von  vRottland  ist  etwas  ganz  anderes  als  erblicher  Besitz  angebauten 
Landes:  durch  den  Anbau  bisher  nutzlosen  Bodens  hat  sich  der  Bebauer  ein 
Anrecht  darauf  erworben,  das  dem  Pächter  guten  Landes  fehlt.  Man  sollte  die 
Emphyteuse  fortan  nur  noch  mit  den  verschiedenen  occupatorischen  Rechtsver- 
hältnissen, von  denen  die  römische  Agrargeschichte  weiss,  vergleichen,  aber  nicht 
mehr  mit  der  Verpachtung  vollwertigen  Gemeindelandes ;  ein  solcher  nur  auf 
der  Erblichkeit  beider  Rechte  beruhender  Vergleich    ist  doch    sehr  oberflächlich. 

Das  ius  colendi  der  lex  Manciana  und  Hadriana  kommt  dem  alten  Posses- 
sionsrechte noch  in  einem  Punkte  sehr  nahe:  hier  wie  dort  hat  der  Occupant 
eine  Fruchtquote  zu  leisten.  Sie  betrug  nach  Appian  (a.a.O.)  den  Zehnten 
von  den  Halm-  und  den  Fünften  von  den  Baumfrüchten.  (.  .  dexatr}  pev  xCbv 
67tsiQo^i£v(ov,  7iE[iitTr}  ös  t&v  (pvtEvopevcov),  während  die  afrikanischen  Occupanten 
tertiae  partes  von  Wein  und  Oel  geben  sollen  (II  24  f.),  über  welche  Produkte  allein 
Angaben  vorliegen  -). 

In  der  That  war  ja  auch  bei  dem  Risico  der  Bebauung  von  „nger  rudis  sive 
incultus"  die  Leistung  einer  Quote  angemessener  als  die  eines  Quantums. 

Man  muss  das  Occupationsrecht  gegen  Quote  unterscheiden  von  der  Pacht 
gegen  Quoten,  der  Teilpacht  (colonia  partiaria). 

Für  beide  giebt  uns  die  neue  Inschrift  einen  neuen  Beleg,  indem  in  ihr  so- 
wohl von  dem  „qni  agros  qui  subcesiva  sunt  excoluerit"  also  dem  Occupanten,  als 
denen  „qui  villas  habent  dominicasu,  also  den  ordentlichen  Pächtern,  tertiae  partes 
verlangt  werden.  — 

Die  Leistung  der  tertiae  partes  an  die  conductores  sowohl  seitens  des  Inha- 
bers einer  villa,  als  seitens  des  Occupanten  bestätigt  meine  Auffassung  der  con- 
ductores als  Generalpächter  der  Domäne  d.  h.  sowohl  des  Hof-  als  des  an  Colo- 
nen vergebenen  Pachtlandes.  Während  der  conductor  auf  dem  Hofland  selbst 
wirtschaftet,  giebt  er  die  anderen  fundi  in  Afterpacht  oder  pachtet  vielmehr,  da 
die  Colonen  bereits  auf  den  fundi  sitzen,  die  von  ihnen  zu  leistenden  Quoten,  ist 
also  auf  diesem  Teil  der  Domäne  Gefällpächter  (s.  Grundherrschaften  p.  90  f.). 
Als  Pächter  nur  des  Hoflandes  (Mommsen)  können  die  conductores  unmöglich 
die  Quoten  der  Colonen  einziehen ;  den  Pachtzins  leistet  der  Pächter  an  den 
locator :  also  müssen  die  Colonen  Pächter  der  conductores ,  mithin ,  da  diese 
selbst  Pächter  sind,  Afterpächter  (dem  Kaiser  gegenüber)  sein  3).     Die  Frohnden 


1)  Hygin  (Feldmesser  I  116):  „.  .  qui  superfuerunt  agri  vectigalibus  subiecti  sunt  alii  per 
anuos  XXX  alii  vero  mancipibus  ementibus  id  est  conducentibus  in  annos  centenos.u 

2)  Die  partes  von  den  fruetus  „agrorum  qui  subcesiva  sunt11  (I  8)  sind  unklar  ;  die  Colonen 
nqui  villas  habent  dominicas"  entrichten  von  den  Producteu  des  zugehörigen  also  nicht  neuum^e- 
brochenen  Landes  ebenfalls  den  Dritten  ;   ebenso  die  Occupanten  der  lex  Hadriana  (III  3). 

3)  Meiner  Auffassung  hat  sich  R.  Hi  s  (d.  Domänen  d.  röm.  Kaiserzeit)  angeschlossen  (n.  11  f.). 

6* 


44  ADOLF   SCHULTEN, 

im  Dekret  des  Commodus  konnten  gewiss  als  dem  Hofland  und  damit  seinen 
Inhabern,  den  conductores,  gebührende  Dienste  aufgefasst  werden  wie  es  Momm- 
sen  gethan  hat,  aber  der  Pachtzins  des  Occupanten  der  lex  Hadriana  und  erst 
recht  der  des  Colonen  der  lex  Manciana  können  nicht  dem  Hofland  sondern  nur 
dem  conductor  als  Pächter  der  Gefälle  zukommen.  Der  Ausweg,  dass  die  con- 
ductores für  den  Kaiser  die  ihm  zu  leistende  Quote  erhoben  hätten ,  ist  auch 
versperrt,  denn  der  Vertreter  des  Kaisers  ist  der  Procurator,  nicht  der  con- 
ductor. Eine  weitere  Bestätigung  meiner  Auffassung  giebt  eine  bei  Khenchela 
(Mascula)  in  Algerien  gefundene  Inschrift,  die  ich  schon  im  Nachtrag  der  „Grund- 
herrschaften* p.  134  abgedruckt  habe.     Sie  lautet: 

SALV  ///  IN  HIS  PRAEDIIS  PRIVATIS 

Iu]NIANI  MARTILIAN1  C.  V. 

VECTIGALIA  LOCANTVR. 
Die  vectigalia  können,  wie  Gsell  (Melanges  d'arch.  et  d'hist.  1893  p.  470)  rich- 
tig gesehen  hat,  nichts  anderes  sein,  als  die  von  den  Colonen  zu  leistenden 
Pachtzinsen,  denn  diese  vectigalia  sind  das  Abbild  der  dem  römischen  Volk  von 
den  Provinzialen,  oder  einer  Gemeinde  von  den  Pächtern  des  Gemeindelandes  zu 
leistenden  Gefälle  (einerlei  ob  Quanta  oder  Quoten) *).  Wer  kann  denn  nun 
der  Pächter  dieser  „vectigalia  quae  locan  türu  anders  sein  als  die  conduc- 
tores? Sie  entsprechen  durchaus  den  mancipes  der  staatlichen  oder  municipalen  2) 
vectigalia.  Besonders  in  der  Exploitierung  sind  die  Domänen  ein  getreues  Ab- 
bild der  städtischen  Territorien.  Wie  die  städtischen  Beamten  und  die  des  rö- 
mischen Staates,  so  schreiben  die  Procuratoren  der  Domänen  die  Pacht  der  von 
den  Gutsinsassen  zu  leistenden  Gefälle  (vectigalia)  aus.  Dafür  zahlen  die  conduc- 
tores (=  mancipes,  publicani)  einen  festen  Canon  und  stehen  nun  den  Colonen 
als  Inhaber  der  zu  leistenden  Quoten  gegenüber.  Die  Uebereinstimmung  sowohl 
des  städtischen  als  des  domanialen  Pachtwesens  mit  der  Erhebung  der  vectigalia 
popufi  Romani  ist  frappant.  Das  Prius  ist  natürlich  die  Verpachtung  der  staat- 
lichen vectigalia:  ihr  ist,  als  die  Municipien  aus  vici  der  Stadt  Rom  ihr  Abbild 
wurden,  die  städtische  Pacht,  das  ins  i.  a.  vect.,  nachgebildet  und  dieser  wiederum 
die  domaniale.  Dass  die  conductores  den  ganzen  saltus  innehaben  oder  vielmehr 
Pächter  der  Regie  desselben  sind,  zeigt  ferner  die  Bezeichnung  „dominis  sive 
conductoribtis" ,  die  mehrfach  vorkommt  (s.  0.).  Domini  vicem  sind  die  conduc- 
tores nur  als  Inhaber  der  ganzen  Domäne ,  nicht  als  blosse  Pächter  des  Hof- 
landes3). — 


1)  vectigal  kommt  noch  einmal  auf  domanialem  Boden  vor:  in  der  lex  metalli  Vipascensis 
Zeile  GO,  wo  von  dem  conductor  vectigalis  puteorum  d.  b.  dem  Pächter  des  Grubenmonopols  die 
Rede  ist. 

2)  Hygin  (Feldm.  I  116):  „mancipes  vero  qui  emerunt  lege  dieta  ius  vectigalis  ipsi  per  cen- 
turias  locaverunt  aut  vendiderunt." 

3)  Es  ist  interessant,  die  Exploitierung  der  afrikanischen  saltus  mit  der  lex  metalli  Vipas- 
censis zn  vergleichen.  Wie  die  lex  Manciana  und  Hadriana  die  Rechte  und  Pflichten  der  Colonen, 
so  ordnet  die  lex.  met.  Vipac.  die  der  einzelnen  conductores   vectigalis  (vectigal   s.  Zeile  60)   d.   h. 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  45 

Die  neue  Inschrift  bietet  auch  Belege  für  die  Stellung  der  Colonen.  In  §  2 
(Col.  I  19  f.)  wird  festgesetzt,  dass  die  Inhaber  der  villa  dominica  d.  h.  des 
zum  fundus  gehörigen  Hofes  den  conductores  tertiae  partes  geben  sollen.  vQui 
.  villas  habest  habebunt  dominicas"  können  nur  die  Colonen  sein:  also  zerfällt 
die  Domäne  Villa  Magna  in  fundi  mit  villae ,  welche  die  Colonen  gepachtet 
haben.  Die  Teilung  des  Gutes  in  Pachtparzellen  war  schon  von  Mommsen 
(Hermes  XV  404)  aus  dem  Nebeneinander  von  conductores  und  Colonen  ge- 
schlossen worden,  indem  er  darin  die  dem  Hof-  und  dem  Pachtland  entsprechen- 
den Rechtssubjecte  erkannte.  Der  eben  genannte  Paragraph  bringt  ein  deutliches 
Zeugnis  für  die  Teilung  der  saltus  in  fundi ,  deren  jeder  eine  villa  hat.  Ueber 
das  vom  conductor  bewirtschaftete  Hofland  erfahren  wir  leider  neues  nicht,  denn 
von  den  ein  Hofland  voraussetzenden  Frohnden  der  Colonen  wussten  wir  bereits. 
Da  die  Colonen  ein  Hutgeld  zahlen  müssen ,  muss  die  Weide  Regal  der  conduc- 
tores gewesen  sein.  Daraus  erklärt  sich  auch ,  dass  alle  Futterkräuter  ihnen 
gehören  (s.  §  10).  — 

Es  erübrigt  noch  einiges  über  die  Fruchtquoten,  die  tertiae  partes  zu  sagen. 
Während  sonst  die  Teilpacht  sehr  selten  gewesen  sein  muss  —  sie  wird  in  d*en 
Rechtsquellen  nur  einmal  erwähnt x)  —  ist  sie  nach  der  lex  Manciana  und  Ha- 
driana  das  stehende  Verhältnis  sowohl  für  das  ins  colendi  und  den  Colonat  der 
lex  Manciana  als  auch  für  die  Emphyteuse  der  lex  Hadriana.  Vielleicht  ist  es 
kein  Zufall,  dass  gleichzeitig  mit  der  neuen  Inschrift,  unter  Traian,  Plinius  d.  J. 
den  Entschluss  fasst  seine  Güter  T)partibusu  zu  verpachten  (epist.  9,  37);  viel- 
leicht hat  damals  die  Teilpacht  grössere  Ausdehnung  gewonnen. 

Der  Seltenheit  der  colonia  partiaria  im  Gebiete  des  Privatrechts  gegenüber 
bedarf  ihre  typische  Erscheinung  auf  der  kaiserlichen  Domäne  einer  Erklärung; 
ich  glaube  sie  gefunden  zu  haben:  Die  Bebauung  von  Land  gegen  Fruchtquoten 
ist  zu  Hause  nicht  auf  dem  Boden  des  Privatrechts,  sondern  auf  publizistischem 
Gebiet ;  sie  ist  üblich  bei  der  Ueberlassung  des  ager  publicus  in  Italien  und  bei 
der  Besteuerung  der  Provinzen  Sizilien  und  Asien  unter  der  Republik.  Wie 
das  Occupationsrecht  vom  ager  publicus  und  die  Gefällpachtung  von  den  provin- 
zialen  vectigalia  auf  die  domaniale  Verwaltung  übergegangen  ist  (s.  oben) ,  so 
auch  die  Anwendung  der  Fruchtquoten.  Der  Kaiser  ist  ja  auch  als  Inhaber 
des  Fiskus  auf  dem  ager  publicus  in  den  Provinzen  der  directe  Nachfolger  des 
popidus  Romanus ;    als  solcher  übernahm  er  das  dort  geltende  Bifancrecht  mit  den 


der  Pächter  des  Nutzungsrechts  der  einzelnen  Betriebszweige  innerhalb  des  Bergwerks.  Wie  es  auf 
den  Domänen  ebensoviel  Colonen  als  fundi  giebt,  so  im  metallum  Vipascense  ebensoviel  conductores 
als  vectigalia  {fulloniae,  tonstrini,  sutrini,  puteorum,  praeconii  etc.).  Ob  die  Pachtzinsen  aller  dieser 
Betriebe  wiederum  von  einem  Generalpächter  gepachtet  waren,  wie  auf  den  Domänen,  ist  nicht  zu 
sagen.  Zu  bemerken  ist,  dass  vectigal  in  der  1.  met.  Vipasc.  (Z.  60)  nicht  die  für  die  Betriebe  zu 
zahlenden  Gelalle,  sondern  die  Betriebe  selbst,  das  Monopol  des  Friseurs,  Schusters  etc.  bezeichnet. 
1)  L.  25  §  6  D.  locati  cond.  (19,2):  „.  .  alioquin  partiarius  colonus  quasi  societatis  iure 
et  damnum  et  lucrum  cum  domino  fundi  partitur." 


46 

Fruchtquoten  zunächst  für  die  Domänen  des  Fiscus  und  dann  auch  wohl  für  die 
anderen  direct  kaiserlichen  Domänen  (patrimonium  und  res  privata). 

Wir  können  nicht  sicher  sagen,  wo  die  partes  fructuum  zuerst  erscheinen,  ob 
auf  dem  ager  publicus  als  Entgelt  für  die  Possession  oder  auf  dem  ager  deeu- 
manus  der  Provinzen  Sizilien  und  Asia.  Zuerst  bezeugt  sind  die  Fruchtquoten 
als  Leistung  der  Provinzen  an  den  römischen  Staat  und  zwar  in  Sizilien.  Dass 
die  dortige  decuma  aus  der  Verwaltung  Hierons  übernommen  ist,  ist  bekannt. 
Wenn  ich  recht  sehe,  hat  man  bisher  angenommen,  dass  der  asiatische  Zehnte 
dem  sizilischen  nachgebildet  ist.  Diese  Annahme  ist  schon  a  priori  bedenklich, 
denn  in  allen  anderen  Provinzen  hat  die  römische  Republik  eine  feste  Grund- 
steuer eingerichtet,  warum  sollte  sie  in  Asien  sich  statt  dessen  die  decima  Hiero- 
nica  zum  Vorbild  genommen  haben  ?  In  Sizilien  hat  sie  sich  an  die  bestehende 
Ordnung  der  Grundsteuer  angeschlossen ,  aber  schon  bei  der  nächsten  Provinz 
Sardinien  ein  anderes  System  gewählt ;  warum  kehrt  man  bei  Asien  zu  jenem 
älteren  zurück?  Die  Frage  konnte  schon  früher  so  formuliert  werden,  aber  be- 
antwortet haben  sie  erst  die  pergamenischen  Inschriften,  die  uns  zeigen,  dass  es 
auch  im  Reich  der  Attaliden  einen  Zehnten  gab:  diese  öaxdtri  wird  in  der  In- 
schrift über  die  Ansiedlung  der  Söldner  (Inschr.  v.  Perg.  I  158)  erwähnt.  Ebenso 
gab  es  eine  dsxdrrj  im  Reich  der  Seleuciden  —  denn  in  der  grossen  Söldner- 
inschrift (Dittenb  er  ger,  Sylloge  171)  wird  den  Soldaten  ein  xkfjQog  ddexdxev- 
tog,  also  ein  von  der  dexdrri  immunes  Landloos  zugesichert  (Zeile  101)  —  und 
ebenfalls  im  Reich  der  Ptolemäer.  Der  von  den  Unterthanen  zu  leistende  Zehnte 
der  Feldfrüchte  war  also  die  den  hellenistischen  Staaten  eigentümliche  Steuer, 
und  Rom  hat  wie  so  viele  auch  diese  Institution  dem  Verwaltungswesen  der 
Diadochen  und  Epigonen  entnommen ;  für  Sizilien  dem  Reiche  Hierons,  für  Asien 
dem  der  Attaliden.  Die  hier  behauptete  Wechselbeziehung  zwischen  einer  privat- 
rechtlichen  Institution,  der  colonia  partiaria,  und  dem  Staatsrecht  Hesse  sich 
weiter  ausführen :  ist  doch  auch  das  Quinquennium  der  Pacht  mit  dem  lustrum, 
der  Steuerperiode,  zusammenzustellen.  Hier  scheint  umgekehrt  die  fünfjährige 
sicher  uralte  Pacht  das  Prius:  das  primitive  Staatsrecht  ist  ja  überall  dem  Pri- 
vatrecht nachgebildet. 

Die  von  den  Possessoren  des  ager  publicus  zu  leistenden  Fruchtquoten  werden 
zuerst  erwähnt  in  der  Geschichte  der  gracchischen  Bewegung  (Appian  a.  a.  0.). 
Ob  es  Zufall  ist,  dass  auch  diese  Leistung  den  Zehuten  der  Ernte  beträgt  oder 
ob  sie  darum  als  ebenfalls  der  griechischen  dsxdtrj  entiehut  zu  gelten  hat,  will 
ich  nicht  entscheiden.  Für  den  bisherigen  Stand  unserer  Kenntnisse  ist  jeden- 
falls die  Institution  der  Fruchtquote'  als  Pacht-  und  Occupati.onszins,  also  die 
colonia  partiaria,  heimisch  auf  den  kaiserlichen  Domänen  und  als  Grundsteuer  ist 
sie  in  Sizilien  und  Asien  sicher  entlehnt  dem  hellenistischen  Verwaltungswesen. 
Da  nun  andererseits  die  Verwaltung  der  Domänen,  in  vielen  Dingen  der  der  Pro- 
vinzen nachgebildet  ist,  so  ist  vielleicht  die  Vermutung  gestattet,  dass  die  Lei- 
stung von  Fruchtquoten  in  letzter  Linie  mit  der  Sexdtrj  zusammenzustellen  und 
die  colonia  partiaria    als    eine   griechische  Institution    zu    betrachten    ist,    wie  ja 


DIE    LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄNENORDNUNG.  47 

auch  die  Erapbyteuse  wenigstens  zum  Teil  griechische  Wurzeln  hat.  Während 
das  römische  Pachtrecht  ein  Quantum  in  Früchten  nur  als  Ausnahme  kennt 
(Waaser,  col.  part.  p.  23),  zeigen  uns  die  griechischen  Papyri,  dass  dies  auf 
griechischem  Rechtsboden,  wenigstens  in  Aegypten,  die  übliche  Form  der  merces 
war.  Ich  habe  schon  oben  angedeutet,  dass  von  der  Pacht  gegen  ein  Quantum 
von  Früchten  zu  der  gegen  eine  pars  quota ,  also  zur  colonia  partiaria ,  nur  ein 
Schritt  ist  (s.  zu  §2).  Wenn  die  Teilpacht  griechisch  war,  so  erklärt  sich  ihr 
sehr  seltenes  Auftreten,  ebenso  wie  das  der  Emphyteuse  vor  Constantin.  die  ja 
auch  nur  einmal  (von  Ulpian)  erwähnt  wird.  Die  politio  Catos1)  ist  bekanntlich 
nicht  als  col.  part.  zu  betrachten. 

Ueber  die  Anwendung  der  Teilpacht  im  griechischen  Recht  werden  noch  Un- 
tersuchungen anzustellen  sein :  in  der  Staatsverwaltung  der  hellenistischen  Reiche 
(Sizilien.  Pergamon)  ist  sie  nachgewiesen  und  die  Pacht  gegen  ein  Fruchtquantum 
ist  in  Aegypten  üblich.  Wird  es  dazu  noch  gelingen ,  die  reine  Teilpacht  im 
griechischen  Rechtsgebiet  zu  constatieren  —  und  ich  zweifle  nicht  daran  — ,  dann 
dürfte  meine  Vermutung,  dass  die  colonia  partiaria  griechischen  Ursprungs  ist, 
als  begründet  anzusehen  sein.  — 

Mit  froher  Gewissheit  kann  man  es  aussprechen,  dass  noch  andere  Inschrif- 
ten aus  den  afrikanischen  saltus  uns  über  das  Pachtrecht,  welches  hier  galt,  über 
Emphyteuse  und'  colonia  partiaria  aufklären  werden.  Aus  der  vorliegenden  Ur- 
kunde glaubte  ich  das  Gesagte  entnehmen  zu  müssen.  Unser  Wissen  von  der 
Bewirtschaftung  der  kaiserlichen  Domänen  war  bis  zum  Jahr  1880,  bevor  Theo- 
dor Mommsen  das  Dekret  des  Commodus  erläuterte,  geringer  denn  Stückwerk: 
Mommsens  Commentar  erschloss  ein  neues  Forschungsgebiet  und  der  un- 
ermüdliche Eifer  der  französischen  Archäologen  hat  seitdem  drei  Inschriften 
zu  Tage  gefördert,  die  uns  umfangreiche  Details  der  afrikanischen  Domanial- 
verwaltung  mit  urkundlicher  Treue  darzustellen  ermöglichen.  Ist  unser  Wissen 
schon  jetzt  nicht  mehr  so  sehr  wie  vor  20  Jahren  Stückwerk,  so  dürfen  wir 
sicher  hoffen,  uns  der  vollkommenen  Einsicht  noch  mehr  zu  nähern.  Auch  ferner- 
hin wird  jede  Untersuchung  auszugehen  haben  von  dem  Commentar  zum  Dekret 
des  Commodus,  mit  dem  Mommsen  den  Grundstein  dieser  Forschungen  gelegt  hat. 

Möge  uns  Afrika  aus  seinem  an  Inschriften  unerschöpflichen  Boden  bald  eine 
vollständige  lex  saltus  schenken,  die  ganze  lex  Hadriana  oder  Manciana ,  von 
denen  wir  bisher  nur  Bruchstücke  haben.  Jeder  neue  Hektar  Bodens,  den  der 
französische  Colonist  unter  den  Pflug  nimmt  oder  mit  Oliven  bepflanzt,  bedeutet 
zugleich  einen  Gewinn  für  die  Archäologie ;  denn  in  Nordafrika  folgt  dem  Colo- 
nisten,  der  dem  Lande  seine  alte  Kultur  wiedergeben  soll,  der  Archäologe,  der 
die  Reste  dieser  Kultur  erforscht. 

In  keinem  anderen  Lande  ist  die  Archäologie  so  aktuell  als  im  französischen 
Afrika:  die  Aufnahme  der  antiken  Ruinen  bildet  einen  Teil  der  topographischen 
Aufnahme,  und  der  prächtige  „Atlas  archeologique  de  la  Tunisie"  ist  im  Wesent- 
lichen   eine   Leistung   der    „brigades    topographiques".     Vielleicht  das  beste  Bei- 

1)  s.  Waaser,  col.  part.  p.  9.  3 


48 

spiel  für  das  Zusammengehen  praktischer  und  archäologischer  Interessen  bietet 
die  vom  französischen  Ministerium  veranlasste  Erforschung  der  römischen  Be- 
wässerungsanlagen. Sie  hat  zwar  den  praktischen  Zweck ,  von  jenen  Arbeiten 
zu  lernen,  aber  auch  den  ideellen  Erfolg,  dass  man  die  antiken  Reservoirs,  Aquä- 
ducte  etc.  studiert.  Von  diesem  Zusammenwirken  materieller  und  ideeller  Ziele 
ist  für  die  Kenntnis  des  römischen  Afrika  noch  viel  zu  erhoffen. 


Nachtrag. 

Die  Erläuterung  der  Inschrift  von  Henchir  Mettich,  welche  Herr  Toutain 
der  Academie  des  Inscriptions  vorgelegt  hat .  weicht  in  einigen  wesentlichen 
Punkten  von  dem  oben  Vorgetragenen  ab.  Zunächst  besteht  eine  einschneidende 
Divergenz  in  der  von  H.  Toutain  vorgetragenen  Ansicht,  dass  die  villa  Magna 
die  Domäne  eines  privaten  Grundherrn  gewesen  sei.  T.  kommt  zu  dieser 
Auffassung  durch  die  irrige  Interpretation  der  Worte  „fundus  villae  Magnae" 
die  er  zunächst  als  einen  Begriff  fasst  ===  „der  fundus  Villa  Magna" ;  da  nun 
fundus  ursprünglich  das  private  Grundstück  bezeichnet,  glaubt  er,  dass  auch  der 
fundus  V.  M.  nur  eine  private  Besitzung  sein  könne.  Zunächst  ist  dieser  Schluss 
an  und  für  sich  nicht  richtig,  da  doch  fundus  ganz  promiscue  mit  saltus  gebraucht 
wird,  ebenso  wie  praedium,  welches  ja  auch  ursprünglich  das  private  Grundstück 
bezeichnet  (vgl.  Grundherrschaften  p.  20).  Aber  hier  könnte  ja  immerhin  ein 
fundus  villae  M.  eine  gewöhnliche  Privatbesitzung  sein  wie  andere  fundi,  z.  B.  in 
Afrika  der  „fundus  Sallustianus"  bei  Cirta  (C.  VIII  7148).  Aber  wir  haben  es 
eben  nicht  mit  einem  „fundus  villa  Magna",  sondern  mit  verschiedenen  innerhalb 
der  Domäne  V.  M.  gelegenen  fundi  zu  thun ;  „in  fundo  villae  Magnae"  ist  nicht 
gleichbedeutend  mit  „in  fundo  Villae  Magnaeu  :  Villae  Magnae  ist  nicht  der  soge- 
nannte „Genetivus  explicativus"  ,  sondern  „Genetivus  partitivus"  und  fundus 
villae  Magnae  bedeutet  „der  in  der  v.  M.  gelegene  fundus".  Ueber  die  Eintei- 
lung der  grossen  Landgüter  in  fundi  habe  ich  oben  gesprochen. 

Die  irrige  Interpretation  der  Bezeichnung  „fundus  villae  Magnae"  war  das 
Ttgibrov  ifjsvdog;  ohne  sie  wäre  T.  nicht  zu  der  seltsamen  Erklärung  des  Auf- 
tretens kaiserlicher  Procuratoren  auf  privatem  Grund  und  Boden  gekommen,  die 
er  vorträgt.  Er  glaubt,  die  villa  Magna  sei  von  den  Procuratoren  einem  privaten 
Possessor  assigniert  worden  und  die  lex  a  procuratoribus  data  das  Grundgesetz 
der  neuen  Domäne  (p.  29). 

Offenbar  hat  die  glückliche  Lesung  su[6c]esiva  einen  Anteil  an  dieser  Ansicht; 
subsiciva  treten  bei  Assignation  auf,  also  schien  hier  Assignation  vorzuliegen. 
Aber  die  subsiciva  haben  mit  der  Assignation  zunächst  nichts   zu  thun ,    sondern 


DIE   LEX    MANCIANA,    EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄXENORDNUNG.  49 

gehören  zur  divisio ,  der  ersten  agrimensorischen  Manipulation  bei  Vergebung 
öffentlichen  Landes. 

Doch,  gesetzt  den  Fall,  die  villa  Magna  sei  eine  vom  Kaiser  einem  Privaten 
assignierte  Possession,  wie  kann  der  Kaiser  oder  sein  Procurator  dieser  Posses- 
sion eine  Ordnung,  wenn  auch  eine  noch  so  partielle  geben?  T.  hat  zuerst 
ausser  der  Auffassung  der  lex  als  Gründungsstatut  noch  erwogen ,  ob  sie  nicht 
die  procuratorische  Entscheidung  einer  Controverse  zwischen  dem  Possessor  der 
villa  M.  und  den  umwohnenden  peregrinen  Bauern  sein  könne  (p.  26).  Diese 
Hypothese  war  an  und  für  sich  bedeutend  besser  als  die  zweite ,  denn  in  der 
That  regeln  ja  die  Procuratoren  eine  Controverse,  nur  nicht  eine  Controverse 
zwischen  Possessor  und  Peregrinen ,  sondern  zwischen  conduetores  und  coloni. 
Zwischen  einem  Gutsherrn  und  seinen  Nachbarn  hatte  in  Africa  proconsularis 
nicht  der  Kaiser,  sondern  der  Proconsul  zu  entscheiden ,  denn  hier  gebietet  der 
Senat1). 

Die  Lesung  „ultra  fundo  villae  M.u  (I  Zeile  5)  statt  intra  führt  To utain 
zu  der  Annahme,  dass  sich  die  Urkunde  auf  aus  ihren  Sitzen  vertriebene  Pere- 
grine  beziehe  —  der  Name  Mappaliesiga,  aus  dem  T.  zuviel  Kapital  schlägt,  trat 
seinen  Teil  an  dieser  Auffassung.  Die  „mappalia  Siga"  (sie!)  sind  die  ehemali- 
gen Wohnstätten  einer  peregrinen  Bevölkerung  (p.  23)  —  also  muss  diese  ver- 
trieben worden  sein.  Nun  wird  auch  der  defensor ,  welches  Amt  dem  Punier 
Felix  Annobalis  Birzilis  zugeschrieben  wird,  zum  Vertreter  eines  Gaues  von  Pere- 
grinen —  hinzu  kommt,  dass  in  der  Inschrift  C.  VIII  8270  ein  defensor  gentis  ge- 
nannt wird.  Alle  diese  Combinationen  sind  an  und  für  sich  nicht  übel,  entbehren 
aber  jeder  Begründung.  Dass  die  Colonen  auf  eigenem  Boden  zu  grundherr- 
lichen Leuten  gewordene  Eingeborene  gewesen  seien,  wie  T.  meint  (p.  23  f.),  ist 
gänzlich  hypothetisch  und    nur    eine  Combination    aus  dem  Namen  3Iappaliasiga. 


1)  Es  giebt  Ausnahmen  von  dieser  Regel:  1)  in  Senatsprovinzen:  in  dem  Grenzstreit  zwi- 
schen dem  delphischen  Heiligtum  und  den  angrenzenden  Stadtgemeinden  terminiert  auf  Befehl  des 
Kaisers  ein  legatus  Aug.  pr.  pr.  (C.  III  567).  Dies  ist  nicht  etwa  ein  Statthalter,  denn  Achaia 
steht  unter  dem  Proconsul,  sondern  ein  besonderer  kaiserlicher  Mandatar  mit  Specialauftrag  (C. 
III  p.  107  zur  Inschrift).  Ferner  ist  in  Mustis  in  Africa  proconsularis  folgende  Inschrift  gefunden 
worden  (Carton,  Decouv.ertes  en  Tunisie  p.  02):  „Ex  auetoritate  et  sententia  imp.  Caesaris  T. 
Aelii  Antonini  Aug.  Pii  determinatio  facta  publica  Mustitanorum".  Also  auch  hier  geht  die  Grenz- 
regulierung  und  Termination  des  Stadtgebiets  vom  Kaiser  aus.  2)  in  kaiserlichen  Provinzen:  C.  III 
591 ;  749  Im  übrigen  ordnet  diese  Verhältnisse  der  Statthalter,  also  in  einer  senatorischeu  Pro- 
vinz der  Proconsul  (C.  III  58(1 :  Controverse  zwischen  Hypata  und  Lamia  vom  Proconsul  Macedo- 
nicus  entschieden)»  in  einer  kaiserlichen  der  legatus  Aug.  pr.  pr.  (vgl.  die  zahlreichen  im  Auftrage 
des  leg.  Aug.  pr.  pr.  von  Dalmatieu  gesetzten  Grenzsteine  CHI  2882;  8472;  9864»  [Suppl.II];  9938 
[Suppl.II];  9933  [S.  II]).  Ausuahmen  kamen  natürlich  nur  vor,  wenn  Stadtgemeinden  in  einem  Grenz- 
Itreit  lagen;  zwischen  Privaten  —  wie  zwischen  dem  von  Toutain  angenommenen  Possessor  der 
Villa  Magna  und  seinen  peregrinen  Nachbarn  —  wird  stets  der  Statthalter  entschieden  haben  und 
selbst  wohl  zwischen  einer  Gemeinde  und  einem  Privaten.  Wenigstens  kenne  ich  keinen  Fall 
kaiserlicher  Judication  in  einer  solchen  Controverse.  Mommsen  (Staatsrecht  III  234)  nimmt  sie 
auch  hier  an. 

Abhdlgn.  d.  K.   Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Pliil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  3.  7  3 


HO  ADOLF    SCHULTEN, 

Sehr  schlecht    will    dazu    passen,    dass  T.    diesen  Colonen  Sklaven    und  inquilini 
zuweist,  indem  er  LV  22  liest  nservum  inquilinumve  coloni." 

Bestimmend  für  die  Annahme  von  Peregrinen,  die,  aus  ihrem  Wohnsitze  ver- 
trieben, ausserhalb  der  villa  Magna  siedelten,  ist,  wie  schon  gesagt,  die  Lesung 
„ultra  (statt  inträ)  fundo  villae  Magnae^^  was  T.  übersetzt  „au  delä,  c'est-ä-dire 
en  dehors  et  autour  du  f'undus"  (p.  22).  Nun  kann  aber  ultra  ganz  unmöglich 
diese  Bedeutung  haben ;  es  heisst  jenseits  aber  nicht  ausserhalb  ,  und  das  sind 
trotz  des  c'est-ä-dirc  sehr  verschiedene  Dinge.  Ausserhalb  und  im  Umkreis  der 
villa  angesiedelte  Peregrinen  sitzen  .extra  /'.  villae  31."  ;  nur  extra  wird  dem 
von  T.  der  Stelle  untergelegten  Sinn  gerecht. 

Die  dem  Colonen  zugesicherte  Immunität  von  Fruchtquoten  für  „quinque  fica- 
tiones.  vindemiae  etc."  (II  20  f.)  interpretiert  T.  zu  subtil:  er  nimmt  an,  dass  ..post 
quintam  firationenr-  etc.  nicht  mit  ..posi  quinque  (septem,  decem)  annas*  —  auf 
welchen  Zeitraum  in  der  ara  legis  Hadrianae  Immunität  gegeben  wird  —  iden- 
tiseh  sei.  sondern  dass  nach  des  Wortes  schärfster  Bedeutung  erst  nach  fünf 
{oder  zehn  bei  Oliven)  wirklichen  Ernten  ,  also  z.  B.  für  Oliven  ,  da  diese  erst 
muh  10  Jahren  eine  Ernte  geben  (s.  Toutain  p.  40),  nach  20  Jahren  Quoten 
zu  leisten  seien  (p.  40).  Diese  recht  scharfsinnige  Interpretation  ist  nichtsdesto- 
weniger verfehlt,  da  die  Berechnung  der  Ernten  eine  äusserst  vage,  weil  unge- 
mein subjeetive  Norm  gewesen  wäre.  Wann  gilt  denn  eine  Ernte  als  solche V 
Wenn  der  conduetor  sie  als  genügend  bezeichnet  oder  wenn  der  Pächter  es  thut? 
Auf  einem  an  Controversen  so  reichen  Gebiet .  wie  es  die  Leistungspflicht  der 
Colonen  an  den  conduetor  war,  bedurfte  es  deutlicher,  jeder  Missdeutung  unzu- 
gänglicher Bestimmungen.  Wollte  man  wirklich  von  den  Colonen  erst  nach 
mehreren  guten  Ernten  Quoten  fordern,  so  musste  die  Zeit  der  Immunität  gleich- 
wohl in  Jahren  ausgedrückt  werden,  also  für  Oliven,  die  erst  nach  etwa  10 
Jahren  eine  gute  Ernte  geben,  etwa  10  -f- 10  =  20  Jahre  Abgabenfreiheit  stipu- 
liert  werden.  In  epigraphischen  Dingen  hat  die  Analogie,  nicht  die  Anomalie  zu 
herrschen  und  wenn  in  der  ara  legis  Hadrianae  Immunität  auf  eine  Reihe  von 
Jahren,  in  der  lex  Manciana  auf  ebensoviele  Ernten  garantiert  wird,  so  müssen 
Jahrgänge  und  Ernten  identische  ßegrilfe  sein.  Toutain  traut  der  Domanial- 
gi  setzgebung  ausserdem  doch  zu  viel  Liberalität  zu,  wenn  er  annimmt,  sie  hnhe 
dv)i  Colonen  fünf  oder  zehn  volle  Ernten  geschenkt;  es  ist  keine  Frage,  dass  die 
Immunität  nur  für  die  Zeit  gegeben  wurde,  während  der  die  Pflanzungen  keinen 
oder  keinen  normalen  Ertrag  liefern.  Wie  erklärt  es  denn  Toutain,  dass  nicht 
auch  für  die  jriatas  <tria',<<j  (triticum,  hordeum,  faba)  mehrere  Ernten  freigegeben 
werden?  Man  versteht  das  sofort,  wenn  man  die  Immunität  nur  für  die  Zeit 
der  Ertraglosigkeit  gelten  lässt.  da  Getreide  etc.  gleich  eine  Ernte  giebt. 

Die  flcas  aridae  [11  12  f.)  fasst  T.  als  getrocknete  Feigen  auf.  während  doch 
der  Zusammenhang  zeigt,  dass  es  sich  nur  um  ficus  aridae  arbores  ,  um  alte 
Feigenbäume  handeln  kann. 

Den  i;  10  (11  12)  interpretiert  T.  (p.  41)  so,  als  ob  in  ihm  nur  von  dem  mit 
Wicken    (ruhte)   bebauten  Land   gehandelt   würde,    während    doch    der  Accusativ 


DIE    LEX    MAXCIANA,   EINE    AFRIKANISCHE    DOMÄXEN'ORDXUNO.  51 

agros  zeigt,  dass  die  Wickenfelder  von  den  anderen  —  mit  Futterung  bestellten  — 
Feldern  ausgenommen  waren:  vor  ((gros  kann  nur  praeter  gestanden  haben. 

Auch  den  folgenden  von  dem  Vieh  handelnden  Paragraphen  (11)  erklärt 
T.  (p.  43)  nicht  glücklich,  weil  ihm  die  Emendation  quattuor  statt  des  überlie- 
ferten quattus  entgangen  ist.  Die  Annahme,  dass  es  sich  auch  hier  um  eine 
Teilung  der  fruetus  handele,  führt  ihn  vor  die  Aporie,  dass  statt  der  Quoten 
raera  quae  ins  (est)"  —  so  für  quattus  —  stipuliert  werden,  allerdings  eine  selt- 
same Art  von  Fruchtquoten!  Schuld  an  dieser  Zwangslage,  das  für  das  Vieh 
zu  leistende  Kopfgeld  mit  den  Fruchtquoten  in  Einklang  bringen  zu  müssen,  ist 
die  Lesung  [ri]ascmtur  statt  [p\a$centur ,  wie  T.  mit  Cagnat  zuerst  richtig  er- 
gänzt hatte. 

Toutain  verbindet  (p.  47)  den  Satz,  in  dem  die  inquilini  —  und  vielleicht 
auch  £017?,  wenn  die  Lesart  SERVVM  feststände  —  vorkommen,  mit  dem  folgen- 
den, der  von  den  coloni  und  den  Frohnden  handelt  (IV  22  f.) ,  und  liest  ..servum 
inquilinu[mv]e  coloni",  glaubt  also,  dass  die  Colonen  inquilini  und  Sklaven  ge- 
habt haben ,  woran  doch  gar  nicht  zu  denken  ist.  Sklaven  der  Colonen ,  ja  das 
wäre  noch  denkbar,  aber  inquilini  eolonorum  ist  ein  Unding.  Die  inquilini  stehen 
in  unseren  Quelleu  den  Colonen  durchaus  gleich,  sind,  wie  der  Name  sagt,  Guts- 
insassen  wie  jene.  Auch  hier  machte  die  Analogie  den  Weg  schwer  veriehlbar : 
wir  wussten  bereits  aus  zwei  Urkunden  *) ,  dass  die  Frohnden  (operae)  von  den 
Colonen  zu  leisten  waren.  Schon  die  sich  aus  der  Vereinigung  der  Accusative 
nservumquc  inquilinumve"  mit  coloni  ergebende  Construction  ;,ne  quis  conduetor  .  . 
inquilinum  coloni  .  .  .  [plus  quam  tot]  operas  pr[estare  cogat]"  hätte  den  Irrweg 
zeigen  sollen .  denn  in  der  ganzen  Urkunde  heisst  es  stets :  „roluui  —  oder  liier 
inquilini  —  conäucioribus  praestare  debebunt".  Was  in  dem  unvollständigen  Satz 
„ne  quis  .  .  .■'•'  gestanden  hat,  wissen  wir  nicht;  es  genügt  festzustellen,  dass  er 
unvollständig  ist. 

Ausser  diesen  wichtigeren  Divergenzen  finde  ich  bei  T.  noch  einige  Ver- 
sehen:  Licinius  Maximus  soll  procurator  tractus  (Carthaginiensis)  sein  (p.  26).  Das 
ist  gänzlich  unmöglich,  da  er  mit  dem  zweiten  Procurator  als  lib(crt%is)  proc{ura- 
tor\  bezeichnet  wird,  denn  procc.  =  procuratores  steht  da,  wie  auch  T.  liest. 
Eine  solche  lex  wie  die  vorliegende  wird,  wie  die  ara  legis  Hadrianae  zeigt,  von 
dem  procurator  saltus  erlassen.  Die  Cooperation  der  beiden  Procuratoren  schliesst, 
ganz  abgesehen  von  der  Bezeichnung  lib.  proc.  und  der  Analogie  mit  der  ara 
legis  Hadrianae,  den  höheren  Rang  des  Licinius  aus. 

Aus  ex  aream,  wie  die  Urkunde  statt  ex  area  schreibt,  macht  T.  (p.  16)  ein 
neues  Adjectiv  exareus,  a,  tun  (exaream  partem  tertiam),  wo  doch  die  Verwechslung 
der  Casus  einer  der  Hauptfehler  der  fehlerreichen  Inschrift  ist  -) !  Oiivuüo  kommt 
nicht  hier  zum  ersten  Male  vor,  wie  T.  (p.  17)  meint,  sondern  bereits  in  der 
oben  citierten  Glosse,   die  übrigens  im  Forcellini  abgedruckt  ist   (s.  v.  olivatio). 


1)  Dekret  des  Comraodus  und  Inschrift  von  Gasr  Mezuar  (s.  Hermes   1894  p.  205). 

2)  intra  fundo  (I  5);  ad  area  (I   12);  post  quinta  vindemia  (II  28);  pro  pecora  (III  17). 


3 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH  -  HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE    BAND  2.  Nro.  4. 


Die  Proleg omena 


UEPI  K9.M9-IJIA2 


Von 


Georg  Kaibel 


Berlin, 

Weidmannsche    Buchhandlung. 

1898. 


Die  Prolegomena  IIEPI  KÜMQIJIAS 

Von 

Georg  Kaibel. 


Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  30.  October  1897. 


Von  zusammenhängender  literarhistorischer  Forschung  des  Altertimms  ist 
nur  wenig  auf  unsere  Zeit  gekommen  :  um  so  mehr  Beachtung  verdienen  die  Pro- 
legomena zur  griechischen  Komödie,  die  zur  Einführung  in  die  Aristophanesle- 
ctüre  bestimmt  byzantinischer  Fleiss  uns  in  zahlreichen  Handschriften  des  Ko- 
mikers aufbewahrt  hat.  Eine  ernstliche  Prüfung  dieser  reichlichen  und  werth- 
vollen  Darstellungen  ist  bisher  kaum  versucht  worden.  Männer  wie  Platonios, 
Andronikos  oder  Tzetzes  sind  für  uns  entweder  keine  Persönlichkeiten  oder  doch 
keine  Autoritäten.  Wir  fragen  nach  ihren  Quellen  und  werden  uns  nicht  dabei 
begnügen,  Namen  durch  Namen  zu  ersetzen.  Eine  Quelle  zu  finden,  deren  Name 
sich  nennen  lässt,  deren  Ursprung  aber  dunkel,  deren  Werth  unbestimmbar 
bleibt,  ist  geringer  Gewinn:  lieber  verzichtet  man  auf  einen  Namen,  wenn  sich 
dafür  das  Alter  der  Quelle,  ihr  Character,  ihre  Zuverlässigkeit  leidlich  klar  her- 
ausstellt. Wenn  ein  Byzantiner  Weisheit  schöpfen  will,  so  wissen  wir  dass  er 
sich  nicht  auf  den  mühsamen  Weg  der  Forschung  begiebt;  er  durchsucht  nicht 
den  Wald  nach  vereinzelt  fliessenden  Quellen,  er  sucht  ein  Bassin,  das  von  vielen 
Zuflüssen  gespeist  wird.  Sehen  wir  einen  Byzantiner  mit  ungewöhnlicher  Gelehr- 
samkeit prunken,  so  gilt  es  zunächst  das  Bassin  zu  finden  aus  dem  er  geschöpft: 
von  da  erst  können  wir  den  Quellen  selbst  nachgehen. 

Aus  einer  Mailänder  Handschrift  hat  HKeil  im  Rhein.  Museum  VI  (1848) 
S.  108  ff.  einen  Doppeltractat  über  die  Komödie  herausgegeben  mit  der  Auf- 
schrift BCßXog  ^QiöToydvovg  T^er^v  (pogeovö'  V7t0(ptjrr}v.  Es  sind  zwei  Vorreden 
(7CQooi^ia  nennt  sie  der  Verfasser  selbst)  zur  Interpretation  des  Aristophanes, 
ich  bezeichne  sie  mit  Ma  und  Mb.  Da  beklagt  sich  Tzetzes  über  die  Uuzuver- 
lässigkeit  seiner  Gewährsmänner  Dionysios,  Krates  und  Eukleides,  denen  er  einst 
falsches  über  die  Komödienparabase  nachgeredet  habe  (p.  116  K):  aklä  ravza 
[uv  öl  xo^o7CQE7i6lg  i^rjyrjral    xcd  dida<5xuXoi '    olg    et'  nov  xav  (yLEiQi)  pucg  M&cog 

1* 


4  GEORG    KAIBEL, 

iiiEiöd'riv,  Ev&vg  xax  avxovg  dvrjQxrj^iEvog  {lEXEcogog  IxqCcov  xov  ifrEvdovg  ccQidrjkog 
yiyova  (er  meint  iyeyövr}  dv),  'xboyoiötv  atcbarjiia  yoivloig  ÖE^iag  (Lyk.  1080).  cag 
aoxi  Ttoxe  xr\v  Eopvßov  i]kixiav  naxCov  (so  Nauck  für  tcocöCjv)  xal  xov  alftEQiov 
E^)]yov^Evogr'Oar\QOV  TtEiöd-Elg'Hktoöcogoji  xcoi  ßÖElvocbi  eitcov  övv&Elvai  xbvr'0^r\QOv 
in!  JlELöiöxodrov  Eßdo[njxovxa  dvo  öocpovg ,  fov  eivccl  xal  xbv  Zrjvodoxov  xal  "'Agi- 
ö~tc(qxov.  Das  berichtigt  er  nun,  indem  er  die  vier  Leute  nennt,  die  wirklich 
unter  Peisistratos  den  Homer  zusammengesetzt  hätten,  Epikonkylos  (so),  Onoma- 
kritos  von  Athen ,  Zopyros  von  Heraklei a  und  Orpheus  von  Kroton ,  während 
Zenodot  und  Aristarch  in  weit  spätere  Zeit  fielen  :  xavxa  \iiv  \ioi  'Hliodcbom  (erg. 
7ZEi6d-svxi)  6v{i7te7ix(ox£,  xolg  öe  xäg  xQayixag  ßißlovg  E^rjyrjöa^iEvoLg  TtEiöd'Etg ,  olg 
xal  Oviol  (pecöi  xavxa,  eitcov  'Oqeöxyjv  xal  "Alxr]6xtv  Evotitidov  xal  xyjv  ZJocpoxlEovg 
'HkExxgav  slvcti  öaxvoixä  doduaxa  xxk.  Ebenso  nochmals  Mb  (p.  118  K) :  xdv  6 
TtEcpvQ^iEvog  xoX  ßÖEkvobg  'Hliööcjgog  ovx  Etdcog  ort  krjQEl  (pvQr\t  itävxa  xal  (cp.  xa\ 
nd-vxa  Cod.)  6v{iyLixxov  xvxscbva  yLuklov  öe  xotcqeCovu  TtoirjL,  etil  UEUSMSxodxov  xbv 
r'ü{ir}Qov  övvxE&YjvaL  xal  dQfrad-fjvccL  kr\ocbv  itagä  x&v  oß',  ETtLXQi&rjvaL  dh  itdvxav 
xy\v  Zrjvodoxov  xal  'Aoiöxdoiov  6vv&e6iv  xe  xal  Öloq^cjölv,  xal  fj{iäg  exl  vsd^ovxag 
xal  7tgcbxovg  vsiY\vr\xag  xElovvxag  ettelöev  ovxag  eitceIv  E^rjyovuEi'ovg  xbv  Ü^rjgov 
xxl.  Nun  besitzen  wir  noch  einen  zweiten  ganz  ähnlich  zusammengesetzten 
Doppeltractat  IJeqI  xcoucjidtag,  den  zuerst  Gramer  Anecd.  Par.  13  aus  einer 
Pariser  Handschrift ,  dann  aus  anderen  und  besseren  Handschriften  Studemund 
Philologus  XLVI  1  herausgegeben  hat.  Da  hier  wirklich  Zenodot  und  Aristarch 
mit  aller  Unbefangenheit  als  Zeitgenossen  des  Peisistratos  angesetzt  werden,  so 
dürfen  wir  die  auffällige  Aehnlichkeit  der  Anlage ,  des  Inhalts ,  vor  allem  des 
Stils  nicht  für  Zufall  halten ,  sondern  müssen  in  den  beiden  Pariser  Prooemien 
eine  Jugendleistung  desselben  Tzetzes  erkennen1):  ich  werde  sie  demnach  mit 
Tzetzes'  Namen  als  Pa  und  Pb  citiren. 

Zu  der  falschen  Ansetzung  des  Aristarch  und  Zenodot  ist  Tzetzes  durch  He- 
liodor  verführt  worden.  Das  war  unmöglich  der  Homeriker  oder  der  Metriker, 
sondern  sicher  ein  Spätling,  der  genau  soviel  von  der  Ptolemäerzeit  wusste  wie 
Tzetzes :  es  kann  ,  wie  Ritschi  gesehen  hat  (Opusc.  I  33  u.  a.)  nur  der  Scholiast 
des  Thrakers  Dionysio*  sein,  dessen  Zeit  zwar  nicht  genau  bestimmbar  ist,  der 
aber  sicherlich  nach  Choiroboskos  lebte,  also  wahrscheinlich  nach  dem  VI.  Jahr- 
hundert (vgl.  Keitzenstein,  Gesch.  d.  griech.  Etymol.  S.  190,4).  In  den  Scho- 
lien  hatte  demnach  Tzetzes  denselben  Unsinn  gelesen,   wie  wir  ihn  heute  noch  in 


1)  Freilich  wol  nicht  die  erste  Jugendlejstuug  :  denn  wenn  es  Pb  §  26  heisst  tag  'O^irigi-uccg 
ßißlovg  oß'  yQtcn{iuxiY.ol  iitl  n&i6i6TQÜT0v  xov 'A&i}vai(üv  xvodvvov  dtf'objxav  ovxaal  67tOQÜ8r\v  ovaag 
xö  71qlv  ■  irtEHQi&rioav  ob  %ax'  uvxbv  i-neivov  xbv  kcclqov  vti  'Agiöxäg^ov  %aX  Zr\vod6xov ,  uXlcav 
övx(ov  xovxav  xüv  enl  TJxoli^aCov  diOQQ-(o6dvxcov ,  so  zeigt  dieser  Vermittlungsversuch  deutlich, 
dass  Tzetzes' zwei  verschiedeneu  Ueberlieferungen  rathlos  gegenüber  steht,  und  da  er  in  Mb  p.  118 
eingesteht,  er  habe  den  chronologischen  Irrthum  mehrfach  begangen  —  anact-  xal  8lg  xovxo  na&mv, 
also  wol  recht  oft  —  so  stellt  Pb  schon  einen  ersten  Schritt  zur  langsam  erwachenden  Erkennt- 
niss  dar. 


DIE    PROLEGOMENA    T1EPI    KfLM£lIJIA'S  5 

den  Scholien  des  Diomedes  lesen  können,  (Bekker  p.  767,  11;  Villoison  Anecd. 
II  182),  mit  denen  Tzetzes  mehrfach  bis  aufs  Wort  übereinstimmt. 

Der  andere  Irrthum,  zu  dem  sieh  Tzetzes  bekennt,  die  Meinung,  der  Orest 
und  die  Alkestis  des  Euripides,  ebenso  die  Elektra  des  Sophokles  seien  Satyr- 
dramen,  wird  xolg  xdg  xgayixdg  ßtßXovg  etrjyrjöauEVüLg  auf  die  Rechnung  gesetzt, 
aber  Tzetzes  hat  das  nicht  selbst  in  den  Tragikerscholien  gefunden,  sondern  bei 
den  ovxot,  die  mit  jenen  Schoben  übereinstimmten,  d.  h.  die  jene  Scholien  citirt 
hatten.  Diese  ovxot  können,  wie  Nauck  richtig  erkannte  (Lex.  Vindob.  p.  24*2!, 
keine  anderen  sein  als  die  vorhergenannten  drei  Männer,  die  ihn  zu  einer  falschen 
Erklärung  der  Komödien parabase  verführt  hatten,  Dionysios,  Krates  und  Euklei- 
des.  Er  nennt  sie  xo^oitgEitEig  i^rjyrjxal  xal  öiddöxaXot,  also  Scholiasten  und 
Lehrer  (der  Grammatik),  ihre  Scholien  werden  den  Tragikerscholien  entgegenge- 
setzt, sind  also  selbst  keine  Tragikerscholien.  Tzetzes  nennt  die  drei  Leute 
häufig  zusammen,  auch  in  den  Iamben  (Gramer  Au.  Ox.  III  347  23),  wo  er 
6  EvXileidrjg  xal  Kgdxr\g  dXXoi  xe  itoXXoC  citirt,  sind  keine  anderen  gemeint,  und 
Tzetzes'  eigenes  Scholion  zu  dieser  Stelle  Aiovvöiog  6  ^AXuxagvaööEvg  xal  exeool 
xccrä  xbv  T^sx^rjv  beweist  nur  ,  dass  er  selbst  nicht  wusste  ,  welcher  Dionys  es 
war  (Consbruch,  Comment.  Studem.  S.  225 1;  ebenso  sind  eben  jene  drei  in 
denselben  Iamben  p.  343,  8)  zu  verstehen,  6  Evxleiörjg  xe  xal  Xoiitol  tzoöol  e'yga- 
il<av ,  ävdgsg  ev  Xoyoig  dir\gii£voi.  Häufiger  wird  in  den  Iamben  nur  Eukleides 
allein  genannt,  ein  deutliches  Zeichen,  wie  ich  meine,  dass  er  nur  Scholien  dieses 
Mannes  zur  Hand  hatte,  dass  Dionys  und  Krates  in  diesen  Scholien  citirt  waren. 
und  darum  die  drei  Männer  für  Tzetzes  eine  unlösbare  Einheit  bildeten.  Das 
dreifache  Citat  brachte  ihn  in  den  rühmlichen  Verdacht  unerhörter  Gelehrsamkeit. 

In  dem  einen  Falle  war  es  Heliodor,  der  Dionysscholiast,  der  die  Unschuld 
des  Tzetzes  verführte,  in  dem  anderen  war  es  Eukleides,  gleichfalls  ein  Verfasser 
von  Scholien,  wir  wissen  nicht  zu  welchem  Schriftsteller.  Beidemal  konnte 
Tzetzes  sein  Vergehen  wieder  gut  machen,  er  verräth  nicht  aus  welcher  Quelle. 
Ein  dritter  Fall  liegt  etwas  anders.  In  den  Iamben  liegt  xgayixijg  7iOLYJ<3£cog 
(p.  345,  30  Cram.)  zählt  Tzetzes  die  Hestandtheile  der  Tragödie  auf:  axovs  itdvra 
vvv  fiegri  xgaycjidtag ,  a  itgiv  6  Ei)xXEiörjg  xe  xal  XoltcoI  itoöoi  ygdtyavxeg  cog  ygd- 
epovat  6v^7C£(fvgii8vcjg  xal  övv&oXovöt  Ttdvxag  rjxgoa[ievovg ,  uegri  XiyovxEg  svvea 
rtEcpvxevai ,  äXXa  \lev  dXXog  xxX.  Ohne  die  Verwerflichkeit  dieser  Neuntheilung 
nachzuweisen,  fährt  Tzetzes  fort  (p.  346,  31)  dXXoi  dexa  XEyovGo  ...  xdde.  •  7tg6- 
Xoyov,  grjGiv.  cmoißi]v  xal  äyysXov  E^dyyEXov  rs,  6xi]vtxr}v  (bidijv  apa,  Ttgbg  oiöTCEg 
kXXi]  x<bv  iiEgojv  xExgdg,  xovgiöua,  <5aX:iiy%,  xal  öxoitbg  %ogov  {i£xa.  Es  folgt  die 
Einzelerklärung  derjenigen  Theile  aitsg  7iagEidd-Y]<5av  EvxXelöyjl.  Diese  Probe 
stumpfsinniger  Systematik  findet  sich  nur  einmal  noch  wieder,  in  den  Scholien 
zur  Dionysianischen  Te%vyi  (§  2) ,  die  Gramer  aus  einer  Handschrift  des  ßritti- 
Behen  Museums  Anecd.  Oxon.  IV  308  herausgegeben  hat.  Es  ist  die  merkwür- 
digste aller  Scholiensammlungen  ,  die  uns  weiterhin  in  erster  Linie  beschäftigen 
wird;  der  Autorname  ist  nicht  überliefert,  denn  die  glücklich  erhaltene  Bei- 
schrift (p.  322)  xavxa  Aovxtog  (so)  6  Tagoalog  Tiagaxid-Exat  bezieht  sich  nur  auf 
9    ♦ 


6 


GEORG    KAIBEL, 


einen  kleinen  Theil  der  Scholien,  vgl.  Hörschelmann ,  Act.  soc.  Lips.  IV  333. 
Nach  Uhlig  Dion.  Thr.  .  p.  XXXVI  gebort  die  Cramer'sche  Scholienmasse 
dem  Melampus  (Diomedes)  und  Stephanos ,  aber  die  Namen  lehren  uns  nichts. 
Der  Scholiast  hat  vom  Epos  und  von  der  Lyrik  geredet  und  geht  darauf 
ohne  weiteres  zur  Tragödie  über,  indem  er  ihre  Bestandteile  aufzählt  und  zu- 
gleich erklärt.     Ich  stelle  seinen  Text  dem  des  Tzetzes  gegenüber: 

Scholien:  Tzetzes  Iamben: 

1.    ngoXoyog  Q-oyog)    £6x1  TCQoavacpcDvrixi-     (nQÖXoyog)    itotbxov    Xoyov    dl    xvy%dv£iv 


xbg  xav  diä  xov  dod{iaxog  siödyeti&cu 
psllövrcov. 

2.  Qf}6ig  Xoyog  diE^odixog,  v%6  xivog  xibv 
vitoxQLTLxcbv  ngoödiitrov  XsyötiEvog  TCQOg 
xbv  oyXov. 

3.  'dfioißrj  dl  x&v  eiöayo^ievcov  7CQ06c37t(ov 

didXoyog. 

4.  ayyeXog  6  xcbv  iteTtQaypevtov  e"£co  xrjg 
noXeng  r\  xf\g  oixiag  aitayyeliccv  tiolov- 
{isvog. 

5.  Der  s^ccyysXog  ist  durch  ein  Versehen 
ausgefallen. 

6.  6xx\vixx\  dl  dudi}  i|  vitoxgixixov  tcqo6- 
cotcov  XeyotiEvrj. 

7.  xovQLG^ia  dl  fbidr}  nEv&ovg  yL£X£%ov6a 
xal  6v{icpOQäg  a7toxexccQ[isvG3v  xäg  xoi- 
%«g. 

8.  öaXniy^    dl  Xoyog  iieql£%(ov    xä  tcoXe- 

{ILXCC. 

9.  6xo7tbg  dl  6  xrjg  (1.  x&v  i%)  dXXodaTtijg 
%uQag  EQxo[isva)v  X7]v  ccTiayyeUav  %oi- 

OV(l£VOg    7tÖQQ(D&£V. 

10.  %oobg  Öe  6v6xrj{ia  Ttkeiovcov  i^eXcag 
xä  Ttooöxei^teva  cp&eyyöfisvov. 


yivcaöxi  fiot  xcbv  cjv  &eXei  Xeyeiv  xig  ex- 

fteöLv  Xoycov  (p.  346,  7). 

QY\6tg  Xoyog    xig   iöxtv  i£,rjyr}[idxG)v    vtco- 

xqlxov    Xeyovxog    ag    Ttgbg    xovg    b%Xovg 

(p.  347,  12). 

rj  <S'  i%  d^OLßr\g  Ttgbg  Xöyovg  iöxlv  Xoyog 

(p.  346,  27).  ^ 

bg  (T  ccv  xä  e^co  xolg  eöcod-i  tnqvvei,  elkrj- 

%ev  ovxog  äyyiXov  xXffiiv  tpEQEiv '  ix  öe~ 

fyCöv  ßaivei  de  ngbg  Xaibv  pigog  (p.  346, 

10). 

e^dyyeXog  tvccXlv  de  xt\v  xXr\6iv  cpegei,  rofg 

ixxbg  oöxig  iirjvvet  xä  xcöv  eöco'  diä  öxoüg 

<f  eßatve  xfjg  Xaiäg  xoxe  (p.  346,  13). 

xb  6xr\vixbv  de  xvyidvEiv  elvai  vöet,  vtio- 

XQiXOV  TtQÖÖCOTlOV    UV    GHdY(V  XeyY[i    (p.  346, 

28). 

xovgiö\ia    d?  Midi]  övpcpogäg  7tXr]g£6xdxrj, 

xavx7]v  didövxcov    xäg   xgi%ag  XExag^iEvcov 

(p.  347,  16). 

6äX%iy%  Xoyog  de  6v{ißoXäg  iia%cbv  Xiycov, 

6xo7tbg  d'    6  dt]Xibv    ix  £,£vrjg  nagovöiav, 

7lOQQG)&£V  aVXOVg  dtiOOCbV    Xal   7tgoßX£7tG)V 

(p.  347,18). 

%ogbg  di   xi  6v6xrj[icc    7tgbg    {liXog  Xiyov. 


Der  Scholiast  fügt  eine  Definition  der  Tragödie  hinzu  :  xgaywcdia  dl  ßiav 
xal  Xöycov  r\gcoix(bv  ui[iri6ig  £%ovöa  6£{Lvoxr}xa  \lex  iTtntXoxr\g  xivog,  dieselbe  welche 
von  Tzetzes  so  wiedergegeben  wird  (p.  348,  30):  axove  Xoinbv  xi  xiXog  xpaym- 
diag  '  [liinqGig  r^d-ojv  ngd^Ecov  nad-r^idxav  yiqguxov  xqotcov  xe  xx\g  xoayaidiag,  öe^vo- 
7tQ£7ti]g  ks%ig  xe  xal  dirjQtiEvri.     Vgl.  Aristot.  Poet.  6  p.  1450  a  16. 

Es  leuchtet  ein ,  dass  Tzetzes  entweder  die  Quelle  der  Scholien  oder  die 
Scholien   selbst   in   reichlicherer    Fassung   vor    Augen   gehabt   haben   muss.     Ich 


DIE   PROLEGOMENA    TIEPI   KflMflUIAS  7 

kann  nicht  umhin  auf  Tzetzes'  Iamben  genauer  einzugehen  als  sie  es  an  sich 
verdienen.  Er  will  über  die  Tragödie  lehren  was  er  gesammelt  hat  cjj  cjv  6 
EvxXeiörjg  ts  xccl  Xoiitol  noöoi  sygajpav.  Zwei  Bestandteile  scheidet  er,  rä  öxyj- 
vLy.cc  und  rä  %oqlxcc,  der  Form  nach  Xt%ig  und  cDttftj.  Die  6xrjvixd  zerfallen  in 
itQokoyog,  aneiCoöiov  und  £%odog ,  dazu  rä  anh  äxrjvfjg  (die  öxrjvixrj  guöyi)  ,  die 
%0Qtxd  in  jiccQodog,  ardGipov,  ipnefaia,  xofifiog  und  e%oöog.  Das  ist  nichts  als  eine 
üble  Erweiterung  des  Aristotelischen  Capitels  (Poet.  12).  Die  Theile  werden 
nach  der  Reihe  besprochen,  zum  Theil  mit  deutlichen  Anklängen  an  Aristoteles, 
wobei  gleich  bemerkt  wird,  dass  Eukleides  (nur  er  wird  citirt)  nicht  von  einer 
Xe%ig  sondern  von  einer  aidij  %oqov  rede,  dass  er  neben  der  itägodog  noch  eine 
ejtiTtccQodog  ansetze ,  dass  er  die  ififisXsia  nicht  erwähne  (er  nennt  sie  nämlich 
v7ioQ%ri<5ig).  Darauf  berichtet  Tzetzes  von  der  Theilung  des  Eukleides  und  an- 
derer, nicht  ohne  sie  gleich  von  vornherein  als  verwirrt  und  verwirrend  zu 
schelten.  Nach  Eukleides  sind  es  neun  Theile:  itQoXoyog,  ccyysXog ,  QccyyeXog, 
ituQodog,  STtiTtagodog,  öräöiyLov,  v7ioQ%rnLarix6v,  a[ioißcclov  und  ßxrjvixöv  (d.  h.  rä 
änb  <5xYivi]g).  Die  Ordnung  ist  die,  dass  zunächst  die  Stücke  die  ein  einzelner 
Schauspieler,  dann  die  welche  der  Chor  allein  vorträgt,  aufgezählt  werden ;  dar- 
auf folgen  Dialogpartien  mehrerer  Schauspieler  und  Wechselgesang  zwischen 
Chor  und  Schauspieler.  Das  anordnende  Element  ist  also  die  redende  oder  sin- 
gende Person.  Diesem  System  wird  ein  anderes  gegenüber  gestellt,  das  zehn 
Theile  scheidet  (aXXot  dexa  Xsyovöiv),  nämlich  TtQÖXoyog,  Qrjöig,  ä^OLßala,  ccyysXog, 
QäyyeXog,  öxrjvtxrj  (bidrj,  xovqi6[icc,  6uX7Ziy%,  öxoTiog,  %OQÖg.  Hier  sind  also  die 
Stücke,  an  denen  der  Schauspieler  betheiligt  ist,  noch  weiter  specialisirt  (xov- 
ql<5[icc  ist  im  Grunde  nichts  als  xö^i^og) ,  während  die  Chorpartien  gar  nicht  in 
Classen  zerlegt  werden  sondern  eine  Einheit  bilden.  Auch  dies  schöne  System 
findet  Tzetzes'  Beifall  nicht:  ovro  [ihv  ovroC  (pcttii  öv^TtetpvQ^ivcog'  otav  6  Ev- 
xXeidrjg  de  xal  KQarrjg  ygdcpcov  aXXov  re  TtoXXol  rcbv  Xoyoig  ÖLTjQ^ievcjv  ,  av&Qane, 
xav  xqlx^coöi  totg  örgocpotg  Xöycov,  rä  öxrjvixä  ygäcpovreg  s^iTCscpvQUBvcog,  [id&rjLg  de 
lirjöev  i%  exeCvcov  cjv  &sXeLg,  dann,  sagt  er,  wende  dich  an  Tzetzes,  der  wird  dir 
das  rechte  ebenso  kurz  wie  klar  auseinandersetzen.  Es  wäre  sehr  voreilig  zu 
glauben,  dass  wie  die  Neuntheilung  auf  Eukleides,  so  die  Zehntheilung  auf  Krates 
zurückzuführen  sei.  Nur  soviel  lässt  sich  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  sagen, 
dass  die  Zehntheilung  aus  der  Neuntheilung  mit  Hilfe  pedantischer  Erweiterung 
herausgewachsen  und  somit  später  sei;  durch  Parcellirung  der  %OQixd  hätte  sie 
leicht  noch  stattlicher  werden  können.  Die  Weisheit  endlich,  die  Tzetzes  selbst 
vorträgt  (TtgoXoyog,  QrjGig,  £7tei6odiov,  e^odog,  ä^ioißala^  xovQtö^iara,  Gxrjvixd,  jrccpo- 
dog,  e7tL7idQodog,  ördöL^iov,  öq%7]{icctix6v),  dürfen  wir  auf  sich  beruhen  lassen ;  das 
ist  eigenes  Gewächs,  nicht  etwa  eine  quellenmässige  Berichtigung  des  Eukleides 
und  Genossen. 

Die  Zehntheilung  hatte,  wie  wir  sahen,  mehreres  mit  der  Neuntheilung  des 
Eukleides  gemein,  7tQÖXoyog,  äyyeXog,  i^äyyeXog  und  äfioißalov.  Zunächst  hat  nun 
Tzetzes  die  neun  Theile  des  Eukleides  einzeln  erläutert ,  so  dass  er  nachher 
nur   noch   fünf  Stücke    der    zweiten    Reihe    zu    erklären    brauchte.     In    den  Cra- 


8  GEORGKAIBEL, 

mer'sehen  Scholien  dagegen ,  wo  nur  die  Zehnerreihe  erhalten  ist ,  finden  sich 
hintereinander  die  zehn  Erklärungen,  die  Tzetzes  theils  gleich  der  Reihe  des 
Eukleides  beigegeben,  theils  auf  die  Zehnerreihe  verspart  hat.  Wenn  nun  ferner 
Tzetzes  gleich  bei  der  ersten  ,  wesentlich  Aristotelischen  Liste  der  Tragödien- 
theile  schon  beiläufig  Abweichungen  des  Eukleides  nctirt,  sieht  das  alles  nicht 
aus,  als  hätte  er  den  ganzen  Apparat  in  einer  und  derselben  Vorlage  zusam- 
mengefunden? Da  wir  nun  weiter  wissen,  dass  Eukleides,  der  Eponymus  seiner 
Quellen,  Scholien  geschrieben  hat  und  zudem  als  Lehrer  (der  Grammatik)  be- 
zeichnet wird,  da  ferner  ein  beträchtliches  Stück  der  Tzetzischen  Weisheit  in 
den  Londoner  Dionysscholien,  und  sonst  nirgendwo,  erhalten  ist,  wird  es  nicht 
wahrscheinlich,  dass  die  Scholien  des  Eukleides  eben  Dionysscholien  waren? 
wird  es  nicht  noch  wahrscheinlicher  dadurch,  dass  Tzetzes  überhaupt  die  Scho- 
lien mit  dem  Namen  des  Verfassers  bezeichnen  kann  ?  gerade  das  ist  für  die 
Dionysscholien  characteristisch,  dass  sie  in  vielen  Handschriften  den  Verfasser- 
namen an  der  Stirn  tragen,  dass  also  niemals  eine  eigentliche  Schlussredaction 
wie  bei  anderen  Schriftstellern  stattgefunden  hat.  Man  hat  nur  gesammelt  und 
jedem  Manne  sein  Autorrecht  gewahrt,  so  wenig  dazu  Veranlassung  war,  da 
immer  einer  den  anderen  ausschrieb.  Für  die  Umiänglichkeit  dieser  Scholien.  die 
wir  noch  heute  freudig  oder  ärgerlich  anerkennen  ,  schickt  sich  die  Fülle  varii- 
render  Gelehrsamkeit  am  besten.  Für  Leute  die  keine  eigene  Ansicht  haben 
oder  haben  können  ist  die  Aufzählung  dessen  was  andere  gemeint  haben  der 
Gipfel  des  Verdienstes.  Tzetzes  hat  seine  Iamben  noch  als  leidlich  junger  Mann, 
sicher  vor  dem  Tode  seines  Bruders  Isaak  geschrieben  (f  1138),  etwa  25 — 30 
Jahre  alt.  (Giske  De  Ioannis  Tzetzae  scriptis  ac  vita  1881).  Das  war  die  Zeit, 
wo  er  (iv  {iSTQOig  Ma  p.  116  K)  sich  zu  allerhand  Thorheiten  verführen  Hess  durch 
Heliodor  und  Eukleides,  Thorheiten  die  er  erst  später  aus  besseren  Quellen  um- 
lernen konnte.  Ich  möchte  in  der  That  glauben ,  dass  ebenso  wie  Heliodor  so 
auch  Eukleides  einer  der  vielen  Verfasser  oder  Zuschneider  von  Dionysscholien 
war.  Sein  Name  ist  freilich  aus  dem  wüsten  Trümmerhaufen  jener  Scholienlitte- 
ratur  bisher  nicht  emporgetaucht ,  aber  so  gut  wie  Wachsmuth  im  Codex 
Burbonicus  (Rhein.  Mus.  XX  379)  einen  bis  dahin  unbekannten  Antonius  gefunden 
hat,  so  wage  ich  zu  hoffen,  dass  sich  ein  Eukleides  finden  wird.  Im  Grunde 
kommt  ja  nur  wenig  darauf  an:  die  Namen  der  Dionyscommentatoren,  Diomedes 
(Melampus)  Stephanos  Heliodor  Porphyrios  Antonius ,  sind  für  uns  nur  leerer 
Schall,  Compilatoren  ohne  Persönlichkeit,  von  Werth  nur  für  den  zukünftigen 
Herausgeber,  dem  sie  die  Ordnung  der  Scholienmassen  erleichtern  werden.  Für 
die  eigentliche  Quellenfrage  ist  es  in  letzter  Linie  gleich ,  ob  Tzetzes  Dionys- 
scholien oder  die  Quelle  der  Scholien  benützt  hat:  vielleicht  hat  er  beides  ge- 
than.  Aber  soviel  musste  hier  betont  werden,  dass  während  er  seinen  Irrthum 
über  Aristarchs  und  Zenodots  Zeit  und  über  die  Natur  des  Satyrdramas  durch 
Anziehung  besserer  Ueberlieferung  wieder  gut  machen  konnte ,  ihm  zur  Berich- 
tigung von  Eukleides'  Tragödiensystematik,  die  er  für  verwirrt  erklärt,  keine 
bessere  Quelle  zu  Gebote  stand  als  seine  eigene  Entscheidung. 
i\ 


DIE   PROLEGOMEXA    IIEPI   KfLNiaiJIA^  9 

Was  unter  Eukleides'  Namen  überliefert  ist,  bedarf  zunächst  der  Prüfung. 
In  Pb  §  29  und  ungefähr  gleichlautend  in  Mb  (p.  115  K)  lesen  wir  folgendes: 
exl  iöxeov  ort  xaxä  /Jiovvöiov  xal  Kgdxrjxa  xal  EvxXelöyjv  ^sqtj  xa^otöCag  Eiöl 
XEööaga'  7tgöXoyog,  pEXog  %oqov,  etieiöoöiov  xal  E%oöog.  xal  ngoXoyog  \jlev  e6xi  xb 
Ht'XQL  %oqov  tfjg  eIöoöov,  t)  de  apa  xftL  eIöoöcjl  xov  %oqov  Xsyo^itvrj  g^tiig  [leXog 
xaXEixai  %oqov,  E7isi6oöiov  öe  eCxi  (lEXog  pExa^v  (1.  toxi  xb  tiExa^v)  ^ieXü)v  xal 
qyjöscov  ovo  lOQixcbv.  s^odog  öe  eöxlv  r}  Ttgbg  x(oi  xeXei  xov  %oqov  gr\Oig.  Soweit 
ist  es  unvermischte  Aristotelische  Lehre,  von  der  Tragödie  auf  die  Komödie 
übertragen.  Es  geht  sogleich  weiter:  {lEgrj  °*€  nagaßdöecög  Eitxd.  inidxig  ydg  6 
Xogbg  uQ%Eixo,  ETtELÖäv  stg  xr\v  ogxrjörgav  f^^p^fro,  \)v  öi]  xal  XoyEtov  xaXovötv.    fj 

yLEV    OVV    TCQOJXYI    QQX)](5ig    XO[l{ldxLOV    EktyEXO,      l]    ÖE    ÖEVXEQCC    7lCCQdßaö'ig    OUCOVVUCOg     X(öi 

yivEl  ExaXEixo  (xal  ydg  xb  bXov  xovxo  xb  ETixdöxgocpov  6xWa  7tagdßa6tg  exccXelxo)  x), 
t]  öe  xgtxr\  [iccxQÖv ,  ))  öl  xExdgxi]  d>iöi\  xca  oTpoqrr/,  rj  öh  he^itcxi]  E7iiggr]ua,  rj  öe 
exxyj  dvxmöi)  xal  dvxißxgocpog ,  r\  öe  EßÖoui]  dvxETtiggrjua.  elöeX&cov  ovv  b  %oobg 
eig  xrjv  dgxyöxgav  ^ihgoig  xttil  öiEXiyExo  xolg  viioxgtxaig  xal  Ttgbg  xr\v  6xi]vrjv 
Ecoga  xrjg  xcj^icoiöiag.  av  ovv  cjg  ex  TtolEcog  eßccöt^s  ngbg  xb  &eccxgov9  öiä  xftg  dgi- 
öxEgäg  utyiöog  Eßatvsv,  av  d'  cjg  an  dygov,  Öid  xfjg  ÖE^iäg'  xExgaytovL^b^iEvog  xs*  6 
Xogbg  7igbg  uovovg  Ecoga  xovg  vTCOxgtxdg,  cctieX&ovxüjv  Öe  xCbv  vxoxgixCbv  ngbg 
äucpoxEga  xä  {lEgr}  xov  örj^iov  bgcov  ex  xExga(.iExgcov  Ö£xal%  öxiyovg  dvartaiöxovg 
Ecpd-EyyExo ,  xal  xovxo  ExaXEixo  öxgocpr}.  eIxu  EXEgovg  xoiovxovg  Ecpd-EyyExo  xal  ixa- 
Xelto  avxiöxgocpog,  aitEg  äucpoxsga  oi  TtaXaiol  EJCLggrifxa  eksyov.  bXrj  öJ  i)  nagodog 
xov  x°Q°v  ExaXEixo  nagdßaöLg.  GvpßaivEL  öi]  xb  Eitiggr^ia  tievxe  0i]iiaivEiv,  avxo 
xe    xb  olxewv  örjiiaLvöiiEvov  xal    xijv  öxgocfijv    xal  dvxLöxgocpov  xal  d)iör\v    xal    avx- 

COLÖiqV ,      ETtELÖij    Y]    UEV    ÖXgOCpi]    XYjV    CJLÖljV    ÖYjUaiVEl,      l)    ÖE    aVXlÖ~XgOCpOg    XT(V    dvxcoLÖi]V. 

Dass  nicht  nur  die  Theile  der  Komödie,  sondern  auch  die  Theile  der  Parabase 
der  Dreimännerquelle  (Eukleides)  entnommen  sind,  wird  in  Mb  ausdrücklich  ge- 
sagt, wo  Tzetzes  über  den  Unsinn,  den  er  ausgeschrieben  hat,  gerechte  Entrü- 
stung an  den  Tag  legt. 

Zunächst  liegt,  wie  schon  bemerkt,  auf  der  Hand,  dass  die  Viertheilung  der 
Komödie  der  Aristotelischen  Tragödie  (Poet.  c.  12)  genau  nachgebildet  ist,  und 
dass  ebenso  wie  bei  Aristoteles  so  hier  die  Theile  erst  aufgezählt,  dann  einzeln 
beschrieben  werden.  Nur  silbenweis  weicht  von  diesem  Abschnitt  der  Coislinia- 
nische  Tractat  ab,  in  dem  ßernays  (Zwei  Abhandlungen  S.  150)  Aristotelische 
Spuren  zu  finden  gemeint  hat.  Diesen  Tractat  also  oder  seine  (Quelle  haben  die 
Dreimänner  gekannt  und  benützt.  Die  Parabasentheile  sind  offenbar  in  Verwir- 
rung gerathen.    Der  Grundfehler  ist  der,   dass  der  Chor  sogleich  nachdem  er  die 


1)  In  Mb  befremdet  ein  Rechenfehler:  to  de  inräargocpov  Öq%t]{ic{  tovtg  nagaßccaig  stiuXbito 
tibi  ysvBL.  xal  i]  7iQmrr\  de  ögxr]6LS  öiicovvficog  ran  yivu  necgäßaais,  zb  xqltov  iicchqov  xal  nvCyog  v.tX. 
Man  würde  an  den  Ausfall  eines  Satzes  denken,  wenn  nicht  derselbe  Fehler  schon  in  den  iauibeii 
(p.  341,  20  Cr)  vorläge.  Er  hat  also  hier  die  gleiche  Quelle  oder  die  gleichen  Excerpte  aus  seiner 
früheren  Quelle  benützt,  in  P  also  eine  andere.  Von  Belang  ist  nur,  dass  Mb  ebenso  wie  die 
Iainben  den  Doppelnamen  [iccxqov  und  nviyog  bewahrt  hat. 

Abhdlgn.  d.  K.  Gos.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  4.  2  (l 


10  GEORG    KAIREL, 

Orchestra  betreten  die  Parabase  vorgetragen  habe:  es  ist  also  Parodos  und  Pa- 
r;il»;ise  miteinander  verwechselt  worden,  nicht  von  Tzetzes ,  sondern  von  seinem 
Gewährsmann,  wie  sich  aus  dem  zeigt  was  Tzetzes  anderswo  (Mb  p.  121  K)  in 
seiner  Unwissenheit  und  Verzweiflung  sagt:  xrjv  da  aiöakavöiv  xavxtjv  ov  {la'Xov 
eöxi  {iol  öitag  uv  xal  xaXaöaiag ,  ai'xa  aiöodov  t)  aio'aXavöiv  rj  aTtiqXvöiv  tj  inißaöiv 
»j  ndgodov  rj  Ttagdßaöiv  rj  dXXcog  nag  6r\[iaiv(ov  xavxö.  Die  Art  der  Verwirrung 
ist  auch  äusserlicb  noch  ganz  wol  erkennbar,  wenn  es  nach  der  tadellosen  Auf- 
zählung der  Parabasentheile  weiter  heisst  aiöaX&cov  ovv  6  %ogbg  sig  xr\v  6gxY\6xgav 
xxX.  Es  wird  der  Einzug  des  Chors  beschrieben,  sein  Verhalten  zu  den  Schau- 
spielern, seine  Stellung  der  Bühne  gegenüber.  Nun  sollte,  wie  die  Worte  ditaX- 
d-övxav  x(bv  vTtoxQLxcbv  lehren,  die  wirkliche  Parabase  folgen.  Da  sie  aber  schon 
an  Stelle  der  Parodos  vorweggenommen  war,  steht  hier  etwas  andres  völlig 
sinnloses.  Nicht  viel  besser  ist  was  der  Anonymus  VII  (Dübner  Schol.  Ari- 
stoph.  p.  XVII)  bewahrt  hat:  6  £Opö$  6  xco^itxbg  ai6rjyaxo  av  xfji  6gxrj6xgai  xäi 
vvv  Xayouavcoi  XoyaccoL.  xal  oxa  {iav  ngog  xovg  vjcoxgixäg  diaXayaxo,  Jtgbg  xr\v  6xyj~ 
vi]v  dcpaäga  ,  bxa  da  diiaX&ovxcov  xdv  vTioxgixCbv  xovg  dvaitaiöxovg  dia^rjiai  .  7tgbg 
xbv  dijfiov  <x7ta0xoe(paxo,  xal  xovxo  axalalxo  öxgocprj.  r)v  da  xä  ia^ißala  xaxgdfiaxga. 
aixcc  xi]v  dvxiöxgocpov  diiodovxag  ndXiv  xaxgdfiaxga  anäXayov  töcov  öxi^ttV  fjV  da 
anl  xb  TtXalöxov  ig  .  axaXalxo  da  xavxa  amggriaaxa  '  i\  da  oXrj  ndgodog  xov  %oqov 
axaXalxo  jcagdßaöig.  'Agiöxocpdviqg  av  'lnnavöiv  (507)  c al  pav  xig  dvijQ  xojv  dgxaiov 
xco^icotdodiddaxaXog  f]{iäg  rjvdyxa^av  la%ovxag  aitr\  Ttgbg  xb  ftaccxoov  7tagaßrjvai\ 
Dies  Stück  hat,  da  es  im  Venetus  steht  (und  nur  wenig  abweichend  in  jüngeren 
Handschriften),  das  eine  vor  Tzetzes  voraus,  dass  seine  Fassung  hundert  oder 
mehr  Jahre  älter  und  darum  etwas  besser  ist.  Hier  ist  zwar  auch  schon  Paro- 
dos und  Parabase  verwechselt ,  aber  die  glücklich  erhaltenen  Worte  t^v  dvxi- 
öxgoyov  dito  d  bvx  a  g  zeigen  deutlich,  dass  es  sich  nicht  um  ein  bestimmtes 
Chorlied,  sondern  um  die  epirrhematische  Composition  schlechthin  handelt.  Das 
wird  unzweifelhaft  durch  die  Glosse  Et.  M.  363,  46  amggrjuaxa '  av  xolg  %ogixolg 
oxa  6xQ0(pr]v  diöaiav  palog  (1.  ua'lovg,  vgl.  Hephaest.  p.  139,  18),  analayov  7toii]^id- 
xiov  ig  6xi%cov.  aixcc  xi]v  dvxCöxgocpov  ditodovxag  aitälayov  ndliv  xaxgd{iaxgov  7toirj- 
{Ldxiov  xcbv  l'6cqv  6xi%cöv.  axalalxo  da  xavxa  aitiggiqiiaxa.  Es  hätte  auch  heissen 
können  aTttggrjfiaxixi)  öv^vyia,  wie  Schol.  Ar.  Kitt.  1263.  Die  Corruptelen  des 
Anon.  VII  sind  für  uns  völlig  belanglos  geworden:  in  den  Worten  ijv  da  xä 
ia{ißaia  xaxgduaxga  war  nur  gesagt ,  dass  auf  die  cndt]  eine  Anzahl  von  Tetra- 
metern  folgte. 

In  der  Quelle  des  Tzetzes  war  also  —  abgesehen  von  später  entstandenen 
Wirrungen  —  vernünftiger  Weise  dreierlei  behandelt:  die  Parodos  des  Chors 
nebst  seinem  Verhältniss  zur  Huhne,  die  Parabase,  endlich  die  der  Komödie 
eigentümliche  epirrhematische  Composition,  nicht  der  Scenen.  sondern  der  Chor- 
vorträge. Aehnliches  lag  Hephästion  vor  de  carm.  p.  134,  16,  vgl.  p.  139,  13. 
Diese  drei  Punkte  ordneten  sich  offenbar  einem  der  vier  Theile  der  Komödie, 
dem  xoqlxov  unter;  ihre  Behandlung  schliesst  sich  also  eng  an  den  bei  Tzetzes 
vorangehenden    Abschnitt    über    die    vier   Komödientheile    an ,    ganz    so    wie    die 


DIE    PROLEOOMEN A    IlEPl    KflM£LIJIA2  11 

Theile  der  Tragödie,  bei  Aristoteles  (c.  12)  behandelt  werden.    Die  Vermutbung, 
dass  die  Quelle  eine  Art  Poetik  war,  drängt  sich  schon  hier  auf. 

Die  beiden  Pariser  Tractate  (Pa  Tb)  geben  im  grossen  und  ganzen  die 
Quelle  des  Tzetzes,  wenn  auch  nicht  am  vollständigsten,  so  doch  am  genauesten 
wieder.  Pa  zerfällt  in  drei  Abschnitte.  Der  erste  handelt  vom  Ursprung  der 
Komödie,  er  endet  mit  einer  Etymologie  des  Wortes  xco{icoidia  und  einer  Begriffs- 
bestimmung des  komischen  Dramas  im  Gegensatz  zum  tragischen.  Dabei  hatte 
sich  eine  Theilung  der  Komödie  in  drei  Perioden,  ägiaCa  ni<5r\  via,  ergeben.  Der 
zweite  Abschnitt  kennt  nur  zwei  Entwicklungsperioden,  die  a.Q%aCa  und  via,  ihre 
unterscheidenden  Merkmale  werden  von  besonderen  Gesichtspunkten  aus  erläu- 
tert. Der  dritte  Abschnitt  bespricht  die  Quellen  des  yeXolov.  Diese  drei  Ca- 
pitel  nun  decken  sich  genau  mit  den  dr^i  anonymen  Tractaten  liegt  xcöyLcoiÖCag, 
IV.  V.  VI  bei  Dübner,  und  zwar  mit  V  und  VI  bis  aufs  Wort  genau.  N.  V 
und  VI  stehen  mit  jedesmaliger  Ueberschrift  IJsqI  xcoucöidiag  schon  im  Venetus 
hintereinander,  ebenso  im  Venetus  G,  der  die  Prolegomena  zu  Aristophanes  nicht 
aus  V  hat,  ebenso  auch  in  zwei  anderen  nicht  direct  von  einander  abhängigen 
Handschriften,  im  Vaticanus  und  im  Estensis,  ebenso  endlich  in  der  Aldina.  N. 
IV  i.^t  nur  im  Ambrosianus,  dem  nah  verwandten  Laurentianus  @  und  in  der 
Aldina  erhalten,  in  ersteren  beiden  vor  N.  VI  (V  fehlt),  in  der  Aldina  durch 
einen  Biog  'AQiGtocpvvovg  von  N.  V.  VI.  VII.  VIII  getrennt,  zusammen  mit  N. 
III,  einem  Tractat,  den  ausserdem  nur  der  Estensis  erhalten  hat1).  Da  nun  V 
und  VI  in  keinem  erkennbaren  Zusammenhange  stehen,  so  scheint  es  als  ob  sie 
von  Anfang  getrennte  Abhandlungen  gewesen  und  nur  von  Tzetzes,  der  sie  ge- 
trennt etwa  in  seinen  Aristophaneshandschriften  fand ,  unpassend  zusammenge- 
setzt wären.  Aber  das  ist  nicht  nur  an  sich  unglaubhaft  —  wer  schreibt  solche 
Miniaturabhandlungen  — .  es  ist  auch  nachweisbar  unrichtig.  N.  VI  ist  bekannt- 
lich nur  ein  kleiner,  wenn  auch  ausgeführter  Theil  des  Coislinianischen  Tractats 
X  d.  Dübner ) ,  von  N.  V  lässt  es  sich  wahrscheinlich  machen,  dass  diese  merk- 
würdige Begründung  der  zweitheiligen  Komödie  dereinst  mit  N.  IV  oder  einem 
Tractat  ähnlichen  Inhalts  verbunden  war.  N.  V  beginnt  mit  den  Worten  xr\g 
xcoucjidtag  tö  \lIv  eötlv  aQ%alov ,  tö  öe  viov ,  rö  da  \1160v.  Weil  aber  hier  nur 
von  der  ag%aCa  und  via  die  Rede  ist.  hat  Meineke  rö  öe  pitiov  tilgen  wollen, 
mit  Recht  zugleich  und  mit  Unrecht.  Tzetzes  hat  den  thörichten  Zusatz  eben- 
falls, wie  ihm  auch  eine  böse  Lücke  im  Text  mit  dem  Tractat  N.  V  gemeinsam 
ist.  Man  möchte  glauben,  dass  er  Lücke  wie  Zusatz  eben  einer  Aristophanes- 
handschrift  verdankt,  aber  so  liegt  die  Sache  nicht.  Tzetzes  leitet  das  Stück 
mit  den  Worten  ein  (§  14)  xal  naXiv  xa&'  higav  diaigeöiv  Tftg  xco^Kotdiag  rö  \iiv 
iönv  aQiaiov  xtA.  So  kann  kein  selbständig  gewordener  Tractat  beginnen,  son- 
dern nur  ein  Capitel,  das  im  Gegensatz  zu  einer  Dreitheilung  der  Komödie  jetzt 
v<>n  der  Zweitheilung  handeln  sollte.  Da  bei  Tzetzes  die  Worte  sinnlos  sind 
—  denn  er  hat  eben  vorher  von  etwas    ganz  anderem  geredet ,    vom  Wesen    der 


1)  Zacher,  Fleckeis.  Jahrb.  Suppl.  Bd.  XVI  505  ff. 


12  GEORG    KAIBEL, 

Komödie  und  Tragödie  —  so  bat  er  sie  verständnisslos  aus  seiner  Quelle  abge- 
schrieben, seine  Quelle  waren  also  nicht  zusammenhangslose  Tractate,  sondern 
eine  einheitliche  Darstellung  von  den  Entwicklungsperioden  der  Komödie.  Nehmen 
wir  an  —  die  Annahme  wird  sich  nachher  bestätigen  —  die  Quelle  sei  eine 
Scholien Sammlung  zu  Dionysios  Thrax  gewesen:  der  erste  Scholiast  hatte  nach 
einem  litter arhistorischen  Handbuch  ausführlich  über  die  Komödie  gehandelt, 
auch  über  ihre  verschiedenen  Perioden,  erst  über  die  Dreitheilung,  dann  über  die 
Zweitheilung.  Diese  Stücke  wurden  —  das  ist  nachweislich  geschehen  —  aus- 
einandergerissen., in  der  einen  Scholienbearbeitung  erhielt  sich  nur  das  eine,  in 
einer  anderen  das  andere,  so  aber  dass  das  andere  Stück  die  einleitenden  Worte 
Ttdhv  xa&  ärtQccv  diaigeöw,  obwol  sie  nicht  mehr  passten,  mit  mechanischer  Treue 
bewahrte.  Solche- Dinge  sind  ganz  anderen  Schriftstellern  als  den  Dionysscho- 
liasten  passirt.  Das  zweite  Stück  wurde  also  selbständig  und  nun  schrieb  einer, 
dem  die  dunkle  Erinnerung  an  eine  yLtöi]  xcoucjiöta  auftauchte,  diese  wie  er 
meinte  nothwendige  Ergänzung  dazu.  Das  war  in  der  Quelle  geschehen ,  die 
den  anonymen  Tractaten  IIsqI  xco{i(oidiag  und  den  Prooemien  des  Tzetzes  gleicher- 
massen  zu  Grunde  liegt. 

Der  zweite  Abschnitt  des  Tzetzes  (=  Anon.  V)  setzt  demnach  wegen  der 
Eingangsworte  ndliv  xatf  txegccv  dtatQsöiv  eine  andere  Abhandlung  über  die 
Dreitheilung  voraus  ,  und  die  ist  nun  nicht  nur  im  Anon.  IV  und  bei  Tzetzes 
(Pa  sj  1 — 11)  sondern  auch  in  den  Dionysscholien  erhalten  (p.  747,  24  Bekk,  vgl. 
III  p.  1160.  Sturz  Et.  Grud.  p.  G6G.  (xaisford  Heph.  I  376,  letzterer  aus  dem  vor- 
trefflichen ßaroccianus  166).  Offenbar  sind  die  Scholien  Quelle  des  Tzetzes : 
sein  Text  weicht  nur  in  ganz  belanglosen  Zusätzen ,  Auslassungen  oder  Wort- 
veränderungen ab.  Selbst  die  Einleitungsworte,  die  das  Stück  deutlich  als  Scho- 
lion  characterisiren  *),  sind  beiderseits  dieselben  :  xaiimdiai  liyovxau  xcc  xCbv  xeo- 
fitx&v  noiY^iaxa ,  ag  xä  xov  Msvdvdoov  xal  'Aoiöxocpdvovg  xal  Kgaxivov  xal  xav 
o^iolcjv2).  Der  Anon.  IV  ist  sehr  viel  kürzer  —  er  lässt  z.  B. ^ausser  dem  Ein- 
leitungssatz den  Susarion  als  domyog  trjg  £{1[16xqov  xco^icjidtag  ganz  bei  Seite  — 
im  übrigen  steht  er  bald  zum  Scholion  bald  zu  Tzetzes  in  näherer  Beziehung; 
der  wichtigste  Punkt,  in  dem  er  von  beiden  abweicht,  ist  dass  er  die  ersten  pri- 
mitiven Komödienspiele  nicht  auf  das  Theater  (inl  ftedxQov)  sondern  auf  den 
Markt  (int  iieorjg  dyooäg)  verlegt.  Eine  gemeinsame  Quelle,  Dionysscholien  oder 
deren  Quelle,  ist  trotzdem  für  alle  drei  Fassungen  sicher. 

Die  Erzählung  selbst,  wie  die  Komödie  entstanden  sei ,  ist  sehr  eigenartig. 
Landleute,  die  von  den  Bürgern  geschädigt  worden  sind,  ziehen  nächtlicher  Weile 


1)  Vgl.  die  gleichen  Scholienanfänge  p.  733,  24  itoir\xcu  Xiyovxui  ol  tu  f^fistQa  yQccipccvxsg 
und  p.  751,9  t'nog  xt'^ucog  6  l'fi^txQog  Xöyog  Xiysxai.  Beide  Scholien  tragen  im  Burbonicus  den 
Namen  des  Dioraedes.     Vgl.  die  nächste  Anmerkung. 

2)  Das  Scholion  gehört  dem  Diomedes  ,  dem  im  Burbonicus  ausdrücklich  das  entsprechende 
und  fast  mit  den  gleichen  Worten  beginnende  Scholion  über  die  Tragödie  zugewiesen  wird  (p.  746, 
1  B)  xQayandCa  Xiytxui  zu  x&v  XQCcyt,-x.ä>v  7toirnicczce,  oug  tu  xov  Evgniidov  xca  UocponXsovg  xca  Al- 
c%vXov  xca  xüv  xolovxcov.     An  sonstigen  Aehnlichkeiten  der  beiden  Scholieu  fehlt  es  nicht. 


DIE  PROLEGOMENA    TIEPI  KflMflUIAS  13 

in  die  Stadt  und  erhoben  vor  den  Häusern  ihrer  Bedrücker  Klage.  Dadurch 
kommen  die  Angeklagten  in  üblen  Ruf,  so  dass  sie  sich  bessern.  Die  Väter  der 
Stadt  finden  das  nützlich  und  veranlassen  die  Dorfleute  in  Zukunft  ihre  Klage 
öffentlich  vorzubringen,  auf  der  Bühne  oder  auf  dem  Markt.  Das  thun  sie,  aber 
aus  Furcht  vor  den  reichen  Bürgern  thun  sie  es  maskirt.  Susarion  giebt  dem 
Scheltlied,  das  jetzt  üblich  wird,  künstlerische  Form.  Auf  die  Erzählung  selbst 
werde  ich  später  zurückkommen.  Hier  genügt  es  zunächst  eine  wesentliche 
Eigenthümliclikeit  hervorzuheben:  der  Erzähler  operirt  mit  einer  doppelten  Ety- 
mologie des  Wortes  xco^tcjidLa.  Dörfler  sind  es  (xco^ifjxai) ,  die  bei  der  Nacht 
(itegl  xbv  xcciqov  xov  xad-Evdscv)  in  die  Stadt  ziehen.  Die  Zeit  des  Schlafes  heisst 
xü^ia.  Beide  Etymologien  stehen  nebeneinander  Schob  Dion.  p.  749,  20  B  :  EiQr\Tai 
öe  xcj^icjiöia  ofovsl  Eni  xcbt  xcoiictTL  cndij '  xal  yc(Q  TiBQi  xbv  xaigbv  xov  vnvov  icpsv- 
Q&fti] '  xcöficc  yäo  6  vnvog.  rj  r)  xCov  xco^LiqrCbv  Odidiq.  xCo^iai  yug  Xiyovxai  ot  /t£t£o- 
vsg  dygoc  (nicht  Aecker,  sondern  Bauerngüter  oder  Complexe  von  Bauerngütern). 
Wer  xcj^lt]  und  xcö^ia  gleichzeitig  zur  Erklärung  des  Wortes  benützt,  muss  beide 
Nomina  von  derselben  Wurzel  ableiten.  Das  ist  die  Art  des  Philoxenos  (vgl. 
Reitzenstein ,  Gesch.  d.  gr.  Etym.  186),  und  wirklich  besitzen  wir  was  Phi- 
loxenos über  die  gemeinsame  Wurzel  gelehrt  hat.  Wie  er  ein  Urverbum  ycb 
(=  %coqgj)  ansetzte,  um  davon  yr}  yvvr\  yaöxrjg  u.  a.  abzuleiten,  so  galt  ihm  x<& 
als  Urelement  (tfopji  f"r  ^c6fi^  xco^iog  xcjua  u.  a.  Vgl.  Orion  p.  119,  19  öqe<5- 
xcoLog '  nagä  xb  xä  drjlovv  xb  xot^iuy^ica,  ov  6  {ieXImv  xcböa,  Qr\uaxixbv  ovo^ia  xcbg 
(d.  i.  xobag),  Gvvdsvov  oQSöxcbg  xxl.  ovxa  Oilo^svog,  besonders  aber  Steph.  Byz. 
400,22  M.  xcburj'  ev  xalg  iiaxoalg  böolg  (auf  den  Heerstrassen)  petia  (1.  (iel^cj) 
%cjqlcc  exnöav  nobg  xb  xoi{ia(j&ai  vvxtbg  EmyiyvoyLEvr\g,  o&ev  xal  EnixixXY\xai ,  hg 
Q)il6%Evog.  Vgl.  Pollux  IX  11.  37.  Die  Zeitbestimmung  der  Etymologie,  die 
sich  daraus  ergiebt,  nützt  uns  für. die  Zeitbestimmung  der  Erzählung  nichts,  da 
diese  auch  ohne  die  Etymologie  bestehen  konnte  und  aller  Wahrscheinlichkeit 
lange  vor  ihr  bestanden  hat,  Wol  aber  finden  wir  die  gleiche  Ableitung  an 
einer  anderen  Stelle  wieder,  die  uns  mehr  lehren  wird.  Das  Et.  M.  764,  1  hat 
eine  grosse  litterarische  Doppelglosse  unter  d.  W.  xoayaidia  bewahrt.  In  der 
That  geht  die  Glosse  die  Komödie  ebenso  sehr  an  wie  die  Tragödie,  nur  dass 
beide  nicht  ganz  gleichartig  behandelt  werden.  Zunächst  steht  da  eine  Defini- 
tion der  Tragödie  :  egxi  ßiav  xe  xal  Xöyoiv  {jQCOLxCbv  [iLiiqöig,  also  ein  Bruchstück 
der  bei  Tzetzes  sowie  in  den  Cramer'schen  Dionysscholien  erhaltenen  Defini- 
tion (S.  6).  Dann  folgen  verschiedene  Etymologien  von  xoayeoidia ,  die  sich  alle 
in  den  Bekker'schen  Dionysscholien  wie  bei  Tzetzes  wiederfinden.  Ebenso 
werden  verschiedene  Etymologien  von  xco^Koidia  verzeichnet,  und  im  Zusammen- 
hang damit  die  Erfindung  der  Gattung  erzählt:  i)  inl  xöjl  xä{iaxi  cjtdrj.  inEidrj 
inl  (1.  nsQi)  xbv  xaigbv  xov  vnvov  xr\v  ag^r\v  EcpEvgE&rj.  r)  rj  xcbv  xoj^lijxCjv  &idr\' 
xwjitat  yäg  kiyovxai  oi  {lEit.ovsg  ccygoC.  Das  ist  wörtlich  das  Dionysscholion,  mit 
dem  fast  ebenso  wörtlich  die  nun  folgende  Erzählung  vom  Ursprung  der  Ko- 
mödie stimmt,  nur  dass  im  Et.  M.  nicht  mehr  als  der  Anfang  ausgeschrieben 
ist.     Dies  alles  würde  kaum  Beachtung  verdienen,    wenn    nicht  ein  neues  hinzu- 


14  GEORG    KAIBKL, 

träte:  {xgayojLdia)  dito  xr\g  xgvybg  xgvycoLdta.  i\v  de  xb  bvo[ia  rothro  xotvbv  xal 
ngbg  xr\v  xcj^icotÖLav,  enel  ovtccj  dtexexgtxo  xä  xyg  TtoiY\6ecog  exaxeoag,  alX  etg  av- 
xi\v  (vielleicht  dXX  exaxeoag)  ev  i]v  xb  a&Xov  rj  xqv^.  vöxeoov  de  xb  pev  xotvbv 
bvo[icc  £6%ev  rj  Toccyaiöicc,  i]  de  xcj^icoLÖLa  cdvo/iatfO'r? ,  eneidi]  Ttooxeoov  xaxd  xcb^ag 
ekeyov  avxä  ev  xalg  eogxatg  xov  zJiovvöov  xal  xrjg  z]r\^r]XQog.  Das  ist  ein  Ver- 
such, wie  er  uns  in  mehrfachen  Fassungen  erhalten  ist,  die  beiden  verwandten 
Gattungen  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung  zurückzuführen,  ein  Versuch  zu  dem 
sich  mancher  Literarhistoriker,  nach  Anleitung  des  Aristoteles  zwar,  aber  doch 
im  Widerspruch  mit  ihm,  verlockt  fühlen  musste.  Dieselbe  Combination  in  noch 
weiterem  litterarhis torischen  Zusammenhang  bietet  Tzetzes  in  den  Jamben  liegt 
dtacpogäg  TioirjxCbv  (v.  57),  wo  es  vom  Drama  insgemein  heisst:  xXr)6Lg  de  xolg 
6v(iitci6iv  i\v  xQvyaidCu '  %qövcjl  ÖLrjLoe&r}  de  xXrjöig  ig  xqiu,  xco^coidiav  äfia  xe  xal 
xoayojidiav  xal  öaxvgtxijv  xwvde  xr)v  {ie6aLxdxY[v.  oöov  fiev  ovv  e6yr\xe  xr)v  d-gqv- 
(aiöcav,  xgaycotdiav  ecpaöav  ot  xgixal  xoxe'  o6ov  de  xov  yeXojxog  r\v  xal  öxcD^i^dxcov, 
xco^icotdiav  ed-evxo  xi)v  xXft6iv  ytgeiv.  aiicpco  de  Ttgbg  <5v6xa6iv  x\6av  xov  ßiov '  6 
yäg  xgayixbg  xobv  itdXai  Ttdftri  Xeycjv  —  xovg  ^Cbvxag  e^rjXavvev  dyegco%iag,  b  xco{itxbg 
de  iiiog  yeXüv  xa^icoidiatg  agitayd  xiva  xal  xaxovgyov  xal  (p&ogov  xb  Xoiitbv  r\dgaC(a6ev 
eig  evxoO(iiav.  Das  stimmt  allerdings  nur  in  ganz  wenigen  und  nicht  sehr  wesent- 
lichen Punkten  mit  dem  Tragödienscholion  des  Diomedes  (p.  746  B),  aber  trotzdem 
spricht  vielerlei  dafür,  dass  Tzetzes  für  diese  sehr  leichtfertige  Litteraturgeschichte 
entweder  ausschliesslich  oder  hauptsächlich  Dionysscholien  benützt  hat.  Diomedes 
sagt  von  den  Tragikern  (p.  74o,  5)  fteXovxeg  wyeXeiv  xoivv\i  xovg  xrjg  noXeag  und  von 
den  Komikern  (p.  748,  29)  genau  dasselbe,  Tzetzes  aber  von  beiden  Dramen  (v. 
24)  fyiqpco  Ttgbg  üxpeleiav  evgrjvxai  ßCov,  und  wenn  er  in  der  vorher  ausgeschrie- 
benen Stelle  dafür  behauptet  c^kjpco  de  Ttgbg  övGxaöiv  r\6av  xov  ßoov,  so  ist  das 
einer  seiner  vielen  Fehler ;  die  Quelle  hatte  nur  von  der  Komödie  behauptet,  sie 
sei  övöxaxixr)  xov  ßtov.  Ferner  nimmt  Tzetzes  ohne  weiteres  die  Korinna  in  den 
Kanon  der  Lyriker  auf  (v.  19)  und  stellt  so  eine  dexäg  dgiöxri  itavxeXr\g  TtXvtge- 
öxdxi]  her.  Sonst  pflegt  man  sich  mit  neuen  Lyrikern  zu  begnügen,  nur  in  dem 
kleinen  Verzeichniss  bei  Boeckh  Pind.  II  1,  7  heisst  es  vorsichtig  xcveg  de  xal 
xr)v  Kogivvav,  und  nur  in  den  Dionysscholien  (p.  751,  26)  wird  Korinna  als  zehnte 
Muse  zugelassen  M.  Es  Hesse  sich  noch  mehr  anführen  ,  aber  das  was  hier  in 
Betracht  kommt  bedarf  keines  Beweises  weiter ,  dass  der  Anonymus  IV,  die 
Dionysscholien,  Tzetzes  und  die  Glosse  des  Etym.  M.  einer  und  derselben  Quelle 
gehören  und  dass  diese  Quelle  eine  literarhistorische  war,  die  Tragödie,  Komödie 
unü  Satyrdrama  auf  einen  gemeinsamen  Ursprung  zurückführte.  Die  gleiche 
Entstehungsweise  wurde  vornehmlich  durch  die  ähnliche  Form  der  drei  Gattungen 
gestützt,  nach  Auffassung  jenes  Literarhistorikers  auch  durch  die  ähnliche  Ten- 
denz:   das   führte   mit  Notwendigkeit   zu    einem  Vergleich    der   drei  Gattungen 


1)  Bei  Bekker  fehlt  'Alnccfog ,  der  aber  im  Burbonicus  an  richtiger  Stelle  hinter  'AXy^idv  ge- 
nannt wird.  Das  Verzeichniss  ist  alphabetisch,  nur  Korinna  als  Eindringling  fällt  aus  der  Reihe 
(xal  dev.tirri  Koqlvvu). 


DIE    TROLEGOMENA    TIEPI    KfLMflIJIA2  15 

unter  einander,  und  diesen  Vergleich  finden  wir  in  der  That  bei  Tzetzes  {Tb 
§  27.  Mb  p.  119).  verbunden  mit  einer  Inhaltsangabe  des  Euripideischen  Syleus. 
Tzetzes  bringt  das  vor,  um  seine  frühere  irrige  Ansicht  vom  Satyrdrama  richtig 
zu  stellen.  Die  Scholien  des  Eukleides  hatten  den  Irrthum  veranlasst  (S.  5), 
die  Berichtigung- stammte  also  aus  einer  anderen  Quelle,  wie  sich  jetzt  sagen 
lässt,  aus  einer  literarhistorischen  Quelle. 

Ebendahin  führt  eine  weitere  Spur.  Wir  sahen,  dass  die  drei  Theile  des 
ersten  Pariser  Tzetzestractats  (Va)  genau  den  drei  Anonymi  IV.  V.  VI  ent- 
sprachen. Selbst  darin  kommen  sie  überein,  dass  sie  den  ersten,  den  historischen 
Abschnitt  (Anon.  IV)  mit  einer  Begriffsbestimmung  der  Komödie  und  Tragödie 
beschliessen,  an  die  sich  nicht  ganz  bequem  der  zweite  Theil  (die  Zweitheilung 
der  Komödie,  Anon.  V),  um  so  bequemer  aber  der  dritte  (über  das  Lächerliche, 
Anon.   VI)  anfügt. 

Anon.  IV.  Tzetzes  Va  §  12. 

xal    xrjg    [isv    xgayaidCag    xb     stg  iöxl  öe   xaficotdCa  ^iC^irjötg  ngd^sag 

e'Ieov     xiv  y\  6  ctt,     xovg     dxgoaxdg  xad-agxrjgtog    Ttad-rjfidxcov ,     övGxaxixrj 

i'diov,    xijg    ös    xco^lco  lö  tag    tö    eig  xovßCov,    did  ys'Xaxog   xal  rjdovfjg  xv- 

yslcjxa.     diö,    cpatiCv ,    y\  ^lev  xgayaidCa  itovpEvri.      d  tacp  bqsl    öe    x  g  aya  id  Ca 

kvei    xbv  ßCov,    7]  ös    xay^icoiöia    6vv-  x  co  {i  gdlö Cag,    oxirjfisvxgaycjidCa 

CöxrjGiv.  1(5  x  o  g  Ca  v     e%ec     x  ccl     ditay  ysXCav 

Schol.  Dion.  p.  747,20  (Stephanos).  ngd^e  cov    ysvo  [isvcov,    xdv    ag    riöri 

öua(pBQ£i    ös     xcopaud  Ca     xgaycoi-  yivopEvag^  6%r\uaxCt,rii  avxdg,    rj  dl  xcofi- 

dCag,    ort    rj    x  g  ayco  id  Ca    Löxog  Cav  coidCa     itXdo {iax  a     tisql  e%e  i     ßtco- 

ilEL    xai    ircay  y  e  ICav    (1.  an-)    %  gd-  xixcbv    tc  g  ay^idxcov ,    xal    öxi    xf^g 

%eov  y  e  vo  [ievcov  ,    rj    ds  x  gj  p  o  l  d  C  a  {iev    x  g  ay  a  id  C  a  g   öxoitbg    xb    stg 

itkdöpaxa     %  e  g  l  e  %  e  i     ßicoxcxcav  ftgfjvov   XLvf\6ai    x  o  v  g  äxQoax  d  g, 

ngayiidxcov.  xf\g  ds  xoj^lod  lö Cag  sig  yiXcoxa. 

Durch  diese  Erörterung  wird  der  Zusammenhang  von  Anon.  IV  und  V  und 
ebenso  der  Zusammenhang  bei  Tzetzes  gesprengt.  Wenn  jetzt  folgte,  was 
Tzetzes  im  dritten  Theil  und  was  der  Anon.  VI  giebt  'die  Quellen  des  Lächer- 
lichen aber  sind  folgende'  so  wäre  das  ein  natürlicher  Fortschritt :  es  war  aber 
auch  der  ursprüngliche,  wie  der  Coisliniansche  Tractat  deutlich  zeigt  (XdDüb): 
x©jUGH<5ta  E6xl  {iC{ir}6i,g  Ttgd^Ecog  ysloCov  xal  duoCgov  ybEyE&ovg  xeXeCov  —  e%ei  öe  ^r\- 
xega  xbv  yEkcjxa;  yCvExai  ös  6  yilcog  dito  xfjg  lE%Eog  —  anb  xav  itgay^iaxcov  xxl.  Also 
der  Anonymus  IV  sowol  wie  Tzetzes  haben  das  Stück  an  unrechter  Stelle.  Der 
Anonymus  kann  nicht  von  Tzetzes  abhängen,  weil  er  älter  ist,  Tzetzes  nicht  von 
jenem ,  weil  er  mehr  hat.  Diese  Quelle  war  inhaltlich  eine  litterarhistorische 
oder  eine  Poetik,  wie  der  Coislinianische  Tractat;  da  aber  in  einer  historischen 
oder  systematischen  Schrift  eine  derartige  Verstellung  unmöglich  ist ,  so  muss 
eine  Mittelquelle  angenommen  werden ,  deren  Beschaffenheit  die  Verwirrung 
glaublich  macht.  Das  können  nur  Excerpte  sein ,  am  besten  Scholien  wie  die 
zum  Dionys:    in  der  Bekker'schen  Sammlung  steht  gerade  das  betreffende  Stück 


16  GEORG    KAI  BEL, 

(p.  747,  20)  noch  heute  an  ungeschickter  Stelle  in  einem  ganz  unmöglichen  Zu- 
sammenhang. 

Wie  sich  früher  (S.  8)  gezeigt  hat,  dass  die  Eukleidesquelle  des  Tzetzes 
die  Theile  der  Komödie  ganz  nach  Aristotelischem  Vorbild  sonderte ,  so  finden 
wir  hier  die  Definition  der  Komödie  ganz  der  Aristotelischen  Tragödiendefinition 
(c.  6)  angeglichen.  Aber  daran  ist  nicht  zu  denken,  dass  die  Komödiendefinition 
eben  die  verlorene  des  Aristoteles  sei  —  Bernays  (Zwei  Abhandl.  S.  145)  hat 
einer  derartigen  Vermuthung  den  Boden  entzogen  —  und  ebenso  erweist  sich 
ein  anderer  verlockender  Schein ,  als  ob  Tzetzes  und  der  Anonymus  in  ihrer 
Quelle  doch  noch  einen  Rest  vom  echten  Wortlaut  der  verlorenen  Poetik  vorge- 
funden hätten,  sofort  als  trügerisch.  Der  namenlose  Scholiast  zur  Rhetorik  (p. 
260,  1  Rabe)  sagt;  tiööcc  sl'örj  eLölv  xcctf  a  xivrfiai  zig  rovg  axQoaräg  stg  yelaxa, 
ei'Qr\rai  ev  rüL  IIsqI  %oiv\rixY\g ,  dieselben  Worte  also  die  wir  bei  Tzetzes  und 
dem  Anon.  IV  lesen.  Das  sieht  in  der  That  aus  wie  ein  Citat  aus  der  Poetik, 
aber  wie  sollte  der  späte  und  ungelehrte  Scholiast  zu.  einer  so  kostbaren  Perle 
gekommen  sein.  Er  hat  vielmehr  nur  Aristoteles'  eigene  Worte  vor  Augen, 
Rhet.  III  18  p.  1419  b  2  tleqX  öh  rCbv  yeloicov  —  eiorjrcu  %o6a  eidr}  yeXoiav  söziv 
iv  rolg  IIeqI  TtoirjtLxrjg.  Aber  dass  er  den  gleichen  Ausdruck  braucht  xivrfieu, 
rovg  axooaräg  sig  yelcöra,  der  bei  Tzetzes  und  dem  Anonymus  wiederkehrt,  das 
beweist  dass  er  die  gleiche  Quelle  benützt,  also  die  Reminiseenz  an  die  Rhetorik 
nicht  aus  dieser  selbst  schöpft.  Nun  wird  aber  ein  Aristotelesseholiast.  wenn  er 
eine  Bemerkung  über  die  Arten  des  Lächerlichen  anbringen  will ,  nicht  gerade 
in  den  Dionysscholien  nachschlagen ,  sondern  am  natürlichsten  in  einer  Poetik 
oder  Literaturgeschichte.  Auch  diese  unscheinbare  Spur  bestätigt  uns,  dass  die 
Materialien,  die  in  den  Dionysscholien  noch  heute  in  Fülle  vorliegen,  dem  Tzetzes 
aber  noch  in  grösserer  Fülle  vorgelegen  haben,  auf  eine  sehr  ergiebige  litterar- 
historische  Quelle  zurückzuleiten  sind. 

Verschwendung  ist  ebensowenig  ein  Beweis  des  Reichthums  wie  des  guten 
Geschmacks.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  schon  die  ältesten  Erklärer,  die 
an  sich  sehr  einfachen  ersten  Paragraphen  der  Dionysianischen  Tt'ivr\  mit  einem 
Wust  gelehrter  Anmerkungen  verbrämt  haben ,  die  zum  besseren  Verständniss 
des  Textes  nicht  viel  beitragen  konnten,  den  Leser  vielmehr  langweilen  und 
hemmen  mussten.  Was  ein  jeder  der  gelehrten  Philosophen  oder  Grammatiker 
unter  zi%vr\  verstanden  ,  wie  ein  jeder  Begriff  und  Umfang  der  Grammatik  be- 
grenzt, wie  sie  den  Unterschied  von  7ioir\^ara  und  6vyyQafi^iccra  gefasst  und  die 
Erfordernisse  der  avdyvoötg  bestimmt  haben,  das  alles  zu  verzeichnen  wurde 
erst  für  diejenige  Zeit  ein  Bedürfniss,  in  der  die  einst  lebendigen  wissenschaft- 
lichen Begriffe  und  Anschauungen  abgestorben  waren  und  durch  fossile  Gelehrsam- 
keit zu  einem  neuen  Scheinleben  zurückgerufen  werden  mussten.  Literarhisto- 
rische Eorschung  lag  den  Philologen  nach  Proklos'  Zeit  fern,  sie  waren  mehr  im 
modernen  als  im  griechischen  Sinne  Grammatiker.  Um  so  stattlicher  aber  sah  es 
aus,  wenn  diese  Helden  der  Kavoveg  und  'Etuileqiöllol  zum  Staunen  ihrer  Schüler 
altphilologische  Gelehrsamkeit  scheffelweise  aus  den  Aermeln  schüttelten.    Natur- 


DIE  PROLEGOMEN  A   7IE  PJ   K£lMfLIJIA2  17 

-  lieh  durfte  sie  nicht  viel  kosten,  und  die  verschwenderische  Art,  mit  der  die 
Scholiasten  zu  den  ersten  beiden  Paragraphen  des  Dionys  das  alte  Gut  auf  den 
Markt  geworfen  haben,  zeigt  deutlich  wie  bequem  ihnen  der  Erwerb  geworden 
und  wie  handliche  und  reichliche  Quellen  ihnen  zu  Gebote  standen.  Gerade  diese 
Theile  der  Dionysscholien  haben  bisher  am  wenigsten  Beachtung  gefunden,  was 
zwar  aus  vielen  Gründen  begreiflich,  aber  doch  aus  noch  mehr  Gründen  bedauer- 
lich genug  ist.  Nur  wenige  Leute  können  die  theils  noch  ungehobenen,  theils 
noch  ungeordneten  Schätze  überschauen,  und  wir  anderen  mögen,  selbst  auf  die 
Gefahr  hin  bei  lückenhaften  Kenntnissen  fehlzugreifen,  das  zugängliche  Material 
nicht  ungenützt  liegen  lassen.  Der  merkwürdigste  Commentar  zu  Dionys  §  2 
{IIsqI  avayväöacoq)  ist  aus  einer  Handschrift  des  British  Museum  von  Gramer 
Anecd.  Oxon.  IV  308  herausgegeben  worden  :  einen  Theil  habe  ich  früher  schon 
herangezogen  (S.  6),  jetzt  verlangt  da?  Ganze  eine  nähere  Betrachtung.  Eine 
gewisse  Verwandtschaft  mit  den  umfänglichen  Bekkerschen  Scholien  ist  überall 
zu  spüren ,  ganze  Sätze  finden  sich  in  beiden  Sammlungen ,  öfters  in  wört- 
licher Uebereinstimmung  wieder.  Das  beweist  den  gemeinsamen,  einheitlichen 
Ursprung  aller  dieser  Commentare.  Um  so  deutlicher  aber  zeigt  die  Lon- 
doner Handschrift,  wie  unendlich  ausführlicher  die  Scholien  dereinst  gewesen 
sind  ,  zumal  das  was  sie  bewahrt  hat  selbst  schon  durch  Kürzungen  und  Aus- 
lassungen oft  bis  zum  äussersten  entstellt  und  völlig  zusammenhangslos  ge- 
worden ist. 

An  die  Worte  des  Dionys  (§  2)  dvdyvcjöig  86tl  7toLY}{iutG)v  tj  övyyQa^adrcov 
a$La7iTcoTog  iiQQQpoQa  knüpft  der  Scholiast  eine  kurze  Auseinandersetzung  über 
den  Unterschied  von  Prosa  und  Poesie ,  daran  eine  sehr  ausführliche  Darlegung 
des  Begriffs,  des  Umfangs.  der  Gattungen  und  Arten  der  Poesie.  Kurz  es  sind 
hier  die  Reste  einer  Systematik  der  griechischen  Poesie ,  einer  Poetik  im  Aus- 
zug erhalten.  Eine  ganz  vorzügliche  Quelle  ist  mechanisch  ausgeschrieben ,  zu 
Anfang,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  reichhaltiger  und  genauer,  allmälig  immer 
flüchtiger ,  bis  zur  blossen  Notirung  einzelner  Stichwörter.  Schon  dies  allein 
beweist,  dass  eine  einheitliche  Quelle  zu  Grunde  liegt:  für  den  nächstliegenden 
Zweck,  die  Erklärung  des  Dionys,  war  das  alles  mehr  oder  weniger  werthlos, 
der  Scholiast  excerpirt  mit  wachsendem  Widerwillen  und  hört  nur  darum  nicht 
früher  auf  zu  excerpiren,  weil  seine  Quelle  nicht  aufhört.  Wieviele  Stadien  der 
Verdünnung  und  Verkürzung  die  Excerpte  bis  zu  ihrem  vorliegenden  Zustand 
durchlaufen  haben,  lässt  sich  natürlich  nicht  sagen,  aber  Originalexcerpte  sind 
es  gewiss  nicht.  Ich  meine,  die  Quelle  des  Scholiasten  lässt  sich  mit  Namen 
nennen,  es  ist  dasselbe  Handbuch  der  poetischen  Litteratur ,  aus  dem  wir  noch 
einen  weiteren  stark  gekürzten  Auszug  besitzen.  Von  der  Chrestomathie  des 
Proklos  hat  Photios  (Cod.  239)  nur  einen  Auszug  gelesen  und  aus  diesem  Aus- 
zug selbst  wieder  nur  das  wichtigste  ausgezogen ,  das  heisst  das  was  ihm  das 
wichtigste  und  lehrreichste  zu  sein  schien.  Sein  Bericht,  sehr  ausführlich  über 
die  Einzelarten  der  lyrischen  Dichtung,  sehr  kurz  über  das  Epos,  wie  die  Ex- 
cerpte der  Venezianischen  Homerhandschrift  zeigen  ,    erweist    sich    als  besonders 

Abhandlgn-  i.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  *.  3 


18 


GFORG    KAI  BEL, 


ungenügend  zu  Anfang,  wo  Proklos  allgemeine  Fragen  bebandelt  Latte.  Dass 
die  Chrestomathie  im  IX.  Jahrhundert  epitomirt  vorlag,  ist  ein  Beweis  dafür, 
dass  das  nützliche  Buch  gelesen  und  gebraucht  wurde,  und  nicht  minder  dafür, 
dass  die  ursprüngliche  Fassung  sehr  ausführlich  war:  um  so  auffallender,  dass 
so  wenige  Spuren  von  ihm  übrig  geblieben  scheinen.  Ich  glaube  aber,  dass  der 
Schein  trügt,  und  dass  in  Wahrheit  Proklos'  Euch  direct  oder  indirect  allen 
folgenden  Jahrhunderten  die  literarhistorischen  Kenntnisse  vermittelt  hat. 

Aus  dem  ersten  einleitenden  Abschnitt  des  Proklos  hat  Photios  nur  ein  paar 
zusammenhangslose  Satze  mitgetheiit,  die  sogleich  empfinden  lassen,  wieviele 
Bindeglieder  er  hei  Seite  gelassen  hat.  Er  beginnt  also:  xal  ev  plv  x&i  et  Xsyst 
tog  ((i  avTUL  eiöiv  dosxal  Xöyov  xal  TtoLr^Laxog,  TiagaXXdööovöt,  öl  ev  xg>l  [läXXov 
xal  r\rxov.  Dann  folgen  sogleich  die  drei  Stilarten,  ein  Stück,  das  dem  rheto- 
rischen Interesse  des  Photios  gemäss  viel  ausführlicher  wiedergegeben-  wird, 
dann  ganz  kurz  die  xgiöLg  TtotrifJLaxog ,  endlich  als  Ueberleitung  zum  systemati- 
schen Theil  die  Gattungen  der  Poesie.  Ich  vergleiche  zunächst,  um  festen  Boden 
zu  gewinnen,  die  breitere  Behandlung  der  Stilarten  mit  dem  betreffenden  Ca- 
piteJ   in  den  Cramer'schen  Scholien: 

Proklos :  •  Scholien : 

xal  ort    xov  nXdaiiaxog   xb  {iev    iöxiv  Co-  Jioirjiiaxog  TtXdö^taxa  döoov,    i6%vov  ,    dv- 

%v6v,  xb  öl  dögov,   xb  öl  [le'öov.     xal  xb  ftqobv  xb  xal  (tsöov.    döobv  rb  dir}Q{ievov 

lihv  döobv  ExizXrjxxixcbxaxöv  iött,  xal  xar-  (öirjQtj^iEvov  cod.)  byxeoe  xobt  xaxä  cpvöiv, 

EöxEvaöutvov  (idXiöxa  xal  7toir\xixbv  etcl-  olov   xb  cd[Mpl    ö'  äo"  Aiavxag  öoiovg  lö- 

(palvov    (1.    ificpaZvov)  xdXXog.     xb   öl  1(3-  tavro    cpdXayysg     (N    126).      tö%vbv     xb 

yvbv    xr\v    xqotcix7\v    [ilv    xal    cpiXoxaxd-  öwEöxaX^iEvov    [oyxaxi    xcül    xaxä    (pv€iv\ 

(ixsvov  övv&söiv  tiexaÖLG)X8L,  eh,  avEt^isvcov  olov     cog    ö'    brav  <bÖLV0v6av  e%x\i  fitXog 

öl  uäXXov  6wr\Qxy\xai ,    bftev    cog    Eitiitav  (A    269).       dv&rjobv    xb    [leöov    d(i(poZv, 

xolg  yosgolg  aaiöxd   Ttcog  icpag^oxxsi.     xb  olov  fd)g  <f   oxe  IJavödosco  xovgrj   (x  518). 

öl    ptGov    xal    xovvoua    [{ili>]    drjXol   bxi  dv\fx\gbv  öl    XiyExai    oxi  äopo^Ei  \idXi6xa 

\i'c6ov  iöxtv  dpcpolv.  dvd'rjobv  öl  xax  7tobg  ditayyeXCav  Xel^kovcdv  xal  dv&eav. 
iÖCav  ovx  eöxl  TcXaGaa,  dXXd  GvvExyeQExai  \  dvxixEixai    öl    xöl    {ilv    döoeji    xb    6xXr\- 

xa\   0v{iuE{iixxaL  xolg  ELQYHitvoLg,    dQ^i6t,£L  gbv  xal  xb  7ta%v,  x(bi  öl  L6%vcbL  xb  £,r\gbv 

öl  xoxoyoa(piaig    xal  Xel^kovcov    yj   dXöcbv  xal  xb  ßga%v,  xcbi  öl  dv&rjgcbi  xb  dyXav- 

EX(fod6E6Lv.    oi  öl  x(ov  Etgrjusvojv  dnoöcpa-  xlg  (1.  dyXsvxlg)  xal  xb  XoyosiÖEg. 
Xe'vTEg  iÖeCjv  dnb    filv  xov  dögov    Eig   xb 
6'/.Xi]obv    xal    etcyiquevov  irgdnrjöav ,    dnb 
öl  xov   iöivov    Eig   xb  xanEivbv ,    dnb  öl 
xov  (itöov  Eig  xb  dgybv  xal  exXeXvixevov. 

In  dieser  Behandlung  der  drei  Theopkrastisehen  Stilgattungen  {nXd(5\iaxa, 
fiyitrac  bei.m  Rhetor  ad  Herenn.  IV  8,  11)  sind  bei  vielfacher  Uebereinstimmung 
die  Erläuterungen  selbst  nur  zum  Theil  gleich,  aber  man  braucht  nur  andere 
Zeugen  zu  befragen ,  um  zu  erkennen .  dass  die  gemeinsame  Vorlage  des  Scho- 
li asten    und    des   Photios    sich    erst    aus    den   Excerpten    beider    zusammensetzt. 


DIE   PROLEGOMENA    7TEP7    KUMHIJUS  19 

Während  der  Scboliast  nur  die  Definitionen  wiedersieht,  weil  sie  voranstanden, 
hält  Photios  sich  mehr  an  die  Wirkungen  der  einzelnen  Stilarten.  Dabei  hat 
ihm  aber  Beine  Flüchtigkeit  einen  bösen  Streich  gespielt:  alles  was  Proklos  vom 
{isöov  oder  ccv&yjqöv  gesagt  hatte,  hat  Photios  auf  das  i6iv6v  übertragen  :  schon 
die  Form  des  Satzes  ('zwar  —  aber')  weist  auf  die  Characteristik  nicht  eines 
Extrems  sondern  eines  Mittleren.  Das  [leöov  verwendet  zwar  Tropen  und  Wort- 
schmuck,  aber  es  ist  kein  überwältigender  Prunk  (€X7iXrjXTix6v),  sondern  mild  er- 
freuende Schönheit  (i%  avsL^iEvcov),  wie  es  ganz  ähnlich  Quintilian  ausdrückt 
(XII 10, 60):  medins  hie  et  (wol  etsi)  translationibus  crebrior  et  figuris  crit  iueundior, 
eqressionibus  amoenus ,  compositione  aptus ,  sententiis  dulcis,  lenior  tarnen  lO  amnis 
lucidus  quidem  sed  virentibus  utrimque  ripis  inumbratus.  Eben  dadurch  eignet  es 
sich  für  die  Klage  [tä  yosga)  z.  B.  der  Pandareostochter.  wie  der  Scholiast 
richtig  angiebt.  Die  Characteristik  des  iö%v6v  ist  bei  Photios  völlig  ausgefallen, 
beim  Scholiasten  dafür  durch  eine  Dittographie  entstellt  (oyxm  rCoi  xarä  cpvöiv 
aus  dem  vorhergehenden  wiederholt).  Die  Bemerkung,  dass  das  äv^gbv  ysvog 
sich  besonders  für  friedliche  Naturbeschreibungen  eigne,  ist  beiden  gemeinsam, 
nur  dass  Pliotios  Xsiynovcov  rj  ocXöojv  sagt ,  der  Scholiast  lei^cbvcav  xal  avfttav. 
Die  Blumen  möchte  man  schon  um  des  Namens  willen  ,  den  die  Gattung  trägt, 
nicht  missen  —  ein  Muster  dieser  Art  war  Chairemon,  vgl.  Athen.  X11I  608  d  — , 
die  Haine  werden  zwar  durch  Diomedes  nicht  sicher  gestellt  (p.  483,  19  K),  dessen 
Gewährsmann  ja  auch  ähnlichen  griechischen  Vorlagen  folgte,  der  aber  hier  die 
amoenitas  luci  nur  auf  Grund  einer  Vergilstelle  heraushebt,  trotzdem  möchte  man 
sie  neben  den  Xei^avEg  ebenso  wenig  wie  die  Blumen  entbehren.  Proklos  hatte 
vermuthlich  Wiesen  und  Haine ,  Blumen  und  Bäume ,  Flüsse  und  Quellen  er- 
wähnt. Nach  Photios  artet  das  tö%vov  bei  ungeschickter  Behandlung  in  das 
taTisivov  aus *) ,  nach  dem  Scholiasten  in  das  ^tjqov  und  ßga%v.  Die  Vorlage 
hatte  wahrscheinlich  alle  drei  Ausdrücke,  vgl.  Demetr.  de  eloc.  236  (xcxqocxt>)o  6 
%rjQbg  xakoviisvog),  Gellius  VI  14  (squalentes  et  ieiuni),  ad  Herenn.  IV  11,  16  (ve- 
niant  ad  arid  um  et  exangue  genus,  quod  non  dlienum  est  exile  nominari).  Das 
olv&viqov  führt  auf  dem  Wege  der  Entartung  nach  Photios  zum  agyov  und  sxäs- 
kv^ievov ,  nach  dem  Scholiasten  zum  aylevxtg  und  zum  XoyosLÖsg,  letzteres  ein 
ganz  notwendiger  Zusatz,  da  es  sich  bei  Proklos  um  den  poetischen  Sti!  ban- 
delte, wie  auch  Photios  beim  ccöqov  hervorhebt,  dass  es  %oir\zixbv  xdlkog  epcpociveL. 
Von  den  übrigen  Ausdrücken  entspricht  Photios'  agybv  xa\  exlekv^evov  dem 
fluetuans  und  dissolatum,  quod  est  sine  nervis  et  articulis  beim  Phetor  ad  Herenn. 
IV  11,  16  (vgl.  Gellius  VI  14,  5  incerti  et  ambigui  pro  medioeribus);    das  ayXsvxeg, 


1)  Passend  und  gewiss  der  Vorlage  entsprechend  drückt  Photius  den  Begriff  der  Entartung 
aus  ol  de  a-ji06cpa\tvxes  ixgccTtriaccv  kxI.  So  sagt  Gellius  fallunt,  der  Rhetor  ad  Her.  errantes  per- 
veniunt  oder  declinantur,  Demetiius  (ls6)  etwas  anders  yiad-ccneg  dl  xüi  yayaXoTtQenti:  7tccQty.&Lxo  ö 
ipvxgbg  %ccQav.xr\Q,  ovtco  tooi  yXucpvgcat,  Ttct.QCLV.nxai  xis  dir}[iccQxri[isvog.  Danach  könnte  man  versucht 
sein  beim  Dionysscholiasten  naQÜy,Eixca  lür  das  unangemessene  c\vxiv.iixai  zu  vermtithen.  Aber  es 
wird  hesser  sein  nicht  zu  ändern:  der  Mann  hat  ehen  einen  ganz  allgemeinen  Ausdruck  gewählt, 
und  es  ist  fraglich,  ob  er  das  Sachverhältniss  überhaupt  verstanden  hat. 

3*  /; 


20  GEORG   KAIBEL, 

wenn  richtig  emendirt ,  kann  ich  sonst  nicht  nachweisen:  es  ist  'reizlos',  also 
geradezu  das  Gegentheil  vom  uv&rjQÖv.  Demetrius  (186)  fasst  die  Entartungen 
des  yXarpvgov  in  das  eine  Wort  xaxo^rjXov  zusammen.  In  welcher  Weise  die 
beiden  Excerpte  sich  gegenseitig  ergänzen ,  zeigen  die  drei  Homercitate  beim 
Scholiasten.  Photios  sagt,  dass  das  l6%vov  (er  meint  das  av&rjQOv)  sich  am 
besten  für  die  Klage  eigne:  dafür  deutet  der  Scholiast  die  Odysseestelle  an,  wo 
die  Klage  der  Pandareostochter  um  ihren  Itylos  geschildert  wird  (r  518),  also 
einen  Beleg  für  das  yoegov.  Natürlich  hatte  Proklos  die  drei  Homerstellen,  vor- 
trefflich gewählte  Beispiele,  ausführlich  gegeben  ;  sie  sind  nicht  von  ihm  ausge- 
sucht sondern  stammen  aus  seiner  Quelle,  bei  Diomedes  (p.  483)  sind  sie  durch 
Vergilcitate  ersetzt. 

Offenbar  hat  die  Betrachtung  der  poetischen  Stilgattungen  nicht  am  An- 
fang der  Chrestomathie  gestanden,  auch  der  eine  Satz,  den  Photios  aus  dem 
vorhergehenden  bewahrt  hat,  dass  Prosa  und  Poesie  sich  nur  durch  ein  Mehr 
oder  Weniger  gemeinsamer  Eigenschaften  unterscheiden ,  genügt  nicht  um  d,je 
Lücke  zu  füllen.  Es  musste  erörtet  werden,  was  Poesie,  was  ein  Gedicht,  was 
ein  Dichter  sei,  was  die  Poesie  und  mit  welchen  Mittel  sie  es  bewirke.  Genau 
diese  Fragen  werden  in  den  Cramer'schen  Dionysscholien  mit  wünschenswerther 
Deutlichkeit  behandelt.  Die  scholastische  Scheidung  der  drei  Prosaarten  (övyygcc- 
cpevg,  löTOQixög,  qyjxmq)  lasse  ich  hier  bei  Seite  (vgl.  p.  733,  18  B.  Doxopater  Rh. 
gr.  II  199  W),  ein  anderer  Geist  aber  spricht  ans  dem  folgenden: 

7Coir}Tr}g  de  xex66yLX\xai  xolg  xeööagöi  xovxotg,  (lexgcoi  yLv&coi  tözoQLca  xal  ltoiät 
Xe%et,  xal  näv  Ttolrftia  [ir)  nexe'%ov  (x&v  xeGödgcov)  xovxcjv  ovx  e<5xi  noirnia,  et  xal 
[itTQCJL  xeio7]xai  *). 

eöxl  de  {lexgov  fiev  Ttotä  xal  7to<5r)  Xe%ecov  a7Crjoxt6^evc3v  <5vv&e<5ig  xaxa  te  fi£- 
ye&og  [äiirigxiö^evcog]  xal  xä%iv  GvXXaß&v,  iv  löoxtjxl  r]  buoioxr\xi  f)  olxeibxr\xi  r\xoi 
xCov  uegav  TtQog  äXXrjXa  rj  xov  öAou  7iobg  exega  (itgbg  xä  ^iegrj  ?).  Ttotä  de  (Xe%ig) 
Xiyexai  r)  6voaaxo7ie7ioLrj^ievri '  7tXa6[ia  de  xb  (Af)  aXr]&cbg  7tenoir\^evov ,  äXV  vtco 
xuvog  e6xeva<5[ievov 2).    iGxogla  de  Tcgay^iaxcov  yeyovöxcov  r]  ovxav  ev  dvvaxcbi  6acpr)g 


1)  Diese  Worte  mögen  ursprünglich  eine  andere  Fassung  gehabt  haben.  In  den  ßekker'schen 
Scholien  p.  734,  14  heisst  es  nach  ovw.  egxi  7toir}fia  so:  cc^ieXsi,  xbv  'E[i7tedoy.Xtu  v.a.1  Tvqxcciov  ov 
v.aXov6i  noiritag,  hl  ?ica  {ihgcoi  1%qt}Gcivxo,  diu  xb  [ii]  xQ^aaGfrca  ccvxovg  xolg  x&v  Ttoi/r\xiY.5>v  (1.  noiri- 
rüv)  %a.Qu;LTriQi6xiy.oig.  Empedokles  stammt,  bekanntlich  aus  Arist.  Poet.  c.  1,  Tyrtaios  befremdet 
zunächst,  vgl.  eine  weitere  Passung  bei  Bekker  p.  733,  13  ovn  tön  Ttoir\xr\g  6  [iexqcol  fiovcoi  %$&- 
fitvog-  ovöe  yuQ'Eu7t£do-nh~]g  6  xa  cpv6iv.ee  ygccipccg  ovo'  ot  tisql  äaxQoloyCag  sliiovxtg  ovdt  ö  TLvfriog 
ififisrgag  %Qr\6pouö{öv.  Aber  die  Liste  der  Nichtdichter  konnte  erheblich  erweitert  werden:  nicht 
nur  Xenoplianes,  Parmenides,-  Arat,  Nikander  gehörten  dahin,  sondern  alle  Didaktiker  schlechthin, 
Bogar  Thcognis  (Plut.  quomodo  adulator  p.  16  c);  warum  nicht  auch  Tyrtaios?  Vgl.  Diels  Parme- 
nides 5. 

2)  Der  Wortlaut  ist  gewiss  nicht  in  Ordnung,  man  erwartet  nXäG\x.a  de  xb  firj  ccXrid-eg,  ccXXcc 
7tt7toir}(itvov  v.ulv7t6  xivog  iansvciöiitvov  oder  dergl.  Soviel  ist  sicher,  dass  nXäßfia  hier  in  anderem 
Sinne  stellt  als  bald  darauf:  es  ist  was  der  Rhetor  ad  Herennium  figura  oratoria  nennt  (s.  o.  S. 
18),  die  Xti-ig,  die  durch  die  Kunst  des  Dichters  tvxs%vog,  itsnoir^iivri,  noiä  xig  wird.  Der  Satz 
ist  also  eng  mit  dem  vorhergehenden  verbunden. 


DIE   PROLEGOMEN A    TlEVl   K£1M£1JJJA2  21 

dnayyeXia.  {iv&og  de  £,evcov  Ttgay^idxojv  a7trjQ%cu(D{ievr}  dc^yrjöig  r)  ddvvdxcov  itgayyid- 
xav  TtccQELöaycjyrj.     icXaG^a  xb  dvvdpevov  [iev  yeveöd-ai,,  urj  yevo\ievov  de. 

fxavbg  de  b  {ivftog  6LOJ7irj6aL  dt  ydovrjg1).  rj  yäo  [iexä  övXXoycö^iibv  dxgöaöcg 
itoXXdxig  xbv  dxovovxa  Ttgbg  dvxiggrjötv  xivel.  t]  de  7ioir\xix^\  e%ei  iiev  xb  tcqoöcc- 
ycoybv  ex  XY\g  ijdovfig,  dvöcoTtel  de  ovx  £%  aycbyog  dXX1  cj67teg  cpvöixcög  evavxtovuevrj. 
xovxov  yovv  xbv  xgoitov  cpaivexau  xal  "O^trjgog  Tteitoir\xevai '  ev  06031  ydg  (6)  docdbg 
jtagfjv  xfji  KXvxai{ivrJ6xQca,  dnr\yev  avxrjv  xov  negl  itogveiav  e%eiv,  xal  xovxo  bgcbvxa 
Alytöftov  ngoxegov  exßaXovxa  xbv  doidbv  ovxcog  dvaitelöai. 

e6xl  de  Ttoirixixi}  dnayyeXia  %gay\idxtov  diä  {lexgcov  xal  gvfr{icbv  fiexd  xivog 
xaxaßxevYJg,  xb  [ivfradeg  {iexä  xal  xov  dXrjd'ovg  evioxe  6vuxe7tXey{ievov ,  ptstä  (dl) 
xal  töxogiag  ev  itoiai  Xe'iei  %egie%ovöa.  Ttotrjxijg  de  6  xaxä  [iexov6iav  xijg  TtOLrjXLxijg 
bvoua  e6%r\xcüg  xe%vixii}g'  Ttoirjöig  de  xvgiog  r\  diä  {lexgav  evxeXijg  vito&eöig,  e%ovöa 
do%äg  xal  peGa  xal  icegaxa.     7tOL7]^ia  de  pegog  ftoiY\6eoog  2). 

Zunächst  fallen  hier  deutliche  Anklänge  an  die  Aristotelische  Poetik  auf. 
Nicht  nur  dass  Empedokles  von  den  Dichtern  ausgeschlossen  wird  (S.  20  Anm. 
1),  auch  die  TtovYiGig  wird  definirt  nach  dem  Muster  der  Aristotelischen  Tragö- 
diendefinition (Poet.  c.  7),  und  dabei  rauss  eine  absichtliche  ^  Variation  des  Aus- 
drucks beachtet  werden:  anstatt  xeleia  xal  oXr\  itgä^ig  sagt  der  Scholiast  ei>xe- 
Xr\g  vTtöd-etiLg,  statt  dgxrjv  xal  {ie6ov  xal  xeXevxrjv  e%ov  sagt  er  do%äg  xal  fie'öa  xal 
iteoaxa  e'xovöa.  Gleich  daneben  aber  steht  eine  Definition  der  iton\xixr\,  die  Po- 
seidonios  ev  xy\l  Ilegl  Xe%ecjg  ei6aycoyr\i  gegeben  hatte,  und  die  Diogenes  L.  VII 
60  nur  zum  Theil  wiedergiebt:  TtoCruia  eöxi  Xe^ig  e^i^iexgog  ^  evgv&[iog  {lexä 
6xevi\g  (1.  xaxaöxevfjg),  xb  Xoyoeideg  exßeßrjxvta.  [xb]  evgvd'^ov  de  elvai  xb  Taia 
lieycöxr}  xal  zJtbg  a£d-rjg\  Vervollständigen  lässt  sie  sich  dem  Sinne  nach  aus 
Strabo  I  p.  20.  der  ganz  nach  Art  des  Poseidonios  von  Homer  sagt:  ovxcog  exel- 
vog  xalg  äXrjfreöi  Ttegmexeiaig  itgoceitexvd'ei  {iv&ov,  rjdvvojv  xal  xoö^iojv  xy\v  cpgdöiv, 
Ttgbg  de  xb  avxb  xe'Xog  xov  töxogtxov  xal  xov  xä  bvxa  Xeyovxog  ßXeiHov.  Damit 
stimmt  der  Scholiast  durchaus  ,  wenn  er  mythische  oder  historische  Zuthat  ver- 
langt, und  zwar  ev  noiai  Xe^ei,  d.  h.  {iexä  xaxaßxevr\g  xb  Xoyoetdeg  exßeßrjxviat^  vgl. 
Diog.  L.  a.  0.  59  xaxaöxevrj  d'  eöxi  Xe%ig  ex7tecpevyvla  xbv  IduoxiöyLOv.    Wahrschein - 


1)  Die  Verbesserung  wird  sich  später  ergeben. 

2)  Aehnliches  giebt  Quintilian  X  1,28  mit  freien  Ausführungen  wieder:  meminerimus  tarnen 
non  per  omnia  poetas  esse  oratori  sequendos  nee  Hbertate  verborum  nee  licentia  figurarum;  yenus 
<esse  poesin>  ostentationi  comparatum  et  praeter  id  quod  sohim  petit  voluptatem  eamque  etiam 
fingendo  non  falsa  modo  sed  etiam  quaedam  incredibilia  seetat ur,  patrocinio  quoque  aliquo  iu- 
vari:  quod  alligata  ad  certam  pedum  necessitatem  non  semper  uti  propriis  possit,  sed  depndsa 
reeta  via  necessario  ad  eloquendi  quaedam  deverticula  confugiat,  nee  mutare  quaedam  modo  verba 
sed  extendere  corripere  convertere  dividere  cogatur.  Die  Lücke  zu  Anfang  hat  man  verschieden  er- 
gänzt, dass  das  Wort  poesis  fehle,  hat  Halm  richtig  gesehen.  An  genus  darf  man  nicht  rühren, 
da  eben  Poesie  und  Prosa  zwei  Arten  derselben  Gattung  sind.  Der  Poesie  stilistisch  verwandt  ist 
die  epideiktische  Rede,  die  darum  auch  den  dichterischen  Ausdruck  nicht  verschmäht,  den  Gorgias 
sogar  auf  die  politische  Rede  übertrug  (Dionys  bei  Syrian  I  p.  10.  11  Rabe);  Quintilian  redet  von 
der  Epideixis  genau  wie  von  der  Poesie  (VIII  3,  11):  namque  illud  genus  ostentationi  compositum 
solam  petit  audientium  voluptatem  ideoque  omnes  dieendi  artes  aperit  u.  s.  w. 

1   0    . 


22  .  GEORG    KAIBEL, 

lieh  ist  beim  Scholiasten  zu  schreiben  eöxl  de  itolrma  drcayyeXCa  xxX.,  wenn 
nicht  etwa  die  Coiruptel  tiefer  liegt,  vielleicht  besser  eöxl  de  (noLr\uu)  jtoLrjxLxr} 
diiayyeXia. 

Das  Buch  des  Poseidonios  war  Ilegl  Xe%e<ag  überschrieben,  handelte  also  nicht 
speciell  vom  poetischen  Stil,  sondern  vom  Stil  überhaupt.  Wenn  er  trotzdem 
zu  einer  Definition  der  Poesie  veranlasst  wurde,  muss  er  von  einer  Vergleichung 
des  prosaischen  mit  dem  poetischen  Stil,  der  Prosa  mit  der  Poesie  ausgegangen 
sein.  Die  Stoa  hatte  bekanntlich  behauptet,  dass  Homer  die  Quelle  und  der 
Lehrer  aller  Künste  und  Wissenschaften  sei:  den  umfassendsten  Beweis  für  diese 
Behauptung  liefert  die  Plutarchische  Homerabhandlung.  Eratosthenes  hatte  sich 
darüber  lustig  gemacht  und  Hipparch  ihm  zugestanden,  dass  es  eine  Uebertrei- 
bung  sei  (Strabon  I  p.  16):  nur  dürfe  man  wieder  nach  der  anderen  Seite  nicht 
zu  weit  gehen  und  meinen,  dass  man  vom  Dichter  nichts  lernen  könne  ,  dass  er 
gar  nichts  beitrage  zur  Bildung  seiner  Leser.  Insbesondere,  sagt  er  (p.  17  a.  E.), 
tö  xal  xr\v  gr\xogixi\v  ä<paigel6&ai  xov  Ttoirjxrjv  xeXecog  dcpeidovvxog  r^icov  e<5xiv.  xi 
yäg  ovxcä)  gr}xogixbv  ag  (pgdöig,  xi  6°  ovxco  7toir\xixöv ;  xCg  (5'  dfiecvcov 'O^gov  cpgd- 
öca ;  vij  Aia ,  dXX  exega  (pgdöig  r\  %oir\xixil}.  xdn  ye  eldei ,  ag  xal  ev  avxr\i  xx\i 
7tOLrjXLxr]L  f]  xgayixi]  xal  r\  xgj{ilx)J,  xal  ev  zrji  Ttet,?^  i)  löxoqlxyj  xal  i)  dixavixr\.  äga 
yäg  (ob  dgd  ye?)  ovo1  6  Xoyog  eöxl  yevixög ,  ov  eidrj  6  e^iuexgog  xal  6  7tet,6g;  tJ 
Xoyog  pdv ,  gi]xogLxbg  de  Xoyog  ovx  eöxi  yevtxbg  xal  cpgdöig  xal  dgexi]  Xoyov; 
(bg  d'  einelv  6  7iet,bg  Xoyog  ö  ye  xaxeöxevaö^evog  ^iL^ir]^ia  xov  TtOL^xixov  eöxiv.  Aus 
der  poetischen  Rede  sei  allmalig  die  Prosa  hervorgewachsen ;  zuerst  habe  man 
das  Metrum  aufgegeben ,  die  poetische  Sprache  aber  beibehalten ,  dann  sei  c.uch 
diese  von  ihrer  Höhe  herabgestiegen,  xa&dneg  dv  xig  xal  xi\v  xcoyuoidiav  (pair\ 
Xaßelv  xi\v  Qvöxaöiv  cctco  xi\g  xgaycotdCag  xal  xov  xax^  avxijv  vifrovg  xaxaßißaö&etöav 
etg  xb  XoyoeiÖeg  vvvl  xaXov^ievov  xxX.  Das  ist  genau  die  Lehre  des  Poseidonios 
—  Hipparch  und  er  gehen  in  der  interessanten  Polemik  des  Strabon  gegen  Era- 
tosthenes ganz  in-  und  durcheinander  — ,  da  er  die  poetische  Sprache  für  eine 
Xt%ig  en[iexgog  rj  evgvfryLog  ^exä  xaxaöxevijg  xb  Xoyoetdeg  exßeßrjxvla  erklärte.  W  er 
so  definirt  und  so  argumentirt,  muss  auch  gesagt  haben,  dass  die  Sprache  der 
Poesie  und  der  Prosa ,  da  beide  nur  Arten  derselben  Gattung  seien ,  des  Xoyog 
yevtxog,  sich  nur  durch  ein  Mehr  oder  Weniger  unterscheiden,  also,  wie  Photios 
aus  Proklos  citirt ,  al  avxai  eiöiv  ägexal  Xoyov  xal  itoiri^iaxog ,  TiagaXXdööovöt  de 
ev  xcjl  iiäXXov  xal  rjxxov,  wobei  zu  beachten  ist,  dass  der  Ausdruck  dgexi}  Xoyov 
auch  bei  Strabon  wiederkehrt.  Dieser  Satz  des  Proklos  verbindet  sich  also  mit 
der  beim  Dionysscholiasten  erhaltenen  Definition  des  Poseidonios  zu  einer  not- 
wendigen Einheit,  so  gut  wie  die  ganze  Darlegung  Strabons  eine  Einheit  bildet, 
aus  der  wir  noch  ein  weiteres  Stück  heranziehen  müssen,  um  die  Quellen  der 
Dionysscholien  zu  bestimmen. 

Eratosthenes  hatte  behauptet  noir\xi[V  itdvxa  6xo%d£e6d-ai  ipvyayayiag ,  ov  oV 
daöxaXiag,  im  Gegensatz  zu  den  alten  Philosophen,  denen  die  Poesie  als  Philoso- 
phie galt,  die  die  Jugend  in  das  Leben  einführe  und  sie  rjd-r}  xal  7tdd-r}  xal  ngd^eig 
lehre  und  zwar  petf  rjdovrjg.  Daher  denn  auch  die  Stoiker  lehrten,  dass  der  Weise 
i\ 


DIE  PEOLEGOMENA    TIEPI   KnMflUIAS  23 

allein  Dichter  sein  könne,  dtä  xo vxo  ,  fährt  Strabon  fort  (p.  15  a.  E.),  xal  xovg 
Tcaidag  cci  xcbv'EXXrjvcov  noXEtg  7tQvjxt6xa  diu  xyg  7tonqxixy]g  TtuiÖEvovöLV,  ov  ipv%uyco- 
yiag  %kqiv  drJTtov&Ev  ipiXy]g  aXXä  6co(pQOi'töuov.  Ebenso  seien  die  Musiker,  nach 
der  Lehre  nicht  nur  der  Pythagoreer  sondern  auch  des  (Aristotelikersl  Aristo- 
xenos,  TcaiÖEvrixol  xal  EJcavoQ^axixol  r(ßv  rj&cov.  Und  Homer  selbst  habe  die 
Sänger  als  6acpQovi6xaC  angesehen,  xadaiiEQ  xbv  xrjg  KXvxai^irjöXQccg  cpvXaxa ,  f(5t 
jroAA'  ehexeXXev  "JtQeiör]g  Tqolyjvöe  xitav  Eiovöd-cci  axoixiv ',  xbv  de  Aiytöftov  ov  tiqq- 
xeqov  ccvxrjg  JieQiyevEöd-ccg  tvqlv  t)  rxbv  fihv  äoiöbv  äycov  ig  vrjöov  EQrjfirjv  xccXXltiev, 
xi)v  d'  e&eXcqv  E&Ekovöav  avriyaysv  ovds  d6(iovd£\  Eratosthenes  meinte,  der  Dichter 
habe  es  nur  mit  dem  {iv&og  zu  thun,  im  Gegensatz  zum  Historiker,  dessen  Ziel 
die  Wahrheit  der  Thatsachen  sei;  darum  dürfe  man  von  ihm  keine  thatsächliche 
Wirklichkeit,  z.  B.  in  geographischen  Angaben,  verlangen  und  seine  Dichtung 
auch  nicht  xqivelv  Jtobg  xi)v  didvoLccv;  die  Wirkung  aber  des  Mythos  sei  rjdovrj 
und  EXitXrfeig  (p.  17).  Was  die  Gegner  unter  Zustimmung  Strabons  erwiderten, 
haben  wir  gehört ;  dem  [Lv&og  machten  sie  nur  das  Zugeständniss  ,  dass  er  eine 
xcuvoXoyia  und  darum  wie  jedes  xaivov  ein  r)dv  sei ,  zu  verwenden  aber  nur  als 
cpUtQOVy  die  Lernbegier  des  Knaben  zu  reizen  und,  insofern  manche  Mythen 
furchterregend  seien,  als  Mittel  ihn  vom  Bösen  zurückzuschrecken  (p.  19).  Das 
ist  im  Grunde  Aristotelische  Lehre,  nur  zu  einem  anderen  Ziel  gewendet.  Ari- 
stoteles sagt  (Rhet.  I  p.  1371  a  29),  jede  Vergangenheit  sei  ein  rjdv ,  weil  sie 
sich  von  der  bekannten  Gegenwart  (also  als  eine  xcuvoXoyia)  unterscheide:  das 
Staunen  vor  dem  Unbekannten  reize  die  Lust  es  kennen  zu  lernen ,  die  Lern- 
lust überhaupt,  und  dies  sei  die  Grundlage  alles  Vergnügens  das  man  an  den 
nachahmenden  Kunstwerken  empfinde,  es  reize  den  övXXoyiö^iog.  oxl  xovxo  exelvo, 
cööxe  [iccvd-dvsiv  n  6v{ißaLVEi.  Vgl.  Poet.  4  p.  1448  b  15  dia  yag  xovxo  %aiQov6i 
xäg  Eixovccg  ogavxEg ,  oxl  6v[ißcciv£i  d-Ecooovvxag  pavftccvEiv  xal  övXXoyi&öftcct  xC 
exccGxov,  olov  oxl  ovxog  EXElvog.  Diesen  nämlichen  Ausdruck  6vXXoyi6\i6g  finden 
wir  beim  Dionysscholiasten  verwendet,  der  offenbar,  wie  schon  die  Odysseestelle 
zeigt,  die  zwischen  Eratosthenes  und  Hipparch  (oder  Poseidonios)  erörterte 
Streitfrage  in  seiner  Quelle  behandelt  gefunden  hatte :  'wenn  das  Hören  einer 
Dichtung  mit  6vXXoyi6^6g  verbunden  ist,  wird  der  Hörer  oft  zum  Widerspruch 
gereizt',  da  er  über  das  Gehörte,  das  als  wissenschaftliche  Belehrung  gedacht 
ist,  nachdenkt  und  dadurch  beunruhigt  wird.  Das  ist  aber  nicht  die  Aufgabe 
der  Poesie,  heisst  es  weiter:  'die  Poesie  (zumal  der  Mythos,  der  ihr  Wesen  auf- 
macht) hat  die  Fähigkeit  zu  fesseln  (tö  7tgo6ay(oy6v)  und  zwar  dadurch  dass  sie 
aesthetisches  Vergnügen  bereitet  [ix  xfjg  Y\dovfig) ,  wenn  sie  aber  daneben  auch 
die  Seele  kritisch  beunruhigt  (dvöcoitEi)  l),  so  thut  sie  das  nicht  £%  ccyavog  sondern 


1)  Die  jüngere  Gräcität  braucht  SvaaTtscv  als  Synonym  von  vcpoq&v  und  vTtonrsvSLv  oft  ge- 
■ug,  sowol  transitiv  wie  intransitiv.  Daneben  aber  steht  es  in  der  Bedeutung  'stutzig,  kopfscheu 
Bachen',  z.  B.  bei  Sextus  Emp.  p.  152,  24  xovg  6Y.ETtxiY.ovg  ivTQE7tov6L  iilv  ol  loyoi,  dv6co7tei  ds 
xal  7]  ivccgysia.  Die  classische  Zeit  scheiut  nur  dvoaiTisiGd-cci  in  der  bekannten  Bedeutung  zu 
haben. 


24  GEORG    KAIB  EL, 

co67tSQ  (pvöix&g  svavtiov^vri '.  Wie  das  zu  verstehen  ist,  lehrt  Sextus  Emp. 
(407,  4):  ov  pövov  tä  xa&  "Aibr[v  7ilcctz6[i£va  aXlä  xccl  xoiv&g  itavxa  {iv&ov  [id- 
ir\v  7iccQE6xrixevca  6v{ißeßrixE  xccl  advvuxov  üvai.  Weil  jeglicher  Mythos  etwas 
unmögliches  enthält,  erweckt  er  Widerspruch,  seine  innerste  Natur  ist  der 
menschlichen  Vernunftsnatur  an  sich  entgegengesetzt.  Der  äyav  also  zwischen 
Vernunft  und  Mythos  liegt  nicht  in  der  Absicht  des  Dichters ,  auf  dass  der 
Hörer  durch  das  Unerhörte  zu  scharfsinnigem  Widerspruch  gereizt  wird  (ovx  4% 
äyavog),  sondern  ist  in  der  Natur  der  Sache  begründet.  Das  Excerpt  des  Scho- 
liasten  ist  nicht  genau  genug,  um  den  ganzen  Gedankengang  der  Vorlage  wieder- 
herzustellen ,  aber  soviel  ist  klar ,  dass  ein  Einwand  gegen  die  allzu  schroffe 
stoische  Auffassung  vorliegt,  die  Poesie  sei  nichts  als  didatixalta,  der  Dichter 
nichts  als  cpikööocpog.  Eine  doppelte  Wirkung  wird  ihr  zugesprochen,  das  svcpQai- 
vslv  und  das  övöcoitslv ,  das  macht  zusammen  das  tyv%aycoy£lv  aus,  die  Quelle 
heider  Wirkungen  ist  der  pvftog.  Diese  Wirkung  wird  belegt  durch  die  Homer- 
stelle: der  Sänger  fesselt  durch  seine  Erzählungen  die  Klytairaestra,  so  dass  sje 
den  Verführerkünsten  des  Aigisth  keine  Aufmerksamkeit  schenkt;  sie  verfällt 
ihnen,  sobald  der  Sänger  entfernt  wird.  Nicht  durch  Einwirkung  auf  ihren  In- 
tellect,  sondern  auf  ihre  Seele  hat  der  Sänger  die  Gattin  des  Agamemnon  vor 
dem  Verderben  geschützt,  er  ist  also  für  sie  ein  6cocpQovLörrjg  geworden  und  doch 
ein  i>v%aycoy6g  geblieben.  Das  ist  ein  Mittelweg,  auf  dem  beide  Parteien  zu 
ihrem  Recht  kommen  sollen  l).  Ist  diese  Auslegung  der  Worte  richtig,  so  kann 
auch  die  Verbesserung  der  entstellten  Worte  ixavbg  de  6  {Lv&og  6ic37trj6ai,  oV 
r)dovi}g  mit  Sicherheit  gegeben  werden.  Usener  (Rhein.  Mus.  XXV  608)  schlug 
dvöcjTtijöaL  vor,  aber  der  Begriff  passt  nicht  zu  6V  rjdovrjg  und  ist  auch  nicht 
weit  genug.  Gemeint  ist  was  die  tjÖovt]  und  das  dvöcoiteiv  umfasst,  das  ist 
ipv%aycöyi]6ui.  Um  diese  Wirkung  hervorzubringen  ,  dafür  ist  der  Mythos  aus- 
reichend ,  dafür  wird  dann  der  Beweis  geführt.  Der  Scholiast  giebt  hier  also 
eine  nicht  streng  stoische  Auffassung  wieder ,  das  passt  für  Poseidonios  ebenso 
gut  wie  die  peripatetische  und  unstoische  Verwerfung  des  Empedokles  und  ähn- 
licher Dichter.  Im  übrigen  kann  man  von  einer  Chrestomathie  ,  wie  die  des 
Proklos  war,  nicht  erwarten ,  dass  sie  eine  bestimmte  Beurtheilungsweise  ein- 
schlägiger Fragen  vertrete;  wir  werden  sehen  wie  gern  Proklos  abweichende 
und  selbst  entgegengesetzte  Meinungen    zu  Worte  kommen  liess. 

Die  vier  Kennzeichen  der  Dichtung  sind  das  Metrum  (wobei  der  Rhythmos 
miteinbegriffen  wird),  der  Mythos,  die  iöxoQia  und  die  kunstvolle  Sprache.  Bei 
der  Erläuterung  aber  dieser  vier  Momente   tritt  unangemeldet  ein  fünites  hinzu, 


1)  Das  Beispiel  der  Klytaimestra  hatte  schon  Dikaiarclios,  aber  schwerlich  er  zuerst,  als 
Beleg  dafür  angeführt,  dass  die  Alten  den  Sänger  zu  den  Weisen  rechneten  (bei  Philodem  de  mus. 
p.  20  Kemke);  später  ist  das  Beispiel  immer  wieder  verwendet  worden,  ausser  den  von  Kernke  und 
Usener  citirten  Stellen  vgl.  noch  Proklos  zu  Plat.  Rep.  p.  404  Bas.  (Pitra  Anal,  sacra  et  class.  V 
235).  Dikaiarchos  hatte  es  natürlich  in  dem  Sinne  verwendet  wie  Aristoteles  über  die  ethische 
Wirkung  von  Poesie  und  Musik  geurtheilt  hatte. 


DIE   PROLEGOMEN A    TIEPI   KflMflUIA^  25 

ausser  [iv&og  und  löxogia  noch  das  Tckdö^ia.  Neben  dem  {iv&og  hätte  sich  schon 
die  löxogia  wol  entbehren  lassen,  da  sie  nur  eine  Art-  nicht  eine  Gattungsver- 
schiedenheit ausmacht.  Wie  sie  hineingekommen  ist,  zeigt  Poseidonios'  Definition 
von  der  Ttoirjöig  (Diog-  L.  VII  60),  sie  sei  ein  Cx\\iavxixov  noir^La  \li\jlx\6iv  negie- 
%ov  dstcjv  xal  dvd-goTteicov.  Göttliche  Geschichte  enthält  der  {Lv&og,  menschliche 
die  löxogia:  weil  es  nun  aber  viele  Gedichte  giebt  die  sowohl  menschliche  wie 
göttliche  Geschichten  erzählen ,  weil  im  Gegentheil  die  allermeisten  Gedichte 
beides  enthalten,  hat  Poseidonios  nicht  gesagt  fteicov  rj  dv^gcoiteiav  und  danach 
nicht  {Lv&og  rj  sondern  pvfrog  xal  töxogia1).  Diese  Zweitheilung  aber  zog  als 
drittes  das  nld<5\La  mit  Nothwendigkeit  nach  sich.  Die  unbeglaubigte  Göttersage 
und  die  sichergestellte  Menschengeschichte  erschöpft  den  Stoff  nicht,  so  kommt 
die  schlechthin  erfundene  Begebenheit  hinzu. 

Die  Sonderung  von  Cöxogia  und  Ttldö^ia  practisch  verwendet  fanden  wir 
früher  in  einem  bei  Tzetzes  etwas  vollständiger  erhaltenen  Dionysscholion  (s.  o. 
S.  15),  wo  es  von  der  Tragödie  hiess,  sie  enthalte  i6toqlccv  xal  dnayyekiav  7tgd- 
£,£G)v  yevo^ievcjv ,  xdv  d>g  rjdr)  yivopevag  6%ri[iaxi£r}i  uvxdg ,  von  der  Komödie ,  sie 
befasse  sich  mit  ßiayxixcjv  Ttgay^dxcjv  7tla6[iaxa,  d.  h.  mit  solchen  Stoffen,  die 
zwar  erfunden  sind,  aber  doch  als  aus  dem  Leben  gegriffene  und  wirkliche  Ge- 
schehnisse dargestellt  werden.  Sowol  die  Anwendung  auf  verschiedene  Poesie- 
gattungen, aus  deren  Betrachtung  die  drei  Theile  ja  doch  abstrahirt  sind  ,  als 
auch  die  Definition  der  drei  Theile,  wie  sie  in  den  Cramer'schen  Scholien  vor- 
liegt, begegnet  zuerst  bei  einem  viel  älteren  Gelehrten,  bei  Asklepiades  von 
Myrlea  2).  Sextus  Emp.  wendet  sich  in  seinem  Kampf  mit  den  Philologen  p.  655, 
21  auch  gegen  diesen  angesehenen  Grammatiker:  'AöxXrjTtiddrjg  de  iv  xtbi  IJegl 
yga[i{iaxixrjg  xgia  cpr\6ag  eivai  xä  ng&xa  xfjg  yga^i^iaxix^g  pegr],  x£%vixov,  lexogixov, 
yga^axixov  —  tgiZW  vnodiaigelxai  xo  löxogixov.  xf\g  yäg  Cöxogiag  xr\v  \iev  xiva 
dfoföij  Eivai  (pr}6i,  xx\v  de  ijjevdyj,  xr\v  de  <bg  dlrj&i},  xal  dlri^fj  [iev  xr\v  ngaxxixrjv, 
ipevdt}  de  xx\v  negl  Ttldöyiaxa  xal  tiv&ovg ,  cjg  dlrjd^r}  de  oia  etixlv  rj  xapcoidia  xal 
of  ^uot.  Hier  scheint  ein  Textfehler  berichtigt  werden  zu  müssen :  es  wird 
nicht  gesagt  womit  sich  die  töxogia  cjg  dlrjd-rjg  befasst,  während  der  tpevdijg  iaxo- 


1)  Ob  demnach  die  .iötoqlcc  nur  auf  das  Streben  nach  Viergliedrigkeit  zurückzufahren  ist 
(Usener,  Ein  altes  Lehrgebäude  der  Philologie.  Münchener  Sitzungsber.  1892  IV  (507),  möchte 
man  bezweifeln. 

2)  Dass  Asklepiades  von  Myrlea  —  an  einen  anderen  kann  und  darf  man  nicht  denken  — 
Pergamener,  speciell  Krateteer  gewesen  sei,  ist  wenig  glaublich,  schon  darum  weil  er  (bei  Athen. 
XI  490  e)  den  Meister  des  Plagiats  beschuldigt  und  ihn  nicht  ohne  ironischen  Nebenton  6  xpirixog 
nennt.  Das  Prädicat  ist  kein  persönliches  geblieben,  sondern  schon  auf  die  nächsten  Schüler  über- 
gegangen (Sextus  p.  655,  1):  wie  sollte  ein  Hegelianer  seinem  Schulgenossen  das  D  istin  et  iv  'der 
Hegelianer'  geben  können.  Vorsichtig  hat  sich  Lehrs  ausgedrückt  (Herod.  scr.  tria  p.  434),  eine 
Vermittlung  Usener  versucht  (Münch.  Sitzungsber.  S.  590).  Dass  bei  Suidas  seine  Zeit  nach  Atta- 
los und  Eumenes  bestimmt  wird,  beweist  nur  dass  er  mit  Pergamon  irgend  welche  Berührung  ge- 
habt hat;  eine  freundliche  braucht  es  nicht  gewesen  zu  sein.  Schuljahre  in  Alexaudreia  bezeugt 
Suidas  ebenfalls. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  W  iss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Rand  2,  4.  4 


26  GEORG    KAI  BEL, 

Qia  ein  doppeltes  Gebiet  zugewiesen  wird.  Dass  das  nicht  im  Sinne  des  Askle- 
piades  war,  zeigt  das  folgende,  das  ich  sogleich  ausschreiben  werde,  die  Aen- 
dernng  scheint  wenn  auch  gewaltsam  doch  nothwendig  ijjevdri  de  xr\v  rcegl  {iv- 
ftovg,  d)g  aXr}ftrj  de  xrjv  itegl  %Xd6^axa,  oicc  eöxtv  xxX.  Diese  Sätze  nimmt  Sextus 
als  Grundlage  für  eine  weitgesponnene  Polemik,  in  deren  Verlauf  er  die  Worte 
des  Gegners  nochmals  wiederholt  (p.  658,  21) :  7tgbg  xovxoig  eitel  xäv  löxogov^ievcov 
xb  \iev  eöxiv  löxoqlcc,  xb  de  {ivfrog,  xb  de  TtXdö^icc ,  cov  rj  per  iöxoqlcc  aXr\&cov 
xlvöjv  löxi  xal  yeyovoxcov  ex&eöig  —  7cXd6(ia  de  7tQayficcxcov  ^r\  yevo{ievcov  p,ev 
b^ioicjg  de  xolg  yevo^evoig  (1.  yivo^ievoog)  Xeyouevcjv ,  ag  al  xcj^iixal  vKofttöeig  xal 
or*  ftr^ofc,  f« v&og  de  7iQay[iccx(Dv  dyevqx&v  (nachher  dafür  dvvTtagxxa)  xal  tpevdibv 
ex&eöig  x)  xxX.  Es  ist  ja  wol  kein  Zweifel,  dass  genau  die  gleichen  Erläuterungen 
von  löxoqlcc  [iv&og .  jiXdö^ia  in  den  Cramerschen  Dionysscholien  vorliegen ,  und 
dass  der  Scholiast  dies  alles  demselben  Lehrbuch  entnommen  hat  wie  die  Er- 
örterungen über  Poesie  und  Prosa,  also  aus  Proklos'  Chrestomathie.  An  weiteren 
Spuren  des  Asklepiades  in  diesem  Bereich  der  Litteratur  fehlt  es  nicht:  wie 
sollte  auch  ein  so  umfangreiches  Werk  (das  elfte  Buch  wird  citirt) ,  das  mit 
einer  Abhandlung  über  die  Wissenschaft  selbst  begann  (Ilegl  yga^iiaxtxrig)  und 
dann  eine  lange  Liste  ihrer  Vertreter  behandelte  (liegt  yga^axtxav)^  von  einem 
Literarhistoriker  übergangen  worden  sein. 

Drei  von  seinen  vier  Prooemien  (Pb  Mab)  hat  Tzetzes  mit  einer  bald  kür- 
zeren bald  längeren  Einleitung  über  die  Thätigkeit  der  ersten  Alexandrinischen 
Philologen  ausgestattet.  Dass  er  seine  Gelehrsamkeit  den  Dionysscholien  ver- 
dankt, zeigt  das  Villoison'sche  Anecdoton,  nur  eine  bessere  und  reichere  Fassung 
der  Scholien  hat  er  zur  Hand  gehabt.  Hier  liest  man  dieselbe  merkwürdige 
Nachricht,  die  Tzetzes  vermittelt,  dass  Orpheus  von  Kroton  am  Hofe  des  Peisi- 
stratos  gelebt  habe,  mit  Zopyros  und  Onomakritos  zusammen  an  der  Herstellung 
des  Homer  betheiligt.  Den  Gewährsmann  dafür  nennt  uns  Suidas  (Ogqpbvg) ,  es 
ist  ^A6xXx\%iddy\g  ev  xai  exxcoc  ßißkicoi  xtbv  rga[i[iaxLX(A)v.  Ist  es  Zufall,  dass  nur 
wenig  später  Cicero  zuerst  von  der  Peisistrateischen  Homerausgabe  zu  be- 
richten weiss?  Aber  möglicherweise  geht  noch  viel  mehr  von  dem  was  Tzetzes 
berichtet  auf  Asklepiades  zurück,  gewiss  aber  war  er  sowenig  für  die  Dionys- 
scholien wie  für  Tzetzes  primäre  Quelle.  Es  versteht  sich,  dass  Asklepiades  die 
Philologie  nicht  als  eine  gegebene  Grösse  behandelt,  sondern  nach  ihrem  Ur- 
sprung gefragt  hatte.  Nun  haben  wir  noch  ein  paar  sehr  dürftige  Scholien  zu 
Dionys  (Cramer  p.  311,  5  =  Bekker  p.  729,  22),  die  diese  Frage  berühren.  Die 
yoa\L\Laxi<5xixri  sei  schon  vor  dem  Troischen  Kriege  bekannt  gewesen,  die  ygaupa- 
xlxt]  aber  dg^afievr]    [iev    dito  &eayavovg  xexsXeöxai    vtio  xcbv  Ttegntaxx\xixsbv  Ilga^L- 

1)  Asklepiades  hätte  hinzufügen  konneu,  und  hat  vielleicht  hinzugefügt  w?  cct  rgayi-nal  xal 
(Ttt-nal  vno&£6£i,q,  wie  es  bei  Quintilian  heisst  (II  4,2):  quia  narrationum,  excepta  qua  in  causis 
utimur,  tris  accepimus  species,  fabulam  ([iv&ov)  quae  versatur  in  tragoediis  atque  carminibus  non 
a  reritate  modo  sed  etiam  a  forma  veritatis  remota,  argumentum  (itlcüöfia)  quod  falsum  sed  cero 
simile  comoediae  fingunt,  historiam  in  qua  est  gestae  rei  expositio  u.  s.  w. 


DIE   PKOLEGOMEXA   IIEPI   KnMniJIAS  27 

cpdvovg  xs  xal  'JoiöxoxeXovg.  Die  Erwähnung  des  Praxiphanes  geht  weit  über 
das  Niveau  gewöhnlichen  Wissens,  sie  deutet  auf  eine  gelehrte  Quelle;  auch 
Aristoteles  als  Begründer  der  Wissenschaft  ist  keine  landläufige  Weisheit !). 
Bei  Tzetzes  nun  steht  ein  reicheres  Verzeichniss  von  Grammatikern  (Ma  p.  110K) : 
vöxeoov  de  xavxag  dndöag  (ßißXovg)  7toXXol  dv£(pdvr]6av  v7to(pr]X£vovxeg  xal  ine^r}- 
yov^isvoi,  ^didvfioi  TgvcpGyveg  'A%oXX<xtvioi  yHo<oidiavoi  IlxoXs^iaioi  te  'AöxaXtavixai 
xal  01  Kv&rJQiOL.  7tQÖrsQog  ö'  f)v  Zrjvödoxog  6  'Eyeöiog,  7i8[i7txog  de  r\  xdxagxog  per1 
avxov  6  'ÄQißxaQiog ,  '  aXXi]  x  äXXav  yXaööa  7ioXv67i£Q8G)v  dv&QC07t(ov  .  {istf  ovg 
xal  oi  cpiXööocpoi  IIoQ(pvQiog  nXovxag%og  xal  ÜQÖxXog,  cjg  xal  7tob  Ttdvxcov  avxfov 
xal  Ttgb  xcbv  %q6vcov  xcbv  TLxoXe^aiiov  (piXoööcpcov  exeoav  {isalg  ov  [lexoia  xal  ö  ix 
2JxayeiQ(Dv  aifteoiog  vovg  xxX.  Das  Verzeichniss  ist  bunt  genug ,  natürlich  sind 
nicht  nur  Interpreten  gemeint  sondern  Grammatiker  überhaupt.  Es  werden  weit 
jüngere  Leute  aufgezählt  als  Asklepiadt is  sie  kennen  konnte,  aber  Aristoteles 
erscheint  auch  hier  als  Stifter  der  Wissenschaft.  Ist  es  nun  Zufall,  dass  am 
Anfang  der  Liste  Didymos  steht,  dessen  Buch  üeol  Xvqixgjv  itoiyxcbv  eine  Haupt- 
quelle des  Proklos  war,  und  am  Schluss  die  drei  grossen  Platoniker  in  richtiger 
chronologischer  Abfolge  ?  Proklos  ist  der  letzte ,  und  doch  gab  es  hinter  ihm 
Volks  genug  das  sich  Grammatiker  nannte  und  den  Dionysscholiasten  wahrlich 
näher  stand  als  die  Neuplatoniker.  Proklos  muss  der  Mann  sein,  der  durch  die 
Dionysscholien  dies  Verzeichniss  und  mithin  die  ganze  gelehrte  Abhandlung  über 
die  alexandrinische  Philologie  dem  Tzetzes  vermittelte.  Seine  Quelle  kann  in 
der  Hauptsache  recht  wol  Asklepiades  gewesen  sein. 

Ein  weiteres  wird  diese  Vermuthung  sichern.  Proklos'  Buch  heisst  Xq^öxo- 
lidd-eia  yga\i\iaxixr\.  Er  musste  nicht  nur  von  der  Geschichte  der  Grammatik, 
sondern  auch  vom  Begriff  derselben,  also  auch  von  ihrem  Namen  reden.  Mög- 
licherweise stammt  der  Dithyrambus,  den  der  Dionysscholiast  p.  725,  2  auf  die 
Grammatik  singt,  von  Proklos:  £%ei  de  rj  yga^ifiaxixi]  xal  i(jv%aycoyiav  ekutit£Aj],  Öi- 
ödöxovöa  xdXXog  Ttoirj^iaxcov  löxogiaig  xs  xal  ^iv^oig  xaxdiöovöa.  Die  Wissenschaft 
wird  mit  der  Poesie  auf  eine  Stufe  gehoben ,  weil  sie  sich  in  erster  Linie  mit 
den  Dichtern  befasst:  das  ist  der  Standpunkt  den  Proklos  einnehmen  musste, 
da  seine  Chrestomathie  ausschliesslich  die  griechische  Poesie  anging.  In  den 
Dionysscholien  wird  ausführlich  von  den  yod{iiiaxa  geredet ,  die  der  Grammatik 
den  Namen  gaben.  Das  Wort  bedeutet  vielerlei  (Cramer  p.  BIO,  13),  Buchstaben, 
Schriften  überhaupt,    Dichtung  im  besonderen,    Urkunde,    Gemälde  u.  s.  w. .    aber 


1)  Dions  Rede  Ilegl  'Ofirjgov  (II  109  V.Arn)  beginnt  mit  einer  Litteraturübersicht.  Da  heisst 
es  xai  ctvxbg  'Agi6xoxeXrig,  eeep'  ov  (paoi  xr\v  v.gixiv.r]v  xe  -aal  yga^axi%r\v  cig%)]v  XaßeCv,  nach- 
dem zuvor  die  Houierinterpreien  genannt  waren,  ov  fiovov  'Agi6xug%og  xat  Kgcixr\g  hcci  exegoi  nXei- 
ovg  xäv  vöxegov  yga(X[iccxiH&v  ■kXt]Q'svtcov  ngöxegov  de  -kqitih&v.  Elwas  anders  Sextus  Emp.  p. 
608,  17  yQcc{iiiocTiKri  xoivvv  Xeyexai  —  r)v  6vvr]d~a>g  ygaixfjiaxi6TL%i}v  huXov{iev,  idiuixegov  de  r)  evxe- 
Xrtg  v.al  xoCg  Ttegl  Kgäxr\xa  xbv  MccXXmxrjv  'Agiaxo(pävr\v  xs  xea  'Agi6xecg%ov  e7uiovr]&eL6a.  —  In  den 
Dionysscholien  sind  natürlich  verschiedene  Versionen  vertreten,  bei  Cramer  p.  310,26  steht  auch 
das  folgende:  cpccöl  de  'Avxidcogov  xbv  Kvficccov  ng&xov  iniyeygcccpevaL  avxbv  ygafifiaxiiiöv ,  ovy- 
yga^d  xi  ygäipavxcc  negl  (0^r]gov  %cu  'Hoiodov.     Vgl.  Susemihl  Alex.  Litt.  II  664. 

4*  '» 


28  GEORG    KAIBEL, 

der  Grammatiker  heisst  «jrö  xov  dr\Xovvxog  xb  noirj^ia.  Ganz  entsprechende  Er- 
örterungen finden  sich  bei  Sextus  p.  690,  5,  der  seine  Quelle  angiebt:  Sog  (pccöiv  ot 
7CeqI  xov  'A6xXr\TtLadrivl).  ßekkers  Meinung,  dass  die  Scholien  aus  Sextus  ge- 
schöpft hätten  (vgl.  auch  Sextus  p.  609,  47  mit  Schol.  p.  728,  12  B) ,  ist  unhalt- 
bar,  davon  kann  sich  jeder  leicht  überzeugen:  wie  sollten  diese  Grammatiker 
auch  von  ihrem  erbittertsten  Gegner  entlehnen  was  sie  anderswo  breiter  und 
unparteiischer  dargestellt  finden  konnten.  Ein  Buch  wie  das  des  Asklepiades, 
sei  es  das  Original,  sei  es  eine  Bearbeitung  oder  ein  Auszug,  musste  bei  den 
Philologen  weit  verbreitet  sein.  Auch  Sextus  braucht  es  nicht  selbst  gelesen 
zu  haben,  wörtliche  Citate  oder  eingehende  Referate,  die  er  in  bequemen  Hand- 
büchern vorfand,  konnten  für  seine  Zwecke  völlig  genügen.  Die  Quellen  des 
Sextus  verlangen  eine  sorgfältige  Untersuchung  ,  die  hier  nicht  gegeben  werden 
kann. 

Doch  zurück  zu  den  Excerpten  des  Cramerschen  Scholiasten.  Nach  den 
Stilgattungen  (aögov ,  i<5yy6v ,  av&rjQÖv)  werden  die  7tOL^6scog  laoaxtr^sg  aufge- 
zählt. Es  sind  drei:  dtrjyri^axLxog ,  doauaxixog ,  {iixxog.  Es  folgen  die  Erklä- 
rungen :  ÖiriyrifiaTixög  söxlv  6  x£%coQi6nevog  {ilv  xcbv  TCaQEtöayo^svcov  7iQ06(X)7tcov,  im'' 
ccvtgjv  de  x&v  7toir}TixcJv  2)  Xsyö^isvog.  doauaxixog  de  6  xs%(DQi6^iivog  xov  %oiy\xixov 
7tQ06(b7tov,  V7tb  ds  xcöv  %aosi6ayo\i(va)v  TtooöcoTtcov  Xsy6{ievog.  {iixxbg  ds  6  f£  ä^icpolv 
6vyxst^svog.  Dann  die  Arten:  sl'dr}  xov  diY\yrniaxixov  xal  ^llxxov  d''  sitixöv,  sks- 
ysiaxov,  ta^ißixöv,  {isfoxov.  xov  doaiiaxLXOv  sl'drj  y'  xoayixov  xcj[ilx6v  öuxvqixov. 
Bei  Photios  folgt  auf  die  Stilgattungen  dieses :  diakaiißdvsi  ds  xal  nsol  xoCöscog 
7ioiYJ[iaxog,  iv  ch  naoadidtoGi  xig  Y\%-ovg  xal  ita&ovg  diacpogd.  xal  ort  xrjg  noir\xi- 
xr\g  xb  {lev  £6xl  dirjyr}^iaxLxov,  xb  ds  \li\lk\xix6v ,  xal  xb  \lsv  dix\yr\\iaxixbv  sxcpsQExat 
Öl  Eitovg  id^ißov  xs  xal  sXsysiov  xal  [isXovg,  xb  ds  [iiurjxixbv  dut  xoay&idCag  öaxv- 
Qcov  xa  xal  xa^cjidiag.  Von  der^xgtöig  wird  später  die  Rede  sein,  zunächst  von 
den  Dichtungsarten.  Dass  Photios  ya\irixixöv  sagt  für  doa{iaxix6v,  ist  unanstössig, 
Proklos  hatte  wol  beide  Ausdrücke  gebraucht  (activum  vel  imitativum  Diomedes 
p.  48*2,  14  K),  aber  ein  starkes  Stück  ist  es,  dass  er  Epos,  Iambos ,  Melos  und 
Elegie  zur  rein  erzählenden  Gattung  rechnet.  Offenbar  hatte  er  die  dritte 
Classe,  das  \lixxov,  aas  Versehen  übergangen  (wie  vorher  unter  den  nkdö^iaxa  das 
töx^'bv) ,  und  so  kamen  ihre  Arten  unter  die  Gattung  des  dtrjyrjuaxLxöv.  Der 
Dionysscholiast   hat  seine  Sache    besser  gemacht,    aber  doch  nicht  gut,    wie  man 


1)  In  den  Hekkerscben  Scholien  p.  784,  6  (verkürzt  Cramer  p.  313)  heisst  es:  ölcc  xovxo  8s 
Y.al  ovx  aXXoig  %c£Qa-nxfiQ6i  xgmfis&cc  xcöv  6xoi%sitov  cxXXa  xoig  icovinoig,  cbg  iisv,AaY.Xr\Tii(x.8r]g  6  £{.ivq- 
vuiog  Xsysi,  8iä  xb  xäXXog  ncci  oxt  nXsiGxa  x&v  övyygafi^icixcov  xovxoig  sysygccnxo  xoig  %ccQav.xriQ6iv. 
Wie  kann  man  an  der  Emendation  6  MvgXsavog  zweifeln.  Das  Citat  hatte  Lukillos  von  Tharra 
vermittelt,  der  als  Quelle  für  das  gesaramte  sehr  gelehrte  Scholion  über  die  Buchstaben  bei  Cramer 
p.  322,  28  genannt  wird. 

1)  Man  kann  wol  leicht  ngoöconcov  ergänzen,  aber  glaublicher  ist,  dass  im  Original  der  Sin- 
gular stand  vn  ccvxov  Ss  xov  7toir\tiY.ov  {ngoaconov).  Die  naheliegende  Verbesserung  vn  ccvxcov 
ös  xcov  noLrixcöv,  die  auch  Usener  vorschlug,  ist  des  folgenden  wegen  nicht  wahrscheinlich. 


DIE    PROLEGOMExNA    7I£P/    KflMfLUIAS  29 

meint.  Usener  (Münch.  Sitzungsber.  a.  0.  615,  2)  nahm  einen  Ausfall  an  und 
schrieb  el'ÖT]  xov  dirjyrj^axLxov  .  .  .  (ei'ör}  xov)  {icxxov  d\  wobei  er  das  xccl  vor 
fLLxrov  nutgeben  musste.  Das  ist  ein  Zugeständniss ,  dass  die  Aenderung  gegen 
die  Absicht  des  Scholiasten  geht:  ist  sie  aber  der  Absicht  der  Vorlage  entspre- 
chend? Natürlich  musste  Usener  nun  in  die  Lücke  die  Arten  des  dirjyrjfiaxLxov 
einfügen,  die  bei  Diomedes  zu  lesen  sind  (p.  482,  31)  exegetici  vel  enarrativi  spe- 
cies  sunt  tres,  angelticc  historice  didascalice.  Ist  es  aber  wahrscheinlich  ,  dass  so- 
wol  Photios  (den  Usener  hier  nicht  berücksichtigt)  wie  der  Scholiast,  wenn  auch 
in  verschiedener  Form,  so  doch  in  sonderbarster  Uebereinstimmung  beide  gerade 
die  Arten  des  dix\yr\\iccxLx6v  ausliessen  oder  beim  Excerpiren  übersahen?  ist  nicht 
vielmehr  dies  ein  deutliches  Zeichen ,  dass  beide  die  gleiche  Vorlage  benützten 
und  in  eben  dieser  Vorlage  keine  weiteren  Arten  angeführt  waren? 

Eine  systematische  Gruppirung  der  sämmtlichen  Poesiegattungen  fand  sich 
in  Aristoteles'  Poetik  nicht:  da  trat  eine  andere  Autorität  für  ihn  ein.  Piaton 
theilt  die  Poesie,  je  nachdem  der  Vorgang  in  directer  oder  indirecter  Nachah- 
mung vergegenwärtigt  wird,  in  zwei  Klassen  (Rep.  p.  349  c):  rj  [tev  diä  ^11^- 
öeag  okr\  eöxiv,  xgaycjidia  xs  xccl  xaiMmdicc,  7}  de  dt  ccitccyyeXiccg  ccvxov  xov  notiq- 
xov'  evQOig  <T  av  ccvxyjv  (iccfoöxd  tcov  sv  dcd'VQcc^ißoLg.  r)  <T  av  di  d^iq)oxsQ03v  sv 
xe  xr\i  xfov  sitCov  Ttoirjösi,  ■Kol'kayov  ös  xccl  alXofti.  Die  beiden  Hauptklassen 
machen  eine  dritte  Mischklasse  noth wendig.  Man  braucht  Piatons  allgemeine 
Andeutung  nur  zu  specialisiren ,  so  ergiebt  sich  was  der  Cramersche  Scholiast 
sagt,  zur  Mischklasse  gehöre  das  Epos,  die  Elegie,  der  Iambos  und  das  Melos. 
Diese  bequeme  Auftheilung  des  Materials  begegnet  später  fast  überall,  nur  dass 
die  Mischklasse  bald  \11xxov  bald  xoivov  heisst  (Diom.  p.  482),  letzteres  etwa 
auch  nacli  Piaton  Rep.  396  e  xccl  söxai  ccvxov  r\  ksfyg  psxsypvGa  per  d^cpoxsQcjv, 
{iiliriöscjg  xs  xal  xijg  aXXrig  (1.  äitXY\g)  dLrjyt]öscog.  Wie  eng  der  Cramersche  Scho- 
liast oder  vielmehr  Proklos  der  Platoniker  mit  Piaton  zusammenhängt,  zeigt 
auch  die  trotz  des  mangelhaften  Griechisch  noch  an  Piaton  anklingende  Begriffs- 
bestimmung der  beiden  Hauptgattungen.  Während  sonst  überall  das  dirjyrj^axixöv 
einfach  so  characterisirt  wird,  dass  der  Dichter  allein  rede,  das  öoayiaxixov  so, 
dass  der  Dichter  andere  Personen  reden  lasse,  das  \11xx6v  endlich  so,  das  bald 
der  Dichter  bald  seine  Personen  reden ,  bewahrt  der  Scholiast  noch  eine  Spur 
des  gewählt  anschaul-ichen  Platonischen  Ausdrucks  Rep.  III  393  c  sl  ös  ye  {irjda- 
ftou  savxbv  cctcoxqvxxolxo  6  7ton]X7Jg :  nur  ist  das  hübsche  anoxQvnxsöftai  zum 
trockenen  Schulausdruck  ^coot^tfthu  verunstaltet  worden.  —  In  der  That  sind 
dramatische  Darstellung  und  Erzählung  zwei  wesentliche  Unterscheidungsmo- 
mente, nur  schade,  dass  wol  die  erstere  aber  nicht  die  zweite  Art  sich  irgend- 
wo in  der  Praxis  rein  und  ungemischt  findet.  Piaton  nimmt  zum  Dithyrambos 
seine  Zuflucht,  aber  er  schränkt  auch  dies  Beispiel  durch  ein  vorsichtiges  \1aX1- 
6xd  itov  ein  :  die  späteren,  die  den  jüngeren  Dithyrambos  erlebt  hatten,  konnten 
nichts  weniger  als  den  Dithyrambos  zur  erzählenden  Gattung  rechnen.  Aber 
die  Rubrik  musste  doch  ausgefüllt  werden :  sehen  wir,  wie  Diomedes'  Gewährs- 
mann sich  hilft,    angeltice,  sagt  er,  est  qua  sententiae  scribuntur,  ut  est  Theogni- 

h 


30  GEORÜ    KAIBEL, 

dis  liber ,  item  chriae.  Historie e  est  qua  narrationes  et  genealogiae  componuntur, 
ut  est  Hesiodu  rwaLxübv  xaxdXoyog  et  similia.  didascalice  est  qua  comprehen- 
ditur  philosophia  Empedoclis  {et  Lucrcti),  item  astrologia,  ut  Phaenomena  Aratu  (et 
Ciceronis  et  Georgica  Vergilii  et  Ins  similia).  Dass  diese  drei  Arten  die  kümmer- 
lichsten Nothbehelfe  sind,  Erfindungen  eines  verzweifelnden  Systematikers,  liegt 
auf  der  Hand;  als  ob  Theognis  sich  von  anderen  Elegikern,  Hesiods  Frauenlieder 
sich  von  anderen  Epen  unterschieden  hätten.  Es  bleibt  eigentlich  nur  das  Lehr- 
gedicht ,  aber  auch  das  beschränkt  sich  nicht  in  Folge  eines  inneren  Zwanges 
auf  die  Erzählung:  sobald  der  Dichter  einen  Mythos  einflicht,  also  zum  wichtig- 
sten Ingredienz  der  Poesie  greift,  kann  oder  muss  er  Personen  nicht  nur  han- 
delnd sondern  auch  redend  einführen.  Eine  rein  erzählende  Gattung  giebt  es  in 
der  Poesie  nicht ;  will  man  aber  a  potiori  eine  Gattung  dahin  rechnen ,  so  hat 
das  Epos  mit  allen  seinen  Abarten  das  alleinige  Anrecht  auf  den  Platz.  So 
richtig  also  Piaton  die  beiden  Formprincipien  in  der  Poesie  erkannt  hatte,  so 
falsch  haben  die  späteren  die  Principien  zur  Grundlage  einer  Systematik  ge- 
macht: alle  Gattungen  sind  diesen  Principien  unterworfen  und  haben  Theil  an 
ihnen,  die  Botenrede  der  Tragödie  gehört  doch  wol  zum  dnjyrjuatixöv.  Und  diese 
richtige  Erkenntniss  lag  in  der  gemeinsamen  Quelle  des  Photios  und  des  Lon- 
doner Scholiasten,  bei  Proklos  vor.  Das  Drama  bildete  eine  Klasse  für  sich; 
dem  gegenüber  steht  die  ganze  Masse  der  übrigen  Poesie  ,  sie  ist  entweder  er- 
zählend (betrachtend  u.  dgl.)  oder  aber  erzählend  und  darstellend.  Der  Scholiast 
hat  Recht :  sLöt]  xov  dtriyrjuccTLXov  xal  ulxtov  d'  ■  etclxov  iXsyetaxöv  ta^ßLXÖv  {ieXl- 
xov.  Photios  hat  sich  in  diesen  Gedankengang  nur  nicht  hineinfinden  können 
und  hat  darum  das  ynxxöv  beseitigt.  Es  hat  mancherlei  Versuche  gegeben,  den 
Inhalt  der  griechischen  Litteratur  zu  systematisiren :  so  unberechtigt  sie  alle  an 
sich  sind  und  sein  müssen ,  so  interessant  sind  sie  für  die  Geschichte  unserer 
Wissenschaft.     Ein  weiteres  System  wird  später  zu  besprechen  sein. 

Ueber  die  XQiOig  7toLrj{iaxog,  wie  schon  gesagt,  hat  Photios  nichts  weiter  be- 
richtet als  den  einen  Satz:  Ttagadiöcjöt  xig  iföovg  xal  Ttd&ovg  dicccpood.  Das  ist 
eine  blosse  Einzelheit,  die  beweist  wie  stark  Photios  gekürzt  hat.  Womit  sich 
die  philologische  xgCoig  zu  befassen  hat,  sagt  ein  Dionysscholion  bei  Villoison 
(p.  175) ,  von  dem  in  der  Bekkerschen  Sammlung  (p.  741)  nur  kärgliche  Reste 
übrig  sind:  dtaepeget  Öl  xotdig  övyxQiöscjg'  xal  tiqioxov  fisv  XQLötg ,  öevxeqov  de 
övyxQLöig.  xqlvel  (i£v  yaQ  tig  txaOxov  ix  xobv  lölcjv,  6vyxoCv£i  de  exeqov  icp  exe- 
pro/,  cjöxe  v\  OvyxQiöig  ev  avx^L  tcqöxeqov  xr\v  xqlölv  (övyxoiöiv  Cod.)  e^el.  £,rjxr}- 
xtov  üqcc  6  yoa{iu.axixbg  xaXMtüv  av  xCjv  itotrjx&v  xqlvel  avxwv  xä  7tOL7]^iaxa  rj 
yxxujv  xal  el  fisv  xakXCcoV)  dio[i£v  xal  avxbv  Eivai  7toLYixt]v,  otieq  alloxoiov  yQappa- 
xix)]g  '  ovxe  yaQ  [itoog  ovxe  oQyavov  xfjg  yga^i^axLxfjg  xb  %OLx\XLxbv .  el  ds  yxxcav  (bv 
xqlvel,  oi)%  cog  7t0LY}xr]g  äXX  tbg  xE^vCxi^g  xfjg  exelvcov  vkr}g  6  yQa^i^iaxLxbg  (xolvcjvel 
oder  dgl.).  vkrj  yaQ  7iOLri\ua\xixrig  (xv&og  {iexqov  kt%Lg  LöxoQLa  ylCöOöa,  xal  xovxav 
xEyvixr\g  o  yQappaxLxbg.  xqlvel  Öe  xal  (<bg  Cod.)  ov  tcoxeqov  avxotg  xaXcjg  yiyQa- 
nxai  i)  ov,    aklä  nola  dvopoLa  rj  nola  fyiota,  xal    nola  vöfta  xcjv  noLiqxcbv  xal  nola 


DIE   PROLEGOMENA    77EPJ    KnM£lIJIA2  31 

yv^öta1).  xqlvstcu  d'  r\  Ttoir\6ig  xqovcoi  ke^so  [ärooiai  7tXa6^iaxL  övvxttöu  xvqloXo- 
yioii  olxovouiai  xd%u  rftu  7tQO0co7t(m.  Die  Fassung  mag  wol  zum  Theil  sehr  jung 
sein  (schlimm  ist  (1ms  zweimalige  xalUcov  für  xqslxxgjv)  ,  aber  der  Inhalt  ist  alt 
und  gut.  Das  wichtigste  steht  am  Ende :  nicht  ob  der  Dichter  schön  geschrieben 
hat  oder  nicht  schön,  hat  der  Philologe  zu  beurtheilen ,  sondern  ob  ein  Gedicht 
einheitlich  in  Erfindung.  Auffassung,  Sprache,  Characterzeichnung  u.  a.  ist,  das 
heisst  ob  dem  Dichter  ein  wirkliches  Kunstwerk  gelungen  ist.  Das  Ethos  der 
Charactere,  der  Situationen,  des  Stils,  des  sprachlichen  Ausdrucks  ist  von  grosser 
Bedeutung  (vgl.  auch  das  interessante  Capitel  IJagl  koycov  i^sxdösmg  in  der  Ts%vri 
des  Pseudo - Dionysios  p.  122  Us.),  seine  Schätzung  ist  nur  möglich,  wenn  der 
Kritiker  zwischen  rj&og  und  7td&og  wol  zu  scheiden  weiss.  Den  Unterschied 
hatte  Photios  bei  Proklos  behandelt  gefunden  und  eben  dies,  weiter  auch  gar 
nichts   angemerkt.     Die  Einzelheit  ist  in  den  Dionysscholien  verschwunden. 

Bei  Photios  folgt  nun  eine  ausführliche  Behandhing  des  Epos.  Zuerst  wird 
die  Erfinderin  des  Verses  genannt:  eysvQe  0rjiiov6ri  rj  'ArcoXkavog  ngocprixig,  in 
wörtlicher  Uebereinstimmung  mit  dem  Cramerschen  Scholion  (p.  316,  6):  xal  6 
6xiyog  (svQS&r])  vTtb  G>r}{iovör}g  tegstag  xov  'AnokXcovog.  Dann  wird  erklärt,  warum 
der  Name  eitog,  der  auch  für  andere  Metra  verwendet  werde,  auf  den  Hexameter 
beschränkt  worden  sei  :  ganz  ähnlich  dem  Inhalt  nach,  zum  Theil  auch  im  Aus- 
druck das  Scholion  p.  751,  1  B.  Im  übrigen  haben  die  Dionysinterpreten,  da  sie 
dazu  auch  wenig  Anlass  hatten ,  das  Epos  nicht  besonders  besprochen ,  nur  die 
Geschichte  von  der  Peisistrateischen  Recension  haben  sie  breit  nacherzählt,  ver- 
muthlich  so  wie  Asklepiades  sie  erzählt  hatte,  dessen  Bericht  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  ihnen  durch  Proklos  vermittelt  war  (s.  o.  S.  26).  Bei  Photios  sind, 
wie  wir  wissen ,  vom  Reichthum  des  Proklos  nur  ärmliche  Notizen  über  das 
Epos  stehen  geblieben '-').  Bei  Tzetzes  (aus  den  Dionysscholien)  kehrt  an  vielen 
Stellen  seiner  verschiedenen  Tractate  (zu  Hesiod,  zu  Lykophron,  in  den  Iamben) 
die  Namenreihe  der  hauptsächlichen  epischen  Dichter  wieder ,  die  bei  Photios 
steht:  Homer,  Hesiod,  Peisandros,  Panyassis,  Antimachos.  Mit  einem  solchen 
Verzeichniss  schliesst  Photios  jedes  einzelne  Capitel  ab ;  Proklos  hatte  sich  nicht 
mit  den  Namen  begnügt ,  sondern ,  wie  für  die  epischen  Dichter  Photios  aus- 
drücklich bezeugt,    von  jedem  cjg  oiov  xs    xal  yivog  xal  naxQiöa  xaC  xivag  iitl  pe- 

1)  Vielleicht  xüv  7totri[idxoiv  für  xäv  noirixcov,  vgl.  das  Cramersche  Scholion  p.  315,  20  ngiGig 
7toit]ficcta)V.  nollä  yug  vod-fvo^isvd  ioxiv  ä>g  i]  ZocponXsovg  'Avxiyovr]  (so)"  Xtysxai  yug  slvca  'Avxi- 
rpwvrog  (so)  xov  Zo(pov.Xfovg  viov.  ojiotcog  xu  RvTigiunu  (so)  xca  6  Magyixr]g,  'Agdxov  xu  Ovxlku 
hui  xd.  7t£gl  'Ogvzwv,  'Höiödov  'AßitCg.  Dass  dies  Scholion  mir  ein  Theil  des  Villoison'schen  ist, 
beide  also  zusammen  erst  eine  Einheit  bilden,  zeigt  Psellos ,  der  die  Prosa  in  Verse  umgesetzt 
hat  (Boissonade  Anecd.  gr.  III  210).  Maass  (Aratea  242)  musste  also  statt  des  Psellos  die  Scho- 
llen citiren.  Uebrigeus  stimmt  über  die  ngtaig  mit  den  Dionysscholien  genau  Quintilian  überein 
I  4,  3. 

2)  Dass  die  Chrestomathie  über  Rhapsoden  und  Rhapsodien  belehren  musste,  versteht  sich 
von  selbst.  Photios  hat  das  nicht  excerpirt,  aber  die  Dionysscholien  haben  nicht  weniges  darüber 
erhalten  (p.  765  ff.  B).  Die  Etymologien,  die  hier  vorgetragen  werden,  von  gdjtxco  und  gußdog, 
kehren  genau  übereinstimmend  bei  Diomedes  wieder  (p.  4ö4). 


3*2  '  GEORG    KAIB  EL, 

govg  7iQa£Eig  berichtet.  Als  Vertreter  der  Elegie  nennt  Photios  Kallinos  und 
Mimnermos ,  dazu  Philetas  und  Kallimachos.  Tzetzes  (ad  Lyc.  p.  257  M)  hat 
dieselbe  Reihe,  nur  lässt  er  Kallimachos  bei  Seite.  Fehlte  bei  ihm  Philetas, 
könnte  mau  an  eine  andere  Auswahl  denken,  wer  aber  Philetas  zählt,  kann  Kalli- 
machos nicht  übergehen.  Es  ist  also  nur  eine  mangelhafte  Wiedergabe  der- 
selben vier  Namen  die  Photios  aus  Proklos  hat  und  die  sich  sonst  nirgend  finden. 
Im  übrigen  sagt  Photios  über  die  Elegie  das  folgende  :  xrjv  da  ikeyeiccv  övyxal- 
6&cu  [ihv  f|  i]Q(biov  xal  7t£VTa{LSTQOv  6tL%ov,  aQiio&iv  6e  xolg  xaxot%oyiEvovg'  odsv 
xal  xov  bvopaxog  itv%B'  xb  yao  d'Qtjvog  sXsyov  ixdXovv  ot  itaXaiol  xal  xovg  xexe- 
X£vx7]xoxag  6V  avxov  EvXoyovv.  ot  ^ievxov  ys  ^BxayeviöxsQOL  xoig  ikeytioig  nobg 
diayoQovg  vitofttGsig  d%E%Q\\(5avxo.  Dies  stammt  aus  Didymos  TLeqI  Tcoirjxcbv,  wie 
Orion  p.  58  bezeugt,  wenn  auch  vielleicht  nicht  direct.  Sonderbar  aber  wäre 
es,  wenn  Proklos  gegen  seine  sonstige  Gewohnheit  bei  einem  so  strittigen  Wort 
sich  auf  eine  einzige  Etymologie  beschränkt  hätte  :  er  pflegt  sonst  vorsichtiger 
zu  sein.  Näher  als  Photios'  Excerpt  steht  dem  was  Di4ymos  lehrte  der  Dionys- 
scholiast  (zJioprjdovg  xal  UxEcpdvov  im  Burbonious)  bei  Bekker : 

Didymos  Et.  M.  327,  1  Scholien  p.  749,  27 

zJidvfiog  öe  ort  diä  xovxo  xat  {jqcölcol  iXEy.Eiov  s^^tXQog  toxi  <5xi%og ,  eXXei- 
£7tfjiöov  ayg  7ievxd(.iexQOv  xal  Xe  mo  [iE-  tilov  ivl  TtoÖl  xov  i]Q(oixov  6xl%ov, 
vov1)  xov  r\Q(biov,  ^iL^ov^iEvot  xi\v  eig  ovo  7tEv&y]UL^iEQElg  xe^ivö^svog,  olov 
T&v  a.Tio$vr\i6x6vx<öv  anoTiavOiv'  ixl  yäo  'vrjidsg  ot  {lovörjg  ovx  iyivovxo  cpiXoL 
{idvoig  vexooZg  %dXai  y]idexo  itabg  7taa-  (Kallim.  fr.  488)  — xovxcoi  ovv  xCbi  xoö- 
aiveäiv  xal  7t ao  a^ivd C av  xCjv  thdl  TtoXXol  TtonqxaC  (\.  7ioirj[iaxa)  xiva 
övyysvcjv  xal  (plXavxovxE&vsG)-  yEyQacpijxaöiv ,  axiva  EinxaXEixai  etclxtj- 
xog.  dsia'    Tiobg    yag    %  aoa\Lv$lav     xcbv 

<5vy y ev (bv  xovxov  (1.  xov  XE&vEüxog) 
xal  (piXcjv  xf\L  Ttaoaiv eöei  ri]v  Xv- 
7ir\v  ccveöxeXXov. 

p.  750,  23. 
E7iEtdrj  Ot  x£&vi]x6x£g  eXXei-^iv  x t v a 
E%ovöiv  iqyovv  xov  %%v,  xovxov  %d- 
qiv  xal  xä  iXEyEla  <bg  etil  xolg  xe&vyjxoöi, 
XEyoyLEva  eXXe  LTC0V6L  Tioöl  Ttgbg  xov 
öaxxvXixbv  <5xi%ov. 

Also  Didymos,  vermittelt  durch  Proklos,  liegt  den  Scholien  zu  Grunde.  Aber 
die  Scholien  haben  noch  mehr  :  diö  xal  xaXElxat  iXEyEta  oiovsl  iXEEla  xov  y  ix&Xi- 
ßoptpov,  naoä  xb  eXeeiv  xov  XEXsXEvxrjxoxa '  i)  EvXoyEta,  Ttaoä  zb  sv  XiyEiv  xov  djeo- 
ßicöaavxa.    Das  sind  Versuche,  die  auch  in  den  Etymologika  verzeichnet  werden; 


1)  Der  Text  ist  verderbt  und  lückenhaft  (etwa  infjidov  -neu  nevTäfistgov  eng  <8vi  no8l>  Xfi- 
■ji6(isvov):  den  Wortlaut  des  Didymos  hat  Orion  vielleicht  ans  directer  Benützung  besser  bewahrt, 
den  Dionysscholien  steht  der  im  Et.  M.  erhaltene  Text,  offenbar  eine  Ueberarbeitung  des  Didymos, 
weit  näher.     Der  Ueberarbeiter  ist  eben  Proklos  gewesen. 


DIE  PROLEGOMENA    TLEPI   KflMfLUIAS  33 

sie    sind   dort  aus   derselben  Quelle   genommen    wie   das  Didymoscitat.      Proklos 
hatte  also  wirklich  mehrere  Etymologien  angeführt l). 

'  Ueber  den  Iambos,  den  Photios  zunächst  behandelt,  findet  sich  heute  in  den 
Dionysscholien  nichts.  Dass  niemals  dort  etwas  zu  finden  gewesen  sei  ,  folgt 
daraus  nicht,  dass  Dionys  die  iambische  Poesie  zu  erwähnen,  die  Scholien  also 
von  ihr  zu  reden  keine  Veranlassung  hatten.  Die  Scholiasten,  die  eine  vielnm- 
fassende  Quelle  unbesehen  abschreiben,  haben  nach  dem  Zweck  ihrer  Excerpte 
nicht  viel  gefragt,  und  es  machte  ihnen  mindestens  ebensoviel  Mühe  darüber 
nachzudenken ,  ob  sie  etwas  vom  Iambos  sagen  müssten ,  wie  wenn  sie  einige 
Bemerkungen  über  ihn  ausschrieben.  Eine  Spur  möchte  man  überdies  in  den  Lon- 
doner Scholien  zu  finden  meinen.  An  der  Stelle,  wo  Photios  vom  Iambos  spricht, 
vor  der  lyrischen  Poesie,  steht  das  folgende :  6vvxay^id  e6xl  kE%ug  ölü  [iexqcov  xoAo- 
ßcbv  etil  TtolXä  diatEivovOa'  rj  övvxa&g  {isxoov  xccxa  xoloßöv  cctcyiqxiö^evov  (-(ievov 
Cod.)  ccvev  yiEXovg'  r\  {iexqov  Elg  Xöyovg  xoloßovg  xExyLY\\iEvov .  Ich  bin  weit  davon 
entfernt  das  zu  verstehen,  aber  das  avsv  {isXovg  ebenso  wie  der  Ausdruck  At%tg 
scheint  auf  den  Iambos  zu  weisen.  xoÄoßov  heisst  jedes  in  seiner  natürlichen 
Form  beeinträchtigte  Metrum,  der  Spondeus  sowol,  der  am  Versschluss  in  Form 
eines  Trochaeus  erscheint,  wie  die  Katalexe,  Brachykatalexe  und  Hyperkatalexe. 
Im  Grunde  konnten  auch  Choliamben  so  genannt  werden,  wenn  ich  auch  nicht 
weiss  ob  es  geschehen  ist.  Die  Hauptschwierigkeit  liegt  in  6vvzay{ia,  das  hier 
als  technischer  Ausdruck  auftritt  und  doch  sonst  nicht  so  vorkommt.  Es  scheint 
ein  Gedicht  gemeint  zu  sein,  in  dem  eine  bestimmte  Art  von  xoXoßä  iisxqcc  sti- 
chisch  verwendet  wird:  das  könnte  ebensowol  der  katalektische  iambische  Tetra- 
meter wie  der  anakreonteische  Dimeter  wie  (eventuell)  der  hipponakteische  Hink- 
iambos  sein.  Der  zweite  Satz  drückt  denselben  Gedanken  nur  mit  anderen 
Worten  aus :  ein  Metrum  das  seine  Begrenzung  im  xokoßov  findet  ist  eben  ein 
xoloßov.  Der  dritte  Satz  ist  schwer  verständlich  :  vielleicht  ist  es  nur  eine  dritte 
Variante  desselben  Gedankens  ,  aber  wie  kann  ein  ^lexqov  in  Xoyoi  xoloßoi  zer- 
legt werden  ?  eine  Xe%ig  elg  {ibxqcc  xoXoßä  xsxiirj^iavr}  wäre  einfach,  aber  zu  emen- 
diren  wage  ich  nicht. 

Aus  Proklos'  Abschnitt  über  die  lyrische  Poesie  hat  Photios  sehr  umfang- 
reiche Excerpte  bewahrt.  Der  Cramersche  Scholiast  beginnt  hier  karg  und 
flüchtig  zu  werden,  aber  seine  Fehler  werden  uns  lehrreich  sein  ,  seine  Lücken 
lassen  sich  zum  Theil  aus  anderen  Dionysscholien  ergänzen.  Photios  beginnt 
so:    TtEQi    de    iiEhxfig    7tOLij6£(bg  cprjöiv  (bg  7toXv{iEQe6xdxrj   x     (eöxiv)    xai    diayÖQovg 


1)  In  den  Londoner  Scholien  (Cram.  p.  3 IG)  steht  eine  merkwürdige  Geschichte  von  Elegos 
dem  Sohn  der  Kleio,  der  hei  seiner  Hochzeit  plötzlich  stirbt:  da  verwandelt  sich  Freude  und  Tanz 
und  Hochzeitslied  in  Klage,  und  nävrtg  s^Qr\vovv  (isrcc  fieXovg,  xca  av\r\xcu  xca  y.i&ccqi,6tul  aul 
TQCtycoidoi  (?),  suTtXayivttg  inl  tüi  6VfißsßrtK0Ti  rmv  'EXsyai.  Das  bekannte  Motiv  von  Hochzeit  und 
Tod  könnte  wol  in  einer  alexandrinischen  Elegie  behandelt  gewesen  sein.  Dass  dies  aus  Proklos 
stammt,  macht  eine  vollkommen  analoge  Geschichte  von  Hymenaios  glaublich,  die  Photios  bewahrt 
hat  (p.  321  a  19):  v[isvcuov  Ss  iv  yäfioig  aiäsa&ai  cpccai  hcctoc  noftov  xal  lr)tr\Giv  'Tpsvcu'ov  xov 
Tegipixogag,  ov  cpccai  y^fiavra  6c(pavr)  ysviö&ai.     Und  dies  kehrt  wieder  im  Et.  M.  776,  49. 

Abhdlgu.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  4.  5  /, 

1     1 


34  GEORG    KAIBEL, 

tiei  xo^idg.  a  fisv  yäg  avxrjg  [ie(ieqi6tcu  dsolg,  ä  de  av&g&Ttoig,  a  öl  sig  xäg  ltooö- 
7tL7ttovöag  TtBQtözdösig'  xal  elg  fteovg  plv  ccvcccptQEöd'ca  v^ivov  7tgo6oöiov  naiava 
öi&vgayLßov  v6{iov  aöavlÖEia  loßax%ov  v7togiY\iiaxa.  Elg  de  av&gd)7tovg  u.  s.  w. .  in 
langer  Reihe  werden  die  vielen  Arten  aufgezählt  und  dann  im  einzelnen  er- 
läutert. Aus  diesen  z.  Tb.  sehr  gelehrten  Erläuterungen  giebt  der  Cramerscbe 
Scholiast  eine  bescheidene  Auslese.  Bei  Photios  fehlt  merkwürdiger  Weise  zu 
Anfang  eine  Definition  der  lyrischen  Poesie,  die  Etymologie  des  Wortes  Xvga, 
die  Aufzählung  der  neun  (oder  zehn)  lyrischen  Dichter,  alles  Dinge,  die  beim 
Epos,  Iambos  und  bei  der  Elegie  eingehend  berücksichtigt  werden.  Ich  denke, 
die  Bekkerschen  Scholien  werden  das  Deficit  decken  (p.  752,  4) :  Ei'grjxai,  öl  Xv- 
oi.K))  ditb  xov  d^L07ti6x{oxdx)ov  ogydvov  ov  \iovov  ydg  7tgbg  Xvgav  iXiyExo  dXXä 
xal  ngbg  avXb%>  xal  ßdgßixov  xal  änXwg  eItieZv  Jtgbg  itäv  ogyavov  \iov6ixbv.  dXX'' 
ettelÖt)  xCbv  äitdvxcov  xb  d^i07tL6x6xaxov  ogyavov  i]  Xvga  £6xCv,  cctzo  xavxrjg  avofidiöd-ri. 
stgritai  öl  Xvga  (nagä  xb  Xvco)  Xvxga  xig  ov6a'  cputil  ydg  ort  noxl  (Eg[ir}g  iv  14g- 
xaötat  dva6xg£(p6^iEvog  evgs  %eXcoviiv  xal  öiaxoifrag  etcoltjöe  xoiXiav  Xvgag.  r\vixa 
Öl  xovg  rHXlov  (1.  ^TtoXXavog)  ßovg  nXsipcu  EßovXr\&Y\  xal  öiä  xb  uavxixbv  xov 
&EOV  ov  öeövvtjxo  (1.  ovx  EÖvvaxo^,  dvEX7J(pd-7]  (1.  övvEXrjcp&rj).  slöcag  Öl  xal  xov 
&eov  xb  {iovölxov  Öeöcjxev  vitlg  eccvxov  xi\v  Xvgav  Xvxgov  xal  iqXsvd-Egcü&'r}  xov 
iyxX^axog  (vgl.  ßoisson.  Änecd.  IV  458).  Und  ferner  (p.  751,19):  Mxi  xivd 
7iOLrj{iccxa  a  ov  {tovov  i^^isxgcjg  yiygaitxai  dXXa  xal  yLExd  {is'Xovg  eöxetcxovxo  (so) 
—  yEyovaöt  Xvgixol  xal  oC  %guxxb\LEvoi  evveoc,  <bv  xä  ovöfiaxa  £6x1  xavxa  xxX.  Es 
folgen  zehn  Namen ,  vgl.  oben  S.  14.  Die  Benennung  der  Lyrik  a  potiori  er- 
innert an  die  Benennung  des  Epos  wie  Proklos  sie  erklärte.  Bekannt  ist,  dass 
für  die  Lyrik  die  einzige  oder  doch  die  hauptsächliche  Quelle  des  Proklos  Didy- 
mos ÜEgl  XvgixCbv  Ttoiiixiov  war.  Was  nun  im  Etymologikon  des  Orion ,  der 
Proklos'  Lehrer  war,  über  lyrische  Poesie  steht,  wird  man  gestützt  auf  das 
zweimalige  directe  Citat  (p.  58,  14.  156,  7)  mit  Sicherheit  auf  dasselbe  Buch  des 
Didymos  zurückführen  (MSchmidt  Didymi  Fragm.  p.  390) ,  also  auch  die  Glosse 
p.  96,  7  Xvga'  nagä  xb  Xva,  ov  6  ^ieXXcov  Xv6cj.  Xvxga  (xig  ov6a  Et.  M.)  iööd-rj 
xCoi  \4itbXX(ovi  nccgä  xov  (Eg[iov  V7tlg  av  exXe^e  ßoäv.  Das  deckt  sich  mit  dem 
Dionysscholion. 

Photios  nennt  eine  Mischgattung:  sig  dsovg  Öe  xal  dvfrgcjrtovg  nag&Evia  öa- 
Qpi'rt(fOQLxd  (bö%o(pogLxd  Evxxtxd'  xavxa  yäg  Elg  ftEOvg  ygacpö{i£va  xal  dv&gcüTicjv 
7CEgiEtX)](pEv  ETCaCvovg.  Der  Scholiast  bezieht  diese  Characteristik  auf  die  eine 
Air.  die  v{lvol:  vpvog  £6x1  Tiohjua  TtEgtE%cov  &ecöv  £yxcb{iia  xal  j)gcbcov  {iex'  Ev%a- 
gioxiag,  wobei  der  letzte  Zusatz  möglicherweise  echt  iet,  sonst  aber  einem  christ- 
lich» n  Gemüth  wol  nachgesehen  werden  könnte  *). 

Vom  Eyxco{iLOv  hat  Photios  nichts  weiter  erhalten  (bei  Proklos  stand  wol 
was  Et.  M.  311,  26  gesagt  wird,  vermuthlich  aus  Didymos,  vgl.  Hesych  iyxcjutov) 


1)  Was  Proklos  über  vfivog  gesagt  hatte,    ist  unter  Didymos'  Namen  Et.  M.  777,9  erhalten. 
Dass  bei  Thotios  tu  eis  rovg  vnsQsxovtas  (für  rovg  vnriQsxag)  zu  schreiben  ist,  liegt  auf  der  Hand 
(so  .»ach   Hupp  Leipz.  «tud.  VIII   137). 
(i 


DIE    PROLEGOMEN A    TIEPI    KflMflIJIA2  35 

als  dass  es  eine  Unterart  des  vpvog  sei.  Der  Scholiast  scheint  mehr  zu  wissen : 
iyxäfiiov  eöxiv  Tioix\\ia  t)  6vyyQa{i[ia  7teoit%ov  xcbv  vevtxr\xoxcov  eyxcb^iiov  e%'  avxfjt 
xx\i  vLxrjL  xal  dt  avt^v  yeyovög.  Aber  hier  ist  wol  aus  der  Glosse  selbsl  ein 
falsches  Lemma  entstanden,  oder  besser,  es  sind  zwei  Glossen  miteinander  ver- 
schmolzen worden.  Die  ersten  Worte  Ttoir^ia  rj  övyyQa^i^a  passen  in  der  That 
auf  das  poetische  und  rhetorische  eyxd>{iiov,  das  übrige  aber  erklärt  den  eiiCvixog 
vpvog,  und  zwar  besser  als  bei  Photios  (321  a  2):  ö  de  enivixog  vn'  avxbv  xov 
xaigbv  xr\g  vCxr\g  xoig  tcqoxbqovöiv  ev  xoig  ayCböiv  eyodcpexo. 

Vom  naidv  hat  nach  Orion  p.  133,  32  Didymos  die  Et}Tmologie  Ttagä  xb  7iavco 
navcov  xal  xaxd  xqotctjv  xov  v  elg  T  gegeben,  d.  h.  weitergegeben.  Darauf  kann  er 
sich  nicht  beschränkt  haben.  Photios  sagt :  6  de  Ttaidv  eöxiv  eidog  (bidrjg  elg  itdvxag 
vvv  yoa(p6{ievog  freovg,  xb  de  TtaXaibv  Idtcjg  ajceve^iexo  xat  Ajtokkcjvi  xal  xr}t  'Aq- 
xeaidi  enl  xaxaitavQei  Xoi\iCbv  xal  voöcov  cndöfievog.  xaxaxQrjöxixöjg  de  xal  xä  tcqqö- 
odtd  xiveg  itaiavag  keyovtiuv.  Hier  ist  die  Ableitung  von  %aveiv  nur  noch  ver- 
deckt zu  spüren  (eitl  xaxanavöei).  Wenn  dafür  der  Cramersche  Scholiast  sagt 
Ttaidv  eöxi  Ttotrj^ia  Ttobg  'AnoXlcova  xal  "AQxeyuv  e%ov  TtQOGcpd)vt]<5iv  eitl  TtaQaixrjaet 
Xoi^icbv  tj  öxdaecov  rj  xcbv  naoaichpCav ,  so  scheint  zwar  die  Etymologie  ver- 
schwunden zu  sein,  aber  die  naQaixx\<5ig  zeigt,  dass  Apollon  und  Artemis  nicht 
nur  als  Abwender  von  Pest  und  Seuche  sondern  auch  als  Urheber  gedacht 
werden.  Wir  werden  also  annehmen  dürfen,  dass  bei  Proklos  auch  das  gestanden 
hat  was  im  Et.  M.  657,  3  zu  lesen  ist :  Ttaidv  ■  vfivog  (i)  eidog)  aLÖfjg  enl  dcpeßei 
Xoi{iov  didofievog,  ag  xb  (xalbv  deidovxeg  Ttaiyjova  xovqoi  'A%aiGbv  {ielTtovxo  'Exdeo- 
yov'  {A  473  mit  Schollen),  ovxco  yäo  idicog  avxovg  xcbi  'AitokXcöVi  xal  xfji  'Aoxe- 
pidi  Ttooöecpeoov  {rtooGecpavovv  '?)  ag  alxioig  xcbv  koi^iixcov  Ttad-cbv.  Das  wird  aus- 
geführt :  Apollon  als  Helios,  die  Schwester  als  Selene  verursachen  Dürre ,  Pest 
und  anderes  Leid.  Dann  folgt  die  Etymologie  von  Ttavetv.  Vgl.  auch  Photios 
p.  320  b  24,  wo  er  v6{iog  und  Ttaidv  vergleicht :  6  pev  yäo  irtaiav)  eöxi  xoivoxeoog 
elg  xaxcbv  Ttaaaixrjöiv  yeyQa^evog  xxX.  Dass  manche  auch  die  TtQoöodia  "miss- 
bräuchlich'  als  Paeane  bezeichnet  hätten,  scheint  nur  bei  Photios  überliefert  zu 
sein  :  ganz  ebenso  beginnt  der  Schlusssatz  in  der  Glosse  Bekk.  An.  296,  1  xaxa- 
XQYjGXLxäg  de  (6  Ttaidv)  xal  elg  dXXov  &eöv  rtva  vybvog  e%L  xovt  eoycoi  xaxcjQd-co^iavoji 
Xeyö^ievog,  vgl.  Schol.  Plat.  Symp.  p.  i77  a.  Aber  ein  Irrthum  ist  es  nicht,  wie 
wir  sogleich  sehen  werden.  Vom  Ttooöodiov  stimmt  Photios'  Bericht  genau  mit 
Didymos  bei  Orion  p.  155  f.  und  im  Et.  M.  690,  33  *).  Genau  wie  die  Komödie 
von  xco^ia  und  xcj{iri,  so  wird  hier  das  Ttgoöödiov  doppelt  abgeleitet,  von  Ttgböodog 
(Ttgoöievai  vaolg  rj  ßco^oig)  und  in  falscher  Orthographie  von  TtgoOcoidtj  (jtgbg  avkbv 
aideiv),  und  dann  beide  Ableitungen  vereinigt.  Bei  Proklos  muss  aber  mehr  ge- 
standen haben ,  man  wusste  doch  noch  anderes  von  den  Ttgoöodia  als  was  die 
Etymologie    lehrte:    wenigstens    eine    geringe  Entschädigung    für    das    verlorene 


1)  Wo  zu  schreiheu  ist  ngoßoudiag-  ?rapa  rö  itgoaiovrccg  vccoig  i)  ßcofioig  ngög  ccvXbv  aideiv. 
ISicu  de  z&v  vfivav,  ort,  tovg  vfivovg  ngög  kl&ccqccv  earareg  cadovoiv.  Ueherliefert  ist  diu  de  xüiv 
fyvav,  falsch  MSchmidt  Didym.  p.  390.     Vgl.   Phot.  p.  320  a   15. 

5*  '' 


36  'GEORG    KAI  BEL,"1 

verdanken  wir  dem  Cramerscben  Scholiasten :  7igo<5odi6v  eöxi  7toh]ua  vtco  ccggtvcov 
r)  7iccQd-svcöv  x°Q°v  *v  rVL  rtQOöodcot,  xx\i  itgbg  xbv  dsbv  cadousvov.  Darauf  folgt 
ein  werthvoller  Zusatz  :  (ptgsxcu  de  sv  xovxcoi  xäi  yevst,  xccl  xb  anoxge itxixbv '  e6xu 
öl  noitjucc  öTtccöxixbv  xaxä  xbv  dnb  x(öv  ftscov  %G)gi6abv  didöusvov.  Das  ist  zu- 
nächst unverständlich,  weil  ein  aTtoxgsTixixbv  usXog,  von  dem  sonst  nichts  bekannt 
ist.  wenn  es  dem  Processionslied  untergeordnet  wird,  nur  ein  naiäv  sein  kann. 
Die  sichere  Emendation  giebt  das  Et.  M.  131,37  a7to6xs7txixbv  cuöucc  ovxco  xakov- 
uevov  ort  uexä  xb  anoöxey&fivca  xovg  öxscpdvovg  Tqiöexo  iv  xoig  naiäöi  asklov- 
xeov  aitoTtleiv.  Die  letzten  Worte  weisen  auf  die  heiligen  Theorien  zum  Früh- 
lingsfest der  Delien:  männliche  und  weibliche  Chöre  haben  in  festlicher  Pro- 
cession  den  Paian  vorgetragen  und  kehren  nun  nach  Hause  zurück,  da  singen 
sie  ein  Abschiedslied,  und  damit  es  als  eine  Zugabe,  nicht  mehr  als  ein  Theil 
ihrer  religiösen  Aufgabe  erscheine,  legen  sie  die  Kränze  zuvor  ab.  Es  ist  in 
der  That  freilich  nicht  ein  67ta6xix6v  sondern  ein  a67t<x6xixbv  7toCy]uct  (aöTta&öd'cu 
vom  Abschiedsgruss  z.  B.  Xen.  Anab.  VII  1,8).  Der  Paian,  der  von  den  frem- 
den Chören  in  Delos  gesungen  wird,  kann  wol  ein  7tgoo6dtov  genannt  werden, 
wie  Photios  sagt.  Es  ist  ein  Preislied  auf  Apollon  und  Artemis  (daher  xaxä 
xbv  ccTtb  xcjv  ftecöv  %(agi<5u6v)x)  für  alles  was  sie  den  Menschen  Gutes  gethan, 
für  ihren  Schutz  in  aller  Noth,  gvöia  'Aitolk&vi,  wie  es  der  Perieget  Dionysios 
nennt  (527),  eine  aiör)  sie  svxv%iai  xal  vixv\i  (Schol.  Plat.  Symp.  p.  177  a),  ein 
vavog  int  xivi  sgycoi  naxcogfrcousvcoi  ksyöusvog  (Bekk.  An.  296,  1).  Ich  denke,  all 
diese  Grammatikerüberlieferung  fügt  sich  zu  einer  Einheit  zusammen,  und  diese 
Einheit  war  Proklos  oder  seine  Quelle  Didymos.  Denn  Didymos  war,  wie  für 
alle  litterarischen  Glossen  im  Et.  M.,  so  gewiss  auch  für  das  äitoöxsTtxLxbv  caöaa 
der  einzige  Gewährsmann. 

Ganz  werthlos  ist  was  beim  Scholiasten  über  den  Dithyrambus  steht,  aber 
bezeichnend  für  seine  Compilationsweise :  dtd-vgaußög  eöxi  7toCr\ua  Ttgbg  diovvtiov 
cadousvov '  i]  Ttgbg  "Aitokkcova  Ttsgiitloxal  löxogiCov  oixeicog.  Photios  ist  hier  sehr 
ausführlich,  und  Proklos  wird  schwerlich  viel  mehr  gesagt  haben.  Zunächst 
heisst  es  richtig  ygaysxai  usv  slg  zIlövvöov,  dann  werden  verschiedene  Etjmolo- 
gien  angeführt,  dann  der  'Erfinder'  Arion.  Darauf  fährt  er  fort:  6  usvxoi  vöuog 
yoä(p£Tca  usv  slg  'Anollava.  Es  folgt  eine  Geschichte  der  Entwicklung  des  vöuog 
(Chrysothemis,  Terpandros,  Arion.  Phrynis,  Timotheos),  und  daran  knüpft  sich 
ein  Vergleich  von  vouog  und  ÖL&vgaußog ,  wobei  es  von  letzterem  heisst  xsxl- 
vrjudvog  (söxt)  xal  Ttoli)  xb  sv&ovöiüdsg  usxä  %ogsCag  spepaivav,  sig  Ttd&r}  xaxa- 
6xevcct,6u£vog  xä  uakiöxcc  olxsla  xi&i  ^£öi.  Es  ist  also  klar,  dass  der  Scholiast 
diesen  Vergleich  vor  Augen  gehabt }  Dithyrambus  und  Nomos  in  Folge  dessen 
durcheinander  geworfen  und  gar  nichts  verstanden  hat.  Die  Worte  t)  Ttgbg'Aitök- 
kcova  beziehen  sich  auf  den  Nomos,  die   folgende  Corruptel  mag  so  zu  verbessern 


1  )  Ans  der  Gleichen  Quelle  Pollux  I  38  cci  de  etg  fteobg  ätidcci  noiv&g  fxev  neeiäveg  vtxvoi, 
id£(x>g  de  'Jgrsuidog  vfivog  oüniyyog,  'JnoXXcovog  6  nccidv,  aficpotegav  itQ06odict,  diovvcov  Siövgati- 
ßog,  di][iriTQog  iovXog,  das  letztere  als  Didymos'  Erklärung  bezeugt,  s.  u.  S.  39. 


DIE    PROLEGOMENA    77EPJ    KflMflUIAS  37 

.  sein  tceqI  7ta&(ojv)  xal  löxogicov  oIxelcov,  jedenfalls  bezieht  sich  das  auf  den  Dithy- 
rambus. Aeltero  Dionysscholien  sind  reicher  und  genauer  gewesen.  In  dem 
litterargeschichtlichen  Abriss,  der  die  Einleitung  zu  Tzetzes'  Lykophroncom- 
mentar  bildet,  werden  erst  die  yvcogitiaaxa  eines  Dichters  aufgezählt  ([tixgov,  pv- 
&og,  töxogta  xal  Ttotä  Xi$ig)j  dann  heisst  es  weiter:  ysyövaöi  öe  ovo^iaöxol  noir\xal 
(er  meint  Epiker,  die  Dichter  xax  i%oyr\v)  tcevxe,  fast  genau  wie  bei  Photioa 
(ysyovaöi  de  xov  Eitovg  %oir\xal  xgäxitixoi  [iev  "Oprigog  xxl);  die  fünf  Namen  sind 
hier  wie  dort  die  gleichen.  Tzetzes  kommt  weiter  auf  die  Lyrik  (p.  252  M): 
di^vga^ißov  ccTib  xov  zJiovvöov  ikiyovxo  xov  diä  dvo  ftvgcov  ßdvxog,  xrjg  xs  yaöxgbg 
Hs^skrjg  xal  xov  {iyjqov  xov  Aiög.  Aehnlich  Photios :  TCgoöayogEVExai  de  (der 
Dith.)  ii,  aurot)  (xov  zJlovvöov)  r\xoi  ötä  xb  xaxä  xijv  Nv06av  iri  (1.  iv)  dvxgcoi 
di&vgm  xgacp^vat  xbv  <diovv6ov  —  rj  816x1  ölg  doxst  ysviö&aL,  dxa%  ^lev  ix  vfjg 
Usfie'krig,  dsvxsgov  de  ex  xov  (z/tög)  {irjgov.  Die  erste  Etymologie  scheint  bei 
Tzetzes  in  den  Worten  diä  ovo  d'vgojv  nachzuwirken.  Tzetzes  sagt  ferner  (p. 
259)  von  den  diö^iaxoygdcpoi  oder  äoidoC  (so  eine  Verwechslung  bringt  nur  er 
fertig),  ihre  eigenste  Thätigkeit  sei  xb  diöaaxa  xal  cbtöäg  ygdcpEiv  Ttgbg  uov6ixi)v 
xal  cp6o[iLyya  xal  ßdgßixov  xal  xtd-dgav  xal  Ttäv  ogyavov  ^,ov6txcog  diöö^iEvov:  er 
führt  Rhapsoden  namentlich  an  und  citirt,  als  hätte  er  ihn  selbst  gelesen,  den 
Phalereer  Demetrios ,  nämlich  sein  Buch  ltegl  itoir\xfov  (Diog.  L.  V  80).  Aelm- 
liches  steht  in  Bekkers  Dionysscholien  (p.  752,  4),  natürlich  von  den  Ivgixot. 

Ueber  das  öxofoöv  hatte  Didymos  iv  xgixcoi  xeov  Xv\xno6iaxfov  ausführlich 
gehandelt  und  verschiedene  Etymologien  (und  Erklärungen)  verzeichnet,  nach 
dem  Zeugniss  des  Orion  CSlgog  die  Hdschr.)  im  Et.  M.  713,  35.  Wie  reich  das 
Material  von  ihm  gehäuft  war,  zeigen  Reitzensteins  Zusammenstellungen  Epigr. 
n.  Skol.  S.  3  ff.  Proklos  hatte  einen  grossen  Theil  dieser  Gelehrsamkeit  aufge- 
nommen, Photios  davon  folgendes  bewahrt :  tö  öe  öxokibv  ^lilog  ijlöexo  nagä  xovg 
Ttoxovg '  dtb  xal  TtagoCvtov  avxb  E6&  oxe  xa?^ov6iv.  ävEi\LEvov  di  iöxi  xy\i  xaxa- 
öxEvfji  xal  ccTtXovöxaxov  ^idhCxa.  öxokibv  8e  sl'grjxai,  ov%,  cog  ivioig  e'So^e,  xax'  äv- 
xtcpgaöLV  (xä  yäg  xax  ävxiygaöiv  cog  ini%av  xov  Evcpv\\Li6\iov  6xo%d%Exai ,  ovx  sig 
xaxocprjULav  ^Exaßdklst  xb  Evcprj^iov)  äkkä  diä  xb  7tgoxaxEiXrj^iaivcov  i]drj  xcbv  diöd-r]- 
xrjgiGJV  xal  TCagEL^iEvcov  oI'vcjl  xcbv  dxgoaxcov  xrjvixavxa  EiöcpigEö&at  xb  ßdgßixov  Eig 
xä  6vyL7ro6ia  xal  diovvöiä^ovxa  Exaöxov  dxgo6(palcog  övyxÖTtXEöfrai  rcsgl  xrjv  ngo- 
<pogäv  xf\i  oblong.  oitEg  ovv  Eitaöiov  avxol  diä  xr\v  he&yjv,  xovxo  xgiipavxsg  Eig  xb 
piXog  öxolibv  ixdlovv  xb  diiXovGxaxov.  Die  von  Photios,  d.  h.  von  Proklos  ge- 
billigte Deutung  stammt  von  seinem  Lehrer  Orion  (Et.  M.  a.  0 ;  in  unserem 
Orion  fehlt  die  Glosse):  dito  xov  [is&vovöi  xal  öxoXicog  e%ov6i  xä  aiöd-rjxi]gia  äi- 
ÖEöd-ai.  Photios  muss  stark  gekürzt  haben.  Tzetzes  nämlich  giebt  in  den  Iamben 
Tlsgl  xcopcjidiag ,  nachdem  er  über  alte  und  neue  Komödie  und  über  das  yskoiov 
inhaltlich  das  gleiche  erörtert  hat  wie  wir  es  im  Anonymus  V  und  VI  lesen, 
plötzlich  und  unvermittelt  eine  Erklärung  der  öxafißä  {iikr],  d.  h.  der  Skolien. 
Genau  ebenso  folgt  in  den  Aristophaneshandschriften  (Laur.  &  und  Mediol.)  auf 
den  Anonymus  VI  ein  Stück  desselben  Inhalts,  das  im  Venetus  und  Esten si a 
noch    weit  wunderlicher    sich    an    die  Aristophanesvita    ansehliesst.     Im  Venetus 

11* 


38 

lautet  es  folgendermassen  :  1.  öxoXiä  Xeyexai  xä  itagoivia  ^liXrj  xä  iv  xolg  6v[itzo- 
öi'oig  äido^ieva.  xal  cog  {iev  evioi  <pa6iv  ix  xov  ivavxiov  7tgo6ayogev&r}6av  '  änXä 
yäg  avxä  i%gr\v  elvai  xal  evxoXa  cjg  itagä  noxov  äidöfieva.  ovx  ei)  de  rovro  '  xä 
yäg  dv6(prj[ia  iitl  xb  ev&vfioxegov  (1.  evcprjuoxegov)  ^exaXa^ißdvexai,  ov  xb  epnaXiv. 
2.  xt  ovv\  inävayxeg  ijv  xb  iv  6v{i7to6ioig  aitaöiv  aideiv  pexä  Xvgag.  ööoi  de  ovx 
i\niöxavxo  Xvgai  %Qi]<5&ca,  dd(pvr}g  r\  ^vggivr\g  xXobvag  Xapßdvovxeg  rjidov.  [im]  xoig 
ovv  ovx  iniGxapevoig  ^liXri  itgbg  Xvgav  aideiv  6xoXiä  idöxei '  odsv  xccl  öxohä  hvo- 
^dö^r\6av.  3.  xiveg  de  ovxcog'  ov  xccrä  xb  e^g  cpaöi  didoö&ai  xv\v  Xvgav  äXX  iv- 
aXXd% '  diä  xx\v  GxoXiäv  ovv  xccl  fx.17  in  ev&eiag  xr\g  Xvgag  negicpegeiav  (1.  negicpo- 
gäv)  öxoXiä  iXeyexo.  Genau  die  gleichen  drei  Erklärungen,  nur  die  erste  ohne 
Widerlegung,  hat  Tzetzes  in  den  Iamben.  Die  gleiche  Quelle  für  ihn  und  für 
die  Anonymi  stellt  sich  auch  hier  mit  Sicherheit  heraus1).  Nun  ist  das  erste 
Stück  dieser  Quelle  so  gut  wie  identisch  mit  Proklos ,  wobei  zu  beachten  ist, 
dass  die  feine  Bemerkung  über  den  Euphemismus  gewiss  auf  einen  guten  und 
alten  Grammatiker  weist:  nirgend  sonst  als  bei  Proklos  ist  das  Stück  nach- 
weisbar. Es  hat  doch  alle  Wahrscheinlichkeit  für  sich  dass  N.  2  und  3  aus  der- 
selben Quelle  stammen,  zumal  wir  wissen,  wie  fieissig  Proklos,  Dank  seinen  ge- 
lehrten Vorlagen,  Meinungsverschiedenheiten  gehäuft  hat.  Beide  Erklärungen 
finden  sich  auch  bei  Plutarch  Qu.  symp.  1  1,  5  p.  615  b  zusammen,  aus  Dikaiarch 
und  anderen  Quellen  (Reitzenstein  S.  5),  denselben  offenbar,  die  Didymos  benützte, 
vielleicht  auch  direct  aus  Didymos.  Nach  dem  was  sich  uns  bisher  über  die 
Quelle  des  Cramerschen  Dionysscholiasten  ergeben  hat,  dürfen  wir  mit  seiner 
Hilfe  den  Reichthum  des  Proklos  noch  vermehren.  Freilich  hat  sein  kurzes  Ex- 
cerpt  mit  Photios  nur  sehr  flüchtige  Aehnlichkeit :  öxoXiov  iöxi  Ttoirftia  Ttgbg 
öv^i7io6iov  6vvaycoyi]v  ev&excjg  e%ov,  töxogiaig  xccl  jtaidiaig  otxeiaig  Ttoxcoi  <3V\nte- 
7iXey\iivov  (-{levcug  Cod.  verb.  Reitzenstein).  xaXelxai  de  nagoiviov  (de  ijtivoiov 
Cod.j.  Den  Ausdruck  [öxogiai  oixelai  hatte  Proklos  beim  vo\xog  gebraucht  (s.  u. 
S.  30  f.).  Wichtig  ist  dass  hier  endlich  einmal  vom  Inhalt  der  Skolien  die  Rede 
ist :  die  iGxogiai  sind  die  Erwähnungen  des  Admet,  des  Telamon,  des  Harmodios 
und  Aristogeiton,  die  itaidial  etwa  die  lustige  Fabel  vom  Krebs,  der  seinen  Sohn 
geradeaus  zu  gehen  lehrte,  und  dergleichen.  In  dem  ev&exag  e%ov  ngbg  öv^ltco- 
oiov  övvaycjyrjv  ist  dem  Sinne  nach  dasselbe  enthalten  was  der  Aristophanes- 
traetat  sagte:  ccnXa  yäg  avxä  i%gi]v  eivai  xccl  evxoXcc  cog  nccgcc  tcoxov  äidö{ieva. 
Der  letzte  mit  Proklos  gut  übereinstimmende  Satz  (nagoivia)  beweist  leider 
nicht  allzuviel. 

Sehr  kurz  sagt  Photios  vom  öiXXog .  dass  er  Xoidogiag  xccl  diaövg^iovg  %e- 
qeiauivcog  äv&ocoTtcjv  e%ei  (dieselben  Worte,  diesmal  aus  Photios  Et.  M.  713,  14, 
mit  dem  Zusatz  piXog  d'  iöxCv),  und  noch  kürzer  der  Londoner  Scholiast  öiXXog 
iöxl  noir\yia  Xoidogiag  xaxd  xivog  negie%ov.     Mit  Unrecht  hat  man  das  Adverbium 


\)  Das  Scholion  zu  Arist.  Wesp.  1239  kann  die  Quelle  trotz  aller  Aehnlichkeit  nicht  sein, 
da  es  weniger  reichhaltig  ist:  vor  allem  aber  erfordert  die  Methode,  diese  Bemerkungen  von 
ebendaher  abzuleiten  von  wo  das  vorhergehende  stammt. 


DIE    PROLEGOMENA    ITEPI    KflMnUIAS  39 

nEtpeiGuEvcog  (den  Griechen  der  Kaiserzeit  geläufig  wie  tpEidoudvcog  'mit  Mass') 
verdächtigt  und  Wachsmuth  Sillographorum  reliquiae  p.  7  die  ebenso  alte  wie 
unverständliche  Conjectur  TtscpaG^ievcog  verth eidigt 1).  Die  gelehrte  Erklärung  bei 
Aelian  Var.  bist.  III  40  (ödxvaoi ,  xtxvgot,  6iXv\voi ,  nicht  etwa  aus  Apollodor, 
vgl.  Strabo  IX  p.  468)  6lay\voI  de  dno  tov  Gillaiveiv '  xbv  de  ötlkov  tyoyov  kt- 
yovöi  {iexcc  jiaiötäg  övöccqbötov  giebt  dieselbe  Einscliränkung :  nicht  ernsthafte 
Kritik  ist  der  Inhalt  der  Sillen,  sondern  Spass  und  Spott. 

Ueber  die  Todtenlieder  hat  Photios  wiederum  nur  einen  Theil  dessen  was 
er  bei  Proklos  fand  excerpirt :  diacps'gEi,  dh  xov  iTtLxrjÖEiov  6  ftgyjvog  ort  xb  uev 
i%ixi]ÖEiov  nag''  avtb  xb  xrjdog  exi  xov  6(bixaxog  7tgoxEL^iEvov  Xdyezai ,  6  de  d-gijvog 
ov  negtygdcpExat  igovm.  Eine  Begriffs-  und  Inhaltsbestimmung  fehlt.  Die  hat 
der  Cramersche  Scholia*t  wenigstens  vom  frgfjvog  bewahrt:  trgrjvög  eöxl  itotrjfia 
ofivgubv  71£qle%ov  xal  iyxoyaaGxixbv  tov  xsxEkEvxrjxoxog ,  wo  xal  vielleicht  zu 
streichen  ist.  Eine  gemeinsame  indirecte  Quelle  lür  den  Scholiasten  wie  für 
Photios  lässt  sich  nachweisen.  Ammonios  p.  54  Valck.  sagt:  E7iixyjdEiov  xal 
fygfjvog  öicccpEQEi.  Eitix-qÖEiov  {iev  ydg  Eon  xb  etzI  xai  xrjdEL,  ftgijvog  öe  xb  ev  ojl- 
dfji  (?).  ovxcj  Tgvcpav  (fr.  114  V).  ^Agi6xoxkr\g  de  6  rP6Ötog  ev  x&i  JJeqI  %oir\xixf\g 
rov^nakiv.  <pr\c>l  ydg  rd-grjvog  d'  Eöxlv  (bidrj  xrjg  öv^iyogüg  oixelov  bvo\ia  £%ov6a' 
odvgubv  e%ei  övv  iyxcj^i'icoi  xov  xEkEvxrjöavxog.  xtvsg  [iev  ovv  xoivCog  ndvxa  eItiov 
d^Qijvovg,  o'C  de  dtafpegEiv  d'gfjvöv  xe  xal  E7ttx7]dELov  xCbi  xbv  d-gijvov  ocidEöftca  nag 
avxy]i  xy\l  6vyL(pogäi  Ttgb  xfjg  xacprjg  xal  ^iexcc  xr\v  xaxpy\v  xal  xaxä  xbv  iviavOiov 
IQOvov  xfjg  xrjÖEiag  dido^iEvov  vitb  xcbv  ftEgaitaLVidcov  xal  xmv  övv  avxalg ,  xb  d' 
ETnxrjdELOV  Enaivbv  xiva  xov  xskEvxrjöavxog  psxd  xtvog  pExgiov  G^ExkiaGpov  (vgl. 
Eust.  1673,  48).  Der  Grammatiker  Aristokles  von  Rhodos  war  ein  Zeitgenosse 
des  Strabo  (XIV  655),  vielleicht  ein  älterer  Zeitgenosse,  älter  jedes  Falls  als 
Didymos  (Erotian  p.  3*2,  10  Kl),  der  ihn  mithin  citiren  konnte.  Bei  Photios  ist 
Tryphons  Erklärung  des  ETtixyjÖEtov  erhalten  und  beim  Scholiasten  Aristokles' 
Erklärung  des  d-g^vog.  Die  einfachste  Annahme  wäre  ,  dass  bei  Proklos  beides 
gestanden  hätte ,  also  Didymos  den  Aristokles  wie  den  Tryphon  citirt  haben 
müsste.  Nun  ist  es  ja  richtig,  dass  wir  nur  Belege  dafür  haben,  dass  Tryphon 
(hm  Didymos  citirt  (Bapp  Leipz.  Stud.  VIII  107) ;  daraus  folgt  aber  noch  nicht 
dass  das  umgekehrte  Verhältniss  unmöglich  war:  es  waren  ja  doch  Zeitgenossen. 
Aber  auch  die  Möglichkeit  kommt  in  Betracht,  dass  Tryphons  Meinung  gar  nicht 
zuerst  von  ihm  vorgebracht  war.  Die  Deutung  der  i'ovkoc  als  xakaöiovgyav  ouötj 
wird  von  Athen.  XIV  618  c  dem  Tryphon  zugeschrieben,  aber  Eratosthenes  hatte 
vor  ihm  so  gedeutet,  und  gegen  Eratosthenes  polemisirte  Didymos  (Schol.  Apoll. 
I  972).  Dass  der  Verfasser  IIeqI  o^lolcjv  xal  öiatpog&v  Xe%eo9v  (wol  Herennius 
Philon,  vgl.  Cohn  bei  Pauly-Wissowa  u.  d.  W.)  Tryphons  'Ovoaaöiai  benützen 
musste,  liegt  auf  der  Hand,  da  fand  er  eine  Fülle  des  Stoffes  wie  er  ihn  brauchte. 


1)  Sollte  der  Sinn  sein  (ist  ifupdtsas ,  wie  Wachsmuth  meinte,  konnte  niemand  darauf 
rechnen,  dass  ein  Leser  7iscpcc6fiev(og  so  verstehen  würde.  Man  musste  dann  mindestens  ifMeyaö- 
lievag  corrigiren.  /, 


40  GEORG    KAIB  EL, 

Dem  Didymos  lagen  andere  Quellen  näher.  Sicher  aber  scheint  mir  ,  dass  der 
Dionysscholiast  und  Photios  ein  und  dieselbe  Vorlage  wiedergeben .  und  dass 
diese,  die  Chrestomathie  des  Proklos,  auch  hier  Didymos'  Buch  über  die  Lyriker 
ausschrieb. 

Die  letzte  Gattung  lyrischer  Gedichte ,  die  der  Scholiast  erwähnt ,  ist  das 
vTtÖQxrjua.  Er  sagt:  Vit.  eöxl  itoix\\ia  7tobg  oq%y\6iv  yeyyga^evov  Ttobg  xbv  avxbv 
Qv&pbv  og  (Cod.  ö)  dij  v7tOQ%rniaxixbg  (-xov  Cod.)  xaXelxai.  Mehr  hat  Photios : 
v71qq%yhlu  de  xb  {ist  bQ%ri6ecog  dido^ievov  [teXog  eXeyexo'  xal  ydo  ot  itaXaiol  xx\v 
vtco  dvxl  xf\g  \iexd  TtoXXdxig  eXdjißavov.  evoexdg  de  xovxcov  Xeyovötv  61  [iev  Kov- 
QrjTccg,  ot  de  IIvqqov  xbv  'A%t,XXecog,  od-ev  xal  7tvQQi%riv  eidög  xi  ÖQ^rjäeag  Xeyovötv. 
Wie  sicher  die  beiden  Excerpte  Theile  einer  Einheit  sind ,  zeigt  das  gelehrte 
Pindarscholion  (Pyth.  2,  27):  dteXxexai  de  rj  xr\g  7ivQQi%rig  0Q%r}6ig ,  Ttgbg  rjv  xä 
vn  oQiripctxa  ey  q  cccp  r\6av  (so  weit  der  Cramersche  Scholiast).  evtoi  {iev  ovv 
(paCt  Ttg&xov  K o  v  q  rj  x  a  g  xx^v  evoicXov  ÖQ%rj6cc6d'ca  oq^tjölv,  av&tg  de  IIvqql%ov  xbv 
Kqy}xcc  6vvxd£cc6d-ccL  (cf.  Strabo  X  p.  480)  —  evtoi  de  ovx  aitb  I7vqql%ov  xov  Korixbg 
xijv  itvQQi%y\v  (bvo{id6d'cu,  dXX'  dito  II  v  qq  ov  xov*A%iXXe<og  %aidbg  ev  xolg  onXoig 
oQ%r\6a^ievov  ev  (1.  etil)  xf\i  xaxä  EvqvtivXov  xov  Tr\Xt<pov  vixr\L  xxX.  Vgl.  Hesych 
7tvQQi%i£eiv  und  Rose  zu  Aristot.  fr.  471  (ed.  1863),  der  ohne  Frage  mit  Recht 
Didymos  für  den  Verfasser  dieser  gelehrten  Uebersicht  ausgiebt.  Didymos  wird 
in  dem  Buch  über  die  Lyriker  ähnliches  zusammengestellt  haben.  Dass  auch 
von  dem  Rhythmos  der  Hyporchemata  (v7too%rjiiaxLxol  qv&iioi  Dion.  de  adm.  De- 
mosth.  dicendi  vi  c.  4  )  d.  h.  von  Kretikern  bei  Proklos  die  Rede  war,  versteht 
sich   von  selbst;    davon  hat  der  Scholiast  wenigstens  eine  Spur  bewahrt. 

Vielleicht  hat  die  Erwähnung  des  kretischen  Rhythmos  es  veranlasst,  dass 
an  dieser  Stelle  der  Dionysscholien  eine  Definition  des  Qv&iiög  im  allgemeinen 
steht.  Denkbar  ist  es  immerhin  dass  Zufall  oder  Versehen  das  nicht  unwichtige 
Stück  aus  dem  ursprünglichen  Zusammenhang  herausgerissen  und  aus  der  theo- 
retischen Einleitung  über  die  Poesie,  da  wo  das  {lexoov  behandelt  war,  in  diesen 
Winkel  verschlagen  hat.  Nothwendig  aber  ist  die  Annahme  nicht.  Ich  will 
die  kurzen  Sätze  über  iiexoov  und  Qvd-pög  hier  zusammenstellen. 

Cram.  p.  312,  16  eöxl  de  {lexoov  [iev  itoid  xal  jroör)  Xe%eav  d7trjQxi6[ieva)v  6vv- 
fteöig  xaxd  xe  {leye&og  [dTtrjQXiö^ievojg]  xal  xd%iv  övXXaßcbv  ev  l6oxr\xi  rj  6{ioiöxr}Xt, 
r)  olxeiöxr\xi  ijxoi  xcov  [leotiv  nobg  dXXrjXa  rj  xov  oXov  7iobg  exeoa. 

Cram.  p.  314,  18  Qv&{iög  eoxi  övöxrj^a  övyxet^ievov  ex  %qovg)v  ov  jcdvxcov 
6vyxei\iev<üv  TtQog  dXXi^Xovg'  ov  ydo  naöa  xqovgöv  övv&eöig  eoov&iiog  xivr\6ig  %qo- 
vav  ev  tieyefreL  xccxxojl  6vXXa{ißavo{ievrj ,  rj  dvaXoyia  {iexat,v  dvo  Xöycjv  xet^ievri 
xd^ig  ßgadecjg  xe  xal  xa%eo3g. 

Eine  so  umständliche  Definition  des  {LexQov  wie  die  hier  gegebene  ist  mir 
sonst  nicht  bekannt.  Sie  lag  Longin  vor,  der  Proleg.  zu  Hephaest.  p.  144  Gaisf. 
den  Anfang  citirt :  iiexoov  de  ovx  dv  yevoixo  xaglg  Xe^ecog  noiag  xal  7Co6f\g.  Ari- 
stoxenos  (Westphal  Gr.  Rhythm.  S.  40,  2)  erklärt  den  Tact  mit  ähnlichem  Aus- 
druck :  ovxe  ydo  Ttodag  <5vvxL%te\iev  ex  %qov(ov  diteugcov  dXX,  i{  ä)Qi6[ievcov  xal  neite- 
Qa6(ievcov  iieye&ei  xe  xal  doiftyLCoi    xal    xr\t  Tiobg  dXXrjXovg  ^v^exQCau   xe   xal  xd%ei. 


DIE    PROLEGOMENA    TJEPI    KfLM£lIJIA2  41 

Er  mag  wol  das  Metrum  wenigstens  inhaltlich  ähnlich  bestimmt  haben  wie  der 
Scholiast.  <x7tr}QTi6[iev(og  scheint ,  da  eine  Wiederholung  des  Particips  (ccTcrjQxiö- 
lievcov)  zum  Verständniss  nicht  nothwendig  ist,  eine  einfache  Dittographie.  Das 
übrige  ist  klar  bis  auf  den  Schluss  ,  wo  man  für  Ttgbg  exeqcc  vielmehr  Ttgbg  xd 
liegt}  erwartet.  Um  so  schwieriger  ist  der  schwer  verderbte  Abschnitt  über  den 
Rhythmos.  Die  Hauptsache,  dass  zu  Anfang  die  Definition  des  Aristoxenos  vor- 
liegt, hat  Usener  erkannt  (Rhein.  Mus.  XXV  608),  das  übrige  aber  schwerlich 
richtig  behandelt.  Aristoxenos  sagt  (Westphal  a.  0.  29,  20) :  axöXovfrov  8'  iöxl 
—  rö  Xiysiv,  xov  Qv&tibv  yivEöftui  bxav  r\  xcbv  %qovcov  diaCoEötg  %a§iv  xivä  Xdßrjt 
ä(pG3oi6^iivriv '  ov  ydo  nätia  %q6v&v  xdhg  EQQv&uog.  Die  Definition  beim  Scho- 
liasten  ist  nicht  aus  dieser  Stelle  geschöpft,  sie  stimmt  vielmehr  zum  Theil 
wörtlich  mit  Aristides  Quintilianus  (Westph.  a.  0.  47,  14) :  Qv&pbg  roCvvv  iöxl 
6v6xr\ad  ix  yvcoQi^icov  %q6vcov  xaxd  xiva  xd&v  6vyxE l^levov  ,  woraus  sich  ergiebt, 
was  der  Scholiast  mit  ov  ndvxav  iqovuv  meinte :  ov  itdvx&v  dXXä  yvcooiyuov 
povov.  Usener  hatte  sich  durch  Marius  V'ictorinus  (p.  43,  3  Aristoxenus  aulem  (dt 
non  omni  modo  inter  se  composifa  tempora  rhythmum  facere)  verleiten  lassen  ov 
ndvxcjg  zu  corrigiren.  Das  erledigt  sich  jetzt,  zugleich  aber  erhellt,  dass  in  den 
folgenden  Worten  nicht  mehr  zu  dem  Negativ  ov  ydo  naöa  %qovcov  Gvv&aöLg 
soQv&uog  ein  Positiv  gesucht  werden  darf.  Es  scheint  eine  weitere  Definition 
des  QVt&iiog  zu  folgen  (rj  gv&iibg)  xivr\<5ig  xqövcjv  iv  ^isyi&Ei  raxröt  övXXccußccvo- 
^isvrj,  vielleicht  die  des  Nikomachos  (Bacchios  bei  Westph.  66,  15  iqovcov  Evxaxxog 
övvfteöig)  oder  eine  ähnliche.  Was  endlich  noch  übrig  bleibt,  bezieht  sieh  offen- 
bar gar  nicht  mehr  auf  den  Qv^pög  im  allgemeinen.  Aristoxenos  (S.  34,  6  W) 
sagt:  coQiöxcu  de  xcbv  itodcbv  exaöxog  r\xoi  XoyooL  xivl  rj  dXoyiai  xoiavxY\i  rpig  8vo 
Xoycov  yvcoQL[iG)v  xr\i  aiöd-iqösi  dvä  {liöov  söxcci,  und  gleich  darauf:  eöxui  <T  r\ 
dXoyCct  [iexccZv  dvo  Xöyoov  yvcjQt^icov  xr\i  ctlödijäst,,  xov  xs  fäov  xal  xov  diTtXaGiov 
xccXelxcci  d3  ovxog  %ooelog  dXoyog.  Darauf  fusst  der  Pariser  Anonymus  (S.  79,  1  W), 
der  dem  Text  des  Scholiasten  noch  näher  zu  kommen  scheint :  gjqiöiievoi  ö'  elöI 
xoov  7Codü)v  oT  [iev  Xöycu  xivl  oi  de  dXoytca  xEL^iEvrjt,  {LExcct-v  ovo  Xöyoov  yvcjQL^icjv ' 
coöxs  eivai  cpavEobv  ex  xovxqov ,  ort  6  novg  Xöyog  xig  eöxlv  iv  iQÖvoig  XEipEvog  ?) 
dXoyia  ev  igovoig  xei\jlevy\  eIqyhievov  dcpoQi6{ibv  £%ov6cc.  Man  wird  also  etwa  so 
emendiren  müssen  :  (6  öe  itovg  iöxtv  r\  iv  Xoycjt)  rj  iv  dXoyiai  ^LExa^v  ovo  Xoycov 
xEi^Evrji  xd\ig  ßgaöiog  xe  xal  xa^iog^  wobei  unter  den  beiden  Xoyov  Qv&yuxoC  der 
i'aog  und  der  diTtXdöiog  zu  verstehen  sind:  der  Daktylos  heisst  hier  der  schnelle, 
der  Iambos  der  langsame  (Anon.  Paris.  S.  79,  15  W).  Ueber  das  enge  Verhält- 
niss  zwischen  Qv&[i6g  und  itovg  vgl.  Westphal  a.  0.  S.  201  f. 

Also  in  welchem  Ableitungsgrade  auch  immer,  Aristoxenische  Lehre  hat  der 
Scholiast  ohne  Frage  vermittelt  und  damit  aufs  neue  gezeigt,  wie  vortreffliche 
Quellen  wir  hinter  seiner  bettelhaften  Dürftigkeit  suchen  dürfen  und  wie  uner- 
setzlich der  Verlust  seiner  Vorlage,  der  Chrestomathie  des  Proklos,  für  uns  ist. 

Photios  hat  nur  die  beiden  ersten  Bücher  des  Proklos  excerpirt;  mit  der 
Lyrik  hatte  das  zweite  Buch  geschlossen.  Dass  das  3.  Buch  dem  Drama  zufiel, 
darüber  ist  kein  Zweifel  möglich:  ein  bescheidenes  Bruchstück  hat  uns  der  Dio- 

Abhandlgo-  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  4.  0  /. 


42 

nysscholiast  bewahrt,  indem  er  die  Theile  der  Tragödie  nebst  einer  Definition 
dieser  Gattung  excerpirte  und  zwar  in  fast  wörtlicher  Uebereinstimmung  mit 
Tzetzes.  Es  hat  sich  gezeigt ,  dass  ein  umfängliches  Stück  über  die  Komödie 
bei  Tzetzes  und  in  den  Dionysscholien  sein  Gegenstück  in  einer  ähnlichen  Ab- 
handlung über  die  Tragödie  hatte  (dies  nur  in  den  Dionysscholien  überliefert) 
und  dass  beide  einem  literarhistorischen  Zusammenhange  entnommen  waren,  in 
welchem  Komödie  und  Tragödie  (und  zweifellos  auch  das  Satyrdrama)  auf  den 
gleichen  Ursprung  zurückgeführt  wurden  (s.  o.  S.  14).  Die  Vermuthung  liegt 
nahe,  dass  Proklos  auch  hier  als  Quelle  gelten  muss. 

Die  Erzählung  vom  Ursprung  der  Komödie  im  Dionysscholion  wurde  schon 
früher  berührt  (S.  12  f.).  Auf  Grund  einer  falschen  Etymologie,  im  Widerspruch 
mit  Aristoteles  wird  die  Komödie  als  Lied  der  Dorfleute  gefasst,  die  sich  über 
ihre  städtischen  Bedrücker  beschweren.  Aus  dem  gelegentlichen  Vorfall  wird 
eine  dauernde ,  sogar  eine  staatliche  Institution.  Was  hier  an  Thatsachen  zu 
Grunde  liegt,  ist  schwer  zu  sagen.  Der  bedrückte  Bauersmann  ist  aus  altatti- 
scher Zeit  eine  bekannte  Figur,  die  Sitte  der  Spott-  und  Rügelieder  hat  in 
Attika  sowenig  wie  sonst  gefehlt;  es  ist  möglich,  dass  das  alles  war.  Das  aus 
Combination  und  Construction  zusammengesetzte  Bild  hat  einige  innere  Aehn- 
lichkeit  mit  der  Eratosthenischen  Erklärung  der  cpvXXoßolicc  (Schol.  Eur.  Hek. 
573) :  in  beiden  Fällen  erkennen  wir  die  peripatetische  Neigung  zur  speculativen 
und  intuitiven ,  zeit-  und  personenlosen  Culturgeschichtsschreibung ,  wie  sie  be- 
sonders anspruchsvoll  der  manierirte  Klearch  betrieb.  Die  Erzählung  konnte 
sich  mit  der  einen  Ableitung  der  Komödie  von  xco^yj  begnügen:  die  an- 
dere mit  jener  verbundene  Ableitung  von  Küblet  konnte  secundär  hinzugetreten 
sein.  In  der  vorliegenden  Gestalt  ist  der  Bericht  freilich  nicht  älter  als  Philo- 
xenos  (s.  o.  S.  13),  seine  ersten  Spuren  finden  wir,  wenn  ich  nicht  irre,  bei  Di- 
dymos.  Didymos'  Buch  über  die  Lyriker  war  in  Orions  Lexikon  und  (vielleicht 
durch  Orions  Vermittlung)  in  Proklos'  Chrestomathie  ausgiebig  benützt ;  eine 
grosse  Reihe  von  Orionglossen  sind  ins  grosse  Etymologicum  hinübergenommen 
worden.  Es  ist  gewiss  kein  Zufall ,  dass  in  den  Etymologica  sich  so  gut  wie 
keine  litterarischen  Artikel  finden,  die  zum  Epos  oder  zum  Drama  gehören,  da- 
gegen eine  grosse  Zahl  von  solchen  die  die  Lyriker  angehen.  Didymos  wird 
direct  als  Quelle  genannt  u.  d.W.  eXsyog,  itQoö&idia,  v^ivog,  7taidvj  ökoXlcc;  mit 
Proklos  zeigen  mannigfache  Berührung,  und  erweisen  dadurch  die  Benützung  des 
Didymos,  die  Glossen  'ldtißrj.  dtd-vQa^ißog,  aöiocpoQiu,  v^iivaiog *).  Ich  denke,  wir 
haben  das  Recht  die  übrigen  Glossen  ähnlicher  Art  derselben  Quelle  zuzuweisen, 


1)  Dagegen  ist  Et.  M.  472,  "26  l'ovlog  ein  Apolloniosscholion  (I  972),  und  gerade  was  Didymos 
gegen  Erafosthenes  bemerkte,  ausgefallen.  Zur  Wiederherstellung  von  Didymos'  Buch  ist  auch  das 
trockt'iie  Verzeiehniss  des  Pollux  IV  52  ff.  zu  verwerthen,  das  mancherlei  deutliche  Verwandtschaft 
mit  Photios'  Auszug  zeigt;  besonders  aber  die  etwas  inhaltreicheren  Bemerkungen  bei  Pollux  I  ;;8 
sind  durchaus  Üidymeisch.  Vgl.  'Agrefiidog  vfivog  ovmyyog  und  drjfirixQOs  L'ovXog  mit  Schol.  Apoll. 
1  972,    das  übrige  mit  Photios. 


DIE   PROLEGOMEN A    II E FI   K£LM£2IJIA2  43 

t&ixpakkoi ,  &QLcciißoi,  al'kivog ,  ipalog,  6tkkoi ,  vo^iot  xadaatoidixoC  und  eyxcb^ita; 
wenn  die  meisten  der  ebengenannten  Lieder  bei  Photios  fehlen,  so  beweist  das 
natürlich  nicht,  dass  sie  auch  bei  Proklos  gefehlt  haben.  Die  Glosse  eyxco(iiov 
(Et.  M.  311,26)  lautet  so:  nagä  xb  ev  xco^iatg  atdeö^at.  xnfiag  yäg  ekeyov  oC 
nakaiol  xovg  öxevccmovg  xal  xä  ä^icpoda.  iJQ%ovxo  yäo  xfji  vvxzl  olxiveg  Jtagd  xtvog 
fieyiöxavog  eßkäßrjöav ,  xal  e£g  xä  apcpoda  löxdpevoL  exaxokoyovv  xal  vßai£ov  xbv 
aÖixovvza.  [xi\v  yug  vvxxa  yjqxovxö  xiveg  xal  ekeyov  oöxtg  iitoiei  xaxä  ngäy^axa 
xal  exaxokoyovv  avxovg].  Die  doppelte  Fassung  liegt  auf  der  Hand,  und  die 
Gräcität  des  ganzen  ist  der  Art,  dass  man  sie  keinem  alten  Grammatiker  zu- 
trauen darf,  aber  der  sachliche  Bestand  der  Erklärung  ist  gut  und  alt;  sie  liegt 
im  wesentlichen  dem  zu  Grunde  was  Pollux  IX  36  mit  halbem  Verständniss  aus- 
geschrieben hat.  Er  redet  von  den  äyviaC:  xavxa  de  xal  dficpoda  eöxiv  evgelv  xexkr}- 
lieva  (folgen  Zeugnisse)  —  xakolxo  d'  dv  xal  xob^iau  xavxa  —  doxel  de  fiot  xal  6 
XGj[iog  (vgl.  IX  11)  dito  xavxrjg  <bvo{ia6&aL  xrjg  xa^rjg  xal  xb  eyxäyaov  enl  xalg 
vixaig  litaidopevov.  Im  Et.  M.  weist  die  doppelte  Etymologie  von  xca^irj  und  xco^ia  {xf\v 
vvxxi)  auf  denselben  Gewährsmann  hin,  der  nooöodiov  von  tiqoGcoiÖyi  zugleich  und 
von  TCQÖöoöog  ableitete,  die  Erzählung  selbst  ist  identisch  mit  der  vom  Ursprung 
der  xco^icoLÖta.  Aber  die  Glosse  ist  lückenhaft,  sie  enthält  nur  den  Anfang  der 
Erklärung.  eyxcb^iLov  ist  ein  Loblied,  und  hier  wird  es  als  xaxokoyia  erklärt. 
Es  ist  eine  oft  wiederkehrende  Scheidung,  dass  vpvog  einen  Gesang  den  Göttern 
zu  Ehren ,  eyxcb{iiov  aber  ein  Loblied  für  Menschen  bedeute.  Dazu  sagt  Eusta- 
thios  (Dion.  Perieg.  p.  316,  22  Bernh.):  eöxi  yäg  oxe  6  vpvog  xal  dkkcog  keyexai 
xal  ov  {lövov  ETtl  deiov  eitaivov.  nivdaoog  yovv  xovg  eavxov  emvixCovg  v[ivovg 
xakel ,  xal  Ai6%vkog  de  et,  ävxMpadöecog  xb  xaxokoy  elv  v[ivelv  efpri  xxk.  Ein 
ähnliches  xax""  ävxCcpoaeiv  scheint  man  bei  eyxco^Lov  angenommen  zu  haben,  vgl. 
Hermog.  Prog.  I  35  W  xexkx\xai  de  eyxd){iiov,  &g  cpaöLv*  ex  xov  xovg  7iotr}xäg  xovg 
vpvovg  xcbv  fteiöv  ev  xalg  xcjfiatg  xb  nakatov  ätdecv '  exdkovv  de  xcjpag  xovg  öxeva- 
novg  —  pi]  äyvbei  de  ort  xal  xovg  ifröyovg  xolg  eyxoj^itoig  7ioo6ve{iov0iv,  rjxot  xax  evcpr\- 
Hlöiiov  ovo^id^ovxeg  ij  ort  xolg  avxolg  xbitotg  äyicpoxega  nooayexai.  Durch  ein  xax1 
avxiyoaöLv  hatte  man  dereinst  auch  das  öxokcov  erklären  wollen ,  ein  Versuch, 
der  schon  bei  Didymos  widerlegt  wurde :  er  wird  ebenso  das  Unternehmen  eines 
älteren  Grammatikers,  eyxdopiov  und  xco^coidia  auf  eine  gemeinsame  Wurzel  (als 
xaxokoyia)  zurückzuführen,  in  angemessener  Weise  zurückgewiesen  und  die  rich- 
tige Erklärung,  die  sich  bei  Theon  Prog.  I  227,  4  W  findet,  zu  Ehren  gebracht 
haben.  Soweit  konnte  Didymos  sich  auf  die  Komödie  einlassen,  aber  wir  werden 
nicht  glauben,  dass  er  auch  sonst  an  dem  was  etwa  Proklos  über  die  Komödie 
beigebracht  hatte  erheblich  betheiligt  war.  Er  kann  wol  in  der  Ae\ig  sowie  in 
Commentaren  öfters  auf  historische  Fragen  eingegangen  sein,  aber  alles  was  wir 
haben  geht  auf  eine  historische  Gesammtdarstellung,  auf  eine  ganz  bestimmte 
Auffassung  vom  Wesen  und  der  Entwicklung  der  Komödie  zurück:  das  kann 
Didymos  gelegentlich  benützt,  widerlegt  oder  bestätigt  haben,  aber  zusammen- 
gestellt hat  er  es  nirgend. 

Alle  antiken  Berichte  über  den  Ursprung   der  Komödie  tragen    das  gemein- 

6* 


44  GEORGKAIBEL, 

same  Kennzeichen  an  sich ,  dass  sie  auf  Aristoteles  begründet  sind  und  doch  in 
den  wichtigsten  Punkten  mit  Aristoteles  in  Widerspruch  stehen.  Alle  setzen, 
wie  er,  die  Anfänge  der  Tragödie  und  Komödie  in  mehr  oder  weniger  engen 
Zusammenhang,  lassen  sie,  wie  er,  aus  Improvisationen  sich  allmälig  zu  einer 
Kunstform  entwickeln,  nahmen,  wie  er,  eine  frühere  Vollendung  der  Tragödie 
an,  aber  alle  verwarfen  die  Ableitung  von  x&uog  (oder  lassen  sie  höchstens  se- 
cundär  mitgelten)  und  billigen  die  von  Aristoteles  verworfene  von  xa^inq  und 
damit  zugleich  (indirect)  den  dorischen  Ursprung  beider  Dramengattungen.  Die 
Glosse  des  Et.  M.  (746,  13)  betrachtete  xQvycoidta  als  den  gemeinsamen  Namen, 
der  mit  leichter  Abänderung  für  die  Tragödie  bestehen  blieb  ,  während  die  Ko- 
mödie ihren  Namen  erhielt  von  den  Liedern ,  die  bei  den  Festen  des  Dionysos 
und  der  Demeter  auf  den  Dörfern  üblich  waren,  d.  h.  bei  der  Wein-  und  der 
.Feldernte.  Aehnlich  lautet  die  Ueberlieferung  bei  Athenaeus  II  40  ab  (aus  un- 
bekannter Quelle) :  cctco  usd-rjg  xal  r\  xrjg  xcjumdiag  xal  rj  xf\g  xQayaidiag  svQSdg 
iv  'Ixccqlgol  xrjg  'Axxixr\g  xax  avxbv  xbv  xrjg  xQvyrjg  xaiQOv:  acp  ov  ör)  xal  XQvyaidia 
xb  TiQcJxov  sxXrjd-rj  r)  xaucoidia ,  nur  dass  hier  die  Ableitung  von  xco^rj  nur  mög- 
lich, nicht  sicher  ist.  Von  ländlichen  Erntefesten  geht  aueh  der  wüste  Traetat 
des  Euanthius  de  comoedia  (ed.  Reiiferscheid.  Ind.  1.  Vratisl.  1874/75)  aus:  man 
tanzte  pro  fructibus  vota  solventes  um  den  Altar,  opferte  dem  Dionysos  (Liber 
pater)  einen  Bock  und  sang  ihm  ein  Lied;  das  wurde  nach  dem  Opfer  xgayoiöia 
genannt.  Oder  aber  es  hiess  zuerst  xQvymdca ,  weil  man  sich  das  Antlitz  mit 
Hefe  beschmierte,  in  Ermangelung  der  erst  von  Aischylos  erfundenen  Masken. 
Die  Komödie  dagegen  hiess  anb  xcbv  xcoacbv  xal  xrjg  (bidrjg ,  von  dem  Gresange 
nämlich,  der  circum  Atticae  vicos  villas  pagos  et  compita  dem  'AnoXl&v  Nouiog 
oder  Ayvievg  zu  Ehren  gesungen  wurde,  pastorum  vicorumque  praesidi  deo.  Der 
'AnoXkav  Nouiog  ist  einfach  der -Gott  der  ländlichen  Bevölkerung,  der  Ayvievg 
ist  aus  der  Erklärung  von  ayvia  =  x(b{iY]  (vgl.  Poll.  IX  37,  oben  S.  43  und 
Hesych.  ayvifjxai '  xg3{iyjxccl)  frei  improvisirt *).  Daneben  wird  die  Ableitung  von 
xcbaog  acceptirt,  quod  appotis  (so  Leo :  a  poetis  P)  sollemni  die  vel  amatorie  lasci- 
vientibus  non  absurdum  est.  Ebenso  wird  eine  weitere  Etymologie  von  xQaymdia 
verwendet:  itaque  ut  rerum  ita  etiam  temporum  ordine  tragoedia  primo  prolata  esse 
cognoscitur.  nam  ut  ab  inrultu  ac  feris  moribus  paulatim  perventum  est  ad  mansue- 
tudinem  urbesque  sunt  condifae  et  vita  mitior  atque  otiosa  processit ,  ita  res  tragicae 
longe  ante  comieas  inventae*).    Der  behaglichen  Erholung  der  xoad^ovxsg  wird  die 

1)  Danach  hat  Tzetzes  die  Urkomödie  ayviäxig  oder  ayogcu'cc  genannt,  im  Gegensatz  zur  litte- 
rarischen (Xoyi'iir}),  vgl.  Ma  p.   113  K. 

2)  Alles  was  bei  Euanthius  folgt  ist  Excerpt  aus  Aristoteles  Poetik  (c.  4),  zum  Theil  mit 
groben  Missverständnissen  versetzt.  Dann  (p.  4,  13  R)  wird  von  der  Komödie  weiter  gesagt,  sie 
sei  ebenso  wie  die  Tragödie  ursprünglich  ein  simplex  Carmen  (vgl.  p.  5,  22)  ,  quod  chorus  circa 
aras  fumantes  nunc  spatiatus  nunc  consistens  nunc  revolvens  gyros  cum  tibicine  concinebat.  Ge- 
meint sind  ctocprj,  6cvti6TQoq)og,  e7tcoid6gy  vgl.  Schol.  Hephaest.  p.  200,  17  Gaisf.  Auf  dieser  drei- 
fachen Bewegung  scheint  die  sonderbare  Dreitheilung  aller  lyrischen  Poesie  zu  beruhen,  die  sir.h 
Et.  M.  690,43  findet:  nQ06odt.cc  (Weg  zum  Altar),  vnoQxv^iara  (Tanz  um  den  Altar),  aräöLfia 
(Stillstand  vor  dem  Altar,  als  Erholung  vom  Tanz). 


DIE    PROLEGOMENA    IJEPI    K£IMDAJIA2  45 

Tragödie  als  etwas  roheres  gegenübergestellt:  zu  Grunde  liegt  die  Etymologie, 
die  in  den  Dionysscholien  p.  740,  24  steht :  r\  ort  tot)  y  tqe7Co^levov  stg  %  voElxav 
TQa%(OLdi'u  r\  TQa%sla  caiöri'  tqcc%vtsqov  yäg  [xal  cpEvxxEov  xal  dvößaxov]  xb  rwv 
&QYJvcoir  slöog  xov  yekcjTOTtoiElv. 

Alle  diese  Phantasien  nehmen  auf  den  Character  der  Komödie  als  Spottge- 
dicht gar  keine  Rücksicht.  Nicht  so  diejenigen  denen  sie  die  Etymologie  von 
xco^ir}  entlehnten :  die  Dorer  stützten ,  wie  Aristoteles  bezeugt ,  ihr  erstes 
Recht  auf  die  Schöpfung  der  Komödie  durch  den  Hinweis  darauf,  cog  xcopGudovg 
ovx  uTtb  xov  xco[icc&iv  ksi&Evtug  allä  xfjt,  xavcc  xcopag  TtÄdvrji  dxi^at,o^Evovg  ix 
xov  ccötsog  (Poet.  c.  3).  Sie  wussten  also  von  Kränkungen  zu  erzählen  und 
von  Rügeliedern,  die  die  Gekränkten  gegen  ihre  Bedrücker  sangen.  Das  ist 
genau  was  dem  grossen  Dionysscholion  zu  Grunde  liegt  und  was  in  einzelnen 
Andeutungen  auch  bei  den  späteren  nachklingt  (z.  B.  bei  Donat  p.  8,  19  Reiti'.i, 
nur  die  Hauptsache  scheint  ganz  unterdrückt,  das  dorische  Local :  die  Vorgänge 
spielen  überall  in  Attika.  Das  ist  nicht  ursprünglich  und  erst  durch  bequeme 
Lässigkeit  hineingetragen,  aber  Spuren  der  richtigen  Auffassung  finden  sich  noch. 
Als  Ergänzung  des  Bekkerschen  Scholion  muss  uns  das  leider  allzu  kurze  Cra- 
mersche  dienen  (p.  316) :  xal  Evoefrr}  i]  {lev  xoayaidia  V7tb  0E6iti86g  xivog  'A&n}- 
vaiov,  i]  öe  xcoucolÖlcc  V7tb  'E7tL%douov  ev  ZlixEkiai,  xal  6  l'a^ißog  vnb  Hovöagiavog. 
Hier  hat  also  Epicharm  seinen  richtigen  Platz:  er  ist  der  dorische  Erfinder, 
dem  Susarion  wird  nur  ein  formeller  Fortschritt,  der  Gebrauch  des  Iambos  zuge- 
schrieben. Danach  sollte  man .  da  doch  beide  Dramengattungen  desselben  Ur- 
sprungs sind ,  auch  für  die  Tragödie  einen  dorischen  Erfinder  erwarten.  Den 
geben  uns  allerdings  die  erhaltenen  Scholien  nicht ,  wol  aber  einer  der  sie  aus- 
geschrieben hat,  Tzetzes  Prol.  Lyk.  p.  255  M:  xgaycotdol  öe  %ovr\xal  'Agicav  ©Eöncg 
<&ovvLxog  Ai6%vlog  Uocpoxlrjg  EvQtTtLdrjg  "Icov  'Aiaibg  xal  exeqoi  {ivqloi  veoi  1),  wo- 
bei ins  Gewicht  fällt,  dass  bei  Proklos  (Phot.  p.  320  a  32)  Arion  nach  Aristo- 
teles' Vorgang  als  erster  Dithyrambendichter  verzeichnet  war  und  die  Tragödie, 
wiederum  nach  Aristoteles ,  aus  dem  Dithyrambos  erwachsen  ist.  Arion  und 
Thespis  an  der  Spitze  der  Liste  bedeuten  keinen  Widerspruch.  Beides  sind 
Erfinder:  Arion  hat  für  das  \nilog  gesorgt,  Thespis  für  die  iambische  Qv\6ig.  Die 
Parallele  Arion  der  Dorer,  Thespis  der  Athener  und  Epicharm  der  Dorer,  Su- 
sarion der  Athener  (6  'IxaoiEvg),  leuchtet  ein.  Wer  den  Epicharm  bei  Seite  liess, 
machte  Susarion  zum  Megarer.  Auch  diese  Version,  d.  h.  der  interpolirte  Vers 
des  Susarion,  vibg  OiXCvvTqg,  MEyaooftEv  Tantoöiöxiog ,  ist  nur  in  Dionysscholien 
überliefert. 

So  hat  jemand  gegen  Aristoteles  aber  mit  seinen  Waffen  die  dorische  Ehre 
gerettet:    die    tragischen    Chöre    und    Arions    Wirken    in    nordpeloponnesischeu 


1)  Die  sehr  jugendliche  Arheit  des  Tzetzes  zu  Lykophron  henützt  dieselben  Quellen  wie  die 
Iamben.  An  beiden  Stelleu  kennt  er  nur  einen  Satyrdramendichter,  Pratinas,  wie  er  in  den  Iamben 
ausdrücklich  gesteht,  wenn  er  auch  in  den  Prolegomena  zu  Lyk.  etwas  prahlerischer  sagt :  caxvQiY.bg 
8\  ügccTivccg  nccl  etegoi.  Von  Euripideischen  Satyrdramen  hatte  er  damals  offenbar  noch  keine 
Ahnung. 


4b  GEORG    KAIBEL, 

Städten,  andrerseits  der  Syrakusaner  Epicbarm  waren  die  scheinbar  unanfecht- 
baren Anhaltspunkte  *).  Für  die  Weiterentwicklung  der  Komödie  sind  verschie- 
dene Versionen  erhalten.  Der  vielgenannte  Dionysscholiast  erzählt  von  Susarion, 
den  Aristoteles  nirgend  erwähnt  hat,  er  habe  zuerst  für  die  bäuerlichen  Impro- 
visationen die  iambische  Kunstform  gefunden,  dann  habe  sich  die  Komödie  in  drei- 
facher Stufe  entwickelt.  Die  erste  Form,  das  cpaveQ&g  xal  ovo^aöxl  xcj^Kotdslv, 
verbaten  sich  alsbald  die  Behörden  (oC  ccQ%ovtEg)  und  gestatteten  nur  noch  ver- 
hüllte Polemik  (zweite  Stufe) ;  schliesslich  wurde  auch  dies  lästig,  und  der  Spott 
der  Komiker  musste  sich  auf  £evoi,  TtxG3%oi  und  dovkoi  beschränken  (dritte  Stufe). 
Als  Vertreter  der  aQ%aCa  werden  Kratinos ,  Eupolis  und  Aristophanes  genannt, 
als  Vertreter  der  pstir]  dagegen  nur  Piaton  (nokkol  yeyövaatv,  ETtCör^iog  de  Tlkd- 
tcov  ng),  ebenso  von  der  via  nur  Menander,  kog  ccötqov  iötl  xY[g  veag  xa^aidCag'' 2). 
Das  ist  eine  äusserst  dürftige  und  schiefe  Darstellung,  die  durch  ein  paar  ge- 
lehrte Brocken  nicht  viel  stattlicher  wird.  Piaton  wird  Dank  seiner  Nv%  \naxQa 
als  Führer  der  mittleren  Komödie  bezeichnet;  man  hätte  ja  auch,  wie  andere 
es  gethan,  Aristophanes'  KaxaXog  und  AloXoöixcjv  nennen  können ,  aber  im.  Sy- 
stem konnte  das  verwirrend  wirken ,  da  Aristophanes  als  Hauptvertreter  der 
aQiaia  genannt  war.  Ferner  klingt  sehr  gelehrt  Kratinos  6  xal  TtQaxto^ievog  — 
aber  es  regt  sich  der  Verdacht,  dass  diese  Worte  nicht  sowol  für  ihn  wie  für 
Aristophanes  gemeint  sind;  von  Piaton  wird  ausdrücklich  gesagt,  dass  seine 
Stücke  verloren  seien ,  dass  die  des  Kratinos  länger  gelebt  hätten ,  ist  weder 
nachweisbar  noch  recht  glaublich.  Der  Verfasser  des  Scholion  hält  eigensinnig 
daran  fest,  dass  die  Komödie  stets  geblieben  sei  was  sie  anfänglich  war,  eine 
xaxokoyia,  XotdoQia,  ein  öxcoTitixbv  %oir\\x,a,  selbst  Menanders  Sklaven  und  Kuppler 
hält  er  für  AngrifFsobjecte. 


1)  Aristoteles  wäre  wol  sehr  glücklich  gewesen,  wenn  er  die  älteste  Form  der  Komödie  so 
genau  gekannt  hätte  wie  der  Grammatiker  im  Liber  glossarum  (Usener  Rhein.  Mus.  XXVIII  418): 
sed  prior  ac  vetus  comoedia  ridicularis  extitit.  postea  civiles  vel  privatas  adgressa  materias  —  in 
scaenam  proferebat,  nee  vetdbantur  poetae  pessimum  quemque  describers  —  auetor  eins  Susarion  tra- 
ditur.  sed  in  fabulas  primi  eam  contulerunt  <non>  magnas,  ita  ut  non  excederent  in  singulis  versus 
trecenos  (so  der  Monacensis ,  tricenos  der  Bernensis  und  die  SGaller  Hdschr.).  Aristoteles  hat 
solche  Stücklein  von  300  Versen  sicher  nicht  gekannt,  denn  er  sagt  (Poet.  4):  i]dr\  6yr\^axcc  xiva 
ccvrfjs  h%ov6T]s  ot  Xsyofisvoi  avxfjg  7toir\xai  \Lvi\\x,ovvvovxai.  Also  aus  der  Zeit  der  Incunabeln 
waren  ihm  weder  Dichter  noch  Dichtungen  bekannt :  konnte  aber  ein  anderer  nach  ihm  mehr  da- 
von wissen?  Es  ist  ja  peinlich  eine  so  kostbare  Nachricht  zu  verwerfen,  aber  nicht  minder  pein- 
lich ist  es  denken  zu  müssen,  dass  Aristoteles  sich  nicht  ordentlich  nach  so  kostbaren  Texten  um- 
gesehen haben  sollte,  bevor  er  daran  verzweifelte  die  dunklen  Anfänge  der  Komödie  aufzuhellen. 
Ich  halte  trotz  Useners  Ausführungen  die  300  Verse  für  eine  Phantasie,  eine  zahlenmässige  Präci- 
sirung  dessen  was  der  Scholiast  zu  Arist.  Eq.  537  von  Krates  sagt :  noir\xr\g  öhyoaxixoc  itoir\^axa 
ygocipccg.  Dies  aber  ist  nichts  als  falsche  Erklärung  von  Aristophanes  Worten  caib  6yn-nQäg  dec- 
navrig,  w*e  &n  anderes  Scholion  zeigt:  GfiLXQu  enolsi.     Vgl.  Leo  Rhein.  Mus.  XXXIII  140. 

2)  co?  tifpccftrixccfisv  wird  hinzugefügt:  es  war  also  ein  Schulvers,  etwa  wie  das  Leben  des 
Pindar  zu  Hexametern  und  Tetrametern  verarbeitet  in  den  Schulen  gelernt  wurde.  An  einen  Vers 
aus  Apollodors  Chronik  wird  man  nicht  leicht  denken. 


DIE   TROLEGOMENA    TTEPI   KUMHUIAS  47 

Eine  weitere  Entwicklungsgeschichte  neben  dieser  erzählt  Tzetzes  (Pb  und 
Mo) :  die  Tendenz  und  die  Pointe  ist  die  gleiche,  der  Stoff'  hat  nur  eine  andere 
Gestaltung  erfahren.  Die  erste  Periode  der  (pavegu  excb^^iata  beginnt  mit  Susa- 
rion  und  endet  mit  Eupolis'  Bestrafung  durch  Alkibiades,  dessen  Psephisma  dem 
övo{icc6tl  Kco^cjLdeiv  ein  Ende  macht.  Die  zweite  Periode  (genannt  werden  ausser 
Eupolis  selbst  Kratinos,  Pherekrates,  Piaton  und  Aristophanes)  beschränkt  sich 
auf  6v[ißokixä  <5%&\jL\iaxa.  Die  dritte  endlich  (Menander  und  Philemon)  verhöhnte 
nur  noch  Fremde,  Sklaven  und  Bettel volk ,  die  Bürger  wurden  verschont.  Die 
durchgängige  Verwandtschaft  dieser  zweiten  Version  mit  der  ersten  kommt 
vielfach,  sachlich  wie  sprachlich,  zum  Ausdruck,  besonders  auch  darin  dass  Su- 
sarion  mit  seinen  unechten  Versen  ganz  auf  gleiche  Weise  eingeführt  wird.  Der 
Verfasser  kennt  gleichfalls  die  Komödie  nur  als  Spottgedicht,  obwol  er  Menander 
erwähnt.  Dass  Eratosthenes  die  Anecdote ,  wie  Alkibiades  sich  für  Eupolis' 
Bantcu  gerächt,  als  Fabel  erwiesen  hatte  (Cic.  ad.  Att.  VI  1),  ist  ihm  wol  be- 
kannt, er  schwächt  daher  die  Erzählung,  auf  die  er  als  einzige  historische  That- 
sache  nicht  verzichten  mochte ,  dahin  ab ,  dass  der  Dichter  nicht  völlig  ersäuft 
sondern  mit  dem  Leben  davon  gekommen  sei.  Das  ist  ein  Compromiss  schlimm- 
ster Art,  der  in  milderer  Form  auch  in  einer  dritten  die  gleiche  Richtung  ver- 
folgenden Abhandlung  begegnet,   in  dem  merkwürdigen  Tractat  des  Platonios. 

Der  Verfasser  beginnt  nicht  mit  einer  hypothetischen  Entstehungsgeschichte 
der  Komödie,  sondern  schildert  ihre  ungebundene  Freiheit  unter  dem  Schutz  der 
Demokratie  des  5.  Jahrhunderts,  sowie  ihre  Einschränkung  durch  die  Oligarchie. 
Die  klare  und  einfache  Sprache,  der  leichte  und  anspruchslose  Satzbau ,  die  an- 
gemessene Verwendung  politischer  Kunstausdrücke  {l6r\yoQia ,  adsicc,  i^ovötav 
e%£iv,  6  drjfiog  avtoxQarcoQ  xal  xvQiog  xCbv  TCQay^dtov  u.  a.),  die  Bemerkung  end- 
lich dass  die  Demokratie  cpvdei  avrCxeixtti  xolg  TtXovöiocg1),  das  alles  zeugt  von 
einer  Quelle  guter  Zeit  und  von  einem  mit  den  geschichtlichen  Verhältnissen 
wol  vertrauten  Verfasser;  manches  klingt  geradezu  an  die  Art  der  Aristote- 
lischen TLolixüa  'AftYivaC&v  an.  Der  Terrorismus  der  Oligarchen ,  der  auch  den 
Komikern  die  Zunge  lähmte,  wird  durch  die  Eupolisanecdote  belegt:  aber  Alki- 
biades wird  nicht  genannt  (anoitvLyivxa  V7t"  ixstvcov  sig  ovg  xad-rjxs  rovg  Ba7iTccg), 
ein  Zeichen  dass  Eratosthenes'  Kritik  vorausgegangen  ist.  Den  Mangel  an  Chor- 
liedern in  der  (iE6rj  mit  dem  Mangel  an  Choregen  in  Zusammenhang  zu  bringen 
(sTiefoitov  ot  xogr^yoi)  ist  gewiss  ein  gescheidter  Gedanke:  dass  aber  die  Athener 
aus  Furcht  vor    den  Oligarchen  die  Lust  verloren  Choregen    zu  wählen  2) ,    diese 

1)  Der  ganze  Satz  6  yug  dijfiog  xov  cpoßov  e^rjioet  xmv  KcopcoLdovvxajv  cpLXoxi'[icog  x&v  xovg 
roiovtovg  (d.  h.  Strategen,  Heliasten  u.  a.)  ßXa6qpri(iovvxcov  cckovwv  i'afisv  yag  cog  avxCv.uxai  cpvöft. 
xoCg  7t\ov6LOig  ££  ccq%fig  6  dfjfiog  ncd  xotg  dvöTtgaytaig  avx&v  rjSixcu  erinnert  lebhaft  an  die  Worte 
des  Oligarchen  (llesp.  Ath.  II  18):  TKopcoidsCv  <f  av  xal  xaxöis  Xiysiv  xov  [isv  df](iov  ovv.  Eü6iv, 
Tva  (ir}  avxol  cchov(o6l  xaxög,  IdCaL  ds  <xal>  ksXsvov6iv  s£  xCg  xiva  ßovXsxcci,  sv  eldoxsg  bxi  ov%i 
xov  6t]fiov  t'axcci  ovde  xov  nXri&ovg  6  -ncofiaadov^svog  <bg  snl  xb  noXv,  aXX  rj  nXov6iog  tj  ysvvaiog  t) 
dvvccfievog. 

2)  Die  Thatsache  der  fehlenden  %0QL*ä  hat  den  alten  Grammatikern  viel  Kopfzerbrechens 
gemacht.     Am  sichersten    konnten    die    urtheilen    welche    von    Geschichte    wie    Literaturgeschichte 


48 

Bemerkung  zeigt  von  ebenso  geringem  Verständniss  wie  die  andere,  die  'Odvööijg 
des  Kratinos  hätten  keinen  Chor  gehabt,  oder  besser  gesagt,  sie  bezeugen,  dass 
der  Compilator  richtige  und  werthvolle  Angaben  seiner  Quelle  missverstanden 
und  verwirrt  hat,  vgl.  Hermes  XXX  74  f.  Auf  Missverständniss  beruht  es  auch, 
wenn  er  sagt,  die  mittlere  und  neue  Komödie  hätte  die  persönlichen  Masken  ab- 
geschafft und  allgemein  komisch  groteske  eingeführt  aus  Furcht  vor  den  Make- 
donen ,  iva  yLY]8e  ex  xvxrjg  xvvbg  o^iOLÖxrjg  TtQoöcoTtov  6v\!L%i(5v\i  xivl  Maxedövov  ag- 
lovxi.  Die  Quelle  konnte  gesagt  haben ,  dass  in  der  Zeit  der  Makedonischen 
Besatzung  scharfe  Bemerkungen,  an  denen  doch  auch  die  [leörj  keinen  Mangel 
hatte,  vermieden  wurde,  und  dass  in  jener  Zeit  die  bürgerliche  Komödie  sich 
herausbildete,  deren  Masken  typisch  lächerliche  Figuren  (Greise,  Kuppler,  Skla- 
ven u.  a.)  darstellten :  ogcj^iev  yovv  rag  öcpQvg  ev  xcclg  MevdvÖQOv  xcoyLcaidCaig 
bitotag  eist  —  da  redet  einer  der  Menander  von  der  Bühne  her  kennt,  also  ge- 
wiss kein  Byzantiner.  Eine  bedenkliche  Verallgemeinerung  enthält  die  durch 
ihre  Einfachheit  und  wissenschaftliche  Form  imponirende  Aeusserung  xä  yCev  yccQ 
e%ovxa  xäg  TictQaßdöeig  xax^  exelvov  xbv  iqövov  eöidd%&ri  xatf  ov  6  drj^iog  exgdxei ' 
xä  de  ovx  e%ovxa  xrjg  e^ovöiag  Xombv  dito  xov  Stj^iov  ^ed-iöxa^ievrig  xal  xfjg  öXl- 
yuQ%iag  xQaxov6Y\g.  Das  musste  in  der  Quelle  nothwendig  eine  vorsichtigere 
Fassung  gehabt  haben. 

Der  unglückliche  Apriorismus,  dass  die  Komödie  ein  Spottgedicht  geblieben 
sei  bis  ans  Ende,  befremdet  in  einer  so  vernünftigen  und  historisch  begründeten 
Darstellung;  man  wird  nicht  zweifeln,  dass  diese  Anschauung,  die  den  unwis- 
senden Theoretiker  verräth,  erst  nachträglich  dem  gesunden  Stamm  aufgepropft 
ist ,  oder  richtiger  gesagt ,  dass  das  was  ein  älterer  Gewährsmann  über  den 
Unterschied  der  alten  und  mittleren  Komödie  gesagt  hatte,  dem  System  zu  Liebe 
mit  einiger  Gewaltsamkeit  auf  die  Komödie  des  Menander  übertragen  wurde. 
War  der  Gewährsmann  aber  in  der  Lage,  der  alten  aggressiv  politischen  oder 
der  friedlicheren  Typenkomödie  des  4.  Jahrhunderts  die  neue  gegenüberzustellen 
als  etwas  verschiedenes ,  als  etwas  das  den  Namen  Komödie  im  Sinne  der  koi- 
ÖoQia  gar  nicht  mehr  verdiente,  warum  konnten  die  späteren  Ausschreiber  nicht 
diese  Characteristik  ebenfalls  von  ihm  übernehmen?  war  etwa  der  Gewährsinann 
so  alt ,  dass  er  von  der  neuen  Gattung  noch  gar  nichts  zu  sagen  wusste  oder 
doch,  da  die  Entwicklung  noch  im  Fluss  war,  noch  nichts  zu  sagen  wagte?  Man 
empfindet  ja  leicht,  dass  die  drei  verschiedenen  Fassungen  bei  Tzetzes  und  Pla- 
tonios,  die  einmüthig  die  Komödie  als  Spottgedicht  fassen ,  auch  darin  überein- 
kommen,  dass  sie  von  der  neuen  Komödie  nichts  sagen  als  dass  Menander  und 
Philemon  ihre  Träger  waren,  und  dass  sie  %x(o%oi  und  dovloi    und  £,evoi,   auf  die 


gleich  wenig  wussten,  wie  Euanthius  p.  o,  25  R:  nam  postquam  otioso  tempore  fastidiosior  speetator 
efl'cctus  esset  et  tum  cum  ad  cantores  ab  actoribus  fabula  transibat  consurgere  et  abire  coepisset, 
admonuit  poetas  ut  primo  quidem  choros  tollerent  locum  eis  relinquentes,  ut  Menander  fecit  hac  de 
causa,  non,  ut  alii  existimant,  alia:  postremo  ne  locum  quidem  reliquerunt,  quod  Latini  fecerunt 
comici  eqs.  Die  Vorlage  war  wol  der  Bios  'AQiörocpdvovg  XI  72  Dublier. 
l\ 


DIE   PROLEGOMENA    TIEPI   KÜ,MfLIJIA2  49 

Bühne  brachte:  das  ist  eine  merkwürdig  schiefe  Summirung  der  Charactertypen, 
da  man  doch  yeQövtsg,  veavlai,  izaQfrivoi,  szalgat,  dovloi  erwarten  sollte,  es  sind 
eben  nur  constructiv  gewonnene  Gegensätze  zu  den  %oXlxai  und  den  TtXovöioi, 
die  als  Ziel  des  Spottes  der  aQiaCa  galten *),  ein  kärglich  improvisirtes  Supple- 
ment zu  dem  was  von  der  älteren  Komödie  gesagt  war.  Ja ,  bei  Platonios  ist 
von  der  via  eigentlich  überhaupt  keine  Rede:  er  weiss  wol  von  ihrer  Existenz, 
da  er  von  der  (liörj  spricht,  aber  er  hebt  kein  einziges  Moment  hervor  das  die 
via  von  der  ^i6r\  scheiden  könnte;  er  spricht  von  den  unpersönlichen  Masken 
der  {iE6r)  und  via ,  und  nur  um  ein  Beispiel  anzuführen  ,  erwähnt  er  die  ver- 
zerrten Masken  des  Menander.  Also  alle  diese  Darstellungen,  deren  gemeinsame 
Grundlage  wol  klar  geworden  ist,  kennen  eigentlich  nur  die  a.Q%aia  und  die 
[liörj,  die  sie,  wenn  sie  nicht  die  via  hätten  anflicken  wollen,  eigentlich  die  via 
oder  die  recotiQa  nennen  mussten.  Ich  weiss  den  peripatetischen  Gewährsmann 
nicht  mit  Namen  zu  nennen:  man  denkt  an  Theophrast ,  dessen  Definition  von 
Tragödie  und  Komödie  bei  Diomedes  an  hervorragender  Stelle  erscheint  (p.  487. 
88),  auch  Eratosthenes  ist  vielleicht  nicht  ausgeschlossen,  vielleicht  auch  Chamai- 
leon  nicht ') ;  von  Eumelos  dem  Peripatetiker ,  dessen  3.  Buch  JJsqI  rfjg  <xQ%aiag 
TKo^icotdiag  die  Scholien  zu  Aischines  Tim.  39  citiren,  weiss  ich  nichts,  des  Akade- 
mikers Krates  Schrift  über  die  Komödie  hat,  wie  es  scheint,  keine  Sparen 
zurückgelassen.  Das  Rathen  hilft  nichts.  Wichtig  ist  ja  auch  nur,  wenn  meine 
Bemerkungen  zutreffen,  das  Alter  der  Quelle. 

Die  ärgerlich  verkehrte  Auffassung  der  via  in  den  bisher  besprochenen 
Tractaten  hat  auf  eine  Quelle  geführt,  die  ihres  Alters  wegen  an  der  Verkehrt- 
heit unschuldig  war.  Wir  haben  keine  griechisch  geschriebene  Darstellung,  die 
die  Menandreische  Komödie  würdigen  konnte  und  richtig  gewürdigt  hat.  Dafür 
treten  die  Lateiner  ein.  Nur  die  Sprache  scheidet  diese  von  Tzetzes  und  Pla- 
tonios ;  dass  sie  ganz  ähnliche  griechische  Quellen  benützt  haben,  liegt  auf  der 
Hand.  Diomedes  giebt  schon  da,  wo  er  Komödie  und  Tragödie  vergleicht  als 
generellen  Unterschied  an,  dass  die  eine  hietas  exilia  cacdes ,  die  andere  amores, 
virginum  raptus  enthalte  (p.  488,  16) ;  später  scheidet  er  richtiger  die  ioculana 
der  ältesten  Periode  (Susarion  Myllos  Magnes),  die  bitteren  Angriffe  der  zweiten 
(Aristophanes ,  Eupolis  ,  Kratinos)  und  endlich  die  Komödie  des  Menander .  Di- 
philos  und  Philemon,  qui  omnem  acerbitatem  mitigaverunt  aique  argumenta  multiplicia 


1)  Es  scheint  fast,  als  ob  Piatons  Forderung  zu  der  Auffassung  mitgewirkt  hat ;  er  verlangt 
Leg.  XI  935  a  iioir\xf\i  yicüfioudiccg  r\  xivog  tdfißcov  rj  fiovö&v  (islcoLdLag  firj  i^satco  iir\rs  Xoycoi  jurjrf 
dnövi  infirs  &v[icöi.  [lyrs  avev  &v{iov  (iridccfiüg  {ir\8ivu  tüv  itolit&v  ncoficoidsiv. 

2)  Chamaileon  von  Herakleia  ist  offenbar  identisch  mit  einem  der  Gesandten,  die  seine  Vater- 
stadt im  J.  281  an  Seleukos  schickte  (Memnou  bei  JPhot.  bibl.  226  a  16).  Die  Herakleoten  waren 
widerspänstig  und  auf  die  heftigen  Drohungen  des  Königs  wagte  Chamaileon  zu  autworten  'Hqu- 
%\f}<s  y.üqq(ov,  ZÜEVY.e.  Der  König  verstand  den  Dialect  nicht,  und  Chamaileon  würde  schwerlich 
dorisch  geredet  haben,  wenn  die  Worte  nicht  ein  Citat  gewest-u  waren.  Sophron  (bei  Apoliou.  de 
prou.  p.  95  c)  sagte  'Hganlfj?  teovg  y.ccqq(üv  r]g.  Auf  ein  solches  Citat  konnte  aber  nur  ein  ge- 
lehrter Mann  verfallen.     Damit  ist  Chamaileons  Zeit  bestimmt. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.   Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  4.  7 


50  •  GEORG    KAIB  EL, 

Graecis  erroribus  (?)  secuti  sunt.    Der  Artikel  des  Liber  Glossarum  (Usener  Rhein. 
Mus.  XXVIII  418)  lautet  ähnlich  :   postea   autem  omissa   male  dicendi  libertate  pri- 
vatorum   hominum   vitam    cum   hilaritate  imitdbantur ,    admonentes    quid  adpetendum 
guidve  cavendum  esset.     Wichtiger    aber   ist  was  Euanthius   von  der  Eigenart  der 
via  sagt  (p.  5,  15) :  quae  argumenta-  communi  magis  et  generaliter  ad  omnes  homines 
qui  medioeribus  fortunis  agant  pertineret  et  minus  amaritttdinis  speetatoribus  et  eadem 
opera  multum  delectationis  afferret,  concinna  argumento ,    consuetudini  congru« ,   uiilis 
sententiis,  grata  salibus,  apta  metro.    Das  ist  nicht  nur  die  Characteristik  der  vsa, 
sondern    zugleich    auch    der    piön,    die    mithin  zusammengefasst  werden    wie    im 
Anonymus  V.     Die  Bitterkeit  des  Spottes    ist  nur  gemildert,    nicht  aufgehoben, 
der  Stoff  ist  dem  allgemeinen  Menschenleben    entnommen,    die  Handlung    ist  ge- 
schlossen   und    einheitlich ,    die  Sprache    ist    die    des    Lebens  (consuetudo  =  Äe&ig 
övvrjd-rjc;)  das  Metrum  ist  der  Iambos,  der  täglichen  Rede  also  das  verwandteste, 
der,  Witz    (tö    %aoiEV)    geht    zusammen   mit    sittlicher    Belehrung    (rö  ozcpiliuov). 
Das  sind  die  gleichen  Gesichtspuncte    —    vXr\  pitQov  didlentog  diaöxsvy]  —  nach 
denen  der  Anon.  V  den  Vergleich  zwischen    der   naXaid    und   via  anstellt      Man 
muss  es  Euanthius  lassen,    dass    er   die  gleiche  Quelle    besser   und    verständiger 
ausgenützt  hat  als  der  Anonymus.     Des  letzteren  Quelle  waren ,    wie   zu  zeigen 
versucht  wurde,  Dionysscholien,   Euanthius  führt  auf  ältere  Zeit ;    dass  die  Vor- 
lage eine  pergamenische  Schrift« über  die  Komödie  gewesen  sei.  möchte  ich  nicht 
mehr    mit    gleicher    Bestimmtheit    wie     früher    (Hermes    XXIV  57)    behaupten. 
Die  Characteristik  bei  Euanthius  setzt,    wie  gesagt,    eine  zweigetheilte  Komödie 
voraus.     Er  unterscheidet  freilich  drei  Theile,  aber  das  ist  nur  der  Schein.    Zu- 
erst nennt  er  die  quae  —  vixdum  ineipiens  äg%aCa  xcopcoLdia   et  iri  övö^iarog  dieta 
est  —  etenim  per  priscos  poetas   non  ut  nunc  fieta  penitus  argumenta   sed  res  gestae 
(i  civibus  palam    cum  eorum  saepe   qui  gesserant  nomine  decantabantur :   idque  ipsum 
s?w  tempore    moribus   multum  profuit   civitatis,    cum  unusquisque  caveret  culpam ,    ne 
spectaculo    ceteris    extitisset     et    domestico    probro.     sed    cum  poetae    licentius    abuti 
stilo    et  passim  laedere   ex   Jibidine  coepissent  plures  bonos,    ne  quisquam   in  cdterum 
Carmen  infame  componeret  lata  lege  siluere  (statuere?),  et  liinc  deinde  aliud  genus  fa- 
butec   id    est    satira   sumpsit  exordium,    quae   a  sedyris   quos   in   iocis   semper   [ac] 
petulantes  deos  seimus  esse  vocitata  est.     Vergleicht    man    dies    mit    dem    was  über 
die  via  gesagt  war,  so  wird  man  finden,    dass  die  Characteristik  der  a.Q%aia  auf 
einer  ganz    anderen  Grundlage    steht.     Nicht   nach  Stoff,    Composition .    Sprache 
und  Metrum,  also  nicht  mit  Rücksicht    auf  die  anders  geartete  via  wird  die  dg- 
%at'a  geschildert,  sondern  an  und  für  sich  als  Spottgedicht,    das  an  ungebundner 
Freiheit  mehr  und  mehr  zunimmt,  bis  das  Gesetz  (lex)  7isgl  toi)  {irj  ovo^aörl  ueoa- 
mdeiv    ihr    den  Garaus    macht.     Das  ist  aber  die  Characteristik ,    die    nicht    der 
V.  sondern  der  IV.  Anonymus  giebt,  mit  dem  der  lateinische  Text  wörtliche  Ueber- 
einstimmungen    genug    aufweist.     Die  Quelle    des  Euanthius    hatte    demnach    die 
beiden  Anonymi  nebeneinander  vor  sieh,  wahrscheinlich  in  derselben  Reihenfolge, 
wie  sie  noeh  jetzt   in    den  Aristophaneshandschriften    und   bei  Tzetzes    (aus    den 
Dionysscholien;  hintereinander  stehen.    Also  nicht  erst  in  der  Quelle  der  Dionys- 


DIE    l'ROLEGOMENA    J7EPJ    KtlMfLIdlAS  51 

scholien,  wenn  das  Proklos'  Chrestomathie  war,  sondern  viel  früher  schon  waren 
die  beiden  Tractate  zusammengerückt.  Den  zweiten  leitete  Tzetzes  seiner  Quelle 
folgend,  wie  wir  sahen,  mit  den  Worten  Katf  exigav  diaCgsöLv  ein  :  das  ging  auf 
eine  Zweitheilung  gegenüber  der  voranstehenden  Dreitheilung  der  Komödie. 
Nun  vertritt  zwar  der  IV.  Anonymus  eine'dreigetheilte  Komödie,  aber  wie  sich 
gezeigt  hat,  die  dritte  Periode  gehörte  nicht  zum  ursprünglichen  Bestand  der 
Darstellung,  die  vielmehr  nur  eine  Periode  des  epeevegag  xcj^cjlösIv  und  eine 
zweite  des  alviy^azaÖG)g  kannte.  P]s  folgt  dass  der  IV.  Anonymus  die  üble  Er- 
weiterung schon  beträchtliche  Zeit  vor  Euanthius  erlitten  haben  muss  ,  da  sich 
ihm  sonst  nicht  die  Zweitheilung  des  V.  Anonymus  hätte  anschliessen  können. 
Genauer  lässt  sich  die  Zeit  nicht  bestimmen.  Die  Worte  des  Euanthius  per 
priscos  poetas  non  ut  nunc  fieta  penitus  argumenta  sed  res  gestae  a  civibus  decanta- 
banhtr  weisen  zwar  auf  einen  Mann,  zu  dessen  Zeit  die  zweite  Komödie  noch 
am  Leben  war,  ergeben  aber,  da  diese  Komödie  sehr  langlebig  gewesen  ist, 
keine  nähere  Zeitbegrenzung  für  ihn:  er  kann  ganz  wol  ein  Zeitgenosse  des 
Menander  oder  seiner  ersten  Nachfolger  gewesen   sein. 

Die  erste  Periode  der  Komödie,  die  des  (pavsgcbg  xcj^KOidsiv ,  nannte  Euan- 
thius die  xcoyL&idia  i%  ovö^arog,  eine  Bezeichnung  die  sonst  nirgend  begegnet. 
Ihr  gegenüber  steht  ein  locus  de  vitiis  avium  sine  ullo  proprii  nominis  titulo,  also 
die  Komödie  der  versteckten  Anspielung  (6v[ißokLXG)g,  xccz  syLcpaöiv,  aiVLy^iatcodiög), 
und  die  nennt  er  satira,  leitet  den  Namen  von  den  Satyrn  ab  und  lässt  ihren 
ersten  Vertreter  Lucilius  sein.  Schlimmer  kann  sich  der  verständnisslose  Com- 
pilator  nicht  verrathen.  Dass  die  Ableitung  der  satira  von  den  Satyrn  und 
ebenso  die  geistige  Verbindung  des  Lucilius  mit  der  alten  Komödie  keinem  an- 
deren als  Varro  zur  Last  fällt,  hat  Leo  gezeigt  (Hermes  XXIV  67  ff.) ,  aber  je 
deutlicher  dieser  Anachronismus  bei  Euanthius  aus  dem  Zusammenhang  heraus- 
fällt, desto  sicherer  ist,  dass  an  diesem  Zusammenhang  Varro  unschuldig 
war.  Dass  bei  Isidor  Orig.  VIII  7  der  Irrthum  eine  noch  bösartigere  Gestalt 
angenommen  hat,  ist  natürlich  ganz  gleichgültig.  Aber  immerhin  muss  doch  eine 
zum  Irren  veranlassende  Gelegenheit  gedacht  werden :  daraus  dass  Varro  die 
Satire  des  Lucilius  aus  der  alten  Komödie  ableitete ,  wird  nicht  erklärt ,  dass 
die  Satire  für  die  zweite  Periode  der  griechischen  Komödie  ausgegeben  wird. 
Man  hat  zu  bedenken,  dass  die  Quelle  des  Euanthius  (ebenso  wie  die  Glosse  des 
Et.  M.  rgay&idCa)  die  älteste  Komödie  nicht  nur  nicht  von  der  Tragödie  zu 
scheiden  versuchte  sondern  geradezu  unter  dem  gemeinsamen  Namen  tgvyGudia 
mit  ihr  identificirte ,  dass  ferner  auch  die  tgaycaiöCa  als  Satyrngesang  gedeutet 
wurde  (Et.  M.  a.  0.),  also  Sat}'rdrama  in  engste  Beziehung  zur  Tragödie  gesetzt 
werden  musste.  Nun  wird  das  Satyrdrama  in  griechischen  Quellen  seinem  Cha- 
racter  nach  zumeist  erklärt  als  7tcct£ov6a  rgaycoiÖCa  (Demetr.  de  eloc.  109),  als 
Gemisch  von  Scherz  und  Ernst,  von  Tragik  und  Komik  (Horaz  AP.  226  vertere 
seria  ludo,  vgl.  Diomedes  p.  491,  3).  Das  drückt  Tzetzes  auf  verschiedene  Weise 
aus  :  bald  sagt  er  (Pb  26),  die  Eigenart  des  Satyrdramas  bestehe  in  dem  xarav- 
tüv  Salb   Ttsvfrovg   dg    iccgav,    bald  {it.  öiacp.  itoi.  60)  nennt    er  es  ein  Mittelding 

7* 


52 

zwischen  Tragödie  und  Komödie  (xavde  xr\v  fisöaixdxriv).  Sollte  nicht  dieser 
letzte  Ausdruck  oder  ein  dem  ähnlicher  jemanden  verführt  haben ,  das  Satyr- 
drama (später  die  satura)  für  ein  Mittelding  zwischen  der  alten  xgvycoidca  und 
der  neuen  xcoyLcoidCu  zu  halten  ? 

Wir  haben  einen  dem  Aristoteles  zeitlich  nahestehenden  Mann  ermittelt,  der 
über  Komödie  and  Tragödie  geschrieben  und  beide  auf  dorischen  Ursprung  zu- 
rückgeführt hatte.  Die  Komödie  hatte  er  seiner  Zeit  gemäss  in  zwei  Perioden 
zerlegt,  was  er  von  der  Entwicklung  der  Tragödie  gesagt  haben  mag,  lässt  sich 
nicht  errathen.  Nirgend  finden  wir  eine  Spur  von  historischer  Behandlung  dieser 
Schwesterdichtung.  Um  so  eifriger  aber  ist  das  ausgeschrieben,  was  jener  Mann 
oder  seine  Nachfolger  über  Aehnlichkeit  und  Unahnlichkeit  von  Tragödie  und 
Komödie  gesagt  hatten :  überall  treten  sie  uns  als  nach  verschiedener  Richtung 
hin  entwickelte  Formen  eines  und  desselben  Grundgedankens  entgegen.  Von 
diesem  Vergleich  konnte  die  dritte  Gattung,  das  Satyrdrama,  nicht  ausgeschlossen 
werden.  Nach  Aristoteles  (Poet.  c.  4)  ist  es  die  eigentliche  Vorstufe  der  Tra- 
gödie :  hi  öh  xb  (leyedog  ix  {ilxqcjv  [ivd'cov  xal  ke&cog  ysloiag  öiä  xb  ix  öaxvgixov 
{israßctleiv  otyl  cc7tt6£[ivvv&r}.  Daraus  ergab  sich  die  Mischung  von  Ernst  und 
Scherz  ganz  von  selbst.  Dieser  eine  Gedanke  wird  in  mannigfacher  Gestalt 
immer  wiederholt,  am  besten  bei  Diomedes  p.  491,  3  satyrica  fabula,  in  qua  item 
tragici  poetae  non  heroas  aut  reges  sed  satyros  induxerunt  ludendi  causa  ioeandique, 
simuJ  ut  spectator  inter  res  tragicas  seriasque  satyrorum  iocis  et  lusibus  delectaretur, 
ut  Horatius  sensit  (folgt  Citat  von  AP  220  ff.) x).  Nur  bei  Tzetzes  finden  wir 
einiges  mehr.  Er  hatte  sich  durch  die  Scholien  des  Eukleides  verleiten  lassen, 
alle  Tragödien  mit  heiterem  Ausgang  für  Satyrdramen  zu  halten  und  danach 
das  Wesen  des  letzteren  zu  bestimmen  als  ein  xaxavxäv  ix  niv&ovg  elg  %aoav.  Das 
widerruft  er  in  31a  p.  116  K  und  in  einem  Scholion  zu  den  Iamben  it.  diacp.  itoi. 
93  folgendermassen :  ivxvyfov  dl  öaxvoixoig  doccpaöLV  EvQiitidov  {itollä  dodfiaxa 
31a)  avxbg  [lövog  iulyvcav  ix  xovxcov  öaxvQLXrjg  Ttoirjöeag  xal  xcoyLcoidiag  diayogav. 
ij  [ifv  ovv  xco^KDidicc  dgi^iicog  tiv&v  xu&a7tTOtisvri  öiaßokaig  inl  koiöoQLUig  xtvsl 
yikoaxa '  fj  de  6axvoixr\  7ioir\6ig  axgaxov  xal  d^ayfj  Xoidooiag  £%si  xbv  yiXcoxa  ndvv 
r\övxaxov  olov  xbv  iv  &v{iaXaig.  Tzetzes  hat  besten  Falls  ein  einziges  Satyrdrama, 
den  Kyklops  lesen  können,  er  schwindelt  also.  Die  höchst  unvollkommene  Cha- 
racteristik,  die  er  als  Frucht  seiner  Lectiire  ausgiebt,  gehört  nicht  ihm:  sie 
kehrt  wieder  Pb  26  und  31b  p.  119,  und  beidemal  folgt  als  Beleg,  mit  olov  einge- 
leitet, die  Hypothesis  des  Euripideischen  Syleus.  Den  hat  er  sicher  nicht  ge- 
lesen, und  es  ist  klar  dass  die  ganze  Unterscheidung  der  drei  Gattungen  (denn 
in  Vb  und  31b  tritt  die  Tragödie  hinzu)  aus  einer  und  derselben  Vorlage  stammt, 
d.  h.  direet  oder  indirect  aus  Proklos.  Ebenso  wie  Proklos  den  Inhalt  der  ky- 
klischen  Epiker  nacherzählt  hat ,    so    mochte    er    auch   die  Inhaltsangabe  einiger 

1)  Den  Werth  der  Angabe  Diom.  p.  490,  18  in  satyrica  fere  satyrorum  personae  inducuntur 
aut  si  quae  sunt  ridiculae  similes  satyris  Autolycus  Busiris  will  ich  hier  nicht  prüfen.  Vgl.  Her- 
ines XXX  72. 


DIE   PROLEGOMENA   TIEPI  KflMfLUIAS  53 

-  Dramen  seiner  Chrestomathie  eingefügt  haben.  Die  Verwechslung  von  Satyr- 
drama und  Tragödie  mit  glücklichem  Ausgang  hat  sich  Tzetzes  ausser  in  den 
ganz  frühen  Prolegomena  zu  Lykophron  noch  in  den  Iamben  %.  dtcctp.  itoi.  113 
zu  Schulden  kommen  lassen,  aber  sclion  im  Pariser  Tractat  (Pb)  ist  der  Irrthum 
beseitigt.  Das  andere  Versehen  betreffs  Zenodot  und  Aristarch  wirkt  noch  in 
Pb  nach  und  wird  erst  in  M  berichtigt.  Die  Quelle  der  Irrthümer  waren  Dio- 
nysscholien ,  die  des  Eukleides  und  des  Heliodor ,  die  Quelle  seiner  Bekehrung 
verschweigt  oder  verhüllt  Tzetzes.  Vielleicht  war  Proklos  sein  Retter  gewesen, 
dessen  Buch  ihm  etwa  später  in  die  Hände  gefallen  war,  das  Original  oder 
besser  die  Epitome ,  die  Photios  las.  Proklos  Quelle  lässt  sich  nicht  errathen  : 
von  Chamaileons  Schrift  IIeqI  öatvgcov,  die  ja  ganz  wol  ein  Seitenstück  zur  Schrift 
IIeqI  xaiiacdiag  gewesen  sein  kann,  scheint  nichts  weiter  erhalten  als  das  Citat 
bei  Suidas  u.  d.  W.  a7tibX£6ag,  und  das  lehrt  nichts. 

Um  so  erfreulicher  ist  es,  dass  ein  durchgeführter  Vergleich  von  Tra- 
gödie und  Komödie  recht  reichliche  Spuren  zurückgelassen  hat.  Sie  finden  sich 
einerseits  verstreuter  bei  Tzetzes  in  den  Theilen  seiner  Prooemien  ,  wo  er  sich 
auf  Eukleides  und  Genossen  beruft,  und  in  den  Dionysscholien  —  wir  werden 
diese  beiden  Wege  nun  wol  als  einen  einzigen  gelten  lassen  —  ferner  in  den 
lateinischen  Tractaten  de  pocmafibus,  andrerseits  dichter  und  geschlossener  in 
dem  schon  mehrfach  erwähnten  Coislinianschen  Tractat,  den  uns  eine  Handschrift 
des  X.  Jahrhunderts  erhalten  hat  (Cramer  An.  Par.  I  403,  besserer  Text  bei 
Bernays  Zwei  Abhandl.  S.  135).  Das  characteristiscbe  Kennzeichen  dieser  ge- 
meinsamen Quelle  ist,  dass  sie  auf  Aristoteles  Poetik  fussend  die  Lehre  des 
Meisters  bald  zu  erweitern,  bald  zu  variiren  oder  zu  corrigiren  bemüht  ist.  Ich 
lasse  die  ersten  Paragraphen  des  Coislin.  Tractats  zunächst  bei  Seite  und  be- 
ginne mit  dem  dritten. 

Coislin.  §  3  Tzetzes  Pa  12 

xcoyLmdia  iörl  ^iL^irjöig  Ttgd^Ecog  ysXotov  iörl  de  xco^icotdia  (iLurjöig  Ttgd^Eog  .... 
xal  äiioiQOv  [teye&ovg  tsXsloVj  xcoglg  ixd-  xa&agzijgiog  7ta^r\^drcov ,  övötatixi)  tov 
6tov  rcov  [ioqlmv  iv  Totg  eiöeöi  ögobwog  ßiov,  diä  yekaxog  xal  y]8ovY\g  xvTtovyievr]. 
xal  öi  dicayyeXtag^  öV  fjdovfig  xal  yelco-  dtacpSQSL  öe  rgaycotöta  XG){imdiag  ort  >) 
zog  7t£Qaivov6a  %r\v  xcbv  toiovxcov  itaftr}-  [iev  xgaycoidia  töxogiav  e%el  xal  ccTtayys- 
\idxcov  xd&aQöLV.  e%ei  de  [irjxEga  xov  ye-  kiav  Ttga^sojv  ysvo^isvcov ,  xav  cjg  iför] 
Xcoxa  xxX.  yivofiEvag  6xr}^LCCt^tVL  uvxdg,   fj  öe  xcjucol- 

öia  TtXdö^iaxa  tceqleiei  ßicotixcöv  Ttgayua- 
xcov  xal  oxl  xfjg  [i£v  xgayaidiag  öxonbg 
xb  Eig  &qy]vov  xcvfjöai  xovg  dxgoaxdg,  xijg 
oh  xco^icjiÖLag  stg  yikoxa. 

Mit  Tzetzes  ist  zunächst  das  Dionysscholion  bei  Göttling  Theodos.  p.  68,  31 

zu  vergleichen ,    das  dieselbe  Lücke  zu  Anfang  in  seiner  Vorlage    fand    und    sie 

zu  verdecken  bemüht    war:    £6x1    öe  xcoiLcudia  fit/i^<?tg  7igd%£cog  xa&agxixojv  Tta&i]- 

pdxcov  xal  tot»  ßiov  övöxaxixrj,    xv7tov^£vrj  oV  rjöoviig   xal  yiXoxog,  ota  i]  tov  'Aql- 

12*  h 


54  •  GEORG    KAI  BEL, 

öTocpdvovg  7}  xov  MevdvÖQov.  xal  7)  ^isv  xmyLcoidia  xbv  ßiov  6vvl6z7]6iv,  7)  dl  tqcc- 
ycoiöia  öiaXvEi.  Ferner  das  Bekkersche  Scbolion  p.  747,  20  diayegsL  de  xco^icaidtag, 
int  h  TQaycöidla  [öroQtav  e%bv  xal  dnayyeXiav  TtQa^scov  yEvo^itvojv ,  7)  de  xco^Kotdia 
itkdö^ccxa  rtSQie%£i  ßtojnxcbv  ngay^idicov.  Dieser  Vergleich  soll  nicht  nur  bestä- 
tigen dass ,  was  wir  schon  wissen ,  Tzetzes  bessere  Dionysscholien  benützt  hat 
sondern  vor  allem  zeigen,  dass  die  Quelle,  aus  der  der  Coislin.  Tractat  sowie 
die  Dionysscholien  geschöpft  haben,  sich  nicht  mit  der  Behandlung  der  Komödie 
begnügt  sondern  Komödie  und  Tragödie  mit  einander  verglichen  hatte.  Diese 
wesentliche  Eigentümlichkeit  der  Quelle  werden  wir  festhalten  müssen.  An  die 
groteske  Parodie  auf  die  Aristotelische  Tragödiendetinition  J)  schlössen  sich  Er- 
örterungen über  den  stofflichen  Unterschied  von  Komödie  und  Tragödie  —  mit 
Wendungen  die  wir  bei  Asklepiades  und  dann  bei  Proklos  (in  den  Cramerschen 
Dionysscholien)  wiederlanden  —  und  über  den  verschiedenen  Zweck  der  beiden 
Gattungen  —  mit  einer  Wendung,  die  ebenfalls  wahrscheinlich  Proklos  vermittelt 
hatte  (xlv7]6ui  tovg  dxQoaxdg  eig  -fro^i/ov,  eig  yelcoxa,  vgl.  S.  16).  Die  Zahl  der 
Vergleichspuncte  lässt  sich  vervollständigen  aus  Diomedes  (p.  488) ,  der  einen 
besseren  Wortlaut,  und  aus  Euantliius  (p.  7,  11),  der  einen  vollständigeren  Text 
hat.     Den  letzteren  schreibe  ich  aus : 

inier  tragoediam  aatem  et  comocdiam  cum  mulfa  tum  inprimis  hoc  distat, 

(1)  quod  in  comoedia  mediocres  fortan  ae  hominum,  parvi  impetus  periculi  {peri- 
ada  Cod.)  laetique  sunt  exitus  actionum,  at  in  tragoedia  omnia  contra,  ingentes 
personae,  magni  timorcs,  exitus  funesti  habentur. 

(2)  et  illic  prima  turbulenia,  tranquilla  ultima,  in  tragoedia  contrario  online 
res  aguntur. 

(3)  tum  quod   in  tragoedia  fugicnda  vita,   in   comoedia  capessenda  exprimitur. 

(4)  postremo  quod  omnis  comoedia  de  fictis  est  argumentis,  tragoedia  saepe  de 
liistorica  fide  petitur. 

1)  Die  Komödiendefinition  war  in  den  Dionysscholien  wol  nicht  gekürzt  sondern  durch  Schuld 
eines  flüchtigen  Abschreihers  lückenhaft  geworden;  der  Einschub  von  ypXoiag  hinter  ngagsag  ge- 
nügt nicht.  Aber  auch  der  Text  des  Tractats  ist  nicht  in  Ordnung.  Dass  hinter  (isyi&oyg  xsXsCov 
die  Worte  rjdvG[iev(oi,  Xdyou  ausgefallen  sind,  ist  eine  einleuchtende  Bemerkung  Vahlens,  unsicherer 
alsdann .  ob  nach  dem  Muster  der  Poetik  xaglg  snäGrov  x&v  std&v  iv  xotg  [togioig  zu  verbessern 
ist.  Sicher  aber  ist  für  dgüvxog  -aal  di  cc7tayysXiag  zu  schreiben  öqoovxcov  -kcci  <ov>  öl  ccnayys- 
Uag:  die  Komödie  erzählt  doch  nicht.  Mit  Entschiedenheit  dagegen  siud  die  abenteuerlichen  Ge- 
walttaten Bergks  abzuweisen,  der  (Piniol.  XLI  5bl)  zu  Anfang  herstellen  wollte  [ii(it}6ls  ngä^scog 
ytXoiag  v.ai  ccXoiöoqov  iiiys&og  t%ovau  xbXslov.  Aber  das  Wesen  der  alten  Komödie  ist  Aoidogice 
und  die  alte  Komödie  hat  keine  abgeschlossene  Handlung  in  demselben  Sinne  wie  die  Tragödie. 
Sie  kann  in  einer  beliebigen  Anzahl  von  lustigen  Scenen  fortgesetzt  werden,  die  mit  zur  Handlung 
gerechnet  werden  müssen,  da  sie  aus  der  Haupthaudlung  hervorgehen  und  die  Personen  der  Haupt- 
handlang  au  ihnen  betheiligt  sind.  Daraus  wurde  für  die  Komödie  ein  willkommenes  Distiuctiv 
gegenüber  der  Tragödie  gewonnen.  Die  Thatsache  ist  von  den  alten  Kritikern  nicht  unbeobachtet 
geblieben,  wie  die  treffliche  Glosse  in  Bekk.  An.  253,19  zeigt:  £7tSL6Ödtov  MQiag  (isv  xö  iv  xeo/u,- 
ündiai  irtKpSQOfievov  x&i  dgäfiaxi  yiXcaxog  %&qiv  s£co  xrjg  vito&EGsag  xrX. 


DIE   FROLEGOMESTA    IIEPT   KflMHUTAS  56 

Der  erste  Satz  giebt  die  Theophrastischen  Definitionen  wieder,  die  Diomedes 
griechisch  bewahrt  hat:  Toaymdi'a  iörlv  rjQcaixf}g  rv%r\g  TtEoitiraöig  und  xiafiatdia 
iötlv  idiarixCov  itgay^idrcov  dxtvdvvog  jrsp/opj.  Nur  der  tragische  resp.  der  hei- 
tere Ausgang  ist  hinzugefügt,  oder  besser  ans  Theophrasts  Werten  richtig  her- 
ausgedeutet. Der  zweite  Satz  liegt  griechisch,  soviel  ich  weiss,  nicht  vor.  Der 
dritte  übersetzt  die  'tolle  Antithese',  wie  Bernays  meinte  (S.  147),  r)  plv  rgay- 
coidia  Xvel  rbv  ßCov ,  r)  de  xcoyLwidia  övviötyjölv.  Die  lvit%  das  Wesen  der  Tra- 
gödie {proprium  tragocdiae  Diom.  p.  488,  20),  nicht  als  Unlustempfindung  gefasst 
sondern  als  tragischer  Stoff,  ist  ein  taoa%(öd£ g ,  ein  cp&ccqtlxov;  der  yekag.  das 
Wesen  der  Komödie,  erweckt  dem  Menschen  Lebenslust  und  macht  ihn  zufrieden 
und  glücklich.  Endlich  der  vierte  Satz  bei  Euanthius  entspricht  genau  den  oben 
citirten  Dionysscholion,  dass  die  Tragödie  iGtoglav  enthalte  und  a-jiayyeliav  ngd- 
^ecjv  yevo^ievcov,  die  Komödie  aber  nldö^axa  ßuDtLx&v  Ttgay^idtcov.  Wie  der  Ver- 
gleich Schritt  für  Schritt  durchgeführt  war,  zeigt  ein  an  sich  sehr  auffallender 
Ausdruck  des  Coislin.  Tractats :  e%ev  de  (r)  xco^icoidta)  {lyrega  rbv  yekcoxa.  Der 
weibliche  yekcog  ist  sprachlich  nur  zu  rechtfertigen,  wenn  die  Worte  eng  mit  dem 
parallelen  Satz,  der  nun  im  vorhergehenden  Paragraphen  (1)  steht,  verbunden  ge- 
dacht werden  :  e%ei  de  (r)  rgaycoidia)  ^r\xega  trjv  Xvtiyjv.  Wenn  im  ursprünglichen  Text, 
wie  ich  nicht  bezweifle,  geschrieben  stand  e%Ei  de  r)  fisv  rgaycoidia  inqrega  r))v 
XvTtrjv,  rj  de  xcj[icoidia  rbv  yelcora,  so  ist  das  ein  völlig  tadelfreies  Zeugina.  Die 
begrifflichen  Anstösse,  die  man  an  dem  Worte  iirjrrjg  genommen  hat,  scheinen 
mir  unberechtigt.  Wenn  die  Komödie  eine  lächerliche  Handlung  erfinden  muss. 
so  ist  eben  das  Lächerliche  die  Quelle  der  Erfindung,  ihre  Grundlage,  sowie  die 
Tragödie  aufgebaut  ist  auf  löroglai  r&v  jjqcocov  e%ovöai  Ttdd-rj  xivd ,  e<5&  ore  xal 
ftavdrovg  xal  &grjvovg  (Schob  Dion.  p.  746,  6  B).  Der  Ausdruck  ist  geziert,  aber 
man  weiss  wie  die  griechischen  Dichter  und  späteren  Prosaiker  die  Worte  7carrjg 
und  yrjrrjQ  vergewaltigt  haben  (Hectors  ödxog  heisst  {irjrrig  rgonaCcov  Eur.  Tro. 
1221).  Useners  Aenderung  \iirgov  für  ar^rega  schafft  neue  Schwierigkeit;  man 
fragt  vergeblich,  wenn  die  Trauer  der  Massstab  der  Tragödie,  das  Lachen  der 
der  Komödie  heisst,  was  denn  an  diesem  Massstab  gemessen  werden  soll,  ßergks 
Vorschlag  aergiav  rr\v  Xvnr\v  und  ustqlov  rbv  yelcora  missversteht  die  Absicht 
des  Verfassers  und  bedarf  einiger  Ausreden,  die  Bergk  selbst  nicht  für  stich- 
haltig ausgeben  konnte. 

Die  komische  'Katharsis'  stand  im  Coislin.  Tractat  der  tragischen  gegen- 
über, von  der  nur  wenige  Worte  (§  2)  übrig  sind  :  rj  rgaycoidia  vcpaigel  tu.  q?o- 
ßegä  TtaftiqaaTa*  tfjg  i\}vyj\\g  dt  ol'xtov  xal  deovg.  xal  ort  6v(.i^iergiav  &eXei  £%civ 
Toe  cpoßov.  Die  gewaltsame  Kürzung  und  die  dadurch  entstandene  Verwirrung 
des  Tractats  zeigt  sich  nirgend  besser  als  hier.  Der  zweite  Sitz  ,  schon  durch 
die  Form  (ort)  als  Epitomirung  gekennzeichnet,  wiederholt  sich  in  vollständigere: 
Fassung,  aber  an  unpassender  Stelle  §  6:  öva^ergCa  tov  cpoßov  frelei  eivu.i  iv 
raig  rgaycoidCaig  xal  rov  yeXoiov  iv  ralg  xcopcoidiaig. 

Eine  weitere  und  erheblichere  Lücke  zeigt  sich  §  3.  An  die  Behauptung. 
Lachen  sei  die  Grundlage  der  Komödie,  Trauer  die  der  Tragödie,    schliesst  .  i  !i 


56  GEORG    KAIBEL, 

von  selbst  die  Frage  an :  welches  sind  die  Quellen  des  Traurigen  und  welches 
die  des  Lächerlichen.  Der  Tractat  giebt  nur  auf  die  zweite  Frage  und  zwar 
eine  ausserordentlich  ausführliche  zweigetheilte  Antwort:  yivexai  de  6  ye'Xcog 
1.  ajtb  xrjg  Xe%ecog  2.  dito  xcbv  itgay^iaxcov.  Das  ganze  Capitel  hat  dem  vorge- 
legen, der  die  gemeinsame  Quelle  für  Tzetzes  (Pa  17)  und  für  den  VI.  Anony- 
mus war;  er  hat  den  ersten  Theil  sorgfältig  und  vollständig  abgeschrieben  und 
sogar  die  belegenden  Beispiele  bewahrt,  die  im  Coislin.  Tractat  fehlen,  beim 
zweiten  Theil  ist  ihm  die  Geduld  ausgegangen,  so  dass  er  von  den  neun  Quellen 
des  yelcog  ex  xcbv  itQayyLaxcov  nur  die  zwei  ersten  beibehält  mit  der  dreisten  Ein- 
leitungsphrase:   kx   ÖS  XC3V   7tQCCy{ldtQ3V   XaXCC   XQOTCOVq   ovo1). 

Es  folgen  im  Tractat  zwei  Sätze,  die  den  Begriff  und  Umfang  des  Lächer- 
lichen beschränken  sollen :  diacpegei  fj  xco^icoidta  xrjg  Xoidogiag,  eitel  rj  ^iev  Xotdooicc 
cc7iccQecxcdv7txoog  xä  tiqoöövxcc  xaxä  die%eiöiv ,  r]  de  deixca  xr)g  xakov^ievrjg  e^Kpdöecog. 
6  axcoitxcov  eXey%eiv  fteXei  d^iaQxri^axa  xr\g  tyvp]s  xal  xov  öcopaxog.  Das  ist  alles 
sehr  kurz  gesagt ,  aber  der  Gedankengang  lässt  sich  vervollständigen.  Nic^t 
jedes  Lächerliche  schickt  sich  für  den  Komiker,  er  soll  nicht  lästern  und  ver- 
läumden,  sondern  spotten,  ohne  zu  verletzen.  Da  aber  das  Tadeln  und  Bessern 
seines  Amtes  ist,  jeder  offen  und  öffentlich  getadelte  aber  sich  verletzt  fühlt,  so 
verdient  die  versteckte  Andeutung  (e{L<pa6ig)  den  Vorzug  vor  der  unverhüllten 
Schmähung,  ja  sie  ist  der  Komödie  allein  würdig,  da  die  Komödie  eben  keine 
Aölöoqlcc  sondern  eine  itaidid  sein  soll.  Das  letztere  ergänzt  sich,  wie  Bernays 
ausgeführt  hat,  aus  Aristoteles  Eth.  Nicom.  IV  p.  1128  a  20,  von  wo  die  ganze 
Scheidung  herstammt:  r)  xov  eXevfreoiov  itaidid  diacpeaet  xr)g  xov  dvdoaTtodcbdovg, 
xal  av  xov  7te7tatdev{ievov  xal  xov  dicaidemov  l'öot  <f  av  xig  xal  ex  xcbv  xco^oolÖlcov 
xcbv  naXaicbv  xal  xcbv  xaivcbv  xotg  {iev  yäo  r)v  yeXolov  r)  ai<5%QoXoyla,  xolg  de  [iäX- 
Xov  r)  vTtovoia.  Darin  liegt  eine  Verurth eilung  der  alten  Komödie  zu  Gunsten 
der  des  4.  Jahrhunderts  ,  und  nichts  anderes  hatte  der  Verfasser  des  Tractats 
ursprünglich  gemeint  als  was ,  zum  Theil  noch  mit  wörtlichem  Anklang ,  bei 
Tzetzes  zu  lesen  steht  (31a  p.  113):  xi\g  [iev  Ttocbxrjg  {xco^icoidCag)  i]v  yvcjQiö^ia  Xotdo- 
Qta  dnaoaxdXvTtxog  xal  öv^Kpavrjg'  xr)g  peörig  de  xb  öv^ißoXixcjxeQcog 
Xeyeiv  xa  6xcj[i{iaxa  (also  epcpaöLg,  vitovoia).  Der  Komödie  im  allgemeinen  konnte 
die  XoidooCa  von  niemandem  abgesprochen  werden;  bei  Krates,  Kratinos,  Eupolis 
u.  a.    wird   das  Xoidooeiv    oft   genug   speciell   hervorgehoben,    der  III.  Anonymus 


1)  Viel  reicheren  Stoff  über  das  Lächerliche  hat  Quintilian  VI  3,  22  ff.  Neben  den  von  ihm 
se'bst  angegebenen  Quellen,  Domitius  Marsus  De  urbanüate  und  Domitius  Afer  Urbane  dicta,  ist 
eine  griechische  Vorläse  leicht  erkennbar  (§  22),  die  von  der  gleichen  Theilung  ccnb  Xi&mg  und 
ccnb  7tQccy{LUTcav  ausging.  Aristoteles  liegt  §  37  zu  Grunde:  risus  igitar  oriuntur  aut  ex  corpore, 
eius  in  quem  dicimus  aut  ex  animo,  qui  factis  ab  eo  dictisque  colligitur,  aut  ex  his  quae  sunt  extra 
posita  ,  vgl.  Rhetor.  I  11  a.  E.  ava.yv.ri  %a\  xä  yzXoiu  i]d£u  sivccl,  xat  ccv&QooTtovg  xal  Xoyovg  ncci 
egycc  ■  diajQioxca  dh  xeqI  yeXoL<ov  #a>(H£  iv  xolg  Tlsgi  TtQir\xiv.f\g.  Sollte  Quintilians  Quelle  noch  die 
vollständige  Poetik  gekannt  haben?  Auf  eine  eingehende  Prüfung  des  Quintilianischen  Capitels 
muss  ich  für  jetzt  verzichten. 


DIE    PROLEGOMEN k    TIEPI    KfLMflUJA^  57 

rühmt  es  erst  dem  Pherekrates  nach,  dass  er  xov  Xolöoqeiv  änE6xx\.  Bezeichnend 
aber  für  den  Verfasser  des  Tractats  ist,  dass  er  auf  die  Menanderkomödie  keine 
Rücksicht  nimmt  und  es  für  den  eingestandenermassen  einzigen  Zweck  der  Ko- 
mödie hält  xä  7tQo6ovxa  xccxä  diE&Evcci.  Das  verbindet  ihn  auf  das  deutlichste 
mit  den  früher  besprochenen  Darstellungen  von  der  Geschichte  der  Komödie. 
Der  zweite  Satz  dagegen  'der  spottende  will  Fehler  der  Seele  und  de«  Körpers 
aufweisen'  ist  ganz  unverständlich  und  scheint  nur  ein  einzelnes  Glied  einer 
längeren  Ausführung.  Das  öx&tcxeiv  an  sich  ist  weder  recht  noch  unrecht,  das 
ev  oder  ki^iElCo^  öx&tlxelv  ist  witzig,  das  Gegentheil  verletzend  und  darum  un- 
erlaubt. 

Hiermit  muss  das  Schlussstück  des  ganzen  Tractats  verbunden  werden,  eine 
kurze  Uebersicht  über  die  Perioden  der  Komödie: 

xf\g  xaiicjidiccg 

I 


Ttcclaiü  7]  nleovd^ovöa  xcbt     via  7)  touro  [iev  7tQOLE{ievi],     ^liöiq  7)  an?  ä^cpolv  [lE^iiy^EVT]. 
ysXoicjL.  TtQog    öe     xb    ös^ivbv    qe- 

Ttovöa.  * 

Diese  Theilung  stimmt  nun  offenbar  gar  nicht  mit  dem  was  der  Verfasser  vor- 
her bemerkt  hatte.  Nach  §  4  mussten  wir  annehmen,  dass  er  nur  eine  zwei- 
theilige Komödie  kannte  oder  anerkannte:  ihr  gemeinsames  Ziel  war  xä  TtQoGovxa 
xaxä  öls^lbvccl  ,  das  erreichte  die  ältere  Komödie  vermittelst  der  änaQaxälvnxog 
koLÖoQLcc,  die  jüngere  durch  eiKpaöcg.  Jetzt  linden  wir  eine  ältere  Art,  die  es 
nur  aufs  lächerliche  abgesehen  hat,  dazu  eine  jüngere  die  sich  dem  öe^lvov  zu- 
neigte, endlich  ein  (begrifflich,  nicht  zeitlich  zu  verstehendes)  Mittelding,  halb 
ysXoiov,  halb  6E[iv6v.  Nun  kann  6s[iv6v  als  Gegensatz  zu  yskolov  nur  als  'ernst- 
haft' gefasst  werden:  wie  ist  das  abermöglich  in  einer  Lehre,  die  als  Grundlage 
und  Quelle  der  Komödie  insgemein  das  Lächerliche  ansieht?  Da  giebt  es  nur 
einen  doppelten  Ausweg.  Entweder  yelolov  ist  hier  ein  übel  gewählter  Aus- 
druck für  cci(5%QoloyCa  und  Xoidogia,  entstanden  durch  falsche  Interpretation  von 
6e[lv6v,  das  nicht  'ernsthaft'  sondern  'anständig'  bedeuten  sollte.  Dann  haben 
wir  hier  genau  dieselbe  Scheidung  wie  vorher  und  wie  bei  Aristoteles.  Oder 
aber  es  wird  hier  auf  etwas  verwiesen,  wovon  vorher  keine  Spur  übrig  geblieben 
war,  dass  nämlich  die  ältesten  Komödieudichter ,  um  mit  Diomedes  (p.  488.  '2h) 
zu  reden,  iocularia  quaedam  minus  seile  ac  venaste  pronuntiabant,  dass  ihre  kunst- 
volleren Nachfolger  alsdann  der  ziellosen  Posse  eine  practische,  sittlichwirkende 
Bedeutung  gaben  (xb  cspvöv):  erst  von  dieser  zweiten  Form  aus  hätte  sich  als- 
dann die  Komödie  als  Spottgedicht  in  zweierlei  Gestalt  ausgebildet,  zuerst  als 
a7tccQaxdlv7ixog  koidogta ,  sodann  als  atviy^axcbdrjg  und  E^Kpaxixrj  öxöj^ig.  Ich 
glaube,  dass  dies  in  der  That  die  Meinung  des  Verfassers  war,  um  so  mehr  als 
sie  sich  genau  mit  dem  Gedankengange  d{'^  V.  Anonymus  deckt  {=  Tzetzes  /*'/ 
16):  (unter  Susarion)  pövog  r\v  yikag  xb  xaxaöxEva^o^tEvov  ETiiysvö^Evog  de  6 
Kgaxlvog  xaxi<5x7]6E  {isv  TtQibxov  xä  ev  xrji  xco^icjLÖLa  Ttgoöcoita  {lixQl  xqlöjv,  övörijöag 
xi\v  äxafyav,    xal  xodl  %aQUvxi    xf\g  xatfimdiag  xb  G)(piXi(xov  tiqoöe^xe,    xovg   xaxCog 

Abhdlgü.   d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  *  8  . 


58  GEORG   KAIBEL, 

itQaxxovxag  dcaßdXXcjv  xal  &67t£Q  örjfioöLCCL  \ta6xiyi  xr\i  xo^icotdiai,  xoXd^&v.  Das 
(byeXiiiov  ist  dasselbe  was  der  Tractat  6s[iv6v  nennt.  Kratinos  aber  gilt  als  der 
Hauptvertreter  des  i^icpavcög  XoidooElv,  als  Nacheifrer  des  Archilochos,  wie  Pla- 
tonios  sagt.  Wenn  der  Anonymus  alsdann  fortfährt  al£  exl  \i\v  ((iriv't)  xal 
ovxog  xijg  äQ%cu6rr)Tog  ^exeI%e  xal  r\Q£yia  iccjg  xr\g  dxa^iag'  6  [ievxol  ys'^Qiöxocpdvrjg 
[lEd-odevöccg  xe%vlxcjxeqov  xi\v  xco^icoLÖiav  xcbv  [ie&  iavxov  (der  Text  nach  Tzetzes 
verbessert)  dviXa^Ev  ev  ccticcölv  Eitiörj^iog  ocpdslg  xal  ovxa  %ä6av  xofiotdYai'  eue- 
XtxvfiE '  xal  ydo  xb  rourov  doä[ia  6  ÜXovxog  vecjxeql^el  xaxä  xb  7tlcc6[ia  xxX.  —  so 
wird  hier  Aristophanes  als  Führer  der  zweiten  Periode  characterisirt,  als  erster 
Vertreter  der  i-EcoxEga,  die  die  Xotöogta  durch  Eyupaöig  mildert.  Dass  der  Ano- 
nymus auf  den  IlXovxog  exemplificirt,  ist  dadurch  erklärlich,  dass  er  seine  Quelle 
auf  eine  Einleitung  zur  Interpretation  dieses  Stücks  zugeschnitten  hat  (bei 
Tzetzes  fehlt  das) :' er  hätte  ebensowol  oder  besser  den  KcoxaXog  und  AioXoötxcov 
nennen  können,  wie  es  Platonios  thut.  Also  hat  der  Coislin.  Tractat  wirklich 
zwei  Hauptperioden  der  Komödie  geschieden:  1)  die  Posse  des  Susarion,  2)  die 
Komödie  als  staatliche  Einrichtung,  die  Menschen  zu  höhnen  und  zu  bessern. 
Diese  .  die  litterarisch  überlieferte  Komödie,  zerfällt  in  zwei  Theile  :  a)  die  in 
ovouaxog  xaucoidcccj  wie  Euanthios  sie  nannte,  b)  die  Aotdopta  xax  E^i(pa6tv.  Das 
sind  demnach  drei  Arten,  die  aber  der  Excerptor  des  Tractats  nicht  verstanden 
hat,  wenn  er  als  dritte  Art  eine  {i£6r]  s%  d^Kpolv  ^E^iy^Evrj  hinzufügt:  die  ^tEörj 
ist  ihm  hier,  wie  es  in  aller  triadischen  Systematik  zu  gehen  pflegt,  eine  be- 
queme Verlegenheitsphrase  gewesen. 

Der  7.  Paragraph  ist  wiederum  eine  getreue  Nachbildung  des  Aristoteles 
(Poet.  c.  6),  aber  in  dem  Auszuge  ist  nur  weniges  von  Belang  stehen  geblieben: 
xcoyLcoidiag  vXr\'  ^ivd-og  rjd-og  dcdvoia  Xi^tg  [idXog  btyig.  {iv&og  xco^iixog  eöxiv  6  tceqI 
ysXoLCcg  TtQa^Eig  e%cov  xr\v  6v6xa6tv.  ri&rj  xco^GJtötag  xd  xe  ßa{ioX6%a  xal  xä  elqco- 
vixä  xal  xd  xiöv  dXa^ovcov.  öiavoCag  {lioi]  ovo,  yvcb^irj  xal  TtCöxig'  itCöXEig  e,  oqxol 
övv&rjxai  iiaQXVQiai  ßdöavot  v6{ioi.  xöj^ilxt]  eöxi  X£%ig  xoivrj  xal  dr}[i(bdr}g'  öel  xbv 
xta {UDidoTtoibv  xi\v  ndxQiov  avxov  yXobööav  xolg  ngoödutoig  TtEQixiftivai,  xyjv  öl  etcl- 
Icjqiov  avxüi  EXELvai.  ybiXog  xfjg  {iov6ixr\g  eöxlv  lÖlov  '  o&ev  d%  EXEivr\g  xdg  avxo- 
xeXel?  d(poQ{idg  öeijöei  Xa^ißdvELV.  i]  otyig  \LEydXy\v  iQEiav  xolg  dodybaöi  xrjv  öv^icpcj- 
viav  {xi]t  7pv%ayo3yCai  Bernays)  7iaQE%si.  6  [ivfrog  xal  fj  XE%ig  xal  xo  [LEXog  ev  %d- 
6uig  XGjucudiaigd-ECüQOvvxaL,   Öudvota  Öe  xal  rj&og  xal  biptg  ev  bXiyaig. 

E.s  war  nach  der  Ueberschrilt  xco^coiöiag  vXr\  keine  Veranlassung  bei  jedem 
einzelnen  Tiieil  anzugeben,  dass  er  mit  Rücksicht  auf  die  Komödie  gemeint  sei, 
(fivfrog  xco^iixog,  rför}  xoD^iojidiag,  xcj^iixrj  X£%ig),  wenn  nicht  die  einzelnen  Sätze  nur 
aus  einem  grösseren  Zusammenhang  herausgerissen  wären,  in  welchem  das  dich- 
terische  Material  der  Tragödie  und  Komödie  miteinander  verglichen  war.  So 
lässt  sich  auch  verstehen,  dass  der  Komödie  ein  fiv&og  zugeschrieben  wird,  wo- 
für das  richtige  Wort  TcXdö^ia  gewesen  wäre  (s.  o.  S.  25).  Das  ursprüngliche 
lässt  sich  etwa  so  denken  :  6  {ilv  xQaycoidiag  [iv&og  tceqI  ngd^Eig  öTtovdatag,  xb  ös 
xcj^icoiölag  TtXdö^ia  tieqI  ysXoiag  e%el  xr)v  avöxaö iv ,  oder  auch:  rj  fihv  xoaymdia 
fiv&ov  £%£i  xal  jtQa^Ecog  önovdaiov  6v6xa6iv ,    r\    öe  xca^eadCa  TtXdö^ia  ysXoLag   itgd- 


DIE   PROLEGOMEN A    IJEPI   KflMflUIAS  59 

%eag.  Die  Komödiencharactere  (ihre  ärmliche  Begrenzung  aus  Arist.  Eth.  Nie. 
II  1108  a  21)  können  ihr  tragisches  Correlat  in  der  Poetik  c.  13  (p.  1453  a  8) 
oder  auch  in  den  Worten  Plutarchs  finden  (de  poet.  aud.  p.  26  a):  tf&rj  XQaycot- 
ÖCag  fiev  ov  xekeiav  äv&Qa)7i(av  ovde  xcc&ccqcqv  ovo'  avE7tikrJ7tTcov  navxanaöiv,  ccllä 
{i£[iLy[i£VG)v  TtdfreöL  xal  do^eug  ^svdeöi  xal  ayvoiaig.  Plutarch  spricht  zwar  von  der 
Poesie  im  allgemeinen  als  einer  ^t^r}6ig  rj&cov  xal  ßiav  xal  avd-Qaitcov ,  aber  die 
Komödie  hat  er  sicher  nicht  im  Sinne.  Die  Ötavoia,  die  in  yvcb{irj  und  itiöxig  zer- 
fällt (nach  Aristot.  Poet.  1450  b  10  dtdvota  de  ev  olg  a7toÖ8ixvvov6i  xt  hg  eöxiv  rj 
dyg  ovx  eöxiv  rj  xa&okov  xi  aTtocpaivovxai) ,  liess  sich  schwerlich  für  die  Komödie 
viel  anders  als  für  die  Tragödie  bestimmen  (vgl.  Poet.  c.  19)  M,  es  ist  also  wol 
kein  Zufall,  dass  hier  der  Zusatz  (didvoia)  xcj^iixr]  fehlt.  Die  fünf  Arten  der  %i<5xeig, 
entlehnt  aus  Arist.  Rhet.  I  p.  1375  a  24,  sind  (trotz  Bernays  S.  154)  ein  ganz  unge- 
höriger Zusatz,  wie  Cramer  gesehen  hat.  Es  folgt  die  le%ig,  die  in  der  Komödie 
xoivr\  xal  dreiadrig,  in  der  Tragödie  also  öeavri  xal  iieyaloitQ eitrig  oAex  dgl.  f;e^n  s0^- 
Der  Zusatz  verliert  durch  die  Verderbniss  kaum  an  Interesse:  die  einheimischen 
Personen  (xolg  (e7U%(OQLOig)  ngoGaitoig)  soll  der  Komiker  in  seiner  Sprache  reden 
lassen,  die  Fremden  in  ihrem  Dialect2).  Die  Vorschrift  ist  aus  Aristophanes' 
Praxis  in  den  Acharnern  und  in  der  Lysistrate  abstrahirt,  aber  sie  findet  sich 
wol  nur  hier.  Die  Behandlung  des  peXog  lehnt  der  Grammatiker  ab  und  weist 
sie  dem  Musiker  zu,  daher  ist  auch  hier  keine  Spur,  dass  dem  pekog  XQaycoidiag 
das  pekog  xco^icoiöCag  entgegengestellt  wird  :  er  überging  beides.  Ganz  allgemein 
gehalten  ist  auch  was  er  von  der  oifrig  sagt  (nach  Aristot.  Poet.  p.  1450  b  IG  i] 
de  oipig  ^vxaycoyixöv  {iev,  dxeyvoxaxov  de  xal  rptiöxa  oixelov  xfjg  7tOLriXLxf)g) ;  man 
merkt  den  erschlaffenden  Eifer  des  Epitomators,  da  er  hier  doch  wesentliche 
Unterschiede  zwischen  der  tragischen  und  komischen  Bühne  in  seiner  Vorlage 
angegeben  finden  musste,  also  auch  von  der  komischen  wesentliches  sagen  konnte, 
nebst  anderem  auch  was  Vitruv  ausführt  (V  8,  l)3). 

Vergeblich    sucht   man    nach    einer  einleuchtenden  Erklärung    für    die   letzte 


1)  Natürlich  lasseu  sicli  Unterschiede  und  Gegensätze  auch  der  Slccvolcc  construiren,  aber 
yvmfir]  und  Ttioxig  sind  der  Komödie  so  unentbehrlich  wie  der  Tragödie.  Aristoteles  (Poet.  c.  19) 
sagt  iaxi  ös  Y.axk  xr]v  diavoiav  xavxa  06a  vnb  xbv  Xoyov  8si  7taQaayisvaad'j]vaL.  [lsqt]  dl  xovxwv 
xö  Tf  aito8uv.vvvcu  xod  xb  Xvsiv  -acu  xo  Ttä&T]  7zaQ<x6H£vä£8Lv  oiov  tXsov  r\  cpoßov  ?}  OQyi]v  xcu  öaa 
xoiccvxa,  nui  ixt,  fieys&os  ncci  fit-ngoxrixa.  Hier  isi  die  Verbindung  zwischen  didvoia  und  Xe^cg  (als 
Xöyog)  gegeben,  aber  der  Verfasser  des  comparativen  Tractats  bat  nicht  so  tief  gegriffen,  dass  er 
darauf  eingehen  konnte. 

2)  xr\v  8i  Ithxcoqiov  (Tt£Qixift{vcii  8sl)  avxan  x&i  £,evo)i  Bernays.  Das  ist  besser,  wie  ich 
glaube,  als  Vahlens  Vorschlag  <xö>l  de  t;6v<oi  a.Tto8idovai>  xr]v  titi%wgiov  avx&i  i xf ivou ,  aber 
weder  ccvx&i  hat  rechte  Beziehung,  noch  ist  das  nackte  tnixcogiog  ein  Gegensatz  zu  ndxgiog;  viel- 
leicht xr\v  de  £ni%d)giov  s>id.6xov  xüi  ^tvcoi. 

3)  Mit  der  merkwürdigen  Beschreibung  scenischer  Einrichtungen  bei  Tzetzes  (Pb  83.  Mb  p.  120) 
weiss  ich  nichts  anzufangen.  Alt  ist  sie  nicht,  aber  alte  Bestandteile  können  eingemischt  sein,  sie 
scheint  aus  den  Scholien  des  Eukleides  zu  stammen,  da  der  Sr.hhiss  sianz  ähnlich  ist  dem  was 
Tzetzes  kurz  zuvor  (Pb  31)  sicher  jenen  Scholien  entnommen  hat.  Aber  das  fördert  so  weiii,-  wie 
das  was  Muhl  dazu  bemerkt  hat,  Synibolae  ad  rem  scaeu.  Acharn.  et  Avium.  (Augsburg  187'J)  p.  7. 


60  GEORG    KAIBEL, 

Behauptung  dieses  Capitels,  dass  [iv&og,  kE%ug  und  ptkog  in  allen  Komödien,  da- 
gegen didvoicc,  rjfrog  und  otyig  nur  ev  oliyaig  zu  finden  seien  (d-Eaoovvxcci).  Auch 
Bernavs  hat  sich  mit  einem  allgemeinen  Hinweis  auf  das  6.  Capitel  der  Poetik 
begnügt:  dass  es  drjd'Eig  xoccycoidicu  gegeben  hat  und  ebenso  auch  drjd-Eig  xcj^lcjl- 
diai  gegeben  haben  kann,  macht  den  Gedanken  um  nichts  klarer.  Man  könnte 
bedenken ,  ob  hier  eine  Vermischung  der  Komödie  mit  dem  Mimos  vorliegt,  der 
ja  allenfalls  ohne  didvoicc  und  otyig ,  freilich  nimmermehr  ohne  %frr\  auskommen 
kann,  aber  abgesehen  von  dem  übertreibenden  ev  oliyaig  genügt  die  Erklärung 
auch  sonst  in  keiner  "Weise.  Nur  soviel,  scheint  es,  lässt  sich  erkennen,  dass 
der  Verfasser,  nachdem  er  die  allen  Exemplaren  der  beiden  Dramengattungen  ge- 
meinsamen Elemente  aufgezählt  hat,  nun  das  hervorzuheben  beginnt,  was  die 
einen  haben  und  die  anderen  nicht  haben,  oder  was  bei  den  einen  im  Vordergrund 
steht,  bei  den  anderen  zurücktritt.  Von  da  war  der  Uebergang  zu  einer  Erwei- 
terung dieses  Gesichtspunktes  gegeben.  Welches  sind  die  quantitativen  Theile, 
so  fragt  es  sich  jetzt,  die  Komödie  und  Tragödie  gemeinsam  haben,  und  welches 
die  Theile,  die  entweder  der  Komödie  oder  der  Tragödie  so  eignen,  dass  sie 
von  der  anderen  Gattung  mit  Noth wendigkeit  ausgeschlossen  .sind.  Dieser  Theil 
des  Tractats  lässt  sich  mit  Sicherheit  vervollständigen. 

Coislin.  §  8.  Tzetzes  Pb  29. 

{isQrj    xfjg    xancaidiag   xe'ööccqcc  '    ngoXoyog  exl  iQxiov    ort    xaxcc  4iovv6iov  xccl  Kgd- 

%ogix6v  S7CSL6odiov  e%odog.    itgokoyog  eöxl  xyjxcc  xccl  KvxXeC8y\v  [lEgrj  xcofMoidiag  stöl 

pogiov   xcoiKOLÖLCcg   xb   l*>£%Qi>   xfjg  siöödov  xiööccga '  TtgöXoyog  pskog  %ogov  etieiöoSiov 

xov  %ogov  '    %ogixov  e6xl  tb  vTtb  xov  %o-  xccl   s^odog.     xccl    itgoXoyog    [is'v    eöxl   xb 

gov  {lElog  at,dö{i£VOv,    oxccv  e%y\i  pEyEd'og  p£%Qt>    xov  %ogov  xr]g  elöoöov.     r\  öe  cc^ia 

IXCCVOV.       ETtELÖOÖlOV     EÖXL     XO     {lEXCc£,V     OVO       XY\l      ELöÖdoJL     XOV     %OQOV      X£yO[lEV7]     QY\6tg 

%OQixav  {ieXojv.  E^odög  s6xi  xb  Eid  xeXev  {isXog  xccXelxcci  %ogov.  ETtEiöödiov  öe  eöxl 
AEyofiEvov  xov  %oqov.  xb    [isxa£,v  [iEXäv    xccl    qyiGecov    dvo  %ogi- 

xdv.     E^odog   öe  eöxiv  r)  Ttgbg   xm    xeXei 

xov  %ogov  QY\6ig. 

Tzetzes  fährt  unmittelbar  darauf  fort  {lEgrj  de  7tagaßd6sojg  Eicxd ,  und  da  er 
es  in  Ma  ebenso  macht,  so  war  das  der  Zusammenhang  seiner  Quelle.  Mit  der 
Parabase  war,  wie  früher  gezeigt  wurde  (S.  9  f.),  die  Parodos  und  die  epirrhema- 
tische  Composition  der  Chorlieder  verbunden,  also  alle  diejenigen  Theile,  die  die 
Komödie  vor  der  Tragödie  voraus  hat.  Eben  dies  hebt  Tzetzes  in  den  Iamben 
7i.  xQay.  178  (aus  gleicher  Quelle)  mit  Nachdruck  hervor:  er  zählt  die  gemein- 
samen Theile  auf  und  sagt  von  der  Komödie:  xccl  xr)v  Ttagdßaötv  ig  jiXe'ov  xovxcjv 
(peaEi'  r)g  Tiagaßdösag  etixcc  xeXovöl  xä  ^legri  xxX.  Nicht  anders  Pollux  IV  111: 
xujv  öe  xogixav  diGtidxojv  xav  xoöfuxcöv  ev  xb  xccl  fj  Ttccodßccö'ig  —  xoayixbv  öe  ovx 
eGxlv.  Also  die  Besonderheiten  der  Komödie  waren  in  der  Quelle  des  Tractats 
den  beiden  Gattungen  gemeinsamen  Theilen  gegenübergestellt.  Nur  diese  letzteren 
sind  im  Coislin.  Tractat  erhalten,  sie  sind  bekanntlich  aufgezählt  und  beschrieben 
genau  nach  Aristoteles.    Der  Parabase  der  Komödie  entsprechend  mussten  alsdann 


DIE    PROLEQOMENA    7TEP/    KaMflUIAS  61 

die  Theile  genannt  werden,  die  der  Tragödie  allein  zukommen  und  in  der  Ko- 
mödie sich  niemals  zeigen  können.  Aristoteles  (Poet.  c.  12)  giebt  zwei  verschie- 
dene %ooixd  als  nothwendige  Erfordernisse  der  Tragödie  an  ,  ndgodog  und  6xd- 
6i\iov ,  dazu  zwei  andere  die  gelegentlich  vorkommen  könnten,  xö{ifxog  und  xä 
änb  6xr\vr[g.  Danach  rechnet  Tzetzes  (lamb.  %.  xgay.  30),  indem  er  die  Exodos 
des  Chors  mitzählt,  fünf  lyrische  Theile  der  Tragödie,  ndgodog  Cxdöi^ov  e^s^ata 
xö^i^og  E^oöog.  Diese  fünf  Theile  sind  aber  keineswegs  erst  von  Eukleides 
aufgenommen ,  sondern  schon  bei  Pollux  überliefert  in  dem  Verzeichniss  der 
aidal  und  Ttoirjuaxa,  das  wenn  auch  lüderlich  genug  angefertigt,  dennoch 
deutliche  Spuren  derselben  Quellen  zeigt  die  auch  Proklos  benützt  hat.  Zu- 
nächst ist  die  Anordnung  die  gleiche:  etcyi  (rjocöia  E^dyiEXQa  gaipcoidta)^  ekeyela 
(itEVtd[i£TQa  Einyga^axa)^  l'afißoi  (ia^ißsta  xQi^iEXQa  ävaitaiötoi)^  [ieXt}1).  Unter 
dieser  letzten  Rubrik  erscheinen  nun  bei  weitem  die  meisten  der  von  Photios 
aus  Proklos  aufgezählten  Arten  lyrischer  Dichtung,  zum  Theil  in  der  gleichen 
Reihenfolge,  mitten  darunter  aber  folgender:  &qy\voi  GlXXoi  xcjfiaLdia  xgccyai- 
^/«,  %  dgo  d  o  g  öxdGLfjiov  e  {i[i  1 X  s  i  a  XQ{L[iax  ixd  (so)  e%o  d  og ,  avxxixd  e^i- 
ßaxrjgta  u.  s.  w.  Die  geniale  Unordnung,  die  Pollux,  als  wollte  er  die  Spuren 
seines  Plünderungszuges  verwischen,  zurückgelassen  hat,  macht  es  schwierig  den 
Character  seiner  Quelle  zu  bestimmen.  An  Tryphons  'Ovo^aßtai  zu  denken  ist 
verlockend  (Bapp  Leipz.  Stud.  VIII  119),  aber  die  ausführlichen  historischen  Er- 
örterungen, die  Pollux  an  den  ßcogifiog  und  XtxvEQörjg  knüpft,  scheinen  mit  Try- 
phons Kürze  kaum  vereinbar.  Aber  wie  dem  sein  mag,  Pollux  fand  in  seiner 
Quelle  die  fünf  %0Qtxd  der  Tragödie,  darunter  waren  nur  drei  regelmässig  wieder- 
kehrende,  die  zwei  anderen  waren  ausserordentliche  Zuthaten ,  E^iXEia  und 
xofifiog,  das  ausschliessliche  Eigenthum  der  Tragödie.  Tzetzes,  von  dem  wir  es 
jetzt  wissen  da.ss  er  die  Quelle  des  Coislin.  Tractats,  und  zwar  durch  Eukleides' 
Scholien  vermittelt,  benützt  hat.  ist  uns  Zeuge  dass  die  Parabase  in  der  ur- 
sprünglichen Fassung  des  Tractats  eingehender  behandelt  war.  Wir  sehen  uns 
nach  sonstigen  Zeugnissen  um.  In  der  Abhandlung  des  Platonios  findet  sich  als 
Anmerkung  oder  besser  als  Einschiebsel  eine  Beschreibung  der  Parabase,  die 
folgendennassen  lautet : 

TtOCQdßttGig    ÖE    £6X1    XO  XOiOVXO  '    [lEZtt    XO    XOVg  VTtOXQLXag    XOV    7tQCOXOV  {lEQOVg    TtXtj- 

QC3d-£vxog  U7ib  xijg  öxrjvfjg  dvaxa>Q7j6aL ,  cjg  av  ku?)  rö  ftEaxoov  dgybv  r\i  (so  der 
Esten  sis)  xa\  6  ör^iog  dgybg  xa^E^xat ,  6  %ogbg  ovx  £%cov  ngbg  xovg  vTtoxgtxäg 
diaXavEöd-at  ccTtoöxgocpov  etioieixo  Ttgbg  xbv  dfjuov '  xaxcc  ds  xi)v  dnoöxgocpov  exeivy^v 
oi  Tfoirjxccl  dcä  xov  %ogov  r]  vtceq  eccvxgjv  ditEXoyovvxo  r\  tieoI  örjuoöicov  Ttgay^idxcov 
Ei6r,yovvxo.  r\  8e  Ttagdßaötg  sitXrjgovxo  dcä  fiEXvdgtov  xal  xouuaxiov  xal  öxgocpfjg 
xal  dvxio'xQOcpov  xal  E7tiQQr](iccxog  xal  dvxETaggrjaaxog  xal  ävaTtaiöxav. 

Es  wird  nicht  viel  ausmachen,    dass  die  Anapäste  am  Ende  stehen  ,*    schlim- 


1)  In  derselben  Reihenfolge  zählt  auch  Horaz  die  Dichtungsarteu  auf  (AP  73),  und  es  ist 
hier  besonders  deutlich,  wie  er  die  Dürre  der  literarhistorischen  Vorlage  durch  gesteigerte  Kunst 
des  Ausdrucks  zu  verdecken  strebt. 

Li 


62  GEORG    KAIIiEL, 

mer  ist  oder  scheint  vielmehr,  dass  fisXvdgiov  und  xo^iidxtov  als  zwei  verschie- 
dene Theile  gezählt  werden,  da  doch  offenbar  ^eXvdgiov  nur  ein  wolberechtigter 
Nebenname  des  xo^dxtov  ist,  für  den  Fall  nämlich  dass  dieses  lyrische  Form 
hatte.  Der  Fehler  aber  ist  nicht  etwa  von  Platonios  begangen  worden,  sondern 
ist  Jahrhunderte  älter.  Der  einzige  der  das  Wort  [leXvdgiov  ausserdem  braucht 
ist  Pollux  IV  111,  dessen  Parabasenbeschreibung  auch  sonst  der  des  Platonios 
nahe  steht :  xav  de  %ogixcav  di6\idxcov  xav  xcoyLixCbv  sv  xi  xal  t)  Ttagdßaöug  ,  bxav 
a  6  7tOLYjxr)g  Ttgbg  xb  %-eaxgov  ßovXexau  Xeyeiv  6  %ogbg  TtageXfrcov  Xeyrji.  xgayixbv 
de  ovx  iöxLV  —  xrjg  {levxoi  nagaßdöecog  eitxa  dv  sfy  fiegr]  '  xo^dxtov  Ttagdßaöig 
paxgov  öxgocpv]  eitCggii^a  dvxi6xgocpog  dvxeTCLggrj^ia'  cov  xb  ^iev  xo^dxiov  xaxaßoXrj 
(dvaßoXrj?)  xig  eöxl  ßga%eog  fieXovg,  r)  de  Ttagdßaötg  cjg  xb  tcoXv  pev  ev  dvaitaiGxcoi 
{ie'xqcoi,  et  <5'  ovv  xccl  ev  aXXcou ,  dvditaiöxa  xr)v  eitLxXrjv  e%ei.  xb  de  ovoua^ö- 
{i  ev  ov  paxgbv  eitl  x  i]i  naga  ßd  6  eo  ßga%i)  ^ieXvd  g  löv  eöxuv  dnv  evöxl 
äud 6{i  evov.  xrjt  de  6xgoyi)L  ev  xdyXobg  7tgoai6Q-eL6r\i  xb  eniggruia  ev  xexga^iexgocg 
eizdyexai,,  xal  xijg  dvxiöxgöcpov  x^l  öxgocpfji  dvxcaö&eLörig  xb  dvxeTtiggr^ia  xeXevxalov 
ov  rfjg  Ttagaßdöeobg  eöxi  xexgduexga  ovx  eXdxxo)  xbv  dgid-^ibv  xov  einggri^axog.  Es 
ist  natürlich  ein  Unding,  dass  jemals  das  {laxgov,  das  nicht  gesungen  wurde,  ein 
^eXvdgtov  genannt .  worden  wäre.  Pollux'  Erklärung  des  fiaxgov  ist  identisch 
mit.  der  des  xo^dxiov ,  so  zu  sagen  eine  Dittographie ,  nur  dass  das  eine  ein 
ßga^v  peXog,  d;is  andere  ein  ßga%v  (isXvöolov  heisst.  Dafür  fehlt  beim  paxgov 
etwas  wesentliches,  der  Nebenname  Ttvtyog,  durch,  den  allein  der  Zusatz  djtvevöxl 
didopevov  gerechtfertigt  wäre.  Das  ist  wiederum  keine  Nachlässigkeit  des  Pollux, 
sondern  ein  Fehler  seiner  Vorlage,  derselben  die  auch  bei  Hephaistion  p.  135,  11 
benützt  ist.  Was  dieser  sagt  diä  xb  dnvevGxl  Xtye<5%ai  edöxei  eivai  {laxgöxegov, 
stellt  die  Sache  auf  den  Kopf:  das  ditvevQxX  Xeyeöftai  ist  Erklärung  des  Aus- 
drucks Ttvtyog,  und  der  fehlt  bei  Hephaistion  wie  bei  Pollux.  Platonios  nun 
übergeht  das  {laxgöv  oder  Ttvtyog  gänzlich  :  er  las  in  seiner  Quelle  richtig  xb  uev 
tiqCdtov  xo[iiidxiov  xccl  peXvdgiov  oder  dgl.,  fand  alsdann  dass  das  ^laxgov  in  der 
Quelle  ganz  ebenso  erklärt  wurde  wie  das  xo^dxiov^  und  hielt  es  für  über- 
iiüssig  dasselbe  Ding,  wie  er  meinte,  zweimal  aufzuzählen.  Die  Siebenzahl  er- 
reichte er  dadurch  dass  er  xoa^idxiov  und  peXvdgiov  als  zwei  verschiedene  Theile 
ansetzte.  Platonios  steht  aber  dadurch,  dass  er  die  beiden  Ausdrücke  neben- 
einander hat,  seiner  Quelle  näher  als  Pollux,  bei  dem  sie  ganz  getrennt  er- 
scheinen. Mit  Hephaistion  ist  Pollux  noch  durch  weitere  Verwandtschaft  ver- 
bunden.   Zunächst  wird  bei  beiden  das  Parabasencapitel  ganz  ähnlich  eingeleitet: 

Hephaistion  Pollux 

eöxi  de  xig  ev  xaig  xco^ioidiaig  xal  r)  xCbv  de  %ogixcbv  dtö^dxcov  xCbv  xcoyaKav 
xcXovaevi]  Ttugdßaöig  ev  xi  xal  r)  Ttagdßaöcg, 

und  das  ist  genau  die  Form ,  in  welcher  die  ursprüngliche  Fassung  des  Cois- 
1  i  n.  Tractats,  wo  den  Idia  ttjq  xgaycotdiag  (e^eXeia ,  xö^i^og)  die  Idia  xrjg  xcj^lcol- 
dtag  entgegengestellt  wurden ,  beginnen  musste.  Sodann  aber  weist  ein  nach- 
lässiger Ausdruck    des  Pollux  auf  die  gemeinsame  Quelle:    xrjg  Ttagaßdöecog  enxa 


DIE   PROLEGOMEN A    IIEPI   KaMfLUIAlE  63 

av  ely]  iiEQr}'  xoptiaxiov  7taQdßcc6ig  {iccxqöv  xxl.  Allerdings  war  für  das  Haupt- 
stück,  die  Anapäste,  der  Gesammtname  TtaQaßaöig  üblich  geworden,  aber  wer 
die  Theile  eines  (Tanzen  aufzählt,  darf  nicht  einen  Theil  mit  dem  Namen  des 
Ganzen  benennen,  ohne  es  zu  rechtfertigen.  Die  Quelle  hatte  offenbar  was  He- 
phaistion  hat:  devxegov  de  f)  b^icovv^Lcog  xcbt,  yevei  xalov^ievr]  TcagaßaäLg1).  Der- 
selbe Ausdruck  nun  kehrt  bei  Tzetzes  überall  da  wieder  wo  er  eingestandener- 
massen  seinen  Gewährsmännern  Eukleides,  Krates  und  Dionysios  folgt  (Pb  und 
Ma,  vgl.  Iamb.  n.  xcop.  42).  Seine  Ueberlieferung  ist  in  einer  Beziehung  besser 
als  die  bei  Pollux,  Hephaistion  und  Platonios ,  insofern  sie  den  Doppelnamen 
paxQov  xal  itviyog  bewahrt  (wenigstens  in  Ma  und  in  den  Iamben2).  Dass 
Tzetzes  das  Parabasencapitel  ebenso  einleitete  wie  Pollux  und  Hephaistion,  wurde 
schon  erwähnt:  er  begann  mit  der  Bemerkung,  dass  die  Parabase  ein  Idvov  der 
Komödie  sei.  Man  sieht  auf  wie  alte  und  wie  gute  Ueberlieferung  Tzetzes' 
Quelle  zurückweist,  wenn  sie  auch  im  Laufe  der  Jahrhunderte  beträchtliche 
Trübungen  erfahren  hat:  die  Erklärung  der  Parabase  als  solcher  war  so  arg 
verwirrt  auf  Tzetzes  gekommen,  dass  er  selbst  darüber  klagen  durfte  (s.  o.  S.  9). 
Bevor  ich  die  Summe  ziehe,  muss  ich  noch  den  ersten  Paragraphen  des 
Coislin.  Tractats  einer  Prüfung  unterwerfen,  die  hoffentlich  ein  glaubhaftes  Re- 
sultat ergiebt.     Der  Tractat  beginnt  mit  folgendem  Schema: 

tfjg  Ttoirjösag 
jj  [iev  d^L^rjtog  rj  de  /ufiifri}4) 


iGxoqlxyj         7iai8evxixr\  xb  (iev  xb  de  ÖQa^iaxi,xbv 

ccTtayyelxtxov  5)  xal  %gaxxix6v 


vyy\yr\xixv\  fi-ecoQrjXLxrj 3)  xco{L(ül-    xgay-        ju-         6a- 

öta       cotöCa       {iovg    xvgovg. 

Wer  dies  mit  der  Hoffnung  liest  Spuren  einer  Aristotelischen  Systematik 
zu  finden,  kann  sich  wol  zu  so  harten  Aeusserungen  hinreissen  lassen  wie  Ber- 
nays  sie  gethan  (S.  140).  Die  Neigung  aber  eine  verlorene  Schrift  des  Aristo- 
teles aus  dem  Tractat  wenigstens  theilweis  zu  reconstruiren  wird  uns  vergangen 
sein.  Das  Schema  ist  im  übrigen  lehrreich  genug.  Die  mimetische  Poesie  zer- 
fällt in  zwei  Klassen,  die  erzählende  (dirjyrjfiaxixrj  oder  a7tayyeXxixr\)  und  in  die 
dramatische    [%Qaxxixr\ ,    activä).      Während    die   letztere    vier   Unterabtheilungen 


1)  Danach   ist   Schol.  Arist.  Nub.  518    zu    ergänzen    rcagaßucig  o^icovv^ag  <rm  yivsi  kccXov- 
(ih>r]>,  um  so  mehr  da  es  vorher  heisst  si'dri  7iccQccßc:68o)g  tma. 

2)  Den  Fehler  in  Ma  und  in  den  Iamben,  wo  /.war  sieben  Parabaseutheile  angemeldet,    aber 
nur  sechs  genannt  werden,  habe  ich  schon  früher  erwähnt  (S.  9  A.  1). 

3)  Die  vqprjyTjrtxTj  und  ^fcoprjTix?}'  sind  in  der  Handschrift  fälschlich  unter  i6roQiv.ri  geordnet ; 
Bergk  hat  den  Fehler  erkannt. 

4)  Doch  wol  fUju-rjTtxT;  ? 

5)  tnuyytXTLyiov  die  Hdschr.,  verbessert  von  Bergk.  li 


64  GEORG    KAI  BEL, 

aufzuweisen  bat,  bleibt  die  erstere  ungetbeilt:  welche  Theile  Hessen  sich  auch 
denken?  Das  Lehrgedicht,  die  paraenetische  Elegie,  das  genealogische  Epos 
haben  wir  früher  schon  als  ganz  nichtige  Ausreden  bedrängter  Systematik  er- 
kannt (S.  29  f.).  Aber  was  wir  vermissen,  sind  Elegie,  Lyrik  und  Iambos.  Sie 
können  weder  zum  Drama  noch,  zur  erzählenden  (-J-attung  gerechnet  werden: 
offenbar  ist  eine  dritte  Klasse,  das  xoivov  oder  {iixtöv,  durch  Schuld  des  Ex- 
cerptora  ausgefallen.  Im  übrigen  stimmt  alles  aufs  beste  mit  dem  Cramersehen 
Scholiasten  und  Photios,  d.  h.  also  mit  Proklos ,  nur  dass  hier  die  {ilpot  fehlen, 
die  im  Tractat,  die  untrennbare  Einheit  von  Tagödie,  Komödie  und  Satyrdrama 
störend,  sich  als  späteren  Eindringling  erweisen.  Nun  aber  die  afu'fi^rog  rcoti?- 
6ig.  Die  iötOQixrj  und  die  naidevTixr\  entsprechen  deutlich  zweien  von  den  drei 
Unterarten  der  erzählenden  Gattung  bei  Diomedes  (p.  482),  der  iötoqixtj  und 
didaöxcclixri,  während  seine  dritte  Unterart ,  die  ayyeltixri  (er  meinte  nagayysX- 
%Cxr\)  hier  als  v(prjyr}ttxrj  und  d'SCOQrjtLX^  erscheinen.  Aber,  wie  früher  bemerkt, 
die  Cgtoqlxyj  kann  mit  keinem  Schein  des  Rechts  als  genealogisches  Epos  specia- 
lisirt,  die  Theognideische  Elegie  nicht  von  anderen  zum  ydvog  xoivov  gerechneten 
Elegien  getrennt  werden,  allenfalls  durfte  das  Lehrgedicht  des  Empedokles  oder 
Arat  als  etwas  besonderes  gelten  —  Aristoteles  hatte  diese  Leute  ja  aus  der 
Reihe  der  Dichter  verbannt.  Wir  sahen,  dass  in  der  Schemati  sirung  bei  Dio- 
medes die  drei  Unterarten  des  genus  narrativuni  eine  üble  Zuthat  waren:  der 
Coislinianische  Tractat  giebt  uns  Aufklärung  über  die  Herkunft  der  Zuthat. 
Hier  wird  eine  a^i^irjtog  itovipig  abgesondert.  Ihre  erste  Gattung  ist  die  16x0- 
Qixrj,  das  kann  doch  nur  entweder  Erzählung  sein  oder  Forschung.  Nehmen  wir 
letzteres  an,  so  wissen  wir  mit  einer  der  Unterarten  der  zweiten  Gattung,  der 
deaQijtixij,  nichts  anzufangen.  Das  Gedicht  des  Empedokles  ist  doch  sicher  ein 
d-saQrjTLXÖv  und  zugleich  im  Sinne  der  Forschung  ein  iötoqlxöv.  Also  bleibt  nur 
übrig  die  Erzählung  zu  verstehen.  Wer  aber  die  Erzählung  zur  a^ii^rog  %oir\6ig 
rechnet,  während  er  das  ScTtayysXxixov  zur  {iLtirjnxri  zählt,  kaum  überhaupt  keine 
Poesiegattung  meinen.  Vielmehr  ist  noir\6ig  allgemeiner  zu  fassen  als  Schrift- 
stellerei  ,  wie  Dionys  (ep.  ad  Pomp.  p.  59,  4  Us.)  die  Bücher  des  Herodot  und 
Thukydides  Ttonjöstg  nennt ,  freilich  nicht  ohne  sich  zu  entschuldigen.  Was  für 
ein  anderes  Wort  sollte  der  Grieche  auch  sonst  wählen,  um  Poesie  und  Prosa 
zusammenzufassen:  GvyyQan^ara  würde  der  Bibliothekar  sagen,  aber  niemand 
kann  in  dem  geforderten  Sinne  von  övyyQaupata  üni[ir}tcc  oder  von  einer  övyyoa- 
cpixi]  öiä  iiiiirjösag  reden.  Die  Prosa  also  ist  gemeint,  und  ihre  vornehmste  Art, 
die  Geschichtschreibung  steht  voran  ;  daneben  die  Lehrprosa  (itaidsvzixYi) ,  die 
in  die  beiden  Unterarten  der  anleitenden,  methodologischen  (vyriyriTixif)  und  rein 
wissenschaftliehen  (^ECDQrjTLXTJ)  zerfällt.  Die  Gewähr  für  die  Richtigkeit  der  Er- 
klärung giebt  die  Analogie  der  Platonischen  Dialoge ,  die  man  frühzeitig  in 
vcpr]yrizixoi  und  %r\x"i]%ixoi  getheilt  hat  (Diog.  L.  III  49.  Albinus  Isag.  c.  3).  Die 
Prosa  ist  damit  völlig  erschöpft,  Novellen  und  Romane  gehören  natürlich  zur 
Poesie  im  engeren  Sinne,  so  gut  wie  Sophrons  Mimen  und  die  Sokratischen  Dia- 
loge .    auch    ohne    dass  sie  besonders    unter   der  dramatischen  Rubrik  aufgeführt 


DIE  PROLEGOMEN A    TIEPI  K£IM£LIJIA2  65 

zu  werden  brauchen.  Die  rednerische  Litteratur  würde  allenfalls  eine  besondre 
Art  bilden  ,  ein  ^lxtöv,  denn  sie  erzählt  und  belehrt.  Dies  Schema  ist  demnach 
weit  mehr  Aristotelisch  als  es  scheint:  in  diesem  Sinne  konnte  auch  Aristoteles 
von  einer  itoi^ig  afiLfirjtog  reden ,  ob  er  es  gethan  hat ,  ist  eine  andere  Frage. 
Die  nichtsnutzigen  Unterarten  aber  der  erzählenden  Poesie  bei  Diomedes  sind 
Kukukseier,  der  Kukuk  war  ein  richtiger  Systematiker,  der  eine  Gattung  ohne 
Arten  und  Unterarten  nicht  dulden  konnte.  Sie  sind  nicht  für  die  poetische  Lit- 
teratur geschaffen :  wer  sie  aber  einmal,  verführt  durch  den  allgemeinen  Ausdruck 
TtoiYjGig,  dahin  verpflanzte,  fand  bei  einigem  Bemühen  auch  etliche  Dichtungs- 
arten ,  die  scheinbar  dahin  gestellt  werden  durften.  Ein  auf  diese  Weise  ent- 
stelltes Schema  war  die  Quelle  des  Diomedes. 

Es  hat  sich  ergeben,  dass  der  Coisiiniansche  Tractat  aus  einer  ausführlichen 
vergleichenden  Darstellung  der  beiden  Dramengattungen  durch  die  Schuld  eines 
Epitomators  unverständigster  Art  in  seine  jetzige  Form  zusammengeschmolzen 
ist.  Das  verlorene  Original  dürfen  wir  eine  Poetik  der  Tragödie  und  Komödie 
nennen,  wobei  nicht  ausgeschlossen  ist,  dass  uns  nur  zufällig  das  allein  vorliegt 
was  Tragödie  und  Komödie  betrifft,  während  das  Original  vielleicht  eine  Poetik 
überhaupt  war.  Das  an  die  Spitze  gestellte  Schema  könnte  dafür  sprechen.  Zur 
Herstellung  des  Originals,  soweit  das  möglich  war,  Hessen  sich  ausser  den  älte- 
sten Zeugen  Pollux  und  Hephaistion  vor  allem  die  Litteraturcompendien  bei 
Diomedes  und  Euanthius  verwenden  ,  sodann  aber  auch  die  von  Tzetzes  ausge- 
schriebenen Dionysscholien.  Da  die  letzteren  nicht  nur  in  der  Fassung  der  Lon- 
doner Handschrift  sondern  insgesammt,  soweit  sie  litterarhistorischen  Inhalts 
sind,  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  Proklos  zurückgeführt  werden  konnten,  so  folgt 
dass  Proklos  die  Poetik  benützt  hat ,  dass  also  vieles  von  dem  was  in  seinen 
wichtigen  Einleitungscapiteln  über  Begriff,  Wesen  und  Technik  der  Poesie  zu 
lesen  war,  aus  jener  Poetik  stammte.  Es  mag  dafür  auf  eine  früher  schon  er- 
wähnte Thatsache  hier  mit  verstärktem  Nachdruck  hingewiesen  werden.  Der 
Verfasser  des  Tractats  oder  vielmehr  der  Poetik  sagt  (§  1)  von  der  Tragödie, 
dass  sie  eine  Reinigung  von  den  (poßeQa  %a^Y\^axa  tfjg  ipv%rjg  bewirke  dt?  ol'xrov 
xal  dsovg,  und  meint  damit  natürlich  nichts  andres  als  dt  sXiov  xal  cpoßov.  Das 
gleiche  Bestreben  ,  den  Aristotelischen  Ausdruck  zu  variiren  ,  zeigt  sich  in  deu 
Cramerschen  Dionysscholien,  wo  die  Poesie  definirt  wurde  als  eine  svzsXrjg  vnö- 
&£6ig  sxovöu  ctQ%ag  xal  piöa  xal  7t£Qata.  Hier  schwebt  offenbar  die  Aristote- 
lische Tragödiendefinition  vor  (Poet.  c.  7).  Statt  Ttgä^tg  musste  freilich,  da  es  sich 
um  die  Poesie  überhaupt  handelte,  das  allgemeinere  vitodsöig  eingesetzt  werden, 
aber  auch  unnöthiger  Weise,  ohne  die  Absicht  einer  inhaltlichen  Modifikation  ist 
geändert  worden,  evTsXrfg  steht  für  tsXeia ,  und  vor  allem  statt  ocqxtjv  xal  [isöov 
xal  TEAevrrjv,  wie  Aristoteles  gesagt  hat,  ist  das  völlig  gleichbedeutende  ägxäg 
xal  iiE6a  xal  Ttegara  eingesetzt.  Ich  denke  doch,  das  sind  Spuren  eines  und  des- 
selben Menschen,  der  absichtlich  variirt,  um  wenigstens  im  sprachlichen  Ausdruck 
seine  Selbständigkeit  zu  wahren.  Erwägt  man  ferner,  dass  in  den  Cramerschen 
Scholien    die  Poesie    überhaupt    definirt  wird ,    so  bestätigt  das  die  Vermuthung, 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  4.  9 


66  GEORG    KAIBEL, 

dass  das  Original  des  Tractats  eine  Gesammtpoetik  war,  nicht  nur  eine  drama- 
tische, und  erwägt  man  endlich,  dass  die  Definition  in  den  Scholien  beginnt  itoiv\6ig 
de  xv q tag  r\  öiä  pttQ&v  ivtskiig  vitodeöig  so  bestätigt  das  die  Annahme,  dass 
im  Tractat  die  %oiv\6ig  im  engeren,  eigentlichen  Sinne  einer  icoCr\6ig  im  weiteren 
Sinne,  d.h.  einer  kunstmässigen  (nenoirnLivri)  Prosa  gegenübergestellt  war.  Das 
schliesst  alles  so  eng  und  gut  zusammen,  dass  mir  wenigstens  kein  Zweifel  bleibt: 
die  Poetik,  das  Original  des  Coislin.  Tractats,  ist  von  Proklos  sogut  benützt 
wie  vor  Proklos  von  den  Gewährsmännern  des  Pollux,  des  Diomedes,  des  Euan- 
thius. 

Aber  natürlich  war  sie  nicht  des  Proklos  einzige  Quelle  über  Poetik.  Ein 
Werk  das  sich  XQrjöTOfiddsLa  nannte  versprach  nicht  eine  einheitliche  Lehre  vor- 
zutragen, es  versprach  vielmehr  eine  Fülle  von  wissenschaftlichem  Material  zur 
Bildung  und  Belehrung  des  Lesers.  Wir  sahen,  dass  Proklos  verschiedene  Ety- 
mologien, abweichende  Ansichten ,  unvereinbare  Traditionen  neben  einander  ver- 
zeichnete, selten  wol  so  (wie  bei  den  0xohd),  dass  er  zum  Schluss  sein  eigenes 
Urtheil  beifügte.  Solche  Bücher  entstehen  zu  allen  Zeiten  wo  die  wissenschaft- 
liche Forschung  zum  Stehen  kommt,  wo  sie  oder  wichtige  Zweige  von  ihr  aus- 
zusterben drohen.  Proklos  hatte  noch  philologische  Bildung  geniessen  können, 
aber  er  erkannte  wol,  dass  das  Interesse  für  Literaturgeschichte  im  Schwinden 
war :  Philosophie  und  Grammatik  im  engeren  Sinne  drohten  die  Philologie  zu 
verdrängen.  Da  gedachte  er  zu  retten  was  zu  retten  war  und  schrieb  nach  gu- 
ten alten  Quellen  zusammen  was  er  für  jeden  Gebildeten  als  unentbehrlich  an- 
sah, nicht  als  kritischer  Forscher  —  das  hätte  ihm  niemand  gedankt  —  sondern 
als  Sammler.  Bequem  musste  er  es  seinen  Zeitgenossen  machen:  wenn  sie  auch 
selbst  nicht  mehr  lasen  als  die  üblichen  Schuldichter,  so  sollten  sie  doch  wenig- 
stens wissen  was  die  übrigen  Dichter  geschrieben  hatten;  kurze  Inhaltsübersich- 
ten sollten  die  meist  schon  verlorenen  Originale  einigermassen  ersetzen.  Wenn 
die  Zeit  auch  kein  Verständniss  mehr  für  Poesie  hatte ,  so  sollte  sie  doch  die 
alten  Regeln  der  Poetik  nicht  verlieren  und  nicht  vergessen  wie  viel  die  alten 
Grammatiker  für  die  Sammlung,  Erklärung  und  richtige  Schätzung  der  hellenischen 
Dichtung  gethan  hatten.  Die  aegyptischen  Verskünstler  jener  Zeit  waren  vielleicht 
durch  die  philologischen  Anregungen  der  Alexandrinischen  Schule,  des  Proklos  und 
seiner  Lehrer  auf  ihre  Wege  gebracht  worden.  Also  eine  Sammlung  wichtiger  und 
wissenswerther  Thatsachen  zur  Geschichte  der  griechischen  Poesie  enthielt  die  Chre- 
stomathie des  Proklos,  und  unter  diesem  Titel  war  Raum  für  viele  Urtheile  und 
Ueberlieferungen.  Diomedes  beginnt  seine  Capitel  über  Tragödie  und  Komödie 
mit  den  Theophrastischen  Definitionen ,  während  er  an  Stilgattungen  nicht  drei 
sondern  vier  aufzählt,  also  hier  einem  andren  Gewährsmann  als  Theophrast  folgt. 
In  den  Cramerschen  Scholien,  also  bei  Proklos,  finden  wir  peripatetische  Anschau- 
ungen über  die  Bedeutung  der  Poesie  neben  stoischen  verzeichnet,  wiederum  bei 
Diomedes  finden  wir  eine  altperipatetische  Auftheilung  der  gesammten  poetischen 
Litteratur,  aber  der  einen  Gattung  sind  drei  Unterarten  thöricht  hinzuconstruirt. 
Eine  einheitliche  Urquelle  auch  nur  zu  suchen  wäre  Thorheit.     Wie  oft  ist  itegl 


DIE  PROLEGOMEN A    T1EPI   K£lM£lIJIA2  67 

%oiv\xiXY\g ,  nsgl  Ttoirjt&v,  xegl  Xs^scog,  tceql  yga^arcxflg^  nsgl  x(ü[i(oidiag  xul  tga- 
ymdiag  u.  dgl.  geschrieben  worden :  es  musste  doch  ein  jeder  der  Verfasser  glau- 
ben seinen  Vorgänger  überbieten  zu  können,  indem  er  mehr  oder  besseres  lehrte 
oder  doch  wenigstens  anderes.  Wie  oft  mag  ein  ernsthafter  Gedanke  von  einem 
späteren  wieder  aufgegriffen  und  für  ein  oberflächliches  Publicum  trivialisirt 
worden  sein.  Die  beiden  vielbesprochenen  Dionysscholien,  über  Tragödie  und 
Komödie  sind  dafür  lehrreich  (p.  746  und  748  Bekk).  Da  heisst  es  von  den 
Tragikern,  dass  sie  ftsiovreg  (bysÄslv  xoivi\i  tovg  tfjg  nokecog ,  Xa^ßccvovtsg  nvag 
ccg%ccCag  iöxogCag  zebv  rjgcocjv  i%ov6ag  ixa$Y\  rtva,  iä&  oxe  xccl  &ccvcctovg  xccl 
ftgrjvovg ,  4v  ftaatgai  tavtec  STtsösLrtvvvto  toig  bgcaöL  xul  ccxovovöiv ,  svdsixvv^isvoi 
7iaga({vXdLTT£6ftaL  rö  cc^iagrccvacv.  Das  ist  aus  der  Aristotelischen  Katharsis 
schliesslich  geworden.  Der  Dichter  ist  zum  6co(pgovi6trjg  gemeinster  Art  gewor- 
den, von  seiner  tyvyaytüyia  ist  nicht  mehr  die  Rede.  Und  ebenso  werden  die 
Komiker  als  Leute  gerühmt  elEy%ovxeg  tovg  xccxcbg  ßiovvtccg  xccl  tovg  tuig  ccdixicug 
lalgovrag,  ccvaörskkovtsg  rag  ccxccigovg  xccl  äöCxovg  avxav  nga^sig  xccl  dxpsXovvrsg 
xoivr\i  tijV  noXiteiccv  rav  'Jd-rjvatcov.  Man  kann  nicht  schiefer  und  seichter  reden, 
und  doch  sind  die  beiden  völlig  parallel  gefassten  Scholien  ein  werthvoller  Nach- 
klang alter  gelehrter  Forschung,  die  die  beiden  Dramengattungen  aus  gleicher 
Veranlassung,  ja  aus  einer  gemeinsamen  Wurzel  entstehen  und  sich  zu  gleicher 
Form  entwickeln  Hess,  die  auf  diese  Erkenntniss  gestützt  die  Sprache  der  Ko- 
mödie aus  der  der  Tragödie  ableitete,  so  gut  wie  den  Prosastil  aus  der  Dichter- 
sprache. Durch  welche  Rinnsale  all  das,  was  die  verschiedensten  Männer  zu  den 
verschiedensten  Zeiten  gedacht  oder  doch  geschrieben  haben,  schliesslich  zu- 
sammengeflossen ist,  werden  wir  in  den  meisten  Fällen  niemals  erfahren:  wir 
müssen  uns  begnügen  und  können  es  auch. 

Eine  Poetik  nun  aber  kann  für  historische  Darstellung  nicht  viel  Raum  er- 
übrigen, noch  weniger  für  widersprechende  Erörterungen  über  die  Geschichte  der 
Tragödie  und  Komödie,  über  Erfinderrechte,  über  Dichternachlass  u.  a.  Trotzdem 
finden  sich  bei  Diomedes  wie  bei  Euanthius ,  insbesondre  in  den  Dionysscholien 
(Tzetzesj  historische  und  systematische  Elemente  nebeneinander,  und  zwar  beide 
mit  vielfacher  Uebereinstimmung  auch  in  unwesentlichen  Dingen.  Folglich  wer- 
den wir  auf  Bücher  verwiesen ,  die  ihrer  Natur  und  Aufgabe  nach  beides  ver- 
einen konnten  und  mussten ,  auf  literarhistorische  Sammlungen  oder  auch  Dar- 
stellungen. Die  Lateiner  konnten  nicht  wie  die  Dionysscholiasten  den  Proklos 
benützen  ;  also  hatten  sie  ältere  Bücher.  Rathen  lässt  sich  hier  vieles ,  wissen 
und  beweisen  nichts.  Ob  man  die  Quelle  des  Diomedes  Probus  nennt  oder  Sue- 
ton,  damit  ist  nicht  das  mindeste  gewonnen.  Probus  ist  für  die  griechische  Li- 
teraturgeschichte naturgemäss  unselbständig :  aber  weder  er  noch  Varro  sind 
Leute,  die  sich  ein  Buch  von  der  Bibliothek  holen ,  um  es  zu  Hause  abzuschrei- 
ben oder  ins  Lateinische  zu  übersetzen.  Ob  zwischen  Proklos  oder  Orion  und 
Didymos  Mittelsmänner  eingetreten  sind,  ist  ebenfalls  zunächst  nicht  zu  sagen. 
Es  läge  ja  nahe  den  Dionysios,  den  Tzetzes  neben  Eukleides  und  Krates  nennt, 
als  den  Mann  anzusehen,  der  von  Proklos  als  Gewährsmann  citirt  in  die  Excerpte 

9* 


68  '  GEORGKAIBEL, 

der  Dionysscholiasten  hinübergenommen  und  von  da  zu  Tzetzes  gelangt  wäre. 
Aber  die  Movölx^  iöxoqlcc  des  Dionys  ist  ein  Buch  mit  dem  ich  nicht  operiren 
mag,  da  ich  gesehen  habe,  auf  wie  schwanker  Grundlage  das  auf  seinen  Namen 
errichtete  Ueberlieferungsgebäude  beruht  (s.  Zusatz).  Ich  weiss  weder  wer  der 
Krates  bei  Tzetzes  ist  noch  welchen  von  den  vielen  Dionysien  er  meint,  von 
Eukleides  ist  ebenfalls  nichts  mit  voller  Sicherheit  zu  sagen.  Die  direct  von 
Tzetzes  genannten  Gewährsmänner  also  hat  diese  Untersuchung  ebensowenig 
fixirt  wie  es  Consbruch  und  anderen  vor  mir  gelungen  ist. 


Zusatz. 

Seit  35  Jahren  gilt  es  als  feststehende  Thatsache,  dass  die  Movtäixri  fotogicc 
des  jüngeren  Dionys  von  Halikarnass  eine  der  hauptsächlichsten  Quellen  des 
Hesych  von  Milet  gewesen  ist.  Man  glaubt  sogar  ein  sicheres  Zeugniss  dafür 
zu  besitzen,  in  der  Herodiauvita  bei  Suidas :  'HgaLÖiavog  'AlEt.avdoevg,  yga(i(iari- 
xog,  vibg  'AitoXlavlov  xov  yQa^i^iaxLXov  xov  STUxXrjfrevxog  dvöxolov.  yeyovs  xaxä 
xbv  Kuiöaga  ''Avxcovivov  xbv  xccl  Mäoxov  '  ug  vscjxsqov  eivau  xccl  zfiovvöiov  xov 
xijv  Mov6ixr\v  löxogiccv  ygdxljavxog  xccl  Oiloivog  xov  BvßXcov.  eyQcctye  tcoXXu.  He- 
sych, so  sagt  man  (Schneider  Callim.  II  31 ,  und  nach  ihm  Wachsmuth  Kohde 
Daub  u.  a.) ,  habe  hierdurch  Dionys  und  Philon  als  seine  Hauptquellen  ange- 
geben und  die  Kürze  der  Herodiauvita  damit  entschuldigen  wollen,  dass  Hero- 
dian  weil  jünger  nicht  mehr  in  ihren  Büchern  vorgekommen  sei.  Aber  ist  denn 
die  Vita  kürzer  als  die  vieler  anderer  Grammatiker,  die  vor  Hadrian  gelebt 
Laben  ?  es  steht  ja  alles  da  was  Suidas  zu  geben  pflegt,  Heimath,  Beruf,  Vaters- 
name. Zeit  und  Werke;  nur  das  Verzeichniss  der  vielen  Schritten  ist.  wie  das 
ja  oft  geschehe!!,  vom  Epitomator  fortgelassen:  wer  aber  wusste,  dass  er  nokld 
geschrieben,  konnte  auch  wenn  er  wollte  angeben,  was  er  geschrieben  hatte. 
Aber  es  mag  sein:  was  hat  aber  Dionys  mit  Herodian  zu  thun?  er  hätte  doch, 
auch  wenn  Herodian  Zeitgenosse  des  Nero  gewesen  wäre,  in  seiner  Mov6ixv\ 
iöxoqicc  keine  Gelegenheit  gehabt  den  Grammatiker  zu  biographiren.  Oder  meinte 
Hesych  eigentlich  nur  Philon.  der  ihn  ja  freilich  als  berühmten  Alexandriner 
wol  genannt  haben  würde?  warum  ,  nannte  er  aber  den  Dionys  mit?  waren 
Philon  und  Dionys  eine  unzertrennliche  Einheit,  hatte  Hesych  eine  Quelle,  in 
der  beide  zusammengearbeitet  waren  ?  aber  wie  konnte  jemand  auf  den  Gedanken 
kommen  zwei  Schriftsteller  zu  verbinden ,  die  sich  in  den  wichtigsten  Dingen 
decken  mussten?  bei  weitem  die  meisten  Berühmtheiten,  die  Dionys  aufführte, 
standen  unter  dem  Namen  ihrer  Heimath  auch  bei  Philon;  die  wenigen,  deren 
Heimath  unbekannt  war,  die  also  wol  bei  Dionys  aber  nicht  bei  Philon  vor- 
h 


DIE  PRÖLEGOMENA   IJEPI  KilM£lIJJA2  69 

kommen  konnten ,  zählen  nicht.  Und  wie  kam  das  Buch  des  Unbekannten  zu 
seinem  Doppelnamen,  warum  verschwieg  der  Verfasser  seinen  Namen?  und  wo- 
her hatte  er  denn  überhaupt  Kenntniss  von  Herodian  ?  er  konnte  die  Vita  mit 
ihren  ausreichenden  Details  doch  nur  einfügen,  wenn  er  fortsetzen  wollte,  und 
wollte  er  das,  so  musste  er  Quellen  dafür  haben,  und  diese  Quellen  machten 
eine  solche  'Entschuldigung'  überflüssig.  Also  fordert  der  sonderbare  Zusatz  bei 
Hesych  eine  andere  Erklärung ,  und  folgendes  lässt  sich  denken.  Hesych  hatte 
seinen  ^Ovo^iatoloyog  oder  seinen  Iliva%  t&v  iv  naideiai  dvonaör&v  nicht  in 
alphabetischer  Folge  angelegt,  sondern  hatte  zunächst  sachliche  Gruppen  geson- 
dert (Dichter ,  Philosophen ,  Historiker ,  Grammatiker  u.  s.  w.) ,  innerhalb  der 
Gruppen  aber  die  Namen  chronologisch  geordnet  (vgl.  Daub  Fleckeis.  Jahrb. 
Suppl.  Bd.  XI  404  f.  Wentzel  Texte  u.  Untersuchungen  hg.  von  Harnack  und 
Gebhardt  XIII  8  S.  57  ff.).  Hesych  mochte  für  die  Grammatiker  eine  Quelle 
haben,  die  mit  den  beiden  Zeitgenossen  Dionys  und  Philon  abschloss,  dann  trat 
eine  neue  Quelle  ein,  die  mit  Apollonios  und  Herodian  etwa  begann;  diesen 
Quellenwechsel  konnte  er  einleiten  mit  den  Worten  'soweit  reichte  das  bisher 
benützte  Buch,  nämlich  bis  Dionys  und  Philon  ;  die  jüngeren  entnehme  ich  einem 
anderen  Gewährsmann'  oder  dgl.  Er  konnte  aber  auch  die  Geschichte  der  Gram- 
matik in  Perioden  getheilt  und  mit  Apollonios  und  Herodian  (Vater  und  Sohn 
erscheinen  auch  sonst  eng  verbunden,  vgl.  Osann  Philem.  p.  306)  ganz  rationell 
eine  neue  Periode  begonnen  haben.  Aber  auf  die  Richtigkeit  dieser  Erklärungen 
kommt  zunächst  nichts  an:  nur  dass  die  Schneidersche  falsch  ist,  muss  noth- 
wendig  zugegeben  werden. 

Aber  was  konnte  denn  etwa  Hesych  aus  Dionys'  Movöixij  lötoqlcc  ent- 
nehmen? Er  selbst  sagt  nur,  dass  es  36  Bücher  gewesen  seien:  iv  de  tovroig 
avlr\x^v  xccl  xid-aQmdav  xccl  itoir\xfov  Ttccvtoicov  ^e^vrjtai.  Dionys  war  und 
hiess  {lovGixög  im  engsten  Sinne ,  seine  übrigen  Schriften  bestätigen  das ,  24 
Bücher  1Pv&hlxcjv  vito^vYi^idrav ,  22  Bücher  Movöixrjg  ncudeCag  r\  dicctQißCjv ,  5 
Bücher  über  das  Thema  TCva  [lovöixiog  eigrixai  iv  x^l  llkcctavog  UoXizdai. 
Geschichte  der  Musik  und  Poesie  waren  bei  den  Griechen  engbenachbarte 
Gebiete ,  aber  doch  nur  soweit  bei  der  Poesie  die  Musik  in  Betracht  kam ; 
die  navToloi  noir\rai,  die  Hesychs  Epitomator  allzu  kurz  neben  den  Auleten  und 
Kitharoden  nennt,  waren  gewiss  lyrische  Dichter.  Aber  trotzdem  deutet  man 
die  Movöixrj  iözoqiu  in  so  weitem  Sinne ,  dass  sie  selbst  Epiker  umfasst  haben 
soll.  Auch  hier  geht  die  grundlegende  Combination  von  Sehneider  aus :  er  findet, 
dass  die  von  Sopater  excerpirte  Mov6ixr\  loxoQia  des  Rufus  ,  nach  dem  Referat 
bei  Photios  Cod.  161 ,  dem  Titel  und  Inhalt  nach  die  grosste  Aehnlichkeit  mit 
dem  gleichnamigen  Buch  des  Dionys  gehabt  haben  müsse  und  hält  es  für  un- 
zweifelhaft, dass  der  sonst  unbekannte  Rufus  den  Dionys  epitomirt  habe:  was 
also  bei  Rufus  stand,  das  habe  noth wendig  auch  bei  Dionys  gestanden.  Aber 
Photios  Angaben  selbst  zeigen,  dass  die  Selbständigkeit  des  Rufus  unterschätzt 
wird.  Aus  dem  ersten,  zweiten  und  dritten  Buch  der  Movötx))  i<5toqi<x  des  Rufus 
hat  Sopater  das  5.  Buch  seiner  'Exkoyai  zusammengetragen  :  iv  col  tQayixCzv  re 
13* 


70  GEORG   KAIBEL,   DIE  PROLEGOMENA   TIEPI  KflMfLUIAS 

x<xl  xcj^ixcjv  7t  o  ix  i  Xrjv  1 6  t  o  q  Cav  syptfösig,  sagt  Photios,  ov  pövov  ds  dXXä  xal 
ÖLd-VQcctißoTtOLcbv  ts  xccl  avXrjtöbv  xal  xt&aQcoidcov ,  sjci^aXa^Ccav  ts  aidtibv  xal  vps- 
icticav  xal  v7toQ%ruiaxG)v  d(p7]yr}6iv ,  itsgi  ts  6Q%r\6t(bv  xal  täv  ccXXcjv  ta>v  sv  tolg 
'iJlXrjVLxolg  dsdtQOig  aycovi£o[idvG)v ,  dazu  war  zu  lesen,  wie  diese  Leute,  Männer 
oder  Weiber,  zu  Ansehen  gekommen  sind,  was  die  einzelnen  zuerst  erfunden  und 
betrieben,  in  welchen  persönlichen  Verhältnissen  sie  zu  Königen  oder  Tyrannen 
gestanden  haben,  ferner  bei  welchen  Festen  sie  aufgetreten  sind,  welchen  Ur- 
sprung diese  Feste  hatten,  speciell  die  sogtal  7tdvör}[ioi,  in  Athen.  Das  alles  be- 
trifft also  nicht  die  Dichter  schlechthin,  sondern  nur  soweit  sie  öffentlich  aufge- 
treten sind:  für  die  alten  Elegiker,  wie  Theognis  u.  a.,  für  die  subjective  Lyrik 
der  Sappho,  des  Alkaios  war  hier  kein  Raum.  Es  ist  in  der  That  Movölxyj 
Lötogta,  in  weiterem  Sinne  zwar,  aber  doch  in  engerem  als  Schneider  wollte ;  es 
ist  aber  eine  %oixiXr[  lötoQia,  wie  die  des  Aelian  ,  des  Favorinus ,  wie  die  Atti- 
schen Nächte  des  Gellius.  Im  vierten  und  fünften  Buch  gab  Rufus  avXrjt&v  ts 
(Männer  und  Weiber)  xal  avXrj^idtcov  dcpijyrjöLv ,  er  erzählte  von  Homer ,  Hesiod 
Antimachos  und  von  vielen  anderen  Dichtern  tav  elg  tovto  rö  ysvog  drayopsvcov. 
Gemeint  sind  Epiker,  und  ihnen  schliessen  sich  die  weiblichen  Vertreter  hexa- 
metrischer Poesie  passend  an,  die  Sibyllen ,  tivsg  ts  xal  ödsv.  Das  vierte  Buch 
war  demnach  ganz  Musikgeschichte ,  das  fünfte  hatte  damit  nichts  zu  thun. 
Ausserdem  hat  Sopatros  noch  das  achte  Buch  des  Rufus  ausgezogen ,  das  den 
Specialtitel  ztga^iatixi}  CötoQia  trug:  da  waren,  sagt  Photios,  zu  finden  itagado^d 
ts  xal  d%L$ava  \1dX16ta ,  xal  tgaycoiöSiv  xal  xcj^KOid&v  diacpogoi  Ttga^sig  xs  xal 
Xoyoi  xal  S7Utrjdsv[iata  xal  toiavtf  stsga,  also  Schauspieler-  und  Sängeranecdoten, 
wie  die  des  Stratonikos  bei  Athenaeus  und  ähnliches.  Wenn  das  alles  ein  Ex- 
cerpt  aus  Dionys  sein  soll,  so  steigt  unsere  Achtung  vor  dem  povöixog  nicht 
gerade  hoch,  aber,  was  wichtiger  ist ,  dann  konnte  Hesych  sich  keine  unpassen- 
dere Quelle  aussuchen,  keine,  deren  Benützung  ihm  mehr  Mühe  zu  verursachen 
drohte.  Wenn  aber,  wie  ich  meine,  Rufus  zwar  die  MovGixij  ititogCa  des  Dio- 
nys zur  Hilfe  nahm  (daher  das  Citat  (Povcpog  xal  Aiovvöiog  in  den  Scholien  zu 
Aristid.  III  537  Di) ,  um  seine  Anecdotensammlung  zu  bereichern ,  aber  aus  an- 
deren Quellen  ausserdem  was  ihm  gut  schien  zusammenholte,  dann  giebt  das 
Werk  des  Rufus  kein  Bild  mehr  von  dem  des  Dionys,  das  sich  allem  Anschein 
und  aller  Ueberlieferung  nach  mit  Musik  und  Musikern  befasste.  Diese  rein 
negativen  Bemerkungen  hielt  ich  für  nothwendig :  zu  ihrer  Empfehlung  füge  ich 
hinzu,  dass  G.  Wentzel,  dem  ich  sie  vorlegte,  mir  mittheilte,  er  sei  bei  seinen 
Suidasuntersuchungen  zu  gleichen  oder  ähnlichen  Resultaten,  jedesfalls  zur  Ab- 
lehnung der  Schneiderschen  Combinatiopen  gekommen.  Ich  würde  demnach  diesen 
unerfreulichen  Zusatz  unterdrückt  haben ,  wenn  ich  nicht  wüsste ,  dass  bis  zur 
Veröffentlichung  von  Wentzels  Untersuchungen,  die  zweifellos  positiverer  Art 
sein  werden,  noch  manches  Jahr  verstreichen  wird. 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH  -  HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE   BAND  2.  Nro.  5. 


Die  einstämmigen  männlichen  Personennamen 

des  Griechischen, 

die  aus  Spitznamen  hervorgegangen  sind. 

Von 


Fritz  Bechtel, 

auswärtigem  Mitgliede. 


Berlin, 

Weidmannsche    Buchhandlung. 

1898. 


Die  einstämmigen  männlichen  Personennamen 

des  Griechischen, 

die  aus  Spitznamen  hervorgegangen  sind. 

Von 

Fritz  Bechtel, 

auswärtigem  Mitgliede. 
Vorgelegt  in  der  Sitzung  am   11.  December  1897. 


Der  Komiker  Anaxandrides  hat  sein  Publicum  mit  den  Worten  apostrophiert: 
'T^istg  yaQ   dXXrjkovg  asl  iksvdt.ez ',  oid1  dxQißag' 
"j4v  [iev  yäg  fji  reg  £V7tQS7irjg,  leqov  ydpov  xccXeixs' 
iäv  ös  iiixqov  Ttavrekög  <xv&qg)1UOV,  6xdXay^iov ' 
layLTtQog  xig  ih,ElrjXv& ,  [«,t>'9"ug]  okokvg  ovxog  iöxi' 
5  XiTiaQbg  itegntazsl  Z/rj^oxXrjg,  ^co^ibg  xaxcov6\x,a<5xai' 
%aiQ£i  xig  av%tiG)v  rj  qvtcojv,  xoviogxbg  ävccTtEcprjvsv ' 
Q7W5&EV  axoXov&ei  xöXat,  xm,  Xs^ißog  iitixixlr{xai' 
rä  7ioÄV  adsiTtvog  TtEQmaxEZ,  xEöxQtvög  iöxv  vr\6xvg' 
slg  xovg  xaXovg  ff  dv  xig  ßkt7tr\i^  ^xaivbg  fteaxQoiioiog' 
10  vcpecXex'  ccqvcc  jtOLtievog  itai^ov,  'Axgsvg  ExXrjd-rj ' 
iäv  öe  xqlov,  <&QL%og,  dv  öe  xcoödgiov,  'Idöcov 
(Meineke  3.  177).     Diese    Iamben    zeugen   von    der  nämlichen  Virtuosität    in    lu- 
stigem Tadel   und  Spott,    wie    die  Namen,    deren  Betrachtung    die  Aufgabe  der 
vorliegenden  Abhandlung  sein  soll. 

Ich  glaube  zeigen  zu  können,  dass  eine  grosse  Anzahl  griechischer  Männer- 
namen aus  einstämmigen  Spitznamen  hervorgegangen  ist. 

Der  Spitzname  ist  seinem  Herkommen  nach  ein  Beiname ,  der  durch  ein  im 
körperlichen,  geistigen  oder  gesellschaftlichen  Leben  des  Einzelnen  hervortre- 
tendes abnormes  Moment  veranlasst  wird l).    Er  tritt  zunächst  neben  den  bürger- 

1)  Ueber  Spitznamen  hat  Grasberger  in  der  Schrift  Die  griechischen  Stichnamen  (Zweite 
Auflage  1883)  gesprochen;  einen  Nachtrag  dazu  enthalten  die  Studien  zu  den  griechischen  Orts- 
namen (1888). 

1*  5 


FRITZ    BECHTEL, 


liehen  Namen,  dessen  Träger  er  ans  der  Schaar  seiner  Namensgenossen  heraus- 
hebt. Aber  dieses  Herausheben  kann  mit  solcher  Energie  geschehen,  dass  der 
bürgerliche  Name  darüber  zu  kurz  kommt  und  der  Spitzname  allmählich  an  die 
Stelle  des  bürgerlichen  rückt.  In  einzelnen  Fällen  setzt  der  Spitzname  eine  aus 
der  Kinderstube  stammende  Bezeichnung  fort.  So  verdankte  Demosthenes ,  wie 
man  aus  Aischines  1.  126  ersieht,  die  sitavvuia  Bdxxalog  seiner  xfad-rj,  in  deren 
Mund  sie  ein  vitoxogiöyLa  gewesen  war.  Ich  verweise  auch  auf  WSchulzes  schone 
Ausführung  über  die  Anrede  xvXXojiodiov ,  mit  der  sich  Hera  &  331  an  ihren 
Sohn  Hephaistos  wendet  (Quaest.  epic.  308). 

Der  Beweis  dafür,  dass  ein  Name  aus  einem  Spitznamen  hervorgegangen 
ist,  liegt  zunächst  in  seiner  Bedeutung.  Es  hat  nie  zu  den  Idealen  des  Hellenen 
gehört  mit  einem  dicken  Bauche  durch  das  Leben  zu  wandern.  Eben  darum  ist 
es  unmöglich,  dass  der  Name  Ovöxcov,  der  uns  schon  im  6.  Jahrhundert  in  Ko- 
rinth  begegnet,  seinem  Ursprünge  nach  etwas  andres  sei  als  ein  Spitzname. 
Der,  der  ihn  zuerst  getragen  hat,  hat  ihn  nicht  an  der  dsxdxri  empfangen.  iVber 
der  Kampf,  der  sich  zwischen  Ernstnamen  und  Spitznamen  entspann,  kann  zu 
Gunsten  des  Eindringlings  schon  zu  der  Zeit  entschieden  gewesen  sein  ,  wo  der 
Träger  seinen  Namen  m  die  Bürgerliste  eintrug. 

Der  ursprüngliche  Charakter  eines  Nam'ens  offenbart  sich  aber  oft  auch 
darin,  dass  er  in  der  Function,  die  man  ihm  seiner  Bedeutung  nach  zuschreiben 
würde,  wirklich  gefunden  wird.  Um  bei  Ovöxav  zu  bleiben:  der  siebente  Pto- 
lemaier  führt  den  Beinamen  6  <&v6xa)v.  Oder  es  handle  sich  um  Erklärung  der 
Namen  Ka&cov  und  Mdöxog ,  die  ursprünglich  keine  Ernstnamen  sein  können. 
Sie  ist  gefunden,  sobald  man  bei  Atkenaios  liest,  warum  der  Athener  Diotimos  den 
Beinamen  Xcovr}  empfangen  hat :  ivxid-msvog  yccQ  xcbi  öxo^axL  xd}vr\v  aTtuvörcog  BTttvEv 
BTtL%so^ievov  ol'vov    o&ev  xai  Xcjvtj  ETtexXrjd'rj,    63g  (prjöt,  IIole^KDV  (Athen,  p.  436  e). 

Der  sicherste  Beweis  für  die  Herkunft  eines  das  Zeichen  des  Spitznamens 
an  der  Stirne  tragenden  Namens  würde  der  Umstand  sein,  dass  neben  ihm  noch 
ein  zweiter  überliefert  wäre,  der  als  der  von  ihm  verdrängte  betrachtet  werden 
könnte.  Bei  einer  Anzahl  Hetäreunamen  kann  dieser  Beweis  wirklich  geführt 
werden.  Man  lasse  sich  etwa,  um  Bekanntres  zu  übergehn ,  von  Machon  (bei 
Athen,  p.  578  b — d)  erzählen,  wie  der  Name  Milixxa  allmählich  hinter  den  Spitz- 
namen MavCct  zurückgetreten  ist.  Als  Beispiel  für  die  Ersetzung  des  Geburts- 
namens durch  die  Bitixlr^ig  beim  freien  Manne  pflegt  man  die  Metonomasie  des 
Piaton  geltend  zu  machen.  Mir  will  aber  scheinen ,  dass  diese  Geschichte  nicht 
die  Ehre  verdient  hätte  von  Philologen  wie  Meineke  (1.  288)  und  Müllenhoff 
(Zur  Runenlehre  53)  geglaubt  zu  werben. 

Die  Nachricht  steht  bei  Diogenes  Laertius  (3.  5).  Piatons  Lehrer  im  yv- 
(ivccölov,  heisst  es,  sei '/Iqlöxcov  o'AQysiog  Ttalcaöxtjg  gewesen;  ä(p  ov  xai  Ukdxcov 
diä  xr\v  evs&av  ^sxcovo^idöd-rj ,  ngoxegov  ^QiöxoxXfjg  dich  xov  Ttannov  xccXov{ievoq, 
xcc&d  (pri6iv  'AkelavÖQog  iv  <dLado%aig.  Nach  Andren  (svlov)  sei  er  diä  xr\v  jtlaxvxrjxcc 
x)]g  egfirivEiccg  so  genannt  worden;  nach  Neanthes  aber,  oxi  nXaxvg  r\v  xb  [ie'xg)71ov. 
Was    die    evlol   wissen   wollen,    braucht   nicht   ernsthaft   genommen   zu    werden. 


OREECH.   PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  5 

Von  den  beiden  andren  Varianten  der  Nachricht  enthält  keiner  eine  sprachlich 
unmögliche  Voraussetzung;  nichts  desto  weniger  fehlt  mir  zu  der  Botschaft 
auch  in  diesen  Formen  der  Glaube.  Er  fehlt  mir  darum,  weil  eine  ganz  ähn- 
liche Nachricht  über  eine  Umnennung  des  Theophrast  verbreitet  gewesen  ist,  in 
der  deutlich  ein  Anekdotenschwabe  sein  Wesen  treibt.  Ausführlich  trägt  sie 
Strabon  p.  618  vor:  Tvaxa[iog  ö'  exccXeixo  e^iiqo6%'ev  ö  ®e 6(pocc6xog ,  [itTGJVouaGS 
d'  ccvxbv  'Aoi6xox£fo]g  &s6(pocc6xov ,  apa  fiev  cpsvyav  xrjv  xov  tiqoxeqov  vvö^iaxog 
xaxocpcovLuv,  apa  da  xbv  xr\g  cpQccöscog  awroi)  ^lov  E7a6rj^iai,v6^svog.  Kürzer  Diog. 
Laert.  5.  2,  s :  Tovxov  Tvqxccuov  Xsyo^ievov  GsocpQaßxov  dtä  xb  xrjg  (pQ&öEcog  &£- 
öTisGiov  'AQi6xoxilx\g  ^isxcov6^a6£v.  Grasberger  nennt  diese  Erzählung  eine  be- 
deutungsvolle Angabe  (Ortsnamen  332).  Ich  vermag  nicht  so  günstig  über  sie 
zu  urtheilen.  An  sich  Mögliches  enthält  sie  nur,  soweit  sie  das  Factum  einer 
Namensänderung  behauptet.  Wenn  sie  aber  auch  wissen  will ,  Aristoteles  habe 
den  neuen  Namen  zu  Ehren  der  göttlichen  tpgd6cg  seines  Schülers  gewählt ,  so 
ist  sie  leicht  zu  widerlegen :  Aristoteles  hätte  in  der  Lage ,  in  die  ihn  die  Er- 
zählung versetzt,  nicht  cpQcc6ig  sondern  li^ig  gebraucht.  Nun  würde  das  be- 
hauptete Factum  dadurch,  dass  spätre  Schriftsteller  es  nur  aus  eignen  Mitteln 
zu  begründen  wissen,  noch  nicht  selbst  in  das  Reich  der  Erfindungen  verwiesen 
werden.  Aber  man  beachte,  dass  wir  nun  schon  dem  zweiten,  einflussreichen 
Philosophen  begegnen,  von  dem  eine  Metonomasie  gemeldet  wird.  Da  liegt  doch 
der  Verdacht  nahe,  dass  die  Nachricht  von  der  Namensänderung  gerade  so  viel 
werth  sei  wie  ihre  Begründung,  von  Biographen  herrühre,  die,  weil  ihnen  nur 
wenige  verbürgte  Data  aus  dem  Lebensgange  ihrer  Helden  zur  Verfügung  stan- 
den, zu  Anekdoten  griffen,  um  die  magre  Erzählung  herauszuputzen.  Bekannt 
ist,  dass  von  Stesichoros  ebenfalls  eine  Umnennung  erzählt  wird.  Die  des 
Piaton  braucht  keinen  festren  Rückhalt  zu  haben,  als  den  Wunsch  zu  erklären, 
warum  der  Sohn  des  Ariston,  der  Enkel  des  Aristokles  nicht  Aristokles  sondern 
Piaton  geheissen  habe. 

An  die  Stelle  dieses  angefochtnen  Beispieles  will  ich  ein  unanfechtbares  setzen, 
das  noch  in  andrer  Beziehung  lehrreich  ist.  Herodot  erzählt  von  einem  Spar- 
tiaten  Z£v%idr}{iog,  xbv  dij  Kvvi6xov  ^sxe^exsqol  ZJTtccQxiiqxEcov  ixdkeov  (6.  7ij.  Der 
Name  Kvvi6xog  ist  allerdings  wol  kein  eigentlicher  Spitzname  sondern  einer  der 
schmeichelnden  Beinamen,  denen  wir  nicht  selten  begegnen;  immerhin  aber  doch 
ein  Beiname.  Dass  in  diesem  Falle  der  Beiname  den  offiziellen  aus  dem  Felde 
geschlagen  hat,  ersieht  man  daraus,  dass  die  Enkelin  des  Zeuxidamos,  die  tiq&xyi  t£ 
i7i7toxo6(pri6E  yvvcuxcjv  xal  vixr\v  avsCkexo  ^Okvfi7tixrjv  iZQcoxri  (Paus.  3.  8.  i),  Kvvi6xa 
hiess,  auch  auf  der  Basis,  die  sie  nach  Olympia  gestiftet  hat,  sich  selbst  Kvvi6xu 
nannte  (Olympia  no.  160).  Man  gewinnt  aus  diesem  Beispiele  auch  einen  Ein- 
blick, wie  ein  Name,  der  ursprünglich  nur  den  Werth  eines  Beinamens  hat,  von  der 
Familie  adoptiert  und  als  Ehrenname  verwendet  wird.  Xenophon  nannte  seinen 
Sohn  rgvkog  nach  seinem  eignen  Vater;  in  Sparta  wechselten  in  einer  Familie 
die  Namen  MoXoßgog  und  'Emxadrig  (vgl.  Böckh  CIG  1.  698).  Sicher  haben  die 
Familienglieder,    die  zuerst  als  Ferkel  begrüsst  wurden,    die  Namen  Toykog  und 

5 


G  FRITZ    BECHTEL, 

MoXoßQog  nur  als  ijiixXrjöeig  getragen.  Wenn  aber  ihre  Enkel  abermals  rgvkog 
und  Möloßgog  heissen ,  so  folgt  daraus,  dass  während  der  Zeit,  die  zwischen 
dem  ersten  Empfange  und  der  spätren  Verleihung  liegt,  die  sTtcxk^ösig  ihres 
odiösen  Charakters  entkleidet  worden  sind.  Es  ist  leicht  möglich,  dass  ein 
grosser  Theil  der  Namen,  die  auf  diesen  Seiten  besprochen  werden  sollen,  zu  der 
Zeit,  für  die  wir  sie  belegen  können,  nicht  mehr  die  Geltung  von  Spitznamen 
gehabt  haben.  Einem  'O^icpccxicov,  der  seinen  Sohn  UtdcpvXog  nennt,  merken  wir 
an,  dass  er  sich  als  Sauertopf  nicht  gefällt,  seinem  Sohne  also  eine  leichtre 
Lebensauffassung  gönnen  möchte.  Ein  Ui^icovdrjg  dagegen,  der  seinen  Sohn  als 
2Jl{icov  in  die  Welt  schickt,  muss  sich  mit  dem  Geschenke  der  6i^i6trjg  abgefunden 
gehabt  haben:  er  würde  sonst  nicht  auch  seinen  Sohn  damit  bedenken.  In 
diesem  frühzeitigen  Verblassen  des  Charakters  der  Spitznamen  liegt  wol  der 
Grand,  warum  es  so  selten  gelingt  neben  dem  Namen,  der  nach  seiner  Bedeu- 
tung als  Spitzname  eingeschätzt  werden  muss,  noch  einen  zweiten  nachzuweisen, 
der  als  der  alte  offizielle  Name  gelten  könnte.  Als  .der  Name  Ukdtcov  durch 
den  Philosophen  Weltberühmtheit  erlangt  hatte,  war  es  überall  eine  Ehre  ihn 
an  der  dsxdtr)  zu  erhalten.  Aber  schon  der  mit  Aristophanes  gleichaltrige  Komiker 
hat  ihn  geführt,  und  nirgends  findet  sich  eine  Andeutung,  dass  dieser  ihn  als 
Spitznamen  empfangen  habe.  Warum  also  die  Möglichkeit  läugnen,  dass  der 
Name  schon  zur  Zeit  der  Geburt  des  Philosophen  die  -Fähigkeit  gehabt  habe  als 
bürgerlicher  Name  verliehen  zu  werden? 

Die  Arbeit ,  die  ich  hier  vorlege ,  berücksichtigt  nur  einen  Theil  der  aus 
Spitznamen  entsprungnen  Namen.  Ausgeschlossen  sind  die  Frauennamen ,  die 
im  Zusammenhange  mit  deu  übrigen  Frauennamen  behandelt  werden  müssen. 
Wen  das  Studium  der  griechischen  Personennamen  reizt,  der  findet  hier  eine 
dankbare  Aufgabe.  Ferner  habe  ich  grundsätzlich  auf  alle  Namen  verzichtet, 
die  nachweislich  mehr  als  einen  Stamm  enthalten  oder  als  Verkürzungen  eines 
Namens  betrachtet  werden  können,  der  die  Form  eines  Vollnamens  hat.  Man 
findet  also  in  diesem  Buche  KvXcjv,  KvXiag,  KvXog  nicht,  weil  neben  ihnen  Kv- 
loCöag  und  Kv Xatd-ig  laufen,  deren  Koseformen  sie  vorstellen  können.  Die  Namen 
von  dieser  Gestalt  sind,  soweit  sie  mir  zur  Zeit  meiner  Betheiligung  an  der 
zweiten  Auflage  von  Ficks  Personennamen  bekannt  waren  ,  in  den  Abschnitt  C 
der  neuen  Bearbeitung  aufgenommen  worden.  Hier  dagegen  handelt  es  sich 
darum  einer  Gattung  von  Namen  Anerkennung  zu  verschaffen,  die  in  dem 
Nanienbuche  kaum  gestreift  wird,  um  eine  Gattung  ursprünglich  einstämmiger 
Namen,  deren  Alter  und  Umfang  viel  beträchtlicher  ist,  als  ich  früher  ange- 
nommen hatte.  Möglich,  dass  einer  oder  der  andre  durch  spätre  Funde  als  Ver- 
kürzung eines  zweistämmigen  erwiesen  wird  .  dass  sich  z.  B.  zu  dem  Tgd%aXog^ 
den  ich  einstweilen  als  'Mann  der  ganz  Hals  ist'  verstehe  zu  können  glaube,  ein 
MccxQOTQocxalog  einstellt.  Auf  das  Princip ,  das  ich  hier  verfechte ,  üben  solche 
Berichtigungen  keinen  Einfluss :  der  Name  rdörgcjv  bleibt  darum  doch  mit  dem 
Appellativuni  ydötgcjv  identisch,  und  wenn  eine  Verkürzung  Statt  gefunden  hat, 

5 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  7 

so  ist  schon  das  Appellativum  von  ihr  betroffen  worden ,  in  diesem  Falle  ein 
Compositum  wie  yaöxQoidrjg.  Eine  weitre  Beschränkung  besteht  darin  ,  dass  ich 
nur  die  Namen  aufgenommen  habe,  die  ich  aus  dem  Sprachgebrauche ,  vornehm- 
lich der  Komödie,  verstehn  zu  können  glaube.  Ich  zweifle  keinen  Augenblick 
daran ,  dass  der  Halikarnassier  KaXaßcaxrjg  und  der  Styräer  Xi^iagog  Spitznamen 
tragen.  Aber  ich  bin  nicht  im  Stande  anzugeben ,  was  für  den  Griechen  den 
Vergleichungspunkt  zwischen  einem  Landsmanne  und  dem  ccöxalccßaxrjg  oder  dem 
%iyLUQog  gebildet  habe,  da  ich  in  der  Litteratur  nirgends  Anhalt  für  eine  Ver- 
muthung  finde.  Endlich  habe  ich  bei  der  Sammlung  des  Materiales  die  Grenze 
vor  dem  ersten  vorchristlichen  Jahrhundert  gezogen,  da  die  Kraft  der  Sprache  aus 
eignen  Mitteln  Namen  zu  schaffen    etwa   mit  dem  Verluste  der  Freiheit  erlischt. 


Erstes  Capitel. 

Der  Mensch  als  körperliches  Wesen. 

I.   Der  Körperbau. 

An  dem  Manne,  auf  dem  der  kritische  Blick  seiner  Verkehrsgenossen  ruht, 
wird  in  erster  Linie  Aufsehen  erregen,  wenn  der  Körper  nachhänge  oder 
Breite  oder  nach  beiden  Richtungen  das  mittlere  Maass  nicht  ein- 
hält, das  sie  erwarten  zu  dürfen  glauben.  Die  Zuschauer  geben  dann  ihrer  Über- 
raschung in  einem  Beiworte  Ausdruck ,  durch  das  sie  ihren  Nachbar  als  Riesen 
oder  als  Zwerg,  als  Herrn  Dick  oder  Herrn  Mager  charakterisieren. 

Die  griechische  Litteratur,  zumeist  die  Komödie,  ist  voll  von  Epitheta, 
die  abnormes  Körpermaass  constatieren.     Es   sei   erlaubt   an   einige    zu  erinnern. 

Eupolis  unterscheidet  im  Marikas  einen  schielenden  (öxQeßXog)  Peisandros 
von  einem  grossen  (iisyag),  dem  er  noch  die  weitre  Bezeichnung  Oivoxivdiog  gibt 
(Meineke  2.  501  fragm.  6).  Der  selbe  grosse  Peisandros  war  schon  in  den  'Aq- 
t07tcbhdsg  des  Hermippos  schlecht  weggekommen  (Meineke  2.  384  f.). 

Zu  den  Verehrern  des  Sokrates  gehörte  AgLöxöd^ög  reg,  Kvdad-rjvcuevg,  <5\li- 
xgög,  ävvTtöörjtog  aeC  (Piaton  Symp.  p.  173b);  der  gleiche,  der  bei  Xenophon 
(Ano{ivr}ti.  1.  4,  2)  ^Qtöxödri^og  6  HpixQbg  E7axcdov{ievog  heisst.  Mit  Kleigenes 
dem  Zwerge  macht  sich  Aristophanes  Frösche  710  zu  schaffen. 

Dem  Komiker  Timokles  muss  der  dicke  Anytos  in  den  'Ixccqlol  Zäxvgoi 
(Meineke  3.  600  fragm.  1),  der  dicke  Pheidippos  in  der  Aij&rj  herhalten: 

TZccQiövtcc  (beidimtov  naltv 
xbv  XatQScpcXov  TtÖQQCo&sv  anidcov  xbv  Tta^vv 
£Tt6Ttitv6\  eix    sxekevös  TtiyuiEiv  öaQydvag 
(Meineke  3.  606). 


8  FRITZ    BECHTEL, 

Umgekehrt  liefert  die  kentotrig  des  Kinesias  der  alten  Komödie  Stoff  zu 
guten  und  schlechten  Witzen.  Piaton  bezeugt  dem  Dithyrambendichter  sein  Wol- 
wollen  mit  der  Begrüssuug  qptfttyg  jigoyrjtrjg  (Meineke  2.  679  fragm.  2);  eben 
dahin  zielt  die  Anrede  OfricbT  "A%ilkev,  die  ihm,  wie  man  aus  Athenaios  p.  551  d 
ersieht,  Strattis  zu  Theil  werden  lässt.  Sein  Nachfolger  in  der  Magerkeit  ist 
Philippides:  Athen,  p.  552  d — f  werden  Stellen  aus  Alexis,  Aristopbon,  Menander 
ausgehoben,  die  ihr  grausames  Spiel  mit  seiner  ka7tt6xr\g  treiben.  Einen  /Jiovv- 
öiog  6  A67trög,  der  doch  wol  ein  dürrer  Schulmeister  ist,  erwähnt  Athenaios 
(p.*475f). 

Derartige  Verbindungen  von  Personennamen  mit  Appellativen ,  die  zu  Bei- 
namen geworden  sind ,  stellen  die  erste  Station  auf  dem  Wege  vor ,  an  dessen 
Ende  der  Beiname  den  Platz  des  bürgerlichen  Namens  einnimmt.  Wir  kennen 
eine  ganze  Reihe  einstämmiger  männlicher  Namen ,  die  eine  Aussage  über  ab- 
norme Körperproportion  enthalten,  ihrem  Ursprünge  nach  also  nichts  andres  sein 
können  als  Übernamen.  Sie  haben  den  Weg,  den  die  Wörter  {leyccg ,  {iiKQÖg, 
%a%vg,  leittog  in  den  angeführten  Beispielen  beschreiten,  schon  hinter  sich. 

Das  Übermaass  der  Länge  und  Breite  ist  ausgesprochen  in  den  Namen 
IlehdQYjg  Styra  (Ion.  Inschr.  rio.  19,  ^si ;  5.  Jahrh.); 
KrjTav  Execrationstafel  aus  Attika  (CIA  2  Append.  no.  42  is). 
Ein  Adjectivum  itakctQiqg  würde  sich  zu  tcsXcoq  verhalten  wie  vdccQjjg  zu  vöcjq  ; 
der  gleiche  Ablaut  in  xekagv^cj :  keX&q  •  qpcovtj  (Hes).  Der  Träger  des  Namens 
war  offenbar  ein  itskcbgiog1)  avrjg.  —  Der  Name  K^xav  deckt  sich  inhaltlich 
mit  TCYizadrjg,  aus  dem  er  durch  Verkürzung  hervorgegangen  sein  kann. 

Von  Länge  allein  ist  die  Rede  in 

46ki%og  U^iLXQcovog  Ilkaxauvg  (IGS  1  no.  2724 Cb]    3.  Jahrh.). 
Der  Gegensatz  zwischen    dem  Namen    des  Vaters   und  dem  des  Sohnes   ist  viel- 
leicht nicht  zufällig:    man    wird  an  Exäcpvkog  'OiMpaxiavog  zu  lasos  und  ähnliche 
Paare    erinnert.     Ohne   den    Vater  2J[ilxq<x)v  würde    man  A6Xi%og   auch    als  dofo- 
XOÖQouog  deuten,  also  auf  gleiche  Stufe  mit  ACavkog  stellen  können. 

In  andren  Fällen   ist    die  Körperlänge    durch  eine  Vergleichung  angedeutet. 

Aristoph.  Vögel  875  betet  der  IsQevg  zu  der  öxQOv&og  iieydkr)  iirjtriQ  frsav 
xal  av&QcoTtav.  Pisthetairos  unterbricht  ihn  mit  dem  Grusse 
öeöTtüLva  KvßeXr],  6xqov&£,  {iyjxeq  KksoxQuxov. 
Wenn  Kleokritos  hier  als  Sohn  der  özQov&og  ^leyalr]  gefeiert  wird,  so  gibt  es 
dafür  nur  Eine  Erklärung:  er  muss  in  seiner  Erscheinung  an  den  Strauss  er- 
innert haben,  also  ein  Mensch  von  auffallender  Grösse  gewesen  sein.  Er  hätte 
darum  selbst  den  Spitznamen  Strauss  empfangen  können,  den  nun  seine  Mutter 
tragen  muss.     Man  sieht  nun,  dass  mit  den  Namen 

UtQovd'og  Tauromenium  (IGSI  no.  421  I  ann.  26;    3.  Jahrh.); 

1)  7tslo3Qios  ist  die  äolische  Form,  während  Ionier  und  Attiker  teXatgiog  gesprochen  haben 
(Solmsen  KZ  34.  5H6ff.).     Der  Name  des  Styräers  stammt  aus  Büotieu  oder  Thessalien. 

5 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  X) 

2JtQo(v)&t,g  'HgaxkeCöov  Kyzikos  (BCH  14.  540  no.  7)1); 

2JtQovd-cov  Athen  (»Simonides«  fragrn.  148  Bergk) ,    Eretria   CE<p. 
aQX.  1895.  139  Im) 
Leute    von  überragender  Gestalt  gemeint  sein  können.     Dies  ist  jedoch  nur  eine 
von  drei  Möglichkeiten. 

Eupolis  sagt  in  den  z/ij^ot  (Meineke  2.  475  fragm.  37): 

Tadl  Ö£  tä  devdga  AaiöitodCag  xal  Aapaöiag 

avaiöi  (Hermann,  überl.  avtaiöi)  talg  xvY\\iai6iv  gcxoXo&ovöl  [toi. 
Dazu  bemerkt  Meineke :  »Recte  illam  utriusque  cum  arboribus  comparationem  ad 
proceram  corporis  staturam  rettulit  Raspius,  allato  Aristoph.  Av.  1475,  ubi 
Cleonymus  magnae  homo  staturae  exroitöv  xt  öevöqov  vocatur«.  Folgt  man  dieser 
Anregung  und  durchmustert  man  die  Reihe  der  männlichen  Namen ,  die  durch 
Übertragung  aus  dem  Pflanzenreiche  gewonnen  sind  (GP2  325  f.),  so  wird  man 
kein  Bedenken  tragen  den  Namen 

Tlixvag  Sparta  (Xenoph.  Hell.  2.  3,  io) 
als  Spitznamen  zu  betrachten,    in  dem  ein  langer  Mensch  mit  der  nixvg  ßXco&Qq 
(iV390;  [tccxQal  nCxveg  i  186)  verglichen  wird.    Es  liegt  dann  nahe  auch 

'Ekäx&v  Smyrna  (CGC  Ionia  246  no.  102;    2./1.  Jahrh.) 
in   dieser   Weise    zu   verstehn:    die   Helden    Krethon    und   Orsilochos   vergleicht 
Homer  in  ihrem  Sturze  iXaxr\i6i  v^rjliiiöLv  (E  560). 

Viel  reichlicher  strömen  die  Namen  für  die  kleinen  Leute. 
Hier  stellen  die  Namen,  die  das  Wort  pixQog  (öfiixQÖg)  mit  seinen  Neben- 
formen pixog  und  pLxxog  in  mehr  oder  weniger  modiflcierter  Gestalt  wieder- 
geben, die  reichste  Sippe  vor.  Sie  sind  vom  6.  Jahrh.  an  aus  allen  Theilen 
des  griechischen  Gebietes  nachweisbar.  Von  ihrer  Verbreitung  gibt  schon  die 
Zusammenstellung  ein  Bild ,  die  ich  folgen  lasse ,  obwol  ich  mich  darauf  be- 
schränke für  jede  Namenform  eine  einzige  Belegstelle  anzuführen. 

UplxQog  Athen  (CIA  1  no.  432  In); 

MiXQTjg  *)   öXQaxrjybg    xäv  'AQxddav    (Xenoph.    Anab.  6.  3, 4) ; 

MiXQir\g  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 255); 

Mlxql&v  Thasos  (ebd.  no.  78  III 3) ; 

MixgCvag  ®si67it,6vg  (IGS  1  no.  4260  s); 

UfiixQCjv  Zovvisvg  (CIA  2  no.  864  II 29). 

Mtxog3)   Henkel    mit    äöxvvö^og 4)  (Becker  Jahrb.    f.  Phil.  Suppl, 
10.  29  no.  23); 

1)  Überliefert  in  einer  Vaticanischen  Handschrift  des  Cyriacus.  Im  ersten  Namen,  der  auch 
als  ZtQovfttg  verstanden  werden  könnte,  fehlt  das  Y. 

2)  Überl.  Zfitugrig.  Wenn  der  Strateg  aber  aus  Arkadien  stammte ,  war  Mt'xpr]?  die  Form 
seines  Namens:  Mlkicov  Smlg.  no.  1231  III 10  24,  Mt-xvXog  Le  Bas-Foucart  no.  337. 

3)  Die  Länge  in  erster  Silbe  aus  lat.  mica  erschlossen.  Die  Messung  Mnuov  (WSchulze  An- 
zeige von  Meister  Griech.  Dial.  2,  Berl.  Philol.  Wochenschr.  1890,  S.  32  des  Separatabzugs)  be- 
weist zu  Gunsten  von  Mixog  Nichts,  da  auch  Zifimv  neben  SCfiog  steht. 

4)  Als  Heimath    der  Henkel    dieser  Gattung    hat   Becker    bekanntlich  Olbia   in  Anspruch  ge* 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiae.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  6.  2 


10  FRITZBECHTEL, 

Mixccg  Thasos  (Thas.  Inscbr.  no.  14  1 7) ; 
Mtxddr\g  rvQcovog  XaXxidsvg  (IGS  1  110.  368 1) ; 
MixaMcav  Mtxtcovog  "EQiievg  (CIA  2  no.  2046); 
Mixdllv\g  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.   10  1 12); 
Mixillog  l4Xccibg  i(  Aiyäg  (CIA  2  no.  2843); 
Mixlcüv  Mytilene  (Mitth.  9.  88  Beil.  13); 
Mixivug  Aoxgög  (CIA  2  no.  963  III  37) ; 
Mixivvrig  Halikarnassos  (Ion.  Inschr.  no.  240  3s) ; 
Mixv%og  Rhegion  (Herod.  7.   170); 
Mixvxtiav  MixvXCavog  Chalkis  (E(p.  ccq%.  1892.  169); 
Mixvkog  Lindos  (1GI  1  no.  761  21); 
Mixcjv  Kos  (Paton-Hicks  N.  no.  20.  49). 
Mlxxog  ToQ&valog  (CIA  4  Suppl.  1  no.  49116); 
Mtxxddag  Bovxrtog  (IGS  3  no.  380  10) : 
MtxxaXog  Gortyn  (Mus.  Ital.  3.  637  no;  35  5)  ; 
MixxaXicav  Athen  (Demosth.  32.  11); 
Mixxiag  IIotd^Log  (CIA  2  no.  420  52) ; 
Mixxiag  Elis  (Olympia  5  no.  .62  5); 
Mrxxiddrjg  6  Xtog  (Ion.  Inschr.  no.  53  1) ; 
Mlxxlcov  Tauagra  (IGS  1  no.  538  24) ; 
Mixxivag  Qvöxevg  (Smlg.  no.  2097  ie); 
Mixxvlog  Thessalien  (Smlg.  no.  326  III 19); 
Mixxcov  XaXeievg  (Smlg.  no.  1734  2). 
Eine    andre  Sippe    beruht   auf  Weiterbildung   und   Umbildung   des  Stammes 

ßQCC%V-. 

BQa%vXog  Tegea  (Le  Bas-Foucart  no.  341  h) ; 

BQdivUog  'Eqxisvq  (CIA  2  no.  114Cio;    4.  Jahrb.),  Rhodos  (IGI 

1  no.  764 18),  BgdxovXXog  Chaironeia  (IGS  1  no.  3343  1) ; 
BQa%vlUdag  Rhodos  (1G1  1  no.  884  9) ; 
BQa%vXXei  Tanagra  (IGS  1  no.  538  22 ;   4./3.  Jahrb.) ; 
Bga%ag  Lieblingsname  auf  einer  attischen  Vase  (Klein  Lieblings- 
inschr.  62;    6.  Jahrb.),    lB\oa%äg  Argos  (Smlg.  no.  326664), 
BQO%äg  Thisbai  (IGS  1  no.  4139  32); 
BQa%idag  Akrai  (IGSI  no.  225  a  Add. ;    5.  Jahrh.)  ; 
Bgoxxiog  (Patron.)  (^scß^og  (IGS  1  no.  27246. 1;    4.  Jahrh.). 
Vgl.    Pind.    Isthm.   3.  (i8  it.    ovorbg    id  soften,,    [logcpäv    ßQ<x%vg    von    Herakles,    im 
Gegensatze  zu  den  Riesen  Oarion  und  Antaios  l). 


nommen.      Nach    einer  Andeutung  Latyschevs  bei  Pridik  (Mitth.  21.  177  f.)  ist    auch   diese  Bestim- 
mung nicht  haltbar. 

1)  Kretscbmer  Vaseninschr.  85:  »Bemerkenswert  ist  eine  Inschrift,  die  auf  einer  rotf.  Am- 
phora in  Paris  unter  Herakles  gesetzt  ist:  öoxsis  [UY.gbg  tlvcu«.  K.  verweist  auf  Wilamowitz 
Herakl.  1.  333. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  11 

Das  Adjectivum  tvvvog  ist  in  Prosa  ausgestorben.     Aber  die  weite  Verbrei- 
tung der  Namen,    die  das  Wort  mehr    oder   weniger  verändert  enthalten,    lehrt, 
dass  es  über   das   ganze    griechische  Gebiet   hin  verständlieh  gewesen  sein  muss. 
Tvvvog  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  9n;  5.  Jahrh.)1); 
Tvvvccdrig  Styra  (Ion.  Insch.no.  19, 320;  5.  Jahrh.)2),  Delos  (BCH 

7.  1148t); 
Tvvvig  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  321  ;  5.  Jahrh.); 
Tvvviag  Tvvvcovog  TgixoQvöiog  (CIA  2  no.  2599) ; 
Tvvvi%og  b  Xalxidevg  ^Platon  Ion  p.534  d),  Sparta  (»Plut.«  Apophth. 

Lak.  51); 
Tvvvi%Cdag  Thespiai  (IGrS  1  no.  1741  22 ;  3.  Jahrh.); 
Tvvvcjv   Delos    (CIA  2   no.   814«    B29;    4.    Jahrb.),    TQixoQvötog 
(s.    Tvvviag) 3). 
Unser  Kinderlied  spricht   von    einem  spannenlangen  Hansel.     So  hiess  schon 
ein  thasischer  Theoros  des  5.  Jahrh. : 

ZTU&uiMxiog  (Thas.  Inschr.  no.  9 12). 

Unter  den  vergleichenden  Namen  stösst  uns  zunächst  eine  Sippe  auf.  deren 
Sinn  nicht  fraglich  sein  kann : 

ndzaixog  Akragas  (Herod.  7.  154;  6.  Jahrh.) ,  Dyme  (Paus.  5.  9, 1  ; 
Ol.  71);  häufig  auf  Steinen  des  4.  Jahrb.,  so  in  Athen  (ein 
Tli^svg  CIA  2  no.  660 4),    in  Iasos  (Ion.  Inschr.  no.  104« 2), 
Pantikapaion  (ebd.  no.  119 1),  auf  Chios  (Mitth.  13. 167  no.  67), 
Thasos  (CIA  2  no.  4  II 17);  ferner  bezeugt  für  Delos  (BCH 
6.  46i57.i6o),    Eretria    (E<p.    ccq%.    1895.   133    I55),   Dardanos 
(Conze  Inselreise  70),  Seleukeia  (CIA  2  no.  983  Im); 
IJuTaiKicov    Chios    (Mitth.  13.  179    no.  32);    die   Heimath    des    al> 
xXi%xY\g  sprichwörtlich    gewordnen  naxaixittv ,    dem    bei  He- 
rondas  (4.  63)  ein  IlaxaixiQxog   entsprossen  ist,    wird    nicht 
angegeben. 
Die  Erklärung  ist   in  den  Worten  Herodots   enthalten  (3.  37):    (Polvlxyjlolöl  11a- 
xaixoiQi   e{i<p£Qe6TaT0v ,    xovg   ot   ^oivixeg    iv  x\\iöi    7tQ<aQi]L<5i    xCbv   xonagitov    neoiä- 
yovöi.     Vg  de  xovxovg  pi]  otkotib,    eycb  öe  er^iavsco'  Tivy^aiov  ävÖgbg  (iifiriGig  toxi. 
Griechischer  Anschauung    eigentümlich    ist    ferner   die  Vergleichung  junger 
Individuen  mit  frischen  Thautropfen.    In  der  Odyssee  sind  die  soöai,  junge  Läm- 
mer (t  222),    Aischylos  spricht   von  doöooi    keovxav  (Agam.  141).  Sophokles  ver- 
bindet tyaxalovioi  ^xegeg  aiysg  xs  (fragm.  725  N.).    Damit  hängt  zusammen,  da  — 
kleine  Leute  Tropfen  genannt  werden : 

1)  Die  Chronologie  der  thasischen  Theoren  ist  von  Jacobs  (Thasiaca  16  ff.)  ins  Reine  gebracht. 

2)  TVNANDE*  das  Täfelelien. 

3)  Die  Sippe,  die  die  Stumme  nana-,  nanna-  zur  Grundlage  hat,  gehurt  mit  andren  Tändel- 
namen  nach  Kleiuasieu  (Kretschmer  Einl.  in  d.  Gesch.  d.  griech.  Spr.  331  ff.).  Einzelne  ihrer  Glie- 
der sind  sehr  geschickt  gräcisiert,  so  Nävvi%og  in  Magnesia  am  Maiandros  (Mitth.   19.  19  no.  b  1,. 

<♦  2*  r 


12  FRITZ    B  ECHT  EL, 

av  \jl\v  yaQ  i]i  xig  svTtQSTtrjg,  lsqov  yd[iov  xaXslrs , 

iäv  de  iiiXQOV  itccvTskcbg  av&Qaiiiov,  örakay^iov 
beisst  es   bei  Anaxandrides  (S.  3).     Nun  gibt  es  eine  Reihe  von  Namen,  die  aus 
Appellativen  verwandter  Bedeutung  hervorgegangen  sind;  so 

Stalagmits  Sklave  bei  Plautus  (Captivi); 

ngovxo(g)  freigelassen  in  Larisa  (BCH  13.  38344;  2/1  Jahrh.); 

Waxdg  Olympiasieger,  erwähnt  Schol.  Aristoph.  Ach.  1150; 

'Pdvig  Delos  (BCH  6.  47  163 ;  rPdviog  dvdd-a^ia) ; 

Wccct,  Vasenmaler  in  Attika  (Klein  Vasen  mit  Meistersign. 2  134; 
6.  Jahrh.). 
Der  Zusammenhang  von  ÜQOvxog,  *Faxdg,  'Pdvig  mit  itgcbi»  tpaxdg,  QccvCg  liegt  am 
Tage;  zur  Beurtheilung  von  Wcat,  hilft  eine  Glosse  des  Hesych:  iplaxw  ipa- 
xdöcc.  Von  vorn  herein  wird  man  geneigt  sein  die  Namen  IJQovxog,  *Pccxdg,  'Pdvtg 
und  Wia.%  nach  der  Anleitung  zu  beurtheilen  ,  die  die  Komödie  zur  Auffassung 
des  Namens  UtaXay^iög  gibt.  So  weit  ÜQOvxog  in  Betracht  kommt,  steht  dem 
Nichts  im  Wege.  Dagegen  werden  Waxdg  und  'Pdvig  von  der  alten  Schulgelehr- 
samkeit anders  interpretiert;  wir  müssen  später  auf  sie  zurückkommen. 

Horaz  empfiehlt  als  Lebensregel  (Sat.  1.  3, 42  ff.): 

Ac  pater  ut  gnati,  sie  nos  debemus  amici, 

siquod  sit  vitium,  non  fastidire  :  strabonem 

adpellat  Paetum  pater,  et  Pullum,  male  parvus 

sicui  filius  est,  ut  abortivus  fuit  olim 

Sisyphus ;  hunc  Varum  distortis  cruribus,  illum 

balbutit  Scaurum  pravis  fultum  male  talis. 
Es  liegt  nahe  anzunehmen,  dass  die  Namen,  die  von  Haus  aus  ein  junges  Thier 
bezeichnen ,    den  selben  Ursprung  haben   wie    der  Schmeichelname  Pullus  der  rö- 
mischen Kinderstube.     Solcher  Namen  besitzt   das  Griechische  recht  viele1):    ich 
nenne  hier  ZxvXa^  2Jxv[ivog,  besonders  aber  die  auf  veoööög  aufgebaute  Sippe: 

Nöötiog   Iasos    (Dittenberger    Syll.   no.  777?;    4.  Jahrh.),    Thasos 
(Thas.  Inschr.  no.  18  1 2) ; 

NoööLxäg  Thasos  (ebd.  no.  6  IV  2 ;  5.  Jahrh.)  ; 

NoöövXog  NooövXov  Kos  (Smlg.  no.  3722  5 ;  3.  Jahrh.) ; 

Nööawv  Kos  (Smlg.  no.  3624  d  49;  um  200  v.  Chr.), 
und  mache  auf  TLdxaixog  xov  UxvXaxog  in  Iasos  (Ion.  Inschr.  no.  104^2)  aufmerk- 
sam. Andrerseits  lehren  die  zahlreichen  Frauennamen  ,  die  der  Herkunft  nach 
Deminutive  von  Thiernamen  sind,  dass  die  Einreihung  unter  die  kleinen  Leute 
lediglich  der  Zärtlichkeit  entspringen  kann,  keinen  körperlichen  Fehler  zur  Vor- 
aussetzung zu  haben  braucht.  Damit  fällt  ein  neues  Licht  auf  die  Namen  dieses 
Abschnittes,  auch  auf  die  beiden  letzten,  die  ich  zu  nennen  habe: 

[K\6qwj>  Theben  (IGS  1  no.  3640;  5.  Jahrh.). 


1)  Gebort  auch  fdgraXos  in  Thespiai  (IGS  1    no.   1742  8)  wegen  ögtaXig,  öqx&Xi%os  zu  ihnen' 


GRIECIT.    PERSONENNAMEN   AUS   SPITZNAMEN.  13 

Ich  identifiziere  Koqvijj  mit  x6qvI  '  veavißxog  (Hos.)  und  vergleiche  das  Verhältnis 
von  böot.  xÖQvifj  zu  xogvl*  mit  dem  von  böot.  K6xxvil>  zu  xöxxv^1). 

IlcudLxög  (Meistername  auf  einem  Alabastron  des  Louvre,  Pottier 
Revue  des  Stades  gr.  6.  40  ff. ;  6.  Jahrh.). 
Da  Vollnamen  wie  IlcudaQilg,  llaiömitog  zur  Verfügung  stehn,  könnte  man  TTat- 
Öixog  auch  als  Koseform  betrachten  und  sich  auf  die  Verbindung  'JvÖQtxbg  'Av- 
öqovlxov  (CIA  2  no.  2756)  berufen  (Kretschmer  Vasensinschr.  230  f.).  Aber  Ab- 
hängigkeit vom  Vollnamen  braucht,  wie  man  sieht,  nicht  zu  obzuwalten  ;  man  darf 
noch  auf  die  lateinischen  Namen  Päpus,  Püpius  und,  si  dis  placet,  auf  das  oski- 
sche  Cognomen  Pukalaz  verweisen. 

Abnorme  Dimension  in  der  Breite  wird  verspottet  durch  die  Namen 
mXr}g  Athen  (Thuk.  3.  18,  j),  Delos  (BCH  7.  109  no.  5  4); 
Ila%LG)v  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 403;  5.  Jahrh.); 
IMzav  Tegea  (BCH  17.  17  no.  21 1)  *). 
Der  Stamm  na%rix- ,    der  in  dem  ersten  Namen  erscheint,    wird  von  Hippokrafp^ 
im  Appellativum  gebraucht:  vjteQ7id%r}Teg  (liegt  ccbqcov  15). 

Zwei  andre  Namen  stellen  Umbildungen  von  nXcctvg  vor  und  haben  gleichen 
Inhalt  wie  itXarvg  Soph.  Aias  1250  f. 

ov   yccg   ot    TtXcLTEig 
ovo'  avQvvcoTOt  cpG)T,eg  döcpccXtözccroi. 
Ich  denke  an 

niccrfjg   Aristot.    IJsqI   tä    £&lcc    iöxoq.    5.    19 :    ngcbtri   ös    Asyerca 

v(pr[vui  sv  K&l  ncc(i(fiXr]  ÜXcctsco  (so  cod.  Ca)  ^vydrrjQ ; 
nxdrav  in  Athen  seit  dem  5.  Jahrh. ;  seit  dem  4.  Jahrh.  überall 
nachweisbar,  doch  lässt  sich  nicht  feststellen,  wie  weit  der 
Name   des  Philosophen  Anregung    zu   der  Benennung   gege- 
ben hat3). 
Zu    Tlldtov   beachte    das     Appellativum    TiXdrcjV    xcclxo^idrtov    rt,    ebb    rbv   vqov 
ävrkovöiv  ....  (Hes.). 


1)  Neben  xo(>u£  steht  -aögLip  (vsavi6xog,  Hes.)  aus  nogfity.  Das  Verhältnis  der  Nachkommen 
der  labialisierten  Gutturalis  ist  das  gleiche  wie  in  ßovxolog  und  ainolog  und  bestätigt  die  von 
Saussure  aufgestellte  Regel. 

2)  Vermuthlich  muss  man  auch  Smlg.  no.  1281  III 14  ndxco[vog]  statt  TTcfyw  schreiben:  der 
Stein  ist,  wie  der  Abklatsch  beweist,  den  ich  besitze,  so  abgerieben,  dass  die  letzten  Buchstaben 
spurlos  verschwunden  sein  mögen.  Die  Inschrift  berührt  sich  auch  sonst  mit  der  im  Texte  er- 
wähnten: dem  'Iaodccfiog  ©egöiccv  (I  13)  entspricht  dort  Pfsgöiccg  'Ißoddfiov  (Z.  9). 

3)  Der  Einfluss  der  Namen  berühmter  historischer  Persönlichkeiten  auf  die  Benennung  Nach- 
geborner  ist  noch  zu  wenig  beachtet.  Baunack  bemerkt  zu  Smlg.  n.  19086:  >Zum  Dialekte  der 
Olavd-ftg  stimmt  die  Form  Jr](ir]TQiov  nicht«,  zu  no.  1922  6:  »Die  Form  JrKirjrgiog  kommt  bei  do- 
rischen Freilassern  öfters  vor«.  Der  Grund  ist  der,  dass  der  Name  JrifirJTQiog  seit  Demetrios 
Poliorketes  in  Griechenland  populär  geworden  war.  Umgekehrt  spricht  man  in  Athen  'Jftvvrug, 
nicht  'Afivvtrig. 


14  FRITZ    B  ECHT  EL, 

Die  Rübe  heisst  von  ihrer  Gestalt  yoyyvlig  oder  yoyyvlr\  (die  Lakedaimonier 
haben  sie  nach  Apollas  bei  Athen,  p.  3(>9a  ydötpcc,    die  bauchige,  genannt);    der 
Skythe  vergleicht  Thesmoph.   1185  die  tit&icc  der  Tänzerin  mit  ihr.     Es  ist  also 
deutlich,  wie  der  Mann  ausgesehen  haben  muss,  dem  der  Spitzname  gegeben  ward 
royyvXog  6  'EoeTQLSvg  (Thuk.  1.  128,4.),  elg  z&v  KoQivfricav  do%6v- 
xcov  (Thuk.  7.  2,  i),  Delos  (Apollodoros  bei  Athen,  p.  173  a)1). 
Ein  Synonymum  von  yoyyvXog  ist  örgoyyvXog.    Aus  ihm  entsteht  durch  Wei- 
terbildung der  Name 

ZtQoyyvUcöv  Bildhauer  des  5.  Jahrb.  (CIA  1  no.  406);    ein  jüng- 
rer  ZtQoyyvXCav  CIA  2  no.  834  c  39  Add. 
Der  Komiker  Xenarchos  rühmt  an  den  hoqvslcc,    dass    der  Liebhaber  nsigccxeg  in 
ihnen  finde 

cov  stixiv  sxXs^d^ievov  i]i  xig  rfi&xai, 
XsTttfiL,  7tu%£iai,  öTQoyyvkrji,  pccxQÜi,  Qixvrji, 

VECU,    TZCcXcCLÜL,    [ISÖOKOTICOI,    7tE7ZCUT8QCa 

(Meineke  3.  617  fragm.   l7ff.).     Anschaulicher  noch  ist  das  Compositum  ötQoyyv- 
XÖTtXsvoog,  das  Strattis  von  wolgerathnen  Aalen  braucht: 

xal  KcoTtdiÖav  ccTiaXcbv  ZEudxrj 

GTQoyyvXoTiXevocov 
(Meineke  2.  779  fragm.  1).     Wie  man  sieht,  könnte  HtQoyyvXCav  als  Verkürzung 
von  GtQoyyvXoTclEVQog  aufgefasst  werden. 

Es  ist  möglich,  dass  die  Namen,  die  den  Menschen  mit  der  Kröte  vergleichen, 
also 

<&Qvvog  und  Genossen, 
theilweise  den  Zweck  verfolgen  Leute  von  aufgedunsener  Gestalt  zu  verspotten. 
Man  kann  dies  vermuthen  wegen  der  Glosse  yovvog  '  ßdtQcc%og.  r\  7tu%vg  (Hes.), 
und  wegen  der  Thierfabel.  die  von  dem  Versuche  der  jungen  Kröte  erzählt  dem 
Ochsen  durch  Aufblasen  an  itaivrrig  ähnlich  zu  werden  (Aesop  no.  84  Halm). 
Ich  werde  bei  spätrer  Gelegenheit,  wo  wir  uns,  wie  mir  scheint,  auf  festrem  Bo- 
den bewegen,  die  Verbreitung  der  Sippe  anschaulich  zu  machen  suchen. 

Und  noch  eine  Möglichkeit  muss  zur  Sprache  kommen.     Die  Sippe 


1)  Nach  Apollodor  soll  es  mit  dem  Namen  royyvXog  auf  Delos  eine  besondre  Bewandtnis 
haben:  tjv  avtoig  (denDeliern)  cctco  r&v  itgägtcov  övdfiara  Maycdsg  y.ai  ToyyvXoi,  insLÖi]  rag  (id£ag, 
q:r,GLv  'Agiorocfävr\g  (Frieden  28),  iv  rcag  ftoivccig  <V  7]usgag  rgißovrsg  nagu%ov  6i67ttg  [iv]  yv- 
i c.t'^i  yoyyvXag  uspayfiivag.  _Es  ist  zu  fürchten,  dass  zu  der  Deutung  von  royyvlog  die  Worte  des 
Aristopbaiies  Veranlassung  gegeben  haften.  Denn  dass  ein  Manu  darum,  weil  er  es  verstand  yoyyv- 
Xag uä£ag  zu  backen,  royyvXog  genanut  worden  sei,  will  nicht  recht  einleuchten.  Von  den  übrigen 
!f  lischen  Namen,  die  anb  r&v  ngdi-tav  hergenommen  sind,  Xoi'gaxog,  'Afivög,  'AgrvatXscog,  Zrjcafiog, 
'Agrv6Crgayog,  Nswxogog,  'Ix&vßoXog ,  unterstützt  kein  einziger  die  Auffassung  des  gelehrten  Athe- 
ners: man  kann  ihm  glauben,  dass  Xotganoi ,  'Apvoi  als  ,AgxvGi%olguv.oi,  'Agrvaiafivoi  zu  denken 
spku  (vgl.  Eoi8C(ov  als  Namen  eines  Kochs  bei  Sosipatros  ,  Meineke  4.  482  11);  dass  ein  royyvXog 
ein  royyvXoua£o7ioiog  sei,  folgt  daraus  noch  nicht. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  15 

Iltxakog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  404  ;  5.  Jahrb.),  Thasos  (Thas. 

Inschr.  no.  8II1),  Larisa  (Smlg.  no.  358); 
TlexakCag  Kgawovyiog   (Smlg.  no.   345  «0),    rvgxovvuog    (ebenda  90; 
3.  Jahrb.),    vgl.  TlaxalVig  Flexa  foccccc  Larisa  (Smlg.  no.  355)  ; 
ristaxog  Styra  (Ion.  Inschr;  no.   19,  285) 
kann,  sprachlich  angesehen,    Individuen  nach  keiner  andren  Seite  bin  bezeichnen 
als  nach  der  Ausbreitung  ihres  Körpers.     IJexaXog  hat    den    Sinn    von    exTtexcckog 
in  der  Wendung:  eöxl  de  %alx.iov  ixnixaXov  Xeßrjxadeg  (Didymos  bei  Athen,  p.  468 e, 
von  der   W  270  beschriebnen  (piccXri). 

Es  bleiben  noch  die  Xamen  für  die  magren  Leute  zu  betrachten. 
Directe  Bezeichnung    des    magren    Mannes    ist    durch    das  Wort    Xsitxog  und 
seine  namenartigen  Umbiegungen  möglich: 

ÄEitzog  Smyrna  (Mionnet  3.  196  no.  993;  150—50  v.  Chr.)1); 
Asuxivrjg  Paros  (Archil.  fragm.  70),  oft  in  Athen  (so  Aenxiv-qg  ix 
Koih]g  Demosth.  22.  60^,  Samos  (Num.  Chron.  1884.  257 
no.  6),  Eretria  (Amer.  Journ.  of  Archaeol.  7.  247  no.  2), 
fo&ovQyög  auf  Delos  (BCH  14.  396);  AsTixivag  Syrakus  (Bru- 
der Dionysios  I,  vgl.  CIA  2  no.  87),  AenxCvag  AejtxCva  Dyme 
(Smlg.  no.  1612,35),  AenxCvag  Delphi  (Smlg.  no.  1715  7),  Kos 
(Smlg.  no.  3722  is),  Asxxivccg  rvgxovviog  (Smlg.  n.  345  79); 
AaTtrcov  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  6i ;  5.  Jahrh.),  Dardanos  (Sil- 
bermünze  der  Sammlung  Imhoof-  Blumer)2),  'AöxvTtaXauvg 
(BCH  8.  26  B3,  15.  634  no.  85). 

Andre  Xamen  werden  durch  Gleicbsetzung  der  dürftigen  menschlichen  Er- 
scheinung mit  dünnen  Gegenständen  oder  mit  andren  magren  Wesen  gewonnen. 
Für  einen  magren  Menschen  ist  uns  das  Bild  des  Fadens  geläufig.  Da.-.<  eä 
auch  den  Griechen  nicht  fremd  war ,  darf  daraus  geschlossen  werden,  dass  ihre 
Sprache  eine  ziemlich  reiche  Sippe  von  Männernamen  besitzt,  deren  Basis  das 
Wort  [itxog  bildet ,  deren  Träger  also  doch  wol  als  Xenxoxaxov  gekennzeichnet 
werden  sollen : 

Mtxog  Theben  (IGS  1  no.  3599;  5.  Jahrh.); 
Mlxlcov  Hyettos  (IGS  1  no.  2829  5;  3.  Jahrb.); 
Mtxvg  6  Agyelog  (Kaxä  NeaiQag  33 ;  4.  Jahrh.) ; 
Mixav  Thera  (IGA  no.  453;  7.  Jahrb.); 

MCtxtog  (Patron.)  'EQio[iEvtog  (IGS  1  no.  2724  a%\  4.  Jahrb.); 
Mlxxlcjv  Lindos  (IGI  1  no.  764  1 11 ;  3.  Jahrh.). 
Auch    an    ein  Rohr   lassen    wir   uns    von    einem    magren  Menschen  erinnern. 


1)  Die  Lesung  Cousinerys  bestätigt    mir  Herr  Director  Riggauer  in  Mönchen,    von  dem  auch 
die  Datierung  stammt. 

2)  Mittheilung  des  Herrn  Besitzers.  C 


1    1* 


16  *         FRITZ    B  ECU  TEL, 

Nicht  anders  ergieng  es  den  Griechen,  wie  die  gepfefferte  Beschreibung  des  Ki- 
nesias  durch  Piaton  (Meineke  2.  679  fragra.  2)  lehrt: 

Mszä  zavza  ds 

f  EvccyÖQOv  nötig  ex  itXevQiztöog  Kivr\öCag 

öxekezög,  aitvyog,  xaXdyava  Gxeki]  cpogcjVy 

cpfröiig  7tQO(piqtijg,  aö^aQag  xexccv[ievog 

■xleiözag  vit1  EvgvcpCbvzog  ev  zebt  öco^iazL. 
Ich  darf  also  wol  als  rohrdünne  Gesellen    die  Personen    betrachten,    die  den  xd- 
ka^iog  im  Namen  führen : 

KdXa^ng,  Zeitgenosse  des  Deinomenes  von  Syrakus  (Paus.  6. 12,  i), 
Thasos  (Mitth.  22.  133  no.  11 4); 

Kakadu  Akraiphia  (IGS  1  no.  2745;  5.  Jahrh.) 1). 
Von  ihnen  fällt  auch  auf  die  Leute  Licht,  die  nach  dem  dovat,  benannt  sind: 

Jovocl  Apollonia  111.  (Münzen  des  österr.  Kaiserhauses  1.  29  no.  34; 
3./2.  Jahrh.); 

Aovaxog  Mytilene  (Mitth.  9.  88  Beil.  21). 
Bei  Photios  steht  die  Glosse  6%L&ag  •  6  zezavbg  xcel  i6%vog'  ovzag  Kgazivog. 
Eine  entsprechende  Erklärung  hat  MSchmidt  (Hes.  4.  1,  119)  aus  den  Scholien 
des  cod.  Mod.  zu  Clem.  IIqozqstiz.  Xoy.  ans  Licht  gezogen:  6xit,tag'  kenzbg  ticcq'' 
"Azzixolg.  Das  Wort  <5%it,lag  kann  nur  bedeuten  'ein  Mann  wie  ein  Spahn' ;  so 
hat  es  schon  Fick  übersetzt  (Gurt.  Stud.  9.  183).  Dies  ist  also  offenbar  auch 
der  Sinn  des  Namens 

£%idug   Kyrene   (Smith  -  Porcher    no.   7   II 19),    Artichia   (Fouilles 
d'Epidaure  1  no.  243). 
In  den  gleichen  Vorstellungskreis  gehört  vermuthlich 

KaQcpivug  AxaQvdv  (CIA  2  no.  121 ;  4.  Jahrh.). 
Man  erinnre  sich ,  dass  die  Chorführerin  der  Lysistrate  xuvovöa  iirjde  xuQ<fog 2) 
zu  Hause  bleiben  will,  wenn  man  sie  nicht  ärgre  (474).  Der  Grieche,  der  niesen 
wollte ,  kitzelte  sich  mit  einem  Xenzbv  xdgyog  die  Nase  (Schol.  zu  Aristoph. 
Frosch.  647).  Der  Name  Kagcptvag  würde  sich  also  sehr  gut  zur  Bezeichnung 
eines  Menschen  von  dürftiger  Erscheinung  eignen. 

Das  Wort  ä%vri ,  das  bei  Homer  die  Spreu  und  den  Schaum  bedeutet,  be- 
zeichnet im  spätren  Sprachgebrauche  jedes  leichte  Theilchen.  Daher  kann  der 
Sklave  in  den  Wespen  klagen  (91  ff.) : 

vTtvov  d'  öqul  zfjg  vvxzbg  ovde  7Ca67tdXrjV 

ijv  (T  ovv  xuxaav6j]i  xdv  cfyi/^v,  o^icog  ixet 

6  vovg  nezezai  zr\v  vvx%a  Ttsgl  zr\v  xkei^vÖQav. 
Bei  der  Geläufigkeit  dieses  Gebrauches  von  ayyr\  ist  es  wol  richtiger  den  Namen 


1)  Dazu  Ktdci{ii6xog  auf  einer  aus  Phrygieu  stammenden  Inschrift  der  Kaiserzeit,  die  BCH 
2.  50  ff.  neu  h'erausgegebeu  ist. 

2)  Sie  benützt  dabei  eine  sprichwörtliche  Wendung  (vgl.  Bauck  De  proverbiis  aliisque  locu- 
riouihus  ex  usu  vitae  communis  petitis  apud  Aristophanem  comicum  [Königsberg  1880]  84),  die  auch 
Ilerondas  anwendet  (1.  54,  3.  67). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  17 

"A%vav  <$cox£vg  (Arch.  epigr.  Mitth.  aus  Österr.  15.  111  u) 
zu  'äyyy\  zu  stellen  als  zu  dem  Namen  der  thessalischen  Stadt  "A%vca. 

Überraschend  kommt  uns  die  (ileichsetzung  des  leicht  gebauten  Menschen 
mit  der  Amsel,  die  von  den  Griechen  vollzogen  ist.  Wir  lesen  bei  Anaxilas 
Meineke  3.  348  20. 21): 

rj  &6ccva)  ö'   ov%\  IJelqyjv  sötiv  ditozBxiX^ivv^ 

ßks^i^ia  xccl  cpavrj  yvvaixog,  zu  öxslrj  ds  xoy\)i%ov. 
Antiphanes  aber  setzt  das  Gewicht  dreier  Hetären,  von  denen  er  zwei  ausdrück- 
lich als  XetixccC  bezeichnet,  dem  der  ®eav(b  gleich: 

cccpvag  de  Xenzäg  tccööe  xccl  %r\v  VQvyövcc 

%G)Qig  &savol  devQ    efrrjx'   dvxiQQoitovg 
(Meineke  3.  13  23. 2-1).     Bei  der  Annahme ,    dass  der  Vergleichungspunkt  zwischen 
Mensch  und  Amsel  die  Leichtigkeit  der  Glieder  bilde,    erhalten  wir  eine  einheit- 
liche   Deutung    des  Frauennamens    KoGGvya  ,    der   schon   im    7.  Jahrhundert    auf 
Thera  gebräuchlich  war1),  und  der  Männernamen 

KÖTtvyog  Pharsalos  (Demosth.  18.   151 ;  4.  Jahrb.),    Larisa  (Smlg. 
no.  1308  8); 

Koivtpiav  Chalkis  (Ecp.  &qX.  1893.  107  no.  3) , 
die  an  sich  auch  anders  verstanden  werden  könnten2). 

Zweifelhaft  ist,  wie  weit  in  diese  Kategorie  die  Namen  fallen,  die  eine  Ver- 
gleichung  mit  6xQov&og  aussprechen ,  also 

UtQOvd-og,  UtQovd-ig,  UtQovd-av, 
wofür   die  Zeugnisse    früher  (8  f.)    gegeben    worden    sind.     Dass  ein  Mensch  von 
ärmlicher  Erscheinung  Spatz  hat  genannt  werden  können,    lehren  die  Worte  des 
Alexis  (Meineke  3.  449  fragm.  5) 

KaxCog  s%ei(g)'  ötQov&lg  dxccQrjg  vi]  xbv  z/t"  ei3)' 

7C£(pLXi7C7lLÖ(OÖai. 

Aber  ötgov&og  selbst  ist  doppelsinnig,  und  dazu  kommt,  dass  der  Spatz  neben 
seiner  äussren  Erscheinung  eine  gewisse  Charakterschwäche  besitzt ,  die  den 
Griechen  Anlass  zu  noch  schnödrer  Vergleichung  bieten  konnte. 


Ausser  den  Namen,  in  denen  Spott  über  Abnormität  des  Körpermaasses  sein 
Wesen  treibt,  gibt  es  nicht  viele,  in  denen  die  sichtbare  Abnormität  nicht  eines 


1)  Mittheilung  des  Herrn  Dr.  Hiller   von  Gärtringen.     Ich   kenne    den  Namen  noch  aus  Ko: 
kyra  (IGS  3  no.  838),  Delphi  (Smlg.  no.  1995  3,  20917;  Sklavinnen). 

2)  Der  IIv&ayoQiOTrig  des  Aristophon  wird  so  geschildert  (Meineke  3.  360  f.): 
Tlgog  {ilv  xb  neivfjv  kod-tnv  ts  (ir\de  $1» 
völlig  öq&v   Ti^vtiaXXov  7)   $iXimiCdr\v ' 
vdwQ  ds  TtCviiv   ßdrgaxog,  anoXccvocci  frvficov 
Xcc%ävcov  rs  x.d[4rtT),  7tgbg  to  firj  Xova&cci  (jvnog, 
vn cc  1&Q  10  g  %£iilü}vu  di dys  iv  xöi/>t#os  x.  t. X. 
3)  vi)  dC  iyevov  Kaibel  Athen,  p.  552  e. 
Abhdlgu.   d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-bist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  &.  3 


18  FRITZ 

bestimmten  Körpertlieiles  sondern  des  ganzen  Körpers  oder  doch  wichtiger  Theile 
zugleich   in  Betrachtung    gezogen   sind.      Ich    kenne    Namen    für   den    Mann   von 
schreckhaftem,  von  affenartigem,  von  silen-  und  satyrmässigem  Aussehen. 
Auf  schreckhaftes  Aussehen  weist  die  Sippe 

MÖQtitg  Knidos  (Henkel  bei  Dumont  292  no.  127  f.); 

MoQ[iiccg  Oivalog  (CIA  2  no.  1013 u  ;  4.  Jahrh.); 

MoQiiv&iörig1)  MiXrjöiog  (Ion.  Inschr.  no.  992;  4.  Jahrh.?); 

MÖQiicoTtog*)  Assos  (Papers  of  the  Amer.  School  1.  78  no.  68). 
Die  Namen  gehören  deutlich  zu    [lÖQtiog .    pöopr},    ^oq^ivvel   und    fallen  inhaltlich 
mit  [lOQtiOQCüTtög  zusammen.     Der  letzte  ist  das  Participium  ^lOQ^cotög. 

Gleichsetzung  mit  dem  Affen  hat  Statt  gefunden  in 

ni&rixog  Ornament  aus  dem  Perserschutte  (Journ.  Hell.  Stud.  13 
pl.  6    no.  42),    nföctxog  Stratos    (IGS  3   no.  443  io),    Grab- 
stein in  Theben  (IGS  1   no.  2770),    Kyrene  (Smith  -  Porcher 
no.  63.  40.  4s) ; 
Ilföav  Athen  (CIA  1  no.  433  II 26 ;  5.  Jahrh.),  Eretria  ('Ecp.  ägX.  1895. 
140  III  i6s),    Naupaktos  (IGS  3  no.  366  n),    Aigiros  (Mitth. 
11.  288  no.  567),  'AkalaifdQBvs  (CIA  2  no.966^435),  Polyre- 
nion    (Journ.  Hell.  Stud.  16.  184  no.  15 b 3),    ®i&av  Theben 
(IGS  1  no.  3682),  ütd-ow  Koavvovviog  (Smlg.  no.  345  55); 
TLiftvlkog  6  Tsv&rjg  (Klearchos  bei  Athen,  p.  6c;  hierher?) 
Die  Hässlichkeit  des  Affen   leuchtet   aus    mancher    drastischen  Wendung  hervor. 
Semonides   von  Amorgos   lässt    das   hässliche    Weib    aus   dem  Affen   hervorgehn 
(fragm.  7.  71  ff.).     Ein  Dichter  der  AP  (5  no.  76)  besingt  die  Reize  einer  altern- 
den galanten  Dame  ,    unter  ihnen  auch  den,  dass  sie  ein  runzliges  Antlitz  trage 
olov  yr\oa6ag  ovöe  %i$v\xog  s%£t, ;    ein  andrer  (11  no.  196)  meint  noch  höflicher 
'Pvy%og  e%ov6a  Bltcj  xqitii^xivov ,    olov  idovöav 
xr\v  *Exaxr\v  avxr\v  ofoft'  cc7tay%ovL6cu. 
Die  Höflichkeit   ist   auch    in    das   Sprichwort   gedrungen :    die  Redensart  ovog  iv 
7tiftr\xoig  (Append.  4.  25)  wird  mit  i%\  xcbv  al6%Qcbv  iv  cd6%Qolg  erklärt.    Mit  vol- 
lendeter Deutlichkeit  hat  sie  Menander  gebraucht  in  den  Versen 

ix  xr\g  0  ix  tag 
i^eßaXe  xrjv  Xv7tov6av  iqv  ißovlsxo, 
lv    cc7toßle7tco6t  ndvxsg  sig  xb  Kocoßvkrig 
7Cq66g37Cov  iji  x    Evyvcj6xog  ovo'  i{iij  yvvi] 
diöTtoivct  '  xal  xr\v  ofyw  tjv  ixxr\6axo 
ovog  iv  m%Y\xoig  xovxo  örj  xb  ksyo^ievov 
€6zcv. 


1)  M6'Q[ivftog  wie  roQyv&og  (Eretria,  Blinkenberg  Eretr.  Gravskr.  no.  25). 

2)  Ist  MoQficorog  zu  schreiben?  Das  doppelte  r  in  lesb.  ZcoCrtag  (Smlg.  no.  266  3;  die 
Inschrift  wird  BCH  18.  536  no.  4  als  neu  publiciert)  beurtheile  ich  nach  dem  tt  von  'AyCxxa  in 
Myrina  (Pottier-Reinach  1.   113  no.  2). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  19 

(Kock  3.  115).  Bei  Aristophanes  wird  niftrixog  als  Schimpfwort  in  wechseln- 
dem Sinne  gebraucht;  dass  Panaitios  mit  ihm  geschmückt  worden  ist  (xarakiitaiv 
TlavaCnov  zti$r\%ov  fragm.  347  Dind.),  hatte  er  nach  Didymos  (Schol.  Aristoph. 
Vög.  440)  dem  Umstände  zu  danken,  dass  er  atö^Qog  xig  v\v  xi\v  otyiv  (nach  an- 
dren ,  weil  er  pixQotpvrig  war).  Man  kann  also  nicht  bezweifeln ,  dass  die  Ver- 
gleiclmng  einer  hässlichen  Person  mit  dem  Affen  für  den  Griechen  nahe  genug 
lag.  Es  wird  sich  aber  zeigen,  dass  sie  auch  andren  als  äusserlichen  Fehlern 
gelten  kann. 

Ähnlichkeit  mit  den  Silenen  und  Satyrn  wird  nachweislich  seit  dem 
5.  Jahrh.  durch  Verleihung  der  Namen  UiXrjvög,  Udrvgog  und  ihrer  Ableitungen 
constatiert.  Ich  darf  die  beiden  Namensippen  als  gleichwertig  betrachten,  da 
zwischen  Silenen  und  Satyrn  vom  5.  Jahrhundert  an  kein  wesentlicher  Unter- 
schied mehr  besteht.  »Als  jene  Bockschöre  auf  die  Orchestra  des  städtischen 
Dionysostheaters  verpflanzt  wurden  und  Masken  erhalten  sollten,  griff  man,  statt 
einen  neuen  Typus  zu  schaffen,  zu  dem  bereits  künstlerisch  ausgebildeten  der  Silene 
und  behielt  als  Erinnerung  an  die  alte  Costümierung  nur  den  Ziegenschurz  bei«, 
sagt  Robert  GGA  1897.  44  f.  Den  bündigen  Beweis  für  das  Zusammenfallen 
der  beiden  Gruppen  dämonischer  Wesen  liefert  die  Erscheinung,  dass  der  Vater 
der  Satyrn,  die  im  Kyklops  den  Chor  bilden,  Etkrivog  heisst. 

Die  Namen  Zilr\vog  und  UdtvQog    sind    seit   dem   5.  Jahrh.   in   allen    Land- 
schaften gebräuchlich  gewesen.    Ich  will  hier  nur  die  Belege  mittheilen,  die  dem 
5.  Jahrh.  angehören,    von    den  Ableitungen  jedoch  alle,    die  ich  zur  Hand  habe. 
ZJiÄrjvög  Halikarnassos  (Ion.  Inschr.  no.  240  30 ;    5.  Jahrh.),  Thasos 
(Hippokr.  Epid.   1.  14),    ßhegion  (CIA  1  no.  33  3);    Zikavog 
aus  der  Phyle  'InitoftavtCg  (CIA  1  no.  447  III 65),  Maxlötiog 
(Xenoph.   Anab.  7.  4,  ig)  ,    Akragas    (Head  Hist.  Num.  106) ; 
Eikaviav  Megara  (Smlg.  no.  3025  53 ;    3.  Jahrb.),  Ko&axLdrjg  (CIA 
2  no.  2195). 
Ich   mache   auf   die  Verbindung    KoQvpßog    Hukavov l)    (Messene ;    BCH  5.  152 17) 
aufmerksam :  der  Sohn  trägt  einen  Haarschopf,  der  Vater  gleicht  dem  cpalccxQÖg, 
der  Eurip.  Kykl.  227  leider  keine  Prügel  bekommen  hat. 

UdtvQog   Halikarnassos    (Ion.  Inschr.   no.  240  31),    Thasos  (Mitth. 
22.  120  no.  1 1),    Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 300),    Athen  (ein 
Aevxovosvg  CIA  1  no.  237  Ende); 
UarvQiörjg   Ucctvqov    Iasos     (Ion.   Inschr.    no.  104 «27),    'Iovktrjrrjg 

(CIA  4  Suppl.  2  no.  54/;  3e).  beide  aus  dem  4.  Jahrb.; 
EatvQiGxog  Bv^dvtiog  (Mitth.   15.  219); 

2JuTVQi(ov  UaxaiKov  Pantikapaion  (Ion.  Inschr.  no.  119  1 ;  4.  Jahrh.), 
Iasos  (Le  Bas- Waddington  110.  298),  Delos  (BCH  11.  273 
no.  36 1),    Chalkis  (BCH  16.  114  no.  18),    Ovkdetog  (CIA  2 


1)  IIAANOY  die  Abschrift. 


20  FRITZ    B  ECHTE  L, 

no.  983   II 125),    'Avd-ridoviog    (CIA   2   no.  2792),    Naupaktos 
(IGS  3  no.  3599),  Kranioi  (BCH  7.  191  II 13),  Trozan  (BCH 
17.  120  no.  34  4). 
Ein  Thessaler  heisst  Eaxvgtov  'TßQiöxatog  <Smlg.    no.  326  II 50 ;    3.  Jahrb.):    Be- 
weis genug,    dass  die  Ähnlichkeit  zwischen  Mann    und  Satyr  auch  auf  der  ethi- 
schen Seite  liegen  kann. 

Berühmt  ist  die  Vergleichung  des  Sokrates  mit  den  Silenen  bei  Piaton 
(Symp.  p.  215)  und  Xenophon  (Symp.  5).  Bei  Xenophon  wird  sie  nach  der 
körperlichen  Seite  theilweise  durchgeführt:  Sokrates-Silenos  lobt  seine  Augen, 
weil  sie  nicht  nur  xb  xax1  ev&i)  oqcdölv  sondern  auch  tö  ix  nXayiov  diä  xb  i%i- 
jzöXaiot,  tivai ;  ferner  die  öLfiorrjg  seiner  Nase  und  die  itajyx^g  seiner  Lippen. 
Wäre  das  Bild  vollständig,  so  würde  auch  der  Kahlköpfigkeit,  der  Pferdeohren, 
des  zottigen  Leibes  und  wol  auch  schon  des  dicken  Bauches  Erwähnung  ge- 
schehen. Wessen  Körper  nun  eines  oder  mehrere  *)  der  für  die  Silene  charak- 
teristischen Merkmale  aufwies,  für  den  war  die  Vergleichung  mit  den  scurrilen 
Gesellen  gegeben,  einer  der  Spitznamen  ZiXr\v6g,  Udxvgog  der  Umgebung  auf  die 
Zunge  gelegt. 

Eine   andre   Reihe   von    Spitznamen    bat   auffällige    Beschaffenheit    einzelner 
Theile  des  sichtbaren  männlicheu  Körpers  zur  Voraussetzung. 
Der  edelste  dieser  Theile  ist  der  Kopf. 

Die    griechische   Sprache    besitzt    eine    stark   ausgebildete ,    weit   verbreitete 

Sippe  von  Namen ,    die  durch  Umgestaltung   des  Wortes  xeyaXr\  geschaffen  sind. 

KsyaXog  Athen  (Aristoph.  Ekkl.  248  und  sonst),   Styra  (Ion.  In- 

schr.   no.  19, 50. 213— 2ie),  ©sööaXög  (CIA  4  Suppl.  1  no.  49114), 

Syrakus  (Jvöcag  vibg    v\v  KsydXov    xov  Av6avCov  xov  Kscpd- 

Aou,    2Jvqccxo6iov    [iev   yevog  ....     Zehn    Redner   Lysias  1), 

Klazomenai  (Plat.  Parm.),   Korinth  (Plut.  Timol.  24),    Epi- 

dauros    {'Ecp.  ccq%.  1892.  72  50) ,    KoXjccclog   (Smlg.  no.  1350  7), 

Akarnanien    (IGS    3    no.    531),    Dreros    (Mus.   Ital.    3.   657 

no.  73  A  s); 

Ke<pdX{X)u  Theben  (IGS  no.  3634;    5.  Jahrb.),  KeydXXsig  Hyettos 

(ebd.  no.  2826 11); 
Ks(paXicov  häufig  in  Athen  seit  dem  5.  Jahrb.  (CIA  1  no.  432 
I5),  VlvvÖLog  (CIA  4  Suppl.  2  no.  3244&),  'HQuxXsäxrig  (CIA 
2  no.  614  2s),  Henkel  mit  äötvvöfiov  (Becker  Jahrb.  f.  Phil. 
Suppl.  10.  29  no.  22) ;  Verdoppelung  des  X  in  Styra  (Ion. 
Inschr.  no.  19, 212)  wol  nur  durch  Schreibfehler2); 
KecpaXlvog  Pharsalos  (Smlg.  no.  329  B) ,  Togvöalog  (Smlg.  no. 
1339  4)  ;    ein  iQrfixog  wird  CIA  2  no.  3849  erwähnt  ; 

1)  Vgl.  Zipiow  raöötgovvsLOs,  ZiiiCug  $u}.üy.qzio<s  Smlg.  no.  326  II  17,  no.  345  49;  Zipunog 
$>alcc7iQL<ovog  Fouilles  d'  Epidaure  1   no.  2;;b>f>. 

2)  Ein  KecpaXi(ov  aus  einer  andren  euhuisehen  Stadt  Mitth.  9.  271   Beil.  «6. 
r 


GRIECII.    PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  21 

Keyäkcov  Tlskivva\uvg\  (BGH  20.  206 so;    4.  Jahrb.),  Delphi  (BCH 
20.  205  23),   Diener  des  ältren  Aratoa  (Polyb.  8.  14, 5); 

Ktcpukvxrjg  Styra  (Ion.  Inseln-,  do.  L9,  st7 f. ;  5.  Jahrh.)  l). 
Stünden  die  Namen  Keycckoe,  Keyukl&v  allein,  so  läge  nichts  näher  als  die 
Annahme,  dass  Leute,  die  Kenalog  heissen,  namentlich  Athener,  nach  dem  Heros 
genannt,  die  Kscpakicovsg  dagegen  als  seine  Nachkommen  gedacht  seien.  Aber 
die  drei  Formen  Keyäkket ,  Kecpdkcov ,  Ks(pakvTr\g  machen  so  sehr  den  Eindruck 
von  Spitznamen,  dass  man  die  Möglichkeit  ins  Auge  fassen  muss,  in  Kenalog 
fallen  zwei  Namen  verschiedner  Herkunft  zusammen  :  der  auf  den  Menschen 
übertragne  Name  des  Heros,  und  der  Spitzname  für  Leute,  die  einen  dicken 
Kopf  haben.  Bekanntlich  gibt  es  auch  einen  Fisch  nirpakog.  Nach  der  Erklä- 
rung des  Euthydemos  bei  Athen,  p.  307  b  ist  ihm  dieser  Name  beigelegt  diä  rb 
ßagvteQccv  xr\v  xscpakrjv  exslv.  Cuvier  hat  ihn  mit  dem  Mugil  cephalus  identi- 
ficiert  (vgl.  Aubert- Wimmer  'jQiöxoztkovg  'lötoQiai  itsgl  £cqicöv  1.  130'.  Wenn 
man  nun  erfährt,  dass  die  Griechen  aus  einer  Gattung  von  Fischen  eine  Art  als 
Dickköpfe  herausheben,  so  wird  man  von  ihnen  erwarten,  dass  sie  auch  mensch- 
liche Individuen,  die  ßagvrtgav  xr\v  x£cpakr}v  e%ov(Siv  ,  als  Capitones  bezeichnet 
haben. 

Weniger  Worte    sind    zur  Erklärung   der  nächsten  Sippe  nöthig,    der  (po%6g 
zu  Grunde  liegt: 

Oo^og  6  tvgavvog  Chalkis  (Aristot.  Polit.  5.  4) ; 

tpotydag  Mskttaisvg  (Polyb.  5.  63,  11 ;    3.  Jahrh.) ; 

Oo&ag  'AXoTtexfi^Ev  (CIA  4  Suppl.  2  no.  775  b  II  % ;  4.  Jahrh.) .    He- 
rakl.  Pont.  (IGS  1  no.  2531 ,); 

Oo&vog  Theben  (IGS  1  no.  2420  2 ;    3.  Jahrh.) ,    Thessalien  (Smlg. 
no.  326  III 27); 

Oo^cov  Orchomenos  (IGS  no.  3178  3 ;  3.  Jahrh.). 
Von  Thersites  sagt  Homer  (B  219)  cpol-bg  erjv  xscpcckrjv ;  die  (po£,L%eLkog,AgyELr]  %vki% 
des  Semonides  von  Amorgos  wird  bei  Athen,  p.  480 d  als  eine  xvki%  üg  6h,v  avr\y\Livr\, 
oIol  stötv  ot  apßixsg  xakov{i£voi,  definiert.  Also  kein  Zweifel,  dass  wir  eine  Ge- 
sellschaft Spitzköpfe  vor  uns  haben.  Der  Krannunier  0£g6irag,  der  Smlg.  no. 
345  77  das  Bürgerrecht  von  Larisa  erhält 2),  könnte  ebenfalls  ein  cpo%6g  sein,  wenn 
sein  klassisches  Vorbild  nicht  so  viele  körperliche  und  seelische  Vorzüge  auf- 
wiese, dass  wir  nicht  wissen  können,  welche  Gemeinsamkeit  mit  diesem  ihm  den 
Ehrennamen  eingetragen  hat. 

Neben  dem  Spitzkopfe  darf  der  Langkopf  nicht  fehlen.     Bahnen  wir  uns 


1)  Ich  möchte,  im  Anschluss  an  Fick  (GP2  30),  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  die  böotischen 
Namen  Kecpcov,  Kscpmvi%og,  Ktcpivug  (IGS  1  no.  1751s,  3175  46,  3635  ,  für  die  sonst  keine  Erklä- 
rung zu  finden  ist,  aus  KscpdXcov  u.  s.  f.  verkürzt  sind  (vgl.  Kcccpm  ans  Kacpiom). 

2)  Eiu  zweites  Beispiel  des  Namens  findet  man  Journ.  Hell.  Stud.  9.  341  :  ein  f)eo%Xijg 
€>SQ6ttov    MsXißoLSvg    wird    laut    der    zweiten     dort    abgedruckten    Urkunde    ngoi-svog    von    Iasos. 


22  FRITZ    BECHTEL, 

den   Weg    zu  ihm    durch   Bewundrung   der  Verse,    in  denen  Kratinos  den   Kopf 
des  Perikles  portraitiert  hat: 

rO  6%Lvoxi(paXog  Zsvg  oöl  71qo68q%£tcu 

6  IleQixXerig,  rCyiösiov  STtl  rot)  xoaviov 

£%(üv,  sneidii  xov6%oaxov  7iaQ0i%Brai 
(Meineke  2.  Gl).    Plutarch,  der  sie  mittheilt  (Perikl.  13),  hat  seiner  Quelle  auch 
die  Erklärung    des  Beiworts    6%ivox8cpalog  entnommen :    6%lvog   sei  synonym    mit 
öxilXa,  der  Staatsmann  habe  eine  TCQo^xrj  xscpaXrjv  xal  döv^^istgov  auf  die  Welt 
gebracht  (Perikl.  3). 

Der  Langkopf    ist    durch  einen  vergleichenden  Namen  vertreten.     Ich  meine 

Mccxqcjv  x)  Vasenmaler  zu  Athen  (Klein  Vaseninschr.  mit  Meister- 
•  sign.2  173;  5.  Jahrb.),  ferner  beglaubigt  für  Styra  (Ion. 
Inschr.  no.  19, 250),  Halikarnassos  (Dittenberger  Syll.  no. 
6  c  47) ,  Chios  (ebenda  no.  350  27) ,  Alexandreia  (ebenda  no. 
198 134),  Byzanz  (CIA  2  no.  2859  2-). 
Wäre  MdxQcov  aus  Euboia  allein  bezeugt,  so  würde  man  mit  der  Berufung  auf 
die  Notiz  des  Steph.  Byz.  MdxoLg-  r\  Evßota'  ot  oixovvtsg  Mdxocovsg  auskommen. 
Bei  der  weiten  Verbreitung  des  Namens  aber  halte  ich  diese  Erklärung  für 
ausgeschlossen.  Dagegen  kann  MdxQCJv  überall  verstanden  werden  als  ein  Mann 
wie  ein  Makrone.  Die  Mdxo&veg  sind  von  den  Griechen  frühzeitig  mit  dem 
fabelhaften  Volke  der  MaxaoxecpaloL  identinciert  worden,  bei  dem  es  für  vor- 
nehm galt  den  Kopf  des  Neugebornen  dvaitkd66£iv  xal  dvayxd^uv  ig  rö  [irjxog 
av^eöd-at,  so  dass  schliesslich  der  vö{iog  zur  cpvöig  führte  (Hippokrates  TIsqI  deocov 
14).  Herodot  erwähnt  die  Mdxocovsg  zusammen  mit  den  TißaoYivoC,  Moövv 01x01, 
Maoeg  und  Mo6%ot  (3.  94),  setzt  sie  also  in  die  Gegend,  in  der  sie  später  Xeno- 
phon  rindet.  In  dem  gleichen-  Gebiete  aber  lässt  Skylax  die  MaxaoxiyaXoi 
hausen :  Müller  Geogr.  Gr.  1.  62  §  85  Metü  de  Be%ei,Qccg  MaxQoxicpakoi  e&vog, 
xal  *Fa>Qa)v  fopriv,  ToaTtst.ovg  %6lig  'EXXrjvig.  §  86  Mstä  dh  Max^oxacpdXovg  M06- 
övvoixoi  i&vog,  xal  Zscpvoiog  Xl^iyjv  ,  Xoioddsg  nolig  fEXkr\vlg,"AQE(og  vfiöog.  So- 
bald diese  Gleichsetzung  vollzogen  war,  konnte  der  Volkswitz  Leute,  die  mit 
langem  Haupte  durch  die  Strasse  zogen,  als  Landsleute  der  Mdxoaveg  feiern. 


Die    auffällige  Gestaltung    der  Stirne   hat   vielleicht    ihre  Würdigung   ge- 
funden in 

MtzcoTtog  2JvßaQLzr}g   (Iambl.  De  vita  Pyth.  190 11  N.) ,    Mixovnog 
AsovToiisveLog,  M.  zJaiiod-eoGsiog  Koavvovvioi    (Smlg.  no.  345 
62. 85;    3.  Jahrh.). 
Sprachlich  ist   es   jedesfalls    möglich  Mixwitog   als  Mann   mit  breiter   oder  hoher 


1)  Dieser   Name   ist   GPa  194    ohne  Zweifel    verkehrt    beurtheilt.     Au    und    für    sich    könnte 
Mö.y.q(üv  auch  den  langen  Menschen  bezeichnen.     Aber   die  Griechen  verbinden    mit  Mangav  einen 
bestimmten  Begriff. 
c 


GBIECH.    PERSONENNAMEN    A.US   SPITZNAMEN.  23 

Stirno  zu  fassen,  als  Synonymum  von  {lexconiag ,  das  Pollux  bezeugt:  xal  ^r\v 
ovo{idt;oix'  äv  xig  svxecpaXog,  r}  b^vxtyaXog ,  bv  r'0{ir}oog  xaXsl  cpo^ov ,  .  .  .  rj  cvpv- 
[iST(D7iog  cjg  'JXxißiddrjg  '  6  de  xoiovxog  xal  ^isxcjTtiag  ovo fidc^erat  (2.  43).  Es  muss 
aber  hervorgehoben  werden,  dass  auch  andre  Erklärungen  sprachlich  zulässig 
sind,  die  durch  die  in  Thessalien  beobachteten  Namenverbindungen  nahe  gelegt 
werden ,  dass  also  Mexconog  nicht  mit  Sicherheit  als  Äquivalent  des  lat.  Fronto 
in  Ansprach  genommen  werden  darf. 


Mit    dem    Auge    steht   wieder   eine    grossre  Anzahl  Namen    in  Verbindung. 

Eine  Aussage  über  die  Beschaffenheit  der  Augenbrauen  enthält  der 
Name 

"OcpovXXog  Larisa  (Mitth.  7.  226  no.  48); 
vgl.  etwa  övvocpQvg  xooa  Theokr.  8.  72. 

Die  Schiel  er  bilden  eine  Gruppe  unter  sich,  die  durch  zwei  Wortstämme 
und  durch  vergleichende  Namen  vertreten  ist. 

Zxoaßui  Bildhauer  in  Athen  (CIA  2  no.  1155;    4.  Jahrh.) ; 
UtQccßcov  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  19  I5;    3.  Jahrh.) ;    b'A^aösvg 
cpiXötiocpog  (Suid.);    Hxgößcov  Eretria  ('Ecp.  <xq%.  1895.  130  34), 
ohne  Zweifel  eingewanderter  Boioter  oder  Thessaler. 
Vgl.  Poll.  2.  51  ....  dittötoocpog,  6xosßX6g '  6  yäg  öxoaßbg  lökdxlxov,  xal  oC  öxod- 
ßaveg  (überl.  6xoaßcov£g)  iv  xfji  viat  xco^icotdiaL. 

fiXXayv  Theben  (IGS  1  no.  2431 10 ;    4./3.  Jahrh.). 
Vgl.  Aristoph.  Thesm.  846  IXXbg  yeyivr\\iai  7tQo6doxöv,  wozu  in  den  Scholien  aus 
Sophron  tXXoxsoa  täv  xogcjväv  citiert  wird  *). 

Als  vergleichende  Namen,  die  in  dies  Gebiet  einschlagen ,  dürfen  angesehen 
werden 

KaoxCvog    Navitdxxtog    (Charon    bei    Paus.    10.  38, 11 ;     6.  Jahrh.), 
Athen  (Aristoph.  Fried.  782  ff.),  Halikarnassos  (Ion.  Inschr. 
no.  239  8),   'Prjylvog    (Diod.  19.  2,  2),   Antiochia   (CIA  2    no. 
2808),  Prokonnesos  (ebd.  no.  3278); 
KaQXiVLcov  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 211 ;    5.  Jahrh.) 
und 

[Kd]9aßog  Chaironeia  (IGS  1  no.  3300  25) 2). 
Im  Symposion  des  Xenophon  (5.  5)   rühmt  Sokrates    an    seinen  Augen ,    dass  sie 
ihm    auch   xb    ix  nXayiov    bocoöiv    diä    xb  ZTtmbXaioi  elvai.     Darauf   erhält    er  die 
Antwort:    Xeysig   6v  xaoxivov  evocp&aX^ioxaxov  slvai  xCbv  föicov.     Über  die  Augen 
der  Languste  urtheilt  Aristoteles  IIeqI    rä  £gh«  iöxoq.  (4.  2.1 :    xä  d'  o^axa  .... 

1)  Einen  Naturfehler  des  Kräheiiauges  kann  Sophron  nicht  im  Sinne  gehabt  haben.  Die 
Krähe  schielt  nur  in  dem  Sinne,  in  dem  es  der  Stier  auf  dem  bei  Herondas  4.  66  ff.  beschriebneu 
Bilde  thut. 

2)  Ein  Kagaßog  war  wol  auch  auf  der  verstümmelten  Urkunde  CIA  4  Suppl.  1  no.  116^5 
erwähnt  (erhalten  ffF 


24  •  FRITZ    BECHT  EL, 

i<5xl  öxXrjgocp^aX^a,  xal  xivElxai  xal  ivxbg  xal  ixxbg  elg  xb  nXayiov,  wofür  es  etwas 
später  Leisst:  elg  xb  nXdyiov  ßXiitovGiv  oi  tiXelöxol.  Den  Alten  lag  also  die 
Gleichsetzung  des  Schielers  mit  Krabbe  oder  Languste  recht  nahe *).  Der 
Staatsmann  Kallimedon  hat  nachweisbar  den  Beinamen  6  Kdgaßog  mit  aus  dem 
Grunde  bekommen,  weil  er  schielte.  Dafür  zeugen  zwei  von  Athenaios  (p.  339  f, 
p.  340)  ausgehobne  Komikerstellen. 

Timokles  im  noXimgayuav  (Meineke  3.  609): 
Eitf   6  KaXXt^iEÖ(ov  acpva 

6    KcCQttßog    TCQO<5)]ld-8V,    E{lßXe7t(DV    Ö'    EflOL, 

ag  yovv  eöoxel,  7igbg  e'xeqov  uv&QcoTtov  nva 

iXdXEL,  övvielg  d'   ovöev  eixöxng  iyco 

cjv  slsysv  ETtevevov  diaxEvrjg  '  xCjl  d'  aga 

ßXETCOVÖL    %G)QLg    XCcI    ÖOXOVÖLV    dl   XOQCCl. 

,    Alexis  im  KgaxEvag  tj   <PaQtiaxo7tcbXr}g  (Mein.   3.  431): 
Tat  KaXXiyLEÖovxi  yäg  &eqccti£vco  xäg  xögag 
Yiör\  xExccQXtjv  r^iEgav.  —  Höav  xbgai 
&vyccxEQ£g  avxcbi;  —    Tag  {iev  ovv  xcjv  d^^idxcov, 
ag  ovc?  6  MsXd[i7tovg,  og  [lövog  xäg  TlQOixidag 
ETtavQE  [icuvoiievccg,  xaxa6xiq6Ei£v  dv. 
Allerdings  liebte  er  auch  Langusten  zu  verspeisen,  so  dass  sogar  das  <piXo<5o<pc}- 
xccxov  yivog  der  Fischhändler   den  ßeschluss  fasste  sein  Bildnis   auf  dem  Markte 
aufzustellen,  £%ov6av  onxbv  xdgaßov  ev  xy\i  §£%iai,   da  Er  allein  ihr  Gewerbe  zur 
Blüthe  brächte  (Alexis  bei  Meineke  3.  407).     Aber  er  ist  auch  sonst  kein  Kost- 
verächter;   so   wird   es    ihm    äusserst  schwer    den  Kopf  eines  yXavxog  fahren  zu 
lassen  (Antiphanes  bei  Meineke  3.  43),  er  allein  versteht  es  xaxaitiElv  ex  £eövxg)v 
Xoitadicov  a&govg   rstia%LXccg,    &6x'  ivslvca   möe    ev  (Eubulos  bei  Meineke  3.  207), 
und    den  Aal   liebt   er    so  getreulich,    dass  Menander  noch  den  todten  Mann  als 
Vetter  des  Aales  feiert  (Meineke  4.  161).    Wenn  ihm  also  der  Witz  der  Komödie 
von  all  diesen  Lieblingen   nur    den  xdgaßog    als  ständigen  Begleiter   mitgab,    so 
muss    das  geschehen    sein,   weil   so    mit  Einer  Klappe  zwei  Fliegen  zu  schlagen 
waren:    die  Leidenschaft    für    die  Languste   und    die  Gewohnheit  die  Augen  wie 
die  Languste  zu  stellen1). 

Ferner  machen  wir  die  Bekanntschaft  eines  Blinzlers:  . 

dsvdiXog  Thessalien  (Smlg.  no.  326  1 33. 34 ;    3.  Jahrh.). 
Vgl.  Hom.  1180  dsvdiXXcov   ig  exccötov ,    'jedem  einzelnen  zublinzelnd';    diavsvcov 
xoig  öy&ccXtLotg  Schol.  Ven.  A. 


1)  Die  Augen    des  yiag-uLvog    eignen   sich    noch    in    einem  andren  Sinne   zum  Vergleiche.     He- 
rondas  4.  44  beschwert  sich  Kynno  über  die  Langsamkeit  ihrer  Dienerin  mit  der  Wendung 

fffTijx*  S'  zig  [i    Öqsvocc  %ccq'hivov  [ie£ov. 
Sie  ärgert  sich  also  über  die  Knopfaugeu  der  8ov%r\. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  25 

Den  Triefäugigen  muss  man  wol  erkennen  in 

Fkrjuvg  (Schalendeckel  aus  Phaleron ,  Kretsclimer  Vaseninschr. 
100) l). 
Der  Name  ist  auf  ykrj^rj  aufgebaut  und  sinnverwandt  mit  yldfiav,  einem  Worte, 
das  als  Beiname  verwendet  worden  ist.  Bei  Aristophanes  werden  zwei  yXd^(oveg 
durchgenommen:  Frösche  588  'AQxsdrjpog  6  rXd^cov ,  Ekkl.  254.  398  NsoxXsLÖrjg 
6  rXd{icov.  Mit  dem  ersten  von  ihnen  hatte  sich  schon  Eupolis  beschäftigt;  er 
nennt  ihn,  wir  wissen  nicht  in  welchem  Zusammenhange,  schlechtweg  xbv  TXd- 
ficova  :  xr\v  itavdoxevxQtav  yäg  6  rXd^icjv  b%u  (Meineke  2.  432  fragm.  14).  Beiname 
also  ist  das  Wort  ykd^icov  sicher  gewesen ;  vielleicht  aber  auch  an  die  Stelle  des 
bürgerlichen  Namens  gerückter  Spitzname.  Zu  'AQ%t8r\aog  6  Ikdyictv  bemerken 
die  Scholien  zu  den  Fröschen  (588) :  yXd^icav '  6  e%ov  Xrjfiag ,  6  dxdd-ccQxog  .... 
KaXXCöxQccxog  cpr\<5iv  ort  ovxag  exaksixo  D.d^av,  cog  Xdgcov. 


Über  die  der  Erwartung  zuwiderlaufende  Form  der  Nase  haben  die 
Griechen  ihren  Spott  ebenfalls  in  einer  Anzahl  Namen  niedergelegt. 

Seit  dem  6.  Jahrhundert  sind  Namen  zu  belegen,  die  den  Stamm  tftfid-  ent- 
halten, also  den  Stumpfnasigen  charakterisieren.  In  keiner  Landschaft 
fehlen  sie.  Ich  begnüge  mich  auch  hier  damit  für  jede  mir  bekannte  Namenform 
einen  einzigen  Beleg  zu  geben;  das  Verbreitungsgebiet  des  Stammes  wird  sich 
auch  so  erkennen  lassen. 

[2\ttioQ  Korkyra  (IGS  3  no.  870 1 ;    6.  Jahrb.); 

Uüfiäg  Ionier  unbekannter  Herkunft  (CIA  4  Suppl.  2  no.  1012  b  9) ; 

Zifiddag  Halos  (BCH  11.  367  9); 

ECybccKog  zJavkievg  (Smlg.  no.  1969  4) ; 

UtfidxcDv  Samos  (BCH  5.  482  9); 

Zipakog  Abdera  (Num.  Chron.  1892.  3); 

UificcM&v  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  4  I10)2); 

Zfyug  Delos  (BCH  9.  147, 9)  ; 

ZLuCag  <&aXdxQ£Log  üanö&Qcct,  (Smlg.  no.  345  48) ; 

ZtiLiddag  Karpathos  (IGrl  1  no.  1034  s); 

Zifi£dag  Tegea  (Smlg.  no.  1231  II2.); 


1)  Die  Aufschrift  9YKUOS  TUEMYAO  —  ich  vermag  die  Buchstabenformen  nicht  genau 
wiederzugeben  —  bildet  einen  Kreis;  zwischen  dem  Anfange  des  einen  uud  dem  Ende  des  zweiten 
Wortes  ist  ein  Spatium  gelassen.  Kretschmer  liest  wie  seine  Vorgänger  Rhusopulos,  ECurtius  und 
Benndorf  KvxXog  rXr}(ivdov.  Da  mir  eine  Namenform  TXr\yLv8r\g  bedenklich  vorkommt,  denke  ich 
mir  rUEMYAO  als  rXr\pv8o(g)  und  gewinne  so  einen  Namen  rXrifivg^  für  den  ich  mich  auf  Kafifivg 
und  Genossen  (Bekker  Aneed.  p.  1195)  berufe.  Zur  Flexion  vgl.  Kovvvdog  neben  Kovvv  auf  der 
Execrationsinschrift  CIA  2  App.  no.  57. 

2)  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  bemerkt,  dass  sich  dieser  Name  auch  hinter  dem  *IMf|AlßN 
Z.  56  des  Verzeichnisses  keischer  Proxenoi  verbirgt,  dessen  Bruchstück  Mitth.  9.  271  Beil.  fac- 
similiert  ist. 

Abhandlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  6.  4  r 


26  FRITZ    BECHTEL, 

ZL{ii6xog  Tauromenion  (IGSI  no.  421  I  ann.  1) ; 

Ziuixtöag  Theokr.  (vgl.  Paton-Hicks  355); 

Ziaicov  Korinth  (Smlg.  no.  3119a;    6.  Jahrb.); 

Hi^ivXog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 87  f.); 

Zifivkiav  Jelcpog  (BCH  20.  202  72) ; 

Eiavklvog  knidischer  Henkel  (Dumont  244  no.  98) ; 

Zlikdv1)  Klazomenai  (CGC  Ionia  27  no.  88); 

Hi^KDVÖYiq  Ui^icovog  Eretria  (E(p.  ccqi.  1895.  131  II 4); 

EiadvCdrig  xrjg  <pvlf\g  TlavdiovCdog  (CIA  4  Suppl.  1  no.  446a  II 27). 
Namenformen     mit    verdoppeltem    fi    sind    mir    aus    mittelgriechiscken    In- 
schriften, die  bis  ins  4.  Jahrb.   hinaufreichen,  bekannt : 

2Jb[i[iog  Koavvovviog  (Smlg.  no.  345  74); 

Zipiifag  Theben  (IGS  1  no.  2429  1),  Chaironeia  (ebd.  no.  3322  1), 
Kgccvvovviog  (Smlg.  no.  345  01),  Phalanna  (Smlg.  no.  1330  4), 
V^iohsvg  (BCH  20.  207  48) ; 

ZLß{iL%og  Hyampolis  (IGS  3  no.  87  52) ; 

£i{1[ilovv  Kgavvovviog  (Smlg.  no.  345  51). 
Diese  ganze  Masse  von  Namen  geht  von  öi{iog  aus,  ist  geschichtlich  von 
den  Vollnamen  Ziiica&og  (Stratos;  IGS  3  no.  446  12)  und  'AvxCöi^og *)  (Karpathos; 
IGI  1  no.  1034  86),  wie  Horlmann  (Beitr.  22.  137  f.)  mit  Recht  betont  hat.  ganz 
unabhängig.  'AvxCöi^og  erinnert  an  avaGiuog  bei  Herondas  (4.  67;  so  die  erste 
Hand),  und  ist  einer  der  vielen  zweistämmigen  Spitznamen.  ZCitcuftog  (das  Fe- 
min. Ei^atxtr]  seit  dem  5.  Jahrb.)  macht  wegen  der  Unübersetzbarkeit  der  Zu- 
sammensetzung den  Eindruck ,  als  sei  diese  lediglich  durch  Wucherung  des 
zweiten  Namenwortes  zu  Stande  gekommen. 

Nach  Herodot  (4.  23)  waren  alle  Skythen  cpaXaxQol  ....  xal  6i{iol  xccl  yeveicc 
e%ovreg  ^EydXa.  Es  würde  also  der  Anschauungsweise  des  Griechen  nicht  fern 
gelegen  haben  einen  Stumpfnasigen  Uxv&rig  zu  benennen.  Aber  mehr  als  die 
Möglichkeit  anzudeuten  vermag  ich  nicht. 

Kyros  räth  dem  Chrysanthas  eine  öliit]  zu  ehelichen,  da  er  selbst  ein  yQvjtög 
sei;  zu  der  6L{iötr}g  der  weiblichen  Hälfte  werde  die  yQVTtöxtjg  der  männlichen 
die  wünschenswerthe  Ergänzung  bilden  (Xenoph.  Kyrop.  8.  4, 21).  Wer  einen 
Knaben  lieb  hat,  sagt  Piaton  (Polit.  5.  19),  findet  alles  an  ihm  schön:  6  {lev, 
OTt  öitiog,  ETiCxaQig  xkrjd-elg  ETtaivE&YfiExai  vcp  vpcüv ,  xov  dh  xb  yQvnbv  ßccöcXinov 
(paTE  sivca,  xbv  öe  d»)  diä  [ieöov  xovxav  E^EXQOxaxa  e%eiv  xzX.  Grund  genug, 
nach  der  Betrachtung,  der  eifioi  die  Gesellschaft  der  Habichtsnasen  auf- 
zusuchen. 


1)  Mit  kurzem  i,  vgl.  MCtmov. 

2)  Die  Vermuthung,  dass  ''AvxCölXXos    auf  dem  Steine  stehe  (Beitr.  21.  2272),    muss    ich    nach 
brieflicher  Mittheilung  des  Herrn  Dr.  Hiller  von  Gärtringen  zurücknehmen. 

5 


GRIECn.    PERSONDNNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  27 

rpvTtog    Athen    (Aristopli.    Ritt.    877;    überl.    Tgvxxov  ,    doch    hat 
Suidas  in  den  Aristophanesscholien ,    aus  denen  er  schöpfte, 
die  Variante  Tgimov  gefunden)  ; 
[r]QV7Ccov   Athen    (CIA  2    no.  1010 1 ;    4.  Jahrh.) ,    freigelassen    in 

Epeiros  (Smlg.  no.  1351  i); 
rQVTcC&v  Tenos  (Anc.  Gr.  Inscr.  no.  377  30 ;    3.  Jahrh.). 
Antiochos  VIII  erhielt  wegen    seiner  Habichtsnase    den   Beinamen    6  rgvitög 
(vgl.  Athen,  p.  153  b  imb  xov  rgvicov  xaXov^ivov  ''Avxiöyov). 

Wenn  Männer  die  Namen  von  Vögeln  führen,  die  durch  krummen  Schnabel 
ausgezeichnet  sind  ,  so  können  sie  wegen  ihrer  yQV7toxr\g  dazu  gekommen  sein. 
Daher  darf  ich  hier  einreihen 

'IeqccZ,  Sparta  (Xenoph.  Hell.  5.  1, 3),    Amphipolis  (Demosth.  1.  8), 
'AvTio%evg  (Poseidonios  bei  Athen,  p.  252 e),  Uskevxevg  (CIA 
2  no.  3310),    Fabricant  auf  einem  rhodischen  Henkel  (IGSI 
no.  2393, 299); 
'legaxog  &eoxvöovg  Delos  (BCH  14.  401 73 ;    3.  Jahrh.); 


ferner 


Bdgßat,  Thera  (7.  Jahrh.;    mitgetheilt   von    Dr.  Hiller   von  Gärt- 
ringen) ; 


um 


'Ixxlvog,  Erbauer  des  Parthenon  (Paus.  8.  41, 9). 
Der  Name  Bagßuh,  wird  durch  die  Glosse  ßdgßat, '  l8qcc%  itagä  AißvGi  (Hes.)  er- 
läutert, die,  wie  der  Stein  von  Thera  zeigt,  nicht  angetastet  werden  darf.  Übri- 
gens gelten  die  grossen  Vögel  als  Könige,  daher  ihre  Namen  auch  als  ehrende 
Cognomina  verwendet  werden :  Plut.  Arist.  6  ö  x&v  ßccöLleav  xcel  xvgdvvcov  ovöelg 
e^rjXcoöEV,  eckkä  IIoIloqxyixccI  xccl  Kegccvvol  xccl  Nixdxogeg,  svtot  de  'Aexol  xal  cIegaxai 
eiuLQOv  7tQo6ayoQev6[ievoi.  .  .  .  Auf  Inschriften  der  Kaiserzeit  trifft  man  den 
Namen  rIega^  so  häufig,  dass  man  ihn  hier  wol  für  Ehrennamen  halten  muss. 

Auch  der  Besitzer  einer  starken  Nase,  der  J\aso,  kommt  im  Lexikon  der 
Spitznamen  nicht  zu  kurz. 

Zu  qlv-  wird  gebildet 

Pivcov  6  IlaiavLEvg  (Aristot.  '%-r\v.  TIoXix.  38;    5.  Jahrh.),  Megara 
(Smlg.  no.  3025  36)  ^. 

Das  Wort  gvy%og  wird  nach  Athenaios  (p.  95  d)  ursprünglich  inl  t&v  gvCöv 
gebraucht;  aber  auch  den  Vögeln  wird  ein  gvy%og  zugeschrieben  (xotg  d'  oqvlölv 
eöxL  xb  xalovfisvov  gvyiog  <5x6yLu,  Aristot.  liegt  Z&uav  ^logtcov  3.  1) ,  nicht  minder 
dem  Hunde  (Theokr.  6.  30).  Wenn  in  vulgärer  Redeweise  auch  der  Mensch  mit 
einem  gvy%og  ausgeboten  wird,  so  kann  mit  dem  gvy%og  nur  ein  rüsselartig  ge- 
bauter   Mund   oder   eine    schnabelartig   gebaute    Nase    gemeint   sein.      Die  Wen- 

1)  Evcpgovris  'Ptvcovog  auf  einem  megarischen  Steine  des  5.  Jahrh.  (Class.  Rev.  1891.  34  1, 
Mitth.  21.  443).     Der   erste  Name  ist  aus  Evcpgovrjxog  verkürzt;    vgl  lifioftvris  bei   Aischylos. 

15  4*  s 


28  FRITZ    RECHTE  L, 

düngen  "Oörj  xb  gvy%og  xov  Ttavxoegxxeco  xovde ,  Kotixe  xb  gvy%og  ccvxov  (Herond. 
5.  41,  7.  G) ,  die  um  einen  Ton  tiefer  gestimmt  sind  als  "Eine  xfjg  giv6g  und 
KoTtrs  xr\v  glvcc  (Crusius  Unters,  zu  d.  Mimiamb.  d.  Herond.  103.  111),  lassen  es 
räthlich  erscheinen  an  die  Nase  zu  denken.     So  entpuppt  sich  der 

(PvyXcov  Theben  (IttS  1  no.  2573;   5.  Jahrh.) 
als  ein  Mann  mit  starker  Nase. 

Mit  den  Bedeutungen  von  gvy%og  berühren  sich  die  von  gcc{upog  nahe.  Ari- 
stophanes  nennt  den  langen  Schnabel  des  Wiedehopfs  gd^Kpog  (Vögel  99).  Die 
Nebenform  gs'fupog  wird  bei  Hesych  mit  öxöfia '  rj  gig  glossiert.  Die  ga^tprj  er- 
klärt Hesych  mit  noitig  und  iid%atga ;  es  wird  also  ein  leicht  gekrümmtes 
Schwert  mit  ihr  gemeint  sein.     Demnach  darf  man  sich  unter 

'PccticpLccg  Aaxedcutioviog  (Thuk.   1.   139, 3) 
einen  Mann  mit  vorspringender  Nase  vorstellen. 

Mindestens  Ein  vergleichender  Name  findet  hier  Unterkunft. 
Aristoph.  Vög.  1292  ff.  lesen  wir: 

neodtt,  [iev  eig  xccicrjXog  cjvopd^exo 
^co/ld?,  MsvLTiTCcai  d'   i]v  Xehdav  xovvo{icc, 
'ÖTtowricüL  (5'   bfpd'ak^bv  ovx  iyföv  Kogcct,. 
Die  Scholien  geben  an,    dass    der  Dichter  der  'AxaXdvxr\  (Strattis)  des  'Oitovvxiog 
gedenke    tag   piya    gvy%og   E%ovxog ,    ebenso  Eupolis   in    den  Taxiarchen.     Daraus 
darf   geschlossen    werden,    dass    der   Demagog   wegen    seines   gvy%og   zu   seinem 
Übernamen  gekommen  sei 1).    Auf  diese  Weise  ist  eine  Möglichkeit  gefunden  die 
Bedeutung  des  Namens 

Kogat,  Thera  (7.  Jahrh. ;   mitgetheilt  von  Hiller  von  Gärtringen), 
Syrakus  (Aristot.  Rhet.  2.  24),   (Hgaxk[ed)xrig]  Le  Bas-Wad- 
dington no.  599  &  21) 
zu  begreifen. 

Es  fragt  sich  aber,  ob  nicht  auch  den  übrigen  Namen ,  die  von  Vögeln  mit 
langen  Schnäbeln  entliehen  sind .  der  Sinn  inne  wohne ,  den  wir  für  K6ga%  aus 
den  Quellen  erweisen  konnten.  Leider  vermag  ich  die  Frage  nur  aufzuwerfen, 
nicht  zu  fördern.     So  mögen  also  die  Krähe 

Kögcovog    Styra    (Ion.    Inschr.    no.    19,22«;    5.  Jahrh.),    KricpLGisvg 
(CIA  2  no.  1466  3),  Kögovvog  Kgavvovviog  (Smlg.  no.  345  57) ; 
KoQcjviiog  Eretria  CEcp.  ug%.  1895.  133  I«)j 
Koqcovlcov  'Egoiddrjg  (CIA  2  no.  2029), 


die  Dohle 


Kohoiög   Apollonia   111.    (Münzen    des    österr.   Kaiserhauses  1.  28 
no.  24;    3./2.  Jahrh.), 


1)  Koqcc£    ist    auch  Spitzname    des  KaXlwv8r\g ,    der    den   Archilochos  tödtete  (Plutarch  IJsgl 
xdv   vnb    tov  ftsov  ßgadscog  TL(i(ogov(isvcov  p.  560  d).     Was    ihn  veranlasst   hat,    ist  nicht  bekannt. 


QRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  29 

und  der  Wiedehopf 

"Eiioty  (CIA  2  no.  3660;    Sklave) 
einstweilen  nur  der   Vollständigkeit  halber  genannt  sein. 

Zum  Ersätze  sei  es  gestattet  einen  witzigen  Spitznamen  aus  der  Zeit  der 
zweiten  Sophistik  anzuführen,  den  ich  Grasberger  verdanke  (Stichnamen  338tf): 
Varus  aus  Perge  hiess  IJekaQybg  diä  xb  xvqöov  xf\g  Qtvbg  xal  Qa^icpaöeg  (Philostr. 
BCot  6o(pi6xG3v  2.  250  K.). 

Stark  entwickelte  Ohr  läppen  bilden  den  Gegenstand  der  Schadenfreude 
in  den  Namen 

Aößcov    ix    Kr\d(Jbv    (CIA    1    no.  59  4;    5.  Jahrb.),   '/Igyslog    (Diog. 
Laert.  1.  1,  s). 
Der  Silenenname  Vpaxirjg    charakterisiert   die  Pferdeohren    des  Silenos  (Kretsch- 
mer  Vaseninschr.  64).    Fick  hat  ihn  mit  dem  mythischen  Ovaxiag  (Nikol.  Damasc. 
fragm.  53  M.)  identifiziert  (Odyssee  10). 


Wer  ein  Paar  tüchtige  Kin  nb  acken  in  Bewegung  zu  setzen  hat.  bekommt 
seinen  Namen  von  der  yvd&og.     Die  Sippe  ist  ;ilt  und  weit  verbreitet. 

rvd&cov  Styra  (Ion.  Inscbr.  no.  19.  17«;   5.  Jahrb.),  Halikarnassos 
(ebd.  no.  240a  ig),  XoXXetöqg  (CIA  2  no.  943  II 27),  Jinaievg 
(Paus.  6.  7,9),  Kos  (Paton-Hieks  no.  9«); 
rvaftig   ®e<3<5aUg  (Paus.  5.  24,  8 ;    5.  Jahrb.),   'EUvöiviog    (CIA  4 
Suppl.  2  no.  574/;  19),    'Agyelog  (E<p.  d9%.  1892.  70  34),    Lokr. 
Epizeph.  (IGSI  no.  2401 1) ; 
Tva&iog  'Axrjvevg  (CIA  2  no.  869  1 20 ;   4.  Jahrb.),  Euboia  (Mitth. 
9.  271  Beil.  07),  Korkyra  (IGS  3  no.  682  4),  KQi}g    TvU<Ho$ 
(Mitth.  11.  48  no.  3  2). 
Bei   rvd&cov  entwickelt    sich    aus    der   Bedeutung    'wer    starke   yvddot   hat' 
nachweislich  die  Bedeutung    'wer   die   yvd&OL   fieissig   in  Bewegung  setzt'  (äXoav 
Xqyj   xccg   yvd&ovg    Aristoph.    fragm.    544    Dind.) ,    besonders    auf   fremde    Kosten. 
Einem    Ttolvydyog    hat    Eupolis    Eselskinnbacken    zugeschrieben    (Meineke  2.  572 
fragm.  85).     Zu  dem  Inventar  eines  jiaQaöixog  gehört  nach  Nikolaos  (Meineke  4. 
579  f.)  eine  yvd&og  dxd{iaxog ;    mit  dieser  zerschmettert  er  die  Tische,  um  sie  für 
die    "Wettbewerber   unzugänglich    zu   machen    (Anaxippos,    Meineke  4.  464).     So 
wird  deutlich,  warum  ein  tapfrer  Mann,  der  ye'yova  deivoxaxog  xdlXoxQiet  öeiitvelw 
den  Namen  rvd&cov  tragen  konnte  (Plut.  2Jvii7toö.  TCQoßXrj^i.  7.  2). 


Auffalliger  Bau  des  Mundes    hat    zur  Bildung  von  Spitznamen  veranlasst, 
in  denen  die  Nomina  öxöpcc  und  %eiXog  benutzt  erscheinen. 
Von  <5%6\lol  geht  aus 

Zxopag  AixaXög  (Dittenberger  Syll.  no.  188  2 ;    3.  Jahrh.),  Hyettos 

5 


30  FRITZ    BECHTEL, 

(IGS    1    no.  2815  g),    Trozen    (AegCag    Zto(iü    BGH    17.    94 

no.  10  3). 
Am  nächsten  liegt  er  2Jro^iag  als  Verkürzung  von  Htö^agyog  zu  fassen.  Ich 
bin  auch  weit  entfernt  zu  läugnen,  dass  mancher  Träger  des  Namens  ihn  seiner 
Zungenfertigkeit  zu  danken  habe.  Aber  die  Verbindung  eines  Aegcccg  mit  einem 
Ero^iag  scheint  mir  dem  Etopäg  in  diesem  bestimmten  Falle  die  Bedeutung  'einer 
der  einen  grossen  Mund  hat'  zu  vindicieren ,  da  Aegiag  doch  wol  den  be- 
zeichnet, 'der  einen  langen  Hals  hat'. 

An  %sikog  schliesst  sich  eine  Sippe  an,  die  vermuthlich  Leute  mit  wulstigen 
Lippen  (Labeones)  bezeichnet: 

XCkov  '),  in  Sparta  seit  dem  6.  Jahrb.,  Elis  (Olympia  5  no.  12  7), 
XCk&v  XCkovog  IJaxQevg  (Paus.  6.  4,6),  unbekannter  Prove- 
nienz (Alterth.  v.  Pergamon.  8.  1  no.  4ß);  [X]sikcov  Krjyt,- 
öcevg  (CIA  4  Suppl.  2  no.  14c 3;    4.  Jahrb.);  N 

Xtkecog  ävr\Q  Tsyeiqzii]g  (Herod.  9.  9); 
Xik&g  Mezanovzlvog  (Iambl.  De  vita  Pythag.  189  g  N.). 
Xstkcjv  verhält  sich  zu  Xikcov  wie  ion.  %sikLOi,  zu  att.  %Ckioi,  wie  \iükiyog  zu  \x,C- 
li%og  (Kretschmer  Vaseninschriften  133).  Xikeag  denke  ich  mir  als  ionische 
Umformung  von  Xokrifog,  Xikrjßog  vergleiche  ich  mit  zzkr\pog ,  ion.  zekscog  (Da- 
nielsson  De  voce  cci£r}6g  13  f.) ;  die  Ableitung  mit  -0-  wird  auch  durch  %Ekvvr\ 
nahe  gelegt. 

Als  Anhang  hat  hier  noch  eine  Sippe  Erwähnung  zu  finden,  die  nicht  auf 
den  Bau  der  Lippe  sondern  auf  die  Gestalt  zielt,  die  diese  im  Affect  oder  viel- 
leicht auch  in  Folge  krankhafter  Störung  empfängt.  Ich  meine  die  Namen,  die 
das  Wort  \xvkkov  enthalten : 

Mvkkog  Thasos  (Hippokr.  Epid.  1.  15,  Ion.  Inschr.  no.  77  1 12), 
Thessalien  (Smlg.  no. 326 II 14),  Hermion  (Smlg.  no.  3398  II6)2)  ; 

Mvkkeag  6  Zcoikov  BsQoialog  (Arr.  Ind.  1.  18,6); 

MvkkCag  6   KQozcovtdzrjg  (Iambl.  De  vita  Pyth.  193  11  N.) ; 

MvkkCvag  Thessalien  (Smlg.  no.  326  I9;    3.  Jahrh.)3). 
Zur    Beurtheilung   dieser   Namensippe    sind    wir   auf  Grammatikernotizen   ange- 
wiesen.    Die    ausführlichste    steht    bei    Pollux  (2.  90) :    zb    öl    övvdyeiv   tä   %sikrj 
^Oi^ivkketv  r\  Ka{iGudLcc  xccl  [ioi{ivkkäv  (prjöt,  rö  ds  dtaxivslv  zä  %üky\  öia^vkkaivsiv ' 
xccl  yccQ  tä  %£ikri  [ivkkcc  TiQOöccyoQSvovöiv. 


1)  So  geschrieben  auf  einer  rothfigurigen  Schale  aus  Attika  (Klein  Vasen  mit  Meistersign.2 
119  no.  7).  Die  Schreibung  mit  ft  kenne  ich  aus  einer  einzigen  Inschrift  guter  Zeit,  der  am  Ende 
genannten  attischen,  wo  Köhlers  Ergänzung  wol  richtig  ist. 

2)  Über  den  angeblichen  Komiker  MvlXog  sieh  Wilamowitz  Hermes  9.  338  f. 

3)  Ist  MYAAENAX  ©saöalos  (Blinkenberg  Eretr.  Gravskr.  no.  169)  richtig  gelesen? 


GRIECO.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  31 

Der  Besitz  eines  langen  Halses  wird  angedeutet  durch  die  Namen 

Jegiccg  Trozen  (BCH  17.  94  tio.  10  3  ,    der  Vater   heisst  Uxofiag)] 
TgaiaXog  Jaxeöca^ioviog  (BCH  20.  206  36  ;    4.  Jahrh.). 


Auch  wer  den  Schaden  eines  verwachsenen  Rückgrates  hat,  braucht 
für  den  Spott  nicht  zu  sorgen.  Mindestens  Ein  Wortstamm  kann  hier  mit 
Sicherheit  eingereiht  werden: 

rvQtdag    unbekannter   Herkunft    (IGA   no.  562 ;    5.  Jahrh.) .     ein 

Spartaner  Polyb.  4.  35, 5 ; 
rvQcov  Xalxidevg  (IGS  1  no.  368  1 ;    3./2.  Jahrh.;    sein  Sohn  heisst 
MiTtdörig). 
Vgl.  Hom.  x  246  yvgbg  iv  co^iolölv. 

Alle  übrigen  Stämme  können  mit  gleichem  Rechte  auf  krumme  Beine  ge- 
deutet werden.  Aber  vielleicht  ist  es  gestattet  einen  zweiten  Spitznamen  für 
den  buckligen  Mann  durch  Conjectur  herzustellen  : 

Kvqxcov  Hermion  (Smlg.  no.  3398  Ie); 
wenigstens  weiss  ich  den  überlieferten  Kqvxoov  aus  dem  Griechischen  nicht  auf- 
zuhellen,  während  dem,  der  das  Glück  gehabt  hat  Homer  vor  der  Schulreform 
kennen  zu  lernen ,  bei  dem  Namen  Kvqtcov  sofort  die  anmuthige  Gestalt  des 
Thersites  vor  Augen  tritt ,  dem  wjLtra  xvgxcb  ,  eiti  6tfjd-og  övvoxcoxöxe  zu  eigen 
waren.  Man  beachte  Evayögag  6  Kvgxög  (Athen,  p.  244  f.)  und  xvgxcov  selbst 
in  der  Grabschrift  des  Krates  (Bergk4  2.  369) 

HxBi%ug  öij  (pils  xvgxcov, 
ßcciveig  x    sig  'Aidao  d6(iovg  xvcpbg  dtä  ffjgag. 


Die  Besitzer  eines  dicken  Bauches  sind  durch  eine  doppelte  Namenreihe 
ausgezeichnet : 

Tdaxgcov  Athen  (CIA  2  no.  836  79  ;  4.  Jahrh.),  Thessalien  (Ui^ilow 
raöGXQovvecog  Smlg.  no.3*26  II17),  Naupaktos  (IGS  3  no.  383 10); 
rdöxQog  Oiniadai  (IGS  3  no.  517  1 ;  2.  Jahrh.). 
Den  ersten  Namen  können  wir  als  Appellativum  nachweisen:  Aristoph.  Frösche 
200  ovxovv  xadsdst  ör\x  ivd-adi,  ydoxgcov;  mit  HofFmann  (Beitr.  22.  139)  bin  ich 
jetzt  der  Ansicht,  dass  Tdöxgcov  mit  ydoxgcov  identisch  und  der  zweistämmige 
Name  raöxgodcogrj  ganz  ferne  zu  halten  sei 1). 

Ovöxcov  Korinth  (Smlg.  no.  3119 d;    6.  Jahrh.),    Akrai  (IGSI  no. 
225),  ®e67tievg  (CIA  2  no.  2986). 
Nach  Diog.  Laert.  1.  4,9  hat  Alkaios  den  Tyrannen  Phittakos  cpvöxcova   xal  yd- 


1)  rdctgav    heisst    übrigens   bei   dieser    Anschauungsweise   nicht   'Bäuchlein',    wie    Hoffmann 
übersetzt,  sondern  'Dickbauch';    denn  dieses  bedeutet  ydaxQtov. 

1   5    * 


FRITZ    BECHTEL, 


öxQCöva    gescholten.     Der   siebente   Ptolemäer   führte    die   Beinamen  EvsQystrjg  6 
(Pvöxcjv  (Polyb.  34.  14,  g). 


Wer  über  stark  entwickelte  Hüften  verfügt,  heisst 

'Oöcpvav  Athen  (Kratinos,  Meineke  2.  152  fragm.  8). 


Recht  zahlreich  sind  die  Namen,  zu  denen  stark  entwickelte  Genitalien 
die  Veranlassung  gegeben  haben.  Sie  lassen  sich  in  hohes  Alterthum  hinauf 
verfolgen. 

KQl&ig  dorische  Hexapolis  (IGA  no.  482  h;  7.  Jahrh.); 
Kpcd-av  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,55;  9  zu  B  verlesen;  5.  Jahrh.), 
Eretria  (E<p.   äg%.  1895.   131  I6),   Aigion    (Smlg.   no.   1609), 
Tauromenion  (IGSI  no.421  I  ann.  63),  Akrai  (ebd.  no.  208  8); 
KQL&sccg  Argos  (Smlg.  no.  3278  &6;    nach  Fourmont). 
Die  richtige1)  Beurtheilung  der  Sippe  geben    die  Verse  Aristoph.  Frieden  964  ff. 
an  die  Hand: 

"OöOLTCSQ    U6l    TCOV   d'£(0^l8V(OV 

ovx  s6tiv  ovdslg  oöxig  ov  XQt&riv  £%ei. 
—  Ov%  al  yvvalneg  y1  eXccßov.  —  ' AXk1  slg  iö7tSQav 
öcdGovölv  avtolg  avÖQsg. 
Eine  zweite  Sippe  geht  von  \iv6jr\g'  vs(pQÖg  (so  Bergk  für  evQog),    hg  ' Aq%C~ 
Xo%og  (Hes.)  und  von  \jlv6%ov  aus,   wofür   bei  Hesych    die  Bedeutung  tb  ävdgstov 
xal  yvvcuxslov  {iöqiov  angegeben  wird: 

Mfazns  Erythrai  (CGC  Ionia  138  no.  187;  2.  Jahrh.); 
Mv6Xtör}g  CIA  2  no.  4291 3 ; 
Mv6%G)v  Athen  (CIA  1  no.  434  24;    5.  Jahrh.). 
Bekannt  ist  die  dritte  Sippe : 

Za&tvog  Theben  (IGS  1  no.  3668;  5.  Jahrh.); 
Zdd-Gjv  Argos  (Smlg.  no.  3265  5;  5.  Jhrh.) ,  Orchomenos  (IGS  1 
no.  31752i.2a),  Leukas  (IGS  3  no.  5346). 
Vgl.  Lysistrate  1119  fy  iir\  didübi  rijv  %stQa,  tr\g  6ad"r}g  ccye.  Der  Komiker  Tele- 
kleides  gebrauchte  6a&cov  als  vitoKogiöiia  naiÖCav  ccqqevcov  (Meineke  2.  377,  fragm. 
22) 2) ;  vermuthlich  ist  der  Sinn  der  Form  der  gleiche  wie  der  der  Composita 
avdQOöd&rig ,  dvögoöd^cov ,  die  im  Lex.  Bachm.  mit  ävdgbg  aidotta  £%(ov ,  (tsydla 
s%<av  aldola  glossiert  werden. 

Ein  weitrer  Name  steht  vereinzelt: 

QMßav  Korinth  (Smlg.  no.  3119  d;  6.  Jahrh.). 
Okeßcov  zu  qpAfi/;  yovLfirj.     Es   ist   nicht   nöthig   den    Namen    als  Verkürzung    des 


1)  Verkehrt  aufgefasst  GP»  177. 

2)  Also  ganz  wie  Aristophanes  das  Wort  noad'mv  (Frieden  1300): 
5  Eins  (io l,  m  noG^av,  stg  rbv  cavxov  itaxsQ*  aidsig; 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  33 

Satyrnamens  &Xeß-L7t(7i)og  l)  zu  fassen :  es  ist  durch  die  Formen  Kql&g>v,  Mv<5%<nv 
Ud&cov 2),  neben  denen  Vollnamen  nicht  existiert  haben,  als  einsilbiger  Spitzname 
ausreichend  gesichert. 

Nicht  ganz  zweifellos  ist,  ob  die  an  xigxog  und  cpaXXög  anklingenden  Namen 
wirklich  in  die  Reihe  der  bisher  betrachteten  gehören.  Jedesfalls  sind  die  Er- 
klärungen, die  GPa  161.  316.  272  von  ihnen  gegeben  sind,  durch  die  bisher  bei- 
gebrachten Analogien  stark  erschüttert. 

Ksqxis  Kalymna  (Smlg.  no.  3590  57 ;  um  200  v.  Chr.)3); 

Ksqxlcjv  Chios  (Mitth.  13.  223),    QeööaXög  (CIA  3  no.  2490) 4); 

Kegxav  (CIA  2  no.  3847). 
Vgl.  Aristoph.  Thesmoph.  239 

rijv  xeqxov  (pvXdtrov  vvv  ccxqccv. 
Auf  tpccXXög,  nicht  auf  <paXaxQÖg  und  Genossen,  geht  vielleicht 

OccXXivog  Kopai  (IGS  1  no.  2781 5,  2787 15;  3.  Jahrh.). 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  der  Begriff  des  nsydXa  aldola  £%siv  leicht 
in  den  des  Xayvsvsiv  übergeht.  Wie  weit  die  Bedeutung  der  angeführten  Namen 
diese  Richtung  eingeschlagen  hat,  ist  nicht  auszumachen. 


Von    den  Spitznamen,    die    an  abnorme  Gestalt  der  Beine   anknüpfen,    be- 
schäftigen sich  die  meisten  mit  der  6xqs ßX6zy\g  der  Gliedmaassen. 
Zunächst  eine  Sippe : 

KvXXog  Halos  (BCH  11.  3647;  2./1.  Jahrh.); 
KvXXCag  Argos  (Smlg.  no.  32786 1); 
R6kk<ov  KMXavog  'HXelog  (BCH  7.  426;  2.  Jahrh.). 
Vgl.  Aristoph.  Vög.  1379 

rC  devQO  itödct  6v  xvXXbv  dvä  xvxXov  xvxXelg] 
und  das  epische  Compositum  xvXXoTtodcor. 


1)  Heydemann  Satyr-  und  Bakchennamen  26.  <&X{ß-ntnog  wie  der  Satyrname  Ltva-uixog  auf 
der  gleichen  Schale;  das  Element  i'nnog  »hängt  bedeutungslos  über«  WSchulze  GGA  1896.  255. 

2)  Wozu  n66&<ov  (Name  eines  Satyrknabeu,  Heydemann  13)  kommt. 

3)  KsQHid&s  (Aqxccs.  Demosth.  18.  295)  wird  von  Herodian  [liegt  6Q&oyQ.,  2.  434  L.)  unter 
die  Perispomena  gerechnet.  Der  Name  muss  daher  mit  Hegnig  im  Zusammenhange  stehn.  Darl 
man  ihn  als  Verkürzung  von  hs Q-Kidonoiog ,  also  als  einen  der  Spitznamen  ansehen,  die  sich  über 
ein  Gewerbe  lustig  machen? 

4)  Es  liegt  nahe  hier  auch  den  Namen  KEPKINOS  einzuordnen,  der  für  Byzanz  (IGS  1 
no.  2418 12;  4.  Jahrh.),  Herakleia  Pont.  (ebd.  no.  25312),  Apollonia  111.  (CGC  Thessaly  to  Aetolia 
57  no.  21)  nachgewiesen  ist.  Aber  auf  der  zweiten  Inschrift  ist,  worauf  mich  Dittenberger  auf- 
merksam macht,  der  Vocal  der  Mittelsilbe  als  Kürze  gemessen.  So  kommt  man  auf  die  Vermuthung, 
dass  iu  dem  Namen  eine  Nebenform  von  Kccqkivos  vorliege ;  Dittenberger  weist  darauf  hin,  dass 
der  Name  der  am  -nolnog  KccQKivirrig  erbauten  Stadt  als  Kugnivtrig  und  KeQmviug  überliefert  ist. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ge3.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  6  .  5  £ 


34  FRITZ    BECHT  EL, 

Weiterhin  die  alleinstehenden 

Mvöxekog  Rhypes  (Strabon  p.  387;  8.  Jahrb.),  KQccvvovvLog  (Smlg. 
no.  34575) 1); 

'Potxog  Samos  (Herod.  3.  60;  7.  Jahrh.),  Athen  (CIA  2  no.  945 15); 

'Pccißog  Styra  (Ion.  Inscbr.  no.  19,82;  5.  Jahrh.); 

ravöog  Altcokog  (Dittenberger  Syll.  no.  1842;   3.  Jahrb.). 
Mvöxslog  empfängt  Licht  durch  die  Glosse  ^iv6xeXog'  6  ötQaßojtovg  Cyrill.  Dresd. 
(MSchmidt  Hesych.  5.  38) 2).     Ein  Qccißög  ist  nach  Poll.  2.  192  der,  dem  xccfiTtvla 
stg  tö  i'vdov  zä  6xElr\  sind.     Die  Erklärung  des  vierten  Namens  liefert  die  Glosse 
yccvöov '  (fxapßöv,  ötQsßXöv  (Hes.). 

Ausser  diesen  Namen,  deren  Sinn  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  gibt  es  andre, 
von  denen  nicht  gewis  ist,  ob  sie  gerade  die  Verkrümmung  der  Beine  im  Sinne 
haben ,  nicht  etwa  die  Verkrümmung  des  Rückgrates  treffen  wollen.  Ich  habe 
sie  bei  der  Behandlung  der  Buckligen  zurückgestellt,  um  sie  bei  dieser  Gelegen- 
heit vorzuführen. 

An  erster  Stelle  ist  eine  alte,  weit  verbreitete  Sippe  zu  nennen: 

Xaßäg  Tanagra  (IGS  1  no.  585  Uli;  5.  Jahrh.),    Akraiphia  (ebd. 

no.  2716  «5); 
Xdßrjg  6  ®l.vevg  (Aristoph.  Wesp.  234),  Xdßßeig  Thessalien  (Smlg. 

no.  326  36  I25); 
Xdßcov  (IGS  1  no.  2647  4); 

Xaßgtag,  verbreitet  in  Athen  seit  dem  5.  Jahrb.;  Iasos  (BCH  13. 

23  2),    ZalvßQiuvog  (Smlg.  no.  3073),    auf  einem  Henkel  mit 

a6Tvv6[iog  (Becker  Jahrb.  f.  Philol.  4.  465  no.  7). 

Einigen  Aufschluss  über  die  Bedeutung  der  Reihe  gibt  die  Glosse  %aßöv  Kayuiv- 

lov  .  ötevov   (Hes.).      Mit    %aßog    hat   Fick   lat.    hümus    (aus   *habmus)   verbunden 

(Beitr.  17.  322). 

Ebenfalls  alt,  aber  weniger  verbreitet  ist  eine  zweite  Sippe: 
"Avxovlog  Kopai  (IGS  1  no.  2788  10;  2.  Jahrh.); 
'AyxvUcov  Anaphe  (IGI  2  no.  255;   7.  Jahrh.),    Athen  (Aristoph. 
Wespen  1397). 
Man  kann  diese  Namen  nach  den  Zusammensetzungen  dyxvXo%r(Krig ,    dyxvköxcokog 
beurtheilen. 

Nur  eine  Vermuthung  ist  es,  wenn  ich  hier  noch  den  Namen 
Ka[i7iäg  Tegea  (Dittenberger  Syll.  no.  317 15) 
einreihe,  indem  ich  ihn  .als  Verkürzung  von  xa^ijcvXog  betrachte. 

Früher  (23  f)   ist    die  Möglichkeit    nachgewiesen    worden,    dass    Leute,    die 


1)  Der  Rhypäer   wird   von    Antiochos    bei   Strabon   p.  262   als   vnonvyo?   und   ßQcc%vvarog  be- 
schrieben. 

2)  Ich  würde  die  Glosse  nicht  kennen    ohne  WSchulzes  Hinweis  (Hermes  27.  31).  —  Als  Kür- 
zung von  Mvo-xslog  Hesse  sich  der  Name  Mvckwv  (Syrakus ;  Thuk.  8.  85,3)  deuten. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  35 

KagxCvog  heissen,  darum  so  genannt  seien,  weil  sie  Augen  haben  wie  der  xaQxCvog. 
Eine  zweite  Möglichkeit  muss  in  diesem  Zusammenhange  erwähnt  werden :  das 
tertium  comparationis  kann  in  der  Art  des  Ganges  liegen.  Aristophanes  ge- 
braucht Frieden  1083  das  Sprichwort  Ovitoxs  nonqöEig  xbv  xaQxivov  oq&cc  ßccöi&iv. 
Dass  dies  »a  cancri  consuetudine  retro  eundi  sumptum  est«,  wie  Bauck  De  pro- 
verbiis  18  meint,  wird  durch  die  Thierfabel  widerlegt,  die  dem  Sprichworte  zu 
Grunde  liegt :  7/  ^x\xr\Q  ngbg  xbv  xccqxivov  '  TC  dij  Xo^yv ,  tb  jial,  ßadi&ig  oööv, 
oQ&rjv  Uvea  7tQo6Y\xov  ;  x.  x.  X.  (Aesop  no.  187  Halm).  Auch  in  der  Batrachomyo- 
machie  heissen  die  xccqxivoi  bekanntlich  Xoloßdxai  und  ßXaitioi  (296  ff.).  Es  ist 
also  klar,  welchen  Gang  der  Mann  gehabt  haben  muss,  den  Aristonymos  (Meineke 
2.  698)  einen  xaQxivoßrjxiqg  gescholten  hat,  aber  auch  klar,  dass  Leute,  deren 
Beine ,  wie  die  des  xaQxivog,  slg  xb  TtXdyiov  xd(X7txovxcu  (Aristoteles  Ü6QL  xä  t^äia 
töxoQ.  4.  2) ,    ganz  dazu  angethan  gewesen   sind  den  Spitznamen 

KaQxCvog  (23) 
zu  empfangen. 

Neben  dieser  nicht   verächtlichen  Schaar  von   Krummbeinen   gibt    es   meirfes 
Wissens  nur  einen  einzigen  Langbein.     Als  solchen  betrachte  ich 

Zxeliag  Athen  (CIA  1  no.  422  2;  5.  Jahrh.). 
Wir  wissen  aus  Pollux ,    dass  Kratinos  einen  mit  starkem  Ttaycov  ausgestatteten 
Zeitgenossen  itaycovCag  nannte  (2.  10);  von  ^isxcjTtLccg  war  schon  die  Hede  (23);  es 
sei  auch  an  den  Silennamen  'Opaxtrjg  erinnert. 


Von  den  Spitznamen ,  die  sichtbare  Abnormitäten  des  Körpers  und  seiner 
Theile  treffen,  sind  noch  zwei  Gruppen  übrig  :  die  Namen ,  die  über  die  Behaa- 
rung und  über  die  Beschaffenheit  der  Haut  eine  Aussage  enthalten. 

Die  Behaarung  kann  durch  Quantität  und  Qualität  Aufsehen  erregen. 
Grosse  Fülle  des  Haares  wird  angedeutet  durch  den  Namen 

Tgix&g   Delphi    (Smlg.    no.  16834;    5.   Jahrb.),    AlxcoX6g    (Ditten- 
berger  Syll.  no.  1842). 
Ahnlich    haben    die  xQL%lg  und  xQi%Cag  genannten  Fischarten   ihre  Benennung  von 
der  Menge    der   feinen  Gräten   erhalten ,    die  sie   durchziehen  (dxb  xqi%g)v  xqixiccl 
il&vsg  xal  xQi%ldeg  Pollux  2.  24). 

Auf  starkes  Kopfhaar  zeigt  die  Sippe 

Xalxog  Melos  (Ross  Inscr.  gr.  ined.  no.  238)  ; 

rcuxeag1)  Makedone   (CIA    1   no.  42ci6;    5.  Jahrh.); 

Xccixig  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  338 ;  5.  Jahrh.)  ; 

XaiXLÖr}g  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  7  II 8 ;  5.  Jahrh.) ; 

XaCxcjv  Halikarnassos  (Dittenberger  Syll.  no.  6642;    5.  Jahrh.). 


1)  Nach  Solmsen  KZ  34.  550. 


36 

Ein  Pferd  auf  einer  schwarzfigurigen  Vase  aus  Attika  führt  den  Namen  Xalxog, 
den  Jeschonnek  (De  nominibus  quae  Graeci  pecudibus  domesticis  indiderunt  48) 
richtig  erklärt.  Ebenso  heisst  ein  Hahn  auf  einer  schwarzfigurigen  Hydria 
(Kretschmer  Vaseninschr.  209*).  GPa  287  sind  die  einstämmigen  Personennamen 
als  Koseformen  zu  Xrixmnog  (IGS  1  no.  2814  e;  2.  Jahrh.)  betrachtet.  Dieser 
Auffassung  wird  durch  das  Dasein  des  Pferdenamens  Xcclrog,  der  unmöglich  eine 
Kürzung  von  Xaixmnog  vorstellen  kann ,  der  Boden  entzogen.  Es  handelt  sich 
überall  um  Spitznamen,  nicht  um  Kosenamen1);  in  XaCxirciiog  »hängt  Xnnog  be- 
deutungslos über«,  wie  in  <&Aeß-i7t7iog,  2Jxv<5-i7i7tog  (331). 

Starke  Behaarung  der  Brust  und  der  Gliedmaassen  ist  charakterisiert  durch 
Jdöiog  Katane  (CGC  Sicily  52  no.72;  2.  Jahrh.),  Iasos  (Le  Bas- 
Waddington  no.  259). 
Der  Name   ist   auch   als   Satyrname    bekannt   (Heydemann    Satyr-  und  Bakchen- 
nämen  26) 2). 

Die  starke  Behaarung  ist  in  andren  Fällen  durch  eine  Vergleichung  ausge- 
drückt. 

Diog.  Laert.  (6.  4, 3)  erwähnt  einen  Mavavdgog  6  E7CixaXov^ievog  ^Qv^iög.  Der 
Sinn  der  Eitixlr\6ig  wird  durch  Wendungen  wie  Lysistr.  800  xv\v  Xöxfirjv  7tolXrjv 
<poQ£ig,  Ekkl.  60  f.  jrpöroi/  {isv  y  e%co  tag  ^a6%dXag  X6i[irig  ddövreoccg  nahe  gelegt : 
der  dovyiög,  über  den  Menander  verfügt,  ist  der  üppige  Haarwald,  dessen  er  sich 
erfreuen  darf.  Nun  ist  das  tertium  comparationis  errathen,  das  den  ögypög  mit 
den  Namen  verbindet 

zloviiog  Argos  (Eq>.  äo%.  1885.  193  no.  94;  »ix  xav  dXs^avdQLvcbv 

XQÖvmv«); 
jQvueig  (IGS  1  no.  1912;  5.  Jahrh.); 
dovuLog  (IGS  1  no.  2743;  5.  Jahrh.);  vielleicht  aus  dem  Ethnikon 

jQviiiog  (IGS  3  no.  226 1); 
4qvllg>v  Kavlavidtrig  (Iambl.  De  vita  Pyth.  193 1  N.). 
Der  Politiker  Eukrates  ist  von  Aristophanes  Msfoxevg  Kanoog  genannt  wor- 
den (fragm.  193  Dind.).  Die  Erklärung  der  Eitixlrfiig  ist  bei  Photios  und  bei 
Hesych  erhalten.  Sie  läuft  darauf  hinaus,  dass  der  Beiname  auf  die  daövxrjg  des 
Eukrates  ziele;  denn  er  werde  auch  "doxxog  und  ZJvg  genannt,  doch  könne  der 
Beiname  £vg  auch  dadurch  veranlasst  sein ,  dass  der  Staatsmann  iivX&vag  exe- 
xxv\xo  iv  olg  6vg  hoEcpev.  Wir  können  diese  Angaben  wenigstens  in  Einem  Punkte 
controllieren :  dass  Eukrates  öaCvg  war ,  wissen  wir  aus  einem  Fragmente  des 
Kratinos  (Meineke  2.  184  fragm.  27):  daövv  e%cov  xbv  71qcoxxov  ccxe  xvaijßS 
iö&icov.     Mag   er   nun  auch    darum    zum  Eber   geworden  sein,    weil  er  Schweine 


1)  Hoflfmann  Beitr.  22.  138. 

2)  Der  gleichwertige  Name  däöcov  auf  einer  Amphora  von  Vulci  regt,  wenn  er  richtig  ge- 
lesen ist  (Kretschmer  Vaseninschr.  64),  die  Frage  an,  wie  weit  die  Personennamen  dccavog  (Jdavog 
dccnvai  BCI1  19.  380»),  Jdaiov  auf  die  Behaarung  bezogen  werden  müssen. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  37 

in  seiner  Stampfmühle  hielt  —  den  Beinamen  Bär  kann  er  darum  nicht  empfangen 
haben.  Da  seine  daövrrjg  beglaubigt  ist,  die  des  Bären  der  Beglaubigung  nicht 
erst  bedarf  {\a.6iav%v\v  Hymn.  Hc-m.  7.  46),  so  scheint  die  Nachricht,  dass  der  Po- 
litiker die  Bezeichnung  als  Bär  seiner  dichten  Behaarung  verdanke,  Zutrauen 
zu  verdienen.     So  wage  ich  hier  anzuschliessen  den  Namen 

1  AgxTlvog  Homeride  aus  Milet,  Iasos  (Anc.  Gr.  Inscr.  no.  4433) l). 
Da  die  Möglichkeit  besteht,   dass  die  litixXriöig  KdiiQog  ebenfalls  in  der  dcc- 
tivrrjg  ihre  Veranlassung  habe,  so  muss  auch  der  Name 

KdnQog  'HXeZog  (Paus.  6. 15,4 ;  3.  Jahrh.),  Koronta  (IGS  3  no.440i) 
hier  berücksichtigt  werden.  Er  ist  übrigens  so  vieldeutig,  dass  sein  Sinn  ohne 
weitre  Andeutung,  etwa  durch  den  Namen  des  Vaters,  nicht  bestimmt  werden 
kann 2). 

Aus  einem  unbekannten  Komiker  stammt  der  Trimeter  (Meineke  4.  603 
fragm.  11) 

<D67tEQ  öeXivov  ot>Aa  tä  öxsXrj  cpogelv. 
Zu  ihm  halte  man  den  Anfang  des  AP  5  no.  121  überlieferten  Epigramms 
Mixxt\  xccl  tLsXavevöcc  <&iXcclvlov,  dXXä  GsXlvcov 
ovlottQr}  xccl  pvov  XQüotct  tsQSLVOtaQrj. 
Man  wird  sich  allerdings  nur  ungern  entschliessen  den  männlichen  Namen 

EeXivig  'AxQayavxivog  (Smlg.  no.  1340  5) 
von  UeXivixog   loszureissen.     Aber   dem   Frauennamen    UsXwdyi    (Korinth;    Smlg. 
no,  3143,    6.  Jahrh.)    gegenüber  fällt   die   Verbindung  GsXlv&v  ovXotBQri  doch  ins 
Gewicht 3). 

Von  den  Leuten  mit  üppigem  Haare  wenden  wir  uns  zu  denen ,  olg  doxht, 
datdav  6iXag  s^svat  xäx  xsyaXfig. 

Mit  der  Kahlheit  haben  es  drei  Namen  (mit  Ableitungen)  zu  schaffen.  Alle 
drei  enthalten  das  Wort  cpccXog'  Xevxög  (Hes.),  dessen  deutsche  Verwandte  von 
ESchröder  (Haupts  Ztschr.  35.  237  ff.)  glänzend  behandelt  worden  sind.  Die  bei- 
den ersten  sind  componiert;  doch  ist  die  Composition  vermuthlich  nicht  mehr 
empfunden,  weshalb  ich  sie,  aber  ohne  ihre  Kürzungen,  hier  aufnehme. 

Die  grösste  Verbreitung  hat  cpaXccxgog  gewonnen.  Als  Name  wird  das  Ad- 
jectivum  in  unveränderter  und  in  erweiterter  Form  verwendet: 

OdXaxQog  Ilcuavisvg  (CIA  1  no.  321 31;  o.  Jahrh.),  Thasos  (Thas. 


1)  In  der  jfar&(186)  heisst  ein  Kentaur  "Ag-Kxog;  man  denke  an  die  (prigag  Xa%vr\tvxag  B  743. 

2)  Auch  der  Persouenname  Kqlos  ist  mehrdeutig.  Er  kann  als  Ehrenname  gelten  (vgl.  Kgibg 
üoXvhqlxov  auf  Aigina  und  die  Beschreibung  des  ngiog  Od.  1  447),  aber  auch  tadelnden  Sinn  ent- 
halten, da  die  Griechen    das    Sprichwort    Kqibg    xgocpsi'   Scitixsictv    besitzen.     Vgl.  Zenob.  4.  63  17 

Tiagoi^iCa  inl  x&v  cc%aQi6X(üv  ,    intl  rag    rpäxvug    nXr\xxov6iv  ot  kqlol Mt\t,vr\xai  ukxf\g  Mt- 

vccvdgog. 

3)  Damen  vom  horizontalen  Gewerbe  können  den  Namen  auch  aus  andrem  Grunde  führen : 
ciXivov  xb  yvvcciKEiov  bei  Hesych  (WSchulze  GGA  1896.  246).  r 


Inschr.  no.  6  IV  ö),  KQccvvovvLog  (Smlg.  no.  34549),  Korkyra 

(CGC    Thessaly   to    Aetolia  150  no.  531  ff.),    Apolloina   HL 

(ebenda  57  no.  17),  Malla  (Mus.  Ital.  3.  629  3),  Himera  und 

Tauroraenion  (IGSI   no.  313  6,  no.  421  I  ann.  49);    BdXaxgog 

in  Makedonien  seit  dem  4.  Jahrb. ; 

OaXaxQtayv    Dyrracbion    (CGC    Thessaly    to   Aetolia    7G    no.   157; 

3.  Jahrb.),  Theben  und  Thespiai  (IGS  1  no.  2438 11,  1757  6), 

Naupaktos   (IGS   3   no.  366 10),    Thyrreion   (ebd.    no.   492), 

Aa\iuvg    (Smlg.    no.    2234  2)  *),     'HTiEiQcjrrjg    ccnb    SsCitgorcbv 

(Fouilles  d'Epidaure  1  no.  238  6 ;    der  Sohn  beisst  EC^axog). 

Beschränkter  ist  die  Verwendung  des  zweiten  Wortes,  tpdXav&og,  als  Nomen 

proprium : 

OäXavftog  Führer  der  nach  Tarent  ausziehenden  Colonie  (7.  Jahrh.), 
seit  dem  5.  Jahrb.  in  Attika  häufig  (3>. '  AXg)tcexyi%-bv  CIA  1 
no.  188  23),  KuXXiitoXitug  (Smlg.  no.  2075  ö)  ; 
[<D]aX[a]vd-tdr}g    Angehöriger    der     Kekropischen    Phyle    (CIA   2 
no.  1007  I23;  4.  Jahrh.). 
Das  dritte  Wort  ist  (pdXagog,    das  bei  Hesych  mit  cpccXiög,    cpaXaxgög,  Xevxo- 
^eroTtog  erklärt  wird.     Die  Bedeutung  Xsvxo^ercjTCog  erhält  in  dem  Selbstporträt, 
das  der  cpccXaxQÖg  Aristophanes  Frieden  771  ff.  gezeichnet  hat,  eine  deutliche  Pa- 
rallele :    der  XEvxo[isTG)7tog  beisst  darin  XctyniQbv  to  ^ihcjTtov  £%(dv.     Die  ursprüng- 
liche Bedeutung  kommt   noch  bei   Nikander   zu  Tage ,    der   0Qr\  %l6ve<5<5i    (pccXrjQcc 
verbindet  (Ther.  461),  auch  noch  bei  Tbeokrit,  bei  dem  6  xvcov  6  (pdXccQog  vXaxtsV 
(8.  27) ,    und  ein  Widder   den  Namen   6  OaXccgog   führt  (5.  103).     Buttmann   hat 
Hund  und  Widder  als  Thiere  mit  Blessen  recognosciert  (Lexil.  2.  248).    Ersetzen 
wir  den  Begriff  der  Blesse  durch  den  der  Kahlheit,  so  werden  wir  wol  den  Sinn 
des  Mannesnamens 

(PdXccgog  Tegea  (Smlg.  no.  1247  Rucks,  e;  4.  Jahrh.) 
errathen  haben,  obgleich  die  Quantität  des  mittleren  a  nicht  ersichtlich  ist. 

Zu  (pdXaQog  gehört  als  Femininum  (paXaQig,  att.  <puXr\Qig.  Buttmann  hat  mit 
Recht  die  Vermuthung  Schneiders  acceptiert,  dass  der  Vogel  (paXrjgtg  die  Fulica 
atra  sei ,  deren  Gefieder  schieferschwarze  Färbung  trägt,  während  der  Schnabel, 
einschliesslich  der  Stirnplatte,  blendend  weiss  ist.  Wer  nun  als  ein  cpaXaxQats- 
Qog  evdoag  (Sophron  fragm.  123  Botzon)  Strasse  und  Rednerbühne  erleuchtet,  den 
kann  die  geistreiche  Bosheit  seiner  xm^xki  mit  dem  Blesshuhne  vergleichen.  Man 
darf  daher  vermuthen,  dass 

(DaXagiow  ZtaQÖovvtiog  (Smlg.  no.  326  I5;  3.  Jahrh.) 
die  (pccXrjQig  zum  Vorbilde  genommen  habe  -). 


1)  $a\d*Qios  in  Trozen  (Smlg.  110.  3362 17.  31,  4.  Jahrb.)  ist  der  Bildung  nach  eher  Ethnikon. 

2)  Ob  QäXaQis  in  Thespiai  und  Stratos  (IGS  1  no.  588 III 6,  3  no.  594 1)  selbst  nach  der  ya- 
lr\qC<s  genannt  sind,  kann  nicht  entschieden  werden;  der  bekannte  $dXccQis  aus  Akragas  ist  sicher 
anders  zu  deuten. 


GRIECH.    TEESONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  39 

Das  Geschlecht  der  M  i  1  c  h  b  ä  r  t  e  ist  vertreten  durch 

Xvodöccg  Gerenia  (IGA  no.  66;  5.  Jahrh.). 
Mit  Hilfe  der  Beschreibung 

tolog  sr\v  Zlibg  Vi6g,  exi  %vodovxag  lovXovg 

avxe'XXcov,  hi  (paidgbg  iv  '6\l\lcl6iv 
(Apoll.  Rhod.  2.  43  f.)  kann  man  den  Namen  leicht  verstehn. 

Der  Milchbart  bringt  uns  in  das  Gebiet  der  Namen  hinüber,  die  auf  die 
Qualität  des  Haares  gemünzt  sind.  Sie  berücksichtigen  die  Stärke  und  die 
Farbe. 

Rauhes,    emporstarrendes  Haar  hat  seinen  Besitzern  den  Namen 

&QL%og,  dvrjQ  Z%aQtidxif\g  (Plut.  Agesil.  32),    Smyrna  (CGC  Ionia 
247   no.  118),    Iasos    (Optj-og    Zccxvqov  Le  Bas  -  Waddington 
no.  285) 
u  ingetragen. 

Auch  eine  Reihe  hübscher  vergleichender  Namen  sucht  ihnen  gerecht  zu  wer- 
den.    So  zunächst 

Zxvgog  Hermion  (Smlg.  no.  3398  II  i) ; 

"  Axavftog  AaxEdai^oviog  (Thuk.  5.  19,  i). 
Der  Name  Zxvgog  ist  aus  öxvq  weitergebildet,  <5%vq  wird  mit  i%Zvog  glossiert 
(Hes.),  die  Vergleichung  von  6%vq  mit  sskr.  churati  (ritzt  ein)  liegt  nahe1).  Ari- 
stoteles betrachtet  die  Stacheln  des  Igels  als  dxav&cbÖEig  xQi%ag  (IIeqI  xä  £(öicc 
löxoq.  1.  6),  Matron  feiert  den  Seeigel  als  xaQrjxo^iöcjvxa  dxdv%aig  (Athen,  p.  135  a). 
So  scheinen  sich  die  Namen  E^vgog  und  "  Axav%og  zu  einer  Gruppe  zusammen- 
zuschliessen  ,  die  zur  Charakterisierung  von  Leuten  dient,  deren  Haar  wie  die 
Stacheln  des  Igels  und  der  Distel  in  die  Höhe  starrt 2). 

Aber  die  Reihe  ist  vielleicht  noch  umfangreicher.     Die  Namen 

KÖQvdog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 384 ;    5.  Jahrh.) ; 

KoQvdaAXog  AvxixvQEvg  (Herod.  7.  214) ; 

KÖQv&og  Melos  (IGA  no.  418;    6.  Jahrh.); 

Koqv^lov  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 225) 
sind  Vögeln  entliehen ,  die  durch  eine  Kuppe  ausgezeichnet  sind.  Der  xoQvdög 
begräbt  seinen  Vater  zu  Schopfheim,  in  seinem  eignen  Schöpfe  (Aristoph.  Vög.  475  f.). 
PseudoAristoteles  unterscheidet  zwei  yivr\  xogvödllcov.  1)  pev  exeqcc  iitiyEiog 
xal  Ao'qpov  £%ov6cc,  7)  d'  exeqcc  ....  kocpov  ovx  e%ei  (IJeqI  xä  £dka  löxoq.  9.  25). 
Den  Vogel  xÖQv&og  kennen  wir  nur  aus  Hesych,  wo  er  als  ein  xQO%CXog  definiert 
wird;  indes  lehrt  der  etymologische  Zusammenhang,  in  dem  sein  Name  mit  xogvg 
steht,  dass  eine  avis  cristata  oder  galerita  (Lobeck  Pathol.  proleg.  367)  mit  ihm 


1)  Die  Zusammenstellung  ist,  wie  ich  aus  Curtius  Grundzüge6  200  ersehe,  schou  von  Pictet 
vorgenommen. 

2)  Die  Vergleichung  mit  dem  Igel  kann  auch  nach  der  ethischen  Seite  gewendet  werden: 
anctg  ixivog  tqcc%vs  lautet  ein  Sprichwort,  das  nach  Diogen.  2.  87  tnl  xu>v  dvanoXcov  xai.  övgtqotkov 
gebraucht  wird.  r 


40 

gemeint  sein  rauss.  Das  Haar  des  Menschen  wird  demnach  mit  der  Kuppe  der 
Vögel  verglichen;  diese  Gleichsetzung  aber  ist  nur  möglich,  wenn  das  Haar 
einen  ähnlichen  Xöcpog  bildet,  wie  der  Federbusch.  Aus  den  Vögeln  des  Aristo- 
phanes  (1295)  erfahren  wir,  dass  der  Tragiker  Philokles  den  Spitznamen  K6qv- 
öog  geführt  hat.     In  den  Thesmophoriazusen  aber  heisst  es  (168) 

Torör'  ap1  6  OiXoxXsrjg  ai6%Qog  fov  cdöxQäg  noisl. 
Hat  also  die  Hässlichkeit    des  Poeten  darin  bestanden  ,    dass   sein  Haar   an   den 
Kopfschmuck  der  Haubenlerche  erinnerte?    Dies  wäre  dann  auch  wol  die  Veran- 
lassung  gewesen,     die  den  Kogvdsvg  in    das  Sprichwort  gebracht  hat  (KoQvdeag 
£LÖ€xd-s0TeQog  Zenob.  4.  59). 

Der  Sinn ,  den  wir  den  Namen  KÖQvdog  und  Genossen  beilegen  zu  müssen 
glaubten,  wohnt  ganz  unzweifelhaft  dem  Namen 

KÖQ&vg  Lato  (Mus.  Ital.  3.  648  no.  61 8) 
inne.     Homer  sagt :    xv[icc  KsXaivbv  xoQ&vexca  (I  7),    Hesiod :   Zevg  ....  xöq&vvsv 
ibv  psvog  (Theog.  853),  Hesych  weiss  von  einem  Vogel  xoQ&tXog,    der  sicher  ein 
Kuppenträger  ist. 

Dass  auch  die  Farbe  des  Haares  Ausgangspunkt  von  Spitznamen  hat 
werden  können ,  lehrt  die  bekannte  Thatsache  der  epischen  Namengebung, 
dass  dem  Neoptolemos,  dem  Sohne  des  Achilleus,  aus  dem  Beinamen  JJvQQog  ein 
zweiter  Rufname  IlvQQog  erwachsen  ist  *).  Wie  weit  dieser  Vorgang  in  histo- 
rischer Zeit  Wiederholung  gefunden  hat,  lässt  sich  nicht  entscheiden,  da  Namen 
wie  AevKog,  MsXag,  Bdv&og,  IlvQQog  ebenso  gut  aus  Vollnamen  wie  aus  einstäm- 
migen Beinamen  haben  hervorgehn ,  Aevnog ,  MtXag  und  IlvQQog  ausserdem  von 
der  Hautfarbe  haben  gebraucht  werden  können.  Ich  kenne  nur  Einen  Namen, 
der  allen  Anforderungen  Genüge  leistet:  der  keinen  Vollnamen  neben  sich  hat, 
aus  dem  er  gekürzt  sein  könnte ,  und  nicht  doppeldeutig  ist ,  da  das  Farbwort, 
das  er  enthält,  nur  von  der  Farbe  des  Haares  gebraucht  wird.     Dies  ist 

Eov&iag  da\udxi\iov  JlXvyovevg  (Smlg.  no.  2045  2 ;    2.  Jahrh.) a). 

Ein  paar  vergleichende  Namen ,  zu  denen  vielleicht  die  Haarfarbe  Anlass 
gegeben  hat,  kommen  im  nächsten  Abschnitte  zur  Sprache. 


Die  Haut  wird  ebenfalls  nach  zwei  Seiten  dem  kritischen  Blicke  unter- 
zogen: nach  Farbe  und  Reinheit. 

1)  Servitut  Comra.  ad  Verg.  Aen.  2.  263  Neoptolemus  . . .  Pyrrhus  a  capillorum  qualitate  vo- 
eitatna  est. 

2)  Der  gov&iccg  der  bekannten,  zuletzt  von  Meister  (Leipziger  Sitzungsber.  1896.  266  ff.)  her- 
au3gegebnen-I)epc-8itionsurkuude  IGA  no.  68  darf  bier  nicht  mitsprechen.  Sein  Vater  heisst  $i\ol- 
Xuiog,  Sprache  und  Schrift  der  Bronze  vertragen  sich  mit  der  Annahme  achäischer  Herkunft  des 
Denkmals  (Fick  Beitr.  5.  324  f.);  man  muss  daher  Ficks  Urtheile  zustimmen,  dass  Sov&fas  nach 
dem  Vater  des  '/fytaög  genannt  sei. 


ÜRIECII.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  41 

Sehen  wir  von  Aevxog  und  Genossen  ab,  so  bleiben  zwei  Wortsippen  übrig, 
die  eine  Aussage  über  die  Hautfarbe  enthalten. 

Die  Phokaerin  Aspasia  war  naeh  Aelian  Var.  bist.  12.  1  rijv  xöfirjv  %av&ii 
xal  ovkrj  xäg  XQi%ag  r}QS^ia,  6cpd-ak{iovg  de  el%e  (jLeycöxovg,  okiyov  de  rjv  xal  eitCygv- 
nog,  xd  de  (bxa  el%e  ßQa%vxaxa.  Hv  de  avxfji  xal  degpa  cc7tak6v '  eibtxei  de  r\  %Q(>a 
7]  xaxä  xov  JtQ06a)7tov  gödoig.  zJtä  xavxd  xol  ot  G>Goxaelg  hi  itaidiov  ovöav  exd- 
kovv  Mckxcj.  Nach  dieser  Erzählung  haben  wir  das  Recht  die  Namen ,  die  auf 
dem  Worte  pikxog  aufgebaut  sind  ,  für  alte  Beinamen  zu  erklären,  die  zur  Gel- 
tung von  bürgerlichen  Namen  aufgerückt  sind.     Dahin  gehören  : 

Mtkxevg  Epidauros  (Fouilles  d' Epidaure  1  no.  249;    5.  Jahrb.)1); 
Mikxiag  Thessalien  (Smlg.  no.  326  I45;    3.  Jahrb.)'2),  Orchomenos 

(IGS  1  no.  3182  n); 
Miktiddrig    in  Athen    seit    dem  6.  Jahrb. ,    Keos  (CIA  4  Suppl.  2 
no.  57  fr  37),  Chios  (auch  CGC  lonia  338    no.  (,)5) ;    Mikxiadag 
Tegea  (Smlg.  no.  1246  I  1«) ; 
MCvxav'6)  Argos  (Smlg.  no.  3260  9;    5.  Jahrb.). 
Die  Griechen  (vgl.  Athenaios  p.  32  c)  unterscheiden  drei  Arten  von  Weinen 
nach  der  Farbe:  xcbv  oi'vcov  o  {iev  kevxög,  o  de  xiQgog,  ö  de  [tekag.    Das  Farbwort 
XLQQÖg  finde  ich  auch  in  dem  Namen 

KiQQia[g]  oder  KiQQid[dr\g\  'Ayxvkrföev  (CIA  4  Suppl.  2  no.  995fr  12; 
4.  Jahrb.). 
Einen  Hundenamen  KCgga   gebraucht  Arrian  (Kyneget.  18) ,    vgl.  Jeschonnek  20. 

Die  Komödie  liefert  eine  Anzahl  Vergleichungen ,  die  uns  das  Recht  geben 
auch  in  diesen  Abschnitt  einige  vergleichende  Namen  zu  ziehen. 

Ein  Parasit,  mit  dem  sich  die  mittlere  Komödie  gerne  beschäftigt,  heisst 
Tid-vpakkog  (Athen,  p.  240  c — f).  Dromon  (Meineke  3.  541)  weiss  von  ihm  zu 
erzählen,  dass  er  iQvd-QÖxegog  xoxxov*)  sei.  Also  eQv&QÖxegog  xöxxov  —  folglich 
dürfen  wir  auf  die  rothe  Gesichtsfarbe  deuten  die  Namen 

Koxxog,  QrjxcjQ,  'A&r\valog,  ^ta^rjxrjg  'IöoxQaxovg  (Suid.) ; 
Koxxlcov  dioneiftovg  %Qi]6x6g  (CIG  2  no.  2322  fr75  Add.). 


1)  Die  Inschrift  lautet:  ASKAAPIOI  TOI  4>ljA0MEA0  TO  ^lAITEO  ;.  Mau  könnte  ihr  auch  die 
Namenform  MtXrTjg  entnehmen.  Man  beachte,  dass  wir  aus  Kpidauros  MiXtidg  als  Name  einer 
Phratrie  kennen:  Niv.ocpüvT]g  MiXtiddog  'Ecp.  &q%.  1892.  71  4<). 

2)  Plut.  Dion  22  wird  ein  MiXtccg  QhauXog  erwähnt.  Vermuthlich  ist  MiXrug  Schreibfehler 
für  MiXxiag. 

3)  Diese  Erklärung  wird  Prellwitz  verdankt. 

4)  Bei  diesem  Vergleiche  denkt  man  zunächst  an  den  Howog  itgivov.  Da  jedoch  der  Ver- 
glichne  Ti&vficcXXog  heisst,  da  ferner  aus  Theophr.  ITegl  cpvr.  tazog.  9.  11,7  ersichtlich  ist,  dass 
xöxxo?  auch  Bezeichnung  des  ti&vficcXXog  itccgccXiog  gewesen  ist,  von  diesem  aber  Plinius  (NU  26. 
41)  berichtet,  er  sei  ramis  rubentibus  ausgezeichnet:  so  scheint  mir  geboten  unter  dem  %6v.v.og, 
mit  dem  TiQ-vpccXXog  verglichen  wird,  die  erwähnte  Species  der  Wolfsmilch  zu  verstehn.  So  wird 
auch  der  Sinn  des  Namens  Ti&vfiaXXog  selbst  erkennbar. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.     Phil.-hiet.  Kl.  N.  F.  Band  2,».  6 


42  '  FRITZ    BECHT  EL, 

Eupolis  hat  einen  gewissen  Hipponikos,  der  eine  rothe  Gesichtsfarbe  be- 
sass,  'legsvg  zJlovvöov  und  AlyCiivgog  genannt  (Meineke  2.  433  fr.  19).  Hier 
findet  seine  Rechtfertigung  der  Name 

AiyCnvQog  (von  Keil  bei  PB  angeführt ;  mir  nicht  bekannt). 
Den  nämlichen  Hipponikos  hat  Kratinos  mit  einem  Skythen  verglichen: 
Kgarlvog  Zlxvftixbv  scprj  xbv  'Imiov 'txov,  dca  xb  tcvqqov  sivai  (Hes.  unter  ZJxvd'ixög, 
Meineke  2.  199  fragm.  65).  Die  Vergleichung  wird  vollends  verständlich,  wenn 
man  sich  von  Hippokrätes  sagen  lä'sst,  dass  jcvqqov  xb  ysvog  eöxl  xb  Exv&lxov 
öiä  tyv%og  (Ilegl  asQcov  20).     Und  man  sieht,  dass  die  Namensippe 

Uxvd-rjg  Zankle  (Herod.  6.  23;    6.  Jahrh.),   Sparta  (Xenoph.  Hell. 

3.  4, 20),  Athen  (Demosth.  45.  8)  und  sonst; 
Uxv&cjv  Samos  (Dittenberger  Syll.  no.  131  2 ;    4.  Jahrh.),  attische 

Execrationstafel  (CIA  2  App.  no.  42  5); 
Zxv&ivog  Teos  (6.  Jahrh.),  Aigina  (Smlg.  no.  3418  a) 
nicht    nothwendig    auf   fremden   Ursprung    der    Benannten    hinzuweisen    braucht 
sondern  auch  eine  Vergleichung  aussprechen  kann. 

Der  nicht  näher  bestimmte  Vogel  nvQaMg  hat  seinen  Namen  von  der  brand- 
rothen  Farbe.     Nach  ihm  ist  vielleicht !)  genannt 

FlvQßaXuov  Argos  (Papers  of  the  Amer.  School  6.  283  \  ;    5.  Jahrh.), 
IJvQaliav    (Alterth.    v.  Pergam.  8.  1  no.  4ö). 
Das   Adjectivum    Ttvgfög    ist   als   Pferdename    aus    einem   korinthischen   Thontä- 
felchen  (Smlg.  no.  3119h)  bekannt.     Es    ist   wol  überflüssig    zu  bemerken,    dass 
der  Name  llvQfaXCav  auch  den  Rothhaarigen  signalisieren  könnte. 

Schwarze  Pferde  und  Hunde  erhalten  bei  den  Griechen  den  Namen  Koqcx.% 
(Jeschonnek  De  nominibus  quae  Graeci  pecud.  dornest,  indid.  37.  20,  Kretschmer 
Vaseninschr.  100).     Leute,  die  einen  der  früher  (28)  besprochnen  Namen 

KÖQcct,,  Kohoiög,  Kögcovog 
tragen,  könnten  damit  als  [lelccyxgcoxsg  ausgezeichnet  worden  sein.    Freilich  auch 
als  {isXccy%alxai,. 

Bleiches,  lederfarbnes  Aussehen  regte  zur  Parallel isierung  mit  dem  Holze 
des  Buchsbaumes,  mit  dem  Safte  der  Thapsoswurzel,  mit  der  Haut  der  Garnele 
und  Languste  an.  Chairephon  heisst  bei  Eupolis  xv^Lvog  (Meineke  2.  516  fragm. 
22),  bei  Aristophanes  gleicht  er  yvvaixl  d-ai}jivr}L,  Ivol  XQS^a^evrii  ngbg  zodav 
EvQLitCöov    (Wespen  1413  f.)2).      Ein    Unbekannter    wird    bei   Eupolis    geschildert 


1)  Die  Einschränkung  wegen  des  Namens  IJvgaXog  (IGS  1  no.  2323),  der  als  TLvQfaXog  ge- 
deutet werden  und  zu  IIvQfog  stebn  konnte  wie  ZXfiaXog  zu  Eipiog.  Im  Frauennamen  TIvQCiXXCg 
(IGS  1  no*.  3454)  die  gleiche  Verdoppelung  des  X  wie  in  JJsxaXXlg  TletaXiaCa  (Smlg.  no.  355).  Von 
IJvQQog  geht  TIvQgaXog  (IGS  1  no.  1673 1)  aus;  hierzu  verhalten  sich  [TJ]vQQaX£vg  (CIA  2  no. 
977  u  5)  und  [I1]vqqccX£(ov  (IGS  1   no.  2430  1)  wie  xXaQSvg,  %X(OQl(av  zu  %Xü)Qog. 

"2)  Den  Beinamen  NvxTSQi'g,    den  er  Vögel  1296.  1564  bekommt,    lassen  die  Scholien  zu  Wol- 
r. 


GRIECH.   PEESONENNAMEN   AUS   SPITZNAMEN.  43 

als  i%mv  xb  ngoöcoitov  xagiöog  \jLa<S%Xv\xivv\g  (Meineke  2.  470  fragm.  21).  Zu  dieser 
Stelle  hat  Raspe  auf  Luk.  rExaig.  ölccX.  14.  4  verwiesen  :  'AXXä  exstvo  ov  Xeyetg, 
oXcov  '6vxl  övyxad-evdeig  avxGbi'  £xr\  [lev  vtceq  xä  Ttsvxrjxovxa  rtdvx&g,  avatpuXuvxCag 
xal  xijv  %g6av  olog  xdgccßog.     Damit  rückt  der  Name 

Kdgaßog  (23) 
in  neue  Beleuchtung. 

Bei  Plutarch  wird  berichtet,  die  Hetäre  Ogvvrj  habe  mit  ihrem  bürgerlichen 
Namen  MvrjGagsxrj  geheissen ,  den  Spitznamen  <&gvvrj  wegen  ihrer  dyxgoxrjg  em- 
pfangen (IJsgl  xov  pi}  %gäv  e^sxga  vvv  xi\v  Hvftiav  14 ;  die  Stelle  ist  auch  wegen 
andrer  i%ixXx\(5sig  lesenswerth).  Der  erste  Theil  dieser  Nachricht  klingt  wie  ein 
böser  Witz;  den  zweiten  halte  ich  für  richtig.  Durch  Herodot  (9.  16)  kennen 
wir  den  Thebaner  'AxxayZvog  6  (frgvvavog.  Da  sich  wahrscheinlich  machen  lässt, 
dass  der  erste  Name  auf  die  Hautfarbe  geht ,  so  ist  die  Möglichkeit  gegeben, 
dass  es  auch  der  zweite  thue.  Auf  der  bekannten  Inschrift  von  Larisa,  die 
durch  Philipp  V.  von  Makedonien  angeregt  ist,  erscheinen  hinter  einander  ein 
Agiöxocpdveig  Kogovvsiog  und  ein  Ogvvog  'Agiöxocpdveiog  (Smlg.  no.  345 57.5s),  also 
ein  Grossvater  Kögovvog  und  ein  Enkel  Qgvvog.  Ist  der  Grossvater  nach  der 
Rabenkrähe  oder  nach  der  Saatkrähe  genannt,  so  steht  der  Enkel  zu  ihm  im 
Gegensatze ;  hat  seine  Farbe  aber  mit  dem  Kleide  der  Nebelkrähe  verglichen 
werden  sollen,  so  artet  ihm  sein  Enkel  Qgvvog  nach.  Ich  stehe  darum  nicht  an 
der  Notiz  des  Plutarch  Zutrauen  zu  schenken ,  lasse  daher  die  zahlreichen  Na- 
mensvettern der  Phryne  hier  Revue  passieren. 

Qgvvog   Athen   (Künstler    auf   einer   schwarzfig.  Kylix    des  Brit. 

Mus.   Catal.    2.  223,    CIA   1    no.  433  I4s),   Lokr.    Epizeph. 

(IGSI  no.  632),    Thespiai  (IGS  1  no.  1888  a  *),  Kgavvovviog 

(Smlg.  no.  34558),  Delphi  (Smlg.  no.  1799  12); 

Qgvväg  folgt  aus  Qgvvalog  Athen  (CIA  2  no.  804/' 28.;   4.  Jahrh.) ; 

QgvveCdctg  Messana  (IGSI  no.  401 4) ; 

Qgvvig  Mytilene  (Aristoph.  Wölk.  971),    Tauromenion    (IGSI  no. 

421  I  ann.  70  und  sonst); 
QgvvCdug  Tanagra  (IGS  1  no.  669;    5.  Jahrh.); 
QgvvCxag   /iuvoxXiovg   i\    Utdovvxog   (Mitth.  8.  19  36;    2.  Jahrb.) : 
QgvvCöxog  6  'Axcuög  (Xenoph.  Anab.  7.  2,  1),  Ucprjxxiog  (CIA  2  no. 
1047  8),    Theben    (IGS  1  no.  2446 12),    Thessalien  (Smlg.  no. 
326  III 39); 
Qgvvi%og    häufig  in   Athen    seit    dem  6.  Jahrh.;   Akraiphia  (IGS 
1  no.  2716a  17),  Oropos  (ebenda  no.  266),  Q.  'OgxvyCavog  Ere- 


ken  504  in  seiner  taxvorrjg,  zu  Vögel  1564  darin  begründet  sein,  dass  ürs  wv-tsglg  i}[iSQ<xg  ovrs 
01  cpLloaoqioL  (puCvovtcci.  Ohne  Zweifel  bat  die  zweite  Erklärung  Recht.  Sie  stimmt  vorzüglich  zu 
der  Nachricht,  dass  Aristophanes  den  Chairephon  auch  Nvnxbg  nccida  titulierte  (fragm.  486  a  Dind.), 
und  zu  der  Charakteristik  des  IJv&ccyoQiarr]g  bei  Aristophon:  Y.<xftsvdtiv  (ir}d£  (il-kqöv  wursgig 
(Meineke  3.  361  9). 

1   6  6* 


44 

tria  ('E<p.  agX.  1895.  143  33s),    Alyzeia  (IGS  3  no.  462),    Ta- 

rent  (Iarabl.  De  vita  Phyth.  190  8  N.); 
<J>Qvvixldr\g  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  7  1 4 ;    5.  Jahrh.) ; 
&Qwiav   Styra    (Ion.    Inschr.   no.  19,335;    5.  Jahrh.),     häufig    in 

Athen  ((Dqwlcov  QqwCcjvoq   MvQQivovöiog   CIA  2  no.  2357), 

Dyrrachion   (CGC  Thessaly  10  Aetolia   74   no.  136),  iv  2Jd- 

liat,  (BCH  7.  192  II  ig); 
0Qvv(ov    in  Athen   seit  dem  7.  Jahrh.  (Strabon  p.  599),    BqßaSog 

(Herod.  9.  16),    Stratos  (IGS  3  no.  446 11),   Asovxlvog  (Paus. 

5.  22,7); 
&QW(bvdccQ    rvQtcbvLog    (BCH  20.  202  72) ;    die  Heimath   des   schon 

von  Eupolis  verfolgten  {iLccgög  ist  nicht  bekannt. 

Häufiger  Wechsel  der  Gesichtsfarbe  kann  verspottet  sein  in 
XapaiXdcov  Herakl.  Pont.  (4.  Jahrh.), 
freilich  auch  Wandelbarkeit  der  Gesinnung. 

Endlich  Unreinheit  der  Haut. 
Durchsichtig  ist  der  Name 

Oaxäg   KQccvvovviog   (Smlg.    no'.  345  75 ;    3.  Jahrh.),    auch    in     der 
rhodischen  Sage,  die  Polyzelos  Athen,  p.  361  c  mittheilt. 
Er    ist   auf  (pccxög    'linsenartiger  Fleck'    aufgebaut;    äxgo%OQd6v£g    xal    iieXcc6[iccTcc 
xal  (paxoi  verbindet  Plutarch  (/legi  tav  ßgadsag  Ufieag.  p.  563  a). 
Ferner  glaube  ich 

(DONAS  (IGS  1  no.  2898;   bei  Koroneia  vermauert) 
verstehn  zu  können.    Ich  erkenne  mit  Fick  in  OOI>l  den  Dat.  PL  tpapfai,  in  ®coi- 
6iug  einen  Mann,  der  tpmölv  e6tty(iEvog  ist;    vgl.  itokvtQrixotg  (p&idi  bei  Kratinos 
(Miller  Melanges  305,  Kock  1.  78  fragm.  213)  und  Aristoph.  fragm.  124  Dind. 
^ndQSöo  xaretQißsv  Ipatiu.  —   KöcTCEita  7tcbg 
cpcbtdag  toöavzag  Ei%e  xbv  iSLyiCbv    oXov; 
Zu   (pmöt  verhält  sich  &coL6Lccg   wie  Xegöiccg  zu  %eq6l  ,    wie   Tstgsöiag    zu  te Cqeöl  ; 
doch    macht   die   Beziehung  von  XegGlag    zu   den    mit    Xeq6l-    beginnenden  Voll- 
namen wahrscheinlich,  dass  auch  <&(oi6lag   einen  zweistämmigen  Namen  zur  Vor- 
aussetzung habe1). 

Zweifelhafter  ist  der  Ursprung  von 

Kev%Qa{i,og  Bildhauer  in  Athen  (CIA  2  no.  1435;  4.  Jahrh.). 
Zusammenhang  mit  xsyxQcc^tg  ist  klar.  Nach  Galen  (7.  722  f.  K.)  ist  xey%Qiag 
£Q7trig  ein  Ausschlag ,  der  xiyxQoig  oaotag  i^oftug  xaxä  rö  öeq[icc  %oul.  Eine 
Schlange,  die  als  iteQiötixrog  cpolCöaööi  beschrieben  wird,  heisst  xey%QCvr\g 
(Nik.  Ther.  463  f.).  Ist  also  mit  KsyxQcc{iog  ein  Mann  gemeint,  der  xeyxgcctiLdadri 
i&v&riiiccta  auf  der  Haut  trägt  ? 


1)  Auf  den  Namen  $oidov.idas,  der  an  ct>OISIA£  anklingt,    gehe  ich  nicht  ein,    weil  den  Stein 
(IGS  1  no.  1954),  der  ihn  tragen  soll,  seit  Pittakis  Niemand  gesehen  hat. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN   AUS   SPITZNAMEN.  45 

Ein  vergleichender  Name,  der  sicher  auf  den  Teint  Rücksicht  nimmt,  ist 

'Axxayivog   6    Ogvvcjvog   dv^g    &rjßalog    (Herod.  9.   16) ,    Axxaxlvog 
Makedone  (CIA  1  no.  42  d*)1). 
Vom  äxxayäg,    der  sich    leider   nicht   bestimmen  lässt,   berichtet  Alexandros  von 
Myndos  bei  Athenaios  (p.  387  f) :  ^ilxqcjl  {iev  iietfav  iöxl  nigdixog ,    ökog  de  xatd- 
ygacpog  tä  7tegl  tbv  vätov,  xegapeovg  tijv  %goavy  vtcotvvqql^cov  [täkkov.     Verbindet 
man  diese  Beschreibung  mit  den  Versen  Aristoph.  Vog.  760  f. 
et  de  tvy%dvei  tig  vpav  5ga7ietrjg  iötiy(ievog, 
dttayäg  ovtog  nag''  r\^lv  noixikog  xexk^öetai  % 
so  sieht  man,  dass  den  Griechen  an  dem  Vogel  die  bunte  Färbung  des  Gefieders 
aufgefallen  ist,    die  Veranlassung  also    einen  Menschen   mit   ihm   zu  vergleichen 
seine    mit  Flecken    übersäte   Haut   gegeben    haben    muss.     Zu   einem    Vater    mit 
blassem  Teint  (Ogvvav)  passt  ein  Sohn  mit  Sommersprossen  sehr  gut. 

Ein  andrer  Name  dieser  Art  dagegen  muss  gestrichen  werden. 

Suidas  führt  unter  den  Ahnen  des  Hippokrates  von  Kos  einen  "Ekacpog  auf: 
rl7t7toxQccxrjg  Kcbiog,  taxgog,  (HgaxkeCdov  vtog,  ....  dnoyovog  de  Xgvöov  xovvopa  xal 
'Ekäcpov  xov  ixeivov  xaidög,  taxgibv  xal  avxcbv.  Da  wir  aus  Lysias  einen  Spitz- 
namen 'Ekaip66xixxog  kennen  {Qeoxgixov  xbv  xov  ''Ekacpoöxixxov  xakov^evov  13.  19), 
dessen  Sinn  sich  aus  der  Verbindung  Cxixxbv  xegdöxyv  ekacpov  (Sopb.  El.  568) 
leicht  feststellen  lässt,  so  scheint  es  erlaubt  den  Namen 

"Ekatpog 
als  Aequivalent  von  'Ekacpößxtxxog  zu  fassen.  Aber  die  Nachricht  des  Suidas 
beruht  auf  einem  Misverständnisse ,  zu  dem  eine  Stelle  des  ügeößevxixbg  @e66a- 
kov  (Iit7toxgdxovg  vlov  (Hippokrates  9.  404  Littre)  den  unschuldigen  Anlass  ge- 
geben hat.  Thessalos  erzählt,  wie  während  des  Krieges  der  Amphiktionen  gegen 
die  Krisäer  Krankheit  im  Heere  der  Belagrer  ausgebrochen  sei  und  diese  den 
delphischen  Gott  um  Rath  gefragt  haben.  Der  Gott  habe  ihnen  Erfolg  in  Aus- 
sicht gestellt,  rjv  ig  Köb  eXfrövxeg  ikdcpov  TtcclÖcc  ig  eTiixovgCr\v  dydycavxai  \vv  xqv- 
6(öi,  6icev6avxeg  d>g  ^  Ttgöxegov  oi  Kgiöaloi,  iv  x&l  ddvxcoi  xbv  tgcrcoda  6vXt]6(o6lv. 
Darauf  seien  ihre  Gesandten  nach  Kos  gefahren ;  aber  kein  Koer  habe  das  Ora- 
kel zu  deuten  gewusst ,  bis  ein  Asklepiade ,  der  berühmteste  der  damaligen 
Arzte,  Neßgog  mit  Namen,  die  Entdeckung  gemacht  habe,  dass  sich  der  Spruch  auf 
ihn  und  seinen  Sohn  beziehe,  eliteg  6  &ebg  ovxa  itagr\ive6ev  v{ilv  ik&6vxag  ig  Köj 
ikdcpov  Ttccldcc  ig  iitixovgit\v  äyayetv.  Kcbg  ^lev  yäg  ccvxr),  tä  de  ikdcpov  e'xyova 
veßgol  xakeovtai,  Neßgog  de  poi  ovvo{ia,  iitvxovgCri  d'  av  dkkrj  tig  %gotegr\  yevoixo 
öxgaxoitedcoi  voQeovxi  tr\xgov^  Kai  {iyjv  xö  ye2)  ev&v  i%6\ievov  ov  doxeco  oxi  xovg  xo- 
Govxov  'Ekkrjvav  okßm  v7tegi%ovxag  ig  Kcj  ngoekd-övxag  exaZev  6  &ebg  v6\Li6\ia  %gv- 
Hovv  atxelv.  'Alka  rouro  xb  fteöcpaxov  ig  xrp>  i\LT\v  otxCr\v  eg%exai'  Xgvöog  ydg  ^iol 
xixkv\xai  dggivav  iraldcov  6  veaxaxog.  Im  Stammbaume  des  Hippokrates  erscheinen 
die  Namen  des  Xgvöog  und  des  "Ekacpog  nur  bei  Suidas ;  es  scheint  mir  zweifel- 
los,    dass    sie  aus    dem  Tlgeößevxixog   entnommen    sind.     Der  Excerptor   hat   den 


1)  Nach  Solmsen  KZ  34.  550.  —  2)  xo  ys  Blass ;    überl.  rote. 


46  '  FRITZ    BECHTEL, 

iXd(pov  nötig  in  der  Flüchtigkeit  zum  'EXdyov  nötig  gemacht  und  hat  seinem  "E\a- 
(pog  einen  Vater  Xgvöog  zugeschrieben ,  weil  der  Sohn  des  von  ihm  zum  Sohne 
des  Elaphos  gestempelten  Neßgog  den  Namen  Xgvöog  führte.  Bisher  also  ist 
der  Name  "Ekayog  nicht  gesichert  *). 


II.   Sprache  und  Geräusche. 

Das  Mitglied  einer  Verkehrsgenossenschaft  kann  auch  durch  die  Art  und 
"Weise  auffallen,  wie  es  sich  bei  seiner  Umgebung  zu  Gehöre  bringt.  Stärke 
und  Lage  seiner  Stimme  kann  Befremden  erregen,  Fehler  seiner  Sprachwerkzeuge 
können  sich  vernehmbar  machen ,  endlich  kann  es  durch  unarticulierte  Laute 
Spott  und  Tadel  herausfordern. 

>    Dröhnende  Stimme  macht  sich   in    vier  nicht  miszuverstehenden  Namen 
vernehmbar. 

Kavaypg  Sikyon   (vgl.   Löwy   Inschr.    griech.   Bildhauer   no.  153; 

seit  dem  5.  Jahrh.)-, 
Bqv%&v  nXatcaevg  (Smlg.  no.  1636  3;    3./2.  Jahrh.) ; 
'Pö&og  Zekevxov  'Avtio%£vg   (CIA   2    no.  2816),    Sklave   in   Delphi 

(Smlg.  no.  1733  2;    2.  Jahrh.); 
Boovtog  Thasos  (Mitth.  18.  260  10 ;   spät)2). 

Auf  einen  Mann  mit  dumpfer  Stimme  ist  gemünzt  der  Name 
BopßvXog  '  Ayirpaviog  (IGrS  3  no.  227  4;    2.  Jahrh.). 
Wer  denkt  bei   ihm    nicht   an  die  Erfahrung ,    die  Sokrates  mit  der  Stimme  des 
Prodikos  gemacht    haben    will:    öiä  ri]v  ßccQVTrjzcc    rfjg   <pcovf\g  ßöpßog   xig    iv   tobt, 
otMtfli&ti  ytyvo^svog  äöccyr}  motu  tä  Xey6[ievcc  (Plat.  Protag.  p.  316  a)? 


Wir  gelangen  zu  den  Leuten  mit  Sprachfehlern. 
Verständlich  ist 

BdcTTccgog ,    Name   des  Kupplers   bei  Herondas  ,    durch  TQavAi6[i6g 
zu  BdttaXog  (vgl.  4)  entstellt. 
Schwieriger  ist  es  über  die  Bedeutung  von 

Waxdg  und 

die   schon    früher    belegt    sind    (12) ,,  ins  Klare   zu   kommen.     Da   wir   zur  Auf- 


1)  Die  Namen  Neßgog,  Neßgidag,  Neßgionog  bezeichnen  deD,  der  das  Bacchantenkleid  trägt 
oder  tragen  soll.  Sie  gehören  in  den  gleichen  Kreis  wie  KCööog  und  Gvgoog  und  dürfen  nicht  als 
Spitznamen  gefasst  werden. 

2)  Wegen  Bgovtivog  sieh  Nauck  zu  Iambl.  De  vita  Pythag.  969.  —  Über  den  Makedonen 
BQOfxsgog  spricht  Solmsen  Idg.  Forsch.  7.  471. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    A.ÜS    SPITZNAMEN.  47 

hellung  von   WCai,  kein  andres  Material  haben  als  die  Glosse  tpiaxa  •    ipaxdda ,    so 
hängt  das  Urtheil  über  WCai,  ganz  an  dem  über   Waxdg. 
Zu  den  Versen  des  Aristophanes  Acharn.  1150  ff. 

' AvTlpa^ov  xbv  Waxddog,  xbv  ^vyyQacprj,  xbv  iieXeav  jtot,rjxrjv, 
ä>g  pev  djiXcbi  Xoycoi  xaxCbg  i^oXeöeiev  6  Zevg' 
ög  y*  e\ie  xbv  xartfiova  Ax\vaia  %OQr}y(bv  dneXvd  ddetitvov 
bemerken  die  Scholien ,  Antimachos  heisse  Sohn  des  Wccxdg  nach  der  einen  Ver- 
sion dtä  xb  6vve%ix)g  itxveiv  (eitetdij  tcqoös'qqcciis  xovg  GvvopiXovvxag  diaXeyo^ievog. 
"Hv  de  xig  xal  'OXv^niaxog  xaXovpevog  Waxäg  dtä  xovto)  —  nach  der  andren  did 
xb  [irjöev  dvaXiööui  (edoxei  de  6  '  AvxC^a%og  ovxog  ip7]cpi6^ia  TtSTioirjxevca,  ^  delv 
xco^iatdeiv  e£,  ovo^iaxog.  Kai  inl  xovxcot  tcoXXoI  xcbv  Ttoirjxibv  ov  TtgoöfjXd'Ov  krj^ö- 
Hevoi  xbv  xoqov,  xal  dy\Xov  ort  jroAAot  xcbv  %oqsvx(dv  ircetvcov.  'E%OQrjyai,  de  6  '  Avxi- 
lia%og  xoxe,  öxe  elöv\veyxe  xb  ipijcpLö^ia.  0[  de  Xeyovöiv  ort  TtOLYixijg  hv  xaXbg  %OQYiyobv 
%oxe  fitxQoXöycog  xotg  %0Qevxaig  e%Qiq6axo).  Die  zweite  Erklärung  ist  sicherlich 
aus  der  Textstelle  selbst  gefolgert.  Gegen  die  Glaubwürdigkeit  der  ersten  lässt 
sich  der  Einwand  erheben,  dass  sie  mit  einer  Angabe  nicht  übereinstimmt,  die 
in  einer  andren  Quelle  erhalten  ist.  Bei  Pollux  (6.  148)  wird  tyuxdg  unter  den 
Ausdrücken  erwähnt ,  die  eig  xbv  bXiya  vii  dtöevelag  Xeyovxa  gebraucht  worden 
sind.  Man  könnte  vermuthen  ,  das  Wort  sei  durch  Misverständnis  des  [iixqoXo- 
ycog,  das  in  einer  von  Pollux  und  von  dem  Scholiasten  gemeinsam  benutzten 
Quelle  gestanden  habe,  in  die  Liste  des  Lexikographen  gerathen.  Dieser  Aus- 
weg wird  aber  dadurch  abgeschnitten,  dass  in  dem  nämlichen  Verzeichnisse  auch 
QavCg  aufgeführt  wird.  Es  stehn  sich  also  die  Nachricht  der  Scholien  gegen- 
über, Antimachos  sei  did  xb  övvexag  %xveiv  als  Sohn  des  Waxdg  gefeiert  worden, 
und  die  Notiz  des  Pollux,  als  tyaxddeg  habe  man  Leute  bezeichnet,  die,  was  sie 
zu  sagen  hatten,  nur  tropfenweise  preiszugeben  vermochten.  Da  der  Sprachge- 
brauch nach  keiner  Seite  hin  entscheidet,  eine  andre  Art  der  Controlle  fehlt,  so 
bin  ich  der  Ansicht,  dass  wir  mit  beiden  Möglichkeiten  rechnen  müssen  *). 


An  letzter  Stelle  haben  wir  es  mit  den  Namen  zu  thun,    in  denen  über  un- 
articulierte  Laute  Beschwerde  geführt  wird. 

Alt  und  weit  verbreitet  ist  die  Sippe,  der  der  Wortstamm  xgepe-  (#p£fi£rt£w, 
XQO^iadog)  zu  Grunde  liegt. 

XQSfirig  in  Athen  seit  dem  5.  Jahrh.  (Xgeprixog  de  vibg  yjv  (Theq- 
ßoXog  Schol.  Aristoph.  Frieden  681),  in  der  mittleren  Ko- 
mödie der  grämliche  Alte  (Xge^irig  xig  ij  <&eidcov  xig  Anti- 
phanes,  Meineke  3.  106  21); 
Xgepäg  Akarnanien  (Polyb.  28.  5,  1  u.  s.;  2.  Jahrh.); 
XQepvXog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  152 ;  5.  Jahrh.) ,  Name  des 
unzufriednen  Alten  im  Plutos  des  Aristoph.; 


1)  Man    beachte,    dass  Theophrast   unter    die  Merkmale  des  dvaxsQVS   das  rechnet,    dass    er 
ngoaXccläv  vtioqqCtixu  &itb  xov  6t6(iaxog  (Charakt.  19.  4).  r 

1    R    * 


48  FRITZ    BECHTEL, 

Xqe[i<dv  Athen  (Xenoph.  Hell.  2.  3, 2),  Meyagevg  (CIA  2  no.  834  c  59 
Add.),  'Agyelog  ('Eq>.  aQ%.  1892.  69  25),  Tegea  (Le  Bas-Fou- 
cart  no.  3406  g); 

XQSiiavtdrig  AföaUdrig  (CIA  2  no.  332  7 ;    3.  Jahrh.) ; 

Xgo^vkog1)  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 341;    5.  Jahrh.); 

XQÖtiav  6  Msöörjviog  (Thuk.  3.  98, 1),  Notion  (BCH  18.  216  no.  1). 
Der  Name  Xgeprig  fällt  mit  dem  Namen  eines  Fisches  zusammen,  den  Aelian 
(IIsqI  £m<nv  15.  11)  erwähüt.  Die  Namen  Xgo^vXog  und  Xgöfiav  erinnern  an 
den  Fischnamen  xQo^Lg  (%QÖ[iLog).  Vom  %q6(iiq  berichtet  Aristoteles  {Ilegl  xä 
£öta  i6tog.  4.  9) ,  dass  er  äöitsg  ygvXiG^ov  ertönen  lasse.  Aubert  und  Wimmer 
(1.  144)  sind  geneigt  den  Fisch  für  die  Sciaena  aquila  zu  halten;  von  ihr  heisst 
es  bei  Brehm,  sie  lebe  in  grössrer  Gesellschaft,  »und  wenn  eine  solche  Gesell- 
schaft schwimmend  weiterzieht,  vernimmt  man  ein  laut  tönendes  Geräusch« 
(Thierieben3,  Fische  74).  Augenscheinlieh  ist  diese,  in  ihren  Anfängen  bis  in 
das  Epos  zurück  reichende,  Sippe  für  Personen  bestimmt,  die  als  Brummbärte 
an  den  Pranger  gestellt  werden  sollen. 

Eine  zweite  Sippe  beschäftigt  sich  mit  den  Schnarchern,  unter  denen  man 
sich  vielleicht  Leute  mit  verstopften  Nasen  vorzustellen  hat.  Ich  kenne  sie  nur 
aus  Böotien: 

'PsyxCug  Thespiai  (IGS  1  no.  1740 5;   3.  Jahrh.); 

'Poyxav  Akraiphia  (IGS  1  no.  2716  au;    3.  Jahrh.). 

IQ.  Geschlechtliches  Unvermögen. 

Die  Glosse  kiqchv  advvaxog  ngog  övvovöiccv  (Hes.)  gibt  Aufschluss  über  die 
Bedeutung  der  namentlich  in  Attika  verbreiteten  Sippe 

KiQog  n^evg  (CIA  4  Suppl.  2  no.  563 b  24;   4.  Jahrh.); 

KiQiag  (CIA  4  Suppl.  1  no.  373111;    5.  Jahrh.); 

KCqcov  Athen  (Isaios  8,  CIA  4  Suppl.  1  no.  37386,  37389;    5.  Jahrh.), 

Chios  (Mitth.  13.  182  no.  42),  Tarra  (BCH  13.  72  no.  8); 
KcQcovLdr}g  Oropos  (IGS  1  no.  385  1). 
•  Einen  Namen  gleichen  Inhalts  hat  Hiller  von  Gärtringen  auf  Thera  gefunden : 
BdxaXog  (7.  Jahrh.). 
Die  Erklärung  ergibt  sich  aus  Phrynichos  Epitome  (Lobeck  272) :  6r\^aCvsv  yäg  6 
ßdxrikog  xhv  a7iozET^rjiiBvov  xä  cciöolcc,  bv  Bl&vvoI  xal  '  Aöiavol  TdXXov  xaXovöi,  und 
aus  Lukians  Evvov%og  (8),  wo  evvov%og  und  ßdxr\Xoi  verbunden  werden.     In  wei- 
trem  Sinne  hat  Antiphanes  das  Wort-  gebraucht  (Meineke  3.  59) : 

Ov%  ÖQäig  ÖQ%oviievov 
xcclg  %£Q6l  xhv  ßdxrjXov,    ovo'  at6%vvsxai 


1)  Man  könnte  auch  Xgafivlog  lesen  und  den  Namen  zu  Xgcofitoitci  ziehen.  Bei  dieser  Ge- 
legenheit sei  zu  GP2  293  nachgetragen,  dass  XQ&pig  durch  eine  Inschrift  aus  Stymphalos  (BCH  7. 
491  no.  6  6)  bezeugt  ist. 


ORIECH.   PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  49 

6  tbv  'Hq&xXeixqv  naöiv  elrjyovtievog, 

6  xi\v  Qeoöexxov  fiövog  dvrjVQrjxdig  x£%vr\v, 

6  xä  xEcpaXcua  övyyQ&cp&v  EvQiitCdr\L. 
Aber   die   theräischen  Verehrer    des  Wunderpfeifleins,    darnach   sie    alle   tanzen, 
haben  es  jedesfalls  so  ursprünglich  wie  möglich  verstanden. 


IV.   Gebrauch  der  Gliedmaassen.    Körperliche  Fertigkeiten. 

Die  beiden  Namen 

Zxcctog  6  dovQiog  Ud^icog  xQaxtjöag  Ttvy\x,ii\i  Ttaldag  (Paus.  6.  13,  5 ; 

nach  dem  Exalog  6  %vyyia%£c3v  Herod.  5.  60  benannt  ?) ; 
Zxacov  Aiiavsvg  (CIA  2  no.  1055  32;    4.  Jahrh.) 
sind  an  sich  mehrdeutig.    Da  aber  schon  einer  der  zwölf  Hippokoontiden  ZJxaZog 
heisst,  den  sein  Name  weder  als  Tölpel  noch  als  Dummkopf  berufen  J)  kann ,    so 
scheint  mir  geboten  in  Uxatog  den  Linkhändigen,   den  Namensvetter  des  rö- 
mischen Scaevola  zu  sehen. 

Auf  Schwerfälligkeit,  namentlich  unbeholfnen  Gang,  weist  der  Name 
XeXgjvvcov  Thasos  (Ion.  Inschr.  no.  81  1 3 ;  5.  Jahrh.),  Athen  (CIA 
4  Suppl.  2  no.  7  b  4.), 
den  schon  Wilhelm  (Arch.  epigr.  Mitth.  aus  Osten*.  15.  2)  mit  der  %EX6vri  in 
Zusammenhang  gebracht  hat.  Die  Schildkröte  ist  dem  Hellenen  das  Sinnbild 
der  Plumpheit.  Man  erkennt  dies  leicht  an  dem  Sprichworte  XeX6vx\v  IlrjydöcjL 
(SvyxglvEig  (Apostol.  18.  24),  dem  man  das  lateinische  Testudo  volat  an  die  Seite 
stellen  kann,  und  aus  den  Fabeln  von  Schildkröte  und  Adler  oder  Hasen  (Aesop 
no.  419.  420  Halm),  die  beide  an  die  ßQudvxrig  des  Panzerträgers  anknüpfen 2). 

Den  Gegensatz  hierzu  stellen  die  Namen  dar,  die  ein  Ubermaass  der 
Beweglichkeit  constatieren.  Nach  griechischer  Anschauung  verstösst  solches 
Ubermaass  gegen  die  Gacpgoövvr] 3). 

UtQotßog  Athen,   Lieblingsname   auf  einer   Kylix    des  Britischen 

Museums  (Catalogue  2.  219),  Thuk.  1.  105, 2; 
Klvöcov,  öipoydyog  bei  Athenaios  (p.  345c). 
Zu  UtQolßog  vgl.    die  Glossen  öxQoißög'    d(£)Zvog,  6xQOißäv    avxitixQEcpEiv  (Hes.) ; 
zu   Kuvöatv    die  Wörter    ovoxivdiog   (Eupolis   in    den  Scholien   zu  Aristoph.  Vög. 
1556)  und  xCvda%'  Evxivr\xog  (Hes.). 


1)  Bei  Alkraan  empfängt  er  das  Beiwort  ayQOtag,  wie  Artemis  'Aygotcc  (Smlg.  do.  3221)  uuil 
'Aygotis  heisst  (IGS  1  no.  3100),  Diels  Hermes  31.  3423. 

2)  Übrigens  wird  die  Schildkröte,  die  Hermes  Hymn.  Hom.  3.  25  findet,  als  accvlcc  noalv 
ßuivov6cc  beschrieben.  Also  könnte  mit  XeXojvicov  auch  bezeichnet  sein,  wer  gressu  delicato  et  lan- 
guido  (Phaedr.  5.  1, 13)  des  Weges  kommt. 

3)  Demosth.  45.  77  'Eycb  d'  a>  avdgeg  'A%y\vaiQi  rfjg  (iiv  öipsoag  xf\i  <pv6U  nai  tibi  ra%t(og  ßa- 
tii&iv  xai  XaXilv  (isycc  ov  tcöv  svTV%cbg  nscpvAÖTutv  ificcvtöv  kqivco. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttdngen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  6.  7 


50  FRITZ    BECHTEL, 

Hierher  darf  man  vielleicht,    unter  Berufung   auf  die  oc^6vqol  ^vQ^xEg    des 
Aischylos  (Prometh.  452)   und    die    antiken  Wagnerianern   nachgerühmten  ixtga- 
nsXoi  pvQprpuaC  des  Pherekrates  (Meineke  2.  330),  als  vergleichende  Namen  ziehen 
MvQtLrjt,    Athen    (Aristoph.    Frösche   1506 ;    nach     dem    Heros  ?), 
Stoiker    unbekannter  Herkunft   (Diog.  Laert.  2.  11,2),    Mo- 
ßaXXsvg    (BCH   10.   488   no.    2  7);    Mvq^    Epidauros    (E<p. 
äQx.  1892.  69  29),  Kos  (Smlg.  no.  3706  Via); 
MvQiLidag    auf   einem    Aryballos    aus   Korinth    (Smlg.    no.  3121 ; 
6.  Jahrh.)1). 
Unsicher  wird   die  Erklärung  dadurch,    dass  MvQprfe    auch    der  Name    einer  be- 
rühmten Klippe   ist  (Herod.  7.  183),    der    er    vermuthlich    um    der    starken  Ein- 
schnitte willen  beigelegt  ward,  die  sie  mit  der  Ameise  theilt  (Fick  ßeitr.  22.  40). 
So  könnte  man  auch  daran  denken    in  Mvq^lyj^  einen  Mann  mit  Ameisentaille  zu 
sehen. 

Man  ist  auf  den  ersten  Blick  geneigt  hier  auch  die  Gruppe  von  Namen  ein- 
zureihen, die  sich  an  Benennungen  von  Spielgeräthen  anschliessen,  bei  denen  es 
sich  um  Herstellung  einer  schnellen  Bewegung  handelt.  Als  solche  Namen  sind 
mir  bekannt: 

EtQo^ßog  Grabschrift  zu  Tanagra  (IGS  1  no.  1402  1),  mit  andrer 
Vocalisation  UtQa^ißog  Olvoalog  (Smlg.  no.  2041  17,  no.  2121  9 ; 
2.  Jahrh.); 
ZkQÖiißig  Melos  (CIG  2  no.  24366  Add.); 

ZtQoyLßiiog  seit  dem  5.  Jahrh.  (Thuk.  1.  45, 2)  oft  in  Athen,  ®cc6io$ 

(IGS  1   no.  348  1),  Iasos  (Journ.   Hell.  Stud.  9.  341  no.  3  s), 

Vd&og  (Smlg.  no.  1951 5),  ApyiöCsvg  (Smlg.  no.  1995  s),  '  AnoX- 

Xcjvidtag  (Dittenberger  Syll.  no.  198  95); 

UtQO(ißi%idfig    Athen    (Thuk.    8.    15, 1;     Enkel    des    Urgöfiß^og), 

EtQo^ß[i%Cd]ag  Dyme  (Smlg.  no.  1612  31); 
UtQo^ßvXtcjv  Alyetdog  cpvXfjg  (CIA  2  no.  444  II 45 ;    2.  Jahrh.). 
Vgl.  IL  g  413 

öTQopßov  6'   ag  866SVE  ßaXav,  7t£Qi  d'  edga^ie  %avxv\i. 
EtQoßiXog  Syrakus  (IGSI  no.  85). 
Vgl.  Plat.  Pol.  p.  436  d  ag  0%  ys  ötQÖßiXoi  oXot,  §6t&6i  te  a(ia  xccl  xvvovvtai. 

'Pviißtg  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,299;    5.  Jahrh.). 
Vgl.  Schol.  Ap.  Rhod.  1.   1139  Qo^ißcot,  ■  TQO%i6xog.  bv  ötQecpovöiv  ipaöi   xvntovrsg 
xccl  ovtcog  xrvTtov  cc7CoxeXov6i. 

BeyLßaxldag  Grabschrift  zu  Thespiai  (IGS  1  no.  1881  1). 
Von  einem  Nomen  ßenßcct,,  das  mit  ßaßcc^at'  ÖQ%ij0a6d'tti  (Hes.),  ßaßaxxv\g  bei  Kra- 
tinos  (Meineke  2.  182)  und  mit  ߣ\ißi%  im  Zusammenhange  steht  (Beitr.  23.  248  f.). 


1)  Der  Künstler  MvQw*.tdris  (die  Stellen  bei  Böckh  CIG  1.  873)  scheint  seinen  Namen  der 
Kunst  verdankt  zu  Ijabeq  Ameisen  in  Elfenbein  nachzubilden.  Vgl.  Brunn  Gesch.  d.  griech. 
Künstler  2.  405  ff. 


ORIECH.  PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  51 

Über  ßs'fißit,  vgl.  Schol.  Aristoph.  Vog.  1461:  6  de  ßeiißi%  eoyccXeZov  £<3tiv,    ö  fid- 
dtiyi  ötgecpovöiv  01  jtaldeg. 

Toözstg  Hyettos  (IGS  1  no.  2811  ie;   3.  Jahrh.); 

To6x%r}g  Grabschrift  zu  Tanagra  (ebenda  no.  1449). 
Den    Tooxö'g  beschreibt  Acron  zu  Hör.  Carra.  3.  24  57:    circulus  aheneus ,    rotae   si- 
milis,  quem  pueri  ludentes  virga  ferrea  circumagebant  u.  s.  f.  (Hermann-Blümner  Pri- 
vatalterth.  2931)). 

Misst  man  diese  fünf  Sippen  an  Exooißog,  so  ergibt  sich,  dass  sie  mit  diesem 
gleichen  Inhalt  haben  können.  Sie  unterscheiden  sich  in  diesem  Falle  von  UraoZ- 
ßog  nur  dadurch ,  dass  sie  durch  das  Mittel  der  Vergleichung  das  aussprechen, 
was  mit  Ergolßog  rund  heraus  gesagt  wird:  UtQo^ißog  ist  ein  Mann  wie  ein 
Brummtopf,  Bs^ißa^  ein  Mann  wie  ein  Kreisel.  Man  erinnere  sich,  dass  die  tan- 
zenden Söhne  des  Karkinos  von  Aristophanes  ot  KaoKivov  GtQÖßiXot,  genannt 
werden  (Frieden  864),  und  dass  der  Sykophant  dem  Pisthetairos  das  grosse  Ge- 
heimnis jedes  erfolgreichen  Strebens  in  dem  Worte  enthüllt :  ßtfißixog  ovösv  dia- 
(pBQScv  dsi  (Vog.  1461):  ein  Zweifel  daran,  dass  die  erwähnten  Namen  geeignet 
seien  das  Übermaass  von  körperlicher  Beweglichkeit,  mag  diese  veranlasst  se*in 
wodurch  sie  wolle1),  zum  Ausdrucke  zu  bringen,  kann  dann  nicht  mehr  auf- 
kommen.    Allein  sprachlich  betrachtet   ist    noch    eine  andre  Auffassung  möglich. 

Wer  sich  in  einer  bestimmten  körperlichen  Fertigkeit  vor  seinen 
Concurrenten  auszeichnet,  kann  nach  ihr  genannt  werden.  Dies  ist  offenbar  die 
Veranlassung  der  Namen 

Ucpcctoog  Thasos  (Ion.  Inschr.   no.  73  3),    Athen  (z.  B.    CIA  2   no. 
10446  6 ;    2.  Jahrh.),  Rhodos  (CGC  Caria  261  no.  345),    Fa- 
brikant in  Knidos  (Dumont  263  no.  107),    Sklave  in  Delphi 
(Smlg.  no.  2273  4); 
Z!<paiQLG)v  Fabrikant  in  Knidos  (Dumont  284  no.  76); 
JCöxog  Eretria  (A&rjvä  5.  360  no.  44),  Rhodos  (IGI  1  no.  1122); 
Metöke    auf  Delos    (BCH    7.  106 10 ;    3.  Jahrh.),    Sklave   in 
Delphi  (Smlg.  no.  2190  5), 
die  keines  Commentares  bedürfen  2).     Vielleicht  findet  so  auch 

UöX&v,    zuerst    in  Athen    (7.  Jahrh.),    an  andren  Orten  vielleicht 
abhängig  von  dem  berühmtesten  Träger  des  Namens, 
seine  Erklärung:  in  der  Ilias  vertritt  der  <5olog  die  Stelle  des  dfaxog'6). 


1)  Bei  dem  öipocpdyog  KCvd'cov  könnte  sie  z.  B.  aus  dem  Magen  kommen. 

2)  Neben  Zepccigog  steht  Eti-6 cpcug og  BCH  8.  26  B  3.  Aber  der  Vater  des  Ev  -  6tpaigog  heisst 
Ev-nlfjg,  sein  Name  wird  also  auf  die  Gestaltung  des  Sobnesnamens  Einfluss  geübt  .  haben.  — 
JiöHog  ist  GP2  99  anders,  aber,  wie  mir  jetzt  scheint,  nicht  richtig  gedeutet. 

3)  Daran  hat  mich  College  Blass  erinnert.  —  Es  sei  noch  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die 
Leute,  die  mit  der  Heuschrecke  verglichen  werden,  also  Bqovy.i<ov  auf  Melos  (1GA  no.  414)  und 
'Angidicov  auf  Delos  (BCH  6.  38  87),  dies  ihrer  Gewandtheit  im  Springen  verdanken.  Der  von  An- 
tiphanes  (Meineke  3.  110  f.)  eingeführte  Parasit  rühmt  sich  zu  sein  dGnr\8äv  Sc-ngig. 

7*  S 


52  PEITZ   BECHTEL, 

Wenn  nun  Zcpalgog  ein  Knabe  ist,  der  gern  6(paCaai  tiulIei,  AiGxog  ein  guter 
Diskoswerfer  —  leider  vermag  ich  nicht  auch  auf  einen  JCxvxXog  zu  exemplifi- 
cieren,  da  er  unsrem  geschmackvollen  Zeitalter  als  Triumph  aufgespart  blieb  — : 
so  können  auch  ZtQÖfißog,  UtQÖßtXog,  'Pvußcg,  Bs^ßaxvdag,  TQO%eig  als  Leute 
angesehen  werden,  die  sich  als  Knaben  auf  die  Behandlung  des  Brummtopfes, 
des  Kreisels  und  des  Reifes  in  besondrem  Grade  verstanden  haben.  Die  Namen 
des  Spielplatzes  sind  dann  wichtiger  gewesen  als  die  Namen  der  8sxdtr\. 


Zweites  Capitel. 

Der  Mensch  als  geistiges  Wesen. 

I.  Intellect. 

Der  Einzelne  kann  bei  seiner  Umgebung  ebensowol  durch  einen  Mangel  wie 
durch  einen  Überschuss  geistiger  Regsamkeit  Aufsehen  erregen. 

Dass  auch  die  Griechen  mit  dem  Beschränkten  wenig  Geduld  gehabt 
haben ,  lehrt  die  ziemlich  grosse  Liste  von  Spitznamen ,  in  denen  sie  sich  über 
ihn  lustig  machen. 

Xavvtg  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  3  I  &  ;    5.  Jahrh.) ; 
X[av\viog  vielleicht  herzustellen  auf  der  Liste  der  aus  der  Erech- 
theidischen  Phyle  Gefallenen  (CIA  1  no.  433  II 6;   5.  Jahrh.). 
Xavvig,   Xavvcog  sind  Variationen  von  %avvog,    das  sich  begrifflich  etwa  mit  lat. 
vänus  deckt.     Ich  erinnere  an  Solon  fragm.  34 

XcCVVCC    {L&V    TOT     EtyQGGCCVTO,    VVV    §B    /10t    %oXovyLEVOl, 

Xo^bv  öcp&ccAiwlg  oqcö6iv  Tidvxeg  co6zs  drj'Cov. 
Neben  Xccvvcg ,    Xavviog  steht  das  Appellati vum  %avval  in  der  Glosse  %ccwdxG)v' 
%ccwo71ol(jv,  ol  de  xavvolöycov  (Hes.). 

[B]laxLC3v  Theben  (IGS  1  no.  2463  10;    3.  Jahrh.). 
Die  Ergänzung  rührt  von  Dittenberger  her.     Wäre  IlXdxcov  der  Inschrift  CIG  1 
no.  1271  19  gesicherter,  als  der  Fall  ist  (die  Lesung  beruht  auf  Fourmonts  Auto- 
rität), so  käme  auch  die  Ergänzung  [IJ\XaxCcov  in  Frage. 

Baßvgxag  Delphi  (Smlg.  no.  2182  25 ;    2.  Jahrh.),    Messene  (Polyb. 
4.  4, 5). 
Vgl.  ßaßvgtag'  6  Tcagd^icogog  Hes. 

Mdgyog,  Vater  eines  Bdgig,  Hermion  (Smlg.  no.  3398  II 2). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  53 

Mccgyog  wird  GP2  34  als  Koseform  von  raötgt-^iagyog  genommen.  Aber  ratstgi- 
[iccgyog  bezeichnet  den  Mann,  der  nginu  yaötsgt  pagyrit  «£%£?  cpays^iev  xal  ittefiev 
(0  2  f.),  während  Vater  Mdgyog,  der  einen  Sohn  Bdgtg  erzeugt  hat,  sicher  einer 
von  den  Leuten  gewesen  ist,  die  nicht  aussterben. 

Zu  Vergleichungen  geben  zunächst  eine  Reihe  sprichwörtlicher  Repräsen- 
tanten der  tiwQLCt  Gelegenheit:  Mögv%og,  Kögotßog,  Bovxaltav,  KotxvXtav,  Mag- 
ytrrjg,  MsXrjrtdrjg.  Die  Namen  der  beiden  ersten  kommen  als  Namen  historischer 
Personen  wirklich  vor ;  es  fragt  sich  nur ,  ob  beabsichtigt  gewesen  ist  Thoren 
mit  ihnen  zu  bezeichnen. 

Mögv%og  begegnet  uns  seit  dem  5.  Jahrh.,  von  seinen  beiden  Ableitungen 
wenigstens  die  eine: 

Mögv%og   Bovtäörjg   (CIA  2   no.  652^4 12;   um   400  v.  Chr.);    einen 

Tragiker  verhöhnt  die  alte  Komödie; 
MoQv%tdrig  naXXrp/svg  (CIA  1  no.  129  5),  Mogv%tdug  Tanagra  (IGS 

1  no.  585  II 12)  ,* 
Mogv%icav  Tenos  (Anc.  Gr.  Inscr.  no.  377  41 ;    3./2.  Jahrh.). 
Mögv%og  ist  hUxXrfiis  des  Dionysos    in  Athen  (vgl.  Preller-Robert  1.  6754).     Da 
schon    Sophron    das  Sprichwort    [uogötegog  st  Mogv%ov   gekannt  hat  (fragm.  117 
Botzon),    so  muss   man  schliessen,    dass  die  angeführten  Namen    sammtlich    den 
Zweck  haben  menschlichen  fiagot  ihr  Recht  widerfahren  zu  lassen. 

Anders,  glaube  ich,  hat  man  über  die  Geltung  des  Namens  Kögotßog  zu  ur- 
theilen.  Auch  er  lässt  sich  seit  dem  5.  Jahrh.  nachweisen ;  so  in  Athen  (vgl. 
CIA  1  no.  433  I44),  Plataiai  (Thuk.  3.  22, 3),  Lakedaimon  (CIA  2  no.  50 11; 
4.  Jahrh.) ,  Megara  (IGS  1  no.  27  13) ;  dazu  KogoißCdr\s  auf  Thasos  (Ion.  Inschr. 
no.  78  III 9 ;  4.  Jahrh.).  Indessen,  so  viel  wir  wissen ,  ist  Kögotßog  erst  durch 
Euphorion  von  Chalkis  zum  Vertreter  der  Thorheit  gestempelt  worden  (vgl.  Mei- 
neke  Anal.  Alex.  153  fragm.  153).  Da  die  angeführten  Zeugnisse,  von  dem  aus 
Megara  abgesehen,  sammtlich  älter  als  Euphorion  sind,  so  beweisen  sie  für  die 
Geltung  von  Kögotßog  als  Benennung  des  efafihiQ  gar  Nichts ;  und  auch  der  Kö- 
gotßog aus  Megara  ist  sicher  kein  Dummkopf,  sondern  ein  Mann,  dessen  Vorbild 
der  Heros  Kögotßog  sein  soll,  an  dessen  Verdienste  das  Heiligthum  des  Apollon 
zu  Tripodiskos  den  Megarer  jeden  Tag  erinnern  konnte.  Da,  wie  wir  sehen,  der 
Heros  der  Linossage,  lange  bevor  der  Freier  der  Kassandra  zu  einer  burlesken 
Figur  geworden  war,  historischen  Personen  seinen  Namen  hat  hergeben  müssen, 
so  wäre  es  ein  eitles  Bemühen  für  die  spätre  Zeit  entscheiden  zu  wollen,  bei 
welchem  Kögotßog  der  Heros  und  bei  welchem  der  {icbgog  zu  Gevatter  gestanden 
habe. 

Mehr  positiven  Ertrag  wirft  die  Untersuchung  der  Frage  ab,  welche  Thiere 
die  Hellenen  für  qualificiert  gehalten  haben  die  r\Xt&töxrig  eines  Vertreters  der 
Gattung  Homo  sapiens  auf  den  eignen  Namen  zu  nehmen.  r 

Platon  spottet  im  Laios  (Meineke  2.  636): 


54 

Ov%  bgätg  ort 

6  plv  Asaygog,  rXavxavog  c5v  ^isydXov  ys'vovg, 

aßeXxsgoxoxxvfc  r\XCfriog  TtsgLegxstaL, 

ölxvov  Ttsitovog  evvov%Cov  xv^ag  e%g)v  ; 
Das  Wort  ccßeXxsgoxoxxvt,  ist  von  Bergk  für  das  überlieferte  xoxxv%  aus  Phry- 
nichos  eingesetzt;  der  Lexikograph  schreibt  (Bekk.  Anecd.  1.  27 24):  äßeXxego- 
xoxxvl'  dßeXxegog  xal  xevog'  xoxxvya  Xeyovöi  xbv  xevbv  xccl  xovcpov.  In  der  glei- 
chen Bedeutung  gebraucht  Aristophanes  in  den  Acharnern  (598)  das  Wort  xöxxv%: 
drei  xoxxvysg  haben  den  Lamachos  zum  Feldherrn  gewählt.  Ein  drittes  Beispiel 
für  diesen  Gebrauch  kann  man  mit  Wilamowitz  (Isyllos  1329)  im  29.  Fragmente 
des  Anakreon  vermuthenj:  "Eyco  <T  ari  avxy\g  cpvyov  (überl.  cpEvya)  coäxe  xoxxv£  1). 
So  haben  wir  das  Recht  die  Namen 

Köxxvip  Thespiai  (IGS  1  no.  1888 «12;    5.  Jahrh.); 

Koxxovßiag  Thespiai  (IGS  1  no.  1745  10;    3.  Jahrh.), 
deren  zweiter  lehrt,  dass  KoxxvßCag  bei  Hesych  nicht  angetastet  werden  darf,  als 
ehemalige  Spitznamen    für  Leute  zu  betrachten,    die  wir  nach  unsrem  Sprachge- 
brauche unter  die  Gimpel  versetzen  würden. 

Ich  erinnere  ferner  daran,  dass  das  Geschlecht  der  ßösg  den  Griechen  nicht 
nur  als  Typus  der  Grösse  und  Kraft,  sondern  auch  der  geistigen  Schwerfälligkeit 
gegolten  hat.  Boav  h\a  £%sts  ,  lautet  ein  Sprichwort  (Apostol.  5.  13).  Eusta- 
thios  schreibt  (Meineke  4.  318  fragm.  187) :  "Oxi  de  xal  dg  avai6%r\6iag  öxöfifia  Xap- 
ßdvstai  6  ßovg,  drjXol  xal  6  Ttagä  Msvdvdgcji  ßotdrjg,  o  sGxt  ngäiog,  evtf&rig,  xa#' 
ofiOLÖtrjta  xov  ä[ivoxcjv.    Ich  halte  darum  für  möglich,  dass  die  Träger  des  Namens 

Boidag  Sikyon  (Plin.  NH  34.  66;    4.  Jahrh.)  Byzanz  (Vitruv.  3.  2), 

Kos    (Smlg.    no.  3624  c  13);     unbekannter   Herkunft   der  von 

Diphilos   verspottete  Philosoph   (Schol.  Aristoph.  Wölk.  96) 

und  die  CIA  2  no.  835  77 ,   no.  1012  1 8  genannten  peregrini 

wenigstens  theilweise  Boiotier  waren2). 

Bekannt  ist  das  Sprichwort  r\  vg  x^v  'Ad-rjväv  (vgl.  Leutsch  zu  Apost.  17. 
73).  Das  Schwein  ist  für  den  Griechen  der  Repräsentant  der  aitaidevöia.  In 
Plutarchs  Dialoge  liegt  xov  tä  äXoya  Xoycoi  %gr\6^ai  ist  TgvXog  Charaktername  : 
der,  in  ein  Ferkel  verwandelte  Gefährte  des  Odysseus  verficht  den  Satz,  dass  die 
tl>v%r}  der  Thiere  geeigneter  sei  ngog  yavsöiv  dgsxfjg '  dvanixaxxog  yäg  xal  ädldaxxog 
aöTtsg  ccöTtogog  xal  dviqgoxog  ixcpageo  xal  av^ai  xatä  (pvötv  xr\v  axaöx&i  7tgo6rjxov6av 
dgsxriv.  Zu  den  Worten  eneö&a  {irjxgl  %olgov  (Aristoph.  Plut.  315  =  308)  be- 
merken die  Scholien:  rovro    de  itagoi^iicbÖeg  eivai  tpaöiv  ot  yäg  nalöeg  xovxo  eico- 


1)  Diese  Stelle  wird  freilich  als  Beleg  für  die  Feigheit  des  Vogels  angeführt,  von  der  auch 
Ps.  Ar.  IIsqI  ro:  £coicc  iötoq.  9.  29  die  Rede  ist  (dia  yag  tö  oweidsvat,  avxäa  xi]v  öeiXlav). 

2)  Botöccg  bei  Plinius  und  Vitruvius  (Boedas  die  Überlieferung)  ist  zuerst  von  Keil  erkannt 
(Anal.  crit.  et  onomatol.  212  f.)  und  mit  einer  sprachlich  vollkommen  zulässigen  Erklärung  (der 
gleichen  die  GP2  81  vorgetragen  wird)  gestützt  worden.  Möglicher  Weise  meinen  Plinius  und  Vi- 
truvius die  gleiche  Person  (Robert  bei  Pauly-Wissowa  3.  594). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  55 

%aöi  Xeyeiv,  eiteöfte  pr\tQi  %oIqol  '  xcccQOi^ictxbv  ovv  ifixi ,  xal  inl  x<bv  dnaidevx&v 
<paöl  Xsyeö&ai.  Mag  es  in  dem  letzten  Falle  stehn  wie  es  wolle  —  sicherlich 
haben  wir  das  Recht  in  diesem  Zusammenhange  der  Namen  zu  gedenken  ,  die 
unsren  Freund,  das  Schwein,  zu  Worte  kommen  lassen: 

rgiöcov  Halikarnassos  (Ion.  Inschr.  no.  240  26 ;    5.  Jahrh.). 
Vgl.  rgiöav  (überl.  rpiöjav) '  vg.     '  AQi6xo<pdvr\g  de    ovo^ia  dQo^ieayg  vevixr\x6xog  iv 
'OXvpitlai  öxddiov  (Hes.). 

rgvXog  'EQ%i£vg,    Vater  und  Sohn  des  Xenophon  (Diog.  Laert.  2. 

6,1),   XaXxidevg  (Diod.  17.  40); 
rQvXig  Ephesos  (CGC  Ionia  59  no.  94;    3.  Jahrh.),  Tanagra  (IGS 

1  no.  880)  ; 
rgvliov  eig  xcbv  'AQeoitayix&v  (Athen,  p.  513  d;   4.  Jahrh.),  IlXa~ 

xaievg  (IGS  1  no.  2723  s) ; 
rgvXcov  (CIA  2  no.  3583). 
Die  grösste  Verbreitung  hat  die  dritte  Sippe  gewonnen: 

XolQog  Vater  des  Mixv&og  aus  Rhegion  (Herod.  7.  170 ;    6.  Jahrh.), 

Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  12  III 8) ; 
XoiQuxog  in  dem  Patr.  XvQccxiog  Tanagra  (IGS  1  no.  538  10;    4./3. 

Jahrh.)1); 
XoiQiXog  Tragiker  zur  Zeit  des  Aischylos,  ftegditav  des  Komikers 
Ekphantides   (Meineke  1.  37),    Samos    (Plut.  Lys.  18),   Ta- 
nagra    (IGS    1    no.  585   IV  u) ,    Iasos    (Steph.    Byz.    unter 
"Iccöog),   'HXelog  (Paus.  6.  17, 5) ,    Eretria  \'Etp.  ccqX.  1895.  131 
II 13),  XvgCXog  Lato  (Museo  Ital.  3.  646  no.  58  6) ; 
Xolqlcov  Katane  (Head  Hist.  Num.  116;   5.  Jahrh.),  Xvqicov  Grab- 
schrift zu  Assos  (Papers  of  Amer.  School  1.  76  no.  59); 
Xolqov  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  8  In,  4.  Jahrh.). 

Dem  Ideale  des  xccXbg  xdyad-ög  entspricht  Xiyeiv  [tsv  dvvaxbv  eivcu,  XaXetv  de 
Hexqlcc.  Der  Einzelne  kann  also  nach  zwei  Seiten  hin  Anstoss  erregen :  dadurch, 
dass  er  der  Rede  nicht  Herr  ist,  oder  dadurch,  dass  er  nicht  über  seine  Zunge 
gebieten  kann.  Beide  Fehler  verrathen  einen  Mangel :  entweder  an  Begabung 
oder  an  Erziehung  und  Bildung. 

Auf  Ungewandtheit   in   der  Rede  weisen  vielleicht   die   beiden   schon 
bei  früheren  Gelegenheiten  (12.  46)  erwähnten  Namen 
Waxdg  und 
'Pdvig, 
da  bei  Pollux  (6.  148)  gavig  und  tyaxdg  unter  den  Ausdrücken  stehn,   die  eig  xbv 
bXiya.  vri  döfteveCag  Xeyovxa  im  Gebrauche  gewesen  sind. 


1.)  Über   den   deliscben  Namen   XoiQcc*oe,   von   dessen  Beurtheilung    die   von  XotgvXos  (z.  B. 
BCH  8.  313  no.  15  3)  abhängig  ist,  sieh  S.  141.  5 


56  FRITZ    BECHTEL, 

Der  Vorwurf  der  Geschwätzigkeit  ist  enthalten  in 

AdXat,  (Gen.  AdXaxog)1)  Thera  (5.  Jahrh.,    mitgetheilt  von  Hiller 
von  Gärtringen) ; 
vgl.  XdXayeg'  %Xcogol  ßdtQa%oi  itegl  rag  Atpvccg  (Hes.) ,    Anakr.  fragm.  90  (Bergk) 
Mr\fr  cjöts  xv^ia  %6vtvov 
XdXa&,  %v\i  7toXvxQ6tr\i 
6vv  raötQodcjQiijt  xataxvdrjv 
Tttvovßa  xr\v  iniöxiov, 
und  XaXdl^avtsg'  ßorjöavrsg  (Hes.). 

Ferner  steckt  der  Vorwurf  wol  in 

0X6 pal  Tanagra  (BCH  20.  242,  'E<p.  dQ%.  1896.  243;  5.  Jahrh.), 
da  <$Xöpcc%  im  Ablautverhältnisse  zu  (pXva%  stehn,  also  einen  yXvccQog  bezeichnen 
kann2).     Gehört  der  Name 

&Xeag  (-ccvtog)  Priene  (Anc.  Gr.  Inscr.  no.  419  38 ;    2.  Jahrh.) 
in  die  gleiche  Reihe? 

Ganz  deutlich  wird  der  Vorwurf  ausgesprochen  in 

nhtog    Thasos    (Ion.   Inschr.  no.  75  II  n ;    4.  Jahrh. ;    der    Sohn 
heisst  noXv&Qovg). 


Die  Kehrseite  der  Betrachtung  bringt  uns  mit  den  durchtriebnen  Köpfen 
und  mit  den  Leuten  in  Berührung,  die  sich  in  einer  geistigen  Kunst  hervorthun. 
Die  Namen,  die  von  Durchtriebenheit  zu  berichten  wissen,  sind  fast 
durchaus  vergleichender  Natur.  Einen  sittlichen  Vorwurf  brauchen  sie  nicht 
auszusprechen;  wie  weit  sie  es  im  einzelnen  Falle  doch  thun,  kann  nicht  ent- 
schieden werden. 

Der  einzige  Name,  der  eine  directe  Aussage  enthält,  ist 

rXccyoQidccg  Akraiphia  (IGS  1  no.  2718  3 ;   3.  Jahrh.); 
ich  beurtheile  ihn  nach  dem  Sprachgebrauche  des  Alexis  (Meineke  3.  430) 

aAA'  iya  Gotpcbg 
xavr!  oixovo[itf6co  xccl  yXayvQag  xal  7toixiXcog. 
Alle  übrigen  Namen,  die  mir  zur  Verfügung  stehn,    benutzen   die  Form  der 
Vergleichung. 

Eine  von  ihnen  greift  in  die  Heroenwelt: 

Hiövcpog  iv  MsXirriL  hoix(av  (CIA  1  no.  324 «53;   5.  Jahrh.),  Phar- 
salos  (Theopompos  bei  Athen,  p.  252  f). 
Als  Beiname  ist  ZJtövyog  aus  Sparta  bekannt :  dsQxvXXidccg  6  Aaxedca{i6viog  .... 
avfiQ  öoxüjv  elvau  \xdXa  \Lv\iavv\xiXQg'  xal  iTCsxaXalto  de  Eiövcpog  (Xenoph.  Hell.  3.  l,g). 


1)  Mit  AdXaxog  vgl.  ÖQtvnog  bei  Philemon  (Meineke  4.  65  fragm.  123)  und  die  Ausführungen 
WSchulzes  GGA  1896.  240. 

2)  Wie  ist  der  Name  $Xstcc£  (Delphi,  BCH.  20.  209  85;  4.  Jahrh.)  zu  deuten?  Da  die  In- 
schrift kein  st  für  s  vor  Vocalen  kennt ,  ist  die  Zurückführung  auf  $lscci-  nicht  gestattet.  Nach 
den  Lauten  könnte  man  $Aclag  als  Kürzung  von  ÜXeidoiog  betrachten  und  ein  analoges  Beispiel 
der  Verkürzung  in  'Potfai-  aus  'Podtog  erblicken. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  57 

Drei    andre    rufen    den  Fuchs   zu  Hilfe   und  empfangen    dadurch   mehr   oder 
weniger  einen  Stich  ins  Unehrenhafte. 

'AXcoTtexog  Mstanovrlvog  (Iambl.  De  vita  Pythag.  189  10  N.) '). 
Vgl.  Solon  fragm.  11.  5  f. 

v^iBcov  <f   slg  {ihv  sxaör og  cckcmexog  L'%vs6l  ßcctvEi, 
6v[17Ccc6lv  <?'  v^ilv  %avvog  sveCti  voog, 
aber  auch  akaTtexi&Lv  Aristoph.  Wesp.  1241. 

Kivdörjg  Styra  (Ion.  Inschr.  no.   19,  51 ;    5.  Jahrh.); 
Kiväöav  Sparta  (Xenoph.  Hell.  3.  3,  4) ; 
abgeleitet  von  xCvaöog:  xovitCtQtntov  xivaöog  nennt  Aias  den  Odysseus. 

UxLQCxcpidag  Sparta  (Plut.  Lys.  17) ; 
vgl.  die  Glosse  xigccyog'  akanr\l.  Aaxaveg  (Hes.).  Dass  £xiQai>  in  der  Komödie 
als  öVofta  xvqiov  vorgekommen  ist,  berichtet  Choiroboskos  (Bekker  Anecd.  3.  1200). 
Die  Griechen  besitzen  das  Sprichwort  KavfraQov  6oq)6t6Qog,  Kav&ugov  ^iskäv- 
teyog,  das  auf  die  alte  Thierfabel  (Fab.  Aes.  no.  7  H.)  hinweist,  die  den  Mist- 
käfer die  Eier  des  Adlers  vernichten  lässt  (Crusius  Anal.  crit.  ad  paroem.  gr. 
147).  Wenn  also  ein  Mann  Küv&aQog  genannt  wird ,  so  kann  sich  in  der  Be- 
nennung die  Anerkennung  unbequemer  Schlauheit  aussprechen.  Der  Name  reicht 
bis  ins  5.  Jahrh.  zurück: 

Kocvd-ccQog  Dichter  der  alten  Komödie  (Meinekel.  251;    ein  Mvqql- 
vovßtog    CIA  2  no.  600  12),    Sikyon  (Paus.  6.  3,  e),  Per.  Rhod. 
(BGH  10.  253  II 28) ; 
Kccv&ccqccov   Athen    (Mitth.  21.  93  2 ;   4.  Jahrh.),    6   'Agxag   (Plut. 

Alna  'Ekkrjv.  39) ; 
Kav&Cug  Argos  (Smlg.  no.  3269  10 ;    5.  Jahrh.) 2). 

Auszeichnung  auf  dem    Gebiete    der  Wissenschaft,    des   geistreichen 
Spieles  oder  der  Kunst  hat  ebenfalls  Beinamen  im  Gefolge. 

Auf  Meisterschaft  im  Rechnen  oder  in  der  nstzeCa  gehn  die  Namen 

Wccyav  Kyrene  (Smith-Porcher  no.  6  ss),  auf  Henkeln  unbekannter 

Herkunft  (CIG  3  XX  no.  200) ; 

Zxinvdag  Thespiai  (IS  1  no.  1888 &  6;    5.  Jahrh.); 

ZtCal  Epidauros  (E<p.  ccqx-  1892.  74  97 ;    4.  Jahrh.). 

Die  Zusammengehörigkeit  von  2Jri(ovöag  und  27rt'a£  ist  von  Keil  (Mitth.  20.  428  f.) 

mit  Recht  betont  worden.    Auch  der  Erklärung  der  Namen,  die  er  unabhängig  von 

Blinkenberg  (Eretr.  Gravskr.  no.  75)    vorgetragen    hat ,    stimme   ich   zu :    er   be- 


1)  Die  Zusammensetzung  tqvn  •  ultonri^  (6  ötcc  navovqyCav  nävtcc  tQvn&v  xca  igyci&ad'cu  öv- 
vd(isvog  Bekker  Anecd.  1.  64)  liegt  verkürzt  vor  in  dem  argivischen  Namen  Tgvit  ig  (CGC  Pelo 
ponn.  145  no.  121;   228—146  v.  Chr.). 

2)  Dieser  Name  kann  auch  anders,  gedeutet  werden.     Lysippos  sagt  (Meineke  2.  746): 

El  [IT]  Tsd-£cc6cci  ta?  'A&Tjvccg,  aziXi%og  sl, 
st  Ss  Tsdeccaeci  fii]  rs^gsvacci  8\  övog, 
sl  8'  svccQsar&v  anoTQt%£ig,  Y.avftr\X  10g. 
Abhdlgn.  d.  K.  Gea.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.  N.  F.  Band  2,  5.  8 


58  FRITZ    BECHTEL, 

ruft  sich  darauf,  dass  nach  den  Scholien  zu  Apoll.  Rhod.  2.  1175  öticu  aC  ^<jp<m 
jcagä  Xixvttvioig  xaXovvxai. 

Wer  in  der  Kunst  des  Xiyuv  ygCcpovg  excelliert,  erhält  den  Namen 

rQl(pog  (CIA  2  no.  1012  1 22 ;   4.  Jahrh. ;    »catalogus   est  peregri- 
norum«),    Imbros    (BCH  13.  431  no.  42,    ebenfalls   in   einer 
Namenliste  l). 
Ein  Handwerker,  der  für  den  Tholosbau  zu  Epidauros  iyyXv^ata  u.  dgl.  zu 
liefern  hatte,  hiess 

Knpmdiav  (Ey.  ccqX.  1892.  72  71 ;  4.  Jahrh.). 
Dieser  Name  erinnert  an  den  Ilatavicjv  des  Philetairos  (Meineke  3.  298) ,  an 
AayvvCav  bei  Athenaios  (p.  584  f) ,  IIl&(xxvl(dv  bei  Alkiphron  (Meineke  a.  a.  0.) 
und  an  die  Märchenfigur  Kagdoniav  bei  Aristophanes  (Wespen  1178).  Entweder 
der  yXv7ttrjg  oder  sein  Vater  zeigte  neben  seinem  Berufsgeschäfte  ein  lebhaftes 
Interesse  für  die  xco^Kocdta. 

Der  Virtuose  auf  dem  xv^ißaXov  wird  nach  seinem  Instrumente  genannt : 
K^ßaXog  Tegea  (Smlg.no.  1246  Uli,). 
Frauennamen    dieser  Art  sind    in  grössrer  Anzahl  belegt:    Avqiov ,    IlrjxrLg,    Wl- 
d-vQa  (Beitr.  21.  234).      Dass    der    Kymbalonschläger     gerade    ein    Arkader   ist, 
nimmt    bei    dem  Ansehen ,    in    dem    die  Musik    bei    dem    arkadischen  Stamme  ge- 
standen hat  (Polyb.  4.  20, 4ff.)>  nicht  Wunder. 


II.   Gemüth. 

Die  ideale  Norm  des  sittlichen  Lebens  bildet  für  den  Griechen  die  öcocpQo- 
övvrj,  das  xoö[ii(og  ndvxa  nqaxxuv  xccl  rjövxfji  (so  im  Charmides  p.  159  b),  oder 
nach  der  öfter  wiederkehrenden  Definition  rö  XQccrelv  rjdoväv  xccl  iTtiftviuCbv 
(Piaton  Sympos.  p.  196  c). 

Das  Nichteinhalten  dieser  Norm  kann  durch  Temperament voder  durch  Cha- 
rakter bedingt  sein. 

1.    T  empera  m  en  t. 
'  Unter  den  Fehlern,  die  aus  der  Temperamentsanlage  entspringen,  sind  unter 
den  Spitznamen  zwei  vertreten  :  Jähzorn  und  Verdriesslichkeit. 
Der  Jähzorn  wird  gerügt  in  den  Namen 

"AyQiog   Rhodos    (IGI   1    no.  698  7 ;    etwa    3.  Jahrh. ,   Vater   eines 

rH{ieQiog),  Hyampolis  (IGS  3  no.  87  34); 
XdXsTCog  NavTtdxtiog  (BCH  5.  410  no.   16  1 ;    3.  Jahrh.) ; 
und  vielleicht  auch  in 

ÜLiupcov  Kalymna  (Smlg.  no.  3572  23 ;   so   ist   zu  lesen) ,   'Axagv&v 

(BCH  6.  234  no.  78  2) ; 
nCyLcpig  Koronta  (Fouilles  d'  Epidaure  1  no.  243). 

1)  TEKfcOS  die  Abschrift. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  59 

Ich  vermuthe,  dass  IIl^cov  und  üi^Kpig  zu  der  Sippe  7ie'{iq)L%.  dvöneiicpslog, 
7tö{i(pog,  7iO{i(p6lv£„  Ticcyka^G)  gehören ,  die  auch  in  den  baltischen  Sprachen  ver- 
treten ist :  lit.  pampti  (schwellen) ,  pampJfjs  (Dickbauch)  u.  s.  f.  (Fick  Wörterb.4 
1.  475).  Aischylos  spricht  von  der  8v6%sC^EQog  7i£[Mpi£,  des  Sturmes  (fragm.  195 
Nauck2),  von  der  n£\iyi%  r\Uov  (fragm.  170;.  vgl.  Soph.  fragm.  313)  uud  aX^azog1) 
(fragm.  183).  Av(5%i\LyElog  gebraucht  Homer  vom  stürmischen  Meere  (IT  748 1 , 
Hesiod  vom  stürmischen  Meere  (Theog.  440)  und  von  der  Schifffahrt  darauf 
('Eoyu  618);  auf  den  Menschen  ist  das  Wort  "Egycc  722  übertragen.  Kleon  heisst 
IlcccpAccycjv,  weil  er  wie  eine  xagadga  nacpkdt.EL  xccl  xExXays  (Wespen  1034,  Ritter 
919,  Frieden  315).  Eine  ähnliche  Bedeutung  kann  den  Namen  ÜC^Kpcov  und  Ui\i~ 
(pcg  innewohnen  ;  ihr  i  wäre  wie  das  i  von  6xiv%ög  zu  beurtheilen. 
Dazu  ein  vergleichender  Name : 

ZxognCcav  Phistyon  (IGS  3  no.  418  3). 
Vgl.  das  Sprichwort  ExoQitCovg  ßeßocoxEv  (Makar.  7.  72)  mit  Leutschs  Note. 

Den  Vorwurf  der  Verdriesslichkeit  erheben  die  Namen 

Zoolog    Athen    (Aristoph.    Ekkl.  846),    ZJ[io[iog]  auf  einem  thasi- 
schen  Henkel  (Jahrb.    f.  Phil.  Suppl.  4.  460  no.  12). 
Vgl.  6{ioiög'  %ale7t6g,  cpoßsQÖg,  özvyvog,  und  öpvög'  öxydocoTtög  (Hes.). 

ZJzvcpcov  Sparta  (Thuk.  4.  38, 1),    Thaumakoi  (BCH  7.  44  no.  4  2). 
Vgl.  özvtyai'  Ozvyvdöca  (Hes.). 

Drei  andre  Namen  enthalten  den  Vorwurf  in  Form  einer  Vergleichung : 
TovyCag  Thespiai  (IGS  1  no.  18882V,    5.  Jahrh.). 
Vgl.  den  Orakeispruch  (Athen,  p.  31  b) : 

77u/   oivov  tQvyiav,  eitel  ovx  'Av&rjdövcc  vaietg 
ovo'   ieqmv  (T7t£Qccv,  ö&i  y    atQvyov  oivov  STtivsg. 
'0{iq)cc7tLCöv  Iasos   (Dittenberger   Syll.    no.    77 hu]    4l.  Jahrb.;    der 
Sohn  heisst  Zzdyvlog). 
Vgl.  d-vfibv  6{L(pccxLccv  Aristoph.  Ach.  352  f..    rag  ocpgvg  6%d6a6$E  xai  tag  o^icpaxag 
Piaton  in  den  'Eooxal  (Meineke  2.  626  fragm.  5). 

Kagda^iCcov  Ai^ivalög  (Smlg.  no.  1379  9 ;    3.  Jahrh.)2). 
Vgl.  Aristoph.  Wesp.  454  f. :  o^vd-v^iojv  xa\  öixaCcov  xal  ßlEitovzav  xagdaua. 

2.    Charakter. 

Die  ärgste  Feindin  der  öcocpgoövvrj  ist  die  vßotg,  die  Üppigkeit  der  Ge- 
sinnung, aus  der  Zügellosigkeit  der  Begierden,  Frechheit,  Streitsucht,  Hoch- 
muth,  Undankbarkeit,  Hohn  und  Spott  entspringen. 

Die  allgemeinste  Benennung,  die  es  für  den  vßoi6zr\g  gibt,  geschieht  durch 
Einreihung  des  vßoitcov    in  den  Reigen  der  Gesellen ,    die    den   Chor   des   Satyr- 


1)  Vgl.  auch  Pind.  Pyth.  4.   121   iu  d'  ag    ctvrai  noficpoXv^av  8uy.qvu  yrigatiav  ylscpägav. 

2)  Der  Ka[Q]6[afi]cvog  bei  Le  Bas- Waddington  uo.  205  2  hat  Änc.  Gr.  Inscr.  no.  403  2  einen 
KaWC&ivos  Platz  gemacht. 

17  b 


60  FRITZ    BECHTEL, 

dramas  bilden.  Der  grösste  aller  vßgiöxaC  urtheilt  bei  Piaton  Symp.  p.  215  a 
über  Sokrates  so:  &rj{il  yäg  örj  b^iotöxaxov  avxbv  eivcu  xolg  6iXr\volg  xovxovg  xolg  iv 
xolg  EQiioykvcpSLOig  xa&rjfiLEvoig,  ovg  xivcg  igyd^ovxai  ot  örj^tovgyol  övgiyyag  rj  av- 
Xovg  E%ovxag,  o'C  ÖL%dÖE  öioi%&EvxEg  cpaCvovxai  svdod'sv  dydX^axa  s%ovxEg  ftscbv.  Kai 
<pri[il  ccv  Eoixivai  avxbv  xcol  6axvgcoi  xcbi  Magövai.  r'Oxi  {ilv  ovv  xö  ys  slöog  opotog 
sl  xovxoig,  d)  ZJaxgaxsg,  ovd''  avxbg  öij  nov  a(i(pi6ßr}X7]6aiQ  '  cog  öe  xa\  xaXXa  Eoixag, 
liExä  xovxo  axovs.  *Tßgi6xrig  ei  ...  .  Hierzu  nehme  man  nun  die  zuerst  von 
WSchulze  (Quaest.  epic.  23  adn.)  gewürdigte  Namenverbindung 

Zlaxvgiovv  'TßQLöxaiog  (Smlg.  no.  326  II 50 ;   3.  Jahrb.), 
zu    der  'Tßgiööxag   dixaiEiog    (ebenda  II 22)    einen    anmuthigen    Gegensatz    bildet, 
und  man  wird  sich  überzeugen,  dass  die  S.  19  behandelten  Sippen 

2Jilrjv6g  und  Udxvgog 
auch  zum  Ausdrucke  eines  sittlichen  Vorwurfes  geeignet  gewesen  sind. 

'Die  Zügellosigkeit    der  Begierden    macht    den  Inhalt    einer    langen 
Reihe  von  Namen  aus.     Unmässigkeit  im  Essen,  Trinken,  in  der  Geschlechtslust 
empfangen  in  ihnen  das  Brandmal. 
Für  den  Vielesser  ist 
'Agvöxag 
ein   recht   bezeichnender   Name.      Xenophon    berichtet   von   einem  Arkader,    der 
ihn  trug,    Anab.  7.  3, 23.     Er  beschreibt  den  Helden  als   einen  gewaltigen  Esser, 
der  sich,    als   bei    einem  Mahle    der  Wein  gereicht  ward,    keine  Zeit  nahm   sich 
seiner    zu    bedienen    sondern    den   Weinschenken    bat    zu    Xenophon    weiter     zu 
gehn:  'Exsivm,  scprj,  öög'  öyola^Ei  yäg  rjörj,  iyco  öe  ovöeiig).    Die  Gewohnheit  solch 
gesegneten    Appetit    zu   befriedigen    hat    dem   tapfren    Arkader    offenbar   seinen 
Namen  eingetragen :    \4gv6xag  bezeichnet  den  Mann ,    der  die  ihm  als  hinlänglich 
erscheinenden   Mengen    von    ^co^iög   und   sxvog   ägvsxai;    vgl.    Schol.    zu  Aristoph. 
Plut.  627  \le\lv6xiXt[\levoi  ■  Evco%r\iibvoi,  £co[ibv  agvtiäpEvoL  agxoig  xoCKoig  xal  \jiv<5xgCa 

\M\LQV\i,EVOig. 

Der  letzte  Vers  einer  Speisevorschrift,    die  Athenaios  (p.  126c)  aus  Nikan- 
ders  Georgika  mittheilt,  lautet  (in  Kaibeis  Herstellung) 

rjQE^ia  öe  %kiagbv  xoCloig  Exöa£vv<5o  ^ivöxgotg. 
Vielleicht  ist  der 

Mvöxgcov  (Fouilies  d'  Epidaure  1  no.  243) 
als  ein  Mann  zu  definieren,  der  fleissig  die  ^v6xga  gebraucht. 
Ferner  kann  von  der  Lust  am  Essen  benannt  sein 

[X}aQaÖQlvog  Grabstein  bei  Theben  (IGS  1  no.  2578;  5.  Jahrh.). 
Dies  ist  aus  der  dem  Sokrates  in  den1  Mund  gelegten  Redensart  %agaögiov  xivä 
av  <5v  ßiov  UyEig  (Piaton  Gorg.  p.  494b)  zu  schliessen.  Freilich  kann  der  Ver- 
gleichung  auch  eine  andre  Gemeinsamkeit  zu  Grunde  liegen :  Höxi,  <T  6  x^Quägibg 
xal  xy\v  %göav  xal  xijv  cpcovrjv  yavkog,  (paivExai  öe  vvxxcog,  fj[iEgag  ö'  ccTtoöiögdöxEL 
(»Aristoteles«  Ilsgl  xä  £ma  16x0g.  9.  11). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  61 

Eine  Sippe  von  Trinkern  stellt  sich  uns  vor  in  den  Namen 

M&vUog  Athen  (CIA  1  no.  434  25 ;    5.  Jahrh.) ; 

Ms'&av  Grabstein  in  Tanagra  (IGS  1  no.   1190); 

Meftvörccg  Msd-vötcuog  Pharsalos  (BCH  13.  403  no.  18  2). 
Diese  Sippe  erhält  aber  noch  Zuwachs.  Wir  wissen,  dass  eine  grosse  Schaar 
von  Trinkern  Beinamen  nach  den  Maassen  erhalten  haben,  die  sie  zu  bezwingen 
pflegten.  So  ist  A^cpoQSvg  Beiname  eines  Xenagoras  aus  Rhodos  (Ael.  V.  H.  12. 
26) ;  von  einem  Demokies  Aayvviav  sitixXrjv  berichtet  Hegesandros  (Athen. 
p.  584  f);  die  E7iL7cXr}6ig  MsTQrjtrjg  trug  Xenarchos  aus  Rhodos  dcä  trjv  noXvno- 
6ia.v  davon  (Euphorion  bei  Athen,  p.  436  f) ;  Xcjvy}  nannte  man  Diotimos  aus 
Athen,  weil  er  ivtL&e{ievog  r&t  ötofiart  %qovy\v  äjcavötcog  btiivev  ijtixso^isvov  ol'vov 
(Polemon  bei  Athen,  p.  436  e);  ein  Grammatiker  Demetrios  aus  Kyrene  brachte 
es  zum  Spitznamen  Utd^ivog  (Diog.  Laert.  5.  5, 11).  Den  nämlichen  Ursprung 
nun  haben  ohne  Zweifel  die  Namen 

Mdötog  Theben  (IGS  1  no.  2455;   5.  Jahrh.) 
und 

Kcj&cdv    Byzanz   (Polyb.  4.  52,4;    3.  Jahrh.),    Rhodos  (IGI  1  no. 
4689),  Korkyra  (IGS  3  no.  776). 
Ich  ziehe  hierher  auch 

ZtcpMv  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  12  III 9 ;  5.  Jahrh.). 
Der  Gtcpcov  ist  ein  sehr  nützlicher  Vermittler  zwischen  Fass  und  Liebhaber: 
6i(pcovi  XsTttCbi  T0V7tid-r}[icc  TETQrjvag  Hippon.  fragm.  56.  So  kann  ein  Thasier,  der 
diese  Vermittelung  zwischen  sich  und  dem  Thasier  gerne  anruft,  leicht  nach  ihr 
genannt  werden.  Spricht  doch  auch  Meleager  von  X(bvcj7tsg  avaideeg,  ai^axog 
ävÖQGbv  ötcpcoveg  (AP  5  no.  151).  Die  obscöne  Bedeutung,  die  der  Chor  Eurip. 
Kykl.  439  im  Sinne  hat,  braucht  nicht  vorzuliegen. 

Geschlechtliche  Ausschweifung  wird  dem  vorgeworfen,  der  gerufen 
wird  mit 

Aöpßai  Thespiai  (BCH  19.  332  no.  6  6 ;   2.  Jahrh.) x). 
Vgl.    die  Glosse:    Ä6[ißcu'    ul   xy\i    Agte^iidi   ftvöiGov  uQ^ovöca ,    anb    rrjg  xccra   xi\v 
nai8[s\iäv   öxevrjg'    ot   yäg  cpdXrjrsg    ovxco    KalovvTcti  (Hes.).     Dazu    die    Notiz    bei 
Pollux  (4.  105):    Xo^ßgotsgov    81    fjv    ö    ü>q%ovvto  yv^ivol  övv  ai6%QoXoyica2). 

Häufiger  wird  der  Vorwurf  in  Vergleichungen  ausgesprochen. 


1)  Die  Inschrift  gehört  der  gleichen  Zeit  an  wie  der  Stein  IGS  1  no.  1762,  mit  dem  sie  vier 
Namen  gemein  hat. 

2)  Ein  andrer,  aber  componierter,  Name  dieser  Art  ist  Aai6no8Cu$,  der  GP3  183  falsch  auf- 
gelöst ist.  Das  zweite  Namenglied  hängt  mit  ßnodeiv  in  dem  aus  Aristophanes  bekannten  Sinne 
(vgl.  Ekkl.  906  ff.)  zusammen.  Das  erste  ist  auch  in  dem  Namen  Aat6Tgarog  enthalten ,  den  mir 
Dr.  Hiller  von  Gärtriugen  für  Melos  (BCH  2.  522  no.  4;  4.  Jahrh.)  bestätigt  und  für  Nisyros 
nachweist.  Der  GP2  lö3*  ausgesprochne  Zweifel  muss  diesen  Zeugnissen  gegenüber  verstummen. 
Das  gleiche  Element  steckt  offenbar  in  den  Appellativen  Xayiaxanvyoiv  (Arist.  Ach.  664),  kx[x]«- 
xÜQuza    ot  äyav  KCCtagccTOi  Phot.  r 


62  .  FRITZ    BECHTEL, 

Silene  führen  auf  den  Vasen  die  Namen  Oi'ycov,  Iloöfrcov,  Zrucav,  2Jxv6ut7tog9 
Zvßccg,  <PXeßi7t7tog.  Diese  Gesellschaft  war  also  zu  Vergleichungen  vorzüglich 
geeignet.  Einen  einzelnen  Fall,  aus  dem  die  Gleichung  deutlich  herausgelesen 
werden  könnte,  vermag  ich  freilich  nicht  nachzuweisen.  Aber  ich  will  doch  nicht 
unterlassen  die  heillosen  Verse  des  Hermippos  in  das  Gedächtnis  zu  rufen,  in 
denen  dem  Perikles  Liederlichkeit  und  Feigheit  zugleich  vorgeworfen  wird 
(Meineke  2.  395) : 

Bccöikev  Ucctvqcjv,  xC  itox    ovx  id'Eketg 
Öoqv  ßaöxd&Lv,  alXä  köyovg  {iev 
tcbqI  xov  Ttols^tov  dsivovg  Xccq£%7]L9 
ipv%iiV  ös   TeArjxog  V7is6xr}g; 
Als    geile  Thiere    haben    den  Griechen  Zuchthengst   und  Rebhuhn    gegolten. 
Die  Namen  beider  sind  als  Personennamen  bezeugt: 

KrjXcov  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  38i ;    5.  Jahrh.). 
Vgl.  Archil.  fragm.  97  (Bergk): 

r\  de  oi  <5a.\fY\ 
coösi  x    ovov  IlQirjveog 
%r\k(üvog  £7iXyj{iiivq6v  oxQvyrupdyov1). 
nsQÖih,  Athen  (Aristoph.  Vög,  1292,    fragm.  148  Dind.),    Thespiai 
(IGS  1  no.  1888*  n). 
Phrynichos    nannte    einen    Kleombrotos    Sohn    des   Perdix.     Athenaios ,    der   dies 
berichtet,  fügt  unmittelbar  dahinter  die  Bemerkung  an  :  xb  dh  £ghov  etil  kayveiag 
Gviißofoxcbg  7taQertr}7ixcci  (p.  389  a).     Daraus  hat  Meineke  (2.  599)   den  Schluss  ge- 
zogen, dass  Kleombrotos  um  seiner  Xayveia  willen  einen  Vater  Rebhuhn  erhalten 
habe,  wie  Aischines  als  dka^äv  einen  Vater  Aufschneider. 

Man  weiss  jetzt,  wie  viel  Gewicht  im  alten  Thera  auf  das  oi'cpEw  gelegt 
worden  ist  (vgl.  Hiller  von  Gärtringen  Thera  25  f.).  Ein  Sprichwort,  das  ver- 
mutlich aus  der  alten  Komödie  stammt  (Kock  3.  400  fragm.  12.  13.  14),  lautet 
in  der  witzigsten  Fassung 

Ovdslg  xo{irjxrjg  ööxig  ov  tljrjVL&xcu. 
Darnach  wird  man  ermessen  können,  welche  Gedankenverbindung  zu  dem  Namen 

Wtjv  Thera  (IGA  no.  461;    7.  Jahrh.) 
geführt  habe. 

Weniger  sicher  ist,  dass  Leute  .  die  nach  der  Maus  und  nach  dem  Spatze 
genannt  sind,  dadurch  als  Gesinnungsgenossen  des  Kinesias  haben  gezeichnet 
werden  sollen. 

Mvg  häufig  in  Kleinasien  :  dvijQ  EvQco^ievg  (Herod.  8.  133),  Iasos 
(CIG  2  no.  26776 n),  Halikarnassos  (Mitth.  15.  252  no.  28)j 
Lagina  (BCH  11.  8  no.  2  t),  Kiavog  (CIA  2  no.  3067),  Mv- 
Qivalog   (Conze   Inselreise  67),  'EgeöLog    (IGS    1    no.  4i)  — 

1)  Dazu  noch  Kratinos  (Meineke  2.  182  fragm.  22): 

Xaigs,  XQV60HEQCO  ßaßd-Kta  %r\l(ov, 
Tldv 


GRIECO.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  63 

aber  schon  seit  dem  0.  Jahrh.  auch  in  Griechenland:  Lieb- 
lingsname auf  einer  schwarzfig.  Oinochoe  des  Brit.  Mus. 
(Catalogue  2.  246),  Korkyra  (1GS  3  no.  704),  Thasos  (Thas. 
Inschr.  no.  12  II 2),  OaXrjgsvg  (CIA  2  no.  834  ce,  Add.)  u.  s.  f. 

Die    XayvsCa   der  Mäuse    ist   im  Alterthume    viel   besprochen.     Kratinos  benutzte 

die  Beobachtung  für  seine  Zwecke : 

<&SQ£    VVV    60i 

f'|  cd&Qiccg  xccrccTtvyoövvrjv  [ivbg  döXQai^G)  Esvocpavxog 
(Meineke  2.  46  fragm.  4).  Aber  ich  bezweifle,  dass  der  Name  griechischer  Her- 
kunft sei.  Wie  er  am  häufigsten  in  Kleinasien  gefunden  wird,  so  geht  er  ohne 
Zweifel  auch  von  Kleinasien  aus;  und  zwar  von  Karien,  wo  auch  die  Personen- 
namen IJava^ivrig  (Ion.  Inschr.  no.  238  30),  XrjQa^ivrig  (Ion.  Inschr.  no.  211),  Mvcov 
(CIG-  2  no.  2771  1 1),  MvatvCdns  (IGS  1  no.  420  40,  BCH  10.  488  no.  2  5,  11.  18 
no.  17  2  und  sonst)  ihre  Heimath  haben  und  die  Mvy\66ioi  wohnen 1). 
Aas  einem  andren  Grunde  ist  nicht  ganz  sicher,  ob  die  Leute,  die 

UtQovd-og,  StQovd-ig,  ÜXQOV^OV  (8  f.) 
heissen,  dadurch  i%\  Xayvdai  diaßdXXovxai.  Wir  haben  schon  früher  gesehen, 
dass  die  Benennung  vielleicht  die  Gestalt  zum  Ausgangspunkte  hat.  Aber 
Meister  Spatz  zählt  auch  zu  den  Verehrern  des  "Egag  ndvör^iog.  Eine  der 
Schönen ,  die  es  nicht  über  sich  vermag  der  Lysistrate  Treue  zu  halten ,  wird 
dabei  betroffen,  wie  sie  den  öxgovd-og  besteigt,  um  zu  ihrem  Eheliebsten  zu  ge- 
langen —  die  passendste  Fahrgelegenheit,  die  sie  wählen  konnte,  nag  ööov  xb 
öqvbov  d-SQfibv  ecg  GvvovöCav. 

Höchst  zweifelhaft  ist  mir,  ob  Namen  von  Lüstlingen  an  Bezeichnungen  des 
atdolov  yvvaixElov  angeknüpft  werden.  Die  Belege,  die  man  für  die  Genossen 
des  lat.  cunnio  (Rhein.  Mus.  52.  394)  etwa  beibringen  könnte,  sind  alle  unsicher. 
Der  wichtigste  von  ihnen  wäre 

Udgaßog  Plataiai  (5.  Jahrh.), 
wenn   er   fest  stünde.     Athenaios   führt   aus  einem  Satyrdrama  des  Achaios  von 
Eretria  die  Zeilen  an  (p.  173  d) 

xig  VTCoxsxQVfi^isvog  \a(vu 

öagocßdxcov  xontdcov  öwo^icow^ie : 
Ein  Fragment   des  Poseidippos    aber,    in    dem  Plataiai    geschildert   wird,    lautet 
(Meineke  4.  525) : 

Nuol  dv    eCöl  xccl  öxoä  xal  xovvopa 

xccl  xb  ßaXavstov  xal  xb  Urjgd^ißov  xXiog, 

xb  noXv  p£v  dxxrj,  xolg  tf  fEXsvd-£QiOLg  %6Xig. 
Meineke  combiniert  den  Namen  des  zweiten  Verses   mit  dem  öagaßdxcjv    des  zu- 
erst erwähnten  Fragmentes.    Indem  er  für  sicher  hält,  dass  die  zweite  Zeile  des 
Achaios  daktylisch  gebaut  sei,  schreibt  er  bei  dem  Eretrier  Zagaßixcbv,    bei  Po- 

1)  Auch  Wilamowitz  hält  Mvg  für  ungriechisch:  »Mvg,  höchstens  im  Scherze  vom  Myser  au 
die  Maus  angeähnelt«  Aristoteles  und  Athen  2.  176ie.  5 

1   7   * 


64  FRITZ    BECHTEL, 

seidippos  Uagdßov;  und  die  letzte  Änderung  hat  dann  im  Gefolge,  dass  auch 
bei  Piaton  Gorg.  p.  518  b  Zdgaßog  statt  des  überlieferten  Udga^ißog  gelesen 
werden  muss.  Hat  Meineke  mit  seinem  Vorschlage  Recht,  so  stehn  wir  vor 
einem  Namen,  der  durch  die  Glosse  ödgaßog'  rö  ywaiKsiov  aidolov  verständlich 
gemacht  werden  kann.  Aber  Meineke  ist  hier  in  die  Irre  gegangen.  Der  Name 
Zdgaßog  müsste  in  der  ersten  Silbe  eine  Kürze  aufweisen,  da  das  Appellativum 
adgaßog  ein  Tribrachys  ist:  den  Beweis  liefert  die  Lautgestalt  der  Ableitung 
<5ccßaQixY\'  ywaixbg  aidolov  (Photios ;  die  Buchstabenfolge  verlangt  6agaßL%rj).  Es 
ist  also  klar,  dass  bei  Poseidippos  die  Überlieferung  gehalten  und  dass  bei  Pia- 
ton mit  leichter  Änderung  2JTJga[ißog  hergestellt  werden  muss ;  um  so  eher,  als 
ZJ7JQcc{ißog  ein  auch  durch  Inschriften  beglaubigter l) ,  Udgaßog  ein  bis  auf  den 
heutigen  Tag  unbekannter  Name  ist.  Besteht  zwischen  dem  Uijga^ißog  des  Po- 
seidippos und  dem  öagaßdxcjv  des  Achaios  ein  Zusammenhang,  so  darf  der  Ver- 
such zu  emendieren  nur  von  Hyjga^ßog  ausgehn,  nicht  umgekehrt2). 

-  Nach  dieser  Kritik  wird  man  sich  nicht  mehr  darauf  berufen  wollen ,  dass 
der  Megarer,  der  an  Dikaiopolis  seine  beiden  Ferkel  verkauft,  dem  Namen  Xolgog 
einen  Sinn  abzugewinnen  gewusst  hätte  ,  der  seiner  schmutzigen  Phantasie  Ehre 
gemacht  haben  würde.  Auch  nicht  darauf,  dass  neben  Hilivig  und  Mvgrcjv  die 
Appellativa  öilivov  und  pvgxog  in  obscön  gewendeter  Bedeutung  liegen.  Da  die 
genannten  Namen  ohne  Unterschied  anders  interpretiert  werden  können ,  so 
müssen  sie  nach  Lage  der  Dinge  auch  anders  interpretiert  werden. 

Frechheit  in  Handeln  und  Reden  findet  ihre  Rüge  durch  die  Namen 
Aaidgiag  Grabstein  in  Eretria  (E(p.  ag%.  1892.  146  no.  30); 
Aigavog  Grabstein  in  Tanagra  (IGS  1  no.  1177); 
Kogdat,  'AxccQvsvg  (CIA  2  no.  9606  9;    4.  Jahrb..). 
Die  freche  Rede  ins  Besondre  durch 

Urviidgyrjg  (PseudoHippokr.  Epid.  2.  2,  4,  2.  4,  5),  wozu 
2Jto{iüg  (oben  29  f.)  vielleicht  als  Verkürzung  gehört. 
Aaidgiag  ist  vom  Herausgeber  richtig  gedeutet :  der  Name  geht  aus  von  Kaidgog. 
Dies  Wort  hatNikander  zweimal  gebraucht:  Ther.  689  öxvhaxag  yalerjg  tj  ^rjzsga 
Xaidgyjv,  Alexiph.  563  yegvvcov  laidgovg  xonfiag.  An  der  ersten  erklären  die 
Scholien  :  Aaiögrjv  öe  rr\v  evxivrjTOv  nal  dvaiöf\  xa\  ftgaGslav  xccl  ccg7taxriX7]v;  an 
der  zweiten :  Xaiögovg  rovg  dvaiöslg  öiä  rö  ßoäv  äsl  trji,  cpcovfjc  tga^vtegat.  — 
Zu  Aigavog  vgl.  fogog3)  bei  Alex.  Aitol.  Apoll.  30  f.  (Meineke  Anal.  Alex.  220): 

1)  Ich  kenne  ihn  aus  Aigina  (Paus.  6.  10,9),  Athen  (CIA  4  Suppl.  2  110.  626 &  36),  Hermion 
(Smlg.  no.  3398  I  u),  Tarent  (Num.  Chron.  1889.  210). 

2)  Blass  vermuthet ,  dass  Zr}QcciißLK&v  zu  lesen  und  dies  in  die  vorangehende  Zeile  zu 
ziehen  sei. 

3)  Auf  einem  Steine  aus  Amorgos  hat  Dümmler  (Mitth.  11.  111  no.  17)  AIPOKAEOS  tili,  ge- 
lesen. Nach  seiner  Angahe  »scheint  oben  Nichts  zu  fehlen«.  Also  doch  wol  unten  und  au  den 
Seiten.  Ist  aber  der  linke  Rand  unvollständig,  so  liegt  es  nahe  [XJcciQonXsog  herzustellen.  Ich 
möchte  also  nicht  wagen  mit  Hoffmann  aus  dieser  einzigen  Quelle  einen  Namen  AiQonXfjs  zu  fol- 
gern (Beitr.  22.  134). 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  65 

Y}  d'  ini  ol  Xioä  vosvöa  yvvr\ 

aiKpoTEoccig  ieiQ£66i  {ivXaxQida  Xäav  ivrjöei, 
und  das  Verbum  kioaivei.  —  Den  Namen  Köodcd;  stelle  ich  hierher,  weil  der 
KÖodcct,  zu  den  lasciven  Tänzen  gehörte.  Bei  Theophrast  (Charakt.  6.  3)  ist  es 
ein  Zeichen  von  ccTtövoux,  wenn  jemand  vr\cp&v  0Q%eixai  xbv  xöodaxa.  —  Die  Rich- 
tung auf  die  avaCdeicc,  die  für  6x6{i<xoyog  charakteristisch  ist,  kommt  Soph.  El. 
606  f.  zum  Ausdrucke  : 

xyjqv66b  fi    aig  anavxag,  el'xs  %oi}  xaxijv 

si'xs  öxofiagyov  ei'r    avcadsi'txg  %Xiav. 
Hier  Hesse  sich  leicht  der  Name  OeotiCxag  (21)  einreihen. 

Der  Streitsüchtige  wird  mit  dem  stössigen  Bocke  verglichen: 
KoQvitxag  Istron  (Mus.  Ital.  3.  641  no.  55  io). 
Vgl.  Theokr.  3.  4  f. 

xal  xbv  svöqxccv 
xbv  Aißvxbv  xvdxcova  (pvXaööeo,  fttj  xv  xoQv^r\i. 

Die  Sünde  der  Hoffahrt  wird  gegeisselt  in  der  Sippe 

r<xvgog  Larisa  (Smlg.  no.  1286  3.17),    Eretria  (Pap.  of  the  Amer. 

School  6.  198  no.  2  2)  ; 
ravQig   Vasenmaler    in    Athen    (Klein  Vaseninschr.    mit    Meister- 
sign.2  213;    5.  Jahrh.). 
Der  Name   rccv[oo]g   kommt,    wenn    man   die   von  Blass   herrührende  Ergänzung 
annimmt,  als  Pferdename  auf  einer  korinthischen  Vase  vor  (Smlg.  no.  3129).    In 
dem   Bündel   Schimpfwörter,    womit    Alkaios    den    Pittakos    überschüttet   (Diog. 
Laert.  1.  4,9),    prangt   auch  das  Adjectivum  yarorfe  (so  Menage  für  yccvoi^  nach 
der  Glosse  des  Hesych  yavorfe'  6  yavoi&v). 
Zweifelhaft  ist,  ob  mit 

'OcpQvddccg  Larisa  (Smlg.  no.  1301) 
ein    homo  supercüiosus    gemeint    sei.     Nach    der  Glosse    ocpova&iv  *    rö   xäg   ocpovg 
inaiQSiv  xal  <x7to6e[ivvvE(}d-cu  (Bekker  Anecd.  1.  53)    könnte    man  dies  vermuthen. 
Aber  der  Name  berührt  sich  so  enge  mit  dem  mythischen  'O&qv ddag,  der  mit  der 
Augenbraue  Nichts  zu  thun  hat,   dass  man  auf  jene  Erklärung  lieber  verzichtet. 

Dass  ein  Undankbarer  mit  dem  Namen 
Koiög 
hat  gezeichnet  werden  können,  darf  man  aus  dem  Sprichworte  Kotig  xQOcpsf  ant- 
xslösv  schliessen,  dessen  schon  früher  (37 x)  gedacht  worden  ist.  Es  trifft  sich 
gut,  dass  die  Grabschrift  eines  Kgiog  auf  uns  gekommen  ist,  in  der  ausdrück- 
lich dagegen  protestiert  wird,  dass  man  von  dem  Namen  auf  tadelnswerthen 
Charakter  des  Todten  schliesse.     CIA  2  no.  3880  (4.  Jahrh.): 

Kgiog. 

Ovxog  bg  iv&dds  xetxai  eist  yJhv  xovvo[ia  xqiov, 

ycoxbg  81  ipvxrjv  86%s  dixaioxdxov. 

Abhdlgu.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  ».  9 


66  •  FRITZ    BECHTEL, 

Auf  Hohn  und  Spott  weisen    zwei    alte  Sippen   und  ein  einzelner  Name. 
Der  Wortstamm,  der  in  öiXXög  *)  und   in  dem  von  Herondas  noch  der  leben- 
digen Sprache  entnommenen  Verbum  GtXXaCva  enthalten  ist,  hat  seit  dem  5.  Jahrh. 
auch  Personennamen  getrieben : 

ECXXat,    6   'Prjytvog ,    ov   tivri[iov8vov6iv    'Eitixagtiog    xal    Ei^iojindyjg 

(Athen,  p.  210b); 
ZCXXig  Ei86viog  (BCH  4.  146  ;   3.  Jahrh.) ; 

ZcXXiog  (Patron.)2)  Orchomenos  (IGS  1  no.  3183  9 ;    3./2.  Jahrh.); 

UiXXevg   Vater   des    Apollon.    Rhod.    (nach  Suidas ;    die  Variante 

'IXXevg  in  den  Vitae  a  und  ß  bei  Westermann). 

Das  lateinische  Wort  sanna ,    das    auf   griech.   ödvvcc    zurückschliessen  lässt, 

bedeutet  nach  den  Scholien  zu  Pers.  Sat.  1.  62    os  distortum  cum  vultu:    quod  fa- 

cimus,  cum  alios  deridemus.     Es  ist  also  ein  Synonymum  von  griech.  [laxog,  nach 

der  Definition,    die  Simplikios  von  {icbxog  gibt:    6  ^ivxrriQLö^bg  xccl  6  diä  rotovrov 

öxr^iaxog  evteXiö^iög  (die  Stelle  aus  Jahn ,    Persius    cum  schol.  antiqu.  [1843]  9^). 

Höhnische  Geberde  bildet  demnach  Gegenstand  des  Vorwurfs  in  den  Namen 

Edvvr\g   (belegt  Edvvov  CIA  4    Suppl.  2  no.  834 &  44;    4.  Jahrh.); 
EavvccZog  (Paton-Hicks  no.  21  7) ; 

Eavvicov   in    Athen    vom    5.    Jahrh.    an    (Uavvtcov    Eipiov    CIA  1 
no.  3246  82),  Paros  {'E<p.  ccqx.  1892.  70  3e),  Iasos  (Ion.  Inschr. 
no.  104a  15),    Smyrna   (ebd.   no.  153  u),    Naukratis   (CIA   2 
no.  3238); 
Edvviog  Athen  (CIA  2  no.  944  II  42 ;   4.  Jahrh.) ; 
Euvvvqicov  Dichter  der  alten  Komödie  (Meineke  1.  263). 
Kommt  für  Eavvicov ,    Edvviog   etwa  auch  ödvviov   tö  atdolov  dvtl   rov  xeq- 
xiov  (Res.)  in  Betracht? 
Für  sich  steht 

Eagdav  in  dem  Patr.  ZJccQÖovveiog  Thessalien  (Smlg.  no.  326 1 5.  is ; 
3.  Jahrh.). 
Ich  bringe  den  Namen  mit  öagdaviog  ye'Xag   in  Zusammenhang ;    Gagddviog ,    6ag- 
dd£a  sind  verwandt  mit  öcciqco  (Fick  GGA  1894.  245). 

Für  den  Trotzigen  dürfen  vielleicht  in  Anspruch  genommen  werden 

2Jto[iLog  'HXsZog  (Paus.  6.  3, 2 ;   4.  Jahrh.),  'AXv%alog  (Mitth.  6.  303 

Beil.  2  I19),  Maxetisvg  (BCH  18.  236  3); 
EtoiiUog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  415). 
Diese  Deutung  wird    durch    den  Gebrauch   von  ötöfiig  bei  Aischylos  (fragm.  442 
N."2)  an   die  Hand  gegeben.     Wer    freilich    in  Ero^itog,   ZxopCXog   Synonyma   von 
GtcoyLvXog  sehen  will,  der  ist  nicht  zu  widerlegen. 


1)  Das  Material,  das  für  die  Bedeutung   von  glUos  in  Betracht  kommt,    ist  von  Wachsmuth 
(De  Timone  Phliasio  1)  gesammelt. 

2)  Überl.  SIAAIO*. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  67 

So  weit  spiegeln  sich  die  aus  der  vßgig  fliessenden  Fehler  und  Laster  in 
den  einstämmigen  Spitznamen  ab.  Das  Lexikon  dieser  Namen  weiss  aber  noch 
von  andren  Verstössen  gegen  die  ö&yQoövvri  zu  berichten :  von  Arglist ,  von 
wetterwendischem  Sinne,  von  Kriecherei  und  Feigheit,  von  Geiz  und  Diebstahl. 
Die  Namen  für  den  Arglistigen  fallen  mit  denen  für  den  Durchtriebenen 
zusammen ,  die  schon  früher  (56  f.)  behandelt  sind.  Ich  will  hier  nur  daran  er- 
innern, dass  öievcpi^aiv  für  7tavovQysve6&ca  xccl  doXieveö&ai  xccl  doMag  xi  itQatzaiv 
gesagt  wird  (Bekk.  Anecd.  1.  64),  dass  Aischines  den  Demosthenes  als  6  ZtCövyog 
ode  bezeichnet  (2.  42),  dass  Demosthenes  den  Aischines  als  xivccöog  ovösv  i£  ccq- 
lf\g  vyieg  TiETtoirjxbg  ovÖy  eksvxtegov  und  als  einen  ccvxoxQccyixbg  rttörjxog  charak- 
terisiert (18.  242).     Die  letzte  Wendung  führt  uns  auf  den  Namen 

nL&rjxog  (18), 
der  Spitzname  für  einen  boshaften,  arglistigen  Menschen  sein  kann.  Ein  Sprich- 
wort lautet  nC&rixog  opcpccxccg  GLXovpevog ,  ein  andres  Tlid-^xcoi  naxxccXov  (Makar. 
7.  14.  15) ;  beide  haben  die  7tovr}Qta  des  widerlichen  Gesellen  im  Auge.  Bei 
Semonides  wird  das  Weib,  das  drjvea  nccvxa  xccl  XQonovg  £%i6xccxai,  cjötisq  7tcd"r]xog, 
das  xov&  hgcci 

xccl  xovxo  Tiäßav  rj^iSQrjv  ßovkevexcu, 

oxcog  xiv*  hg  {teyiöxov  eq^slev  xccxöv, 
(fragm.  7.  71  ff.)  als  \i(yi6xov  xccxbv  aus  dem  Affen  erschaffen.  Der  junge 
Taugenichts ,  der  bei  Herondas  (3.  40  f.)  öxcjg  xig  xccXXcrjg  xdxco  xvitxcav  mit  aus- 
gespreizten Schenkeln  auf  dem  Dache  sitzt,  ist  ein  leuchtendes  Beispiel  der  xa- 
xor\&eicc  (Crusius  Unters,  zu  den  Mimiamben  d.  Her.  64).  Die  itavovQyCa  des  Affen 
äussert  sich  aber  hauptsächlich  darin ,  dass  er  7ti%Y\xillu  (Wespen  1290) ;  davon 
soll  bald  die  Rede  sein1). 

Den  wetterwendischen  Sinn  haben  die  Athener  mit  einem  witzigen 
Beinamen  gekennzeichnet :  sie  nannten  den  Theramenes  Kothurn ,  cjg  d^icpoxegocg 
7tELQG)fisvov  aQ[i6xxeiv  (Xenoph.  Hell.  2.  3, 47).  Der  Philosoph  Dionysios  von  He- 
rakleia  erhielt  von  seinen  alten  Gesinnungsgenossen,  als  er  den  Curs  wechselte, 
den  Spitznamen  6  Msxa^E^isvog  (Athen,  p.  281  d).  Aus  einer  in  solchem  Sinne 
gedachten  enixkrjöLg  könnte  auch  der  früher  (44)    erwähnte  Name 

Xa^iaikscov 
erwachsen    sein.     Das  Sprichwort  Xcc{icukeovxog   sv^isxaßoXcoxsQog  (GCL  3.  32)  er- 
hält in  Plutarchs  Charakteristik  des  Alkibiades  (23)  eine  lehrreiche  Anwendung. 
Hier  muss  auch  des  Namens 
'Ixxivog  (27) 
Erwähnung  geschehen.     Theogn.  1261  f.  wird  ein  Knabe  so  angeredet: 
ixxCvov  yccQ  £%eig  ayiiGxQocpov  iv  (pQSölv  rjd'og, 
aXXwv  &v&Q<bxa)y  qyj^iccöl  jtEL&öiisvog. 

1)  Auch  dem  Rebhuhne  wird  xaxorj^fta  xca  7tavovgyCa  vorgeworfen  ,  und  manche  Jagdge- 
schichte ergeht  sich  darüber  (vgl.  Athen,  p.  389  b).  Auf  die  List,  mit  der  es  angeblich  dem  Jäger 
entrinnt,  spielt  Aristophanes  Vög.  766  ff.  an.  « 

9*  5 


68  FRITZ    BECHTEL, 

Wer  als  Schmeichler  anrüchig  geworden  ist,    für  den  stehn  einige  theil- 
weise  recht  drastische  Bezeichnungen  in  Bereitschaft.     Er  kann  genannt  werden 

Oconiccg  Q>vQxalog  (Smlg.  no.   1949  16  ;    2.  Jahrh.) ; 

EaCvov  Telos  (Smlg.  no.  3488  I  io) ; 
vgl.  Pind.  Pyth.  2.  82 

o^icjg  [iäv  öcclvcjv  itoxl  Ttavxaq  äyäv  ndyyy  diankixEi. 
Er  kann  aber  auch  mit  dem  Kahne  verglichen  werden : 

Mpßog  Theben  (IGS  1  no.  3645;    5.  Jahrh.); 
oder  mit  dem  Affen : 

ntöaxog,  nC&cav  und  vielleicht  Uid-vXXog  (18). 
Den    Schlüssel    zum    Verständnisse    des    ersten    Vergleiches    gibt    der    Vers    des 
Anaxandrides  an  die  Hand 

OTtLöQ-ev  äxoAovd'Et  xöXcct,  xcjl,  Xs{ißog  STtixsxXrjXca. 
Ein  Herakleides  aus  Oxyrhynchos  führt  den  Beinamen  6  As^ißog,  angeblich,  weil 
er*  einen  Ae^ißsvxtxbg  Xöyog  geschrieben  hat  (Diog.  Laert.  5.  6,  s).  Dass  der 
Affenname  hier  richtig  untergebracht  ist,  lehrt  der  Sprachgebrauch.  Aristophanes 
gedenkt  (Frösche  1085  f.)  der  driiioTtL&rjxcQv  l)  e^aTiaxcovxcov  xbv  dfj^iov  asi,  und 
verwendet  Ritt.  887  Ttid-qxLöyioig  im  gleichen  Sinne  wie  drei  Zeilen  später  fta- 
neiaig.  Piaton  fragt  in  der  üolixeia:  KolaxsCa  de  xccl  avskev^egia  (ipeyExcu)  ovx 
öxav  xtg  xb  avxb  xovxo ,  xb  fi-vuoeideg,  V7tb  xcbi  6%Xd)öei  ftrjQiaL  Ttoifjt ,  xal  svsxa 
XQ7j(idx(ov  xal  xfjg  sxeivov  cc7iXrj<5xLccg  7tQ07triXaxi^6(i6vov  i&C%y]i  ex  vsov  ccvxl  Äsovxog 
7tid"rixov  ycyvsöd-ca;  (p.  590b).  Auch  Pindar  scheint  mit  den  Worten  xakög  xov 
itiftav ,  naget  jtaiölv  atel  xaXög  (Pyth.  2.  72)  vor  dem  Schmeichler  warnen  zu 
wollen.  Wenn  man  nun  sieht,  dass  in  Kyrene  ein  TipoXag  einen  UCftaxog  zum 
Vater  hat,  so  liegt  der  Gedanke  nahe,  dass  IJtd-axog  Spitzname  für  einen  Mann 
sei,  dessen  politische  Gesinnung  sich  in  dem  Namen  ausspricht,  den  er  seinem 
Sohne  gegeben  hat,  also  mit  dem  dripoitförixog  des  Aristophanes  gleichen  In- 
halt habe. 

Ein    feiger  Mann,    der   seine   Gesinnung    durch   Laufen    an   den  Tag   legt, 
findet  seine  Thätigkeit  bezeichnet  durch  den  Namen 

zlgäiivg  Thespiai  (IGS  1  no.  1888  au;    5.  Jahrh.), 
den  man  'als  Verkürzung  von  dgaithrig  fassen  darf. 

Bei  den  Griechen  hat  die  Wachtel   im  Rufe  eines  feigen  Thieres  gestanden. 
Dies  ersieht  man  aus  den  Worten  des  Antiphanes  (Meineke  3.  4  fragm.  3): 

cog  öij  6v  xC 
7toi£lv  dvvd[iEvog  oQXvyiov  ipv%ijv  e%G)v; 
Also  kann  in  den  Namen 

'ÖpTv[(j]  Parion  (Mitth.  9.  61  no.  42;    spät); 
'OQxvyfov  Eretria  ('Eq>.  ag%.  1895.  139  II 159) 


1)  Vgl.  8r\^OY,aXXC\yi\a<s '    tovg  nsgi    tu    drjfidffia    ccvaGtQtcpovTag  (Hes.),    nach    Meineke   1.  633 
fra<'in.   114. 


ORIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  69 

der  Vorwurf  der  Feigheit  eingeschlossen  sein.  —  In  dem  gleichen  Rufe  hat  der 
Kuckuck  gestanden  (54 l).     Also  müssen    an    dieser  Stelle   auch  erwähnt  werden 
Köxxvip  und  KoxxovßCag  (54). 

Der  Geizhals  empfängt  seinen  Lohn  in  der  Sippe 

Kvt(pcov   Kexgo-Jtidog    cpvXr\g   (CIA   4   Suppl.  1    no.  446  a   II  is;    5. 

Jahrh.) ; 
rvicpcjvcdrjg  ®0Qaisvg  (CIA  2  no.  944  IV  u ;    4.  Jahrh.) ; 
Kvupäg  Megara  (IGS  1  no.  27  4;    3.  Jahrh.). 

Als  Dieb   ist    der  Rabe  verrufen.     Kratinos    rechnet    sich    zum  Ruhme    an, 
dass  er  (Meineke  2.  63  fragm.  3) 

xovg  xÖQccxag  xk%  Aiyvitxov  %qv<jiu  xXeitxovxag  sticcvCev  l). 
Die  gleiche  Klage  wird  gegen  den  Falken  erhoben: 

oi)%  ÖQcctg  öxt 
ixxlvog  elg  av  rouro  j/'  ol%oi&  aQTCaöag; 
(Aristoph.  Vogel  891  f.).     Man  sieht  also,  dass  die  Namen 

K6qcc%  und  'Ixxtvog, 
die   bei  früheren  Gelegenheiten    (27.  28.  42.  67)  herangezogen  worden  sind,    eine 
ganze  Reihe  von  Deutungen  zulassen  8).     Wenn    auf  einem  Krater   zwei  Krieger 
die  ßeischriften  Av9og  und  9ogah,  tragen  (Kretschmer  Vaseninschr.  101),  so  erklärt 
von  diesen  Charakternamen  der  eine  den  andren. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  paar  Namen,  in  denen  der  Vorwurf  der  Nichtsnutzig- 
keit in  ganz  allgemeiner  Form  erhoben  wird. 

AoC^cav  (rkavxidiqg  AoL{iavog  CIA  2  no.  3570). 
Vgl.  Demosth.  25.  80  ....  avxbg  cov  k%iXx\7Cxog  Tta<5r\i  novrigCai.    Ovxog  ovv  ccvxbv 
i%cuQrj<5Exai,  6  cpccQiiaxog,  6  koipog,  ov  oiaviöaix     av  xig  päkkov  tdav   t)  7CQ06si7tetv 
ßovAotro.    Der  Gemüthsmensch,  der  des  Namens  AoC^kov  gewürdigt  ward,  besitzt 
kein  Ethnikon ;   es  handelt  sich  ohne  Zweifel  um  einen  Freigelassnen. 
K<bvcoil>  ®qv£  (CIA  2  no.  3404). 

Mvaty  (CIA  2  no.  3832  2 ;    der  Mann  hat  kein  Ethnikon). 
Wie  diese  beiden  Namen  verstanden  werden  müssen  ,    lässt  bereits   das  Attribut 
ccvcadssg  vermuthen,    das   die   xd)vco7Csg  AP  5  no.  151  i  erhalten.     Gewisheit   ver- 
schafft Büchelers  Bemerkung  zu  der  WvXla  des  Herondas:    Pulex  cur  nomen  sit 
servae,  eloquitur  Plautus  Cure.  501.     Die  Stelle   redet  eine  deutliche  Sprache: 
Item  genus  est  lenonium  inter  homines  meo  quidem  animo 
Ut  muscae  culices  eimices  pedesque  pulicesque: 
Odio  et  malo  et  molestiae,  bono  usui  estis  nulli. 

1)  snavösv  Meineke,  überl.  k'navaav. 

2)  Auch   mit  KoXoiog  könnte    ein  Dieb  gemeint    sein:    6  noloibg  ccXXoxqCoi?  nrsQOig  ayäXXsrcci 
(Luk.  'AnoXoyCu  4). 


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Drittes  CapiteL 

Der  Mensch  als  Glied  der  Gesellschaft. 

I.   Sociale  Stellung. 

Dass  in  einer  Gemeinschaft,  die  so  streng  auf  ebenbürtige  Abstammung 
ihrer  Mitglieder  hielt  wie  die  der  Bürger  der  einzelnen  griechischen  Städte,  das 
Herkommen  dessen,  der  irgendwie  eine  Rolle  spielen  wollte,  unter  die  Sonde 
genommen  ward ,  ist  selbstverständlich.  Wie  sich  das  Resultat  dieser  Unter- 
suchung in  der  Sprache  darstellen  kann ,  mag  die  Behandlung  lehren ,  die  der 
Tragiker  Akestor  von  der  Komödie  zu  erdulden  gehabt  hat.  In  den  Vögeln 
meint  Euelpides ,  als  es  ihm  nicht  möglich  ist  den  Weg  zu  den  Geiern  zu 
finden  (30  ff.) : 

felsig  ydo,  (bvdoeg  ol  itagovxeg  iv  ÄöycoL, 

vÖ6ov  vo6ov{i£v  xr\v  evavxiav  Edxai ' 

6  pev  yccQ  (üv  ovx  döxbg  eiößtd^exav, 

r}[islg  de  cpvkr]i  xal  yevei  XL^icb^ievoi, 

döxol  [ist    aOxcbv,  ov  öoßovvxog  ovdevbg 
35     avETtroyLetf   ex  xfjg  naxoidog  ä{i(polv  rotv  Ttodolv, 

avx^v  [i£v  ov  [ilöovvt    exeivrjv  xi]v  %6\iv 

xb  [ir\  ov  tieydkrjv  eivai  cpv6ei  xevöai^iova 

xal  Ttäöi  xoivr\v  evanoxelöau  %QYßLaxa. 
Zu  Udxag  bemerken  die  Scholien:  Ovxög  eöxcv  'Axböxao,  xoaymdCag  7toiY\xx\g'  ixcc- 
Xelxo  de  xal  Udxag,    diu  xb  t,evog  eivai.     Theopompos    nennt   den  Tragiker    einen 
Mysier    (Schol.  Arist.  Wespen  1221) ,    bei   Metagenes    erscheint^  er    als   Udxag  6 
Mvöög  (ebenda): 

rSl  itoklxai  deivä  7tdc%G),  —    TCg  %oXixx\g  d'  iöxl  vvv 

nXr\v  dg    rj  Udxag  6  Mvöbg  xal  xb  KaXXCov  vö&ov) 
Das  Ethnikon  Zdxag  ist   also   von   der  Komödie    an  Stelle    des  bürgerlichen  Na- 
mens gebraucht ,  und  um  dem  Tragödienverfasser  das ,    was  sie  ihm  so  entzogen 
hat,  in  schönerer  Gestalt  wiederzugeben,  macht  sie  ihn  zum  Mvöög. 

Unter  den  vielen  Ethnicis,  die  in  der  Function  von  Eigennamen  stehn,   mag 
der  eine    oder    andre    den  gleichen  Weg  zurückgelegt  haben ,    den  Zldxag   in    der 
Komödie  zurücklegt.    Aber  nachweisen  lässt  sich  dies  in  keinem  concreten  Falle. 
Ein  Name,  in  dem  ganz  offenbar  das  Herkommen  bemängelt  wird,  ist 

'TnoßoXiiialog  Olymos  (Le  Bas-Waddington  no.  335). 


In    grösserem    Umfange    kann    der    Einfluss   des  Standes    auf  die  Namen- 
gebung  vor  Augen  geführt  werden. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  71 

Es  ist  bekannt  *),  dass  der  Spruch  "Egyov  d'  ovdev  oveidog,  degycrj  de  x*  ovei- 
dog ("Eoya  311)  in  spätrer  Zeit  nicht  mehr  in  Geltung  gestanden,  dass  vielmehr 
jeder  Art  von  Erwerbsthätigkeit  ein  Makel  angehangen  hat.  Den  Grund 
gibt  Sokrates  bei  Aelian  (VH  10.  14)  mit  den  Worten  an  :  rj  Aoyla  adeXyi]  xfjg 
'EXevfteoCag.  Die  Geringschätzung  trifft  namentlich  den  Handwerker  im  engren 
Sinne :  denn  die  ßavavöixal  xe%vai  xaxaXv^atvovxai  xa  öcj^taxa  xcov  xe  eoya£o{ie- 
vcov  xal  xcov  e7ti^ieXo^iev(DV  dvayxd^ovöai  xa&rjöd-ca  xal  öxtaxQacpelö^at ,  eviai  de 
xal  nobg  TtvQ  rj^iSQSvsLv.  Tobv  de  ecofidxcov  &rjÄwo(tivav  xal  at  ipv%ccl  %oXv  dg- 
QG>6x6xeQai  yCyvovxcu.  Kai  a<5%oliag  de  [idXiöxa  eyovöi  xal  yCXcov  xal  noXecog  övve- 
juiieketöd-ai  aC  ßavavötxal  xaXov^evai  (Xenoph.  Olxov.  4.  2,  ähnlich  Piaton  TLoXix. 
p.  495 d).  Es  ist  aber  zu  beachten,  dass  der  Künstler,  insofern  er  um  seinen 
ßiog  arbeitet,  nicht  höher  gewerthet  wird ;  daher  sagt ,  wenn  auch  mit  einiger 
Übertreibung ,  TJaideia  bei  Lnkian  (Evviiv.  9)  :  ei  de  xal  Oeiduag  tJ  üoXvxXeixog 
yevoio  xal  noXXä  d-av^iaöxd  e^egyaöauo,  xrjv  {iev  xeyyx\v  ditavxeg  e TtatveGovxai ,  ovx 
e'oxt  de  oöxig  xcbv  tdovxcov,  et  vovv  £%oi,  ev^aix  av  ö^iotog  6oi  yeveö&ai '  olog  yäo 
ccv  ijig,  ßdvavöog  xal  xeiocovat,  xal  aTto%eiQoßicdxog  vo(ii6d"rf6rii.  Bei  einem  Volke, 
das  so  urtheilt ,  wird  es  nicht  ausbleiben ,  dass  die  Verachtung  gelegentlich  -in 
Spitznamen  ausmündet.  Und  es  lässt  sich  zeigen ,  dass  dies  wirklich  ge- 
schehen ist. 

Aus  einer  Komödie  des  Kratinos  wird  der  Vers  überliefert  (Meineke  2.  194 
fragm.  52  3) 

UXr\v  BevLOV  vöfiotöi  xal  Hyroivicovog,  co  Xagcov. 
Mit  £%oivicov   ist    der  Komiker  Kallias    gemeint ,    von  dem  Suidas  berichtet ,    er 
habe  den  Spitznamen  Hyoivicov  erhalten   diä   xb   6%oivo%X6xov   stvat  itaxQog  (Mei- 
neke 1.  213). 

Ein  gleichzeitiger  Komiker,  Aristomenes,  führt  den  Übernamen  ®vQ07toiög. 
Sicher  wegen  seiner  oder  seines  Vaters  Beziehung  zum  Handwerke  (Meineke 
1.  210  ff.). 

Demosthenes  spricht  von  einem  xaxdgaxog  Kvgrjßtcov  (19.  207).  Wir  wissen, 
dass  Kvgrjßucov  nur  ein  Spitzname  ist :  Kvgrjßioov  enexaXeixo ' Enixgdxr\g  6  Afajfvow 
xov  grjxogog  xr\de6xr\g  (Athen,  p.  242  d).  Hierbei  denkt  gewis  jeder  an  den  Poli- 
tiker Eukrates,  der  es  der  Komödie  büssen  muss ,  dass  er  eine  Mühle  besitzt : 
Ritter  254  heisst  es  von  ihm 

aöiteg  Evxgdxr\g  ecpevyev  evd-v  xcbv  xvgrjßicov, 
und  die  Scholien  bemerken  dazu:    öxcbnxei,   de    xal  xbv  Evxgdxr\v    eng  xoiavxr\v  xe- 
%vy\v  e%ovxa.     'Ev  aXXoig  yovv  cpavegcoxegeog  cpr\öl 

Kai  6v  xvQr}ßio7iobXa  Evxgdxrjg  6xv7t7tah,2). 

Einen  ausgezeichneten  etymologischen  Witz  enthält  der  fingierte  Name  Tly\- 
Xevg  bei  Philetairos  (Meineke  3.  293) : 


1)  Die  in  diesem  Abschnitte    benutzten    Stellen    sind   den    Privatalterthümern    von   Hermann- 
Blümner  (389  ff.)  entnommen. 

2)  Urvnncc^  inccXsiro  diu  xb  6xvnn£ionmXr\<$  slvcci,  Schol.  Ritter  129.  5 


72  FRITZ    BECHTEL, 

IlrjlEvg;    6  IlrjXevg  <T  sötlv  övo[icc  xEga^scog, 

h,riQOv  XvyyoTtoiov,  Kav&dgov,  tievi%qqv  itdvv, 

äXX   ov  xvgdvvov  vi}  ZlCa. 
Der  Komiker  bringt  den  Peleus,   wie  mancher  moderne  Etymolog    der    es  ernst- 
hafter meint,  mit  jirjXog  in  Zusammenhang:  so  hat  er  es  leicht  vom  Gemahle  der 
Thetis  auf  den  Lampenfabrikanten  zu  kommen. 

Diese  Beispiele ,  die  den  vom  Handwerke  hergenommenen  Namen  in  der 
Function  des  Spitznamens  zeigen,  sind  lehrreich  für  die  Beurtheilung  andrer,  die 
den  gleichen  Ursprung  vermuthen  lassen ,  neben  denen  aber  ein  zweiter  Name 
nicht  überliefert  ist,  der  als  der  bürgerliche  gelten  könnte.  Als  solche  verdienen 
Erwähnung 

Styppax  Cyprius,  Künstler  zur  Zeit  des  Perikles  (Plin.  Nat.  Hist. 
34.  81;    vgl.  Mitth.  16.  153); 

Kegdfiav ,    reicher   Industrieller    bei  Xenophon  (Mem.  2.  7,  3),    ta- 
liCag  rolv  dsotv  (CIA  4  Suppl.  2  no.  8346  II 37); 

KvQrjßog,  vQTOTtoiog  bei  Xenophon  (Mem.  2.  7,  e) ; 

Mv Xco&gög ,    Vater    eines  &cogaxo7iOLog   Urecpavog  (CIA  4  Suppl.  2 
no.  611  b  24  ff.;    4.  Jahrb.); 

rgocpsvg,  d-v^sXoTtotog  in  Epidauros  (^Ecp.dgx.  1892.  73  124;  4.  Jahrh.). 
Der  erste  Name  ist,  wie  schon  Keil  ausgesprochen  hat  (Anal,  epigr.  et  onomatol. 
219),  identisch  mit  dem  von  Aristophanes  gebrauchten  Spitznamen  des  Politikers 
Eukrates.  Vermuthlich  also  ist  der  Vater  des  Künstlers  ein  6TV7i7teio7i(bXr)g  ge- 
wesen. Die  Namen  Ksgdficov  und  Kvgrjßog  könnten  ebenso  verkürzte  Composita 
vorstellen1),  sei  es,  dass  diese  wirklich  die  Geltung  von  Namen  gehabt,  wie 
'Eepdtoog  in  Pheneos  (CGC  Pelop.  196  no.  25;  146—31  v.  Chr.),  sei  es,  dass 
sie  als  Vollnamen  nur  vorgeschwebt  haben.  Und  da  wir  aus  Nikobulos  die  Zunft 
der  fivGtQLOTtiüAca  kennen  lernen  (Meineke  2.  852  fragm.  1 3),  so  könnte  der  S.  60 
erwähnte  Mvöxqcov  auch  einen  Löffelverkäufer  oder  eines  Löffelverkäufers  Sohn 
vorstellen  2).  Keine  Verkürzung  haben  jedesfalls  die  Namen  Mv Xco&gög  und,  wie 
ich  gegen  BKeil  (Mitth.  20.  420 x)  glaube,  rgoys-vg  durchgemacht. 

Wir  können  aber  noch  etwas  weiter  gelangen.  Einem  gewissen  Lamios  hef- 
tete die  Komödie  die  Spottnamen  6  üglav ,  6  üsXsxvg  an,  weil  er  als  armer 
Mann  vom  Holzmachen  leben  musste  (Meineke  4.  643  fragm.  156.  157).  Das 
Werkzeug  also,  das  der  Erwerbende  gebraucht,  wird  ihm  zum  Beinamen.  Von 
da  bis  zur  Verdrängung  des  bürgerlichen  Namens  durch  die  iiitxKri6ig  pflegt  es 
nicht  weit  zu  sein.  Ich  glaube  ein  paar  Beispiele  dafür  zur  Verfügung  zu 
haben,  dass  der  Schritt  wirklich  erfolgt  ist. 

H^ilUg  Bildhauer  aus  Aigina  (Paus.  7.  4,  4 ;   6.  Jahrh.)  ; 

1)  Kvgrißog  mit  ähnlicher  Reducierung  des  Stammausgauges  wie  "Aanlunos ,  'AanldTtav  neben 
'j6Y.Xani6-ö(üQOs. 

2)  Was  bedeutet  der  Name  Zxdcpcov'?  Ich  habe  ihn  aus  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,305; 
5.  Jahrh.),  Athen  ('Ecp.  ccq%.  1896.  27  no.  64),  Eretria  ('£9.  ccqz>  1895.   137  II 135. 136)  notiert. 

5 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS   SPITZNAMEN.  73 

Töq&v  Bildhauer  aus  Argos  (Mitth.  20.  213  no.  43). 
Neben   U^ilXcg   liegt  tffu'A^,   neben   Tögcw  liegt  töqov  ,    nach  Hesych  Bezeichnung 
eines  Xid-(oxoii)iKbv  öxevog.     Ist  es  Zufall ,    dass  Name    des  Künstlers   und  Name 
des  Instrumentes  in  so  enger  Beziehung  stehn?     Ist  es  keiner,  so  trägt  auch 

UfiiAav  auf  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  20  Iu;    3.  Jahrb.) 
seinen  Namen  darum,  weil  in  seiner  Familie  mit  der  Q\iiXr\ l)  gearbeitet  ward, 

rglnog  in  Delphi  (Smlg.  no.  2100  2,  2150  s;    1.  Jahrh.) 
den  seinigen  darum,  weil  er,  wie  der  Gripus  bei  Plautus,  mit  dem  yglnog  umzu- 
gehn  wusste  (Baunack  zu  der  ersten  Stelle),  und  vielleicht  auch 

Kdvcov   aus    Thespiai    (CIA   4    Snppl.  2    no.  1054^29,    B 13;   4. 
Jahrh.) 
den  seinigen  darum ,    weil   der    xavoav    zu   seinem  Handwerkszeuge    gehörte :    der 
Mann  der  angeführten  Urkunde    hat  die  Lieferung    von  Steinen  bestimmten  Um- 
fanges  übernommen  *). 

Die  Namen ,  die  einen  rein  geistigen  Beruf  zur  Voraussetzung  haben ,  sind 
dünn  gesät. 

Semos  bei  Athen,  p.  622b  berichtet  von  den  Stegreifdichtern,  die  zuerst  ccvto- 
xccßöccXoi,  später,  wie  ihre  Gedichte,  lapßoi  genannt  worden  seien.  Nun  kennen 
wir  den  Namen  "Ia{ißog  als  Beinamen  des  Grammatikers  Dionysios  durch  Athe- 
naios  (p.  284b).  Aber  auch  als  Namen  des  Vaters  eines  Schauspielers,  der  im 
2.  Jahrh.  zu  Iasos  aufgetreten  ist: 

Evxkijg  'Iapßov  (Le  Bas-Waddington  no.  284). 
Ohne  Zweifel  hatte  'la^ißog  selbst  zur  Zunft  der  ta^ißoi  gehört  und  von  ihr  seinen 
Namen  empfangen. 

Die  Geringschätzung  gegen  den  bezahlten  Lehrerberuf  kommt  zum  Aus- 
drucke in  der  Schaffung  des  Namens 

Ji8a6xak6vöag  6  KQrjg  (Polyb.  16.  37, 3 ;    3.  Jahrh.). 


Wer  der  Notwendigkeit  sich  den  Lebensunterhalt  zu  beschaffen  enthoben 
sein  wollte ,  musste  über  ausreichendes  Vermögen  verfügen.  Daher  die  Wert- 
schätzung des  Besitzes,  und  die  Verachtung  der  Armuth:  IlsvCa  ö3  ati[iov  xccl 
xbv  evysvYj  noui  lautet  ein  Spruch  des  Menander.  Die  Verachtung ,  in  der  der 
Arme  steht,  kann  auch  aus  der  Namengebung  constatiert  werden.  Sie  ist 
wahrzunehmen  in 


1)  die  übrigens  eine  weite  Bedeutung  hat;  vgl.  z.  B.  Herond.  7.  119  ei'  xig  ngbg  i'%vog  tj-ko- 
V7jfff  xj]v  G\il\r\v,  vom  6HVX£vg. 

2)  Die  Erklärung  ist  nicht  sicher.  Bei  Hippokrates  (Tlsgl  ätgav  24)  heisst  es :  ....  ovxoi 
de  (isydloL  (isv  ovh  av  hir\6av  ovds  %avovlait  ig  svgog  ds  7ts(pvn6xsg  neu  aag-Kmössg.  Und  AP 
11.  120  lesen  wir  von  einem  Buckligen,  der  mit  Gewalt  gerade  gemacht  werden  sollte: 

xs&vri-xEv,  yiyovsv  &   ÖQ&oxsgog  Kuvövog. 
Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  6.  10  5 


74  •  FEITZ    BECHTEL, 

Exixav  Sklave  des  Demokies  aus  Kroton  (Herod.  3.  130;  6.  Jahrh.) ; 
xvccyevg  xig  xal  evxeXrig  iitl  itovx\Qiai  xanaidoviievog  (Schol. 
Aristoph.  Ritter  635) ; 

AaßeiQog  Thespiai  (IGS  1  no.  1888  «io;  5.  Jahrh.). 
Zur  Erklärung  des  ersten  Namens  besitzen  wir  nur  die  dürftige  Notiz  des  Pho- 
tios:  öxixcov  (überl.  öxixav)'  ccö&Evrjg'  ä^tog  ovdevög'  ovrco  0SQ6XQccxrjg.  Man 
bringt  das  Wort  seit  alter  Zeit  mit  den  ZxixuXol  zusammen ,  die  der  Wurst- 
händler mit  andern  Genien  der  ävaiösia  anruft  (Ritter  635).  Ob  mit  Recht,  muss 
unentschieden  bleiben.  —  Besser  sind  wir  mit  dem  zweiten  Namen  daran.  Er 
muss  aus  dem  Sprichworte  gedeutet  werden,  das  in  verschiednen  Variationen 
umgelaufen  ist.  In  der  Recension  des  Zenobios,  die  Miller  entdeckt  hat,  er- 
scheint es  in  der  Gestalt  nxcj%6xsQog  XsßriQidog  und  wird  so  interpretiert:  'Eni 
xav  7cdvv  7tsvi]t(DV  xccl  äöd'svcbv  El'QrjTcci  r\  Ttagoifiicc '  XeßrjQLg  yäg  xov  ocpecog  tb 
yfjQccg  dödsveg  xal  a%Qr}6xov  xal  xevöv  (Melanges  354).  Ein  Mann  also,  dem 
Nichts  gehört,  wird  dem  abgestreiften  Schlangenbalge  verglichen,  in  dem  nur 
die  Löcher  für  die  Augen  sitzen.  Die  Form  des  Namens  macht  keine  Schwierig- 
keit :  zu  IsßriQig  verhält  sich  Aeßr\Qog  wie  der  Name  des  Künstlers  KevxQcc^iog 
(44)  zu  xsyxQa^iig. 


Für  die  Leute,  die  kein  Herkommen  oder  keine  vornehme  Lebensthätigkeit 
oder  kein  Geld  oder  überhaupt  Nichts  haben ,  besitzt  die  Sprache  die  Gattungs- 
bezeichnung övQcpEtog,  6vQ(pcc£.     Zum  Kehricht  also  gehörte 

2JvQ(pa£,  Ephesos  (Arr.  Anab.  1.  17, 12 ;    4.  Jahrh.). 
Vielleicht  wohnt  der  gleiche  Sinn  dem  Namen 

Mofrnv  Branchidai  (Anc.  Gr.  Inscr.  no.  924  C  40 ;   der  Vater  heisst 
BaöiXldrjg) x) 
inne  :  {töd-cov  ist  in  Sparta  der  Sohn  des  Vollbürgers  mit  einer  Helotin,   also  ein 
minderwerthiger  Mann,  dessen  Bezeichnung  für  Aristophanes  schon  den  Sinn  von 
tpival  hat  (Plut.  279). 


II.   Lebensführung. 

Die  Gemeinschaft,  deren  Mitglied  der  Einzelne  ist,  verlangt  von  ihm,  dass 
er  sich  nach  der  jeweils  herrschenden  Weise  bei  Einrichtung  seiner  Lebensfüh- 
rung richte.  Erlaubt  er  sich  seinen  eignen  Geschmack  zu  haben,  so  setzt  er 
sich  der  Gefahr  aus  die  Selbstständigkeit  durch  einen  Spitznamen  bescheinigt  zu 
erhalten. 

Die  Abnormität  kann  in  dem  Zuschnitte  der  gesammten  Lebenseinrichtung 
wie  in  einzelnen  Liebhabereien  gefunden  werden. 


1)  Der  bei  Paus.  2.  22,7  überlieferte  Mo&mv  hat    leider  nicht  Stich  gehalten:    Löwy  Inschr. 
griecli.  Bildhauer  no.  66. 


GKIECII.   PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  75 

Perikles  rühmt  seinen  Landsleuten  nach  ,  dass  sie  es  verstünden  (piXoxaXelv 
Her'  evteXeiag.  Einfache  Eleganz  gilt  in  den  besten  Zeiten  des  Griechenthums 
als  Norm  der  Lebensführung.  Nach  zwei  Seiten  hin  wird  gegen  sie  Verstössen: 
die  Eleganz  emancipiert  sich  von  der  Einfachheit,  und  die  Einfachheit  versäumt 
sich  die  Eleganz  zur  Begleiterin  zu  wählen. 

Die    der    Einfachheit    entkleidete    Eleganz    führt  zur   Schwelgerei.     Von 
schwelgerischem  Lebenswandel  sprechen  die  Namen 
Qißgog  Kyzikos  (Mitth.  10.  205); 

®lßga%og  Polemarch   der   Lakedaimonier    (Xenoph.  Hell.  2.  4,  33) ; 
SCßgav  Harmost  der  Lakedaimonier  (Xenoph.  Hell.  3.  1,  4),  Thes- 
salien   (CIA  2  no.  8810,    vgl.  Smlg.  no.  326  II 12),    Koch  in 
Athen  (Meineke  4.  589). 
Die  Scholien    zu    Nik.  Ther.  33    führen    aus  Kallimachos   ftißQrjg  Kvitgtöog  ccq[io- 
vcrjg  an,    aus  Euphorion  d-ißg^v  zs  Us^lqcc^ilv.     Bei  Hes.  die  Glossen  &Lßgrjv '  <pi- 
Xöxoö^iov,  aßgvvtixrjv  (dggvvt.  cod.),  v7t£Qij(pccvov,  xaxa(pagf\,  xal  &QCC6SLCCV;    ftißgov 
tgvyegöv.   xaXov.  ös^ivöv.  aitaXöv. 

Bavxog  Eretria  (E<p.  dg%.  1895.  135  Ig); 
Bavxtg  Trozen  (Paus.  6.  8,4;    4.  Jahrb.); 
Bavxidsvg  ex  Ksga^scov  (CIA  2  no.  1620  d  Add.) ; 
Bavxcjv  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  22 ;    5.  Jahrb.). 
Araros  verbindet   im  Ka^TCvXiav  (Meineke  3.  275)    ßavxd,    paXaxd,    tEgnvd,   rgv- 
(pEQa.  —  Bccvxidevg  wie  Maiaösvg  bei  Hipponax  (fragm.  16;    vgl.  Fick  Beitr.  11. 
266),  'EgatLdsvg  Anacreont.  33.  13. 

MdXaxog  Mccxedcov    (IGS  1  no.  414  10;    4.  Jahrh.),  Andres  (Mitth. 

1.  236  2),  Verfasser  von  agoo  ZicpvC&v  (Athen,  p.  267  a); 
MaXdxcjv    'HgaxXEcbrrig .     vnb    UeXevxcol    rarrö^isvog   (Memnon    bei 
Müller   Fragm.  Hist.  Gr.  3.  532) ,    Henkel   unbekannten  Ur- 
sprungs (Becker  Jahrb.  f.  Phil.  5.  471  no.  47). 
Vgl.  6  ^aXaxbg  'AnoXXcbviog  Strabon  p.  660. 

XXidcov  Theben  (Plut.  Pelop.  8;  4.  Jahrh.),  didxovog  eines  &Ca6og 
zu  Trozen  (BCH  17.  i20  no.  35  e). 
Vgl.  Plat.  Symp.  p.  197  d  tgvcpr^g,  aßgötrjTog,  ^/Udrjg,  %agi%Giv^  [[isqov,  7töd-ov  nar^Q. 
Tgvcp&v  etwa  von  der  Mitte  des  2.  Jahrh.  an;  die  ältesten  mir 
bekannten  Belege  sind  BCH  11.87  1s  (Apollonis ;  vielleicht 
noch  aus  dem  2.  Jahrb.),  IGS  1  no.  3224  II 8  (Orchomenos). 
Den  Beinamen  6   Tgvcpcov  führte  der  vierte  Ptolemäer. 

Zum  Luxus  der  Lebensführung  ward  bei  Männern  der  Gebrauch  wol rie- 
chender Salben  gerechnet.  Als  Zeugnis  dafür  kann  das  Verhalten  des  So- 
krates  (Xenoph.  Symp.  2.  2  f.)  gelten,  der  das  Gewähren  des  {ivgov  mit  den 
Worten  ablehnte:  üötcsq  ydg  toi  eö&i]g  dXXr\  \lev  yvvaixi ,  aXXr\  de  dvögl  xaXrj, 
ovreo  xal  ö<5{Lrj  dXXr\  \k\v  dvögt,  aXXr\  da  yvvaixl  ngiiiEi.  Kai  ydg  dvdgbg  pev  drf- 
nov  evexa  «1/1)9  ovdelg   {ivgcji  xQ^£TCCl-  •  •  •     Der   dgEOxog  ist   nach  Theophrast    an 

18  10*  r 


76  FRITZ    BECHTEL, 

der  Gewohnheit  kenntlich  nXuGxaxig  äjcoxeiQccöd-cci  xal  xovg  ödövxag  Xevxovg  £%eiv 
xal  xä  [[idtia  de  ^pr^ra  ^ExaßäXXeöQ-av  xal  iQi6\Lax  i  äXsccps  iv  (Charakt.  5.  6). 
Namen  also,  die  eine  Anspielung  auf  den  Gebrauch  von  Salben  enthalten,  dürfen 
unbedenklich  als  ehemalige  Spitznamen  betrachtet  werden. 

In  erster  Linie  gehören  hierher  die  Namen,  die  auf  das  Wort  iivqov  aufge- 
baut sind. 

Mtgcov  Sikyon  (Herod.  6.  126;    7.  Jahrh.),  QXvetig  (Plut.  Solon  12), 
Boichxiog  ij  'EXsv&eqqov  (Polemon  bei  Athen,  p.  486  d),  IJqit]- 
vsvg  (Athen,  p.  271  f) ; 
MvQcovidrjg  seit  dem  5.  Jahrh.  in  Athen  (Thuk.  1.  105,  4),  Mvqoo- 

viöag  Epidauros  (Ecp.  lxq%.  1892.  76  130)  ; 
Mvgtg  Rhodos  (IGI  1  no.  799,  800;  4./3.  Jahrh.). 
Nach  Theophrast  (üegl  böpcbv  6.  27)  "Aitavxa  Gvvxi&evxat,  xä  hvqcc,  xä  phy 
äri  av&cbv,  xä  ds  äitb  (pvXXoov,  xä  de  äitb  xXcovög,  xä  d'  änb  Qc^rjg,  xä  tf  äitb  £v- 
Xcov,  xä  <f  äitb  xccQTtov,  xä  ö'  äitb  daxgvcoy.  Die  Blüthe  enthält  xb  qoölvov  xal 
xb  Xevxoivov  xal  xb  6ov6ivov  .  .  .  .,  exi  de  xb  6L6v[ißQcvov  xccl  xb  bqtcvXXivov ,  xccl 
7]  xvitQog  xal  Ttgbg  xovxoig  xb  xqoklvov.  Diese  Stelle  verbreitet  nicht  nur  Licht 
über  Frauennamen  wie  IJLöv^ißQiov ,  'EQTtvXXcg,  sondern  auch  über  den  männ- 
lichen Namen 

ZJtövtißQivog, 
den  der  Vater  des  Lasos  von  Hermion  geführt  haben  soll  (Aääog  XccqiiccvxCöqv 
rj  Etßv^ßQivov  %  hg  'Agtexö^eyog,  XaßgCvov  • EQiiiovevg,  Diog.  Laert.  1.  1,  u),  der 
aber  sicher  nur  Spitzname  gewesen  ist  (Crusius  Unters,  zu  d.  Mimiamben  d. 
Herondas  46***).  In  die  Atmosphäre  der  Dame  2Ji6v[ißQiov  passen  vorzüglich 
die  Ahnen  des  itogyoßoGxog  Battaros,  Grossvater  Utöv^ißgäg  und  Vater  Hi6v\i- 
ßgiöxog  (Crusius  a.  a.  0.). 

Weiter  müssen  hier  die  Leute  erwähnt  werden,  als  deren  Ideal  der  Parasit 
Demokies  gelten  kann,  der  uns  durch  Anaxandrides  (3)  vorgestellt  wird : 

XiitccQbg  7tSQi7tax6t  zJr}{ioxXrjg,  £a{ibg  xccxav6{icc6xcci. 
Als  solche  Fettbrühen  können  bezeichnet  sein  r) 

ACnccQog    Thespiai  (IGS  1  no.  1888  ci;    5.  Jahrh.) ,   Keos  (Pridik 
De    Cei    ins.    reb.    160    no.    39) ,    Orchomenos    (ebenda    no. 
3179  25)  ; 
Al71ccqlcov  Alkccqov  Keos  (Pridik  a.  a.  0.);    4.  Jahrh.; 
Ai7iaQ(ov  Kvdcc&rjvcaevg  (CIA  2  no.  1024  15  ;    4.  Jahrh.). 

Der  entgegengesetzte  Fehler  ist  der  Mangel  der  (piXoxccXCcc ;  sein  Resultat 
kann  schmutzige  Lebensweise  sein.  Dieser  Art  sich  mit  dem  Tage  ab- 
zufinden sind  einige  recht  deutliche  Namen  gewidmet. 


1)  Den  Namen  der  nächsten  Sippe  ist  nicht  anzusehen,  wie  weit  sie  tadelnden  Sinn  haben. 
Sie  können  sich  inhaltlich  auch  mit  ZyqCyuiv  (Thespiai,  IGS  1  no.  1888/"  10)  berühren,  einem 
Namen,  der  nach  Arist.  Lys.  80  ebg  8'  sv%Qoetg,  ä>g  Sh  6cpQiy&i  tö  6ä>[ici  aov  zu  deuten  ist. 


GRIECH.   PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  77 

OÖQvg  MeXixevg  (CIA  2  no.  7986  34;    4.  Jahrh.),  Eretria  ('Ey.  ccqx. 
1892.  137  9); 

OögvXXog  Thasos  (Thas.  Inschr.  no.  5  8 ;    5.  Jahrh.) ; 

Oogv6xog  Asvxovoisvg  (CIA  2  no.  1001  9),  Orchomenos  (IGS  1  no. 
2724  6 ;    3.  Jahrh.);     . 

OoQvöxcdrjg  Athen  (CIA  2  no.  986  II 25;    4.  Jahrh.); 

&ogv6xccg  Tanagra  (IGS  1  no.  530  1;    3.  Jahrh.). 
Der  Namenreihe  liegt  das  Wort  (pögvg   zu  Grunde,    das    aus    der  Glosse  (pÖQvg ' 
dccxxvXiog    6    xaxä  xr)v  edgav  (Hes.)  bekannt   ist.     Oogv6xag   ist  formell  Nom.  ag. 
zu  yogvco  (vgl.  cpogvxög). 

Ebenso  kräftig  redet  eine  zweite  Namensippe : 

KÖ7tQ(ov    Halikarnassos    (Dittenberger   Syll.   no.  6c 7;    5.  Jahrh.), 
Iasos  (Ion.  Inschr.  no.  104  16) ; 

Ä(5jr(H£Me]os(Mitth.  1.248no.9;  4.  Periode  des  melischen  Alphabets). 
So  kräftig,  Jass  noch  auf  einer  späten  Grabschrift  (Kaibel  no.  313),  an  die 
WSchulze  (Hermes  27.  31)  erinnert  hat,  eine  Dienerin  sich  entschuldigt  Koitgicc 
geheissen  zu  haben: 

Ovvo^ia  [iev  Maxexcug  £itL%(Aigiov '  ovvexa  n£[Mpfrrj 

firjöh  evC '  KoTtQiav  {i    (bv6[icc(jav  ysvixai. 
Im  Unklaren  über  seinen  Werth  kann  auch  der  nicht  gewesen  sein,  der  zu- 
erst den  Namen 

MbXoßgog  Sparta  (IGA  no.  696 B|  Thuk.  4.  8,7) 
geführt   hat.     Das  Adjectivum    poXoßgög   wird   in    der  Odyssee    zweimal   (g  219, 
6  26)    vom   schmutzigen  Bettler    gebraucht.     Was   es    bedeutet ,    kann    man   von 
Nikander  lernen.     Von   der  Pflanze  %cc{iccLXeog   heisst   es  Ther.  662 

lisöör}  d'  sv  xscpaXrj  dvexcu  7CsdÖ£66cc,  {loXoßgrj. 
Das  Haupt  der  Pflanze  verbirgt  sich  unter  den  Blättern  und  liegt  auf  der  Erde 
(7ted6s66a  vom  Scholiasten  mit  %a^ai%exy\g  erläutert).  Darum  ist  es  schmutzig, 
ganz  wie  das  Thier  schmutzig  ist,  dessen  Junge  poXoßgia  heissen :  xtbv  8e  äygicov 
vcbv  tä  xixva  poXoßgict  6vo^icc^ov6lv  '  äxov6stag  d3  av  xov  rl7t7t(hvaxtog  xal  avxbv  xbv 
vv  ^oXoßgtxr}v  Ttov  (fragm.  77  B.)  Xiyovxog  (Ael.  liegt  ^cbtcov  7.  47) l).  Und  wie 
das  Pflanzenhaupt  schmutzig  ist,  weil  es  ya\mnttxi\g  ist,  so  ist  das  poXößgiov 
schmutzig,  weil  es  das  Sprichwort  'Tg  iv  ßogßögcot  üXv6itaxai  nicht  Lügen  strafen 
will.  —  Der  Vater  des  MbXoßgog  heisst  : 'Enixadrig ;  er  scheint  als  Widerpart 
seines  Sohnes  gedacht  zu  sein. 


Speisen  und  Getränke  unterliegen  ebenfalls  dem  wachsamen  Auge  der 
Gesellschaft.  Man  gibt  dem  Menschen  einen  Namen  nach  dem,  was  er  gerne  zu 
sich  nimmt. 


1)  Aus  dieser  Stelle,   die  aus    des  Aristophanes  Schrift  liegt  övo^aaiag  tjXl-ki&v  stammt  (vgl. 
Miller  Mel.  431),   hat  zuerst  Düntzer  (KZ   14.  197)   für    die  Erklärung    des    homerischen    (10X0^ 
Nutzen  gezogen. 


78  .  FRITZ    BECHTEL, 

Die  Freude  an  Leckerei  soll  getroffen  werden  durch  den  Namen 

Xvcciddrjg  6  naXkrjvsvg  (CIA  4  Suppl.  1  no.  373 2*3). 
Denn   Xvaiddrjg  gehört   ohne  Zweifel  zu  ivavco,    xvccv^ia,   %vavQog,   in  denen    das 
Behagen    an  der  Leckerei   überall   zum  Durchbruche  kommt.     Man    ermesse    das 
Wolgefühl ,    womit  der  Berichterstatter  bei  Ephippos  seine  Erlebnisse  schildert: 

L'xqlcc,  TQuyruiax    fas,  JcvQa^iovg,  cc^rjg, 

Guobv  ixax6{ißr}'  ndvxa  xavx^  iyyavo^Ev 
(Meineke  3.  327  f.). 

Mehrfach  wird  von  Leuten  berichtet ,  denen  aus  ihrer  Lieblingsspeise 
ein  Spitzname  erwachsen  ist.  So  führt  der  Komiker  Piaton  dem  Publicum  einen 
Tlavxixx\g  vor,  der  nach  der  tl>f}xxcc  genannt  war  (Meineke  2.  652),  und  der 
Staatsmann  Kailimedon  war  nicht  nur  darum  für  den  Übernamen  Kdgaßog  reif, 
weil  er  schielte,  sondern  auch  darum,  weil  zu  den  Thieren,  für  die  er  eine  zärt- 
liche Hinneigung  verspürte ,  der  xdgaßog  gehörte  (24).  Man  sieht ,  dass  damit 
eine  neue  Quelle  von  Spitznamen  aufgefunden  ist.  Wer  z.  B.  den  Namen  Uxdgqg 
deuten  will,  der  muss  nicht  nur  mit  der  Möglichkeit  rechnen ,  dass  Mensch  und 
Meerpapagei  wegen  einer  äusserlichen  Ähnlichkeit  (Ol'dccg  Uxdgsiog  Smlg.  no. 
345  72) *)  gleichgesetzt  worden  seien,  sondern  auch  mit  der  ,  dass  der  Mann  den 
Namen  des  Thieres  empfangen  habe,  nach  dem  ihn  gelüstet: 

el  $  elaßov  ScQXiCjg  öxdgov,  iq  'x  trjg  ^Axxixr\g 

ylavxiöxov,  (b  Zav  ö&xsq,  tj  '£  "Agyovg  xoctiqov, 

ij  "x  xr\g  Ucxvcbvog  xrjg  (pCkrig  ov  xoig  fteolg 

(pBQEi   noösiöcbv  yöyygov  eig  xbv  ovqccvöv, 

aitavxsg  oC  (payovxeg  sysvovx'  av  fteoC 
lässt  Philemon  einen  Koch  sagen,  der  doch  seine  Leute  kennen  musste  (Meineke 
4.  27  20  ff.). 

Das  normale  Getränk  der  Hellenen  war  bekanntlich  der  gemischte  Wein. 
Wer  Wasser  trank,  fiel  auf,  und  erweckte  bei  seiner  Umgebung  wenig  Zu- 
trauen : 

"Töcoq  de  rtLvcjv  ovdhv  av  xsxot  öoopov 
heisst  ein  zum  Sprichworte  erhobner  Vers  des  Kratinos  (Meineke  2.  119  fragm. 
6).  Eine  -lange  Liste  von  vögoTtoxat  hat  Athenaios  zusammengestellt.  In  ihr 
findet  man  die  schöne  Contrastierung  des  Demosthenes  und  Demades  (p.  44  f), 
zu  der  man  die  ebenso  schöne  bei  Demosthenes  (19.  46)  fügen  kann :  'Eita- 
vaöxdg  d'  6  <X>LXoxQccxrjg  fiaA'  vßgLöxixcog  Ovdev,  £<pvi,  &avfia6tbv  ä)  avögsg  ^A\tv\- 
vaioi,  {ir}  xavx"1  ifiol  xal  Ax\\io(5\fiv&i  öoxelv  ovxog  {lsv  yäg  vöcjq,  syco  ff  olvov  7tivco. 

Die  Komödie  setzt  nun  die  Wassertrinker  den  Fröschen  gleich.    Bei  Phere- 
krates    (Meineke  2.  282  fragm.  4)   gibt   eine   Schöne    der  Weinschenkin ,    die   ihr 
ovo  vdccxog  7tgbg  xexxccQag  oi'vov  gegossen  hat,  den  entrüsteten  Rath 
eqq1  ig  xoQccxag'  ßaxQcc%0L6LV  olvo%oslv  Cs  del2). 

1)  So  nach  WSchulzes  Lesung  (Hermes  27.  31). 

2)  Vgl.  BaxQä%G)i  vdcoQ  Zenob.  2.  79. 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  79 

Und  der  Adept  des  Pythagoras  bei  Aristophon  (Meinekeg3.  360  f.)  wird  als  ein 
Mann  geschildert,  der  vdayg  de  nivuv  ßdxoccxog  sei.  So  gewinnen  wir  Einsicht 
in  die  Bedeutung  l)  des  seit  dem  5.  Jahrh.  nachweisbaren  Namens 

Bodxuxog   Halikarnassos  (Dittenberger  Syll.  no.  6^29),    Bgoxaxog 

roQtvviog    (Simonides   fr.    127),    Ephesos    (Anc.    Gr.    Inscr. 

no.  454 1) ,    Pantikapaion    (Ion.   Inschr.   no.    117),   BatQa%og 

Athen  (Lys.  12.  48  und  sonst)  ; 

BaxQa%i(x)v  Koch  in  Larisa  (Luk.  Ilgbg  xov  ditcaö.  21 ;    3.  Jahrh.). 


Der  Anhänger  sitzender  Lebensweise  bekommt  den  Spottnamen 

JupQidccg  Feldherr  der  Lakedaimonier  (Xenoph.  Hell.  4.  8, 21). 
Fick  (Curt.  Stud.  9.  176)  verweist    auf  die  Glosse  8C(pQig'    6  sögatog,    xal  xa&rj- 
{isvog  asi,   olov  dpyög  (Hes.) ;    vgl.  die  vulgäre  Redewendung  ^dXitevv   xov  diyoov 
bei  Herondas  (1.  37). 


Endlich  unterliegt  Alles,  was  zur  äussren  Ausstattung  gehört,  der 
Kritik :  die  Haartracht,  die  Art  sich  zu  kleiden  und  zu  bewegen. 

Die  Haartracht  hat  den  Ausschlag  gegeben  bei  Schaffung  der  Namen 

KCxvv{v)og    Thera    (7.   Jahrh.;   mitgetheilt    von    Dr.    Hiller    von 
Gärtringen). 
Vgl.  Aristoph.  Wespen  1067  ff. 

cjg  iycj  xov^ibv  vo{ll£g) 
yfJQccg  elvai  xqeZxxov  r)  jroA- 
Xcbv  xixvvvovg  veciVL&v  xal 
6%i}{ia  xevQVTCQCoxtCav. 
Da  schon  Pherekrates  (Meineke  2.  355  fragm.  67)  ~Sl  %av$oxdxoig  ßo[6]xQvxoi(5i 
xop&v  verbindet,  Euripides  (Phoin.  1485  f.)  von  einer  ßoxQvxcbdrjg  TtaQ^tg,  Apollo- 
nios  (2.  679)    von   Ttkoxpol  ßoxgvösvxsg   spricht,    so   liegt   die  Vermuthung   nahe, 
dass   der  Name  Böxovg  Leuten   mit  Locken  gegeben    worden   sei.     Aber  Verbin- 
dungen wie  Bgöfiiog  Boxgvog  (CIA  2  no.  3561),  BöxQixog  Jiovvölov  (Kos;    Smlg. 
no.  3624  c  70)  weisen  in  eine  ganz  andre  Richtung. 

Koaßvlog   Dichter   der   neuen    Komödie    (Meineke  1.  490  f.) ;    die 
Heimath    andrer   KoaßvXoi,    so    eines    CIA   2   no.  3884   er- 
wähnten xQyä'toSj  ist  nicht  zu  bestimmen. 
KgoßUog  Delos  (BCH  7.  331). 
Der    Redner    Hegesippos    von    Athen    führte    den    Spitznamen    KoaßvXog.      Bei 
seinem   politischen  Gegner  Aischines    wird    er   bloss   mit   diesem    genannt.     Vgl. 
Schol.  Aeschin.  1.  64  KocoßvXov  xccXet  xov  ddekybv   xov  'HyrjödvdQov  xov  rHyrj6i7i- 

Eine  andre  folgt  daraus,  dass  der  Frosch  nur  Wasser  trinkt.  Sie  ist  bei  Piaton  Theait.  p. 
161c  erkennbar:  rjfistg  P^v  avtbv  a>07iSQ  &EÖV  ed-avpdfrfiEv  snl  cocpCai,  6  d'  ccqu  srvyxccvsv  cav 
ft's  cpQ0vr\6iv  ovösv  ßeXticov  ßargdxov  yvqCvov.  c 

1    6    * 


80  .  FRITZ   B  ECHT  EL, 

nov  rbv  piöoyiXntTiov ,  xcc&a  avrbg  ^Xaicps  zv\v  xecpaXrjv  xal  icptXoxdXsL  tag  tgC%ag. 
Über  das  Verhältnis  des  Haarschopfes ,  den  der  Redner  dieser  Nachricht  zu 
Folge  trug,  zum  altattischen  KgcjßvXog  äussert  sich  Studniczka  (Jahrb.  d.  Instit. 
11.  256)  so:  »Empfieng  Hcgesippos  den  Spitznamen  6  KgcoßvXog  wirklich  von 
seiner  Haartour,  dann  hat  das  Wort  damals  gewiss  eine  andere  bezeichnet ,  als 
bei  den  Marathonkämpfern«. 

Ein  Synonymum  von  xgcoßvXog  ist  xögv^ßog]  es  bildet  die  Grundlage  der 
Namen 

KÖQV[ißog  ZiXavcb  Messene  (BCH  5.  152  17  f. ;    gute  Schrift) ;    Grab- 
schrift auf  Telos  (Smlg.  no.  3494),  Elis  (Olympia  5  no.  59  5), 
Aphrodisias  (CIG  2  no.  2843  3 ;  s.  unter  Käitog),  auch  sonst 
in  der  Kaiserzeit  häufig; 
Kogvpßlag   AltaXög   (Dittenberger  Syll.    no.  404  35 ;    3./2.  Jahrh.). 
Das  Wort  scheint  aus  Ionien  zu  stammen,    »da  es  nicht  nur  der  Pontiker  Hera- 
kleides   gebraucht ,    sondern    schon    Xanthos    mit   xö\^r\   xsxogv^ißcj^Evrj   und  .... 
auch  Asios  mit  den  goldenen  xogv^ißat,   d.  h.  Fesseln  des  xögvpßog,  voraussetzt« 
Studniczka  255. 

Ein  drittes  Wort,  das  für  das  Wörterbuch  der  Spitznamen  Bedeutung  ge- 
wonnen hat,  ist  öxöXXvg,  die  östgä  rgL%cbv ,  die  stehn  bleibt,  wann  der  Ephebe 
sein  Haupthaar  dem  Gotte  darbringt  (vgl.  Athen,  p.  494  f).  Nicht  nur  der 
Bergname  UxöXXig  geht  von  ihm  aus,  sondern  auch 

UxöXXog  in  UxöXXatog  Pharsalos  (Smlg.  no.  327  A  5). 
Der  Name  könnte  einen  Kahlkopf  verhöhnen,    dem   gerade   noch    ein  öxöXXvg  er- 
halten geblieben  ist. 

Weiter  kommt  xövvog  in  Betracht.  In  zusammenhängender  Rede  ist  das 
Appellativum  nur  aus  dem  Lexiphanes  des  Lukian  nachweisbar:  xal  yäg  ov 
xi]7itov ,  dXXä  öxdcpiov  exexdg^irjv  cog  ccv  ov  Ttgb  TtoXXov  rbv  xövvov  xal  xr\v  xogv- 
(patav  anoxsxoiirixcDg  (§  5).  Aus  dieser  Stelle  ist  wenigstens  das  ersichtlich,  dass 
xövvog  das  Haar  an  einer  bestimmten  Partie  des  Hauptes  bezeichnen  muss.  Von 
den  beiden  sich  widersprechenden  Erklärungen,  die  bei  Hesych  gegeben  werden 
(xövvog'  6  ncbycov,  ij  imr\vy\  und  xovvocpögov  öxoXXv cpögcov) ,  kommt  also  die 
zweite  dem  Sprachgebrauche,  den  Lukian  nachahmt,  näher  als  die  erste,  für  die 
bisher  die  Beglaubigung  fehlt.  Wenigstens  annähernd  können  wir  also  den 
Sinn  errathen,  der  den  ziemlich  alten  Namen  inne  wohnt: 

Kövvog  6  xid-agcötrjg ,    bg    £fie  diddtixei  exi  xal  vvv  xi&agit,£LV  (So- 
krates    bei    Plat.    Euthyd.    p.    272  c),    Styra    (Ion.    Inschr. 
no.  19, 224); 
Kovväg  verhöhnt  von  Kratinos  (Mein.  2.  222  fragm.  143); 
Kovvlcov  Kolophon  (CGC  lonia  37  no.  9;   4.  Jahrh.). 
Diese  Gruppe  von  Namen  wirft  auch  auf  eine  Sippe  Licht,    die  bisher  ganz 
abweichend  beurtheilt  worden  ist: 

Känog  Thespiai  (IGS  1  no.  1888c  1;   5.  Jahrh.); 
Krjnig  Athen  (Plat.  Protag.  p.  315  c); 


GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  81 

KanCcav,  seit  dem  3.  Jahrh.  sehr  verbreitet  in  Böotien  (vgl.  IGS 
1.  782),  Krintcov  Eretria  ('Etp.  aQx.  1895.  138  III  u2); 

KdTtov,  seit  300  v.  Chr.  verbreitet  in  Böotien  (vgl.  IGS  1.  782). 
Im  Namenbuche  sind  diese  vier  Namen  als  Verkürzungen  eines  zweisilbigen 
Namens  aufgefasst.  Da  aber  der  einzige,  der  bisher  bekannt  geworden  ist,  <&i- 
Aöxccrtog,  der  Aurelierzeit  angehört  und  durch  die  Verbindung  mit  KÖQv^ißog 
(&iA6xcc7tog  Oikoxdnov  xov  KoQvpßov  CIG  2  no.  2843  3)  selbst  Beziehung  zu 
einer  bestimmten  Haartracht  erhält,  so  scheint  es  sich  um  lauter  einstämmige 
Namen  zu  handeln ,  zu  denen  das  Tragen  des  xrjitog  Veranlassung  gegeben  hat. 
Zum  xr\%og  vgl.  Schol.  zu  Aristoph.  Vög.  806:  Avo  de  el8r\  xovgäg,  Gxdcpiov  xccl 
XY\7tog.  Tb  (isv  ovv  6xd<piov  rö  iv  xptöt,  6  de  xf}7iog  rö  itgb  fiercoTtov  xexoöfifjö&ac. 
Man  beachte,  dass  die  Sippe  in  Böotien  am  reichsten  vertreten  ist,  Athen  und 
Eretria  nur  je  einen  Beleg  beisteuern. 

Von  Schmuck  und  Kleidung  sind  hergenommen: 

Odlagug  Akragas  (6.  Jahrh.),  Tanagra  (IGS  1  no.  585  III 6),  Stratos 
(IGS  3  no.  594,). 
Qdkagig  muss  einen  Mann  bedeuten,  der  cpdkaga  trägt.  Herodot,  Euripides,  Xe- 
nophon,  Polybios  verwenden  cpakccga  nur  für  den  Pferdeschmuck;  aber  Aischylos 
wagt  ßaötketov  tidgag  cpdkagov  (Perser  658).  Den  Qdkagig  in  Tanagra  und 
Stratos  könnte  man  als  'Blesshuhn'  deuten  und  zu  den  Kahlköpfen  rechnen ;  für 
den  Sohn  des  Laodamas  ist  diese  Auffassung  durch  die  Quantität  des  mittlem  a 
ausgeschlossen,  die  seit  Pindar  fest  steht  (Pyth.  1.  96  i%&gä  Qdkagiv  xaxexei 
jiccvTÜL  (pdrug). 

(pögpog  Trierarch  der   Athener  (Herod.  7.  182),  Anaktorion  (IGS 

1  no.  24188); 
<&ÖQ[iLg,    bg    ix   Maivdkov    öiaßäg    ig   ZlixekCav    nagu   rikcova   tbv 
4eLvo{iivovg  ....  (Paus.  5.  27, 1),  vielleicht  identisch  mit  dem 
Komiker    Oögpig    (Arist.  Poet.  5)  ,    der    bei   Suidas   Oög^iog 
heisst ; 
QoQiiicov    Kgorayvidtrjg   (6.  Jahrb.;    vgl.   Meineke  2.  1227),    Hali- 
karnassos   (Ion.    Inschr.    no.  238 15),    vom    5.  Jahrh.    an   in 
jeder  griechischen  Landschaft  nachweisbar. 
Zu  Grunde  liegt  cpog{iog,  das  Kleid  des  Schiffers:    6  de  'EkTt-qvcög  d^iteierat  cpog- 
libv  dvxl  iöd-rjrog,  övvrjdsg  rolg  vccvruig  (pogr^Mx,  (Paus.  10.  29,  s). 

BaCxcav  6  'Aketdvdgov  ßy\^axi6xr\g  (Athen,  p.  442  b); 
BaCx{si)g  Grabschrift  zu  Larisa  (Smlg.  no.  357); 
Brjttdag  Orchomenos  (IGS  1  no.  3180  35 ;    3.  Jahrh.). 
»Von  ßaixr\  Hirtenrock  aus  Fellen  ....  abzuleiten  wie  z.  B.  Xkaiviag  von  %katva 
Mantel«  Fick  (KZ  22.  223). 

Kö6v{[i)ßog  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,227;    5.  Jahrh.). 
Wer  so  hiess,  hatte  vermuthlich  den  Chiton  mit  Fransen  verziert.    Über  xoöv^ißca 
zuletzt  Studniczka  (Jahrb.  d.  Instit.  11.  277  f.). 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.   N.  F.  Band  2,  b.  H  5 


82  •  FRITZ    BECHTEL, 

ToL'ßcov  Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19,  419;    5.  Jahrh.). 

Ocbecav  Thespiai  (1GS  1  no.  I888A3;    5.  Jahrh.). 
Vgl.  Poll.  7.  71  eöxi  de  xal  6  qpcotfrav  %ixcov  Alyvitxiog  ex  na%eog  XCvov. 

Xkaiveag  Aetolien  (Polyb.  9.  31,7;    3.  Jahrh.). 

UtövQvog  Phoitiai  (Fouilles  d'  Epid.  1  no.  243). 
Vgl.  Schol.  Aristoph.  Wespen  778  CiGvoav.    Ulövqcc    xakelxai   nagä   \iev    xiöiv    fj 
ßaixr\  •    £6x1    de  TtegißoXaiov    ex  degpaxcov    ßwegga^evcDV    ngoßaxeCtov    ixövxuv   tä 
egta'    ol  de  dxgtßeöxegoi  cpaöt,  xXalvav  nakaiav    elvai  anXotda.      T^v  avxijv   de  xal 

(JLÖVQCCV    XCiXovÖL    Xal    ÖIÖVQVCCV. 

Eine  Reihe  von  Namen  bezeichnen  den  Mann  nach  den  Waffen,  die  er 
mit  Vorliebe  trägt.     So 

Gcbgah,    Larisa    (Pind.    Pyth.    10.   64;     6.  Jahrb.),    Aaxedaipoviog 
(Xenoph.  Hell.  2.  1,  is),  Boinziog  (Anab.  5.  6, 19),  Hierapytna, 
Oleros   (Mus.   Ital.   3.   617    no.  37 13 ,    640  no.  54  6) ;   @<bgrt 
Styra  (Ion.  Inschr.  no.  19, 205). 
®cogaxidrig  KogCvüiog   (CIA  3    no.  2523 ;    der    Sohn    heisst   Meve- 
exgaxog). 
Als   Beiname   fungiert   Gcogat,   auf    der   Inschrift    von   Patara   CIGr   3   no.  4295: 
ütoXeiiaCov  tilg  xov  xal  0cbgaxog. 

rägvrog  Paros  (CIG  2  no.  2378  3). 
Die  Erklärung  schon  bei  Böckh  in  der  Addenda:  »Nomen  proprium  rcbgvxog  nota 
ex  appellativo  yagvxbg  traductum  esse«. 

Ervoal  Xtog  (Mitth.  19.  399  III 2) x),  Fabrikant  auf  Rhodos  (Du- 
mont  109  no.  238),  Aigion  (?E<p.  ägX.  1884.  89  no.  4;  spät). 
Im  Kvvr\yexixog  des  Xenophon  wird  der  Hundename  Uxvgat,  zwischen  Tlogitai, 
und  A6y%v\  erwähnt  (7.  5).  Da  der  Chier  2Jxvga%  Vater  eines  Hv^a%og ,  der 
Aigieer  Vater  einer  AXxaivexri  ist,  habe  ich  vorgezogen  den  Mannesnamen  ebenso 
zu  deuten,  wie  der  Hundenamen  gedeutet  werden  muss.  An  sich  hat  die  Auf- 
fassung, Xxvga%  sei  ein  nach  Weihrauch  duftender  Mann,    gleiche  Berechtigung. 

Das  Tragen  eines  Stockes  hat  Veranlassung  gegeben  zu  dem  Namen 

ZJxLitav  (CIA  1  no.  412  5;  5.  Jahrh.),  QogCxiog  (CIA  2  no.  1722o; 
4.  Jahrh.);  Freigelassner  in  Larisa  (Mitth.  7.  227 31). 
Zur  Zeit  der  alten  Komödie  ward  das  Tragen  des  cxlitcov  als  xgv<piq  betrachtet. 
Vgl.  Athen,  p.  553  e  Kai  xbv  inl  &e^LöxoxXsovg  de  ßiov  Tr\XexXeidrig  ev  Hgvxaveöw 
aßobv  ovxa  itagadCdmöi.  Kgaxtvog  de  iv  Xcqcoöl  xr\v  xgv(pr\v  epyavl&v  xijv  xäv 
nakauxegcov  (pYlölv 

aitaXbv  de  öiGv^ßgLOv  rj  gödov  rj  xqlvov  itatf  ovg  eftaxec, 
fiexä  %eo6l  de  {irjXov  exaöxog  e%cov  öxiTtcnva  r'  r)yöga£ov 

1)  L.MMAXOI  ITYPAIOI  die  Abschrift,  vom  Herausgeber  mit  Z[v[i][icc%09  Zxvqccios  um- 
schrieben. Aber  hinter  dem  ersten  Namen  ist  ein  zweiter  im  Genitive  zu  erwarten,  und  Zxvquios 
ist  kein  Ethnikon. 


GRIECH.   PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN.  83 

(Meineke  2.  146).  Die  erste  der  oben  erwähnten  Persönlichkeiten  kann  also 
durch  den  Namen  Uxincov  als  rgvyüv  an  den  Pranger  gestellt  worden  sein.  Da- 
gegen hat  Jemand,  der  einen  Stock  trug,  in  der  Zeit  des  Demosthenes  als  Ple- 
bejer gegolten:  Demosth.  37.  52  NixößovAog  (T  s7ti(pfrov6g  iöu  xal  raxscjg  ßccdi&c 
xal  [isycc  (p&syyeTcu  xal  ßaxtrjQiav  cpogsi  1).  Folglich  kommt  auch  der  ©ogfaiog,  der 
auf  einer  der  Zeit  des  Demosthenes  angehörenden  Urkunde  erwähnt  wird,  durch 
den  Namen  Zlxiitav  in  einen  ganz  andren  Geruch ,  als  der  Athener  des  voran- 
gehenden Jahrhunderts. 


1)  Hingegen  verräth  es  uQ£6Y.tla  einen  krummen  Stock  zu  tragen:  afisXsv  di  xal  7itör\Y.ov 
ftgeipat,  dsivbg  xal  xlxvqov  xrijcaff-ifau  xal  Ziv.iliv.ug  7tSQiarsQccg  xal  dognadsiove  aötQuyäXovg  xal 
&ovQiayiäg  xcbv  GXQoyyvXav  Xr\%vft'ovg  neu  ß  axr  t]Q  tag  xtöv  öko  Xi  üv  Ix  Accnsdcu'fJiovog  .  .  .  . 
Theophr.  Charakt.  5.  9  vom  ägs6v.og. 


Nachträge. 

S.  11  ist  bei  den  Zeugnissen  für  Jlaxaixog  die  melische  Grabschrift  Japo- 
Titiog  IlataCxov  (Ross  Inscr.  ined.  no.  241)  übersehen. 

S.  34  ist  ein  Erklärungsversuch  des  Namens  Kafucäg  unternommen,  der  durch 
Kccfi7tog  (Pridik  De  Cei  insul.  reb.  160  no.  39  n)  erschüttert  wird. 


Namenverzeichnis. 


(Die  mit  t  bezeichneten  Namen  sind  im  Texte  bestritten). 


'AyuovXog,  'AyxvXtcov  34. 
'AyQiog  58. 
Aiyinvgog  42. 
'Anctvdog  39. 
'AnQidiav  51  3). 
'AXmits-nog  57. 
'AQKTivog  37. 
'Agvarag  60. 
'AtrctyCvog  45. 
"A%v(xiv   17. 

BaßvQtag  52. 

Batrov  und  Sippe  81. 

BaxorÄo?  48. 

BapfJag  27. 

Barpor^og,   BatQa%i(ov  79. 

Barrapog  46. 

Baöxog  und  Sippe  75. 

BtfißciHiSccg  50. 

[BJiaxiW  52. 

Boidctg  54. 

Bop/Mos  46. 

B(ja;nUos  und  Sippe  10. 

Bporros  46. 

B{iovY.C(av  51 8). 

Bpt'^ojv  46. 

Ftutiag  (raaked.)  35. 
rdatQtov,  ra-crpog  31. 
retvoog.   ravgtg  65. 
ruvoog   .'54. 
riccpoyidctg  56. 
F;U,af<e  '25. 

rW<{hav  und  Sippe  29. 
ri'iqaiVLÖT]g  69. 
rpyyiUog  14. 
Tginog  73. 
rniooiv   55. 
ryicfog  58. 
rgocfi-vg  72. 
rpüAog  und  Sippe  55. 
rpi'ffog  und  Sippe  27. 
rvQidag,  rvQav  31. 
rcöpiTO?  82/ 

^Jffdt'^o?  24. 
^Jfptfiff  31. 


didccGKCiXmvdccg  73. 

di'6-H.og  51. 

JicpQiSccg  79. 

z/o^t^o?  8. 

Aövat,,  zlovccHog  16. 

dq&Ttvg  68. 

jQvfiog  und  Sippe  36. 

'EAarojv  9. 
f'EÄaqpo?  45. 
"Enoip  29. 

faprailog  121). 


f)sQ6itag  21.  65. 
f)i!ßQog  und  Sippe  75. 
f)a7t tag  68. 
(9copai;,  S(oQccY.C8if\g  82. 

7a/i|?os  73. 
'legal-,  'itQccnos  27. 
'IvTivog  27.  67.  69. 

KdXafitg,  KaXdfifiet,   16. 

Kaiiit&g  34,  sieh  Nachtr. 

Käva.%og  46. 

Kuv&ugog  und  Sippe  57. 

Kävav  73. 

Känog  und  Sippe  80. 

KditQog  37. 

KdQccßog  23.  43. 

Kagöauicov  59. 

KccQKLvog,  Kccgmvicov  23.  35. 

XapqpiVa?    16. 

KfyxQccfiog  44. 

Kegdyuov  72. 

KegmÖäg  33  3). 

Kegnivog  ==  Kocgnivog  33*). 

Kt'gmg  und  Sippe  33. 

KecpccXog  und  Sippe  20  f. 

KrjXav  62. 

KrjTojv  8. 

Kiv.ivvog  79 

Kivä8r\g,  Kivddav  57. 

KCvöiov  49. 

Ät'pos  und  Sippe  48. 


Kiggia  ....  41. 
KvCcpav,  Kvup&g  69. 
Äoxxo?,  Xoxxt'cov  41. 
Üloxxdt/),  KoKKOvßiccg  54.  69. 
Xo/loto?  28.  42.  69 2). 
Xdvi>o?  und  Sippe  80. 
Ko-JtQüiv,  Koitgig  77. 
Xd?a£  28.  42.  69. 
Äd(>da£  64. 
Äoe#vs  40. 

Kogoißog,  KogoißC8r\g  53. 
Äoptxjog,  ÜLO(n>#cdÄos  39. 
Äopu-frog.  KogvfrCatv  39. 
KoQV[ißog,  KoQVfißiccg  80. 
KoQvrttug  65. 
Äopvi/j    12  f. 

Kogcovog  und  Sippe  28.  42. 
Xö<>v(|u,)ßos  81. 
Korzvcpog,   Ko^vcpCoiv  17. 
Kgtöig  und  Sippe  32. 
Äptd?  87  2).  65. 
KgcoßvXog  79. 
KvXXog  und  Sippe  33. 
Kvpßctlog  58. 
Kvgrißog  72. 
Ä(vp)rcov  31. 
Km&oiv  61. 
Kcoficütdioiv  58. 
Kmvcoip  69. 

AcuÖQiccg  64. 

AdXcc^  56. 

Aüoiog  36. 

Atßeigog  74. 

Aepßog  68. 

Aeitrog  und  Sippe  15. 

AiitdQog  und  Sippe  76. 

ACguvog  64. 

Jdßrov  29. 

Aol'[mov  69. 

A6pßa£  Gl. 

Mdv.gmv  22. 

A/aAaMOg,  MaXdnav  75. 

Mapyog  52. 

Mccarog  61. 

MfrÖvHoe,  Mf'tfw,  Metfvffras  61. 


FRITZ   BECÜTEL,     GRIECH.    PERSONENNAMEN    AUS    SPITZNAMEN. 


85 


Mexcoizog  22. 
MiTigog  und  Sippe  9  f. 
MiXxsvg  und  Sippe  41, 
MCxog  und  Sippe  15. 
Mo&av  74. 
MöXoßgog  77. 
MoQuig  und  Sippe  18. 
M6qv%og  und  Sippe  53. 
MvXXog  und  Sippe  30. 
MvXco&gog  72. 
MvQfir}xidctg  501). 
iWt'pjtxrj^,  MvQiiidag  50. 
Mvqcov  und  Sippe  76. 
Mü?  62. 
Mi'xxxfXcg  34! 
7V7t'<7tr£>(üi>  00.  72. 
Mva%r]g  und  Sippe  32. 
Mvwty  69. 

Nocaog  und  Sippe  12. 

Eovfriccg  40. 

'OfjLcpccxicov  59. 
'Öprt'l,  'Ogxvyicov  69. 
'Oöqpi'ojv  32. 
'Ocpgvddccg  65. 
"Oqp()vHos  23. 

Tlcudinog  13. 

nürcu-Kog ,    Tlatai¥.i(ov  1 1  , 

Nachtr. 
Ud%r\g  und  Sippe  13. 
Il£Xdgr]g  8. 
77fp<?<£  62.  ^ 
nhccXog,  näxa%og  15. 
JlCQ"r\%og  und  Sippe  18.  67. 
Jli'fiqxov,  IlifMpig  58. 
ntjros  56. 
IJixvag  9. 

IJXaxfig,  TLXdtav  13. 
IZeoibto(s)   12. 
TIvQjraXLcov  42. 

'Pafßos  34. 
fPct{icpLctg  28. 
'PaviS   12.  55. 
'Pfyxt'a?,  'Pdyxtov  48. 
'PiWj/  27. 
;Pd#os  46. 
'Porxos  34. 


sieh 


68. 


'Pvy^cor  28. 
'P^j?t?  50. 

Ud&cov,  Uct&ivog  32. 
£ulv(üv  68. 
£dvvr\g  und  Sippe  66. 
tÄpaßos  68. 
Zdgdovv  66. 

Zdxvgog  und  Sippe  19.  60. 
(Ä'Atj/if  37). 

-ZUrjvdg,  HiXavlmv  19.  60. 
27t-üa£  und  Sippe  66. 
HC^qg  und  Sippe  25. 
ZLGvfißgivog  76. 
Z!i6vgvog  82. 
ZCovcpog  56. 
Ziqxov  61. 
£*a.iog,  Endcav  49. 
ÄfXi'as  35. 
Unincov  82. 
Ev.igacpC8ag  57. 
Z%Cx(üv  74. 
ÄtdUos  80. 
[^JxopTrtcov  59. 

.Sxv-ibjs  und  Verwandtes  26.  42. 
UfiiXig,  UpiXcov  72  f. 
Upoiog  59. 
27dAcöv  51. 
Zrtid-cciiaiog   1 1 . 
ZxaXciyixog  12. 
Zxitovbccg,  £xta\  57. 
^TO^äs  29.  64. 
Exopiog,  2aXO[iiXog  66  f. 
2Jxgdßal-,  Uxgdßiov  23. 
ExgoßiXog  50. 
ExgoyyvXCav  14. 
Zxgotßog  49. 
27rpd|u.|?off  und  Sippe  50. 
Zreoi)#os  und  Sippe  8  f.  17.  63. 
Uxvfidgyrig  64. 
JEry7t7ra£  72. 
2;rv(>a£  82. 
Sxvtpcov  59. 
i  .Svpqpai;  74. 
UepciLQogi  Urpcugiav  51. 
£%iöäg   16. 
■^t^off  39. 

T^Va^os  41  *). 
Tdpcov  73. 
Tpa^cdos  31. 


7Vß<öi/  82. 

Tpi^ä?  35. 

Tgö%sig,  Tg6*.%r\g  51. 

TgvyCag  59. 

Tgvcpoiv  75. 

Tvvvog  und  Sippe  11. 

'TitoßoXifiaiog  70. 

<£axä?  4  1. 

4>ccÄax(>os,  ^uXctyigCcav»  37  f. 

^a-lav^os,  $uXuvftCdrig  38- 

^a^ptg  38 2).  81. 

$>uXugCovv  38. 

<$dXetgog  38. 

^aUtrog  83. 

$Zf'ag  56. 

QXißtov  32. 

$;Uta£  561). 

Sttd^  56. 

$d£o?  und  Sippe  21. 

$d(>|tios  und  Sippe  81. 

$dpvs  und  Sippe  77. 

$P^£off  39. 

$pi)vos  und  Sippe  14.  43. 

$V6Y.G>V  31. 
<&coi6iag  44. 
3>cb(7wv  82. 

Xccßäg  und  Sippe  34. 
Xccixog  und  Sippe  35. 
Xa^fTto?  58. 
Xccfituliav  44.  67. 
XccQccdgivog  60. 

[X]fAcoi/  30. 

XfXcovi'av  49. 

Xtlav,  Xi'Xscog,  XiX&g  30. 

XAan/«*s  82. 

XXidav  75. 

Xvcciddris  78. 

JTvoate  39. 

Xotipos  und  Sippe  55. 

Xgsfirjg  und  Sippe  47. 

3WS  12.  46.  55. 
Wdcpcov  57. 

gty*  62. 

Wa£  12.  46. 


Abhdlgn.  d.  K.  Gee.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  EL  N.  F.  Band  2,  s. 


12 


Inhaltsverzeichnis. 

Salt« 
Einleitung 1 

Erstes  Capitel:  Der  Mensch  als  körperliches  Wesen 7 

I.  Der  Körperbau. 

Unproportionierte  Gestalt  7.  Übermaass  der  Länge  und  Breite  8.  Lange  Leute  8.  Kleine 
Leute  9.  Dicke  Leute  13.  Magre  Leute  15.  Leute  von  schreckhaftem  (18),  von  affenartigem 
(18),  von  silenartigem  Aussehen  19.  Dickköpfe  20.  Spitzköpfe  21.  Langköpfe  22.  Breit- 
stirnen 22.  Leute  von  auffälligen  Augenbrauen  23.  Schieler  23.  Blinzler  24.  Triefaugen  25. 
Stumpfnasen  25.  Habichtsnasen  26.  Grossnasen  27.  Leute  mit  starken  Ohrlappen  29;  mit 
starken  Kinnbacken  29;  mit  grossem  Munde  29;  mit  wulstigen  oder  zuckenden  Lippen  30. 
Langhälse  31.  Bucklige  31.  Dickbäuche  31.  Leute  mit  starken  Hüften  32;  mit  grossen  Ge- 
schlechtstheilen  32.  Krummbeine  33.  Langbeine  35.  Leute  mit  üppigem  Haare  35.  Kahl- 
köpfe 37.  Milchbärte  39.  Rauhhaarige  39.  Leute,  die  nach  der  Haarfarbe  (40),  nach  der 
Gesichtsfarbe  (41)  benannt  sind. 

II.  Sprache  und  Geräusche. 

Leute  mit  dröhnender  (46)  und  mit  dumpfer  Stimme  46.  Leute  mit  Sprachfehlern  46. 
Brummbärte  47.     Schnarcher  48. 

III.  Geschlechtliches  Unvermögen  48. 

IV.  Gebrauch  der  Gliedmaassen.    Körperliche  Fertigkeiten. 

Linkhändige  49.  Leute  mit  schwerfälligem  Gange  49.  Zappler  49.  Leute,  die  in 
körperlichen  Spielen  gewandt  sind  51. 

Zweites  Capitel:  Der  Mensch  als  geistiges  Wesen 52 

I.  Intellect. 

Beschränkte  und  Ungebildete  53.  In  der  Rede  Ungeschickte  55.  Schwätzer  55.  Durch- 
triebne Köpfe  56.  Leute,  die  sich  in  der  Wissenschaft,  in  geistreichem  Spiele  oder  in  der 
Kunst  auszeichnen  57. 

II.  Gemüth. 

1.  Temperament. 
Jähzornige  58.     Verdriessliche  59. 

2.  Charakter. 

'TßgiGTcci  59.  Vielesser  60.  Trinker  61.  Adyvoi  61.  Freche  64.  Streitsüchtige  65. 
Hoffährtige  65.  Undankbare  65.  Spötter  66.  Trotzige  66.  Arglistige  67.  Charakterlose  67. 
Schmeichler  68.    Feiglinge  68.     Knauser  69.     Diebe  69.     Taugenichtse  69. 

Drittes  Capitel:  DerMenschalsGliedderGesellschaft 70 

I.  Sociale  Stellung. 

Leute  von  unebenbürtigem  Herkommen  7*0.  Leute,  die  auf  Erwerbsthätigkeit  angewiesen 
sind  71.     Arme  Leute  73. 

II.  Lebensführung. 

Schwelger  75.  Schmutzfinken  76.  Leckermäuler  78.  Wassertrinker  78.  Anhänger  sit- 
zender Lebensweise  79.     Liebhaber  bestimmter  Trachten  79. 

Nachträge 83 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH  -  HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE   BAND  2.  Nro.  6. 


Die  Spaltung  des  Patriarchats  Aquileja. 


Von 


"Wilhelm  Meyer  aus  speyer 

Professor  in  Göttingen. 


Berlin, 

Weidmannsche   Buchhandlung. 

1898. 


Die  Spaltung  des  Patriarchats  Aquileja. 

Von 

Wilhelm  Meyer  aus  Speyer 

Professor  in  Göttingen. 


Vorgelegt  in  der  Sitzung  am  8.  Januar  1898. 

Nächst  dem  vom  h.  Petrus  selbst  gegründeten  Stuhle  des  Pabstes  in  Rom 
genoss  den  höchsten  Hang  der  vom  Apostel  Marcus  und  seinem  Schüler  Herma- 
goras  gegründete  Stuhl  von  Aquileja;  und  doch  hat  dieser  Stuhl  nie  eine  ent- 
sprechende Rolle  gespielt.  Das  lag  daran,  dass  das  ganze  Mittelalter  hindurch 
neben  einander  und  in  nächster  Nähe  zwei  Stühle  bestanden,  von  denen  ein  jeder 
der  direkte  Rechtsnachfolger  des  alten  Stuhls  von  Aquileja  sein  wollte ,  jeder 
den  hohen  Titel  'Patriarch'  beanspruchte  und  auch  vom  Pabst  erhielt. 

Das  eine  Patriarchat  war  das  binnenländische  des  Friaul's ;  in  seinem  Spren- 
gel lag  die  herabgekommene-  Stadt  Aquileja,  und  desshalb  hiess  dies  Patriarchat 
vorzugsweise  das  Patriarchat  von  Aquileja.  Die  Patriarchen  selbst  residirten 
nicht  in  Aquileja,  dessen  Klima  zu  mörderisch  und  das  Angriffen  von  der  See  aus 
zu  offen  war,  sondern  seit  607  in  Cormons,  dann  in  Foroiulii,  dem  spätem  Civi- 
dale ,  der  Hauptstadt  ihres  Sprengeis  ,  zuletzt  in  Udine.  1751  wurde  dies  Pa- 
triarchat aufgehoben.  Das  andere  Patriarchat  war  das  küstenländische ;  seine 
Patriarchen  residirten  seit  568  auf  der  kleinen,  felsigen  Insel  Grado  in  den  La- 
gunen zwischen  Aquileja  und  Triest ,  welche  Insel  natürlich  von  der  See  aus 
weit  leichter  als  vom  Land  aus  beherrscht  werden  konnte;  1451  wurde  dies 
Patriarchat  nach  Venedig  verlegt. 

Der  stete  Kampf  der  beiden  Patriarchate  war  desshalb  bedeutend,  weil  das 
binnenländische  vom  Kaiser  unterstützt^wurde,  wie  auch  viele  seiner  Patriarchen 
vornehme  Deutsche  waren ,  dagegen  das  küstenländische  ganz  unter  Venedigs 
Macht  stand  und  die  meisten  Patriarchen  den  vornehmsten  venezianer  Familien 
angehörten.  Die  Vorrechte  des  einen  alten  Aquilejer  Stuhls  waren  untheilbar  ; 
bei  dem  Kampfe  der  beiden  Erben  kam  Alles    darauf  an,    in  welcher  Weise  die 


W  ILIIELM    MEYER 


Spaltung  des  einen  Patriarchats  in  die  späteren  zwei  sich  vollzogen  hatte.  Die 
eigen thümlichen  Verhältnisse  bedingen,  dass  man  bei  Prüfung  dieser  Sache  die 
Geschichte  dieser  Spaltung  trennen  muss  von  den  später  darüber  gemachten 
Sagen  und  Theorien. 


I.     Das  Ende  des  Dreikapitelstreites  in  Venetien. 

Der  Kaiser  Justinian  setzt  es  durch,  dass  auf  der  Kirchenversammlung  zu 
Konstantinopel  553  Theodor  von  Mopsuestia,  dann  bestimmte  Schriften  des  Theo- 
doret  und  der  Brief  des  Ibas  an  Maris  verdammt  wurden,  weil  von  diesen  Män- 
nern zeitweilig  oder  an  einzelnen  Stellen  gelehrt  worden  war,  die  menschliche 
und  die  göttliche  Natur  seien  in  Christus  streng  geschieden  gewesen.  Nun  hatte 
schon  das  4.  Concil  in  Chalcedon  451  diese  Lehren  verdammt,  aber  weder  jene 
Personen  selbst  noch  ihre  ganzen  Schriften.  So  entstand  die  Streitfrage,  ob  das 
5.  Concil  die  Beschlüsse  des  4.  nur  sinngemäss  ergänzt  oder  ob  es  dieselben  ab- 
geändert habe.  Diese  unbedeutende  Frage  erweckte  den  sogenannten  Dreikapitel- 
streit. 

In  den  griechisch  redenden  Ländern  ,  welche  fast  alle  unter  der  Herrschaft 
des  Kaisers  standen ,  fügte  man  sich  bald  der  von  Kaiser  und  Pabst  stets  fest 
gehaltenen  Erklärung,  dass  die  Beschlüsse  des  5.  Konzils  nur  eine  berechtigte 
Ergänzung    der  Beschlüsse  der    früheren  4  Konzile   seien.  Anders  in  den  la- 

teinisch redenden  Ländern.  Das  unwürdige  Schwanken  des  Pabstes  Vigilius, 
mehr  noch  die  Strenge,  mit  welcher  der  Kaiser  ihn  behandelt  hatte,  weckten  hier 
Widerstand  gegen  jene  vom  Kaiser  veranlassten  Beschlüsse  der  Konstantinopoli- 
taner  Kirchenversammlung  von  553.  Da  aber  Pelagius  I.  (556 — 561),  der  Nach- 
folger des  Vigilius,  und  die  folgenden  Päbste  alle  für  jene  3  Verdammungssätze 
eintraten,  so  erlosch  nach  und  nach  der  Widerstand. 

Merkwürdig  ist ,  dass ,  während  in  den  andern  Ländern  der  lateinischen 
Christenheit ,  besonders  in  Afrika ,  dieser  Streit  nach  etwa  20  Jahren  beigelegt 
war,  er  in  der  Lombardei  50,  in  Venetien  gar  150  Jahre  gedauert  hat. 

Ueber  die  endliche  Beilegung  dieses  Streites  steht  die  bekannteste  Nachricht, 
dass  698  auf  einer  Synode  in  Aquileja  die  Schismatiker  ihren  Widerspruch  auf- 
gegeben hätten,  zuerst  bei  Beda  (de  sex  aetatibus  mundi),  ist  also  etwa  30  Jahre 
später  niedergeschrieben ;  Beda's  Nachricht  ist  dann  wörtlich  abgeschrieben  von 
Paulus  Diaconus  (Hist.  Langob.  VI  14)  und  ist  von  mittelalterlichen  Chronisten, 
wie  Sigbert  Gembl.  in  seiner  Chronologia,  und  von  vielen  neuern  Historikern, 
z.B.  Hefele  (Conciliengeschichte  II  923)  nachgeschrieben.  Doch  ist  dieser  Bericht 
des  Beda,  wie  Piper  (Zeitschrift  für  deutsche  Theologie,  21,  1876,  S.  100)  be- 
merkt hat,  nur  aus  dem  Liber  pontificalis  ausgeschrieben  und  das  mit  solchen 
sinnentstellenden  Aenderungen ,  dass  er  völlig  werthlos ,  ja  geradezu  irrefüh- 
rend geworden  ist. 

Der  Liber  pontificalis   berichtet   (bei  Duchesne  I  1886    S.  376):    Huius 


DIE    SPALTUNG    DES    1'ATHIARCHATS    AQUILEJA  Ö 

(Sergii  I  087 — 701)  temporibus  Aquilegensis  ecclesiae  archiepiscopus  et  synodus. 
qui  sub  eo  est  (congregata  haben  Spätere  fälschlich  zugesetzt),  qui  sanetum  quintum 
universalem  eoncilium  utpote  errantes  suseipere  diffidebant,  eiusdem  beatissimi 
papae  spiritalibus  monitis  atque  doctriDis  instrueti  conversi  sunt,  eundemque  ve- 
nerabilem  eoncilium  satisfacti  suseiperunt.  et  qui  prius  sub  erroris  vitio  tene- 
bantur ,  doctrina  apostolicae  sedis  inluminäti,  cum  pace  consonantes  veritati  ad 
propria  relaxati  sunt.  Beda,    der   meldet  von   einer   'sinodus  Aquilejae  facta' 

hat  den  Liber  missverstanden;  Ducbesne  sagt  mit  Recht:  Beda  prend  synodus 
dans  le  sens  de  reunion  conciliaire,  tandis  qu'il  signifie  dans  le  Liber  pontificalis 
le  corps  des  eveques    suffragants   d'Aquilee.  Der  Liber  pontificalis  ,    bei  dem 

J.  Langen  (Geschichte  der  röm.  Kirche  II  1885  S.  593)  stehen  geblieben  ist, 
meldet  also  nur,  dass  unter  Sergius  der  Erzbischof  von  Aquileja  und  die  ihm 
unterstehenden  Bischöfe  zur  Kirche  zurückgetreten  seien ;  in  den  Worten  'syno- 
dus qui  sub  eo  est'  hat  das  Präsens  ziemliches  Gewicht.  Sicherlich  spricht  der 
Liber  pontificalis  nicht  von  einer  Synode  zu  Aquileja :  diese  hat  es  überhaupt 
nicht  gegeben  und  sie  ist  zu  streichen.  Unsicher  ist,  ob  man  aus  den  Worten 
des  Pabstbuchs  folgern  muss,  dass  der  Erzbischof  von  Aquileja  oder  seine  Bischöfe 
selbst  alle  in  Rom  gewesen  seien. 

Viel  mehr  lehrt  über  das  Ende  des  Dreikapitelstreites  in  Venetien  ein  Ge- 
dicht, das  ein  Magister  Stefanus  nach  Abschluss  der  Verhandlungen  im  Auf- 
trag   des   Langobardenkönigs  Cunincbert   verfasst   hat *).     Dieser   lebensvolle  Be- 


1)  Dieses  Gedicht  ist  erhalten  in  2  aus  Bobbio  stammenden,  dem  Verfasser  wohl  gleichzeitigen 
Abschriften  in  Mailand.  Gefunden  und  zuerst  herausgegeben  ist  es  von  Oltrocchi,  der  wahr- 
scheinlich durch  diesen  Fund  zu  seinem  Buche  Ecclesiae  Mediolanensis  Historia  1795  (vgl.  beson- 
ders S.  624)  veranlasst  worden  ist;  denn  wesshalb  hätte  er  sonst  jene  Geschichte  nur  'usque  ad 
finem  schismatis  Aauilejensis'  d.h.  bis  zu  diesem  Gedicht  geführt?  Abgedruckt  haben  es  dann 

Troya,  Storia  d'Italia,  Tom.  4  (Codice  diplomatico),  parte  II  und  III  no.  330  333  364  aus  Oltrocchi, 
Rei  ff  er  s  ch  eid  als  unbekannt  in  den  Wiener  Sitzungsberichten  1871  S.  473  und  L.  Bethmaun 
in  den  (Monumenta  Germ  Ilist.)  Scriptores  rerum  Langob.  S.  139—191  und  am  Schluss  der  Text- 
ausgabe des  Paulus  Diaconus  (Historia  Langob.):  Reifierscheid  wie  Bethmaun  direkt  nach  den 
Handschriften.  Das  Akrostichon  Stefanus  mg.  hat    erst   II  ol  d  e  r -E  gge  r   bemerkt;    desshalb 

findet  man  das  Gedicht  bald  als  Rhythmus  de  Synodo  Ticinensi,  bald  unter  Stefanus,  bald  (wie  bei 
Potthast)  unter  beiden  Titeln  citirt.  Die   früheren  Herausgeber    haben   die    bei  Oltrocchi   ganz 

faesimilirte  Handschrift  C  105  inf.  bevorzugt,  Bethmaun  die  andere  E  147  sup..     Die  erstere  lässt 
Langzeilen   ganz    aus;    der  zweiten  würde  man   durchaus  sich  anschliessen  können,    wenn  nicht 
eine  Stelle  (8  Z.  3,  wo  Aquiligenses  sicher  mit  rex  Cunincperctus  vertauscht  werden  muss)  bewiese, 
dass    beide  Handschriften    von  einander   unabhängig  sind.  Die  Versform    hat   zuerst  Bethmaun 

erkannt;  es  sind  rythmische  Trimeter  (vgl.  meine  Abhandlung  Ludus  de  Antichristo  in  den  Münch- 
ner Sitzungsberichten  1682  S.  87  110.  22),  also  Laugzeilen  zu  je  12  Silben;  die  erste  Kurzzeile  zu 
5  Silben  hat  fast  immer  den  Wortaccent  auf  der  vorletzten,  die  2.  Kurzzeile  zu  7  Silben  hat  ihn 
meistens  auf  der  drittletzten  Silbe  (Str.  7,  3  muss  natürlich  heissen:  'quiuta  qui  totus  coueordat 
cum  quatuor',  dreisilbig,  IUI  die  Handschriften,  quarta  Bethmann).  Vor  den  Schlüssen  der  Kurz- 
zeilen werden  die  Silben  nur  gezahlt;  Hiatus  ist  gestattet.  Wie  oft,  bilden  je  5  rythmische  Tri- 
meter eine  Gruppe  oder  Strophe  mit  starker  Sinnespause;  die  Anfangsbuchstaben  der  19  Strophen 
ergeben  das  Akrostichon.  ( 


(i  .  WILHELM    MEYER 

rieht  meldet :  Nachdem  König  Aripert  (G53 — 661)  die  Arianer  und  sein  Sohn 
JSertarit  (671 — 688)  die  Juden  bekehrt  habe,  habe  jetzt  sein  Enkel  Cunincbert 
durch  Gewinnung  der  Aquilejer  im  Abendland  volle  Glaubenseinheit  hergestellt. 
Er  habe  sie  in  seine  Residenz  Pavia  kommen  lassen.  Im  Saal  des  Palastes  hät- 
ten die  Rechtgläubigen  (orthodoxi)  ihnen  an  der  Hand  der  anerkannten  Schriften 
der  Väter  die  Ketzerei  des  Paulus  und  Pyrrus,  des  Theodor  Ibas  und  Theodoret 
nachgewiesen.  Die  Irrgläubigen  (pravi)  hätten,  widerlegt,  vom  König  verlangt, 
die  orthodoxi  sollten  beschwören ,  dass  sie  den  Beschlüssen  der  5.  Kirchenver- 
sammlung bessern  Sinn  zuschrieben  als  sie  selbst  bisher  (melius  quintam  recipere 
synodum) ;  dann  würden  sie  eidlich  dieselbe  annehmen.  In  der  Kirche  geschah 
dies,  worauf  alle  gemeinsam  das  Abendmahl  nahmen.  Auf  Befehl  des  Königs 

wählte  jede  Partei  Gesandte  an  den  Pabst ;  unter  den  Paviensern  war  der  Geist- 
liche Thomas  und  der  Rechtsgelehrte  Theodoald1).  Umgeben  von  seinen  Bischöfen 
empfing  Sergius  die  Gesandten ;  er  nahm  die  Acten  der  Synode  entgegen,  welche 
Damian,  der  Bischof  von  Pavia,  abgefasst  hatte ,  verkündete  für  König  Cuninc- 
bert Vergebung  seiner  Sünden  und  Hess  die  Schriften  der  oben  genannten  Männer 
verbrennen. 

Aus  diesem  deutlichen  Zeugnisse  sehen  wir ,  dass  die  Hauptverhandlungen 
auf  einer  Synode  in  Pavia  geführt  wurden,  welche  bis  jetzt  unbekannt  ist,  aber 
von  Piper  mit  Recht  als  entscheidend  bezeichnet  worden  ist.  Die  Bedeutung  der 
Nachverhandlungen  in  Rom,  wTelche  allein  in  dem  Liber  pontificalis  genannt  wer- 
den, ist  zunächst  nicht  klar;  klar  ist  nur,  dass  Oltrocchi  seltsam  irrte,  wenn  er 
(S.  655)  ausruft  'sie  tandem  hac  Rom  an a  synodo,  quam  hactenus  universi  scri- 
ptores,  huius  rhythmi  lumine  destituti,  Aquilejensem  appellavere,  finis  impositus 
diuturno  schismati  et  tarn  periculoso' 2). 

So  viel  lehrt  uns  das  Gedicht  des  Magister  Stefanus;  aber  es  belehrt  uns 
nicht,  wenn  wir  fragen,  wesshalb  denn  dieser  dogmatische  Streit  in  der  Lom- 
bardei sich  30  und  in  Venetien  gar  130  Jahre  länger  erhalten  hat  als  in  der 
übrigen  Christenheit.  Da  ich  auf  diese  Frage  auch  bei  den  neuern  Gelehrten 
keine  Antwort  fand,  lege  ich  Folgendes  zur  Prüfung  vor. 

In  der  Lombardei  und  in  Venetien  hielt  der  an  und  für  sich  inhaltslose 
Dogmenstreit  sich  so  lange,  nicht  weil  diese  Stämme  besonders  hartnäckige  Glau- 
nenseiferer  gewesen  sind,  sondern  weil  hier  politische  Interessen  sich  mit  den 
religiösen  Interessen  verflochten  haben. 

Der  griechische  Kaiser  und  der  Pabst  kämpften  seit  553  vereint  für  die  Aner- 
kennung des  5.  Konzils,  insbesondere  der  3  Verdammungsartikel.    Da,  wo  der  Arm 


1)  Auch  die  Aquilejer  sandten  nur  ausgewählte  Gesandte;  wie  Damian,  so  wird  auch  der  Erz- 
bischof der  Aquilejer  gefehlt  haben. 

2)  Diese  Synode  von  Pavia  heben  auch  hervor,  Bethmann,  Duchesneim  Nachtrag  zum 
Liber  pontif.  II  565  und  W.  Mo  eil  er  Lehrbuch  der  Kirchengeschichte  II  1891  S.  80.  Freilich, 
wenn  Moeller  dazu  Paulus  bist.  Laugob.  VI  14  citirt  und  dabei  Paulinus  von  Aquileja  sich  dem 
.Sergius  unterordnen  lässt,  scheinen  Irrthümer  und  sogar  ziemlich  grobe  mitzuspielen. 


DIE   SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  < 

des  Kaisers  kräftig  war,  wie  in  Afrika,  war  bis  565  der  Widerstand  erloschen. 
Oberitalien  wurde  568  von  den  arianisclien  Langobarden  unter  Alboin  erobert. 
Ihr  Interesse  war  es,  dass  die  ihnen  untergegebenen  Lateiner  mit  Kaiser  und 
Pabst  verfeindet  blieben,  und  desshalb  genossen  die  Gegner  der  3  Kapitel  einen 
gewissen  Schutz  von  ihrer  Seite.  Als  mit  Tbeodelinde  eine  entschiedene  Katho- 
likin Königin  wurde,  versuchte  Gregor  der  Grosse,  dem  es  in  Venetien  eben 
schlecht  geglückt  war,  im  Jahre  593  zuerst  durch  gerades  Vorgehen  (Briefe  IV 
2/3)  Theodelinde  zur  Anerkennung  des  5.  Konzils  zu  bringen,  dann  aber  schlug 
er  den  vorsichtigen  Umweg  ein,  indem  er  nur  seinen  festen  Glauben  an  das 
4.  Konzil  betheuerte  (Briefe  IV  38/39).  So  wurde  am  Königshof  und  in  der 
ganzen  Lombardei  durch  kluges  Nachgeben  bis  etwa  zum  Jahr  600  das  Ziel 
erreicht,  dass  der  Widerstand  gegen  das  5.  Konzil  vergessen  wurde. 

In  dem  östlichen  Theile  Oberitaliens  ging  es  ganz  anders  und  noch  100  Jahre 
lang  wurde  hier  der  Streit  um  das  5.  Konzil  als  Waffe  für  politische  Kämpfe 
benutzt.  Die  Langobarden  hatten  568  den  westlichen  Theil  des  Erzbisthums 
Aquileja  besetzt ;  der  Erzbischof  Paulus  war  mit  dem  Kirchenschatz  nach  Grado. 
also  auf  kaiserliches  Gebiet,  geflohen,  und  dort  blieb  nicht  nur  er,  sondern  auch 
alle  seine  Nachfolger.  So  stand  der  westliche  Theil  dieses  Erzstiftes  unter  lan- 
gobardischer ,  der  östliche  unter  kaiserlicher  Herrschaft.  Beide  Theile  waren 

Gegner  des  5.  Konzils.  Dieser  Widerstand  wurde  leidenschaftlich,  als  der  Erz- 
bischof Severus  (586 — 607)  zuerst  in  Ravenna  streng  behandelt  oder  misshandelt 
und  dann  wieder  591  von  Gregor,  der  hier  zuerst  die  Gegner  der  3  Kapitel  an- 
fassen wollte,  nach  Rom  geladen  worden  war.  Damals  schrieben  die  Bischöfe 
des  ganzen  Erzbisthums  Aquileja  an  den  Kaiser ;  allein  der  Kaiser  erhielt  nicht 
ein  gemeinsames  Schreiben,  sondern  2:  unam  episcoporum  civitatum  et  castrorum. 
quos  Langobardi  teuere  dinoscuntur,  aliam  Severi,  Aquileiensis  episcopi,  aliorum- 
que  episcoporum,  qui  cum  illo  sunt  (Monumenta.  Epistolae  Gregorii  I  16b),  d.  b. 
es  schrieben  gesondert  die  unter  langobardischer  und  die  unter  kaiserlicher  Herr- 
schaft stehenden  Bischöfe.  Die  ersteren  drohen  geradezu:  nullns  plebium  nostra- 
rum  ad  Ordinationen!  Aquileiensis  ecclesiae  post  hoc  patietur  accedere  .  .  et  dis- 
solvetur  metropolitana  Aquileiensis  ecclesia  sub  vestro  imperio  constituta ,  per 
quam  ecclesias  in  gentibus  possidetis  (ebenda  epist.  I  16  S.  20).  Für  dieses  Mal 
gebot  der  Kaiser  dem  Pabst,  die  Aquilejer  in  Ruhe  zu  lassen  (ep.  I  16b  und  II  45). 
Doch  im  Ganzen  wollten  ja  der  Kaiser  und  der  Pabst  dasselbe,  und  so  war 
es  natürlich,  dass  der  östliche,  kaiserliche  Theil  des  Erzbisthums  doch  bald 
bekehrt  wurde.  Als  Severus  607  starb ,  wurde  ein  entschiedener  Anhänger  des 
5.  Konzils  Erzbischof  in  Grado.  Die  Bischöle  des  westlichen,  langobardi- 

schen  Theils  konnten  längst  unzufrieden  sein,  dass  ihr  Erzbischof,  statt  mit 
ihnen  Leiden  und  Freuden  der  Langobardenherrschaft  zu  theilen.  samt  dem  Kir- 
chenschatz1) in  dem  kaiserlichen  Grado    sitzen    blieb.     Die  kirchliche  Zugehörig- 


1)  Solche  Gedanken  scheinen  schon  628  den  Fortunat  beherrscht  zu  haben.    Denn  der  grade n 
ser  Fatriarchenkatalog  (bei  Monticolo,    Cronache  Veneziane  1890  S.  10  und  Scriptores  rerum  Lau 

C 


8  •  WILHELM    MEYER 

keit  ihrer  Sprengel  zu  einem  griechischen  Erzbisthum  war  unnatürlich  und  die 
Trennung  wurde  von  den  Langobarden  gewiss  begünstigt:  der  schon  591  ange- 
kündigte Schritt  wurde  also  jetzt,  607,  von  ihnen  gethan  und  ein  eigener  Erz- 
bischof für  den  langobardischen  Theil  des  Erzbisthums  gewählt 1),  welcher  wahr- 
scheinlich damals,  um  gegen  Rom  und  Konstantinopel  selbständiger  zu  sein,  den 
hohen  Titel  'Patriarch  von  Aquileja'  annahm.  Wie  die  politische ,  so  war  jetzt 
auch  die  kirchliche  Herrschaft  der  alten  Diöcese  Aquileja  getheilt,  welche  Thei- 
lung  dann  über  1000  Jahre  bestand  und  wiederum  alle  politischen  Vereinigungen 
überdauerte.  Diese  politische  und  kirchliche  Trennung  des  alten  Erzbisthums 
Aquileja  wurde  durch  die  dogmatische  Grenzmauer,  die  Anerkennung  oder  Ver- 
werfung des  5.  Konzils,  markirt.  Das  ist  der  Grund,  wesshalb  diese  Grenz- 
mauer so  lange  aufrecht  erhalten  wurde.  Denn  wenn  heute  der  langobardische 
Theil  des  Erzbisthums  Aquileja  das  5.  Konzil  anerkannte,  so  musste  doch  lo- 
gischer Weise  die  Erzdiöcese  wieder  vereinigt  werden :  allein  Aquila-Grado  hatte 
stets  treu  zum  Pabst ,  die  Bischöfe  des  neu-gegründeten  Aquileja  treu  zu  den 
Langobarden  gehalten,  und  Kaiser  wie  Langobardenkönig  mussten  dagegen  sein, 
dass  ihre  Unterthanen  zu  einem  auswärtigen  Erzbisthum  gehörten.  Diese  sehr 
realen  politischen  Gründe  hielten  die  innerlich  längst  unbedeutende  Kirchenspal- 
tung so  lange  aufrecht,  bis  die  Betheiligten  ,  vor  Allen  der  Pabst,  einsahen,  die 
Trennung  des  alten  Erzbisthums  Aquileja  sei  nicht  mehr  rückgängig  zu  machen. 
Anderseits  hatte  der  Pabst  zwar  auf  dem  Konzil  zu  Konstantinopel  im  Jahre  682 
noch  einen  Sieg  errungen,  indem  sogar  der  Patriarch  von  Konstantinopel  sich  unter- 
warf; allein  auf  dem  Konzil  zu  Konstantinopel  im  J.  692  wurde  schon  der  offene 
Kampf  der  Griechen  gegen  die  Herrschaft  des  Pabstes  und  der  lateinischen  Kirche 
begonnen,  und  es  wurde  klar,  dass  der  Pabst  mit  dem  Westen  Europas  Frieden 
haben  müsse,  wenn  er  in  dem  grossen  Kampfe  mit  dem  Osten  siegen  wolle. 

So  ergab  sich  die  Regelung  der  aquilejischen  Wirren.  Die  Hauptsache  war, 
ob  der  Pabst  das  Bestehen  des  neuen,  langobardischen  Erzbisthums  Aquileja 
de  jure  anerkannte.  Dies  muss  der  schwierigste  Theil  der  Verhandlungen  ge- 
wesen sein.     Die  Langobardenkönige  waren  für  die  Anerkennung  ihres  Bisthums 


gob.  S.  394)  berichtet  in  cap.  5:  Fortunatus  quidam  hereticus  pontificatum  arripuit ;  qui  quintam 
synodum  mininie  credens ,  .  .  totam  aecclesiam  Gradensem  metropolitaDam  denudans  in  auro  et 
vestibus  vel  ornamento,  simul  et  ecclesias  baptismales  provinciae  Hysteriae  et  xenodochia  .  .,  fugam 
in  LoDgobardiam  petiit,   apud  castrum  Cormones  super  civitatem  Aquilejam  miliario  XV.  Auch 

der  Pabst  Honorius  will  nicht  ablassen  vom  Langobardenkönig  'res,  quascunque  secum  aufugiens 
abstulisse  monstratur,  expetere  et  repetere'.  Und  aus  etwas  späterer  Zeit,  um  660,  erzählt  Paulus 
Diaconus  (Hist.  Langob.  V  17)  vom  Friauler  Herzog  Lupus  'in  Grados  insulam  cum  equestri  exer- 
citu  per  stratam,  quae  antiquitus  per  mare  facta  fuerat,  introivit  et  .  .  Aquileiensis  ecclesiae  the- 
sauros  exinde  auferens  reportavit'.  Noch  Poppo  (1019 — 1044)  will  das  alte  Unrecht  gut  machen 
(vgl.  De  Rubeis,  Monumenta,  Append.  S.  10). 

1)  Paulus,  hist.  Langob.  IV  33  defuncto  Severo  patriarcha  ordinatur  in  loco  eius  Johannes 
abbas  patriarcha  in  Aquileja  vetere  cum  consensu  regis  et  Gisulfi  ducis  ;  in  Gradus  quoque  ordi- 
natus  est  Romanis  Candidianus  antistes.  .  .  Et  ex  illo  tempore  coeperunt  duo  esse  patriarchae. 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  9 

sehr  interessirt,  desshalb  übernahmen  sie  die  Vermittlerrolle.  DerDiacon  Thomas, 
welchen  schon  vorher  der  Bischof  Damian  mit  unangenehmen  Botschaften  zum 
Alachis  gesendet  hatte  (Paulus  Hist.  Langob.  V  38),  war  auch  bei  diesen  Ver- 
handlungen betheiligt.  Die  Schlussverse  seiner  Grabschrift  (Troya  IV,  3  S.  44 
und  de  Rossi  Inscr.  II  171) : 

Errore  veteri  diu  Aquileia  caeca 

diffusam  caelitus  rectam  dum  rentieret  fidem: 

aspera  viarum  ninguidosque  montium  calles 

calcans  indefessus  glutinasti  prudens  scissos 

kann  ich  nicht  verstehen  von  Reisen  aus  Pavia  nach  Aquileja  und  Umgegend,  wohl 
aber  von  Reisen   aus   Pavia   über   den  winterlichen  Apennin  nach  Rom.  War 

vomPabste  das  Fortbestehen  des  langobardischen  Erzbisthums  zugestanden,  dann 
konnten  die  theologischen  Parade- Verhandlungen  in  Pavia  und  Rom  vor  sich 
gehen.  Das  Ergebniss  all  dieser  Verhandlungen  lässt  sich  in  die  Worte  fas- 

sen :  die  Vereinigung  der  Kirchen  hat  die  Spaltung  des  Patriarchats  sanc- 
tionirt. 

Nur  so  kann  ich  die  Verhältnisse  und  die  Berichte  ausdeuten.  Die  Sache 
ist  wichtig;  denn  hier  liegt  der  dunkelste  Punkt  in  der  Geschichte  des  aquile- 
jischen  Patriarchats.  Die  Gründe  sind  also  kurz  folgende :  der  langobardische 
Erzbischof,  den  Paulus  Diaconus  stets  Patriarch  nennt,  war  vorhanden;  nach 
dem  Gedicht  des  Stefanus  und  dem  Liber  Pontificalis  fanden  unter  Cunincbert 
und  Sergius  Verhandlungen  statt,  in  Folge  deren  die  Aquilejer  sich  wieder  an 
den  Pabst  anschlössen;  das  langobardische  Patriarchat  besteht  ruhig  weiter:  also 
muss  es  damals  vom  Pabste  anerkannt  worden  sein. 

Es  wäre  sehr  wichtig,  die  politischen  Verhandlungen  und  Abmachungen  zu 
kennen,  unter  welchen  das  Fortbestehen  des  langobardischen  Patriarchats  neben 
dem  gradenser  vom  Pabst  gestattet  worden  ist :  allein  es  fehlen  alle  Nachrichten. 
Der  Pabst  scheint  sich  auf  die  Duldung  des  Unvermeidlichen  beschränkt  zu  ha- 
ben. Er  muss  gewünscht  haben,  die  Rechte  des  langobardischen  Stiftes  möglichst 
zu  beschränken  und  die  des  gradenser  möglichst  zu  wahren1):  allein  der  Lango- 
bardenkönig hat  jedenfalls  das  Gegentheil  erstrebt,  und  so  scheint  eine  feierliche 
Regelung  der  Rechtsverhältnisse  unterblieben  zu  sein.  Das  ist  die  Quelle  vielen 
Unheils  geworden. 


1)  Es  ist  natürlich,  dass  dieser  Theil  der  Verhandlungen  dem  I'abst  unangenehm  war,  ebenso 
die  Leute,  welche  die  Ursache  dazu  waren.  Vielleicht  deutet  darauf  auch  Magister  Stefanus.  In 
seinem  recht  überlegt  geschriebenen  Gedicht  wird  der  Empfang  der  Gesandten  des  Königs  geschil- 
dert mit  den  warmen  Worten  'gaudens  recepit  Thomam  Christi  ministrum ,  Theodoaldo 
simul  legum  peritissimum' :  dagegen  der  Empfang  der  Aquilejer  mit  der  trockenen  Bemerkung 
'aderant  quoque  Aquileienses  pariter'.  Auch  noch  in  den  Schreiben  Gregor's  II.  und  III.  (715 
741)  ist  der  Ton  gegen  den  antistes  Foroiuliensis  stets  wenig  liebenswürdig. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     K.  F.  Band  2,  e.  2  ( 


10  WILHELM   MEYER 

II.     Das  gefälschte  Schreiben  des  Pabstes  Gregor  III.  über  die  roemische 

Synode  von  731. 

(Die  roemische  Synode  von  731)  *).  Um    727    begann    der    Kampf   des 

griechischen  Kaisers  Leo  gegen  die  Bilder  Gottes  und  der  Heiligen.  War  schon 
der  Pabst  Gregor  II.  dem  Kaiser  entgegen  getreten,  so  that  dies  nicht  minder 
sein  Nachfolger  Gregor  III  (731 — 741).  Bereits  im  Jahre  731  hielt  er  eine 
Kirchenversammlung  in  Rom,  über  welche  der  Liber  Pontificalis  (Duchesne  I  416) 
berichtet:  maiore  fidei  ardore  permotus  synodale  decretum  cum  sacerdotali  con- 
ventu  quoram  sacrosaneta  confessione  sacratissimi  corporis  beati  Petri  apostoli, 
residentibus  cum  eodem  summo  et  venerabili  papa  archiepiscopis  id  est  Antonino 
Gradense  archiepiscopo  Johanne  archiepiscopo  Kavenne  cum  ceteris  episcopis 
istius  Sperie  partis  numero  [XCIII]  seu  presbiteris  sanetae  huius  apostolicae  sedis, 
adstantibus  diaconibus  vel  euneto  clero ,  nobilibus  etiam  consulibus  et  reliquis 
christianis  plebibus  stantes  (statuit?),  ut  si  quis  deineeps  antiquae  consuetudinis 
apostolicae  ecclesiae  tenentes  fidelem  usum  contemnens,  adversus  eandem  venera- 
tionem  sacrarum  imaginum,  videlicet  dei  et  domini  nostri  Jesu  Christi  et  geni- 
tricis  eius  semper  virginis  immaculate  atque  gloriosae  Mariae  beatorum  aposto- 
lorum  et  omnium  sanetorum,  depositor  atque  destruetor  et  profanator  vel  blasphe- 
mus  extiterit,  sit  extorris  a  corpore  et  sanguine  domini  nostri  Iesu  Christi  vel 
totius  ecclesiae  unitate  atque  conpage.  Quod  et  subscriptione  sua  solemniter  fir- 
maverunt  et  inter  cetera  instituta  probabilium  praecessorum  orthodoxorum  ponti- 
ficura  annectenda  sanxerunt. 

Die  Bischöfe  haben  zwar  ausdrücklich  die  Eintragung  des  Beschlusses  in 
die  Sammlung  der  rechtsgiltigen  Verordnungen  beschlossen  8),  allein  von  diesem 
Beschlüsse  selbst  ist  uns  Nichts  erhalten.  Dagegen  wollen  nicht  weniger  als 
2  Nachrichten  uns  von  andern  Verhandlungen  derselben  Synode  berichten. 

Erstlich  schreibt  Mansi   (Concil.  XII  302) :    Ad  hoc  idem  concilium  pertinent 


1)  Im  Folgenden  citire  ich  öfter  :  Johannes  Diaconus  ,  Chronicon  Venetum ,  nach  der 
Ausgabe  von  Monticolo  in  Cronache  Veneziane  antichissime  1890  =  Fonti  per  la  storia  d'Italia 
no.  9;  dann  als  Patriarchen-Katalog  jenes  kurz  nach  1045  abgeschlossene  Verzeichniss 
der  gradenser  Patriarchen  (mit  Abschrift  oder  Regesten  von  Urkunden  und  einigen  Stellen  aus 
Paulus  Diaconus),  welches  in  den  Scriptores  rerum  Langobardicarum  1878  S.  392 — 397  als  Chronica 
patriarcharum  Gradensium  und  bei  Monticolo,  Cronache  Veneziane  S.  5 — 16,  als  Chronica  de  sin- 
gulis  patriarchis  Novae  Aquileiae  gedruckt  ist;  dann  das  Chronicon  Gradense,  eine  Venezia- 
ner-Gradenser  Urgeschichte,  an  welche  der  Anfang  des  Patriarchenkatalogs  geschoben  oder  ge- 
schrieben ist,  gedruckt  bei  Monticolo,  Cronache  S.  19 — 48 — 51.  Hie  und  da  citire  ich  Andreae 
Danduli  Chronicon,  gedr.  bei  Muratori,  Scriptores  XII  1728  Sp.  9  — 524;  Monticolo,  I  manoscritti 
e  le  fonti  della  cronaca  del  Diacono  Giovanni ,  im  Bullettino  dell'  Istituto  storico  Italiano  no.  9 
(1890)  S.  37—328. 

2)  Bencini  vergleicht  diese  für  die  Geschichte  der  Canonistischen  Sammlungen  wichtige  Stelle 
mit  jener  im  Leben  des  Pabstes  Leo  IV.  (§  545):  quae  etiam  capitula,  ut  in  futurum  ab  omnibus  il- 
libata  serventur,  post  caetera  decreta  pontificum  in  sanetis  canonibus  iussit  ascribi,  quatenus  omnes 
episcopi  huius  auetoritatis  exemplum  ante  oculos  habeant. 


DIE   SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUTLEJA  11 

ca,  quac  in  epitome  Chronicorum  Casinensium  sub  ementito  Anastasii  bibliothecarii 
nomine  vulgavit  Muratorius  (Scriptt.  rer.  ltal.  II,  1  357).  Scd  de  veritate  eorum, 
quae  ibidem  narrantur ,  vadetn  nie  neqnaquam  constitno.  Ita  vero  scriptor  ille:  Gre- 
gorius  111.  zelo  s.  religionis  'permotus  synodali  decreto  cum  sacerdotali  conventu 
corara  sacrosancta  eonfessione  sacratissimi  corporis  B.  Petri  apostolorum  principis 
residentibus  cum  eodem  summo  et  venerabili  papa  Antonino  Gradensi  archie- 
piscopo  uecnon  Johanne  Ravennatensi  arcbiepiscopo'  et  aliis  'XCIII  episcopis 
seu  presbyteris  s.  apostolicae  sedis,  astantibus'  quoque  'diaconibus  et  cuncto  clero 
et  nobilissimis  etiam  consulibus  et'  omni  Romano  populo,    statutum  est:  'Ut 

si'  Aurelianense.s  et  Cenomannenses  sanctas  reliquias ,  quas  eatenus  retinuerant, 
reddere  'contemnerent',  'essent  exortes  a  corpore  et  sanguine  Christi  et  totius 
ecclesiae  unitate  atque  compage'.  'Post  peractum  igitur  hoc  constitutum  misit 
scripta  commonitoria  pro'  requirendis  sacrosanctis  reliquiis ,  'quae  similiter,  ut* 
reliquorum    antecessorum    suorum    contempta   sunt.  Agitur   hie   de  restitutione 

sacrarum  reliquiarum  S.  Benedicti  et  SeJtoJasticae,  quas  in  Gallias  sublatas  historicus 
hie  in  superioribus  narraverat. 

Darnach  wird  dieser  Synodalbeschluss  oft  erwähnt,  z.B.  von  Hefele  III2 
S.  406,  bei  Jaffe  Reg.  no.  2233a,  J.  Langen  Geschichte  der  roem.  Kirche  II  619: 
Mansi  folgend ,   bezweifeln    sie   alle   die  Echtheit   dieser  Nachricht.  Ich  habe 

Mansi's  Worte  in  ihrer  ganzen  Breite  ausgeschrieben,  damit  man  die  grobe  Fäl- 
schung klar  sehe  und  endlich  von  diesem  Bericht  nicht  mehr  spreche:  Alles,  was 
ich  mit  '  '  drucken  liess,  ist  wörtlich  aus  dem  Liber  pontificalis  §.  192  und  aus 
dem  Anfang  des  §.  193  ausgeschrieben. 

Dagegen  glaubte  man  in  unserm  Jahrhundert  einen  andern  echten  und  treff- 
lichen Bericht  über  einen  Beschluss  dieser  römischen  Synode  von  731  gefunden 
zu  haben.  Hormayr  veröffentlichte  1808  im  Historisch  -  statistischen  Archiv  für 
Süddeutschland  II  S.  209—213  ein  langes  Schreiben  Gregor's  III. ,  worin  jene 
römische  Synode  und  der  Pabst  nebenbei  auch  noch  einen  Streit  zwischen  den 
Erzbischöfen  von  Grädo  und  von  Aquileja  über  die  Rechte  ihrer  Aemter  und 
über  den  Umfang  ihrer  Sprengel  schlichten.  Dieser  lange  lebendige  Bericht 
passte  inhaltlich  trefflich  zu  dem  Einladungsschreiben  Gregor's  III.  zu  dieser 
Synode  (Jaffe  2232,  Mon.  Epist.  III  703)  und  zu  andern  Schreiben  Gregor  des  II. 
Also  haben  Kandier,  Codice  diplomatico  Istriano,  zum  Jahr  732  und  Mon.  Epist. 
III  704  dieses  Schreiben  gedruckt,  Jaffe  unter  no.  2234,  J.  Langen,  Geschichte  d. 
röm.  Kirche  II  S.  619  und  Monticolo  im  Bullettino  dell'Istituto  storico  Italiano  IX 
1890  S.  179  und  181 ,  dann  in  Fonti  per  la  storia  d'Italia  IX  1890  S.  6  es  als 
echt  registrirt  und  verwerthet  (Hefele  III2  S.  406  scheint  es  übersehen  zu  ha- 
ben): überliefert  ist  es  durch  eine  Abschrift  des  12.  Jahrhunderts  (im  Venezia- 
ner Archiv:  Atti  diplomatici  restituiti  dal  Governo  Austriaco  no.  140). 

Dieses  lange  Schreiben  scheint  ein  weisser  Rabe  unter  den  vielen  langweili- 
gen Pabstschreiben  zu  sein.  Jene  wiederholen  meistens ,  ganz  oder  zum  Theil, 
nur  die  Sätze  des  Formelbuchs,  des  Liber  diurnus ,  und  höchstens  bieten  einge- 
setzte Namen  oder  Sätze  etwas  Neues  :    dagegen   hier  wird  in  lebhafter  Sprache 

2*  ^ 


12  WILHELM   MEYER 

eine  dramatische  Scene  geschildert.  Auf  jener  römischen  Synode  habe  der  Erz- 
bischof von  Grado,  Antoninus,  dem  Erzbischof  Serenus  von  Foroiulii  Einbruch  in 
seine  Erzdiözese  vorgeworfen  und  den  Urtheilsspruch  der  Synode  angerufen ; 
da  habe  Antoninus  einen  vom  Pabst  Pelagius  bestätigten  Synodal-Beschluss  vor- 
gelegt, wodurch  die  Verlegung  des  Sitzes  von  Aquileja  nach  Grado,  Neu-Aqui- 
leja,  beschlossen  war;  dagegen  Serenus  habe  nur  ein  Schreiben  Gregor's  II.  vor- 
legen können  ,  worin  er  daran  erinnert  wurde ,  er  sei  nur  unter  der  Bedingung 
geweiht  worden,  dass  er  nie  Ansprüche  auf  Theile  des  gradenser  Erzbisthums 
erhebe.  So  hätte  Serenus  abgesetzt  werden  können,  doch  habe  der  Pabst  dem 
Reuigen  verziehen.  Dagegen  bestimmt  der  Pabst  nach  dem  ßeschluss  der  roemi- 
schen  Synode,  dass  der  Patriarch  Antonin  von  Neu-Aquileja,  d.h.  von  Grado,  und 
seine  Nachfolger  zu  allen  Zeiten  Primas  von  ganz  Venetien  und  Istrien  sein 
solle,  dagegen  'Foroiulensem  antistitem  Serenum  suosque  successores  Cormonensi 
Castro,  in  quo  ad  praesens  cernitur  sedere  in  finibus  Langobardorum,  solummodo 
semper  esse  contentos'.  Dem  Text  folgen  die  Unterschriften  von  vielen  Bischöfen, 
Presbytern  und  Diakonen. 

Das  Verblüffendste  an  diesem  Aktenstücke  sind  die  zahlreichen  Unterschrif- 
ten ;  diese  verrathen  aber  auch  auf  das  Deutlichste  den  ganzen  Betrug.  Es  ist 
eben  nicht  das  beste  Zeugniss  für  die  Geschichtsforschung  unseres  Jahrhunderts, 
dass  Niemand  gesehen  hat,  dass  die  ganze  lange  Liste,  mit  Ausnahme  weniger 
eingeschobener  Namen ,  und  das  genau  in  derselben  Reihenfolge  abgeschrieben 
ist  aus  einem  bekannten  Aktenstück,  den  Beschlüssen  der  römischen  Synode  von 
721  (Mansi  XII  262).  Diese  nimmt  in  den  Handschriften  der  reinen  Hadriana 
den  augenfälligen  letzten  Platz  ein  (Maassen,  Quellen  I  S.  448)  und  desshalb 
ebenso  im  Druck,  z.  B.  bei  Migne  Bd.  67  S.  342.  Hieraus  können  grobe  Schreib- 
fehler in  der  Fälschung  verbessert  werden ;  z.  B. 

Maiorinus  episcopus  sancte    ecclesiae  Hispanie  (*)  subscripsi.  Vinderedus 

episcopus  sancte  ecclesie  Polimartii  (*)  subscripsi. 

Mansi:  Maiorinus  ep.  eccL  Polimartii  subscripsi.  Sinderedus  (s.  Hefele  III2 
S.  362)  episcopus  ex  Hispania  huic  constituto  a  nobis  promulgato  subscripsi. 

Sedulus    episcopus   de   genere   Scotorum    subscripsi.  Sergastus"  episcopus 

huic  constituto  a  nobis  promulgato  subscripsi. 

Mansi :  Sedulius  ep.  Britanniae  de  genere  Scotorum  huic  constituto  a  nobis 
promulgato  -subscripsi.  Fergustus  episcopus  Scotiae  Pictus   huic  constituto  a 

nobis  promulgato  subscripsi  (vgl.  Beilesheim,  Geschichte  der  kath.  Kirche  in 
Irland  I  1890  S.  115). 

Dieser  Nachweis  allein  genügt  schon,  die  grobe  Fälschung  klar  zu  legen. 
Wer  diese  Fälschung  im  Einzelnen  kennen  lernen  will,  der  mag  noch  die  folgen- 
den Ausführungen  lesen. 

Veranlassung  und  Zeit  der  Fälschung. 
(Unklarheit  der  Rechtsverhältnisse).  Die    im    Jahre    607   eingetretene 

und  um  695  sanctionirte  Trennung  des  alten  Erzbisthums  Aquileja  in  2  Theile 
i 


Dil:    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  13 

war  eine  Folge  der  politischen  und  religiösen  Vorgänge  in  Oberitalien  im  6.  und 
7.  Jahrhundert,  allein  unnatürlich  war  doch  die  zu  enge  Nachbarschaft  zweier 
Erzbisthümer.  Das  Erzbisthum  des  Friaul  kam  besonders  zu  Ansehn  unter  Pau- 
lin,  dem  von  Karl  dem  Grossen  begünstigten  Dichter  und  Bischof,  und,  nachdem 
die  Drau  als  Grenze  gegen  das  Erzbisthum  Salzburg  festgesetzt  war ,  hatte  es 
seine  Kraft  besonders  in  den  Alpen;  die  Patriarchen  waren  kaiserlich  gesinnt 
und  zum  Theil  vornehme  Deutsche.  Grado  dagegen  wurde  mehr  und  mebr  die 
Puppe  in  der  Hand  der  Venetianer;  sein  Stützpunkt  war  hauptsächlich  das 
Küstenland  und  die  Patriarchen  waren  zum  grössten  Theile  Söhne  vornehmer 
venezianer  Familien.  Zwischen   den   beiden  Stiften  herrschte  zu  allen  Zeiten 

Zwietracht,  die  oft  zu  heftigen  Kämpfen  führte.  So  waren  zwei  kräftige  Gegner 
der  Aquilejer  Maxentius  und  der  Gradenser  Venerius,  deren  Streit  das  Konzil 
in  Mantua  827  beschäftigte.  Noch  gewaltigere  Gegner  waren  der  Aquilejer 
Poppo,  ein  kräftiger  Deutscher  und  Parteigänger  Konrad  des  IL,  aber  hoch  be- 
geistert für  die  Macht  und  den  Glanz  seines  Bisthums  Aquileja,  anderseits  der 
Gradenser  Ursus.  der  Bruder  und  zeitweise  Vertreter  des  Venezianer  Dogen. 

In  solchen  Streitigkeiten  handelte  es  sich  meistens  zunächst  um  einzelne 
Rechte  oder  Besitzungen,  und  gefochten  wurde  meistens  mit  Soldaten  mit  Gunst 
oder  Geld.  Allein  es  handelte  sich  doch  auch  um  höhere  Güter :  das  aquilejer 
Bisthum  war  ja  durch  seinen  Zusammenhang  mit  Marcus  allen  andern  vorange- 
stellt und  das  erste  nach  Rom ,  dann  stand  ihm  aus  ältester  Zeit  die  geistliche 
Herrschaft  in  Venetien  und  in  Istrien  zu  ;  die  Frage  war  nun ,  ob  diese  Rechte 
an  Aquileja-Foroiulii  (d.  h.  Cividale ,  seit  733  dem  gewöhnlichen  Wohnsitz  der 
Patriarchen)  oder  an  Aquileja-Grado  geknüpft  seien. 

Um  diese  Frage  zu  entscheiden  ,  brauchte  man  geistige  Waffen :  Urkunden, 
Geschichtswerke  oder  Aehnliches.  Aber  gerade  damit  stand  es  schlecht.  Dass 
vor  den  einbrechenden  Langobarden  um  568  der  Erzbischof  Paulus  aus  dem  al- 
ten Aquileja  nach  Grado  geflohen  sei,  das  stand  aus  Paulus  Diaconus  fest.  Un- 
klar ist,  was  Paulus  Diaconus  (III  26)  über  den  Dreikapitelstreit  in  Grado  um 
589  berichtet.  Vollends  das  wichtigste  Ereigniss,  die  Spaltung  des  einen  Erz- 
bisthums  in  zwei  um  607,  wird  von  Paulus  (IV  33)  also  geschildert:  His  diebus 
defuncto  Severo  patriarcha  ordinatur  in  loco  eius  Iohannes  abbas  patriarcha  in 
Aquileia  vetere  cum  consensu  regis  et  Gisulfl  ducis.  In  Gradus  quoque  ordinatus 
est  Romanis  Candidianus  antistes  .  .,  Candidiano  quoque  defuncto  aput  Grados 
ordinatur  patriarcha  Epiphanius  .  .  ab  episcopis  qui  erant  sub  Romanis.  Et  ex 
illo  tempore  coeperunt    duo    esse   patriarchae.  Dass  jener  langobardische  Pa- 

triarch 607  im  Gegensatz  zum  Pabst  gewählt  wurde,  dass  alle  die  in  Aquileja 
zunächst  folgenden  Patriarchen  Schismatiker  waren,  das  verschweigt  der  Lango- 
barde  Paulus  Diaconus.  Den  Rücktritt  der  Schismatiker  zum  Pabst  kennt  er 
gar  nicht ;  er  selbst  weiss  nicht ,  was  er  (VI  14)  mit  den  aus  Beda  abgeschrie- 
benen Worten  berichtet :  'Hoc  tempore  sinodus  Aquileiae  facta  ob  imperitiam  fidei 
quintum  universalem  concilium  suscipere  diffidit,  donec  salutaribus  beati  papae 
Sergii  monitis  instructa   et   ipsa   huic   cum   ceteris  Christi   ecclesiis  annuere  con- 


14  W I L  H  E  L M    M EYER 

sentit',  als  ob  etwa  695  auf  einer  Synode  nur  vorübergehende  Glaubensstreitig- 
keiten vorgekommen  seien.  Die  Patriarclienreihe  von  Aquileja  berichtet  er 
ruhig  weiter ,  ohne  um  Schisma  oder  um  Grado  sich  zu  bekümmern ;  so  VI  33 
mortuo  Petro  regimen  Aqu.  ecclesiae  suscepit  Serenus;  VI  45  apud  Foroiuli 
sublato  e  rebus  humanis  patriarcha  Sereno ,  Calistus  .  .  adnitente  Liutprando 
principe  Aquileiensem  ecclesiam  regendam  suscepit.  Damit  stehen  wir  aber  schon 
in  der  Zeit,  wo  auch  der  langobardische  Patriarch  in  Aquileia  vom  Pabst  aner- 
kannt ist  und  das  geweihte  Pallium  empfängt. 

Paulus  war  für  die  Urgeschichte  der  Patriarchate  Aquileja  und  Grado  den 
Meisten  die  einzige,  den  Andern  weitaus  die  bedeutendste  Autorität;  desshalb 
ist  nicht  zu  wundern ,  wenn  Niemand  später  sich  dessen  bewusst  war,  dass  das 
langobardische  Patriarchat  von  607  eigentlich  eine  schismatische  Neugründung 
sei  und  dessen  Patriarchen  bis  um  695  nur  vom  Pabst  getrennte  und  nicht  an- 
erkannte Schismatiker  gewesen  seien.  Die  von  mir  in  dem  ersten  Abschnitt  be- 
sprochene Zeit  des  Ueberganges  war  vollkommen  im  Dunkel.  Der  Langobarden- 
könig hatte  offenbar  verhindert,  dass  sein  aquilejischer  Patriarch  irgendwie  hinter 
dem  in  Grado  residirenden  kaiserlichen  zurückgesetzt  wurde.  So  war  das  Rechts- 
verhältniss  der  beiden  Erzstifter  nicht  klar  festgesetzt  worden.  Zwei  zufälliger 
"Weise  erhaltene  Schreiben  werfen  darauf  ein  Licht.  Zuerst  war  723  der  lan- 
gobardische Patriarch  Serenus  ,  bald  darauf  sein  Nachfolger  Calixtus  von  dem 
gradenser  Patriarchen  beim  Pabst  verklagt  worden  wegen  Eingriffe  in  die  Rechte 
und  Besitzungen  des  gradenser  Stifts.  Da  schreibt  Gregor  IL  723  —  also  etwa 
30  Jahre  nach  der  Anerkennung  des  langobardischen  Patriarchats  —  an  den  Se- 
renus (Mon.  Epist.  III  699  und  Bulletino  dell'  Ist.  stör.  ital.  no.  9  S.  181):  pre- 
cibus  eximii  filii  nostri  regis  flexi  .  .  pallium  tibi  direximus  interdicentcs  et  inter  cetera, 
ne  umquam  aliena  iura  invaderes  aut  temeritatis  ausu  usurpares  iurisdictionem  cuius- 
quam,  sed  in  Ms  esses  contmtus,  quae  usque  hactenus  possedisti,  dann  an  die  Gegner 
des  Serenus  (Mon.  Epist.  III  700)  ei  concessum  pallium  sub  hac  esse  conditione, 
dilectissimi,  sciatis;  und  vielleicht  10  Jahre  später  schreibt  Gregor  III.  an  Calixt 
(Mon.  Epist.  III  707)  dilectionem  tuani  .  .  pallii  promeruisse  benedictionem ;  commo- 
nitum  te  quoque,  ut  in  sanctae  nostrae  ecclesiae  scrincis  testantur  volumina,  fuisse,  ne 
umquam  anderes  tu  vel  tue  futuri  successores  aliena  invadere  iura  aut  temer itate  qua- 
iibet  ülicila  penetrare  (jicrpetrare?).  Daraus  folgt,  dass  diese  Päbste  bei  der  Ueber- 
gabe  des  Palliums  an  den  aquilejer  Patriarchen  eine  scharfe  Warnung ,  fremde 
Rechte  nicht  zu  verletzen,  hinzuzufügen  pflegten;  selbst  diese  Warnung  lautete 
nur  allgemein  und  erwähnte  nicht  ausdrücklich  das  gradenser  Erzstift.  Die  Haupt- 
sache ist,  dass  schon  um  730  im  päpstlichen  Archiv  trotz  Suchens  kein  Schrift- 
stück zu  finden  war,  worin  die  Rechtsverhältnisse  beider  Patriarchate  fest  be- 
stimmt gewesen  wären.  Es  waren  also  —  diesen  Schluss  müssen  wir  machen 
—  auch  30  Jahre  vorher  bei  der  Anerkennung  des  langobardischen  Patriarchats 
vom  Pabst- in  keiner  Weise  jene  Rechtsverhältnisse  schriftlich  bestimmt  worden. 

Selbst  die  eben  genannten  Drohbriefe  der  beiden  Päbste  Gregorius  lagen  bis 
ins  10.  Jahrhundert  unbeachtet  in  einem  Wrinkel  des  gradenser  Archivs.  Dess- 
6 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUTLEJA  15 

halb  müssen  wir  sagen :  seit  etwa  750  fehlte  jede  Sicherheit,  welches  der  beiden 
Patriarchat  die  Vorrechte  des  alten  aqnilejischen  Erzbisthums  zu  beanspruchen 
habe.  Diese  Rechtsunklarheit  hat  jene  nie  endenden  Streitigkeiten  veranlasst. 
Da  klare  Beweise  fehlten,  so  stützte  man  sich  bald  auf  diese  bald  auf  jene  That- 
sache,  oder  man  benützte  diese  oder  jene  Notiz,  um  darauf  Theorien  aufzubauen. 
Die  Thatsachen  sprachen  nun  sehr  für  die  Langobarden.  Ihr  Patriarchat  trug 
den  Namen  Aquileja  und  die  Stadt  Aquileja  lag  in  seinem  Sprengel:  dieser 
leuchtenden  Thatsache  gegenüber  konnten  keinerlei  sichere  Urkunden  oder  Be- 
richte angeführt  werden. 

Bei  dieser  Rechtsunsicherheit  begreift  es  sich,  dass  die  istrischen  Bischöfe 
das  vom  griechischen  Kaiser  schwach  unterstützte  gradenser  Patriarchat  ver- 
lassen und  dem  mächtigen  und  von  den  langobardischen ,  dann  von  den  fränki- 
schen Königen  und  Kaisern  begünstigten  langobardischen  Patriarchat  sich  an- 
schliessen  wollten.  Hierum  drehte  sich  oft  der  Streit.  So  schon  um  770  (vgl.  die 
Briefe  des  Pabstes  Stephanus  III.  und  des  gradenser  Patriarchen  Johannes  in  Mon. 
Epist.  III  715),  dann  noch  entschiedener  nach  800  *). 

Die  Rechtstheorie  der  Aquilejer2). 

Paulin  war  von  Karl  dem  Grossen  begünstigt  und ,  wie  er  von  Aquileja 
seinen  Beinamen  erhielt,  so  hat  er  zuerst  dem  Patriarchat  Glanz  verliehen.  Doch 
war  er  mehr  ein  Gelehrter  und  Dichter  ,  und  das  ihm  zugeschriebene  Gedicht 
über  Aquileja's  Schicksal  (zuletzt  in  Monumenta,  Poetae  aevi  Karolini  I  S.  142) 
passt  in  Form  und  Inhalt  zu  seiner  Art :  mit  Benützung  des  Jordanes  (cap.  42) 
wird  lyrisch  geschildert,  wie  das  grosse  und  glänzende  Aquileja  von  Attila  zerstört 
worden  sei,  wie  jetzt  nur  einige  Hütten  dort  stehen  und  in  den  Kirchen  Füchse 
und  Schlangen  hausen.  Die  Absicht  diesen  Zustand  zu  ändern  (Paulin  selbst  re- 
sidirte  nur  in  Foroiulii)  wird  in  keiner  Weise  ausgesprochen,  ja  das  Gegentheil 
verkünden  die  Worte  'iaces  pressa  ruinis,  numquam  reparabilis  tempus  in  omne'. 

Sein  Nachfolger  Maxentius  war  kein  Dichter,  aber  klug  und  thatkräftig. 
Karl  der  Grosse  schreibt  am  21.  Dez.  811  'Maxentius  patriarcha  .  .  sedem  quae 
in  Aquileja  ci  vi  täte  priscis  temporibus  constructa  fuerat  et  ob  metum  vel 
perfidiam  Gothorum  et  Avarorum  seu  ceterarum  nationum  derelicta  et  destituta 
hactenus  remanserat,  cum  nostro  adiutorio  construere  atque  reparare  ad  pri- 
stinum  honorem   expetit'    (De  Rubeis,  Monumenta  ecclesiae  Aquil.  Sp.  402). 

Doch  Maxentius  ging  weiter.  Er  fühlte  sich  durchaus  als  Nachfolger  des 
Apostels  Marcus  und  des  Hermagoras,  wie  auch  seine  Kirche  von  den  Kaisern 
genannt  wird  mater  ecclesia  S.  Marci  evangelistae  et  S.  Hermagorae  martyris 
et  pontificis.     Da    stand    ihm    der   Patriarch    von    Grado    mit    den   gleichen  An- 

1)  Johannes  Diaconus,  Chronikon  (S.  111  bei  Monticolo,  Cronache  Veneziane,  1890):  Istrienses 
episcopi,  qui  consecrationis  donum  a  Gradensi  patriarcha  more  solito  recipiebant,  Aquilegensi  me- 
tropolitano,  Longobardorum  regis  virtute  coacti,  sese  subdiderunt. 

2)  Vgl.  besonders  Ughelli,  Italia  sacra,  V  1720  8p.  1  —  142,  und  De  Rubeis,  Monumenta  eccle- 
siae Aquilejensis  1740. 

6 


IG  •  WILHELM    MEYER 

Sprüchen  entgegen.  Der  Streit  zog  sich  durch  mehrere  Jahre.  Endlich  erfocht 
Maxentius  auf  der  grossen  Synode  zu  Mantua  827  einen  glänzenden  Sieg 
(Acta  bei  Mansi  XIV  494  und  De  Rubeis  Sp.  414). 

Hier  ist  die  Theorie  ausgesprochen ,  welche  die  Patriarchen  von  Aquileja 
während  des  ganzen  Mittelalters  verfochten  haben.  Von  dem  Apostel  Marcus  und 
von  Hermagoras  gegründet ,  sei  Aquileja  stets  discipula  und  vicaria  Rom's  ge- 
wesen ;  Paulus  sei  nur  vor  den  Langobarden  nach  Grado,  einer  befestigten  Som- 
merresidenz der  aquilejer  Patriarchen,  geflüchtet  (ad  Gradum  insulam ,  plebem 
suam ;  auch  castrum  Gradus  genannt),  durchaus  nicht  in  der  Absicht,  dorthin  sei- 
nen kirchlichen  Sitz  zu  verlegen.  Dann  seien  Probinus,  Helias  und  Severus  dort 
geblieben.  Defuncto  Sevcro  ordinatur  loco  eius  Iohannes  patriarcha  eo  tempore,  quo 
Agilulplius  rex  Longobardorum  regnabat ;  in  Gradu  quoque  ordinatus  est  haereiicus 
Candidianus.  Das  ist  Alles  aus  Paulus  Diaconus  genommen.  Der  Zusatz  haere- 
iicus bezieht  sich  nicht  auf  den  Dreikapitelstreit ,  von  dem  Paulus  kaum  spricht 
und  an  den  hiebei  nie  ein  aquilejer  oder  gradenser  Geschichtschreiber  gedacht 
hat,  sondern  auf  die  Ausdeutung  der  "Worte  des  Paulus.  Sagt  dieser  IV  33  'ex 
illo  tempore  coeperunt  duo  esse  patriarchae',  so  sagt  unser  Aquilejer  'hie  enim 
Candidianus  nee  per  consensum  comprovincialium  episcoporum  nee  in  civitate 
Aquileia,  sed  in  dioecesi  et  plebe  Aquileiensi  Gradus,  quae  est  perparva  insula, 
contra  canonum  statuta  et  sanetorum  patrum  decreta  ordinatus  est'  und  'Candi- 
dianus hanc  divisionem  cum  Graecis,  qui  Histriam  tenebant,  gessit'.  Dazu  wur- 
den gegen  Candidianus  gerichtete  Stellen  aus  einem  Schreiben  des  langobardi- 
schen  Patriarchen  Johannes  an  seinen  König  von  607  citirt  (vgl.  auch  Monum. 
Epist.  III  S.  693) :  die  Istrier  und  ihre  Bischöfe  seien  damals  von  ihren  Herren, 
den  Griechen,  gezwungen  worden,  dem  Candidianus  sich  unterzuordnen. 

Es  wird  dann  von  der  Synode  anerkannt,  dass  Gradus  nur  eine  plebs,  eine 
Gemeinde,  von  Aquileja  sei;  dass  Aquileja  immer  domina  Gradensium  gewesen 
sei ,  dass  das  alte  Erzstift  gegen  die  kirchlichen  Gesetze  getheilt  sei  und  Aqui- 
leja für  alle  Zeiten  prima  et  metropolis  bleibe,  dass  also  auch  die  Istrier  ihm 
untergeben  seien. 

Wir  haben  jetzt  allerdings  durch  sorgfältige  Vergleichung  aller  Nachrichten 
erkannt,  dass  vom  Standpunkt  des  Kirchenrechts  aus  diese  hauptsächlich  auf  dem 
Schreiben  des  Patriarchen  Johannes  aufgebaute  Darstellung  der  Ereignisse  un- 
richtig ist;' allein  damals  sah  Niemand  klarer  und  konnte  Niemand  klarer  sehen, 
und  es  ist  ungerecht,  der  Mantuaner  Synode  absichtliche  Verdrehung  der  ge- 
schichtlichen Wahrheit  vorzuwerfen.  Es  ist  ja  charakteristisch,  dass  im  Mittel- 
alter auch  nicht  die  heftigsten  Feinde  Aquileja's  die  Irrgläubigkeit  der  aquilejer 
Erzbischöfe  nach  Severus  bis  zur  Wiedervereinigung  mit  Rom  hervorgehoben  ha- 
ben; es  hat  sie  eben  Niemand  gekannt. 

Die  in  Mantua  gebilligte  Theorie  der  Aquilejer  ist  die  Grundlage  ihrer  spä- 
teren Erklärungen  geblieben:  'etiam  de  Gradensi  plebe  proclamavit'  ist  in  den 
aquilejer  Annalen  das  Prädikat  manches  Patriarchen.  Zunächst  erkannte  nach 
mehreren    Verhandlungen    Ludwig   IL    am    30.    Üct.    854    die    Beschlüsse    der 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  17 

mantuaner  Synode  vollständig  an  (freilich  mit  dem  nahe  liegenden  Fehler,  dass 
hier  der  Patriarch  Paulus  vor  Attila  flieht) ;  die  aquilejer  Rechtstheorie  wird 
ergänzt  durch  einen  Vergleich  Aquilejas  und  Grado's  mit  Mailand  und  Genua: 
wie  der  Patriarch  Paulus  nach  Grado ,  so  sei  damals  auch  der  mailänder  Erz- 
bischof nach  Genua  geflohen  ;  allein  post  redditara  pacem  Mediolanensis  ecclesia 
pristinam  recuperaverat  dignitatem  et  Januensis  episcopus  sub  Mediolanensi  in 
suffraganei  ordine  manserat :  ebenso  sei  der  Stuhl  des  Erzbischofs  von  Aquileja 
nur  vorübergehend   in  Grado    gewesen ,    von    Paulus   bis    Severus.  Das  blieb 

der  Standpunkt  der  Aquilejer  Patriarchen. 

Verdächtig  ist  das  bis  jetzt  nur  aus  jungen  Handschriften  (vgl.  Kehr  in 
Göttinger  Nachrichten  1896  S.  280)  bekannte  Privileg  Leo's  VIII.  vom  Jahr  963 
für  den  Patriarchen  Rodoaldus  (JafFe  3701) :  von  der  vollständigen  langen  For- 
mel des  Liber  diurnus  no.  45  de  usu  pallii  (S.  32 — 35  Sickel)  ist  nur  der  vor- 
letzte Satz  weggelassen  und  an  seine  Stelle  gesetzt  die  Erklärung,  1)  dass 
das  alte  von  dem  h.  Petrus  dem  Hermagoras  übergebene  (contraditum)  Privileg 
für  Aquileja,  welches  die  heidnischen  Feinde  verbrannt  hätten,  durch  das  gegen- 
wärtige ersetzt  werden  solle;  2)  volumus,  ut  inter  omnes  Italicas  ecclesras 
dei  sedes  prima  post  Romanara  Aquileiensis  habeatur;  3)  dass  die  künftigen 
Erzbischöfe  nur  aus  Angehörigen  der  Aquilejer  Kirche   gewählt  werden  dürften. 

Fast  plumb  erscheint  diese  Erfindung  eines  Stiftungsbriefes,  den  der  h.  Pe- 
trus selbst  ausgefertigt  hatte  und  der  dann  verbrannt  war.  Die  Anerkennung 
des  Stuhls  als  des  ersten  nach  Rom  stimmt  freilich  mit  der  Einleitung  der  man- 
tuaner  Beschlüsse,  ist  aber  auch  stets  das  Ziel  der  stolzen  und  mächtigen  Pa- 
triarchen Aquileja's  gewesen1). 

Diese  Theorie  war  gegen  die  Patriarchen  von  Grado  gerichtet.  Ja,  die 
mächtigen  Aquilejer  wollten  ihre  zu  Mantua  anerkannte  Theorie,  dass  Grado 
eine  von  den  Aquilejern  angelegte  Sommerresidenz ,  also  nur  eine  Besitzung 
(plebs,  castrum)  von  Aquileja  sei,  oft  zur  Wirklichkeit  machen :  sie  suchten  sich 
des  Ortes  selbst  mit  Waffengewalt  zu  bemächtigen.  Allein  mehr  und  mehr  wurde 
Grado  von  den  Venezianern  als  ihre  heimathliche  geistliche  Oberbehörde  ange- 
sehen, und  mit  der  Macht  Venedigs  wuchs  auch  der  Schutz,  den  Grado  genoss: 
in  den  Jahren  880  und  944  musste  der  aquilejer  Patriarch  dem  Dogen  versprechen, 
seine  Soldaten  nie  wieder  Grado  belästigen  oder  betreten  zu  lassen. 

Im  Jahre  1019  kam  Poppo  auf  den  Patriarchenstuhl,  der  eifrigste  Vertre- 
ter der  Ansprüche  Aquileja's,  mehr  noch  als  einst  Maxentius.  Er  war  ein  vor- 
nehmer Deutscher,  ein  kriegstüchtiger  Mann  und  eifriger  Anhänger  des  Kaisers; 
zugleich  schwärmte  er  für  den  ßuhm  seines  Patriarchats.  Zunächst  setzte  er 
ins  Werk ,  was  schon  Maxentius  gewollt  hatte ;  er  erbaute  und  schmückte  den 
prächtigen  Dom,  der  noch  jetzt  die  Zierde  des  einsamen  Aquileja  ist,  und  ver- 
mehrte das  Domkapitel  auf  50  Geistliche.     Als  dann  Venedig  durch  innern  Auf- 


1)  Prof.  Kehr  ist  der  Ansicht,    alt  sei  nur  der  Theil,    welcher  aus  dem  Liber  diurnus  genom- 
men ist,  das  Andere  jüngerer  Zusatz. 

Abhandlgn.  d.  £.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  e.  3  £ 


18  WILHELM    MEYER 

rühr  unmächtig  war,  besetzte  er  Grado  selbst  und  brachte  Reliquien  und  vielen 
andern  Schmuck  —  angeblich  den  von  Paulus  568  nach  Grado  gebrachten  Kirchen- 
schatz des  alten  Aipileja  —  in  seine  Nenschöpfung.  Freilich  von  den  geeinigten 
Venezianern  wurde  ihm  bald  Grado  wieder  entrissen. 

Hartnäckiger  war  der  Rechtskampf.  Genau  200  Jahre  nach  der  grossen  Sy- 
node von  Mantua  hat  Poppol027  auf  der  glänzenden  von  Kaiser  Konrad  II.  und 
dem  Pabst  Johann  XIX.  geleiteten  Kirchenversammlung  in  Rom,  welche  sich  an 
die  Kaiserkrönung  anschloss,  sein  Ziel  erreicht ;  die  Beschlüsse  der  mantuaner 
Synode  wurden  feierlichst  bestätigt,  unter  Anderm  mit  den  Worten:  Popponem 
patriarcham  de  Gradensi  plebe  cum  suis  pertinentiis  ad  ius  Aquilegiensis  eccle- 
siae  revestiri,  ita  ut  pontificali  sede  ibidem  (d.h.  in  Grado)  prohibita  perpetuis 
temporibus  sanctae  Aquilegiensi  ecclesiae  dioecesis  iure  subjaceat  (Mansi  XIX 
479;  De  Rubeis,  Monumenta  S.  514). 

Hieran  sich  anschliessend  gab  der  Pabst  Johann  XIX.  im  September  1027 
dem  Poppo  ein  Privileg  (Jaffe  4085,  Ughelli  V  49),  worin  er  nach  dem  Vorgang 
des  h.  Petrus,  des  Eugen  (in  Mantua  827)  und  des  Gregor  (V.?)  erklärt:  pa- 
triarchatum  s.  Aquileiensis  ecclesiae  fore  caput  et  metropolim  super  omnes  Italiae 
ecclesias,  quoniam  ante  omnes  constitutam  et  in  fide  Christi  fundatam  fuisse  cog- 
noscimus,  atque  volumus  sedem  Aquileiensem  in  cunctis  fidei  rebus  peculiarem 
et  vicariam  et  secundam  esse  post  hanc  almam  romanam  sedem  .  ..  Nee  non 
confirmamus  vobis  .  .  insulam,  quae  Gradus  vocabatur ,  cum  omnibus  suis  perti- 
nentiis ,  quae  barbarico  impetu  ab  eadem  Aquileiensi  ecclesia  subtraeta  fuerat  et 
falso  patriarchali  nomine  utebatur. 

Die  Erregung  jener  Zeiten,  wo  nicht  nur  leibliche  Güter  und  Würden  leicht 
gewonnen  und  verloren  wurden ,  sondern  auch  Ansichten  und  Ueberzeugungen 
leicht  gewechselt   wurden  ,    spiegelt   sich   darin ,    dass   wahrscheinlich *)  schon  im 


1)  Es  handelt  sich  um  ein  vom  Pabst  Johann  XIX.  dem  gradenser  Patriarchen  Ursus  'indictione 
oetava'  ausgestelltes  Privileg  (Ughelli  V  1110/2,  Jaffe  no.  4063).  Nach  den  Ausführungen  Bresslau's 
(Jahrbücher  Konrad's  II.,  Bandl  S.  150/8  und  456/9,  und  in  den  Mittheiluugen  d.  Inst.  f.  öst,  Geschichts- 
forschung IX  1888  S.  27  Note)  hat  Johann,  eben  geweiht,  im  Spätsommer  1024  dem  Poppo  die 
Insel  Grado  als  Eigenthum  zugesprochen  (also  auch  das  gradenser  Patriarchat  ihm  untergeordnet), 
dann  im  Dezember  1024  mit  der  bezeichneten  Constitution  (Jaffe  4063,  Ughelli  V  1110)  den  schänd- 
lichen Betrug  Poppo's  mit  den  stärksten  Ausdrücken  gebrandmarkt  und  alle  Rechte  des  gradenser 
Patriarchen  anerkannt,  hat  dann  sicher  in  denselben  Dezembertagen  mit  der  im  Original  erhaltenen 
Urkunde  (bei  Pflugk-Harttung  Acta  II  S.  66  und  bei  Jaffe  irrthümlich  unter  1025  als  no.  4070  ein- 
gereiht) die  Privilegien  Grado's  de  statu  ecclesiae  suae  sive  de  rebus  ac  possessionibus  (nach  einem 
Muster  aus  der  Ottonenzeit;  vgl.  Ughelli  V  11 15  ab)  bestätigt,  allerdings  höchst  auffälliger  Weise 
in  dem  harmlosesten  Ton ,  ohne  jenen  aufgeregten  Rechtshandel  auch  nur  mit  einem  Worte  zu 
berühren;  schon  2*  Jahre  später  hat  dann  Johann  zuerst  am  4.  April  und  dann  im  September  1027 
(Jaffe  no.  4085)  mit  starken  Ausdrücken  wieder  dem  gradenser  Patriarchen  alle  Rechte  aberkannt 
und  dem  aquilejer  nicht  nur  das  Eigenthum  über  Grado  zuerkannt,  sondern  auch  erklärt,  dass  die 
Gradenser  'falso  patriarchali    nomine  utebantur'.  Diese  Ordnung    der  Schreiben   ist  nicht  ohne 

Bedenken  (etliche  hat  schon  De  Rubeis  hervorgehoben),  aber  so  lange  das  Schreiben  Johann's  XIX. 
(Jaffe'  4063)  als  echt  gelten  muss,  kann  man  wohl  nicht  anders  auskommen. 


DIE   SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  19 

Spatsommer  1024  derselbe  Johann  dem  Poppo  das  Eigenthum  über  Grado ,  also 
auch  die  Unterordnung  jenes  Patriarchats  zugestanden  und  im  Dezember  dessel- 
ben Jahres  als  durch  Lug  und  Trug  erschlichen  wieder  abgesprochen  hatte. 
Jedenfalls  hat  die  Macht  Venedig's  den  Bestand  Grado's  gesichert  und  es  haben 
sich  Päbste  genug  gefunden ,  welche  die  Ansprüche  Grado's  anerkannten.  Der 
Ruhm  aber  bleibt  Poppo ,  dnss  er  durch  seine  glänzenden  Bauten  in  der  Stadt 
Aquileja  und  durch  sein  unablässiges  Pingen  die  Ansprüche  Aquileja's  am  deut- 
lichsten zum  Ausdruck  gebracht  und  Vorrechte  für  dasselbe  errungen  hat,  wie 
keiner  seiner  Vorgänger  oder  Nachfolger. 

(Die  Gradenser  Rechtstheorie).  Wie  die  Gradenser  ihre  Ansprüche  auf 

die  Vorrechte  des  alten  aquilejer  Patriarchats  begründen  mussten,  das  zeigte  die 
Weise ,  wie  ihre  Gegner  die  ihrigen  begründet  hatten.  Behaupteten  die  Aqui- 
lejer, dass  einst  das  Patriarchat  nur  vorübergehend  nach  Grado  verlegt  worden 
sei,  so  mussten  die  Gradenser  behaupten,  dass  es  feierlich  dorthin  verlegt  wor- 
den sei;  dann  aber  mussten  sie  das  Aufkommen  des  neuen  Patriarchats  beleuch- 
ten und  gegebenen  Falls  die  Anerkennung  desselben  durch  die  Päbste.  Wie  sie 
im  Lauf  der  Jahrhunderte  diese  Theorie  entwickelten,  das  will  ich  darzulegen 
versuchen. 

Der  Brief,  mit  welchem  nach  dem  glänzenden  Sieg  der  Aquilejer  zu  Mantua 
der  gradenser  Patriarch  Venerius  sich  an  den  Pabst  wendete  (Ughelli  V  1105), 
ist  inhaltslos.  Die  Gradenser  wehrten  sich  heftig  gegen  die  Ansprüche  Aqui- 

leja's. Gregor  IV.  (827 — 844)  fällte  ein  Urtheil  in  diesem  Streite  und  Sergius  IL 
(844 — 847)  hatte  ebenfalls  die  beiden  Patriarchen  vorgeladen,  um  ihren  Rechts- 
streit zu  entscheiden,  und  wollte  ihn  dann  auf  einer  allgemeinen  Synode  behan- 
deln (Jaffe  2592,  Ughelli  V  38).  Aber  die  Aquilejer  waren  Günstlinge  der  Ka- 
rolingeriursten  und  Ludwig  IL  bestätigte  854  einfach  die  mantuaner  Beschlüsse. 

In  dieser  Zeit,  wo  Ludwig  und  Lothar  (sie  regierten  Italien  gemeinsam  von 
844 — 855)  mit  dem  Rechtstreit  beschäftigt  waren  und  ein  entscheidendes  Urtheil 
von  ihnen  erwartet  wurde,  ist  der  Rythmus  de  Aquileja  numquam  restau- 
randa  geschrieben  (Honumenta ,  Poetae  Kar.  II  150).  Aeusserlich  ist  er  eine 
Antwort  auf  jene  dem  Paulinus  von  Aquileja  zugeschriebene,  lyrische  Klage  über 
den  Verfall  der  Stadt  Aquileja  (Poetae  kar.  I  142;  oben  S.  15),  aber  in  Wahrheit 
eine  Vertheidigung  der  gradenser  Rechte  gegen  die  Aquilejer  und  gegen  die 
mantuaner  Beschlüsse. 

Der  Verfasser  ist  ein  Venezianer  oder  Gradenser:  Venetiarum  gens  .  .  om- 
nes  nationes  superat  per  gratiam  .  .  firma  fide;  dagegen  —  so  wird  dem  frühe- 
ren Rythmus  geantwortet  —  haben  die  Aquilejer  durch  ihre  Ruchlosigkeit  ver- 
dient, dass  in  der  Stadt  jetzt  nur  Schlangen  und  Frösche  hausen,  und  die  Für- 
sten werden  gewarnt,  dieselbe  ja  nicht  wieder  aufzubauen  (Maxentius  scheint 
also  seinen  Bauplan  von  811  nicht  ausgeführt  zu  haben).  Dem  Betrüger  Maxen- 
tius habe  Karl  d.  Gr.  das  Recht  über  Dalmatien  zuerkannt,  Ludwig  der  Fromme 
es    abgesprochen ;    bei    den    Verhandlungen    unter    Ludwig    des    Frommen    und 


\i 


20  WILHELM    MEYER 

Lotbars  gemeinsamer  Regierung  (822 — 840)  Labe  stets  die  Gerechtigkeit  den 
Betrüger  Maxentius  überwunden  (dass  die  mantuaner  Synode  827  die  Vorrechte 
der  Aquilejer  über  Istrien  anerkannt  hat,  wird  also  übergangen);  so  möge  auch 
jetzt  vor  dem  Richterstuhle  Lothar's  und  Ludwig's  IL  Gott  der  Gerechtigkeit 
Sieg  verleihen  (fac  devincere  fallaces),  d.  h.  wohl,  den  Aquilcjern  die  Patriarchal- 
rechte  über  Istrien  absprechen  lassen. 

Die  Rechtsfrage  wird  in  Str.  15 — 19  berührt.  Hat  das  Konzil  von  Man- 
tua  827  gesagt ,  607  sei  Johannes  in  Aquileja  richtig  gewählt  worden,  dagegen 
habe  sich  Candidianus  in  Grado,  der  aquilejischen  Gemeinde,  einen  geleisteten 
Schwur  verletzend  neben  Johannes  contra  canonum  statuta  et  sanctorum  patrum 
decreta  zum  Patriarchen  wählen  lassen  und  sei  so  haereticus  geworden,  so  er- 
widert der  gradenser  Dichter :  Johannes  abbas  haereticus, 
Reus  et  periurus  suo  Viuentio  pontiflci 

Iohannes  Foroiulensi  isdem  in  plebicula 

erectus  atque  rebellis  praesulatum.  arripuit. 

Dümmler  verzeichnet  hiernach  einen  'Viventius  patriarcha  Aquilejensis' :  allein 
einen  solchen  gab's  nie.  Es  ist  vielmehr  einfach  zu  schreiben :  suo  viventi  pon- 
tiflci1). Der  Dichter  hat  also  nur  den  Spiess  umgedreht  und  die  Beiwörter 
haereticus,  periurus,  praesulatum  arripuit,  plebicula  zurück  gegeben :  offenbar  hat- 
ten die  Gradenser  über  die  Geschichte  der  beiden  Patriarchate  noch  nicht  nach- 
geforscht oder  nachgedacht  und  hatten  noch  keinerlei  Theorie  sich  gebildet. 

Ein  wichtiger  Fortschritt  zeigt  sich  zuerst  in  einer  Urkunde  Otto's  IL  vom 
2.  April  974.  Otto  IL  erwähnt  eine  von  seinem  Vater  auf  der  römischen  Synode 
am  2.  Januar  967  für  den  Gradenser  Patriarchen  ausgestellte  Urkunde  und  sagt 
von  jenen  Synodal-Verhandlungen  'ubi  tunc  omnium  invidorum  inimititiam  (iusti- 
tiam  hat  die  Handschrift)  in  synodo  divini  Spiritus  praecibus  praedictorum  sancto- 
rum (S.  Marci  et  Hermachorae)  atque  confessoris  papae  Gregorii  discretione,  qui 
lites  sanctorum  amborum  patriarcharum  disecans  patriarchales  concesseiat  infulas 
utrisque'  usw.  (Monum.,  Kaiserurkunden  II,  1888,  S.  86).  Hieraus  ergibt  sich: 

auf  der  römischen  Synode  im  Jahre  967  wurde  eine  Urkunde  eines  Pabstes  Gre- 
gor vorgelegt,  v/elcher  Streitigkeiten  zwischen  den  Patriarchen  von  Grado  und 
von  Aquileja  dadurch  beendigt  hatte,  dass  er  beiden  die  Patriarchenwürde  ver- 
lieh. Damit  kann  nach  meinem  Wissen  nur  der  schon  öfter  (S.  9  und  14)  benützte 
Warnungsbrief  Gregor's  IL  von  723  gemeint  sein,  worin  er  dem  aquilejer  Pa- 
triarchen Serenus  erklärt,  er  sei  nur  unter  der  Bedingung  geweiht  worden,  dass 
er  die  Rechte  seiner  Nachbarn  nicht  antaste.  Wie  schon  der  Pabst  Gregor  III. 
im  päpstlichen,  so  hatten  also  um  967  die  gradenser  Patriarchen  in  ihrem  eigenen 
Archiv  kein  anderes  Aktenstück ,  um  die  Entstehung  der  2  Patriarchate  zu  be- 
leuchten.    Viel  Licht  spendete  dieses  Aktenstück  freilich  nicht. 


1)  Ebenso  schreibt  um  1008  Johannes  Diaconus  (bei  Monticolo,  Cronache  veneziane  S.  105,  3) 
von  Johannes,  welcher  den  Stuhl  des  Fortunat  eingenommen  hatte,  'Iohannes  patriarcha,  qui  .  . 
Gradensem  sedem  vivente  pastore  usurpavit,  sinodali  censura  depositus  est'. 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  21 

In  denselben  Urkunden  der  beiden  Otto  wurden  weiterhin  die  Besitzungen 
des  gradenser  Patriarchen  im  Reiche  ausführlich  bestätigt.  Die  betreffenden 
Urkunden  sah  Dandolo  und  berichtet  demnach  über  jene  Synode  von  9G7:  'visis 
et  discussis  privilegiis  Gradensis  ecclesiae  definitione  synodi  terminatum  est,  dic- 
tam  ecclesiam  esse  patriarchalem  et  metropolim  totius  Venetiae'.  Das  sind  aber 
die  Anschauungen  seiner  Zeit,  die  alten  Gradenser  wagten  noch  nicht,  solche 
Folgerungen  zu  ziehen. 

Doch  unter  dem  immer  mächtigeren  Schutze  Venedigs *)  wuchs  auch  das 
Selbstbewusstsein  der  gradenser  Geistlichkeit.  Je  mehr  die  Aquilejer  auf  ihre 
Rechte  pochten,  ja  sogar  Grado  als  ihr  Eigenthum  in  Anspruch  nahmen ,  um  so 
mehr  mussten  die  Gradenser  darnach  streben ,  zu  beweisen,  dass  die  Ansprüche 
des  ursprünglichen  aquilejer  Patriarchat's  rechtmässig  auf  das  gradenser  über- 
gegangen seien. 

Der  kurze  Bericht  über  die  Provinzial-  Synode  des  Patriarchen  Elias  in 
Grado.  Für  die  Gradenser  war  es  die  empfindlichste  Blosse,  dass  sie  die  feier- 
liche Verlegung  des  Patriarchats  von  Aquileja  nach  Grado  nicht  beweisen 
konnten.  Diese  bedurfte  zu  allen  Zeiten  der  schriftlichen  Genehmigung  des 
Pabstes.  Da  die  Gradenser  eine  solche  Urkunde  nicht  hatten,  so  machten  sie 
sich  eine.  In  dem  Konzil  zu  Mantua  827  lasen  sie  die  Aussage  eines  Graden- 

ser's  'nihil  amplius  habere  (von  authentica  exemplaria  auetoritatum)  nisi  synodum 
ab  Helia  Aquileiensi  patriarcha  in  Castro  Gradensi,  quod  plebs  eius  erat,  aetam 
fuisse,  cuius  initium  est  'Cum  in  Castro  Gradensi  ac  plebe  sua  Helias  patriarcha 
s.  Aq.  ecclesiae  cum  Marciano  .  .  et  reliquis  consacerdotibus  suis  consedisset  et 
reliq.'  .  .  item  subscriptiones  episcoporum  huius  synodi  in  plebe  Gradensi  aetae, 
videlicet  'his  gestis  apud  nos  habitis  subscripserunt:  Marcianus  Opitergiensis' 
u.s.w.  (folgen  noch  17  Namen  von  Bischöfen  und  ihrer  Sitze)2);  von  dem  Be- 
rathungsgegenstand  dieser  Synode  war  absolut  nichts  berichtet.  Anderseits  lasen 
die  Leute  in  ihrer  Lieblingsquelle ,  der  Historia  Langobardorum  des  Paulus  III 
20,  dass  der  Pabst  'Pelagius  Heliae  Aquileiensi  episcopo  nolenti  tria  capitula 
Calchidonensis  synodi  suseipere  epistolam  satis  utilem  misit'. 

Diese  Andeutung  über  den  Irrglauben  des  Elias  verstanden  sie  weiter  nicht; 
sie  machten  aber  schnell  fertig  die  Erzählung  zurecht:  Elias  habe  eine  Provin- 
zialsynode  abgehalten,  in  welcher  über  das  Konzil  von  Chalcedon  gehandelt,  dann 
aber  die  feierliche  Verlegung  des  Patriarchats  von  Aquileja  nach  Grado  mit 
Wissen  des  Pabstes  Pelagius  (II  578 — 590)   beschlossen  worden  sei;    so  sei  also 


1)  Schon  das  Schicksal  des  Fortunatus  beweist,  dass  die  Venezianer  es  übel  aufnahmen,  wenn 
der  gradenser  Patriarch  zwei  Herren,  dem  deutschen  Kaiser  und  den  Venezianern,  zugleich  dienen 
wollte.     Um  991  wandte  der  tüchtige  Doge  Peter  viel  Eifer  an  die  Herstellung  der  Bauten  Grado's. 

2)  Dieselben  Namen  findet  man  fast  alle  schon  bei  Paulus  Diac.  Hist.  Langob.  III  26.  Wenn 
diese  im  Mantuaner  Konzil  vorgebrachten  Unterschriften  gefälscht  waren,  so  waren  sie  aus  Paulus 
zusammengestellt.  Doch  ist  kein  rechter  Grund  zu  sehen,  wesshalb  diese  magere  Notiz  gefälscht 
sein  sollte.  6 

2  0 


22  WILHELM    MEYER 

Grado  die  Metropole  für  ganz  Istrien  und  Venetien  geworden.  Dieser  Bericht 
findet  sich  zum  grössten  Theil  wörtlich  übereinstimmend  bei  Johannes  Diaconus 
(ed.  Monticolo  in  Cronache  Veneziane  1890  S.  62  und  70)  und  im  Patriarchen- 
katalog (ebenda  S.  5 — 8). 

Die  Unterschriften  sind  aus  dem  Konzil  von  Mantua  abgeschrieben ;  nur  fin- 
den sich  z.  B.  ein  Solatius  episcopus  Veronensis  und  am  Schlüsse  3  Namen  von 
Presbytern  zugesetzt.  Die  hineingedichtete  Rede  des  Elias  erwähnt  die  früheren 
Zerstörungen  Aquilejas  durch  Attila  und  durch  die  Ostgothen  und  die  jetzigen 
Verfolgungen  durch  die  Langobarden;  desshalb  wolle  er  in  hunc  castrum 
Gradensem  nostram  confirmare  metropolym;  das  beschliessen  die  Bi- 
schöfe einmüthig.  Nach  der  Rede  ist  in  beiden  Texten  (S.  7  und  70)  der 
Satz  zu  lesen  'facto  libello  statutae  suae  id  est  de  memorata  Calcidonensi 
synodo  et  de  hac  ipsa  sede'.  Dieser  Satz  ist  richtig  im  Katalog,  wo  S.  5  die 
Vorbemerkung  steht  'in  qua  synodo  quicquid  de  Calcedonense  concilio  dubi- 
tabatur  pulsa  dubietate  confirmatum  est  ibique  statuit  ecclesiam  Gradensem  caput 
et  metropolim  totius  provinciae  Histriensium  et  Venetiarum,  cuius  Veneciae  ter- 
minus  a  Pannonia  usque  ad  Adam  fluvium  protelatur,  aepistolamque  pro  his  sta- 
tutis  accepit  a  b.  papa  Pelagio,  consentientibus  universis  episcopis  iam  dictarum 
provinciarum ;  dagegen  bei  Johannes  Diaconus  ist  (S.  62)  nur  die  Vorbemerkung 
zu  lesen  'Helyas  .  .  ex  consensu  b.  papae  Pelagii  facta  synodo  viginti  episcoporum 
eandem  Gradensem  urbem  totius  Venecie  metropolym  esse  instituit':  also  zeigt 
das  S.  70  stehende  Wort  'memorata',  dass  Johannes  die  ursprüngliche  Vorbemer- 
kung gekürzt  hat. 

Aus  all  dem  erhellt,  dass  als  Antwort  auf  die  Theorie,  welche  die  Aquilejer 
auf  der  Synode  von  Mantua  827  aufgestellt  hatten,  von  den  Gradensern  aus  den 
Nachrichten  des  Paulus  Diaconus  und  aus  den  Acten  der  Synode  von  Mantua 
schon  vor  dem  Jahr  1008  (damit  endet  die  Chronik  des  Johannes  Diaconus)  ein 
Bericht  zusammengesetzt  war  ,  wornach  mit  Wissen  des  Pabstes  Pelagius  der 
Patriarch  Elias  eine  Synode  in  Grado  abgehalten  habe;  daselbst  sei  über  das 
Konzil  von  Chalcedon  verhandelt  und  (nach  dem  Katalog)  demselben  zugestimmt 
worden ;  vor  allem  aber  sei  die  feste  Verlegung  des  Patriarchats  nach  Grado 
beschlossen  und  so  Grado  zur  Metropole  von  ganz  Venezien  und  (nach  dem  Ka- 
talog) von  Istrien  erklärt  worden. 

[(Die  vollständigen  Synodalakten  des  Elias  und  der  Brief  des  Pabstes  Pe- 
lagius *).  Die  Weiterentwicklung  dieser  Sage  will  ich ,  obgleich  diese  Ab- 
schweifung die  Darstellung  unterbricht,  hier  skizziien.  Bei  Dandolo  liegen  die 
vollständigen  Akten  der  Synode  des  Elias  vor  sammt  dem  vollstän- 
digen Schreiben  des  Pabstes  Pelagius  (JafFe  no.  f  1047),  deren  Text  bei  Mura- 
tori  Script.  XII  Sp.  98 — 102  nicht  so  rein  zu  sein  scheint,  wie  bei  Ughelli  V 
Sp.  27—29.     Manche,    wie  noch  1890  Monticolo  (Cronache  Veneziane  S.  XXXIX 


1)  Vgl.  hierüber  besonders  De  Rubeis  Sp.  236—256. 
6 


DIE    SPALTUNG   DES   PATRIARCHATS    AQÜILEJA  23 

[und  S.  5)  halten  sie  für  echt.  Der  Dichter  dieses  Aktenstücks  hat  den  obi- 

gen Bericht,  den  er  in  der  Fassung  des  Johannes  Diaconus  gekannt  hat  (vgl. 
ex  co  n  sensu  b.  apostolicae  sedis  papae  Pelagii)  verwoben  mit  dem  Texte  der 
Synode  von  Mantua.  Das  zeigt  klar  die  Contamination  in  den  Unterschriften : 
las  er  dort  Fontegius  episcopus  Feltrensis,  in  Mant.  Laurentins  Fcltrinits,  so  machte 
er  daraus  Laurentius  presb.  superveniens  in  sancta  synodo,  locum  facicns  viri  beatis- 
simi  Frontci  cpiscopi  s.  ecclesiae  Feltrinac;  las  er  weiter  dort  lngenuus  episcopus 
secunde  Rede,  hier  an  derselben  Stelle  Martinus  Sabioncnsis,  so  machte  er  daraus 
Martianus  episcopus,  locum  facicns  beatissimi  Ingenuini  episcopi  s.  ecclesie  Sederestiae  usw. 

Den  Anfang  der  Acta  nahm  er  aus  der  Mantuaner  Synode  (s.  oben  S.  21), 
dann  dichtete  er  einen  Anfang  zur  Rede  des  Elias  und  aus  der  Vorbemerkung 
des  Johannes  Diaconus  (S.  62)  den  sehr  vorsichtigen  Satz  'ex  consensu  b.  aposto- 
licae sedis  papae  Palagii ,  cui  iam  ante  communi  nostrum  intuitu  descripsimus 
necessitudinem  .  .  novamque  eam  vocare  Aquilejam*  (bei  Ughelli  steht  dieser  Satz 
2  Mal) ;  dann  dichtet  er  flott  weiter :  zunächst  lässt  er  den  unvermeidlichen  Lau- 
rentius presbyter  legatus  apostolicae  sedis  das  Privilegium  Pelagii  papae  über- 
reichen. 

Die  7  ersten  Zeilen  dieses  Privilegs  schrieb  er  ab  aus  dem  Liber  diurnus 
und  zwar  aus  der  Formel  no.  90  (S.  119  Sickel),  die  6  Zeilen  am  Schluss  nicht 
aus  derselben  Formel,  sondern  der  Abwechslung  halber  aus  der  nächsten  no.  91 ; 
in  der  Mitte  heisst  es  kurz  und  gut:  quia  petisti  .  .  consentientibus  sufFraganeis 
.  .,  castrum  Gradense  totius  Venetiae  fleri  .  .  etiam  Istriae  metropolim  perpetuo 
conflrmamus.  Auf  den  erdichteten  früheren  Brief  des  Elias  hin  hatte  also  Pela- 
gius  sofort  sein  Schreiben  fertig  gemacht  und  wohl  als  braver  Mann  die  Zustim- 
mung der  Suffraganbischöfe  zu  Allem  als  sicher  vorausgesetzt. 

So  war  der  libellus  de  ipsa  sede  fertig :  nun  musste  noch  die  andere  Hälfte 
de  memorata  Calci ledonensi  synodo  gedichtet  werden.  Da  der  Dichter  aber  gar 
nicht  weiss,  dass  es  sich  darum  handeln  sollte,  ob  das  5.  Konzil  die  Beschlüsse 
des  4.,  zu  Chalcedon,  geändert  und  gekränkt  habe  oder  nicht,  so  wird  dieser 
Theil  fad:  zuerst  macht  der  Dichter  ein  langes  Gerede  über  das  Konzil  von 
Chalcedon  und  einige  andere,  dann  schiebt  er  das  Glaubensbekenntniss  an. 
Die  Unterschriften  hat  er,  wie  gesagt,  combinirt ,  dazu  am  Schlüsse  noch 
eine  Reihe  von  Presbytern  gefügt,  wobei  unter  Anderm  aus  den  provinciales  et 
ceteri  presbyteri   des    Johannes    Diaconus   ein    Provincialis  presbyter  geworden  ist. 

Dies  Stück  ist  wohl  erst  nach  dem  Abschluss  des  Patriarchenkatalogs  (nach 
1045)  gedichtet  worden;  denn  die  Worte  des  Katalogs  (S.  6)  'epistolam  pro  his 
statutis  accepit  a  beato  papa  Pelagio'  können  auf  jene  Notiz  des  Paulus  Diaco- 
nus gehen ,  dass  Pelagius  über  das  Konzil  von  Chalcedon  an  Elias  geschrieben 
habe ;  hätte  aber  dem  letzten,  kurz  nach  1045  arbeitenden  Redactor  des  Katalogs 
diese  ganze  Fälschung  sammt  dem  Wortlaut  des  päbstlichen  Privilegiums  schon 
vorgelegen,  so  müsste  er  sie  bei  ihrer  ungemeinen  Wichtigkeit  breiter  erwähnt 
haben  und  hätte  sich  nicht  mit  der  wörtlichen  Abschrift  des  kurzen  Berichtes 
(S.  21)  begnügt,  der  auch  bei  Johannes  Diaconus  wörtlich  abgeschrieben  ist. 


24  '  WILHELM    MEYER 

[(Die  Gradenser  Sage  Yermengt  mit  der  ältesten  Venezianer  Sage).        Die 

Priestersage  über  die  älteste  Geschichte  des  gradenser  Patriarchats  genügte  den 
Venezianern  nicht;  sie  wollten  mit  dem  heimischen  hohen  Priesteramte  enger 
verknüpft  sein  und  ihre  Rechte  an  demselben  fester  begründet  sehen.  So  ent- 
stand die  venezianer  Sage  von  der  ITebertragung  des  aquilejer  Patriarchats 
nach  Grado.  Sie  findet  sich  in  dem  (mit  Unrecht  so  genannten)  Chronicon  Gra- 
dense  (bei  Monticolo  ,  Cronache  Veneziane  S.  19 — 48  oder  richtiger  S.  37 — 43) ; 
ein  im  13.  Jahrhundert  gemachter  Auszug  der  historischen  oder  rechtlichen 
Hauptsachen  ist  bei  Monticolo  S.  55  gedruckt;  der  Inhalt  des  Chronicon  (S.  19 
— 48)  findet  sich  auch  in  dem  Chronicon  Venetum  (vulgo  Altinate),  das  zu- 
letzt Simonsfeld  in  den  Monum.  Scriptores  XIV  herausgegeben  hat,  S.  6  Z.  10 — 
S.  14  Z.  39  (unsere  Sage  S.  11  Z.  40  bis  etwa  S.  14  Z.  4,  vgl.  S.  37),  freilich  hier 
umgesetzt  in  ein  barbarisches  Latein  ,  dessen  Entstehung  und  Bestimmung  mir 
nicht  klar  ist *). 

Nach  der  venezianer  politischen  Sage  sind  vor  dem  verwüstenden  und 
mordenden  Attila  um  450  die  Bewohner  der  Küstenstädte  des  alten  Venetiens 
auf  Inseln  am  Rand  der  Küste  geflüchtet  und  haben  so  die  Stadt  Venedig,  die 
nova  Venetia,  gegründet.  Diese  Erzählung  wäre  nun  sofort  discreditirt  worden, 
wenn  sich  daran  unsere  Priestersage  geschlossen  hätte,  die  Patriarchen  seien  erst 
5G8  vor  dem  Langobarden  Alb  o in  von  Aquileja  nach  Grado  geflohen.  Denn 
wenn  450  die  Patriarchen  mit  ihren  Priestern  in  Aquileja  bleiben  konnten,  wa- 
rum nicht  die  Bürger?  Desshalb  wurde  die  kirchliche  Urgeschichte  Venedigs 
hier  zugeschnitten  nach  der  politischen,  d.  h.  die  Verlegung  des  Patriarchats  aus 
Aquileja  nach  Grado  wurde  um  jene  Stufe  hinaufgeschoben,  aus  der  Zeit  Alboins 
in    die  Zeit  des  Attila. 

Nachdem  im  Chronicon  Gradense  die  politische  Urgeschichte  Venedigs  oder 
Venetiens  geschildert  ist,  beginnt  die  kirchliche  Urgeschichte.  Universa  Ve- 
netiae  populi  multitudo  kommt  in  Grado  zusammen  und  baut  sich  einige  Kirchen. 
Dann  tritt  ein  dux  Beatus  und  (statt  des  Pabstes  Pelagius  und  des  Patriarchen 
Elias)  der  Pabst  Benedict  (574 — 578)  und  der  Patriarch  Paulus  auf;  diese  letz- 
tern verband  der  Dichter  nach  dem  Bericht  in  der  Historia  Langobardorum  II  10 
'Romanam  ecclesiam  vir  sanctissimus  Benedictus  papa  regebat :  Aquileiensi  quo- 
que  civitati  eiusque  populis  beatus  Paulus  patriarcha  praeerat'.  Dieser  dux 
Beatus  wandert  nun  mit  etlichen  Tribunen  von  Venedig  nach  Rom  und,  wie  Elias 
meinen  Suffraganbischofen ,  so  hält  er  dem  Pabst  Benedict  eine  Rede ,  worin  er 
die  Geschichte  der  aquilejer  Patriarchen  von  der  Zeit  des  Nicetas,  d.h.  von  der 
Zerstörung  Aquileja's    durch    Attila  bis  zur  Gegenwart   erzählt;   bei  jener  Zer- 


1)  Waitz  hat  im  Neuen  Archiv  II  375  die  Widersprüche  in  diesem  Chronicon  Gradense  be- 
leuchtet und'  behauptet,  dass  hier  verschiedene  Berichte  roh  zusammengeschoben  seien:  ich  glaube 
vielmehr,  dass  die  Tendenz  des  Verfassers  und  die  dadurch  veranlassten  Zudichtungen  die  Haupt- 
sache sind ;  auch  diese  meine  Auffassung  schliesst  aus,  dass  Johannes  Diaconus  dies  Chronicon  zu- 
sammengeschrieben habe. 
6 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUTLEJA  ZÖ 

[storung  Aquilejas  sei  Marcellian  nach  Grado  geflohen,  ihm  seien  dort  Mareellin, 
Stephanus,  Maurus  (Laurentius  hat  eine  junge  Abschrift,  Maurentius  das  Chro- 
nicon  Altinate)  und  Macedonius  gefolgt1  (ob  diese  Namen  ausser  in  dieser  Sage 
sonst  noch  bezeugt  sind,  weiss  ich  nicht);  diese  5  Patriarchen  hätten  ohne  Er- 
laubniss  der  Päbste  in  Grado  residirt;  der  Dux  bittet  also,  Benedict  möge  das 
castrum  Grado  als  Nova  Aquileja  und  als  die  Metropole  von  ganz  Venezien  und 
Istrien  anerkennen.  Mit  Zustimmung    von  39  Bischöfen    thut  das  der  Pabst  ; 

in  dem  Privileg  wird  ferner  bestimmt  —  und  das  war  ein  Hauptziel  der  Fa'l 
schung  — ,  dass  den  Patriarchen  Klerus  und  Volk  wählen,  dann  der  Dux  einsetzen 
und  die  Suffragane  weihen  dürften,  endlich  solle  der  Patriarch  zum  Pabst  kom- 
men ad  pallii  beuedictionem  suscipiendam.  Diese  Theorie  wird  sogleich  praktisch 
probirt:  der  Pabst  lässt  einen  seiner  Cardinäle  Namens  Paulus  von  den  Beglei- 
tern des  Dux  wählen,  vom  Dux  bestätigen,  dann  weiht  er  ihn  als  Patriarchen 
und  mit  dem  geweihten  Pallium  sendet  er  ihn  mit  jenen  nach  Neu- Aquileja,  wo 
er  als  'primus  per  apostolicam  concessionem  novae  Aquileiae  ecclesiam  rexit' 2). 

Nun  lenkt  der  venezianer  Dichter  wieder  in  die  gradenser  Priestersage  ein. 
Es  folgen  die  Patriarchen  Probinus  und  Elias.  Der  Brief  des  Pelagius  und  die 
Synodalbeschlüsse  über  Verlegung  des  Stuhles  oder  über  das  Concil  von  Chalce- 
don  waren  theils  unbrauchbar  für  unsern  venezianer  Dichter,  theils  überflüssig: 
also  wurden  jene  Stücke  in  die  venezianer  Kirchengeschichte  folgendermassen 
umgedichtet  'congregata  multitudine  episcoporum  a  Verona  usque  Pannoniam  (das 
ist  ein  Ueberbleibsel  aus  jenem  gelehrten  Einschiebsel  in  der  Vorbemerkung  bei 
Johannes  Diaconus,  oben  S.  22:  cuius  Veneciae  terminus  a  Pannonia  usqnc  ad  Adam 
fluvium  protelatur)  cunctoque  Venetiae  populo  convocato,  generalem  sinodum  cele- 
bravit;  auf  dieser  Synode  selbst  macht  Elias  kurzer  Hand  die  kirchliche  Organisa- 
tion von  ganz  Venetien  und  Istrien  ab:  ordinavit  sedecim  episcopatus  inter  Foro- 
gulensium  nee  non  et  Hystriae  sive  Dalmatiae  partes  .  . ;  in  Venetia  autem  sex 
episcopatus  fieri  constituit,    welche  ebenfalls   nach   des  Pabstes  Benedict  Bestim- 


1)  In  der  Synode  von  Mantua    wurde   ebenfalls    eine    Reihe    von  5  Patriarchen  ausgeschieden: 
jene,  welche  von  der  Uebersiedlung  nach  Grado  bis  zur  Theilung  des  Patriarchats  lebten. 

2)  Hier  ist  also  Paulus  .an  die  Stelle  des  Elias  gesetzt.  Daher  mag  folgende  Unklarheit  rüh- 
ren. Das  Privileg,  durch  welches  Peiagius  das  Veronenser  Kloster  S.  Maria  in  Organo  unter  deu 
Aquilejer  Patriarchen  gestellt  haben  soll  (gedruckt  bei  Ughelli  V  697,  bei  Jaffe  no.  f  1053),  ist 
dem  'Paulo  Aquil.  ecclesiae  patriarchae'  zugesendet  (der  Anfang  und  die  Mitte  dieses  Schreibens 
sind  aus  no.  89  (S.  117)  des  Liber  diurnus  abgeschrieben,  der  Schluss  zur  Abwechslung  aus  no.  -t; 
S.  113.  Hier  unterschreibt  auch  'Solacius  Veronensis  episcopus':  ausser  in  dieser  Fälschung  kommt 
dieser  Solatius  nur  noch  vor  in  den  Unterschriften  der  Elias- Synode,  aber  nicht  in  deren  alter 
Ueberlieferung  in  den  Acten  der  Mantuaner  Synode  von  S27,  sondern  erst  eingeschoben  in  der  „ 
fälschten  Umarbeitung  bei  Johannes  Diaconus  und  im  Patriarchenkatalog  — oben  S.  22 —  und  dann 
in  der  Contamination  beider  Quellen  bei  Dandolo:  also  eine  recht  zweifelhafte  Existenz).  Dagegen 
Pabst  Johann  XIX.  in  seinem  1025  für  jenes  Kloster  ausgestellten  Privileg  (Biancolini,  Notizie 
storiche  delle  chiese  di  Verona  V,  I,  S.  14;  Jaffe  1071)  kennt  die  Bedeutung  des  Elias  besser  und 
spricht  desshalb  2  Mal  von  der  Zeit  der  Patriarchen  Paulus  uud  Elias. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.   Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  e.  4 


26  WILHELM    MEYER 

[mung  durch  Wahl  des  Klerus  und  Volks  mit  Bestätigung  von  Seiten  des  Dux 
besetzt  wurden;  diese  6  venezianer  Bisthümer  und  andere  kirchliche  Einrichtungen 
des  Elias  in  Venetien  werden  noch  näher  geschildert;  damit  endet  diese  vene- 
zianer Sage  vom  Beginn  des  gradenser  Patriarchats.  Wie  gesagt,  ist  sie  um 
1032  bereits  schriftlich  vorhanden. 

Im  Chronicon  Altinate  (Script.  XIV  S.  12  Z.  28— S.  13  Z.  1)  ist  ein  Stück 
aus  dem  Brief  des  Pelagius  und  der  dazu  gehörigen  Fälschung,  welche  Dandalo 
überliefert  hat ,  zu  lesen ,  natürlich  ohne  den  Namen  des  Pelagius.  Dies  Stück 
fehlt  aber  in  der  alten  Fassung  im  Chronicon  Gradense  (S.  39  bei  Monticolo), 
ist  also  erst  nach  der  Erdichtung  jenes  Aktenstücks  in  die  Handschriften  des 
Chronicon  Altinate  eingeschoben  worden  *). 

Die  vollständigen  Acten  der  Synode  des  Elias  sind  also  wahrscheinlich  erst 
gegen  Schluss  des  12.  Jahrhunderts  erdichtet;  die  venezianer  Sage  vom  Beginn 
des  gradenser  Patriarchates  war  in  den  Kreisen  der  Geistlichen  unbekannt:  in 
den  offiziellen  Streitigkeiten  der  beiden  Patriarchate  wird  nur  die  oben  S.  21/22 
besprochene  gefälschte  Rede  des  Elias  und  die  kurze  Notiz  über  ein  Sehreiben  des 
Pabstes  Pelagius  verwendet.] 

Das  Schlagwort:  Neu-Aquileja.  Die  Ansprüche  des  langobardischen  Pa- 

triarchats waren  zu  allen  Zeiten  verkörpert  in  dem  Namen  'Aquileja'.  Solche 
Schlagwörter  nützen  stets  und  überall  mehr  als  solide  Gründe.  Die  Gradenser 
mochten  ihre  Lehre,  das  Patriarchat  sei  von  Aquileja  um  568  nach  Grado  ver- 
legt und  nie  rechtmässig  nach  Aquileja  zurückverlegt  worden,  noch  so  gut  mit 
Schriftstellen  und  Urkunden  zu  schützen  versuchen,  mehr  wirkte  es,  dass  sie 
für  ihre  Theorie  das  Schlagwort  'nova  Aquileia'  erfanden.  Nachdem  einmal 
die  Theorie  da  war,  lag  dies  Schlagwort  sehr  nahe.  Paulus  Diaconus  gab  (IV 
33)  schon  Anleitung  dazu,  indem  er  von  der  Spaltung  des  Patriarchats  sprechend, 
den  einen  Patriarchen  in  Aquileia  vetere,  den  andern  in  Gradus  gewählt  werden 
lässt.  Dann  scheint  um  1000  ein  anderes,  minder  häufiges  Schlagwort  aufge- 

kommen zu  sein  :  'nova  Venetia'.  der  seit  450  auf  den  Inseln  neu  entstehende 
Staat,    im  Gegensatz  zur   antiqua  Venetia,    der   römischen  Provinz,    welche  von 


1)  Dandolo  bewährt  auch  hier  seine  Neigung  zum  Mischen.  Er  kennt  die  Venezianer  Sage, 
dass  die  Patriarchen  schon  vor  Attila  ,  er  kennt  die  Gradenser  Sage,  dass  sie  erst  vor  Alboin  von 
Aquileja  nach  Grado  geflohen  seien:  aber  er  weiss  sich  zu  helfen.  Schon  zuerst  lässt  er  vor  At- 
tila die  Einwohner  von  Aquileja  gerade  nach  Grailo  fliehen  (Muratori  Scriptores  XII  Spalte  75) 
'reliquias  sanctorum  cum  parvulis  ac  mulieribus  ac  thesauris  in  castro  Gradensi  tutaverunt'.  Wie 
die  venezianer  Sage  lässt  er  den  Marcellian  als  den  ersten  in  Grado  sein  (Sp.  81),  doch  erst  von 
seinem  4.  Jahr  ab ;  auch  der  arme  Marcollin  und  Stephanus  müssen,  damit  jeder  Sage  Genüge  ge- 
schehe,  zwischen  Aquileja  und  Grado  hin  und  her  reisen  (Sp.  83  A  und  85  E  'aliquando  in  Aqui- 
leja aliquando  in  Grado  residens');  dagegen  den  unsichtrn  Maurus-Maurentius-Laurentius  lässt  Dan- 
dolo lieber  ganz  weg;  die  Geschichte  des  Macedouius  und  Paulus  wird  durch  die  (wohl  aus  dem 
Decretnm  Gratiani  gewonnene)  Ketzergeschichte  abgeändert;  dann  endlich  flieht  (Sp.  94)  Paulus  vor 
Alboin  nach  Grado.  So  wachsen  Nachrichten  Sagen  und  menschliche  Berechnungen  in  einander 

und  dies  Werden  wiederholt  sich  immer  wieder. 

6 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  27 

Pannonien  bis  zur  Etsch  reichte.  Sagt  Johannes  Diaconus  S.  150,  1  (bei  Mon- 
ticolo)  'Gradensis  civitas,  quae  totius  novae  Venetiae  metropolis  fore  dignoscitur', 
so  fordert  die  andere  Stelle  S.  64,  1  'Gradus  dum  constat  altis  menibus  eccle- 
siarumque  copiis  decorata  sanctorumque  corporibus  fulta,  quemadmodum  antiquae 
Venetiae  Aquilegia,  ita  et  ista  totius  novae  Venetiae  caput  et  metropolis  fore 
dignoscitur'  geradezu  die  Entstehung  des  Schlagwortes  'nova  Aquileia'. 

Dies  Schlagwort  'Neu- Aquileja'  war  den  Gradensern  so  geläufig,  dass  die 
Schreiber  und  Ausschreiber  es  oft  einsetzten ,  wo  ihre  Vorlage  es  nicht  hatte. 
So  heisst  es  im  Katalog  der  Patriarchen  (S.  9  Z.  17  bei  Monticolo)  einfach  'mortuo 
ipso  (Marciano)  apud  Gradum  sepultus  est  .  .',  dagegen  in  einer  andern,  um  1032 
geschriebenen  Copie  dieses  Textes  (S.  50  Z.  21  bei  Monticolo)  'mortuo  ipso  apud 
Gradus  id  est  novam  Aquileiam  sepultus  est'.  Desshalb  lässt  sich  die  Zeit, 

in  welcher  dies  Schlagwort  aufgekommen  ist,  nicht  genau  bestimmen.  Bei  Jo- 
hannes Diaconus  findet  es  sich  S.  62,  13 :  Paulus  .  .  ex  Aquilegia  ad  Gradus  in- 
sulam  confngit  .  .  ipsamque  urbem  Aquilegiam  novam  vocavit.  in  quo  etiam 
loco  .  .  Helyas  .  .  facta  S3'nodo  .  .  eandem  Gradensem  urbem  totius  Venecie  me- 
tropolym  esse  instituit.  Diese  Stelle  hat  zwar  der  Fälscher  der  vollständigen  Acten 
der  Elias-Synode  ebenso  gelesen,  da  er  schreibt  'hanc  civitatem  Gradensem  no- 
stram  confirmare  metropolim  novamque  eam  vocare  Aquilejam' ,  ja  schon  der 
Dichter  der  venezianer  Sage  von  den  Anfängen  des  gradenser  Patriarchats  scheint 
sie  so  gelesen  zu  haben,  wenn  er  S.  38  (bei  Monticolo)  den  Pabst  Benedict  bit- 
ten lässt  'quatinus  Gradense  castrum  novam  Aquileiam  institueret  et  totius  Ve- 
netiae et  Hystriae  metropolim  ordinaret  (ebenso  S.  39  Z.  17  und  22;  vgl.  die  Satz- 
trümmer im  Chronicon  Altinate ,  Script.  XIV  S.  12,  2:  inquisivit  ad  eum,  nove 
Aquilegie  civitatis  Gradense  ut  metropoli  institeret  secundum  veteris  Aquilegie 
civitatis  consuetudo,  und  Z.  26 :  constituerunt,  nove  Aquilegie  Gradus  civitate  me- 
tropolitanum  esset  instituerunt  totius  Venecie  fieri  iramo  et  Ystrie).  Aber  den- 
noch zweifle  ich ,  ob  die  Worte  'ipsamque  urbem  Aquilegiam  novam  vocavit'  in 
der  Handschrift  des  Johannes  Diaconus  nicht  vom  Schreiber  zugesetzt  waren; 
denn  1)  muss  doch  diese  Namengebung  erst  an  die  folgende  Elias-Synode  geknüpft 
werden,  welche  die  Verlegung  des  Stuhls  beschloss,  2)  findet  das  Schlagwort  'nova 
Aquilegia'  in  dem  ganzen  Werk  des  Johannes  Diaconus  sich  nicht  mehr.  Desshalb 
glaube  ich  kaum,  dass  dies  Schlagwort  schon  vor  1008  erfunden  war. 

Nachdem  dann  Poppo  begann  ,  das  alte  Aquileja  durch  herrliche  Bauten  zu 
schmücken,  wurde  in  den  Zeiten  des  heissesten  Rechtsstreites  um  Grado  und  um 
die  Vorrechte  des  Patriarchats,  also  von  etwa  1020  ab,  das  vom  Dogen  Petrus 
glänzend  erneuerte  Grado  sehr  oft  'Nova  Aquileia'  genannt.  Der  Gebrauch  die- 
ses Schlagwortes  wurde  so  allgemein  ,  dass  es  sogar  in  Schriftstücke  der  päbst- 
lichen  Kanzlei  Eingang  fand;  so  schreibt  Benedict  a.  1044  (Ughelli  V  1114) 
1  Mal  'Ursonem  Gradensis  ecclesiae  novae  Aquileiae  patriarcham'  und  Leo  IX. 
gebraucht  in  einem  kurzen  Schriftstück  das  Wort  3  Mal ,  ja  er  interpoiirt  es 
ohne  Weiteres  in  den  Beschluss  der  mantuaner  Synode  von  827.  So  ist  natür- 
lich, dass  Leute  wie  Daudolo  dieses  Schlagwort  freigebig  gebrauchen. 


28  WILHELM    METER 

Die  Gradenser  Theorie  Ton  der  Spaltung  des  Patriarchats.  Die  Wahl 
zweier  Patriarchen  im  Jahre  607  berichtet  der  vorsichtige  Paulus  Diaconus  also 
(IV  33):  ordiuatur  in  loco  Severi  Iohannes  abbas  patriarcha  in  Aquileia  vetere, 
cum  consensu  regis  et  Gisulfi  ducis ;  in  Gradus  quoque  ordinatus  est  Komanis 
Candidianus  antistes.  .  .  Candidiano  quoque  defuncto  aput  Grados  ordinatur 
patriarcha  Epiphanius,  qui  fuerat  primicerius  notariorum,  ab  episcopis  qui  erant 
sub  Komanis.     et  ex  illo  tempore  coeperunt   duo   esse  patriarchae.  Dass  hie- 

bei  der  Stieit  um  das  5.  Konzil  eine  Hauptrolle  spielte,  verschweigt  Paulus  Dia- 
conus. und  Keiner  der  Späteren  wusste  es.  Sie  verwerthen  nur  den  von  Paulus 
angedeuteten  politischen  Gegensatz.  Der  Aquilejer  Maxentius  führt  in  der  man- 
tuaner  Synode  die  Andeutung  des  Paulus  'sub  Romanis'  dahin  aus,  dass  die  un- 
ter den  Griechen  stehenden  Geistlichen  von  Grado  und  von  Istrien  eben  von  den 
Griechen  gezwungen  worden  seien,    den  Candidianus  zu  wählen.  Die  Theorie 

der  Gradenser  hat  diesen  Punkt  erst  später  behandelt.  Johannes  Diaconus  schreibt 
(S.VG,  1  und  77,  21)  ruhig  den  Paulus  Diaconus  ab.  Dagegen  in  dem  kurz  nach 
1045  abgeschlossenen  Katalog  der  gradenser  Patriarchen  ist  die  neue,  nach  1008 
gefundene  gradenser  Erklärung  der  Thatsachen  durch  eine  einfache  Abänderung 
der  Worte  des  Paulus  Diaconus  gegeben  :  Iluic  successit  Candidianus  patriarcha 
in  ipsa  suprascripta  metropoli  Gradensi,  sub  cuius  tempore  per  consensum  Agiulfi 
regis  Longobardorum  Gisulfus  dux  per  vim  episcopum  in  Foroiulii  or- 
dinavit  Iohannem  abbatem  ;  also  ist  nach  der  gradenser  Theorie  das  2.  Patriarchat 
auf  den  Befehl  der  Langobardenkönige  geschaffen  worden.  Die  Worte  des  Ka- 
talogs sind  von  Dandolo  Sp.  109c  und  1106  etwas  gemildert. 

Die  Anerkennung  des  2.  Patriarchats  durch  den  Pahst,  nach  der  gra- 
denser Theorie.  Schon  vor  der  Zeit  des  Paulin  von  Aquileja  stehen  Päbste 
in  freundlichem  Verkehr  mit  Patriarchen  von  Aquileja,  wie  mit  Patriarchen  von 
Grado.  Die  Aquilejer  bemühten  sich  nicht  das  aufzuklären,  wohl  aber  die  Gra- 
denser. Von  den  oben  geschilderten  Verhandlungen  zwischen  König  Kunincbert 
und  Pabst  Sergius  um  das  Jahr  695  hatte  Niemand  eine  Ahnung;  man  suchte 
also  die  Lücke  mit  Hilfe  andern  Materials  zu  überbrücken.  Die  Gradenser  hat- 
ten schon  967  (s.  S.  23)  ein  Schreiben  Gregor's  IL  an  den  Serenus  von  Aquileja 
zur  Hand,  worin  er  gewarnt  wurde,  seinen  Nachbarn,  den  Patriarchen  von  Grado, 
nicht  in  seinen  Rechten  und  Besitzungen  zu  stören;  auf  Bitten  des  Langobarden- 
könig? sei  ihm  das  geweihte  Pallium  vom  Pabst  gegeben  worden,  jedoch  unter 
der  Bedingung,  dass  er  die  Rechte  seiner  Nachbaren  nicht  antaste  (Monum.  Epist. 
111  723;  Bullettino  dell'  Ist,  stör.  ital.  IX  181).  Dies  Schreiben  wurde  967 
auf  der  römischen  Synode  nur  verwerthet  zum  Schlüsse,  dass  langjährige  Strei- 
tigkeiten der  beiden  Patriarchate  vom  Pabst  Gregor  IL  dadurch  entschieden 
worden  seien,  dass  sowohl  Serenus  als  sein  Gegner  vom  Pabst  die  Patriarchats- 
würde  erhalten  habe;  diese  wäre  also  der  Gegenstand  des  Streites  gewesen. 
Später  zogen  die  Gradenser  aus  jenem  Schreiben  weitergehende  Schlüsse,  und 
zwar  geschah  dies  schon  vor  1008,  da  derselbe  Urtext  sowohl  der  Vorbemerkung 
bei  Johannes  Diaconus  als  der  im  Patriarchen-Katalog  zu  Grund  liegt.  Johannes 
C 


DIE    SPALTUNO    DES    PATEIARCOATS    AQUILEJA  29 

(S.  96.  13  bei  Monticolo)  giebt  die  Vorbemerkung  'hisdem  etiam  diebus  Foroiu- 
lensis  ecclesia  a  Sereno  presule  regebatur,  qui  nullius  iustitie  expertus,  sed  usur- 
pationis  causa  regia  potestate  ab  apostolica  sede  pallium  primus  tantum- 
modo  acquisivit',  dagegen  der  Katalog  (S.  11,  22  bei  Monticolo)  'huic  suocessit 
Donatus  antistes,  cuius  tempore  Longobardi  per  fortiam  Sereno  Foroiu- 
lensis  ecclesiae  archiepiscopo  a  summa  sede  palleum  detuleiunt  apostolica  pri- 
mitus'.  Dann  folgt  bei  Jobannes  Diaconus  nur  der  Brief  an  Serenus  selbst,  im 
Katalog  ausser  diesem  noch  ein  (wohl  vor  1045  im  Archiv  gefundener)  Brief  des 
Gregor  II.  an  die  communitas,  zu  welcher  der  Gradenser  Patriarch  gehört  (also 
wohl  an  die  Bischöfe  seines  Sprengeis)  mit  ziemlich  derben  Ausdrücken  über  die 
Langobarden1). 

'Per  fortiam'  ist  ein  Licht,  das  wohl  erst  der  Redactor  des  Patriarchen-Ka- 
talogs aufgesetzt  hat  (auch  Dandolo  kennt  es  nicht).  Aelter  ist  der  Zusatz  'pri- 
mus' =  'primitus'  :  er  ist  ein  voreiliger  und  unrichtiger,  nur  aus  Gregor's  Brief 
gezogener  Schluss:  aber  er  ist  wichtig.  Denn  Dandolo  (Sp.  132 B)  fühlt  ihn  aus 
in  den  Worten  'pallium  .  .  ,  quem  a  tempore  renovationis  suae  sedis  praedeces- 
sores  sui  obtinere  minime  potuerunt',  und  auf  ihm  beruht  es,  wenn  wir  heutzu- 
tage in  Lehrbüchern  lesen,  etwa  716  (Gregor  II  715 — 731)  seien  die  Patriarchen 
von  Aquileja  vom  Pabst  anerkannt  und  geweiht  worden.  Nach  meinen  obigen 
Ausführungen  (S.  8/9)  muss  schon  um  (395  das  langobardische  Patriarchat  vom 
Pabste  anerkannt  worden  sein,  aber  es  ist  immerhin  wichtig  zu  sehen,  wie  schon 
die  gradenser  Gelehrten  um  das  Jahr  1000  diese  Schwierigkeit  zu  lösen  versucht 
haben  2). 

Die  definitiva  Divisio  zwischen  Aquileja  und  Grado,  d.h.  das  gefälschte 


1)  Der  Text  des  1.  Briefes  beruht  hauptsächlich  auf  der  Handschrift  des  Katalogs  und  der 
des  Johannes  Diaconus  (vgl.  Monticolo  im  Bullettino  dell'  ist.  stör.  Ital.  IX  177 — 184).  In  den 
"Worten  'precipimus  ne  ullo  modo  terminos  excedas  ab  eo  possessos,  sed  solum  sufficias  in  hisque 
te  habeto ,  que  modo  usque  possedisti'  kann  'ab  eo'  nicht  mit  dem  Redactor  des  Katalog's  inter- 
pretirt  werden  als  'ne  ullo  modo  terminos  excederet  a  Donato  presule  Gradense  possessos',  sondern, 
da  die  Handschrift  des  Johannes  Diaconus  'ad  eum'  hat ,  so  ist  entweder  'adeo  usque'  oder  'adeo' 
mit  derselben  Bedeutung  zu  schreiben.  Im  Schlüsse  'ut  non  .  .  apostolici  vigore  concilii  si  iuobe- 
diens  fueris  conprobatus  indiguus  iudiceris'  hat  nach  Monticolo  die  massgebende  Handschritt  des 
Johannes  Diaconus  'multus  et  indignus',  woraus  er  'inultus  et  indignus'  macht ;  schlechtere  Hand- 
schriften haben  'multum  et  indignus',  woraus  Dandolo  'ultione  dignus'  gemacht  hat:  am  besten 
würde  dann  wohl  geschrieben  'inutilis  et  indignus',  wozu  vgl.  Mon.  Epist.  III  693,  13  Caudidianus 
inutilis.     Der  Ausdruck  'vigore'  ist  im  gefälschten  Brief  Gregor's  III.  nicht  verstanden. 

2)  626  schreibt  Pabst  Ilonorius  den  Gradensern:  au  Stelle  des  ketzerischen  entflohenen  Erz- 
bischofs Fortunatus  'Primogenium  subdiaconum  et  regionarium  nostrae  sedis  Gradensi  ecclesiae 
episcopali  ordine  cum  pallii  bcnedictione  direximus  consecrandum'  (Monum.  Epist.  III  Gl>5  Z.  2h). 
Dieses  Schreiben  ist  im  Patriarchen- Katalog  erwähnt  und  daran  (S.  10  Z.  25  bei  Monticolo)  die 
Bemerkung  geknüpft  'et  usque  hodie  pontifex  civitatis  Gradensis  pallei  benedictionem  a  summa  sede 
apostolica  promeruit'.  Da  dieser  Redactor  des  ratriarchen-Katalogs  gewiss  nicht  angenommen  hat, 
die  früheren  Patriarchen  hätten  das  geweihte  Pallium  nicht  erhalten,  so  ist  der  Sinn  dieses  Zu- 
satzes, den  ich  in  keiner  andern  Schrift  fand,  mir  dunkel  geblieben. 

6 


30  WILHELM    MEYER 

Synodalschreiben   Gregor's  III.    von  731.  Obgleich  das  langobardische   Pa- 

triarchat in  Gregor's  II.  Briefen,  wenn  auch  nur  mit  einer  Warnung,  anerkannt 
zu  sein  schien,  so  war  doch  nicht  klar,  welches  die  Rechtsverhältnisse  beider 
Patriarchate  hatten  sein  sollen,  insbesondere  nicht,  wer  der  Erbe  und  Rechts- 
nachfolger des  h.  Marcus  und  Hermagoras  sei.  Da  nun  in  Grado  ein  Schreiben 
Gregor's  III.  lag,  durch  welches  er  den  Gradenser  Patriarchen  Antonin  zu  einer 
grossen  Synode  gegen  die  Bilderstürmer  nach  Rom  lud  und  da  auch  das  Pabst- 
bucli  meldete,  auf  dieser  Synode  sei  im  Jahre  731  Antonin  zugegen  gewesen,  so 
fabricirte  ein  Gradenser  ein  Schreiben  Gregor's  III. ,  worin  dieser  kurz  andere 
Verhandlungen  der  Synode  und  ausführlich  den  Rechtsstreit  der  Patriarchen  von 
Grado  und  von  Aquileja  und  den  entscheidenden  Spruch  darüber  berichtet  (s. 
oben  S.  11  und  12). 

Dies  Schriftstück  ist  nicht  lange  vor  1045  gemacht.  Denn  in  dem  Katalog 
der  gradenser  Patriarchen  (S.  14  Z.  7 — 17  bei  Monticolo)  ist  es  ausgeschrieben: 
Hie  Antoninus  patriarcha  ammonitus  est  a  predicto  Gregorio  papa  Romam  ad  sy- 
nodum  oecurrere ,  ad  quam  synodum  Iohannes  archiepiscopus  Ravenas  vocatus 
est,  propter  imagines,  quae  in  regia  urbe  deponere  iubebant  Leo  atque  Con- 
stantinus  augusti  et  inlicita  coniugia1)  quae  per  diversa  loca  fiebant. 
post  hanc  vocationem  Antoninus  patriarcha.  cum  suis  suffraganeis  Romam  ad 
synodum  perrexit ;  in  qua  synodo  definitive  divisio  facta  est  inter  An- 
toninum  Gradensem  patriarcham  etSerenum  Foroiulensem  an- 
tistitem  iuxta  edictum  beati  Gregor ii  seeundi  confirmante  tota 
synodo  et  sententiam  anathematis  in  huius  confirmationis  vio- 
latores  dietante.  Hier  ist  also   um  1045  jenes  gefälschte  Schreiben  aus- 

geschrieben. Dandolo  hat  sonst  mehrere  Berichte,  welche  sich  nur  in  diesem  Ka- 
talog finden ,  mit  demselben  gemeinsam  (das  Testament  des  Severus  ,  die  lange 
Geschichte  des  Fortunat,  des  Primogenius  Sendung  nach  Konstantinopel,  den  2. 
Brief  des  Gregor  gegen  Serenus,  den  Brief  Gregor's  über  Petrus  von  Pola);  er 
kennt  auch  das  Einladungsschreiben  an  Antonin ,  das  sonst  Niemand  kennt,  und 
erwähnt  es  (Sp.  13GD)  mit  ähnlichen  Worten  wie  der  Katalog  (huic  synodo  An- 
tonius patriarcha  cum  episcopis  Venetiae  et  Istriae,  suffraganeis  suis,  per  literas 
papales  admonitus  personaliter  adfuit  et  inconeussam  fidem  tenens  quod  gestum 
est  comprobavit) :  allein  selbst  er  weiss  nichts  von  dem  grossen  Schreiben  Gre- 
gor's III.  über  die  römische  Synode  von  731.  Von  diesem  weiss  also  nur  der 
Redactor  des  nach  1045  abgeschlossenen  Patriarchen-Katalogs.  Desshalb  müssen 
wir  die  Fälschung  ganz  in  die  Nähe  dieses  Redactors  rücken;  anderseits  dürfen 
wir  wohl  schliessen  ,  dass  Dandolo  eine  etwas  verschiedene  Redaction  des  Pa- 
triarchen-Katalogs benützt  hat. 


1)  Mansi  (XIV  262)  überschreibt  die  Acta  der  Synode  von  721  (doch  wohl  nach  seinen  Hand- 
schriften) mit  'adversus  illicita  coniugia',  unser  Fälscher  dunkel  'inlicitas  quasdam  coniunetiones', 
dagegen  der  Redactor  des  Patriarchenkatalogs  wiederum  'illicita  coniugia':  ist  das  nicht  merkwür- 
diger Zufall ,  so  ist  der  Fälscher  des  Gregorbriefes  und  der  Redactor  des  Patriarchenkatalogs  ein 
und  dieselbe  Person. 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  31 

Die  Fälschung   ist    nicht   besonders   geistvoll.     Der   Synodalbeschluss   lautet 
dahin  :  1)  ut  novae  Aquilegiae    (dieses   Schlagwort   ist   3  Mal  von    dem  Fäl- 

scher gebraucht)  id  est  Gradensis  civitatis  Antoninus  patriarcha  suique  succes- 
sores  tocius  Venetiae  et  Istriae  primates  perpetuo  habeantur ,  2)  Foroiulensem 
antistitem  Serenum  suosque  successores  Cormonensi  castro ,  in  quo  ad  praesens 
cernitur  sedere ,  in  finibus  Longobardorum  solummodo  seraper  esse  contentos *). 
Beides  hilft  keinen  Schritt  weiter,  als  der  Brief  Gregor's  II. ,  höchstens  dass  es 
jetzt  durch  eine  grosse  Synode  bestimmt  wird.  Ob  ferner  der  Fälscher  wohl 

das  Schreiben  desselben  Gregor  III.  an  den  Callistus ,  den  Nachfolger  des  An- 
tonin gekannt  hat?  Da  findet  Gregor  in  seinem  Archiv  nur  das  allgemeine  Ver- 
sprechen des  Callistus,  seine  Nachbarn  nicht  zu  belästigen,  diesen  feierlichen  Sy- 
nodalbeschluss und  sein  langes  Schreiben  darüber  hat  Gregor  III.  völlig  verges- 
sen. Endlich  ist  es  doch  ein  seltsames  Schwanken,  dass  früher  gedroht  wird, 
wenn  Serenus  fremde  Rechte  kränke,  mache  er  sich  'gratia  collati  pallii  indignum', 
jetzt  aber ,  wo  ers  gethan  hat ,  er  zwar  zuerst  sogar  'sacerdotali  officio  nuda- 
tus'  erklärt,  dann  aber  gar  nicht  bestraft  wird.  Diese  und  ähnliche  Schwächen 
der  Fälschung  waren  vielleicht  den  Gradensern  selbst  zu  offen  und  zu  stark  und 
haben  damals  die  weitere  Benützung  des  Schriftstücks  verhindert2). 


1)  So  ist  doch  wohl  zu  interpungiren;  'castro,  in  quo  ad  praesens  cernitur  sedere  iu  finibus 
Longobardorum,  solummodo  semper  esse  contentos'  gibt  doch  eine  unglaubliche  Uebertreibung;  auch 
Z.  9  steht  contentus  .  .  in  eo  sc.  Foroiulensi  episcopatu. 

2)  Ich  freue  mich,  den  oben  S.  12  gemachten  Vorwurf  zurücknehmen  zu  müssen.  Während 
der  4  Bogen  dieser  Arbeit  gesetzt  wurde,  sah  ich,  dass  das  Schreiben  Gregor's  III.  über 
die  römische  Synode  von  731,  welches  in  den  Monumenta  1892  Epistol.  III  704 — 706  als  echt  ge- 
druckt ist,  ebenda  bereits  20  Seiten  nachher  von  K.  Rodenberg  als  Fälschung  erklärt  wor- 
den isf:  Pag.  704  epistola  14  spuria  est,  quam  Gradensis  quidam  ex  actis  synodi  Romanae 
a.  721  vel  722  et  ex  iis,  quae  scivit  de  synodo  a.  731,  composuit.  Antoninum  patriarcham  Graden- 
sem synodo  a.  731  de  imaginibus  (cf.  pag.  704  lin.  19)  celebratae  interfuisse  legit  in  Libro  pon- 
tificali,  vita  Gregorii  III  ed.  Duchesne  I  416;  vide  supra  epistolam  no.  13;  ex  actis  synodi  a.  721 
vel  722  (Mansi  XII  261),  in  qua  de  inlicitis  coniunctionibus  (cf.  pag.  704  lin.  21)  neque  vero  de 
imaginibus  tractatum  est,  sumpsit  initium  epistolae  et  testes  subscriptos,  quos  per  nonnullos  epi- 
scopos,  qui  de  provincia  Romana  non  erant,  complevit.  . .  Epistola  no.  14  tempore  concilii  Man- 
tuani  a.  827  nondum  exstitit ;  Mansi  XIV  497.  Auetor  Chronici  patriarcharum  Gradensium  ea  usus 
est,  Scriptores  rerum  Langobardicarum  396. 

Ich  darf  demnach  den  geplanten  letzten  Abschnitt  dieser  Arbeit  mit  einem  Nachweis  der  Fäl- 
schung im  Einzelnen  weglassen  und  mich  auf  einige  Bemerkungen  beschränken.  S.  704  Z.  13 
ist  zu  bessern:  ne  de  creditis  frustratis  quod  absit  animabus,  dann  pastorem.  S.  704  Z.  19 — 21 
hätte  der  Fälscher  das  Praesens  gebrauchen  müssen.  S.  704  Z.  19:  die  Vorlage,  welche  S.  703 
Z.  16  zu  bessern  ist  sauetorum  imagines  ac  (ab  Handschrift,  ad  Herausgeber)  ipsius  domini  .  . 
instar  (=  imagines)  omnes,  hat  auch  der  Fälscher  nicht  verstanden.  S.  705  Z.  2  Pelagii  au- 
ctoritate  und  viginti:  vgl.  Johannes  Diac.  S.  62  Z.  16  und  13.  S.  705  Z.  9  sed  esset  quasi 
non  aeeepisset :  das  Citat  in  Gregor's  II.  Brief  (S.  699  Z.  6)  ist  entweder  nicht  erkannt  oder  nicht 
verstanden.  S.  705  Z.  13—18:  in  der  Vorlage  bessere  S.  701  Z.  19  'sed  semper  retineat  me- 
moria nimia  compassione  iuisse  (fuisset  Handschrift)  concessa'.  S.  705  Z.  20  tocius  Venetiae 
et  Istriae,  quae  nostra  sunt  confiuia :  daran  durfte  20  oder  40  Jahre  vor  Pippins  oder  Karls  Sehen- 


32  WILHELMMEYER 

Die  gradenser  Theorie   in   den   päbstlichen   Schreiben.  Die  gradenser 

Theorie,  das  Patriarchat  von  Aquileja  sei  auf  der  Synode  des  Elias  mit  Zustim- 
mung des  Pabstes  Pelagius  endgiltig  nach  Grado  verlegt  worden ,  das  langobar- 
dische  Patriarchat  sei  um  607  durch  das  Eingreifen  der  Langobardenkönige  ent- 
standen und  erst  der  Patriarch  Serenus  sei  um  710  vom  Pabst  anerkannt  wor- 
den ,  wurde  hauptsächlich  in  den  heftigen  Kämpfen  des  Poppo  und  Ursus  von 
1019 — 1044  ausgebildet  und  fest  formulirt;  es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  diese 
Theorie  sogar  in  die  päpstlichen  Privilegien  eingedrungen  ist,  eine  Thatsache, 
welche  ebenfalls  beweist,  dass  der  Wortlaut  dieser  Privilegien  oft  auf  den  vom 
Bittsteller  gelieferten  Angaben  und  Wendungen  beruht.  Von  den  päbstlichen 

Privilegien  für  Grado  aus  den  Zeiten  vor  dem  Jahre  1000  scheinen  wir  zwar 
Vieles  zu  wissen,  in  Wahrheit  wissen  wir  davon  fast  nichts. 

[Dandolo  gibt  in  seinem  Chronikon  (Muratori,  Scriptores  XII)  Nachricht 
von  vielen  Privilegien  vor  1000  (von  ihm  hängt  hier,  wie  sonst  oft,  Ughelli  voll- 
ständig ab):  Sp.  152/3  Leo  III.  für  Fortunat  mit  vollständigem  Text  (Ughelli 
1094,  Jaffe  2512);  Sp.  170b  Gregor  IV.  (beruht  wohl  nur  auf  Dandolo's  Con- 
jectur;  fehlt  bei  Jaffe?);  (von  Sergius  IL  notirt  Dandolo  Sp.  178b  nur  ein 
Einladungsschreiben,  Jaffe  2593);  Sp.  178d  Leo  IV.  a.  852  (Jaffe  2616,  erhalten 
im  Codex  Trevisaneus);  Sp.  180b  Benedict -III.  a.  858  (Jaffe  2672,  erhalten  im 
Cod.  Trevis.);  Sp.  187d  Hadrian  III.,  Jaffe  3400;  Sp.  194b  Bonifatius  VI., 
Jaffe  3509;  Sp.  195a  Romanus,  Jaffe  3517;  Sp.  195b  Theodor  IL,  Jaffe  3518; 
Sp.  197d  Anastasius  IIL,  Jaffe  3552;  Sp.  209c  und  Sp.  210b  Johann  XIII. 
(Ughelli  1108c;  fehlen  bei  Jaffe?).  Den  Inhalt  des  ersten  Schriftstücks  von 
Leo  III.  gibt  Dandolo  (Sp.  152  =  Ughelli  1094)  vollständig;  von  dem  2.  Stück, 
Gregor's  IV.,  gibt  er  (Sp.  170 b)  als  Inhalt  an  'Gradensem  sedem  approbando, 
Venerio  patriarchae  pallium  concessit,  utendum  in  diebus  resurrectionis,  natalitiis 
apostolorum,  S.  Iohannis  Baptistae,  assumptionis  BVMariae  et  nativitatis  domini 
et  solemnitatibus  ecclesiae  suae  et  anniversariis  ordinationis  eins' ;  bei  allen  fol- 
genden Stücken  gebraucht  Dandolo  für  die  Inhaltsangabe  die  stehende  Formel  'pal- 
lium recepit  utendum  diebus  praodecessoribus  suis  concessis',  welche  Formel  zu- 
recht geschnitten  ist  aus  dem  Sp.  152  vollständig  mitgetheilten  Privileg  Leo'sIII. 
'pallium  .  .  dedimus  quo  ita  uti  memineris,  sicuti  praedecessores  nostri  tuis  prae- 
decessoribus  concessere'. 

Diese  Angaben  Dandolo's  sind  für  uns  werthlos ;  er  hat  höchstens  die  3  Pri- 
vilegien gesehen,    welche    uns    jetzt  im  Codex  Trevisaneus  erhalten  sind1);    aus 

kung  kein  Pabst  denken  ;    er  war  so  gut  griechischer  Untertban  wie  die  Istrier.  S.  705  Z.  23  : 

Lest  frucht  aus  Paulus  Diac.  Hist.  Latigob.  VI  51  'sedem  non  in  Foroiuli,  sed  in  Cormones  habe- 
bant*.  Die  Unterschriften  der  Synode  von  721  sind  jetzt  zu  vergleichen  auch  mit  jenen  der 
Synode  von  732  bei  De  Rossi,  zuletzt  Inscr.  Christ.  II  416,  und  Otto  Günther  im  N.  Archiv  XVI 
1891  S.  235.  Hei  Mansi  ist  Einiges  zu  bessern:  so  ist  am  Schlüsse  umzustellen:  Muscus  (d.h. 
Moschus)  diac.  und  Gregorius  diac;  die  Fehler  der  Fälschung  zu  vergleichen,  lohnt  sich  nicht:  die 
Zahl  der  Handschriften  ist  zu  gross. 

1)  Die  Kenntniss  dieser  Texte  verdanke  ich  der  freundlichen  Mittheilung  meines  Kollegen  Kehr. 
Vielleicht  ergibt  seine  Durchforschung  des  aquilejer  Materials  noch  andere  Erkenntnisse  hierüber. 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  33 

[diesen  hat  er  Einiges  genommen :  alles  Uebrige  ist  nur  sein  Kunstgriff.  In  den 
Privilegien  der  Päbste  Johann  XIX.  und  Benedict  IX.,  welche  er  beide  kennt  und 
Sp.  237e  238a_c  und  Sp.  242c  ausgenützt  hat,  las  er  nur  die  Namensreihe  der 
Päbste,  welche  den  gradenser  Patriarchen  Privilegien  ertheilt  hätten.  Er  hatte  nun 
zunächst  vor  sich  das  Privileg  Leo's  III.  vom  21.  März  803  für  Fortunat  (Jaffe 
2512,  Trevisan.  fol.  15  und  17,  beginnend  Diebus  vitae  tuae  tantummodo.  Offi- 
cium sacerdotis  usw.,  wörtlich  gleich  der  Formel  des  Liber  diurnus  no.  46  S.  35, 
10 — 37,5  und  S.  38,  6 — 8  bei  Sickel);  dieses  Stück  schrieb  er  vollständig  ab 
unter  Leo  III.  Dann  sah  er  ein,  dass  die  Reihe  bei  Johann  XIX.  und  Bene- 

dict IX.  'Stephani  Gregorii  Leonis  Sergii'  falsch  sei ;  denn  zwischen  Stephan  III. 
768—772  und  Leo  III.  795—816  gibt  es  keinen  Gregor  (III  731—741,  IV  816— 
847).  Hier  muss  jedenfalls  umgestellt  werden  und  zwar  ziemlich  sicher  'Gre- 
gorii' vor  'Stephani',  indem  gemeint  war  das  wichtige  Schreiben  Gregor's  IL 
(715 — 731)  an  Serenus ,  welches  die  Gradenser  schon  967  Otto  dem  I.  vorgelegt 
hatten  und  auf  welches  noch  1053  Leo  IX.  seine  ganze  Constitutio  aufgebaut 
hat.  Dandolo  aber  schlug  aus  Irrthum  einen  andern  Weg  ein.  Er  las  nemlich 
das  uns  im  Trevisaneus  Bl.  54  erhaltene  Privileg  Leo's  IV.  vom  1.  April  8o2 
für  Victor  (Jaffe  2616)  und  das  völlig  gleichlautende  Privileg  Benedict's  III.  für 
Vitalis  vom  30.  März  858  (Jaffe  2672,  Trevis.  Bl.  47);  deren  Wortlaut  stimmt 
nach  der  Eingangsformel  'Diebus  vitae  tuae  tantummodo'  wörtlich  mit  der  For- 
mel des  Liber  diurnus  no.  45  S.  32  (bei  Sickel):  Si  pastores  ovium  etc.,  doch 
statt  der  Worte  'non  aliter  .  .  uti  concedimus  quam  decessores  prodecessoresque 
tuos  usos  esse  incognitum  non  habes'  steht  hier:  non  aliter  .  .  uti  largimur,  nisi 
solummodo  in  die  s.  ac  venerandae  resurrectionis  domini  nostri  Iesu  Christi  seu 
in  natalitiis  s.  apostolorum  atque  beati  baptistae  Iohannis  necnon  in  assumptione 
beatae  dei  genitricis  Mariae  simulque  in  dominicae  domini  dei  nostri  nativitatis 
die  pariterque  in  solemnitatis  ecclesiae  tuae  die ,  verum  etiam  et  in  ordinationis 
tuae  natalitio  concedimus  die ;  sicuti  a  beatissimo  predecessore  nostro  domno 
Gregor io  huius  almae  sedis  presule  sancitum  est;  in  secretarium  vero  induere 
tua  fraternitas  pallium  debeat  et  ita  ad  missarum  solemnia  proficisci;  et  nihil 
sibi  amplius  ausu  temerariae  praesumptionis  adrogare  ne,  dum  in  exteriori  habitu 
inordinate  aliquid  arripitur,    Ordinate  etiam  quae  licere  poterant  amittantur. 

Dandolo  meinte,    den  gesuchten  Gregor  hier  gefunden  zu  haben,   was  sicher 
falsch  ist1),    setzte  also  Sp.  170b  die  oben  ausgeschriebene  Notiz  ein,    dass  Gre- 


1)  Unter  den  früheren  Pallienverleihungen  fand  ich  nur  eine,  welche  diesen  Zusatz  hat:  es  ist 
Jaffe  2580,  gedruckt  bei  Kleinmayru,  Nachricht  von  Juvavia,  Anhang  S.  82.  Der  ganze  Text  stimmt 
vollständig  mit  den  gradenser  Privilegien  Leo's  IV.  und  Benedict's  III.  überein,  also  auch  der  eben 
ausgeschriebene  Zusatz.  Da  nun  dies  Privileg  für  Liuprammus  von  Salzburg  von  Gregor  IV.  am 
31.  Mai  837  ausgestellt  ist,  so  kann  natürlich  der  darin  citirte  beatissimus  praedecessor  Gregorius 
nicht  Gregor  IV.  sein.  Es  ist  höchst  wahrscheinlich  Gregor  1.  Dieser  berührt  in  seinen  Briefen 
oft  die  PallienVerleihung,  insbesondere  erlaubt  er  in  dem  Briefe  V  11  dem  Johannes  von  Ravenna 
nicht  nur  bei  Messen,  sondern  auch  an  einigen  litaniis  sollemnibus  das  Pallium  zu  tragen.  Da  jedoch 
die  dort  genannten  Feste  wenig  zu  den  hier  genannten  stimmen,  dagegen  die  Bestimmung  'in  secie- 

AbhandlgD.  d.  £.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hidt.  Kl.     N.  F.  Band  2,  6.  5  , 


34  .  WILHELM    MEYER 

[gor  IV.  dem  Venerius  das  Tragen  des  Palliums  an  den  genannten  Tagen  er- 
laubt habe ,  dagegen  bei  Leo  IV.  und  Benedict  III.,  wie  bei  all  den  folgenden, 
nur  von  Johann  XIX.  genannten  Päbsten  setzte  er  nur  die  gleichmässige  Formel 
'pallium  suscepit  utendum  diebus  praedecessoribus  suis  concessis' ;  nur  bei  Ser- 
gius  II.  vergass  er  ausser  dem  Einladungsschreiben  (Sp.  178b)  diese  Pallienverlei- 
hungsformel  einzuschieben.  Gewährt   uns    diese  Erkenntniss   einen  nützlichen 

Einblick  in  das  Schaffen  des  Historikers  Dandolo  (freilich  auch  Jaffe  hat  sich 
nur  aus  jenem  Schreiben  Johann's  XIX.  seine  no.  3400  3509  3517  3518  3552 
zurecht  gemacht),  so  gewährt  sie  uns  auch  die  Gewissheit,  dass  wir  von  dem 
Inhalt  der  ältesten  Privilegien  nur  Weniges  wissen.] 

Dagegen  die  Privilegien  Silvester's  II.  (999 — 1003)  und  Sergius'  IV. 
(1009 — 1012)  notirt  Dandolo  in  anderer  Weise :  Sp.  231 e  'nietropolitana  iura  Gra- 
densis  sedis  super  episcopos  Venetiarum  et  Istriae  .  .  per  Privilegium  renovavit' 
und  Sp.  235d  'patriarchae  Gradensis  ius  metropolicum  et  ecclesiae  suae  (super?) 
suffraganeos  Venetiae  et  Istriae  per  Privilegium  approbavit'.  Diese  Privilegien 
hat  also  Dandolo  selbst  gesehen  oder  ihren  Inhalt  aus  einer  andern  Quelle  no- 
tirt :  also  hätte  Jaffe  zu  no.  3933  und  3981  Dandolo  citiren  müssen.  In  jenen  2 
Privilegien  scheint  nur  der  alte  Streit  um  Istrien  berührt  gewesen  zu  sein ,  zu- 
nächst nicht  die  gradenser  Rechtstheorie. 

In  den  beiden  Constitutionen  Johann's  XIX.  und  Benedictes  IX.  von 
etwa  1024  und  von  1044  (Jaffe  no.  4063  —  siehe  oben  S.  18  —  und  no.  4114, 
Ughelli  V  1112c  und  1114°)  werden  vor  allem  die  aquilejer  Ansprüche  auf  Ei- 
gentumsrechte über  die  Gemeinde  Grado  und  auf  Unterordnung  (subiectio)  der 
gradenser  Kirche  unter  die  aquilejer  zurückgewiesen;  die  gradenser  Begründung 
ihrer  Rechte  kommt  nicht  zum  Ausdruck;  wichtig  dagegen  ist  die  in  beiden 
Stücken  ganz  gleiche  Aufzählung  der  'privilegia  a  nostris  antecessoribus  Gra- 
densi  sedi  concessa'  nemlich  Pelogii  (II,  die  Eliassynode  fand  statt  'ex  consensu 
Pelagii'),  Gregorii  (I?:  vielleicht  wegen  des  Briefes  des  Pelagius  an  Elias,  den 
Gregor  I.  verfasst  hatte) ,  Honorii  (I ,  vgl.  Primogenius) ,  Stephani  (III :  Brief- 
wechsel mit  Patriarch  Johannes  a.  768—772?),  Gregorii  (II  und  III,  715—731 
und  731 — 741) ,  Leonis  (III) ,  Sergii  Leonis  Benedicti  Adriani  Bonifacii  Romani 
Theodori  Anastasii  loannis  Sylvestri  et  Sergii  (s.  oben  S.  32  bei  Dandolo).  Von 


tarium  vero  .  .  poterant  amittantur'  fast  wörtlich  mit  Gregor's  I.  Brief  übereinstimmt,  so  sind  von 
einem  Nachfolger  Gregor's  I.  die  Worte  'sicut  a  .  .  Gregorio  .  .  sancitum  est'  vielleicht  mehr  we- 
gen des  ihm  folgenden  ,  als  wegen  des  ihm  vorangehenden  Satzes  eingeschoben.  Nachträglich 
theilt  mir  noch  Herr  Graf  Curt  Boguslav  von  Hacke,  dessen  göttinger  Dissertation  über  die  Pri- 
vilegien der  Pallien  Verleihung  nächstens  erscheinen  wird,  freundlichst  mit,  dass  vor  dem  Jahr  1024 
ausser  in  dem  Privileg  Gregor's  IV.  für  Salzburg  (und  also  in  den  oben  besprochenen  Leo's  IV. 
und  Benedicts  III.  für  Grado)  der  oben  gedruckte  Zusatz  samt  der  Erwähnung  Gregor's  sich  noch 
in  folgenden  späteren  Pallien- Verleihungen  findet:  Jaffe  2681:  Mai  860;  2798:  Dec.  865;  2904: 
Febr.  868  (für  einen  Bischof);  f  3406:  Nov.  885;  3457:  Mai  890;  f  3549:  Juni  911;  3550:  Febr. 
912  (für  einen  Bischof);  f  3602:  c.  937;  4042:  Sept.  1022;  ausserdem  werde  in  Betreff  der 
Pallien- Verleihung  Gregor  noch  citirt  in  Jaffa  no.  2603  2759  3568. 


DIE    SPALTUNG    DES    PATRIARCHATS    AQUILEJA  35 

den  genannten  Schriftstücken  mögen  manche  keine  Privilegien  im  strengen  Sinne, 
sondern  andere  gelegentliche  Schreiben  gewesen  sein;  allein  aus  dieser  Liste,  wie 
aus  den  im  Patriarchenkatalog  verwertheten  Schriftstücken ,  erhellt  immerhin, 
mit  welchem  Eifer  damals  die  einschlägigen  Belege  im  gradenser  Archiv  gesam- 
melt und  studirt  wurden. 

Die  von  Kehr  in  den  Göttinger  Nachrichten  1896  S.  294/6  veröffentlichte  und 
als  Pallienverleihung  Leo's  IX.  1050  an  den  gradenser  Patriarchen  Dominicus 
gedeutete  Urkunde  stimmt  wörtlich  mit  der  Formel  45  des  Liber  diurnus  (S.  32 
bei  Sickel),  nur  dass  die  Tage  eingesetzt  sind ,  an  denen  das  Pallium  zu  tragen 
ist:  enthält  also  nichts  Wichtiges  für  die  vorliegende  Frage. 

Dagegen  ist  die  Rechtstheorie  und  Gelehrsamkeit  der  Gradenser  völlig  zum 
Sieg  gelangt  in  der  Constitutio,  welche  der  eifrige  Neuere:-,  Leo  IX.,  den  Gra- 
densern  1053  ausgefertigt  hat  (Jaffe  4295) ;  sie  ist  ganz  nach  dem  Vorbild  des 
Warnungsbriefes  Gregor's  II.  an  Serenus  und  Gregor's  III.  an  Calixtus  geschrie- 
ben. Schon  die  zweimalige  Bezeichnung  'Gradensem  imo  novae  Aquileiae 
patriarcham'  und  'Foroiuliensis  antistes'  statt  'Aquileiensis  patriarcha'  drücken 
den  neuen  Geist  genügend  aus ;  dann  melden  die  Worte  ausdrucklich :  ut  nova 
Aquileia  totius  Venetiae  et  Istriae  caput  et  metropolis  perpetuo  haberetur,  se- 
eundum  quod  evidentissima  praedecessorum  nostrorum  astruebant  privilegia:  Fo- 
roiuliensis  vero  antistes  tantummodo  finibus  Longobardorum  esset  contentus  iuxta 
Privilegium  Gregorii  IL  et  retraetationem  tertii. 

Welch  starken  Eindruck  Form  und  Inhalt  dieses  leonischen  Privilegs  ge- 
macht hat,  das  zeigt  der  Urkundenpassus  der  späteren  Privilegien.  Von 
denselben  sind  gedruckt:  Innocenz  IL  1136,  Jaffe  7783.  bei  Ughelli  V  1120; 
Lucius  II,  1144,  Jaffe  8560,  bei  Ughelli  Sp.  1121 ;  Jaffe  9009»  und  Cornelius  (im 
Index)  citiren  eine  Urkunde  Anastasius'  IV.  6.  April  1154,  welche  ich  nicht 
finden  kann;  Hadrian  IV.  1157,  Jaffe  10295,  bei  Ughelli  Sp.  1124;  Alexan- 
der III.  1161,  Jaffe  10665,  Migne  200  S.  118;  Urban  in.  1186,  Jaffe  15619, 
bei  Ughelli  Sp.  1131;  Alexander  IV.  1256,  Potthast  16481,  gedruckt  in  Fontes 
rerum  Austriacarum  IL  Abth.,  14.  Band  1857  S.  19.  In  dem  letzten  heisst  die 
betreffende  Stelle:  predecessorum  nostrorum  felicis  memorie  Pelagii ,  Alexandri 
(II,  1061,  Ughelli  1117c),  Urbani  seeundi,  Adriani  (IV,  oben),  Alexandri  (III 
1161,  oben),  Lucii  (III,  1182,  Jaffe  14624,  Ugh.  1131b),  Urbani  tercii  (1186,  oben), 
Clementis   (III)    et   Innocentii  tercii   (1213 ,  Ugh.  1135) l  vestigiis   inherentes 

(in  den  zivei  frühesten  Privilegien  von  1136  und  1144  steht:  auetoritatem  sequentes), 
illius  preeipue  constitutionis  tenorem  servantes,  quam  prede- 
cessor  noster  Leo  nonus  papa  saneivit  (sanetissimus  Ughelli  bei  Inno- 
cene  III.  und  Adrian  IV.)  et  synodali  iudicio  et  privilegii  pagina  con- 
firmavit'  etc.  Nur  das  Schlagwort  'nova  Aquileia'  wird  von  keinem  Pabst  mehr 
gebraucht ;  freilich  wird  auch  Foroiuliensis  vermieden ;  es  stehn  sich  fortan  nur 
Gradensis  und  Aquileiensis  gegenüber. 


1)  In  den  früheren  Privilegien  .       :n  natürlich  entsprechend  weniger  Namen. 


36  .  WILHELM    MEYER 

Hieraus  erhellt,  dass  bei  den  Päbsten  die  gradenser  Theorie  gesiegt  hat. 
Das  fast  stets  kaiserlich  gesinnte  friaulische  Patriarchat  trat  mit  dem  Sinken 
der  kaiserlichen  Macht  und  des  kaiserlichen  Ansehns  in  Italien  immer  mehr  zu- 
rück, während  das  gradenser  Patriarchat  mehr  und  mehr  den  Vorrang  gewann 
unter  dem  Schutze  des  mächtig  aufstrebenden  Venedig's.  Gregor  VII.  sagt  in 
einem  Schreiben  von  1074  (Jaffe  4913  und  Ughelli  V  1118),  worin  er  die  gerin- 
gen Einkünfte  des  gradenser  Patriarchats  beklagt ,  diesem  Patriarchate  hätten 
die  Venezianer  es  zu  verdanken,  dass  'post  apostolicam  sedem  omnibus,  quae  sunt 
in  occidente,  gentibus  clariores  extiterunt'.  Also  hier  sind  Grado  die  Vorrechte 
des  ältesten  aquilejer  Patriarchats  zugestanden. 

Noch  mehr  wuchsen  die  Vorrechte  des  gradenser  Patriarchats  unter  der  lang- 
jährigen Leitung  des  klugen  Henricus  Dandolo :  1157  ward  ihm  das  riecht,  im 
Orient  überall,  wo  die  Venezianer  Kirchen  besässen,  Bischöfe  einzusetzen,  und 
in  demselben  Jahre  wurde  ihm  das  Erzstift  Zara  untergeordnet.  Nachdem  noch 
1164  der  aquilejer  Patriarch  Grado  angegriffen  hatte,  dabei  aber  sogar  selbst  in 
Gefangenschaft  gerathen  war  (Monum.  Scriptores  XIV  77),  suchte  der  gradenser 
Patriarch  den  Kampf  mit  den  Aquilejern  1180  durch  einen  Vertrag  (Jaffe  13687) 
zu  beenden ,  worin  denselben  die  Gewalt  über  ihre  damaligen ,  ausdrücklich  ge- 
nannten (Ughelli  V  1129c,  62 c,  62 d)  Diücesen  zugestanden  wurde.  Hierdurch  war 
allerdings  die  stärkste  Quelle  des  Streites  verstopft,  und  wohl  dementsprechend 
werden  auch  in  dem  Privileg  Alexander's  IV.  von  1256  die  dem  gradenser  Pa- 
triarchen untergebenen  Bischöfe  ausdrücklich  aufgezählt *).  Nachdem  endlich  1440 
sogar  ein  Venezianer  Patriarch  von  Aquileja  geworden  war  und  1444  die  Ober- 
herrschaft Venedigs  anerkannt  hatte ,  wurde  dann  natürlich  auch  1451  der  alte 
Plan  (vgl.  ausser  Paschalis  II.  vom  31.  Oct.  1110/1  =  Jaffe  no.  6285,  besonders 
Alexander  III.  an  den  Dogen  von  1178?,  Migne  200  S.  1284  und  Jaffe  no.  14247) 
ausgeführt  und  aus  dem  einsamen  Grado  das  Patriarchat  in  das  glänzende  und 
weithin  gebietende  Venedig  verlegt,  wobei  Nicolaus  V.  ausdrücklich  verfügte,  ut 
'quondam  Gradensis'  deinceps  'ecclesia  patriarchalis  Venetiaruni'  futuris  perpetuis 
temporibus  appelletur. 

Das  langobardische  Patriarchat  seit  607  war  nach  dem  kirchlichen  Recht 
eine  schismatische  Neugründung  und  Grado  war  der  einzige  berechtigte  Erbe  des 
h.  Marcus  und  Hermagoras  gewesen.  Diese  Rechtslage  wurde  aber  um  695  dadurch 
verwirrt ,  dass  der  päbstliche  Stuhl  neben  dem  gradenser  auch  das  langobar- 
dische Patriarchat  anerkannte,  offenbar  ohne  festzusetzen,  welches  von  beiden  der 
berechtigte  Erbe  sei ,    und  dass   nachher  Jahrhunderte   lang  der  päbstliche  Stuhl 


1)  Es  ist  merkwürdig,  dass,  während  die  Aquilejer  nach  ihrer  schon  in  Mantua  verfochtenen 
Theorie  oft  den  Flecken  Grado  für  ihr  Eigenthum  und  das  dortige  Patriarchat  für  ihnen  unterge- 
ordnet erklärt  haben,  die  Gradenser  nie  die  Consequenzen  ihrer  eigenen  Theorie  gezogen  und  Aqui- 
leja, ihre  ursprüngliche  verlassene  Residenz,  als  ihr  Eigenthum  in  Anspruch  genommen  haben. 


DIE    SPALTUNG   DES   PATRIARCHATS    AQUILEJA  37 

bald  Grado  bald  Aquileja  als  berechtigten  Erben  des  h.  Marcus  und  Hermagoras 
anerkannt  hat. 

In  diesem  Rechtsdunkel  entwickelten  sich  Sagen  und  Theorien.  Ihre  Ent- 
wicklung folgt  der  Entwicklung  der  politischen  Macht ;  seit  etwa  800  war  Aqui- 
leja mächtig :  da  gedieh  auch  seine  Rechtstheorie ;  dann  wurde  Grado  mächtig : 
da  ersann  es  seine  Rechtstheorie  und  mannigfache  Belege  für  dieselbe.  Als  die 
politische  Macht  Venedigs  über  Aquileja  und  den  Friaul  gänzlich  gesiegt  hatte, 
dachte  Niemand  mehr  an  die  Rechte  des  aquilejer  Patriarchats,  ja  zuletzt  zerfiel 
es ;  dagegen  das  venezianer  Patriarchat  galt  und  gilt  als  der  berechtigte  Nach- 
folger des  h.  Marcus.  So  ist  in  dieser  Sache  das  Recht  den  politischen  Macht- 
verhältnissen gefolgt. 


Uebersicht. 

I.     Das  Ende  des  Dreikapitelstreits  in  Venetien  um  695  S.   1 — 9. 

IL  Die  mittelalterlichen  Sagen  und  Theorien  über  die  Spaltung  des  Patriarchats 
Aquileja. 

S.  10  Das  gefälschte  Schreiben  Gregor's  III.  über  die  römische  Synode  von  731  (vgl. 
S.  31  Note). 

S.   12  Unklarheit  der  Rechtsverhältnisse. 

S.   15  Die  Rechtstheorie  der  Aquilejer.  Paulin's   Rythmus.      Synode   von  Man- 

tua.  S.    17  Patriarch  Poppo  und  Pabst  Johann  XIX. 

S.   19 — 36  Die  Gradenser  Rechtstheorie. 

S.  19  Der  Rythmus  de  Aquileja  numquam  restauranda.  S.  20  Otto 's  Privileg.  S.  21 
Der    kurze  Bericht    über  die  Synode    des  Patriarchen   Elias.  [S.   22  Die    vollständigen 

Synodalakten  des  Elias  und  der  Brief  des  Pabstes  Pelagius.  S.  24  Die  gradenser  Sage 
vermengt  mit  der  venezianer  Sage  im  Chronicon  Gradense  imd  Altinate  und  bei  Dan- 
dolo].  S.   26  Das    Schlagwort    'Neu-Aquileja'.     S.   28    Die    Spaltung    des    Patriarchats 

und  die  Anerkennung  des  2.  Patriarchats  durch  den  Pabst,  nach  der  gradenser  Theorie. 
S.  29  Die  definitiva  Divisio  zwischen  Aquileja  und  Grado  in  dem  gefälschten  Schreiben 
Gregor's  III.  von  731.  S.  32  die  gradenser  Theorie  in  den  päbstlichen  Privilegien  für 
Grado,  besonders  S.   35  in  jenem  Leo's  IX.     S.  36  Des  Streites  Ende. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wise.  zu  Göttingen.     Phil.-hiet.  Kl.    N.  F.  Band  2,  e. 


ABHANDLUNGEN 
DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH -HISTORISCHE  KLASSE. 
NEUE  FOLGE   BAND  2.  Nro.  7. 


Die 


romische  Flurteilung  und  ihre  Reste. 


Von 


Adolf  Schulten. 


Mit  5  Figuren  im  Text  und  sieben  Karten. 


Berlin, 

Weidmannsche    Buchhandlung. 

1898. 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Einleitung:  Beständigkeit  agrarischer  Institutionen.  Stadt- und  Flurteilung.  Fortbestehen 
der  römischen  Flurnamen  in  heutigen  Ortschaften.  Die  römische  Flurteilung  noch 
heute  kenntlich 5 — 7 

I.  Methode  der  römischen  Flurteilung  (Centuriation).    Die  Centurien  und  ihre  Einteilung 

in  Landloose.    Die  Richtlinien :    cardo  und    decumanus.    Ihre  Orientirung.    Breite 

der  Koppelwege 7—11 

II.  Bisherige  Behandlung   der   römischen  Flurteilung.    Kartenmaterial.    Sichere  Identität 

des  Wegenetzes  bei  Parma,  Bologna,  Padua  etc.  mit  der  Centuriation.  Ueberein- 
stimmung  der  Centuriation  mit  den  Grenzen  der  Territorien.  Römische  Flurnamen 
in  centuriirtem  Gebiet 11 — 15 

III.  Die  erhaltene  Centuriation:  1.  Brixia  (S.  15).   2.  Cremona  (S.  16).    3.  Placentia  (S.  16). 

4.  Veleia  (S.  17).  5.  Florentiola  und  Fidentia  (S.  19).  6.  Parma  (S.  21).  7.  Tannetum 
und  Brixellum  (S.  22).  8.  Regium  Lepidum  (S.  22).  9.  Mutina  (S.  23).  10.  Bo- 
nonia  (S.  24).  11.  Claterna  (S.  2G).  12.  Forum  Cornelii  (S.  26).  13.  Faventia  (S.  26). 
14.  Forum  Livi  (S.  26).  15,  Patavium  (S.  27).  16.  Tarvisium  (S.  28).  17.  Ve- 
rona (S.  29).  18.  Opitergiuni  (S.  29).  19.  Aquileja  (S.  29).  20.  Pola  (S.  29). 
21.  Capua  (S.  30—36).     22.  Florentia  (S.  36).     23.  Carthago  (S.  36—38)   ....     15—3- 


1* 


Die  römische  Flurteilung  und  ihre  Reste. 

Von 

Adolf  Schulten. 


Vorgelegt  von  H.  Wagner  in  der  Sitzung  vom  5.  März  1898. 


Einleitung. 

Beständigkeit   agrarischer   Institutionen.      Stadt-    und    Flurteilung.      Fortbestehen    der    römischen 
Flurnamen  in  heutigen  Ortschaften.     Die  römische  Flurteilung  noch  heute  kenntlich. 

Agrarische  und  bodenrechtliche  Institutionen  haben  eine  wunderbare  Be- 
ständigkeit. Die  Erde  ist  das  konservative  Element.  Stäten  Sinnes  teilt  der 
Bauer,  der  echte  Bewahrer  der  Landesart,  die  von  den  Vätern  überkommenen 
Sitten  und  Bräuche  den  Kindern  mit.  Ihn  weist  der  ewig  gleiche  Kreislauf  der 
Natur  in  feste  Bahnen,  und  wie  sich  die  Natur  nicht  ändert,  so  ändern  ihre 
treuesten  Söhne  nichts  an  ihrem  uralten  Dienst.  Derselbe  leichte  Pflug  —  die 
mit  einem  Querholz  versehene  Hacke  —  den  die  scriptores  rei  rusticae  beschreiben, 
ritzt  noch  heute  die  dünne  Humusschicht  der  römischen  Campagna,  heute  wie 
zu  Horazens  Zeit  „vermählt"  der  italische  Winzer  die  Rebe  mit  der  Ulme  und 
die  von  Baum  zu  Baum  gezogenen  Rebenguirlanden  sind,  wie  die  campanischen 
Gemälde  zeigen,  schon  im  Altertum  der  Schmuck  der  Campania  felix  gewesen. 
Darum  ist  das  heutige  Italien  für  den  Altertumsforscher  eine  Urkunde  römischen 
Lebens:  wer  Augen  hat  zu  sehen  erkennt  auf  Schritt  und  Tritt  im  modernen 
Italien  das  alte. 

Wie  sich  die  natürlichen  Grenzlinien  des  Landes,  Berge  und  Flüsse  nicht 
geändert  haben,  so  sind  die  durch  sie  begrenzten  Gebiete :  die  Poebene,  Etrurien, 
die  Gebirgsfestung  der  Abruzzen,  Campanien,  das  apulische  Flachland  u.  s.  w. 
heute  wie  im  Altertum  die  natürlichen  Landesteile.  Auch  der  Lauf  der  Ver- 
kehrsstrassen ist  derselbe  geblieben  und  auf  oder  neben  der  römischen  via  läuft 
die  Eisenbahn,  die  via  der  Neuzeit.  Aber  nicht  allein  die  grc^en  Heer- 
strassen haben  die  Jahrhunderte  überdauert :  die  folgenden  Blätter  sollen  zeigen, 


<;  ADOLF    SCHULTEN, 

dass  sich  sogar  die  Feldwege    der   römischen  Flurteilung  (Centuriation)  erhalten 
haben. 

Für  die  Limitation  —  so  nennt  man  bekanntlich  die  bei  den  Etruskern 
und  Römern  übliche  Methode,  die  Stadt  und  ihr  Gebiet  durch  ein  System  sich 
rechtwinklig  kreuzender  Wege  (limites)  in  Quadrate  zu  teilen  —  der  Städte  hat 
Nissen  in  seinen  diese  Materie  zuerst  behandelnden  Untersuchungen  ,das  Tem- 
plum'  und  ,Pompeianische  Studien'  die  Nachweise  geliefert,  für  die  Teilung  der 
Feldmark  erübrigt  noch  ein  Gleiches.  Noch  heute  ist  in  Turin,  Aosta,  Florenz, 
Neapel  etc.  das  ein  Schachbrettmuster  darstellende  römische  Strassensystem 
kenntlich.  Schon  a  priori  ist  es  wahrscheinlich,  dass  sich  ebenso  von  der  Flur- 
teilung.  welche  die  Feldmark  in  Quadrate  von  2400  Fuss  (=  c.  710  Meter)  Seite 
|  ( lenturien)  zerlegte,  Spuren  erhalten  haben.  Denn  ein  solches  Wegenetz  braucht 
nicht  durch  Veränderungen  sdes  Bodenbesitzes  und  nicht  einmal  durch  neue  Flur- 
teilung und  Veränderungen  der  Territorialgrenzen  alterirt  worden  zu  sein;  es 
war  vielmehr,  einmal  angelegt,  für  alle  Zeit  ein  ausgezeichnetes  Hülfsmittel  zur 
Verteilung  des  Landes  und  zur  Identifikation  der  einzelnen  Besitzstände.  Noch 
heute  giebt  der  Bauer  im  Paduanischen  Entfernungen  nach  den  grade  dort  vor- 
züglich erhaltenen  ,quadrati\  den  römischen  Centimen,  an  (s.  Legnazzi,  Storia 
del  eatasto  Romano,  Padua  1887  p.  220).  Von  den  römischen  Institutionen  haben 
die  Nachfolger  der  Römer  in  Italien  besonders  die  agrarischen  wegen  ihrer  natür- 
lichen Stabilität  bewahrt.  Neben  den  neugeschaffenen  langobardischen  Grund- 
stücken, die  der  Name  kenntlich  macht,  erscheinen  in  den  mittelalterlichen  Ur- 
kunden zahlreich  die  römischen  fundi  wie  /'.  Cornelianus,  Baebianus  etc.  Beson- 
ders  reiches  Material  bieten  die  ravennatischen  Urkunden  (s.  Fantuzzi ,  Monu- 
menti  Ravennati).  Ein  fundus  Cornelianus  des  neunten  Jahrhunderts  ist  natür- 
lich altrömischen  Ursprungs,  wenn  er  auch,  da  bei  Teilung  jede  portio  fundi  den 
Namen  des  ganzen  fundus  erhält l).  nicht  mehr  die  alte  Ausdehnung  zu  haben 
braucht.  Auch  die  Uneialteilung  des  römischen  fundus  besteht  in  den  .ravenna- 
tischen Urkunden  noch  fort.  Aber  die  Continuität  geht  noch  weiter:  bis 
auf  den  heutigen  Tag  haben  sich  die  Namen  vieler  römischer  Landgüter  in  den 
heutigen  Ortsnamen  erhalten.  Die  Entwicklung  verläuft  so :  ein  aus  mehreren 
fundi  gebildetes  Landgut  (massd)  wird  nach  einem  der  combinirten  fundi  benannt 
—  denn  nur  grosse  Güter  kommen  in  Betracht  — ,  nach  dem  fundus  heisst  dann 
die  villa,  der  Gutshof,  oder  der  viats,  das  Colonendorf.  Schliesslich  bezeichnet 
man  das  Gut  nach  diesen  Centren  (also  z.  B.  possessio  vicus  Aurcliu):  an  die 
Stelle  des  Territoriums  tritt  die  Ortschaft  (s.  meine  Schrift :  die  röm.  Grundherr- 
schaften  p.  21  f.).  Dieser  Name  geht  auf  das  von  dem  mittelalterlichen  Feudal- 
herrn ,  dem  Nachfolger  des  römischen  Possessor,  erbaute  Castell  über  ;  an  das 
Castell  baut  sich  eine  Ortschaft  an:  so  wird  aus  dem  fundus  Cornelianus  ein  Ort 
CornirjJiano2).    Dieselbe  Entwicklung  liegt  in  Frankreich  vor.    Aus  einem  fundus 

1)  S.  Mommsen,  die  italische  Bodenteiliing  (Hermes  XIX  p.  395). 

2)  Zahlreiche  Beispiele  für  diesen  Prozess  bietet  Tomasetti:  „Storia  della  Campagna  Ro- 
raanau  (Archivio  della  soc.  Rom.  di  storia  patria  vol.  1  f.). 


DIE   RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE   KESTE.  7 

Sabiniacus  —  die  keltische  Endung  -acus  entspricht  dem  rön  i sehen  -anus  —  ist 
Savignv,  aus  Floriacus  Fleury  und  Floirac  (a.  Meuse),  aus  Juliacus  Juillac  ge- 
worden *). 

Was  nun  das  Fortbestehen  der  römischen  Flurteilung  angeht,  so  kommt  in 
einer  langobardischen  Urkunde  des  VIII.  Jahrhunderts  (s.  unten)  ein  limes  decu- 
manus —  so  hiessen  die  zum  decumanus  maxunus ,  der  Hauptlinie,  parallel  gezo- 
genen Flurwege  —  vor.  Immer  klarer  sehen  wir  heute  ,  dass  die  „Stürme  der 
Völkerwanderung"  weit  mehr  römische  Institutionen  haben  bestehen  lassen  als 
man  früher  glaubte.  Das  gilt  in  erster  Linie  von  den  agrarischen  Dingen.  So 
soll  denn  im  Folgenden  gezeigt  werden ,  dass  thatsächlich  von  der  römischen 
Centuriation  besonders  in  der  Poebene,  aber  auch  auf  dem  ager  Campanus  und 
sogar  im  Gebiet  von  Carthago  noch  sehr  bedeutende  Reste  vorhanden  sind,  trotz 
aller  Wandlungen  des  Bodeneigentums  und  aller  Veränderungen  des  Wegenetzes 
in  Mittelalter  und  Neuzeit. 

I. 

Methode    der    römischen   Flurteilung    (Centuriation).     Die  Centimen    und    ihre  Einteilung    in  Land- 
loose.     Die  Richtlinien:  cardo  und  decumanus.     Ihre  Orientirung.     Breite  der  Koppelwege. 

Bei  der  Anweisung  öifentlichen  Landes  an  Private  (assignatio)  bedienten  sich 
die  Römer  verschiedener  Flurteilungsarten  (divisio):  für  die  mit  Colonieanlage 
verbundene  Assignation  ist  charakteristisch  die  Teilung  des  zu  vergebenden 
Landes  in  ein  System  von  Quadraten 2).  Diese  Quadrate  enthielten  100  Doppel- 
iugera  —  2  Iugera  bilden  die  altrömische  Hufe,  das  „heredium"  —  also  200  Iu- 
gera  (1  Iugerum  ist  ziemlich  =  1  preuss.  Morgen)  3J.  Ein  solches  Quadrat  heisst 
von  den  100  Hufen  centuria  und  die  Flurteilung  nach  Centurien  centuriatio  (s. 
Schriften  d.  röm.  Feldmesser 4)  II,  405).  Die  Centurie  hatte  als  Quadrat  von  100 
Heredien  =  400  actus  5)  Fläche  eine  Seite  von  20  actus  =  2400  Fuss. 

Vereinzelt  sind  auch  Centurien  zur  Anwendung  gekommen,  die  weder  qua- 
dratisch  waren  noch    100  heredia  =   200  Iugera  enthielten.     Die  Feldmesser  (I, 

1)  S.  Fustel  de  Coulanges  „Institutions  politiques  de  la  France"  T.  III  p.  1  f.  (la  villa  Gallo- 
romaine);    Arbois  de  Jubainville  „La  propriete  fonciere    et    les  noms  des  lieux  en  France"  p.    12  1. 

2)  In  Nordamerika  kommt  dasselbe  System  zur  Anwendung.  Parallel  zum  Meridian  zieht 
man  die  den  cardines  und  von  Osten  nach  Westen  die  cIpii  decumaui  entsprechenden  ,base-lines\  Die 
entstehenden  Quadrate  sind  1  engl.  □Meile  gross.  Diese  divisio  heisst  survey  (s.  Röscher,  Co- 
lonien  p.  305). 

3)  Die  Bedeutung  von  centuria  ist  richtig  erkannt  schon  von  Varro  r.  r.  1,  10:  „bina  iugera 
quod  a  liomulo  primum  divisa  dicebantur  riritim.  quae  heredem  sequerentur,  heredium  appellarunt. 
Jiaec  postca  centum  centuria.  Centuria  est  quadrata ,  in  omnes  quattuor  partes  ut  haheat  latera 
longa  pedum  oc  oc  CD."  Ebenso  Frontin  de  Umitibus  (Feldmesser  I,  30,  14):  „  .  .  deinde  haec 
duo  iugera  iuneta  in  unuw  quadratum  agrurn  effteiunt  ..;  quidam  primum  appellatum  dieunt  mor- 
tem et  centies  duetum  centuriam.  .  ." 

4)  Wo  ich  im  Folgenden  einfach  die  Seite  und  Zeile  citire,  ist  der  erste  Band  gemeint,  der 
den  Text  enthält. 

5)  1  heredium  =  2  Iugera  =  4  Actus.  n 


8  ADOLF   SCHULTEN, 

159,  22)  wissen  von  oblongen  Centurien  zu  berichten,  deren  eine  Seite  25  und 
deren  andere  Seite  16  Actus  lang  war,  die  mithin  eine  Fläche  von  16  x  25  =  400 
Quadratactus,  also  auch  200  luger a  hatten  wie  die  quadratische  Centurie  mit 
dem  Seitenverhältnis  20 :  20  Actus.  Das  Maass  16  :  25  kam  zur  Anwendung 
z.  B.  in  Beneventum ,  Velia  (Feldm.  I,  204,  10)  und  Vibo  (209,  19) *).  Wieder 
andere  Centurien  waren  weder  quadratisch  noch  200  Iugera  gross.  In  der  augu- 
steischen Colonie  Emerita  in  Spanien  wurden  die  Centurien  zu  20  x  40  Actus  = 
400  lug.  ausgelegt  (Hygin,  Feldm.  I,  171). 

Ein  anderes  Verhältnis  war  21x20  Actus  =  210  Iugera;  es  soll  in  Cre- 
mona  angewendet  worden  sein  (Frontin  in  Feldm.  I,  30,  19  und  darnach  Hy- 
gin :  I,  170,  19).  Mommsen  (a.  a.  0.  p.  81)  weist  darauf  hin,  dass  die  quadratische 
Centurie  von  200  Iugera  nicht  wohl  das  normale  Flurmaass  der  älteren  Assigna- 
tiunen  gewesen  sein  könne,  weil  die  damals  vergebenen  Landloose  mit  der  Zahl 
200  incongruent  seien;  es  kommen  nämlich  vor  als  Loose  :  6  iug.  (Potentia,  Pi- 
saurum),  8  (Parma),  15  (Vibo),  140  (Reiterloos  in  Aquileia).  Sicher  war  ja 
bei  der  Assignation  das  angesetzte  Landloos  und  nicht  die  Centurie  von  200 
Iugera  das  maassgebende  Prius.  Umgekehrt  lässt  freilich  der  jüngere  Hygin 
(p.  201)  die  Centurie  von  200  Iugera  in  3  Loose  a  66^/3  iug.  geteilt  sein,  aber 
niemand  wird  glauben,  dass  man,  um  Loose  von  6673  iug.  zu  vergeben,  Centurien 
von  200  iug.  gebildet  hat.  Ebensowenig  wird  man  je ,  wenn  die  Centurie  zu 
200  iug.  gegeben  war  —  etwa  bei  einer  Neuverteilung  bereits  centuriirten  Lan- 
des —  sich  darauf  caprizirt  haben  sie  in  Loose  zu  662/3  iug.  zu  teilen.  Das 
war  bei  den  primitiven  Hülfsmitteln  der  römischen  Agrimensoren  keine  Klei- 
nigkeit. So  unpraktisch  waren  die  Römer  doch  nicht,  und  das  von  Hygin  ge- 
wählte Exempel  ist  für  das  Verkommen  der  ehrbaren  Feldmesskunst  in  mathe- 
matischen Abstractionen  bezeichnend.  Für  die  Assignationen  der  cäsarischen 
und  späteren  Zeit  (50  iug.  in  der  Regel  s.  Frontin:  I,  30)  ist  dagegen  die  Cen- 
turie zu  200  Morgen  das  typische  Feldmaass. 

Die  Centuriation  d.  h.  die  Teilung  des  zu  assignirenden  Landes  in  Centurien 
ist  zuletzt  von  Mommsen  in  der  genannten  Abhandlung  (p.  90  f.)  kritisch  unter- 
sucht worden.  Besonders  hat  Mommsen  die  Bedeutung  der  Grundbegriffe  cardo 
und  deciananus  endgültig  festgestellt.  Bei  der  Orientation,  der  die  Flurteilung  inau- 
gurirenden  Ziehung  der  Hauptlinien,  lässt  der  Feldmesser  zunächst  von  der  groma, 
dem  nach  seinem  Messinstrument  benannten  Mittelpunkt  (daher  auch  umbilicus) 
der  Flurteilung  aus  in  dem  zu  teilenden  Gebiet  zwei  Richtlinien,  die  sich  in  der 
groma  senkrecht  schneiden,  abstecken.  Sie  können  verschieden  orientirt  sein. 
Als  die  beste  Orientirung  gilt  unseren  Agrimensoren  (s.  Feldm.  II,  345  f.)  die 
der  einen  Linie  nach  Norden  oder  Süden  2)  und  die  der  anderen  nach  Osten  gen 
Sonnenaufgang.     Die  Nord  -  Südlinie   heisst  cardo,    die  West  -  Ostlinie   decumanus. 

1)  S.  die  Erörterung  dieser  Verhältnisse  bei  Mommsen,  Zum  römischen  ßodenrecht  (Hermes 
XXVII  p.  81). 

2)  In  der  Orientirung  des  Cardo  herrscht  grosse  Unsicherheit;  man  vergleiche  Frontin  p.  29,  9 
(Süden)  mit  Hygin  108, 11  (Norden).    Derselbe  Hygin  will  p.  108,  16  den  Cardo  nach  Süden  orientirt 


DIE   RÖMISCHE   FLURTEILUNÜ    UND    IHRE   RESTE.  9 

Der  substantivische  Begriff  „cardo",  die  „Axe",  muss,  wie  Mommsen  hervor- 
hebt, der  Hauptbegriff,  also  der  Cardo  die  Hauptlinie  sein.  Dagegen  ist  der  de- 
cumanus  (seil,  limes)  benannt  von  den  im  Abstand  von  je  decem  actus  durch  den 
Cardo  gelegten  Querlinien  (vgl.  Siculus  Flaccus  in  Feldm.  I  p.  153  2)  und  Momm- 
sen dazu  a.  a.  0.  p.  91).  Im  gleichen  Abstand  müssen  parallel  zum  Cardo  andere 
Cardines  gezogen  worden  sein,  denn  die  Feldmesser  überliefern,  dass  der  ager  quae- 
storius,  d.  h.  das  von  den  Quästoren  verkaufte  Staatsland,  in  Quadrate  von  50 
iug.  (=  100  Actus)  d.  h.  10  x  10  Actus  parzellirt  gewesen  sei  (Sic.  Flaccus  152, 
23  f.) 3).  Auf  dem  ager  quaestorius  findet  man  also  die  ursprüngliche  Bedeutung 
der  decumani.  Demnach  scheint  die  Limitation  zuerst  auf  dem  ager  quaestorius, 
nicht  auf  dem  ager  divisus  assignatus  der  Colonien  angewandt  worden  zu  sein. 

Wie  gesagt,  liegen  der  klassischen  Limitation  Centurien  von  20  Actus  Seite, 
nicht  jene  kleinen  Quadrate  von  10  x  10  Actus,  zu  Grunde.  Aber  auf  die  Tei- 
lungslinien dieser  Limitation,  die  eigentlich  von  den  XX  Actus  Intervall  ,vice- 
sumani1  hätten  heissen  müssen,  ist  der  alte  Name  deeimanus  übertragen  worden. 
Während  es  beim  ager  quaestorius  scheinbar  nur  die  eine  Hauptlinie,  den  cardo, 
gegeben  hat 4)  und  als  sekundäre  Linien  Quer-  (deeimani)  und  Parallellinien  (car- 
dines) ,  tritt  in  der  neuen  Limitation  zu  dem  Cardo  eine  zweite  —  westöstlich 
gezogene  —  Hauptlinie,  die  von  den  anderen  Querlinien  als  decumanus  maxi- 
mus  unterschieden  wird  (in  litt  er  ae  Singular -es:  D.M.)  hinzu.  Entsprechend  heisst 
die  nach  Norden  gezogene  Linie  cardo  maximus  (C.  M.). 

In  unserer  Ueberlieferung  gilt  dann  sogar  der  Decumanus  maximus  als  die 
Hauptlinie  und  es  wird  als  Fehler  gerügt,  wenn  ein  Feldmesser  ihn  und  nicht  die 
nunmehr  sekundäre  Linie,  den  cardo,  nach  Süden  zog,  wie  es  bei  Cap'ua  vorgekom- 
men sein  soll  (Frontin :  I,  29,  4)  5).  Da  die  spätere  Hauptlinie ,  der  D.  M. ,  von 
-Westen  nach  Osten  gezogen  wurde,  war  der  östliche  Teil  des  Templum,  d.  h.  des  zu 
limitirenden  Bezirks,  vom  Standpunkt  des  Feldmessers  aus  der  vordere  und  hiess 
daher  pars  antica,  der  westliche  lag  hinten:  pars  postica.  Ihre  Grenze  bildete 
der  durch  den  Fusspunkt  des  Feldmessers  nach  Süden  und  Norden  gezogene  Cardo 


haben.  Es  war  auch  ganz  einerlei,  wo  bei  den  Cardines  Nord  und  Süd  war ,  da  die  Orientirung 
des  Decumanus  genügte ;  denn  die  Cardines  wurden  senkrecht  zum  Decumanus  ohne  nochmalige 
eigene  OrieDtirung  (nach  der  Sonne)  gezogen. 

2)  . .  limites  a  mensura  denum  actuum  deeimani  dicti.  . . 

3)  „quaestorii  dieuntar  agri ,  quos  ex  hoste  captos  p.  E.  per  quaestores  vendidit.  Hi  autem 
limitibus  institutis  laterculis  quinquagenum  iugerum  ejf'ectis  venierunt,  quem  modum  decem  actus  per 
limites  demensi  efficiunt:   unde  etiam  limites  decumani  sunt  dicti."     Vgl.  denselben  p.  136,  18. 

4)  Vielleicht  gehört  hierher  der  merkwürdige  von  Barnabei  (Not.  degli  Scavi  1897  p.  120) 
mitgeteilte  Stein,  der  ausser  den  Namen  der  „III  viri  a(gris)  i(udicandis)  a{dsignandis)u  die  In- 
schrift K  •  VII  =  k(ardö)  septimus  trägt.  Während  auf  dem  analogen  Stein  aus  der  Gegend  von 
Capua  (C.  X,  3861)  der  Cardo  und  der  Decumanus,  auf  deren  Schnittpunkt  der  Cippus  stand,  no- 
tirt  sind,  ist  hier  nur  der  Cardo  genannt;  bei  der  Limitation  waren  also  nur  die  Cardines  nu- 
merirt. 

5)  „.  .  ut  in  agro  Campano  .  .  qui  est  circa  Capuam  tibi  est  kardo  in  orientem  et  deeimanus 
in  meridianum." 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phü.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  7.  2 


10 

maximus.  Die  rechts  vom  Agrimensor  liegende  südliche  Hälfte  ist  die  pars  dex- 
trata,  die  linke,  nördliche,  die  pars  sinistrata  (s.  Mommsen  a.  a.  0.  p.  90;  Ru- 
dorff,  Feldm.  II,  341 ;   Nissen,  Templum  p.  1  f.). 

So  die  Theorie.  In  der  Praxis  orientirte  man  sich  oft  nicht  nach  Osten 
und  Süden,  sondern  nach  der  „natura  loci'L,  d.  h.  gemäss  den  lokalen  Bedürf- 
nissen in  beliebiger  Richtung.  Hinzu  kam,  dass  bei  Orientirung  nach  der  Sonne 
der  eine  Agrimensor  nach  dem  wirklichen ,  der  andere  nach  dem  scheinbaren 
Sonnenaufgang  seinen  Decumanus  zog  (Feldm.  I,  170,  3;  II,  348).  Galt  es  ein 
an  bereits  limitirtes  Land  stossendes  Gebiet  zu  limitiren,  so  Hess  man  gern 
die  neuen  limitcs  zur  Unterscheidung  von  den  alten  im  Winkel  auf  diese 
stossen  (Feldm.  I,  170,  9 — 12).  Ebenso  natürlich  war  es,  dass  man  bei  einem 
sehr  schmalen,  aber  sehr  langen  Territorium  die  Hauptlinie,  den  Decumanus,  in 
der  Längsrichtung  zog  (170,  12).  Der  „natura  loci"  wurde  auch  bei  der  Anlage 
der  Flurteile,  der  Centimen,  Rechnung  getragen.  Auf  schmalen  aber  langen 
Flächen  waren  z.  B.  die  quadratischen  Centurien  von-  710  Meter  Seite  schlecht 
zu  gebrauchen.  Man  ersetzte  sie  durch  Oblonge,  die  sogenannten  scamna  und 
strigae.  Aehnliche  subsidiär  neben  den  Centurien  verwendete  Figuren  sind  die 
praecisurae  und  laciniae  (s.  Feldm.  II,  418  f.).  Am  Augenfälligsten  ist  das 
praktische  Bedürfnis ,  die  Hauptlinie  nicht  nach  Osten  zu  legen ,  wenn  durch 
das  zu  limitirende  Gebiet  eine  Heerstrasse  —  via  publica  —  in  anderer  Rich- 
tung ging :  sie  bildete  die  natürliche  Richtlinie  der  Limitation.  Je  nachdem 
ihre  Richtung  sich  der  westöstlichen  oder  nordsüdlichen  näherte,  wurde  sie  Decu- 
manus oder  Cardo  maximus.  So  hat  man  denn  auch  im  Poland  die  via  Aemilia 
meist  zum  Decumanus  gemacht  (s.  unten)  —  merkwürdigerweise  nicht  durchweg. 
Für  Anxur  ist  die  via  Appia  Decumanus  gewesen  (Feldm.  I,  179,  11).  Anders- 
wo wurde  der  Lauf  der  Küste  oder  der  Apennin  als  die  Normale  angesehen, 
zu  der  der  cardo  maximus  parallel  und  der  decumanus  maximus  senkrecht  zu 
ziehen  sei.    Darnach  hiessen  die  limitcs:  limitcs  maritimi,  mohtani  (Feldm.  II,  348). 

Die  beiden  Hauptlinien  wurden  als  breite  Strassen  angelegt,  ebenso  er- 
hielten die  um  5  Centurien  von  einander  entfernten  limitcs  (quintarii)  eine  grössere 
Breite;  die  übrigen  waren  ursprünglich  nur  mathematische  Linien,  wurden  aber 
später  auch  als  schmale  Feldwege  hergestellt.  In  den  augusteischen  Militärko- 
lonien war  der  Decumanus  maximus  40.  der  Cardo  maximus  20,  der  quintarius  12, 
die  übrigen  limitcs  8  Fuss  breit  (Feldm.  I,  194). 

Die  von  vier  quintarii  eingeschlossenen  25  Centurien  bilden  einen  ,,saltusu 
(158,21),  ein  Quadrat,  dessen  Seite  5  Centurienbreiten  enthält. 

Innerhalb  der  Centurien  wurden  öffentliche  Wege  (viae)  nicht  gezogen.  Ihre 
Stelle  vertraten  die  Grenzraine  der-  einzelnen  Grundstücke  (rigores).  So  reden 
denn  auch  die  Feldmesser  bei  der  Besprechung  der  controversiae,  der  agrarischen 
Streitfälle,  des  Langen  und  Breiten  von  den  ,pedes  quini',  dem  5  Fuss  breiten 
Grenzsaura  (finis)  der  ländlichen  Grundstücke  (s.  Feldm.  II,  433  f.).  Jeder  der 
Adjacenteh  hatte  eine  Servitut  auf  diesem  Rain,  um  zu  seinem  Grundstück  ge- 
langen und  beim  Pflügen  bequem  umwenden    zu  können.     Von    den  viae  publicae, 


DIE   RÖMISCHE   FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  11 

den  limites,  unterschied  sich  dieser  Grenzrain  nur  dadurch,  dass  er  nur  den  An- 
liegern offen  stand,  nicht  dem  ,popnlns\  dem  beliebigen  Dritten:  ,iter  populo  de- 
hetur'  hiess  es  von  den  viae,  ,iter  vicino  debetur'  könnte  man  vom  finis  sagen. 
Es  ist  evident,  dass  schon  bei  der  Assignation  zwischen  den  einzelnen  sortes 
dieser  Rain  belassen  wurde,  nur  wird  jedem  Anlieger  die  Hälfte  der  quini  pedes : 
2x/2  Fuss  angerechnet  worden  sein,  während  die  via  nicht  angerechnet  wird. 
Jedem  Anlieger  gehörten  also  21/«  Fuss  des  Grenzrains ;  sie  bildeten  mit  einer 
Servitut  belastetes  Eigentum. 


IL 

Bisherige    Behandlung   der   römischen   Flurteilung.     Kartenmaterial.     Sichere   Identität  des   Wege- 
netzes bei  Parma,    Bologna,   Padua  etc.  mit  der  Centuriation.     Uebereinstimmung  der  Centuriation 
mit  den  Territorien.     Römische  Flurnamen  im  centuriirten  Gebiet. 

Dass  von  der  soeben  geschilderten  römischen  Flurteilung  noch  bedeutende 
Reste  vorhanden  sind,  hat  man  schon  lange  bemerkt.  Auf  die  Centuriation  von 
Carthago  wies  schon  1833  hin  der  Däne  Falbe1).  Das  grosse  Centuriennetz  im 
Gebiet  von  Padua  deutete  richtig  der  Hydrauliker  Lombardini  (Studi  idrologici 
e  storici  sopra  il  grande  estuario  Adriatico ,  Mailand  1868) 2).  Seitdem  ist 
der  Gegenstand  von  den  Localgelehrten  öfter  behandelt  worden ,  nie  in  genü- 
gender Weise  3). 

Jetzt,  wo  für  fast  ganz  Oberitalien  —  hier  hat  sich  die  Centuriation  am 
besten  erhalten  —  die  Karte  1  :  100000  des  Istituto  geografico  militare  vorliegt, 
wird  es  an  der  Zeit  sein,  die  Spuren  der  römischen  Flurteilung  eingehender  und 


1)  Recherches  sur  Templacement  de  Carthage  (Paris  1833)  p.  54  f. 

2)  Darnach  Reclus,  Geographie  universelle  I  p.  344  (mit  Karte). 

3)  Ich  nenne:  Legnazzi ,  Storia  del  catasto  Romano  (Padua  1887).  Legnazzis  Buch  ist  ein 
lehrreiches  Beispiel  für  die  den  meisten  Lokalgelehrten  anhaftende  Unfähigkeit,  einen  noch  so  kon- 
kreten Stoff  anders  als  phantastisch  zu  behandeln.  Man  würdigt  eine  wirklich  wissenschaftliche 
Lokalforschung  wie  die  von  Carlo  Promis  doppelt,  wenn  man  sie  in  einsamer  Grösse  aus  einem 
Meer  von  Absurditäten  herausragen  sieht.  Von  den  in  Legnazzis  Text  citirten  Karten  ist  nur 
eine  (Taf.  XIV)  zur  Ausführung  gekommen.  Man  kann  das  Fehlen  der  andern  nicht  bedauern,  da  die 
vorhandene  eine  gänzlich  wertlose  Schematisirung  giebt,  an  der  das  einzige  Thatsächliche  die  Namen 
Imola  und  Faenza  —  diese  Territorien  sollen  dargestellt  sein  —  sind.  Wenig  besser  ist  Rubbiani, 
Tagro  dei  Galli  Boii  diviso  ed  assignato  ai  coloni  Romani  (Atti  e  memorie  della  reale  deputazione 
di  storia  patria  per  la  Romagna ,  III  sezione  fasc.  II  p.  65 — 120),  brauchbar  dagegen:  A.  Gloria, 
l'agro  Patavino  dai  tempi  romani  alla  pace  di  Costanza :  studi  topografici  di  A.  G.  (Venezia  1881). 
Ebenfalls  über  die  Centuriation  des  Gebiets  von  Padua  handelt  ein  Aufsatz  im  Bulletino  della  so- 
cietä  geografica  1894.  Die  Centuriation  des  agcr  Campanus  haben  besprochen  Beloch,  Campauien8 
p.  309  und  Meitzen,  Siedlung  und  Agrarwesen  I  p.  284  f.  (die  römischen  Landmessungen  und  Feld- 
teilungen, mit  Karte  der  Umgebung  von  Capua). 

2*  7 


12 

kritischer  als  bisher  geschehen  zu  verfolgen.     Für  Detailuntersuchung   sind   die 
Messtischblätter  1  :  25000  heranzuziehen. 

Dass  wir  in  der  Schachbrett-  oder  netzförmigen x)  Flurteilung  des  Gebiets 
von  Parma,  Bologna,  Padua,  Capua  —  um  nur  die  besten  Beispiele  zu  nennen  — 
die  römische  Centuriation  vor  uns  haben,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Die  Seite  der 
Quadrate  ist  auf  der  Karte  1  :  25000  (s.  Tafel  VII)  28  bis  29  mm  lang,  die 
Wege  nicht  mitgerechnet.  Das  giebt  bei  einer  Reduktion  von  1  :  25000  700 — 
729  m.  Nun  hat  aber  die  Centurie  eine  Seitenlänge  von  20  actus  =  2400  römi- 
schen Fuss ;  das  sind  —  den  Fuss  zu  0,296  m  gerechnet  (s.  Hultsch,  Metrologie  2 
p.  87  Anm.)  710400  mm  =  710  m  oder,  den  Fuss  zu  0,295  m  gerechnet,  708000  mm 
=  708  m.  Die  Centurie  hatte  also  eine  Länge  von  rund  710  m.  Erwägt  man, 
dass  im  Lauf  von  zweitausend  Jahren  die  Breite  der  Wege  zwischen  den  Cen- 
turien  naturgemäss  alterirt  worden  sein  muss,  so  ist  das  eine  überraschend  prä- 
zise Uebereinstimmung.  Aber  auch  bei  viel  geringerer  Congruenz  könnte  kein 
Zweifel  an  der  Identität  des  Reticulats  von  Parma,  Bologna  etc.  mit  der  römi- 
schen Centuriation  sein,  denn  ein  Blick  auf  die  Karten  zeigt  dieses  Reticulat 
so  vielfach  durch  neuere  Flurteilung  und  Wegeanlagen  zerstört,  dass  sein  hohes 
Alter  einleuchtet.  Die  das  Iieticulat  bildenden  Wege  sind  keine  Verbindungs- 
wege zwischen  Ortschaften,  sondern  Flurwege.  Wer  die  Identität  dieses  Wege- 
systems mit  der  römischen  Centuriation  leugnen  will ,  müsste  schon  behaupten, 
dass  man  in  Mittelalter  oder  Neuzeit  eine  Flurteilung  vorgenommen  habe ,  die 
der  römischen  zum  Verwechseln  ähnlich  sieht.  Wer  diese  Auffassung  vertreten 
will,  mag  es  thun.  Ausserdem  stimmt  die  Ausdehnung  der  Limitation  genau 
mit  den  Grenzen  der  römischen  Territorien  überein.  So  treffen  z.  B.  am  Po  die 
Umites  von  Placentia.  der  agrimensorischen  Ueberlieferung  entsprechend,  in  einem 
Winkel  auf  die  von  Cremona.  Vielfach  lassen  sich  innerhalb  der  Centuriation 
die  Hauptlinien ,  Cardo  und  Decumanus  maximus ,  deutlich  unterscheiden  (vgl. 
Parma).  Ebenso  sind  die  quintarii,  die  fünf  Centurien  einschliessenden  zweiten 
Hauptlinien  sehr  oft  kenntlich 2).  Es  scheint,  dass  sogar  von  den  innerhalb  der 
Centurien  gezogenen  Wegen  Spuren  vorhanden  sind.  Schon  auf  den  im  Maass- 
stab 1  :  100000  gezeichneten  Blättern  lassen  sich  vielfach  die  eine  Centurie  hal- 
birenden  Wege  erkennen  (s.  Tafel  V) ;  besonders  deutlich  aber  ist  die  innere 
Teilung  der  Centurien  auf  den  Messtischblättern  im  Maassstab  1  :  25000  kennt- 
lich. Man  vergleiche  das  Blatt  S.  Giovanni  in  Persiceto  (Gebiet  von  Bologna) 
auf  Tafel  VII.  Hier  sind  die  Quadrate  teils  in  zwei  Hälften ,  teils  in  4 ,  teils 
in  G  Teile  geteilt.  Auf  diesen  detaillirten  Kartenblättern  sind  auch  besonders 
gut    die   fossae  limitales ,    die    an  Stelle   eines    Times   die  Centurien  begrenzenden 


1)  Legnazzi  (p.  208  f.)  spricht  passend  von  einer  scacchiera,  einem  reticolato  und  quadri- 
gliato  (p.  41).  Auf  der  Karte  des  Istitnto  geog.  mil.  von  Padua  steht  inmitten  der  Centuriation 
„graticolato  römano"  (von  graticola  =  Rost). 

2)  Vun  der  Centuriation  des  römischen  Brixia  (Brescia)  sind  nur  4  quintarii  erhalten  (s. 
unten). 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  13 

Wassergräben1)  sichtbar.  Besonders  in  der  wasserreichen  Poebene  spielen  die 
nassen  Grenzen  eine  grosse  Rolle.  Jedes  Blatt  der  mitgeteilten  Karte  giebt 
davon  Zeugnis,  lieber  das  Alter  dieser  innerhalb  der  Centurien  gezogenen 
Wege  mag  man  streiten:  es  bleibt,  auch  wenn  sie  modern  sind,  übrig,  dass  bei 
neuerer  Flurteilung  die  römischen  Centurien  zu  Grunde  gelegt  worden  sind. 
Entsprechend  der  Ueberlieferung  sehen  wir,  dass  den  Flüssen  ein  Ueberschwem- 
mungsgebiet  als  ager  exceptus  assignirt  ist  (s.  Feldm.  II,  399) 2).  Kleinere 
Wasserläufe  finden  wir  mit  assignirt  also  ,m  mediis  eenturiin1  (157,  19).  Einige 
Assignatoren  gingen  so  weit,  selbst  grössere  Flüsse  mit  zu  assigniren ,  so  dass 
die  betroffenen  Loosempfänger  ihre  Aecker  zum  Teil  im  Wasser  suchen  konnten 
(51,  3 — 17) 3).  Grade  das  Poland,  dessen  Centuriation  wir  gleich  kennen  lernen 
werden,  wird  als  Beispiel  angeführt  (124,11):  ist  es  doch  wegen  seiner  zahl- 
reichen Wasserläufe  von  jeher  der  klassische  Boden  wasserrechtlicher  Fragen 
gewesen.  Dem  Po,  dem  grossen  Nutzen-  und  Schadenstifter,  ist  ein  bedeutendes 
Ueberschwemmungsgebiet  zugewiesen;  nirgend  reicht  die  Limitation  bis  an  den 
Fluss. 

Besonders  interessant  ist  es ,  dass  sich  auf  dem  centuriirten  Gebiet  ausser 
den  auf  einen  römischen  fundus  zurückgehenden,  an  der  Endung  -ano  kenntlichen 
Ortsnamen  (Bassano  =  f.  Bassianus),  zahlreiche  aus  den  Agrimensoren  bekannte 
termini  technici  der  römischen  Centuriation  finden.  Mehrfach  heisst  in  der  Ro- 
magna  eine  Strasse  desmano ,  wofür  noch  in  mittelaltrigen  Urkunden  decumanus 
vorkommt  (s.  Rubbiani  a.  a.  0.  p.  89) 4).  Desmano  heisst  z.  B.  die  Ravenna  mit 
der  via  Aemilia  verbindende  (bei  Cesena  einmündende)  Strasse  (s.  Rosetti ,  La 
Romagna 5)  p.  254).  Ebenso  führt  ein  an  dem  Decumanus  maximus  der  paduaner 
Flurteilung  liegender  Ort  den  Namen  ,Desman'  (=  italienisch  „Decumano") ü). 
Im  ager  Campanus  kommt  Cardito  (ein  in  der  Richtung  der  Cardines  fliessender 
kleiner  Bach,  also  vielleicht  eine  ehemalige  fossa  limitalis)  und  Carditello  (Flur- 
name) vor.  Cardeto  findet  sich  ferner  noch  im  Bolognesischen  (Urkunde  bei 
Rubbiani  p.  87) 7),  aber  ich  zweifle,  ob  diese  Namen  nicht  vielmehr  ein  cardetum, 
(s.  Ducange  s.  v.,  italienisch  cardeto)  ein  Distelfeld,  bezeichnen.    Dicomano  (=  de- 


1)  Vgl.  lex  Ursonensis  cap.  CIIII  (ßruns,  fontes*  p.  134):  „qui  limites  decumanique  intra 
fines  coloniae  Genetivae  deducti  factique  erunt,  quaecumque  fossae  limitales  in  eo  agro  erunt:' 

2)  125,5  (Hygin):  „scio  enim  quibusdam  regionibus  cum  adsignarentur  agri  adscriptum  ali- 
quod  per  centurias  et  flamini." 

3)  „si  sors  ita  tulerat,  aequo  animo  ferendutn  habebat." 

4)  „.  .  limes  decumanus  .  .  inter  Gaucianum  et  villam  Ulianam"  (Urk.  des  VIII.  Jahrh.).  Die 
ganze  Stelle  auf  S.  14. 

5)  La  Romagna,  geografia  e  storia  per  l'ing.  Emilio  Rosetti  (Milano  1894).  Dies  ist  ein  vor- 
zügliches Buch,  eine  statistische  Darstellung  der  Romagna  in  Lexikonform.  Hoffentlich  folgen  ähn- 
liche Provincialhandbücher  für  die  übrigen  Landschaften  nach. 

6)  Legnazzi  teilt  mit,  dass  die  ganze  Strasse  so  heisse  (p.  221). 

7)  „tercia  pecia  in  cardeto  a  mane  limizunculus"  (Saec.  XIII).  n 


14  ADOLF    SCHULTEN, 

cumanus?)  wird  als  Ortsname  des  florentiner  Gebiets  erwähnt  (Not.  degli  Scavi 
1887  p.  133).  Ob  der  an  einem  limes  gelegene  Ort  Quinzano  b.  Verolanuova 
(s.  Tafel  I)  vom  limes  quintanus  (qaintarius)  heisst,  lasse  ich  dahin  gestellt.  Li- 
midi  (von  limes)  findet  sich  an  einem  limes  bei  Carpi  (s.  „Regium  Lepidum"), 
und  im  Gebiet  von  Florenz  (s.  unten  „Florentia")  „Limite". 

S.  Angelo  in  Formis,  der  Fundort  des  gracchanischen  Centuriensteins,  der 
den  decumanus  primus  und  hardo  XI  bezeichnete,  heisst  vielleicht  so  von  den 
römischen  formae  =  fossae  limitales  l).  Sehr  häufig  ist  in  Oberitalien  der  Orts- 
name Monticelli  -).  Ich  halte  es  für  möglich,  dass  der  Name  nichts  anderes  be- 
zeichnet als  die  bei  den  Feldmessern  so  oft  vorkommenden  monticelli  d.  h.  die 
zur  Bezeichnung  der  Grenzlinie  dienenden  kleinen  Hügel.  Monticelli  kommt  vor 
z.  B.  südwestlich  von  Cremona  am  Po,  westlich  von  Pontevico  am  Po,  Östlich 
von  Verona,  nördlich  von  Lonigo.  Die  Mitte  der  Centuriation  von  Padua  be- 
zeichnet der  Ort  S.  Giorgio  delle  Pertiche,  sicher  so  genannt  von  der  pertica,  der 
Messlatte  der  Agrimensoren. 

Es  liegt  nahe,  zu  fragen,  wie  lange  die  römische  Centuriation  als  solche  be- 
standen hat.  Noch  in  einer  Urkunde  des  VIII.  Jahrhunderts  wird  ein  limes  decu- 
manus des  Gebiets  von  Mutina  (Modena)  erwähnt.  Die  Stelle  steht  in  der  über 
eine  Schenkung  des  Langobardenkönigs  Aistulf  an  das  Kloster  Nonantula  aufge- 
nommenen Urkunde  vom  J.  753  bei  Troya,  Codex  diplomaticus  IV,  4  p.  452  (num. 
DCLXXI).  Der  Text  bei  Ughelli,  Italia  sacra  (Roma  1647)  Vol.  II  p.  105 
weicht  vielfach  ab  and  ist,  wie  es  scheint,  fehlerhaft.  Die  Stelle  lautet :  „curtem 
quoque  Canetulo  in  territorio  Mutinensi  .  .  sive  duas  portiones  de  sylva  LupuJeto  seu 
silvctm  Murianese,  Madcgaticum,  Caprinam ,  Pontenariam  et  paludes  Grumulenses 
usque  in  limitem  dec i m a n  u  m  qui  percurrit  inter  Gaucianum  et  villam  Ulianam 
et  de  ipso  Jimitc  in  Panarium  (=  Panaro)  veniente  et  de  via  decimanense  ha- 
bcatis  communiter  usque  in  fossätum  finale  cum  decimanense  et  Ulianense  seeun- 
dum  forum  cohacrentias  atejue  ex  parte  fines  Delamense  in  casale  Modenulam.u 

Es  ist  mir  nicht  gelungen  die  Ortsnamen  aufzufinden  und  den  decumanus 
festzustellen. 

Häufig  sind  auch  nach  römischen  Zahlen  benannte  Orte  wie  Cento,  Nonagin- 
tula,  Ducentola,  Trecentola :  alle  im  Gebiet  von  Bologna.  Doch  sind  diese  Namen 
kaum  von  einem  so  und  viele  lugera  umfassenden  Gut  herzuleiten,  wie  Erri 
(Dell'  origine  di  Cento,  Bologna  1759)  angenommen  hat.  Sie  werden  erst  im 
Mittelalter  entstanden  sein.  Dass  im  Mittelalter  ducentum  ein  Flurmaass  ist,  (s. 
Ducange  s.  v.)  ist  aber  vielleicht  aus  der  200  iug.  umfassenden  Centurie  abzu- 
leiten. 

Innerhalb  der  Centuriation  finden  sich  besonders  häufig  die  sonst  selteneren 
Namen  römischer  Höfe  wie  Cornigliano,  Gaiano,  Damiano  etc.    Es  wird  unten  bei 


1)  Im  Mittelalter  ist  forma  =  fossa  (s.  Ducange  s.  v.). 

2)  Vgl.  das  Dizionario  corografico  im  5.  Band  des  Werkes  „L'Italia"  s.  voce. 

n 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  15 

der  Besprechung    des   Einzelnen    hervorgehoben    werden,    dass    diese    römischen 
Flurnamen  besonders  an  Kreuzpunkten  der  limites  häufig  vorkommen. 

Man  ist  gewohnt  die  von  römischen  Ordinalzahlen  (Quinto,  Quarto,  Decimo 
etc.)  benannten  Ortsnamen  von  der  römischen  Milienzählung  herzuleiten  ;  meistens 
trifft  das  gewiss  zu ,  aber  zuweilen  passt  weder  die  Entfernung  zweier  so  be- 
nannter Orte  zu  der  Milienzählung,  noch  liegen  die  Orte  an  einer  grösseren 
Strasse.  Da  wir  nun  aber  bereits  die  Namen  decumanus  und  cardo  (?)  in  heutigen 
Ortsnamen  wiedergefunden  haben,  liegt  es  nahe  in  solchem  Fall  in  Namen  wie 
Quinto,  Quarto  die  Bezeichnung  eines  cardo  oder  decumanus  quintus ,  quartus  zu 
finden. 


III. 

I>ie  erhaltene  Centuriation :  1.  Brixia.  2.  Cremona.  3.  Placentia.  4.  Veleia.  5.  Florentiola  und 
Fidentia.  6.  Parma.  7.  Tannetum  und  Brixellnm.  8.  Regium  Lepidura.  9.  Mutina.  10.  Bononia. 
11.  Claterna.  12.  Forum  Cornelii.  13.  Faventia.  14.  Forum  Livi.  15.  Patavium.  16.  Tarvisium. 
17.  Verona.     18.  Opitergium.     19.  Aquileja.     20.  Pola.     21.  Capua.      22.  Florentia.     23.  Carthago. 

Ich  gehe  nun  zur  Besprechung  der  erhaltenen  Centuriation  über  und  beginne 
mit  den  römischen  Territorien  der  Poebene,  wo  sich  die  besten  Beispiele  finden. 
Die  beigefügten  Tafeln  I — YI  sind  zusammengestellt  aus  der  italienischen  Gene- 
ralstabskarte, die  im  Massstab  von  1  :  100000  auf  Grund  der  Messtischblätter 
1:25000  gezeichnet  ist.  Die  Tafeln  sind  eine  Beduction  der  Originalblätter 
(1  :  100000)  auf  den  Maassstab  1 :  150000.  Tafel  VII  ist  die  Reproduction  des 
Messtischblattes  (1  :  25000)  Castelfranco  dell'  Emilia  (Nordosten  Blatt  IV  des 
Blattes  87  der  Generalstabskarte).  Bei  dem  Arrangement  des  Kartenmaterials 
habe  ich  mich  der  sachkundigen  Hülfe  des  Herrn  Professor  Wagner  zu  er- 
freuen gehabt,  wofür  ich  ihm  auch  an  dieser  Stelle  meinen  wärmsten  Dank 
ausspreche. 

Der  Maassstab  in  der  Ecke  von  Tafel  IV  zeigt  eine  Strecke  von  zehn  Cen- 
turien  =  7100  m  in  der  Reduction  der  Karten  (1  :  150000),  der  auf  Tafel  VII 
dieselbe  Strecke  in  der  Reduction  der  Tafel  (1  :  25000).  Zur  Prüfung  meiner 
Ausführungen  übertrage  man  sich  den  Maassstab  auf  einen  Papierstreifen. 

Um  das  Auffinden  der  im  Text  genannten  Orte  zu  erleichtern,  sind  die 
Karten  in  Quadrate  geteilt.  Mit  o.  1.,  o.  r.,  u.  L,  u.  r.,  m.  bezeichne  ich :  oben 
links,  oben  rechts,  unten  links,  unten  rechts,  und  Mitte  innerhalb  der  Quadrate. 

1.  Brixia  (Brescia)  (s.  Taf.  I).  Südwestlich  von  Brescia  laufen  in  einem 
Abstand  von  10  Centurien  zwei  parallele  Wege;  in  ihrer  Mitte,  von  jedem  5 
Centimen  entfernt,  ist  noch  teilweise  ein  dritter  vorhanden  (über  Verolanuova: 
1  C.) :  es  sind  3  limites  (cardines)  quintarii  der  römischen  Limitation.  Der  öst- 
lichste (über  Manerbio :  2  C.)  ist  —  in  seinem  oberen  Teil  nach  Nordosten,  in  seinem 
unteren  Teile   nach  Südwesten   verlängert  —  die  Verbindung  von  Cremona  und 


16 

Brescia;  gradlinig  ist  er  nur  bis  Pontevico  am  Oglio  (1  D.) :  offenbar,  weil  hier 
das  Gebiet  von  Brixia  und  dessen  Limitation  endete.  Wäre  er  ein  später  zur 
Verbindung  der  beiden  genannten  Städte  angelegter  Weg,  so  würde  er  sie  in 
grader  Linie  verbinden.  An  römischen  Flurnamen  findet  sich  in  dieser  Gegend 
z.  B.  Porzano  (=  fundus  Porcianus)  und  Frontignano  (=  /'.  Frontinianus). 

Westlich  von  Brescia  findet  sich  eine  andere  Limitation,  deren  Cardines  von 
Korden  nach  Süden  und  deren  Decumani  von  Westen  nach  Osten  laufen  (s.  das 
Quadrat  1A.).  Zu  erkennen,  wenn  auch  stark  verschoben,  sind  noch  vier  in 
einem  Abstand  von  etwa  3  Centurien  gezogene  Cardines.  Meano  (1 B.)  liegt  auf 
dem  Schnittpunkt  eines  Cardo  und  Decumanus.  Die  Decumani  sind  schlecht  er- 
halten; doch  sind  der  durch  Trenzano  (IB.)  und  der  durch  Meano  führende 
Weg  Decumani :  ihr  Abstand  beträgt  7  Centurien. 

2.  Cremona.  Südlich  vom  Oglio  beginnt  eine  andere  Centuriation :  die  von 
C remo na  (s.  Tafel  I).  Ihr  Cardo  maximus  ist  offenbar  die  vonRobecco  am  Oglio 
(IX).)  schnurgrade  bis  Crernona  (1  E.)  laufende  Strasse.  Von  den  östlichen  Cardines 
ist  besonders  deutlich  der  zehnte  (bei  Pieve  Delmona :  2  E.)  kenntlich.  Die  Centu- 
riation geht  im  Osten  etwa  bis  Rivarolo  (4  F.),  im  Westen  bis  Corte  dei  Cortesi 
(1 D.) ,  wenigstens  reichen  die  Cardines  nicht  weiter.  Im  Süden  ist  natürlich 
der  Po,  im  Korden  der  Oglio  die  Grenze.  Südlich  der  Strasse,  die  von  Eiva- 
rolo nach  Cremona  führt,  beginnt  eine  andere  Limitation,  deren  Cardines  sich 
mehr  der  nordsüdlichen  Richtung  nähern.  Zu  welchem  Territorium  sie  gehören, 
ist  schwer  zu  sagen. 

Die  Agrimensoren  berichten  (Feldm.  I,  170,  19) ,  dass  in  Cremona  die  Cen- 
time 210  Iugera  enthalten  habe.  Eine  solche  Centurie  bildet  ein  Rechteck  von 
21  X  20  actus,  während  die  gewöhnliche  Centurie  von  200  Iugera  20  X  20  actus 
Seitenlänge  hat.  Katürlich  lässt  sich  bei  den  geringen  Resten  der  Centuriation 
von  Cremona  die  Centurie  von  21  x  20  actus  nicht  mehr  als  solche  erkennen. 

3.  Placentia  (Piacenza)  (s.  Taf.  II).  Die  Westgrenze  der  Colonie  scheint 
der  Fluss  Tidone  (1  A.)  gebildet  zu  haben,  nicht  die  Trebbia,  da  die  zu  Placentia 
gehörigen  Inschriften  Corp.  Inscr.  lat.  XI,  1222  (aus  Momeliano  :  1 B.)  und  1224 
westlich  von  der  Trebbia  gefunden  sind.  Demnach  muss  die  Centuriation  westlich 
der  Trebbia  placentinisch  sein,  während  die  östlich  der  Trebbia  erhaltene  und  von 
jener  deutlich  unterscheidbare  zu  Veleia  gehören  muss,  wie  wir  gleich  sehen 
werden.  Kach  Osten  zu  stiess  die  Stadtflur  von  Placentia  an  die  von  Veleia,  dessen 
Gebiet  sich  wie  das  aller  dieser  auf  dem  rechten  Poufer  gelegenen  Städte  bis  zum 
Po  erstreckt  haben  wird.  Als  Grenzfluss  kommt  in  betracht  Trebbia  und 
—  weiter  östlich  —  Kure  (3  A.B.).  Dass  zum  mindesten  in  ihrem  Oberlauf  die 
Trebbia  die  Grenze  gebildet  hat,  lässt  sich  mit  Hülfe  der  aus  der  veleiatischen 
Alimentarurkunde  bekannten  placentinischen  Flurnamen  feststellen.  Auf  der 
Grenze  von  Placentia  und  Veleia  lag  der  pagus  Ambitrebius ,  dessen  Kamen  der 
heutige  Ort  Travo  an  der  oberen  Trebbia  (1  C.)  bewahrt.  , Ambitrebius'1  heisst 
der  Gau  von  der  Trebbia  (ambi-  ist  keltisch  =  griechisch  a^icpt)  wie  die  Ambilici 
in  Raetien   vom   Licus  (Lech),    die  Ambidravii   in   Koricum    vom   Dravus  (Drau) 


DIE   RÖMISCHE   FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  17 

heissen  (s.  meinen  Aufsatz :  „die  peregrinen  Gaugemeinden",  Rh.  Museum  L,  532). 
Im  pagus  Ambitrebius  liegt  der  fundus  Cabardiacus  (für  diesen  und  alle  folgenden 
Flurnamen  der  Tabula  Veleias  siehe  die  Zusammenstellung  CIL.  XII  p.  226),  dem 
das  heutige  Caverzago  (1  C. :  südwestlich  von  Travo)  entspricht.  Von  placenti- 
nischen  fundi  auf  dem  linken  Trebbiaufer  lassen  sich  ferner  identifiziren :  f.  Ma- 
tellianus  =  Madelano  (1 C.) ,  f.  Licinianus  =  Lisignano  (1 B.) ,  f.  Passianus  = 
Passano  (1 B.),  f.  Castricianus  =  Casturzano,  f.  Plautianus  =  Piozzano  (1 B.).  Lassen 
sich  so  mehrere  Punkte  des  placentinischen  Gebiets  auf  dem  linken  Ufer  der 
Trebbia  nachweisen,  so  sind  andererseits  mehrere  veleiatische  fundi  auf  dem 
rechten  Ufer  bekannt,  keiner  auf  dem  linken.  Dem  f.  Naevianus  entspricht  Ni- 
viano  (2B.).  Bis  hierher  mindestens  ist  also  das  rechte  Trebbiaufer  veleiatisch 
gewesen.  Da  Placentia  selbst  östlich  von  der  Trebbia  liegt,  muss  die  Grenze 
freilich  südlich  der  Stadt  von  der  Trebbia  nach  Osten  abgebogen  sein.  Die  Li- 
mitation ist  westlich  von  der  Trebbia  weniger  gut  erhalten,  aber  offenbar  anders 
(genau  nach  Norden  und  Osten)  orientirt  als  die  östlich  der  Trebbia  vorhandene 
und  deutlich  kenntliche.  Da  es  aber  agrimensorisches  Prinzip  war  die  Limitation 
benachbarter  Stadtfluren  verschieden  zu  orientiren  (s.  oben  p.  10) ,  um  schon  so 
die  Grenze  kenntlich  zu  machen,  so  scheint  das  rechte  Ufer  der  Trebbia  bis  auf 
einen  schmalen  Streif,  in  dem  Placentia  lag,  veleiatisch  gewesen  zu  sein.  Wie 
bereits  gesagt  wurde,  ist  die  Limitation  des  placentinischen  Gebiets  westlich 
von  der  Trebbia  schlecht  erhalten,  doch  sind  vielleicht  zwei  einen  saltus  begren- 
zende also  5  Centurien  von  einander  entfernte  Cardines  kenntlich  (1  A.  B.).  Der 
Östliche  der  beiden  Cardines  lässt  sich  in  seinen  Resten  vom  Apennin  bis  Grag- 
nanino  (1A.)  verfolgen.  Zwischen  ihm  und  dem  ersten  Cardo  östlich  von  der 
Trebbia  ist  für  den  Fluss  ein  Gebiet  von  etwa  3  km  frei  gelassen  (B.  1 — 2). 
Die  „fines  flumini  assignati"  sind  aus  den  Agrimensoren  bekannt  (s.  oben  S.  11). 
Nirgendwo  musste  den  Flüssen  ein  so  breites  Bett  zugewiesen  werden  als  im 
Poland,  wo  die  torrenti  des  Apennin  im  Frühjahr  ungeheure  Flächen  zu  über- 
schwemmen pflegen.  Der  westliche  der  beiden  Cardines  läuft  in  der  Mitte  des 
Quadrats  1  B. 

Im  Gebiet  von  Piacenza  findet  sich  eine  Menge  römischer  Flurnamen.  Ich 
nenne  ausser  den  oben  genannten  noch :  Gragnano  (1  A.)  =  f.  Granianus ,  Sar- 
turano  (IB.)  =  f.  Sartorianus,  Tavernago  (IB.)  =  /.   Taberniacus1). 

4.  Veleia  (bei  Macinesso  :  3D.)  (s.  Taf.  II).  Im  Osten  stiess  das  Territorium 
von  Veleia  an  das  von  Parma,  wie  daraus  hervorgeht,  dass  Grundstücke  der  ve- 
leiatischen  Urkunde  nin  Parmense"  (pago  Mercuriale:  pag.  V  82;  84;  85)  oder 
vin  Veleiate  et  Parmcnse"  (pago  Salutare  et  Salvio:  III  37)  liegen.  Die  West- 
grenze von  Parma  ist  der  Taro  (s.  Taf.  III).  Darum  reichte  aber  das  Gebiet  von 
Veleia  keineswegs  von  der  anderen  Seite  bis  zu  diesem  Flusse,  sondern  berührte 
sich  mit  dem  ager  Parmensis  wohl  nur  im  Appenin.    Das  Land  zwischen  Arda  und 


1)  Die  im  Poland  zahlreichen  Namen  auf  -ago  sind  keltisch  (-äcus).     Man    müsste    ihre  Ver- 
breitung einmal  verfolgen.     In  den  mittelalterlichen  Urkunden  finden  sie  sich  in  Menge. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Pliil.-hist.  Kl.     N.  F.   Band  2,  7.  3  7 


18  ADOLF   SCHULTEN, 

Taro  muss  im  Uebrigen  zu  Florentiola  und  Fidentia  gehört  haben,  denn  die  veleia- 
tische  Limitation  endet  an  der  Arda,  die  also  als  Ostgrenze  von  Veleia  zu  gelten 
hat.  Im  Norden  kann  Veleia  schon  apriori  nicht  bis  zum  Po  gereicht  haben,  da 
seine  westöstliche  Ausdehnung  so  bedeutend  ist.  So  ist  denn  auch  das  Land  nörd- 
lich der  via  Aemilia  anders  limitirt  als  das  sicher  veleiatische  Gebiet.  Die  beiden 
Limitationen  stossen  an  der  Aemilia  in  ziemlich  starkem  Winkel  aufeinander. 
Man  wird  dies  Gebiet  den  beiden  an  der  Aemilia  gelegenen  Gemeinden  Fidentia 
(Borgo  S.  Donnino:  5  C.)  und  Florentiola  (Fiorenzuola :  4  B.)  zuweisen  müssen. 
Als  östliche  Grenze  von  Veleia  kommt  neben  der  Arda  auch  die  Chiavenna  in 
betracht.  Alles  östlich  von  Arda  oder  Riglio,  auch  das  südlich  der  Aemilia  ge- 
legene, Land  gehörte  demnach  zu  Florentiola  und  Fidentia.  Dazu  stimmt,  dass 
die  Limitation  dieser  Gegend  die  Fortsetzung  der  nördlichen  (jenseits  der  Ae- 
milia) nicht  der  westlichen,  veleiatischen,  bildet. 

Was  die  Limitation  des  veleiatischen  Gebiets  angeht,  so  läuft  der  erste  Cardo 
östlich  der  Trebbia,  Östlich  von  Molinazzo  (2B.)  und  Gossolengo  (2  A.).  Die  über 
Suzzano,  Settima  (2  B.)  nach  Piacenza  führende  Strasse  ist  der  fünfte  Cardo.  Der 
zehnte  lief  über  Podenzano  =  fundus  Potentianus  (2B.),  der  vierzehnte  über  S.  Gior- 
gio Piacentino  (3  B.).  Die  Distanz  zwischen  den  letztgenannten  Ortschaften  ist  die 
Breite  eines  saltus  d.  h.  des  vom  ersten  und  sechsten  Cardo  (und  den  entsprechenden 
decumani)  begrenzten  Quadrats  von  25  Centurien  (s.  o.  S.  10).  Wir  haben  schon  ein- 
mal gesehen  und  werden  noch  öfter  sehen,  dass  zuweilen  nur  je  die  sechsten  Car- 
dines, also  die  Seitenlinien  der  saltus,  erhalten  sind.  Nun  überliefern  die  römi- 
schen Feldmesser,  dass  man  bisweilen  nur  die  limites  qaintarii,  je  den  sechsten 
limes,  als  Strasse  von  12  pedes  (=  3,5  m)  dagegen  die  anderen  a]s  limites  linearii, 
als  blosse  Messlinien  oder  aber  nur  8  Fuss  breite  Wege ,  angelegt  habe  (vgl. 
Feldmesser  II,  350).  Auf  den  Cardo  von  S.  Giorgio  folgt  ein  cardo  quintarius: 
der  neunzehnte,  welcher  durch  Valconasso  (3  B.)  läuft.  Die  beiden  letztgenannten 
Cardines  sind  bis  zum  Appennin  c.  13  km.  lang  erhalten.  Der  von  Valconasso 
ist  zweimal  unterbrochen.  Den  Torrenti  Nure  und  Riglio  ist  nur  scheinbar  kein 
Gebiet  zugewiesen,  denn  dass  die  limites  durch  die  Flüsse  hindurch  gezogen  sind 
ist  natürlich :  so  brauchte  der  Feldmesser  nicht  hinter  dem  Fluss  aufs  neue  ein- 
zuvisiren.  Aber  dem  Flusse  blieben  die  nächsten  Centurien  überlassen.  In  dem 
Raum  zwischen  Arda  und  Riglio  (3B.)  einer-  und  via  Aemilia  und  Apennin  an- 
dererseits sind  deutliche  Spuren  von  Limitation  nicht  erhalten.  Der  letzte  er- 
kennbare Cardo  von  Veleia  ist  der  über  Valconasso.  Demnach  reichte  die  Limi- 
tation von  Veleia  und  deshalb  auch  die  Feldflur  vielleicht  nur  bis  zum  Riglio 
nicht  bis  zur  Arda.  Auffallend  ist  die  Strasse,  welche ,  dem  Cardo  von  Valco- 
nasso genau  parallel,  c.  1100  m  weiter  östlich  (zwischen  via  Aemilia  und  Ri- 
glio: 3B.)  läuft.  Die  Distanz  vom  Cardo  zeigt,  dass  sie  nicht  in  das  System 
der  Centuriation  passt ;  sie  mag  aber  trotzdem  römisch  sein,  denn  sie  hat  genau 
die  Richtung  der  Cardines. 

Weniger  gut  als  die  Cardines  sind  die  Decumani  zu  erkennen.  Der 
nördlichste  noch  sichtbare  läuft  südlich  von  Quarto   (der   Ort  liegt  südlich   von 


DIE   RÖMISCHE   FLURTEILUNG   UND    IHRE   RESTE.  19 

Piacenza :  2  A.) l).  Festzustellen  sind  ferner  der  nächstfolgende  bei  Gariga 
(2B.  oben),  der  vierte  (Settima :  2B.)  und  der  sechste,  dessen  Schnittpunkt  mit 
dem  zehnten  cardo  (s.  o.)  der  Ort  Podenzano  (2B.)  bezeichnet.  Dieser  decu- 
manus  geht  auch  durch  S.  Giorgio  (3  B.),  wo  er  den  fünfzehnten  cardo  schnei- 
det. Ich  mache  schon  hier  darauf  aufmerksam,  dass  solche  grösseren  und  durch 
ihre  Namen  als  römisch  kenntlichen  Ortschaften  sich  häufig  an  den  Schnitt- 
punkten der  grösseren  limites  finden.  Es  ist  ja  auch  sehr  wahrscheinlich,  dass 
die  Colonisten  Höfe  an  solchen  Schnittpunkten  anlegten ,  da  diese  die  compita 
der  umliegenden  Centurien  bildeten.  Von  den  weiter  südlich  gezogenen  Decu- 
mani  sind  sichere  Spuren  nicht  erhalten. 

5.  Florentiola  (Fiorenzuola)  und  Fidentia  (Borgo  S.  Donnino)  (s. 
Taf.  II).  Der  erste  Cardo  der  jenseits  (nördlich)  der  Aemilia  angelegten  Limi- 
tation (s.  Taf.  II)  läuft  westlich  vom  torrente  Nure  bei  Borghetto  (3  A.).  Dann 
ist  erst  wieder  der  7.  —  statt  des  6.,  des  quintarins,  wie  man  erwarten  sollte  — 
bei  Mendolina  (A.  3/4)  sichtbar,  dann  der  11.  an  der  Chiavenna  (4B.  oben  links). 
Der  15.  fällt  mit  dem  Kanal  Le  Fontana  (4  A.)  zusammen,  der  17.  ist  c-  6  72  km 
weit  erhalten:  es  ist  der  letzte  Cardo  vor  Cortemaggiore.  Der  18.  Cardo  läuft 
durch  den  grossen  Ort  Cortemaggiore.  Zwischen  diesem  und  dem  nächsten  (Mu- 
lini: 4B.  oben  rechts),  dem  21.  Cardo,  dem  ersten  jenseits  der  Arda,  liegen  drei 
Centurienbreiten.  Der  Raum  zwischen  den  beiden  limites  (18.  und  21) ,  eine 
Breite  von  drei  Centurien  (===  c.  2  km),  könnte  der  Arda  assignirt  worden  sein. 
Weiter  nach  Osten  sind  noch  kenntlich  Cardo  24  (Castel  d'Arda:  5B.  oben  links), 
2^  (Mercore  bis  Carretto  :  5B.),  29  (S.  Andrea  bis  S.  Rocco  :  5B.),  30  und  31, 
zwischen  denen  oben  die  Stadt  Busseto  (5B.  o.  r.)  liegt,  32,  33  (durch  Malcan- 
tone :  5  B.  u.);  34,  nur  als  Feldweg  erhalten,  geht  durch  Castione  dei  Marchesi). 
Es  folgt:  35,  37,  38  (Bastelli-Stirone :  5C.  0.  r.),  der  westlich  von  San  Donnino  die 
via  Aemilia  trifft ,  39  (Feldweg) ,  40,  41  (als  Feldweg  bis  zur  via  Aemilia  rei- 
chend), 42  (Soragna:  6B.).  Oestlich  von  der  Rovacchia  (s.  Taf.  III  oben  links) 
ist  die  Limitation  zu  sehr  zerstört.     Sehen  wir  nun  die  Decumani  an. 

Der  dritte  Decumanus  dieses  Gebiets  (im  Norden)  geht  durch  Polignano  (4A.) 
vom  ersten  (Palazzina)  sind  nur  einige  Stücke  erhalten.  Polignano  liegt  auf 
dem  Schnittpunkt  dieses  Decumanus  mit  dem  13.  Cardo.  Die  Strasse ,  welche 
von  Cortemaggiore  nach  dem  Nure  (und  von  diesem  Fluss  ab  in  anderer  Rich- 
tung nach  Piacenza)  führt,  stellt  den  10.  Decumanus  dar  (den  8.,  wenn  der  bei 
Polignano  als  der  erste  gilt).  Daraus,  dass  er  nur  bis  zum  Fluss  Nure  reicht 
—  jenseits  verändert  sich  die  Richtung  —  folgt,  dass  der  Nure  die  Grenze  der 
Limitation  im  Westen  bildete.  Das  Gebiet  von  Florentiola  und  Fidentia  wird 
also  begrenzt :  im  Norden  durch  den  Po,  im  Westen  durch  den  Nure,  im  Süden 
durch  die  via  Aemilia  und  im  Osten  (gegen  Parma)  durch  den  Taro.   Als  die  Grenzt' 


1)  Der    durch   den    Ort   selbst,    etwa  500  m   weiter  nördlich,    laufende  Weg  muss    unrümisch 
sein  oder  aber  einem  anderen  System  angehören. 

22  .  3* 


20 

der  beiden  kleinen  Gemeinden  wird  der  Stirone  (5  C.)  gelten  können :  die  Limi- 
tation scheidet  die  Territorien  nicht. 

6.  Oestlich  vom  Taro  liegt  das  Gebiet  von  Parma  (s.  Taf.  III).  Dass  der 
Taro  die  Westgrenze  von  Parma  bildete,  zeigt  die  Stelle  des  Itinerarium  Hiero- 
solymitanum  p.  616  „matatio  ad  Tartim  VII  m.  a  Parma  VIII  a  Fidentia"  (s.  CIL. 
XI  p.  189).  Sieben  Milien  sind  etwa  10  km.  Heute  ist  der  Taro  8V2  km  von  Parma 
entfernt ,  er  muss  also  seinen  Lauf  nach  Osten  verschoben  haben ;  die  antike 
Grenze  wird  bei  Castelguelfo  (1 D.)  gewesen  sein ,  welches  genau  10  km  vom 
Mittelpunkt  Parmas  entfernt  ist.  Der  erste  Cardo  (im  Westen)  scheint  der  durch 
Castelguelfo,  Noceto  (1 D.)  und  (nördlich  der  Aemilia)  durch  Ronchetti  (1 B.),  S. 
Secondo  Parmense  (2B.)  und  Gramignazzo  bis  zum  Po  gehende  zu  sein.  Dass 
der  Taro  früher  weiter  westlich  geflossen  ist ,  zeigt  auch  die  Limitation :  die 
Decumani  laufen  nämlich  bis  dicht  an  das  heutige  Flussbett,  während  man  bei 
einem  so  bedeutenden  torrente,  wie  es  der  Taro  ist,  die  limites  nicht  bis  in  den 
Fluss  als  Wege  angelegt  haben  kann.  Ferner  macht  die  via  Aemilia  bei  Castel- 
guelfo eine  Biegung ,  offenbar  weil  sie  ,  zugleich  als  Decumanus  dienend,  durch 
veränderte  Richtung  die  Limitation  schied.  Im  Osten  muss  die  Enza  (Streifen  5) 
die  Grenze  gebildet  haben,  da  jenseits  eine  andere  Limitation  beginnt.  Auch 
ist  die  Enza  stets  die  Grenze  des  parmensischen  Gebiets  gewesen  und  bis  heute 
geblieben.  Im  Norden  reichte  Parma  bis  zum  Po,  denn  die  limites  gehen  bis 
dicht  an  den  Strom  und  die  im  Dorfe  Sanguigna  (4A.),  wo  ein  römischer 
vicus  gewesen  sein  muss,  gefundenen  Inschriften  sind  parmensisch  (C.  XI  p.  189). 
Im  Süden  bildete,  wie  wir  es  von  Veleia  wissen,  natürlich  der  „smnmus  Apenni- 
nusa  die  Grenze.  Da  einige  veleiatischen  Possessoren  gehörige  Grundstücke  ,in 
Parmensi'  lagen *) ,  so  müssen  sich  die  beiden  Territorien  berührt  haben.  Dies 
confinium  kann  nur  im  Gebirge  gewesen  sein. 

Im  ager  Parmensis  hat  sich  die  Flurteilung  so  vorzüglich  erhalten  wie  sonst 
nur  im  Gebiet  von  Padua  und  Imola.  Die  Flurkarte  von  Parma  ist  das  beste 
Bild  der  römischen  Limitation,  welches  denkbar  ist.  Als  Cardo  maximus  muss  die 
noch  heute  schnurgrade  laufende  Strasse  gelten,  welche  —  ehedem  die  Ostseite  der 
Stadt  streifend;  heute  ist  sie  vom  torrente  Parma  unterbrochen  —  vom  Apennin 
bis  fast  zum  Po  läuft  (über  22  km).  Grade  dass  sie  eine  Strecke  von  5  km  (von 
Parma  bis  Cortile  S.  Martino :  4  C.)  nur  noch  als  Weg  erhalten  ist,  beweist  ihr 
Alter.  Wie  würde  man  eine  Strasse  an  beiden  Enden  als  Strasse  und  in  der  Mitte 
als  Weg  anlegen !  Decumanus  maximus  ist  die  via  Aemilia  von  Castelguelfo  bis  zum 
Ostthor.  Nicht  ist  sie  es  für  die  östliche  Hälfte  des  S+adtgebiets,  da  sie  am  Ost- 
thor nach  Südosten  abbiegt  also  nicht  mehr  lotrecht  zu  den  Cardines  läuft.  Doch 
ist  ein  anderer  Decumanus  maximus,  die  Verlängerung  des  westlichen,  nicht  vor- 
handen. Existirt  hat  er  jedenfalls:  er  muss  östlich  von  Gazzano  auf  die  Enza 
gestossen  sein  und  dort  den  über  Sorbolo  (5  C.)  laufenden  Cardo  berührt  haben. 


1)  tab.  Veleias  V  82:    „in  Parmense  pag(o)    Mercuriali" ;    III  37:    „in  Veleiate   et  Parmense 
pagis  Salutare  et  Salvio." 
n 


DIE   RÖMISCHE   FLURTEILUNO   UND    IHRE   RESTE.  21 

Dem  Fluss  Parma,  der  das  Stadtgebiet  in  der  Mitte  durchfliesst,  scheint 
ein  Gebiet  von  etwa  2  Centimen  Breite  assignirt  worden  zu  sein  (vgl.  3C). 
Durch  den  Cardo  maximus  und  die  via  Aemilia  (Decumanus  maximus  bis  zum  Ost- 
thor) wird  das  Territorium  in  vier  ziemlich  gleiche  Teile  geteilt.  Agrimensorisch 
heisst  der  östliche  Teil  pars  antica  (citra  caräinem  maximum),  der  westliche  pars 
posiica  (ultra  c.  m.)  —  denn  der  orientirende  Feldmesser  blickt  nach  Osten  —  der 
nördliche  sinistra  decumanum  maximum,  der  südliche  dextra  decumanum  maximum 
(vgl.  Feldmesser  II  p.  345  f. ;  Mommsen,  zum  röm.  Bodenrecht :  Hermes  XXVII. 
90  f.).  Das  Ideal  der  römischen  Flurteilung  ist,  dass  die  beiden  Hauptlinien,  De- 
cumanus und  Cardo  maximus ,  sich  im  Mittelpunkt  der  Stadt  schneiden  (Feld- 
messer II,  339).  Diesem  Ideal  kommt  die  parmensische  Limitation  sehr  nahe, 
indem  der  Decumanus  maximus  die  Stadt  halbirt  und  der  Schnittpunkt  der 
beiden  Wege  wenn  auch  nicht  in  das  Centrum  so  doch  in  die  Peripherie  der 
Stadt  fällt,  da  der  Cardo  maximus  die  Ostfront  tangirt.  Genau  so  ist  es  bei 
Capua  (s.  unten).  Von  Castelguelfo  aus  gibt  es  etwa  28  Cardines,  der  Cardo 
maximus  ist  der  18.  Der  17.  geht  durch  den  Mittelpunkt  der  Stadt.  Er  ist 
in  der  Stadt  als  via  Garibaldi  und  weiter  nördlich  bei  Cortile  S.  Martino, 
westlich  der  Eisenbahn,  2  km  lang  (3  C.)  und  wieder  von  der  Station  Torrile  an 
4  km  lang  (4  C.  o.  1.)  erhalten.  Auf  der  letztgenannten  Strecke  fällt  er  mit  der 
Eisenbahn  zusammen.  Vielleicht  ist  er  und  nicht  der  folgende  der  Cardo  maximus 
gewesen.  Südlich  der  via  Aemilia  fehlt  er  ebenso  wie  der  Decumanus  maximus 
im  Osten.  Am  besten  sind  von  den  übrigen  Cardines  die  cardines  quintarii  er- 
halten. Geht  man  vom  Cardo  maximus  aus,  so  läuft  der  nächste  quintarius  im 
Westen  über  S.  Pellegrino  Scarzara  (2  E.  o.  r.) ,  der  zweite,  vortrefflich  erhal- 
tene (11km  lang),  vom  Apennin  (2E.  u.  1.)  bis  Cornazzano  (2C.  o.  r.).  Nach 
Osten  geht  der  nächste  quintarius  über  Ramoscello  (im  Norden)  bis  Marano 
(im  Süden:  4  F.),  der  zweite  über  Martorano  (4  E.  u.  r.)  und  Pecorile  (4  F.  o.  r. ). 
Was  die  Decumani  anbelangt,  so  sind  südlich  des  Decumanus  maximus  3  quin 
tarn  feststellbar,  nördlich  ebenfalls  drei. 

Im  Ganzen  lässt  sich  das  limitirte  parmensische  Gebiet  darstellen  als  ein 
Rechteck  von  17  +  10  =  27  Centurien  Breite  und  15  +  18  =  33  Centurion  Länge 
(Süd-Nord),  denn  in  der  linken  Hälfte  (zwischen  Cardo  maximus  und  Castelguelfo) 
lassen  sich  17,  in  der  rechten  (bis  zur  Enza)  10,  in  der  oberen  (bis  S.  Secondo)  15 
und  in  der  unteren  Hälfte  (bis  zum  Apennin)  18  Centurienbreiten  abmessen. 
Dieses  Rechteck  enthält  890  oder  rund  900  Centurien.  Das  sind  180000  lugera. 
Aus  Livius  (39,  5)  wissen  wir ,  dass  in  der  Colonie  Parma  jeder  der  2000  Co- 
lonisten  8  lugera  erhielt;  alle  zusammen  hatten  also  16000  lugera  inne.  Das 
ist  noch  nicht  einmal  !/io  des  sicher  centuriirten  Gebiets.  Ein  grosser  Teil  des 
übrigen  Landes  wird  den  alten  Besitzern,  dem  ,vetus  possessor'  (s.  Feldmesser 
II,  384),  belassen  worden  sein  und  ein  anderer  den  Colonen  als  Gemeindeland 
(pascua  publica)  gedient  haben.  Aber  bei  solch  kleinen  Loosen,  wie  es  acht 
Morgen  sind,  muss  eine  grosse  Landfläche  im  Sammteigentum  der  Colonisten 
gestanden  haben:    das   sind    die   compascua  publica,    die   jedem  Ansiedler  freiste- 


22 

hende  Weide ,    die  Ergänzung  des   zu  vollem   Eigen  assignirten  Looses  (s.  Feld- 
messer II,  395). 

Auch  im  Parmensischen  findet  sich  eine  Menge  von  Orten  mit  römischen 
Namen,  besonders  an  den  Schnittpunkten  der  Centurien.  Auf  eine  wichtige 
That sache  muss  noch  aufmerksam  gemacht  werden,  dass  nämlich  fast  über- 
all nur  im  Abstand  von  je  zwei  Centurien  Decumani  vorhanden  sind.  Es 
scheint  fast,  dass  die  Flur  von  Parma  nicht  in  Centurien  sondern  in  Rechtecke 
von  zwei  Centurien  geteilt  gewesen  ist.  Ob  man  diese  Rechtecke  in  der 
Längsausdehnung  von  Nord  nach  Süd  strigae  (s.  Feldm.  II,  290)  nennen  darf, 
lasse  ich  unentschieden.  Man  vergleiche  4C.  und  D.  Centurien  von  400  Iugera 
kommen  in  Spanien  vor  (Feldm.  I,  159,  10).  Nur  vereinzelt  sind  einfache  Cen- 
turien erhalten,  wenigstens  solche ,  die  von  breiteren,  auf  der  Karte  1 :  100000 
als  Strassen  gezeichneten  Wegen  umgrenzt  sind  (4C).  Bedenkt  man,  dass  die 
parmensische  Centuriation  gut  erhalten  ist,  so  muss  man  sagen,  dass  sich  auch 
im  Gebiet  von  Parma  statt  der  Doppelcenturien  einfache  wie  in  Padua  finden 
würden,  wenn  sie  vorhanden  gewesen  wären. 

7.  Tannetum  und  Brixellum.  Oestlich  von  der  Enza  beginnt  eine 
neue  Limitation  (s.  Taf.  III).  Während  die  limites  der  östlichen  Hälfte  des  par- 
mensischen Gebiets  mit  der  via  Aemilia  einen  spitzen  Winkel  bilden,  stossen 
die  limites  jenseits  der  Enza  fast  senkrecht  auf  die  Strasse,  die  für  Regium  Le- 
pidum  (Reggio)  den  Decumanus  maximus  bildet.  Die  nächsten  römischen  Ge- 
meinden jenseits  der  Enza  sind  Tannetum  (Tanneto  bei  S.  Ilario:  5E.)  an 
der  via  Aemilia  und  Brixellum  am  Po  (Brescello :  6B.)  (s.  C.  XI  p.  181 
u.  182).  Die  Ostgrenze  der  beiden  Stadtfluren  kann  nur  der  torrente  Cro- 
stulu  (Streifen  8)  gewesen  sein.  Die  Centuriation  dieses  Gebiets  ist  vor- 
züglich erhalten;  der  Cardo  maximus  läuft  durch  Poviglio  (7.C.),  bei  Calerno 
(6  F.  o.  r.)  durchschneidet  er  die  via  Aemilia.  Decumanus  maximus  ist  wohl 
der  nördlich  von  Castelnuovo  (7D.)  laufende  limes.  Kenntlich  sind  von  Car- 
din e  s  östlich  des  Cardo  maximus  ausser  ihm  noch  7  (der  7.  nicht  weit  von 
der  Grenze),  der  4.  geht  durch  Castelnuovo;  westlich  sind  6  kenntlich.  Decu- 
mani sind  nördlich  des  Decumanus  maximus  8  gezogen  —  der  4.  und  6.  sind 
besonders  gut  erhalten  —  südlich  des  D.  M.  ebenfalls  8.  Das  centuriirte  Ge- 
biet hat  etwa  eine  Breite  von  13  und  eine  Länge  von  14  Centurien  also  eine 
Fläche  von  182,  rund  180  Centurien  =  36000  Iugera.  Die  südliche  Hälfte,  in 
der  die  Decumani  fehlen,  ist  ausser  Acht  gelassen.  Ueber  die  Grenze  zwischen 
Tannetum  und  Brixellum  lässt  sich  nichts  ausmachen:  die  Limitation  ist  wie 
bei  Florentiola  und  Fidentia  einheitlich.  Der  Norden  muss  zu  Brixellum,  der 
Süden  zu  Tannetum  gehört  haben. 

8.  Jenseits  des  Crostolo  beginnt  das  Gebiet  von  Regium  Lepidum 
(Reggio)  (s.  Taf.  III).  Seine  Grenze  gegen  Mutina  (Modena)  muss  der  Secchiafluss 
(13  Gr.)  gebildet  haben.  Regium  liegt  genau  auf  dem  Schnittpunkt  der  via 
Aemilia  und  der  grossen  Strasse  Reggio-Novellara  (10  C).  Diese  ist  der  Cardo,  die 
via  Aemilia  der  Decumanus  maximus.    Westlich  vom  Cardo  maximus  sind  noch  8 


DIE   RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE   RESTE.  23 

andere  Cardines  erkennbar.  Im  Osten  des  Cardo  maximus  ist  etwa  8  km  weit 
(bis  Correggio  :  10  E.)  fast  keine  Limitation  sichtbar,  erst  östlich  von  Correggio 
läuft  ein  gut  erhaltener  Cardo  (11  D.).  Wenn  auch  in  diesem  Gebiet  die  Limi- 
tation nicht  ganz  gefehlt  zu  haben  scheint,  so  bildet  doch  jedenfalls  die  Centu- 
riation  bei  Carpi  (12  E.)  eine  selbständige  Gruppe.  Der  Cardo  bei  Correggio 
ist  vom  Cardo  maximus  12  Centurienbreiten  entfernt.  Man  muss  annehmen,  dass 
dieses  12  Centurien  breite  Gebiet  von  der  Assignation  eximirt  worden  ist,  dass 
es  ,ager  exceptus1  und  als  solcher  gar  nicht  vermessen  war.  Oestlich  von  Correg- 
gio beginnt  ein  neues  Centuriennetz,  dessen  Centrum  Carpi  darstellt.  Mit  Recht 
haben  die  Editoren  des  Corpus  Inscr.  lat.  (XI  p.  170)  angenommen ,  dass  hier 
eine  Gemeinde  lag:  die  Limitation  bestätigt  dies  vollständig.  Freilich  ist  es 
schwer,  die  Grenze  zwischen  ihr  und  Regium  anzugeben,  da  ein  Flusslauf  fehlt. 
Vielleicht  bildete  der  ß  Naviglio1  genannte  Kanal  die  Grenze  (10  E.).  Carpi 
liegt  wohl  am  Kreuzungspunkt  des  Cardo  und  Decumanus  maximus.  Der  De- 
cumanus  maximus  läuft  südlich  von  Carpi  bis  zur  Secchia,  der  Cardo  maximus 
ist  9  Centurienbreiten  lang  erhalten  (12  D.  u.  E.).  Westlich  von  ihm  laufen  9 
(der  9.  östlich  von  Correggio),  östlich  10  Cardines  (der  10.  fällt  mit  der  Secchia 
zusammen).     Decumani  giebt  es  nördlich  vom  D.  M.  etwa  9,  südlich  etwa  13. 

Das  Gebiet  der  Centuriation  von  Carpi  hat  eine  Breite  von  c.  20  und  eine 
Länge  von  c.  23  also  eine  Fläche  von  460  Centurien  =  92000  Iugera.  Innerhalb 
dieser  Centuriation  finden  sich  die  römischen  Flurnamen  Mariano  (Marianas), 
Trignano ,  Panzano ,  Bottignana ,  Fazzano.  Am  Decumanus  maximus  liegt  ein 
Hof  Limidi  (13  E.).     Ob  der  Name  von  den  limites  herkommt? 

9.  Mutina  (Mo den a)  (s.  Taf.  IV).  Die  eigentliche  Limitation  des  Gebiets 
von  Mutina  beginnt  erst  jenseits  des  Panaro  (Streifen  2);  das  Land  zwischen 
dem  Grenzfluss  Secchia  und  dem  Panaro  weist  nur  geringe  Zeichen  von  Limi- 
tation auf.  Fünf  Centurien  sind  von  einander  entfernt  die  beiden  Cardines 
von  denen  der  eine  bei  Gorzano ,  der  andere  bei  Spezzano  —  beide  Orte  am 
Apennin:  IC.  —  beginnt.  Der  westliche  tangirt  den  torrente  Cerco  (IB.)  und 
ist  9 ,  der  andere  l1^  km  lang  erkennbar.  Der  südlichste  Decumanus  läuft 
bei  Maranello  (IC),  ferner  sind  kenntlich  der  6.  12.  16.  Das  ganze  Land 
zwischen  Panaro  und  Samoggia  (Streifen  4)  —  dem  Grenzfluss  nach  Osten 
s.  C.  XI  p.  133  —  ist  limitirt.  Als  Cardo  maximus  wird  man  den  zwischen 
Castelfranco  und  F.  Urbani  (3B.)  laufenden  Cardo  anzusehen  haben.  Decu- 
manus maximus  wird  der  südlich  von  S.  Giovanni  Persiceto  (4B.)  und  durch 
Xonantola  (3  A.)  laufende  Decumanus  sein.  Als  erster  Cardo  des  Gebiets  zwi- 
schen Panaro  und  Samoggia  kann  der  Cardo  gelten,  welcher  bei  Grande  (2  B.  o. 
r.)  auf  den  Panaro  stösst  und  mit  dem  Fluss  östlich  von  Bomporto  (3  A.  o.  1.) 
zusammenfällt.  Kenntlich  sind  ferner  der  3.  4.  5.  (zwischen  4  und  5  liegt  Xo- 
nantola), 8 — 22.  Der  10.  ist  der  Cardo  maximus,  der  12.  geht  durch  Crevalcore 
(3A.),  der  22.  durch  S.  Giovanni  (4B.)  Dieser  22.  Cardo  von  S.  Giovanni  in 
Persiceto  ist  vorzüglich  erhalten :  er  lässt  sich  fast  durch  das  ganze  K*rtenblatt 
(von  4A. — 3D.)   verfolgen   auf  eine    Länge   von   über   35  km   (10  vom  Apennin 


24  ADOLF   SCHULTEN, 

bis  zur  via  Aemilia,  10  bis  S.  Giovanni,  15  bis  zum  Rand  der  Karte).  Zwischen 
der  via  Aemilia  und  S.  Giovanni  ist  er  zerstört.  Zwischen  diesem  grossen, 
dem  22.  Cardo  und  dem  gradlinigen  Teil  der  Samoggia  in  Quadrat  4  B  liegen  noch 
5  Cardines ;  die  Samoggia  deckt  sich  an  dieser  gradlinigen  Partie  mit  dem  6. 
Cardo,  dem  28.  der  ganzen  Reihe.  Vom  Panaro  bis  Castelfranco  sind  die  Cardines 
nur  nördlich  der  via  Aemilia  gut  erhalten,  dagegen  die  folgenden  (11. — 28.) 
bis  zum  Apennin.  Im  Norden  reichen  sie  nicht  über  Crevalcore  (3  A.)  hinaus  :  der 
durch  diesen  Ort  gehende  Decumanus  macht  die  Grenze.  An  zwei  Stellen  läuft 
die  Samoggia  einmal  auf  2  (3  C.  o.  r.),  das  andere  Mal  auf  4  km  (4  B.)  genau  in 
der  Linie  eines  Cardo,  stellt  also  hier,  ohne  subsiciva  zu  lassen ,  den  Abschluss 
der  Limitation  dar ;  das  eine  Mal  bildet  sie  ein  Stück  des  22. ,  das  andere  Mal 
ein  Stück  des  28.  Cardo. 

Decumani  zähle  ich  südlich  des  Decumanus,  der  südlich  von  S.  Giovanni 
und  durch  Nonantola  geht  (Decumanus  maximus?)  bis  zur  via  Aemilia  13;  sie 
selbst  ist  der  13.  Jenseits  der  via  Aemilia  ist  zwischen  dem  13.  und  22.  Cardo 
noch  Raum  für  9  weitere  Decumani,  weiter  östlich  nur  für  7;  der  durch  Cres- 
pellano  (3  C.)  laufende  Decumanus  bezeichnet  die  Südgrenze  der  Decumani.  Nörd- 
lich des  Decumanus  maximus,  finde  ich  11  Decumani;  Crevalcore  liegt  am 
Schnittpunkt  des  11.  Decumanus  mit  dem  12.  Cardo.  Sucht  man  den  Flächen- 
inhalt des  Gebiets  von  Mutina  zu  bestimmen  ,  so  bildet  der  nördlich  der  via 
Aemilia  liegende  Hauptteil  ein  Quadrat,  das  im  Norden  von  dem  durch  Creval- 
core gehenden  Decumanus ,  im  Westen  vom  Panaro ,  im  Süden  von  der  via 
Aemilia  und  im  Osten  von  der  Samoggia  begrenzt  wird.  Seine  Dimensionen 
sind  etwa  22  x  22  Centurienbreiten ,  die  man  für  die  Höhe  auf  den  Cardo  ma- 
ximus (bei  Crevalcore),  für  die  Basis  auf  der  via  Aemilia  abmessen  kann. 
Das  giebt  484,  rund  500  Centurien  =  100000  Iugera  Fläche.  Das  ist  aber 
nur  das  Minimum,  das  sicher  centuriirte  Land.  Hinzu  kommt  der  südlich 
der  via  Aemilia  zwischen  Secchia  und  Samoggia  gelegene  Teil.  Nach  Livius 
(39,  51)  erhielten  die  2000  nach  Mutina  deducirten  Colonisten  je  5  also  zusammen 
10000  Iugera.  Diese  Loose  nehmen  nur  1/io  des  sicher  assignirten  Landes 
ein.  Alles  übrige  Land  war  Allmende  (pascua  publica)  und  den  alten  Bewoh- 
nern belassener  Besitz  {agri  adsignati  veteri  possessori). 

Ein  ungemein  interessantes  Zeugnis  der  Centuriation  des  mutinensischen 
Gebiets  enthält  die  oben  (S.  14)  mitgeteilte  langobardische  Urkunde.  Sie  erwähnt 
einen  limes  decimanus  und  eine  via  decimanensis  am  Panaro.  Trotzdem  das  Do- 
kument verschiedene  Ortsnamen  nennt,  habe  ich  vergeblich  versucht,  den  decu- 
manus  zu  localisiren. 

10.  Bononia  (Bologna)  (s.  Tafel  IV  u.  V).  Wie  gesagt,  scheint  an  der  Sa- 
moggia das  Gebiet  von  Bologna  (Bononia)  zu  beginnen.  Die  Ostgrenze  bildet 
der  Idice  (Idex,  s.  Tafel  IV,    Streifen  6) *).     Durch  den  Reno    (Streifen  5)  wird 

1)  Denn  die  Tabula  Peutingeriana  bezeichnet  ihn  deutlich  als  Grenzfluss,  der  von  Bononia 
IV,  von  Claternae  VI  Milien  entfernt  sei.  Heute  ist  der  Idice  weiter  als  4  Milien  (=  6  km.)  von 
Bologna  entfernt. 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  25 

das  Gebiet  von  Bologna  in  zwei  ungleiche  Teile  geteilt;  der  östliche  ist  der 
grössere.  Orientirt  sind  die  Flurteilungslinien  nach  der  via  Aemilia  als  Decu- 
manus  maximus.  Cardo  maximus  kann  nur  der  die  Westseite  des  antiken  Bo- 
logna tangirende ,  im  Norden  (auf  10  km)  mit  dem  Kanal  Naviglio  (B.  5  u.  6) 
zusammenfallende  Cardo  sein. 

Die  Limitation  des  zwischen  Samoggia  und  Ueno  liegenden  Gebiets  ist  am 
Besten  südlich  der  via  Aemilia,  also  —  agrimensorisch  zu  reden  —  sinistra,  dextra 
decumanum,  erhalten.  Zwischen  dem  durch  Ponte  Samoggia  (3C.  o.  r.)  gehenden 
und  dem  dicht  am  Torrente  Ghironda  (4  C.)  vorbei  laufenden  Cardo  (der  weiter 
nördlich  mit  der  Samoggia  coincidirt)  liefen  noch  fünf  Cardines.  Weiter  östlich 
ist  als  nächster  Cardo  ein  quintarius  erhalten  (4  C),  dem  zum  Teil  der  Torrente 
Lavino  folgt.  Bis  zum  Ueno  giebt  es  dann  noch  sieben  Cardines.  Die  zwischen 
dem  Reno  und  dem  Cardo  maximus  gezogenen  Cardines  und  Decumani  (5  C.)  enden 
alle,  bevor  sie  den  Fluss  erreichen;  dadurch  entsteht  (schematisirt)  folgende 
Figur : 


■H4JV~H~n 


Das  entstehende  Zickzack  bezeichnet  die  Grenze  des  dem  Fluss  assignirten 
Gebiets.  Ich  wies  schon  darauf  hin  (S.  18),  dass,  wenn  bei  einigen  Flüssen  die 
limites  bis  an  den  Fluss  gezogen  sind,  dies  nicht  verleiten  darf,  anzunehmen,  der 
Fluss  sei  mit  assignirt  worden.  Um  nicht  jenseits  des  Flusses  sich  von  neuem 
orientiren  zu  müssen,  visirte  man  über  den  Fluss  hinweg,  so  dass  der  Fluss  mit 
centuriirt  wurde,  wenn  auch  die  Wege  natürlich  nur  bis  an  sein  Ufer  gezogen 
wurden.  „Fines  flumini  assignare"  bedeutet  nicht  Exemption  von  der  Centuriation, 
sondern  von  der  Assignation  an  die  Loosempfänger.  Die  seinem  Bett  zunächst 
liegenden  Centurien  erhielt  der  Fluss  assignirt.  Nur  bei  sehr  breiten  unüber- 
sehbaren Flüssen  kam  die  „fluminis  varatio",  die  Uebermessung  des  Flusses,  zur 
Anwendung  (Feldm.  II,  341).  Am  Besten  ist  die  Limitation  zwischen  dem  Cardo 
maximus  und  dem  Idice  (Streifen  6)  erhalten. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.   N.  F.  Band  2,  i.  4 


26  ADOLF    SCHULTEN, 

11.  Jenseits  des  Idice  beginnt  das  Territorium  von  Claterna  =  Quaderna 
am  gleichnamigen  Fluss  (Taf.  IV,  6  D.).  Im  Osten  gegen  Forum  Cornelii  (Imola 
Taf.  VI)  wird  der  Torrente  Silaro,  der  die  via  Aemilia  bei  Castel  S.  Pietro  schneidet, 
die  Grenze  gebildet  haben  (s.  C.  XI  p.  128),  da  die  peutingersche  Tafel  die  Ent- 
fernung des  Silaro  von  Claternae  und  Forum  Cornelii  angibt  (je  7  m.  p.  = 
1072  km)1).  Die  limitcs  Östlich  vom  Idice  gehören  demselben  System  wie  die 
westlichen  an.  Dem  Fluss  scheint  man  in  der  oben  bezeichneten  Weise  „fines" 
assignirt  zu  haben.  Erhalten  ist  die  Centuriation  besonders  bei  Fiesso  (am  Idice) 
und  Budrio.  Der  „Via  di  Cento"  genannte  Weg  ist  ein  Cardo.  Weiter  östlich 
liegt  Medicina  am  Schnittpunkt  von  Cardo  und  Decumanus. 

12.  Forum- Cornelii  (Imola).  Im  Gebiet  von  Forum  Cornelii  ist  die 
Centuriation  vortrefflich  erhalten  (s.  Taf.  VII).  Decumanus  maximus  ist  immer 
noch  die  via  Aemilia ,  als  Cardo  maximus  wird  man  den  mit  dem  Canale  dei 
Molini  zusammenfallenden  und  Imola  östlich  der  Station  schneidenden  Cardo 
bezeichnen  müssen.  Die  Tabula  Peutingeriana  bezeichnet  den  Senio  (ßinius)  als 
Grenze2)  nach  Osten  (s.  Taf.  VI  unten  rechts).  Wie  Parma  liegt  Imola  auf 
dem  Decumanus,  der  via  Aemilia.  Westlich  vom  Cardo  maximus  sind  11,  östlich 
bis  zum  Senio  14  Cardines  gezogen.  Der  14.  Cardo  geht  durch  Lugo.  Die  weiter 
Östlich  laufenden  Cardines  gehen  über  den  Senio  in  das  Gebiet  von  Faenza  über, 
zum  mindesten  im  Süden.  Ebenso  ist  es  bei  den  Decumani.  Ich  habe  schon 
gesagt,  dass  der  Fluss,  trotzdem  die  limites  über  ihn  hinauslaufen,  sein  Gebiet 
gehabt  hat,  indem  man  die  nächstliegenden  Quadrate  nicht  den  Colonisten  son- 
dern ihm  assignirte. 

Decumani  zähle  ich  ausser  der  via  Aemilia,  dem  Decumanus  maximus,  30. 

13.  Faventia  (Faenza).  Das  Gebiet  von  Faventia3)  muss  bis  zum 
Montone  gereicht  haben.  Der  Cardo  maximus  geht  auch  hier  mitten  durch 
die  Stadt  und  läuft  nördlich  bis  Bagnacavallo.  Westlich  von  ihm  sind  noch  5  Car- 
dines gezogen,  ebenso  viel  östliche  bis  zum  Torrente  Lamone.  Zwischen  Lamone 
und  Montone  lassen  sich  noch  6  oder  mehr  Cardines  feststellen.  Im  Norden 
scheint  die  Limitation  nicht  über  die  Höhe  von  Cotignola  am  Senio  hinausge- 
gangen zu  sein.  Bis  dorthin  giebt  es  18  Decumani.  Im  mittleren  Teil  des 
Stadtgebiets,  am  Montone ,  ist  von  Limitation  heute  wenig  zu  sehen ,  aber  die 
Ansätze  der  Cardines  sind  da. 

14.  Forum   Livi  (Forli).     Cardo    maximus    der    Feldteilung    von    Forli 


1)  Heute  ist  der  Silaro  von  Imola  11,  von  Quaderna  c.  71/»  km  entfernt;  das  antike  Clater- 
nae muss  also  etwa  21/2  km  westlich  von  Quaderna  gelegen  haben. 

2)  Nach  Forum  Coruelii  sind  es  VI  nach  Faventia  III  Milien  =  9  bezüglich  472  km.  Die 
Entfernungen  stimmen  ganz  genau,  der  Fluss  hat  also  seinen  Lauf  nicht  verändert. 

3)  Für  die  Territorien  Faenza  und  Forli  fehlt  noch  die  Karte  1  :  100000.  Zur  Aushülfe  be- 
diente ich  mich  der  im  Maassstab  1  :  86400  aufgenommenen  österreichischen  Generalstabskarte, 
welche  die  italienische  Regierung  auf  den  Maassstab  1  :  75000  hat  vergrössern  lassen  (Carta  topo- 
grafica  della  Lombardia,  del  Veneto  e  dell'  Italia  centrale:  No.  12  des  Catalogo  di  carte  e  libri 
pubblicati  dell'  Ist.  Geogr.  Mil.). 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  27 

scheint  der  mitten  zwischen  der  Stadt  und  dem  Montone  die  via  Aemilia 
schneidende  Cardo  zu  sein,  wenigstens  hat  er  die  grösste  Länge.  Die  Limitation 
geht  im  Osten  nur  wenig  über  den  Ronco  hinaus:  dieser  Fluss  wird  die  Grenze 
von  Forli  gewesen  sein. 

15.  Patavium  (Padova)1)  (s.  Taf.  V).  Im  Nordosten  von  Padua.  in  dem 
von  der  Brenta  im  Süden,  dem  Flusslauf  MuSone  dei  Sassi  im  Westen,  dem  Mu- 
sone  vecchio  im  Norden  und  dem  Canale  Mirano  im  Osten  eingeschlossenen  Ge- 
biet (3  C),  ist  das  Netzwerk  der  römischen  Centuriation  fast  bis  auf  die  letzte  Cen- 
turie  erhalten,  also  noch  weit  besser  als  im  Gebiet  von  Parma,  Bologna,  Imola 
und  Faenza.  Jenseits  des  Musone  vecchio  beginnt  eine  andere  Limitation  (3B.), 
deren  Cardines  nord-südliche  und  deren  Decumani  west-östliche  Orientirung  haben. 
Nach  Norden  bildet  also  der  Musone  vecchio  die  Grenze  des  Gebiets  von  Padua. 
Im  Westen  hat  der  ager  Patavinus  bis  halbwegs  Vicenza  gereicht  (also  etwa 
bis  Grisignano :  IC),  denn  die  Station  „ad  fincs"  liegt  X  mil.  von  Padua,  XI 
von  Vicenza  entfernt  (Itin.  Hierosol.  p.  559  vgl.  C.  V.  p.  240).  Ohne  dies  Zeug- 
nis würde  man  annehmen,  dass  die  Grenze  dem  Brentafluss  gefolgt  sei ,  der  die 
natürliche  Grenzlinie  bildet  und  auch  die  Limitation  wirklich  begrenzt.  Tachia 
liegt  ausserhalb  des  centuriirten  Gebiets  —  dasselbe  fanden  wir  bei  Piacenza  — 
bildet  also  eine  Exclave  seines  eigenen  Territoriums.  Auf  Grund  der  Topo- 
graphie würde  man  annehmen,  dass  es  durch  den  Canal  Brentella ,  der  Brenta 
und  Bacchiglione  verbindet  (2C.  D.),  im  Osten,  durch  den  Canale  Scaricatore  im 
Süden  und  durch  die  östlichen  Wasserläufe  an  die  Brenta  und  das  centuriirte 
Gebiet  angeschlossen  gewesen  sei  (2D.).  Wegen  der  Station  ad  fhics  ist  aber 
die  Westgrenze  weiter  nach- Westen  anzusetzen.  Sie  wird  von  Citadella  (1A. 
u.  r.)  bis  etwa  Piazzola  (2B.  u.  1.)  dem  Flusse  gefolgt  und  dann  nach  Grisi- 
gnano -  Montegalda  (IC.)  zu,  also  südwestlieh,  abgebogen  sein.  Der  Bacchiglione 
bildet  die  Südgrenze.  Südlich  der  Brenta,  also  in  der  Umgegend  von  Padua. 
fehlt  Limitation ;  südlich  vom  Bacchiglione  ist  limitirt  aber  mit  anderer  Orien- 
tirung. In  dieser  Region  liegt  Abano  Bagni  (1  D.).  das  antike  Aponus  (CIL.  V 
p.  271).  Cardo  maximus  ist  die  Strasse  Padova-Monselice  (parallel  der  Eisenbahn: 
2D.).  Die  Inschriften  scheinen  zu  ergeben,  dass  auch  dieses  Gebiet  zu  Padua 
gehörte.  Die  Grenze  gegen  Ateste  (Este)  läuft  weiter  südlich  und  Plinius  (N. 
H.  II  §  103)  nennt  die  Bäder  von  Aponus  patavinisch.  Wir  haben  also  inner- 
halb des  Gebiets  von  Padua  zwei  verschiedene  Limitationen.  Dasselbe  ist  für 
Minturnä  bezeugt  (Feldm.  I,  178).  Dort  lag  jenseits  des  Liris  die  „ath'ujnatio 
nouau,  von  der  alten  Assignation  durch  andere  Orientirung  geschieden. 

Eine  dritte  Limitation  scheint  sich  südlich  von  der  eben  besprochenen  zu 
finden.  Ihr  Decumanus  maximus  ist  die  Strasse  Monselice-Consalvc-Concadalbero, 
an  der  ein  in  Urkunden  genannter  Ort  Decumanus  (Dcsman)  lag,  ihr  Cardo  ma- 
ximus war  die  von  Hadria  (heute  Adria)  nach  Altinum  führende  via  Popilia. 

Als  Decumanus  maximus  der  Centuriation   zwischen  Brenta  und  Musone 

1)  Ueber  die  Centuriation  von  Padua  handelt  Gloria,  L'agro  patavino  dai  tempi  romani  alla 
päce  di  Costanza  (Venezia  1881). 


28  .  ADOLF   SCHULTEN, 

vecchio  wird  die  noch  heute  den  Namen  Desman  (=  decumanus)  erhaltende 
Strasse  l)  Desman  —  Borgoricco  —  S.  Michelo  delle  Badesse  —  S.  Giorgio  delle  Per- 
tiche  gelten  dürfen  (3  C.  oben).  Sie  wird  durch  den  Musone  dei  Sassi  nach  einem 
Lauf  von  14  km  unterbrochen,  setzt  sich  aber  über  S.  Giorgio  delle  Pertiche  bis 
zum  Fiume  Piovego  fort.  Der  nächste  Decumanus  nach  Süden  zu  lässt  sich  vom 
Musone  vecchio  im  Osten  bis  zur  Brenta  im  Westen  verfolgen.  Die  übrigen  Decu- 
mani  reichen  nur  bis  zum  Fiume  Piovego.  Der  Name  des  Orts  S.  Giorgio  delle  Per- 
tiche kommt  von  der  pertica,  der  Messlatte,  her.  Mit  dem  Namen  muss  man  das 
Centrum  der  Limitation  bezeichnet  haben,  welches  sonst  von  dem  Visirkreuz  groma 
heisst.  Cardo  maximus  ist  offenbar  die  am  Musone  dei  Sassi  entlang  laufende 
Strasse  über  Camposampiero  (2B.).  Es  ist  die  antike  via  Aurelia,  die  von 
Padua  nach  Asolo  führte.  Bei  Vigodarzere  (2  C.  u.  m.)  soll  nach  Gloria  der 
Name  Contrada  de  Aurella  vorkommen.  Die  via  Aurelia  bestimmte  die  Orienti- 
rung  der  patavinischen  Limitation  ebenso  wie  die  via  Aemilia  die  der  anliegenden 
Städte.  Cardines  sind  etwa  25  —  der  Cardo  maximus  ist  der  20.  —  gezogen,  De- 
cumani  etwa  17.  Wenn  man  Legnazzi  glauben  darf,  so  geben  die  Bauern  im 
Paduanischen  noch  heute  Entfernungen  nach  den  quadrafi ,  also  den  Centimen, 
an  (Legnazzi  p.  220).  Nach  Gloria  (bei  Legnazzi  p.  223)  sollen  an  der  Strasse, 
die  von  Desman  (3  C.  o.  r.)  nach  Borgoricco  führt,  gelegene  Höfe  ,Case  al  Des- 
man' heissen  und  die  Gegend  selbst , Contrada  dei  desmano'  genannt  werden.  Dann 
würde  sich  der  alte  Name  des  Wegs  bis  heute  erhalten  haben. 

IG.  Tarvisium  (Treviso)  (s.  Tafel  V).  Jenseits  des  Musone  vecchio  ist 
mit  der  Orientirung  nach  Osten  und  Süden  centuriirt.  Wir  haben  es  hier  offen- 
bar mit  der  Flurteilung  von  Tarvisium  (Treviso)  zu  thun.  Die  der 
Eisenbahn  fast  parallel  laufende  Landstrasse  nach  Treviso  (über  Mogliano 
und  Preganzol :  4  B.)  bildet  einen  Cardo ;  bis  Preganzol  hat  sich  ihre  ursprüng- 
liche Richtung  erhalten.  Die  Centuriation  reicht  im  Osten  bis  zu  dieser  Strasse, 
im  Westen  etwa  bis  zum  Musone  dei  Sassi,  im  Norden  kaum  viel  über  Treviso 
hinaus ,  im  Süden,  wie  gesagt ,  bis  zum  Musone  vecchio ,  wo  sie  in  einem  deut- 
lichen Winkel  auf  die  von  Padua  stösst  (s.  die  Nordgrenze  der  Quadrate  3  B. 
und  C).  Westlich  vom  Musone  dei  Sassi  beginnt  wiederum  eine  neue  Centuria- 
tion. Ihr  Decumanus  maximus  ist  die  via  Postumia  (sie  durchschneidet  die  Qua- 
drate A.  1 — 4  von  oben  rechts  nach  unten  links),  ihr  Cardo  maximus  die  schnur- 
grade  Strasse  von  Citadella  nach  Bassano  (1A.).  Im  Westen  reicht  diese  Per- 
tica bis  zur  Brenta,  im  Norden  bis  zu  den  Alpen.  Wo  sie  sich  im  Süden  (2B.) 
mit  der  Centuriation  von  Padua  berührt  hat,  ist  nicht  mehr  zu  erkennen.    Weit 


1)  Dieselbe  Erscheinung,  dass  der  Name  einer  via  im  Namen  eines  an  ihr  gelegeneu  Orts 
erhalten  ist,  findet  sich  auch  bei  der  via  Postumia,  an  der  der  Ort  Postioma  liegt  (4  A.  o.  1.).  Eine 
„cilla  .  .  quae  dicebatur  Decumanus"  kommt  in  einer  von  Gloria  (a.a.O.)  citirten  Urkunde  von 
1489 (?)  vor;  derselbe  Ort  ist  in  anderen  Dokumenten  Desman  genannt.  Er  liegt  an  der  Strasse 
Monselice  -  Concadalbero,  die  wohl  der  Decumanus  maximus  der  südöstlich  von  Padua  vorhandenen 
Limitation  ist  (s.  Gloria). 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  29 

über  Oamposampiero  (2B.)  scheint  das  Territorium  von  Padua  nicht  hinausge- 
reicht  zu  haben.  Die  kleine  Stadt  Citadella  wird  in  der  Mitte  durchschnitten 
von  dem  Cardo  maximus  und  dem  3.  Decumanus  südlich  der  via  Postumia.  Sie 
bildet  den  natürlichen  Mittelpunkt  der  Pertica.  Nach  allen  vier  Himmels- 
gegenden laufen  aus  ihren  Thoren  Strassen  aus :  nach  Osten  (Treviso) ,  nach 
Westen  (Vicenza),  nach  Norden  (Bassano),  nach  Süden  (Padua).  Citadella  kann 
—  obwohl  im  Mittelalter  gegründet  —  seiner  Anlage  nach  das  Ideal  einer  rö- 
mischen Stadtanlage  veranschaulichen:  die  beiden  Hauptwege  teilen  zugleich 
Stadt  und  Feldmark  in  vier  Quartiere,  wie  es  die  agrimensorische  Theorie  ver- 
langte. Auf  ihrem  Marktplatz  möchte  man  sich  die  groma  des  Feldmessers  auf- 
gestellt denken .  mit  der  er  nach  vier  Seiten  hin  visirte.  Zu  welchem  Stadtge- 
biet diese  Centuriation  gehörte,  ist  nicht  auszumachen  (vgl.  auch  C.  I.  L.  V  p. 
198),  kaum  zu  dem  trevisianischen,  da  dessen  Orientirung  eine  andere  ist.  In 
Betracht  kommen  noch  Padua,  Vicenza,  Feltria  (in  den  Alpen). 

17.  Auch  im  Gebiet  von  Verona1)  (Blatt  49  der  Karte  1:100000)  sind 
Spuren  der  Centuriation  erhalten  und  zwar  besonders  in  den  beiden  Thälern 
des  Torrente  Valpanteno  und  Progno  d'Illasi  (beide  östlich  von  Verona).  Die 
Cardines  folgen  der  Längsrichtung  des  Thals.  Auch  weiter  östlich  bis  Lonigo 
sind  Reste  einiger  Cardines  erhalten,  aber  mit  anderer  Orientirung. 

18.  Zur  Flur t eilung  von  Opitergium  (Odergo)  gehören  die  vier  Cardines 
bei  S.  Dona  di  Piave  und  der  Decumanus  von  Noventa  di  Piave  (vgl.  die  k.  k. 
österreichische  Karte  1  :  86400  Blatt  G.  4). 

19.  Ebenso  sind  von  der  Centuriation  von  Aquileia  noch  Spuren  erhalten 
(s.  d.  österr.  Karte  1  :  75000). 

20.  lieber  die  Centuriation  des  Gebietes  der  Colonie  Pola  handelt  der  um 
die  istrische  Lokalforschung  hochverdiente,  aber  in  diesen  Dingen  höchst  unkri- 
tische Kandier  (Notizie  storiche  di  Pola ,  Parenzo  1876 ;  vgl.  auch  Legnazzi, 
Catasto  p.  170  f.).  Aus  der  österreichischen  Generalstabskarte  lässt  sich  fol- 
gendes feststellen :  Der  Cardo  maximus  läuft  westlich  von  Pola  nach  Galignano 
und  Pedena,  der  Decumanus  maximus  nach  Sissano  (vgl.  die  Österreich.  General- 
stabskarte 1  :  75000,  Zone  26,  col.  X,  Blatt  Pola  und  Lubenizzo).  Ausser  den 
beiden  Hauptlinien  sind  noch  mehrere  (5)  Cardines  erkennbar.  Im  Gebiet  von 
Pola  finden  sich  nach  Kandier  besonders  viele  agrimensorische  Ortsnamen  (s. 
Legnazzi  p.  170  f.)  wie  Gromazzo  (von  groma?),  Limeto,  Arcelle  (arcellae  s.  Feld- 
messer I,  227,5;  252,15;  308,25),  Monte  delle  Sorti  (von  den  assignirten  sor- 
tes  ?).  Eine  höchst  interessante  Urkunde  der  Limitation  von  Pola  ist  in  der 
Nähe  von  Parenzo  (Parentium)  gefunden  worden,  nämlich  ein  Cippus  mit  der 
Inschrift  (CLL.  V341):  VIA  -PVB  •  LAT  •  P  XX.  Da  20  Fuss  die  Breite  des 
Cardo   maximus    ist  (Feldm.  II,  350),    kann  kein   Zweifel   sein,    dass   der  Cippus 


1)  Bei  dieser  Stadt  und  den  folgenden  habe  ich  die  Beifügung    von  Karten  unterlassen,    weil 
die  Reste  der  Flurteilung  nur  gering  sind.  , 


30  ADOLF   SCHULTEN, 

sich  auf  den  durch  Parenzo  gehenden  Cardo  maximus  des  Gebiets  von  Pola 
bezieht. 

Es  Hessen  sich  in  Oberitalien  wohl  noch  manche  Spuren  der  römischen  Cen- 
turiation  nachweisen,  aber  es  sollten  nur  die  bedeutenderen  besprochen  werden. 
Meitzen  will  auch  bei  Tarent.  Bari,  (Chieti  an  der  Küste)  und  bei  Sepino  (Sae- 
pinum),  Venasso  (Venair um),  Pontecorvo  Spuren  von  Centuriation  bemerkt  haben 
(Siedelung  I  p.  320);    ich  habe  an  diesen  Orten  nichts  finden  können. 

Ausser  in  der  Lombardei  hat  sich  in  Italien  das  Wegenetz  der  römischen 
Flurteilung  noch  erhalten  bei  Capua  und  Florenz. 

21.  Capua  (s.  Taf.  VI).  Das  alte  Capua  heisst  heute  S.  Maria  di  Capua 
vetere ,  das  neue  Capua  liegt  am  Volturnus ,  etwa  5  km  nordwestlich ,  auf  der 
Stelle  des  antiken  Casilinum.  Das  Gebiet  von  Capua  wurde  im  Norden  durch 
den  Volturnus,  im  Osten  durch  den  Apennin ,  im  Süden  durch  den  Clanis  (Regi 
Lagni)  und  im  "Westen  wohl  durch  das  Meer  begrenzt.  Die  Centuriation  des 
Stadtgebiets  ist  vortrefflich  erhalten.  Für  sie  besitzen  wir  eine  einzig  da- 
stehende gleichzeitige  Urkunde.  Am  Berge  Tifata,  bei  S.  Angelo  in  Formis  ist 
nämlich  ein  Centurienstein  von  der  gracchisehen  Assignation  mit  dem  Namen 
der  .All  viri  a(gris)  i(udicandis)  a(dsignandis)u  gefunden  worden:  CIL.  X,  3861. 
Auf  der  Oberfläche  des  Cippus  steht  die  Inschrift :  K(itra)  K(ar Hinein)  XI  — ,  S{i- 
nistra)  D(ecumanum)  I  — .  Neben  den  Zahlen  sind  die  Richtlinien  des  Cardo 
und  Decumanus  eingemeisselt.  Die  richtige  Lesung  des  Steins  statt  der  alten 
(K  •  XI  -DI)  verdanken  wir  Herrn  Commendatore  Barnabei  (Not.  degli  Scavi 
1897  p.  123);  die  beiden  früher  übersehenen  Buchstaben  K(itra)  und  S(inistra) 
sind  auf  der  Photographie  (Scavi  S.  123)  vollkommen  deutlich.  Die  glän- 
zende Entdeckung  zeigt,  dass  Inschriften  nie  oft  genug  revidirt  werden 
können.  Sie  ist  um  so  verdienstlicher ,  als  sie  nicht  dem  Zufall ,  ''sondern 
der  Methode  verdankt  wird,  nämlich  der  Erwägung,  dass  eine  Discrepanz 
zwischen  der  Praxis  und  den  Angaben  der  Feldmesser  auffallend  wäre. 
Eine  solche  ist  nun  allerdings  durch  den  neuen  bei  Atena,  dem  antiken 
Atina ,  in  Lucanien  gefundenen  Cippus  der  triumviri  a.  i.  a.  der  Jahre  133 — 129 
v.  Chr.  gegeben.  Auf  ihm  steht  nämlich  wirklich  nur  K  •  VII  =  Cardo  septu 
was  ohne  irgendwelche  Bezeichnung  der  Regionen  sogar  ohne  Angabe  des  De- 
cumanus. Barnabei  irrt,  wenn  er  das  an  die  Richtlinie  ansetzende  Zeichen 
für  ein  D  nimmt  und  D(eeunumus)  interpretirt.  Diese  Richtlinie  bezeichnet  den 
Cardo  VII,  denn  K  •  VII  steht  (vertikal  an  der  Seite)  in  der  Richtung  der  Richt- 
linie (a.  a.  0.  S.  119).  Wir  haben  also  einen  Stein,  der  nur  den  Cardo  bezeichnet. 
Der  Stein  bezieht  sich  auf  die  Centuriation  des  Vallo  di  Diana,  des  breiten  Thals 
bei  Vallo  di  Lucana.  Die  Centurien  der  praefectura  Almas  sind  im  Über  colo- 
niarum  (Feldm.  I,  209)  erwähnt:  „in  provincia  Lucania  praefecturae :  ..  Vidcentana, 
Pestana,  Potentina,  Atena  et  Consilina  (=  Sala  Consilina)  Tcgenensis;  quadratae 
centuriae*  in  iiigera  n.  CC.U 

Doch  nun  zurück  zu  dem  den  Schnittpunkt  des  11.  Cardo  der  regio  citrata  mit 
dem  1.  Decumanus  der  regio  sinistra  bezeichnenden  Stein  von  S.  Angelo  in  Formis. 


DIE    KÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE.  31 

Der  ursprüngliche  Standort  des  Steins  und  damit  die  Richtung  des  Cardo  und  Decu- 
manus  lässt  sich  aus  den  Fundnotizen  nicht  mehr  ersehen,  ist  aber  dennoch  mit 
grösster  Evidenz  feststellbar.  Die  das  heutige  S.  Maria  di  Capua  vetere  halbirendc1), 
in  nordsüdlicher  Richtung  laufende  Strasse  läuft  an  S.  Angelo  in  Formis  vorbei  : 
auf  sie  bezieht  sich  die  Bezeichnung  S(inistra)  D(ecumanum)  /(=  primum),  denn  im 
Gebiet  von  Capua  heissen  die  von  Norden  nach  Süden  laufenden  Wege  decumani, 
statt  wie  sonst  cardincs.  So  berichten  die  Feldmesser  und  zwar  sowohl  Frontin  2) 
wie  Hygin  3).  Dieser  erste  limes  einer  Region  wurde  von  einem  Teil  der  Agri- 
mensoren  als  der  zweite  gezählt,  indem  man  den  Decumanus  (oder  Cardo)  ma- 
ximus  als  den  ersten  limes  rechnete.  Für  die  Vertreter  dieser  Ansicht  (s.  Feldm. 
I,  112,  174)  bezeichnete  sinistra  decimanum  primum  den  auf  den  Decumanus  ma- 
ximus  folgenden  limes  (s.  Seite  32  Fig.  1).  Andere  Feldmesser,  die  den  decumanus 
ptimus  als  den  auf  den  D.  M.  folgenden  limes  auffassten  (a.  a.  0.),  sahen  in  dem 
mit  S.  D.  1.  =  sinistra  decumanum  primum  bezeichneten  limes  den  übernächsten, 
den  zweiten  nach  dem  Decumanus  maximus,  denn  der  nächste  links  vom  decu- 
manus primus  (dem  auf  den  D.  M.  folgenden  limes)  gezogene  Weg  war  allerdings 
der  zweite  nach  dem  Decumanus  maximus  (Fig.  2).  In  der  Auffassung  der  Be- 
zeichnung primus  hatten  diese  Agrimensoren  unbedingt  Recht,  denn  der  decu- 
manus primus  war  nicht  der  decumanus  maximus  sondern  der  erste  folgende, 
aber  die  Interpretation  der  Verbindung  sinistra  decumanum  1  war  falsch :  8.  D.  I. 
bezeichnete  nicht  den  links  vom  ersten  Decumanus  folgenden  Weg ,  sondern 
den  ersten  limes  selbst.  „Sinistra  decumanum  primum"  kann  nicht  bedeuten 
„links  vom  decumanus  primus  der  nächste  limes"  —  denn  wie  kann  man  so  ohne 
weiteres  „proximus"  suppliren?  — ,  es  kann  nur  heissen  „in  der  linken  Region 
(sinistra  absolut)  der  erste  Decumanus"  (Fig.  3).  Die  Feldmesser,  welche  die 
uns  erhaltenen  Schriften  aufzeichneten,  verstanden  also  die  alten  litterae 
singulares  S.  (oder  D)  D.  falsch.  Der  Irrtum  war  ein  doppelter ,  denn  1)  er- 
gänzten sie  fälschlich  zu  „sinistra  decumanum  I"  ein  unmögliches  „limes  pro- 
ximusu,  2)  sahen  sie  nicht,  dass  die  Bezeichnung  einer  Linie  mit  „links  vom 
ersten  Decumanus"  gar  keine  Bezeichnung  ist,  denn  links  vom  ersten  Decumanus 
liegen  sehr  viele  Decumani,  nicht  nur  der  nächste.  Desselben  Irrtums  machten 
sich  die  Vertreter  der  anderen  Auffassung  schuldig:  für  sie  ist  „sinistra  decima- 
num I"  =  „links  vom  decumanus  I  (=  maximus)  der  erste  limes."  Nur  sachlich 
schadete  dieser  Irrtum  nicht,  da  ihr  „links  vom  Decimanus  maximus"  gelegener 
limes    mit  dem  nach  meiner  Auffassung  ersten  der  Region  zusammenfällt.      Die 


1)  Sie  tangirte  die  Westfront  der  antiken  Stadt  (s.  ßeloch,  Campanien2  p.  310). 

2)  p.  29,5:  itaque  non  ortum  speetant  {exspeetant:  Hss.)  sed  ita  adversi  swit  {decumani)  ut 
sint  contra  septentrionem,  ut  in  agro  Campano  qui  est  circa  Capuam  ubi  est  Kardo  in  orientem  et 
decumanus  in  meridianum. 

3)  p.  170,16:  ..  quidam  in  totum  converterunt  et  fecerunt  decimanum  in  meridianum  et  kar- 
dinem  in  orientem  sicut  in  agro  Campano  qui  est  circa  Capuam.  n 
2  3 


32 


ADOLF   SCHULTEN, 


folgenden   Figuren    sollen   die  beiden  Interpretationen    der   Feldmesser   und   die 
meinige  erläutern: 


D 


M 


-M    C- 


D 


I! 

r 


-M    C 


M 


M 


Fig.  1. 


Fig.  2. 


Fig.  3. 


Es  mag  kühn  erscheinen  die  Agrimensoren  eines  solch  fundamentalen  Irr- 
tums zu  zeihen,  aber  man  bedenke,  dass  er  praktische  Consequenzen  nicht  hatte, 
da  die  meisten  Feldmesser  einen  Stein  mit  der  Aufschrift:  S.  B.  I.  auf  dem 
nach  ihrer  Ansicht  zweiten,  in  Wirklichkeit  aber  ersten  Decumanus,  trotz  des 
Irrtums  das  Richtige  treffend ,  suchten.  Als  rein  theoretischer  Fehler  aber 
mochte  er  ungestört  in  den  Schriften  der  agrimensorischen  Epigonen  fortexi- 
stiren.  Wäre  die  andere,  in  unserer  Ueberlieferung  perhorrescirte  Interpreta- 
tion, die  aus  dem  ersten  Times  der  Region  den  zweiten  machte'  (s.  Figur  1),  zur 
Geltung  gekommen,  so  hätten  ihre  Vertreter  innerhalb  einer  alten  Centuriation 
sich  allerdings  nicht  zurecht  gefunden,  denn  sie  fanden  die  Bezeichnung  S.  D.  1. 
an  dem  auf  den  Decumanus  maximus  folgenden  Weg  statt,  wie  sie  jene  Zeichen 
setzten,  auf  dem  zweiten  Times  vom  Decumanus  maximus  aus. 

Was  von  der  Bezeichnung  sinistra  und  dextra  gilt,  gilt  natürlich  auch  von 
citra  und  ultra.  K-K-XI  heisst  nK(itra) ,  K{ardo)  XI"  und  nicht  „Kitra  Kar- 
dinem  XI. " 


DIE    KÖMISCHE    FLURTEILUNG    UND    IHRE    RESTE. 


33 


Der  bei  Capua  gefundene  Stein  S.  I).  L,  K-  K-  XI  hat  in  dem  nachstehenden 
Centurienschema  in  Punkt  A  seinen  Platz  : 


D 


A 


i     i 


XI 

-x 

JX 

-VJ1F 

_777T 


-VI 

-v 

-w 

-in 

—  TT 


fr    I     §<J    J.   J 


-Cardül 

Lariol 

—H 


k,jrf 


Der  elfte  Cardo,  den  der  Stein  nennt ,  wird  die  etwas  nördlich  von  S.  An- 
gele- in  Formis  über  Vetta  laufende  Strasse  sein.  Dann  war  Cardo  maximus 
der  Cardo ,  welcher  durch  Macerata  und  Caturano  (südlich  von  Capua  vetus) 
geht.  Ohne  den  Centurienstein  würde  man  den  Capua  durchschneidenden  Weg 
für  den  Decumanus  maximus  gehalten  haben;  die  Inschrift  bezeichnet  ihn  aber 
deutlich  als  den  ersten  links  vom  Decumanus  maximus  gezogenen  Times.  Der 
Decumanus  maximus  lässt  sich  vom  Apennin,  auf  den  er  bei  San  Marco  stösst, 
bis  zum  Lagni,  den  er  östlich  von  S.  Venere  erreicht,  verfolgen.  Er  ist  lOVs  km 
lang.  Im  Folgenden  werde  ich,  statt  mit  ihm,  mit  dem  besser  hervortretenden 
^decumanus  primus:  sinistra",  auf  den  sich  der  Stein  bezieht,  operiren.  Ebenso 
würde  man  den  Cardo  maximus  in  der  die  Nordseite  von  Capua  vetere  begren- 
zenden oder  in  der  zwischen  Marcianise  und  Capodrise  nach  S.  Marco  Evange- 
lista  führenden  Strasse  gesucht  haben  x) ;  im  ersten  Fall  lag  Capua  im  Schnitt- 
punkt der  beiden  Hauptlinien,  wie  es  agrimensorisches  Ideal  ist.  Aber  die  That- 
sachen  widerstreiten  hier  dem  Augenschein  und  Zweifel  sind  nicht  möglich.  In 
der  ixxrs  dextrata,  also  —  da  die  Decumani  nach  Norden  laufen  —  östlich  vom 
„decumanus  lu    sind   ausser    ihm  noch   etwa   15  Decumani  gezogen,   in    der  pars 


1)  Wie  es  Beloch,  Campanien 2  p.  310,  thut. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     Phil.-hiet,  Kl.  N.  F.  Band  2,7. 


34  ADOLF    SCHULTEN, 

sinistra  —  westlich  von  Capua  vetere  —  sind  nördlich  der  Clanis  17  Decumani 
anzunehmen;  der  19.  läuft  durch  Grazzanise  (am  Volturno).  Ausser  dem 
durch  Capua  gehenden  decumanus  I  fällt  besonders  ins  Auge  der  Casapulla,  Ca- 
turano  und  Marcianise  verbindende  Decumanus.  Er  bildet  mit  dem  langen  durch 
Marcianise  über  S.  Marco  Evangelista  nach  Maddaloni  laufenden  Cardo  ein  viel 
ausgeprägteres  Kreuz  als  Decumanus  maximus  und  Cardo  maximus. 

Was  die  centuriirte  Fläche  anbelangt,  so  lassen  sich  feststellen  für  1)  die 
pars  citrata  dextrata ,  (nordöstliches  Viertel)  in  der  ersten  Centurienreihe  nörd- 
lich des  Cardo  maximus  (über  Macerata  -  Caturano)  und  östlich  des  decumanus 
I:  13,  in  der  2.:  12,  in  der  3.:  12  (Capua  nimmt  1  Centurie  ein)  Centurien;  die 
4.  Reihe  wird  durch  den  Monte  Tifata  (bei  Coccagna)  eingeengt  und  weist  in  ihrem 
westlichen  Teil  5,  im  östlichen  (jenseits  Coccagna)  4  also  zusammen  9  Centurien 
auf;  2 — 3  andere  werden  durch  den  Monte  Tifata  zu  subsiciva.  Die  5.  Reihe 
enthält  (westlich  vom  Tifata)  4,  die  6. :  2,  die  7. :  eine  Centurie. 

-  Für  den  nordwestlichen  Teil  des  centuriirten  Gebiets,  die  regio  citrata  sinistra 
lässt  sich  die  Anzahl  der  Centurien  auf  Grund  der  Reste  nicht  berechnen,  da  die 
Limitation  zu  sehr  zerstört  ist.  Für  den  nördlichen  Teil  des  Gebiets,  von  Capua, 
die  regio  citrata  sind  also  sicher  feststellbar  13  +  12  +  12  +  9  +  3  +  2  +  1  =  52 
Centurien.  Weil  aber  auch  das  westliche  Viertel  centuriirt  war  —  wie  die 
Reste  der  Decumani  zeigen  —  wird  man  seinen  Flächeninhalt  in  Centurien  berechnen 
dürfen.  Da  der  Cardo  maximus  in  der  westlichen  Hälfte  fehlt  —  er  reicht  nur 
bis  zu  der  Chaussee  Capua  vetere-Aversa  — ,  lässt  sich  die  Westhälfte  nicht  wohl 
in  eine  regio  sinistra  citrata  (diesseits  d.  h.  nördlich  des  Cardo  maximus)  und  regio 
sinistra  ultrata  (jenseits  d.  h.  südlich  des  Cardo  maximus)  teilen.  Ich  betrachte 
also  2)  die  Centuriation  der  ganzen  Westhälfte  ohne  Rücksicht  auf  die  beiden  Re- 
gionen. Diese  Region  lässt  sich  darstellen  als  ein  Rechteck  von  18  Centurien  Länge 
und  8  Centurien  Höhe,  also  144  Centurien  Fläche.  Als  Westgrenze  ist  ange- 
nommen der  über  Grazzanise  (am  Volturno)  laufende  Decumanus  (der  19.  links 
vom  Decumanus  maximus),  als  Ostgrenze  der  „decumanus  primus  sinisfrau;  im 
Norden  begrenzt  der  Volturno  ,  im  Süden  der  Regi  Lagni  (=  Clanis)  das  cen- 
turiirte Gebiet.  So  kommen  denn  zu  den  52  Centurien  des  nordöstlichen  Vier- 
tels noch  144  der  nordwestlichen  und  südwestlichen  Region  hinzu,  sodass  sich 
die  Fläche  :  regio  citrata  dextra  und  sinistra  +  regio  ultrata  sinistra  berechnen  lässt 
auf  52  +  144  =   196  Centurien. 

3)  Pars  ultrata  dextra.  In  der  südlichen  Hälfte  des  Stadtgebiets 
ist  die  Centuriation  ebenfalls  nur  im  östlichen  Viertel  so  erhalten ,  dass 
man  die  Zahl  der  Centurien  berechnen  kann.  Es  liegen  südlich  des  Cardo 
maximus  in  Reihe  1 :  14 ,  in  II :  14,  in  III :  15,  in  IV :  15  (in  der  15.  Cen- 
turie liegt  der  Ort  Maddaloni) ;  in  V  (südlich  der  grossen  Strasse  Marcianise- 
Maddalöni)  ist  Raum  für  18,  in  VI  für  18  (?J  Centurien.  Weiter  südlich  wird 
man  noch.  2  Reihen  mit  je  18  Centurien  annehmen  können.  Die  Reihen  südlich 
der  4.  Reihe  sind  so  wenig  gut  erhalten,  dass  die  Berechnung  ihres  Inhalts  sich 
nur  auf  den  Raum,  nicht  auf  die  Limitation  gründet.    Sicher  feststellbar  sind  also 


DIE    RÖMISCHE    FLURTEILUNG    UNI)    IHRE    RESTE.  35 

-  in  dem  südöstlichen  Viertel  14  +  14  +  15  +  15  +  18  +  18  +  18  +  18  =  130  Centimen. 
Das  ganze  Gebiet  von  Capua  mag  also  62+196  (Norden  und  Südwesten),  +  130  (Süd- 
osten) =  378  Centurien  enthalten  haben ;  das  sind  75600  lugera.  Diese  Zahl  stimmt 
ganz  gut  zu  den  bei  Granius  Licinianus  !)  und  Cicero  2)  über  den  Flächeninhalt  des 
ager  Campanus  erhaltenen  Nachrichten,  denn  diese  Autoren  geben  50000  lugera 
assignationsfähigen  Landes  an.  Im  Jahre  59  verteilte  Cäsar,  der  Nachfolger  der 
Gracchen,  den  ager  Campanus  an  20000  Bürger  (Marquardt,  Staatsverwaltung 
I2  p.  114).  Wieviel  lugera  dem  Loosempfänger  gegeben  wurden,  ist  nicht  über- 
liefert. An  centuriirtem  Lande  kann  der  Einzelne  kaum  mehr  als  höchsten  9  'i 
lugera  erhalten  haben,  da  nur  c.  65000  lugera  sicher  nachweisbar  sind.  Aber 
das  Gebiet  von  Capua  umfasste  wohl  auch  das  ganze  Litoral,  eine  Fläche,  welche 
die  centuriirte  an  Ausdehnung  übertrifft.  Auch  dieses  Gebiet  eingerechnet 
kann  der  Colonist  aber  nicht  mehr  wie  etwa  6  lugera  erhalten  haben.  Dazu 
können  höchstens  Wald-  und  Weideteile  im  Apennin  gekommen  sein. 

Südlich  vom  Lagni,  dem  antiken  Clanis,  findet  sich  eine  andere  Limitation. 
Auch  ihre  limites  laufen  von  Norden  nach  Süden  und  von  Westen  nach  Osten. 
aber  sie  fallen  nicht  mit  den  capuanischen  zusammen.  Innerhalb  dieser  Centu- 
riation  liegt  die  antike  Stadt  Atella  (S.  Arpino).  Acerrae  (Acerra)  ist  durch 
den  Lagni  von  ihr  getrennt  und  hat  wohl  kaum  hier  Landbesitz  gehabt.  Im 
Westen,  am  Meer,  lag  Linternum  (Torre  di  Patria),  am  Golf  ausser  Neapolis  noch 
Cumae  und  Puteoli.  Aber  im  Gebiet  der  drei  letzgenannten  Griechenstädte  ist 
wohl  nie  Ackerland  assignirt  worden ,  wenn  auch  der  Über  coloniarum  darüber 
allerhand  verworrenes  Zeug  angiebt  (Feldm.  I,  235  ff.) 3). 

Als  Cardo  maximus  (der  hier  wohl  nicht  wie  im  Capuanischen  nach  Osten, 
sondern  wie  gewöhnlich  nach  Süden  lief)  dieses  Gebiets  muss  man  die  schnurgrade 
über  Aversa  (im  Norden)  nach  Giugliano  und  Mugnano  (im  Süden)  laufende  Strasse 
bezeichnen,  die  eine  Länge  von  14 l/s  km  hat.  Weniger  augenfällig  ist  der  De- 
cumanus   maximus.     Da  der  „umbilicus",  der  Schnittpunkt  von  C.  M.  und  D.  M.. 


1)  p.  15  ed.  Bonn.:  ..  ei  (Cn.  Domitius  Lentulus,  Consul  des  J.  162  v.  Chr.)  praetori  urbano 
senatus  permisit,  agrum  Campanum,  quem  omnem  privati  possidebant,  coemeret  ut  publicus  fieret  .  . 
nee  fefellit  vir  aequus,  nam  tanta  moderatione  usus  est,  ut  et  rei  publicae  commoda  et  2>ossessorum 
temperans  .  .  .  [iugerum  milia]  quinquaginta  coemeret 

2)  Ad  Att.  II,  16,  1  :  omnis  expeetatio  largitionis  in  agrum  Campanum  videtur  esse  äeri- 
vata,  qui  ager,  ut  dena  iugera  sint,  non  amplius  hominum  quinque  milia  potest  sustinere.  —  De 
lege  agraria  II,  23  §76:  ..  quinque  milia  colonorum  Capuam  scribi  iubet  .  .;  .  .  ista  dena 
iugera  continuabunt  .  . ;  §  79:  si  non  modo  dena  iugera  dari  vobis ,  sed  ne  constipari  quidem 
taut  um  uumerum  hominum  posse  in  agrum  Campanum  intellegetis. 

3)  p.  235:  Neapolim  .  .  sed  ager  eins  Sirenae  Parthcnopac  a  Grecis  est  in  iugeribu*  a<l- 
signatu*  et  limites  intercisici  sunt  constituti  inter  quos  postea  et  miles  imp.  Titi  lege  modiim  iugera- 
tionis  ob  meritum  aeeepit. 

p.  23ti :  Puteol  is,  colonia  Augusta.  Augustus  deduxit,  ..  ager  eins  in  iugeribus  veteraais 
et  tribunis  legionariis  est  adsignatus. 

p.  232  :  Cumis,  muro  dueta  colonia;  ab  Augusto  dedueta,  .  .  .  ager  eins  in  iugeribus  veterauit 
pro  merito  est  adsignatus  iussu  Claudi  Caesaris. 
2  3   • 


36  ADOLF    SCHULTEN, 

gewöhnlich  durch  ein  Siedlungscentrum  bezeichnet  ist,  möchte  man  den  von  A versa 
nördlich  von  Ducenta  und  Trentola  nach  dem  Meer  zu  laufenden  Decumanus  für 
den  I).  M.  halten;  im  Osten  berührt  er  Gricignano.  Er  ist  14  km  weit  zu  ver- 
folgen. Die  Centuriation  ist  nur  im  nördlichen  Teil,  und  zwar  in  der  pars  sini- 
strata,  gut  erhalten,  besonders  reichen  die  Decumani  hier  bis  in  die  Nähe  des 
Meeres,  während  die  Cardines  von  Capua,  wie  oben  gezeigt,  nur  eine  geringe 
westliche  Ausdehnung  haben.  Westlich  vom  Cardo  maximus  sind  mindestens  15 
Cardines  gezogen,  östlich  nur  7  erkennbar.  Decumani  lassen  sich  in  der  süd- 
lichen Hälfte  —  zwischen  dem  Decumanus  maximus  und  Mugnano  —  11,  in  der 
nördlichen  10  feststellen.  Während  die  Cardines  nicht  mit  denen  von  Capua  zu- 
sammenfallen,  sind  die  Decumani  die  Fortsetzung  der  capuanischen.  Man  ver- 
gleiche besonders  den  zwischen  Marcianise  und  Capodrise  laufenden  capuanischen 
Cardo  mit  den  östlich  vom  Lagni  erhaltenen  Resten  des  Decumanus  von  Atella  (?) 
oder  zu  welcher  Gemeinde  sonst  die  Limitation  südlich  des  Clanis  gehören  mag. 
Ebenso  lässt  sich  der  über  Loriano  (südlich  von  Marcianise)  laufende  Weg  jen- 
seits des  Lagni  verfolgen. 

Zur  Berechnung  der  Centurienzahl  lässt  sich  zunächst  im  Norden  über  dem 
Decumanus  maximus  als  Basis  ein  Rechteck  von  14  Centurien  Länge  und  6  Höhe 
bilden,  das  also  84  Centurien  enthält.  Im  Süden  scheint  mindestens  ein  Recht- 
eck von  7  Centurienbreiten  Höhe  und  14  Breite  also  98  Centurien  Fläche  limi- 
tirt  gewesen  zu  sein.  Als  südliche  Grenze  ist  der  Decumanus  von  Giugliano  an- 
genommen. Ausser  den  84  +  98  =  182  Centurien.  welche  die  beiden  Rechtecke 
ergeben,  kann  noch  eine  grössere  Anzahl  von  Centurien  im  Südosten  von  Averso 
existirt  haben. 

22.  Florentia  (Florenz)  (s.  Tafel  VI  oben  rechts).  Auch  die  Centuriation 
der  Colonie  Florentia,  des  heutigen  Florenz,  ist  noch  deutlich  kenntlich.  Die 
Decumani  laufen  der  Richtung  des  Arnothals  entsprechend  von  NW.  nach  SO., 
die  Cardines  von  NO.  nach  SW.  Der  Decumanus  maximus  ist  in  der  Stadt  die 
via  Guelfa ,  weiter  die  an  der  Festung  vorbei  laufende  Landstrasse  nach  S. 
Cristofano.  Es  sind  etwa  22  Cardines  und  10  Decumani  feststellbar.  Westlich 
scheint  nicht  weit  über  Prato  hinaus  centuriirt  worden  zu  sein.  Das  ganze 
Areal  umfasst  zunächst  ein  Rechteck  von  18  Centurien  Länge,  11  Breite  also 
198  Centurien  Fläche.  Dazu  kommen  noch  etwa  50  Centurien  zwischen  Sesto 
und  Florenz  in  der  Verengerung  des  Arnothals. 

Hervorzuheben  ist  von  Flurnamen  Limite  l)  (von  limes)  südwestlich  von  Sesto. 

23.  Carthago.  Das  quadratische  Wegenetz  der  Umgegend  von  Car- 
thago  hat  zuerst  der  dänische  Kapitän  Falbe  bemerkt  und  auf  die  römische 
Centuriation  gedeutet 2).  Nachmessungen  ergaben ,  dass  in  der  That  die  Qua- 
drate   eine    Länge    von    710  m  =  2400    römischen    Fuss    hatten.     Das    ist,    so 


1)  Dieser  Name  kommt  auch  in  den  Bergen   am  unterem  Arno   zweimal  vor:    Capraja   e  Li- 
mite und  Limite  und  bezeichnet  dort  wohl  die  Grenze  des  Stadtgebiets. 

2)  Recherches  sur  Pemplacement  de  Carthage,  Paris  1833,  p.  54—57. 


DIE   RÖMISCHE    FLTJRTEILÜNG    UNI)    IIIRK   RESTE.  37 

viel  ich  sehe,  überhaupt,  die  erste  Feststellung  des  Fortbestehens  der  römischen 
Limitation.  Falbe  erkannte  28  Centurien  und  nahm  an,  dass  jeder  der  3000 
augusteischen  Colonisten  (Appian,  Punica  136)  ein  heredium  (2  Iugera)  erhalten 
habe ,  also  alle  zusammen  3000  x  2  =  6000  Iugera  =  30  Centurien  einge- 
nommen hätten.  Die  beiden  fehlenden  Quadrate  Hessen  sich  bei  la  Marsa  leicht 
ergänzen.  Ohne  sich  weiter  um  das  Wesen  der  Limitation  zu  kümmern,  glaubte 
Falbe  doch  zu  bemerken,  dass  jenes  Wegenetz  von  zwei  Standlinien  beherrscht 
sei,  von  denen  die  eine  von  Sidi-bou-Said  nach  Tunis,  die  andere  von  der  Byrsa 
am  Rande  des  Sebkrat  el  Ariana  entlang  laufe.  Die  erstere  ist  der  Weg, 
welcher  von  Sidi-bou-Said  über  Malga  bis  nahe  an  die  Bai  von  Tunis  —  aber 
nicht  bis  Tunis  —  läuft,  der  zweite  geht  von  Malga  nach  Nordwesten  und  ist 
noch  heute  7  km  lang  gradlinig  erhalten ;  er  reicht  bis  an  das  Ende  der  Landzunge 
zwischen  der  Lagune  Sebkrat  und.  den  Dünen.  Falbes  Entdeckung  wurde  be- 
stätigt von  Barth  (Wanderungen  durch  die  Küstenländer  des  Mittelmeers  I. 
p.  87).     Neue  Beobachtungen  hat  er  nicht  hinzugefügt. 

Seitdem  hat  sich  bei  der  Beständigkeit  aller  Dinge  auf  arabischem  Boden 
wenig  verändert.  Noch  heute  ist  das  Centuriennetz  der  carthagischen  Flur- 
teilung  vortrefflich  erhalten.  Die  folgenden  Ausführungen  beruhen  auf  den 
Blättern  13  (El  Ariana)  und  14  (La  Marsa)  der  Karte  1  :  50000  der  Regent- 
schaft Tunesien1);  die  grosse  Karte  1:20000  {Environs  de  Tunis  et  de  Cur- 
thagc,  in  9  Blättern,  1883)  glaubte  ich  entbehren  zu  können. 

Das  limitirte  Gebiet  umfasst  die  ganze  Ebene  zwischen  dem  Golf  von 
Utica  (Bizerte)  im  Norden,  der  Bai  von  Tunis  im  Süden,  dem  Meer  im  Osten 
und  dem  Gebirge  im  Westen.  Entsprechend  der  Angabe  der  Feldmesser ,  dass 
man  bei  langem  aber  schmalem  Assignationsgebiet  die  Decumani  statt  von 
West  nach  Ost  in  der  Längsrichtung  des  Territoriums  ziehen  könne  (1  170, 
12  f.) ,  werden  die  in  der  Längsrichtung  d.  h.  von  NO.  nach  SW.  laufenden 
limites  als  Decumani ,  die  von  NW.  nach  SO.  gezogenen  als  Cardines  zu 
gelten  haben.  Decumani  zähle  ich  auf  der  Karte  1  :  50000  neun ;  der  süd- 
lichste läuft  über  Sidi-bou-Said  und  Malga,  der  nördlichste  über  El  xlriana. 
Cardines  sind  deutlich  nur  im  Nordosten  des  Gebiets  erhalten,  doch  lassen  sich 
Reste  von  ihnen  bis  nach  Ariana  als  Feldwege  verfolgen.  Gut  zu  erkennen  ist 
das  Centuriennetz  in  der  östlichen  Hälfte:  mindestens  12  Centurien  sind  dort 
noch  völlig  erhalten.  Das  ganze  centuriirte  Gebiet  enthält  zunächst  ein  Recht- 
eck mit  der  Ausdehnung  La  Marsa- Ariana  (c.  12  km)  als  Länge  und  einer  Breite 
von  3  km.  Dazu  kommt  hinzu  ein  kleineres  Rechteck,  welches  dem  Gebiet  zwi- 
schen dem  Meer  im  NO.,  der  Chaussee  La  Marsa  —  Tunis  im  NW.,  dem  See 
von  Tunis  im  SW.  und  dem  Weg  von  Sidi-bou-Said  nach  Malga  im  SO.  ent- 
spricht. Seine  Länge  beträgt  c.  6,  seine  Breite  l'A»  km.  In  Centurien  ausge- 
drückt   ist   jenes   grössere   Rechteck    etwa    16  Centurien   lang    und    4  Centurien 


1)  Nach   derselben  Aufnahme    ist    angefertigt   der    „Atlas   archcologique    de    la  Tunisie"',    von 
dem  bis  jetzt  5  Lieferungen  vorliegen,  darunter  die  beiden  genannten  Blätter. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    PMl.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,7.  o 


3S  ADOLF    SCHULTEN,   DIE   RÖMISCHE    FLUKTEILUNG    UND   IHRE   RESTE. 

breit,  enthält  also  etwa  64  Centurien.  Das  kleinere  Oblong  fast  bei  c.  7  Cen- 
turien  Länge  und  2  Centurien  Breite  etwa  14  Centurien.  Das  ganze  centuriirte 
Gebiet  von  Carthago  lässt  sich  somit  auf  etwa  64  +  14  =  78  Centurien  be- 
rechnen. Nach  Appian ,  der  allein  hierüber  berichtet ,  betrug  die  Zahl  der 
von  C.  Gracchus  nach  Carthago  dedazirten  Cölonisten  6000  (bell.  civ.  1,24;  Fn- 
nka  136),  die  der  augusteischen  3000  (Ihm.  136).  Die  vorhandene  Centuriation 
mu.s.s  noch  die  gracchanischc  sein,  da  an  eine  neue  Division  für  die  augusteischen 
Culonisten  nicht  zu  denken  ist.  Man  muss  also  den  noch  kenntlichen  Centurien- 
bestand  nicht  —  wie  es  Falbe  that  —  mit  den  3000  augusteischen,  sondern  mit 
den  6000  gracchanischen  Cölonisten  combiniren.  Was  das  Maass  des  dem  ein- 
zelnen Assignatar  zugewiesenen  Looses  anbelangt ,  so  werden  in  der  lex  agraria 
vom  Jahre  111  v.  Chr.  in  Zeile  59/60  200  Iugera,  also  eine  volle  Centurie,  er- 
wähnt (.  .  ne  amplius  CG.  iugera)  aber  der  Zusammenhang  ist  keineswegs  sicher 
festgestellt,  und  man  wird  Bedenken  tragen  müssen  mit  Mommsen  (CIL.  I  p.  97) 
die  200  Iugera  für  den  assignirten  Modus  —  selbst  wenn  es  andere,  kleinere 
sortes  gab  —  anzunehmen.  Nimmt  man  auch  an,  dass  nur  die  Hälfte  der  An- 
siedler, also  3000,  je  eine  Centurie  und  die  anderen  weniger  bekommen  hätten, 
so  ergiebt  das  doch  schon  über  3000  Centurien.  Es  ist  lehrreich  hiermit  die  fak- 
tisch vorhandenen  Centurien  —  sicher  nicht  mehr  als  höchstens  100  (78  stellte  ich 
fest)  —  zu  vergleichen :  der  Vergleich  lehrt ,  wie  interessant  es  ist ,  wenn  man 
mit  der  Karte  in  der  Hand  die  Probe  auf  unser  Wissen  und  Meinen  machen  kann. 

Zu  bemerken  ist  noch ,  dass  die  grosse  Chaussee ,  welche  La  Marsa  und 
Tunis  verbindet,  etwa  7  km  weit  auf  einem  Decumanus  läuft. 

Die  Seitenlänge  der  Centurien  lässt  sich  nach  der  Karte  1 :  50000  auf  rund 
7<>0  Meter  angeben,  würde  aber  auf  grösseren  Karten  zweifelsohne  genau 
24<J0  pedes  =  708  m  lang  sein. 

In  den  anderen  Provinzen  habe  ich  Spuren  der  römischen  Flurteilung  nicht 
gefunden:  weder  in  Spanien,  für  welches  es  die  schöne  in  Farben  ausgeführte 
Generalstabskarte  1  :  50000  giebt,  noch  in  Oesterreich  (1  :  75000)  und  in  der  Nar- 
bonensis  (Generalstabskarte  1  :  82000) ,  deren  Centuriation  durch  das  Flurkar- 
tenfragment von  Arausio  bezeugt  ist.  Vielleicht  sind  bei  Friedberg  (Wet- 
teiau)  in  Oberhessen  noch  Reste  von  Centurien  vorhanden  (s.  Meitzen,  Siedlung 
III  p.  157). 

Wie  es  gekommen  ist ,  dass  sich  nur  in  der  Poebene ,  bei  Florenz ,  Capua 
und  Carthago  die  römische  Centuriation  erhalten  hat ,  ist  eine  Frage ,  die  nur 
durch  die  spätere  Geschichte  der  anderen  ehemals  centuriirten  Territorien  be- 
antwortet werden  kann..  Je  mehr  agrarische  Umwälzungen  das  betreffende  Ge- 
lnet durchgemacht  hat,  je  weniger  konnte  von  der  römischen  Flurteilung  übrig 
bleiben.  Dass  sich  aber  noch  mehr  als  das  von  mir  Beigebrachte  feststellen 
lässt,  ist  sicher.  Vielleicht  regen  diese  Blätter  die  Lokalforscher,  besonders  die 
italienischen  an,  das  Wegesystem  ihrer  Gegend  auf  die  römische  Centuriation 
hin  zu  untersuchen. 


Göttingen,  Druck  der  Univ.- Bachdruckerei  von  W.  Fr.  Kaostnor. 


ibhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.Wiss.  zu  Geltungen.   Phil.-hist.  Kl.  N.  V.  Band  II  N 


MaJsstab  1:150  000 


Weidniannsche  Buchhandlung  in  Berlin. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d  Wiss.  zu  Göttingen.  Phil.-hist.  Kl.  N.  F.  Band  II  Nr.  7. 


Weidmauusche  Buchhandlung  in  Berlin.. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.Wiss.  zu  Göttingen.   Phil.-hist.  Kl.  N.  F.  Band  II  Nr 


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Malsstab  1:150000 


"Weidmannsche  Buchhandlung'  iu  Berlin. 


Abhdlgn.  d  K.  Ges.  d.Wiss.  zu  Göttingen.  PhiL-hist.  Kl.  N.  F.  Band  II  Nr.  7. 


Weidmaaiische  Buchhandlung  in  Berlin. 


Abhdlgu.  d.  K.  Ues.  d.Wiss.  zu  Göttingon.   PJiil.-hist.  Kl.  N.  F.  Band  II  Nr.  7. 


Weidmannsche  BucLliandlung  in  ßerün. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.   Phil.-hist.  Kl.  N.  F.  Band  II  Nr.  7. 


PhotolitKigeogr-li'iv.AnetuSteindrv.C.L.KQUer.  Berlin  S 


Weidmamische  Buchhandlung  in  Berlin. 


ABHANDLUNGEN 

DER  KÖNIGLICHEN  GESELLSCHAFT  DER  WISSENSCHAFTEN  ZU  GÖTTINGEN. 

PHILOLOGISCH -HISTORISCHE  KLASSE. 

NEUE  FOLGE   BAND  II.  Nro.  8. 


Die 


Reimvorreden  des  Sachsenspiegels. 


Von 


Gustav  Roethe, 


Berlin, 

Weidmannsche    Buchhandlung. 
1899. 


Die  Reimvorreden  des  Sachsenspiegels, 

Von 

Gustav  Roethe. 


Vorgelegt  in  der  Sitzung  vom  23.  Juli  1893. 


Die  früher  viel  erörterte  Frage,  ob  der  Sachsenspiegel  hoch-  oder  niederdeutsch 
abgefasst  sei,  gilt  heute  kaum  mehr  als  Frage.  Man  zweifelt  nicht :  das  älteste 
grössere  Denkmal  profaner  deutscher  Prosa,  die  unschätzbare  erste  Codiücirung 
deutschen  Rechts  in  der  Muttersprache  ist  nicht  nur  das  Werk  eines  Sohnes  nie- 
derdeutschen Bodens,  sie  ist  auch  im  niederdeutschen  Sprachgewande  an  den  Tag 
getreten ;  wenn  Eike  sein  lateinisches  Rechtsbuch  an  dütisch  ivante  (praef.  rhythm. 
277.  264)  *),  so  hiess  ihm  dütisch  nichts  anderes  als  sassisch.  Gerne  sehen  wir  am 
Eingange  der  mittelniederdeutschen  Litteratur  ein  Werk  von  weltgeschichtlicher 
Bedeutung.  Und  welche  merkwürdige  Parallele :  ein  niederdeutscher  Dichter, 
Heinrich  von  Veldeke,  wird  durch  niederdeutsche  Reime  der  anerkannte  Vater 
der  hochdeutschen  höfischen  Kunstpoesie ;  ein  niederdeutscher  Jurist  gewinnt 
durch  ein  sächsisch  geschriebenes  Rechtsbuch  einen  fast  wunderbaren  Einfluss 
bis  in  das  oberdeutsche  Rechtsleben  hinein;  beides  trotz  dem  empfindlichen  Un- 
terschied der  Sprache.  Darin  liegt  nicht  nur  ein  litterarisches,  sondern  auch  ein 
sprachgeschichtliches  Phänomen ,  mit  dem  man  sich  wol  zu  leicht  abzufinden  ge- 
wöhnt ist. 

Die  Philologen  haben  das  eminent  philologische  Problem  der  Sprache  Eikes 
merkwürdigerweise  fast  ganz  den  Juristen  überlassen.  Als  vor  einigen  Jahren 
C.  Walther,  er  allein  rühmliche  Ausnahme,  eine  wichtige  aber  nicht  entscheidende 
Einzelheit  fördernd  aufklärte  (Niederd.  Jahrb.  18,  61) ,  da  hatte  er  lediglich  mit 


1)  Ich  citire  den  Sachsenspiegel  durchweg  nach  Homeyer,  das  Landrecht  nach  der  '6.  Ausg. 
(Berlin  1861)  und  behalte  in  der  Regel  auch  die  Sprachformen  seines  Textes  bei,  ohne  mich  damit 
für  ihre  Richtigkeit  zu  entscheiden.  Die  Längezeichen  hab  ich  in  der  Art  unsrer  mittelhochdeut- 
schen Texte  gesetzt;  das  dient  der  Deutlichkeit.  g 

1* 


Grupen,  Homeyer  und  Stobbe  zu  tun.  Dass  Homeyers  grundlegende  Beweisfüh- 
rung für  das  Niederdeutsch  des  Sachsenspiegels  heute  der  Revision  und  Ergän- 
zung beträchtlich  bedarf,  unterliegt  mir  keinem  Zweifel.  Die  philologische  Un- 
tersuchung wird  freilich  durch  den  Charakter  der  Homeyerschen  Ausgabe  sehr 
erschwert.  Zu  Grunde  liegt  dem.  Texte  die  Berliner  Handschrift  En,  ein  Codex 
der  dritten  Ordnung  dritter  Classe  von  1369,  eine  Handschrift  also,  die  die  Vul- 
gata  gut  repräsentiren  mag,  aber  dem  ursprünglichen  Text  ferner  steht  als 
viele  andere  Handschriften.  Von  den  Varianten  der  sehr  zahlreichen  übrigen 
Manuscripte,  die  Homeyer  eingesehen  hat,  gibt  er  nur  eine  karge,  oft  willkür- 
liche Auswahl ,  welche  auf  sprachliche  Differenzen  nur  ganz  gelegentlich  einmal 
Rücksicht  nehmen  kann  und  nicht  einmal  die  abweichenden  Synonyma  der  ver- 
glichenen Codices -irgend  vollständig  oder  consequent  verzeichnet1):  man  dai 
zwar  Homeyers  positiven  Angaben  im  Ganzen  trauen,  nie  aber  aus  seinem 
Schweigen  Schlüsse  ziehen.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  bequemen,  scharf  sondern- 
den, aber  äusserlichen  Kennzeichen ,  nach  denen  Homeyer  die  Handschriften  zu 
grossen  Gruppen  summarisch  ordnet,  Büchereinteilung,  Zusätze,  Glosse,  wol  fü 
die  Entstehung  der  Vulgata  den  Weg  weisen,  für  die  intimere  Erkenntnis  der 
Textgeschichte  und  Textverwantschaft  aber  zu  plump  sind.  So  wird  es  erneuter 
und  eindringender  Handschriftenstudien  bedürfen ,  wenn  es  gilt ,  dem  ursprüng- 
lichen Texte  Eikes  so  nah  wie  möglich  zu  kommen:  den  Juristen  Homeyer  hatte 
eben  in  erster  Linie  die  Textgestalt  interessirt,  in  der  der  Sachsenspiegel  einst 
seine  weiteste  Verbreitung  gefunden  hat ;  der  Philologe  darf  sich  dabei  nicht  be- 
ruhigen. Der  Einblick  in  einzelne  Handschriftenabdrücke  und  Handschriften  *) 
hat  mich  nur  in  der  Ueberzeugung  bestärkt,  dass  es  mit  solchen  Einzelbeobach- 
tungen nicht  getan  ist.  Ob  nun  freilich  auch  bessere  Erkenntnis  des  Hand- 
schriftenverhältnisses uns  bis  zu  der  Lautform  Eikes  zurückführen  wird ,  das 
lass  ich  dahingestellt.  Bei  einem  nach  Zeit,  Ort  und  Art  beinahe  isolirten  Prosa- 
denkmal, wie  der  Sachsenspiegel  es  ist,  da  versagen  die  meisten  unsrer  philolo- 
gischen Hilfsmittel. 

Aber  das  Rechtsbuch  zeigt  ja  nicht  nur  Prosa.     Ausser   ganz   wenigen   ein- 
gesprengten Verschen  bringt  es  eine  grössere  poetische  Vorrede ,    die   uns  grade 


1)  Als  besonders  hinderlich  empfand  ich  es,  dass  sich  grade  der  regelmässige  Ersatz  gewisser 
Worte  durch  andre  aus  Homeyers  Angaben  nicht  constatiren  lässt ;  er  begnügt  sich  da  nicht  selten 
mit  einmaliger  Notiz,  ohne  ein  „immer"  dazu  zu  setzen. 

2)  Benutzt  habe  ich  die  Quedl  inburger  Handschrift  Aq  (angeblich  des  13.  Jahrhunderts)  in 
Göschens  Abdruck  (Halle  1853),  die  Oldenburger  Bilderhandschrift  von  1336  Ei  nach  Lübbens  Aus- 
gabe (Oldenburg  1879),  die  Heidelberger  Handschrift  cod.  pal.  167  Eb  (14.  Jahrhundert)  in  Sachses 
Druck  (Heidelberg  1848),  die  Leipziger  Handschrift  El  (Univ.- Bibl.  946)  nach  Weiske-Hildebrands 
5.  Ausgabe  (Leipzig  1877);  ausserdem  hab  ich  mehr  oder  weniger  eingesehen  die  Bremer  Hand- 
schriften von  1342  (Aw)  und  1417,  die  ich  Cz  nenne,  die  schöne  Berliner  Handschrift  fol.  631 
(D<y),  die  Breslauer  Handschrift  II  fol.  8,  Bv,  deren  Datirung  1306  aus  der  Vorlage  abgeschrieben 
sein  muss  —  sie  gehört  nach  Laut-  und  Schriftform  unzweifelhaft  der  1.  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts 
an,  was  Homeyer  richtig  erkannte,  Andere  mit  Unrecht  bestritten  haben — ,  endlich  die  späten  und 
wenig  ergiebigen  Göttinger  Papierhandschriften  cod.  jur.  60  und  394  (Cy). 

8 


DIE    REIMVOKKEDEN    DES    SACHSENSPIEGEL«.  5 

dadurch  unschätzbar  wird,  dass  sie  gereimt  ist.  Vers  und  Reim  bieten  Hand- 
haben, um  den  Schleier  verdunkelnder  Ueberlieferung  hier  und  da  zu  zerreissen, 
wo  uns  die  Prosa  ratlos  lässt.  Ich  hoffe,  dass  die  Anschauungen,  in  denen  mich 
wiederholte  Beschäftigung  mit  Eikes  Reimprolog  bestärkt  hat,  geeignet  sind, 
über  ihn  hinaus  einen  vorläufigen  Ausblick  auch  auf  jenes  grössere  sprachliche 
Problem  zu  ermöglichen,  das  notwendig  im  Hintergrunde  stehen  muss. 


Die  Praefatio  rhythmica  des  Sachsenspiegels  zerfällt  in  zwei,  durch 
Ueberlieferung,  Inhalt  und  Form  deutlich  sich  scheidende,  unter  einander  nicht 
zusammenhängende  Teile.  Dass  nur  die  in  Reimpaaren  abgefasste,  an  zweiter 
Stelle  stehende  Partie  (ich  bezeichne  sie  demgemäss  als  II),  V.  97 — 280,  Eikes  ur- 
sprüngliches Begleitwort  darstellt,  wird  schon  äusserlich  dadurch  sehr  wahr- 
scheinlich, dass  die  Handschriften-Gruppe  der  ältesten  Gestalt  A  nur  sie  enthält, 
wie  sich  denn  auch  andre  Handschriften,  namentlich  der  Gruppe  C,  auf  sie  De- 
schränken. Das  Gros  der  Gruppen  B  und  D,  auch  viele  Handschriften  der  Ord- 
nung E ,  schicken  der  Praefatio  II  nun  aber  noch  12  gereimte  Strophen  voran 
(I),  die  man  als  Eikes  Vorrede  zu  einer  zweiten  Ausgabe  anzusehen  pflegt,  da 
sie  bereits  Angriffe  auf  das  erschienene  Rechtsbuch  voraussetzen.  Die  Sprache  bei- 
der Vorreden  bezeichnet  z.B.  Richard  Schröder  (Lehrb.  d.  deutschen  Rechtsgesch.3 
649)  als  „mittelhochdeutsch",  während  er  doch  Eikes  Werk  selbst  als  nieder- 
sächsisch ansieht. 

Dass  Praefatio  II  von  Eike  selbst  geschrieben  ist,  daran  hätte  man  nie- 
mals zweifeln  dürfen :  schon  die  bekannten  Schlussverse  (261  ff.) ,  die  von  dem 
Anlass  des  Werkes  berichten,  sind  entscheidend.  Die  geistige  Physiognomie  des 
Autors  tritt  einheitlich  und  schlicht  zu  Tage ,  in  seinem  Stolz  wie  in  seinen 
Sorgen.  Als  die  Hauptschwierigkeit  empfindet  Eike  nicht  die  Sammlung  des 
Rechtsstoffes  und  seine  Anordnung,  die  er  sich  ja  freilich  bequem  gemacht  hat; 
zu  fwere  (V.  276)  erschien  ihm  die  Uebertragung  des  zunächst  lateinisch  redigir- 
ten  Werkes  ins  Deutsche.  Das  darf  nicht  befremden.  Sehr  gross  war  der 
Schritt  von  der  gewohnheitsmässigen  Uebung  deutscher  Sprache  in  dem  münd- 
lichen Rechtsverfahren  bis  zu  seiner  schriftlichen  Fixirung.  Es  stimmt  vortreff- 
lich zu  Edward  Schröders  Ausführungen  über  das  spätere  Aufkommen  der  deut- 
schen Urkundensprache  (GGA  1897  S.  450  ff.) ,  wenn  auch  hier  zuerst  ein  Mit- 
glied des  hohen  Adels,  ein  Graf  von  Falkenstein,  die  geistige  Freiheit  besitzt, 
dem  Latein  seine  ausschliessliche  Herrschaft  in  der  Rechtslitteratur  zu  rauben: 
der  Schöffe  Eike  schreckt  anfangs  zurück,  es  war  ein  Act  der  Selbstüberwindung 
und  der  Treue  (V.  271),  der  ihm  die  Unsterblichkeit  gab.  Und  er  war  sich  voll- 
kommen bewusst,  wie  neue  Bahnen  er  einschlug,  da  er  ein  deutsches  Rechtsbuch 
schrieb. 
*    Als  das  schwierige  Werk  dann  aber  gelungen  war,  da  bricht  in  der  Vorrede 

8 


die  berechtigte  Befriedigung  mit  offenherzig  warmem  Selbstgefühl  durch.  Erst 
die  deutsehe  Fassung  verwirklichte  ganz  Eikes  Wunsch,  den  Schatz  seiner  Wis- 
senschaftx)  aller  Welt  zugänglich  zu  machen  (V.  99.  154 — 174).  Jetzt  erst  darf 
er  die  Sachsen  glücklich  preisen,  dass  es  ihnen  beschieden  ist,  wie  in  einem  Spie- 
gel zu  ersehen,  was  recht  und  unrecht  sei  (V.  97  f.  175 — 182).  Er  glaubt  an  die 
moralische  Kraft  seines  Buches  und  legt  es  seinen  Lesern  nicht  zum  wenigsten 
um  ihres  Seelenheiles  willen  ans  Herz  (V.  183 — 194).  Aber  so  hoch  er  den  Wert 
seines  Werkes  anschlägt,  er  bleibt  sich  bewusst,  dass  sein  Verdienst  lediglich 
die  gewissenhafte  Wiedergabe  des  ererbten  Rechtes  der  Vorfahren  sei  (V.  151—3).  i 
Die  Möglichkeit  von  Lücken  und  Versehen  gibt  er  ohne  Weiteres  zu  und  empfiehlt 
den  Benutzern,'  dass  sie  weise  Leute  befragen,  wo  seine  Angaben  ihnen  nicht 
ausreichend  erscheinen  (V.  195 — 211.141 — 150):  wen  vi/  litte  leren,  dies  an  gut 
Teeren,  is  besser  den  min  eines  si ;  es  ist  das  dieselbe  bescheidene  Ueberzeugung, 
die  auch  der  Prosaprolog  (Hom.  Landr.  S.  136)  ausspricht:  des  ne  Jean  ik  al  eine 
iiicJit  dun,  darumme  bidde  iJc  tö  helpe  edle  güde  lüde.  Nur  eins  nimmt  der  Autor 
unbedingt  für  sich  in  Anspruch:  den  Ruhm,  das  überlieferte  Recht  nach  bestem 
Wissen  und  Gewissen,  mit  peinlicher  Treue  dargestellt  zu  haben  (V.  212 — 220). 
Um  so  mehr  erregt  ihn  die  Sorge,  dass  die  irrere,  die  Fälscher,  ihm  sein  Buch 
ändern  und  mehren  könnten:  schon  im  Eingang  denkt  er  ihrer,  da  noch  ruhig 
(V.  103 ff.);  gegen  Schluss  aber  (V.221 — 260)  reisst  ihn  die  Uebles  besorgende  Ent- 
rüstung gegen  diese  Feinde  des  wahren  Rechts  zu  Flüchen  und  Verwünschungen 
fort,  die  Eikes  ruhig  schlichter  Rede  auf  kurze  Strecke  schnelleres  Tempo  und 
kräftigere  Farbe  geben.  Hatte  er  etwa  schon  mit  der  lateinischen  Fassung  böse 
Erfahrungen  gemacht  ?  Sein  Ingrimm  macht  keinen  bloss  hypothetischen  Eindruck. 
Für  Eike  gibt  es  im  Grunde  nur  ein  Recht,  das  alte  Recht  der  Vorfahren,  und 
jede  Neuerung,  ja  Ergänzung  ist  wider  Gott,  in  dessen  Dienst2)  der  Sachsen- 
spiegel zusammen  gestellt  ward.  Glimpflicher  als  die  Rechtsverkehrer  kommen 
die  Leute  fort,  die  auf  unbequemes  Recht  schelten,  es  ignoriren  möchten  und 
selbst  doch  kein  Unrecht  erfahren  wollen  (V.  113 — 124);  daneben  erklingt  wieder- 
holt die  Mahnung  recht  zu  sprechen  und  zu  handeln,  weine  lieb  weme  leit ,  ohne 
Ansehn  der  Person  (V.  125—140.  148—150.  175).  Die  einlachen  Gedanken  reihen 
sich  aneinander  ohne  strenge  logische  Folge,  ohne  scharfe  Disposition,  nicht 
selten  sich  wiederholend  bis  in  den  Ausdruck  hinein,  aber  klar  und  in  eindring- 
licher Wärme :  zu  dem  unschuldigen  Stolze  des  Autors  passt  eine  leise  Unbe- 
holfenheit recht  gut,  die  doch  so  Treffliches  gelingen  lässt  wie  das  Gleichnis  vom  . 
Schatze  der  Wissenschaft. 

Die  Praefatiol  hat  mit  II  in  Gedanken  und  Wendungen  sehr  viel  gemein. 
Um  so  greller  sticht  der  andre  Geist  ab,  der  aus  ihr  redet.  Es  ist  kein  Zufall, 
dass  ihr  erstes  Wort  Ick  lautet,    während  Eike  von  Got  anhebt.     Eike  redet  zu 


1)  Nur  das  bedeutet  Jcunst  V.  159;  vgrl.  meinen  Reinmar  von  Zweter  S.  186  ff. 

2)  Dass  es  V.  260  durch  got ,  nicht  durch  gut  heissen  muss,  lehrt  wol  das  ähnliche  durch  got 
Lehnr.  78  §  3. 

8 


DIE    BEDiVORREDB»    DES   SACHSENSPIEGEL*.  7 

einem  Publikum,  zu  den  stolzen  Helden,  für  die  er  sein  Buch  geschrieben  hat 
(V.  148— 150.  191.  261);  der  Verfasser  der  Strophen  hält  einen  Monolog  l) ;  um 
sich  sieht  er  nichts  als  Mäkelnde  und  Feinde.  Sie  schelten  sein  Buch ,  das  sie 
nicht  zu  lesen  verstehn  (Str.  2) ;  sie  intriguiren,  hassen  seine  Lehre  und  fragen 
ihn  doch  aus  (Str.  4) ;  sie  wollen  ihn  in  Verruf  bringen  (Str.  7);  selbst  die  Ver- 
ständigsten scheuen  sich  vor  ihm  (Str.  8)  ;  sie  sagen  ihm  Worte  nach,  an  die  er 
nie  gedacht  hat,  und  treiben  lügnerische  Verleumdung  (Str.  11);  sie  kläffen  ihn 
an  (Str.  12)  und  wollen  ihn  meistern  (Str.  1.  12),  Menschen,  die  neben  ihm  höch- 
stens armselige  meisterlin  sind.  Dem  gegenüber  verschanzt  sich  der  Dichter 
hinter  dem  höchsten ,  auf  den  Gipfel  getriebenen  Selbstgefühl :  wer  mich  nicht 
verstehen  kann,  der  lerne  besser  lesen  !  (Str.  2)  *) ;  niemand  kann  mich  irre  machen ; 
was  schiert  mich  der  Hass  der  Bösen?  (Str.  3);  den  Fälscher  des  Rechts  erkennt 
man  leicht,  wenn  man  nur  aufmerkt,  wie  falsch  er  persönlich  ist 3)  (Str.  6) ;  wer 
sich  einbildet,  tiefer  unde  vorebaz  als  ich  zu  lehren  aller  Welt  zu  Beifall,  der 
plant  Unmögliches  (Str.  7) ;  mögen  mich  selbst  die  Gescheitesten  angreifen,  so  ist 
mir  doch  de  wärheit  lunt  mit  wirt  min  volge  grbz  zu  lefi,  d.h.  der  Wahrheit  und 
des  Sieges  bin  ich  sicher  (Str.  8) ;  die  Ueberzeugung  „ich  kann  und  werde  nicht 
aller  Welt  zu  Gefallen  reden,  denn  Gott  hat  Böse  und  Gute  geschieden,  und  es 
geht  über  mein  Vermögen,  alle  Leute  vernünftig  zu  machen"  (Str.  9. 10.  1)  ist  hier 
der  Grundton  einer  fast  trotzigen  Selbstsicherheit.  Wirklich  neue  Tatsachen 
oder  Gedanken  bringen  die  Strophen  sonst  nicht:  in  ihren  mancherlei  Vorwürfen 
und  Bildern  löst  sich  immer  wieder  nur  die  eine  Empfindung  des  beleidigten  und 
dadurch  verhärteten  Selbstgefühls  aus,  die  himmelweit  absteht  von  dem  belehrbar 
bescheidenen  Stolze  der  Reimpaare.  Zu  grösserem  Zusammenhange  kommt  es 
nirgends;  die  Strophen  sind  geradezu  gedankenarm;  um  so  frappanter  ist  ihre 
stilistische  Ueberlegenheit  über  Eikes  frühere  Vorrede.  Was  war  geschehen, 
das  eine  so  radikale  Veränderung  in  der  geistigen  Verfassung  des  Autors  her- 
vorgebracht hatte  ? 

Die  seit  Homeyer  übliche  Erklärung,  das  Schicksal  seines  Werkes  sei  dem 
Autor  zu  Herzen  gegangen  und  er  habe  daher  diese  aggressive  Vorrede  einer 
neuen  Ausgabe  beigegeben,  befriedigt  mich  nicht.  Sollte  der  Erfolg  des  Sachsen- 
spiegels nicht  von  je  her  die  Tadler  in  den  Schatten  gestellt  haben?  Dass  Eike 
gegen  die  irrere  empfindlich  war,  lassen  freilich  auch  die  Reimpaare  ahnen:  aber 
auch  an  den  erregtesten  Stellen  spricht  ein  anderer  Mann  aus  ihnen  als  aus  den 
Strophen,  und  ein  litterarischer  Neuling,  der  beim  ersten  besten  Angriff  das 
Gleichgewicht  verliert,    war    doch   schon   der  Autor  der  Reimpaare   nicht  mehr: 


1)  Das  einzige  üch  V.  40. 

2)  Vgl.  Otto  des  Raspen  Beiial  665  ff.  (Schönbach ,  Miscellen  aus  Grazer  Hss.  S.  39) :  toildu 
die  rechtpüch  pas  verstau,  so  scholtu  mer  ze  schule  gän. 

3)  Hinter  V.  42  muss  Komma,  hinter  43  Semikolon  stehn ;  ivie  recht  daz  er  sehen  si  ist  indi- 
recte  Frage,  abhängig  von  merke  V.  41;  das  lehrt  schon  das  wie  V.  43  neben  dem  svie  V.  26.  113. 
Die  Handschrift  scheidet  swer  und  wer  noch  streng:  weme  lieb  weme  leit  V.  126.175  ist  elliptische 
Frage;    vgl.  Gramm.  IV2,  1311.  p 


8  GUSTAV    ROET  HE, 

lag  doch  mindestens  die  lateinische  Ausgabe  seines  Rechtsbuchs  bereits  hinter 
ihm.  Und  weiter:  ist  Praefatio  I  die  Vorrede  einer  zweiten  Ausgabe,  wie  selt- 
sam, dass  wir  sie  nicht  in  einer  Handschrift  allein  erhalten  haben !  Die  moderne 
Unsitte,  auch  in  neuen  Auflagen  die  Vorreden  der  alten  immer  mit  abzudrucken, 
darf  doch  nicht  ohne  Weiteres  ins  .13.  Jahrhundert  zurückgetragen  werden,  am  we- 
nigsten hier,  wo  sich  die  beiden  Vorreden  formell  scharf  von  einander  sondern, 
inhaltlich  jedesfalls  nicht  vertragen,  teils  weil  sie  zu  ähnlich,  teils  weil  sie  zu 
unähnlich  sind. 

Der  Ausweg,  die  erste  Vorrede  einem  andern  Verfasser  zuzuweisen,  ist 
nicht  neu:  schon  Homeyer  erwog  die  Möglichkeit,  wies  sie  aber  (Landr.  S.  51) 
ab  aus  der  Erwägung,  dass  „wohl  nur  der  Verf.  selber  die  Schicksale  des  Wer- 
kes so  tief  zu  empfinden  und  nach  allen  Seiten  hin  darzustellen  vermochte". 
Dieser  Grund  zwingt  mich  umso  weniger,  als  ich  eine  allseitige  Darstellung  jener 
Schicksale  in  den  Strophen  durchaus  nicht  zu  sehen  vermag  :  sie  sind  eminent 
einseitig.  Dass  ein  Nachdichter  im  Namen  eines  berühmten  Autors  redet,  be- 
fremdet im  Mittelalter  garnicht:  wie  oft  ist  Wolframs  Name  gemisbraucht  worden! 
Und  dass  ein  temperamentvoller  Bewunderer  des  Sachsenspiegels,  gereizt  durch 
irgend  welche  Angriffe,  nun  im  Anschluss  an  Eikes  echte  Vorrede  den  beschei- 
denen Stolz  des  Autors  zum  schroffsten  Selbstgefühl  übertrieb,  hat  nichts  Un- 
begreifliches, nein,  grade  diese  Uebertreibüng  würde  dem  autoritätsfrohen  Epi- 
gonentum entsprechen ;  die  Verbindung  von  Gedankenarmut  und  stilistischer 
Kraft  würde  sich  gut  so  erklären.  Aber  zwingend  ist  auch  das  nicht.  Wer 
kann  wissen,  was  Eike  etwa  zu  dieser  ersten  Vorrede  veranlasst  haben  möchte? 
Die  Entscheidung  muss  von  Momenten  hergenommen  werden ,  die  weniger  von 
Stimmung  und  unbekannten  äussern  Erlebnissen  abhängen. 

Frommhold  legt  in  einem  Aufsatz  der  Savignyzeitschrift  (26,  125  ff.),  der 
sich  in  Diesem  und  Jenem  mit  meiner  Auffassung  berührt,  besondern  Wert  dar- 
auf, dass  die  Reimpaare  eine  sehr  wohl  überlegte  und  gegliederte  Disposition 
aufweisen,  die  den  Strophen  völlig  fehle.  Nun ,  die  scharfe  Gliederung  ist  auch 
Eikes  Stärke  nicht ;  seine  Gedanken  reiht  er  sorglos  ohne  Scheu  vor  Wieder- 
holung an  einander;  Frommholds  Versuch  schärfer  abzuteilen  überzeugt  mich 
gar  nicht.  Aber  eins  ist  freilich  richtig:  die  Praefatio  II,  die  vielerlei  mitzu- 
teilen hat,  schreitet  doch  vorwärts;  die  Strophen  dagegen,  einzig  gestimmt  auf 
die  Scheltweise,  die  der  Autor  fast  mit  der  stilistischen  Routine  des  fahrenden 
und  gehrenden  Sängers  zu  singen  versteht,  springen  ab  und  kehren  zurück,  wie 
es  grade  der  Impuls  der  alles  beherrschenden  Autorempfindlichkeit  gebietet : 
sonst  sind  sie  ja  doch  stofflos.  Dieser  Unterschied  lag  teils  in  Anlass,  Thema 
und  Stimmung ,  teils  schon  in  der  Form  :  die  strophische  Dichtung  ist  mehr  zu 
Sprüngen  genötigt  als  die  laufenden  Reimpaare1).  Verschiedenheit  des  Dichters 
lässt  sich  von  dieser  Betrachtung  aus  nicht  erweisen. 


1)  Frommhold  ist  gegen  die  Strophen  gradezu  ungerecht,    wie  er  anderseits  Eikes  künstleri- 
sche Leistung  überschätzt.     Die  Vorwürfe,  die  er  der  Praefatio  I  macht,    beruhen  zum  guten  Teil 


DIE    KEIMVORRKUEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  9 

Weit  gewichtiger  scheint  mir  <in  Andres.  Auch  Eike  ist  bi  1  d  1  icher  Rede 
nicht  grade  abhold.  Schon  der  Titel  seines  Werkes  „Spiegel  der  Sachsen"  w.ir 
ein  Bild,  das  er  in  der  Praefatio  II  erklärt  (V.  178  182) ;  wenn  er  dann  frei- 
lich noch  weiter  damit  spielt  CV.  188),  so  löst  er  durch  das  anschaunngslose  Wort- 
spiel sein  Bild  selbst  unglücklieb  auf.  Weit  besser  gerät  der  tiefsinnige  Ver- 
gleich seines  Wissens  mit  einem  Sehatz,  den  er  nicht  in  der  Erde  vergraben, 
sondern  aller  Welt  zu  Gute  kommen  lassen  will  (V.  155  ff.),  und  auch  der  Ver- 
gleich des  Kupferstücks,  das  als  Silber  gelten  soll,  mit  dem  unechten  Hecht  ver- 
läuft glatt  (V.  "249  ff.) ;  wenn  solch  eine  falsche  Rechtsschrift  des  tübeles  hantveste 
heisst  (V.  242).  so  war  das  für  Eike  kaum  ein  Bild;  auch  die  uralte  Parallele 
zwischen  Menschenleben  und  Tageszeiten  (V.  192  f.)  hat  er  kaum  mehr  so  em- 
pfunden. Allen  diesen  Bildern  gemein  ist,  dass  eine  einfache  Gleichsetzung  zu 
Grunde  liegt:  spigel  der  Saxen  sal  diz  buch  sin  genant;  kunst  ist  ein  edel  scheut; 
unrecht  ivirt  ivol  behaut  ah  ein  kopperpenning  ;  die  weitre  Ausmalung  ist  dann  erst 
der  zweite,  mehr  oder  weniger  geglückte  Schritt.  —  Ganz  anders  bildert  der 
Dichter  der  Praefatio  I.  Er  sieht  lebende  Wesen,  meist  sich  selbst,  in  einer  be- 
stimmten Situation,  meist  in  einer  Tätigkeit:  ich  zimmere  am  Wege  (V.  1);  ich 
habe  nützliche  Pfade  gebaut,  an  denen  leider  Viele  vorbeigehn  (V.  3  f.) ;  ich  bin 
ein  gehetztes  Wild,  das  die  Hunde  anbellen  (V.  h9  f.) ;  wer  mit  mir  in  die  Wette 
liefe,  würde  sich  als  blosses  meisierltn  erweisen  (V.  95);  der  Vogel  singt,  wie  ihm 
der  Schnabel  gewachsen  ist  (V.  47  f.»;  ein  Narr,  wer  das  Wasser  schilt,  weil  er 
nicht  schwimmen  kann!  (V.  12  lf.).  Der  Gegensatz  ist  tief  und  ausnahmslos,  er 
weist  auf  eine  Verschiedenheit  der  Phantasie  hin;  dass  es  sich  in  beiden  Vor- 
reden gutes  Teils  um  traditionelles  Gut  handelt,  mindert  die  Beweiskraft  kaum. 
Die  erste  Praefatio  ist  obendreiu  der  andern  schon  in  der  Zahl  ihrer  Bilder 
überlegen,  obgleich  sie  nur  die  Hälfte  ihres  Umfanges  besitzt. 

Gleich  das  zweite  dieser  Bilder  knüpft  an  eine  Stelle  der  Praefatio  II  an: 
heisst  es  V.  3  ich  have  bereitet  nütze  Stege,  dar  manich  bi  beginnet  f/än ,  so  hat  der 
Dichter  damit  lediglich  Eikes  Wendung  swer  büzen  miner  lere  gät  (V.  133)  von  der 
Phrase  zu  einer  Anschauung  erhoben,  die  Eike  selbst  eben  nicht  besass.  Das  kenn- 
zeichnet Zusammenhang  und  Verschiedenheit.  Der  Dichter  der  Praefatio  I  kannte 
II    sehr    genau   und    benutzt   sie    ausgiebig.     Eine    derartige    Selbstcitirung 


auf  Misverständnissen.  Der  Gedankengang  von  Str.  3  ist  völlig  deutlich:  „In  meinem  Tun  und 
Lassen  soll  mich  Niemand  beirren;  denn  was  kümmert  mich  ungerechter  Neid?  Anderseits  gönn 
ich  Jedermann  alles  gerechte  Gut  und  Glück.  Wollte  sich  nur  alle  Welt  mit  dem  gerechten  Gut 
begnügen  und  auf  ungerechtes  verzichten  !k'  Daran  knüpft  Str  4  an,  wo  man  natürlich  valschen  mui 
einzig  verstehn  darf  als  „falsche  Gesinnung":  Frommholds  Erklärung  scheint  mir  sprachlich  und 
inhaltlich  verfehlt.  V.  33  ff.  beziehen  sich  auf  die  Leute,  die  lärmend  die  rechte  Lehre  Kikes  ver- 
schreien wollen:  dass  er  sich  zur  Selbstverteidigung  auf  seine  Quelle,  die  Tradition  der  Vorfahren, 
beruft,  ist  damit  vollkommen  motivirt.  Auch  zwischen  V.  49 — 51  und  57—60  besteht  kein  Wider- 
spruch; der  Verfasser  lässt  keinen  Zweifel,  dass  er  auch  an  der  ersten  Stelle  es  für  wenig  wahr- 
scheinlich hält,  dass  Jemand  tiefer  unde  vorebaz  rede  als  er:  die  scheinbare  Aufforderung  mündet 
darin  aus,    dass  sie  ad  absurdum  führt;    schon    das  übertreibende  manlich  V.  49  verrat  den  Huhn. 


Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Götüngen.     Phi  l.-hist.  Kl.     H.  F.   Band  2,  s.  2 


£ 


10 

wäre  nicht  unbedingt  gegen  Eikes  Art:  schon  Homeyer  (I  S.  52  der  3.  Ausgabe) 
hat  bemerkt,  dass  Eikes  Verse  141-150  fast  wörtlich  zu  dem  Prosaprolog  (Hom. 
I  S.  136)  stimmen ;  loser  berühren  sich,  was  Stobbe  sah  (Rechtsq.  I  *^95  Anm.  9), 
V.  113  ff.  und  andre  Stellen  in  Gedanken  oder  Ausdruck  mit  Lehnrecht  78  §  2  x) ; 
auch  die  unerheblichen  Wiederholungen,  die  Praefatio  II  in  sich  selbst  aufweist2), 
seien  nicht  vergessen.  Aber  die  Abfassung  der  Prologe  und  der  Schlussstücke 
des  Lehnrechts3)  mag  sich  zeitlich  nahe  stehn,  was  für  die  beiden  Versvorreden 
undenkbar  ist;  auch  ist  es  doch  etwas  Andres,  ob  einmal  Vers  und  Prosa  zu- 
sammenklingen oder  ob  ein  Reimprolog  den  andern  ausschreibt.  Was  aus  Eikes 
Feder,  zumal  wenn  er  die  erste  Praefatio  der  zweiten  einfach  vorzuschreiben 
dachte ,  ein  arges  Armutszeugnis  wäre ,  wird  bei  einem  Dichter,  der  in  Eikes 
Namen  dichten  will,  die  naive  Stütze  der  Fiction.  Und  er  verfährt  dabei  nicht 
ungeschickt  oder  plump.  Eikes  beiläufiger  Stossseufzer  V.  122  iF.  daz  recht  nieman 
leren  kan,  daß  den  täten  allen  künne  ivol  gevallen  wird  als  das  Leitmotiv  der  Prae- 
fatio I,  wie  billig,  wiederholt  variirt,  zumal  V.  54  nieman  den  lüten  allen  zu  danke 
levete  noch  ne  sprach  und  fast  wörtlich  ebenso  65  allen  lüten  ich  nekan  zu  danke 
sprechen  noch  ne  sol ,  beidemal  ohne  ängstliche  Anlehnung  an  das  Vorbild.  Die 
Verse  151  ff.  diz  recht  hän  ich  selve  nicht  ir dächt ,  iz  haben  von  aldere  an  unsich 
brächt  unse  gute  vorevaren  entlehnt  der  zweite  Dichter  freilich  ziemlich  wörtlich 
V.  36 :  diz  recht  habent  von  alder  zit  unse  vorderen  her  gebrächt ;  aber  die  erste 
Zeile  überträgt  er  doch  ins  Positive  umgekehrt  auf  den  Gegner :  iven  selve  hat 
erz  underdächt.  Eine  ähnliche  Umwendung  erfuhr  die  gegen  den  irrere  gerichtete 
Bemerkung  108  manich,  ob  er  künde,  gerne  scaden  tele;  die  Praefatio  I  sagt  bestimm- 
ter (V.  44):  so  ne  kan  er  scaden  mir  nicht  vil.  Die  Worte  manich,  ob  er  künde, 
klingen  dann  gleich  darauf  nach  V.  49  nu  spreche  manlich,  ob  er  müge,  tiefer  ande 
vorebaz,  denne  ich  hän;  sie  leiten  zu  einem  Gedanken  über,  der  die  ehrliche  Pa- 
rallelaufforderung Eikes  V.  146  f.  ins  Ironische  wendet 4).  —  Befremdlicher,  aber 

1)  V.  113  swie  unrecht  daz  si  der  man,  kan  er  sich  des  verstän,  daz  im  recht  mach gevromen, 
hm  ers  denne  bekomen ,  gerne  er  des  genüzet ;  ....  unde  dünket  seiden  gut  recht,  sivar  it 
scaden  tut;  dazu  Lehur.  78  §  2  wende't  n'is  nieman  so  unrecht,  it  ne  dünke  ine  unbillik,  of 
man  ime  unrechte  dit.  Weiter  dort  im  Lehnr.  er  man  die  lüde  des  in  künde  bringe,  war  an 
man  unrechte  dö;  ähnlich  Praefatio  215  wie  her  die  lüte  gemeine  .  .  .  rechtes  brechte  in 
künde,  unrecht  verlegen  ebda,  im  Lehnrecht  und  Praefatio  254;  recht  bescheiden  ebda, 
und  Praefatio  147;  an  recht  leeren  ebda,  und  Praefatio  210. 

2)  iceme  lieb  weme  leit  126.  175;  alle  lüte  mane  ich  darzö  141.  183;  vgl.  noch  99  und  215, 
128  und  142,   102  und  210,  264  und  277  u.  a. 

3)  Das  Lehnrecht  erscheint  in  den  Handschriften  bekanntlich  nicht  selten  als  4.  oder  als  4.  und 
5.  Buch  des  Spiegels  oder  sonst  als  unmittelbare  Fortsetzung  des  Landrechts:  wol  möglich,  dass 
Eike  selbst  es  so  meinte  und  die  Praefatio  erst  schrieb,  als  er  auch  mit  dem  Lehnrecht  fertig  war. 

4)  Auch  einige  unerhebliche  Uebereinstimmüngen  seien  noch  verzeichnet.  Das  Reimwort  sän 
V.  lü  kann  aus  Praefatio  II  V.  121  stammen;  der  Reim  aleine :  deine  V.  22.  24  aus  V.  173.  174 
(auch  die  gire,  der  girege  in  beiden  Reimpaaren)  ;  die  Wendung  swie  .  daz  er  si  V.  2(3.  43  gemahnt 
an  V.  113;  recht  verkeren  steht  V.  33  und  137,  recht  sin  V.  43  und  139;  das  Recht  missehaget 
oder  behaget  V.  68  und  197;  so  Hesse  sich  noch  dies  und  jeues  anführen,  was  beweist,  wie  Eikes 
Reimpaare  dem  Dichter  der  Strophen  im  Sinne  lagen. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS  11 

sehr  charakteristisch  ist  das  Verhältnis  der  Vv.  81 — 85  zu  225  f. ;  wol  fürchtet 
Eike,  daz  manich  man  .  .  zie  des  (unechter  Zusätze)  ane  mich]  aber  er  tröstet 
sich:  so  iveiz  mich  got  unscüldich.  Wie  viel  schwächer  die  Selbstbernhigung  des 
ersten  Prologs:  mich  ziet  manich  man  durch  haz  worte,  der  ich  nie  gewuch ;  .  .  .  so 
is  der  lüte  doch  genück,  die  wich  unsculdich  wiesen  wol.  Eike  verlässl  sich  auf 
Gott,  der  zweite  Dichter  auf  die  Leute:  ist  Eike  eine  solche  Selbstparodie  ins 
Niedrige  zuzutrauen?  Er  wäre  gradezu  moralisch  heruntergekommen.  Nun, 
auch  das  ist  möglich.  Aber  entscheidend  scheint  mir  die  Beziehung  der  Vv.  1  V  ff. 
zu  131  f.  Eike  verlangt  da  von  dem  Rechtskundigen,  dasa  er  Niemandem  das 
wirkliche  Recht  vorenthalte,  weme  lieh  weme  leit ,  ivcme  scade  oder  vrome  immer 
dar  nach  kome:  er  soll  rechtsprechen,  die  ni/e  er  sprechen  wille  oder  er  swige  stille] 
wenn  er  nicht  unparteiisch  zu  raten  und  zu  urteilen  den  Mut  hat  oder  wenn 
ihm  die  Kenntnisse  fehlen ,  dann  soll  er  wenigstens  schweigen.  Diese  zweite 
Möglichkeit  ist  natürlich  nur  ein  Notausgang  iür  den  Mutlosen.  Der  Dichter  der 
ersten  Praefatio  hat  das  anscheinend  falsch  aufgefasst.  Er  lässt  Eike  sagen:  ich 
steige  oder  h<dde  rechten  stuf,  mewan  daz  irwenden  lan  :  „mich  soll  Niemand  irre 
machen,  ob  ich  nun  schweige  oder  das  Recht  bekenne".  Hier  ist  mir  die  stolz 
ausgesprochene  Alternative  des  Schweigens,  das,  schwächlich  wie  es  wäre,  grade 
Eike  niemals  ziemte,  nur  so  begreiflich,  dass  der  Dichter  die  Aufforderung  „oder 
er  swige  stdle"   V.  132  als  bedingungslos  aufgefasst,    also  misverstanden  hatte.  — 

Den  inhaltlichen  oder  stilistischen  Kriterien,  die  den  Prolog  I  von  Eike  los- 
lösen, reihen  sich  metrische  und  sprachliche  ergänzend  an:  beide  zum  Beweis 
unentbehrlich,  weil  sie  durch  die  uncontrolirbaren  Zufälligkeiten  des  individuellen 
Lebens  nicht  ganz  so  unmittelbar  betroffen  werden  wie  jene. 

Eike  schrieb  seine  Praefatio  in  Reimpaaren  von  mannigfaltiger  Tactfüllung. 
Der  erste  Prolog  zeigt  achtzeilige  Strophen,  die  gekreuzte  Reimstellung  (a  b  a  b 
c  d  c  d)  und  scharfe  Trennung  des  stumpfen  Reims  (1:3;  2:4;  5:7)  vom  klingen- 
den (6:8)  aufweisen;  der  künstlicheren  äusseren  Form  entspricht  eine  saubere 
Gleichmässigkeit  der  Tactfüllung,  von  der  die  zweite  Vorrede  sich  scharf  abhebt. 
Hotneyer  u.  A.  haben  sich  diesen  Unterschied  so  zurecht  gelegt,  dass  sie  in  Prae- 
fatio I  starke  technische  Fortschritte  über  die  Anfängerversuche  des  II.  Prologs 
sahen.  Das  ist  so  nicht  richtig:  Eikes  Praefatio  steht  der  frühepischen  Technik 
Veldekes  und  Hartmanns  nahe,  die  Strophen  wandeln  die  Bahnen  der  reifen 
Kunstlyrik:  nicht  Stümper  und  Meister  scheiden  sich  da,  sondern  zwei  verschie- 
dene metrische  Stilformen :  im  metrischen  Modejargon  würde  man  Eikes  Verse 
wol  als  dipodisch,  die  der  Strophen  als  monopodisch  gebaut  bezeichnen1);  ich 
scheide  sie  als  Verse  von  freier  und  von  gleicher  Tactfüllung. 


1)  Der  Ausdruck  „monopodisch"  ist  unschädlich.  Dagegen  kann  ich  es  nur  bedauern  ,  dass 
„dipodisch"  in  weiter  Ausdehnung  zum  Terminus  technicus  zu  werden  droht.  Ich  stimme  Heusler 
uneingeschränkt  darin  zu,  dass  in  deutscher  Metrik  nur  der  Typus  1  .  3  (Sievers  A)  die  Bezeichnung 
„dipodisch"  verdient;  ich  bezweifle  anderseits  nicht,  dass  dieser  Typus,  so  hoch  man  seine  Be- 
deutung einschätzen  mag,  im  altdeutschen  Verse  der  historischen  Zeit  nirgend  ausschliesslich 
herrscht.     Schon  darum  misfällt  mir  der  Ausdruck.     Schlimmer  aber  ists,  dass  man  neuerdings  die 

8 


12  GUSTAV    ROETHE, 

Die  strophische  Vorrede  lässt  Hebung  und  Senkung  mit  reinster  Regel- 
mässigkeit wechseln1).  Niemals  scheint  eine  Senkung  zu  fehlen;  auch  V.  36 
und  43  möeht  ich  lieber  lesen  die  recht  hdbent  und  wie  recht  däz ,  als  dass  ich 
hinter  recht  die  Senkung  entbehrte;  es  müsste  denn  Eikes  vorbildliches  Vor- 
wort, in  dem  grade  hinter  recht  die  Senkung  wiederholt  ausbleibt,  hier  gute 
Sitten  verderbt  haben.  Der  Auftact  fehlt  unbedenklich,  im  Fortschritt  der 
Dichtung  immer  häufiger :  in  den  ersten  beiden  Strophen  vermeidet  der  Dich- 
ter auch  diese  Freiheit.  Von  den  16  auftactlosen  Versen  sind  nur  2  klingend. 
Man  kann  durchaus  nicht  sagen,  dass  gewichtiger  Verseingang  die  Auftact- 
losigkeit  rechtfertigte:  in  der  Hälfte  der  Fälle  (36.  37.  43.  68.  74.  79.  90.  94) 
setzt  die  auftactlose  Zeile  schwächlich  ein ;  die  enge  syntaktische  Verbin- 
dung zweier  Verse  mag  namentlich  V.  82,  etwa  auch  37.  50.  79.  94  mitspielen.  — 
Zu  starke  Tactfüllung  zeigen  die  Vv.  47  singet  als,  73  bringen  an,  93  wcenet 
ein;  es  ist  gewiss  kein  Zufall,  dass  in  allen  3  Fällen  das  folgende  Wort  voca- 
lisch  beginnt;  ich  nehme  für  singt  und  ivcent  unbedenklich  Synkope  an;  in  V.  73 
liegt  die  Umstellung  bringen  künde  vielleicht  näher.  —  Die  Worte  der  Form  uX 
werden  meist  als  Auflösung  gebraucht:  (ver)nemen  16,  mane(yen)  2.'  57.  61.  93, 
lüyenilich)  88,  saget  1,  (be)hage[te)  68,  rede  33,  leve(te)  55,  habent  36,  have  3  (wenn 
man  nicht  liän  lesen  will),  mite  40,  (here  37).  in  der  eisten  Senkung  oder  17. 
Dazu  mindestens  9  Fälle  im  Reim  :  ivege  :  siege  1:3,  'verneinet  :  nrissczemet  9  :  11, 
müge  :  tilge  49  :  51,  gere  :  here  61  :  63,  (wilt  :)  hevüt  91.  Von  den  ursprünglich  zwei- 
silbigen Formwörtchen  auf  Liquida  und  Nasal,  wie  wil,  vil  (wil :  vil  33  :  35.  42  :  44), 
ivol  (:  sol  68.  85),  vor,  dar,  in,  im,  dem  u.  ä. ,  die  meist  unbedenklich  auch  in  der 
Senkung  stehn  und  dadurch  die  vollzogene  Einsilbigkeit  wahrscheinlich  machen, 
seh  ich  dabei  ganz  ab.  Dem  gegenüber  ist  der  tactfüllende  Gebrauch  jener  Worte 
etwas  seltener :  dreimal  manich  (4.  25.  81  ,  wo  überall  die  Möglichkeit  besteht, 
dass  maniger  gemeint  ist),  sichrer  unbereu  21,  vorebaz  50,  vogel  47,  betrogen  64, 
pldcgen  87,  senden  44,  haven  23,  lesen  15,  fünf  von  diesen  8  Fällen  in  dem  mit 
leichterer  Füllung  zufriedenen  dritten  Tacte.  —  Es  stimmt  zu  dieser  sich  der 
Silbenzählung  nähernden  Technik,  wenn  einige  leichte  Tonverschiebungen  vor- 
kommen: im  Eingang  die  schon  erwähnten  Fälle  36.  43;  im  Innern  unrechten 
19.  34,  üfbringen  42.  —  Hiatus  wird  anscheinend  gemieden. 

Bezeichnung  „dipodisch"  nicht  selten  schon  da  verwendet,  wo  man  lediglich  bunte  Tactfüllung,  zumal 
fehlende  Senkungen,  constatirt  hat.  So  gebraucht  verquickt  dies  Wort  Fragen  der  Tactfüllung  mit 
einer  Theorie,  die  man  schon  darum  streng  aus  der  Terminologie  fern  halten  sollte,  damit  der 
Terminus  nicht  die  Theorie  mit  einschleppe.  Davon  ist  bei  Kike  keine  Rede,  dass  sich  regelmässig 
2  Hebungen  über  die  andern  erhöben;  er  hat  oft  mir  ein  überragendes  Wort,  zuweilen  auch  drei. 
1)  Homeyers  Text,  der  lediglich  eine  Hs.  zweiton  Hanges  abdruckt,  zeigt  das  nicht  mit  voller 
Deutlichkeit.  Ich  bemerke  namentlich,  dass  die  zweite  Negation  uc  wiederholt  (V.  5.  8.  9.  16.  27. 
44.  53.  82)  zu  entfernen,  dass  unt  stets  einsilbig  zu  iesen  ist,  dass  endlich  die  Endungen  -ere,  -eine, 
-den  u.  ä.  nur  je  eine  Silbe  vertreten;  ferner  empfiehlt  es  sich  wol  zu  lesen  V.  il.  47  im,  V.  12 
wen,  V.  20  ieiceme,  V.  51  söz,  V.  83  liezc  er  däz,  was  ich  dem  Hiatus  lieze  erz  vorziehe.  Die  sonder- 
baren, aber  grade  unter  den  Germanisten  nicht  ganz  selte.nen  Käuze,  die  auch  für  derartige  Äendeiun- 
gen  nach  handschriftlicher  Gewähr  lechzen,  werden,  wenn  ich  nach  der  II.  Praefatio  urteilen  darf, 
die  ich  aus  mehr  Handschriften  kenne,  das  Meiste  auch  aus  irgend  einem  Pergamen  belegen  können. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  13 

Das  metrische  Gesamtbild  der  ersten  Praefatio  ist  sehr  einheitlich :  die  recht 
gleichartige  Tactfüllung,  die  sich  von  der  Normalform  -l.x  nur  geringfügig, 
etwas  mehr  nach  oben  (Jux)  als  nach  unten  (J  x)  entfernt,  hat  zu  einem  fast 
regelmässigen  Wechsel  von  Hebung  und  Senkung  geführt,  in  den  nur  der  Auf- 
tact  nicht  hineingezogen  wurde. 

Eikes  Verse  stehn  dazu  im  denkbar  schroffsten  Gegensatz.  Aber  grade 
darum  ist  ihre  metrische  Charakteristik  weit  schwieriger,  zumal  auf  Grund  von 
Homeyers  unbefriedigendem  Text.  Die  Praefatio  I  corrigirt  sich  aus  sich  selbst; 
wer  möchte  das  bei  Eikes  freier  Manier  aus  dem  kurzen  Stücke  heraus  wagen  ? 
Die  Praefatio  I  hat  durch  ihren  deutlichen  Bau  auch  die  Schreiber  eher  im 
Zaume  gehalten ,  als  Eikes  mehrdeutige  Verse  das  konnten.  Homeyers  dürftige 
Varianten  und  was  mir  sonst  von  handschriftlichem  Material  zugänglich  war, 
geben  keine  ausreichende  Grundlage  für  eine  kritische  Herstellung.  So  muss 
ich  wol  oder  übel  an  den  von  ihm  abgedruckten  Text  anknüpfen,  den  von  mir 
benutzten  Handschriften  nur  kleine  Aenderungen  entnehmend *).  Wie  grund- 
verschieden der  Versbau  der  beiden  Prologe  ist,    das  wird  auch  so  klar  werden. 

Die  erste  Praefatio  kennt  nur  die  Formen  :  vierhebig  stumpf  oder  dreihebig 
klingend.  Bei  Eike  sind  auch  die  beiden  alten  Nebenformen  der  Kurz- 
zeile, dreihebig  stumpf  und  vierhebig  klingend,  jene  vielleicht,  diese  bestimmt 
vorhanden.  Die  Form  3  könnte  vorliegen  213  das  niemännes  mü't,  wo  allerdings 
die  Handschriften  Cz  Dtf  lesen  das  nu  nenes  (ny  keines)  mannes  müt  und  auch  ein 
Accent  auf  das  nicht  ganz  ausgeschlossen  ist ;  zwingender  205  ob  er  an  in  dein  {che 
er??)  und  268  dö'  er  aber  vornäm,  beides  sehr  hässliche,  unrhythmische  Verse,  die 
vielleicht  doch  verderbt  sind.     Dagegen  rechne  ich  V.  265  dis  bü'ch  durch  si'ne  bete 

1)  Ich  lese  101  got  (das  metrisch  erwünschte  also  einiger  Handschriften  ist  vielleicht  nur  Nach- 
besserung); 109.  117  streiche  ich  vil,  1 10  nu,  222  sere,  alles  wol  nur  Flickworte,  die  aus  metrischem 
Anstoss  hervorgiengen  ,  auch  wiser  209,  das  den  Gegensatz  von  vil  209  und  eine  211  abschwächt, 
ist  mir  verdächtig;  106.  172  scheint  meret  besser  bezeugt  als  gemeret;  111  jedesfalls  iclich  (nur  Aq 
zeigt  dreisilbige  Schreibung);  115  lese  ich  gevromen  (so  Aq  Bv  Cz  Eb,  also  alle  Handschriften, 
die  ich  für  diese  Stelle  einsehen  konnte);  118  in;  122  leren  kan  (Aq  Bv  Eh);  125  understeü; 
133  miner  (Aq  Bv  Cz) ;  134  spricht  (Bv  Cz  Eb);  151  recht  hän  (Aq  Bv  Cz  Da  Eb);  irddeht 
(Aq  Bv  Da  Eb,  bedächt  Cz  ;  der  Dichter  der  Praefatio  I  hat  freilich  under dächt  geschrieben,  viel- 
leicht auch  gelesen);  152  vielleicht  brächt,  wie  260  nach  Aw  Cz,  274  nach  Aw  Eb,  an  allen 
drei  Stellen  Bv  (das  unsich  V.  138.  189  und  hier  möcht  ich  nicht  antasten,  obgleich  uns  in  den 
Handschriften  zu  überwiegen  scheint);  180  wen  (meist),  so  auch  209;  182  schouwen  (Aqw  üv  Cz 
Da);  185  zun  eren  (Aqw  Bv  Cz  Eb ;  D<?  weicht  anders  ab),  danach  wol  auch  2  IS  rar  zur  helle, 
189  zur  erde;  187  nicht  rüice  (meist);  207  albahle  (immer,  wo  nicht  nur  balde  steht);  211  den 
(meist);  225  Und  z.  d.  ane  (Aq  Bv) ;  227  wol  be-  oder  getriegen ;  228  weiz  ouch  (oder  wol)  duz 
(wetz,  icet  Aw  Bv  Cz  Da;  ouch,  6k  Aq  Bv  Cz  Eb  ,  wol  Aw  Da) ;  250  an  oder  in?  (in  Aq  Bv 
Cz  Da);  251  röter  (meist);  267  aber  fehlt  Aqw  Cz  D<y,  es  stammt  wol  aus  268.  Formen  wie  deme 
u.  ä.  betrachte  ich  in  der  Senkung  auch  hier  stets  als  einsilbig,  her,  er  behandle  ich  als  vocalisch 
anlautend.  —  Ich  bin  mir  wol  bewusst,  dass  sich  auch  gegen  eine  so  bescheidne  Ausnutzung  meiner 
halb  zufälligen  Kenntnisse  der  handschriftlichen  Lesung  methodisch  viel  einwenden  lässt:  die  Un- 
zulänglichkeit des  Homeyerschen  Apparats  ermöglicht  mir  kein  besser  gesichertes  Vorgehu,  und 
ich  werde  weiterhin  auch  bei  gewichtigeren  Momenten  nicht  anders  verfahren  können.  Dies  ein  für 
alle  Mal!  ß 

2  4    * 


14  GUSTAV    ROETHE, 

schon  darum  nicht  hierher,  weil  bete  :  tete  von  Eike  vielleicht  als  klingender  Reim 
gebraucht  wurde  (s.  u.).  —  Die  Form  4u  ist  gesichert  durch  die  zusammenhän- 
genden Reimpaare  145 — 150,  wo  mindestens  V.  148  nu  sc't  daz  üch  niemannes 
Hebe  noch  leide  jede  andere  Lesung  ausschliesst ;  er  verbindet  mit  der  ausgedehn- 
ten Gestalt  noch  besonders  starke  Tactfüllung.  V.  171  —  174  hätten  wir,  wenn 
wir  nur  drei  Hebungen  messen  ,  viermal  hinter  einander  den  sonst  nicht  sehr 
häufigen  doppelten  Auftact  anzunehmen.  Von  den  Vv.  199 — 203  legen  199  und 
ivcge  de  säche  an  si'nem  sinne  und  201  unde  ervrä'ge  sich  mit  wi'sen  lü  ten  die  Vier- 
hebigkeit  dringend  nahe,  die  beiden  andern  sind  ihr  wenigstens  günstig.  Dass  ein- 
zelne Verspaare  oder  gar  einzelne  Verse  so  zu  messen  seien,  davon  hab  ich  mich 
nicht  überzeugen  können,  wenn  die  Möglichkeit  auch  hier  und  da  besteht. 

Die  sicher  klingen  den  Reimpaare  betragen  39,  die  sicher  stumpfen  50; 
die  sehr  hohe  Procentzahl  der  klingend  endenden  Verse*  verrät  eine  archaistische 
Art,  die  über  Hartmann  zurück  bis  in  die  Technik  Veldekes  weist1).  Nicht  mit- 
gezählt hab  ich  die  drei  Reime  bete  :  tete  235  f.  265  f.  279  f. :  alle  drei  Reimpaare 
sind  so  silbenarm,  zumal  V.  235  und  265,  dass  sie  den  Verdacht  nahe  legen, 
Eike  habe  tete  :  bete  ebenso  klingend  gebraucht  wie  109  f.  tete  :  bete.  Ist  das  rich- 
tig, so  könnte  es  den  niederdeutschen  Autor  verraten.  Im  Uebrigen  freilich  ge- 
braucht auch  Eike  die  Reime  auf  uX  als  stumpf.  Er  hat  ihrer  9  Fälle :  warnen  : 
Jcomen  115  f.,  vrome  :  home  127  f. ,  varen  :  bewaren  153  f.  229  f. ,  vare  :  spare  129  f., 
gere  :  were  269  f.,  graben  :  laben  165  f.,  missehage  :  clage  197  f.,  geveget  :  verleget  253  f., 
site  :  mite  203  f . ;  ähnlich  wie  Praefatio  I. 

Dagegen  ist  die  Verwendung  der  Worte  uX  zur  Tactfüllung  im  Vers- 
innern  bei  Eike  weit  häufiger  als  in  I:  vore  98.  153,  varen  206,  gire(ge)  173(?),  vile 
209  (?) ,  iveme  126  (zweimal).  127.  175  (zweimal) ,  vrome  176  (sogar  im  Hiat),  ime 
115(?).  161.  273,  ane  225.  267,  manich  108.  222,  wese  163,  disem,  dise  195.  231. 
232.  258,  iivel  106,  abe  172,  haben  174,  tage  192,  jegen  135,  (belegene  143,  scaden 
109.120,  sende  127  (im  Hiat!).  (ver)meden  144,  rede  196,  oder  127,  gotes  157.256; 
eine  Bevorzugung  des  dritten  Tactes  ist  nicht  wahrzunehmen.  Die  Auflösungen 
sind  weit  seltner  :  wesen  246,  (meselsucht  234?),  sament  241,  samene  260,  vare  248, 
wege  199,  abe  253,  habe  243,  aver  118.  212,  oder  132  2),  und  sie  sagen  um  so  we- 
niger, da  sie  meist  schwächste  Senkungen  neben  sich  haben  und  Eike  dreisilbige 
Tacte   auch   bei  langer  erster  Silbe   unbedenklich   zulässt.     Cx  ist  für  ihn,    wie 

1)  Zur  Ergänzung  noch  ein  Blick  auf  ein  paar  Dichter  niederdeutscher  Herkuuft:  Grade  um- 
gekehrt wie  bei  Eike  ist  das  Verhältnis  der  stumpfen  und  klingenden  Reime  bei  dem  weit  älteren 
Wernher  von  Elmendorf  (nach  einer  Untersuchung  Edw.  Schröders  dichtete  er  zwischen  1162  und  1186), 
über  dessen  Versbau  Eike  durchweg  hinaus  ist;  und  die  klingenden  Reime  überwiegen  bei  gleicher 
Zählweise  (also  ^x  stumpf  gerechnet)  sogar  noch  mehr  in  der  Gandersheimer  Chronik  (fast60°/0): 
Eberhard  war  eben  litterarisch  zurück.  Schon  bei  Eilhart  dagegen  haben  die  stumpfen  Reime  einen 
ähnlichen  Vorsprung  wie  bei  Eike,  erst  recht  bei  den  späteren,  bei  Brun  und  dem  Braunschweiger 
Reimchronisten ;  in  Bertholds  Crane,  der  allerdings  alle  andern  weit  überbietet,  betragen  die  klingen- 
den Reime  in  -den  ersten   1000  Versen  nur  noch  16  %• 

2)  im  197.  247.  253,  gar  271  werden  einsilbig  sein;  für  an  wird  die  einsilbige  Nebenform 
durch  den  Reim  103.  221  erwiesen;  haben  152,  vielleicht  auch  203  könnte  hän  meinen,  das  im 
Reim  erscheint. 

8 


DIE    REIM  VORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  15 

das  dem  Niederdeutschen  ziemt,  ein  wohlgefüliter  Tact;  sehr  viel  weniger  für 
Praefatio  I. 

Jene  dreisilbigen  Tacte,  deren  ich  ca.  3  Dutzend  zählte,  beginnen  in  der 
Regel  mit  einem  zweisilbigen  Wort,  dem  sich  ein  Präfix  oder  Formwort  anreiht. 
Die  ganze  Tactgruppe  bleibt  ungefähr  in  den  Grenzen  ,  die  auch  die  epischen 
Reimpaare  der  guten  Kunst  Hartmanns  und  Wolframs  sich  gestatten  *) ;  als  be- 
sonders gefüllt  erwähn  ich  den  Tact  tu  beles  an  245  und  mischet  zur  189.  Ob  180 
Sdxenrecht  als  erster  Tact  (nach  Auftact !)  zu  gelten  hat,  ist  nicht  sicher  (vgl.  V.  234) : 
möglich  wäre  auch  Sdxenrecht  ist  hir.  Dadurch  entstünde  freilich  ein  Dreisilber  aus 
3  einzelnen  Worten,  wie  151  recht  hän  ich,  nur  dass  180  keine  Inclination  oder 
sonstige  sprachliche  Schwächung  der  Wortkörper  zulässt,  wie  sie  151  und  leich- 
ter noch  in  andern  Fällen  sich  böte  2).  Alle  diese  Dreitacter  gehören  dem  1.  und 
2.  Tacte  an ;  der  3.  Tact  hat  drei  Silben  in  den  Normalversen  nur  146  vliz  dar 
zu  (dar?)  und  leichter  200  nä  dem  be-,  beidemal  in  der  verlängerten  Form  4u. 

Ein  paarmal  indessen  hat  Eike  nicht  nur  einen,  sondern  mehrere,  alle  Tacte 
des  Verses,  auch  den  letzten,  so  gefüllt,  dass  eine  Art  von  Schwellversen3) 
entsteht.  Das  brauchte  zunächst  nur  eine,  freilich  auch  für  Eikes  metrische  Art  be- 
sonders archaische  Technik  zu  sein.  Nun  war  aber  grade  -auf  niederdeutschem  Bo- 
den die  starke  Füllung,  die  schon  der  Heliand  liebt,  zu  Hause:  ich  erinnere  an 
die  von  hochdeutscher  Kunst  nur  flüchtig  gestreifte  Gandersheimer  Reimchronik, 
in  der  Vollverse  überwiegen  ,  die  man  oft  als  Langverse  lesen  möchte.  Spielt 
hier  eine  niederdeutsche  Neigung  herein  in  Eikes  sonst  reifere,  silbenärmere 
hochdeutsche  Schulung  ?  Jedesfalls  bewährt  er  dabei  glücklichen  Instinct.  Stark 
gefüllte  Tacte,  die  doch  für  den  Sprecher  keine  grössere  Zeit  zur  Verfügung  haben 
als  normale,  nötigen  zur  Beschleunigung  des  Tempos  und  tragen  dadurch  in  den 
Vortrag  ein  erregendes  Moment:  Niemand,  der  die  Seligpreisungen  des  Heliand 
recht  liest,  wird  sich  dieser  Wirkung  entziehen,  die  dort  noch  durch  ein  glückliches 
An-  und  Abschwellen  der  Tactfülle  unterstützt  wird.  Eikes  Schwellverse  stehen 
freilich  nicht  in  Gruppen ;  dafür  trägt  jeder  seinen  auszeichnenden  Charakter  an 
der  Stirne.  Besonders  deutlich  am  Eingange  des  schönen  Gleichnisses  vom 
Schatze  der  grosse  Vers  159 :  Jcünst  ist  ein  edel  schätz  und  also  getd'n  •  jeder  Kür- 
zungsversuch wäre  hier  vom  Uebel.  Auch  für  die  dringliche,  im  Prosaprolog 
wiederholte  Mahnung  V.  148  nu  se't  daz  üch  niemannes  li'be  noch  leide  (blende)  war  die 

1)  Nicht  dreisilbig  nach  Eikes  Sprache  sind  wol  Fälle  wie  brichet  der  136,  siget  der  194, 
Nicket  sin  251,  höret  iz  121  ;  überall  zulässig  auch  lüte  ge-  215,  ende  be-  255,  sinne  der  162,  alle 
de  230;  wenig  schwerer:  alder  an  152,  werben  an  231,  rechtes  in  118;  lüte  man  141.  183,  mische 
zu  258,  wize  wirt  253,  werde  mit  241,  Eike  von  266;  härter  under  der  155  (lies  underr?) ,  halven 
de  157,  Spiegel  de  181,  (pennjingen  de  252(?),  (arjbeites  und  279  (?),  Aren  nicht  185.  Für  den  sehr 
schweren  Tact  dennoch  wirt  249  ist,  da  er  auftactlos  am  Anfang  steht,  schwebende  Betonung  zu 
erwägen;   ebenso  140  (und)  unrecht  uns.     Die  Scansion    von  235  (Helijseus  ge-   ist  mir  zweifelhaft. 

2)  man  ez  nä  147;  daz  er  al-  207  ;  tu  er  zu  198  ;  si  er  ver-  256. 

3)  Ich  fasse,  wie  man  sieht,  Schwell verse  als  stärker  gefüllte,  nicht  als  tactreichere  Verse. 
Einen  entscheidenden  Wesensunterschied  zwischen  ihnen  und  den  Normalversen  nehm  ich  natürlich 
nicht  an:  es  gab  immer  Uebergänge.  8 


16  GUSTAV   ROETHE, 

eindruckstärkende  Schwellform  angemessen.  Sie  bebt  vielleicht  die  zornigen  Flüche  : 
de  mrselsucht  miize  in  bekli'ben  234  und  des  tüveles  hdntveste  bli'be  (ir  schrift)1)  242, 
die  sich  so  wirksamer  lesen  als  etwa  vierhebig.  Auch  am  Schluss  der  Absätze  findet 
sie  ihren  Platz:  unrechten  lüten  ich  iz  nene  gän  112  und  des  gebe  ich  zu  Urkunde  diz 
bücheli'n  220  -).  In  diesen  Schwell versen  scheinen  also  auch  Worte  der  Form  _*_  -i_X 
als  Tact  verwendet,  während  sie  sonst3)  noch  absteigend  gesprochen  zwei  Tacte  fül- 
len ;  die  Betonung  der  ersten  Vorrede  —  _z_x  ist  für  Eike  wenigstens  nicht  gesichert. 

Praefatio  I  kennt  nur  einsilbigen  und  fehlenden,  nie  zweisilbigen  Auftact; 
Eike  hat  ihn,  doch  ohne  besondere  Vorliebe,  etwa  in  dem  zwölften  Teil  seiner 
Verse:  fast  durchweg4)  zwei  einsilbige  Formwörtchen  oder  ein  Formwort  und 
Präfix :  der  schwerste  Fall  ist  V.  134  er  spricht  Wehte  des  er  läster  hä't,  aber  auch 
er  wahrscheinlicher  als  ein  viersilbiger  zweiter  Tact.  —  Um  so  häufiger,  in 
ungewöhnlichem  Masse  beliebt,  ist  bei  Eike  das  Fehlen  des  Auftacts.  Er  fehlt  in 
75  Versen,  ein  wenig  häufiger  im  2.  als  im  1.  Verse  des  Reimpaars:  also  in  ca 
40  °/o  aller  Zeilen.  Das  geht  wieder  hinaus  über  Veldeke,  Eilhart  und  Hartmann  5), 
die ,  soweit  ich  nach  Stichproben  urteilen  darf,  nicht  mehr  als  ein  Drittel 
ihrer  Verse  auftactlos  lassen  ;  in  der  eigentlichen  metrischen  Kunstblüte  scheint, 
wto  es  hoch  kommt,  kaum  mehr  als  ein  Viertel  den  Auftact  zu  entbehren; 
Wolfram ,  vor  Allem  Grottfried  sind  noch  auftactreicher 6) ;  auch  der  Dichter 
der  ersten  Praefatio  hat  nur  ein  Sechstel  auftactloser  Verse.  Bemerkenswert 
scheint  mir,  dass  die  auftactlosen  Verse  sich  zuweilen  in  Gruppen  zusammen 
scHliessen ;  116 — 129  z.B.  haben  nur  ein  Reimpaar  mit  Auftact  zwischen  sich, 
169 — 179  gar  nur  einen  solchen  Vers  (173  ?).  Eike  zeigt  auch  sonst  hier  und  da 
die  Neigung,  silbenärmere  und  silbenreichere  Verse  für  sich  zu  gruppiren. 

Während  die  erste  Praefatio  wol  den  Auftact,  kaum  aber  die  inneren  Sen- 
kungen entbehren  kann,  lässt  Eike  auch  diese  oft  ausfallen.  Er  bevorzugt 
das  Wortinnere  nicht  (25  Fälle),  wie  das  in  der  entwickelten  Kunst  geschieht; 
nach  einsilbigem  Wort  fehlt  die  Senkung  bei  ihm  sogar  häufiger  (29mal),  zumal, 
wie  billig,  nach  Worten  von  stärkerem  Satznachdruck,  z.B.  got  101.  110.  226. 
238,    gut  102.  116.  210,    recht  115.  122.  204,   groz  107.  216.  221,    buch  179.  184. 


1)  Oder  tü'vels  hantveste  belibe?  Beide  Fluchverse  stell  ich,  schon  weil  sie  dreihehig,  nur  zö- 
gernd hierher. 

2)  Oder  Urkunde  diz  bücheli'n'}  Die  Scansion  ist  nicht  sicher,  sicher  die  starke  Füllung.  Die 
Betonung  diz  bücheli'n  halt  ich  um  so  eher  für  möglich,  als  die  Reimsilbe  -lin  für  Eike  Lehnsilbe  war. 

3)  ni' manne  u.  ä.  130.  213,  irrere  105(?),  äntlitze  182;  Urkunde  168.  247,  pennmgen  252, 
drbeites  279  (möglich  wäre  immerhin  auch  penningen,  ärbeifcs) ;  bei  un-\  iingeme  121.  267,  unrechte 
230;  nur  J26  im  Reim  tinscüldich.     albälde  207  ist  natürlich  in  Ordnung. 

4)  daz  diz  111,  daz  min  144  (155  vielleicht  daz  min  schaz :  min  hat  rhetorischen  Nachdruck), 
des  ne  198,  den  da  227,  de  de  202;  als  an  181,  als  iz  185,  als  ein  250;  und  der  173.  233;  (swen 
im  251?);  und  be-  224  (und  un-  140?);  schwerer  dazs  ir  102,  obz  ein  105.  und  seh  ich  im  Auf- 
tact stets  als  einsilbig  an;  ebenso  ist  wol  auch  swen  188.  255,  an  275  zu  beurteilen;  oder  258. 

5)  Die  silbenreichere  niederdeutsche  Technik  des  Elmendorfers  und  Gandersheimers  bietet  in 
diesem  Puncte  gar  keine  Parallele  zu  Eike. 

6)  Vgl.  auch  die  freilich  sehr  ärmlichen  Zählungen  Janders,  Metrik  u.  Stil  in  Wolframs  Titurel  S.  6. 
8 


DIE    REIMVORREDEtf    DES    SACHSENSPIEGELS.  17 

223,  müt  219,  valsch  233,  gift  149;  bei  lieb  126.  175  und  recht  120  *)  begünstigt 
der  Siuneseinschnitt  die  fehlende  Senkung.  Doch  dehnen  sieh  auch  Wört- 
chen von  schwachem  Satzton  über  den  Tact  aus,  z.B.  sich  114,  uns  1  <*>!>.  man 
170,  ouvh  203  2),  zu  214;  vgl.  denne  116 ,  kü'nnm  202  u.a.  Immerhin  keimzeich- 
net Fehlen  der  Senkung  im  Grossen  und  Ganzen  die  vorhergehende  Silbe  als 
rhythmisch  haupttonig  oder  doch  als  stärker  denn  die  folgende.  Da  bleib  ea 
denn  nicht  unbemerkt ,  dass  von  den  vierhebig  stumpfen  Versen  kaum  weniger 
als  ein  Viertel  der  Gesamtzahl,  nämlich  23  (dazu  3  vierhebig  klingende  Verse), 
14  ohne,  9  mit  Auftact,  die  sattsam  bekannten  Cretici  zeigen,  während  die  drei- 
hebig  klingenden  Verse  nur  6mal  der  Senkung  im  zweiten  Tacte  entbehren. 
Umgekehrt  ist  in  ihnen  der  erste  Tact  um  eine  Kleinigkeit  reicher  vertreten 
(8mal) ,  während  er  bei  den  stumpfen  Vierhebern  nur  llmal  ohne  Senkung  ist. 
Am  seltensten  fehlt  die  Senkung  des  dritten  Tactes  (111.128.219.240,  vielleicht 
auch  239),  den  eben  auch  Eike  vorsichtiger  behandelt  als  die  andern.  Stich- 
proben bei  Veldeke  und  Hartmann  ergaben  mir  für  den  stumpfen  Vers  vergleich- 
bare Verhältnisse,  während  bei  Wolfram  und  Gottfried  das  Uebergewicht  der 
Verse  mit  einsilbigem  zweitem  Tact  sehr  viel  geringfügiger  scheint.  Auch  d*as 
mag  also  ein  archaischer  oder  doch  unmodern  volkstümlicher  Zug  in  Eikes  Kunst 
sein  und  immerhin  auf  die  Nachwirkung  des  Rhythmus  2.  (4)  grade  im  stumpfen 
Verse    zurückgeführt    werden  3).     Zur  fruchtbaren  Verfolgung  derartiger  Möglich- 


1)  Ein  so  scharfes  Enjambement  wie  das  überhängende  recht  120  zeigt  nur  noch  243  ir 
scrift ;  Schatzes  165  mit  anschliessendem  Relativsatz  und  tvolle  wesen  246  sind  weit  milder.  Eike 
respectirt  die  Versgrenze  nach  Kräften  und  sucht  ihr  die  stärkern  Satzeinschnitte  zuzuweisen.  Die 
erste  Praefatio  verhält  sich  übrigens  ähnlich :  das  Enjambement  nicht  sien  28  und  das  leichtere 
uorte  mit  Relativsatz  82  lassen  nicht  verkennen,  dass  auch  sie  nur  am  Versschluss  stärkere  Sinnes- 
einschnitte liebt. 

2)  unde  203  hab  ich  lieber  mit  Hiat  angesetzt,  als  dass  ich  vor  dem  schwachen  Tact  ouch 
gar  den  noch  schwächeren  und  duldete  ;  der  Hiat  ist  Eike  nicht  abzusprechen  ,  auch  das  wieder 
gegen  die  Technik  von  I.  Er  wird  mir  wahrscheinlich  durch  die  Verse  127  weme  seäde  öder  vröme 
und  176  vröme  ünde  salicheit,  wo  bei  Vollzug  der  Elision  eine  kurze  offene  Stammsilbe  den  Tact 
füllen  müsste.  Demgemäss  les  ich  auch  sele  ünvro  240;  vielleicht  auch  reche  iz  239.  Es  ist  mir 
überhaupt  fraglich,  ob  Eike  zwei  Senkungen  hinter  einander  fehlen  lässt :  da  nach  128  konnte 
däre  nach  meinen,  und  für  113  könnte  man  aus  den  ihm  nachgemachten  Versen  20.  43  die  Gestalt 
8irie  ünreht  daz  si'  der  man  erschliessen. 

3)  Wollt  ich  den  Ansprüchen  moderner  Metrik  genügen ,  so  müsst  ich  hier  wahrscheinlich 
eine  Rhytbmenstatistik  bringen  ,  wie  sie  zuletzt  Leitzmann  in  seinem  Gerhard  v.  Minden  zum 
Besten  gegeben  hat.  Ich  würd  es  für  keinen  Fortschritt  halten,  wenn  diese  Mode,  mhd.  oder  mnd. 
Verskunst  darzustellen,  zur  Regel  würde.  Beruht  sie  doch  von  vornherein  auf  einer  petitio  priu- 
cipii ,  auf  dem  Dogma  von  den  zwei  obligaten  und  ausnahmslos  herrschenden  Haupthebungen. 
Leitzmann  macht  auch  nicht  den  leisesten  Versuch,  die  Berechtigung  seines  Vorgehns  zu  erweisen: 
dass  es  ihm  mühelos  gelingt,  Gerhards  Verse  in  das  Typenfachwerk  einzupferchen,  wird  er  hoffentlich 
selbst  nicht  für  den  Schatten  eiues  Beweises  halten  :  das  ist  in  mhd.  und  mnd.  Viertaktern,  zumal 
silbenreichereu  Zuschnitts,  wahrhaftig  kein  Kunststück.  Du  lieber  Himmel,  was  verträgt  der  Straussen- 
magen  der  Typentheorie  nicht  alles  !  Die  Controle  der  Alliteration  fehlt ;  über  den  mhd.  Satzaccent, 
der  sicherlich  weit  weniger  starr  war,  als  der  altgermanische,  wissen  wir  sehr  wenig,  über  den 
mnd.  gar  nichts  ;  und  Leitzmann  hält  es  nicht  einmal  für  nötig,  über  die  Grundsätze  Rechenschaft 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hist.  Kl.    N.  F.  Band  2,  s.  3 

O 


18  GUSTAV    ROE THE, 

keiten  ist  Eikes  Praefatio  viel  zu  kurz.  In  ihren  dreihebig  klingenden  Versen 
überflügelt  der  einsilbige  erste  Tact  den  einsilbigen  zweiten  weit  weniger  als  etwa 
bei  Veldeke  u.  A. 

Es  ist  an  dieser  Stelle  kein  Anlass,  die  metrische  Analyse  fortzusetzen,  so- 
viel Fragen  sie  unbeantwortet  lässt.  Ich  notire  nur  noch,  dass  unde,  in  Praefa- 
tio I  stets  einsilbig,  bei  Eike  öfter  den  Tact  füllt  (129.  176.  238),  dreimal  sogar 
den  auftactlosen  ersten  Tact  (107.  119.  203);  ferner  dass  Eike,  abgesehen  natür- 
lich von  den  grossen  Absätzen,  für  das  Satzende  den  ungraden,  die  Praefatio  I 
ebenso  unverkennbar  den  graden  Vers  bevorzugt.  Die  Differenzen  offenbaren  sich 
auf  der  ganzen  Linie.  Eikes  Versbau  verrät,  an  der  Kunst  der  führenden  mittel- 
hochdeutschen Meister  gemessen,  überall  den  Abseit^stehenden ,  für  seine  Zeit 
Zurückgebliebenen,  bei  dem  für  den  Mangel  modischer  Virtuosität  ein  wertvolles 
Stück  lebendiger  und  individueller  Freiheit  entschädigt:  die  Praefatio  I  könnte 
jeder  mittelhochdeutsche  Normaltechniker  gebaut  haben.  Und  dieser  radikale  Um- 
schwung der  metrischen  Art  sollte  sich  zwischen  der  ersten  und  der  zweiten  Aus- 
gabe des  Sachsenspiegels  vollzogen  haben  ? 

Man  wird  mir  eins,  nicht  ganz  grundlos,  entgegen  halten  :  Praef.  I  sind  eben 
Strophen,  Praef.  II  Reimpaare  ;  anders  baut  Hartmann  von  Aue  den  Iwein ,  an- 
ders seine  Lieder.     Richtig,    aber  nicht  treffend!     Zwischen   Iwein    und   den    zu 


abzulegen,  nach  welchen  er  seine  Acute  und  Graves  verteilt;  nur  so  viel  seh  ich,  die  Gesetze  des 
altern  germanischen  Satzaccentes ,  wie  die  Alliteration  sie  lehrt,  sind  es  nicht.  Unter  diesen  Um- 
ständen haben  die  kargen  Zahlen  S.  CXIV,  die  Leitzmauns  Resultat  bilden,  höchstens  für  ihn  selbst 
Wert.  Nicht  das  kleinste  Uebel  aber  an  dieser  seiner  unlebendig  künstlichen  Typenscholastik  scheint 
mir,  dass  sie  nicht  nur  willkürlich  und  steril,  sondern  so  abscheulich  unübersichtlich  ist:  wer  sich 
über  die  Fragen  der  Tactfüllung,  des  Auftactes,  des  Versschlusses,  der  Betonung,  der  metrisch  fest- 
stellbaren Sprachformen,  der  individuellen  metrischen  Züge  u.  s.  w.  orientiren  will,  der  tut  wahrlich 
besser,  die  Arbeit  von  Anfang  an  selbst  zu  machen,  als  dass  er  sich  das  Material  aus  dieser  dogma- 
tisch zerstückelnden  Statistik  zahlloser  gleichgiltiger  Typen  und  Typchen  zusammensucht.  Auch  ich 
halt  es  für  geboten,  dass  man  sich  frage,  ob  und  wie  weit  sich  eine  Nachwirkung  der  noch  bei 
Otfrid  bezeugten  Lieblingsrhythmen  1.  3,  2,  2.  4  (für  obligate  zwei  Haupthebungeu  zeugen  bekannt- 
lich weder  seine  Accente  noch  die  Alliteration)  beweisen  lasse.  Jede  neue  Fragestellung  erweitert 
unsere  Erkenntnis,  und  die  von  Sievers  gegebenen  Anregungen,  auf  die  sich  Leitzmann  beruft,  er- 
öffnen immerhin  eine  Perspective.  Aber  man  soll  wirklich  fragen,  man  darf  das  zu  Beweisende 
nicht  als  bewiesen  voraussetzen,  und  man  darf  nicht  einen  Gesichtspunct,  der,  selbst  wenn  er  richtig 
sein  sollte,  auch  nach  seiner  metrischen  Wichtigkeit,  mindestens  für  unsere  Erkenntnis  erst  in  zweiter 
Linie  stehen  kann,  zum  ersten  Einteilungsprincip  heraulschrauben.  Dass  es  in  Gerhards  v.  Minden 
Viertactern  zahlreiche  Verse  gibt,  in  denen  sich  zwei  Hebungen  über  die  andern  sichtlich  zu  erheben 
scheinen,  ist  selbstverständlich  ;  wie  er  anderseits  nicht  wenige  Verse  hat,  in  denen  man  eine  oder 
auch,  zuweilen  sehr  deutlich,  drei  Hebungen  zu  bevorzugen  Anlass  hat.  Die  wissenschaftliche  Aufgabe 
ist  grade,  das  metrisch  Gewollte  oder  Herkömmliche  von  dem  sprachlich  Natürlichen  zu  scheiden; 
es  gilt  vor  Allem,  die  Selbsttäuschung  auszuschliessen.  Dass  Leitzmann  bei  all  seinem  Fleiss  dazu 
irgend  einen  Ansatz  genommen  hätte,  kann  ich  wenigstens  in  dem,  was  er  ausspricht,  nicht  finden. 
Dazu  brauchts  freilich  eine  zarte  Hand  und  keinen  aroben  Schematismus.  Wäre  Leitzmann  nur  von 
der  unbefangenen  Untersuchung  der  Tactfüllung  ausgegangen ,  für  die  er  an  Wilmanns  metrischeu 
Arbeiten  so  vortreffliche  Vorbilder  finden  konnte!  Selbst  für  die  Erkenntnis  etwaiger  Haupthebungen 
hätt  er  da  mehr  gelernt,  als  aus  seiner  Statistik. 


DIE   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  19 

singenden  Liedern  besteht  ein  schroffer  Unterschied  des  Vortrags :  die  Strophen 
des  Sachsenspiegels,  die  Vorrede  eines  Prosawerkes,  waren  gewiss  nicht  auf 
Gesang  berechnet;  schon  die  sehr  einfache,  unmittelbar  in  den  Reimpaaren  wur- 
zelnde Strophenform  bestätigt  das.  Die  metrischen  Grundsätze  dieser  ungesun- 
genen  Declama  tionsstrophik  dürfen  nicht  nach  gesungener  Lyrik  beurteilt 
werden.  Die  ungleichstrophigen  Schi usstira den  von  Hartmanns  erstem  Büchlein, 
an  deren  Echtheit  ich  nicht  zweifle,  vermitteln,  aus  gekreuzten  Reimen  aufge- 
baut wie  die  Praefatio  I,  zwischen  der  Lyrik  und  Epik  ihres  Dichters,  setzen 
die  Senkungen  etwas  regelmässiger  als  seine  epischen  Reimpaare  (Saran,  Hart- 
mann als  Lyriker  S.  64),  gehören  aber  doch  im  Ganzen  der  epischen  Technik  zu. 
Wolframs  Titurellieder,  ebensowenig  zum  Gesang  bestimmt  wie  etwa  Nibelungen 
und  Gudrun  in  ihrer  erhaltenen  Gestalt,  sind  rhythmisch  sogar  übler  geraten 
als  die  Epen,  da  der  Dichter  den  Schwierigkeiten  der  epischen  Strophe  erlag: 
die  strengere  Kunst  der  Lieder  auch  in  den  Titurel  zu  übertragen,  ist  Wolfram 
gar  nicht  eingefallen.  Die  einreimigen  Vierzeiler,  die  Gottfried,  im  Eingang  wie 
im  Verlauf  seinem  Tristan  einstreut,  sind,  mit  den  Reimpaaren  verglichen,  etwas 
strenger  gebaut;  aber  auch  sie  lassen  den  Auitact  (1866.  11877)  und  die  Senkung 
(11.  36.  1751)  ein  paar  Mal  fehlen,  von  zweisilbigem  Auftact  (35.  11877),  Tact- 
überfüllung  (1.  6.  12508  [?])  und  schwebender  Betonung  (12508  u.  ö.)  zu  schweigen: 
jedesfalls  erstreckt  sich  der  Unterschied  nur  auf  Nuancen  ').  Konrads  von  Wiirz- 
burg  Klage  der  Kunst  stellt  sich  schon  durch  die  freiere  Behandlung  des  Auftacts 
näher  zu  Konrads  Epen  als  zu  seiner  starren  Liederkunst :  in  seiner  Tech- 
nik scheiden  sich  epischer  und  lyrischer  Versbau  ohnehin  nicht  mit  der  früheren 
Schärfe.  Zwischen  Ulrichs  von  Lichtenstein  strophischem  Frauendienst  und  unr 
strophischem  Frauenbuch  besteht  keine  markante  Differenz ;  beide  gestatten 
sich  Freiheiten  namentlich  in  der  Betonung,  die  den  sorgsamer  gearbeiteten 
Liedern  Ulrichs  fremd  sind  (Knorr,  Ulrich  von  Liechtenstein  52).  Heinzelins 
von  Constanz  Strophen  von  den  beiden  Johansen,  aus  drei  gekreuzten  Reim- 
paaren gebildet,  sind  zwar  in  der  Festigkeit  des  Auftacts  und  der  Senkungen 
den    Reimpaaren    von    dem    Ritter    und    von    dem   Pfaffen    überlegen;     aber    der 


1)  Sievers  Andeutungen  (Forschungen  für  Hildebrand  14  ff.),  der  die  Vierzeiler  dipodisch, 
die  Reimpaare  monopodiscli  fasst,  Laben  mich  nicht  überzeugt.  Ich  fühle  vielleicht  einen  kleinen 
stilistischen  Unterschied,  insofern  Gottfried  das  geliebte  Antithesenspiel  in  den  Ströphchen  ,  deren 
jede  ihre  eigne  Antithese  hat,  etwas  breiter  zerren  muss,  als  in  schärfer  und  gediäugter  pointirten 
Reimpaaren  wie  60  ff.  :  die  Strophen,  in  denen  schon  die  4  gleichen,  zur  Hälfte  ruhrenden  Reime 
den  reichern  Inhalt  erschweren,  mussten  zur  Breite  verführen.  Irgend  eine  zwingende,  pnncipielle 
rhythmische  Differenz  gegenüber  Versreihen  wie  z.B.  1329  ff.  11720  ff  und  den  vielen  ähnlichen 
antithesenreichen  Betrachtungen  vermag  ich  nicht  wahrzunehmen.  Dass  in  den  Senkungen  der  Vier- 
zeiler nur  sprachlich  ganz  unbetonte  Silben  stelm  ,  kann  ich  nicht  finden,  wenn  i<  h  mir  die  Anf- 
tacte  von  17.  21.  25.  29  33.  41.  1789  ansehe,  wenn  ich  an  das  doch  10,  ir  133,  süeze  230,  ie  1790. 
1791  ,  an  die  antithetischen  ir  (gegen  unser)  2:;7,  (^egen  der  lebenden)  240  denke.  Und  kommt 
Sievers  z.B.  237.  240.  36  mit  zwei  Haupttönen  aus?  Oder  beanstandet  er  237.  240  und  ihre  Um- 
gebung, wie  das  hie  und  da  geschehen  ist?  Wie  dem  sei:  existiert  ein  rhythmischer  Unterschied 
zwischen  Vierzeilern  und  Reimpaaren  ,  für  den  nur  mein  Gefühl  zu  stumpf  ist,  so  ist  er  difficiler 
Natur,  nicht  vergleichbar  den  grellen  metrischen  Differenzen  der  beiden  Sachsenspiegelvorreden. 

3'  E 


20  .  GUSTAV   ROETHE, 

Gesamtcharakter  des  Versbaus  rückt  die  beiden  Gedichte  doch  nah  zusammen* 
erst  die  von  Pfeiffer  demselben  Dichter  beigelegte  Minnelehre  steht  in  ihrer  Tact- 
füllung  weiter  ab;  für  sie  aber  ist  Heinzelins  Autorschaft  mit  bestem  Recht  be- 
stritten worden :  fehlt  ihr  doch  schon  die  äussere  Beglaubigung  (Höhne,  Die  Ge- 
dichte des  Heinzelein  v.  Constanz  S.  8  ff.).  —  Unleugbar  also  haben  die  auf  Sprech- 
vortrag berechneten  Strophen  an  gleichmässiger  Sauberkeit  nicht  selten  einen  Vor- 
sprung vor  den  Reimpaaren  derselben  Dichter:  aber  der  Unterschied  ist  stets  nur 
graduell,  schneidet  niemals  so  tief  ein  wie  zwischen  Sprech-  und  Gesangsversen. 
Auch  von  dieser  Seite  aus  ist  die  Identität  des  Verfassers  von  Praefatio  I  und  II 
nicht  glaublich  zu  machen.  — 

Nun  noch  ein  letzter  Schritt !  Schon  in  der  metrischen  Behandlung  der 
Worte  und  Reime,  von  der  Form  u  x  glaubte  ich  bei  Eike  Spuren  mehr  nieder- 
deutscher Art  zu  bemerken,  die  bei  dem  ersten  Prologisten  ausblieben.  Das  be- 
währt sich  weiter.  Die  Reime  der  Praefatio  I  zeigen  nirgend  niederdeutsche 
Sprachzüge,  während  sie  in  II  nicht  fehlen.  Der  Reim  gescliach  :  sprach  53  :  55 
ist  sogar  ausgesprochen  hochdeutsch  *).  baz  :  widersats  50 :  52  könnte  man  vielleicht 
auf  bat  :  -sat  deuten  ;  doch  ist  der  Reim  mitteldeutsch  auch  sonst  bezeugt ;  den 
Ansprüchen  mitteldeutscher  Technik  genügt  er  durchaus,  kränge  :  lange  94  :  96 
(oder  krenge  :  lenge,  die  Handschriften  gehn  auseinander)  weist  ins  Mitteldeutsche, 
nicht  auf  das  niederdeutsche  hing  hin.  tören  :  hceren  78  :  80  ist  auch  mitteldeutsche 
Reimfreiheit.  Im  Uebrigen  lauter  Reime,  die  jeder  mittelhochdeutsche  Dichter 
hätte  brauchen  können.  Durch  den  Reim  erwiesen  wird  die  Wendung  mich  bevilt  91; 
niederdeutscher  wäre  mek  vorlanget,  doch  hat  Konemann  im  Wurzgarten  (cod.  theol. 
Gotting.  153)  191d  mik  ervelet ;  vgl.  auch  Elmend.  1108  2).  miige:  tilge  49:51  bezeugt 
das  Hilfsverb  tugen]  das  in  Eikes  ganzem  Sachsenspiegel  nicht  einmal  vorkommt; 
der  Zusatz  III  51,  1  beweist  natürlich  nichts  dagegen.  Auf  die  hochdeutschen  Reim- 
formen hat  74,  hän  2,  sän  10,  meisterlin  95  leg  ich  hier  nicht  Wert,  da  sie  auch 
Eikes  Versen  nicht  fremd  sind.  Wenn  dagegen  in  Praefatio  I  vier  Reime  auf 
baz  auftreten  (13.  29.  50.  81),  wenn  I  vil  :  wil  zweimal  (33.  42),  sol  :  wol  gar  drei- 


1)  Leitzmanns  Anschauungen  Beitr.  16,  46  ff.  teile  ich  ebensowenig  wie  Vogt.  Dass  in  nieder- 
deutschen Handschriften  gar  nicht  selten  auslautend  ch  für  Je  geschrieben  wird  ,  das  ist  für  die 
lautliche  Beurteilung  der  Bertholdschen  Reime  um  so  gleichgiltiger,  als  die  oft  von  mir  beobachtete 
Erscheinung  weit  überwiegend  -lieh  trifft  (schon  im  Monacensis  des  Heliand ;  vgl.  noch  unten  S.  25), 
daneben  ich,  mich,  dich,  sich:  also  nach  i  und  in  schwach  betonten  Silben :  das  mag  auf  eine  pala- 
tale  Färbung  des  k  hindeuten,  soweit  die  Schreibung  überhaupt  phonetische  Bedeutung  hat.  Da- 
neben öfter  noch  das  unbetonte  och.  Nd.  sprach  wird,  wenn  überhaupt,  nur  sehr  selten  vorkom- 
men ;  hie  und  da  erscheint  spricht,  bricht  (wieder  nach  i).  Dass  nicht  Alles  hochdeutsche  Einwir- 
kung ist,  glaub  auch  ich:  aber  oft  genug  wird  sie's  sein:  im  alten  Braunschweiger  Stadtrecht  z.B. 
steht  neben  sicelich  anch  ein  paarmal  sicaz.  Beiläufig,  wenn  Lübben  in  der  Mnd.  Gramm.  S.  Gl  sich 
für  diese  ch  auf  das  älteste  Lübische  Stadtrecht  beruft,  so  trifft  die  Bemerkung  grade  für  die  älteste, 
Elbinger,  Itandschrift  ,  die  ich  in  einer  Abschrift  Frensdorffs  einsehen  durfte,  nicht  zu.  Auch  der 
Text  Bardewieks  hat  jenes  -ch  nur  sporadisch,  allerdings  gleich  im  Eingang  '6  Fälle  {buch,  Hinrich 
und  Bardewich).     Einige  weitere  Belege  dieser  Schreibung  gibt  Lübben,  Sachsenspiegel  S.  VI. 

2)  Ein  ausgesprochen  hochdeutsches  Wort,  das  dem  Sachsenspiegel  sonst  fehlt,  ist  ferner  sam  8aj 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  21 

mal  (21.  66.  85)  reimt  und  Eike  diese  sämtlichen,  höchst  bequemen  Reime  in  der 
doppelt  so  langen  Vorrede  II  strenge  meidet,  aus  welchem  Grunde  auch  immer, 
so  wird  das  kein  Zufall  sein;  ebensowenig,  dass  „sunt"  in  1  als  sint  77,  in  II 
als  shi  252  gereimt  wird  l). 

Welchen  Standpunkt  ich  auch  einnahm,  von  allen  Seiten  zeigen  die  beiden 
Vorreden  verschiedne  Physiognomie.  Wer  nicht  mit  radikalen  litterarischen  und 
geistigen  Wandlungen  rechnen  will,  wie  sie  bei  jedem  deutschen  Dichter  des  Mit- 
telalters, bei  diesem  Niedersachsen  abseits  vom  grossen  Strome  des  litterari.schen 
Lebens  aber  besonders  befremdlich  wären  ,  der  wird  die  subjeetiv  forcirte,  tech- 
nisch glatte  Dichtung  des  an  virtuoser  hochdeutscher  Kunst  geschulten  Mittel- 
deutschen wohl  sondern  von  Eikes  Art,  die  mit  Stoff  und  Form  bedächtig  ringt, 
die  ihre  Persönlichkeit  keuscher  verbirgt,  dabei  aber  weit  mehr  Persönlichkeit 
verrät.  Wer  also  für  die  Sprache  des  Sachsenspiegels  etwas  lernen  will  aus  Eikes 
Reimen,  der  muss  die  Untersuchung  auf  die  Reimpaare  beschränken. 


II. 

Eikes  Heimat  Reppichau,  die  noch  heute  eine  mit  seinem  Namen  gezeich- 
nete Glocke  bewahrt  (Schubart,  Glocken  in  Anhalt  S.  434)  und  deren  Mundart 
wir  auch  bei  ihm  voraussetzen  dürfen ,  liegt  wenige  Kilometer  südlich  des  elbi- 
schen  Hafenstädtchens  Aken  auf  einem  Boden,  der,  heute  völlig  hochdeutsch,  im 
13.  Jahrhundert  noch  unbedingt  ins  niederdeutsche  Sprachgebiet  gehört  hat.  In 
diesem  Umstand  liegt  bei  sprachlichen  Fragen  eine  grosse  Erschwerung :  nicht 
nur  die  heutige  Mundart,  sondern  schon  die  Sprachquellen  des  15.  Jahrhunderts 
und  noch  Früheres  müssen  als  Zeugnisse  für  die  Sprache  der  nachträglich  ver- 
hochdeutschten  westelbischen  Gebiete  in  der  Zeit  Eikes  meist  ausscheiden.  Und 
das  nicht  nur  für  diese  oder  jene  Einzelfrage.  Das  Vordringen  der  hochdeut- 
schen Lautverschiebung  an  der  Elbe  bedeutet  mehr  als  die  Ausdehnung  des 
Gebiets  von  daz  und  ich  ;  es  handelt  sich  da  um  ein  Stück  Culturentlehnung, 
deren  Umfang  wir  aus  dem  unsäglich  dürftigen,  ihr  voran  liegenden  Sprach- 
material um  so  weniger  beurteilen  können ,  wenn  wir  vorsichtig  die  beiden 
grossen  litterarischen  Denkmäler  Reppichaus  bei  Seite  lassen.     Es  ist  von  vorn- 


1)  sint  auch  in  dem  uneikischen  Reime  Landr.  14.  —  Ich  will  eine  syntaktische  Kleinigkeit 
nicht  verschweigen,  trotzdem  sie  ihre  Bedenken  hat.  In  I  kommt  das  so  des  Nachsatzes  mindestens 
viermal  vor  (11.  14.  53.  59,  vielleicht  auch  63),  in  II  gar  nicht.  Das  scheint  an  Gewicht  zu  ver- 
lieren, wenn  man  sieht,  dass  Eike  dies  so  sonst  gehraucht :  im  3.  Buch  des  Landrechts  hat»  ich  z.  B. 
15  Fälle  gezählt.  In  Wahrheit  ist  diese  Zahl  (auf  70  Seiten  Homeyers  !)  sehr  gering,  zumal  wenn 
man  bedenkt,  dass  Bedingungssatz  und  Nachsatz  gradezu  die  typische  Form  dieser  Rechtssätze  ist  ; 
in  Wahrheit  neigt  Eikes  hartes  Juristendeutsch  dahin,  den  Nachsatz  ohne  Vermittlung  an  den  Vor- 
dersatz zu  reihen ,  und  in  einem  kritischen  Text  wird  diese  seine  Manier  vielleicht  noch  scharfer 
hervortreten:  möglich  etwa,  dass  die  Jüngern  Handschriften  den  Spielraum  des  so  in  der  Prosa 
ausdehnten,  während  der  Vers  einigen  Schutz  gab.  Homeyers  Apparat  beachtet  derartige  Varianten 
lefder  gar  nicht:  Aw  list  z.  B.  I  45,  1  se  is  statt  so  is  se.  g 


22 

herein  Lochst  wahrscheinlich ,  dass  auch  Wortbildung  und  Wortschatz,  weniger 
vielleicht  die  Syntax,  von  jener  hochdeutschen  Culturwelle  berührt  worden  sind. 
Die  Aufnahme  des  Schibboleths  z  in  die  Schrift  war  ihrer  Zeit  nur  der  äussere 
Ausdruck  für  eine  Sprachbewegung,  die  weit  früher  begonnen  hatte  und  immer 
noch  fortschritt.  Dass  Reppichaus  Mundart  schon  zu  Eikes  Tagen  von  solchen 
hochdeutschen  Einflüssen  ernstlich  berührt  war,  ist  freilich  unwahrscheinlich: 
so  schnell  kann  die  junge  Ueberlegenheit  des  obern  Deutschlands,  die  wir  für 
diese  sprachliche  Frage  gewis  nach  seiner  litterarischen  Bedeutung  abschätzen 
dürfen,  in  die  breitern  Schichten  des  Volkslebens  unmöglich  gewirkt  haben;  erst 
zu  Ende  des  13.  Jahrhunderts  oder  noch  später  erstarkte  Mitteldeutschland  so, 
dass  es  den  selbst  empfangnen  geistigen  Impuls  nun  aus  eigner  Kraft  auch  über 
das  rein  litterarische  Gebiet  hinaus  fortzupflanzen  vermochte. 

Wir  verdanken  es  mittelbar  vielleicht  Eike,  wenn  wir  über  die  Sprache 
seiner  Heimat  überhaupt  etwas  wissen.  Eecht  eigentlich  in  dem  Geltungsgebiete 
des  Sachsenspiegels  sind  die  städtischen  Schöffenbücher  zu  Hause,  die,  um 
umständliche  Urkunden  zu  ersparen,  über  die  Ergebnisse  namentlich  privatrecht- 
licher Geschäfte,  die  vor  dem  Schöffen  stuhl  erledigt  waren,  kurz  und  formelhaft 
Protokoll  führen.  Im  Ganzen  bedienen  sie  sich  bis  in  die  zweite  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts  lateinischer  Sprache.  Ein  freundlicher  Zufall  —  oder  hat  Eikes 
Vorbild  doch  in  der  engern  Heimat  weiter  gewirkt  als  anderswo?  —  will,  dass 
wir  grade  aus  Aken,  wenn  auch  geringe,  Reste  eines  Schöifenbuchs1)  haben,  das 
mit  dem  Jahre  1265  und  zwar  niederdeutsch  beginnt.  Seltsamer  und  bedauer- 
licher Weise  geht  die  Muttersprache  1272  ins  Lateinische  über,  das  nur  in  Namen 
und  eingestreuten  Worten  die  heimische  Mundart  durchschimmern  lässt.  Erst 
1330  setzen  wieder  sehr  vereinzelt  niederdeutsche  Aufzeichnungen  mitten  in  dem 
lateinischen  Text  ein :  als  dann  1394  von  Neuem  fortlaufender  deutscher  Text 
beginnt,  da  lesen  wir  gleich  in  der  dritten  Nummer  (Nr.  1582) :  uff  der  kothinschin 
straze)  das  Hochdeutsche  hat  Einzug  gehalten.  Freilich  tritt  es  bald  wieder  zu- 
rück, und  noch  bis  1453  finden  wir  niederdeutsche  Aufzeichnungen  mit  ganz  ge- 
ringen und  seltenen  hochdeutschen  Elementen ;  erst  die  Reste  des  16.  Jahrhun- 
derts sind  ausgesprochen  hochdeutsch  2).  Immerhin  wird  es  sich  empfehlen,  mög- 
lichst mit  dem  vor  1394  liegenden  Material  zu  arbeiten.  Wenn  die  Akener  Auf- 
zeichnungen, wie  Sickel  aus  graphischen  Gründen  mutmasst,  nicht  Original,  son- 
dern Abschriften  oder  Auszüge  des  Originals  sein  sollten  (vgl.  Hertel,  die  Halli- 
schen Schöffenbücher  I,  XVI),  so  würde  uns  das  wenig  berühren,  da  die  Schrift- 
züge der  ältesten  Partien  doch  ins  13.  Jahrhundert  weisen,  da  obendrein  diese 
Register  von  kleinen  Alltagsgeschäften  doch  nur  am  Orte  und  nicht  allzu  lange 
nach    den    verzeichneten  Vorgängen    selbst   zu    einer    Abschrift    reizen    konnten. 


1)  Abgedruckt  ist  es  von  Neubauer,  Geschichtsblätter  für  Magdeburg  30,  251  ff.  31,  148  ff. 
32,  33  ff.;  der  Herausgeber  zählt  sehr  praktisch  die  einzelnen  Einträge  durch;  nach  diesen  Num- 
mern werde  ich  citiren. 

2)  Auch  die  Akener  Willkür  von  ca.  1520,  die  Zahn  in  den  Geschichtsblättern  f.  Magdeburg 
18,   7  9(3  ff    mitteilt,  ist  ganz  hochdeutsch  und  für  uns  dadurch  wertlos. 

C 


DIE    KEIMVOKKEDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  23 

Und  documentirt  sich  der  nachträgliche  Auszug  etwa  grade  in  der  deutschen 
Form  der  ältesten  Notate,  um  so  besser,  dass  uns  dieser  Auszug  blieb  und  nicht 
das  Original.  Ich  sehe  keinen  Grund  zu  bezweifeln ,  dass  diese  Akener  Blätter 
in  soweit  ein  treues  Bild  der  Akener  Geschäftssprache  geben ,  als  das  bei  belie- 
bigen Schreibern  des  13.  und  14.  Jahrhunderts,  überhaupt  zu  erwarten  ist:  schon 
der  Wechsel  der  Hand,  die  Mehrheit  der  Zeugen  ist  sprachlich  ganz  erwünscht. 
Schlimm  ist  nur  der  überaus  formelhafte  Inhalt,  die  ärmliche  Eintönigkeit,  die 
das  gleichmässig  Wiederkehrende  immer  wieder  genau  mit  den  selben  Worten 
mitteilt:  unglaublich,  mit  welch  winzigem  Ausschnitt  des  Wortschatzes  diese 
Schöffenbücher  auskommen !  Dadurch  wird  der  sprachliche  Ertrag  beeinträch- 
tigt. —  Zu  Ergänzung  und  Controle  hab  ich  gelegentlich  auch  die  umfängli- 
chen Schöffenbücher  von  Halle  (herausgegeben  von  Hertel  im  14.  Bande  der  Ge- 
schichtsquellen der  Provinz  Sachsen ,  Halle  1882)  ,  auch  sie  keine  Originalauf- 
zeichnung, in  ihren  ältesten,  gleichfalls  niederdeutschen  Partien  (sie  beginnen  mit 
1266)  herangezogen;  sie  sind  schon  darum  minder  günstig,  weil  sie  der  hoch- 
deutschen Grenze  so  nah  entstanden  sind.  Das  niederdeutsche  „Wetebok"  des 
Reppichau  nähergelegenen  Calbe  (herausgegeben  von  Hertel,  Geschichtsblätter  f. 
Magdeburg  Bd.  20,  43  ff.  125  ff.  217  ff.  349  ff.  21,  72  ff.)  beginnt  leider  erst  1381, 
hat  aber  den  Vorzug,  Original  zu  sein  und  ist  reichhaltiger  als  die  Akener  No- 
tizen J).  —  Von  Urkun  denma  terial  hab  ich  lediglich  den  Codex  dipl.  Anlial- 
tinus  hie  und  da  eingesehen  (älteste  deutsche  Urkunden  dort  von  1294,  häufiger 
werden  sie  erst  seit  1308) :  spielen  doch  in  die  Entstehung  jeder  Urkunde  sehr  viel 
mehr  uncontrolirbare  sprachliche  Factoren  herein  als  bei  jenen  gleichmässig  fortlau- 
fenden localen  Aufzeichnungen.  Und  ich  durfte  mich  grade  in  diesen  Dingen  um 
so  eher  bescheiden,  als  jetzt  Tümpels  treffliche  „Niederdeutsehe  Studien"  (Biele- 
feld 1898)  auf  eine  Reihe  von  Fragen  der  mittelniederdeutschen  Sprachgeschichte 
aus  Urkunden  und  andern  Denkmälern  um-  und  vorsichtige  Antwort  erteilen. 
Den  Sachsenspiegel  lässt  er  besonnen  bei  Seite.  Ich  hätte  freilich  auch  die  Go- 
thaer Handschrift  der  Weltchronik  nicht  so  unbedenklich  als  Zeugen  für  die 
Sprache  von  Reppichau  verwendet,  wie  Tümpel  das  tut  -). 


1)  Was  Neubauer  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  Anhaltische  Geschichte  7,  376  ff.  bisher 
von  dem  Zerbster  Schöffenbuch  publicirt  hat,  ist  bis  auf  wenige  Worte  ganz  lateinisch;  bis  zu  den 
deutschen  Partien  (seit  1399)  ist  der  Abdruck  noch  nicht  gelaugt. 

2)  Weiland  bezeichnet  die  Handschrift  (Deutsche  Chroniken  II  1,  17)  seltsam  als  ein  „Ori- 
ginalexemplar im  weitern  Sinne",  ohne  jede  sticiihaltige  Begründung;  er  verkennt  keineswegs,  dass 
sie  Abschreibefehler  und  Auslassungen  zeigt.  Meint  er  \ielleicht,  sie  sei  im  Auftrage  des  Verfassers 
copirt?  Das  schwebt  in  der  Luft.  Textlich  überragender  Wert  (mir  scheint  selbst  der  nicht  un- 
bestreitbar) entscheidet  noch  keineswegs  für  die  Authentie  der  Lautgestalt.  Schon  die  hochdeut- 
schen Spuren  der  (Juthaer  Handschrift,  wie  man  sie  auffasse,  müssen  warneu.  Soweit  nicht  der 
Reim  bürgt,  wird  die  einzelne  Handschrift  grade  so  verbreiteter  Literaturdenkmäler  nur  unier  un- 
gewöhnlich günstigen  und  gesicherteu  Umständen  für  die  Originalmundart  zeugen  dürfen.  Und 
wie  complicirt,  rätselreich  ist  grade  die  Textgeschichte  der  Weltchronik !  Stimmt  die  Mundart  der 
Gothaer  Handschrift  zum  Dialect  von  Reppichau,  gut:  das  mag  ihren  Wert  stützen.  Aber  sie 
selbst  als  mundartliche  Quelle  ist  mir  verdächtig. 


8 


24  GUSTAV   ROETHE 


Nun  zu  Eikes  Reimen!  Billig  steht  voran  der  lehrreiche  Reim  wat  : 
hat  143  :  144,  dessen  Doppelgesicht  ebensogut  für  niederdeutsche  als  für  hoch- 
deutsche Sprache  zeugt.  Dass  man  in  Reppichau  ivat  gesagt  hat,  versteht  sich. 
Aber  kann  Eike  hat  oder  hat  gesprochen  haben?  In  den  Akener  Büchern  heisst 
es  zunächst  heuet  1267  (56).  1272.(132)  u.  ö\,  lieft  1330  (641)  u.  ö.  ;  het,  hcd  zuerst 
1365  (1108.  1109)  und  seitdem  die  herrschende  Form;  had  dagegen  hab  ich  le- 
diglich im  Jahre  1394  und  1395,  also  grade  in  einer  Partie  gefunden,  die  deut- 
lich hochdeutsche  Elemente  zeigt  (1581.  1583.  1584  u.  s.  w.).  In  Calbe  gehn  het 
(hcd)  und  heft  bunt  durcheinander ,  hat  auch  hier  nur  in  der  Nachbarschaft  ver- 
schobner  Formen  (Magd.  Geschichtsbl.  21,  75).  Halle  setzt  mit  hevet  ein,  schon 
1286  treten  lieft  und  het  daneben  ;  het  behält  den  Sieg  ;  bei  der  Häufigkeit  hoch- 
deutscher Formen  .in  den  Hallischen  Büchern  sind  die  mancherlei,  aber  stets  ver- 
einzelten hat  schon  im  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  nicht  auffällig.  Auch  Tüm- 
pels Sammlungen  schliessen  ein  lebendiges  niederdeutsches  hat  aus  :  Eike  muss 
hi5vd  und  lieft  gesprochen  haben,  nicht  einmal  het  ist.  für  seine  Zeit  glaublich. 
hat  ist  hochdeutsche  Lehnform.  Dass  hat  und  andre  Formen  von  htm  später  in 
den  Reimen  mittelniederdeutscher  Gedichte  massenhaft  mechanisch  fortgeschleppt 
werden,  kommt  für  Eike  noch  nicht  in  Betracht. 

Der  schillernde  Reim  weist  den  Weg:  wir  dürfen  in  Eikes  Reimvorrede  auf 
niederdeutsche  wie  auf  hochdeutsche  Elemente  gefasst  sein.  Ich  beginne 
mit  jenen. 

Zweimal  reimen  so  (nd.  tö,  mhd.  zuo)  auf  so  (141  f.  183  f.).  Verrät  sich  hier 
Eikes  niederdeutsches  tö?  Ja,  sprach  er  denn  überhaupt  tö?  In  Reppichau  heisst 
es  heute,  «sm.  Die  Akener  SchöfFenbücher  haben  in  ihrem  ersten  deutschen  Stück  ein- 
mal tfrvoreii  (Nr.  32,  1266),  sonst  stets  und  oft  tu,  tu,  wie  denn  auch  in  andern  Wor- 
ten mit  hd.  uo  hier  das  ü,  ü  weit  über  das  6  hinausgeht.  Genau  dasselbe  Resultat 
für  tu  ergeben  Calbe  und  Halle;  ich  zähle  z.  B.  auf  den  ersten  10  Druckseiten  der 
Halleschen  Bücher  (1266  fi°.)  21mal  tu,  4mal  tu,  2mal  tö,  und  dies  Uebergewicht  des 
tu  und  tu  dauert  im  Ganzen  fort,  wenn  es  auch  einige  /o-Strecken  gibt.  Die  Ur- 
kunden des  Anhalter  Urkundenbuchs  schwanken;  doch  hebt  sich  deutlich  heraus, 
dass  die  Urkunden  rein  localen  Charakters  und  die  für  Anhalt  ausgestellten  (also 
wol  von  Anhalt  aus  vorbereiteten)  tu  oder  tu  haben  *).  Von  den  Handschriften  des 
Sachsenspiegels  bevorzugt  grade  die  von  Homeyer  abgedruckte  gleichfalls  das 
tu,  tu  entschieden,  und  seine  Varianten  bezeugen  das  tu  auch  für  andre  nieder- 
deutsche Handschriften  (z.  B.  vgl.  Landr.  II  66  N.  37.  68  N.  7),  während  in  den 
von  mir  darauf  hin  eingesehenen  niederdeutschen  Handschriften  (Aw  Cz  Ebi) 
tö    herrscht2).       Das    Alles    macht    es    allermindestens    zweifelhaft,     ob    Eike    tö 


1)  tu-  und  ^-Urkunden  sind  z.  B.  Cod.  dipl.  Anh.  II  775.  776.  III  183.  246.  247.  255.  262. 
286.  298.  322.  323  u.  s.  w.  ;  vgl.  auch  Nr.  409,  die  Beurkundung  der  Gewandschneiderinnung  von 
Zerbst.  —  tö  im  selben  Zeitraum  III.  175.  217.  226.  301.  315.  320.  346:  da  spielt  überall  die 
Magdeburger  oder  sonst  eine  fremde  Canzlei  herein. 

2)  Dass  sie  bei  andern  Worten   (namentlich  bei  gut,  dun,    auch  bei  müt,  büte,  müsdele,  hüve 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSE NSPIEGELS.  25 

sprach,  ob  to  :  so  für  ihn  der  gegebne  Reim  war.  Unmöglich  scheint  mir  nicht, 
dass  er  den  bequemen  Keim  litterarisch  (etwa  von  Veldeke,  Eilhart,  Herbort) 
bezogen  hat.  Zwingend  niederdeutsch  ist  der  Reim  keinesfalls  :  hat  doch  noch 
der  Meissner  Frauenlob  Reime  von  ö  :  uo. 

Ganz  glatt  erklärt  sich  auch  gestüt :  mnt  213  f.  nicht  als  nd.  gestöd  :  möd. 
Nirgend,  weder  in  den  Schöffenbüchern  noch  in  den  anhaltischen  Urkunden  hab 
ich  eine  Spur  dieser  Bildung  ohne  n  entdeckt.  Freilich  sie  sind  alle  jünger.  Aber 
auch  im  Sachsenspiegel  selbst  ist  mir  neben  den  zahlreichen  stunt  nie  ein  stüt 
oder  stöd  aufgestossen.  Endlich  reimt  Eike  4  Zeilen  weiter  famde  :  vorstunde  218. 
Die  Form  stüt  war  im  Veralten  ;  als  bequem  für  den  Reimgebrauch  hat  auch  die 
archaische  mitteldeutsche  Dichtung  sie  geschätzt  (Weinhold,  Mhd.  Gramm.  S.  365)  : 
Eike  wird  das  M-lose  Präteritum ,  das  in  andern  Gebieten  Niederdeutschlands 
lebendiger  war,  auch  schon  als  archaisch  empfunden  und  nur  als  litterarische 
Reimlicenz  benutzt  haben. 

Was  sich  sonst  als  niederdeutscher  Reim  verwerten  Hesse,  kann  stets  auch 
mitteldeutsch  sein  :  lere  :  swere  275  f.;  vart  :  hart  (keret)  187  f.1);  steit  :  leit  125  f.; 
bedacht  :  nacht  191  f.:  vromen  :  körnen  115  f.  127  f. ;  is  :  geicis  243  f.;  jegen  yot  (also 
jegen  c.  Aec.)  :  gebot  135  1'.;  am  bemerkenswertesten  noch  wille  (3.  Pers.  Conj.)  : 
stille  131  f.  Das  Reimen  umgelauteter  und  umlautloser  Vokale  (buche  :  vlüche 
231  f.)  ist  technisch,  nicht  sprachlich  von  Interesse.  Unzweideutig  niederdeutsch 
bleibt  lediglich  das  auf  das  unzweideutig  hochdeutsche  hat  gereimte  ivat;  dazu 
tritt  höchstens  noch  jenes  stüt  von  unsichrer  niederdeutscher  Herkunft. 

Die  hochdeutschen  Reime  sind  zahlreicher.  Ausser  hat,  das  134  ein 
zweites  Mal  belegt  ist  und  zugleich  hd.  gät  mitzieht  (Eike  sprach  wol  gheit  wie 
steit  126,  Aken  1807),  ist  auch  hän  (nd.  hebben)  durch  den  Reim :  getan  160  gesichert. 
—  mich  :  unseiddich  225  f.  lässt  sich  unbefangen  nur  auf  den  verschobnen  Pronominal- 
aecusativ  deuten;  Eike  sprach  das  Adjectivsuffix  natürlich  -i%,  wie  denn  die  Akener 
Bücher  stets  auslautend  eh  für  inlautend  g  schreiben  ;  wenn  es  auch  Tatsache  ist, 
dass  mittelniederdeutsch  die  Endungen  -lik  und  -ich  sich  zuweilen  mit  ihren  Aus- 
lauten verwirrt  haben,  so  hat  diese  Verwirrung  doch  in  der  Regel  -#&  zu  -lieh  ge- 
macht, nicht  -ich  zu  -ik.  Dass  in  niederdeutschen  Denkmälern  zuweilen  mich  geschrie- 
ben wird  (vgl.  S.  20),  schwächt  die  Beweiskraft  des  Reimes  nicht  ab.  —  Hochdeutsch 
reimt  büchilin  :  min ;  schon  der  consensus  codicum  entscheidet;  die  niederdeutsche 
Diminutivform  -ken  gäbe,  kommt  sie  auch  hier  und  da  einmal  -hin  geschrieben  vor-), 
stets  einen  schlechteren  Reim  (vgl.  unten).  —  Auch  ivante  :  genante  („audebat")  2771. 
wird  entlehnt  sein,  ebenso  wie  Albrecht  von  Halberstadt  und  Konemann3)  das  be- 


ll, a.)  das  u,  ü,  ü  f.  hd.  uo  lieben,  sagt  wenig:    sie    teilen  das  Schwanken  mit    vielen  mittelnieder- 
deutschen Handschriften. 

1)  In  den   Hallischen  Schöffenbüchern  steht  streckenweise  oft  der  Titel  hare  (f.  herre)  I  S.  5  f. 
36  ff. ;  daneben  aber  auch  dhame  (dewe).  dhan  (den). 

2)  Die  Akeuer  Bücher  habeu  deutsch  -ken,  latinisiren  aber  zu  -kinus. 

3)  In    Koneinanus  Wurzgarten    folgt    auf  gehenden  :  penden  202c    bald    das    der   Mundart   des 
Dichters  gemässe  nheneden  (:  ioden)  204c ;    im    Versiuuern  veden   lMd.     Arnold  von  Immessen  ,    den 

Abhdlgn.  d.   Ü.  Ges.  d.  Y\  iss.  zu  Gottingtn.     Phil.-hist.  Kl.    -V  F.    liand  2,  t  1 


26 

queme  Reimwort  dem  hochdeutschen  Reimvorrat  entnommen  haben.  Wo  Eike 
genenden^  im  Landr.  II  27,  2  ein  zweites  Mal  verwendet,  da  ist  es  von  den  Hand- 
schriften grösstenteils  misverstanden  oder  anderweit  ersetzt  worden,  von  nieder- 
deutschen wie  von  mitteldeutschen  ;  die  Misverständnisse  (genennen  oder  gewenden) 
deuten  auch  auf  eine  w-Form  der  Vorlage,  also  auf  hochdeutschen  Lautstand. 
Leider  find  ich  das  Wort  sonst  in  Eikes  Heimat  nicht;  es  ist  mittelniederdeutsch 
wenig  gebräuchlich,  dort  wol  im  Aussterben  begriffen,  während  es  sich  hoch- 
deutsch hielt.  Hochdeutsch  wirkt  auch  das  a  von  genande,  das  freilich  durch 
den  Reim:  wände  nicht  erwiesen  ist:  gesichert  sind  nur  die  Part,  gewant  193, 
hekant  249,  beide  auch  niederdeutsch  reichlich  belegt. 

Die  3.  Pers.  Plur.  Indic.  Präs.  endet  nach  Reimausweis  auf  -en :  sehouwen  182 
(:  vrouiven),  leeren  210  (:  leren  Infin.),  liegen  228  (:  getriegen  Infin.),  vuren  230  (:  be- 
ivaren  Infin.),  sertben  233  '(:  bekliben  Inf.).  Da/u  steht  in  entschiedenem  Gegen- 
satze, dass  die  niederdeutschen  Handschriften  des  Spiegels,  so  weit  ich  sie  kenne, 
-et  durchaus  vorherrschen  und  -en  nur  mehr  oder  weniger  sparsam  dazwischen 
auftreten  lassen,  zuweilen  in  buntem  Wechsel  (z.  B.  Lehnr.  2,  4  anspreken  unde 
bedet,  Ebi  III  45,  4  heten  linde  söket);  ja  selbst  in  mitteldeutschen  Handschriften 
schimmert  das  -f£  Dank  Irrtümern  und  Versehen  ein  paar  Mal  durch  (s.u.).  Wie 
hat  Eike  gesprochen  ?  Jetzt  ist  in  Reppichau  das  nd.  -et  längst  geschwunden. 
In  den  wenigen  sichern  Beispielen  der  Akener  Acten,  deren  anfangs  präteritale 
Darstellung  dem  Präsens  erst  später  einigen  Raum  lässt,  hab  ich  nur  -en  ge- 
funden (zuerst  1381,  Nr.  1319  des  bekennen  dy  srhepni  ;  dann  Nr.  1580.  1710  u.  ö\). 
Ebenso  in  Calbe  nur  -en.  In  Halle  kommt  -et  grade  in  den  älteren  Aufzeichnun- 
gen eine  kurze  Strecke  lang  mehrfach  vor  (Buch  I  Nr.  354.  355.  359.  364):  dann 
schneiden  die  Präteritalformeln  die  Belege  ab  ;  im  Ganzen  herrscht  auch  in  Halle 
-en.  Das  anhaltische  Urkundenbuch  zeigt  -et  nicht  selten,  namentlich  in  der  Ein- 
gangsformel (we  bekennet,  döt  wetlik) ,  nicht  gerne  bei  Inversion  der  1.  Person 
(hebbe  tue),  oft  in  denselben  Urkunden  schwankend:  es  lässt  sich  wahrnehmen,  dass 
die  tö- Urkunden  meist  -et  haben;  sie  gelten  dem  diplomatischen  Verkehr  mit 
Magdeburg  und  Braunschweig,  allerdings  auch  dem  grossen  Aschersieher  Erb- 
schaftsstreit mit  Halberstadt,  in  dessen  Urkunden  auch  tu,  tu  häufig  ist1).  Da- 
gegen die  Urkunden  localen  Charakters  deuten  entschieden  auf  -en  hin.  Es  ist 
also  mindestens  sehr  möglich,  dass  Eike  lediglich  -en  geläufig  war  und  die  nie- 
derdeutschen -et  der  Sachsenspiegelhandschriften  samt  und  sonders  der  verfäl- 
schenden Ueberlieferung  zur  Last  fallen  :    die  Sächsische  Weltchronik    mit  ihren 


Goedeke  gleichfalls  nach  Goslar  setzt  (ich  weiss  nitht  warum),  hat  immer  neden.  Oass  dies  neden 
nicht  —  mhd.  nieten  ist,  wie  Walther  (Mnd.  Handwb  244*)  anzunehmen  scheint,  das  erweist  mir  neben 
der  Bedeutung  die  feste  Verbindung  mit  dorren,  die  genau  dem  mhd.  ich  forste  genenden  entspricht. 
Die  Form  mit  n  ist  mir  mittelniederdeutsch  nicht  bektnnt:  das  genendeäiche  Bertholds  v.  Holle  und 
der  Braunschweiger  Reimchronik  besagt  natürlich  gar  nichts.  Schiller  und  Lübben  führen  ein  zwei- 
felhaftes genent  aus  Lübeck  an. 

1)   Magdeburg  Cod.  dipl.  Anh.  III  175.  217.  226.  268.   320.  321.  410.  420.  438;  Braunschweig 
502.  580/2.  594.  662/3  ;  die  Aschersleber  Sache  322/3.  429.  438.  490.  492.  498  u.  s.  w. 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  27 

-et  ist  mir  kein  Gegenzeugnis  (vgl.  auch  Tümpel,  Niederd.  Stud.  118).  Doch  will 
ich  nicht  verhehlen,  dass  die  Reime  die  -en-Formen  nur  in  Relativsätzen  aul- 
weisen, wo  der  Conjunetiv  nicht  ganz  ausgeschlossen  wäre:  in  der  Vergleichung 
V.  182,  die  conjunetiviseher  Auffassung  besonders  ungünstig  ist,  steht  der  Text 
nicht  ganz  fest.  Auch  für  einen  -c/- sprechenden  Niederdeutschen  wären  also 
Eikes  Reime  erträglich. 

Was  ergibt  sich  ?  Lautet  die  Frage  :  entweder  —  oder  — ,  hochdeutsch  oder 
niederdeutsch,  so  wird  die  Entscheidung  nur  zögernd  für  das  Hochdeutsche1)  aus- 
fallen dürfen.  Die  Reimkriterien  reichen  nicht  recht  aus.  Zumal  hän,  hat,  gät, 
-hu  sind  bequeme  hochdeutsche  Reimsilben,  die  im  14.  und  15.  Jahrhundert  zur 
ständigen  Reimpraxis  auch  niederdeutscher  Gedichte  gehören.  Aber  diese  tra- 
ditionelle Reimpraxis  konnte  für  Eike  kaum  schon  bestehn,  wie  denn  der  freilich 
noch  ältere  Wernher  von  Elmendorf,  der  in  ähnlicher  Lage  war  den  hochdeutschen 
Reimen  gegenüber,  sich  von  jener  Gruppe  nicht  einen  aneignet,  während  er 
z.  B.  das  bei  Eike  fehlende  sagen  im  Heime  abhetzt.  Zu  Eikes  Zeit  sind  die 
später  nichtssagenden  Heime  also  noch  von  individuellerer  Bedeutung.  Immerhin, 
man  wünschte  schlagendere  Belege1.  —  Auch  der  Wortschatz  bietet  nur  un- 
sichere Stützen,  antlitze  182  ist  hochdeutsch;  das  Schwanken  der  niederdeutschen 
Handschriften  zwischen  ai'tlät,  ang/teziehte,  antlüte  (Eh)  verdächtigt  sie:  Eike  las 
antlitze  bei  Wernher  von  Elmendorf  1 317) ;  aber  gesichert  ist  diese  Wortgestalt 
ausser  dem  Reime  eben  nicht.  Das  hochdeutsche  gefallen  „placere"  (nd.  bevallen) 
124,  niene  „nicht"  112  steht  gleichfalls  nicht  wider  allen  Zweifel  fest.  Ueber 
säri  später,  genant  (:  Ixkcuit)  179.  263  sieht  hochdeutsch  aus,  im  Sachsenspiegel 
selbst  scheint  nomen ,  benömen  fast  allein  zu  herrschen:  aber  auch  die  Akener 
Schöffenbücher  haben  wenigstens  in  ihren  spätem  Partien  sehr  oft  vorgenant 
u.  ä.  (Nr.  1710.  1715  u.  s.  w.) ;  in  Halle  zuerst  Nr.  1182,  ca.  1320;  früher  (Nr.  431) 
benömet ;  in  den  Anhalter  Urkunden  herrscht  durchaus  benümt,  benömet.  aber  schon 
111  175.  226.  298.  300  daneben  in  derselben  Urkunde  benant.  nennen  war  für 
Eike,  wenn  es  seiner  Sprache  angehörte,  jedesfalls  der  minder  alltägliche,  ge- 
wähltere Ausdruck.  —  Die  Verbindung  des  ime  was  eil  ungedacht  273  und  man- 
ches andre  ist  mir  niederdeutsch  minder  bekannt:  aber  was  will  das  sagen? 
Es  würde  höchstens  auf  eine  von  vornherein  wahtfeheinliche  Bekanntschaft  mit 
hochdeutscher  Litteratnrsprache  hindeuten,  wie  sie  Richard  Schröder,  Zeitschrift 
f.  Rechtsgeschichte  14.  247,  constatirt  hat.  Andrerseits  schmecke  ich  aus  angest 
221  im  Sinne  von  „Furcht",  aus  bejegenen  143  „sich  ereignen"  und  aus  bliben 
242,  in  dem  ich  die  von  mir  schon  bei  Wampen  und  sonst2)  beobachtete  Be- 
deutung „werden"  zu  finden  glaube,  niederdeutsche  Nuancen  heraus. 


1)  d.h.  für  das  Mitteldeutsche.  Es  sei  mir  auch  weiter  gestattet,  allgemein  „hochdeutsch" 
im  Gegensatz  zum  Niederdeutschen  zu  sü^en.  Ganz  gewis  war  Mitteldeutschland  lür  den  platt- 
deutschen Norden  der  nächste  Vertreter  und  gegebene  Vermittler  hochdeutscher  Sprache  und  Cultur; 

ich  mag  das  aber  nicht  für  jede  Einzelheit  behaupten  und  entscheiden. 

2)  Vgl.  ADH  41,  133,  wo  ich  darin  fälschlich  einen  suecismus  sah;  ferner  Sachsenspiegel  II 
54,  3  durch  dat  dat  dorp  nicht  hirdelös  ne  blive   (d.i.  werde;   vorher  hat  es  einen  Hirten  gehabt); 

4* 

8 


28  GUSTAV    ROETHE, 

Charakteristischer  als  das  Hochdeutsche  und  als  das  Niederdeutsche  scheint 
mir  schliesslich  doch  der  Mangel  ausgeprägter  sprachlicher  Physiognomie.  Jener 
Reim  ivat  :  hat  ist  gradezu  symbolisch.  Und  ich  kann  mich  dem  Eindruck  nicht 
entziehen ,  dass  Eike  den  prononcirten  Sprachcharakter  gemieden  ,  den  gemein- 
samen Besitz  des  Mittel-  und  Niederdeutschen  bevorzugt  hat.  Jene  -en-Formen 
nur  in  Nebensätzen,  wo  sie  dem  Hoch-  und  Niederdeutschen  allenfalls  angemessen 
waren,  könnten  Absicht  sein.  Es  kann  Absicht  sein,  dass  Eike  den  naheliegenden 
Reimen  auf  -az  aus  dem  Wege  gegangen  ist,  um  nämlich  das  entscheidende  z  aus  der 
kritischen  Versstelle  fern  zu  halten.  Die  bequemen  Reime  sol  :  wol,  vil  :  teil  mied  er 
etwa,  weil  sie,  obgleich  hochdeutsch  gut,  ihm  niederdeutsch  nicht  behagten.  Im 
Grunde  ist  Eikes  Praefatio  ungefähr  ebensogut  im  niederdeutschen  wie  im  mittel- 
deutschen Lautstand  wiederzugeben  :  beides  geht  nicht  glatt  auf.  Dem  Niederdeut- 
schen ist  Niederdeutsches  entschlüpft ;  der  Schüler  hochdeutscher  Dichtung  verleug- 
net die  bequeme  hochdeutsche  Reimtradition  nicht  ganz.  Die  hochdeutschen  Spuren 
sind  freilich  gewichtiger,  weil  sie  bewusstere  Anlehnung  voraussetzen,  zumal  bei 
Eike,  für  den  die  Reimgepflogenheiten  der  spätem  mittelniederdeutschen  Dichtung 
noch  nicht  existirten.  Das  Wesentliche  in  der  Sprache  der  Vorrede  bleibt,  dass 
sie  die  markanten  Idiotismen  beider  Sprachgestalten  leidlich  fern  hält. 

Was  trotzdem  allgemein  Ausschlag  gegeben  hat  für  die  Entscheidung  „hoch- 
deutsch", ist  fast  ein  Zufall.  Die  von  Homeyer  zu  Grunde  gelegte  nieder- 
deutsche Handschrift  En  bringt  die  Praefatio  in  mittel  deutscher  Sprache. 
Das  ist  gewis  beachtenswert,  aber  wahrscheinlich  der  einzige  Fall  ')  und  um  so 
mindern  Gewichts ,  als  die  junge  Handschrift  bereits  die  mitteldeutsche  erste 
Praefatio  vorgesetzt  zeigt.  Indessen  hab  ich  in  Aw  ein  zweimaliges  daz  eben- 
falls nur  in  der  Praefatio  gefunden,  die  dort  auch  sonst  an  hochdeutschen  Spuren 
etwas  reicher  ist  als  die  übrige  Handschrift.  Solche  Tatsachen  deuten  zurück  auf 
eine  mitteldeutsche  Vorlage  jener  Handschriften,  beweisen  aber  nicht,  dass  in  ihr 
grade  nur  die  Praefatio  mitteldeutsch  war :  die  bessere  Erhaltung  des  mittel- 
deutschen Sprachtypus  in  der  Reimvorrede  erklärt  sich  hinreichend  aus  dem  Re- 
spect,  den  der  Abschreiber  den  Versen  erfahrungsmässig  und  begreiflicher  Weise 
mehr  zollte  als  der  Prosa :  war  doch  der  Reim  eine  Controle  seiner  Treue.  Dass 
die  Praefatio  Eikes  früh  in  mitteldeutscher  Form  verbreitet  war,  dafür  spricht 
auch  ihre  Ergänzung,  die  erste  Vorrede,  die,  unzweifelhaft  mitteldeutsch,  doch 
nur  einem  mitteldeutschen  Text  vorgeschoben  werden  konnte.  Indessen  an  dem 
frühen  Auftreten  mitteldeutscher  Sachsenspiegelhandschrilten  zweifelt  Niemand  :  ist 
doch  schon  die  älteste  datirte  Handschrift,  die  wir  haben  (von  1295),  mitteldeutsch. 

Gandersheimer  Chronik  1542,  wo  der  jüngere  Herzog  Hinrieb,  als  noQyvQoytvvrixos  beansprucht, 
he  scholde  vil  hüker  konnig  hliven\  Brauusehw.  Chronik  436,  wo  von  der  Herzogin  Ote  gesagt 
wird  :  verliehe  der  Kaiser  Königreiche  nach  icerdicheit,  .  .  .  se  icere  koninginne  hieven  (d.  i.  gewor- 
den;  die  Gandersheimer  Quelle  des  Dichters  sagt  203  dannoch  mochte  se  sin  gewesen  konniginne). 
C.  Kraus  schrieb  mir,  dass  er  diese  Bedeutung  von  bliven  schon  im  Heliand  beobachtet  habe. 

1)  Allerdings  führt  Homeyer  I  49  die  niederdeutsche  Göttweiher  Handschrift  D%  (Rechtsbücher 
S.  100),  in  der  die  Reimvorrede  steht,  nicht  unter  den  Handschriften  mit  niederdeutscher  Reimvorrede 
an:  leider  sind  Homeyers  Angaben  nicht  so  präcis,  dass  ich  daraus  einen  Schluss  zu  ziehen  wagte. 

e 


DIE   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  29 


III. 


Ich  habe  bisher  Eikes  Reime  nur  aus  sich  heraus  zu  fassen  versucht.  Aber 
sie  sind  kein  Phänomen  für  sich :  wir  dürfen  nicht  länger  auf  die  Hilfsmittel 
verzichten,  die  uns  Zeit  und  Ort  der  Entstehung  für  das  Verständnis  der  sprach- 
lichen Gestalt  an  die  Hand  geben.  Der  naive  Mensch  schliesst  etwa :  Eike  war 
Niederdeutscher,  also  wird  er  doch  wol  niederdeutsch  gedichtet  haben.  Die  harm- 
lose Vorstellung,  es  sei  natürlich,  dass  der  Dichter  in  der  heimischen  Mundart 
dichte ,  ist ,  obgleich  auch  der  Wissenschaft  nicht  ganz  fremd ,  so  schief  wie  ir- 
gend möglich.  Sie  ist  etwa  ebenso  richtig,  wie  wenn  man  in  der  künstlerischen 
Darstellung  den  individualistischen  Naturalismus  für  die  „natürliche^  Gestaltungs- 
form halten  wollte.  Leider  Gottes  ist  nichts  schwerer,  als  mit  eignen  Augen  zu 
sehen  und  mit  eignen  Ohren  zu  hören,  und  der  Weg  vom  Auge  zum  Pinsel,  vom 
Ohre  zur  Feder  ist  weit.  Den  Unterschied  zwischen  gesprochner  Sprache  und 
geschriebner  kann  man  noch  heute  zur  Genüge  studiren  ;  wie  viel  grösser  war 
er  in  den  Tagen  des  Pergaments  und  der  schönen  Bücherschrift,  die  bereits 
äusserlich  beweist,  welchen  Respect  man  dem  geschriebnen  Worte  zollte.  Lehrt 
doch  schon  die  obligate  Versform  für  Alles  und  Jedes,  dass  man  die  litterarische 
Rede  aufs  Stärkste  stilisirt  verlangte,  dass  man  die  Alltäglichkeit  geflissentlich 
floh.  Stil  aber  ist  zugleich  Tradition.  „Natürlich"  ist,  war  und  wird  sein  für 
den  Durchschnittsmenschen,  dass  er  nicht  seine,  sondern  seiner  Vorbilder  Sprache 
schreibt,  wenn  er  sich  litterarisch  betätigen  will ;  und  wer  in  der  Nähe  keine 
Vorbilder  hat,  der  sucht  sie  sich  in  der  Ferne;  wie  weit  die  bewusste  oder  un- 
bewusste  Nachahmung  glückt,  ist  eine  andere  Frage.  „Natürlich"  war  für  Eike. 
dass  er  sein  Rechtsbuch  lateinisch  schrieb ,  obgleich  er  vom  SchölFenstuhl  her 
nur  das  Deutsche  gewöhnt  war.  Der  Wunsch  seines  Grafen  zwingt  ihm  dann 
freilich  die  deutsche  Sprache  auf,  und  er  ist  präciser  Jurist  genug,  um  der  Ge- 
setzsammlung die  poetische  Form  zu  ersparen:  „natürlich"  aber  ist  ihm  doch, 
dass  er  bei  der  ersten  Gelegenheit,  also  in  der  Vorrede,  zum  Reime  übergeht; 
selbst  den  winzigen  Prosaprolog,  den  er  sich  dazu  abquält,  beginnt  er  mit  einem 
Reime;  die  Reimsprache  fand  er  eben  litterarisch  geprägt,  und  der  Mensch  steht 
nun  einmal  höchst  ungern  auf  eignen  Füssen. 

Dass  Eikes  Reime  im  Ganzen  mit  dem  Wort-  und  Reimschatz  der  hoch- 
deutschen Literatursprache  operiren  ,  hat  man  längst  bemerkt.  Ich  kann  auch 
die  unmittelbar  sichere  Anlehnung  nachweisen,  aber  freilich  für  das  kurze  Stück 
nur  an  einen  Dichter,  und  das  war  ein  in  Thüringen  reimender  Niederdeutscher. 
der  Didaktiker  We  ruber  von  Elmendorf.  Sein  Lehrgedicht  musste  Eike 
um  so  sympathischer  sein,  als  es  alle  Tugend  beim  Recht  einsetzen  lässt:  alL 
tugent  saltu  minnen,  daz  saltu  an  dem  recht  beginnen!  (239).  Dass  die  Weisheit 
der  alten  Heiden  dort  das  grosse  Wort  führt,  war  Eike  gewiss  nur  genehm,  der 
selbst  den  .Königsfrieden  auf  Vespasian,  den  Ausschluss  der  Frau  vom  Vor- 
sprechertum   auf  die  antike  Juristenanekdote  von  der  streitsüchtigen  Calefurnia 


30  GUSTAV    ROETHE, 

(Afrania)  zurückfuhrt.  So  entnahm  er  Wernher  gerne  jenes  schöne  Gleichnis 
vom  Schatz  des  Wissens,  das  gradezu  den  Kern  von  Eikes  Praefatio,  vielleicht 
seiner  gesamten  Schriftstellerei  bildet.  Wernher  schilt,  und  das  in  der  Einleitung 
(V.  43  ff.),  die  sich  in  der  von  Schönbachs  fruchtbarer  Gelehrsamkeit  erwiesenen 
Quelle  des  Gedichts  nicht  findet,  die  säumigen  Christen,  die  von  heidnischer  Moral- 
lehre nur  lernen  könnten:  iz  ist  manic  cristenman,  der  gnüc  wisheit  kan  und  si  an  sich 
selben  inne  keret;  nocheiner  den  andern  nicht  leret  und  intüt  doch  so  vile,  daz  her  si 
mit  last  oder  mit  spile  an  ein  hlat  gescrihe.  Und  doch :  was  nützt  es ,  das  Licht 
unter  den  Scheffel  zu  stellen:  und  nun  fährt  er  fort:  ouch  ensal  her  nummer  riche 
werden ,  der  sinen  schätz  hegrehet  under  der  erden ;  diz  selbe  gediite  get  an  di  litte, 
di  di  andern  ivol  geierin  kuunen  und  in  der  selikeit  nicht  gunnen  (V.  59 — 64).  Zu 
Grunde  liegt  natürlich  Eccles.  20,  32  sapientia  absconsa  et  thesaurus  invisus:  quae 
idilitas  in  utrisque?  invisus  durch  begraben  zu  übersetzen,  war  offenbar  deutsche 
sprichwörtliche  Fassung  (Schulze,  Bibl.  Sprichw.  S.  112  ff.).  Dass  aber  nicht  das 
Sprichwort  oder  die  Bibelstelle  Eike  unmittelbar  anregten,  lehrt  einmal  der 
Reim  Eikes  under  der  erde:  werde,  dann  die  Vorstellung,  dass  Gott  den  Freige- 
bigen reicher  mache  (Praef.  172),  was  Eike  aus  Wernhers  Worten  V.  59  heraus- 
las x)  ;  vor  Allem  die  entscheidende  Moral:  also  schriftstellert ,  ihr  Wissenden! 
Dass  Eike  gleich  vorher  (V.  153),  Wernher  gleich  nachher  (V.  67)  sich  auf  die 
Vorfahren  beruft,  verstärkt  die  Sicherheit.  Aber  der  Zusammenhang  bestätigt 
sich  noch  weiter :  aus  Wernher  V.  243  hat  Eike  den  Gedanken ,  dass  niemant  is 
so  beese,  dass  er  sein  Recht  nicht  festzuhalten  suchte,  wenn  ein  Andrer  ihn  quäle. 
Wernher  meint  beese  wol  als  „jämmerlich,  schwach'4  :  „selbst  der  Wurm  krümmt 
sich" ;  Eike  fasst  es  V.  113  als  unrecht  :  sivie  unrecht  si  der  man,  er  sucht  sein 
Recht  festzuhalten ;  ähnlicher  noch  im  Lehnsrecht  78,  2 :  it  n'  is  nieman  so  un- 
recht, it  ne  dunke  ine  unbillik,  of  man  ime  unrechte  du.  Dazu  sichernd  manch  Ein- 
zelnes :  gros  angist  get  in  ane  sagt  Wernher  320  (vgl.  173) ,  wörtlich  so  Eike 
221 2) ;  —  die  Mahnung  nu  müz  der  riche  dem  armin  gebin  Wernh.  290  heisst  bei 
Eike,  mitten  im  Schatzgleichnis:  der  riche  sal  den  armen  laben  (Praef.  166) ;  — 
der  Richter  soll  nach  Wernher  so  zu  Gericht  sitzen ,  daz  in  br  engen  von  sinen 
witzen  wedir  gut  noch  zorn  (V.  277) ;  Eike  lehrt  die  Richter:  nu  set,  daz  üch  ne- 
manncs  liebe  noch  leide  noch  zorn  noclt  gift  so  ne  blende,  daz  man  üch  von  dem 
rechte  wende  (Praef.  1491'.):  Wernhers  gut  hat  er,  vielleicht  falsch,  mit  gift  umschrie- 
ben ,  während  es  wol  „Studium"  neben  der  „ira"  meint:  so  erklärt  sich  Eikes 
.sonderbare  Verbindung  zorn  noch  gift9).  Die  sämtlichen  Anklänge  drängen  sich 
im  Anfange  der  Wernherschen  Dichtung4). 

1)  Simrock,  Sprichw.  7024  bat  Eikes  Grundgedanken  in  epigrammatischer  Form  :  „Der  Milde 
giebt  sich  reich,  der  Gt-izhals  nimmt  sich  arm". 

2)  daz  icirrit  mir  Wernher  185.     Eike  103. 

3)  In  dem  Prosaprolog  (Hom.  I  S.  136)  ,  der  diese  Stelle  aus  der  Versvorrede  wiederholte, 
hat  eine  späte  Handschrift,  Da,  statt  zorn  noch  gift  „hat  edder  gut". 

4)  Praefatio  I  zeigt  keine  einzige  greifbare  Beziehung ;  die  auf  das  Wild  los  buffenden  Hunde 
V.  90  haben  mit  Wernhers  Bilde  von  der  Zunge,  die  einem  bellenden  Hündchen  gleiche  (V.  1062) 
weder  im  Ausdruck  noch  im  Gedanken  etwas  zu  tun. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  .*}  1 

In  welchem  Lautstand  las  nun  aber  Eike  jene  Reime?  Oder,  anders  ge- 
fragt: welche  Sprache  schrieb  Wernher?  Auch  das  ist  umstritten:  Sehönbach 
(Zs.  f.  d.  Alt.  34,  75)  glaubt  unter  der  hochdeutschen  Tünche  der  Handschriften  die 
niederdeutsche  Originalfassung  durchschimmern  zu  sehn  ;  Edward  Schröder  (Anz.  f. 
d.  Alt.  17,  79)  und  seitdem  auch  Behaghel  (an  gleich  zu  nennender  Stelle)  halten 
die  überlieferte  hochdeutsche  Sprachform  für  ursprünglich.  Und  dieselbe  Frage 
wiederholt  sich  mit  ziemlicher  Regelmässigkeit  bei  sämmtlichen  dichterischen 
Erzeugnissen  der  mittelniederdeutschen  Frühzait,  die  ich  bis  ca.  zum  Jahre  1300 
rechne.  Einzeluntersuchungen,  so  dringend  sie  da  Not  tun,  machens  nicht  allein.-. 
Es  ist  gradezu  die  Frage:  gab  es  im  13.  Jahrhundert  überhaupt  eine  mittelnie- 
derdeutsche poetische  Litteratur?  Drei  Gesichtspuncte  kommen  für  die  Antwort 
in  Betracht. 

Dass  die  gesamte  mittelniederdeutsche  Dichtung  bis  tief  in  das  Jahrhundert 
der  Reformation  hinein  eine  nicht  geringe  Dosis  hochdeutscher  Reime  mit 
sich  schleppt,  das  hat  über  frühere  Einzelbeobachtungen  hinaus  kürzlich  Beha- 
ghel in  seinem  klärenden,  von  wohltuender  Unbefangenheit  getragenen  Programm 
„Schriftsprache  und  Mundart"  (Giessen  1896)  beinahe  drastisch  erwiesen.  Ge- 
wisse stereotype  hochdeutsche  Reimverbindungen  gestatten  im  15.  Jahrhundert 
und  schon  etwas  früher  tatsächlich  keine  Rückschlüsse  mehr-  auf  die  übrige 
Sprache  der  Dichtung.  Aber  woher  stammen  sie?  Sie  sind  der  ererbte,  tech- 
nisch versteinerte  Rest  aus  einer  Periode,  wo  man  in  Niederdeutschland  nicht 
nur  hochdeutsch  reimte,  sondern  auch  hochdeutsch  schrieb,  so  gut  es  gehn 
wollte.  Welch  absurde  Vorstellung  im  Grunde,  dass  ein  niederdeutscher  Dich- 
ter in  den  Reim  ganze  Gruppen  hochdeutscher  Elemente  aufnehmen  sollte,  wäh- 
rend er  sonst  sich  des  Hochdeutschen  enthielt!  Solch  Widerspruch  kann  sich 
in  der  Entwicklung  herausbilden,  aber  nicht  wol  an  ihrem  Eingang  stehn.  Die 
im  15.  Jahrhundert  fossilen  hochdeutschen  Reime  waren  im  12.  und  13.  lebendig, 
sind  für  diese  Zeit  also  beweiskräftig  auch  über  den  Reim  hinaus.  Es  kommt 
aber  hinzu,  dass  die  mittelniederdeutschen  Dichter  des  13.  Jahrhunderts  vielfach 
hochdeutsche  Reime  aufweisen,  die  ausserhalb  der  später  traditionell  erstarrten 
hat-,  lät-,  lin-j  saget-Keime  liegen,  vor  Allem  Reime  von  niederdeutschem  /.  /..  />  : 
s,  ch,  f.  Und  endlich:  grade  die  Frühzeit  gestattet  oft  die  entscheidende  G-egen- 
probe,  die  freilich  nur  bei  Dichtungen  einigen  Umfangs  Bedeutung  gewinnt:  es 
werden  gewisse  Kategorien  von  niederdeutsch  unbedenklichen  Reimen  (z.  B.  aus- 
lautendes hochdeutsches  t  :  z,  die  Reime  von  Participien  Praet.  und  den  Plural  for- 
men auf  -et,  die  Reime  zwischen  indicat.  weren  „erant"  und  treu,  zwischen  d raget 
„ferta  und  maget,  zwischen  old  „vetus"  und  gohl,  zwischen  kende  „eognovit"  im  ! 
ende  u.a.)  gemieden  oder  wenigstens  stark  beschränkt.  Volle  Consequenz  darf  mal 
nirgend  erwarten:  wie  sollte  der  Niederdeutsche,-  dem  das  Hochdeutsche  lediglich 
Litteratursprache  war.  nicht  Öfter  einmal  unbefangen  in  die  Mundart  verfallen  ?  I  Ja- 
positive  Streben,  Schriftdeutsch  zu  schreiben,  war  oft  genug  bewnsster  als  die  nega- 
tive Folgerung,  das  Dialektische  zu  meiden.  Es  hat  unzweifelhaft  Poeten  geg< 
die  sich  in  der  hochdeutsch  gefärbten  Dichtung  auch  niederdeutsche  Keime  ruhig 

E 


32 

gestattet  haben.  Behaghel  hat  a.  a.  0.  S.  35  ff.  in  schneller,  ruhiger  Abschätzung, 
wenn  auch  etwas  bunt  und  summarisch,  die  niederdeutschen  Dichter  aufgezählt, 
die  ihm  nach  den  Reimen  hochdeutsche  (d.  i.  mitteldeutsche)  Sprachform  ange- 
strebt zu  haben  scheinen.  Ich  selbst  möchte  den  Kreis  noch  weiter  ziehen 1). 
Aber  ich  verkenne  nicht,  dass  die  Grenze  zwischen  dem  Hochdeutsch  mit  nieder- 
deutschen Heimatsspuren  und  dem  Niederdeutsch  mit  nachwirkenden  hochdeut- 
schen Traditionen  nicht  immer  mit  Sicherheit  gezogen  werden  kann. 

Die  Reime  müssen  den  Ausgangspunct  bilden.  Aber  man  darf  nicht  bei 
ihnen  stehn  bleiben.  Wer  niederdeutsche  Gedichte  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
14.  oder  aus  dem  15.  Jahrhundert  etwa  mit  Wernher  v.  Elmendorf  vergleicht, 
dem  drängt  sich  alsbald  der  Unterschied  des  Wortschatzes  auf:  hier  geringe 
niederdeutsche  Spuren,  dort  meist  eine  reiche  Fülle  von  Idiotismen,  die  über  des 
Autors  Herkunft  keinen  Augenblick  zweifeln  lassen.  Das  derbere  Material  des 
Wortschatzes  lässt  sich  im  Ganzen  sicherer  und  leichter  fassen  als  die  feineren 
Unterschiede  der  Syntax,  die  schon  der  des  Hochdeutschen  beflissene  sächsische 
Poet  nicht  selten  übersah,  die  zum  Teil  obendrein  in  der  Ueberlieferung  stärker 
gefährdet  waren.  Keine  Untersuchung  über  die  Sprache  der  frühmittelnieder- 
deutschen Dichtung  darf  sich  der  Rechenschaft  über  den  Wortschatz  entschla- 
gen :  es  ist  eine  arge  Schwäche  der  deutschen  Philologie ,  dass  sie  ihre  sprach- 
liche Forschung  so  gern  mit  den  Lauten  nicht  nur  anfängt ,  sondern  auch  endet, 
und  ich  rechne  Kugel  die  mutige  Entschlossenheit,  mit  der  er  die  Heimat  des 
Hildebrandsliedes  aus  dem  Wortschatz  zu  bestimmen  versucht  hat,  als  metho- 
disches Verdienst  hoch  an ,  obgleich  ich  sein  unter  ungünstigen  Verhältnissen 
gewonnenes  Resultat  nicht  für  richtig  halte.  Sein  Beispiel  zeigt  freilich  das 
Gefährliche  einer  solchen  auf  dem  Wortschatz  aufgebauten  These.  Die  Gefahr 
aber  darf  auch  in  der  Wissenschaft  den  Mann  nicht  schrecken.  —  Für  das  Mittel- 
niederdeutsche des  13.  Jahrhunderts  liegen  die  Verhältnisse  günstiger,  wenn 
gleich  nicht  einfach.  Die  Grenzen  zwischen  mitteldeutschem  und  niederdeutschem 
Wortschatz  sind  an  sich  oft  fliessend  und  verschwimmen  unsrer  Erkenntnis  noch 
öfter,  zumal  bei  der  Schwäche  unsrer  lexikalischen  Hilfsmittel;  jede  neue  Publi- 
cation.  jede  der  reichhaltigen  lexikalischen  Studien  Bechs  erweist  uns,  wie  wenig 
wir  da  wissen.  Trotzdem !  Was  lediglich  der  geläufigen  hochdeutschen  (oder 
mitteldeutschen)  Litteratursprache  angehört,  hebt  sich  im  Ganzen  doch  mit  aus- 
reichender Schärfe  ab  von  dem  specifisch  niederdeutschen  Sprachgut;  und  nur 
das  entscheidet  hier.  Das  mindere  Gewicht  leg  ich  auf  die  Frage,  ob  der  mittel- 
niederdeutsche Dichter  Worte  gebraucht,  die  seiner  Mundart  fremd  sind.  Auch 
dem  hochdeutsch  Belesensten  erlegte  da  schon  sein  niederdeutsches  Publikum 
Beschränkung  und  Auswahl  auf:  es  '  handelt  sich  tatsächlich  um  einen  ziemlich 
engen  Wortkreis.    Gerade  für  diese  Frühzeit  der  mittelniederdeutschen  Dichtung  ist 


1)  Anderseits  halt  ich  für  die  beiden  Stücke  aus  der  livländischen  Sammlung,  die  auch  in 
Behaghels  Notizen  eine  ganz  exceptionelle  Stellung  einnehmen,  zunächst  an  Seelmanns  Auffassung 
fest,  sie  seien  aus  hochdeutschen  Originalen  übertragen. 

B 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  33 

zudem  nicht  immer  abzugrenzen,  was  von  ihren  hochdeutschen  Lehnworten  littera- 
rischer Herkunft  ist,  was  dem  lebendigen  Verkehr  entstammt;  was  individuell 
und  neu,  was  gemeinsprachlicher  Besitz  ist:  so  manches  Wort,  das  im  15.  Jahr- 
hundert kaum  mehr  als  hochdeutsch  empfunden  wurde,  wird  im  12.  und  13. 
der  einzelne  Schriftsteller  litterarisch  eingeführt  haben :  nicht  zagel  und  ziehe, 
aber  vielleicht  stren,  zage  mit  seinen  Ableitungen  u.  ä.  Auch  das  erschwert  die 
Untersuchung,  dass  die  mittelniederdeutsche  Dichtung  der  frühern  Zeit,  mit  dem 
reicher  bezeugten  Sprachschatz  der  Folge  verglichen  ,  manche  Eigenheiten  der 
Wortwahl  zeigt,  für  deren  Verständnis  nicht  nur  die  hochdeutsche  Einwirkung, 
sondern  auch  das  höhere  Alter  der  Werke  in  Betracht  käme.  —  Um  so  bedeutungs- 
voller scheint  es  mir,  wenn  ein  niederdeutscher  Poet  in  seiner  Wortwahl  dem  beson- 
dern niederdeutschen  Element  einen  geflissentlich  kleinen  Raum  lässt.  Dass  man 
zu  vollständiger  Ausschliessung  bei  bestem  Willen  auch  nur  im  Stande  gewesen 
wäre ,  das  freilich  ist  unwahrscheinlich :  ein  derartig  klares ,  wissenschaftliches 
Bewusstsein  über  Schriftsprache  und  Mundart,  über  Hoch-  und  Niederdeutsch 
dürfen  wir  nicht  erwarten.  Die  von  Philologen  gern  erwogene  Rücksicht  auf 
ein  grosses  gemeindeutsches  Publikum,  über  die  Grenzen  der  Madersprake  hinaus, 
hat  gewis  nicht  die  entscheidende  Rolle  bei  jener  ausschliessenden  Wortwahl 
gespielt:  würde  sie  doch  schon  den  weiteren  Gedanken  voraussetzen,  man  könne 
überhaupt  höhere,  litterarischer  Verbreitung  würdige  Poesie  in  andre  als  die 
überkommene  Litteratursprache  kleiden. 

%  Wenn  ein  niederdeutscher  Dichter  Reime  hochdeutschen  Lautstandes  reichlich 
braucht,  niederdeutsche  Worte  sichtlich  meidet,  nun,  dann  dichtet  er  nicht  nieder- 
deutsch, mögen  ihm  in  seiner  Kladde  auch  so  und  so  viel  Saxonismen  echappirt 
sein/-  Aber  die  Gunst  der  Ueberlieferung  hilft  dem,  der  sehen  will,  sogar 
noch  weiter.  Die  gesamte  mittelniederdeutsche  Dichtung  des  13.  Jahrhunderts 
ist  in  hochdeutscher  Sprache  oder  mindestens  in  einer  Sprache  mit  deutlichen 
hochdeutschen  Spuren  auch  ausser  dem  Reime  erhalten.  Diese  Tatsache  spricht 
so  laut,  dass  ein  gut  Stück  dogmatischen  Vorurteils  dazu  gehört,  am  sie  zu 
überhören.  Ich  will  von  den  Lyrikern  nicht  reden,  die  bei  der  Aufnahme  in  die 
grossen  oberdeutschen  oder  mitteldeutschen  Sammlungen  freilich  an  der  Original- 
sprache einbüssen  mussten.  Aber  man  denke  :  wir  haben  hochdeutsch  ganz  oder 
fragmentarisch  für  Eilhart  v.  Oberge  2  Handschriften  des  12.  und  13.  Jahrhun- 
derts, für  Wernher  von  Elmendorf  2  Handschriften  des  13.  und  14.  Jahrhunderts, 
für  Albrecht  v.  Halberstadt,  Konemanns  Kaland  und  die  Braunschweiger  Reim- 
chronik je  1  Handschrift  des  13.  Jahrhunderts,  für  Brun  von  Schonebeck  2  Hand- 
schriften des  14.  Jahrhunderts,  für  Berthold  von  Holle  sogar  ein  halbes  Dutzend 
hochdeutscher  Manuscripte  aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert,  darunter  die  Pommers- 
felder,  die  den  Crane  hochdeutsch  bringt,  während  sie  den  Rosengarten  in  nieder- 
deutscher Lautgestalt  enthält.  Die  Gandersheimer  Reimchronik  freilich,  Konemanns 
Wurzgarten  Maria  und  Bruns  Theophilus  sind  nur  niederdeutsch  erhalten,  aber  erst 
in  späten  Handschriften  des  15.  Jahrhunderts  und  durchsetzt  mit  hochdeutschen 
Lautelementen,  die  Rückschlüsse  auf  die  Vorlage  nahe  legen.     Und    diese    völlig 

Abhdlgn.  d.   K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  GöttiDgen.     Hist.-phil.  Kl.    N.  F.  Band  2,  a.  5 


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lückenlos  zusammenstimmende  Ueberlieferung  soll  trügen  ?  Das  sollen  alles 
mitteldeutsche  Schreiber  verschuldet  haben,  die  systematisch  uns  die  niederdeut- 
schen Originale  verfälscht  hätten?  Fast  widerstrebt  es  mir,  diesen  nichtigen, 
gewalttätigen  Einfall  Leitzmanns  (ßeitr.  16, 9)  zu  bekämpfen,  dessen  einzige 
Begründung  doch  eigentlich  eine  Theorie  ist.  Anscheinend  steht  Leitzmann  dem 
Standpuncte  nahe,  von  dem  aus  vor  25  Jahren  Pauls  eigensinniger,  leichtge- 
zimmerter Habilitationsvortrag  mit  jugendlicher  Einseitigkeit  die  Lehre  von  der 
mittelhochdeutschen  Schriftsprache  bekämpft  hat.  Der  Widerspruch  Pauls  hat 
sein  Verdienstliches  gehabt:  er  hat  die  wohlbegründete  Ansicht,  die  er  bestritt, 
immerhin  vor  schulmässiger  Erstarrung  bewahrt,  er  hat  mittelbar  einen  gewissen 
Anteil  daran,  dass  sich  das  Bild  der  mittelhochdeutschen  Schriftsprache  uns  ge- 
klärt, die  Beweise  ihrer  Existenz  sich  gemehrt  haben.  Pauls  Grundanschauung 
ist  nicht  die  meine.  Aber  wenn  er  die  Mundart  auch  litterarisch  zu  erweisen 
suchte  gegen  die  Schriftsprache,  so  berief  er  sich  auf  die  Ueberlieferung,  gleich- 
viel mit  welchem  Recht:  Leitzmann  muss  sich  grade  sie  vom  Halse  schaffen. 
Im  einzelnen  Falle  ist  es  ja  möglich  ,  dass  der  hochdeutsche  Schreiber  hie  und 
da  niederdeutsche  Züge  verwischte;  bei  Wizlaw  von  Rügen  z.  B.  lässt  sich  das 
wahrnehmen,  freilich  in  der  Jenaer  Sammelhandschrift.  Aber  es  handelt  sich  in 
der  frühen  niederdeutschen  Litteratur  nicht  um  Einzelheiten,  es  handelt  sich  um 
ein?  geschlossene  Reihe  in  einander  greifender,  zum  Teil  fast  gleichzeitiger 
Zeugnisse:  das  hochdeutsche  Dedicationsverschen,  mit  dem  der  Hamburger 
Bürger  Joh.  v.  d.  Berge  vor  1281  dem  Grafen  Gerd  v.  Holstein  die  nieder- 
deutsche Handschrift  der  sächsischen  Weltchronik  darbringt  (in  Weilands  Ausg. 
S.  11),  documentirt  sich  schon  durch  seine  Goldbuchstaben  als  Originalausgabe. 
Ich  weiss  mich  völlig  frei  von  der  törichten  Handschriftenanbetung,  die  Leitz- 
mann mit  Recht  an  der  deutschen  Philologie  rügt.  Aber  gegen  seine  radicale 
Misachtung  der  Ueberlieferung  sträubt  sich  mein  Tatsachensinu.  Und  warum, 
warum  diese  Misachtung?  Was  gewinnt  es  auch  nur  für  seine  Ansicht  dadurch? 
Jene  Gedichte  waren  doch ,  soweit  die  Autoren  nicht  direct  auf  hochdeutschen 
Boden  dichteten ,  zunächst  auf  ein  niederdeutsches  Publikum  berechnet ;  selbst 
Wernher  v.  Elmendorf  schrieb  zwar  in  Heiligenstadt,  aber  für  einen  niederdeut- 
schen Gönner.  Tatsächlich  sind  die  genannten  Handschriften  zum  grössten  Teil 
auch  auf  niederdeutschem  Boden  gefunden.  Es  wären  demnach  im  12 — 14.  Jahrh. 
in  Niederdeutschland  besonders  viele  hochdeutsche  Schreiber  für  Bücherschrift  be- 
schäftigt gewesen,  oder  aber  man  Hess  sich  seine  Handschriften  im  hochdeutschen 
Süden  anfertigen.  Gleichviel:  wie  war  ein  solcher  Zustand  möglich,  wenn  das 
niederdeutsche  Publikum  nicht  gerne  und  leicht  hochdeutsch  gelesen  hätte?  Und 
wie  uns  die  hochdeutschen  Schreiber  auf  ein  hochdeutsch  lesendes  Publikum 
schliessen  lassen,  annähernd  ebenso  sicher  weist  dieser  Geschmack  des  Publi- 
kums auf  hochdeutsch  dichtende  Poeten  zurück.  Genau  das  Gegenteil  von  Leitz- 
manns Ansicht  hat  innere  Wahrscheinlichkeit :  als  es  im  14.  und  15.  Jahrhundert 
wirklich  eine  mittelniederdeutsche  Litteratur  gab,  da  lag  es  nahe,  die  heimischen 
hochdeutschen  Dichtungen  niederdeutsch  umzuschreib-n.  Und  das  bestätigen 
8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  35 

wiederum  die  Tatsachen.  Die  wenigen  niederdeutschen  Aufzeichnungen  früh- 
mittelniederdeutscher Dichtungen  stehn  den  hochdeutschen  wie  an  Zahl  so  an 
Alter  und  Wert  nach.  Die  niederdeutsche  Wolfenbüttler  Handschrift  der  Braun- 
schweiger Chronik  ist  eine  jüngere  niederdeutsche  Bearbeitung  des  in  der  altern 
Hamburger  Handschrift  hochdeutsch  erhaltnen  Originals  und  wimmelt  demgemäss 
von  hochdeutschen  Resten.  Konemanns  Kaland  steht  hochdeutsch  in  einer  wert- 
vollen Handschrift  des  13.  Jahrhunderts,  die  3  niederdeutschen  Manuscripte  des 
Kaland  sind  weit  Jüngern,  ja  jüngsten  Datums;  Euling  wird  seinen  Versuch 
(Niederd.  Jahrb.  18,  19  ff.),  den  überlegnen  Wert  jener  alten  Handschrift  anzu- 
fechten zu  Gunsten  der  niederdeutschen  Nachfahren ,  voraussichtlich  selbst  als 
gescheitert  ansehen,  wenn  er  erst  Konemanns  umfänglichen  Wurzgarten  kennen 
gelernt  hat *).  In  derselben  Göttinger  Papierhandschrift  des  15.  Jahrhunderts 
(cod.  theol.  153)  stehn  noch  die  Theophiluslegende  Bruns  v.  Schonebeck  und 
andre  geistliche  Gedichte,  ebenso  wie  Konemanns  Verse  in  der  Hauptsache  von 
niederdeutscher  Schriftfärbung,  doch  mit  hochdeutschen  Spuren.  Am  Schluss 
des  Wurzgartens  (Bl.  210c)  stellt  sich  uns  der  Schreiber  vor: 

Les  vTi  laue  mek 

Johänes  screff  mek 

Johänes  ys  he  ghenät 

Benediget  sy  sin  haut 
5     Nu  vn  to  allen  stunden 

Des  help  my  got  vn  syn  h  viff  ivüden 

Dat  ik  nümer  mote  scriue  ofte  dichten 

Höre  dat  seyn  vn  lesen  lichten  2) 

Dat  jnnich  vn  gut  to  gode  sy 
10  Des  helpe  maria  de  reyne  my.  Amen. 
Der  Vers  ist  niederdeutsch  in  Schreibweise  und  Reim  {viff  „fünf,  si  :  ml  „mira), 
Johannes  war  also  ein  niederdeutscher  Schreiber.  Aber  schon  auf  dem  Blatte 
vorher  schreibt  dieselbe  Hand  in  Konemanns  Dichtung  nicht  mek,  sondern  mich  : 
dich,  hier  der  Vorlage  getreu ;  es  ist  nur  wahrscheinlich,  dass  eben  der  Schreiber 
Johannes  an  dem  niederdeutschen  Typus  der  Handschrift  starken  Anteil  hatte3). 

1)  Ich  betone  insbesondere,  dass  die  gleichmässig  kurzen  Verszeilen,  die  Dreireime,  die  reim- 
losen Zeilen  dem  Kaland  A  mit  dem  Wurzgarten  gemein  sind,  während  der  Hornburger  Kaland  (II) 
vielfach  stärker  gefüllte  Verse  uud  regelmässige  Reimpaare  einführt :  wie  denn  auch  ein  Corrector 
des  Wurzparten  die  scheinbar  fehlenden  Reimzeilen ,  schwerlich  authentisch ,  ergänzt ;  auch  Eber- 
hard v.  Gandersheim  entbehrt  der  zweiten  reimenden  Zeile  mehrmals.  Der  typische  Reim  uas  : 
das  (Kaland  A  350),  im  Wurzgarten  so  und  gleichartig  12mal  belegt,  ist  in  H  beseitigt;  ebenso 
hat  H  das  auch  von  Euling  (S.  20  f.)  falsch  verstandene,  starr  gewordene  hochdeutsche  göder  (Ka- 
land A  103.  285)  beidemal  geändert  ,  während  der  Wurzgarten  dies  göder  u.  ä.  nicht  weniger  als 
14  mal  gebraucht.  Eulings  textkritische  Bedenken  S.  24  teil  ich  nicht.  Sellos  gewissenhafte  Aus- 
gabe des  Kaland  (Zs.  des  Harzvereins  23,  116  ff.)  wird  in  allem  Wesentlichen  ein  zutreffendes  Bild 
der  Dichtung  geben ;  nur  sie  darf  jeder  Untersuchung  zu  Grunde  gelegt  werden. 

2)  Ich  versteh  diese  Zeile  nicht.  Sollte  sie  corrupt  sein  ,  so  würde  der  Schreibervers  schon 
in  der  Vorlage  gestanden  haben.  Sachlich  ist  das  kaum  von  Belang:  dann  fällt  der  als  nieder- 
deutsch   durch  den  Reim  gesicherte  Schreiber  und  seine  Wirkungen  um  eine  Etappe  früher. 

3)  Von  hochdeutschen  Lauterscheinungen   im    Wurzgarten   notire   ich   vor  Allem   das    häufige 

5*  8 


36 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  geboten,  die  hochdeutsche  Ueberlieferung 
niederdeutscher  Dichter  *)  zu  schonen  :  wir  können  Waitz  nur  dankbar  sein,  dass 
seine  reife  Erfahrung  Weiland  abhielt,  an  der  Braunschweiger  Reimchronik  ein 
philologisches  Experiment  zu  üben.  Schimmern  neben  hochdeutschen  Reimen  und 
Worten  mehr  oder  minder  reiche  niederdeutsche  Elemente  durch  die  hochdeutsche 
Hülle  durch,  nun,  so  braucht  das  zunächst  nur  zu  beweisen,  dass  die  Nieder- 
deutschen des  13.  Jahrhunderts  hinter  ihren  litteratursprachlichen  Idealen  zurück- 
geblieben sind:  bedurfte  es  doch  fast  gelehrter  Kenntnisse,  um  zu  wissen,  was 
von  niederdeutschen  Reimen  hochdeutsch  unzulässig  war :  das  Hochdeutsche  diffe- 
renzierte bunter,  in  Consonanten  wie  in  Vocalen.  Was  insbesondere  W  ernher 
von  Elmendorf  betrifft,  so  seh  ich  nicht  den  geringsten  Grund,  die  überlieferte 
hochdeutsche  Sprachform  in  der  Hauptsache  anzuzweifeln,  wenn  sie  auch  hie  und 
da  eine  niederdeutsche  Nuance  verwischt  haben  wird.  Auf  die  Reime  hin  entschei- 
det sich  auch  Behaghel  (a.  a.  0.  S.  37)  für  hochdeutsche  Abfassung  des  Lehrge- 
dichte :  leider  wird  der  Ertrag  durch  Wernhers  unreine  Reimtechnik  beeinträch- 
tigt 2).     Die  Wortwahl    aber    ist    ganz  entschieden    hochdeutsch ,    ohne    dass    ich 

z  und  s  für  nd.  t:  z.B.  vorstoczen  :  genoczen  161c,  maczen  :  vorlaczeu  105b,  icortzen  21Öb,  sozen 
164b,  vorbosen  :  Torstosen  183b,  buse  :  suse  183b  u.  ä.,  iczo  (sehr  oft),  icitze  (öfter),  icys  ,, weiss''  174» 
(öfter),  bestes  :  st  es  182d,  tuas,  das  (f.  nd.  wat,  dat)  182.c.  169c  und  mehr  (ja  187d  ist  sogar  misverste- 
hend  wat  für  tvas  „war"  eingesetzt  worden,  vielleicht  id  196a  u.  ö.  für  is),  beserunge  183c,  das 
„dies"  170d,  us  für  üt  z.B.  171a,  anlautend  meist  s  :  so  174a.  184b.  195b  (neben  zo  „zut;  163*), 
Sit  „Zeit"  164b,  ghesam  „geziemte"  178a.  188c  {gezam  180a),  suchten  „Züchten"  169d,  doch  auch 
zet  209a,  zücke  199a ,  irzeighet  193d.  201c;  das  wiederholte  hvar  f.  sicar  159b.  c.  i60b  u.  ö.,  to  f. 
so  182d  erklärt  sich  so,  dass  schon  in  der  Vorlage  s  und  z  promiscue  gebraucht  wurden; —  ferner 
t  für  nd.  d:  ture  „teuer",  trophe,  tongen  (fast  immer),  to  (hd.  tuo)  160c,  ghetan  (z.B.  174d.  179c.d), 
gute  (sehr  oft),  blote  186a,  vtote  190c,  ghemote  (sehr  oft),  Tater  181c,  ritter  200d  ö.,  moter  205a ; 
twingen  (sehr  oft,  aber  auch  sonst  ist  tw<dw  mnd.  Hss.  nicht  ganz  fremd);  —  /'  für  nd.  p  in  gescaffen, 
schafu.ö.; —  ch  für  nd.  k,  besonders  oft  im  Reime;  ausserdem  nicht  nur  auslautend,  wie  in  zahl- 
reichsten Fällen,  sondern  auch  im  Inlaut,  z.  B.  sacke  190b,  ivunderliche  190b,  ivystichide  :  rychede  (?) 
160a  (herlichte  :  richte  176d  ist  wol  aus  herliche  :  riche  misverstanden);  es  ist  lehrreich,  wie  der 
Schreiber  203a  schon  dek  geschrieben  hatte  und  dann  dich  nachschrieb  ,  um  den  Reim  aufrecht  zu 
erhalten;  —  vereinzelt  wer  „quis"  200b,  der  166c,  er(e)  206d,  mir  204a  u.  ö. ;  Torposen  178a.  Von 
vocalischen  Schwankungen,  wie  u  neben  o  für  hd.  no,  u,  ü  seh  ich  ab,  ebenso  von  hochdeutschen 
Formen  wie  han,  sagen,  brüst  etc.  Die  Masse  der  hochdeutschen  Wortbilder  ist  jedesfalls  zu 
reich  ,  als  dass  sie  wie  die  gelegentlichen  hochdeutschen  Ausweichungen  dieser  und  jener  beliebi- 
gen mittelniederdeutschen  Handschrift  beurteilt  werden  dürften.  Ganz  ähnlich  liegts  in  den  übri- 
gen deutschen  Stücken  des  Codex  (z.B.  ridderlikes  Ntr.  Sing.  218b). 

1)  Ob  es  auch  nur  bei  Veldeke  richtig  war,  mit  Entschiedenheit  bis  zur  Maestrichter  Mund- 
art zurückzugehn,  das  will  ich  hier  um  so  weniger  erörtern,  als  Kraus  eine  Untersuchung,  die  in 
diese  Richtung  schaut,  in  Aussicht  gestellt  hat.  Dass  dieser  und  jener  Punct  der  Frage  Parallelen 
zu  dem  mittelniederdeutschen  Problem  bietet ,  ist  dem  Herausgeber  selbst  nicht  entgangen.  Aber 
schon  die  litterarhistorischen  Voraussetzungen  sind  bei  Veldeke  Braunes  und  Behaghels  Auffassung 
unvergleichlich    günstiger    als  bei    den  mittelniederdeutschen  Poeten    des  12.  und  13.  Jahrhunderts. 

2)  Zu  streichen  ist  bei  Behaghel  der  Reim  hüs:blöz,  den  Sauerland  Zs.  30,  25  einleuchtend 
emendirt.  Hochdeutsch  sieht  ausser  dem  von  Behaghel  Verzeichneten  etwa  noch  aus  Terre  :  deferre 
774  (aber  vielleicht  unrein  Terne),  die  Reimformen  giht,  geschiht  963.  1159  (spricht :  gesiht  679.  913 
kann  auch  giht  :  gesiht  meinen),    Im  (d.  i.  nd.  liggen)  :  Torzien  624   (vgl.   auch  133),  ziet :  Vit  (nd.  in 

8 


Dil;    REIMVORREDES    DES   SACHSENSPIEGELS.  37 

darum  die  oldenburgische  Heimat  beanstanden  möchte :  denn  das  von  Haupt  fort- 
conjicirte  zweimalige  nösen  (244.  605)  „schädigen"  weist,  sicherlich  zu  dem  nösada 
der  Lipsianischen  Glossen,  mnl.  niederrheinisch  nösen  gehörig,  frappant  ins  tiefe 
Niederdeutschland,  vielleicht  auch  in  seinen  "Westen  l).  Darüber  hinaus  freilich 
nichts  Schlagendes  2)  im  Wortmaterial !  Kein  Wunder,  dass  man  Wernher  lange 
für  einen  Thüringer  gehalten  hat  und  noch  hält 3).  Der  Heiligenstädter  Caplan 
hatte  auf  hochdeutschem  Sprachgebiet  lebend  ebensowohl  von  seiner  Umgebung 
gelernt ,  wie  es  der  Scholasticus  von  Jechaburg  getan  zu  haben  scheint.  Dass 
Behaghel  Alb  recht  v.  Halberstadt  nicht  unter  den  hochdeutsch  Dichten- 
den nennt,  soll  einen  Zweifel  schwerlich  bedeuten  :  er  schien  ihm  wol  selbstver- 
ständlich. Längst  als  hochdeutsch  anerkannt  ist  von  Reimpaardichtern  ferner  Eil- 
hart v.  Ob  erge4) ;  ebenso  Brunv.  Schonebeck,  bei  dem  sich  die  niederdeut- 
schen Elemente  freilich  in  Reim  und  Wortschatz  schon  weit  stärker  fühlbar  machen 
als  bei  den  Frühem.  Zu  dem  sprachlichen  Bilde  Bruns ,  das  Arw.  Fischer  auf 
Grund  des  Hohenliedes  gezeichnet  hat,  stimmt  sein  Theophilus  und  die  anschliessen- 
den  geistlichen  Reime    der    Göttinger  Handschrift 5) ,    abgesehen    von    den   platt- 

der  Regel  liggt)  1198;  tritit  :  stritit  827  hat  Haupt  z.  Neidh.  48,  14  emendiert.  Dagegen  wird  zen 
(ziehen)  :  gejen  10ö7  als  niederdeutsch  gelten  dürfen,  kurz  :  dürft  (d.  i.  durht ,  vgl.  vorchte  :  dorfte 
280  und  durchtige  386.  401  in  b)  583  führt  zwar  auf  kurt  (so  579),  aber  das  ist  dem  Mitteldeutschen 
nicht  fremd.  Selbst  tuon  :  geruo(we)n  269.  825.  929.  1077  ist  besser  als  md.  tun  :  gerün  denn  als 
nd.  dun:  gerauvtn  (geroteen)  zu  verstehn. 

1)  Doch  auch  Erun  von  Schonebeck  schätzt  das  bequeme  Reimwort:  vgl.  Fischers  Glossar 
417b  und  Van  der  almisse  212c  (wo  die  Handschrift  nv  se,  im  Reim  zu  almuse  schreibt). 

2)  Ich  notire  als  nd.  noch  sich  flien  133,  undige  916  (auch  in  der  Braunschweigischen  Reim-. 
Chronik;  vgl.  Elm.  912),  vermnoten  c.  gen.  „begehren"  435.  Andres  was  etwa  noch  auffällt,  wie 
aleine  „obgleich'',  enträten  „fürchten",  enteren  ,  gelenden  ist  der  mitteldeutschen  Literatursprache 
auch  gemäss. 

3)  Ich  bin  Sauerlands  Aufstellungen  oben  gefolgt,  ohne  zu  verkennen,  dass  sie  auf  unsichern 
Stützen  stehn;  vgl.  Edw.  Schröder,  Anz.  17,  77.  Wie  dem  sei,  dass  Wernher  Niederdeutscher  war, 
scheint  mir  durch  die  Reime  von  hd.  t:  z  bewiesen  (3  sichere,  vielleicht  gar  8  Belege:  197.  831. 
1193 ;  583.  603.  867.  919.  1 167) :  denn  von  unreinen  Consonantenbindungen  ist  häufiger  nur  b  :  d  :g;  f  : 
ch  125,  nn  :  nd  571 ,  mm  :  nd  987  (heizet  :  leistet  603)  sind  alle  nur  je  einmal  vertreten  und,  zumal 
im  klingenden  Reim,  immer  noch  leichter  als  t  :  z  wäre. 

4)  Edw.  Schröder  schreibt  mir  an  den  Rand:  „Ich  bin  längst  der  Ueberzeugung ,  dass  auch 
der  Graf  Rudolf  auf  niederdeutschem  Boden  entstand''. 

5)  van  Schonebeke  Brun  nennt  sich  cod.  theol.  Gott.  153  fol.  2l2b  im  Schlussgebete  der 
kleinen  Theophilusdichtung,  die,  obgleich  streckenweise  in  wörtlichem  Zusammenklang  mit  der 
Theophilusepisode  des  Hohen  Liedes  ,  doch  bis  in  den  Inhalt  hinein  einen  selbständigen  Charakter 
trägt.  Das  ihr  in  der  Handschrift  unmittelbar  folgende  Gedicht,  „van  der  almissen"  u.  s.  w. ,  das 
in  losester  Folge,  oft  sprungweise,  auch  wol  lückenhaft  (vgl.  W.  Meyer,  Verzeichnis  der  Göttinger 
Hss.  2,  384)  den  Wert  von  Almosen,  Gebet,  wahrer  Minne,  Messe,  zum  Teil  durch  gut  erzählte 
Beispiele,  erweist  und  dann  zu  den  Seligpreisungen  überlenkt,  dies  Gedicht  ähnelt  in  Reimtechnik 
und  Wortgebrauch  ,  in  stilistischer  Manier  und  wörtlichen  Uebereinstimmungen  den  für  Brun  ge- 
sicherten Dichtungen  so  schlagend,  dass  es  nur  von  ihm  selbst,  was  ich  kaum  bezweifle,  oder  einem 
unmittelbaren  Nachahmer  herrühren  kann.  Dass  Brun  auch  ausser  den  Cautica  noch  vele  güdes 
gedicktes  verfasst  hat,  bestätigt  die  Magdeburger  Schöppenchronik.  Ich  gedenke  auf  die  auch  in- 
haltlich interessierende  Dichtung  demnächst  zurückzukommen  und  dann  auch  zu  erörtern  ,  ob  wir 
es  da  mit  einem  oder  mehreren  Gedichten  zu  tun  haben.  g 


38  .  GUSTAV    ROETHE, 

deutschen  Formen  des  Schreibers,  in  den  wesentlichen  Zügen  so  genau,  dass 
ich  an  dieser  Stelle  von  der  näheren  Erörterung  ihrer  Sprache  absehen  darf1). 
Behaghel  fügt  auch  die  Braunschweigische  Chronik  hinzu;  ich 
stimme  unbedingt  bei;  nur  bedürfen  seine  Angaben,  die  im  Wesentlichen  auf 
den  ersten  2000  Zeilen  beruhen,  der  Ergänzung,  ebenso  wie  Weilands  kurze 
Bemerkungen  (Deutsche  Chron.  II  1,457  f.).  Ich  hebe  die  Hauptsachen  heraus. 
Die  Untersuchung  wird  wiederum  behindert  und  unsicher  durch  die  Unreinheit 
der  Keime,  die  sich  namentlich  im  Vocalismus  fühlbar  macht.  Behaghel  legt 
berechtigten  Kachdruck  auf  die  consonantische  Tatsache,  dass  in  mehr  als 
9000  Versen  nur  dreimal  [nicht  zweimal]  hd.  t  :  hd.  z  gebunden  wird  (4570.  5672. 
Arnolt  :  holz  6087) ;  die  dadurch  empfohlene  Verschiebung  des  t  >  z  wird  gestützt 
durch  döz  (Lehnwort)  :  gröz  3339.  9072,  wiz  :  gliz  2422  (nd.  witt ':  gliz ,  das  Lehn- 
wort ist),  glize  :  vlize  2892,  und  vlize  :  antlitee  2775  (avtlitze  ist  Lehnform  für  nd. 
antldt)  -).  In  der  Labialreihe  steht  dem  einmaligen  strafen,  straffen  (Lehnwort)  : 
pfaffen  174  °)  zwar  in  vier  Fällen  der  Reim  geschapen  :  knappen  gegenüber  (6779. 
8437.  9037.  9114),  ferner  papen  :  knappen  4834:  aber  das  sicher  unreine  straffen  : 
knappen  8899  lässt  auch  die  Autfassung  geschaffen,  pfaffen  :  knappen  zu,  umsomehr 
als  die  Verschiebung  in  den  md.  Reimen  biscof(:  orlof,  lof,  hof,  stöf,  9  Belege  oder  mehr), 
hotif  (:  roitf)  8284,  scaf(:  gaf,  af\  sehr  oft)  und  traf  (:  af)  7018  keinen  Bedenken  unter- 
liegt, sprach  (:  tack,  untwach,  mach,  lach,  mäch,  nach,  sach , jach,  geschach u.  s.w.)  ist  un- 
gefähr 20malr  aber  auch  stach  3052,  dach  3943,  gemach  4425,  brach  (5mal),  back 
6291.  9229  belegt;  loch  (:  hoch)  6190,  buoch  (:  genuoch)  981 ;  zu  Dutzenden  wider  -lieh, 
-rieh,  Brüneswich  (:  zwich  „Zweig" ;  wich  „Kampf";  sich  „siehe";  -ich  [kreftichu.  s.w., 
twentich  u.  s.  w.]) ;  auch  brachte  :  machte  7766,  overdacht  :  gemacht  4157  3).  Der  Reim 
werken  ,, wirken4'  :  kirchen4&§8.  6535  erweist  noch  kein  kerben,  da  auch  iverch :  -bereit 
(1370.  1393.  8011.  8121)  für  eine  Ueberverschiebung  von  -rc  zu  -rch  spricht.  Die 
zahlreichen  (mindestens  17)  Reime  Hinriche ,  -liehe :  ivige  (Ludewige)  werden  demge- 
mäss  besser  als  -ichei-ye,  denn  als  -ike\-ige  aufgefasst 4) ;  ebenso  wachet :  vorstächet 
9121  (?).  —  Für  hochdeutsch  t  könnte  man  ins  Feld  führen  Reime  wie  rate  :  Senate 
2765,  stntc  :  quite  2230.  8219.  8775,  geböte  :  rotte  3231.  5042.  5484.  5855.  5966.  6607  5), 
orteiraorte  5118,  :  horte  5500 s),  irkcntcpavimcnte  4537,  irJiante :  presante  8425  (vgl. 
auch  5284.5488.7142);  da  aber  Reime  wie  nöte  :  töde,  strite  :  vride,  leide  :  seile  ., sagte" 
nicht  minder  zahlreich  sind,  die  nur  niederdeutsch  consonantisch  rein  wären,  so  wage 
ich  den  Schluss  auf  hochdeutsch  /  nicht.  Dass  aber  eher  die  zweite  Gruppe  unrein 
ist,  bestätigt  die  Behandlung  des  dd:  Otto  reimt  nicht  nur  auf  spotte  (9malj,  sondern 


1)  Den  Keim  get  (3.  Pers.  Plur.  Ind.  als  uns  de  teisen  papen  get,  d.i.  jehent)  :  dröffiet  218a 
kennt  Fischer  freilich  bei  Krim  nicht;  doch  könnte  auch  lugent  (Hs.  beati  qui  lugent  van  der  dröfhet) 
das  Reimwort  gewesen  sein.     Bruns  normale  Pluralenduug  wäre  md.  -en. 

2^  Unklar  ist  der  Keim  Adelize  :  vlize  8576  ;  die  Dame  heisst  sonst  Adelheid. 

3)  Der  Reim  fehlt  in  der  Wolfenbüttler  Handschrift,  die  ich  nach  Leibnitz  Abdruck  Script. 
Kruusv.  illustr.  3,  1  ff.  hie  und  da  heranziehe. 

4)  Auch  Krun  v.  Schonebeck  reimt  z.  K.  kluge  :  buche  Cant.  1152.  Alm.  220a. 

5)  Die  Wolfenbüttler  Handschrift  schreibt  für  rotte  meist  rade  oder  läge. 
8 


DIE   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  39 

auch  auf  hoddc  „hütete"  (8mal),  das  also  wol  als  hotte  (nicht  niederdeutsch  hodde) 
anzusetzen  ist;  Attc  :  hatte  1597;  satte  „setzte"  -.hatte  4532.  —  Ausgesprochen 
hochdeutsch  ist  endlich  der  Reim  sehse :  eise  „Axt"  8966;  ich  notire  noch  braste  (nd. 
barste)  :  glaste  3330.  8000 ,  bntnne  (nd.  borne)  :  sunne  9*227.  —  Demgegenüber  nur 
eine  scharf  niederdeutsche  Eigenheit  des  Consonantismus ,  die  zahlreichen  Keime 
cht  :  ft;  den  beliebtesten,  berichte  :  gestickte  könnte  der  Chronist  aus  seiner  Ganders- 
heimer  Quelle  gelernt  haben  ').  Auf  die  Annahme,  dass  diese  Reime  ft  :  cht  eher 
als  unrein  denn  als  niederdeutsch  anzusehen  seien,  könnte  Schrift :  Ecbricht  1730 
führen;  Schrift  (sonst  auf  giff't  reimend)  ist  schwerlich  zu  schrickt  geworden. 
Aber  dieser  vereinzelte  Fall  wiegt  doch  kaum  schwer  genug.  —  Von  voc a li- 
sch en  Erscheinungen  hebe  ich  hervor:  mitteldeutsch  ü  (mhd.  uo)  wird  erwiesen 
durch  die  Reime  gut  :  trüt  (1740.  1844.  1927.  2100.  2209.  2577),  :  ICU  2860,  :  Assut 
8547,  behüt  :  Gertrüt  1955,  müt  :  Gertrüt  2067,  gute  :  Hute  3760 ,  buche  :  siuehe  4597 ; 
mitteldeutsch  {  (mhd.  ie):  kni  :  si  1316.  1345,  hl  (nd.  hu)  :  st  (oft)2):  die  für  nieder- 
deutsch ö,  resp.  e  beweisenden  Reime  überwiegen  allerdings  beträchtlich  (ö  zumal  vor 
rd  und  in  den  Reimen  mochte,  tochte  :  suochte,  mochte),  ü  (nd.  o,  auch  md.  oft)  steht 
fest  durch  die  Reime:  suu  :  Br/hi  1520,  :  Lugdün  7645,  wol  auch  durch  lügen  '.sin- 
gen 1485 3),  beschürte  :  gehurte  9253;  i  (nd.  e,  auch  md.  oft)  wird  fixiert  durch  die 
häufigen  Reime  site,  mite,  vride  :  wite,  strtte,  eite  (17  Belege),  vile  :  teile  5856.  6285, 
sige  :  steige  7110,  pfliget  :  uiget  33594),  istiget  8205,  schinen  :  sinen  5844,  wissen  ■  vli- 
sen  7025  (IHt-h  :  Brüneswich  2035  u.  a.) ;  stets  hin  b)  und  vil  (oft  :  teil) ;  anderseits  ist 
auch  nd.  md.  o,  e  reichlich  gesichert (i).  Der  niederdeutsche  Uebergang  von  a  >  o 
vor  Id,  It  prägt  sich  in  den  Reimen  nicht  aus  :  manicvalt,  halt,  geivalt  reimen  nicht 
nur  unter  einander,  sondern  auch  auf  gesatt  1384.  3073.  3078.3108.  5508.  6941.  7370. 
8130,  auf  gemalt  8322,  auf  galt  8405.  9336,  auf  gestaut  8575.  8963,  Reimworte,  die 
der  o-Färbung  nicht  günstig  sind;  geholt  „geholt"  :  halt  2055  beweist  nicht  für  holt, 
da  auch  gehtdt  gemeint  sein  kann,  wie  beide  Hss.  schreiben.  Im  Ganzen  betrachtet 
verrät  der  Vocalismus  der  Reime  den  niederdeutschen  Autor  deutlicher  als  ihre  Con- 
sonanten  :  fast  jede  Einzelerscheinung,  nicht  aber  das  vocalische  Gesamtbild  wird 


1)  Ausser  stiften  wird  so  gereimt:  hafte  (:  achte)  3102,  vgl.  5 U.S.  7370;  luft  (:  vrucht)  G4ö5; 
vielleicht  auch  besäße  (:  lachte)  819,  wo  Strauch  allerdings  an  besuochen  denkt;  der  Siuu  scheint 
bevruchte  zu  verlangen,     echte:  siechte  1114. 

2)  Unsicher  Mit  :  schilt  4210. 

3)  mugen  :  zügen  2886  könnte  auch  mögen  :  tagen  meinen. 

4)  Die  Wolfenbüttler  Handschrift  hat  neget. 

5)  hin  :  in  3200.  3803.  3954  6071.  9112;  :  sin  3324.  6677;  :  juncvroivelhi  6575;  :  Conradin 
2684  ;  :  begin  347. 

6)  Ein  unreiner  Reim  wie  rike  :  breke  (breeche)  2259  schwächt  die  Beweiskraft  beider  Reihen, 
ist  aber  doch  isolirt.  Hat  der  Dichter  etwa  an  ein  hyperhochdeutsrhes  briche  gedacht,  auf  Grund 
der  Gleichung  hd.  ich  briche  =  nd.  ek  breke? 

7)  So  reimt  z.B.  sehen,  jehen,  spehen  :  ziehen,  vliehen  {sen,  jen,  spen  :  ten,  rlcn)  87.  168.  1693. 
1925.  3985.  4691.  8147.  8472;  nicht  nur  hd.  uo  :  hd.  6,  o  (sehr  oft,  aber  auch  md.),  sondern  wei- 
ter hd.  uo  :  hd.  ou  (-tuom  :  boum  620.  3744.  4935.  7813  ;  ruowe  :  vroiiue,  ouwe  391.  401.  426.  4758.  5514. 
5806.  7782.  7791);    nicht  nur  hd.  ie  :  hd.   e,  e  (sehr  oft,  aber  auch  md.),    sondern  weiter  hd.  je:  ei 

8 


40  •  GUSTAV    ROETHE, 

Pluralendung  -et  fehlt  in  der  1.  und  3.  Person  Praesens  vollständig;  es  heisst  stets 
-en,  ja  8860  hänt  (:  vcrbrant),  1919.  7504.  9306  sm£.  ir  sin  7245.  9326  (ir  sit  4748). 
Dass  die  2.  Plur.  Praet.  auf  -en  ausgeht  (1379.  2504.  4337.  4724) ,  verträgt  sich 
auch  mit  mitteldeutscher  Sprachform.  Ob  der  Dichter  im  Plur.  Praet.  wären 
oder  weren  gereimt  hat,  ist  darum  zweifelhaft,  weil  er  unreine  Reime  von  ä  :  re 
nicht  scheut *) :  die  sichern  Belege  für  die  hochdeutsche  d-Form  überwiegen  so 
weit 2) ,  dass  trotzdem  die  Absicht  des  Dichters  auf  die  hochdeutsche  Form  als 
gesichert  gelten  darf.  Die  hochdeutschen  Praeterita  irkande ,  nande ,  sande, 
brande,  rande  (27  Belege  oder  mehr)  schlagen  die  niederdeutschen  sende  991,  irkente 
453S.  4695  3)  weit  aus  dem  Felde;  die  Participia  genant,  bekant ,  gesant ,  gebraut, 
gewant,  gerant  u.  s.w.  haben  überhaupt  kein  gesent  u.  ä.  neben  sich4).  Auch  die 
umlautlosen  Praesensformen  wie  draget,  valt  (volt) 5)  fehlen.  Von  geben  heisst  die 
3.  Pers.  Sing.  Praes.  in  niederdeutscher  Art  gift  (:  schrift)  209.  296.  671.  1411. 
1536. 1923  u.  s.  w. 6) ;  von  liggen  aber  mehr  hochdeutsch  lit  6089.  7318.  9240,  von  dun 
nie  deit,  wie  niederdeutsch  zu  erwarten  wäre,  sondern  nur  tut.  Neben  dem  sehr 
häufigen  git  (d.i.  hd.  giht)  steht  hd.  gicht  4072,  geschieht  1872.  Hochdeutsch  ist 
(:list)  134.  2022,  (:  vrist)  1985.  3296.  4740,  (:  vermist)  7324  überwiegt  über  das 
ganz  seltne  is  47  und  6952.  du  wilt  (:  schilt)  4687.  Das  Praet.  von  stein  stets 
stiint.     Für  die   hochdeutschen  Formen  handhaben,  habe  (4342),  hat1)-,  sagen,  saget, 

(z.  B.  diet:  streit 691.  1079.  1750  u.  s.  w.,  :  reit  5615,  riet  :  streit  4115,  seiltet  :  leit  G308  (4435);  liep  :  bleip 
4663.  4773,  :  treip  3245.  8276 ;  brief :  bleip  7991.  8223,  :  screip  4494  ;  hiez  :  siveiz  3640,  :  Jcreiz  2104; 
liez  :  veie  8264 ,  :  wetz  7319;  schiede  :  beide  1014;  geheizen  :  liezen  60A0);  hd.  ei  :  £,  e  (sele :  teile, 
veile,hcile  1020.  1834.  7223.  7296.  8350.  9190;  mc7*e :  /esefte  4625 ;  Michahel :  iei7 8852) ;  hd.  ei:*(nd.J 
e  :  versteigen  \  eigen  2475.  2531,  -.neigen  8492;  also  vielleicht  auch  phliget :  neiget  3359).  Daneben 
massenhafte  Reime  kurzer  und  langer  Vocale ,  auch  im  klingenden  Ausgang ,  umgelauteter  und 
nicht  umgelauteter.  Da  selbst  e  und  a  reimen  [rent  „rennt"  :  gewant  4805,  geslagen  :  segen  5510, 
gereile:  alle  4085.  8362.  8835),  so  wird  auch  zamt  (:  amt)  4644.  9176  wol  besser  als  zemt  (so  die 
Wolfenbüttler  Hs.)  verstanden ,  denn  als  falscher  hochdeutscher  Vertreter  eines  niederdeutschen 
temede  (Behaghel) :     ist    es    doch  beidemal  Praesens. 

1)  So  Bare  :  wäre  2409;  wccrc-.järe  2624.  7209.  7848.  8655,  iscare  2663.  2750.  2937.  3433, 
:  väre  4269;  meere  :  järe  3570;  mecren  :  sparen  3461;  hursame  :  quame  6032;  tage  :  sage  4285, 
:  plihcye  3866;  6ra/*/e  :  dÄ  e  4287. 

2)  ?m/TH  z.H.  reimt  auf  ere»  (609.  1070)  4034  (4377.  6520.  7734.  7930),  :  bürgeren  (5369. 
7496),  :  sioeren  (5138);  quämen  :  nesmen  748.  3609  (?j;  ndmen:  queemen  2835;  quämen:  nemen  6306, 
:  2?re»im  (5744) ;  gäben  :  bliben  (5131  V),  :  gescriben  (1071);  phlägen  :  segen  (6764);  träten  :  grtten 
6762;  ketew  :  ste^M  (6610)  :  im  Grunde  nur  fünf  sichere  Fälle,  da  die  eingeklammerten  Zahlen  auf  Ne- 
bensätze verweisen,  in  denen  der  Conj.  wenigstens  nicht  gradezu  ausgeschlossen  ist,  so  unwahrschein- 
lich er  namentlich  in  der  Formel  dlie  da  weren  sein  mag ;  die  unsichern  Belege  Hessen  sich  vielleicht 
noch  mehren.  Dagegen  fand  ich  wären  (:  jären, raren,  sparen,  barn)  llmal,  quämen  (:  namen,  saniert) 
8mal,  gäben  (:  Swäben,  Walraben)  1379.  49(i2,  phlägen  (:  slagoi,  tagen)  3479.  8731,  lägen  (:  slagen, 
Hagen)  2730.  7500,  sägen  (-.tagen,  hagen,  irslagen)  4794.  4972.  6139,  bäten  {-.raten)  4040,  säzen 
{-.läzcn)  6650,  brächen  (:  swachen)  3059,  im  Ganzen  30  Fälle. 

3)  Von  vielleicht  conjunetivischen  Formen  seh  ich  ab. 

4)  gczalt  oben  S.  39  ;  gezelt  2762. 

5)  hd.  bereit  vielleicht  731.  930  (:  helt  „hielt"). 

6j  Ob  auch  hd.  git?     V.  5599    so    mir    de    scripht  Urkunde  git  spricht  dafür,    verglichen  mit 

j717.  7472  M38  u.  m.     Aber  694  nehein  scripht  mir  Urkunde  jach  legt  doch  die  Ableitung  \onjcn  näher. 

7)  ad.  Part,  gehat  (:  stat)  5346.  7593.   7770. 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  41 

seit,  gesagel  (3647.  4243.  7083.  8591),  geseit,  seite  (5546.  6986.  8381),  sagett 
(7346) *)  genügen  im  Ganzen  Behaghels  Belege;  leite  z.  B.  5027.  5315.  5477. 
5585  u.  ö\,  geleit  4281.  4435.  7451.  7508  u.  ö.  Hd.  Idn  steht  5288.  7029 
fest2).  —  guter  als  nachgesetztes  starkes  Adj.  Femin.  (!) ,  auch  nach  Artikel 
(2072.  4241.  4262.  8169)  ist  anscheinend  gradezu  ein  Kennzeichen  dieser  hoch- 
deutsch dichtenden  Sachsen :  man  wusste  bei  der  Anwendung  der  den  Nieder- 
deutschen ursprünglich  fremden  Endung  -er  nicht  Bescheid  und  geriet  so  in  eine 
starre  „ungrammatische"  Formelhaftigkeit  hinein,  die  Arw.  Fischer  bereits  (Brun 
v.  Schonebeck  S.  LIV)  für  Brun  und  unser  Gedieht  beachtet  hat  und  die  wir 
bei  Konemann  wiederfinden  werden.  Dass  bei  allen  drein  grade  guter  so  bevor- 
zugt wird  oder  allein  so  vorkommt,  mag  lediglich  an  dem  bequemen  Reimwort 
müter  liegen,  laezer ,  das  man  masculin  4060.  4628.  9043  :  wazzer  reimen  findet, 
kann  alle  drei  Mal  allenfalls  auch  Comparativ  sein.  Auch  das  Versinnre  zeigt 
die  hochdeutsche  Endung  -er  oft8),  besonders  in  der  Verbindung  werdet  vrowe 
u.  ä.  401.  455.  697.  715.  1955  (ausserdem  12  Masculinfälle),  die  wol  für  den 
Dichter  in  Anspruch  genommen  werden  darf4).  —  Hd.  her  „er"  reimt  53  auf 
den  Gen.  Sing.  Fem.  dher,  8327  auf  ser,  1525.  7409  macht  er  :  tochtcr;  mir  :  ir  4298: 
dagegen  ist  niederdeutsch  der  nicht  seltene,  anscheinend  dativische  Gebrauch  des 
reflexiven  sich,  z.  B.  3027.  4471.  4491  im  Reim.  —  Gesichert  sind  im  Reim  die 
hochdeutschen  Wortformen  5)  wochen  (-.gesprochen)  3906.  5579,  Lach  6291.  9229, 
wol  (nur  :  sol  und  :  vol),  hin  (s.o.).  hi  177.  858.  1051.  1380.  4761.  6183,  da  569. 
2707.  2754.  2949.  2955.  3155.  8038  (etwas  seltner  dar),  e,  mc  (14  beweisende  Reime, 
nie  er,  mir),  dannen  1808.  2977.  3179.  3852.  6580.  8310  (nd.  dem  2025.  3437): 
die  hochdeutschen  Endungen  -lin  (sehr  oft) 6),  -scaf,  -scaft  (nie  die  nd.  Form),  -unge 
968.  2088.  3542.  4275.  6664.  6758  7) ;  die  niederdeutsche  Endung  -te  fehlt  in  den 
Collectiven  geheine  (:  eine)  51i)b),  gesteine  (:  reine)  4547,  die  niederdeutsch  beliebte 
Endung  -de  in  den  oft  reimbildenden  Abstracten  schone  „Schonung"  und  Jiom. 
-har  und  das  hd.  -here  sondern  sich  in  der  guten  Hamburger  Handschrift  annähernd 
nach  bestimmten  Worten:  im  Reim  offenbar  (sehr  oft) 9),  achbar,  aber  auch  vluchtbai 

1)  seggen  :  leggen  1453 ,  \ligen  5567.  secltt  .gerecht  405  nur  in  der  Wolfenbüttler  Hand- 
schrift und  sicher  unrichtig. 

2)  Dagegen  sieht  mehr  nd.  aus  bevilte  {-.mute)  4860,  bevnol 7423;  vorslnzen  d.  i.  vorsJuten  (:  tfeen)  606**. 

3)  Fem.  gruzer  3413;  britncr  8504;  schöner  2649;  sigehafter  2188;  in  der  Wolfenbüttler  Hs 
alle  beseitigt,  die  auch  das  feminine  verder  nie  duldet  und  selbst  von  dem  masculinen  -er  nur  flies 
und  das  Beispiel  versehentlich  stehn  lässt. 

4)  Als  nd.  vermerke  ich  dre  (:  e)  3002.  5682.  Audi  das  Ntr.  Plur.  büke  2021.  6624  entspricht 
mehr  niederdeutschem  Gebrauch. 

5)  Das  im  Reim  auf  knappen  oft  bezeugte  uäpcn,  ivappen  ist  auch  md  ,  nicht  nur  nd. 

6)  -hin  nur  in  dem  Eigennamen    Willekin  8060. 

7)  Für   -inge  könnte    sprechen    iciginge  6657,    Groninge  8702,    lusinge  4975,    alle:    de<j> 

Da  aber  die  ältre  hochdeutsche  Handschrift  immer  ,  die  jüngre  niederdeutsche  meist  degedunge  zu 
schreiben  scheint,  so  liegt  der  Verdacht  nahe,  ob  der  Dichter  nicht  misverständlich  und  hyperhoch- 
deutsch auch  das  i  von  degedinge  zu  u  gemacht  habe. 

8)  Die  Gandersheimer  Chronik  hat  an  entsprechender  Stelle,  339,  gebeinte;  die  Wolfenbüttler 
Handschrift  schreibt  1285  im  Versinnern  gebeten  (d.  i.  gebente). 

9)  offenbare  :  wäre  „esset"  2885:  .mar*  7333 

t\  5 


42  <  GUSTAV    HOETHE, 

9127;  dagegen  tugentbere  344.  432.  966.  1288,  seldenbere  8118,  sorgenbere  3994, 
auch  vluchtbere  9097;  im  Versinnern  hat  die  hoehdeutsche  Handschrift  ausser- 
dem das  ausgesprochen  nd.  vorbar ,  kostenbar  2892,  vrnchtber  2655;  dagegen 
wunderbare  10  *).  1042,  vlustbere  7084 2);  es  ist  schwerlich  ein  Zufall,  dass  das 
mittelniederdeutsche  Wörterbuch  die  -^-Bildungen  alle  verzeichnet  (ausser  dem 
doppelt  gebrauchten  vluchtbyr),  die  -lere- Bildungen  alle  nicht  kennt;  es  wer- 
den vornehmere  hochdeutsche  Entlehnungen  sein.  —  Sie  fuhren  uns  zur  Wort- 
wahl. Bei  der  Lückenhaftigkeit  unsrer  mittelniederdeutschen  Lexika,  die  icli 
aus  eigner  Belesenheit  nicht  befriedigend  zu  ergänzen  weiss,  können  meine  Bemer- 
kungen zumal  über  die  hochdeutschen  Elemente  nur  einen  provisorischen  Cha- 
rakter tragen2*).  Voran  stell  ich  das  zahllos  bezeugte  hd.  *nennen,  das  nur  einmal, 
7817,  *nömen3)  neben  sich  hat;  die  ständigen  Lehnverba  ziren  2115.  4529.  4536. 
S577  (*zirheit  6753.  6992),  *sagen  3282 4),  *vormgen  3066.  3256  (*mgeheit  4019.  9092, 
zagehaft  5381.  *unzachaftigkeit  1874.  *unvorzaget  oft),  ^strafen  174.  8899 5)  fehlen  nicht! 
*hdhen  (nd.  ndlcn,  nahen)  steht,  5387  im  Keim  auf  das  mittelniederdeutsch  gleich- 
falls gemiedene  *yäken%  vielleicht  auch  885  (:  machte),  oft  im  Versinnern ;  *va!icen 
(nd.  sehr  selten  valen)  7059  (vgl.  4937).  *uordogen  1362  Tj  „verschweigen",  obgleich  alt- 
sächsisch8), ist  dem  mittelniederdeutschen  sonst  fremd;  ebenso  *ziinden l))  1899.  4611. 
4021.  8917  (wol  aber  nd.  tunder);  dulden  sichert  das  vereinzelte  Zeugnis  im  Innern 
V.  5113  nicht  hinreichend.  Auch  *sahcen  „beschmutzen"  3500.4936.7060,  *glesten 
4076,  die  starken  Verba  niden  4214,  *erdbUen  „warten"  (mnd.  beiden)  6978.  7045, 
"Irinnen  (Inf.  2428 4),  bran  7934.  8855 10);  mnd.  brennen,  brende)  gehören  meines 
Wissens    nicht   zu  dem  geläufigen  mittelniederdeutschen  Sprachschatz.     Von  Sub- 


1)  Die  Wolfenbüttler  Handschrift  hat  hier   denn  auch  die  Var.  iconderUJcen. 

2)  In  der  Wolfenbüttler  Handschrift  fluchtigen. 

2^)  Vorgesetzte  Sternchen  deuten  an,   dass  unter  den  Belegen  des  Wortes  auch  ein  Reim  ist. 

3)  In  der  Wolfenbüttler  Handschrift  auch  1500.  1919.  2386  u.  0.,  aber  nicht  im  Reim. 

4)  In  Wolf,  ganz  anders. 

5)  Doch  hat  die  Wolfenbüttler  Handschrift  zufällig  beide  Belege  nicht.  —  Wenn  in  ihr 
minne,  minneri  zuweilen  durch  lere  ersetzt  und  zu  icinnen  misverstanden,  wenn  es  in  der  Ganders- 
heimer  Chronik  durch  Uve  glossirt  wird,  so  deutet  das  wol  nur  darauf  hin,  dass  das  Wort  im 
15.  Jahrhundert  nicht  mehr  edeln  Sinnes  geläufig  war. 

6)  Die  niederdeutsche  Handschrift  reimt  hier  jageden  :  naleden,  schreibt  885  naede. 

7)  Wolf,  hat  misverstanden  vordragen. 

8)  Die  Erscheinung  kehrt,  ohne  dass  ichs  jedesmal  betone,  öfter  wieder,  dass  Worte,  die  das 
Aitsächsische  recht  gut  kennt ,  im  Mittelniederdeutschen  der  Entlehnung  aus  dem  Hochdeutschen 
verdächtig  sind.  Litteratur  wirkt  auf  den  in  sie  eingetretenen  Wortschatz  nicht  nur  verbrauchend, 
sondern  auch  erhaltend:  so  kann  es  nicht  auffallen ,  dass  sich  in  der  um  mehr  als  zwei  Jahrhun- 
derte älteren  hochdeutschen  Litteratur  manches  Wort  lebendig  conservirt  hat,  das  der  nieder- 
deutschen Rede  veraltet  oder  verloreu  war.  Natürlich  bleibt  der  Lehucharakter  solchen  Wortes 
iiumer  etwas  zweifelhafter,  ais  wenn  auch  das  altsächsische  Zeugnis  fehlt. 

9)  In  Wolf,  stets  mit  z  geschrieben. 

10)  Der  Reim  1910  gebrunnen  :  untrunnen  ist   unsicher,    da  er  in  gebraut:  untrant    (so  in  der 
niederdeutschen  Handschrift)    umsetzbar  wäre  :    wahrscheinlicher   ergibt    er  noch    ein  zweites  mehr 
hochdeutsches  Verbum,  rinnen  (nd.  in  diesem  Sinne  meist  rennen).     2428  hat  Wolf,  ganz  umgeändert. 
7934  reimt  brau  auf  '■unstän,  in  der  hd.  Bedeutung  „entstehn". 
8 


DIK   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  4ö 

stantiven  kennzeichnen  sich  als  Lehnworte  ohne  Weitres  *megettn  (sehr  oft),  eagel 
949,  *glie  2423.  2892,  *dfa  3339.  9072.  *antlitze  (nd.  anilät)  2775;  wo]  auch  angei 
16771).  5409;  in  zärn  „Zähre6  3246.  6435*)  ist  dem  entlehnten  md.  zär  eine  Um- 
bildung nach  dem  Muster  des  nd.  trän  widerfahren.  Einer  gehobenen,  unmund- 
artlichen Sprache  entstammt,  weiter  *jungelinc  oft,  *han/  4904 3).  6293.  7r>:w.  7958. 
8770.  Hochdeutsch  sieht  ferner  aus  *dtd!  „Fest*  3806  (?,  die  Bedeutung  doch  frag- 
lich), vinsternisse  2S3  (im  Versinnern.  nicht  sicher;  Wolf,  düsternisse) ,  ast  4343 
(?,  seltsam  feminin);  auch  die  häutige  Redensart  *sunder  ttcäl  ist  wol  nicht  echt 
niederdeutsch.  almöse  (nd.  almisse)  steht  204.  4585,  aber  nicht  im  Reim;  da- 
regelmässige  Masc.  der  ternf  ist  dem  Niederdeutschen  fremd4).  —  Das  Adjecti- 
viiin  michel,  sicher  entlehnt,  konnte  der  Chronist  ebenso  bei  Eberhard  v.  Gran- 
dersheim  wie  in  der  Sächsischen  Weltchronik5)  finden;  eine  gewisse  Unfreiheit 
des  Gebrauchs  verrät  sich  darin,  dass  das  Wort  nur  (23mal)  nach  ein  und  zwar 
mit  3  Ausnahmen  sogar  nur  in  den  festen  Bindungen  ein  michel  her,  Itervart, 
strit,  tril  vorkommt6).  Hochdeutsche  Lehnadjectiva  sind  ferner  *zart  (Lehnreim!» 
1647.  3975.  7942.8120.  9230.  *glav*  (Lehnreim!)  2(504.  3357.  8254 7),  *trüt(?),  wo! 
auch  nendelich  2410,  das  die  Wolfenhüttier  niederdeutsche  Handschrift  falsch  ver- 
standen hat.  Man  erwäge  ferner  spche  ..hübsch"  8949  (nd.  spe  hat  ganz  andre 
Bedeutung),  üppiclkhen  676 8),  *offenttche  S05.  5097  (fehlt  Wolf.),  roselicht  (poetisch 
gehobner  Ausdruck?)  3248,  namhaft  4059.  0210 9);  auch  die  Construction  *eine  c. 
Gen.  rohne"  764.  1958 10).  7718.  7985.  9270  ist  meines  Wissens  im  Mittelnieder- 
deutschen nicht  üblich,  das  auch  die  bequem  reimenden  Adjectivbildungen  aut 
•rar*1),  zumal  in  übertragnem  Sinne,  minder  zu  begünstigen  scheint  als  das  Hoch- 

1)  In  der  niederdeutschen  Wolfenbüttler  Handschrift  in  ander  misverstanden. 

2)  Wolf,  hat  an  erster  Stelle  trän,  an  zweiter  torxe. 

3)  In  Wolf.  Mnt ;   das  alts.  Wort  bunt    (in  friesischen  Gegenden  noch  heute)  war  mnd.  völlig 
veraltet;    zur  Entlehnung  stimmt  das  häutige  Auftreten  im  Reim.     Freilich,  barn  :  wären  reimt  nd. 
schlecht,    aber  auch  dieser  zweisilbige  Reimgebrauch   lässt   sich  aus  hd.  Reimvorbildern  wie  bar» 
icrn  (mnd.  vüren)  ableiten. 

4)  Die  Wolfenb.  Handschrift  pflegt  denn  auch  das  Feminin  einzuführen.  —  Ich  verzeichne 
noch  als  in  dem  mittelniederdeutschen  Wörterbuch  fehlend  ,  hochdeutsch  aber  geläutig  brutud  5 
*iip  „Landban"  971.  2854,  *wage  „Wiege-  3364  (Wolf,  icege),  hae  „Jagd"  8059,  *grim  „Grimm1* 
9226,  *blic  im  Sinne  von  „Augenblick"  9189.  Von  den  zahlreichen  ritterlichen  Worten  romani- 
scher Herkunft,  die  meist  auch  hd.  vermittelt  wurden,  seh  ich  hier  ab.  Manches,  wie  räme,  or  t. 
albe,  ovde,  zime  u.  ä.  mag  der  Dichter  auch  direct  aus  dem  Latein  oder  sonsther  übernommen  haben. 

5)  Strauch  verzeichnet  aus  ihr  im  Giossar  8  Belege:  davon  ist  einer.  92,  36,  sicher  nach 
Kaiserchr.  1117  gearbeitet;  91,33  weist  mindestens  auch  auf  eine  poetische  Vorlage  zurück  (Reim 
tereiere)]  die  dritte  Stelle  78,10  steht  in  einer  Umgebung,  die  mehrfach  auf  hochdeutschei. 
Lautstand  hindeutet.     Doch  kommt  das  Adj.  in  der  Weltchronik  auch  weiterhin  noch  vor. 

B)  lützel  1131  hat  Wolf,  nicht  in  luttel,  sondern  in  das  mnd.  weit  vorherrschende  luttk  umgesetzt 

7)  Von  *ganz  und  *kranz  seh  ich  hier  und  später  ab;  ihre  frühe  und  weite  Verbreitung  üb<  i 
die  hd.  Grenzen  hinaus  raubt  ihnen  für  diesen  Zusammenhang  die  Beweiskraft. 

8)  An  der  entsprechenden  Stelle  Eberhards  V.  500  fehlt  das  Adverbium. 

9)  Leibnitz  druckt  hier  manhaff'tiy. 

10)  In  Wolf,  beidemal  rein«;  die  übrigen  Fälle  stehn  in  Wolf,  nicht  mehr. 

11)  Kolfievar  7921.  7994.8683,  purpurcar  7818.  9237,  tugentvaMöl  (Wolf.  War)  8510,  blvtcar  2772 

6* 


deutsche.  —  Von  hochdeutschen  Partikeln  der  Chronik  stehn  niene  (sehr  oft) '), 
sam,  alsam  (7  Belege2)),  unz  (sehr  oft3)),  dort  2866.  8386  nicht  im  Reime,  ohne 
dass  ich  sie  irgend  anzweifle ;  *sän ,  worüber  unten ,  tritt  6054.  6340  im  Reim, 
7325 4)  im  Versinnern  auf5).  Wichtiger  ist,  dass  es  z.B.  stets  dannoch ,  nie 
nochtan,  stets  dicke,  nie  vahen  heisst  u.  it.  —  Gegenüber  diesen  mehr  oder  minder 
sicheren  hochdeutschen  Zügen  des  Wortschatzes,  deren  Zahl  natürlich  noch  manche 
Erweiterung  verträgt,  fehlt  denn  freilich  eine  grosse  Anzahl  rein  niederdeut- 
scher Elemente  nicht,  die  doch,  da  es  sich  meist  nur  um  vereinzelte  Erschei- 
nungen handelt,  nicht  ausreichen,  der  Rede  des  Chronisten  ein  eigentlich  nieder- 
deutsches Gepräge  zu  geben.  So  gebraucht  er  die  dem  Hochdeutschen  fremden 
Verba  *behoven  „bedürfen"  74.  1566,  *bestriden  „beschreiten'4  2987.  4788  (?),  *schurren 
7010,  die  Substantiva  *echt  (tö  echte)  1114.  3105.  4216.  4258.  4372,  Mach  „Tinte" 
1634,  *stovere  „Badeknecht"  1887.  1905,  mich  „Fleck"  2034.  2561.  2676.  2738, 
*lote  „Sprössling"  2649,  anere  „Vetter"  3281,  *haf  „Meer"  3617.  6265.  7002.  7858, 
pcrscm  „Wucher"  4552  (fehlt  Wolf.) ,  *vlucht  „Flug"  4791,  grU  „Wiese"  5411 
(Wolf,  vdt),  *wrcde6)  „Streit"  6487,  weddcrstow  „Stauung"  6621,  tagerät  „Morgen- 
rot" 6749,  *spe  „Spott"  8315,  *grät  „Hunger,  Gier"  (?)  8713,  die  Adjectiva  vorbar 
423.  5229.  5858.  6212  7),  *imv2tich  „unsicher"  5010,  *yreselich  7290,  das  häufige 
*worch  „lässig"  8),  die  Adverbia  men  „nur"  346,  *ummentrmt  2803.  7069,  of  „oder" 
7020 ,  wobei  ich  absehe  von  dem  niederdeutschen  Sprichwort  7004 ,  von  den 
mannigfachen  Form9)-,  Bedeutungs 10)-  und  Geschlechtsdifferenzen  n),  die  nach  Nie- 
derdeutschland Hinweisen,   absehe   endlich   von    allerlei   Zweifelhaftem12).     Nicht 


1)  Die  Wolfenbüttler  Handschrift  setzt  dafür  gern   nicht  en  oder  beseitigt  das  Wort  sonst. 

2)  In  Wolf,  zuweilen  ausgelassen  oder  durch  also  ersetzt. 

3)  In  Wolf,  meist  durch  iventc  ersetzt. 

4)  Im  Reim  geschützt,  wurde  das  Wort  doch  im  Innern  des  Verses  von  Wolf,  beseitigt. 

5)  ishmt  „jetzt"  5418.  G338.  6393.  6483  u.  ö.  (nicht  im  Reim),  in  Wolf,  ausgelassen  oder 
ersetzt,  meint  vielleicht  nur  das  hd.  ietzunt. 

6)  Der  Anlaut  icr  auch  in  wringen,  wracke. 

7)  Wolf,  schreibt  für  vorbar esten  lieber  cornemesten,  vornomesten. 

8)  Wenn  die  Wolfenbüttler  Handschrift  dies  Wort  anscheinend  nicht  verstand  ,  so  prägt  ihm 
das  archaischen  Stempel  auf. 

9)  z.  B.  *zoln  i:  Coln)  3881  ;  ich  turne  (hd.  turre)  6205  (aber  nicht  im  Reim);  kunst  (md.  selten, 
hd.  Jcunft)  oft;  *verne,  so  immer  im  Reim,  nie  vcrre:  die  beliebten  Geoitivadverbia  wie  overmiddes; 
die  bildungslosen  Adj.  Adv.  wie  rüm  „geräumig"  74,  mäze  „massig"  5460,  *dranc  „gedrängt"  6123, 
clthe  „flehentlich"  7279. 

10)  z.B.  einem  bestän  „zugehören"  1426  u.  ö.-.  einen  wringen  „schmerzen"  1550.  8679;  *unt- 
•reyen  „erwägen",  oft;  *zöquemen  „zergehn-  2019;  *sic7i  prisen  nach  5109  u.  0.;  midi  verlanget  »mich 
i>eciltu  4503;  *sich  aneicinden  c.  Gen.  „sich  unterwinden"  5705:  rerschiezen  „excommuniciren"  6045; 

'ruhten  „warten"  6768;  üzläzen  „Sprossen  treiben"  7S15:  *sl/:en,  ersitzen  intr.  „enden",  oft;  *buole 
..Bruder1-  7422;  *sträle  (am  Pterdefuss)  8973;  liep  „teuer"  6086  u.  a.  m. 

11)  der  ende  237.  794,  der  bant  2771,  die  gruoze  2960.  9292,  die  grünt  2996.  3426.  5348.  5457. 
7345.  7973.^  8814,  die  eischc  4625,  daz  stceiz  3641,  das  ludm  7458,  daz  gürtel  7345  u.  a.,  alles 
nach  der  hochdeutschen  Hamburger  Handschrift. 

12)  Das  ausgesprochen  niederdeutsche  betengen  der  Wolfenbüttler  Handschrift  7167  gehörte 
dem  Original  sicher  nicht  an. 

8 


DIE   KELMYOKREDKN    DES    SACHSENSPIEGELS.  4.'J 

aber  darf  ich  absehen  von  einigen  Worten,  die  auch  mitteldeutsch  (selbst  ober- 
deutsch) zwar  vorhanden  sind,  dort  aber  zur  niedrigen  Sprache  gehören, 
während  der  Braunschweiger  Reimchronist  sie  als  edel  und  poesiegemäss  empfindet, 
so  Hrecken,  getrecke,  ferner  *kif  „Kampf",  *quit,  kerl,  *kaf,  *vorvärt  „erschreckt", 
*zögatere,  *algater,  die  Adv.  Präp.  bauen,  beneven,  binnen  '),  meist  sehr  häufig 2).  So  er- 
weist der  Wortschatz  der  Chronik  mehr  als  ihre  erkennbaren  lautlichen  und  fiexi- 
vischen  Verhältnisse,  dass  beträchtliche  niederdeutsche  Eigenheiten  in  der  braun- 
schweigischen  Dichtung  dem  Hochdeutschen  beigemischt  sind :  das  entspricht  aber 
ganz  der  Zeit  ihrer  Entstehung  und  macht  mich  an  der,  mir  zweifellosen,  hoch- 
deutschen Abfassung  der  Chronik  in  keiner  Weise  irre.  Freilich ,  sie  redet  ein 
papiernes  Hochdeutsch :  .  site  :  stritt  ist  nur  ein  Augenreim  ;  ihr  Verfasser  kannte 
die  Literatursprache  wirklich  nur  litterarisch. 

Vermisst  hab  ich  bei  Behaghel  Bert  hold  v.  Holle.  Sollte  ihn  Leitzmaim 
an  der  hochdeutschen  Sprache  des  Demantin  und  Crane  ernstlich  irre  gemacht 
haben?  Mir  genügen  schon  die  vielumstrittenen  Reime,  um  an  des  Dichters 
schriftsprachlichen  Bemühungen  nicht  zu  zweifeln.  Das  gravirende  Moment  ist 
lediglich  der  Umstand,  dass  Berthold  zwar  zahlreiche  sichere  Belege  für  den 
niederdeutschen  Reim  von  hd.  t:z  {bat  „bat"  :  dat  „das"),  aber  nicht  einen  sichern 
Beweis  für  hd.  z  biete.  Nun,  unreine  Reime  wie  daz  :  ivas  konnte  er  auch  in 
seinen  hochdeutschen  Quellen  nicht  finden,  und  aus  den  Reimen  auf  döz  (s.  S.  47) 
wenigstens  möcht  ich  auch  gros  und  schoz  erschliessen.  Umgekehrt  ist  wohl 
zu  beachten,  dass  er  —  ich  zähle  nach  Leitzmanns  Listen 3)  —  nur  verschwin- 
dend selten  (4mal)  hochdeutsch  inlautendes  d  auf  t  reimt4).  Die  eclatant  hoch- 
deutschen Reime  der  Gutturalreihe  halten  den  niederdeutschen  der  Dentale  völlig 
das  Gegengewicht.  Den  Reim  hd.  uo  :  ö  hat  Berthold  8mal  vor  r,  resp.  vor  rt, 
rd,  ähnlich  wie  der  Hochdeutsche  Herbort,  sonst  nur  3mal.  Einen  Reim  hd. 
iie  :  in  macht  Vogt  Btr.  16,  462  für  Crane  1571  wahrscheinlich  ,  während  Dem. 
7249  anders  zu  beurteilen  ist;  Mieten  wird  da  =  ags.  hydan  sein  (s.  u.  S.49. 55 
Berthold  reimt  hd.  ei  :  e  nie(!),  hd.  le  (hildesheimisch  e)  :  hd.  e  nur,  wo  dies 
t  aus  ehe  entstand ,  aber  auch  in  md.  Weise  ie  :  l.  Ständig  reimen  cd  :  wil ; 
immer  heissts  im  Reime  hin  (isin,  gewin,  künigin  u.  a.) ;  keine  Spur  eines 
old,  holden  {alt,  gewalt  :  g  est  alt,  gevalt,  galt),  brüste  :  laste  Dem.  6847,  brüst  :  tust 
3334 ;  brast  :  gast  3336.  Die  Verhältnisse  werden  noch  deutlicher ,  wenn  man 
auf   das    Gebiet    der  Wortbildung    und   Flexion    übergeht,    was    Leitzmann    nur 


1)  Die  Wolfenbüttler  Handschrift  hat  die  Zahl  derartiger  Adverbia  und  der  von  ihnen  abge- 
leiteten Adjectiva  (z.  B.  de  bütere)  noch  reichlich  vermehrt. 

2)  Mehr  niederdeutsch  als  mitteldeutsch  wirken  auch  *vomomen  „berühmt"  636.  3660.  3075. 
7342.  9093,  Hot  „Kate"  3790  (in  Wolf,  anders),  *vld(je  3794.  8004,  *.sloz  in  der  Bedeutung  .,Schloss- 
5710,  bäte  „Vorteil"  7354  u.  a. 

3)  Diese  Listen  (Btr.  16,  15  ff.)  und  die  sprachlichen  Bemerkungen  Bartschs  (Einl.  z.  Berth. 
v.  Holle  XLI  ff.)  und  Vogts  (Btr.  16,  452  ff.)  setz  ich  voraus,  im  Folgenden  nur  einiges  stärker  be- 
tonend und  namentlich  ergänzend,  was  mir  grade  aufstiess. 

4)  Hd.  t  (nd.  d)  wird  wol  gar  erwiesen  durch  luden  :  (ritten  Cr.  4488.     Vgl.  auch  Cr.  1 

2   &    *  p 


46 

unzureichend  und  befangen  getan  hat.  Berthold  hat  die  Endungen  -schaff  und 
-An,  dies  besonders  reich  im  Crane,  während  der  Demantin  noch  zurückhaltender 
ist  und  im  Versinnem  (4828.  5956  6904.  8913)  sogar  -chen,  -chin  zeigt  (wenn  das 
nicht  das  Werk  eines,  jedesfalls  nicht  verhocbdeutscbenden,  Schreibers  ist) ;  ausser 
dem  Reim  haben  beide  auch  -el  (mundel).  Die  hochdeutschen  Formen  gät,  get,  stät, 
.stet,  tut  (Sing.)  [hildesheimisch  in  der  Regel  geit,  steit,  deit]  herrschen  ausschliess- 
lich oder  mit  verschwindenden  Ausnahmen,  ebenso  hd.  hän,  lan,  sagen ;  dazu  seit, 
leit  (neben  leget)  u.  ä.,  kein  leggt ,  seggt ,  heft ,  gift  u.  ä.  Die  3.  Pers.  Sing.  Ind. 
Präs.  geschieht  steht  durch  den  Reim  auf  nicht  fest ,  das  sonst  fest  mit  bericht 
gebunden  wird.  Das  Prat.  von  stdn  heisst  stunt  (:  kunt).  Die  3.  Pers.  Sing. 
Ind.  Präs.  von  tragen,  varn  lautet  stets  treget  (treit),  vert  (z.B.  Dem.  1199.  1805. 
8822;  1155.  1654.  7429.  10334),  ist  nie  ohne  Umlaut  erweisbar.  wären  (nd. 
teeren)  wird  durch  den  Reim:  jären  (Dem.  100.  7109.  7342.  7669.  Cr.  682),  -.sparen 
(Cr.  4848)  erwiesen ;  kein  e.  Stets  lande,  nande,  sande,  wände  u.  ä. ;  ebenso  ge- 
nant1), geschant,  gerant,  gehint  (von  lenden,  Dem.  10621)  u.  ä.;  der  Reim  ungezalt 
:  maniyvalt  (nd.  vngetclt  :  manujvold)  Dem.  301.  8569.  9695.  Cr.  1005.  1867.  2457. 
Leber  Wochen  :  gesproclien  u.  ä.  Vogt  Btr.  16,  459.  Dass  Berthold  die  1.  Pers. 
Sing.  Ind.  Präs.  auf  -et  kennt,  belegt  Leitzmann  (Btr.  16,  48) ;  über  das  Verhält- 
nis der  pluralen  -et-  und  -e^-Formen  hat  er  kein  Wort.  Die  Sache  wird  dadurch 
schwierig,  dass,  wie  syntaktisch  begreiflich,  die  grosse  Mehrzahl  der  Reimbelege 
im  Nebensatz  steht  und  da  die  Notwendigkeit,  mit  dem  Conj.  zu  rechnen,  den  Wert 
der  -en-  Zeugnisse  ein  wenig  beeinträchtigt.  Immerhin  steht  das  md.  -en  im 
Hauptsatz  fest  Dem.  11662.  Cr.  3182 ,  daneben  viele  Dutzende  von  Belegen  im 
Relativsatz,  nach  daz,  sint,  ob,  alsöxx.  s.w.,  wo  der  Conj.  höchst  unwahrscheinlich  ist. 
Das  nd.  (hildesheim.)  -et  in  der  1.  und  3.  Pers.  Plur.  hab  ich  im  Demantin  21mal, 
im  Crane  an  5  sichern  Stellen  gezählt,  was  immerhin  auf  einen  Rückgang  der  nieder- 
deutschen Form  bei  dem  Dichter  deuten  könnte.  Wie  unsicher  Berthold  im  Ge- 
brauch der  ihm  fremden  -en-Yovm  ist,  zeigt  vielleicht  grell  der  Vers  Dem.  952  di 
betten,  die  de  erde  tragen  (-.tagen;  8822  richtig  treget  -.iriveg et):  ich  erkläre  mir  den 
sinnlosen  Plural  so,  dass  der  Poet  hier,  dafür  ihn  Sing,  und  Plur.  draget  zusammen- 
fiel, fälschlich  hd.  tragen  statt  des  hier  zutreffenden  hd.  treget  setzte 2).  sint  :  blint 
Dem.  7251.  —  Der  niederdeutsche  Plur.  Ntr.  kinde  nur  zweimal  Dem.  8128.  8846, 
nicht  im  Crane;  niemals  lande  u.  ä.,  so  günstig  der  Reim  dem  war.  Hd.  der  „ille" 
(•.her)  Cr.  4079;  nie  im  Demantin.  Bertholds  hochdeutsche  Absichten  stehn 
mir  schon  durch  die  Reime  fest.  Vogt  hat  (Btr.  16,  462  f.)  gut  gezeigt  (und  meine 
eignen  Beobachtungen  stimmen  dazu) ,  wie  sich  im  Fortgange  von  Bertholds 
Dichtung  die  bewusste  Vermeidung  der  niederdeutschen  Formen  steigert.  Und 
die  Absicht  entscheidet,  nicht  das  Gelingen.  — 

Dazu  kommt  nun  aber  die  geschlossne  reichliche  Ueberlieferung,    die  mittel- 
deutsche Grundlage  mit  niederdeutschen  Einzelheiten  verbindet,    und    nicht   zum 

1)  ungenennet  Dem.  11249.  Cr.  1246. 

2)  Aehnlich    als   pseudohochdeutsch  Hesse  sich  z.B.  Dem.  11665   die  Pluralform  enspricht  st. 
entsprechet  oder  ensprechen  erklären,  die  allerdings  nicht  im  Reime  gesichert  ist. 

8 


DU    KEIMYOKRKDKN    DES    SACHSENSPIEGELS.  47 

wenigsten  die  Wortwahl.  Es  ist  geradezu  überraschend,  wie  gering  die  Bei- 
mischung niederdeutscher  Worte  in  Bertholds  epischer  Rede  sich  erweist.  Bei 
einer  allerdings  hastigen  Leetüre  hab  ich  mir  notirt  *knuken  Deraantin  859,  bol- 
dern ebda.  4799.  7481  (hd.  erst  später  auftauchend) ,  sparte  ebda.  5590.  Crane 
3533,  *gropelln  Dem.  7284  (Verbindung  des  niederdeutschen  Wortes  mit  dem  hoch- 
deutschen Suffix),  nälen  ebda.  7484.  8741  (nicht  gesichert),  pas  ebda  4001  (nicht 
sicher),  vormiddens  Cr.  2976,  inte  Dem.  10560  u.ö\,  dazu  etwa  noch  das  häufige,  aber 
auch  mitteldeutsch  belegte  trecken  Dem.  625.  637.  647.  Cr.  1219  u.  ö.  (ausser  Reim)  ') ; 
auch  die  Redensart  duz  vöder  binden  Dem.  8560.  9025.  10921.  Cr.  250.  1610  ist  wol 
niederdeutsche  Gepflogenheit.  Dies  in  17000  Versen.  Die  Liste  mag  grosse 
Lücken  haben:  das  Gesamtbild  wird  sich  auch  bei  ruhigerer  Sammlung  schwerlich 
anders  gestalten.  Diese  Kargkeit  des  niederdeutschen  Wortschatzes ,  von  der 
schon  der  Braunschweiger  Chronist  und  Konemann  auffallig  abstechen,  gibt  einen 
Begriff  davon ,  welche  Kluft  hier  gähnt  zwischen  Schrift-  und  Muttersprache : 
die  geprägte  Norm  des  hochdeutschen  Epos  hat,  sorgsam  befolgt,  die  Idiotismen 
der  Bertholdschen  Sprache  überraschend  verkümmern  lassen;  die  Erscheinung 
stimmt  gut  zu  der  reimtechnischen  Anlehnung  an  hochdeutsche  Kunst,  die  ich 
S.  14  streifte.  —  Die  Gegenprobe,  ein  Verzeichnis  der  hd.  Lehnworte,  muss  und  dari 
ich  kurz  halten  (vgl.  oben  S.  32  f.).  Wesentlich  aus  V.  1 — 1500  des  Demantin  hab  ich 
das  Folgende  notirt:  vor  Allem  sagt  auch  Berthold  stets  *nennen,  sehr  oft  im  Reim 
(nie  bei  Berthold  nömen  !).  *nähen  (nd.  nälen  oder  nähen),  im  Versinnern  255.  1001. 
wird  3165  durch  den  Reim  gestützt.  Ich  nenne  von  Verben  ferner  blicken  (nd. 
„glänzen")  im  Sinne  unsres  „blicken^  57  (blic  1471  u.ö.);  *ergeteen  140;  strüchen  394 
und  sehr  oft,  stächen  1169  (nd.  nur  strükeln  so);  *erhellen  „erhallen"  426  (das  Adj. 
hei  z.  B.  Dem.  9950) ;  *viren  „schmücken"  499;  unteunden  „entzünden"  731  u.  ö. ; 
gekrochen  872 (?);  vorstechen  „verstechen''  1348;  *entstän  „entstehn''  1407.1423;  vgl. 
auch  dulden  Cr.  2149,  (*rinnen,)  *trüten,  dazu  *zireu,  *voreagen  (und  andre  Ableitungen 
von  zage),  strafen;  von  den  romanischen  termini  technici  des  Ritterwesens  seh  ich 
wieder  ab.  Von  Substantiven  *megetin,  ferner Collectiva  auf  -e  wie  *gcstcine  1005  (:  reim  . 
oft),  gestöle  u.  a.  Dann  das  hochdeutsche  Lehnwort  kolze  (mehrfach):  spitze  1238  (?); 
sprizeln,  sprinselen  748.799  (oft);  *döz  „Getöse"  667.10203.  als  Prät.  von  *diezen 
2567.  Cr.  1405;  schorge  „Angriff"  857.875;  anger  (oft);  *bach  (Vogt  Btr. .  16, 460) ; 
vels  (in  hd.  Bedeutung)  2568;  getemere  1162  2).  Adjectiva  und  Adverbia:  michel  oft; 
*mndicliche  522  a.  oft;  *gfanz  b32]  roselehtßS)  auch  gevöge  im  höfischen  Sinne  (nd. 


1)  Noch  weniger  beweisen  *gruoze  Fem.  „Cüruss"  oft  (im  Reime  Dem.  9440.  10933.  Cr.  15.">7. 
1592.  3173),  getlich  Dem.  35t),  zw'tden  ebda.  3572,  *unvorvert  ebda.  (iOlö,  *untfinc  „entzündete-  ebda. 
2oil.  6598,  das  adverbielle  misse  ebda.  3741.  versetzen  „ersetzen"  Cr.  393,  komsi  „Kunft"  Cr.  1511. 
1560.  2987,  zökein  (nd.  teyen)  Dem.  423,  mir  „ausser"  ebda.  2291  u.  ä.,  alles  auch  oft  mitteldeutsch. 
V«.gts  Deutung  von  Dem.  752  {*spren  —  Staar)  leuchtet  mir  nicht  ein:  steckt  rate  ,,Unkrautu  und 
spriu  darin,  so  wurde  das  die  hochdeutschen  Worte  mehren.  Uebrigens  mag  noch  dies  und  jenes 
niederdeutsche  Wort  an  eiu  paar  mir  unklaren  Stellen  Bertholds  zu  finden  sein. 

2)  *sturz  (von  der  Kleidung)  ist  zwar  im  mittelniederdeutschen  Wörterbuehe  nicht  belegt:  die 
Reimform  stört  1466  erweist  die  Bedeutung  aber  wol  als  auch  niederdeutsch. 

u 


48  •  GUSTAV    ROETHE, 

„klein")  38  u.  oft,  ja  selbst  das  beliebte  *ivolgezogen  schmecken  hochdeutsch; 
ebenso  *zart  Cr.  3454 ;  vor  Allem  das  im  Reime  sehr  häufige  *dort,  ein  in  mittel- 
niederdeutscher Zeit  anscheinend  wesentlich  hochdeutsches  Wort  *).  — 

Schwerer  wird  mir  die  Entscheidung  bei  zwei  andern  Reimpaardichtern  : 
doch  will  ich  den  vorläufigen  Eindruck  nicht  zurückhalten,  wie  er  sich  mir  aus 
raschen  Sammlungen  ergab,  die  zur  Orientierung  ausreichen  werden.  Die  Reimchronik 
Eberhards  von  Gandersheim  ist  nur  niederdeutsch  erhalten,  erst  in  einer 
Handschrift  des  15.  Jahrhunderts.  Schon  die  hochdeutschen  Spuren  der  Orthographie 
(namentlich  t  für  d:  gute,  state,  geleite,  bereite,  wisete,  turesten,  tagende,  twinge  u.  a. ;  se  [d.  i. 
ze\  f.  nd.  tb  91,  alles  [d.  i.  alles]  733,  uns  [um]  872,  auch  röche  1941,  öfter  -lieh2) ;  ie,  i, 
ü,  ti,  ei  f.  hd.  ie,  uo,  ei;  side  [nd.  sede];  unser  599  ;  er,  her  f.  he  516.  543;  von;  samfte 
(331.  1890:  auch  luttel  1271,  hegen  1740  sei  wenigstens  verzeichnet3))  deuten  auf  eine 
hochdeutsche  Vorlage  zurück:  besonders  gewichtig  scheint  mir  das  wat  339.  873 
für  was  „erat",  also  eine  misverständliche  Rückverniederdeutschung :  im  Ori- 
ginal hat  s  statt  hd.  z  gestanden ,  wie  sich  das  noch  in  unvor  saget  1163 ,  saget 
1390  zeigt  (vgl.  oben  S.  36) 4).  Die  Reime  werden  durch  ihre  archaische 
Unreinheit  in  der  Beweiskraft  stark  beeinträchtigt:  doch  ist  es  deutlich  ,  dass 
Eberhard  hd.  6  :  uo  unbedenklich  reimt5);  hd.  ie  reimt  auf  ei  {riet  :  geit  295, 
gedient  :  gesteint  277) .  aber  auch  auf  e  (vlen  {=  vliehen]  :  besten  1316  ;  vgl.  sc 
[hd.  sie]  :  we  706)  und  ehe  (vlen  :  gesehen  694.  1137,  :  gesen  1444;  ittcswe  :  sc  [ek 
sehe]  1613),  dies  ehe6)  widerum  auf  e  (sehe,  sc  [sehe]  :  we  120.  365);  ferner  ei  :  e  [i] 
{Hildensem  :  em  1925)  und  hd.  m  {kleäe  [Meide]  :  hedde  [heete]  418) ;  all  das  ent- 
schieden niederdeutsch,  wenn  ich  gleich  nicht  abgrenzen  will,  ob  überall  der 
Monophthong  c  oder  auch  ei  vorauszusetzen  ist  und  wie  weit  Unreinheit  vorliegt. 
Auch  vrauiven  :  gerauiven  (ruhen)  1859  ist  wol  niederdeutsch,  ebenso  leren  :  werden  234. 
berichten  \stichten  u.a.  ist  ein  Lieblingsreim  Eberhards,  auch  nickten  :  berichten  1657, 
h'eften  7)  :  vecJäen  1800  können  rein  sein ;  verdächtigt  werden  diese  Reime  aber 
doch  durch   stiftedc  :  begiftede  112  und  nicht  :  senft  431,  wo  nur  Unreinheit  wahr- 


1)  Dagegen  heisst  es  da  nur  im  Text  (im  Reime  dar,  dar  und  im  Dem.  gauz  selten  dö) ;  hi 
nie  im  Reim,  so  bequem  es  dafür  gewesen  wäre;  ebenso  nie  verre  im  Reim,  sondern  stets  nd. ferne; 
wit  oft  im  Texte,  aber  nicht  im  Reime  belegt  (nd.  ico). 

2)  michel,  regelmässig,  darf  als  hochdeutsches  Lehnwort  nicht  hierher  gerechnet  werden. 

3)  Weist  das  falsche  oppem  1557  für  openen  auf  ein  offenen  der  Vorlage  zurück  ?  Das  würde 
das  iq>  erklären.  Freilich  steht  oppere  zwei  Zeilen  vorher.  —  Das  Hjd  491  meint  vielleicht  liggt, 
nicht  hd.  Mt;  doch  schreibt  die  Handschrift  auch  tijt  „Zeit". 

4)  Auch  in  dem  Misverständnis  1103  schimmert  ein  hd.  tagende  des  Originals  sicher  durch; 
ebenso  durch  das  vor  1735  ein  hd.  von. 

5)  to  (hd.  zuo)  :  so  77.  121.  460;  dö  (hd.  tuo)  :  so  363;  dön  :  Salomön  324;  möt  (=  mö- 
tett  hd.  miiezen)  :  not  768;  tode  :  mode  (mnote)  1797;  Home  :  -dorne  {-tuome)  70,  342.814.  1893. 
1927;  romen:  mögen  240;  mochte  :  geröchte  213,  :  sochte  800.  1386.  1410;  zweifelhaft  ist  tö  dönde  : 
begonde  270.  609  neben  shinde  :  begunde  869;  ferner  heimöden  :  behöden  1199  (vgl.  S.  49). 

6)  Merkwürdig  gescheht  „geschehen"  :  anevdn   1279. 

7)  Die  Handschrift  schreibt  auch  krechtig  981,  klucht  1078. 
8 


DIE    RKIMYORKKDKN    DES    SACHSENSPIEGELS.  49 

scheinlich  ist.  Hd.  t  :  z  reimt  nur  ein  einziges  Mal1),  State  :  male  532,  mit 
Sicherheit;  das  in  jeder  Hinsicht  abnorme-)  leit  :  not  (liez  :  not)  1441  muss  ge- 
wis  in  (ge)bot :  not  corrigirt  werden  ;  Eberhard  hat  sich  grade  dieser  belastend- 
sten  niederdeutschen  Reime  mit  offenbarer  Absicht]  ichkeit  enthalten.  Hd.  t  :  d 
lässt  er  intervocalisch  gegen  niederdeutsches  Recht  nur  dreimal  reimen  (kleide 
:  hete  418,  riten  :  nriden  1708,  töde  :  muote  1798) :  bei  Eberhards  anspruchsloser 
Reimtechnik  auch  das  bemerkenswert  selten.  Man  beachte  weiter,  wie  er  i  und 
e  in  offner  Silbe  nur  zweimal  bindet  (vorgeten  :  gescreven  89,  geven  :  hieven  1774')), 
wie  er  selbst  die  Tonlängung  nur  sehr  sparsam  im  Reime  zum  Ausdruck  bringt 
(r ömen  :  mögen  240,  her toge  :  högen  475 4)).  Nd.  reimt  we  [iver] :  se  [sihe]  1615.  Von 
niederdeutschen  Flexionsformen  bemerke  ich  claget  :  draqrt  29  (?) 5).  Ueber  die 
seltnen  niederdeutschen  Pluralformen  auf  -et  (1.  Pers.  768  [?] ,  2.  Pers.  1293, 
3.  Pers.  217)  dominirt  die  Endung  -en  (2.  Pers.  52.  1920,  3.  Pers.  162.  170.  181. 
196.  311.  457.  841.  953.  1129.  1753,  St«  12  u.  ö. ,  lauter  Nebensätze;  im  Haupt- 
satz nur  17)  ;  ja  das  prononcirt  hochdeutsche  begänt  (3.  Plur.)  reimt  193  auf  genant. 
Und  damit  sind  wir  bei  den  positiv  hochdeutschen  Reimen,  die  Rehaghel  a.a.O. 
S.  32  grösstenteils  verzeichnet,  alt  (nd.  olt)  reimt  1314,  gewalt  1917,  balde  (öd. 
holde)  1400  auf  gczalt  (nd.  meist  gefeit) 6).  Gegenüber  den  Reimen  hd.  6  :  uo  möchte 
man  etwa  verweisen  auf  md.  üe  :  in  in  behiiden  :  brüden  262.  Doch  wird  beilüden 
hier  in  der  Bedeutung  „verhehlen1'  auch  mnd.  ü  haben  ;  V.  1200,  wo  das  Verbum 
auf  heimbden  reimt,  gehört  es  trotz  einer  gewissen  Aehnlichkeit  des  Gebrauchs, 
doch  wol  zu  „hüten".  Ich  zweifle  ,  ob  die  beiden  ,  in  der  Bedeutung  verwanten 
und  mnd.  wol  wirklich  vermischten  Verba  sich  scharf  aus  einander  halten  lassen. 
Und  diese  Vermischung  wird  Mitschuld  tragen,  wenn  grade  höden  zuweilen  auf  ü,  iu 
reimt.  Die  Reime  Idagcdcn  :  hadden,  hedden  482.  1058  weisen,  wie  man  sie  auffasse, 
auf  die  mehr  hochdeutsche  Contraction  des  -oge-  zu  a  oder  ei  hin.  Für  nd.  Je  :  ch  hat 
Behaghel  drei  Fälle  (sprach  :  plaeh  904,  :  geschach  1612,  lesterlich  :  nicht  1229). 
Dazu  tritt  loh  :  gen  och  777  und  wol  auch  sachte  „verursachte"  (nd.  saledc)  -.brachte 
1471:  etwa  noch  sprechen  ibcu-egcn  107?  -schaf :  dach  65  wäre  reiner  als  schop 
-.dach.  Neben  der  niederdeutschen  Form  nicht  (:-lich  1230,  :  lieht  [liggt]  1236. 
1284,    :  scrif t  431,    :  sticht  67)  kennt  und  reimt  Eberhard  das  md.  niet ,  nit ,   neit, 


1)  Reiner  wäre  auch  icat  :  schat  5G2,  dat  :  sehat  7G1.  909  als  teaz,  da:  :  schätz;  aber  das 
beweist  bei  Eberhards  Technik  gar  nichts.  Dagegen  ist  netten  :  vonneten  1207  in  beiden  Mund- 
arten unrein,  und  in  Sitten  „?edere"  :  netin  ,.scire"  358  spricht  der  Vocalisrnns  mehr  für  die  hoch- 
deutsche Form  sitzen  :  icizzen  (doch  ist  der  Reim  nachlässig  auch  niederdeutsch  möglich ,  zumal 
grade  in  der  Rraunschweiger  Gegend). 

2)  Eine  gewisse  Parallele  bietet  Konemanns  Reim  beslSa  {Jbeslöz)  \_Got  dorch  tvbrolenc  bot  dem 
poradys  beslcs]  :  stes  (stitz)  Wurzgarten  lbüJ,  wo  der  Dichter  auf  md.  sitzen  (nd.  slüten)  wol  die 
Flexion  von  nd.  süten  (hd.  sli.icn)  übertragen  bat.  Oder  knüpfte  er  ein  halbhd.  siezen  an  hezen 
(hd.  heizen,  nd.  heten)  an? 

3)  sjn-eMt  :  timebit  372. 

4)  sege,  sage  (hd.  sähe)  303,  798.  b 24.  1115. 

5)  Oder  meint  Eberhard  hd.  eleu  :  treit? 
G)  Aber  golt  :  gemalt  9. 

Abbdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wiw.  zu  Göttingen.    Piiil.-hist.  Kl.     K.  F.  Band  2,  g.  7  _ 


60 

oft  mit  steit,  dann  mit  diet  976.  1451,  riet  1465. 1760,  tit  1556  gebunden :  die  nie- 
derdeutsche Handschrift  nimmt  an  dieser  Gestalt  der  Negation  denn  auch  Anstoss 
und  glossirt  nit  586,  neit  970.  1076.  1452.  1759.  1815  :  id  est  nicht,  schickt  (nd. 
meist  schilt)  wird  durch  den  Reim  auf  nicht  370  bei  der  Doppelform  dieses  Wortes 
nicht  gegen  jeden  Zweifel  an  der  überlieferten  hochdeutschen  Flexion  gesichert. 
Neben  steit  (oft),  geit  295,  entpheit  steht  im  Reime  einmal  auch  nd.  deit  54,  sonst 
döt,  was  md.  tut  meinen  könnte  (34.  355.  428.  1696).  Der  Indic.  Prät.  iveren  u.  ä. 
ist  nirgend  sicher  (auch  481.  1500.  1581,  neinen  1845  werden  Conj.  sein),  todren 
aber  1025.  1164.  1781.  1834  wahrscheinlich1),  plagen  316,  lägen  1422,  braken  1497 
(ddden  59.  436.  1501  u.  ö. ,  baden  1655.  1069).  In  die  Augen  fällt  das  sehr  häu- 
fige und  völlig  durchgehende  hd.  Part,  genant2).  Für  die  zahlreichen  typischen 
Reime  mit  sagen,  hän  3),  ist  verweise  ich  auf  Behaghel  a.  a.  O.  Im  Reim  Part. 
begannen  289.  492  (die  Handschrift  schreibt  im  Versinnern  begunt4)).  Voten  :  be- 
hnoten  546  wäre  reiner  als  Oden  :  behodden.  entverren :  werren  642  ist,  wenn  rein, 
hochdeutsch;  überliefert  ist  entvernen.  Ueber  sitten  :  wetten  358  sprach  ich  oben. 
zwä  (Hs.  tum)  424  ist  md.  Die  Endung  -unge  scheint  1571  erwiesen  (Hs.  meist 
-inge,  doch  auch  -unge).  Auch  dass  da  (nd.  dar  reimt  1056,  dare  655)  im  Reime 
vorherrscht  (88.  227.  415.  588) ,  sei  beachtet ;  im  Versinnern  stets  dar.  ivole  (:  hole) 
1264.  Das  Ergebnis  spricht  nicht  unzweideutig  für  sich,  muss  interpretirt  wer- 
den :  eine  Zurückhaltung  gegen  die  scharf  niederdeutschen  Lauterscheinungen,  die 
Aufnahme  gewisser  hochdeutscher  Züge  scheint  mir  gesichert.  —  Auch  die  Wort- 
wahl redet  nicht  deutlicher.  Immerhin  erscheint  an  markanter  Stelle  1260  in 
durchaus  edelm  Sinne  das  Adj.  driste  f.  „tapfer",  hochdeutsch  etwa  kiiene, 
balt]  sehr  beliebt  ist  *nochtan  (neben  dannoch  203),  843.  980  auch, im  Reime 
bägen  „prahlen"  181.  430,  *erheven  „überheben ,  eines  Dinges  schonen"  1256. 
1271,  vorheven  „unterlassen"  1815,  *vorlangen  „zu  lang  werden"  1901,  *tö  räde 
ten  „entraten"  993,  angest  „Angst"  (öfter)  zeigen  wenigstens  eine  besonders 
niederdeutsch  belegte  Bedeutung;  auch  unecht  197,  mutte  912,  drechlih  „erträglich" 
1675,  men  „nur"  564,  icJit  „wenn"  582  fallen  ins  Gewicht;  dies  und  das  könnte 
dem  niederdeutschen  Schreiber  gehören  5).     Abgesehen  von  nochtan  durchweg  ganz 


1)  Zweifelhaft  ist  der  Reim  1433  wären  '.bewären  (mhd.  bewcereri),  das  mnd.  meist  umlautlos  erscheint. 

2)  Verdächtig  ist  auch  das  Prät.  bekande  (ud.  bettende  bei  Eberhard  nie  bezeugt,  da  1104 
Conj.  ist)  116.  302.  468  u.  ö. ,  wände  509,  aber  dem  Reime  auch  sonst  mnd.  nicht  ganz  fremd; 
ebenso  das  Part,  vorwant  661.  942.  1176,  gesant  1223  u.  ä. 

3)  Besonders  häufig  reimt  hadde,  hadden :  dräde,  räde,  däde,  baden  [das  meint  wol  häte :  dräte, 
rate,  täte  (als  Ind.  Prät.  nur  pseudohochdeutsch),  bäten]  und  hedde:dede,  stede  [d.  i.  hcete :  teste, 
State].  758  hedde  :  redde  [redete,  rette]. 

4)  Dass  in  der  Braunschweiger  Chronik;  wo  sie  Eberhard  benutzt,  diesem  begunt  stets  be- 
gannen entspricht  (490  begunt  m  der  Wolfenbüttler  Hs.) ,  das  gestattet  noch  keinen  Schluss  auf 
durchgängiges  begannen  der  Vorlage  :  der  Vergleich  ergibt  auch  sonst ,  wie  viel  entschiedner  der 
hochdeutsche  Charakter  des  Brauuschweigers  ist. 

5)  Diese  naheliegende  Möglichkeit  beeinträchtigt  die  Bedeutung  von  Worten  wie  leng  „länger" 
261,  drte  „dreimal"  (md.  dries)  1027,  bevellich  „passend"  (hd.  gevellic)  390,  *bevallen  (hd.  gevallen) 
1520,  hopene  „Hoffnung"  (hd.  hoffe)  5?<?,  rust  „Rast"  911,   antlät  (hd.  antlitze)  1153,    entigen  1801, 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DBB    SACHSENSPIEGELS.  51 

Vereinzeltes  und  wenig  Augenfälliges ;  es  fehlen  grade  die  eigentlichen  mittel- 
niederdeutschen Lieblingsworte  einer  spätem  Epoche.  Doch  auch  das  Wenige  ist 
um  so  weniger  zu  übersehen  ,  als  der  Wortschatz  Eberhards  im  Ganzen  gering 
und  einförmig  ist.  Demgemäss  sind  auch  die  hochdeutschen  Erscheinungen  des 
Wortschatzes  ärmlich.  Aber  auch  Eberhard  hat  sehr  oft  *nennen  (nicht  nömen), 
dann  die  verbreiteten  ^-Worte  zirheit  6.  1663,  unvorzaget  1163,  zagel  1390,  kerzel7; 
ferner  michel ,  das  er  besonders  gern  zu  michellich  weiterbildet,  in  der  Form  der 
Handschrift  michelk  eine  sonderbare  Mischung  von  hoch-  und  niederdeutsch  l) ;  dass 
*niden  196  ihrem  Schreiber  fremdartig  war,  zeigt  die  Glosse  haten;  *rinnen  stark 
flect.  (nd.  in  engrer  Bedeutung)  1273 ;  lernen  1028  (im  Innern,  unsicher) ;  end- 
lich *alsameliche  1245,  etwa  grim  (Subst. ;  mnd.  wäre  eher  gr am)  706.  1270 2); 
durch  das  Suffix  gehören  her  luttel  1271  und  die  Deminutiva  auf  -Un  878.  1393. 
1763  (ausser  Reim !).  Nichts  Entscheidendes.  Aber  gewis  auch  hier  nicht  die 
unbefangne  Heimatssprache.  —  Die  Gandersheimer  Chronik  stammt  schon  aus 
dem  Jahre  1216 ,  gehört  also  unter  die  frühsten  mittelniederdeutschen  Dich- 
tungen ;  der  rein  locale  Charakter  ist  ihr  viel  schärfer  aufgeprägt  als  dem 
grossen  Braunschweiger  Reimgedicht.  Während  sein  Verfasser  aus  der  mittel- 
hochdeutschen Ritterdichtung  wohl  zu  lernen  verstand ,  lag  für  Eberhards  ärm- 
liche Klosterhistorie  ein  irgend  zwingendes  Vorbild  hochdeutsch  nicht  bereit. 
Die  von  der  höfischen  Poesie  ganz  unberührte  Technik  des  Gedichtes  zeigt  sich 
obendrein  in  den  durchweg  sehr  stark  gefüllten  Versen,  die  uns  eine  Vorstellung 
von  leidlich  unbeeinflussten  mittelniederdeutschen  Reimzeilen  geben  mögen  ;  jedes- 
falls  heben  sie  sich  von  der  Tactfüllung  der  übrigen  mittelniederdeutschen  Ge- 
dichte des  13.  Jahrhunderts  deutlich  ab :  die  Braunschweigische  Reimchronik 
kürzt,  wo  sie  Verse  Eberhards  übernimmt,  regelmässig,  Worte  auslassend  oder 
den  Vers  zerteilend,  was  ihr  bei  ihrer  Enjambementsfreiheit  keine  Schwierig- 
keiten macht.  Mit  dem  Nachlassen  des  hochdeutschen  Einflusses  •im  14.  Jahr- 
hundert steigert  sich  die  Silbenzahl  der  mittelniederdeutschen  Verse  alsbald  wie- 
der. Das  Gedicht  entstand  abseits  vom  litterarischen  Leben  der  neuen  Art. 
Um  so  gewichtiger  freilich  die  hochdeutschen  Reime:  wo  sollte  Eberhard  ums 
Jahr  1216  eine  niederdeutsche  Tradition  dafür  vorfinden?  Auch  er  konnte, 
wenn  er  deutsche  Verse  schrieb ,  die  Anknüpfung  an  hochdeutsche  Gedichte, 
gleichviel  ob  hochdeutscher  oder  niederdeutscher  Autoren,  nicht  umgehen:  aber 
ohne  jede  Fühlung  mit  höfischem  Leben  und  höfischer  Poesie  wird  er,  des  Hoch- 

cvertüeken  „erweichen"  1729,  düsternisse  1432  (md.  dinsternisse),  luttic  öfter  (243.  316.  562.  596  u.s.w., 
aber  luttil  1271),  nein  sehr  oft  (hd.  kein  oder  enhein)\  hier  überall  genügte  ein  Federstrich,  um  daz 
specifisch Niederdeutsche  aus  etwaigem  Hochdeutsch  herzustellen.  Anderes  wie tuiden  1842,  drovich „be- 
trübt" 481 ,  erwerdikeit  „Ehrfurcht"  734,  *^vat  c.  Gen.  „etwas"  562  ist  auch  dem  Mitteldeutschen  nicht  fremd. 

1)  Die  Braunschweiger  Chronik  ersetzt  das  michelk  Eberh.  380  denn  auch  V.  521  durch  gröz. 

2)  Für  grimmich  (mnd.  meist  gremich)  1145.  1237,  grimme  1370  ist  die  Entlehnung  minder  gesi- 
chert. Leitzmann  belegt  grim,  grimmich  bei  Gerh.  v.  Minden  zu  10,  57.  47,  37,  aber  nur  im  Vers- 
innern  und  aus  einer  hochdeutschen  Handschrift.  —  Auch  einmöde  1650,  eintmutUkcn,  einmödichlik 
965.  978.  1496,  von  dem  Braunschweiger  Reimer  769  übernommen  und  öfter  angewendet,  fehlt 
im  mittelniederdeutschen  Wörterbuch.  0 

T  8 


52  .  GUSTAV    ROETHE, 

deutseben  nicht  frei  mächtig,  sein  Niederdeutsch  dämmend,  nur  reim-  und  wort- 
arm, und  für  uns  ist  die  schlecht  aufgetragene  hochdeutsche  „Tünche"  bis  auf 
ärmliche  Reste  abgefallen;  man  mag  hier  wol  von  Tünche  sprechen,  nur  tünchte 
der  Dichter  selbst. 

Der  Pfaffe  Konemann  umgekehrt  steht  ganz  am  Ausgange  der  Periode, 
die  ich  hier  ausschliesslich  ins 'Auge  fasse.  Seinen  grossen  „Wurzgarten  Maria" 
(Göttingen,  cod.  theol.  153,  fol.  159  ff.) *)  vollendete  er  an  Sünte  Mathias  nacht 
1304  zu  Goslar.  Schon  früher  hatte  er  (Wurzg.  199a)  an  eynem  breff  über  die  Messe 
(van  ausser  misse  vnd  deme  stilnisse)  die  Einsetzung  des  Abendmahls  behandelt, 
jedesfalls  auch  deutsch  und  poetisch,  da  er  die  Leser  des  „Wurzgarten"  dorthin 
verweist.  Ebenfalls  früher  hätte  Konemann  den  Kaland  abgefasst,  den  er,  da- 
mals Priester  zu  Dingelstedt  am  Huy,  für  den  Kaland  des  nahen  Eilenstedt  ge- 
schrieben hat:  vorausgesetzt  dass  die  Handschrift  wirklich  noch  dem  13.  Jahr- 
hundert angehört2);  es  empfiehlt  sich  wol,  einfach  zu  datiren :  um  1300.  Grade 
diese  Handschrift,  die  wirklich  früher  dem  Eilenstedter  Kaland  gehört  hat,  be- 
sitzt für  uns  hohen  Wert  dadurch ,  dass  sie  entweder  direct  das  Dedications- 
exemplar  Konemanns  bildet  —  Sellos  Gegengrühde  (Zs.  d.  Harzvereins  23,  102) 
sprechen  höchstens  gegen  die  Eigenhändigkeit  —  oder  doch  aus  ihm  abgeleitet 
sein  wird:  Ort,  Zeit  und  Wert  (vgl.  oben .  S.  35)  stimmen  trefflich  zusammen. 
Und  diese  Handschrift  ist  hochdeutsch ;  auf  eine  hochdeutsche  Vorlage  lässt  so 
Manches  in  der  Handschrift  des  „Wurzgarten"  zurückschliessen  (s.  oben  S.  36). 
So  besteht  von  vornherein  eine  Wahrscheinlichkeit  für  die  hochdeutsche  Ab- 
fassung. Obendrein  wird  sich  voraussichtlich  beweisen  lassen ,  dass  Konemann 
mit  hochdeutscher  Dichtung  bekannt  war :  ßrun  von  Schonebeck  hat  er  höchst- 
wahrscheinlich gelesen  ;  seine  saubere,  massige  Tactfüllung  deutet  auf  hochdeut- 
sche Schulung.  Dem  entspricht  denn  auch  eine  ganze  Anzahl  hochdeutscher 
Worte:  Halden  (oft  im  Reim),  seswe  und  *linh  Kai.  1104. 1107,  *gufl(:lufi)  Kai. 
1059.  Wurzg.  195b,  *nennen  (sehr  oft  im  Reim ;  *nömen  nur  KaL  87.  Wurzg.  171d, 
öfter  im  Versinnern),  *dort  Kai.  920. 1281.  1407.  Wurzg.  187bd.  210b  (im  Reim ;  öfter 
im  Versinnern),  *sän  (?)  Wurzg.  170b.  19P.  203d.  20öa,  *sam,  alsam  (oft,  auch  im 
Reim),  *megetän  Wurzg.  172d.  174a.  175a.  186c.  189a;  von  z- Worten  *vorzaghen,  *un- 
vorzaghet  (sehr  oft  im  Reim),   *ziren,   zlrheit  Kai.  1294.   1336.     Wurzg.  177a.  187b. 


1)  Borchling  hat  einiges  über  ihn  mitgeteilt  in  einem  Vortrag,  der  auf  der  Pfingstversamm- 
lung  des  Vereins  für  niederdeutsche  Sprachforschung  zu  Eimbeck  1898  gehalten  wurde  und  im 
Niederd.  Jahrb.  23,  103  ff.  erschienen  ist.     Eine  Ausgabe  des  Gedichtes  wird  vorbereitet. 

2)  Sello  schliesst  (Zeitschr.  des  Harzvereins  23,  102),  das  Gedicht  müsse  „um  diese  Zeit" 
(1272)  vorhanden  gewesen  sein,  weil  in  der  jetzt  Magdeburger,  früher  Eilenstedter  Handschrift 
hinter  ihm  ein  1272  bezeugter  Weruerus  de  Serstede  als  tot  verzeichnet  werde.  Er  kann  damit 
nur  meinen,  die  Handschrift  werde  nicht  grade  Generationen  später  fallen  :  denn  sonst  versteh  ich 
nicht,  warum  nicht  ein  1272  lebender  Mann  zum  Beispiel  1310  und  später  als  verstorben  registrirt 
werden  konnte.  —  Der  von  Schatz  (Progr.  d.  Halberstädter  Domgymn.  1851  S.  2)  seit  1185  (!) 
nachgewiesene  „Dominus  Hinricus  de  Eylenstede"  ist  natürlich  nicht  der  frater  antiquus  vivens,  den 
die  Handschrift  Bl.  35,  Col.  1  nennt. 

8 


DIE   BEDtYOBBKDBN    DES    BACHSKKSFIEOILB.  53 

194c,  "irzeighet  (:  neighet)  193d.  Kai.  896,  "untzunden  Wurzg.  174b.  197a,  *irczegelt 
207c(?),  {zetern  165c.  182b,)  reizen  210b,  glänz  169»,  »antftow  200*  V**  174-  »frä 
177b.  204b,  "trütinneVJW,  Hruten 20Bd,  *Wfefi  „warten"  (:*2/«0  Kai.  678.  Wurzg.  165b. 
189d.  196a,  *strafen,  *nähen(?)1),  "lernen  „lehren"  (md.)  202**),  "irschrecken  Wurzg. 
179b.  200b;  tnichel  Wurzg.  181 c.  203c,  *barn  166c.  201«.  203a  (nur  im  Reim),  "ast 
176\  \t)reehtin  (ischin)  165b3),  "tougen4)  187''.  198c.  202d.  204b.  20GC ,  vlins, 
vlinsich  172a.  182b.  206c,  *hantgetät  „Geschöpf"  164c,  gheschefte  „Geschöpf"  182c,  *selde 
„Wohnung"  182d  (?,  as.,  aber  nicht  mnd.),  vinstemisse  Kai.  1003,  *untstän  „entstehn" 
Kai.  240.  Wurzg.  165a.  169».  192d;  188b  reimt  kumpst  :  vornuft,  was  auf  hd.  *kunft 
(sonst  im  Wurzg.  kamst  „Kommen";  Kai.  1073  im  Innern  zökumft)  hinführt5):  die 
Fälle  werden  sich  mehren  lassen.  —  Andrerseits  aber  unbefangne  Verwendung  der 
alltäglichen,  auch  rein  niederdeutschen  Rede:  im  Kaland  z.  B.  *rive  „freigebig" 
237  (Wurzg.  160c.  172b.  193b.  197a),  *queU  287.  399.  1129.  1401  (Wurzg.  205d),  *picht 
375.  534,  Mverne  435,  *schülm  „verborgen  sein"  451.  1089  (Wurzg.  173b.  196c), 
"böte  „Bruder"  600,  echt  483,  "unecht  719,  *ndken  im  Reim  754  (Wurzg.  176b  im 
Versinnern  ndlen),  "küle  „Höhle"  1088  (Wurzg.  196c),  "alle  gader  1116  (im  Wurzg. 
ein  ganz  ständiges  Reimwort:  vater ,  blater;  ich  zählte  19  Fälle),  Ureter  „Sach- 
walter" 1139,  *rilcedage  1365  (auch  Wurzg.  160c.  164d.  207d;  "woldage  181b), 
*antlät  (:  trinität)  1321,  (:  dat)  1234,  wispehi  „sich  bewegen"  1352,  wankein  202, 
"dichte  „dicht"  1096,  bernendkh  1328  (Wurzg.  172d) ,  ivichtich ,  even-,  overwichtich 
958  (Wurzg.  164b.  165*  184c),  külde  1000  (Wurzg.  186d) ;  im  Wurzgarten  ausser- 
dem noch  lister  205c,  vorbistert  163b,  hupen  162b,  "sachte,  sachten  167a.  203b  (im 
Versinnern  noch  öfter),  "kolk  172a.  200a,  icht  „wenn"  160c.  178b.  179b.  180a.  185c. 
187a.  199d  (natürlich  ausser  Reim),  "qitädle  187a,  bademöder  „Hebamme"  192b, 
rüste  192c,  "velich  „sicher"  193c,  vaken  196d.  198d,  "bräke  „Mangel"  164b.  175a, 
"hast  178b.  191d.  203d,  "loch  „Zeugnis"  16P.  167\  "ivelde  „Gewalt"  185a.  193 d 
196b,  breghen  „Hirn"  207a,  "wränge  „Krummholz"  198a,  sit  „niedrig1'  187c,  "bange. 
184b,  vorvencliken  „gefährlich"  181d,  bedenst  „dienstbar"  191d,  "berichtich  „unruhig" 


1)  Der  Reim  swachte  :  nachtede  "Wurzg.  182d  könDte  zwar  auch  sieakede  :  näkede  meinen, 
führt  aber  wahrscheinlicher  auf  swackU  :  nähte. 

2)  Kai.  937  hat  die  Handschrift  lernen  im  hochdeutschen  Sinne;  der  Reim  auf  leeren  erweist 
da  aber  leren  in  der  niederdeutschen  und  mitteldeutschen  Gebrauchsweise. 

3)  Dass  dies  vom  Schreiber  schon  nicht  mehr  verstandene  Wort  nicht  nur  archaisch,  sondern 
auch  hochdeutsch  sei,  legt  wol  der  e-Vocal  der  Stammsylbe  nahe. 

4)  Die  Entlehnung  verrät  sich  ebenso  durch  die  vorherrschende  t-  Schreibung  wie  durch 
den  festen  Reim  :  ougen. 

5)  Vgl.  noch  *ungeviret  Wurzg.  187*»,  *habedanc  178c.  208a,  *er(Jt  \7Qhm  182^,  *grim  (Subst.)  195d 
und  seine  Ableitungen  (sehr  oft),  *zü  (? öfter),  *l6sen  „betrügen,  scherzen"'  178a.  171bu.  ö.,  *rinnen  203d, 
*entwenken  165a.  181a,  ^scheinen  „zeigen"  159b.  208c.  Kai.  4G7  (Wurzg.  201c,  Hs.  irzeigen  :  stenen), 
*besachen  „einrichten"  168b.  170b,  gen{i)slich  209a,  auch  die  Composita  *dnrch(jrundich  171a.  188b, 
gründe-,  kunste-,  vroudelus,  *~uclüen-,  *suften-,  *icunnenbar,  *nhccn-,  *sunne)ivar  gehören  der  ge- 
hobnen, hochdeutsch  bestimmten  Sprache  an.  *amme  172b  kommt  zwar  auch  mnd.  vor  (so  Dorows 
Denkm.  I  37.  38.  Zeno  607),  aber  (es  fehlt  im  mnd.  Wb.)  nicht  oft :  bei  Konemann  könnte  es  mit 
dem  hd.  Reim  eingeschleppt  sein.  —   Ist  *nusche  169d    das  bairische  nuosch  „Traufe"  V 


54  .  GUSTAV  BOKTHE, 

200a,  *sik  gehxütten  167d,  *bchöven  „bedürfen"  183d,  sik  düpen  186c,  *dwerlen  „wir- 
beln" 193d,  bliven  „werden"  170d  (vgl.  oben  S.  27  f.),  *uordroghen  208%  echter,  echt 
„wieder"  174a.  186a,  vormiddelst  175d,  men  „sondern"  178cl).  Ich  sehe  dabei  ab  von 
Worten  wie  *bigen ,  *voäeni  *mang  „zwischen",  qulten  „frei  machen",  *trecken, 
getrecke,  *leren  „lernen",  *  sunder  mis,  *blas  „Licht",  *begaden  „bearbeiten",  *slicht 
„schlecht"  (im  bösen  Sinne),  *kaf,  wrangen,  *entegen  „entgegen",  hopen  (st.  ivernen), 
*tuidcn,  *nömen,  *boeren  „erheben",  *uor-,  *ervceren  „erschrecken",  *boven  „oben", 
*cnboven,  wat  c.  Gen.  u.  ähnl.,  die  zwar  auch  mitteldeutsch  vorkommen,  aberjedes- 
falls  nicht  zur  gewählten  Schriftsprache  gehören  und  ein  niederdeutsches  Präjudiz 
erwecken  dürfen.  — 

Auch  die  Reime2)  zeigen,  dass  Konemann  sich  der  rein  nieder  deutschen 
Formen  ganz  sorglos  bedient,  um  so  mehr  als  seiner  lässigen  Reimweise  zumal  der 
bequeme  Vocalismus  behagt.  Die  erschöpfende  Darstellung  der  Reime,  zumal  der 
niederdeutschen ,  bleibe  dem  künftigen  Herausgeber  des  Wurzgarten  überlassen : 
ich  gebe  hier  zur  Charakteristik  nur,  was  ich  gerade  zur  Hand  habe.  Hd.  6,  oe, 
o,u,  ü,  ou,  öu,  uo,  iie3),  andrerseits  hd.  e,  ce,  e,  i  (in  offner  Silbe),  ie,  ehe,  iehe,  ei  reimen 
aufs  Bunteste  unter  einander ;  dort  wird  langes  oder  tonlanges  o,  hier  langes  oder 
tonlanges  e  (seltner  ei)  in  der  Regel  den  Vereinigungspunct  bilden.  Kurze  und 
lange  Vocale  reimen  auch  in  Zweisilblern  (dragen  :  vrägen)  sehr  oft.  e  und  a  tren- 
nen sich  nicht  streng,  z.  B.  maken  :  irbreken  Wurzg.  169d,  Jenecht  :  gedeckt  160a,  dam 
:  kern  184b,  berch  :  unkarch  175b,  jären  :  geberen  187a,  namentlich  was  :  des  (vgl.  S.56). 
nie  „neu"  reimt  massenhaft  auf  i.  a  wird  o  vor  Id  :  icolde  :  balde  191a4).  Der  Um- 
laut stört  die  Reimfähigkeit  nirgend.  Ueberschiessendes  e,  wie  bade  „Bad"  Wurzg. 
194c,  möte  „Mut"  170b,  blute  170c,  schüre  „Schutz"  172c,  järe  201d  u.  ä.  ist  nicht  selten  ; 
der  Umfang  der  Erscheinung  ist  nur  in  metrischer  Untersuchung  festzustellen:  die 
Ueberlieferung  gibt  da  keinerlei  Sicherheit.  —  Der  Reim  verrät  niederdeutsche  Meta- 
thesis,  z.B.  vrochte  „Furcht" :  brochte Wurzg.  178b,  dorsteivrorste „Froste"  195c,  -.börste 
205c.  —  Reime  von  hd.  d :  t  [rede :  vermede  [vermite])  sind  nicht  selten,  von  hd.  t\z  sehr 


1)  Nicht  gesiebert  sind  natürlich  Worte  wie  nein  (nin)  „kein",  jenich  „irgendein",  die  auch 
dem  Schreiber  angeboren  können,  selbstverständlich  wie  sie  in  niederdeutschem  Texte  sind.  Ich 
verzeichne  noch  *killen  „Qualen"  Kai.  773.  Wurzg.  161a.  167a.  204c.  206a,  düstemisse  Wurzg.  172c. 
201b.  207c,  stäpe  200d,  *nanne  als  Kosewort  200c,  *natsamekeit  176a  (diese  umständlichen  Bildungen 
sind  niederdeutsch  beliebter  als  hochdeutsch),  middehnan  184b,  spe  „feindselig"  Kai.  83  ('?),  *bar- 
haft  (:  teärhaft)  Wurzg.  192a,  warachtich  176b.  177d,  lustafftich  207d,  wemie  „einst"  194*  (?), 
*b(igen  „rühmen"  191b,  sik  vUcken  I92d,  *spcr(r)cn  „hindern"  196b,  *gischen  „seufzen"  204b,  *up  schüren 
201J(V),  sik  geceUigen  Kai.  427,  erstem  c.  Gen.  „zugestehn"  Kai.  1193.  Geschlechtsverschiedenheiten 
beachte  ich  hier  nicht,  da  die  späte  niederdeutsche  Handschrift  des  W'urzgarten  in  dieser  Hinsicht 
keinerlei  Gewähr  gibt.  Er  enthält  auch  Worte,  die  ich  weder  hochdeutsch  noch  niederdeutsch 
kenne  und  an  dieser  Stelle  um  so  mehr  bei  Seite  lasse,  als  ich  sie  nicht  alle  verstehe. 

2)  Bebaghels  Zusammenstellungen  über  die  Reime  des  Kaland  (a.  a.  0.  S.  33)  sind  schon 
darum  unzulänglich,  weil  sie  von  Eulings  Ausgabe  ausgehen. 

3)  Auch  ouw.iuw  {vromeen  :riuucn). 

4)  Doch  auch  mochte '.brächte  (brochte?)  Wurzg.  205d  (1 78b),  :  dächte  204b  u.  ö. ;  jären  :  gebo- 
ren 189'1  (schwerlich  schon  =  gebären);  nphör  :  vär  Kai.  83,  :  war  Wurzg.  lGGb;  gehört:  wart  199d- 

8 


DIE    REUiVORRH/EN    DES    BACHSEN8PIEGELS.  55 

häufig  (besonders  im  Auslaut,  aber  aueh  im  Inlaut :  propiieten  :  heten  [hiezen]  Wnrzg.  168c. 
175a,  düten  :  gräten  186c,  sneden  :  reten  [rizzcn]  202d,  böte  [Imoze]  :  mute  [muotc]  166b. 
170d  u.  m. ;  ferner  z.  ß.  rät :  ik  ent/cVt  202°  u.  s.  w.).  Nichts  beweisen  die  auch  mittel- 
deutsch normalen  Reime  von  inl.  hd.  b  :  v  (live  :  brave,  pröven  [priieven]  :  bedröven 
[betriieben],  auch  gheven:  neuen  „Neffen"),  ausl.  hd.  p  :  f  (lif  :  /,•/'/'),  sowie  das  inlau- 
tende ij  in  höghe  „Höhe"  :  moghe  Wurzg.  161%  177a.  1871'.  207%  hdgen  :  bögen  [böugen\ 
175c,  höghest : ghevögest  167d,  :  soghest  194d,  geschäge  [geschaht  ]  -Jage  166b,  säghen  :  singen, 
plagen  203cd,  vrägest  :  näghest  104d.  Unumgelautetes  ä  scheint  gesichert :  irschrac  : 
sprak  Wurzg.  179b.  200b,  sik  :  strik  196d,  Öfc  :  sfoÄ  160d,  st ok  :  brok  17  fr ,  weihen: 
näktn  Kai.  753,  nofrd  :  gesaket  834  l);  unumgelautetes /7  gleich  im  Eingang  des 
Kaland  papen  :  knappen  *),  minder  sicher  t/acoi  :  scÄop  Wurzg.  188b.  —  Der  Reim  be- 
weist die  Formen  sticht,  bracht  Kai.  961. 1278.  Wurzg.  206%  lacht  209%  behackt  166d. 
180d.  188c.  196d.199d,  ««cMc  167a.  183c.  203b,  gherochte  169c.  195%  echte  Kai.  719,  zum  Teil 
noch  öfter.  Ueber  geneden  vgl.  S.  25.  was  [hd.  wahs]  :  das  Kai.  350.  —  Die  Dative 
mi,  di,  die  mit  den  Acc.  mik,  dik  nach  niederdeutscher  Art  syntaktisch  oft  durch  ein- 
ander geraten  3),  reimen  z.  B.  auf  vri  163c.  179c.  185c,  si  Kai.  795.  Wurzg.  163c.  205b, 
U  190c.  202d,  die  169%  Hell  205%  gesche  160a.  190d,  sc  [sihe]  Kai.  1303,  beghe  Wurzg.  189c , 
ive  Kai.  1125.  Durch  Reim  erwiesen  sind  z.  B.  die  Formen  is  „ist"  (mindestens 
23  Fälle),  giß  „gibt"  Wurzg.  162b.  171b,  plicht  „pflegt"  (:  nicht)  Kai.  574,  beiecht 
(iknccht)  160%  gesteht  „gesagt"  184%  sechte  183b,  se#^  (:  %d)  180%  (ipfliget)  Kai. 
170,  (:%e*)  Wurzg.  209%  (:  beweget)  Kai.  1074;  tieft  Kai.  569.  599.  851.  971. 
Wurzg.  159d.  169b.  170d.  177b.  180b.  192a.  201d;  steit  Kai.  690.  890.  Wurzg.  163c.  165c. 
169c.  176a.  185au.ö.,  geit  177a.  179*.  187c.  191b.  201d,  veit  190%  entfeit  172d.  l92a.  193d. 
201%  beveit  188c.  190a;  ghehat  „gehabt"  208a;  geschüde  „geschah"  202d,  vorgude 
»vcrjachu  191d;  wel  „volo"  (:  düvel)  182b,  (:  snel)  193%.  ik  iville  179\  197b,  ivult  „vis" 
(-.schalt,  irvalt)  167b.  180c;  Prät.  wie  wende  „wandte",  sende,  kende,  blende  161c.  162p. 
166d.  180%  das  Part,  irheven,  vorheven  z.  B.  Kai.  66.  Wurzg.  169d.  170%  175a. 
196b,  begunt  Kai.  271.  Wurzg.  164a.  196%  die  3.  Pers.  Sing.  Präs.  bevalt  (:  ma- 
mcvalt,  balt)  169d.  196d,  halt  „hält"  (:  scalt)  180c;  ik  dam  184b.  203a  u.  ö. ;  die  Neutra 
Plur.  auf  -e,  wie  kinde  Kai.  1306,  dinge  Wurzg.  107d.  I94d  u.  a. ;  das  Pron. 
desse  (:  Yesse)  171c.  174b,  de  jüwe  (irüive)  203d ;  amber,  number  (:  knmber,  dumber) 
Kai.  709.  Wurzg.  182%  höre,  der  Compar.  leng  „diutius"  192b.  208%  die  Endung 
•inge  165c.  171a.  180c.  184d.  188%  sehr  selten  die  Pluralendung  -et  (so  Wurzg.  177c.  184d. 
191b.  193d),  das  Adv.  verne  [hd.  verrc]. 

Aber  der  Speer  lässt  sich  wieder  umdrehen.   Hd.  ie  reimt  in  md.  Weise  auf  I  :  so 
mi :  die  Wurzg.  169%  knie :  si  186\  200d,  bl :  nie  Kai.  732 ;  uo  ebenso  auf  ü,  iu  :  gut  :  brüt 


1)  Unsicher  ist  deken  :  spreken  Kai.  277.  540,  :  wreken  415. 

2)  Allerdings  würde  pf äffen  :  knappen  vocalisch  reiner  reimen,  wie  denn  auch  gescaffen  : 
rasten  Wurzg.  191c  (wenn  richtig)  besser  reimte  als  gescapen  :  rasten.  Auch  drapen  (Tropfen) 
:  open  202c.  206d  ist  nicht  unzweideutig. 

3)  Ein  hochdeutsch  unmögliches  dativisches  mik ,  dik  im  Reim  z.  B.  Wurzg.  176%  177b. 
181».  188b.   189*.  206b.  208b.  8 


50 

167c.  191b,  :  trüt  177b.  204b;  rün  „ruhen"  ipaulün  171 a,  düden  [diäten] :  grüten  [grüezen] 
186c (?),  mäste  [miwste] :  huste  206b,  must  [muost] :  lust  (schwerlich  lost)  190b  l).  u,  ü  (nd.  o), 
tritt  zu  Tage  in  müre  „mürb"  :  näture  l61d,  :  tiire  166b;  Jcumt :  versümt  Kai.  939. 1046. 
Wurzg.  191d.  202a ;  ebenso  1  in  hin :  sfet  Kai.  286.  Wurzg.  182a,  in  „eum,  eis"  :  sin  20O. 
Kai.  406,  hinne  :  sinne  Wurzg.203c,  :  minne  165a.  Das  a  in  holden,  gewalden  u.  ä.  sichert 
namentlich  der  Reim  :  Salden  Kai.  25.  206.  Wurzg.  166a.  206a,  aber  auch  Reime  wie 
ivalt,  halt :  gcstalt  159d.  176d,  :  gevalt  177c.  185%  :  geseilt  192c,  :  geaalt  Kai.  212. 
Wurzg.  169*.  189b.  —  Die  hochdeutsche  Form  von  (neben  seltnerem  van)  ist  durch 
Reime  auf  son  (159d.  173a.  191c.  204d),  Abiron  (174d),  dön  (185a),  Salonion  (Kai.  107), 
vone  :  schöne  (Wurzg.  186c)  reichlich  gesichert,  sol  (neben  scal)  reimt  oft  auf  wol, 
z.B.  159c.  168b.  178d.  191a.  195c;  da  nun  wol  159d.  187d  :  stol,  Kai.  369  :  W,  Wurzg. 
160b-d.  162d.  169b.  171a  u.  ö.  Kai.  1207.  1387  (13  Belege) :  vol  reimt,  so  wird  es  auch 
das  Reimwort  sol  ergeben,  das  173a  in  dem  Dreireim  scal  :  wol  :  vol ,  ferner 
178c  :  vol  unumgänglich  ist2).  Hd.  nase  reimt  Wurzg.  207b  auf  äse;  nd.  wäre 
nese.  —  Stets  vrist,  Crist  (nd.  oft  verst,  Kerst)  im  Reime;  hrunne  reimt  169b  :ho- 
penunge  ,  brüst  192a  :  lust,  205d  :  ghekust.  —  Den  sicher  hochdeutschen  Reim  z  :  s 
hat  der  Kaland  nur  einmal  (mäze  :  quäse  314) ;  im  Wurzgarten  kommen  dazu : 
iviz  :  gliz  174a  (glit  gibt  es  mnd.  nicht),  vlife  :  antlitze  200d3);  vöte  :  moste 
[vüeze  :  müese]  207d;  eriiee  :  uz  güze  202d  ;  vielleicht  auch  ein  paarmal  was  :  daz  4); 
endlich    sind    einige   Reime    von    sliiten     auf   ein   Verbum   liiten    oder    lücen    zu 


1)  193a  würde  ich  den  Reim:  du  uiflilie  bilde  Mariam  uns  bedürfet,  de  dar  decket  und  hüdei 
zwar  zunächst  fassen  dintet  :  hiietet;  da  aber  sonst  an  klaren  Stellen  (162b.  172b.  184b.  188d,  un- 
sicher 160b)  bei  Konemann  hilden  im  Reim  auf  düden,  lüden  „verbergen"  bedeutet,  so  seh  ich 
auch  hier  lieber  das  Verbum  mnd.  hilden  (ags.  hydan),  das  auch  sonst  in  Bedeutungsberührun- 
gen und  weiter  in  lautliche  Verquickung  mit  höden  (Wurzg.  198b.  Kai.  804.  815)  geraten  ist. 
Auch  Kai.   1087  heisst  gellüde  „Versteck".     Vgl.  oben  S.  49. 

2)  190*  sol:8töl?  (Hs.  scal :  staJ). 

3)  Vielleicht  auch  209a :  dort  heisst  es  vom  Kaladrius:  he  lieft  minsclicn  antlis,  sin  yheverde 
dat  is  uys.  Ich  würde  dies  uys  zunächst  als  „weise"  fassen;  zu  der  Farbenbezeichnung  „weiss" 
passt  das  Wort  gheverde  minder  und  muh  wol  der  Zusammenhang,  dem  es  lediglich  auf  die  ärzt- 
lichen Frognoslika  des  Wundertiers  ankommt.  Aber  freilich  der  Kaladrius  ist  nicht  nur  ein  wei- 
ser, sondern  auch  ein  weisser  Vogel ;  Megenberg  173,  23  beginnt  gleich  mit  dieser  Angabe.  —  gezzeni 
letzen,  setzen  lG7a.  179a.  193b  ist  reiner  und  also  wahrscheinlicher  als  ylicten  :  leiten,  setten;  be- 
sonders aber  wird  tiefen:  hüten  18(id  vielmehr  icizzen :  hitzen  meinen.  Auch  ichiemaz  -.mach  159a 
wäre  um  eine  Jsüanee  reiner  als  nd.  wat  :  mach. 

4)  Im  Kaland  350  reimt  uinuas,  543  Gracias  auf  das,  beidemal  so,  dass  das  den  Gen.  des  zu 
meinen  scheint.  Ebenso  liegt  Wurzg.  102c.  Iü8d.  173c.  isi^-d.  I88a.  200^.  206c.  20&b-c  der  Genetiv 
nah,  ohne  überall  sicher  zu  sein;  geschrieben  ist  stets  das.  Und  daz  scheint  vorzuliegen  163b  da 
de  minsche  sus  icas  vorbistert  unde  das  worden  was  an  imme,  dat  he  tu  yodes  minne  .  .  .  mochte 
dornen;  185b  Got  sulven  ghelovcn  scal  das,  de  des  minschen  sclicppcr  aas  (vgl.  auch  177d);  wer  auch 
in  diesem  das  den  Gen.  sehen  will,  wird  die  syntaktische  (?)  Vermischung  von  dat  und  des  heran 
ziehen,  die  Lübben  Mnd.  Gr.  110,  Mnd.  Wh.  1,  509  und  Nissen  Middelnedertysk  Syntax  S.  53  con- 
statieren.  Ob  aber  nicht  auch  dieee  Vermischung  durch  die  Klang-  und  Schriftähnlichkeit  von  hd 
daz,  dez  (Hss.  oft  das,  des)  mit  dem  nd.  hd.  Genetiv  des  begünstigt  wurde?  Konemanns  sonder- 
barer Reimgenetiv  das  Hesse  sich  so  gleichfalls  begreifen. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    81.CH8EN8P1  I  '  -i:i.s.  .~>7 

erwägen   (179d.  185b.    188c.  206b) ,    das    sonst    (169*.    L68e.    L96b.   204«)    auf 
reimt:    gemeint  ist  wol  lüzen,   lüschen  „latitare"  (Schiller -Lübben  6,  205*.     Brun 
12618)  und  lüten  eine   hyperniederdeutsche  Entstellung,   so   dasa   Bicfa    in    jenen 

Reimen  slüzen  ergäbe;  doch  wird  das  noch  der  Nachprüfung  bedürfen.  Hoch- 
deutsches t  empfehlen  die  Reime  bitter  :  ridder  l(.^b .  luden  :  träten  205d,  porte 
:  hörde  175a,  porten  :  börden  203d.  Die  Verschiebung  von  j>  :  /  li.ii  Kai.  74.  Wurzg. 
210a  in  dem  Reim  papen  :  straffen,  an  dessen  hochdeutschem  Charakter  Euling 
nicht  hätte  mäkeln  sollen.  Auch  schuf  :  af  163b  (lid.  schäf  :  ap .  od.  schäp  :  «/'), 
schuf  :  grüf  „grub"  196c,  -schaf  :  gaf ,  Jcaf  (S.  58),  >-'•/'  :  drtf  (hd.  rt>f  :  /. 
l»)4a  u.  ä.  sind  offenbar  mitteldeutsch  und  verschoben.  Besonders  reich  ist  wie- 
der hochdeutsches  ch  vertreten:  sprach  \  geschart/  Wurzg.  L80b.  L91d.  205d.  208 
mach  (Hs.  zuweilen  nah)  167d.  199d.  20O.  201b.  Kai.  r>17,  -.sach  Wurzg.  L63*. 
169c.  173d.  175ad.  181d.  183c.  190d.  198b.  199c.  201cd.  Kai.  849,  :  jach  Wurzg.  1  •••  . 
188a;  ghemach  :  sach  20Gb,  :  geschach  161d.  180b ;  mich  \  sich  „vide"  189d.  206*; 
sech  „krank":  sunder  vech  209a  (?) ;  spricht :  sieht  207c,  :  nicht  174c.  208a,  iplieht 
208a;  ferner:  sj>r«c//  :  mach1)  10Ob-b.  180'1.  182c.  194*  u.  m.,  :  JocA  Kai.  860. 
Wurzg.  166a,  :  dach  Kai.  1036;  brach  ■.mach  Wurzg.  I84a,  :  lach  197d,  -.nach  L96  ; 
stach  :  roacÄ  202a;  hoch  :  genöch  169a.  186d.  210a;  dicÄ  :  krtch  203b,  :  fftricA  „schweige* 
182d,  :  stich  187b;  -lieh,  dich  :  umbevindich  170a.  187b ;  dtcÄ  :  alweldich  164a;  rmc/i 
(Dat.)  :  gnedich  164c ;  billich  :  iviUich  197a  u.  s.  w.  Hierher  gehört  auch  söÄ'ßii  : 
irkloken  (d.  i.  suochen  :  irklnogen)  Kai.  1354.  Wurzg.  199c.  204c;  ferner  fereA  : 
wireft  Wurzg.  175a.  197c.  —  Neben  #«,  #«s,  //o  und  na  stehn  auch  gäch  159c.  163 
u.  ö. ,  hoch  175d  und  »?«<?/*  (S.  56)  im  Reime  fest,  geneden  zeigt  bei  Konemann  auch 
die  hd.  Reimvariante  genenden  (oben  S.  25).  —  Neben  mi  ist  auch  mir  im  Reime 
:  gir  Wrurzg.  179a,  mer  :  loser  166d  (?),  der  :  vinder  190c  (?)  erwiesen  ;  im  Reime  stehn 
ferner  die  Pron.  in  „eum"  (:  sin)  200a,  „eis"  Kai.  406.  imme  „ei"  (iminne)  163b 
(eme  Kai.  183).  Md.  zuä  (Fem.)  Kai.  488.  Das  starke  masc.  Adj.  guoter y  als 
erstarrter  Casus  (s.  oben  S.  41),  wird  gebraucht  für  den  Plural  Kai.  103.  285, 
für  das  Feminin  Wurzg.  169a.  170a.  189c.  194a-b.  202»  (Dat.  Fem.  198b),  für  das 
Masc.  nach  Artikel  Wurzg.  166<\  184b.  195a.  201\  attributiv  nachgestellt 
im  Acc.  204a ,  im  Voc.  204b.  266*.  Aber  Konemann  beschränkt  sich  nicht  auf 
das  eine  Wort,  sondern  construirt  du  dummer!  Wurzg.  183c  (Voc.  Fem.)  -)  und 
cloker  176c  (prädicativ:  de  seger  is  so  clöker ,  auch  hochdeutsch  nicht  anmög- 
lich) nach  demselben  Beispiel.  Und  im  Versinnern  hat  die  authentische  Ka- 
landhandschrift  781  ein  vüler  äs,  obgleich  äs  natürlich  auch  nd.  Neutrum  ist; 
die  Endung  -er  wurde  von  Konemann  lediglich  als  hochdeutsch,  aber  nicht  als 
masculinisch  empfunden.     Die  Wurzgartenhandschrift  hat   ebenso  186°   ein  g 


1)  mach  :  geschach  z.  B.  Wurzg.  196*.  Kai.  186,  :  gäch   183*-*,  :  nach  Kai.  680.    Wurzg 

loch  :  doch  „log"  Wurzg.  166*,  :toch  166*;  droch „Trug"  :  doch  200»;  dröch  „trug"  :  ■■  slucli 

:  loch  200»;  ghenöch  :  töch\88*.  206b;  lach  :  sach  203*.  mäch  20le,  :  geschach  207*;  plach  :  geschach 

187c;  dach  :  nach  Kai.  570.     Aber   mac  :   Ysaac  196a. 

2)  mi  tamber  (:  number)  Kai.  709. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.     Phil. -bist.  Kl.    N.  F.    Band  J.  - 


58 

delöser  mere ,  204*  ein  grimmiger  lüt  (niederdeutsch  meist  Neutrum) :  beides 
mehr  hd.  Adjectiva.  Charakteristisch  ist  ferner  in  ihr  de  ütiuorpender  dich 
171*  und  die  festen,  vom  Hochdeutschen  übernommenen  Verbindungen  ein  sige- 
riker ,  starker  degen  197d.  208d ,  min  dummer  sin  ,  möt  159c.  165d.  202c :  der 
Gebrauch  dieses  -er  ist  unfrei 1).  —  ist  :  bist  164a.  194a ,  :  genist  181d,  :  bewist 
208b ,  :  gevrist  Kai.  949.  Die  Pluralendung  -en  überwiegt  sehr  beträchtlich 
über  das  nd.  -et;  sichere  Indicativbelege  des  -en  aus  dem  Hauptsatze  sind 
Kai.  917  (wir).  1131.  Wurzg.  176a.  182c.  193a;  der  wahrscheinlichen  en-Indi- 
cative  in  Nebensätzen  Hesse  sich  das  Zehnfache  und  mehr  anführen  :  ich 
verzeichne  hier  nur  Belege  der  2.  Pers.  Plur. :  ge  bUen  Kai.  678 ,  gi  leren 
Wurzg.  160c,  gi  van  198d,  gi  sin  199b,  gi  söken  199c,  gi  willen  204c.  sint :  kint 
Kai.  1196.  Wurzg.  189d.  198b.  203 c ,  :  blint  164d.  —  Die  regelmässigen  hoch- 
deutschen Formen  von  sagen,  hän  haben,  län,  contrahierte  Formen  wie  treit,  geleit, 
ferner  tut,  gät,  stät,  Ut  sind  alle  reichlich  im  Reim  bezeugt2),  sieht  (:  cricht)  172c, 
(:  nicht)  Kai.  203  (neben  süt  Wurzg.  162c.  209a) ;  geschieht  (:  plicht)  Kai.  597, 
(:  nicht)  Wurzg.  201b ;  die  Präterita  geschach,  jach,  sach  stechen  die  ganz  verein- 
zelten nd.  geschüde,  vorgüde,  geschä  (Wurzg.  175c)  weit  aus.  Eine  3.  Pers.  Sing, 
mit  Umlaut  ist  z.B.  vert  (-.beschert)  Kai.  928.  1135.  Wurzg.  186b.  Nd.  Präterita 
wie  nende  haben  z.  B.  brande  (:  pande)  Wurzg.  172a,  sande  (:  lande)  207c,  (:  Ka- 
lande)  Kai.  348,  (:  mande)  Wurzg.  200c  zur  Seite;  die  zugehörigen  Participia 
heissen  ausnahmslos  genant,  gewant,  gezalt,  gesaltu. s.w.  Das  starke  Part,  verstoßen 
(nd.  vorstot)  steht  Wurzg.  161ac.  176d.  183b.  Ueber  bestes  [beslöz']  vgl.  S. 49  Anm.  2. 
Plur.  Prät.  wären  (:  naren  „Narben")  164c.  165a,  (:  barn)  201c  u.  Ö. ;  säten  (:  geläten) 
177b,  (:  mäten)  166a;  quämen  (:  samen)  Kai.  36;  sägen  „viderunt"  (:  slagen,  plagen) 
Wurzg. 203cd,  während  weren  u.  ä.  nicht  erwiesen  ist,  da  ivärenisivceren  (Hs.  swaren  !) 
201c  (:  missebären  206b)  bei  Konemanns  Reimart  nichts  ergibt  und  spreken  (:  teken  , Rei- 
chen") 208d  Conj.  sein  wird.  Sehr  bemerkenswert  die  2.  Pers.  Sing.  Prät.  du  tveere 
Wurzg.  194d  (sonst  immer  -est).  Immer  stunt  ,, stand".  —  Im  Reim  nur  -Un  (minsche- 
Itn  Kai.  1351,  ivortelm  Wurzg.  179d),  während  das  Versinnere  wenigstens  im  Wurz- 
garten neben  vogelin  (öfter)  und  lovelin  (174a)  auch  nichteken  191d  besitzt 3).  -unge  ist  im 
Reim  weit  öfter  bezeugt  als  -inge,  im  Wurzg.  166a.  169b.  170a.  175d.  184a.  186a-d.  188b. 
204c.  Kai.  662.    -schaß  wird  in  dieser  Form  durch  den  Reim:  haft  Kai.  48,  : kraft 


1)  Ich  habe  mir  ausserdem  notirt  ik  vil  armer  wicht  202b,  lever  herel  166d,  ik  bin  einer  164c ; 
im  Kalant   1025  alle  degeliker,  auf  ordeil  bezüglich;  419  dummer  man,  952  lever  seile! 

2)  Im  Wurzgarteu  z.  B.  sagen  (-.zagen,  wagen,  tagen,  vrägen)  165d.  1 73d.  199d.  202*,  Imper.j 
sage  (:  vräge)  i62a.  isga.  I90d.  202d,  ik  saghe  170c.  174a.  201d,  saget  3.  Pers.  Sing.  (:  maget,  geplä- 
get)  174d.  188c.  199^  part.  gesaget  169a.c.  ^02*.  210a,  sageten  (:  clageten)  200c,  seit  (:  wärheit)  166c. 
195*;  hän  168d.  199*>-c.  210»,  hat,  hat  163c.  167/.  169^>.  173».  174a  Und  sehr  oft,  hast  177d.  200^, 
haben  206b,  habe  Conj.  (1  gäbe)  189d;  (län  Kai."  387.  470;)  treit  168c;  geleit  (:  -heit)  168b.  169b-c. 
173b.  177c.  178d  u.  ö.;  döst  Kai.  813.  Wurzg.  177d.  204b,  dot  186c.  206c  u.  0.;  stäst  166»,  gast  177d,  gät 
169c ;  Ut  (:zU)  Kai.  660.  Würz.  206c,  (:  vut)  174d  (:  git  „sagt"  169a  könnte  auch  licht:  gicht  meinen). 
ml  (:  vil,  zil)  ist  nicht  unzweideutig :  doch  spricht  die  herrschende  Schreibung  für  i ;  auch  könnte 
das  mnd.  seltne  zil  (Leitzmann  zu  Gerh.  v.  Minden  6,  9)  poetisches  Lehnwort  sein. 

3)  voteken  198c  versteh  ich  nicht. 
8 


DIE    REIMYORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  59 

Wurzg.  161d,  sonst  als  -schaf  (nd.  wäre  -scop ,  -scup)  im  Gleichklang  mit  Jcaf 
Kai.  224,  mit  gaf  Wurzg.  171c.  198d  erwiesen.  —  Das  weit  vorhersehende  nd.  dar, 
dare,  war  hat  doch  auch  das  hd.  da,  icä  an  der  Seite  (:  Manna  Wurzg.  173b,  :  ghä 
182b,  :  nd  205a,  besonders  im  Kaland  :  nd  268,  :  nntfd  442,  :  zwd  488,  :  dwd  527, 
:  gd  877,  :  pessima  982).  me  ,.mehr"  reimt  :  e  „Gesetz"  Kai.  160,  :  dre  215,  :  sc 
Wurzg.  190atl  (ineist  mere;  mar  Wurzg.  185d.  207d).  daunen  179\  Können  sich 
diese  hochdeutschen  Reime  an  Zahl  mit  den  niederdeutschen  nicht  messen ,  so 
sind  sie  doch  durch  ihre  Existenz  gewichtig  genug.  Ich  zweifle  nicht,  auch 
Konemann  wollte,  wie  seine  Vorgänger,  auf  seine  Art  hochdeutsch  schreiben. 
Aber  er  tats,  ohne  sich  darum  Entsagung  in  der  Ausdrucksweise  aufzuerlegen, 
ohne  auf  bequeme  Reime,  wie  sie  ihm  die  Muttersprache  reichlich  bot,  zu  ver- 
zichten :  die  alte  Kaiandhandschrift  mag  ein  ganz  leidliches  Bild  davon  geben, 
wie  ein  Manuscript  dieser  Sorte  zwiefarbiger  Poesie  aussah.  Grade  Konemann 
in  seiner  Nachgiebigkeit  zugleich  gegen  die  hochdeutsche  Tradition  und  gegen 
die  eigne  sprachliche  Gewohnheit  lässt  ahnen ,  wie  ohne  schöpferische  Tat  aus 
diesem  hochdeutschen  Missing  doch  so  etwas  wie  eine  mittelniederdeutsche  Schrift- 
sprache entstehn  konnte.  — 

Von  Lyrikern  hat  Behaghel  lediglich  Heinrich  v.  Morungen  als  hoch- 
deutsch dichtenden  Niederdeutschen  vermerkt.  Nun,  auch  der  Graf  von  An- 
halt und  Markgraf  Otto  IV.  von  Brandenburg,  beide,  oder  doch  der 
zweite,  Nachzügler  des  Minnesangs  aus  einer  Zeit,  da  er  im  Süden  schon  zum 
Welken  sich  geneigt,  auch  sie  waren  sicherlich  niederdeutsch  zu  sprechen  ge- 
wöhnt, und  doch  enthielten  sie  sich  in  der  Dichtung  jeder  niederdeutschen  Nuance  : 
ihre  Reime  schimmern  hie  und  da  höchstens  ins  Mitteldeutsche,  ihr  Wortschatz 
weicht  von  der  guten  oberdeutschen  Tradition  kaum  ernstlich  ab  1).  —  Die  Spruchdich- 
tung, stoffreicher,  minder  vornehm  und  minder  gebunden  als  der  Minnesang,  lässt 
auch  sprachlich  die  Eigenheiten  des  Poeten  leichter  durchkommen.  Reinolt  von 
der  Lipp  e,  schon  durch  seinen  Namen  verraten,  offenbart  sich  in  dem  Reim  leben 
:  heben  (d.  i.  Himmel,  engl,  heaven)  II  1  als  Niederdeutschen,  seine  übrigen  Reime 
sind  ausgesprochen  mitteldeutsch 8).  Dass  Raumsland  von  Sachsen  nicht 
die    Sprache    seiner   Heimat   geschrieben,    hab    ich    schon    ADB.  30,   97    betont; 


1)  Der  Brandenburger  hat,  um  von  anderm  abzusehen,  den  durchschlagend  hochdeutschen 
Reim  machen  :  lachen  :  sivachen  V  2;  md.  reimt  ice  :  ich  se  VI  1,  Inf.  sehen  :  jehen  klingend  V  1  ; 
sein  Wortvorrat  ist  streng  conventionell  hochdeutsch,  abgesehen  etwa  von  sich  prisen  ze  VI  1.  — 
Die  zwei  Liedchen  des  Anhalters  haben  einen  leidlich  charakteristischen  Reim  nur  I  3:  getan 
:  län  (also  nicht  niederdeutsch)  :  geh  an  (ebenso)  :  versmän  (mitteldeutsch).  Auch  die  Reimworte 
nieten  I  3  (in  dieser  Bedeutung),  dreejen  „duften4,  II  1  sind  mir  mittelniederdeutsch  nicht  bekannt,  al 
„obgleich"  (I  1,  2)  das  Bartsch  wol  richtig  herstellt,  ist  nicht  nur  niederdeutsch,  wie  er  Liederd.3 
344  behauptet.  Wenn  uht  und  uht  II  1  (nicht  im  Reime)  wirklich  id  und  id  (vtz  und  uz)  meinen 
sollte  ,  so  würde  das  höchstens  auf  einen  niederdeutschen  Schreiber  in  der  Textvorgeschichte  zu- 
rückdeuten. 

2)  Er  reimt  z.  B.  brach  :  pflach  I  3,  loch  :  och  :  Joch  :  noch  I  1,  ist  :  list  I  3,  hat  im  Reime 
hat,  stät,  git,  gesaget. 


60 

genaures  jetzt  bei  Panzer,  Ruinzlants  Leben  und  Dichten  S.  25  ff.  Die  hoch- 
deutsche Grundlage  ist  durch  die  Reime  gesichert,  und  die  niederdeutschen  Züge 
in  Lauten  und  Wortwahl  berühren  den  sprachlichen  Gesammtcharakter  auf- 
fallend wenig  für  einen  Poeten,  der  sich  auf  sein  Sachsentum  etwas  zu  Gute 
tut.  Dass  das  Wolfenbüttler  Fragment  einer  Handschrift,  die  vielleicht  nur 
Sprüche  Raumslands  enthielt,  hochdeutsch  ist  (Zeitschr.  f.  d.  Alt.  32,  85),  sei 
immerhin  bestätigend  erwähnt.  —  Endlich  Hermann  Damen.  Auch  von 
seinen  Gedichten  haben  anscheinend  Separatausgaben  in  hochdeutscher  Sprache 
existirt  (Germ.  24,  16).  Die  lautlichen  Spuren  des  Niederdeutschen  sind  et- 
was stärker:  die  Tonlängung  kurzer  Vocale  in  offnen  Silben  ist  häufiger  (I  39. 
III  3.  10.  V  4.  5.  7.  7);  die  beiden  Reime  swein  :  drein,  zwler  :  einer  (IV  3.  4) 
stimmen  glatter  zu  niederdeutscher  als  zu  mitteldeutscher  Sprachgewohnheit ; 
vrint  (:  sint  IV  7,  :  gewint  IV  8)  mag  auch  eher  niederdeutsch  sein  ;  vgl.  snide  : 
strite  IV  4.  Anderseits  kein  Zweifel ,  dass  der  Dichter  an  der  hochdeutschen 
Tradition  fest  hielt  (er  :  ger  IV  11,  mir  :  ir  VI  1;  verre  :  ere  V  1,  vgl.  I  8; 
Cr  ist  :  ist  I  22.  III  1.  IV  3.  5.  VI  2;  du  weere  :  du  gebeere  :  sivcere  I  22 ;  uns  :  suns 
III  1;  niht  -.bricht  II  6,  -unge  I  11.  III  5,  daneben  das  Uebliche) ,  was  sich  um 
so  bestimmter  constatieren  lässt,  da  er  keineswegs  die  abgetretenen  Pfade  der 
Reimtechnik  wandert.  Und  eine  lexikalische  Betrachtung,  in  die  ich  hier 
nicht  des  Näheren  eintrete ,  ergibt  das  Gleiche :  Damen  gehört  zu  den  Mäu- 
nern  ,  denen  die  Grenzen  des  classisch  abgestempelten  mittelhochdeutschen 
Sprachschatzes  zu  eng  sind ;  und  doch,  wenn  er  darüber  hinaus  geht ,  z.  B. 
in  seiner  grossen  Prunkstrophe  VI  ,  er  bereichert  sich  aus  mitteldeutschen 
Worten,  spricht  von  duz ,  gräz ,  glänz,  glizen ,  hat  aber,  soviel  ich  sehe,  nicht 
ein  Wort  von  ausgeprägt  niederdeutschem  Charakter.  Und  dabei  hat  er  wie 
Raumsland  ausschliesslich  an  norddeutschen  Höfen  gesungen.  Das  litterarische 
Centrum  aber,  das  zeigen  sie  in  Lob  und  Schelte  ,  es  liegt  für  sie  im  Süden. 
Wenn  so  die  Lyrik  noch  viel  schärfer  die  hochdeutsche  Gestalt  der  norddeut- 
schen Poesie  im  13.  Jahrhundert  beweist,  so  zwingt  uns  das  wiedrum  einen 
Schluss  auf  das  Publikum  auf.  Wenn  es  las,  fühlte  es  sich  trotz  den  Versen  dem 
Alltag  näher ;  im  Gesang  aber  verlangte  es  die  ideale  hochdeutsche  Gestalt  rein 
und  unverfälscht,  und  es  muss  sie  gut  verstanden  haben,  vielleicht  besser  als  das 
litterarisch  ungewohnte  und  zu  höfisch  poetischer  Formung  wenig  vorbereitete  Platt. 
Auch  rein  hochdeutsche  Dichter  haben  im  Norden  bis  nach  Dänemark  hin  eine  ge- 
eignete Stätte  des  Wirkens  gefunden :  unzweifelhaft  begünstigte  die  musikalische 
Kraft  des  Südens  diese  litterarische  Herrschaft.  Aber  sie  bestand,  über  die 
höfischen  Hörer  anscheinend  noch  stärker  als  über  die  höfischen  Leser. 

Die  einzige  Abweichung  von  dieser  Regel  zeigt  Fürst  Wizlaw  v.  Rügen, 
vielleicht  der  talentvollste  niederdeutsche  Dichter  des  13.  Jahrhunderts.  Er 
macht  uns  Philologen  Not,  will  sich  unsern  Kategorien  nicht  recht  fügen. 
Früher  hat  man  ihn  allgemein  für  niederdeutsch  erklärt,  und  Ettmüller  hat  ihn 
ins  Niederdeutsche  zurückübersetzt ,  was  er  freilich  auch  dem  ersten  Vorredner 
des    Sachsenspiegels    hat   angedeihen    lassen;    dann    hat    Seelmann    den    Fürsten 

e 


DIE  REIMVORKKDKN    DES   s.\< SHMN8PD D I BLB.  Gl 

ebenso  bestimmt  für  einen  hochdeutschen  Dichter  erklärt,  und  Bchaghel  hat  das 
non  liquet  proclamirt.  Unsre  Ratlosigkeit  deutet  hier  vielleicht  auf  die  Keim- 
zelle neuen  Lebens.  Der  fahrende  Sänger  war  an  das  höfische  Publikum  und 
seine  Wünsche  oder  Gewohnheiten  gebunden :  der  Fürst  konnte  diese  Fesseln  bei 
Seite  werfen,  konnte  es  um  so  eher,  wenn  er  so  abseits  sass  wie  Wizlaw.  Und 
dieser  Fürst,  auch  melodisch  begabt,  tut  wirklich  einen  befreienden  Schritt. 
Freilich  nur  einen,  wo  ein  Dutzend  nötig  gewesen  wäre.  Das  Forum  der  Meister 
respectirt  auch  er.  Aber  die  Meister  liebten  eine  caprieiöse ,  schwierige  Aus- 
drucksweise, wo  der  normale  Minnesang  nur  die  geprägtesten  Wendungen  gelten 
Hess.  Vielleicht  hat  kein  deutscher  Poet  des  Mittelalters  der  poetischen  Sprache 
mit  Bewusstsein  so  viel  neues  Material  zugeführt,  wie  das  Frauenlob  aus  seiner 
Mundart  getan  hat.  Es  lässt  sich  doch  vergleichen  ,  wenn  Wizlaw  Wendungen 
von  fast  gesuchter  Mundartlichkeit  in  den  Reim  schob,  wie  etwa  grät  (ber- 
linischem^, Nd.  Correspondenzbl.  14,24),  noch  dazu  in  der  minniglichen  Wen- 
dung „üz  herzen  gräte"  IX  2.  XI  2,  „aus  herzlichem  Verlangen":  das  muss  be- 
fremdend gewirkt  haben,  zumal  im  Minneliede ,  wie  wenn  heute  etwa  ein  Mo- 
derner reimen  wollte  „aus  Herzensgieper"  oder  ähnlich.  Und  solche,  auch  für 
ihn  schwerlich  nächstliegende,  niederdeutsche  Dinge  hat  Wizlaw  grade  in  den 
Reim1)  gerne  gepackt:  lach  „Gesetz"  XII  2 2),  Ur  „Wange"  XVI  2,  ger  „Gäh- 
rung,  Duft"  (?)  XVI  2.  külde  „Kälte"  XII 1.  XVI  2  (im  Innern  X  1) ;  ert  ..  Erbse«  I  5 
(wahrscheinlich  hat  Wizlaw  so  gar  nicht  gesprochen);  aflät  (?)  I  3;  echter  VII  2. 
Nun,  hier  hat  er  zum  Sprachgut  der  Mundart  gegriffen,  nicht  weil  er  in  ihr  den  na- 
türlichen und  gemässen  Ausdruck  fand,  nicht  weil  er  unwillkürlich  in  sie  verfiel 
wie  so  oft  die  Reimpaardichter,  sondern  lediglich  als  Reimneuerer  ä  la  Frauen- 
lob :  ich  beurteile  jene  niederdeutschen  Ausdrücke  nicht  anders  als  andre  ge- 
suchte ,  nicht  speeifisch  niederdeutsche  Reimworte ,  wie  etwa  die  gezierten 
Verba  gJüeten  X  2,  blüeten  X  2.  XI  2,  nozzen  X  1,  wie  entzwicken  X  2,  entlücken 
u.  s.  w.  XV  1,  steiften  XII  2,  krachen  XII  3,  strengen,  mengen  XIV  3,  zomeen 
XI  2,  speren  X  3,  gebit  (schw.  Part.)  XV  3,  gezarte  V11I.  druhi  I  2.  XV  3, 
kerze  V  3.  X  3,  drü  VII  1,  bwvf  XV  3  und  manche  ähnliche,  die  zumal 
im  Reim  der  Minnedichtung  ungewöhnlich  waren  und  grade  dadurch  Wizlaws 
Geschmack  zusagten.  Im  Versinnern  hat  er  derartige  Wendungen  nicht  so  ge- 
sucht. Sehen  wir  von  jenen  niederdeutschen  Reimworten  ab .  so  bleibt  der 
schlagenden  Saxonismen  nicht  besonders  viel  im  Reime:  gekleidet :  bereitet '.breitet 
(3.  Plur.):  feitet  XI  1,  bliietet  (?  Hs.  htuozrt)  ■  grüeset  (3.  Plur.):  sueaet  :  bnezet  XI  2. 
beide  in  milderndem  Vierreim,  vielleicht  auch  g<><t'>eket  :  entzwicket  X  2 
süeze  XIII  1;  dt  (dir)  :  bt  XII  2;  IU  :  wit  (weiss*  XV  1  hat  schon  ein  doppi 
Gesicht,    da   IU   hochdeutsche  Form,    wit   niederdeutsch    kurzvocalisch    ist:    dass 


1)  Ausser  dem  Reim  fand  ich  von  ausgesprochen  niederdeutschem  Sprachgut  nur  wort  1  3 
V.  2,  wenn  Ettmüllers  Deutung  richtig  sein  sollte;  das  Wort  ist  rutsch  (vgl.  Fabricius,  Urkunden 
z.  Gesch  Rügens  4,  35a).  —  entsen  ..fürchten",  aperen  „hindern",  ape  ..feindlich",  alle  X  3  im  Reime 
zeigen  nur  in  der  Bedeutung  die  niederdeutsche  Farbe. 

2)  Leitzmann  zu  Gerh.  v.  Minden  92,  IS  sieht  in  loch  mit  Ettmüller  das  ml.  ldk  ..Fehler". 


62  GUSTAV    ROETHE, 

Wizlaw  Accusativ  und  Dativ  nicht  sauber  trennen  kann ,  sagt  über  seine  dia- 
lektischen Absichten  nichts  aus  l).  Und  die  hochdeutschen  Reime  sind  zum  Teil 
sehr  gewichtig  (Seelmann  Anz.  XX  348  ff.) :  ich  hebe  hervor  nähen  :  enpfähen  IX  1, 
nahet  :  versmähet  :  gähet  VI  (das  erste  Mal  sicher ,  das  zweite  Mal  sehr  wahr- 
scheinlich zweisilbig;  obendrein  nicht  nähen  oder  nälen  ;  gälten  ist  mnd.  ungeläufig; 
mhd.  versmähen  heisst  mnd.  meist  vorsmän  oder  noch  lieber  vorsmäden;  nät  :  en- 
pfät  noch  XI  2) ;  herze  :  herze  V  3.  X  3  ;  nente  :  lente  :  rente  I  2  ;  du  beere  (nd. 
bärest)  :  sweere  I  2  ;  genuoch  :  ruoch  (nd.  rohe)  XVII  1 ;  tuoch  (so  die  fls.) :  unge- 
vuoch  XII 1 ;  geschach  :  brach  I  4  ;  (lach  :  dach  XII  2?  ;)  du  :  eü  II  l2) ;  (Hüten  :  Meten? 
XII  1;)  brüst:  tust  I  7.  XV  2;  ferner  Belege  für  hau,  hat,  gät ,  stät  (rüg.  steit), 
tuot  (rüg.  doit),  tat,  git  (rüg.  gift),  lit  (rüg.  licht),  meit,  treit,  ist,  hin,  -Im  u.  a. ; 
die  2.  3.  Plur.  auf  -en  ist  wiederholt  bezeugt  (I  1.  X  1.  XII  l)2);  die  Ton- 
längung,  fast  regelmässig  im  Reim  (ßalt.  Stud.  34,  287),  herscht  doch  noch  nicht 
ausnahmslos  (I  1  geben  \  leben)  I  10  jugent  :  tugent ;  V  3  gevlogen  :  betrogen  :  ge- 
zogen). Das  Alles  genügt  jedesfalls,  um  es  unwahrscheinlich  zu  machen,  dass 
Wizlaw  mit  der  hochdeutschen  Grundform ,  in  der  seine  ganze  poetische  Aus- 
drucksweise wurzelt3),  gebrochen  haben  sollte.  Allerdings  darf  nicht  ausser  Acht 
bleiben,  dass  der  Text  der  Jenaer  Handschrift  grade  bei  Wizlaw  Erscheinungen 
zeigt,  die  auf  eine  Vorlage  mit  stärker  niederdeutschen  Elementen  zurückdeuten 
möchten4).    Jedesfalls  geht  Wizlaw  in  der  Aufnahme  heimischer  Sprachzüge  über 

1)  Behaghel  citirt  noch  ze  muote  :blüete  :  verhüeie  XI;  aber  muote  (statt  muoze)  ist  doch  auch 
hochdeutsch  eine  geläufige  Form.  Ettmüllers  Reim  (I  2)  vroht  ;,Furcht"  :  droht  beruht  auf  falscher 
Conjectur  :  din  süeze  vruht  steht  jedesfalls  in  nordischer  Weise  (Gramm.  IV2  352  f.)  für  du  süeze 
vruht.  Ob  vlughet  I  9  den  Plural  vUghet  meint,  ist  mindestens  zweifelhaft.  Dagegen  sind  noch  zu 
erwägen,  wenn  gleich  auch  mitteldeutsch  denkbar:  scliane  :  keene  „kühn"  I  7,  gröz  :  buoz  VII  3 
(Dicht  ganz  sicher),  bliletet  '.geratet  X  2,  deben  :  leben  X  3  (falls  so  richtig,  ist  die  Stelle  ein  wei- 
terer Beleg   für  mhd.  läzen  c.  Dat.,  vgl.  Meissner  Zs.  42,  125);  der  Plural  Ntr.  auf  e  (velde)  steht 

XI  1  ,  andre  überschiessende  e  IV.  XIII  2.  Von  der  sehr  wenig  einleuchtenden  Conjectur  böte  IV 
(für  lutc)  seh  ich  natürlich  ab;  ist  lute  „Laut",  so  würde  der  Reim  für  ruote  einen  mehr  mitteldeut- 
schen Vocalismus  ergeben  (doch  vgl.  Anm.  2). 

2)  Doch  schwanken  auch  die  rügischen  Urkunden  zwischen  6  und  ü  (hd.  uo),  -en  und  -et. 

3)  Aus  hochdeutscher  (meist  litterarischer)  Anregung  dürften  von  Einzelheiten  etwa  stammen  : 
von  Substantiven  *ast  XVI  1,  anger  (oft),  "albe  XIII  1,  "swanz  XV  2,  "kerze  V  3.  X  3,  *haft  I  9 
(technisch  poet.  Ausdruck),  *blic  „Blick"  XIII  2,  "tuäl  I  7,  die  Abstracta  *hcene  I  7  und  *melde 
XI  1,  die  poetisch  vielgebrauchten  Worte  * 'wunderecre  16,  *leitvertrip  XIII  2.  3;  selbst  die  Vorliebe 
iür  das  Wort  wunne  beruht  wol  auf  dem  Einfluss  der  hd.  Dichtung;  —  von  Adjectiven  :  *triit  III. 
VII  2,  *hel  XIII  3,  der  Reim  *sal  (:*kal;  auch  dies  mnd.  nicht  oft)  XVI  1;  *broede  II  2,  *zündic 
I  4,  "gezarte  VIII,  die  die  wol  poetischer  Sprache  entnommenen  "vröudenbcere  V  1  {^offenbar  XV  2, 
vgl.  S.  41  f.),  grundelös  I  3,  senende  IV.  V  1  (öfter);  —  von  Adverbien:  Hougen  III.  XIII  2,  *dort 
XV  2,  sam  I  10.  X  3,  *sän  14.  X  2.  XIII  2  ;  —  von  Verben  "nennen  I  10,  "zieren  :  *ivieren  :  *vieren 
X  2,  :!  feiten  XI  1,  "biten  XV  3,  "entzwicken  X'2,  "entnücken  XV  1,  zünden  V  3.  X  3,  brinnen  (bran, 
durch  die  stumpfe  Caesur  sicher)  I  4,  triuten  VII  2  ;  auch  "surften  XII  2  lässt  sich  ebenso  gut  aus 
dem  Hochdeutschen  als  aus  dem  nl. ,  höchstens  westnd.  su-ichten  herleiten.  —  Viel  gewichtiger 
als  dies  Einzelne  ist  der  hd.  Gesamtcharacter  der  Wizlawschen  Dichtung. 

4)  Von  dem,  was  Knoop  Balt.  Stud.  34,  278.  303  ff.  fleissig  zusammenstellt ,  ist  manches  mit- 
teldeutsch ganz  geläufig,  vieles  beruht  auf  Misverstehn  der  elenden  Ettmüllerschen  Varianten, 
vieles  schlechthin  auf  Ettmüllers  zahllosen  groben  Fehlern :  v.  d.  Hagens  Angaben  sind  weit  zuver- 


DIE  REIMVOKRKDKN   DES   8A0HSUN8PIEQKU3.  63 

seine    lyrischen  Vorgänger    bereits    beträchtlich    hinaus.      Aber    auch    er  dichtet, 
wie  Konemann,  ganz  zu  Ende  des  Jahrhunderts.  — 

Ich  habe  diese  grob  und  ungleich  gearbeitete  Uebersicht  über  die  niederdeut- 
schen Poeten  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  nicht  unterlassen  wollen,  so  sehr  ich  mir 
bewusst  bin,  dass  sie  aller  Orten  der  Ergänzung  und  wol  auch  Berichtigung  be- 
dürfen, dass  schon  die  Auffassung  der  durchmusterten  Tatsachen  zu  manchen 
Zweifeln1)  Anlass  geben  wird.  Aber  auch  so  wird  der  Gang  gelehrt  haben 
dass  es  bis  zum  Schlüsse  des  13.  Jahrhunderts  keine  einzige  Dichtung  Nie- 
derdeutschlands 2)  gibt,  die  nicht  dem  Verdacht  hochdeutscher  Abfassung  un- 
terläge; am  schwächsten  noch  ist  er  für  die  rein  locale  Gandersheimer  Chro- 
nik. Wer  nicht  annehmen  will,  dass  uns  die  Ueberlieferung  gebend  und 
zerstörend  den  seltsamsten  Streich  gespielt  habe,  dem  drängt  die  Summe  der 
auffallenden  Einzelerscheinungen  notwendig  die  gleiche  Erklärung  für  sie  alle 
auf:  im  13.  Jahrhundert  war  die  sogenannte  mittelniederdeutsche  poetische 
Litteratur  lediglich  ein  provincieller  Auswuchs  der  hochdeutschen  ,  innerlich 
und  des  zum  Ausdruck  auch  äusserlich  unselbständig;  eine  schöne  Litteratur,  die 
den  Namen  „mittelniederdeutsch"  verdient,  entstand  erst  im  14.  Jahrhundert3). 
Nicht  als  ob  man  nicht  auch  früher  auf  norddeutschem  Boden  gedichtet  und  gesun- 
gen und  gesagt  hätte:  aber  dieses  poetische  Leben  von  Mund  zu  Munde,  das  man 
sich  nach  seinen  Spuren  würdig  und  reich  vorstellen  mag,  war  eben  keine  Lit- 
teratur, die  sich  mit  dem  Anspruch  wörtlicher  Dauer  an  Leser  wendet.  Dass  es 
zu   einer  wirklichen    nd.  Litteratur  erst  so  spät  gekommen  sein  soll,    darf  nicht 


lässiger :  man  sollte  nie  nach  Ettmiillers  Machwerk  citiren.  Gewichtig  scheint  mir  nur  etwa  e  f.  ei 
(reph  „rieb"  I  7),  t  f .  z  (tonwen  f.  zouicen  XI  2 ;  dagegen  ist  putte  I  3  und  vielleicht  blot  XVI  1  auch 
mitteldeutsch),  k  f.  ch  (tcelh  X  2),  cht  f.  ft  (suchtest,  swichtest  XII  2,  bedrocht  XVI  2),  die  3.  Pers. 
Sing,  trift,  ripht,  koyft  I  5.  8.  II  2,  der  falsche  scheinbare  Siug.  tuot  19,  unphat  XV  1,  weren  f.  wären 
I  7,  steten  „gestatten"  I  6.  II  1,  vor  Allem  die  hyperhochdeutschen  Formen  kürzet  XV  2,  haz  I  10 
Z.  8  (später  in  hat  verbessert),  druft  XV  3,  tucht  I  7  (dühte;  vorterben,  mitten  dagegen  sind  nicht 
beweiskräftig);  vielleicht  deutet  auch  die  offenbar  verderbte  Stelle  III  Z.  3  herzctrute  sich  min  ein 
par  vrouwe  auf  ein  nd.  enparmen  [herzctrüt,  sich  [dich?]  min  enparme  vrouwe)  zurück,  der  grözer 
18  kann  sehr  wol  von  WizJaw  herrühren:   vgl.  oben  S.  41.  57  f.  und   einer  (f.  einiu?)  XV  2. 

1)  So  liegt  es  nahe,  z.  B.  die  starken  Verba  brinnen,  rinnen,  die  starken  Part,  begannen, 
verstözen,  das  Adv.  dannen  (s.  u.)  nictit  für  hd.,  sondern  für  frühmnd.  zu  halteu,  liegt  um  so  näher, 
als  die  Gothaer  Hs.  der  Weltchronik  manches  davon  enthält.  Aber  die  Weltchronik  mit  ihren  hd. 
Quellen  und  ihrer  doppelsprachigeu  Ueberlieferung  ist  an  sich  schon  ein  sehr  verdächtiger  Zeuge 
für  echten  mnd.  Sprachgebrauch  (s.  u.) ;  die  Gothaer  Hs.  zeigt  obendrein  mehrfach  hd.  Spuren.  — 
Aehnliche  Scrupel  betreffen  die  Wortwahl  (vgl.  S.  33.  42  ö.).  Ich  fasste,  wo  ich  zweifelte,  das  als 
hochdeutsch  auf,  was  sich  aus  hochdeutschern  Reimjiebrauch  ableiten  Hess. 

2)  Das  Gerhard  v.  Minden  um  ein  Jahrhundert  zurückzudatiren  sei  ,  davon  haben  mich 
Leitzmanns  Gründe  nicht  überzeugt,  trotz  Seelmanns  gewichtiger  Zustimmung  (Nd.  Correspondbl. 
1898  S.  47);  ich  sehe  von  ihm  als  einem  dichter  des  14.  Jahrhunderts  hier  um  so  mehr  ab,  als 
Seelmann  eine  Untersuchung  seiner  Sprache  in  Aussicht  gestellt  hat. 

3)  Edw.  Schröder,  dem  diese  Bogen  im  ersten  Abzüge  vorlagen,  schreibt  mir  au  den  Rand: 
„Also  fällt  die  Entstehung  der  eigentlichen  niederdeutschen  Litteratur  mit  dem  Emporkommen  der 
niederdeutschen  Urkundensprache  um  13*20  zeitlich  zusammen,  genau  so  wie  gute  zwei  Menschen- 
alter  früher  die  mittelniederländische  Litteratur  mit  der   mittelniederländischeu  Urkundeuspruche". 


64  •  GUSTAV    ROETBE, 

Wunder  nehmen.  Wie  alt  war  sie  denn  im  hochdeutschen  Gebiet  ?  Auch  da  ent- 
stand sie  nicht  vor  der  zweiten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts.  Denn  jener  Trümmer- 
haufen von  Formeln,  kleinen  Reimen  und  Uebersetzungen,  den  wir  „althochdeutsche 
Litteratur"  zu  nennen  pflegen  und  dessen  Perlen  zufällige ,  durch  schreibfrohe 
Hände  erhaltne  Reste  der  unlitterarischen  Poesie  sind,  verdient  jenen  Namen 
weder  selbst,  noch  erlaubt  er  den  Rückschluss  auf  die  einstige  Existenz  einer 
verlornen  Litteratur.  Es  sind  wol  Ansätze  vorhanden,  der  rühmlichste,  aussicht- 
und  wirkungsreichste  durch  Otfrid  gemacht;  aber  auch  er  ist  im  Grunde  nur 
ein  deutsch  dichtender  Vertreter  der  lateinischen  Poesie  jener  Tage,  seine  künst- 
lerische Würdigung  muss  in  erster  Linie  aus  dem  Gesichtspunct  der  lateinischen 
Litteratur  gewonnen  werden1).  Zu  litterarischem  Sonderleben  der  althochdeut- 
schen Dichtung  aber,  zu  grösserem  Zusammenhange  in  ihr  kommt  es  nicht:  es 
fehlt  Gehalt,  Publikum,  Verkehr  und  in  Folge  dessen  auch  die  lebendige  Dauer. 
Die  lateinische  Poesie  dominirt  litterarisch  vor  dem  Ausgange  des  11.  Jahrhun- 
derts in  ganz  Deutschland  ebenso  unbedingt ,  wie  nun  im  13.  Jahrhundert  die 
hochdeutsche  Dichtung  das  eigne  litterarische  Leben  im  Sachsenlande  zunächst 
erdrückt  oder  doch  auf  die  Prosa  einschränkt. 

Man  constatire  nur  ruhig  die  Tatsachen.  Vor  unsern  Augen  übernimmt 
Mitteldeutschland,  zumal  Thüringen  und  Meissen,  die  litterarische  Vermittler- 
rolle. Die  ganze  ältere  Gruppe  der  mittelniederdeutschen  Dichter ,  Eilhard 
ausgenommen ,  sitzt  entweder  auf  mitteldeutschem  Gebiet  oder  doch  dicht  an 
der  Grenze ,  die  sich  hier  deutlich  fruchtbar  erweist  (trotz  Behaghel  a.  a.  0. 
S.  8).  Wernher  von  Elmendorf  und  Albrecht  von  Halberstadt  werden  erst  in 
der  neuen  Heimat  productiv  ;  Heinrich  von  Morungen  hat  dienstliche  Beziehun- 
gen ins  Meissnische  herüber;  noch  die  beiden  Reppichauer  und  der  Graf  von  An- 
halt gehören  nahe  an  die  Grenzsphäre.  Albrecht,  er  hat  es  ganz  unbefangen  aus- 
gesprochen 2),  denkt  an  ein  hochdeutsches  Publikum  und  empfindet  es  unbehaglich, 
dass  er  geborner  Sachse  ist ;  er  fürchtet  sich  Blossen  zu  geben  in  der  fremdar- 
tigen Sprache  und  bittet  im  Voraus  um  Nachsicht.  In  der  2.  Hälfte  des  Jahrhun- 
derts ist  das  Selbstgefühl  dann  freilich  grösser  geworden:  Raumsland  entschuldigt 
es  nicht,  sondern  betont  mit  nachdrücklichem  Stolz,  dass  er  Sachse  ist:  um  so 
gewichtiger,  dass  auch  er  hochdeutsch  dichtete;  indem  er  den  Uebermut  des  Schwa- 
ben abwehrt,  der  der  beste  deutsche  Sänger  sein  will,  verrät  er  doch  selbst,  wo 
sein  Massstab    litterarischer  Leistung  liegt :    nicht   in    der  Heimat ,    obgleich    er 


1)  Seemüllers  „Studien  zu  den  Ursprüngen  der  altdeutschen  Historiographie"  dehnen  diesen 
von  Schönbach  u.  A.  mit  RecLt  vertretenen  Gesichtspunct  erfolgreich  jetzt  auch  auf  kleinere  Er- 
zeugnisse der  althochdeutschen  Dichtung  aus. 

2)  Die  künstliche  Erklärung,  durch  die  Paul  das  Zeugnis  Albrechts  (Gab  es  eine  mittelhoch- 
deutsche Schriftsprache  S.  10  f.)  zu  entwerten  sucht,  will  ich  hier  nicht  erörtern.  Nur  das  sei 
bemerkt,  dass  rim  mhd.  nicht  nur  „Reim"  sondern  auch  „Reimvers"  bedeutet,  dass  also  kein 
Anlass  vorliegt,  bloss  an  die  unreinen  Reime  zu  denken,  die  entstehen  sollen,  wenn  —  das  setzt 
Pauls  Albrecht  als  selbstverständlich  voraus ,  ohne  ein  Wort  davon  zu  sagen  —  hochdeutsche 
Schreiber  (und  Leser)  sein  Niederdeutsch  ins  Hochdeutsche  umsetzen  werden. 

8 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  65 

die  Braunschwoiger  Chronik  gekannt  haben  mag:  der  Meissner  und  Konrad 
von  Würzburg  fallen  ihm  zuerst  ein,  wenn  er  der  besten  Dichter  denkt.  In- 
zwischen hatte  sich  das  litterarische  Produetionsgebiet  in  Sachsen  ja  erweitert: 
aber  doch:  Gandersheim ,  Braunschweig .  Hildesheim,  Magdeburg,  Goslar,  der 
Huy,  es  ist  —  von  den  fahrenden  Sängern  müssen  wir  natürlich  absehen  — 
durchweg  nur  die  nächste  Zone:  die  grosse  Masse  des  sächsischen  Gebiete  im  Nor- 
den  und  Westen  ist  noch  ganz  unbeteiligt:  der  Zusammenhang  mit  dem  littera- 
rischen Mutterlande  wirkt  eben  noch  fort.  Eine  selbständige  Physiognomie  fehlt 
denn  auch  formell  wie  inhaltlich.  Dass  Wolfram  für  die  Spätem  der  massgebende 
Meister  ist,  stimmt  wieder  gut  zu  den  thüringischen  Anregungen/  Die  Lyrik 
und  Epik  unterscheidet  sich  nicht  charakteristisch  von  der  höfischen  hochdeutschen 
Art ;  auch  die  Braunschweiger  Reimchronik  verleugnet  den  Einflnss  des  höfischen 
Epos  nicht,  während  Eberhard  auch  litterarisch  abseits  steht;  der  dem  Norden 
später  so  glücklich  zufallende  Ton  humorvoller  Didaktik  erklingt  nicht  einmal 
bei  Raumsland,  der  bei  realistischer  Beobachtungskraft  doch  humorlos  ist.  Und 
die  lehrhaften  Reimpaardichter  werden  schon  dadurch  gehemmt,  dass  sie  lateinische, 
meist  geistliche  Texte  übersetzen  oder  paraphrasiren :  samtnt  und  sonders  küniren 
sie  es  nicht  lassen,  ihr  Latein  bis  in  die  deutschen  Verse  hineinzutragen:  die 
lateinischen  Citate  finden  sich  bei  Wernher,  Eberhard  ,  Brun  von  Schönebeck, 
noch  bei  Konemann  in  oder  ausser  der  Reimzeile :  Raumsland  verstand  zum 
Glück  kein  Latein.  Solche  Sprachmischung  erweist  wieder  die  in  sich  unsichre 
Form  :  die  gute  hochdeutsche  Dichtung  hatte  solche  archaische  Geschmacklosigkeit 
längst  überwunden. 

Der  Nährboden,  auf  dem  diese  hochdeutsche  Poesie  des  plattdeutschen  Nor- 
dens erwächst,  ist  zunächst  der  Hof;  für  ihn,  für  den  geistlichen  und  weltlichen 
Adel  sind  diese  Dichtungen  zunächst  bestimmt;  erst  später  folgt  das  Patriciat 
der  Städte.  In  adlicben  Kreisen  las  man  die  berühmte  und  verbreitete  höfische 
Litteratur  des  Südens,  las  sie  für  sich  und  las  sie  vor:  im  Munde  des  nieder- 
deutschen Lesers  mag  da  manchmal  ein  seltsames  Hochdeutsch  zu  Tage  getreten 
sein,  wie  es  sich  in  den  unmöglichen  Schriftreimen  z.  B.  der  Braun  Schweiger 
Reimchronik  uns  widerspiegelt.  Welch  starken  Anteil  an  diesem  mittelnieder- 
deutschen Hochdeutsch  die  rein  litterarische  Entlehnung  hat,  das  bewährt  schon 
die  verhältnismässig  grosse  Menge  der  hochdeutschen  Worte,  die  recht  eigentlich 
durch  den  Lehn  r  e  i  m  eingeführt  worden  sind.  Nicht  ganz  lückenlos  aber  erklärt 
sich  so,  rein  litterarisch,  der  ausgesprochen  mitteldeutsche  Reimcharakter  dieser  Dich- 
tung (mach '.sprach,  vgl.  Behaghel  S.  38  ;  klugen  :  suchen  ;  gut :  tritt ;  knt :  si ;  bischof'i  loft 
-schaf'.gaf  u.  s.  w. ;  vor  Allem  die  2.  3.  Pers.  Plur.  auf  -cn).  Man  wird  ja  die 
Leetüre  der  sprachlich  ähnlicheren  mitteldeutschen  Dichter  bevorzugt,  auch  die 
oberdeutschen  Classiker  oft  in  mitteldeutschen  Handschriften  gelesen  haben;  bei 
der  überragenden  Bedeutung  und  Verbreitung  der  oberdeutschen  Dichtung  em- 
pfiehlt es  sich  doch  ,  hier  noch  einen  andern  Factor  ,  wenn  auch  zweiten  oder 
dritten  Ranges,  den  mündlichen  Verkehr  mit  den  mitteldeutschen  Nachbarn,  in 
dre   Rechnung    einzustellen.     Für    die    ältere  Gruppe   steht    dieser  Verkehr   fest. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.     Hist.-phil.  Kl.     N.  F.    Band  2,  s.  9 


66  GUSTAV    EOETHE, 

Gaben  sie  den  Ausschlag?  Oder  waren  mitteldeutsche  Hofe  und  Burgen  dem 
Sachsen  zeitweilig  Schulen  höfischer  Bildung  ?  Galt  es  etwa  gar  hie  und  da 
bei  dem  sächsischen  Adel  als  elegant,  ein  wenig  zu  thüringern  oder  meissnern, 
nicht  nur  im  Verse ,  nicht  nur  mit  der  Feder ,  sondern  auch  in  der  höfischen 
Conversation?  — 

Jedesfalls  :  im  13.  Jahrhundert  lediglich  hochdeutsche  Dichtung  auf  niederdeut- 
schem  Boden. 

Individuellen  Zügen  der  Selbständigkeit  hab  ich  hier  nicht  nachzugehen. 
Der  Trieb  zur  Befreiung  von  der  übernommnen  hochdeutschen  Sprachform 
ist  aber  doch  nicht  nur  individuell.  Und  er  war  des  Sieges  um  so  sichrer,  als  auch 
er  ein  Trägheitsmoment  zum  Bundesgenossen  hatte.  Es  war  nicht  bewusste 
Emancipation,  wenn  man  zuerst  die,  lässig  gehandhabt,  sehr  viel  bequemeren 
niederdeutschen  Reime  unter  die  hochdeutschen  zuliess  ,  wenn  man  dem  littera- 
risch geprägten  Wortschatz  dann  auch  aus  der  eignen  Sprache  dies  und  das  bei- 
mischte. Nicht  bewusst;  aber  diese  Duldsamkeit  trug  den  Keim  zur  Steigerung 
in  sich.  Ist  die  älteste  Grenzgruppe  spröde,  so  nimmt  diese  Sprödigkeit  sicht- 
lich, fast  chronologisch  ab :  die  niederdeutschen  Reime  und ,  etwas  langsamer, 
die  niederdeutschen  Worte  schwellen  immer  mehr  an  :  Eberhard  ist  autfallend 
weit  darin  für  seine  Zeit,  Berthold  und  Raumsland  sind  zurück  für  die  ihre ;  im 
Uebrigen  stimmt  die  Stufenleiter  ganz  gut:  der  Braunschweigische  Reimchronist, 
dann  Konemann  und  Wizlaw  zeigen  den  Umschlag  ins  rein  Niederdeutsche  durchaus 
vorbereitet,  obgleich  wenigstens  den  ersten  beiden  der  revolutionäre  Gedanke  sicher 
fern  gelegen  hat.  Wizlaw  vielleicht  nicht  so  ganz :  er  ist  deutlicher  berührt  von 
der  parallelen  Erscheinung  in  Mittel- und  Süddeutschland,  dem  Aufsteigen  der  Mund- 
arten namentlich  mit  ihrem  Wortschatz  in  die  Schriftsprache  hinein.  Die  hoch- 
deutsche Litteratursprache  musste  auch  im  Norden  ihre  Macht  verlieren,  als  sie 
aufhörte ,  sich  ihre  aristokratische  Abgeschlossenheit  zu  wahren  ,  als  ihre  impo- 
nirende  Vornehmheit  aus  der  Rede  des  Tages  heraus  vulgarisirt  wurde.  In  dem 
Masse,  wie  es  mit  der  mittelhochdeutschen  Kunstsprache  auf  ihrem  eignen  Boden 
zurückgeht ,  erstarkt  auch  die  sprachliche  Selbständigkeit  der  sächsischen  Dich- 
tung. Nicht  dass  es  da  je  zu  einem  scharfen,  durch  eine  bestimmte  litterarische 
Tat  bezeichneten  Abschnitt  gekommen  wäre.  Die  Grenzen  verfliessen :  es  gibt 
hochdeutsche  Dichter  plattdeutscher  Mundart  noch  durchs  ganze  14.  Jahrhundert 
und  weiter:  ich  brauche  nur  an  Eberhard  von  Zersen  zu  erinnern.  Aber  das  ruhige 
Zunehmen  der  niederdeutschen  Reime  und  Worte  führte  bald  an  den  Punct,  wo 
das  hochdeutsche  Gewand  im  Ganzen  als  überflüssig  und  lästig  fällen  konnte. 
Nun  aber  ereignet  sich  ein  Seltsames ,  das  sich  grade  durch  den  Mangel  jedes 
schroffen  Absatzes  erklärt.  Im  12.  Und  13.  Jahrhundert  hat  man  hochdeutsch 
dichten  wollen ,  so  gut  oder  übel  es  auslallen  mochte ;  im  14.  und  15.  Jahrhun- 
dert will  man  im  Ganzen  niederdeutsch  sein,  aber  die  Periode  der  hochdeutschen 
Dichtungen  wirkt  nach:  schlichen  sich  früher  unwillkürlich  die  niederdeutschen, 
so  drängen  sich  jetzt  ebenso  unwillkürlich  die  hochdeutschen  Elemente  in  die 
Dichtung  ein.     Ganz   ist    die  mittelniederdeutsche  Litteratur  die  Reste   ihrer  ar- 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  67 

chaischen  hochdeutschen  Periode  in  Reimkunst  und  Wortschatz  niemals  los  ge- 
worden :  und  grade  diese  Reste  legen  Zeugnis  dafür  ab,  welche  teste  Herrschaft 
die  hochdeutsche  Dichtung  gewiss  mehr  als  ein  Jahrhundert  auf  sächsischem  Bo- 
den ausgeübt  hat.  Auch  die  weitere  Betrachtung  der  litterarischen  Entwicklung 
Niederdeutschlands  wird  die  dauernden  Einliüsse  der  ihren  Anfang  völlig  leiten- 
den hochdeutschen  Poesie  stets  zu  einem  wichtigsten  Gesichtspunkt  nehmen  müssen  : 
jene  Einflüsse  schleppen  sich  bei  den  conservativen  Sachsen,  unter  manchen  Rück- 
fällen schwächer  und  schwächer  werdend,  doch  fort,  bis  eine  neue  Hochflut  hochdeut- 
scher Cnltur  im  16.  Jahrhundert  dem  Sonderleben  einer  niederdeutschen  Litteratur 
überhaupt  ein  Ende  macht.  Es  wiederholte  sich  da  im  Grunde  nur  ein  schon 
Dagewesenes  :  jetzt  aber  erwies  sich  die  Kraft  der  hochdeutschen  Schriftsprache, 
Dank  dem  Druck,  als  dauerhafter,  und  sie  verlor  das  niederdeutsche  Terrain 
nicht  wieder,  weil  sie  sich  selbst  nicht  verlor,  wie  ihrer  Vorläuferiu  das  einst 
im  Gange  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  geschehen  war.  — 


IV. 

Ich  kehre  zu  meinem  Ausgangspuncte  zurück.  Die  lange  Abschweifung  wird 
uns  jetzt  doch  bestimmter  sprechen  lassen.  Eikes  Praefatio  fügt  sich  nach  Zeit 
und  Ort  gut  in  die  Reihe.  Freilich  sind  die  Symptome  der  sprachlichen  Mi- 
schung hier  noch  gedämpfter  als  sonst ;  zumal  der  Wortschatz  bietet  nirgend 
eine  grellere  diabetische  Färbung.  Aber  vorhanden  sind  auch  hier  geringe  nie- 
derdeutsche Züge  neben  etwas  reicheren  hochdeutschen.  Die  leisen  Winke  der 
Ueberlieferung  kommen  hinzu.  So  spricht  grade  aus  der  sprachgeschichtlichen 
Gesamtbetrachtung  heraus  eine  hohe  Wahrscheinlichkeit  für  mitteldeutsche  Ab- 
fassung der  Reime. 

Nur  eins  bleibt  unbehaglich.  Wie  seltsam!  Mitteldeutsche  Vorrede 
zu  niederdeutschem  Werk?  Welch  Widerspruch  in  sich!  Die  Hand- 
schriften des  Sachsenspiegels,  mit  Ausnahme  von  £n,  zeigen  einen  solchen  Ge- 
gensatz denn  auch  nicht  (vgl.  oben  S.  28).  Eine  niederdeutsche  Handschriften- 
Gruppe  des  15.  Jahrhunderts,  die  dem  Landrecht  einen  poetischen  .  Epilog 
hinzufügt  (Hom.  I  S.  379.  53) ,  hat  diesen  in  der  Sprache  des  Uebrigen  ,  also 
niederdeutsch ,  gehalten  :  sollten  wir  das  vom  Autor  nicht  erst  recht  er- 
warten ?  Jener  Gegensatz  von  Reim  und  Text  ist  doch  nicht  ganz  undenkbar: 
waren  poetische  und  hochdeutsche  Form  unlöslich  verbunden  ,  so  könnte  man  in 
der  sprachlichen  Verschiedenheit  die  grade  Folge  des  formalen  Unterschiedes 
von  Poesie  und  Prosa  sehen1).     Und  das  um  so    mehr,    als   der  Zwilliugsbruder 


1)  Unter  diesem  Gesichtspunkt  sieht  Walther  (Nd.  Correspbl.  19,  38)  die  schon  oben  (S.  34) 
erwähnte  Tatsache  an  ,  dass  der  niederdeutschen  Bremer  Handschrift  der  Weltchronik  eine  hoch- 
deutsche Widmung  vorangeschickt  wurde.  Aber  diese  Dedication  hat  einen  andern  Autor :  das 
Merkwürdige  läge  in  dem  verschiedenen  Verhalten  desselben  Autors  bei  demselben  Werk. 

9*  e 


68  GUSTAV    HO  ET  HE, 

des  Sachsenspiegels,  als  die  sächsische  Weltchronik,  einen  ähnlichen  Zwie- 
spalt aufweist :  auch  dieses  niederdeutsche  Prosawerk  hat  eine  poetische  Vor- 
rede, die  dem  dringenden  Verdacht  hochdeutscher  Sprache  unterliegt  (FrensdorfT, 
Hans,  Geschichtsbll.  1876  S.  113;  Behaghel  a.  a.  0.  36).  Ihre  hochdeutschen 
Keimformen  hat  (9.  24),  hds  (30),  stät  (79.  90  neben  steit  68),  IU  (39),  sol  (:  wol  83 
neben  sal  20),  da  (:  stä  53)  haben,  an  sich  schon  unverkennbar,  obendrein  nichts 
ausgeprägt  Niederdeutsches  neben  sich  ^auch  van  69  kann  mitteldeutsch  sein). 
Und  Behaghel  legt  mit  riecht  Gewicht  darauf,  dass  drei  der  niederdeutschen 
Handschriften  des  Werkes  grade  in  der  rleimvorrede  viele  hochdeutsche  Spuren 
zeigen:  in  der  Gothaer  Handschrift  ist  sie  nahezu  so  hochdeutsch  geschrieben, 
wie  die  Reimvorrede  der  Sachsenspiegelhandschrift  En.  Aber  freilich,  grade  diese 
Handschrift  zeigt  .auch  sonst  vereinzeltes  Hochdeutsche,  und  die  Bremer  Hand- 
schrift 16  ,  mit  der  die  Berliner  17  anscheinend  nur  als  eine  Quelle  gelten 
darf,  hat  ein  z  grade  nur  in  den  Reimworten  zit .  zorn ,  so  dass  auch  hier 
Möglichkeiten  sich  aufdrängen,  wie  ich  sie  oben  S.  28  für  die  ganz  gleichartigen 
Erscheinungen  der  Eikeschen  Praefatio  erwägen  musste.  Immerhin ,  die  Wahr- 
scheinlichkeit spricht  für  die  hochdeutsche  Abfassung.  Es  ist  weiter  angezwei- 
felt worden,  ob  die  Vorrede  überhaupt  vom  Verfasser  der  Weltchronik  herrühre: 
ihre  blasse  Inhaltlosigkeit  Hesse  einen  Zweiten  als  Autor  wol  zu ;  Weiland,  dem 
z.  B.  Wattenbach  beistimmte,  fasste  sie  als  ein  Begleitwort  Eikes  auf;  die  Ver- 
schiedenheit der  Verfasser  würde  für  uns  die  verschiedne  Sprache  von  Leitreim 
und  Text  gut  erklären.  An  Eikes  Autorschaft  glaub  ich  nun  freilich  nicht, 
schon  Gründe  der  Vers-  und  Reimtechnik  sprechen  dagegen  *),  und  die  Anklänge, 
die  Weiland  S.  56  sammelt,  würden,  wenn  sie  überhaupt  etwas  beweisen  2),  zu 
der  Annahme  zwingen  ,  dass  der  Vorredner  der  Weltchronik  schon  die  Doppel- 
vurrede  des  Spiegels  gekannt  hätte  3).     Das  ist  an  sich  wol  möglich :    bildet  der 


1)  Der  Prolog  der  Weltchronik  zeigt  bei  dem  gleichen  frei  fallenden  ^Grundcharacter  der 
Verse  doch  unverkennbar  jüngere  Technik:  die  Tactfüllung  ist  gleichmässiger,  die  Senkung  fehlt 
seltner  und  meist  im  Innern  der  Worte;  es  fehlen  die  geschwellten  Verse,  auch  die  allzukurzen; 
die  klingenden  Reime  bilden  kaum  ein  Drittel  der  Gesamtzahl.  Dazu  das  wiederholte  Reimwort 
seil  und  stät ,  beide  in  doppeltem  Gebrauch  ,  das  in  Eikes  Reimen  vermiedene  daz  :  baz,  die  Beto- 
nung Urkunde  96.  Auch  das  niederdeutsche  Wort  vcKch  38  hat  Eike  sonst  nicht.  Zu  wenig, 
um  eine  überlieferte  Identität  des  Autors  anzuzweifeln,  aber  genug,  um  zu  der  vermuteten  ein 
dickes  Fragezeichen  zu  setzen.  Freilich  wurd  ich  Eikes  gesunder  Weltkunde  auch  sonst  diesen 
in  frommer  Betrachtung  sich  erschöpfenden  Prolog  nur  ungerne  zutrauen  :  Eike  hätte  bei  diesem 
Anlass  wol  Besseres  zu  sagen  gewusst. 

2)  Der  Reim  algemeine:  got  der  reine  Weltchronik  V.  1.  2,  Sachsenspiegel  V.  G.  8;  unde 
iegelichen  man  sines  rehten  gudes  gan  Weltchronik  11  f.  ist  ähnlicher  Sachsenspiegel  20  iegeiceme 
ich  rechtes  gutes  gan  als  Sachsenspiegel  111.  Dazu  kommt  noch  der  Zusammenklang  von  Welt- 
chronik 77  f.  und  Sachsenspiegel  97  f. ,  der  aber  die  bei  Eike  schlechter  bezeugte  Lesart  vollen- 
bracht  voraussetzt.  Man  bezog  früher  Weltchronik  88  logene  sal  uns  icesen  leii,  daz  ist  des  von 
liepegouice'  rät  auf  die  Sachsenspiegel  88  gescholtene  lügenlich  achterspräche,  nicht  grade  ein- 
leuchtend. 

3)  Die  andere  Möglichkeit,  dass  der  Verfasser    der    1.  Praefatio   die  Reime    der  Weltchronik 


DIE   REIMVOREEDEN    DES   8A.CHSEN8PDZQ]  69 

Prolog  der  Weltchronik  doch  erst  in  ihrer  jüngsten  E&ecension  C  einen  regel- 
mässigen Bestandteil.     Aber  Eike  wäre  damit  als  Dichter  der  Weltchronikreime 

ausgeschlossen.  Wie  dem  nun  sei,  dass  der  Chronist  den  Spiegel  gekannt  hat, 
ist  sicher;  dass  der  Vorreimer  mit  seinem  Hinweis  auf  des  van  Repegouwe  rät 
Eike  citiren  oder  gar  als  Dichter  der  Verse  fingiren  wollte,  liegt  wenigstens  nahe  : 
ich  glaube  an  den  merkwürdigen  Zufall  nicht  recht,  dass  grade  die  beiden  ein- 
zigen niederdeutschen  Prosaiker  des  13.  Jahrhunderts  ,  beide  in  ihrer  Art  epo- 
chemachend ,  demselben  Geschlecht  angehört  haben  sollten.  Unter  allen  Um- 
ständen besteht  eine  Beziehung,  ein  Zusammenhang.  Damit  aber  wird  aus  dem 
doppelten  seltsamen  Phänomen  der  mitteldeutschen  Vorrede  zu  niederdeutschem 
Werk  ein  einfaches:  das  zweite  kann  das  nachgeahmte  erste  höchstens  bestä- 
tigen, nicht  erklären.  Wenn  eine  Erklärung  möglich  und  nötig  ist  —  and  ich 
halte  sie  für  nötig  — ,   so  kann   sie  nur  der  Sachsenspiegel   selbst  uns  geben. 

Sachsenspiegel  und  Weltchronik  bilden  ein  völlig  isolirtes  Litterarisches  Paar. 
Was  sonst  das  13.  Jahrhundert  an  niederdeutscher  Prosa  hervorgebracht 
hat1),  vielleicht  (?)  die  abseits  entstandnen.  örtlicher  Heiligenverehrung  dienen- 
den kunstlosen  Freckenhorster  Legenden  .  sicher  eine  ganze  Reihe  von  Stadt- 
rechten (Hamburg,  Lübeck,  Braunschweig,  etwa  noch  Hildesheim),  das  ist  Alles 
locale  Arbeit,  zunächst  nur  für  den  Bedarf  des  Orts,  ohne  jeden  litterarischen 
Anspruch  und  also  niederdeutsch  ,  wie  man  bald  Urkunden  lernte.  Merkwürdig 
genug,  dass  doch  eine  niederdeutsche  Stadt  und  zwar  grade  die  Eikes* Sphäre 
zunächst  gelegene,  die  zudem  anscheinend  zuerst  ihr  Recht  deutsch  nieder- 
schrieb und  den  Sachsenspiegel  oft  und  stark  benutzt  ,  dass  grade  Magdeburg, 
so  viel  wir  wissen  ,  für  seine  systematischen  Rechtsaufzeichnungen  von  je  die 
mitteldeutsche  Gestalt  bevorzugt  hat2):  hat  man  dabei  wirklich  nur  an  die  Wir- 
kung in  die  Ferne  gedacht?  und  zwar  an  die  hochdeutsch  redende  Ferne?  Oder 
war  die  Wahl  der  mitteldeutschen  Sprache  auch  in  diesem  Falle  der  Ausdruck 
einer  gewissen  Würde?  Jedesfalls  darf  man  diese  ganze  Production  den  beiden 
grossen  Prosawerken  in  keiner  Hinsicht  vergleichen.  Eikes  Verse,  wie  eventuell 
die  der  Chronik,  erweisen,  dass  sich  die  Autoren  mit  dem  Bewusstsein  einer  lit- 
terarischen Leistung  an  ein  grosses  Publikum  wenden:  Eike  weiss,  welch  einen 
Sehritt  er  tut.  Für  die  Verse  hatte  er  hochdeutsche  Vorbilder;  für  die  sprach- 
liche Gestaltung  des  Rechtsbuches  nicht.  Der  Einfluss  einer  litterarischeu  hoch- 
deutschen Tradition  kann  ihn  nicht  bestimmt  haben.  Aber  auch  die  Tradition 
der  mündlichen  niederdeutschen  Rechtssprache  bedeutete  ihm  keine  innere  Nöti- 
gung: hatte  sie.  ihn  doch  nicht  verhindert,  zunächst  lateinisch  zu  schreiben. 
Eike   war   frei:    a  priori  war  es  ebenso  wol  möglich,  dass  er  sich  der  litterarisch 


gekannt  haben  sollte,    ist  minder  wahrscheinlich,    da  ciue  Beziehung    der  Chronik,    auch   wo]  dei 
Vorrede,  zu  Eike  doch  besteht. 

1)  Von  Augenblicksproductionen  wie  Urkunden,  Protokollen  und  ähnlichem  seh  ich  natürlich  ah 

2)  Nur  das  winzige  Recht  der  Dienstmauuen  des  Gotteshauses  zu  Magdeburg  (Gaupp,  Das  alte 

Magdeburger  Recht  S.  353)  ist  niederdeutsch  geschrieben. 

8 


70  GUSTAV    ROET  HE, 

üblichen  hochdeutschen  Rede  auch  für  die  Prosa  bediente,  wie  dass  er  das  jung- 
fräuliche Gebiet  mit  den  ungenützten  Waffen  der  heimischen  Rede  eroberte. 
Fällt  die  mitteldeutsche  Sprachform  der  Vorrede  für  jene  Annahme  ins  Gewicht, 
so  steht  der  consensus  doctorum  bekanntlich  für  diese  ein.  Dass  der  Welt- 
chronist ,'  nachdem  Eike  einmal  voran  gegangen ,  dessen  Wege  gleichfalls  einge- 
schlagen habe,  ist  möglich,  vielleicht  wahrscheinlich.  Sprachliche  Rückschlüsse 
von  der  Chronik  auf  den  Spiegel  möcht  ich  trotzdem  nicht  empfehlen  :  ein  tie- 
ferer Unterschied  in  der  Wortwahl  wenigstens  scheint  mir  fühlbar  ,  und  oben- 
drein:  die  beiden  Denkmäler  sind  sich  leider  auch  darin  ähnlich,  dass  sie  die 
sprachlich  zwiespältige  Ueberlieferung  mit  einander  teilen,  die  ein  jedes  begrün- 
dete Urteil  über  den    Wortlaut  des  Originals  so  sehr  erschwert. 

Ein  entscheidendes  Wort  über  die  Sprache  der  Eikeschen  Reimvorrede  setzt 
voraus,  dass,  wer  es  wagt,  sich  auch  über  die  Sprache  des  Spiegels  selbst  eine 
Ansicht  erworben  hat.     Ich  will  mit  meiner  Meinung  nicht  zurückhalten. 

Homeyers  Ueberzeugung,  dass  der  Sachsenspiegel  in  niederdeutscher  Sprache 
abgefasst  war,  ruhte  auf  3  Säulen:  Verfasser,  Gesamtcharakter  der  Ueberlie- 
ferung, einzelne  Lesarten.     Ich  fürchte,  alle  drei  haben  Sprünge  bekommen. 

Gewis,  Eike  von  Repkow  war  auf  niederdeutschem  Boden  ge- 
boren; sein  Handgemahl  und  sein  Scböffenstuhl  stand  in  einer  niederdeutschen 
Grafschaft;  er  war  gewohnt,  in  niederdeutscher  Sprache  das  Recht  zu  finden. 
Aber  der  treffliche  Rechtskenner  war  über  die  Grenzen  seines  Gaus  tätig:  wir 
wissen  jetzt,  dass  er  auch  Rechtsgeschäften  beigewohnt  hat,  die  in  andern  Graf- 
schaften sich  abspielten  :  er  ist  1218  in  Grimma,  12*24  in  Delitzsch,  wahrschein- 
lich im  Landding  tätig,  bezeugt  (v.  Posern-Klett,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Verf.  Meis- 
sens  S.  29  f.;  Winter,  Forschungen  z.  d.  Gesch.  14,  307  ff.).  Also  auf  hoch- 
deutschem Boden ,  im  meissni sehen  Osterlande :  und  das  schon ,  bevor  er  den 
Sachsenspiegel  schrieb.  Er  hat  sein  Rechtsbuch,  darüber  lässt  die  Reimvorrede 
keinen  Zweifel,  ausdrücklich  und  ausschliesslich  für  Sachsen  bestimmt:  er  weiss 
sehr  wohl,  dass  anderswo  andres  Recht  zu  Rechte  besteht.  Aber  was  versteht 
er  unter  Sachsen  als  rechtlichem  Bezirk  ?  Von  der  Vorrede  über  der  sächsischen 
Herren  Geburt,  die  in  der  ältesten  Recension  ganz  fehlt,  will  ich  absehen :  aber 
Landr.  III  62  erscheinen  als  vanUn  innir  lande  to  Sassen  neben  einander  die 
lantgrafscap  tö  Dornigen,  die  marke  tö  Misene ,  die  marke  tö  Lusitz,  gleich  drauf 
als  sächsische  Bistümer  auch  Naumburg  und  Meissen  ;  unter  den  4  sächsischen 
Königspfalzen  sind  Wallhausen  und  Allstedt;  im  Lehnrecht  4  §  1  werden  für 
die  Männer  in  österhalf  der  Säle  ( Var.  in  Osterlant )  besondre  Bestimmungen 
gemacht ;  Eike  hat  diese  hochdeutsch  sprechenden  Gegenden  ,  in  denen  er  auch 
persönlich  gewirkt  hat  ,  in  vollem.  Masse  mit  berücksichtigt ,  wenn  er  für 
die  Sachsen  schreibt.  Hat  er  bei  der  Wahl  seiner  Sprache  an  dies  grosse 
Publikum  gedacht  —  und  wie  sollte  er  anders  ?  —  ,  so  lag  es  gewis  näher, 
den  Niedersachsen  das  litterarisch  geläufige  Hochdeutsch  zuzumuten ,  als  den 
Thüringern  und  Meissnern  die  fremde  plattdeutsche  Mundart.  Ich  will  nicht 
mit  solchen  Erwägungen  operiren :  jedesfalls  sind  die  Schlüsse  höchst  an- 
8 


DIE   REIMVORREDEX    DES   8ACHSKNSPIEQELS.  71 

fechtbar,  die  Homeyer  aus  Eikes  Wirkungskreis  und  Herkunft  sieht.  Data  für 
Eike,  wenn  er  Schriftstellern  sollte,  die  litterarisch  ganz  anausgebildete  nieder- 
deutsche Sprachform  an  sich  näher  gelegen  hätte,  muss  ich  unbedingt  bestreiten. 
Wählte  er  sie  für  sein  Rechtsbuch,  nun,  so  musste  er  statt  eines  schöpferischen 
Schrittes  zwei  vollziehen.  Ich  bilde  mir  nicht  ein,  dem  Schaffen  des  bedeutenden 
Mannes  so  nachrechnen  zu  können.  Der  schaffende  Geist  geht  seinen  eignen  Weg. 
Man  soll  nur  nicht  behaupten,  dass  a  priori  ein  Wahrscheinlichkeitsgrund  für 
die  niederdeutsche  Form  spräche.  Eike  stand  eben  nicht  abseits  vom  litterari- 
schen Leben  wie  etwa  der  Freckenhorster  Legendenmann. 

Nun  Nr.  2.  „In  derjenigen  Ordnung  der  Handschriften,  welche  die 
älteste  Entwicklungsstufe  des  Sachsenspiegels  darstellt",  überwiegt  die  Zahl 
der  niederdeutschen  Texte  durchaus.  Die  Tatsache  ist  richtig.  Gruppe  A  hat 
nur  2  mitteldeutsche  Glieder  (ausserdem  ein  oberdeutsches ,  über  das  ich  nicht 
näher  orientirt  bin),  und  von  diesen  geht  die  alte  Quedlinburger  Handschrift  (Aq) 
unzweifelhaft  auf  eine  niederdeutsche  Vorlage  zurück;  Ai,  die  Mainzer,  ist  lei- 
der zu  Grunde  gegangen.  Trotzdem  ist  Homeyers  Schluss  unzulässig.  Alter 
der  Recension  und  sprachliche,  textliche  Verlässlichkeit  ist  keineswegs  identisch. 
Mit  demselben  Grunde  miisst  ich  schliessen,  die  sächsische  Weltchronik  sei  mit- 
teldeutsch oder  gar  oberdeutsch  abgefasst:  denn  von  den  13  Handschriften  der 
kürzesten  und  nach  Weiland  ältesten  Gestalt  sind  10  bairisch,  2  mitteldeutsch, 
1  kölnisch.  Weiland  hat  sieh  aber  wohl  gehütet,  jenen  Schluss  Homeyers  v.w 
ziehen.  Wenn  der  Deutschenspiegel  nach  einer  niederdeutschen  Handschrift  ge- 
arbeitet ist J),  so  ergibt  das  zwar,  dass  in  den  sechsziger  Jahren  etwa,  also  min- 


1)  Von  den  Irrtümern,  aas  denen  Ficker  WSB.  23,  195  f.  215  die  niederdeutsche  Vorlage 
des  Deutscbenspiegels  erschliesst,  ist  im  Grunde  nur  Dsp.  162  emeeiz  von  Gewicht,  das  aus  nd. 
hevet  (Ssp.  II  50)  misverstanden  scheint.  Die  übrigen  Momente  seines  Beweises  sind  schwach : 
füret  Dsp.  149  kann  das  folgende  Verbum  vurt  vorweg  genommen  haben  und  braucht  nicht  grade 
aus  nd.  vret  (Ssp.  II  39,  2)  entstellt  zu  sein;  das  berühmte  dike  Dsp.  136  wäre  auch  aus  einem 
md.  diche  zu  begreifen.  Und  man  leiten  Dsp.  Lehnr.  152  führt  eher  auf  hd.  manliehen  (oder  mit 
andern  Hss.  maniechen)  als  auf  nd.  manlike.  Aber  Ficker  hat  trotzdem  Recht.  Schon  in  der 
ersten,  frei  umgestaltenden  Partie  des  Deutschenspiegels  deutet  sich  mir  Dsp.  40  die  Doppellesung 
man  ....  tünt  oder  ziehent  nur  aus  einem  tiet  (Vu'g.  sculdeget)  der  Vorlage  und  aus  der  Neigung, 
nd.  -et  in  -ent  umzusetzen  (Dsp.  290  sagent  man).  Dsp.  113  ist  mit  aus  nd.  mut  (hd.  muoz  ;  Ssp. 
II  15,  1)  grell  misverstanden.  Und  diese  Misverständnisse  hänfen  sich  weitprhin  im  Landrecht,  wo 
der  Deutschenspiegel  uur  eine  Sachsenspiegelhs.  bildet:  Dsp.  138  ßuz  (Ssp.  II  28,  3  vlut  d.  i.  ■ 
vliuzet),  165  mite  (Ssp.  II  54,  6  mute  d.  i.  müeze),  203.  337.  346  tun  (III  5,  2.  78,  2.  79,  3  tö  d.  i. 
zu),  270  suchte  (III  38,  4  slite  d.  i.  sitze),  setzet  ez  (sette't),  283  pote  (III  45,  1  butt  d.  i.  büzc), 
305  wendet  (III  58,  2  wend  it  d.  i.  ez),  315  heten  (III  62,  1  =  heizen,  schon  ron  Homeyer,  Ab- 
handlungen d.  Berl.  Akad.  1859  S  109  bemerkt),  348  lande  sit  (III  80,  2  landsäen),  849  und 
(III  81,  1  üt)  u.  m.  ;  falsche  Umsetzung  in  z  332  {aller  zeit)  ;  falsche  Auffassung  des  nd.  -et  235. 
247.  319.  340  (Lehnr.  1.  3)  u.ö.;  276  von  (aus  neu  Ssp.  III  41,  1),  347  wem  (aus  van  III  80  1)  ; 
(Lehnr.  1  die  herscilt,  d.  i.  der  h.  ;)  den  man  als  Nom  (aus  en  man'?  oder  nd.  f.  der  V)  Dsp.  K>5. 
169  u.  m.;  auch  d  (hd.  t),  gerückte,  echt  stand  in  der  Vorlage.  Dem  gegenüber  sind  die  Spuren 
md.  Lautstandes  ganz  zweifelhaft:  im  Landrecht  stiess  mir  auf  richten ,  gtrichU  Dsp  1  280  (f. 
riten,  gerete),    schepfrechteu  146  (f.  schifrichc),    richtes  187.  229  (f.  riches) ,  was  sich  Alles  leichter 

8 


72  "  GUSTAV    ROETHE, 

destens  30  Jahre  nach  dem  Entstehen  des  Werkes,  schon  niederdeutsche  Aus- 
gaben des  Sachsenspiegels  existirt  haben  müssen,  weiter  aber  auch  nichts.  Zäh- 
lungen, wie  die  Homeyers  I  S.  48,  wonach  unter  den  Pergamenthandschriften  die 
niederdeutschen ,  unter  den  Papierhandschriften  die  mitteldeutschen  ein  (nicht 
sehr  starkes)  Uebergewicht  zeigen,  sind  lehrreich  für  die  Verbreitungsgeschichte 
des  Buches;  für  die  Frage  der  Originalfassung  sagen  sie  gar  nichts  aus.  Nicht 
stichhaltiger  war  es  freilich,  wenn  ich  aus  dem  Umstand,  dass  die  ältesten 
datirten  Handschriften  mitteldeutsch  sind  (Frensdorff,  Hans.  Geschichtsbll.  1876, 
S.  110) ,  irgend  etwas  für  mitteldeutsche  Abfassung  folgern  wollte.  Das  Werk 
hat  alsbald  eingeschlagen  ,  hat  sofort  eine  Reproductionstätigkeit  hervorgerufen, 
die  in  wenigen  Decennien  das  originale  Bild  bunt  verkehrt  haben  wird.  Grade 
die  sprachliche  Geschichte  der  Sachsenspiegelhandschriften  ist  keineswegs  so  ein- 
fach ,  dass  man  ohne  Weiteres  hochdeutsche  Handschriften  für  hochdeutsches 
Original,  niederdeutsche  Manusoripte  für  niederdeutsche  Abfassung  ins  Feld  füh- 
ren dürfte.  Die  Handschriften  selbst  verraten  oft  ein  gut  Stück  Geschichte, 
das  vor  solchem  plumpen  Argument  warnen  sollte. 

Homeyer  ist  es  nicht  entgangen ,  dass  gerade  der  sehr  alte  und  hochge- 
schätzte Quedlinburger  Codex  (Aq),  obgleich  hochdeutsch,  doch  viel  mehr 
der  Zeuge  einer  älteren  niederdeutschen  Handschrift  sei.  Er  be- 
gründet das  hauptsächlich  (S.  17  Anm.)  durch  Fälle,  in  deneu  der  hochdeutsche 
Schreiber  das  niederdeutsche  Plural-^  für  einen  Singular  angesehen  hat.  Das 
ist  nun  allerdings  bei  vorsichtiger  Anwendung  —  zuweilen  kann  bei  solcher 
Differenz  eine  syntaktisch  verschiedne  Auffassung  zu  Grunde  liegen  (vgl.  II  13, 
5.  G.  56.  1),  zuweilen  kann  das  Misverständnis  auch  auf  der  niederdeutschen  Seite 
sein  —  ein  wertvolles  Kennzeichen  niederdeutscher  Vorlage  ,  wenn  es  auch 
schwerlich  auf  die  Fassung  des  Originals  zurückweist :  sprach  Eike  doch  wahr- 
scheinlich -cn.  Aber  man  braucht  auch  sonst  nur  in  Göschens  Abdruck  zu  bli- 
cken ,  um  sich  zu  überzeugen ,  wie  durchsichtig  die  hochdeutsche  Hülle  ist, 
nicht  mehr  als  eine  inconsequente  Lautumsetzung,  die  gedankenlos  gemacht  vor 
Unformen  wie  tarn  (nd.  darn)  oder  gar  sumeie  (Vorlage  turneie)  II  71  §  2  nicht 
zurückschreckt.  Und  dass  die  verlorne  Mainzer  Handschrift  Ai  an  dieser  Stelle 
gleichfalls  znrneie  las,  verdächtigt  sie  mit,  wie  denn  Ai  auch  sonst  niederdeutsche 
Formen  durchblicken  lässt  (vgl.  Var.  zum  Sachsenspiegel  I  (i  N.  3).  —  Die 
andre  gedruckte  mitteldeutsche  Handschrift,  der  Leipziger  Codex  El,  weist  nicht 
minder  auf  niederdeutschen  Ursprung  zurück :  von  anderm  abgesehen  heb  ich 
nur  Sachsenspiegel  I  '22  §  3  alle  Itonbete  spise  hervor,  misverstanden  aus  nd.  ho- 
vede  d.  i.  gehovete,  und  namentlich  II  58  §  2,  wo  nach  der  Handschrift  der  zehnde 
über  die  Saat  geht,    nd.    de    tcr/ede ,    was    aus    egede  vEggeu   um   so  eher  werden 


aus  den  hochdeutschen  Formen  erklärt;  ein  hd.  der  schimmert  vielleicht  118  (der  sunder  g etat, 
Ssp.  II  17,  2  die  sone  dir  dat),  253  {iener  dar,  Ssp.  III  32,  9  iene  die)  durch;  das  so  verschwindend 
und  unsicher  ,  dass  ich  auf  irgend  welche  hd.  Elemente  in  der  Vorlage  des  Deutschenspiegeh 
nicht  zuruckzuschliessen  wage. 

8 


DIE    REIM  VORREDEN    DES    SACHSENSPIEGKI.S.  73 

konnte,  als  rings  herum  vom  Zehnten  die  Rede  ist.  —  Wenn  die  mitteldeutsche 
Berliner  Handschrift  Dct  III  45  ,  7  die  Lassen  des  Sachsenspiegels  laiin  ,  44  .  3 
gar  latinen  und  I  6,  2  lute  nennt,  so  hat  sie  in  der  Vorlage  sicher  lutcn  gefun- 
den und  nicht  begriffen.  Das  wird  bestätigt  durch  Singulare  wie  schrikei  I  3,  3 
(auch  die  mitteldeutschen  Handschriften  Bht  lesen  hier  -et)  oder  gibt  111  45,  10, 
wo  der  Plural  zu  erwarten  wäre  ,  vielleicht  auch  dureh  Hyperhochdeutsches 
wie  entzwer  „entweder"  1 63 ,  1  oder  thumhantschun  I  63,  4,  das  freilich  auch 
sonst  nicht  unerhört  ist,  wie  ich  denn  enezwider  auch  in  der  mitteldeutschen 
Breslauer  Handschrift  Bv  finde.  Dass  auch  diese  irgend  einen  niederdeutschen 
Ahnen  gehabt  hat,  darauf  könnte  es  deuten,  wenn  z.  B.  I  2,  4.  111  91,  1  f\ 
f.  ;.rügen",  nd.  wrögen ,  I  19 ,  2  entweicht  f.  nd.  entweiet  (hd.  enzweiet),  1  24,  3 
aken  (mhd.  lachen)  steht;  dass  auch  diese  Handschrift  oder  eine  ihrer  Quellen 
sich  gewöhnt  hat,  aus  dem  Niederdeutschen  ins  Hochdeutsche  umzusetzen,  darauf 
weisen  Versehen  wie  füren  „führen"  I  3,  2  st.  fort  (Adv.),  weist  eine  unsichere 
Doppelangabe  wie  tut  adir  czeivhit  II  4 ,  2.  Diese  Stichproben  ')  mögen  hier  ge- 
nügen :  auch  der  Deutschenspiegel  gehört  hierher;  Homeyers  Varianten  aus 
hochdeutschen  Handschriften  enthalten  noch  dies  und  das,  was  man  auf  nieder- 
deutsche Spuren  zurückführen  könnte-).  Der  Vorsprung  des  Niederdeutscheu 
scheint  unverkennbar. 

Nun  aber  die  Gegenprobe.  Sind  die  niederdeutschen  Handschriften 
von  hochdeutschen  Spuren  frei?  Keineswegs.  Freilich  die  besonders 
überzeugenden  Misverständnisse  darf  man  hier  nicht  leicht  erwarten  :  der  man- 
nigfaltigere Lautstand  des  Hochdeutschen,  die  reicher  differenzirte  Orthographie 
hinderte  die  groben  Irrtümer:  ausserdem  waren  die  niederdeutschen  Abschreiber 
des  Hochdeutschen  begreiflicherweise  kundiger  als  umgekehrt.  Dafür  dürfen 
hier  erhaltene  Reste  des  hochdeutschen  Lautstandes  eintreten.  Die  hochdeut- 
schen Züge  der  berühmten  Oldenburger  Bilderhandsehriit  hat  schon  Lübben 
S.  7  seiner  Ausgabe  bemerkt;  sie  sind  um  so  beachtenswerter,  als  grade  diese 
Handschrift  den  niederdeutschen  Lautstand  viel  exclusiver  darstellt  als  etwa 
En;  hinzufügen  möcht  ich  noch  niflele  I  20,  7,  das  häufige  verre  und  keghen 
„gegen",  das  neben  o  für  hochdeutsch  uo  nicht  ganz  seltene  u,  die  wiederholten 
over,  in,  an  f.  boven,  binnen  ;  von  synonymischen  Momenten  (z.B.  utenen  11  62  §  1, 
irarnen  II  66  §  2  u.  ä.)  nicht  zu  sprechen.  —    Aus   der   niederdeutschen  Heidel- 


1)  Ich  bemerke  gleich  hier,  dass  es  mir  gar  nicht  einfällt,  aus  solchen  Einzelheiten,  die  aus 
irgend  einer  niederdeutschen  Handschrift  hereingeweht  sind,  für  alle  diese  Handschriften  wirklich 
eine  niederdeutsche  Vorlage  zu  erschliessen.  Für  Bv  und  De  seh  ich  dazu  keinen  ernstlichen  Grund, 
für  El  ist  mindestens  eine  niederdeutsche  Mitquelle  wahrscheinlich,  für  Aq  die  niederdeutsche  Vor- 
lage  wol  sicher;  s.  u.  S.  74  f. 

2)  So  Hesse    sich  I  3  N.  40  das  erkennet   in  Ucotu    gegenüber   der  Vulg.  nd.  nkont,    hd.  /. - 
dienet  aus  nd.  relcenet  bequem   herleiten:    allerdings    kann    das    inhaltlich    mögliche   ßffcei 
nymische  Variante  sein.     Sicherer  entstand  aus  rekenen  (schwerlich  aus  rcduncn)  das  irkcnneu  der 
Celler    Lehnrechtshs.  Vx  26    §  1  N.  13.    —    geteiling    in  Hg  II  31,  1    soll    vielleicht  gedi 
grijffrt  in  Bh  III  90,  1  das  begrevet  der  Vorlage  verhochdeutschen. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  Wies,  zu  Göttingen.    PhiL-hist.  Kl.     N.  F.  Band  2,  s.  1(J 


74  GUSTAV    ROETHE, 

berger  Handschrift  Eb  hab  ich  mir  gelegentlich,  ohne  zu  suchen,  nach  Sachses 
Abdruck  notirt  dritte  I  3,  1,  urveide  I  7,  3,  getript  (f.  gedrept)  I  22,  1 ,  alter  I 
42,  1,  mortbrenner  II  13,  4 ;  auch  das  antlüte  des  Prologs  setzt  ein  hochdeutsch 
geschriebenes  antlütze  voraus,  und  das  sonderbare  ivetle,  ivetlen  I  52,  1  sieht  aus 
wie  der  hyperplatte  Misverstand  eines  mitteldeutschen  wezle ,  wezlen.  —  Die 
Bremer  Handschrift  Aw ,  von  dem  niederdeutschen  Schreiber  Hinric  Bese  v. 
Rostock  geschrieben  ,  hat  ausser  auslautendem  ch  f.  nd.  Je  auch  inlautendes, 
hat  daz  (nur  in  der  Reimvorrede),  ist,  her  (f.  he),  der  (f.  de),  tivinghen,  ghetan,  irwer- 
ben,  ober  (f.  über,  nd.  over),  ob,  umbe,  durch,  heilighen,  verre,  recht  oft  vater,  muter, 
auch  sonst  ü  {buch,  müt  u.  ö.)  ein  paarmal,  gutes,  mitlesten,  ferner  ouc  (f.  hd.  ouch), 
vereinzelt  iegheliker,  jener,  dirre,  die  Pluralendung  -ent 1).  Aw  teilt  mit  andern 
niederdeutschen  Handschriften  Fehler  wie  hebben  f.  erheven  II  26,  4  und  richte  f. 
riJce  I  18,  3,  die  sich  am  besten  aus  voranliegendem  hd.  erheben  und  riche  erklä- 
ren ;  auch  dass  Aw  loten  ähnlich  entstellt  wie  1)6,  könnte  auf  eine  hochdeutsche 
Vorstufe  deuten.  —  Wenn  Cz  und  andre  niederdeutsche  Handschriften  II  27,  2 
qenennen  f.  nd.  geneden  schreiben,  wenn  niederdeutsche  Handschriften  anderswo 
(z.  B.  II  22,  3)  tut  „zieht"  statt  nd.  döt  zeigen,  wenn  niederdeutsche  Hand- 
schriften II  62,  1  ut  theen  für  üteren,  III  42.  4  rechte,  gerechte  f.  gerede  lesen,  so 
erklärt  sich  das  alles  aus  den  misverstandnen  hochdeutschen  Formen  genenden, 
tut,  üzenen,  (ge)rete-,  und  der  alte  niederdeutsche  Druck,  der  II  41,  1  aus  dem 
crüze  ein  strankelken  criides  machte ,  liefert  einen  Beleg  für  hyperplattdeutsches 
Zurückschrauben  eines  für  hochdeutsch  gehaltnen  Wortes.  Das  hd.  swie,  swe 
„wie"  statt  nd.  wo,  ivü  finde  ich  z.  B.  in  En  III  9,  2,  in  Cz  Praef.  113.  Es 
würde  keine  Mühe  kosten,  derartige  Dinge  zu  mehren. 

Mir  geht  aus  diesen  schnell  herausgegriffenen  Kleinigkeiten  nur  eben  das 
hervor,  dass  in  der  Ueberlieferung  des  Sachsenspiegels  sich  hoch-  und  nieder- 
deutsche Texte  aufs  Bunteste  gemischt,  beeinflusst,  abgelöst  haben:  der  Stamm- 
baum so  mancher  Handschriften  wird  sowol  hochdeutsche  wie  niederdeutsche 
Vorfahren  zählen:  sehr  oft  haben  sicherlich  vereinzelte  Züge  einer  niederdeut- 
schen Ueberlieferung  sich  in  eine  im  Grunde  hochdeutsche  eingemischt  und  umge- 
kehrt:  wir  kennen  diese  seltsamen  Mischungen  der  Lesarten  ja  auch  sonst  zur 
Genüge,  und  der  starke  praktische  Bedarf  hat  hier  besonders  complicirte  Ver- 
hältnisse geschaffen.  Ein  Argument  für  hochdeutsche  oder  niederdeutsche  Fas- 
sung des  Originals  ist  unter  diesen  Umständen  aus  dem  sprachlichen  Haupt- 
charakter der  Handschriften  nicht  zu  gewinnen :  wie  spät  sind  unsere  datir- 
baren  Codices  in  der  Gesamtgeschichte  des  Textes!  Wenn  wirklich  die  nie- 
derdeutschen Handschriften  in  der  Textgeschichte  eine  etwas  grössere  Rolle 
zu  spielen  scheinen,  so  erklärt  sich  da,s  einfach  daher,  dass  auf  niederdeutschem 


1)  Dass    der  Schreiber    selbst  nicht   frei    von    hochdeutschen  Schreiberneigungen    war,    zeigt 
sein  Schlussvers    (abgedr.    v.  Lonke  ,   Beitr.   z.  Brem.   Gesch.  S.  177).      Aber  diese  Schreiberverse 
wollen  wol  wieder  hochdeutsch  sein,  wie  Bese  sich  denn  auch  bei  der  ihnen  vorhergehenden  Ab- 
schrift der  goldnen  Schmiede  an  die  hochdeutsche  Vorlage  einigermassen  zu  halten  sucht. 
8 


DIE  REIMVORREDEN    DBS    SACHSENSPIEGELS.  75 

Boden  der  Sachsenspiegel  am  stärksten  benutzt  wurde;  jeder  Rückschlags  mit 
das  Original  wäre  vom  Uebel. 

Die  geschilderten  Verhältnisse  gefährden  auch  Homeyers  drittes  Argument, 
Er  glaubt  ein  paar  Mal  die  echte  Losart  nur  auf  der  plattdeutschen 
Seite  und  drüben  Misverstand  oder  mechanisches  Abschreiben  za  finden.  So 
einfach  liegt  aucli  das  nicht:  aber  tatsächlich  hat  Homeyer  aui  einige  beweis- 
kräftige Momente  hingewiesen.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  I  59,2  im  Ori- 
ginal dingslete  „Gerichtsauflösung",  das  offenbar  zu  hd.  slUen  gehört,  in  dieser 
niederdeutschen  Form  gestanden  hat:  auch  die  hochdeutschen  Handschriften  halten 
das  t  durchweg  fest,  wenn  sie  das  unverstandene  Wort  nicht  einfach  ersetzen: 
nur  eine  einzige  Handschrift  (und  das  —  eine  niederdeutsche!  wieder  ein  Beweis 
der  Kreuzungen)  schreibt  dingeslise,  das  meint  hd.  dingeslie1).  Kaum  zweifel- 
hafter steht  es  im  Lehnrecht  4,1:  nach  Walthers  überzeugenden  Ausführungen  *) 
(Nd.  Jahrb.  18,  61  ff.)  wird  im  Original  scatrouiue  („Lanzenruhe")  oder  allenfalls 
scachtro ive  gestanden  haben:  das  hd.  schaftrüwe  zeigt  nur  eine  hochdeutsche  Hand- 
schrift. Nun  beachte  man  aber:  beides  sind  termini  technici,  deren  Bedeutung 
kaum  mehr  lebendig  empfunden  wurde:  dingeslete  ist  gepaart  mit  dem  gleichfalls 
grundarchaischen  Unlust  „Lärm":  dass  Eike  diese  und  jene  festgeprägten  Aus- 
drücke des  ihm  zunächst  geläufigen  niederdeutschen  Rechtslebens,  gleichsam  in 
Gänsefüßchen,  benutzt  hat,  sagt  für  die  Gesamtsprache  nichts  aus:  sie  zu  ver- 
meiden oder  in  hochdeutsche  Laute  umzuzwingen,  wäre  gesucht  gewesen. 

Es  wird  noch  mehr  derartige  Symptome  geben  :  das  anscheinend  viel  misver- 
standne  Taten  (Homeyers  Angaben  geben  kein  Bild  ;  vgl.  S.  73.  74)  könnte  auf  Eike 
zurückweisen;  auch  Worte  wie  echt  und  geriiehte  sind  solche  in  niederdeutscher 
Lautform  fest  gewordneu  Termini,  die  uns  nur  darum  nicht  mehr  auffallen,  weil 
sie  sich  auch  hochdeutsch  durchgesetzt  haben.  —  Was  Homeyer  aber  sonst 
anführt,  hält  minder  Stich,  blöt  geriiehte  I  62,  3  ,, blosses  Gerücht"  würde  nach 
seinen  Angaben  nur  in  3  hochdeutschen  Handschriften  richtig  als  „bloss"  gefasst, 
sonst  zu  „Blut"  misverstanden  sein,  was  auf  die  Grundform  blot  zurückführe. 
Erstens  ist  Uöz  doch  viel  häufiger:  es  steht  auch  in  der  Leipziger  Sands  hrift 
Nr.  948  (Sachsenspiegel  hsg.  y,  Hildebrand  S.  32  Anm.),  es  steht  ferner  in  der 
Berliner  Handschrift  Dtf  und  endlich  auch  in  Bv ,  freilich  am  Kande,  während 
im  Texte  blnt  steht:  wenn  ich  aus  meiner  ganz  geringen  Handschriftenkenntnis 
gleich  3  Zeugen  nachtragen  kann  (d.  h.  sämtliche  von  mir  eingesehnen  hochdeutschen 
Handschriften  ausser  den  sicher  auf  niederdeutsche  Vorlage  zurückgehnden  Hand- 
schriften Aq,  El  und  dem  Deutschenspiegel),  so  muss  hier  irgend  etwa-  bei 
Homeyer  nicht  in  Ordnung  sein.  Uebrigens  darf  auch  die  Variante  von  Em  ein 
schlecht  als  Zeugnis  für  blöz  (nichtig)  gefasst  werden.     Aber  gesetzt  Belbst,  dass 


1)  Auch  das  dingslit  von  Aw  dürfte  unmittelbar  auf  ein  voranliegendes  dingsliz  hindeuten. 

2)  Vgl.  dazu  jetzt  auch  Edw.  Schröder,  Zs.  der  Savignystiftuug  19,  144,  der  ;ms  einem  Lehn- 
rechtsfragment des  14.  Jahrhunderts  die  Variante  scat  roivc  für  die  Gruppe  O  nachweist  Der 
Deutschenspiegel  liest  schaitrovu-e. 

10' 


76  •  GUSTAV    ROETHE, 

die  Ueberlieferung  ein  originales  hsl.  blot  oder  blut  nahe  legte,  grade  dies  Wort  ist 
zweideutig.  Zu  den  mitteldeutschen  Worten  mit  zuweilen  unverschobnem  t,  wie 
der  Sachsenspiegel  an  houbctgat  I  63,  1  eins  aufweist,  scheint  es  nicht  zu  gehören l). 
Aber  es  hat  nicht  nur  oberdeutsch ,  sondern  auch  im  Norden  (hessisch  z.  B.  bei 
Vilmar  S.  45,  nassauisch  bei  Kehrein,  Volksspr.  in  Nassau  83,  westerwäldisch  bei 
Schmidt  Idiot.  S.  28,  nach  Beitr.  12,  535  auch  siegerländisch)  eine  bedeutungsver- 
wante  Nebenform  blutt  gegeben ,  deren  specielle  Nüancirung  „unfertig,  kümmer- 
lich1' für  diese  im  Anfang  stecken  gebliebne  Klage  nicht  übel  passen  würde  : 
das  Misverstehn  zu  „Blut"  bot  sich  von  diesem  minder  nahliegenden  Wort  aus 
besonders  leicht.  —  Ganz  nichtig  endlich  ist  Homeyers  Argumentation  zu  I  55,  2. 
Die  mannigfachen  Irrtümer,  die  da,  nicht  nur  in  hochdeutschen  Handschriften, 
passirt  sind,  gehn  aus  von  dem  Worte  gaen  oder  geen  ,  das  verschiedentlich  als 
„gehn"  statt  „jähen"  gefasst  worden  ist:  diese  falsche  Auffassung  hat  Weiteres 
naph  sich  gezogen.  Für  den  zu  Grunde  liegenden  Text  ergibt  sich  allenfalls 
die  Schreibung  die  gaen  dat  „die  jähe  Tat",  und  das  ist  ebensogut  mitteldeutsch 
als  niederdeutsch  :  man  mag  meinetwegen  schliessen,  Eike  hat  intervocalisches  h 
zuweilen  fortgelassen  und  germanisches  d  im  Anlaut  zuweilen  d  geschrieben, 
beides  für  unsre  Frage  von  geringer  Bedeutung.  Das  Gesamtergebnis  von  Ho- 
meyers drittem  Argument  bleibt  also  wesentlich,  dass  Eike  juristische  Termini 
zuweilen  in  niederdeutscher  Lautgestalt  seinem  Werke  einverleibt  hat. 

Demgegenüber  stehn  mindestens  2  Fälle,  die  nach  genau  demselben  Princip 
für  die  Grundgestalt  hochdeutsche  Formen  erweisen.  Der  eine  ist  Homeyer 
nicht  entgangen,  aber  in  seiner  Bedeutung  von  ihm  merkwürdig  verkannt  worden. 
II  47,  3  ist  die  Rede  von  einem  Pferde  ,  dat  ivrensch  is  („brünstig").  Mit  Aus- 
nahme von  En  und  einer  späten  Wolfenbüttler  Handschrift  (Dw ;  vgl.  noch  die 
mitteldeutsche  Handschrift  Dq)  scheint  die  Ueberlieferung  leidlich  einig 2)  über 
den  Anlaut  r,  so  wenig  sonst  das  Wort  immer  verstanden  sein  mag.  Eike  hat 
also  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  gleichfalls  r  geschrieben ,  nicht  ivr ,  und 
das  hat  sich  glücklich  auch  in  ndd.  Texten  gehalten ,  eben  weil  das  Wort 
den  Schreibern  wenig  geläufig  war;  gesprochen  hat  wol  auch  Eike  wr :  leider 
kommt  in  den  wortarmen  Akener  Büchern  nichts  Beweisendes  vor,  doch  sei  auf 
Namen  wie  Wraghe  Nr.  922.  1047,  Wrensch  493.  586  (meist  Wiens,  Wrensz, 
Wrenz)  u.  a.  hingewiesen  ,  die  freilich  slavisch  sein  mögen.  Wenn  Scham- 
bach ,  Gütting.  Wörterb.  170a,  als  göttingisch  reisch  verzeichnet  ,  so  stammt 
diese  Wortgestalt  sicher  lehnweise  von  dem  nahen  hochdeutschen  Gebiet : 
auch  Göttingen  ziemt  nur  wr  im  Anlaut.  —  Und  ebenso  hat  sich  in 
einem  zweiten  unverstandnen  Wort  die  hochdeutsche  Lautform   fast   einhellig  er- 


1)  Das  blot  der  Jenaer  Handschrift  Wizl.  XVI  1  kann  aus  der  niederdeutscheren  Vorlage 
stammen.     Aber  auch  Aq  schreibt  Lehnr.  74,  2  blot. 

2)  Bestimmter  zu  sprechen  verbietet  wieder  die  Beschaffenheit  des  Homeyerschen  Apparats  ; 
man  würde  gewis  fehlen,  schlösse  man,  dass  die  nicht  citirten  Hss.  wrensch  haben;  ich  fand  in 
den  von  mir  eingesehnen  Handschriftabdrücken  (ausser  En)  n  u  r  r  im  Anlaut ,  so  auch  in  den 
bei  Homeyer  fehlenden  ndd.  Codd.  Cy  Cz. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  77 

halten:  es  heisst  144  mit  grosser  Uebereinstimmung  (ein  paar  hochdeutsche 
Handschriften  haben  irsale)  man  gift  egen  in  ursale.  Das  Wort  urmle  ist  nicht  klar, 
ist  Terminus  ;  ich  mocht  es  mit  Hildebrand  für  das  Subst.  zu  irsellen  halten  :  Ho- 
meyer  wagt  die  Conjectur  ursate  „Ersatz"  (Glosse  irstadinge;  aber  ihr  ist  auch 
vluchtsah  en  irstadinge  siner  vlucht).  Wie  dem  sei ,  das  unterliegt  kaum  einem 
Zweifel,  dass  ur-  das  betonte  Präfix  ist.  Und  das  wäre  ausgeprägt  hochdeutsch 
statt  niederdeutsch  or- ,  das  hier  nirgend  bezeugt  ist.  —  So  schwankt  bei  die- 
sem dritten  Teile  von  Homeyers  Beweisführung  die  Wage  hin  und  her :  mir 
will  sogar  scheinen,  sie  sinke  nach  der  hochdeutschen  Seite. 

Mich  aber  befriedigt  dieses  Beweisen  aus  Buchstaben  überhaupt  nicht.  Wer 
steht  uns  denn  dafür,  dass  Eikes  Originalhandschrift  eine  gleichmässige  Laut- 
form hatte?  Warum  soll  er  nicht  selbst  bloz  und  blot,  tat  und  dat,  nr-  und  or« 
neben  einander  geduldet  haben?  Auch  die  volle  Gleichmässigkeit  der  Schreibung 
muss  erst  erlernt  werden ,  und  wo  sollte  Eike  die  erlernt  haben  ?  Mag  der 
Anatom  sich  aus  einem  Knöchelchen  ganze  grosse  Organismen  mit  Sicherheit 
construiren  können,  der  Philologe  erdreistet  sich  solcher  schefaatischen  Schlüsse 
besser  nicht ;  am  wenigsten  da  wo  es  sich  um  geschichtliche  Wendepuncte  han- 
delt. Je  bedeutender  der  Mensch  ,  um  so  weniger  ist  er  durch  die  verallgemei- 
nernde Methode  zu  fassen.  Es  ist  die  Wonne  und  der  Schmerz  der  Philologie, 
dass  der  Wert  ihrer  Objecte  und  ihrer  Ergebnisse  so  oft  im  umgekehrten 
Verhältnis  steht  zu  ihrer  methodischen  Sicherheit.  Und  Eike  ragt  über  den 
berechenbaren  Durchschnitt. 


V. 

Das  Eine  hoff  ich  gezeigt  zu  haben,  dass  Homeyers  gesamte  Beweisführung 
hinfällig  ist.  Manch  Körnlein  feiner  und  sorgsamer  Beobachtung  bleibt  übrig  : 
aber  selbst  diese  Körnlein  fallen,  recht  betrachtet,  nur  teilweise  für  niederdeut- 
sche Abfassung  ins  Gewicht.  Homeyers  Weg  führt  mit  Notwendigkeit  in  eine 
Sackgasse.     Gleichviel :  die   Bahn  ist  frei. 

Haben  wir  erst  einmal  eine  kritische  Ausgabe  des  Sachsenspiegels,  die  die 
Handschriftenfiliation  deutlich  übersehen  lässt  und  das  sprachliche  Varianten- 
material ausreichend  angibt,  so  wird  man  vielleicht  eine  Auswahl  von  Wegen 
haben.  Vielleicht  auch  nicht.  Wenn  ich  mich  in  diesem  Augenblicke  frage:  an 
welcher  Stelle  kann  ich  mit  irgend  einer  Aussicht  auf  Erfolg  einsetzen  ?  wo  ist 
bei  aller  Buntheit  und  Willkür  der  Ueberlieferung,  bei  aller  Unzulänglichkeit 
der  kritischen  Vorarbeit  und  des  von  mir  überschauten  Materials  noch  am  ehe- 
sten die  Möglichkeit  geboten,  zum  Ursprünglichen  durchzudringen?  —  nun  ich 
sehe  nur  einen  Weg,  der  nicht  schon  nach  wenigen  Schritten  ungangbar  würde. 
Und  das  ist  die  Wortwahl. 

Darin  liegt  von  vornherein  eine  Art  Verzicht.  Wenn  wir  fragen,  ob  Eike 
hochdeutsch  schrieb  oder  niederdeutsch ,    so  wollen  wir    zunächst  wissen  :    hat  ei 

2  s  *  e 


78  GUSTAV    ROETHE, 

daz  und  ich  geschrieben  oder  dat  und  ik:  gleichgiltig  an  sich,  ist  das  doch  ent- 
scheidend als  Symptom.  Eine  directe  Antwort  auf  diese  Frage  halt  ich  vor- 
läufig nicht  für  möglich  :  das  reimlose  Prosawerk  in  seiner  complicirten  und 
mannigfaltigen  sprachlichen  Erhaltung  versagt  sich  der  unmittelbaren  Erkenntnis 
des  ursprünglichen  Laut  stand  es,  wo  nicht  vereinzelt  ein  besonders  glück- 
licher Zufall  hilft.  Die  Uebereinstimmung  hochdeutscher  und  niederdeutscher 
Handschriften  scheint  zu  verraten,  dass  für  mhd.  ei,  no,  ie  bei  Eike  wenigstens 
vereinzelt  (schwerlich  ausnahmslos)  ei,  n,  i  gestanden  hat:  ich  möchte  glauben, 
dass  die  Ueberlieferung  den  Auslaut  ch  (inl.  g),  dass  sie  sai,  holden  (nicht  sol, 
holden) ,  aber  ivol ,  ferner  sus  (nicht  dus) ,  das  Präfix  vor-,  vielleicht  die  Gerun- 
dialendung  -nde,  volle  Dativformen  wie  deme,  das  Prät.  stitnt1),  das  Pron.  uns2) 
(nicht  iis)  und  so  noch  dies  und  das  durchschimmern  lässt :  aber  selbst  das  ist 
vielleicht  schon  zu  viel  gesagt;  es  sind  das  obendrein  alles  Grenzerscheinungen, 
die  das  Mitteldeutsche  und  das  Niederdeutsche  auf  weite  Strecken  hin  teilt ;  für 
selp  (resp.  seif)  und  verre,  die  etwas  deutlicher  sprächen3),  wag  ich  mich  auf  die 
Spuren  einer  handschriftlichen  Eintracht  schon  kaum  mehr  zu  berufen.  Nur  diese 
und  jene  Einzelheit  ist  vielleicht  zu  fassen4). 

Zunächst  zwei  wenig  ergiebige  Etymologien  Eikes :  II  66,  2  leitet  er  sundach 
von  besünen  ab,  was  allenfalls  auch  sondach  und  besönen  meinen  kann.  Wenn 
er  III  58,  2  vorste  erklärt  ais  vorderste  und  daraus  sogar  juristische  Folgerungen 
zieht,  so  empfiehlt  das  höchstens  die  nd.  md.  Lautgebung  vorste,  der  das  be- 
sprochne  ursale  nicht  grade  günstig  ist. 

Einträglicher  sind  immer  noch  die  eingestreuten  Reime :  sie  legen  wenigstens 
(I  16,2.  51,  1)  die  Form  echt  (:  recht)  fest.  Das  Wort  dringt,  gewis  bestenteils 
durch  den  Sachsenspiegel,  bald  auch  in  den  mitteldeutschen  Sprachschatz  ein: 
dass  es  doch  mit  seiner  Sippe  {echt,  „Ehe",  unecht,  cchtlös,  ecldUche)  im  14.  Jahr- 
hundert noch  als  eigentlich  niederdeutsch  empfunden  wurde,  zeigen  die  mittel- 
deutschen Handschriften;  El  z.B.,  das  I  51,  1  das  echtelos  des  Reimes  duldet,  geht 
doch  unmittelbar  darauf  zum  clich  über,  wie  es  denn  gerade  im  Sinne  von 
,.ehlich.  Ehe"  überall  ändert;  aber  auch  recht  setzt  es  gern  an  die  Stelle  und 
respectift  höchstens  in  den  terminologischen  Bindungen  echt  not,  ding,  hof  das 
fremde  Wort;  Dtf  zieht  auch  da  zuweilen  das  chaft  vor.  So  tritt  das  cht  von 
echt   neben   scachtrowe.      Es   liegt    nahe,    weiter    zu    schliessen   auf   das    auch    in 


1)  Vielleicht  auch  leich  st.  mhd.  Icch,  ebenfalls  sowol  md.  wie  nd. :  in  Aken  bezeugt  vorteich. 

2)  gense,  ohne  Varr.,  (?)  II  40,5  in  einem  Zusatz.  Calbe  232  hat  gense  (so  heute),  aber  21, 
70  gase. 

3)  In  den  Stadtbüchern  stets  verne;  sulf  und  seif  wechseln  (Halle  sehe,  silve). 

4)  Ich  bemerke  ein  für  allemal,  dass  ich  lediglich  den  in  der  Handschriftengruppe  A  stehen- 
den Bestand  des  Sachsenspiegels  meinen  Beobachtungen  zu  Grunde  lege  und  die  Zusätze  der 
umfänglicheren  Fassungen  nur  ausnahmsweise  heranziehe  :  ist  für  sie  Eikes  Autorscbaft  doch 
minder  gesichert.  —  Citirt  werden  weiterbin  die  Hallischen  Protokolle  nach  den  Nummern  des 
ersten  Schüffeiibuchs,  das  Calbische  Wetebuch  nach  den  Seitenzahlen  des  20.  Bandes  der  Magdeb. 
Geschichtsbll.  Das  2.-4.  Schöffenbuch  Halles  und  die  nach  1410  liegenden  Partien  des  Wetebuchs 
sind  nur  gelegentlich  herangezogen. 

8 


DIE   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  ~( \) 

mitteldeutschen  Handschriften  bezeugte  gerächte  (rächte);  Aq  El  lesen  so,  Da  Bv 
aber  geräfte1).  Horaeyers  Angaben  lassen  im  Stich;  wenn  ich  auch  liier  an  die 
Echtheit  des  cht  glaube,  so  ruht  mein  Glaube  nicht  sowol  auf  den  Sachsen- 
spiegelhandschriften als  auf  der  Verbreitung  der  -cht-Form  weit  über  die  nieder- 
deutschen Grenzen  hinaus:  sie  wird  z.  B.  im  Breslauer  Recht  von  1261  verwant. 
während  allerdings  das  spätere  Breslauer  Schöffenreeht  geräfte  hat.  Noch  weiter 
kommen  wir  mit  dem  cht  nicht :  bei  niftel  -  nichtel  trennen  sich  wieder  die  hoch- 
deutschen und  niederdeutschen  Codices  (Ei  einmal  niftel);  das  vereinzelte  in  hechti 
(II  34,  2)  wird  sogar  schon  durch  die  meisten  niederdeutschen  Handschriften 
widerlegt  (Ei2)  hat  hechte,  aber  Aw  Cz  Eb  ft),  wie  denn  die  Ueberlieferung 
für  ein  cht  ausser  jenen  3  Worten  nicht  zu  sprechen  scheint.  Und  jene  3  Worte 
sind  sämtlich  juristische  Termini3). 

Dass  t  in  dingeslete  unverschoben  blieb,  sahen  wir;  Itoubitgat  tritt  auch  sonst 
mitteldeutsch  als  Lehnwort  auf  (hochdeutsche  Varianten  haben  vielfach  houbtloch) : 
das  häufige  Falschverstehen  und  Umdeuten  von  leiten  würde  sich  am  leichtesten  aus 
einem  leiten  des  Originals  erklären,  das  hochdeutsch  oft  verschoben  wurde.  Wieder 
geprägte  Termini,  die  eine  Verallgemeinerung  ausschliessen.  —  Eher  wäre  man  dazu 
versucht  für  den  Anlaut  von  dät  (s.  o.).  Wirklich  zeigen  auch  hochdeutsche 
Handschriften  Spuren  dieses  (/-Anlauts,  z.  B.  dagen  in  El  161,  1.  III  12,  2,  dar 
f.  tar  in  D<5.  Bekanntlich  schwanken  aber  gerade  in  diesem  Puncte  die  mittel- 
deutschen Handschriften  sehr  stark ;  dies  anlautende  d  (germ.  d)  vertrüge  sich 
sporadisch  auftretend  mit  mitteldeutschem  Text  vortrefflich.  Aber  dasselbe  d 
tritt,  nicht  mehr  sporadisch,  in  dem  Worte  räde,  gerade,  üzrdden  „weibliches  Erbe. 
Ausstattung,  Mitgift"  auf,  das  trotz  seinem  weiblichen  Geschlechte  und  trotz 
seinem  d  nichts  Anders  ^sein  wird  als  hd.  gerate:  das  Neutrum  bricht  in  hd. 
Handschriften  hie  und  da  durch4).  Nur,  es  ist  wieder  ein  juristischer  Terminus. 
der  mit  seinem  erstarrten  d  auch  sonst  in  md,  Sprachgebiet  herüberreicht5). 

Eine  Tatsache  des  Vocalismus  enthüllt  sich  etwa  II  28,  2  barende  bäume 
und  I  33  barthaft.  In  beiden  Fällen  ,  namentlich  aber  im  zweiten ,  bestätigen 
Misverständnisse  auch  hochdeutscher  Handschriften  das  a ;  für  barehaft  oder  bar- 
haftich  hat  man,  häufiger  als  Homeyer  augiebt,  wäraftich  verstanden,  das  a  donii- 
nirt  durchaus,  und  bei  barende  weisen  vereinzelte  war  ende ,  gebraute  denselben 
Weg.  —  Möglicherweise  hat  in  Eikes  Manuscript  entsprechend  auch  waren 
(„Gewähr  bieten-''  und  „dauern")  gestanden,  wie  in  der  Sachs.  Weltchronik:  die 
niederdeutschen  Handschriften  (Aw  Cy  Ei ,  vgl.  Homeyers  Var.  zu  Lehnr.  78,  1) 


1)  Der  Deutschenspiegel,    der  echt  nicht  gebrauchen  kann,    hat  das   ch   von  gerückte   darum 
meist  bewahrt,  weil  er  es  in  gerichte  misverstaud ;  im  Landrecht  hat  er  rufe  300,  gervfft  329. 

2)  Ei  liest  aber  auch  Ufhagtich  I  33,  ivonachtich  I  60,  3,  uncracht  I  49 ;   derartiges  z.  B.  auch 
in  Aw  (achter,  bar  achtig,  pJechachten,  hanihachtich),  alles  bedeutungslos  weil  vereinzelt. 

3)  In  Halle  luft  644. 

4)  in  (von)  deme  rade  hat  Aw  I  5,  3.  III  38,  5. 

5)  Auf  inlautendes  d  weisen  vielleicht  auch  die  Varianten  zu  I  50,  2  hin,    wo  leiden,  geleiden 
st.  hd.  leiten  auch  in  hochdeutschen  Handschrifteu  erscheint.  r 


80  .  G  ÜSTA V    KOETHE, 

geben  viel  Belege1);    nirgend  aber  die  hochdeutschen ,   und  so  fehlt  gerade,  was 
das  a  von  baren  stützt 2). 

Nd.  ö  f.  hd.  ou  ist  wahrscheinlich  in  gelöf  (s.  u.) :  wieder  in  versteinerter  ju- 
ristischer Formel. 

Was  so  von  Lauten  leidlich  festzulegen  war,  schien  wesentlich  niederdeutsch : 
aber  alles  vereinzelt,  meist  prononcirte  Rechtsausdrücke  und  schon  darum  nicht 
entscheidend;  das  hd.  ur-  und  anl.  r  <  ivr  behält  sein  Gewicht. 

Etwas  greifbarer  bereits  ist  Eikes  Wortbildung.  Von  Abstractsuffixen  do- 
minirt  -unge,  das  namentlich  in  der  einförmigen  Casuistik  des  Lehnrechts  sehr  reich 
vertreten  ist.  Dass  Eike  oft  -unge  geschrieben  hat,  ist  nahezu  sicher,  vielleicht 
schrieb  er  es  immer:  die  hochdeutschen  Handschriften  kennen  nur  -unge,  von  den 
niederdeutschen  ist,  so  weit  ich  sehe,  nicht  eine  ohne  Belege  des  -unge.  Wenn 
Homeyers  En  z.  B.  I  3,  3  tveinge  hat,  so  haben  Aw  Cyz  Ebi  ebenda  tweyunghe 
oder  twninge,  und  ob  das  Uebergewicht  des  -unge  in  diesem  Falle  auch  stärker  sein 
mag ,  als  sonst  (Ei  scheint  das  -wnghe  auf  dies  Wort  zu  beschränken  ,  wol  weil 
ihm  das  Zusammenstossen  von  ei  und  i  misfiel),  so  bestehn  Doppelformen  in  den 
niederdeutschen  Handschriften  wol  durchgängig;  in  der  späten  niederdeutschen 
Handschrift  des  Lehnrechts  cod.  jur.  Gott.  60  herscht  das  -unglie  sogar  weit  vor. 
In  Aken  aber  sprach  man  wol  -inpe  (1343. 1390  vesting,  1674  ser.czinge,  1850.  1851 
teringe;  vestunge  1652,  wonunge  1614  stehn  in  der  Nähe  hochd.  Sprachspuren, 
auch  dclunge  2000  mag  also  auf  hochdeutschem  Einfluss  beruhen);  ebenso  herscht 
-inge  in  den  ältesten  Aufzeichnungen  von  Calbe  (yestinghe,  missehandelinghe  52, 
beivysinge,  betalinge  46  u.  s.  f.,  aber  schon  S.  58  [1386]  ein  -unge,  wofür  sich  die 
Belege  dann  schnell  mehren,  doch  treten  zugleich  auch  andre  sicher  hochdeutsche 
Erscheinungen  auf)  ;  die  Hallischen  Bücher  setzen  gleich  mit  -unge  ein,  ohne  es 
immer  fest  zu  halten;  die  Anhalter  Urkunden  schwanken.  Schrieb  Eike  nur  eine 
Form,  so  wars  die  hochdeutsche;  aber  auch  er  könnte  geschwankt  haben. —  Da- 
neben -schaft  (so  hd.  Codd.) ;  in  nd.  Hss.  -scap  und  -scup  neben  einander,  in  den 
Stadtbüchern  -schap  und  -schop.  Eike  sprach  wol  -schop,  schrieb  etwa  -schaf.  — 
Das  niederdeutsche  -clage  hat  Eike  Abstracta  bildend  nicht  gebraucht,  Lehnr. 
24  N.  60  ist  sükedage  nur  ganz  schwach  bezeugt3).  —  Die  juristische  Bildung 
auf  -ml  (-tal)  ist  in  järzal ,  sibbezal ,  erbczal  auch  dem  mitteldeutschen  Sprach- 
gebrauch nicht  fremd;  daneben  im  Sachsenspiegel  noch  dingzal ,  aber  nur  in 
einem  Zusatz  III  87,  3,  und  ganz  unsicher  mächtale  II  30  N.  2.  —  Das  nieder- 
deutsche Suffix  -sie  erscheint  in  dem  lemesle  mancher  niederdeutschen  Hand- 
schriften, so  I  63,  2,  nach  Homeyers  Angaben  fast  ohne  Varianten:  das  ist  nicht 
richtig  :    ausser  den  hochdeutschen  Handschriften,  die  lamheit,  lemede  lesen,  steht 


1)  Vgl.  auch   die  Variante   wärmt   st.  getvere  II  26  N.  10.  36  N.  36.  40. 

2)  Ob    barch  „Getreidehaufe"  III  45,  8  (seltene  Var.  berch)  hierhergehört,   ist    sehr  fraglich; 
vgl.  Hildebrands  Glossar  z.  Sachsensp.  S.  127. 

3)  levedage  in  Calbe  belegt. 


DIE    REIMVORREDEN   DES   SACHSENSPIEGELS.  81 

hier  auch  in  Aw  Eb  lemede,  in  Cy  Ei  stets  lemnisse  *) ;  dass  Eike  lemesle  geschrie- 
ben habe,  ist  also  mindestens  nicht  erwiesen.  —  Die  niederdeutschen  Collectiva 
auf  ~te  (gedingete,  tünete)  wären  an  sich  auch  mitteldeutsch  denkbar  (Germ.  10, 
395  ff.) ,  und  das  czinss  Bvw  (I  20  Nr.  4)  könute  etwa  ein  mitteldeutsches  {ge)~ 
ziuneze  meinen ;  indessen  lässt  das  sehr  reich  ,  auch  niederdeutsch,  bezeugte  ge- 
dinge,  geziune  zweifeln,  ob  Eike  jenes  4e  überhaupt  gebraucht  hat. 

Wichtiger  ist  die  D  e  m  i  n  u  t  i  v  b  i  1  d  u  n  g.  Das  niederdeutsche  Suffix  -ke,  -ken, 
md.  -cltin,  ist  II  61,  5  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  anzusetzen,  in  der  Wendung 
„wenn  das  Korn  ledeken  hat":  zwar  wimmelts  von  Varianten,  namentlich  in  hochdeut- 
schen Handschriften,  aber  die  verschiedne  Weise,  wie  sich  diese  mit  dem  Ausdruck 
ablinden,  verdächtigt  sie:  möglich  wäre  nur  etwa,  dass  Eike  gelide  „Glieder" 
(Jede,  in  hd.  und  nd.  Hss.  bezeugt)  geschrieben  hätte.  Es  wird  sich  hier  um  einen 
formelhaften  Ausdruck  handeln,  den  Eike  nicht  ändern  mochte.  Denn  sonst 
scheint  er  allerdings  -Im  gesagt  zu  haben.  III  69,  1  heisst  es  in  der  Verbindung 
noch  hüt  noch  hiitelin  weit  überwiegend  eben  4m,  soviel  ich  sehe  auch  in  den  nd. 
Hss. ;  hüdeken  haben  die  niederdeutschen  Aw  En,  hütechin  hat  El  (nach  nd.  Vor- 
lage?), dagegen  hütclin ,  hodelin  Aq  (nach  nd.  Vorlage!)  Bv,  Dsp.  328,  die  nd.  Cy 
Cz  Eb  Ei.  Dazu  stimmt  das  fast  durchgängige  hd.  zickelin  III  51  (nd.  hohen  ganz 
selten),  allerdings  in  einem  Zusatz ;  II  54,  1  sondern  sich  die  verkene  (für  Calbe  und 
Halle  bezeugt)  und  die  verkel  [verkeim)  annähernd  nach  nd.  und  hd.  Hss.,  doch  fand 
ich  in  der  nd.  Cy  verkelen.  Aehnlich  trennen  sich  vingeren  und  vingerlin;  doch  dies 
auch  in  der  nd.  Göttinger  Lehnrechtshandschrift  (Lehnr.  67, 1).  Ausgesprochen  hoch- 
deutsch ist  wieder  das  allgemein  herrschende  ermel  (ermelin  Aq  Ei)  I  63, 4  ;  mundet 
„Mündel"  (142,  2,  mundelin  Ebi  Cy)  und  niftel  sind  auch  dem  Niederdeutschen  ver- 
traute -/-Formen.  Das  Gesamtergebnis  deutet  auf  -Un  hin.  Stünde  das  fest,  so  wäre 
es  von  hoher  Bedeutung.  Denn  so  verbreitet  das  -lln  in  der  mittelniederdeutschen 
Dichtung  ist,  so  fremd  ist  es  der  Prosa :  selbst  die  Gothaer  Handschrift  der  Säch- 
sischen Weltchronik  sagt  in  der  Regel  -hin,  -ken  2).  Dass  Eike  nicht  unbefangen 
dem  heimischen  Deminutivgebrauch  mündlicher  Rede  folgt,  verrät  vielleicht  schon 
die  Seltenheit  der  Fälle :  wie  wimmelts  in  den  Akener  Schöffenbüchern  von  demi- 
nutiven Namen ,  natürlich  auf  -ke,  -ken  (sogar  Müsekensteker  874) ,  und  ein  stre- 
teken  (106)  hat  sich  selbst  in  diese  unsäglich  wortarmen  Protokolle  geschlichen3). 

Wesentlich  niederdeutsch  ist  das  feminine  Geschlecht  von:  die  räde  (nur 
vereinzelt  das  Neutrum),  die  wesle  (Lehnr.  71,  6,  sonst  nur  in  Zusätzen;  einige 
hochdeutsche  Handschriften  haben  Masculinum),  die  wäge  II  28,  1  (Bv  uilden  statt 
wilder).  Dazu  vielleicht  noch  die  nut  („Nutzen"  ;  so  auch  Halle  622)  und  die  plüch 
„Pflug" ;  bei  beiden  Worten,  namentlich  bei  plüch,  ist  aber  das  Masculinum  auch  in 
niederdeutschen  Handschriften  belegt.     Das  nd.  Neutrum  vrt  „Freiheit"  11132,5.  7 

1)  So  Halle;  aber  erst  im  vierten  Schöffenbuch  Nr.  1057. 

2)  Wo  sie  -Un  hat  (so  vingerlin  in  der  Astrolabiusgeschichte) ,  da  deutet  das  auf  hoch- 
deutsche Quellen  und  Vorbilder  zurück. 

3)  Auch  in  Halle  und  Calbe  stets  staveken,  ömeken,  vedeken  u.  s.  w. ;  vingerlin  (neben  grosche- 
ken)  erst  im  4.  Schöffenbuch  Nr.  119;  vorher  (1,  1395)  vingerlinc. 

Abhdlgn.  d.  K.  Ges.  d.  WisB.  zu  Göttingen.    Pb.il.-b.ist.  Kl.  N.  F.  Band  2, «.  1 1 


82  GUSTAV    ROETHE, 

steht  so  vielen  Zeugen  für  vriheit  gegenüber  ,  dass  es  gar  keine  Gewähr  hat. 
des  bankes  bitten  III  69 ,  3  sieht  dagegen  hochdeutsch  aus  ,  obgleich  ich  zufällig 
grade  nur  aus  hochdeutschen  Handschriften  die  schwach  gestützte  Variante  der 
Innig  kenne;  alle  drei  SchöfFenbücher  haben  das  Femininum.  —  Die  Zehe  heisst 
II  16,  6  nd.  ten  (Singular,  nicht  Plural,  wie  Homeyer  meint);  das  n  wird  gesi- 
chert durch  die  häufige  Verwechslung  mit  zan ,  namentlich  in  hochdeutschen 
Handschriften;  Eike  kann  sehr  wohl  zen  geschrieben  haben:  die  Formen  zin, 
zlen  sind  noch  heute  thüringisch  lebendig  (Hertel,  Thür.  Sprachsch.  263). 

In  Homeyers  Text  erscheint  teils  luttel,  teils  luttic;  besser  bezeugt  ist 
luttil ;  einmal  bringen  es  die  hochdeutschen  Handschriften  (lülzel),  soweit  sie  nicht, 
namentlich  bei  jüngerem  Datum  ,  deine  oder  tvenic  an  die  Stelle  setzen ;  dann 
aber  hat  auch  in  den  niederdeutschen  luttel  stets  diesen  und  jenen  Vertreter : 
z,  B.  III  42,  2  steht  luttel  in  Aw  C^z  Ein  gegen  luttic  Eb ;  45,  10  bringt  grade 
Eb  luttel  gegen  Avv  Cy  En  (Ei  Cz  denen) ;  47,  1  (Zusatz)  nur  luttel  Cz  Ein ; 
Lejmr.  7 ,  1  vertritt  Aw  Ei  luttel.  Möglich  dass  Eikes  Sprache  beide  Formen 
geläufig  waren  (das  älteste  Hallische  SehÖffenbueh  zeigt  nur  luttic):  wenn  er 
luttel  wählte  oder  bevorzugte  ,  so  war  das  die  Form ,  die  er  für  hochdeutsche 
Fassung  allein  brauchen  konnte.  —  Von  den  niederdeutsch  besonders  be- 
liebten Grenitivadverbien1)  ist  wiUes  (willens  ,  willinges ,  ivillendes)  II  36,  2 
dem  Hochdeutschen  fremd;  das  hd.  danlies  ist  wol  gesichert  in  dem  Zusatz  III  48; 
an  jener  Stelle  aber  mag  ivilles  im  Recht  sein,  zivies,  dries,  obgleich  namentlich 
in  hochdeutschen  Handschriften  zuweilen  durch  zwir,  dristunt,  zu  drin  malen  u.  ä. 
ersetzt,  ist  gewis  im  Recht  und  auch  mitteldeutsch  möglich.  —  Hat  Eike  Lehnr. 
67,8  wirklich  stilleken  geschrieben?  Die  Varianten  (stille,  stillicUchen  u.  ä.)  lassen 
das  nicht  erkennen,  in  Aw  und  der  Göttinger  Lehnrechtshandschrift  fehlts  2),  I  62, 
9.  11  findet  sichs  nur  in  wenigen  niederdeutschen  Handschriften.  Und  II  16,  9, 
wo  niederdeutsch  eher  süverken  (stwerlikcn)  zu  erwarten  wäre ,  steht  einfach 
siiver.  —  unhälinge  1136,1  ist  auch  niederdeutsch  selten,  aber  doch  bezeugter 
als  hochdeutsch.  Das  Adverb  steht  so  bei  Eike  nicht  allein 3) ;  für  das  an 
sich  unsicher  bezeugte  nöhveringe  II  62 ,  2  könnte  grade  die  befremdliche  Bil- 
dung sprechen.  —  Ob  Eike  II  53.  68.  III  68  dannen  gesagt  hat,  ist  nicht  ganz 
sicher,  da  in  nd.Hss.  (Aw  Cz  Eb)  die  mnd.  herschenden  Formen  dennen*),  dan  oder 
auch  af  gerne  dafür  eintreten :  die  Ueberlieferung  spricht  immerhin  für  dannen.  Aber 
selbst  wenn  dies  feststünde,  möcht  ich  hier  im  Sachsenspiegel  weniger  Wert  darauf 
legen  als  bei  den  hd.  beeinflussten  Reimen  der  Braunschweiger  Chronik:  so  unerhört, 
wie  es  nach  Lübbens  Angaben  scheinen  möchte,   ist  die  Wortform  auch  mnd.  nicht. 


1)  Ich  notire  die  merkwürdige  adjeetivische  Construction  von  jährliches,  tegeliches  III  2.  56,  3, 
die  offenbar  von  Eike  stammt  und  in  den  Handschriften  nur  vereinzelt  corrigirt  wurde.  —  vor- 
middes  in  dem  Zusatz  II  56,  3  hat  sehr  viele  Varianten  neben  sich. 

2)  stilleichen  Dsp.  Lehnr.  205  mag  aber  wol  auf  einem  stilleken  der  nd.  Vorlage  beruhen. 

3)  unhälinge  noch  in  dem  Zusatz  III  89. 

4)  van  dennen  Anh.  Urk.  3,  328  Nr.  492  v.  J.  1325  (gleichzeit.  Copie). 
C 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  83 

Von  Verbalbildungen  erwähne  ich  nur  schnell  die  auf  -igen '.beköstigen, 
bescheinigen,  bestätigen,  bepfli  cht  igen,  beschuldigen,  ge-,  entweldigen;  hochdeutsch  sind 
die  Verba  ohne  -ig-  {behosten  u.  s.  w.)  üblicher  oder  allein  üblich,  so  dass  jene 
Verba  in  hd.  Hss.  zum  Teil  ersetzt  werden,  bescheinigen  z.  B.  durch  beivisen.  In- 
dessen es  handelt  sich  hier  wieder  durchweg  um  feste  juristische  Wendungen, 
an  die  Eike  nicht  wol  Hand  hätte  anlegen  können,  selbst  wenn  sie  dem  Mit- 
teldeutschen fremder  gewesen  wären,  als   es  in  Wahrheit  der  Fall  ist '). 

Auch  die  Wortbildung  lässt  wieder  den  niederdeutschen  Autor  erkennen, 
der,  ohne  die  niederdeutsche  Grundfarbe  seiner  Sprache  ganz  zu  verleugnen, 
doch  das  grell  Niederdeutsche  meidet,  das  Gemeinsame  des  Mitteldeutschen  und 
Niederdeutschen  bevorzugt  und  hie  und  da  auch  wol  ein  wenig  hochdeutsche  Re- 
touche  aufsetzt  (-Un  ;  vgl.  auch  -unge,  lützel,  dannen?). 

Ueber  die  S  y  n  t  a  x  darf  ich  —  oder  muss  ich  schneller  hinweg  gehen ;  ich 
fühle  mich  ausser  Stande  ,  auf  diesem  Gebiete  zusammenhängende  Grenzlinien 
von  einiger  Verlässlichkeit  zwischen  niederdeutscher  und  mitteldeutscher  Art 
zu  ziehen  *-).  Zudem  ist  der  Satzbau  des  Sachsenspiegels  ,  ein  paar  Capitel  des 
Landrechts  ausgenommen ,  höchst  einförmig  in  seiner  kunstlosen  Schärfe  :  voran 
die  Voraussetzung  im  Vordersatz  ,  im  Nachsatz  die  gesetzliche  Bestimmung, 
nähere  Bedingungen  dazwischen  gepackt ,  wenig  Partikeln  (s.  oben  S.  21) ,  gar 
keine  stilistischen  Winke  ;  die  Inversion  im  Nachsatz  wird ,  selbst  für  einen 
mittelniederdeutschen  Autor,  besonders  karg  angewendet;  auch  sonst  bietet  die 
Wortstellung ,  in  der  die  Handschriften  allerdings  merkwürdig  auseinander 
gehn ,  oft  mehr  Erschwerung  als  Hilfe.  Die  knappe  Sachlichkeit ,  die  eins 
unvermittelt,  aber  in  gehöriger  Ordnung  ans  Andre  reiht,  soll  für  sich  sprechen. 
Das  ermüdet  den  Leser  und  strengt  ihn  an ;  juristische  Vorzüge  wird  es  haben  : 
ich  hörte  von  FrensdorfF,  dass  grade  das  Lehnrecht,  mir  eine  qualvolle  Leetüre 
in  seiner  tiftelnden  Unanschaulichkeit ,  bei  Juristen  auch  stilistisch  hoch  ge- 
schätzt wird.  Unleugbar  überragt  Eikes  Satzbau  an  fester  Klarheit  das  Gros 
der  spätem  (nicht  juristischen)  mittelniederdeutschen  Prosaschriften  bei  Weitem; 
aber  wenn  man  seinen  Sätzen  das  litterarische  Debüt  einer  bisher  nur  ge- 
sprochnen  Prosa  so  wenig  anmerkt,  so  dankt  er  das  seiner  lateinischen  Autor- 
schaft, nicht  hochdeutschen  Vorbildern. 

Leider  hat  die  spröde  Stilform  syntaktische  Armut  zur  Folge  gehabt. 
Hier  mögen  wenige  Einzelheiten  genügen.  Die  niederdeutsche  Unsicherheit 
zwischen  Accusativ  und  Dativ  fehlt  in  den  niederdeutschen  Handschriften 
nicht ,  zumal  nach  Präpositionen ;  was  davon  auf  Eike  zurückgeht ,  weiss  ich 
nicht     festzustellen  ;      die     hochdeutschen    Handschriften     scheinen     im     Ganzen 


1)  Das  in  den  Stadtbüchern  häufige  begiftigen  hat  er  gemieden. 

2)  Nissens  Forseg  til  en  meddelnedertysk  Syntax  (KJ0b.  1884)  bietet  eine  recht  nützliche 
Zusammenstellung:  doch  ist  der  Verf.  im  älteren  Hochdeutschen  anscheinend  nicht  so  bewandert, 
dass  er  gerade  mittelniederdeutsche  Sonderheiten  als  solche  zu  erkennen  und  zu  betonen  im  Stande 
wäre.     Und  das  Gebiet  der  speciell  mitteldeutschen  Syntax  ist  noch  so  gut  wie  unangebaut. 

11* 


84  GUSTAV   ROETHE, 

frei ;  doch  haben  auch  sie  öfters  gegen  e.  Acc. ,  wie  Eike  wol  auch  in  der 
Praefatio  (V.  135)  schrieb  und  wie  man  in  Aken  (nr.  2071.  2072)  und 
Halle  sprach.  Adjectivische  Nominative  auf  -en  (sehen)  fehlen  in  den 
niederdeutschen  und  den  ihnen  nahestehenden  hochdeutschen  Handschriften 
nicht ,  weisen  aber ,  da  sie  doch  nur  vereinzelt  auftreten  ,  auf  das  Origi- 
nal schwerlich  zurück ;  wer  weiss ,  ob  Eike  das  -en  überhaupt  schon  sprach  ; 
anderseits  scheint  er  auch  das  hd.  -er  nicht  gesagt  zu  haben1).  Abgehetzt 
werden  die  Constructionen  mit  zu  c.  Inf.  ,  in  dieser  ihrer  Ausdehnung  der 
guten  mittelhochdeutschen  Syntax  ganz  fremd.  Dagegen  sind  die  sonst  charak- 
teristisch niederdeutschen  Bindungen  des  Part.  Präs.  mit  sin  und  werden  im  Sach- 
senspiegel nur  sehr  schwach  vertreten,  nicht  über  hochdeutschen  Sprachgebrauch 
hinaus  2).  Die  Verbindung  von  läsen  mit  dem  Part.  Prät.  (z.  B.  II  36,  3  er  hob  ez 
geworht  läeen)  ist  in  den  niederdeutschen  Anhalter  Urkunden  sehr  beliebt,  auch 
in  den  Calber  (S.  127)  und  Hallischen  Schöffenbüchern  (z.  B.  S.  339)  belegt, 
dem  Hochdeutschen  dagegen  ziemlich  fremd  (doch.z.  B.  auch  thüringisch: 
vgl.  Gramm.  IV2  147).  Eike  scheint  das  Prät.  von  ;.sein"  mit  haben  ge- 
bildet zu  haben  (z.  B.  III  34.  45,  2),  niederdeutsche  Weise,  die  sich  aber 
auch  ins  Mitteldeutsche  verbreitet  hatte :  übrigens  setzt  Bv  Da  stets  sin, 
Die  häufige  weite  Trennung  des  dar  von  den  dazu  gehörigen  Präpositionen  wie 
abe,  von  etc.,  die  auch  Jacob  Grimm  auffiel,  als  er  nach  Göttingen  kam,  ist  heute 
wol  mehr  als  im  13.  Jahrhundert  niederdeutsches  Symptom.  Die  Phrase  tu  glilcer, 
dirre  icis  (z.  B.  I  2,  2.  3,  2)  findet  sich,  mir  sonst  wenig  vertraut,  auch  in  den 
Haliischen  Schöffenbüchern,  koufen  wider  II  36,  4  („von  einem  kaufen",  Gramm. 
IV2  1015 )  ist  abermals  auf  das  Niederdeutsche  und  seine  Grenznachbar- 
schaft beschränkt ;  niederdeutsch  die  Präpos.  under  zur  Bezeichnung  des  Inhabers 
(Nissen  S.  109).  Im  Ganzen  verleugnen  diese  syntaktischen  Kleinigkeiten  den 
niederdeutschen  Autor  nicht :  ich  wüsste  ihnen  keinen  scharf  hochdeutschen  Zug 
entgegen  zu  setzen,  den  ich  mit  Sicherheit  für  Eike  in  Anspruch  nehmen  könnte  3). 
Der  Eindruck  bestätigt  sich  und  modificirt  sich  zugleich  bei  einem  Blick 
auf  die  syntaktischen  Formwörter,  deren  Eike  sich  bedient  zu  haben 
scheint.  Er  hat  oft  die  zusammengesetzten  Präpositionen  wie  binnen,  büzen,  bo- 
ven,  beneden  gebraucht,  aber  schwerlich  in  der  Ausdehnung,    wie  Homeyers  Aus- 

1)  Schon  im  ersten  Hallischen  Schöffenbuch  neben  häufigem  seinen  auch  vereinzelt  seluer,  so 
752.  984,  dies  natürlich  von  hd.  Anregung.  —  Das  feminine  -er  nach  Artikel  I  18,  3  der  kristenliker 
e  hat  nicht  einmal  die  niederdeutschen  Handschriften  für  sich  (Eb  cristeliken,  Ei  kerstene)  und 
wird  auch  durch   den   sonstigen  Sprachgebrauch  des  Sachsenspiegels  nicht  gestützt. 

2)  Wenn  Eike  nie  das  aecusat.  und  nominat.  Relativum  fehlen  lässt ,  wie  das  z.  B.  in  dem 
ersten  Hallischen  Schöffenbuch  N.  9  {den  hvf  [de]  bi  heren  Tylen  Kozzen  leget)  und  oft  vorkommt, 
so  bewährt  das  seine  Abneigung  gegen  die  Lässigkeiten  der  Alltagsrede.  Die  Auslassung  ist  nicht 
etwa  nur  niederdeutsch  (Gramm.  IV2  545). 

3)  Wenn  die  im  Sachsenspiegel  sehr  beliebte  Verbindung  ein  sin  genöz,  ein  sin  böte  u.  ä. 
sonst  mittelniederdeutsch  seltner  scheint  als  mittelhochdeutsch,  so  mag  das  mehr  Gründe  der  Zeit 
als  des  Orts  haben:  die  Coustruction  ist  im  Veralten,  und  die  mittelniederdeutschen  Denkmäler  sind 
im  Ganzen  jünger  als  die  hochdeutschen. 

8 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  85 

gäbe  das  darstellt:  die  hochdeutschen  Handschriften  räumen  ihnen  durchgehend 
ein  weit  geringeres  Gebiet  ein  ,  zu  Gunsten  von  in ,  üz  (üzer) ,  über ,  nnder,  und 
auch  niederdeutsche,  wie  die  alte  Oldenburger  Bilderhandschrift,  verwenden  sie 
sparsamer.  Auffällig  ist  das  wilde  Schwanken  der  Handschriften  zwischen  in 
und  an:  auch  das  könnte  schon  bei  Eike  sich  vorbereitet  haben.  Auffälliger 
noch  das  vollständige  Fehlen  der  niederdeutschen  Präposition  teghen ,  die  Eike 
doch  in  der  heimischen  Sprache  geläufig  war  (Akener  Schöffenb.  1684.  1719, 
tögen  1714  *));  nur  in  dieser  und  jener  Handschrift  des  Sachsenspiegels  hat  sich  das 
Wort  vereinzelt  eingeschmuggelt  (II  24  N.  12 ;  Lehnr.  31  N.  7).  Eike  hat  das 
niederdeutsche  Wort  also  vermieden.  Warum  ?  die  Antwort  wird  sich  finden.  — 
Die  Pronomina  geben  nichts  Aufklärendes.  Dass  wo  niederdeutsche  Handschriften 
ienich  und  nen  haben,  es  hd.  ichein  und  nichein,  dehein  heisst,  das  versteht  sich 
fast  von  selbst.  Es  sieht  so  aus,  als  ob  im  Lehnrecht  wiederholt  (29,  2.  65,  16. 
69,  3)  das  niederdeutsch2)  flectirte  swelkir  (so  auch  Fem.  und  Neutr.,  Gen.  sivel- 
Icires,  Dat.  swelkirme)  aufträte,  das  mir  im  Landrecht  nicht  aufstiess 3)  :  dass 
Homeyer  zu  den  fraglichen  Stellen  des  Lehnrechts  keine  Varianten  angibt, 
sagt  noch  nichts  aus;  Aw  Ei  stimmen  zu  Homeyers  Text;  leider  fehlt  mir 
grade  hier  eine  geeignete  hochdeutsche  oder  sonst  reichere  handschriftliche  Con- 
trole  4).  Ebenso  enthält  sich  das  Landrecht  durchaus  des  niederdeutschen  indefi- 
niten ivat  :  nur  im  Lehnrecht  steht  gutes  ivat  („boni  aliquid")  8,  1  im  Contexte  ; 
wenn  Ei  III  47,  1  (in  einem  Zusatz)  des  slnes  ivat  sagt  gegen  ieht  der  Vulgata, 
ebenso  Aw  I  70,  2  (gegen  Ende),  so  bestätigt  das  eben  nur,  dass  niederdeutschen 
Schreibern  das  ivat  näher  lag  als  das  ieht  des  Verfassers.  Ob  Eike  in  Land-  und 
Lehnrecht  wirklich  verschieden  verfuhr ,  will  ich  nicht  entscheiden :  jedesfalls 
entspricht  die  Art  des  Landrechts  ,  die  swelkir  nur  unflectirt ,  also  auch  dem 
Hochdeutschen  gemäss,  gebraucht  und  das  ivat  als  vulgär  fortlässt,  besser  Eikes 
sonstiger  Sprachgewohnheit.  —  Das  in  der  Praefatio  mehrfach  überlieferte  niene 
(V.  112.  164)  ist  mir  auch  in  der  alten  niederdeutschen  (!)  Bremer  Handschrift 
Aw  begegnet,  so  II  61,  4  (statt  nicht  ne). 

Im  Conjunction  engebrauch  hat  der  Sachsenspiegel  manches  Lehrreiche. 
Für  „obgleich"  sagt  Eike  al;  sehr  oft,  namentlich  in  Jüngern  und  in  hochdeutschen 
Handschriften,  aber  doch  auch  schon  in  den  alten  niederdeutschen  Handschriften 
Aw  und  Ei  (allen,  dlne)  ist  dafür  aleine,  aleine  daz  geschrieben ;  auch  das  blosse 
al  ist  in  jenem  Sinne  dem  Mitteldeutschen  nicht  fremd  (Bech ,  Germ.  5,  503); 
rein  niederdeutsch  wäre  ivattan  (so  in  Ck  II  23,    N.  5).  —    „So  dass"  heisst    im 


1)  tögheghen  in  Halle  z.  ß.  N.  156,  tgegen  652.  665  u.  ö.  thegen  in  Calbe  S.  360,  tigen 
366  u.  o. 

2)  Dies  swelkir  entsprach  doch  wol  Eikes  Mundart :  vgl.  Halle  N.  677.  685. 

3)  Die  beiden  Fälle  I  61,  2  stehn  in  einem  Zusatz;  die  hochdeutschen  Handschriften  schrei- 
ben da  statt  welkirme  einfach  ivilcheme,  weme. 

4)  Bv  sagt  zwar  in  der  Regel  einfach  hd.  welchir,  welch,  aber  29,  2  verrät  die  Schreibung 
weichin  iren,  dass  welchirn  zu  Grunde  liegt ;  mau  könnte  auch  im  Landr.  II  7  das  u-clchir  dirre 
Sachen  ebenso  auffassen.  £ 


86 

Sachsenspiegel  gern  aJse  (z.  B.  I  50,  2.  63,  1.  III  45,  8.  Lehnr.  24,  1.  65,  18  a.  E., 
aber  auch  in  den  Zusätzen  II  48,  7.  III  71.  1),  ein  Gebrauch,  den  ich  nicht  lo- 
calisiren  kann  ').  Noch  häufiger  deste  ,  dies  bestimmt  niederdeutsch  (auch  in  der 
Bedeutung  „falls"),  aber  in  der  Ueberlieferung  sehr  stark  schwankend:  die  hoch- 
deutschen Handschriften  schreiben,  ohne  es  ganz  auszumerzen,  oft  daz,  ob ;  die 
niederdeutschen  sind  zum  Teil  noch  ablehnender;  Ei  schreibt  ganz  consequent 
erste]  auch  in  AwEb  fand  ich  mancherlei  Ersatzversuche.  Offenbar  hat  diese 
Verwendung  von  deste  hochdeutsch  wie  niederdeutsch  befremdet,  ohne  ganz  un- 
möglich zu  erscheinen;  es  mag  hier  eine  Art  Kanzleimanier  in  Eikes  Buch  ge- 
raten sein.  —  Für  „bis"  hat  Eike  wol  weilte  wie  bis  gesagt;  in  hochdeutschen 
und  auch  sonst  in  Jüngern  Handschriften  gewinnt  Uz  (bet)  an  Terrain  ;  bekannt- 
lich ist  auch  das  eigentlich  niederdeutsche  wente  dem  mitteldeutschen  Sprach- 
gebiet lehnweise  ganz  eigen  geworden.  wan  „ausser,  als"  nach  Negation  und 
auch  nach  Comparation ,  neben  denne ,  hat  noch  einen  weitern  Concurrenten  an 
drem  nd.  md.  mer  („ausser,  aber,  sondern"),  das  Eike  offenbar  gebraucht  hat,  wenn- 
gleich ihm  in  den  Handschriften  wiederum  viel  Boden  abgegraben  ist;  nicht  da- 
gegen hat  Eike  men  in  dem  Sinne  von  „ausser,  nur,  aber"  gesagt,  obgleich  es  spora- 
disch in  niederdeutschen  Handschriften  (z.B.  vgl.  I  62  N.  20;  in  Cz  Praef.  230 ; 
in  Aw  II  34,  1  nicht  men  u.  ö\),  besonders  oft  für  wen  und  mer  in  Ei,  auftritt. 
Die  bei  Eike  dominirende  Adversativpartikel  2)  ist  aver  (nicht  over,  wie  mnd.  in 
diesem  Sinne  meist);  das  an  sich  hochdeutscher  Einwirkung  verdächtige  Wort3) 
steigert  den  Verdacht  hier  durch  seinen  gebundnen  Gebrauch,  nie  im  Satzanfang, 
was  schon  Jacob  Grimm  beobachtete.  Es  ist  jedesfalls  bemerkenswert,  dass  bei 
Eike  das  hd.  geläufige  aber  dem  nd.  mer  den  Rang  abläuft  und  dass  er  das 
bestimmt  nd.  men  gemieden  hat,  .grade  so  wie  er  nicht  dus ,  eddus  gesagt 
haben  wird  (so.  sns,  alsus  in  Eb  En  Cz,  dem  Gott.  Lehnrecht,  dus  häufiger  in  Aw,  es 
herrscht  in  Ei),  wie  niederdeutsche  Specifica,  z.  B.  ivattan,  nochtan  „dennoch",  ieht 
„wenn",  al  und  rede  „schon"  (dies  Calbe  S.  224.  237  ö.)  ausgeschlossen  sind;  es  ist 
wiederum  lehrreich  und  bestätigend,  dass  niederdeutschen  Schreibern  das  störend 
war:  nochtan  taucht  in  Homeyers  Varr.  II  58  N.  35,  III  1  N.  7.  14.  90  N.  8. 
Lehnr.  59  N.  13  auf,  icht  in  Cy  I  3,  3.  Dem  entsprichts  weiter,  dass  Eike  oder 
sagt,  vielleicht  auch  eder ,  aber  nie  in  diesem  Sinne  ofte ,  efte ,  während  seiner 
Mundart  das  keineswegs  iremd  war  (Aken.  Schöff.  N.  2083,  echte  Halle  N.  663) 4). 


1)  Nissen,  Mut.  Syntax  S.  126,  belegt  das  consecutive  als  nur  aus  dem  Sachsenspiegel; 
hochdeutsch  kenn  ich  es  gar  nicht.  Bildete  Eike  lat.  ut  („wie"  und  „so  dass")  nach  ?  Schwer- 
lich.    Er  verschluckte  eher  ein  dat  hinter  alse. 

2)  6k  (ouch)  ist  im  Sachsenspiegel  wesentlich  fortleitend,  hd.  und  nd.  Art  entsprechend. 

3)  Bekanntlich  fehlt  es  alts. ,  fries.,  nl. ,  ags. ;  der  heutigen  sächsischen  Sprache  ist  es  in 
Fleisch  und  Blut  übergegangen.  Die  Ausdehnung  und  der  Charakter  des  mnd.  Gebrauchs  bedarf 
noch  der  Untersuchung.  Dass  es  in  den  Hallischen  SchöfFenbüchern  vereinzelt  vorkommt  ( so 
13G8;  öfter  '==  „iterum"),  widerspricht  natürlich  der  hochdeutschen  Entlehnung  nicht. 

4)  Diese  Bevorzugung  von  eder,  oder  braucht  allerdings  nicht  individuel  zu  sein,  da  nach 
Tümpels  Beobachtungen  (Nd.  Stud.  S.  18  ff.)  jene  Formen  im  altern  Mittelniederdeutsch  durchweg 


DIE   REIMVORREDEN    DES   SACHSENSPIEGELS.  87 

So  verwendet  er  denn  darummc  lediglich  in  dem  auch  hochdeutschen  Sinne  von 
„deswegen"  (die  niederdeutschen  Handschriften ,  z.  B.  Ei,  setzen  gerne  dar  dat, 
up  dat) ,  während  er  für  die  niederdeutsch  nicht  minder  beliebte  conjunctio- 
nelle  Bedeutung  sint  oder  doch  darumme  dat  (II  12,  6.  IV  71 ,  21)  zu  wählen 
scheint.  Dass  Eike  sonst  den  behaglichen  mnd.  Pleonasmus  des  dat  bei  Con- 
junctionen  (sint,  de  itile,  aleine  u.  m.),  bei  Frageworten  etc.  (Nissen  §§  17—20) 
nicht  liebt,  stimmt  zu  gut  zu  seinem  ganzen  lakonischen  Stilcharakter,  als  dass 
es  da  hochdeutsche  Rücksichten  brauchte.  Fremd  sind  ihm  solche  Rücksichten 
grade  im  Conjunctionsgebrauch  nicht. 

Eine  Sonderbetrachtung  verlangt  sän.  Eike  liebt  das  Wort  heiss,  aber 
was  er  eigentlich  für  eine  Bedeutung  damit  verknüpft,  weiss  der  Himmel:  ich 
verweise  nur  auf  Hildebrands  Glossar  S.  163.  Den  Schreibern  hat  das  Wort 
denn  auch  viel  Kopfschmerzen  gemacht.  Von  hochdeutschen  schonen  es  ganz 
Aq  El,  meist  Dtf,  das  es  aber  zuweilen  auch  durch  ouch  ersetzt  oder  fortlässt  ; 
Bv  streicht  es  in  der  Regel ,  ein  paar  Mal  bleibt  es  aus  Trägheit  stehn  oder 
lugt  durch  Misverständnisse  hervor  (in  78,  2  liest  Bv  statt  sän  vielmehr  ml  is, 
ebenda  §  5  sam),  auch  durch  sühand  oder  ouch  wird  es  verdrängt.  Von  nieder- 
deutschen behält  es  das  conservative  En,  Eb  gestattet  sich  nicht  ganz  selten  die 
Auslassung ,  Aw  beseitigt  es  in  der  Regel  streichend  oder  ersetzend  (jo ,  Joch), 
auch  in  Cz  und  Cy  sind  nur  noch  geringe  Trümmer  des  alten  Bestandes,  zum  Teil 
inisverständlich  stehn  geblieben,  und  Ei  räumt  radical  auf:  ein  einziges  Mal  (I  5» 
2)  hat  es  der  Schreiber  stehn  lassen,  eben  genug  um  zu  verraten,  dass  ers  in  der 
Vorlage  fand,  sonst  blieb  es  fort  oder  ward  in  dan,  den  verwandelt 1).  Dass  auch 
in  andern  Handschriften  die  Verhältnisse  ähnlich  liegen,  lassen  Homeyers  dürf- 
tige Angaben  vermuten.  So  weit  ich  sehe  ,  ist  das  Wort  den  Niederdeutschen 
noch  störender  als  den  Hochdeutschen  :  Lübben  bezeichnet  es  (Sachsenspiegel  S. VII) 
gradezu  als  „dem  Niederdeutschen  sonst  unbekannt".  Häufiger  als  das  mittelnie- 
derdeutsche Wörterbuch  zeigt  ist  es  nun  doch ,  und  der  Gredanke  an  alts.  fries. 
sän,  ags.  söna  scheint  jeden  Zweifel  an  dem  niederdeutschen  Charakter  des  Wortes 
zu  verbieten.  Dennoch  wird  Lübben  Recht  haben.  Als  ich  sän  in  der  sächsi- 
sehen  Weltchronik  suchte,  musste  ich  bis  81,  9  lesen,  und  da  fand  ichs  in  einem 
Reim,  der  aus  der  Kaiserchronik  herrührte.  Auch  in  Eikes  Praefatio  fehlt  es 
nicht  als  Reimwort  (V.  121) ,  und  im  Reim  kennen  es  so  Eilhard ,  Berthold  v. 
Holle,  Brun  v.  Schonebeck,  Konemann  in  beiden  Werken,  Damen,  Wizlaw,  durch 
den  Reim  hat  sichs  in  der  mittelniederdeutschen  Dichtung  auch  noch  weiter 
gehalten 2).     Und   in  den  Reim  wird   es   aus   der   hochdeutschen ,    speciell   mittel- 


das    ofte,    efte  zurückdrängen :  das  liegt  eben  an  dem   Uebergewicht  des  Hochdeutschen,  das  selbst 
solche  Gesamterscheinungen  hervorzubringen  vermochte. 

1)  Wenn  der  Deutscheuspiegel  das  seiner  hd.  Sprache  gemässe  sä,   sä  zehant  nur  verschwin- 
dend selten  aufweist,  so  wird  diese  Zerstörung  des  alten  Bestandes  auf  die  nd.  Vorlage  zurückgehn. 

2)  Die  von  Lübben  im  Nachtragsbande  des   mittelniederdeutschen  Wörterbuchs   gegebneu  Be- 
lege aus  dem  Spiegel  der  Sünden  könnten  auch  auf  mnl.  Einflüssen  beruhen. 


88  GUSTAV   ROETHE, 

deutschen  Poesie ')  gelangt  sein ;  höchstens  dass  man  dabei  an  ein  veraltetes  nie- 
derdeutsches Wort  anknüpfen  konnte.  Trifft  das  zu  ,  so  hätten  wir  Eike  hier 
auf  einer  hochdeutschen  Litteraturvocabel  ertappt ,  deren  Sinn  ihm  ersichtlich 
unklar  geblieben  war. 

Eh  wir  uns  in  die  Untersuchung  der  Wortwahl  noch  weiter  vertiefen, 
ein  Blick  auf  das  Material,  mit  dem  wir  arbeiten  müssen.  Wie  ganz  unge- 
wöhnlich stark  die  lexikalischen  Abweichungen  der  Handschriften  grade  beim 
Sachsenspiegel  sind,  das  lehrt  selbst  Homeyers  Apparat  schon.  Für  diese  Art 
von  Varianten  hat  Homeyer  sichtliches  Interesse  gehabt,  er  hat  sehr  fleissig  ge- 
sammelt und  verzeichnet,  und  von  der  Buntheit  dieser  variabeln  Synonyma  legt 
er  ausreichend  Rechenschaft  ab,  wenn  er  sich  auch  oft  begnügt,  regelmässige 
Abweichungen  nur  einmal  zu  vermerken,  und  wenn  ers  auch  nie  für  seine  Auf- 
gabe gehalten  hat,  alle  Handschriften  zu  registriren ,  die  eine  abweichende  Le- 
sung bezeugen.  Sicher  also  ist  unser  Boden  noch  immer  nicht,  aber  doch  fester 
als  bisher,  und  jeder  Philologe  wird  sich  freuen  an  dem  Verständnis,  mit  dem 
Homeyer  in  seinen  Glossaren  der  varia  lectio  Rechnung  trägt ,  besonders  gut 
beim  Lehnrecht,  das  leider  weit  weniger  Material  bietet.  Sie  verdient  dieses 
liebevolle  Interesse.  Grade  sie  erweist  ,  wie  tief  der  Sachsenspiegel  auch  in 
seiner  Nachgeschichte  dem  frischen  Leben  angehört :  als  praktisches  vielbe- 
nutztes Handbuch  muss  er  sich  bei  aller  Ehrfurcht ,  die  er  geniesst ,  wandeln 
können  nach  Zeit  und  Ort.  Dazu  reichen  nicht  Zusätze  und  Glossen  aus,  dazu 
brauchts  auch  eine  stete  leise  Modelung  der  Sprache.  Und  der  Sachsenspiegel 
erlebt  sie.  Sehr  oft  mit  respectvoller  Zurückhaltung :  dann  wird  das  dem 
Schreiber  geläufige  Wort  mit  einem  „oder"  an  das  alte  gereiht;  noch  häufiger 
ohne  solche  Umständlichkeit.  Der  sprachlichen  Untersuchung  des  Originals 
legt  diese  Verjüngungsfähigkeit  des  Buchs  freilich  Schlingen.  Indessen,  das 
Gesetz  der  Trägheit  sorgt  schon  dafür  ,  dass  vom  Alten  doch  immer  ein  gut 
Teil  bewahrt  bleibt ,  und  die  Varianten  haben  anderseits  für  den  Philologen 
ihre  gute  Seite.  Sie  schärfen  ihm  das  Auge,  sie  lassen  ihn  merken,  dass  dies 
oder  jenes  Wort  später  oder  in  andrer  Gegend  nicht  mehr  gang  und  gäbe  war  ; 
sie  erleichtern  es  ihm  also  auch  wahrzunehmen,  was  dem  Hochdeutschen,  was 
dem  Niederdeutschen  geläufiger  war.  Ich  denke  dabei  nicht  zumeist  an  jene 
Fälle,  wo  sich  hochdeutsche  und  niederdeutsche  Handschriften  in  grosse  Gruppen 
scheiden  :  ausnahmslos  ist  das  bei  der  Kreuzung  der  Handschriften  sowieso  fast 
nie.  Wenn  etwa  II  28,  4  die  hochdeutschen  Handschriften  fast  alle  sehnten,  die 
niederdeutschen  fast  alle  Striaen  haben,  so  sehn  wir  wol:  dies  ist  niederdeutsch, 
jenes  hochdeutsch,  aber,  was  Eike  schrieb,  das  geht  dabei  verloren.  Nein,  grade 
die  vereinzelten  Varianten,  die  das  Original  nicht  verdunkeln,  auch  nicht  in  der 
grossen  Gefolgschaft  einer  Urhandschrift  unbekannter  Sprachform  einherziehen, 
sondern  dem  einzelnen  unbefangen  Schreibenden  halb  unwillkürlich  ihr  Dasein 
danken ,    grade  sie  können  uns  oft  sehr  förderlich  sein ,    indem  sie  zeigen :    was 

1)  Bekanntlich  schätzte  auch  Wolfram  das  Reimwort,  wenigstens  in  den  Anfängen  seiner  Dichtung. 

8 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  89 

lag  hier  dem  Hochdeutschen  oder  Niederdeutschen  ?  Mir  scheint ,  dass  die  nie- 
derdeutschen Handschriften  an  solchen  Varianten  beträchtlich  reicher  sind  :  viel- 
leicht weil  ihre  Schreiber  doch  minder  disciplinirt  waren  als  die  der  altern  hoch- 
deutschen Buchlitteratur,  die  an  einen  Verzicht  auf  die  Worte  des  täglichen  Le- 
bens längst  gewöhnt  hatte;  gewis  aber  auch  darum,  weil  Eikes  Sprache  sich  ge- 
flissentlich der  niederdeutschen  Idiotismen  enthalten  hatte. 

Wenn  ich  mich  nun  anschicke ,  möglichst  mit  Hilfe  der  Varianten  Eikes 
Wortschatz  auf  seine  mundartlichen  und  seine  litterarischen  Elemente  hin  — 
darauf  läuft  niederdeutsch  und  hochdeutsch  in  diesem  Falle  hinaus  —  zu  durch- 
mustern, so  sondere  ich  zunächst  zwei  Gruppen  von  Worten  aus,  die,  kaum  von 
einander  trennbar,  beide  hier,  wo  es  sich  um  die  sprachliche  Heimat  handelt, 
besser  für  sich  gestellt  werden :  das  sind  gewisse  archaische  Worte  und  die 
termini  technici  der  Rechtssprache. 

Der  Sachsenspiegel  enthält  eine  Anzahl  von  Ausdrücken,  die  schon  zu 
Eikes  Tagen  einen  Schimmer  altertümlicher  Würde  an  sich  getragen  haben 
mögen,  die  aber  Eike  vielleicht  grade  um  dieses  unmodernen  Hauches  willen 
gerne  benutzt  hat,  da  er  das  gute  alte  Recht  kündete.  Zum  Teil  hatten  sie 
sich  in  der  formelhaften  Rede  des  Rechts  eine  erstarrte  Dauerhaftigkeit  erworben  ; 
auch  sonst  wird  der  conservative  Geist  des  litterarisch  unverbildeten  Sach- 
senlandes für  den  feierlichen  Reiz  solcher  altersschwachen  Elemente  empfänglicher 
gewesen  sein  als  die  litterarisch  schnellebigeren  Hochdeutschen.  Natürlich  musste 
sich  über  diese  Archaismen  in  Handschriften  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  unwei- 
gerlich eine  Flut  von  Varianten  und  Misverständnissen  ergiessen,  für  die  wir  nicht 
nach  dialektischen  Gründen  suchen  dürfen.  Ich  zähle  hierher  z.  B.  neben  den  gleich- 
artigen Terminis  dingeshte  und  scatrowe  das  jenem  gepaarte  unlust  „Unruhe" 
(ein  echt  niederdeutsches  Wort,  zu  alts.  hlust),  das  wol  nur  darum  ohne  ernstliche 
Varianten  blieb,  weil  man  es  falsch  verstand;  als  gerichtlicher  Terminus  hat  es 
denn  auch  ausser  dem  Sachsenspiegel  noch,  selbst  über  die  niederdeutschen  Gren- 
zen hinaus ,  ein  Scheinleben  geführt.  Aehnlich  steht  es  mit  juristischen  Phrasen 
wie  bedemunden  141,  wie  müsdele  (oftmd.),  Mergeide,  mit  overvundich  1113,3,  mit 
dem  schwierigen  ertstadelege  oder  wie  es  sonst  heisst  (III  56,  3)  u.  a. ').  Das  völlig 
veraltete  dar  „passend"  I  63,2  hat  erst  Homeyers  und  Hildebrands  Scharfsinn  aus 
dem  Schutt  der  Ueberlieferung  hervorgegraben;  in  demselben  Cap.  §  1  steckt  ein 
andrer  verzwickter  Ausdruck,  der  die  schöpferische  Kritik  der  Schreiber  lebhaft 
anregte,  die  Wendung  dat  ik  nicht  undürer  ensi  u.  s.  w. ;  auch  das  isohrte  al 
ivedtr  die  11164,10  entfesselte  eine  Veränderungslust ,  die  jedesfalls  beweist, 
dass  man  Eike  bald  nicht  mehr  verstand.  Das  häufige  ort,  im  Sinne  von  „Boden" 
(Belege  in  Hildebrands  Glossar  zum  Landrecht  S.  127)  völlig  sinnlich  gefasst 
{uppe,    binnen  sessischer  ort) ,    wird   von  Varianten  wenig   behelligt;    doch   haben 


1)  Ich  uotire   noch   afswehe   (mit   vielen  Varianten)  Lehur.  72,  2;  gelöset  sin   im   Sinne   von 

„verloren   gegangen    sein"  (Varianten   verlorn,    abgegangen)  I  23, 1,  vgl.  HI  6,  2;    borclncart    (mlat. 

bureteardid)  Lehnr.  G5,  22,  vgl.   Hech,  Fetr.  v.  Naumburg  S.  25. 

12 
Abhdlgn.  d    K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttiiigen.     Hist.-phil.  Kl.     N.  F.    Band  2,  ».  f 


90  GUSTAV    RO ET HE, 

hochdeutsche  Handschriften  ein  paarmal  (II  25,  2.  III  33,  3.  Lehnr.  69,  7)  die  erklä- 
rende Lesung  kuit ,  auch  ort.  Geläufig  war  das  alte  Wort  dem  Hochdeutschen 
längst  nicht  mehr,  aber  auch  dem  Niederdeutschen  schwerlich  in  dieser  Bedeu- 
tung1), während  es  als  „aratio"  noch  in  beiden  Sprachen  lebte:  offenbar  hat  Eike 
abermals  eine  archaische  Formel  gewählt;  ich  glaube  grade  bei  diesem  formel- 
haften Charakter  des  Ausdrucks  zunächst  nicht,  dass  er  Lehnr.  4,  1  selbst  zunge 
dafür  eingesetzt  haben  sollte,  obgleich  alle  nd.  und  viele  hd.  Hss.  dafür  zu 
stimmen  scheinen  und  obgleich  Eike  Wechsel  der  Ausdrücke  (z.  B.  twtwort  und 
gegenwart)  auch  sonst  nicht  ganz  fremd  ist,  wenn  unsre  Texte  nicht  trügen.  Es 
war  auch  nicht  eigentlich  die  Mundart,  die  besiväs  I  27.  III  42,  1  meist  durch  liep, 
na,  besibbe  verdrängen  machte :  auch  dies  Wort  ist  mnd.  im  Aussterben,  während 
hd.  gcsiväs  und  verwandte  Bildungen  etwas  länger  bestehn;  Wernher  von  Elmen- 
dorf  mag  sein  gesiväsheit  dem  md.  Wortschatz  der  neuen  Heimat  entnommen  haben, 
für  Eike  wäre  die  gleiche  Vermutung  gewiss  falsch.  Archaisch  sieht  endlich  noch 
eine  Wendung  wie  die  erde  wunden  120,2  aus;  hierher  vielleicht  auch  gewunnen, 
nngewunnen  lant  (II  27,  4.  47,  5,  Variante  geeret,  gewuchtet),  sonst  nur  niederld. 
nachgewiesen  2). 

Wie  sich  Eikes  formelhafte  und  seine  freigewählte  Sprache  trennen  können, 
machen  deutlich  die  Ausdrücke  für  „Erlaubnis".  Eike  sagt  in  der  Hegel  urloub, 
nd.  wie  md.  geläufig.  Daneben  aber  in  der  festen  Verbindung  mit  erven  gelove  (I  20, 
1.  21,  1.  34, 1.  52,  1.2)  ein  Wort,  das  seine  Bedeutung  von  md.  gelübe,  nd.  lof  (III 
41,  1)  zu  trennen  scheint  und  das,  abgesehen  von  der  Formel,  auch  nd.  kaum  mehr 
lebendig  war.  In  Homeyers  Ausgabe  kommt  gelof  zwar  auch  ausser  jener  Bin- 
dung mit  erven  ein  paarmal  im  Sinne  von  urloub  vor  (I  25,  4.  45,  2.  Lehnr.  31,  1), 
aber  auch  hier  stets  nur  nach  mit  oder  äne  und  neben  einem  Genetiv,  dazu  jedes- 
mal mit  so  viel  Varianten,  dass  es  zweifelhaft  wird,  ob  Eike  da  nicht  urloub  (wil- 
len, vulborf)  geschrieben  hat.  Grade  mit  erven  gelove  ist  eine  ständige  nd.  Rechts- 
phrase, zumal  eben  der  Hallischen  SchöfFenbücher  (Nr.  11.  19.  20.  44.  78  u.  s.  w.), 
in  denen  andre  Genitive  bei  gelof  verschwindend  selten  sind;  Eike  fand  die  ge- 
prägte Bindung  vor  und  behielt  sie  bei,  als  ob  sie  ein  Wort  war  3). 

Das  vielgebrauchte  Verbum  ivinnen  mit  seinen  Compositis  ist  in  seiner  selb- 
ständigen Existenz  um  diese  Zeit  auch  hochdeutsch  gefährdet :  es  geht  in  winden 

1)  Die  niederdeutsche  Handschrift  Eo  versteht  in  hübschem  Localpatriotismus  binnen  dildescher 
art  zu  binnen  Duder stat  um. 

2)  Auch  sume  III  42,  3  (Cz  En,  sonst  hochdeutsch  und  niederdeutsch  ganz  oder  teilweise 
misverstanden  oder  geändert)  wirkte  auf  die  Jüngern  Schreiber  wol  archaistisch  befremdend.  Die 
Braunschweiger  Reimchronik  liebt  das  Wort  noch. 

3)  Es  liegt  nahe  in  gelof  hd.  ou  zu  suchen ,  so  dass  gelof  (geloup)  unmittelbar  neben  urloup 
gehörte  (Lübben  verzeichnet  auch  ein  mnd.  mit  lof  „mit  Verlaub"') :  ist  das  richtig,  so  würde  sich 
wieder  einmal  in  der  Ilechtsformel  die  niederdeutsche  Heimat  enthüllen,  und  nur  in  ihr.  Bedenk- 
lich wird  diese  Auffassung  durch  die  Nebenform  gelaue  der  Hallischen  Bücher  (Nr.  781.  785.  786 
u.  ö.),  die  zunächst  auf  6  zu  führen  scheint:  aber  sie  steht  grade  in  einer  wesentlich  hochdeutschen 
Partie  der  Protokolle  und  hat  weithin  keine  andern  nd.  ä  <  6  neben  sich:  so  mag  md.  ä  <  ou 
gemeint  sein. 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  91 

auf;  wenn  sich  vorwinncn  in  den  Handschriften  des  Sachsenspiegels  allmählich 
zum  überwinden  wandelt,  so  ist  das  beiden  Sprachen  gemein.  Die  Verwandlung 
des  vor-  in  über-  [over-)  kennzeichnet  noch  eine  andre  Art  Veralteus,  der  grade 
die  Rechtssprache  des  Sachsenspiegels  vor  unsern  Augen  unterliegt.  Sie  hat  eine 
Stärke  in  der  feinausgebildeten  Terminologie  ihrer  Verba,  die  sich,  durch  Präfixe 
präcis  geschieden,  ebenso  leicht  wie  scharf  anwenden  lassen.  Aber  dies  wohlge- 
schliffne Instrument  stumpfte  sich  grade  darum  schnell  ab,  weil  die  Unterschiede 
fein  waren;  man  sucht  zu  verstärken,  und  so  verwandelt  man  etwa  das  nemen 
ins  benemen,  das  besetzen  ins  versetzen,  das  geboren  ins  zuhören,  das  entsagen  ins 
widersagen ,  das  bereden  über  vorreden  ins  überreden,  bis  das  Alles  nicht  mehr 
ausreicht  und  für  besaehen  etwa  das  plumpere  lougnen  eintritt.  Mag  sein ,  dasa 
das  Hochdeutsche  schneller  zu  diesen  Verstärkungen  und  Vergröberungen  greift: 
es  würde  doch  falsch  sein,  solche  Unterschiede  zu  dialektischer  Gruppirung  zu 
benutzen,  mögen  auch  Ueberlieferung  und  Lexikon  dazu  gelegentlich  verlocken. 

Dass  Eikes  Re  cht  sspr  ache  in  seiner  Heimat  wurzelt,  das  lehrten  uns 
schon  lautliche  Tatsachen,  wie  sie  für  echt,  gerade,  dingeslete  u.a.  zur  Sprache 
kamen,  das  lehrt  uns  weiter,  wenn  es  dessen  noch  bedarf,  die  volle  Abwesenheit 
.-peeiell  hochdeutscher  Termini  wie  etwa  strafen,  gesuoch  „Zins",  schup  ,, Beweis", 
geschefte  „Testament"  etc.,  die  nur  ganz  selten  einmal  in  einer  hochdeutschen 
Variante  auftauchen.  Doch  braucht  darum  diese  Rechtssprache  des  Sachsen- 
spiegels keineswegs  einen  einseitig  niederdeutschen  Charakter  in  ihrer  Wortwahl 
tragen.  Laut-  und  Wortgrenzen  sind  verschiedne  Dinge :  wie  sich  das  Gebiet 
des  sächsischen  Rechts  an  die  Linie  der  Lautverschiebung  nicht  bindet,  ebenso 
wenig  sicherlich  das  Gebiet  seiner  Rechtssprache,  vom  rein  lautlichen  abgesehen. 
Tatsächlich  lässt  sich  der  juristische  Wortschatz  des  Sachsenspiegels  der  Haupt- 
sache nach  in  niederdeutschen  wie  in  mitteldeutschen  Rechtsbüchern  nachweisen, 
und  wenn  uns  erst  das  Wörterbuch  der  deutschen  Rechtssprache  vorliegt,  auf 
das  wir  hoffen  dürfen,  dann  wird  auch  der  geringe  Rest,  den  ich  heute  bei  der 
Unzulänglichkeit  meiner  Hülfsmittel  und  meiner  Belesenheit  noch  als  specirisch 
niederdeutsch  ansehen  müsste.  voraussichtlich  ganz  einschrumpfen:  Eikes  juristi- 
sche Terminologie  stellt  sich  uns,  zum  Teil  vielleicht  Dank  eben  seinem  Erfolge, 
als  norddeutsch,  nicht  als  speciell  niederdeutsch  dar;  jeder  Versuch,  in  ihr  das 
Niederdeutsche  und  das  etwa  vorhandne  Mitteldeutsche  zu  sondern,  scheint  mir  bei 
der  vorbildlichen  Macht,  die  der  Sachsenspiegel  über  alle  seine  litterarischen  Nach- 
fahren ausgeübt  hat,  fruchtlos:  er  würde  nur  Zufallsentscheidungen  zur  Folge  haben. 
Was  will  das  sagen  ,  dass  etwa  für  wette  einmal  eine  md.  Hs.  pfant ,  dass  für 
schelten  eine  ganze  Anzahl  hd.  Hss.  strafen  schreibt:  wissen  wir  doch,  dass  wetU 
wie  scltclten  dem  mitteldeutschen  Rechtsleben  geläufigst  waren.  Und  an  andern 
Stellen  sind  es  grade  nd.  Hss.,  die  etwa  für  Eikes  gespreche  (I  62,  9.  11.  1)3,  1) 
lieber  achte  oder  berät  schreiben;  hantgemäl  I  51,4  ist  hd.  weit  verbreiteter  als  in 
unsern  nd.  Quellen;  in  den  Varr.  tauchen  neben  hochdeutschen  auch  nd.  Rechtsaus- 
drücke auf.  die  Eike  verschmäht  oder  nicht  gekannt  hat,  z.B.  momber „Vormund"  1 
42  N.  18.  Vvlr  ..Angeklagter"  I  63  X.  63  (vgl.  die  Glosse  zu  III  16).    Ueberhaupt 

12*  e 


92  GUSTAV   ROETHE, 

wäre  es  wol  eine  falsche  Vorstellung,  wenn  wir  bei  Eike  einfach  die  gewöhnliche 
Kechtssprache  des  Gaues  Serimunt  suchten.  So  überaus  arm  lexikalisch  die  Akener 
Bücher  sind,  das  zeigen  sie  doch,  dass  ihre  juristischen  Kunstausdrücke  sich 
nicht  mit  Eike  decken:  gleich  in  Nr.  1  die  typische  Wendung  an  sime  redesten 
(jude  (auch  Halle  und  Calbe)  sticht  ab  l) ;  das  häufige  rädeleve  (730  u.  oft ,  auch 
Halle  und  Calbe;  Ssp.  gerade),  dann  ingcdümde  „Eingebrachtes  der  Frau"  (1807,  auch 
Halle;  Ssp.  swaz  sie  zu  irme  manne  brächte),  rechticheit  (1874  u.  ö. ,  auch  Calbe; 
Ssp.  nur  anspräche),  overtael  (1098;  Ssp.  nur  vestunge),  unmunder  ,, unmündig"  (1845), 
bavegelich  (1921,  auch  Calbe;  Ssp.  vrmide) ,  mechtich  „potens"  u.  s.  w. 2)  fehlen  im 
Ssp.,  insbesondre  und  sehr  auffallend  die  Verbindung  ding,  hank  hegen,  die  zumal 
in  den  Hallischen  Büchern  das  tägliche  Brod  ausmacht.  Zu  dem  festesten  Bestände 
der  Stadtbücher  gehören  die  Phrasen  lös  und  ledich,  dön  und  läten,  beide  von  Eike 
lakonisch  verschmäht.  Das  in  den  Protokollen  ganz  unentbehrliche,  immerfort  auf- 
tretende redelik  „den  gesetzlichen  Anforderungen  entsprechend"  braucht  Eike  ad- 
jeetivisch  nur  Lehnr.  4,  2  (wenig  häufiger  adverbiell).  In  Halle  ist  ein  besonders 
beliebter  Terminus  dursal  (dürsed?  „traditio  durans"?,  vgl.  ur seile) ;  weiter  abwei- 
chend vom  Ssp.  ingelt  „Zins"  (auch  Calbe),  blticht  „Anklage"  (Calbe-  tich),  krich 
„Streit",  medegift,  medeban  (FrensdorfF,  Hecht  und  Rede  486  ff.);  in  Calbe  irclaghen, 
irwerven  „vor  Gericht  durchsetzen"  (sehr  oft),  seilen  „tradere"  (Eike  üfläzen),  sche- 
linge  „Rechtsstreit",  besäte  „Arrest"3),  aftxcht  „Verzicht",  ein  dinc  idstän  u.  s.w.  In 
Halle  und  Calbe  heisst  es  oft  untrichten,  nnt scheiden,  erscJieiden,  wo  der  Ssp.  nur 
richten  und  {er)teilen  kennt4).  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  das  Alles  Neurun- 
gen sind:  grade  der  Sachsenspiegel  hat  eher  zur  Festigung  des  Sprachgebrauchs 
beigetragen.  Gleichviel  wie  sich  jene  Differenzen  erklären,  man  darf  schwerlich 
in    Eikes   Rechtssprache    das    getreue   Spiegelbild   von    den    Gepflogenheiten    sei- 


1)  In  den  Städten  spielte  die  reideschop  „Baarschaft"  (Aken,  Halle,  nicht  im  Ssp.)  allerdings 
eine  grössere  wirtschaftliche  Rolle  als  auf  dem  Lande,  an  das  Eike  zunächst  denkt;  doch  meint 
das  rödeste,  redigiste  gut  der  Stadtbücher  offenbar  nicht  nur  Baarschaft,  sondern  jede  varnde  have, 
jedes  gfä,  das  nicht  zum  erce  gehörte. 

2)  Dies  mechtich  (seltner  weldich ,  ein  here)  sin  der  Stadtbücher  entspricht  etwa  dem  under 
ime  haven,  halden,  besitten  u.  Ä.  Eikes  Er  sagte  adjeetivisch  wol  geweldich  (III  44,  1,  aber  nicht 
streng  juristisch),  vgl.  auch  ge-,  entweldigen. 

3)  Eike  sagt  bestetigen,  üfhalten;  besetzen  nur  in  vereinzelten  Varianten. 

4)  Aken  hat  ferner  von  wichtigeren  abweichenden  Rechtsausdrücken  vergiften ,  begiftigen 
(auch  Calbe;  Halle  begäven  [sehr  oft],  under  giftigen) ,  vorläten  „relinquere"  (f.  erven,  erve  geven, 
erst  in  deu  spätem  Partien),  bevreden;  Halle:  engen  „gerichtlich  zusetzen",  vellich  werden 
„unterliegen"  (vor  Gericht),  na  duder  hant;  Calbe:  to  güder  hont,  in  sinen  ver  pelen  (bepelen  Halle), 
vor  sittenen  räde,  vordiistern  oder  vor  deigen  (von  einer  Schuld),  untwei  setten,  overlofte,  inholt  etc. 
Edw.  Schröder  weist  mich  hin  auf  Inge  „Hofgehöriger",  das  im  Halberstädter  Urkundenbuch  mehr- 
fach vorkommt  und  dem  Sachsenspiegel  gleichfalls  fehlt.  Auch  aus  den  Schöffenbüchern  Hesse  sich 
noch  recht  Vieles  anführen.  Zum  Teil  liegen  die  Unterschiede  der  Rechtsterminologie  im  Stoffe : 
dass  z.  B.  die  Schiedsgerichte  und  Sühnungen  in  den  Stadtbüchern  eine  grosse  Rolle  spielen,  prägt 
sich  in  Ausdrücken,  wie  middeln,  vruntschoppen,  sik  vorminnen,  overman,  schedebode  u.  s.  w.  deutlich 
aus  (hierher  auch  nnt-,  erscheiden  ?) :  der  Sachsenspiegel  braucht  sie  nicht.  Aber  dieser  stoffliche 
Gesichtspunct  reicht  nicht  aus. 

8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  93 

nes  Dinges  suchen,  Es  ist  unlebendig,  aber  wissenschaftlich  für  jeden  Begriff  nur 
einen,  den  Ausdruck  zu  haben :  der  erfahrne,  weit  über  die  Grenzen  seines  Gaus 
kundige  und  geschätzte  Rechtskenner  wird  in  der  mannigfaltigen,  ihm  bekannten 
Terminologie  Auswahl  geübt  und  vielleicht  selbst  tiftelnd  construirt  haben,  wie 
er  das  sonst  auch  tat.  Wie  weit  er  dabei  etwa  auf  Verständlichkeit  auch  in  den 
hd.  Gebieten  des  Sachsenrechts  bedacht  war,  das  wag  ich  grade  für  die  Rechts- 
sprache nicht  zu  entscheiden1):  der  Sachsenspiegel  selbst  in  seiner  überschat- 
tenden  Bedeutung   hat   uns    das  Material   für  diese  Untersuchung  verdunkelt. 

Sie  lässt  sich  eher  führen,  wenn  wir,  ohne  ängstliche  Abgrenzung,  von  den 
feststehnden  Kunstausdrücken  absehen;  sie  lässt  sich  da,  wo  Eike  freiere  Be- 
wegung hatte,  führen  direct  und  indirect.  Ich  gehe  so  vor,  dass  ich,  das  weit 
überwiegende  indifferente  Sprachmaterial  bei  Seite  lassend,  lediglich  die  Worte 
mustere,  die  nach  Form  oder  Bedeutung  eine  sprachgeographisch  fassbare  Phy- 
siognomie zur  Schau  tragen.  Das  ist  nicht  viel,  aber  hoffentlich  genug,  um  die 
Sachlage  zu  veranschaulichen ;  schon  dass  es  so  wenig  ist,  klärt. 

Zunächst   die   niederdeutschen  Elemente    des  Wortschatzes. 

Dahin  zählen  voran  einige  Concreta  des  täglichen  Lebens  :  barch  „Getreide- 
haufen'' III  45,  8  könnte  rechtsymbolisch  sein  2) ;  aber  auch  spade  (III  66,  3.  68,  1  ; 
in  hochdeutschen  Handschriften  zuweilen  grabeschlt)  und  bromese  (Lehnr.  68, 7) 
sind  niederdeutsch.  Vor  Allem  wort  „Hofstatt"  (I  34, 1.  Lehnr.  13,  4.  65,  3.  72,  1; 
in  hochdeutschen  Handschriften  oft  hovestat,  daneben  Misverständnisse  ,  die  das 
Wort  für  das  Original  sichern) :  Eike  kannte  es  aus  Reppichau ,  die  Sehöffen- 
bücher  von  Aken  und  Halle  brauchen  es  oft;  dass  es  im  Lehnrecht  auch  einen 
gerichtlichen  Nebensinn  (,,Gerichtsstätte")  zeigt,  mochte  immerhin  dazu  beitra- 
gen, dass  Eike  es  aufnahm.  Wahrscheinlich  hat  er  auch  nd.  warf  verwendet 
„Kampfplatz"  (I  63,  4.  II 12,  15):  auch  das  konnte  der  juristische  Nebengeschmack 
empfehlen ;  die  häufige  hochdeutsche  Variante  kreie  (auch  nd.  Ter  et  e)  hat  minderen 
Anspruch  auf  Authentie.  Ob  Eike  II  51,  2  das  nd.  sparlce  oder  das  zugleich  hd. 
vunke  geschrieben  hat,  ist  nicht  sicher ;  noch  zweifelhafter  das  nd.  stake  III  66,  3 
(oft  stecke,  stange,  planke).  Zahlreiche  hochdeutsche  Varianten  kennzeichnen  ovese 
II  49,  l3)  (hd.  oft  trouffe),  leide  III  39,  1  (hd.  oft  vezzir\  telge  II  52,  2  (hd.  zweige, 
ewige,  este),  griive  „Dorfgraben"  II  66,  1  (hd.  grabe),  mesgrepe,  mistgrape  III  4b,  8  (hd. 
misthacke,  mistgabel),  höveigat  I  63,  1  (hd.  oft  houbtlocli,  -venster)  als  Worte,  die 
nicht  überall  der  mitteldeutschen  Rede  bequem  lagen :  sie  sind  aber  sämtlich  auch 
hochdeutsch,    namentlich  thüringisch,    nachzuweisen.      Merkwürdig    sondern    sich 


1)  Ich  will  aber  doch  nicht  unbemerkt  lassen,  dass  Eike  das  wesentlich  nd.  plegt  (III  76.  77. 
Lehnr.  60,2;  Hall.  Schöff.  3,  1381)  niemals  allein,  sondern  stets  nur  in  der  Verbindung  Um  oder 
plege  anwendet,    während  Uns  oft  für  sich  gebraucht  wird. 

2)  Auch  den  oberdeutschen  Dialekten  fehlt  das  Wort  nicht  ganz,  wohl  aber  der  mhd.  md 
Schriftsprache  (Lexer  belest  es  nur  aus  Jeroschin  und  da  übertragen).  Eike  entnahm  das  Wort 
gewis  aus  dem  Niederdeutschen,  aus  der  Heimat  der  ..Heuberge''. 

3)  Das  in  Halle  und  Calbe  geläufige  Alltagswort  ist  aber  nicht  etwa  ovese ,  soüdern  druppe ; 
doch   hat  Halle  2,  390  osene  und  ebenso  Calbe  S.  138  bzen,  bsvall. 

2  9.  8 


94  GUSTAV    ROETHE, 

I  63,  4  ortisern  (anscheinend  nd.)  und  ortbant  (in  hochdeutschen  Handschriften  und 
in  A\v) :  dies  mehr  technisch  als  sprachlich  von  Interesse.  Dass  Eike  den  hei- 
matlichen, übrigens  auch  mitteldeutsch  nicht  unbekannten  liellinc  III  45,  7  einem 
hd.  helbelinc  vorzieht,  ist  grade  bei  dem  Namen  der  kleinen  Münze  begreiflich; 
auch  sprach  da  wieder  das  traditionelle  juristische  Element  mit1).  Die  vlreldage 
Lehm*.  4,  4  haben  etwas  Niederdeutsches  nur  in  ihrem  /*);  Homeyers  Varianten 
lassen  wieder  nicht  erkennen,  ob  dies  l  für  Eike  gesichert  ist.  —  Andere  Sub- 
stantivs bekommen  durch  ihre  Bedeutung  einen  niederdeutschen  Geschmack,  vadem 
als  Längenmass  III  45,  8  ist  niederdeutsch  (hd.  Variante  cJäfter).  Ueber  plege 
..Zins"  sprach  ich  schon  (oben  S.  9.3) 3). 

Auf  niederdeutsche  Rede  würd  ich  auch  das  in  Homeyers  Text  häufige 
borst  ,. Bruch"  zurückführen,  das  md.  zwar  nicht  fehlt  (Germ.  23,  144),  aber  ein 
n d.  Vorurteil  für  sich  erwecken  darf.  Jedoch  scheinen  nicht  bloss  die  hoch- 
deutschen Handschriften,  was  Homeyer  nur  im  Glossar  ahnen  lässt,  dem  ge- 
genüber geschlossen  bruch  zu  bieten4),  sondern  brake,  broc  fand  ich  auch  in 
niederdeutschen  Handschriften  nicht  selten :  so  schreibt  II  15,  2.  36,  5  Cy,  Lehnr. 
68,  6.  69,  3  die  Gott.  Lehnrechths.  brok ,  II  15,  2  Ei  brake.  Für  bruch  spricht 
obendrein  II  15,  2  (und  I  15,  1)  die  enge  stilistische  Verbindung  mit  dem  Verbum 
brechen  und  weiter  der  Sprachgebrauch  Akens  (1932),  Calbes  (S.  129),  Halles  (486. 
1459)  und  der  Anhaltischen  Urkunden  (Bd. '  III  S.  143.  270) ,  endlich  auch  der 
Weltchronik  in  der  Gothaer  Handschrift.  Das  Alles  entscheidet  nicht ,  nimmt 
aber  dem  Worte  borst  jede  Sicherheit.     Und  bruch  ist  gut  hochdeutsch. 

Von  Adjectiven  sehen  niederdeutsch  aus  stamer5)  161,3,  heute  aber  z.B. 
auch  thüringisch,  und  namentlich  die  Umschreibung  vordere  hant  st.  „rechte  Hand" 
118,3.  II  12.  8.  15,  1 6) ;  ebenso  das  Part,  glumende,  glüpenüe  1162,1,  das  den 
hochdeutschen  Schreibern  manche  Schmerzen  gemacht  hat. 

Nun  die  Verba.  Ob  Eike  II  28,  4  Striaen  oder  schriten  geschrieben  hat,  weiss 
ich  nicht.     Wohl  aber  hat  er  das  nd.  bilden  (hilden)  „verstecken"  II 13,  6.  Lehnr. 


1)  Dafür  zeugt  vielleicht,  dass  in  den  Schöffenbüchern ,  soviel  ich  sah,  liellinc  nicht  vor- 
kommt, sondern  nur  scherf  und  später  heller,  die  Eike  beide  nicht  hat.  Ihm  fehlt  von  den  geläufi- 
gen   Münzen  jener  Protokolle   auch  gülden,   grosche,   quint,    vor  Allem  der  häufige  ferdinc. 

2)  In  den  Schöffenbüchern  häufig  ticischehvant,  twischcltün. 

3)  beschert,  das  als  „Bedingung"  (so  Lehnr.  57, 1)  auch  hochdeutsch  belegt  ist,  scheint  1126,5 
den  hochdeutsch  unerwieseneu  Sinn  von  vnderscheit  oder  von  hd.  gebrache  (so  eine  hd.  Hs.) 
zu  haben;  ich  weiss  das  freilich  auch  niederdeutsch  sonst  nicht  nachzuweisen;  doch  zeigt  das 
Wort  da  bunteren  Gebrauch.  —  Der  geistliche  Sinn  von  bisorge  III  59,  1,  der  verwantschaftliche  von 
grdclinc  II  31,  1  scheint  überwiegend  in  niederdeutschen  Zeugnissen  zu  Hause.  —  Ob  123,  1  das 
mehr  nd.  bederp  oder  das  auch  hd.  mit  {nutz)  gestanden  hat,  kann  ich  nicht  entscheiden. 

4)  Das   gebreste   des  Dsp.    weist  natürlich    auf  ein   brost  oder  borst  der  nd. Vorlage  zurück. 

5)  Die  Varianten  stamerohi ,  stamernde  bestätigen  die  r-Form  für  Eike;  doch  gibt  es  jedes- 
i'alls  auch  hochdeutsche  Belege  mit  /;  Homeyer  schweigt,  aber  Bv  liest  stammelnde. 

6)  Die  hochdeutschen  Handschriften  ändern  freilich  öfters  in  rechte;  aber  in  der  Form  rechter, 
lie  z.  B.  Dg  I  18,  3,  andere  Handschriften  an  den  andern  Stellen  zeigen,  tritt  der  niederdeutsch 
vorherrschende  Comparativ,  vielleicht  im  Anschluss  an  die  Originallesart,  doch  zu  Tage. 

E 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  95 

50,  3.  66,  1 :  es  gibt  zu  denken ,  dass  sich  neben  den  vielen  hochdeutschen  Va- 
rianten (behalden,  verbergen,  kein)  doch  auch  das  nd.  schulen  findet.  Das  aus- 
schliesslich nd.  hüdetl  geriet  mit  dem  bedeutungsnahen  höden,  hüden  in  so  enge 
Berührung,  dass  sie  zumal  in  einer  Gegend,  der  mhd.  iu  und  no  ziemlich  zusam- 
menfiel, sich  direct  mischen  mochten  :  scheidet  sie  doch  nicht  einmal  das  mittel- 
niederdeutsche Wörterbuch.  So  mag  auch  Eike  das  Wort  gar  nicht  als  speciell 
niederdeutsch  empfunden  haben.  Eine  besonders  niederdeutsche  Phrase  ist  sige- 
vechten  I  63,  4.  benümen  „nennen"  ist  auch  mitteldeutsch  sehr  verbreitet'  und  ich 
führe  es  hier  nur  an,  weil  seine  Herrschaft  im  Text  einen  Gegensatz  zu  dem 
nennen  der  Praefatio  bildet l).  Ich  verzeichne  ferner  ihrer  Bedeutung  wegen 
bcjegenen  „widerfahren"  (hd.  Varr.  gesch cn)  1 55, 2.  60,  1,  bliuen  „werden"  (s.o.),  ivar- 
den  „warten"  (?)  (I  28.  III  40,  1 ;  hd.  und  nd.  Varr.  betten).  Nicht  kenn  ich  hoch- 
deutsch in  der  Bedeutung  des  Sachsenspiegels  die  4  Composita  mit  up- :  uphouwen 
121,2.1111  „ab-,  niederhauen"  (so  auch  in  der  Weltchronik ;  hd.  Var.  abehouwen). 
upbreken  III  74  „abbrechen",  upschctcn  III  66,  3  „Erde  aufwerfen",  itpncmen  I  3,  1 
„ansetzen,  berechnen",  niederdeutsch  sind  sie  so  nachweisbar;  ein  fünftes,  upheven 
124,3  war  in  seiner  Anwendung,  wie  die  Varianten  zeigen,  den  Schreibern 
vielfach  unverständlich.  Schliesslich :  der  fast  regelmässige  Gebrauch  des  Hilfs- 
verbums  müezen  =  „dürfen"  {dürfen  bedeutet  im  Sachsenspiegel  meist  „brauchen"), 
allenfalls  „können",  ist,  grade  in  seiner  ßegelmässigkeit,  niederdeutschen  Cha- 
rakters; der  Deutschenspiegel  bezeugt  das  indirect  dadurch,  dass  er  so  und  so 
oft  mugen  (auch  sohl)  f.  müezen  eingesetzt  hat. 

Das  ist  zugleich  ungefähr  der  wertvollste  Ertrag  der  Jagd  auf  niederdeut- 
sches Gut.  Eike  hat  seiner  Mundart  sehr  wenig,  überraschend  wenig  Zutritt 
gestattet  bei  der  Wortwahl:  seh  ich  vom  Unsichern  ab  und  von  dem  speciell  ju- 
ristischen Sprachgut,  dann  bleiben  fast  nur  Bagatellen. 

Wie  stehts  nun  mit  der  Gegenprobe?  Von  vornherein  ist  wol  ausgeschlossen, 
dass  Eike  in  ein  Buch  dieser  Art  hochdeutsche  Worte  aufnehmen  konnte, 
deren  Verständnis  seinen  niederdeutschen  Volksgenossen  Schwierigkeit  be- 
reiten musste.  Aber  das  wäre  möglich,  dass  er  etwa  die  täglich  geläufigen 
besondern  Worte  der  engern  Heimat  zurücktreten  liess  zu  Gunsten  von  Wor- 
ten einer  weitern  und  höhern  Sphäre.  Ich  glaube,  er  hat  wirklich  so  ge- 
handelt :  ein  paar  positive  Symptome  dafür  finden  sich  wol.  Hier  stehn  die 
Verba,  meist  die  Träger  der  feineren,  geistigeren  Beziehungen  im  Satze,  billig  im 
Vordergrunde,  dulden  fehlt  im  grossen  mittelniederdeutschen  Wörterbuch.  Es  ist 
tatsächlich  kein  niederdeutsches  Wort,  am  wenigsten  in  der  Bedeutung  „leiden". 
Aber  es  ist  damit  ähnlich  gegangen  wie  mit  satt  (s.  o.).  Der  bequeme  Reim: 
schulden,  Imlden  hat  es  in  die  mittelniederdeutsche  Litteratur  getragen :  es  dauert 


1)  Für  nödegen  „notzüchtigen"  I  37.  II  13,5.  III  1  u.  ö.  sagen  die  hochdeutschen  Handschriften 
meist  notzogen,  auch  ein  nd.  vorcrachten  tritt  als  Var.  auf;  noetegcn  ist  auch  dem  Mitteldeutschen 
nicht  ganz  fremd.  —  geboren  „aufheben"  (auch  md.)  III  45,  8  wird  von  hd.  Schreibern  z.  T.  durch 
heben,  erheben  ersetzt.  8 


96  G  U  S  T  A  V    H  0  E  T  II  K  , 

bis  auf  Arnold  von  Immessen ;  Konemann  lässt  es  aus  dem  Reim  wol  auch  einmal 
ins  Versinnere.  Dennoch  ward  es  als  fremd  empfunden:  auch  im  Sachsenspiegel 
ist  es  stets  von  einem  Gefolge  niederdeutscher  Varianten  (liden ,  dolen ,  doghen) 
begleitet :  zuweilen  verdrängen  es  diese  Varianten  aus  dem  grössten  Teil  der 
niederdeutschen  Zeugen  (so  I  31,  1) ;  andre  Stellen  (z.  B.  I  54,  1.  Lehnr.  60,  1) 
sorgen  dafür,  dass  kein  Zweifel  bleibt,  Eike  hab  es  mit  Vorliebe  gebraucht.  Ein 
häufiges  und  für  Eikes  Methode  wichtiges  Wort.  —  Die  Varianten  deuten  darauf 
hin,  dass  irregen,  varen  den  niederdeutschen  Schreibern  anstössig  war:  im  Prolog 
(Hom.  S.  138)  wird  irre  in  niederdeutschen  Handschriften  durch  bister  (so  auch  Cz), 
divelende  ersetzt ,  andre  lassen  es  aus  (so  Ei) ,  An  hat  es  töricht  misverstanden 
als  irre  und  übersetzt  vortiden.  Das  wiederholt  sich,  mutatis  mutandis,  11142,3: 
da  versteht  alle  Welt,  wenigstens  die  niederdeutsche,  irre  varen  als  irvaren,  um 
so  sonderbarer  als  irvaren  keineswegs  ein  niederdeutsch  naheliegendes  Wort 
ist :  jedesfalls  hat  man  sich  an  irre  varen  gestossen.  Das  Gleiche  bestätigt  sich 
weiter  am  Verbum  irren :  es  ist  im  Texte  des  Sachsenspiegels  nicht  selten  (I  34, 3. 
63,  4.  5.  II  7.  Lehnr.  24,  9.  59,  4.  69,  10),  aber  wenigstens  im  Landrecht  fast  aus- 
nahmslos umrankt  vom  buntesten  Kranze  der  niederdeutschen  Varianten,  die 
lieber  hindern,  weigern,  verkeren,  ivern,  bespreken,  raren,  sümen,  merren,  vernen 
sagen:  wo  solche  Varianten  bei  Homeyer  fehlen  (II  7),  da  mistrau  ich  zunächst 
Homeyer ,  ohne  ihn  aus  dem  mir  Zugänglichen  widerlegen  zu  können.  Offenbar 
sind  irre,  irren  im  Sinne  von  „auf  falschem  Wege",  resp.  „hindern",  obgleich  sie 
mittelniederdeutsch  nicht  fehlen,  doch  Worte  edlerer  Gattung,  haben  etwas  Ge- 
wähltes, vielleicht  unter  hochdeutsch  litterarischem  Einfluss  :  gut  niederdeutsch  be- 
deuten sie  „zornig",  ,, erzürnen".  So  gebraucht  Eike  sie  aber  nie.  Die  Schöffen- 
bücher  sagen  im  Sinne  von  Eikes  irren  stets  hindern.  —  Fiel  es  uns  eben  auf, 
dass  niederdeutsche  Handschriften  irrevaren  durch  irvaren  ersetzten,  so  muss  es 
um  so  mehr  auffallen,  wenn  im  Lehnrecht  Art.  80,  1  tatsächlich  irvaren  ,,certior 
fieri"  variantenlos  aufzutreten  scheint;  Jac.  Grimm  hat  behauptet,  dass  dies 
,,ein  specifisch  hochdeutsches  Wort"  sei.  Im  Grunde  hat  er  wol  Recht.  Spär- 
liche Belege  für  irvaren  im  Sinne  von  „erforschen  ,  in  Erfahrung  bringen" 
kommen  mnd.  aber  doch  vor :  auch  das  Calber  Wetebok  hat  S.  49  dirvaren ;  hier 
aber  ist  schon  das  (bairisch,  mitteldeutsch,  ostelbisch  auftretende)  Präfix  dir-  der 
Annahme  md.  Herkunft  günstig,  ohne  sie  zu  entscheiden.  —  Gehört  das  md. 
innern  (16,2.  11125,1.  Lehnr.  57,  1.  4)  zum  geläufig  niederdeutschen  Wortschatz? 
Das  Wörterbuch  gibt  fast  nur  Belege,  die  aus  dem  Sachsenspiegel  selbst  stam- 
men oder  sonst  in  Beziehung  zu  ihm  stehn ;  die  niederdeutschen  Handschriften 
variiren  wenigstens  im. Landrecht  wieder  sehr  lebhaft  {vorwinnen,  overtügen,  ma- 
nen,  informeren) ,  und  die  Variantenangaben  des  Lehnrechts  sind  unzuverlässig. 
Als  niederdeutscher  erschien  vielleicht  innen  (er innen),  das  ich,  nicht  regelmässig, 
in  den  nd.  Handschriften  Aw,  Cz  und  dem  Gott.  Lehnrechtscodex  (eynen)  finde. 
Das  Material  reicht  zum  Urteil  nicht  aus.  —  Auch  krenken,  ein  niederdeutsch 
gut  belegtes  Wort  (im  Sachsenspiegel  15,  2..  42, 1.  11154,2.  63,2.  79,1),  ist  in 
niederdeutschen  Handschriften  oft  ersetzt  worden  (breken,  teeren,  kroeden,  nemen, 
8 


DIE    REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  97 

mindern,  ergern);  das  ist  an  sich  unerheblich,  deutet  aber  doch  wo]  darauf  bin, 
dass  auch  dieses  Wort  vielen  Niederdeutschen  einen  gewählten ,  unverbauten 
Klang  hatte.  —  sogen  (Lehnr.  69,  4)  hebt  sich  (neben  vorzihen)  deutlich  von 
der  niederdeutschen  Ueberlieferung  ab,  die  togern  verlangt:  die  hochdeutsche 
Form  hat  in  der  Ueberlieferung  ausreichende  Unterstützung.  —  nennen  fehlt 
der  Prosa  des  Sachsenspiegel;  so  weit  .wir  sehen  können,  hat  Eike  das 
im  Reim  so  gern  gebrauchte  Wort  hier  gemieden.  Indessen,  nicht  nur 
in  dem  Zusatz  I  24,  3  taucht  nennen  auf  —  und  auch  das  ist  nicht  gleich- 
giltig,  da  die  Zusätze  die  Sprache  des  Originals,  wie  sie  sie  kennen,  geflis- 
sentlich copiren  — ,  sondern,  was  wichtiger,  III  57,  2  in  einem  Zusammen- 
hang, der  benümen  tatsächlich  ausschloss :  hier  hat  Eike  sicher  nennen  gesagt. 
Ob  nicht  auch  in  der  Prosa  des  Originals  nennen  eine  grössere  Rolle  gespielt 
hat  als  jetzt  erkennbar,  kann  ich  nicht  entscheiden:  die  mitteldeutschen  Hand- 
schriften zeigen  es  nicht  selten  für  benümen,  mimen,  das  ihnen  an  sich  doch 
genügen  konnte.  —  II  62,  1  weisen  die  Missverständnisse  niederdeutscher  Hand- 
schriften vielleicht  auf  ein  üzenen  der  Vorlage  hin,  dem  die  Ueberlieferung  auch 
sonst  günstig  ist ;  dies  üzenen  wäre  hochdeutsches  Lehnwort ;  in  Eikes  Heimat 
lebte  wol  nur  üteren,  so  in  den  Oalber  Stadtbüchern  S.  54.  57.  127.  —  Ueber  ge- 
nenden vgl.  oben  S.  26  x). 

Hochdeutsch  sind  weiter:  crmel  (nd.  Hss.  mouive2))  I  63,4,  ririke  Lehnr.  67,  1, 
spange*)  ebda.;  gare  163,4  ist  mir' in  dieser  Form  mittelniederdeutsch  sonst  nicht 
bekannt,  und  auch  garwe,  gerwe  pflegt  sich  da  nach  dem  Lexikon  auf  das  Priester- 
gewand, nicht  auf  die  Rüstung  zu  beziehen.  —  Hochdeutsch  ist  vielleicht  auch  gadem 
III  66,  3,  in  der  Bedeutung  ,, Stockwerk"  :  der  niederdeutsche  Ausdruck  wird  dele 
sein,  wie  Eike  daneben  hat:  der  Deutschenspiegel  hat  es  misverständlich  in  taue 
verwandelt  und  der  Schwabenspiegel  beidemal  gadem  geschrieben.  Im  Nieder- 
deutsch des  18.  Jahrhunderts  war  gäm  heimisch  (DWb.  IV1,  1131),  aber  es  fehlt 
dem  Altsächsischen  und  den  verwanten  altniederdeutschen  Sprachen,  es  fehlt  auch 
noch  den  altern  Partien  der  an  Ausdrücken  für  das  Haus  und  seine  Bestandteile 
nicht  armen  Stadtbücher  ;  erst  in  dem  vierten,  zum  Teil  schon  hochdeutschen  Hal- 
lischen SchöfFenbuche  kommt  es  vor,  synonym  mit  kamer  oder  dornse.  —  die  meiste 
oder  mere  menie  ist  niederdeutsch  so  häufig  in  meninge*)  verwandelt  worden,  dass 
diese,  natürlich  unfreiwillige,  Satire  auf  die  Majoritätsverehrung  des  Sachsen- 
spiegels   eine   geringere  Gängigkeit   des    hochdeutsch   abgetretnen  Ausdrucks   zu 


1)  Ich  registrire  noch  in  künde  komen,  bringen  Lehnr.  68,  9.  78,2  (dies  =  Präf.  217);  ferner, 
ganz  zweifelnd,  die  Zusammensetzungen  mit  zu-  d.  i.  „zer-"  (züstän,  zutun,  nd.  töstäu,  tödun, 
vgl.  Hom.  S.  482),  die  im  Sachsenspiegel  mehr  blühen  als  sonst  mittelniederdeutsch. 

2)  Dass  man  in  Eikes  Heimat  mouue  sprach,  darauf  deutet  vielleicht  der  Zerbster  Name 
Buntemouwe  (Calbe  S.  45). 

3)  spange  im  vierten  Haliischeu  Schöffenbuch  N.  324  wird  mitteldeutsches  Lehnwort  sein 
(nd.  span). 

4)  Dies  meninge  mit  Lübben  Mnd.  Gr.  S.  40  nur  phonetisch  aus  Nasalirung  zu  erklären,  hin- 
dert mich  ebenso  die  weitre  Variante  meininge,  wie  die  Variante  volge,  vulbaii. 

Abhdlgn.  d.  K.  ües.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.    Phil.-hiet.  Kl.  N.  F.  Band  2,8.  13  8 


98  GUSTAV    ROE THE, 

verraten  scheint.  —  Der  rechte  niederdeutsche  Ausdruck  für  Ehebruch  ist  auch 
nicht  overhüre  (II  13,  5) ,  sondern  overspel ,  das  hier  nur  in  wenigen  niederdeut- 
schen Zeugnissen  zu  Tage  tritt.  —  Wenn  der  Mörder  aus  Notwehr  bei  seinem 
Opfer  nicht  bleiben  will  vor  sines  lives  angeste  „wegen  seiner  Lebensgefahr' 
(1114,1),  so  ersetzen  niederdeutsche  Handschriften  das  angest  durch  not,  weil 
in  dem  niederdeutschen  Wort  der  Gefühlsgehalt  unsers  heutigen  ,,Angstu,  der 
hier  nicht  hingehört ,  viel  lebendiger  ist  als  hochdeutsch  (vgl.  die  Var.  III  41, 
N.  13  van  angestes  wegen  ,,aus  Angst*');  Eike  weist  angest  die  objectivere  hoch- 
deutsche Bedeutung  zu  l).  —  Dass  süver  II  16,  9  f.  ,,ganz  und  gar"  keineswegs 
der  nächstliegende  Ausdruck  war,  lehren  die  Varianten,  und  zwar  war  man  auf 
niederdeutschem  Boden  befremdeter  als  hochdeutsch :  niederdeutsch  sagt  man 
süverk,  nicht  süver ,  und  dies  süverk  entspricht  nicht  ganz  der  hier  gemeinten 
Bedeutung. 

Endlich  noch  ein  paar  adverbielle  Wendungen ,  die  uns  den  Weg  zu  der 
indirecten  Betrachtung  hochdeutschen  Einflusses  weisen.  Eike  sagt  II  53  hin- 
den:  gewis,  das  kennt  man  ja  auch  niederdeutsch;  aber  der  rechte  nieder- 
deutsche Ausdruck  ist  achter ,  für  ihn  zeugen  denn  auch  die  Varianten  ,  die  Ho- 
meyer  wieder  unvollständig  angibt  (so  hat  auch  Aw  hier  achtere)]  aber  freilich, 
Milden  ist  besser  bezeugt.  Aken  wechselte  zwischen  den  beiden  Worten.  —  Hat 
Eike  andenverve  oder  anderweide  gesagt?  Beide  Worte  sind  weder  dem  Hoch- 
deutschen noch  dem  Niederdeutschen  ganz  fremd ;  aber  andenverve  ist  mehr  nie- 
derdeutsch .  anderweide  (staut ,  -mal)  mehr  hochdeutsch  das  rechte  Wort,  ander- 
iveide  bevorzugen  demgemäss  die  hochdeutschen  Handschriften ;  aber  es  steht 
Lehnr.  60,  2  auch  in  En ;  und  an  der  ersten  Stelle  seines  Auftretens,  I  39, 
stimmen  sogar  Cy  Eb  Ei  ein ,  auch  anderen  ivech  Aw  ist  aus  anderweide  mis- 
verstanden  ,  wie  denn  Aw  auch  sonst  noch  öfter  anderweide  zeigt ;  das  Gleiche 
gilt  von  Cy  und  dem  Göttinger  Lehnrecht.  Nach  dem  Material,  das  ich  kenne, 
hat  das  hochdeutsche  anderweide,  das  übrigens  in  dem  vor  ander  weiden  der  Hallischen 
Schöffenbücher  276  steckt ,  mehr  für  sich :  doch  mag  Eike  gewechselt  haben, 
die  Handschriften  gruppiren  sich  an  verschiednen  Stellen  verschieden.  —  I  27,  2 
heisst  es ,  anscheinend  übereinstimmend ,  zweier  xvegene ;  dass  der  Ausdruck  den 
Hochdeutschen  unbehaglich  war ,  zeigen  die  Varr.  zu  II  48 ,  8 ;  doch  hat  Eike 
sicher  so  geschrieben.  Gestossen  aber  hat  er  sich  an  der  vom  selben  Worte 
gebildeten  und  mitteldeutsch  sehr  verbreiteten  Verbindung  von- wegen)  sie  fehlt 
zwar  in  niederdeutschen  Handschriften  keineswegs,  tritt  aber ,  soviel  ich  sehe, 
immer  nur  so  vereinzelt  auf,  dass  sie  als  überliefert  nicht  mehr  in  Betracht 
kommt  als  das  hochdeutsch  hie  und  da  auftauchende  von  -  willen ;  Eike  aber 
hat  stets  von  -  halben  gesagt.  Ich  lege  um  so  mehr  Wert  darauf,  als  die  Akener, 
Calber  und  Haller  Protokolle  und  die  Anhalter  Urkunden  regelmässig  und  oft 
von-weghen  sagen:    Eike  hat  seinen  Alltagsausdruck  verschmäht. 

1)  Wenn,  der  kerkener  1171,3  in  niederdeutschen  Handschriften  den  opperman,  den  koster, 
den  kerkhoyder  neben  sich  hat,  so  spiegelt  das  kleinere  Localunterschiede ,  die  für  die  Frage: 
„hochdeutsch  oder  niederdeutsch?"  nicht  in  Betracht  kommen. 

e 


DIE   REIM  VORREDEN   DES    SACHSENSPIEGEIS.  99 

Und  was  hat  er  nicht  sonst  noch  Alles  verschmäht !  Die  Varianten  der 
niederdeutschen  Handschriften  geben  eine  überraschende  Lese  niederdeutscher 
Worte  her,  die  Eike  nicht  gebraucht  hat,  obgleich  sie  nahe  lagen,  wie  eben  die 
Handschriften  zeigen.  Ich  erwähnte  bereits  die  geläufigen  Eormwörtchen  wie 
nochtan  „dennoch",  ivattan  „obgleich",  men  „nur",  al  und  rede  „schon",  ef't  „oder", 
icht  „wenn",  dus  „so"  (?),  die  Präp.  und  Adv.  legen  und  achter]  hinzuzufügen  ist 
elk  „jeder"  (II  28  N.  4;  Sachsenspiegel  munlich) ,  somich  (II  20  N.  5;  Text  ette- 
lieh),  wanner  (I  71  N.  2;  Ssp.  swenne),  das  niederdeutsch  sonst  so  überaus 
häufige  vahen  (II  2  N.  3.  Lehnr.  80  N.  37;  Ssp.  ofte,  dicke),  deger  „ganz"  (JJ  10 
N.  32;  Ssp.  süver)  ,  älinc  „ganz"  (Lehnr.  71  N.  53;  Ssp.  ganz)]  das  allbe- 
herrschende an  samen  lässt  neben  sich  noch  zu  male  (I  63,  1)  zu,  nicht  aber  die 
recht  eigentlich  niederdeutschen  Phrasen  to  gadder  (I  3  N.  38l ;  vgl.  Leitzrnann 
zu  Gerh.  v.  Minden  53,  28),  up  en  (I  63  N.  24),  to  höpe  (Calbe  8.  144).  Von 
Adjectiven  und  Adverbien  nannte  ich  bereits  bister ,  divelende  (Ssp.  irre)\  ich 
finde  ferner  nur  in  Varr.  veilig  „sicher"  (II  27  N.  12),  late  „spät"  (I  36  X.  6, 
Anh.  Urk.  3,  278.  349;  Ssp.  späte),  behaghel  (Praef.  öS),  mbderstüle  (ebd.  132),  halfte 
„halb"  (II  28,  1  in  Aw  Cy  Cz  ;  die  Stadtbücher  wie  der  Ssp.  half),  den  Comp,  lenc 
„mehr"  (Lehnr.  73  N.  6) ;  ja  sogar  quät,  quätlic  (Praef.  1U6.  1  63  N.  40;  Text  übel, 
ivirs)  ist  nicht  vertreten.  Von  Substantiven  wurde  erwähnt  mouwe,  lider,  momber] 
ich  reihe  dem  an  behöf  (I  23,  8,  Aken  1894;  hd.  nutz),  bederf  (ebd.),  tale  (I  62  N.  15  ; 
Ssp.  rede),  quec  „Vieh"  (II  36  N.  47;  Ssp.  vi) ,  putte  „Brunnen"  (II  38  X.  4a ; 
Ssp.  brunne),  scheme  (III  45  N.  35  ;  Ssp.  schate),  achterding  (I  2  N.  9),  treck,  getrecke 
(III  42  N.  52  ;  Ssp.  gercete),  wanhoed  (II  38  N.  2  ;  Ssp.  ivarlöse) ;  ferner  liclauive, 
Uteken  (I  63  N.  19;  Ssp.  nar),  strunkelken  (II  41  N.  6),  mengelen  (II  12  N.  18; 
Ssp.  becher),  dorstel  (II  41  N.  8;  das  Wort  ist  in  den  Hallischen  Acten  häufig), 
schelinge  (Lehnr.  11  N.18,  Calbe  52),  opperman  (II  71  N.  9)  u.  A.  Von  Verben  nannte 
ich  schon  dolen,  doghen  (I  31  N.  10 ;  Ssp.  dulden),  schulen  (Lehnr.  50  N.  14 ;  Text 
hüten),  dazu  lien  „zugestehn"  (Hom.  Gl.  S.  456 ,  aber  nicht  nur  nl.),  beteugen 
(Lehnr.  65  N.  74;  Ssp.  beginnen),  legeren  „entschädigen"  (Lehnr.  4  N.  25;  Text 
lösen),  kroeden  (III  63  N.  11 ;  Eike  krenken),  beschütten  (Lehnr.  72  N.  33 ;  Ssp.  be- 
sliezen),  wicken,  Subst.  wickelinge,  wickelte  (II  13  N.  31 ;  Ssp.  zouber) x),  bomen 
(II  40  N.  13;  Ssp.  trenken),  behöven  (I  1  N.  19  u.  ö\;  Ssp.  bedurven),  poten  „pflan- 
zen" (II  28  N.  7;  Ssp.  setzen),  rensen,  vresen  (Lehnr.  68  N.  21a.  22;  Ssp.  jeschet, 
nüset),  underschöten  (I  63  N.  72;  Ssp.  understechen)  u.  s.  w  2). 

Die  Liste  spricht  für  sich.  Ein  niederdeutscher  Schriftsteller,  bei  dem  all 
das  fehlt,  obgleich  seine  Darstellung  ihm  das  nahe  legte,  bei  dem  man  nach  cha- 


1)  Lercheimer,   Christi.  Bedenken  herausg.  v.  Binz,  S.  10:  Zauberey  ist  ein  vermeyntc  anzei- 
gung  verborgener  ding  (welches  auff  altfränekisch  heisst  vorsagen,  in  Sachsen  wichen,  bi> 
warsageri). 

2)  Die  Zahl  dieser  niederdeutschen  Varianten  Hesse  sich  aus  den  Zusätzen  noch  beträchtlich 
mehren  ;  neue  Züge  kommen  doch  nicht  ernstlich  dazu ,  wie  denn  die  Sprache  der  Zusätze  sehr 
ähnliche  Verhältnisse  zeigt  wie  der  Haupttext;  sie  haben  sich,  soweit  sie  nicht  Eikes  Werk  siud, 
jedesfalls  eng  an  sein  Vorbild  geschlossen.  p 

13*  B 


100  GUSTAV   ROETHE, 

rakteristisch  niederdeutschen  Worten  mit  der  Laterne  suchen  muss,  ist  jedes- 
falls  eine  Merkwürdigkeit:  alle  die  hochdeutsch  schreibenden  Dichter  wie  Eber- 
hard, der  Braunschweiger  Reimchronist,  Brun  von  Schonebeck,  Konemann,  Wizlaw 
sind  reicher  an  niederdeutschem  Sprachgut,  wenn  das  auch  auf  den  ersten  Blick 
durch  Eikes  niederdeutsche  Kunstausdrücke  verwischt  wird.  Wie  ist  die  Tat- 
sache aufzufassen? 

Ein  Gedanke  läge  nahe:  vielleicht  gehörte  Eikes  Heimat  Reppichau,  wenn 
sie  auch  dat  und  ek  sagte,  doch  in  ihrem  Wortgebrauch  nicht  zu  dem  nieder- 
deutschen Gebiet :  die  niederdeutschen  Wortgrenzen  haben  mit  der  Grenze  der 
Lautverschiebung  keinen  innern  notwendigen  Zusammenhang,  und  Eike  lebt  in 
einer  Uebergangsgegend ,  wie  die  spätre  Sprachentwicklung  verrät.  Das  ist 
Alles  richtig,  es  reicht  aber  nicht  aus.  Wer  die  Gothaer  Handschrift  der  Welt- 
chronik als  Zeugnis  gelten  lässt ,  kann  schon  in  ihr  einen  beträchtlich  sächsi- 
scheren Wortschatz  finden:  da  gibt  es  z.  B.  behöven,  dogen  „dulden",  schulen  „ver- 
stecken", velich  „sicher",  teile  „Rede",  deger ,  vormiddes ,  Deminutiva  auf  -ken, 
Abstracta  auf  -inge ;  da  giebt  es  daneben  eine  reichste  Fülle  niederdeutscher  Aus- 
drücke wie  böten  „feuern",  krüpen,  nälen,  öken,  reven,  rüge)?,  bule  „Bruder",  düster, 
grope  „Topf",  huf  „Meer",  heven  „Himmel",  hoke,  kot  „Hütte",  lerse  „Stiefel",  picht 
„Streit",  spök,  start ,  storlinge,  Adverbia  wie  ävelinge  u.  s.  w. ;  allein  schon  aus 
Strauchs  Glossar  ist  es  leicht,  Beispiele  zu' häufen.  —  Aber  auch  die  Akener 
Schöffenbücher  mit  ihrem  winzigen  Wortmaterial  raten  von  jener  Erklärung  ab. 
Ich  habe  schon  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  Eikes  Rechtssprache  sich  mit 
den  Termini  jener  Protokolle  nicht  immer  deckt;  ich  erinnere  daran,  dass  in 
ihnen  Deminutiva  auf  -Jcen,  dass  von-wegen,  achter,  teghen,  behüf,  efft  „oder",  yo  „je" 
vorkommen;  ich  notire  noch  grope  „Topf",  möne,  medder  „Muhme",  bode  „Bude", 
halle,  hop ,  scher ne  ,  harke,  knuppel ,  over legge  „übrig"  (Calbe  overlei)  ,  brederinne 
„Strickerin",  die  beliebte  Phrase  tö  kort  werden  für  „sterben"  (Germ.  10,  405): 
auch  die  Namen  zeigen  vielfach  niederdeutsche  Bildung.  Es  ist ,  um  auch  den 
für  Halle  und  Calbe  bezeugten  Wortschatz  zu  streifen,  gewis  charakteristisch, 
dass  Eike,  wie  er  ermel  wählt  st.  momve ,  so  auch  mantel  sagt  und  nicht  hoike, 
fürspan  und  nicht  hetze,  käste  oder  lade  nnd  nicht  schidele,  bütel  und  nicht  neser, 
küssen  und  nicht  pust  oder  kolte,  koiiflüte  und  nicht  hoken,  becher  (als  Mass)  und 
nicht  notsei  oder  stoveken,  stat  und  nicht  blek  u.  s.  w.,  dass  er  mit  einem  Worte 
der  rein  localen  Ausdrücke  seiner  Heimat  sich  enthält  zu  Gunsten  des  Ge- 
meindeutschen *). 

Ich  notire  endlich  aus  den  Aken  er  Aufzeichnungen  (auch  in  Halle  oft) 
die  sehr  häufige  Wendung  k Inder  telen  oder  krigen ,  ferner  roden  „ernähren" 
2067,  quit  1955.  Auch  diese  Worte,  denen  ich  noch  trecken  und  Mfen  anreihe,  feh- 
len im  Sachsenspiegel,  während  allerdings  niederdeutsche  Handschriften  sie  brin- 
gen.    Ich  habe  diese  Gruppe  für   sich  genommen  ,  weil  sie  nicht  exclusiv  nieder- 


1)  echt  „ferner"  ist  in  den  Anhalter  Urkunden  sehr  beliebt:    wie  nahe  lag  es  für  Eike  statt 
des  überleitenden  uk  (ouch) ! 

8 


DIE    KELMVORREDEX    DES    SACHSENSPIEGELS.  ll»l 

deutsch  ist:  trecken,  vöden  und  Ufen  kommen  mitteldeutsch  nicht  ganz  selten, 'Äv/'v™ 
und  das  Lehnwort  quit  sogar  sehr  häufig  vor:  ihr  eigentümliches  Gebiet  ist/freilich 
durchaus  der  niederdeutsche  Boden,  wo  sie  sämtlich  beliebteste  Worte  sind.  Die 
andern,  auch  die  hochdeutsch  dichtenden  Schriftsteller  Sachsens  im  13.  Jahr- 
hundert teilen  denn  auch  Eikes  Sprödigkeit  nur  sehr  bedingt.  Ja,  warum  ziehl 
denn  nun  Eike  I  62  N.  6  das  züt  dem  trecket  vor,  warum  II  36  N.  17.  46.  40  N.  12. 
54  N.  5  ebenso  das  zin  oder  etzen  dem  vöden,  warum  lässt  er  nicht  kifen,  das 
niederdeutsch  durchaus  einen  edeln  Begriff  haben  kann,  statt  zweien  zu  (Lehnr.  70 
N.  3),  warum  sagt  ihm  gewinnen  und  bekomen  (c.  Gen.)  mehr  zu  als  krtgen ,  das 
I  31  N.  14.  48  N.  8a.  70  N.  19  und  jedesfalls  noch  öfter  in  niederdeutschen  Hand- 
schriften sich  zeigt?  Was  empfahl  ihm  ledie,  ante,  gelöset  11(11  N.  20.)  24  N.  4. 
III  6  N.  5.  10  N.  12.  34  N.  9  u.  ö.  vor  diesem  quit,  zu  dem  niederdeutsche  Hand- 
schriften so  gern  greifen?  Hier  war  nicht  die  Frage:  hochdeutsch  oder  nieder- 
deutsch; hier  entschied  ein  Umstand,  den  wir  namentlich  bei  kr/gen  und  Mfen.  aber 
auch  bei  den  andern,  Eike  noch  heute  nachfühlen  können:  es  waren  Worte 
der  Alltagsrede1).  Und  das  bestimmte  wol  auch  sonst  Eikes  Wortwahl. 
Eike  strebt  nach  einer  erhöhten  Sprache,  die  litterarischen  Ansprüchen  ge- 
nügen kann,  und  das  verbannt  im  Ganzen  die  niederdeutschen  Besonderheiten 
der  Heimat,  nicht  weil  sie  niederdeutsch,  sondern  weil  sie  vulgär  waren. 
Denn  den  Massstab  musste  bei  solchem  Bemühen  das  Hochdeutsche  abgeben : 
auch  Eike  hat  nicht  den  Mut ,  gegenüber  der  herschenden  Schriftsprache  dem 
Wortschatz  der  Mundart  sein  Recht  auf  edlen  Gebrauch  zuzugestehn  :  diesen 
Mut  erwirbt  sich  die  mittelniederdeutsche  Litteratur  erst  ganz  allmählich,  ihn 
steigernd  bis  ins  15.  Jahrhundert  herein. 

Dass  Eikes  eigentümliche  Wortwahl  aus  seinem  Thema ,  aus  den  Anfor- 
derungen juristischer  Darstellung  hervorgegangen  sein  sollte,  ist  von  vornherein 
unwahrscheinlich :  stammten  doch  aus  der  Rechtssprache  grade  die  frappantesten 
plattdeutschen  Bestandteile  seiner  Rede.  Das  ist  ja  wahr :  das  Recht  drängt 
zu  einer  gleichmässig  präcisen  Darstellung,  die  zu  verarmender  Auswahl  nötigt, 
und  unzweifelhaft  erlegen  sich  auch  spätere  mittelniederdeutsche  Rechtsdenk- 
mäler Beschränkungen  im  Wortgebrauch  auf,  die  das  freie  Spiel  der  Mundart 
ausschliessen.  Aber  ,  für  sie  bildete  einmal  der  Sachsenspiegel  selbst  das 
übermächtige  Vorbild,  und  anderseits:  von  der  leidlich  geschlossnen .  jedesfalls 
bewussten  Enthaltsamkeit  Eikes  ist  in  ihnen  keine  Rede.  Selbst  die  Richt- 
steige, die  schon  durch  ihren  Inhalt  sich  zu  engstem  Anschluss  an  Eike  bekennen, 
sagen  doch  z.  B.  wanner,  nachtun,  Vister,  deger,  tegen,  krigen,  kif\  führen  Worte 
wie  dr'tst,  enkede,  twiden,  stolinge,  side  „niedrig",  echt  „abermals"  und  manches 
Aehnliche,  schroff  Niederdeutsche  ein.  Und  das  lübische  Recht,  das  ich  durch 
Frensdorffs  Güte    in    der  ältesten  Elbinger  Handschrift2)   lesen  durfte,    hat  von 


1)  Ich  verkenne  nicht,  dass  über  das,  was  in  Mitteldeutschland  als  alltäglich,   als  uicht  litte- 
raturfähig  galt,  zum  Teil  der  oberdeutsche  Sprachgebrauch  entschied. 

2)  Auch  seine  Abschrift  der  Kopenhagener  Handschrift  hab  ich  eingesehen.  « 


102  GUSTAV    ROET1IE 


Worten,  die  wir  bei  £ike  gradezu  verraissten,  ofte  „oder"  (sehr  häufig),  to  höpe, 
tö  gadder,  achter,  deger,  dus,  ferner  krigen,  vöden,  behöven,  behöf,  blster,  legem,  tö 
kort  werden,  schelinge,  van  -  ivegen,  lenc,  halfte,  gar  nicht  zu  reden  von  den  vielen 
ausgesprochen  niederdeutschen  Worten ,  die  es  sonst  auf  viel ,  viel  kürzerra 
Räume  als  der  Sachsenspiegel  vereinigt.  Jeder  solcher  Vergleich  bestätigte  mir 
Eikes  sprachliche  Sonderstellung. 

Ihr  Wesen  ist,  dass  Eike  eine  temperierte  Sprache  wählte.  Ich  bilde  mir 
nicht  ein,  erwiesen  zu  haben,  dass  er  hochdeutsch  schrieb  ;  das  aber  hoffte  ich  er- 
weisen zu  können,  dass  er  nicht  in  unbefangnem  Niederdeutsch  sich  bewegt.  Die 
gewählte  Litteratursprache  temperirt  stets:  temperirend  steht  gleich  die  mittel- 
hochdeutsche Dichtersprache  über  den  Mundarten.  Sie  erreicht  damit  ein  Dop- 
peltes:  sie  ist  weit  über  die  engen  Grenzen  des  Dialekts  verständlich  und  wahrt 
sich  ausserdem  eine  über  das  Alltägliche  herausragende  Würde.  Beides  konnte 
auch  Eike  brauchen.  Die  Grundstimmung  des  Sachsenspiegels  ist  immer  noch 
niederdeutsch:  wie  sollte  es  anders  sein?  Aber  was  Eike  selbst  als  dialektisch 
empfand ,  das  hat  er  wol  gemieden.  Nicht  die  paar  hochdeutschen  Ausdrücke, 
die  sich  vielleicht  im  Sachsenspiegel  aufspüren  liessen,  sind  die  Hauptsache: 
das  Entscheidende  liegt  mir  in  dem,  was  Eike  fern  hält. 

Im  Grunde  ists  mit  der  Sprache  der  sogenannten  mittel u lederdeutschen 
Dichter  des  13.  Jahrhunderts  nicht  viel  anders.  Trug  Eike  chh?  Rechtssprache 
obligate,  meist  niederdeutsche  Termini  zu,  so  mussten  die  Epiker  und  Lyriker 
eine  ebenso  obligate  süddeutsch  gefärbte  Minne-  und  Ritterterminologie  über- 
nehmen. Was  sonst  übrig  bleibt ,  trägt  ähnlichen  Charakter :  ja  Eike  ist  fast 
spröder  gegen  die  niederdeutschen  Idiotismen.  Hatte  ich  Recht,  wenn  ich  bei 
den  hochdeutsch  scheinenden  Worten  dulden,  und  sän  an  den  Reimgebrauch 
erinnerte,  so  ist  die  Anknüpfung  an  die  hochdeutsche  poetische  Litteratursprache 
noch  näher  gelegt. 

Und  nun  greifen  wir  zurück  zu  der  Reimvorrede !  Sie  trug  genau  denselben 
sprachlichen  Charakter ,  wie  wir  ihn  jetzt  dem  ganzen  Texte  vindicirt  haben  : 
nicht  ausgeprägt  hochdeutsch,  nicht  deutlich  niederdeutsch,  und  doch  mit  Spuren 
von  beiden,  alles  Scharftrennende  grade  im  Reime  fast  geflissentlich  vermeidend, 
daher  in  beiden  Lautgestalten  allenfalls  denkbar  und  in  beiden  Lautgestalten 
tatsächlich  verbreitet.  Bei  der  Reimvorrede  aber  entschied  der  Gesamtcharakter 
der  mittelniederdeutschen  Reimsprache  des  13.  Jahrhunderts;  wir  können  kaum 
zweifeln  ,  dass  es  in  ihr  daz  heissen  sollte.  Es  ist  nicht  der  geringste  Grund, 
die  Sprache  des  Textes  anders  zu  beurteilen.  Wenn  Eike  das  Dialektische  mied, 
nun,  sollte  er  dat  nicht  als  dialektisch  empfunden  haben?  Ich  bin  überzeugt, 
dass  in  Eikes  Originalhandschrift  meist  daz  und  zu  gestanden  hat ;  sie  mag 
sonst  orthographisch  bunt  genug  ausgesehen  haben.  Musste  Eike  wählen ,  so 
diente  er  dem  zwiesprachigen  Publikum ,  für  das  er  schrieb ,  durch  die  mittel- 
deutsche Lautform  —  nur  sie  ist  natürlich  gemeint,  wenn  ich  an  eine  hoch- 
deutsche Abfassung  denke  —  weitaus  am  besten.  Es  war  ebenso  für  ihn ,  den 
auf  mitteldeutschem  Boden  Vielbekannten,  natürlicher  wie  für  seine  Leser  prak- 

8 


DIE   REIMVORREDEN    DES    SACHSENSPIEGELS.  103 

tischer,  wenn  er  die  geprägte  Literatursprache  auch  in  der  Lautform  wählte, 
wie  sie  ihn  sonst  leitete.  Wohl  möglich,  dass  die  Sprache  des  Magdeburger 
Rechts  unmittelbar  an  Eikes  entscheidenden   Vorgang  anknüpfte. 

Aber  ich  tue  alsbald  einen  Schritt  zurück.  Müssen  wir  denn  wirklich  sagen 
aut —  aut?  Gibt  es  hier  nicht  auch  ein  et  —  et?  Soll  tatsächlich  die  grosse,  von 
eigentümlichen  Vorzügen  begleitete  niederdeutsche  Ueberlieferung  nur  quasi  per 
nefas  entstanden  sein?  Soll  sich  Eike,  dem  Menschenkenner,  nicht  alsbald  auf- 
gedrängt haben,  dass  die  hochdeutsche  Fassung  grade  bei  einem  Werke,  wo 
jede  Silbe  ins  Gewicht  fallen  konnte,  die  niederdeutsch  Sprechenden  unter  Um- 
ständen irreführen  oder  doch  unsicher  machen  musste?  Warum  soll  er  nicht 
selbst  niederdeutsche  Ausgaben  veranstaltet  haben?  Warum  soll  er  die  Tem- 
perierung nicht  alsbald  unter  dem  praktischen  Gesichtspunct  einer  möglichen 
sprachlichen  Doppel  form  angesehen  haben? 

Die  deutsche  Philologie  beachtet,  will  mir  scheinen,  nicht  genug  die  Wahr- 
scheinlichkeit ,  dass  das  Interesse,  ja  die  Arbeit  eines  Schriftstellers  an  seinem 
Werke  nicht  aufhöre  mit  dem  Augenblicke,  da  er  es  publicierte.  Mit  doppelten 
Fassungen,  die  bis  auf  den  Autor  zurückgehn,  wie  sie  Edw.  Schröder  für  das 
Passional  erwiesen  hat,  sollte  man  wahrscheinlich  mehr  rechnen  als  geschieht. 
War  doch  der  Dichter  in  der  Regel  wol  auch  sein  Verleger  ,  wenigstens  der 
Epiker  und  Didaktiker.  der  nicht  durch  den  musikalischen  Vortrag  seiner  Dich- 
tungen ernten  konnte.  Sollte  denn  der  Gedanke,  eine  erfolgreiche,  vielverlangte 
Dichtung  für  sich  selbst  gewinnbringend  zu  machen ,  diesen  mittelalterlichen 
Autoren  so  fern  gelegen  haben?  Dass  die  berühmten  althochdeutschen  Schrift- 
steller Otfrid,  Notker,  Williram  Abschriften  vertrieben,  wissen  wir,  bei  Williram 
zumal  sind  wir  der  finanziellen  Hintergedanken  ganz  sicher.  Warum  sollte  es 
im  12.  und  13.  Jahrhundert  anders  gewesen  sein  ?  Jedes  Dedicationsexemplar 
konnte  einen  Anspruch  auf  Lohn  in  sich  schliessen :  wir  wissen  das  aus  den 
Tagen  der  Humanisten.  Noch  Hans  Sachs  veranschaulicht  die  geschäftliche  Be- 
triebsamkeit des  mittelalterlichen  Poeten.  Ich  zweifle  z.  B.  gar  nicht,  dass 
Wolfram  für  Vervielfältigung  seiner  Dichtungen  auch  geschäftsmässig  gesorgt 
hat :  erleichterte  er  sich  doch  die  Controle,  ob  die  beauftragten  Schreiber  richtig 
schrieben,  nichts  ausliessen,  durch  seine  bekannten  dreissigzeiligen  Spalten.  Es 
ist  nur  wahrscheinlich,  dass  eine  solche  Production  unter  den  Augen  des  Autors 
auch  vermehrte  und  verbesserte  Auflagen  zur  Folge  hatte. 

Weiland  sieht  bekanntlich  in  den  verschiednen  Fassungen  der  sächsischen 
Weltchronik  lauter  verschiedne  Bearbeitungen  des  Verfassers.  Auch  die  Ansicht, 
Eike  habe  wenigstens  einen  Teil  der  Zusätze  verfasst,  die  in  der  A-Redaction 
des  Sachsenspiegels  fehlen,  ist  viel  vertreten.  Nichts  hindert  anzunehmen,  dass 
Eike  auch  sprachlich  verschiedne  Redactionen  ausgehn  Hess ,  wie  sie  der  prak- 
tische Bedarf  schnell  heischen  musste  :  die  gewählte  Sprachform  machte  eine 
Uebertragung  ins  Niederdeutsche  zum  Kinderspiel.  So  würde  sich  alles  gut 
erklären.  Zuerst  ein  einheitliches  Werk  in  der  Eike  geläufigen  mitteldeutschen 
Literatursprache ;    dann  niederdeutsche  oder  hochdeutsche  Ausgaben,   nach  Ver- 

e 


104  GUSTAV    ROETHE, 

langen;  dabei  mags  denn  vorgekommen  sein,  dass  auch  einmal  die  hochdeutsche 
Reimvorrede  neben  den  niederdeutschen  Text  geschrieben  wurde.  Eine  derartige 
niederdeutsche  Ausgabe  könnte  dann  der  niederdeutschen  Originalprosa  direct 
den  Weg  gebahnt  haben ;  sie  würde  es  allenfalls  erklären,  wenn  in  der  Sächsi- 
schen Weltchronik  wirklich  auf  hochdeutsche  Verse  ein  niederdeutscher  Text 
von  vornherein  folgte.  Der  Text  der  Gothaer  Handschrift  scheint  mir,  trotz 
sehr  beträchtlichen  hochdeutschen  Zügen,  in  der  Hauptsache  niederdeutsch,  auch 
abgesehen  von  dem  Lautlichen  Aber  das  schliesst  nicht  aus,  dass  etwa  das 
Original  der  (nur  hochdeutsch  erhaltnen)  ältesten  Redaction  A  auch  hier  zu- 
nächst hochdeutsch  war.  Ich  bin  nicht  gewillt  und  nicht  gerüstet,  in  diese  ver- 
wickelte Frage  einzutreten  ,  und  es  bedarf  dessen  hier  nicht.  Die  Verbindung 
hochdeutscher  Verse  mit  niederdeutschem  Text,  bei  Eike  erst  ein  Resultat  der 
Textgeschichte,  kann  der  Nachfolger  nach  dem  gegebnen  Muster  von  vornher- 
ein gewagt  haben. 

Und  so  stünde  Eike  schliesslich  doch  am  Eingang  der  wirklich  mittelnieder- 
deutschen Litteratur,  stünde  etwa  da  mit  einer  Selbstübertragung.  Den  Schritt 
von  der  mitteldeutschen  Schriftsprache  zur  niederdeutschen,  wozu  die  niederdeutsche 
Dichtung  anderthalb  Jahrhunderte  brauchte,  ihn  würde  der  erfahrne,  vielbewan- 
derte und  selbständige  Mann  gefunden  haben  schlechthin  aus  dem  Drange  des 
Lebens  heraus.  Die  Befreiung  von  der  hochdeutschen  Tradition  vollzog  sich  nur 
halb ;  die  niederdeutschen  Ausgaben  erschienen  auch  ihrem  Autor  gewiss,  als 
Ausgaben  zweiten  Ranges :  aber  jeden  Folgenden  drängten  sie  weiter  auf  der 
Bahn.  Und  solchen  Fortschritt  könnte  immerhin  schon  die  Weltchronik  bedeuten : 
wie  ihre  erste  Fassung  auch  beschaffen  war,  ihre  letzte  (C)  scheint  in  der  Wort- 
wahl über  Eike  hinausgegangen. 


VI. 

Als  stud.  Wolfgang  Goethe  anno  1771  die  Positiones  juris  rüstet,  über  die 
er  pro  licentia  disputiren  will,  da  fällt  ihm  auch  (LIV)  die  lex  Saxonica  ein, 
„quae  non  nisi  confessum  et  convictum  condemnari  vult".  Kein  sehr  präcises 
Resume ;  man  möchte  zweifeln,  ob  er  den  Sachsenspiegel  überhaupt  meint :  doch 
zielt  er  vielleicht1)  auf  das  seltsame  sächsische  Sonderrecht  118,2,  das  dem 
Sachsen  den  Reinigungseid  gestattet,  selbst  wenn  seine  Schuld  offenkundig  ist. 
Freilich:  lex  aequissima ?  Vier  Jahre  drauf  bewährt  er  eine  um  so  bessere  Kennt- 
nis der  ersten  Praefatio,  die  er,  wie  Homeyer  wusste  längst  eh  die  Philologen 
das  nochmals  entdeckten ,  zu  köstlichen  Spottversen  auf  Nicolais  philisterhaft 
niedrige  Wertherkritik  verwertete :  es  ist  gesund  und  wolbegreiflich ,  dass  den 
in  allen  Stürmen  des  Beifalls  und  der  Entrüstung  seiner  selbst  Frohsichern 
grade  diese  Praefatio  anzog,  die  mit  einem  übermütigen  Selbstgefühl  die  Kläffer 
scheucht,   .wie  es  das  Mittelalter   selten   so    herzhaft  aussprach.     Vielleicht  aber 


«        1)  Ich  gebe  hier  einen  Gedanken  Frensdorffs  wieder. 


DIE    REI.MVORREDEX    DES    SACHSENSPIEGELS.  105 

hat  sich  noch  ein  weitres  Mal  jene  Reimvorrede,  und  diesmal  Eikes  eigne  Verse 
für  den  jungen  Juristen  bewährt,  der  grade  an  dem  alten  Juristen  deutsche  Art 
und  Kunst  wol  schätzen  durfte. 

Ich  meine  das  Epigramm  „Sprache",    das  Goethe  im  Frühjahr  1773  verfasst 
haben  wird  *)  : 

„Was  reich  und  arm!    Was  stark  und  schwach! 

Ist  reich  vergrabner  Urne  Bauch? 

Ist  stark  das  Schwert  im  Arsenal? 

Greif  milde  drein,  und  freundlich  Glück, 

Fliesst  Gottheit  von  dir  aus  ! 

Fass  an  zum  Siege,  Macht,  das  Schwert, 

Und  über  Nachbarn  Ruhm!" 
Das  Ganze  ist  eine  Art  Rätsel,  dessen  Auflösung  der  Titel  gibt.  Ein  Ge- 
spräch ist  etwa  vorangegangen  über  Reichtum  und  Kraft  deutscher  Sprache  im 
Vergleich  zu  andern,  und  Vorwürfe  sind  vielleicht  laut  geworden,  wie  sie  der 
Dichter  der  Venetianischen  Epigramme  besser  verstand.  Aber  der  Jüngling  glaubt 
mit  Klopstock  die  Muttersprache  ,,an  mannigfacher  Uranlage  zu  immer  neuer, 
und  doch  deutscher  Wendung  reich";  nur  der  Mann  tut  Not,  der  ihre  Schätze 
hebe  und  spende,  der  ihr  den  rechten  Arm  leiht  und  sie  zu  brauchen  weiss. 
Und  auch  den  Mann  glaubt  er  wol  zu  kennen,  die  Männer.  So  wagt  er  denn 
auf  der  Stelle  etwas.  Das  Epigrathm  ist  trefflich  gegliedert :  zwei  Bilder  für 
die  schlummernde  Fülle  und  Kraft  der  Sprache  wechseln  gleichmässig,  in  genau 
entsprechender  Construction,  jedesmal  etwas  voller:  zuerst  je  ein  Halbvers,  dann 
je  ein  Einzelvers,  endlich  je  ein  Verspaar;  der  Parallelismus  geht  bis  ins  Kleine, 
er  muss  und  kann  bei  der  Erklärung  leiten.  Und  trotzdem  macht  das  Gedicht- 
chen dem  Verständnis  Schwierigkeit :  der  Poet  hat,  in  dem  Wunsche  die  „wahre 
In  Schriftsprache"  zu  treffen,  Wortstellungen  gewagt,  die  der  antike  Dichter 
wagen  durfte,  nicht  der  deutsche.  Man  erinnre  sich:  es  ist  die  Zeit,  da  Goethe 
feiert  „tändelnden  ihn  Anakreon",  italtpvx  cwtöv.  Das  Schwere  sind  die  letzten 
Zeilen.  Voran  je  einer  jener  hübschen  conditionalen  Imperative:  , .Greif  milde 
drein",  „Fass  an  zum  Siege",  d.  i.  wenn  du  herein  greifst,  anfasst.  Den  Nach- 
satz leitet  beidemal  „und"  ein.  Beide  Nachsätze  haben  das  gemeinsame  Verbum 
„fliesst  von  dir  aus",  ein  leises  Zeugma  kann  nicht  beirren.  Und  beide  Nach- 
sätze zeigen  zwei  asyndetische  Subjecte.  In  Prosa  also:  „Greifst  du,  freigebig 
auszustreuen,  in  die  Schatzurne,  so  fliesst  freundliches  Glück,  fliesst  Gottheit 
von  dir  aus.  Greifst  du ,  Sieg  zu  erringen ,  zum  Schwerte ,  so  ist  Ruhm  über 
die  Nachbarn,  ist  Macht  über  die  Nachbarn  dir  beschieden".  Das  Stärkste 
vom  Starken  ist  die  Stellung  von  „Macht",  das  eigentlich  letztes  Wort  des 
ganzen  Gedichtchens  sein  müsste  und  jetzt,  obgleich  Subject  des  Nachsatzes,  sich 
zwischen  Verbum  und  Object  des  Vordersatzes  drängt.  Hier  mutet  Goethe  den 
„am    Kreuz   der  Grammatik"    steif   gewordnen   Gliedern   der  Sprache  denn  doch 


1)  Ich  interpungire  genau,  wie  es  der  Göttinger  Musenalmanach  von  1771  (S.  75)  tut. 
idi 

3   0 


Abbdlgn.  d.  £.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen.     PkU.-bist.  Kl.    ^  F.    Hand  2.  i.  J  * 


106  GUSTAV    ROETHE, 

etwas  zu,  was  sie  nicht  leisten  konnte;  Lier  spielt  er  und  künstelt  in  iorcirter 
Verwegenheit.  Immerhin,  es  vergleicht  sich,  wenn  einst  Logau  (II  1,  59),  frei- 
lich einfacher,  wagte: 

Das  Reichthum  ist  die  Frau ;  die  Tugend  ist  die  Magd ; 
Der  mit  der  Magd,  der  triffts,  es  für  die  Frau  gewagt. 

Auch  hier  der  Vordersatz  durch  den  Nachsatz  zerrissen :  ungeduldig  drängt 
sich  das  Resultat  herein  in  die  Vorbedingungen.  Zu  Beobachtungen  über  eine 
künstliche  Symmetrie,  wie  man  sie  grade  in  dieser  Zeit  und  in  diesen  Gedichten 
am  Wenigsten  erwartet,  geben  auch  die  übrigen  freirhythmischen  Gedichte  jener 
Frankfurter  Jahre  überraschende  Gelegenheit. 

Minor  hat  an  verschiedenen  Stellen  (vor  allem  Stud.  z.  Goethephilol.  47  ff. 
85  ff.)  den  Gedankengehalt  des  Goethischen  Epigramms  mit  Hamann  und  Herder 
in  Verbindung  gebracht.  Im  Kerne  gewis  richtig:  sie  waren  die  begeisterten 
Propheten  des  sprachlichen  Schatzgräbertums,  zu  dem  sich  auch  Goethe  bekennt. 
Aber  das  Bild  vom  Schatze,  wie  Goethe  es  braucht,  stimmt  nicht  zu  den  ähn- 
lichen und  doch  verschiednen  Schatzbildern,  die  Minor  anführt:  wenn  Hamann 
von  dem  Schatze  redet,  des  das  Genie  allein  würdig  waltet,  so  denkt  er  an  einen 
grossen  Staatsschatz,  und  wenn  Herder  mahnt,  das  Innere  unsrer  Erde,  in  deren 
Schooss  noch  unbekannte  Schätze  ruhen,  hervorzugraben ,  so  nimmt  er  das  Bild 
vom  Bergbau :  das  Genie  „gräbt  in  die  Eingeweide  der  Sprache  wie  in  die 
Bergklüfte,  um  Gold  zu  finden".  Goethe  aber  denkt  an  den  Geizhals,  der  ängst- 
lich seinen  Schatz  verbirgt:  ihn  mahnt  er:  „greif  milde  drein!"  Das  Bild  hat 
mit  Herder  und  Hamann  nichts  zu  schaffen. 

Es  ist  dasselbe  Bild ,  das  uns  schon  oft  beschäftigt  hat ,  das  Bild  vom 
Schatze  der  Kunst,  das  beherschend  im  Mittelpunct  von  Eikes  Versen  steht. 
Und  zwar  verwendets  Goethe  grade  in  der  Ausprägung,  die  Eike  dem  biblischen 
Gleichnis  gegeben  :  auch  bei  Goethe  liegt  neben  Jesus  Sirachs  Spruch  der  Ge- 
danke des  Sprichworts  „der  Milde  gibt  sich  reich,  der  Geizhals  nimmt  sich  arm" 
im  Hintergrunde.  „Greif  milde  drein"  und  du  bist  reich ;  „fass  an  das  Schwert" 
und  du  bist  stark. 

Wie  sollte  Goethe  hier  nicht  wirklich  an  Eike  gedacht  haben,  dessen  Verse 
er  so  gut  kannte  !  Nur  bei  ihm  fand  er  Alles ,  was  er  brauchte ,  zusammen : 
den  vergrabnen  Schatz  des  Geizigen,  das  Thema:  was  reich  und  arm?,  die  ab- 
stracte  Anwendung  auf  den  geistigen  Schatz ,  auf  die  Kunst ,  die  Goethe  natür- 
lich als  unser  „Kunst"  gefasst  hat;  ja,  er  fand  hier  auch  die  Mahnung:  und  wese 
milde \  „greif  milde  drein!"  Vielleicht  verrät  ihn  dies  „milde".  Burdach  hat  schon 
Zs.  f.  östr.  Gymn.  1882  S.  668  sich  feinfühlend  an  dem  Worte  gestossen ;  er 
zieht  seine  Bedenken  dann  freilich  zurück.  In  dem  alten  Sinne  von  , freige- 
big" war  das  Wort  dem  17.  Jahrhundert  noch  geläufig,  im  18.  veraltet  es  sicht- 
lich. Das  ist  ja  richtig:  die  altern  Dichter  brauchen  es  noch  unbedenklich: 
1779  leugnet  AlHafi  Nathans  „Milde"  und  beklagt  sich  über  Saladins  „Milde". 
Aber  eben  zwischen  Lessing  und  Goethe  liegt  die  sprachliche  Kluft,  die  in 
e 


DIE   REIMVORREDEN   DES    SACHSENSPIEGELS.  107 

diesem  Falle  Volkslied  und  Sprichwort  immerhin  überbrücken  mochten.  Burdach 
hat  gewis  richtig  gefühlt :  Goethe  braucht  das  Wort  hier  anders ,  als  es  ihm 
sonst  geläufig  ist:  warum  eine  andre  Quelle  suchen  als  Eike?  Der  Dichter  hat 
das  Ethos  der  Eikischen  Mahnung  gradezu  misverstanden ,  er  bemüht  sich,  das 
,, milde"  der  Quelle  mit  dem  ,, milde"  seines  Sprachgefühls  zu  vermitteln  und 
lässt  nicht  „Reichtum",  sondern  „freundlich  Glück",  ja  „Gottheit"  von  dem  Spen- 
denden ausfliessen;  er  trägt  mehr  Gemütsgehalt  in  das  Wort  herein  als  das  bei 
Eike  der  Fall  und  als  es  im  Zusammenhang  des  Goethischen  Epigramms  irgendwie 
erfordert  wird:  es  sieht  aus,  als  ob  die  Differenz  sprachlichen  Empfindens  ihm 
die  Gedankenbahn  störend  gekreuzt  habe. 

Und  statt  Eikes  „Kunst"  setzt  Goethe  „Sprache".  Fiel  grade  dem  Dichter 
doch  beides  nahe  zusammen !  In  diesem  Tausch  wird  wirklich  Herders,  Hamanns, 
Klopstocks  Einßuss  sich  fühlbar  machen.  Uns  aber  hat  das  Quidproquo  einen 
erwünschten  Nebensinn.  Es  ist  doch  ein  hübscher  Zufall,  dass  der  Gewaltigste 
deutscher  Sprache  in  seinen  frühsten  Versen  zu  ihrem  Lobe,  in  dem  Almanach 
niederdeutschen  Bodens  nicht  nur  die  grossen  norddeutschen  Erneurer  der 
modernen  deutschen  Sprache  Klopstock,  Hamann,  Herder  zu  Worte  lässt,  dass 
hier  auch  Worte  und  Gedanken  des  alten  Juristen  erklingen,  der  mehr  als  ein 
halbes  Jahrtausend  früher  der  norddeutschen  Literatursprache ,  im  Grunde  als 
Erster,  den  Weg  geöffnet  hat. 


Inhalt. 


I.     Die  beiden  Reimvorreden  haben  verschiedene  Verfasser.       5 

Inhalt  und  Gedankengang  der  beiden  Vorreden  5;  Disposition  8;  bildliche  Rede  9; 
Anklänge  und  Citate  9;  —  Metrik:  Gesamtcharakter  11;  Versbau  der  strophischen 
Vorrede  12  ;  Eikes  Keimpaare  13  (Versumfang  13,  Reimgeschlecht  14,  Tactfüllung  14, 
Auftact  16,  Fehlen  der  Senkungen  16);  metrischer  Charakter  der  Declamationsstro- 
phik  19;  —  Sprache  der  strophischen  Vorrede  20. 

II.  Die  Sprache  der  Eikischen  Reime 21 

Eikes  Heimat  Reppichau  21;  sprachliche  Quellen  (Schöffenbücher  und  Urkunden)  22; 
der  Reim  tcat :  hat  24;  niederdeutsche  Reime  24;  hochdeutsche  Reime  25;  die  3.  Pers. 
Plur.  Präs.  Indic.  26;  Wortschatz  27;  Eike  dichtet  in  temperirter  Sprache  28. 

III.  Die  Dichterspraehe  Niederdeutschlands    im    12.    und   13. 
Jahrhundert 29 

"VVernher  v.  Elmendorf  hat  Eike  beeinflusst  29;  hochdeutsche  Reime  der  frühmittel- 
niederdeutschen Dichter  31  ;  ihr  Wortschatz  32;  sprachlicher  Charakter  der  Ueber- 
lieferung  33;  der  Göttinger  cod.  theol.  153:  35;  —  Wernher  v.  Elmendorf  36 ;  andre 
Reimpaarpoeten  37;  Brun  von  Schonebeck  37;  die  Braunschweigische  Reimchronik  38 
(Lautliches  38,  Flexion  39,  Wortbildung  41,  Wortwahl  42);  Berthold  von  Holle  45 
(Reime  45,  Wortwahl  47);  Eberhard  von  Gandersheim  48  (Reime  48,  Wortwahl  50); 
Pfaffe  Konemann  52  (Wortwahl  52,  Reime  54);  Loccumer  Fragment  110;  —  Lyriker: 
Graf  von  Anhalt  und  Otto  IV.  von  Brandenburg  59;  Reinolt  von  der  Lippe  59;  Raums- 
land von  Sachsen  59;  Hermann  Damen  60;  Wizlaw  von  Rügen  60;  —  Alter  der 
mittelniederdeutschen  Litteratur  63;  ihr  abhängiger  Charakter  im  13.  Jahrhundert  64; 
Phasen   ihrer  selbständigen  Entwicklung  66. 

IV.  Homeyers    Be. weise   für    die    niederdeutsche  Abfassung 
desSachse  n  spiegeis 67 

Mitteldeutsche  Vorrede  zu  niederdeutschem  Werk?  67;  die  Vorrede  der  sächsischen 
Weltchronik  6S ;  die  mittelniederdeutsche  Prosa  des  13.  Jahrhunderts  69;  —  Eikes 
Heimat  und  Publikum  70;  Sprache  der  Sachsenspiegelhandschriften  71  (hochdeutsche 
Handschriften  72  ;  niederdeutsche  Handschriften  73);  durchschimmernde  Originalles- 
arten 75  (Niederdeutsches  75 ;  Hochdeutsches  76). 


INHALT.  10  9 

V.     Die  Sprache  des  Sachsenspiegels 77 

Spuren  des  ursprünglichen  Lautstandes  78;  Wortbildung  80  (Deminutiva  81 ,  Substan- 
tivgeschlecht 81,  luttel,  luttic  82,  Adverbia  82,  Verbalbildung  83);  Syntax  83 ;  syn- 
taktische Formwörter  84  (Conjunctionen  85,  sän  87);  —  Wortwahl:  Bedeutung  der 
handschriftlichen  Varianten  88 ;  altertümliche  und  veraltende  Worte  89 ;  Termini  der 
Rechtssprache  91;  niederdeutsche  Worte  Eikes-93;  hochdeutsche  Worte  95  (Verba  95, 
Nomina  97,  Adverbia  98);  verschmähte  niederdeutsche  Worte  99;  Vergleich  mit  dem 
Wortschatz  der  Eikischen  Heimat  100;  Abneigung  Eikes  gegen  die  Alltagsrede  101; 
aus  dem  Wortschatz  andrer  niederdeutschen  Rechtsbücher  101  ;  die  Sprache  des 
Sachsenspiegels  war  temperirt  hochdeutsch  102;  hatte  Eike  auch  an  der  niederdeutschen 
Gestalt  des  Sachsenspiegels  Anteil?  103. 

VI.     Goethes  Epigramm  „Sprache" 104 

Nachträge  und   Berichtigungen   110. 


AMidlga.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Gfittingen.    Phil.-hiet.  Kl.  H.  F.   Band  2,  8.  15 


1 


110 


Nachträge  und  Berichtigungen:  S.  38  Z.  31  streiche  man  die  Worte:  „orte  — 
5500  3)«.  _  s.  43  Z.  7:  Bech  schlägt  Germ.  23,  153  rast  st.  ast  vor.  —  S.  43  Z.  19  ist  off  etliche 
besser  zu  streichen;  das  mnd.  Wörterbuch  kennt  freilich  nur  openbarliken  und  opekeliken,  opelken, 
und  Walther  bezeichnet  opentlik  ausdrücklich  als  spätes  Wort:  aber  as.  ist  opanliko  vorhanden, 
und  z.  B.  in  den  Anhalter  Urkunden  dient  openlike,  opentlike  u.  ä.  als  ständiges  Einleitungsingre- 
diens (z.  B.  III  194  N.  299,  Apr.  1315  [Cop.],  268  N.  409,  Mz.  1321  [gleichzeit.  Cop.],  438  N.  611, 
Oct.  1332  [Orig.] ;  opeliken  oft).  Das  mnd.  -like,  das  so  oft  zu  -leke,  -Ike  wurde,  war  zu  Reimen 
z.B.  auf  rffce,  rieht  überhaupt  weniger  geeignet  als  hd.  -liehe;  für  off  ertlich  \  kreftich  :  Heinrich  5006 
ist  auch  diese  Erwägung  nicht  von  Belang.  —  S.  44  Z.  15:  vlucht  ist  vereinzelt  auch  hd. ;  *twint 
8359  (hd.  quini)  ist  sonst  nur  mnl.  belegt  (Weiland  vermutet  wint).  —  S.  59.  63.  65 :  Ob  in  diese 
Reihe  auch  das  Loccumer  Fragment  eines  nd.  überlieferten  Artusgedichtes  gehört, 
das  Borchling  eben  GGN,  gesch.  Mitt.  1898  S.  186  ff.  mitteilt?  Es  zeigt  engen  Zusammenhang  mit 
Wolfram ;  unter  den  wenigen  gesicherten  Reimen  befindet  sich  gescah :  sprach ;  auch  seluer  und  an- 
dere -er-Formen,  dann  etwa  hertes  gewige  (nd.  tünch,  hörn),  kaum  die  ,?-Worte  ciren,  struz,  sc  je  (?), 
Hessen  sich  für  md.  Einflüsse  oder  Vorlage  anführen.  Andere  möglicherweise  md.  Züge,  wie  die 
Negat.  niet,  wie  hir,  dannen  (mnd.  selten),  jungelinc  (mnd.  selten  und  nur  poet.) ,  an  sich  schon 
wenig  beweisend,  sind  hier  besonders  zweideutig,  da  gewisse  Spuren  in  der  Schreibung  der  Hs. 
(so  ch,  ons)  nach  dem  fränkischen  Westen  deuten  und  mnl.  Einwirkungen  in  Gesichtsweite 
rücken.  Alter  und  Charakter  der  nd.  Ueberlieferung  trennen  das  Gedicht  von  den  übrigen  be- 
sprochenen. Zu  einer  Antwort  auf  die  Frage  reichen  die  geringen  ,  schlecht  erhaltnen  Reste 
rieht  aus. 


015 14 


BINDING  SECT.  JUN  23  1970 


demie  der  Wissenschaft 
Gbttigen.  Fhilologisch- 

G812      Historische  Klasse 

Abhandlur: 
Bd.  2 


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