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Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
1843.
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Abhandlungen
der
Königlichen rue.
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
=mununnnnan anal nano. Pr
Aus dem Jahre
1343.
Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königlichen Akademie
der Wissenschaften.
1849.
In Commission bei F. Düumler
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Eirstorische Emleitung m teneteretefareterstetenetstelet sten tale terela dee m eiedehnleletetel ae telele) Seite I
Verzeichnifs der Mitglieder und Correspondenten der Akademie. ...........- = syd
Physikalische Abhandlungen.
“ KARSTEN über die chemische Wahlverwandtschaft .......- ser seeseeene: Seite 1
Kıus: Die Coleopteren-Gattungen: Athyreus und Bolboceras, dargestellt nach den
in der Sammlung hiesiger Königl. Universität davon vorhandenen
ß INNEN 9,50 0 Ale aan Serge eo led
y vP. RıEss und G.7RosE über die Pyro£lektrieität der Mineralien ............. 59
Y YVLisk über die Stellung der Cycadeen im natürlichen System .....«...-2..0.- = GR)
v “MÜLLER: Untersuchungen über die Eingeweide der Fische, Schlufs der verglei-
chenden Anatomie der Myxinoiden .... 2.2222 ceeeeeenen —.109
VuWVEıss über das Maals der körperlichen Winkel ......2......22220n02200. za
“NV Derselbe: Nachtrag zu einer Abhandlung vom Jahre 1829 ............... - 185
V WMITSCHERLICH über ein Goniometer »....oomesaseseseeneneenrennn nen - 189
Mathematische Abhandlungen.
W CRELLE: Eine Anwendung der Facultätentheorie und der allgemeinen Taylorschen
Reihe auf die Binomial-Coefhcienten. .............. 808 Seite 1
v"Derselbe: Einige Bemerkungen über die Anwendung der Polynome in der
Theorıe) der) Zahlen... ee. Seelen eeeennenne. O0 ORDac - 49
Philologische und historische Abhandlungen.
EGIROSENTüber dien, Spraches ders Bazen 0. 1200 w ereres ebene he er ern ee aler eier eletalete Seite 1
4 HoFFMANN über staatswirthschaftliche Versuche den ganzen Bedarf für den öffent-
lichen Aufwand durch eine einzige einfache Steuer aufzubringen - 39
“H. E. DirKsEN über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes, Verzeichnis auslän-
discher Waaren, von denen eine Eingangssteuer an den Zoll-
stätten des römischen Reiches erhoben wurde... ...... +»... . 759
“JacoB GRIMM: Deutsche grenzalterthümer ..... ces seoeeeeeeeeenen nn. Seite 109
“Derselbe: Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer und aus
seiner so wie der nächstfolgenden zeit... .. 2.2... 2222200: = 4143
PanorkaA: Die Heilgötter der Griechen... .......2cseeeeeeneereennnenne 257
sv. RAUMER: Diderot und seme NVerke... 2. seen ee a
"NEANDER über die welthistorische Bedeutung des neunten Buchs in der II. En-
neade des Plotinos oder seines Buchs gegen die Gnostiker ..... - .299
EERHÄRDL Uber SVenusidoleser. a ee RE SED ee Re ee Ha = al
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Jahr 1849.
-——nnnnnan
D. öffentliche Sitzung zur Feier des Geburtstages Friedrichs II
am 26. Januar geruhte Se. Majestät der König, begleitet von den Prin-
zen des Königlichen Hauses, mit allerhöchstdero Gegenwart zu be-
ehren. In der Einleitungsrede sprach der vorsitzende Sekretar, Herr
von Raumer, über die Moralität und Religion Friedrich’ II,
und vertheidigte ihn gegen neu erhobene Anklagen. Hierauf
las Herr Ranke über die Erwerbung der preuflsischen Königs-
krone nach archivalischen Quellen.
Die öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnitzischen Jahres-
tages eröffnete Hr. Böckh, als vorsitzender Sekretar, mit einer Rede,
in welcher vorzüglich mit Bezug auf die Theodicee auseinandergesetzt
wurde, welches Verhältnils Leibnitz der Philosophie zur positiven Re-
ligion angewiesen und wie er sich selbst zur Kirche verhalten habe.
Hierauf hielt Hr. Pertz als neu aufgenommenes Mitglied der
Akademie seine Antrittsrede, welche sich besonders auf das grolse
Unternehmen der Sammlung und Herausgabe der Quellen der deut-
schen Geschichte mit Rücksicht auf Leibnitz und auf die Verdienste
des Freiherrn von Stein bezog. Hr. von Raumer, als Sekretar der
philosophisch -historischen Klasse, beantwortete diese Antrittsrede.
Nach diesen Vorträgen verkündete der Sekretar der physikalisch-
mathematischen Klasse, Hr. Ehrenberg, eine von dieser Klasse in
Gemälsheit der Ellertschen Stiftung gestellte ökonomische Preisfrage,
welche folgendermalsen lautete:
1
„Unstreitig stehen die stickstofffreien Bestandtheile in der Nahrung
der kräuterfressenden Thiere mit den stickstofffreien Bestandtheilen
des Organismus ihrer Körper in einer innigen Beziehung. Es ist
durch Untersuchungen wahrscheimlich gemacht worden, dals bei
einem Überflufs von Stärkmehl, Zuckerarten, Gummi, Holzfaser in
der Nahrung die Fettbildung im Körper durch ein Austreten von
Sauerstoff in irgend einer andern Form bewirkt werde. Dieser An-
sicht ist eine andere entgegengesetzt worden, nach welcher das Fett
im Körper der Herbivoren in den genossenen Nahrungsmitteln schon
praeexistire. Der Gegenstand ist von der Art, dafs die Richtigkeit
der einen oder der andern Ansicht durch genaue Versuche ent-
schieden werden kann. Die Akademie wünscht daher eine sorg-
fällige Vergleichung zwischen den Quantitäten der Fettarten in den
Nahrungsmitteln eines oder mehrerer kräuterfressenden Thiere, und
dem Fette, das in dem Körper derselben nach der Mästung sich
findet. Die angewandten Nahrungsmittel müssen genau botanisch
bestimmt werden, denn ohne Zweifel besteht z.B. das Heu in ver-
schiedenen Localitäten aus ganz verschiedenen Pflanzen, und ist auch
in seinen verschiedenen Entwickelungszuständen verschieden zusam-
mengesetzt. Es muls ferner das Fett in ihnen genau qualitativ und
quantitativ untersucht werden, denn nach einigen neueren Unter-
suchungen bestehen die fettartigen Substanzen in vielen Kräutern
aus wachsähnlichen Theilen, welche sich fast vollständig in den Ex-
crementen der Thiere wieder finden sollen."
Die ausschlielsende Frist für die Einsendung der Beantwortungen
dieser Aufgabe, welche nach der Wahl der Bewerber in Deutscher,
Lateinischer oder Französischer Sprache geschrieben sein können, ist
der 31. März 1845. Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Motto zu
versehen und dieses auf dem Äulsern des versiegelten Zettels, welcher
II
den Namen des Verfassers enthält, zu wiederholen. Die Ertheilung
des Preises von 300 Thalern geschieht in der öffentlichen Sitzung am
Leibnitzischen Jahrestage im Monat Juli des Jahres 1845.
Die Sitzung wurde mit einer Vorlesung des Hrn. v. Raumer
über Diderot's Leben, Schriften und Grundsätze beschlossen.
Die öffentliche Sitzung zur Feier des Geburtstages Sr. Ma-
jestät des Königs am 19. Oktober eröffnete der vorsitzende Sekre-
tar, Hr. Encke. Nach einer die Feier des Tages angemessenen Ein-
leitung und dem vorschriftsmäfsigen Überblick über die in der Aka-
demie in dem verflossenen Jahre gehaltenen Vorlesungen, deutete er
näher die Wichtigkeit der Abhandlung an, welche der Correspondent
der Akademie, Herr Director Hansen in Gotha, im Januar ihr mit-
getheilt hatte, und worin derselbe ein Verfahren darlegt, um die ab-
soluten Störungen der Himmelskörper, welche sich in Bahnen von be-
liebiger Neigung und elliptischer Excentricität bewegen, zu berechnen.
Als Beispiel der Anwendung derselben hat der Verfasser das Resultat
der Saturnstörungen bei dem Cometen von kurzer Umlaufszeit hinzu-
gefügt. Darauf hielt Hr. Pertz einen Vortrag über Leibnitzens An-
nales Imperü Occidentis Brunsvicenses. Er zeigte, wie dieses Werk, in
welchem Leibnitz die Geschichte eines einzelnen deutschen Fürsten-
hauses und Landes mit der allgemeinen Reichsgeschichte verknüpft
und vollständige Annalen der letztern von dem Stifter des Römisch-
Deutschen Reichs, Karl dem Grolsen an bis zum Erlöschen des Säch-
sischen Kaiserstammes mit Heinrich 11. fast vollendet hat, aus der per-
sönlichen Stellung des politischen Rathgebers des ersten Kurfürsten
von Hannover hervorging, gab einen Überblick der Reisen und Ar-
beiten, wodurch Leibnitz eine feste Grundlage für sein Werk geschaffen
hat, und schilderte den Plan, die Ausführung und die Schicksale, de-
nen es zuzuschreiben ist, dafs das Lebenswerk des grolsen Gelehrten
b
IV
erst jetzt, 127 Jahre nach seiner Vollendung, der Vergessenheit hat
entrissen werden können.
Zu wissenschaftlichen Zwecken hat die Akademie in gegenwär-
tigem Jahr folgende Summen bewilligt:
1000 Rithlr. den Herren Koch und Rosen zu ihrer kaukasischen
Reise, jedem 500 Rthlr.
400 » Hrn. Karsten zu seiner Ausrüstung mit Instrumenten
auf einer Reise nach Nordamerika.
60 » Hrn. Poggendorff zu einem Instrument zu elektro-
graphischen Versuchen.
In dem Personal der Akademie sind folgende Veränderungen
vorgekommen:
Hr. Pertz, früher Correspondent der philosophisch - historischen
Klasse, ist am 22. December 1842 zum ordentlichen Mitgliede
dieser Klasse gewählt und durch die Königl. Kabinetsordre vom
23. Januar 1843 bestätigt worden.
Zu Ehrenmitgliedern wurden gewählt
Hr. Carl Lucian Bonaparte, Prinz von Ganino, in Florenz, und
Hr. Henry Wheaton, amerikanischer Gesandter am Berliner Hofe,
jener am 16. Februar, bestätigt durch die Königl. Kabinetsordre vom
27. März 1843, dieser am 3. August, bestätigt durch die Königl. Kabi-
netsordre vom 30. September 1843.
Zu Gorrespondenten:
der physikalisch -mathematischen Klasse
Hr. Moser in Königsberg, am 16. Februar 1843.
der philosophisch - historischen Klasse
Hr. Labus in Mailand, den 2. März 1843.
Hr. Emil Braun in Rom den 3. August 1843.
Gestorben sind:
Hr. Fries in Jena,
und Hr. Rosellini in Pisa,
Correspondenten der philosophisch -historischen Klasse.
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VI
Verzeichnifs
der Mitglieder und Correspondenten der Akademie.
Herr
December 1843.
mmnamnnAanNAwWUN
I. Ordentliche Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Grüson, Veteran
A.v. Humboldt .
Eytelwein, Veteran... .
VABUch
Erman, Neteran. . .
Lichtenstein, Veteran . .
Karsten
Encke, Sekretar. 2.0.
Dirksen (E.H.)...
Ehrenberg, Sekretar
Crelle
Datum der Königl.
Bestätigung.
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. . 1798 Febr. 22.
. . 1800 Aug. 4.
1803 Jan. 27.
1806 März 27.
. 1806 März 27.
1814 Mai 14.
1815 Mai 3.
1815 Juli 15.
1822 Febr. 7.
1822 April 18.
1825 Juni 21.
1825 Juni 21.
. 1827 Juni 18.
1827 Aug. 23.
Philosophisch-historische Klasse.
Ideler, Veteran
27 Sayigny, Veteran »
Böckh, Veteran, Sekretar .
Bopp
VD. Raumer, Sekretar, . .
Meinekei. 0 .mrse.
® eufe'lse, de) nufe togs
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Hofjmann.n.... .
Eichhorn
Rankei: rs
1810 April 7.
. 1811 April 29.
. 1814 Mai 14.
1815 Mai 3.
1822 April 18.
1822 April 18.
1827 Juni 18.
1830 Juni 11.
1830 Juni 11.
1832 Febr. 13.
1832 Febr. 13.
1832 Febr, 13.
' Datum der Königl.
Bestätigung.
Herr orkelia ser 1830 Jan. 11.
SICHER lee 1830 Jan. 11.
RUE 1830 Jan. 11.
= Dirichlet ... . 1832 Febr. 13.
= IHRAROSeN nee ee 1832 Febr. 13.
Müller Fre 1834 Juli 16.
SING IROSE. STE: . . 1834 Juli 16.
SUNSTEINERE EN 1834 Juli 16.
- ©. Olfers . 1837 Jan. 4.
= WOBEI NE 1837 Jan. 4.
- Poggendorff' RR 1839 Febr. 4.
SEM asus 1840 Jan. 27.
= elazaos on 5 aooo0c 1842 Juni 28.
SU HRIe/S nn. ae Nele 1842 Juni 28.
Herr v. Schelling . . . 1832 Mai 7.
- nJacnGrimm a... 1832 Mai 7.
ZI ZUmDE 1835 März 12.
I Noypfardor css oe 1835 März 12.
ENGer hard 1835 März 12.
BET a0 Ko 1836 April 5.
= eNeanden. nr 1839 März 14.
. 1841 März 9.
. 1841 März 9.
von der Hagen .
Wilh. Grimm . .
ISCHOTEN Eee 1841 März 9.
Dirksen (H.E.)... 1841 März 9.
Deren 1843 Jan. 23.
vo
I. Auswärtige Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Klasse.
Datum der Königl.
Bestätigung.
Herr Gau/s in Göttingen. -... .. 2... onen» 1810 Juli 18.
SBessel m Konizsberainn. en ee ae. 1812 Juli 16.
- Freih. v. Berzelius in Stockholm. ....... 1825 Juni 28.
ZERATGEOR INN BarıSn ee ee ee 1828 Jan. 4.
= "Robert Brown ın London. ........... 1834 März 20.
TE Cauc [ya BaTIEe N nr 1836 April 5.
- 6. @. I. Jacobi in Königsberg .-........ 1836 April 5.
- Herschel in Hawkhurst in der Grafschaft Kent 1839 Febr. 4.
ER Graday BE Dudon. Paaren een. 1842 Juni 28.
Ze Gay Turssael in) Pariser ne: 1842 Juni 28.
Philosophisch-historische Klasse.
Herr Gottfr. Hermann in Leipzig .......... 1520 Sept. 3.
AA. 5 0 Schlezel ın Bonn 2. 2.2. 0 sang 1822 April 18.
I TFT ER TE RE 1832 Febr. 13.
SURLEINONTEERMEBANIS Eee ee a ers 1832 Mai 7.
ORDNER N 1832 Mai 7.
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VIII
Bestätigung.
Herr /mbert Delonnes in Paris... ..:..... 1801 Oct. 22.
- Graf v. Hoffmansegg in Dresden. ...... 1815 Mai 3,
- FMilliam Hamilton in London ........ 1815 Juni 22.
+ Leake inalondoniz....2 apa 1815 Juni 22.
- Gen.-Lieutenant Freih. v. Minutoli in Berlin 1820 Mai 5.
- General d. Infant. Freih. v. Müffling in Berlin 1823 Juni 23.
v. Hisinger auf Skinskatteb. bei Köping in
Schweden Mu la re an Ne 1825 Jan. 4.
- .9,. Lindenau in Altenbure . ... 2... .... ... 1828 Jan. 4.
= BunsensanBondonen ee 1835 Jan. 7.
- Duca di Serradifalco in Palermo... ..... 1836 Juli 29.
- Graf zu Münster in Baireuth ......... 1837 Jan. 4.
- Prokesch von Osten in Athen... ...... 1839 März 14.
=: Ducyde, Zupmesian\Panis au We Ne 1840 Dec. 14.
Carl Lucian Bonaparte Prinz von Canino in
Blorenzims ta Br a, 1343 März 27.
= Pheaton inülberhni ee en 1843 Sept. 30.
Ill. Ehren -Mitglieder.
Datum der Königl
IX
IV. Correspondenten.
Für die physikalisch-mathematische Klasse.
Datum der Wahl.
Herr Agassiz in Neuchätel ... ... 1836 März 24.
- Biddell Airy in Greenwich ... . 1834 Juni 5.
= Amiıeuin Rlorenzi.a WU = % 1836 Dec. 1.
- Argelander mn Bom....... 1836 März 24.
- v. Baer in St. Petersburg . ... . 1834 Febr. 13.
- «Baily'in London . . „= „u... 1842 Febr. 3.
— ı.Beeguerel. in.Parisi12x 012 „ie : 1835 Febr. 19.
I „BllBerthier.timi Paris.2..1 ae 1529 Dec. 10.
3 KBiottinAParisc. „a elarall ae. 1820 Juni 1.
- Brandt in St. Petersburg ..... .. 1839 Dec. 19.
- Brewster in Edinburg ...... 1827 Dec. 13.
- Adolphe Brongniart in Paris . . 1835 Mai 7.
- Alexandre Brongniart in Paris. 1827 Dec. 13.
- »Carlini' in Mailand .... vs: %.. « 1826 Juni 22.
- Carus in Dresden. ........ 1827 Dec. 13.
- Chevreul in Paris... ..... . 1834 Juni 5.
- Configliacchi in Pavia ...... 1818 Juni 25.
- Dalton in Manchester ...... 1827 Dec. 13.
- ©. Dechen in Bonn. ..... . . 1842 Febr. 3.
- Döbereiner in Jena ....... 1835 Febr. 19.
- Dufrenoy in Paris ........ 1835 Febr. 19.
= SIEB Dumas.n Baniserach % 1834 Juni 5.
- Elie de Beaumont in Paris . . . 1827 Dec. 13.
- Eschricht in Kopenhagen .... 1842 April 7.
- » Fechner in Leipzig . : . 1. &. 1841 März 25.
- F.E.L. Fischer in St. Petersburg 1832 Jan. 19.
- Gotthelf Fischer in Moskau... .. 1832 Jan. 19.
- Flauti in Neapel ........ . 1829 Dec. 10.
- Freiesleben in Freiberg ..... 1827 Dec. 13.
Datum der Wahl.
m men
Herr Fuchs in München ........ 1834 Febr. 13.
- Gaudichaud in Paris. ...... 1834 Febr. 13.
Gergonne in Montpellier ... . 1832 Jan. 19.
C. G. Gmelin in Tübingen ... 1834 Febr. 13.
L. Gmelin in Heidelberg ..... . 1827 Dec. 13.
Göppert in Breslau... .).'..\... 1839 Juni 6.
Thom. Graham in London . . . 1835 Febr. 19.
Hardınser ın SVnenı 2 ee 1842 April 7.
IV. R. Hanulton in Dublin . . .. 1839 Juni 6.
Hanserun, Gotha... Kae eieee : 1832 Jan. 19.
Hansteen in Christiania ... .. 1827 Dec. 13.
Hausmann in Göttingen... .. . 1812
Hooker nKew.......... 1834 Febr. 13.
Jameson in Edinburg ...... 1820 Juni 1.
IKarıtzWanDorpat..., nee. 1841 März 25.
Kielmeyer in Stuttgard ..... 1312
vw. Krusenstern in St. Petersburg 1827 Dec. 13.
Kummer in Breslau ....... 1539 Juni 6.
Wamekin Barısı > Emaenıa e: 1838 Dec. 20.
®. Ledebour in Dorpat ..... 1832 Jan. 19.
Grafezibri ınParise rar. 1832 Jan. 19.
Liebig in Giefsen. ........ 1833 Juni 20.
Lindley m London... ..... 1834 Febr. 13.
Drioupille ına Paris... . irenaek 1839 Dec. 19.
v. Martius in München ..... 1832 Jan. 19.
Melloni m Neapel ........ 1836 März 24.
Möbius in Leipzig ........ 1829 Dec. 10.
Morinkn Metzi. = eek ar. 1839 Juni 6.
Moser in Königsberg... .... 1843 Febr. 16.
F. E. Neumann in Königsberg . 1833 Juni 20.
Oersted in Kopenhagen ..... 1820 Nov. 23.
Ohmiane Nürnbereit.er Er 1839 Juni 6.
Otto ainlBreslau. em 1832 Jan. 19.
R. Owen in London... .... 1836 März 24.
de Pambour in Paris... .... 1839 Juni 6.
Pfafpianı Kiel . in nakt.m zack: 1812
Planalın Turin scrnae.. .. . 1832 Jan. 19.
Poncelet in Paris... ...... 1332 Jan. 19.
Herr de Pontecoulant in Paris .
Presl in: Brag .....0.... el} ui
Purkinje in Breslau ......
Quetelet in Brüssel...» ....
Rathke in Königsberg . . . . .
Retzius in Stockholm... . . .
Achille Richard in Paris
Richelot in Königsberg ....
de la Rive in Genf.......
Aug. de Saint - Hilaire in Paris 1834 Febr. 13.
Jul. Cesar de Sayigny in Paris . 1826 April 13.
. 1834 Febr. 13.
v. Schlechtendal in Halle. .
Schumacher in Altona. ....
Sefström in Stockholm .. ..
v. Siebold in Erlangen . . . .
v. Stephan in St. Petersburg. .
. 1832 Jan. 19.
. 1835 Febr. 19.
Struve in St. Petersburg. ... .
Starır. In PALIE, anne eo ano IE
Zenore in Neapel ,. andy?
Thenard in Paris .......
Tiedemann in Heidelberg... .
Tilesius in Leipzig... . .....
Treviranus in Bonn ......
Aug. Valenciennes in Paris. .
Rud. IVagner in Göttingen...
Wahlenberg in Upsala ....
Wallich in Calcutta ......
E. H. Weber in Leipzig ..
W.Weber in Leipzig .....
Wöhler in Göttingen .....
Datum der WVahl.
—
.. 1832 Jan. 19.
. 1838: Mai 3.
. 1832 Jan. 19.
. 1832 Jan. 19.
. 1834 Febr. 13.
. 1842 Dec. 8.
. 1835 Mai 7.
. 1842 Dec. 8.
. 1835 Febr. 19.
. 1826 Juni 22.
. 1841 März 25.
Marcel de Serres in Montpellier 1826 April 13.
. 1841 März 25.
1612
. 1812
. 1812
. 1834 Febr. 13.
. 1836 März 24.
1841 März 25.
. 1814 März 17.
. 1832 Jan. 19.
. . 1827 Dec. 13.
. 1834 Febr. 13.
. 1833 Juni 20.
Für die philosophisch-historische Klasse,
Herr Avellino in Neapel.......
Graf Borghesi in S. Marino. .
Brandis ın.Bonn „end mi: h
. 1812
. 1836 Juni 23.
. 1832 April 12.
... 1843 Aug. 3.
. 1837 Febr. 16.
XI
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Herr de Chambray in Paris... ......
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- Charles Purton Cooper in London. .
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- ©». Frähn in St. Petersburg... ...
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Geiger RUpsalan 1. 2.0.2000 ser
- Freih. v. Hammer- Purgstall in Wien
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- Haughton in London... .......
- C.F. Hermann in Göttingen .....
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- Kosegarten in Greifswald... ....
HE Fabus an Mailand zn 1er.
- J. J. da Costa de Macedo in Lissabon
- Madvig in Kopenhagen ........
- Finn Magnussen in Kopenhagen... .
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„IE Merer knllllalle, artet. 13 us:
- Millingen in Florenz... .......
„it Mustoxides. ın ‚Cortwine . MM. nu
- de Navarrete in Madrid... .....
- C. F. Neumann in München .....
- Constantinus Oeconomus in St. Petersb.
- MO relliin Zurich. Re Eee
- 'Orti Manaranın Nleronan „u.
- Palgrave in London... ... te
—. NBeyronnLuring ze. leder
- J. Pickering in Boston ........
Et. Quatremere in Paris. .......
- Raoul- Rochette in Paris .......
- ®. Reiffenberg in Brüssel .......
Datum der Wahl.
1833
1821
1836
1812
1834
1829
1819
1836
1536
1814
1812
1837
1840
1329
1521
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1836
1829
1843
1512
1838
1836
1536
1829
Juni 20.
Aug. 16.
Febr. 18.
Dec. 4.
Dee. 10.
Febr. 4.
Juni 23.
Juni 23.
März 17.
Febr. 16.
Nov. 5.
Febr. 12.
Aug. 16.
April 14.
Juni 23.
Dec. 10.
März 2.
Febr. 15.
Juni 23.
Juni 23.
Febr. 28.
Juni 17.
Febr. 13.
Juni 22.
Febr. 18.
Dec. 10.
Dee. 13.
Juni 23.
Dec. 22.
Febr. 18.
Febr. 18.
Febr. 13.
April 12.
Dec. 7.
XII
Datum der Wahl.
Hem: Ro/s in Athen... .. „ou... 1836 Febr. 18.
- ‚Schaffarik in Prag x. .°... 1840 Febr. 13.
- Schmeller in München ..... 1836 Febr. 18.
- ‚Schömann in Greifswald ..... . 1824 Juni 17.
- ‚Spengel in Heidelberg ... ... . 1542 Dec. 22.
- Thiersch in München... ... 1825 Juni 9.
Fhatz ın Riel: acer ler 1542 April 14.
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Physikalische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
.._—nnnananannnananonnn
=. nennen une.
Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie
der Wissenschaften.
1845.
In Commission bei F, Dümnler.
Erf hart
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KARSTEN über die chemische Wahlverwandtschaft .... 2.2.2: -222 0000 eenn 0. 3
Krus: Die Coleopteren- Gattungen: Atkyreus und Bolboceras, dargestellt nach den
in der Sammlung hiesiger Königl. Universität davon vorhandenen
Antenesc es NO ER ee RE
P. RıEss und G. Rose über die Pyro&lektricität der Mineralien ............:
Lisk über die Stellung der Cycadeen im natürlichen System .............--
MÜLLER: Untersuchungen über die Eingeweide der Fische, Schluls der verglei-
chenden Anatomie der Myxinoiden .......:.-...eeeeencn.
Weıss über das Maals der körperlichen Winkel ............222uecene2..
Derselbe: Nachtrag zu einer Abhandlung vom Jahre 1829 ...............
IMENSCHERTIGHNÜber em Goniometer 0.40 een ensure ee erinnere
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Über
die chemische Wahlverwandtschaft.
ge
Von
H” KARSTEN.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 19. Januar 1843.]
| ee werden die Erfolge der chemischen Einwirkung der Körper
auf einander durch die gröfseren oder geringeren Verwandtschaftskräfte er-
klärt, wobei man von der Vorstellung ausgeht, dafs die letzteren von den
ersteren ganz überwältigt werden. Ein solcher Erfolg wird sich daher be-
sonders bei der Zersetzung der Salzauflösungen durch Oxyde zeigen müssen.
Ich habe eine Reihe von solchen Zersetzungsversuchen angestellt. Die Salz-
auflösungen wurden im gesättigten Zustande angewendet und blieben in sol-
chen Fällen, wo durch Schwerauflöslichkeit eine langsame Einwirkung statt
findet, zehn Monate lang stehen, ehe eine Untersuchung der Beschaffenheit
der Mischungen und der Rückstände vorgenommen ward. Die Temperatur
varlirte zwischen 12 und 15° Reaum. Um den Zutritt der Kohlensäure aus
der Luft abzuhalten, wurden die Salzauflösungen mit den Oxyden die auf
sie einwirken sollten, in gläserne Flaschen mit eingeriebenen Glasstöpseln
gebracht und dann noch mit einer Thierblase zugebunden. Von Zeit zu
Zeit, besonders in den ersten Wochen, wurde der Inhalt der Flaschen wö-
chentlich einigemale in Bewegung gesetzt.
Wird eine möglichst concentrirte wässrige Auflösung von kohlen-
saurem Kali mit Kalkwasser versetzt, so bleibt die Mischung lange Zeit
klar und ungetrübt. Ist die Auflösung verdünnt, so stellt sich augenblicklich
ein Niederschlag von kohlensaurem Kalk ein. — Wenn statt des Kalkwassers
“ reine Kalkerde (Ätzkalk) angewendet wird, so bleibt sie in einer concen-
trirten Auflösung des kohlensauren Kali ätzend; wird aber in einer ver-
dünnten Auflösung sogleich in kohlensaure Kalkerde umgeändert. — Die-
selben Erfolge zeigen sich, wenn statt des Kalkwassers oder der reinen Kalk-
Physik.-math. Kl. 1843. A
> Kırsten
erde, Barytwasser oder reine Baryterde den Auflösungen des kohlen-
sauren Kali hinzugefügt werden.
Frisch gefällte kohlensaure Kalkerde und Barytwasser wirken
nicht auf einander und letzteres nimmt eben so wenig eine Spur von Kalk-
erde auf, als sich in der kohlensauren Kalkerde eine Beimengung von etwas
kohlensaurer Baryterde auffinden läfst. — Ebenso zeigen auch frisch gefällte
kohlensaure Baryterde und Kalkwasser sogleich keine Einwirkung
auf einander. Wenn aber die Mischung lange Zeit stehen bleibt, so setzt
sich an den Wandungen des Gefäfses nach und nach eine weilse Rinde ab,
die aus kohlensaurer Kalkerde besteht und es findet sich Baryterde in der
Flüssigkeit aufgelöst.
Wenn eine stark verdünnte wässrige Auflösung von salpetersaurer
Kalkerde mit Barytwasser versetzt wird, so bleibt die Mischung klar.
Ist die Auflösung weniger verdünnt, so schlägt sich Kalkerde nieder, und ist
sie concentrirt, so besteht der Niederschlag aus salpetersaurem Baryt und
aus Kalkerde. — Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Kalkerde nimmt
noch viel Baryterde auf; die flüssige Mischung bleibt klar, wenn ein Luft-
zutritt nicht statt findet. Kann aber Kohlensäure hinzutreten, so setzt sich
eine Rinde von kohlensaurer Kalkerde ab, und zugleich kommen dann, —
wenn die wässrige Auflösung hinreichend concentrirt war, — Krystalle von
Barytsalpeter zum Vorschein. Wendet man mehr Baryterde an, als die
salpetersaure Kalkerdenauflösung aufzunehmen vermag, so bleibt die im
Übermafs vorhandene Baryterde unverändert zurück.
Wird eine concentrirte Auflösung von salzsaurer Kalkerde in
Wasser mit Barytwasser versetzt, so entsteht ein schwacher Niederschlag
von Ätzkalk. War die wässrige Auflösung der salzsauren Kalkerde nicht
concentrirt, so bleibt die flüssige Mischung nach dem Zusatz des Baryt-
wassers klar. — Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde verhält
sich mit Baryterde eben so wie die salpetersaure Kalkerde.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurem Baryt bleibt in allen Con-
centrationszuständen klar, wenn sie mit Kalk wasser versetzt wird. — Wird
reine Kalkerde statt des Kalkwassers angewendet, so löst die flüssige Mi-
schung noch etwas Kalkerde auf; der im Übermafs vorhandene Kalk bleibt
unverändert zurück.
Weder die salpetersaure noch die salzsaure Kalkerdenauflö-
über die chemische W. ahlverwandtschaft. 3
sung in Wasser besitzt die Eigenschaft, die Bittererde aufzulösen, viel-
mehr scheint die Auflösbarkeit der letztern in jenen Mischungen geringer zu
sein als im Wasser.
Wenn eine wässrige Auflösung von salzsaurer Bittererde mit
Kalkwasser versetzt wird, so trübt sich die Flüssigkeit bald, mit Absonde-
rung von schleimiger Bittererde, die noch etwas Salzsäure zurückhält. —
Wird Kalkerde statt des Kalkwassers angewendet, so bleibt, wenn die
Kalkerde in zureichender Quantität vorhanden ist, keine Bittererde in der
flüssigen Mischung zurück.
Eben so ist das Verhalten der wässrigen Auflösung von salzsaurer
Bittererde mit Barytwasser und mit Baryterde. Wird die wässrige
Auflösung der salzsauren Bittererde in einem ganz gesättigten Zustande an-
gewendet und mit Barytwasser versetzt, so bildet sich eine schleimige Flüs-
sigkeit, aus welcher der Niederschlag nur durch Verdünnen mit Wasser,
und auch dann erst nach einigen Tagen zum Sinken gebracht werden kann.
Dieser Niederschlag enthält keine Spur von Salzsäure, aber er besteht aus
einer Verbindung von Bittererde und Baryterde, in noch näher zu bestim-
menden Verhältnissen.
Weder die salzsaure noch die salpetersaure Baryterde besitzt
die Eigenschaft, von der zu ihren wässrigen Auflösungen hinzugefügten
Bittererde etwas aufzulösen. Die flüssige Mischung und die Bittererde
bleiben unverändert.
Eine wässrige Auflösung von Glaubersalz löst Baryterde auf,
welche sodann als Schwerspath wieder abgesondert wird. Wenn genug
Baryterde vorhanden ist, so läfst sich in der Flüssigkeit nur Ätznatron und
Baryterde auffinden.
Eine wässrige Auflösung von Glaubersalz mufs vollkommen gesät-
tigt sein, wenn sie mit Kalkwasser einen Niederschlag geben soll. Wen-
det man statt des Kalkwassers reine Kalkerde an, so löset sie sich langsam
auf und wird in Gips verwandelt. Aus der flüssigen Mischung lassen sich
Ätznatron, Gips und Kalk darstellen, wenn eine hinreichende Menge Kalk-
erde zur Auflösung vorhanden war.
Die Bittererde ist in einer wässrigen Auflösung von Glaubersalz
nicht auflöslich, weshalb beide Substanzen nicht aufeinander wirken. — Wird
ätzendes Natron in eine concentrirte Auflösung von Bittersalz gebracht,
A2
4 Karsten
so bleibt die Flüssigkeit lange klar; ist die Auflösung sehr verdünnt, so wird
sogleich ein Niederschlag von reiner Bittererde gebildet. Bei einem gewissen
(noch näher zu bestimmerden) Concentrationszustande der Bittersalzauflö-
sung wird basische schwefelsaue Bittererde gebildet, deren Verbindungs-
verhältnisse noch zu ermitteln bleiben.
Eine wässrige Auflösung von Glaubersalz löset nicht Zinkoxyd
auf, weshalb keine Wirkung zwischen beiden Substanzen eintritt. — Eine
wässrige Auflösung des Zinkvitriols giebt mit Ätznatron Niederschläge,
deren Beschaffenheit von dem Concentrationszustande der flüssigen Mi-
schung abhängig ist. Nur bei der Anwendung einer sehr verdünnten Auf-
lösung ist der Niederschlag reines Zinkoxyd; bei concentrirten Auflösungen
bilden sich basische schwefelsaure Zinksalze, deren Gehalt an Schwefel-
säure nach dem Concentrationszustande der Mischung veränderlich zu sein
scheint.
Eine wässrige Auflösung von Glaubersalz löset nur sehr langsam
etwas frisch bereitetes und nicht ausgeglühetes Bleioxyd auf, welches als
Bleivitriol wieder abgesondert wird, unter Bildung von ätzendem Natron in
der flüssigen Mischung. — Bei der Anwendung von Glätte zeigen sich nach
zehn Monaten nur Spuren von Bleivitriol und die Flüssigkeit giebt die An-
wesenheit des Ätznatron nur durch Reaction gegen Lacmuspapier zu er-
kennen.
Eine gesättigte wässrige Auflösung von Bittersalz wird durch Ätz-
ammoniak kaum getrübt. Die verdünnte Auflösung wird augenblicklich
zersetzt, indem sich basische schwefelsaure Bittererde mit Ammoniakgehalt
bildet.
In einer wässrigen Auflösung des Bittersalzes löset sich Baryterde
auf, die als Schwerspath wieder abgesondert wird, wobei sich die Bittererde
bald rein, bald mit etwas Schwefelsäure verbunden, ausscheidet, je nach-
dem die wässrige Auflösung verdünnt oder vollkommen gesättigt war. Wenn
der Baryt in hinreichender Menge vorhanden ist, so läfst sich in der Flüssig-
keit nur Baryterde auffinden.
Die wässrige Auflösung des Bittersalzes löset Kalkerde auf, die
sich theilweise als Gips, gemeinschaftlich mit reiner oder mit basisch schwe-
felsaurer Bittererde aussondert, je nachdem die Auflösung verdünnt oder
concentrirt in Anwendung gebracht wird.
über die chemische Wahlverwandtschaft. 5
Eine wässrige Auflösung von Bittersalz löset Bleioxyd auf, wel-
ches als Bleivitriol zusammen mit basisch schwefelsaurer Bittererde abge-
sondert wird. Die Auflösung des Bleioxyds erfolgt jedoch sehr langsam.
Die wässrige Auflösung von Bittersalz löset nur höchst langsam
Zinkoxyd auf, welches, in Verbindung mit Schwefelsäure und Bittererde,
wieder ausgesondert wird. — Eine wässrige Auflösung von Zinkvitriol
löset Bittererde ziemlich leicht unter Absonderung von basischen Salzen
auf; die Flüssigkeit enthält aber auch viel neutrale schwefelsaure Bittererde.
Eine wässrige Auflösung von Bittersalz löset Silberoxyd auf, wel-
ches, als Silbervitriol, gemeinschaftlich mit basisch schwefelsaurer Bitter-
erde ausgesondert wird.
Eine wässrige Auilösung von Bittersalz löset von Kupferoxyd
keine Spur-auf. — Eine wässrige Auflösung von Kupfervitriol löset aber
Bitterde auf, wobei ein basiches schwefelsaures Kupfersalz gebildet und in
der Flüssigkeit Bittersalz angetroffen wird.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Bittererde löset nur sehr
langsam frisch bereitetes Bleioxyd auf, wobei sich basische Salze abson-
dern. Die Flüssigkeit enthält nur Spuren von Bleioxyd und hatte nach Ver-
lauf von zehn Monaten keine bedeutende Veränderung in der Mischung er-
fahren.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Bittererde löset nur sehr
langsam Zinkoxyd auf, unter Absonderung von basischen oder auch von
dreifachen Salzen. Die Flüssigkeit erleidet nach Verlauf von zehn Monaten
nur eine geringe Mischungsveränderung und zeigt nur einen geringen Gehalt
von Zinkoxyd. — Umgekehrt löset auch eine wässrige Auflösung von salz-
saurem Zinkoxyd nur langsam Bittererde unter Absonderung von basi-
schen, viellicht auch von dreifachen Salzen auf. In der Flüssigkeit ist nur
wenig Bittererde aufzufinden.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Bittererde löset (frisch
bereitetes) Silberoxyd in ansehnlicher Menge auf. Es wird Hornsilber und
ein basisches Bittererdensalz gebildet. In der concentrirten Flüssigheit läfst
sich noch Silber auffinden. — Scharf getrocknetes Silberoxyd wird von der
Auflösung der salzsauren Bittererde kaum aufgenommen.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Bittererde löset
frisch bereitetes und nicht scharf getrocknetes Bleioxyd auf, wobei basi-
6 KARSTEN
sche salpetersaure Salze gebildet werden. — Umgekehrt löset aber auch eine
wässrige Auflösung des salpetersauren Bleioxyds, ebenfalls unter Bil-
dung von basischen Salzen, Bittererde auf. Die Zusammensetzung dieser
basischen Salze ist noch zu ermitteln.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Bitter änike löset
frisch bereitetes und nicht scharf getrocknetes Zinkoxyd auf, wobei basi-
sche Salze gebildet werden. — Aber das salpetersaure Zinkoxyd nimmt
auch wieder Bittererde auf, wobei ebenfalls basische Salze entstehen. —
Die Auflösungen der Salze mit erdiger Grundlage werden durch die genann-
ten Metalloxyde immer weit langsamer zersetzt, als die Auflösungen der Me-
tallsalze durch die Erden.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset Baryterde zu
einer klaren und homogenen Flüssigkeit auf. — Umgekehrt wird Kali von
einer wässrigen Auflösung des salpetersauren Baryt in grofser Menge
aufgenommen, ohne dafs eine Absonderung erfolgt.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset Kalkerde auf, aber
auch eine wässrige Auflösung von Kalksalpeter nimmt Kali auf, ohne dafs
eine Absonderung statt findet.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset Bittererde nicht
auf. — Eine gesättigte wässrige Auflösung von salpetersaurer Bittererde
bleibt durch Zusatz von Kali lange klar; durch Verdünnen mit Wasser wird
Bittererde ausgesondert, die nur dann ohne Säuregehalt zu sein scheint,
wenn die Auflösung stark verdünnt ist.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset frisch bereitetes
Bleioxyd in geringer Menge (Glätte gar nicht) auf, wobei ein basisches
Bleisalz gebildet wird. In der Flüssigkeit ist Kali und Blei aufzufinden. —
Eine gesättigte wässrige Auflösung von Bleisalpeter löset Ätzkali unter
Bildung eines basischen salpetersauren Bleisalzes auf; nur wenn die Auf-
lösung stark verdünnt ist, sondert sich reines Bleioxyd ab.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset auch das frisch be-
reitete Zinkoxyd nicht auf. — Die wässrige Auflösung des Zihkenlpellegg
mit Kali verhält sich eben so wie die des Bleisalpeters.
Eine wässrige Auflösung von Kalisalpeter löset frisch bereitetes
Silberoxyd äufserst langsam (scharf getrocknetes gar nicht) auf. In der
Flüssigkeit wird Silber angetroffen. — Concentrirte wässrige Auflösung von
über die chemische Wahlverwandtschaft. 7
Silbersalpeter giebt mit Kali einen Niederschlag, der noch viel Säure
zurück hält, wogegen sich aus der verdünnten Auflösung reines Silberoxyd
aussondert.
Die wässrige Auflösung von Natronsalpeter giebt mit den genann-
ten Körpern dieselben Reactionen wie Kalisalpeter.
Eine gesättigte wässrige Auflösung von Kochsalz giebt mit Baryt-
erde, Kalkerde und Bittererde dieselben Erfolge wie der Kalisalpeter.
— Auch die wässrigen Auflösungen von salzsaurem Baryt, Kalk und von
salzsaurer Bittererde verhalten sich mit Natron, wie die Verbindungen
dieser Basen mit Salzsäure mit dem Kali.
Eine wässrige Kochsalzauflösung löset frisch bereitetes Bleioxyd
langsam (Glätte in höchst unbedeutender Menge) auf. Es entsteht ein basi-
sches Bleisalz; die Flüssigkeit enthält Ätzkali und zeigt noch bedeutende
Reactionen auf Blei. — Aus einer wässrigen Auflösung des Hornblei wird
durch Kali reines Bleioxyd niedergeschlagen.
Eine wässrige Auflösung von Kochsalz löset frisch bereitetes und
nicht scharf getrocknetes Zinkoxyd in sehr geringer Menge und äufserst
langsam auf, unter Absonderung von einem basischen Zinksalz. — Eine
wässrige Auflösung von salzsaurem Zinkoxyd giebt mit Kali einen Nie-
derschlag, der reines Zinkoxyd ist oder noch Säure zurück hält, je nach-
dem die Auflösung im verdünnten oder im concentrirten Zustande ange-
wendet wird.
Eine wässrige Auflösung von Kochsalz löset frisch bereitetes und
nicht scharf getrocknetes Silberoxyd in ansehnlicher Menge auf, wobei
Hornsilber gebildet wird. Die Flüssigkeit enthält Ätzkali, Kochsalz und
Silber. — Scharf getrocknetes Silberoxyd ist fast unauflöslich in der Koch-
salzauflösung.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde löset Bleioxyd,
unter Bildung von basischem Bleisalz und wahrscheinlich auch von basisch
salzsaurer Kalkerde auf. Die Flüssigkeit enthält Kalk und Blei. Eine con-
centrirte Auflösung bewirkt zwar eine schnellere Auflösung des Bleioxyds
als eine verdünnte, aber bei der Anwendung der letzteren bleibt mehr Blei-
oxyd in der Flüssigkeit zurück.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde löset auch das
frisch bereitete und nicht scharf getrocknete Zinkoxyd nur sehr langsam
8 KırsteEn
und in höchst geringer Menge auf, unter Bildung von basisch salzsaurem
Zinkoyd. — Eine wässrige Auflösung von salzsaurem Zinkoxyd löset
Kalkerde auf, unter Absonderung von Zinkoxyd, wenn die Auflösung in
verdünntem Zustande angewendet wird, und von basischem salzsaurem Zink-
salz aus einer concentrirten Auflösung.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde löset frisch be-
reitetes und nicht scharf getrocknetes Silberoxyd langsam auf und nach
Verlauf von zehn Monaten findet sich nur eine geringe Menge von Horn-
silber, welches, nebst (wahrscheinlich) basisch salzsaurem Kalk gebildet wird.
Scharf getrocknetes Silberoxyd ist unauflöslich.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Kalkerde löset frisch
bereitetes und nicht scharf getrocknetes Bleioxyd in ansehnlicher Menge
auf, unter Bildung von basischen Blei- und Kalksalzen. Die Flüssigkeit ent-
hält aber auch Ätzkalk und Blei. — Die Niederschläge aus der wässrigen
Auflösung des salpetersauren Bleioxyds durch Kalk sind reines Blei-
oxyd oder basich salpetersaure Bleisalze, je nachdam die Auflösung im ver-
dünnten oder concentrirten Zustande angewendet wird. Bei einer ganz ge-
sättigten Auflösung des Bleisalpeters scheint auch basisch salpetersaure Kalk-
erde gebildet zu werden.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Kalkerde löset nur
frisch bereitetes und nicht scharf getrocknetes Zinkoxyd sehr langsam und
unter Bildung von basischem salpetersaurem Zinkoxyd auf, so dafs nach Ver-
lauf von zehn Monaten die Mischungsveränderung wenig bedeutend ist. —
Die wässrige Auflösung des salpetersauren Zinkoxyds wird durch Kalk
eben so zerlegt wie die wässrige Auflösung des salzsauren Zinkoxyds.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Kalkerde löset frisch
bereitetes und nicht scharf getrocknetes Silberoxyd langsam auf, wobei
basische Salze zu entstehen scheinen.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurer Kalkerde so wenig
als die von salzsaurer Kalkerde, äufsern auf das Kupferoxyd eine auf-
lösende Wirkung.
Die wässrige Auflösung von salzsaurer Baryterde zeigt gegen
Bleioxyd, Zinkoxyd, Silberoxyd und Kupferoxyd dieselben Reac-
tionen, wie die wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde zu diesen Kör-
pern. — Das Verhalten einer wässrigen Auflösung des salzsauren Zink-
über die chemische Wahlverwandtschaft. 9
oxyds mit Baryterde ist von dem Concentrationszustande der Auflösung
abhängig. Aus einer concentrirten Auflösung, wird nur basisches salzsaures
Zinkoxyd abgesondert; eine stark verdünnte Auflösung giebt einen Nieder-
schlag von reinem Zinkoxyd. — In einer wässrigen Auflösung von Zink-
vitriol wird Baryterde bald in Schwerspath verwandelt, unter Absonde-
rung eines basischen schwefelsauren Zinksalzes.
Die wässrigen Auflösungen von salpetersaurer Baryterde zeigen
dieselben Reactionen wie die wässrigen Auflösungen der salpetersauren Kalk-
erde mit Bleioxyd, Zinkoxyd, Silberoxyd und Kupferoxyd. — Aus
der wässrigen Auflösung des salpetersauren Bleioxyds wird durch Ba-
ryterde entweder basisches salpetersaures Bleioxyd (und, wie es scheint, in
mehrfachen Verbindungsverhältnissen der Säure zum Oxyd) oder reines (?)
Bleioxyd abgesondert, je nachdem die Auflösung mehr oder weniger con-
centrirt war. — Ähnlich ist das Verhalten der wässrigen Auflösung des sal-
petersauren Zinkoxyds mit Baryterde, nur dafs bei einer geringeren
Verdünnung der Auflösung schon reines Zinkoxyd abgesondert wird, indem
nur bei ganz gesättigter Auflösung ein basisches Zinksalz gebildet zu werden
scheint.
Die wässrige Auflösung von schwefelsaurem Eisenoxydul, so wie
die wässrige Auflösung von salzsaurem Eisenoxydul lösen Kali, Na-
tron, Baryterde und Kalkerde auf, ohne dafs eine Absonderung statt
findet. Auch durch Zusatz von Atzammoniak bleiben die Auflösungen un-
unverändert.
Weder die wässrige Auflösung von schwefelsaurem Eisenoxydul
noch die von salzsaurem Eisenoxydul zeigen eine auflösende Wirkung
auf das Bleioxyd, Zinkoxyd, Silberoxyd oder Kupferoxyd.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurem Zinkoxyd löset Blei-
oxyd auf, wobei basisch salzsaure Salze gebildet werden. Die Auflösung
erfolgt mit nicht zu langsamen Fortschreiten nur bei Anwendung von frisch
bereitetem, nicht scharf getrocknetem Bleioxyd. Bei der Anwendung von
Glätte ist eine lange Zeit der Einwirkung erforderlich, die auch nach zehn
Monaten nicht bedeutend vorgeschritten war. — Eine wässrige Auflösung
von Hornblei löset Zinkoxyd auf, unter Absonderung von basischen
Salzen. — Wenn die Einwirkung vollständig erfolgt ist, so läfst sich in der
Flüssigkeit nur noch eine Spur von Metallen auffinden.
Physik.-math. Kl. 1843. B
10 KırsteEen
Eine wässrige Auflösung von salzsaurem Zinkoxyd löset Silber-
oxyd auf, unter Bildung von Hornsilber und Zinkoxyd, welches noch Salz-
säure zurück hält, in einem quantitativen Verhältnifs, welches näher zu be-
stimmen bleibt. — Wenn das Silberoxyd scharf getrocknet war, so schreitet
die Auflösung nur langsam vor.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurem oder von salpetersaurem
oder von schwefelsaurem Zinkoxyd löset von Kupferoxyd keine Spur
auf, so dafs eine Einwirkung dieser Substanzen auf einander nicht statt fin-
det. — Dagegen löset eine wässrige Auflesung von Kupfervitriol sehr
leicht Zinkoxyd auf, wobei sich nur basisches schwefelsaures Kupferoxyd,
aber kein basisches Zinksalz bildet. In der Flüssigkeit läfst sich nur schwefel-
saures Zinkoxyd auffinden, wenn eine hinreichende Menge Zinkoxyd zur Zer-
setzung des Kupfervitriols angewendet wird.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Zinkoxyd löset frisch
bereitetes Silberoxyd leicht auf, unter Bildung von basischem salpeter-
saurem Zinksalz. Ob auch ein basisches salpetersaures Silbersalz gebildet
wird, ist zweifelhaft. — Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Sil-
beroxyd löset Zinkoxyd auf, unter Bildung von basischen Salzen. Die
Auflösung schreitet aber nur sehr langsam vor.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Zinkoxyd löset frisch
bereitetes und nicht scharf getrocknetes Bleioxyd ziemlich leicht (Glätte
nur sehr langsam) auf. Es scheint, dafs die Auflösung nur die Bildung von
basischen Salzen zur Folge hat. — Eine wässrige Auflösung von salpeter-
saurem Bleioxyd löset frisch bereitetes und nicht scharf getrocknetes
Zinkoxyd auf, wobei sich ebenfalls basische Salze zu bilden scheinen.
‘ Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Bleioxyd löset Sil-
beroxyd, wenn es nicht zu schaf getrocknet ist, sehr leicht auf. Ein ba-
sisches Silbersalz scheint zwar ebenfalls gebildet zu werden, besonders aber
ein basisches Bleisalz, welches sich in spiefsigen Krystallen absondert, die
bei dem Auflösen in Wasser zersetzt werden. Wenn Silberoxyd in hinrei-
chender Menge angewendet wird, so enthält die Flüssigkeit nur Silbersalz. —
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Silberoxyd löset frisch
bereitetes und nicht stark getrocknetes Bleioxyd ziemlich leicht auf, unter
Bildung von basischen salpetersauren Salzen.
Eine wässrige Auflösung von Hornblei löset selbst das frisch berei-
über die chemische W ahlverwandtschaft. 11
tete und nicht scharf getrocknete Silberoxyd nur sehr langsam auf, wobei
Hornsilber und ein basisches Bleisalz gebidet werden.
Die wässrige Auflösung von schwefelsaurer, salzsaurer und sal-
petersaurer Thonerde lösen nicht blofs die Alkalien, die Baryterde,
Kalkerde und Bittererde, sondern auch das Bleioxyd, Zinkoxyd, Silberoxyd
auf, unter Absonderung von Ihonerde, die, bei concentrirten Auflösungen,
noch Säure zurckhält, in so fern nicht die fixen Alkalien oder die Baryt-
und Kalkerde zur Zersetzung der Thonerdensalze angewendet werden. —
Auch das Kupferoxyd wird, wiewohl sehr langsam, von den Thonerden-
salzen aufgenommen und dabei Thonerde mit Säuregehalt abgesondert. —
Die Thonerde wird dagegen von keiner wässrigen Auflösung der alkalischen
und erdigen Salze und der genannten Metallsalze aufgelöst, so dafs auch
eine wechselseitige Einwirkung zwischen ihr und diesen Salzen nicht erfol-
gen kann.
Die wässrigen Auflösungen der Thonerdensalze lösen Eisenoxyd
nicht auf, aber die wässrigen Auflösungen der Eisenoxydsalze zeigen auch
auch keine auflösende Einwirkung auf die Thonerde.
Die wässrigen Auflösungen des schwefelsauren und salzsauren
Eisenoxyds lösen, wie die Thonerdensalze, alle die vorhin genannten
Salze auf, unter Absonderung von reinem oder mit Säure verbundenem
Eisenoxyd, je nachdem verdünnte oder concentrirte Auflösungen angewen-
det werden. — Das Eisenoxyd verhält sich zu jenen Salzen wie die Thon-
erde.
Die wässrigen Auflösungen des Kupfervitriols verhalten sich mit
allen oben genannten Basen (mit Ausnahme der Thonerde und des Eisen-
oxyds) wie die Salze der Thonerde und des Eisenoxyds, nur mit dem Unter-
schiede, dafs die Auflösung der genannten Basen in der Kupfervitriolauflö-
sung ungleich langsamer als in den wässrigen Auflösungen der Thonerden-
und Eisenoxydsalze erfolgt. — Das Kupferoxyd ist in den wässrigen Auflö-
sungen aller jener Salze, mit Ausnahme der Thonerde - und der Eisenoxyd-
salze, unauflöslich.
Die wässrige Auflösung von Kalisalpeter, Natronsalpeter, Kalk-
salpeter, Kochsalz, Glaubersalz und Bittersalz lösen nach langer
Zeit sehr geringe (Quantitäten von Quecksilberoxyd auf, wobei die Mi-
schungsveränderungen nach Verlauf von zehn Monaten aber so unbedeutend
B2
12 Kırsten
sind, dafs das Vorhandensein des Quecksilberoxyds in der flüssigen Mischung
nur durch Reagentien erkannt werden kann.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Baryterde löset sehr lang-
sam etwas Quecksilberoxyd, unter Bildung von basischem Quecksilber-
salz, auf. In der Flüssigkeit wird nur wenig Quecksilberoxyd angetroffen. —
Eine wässrige Auflösung von Sublimat löset Baryterde auf, unter Bil-
dung von basischem Quecksilbersalz.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Kalkerde löset langsam
Quecksilberoxyd auf, wobei sich basische Salze abzusondern scheinen. —
Eine wässrige Auflösung von Sublimat löset Kalkerde auf, unter Abson-
derung von basischem (uecksilbersalz.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurer Bittererde löset sehr leicht
Quecksilberoxyd auf, wobei sich theils Sublimat bildet, welches in der
Flüssigkeit aufgelöst bleibt, theils ein basisches Quecksilbersalz und Bitter-
erde, welche in einer concentrirten Auflösung immer Salzsäure zurückhält
und ein basisches Salz von nicht ermittelter Zusammensetzung bildet. — Eine
wässrige Auflösung von Sublimat wird durch Bittererde langsam zersetzt.
Es scheint salzsaure Bittererde und ein basisches Quecksilbersalz gebildet zu
werden. Ob sich auch basische salzsaure Bittererde absondert, wird näher
zu ermitteln sein.
Eine wässrige Auflösung von salzsaurem Zinkoxyd löset lang-
sam Quecksilberoxyd auf, unter Absonderung basischer salzsaurer Salze
von unbekannter Zusammensetzung. Bei einer hinreichenden Menge von
Quecksilberoxyd ist in der Flüssigkeit nur Quecksilberoxyd zu finden. —
Eine wässrige Auflösung von Sublimat löset langsam Zinkoxyd auf, unter
Absonderung von basischen Salzen. Eine vollständige Zersetzung hat in zehn
Monaten nicht bewerkstelligt werden können.
Eine wässrige Auflösung von Zinkvitriol fand sich nach Verlauf von
zehn Monaten durch Quecksilberoxyd kaum verändert. Die Flüssigkeit
enthält nur Spuren von Quecksilber und der Rückstand nur sehr wenig
Zinkoxyd.
Eine wässrige Auflösung von Chlorblei löset Quecksilberoxyd
leicht auf. Die Zersetzung erfolgt durch Bildung basischer Salze; in der
Flüssigkeit ist nur Quecksilberoxyd aufzufinden, so dafs theilweise auch Su-
blimat gebildet zu werden scheint. — Eine wässrige Auflösung von Subli-
über die chemische Wahlverwandtschaft. 13
mat löset langsam Bleioxyd auf, unter Bildung von basischen Salzen. Wird
statt des frisch bereiteten und nicht scharf getrockneten Bleioxyds Glätte
angewendet, so schreitet die Zersetzung sehr langsam vor.
Eine wässrige Auflösung von Kupfervitriol löset Quecksilber-
oxyd auf, wobei basische Salze gebildet werden. Die Flüssigkeit enthält
zuletzt kein Kupferoxyd mehr, wohl aber noch Quecksilberoxyd, so dafs
anch neutrales schwefelsaures Quecksilberoxyd theilweise gebildet wird. —
Eine wässrige Auflösung von Sublimat löset keine Spur von Kupfer-
oxyd auf.
Eine wässrige Auflösung von salpetersaurem Bleioxyd löset
Quecksilberoxyd auf, unter Bildung von basischen Salzen.
Eine wässrige Auflösung von Zinkvitriol wird durch frisch berei-
tetes Bleioxyd schon nach wenigen Wochen zerlegt, indem Bleivitriol und
basisches schwefelsaures Zinkoxyd gebildet werden. Bei einer hinreichen-
den Menge von Bleioxyd enthält die Flüssigkeit nur Spuren von beiden Me-
tallen. Glätte wirkt sehr langsam.
Eben so verhält sich eine wässrige Auflösung des Zinkvitriols mit
frisch bereitetem und mit scharf getrocknetem Silberoxyd.
Die Salze, deren Zersetzbarkeit durch eine andere Basis vermittelst
der sogenannten einfachen Wahlverwandtschaft geprüft werden soll, müs-
sen so gewählt sein, dafs sie sich in nicht zu geringer Quantität in Wasser
auflösen, dafs sie also nicht sehr schwer auflöslich sind, und dafs sie bei der
Einwirkung einer anderen Basis schwer auflösliche Zersetzungsprodukte lie-
fern, weil die Absonderung einer bestimmten Art das einzige Criterium der
vorausgesetzten näheren Verwandtschaft darbietet. Bei den metallischen
Salzen, welche sich zu solchen Prüfungen am besten eignen würden, wird
die Auswahl dadurch beschränkt, dafs es bei vielen derselben schwierig ist,
sie genau im Zustande der Neutralität darzustellen. So geringe aber auch
die Zahl der hier mitgetheilten Beispiele sein mag, so ergeben sich doch
daraus Resultate, die den vorausgesetzten Wirkungen der einfachen Wahl-
verwandtschaft nicht entsprechen. Schon beim ersten Blick ist eine gewisse
Annäherung des Verhaltens der Basen zu den wässrigen Auflösungen der
Salze, mit den Erfolgen nicht zu verkennen, die sich bei der Auflösung der-
jenigen Salze in Wasser darbieten, welche die Eigenschaft besitzen, sich
wechselseitig theilweise aus ihren gesättigten wässrigen Auflösungen abzu-
14 Kırsrten
sondern. Die Wirkungen der sogenannten einfachen Wahlverwandtschaft
lassen sich auf die Auflösbarkeit der Basen in den wässrigen Auflösungen
der Salze zurückführen und die dann erfolgende Absonderung der neuen
Arten ist lediglich eine Folge ihrer Schwerauflöslichkeit in der allgemeinen
Mischung. Dennoch darf es keinesweges verkannt werden, dafs, so wie die
Auflösbarkeit der Körper eine sehr verschiedene, häufig sogar eine ganz
verschiedenartige, nur auf bestimmte Flüssigkeiten beschränkte ist, eben
so auch die Verbindungsfähigkeit der Körper unter einander sich verschie-
den zeigt und dafs einige Basen eine gröfsere Verbindungsfähigkeit zu den
Säuren äufsern, als andere. Diese gröfsere oder geringere Verbindungs-
fähigkeit ist jedoch nicht die Wirkung einer Kraft, die von derjenigen ver-
schieden gedacht werden mufs, durch welche sich ein bestimmt gearteter
Körper aus einer flüssigen Mischung absondert, sondern sie ist die bil-
dende Thätigkeit der Materie selbst, durch welche aus einer homogenen
Mischung ein bestimmt gearteter Körper abgesondert wird. Wäre sie nicht
diese bildende Thätigkeit des Körpers selbst, so würde sie unter allen Um-
ständen wirksam sein und der Concentrationszustand der Mischung würde
eben so wenig als die Verschiedenheit der Temperatur, einen Einflufs auf
die Natur des entstehenden Körpers haben können. Wäre sie wirklich eine
absolute, von der bildenden Thätigkeit der Materie unabhängige Kraft, so
würden die, nach den mitgetheilten Beispielen, scheinbar erfolgenden wech-
selseitigen Zersetzungen der Mischungen, unter gleichen Temperaturverhält-
nissen und Concentrationszuständen, durchaus unmöglich sein; es würde
nicht A-++B durch € eine Veränderung erleiden können, wenn die Mischungs-
verhältnisse von A-+C durch B gestört werden.
Der Begriff von chemischer Wahlverwandtschaft, oder von näherer
und entfernterer Verwandtschaft der Körper, hat wesentlich dazu beigetra-
gen, unsere Kenntnifs von der Anzahl der Verbindungen der Körper mit
einander zu erweitern und ein allgemeines Bild von dem Verhalten der che-
mischen Stoffe zu einander zu erhalten, so lange sich die Chemie noch in
der Kindheit befand. Es ist sogar wahrscheinlich, dafs man ohne die An-
nahme von näheren und entfernteren Verwandtschaftskräften erst später zu
der Kenntnifs von den bestimmten Verbindungsverhältnissen der Körper ge-
langt sein würde, zu einer Kenntnifs, in welcher der ganze Schatz unseres
chemischen Wissens enthalten ist. Aber es ist nicht zu verkennen, dafs je-
über die chemische W ahlverwandischaft. 15
ner Begriff nur von den unrichtig gedeuteten Erfolgen einzelner, mit unver-
kennbarer Bestimmtheit hervortretender Fälle entnommen worden ist, um
die Ursache einer Erscheinung zu erklären, die in der vorausgesetzten Art
nicht vorhanden ist. Eine flüssige Mischung wird darum nicht heterogen,
weil ein dritter Körper, der gleichfalls auch in die Mischung eingeht, einen
Bestandtheil der letzteren an sich zieht und den anderen auflöset, sondern
darum, weil unter den vorhandenen Concentrations- und Temperatur-
verhältnissen die Bildung einer bestimmten Art veranlafst wird, so dafs
durch die Art des sich bildenden Körpers das Heterogenwerden der Mi-
schung und die quantitativen Verhältnisse der Mischunsveränderung herbei-
geführt werden, aber die Verbindungsverhältnisse der flüssigen Mischung
nicht umgekehrt die Art des sich aussondernden Körpers bestimmen. Dar-
um können aus einer Mischung, worin sich der zusammengesetzte Körper
A-+-B befindet, durch den Zutritt des Körpers C eben so wohl neue Arten
entstehen, als aus einer Mischung, worin der zusammengesetzte Körper
A-+-C enthalten ist, durch den Zutritt des Körpers B; ein Erfolg, der —
wenigstens bei gleichen Temperaturverhältnissen, — ganz unmöglich sein
würde, wenn von einer näheren und entfernteren Verwandtschaft als von
einer absoluten Kraft, der Erfolg der Mischungsveränderung abhängig
wäre.
Die geringe Anzahl der mitgetheilten Beispiele reicht schon vollkom-
men hin, die Vorstellung von einer chemischen Wahlverwandtschaft als eine
nicht richtige anzuerkennen. Die Erscheinungen bieten nichts dar, was zur
Annahme einer solchen unbekannten Kraft nöthigte und die Resultate ent-
halten nichts, was dazu berechtigte. Die Gröfse der Wirkung steht mit der
Auflöslichkeit der Basis in der flüssigen Mischung in einem einfachen Ver-
hältnifs. Eine Mischungsveränderung, die in einigen Fällen fast augenblick-
lich erfolgt, findet in andern erst nach mehren Tagen oder Wochen statt,
in andern hat sie nach einem Verlauf von zehn Monaten kaum begonnen
und in noch anderen tritt sie gar nicht ein, und alle diese Erfolge finden
ihren Grund nur allein in der Verbindungsfähigkeit der Stoffe überhaupt;
sie sind allein von der gröfseren oder geringeren Auflösbarkeit der Basis
in der gegebenen Mischung abhängig. Körper, die ihrer chemischen Natur
nach für ganz übereinstimmend gehalten werden müssen, bringen daher bald
eine bemerkbare und schnell fortschreitende, bald eine kaum bemerkbare
16 Kırsten
und als nicht vorhanden betrachtete Mischungsveränderung in der Flüssig-
keit hervor, je nachdem ihre Auflösbarkeit durch sehr gelindes Trocknen
erhöhet, oder durch starkes Trocknen und Ausglühen vermindert worden
ist. Silberoxyd, welches die wässrige Auflösung des salzsauren Bleioxyds
leicht und schnell zersetzt, wird durch starkes Trocknen fast unwirksam;
frisch bereitetes und unausgeglühetes Bleioxyd, welches die Zersetzung einer
Kochsalzauflösung und der Auflösungen anderer Salze ohne grofse Schwie-
rigkeit bewirkt, bringt im Zustande der Glätte eine kaum erkennbare Mi-
schungsveränderung in derselben Flüssigkeit hervor, und eben so verhält es
sich mit den andern Oxyden. Merkwürdig bleibt es dabei allerdings, dafs
sich gewisse Reihen von Oxyden bilden, die sich leichter oder schwerer auf-
löslich zeigen, während anderen die Auflösbarkeit in den wässrigen Auflö-
sungen der Salze ganz abgeht, und nicht minder merkwürdig ist es, dafs sich
diese Übereinstimmung auch sonst in dem physikalischen Verhalten dieser
Oxyde ausspricht. Die Alkalien, die Kalkerde, die Baryterde und das Eisen-
oxydul bilden eine solche Reihe, die Oxyde des Bleies, des Zinks, des Sil-
bers und annähernd auch die Bittererde bilden eine zweite, das Kupferoxyd
mit anderen noch näher zu ermittelnden Oxyden eine dritte, die Thonerde
und wahrscheinlich noch mehrere Oxyde, deren Metalle auf einer höheren
Verbindungsstufe mit dem Sauerstoff stehen, eine vierte Reihe. Dies ist in-
defs immer nur eine bis jetzt noch bedeutungslose Classification der Oxyde
und ihrer chemischen Verbindungen mit andern Körpern, mit welcher bis
jetzt noch nichts weiter bezweckt werden kann, als dem Gedächtnifs durch
Zusammenstellung derjenigen chemischen Stoffe zu Hülfe zu kommen, wel-
che bei aller Verschiedenheit doch eine gewisse Übereinstimmung in ihrem
chemischen und physikalischen Verhalten zeigen. Die Verbindungen der
metallischen Radikale der Alkalien, der Kalkerde, der Baryterde mit Sauer-
stoff, und die Vereinigung dieser Oxyde mit Säuren, liefern zusammen-
gesetze Körper von ungleich stärkerer Verdichtung der Materie, als die
Verbindungen der Metalle und ihrer Oxyde mit Sauerstoff und mit Säu-
ren, und dieser Verschiedenheit des Verdichtungszustandes oder der Inten-
sität der Verbindungen ist es zuzuschreiben, dafs sich bei der Einwirkung
der Alkalien und Erden auf andere alkalische und erdige Salze, Erfolge
darbieten, die von denen verschieden sind, welche bei der Einwirkung
jener Oxyde auf Metallsalze, und von denen, welche bei der Einwirkung
über die chemische Wahlverwandtschaft. 17
der Metalloxyde auf die alkalischen oder auf die metallischen Salze er-
halten werden.
Wenn schon ein Zeitraum von einigen Monaten hinreicht, die Er-
folge der wechselseitigen chemischen Einwirkungen einer Anzahl von Kör-
per auf einander ganz anders erscheinen zu lassen, als sie nach den ange-
nommenen Verwandtschaftserfolgen vorausgesetzt worden sind, so ist nicht
zu bezweifeln, dafs die unvollständigen Zersetzungsresultate, welche sich in
einigen Fällen dargeboten haben, in einer längeren Zeitperiode eben so
vollständig eingetreten sein würden, als sie in anderen Fällen in kürzerer
wirklich nachgewiesen worden sind, indem die langsame und daher kaum
wahrnehmbare Wirkung nur allein als eine Folge der Schwerauflöslichkeit
der Oxyde in den gegebenen flüssigen Mischungen betrachtet werden mufs.
Da indefs die Zersetzungsprodukte häufig schon von dem Concentrations-
zustande der Mischung abhängig sind und da ein veränderter Concentrations-
zustand auch sehr wahrscheinlich eine veränderte Auflösungsfähigkeit zur
Folge hat, so liegt schon in dem Concentrationszustande der Mischungen
der Grund zu einem sehr verschiedenartigen Verhalten und zu einem ganz
abweichenden Erfolge bei dem Zusammentreffen derselben mit andern Kör-
pern. Noch gröfsere Verschiedenheiten werden sich durch veränderte Tem-
peraturverhältnisse darbieten, wie es beispielsweise bekannt ist, dafs die
Baryterde nur in der erhöheten Temperatur durch ätzende Alkalien aus dem
Schwerspath dargestellt werden kann. Was man als die Wirkung der ein-
fachen Wahlverwandtschaft angesehen hat, ist also nur die Folge der Ver-
bindungsfähigkeit der chemischen Stoffe überhaupt und des alsdann wieder
eintretenden Heterogenwerdens der entstandenen Mischung durch die bil-
dende Thätigkeit der Materie, die in ihren Wirkungen zwar aus einem be-
stimmten, aber durch den jedesmaligen Zustand der Mischung bedingten
und daher veränderlichen, und keinesweges aus einem unveränderlichen Ge-
setz erkannt werden mufs. Indem man die Verwandtschaftskräfte der Kör-
per für die verschiedenen Temperaturen oder auch für die verschiedenen
Concentrationszustände der Mischung willkührlich modifieirt, ist man nur
bemüht, die Wirkung jener vorausgesetzten Kraft mit dem wirklichen Er-
folg des Prozesses in Übereinstimmung zu bringen, zu welcher Betrachtungs-
weise man vielleicht berechtigt sein würde, wenn das Vorhandensein einer
solchen Kraft überhaupt erweisbar wäre. Wenn die Erfahrung aber lehrt,
Physik.-math. Kl. 1843. C
48 Karsten
dafs auch bei gleich bleibenden Temperaturen und Concentrationszuständen
der Mischung, das Heterogenwerden der letzteren mit den Wirkungen der
angenommenen Kraftim Widerspruch steht, so wird man genöthigt sein, den
Vorstellungen von näheren und entfernteren Verwandtschaftskräften zu ent-
sagen, denen man zeither einen Erfolg bei der chemischen Einwirkung der
Körper auf einander zugeschrieben hat, der in der Wirklichkeit entweder
gar nicht statt findet, oder sich nur auf einige besondere Fälle beschränkt,
die in der Natur des sich absondernden Körpers ihre vollständige Erklärung
finden.
Bei den Erfolgen, die man der Wirkung der sogenannten doppelten
Wahlverwandtschaft zuschreibt, soll bekanntlich durch die Summe der Ver-
wandtschaftskräfte bewirkt werden, was die einfache Verwandtschaftskraft
zu bewirken nicht vermag. Auch diese Vorstellung ist nichts weiter als eine
dem Erfolg des Prozesses angepafste Erklärung, welche so wenig von all-
gemeiner Gültigkeit ist, dafs sie für jeden einzelnen Fall nach der Ver-
schiedenheit der Temperatur und nach dem verschiedenen Concentrations-
zustande der Mischung modifieirt werden mufs. Eine wässrige Kochsalz-
auflösung wird, im verdünntem Zustande angewendet, durch den Zusatz von
kohlensaurem Ammoniak nicht heterogen, sondern es bildet sich eine homo-
gene Flüssigkeit. Ist die Auflösung beider Salze concentrit, so wird, gegen
alle Voraussetzung, eine Verbindung von Natron, Wasser und Kohlensäure
abgesondert. Wird zu einer verdünnten wässrigen Auflösung des salzsauren
Eisenoxyds kohlensaures Ammoniak in hinreichender Menge hinzugefügt, so
ist in der Flüssigkeit kein Eisenoxyd mehr aufzufinden, indem es im unver-
bundenen Zustande vollständig abgesondert wird. Werden die Auflösungen
im concentrirten Zustande angewendet, so erfolgt keine Spur von Absonde-
rung, sondern die Mischung bleibt homogen. — Wird eine möglichst con-
centrirte Auflösung von kohlensaurem Kali oder kohlensaurem Natron den
concentrirten Auflösungen von salzsaurer Kalkerde, salzsaurer Baryterde,
salzsaurer Bittererde, salz - oder salpetersaurem Zinkoxyd, salpetersaurem
Bleioxyd, salpetersaurem Kupferoxyd, Kupfervitriol, Eisenvitriol, Bittersalz
und ohne Zweifel von noch anderen Salzen, hinzugefügt, so entsteht ein
heftiges Aufbrausen und es werden Niederschläge gebildet, deren Zusammen-
setzung sich nicht ermitteln läfst, weil sie sämmtlich durch einen Zusatz von
Wasser zersetzt werden; auch die über deren Niederschläge befindliche
über die chemische W ahlverwandtschaft. 19
Flüssigkeit selbst erleidet in vielen Fällen durch Verdünnen mit Wasser eine
Zersetzung. Es werden daher bei den verschiedenen Concentrationszustän-
den der Mischung ganz verschiedene Verbindungen gebildet. Bringt man
kohlensauren Baryt oder kohlensaure Bittererde zu einer concentrirten Auf-
lösung von Zinkvitriol, so findet eine Entwickelung von Kohlensäure statt
und man erhält Zersetzungsprodukte, die durch Wasserzusatz verändert
werden.
Wässrige concentrirte Auflösungen von Glaubersalz, Bittersalz, salz-
saurer Baryterde, salzsaurer Bittererde, salpetersaurem Bleioxyd und sal-
petersaurem Silberoxyd lösen keine Spur von kohlensaurer Kalkerde auf. —
Dagegen wird die kohlensaure Baryterde langsam aufgelöst von concentrir-
ten wässrigen Auflösungen des Glaubersalzes, Bittersalzes, Zinkvitriols, der
salzsauren Kalkerde, aber nicht des salzsauren Zinkoxyds. — Die kohlen-
saure Bittererde wird langsam aufgenommen von den concentrirten wässri-
gen Auflösungen des Zinkvitriols, der salzsauren Kalkerde und der salz-
sauren Baryterde. Diese und ähnliche Erfolge erklärt man aus den Wir-
kungen der Verwandtschaftskräfte, die sich gegenseitig unterstützen sollen.
Bei dieser Erklärungsart wird vorausgesetzt, dafs sich die Gröfse der Ver-
wandtschaftskraft durch eine bestimmte Zahl ausdrücken lassen mufs, die
man nicht kennt und zu deren Annahme auch kein Grund vorhanden ist,
weil die Zersetzungsprodukte nicht von einer hypothetischen Verwandt-
schaftskraft, sondern von der Auflösbarkeit eines Körpers in einer flüssigen
Mischung und von der Natur der nur unter bestimmten Umständen sich ab-
sondernden bestimmten Arten abhängig sind.
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Die Coleopteren -Gattungen: Athyreus und Dolboceras,
dargestellt nach den in der Sammlung hiesiger Königl.
Universität davon vorhandenen Arten.
erte TG.
munnmmanwamvVen
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 26. October 1843.]
D.: Zweck dieser Zusammenstellung ist, aufser der Bekanntmachung der
zum Theil neuen Arten der hiesigen Königl. Sammlung, die Berichtigung und
Vervollständigung der bei Untersuchung der Arten unrichtig befundenen,
bisherigen systematischen Angaben.
Beide in der Überschrift genannte Gattungen gehören bekanntlich
der grofsen, die Linneischen genera: Scarabaeus und Lucanus umfassenden
Familie der „Lamellicornes” der Latreilleschen Aufstellung der Insekten in
Cuvier’s regne animal, und zwar der ersten Abtheilung: Scarabaeides (Sca-
rabaeus Linn.), genauer der von Latreille in den genera crustaceorum et
insectorum (11. p. 91) schon aufgeführten, nachher verlassenen und von La-
porte, Grafen von Castelnau (Histoire natur. des Insectes Coleopteres) wie-
der aufgenommenen Familie Geotrupini an. Beide, sowohl Bolboceras,
als mehr noch Aihyreus, sind in dieser Gruppe im Allgemeinen ausgezeich-
net in Hinsicht der äufsern Form durch Sculptur und Bewaffnung von Kopf-
und Halsschild, welche Theile bei den Geotrupinen sonst glatt oder nur ein-
fach gehörnt sind. In der Bildung der Fühlerkeule stimmen sie darin über-
ein, dafs deren mittleres Blatt von den beiden äufsern wie von einer Kapsel
eingeschlossen und verdeckt werden kann, in der Form der Maxillen aber,
dafs an der innern Lade derselben zwei scharfe und gekrümmte Zähne, von
welchen der obere gespalten, der untere einfach ist, hervortreten. — Die
Gattung: Athyreus
wurde im Jahre 1819 von Mac-Leay in den Horae entomologicae (1.1. Ap-
pendix S. 123) neu gegründet. Bei Bestimmung der Gattungskennzeichen
22 Kıvc: Die Coleopteren-Gatiungen:
wurde zunächst auf die Structur des innern Mundes Rücksicht genommen,
diese ausführlich, nur nicht in allen Punkten genau, angegeben, durch eine
richtige Abbildung (Fig. 11.) jedoch hinreichend erläutert. Anderweitige
Unterscheidungs- Merkmale, hier besonders wichtig wegen der in Einrich-
tung der Fühlerkeule und Bildung der innern Mundtheile fast vollkommenen
Übereinstimmung mit Bolboceras, sind von Mac-Leay nicht unbeachtet
gelassen, namentlich in Beziehung auf Athyreus bemerkt und hervorgeho-
ben worden: die bedeutende Entfernung der Hüftstücke der mittleren Beine
von einander, ähnlich wie bei Phanaeus, Copris, Onitis u. s. w., zufolge
dazwischen geschobenen breiten hintern Sternum „pecius magnum, pedum
secundum par alierum ab altero late separans” (a. a. O.), der Gestalt der
Mandibeln, welche breit und flach, am Aufsenrande sowohl als am Ende,
hier scharf und spitz, bei Bolboceras breit doppelt gezahnt sind, so wie end-
lich bei Athyreus die Linienform des sehr kleinen zwischen die Basis der
Deckschilde eingeengten Rückenschildchen.
Die drei von Mac-Leay aufgeführten, sämmtlich brasilischen Arten
waren bis dahin unbekannt gewesen. Die kurzen Diagnosen, durch welche
Mac-Leay sie unterschied, konnten jedoch nur bei der damals so geringen
Zahl von Arten als ausreichend allenfalls betrachtet werden. Jetzt, nach
der Entdeckung noch vieler ähnlicher Arten, ist dies nicht mehr der Fall.
Lepeletier de Saint Fargeau und Serville im Artikel Scarab£ der En-
cyclopedie methodique (X. p. 361), so wie Latreille in der neuen Ausgabe
von Cuvier regne animal (IV. p. 544) Gucrin und Gray, jener in der
iconographie du regne animal, dieser in Griffith’s the animal kingdom,
führen, ohne etwas hinzuzufügen oder zu ändern, nach Mac-Leay die
Gattung Athyreus auf. Das Nemliche geschah in neuester Zeit von Du-
ponchel in d’Orbdigny diet. univ. d’histoire naturelle (U. p. 295.) Denselben
Umfang hat endlich die Gattung in des Grafen von Castelnau ausführliche-
rer Bearbeitung derselben in der Hist. nat. des Insectes ColeopteresTl. p. 102
behalten. Nur namentlich aufgeführt finden wir Athyreus im Katalog der
Dejeanschen Sammlung, der ältern sowohl, als dritten Ausgabe (S. 165)
und im neuen Katalog der Käfersammlung von J. Sturm (S. 113).
Einzeln beschrieben sind, aufser den in hiesiger Sammlung vorhande-
nen, später aufgeführten, verhältnifsmäfsig nur wenige Arten, zunächst ein
A. ferrugineus aus Süd-Carolina, die einzige bekannte Nord- Amerikanische
Athyreus und Bolboceras. 23
Art, die nach dem dem Bilde hinzugefügten Maafse von neun Linien an
Gröfse dem brasilischen A. bifurcatus wenig nachstehen kann, von Palisot
de Beauvois in den Insectes recueillis en Afrique et en Amerique p. W.
Coleopt. Pl. II. 6. fig. 3.; von Mac-Leay eine bisher noch unermittelte
Brasilische Art: A. didentatus in den Horae entom. (1. 1. App. p. 124. n.3)
eine Art von Demerara von ansehnlicher Gröfse: A. Bilbergü von Gray
in Griffith the animal kingdom (Class. Insecta 1. p. 508. Pl. 40 fig. 3),
einige Arten von Java: A. wanthomelas und Zirtus von Wiedemann im
zoologischen Magazin (II. St. 1. p. 7 n*6 und p. 9 n” 8) unter Scarabeus,
endlich vom Graf von Castelnau in der Histoire naturelle des Insectes Co-
leopteres noch drei Arten: A. herculeanus (N. p. 102. n. 1. Pl. 26. f.2.) aus
Brasilien, A.vicinus (das. n. 2.) ebenfalls daher, und wohl mit Unrecht, da
die Beschreibung nicht pafst,-als Weibchen des A. bifurcatus betrachtet,und
A. sexdentatus (ebend. p. 103.n.9.) von Paraguay. In Graf Dejean’s
neuestem Katalog seiner Sammlung (p. 165.) sind noch namentlich aufge-
führt: A. furcifer und Juvencus von Cayenne, ‚furcicollis aus Brasilien
und subfurcatus Chevr. aus Mexico. Mac-Leay’s (a. a. O. p. 123) ge-
äufserte Vermuthung, dafs Copris Aeson Fabr. (syst. Ent. I. p. 40. n. 47.
Sc. Boas der Ent. syst.) zu Athyreus gehöre, hat sich nicht bestätigt.
Nach einer von Hrn. Prof. Erichson auf Grund der Ansicht des Stückes in
Fabrieius Sammlung gegebenen Auskunft ist jener Aeson nichts als ein be-
schmutztes weibliches Exemplar des Sc. Momus (Syst. El.I. p. 23. n. 4.)
Die hiesige Sammlung besitzt überhaupt siebenzehn Arten, die mehrsten,
nemlich zehn, aus Brasilien, einzelne von Britisch Guyana, Columbien, Cuba,
Mexico, vom Senegal, Kordofan, aus Bengaleu, so dafs hiernach der Aus-
spruch des Grafen von Castelnau, dafs Aihyreus dem südlichen Amerika
angehöre, nur in sofern sich rechtfertigen liefse, als hier Athyreen, die
aufser Amerika immer nur einzeln und in Europa bisher gar nicht angetrof-
fen worden, in verhältnifsmäfsig gröfserer Zahl gefunden werden. In Austra-
lien treten, wie später wird gezeigt werden, an ihre Stelle die vielen grofsen
und schön geformten Arten der nahe verwandten Gattung Bolboceras.
Die Arten von Athyreus sind sehr übereinstimmend gestaltet. Wir
beobachten bei Vielen mit nur geringen Abweichungen namentlich dieselbe
Bildung von Kopf- und Halsschild und sie sind, da sie bei dieser grofsen
Ähnlichkeit der Formen fast alle gleich gefärbt sind, nicht leicht zu unter-
[89]
A: Kıvuc: Die Coleopteren- Gattungen:
scheiden. Um so willkommener müfsten daher, ungeachtet der im Ganzen
nicht bedeutenden Zahl der Arten, Unterabtheilungen sein, die sich jedoch,
da es an sichern Anhaltspunkten fehlt, nicht festtellen lassen. Die Zahl der
Zähne an den vordersten Schienen wechselt von vier bis sechs, ohne jedoch
auf die Körperbildung den geringsten weitern Einflufs zu üben. Die sich
zunächst stehenden Arten würden vielmehr, bei solcher Eintheilungsweise,
unnatürliche Trennungen erleiden müssen. — Am Halsschilde befindet sich
ein Merkmal, welches der Aufmerksamkeit nicht leicht entgehen kann, in
der Mitte oder dem vortretenden Winkel des Seitenrandes nemlich ein oft
tiefer Einschnitt, am deutlichsten bei den in der alten Welt zerstreuten Ar-
ten. Doch verliert sich dieser allmählig, er geht auch auf Amerikanische
Arten über, wenigstens ist eine Spur desselben bei manchen unverkennbar.
Es bleibt daher nichts übrig, als ohne Rücksicht auf jene Besonderheiten
die Arten, wie sie nach Form und Bildung der hierin hervorstechendsten
und mannigfaltiger Abwechselung unterworfenen Theile, Kopf nemlich und
Halsschild, sich am nächsten stehen, die gröfsten und ansehnlichsten voran,
folgen zu lassen:
1. Athyreus bifurcatus.
Tab. 1. Fig. 1. a-c.
A. subtus testaceus, fulvo-hirtus, pedum tibiis solis fuseis, supra ob-
scurus, nigro-fuscus, fusco-pilosus, confertim elevato-punctatus, clypeo
in cornu suberectum postice carinatum producto, thorace medio transversim
subelevato, acute bituberculato, elytris elevato-striatis, striis laevibus, su-
tura fulvo-hirta. Mas (Fig. 1. a.) long. lin. 9%. Femina long. lin. 9.
carina transversa, subrecta, trituberculata media clypei et tuberculo parvo
postice obsolete emarginato laevi nitido in thoracis medio differt. (Fig. d.c.)
Athyreus bifurcatus Mac-Leay Horae entomologicae I. 1. p. 124.
Sp.1. Comte de Castelnau Hist. nat. des Insectes Col. I. II. p. 102.
n. 4. Pl. 26. Fig. 3.
Vaterland: Brasilien.
Die gröfste der hier bekannten Arten. Der ausführlichen Diagnose
dürfte kaum noch etwas hinzuzufügen sein. Die Mandibeln sind, wie sie die
Abbildung darstellt, flach gedrückt, beinah ausgehölt, rothbraun,, schwarz
gerandet, die Fühler, wie die untere Seite des Körpers und fast noch heller
Athyreus und Bolboceras. 25
gefärbt. Das Halsschild ist, doch nur beim Männchen, in der Nähe des auf-
geworfenen Seitenrandes glatt. Nicht weit vom Rande findet sich ein Grüb-
chen. Auch sind an den Deckschilden die Schultern glatt. Die vordersten
Schienen haben fünf an der Spitze schwarze Zähne. Das Weibchen unter-
scheidet sich leicht durch die undeutlich doppeltgebogene erhöhete Querlinie,
welche hinten das Kopfschild begränzt und durch den glatten glänzenden,
doch flachen, nach hinten wie ausgerandeten Höcker des Halsschildes, neben
welchem zu jeder Seite noch ein oder zwei, mehrentheils nur schwach an-
gedeutete glatte Längslinien in schräger Richtung nach aufsen abwärts ver-
laufen.
2. Athyreus tridens.
- Tab. I. Fig. 2. a.
A. testaceus, subtus flavescenti-villosus, supra vage punctatus, spar-
sim pilosus, capite antice cornuto, carinato, laevi, thoracis tuberculo elevato
recto, apice truncato, acute tridentato medio elytrorumque obsolete ele-
vato-striatorum disco fuscis, sutura flavo-hirta. Mas long. lin. 8.
Athyreus tridens. Comte de Castelnau Hist. nat. des Ins. II.
p- 102. n. 3.
Vaterland: Brasilien. Ein einzelnes Exemplar aus der Virmondschen
Sammlung. !
Die Grundfarbe blafs gelblich braun, die gelbliche Beharung der un-
teren Seite dicht und wie Seide glänzend. Die obere Seite ist etwas lebhaf-
ter gefärbt als die untere, die erhabenen, nur kurze braune Härchen tragen-
den Punkte stehen nicht dicht, fehlen in der Mitte des Kopfes ganz und eben
so auf den nur wenig erhabenen Streifen der Deckschilde. Der Kopf, mit
Ausnahme des Schildes und der vordern Seite des an der Gränze desselben in
etwas geneigter Richtung nach vorn sich erhebenden an der Wurzel zu jeder
Seite gezahnten Horns ist schwarzbraun, Eben so gefärbt ist die Mitte des
Halsschildes mit dem auf demselben grade emporsteigenden dreigezahnten
Höcker. Schwärzlich ist endlich die Mitte der einzelnen Deckschilde.. An
den vordersten Schienen befinden sich fünf Zähne, die an der Spitze schwarz
sind. Die Fühler sind hellbraungelb. Die Nath der Deckschilde ist mit
kurzen gelbseidnen Härchen dicht besetzt, das Weibchen noch unbe-
kannt.
Physik.-math. Kl. 1843. D
36 Krvc: Die Coleopteren-Gattungen:
3. Athyreus tridentatus.
Tab. I. Fig. 8. a. :
A. ferrugineus, subtus fulvo-villosus, supra pilosus, granulatus, fus-
cus, capitis clypeo cornuto, thorace medio profunde excavato, utrinque ca-
rinato, antice tuberculato. Mas Fem. long. lin. 6. 7. Femina tuber-
culis in capite thoraceque minoribus differt.
Athyreus tridentatus. Mac-Leay Horae ent. I. 1. p. 124. sp. 2.
de Castelnau Hist. natur. II. p. 102. n. 5. Pl. 7. Fig. 4.
Athyreus foveicolli. Dejean Catalogue des Coleopteres. 3° ed.
p- 165.
Variat corpore pallide luteo: Athyreus castaneus Gu&@rin Iconogr.
Pl. 22. Fig. 7. Gray in Griffith the animal kingdom, Class Insecta I. p. 783.
Pl. 23. Fig. 7. Duponchel diet. un. d’hist. nat. II. p. 295.
Vaterland: Brasilien.
Von allen die am häufigsten vorkommende Art. Am Kopfe erhebt
sich etwas nach vorwärts geneigt, da, wo er mit dem Schildchen zusammen-
tritt, in der Mitte ein ziemlich bedeutender stumpfer Höcker, von dessen
Spitze zur Basis in der Richtung sowohl nach hinten als vorn zu jeder Seite
eine erhöhete Linie oder Leiste verläuft. Kopfschild und Fühler sind braun,
die Keule der letzteren ist an der innern Seite schwärzlich. Bei dem Weib-
chen tritt das Kopfschild nach vorn in einen noch stumpferen und kleineren
Höcker vor und setzt sich an den Seiten rechtwinklicht ab. Das Halsschild
ist in der Mitte tief ausgehölt, die Aushölung von einem glatten Wulst rings
umgeben, die Mitte des vordern Randes, in geringerem Grade bei dem Weib-
chen, zu einem Höcker verlängert. Vor dem Seitenrande nach hinten ist
eine abgekürzte erhöhete Linie und noch vor der Mitte eine Grube zu be-
merken. Die Deckschilde sind überall gekörnt ohne merkliche Streifen.
Die obere Seite ist dunkel braunschwarz, die untere mit Einschlufs der Beine
braunroth gefärbt, die vordersten Schienen haben in der Regel vier, zuwei-
len auch fünf Zähne. Bei der rothgelben Abänderung haben dieselben
braunschwarze Spitzen.
4. Athyreus trituberculatus.
Tab. I. Fig. 5. a.
A. castaneus, sparsim pilosus, clypeo tridentato, thorace antice acute
trituberculato, dorso late excavato, utrinque carinato, carina antice dentata
Athyreus und Bolboceras. J 27
laevi, lateribus elevato-lineato, linea obliqua abbreviata laevi, elytris ob-
solete punctato-striatis. Mas long. lin. 54.
Vaterland: Brasilien. Aus Virmond’s Sammlung.
Gestalt und Gröfse des A. tridentatus. Kopf und Halsschild sind
mit zugespitzt erhöheten Punkten ziemlich dicht besetzt. Der Kopf ist am vor-
dern Rande in seiner Verbindung mit dem Kopfschildchen aufgeworfen und
läuft in drei Zähne aus, von welchen der mittlere stärker hervortritt. Vor
den Augen ist er scharf rechtwinklicht abgeschnitten. Fühler und Frefsspi-
tzen sind hellbraun. Am Halsschild sind nahe dem vorderen Rande zunächst
drei in grader Linie neben einander stehende Zähnchen bemerklich. Die
Mitte ist bis nahe dem Hinterrande ziemlich tief ausgehölt mit einer Längs-
furche bezeichnet. Zu jeder Seite der Aushölung erhebt sich das Halsschild,
die so entstehende Leiste ist glatt, gebogen, verläuft nach hinten in einen
Höcker und tritt nach vorn in einen Zahn vor. Zwischen ihr und dem Sei-
tenrande sind eine abgekürzte, erhabene, glatte Linie und etwas mehr nach
vorn eine mit dem Ausschnitt des Randes in Verbindung tretende Grube sicht-
bar. Erhöhete Linien sind auf den Deckschilden kaum vorhanden, die Zwi-
schenräume undeutlich punktirt gestreift. An den Schienen der Vorderbeine
befinden sich fünf Zähne.
d. Athyreus excavatus.
Tab. I. Fig. 9. a.
A. testaceus (aut fuscus), subtus luteo-villosus, supra granulatus, pilo-
sus, capite antice tridentato, thorace dorso excavato, medio laevi, sparsim
punctato, lateribus carinato, lineato, elytris basi obsolete striatis. Mas
long. lin. 5—6.
Athyreus excavatus Ote. de Castelnau Hist. nat. II. p. 103.n.8.
Vaterland: Britisch Guyana, von Schomburg. Ein kleineres und
dunkler gefärbtes Exemplar von den Missionen am Orinoco aus der Samm-
lung des Herrn Moritz.
Gröfse und Gestalt des A. tridentatus. Hell gelblich braun, der Kopf
mit Ausnahme der Fühler dunkelbraun, dicht gekörnt, der aufgeworfene
vordere Rand bildet Ecken, von welchen die mittlere als Höckerchen sich
erhebt und weiter als die seitlichen vortritt. Auch vor den Augen befindet
sich eine rechtwinklicht begränzte Erweiterung und gleich hinter derselben
D2
25 Kıvc: Die Coleopteren- Gattungen:
eine erhöheteLinie. Das Halsschild ist vorn, hinten und an den Seiten dicht
gekörnt, in der Mitte ausgehölt und glatt, mit hin und wieder eingedrückten
Punkten und einer bis zum hintern Rande sich fortsetzenden Längsfurche.
Die Aushölung wird von einer wulstförmig erhöheten, gebogenen, glatten
Linie, zwischen welcher und dem hintern Rande da, wo er sich mit dem
Seitenrande verbindet, noch eine ähnliche kurze und gebogene sichtbar ist, zu
jeder Seite begränzt. Vor dem Winkel des Seitenrandes befindet sich ein
schwacher Ausschnitt und über diesem ein glattes Grübchen, in der Mitte
des vordern Randes ein kleiner, zusammengedrückter, aufwärts gerichteter
Höcker. Die Deckschilde sind mit Körnchen besetzt, an der Basis dersel-
ben finden sich Spuren eingedrückter Linien. An den nicht mehr als vier
Zähnen der Schienen der vordersten Beine sind die Spitzen schwarz. Die
Aushölung des Halsschildes ist gegen die Färbung des übrigen Körpers dun-
kler, wogegen die Seiten heller und lebhafter gefärbt sind.
6. Athyreus lanuginosus.
Tab. I. Fig.2. a.
A. testaceus, luteo -villosus, supra granulatus, capite antice angulato,
thorace dorso excavato, postice laevi, lateribus carinato, utrinque lineato,
elytris basi obsolete striatis. Mas long. lin. 5—6.
Vaterland: Das gröfsere Exemplar von Nuoya Valencia in Colum-
bien aus Herrn Moritz Sammlung, das kleinere von Bahia in Brasilien aus
einer Sendung des Herrn Lhotsky.
Von dem A. excavatus kaum zu unterscheiden. Die Färbung ist, be-
sonders an den Seiten des Halsschildes, dessen Mitte jedoch, wie der Kopf,
ebenfalls dunkel ist, etwas heller. Die Aushölung des Halsschildes ist in
weiterer Ausdehnung nach hinten gekörnt, wogegen die hin und wieder ein-
gestochenen Punkte fehlen. Aufserdem ist die Behaarung auf der obern Seite
dichter, die Winkel am vordern Rande des Kopfes sind etwas schärfer vor-
gezogen und die vordersten Schienen mit sechs Zähnen bewaffnet.
7. Athyreus angulatus.
Tab. II. Fig.3. a.
A. ferrugineus, subtus luteo-villosus, supra granulatus, pilosus, ca-
pite marginato, margine tridentato, thorace antice medio profunde sinuato,
Athyreus und Bolboceras. 29
tuberculato, utrinque producto, dorso excavato, longitudinaliter sulcato,
postice laevi, lateribus carinato, margine laterali medio exciso, elytris obso-
lete striatis. Mas long. lin. 44.
Vaterland: Cuba.
Dem etwas gröfsern A. excavatus Laporte sehr ähnlich, die Deck-
schilde sind jedoch nicht so dicht mit erhöheten Schuppen ähnlich gelager-
ten Punkten besetzt, vielmehr undeutlich punktirt und dazwischen merkli-
cher gestreift. Die obere Seite ist lebhaft und dunkler, die untere etwashel-
ler braun, Fühler und Schenkel sind gelbbraun, letztere an der Spitze
schwarz, Kopf und Kopfschild gerandet, ersterer vorn drei-, letzteres zweige-
zahnt. Der Rand von beiden ist, wie der der Mandibeln, schwarz. Das
Halsschild zeigt in seiner Bildung einige Eigenthümlichkeiten besonders da-
rin, dafs es vorn in der Mitte gerade abgeschnitten und seitwärts schärfer,
namentlich wie bei den verwandten Arten: A. excavatus und dem folgenden
A. mexicanus, vorgezogen ist. Die Aushölung auf dem Rücken ist nach
hinten glatt, seitwärts durch erhöhete, glatte, nach vorn auseinandertre-
tende Leisten begränzt. Eine ähnliche, doch abgekürzte Leiste folgt der
hintern Biegung des Seitenrandes. Im mittleren Winkel ist letzterer ziem-
lich tief ausgeschnitten, und über dem Ausschnitt befindet sich die gewöhn-
liche Grube. Die Schienen der vordersten Beine haben sechs Zähne.
8. Athyreus mexicanus.
Tab. I. Fig. 4. a.
A. ferrugineus, subtus luteo-villosus, supra granulatus, pilosus, ca-
pite marginato, antice rotundato, thorace dorso excavato, longitudinaliter
sulcato, lateribus carinato, margine laterali medio emarginato. Mas long.
lin. 54.
Vaterland: Mexico.
Etwas grölser als der ihm sonst sehr ähnliche A. angulatus. Die ganze
obere Fläche, selbst die Aushölung des Halsschildes, mit Ausnahme eines
schmalen Feldes am hinteren oberen Theile, ist mit erhöheten Punkten
ziemlich dicht besetzt. Die die Aushölung begränzenden glatten Leisten
verlaufen wie bei der ganannten Art. Die vordern Winkel des Halsschildes
treten dagegen so scharf nach vorn und aufsen nicht hervor. Die
Deckschilde sind ebenfalls gekörnt, Streifen auf ihnen kaum wahrzu-
30 Kıvc: Die Coleopteren-Galtungen:
nehmen, Fühler und Schenkel gelblich braun, die vordersten Schienen
fünfgezahnt.
9. Athyreus bicolor.
Tab. II. Fig. 5. «a.
A. thorace medio excavato, lateribus carinato, supra granulatus, fuscus,
subtus lateribusque luteus, villosus. Mas long. lin. 5.
Athyreus bicolor Ote. de Castelnau Hist. nat. II. p. 103. n. 10.
Vaterland: Brasilien; aus einer Sellowschen Sendung von St Joaö
del Rey.
Eine schon durch ihre Färbung sehr ausgezeichnete Art. Die obere
Seite ist überall gekörnt. Der Kopf ist lebhaft rothgelb, nur hinten und am
Rande dunkelbraun, der vordere Rand tritt in der Mitte mit einer aufgerich-
teten Spitze in das Kopfschild, weit bis an den Rand desselben, wo beide
sich vereinigen, vor. Kopfschild, Fühler und Mandibeln sind gelb, letztere
an den Seiten schwarz. Das Halsschild ist in der Mitte nur schwach ausge-
hölt, die die Vertiefung begränzende Leiste, so wie die kürzere zwischen
ihr und dem Seitenrande sind glatt, doch nur wenig erhöhet. Der Rand
des Halsschildes ist etwas aufgeworfen und nirgend ein Einschnitt. Die Sei-
ten sind in weiter Ausdehnung, wie die Seiten und Spitzen der Deckschilde,
rothgelb, die untere Seite sammmt den Beinen ist eben so gefärbt und dicht
behaart. Die Behaarung auf der oberen Seite ist weniger dicht, kürzer und
dunkler. Die vordersten Schienen haben nicht mehr als vier Zähne.
10. Athyreus cyanescens.
Tab.L Fig.4. a-c.
A. subtus fuscus, nigro-villosus, supra nigro-cyaneus, confertim pun-
ctatus, nigro-pilosus, elypeo cornuto, thorace antice emarginato impresso,
postice elevato, dorso canaliculato, utrinque bituberculato, lateribus lineato,
elytris obsolete sulcatis, punctato-striatis. Mas (Fig. 4. a.) long. lin. 7.
Femina (Fig. b.c.) capitis elypeo tuberculo obtuso nee cornu armato,
thorace medio leviter impresso, dorso obsolete sulcato, utrinque lateribusque
obtuse carinato differt. long. lin. 6%.
Vaterland: Brasilien; Aus Bescke’s Sendungen von den Herrn Germar
und Sommer, von letzterem unter dem Namen A. cyanescens De). erhalten.
Athyreus und Bolboceras. sa
Dunkel schwarzblau. “Das Horn auf dem Kopfschild des Männchen
ist beinahe so lang als der Kopf, wenig nach vorn geneigt, kaum gekrümmt,
etwas flach gedrückt, gleich hinter demselben der Kopf glatt, nur hin und
wieder, der Hinterkopf dagegen dicht punktirt. Die Fühler sind braun mit
schwarzer Keule, die Palpen braun, die Endglieder derselben schwarz mit
braunen Spitzen. Das Halsschild ist mit ziemlich grofsen erhöheten Punk-
ten dicht besetzt, vorn tief ausgerandet, der Rand in der Mitte in einen kur-
zen zugespitzten Höcker erhoben. Hinter diesem befindet sich eine ziem-
lich grofse und tiefe Aushöhlung, aus welcher eine Furche nach hinten ver-
läuft, dicht an derselben erhebt sich zu jeder Seite der Rücken und endet
die Erhöhung vorn und hinten in einen stumpfen glatten Höcker. Vor dem
Seitenrande ist noch eine kurze, in der Richtung des Randes bogenförmig
gekrümmte glatte Leiste und mehr nach vorn eine Grube. Die erhöheten
Streifen der Deckschilde sind etwas gerunzelt, die nicht ganz so breiten Zwi-
schenräume in doppelter Reihe punktirt, die Schienen der Vorderbeine
fünfgezahnt.
Das Weibchen unterscheidet sich in der in der Diagnose schon ange-
gebenen Art.
11. Athyreus aeneus.
Tab.I. Fig.3. a.
A. subtus nigro-cyaneus, nigro -villosus, supra viridi-aeneus, sparsim
punctatus, pilosus, capite producto, cornuto, thorace antice depresso, mar-
gine sinuato, medio corniculato, postice elevato, profunde exarato, tubercu-
lato, tuberculis subquadratis, compressis, lateribus oblique elevato-trili-
neato, elytris obsolete striatis. Mas long. lin. 7.
Vaterland: Brasilien. Ein einzelnes Exemplar aus Virmond’s
Sammlung.
Die untere Seite ist blauschwarz, nur das mit eingedrückten Punkten
sparsam besetzte, der Länge nach gefurchte sternum und die untere Fläche
der Schenkel sind blaugrün. Die obere Seite ist dunkel metallgrün. Der
lang vorgestreckte, einzeln punktirte Kopf endigt in ein starkes, nach vorn
neigendes Horn. Fühler und Mundtheile sind schwarz. Das Halsschild ist
an den Seiten stark gekörnt, die etwas eingedrückte Mitte glatt. Der vor-
dere Rand erhebt sich in der Mitte zu einem kurzen, spitzen Höcker, an
32 Kıvc: Die Coleopteren-Galtungen:
dessen Seiten sich ein Grübchen befindet. Die Mitte des Halsschildes ist
fast bis zum vordern Rande hin tief gefurcht. Nach hinten wird die Furche
eine schmale tiefe Grube, wo dann zu jeder Seite derselben ein breiter, fast
viereckiger, zusammengedrückter Höcker sich erhebt. Vorn verläuft aus
demselben schräg seitwärts bis zum Rande eine Leiste, wie gleichlaufend mit
ihr eine kürzere nahe am hintern Rande und eine noch kürzere zwischen
beiden sich befindet. Die Deckschilde sind undeutlich und unregelmäfsig
punktirt, die glatten Längsstreifen nur wenig erhöhet. Die Schultern sind
glatt, die vordersten Schienen sechsgezahnt.
12. Athyreus corinthius.
Tab. I. Fig.10. a.
A. capite punctato, subcornuto, thorace antice tuberculato, dorso
excavato, utrinque carinato, lateribus lineato, niger, elytris punctato-stria-
tis, nigro-aeneis. Mas long. lin. 6.
Vaterland: Brasilien. Ein einzelnes Exemplar aus Virmond’s
Sammlung.
Der Kopf ist mit erhöheten Punkten ziemlich dicht besetzt, der Höcker
hinter dem Schildchen wie beim A. tridentatus gestaltet. Die Fühler sind
einfarbig schwarz. Das Halsschild ist dichter noch wie der Kopf gekörnt,
die Aushölung der Mitte ausgenommen, auf deren glatter Fläche nur ein-
zelne eingedrückte Punkte stehen. Die erwähnte Aushölung ist seitwärts
von einer stark erhöheten glatten Linie begränzt. Zwischen dieser und
dem Seitenrande befindet sich eine zweite, etwas kürzere Linie und dicht
an dem gewöhnlichen, hier nur schwach angedeuteten Eindrucke vor der
Mitte ein glatter, nur wenig erhöheter Strich. Der Höcker in der Mitte
des vorderen Randes ist nur klein. Die Deckschilde haben schwach erhö-
hete Streifen und zwischen ihnen, doch nicht regelmäfsig, in Reihen ge-
stellte Punkte. Diese sind grünlich - erzfarben, bei schwarzer Färbung
des übrigen Körpers, dessen untere Seite zum Theil grün, an den Seiten,
wie der obere, schwarz behaart ist. Die Schienen der vordersten Beine
haben sechs Zähne.
Athyreus und Bolboceras. 33
13. Athyreus anthracinus.
Tab.I. Fig. 12. a.
A. capite punctato, subcornuto, thorace lateribus granulato, bilineato,
medio excavato laevi, elytris substriatis, obsolete rugosis, niger, subtus dense
griseo -villosus. Mas long. lin. 5.
Vaterland: Von Bahia in Brasilien, von Gomes geschickt, aus der
Hellwig- Hoffmannseggschen Sammlung entnommen.
Diese Art steht zunächst dem A. corinthius und ist von diesem, aufser
den nur viergezahnten vordersten Schienen und der Färbung, nur noch durch
die nicht so starke, namentlich so sehr erhöhete Leiste seitwärts der Aushö-
lung in der Mitte des Halsschildes und die überall hellgreise Behaarung der
unteren Körperfläche und der Seiten des Halsschildes unterschieden. Die
Farbe ist tiefschwarz, nur wenig zum Bläulichen sich neigend. Die ersten
Glieder der Fühler, nebst dem untern Theil der Keule, sind rothbraun.
Am vorderen Rande des Halsschildes findet sich in der Mitte nur ein kleiner
Höcker. Aufser der wulstförmig erhöheten glatten Linie, welche die Aus-
hölung in der Mitte des Halsschildes seitwärts begränzt, sind noch zwei ähn-
liche, abgekürzte, krumme Linien, eine vordere, die bis zum vorderen Theile
des Seitenrandes reicht und eine hintere, zwischen der Leiste der Aushö-
lung und dem hintern Theile des Seitenrandes, der Biegung des letztern fol-
gend, bemerklich. Die Deckschilde haben zwischen schwach erhöheten
Längslinien ziemlich regelmäfsig in Reihen geordnete eingedrückte Punkte,
die jedoch zum Theil, besonders an den Seiten, zu Queerrunzeln sich ver-
einigen. Die vordersten Schienen haben nur vier Zähne. Wenn gleich nur
die untere Körperfläche dicht greis behaart ist, so zeigen sich doch auch auf
der oberen hin und wieder Härchen von derselben Farbe.
14. Althyreus violaceus.
Tab.I. Fig. 11. a.
A. capite thoraceque, dorso medio parum excavato, utrinque bili-
neato, dense elevato-punctatis, elytris obsolete punctato -striatis, violaceo-
niger, supra sparsim pilosus, subtus griseo-villosus. Mas long. lin. 4.
Vaterland: Brasilien. Ein einzelnes Exemplar aus Virmond’s Sammlung.
Sehr ähnlich dem A. corinthius, von demselben jedoch, aufser der viel
geringern Gröfse, anderen Färbung und den nur fünfgezahnten vordersten
Physik.-math. Kl. 1843. E
34 Kıvc: Die Coleopteren- Gattungen:
Schienen, hauptsächlich durch das mit erhöheten Punkten überall dicht be-
setzte und in der Mitte viel weniger ausgehölte Halsschild hinreichend ver-
schieden. Der Kopf ist dicht punktirt, das Kopfschildchen kaum merklich
erhöhet. Die der schwarzen Fühlerkeule vorangehenden Glieder sind braun.
Der vordere Rand des Halsschildes hat in der Mitte einen kleinen glatten
Höcker. Die Vertiefung in der Mitte wird an der Seite von einer erhöheten
glatten Linie oder Leiste begränzt und eine ähnliche, doch viel kürzere,
befindet sich zwischen dieser und dem Aufsenrande. Der seitwärts in der
Mitte gewöhnliche Eindruck ist nur schwach angedeutet. Die Deckschilde
sind undeutlich punctirt gestreift, queer gerunzelt, die Streifen an der Basis
etwas vertieft. Die Schienen der vordersten Beine haben fünf Zähne. Die
untere Körperseite ist dicht, die obere hin und wieder greis behaart. Der
Seitenrand des Halsschildes ist, wie bei dem A. corinthius, mit langen,
schwärzlichen Haaren ziemlich dicht besetzt.
15. Athyreus orientalis.
Tab. I. Fig. 6. a.
A. subtus testaceus, fulvo-villosus, supra ferrugineus, sparsim pilo-
sus, clypeo transversim elevato, ihorace dorso excavato, canaliculato, utrin-
que flexuoso-carinato, postice ad carinam fulvo-hirto, lateribus elevato-
bilineato, linea interna antice angulata, externa abbreviata, elytris castaneis,
obsolete striatis. Mas long. lin. 8.
Athyreus orienlalis Gomte de Oastelnau Hist. nat. Il. p. 103. n. 7.
Vaterland: Bengalen; von Herrn Hope.
Kopf und Halsschild sind mit eingedrückten, theils einzeln stehenden,
theils dicht zusammengedrängten, selbst zusammenlaufenden Punkten be-
setzt. Der Kopf ist vor den Augen scharf rechtwinklicht vorgezogen, die
Gränze des Kopfschildes durch eine aufgeworfene gerade Queerlinie bezeich-
net. Die Fühler sind hell gelblichbraun. Das Halsschild ist gerandet, der vor-
dere Rand besonders in derMitte erhöhet, in der Mitte des Seitenrandes ein
tiefer Ausschnitt. Des Halsschildes Rücken ist nur schwach ausgehölt, vorn
nur hin und wieder, hinten dichter punctirt, von einer ziemlich tiefen Furche
durchzogen. Die Aushölung wird seitwärts von einer erhöheten, vor der
Mitte aufhörenden, hier stark gebogenen, auswärts verlaufenden, glatten
Leiste begränzt. Den Seitenrand begleitet eine, in der Gegend des Aus-
Athyreus und Bolboceras. 35
schnitts nach innen gebogene, erhöhete Linie. Die Spur einer zweiten be-
findet sich hinter derselben nach oben, wo zugleich zwischen ihr und der die
Aushölung begränzenden Leiste der Zwischenraum mit rothgelben Haa-
ren dicht gefüllt ist. Die Deckschilde sind heller und lebhafter braun, als
die vordere Körperhälfte, kaum erhaben gestreift, die Zwischenräume punk-
tirt, die Punkte zwar grofs, doch eben so wenig tief eingedrückt, als dicht
gestellt. Die Nath ist mit röthlich gelben, glänzenden Härchen ziemlich
dicht besetzt. Die vordersten Schienen sind fünfgezahnt.
16. Athyreus kordofanus.
Tab. I. Fig. 1. a.
A. capite postice bitubereulato, thorace dorso excavato, sulcato, late-
ribus tuberculato, antice cornuto, ferrugineus, fulvo-pilosus, subtus villosus.
Mas long. lin. 6— 8.
Vaterland: Kordofan. VomK.K. Kabinet in Wien durch Herrn
Kollar erhalten.
Eine der gröfsern Arten. Lebhaft braun und glänzend, oben zerstreu-
ter, unten dagegen dichter rothgelb behaart. Der Kopfist mit erhöheten Punk-
ten oder Körnchen ziemlich dicht besetzt, gerandet, vor den Angen eckig
und eben so nach vorn vorgezogen, gerade abgeschnitten, die Mitte etwas ver-
tief. Auf dem Scheitel zwei zugespitzte Höcker. Die Mandibeln schwarz
gerandet, die Fühler gelbbraun, das Halsschild mit Körnchen, wie der Kopf,
nur weniger dicht besetzt und wie dieser gerandet, der Rücken desselben
der Länge nach tief ausgehölt, mit einer Furche in der Mitte. Die Aushö-
lung auf der Höhe des Halsschildes von einem breiten, zusammengedrückten,
gerandeten Höcker, worauf weiter nach hinten eine zweite, kaum merkliche
Erhöhung folgt, welche in eine nach innen sich umbiegende Linie, so dafs
beide in der Mitte des Hinterrandes sich vereinigen, verläuft, jederseits be-
gränzt. Den Hinter- und Seitenrand begleitet bis dahin, wo der letztere
sich umbiegt und hier tief ausgeschnitten ist, eine erhöhete Linie. Vor dem
Ausschnitt befindet sich eine ziemlich grofse, glatte, gerandete Grube. Die
vortretende Mitte des vorderen Randes erhebt sich aufwärts zu einem Horn.
Auf den Deckschilden befinden sich in Reihen geordnete, ziemlich grofse,
grubenförmig eingedrückte Punkte. Die Beine sind, wie die untere Körper-
seite, dicht rothgelb behaart. Die vordersten Schienen haben fünf Zähne.
E2
36 Kıvs: Die Coleopteren-Gattungen:
17. Athyreus porcatus.
Tab. I. Fig. 7. a.
A. subtus testaceo-villosus, supra pilosus, testaceus, capite clypeo
transversim elevato thoraceque, dorso excavato, medio sulcato, utrinque tu-
berculato, lateribus exciso, castaneis, elevato-punctatis, elytris obsolete
punctato-striatis. Mas long. lin. 6.
Athyreus porcatus Comte de Oastelnau Hist. nat. II. p. 103. n. 6.
Vom Senegal. Von Herrn Buquet in Paris unter dem Namen A. se-
negalensis erhalten.
Kopf und Halsschild sind mit erhöheten, zugespitzten Pünktchen oder
Körnchen ziemlich dicht besetzt, dunkler braun, als die untere Seite, Beine,
Deckschilde und Fühler. Die Gränze des Kopfschildes wird durch eine in
der Mitte etwas ausgerandete Queerleiste bezeichnet. Nach hinten zwischen
den Augen verläuft, ebenfalls queer, eine, wenn auch nur schwach angedeu-
tete, glatte Erhöhung. Der vordere Rand des Halsschildes tritt in der Mitte
als Höcker hervor. Der Seitenrand ist wie beim A. orientalis ausgeschnit-
ten. Der Rücken ist der Länge nach vertieft, in der Mitte gefurcht. Neben
der Vertiefung steigt ein zusammengedrückter, etwas nach vorn in der Rich-
tung nach aufsen sich verlängernder Höcker, hinter welchem sich noch eine
kleinere, stumpfere und mehr abgerundete Erhabenheit befindet, in die Höhe.
Aufserdem begleitet den Seitenrand noch über den Ausschnitt in der Mitte
desselben hinweg in fast überall gleicher Entfernung eine erhöhete Linie.
Die Schienen der vordersten Beine haben fünf seharfe Zähne.
Die
Gattung: Bolboceras
wurde schon im Jahre 1817 durch Kirby in den /ransactions of the Linnean
Society of London (XII. p. 459) auf Grund einer von ihm für neu gehaltenen
Art: B. Australasiae (p. 462. n. 11. Pl. XXIII. Fig. 5.) errichtet. Aufser
andern dahin gehörenden Arten, dem Scarabaeus unicornu Schrank (Aeneas
Pz.) Coryphaeus, Cyclops, Lazarus und quadridens F., von welchen, in-
sofern sie sich in hiesiger Sammlung befinden, noch die Rede sein wird, war
indefs auch das Männchen jenes B. Australasiae, der Scarabaeus proboscideus
Schreibers (Transactions of the Linnean Society V1.189. Tab. XX.Fig. 2.),
aus welchem wegen seiner merkwürdigen Kopfbildung Mac-Leay (Horae
Athyreus und Bolboceras. 37
entomologicae I. 1. p. 121) die besondere, auch von Latreille (Cuvier
regne animal IV. p. 545) Comte de Castelnau (Histoire naturelle des
Insectes Coleopteres 11. p. 103) und Andern beibehaltene Gattung Elephasto-
mus gebildet hat, vorher schon bekannt, so dafs, unter Beibehaltung der
Schreiberschen Artbezeichnung, dennoch die von Mac-Leay hinzuge-
fügte Gattungsbenennung vor der ältern Kirby’schen wird zurücktreten,
der Gattung selbst aber eine nicht unerhebliche Ausdehnung, besonders auf
Grund der neueren Entdeckungen in Australien, gegeben werden müssen.
Der Umstand, dafs von Ziegler aus den Europäischen Arten: ‚Sc. Aeneas
Panz. und mobilicornis F. eine Gattuug gebildet, für dieselbe der Nahme
Odontaeus gewählt, dieser mit Einschlufs ähnlicher Arten auch von Dejean
in der ersten Ausgabe seines Katalogs, so wie von Mannerheim (in den
Memoires des natur. de Moscou) und endlich mir selbst bei Beschreibung
der von Erman von seiner Reise mitgebrachten Insecten angenommen wor-
den ist, kann die Beibehaltung der Kirbyschen Benennung, welche älter
und durch systematische Auseinandersetzung gegründet ist, nicht hindern.
Es wird indefs auch neben Bolboceras die Gattung Odontaeus ferner beste-
hen können, weil der dazu gerechnete Sc. mobilicornis in der Bildung der
Fühler und Mundtheile von dem Sc. Aeneas, so wie den übrigen Bolboceras
noch aufser der Beweglichkeit des Kopfhorns hinreichend, besonders da-
durch verschieden ist, dafs beide an den Maxillen befindliche Zähne nur
einfach sind und der obere nicht wie bei Bolboceras und Athyreus gespalten
ist. Derselben Gattung würde dann auch noch der Geotrupes filicornis Say
(descriptions of Coleopterous Insects im Journal of the academy of nat.
Sciences of Philadelphia III. P. 1. p. 211. n. 2.) beizuzählen sein.
Bolboceras steht, wie schon bei Athyreus erwähnt worden, letzt ge-
nannter Gattung sehr nahe. Es beruht aber, wie ebenfalls schon gesagt,
die Verwandschaft ganz besonders auf fast völliger Übereinstimmung in der
Einrichtung der Fühlerkeule und Structur des innern Mundes, wogegen in
der Körper-Form und Bekleidung, der Gestalt des Rückenschildchen, Bil-
dung der Mandibeln, hauptsächlich aber Stellung der mittleren Beine sehr
erhebliche Abweichungen sich finden. Die Übereinstimmung der Mund-
theile könnte, nach der von Mac-Leay gegebenen Beschreibung und ganz
besonders der beigefügten Abbildung derselhen des Elephastomus (Horae
entomol. Fig. 10.), verglichen mit denen von Aihyreus (Fig. 11.) zweifelhaft
38 . Kıuc: Die Coleopteren- Gattungen:
erscheinen. Es sind indefs dort nur die Mundtheile von Athyreus vollkom-
men richtig, die von Elephastomus dagegen weniger genau beschrieben und
keineswegs Natur getreu abgebildet worden, ja selbst die der Kirbyschen
Abhandlung beigegebene Abbildung der genannten Theile des B. Australa-
siae ist nicht in allen Punkten, wenigstens die Maxillen betreffend, wo an
der innern Lade nur ein Zahn angegeben ist, vollständig und richtig. Mac-
Leay, obgleich er (a. a. O. p. 122) der beiden Geschlechter des Elepha-
stomus erwähnt, hat dennoch nur die Mundtheile des Männchen beschrieben
und abzubilden gegeben. Bei diesem sind aber, wie so oft in ähnlichen
Fällen, zufolge der eigenthümlichen Bildung des Kopfes, namentlich der
äufsern Mundtheile, auch die innern so verändert, in der Mitte zurückge-
drängt, seitwärts in den Maxillarpalpen verlängert, dafs bei solcher Umge-
staltung nur dem geübteren Auge der Charakter der Gattung, so weit er aus
den Mundtheilen hervorgeht, noch bemerklich bleibt. Im vorliegenden Fall
sind aber durch die äufsere, wenn gleich bedeutende Formänderung, die für
die Feststellung der Gattung wesentlichen Kennzeichen keineswegs ausge-
löscht, denn, erwähnt gleich bei Elephastomus Mac-Leay in der Beschrei-
bung nur eines innern Zahnes und ist selbst keiner in der Abbildung an-
gedeutet, so sind dennoch hier die scharfen, an der Spitze hackenförmig ge-
krümmten Zähne, von denen der obere gespalten ist, ganz so, wie bei Athy-
reus und Bolboceras vorhanden. Wie schon bei Athyreus bemerkt worden,
sind aber nicht hierin, vielmehr allein in Verhältnissen äufserer Theile, die
unterscheidenden Kennzeichen beider Gattungen zu suchen. Zunächst ste-
hen bei Bolboceras, ganz so wie bei den gewöhnlichen Scarabäen (Latreille’s
Geotrupes) die mittleren Beine in ihrem Ursprunge einander genähert, die
Mandibeln, zwar ebenfalls flach gedrückt, haben so wenig an der Spitze die
scharfen, als am Aufsenrande breiten stumpfen Zähne, höchstens unweit der
Spitze einen Zahn, und auch dies nur bei den grofsen Neuholländischen,
Athyreus überhaupt ähnlicheren Arten, und nur zuweilen trifft es sich, dafs
eine Mandibel am Ende doppelt zugespitzt, die andere halbmondförmig und
unbewaffnet ist, das Rückenschildchen ist grofs und dreieckig, nicht schmal,
linienförmig und von den Deckschilden beengt, wie bei Athyreus. Endlich
ist auch der stärker und gleichmäfsiger gewölbte Körper, wenn auch unten
lang und stark behaart, doch nie auf der obern Seite mit kurzen Haaren
dicht besetzt, mehrentheils vielmehr glatt und glänzend.
Athyreus und Bolboceras. 39
Bolboceras ist als Gattung fast allgemein angenommen, von Audouin
im Diet. classique d’hist. nat. (Il. p. 387.), St. Fargeau und Serville in
der Encyelopedie methodique (X. p. 360), Latreille in der neuen Ausgabe
des regne animal (IV. p. 545), Dejean in der spätern Ausgabe des Katalogs
seiner Sammlung, Duponchelin d’Orbigny Dietionnaire universel d’hist.
rat. (11.p.639), Mulsant in der Mist. nat. des Coleopteres de France (p. 347)
u.s.w. Ausführlicher ist Bolboceras, wie Athyreus, abgehandelt von La-
porte, Grafen von Castelnau in der Aistoire naturelle des Insectes Co-
leopteres (11. p. 104), wo überhaupt dreizehn Arten, unter diesen, aufser
den Europäischen noch solche aus Nord- und Süd- Amerika, Ostindien und
vom Senegal beschrieben, verschiedene auch nach andern Schriftstellern
nur namentlich, von neuholländischen Arten jedoch, aufser dem B. Austra-
lasiae, keine aufgeführt sind. Sc. mobilicornis ist hier nach dem Beispiele
anderer Schriftsteller mit Bolboceras noch vereinigt.
Die hiesige Sammlung besitzt überhaupt 26, mit Odontaeus 28 Arten.
Sieben sind aus Neuholland, unter ihnen befindet sich der B. proboscideus
von van Diemen’s Land, die übrigen sind von Swan River. Aus dem
südlichen Europa ist zur Zeit nur eine, die am längsten bekannte, von
Schrank im Naturforscher unter dem Namen Sc. unicornu zuerst beschrie-
bene, nachher von Panzer (Symbolae entomol) als Sc. Aeneas abgebildete,
als Sc. quadridens beschriebene und mit dem ähnlichen Östindischen qua-
dridens noch sonst oft verwechselte Art vorhanden. Ferner stammen aus
Asien vier, unter ihnen aus Ostindien drei, eine aus Arabien, aus verschie-
denen Theilen Afrika’s vier, aus Nord-Amerika drei, aus Süd-Amerika
sieben Arten, darunter aus Brasilien allein sechs. Die Gattung gehört hier-
nach zu denen, die an keinen bestimmten Welttheil gebunden sind.
Auch bei dieser Gattung, die noch reicher an Arten ist, wie Athy-
reus, wären Unterabtheilungen zu wünschen, für die jedoch bestimmte Kenn-
zeichen sich nicht haben ermitteln lassen. Die Zähnchen an den vordersten
Schienen wechseln von vier bis sieben und selbst zehn, ohne dafs dies auf
die Form den mindesten Einflufs hätte. Es schien anfänglich, als ob auf
die Zahl der Punktstreifen auf den Deckschilden mehr Rücksicht zu neh-
men sein dürfte, weil es hier an einer gewissen Übereinstimmung mit der
äufsern Form, so wie dem Vorkommen der Arten nicht fehlt, in so fern
die durch Gröfse so ausgezeichneten Neuholländischen Arten und aufser-
40 Kıruc: Die Coleopteren - Gattungen:
dem nur der Europäische Aeneas und wenige Brasilische Arten fünfzehn,
die Asiatischen, Afrikanischen und zum Theil die Nord- Amerikanischen
Arten vierzehn, die übrigen Nord- Amerikanischen und Brasilischen Arten
nur eilf Streifen auf den Deckschilden haben. Jedoch mülfsten auch hier
nahe verwandte Arten, wie Aeneas und quadridens, farctus und tumefacius
getrennt werden, besonders aber ist in Betracht zu ziehen, dafs auch bei
derselben Art die Zahl der Streifen nicht beständig ist, denn es giebt na-
mentlich vom B. farctus, der zu den Arten mit eilf Streifen gehört, auch
solche mit vierzehn, weil die Verminderung der Zahl von vierzehn auf eilf
nur aus dem Erlöschen bestimmter Streifen, namentlich des zweiten, fünften
und achten, von der Nath an gerechnet, entspringt, dieses Erlöschen aber
eben so gut vollständig als unvollständig, wo dann noch Spuren der genann-
ten Streifen in einzelnen Punkten sich finden, oder auch gar nicht zu Stande
kömmt und die sonst gewöhnliche Annäherung der mittleren Punktreihen
wegfällt. Es ist daher auch auf diese Verschiedenheit in der nun folgenden
Aufzählung keine andere Rücksicht genommen worden, als dafs die Arten
nach der Zahl der Punktreihen so zusammengestellt sich finden, dafs eins
bis zehn wenigstens fünfzehn, eilf bis neunzehn vierzehn, zwanzig bis zuletzt
nur eilf dergleichen haben.
1. bolboceras proboscideus.
B. ferrugineus, vertice medio tuberculato, clypeo (in mare) in rostrum
lineare, marginatum, planum, apice deflexum, truncatum, bidenticulatum
producto, thorace antice retuso, lateribus punctato, elytris punctato-stria-
ts. long. lin. 8. (maris cum rostro lin. 10.)
Mas: Scarabaeus proboscideus Schreibers Transact. of th$ Linn.
Society T. VI. p. 189.
Elephastomus proboscideus Mac-Leay Horae entom. I. 1. p. 122.
sp. 1. Griffith the animal kingdom. I. p. 465. pl. 40. f. 4. Boisduval
Voyage de l’Astrolabe (Faune Entomol. de l’ocean pacifique) II. partie Co-
leopt. p. 156. Comte de Castelnau Hist. nat. II. p. 103. Pl. 26. Fig. 6.
Femina: Bolboceras Australasiae Kirby Transact. of the Linn. So-
ciety T. XII. p. 412. n. 11. Pl. 23. Fig.5. Boisduval Voyage de l’Astro-
labe (Faune Entomol.) II. partie Col. p. 157.
Von van Diemen’s Land; Aus Sendungen des Herrn Schayer.
Athyreus und Bolboceras. 41
Elephastomus proboscideus und Bolboceras Australasiae stimmen in
Allem, was nicht durch die Verschiedenheit des Geschlechts bedingt wird,
vollkommen, namentlich aber darin überein, dafs sich mitten auf dem Kopf
dicht vor den Augen ein ziemlich breiter, zusammengedrückter, stumpfer
Höcker erhebt, das Halsschild dicht punktirt, nur vorn, wo es etwas einge-
drückt und oben in der Mitte, wo sich der Länge nach eine kaum merkliche
Erhöhung findet, glatt, das Rückenschildchen zerstreut grob punktirt ist und
die Deckschilde punktirt gestreift sind. In dem nach vorn rüsselförmig ver-
längerten, unten aufgetriebenen und durch die weite Ausdehnung nach hin-
ten die Mundtheile aus ihrer Lage verdrängenden und ihre Gestalt verän-
dernden Kopfschilde liegt allein der Unterschied. Mac-Leay (a. a. O.)
scheint als Weibchen eine Abänderung des Männchen beschrieben zu haben.
Die Männchen der Sammlung sind hell braun und gehören zur Abänderung
ß Mac-Leay, die Weibchen dagegen sind dunkel schwarzbraun.
2. Bolboceras frontalıs.
Tab. II. Fig. 7. a-c.
B. ferrugineus, capite clypeo bicorni (in femina transversim carinato
subdentato), thorace antice retuso, medio impresso-punctato, dorso ele-
vato, bicorni, lateribus late et profunde excavato (in femina rugoso, trans-
versim carinato), elytris punctato-striatis. Mas. Fem. long. lin. 10.
Fem. Bolboceras frontalis Guerin Meneville Insectes du voyage
de la Favorite. Magasin de Zoologie 1838. p. 51.
Bolboceras latus Bainbridge Transactions of the entom. Society of
London. Vol. II. Pl. 2. p. 80. sp. 2.
Vaterland: Neuholland. Aus einer von der Westseite mitgebrach-
ten Sammlung des Herrn Dr. Preifs.
Das bisher, wie es scheint, unbekannt gewesene Männchen ist beson-
ders ausgezeichnet durch die beiden, sehr nach vorn geneigten Hörner des
Kopfschildes und die breiten, starken, flach gedrückten, an der Spitze
rückwärts gekrümmten Hörner in der Mitte des Halsschildes. Kopf, Hals-
schild und Deckschilde sind bei beiden Geschlechtern, doch auffallender
beim Männchen, schwarz gerandet, die vordersten Schienen fünfgezahnt.
Physik.-math. Kl. 1843. F
42 Kıvs: Die Coleopteren- Gattungen:
3. Bolboceras coronatus.
Tab. II. Fig. 10. a.
B. testaceus, capite punctato, antice medio quinque-, postice utrinque
unituberculato, thorace rugoso, postice transversim bicarinato, dorso bitu-
berculato, elytris punctato -striatis. long. lin. 9.
Befand sich unter den im Westen von Neuholland von Herrn Dr.
Preifs gesammelten Insecten.
Ein einzelnes Exemplar, dessen Geschlecht nicht zu bestimmen ist.
Gröfser als B. proboseideus, doch eben so gefärbt. Nur der Rand von
Kopf und Halsschild, so wie die Spitzen der Zähne an den vordersten Schie-
nen, deren Zahl sich auf sechs beläuft, sind schwarz. Der Kopf ist, den
Scheitel ausgenommen, mit erhabenen Pünktchen oder Körnchen dicht be-
deckt, die Lefze flach, an der Spitze ausgerandet, das Kopfschild grade ab-
geschnitten, mit einer erhöheten Queerleiste. Auf der erhöheten Stirn fin-
den sich in zwei Reihen fünf Höcker, drei in der vordern, zwei in der hin-
tern, die zugespitzt und an der Spitze schwarz sind. Ein kürzerer, stum-
pfer, etwas zusammengedrückter Höcker ist seitwärts hinter jedem Auge.
Das Halsschild ist gerunzelt punktirt, vorn in der Mitte eine Grube, dahin-
ter eine nach vorn gebogene Queerleiste, die in der Mitte unterbrochen,
hier jederseits in einen kleinen schrägen Höcker dicht hinter der erwähnten
Grube hervortritt. Dahinter befindet sich am Halsschild noch eine mit dem
hinteren Rande gleichlaufende, gebogene, erhöhete Leiste und vor dem Winkel,
den der Seitenrand bildet, eine Grube. Das Rückenschildchen ist grob
punktirt. Die Deckschilde sind fein punktirt gestreift. Sehr ähnlich dieser
Art in Hinsicht der Kopfbildung mufs B. 7-tuberculatus Bainbridge sein.
4, Bolboceras quadricornis.
Tab. I. Fig. 6.
B. capite bicorni, thorace dorso cornubus duobus divaricatis armato,
lateribus profunde excavato, rufus, elytris nigris. Mas long. lin. 74.
Wie die beiden vorhergehenden Arten von der Westseite Neuhol-
lands, von Herrn Dr. Preifs entdeckt und mitgetheilt.
Ähnlich dem B. frontalis, jedoch kleiner und durch die schwarzen
Deckschilde auffallend verschieden. Der Kopf ist eben so gebildet, nur
dafs die Hörner länger sind. Am Halsschilde befinden sich in der Mitte nur
Athyreus und Bolboceras. 43
einzelne eingedrückte Punkte. Die Hörner auf demselben sind weder zusam-
mengedrückt, noch an der Spitze zurückgebogen, auch nicht so genähert,
wie beim B. frontalis, sondern gerundet, gerade, und weichen seitwärts aus-
einander. Die Aushölung an den Seiten des Halsschildes ist sehr tief und
glatt, mit einem dergleichen Grübchen dahinter. Das Rückenschildchen
ist glatt. Die Deckschilde sind tief gestreift, die Streifen punktirt, die
vordersten Schienen fünfgezahnt.
Das Weibchen ist nicht bekannt.
5. Bolboceras recticornis.
Tab. I. Fig. 8. a.
B. testaceus, supra castaneus, clypeo punctato thoraceque laevi, re-
tuso, cornutis, elytris punctato-striatis. Mas long. lin. 74.
Athyreus recticornis Gu&rin Meneville Voyage de la Favorite, Ma-
gasin de Zoologie 1838. p. 49. Pl. 232. Fig. 1.
Bolboceras hastifer Bainbridge Transactions of the entom. Society
of London Vol. III. P. 2. p. 81. sp. 4. |
Aus derselben Gegend Neuhollands, wie die vorhergehenden Arten
und ebenfalls von Herrn Dr. Preifs der hiesigen Sammlung überlassen.
Eine sehr ausgezeichnete Art. Braun, die Deckschilde etwas dunkler.
Am übrigens glatten Kopf ist der vordere Theil, welcher das etwas nach
vorn geneigte und gekrümmte Horn trägt, dicht grob punktirt. Das Hals-
schild ist glatt und glänzend, von einer mit dem Hinterrande gleichlaufenden
scharfkantigen Leiste nach dem vordern Rande hin gerade abgeschnitten,
mit einer Vertiefung, aus welcher ein einzelnes, kaum gekrümmtes, an der
Spitze abgestutztes Horn in die Höhe steigt, in der Mitte. Hinter der Leiste
sind die Seiten des Halsschildes zerstreut punktirt. Vor dem Winkel des
Seitenrandes befindet sich eine mehr flache als tiefe Grube. Das Rücken-
schildchen ist undeutlich punktirt, die Deckschilde sind punktirt gestreift.
Die untere Seite ist gelbbräunlich, dicht gelb behaart. An den vordersten
Schienen befinden sich, wie beim B. proboscideus, sechs Zähnchen.
6. Bolboceras excavatus.
Tab. II. Fig. 9. a.
B. capite punctato, tuberculato, thorace basi punctato, transversim
carinato, antice retuso, excavato, subtus testaceus, supra rufo-castaneus, ely-
iris punctato - striatis, piceo -nigris. long. lin. 8.
F2
3
8
Kıvc: Die Coleopteren- Gattungen:
In Hinsicht des Vaterlandes gilt dasselbe, wie bei den vorhergehen-
den Arten.
Über das Geschlecht ist mit Sicherheit nichts zu entscheiden, eben so
wenig darüber, ob, wie diefs zu vermuthen, diese Art ein Weibchen des
B. recticornis sein möchte. Der Kopf ist überall dicht punktirt, das Schild-
chen vorn gerandet, mit einem Höcker in der Mitte. Auf der Stirn befin-
den sich aufserdem noch drei Höcker, zwei kleine seitwärts und ein grofser,
breiter, ausgerandeter in der Mitte. Das Halsschild ist wie beim B. recti-
cornis gestaltet, nur dafs die Gegend zwischen dem hinteren Rande und der
gebogenen Queerleiste überall dicht, zum Theil zusammenfliefsend, dafs
auch die vordere Aushölung zerstreut und einzeln, an den Seiten schon dich-
ter, punktirt ist und aus der glatten, grubenförmigen Vertiefung in der Mitte
kein Horn entspringt. Das Schildchen ist runzlich punktirt. Die Deck-
schilde sind punktirt gestreift, die vordersten Schienen sechsgezahnt. Die
Färbung ist wie bei der vorigen Art, nur sind die Deckschilde dunkler, wie
solches auch Bainbridge (a. a. ©.) vom B. recticornis angiebt.
7. Bolboceras trituberculatus.
B. castaneus, thorace laevi trituberculato, elytris punctato -striatis.
Mas.
Bolboceras trituberculatus Bainbridge Transact. of the entom. So-
ciety of London Vol. III. P. 2. p. 82. sp. 7.
Aus derselben Gegend Neuhollands, wie die letztbeschriebenen Arten.
Nur ein einzelnes Exemplar, dem der Kopf fehlt, daher auch keine
Abbildung gegeben worden, ist vorhrnden. Bainbridge (a. a. ©.) giebt in
Beziehung auf den Kopf an: „Clypeus quadridentatus, medio emarginatus.
Caput quinque-denticulatum, dentibus fere aequalibus.” Das Halsschild
ist nur an den Seiten zerstreut punktirt, sonst glatt und glänzend. Eine in
der Mitte etwas hervortretende, gebogene Queerleiste berührt fast den hin-
teren Rand. Vor derselben beginnt die flache Aushölung, die nach vorn
durch drei im Dreieck stehende Höcker, von welchen die an der Seite bei
weitem gröfser und kurzen gekrümmten Hörnchen ähnlich sind, begränzt
wird. Das Schildchen ist glatt. Die Deckschilde sind punktirt gestreift.
Auch bei dieser Art ist die untere Seite gelbbräunlich, eben so behaart, die
obere kastanienbraun. An den vordersten Schienen sind sechs Zähnchen.
Athyreus und Bolboceras. 45
Der Name B. tritubereulatus ist zwar schon von Dejean (Catal. p. 166)
einer Art vom Senegal gegeben worden, dennoch möchte hierin kein hin-
reichender Grund zur Zurücknahme der von Bainbridge zur Bezeichnung
einer anderen Art gewählten Benennung liegen.
8. Bolboceras unicornis.
B. castaneus, thorace punctato, antice laevi, retuso, quadridentato,
dentibus aequalibus, capite cornu elevato simplici. Mas. (Femina capite
thoraceque inermibus, obsolete transversim carinatis, differt.)
Scarabaeus unicornu Schrank Naturf. XXIV.p.61.n. 2. Fn. boica
T.1.P.D.p. 381. Scriba Journal Bd. 1. St. 1. p. 26. n. 2.
Scarabaeus quadridens Fabr. Syst. Eleuth. I. p.23.n.6. Panzer
Beitr. zur Geschichte der Ins. (Symb. entomol.) p. 34. Tab. V. Fig.1— 4.
(Sc. Aeneas) Fn. Ins. Germ. Hft. XII. p. 1. entomologia germanica p. 2.
n. 3. Sturm Verz. Hft. I. p. 60. n. 54. Deutschlands Fauna Abth. V. Bd. 1.
p- 19.n.2. Duftschmidt Fn. Austr.I.p. 80.n.2. Dejean Catal. des
Col. 3° ed. p. 166.
Bolboceras Aeneas Comte de Castelnau Hist. nat. II. p. 105. n. 6.
Bulbocerus quadridens Heer Fn. Col. Helv. 1. p. 500.n. 1.
Diese und die vorhergehende Art sind oft, namentlich von Fabricius
selbst, verwechselt worden. In den species und der Mantissa ist deutlich
der Ostindische B. quadridens beschrieben, in der entom. syst. (I. p. 15.
n. 42.) sind, wobei die Diagnose von der Europäischen Art entnommen,
beide zusammengeworfen worden. Sc. Aeneas auf der Tafel von Panzer’s
Beiträgen wird als Synonym des quadridens betrachtet und hierdurch Pan-
zer veranlafst, im Text in Fabricius Irrthum mit einzugehen. Im Systema
Eleutheratorum hat Fabrieius dagegen nur die Europäische Art vor Augen
gehabt. Diese hat zuerst Schrank im Naturforscher unter der Benennung
Sc. unicornu aufgestellt, die mit wohl erlaubter Veränderung auch wird bei-
behalten werden müssen. Der von Panzer später gegebene Name Sc. Aeneas,
der indefs in neuerer Zeit ziemlich allgemein angenommen, auch von den
Grafen Dejean und v. Castelnau beibehalten worden ist, findet sich eigent-
lich nur auf der Tafel, nicht im Texte, der Symbolae entomologicae. Auf
die Verschiedenheit des Sc. quadridens Fabr. (quadridentatus Ol.) und Pan-
zer’s Aeneas oder quadridens der Fn. Germ. hatte übrigens schon Illiger in
46 Kıvc: .Die Coleopteren-Gatiungen:
der Übersetzung von Olivier’s Entomologie aufmerksam gemacht. Zu be-
merken ist noch, dafs die gegenwärtige Art sieben Zähnchen an den vorder-
sten Schienen, der Ostindische quadridens dagegen deren nicht mehr als
fünf hat.
Im südlichen Deutschland einheimisch.
9, Bolboceras castaneus.
B. castaneus, nitidus, capite, inter oculos carinato, confertim pun-
ctato, thorace globoso, antice vix impresso, punctulato, obsolete sparsim pun-
ctato, elytris punctato-striatis. long. lin. 4—5+.
Aus Brasilien von Sellow.
Etwa wie der weibliche B. Aeneas gestaltet. Das Kopfschild ist ge-
randet und auf der Stirn zwischen den Augen eine zu den Seiten abgekürzte
Leiste. Das Halsschild ist stark gewölbt, die Punktirung an den Seiten deut-
licher, das Schildchen sehr fein, kaum sichtbar, punktirt. Die Punkitstreifen
auf den Deckschilden sind nur wenig ausgedrückt. An den vordersten Schie-
nen finden sich nicht mehr als sechs Zähne. Die untere Seite ist etwas hel-
ler, dicht rothgelb behaart.
10. Bolboceras lutulentus.
B. capite, tuberculo frontali munito, alutaceo, confertim punctato,
thorace vage punctato, lateribus oblique carinato, elytris punctato -striatis,
rufo-testaceus. long. lin. 5.
Eine Brasilische Art aus Virmond’s Sammlung.
Gröfse und Gestalt der vorhergehenden Art, nur von matter, röth-
lich gelber Färbung und aufserdem durch die viel gröbere Punktirung auf
dem Halsschilde und die auch gröfseren und tiefer eingedrückten Punkte,
welche die Reihen auf den Deckschilden bilden, hauptsächlich verschieden.
Auf der Stirn befindet sich ein queer gezogener Höcker, zu jeder Seite des
Halsschildes neben der gewöhnlichen Grube in schräger Richtung eine kleine
erhöhete Linie. An den vordersten Schienen befinden sich nicht mehr als
sechs Zähne. Die untere Seite ist dicht und lang rothgelb behaart.
Aihyreus und Bolboceras. 47
11. Bolboceras vahdus.
B. subtus testaceus, supra castaneus, capite transversim carinato, tho-
race dorso bicorni, cornubus distantibus, divaricatis, lateribus excavato, ely-
tris obsolete punctato-striatis. Mas long. lin. 84.
Vaterland: Das wüste Arabien. Ein einzelnes Exemplar aus einer
Sendung der Herren Hemprich und Ehrenberg.
Eine schon durch ansehnliche Gröfse im Vergleich mit den ihr ähnli-
chen nächstfolgenden ausgezeichnete Arte. Der Kopf ist dicht punktirt,
das Kopfschild gerandet, die hintere Gränze desselben durch eine niedrige,
stumpfe, zu den Seiten abgekürzte Leiste bezeichnet. Das Halsschild ist
gerandet, vorn dichter, am hintern Theile nur einzeln und schwach punktirt.
Der Rücken ist gegen die Mitte hin etwas vertieft, mit einer feinen Längs-
furche, seitwärts mit einem kurzen, schnell zugespitzten, mit der Spitze nach
aufsen gerichteten Horn bewaffnet. Neben und unter dem Horn sind die
Seiten tief ausgehölt und ist die Aushölung von einer mit dem Aufsenrande
gleichlaufenden Leiste eingefafst. Zwischen beiden befindet sich noch die
Spur eines Eindrucks. Das Schildchen ist kaum punktirt. Die Deckschilde
sind fein punktirt gestreift. Die untere Seite, Fühler und Schenkel sind
bräunlich gelb, an den vordersten Schienen sieben Zähnchen. Die Seiten
des Körpers sind dicht mit gelblichen Haaren besetzt.
12. Dolboceras quadridens.
B. ferrugineus, thorace vage punctato, antice excavato, quadridentato,
dentibus inaequalibus, lateralibus minoribus, dorsalibus vix majoribus appro-
ximatis, capitis clypeo bidentato, elytris punctato-striati. Mas (Femina
thorace obsolete tuberculato, capite transversim carinato differt.)
Scarabaeus quadridens Fabr. Species Insect. I. p. 11. n. 37. Mant.
Ins. I. p. 6. n. 39. Linn. Syst. nat. ed. Gmelin 1. IV. p. 1532. n. 115. Ja-
blonsky Naturs. I. p. 297. n. 40.
Scarabaeus quadridentatus Oliv. Entomol. T. 1. No. 3. p. 62. n. 69.
Pl. XI. fig. 108. a. b. übers. v. Illiger. I. 3. p. 154. n. 69. Sturm Abb. 1.
p- 43. n. 69. Tab. 29. fig. 4. 5.
Die von dieser Art vorhandenen Exemplare stammen noch aus älteren
Sammlungen, namentlich denen von Herbst und Salingre und sind vermuth-
48 Kıvc: Die Coleopteren-Galtungen:
lich mit Sendungen von Trankebar hierher gekommen. — Der vorzüglichste
Unterschied vom B. Aeneas beruht in der Bildung von Kopf- und Halsschild.
Auf der Stirn befindet sich statt des Horns eine (Jueerleiste und das Schild-
chen ist vorn nicht gerandet, sondern am Rande aufgeworfen und zweige-
zahnt. Am Halsschilde stehen aber die Zähne nicht in einer Reihe und glei-
cher Entfernung von einander. Es ist hier vielmehr eine viermal gebuch-
tete Aushölung. Die letzte ist zu jeder Seite durch einen Zahn, der etwas
kleiner ist, als die Mittelzähne, begränzt und letztere stehen mehr nach vorn
nahe an einander, vor den mittleren Buchten. Der hintere Theil des Hals-
schildes ist glatt, mit einer aus eingedrückten Punkten zusammengesetzten
Längslinie in der Mitte bezeichnet. An den vordersten Schienen sind nur
fünf Zähnchen.
13. Bolboceras sulcicollis.
B. ferrugineus, capite quadricorni thoracisque, medio profunde sul-
cati, dorso nigris, elytris punctato-striatis. long. lin. 5.
Scarabaeus sulcicollis Wiedemann Zoolog. Magazin. Bd. 1. St. 3.
p: 161. n. 6.
Von Java.
Das in der Mitte etwas hervortretende Kopfschild ist stark punktirt,
am Rande mit drei scharf zugespitzten Hörnchen besetzt. Das vierte Kopf-
hörnchen befindet sich auf der Stirn zwischen den Augen. Das Halsschild
ist stark gewölbt, in der Mitte tief gefurcht, wie der Kopf glänzend schwarz,
an den Seiten aber rothbraun. Das Schildchen ist schwarz. Die Bauchseite
ist mit rothgelben Haaren dicht besetzt. An den vordersten Schienen lassen
sich zwölf Zähnchen deutlich unterscheiden.
14. Bolboceras trisulcatus.
Tab. 2. Fig. 11.
B. ferrugineus, thorace dorso excavato quadridentato, dentibus sub-
aequalibus, compressis, capitis clypeo bidentato, elytris punctato -striatis.
Mas long. lin. 6.
Vaterland: Bengalen.
Von dieser von Herrn Hope erhaltenen Art hat sich eine Beschrei-
bung, die irgendwo in einer englischen Zeitschrift zu vermuthen war, nicht
Athyreus und Bolboceras. 49
ermitteln, und daher nicht vermeiden lassen, ihr hier einen Namen zu ge-
ben. Sie steht, ihrer ansehnlichen Gröfse ungeachtet, eigentlich in der
Mitte zwischen B. Aeneas und quadridens. Die Zähne am Halsschilde ste-
hen, wie bei ersterer Art, in einer Reihe, nur dafs dazwischen das Halsschild
viel stärker, so dafs deutlich drei Gruben entstehen, vertieft ist, die Zähne
selbst aber zusammengedrückt und die mittleren einander genähert sind.
Der hintere Theil des Halsschildes ist glatt, mit einer aus eingedrückten Punk-
ten bestehenden Mittellinie, wie beim B. quadridens, der vordere Theil da-
gegen stärker punktirt. Auch sind Kopf und Kopfschild ganz wie bei B.
quadridens beschaffen, nur etwas stärker punktirt, die vordersten Schienen
sechsgezahnt.
15. .Bolboceras bocchus.
B. subtus testaceus, supra piceo -niger, nitidus, capite cornu conico,
apice emarginato, thorace dentibus quatuor acutis armatis, elytris punctato-
striatis. Mas (Differt Femina capite trituberculato, thorace transversim
carinato.)
Bolbocerus Bocchus Erichson M. Wagner Reisen in der Regent-
schaft Algier III. p. 170. n. 6. Taf. VII.
Bolboceras Bocchus Guerin Magasin de Zool. 1841. Pl. 71. Fig. 1.
Unsere Exemplare sind von Bona und befanden sich unter den von
Hrn. M. Wagner aus Algerien mitgebrachten, der Sammlung hiesiger Uni-
versität überlassenen Insecten.
Die Zahl der Zähnchen an den vordersten Schienen beläuft sich auf
sieben.
16. Bolboceras capensis.
B. ferrugineus, capitis elypeo subcornuto (feminae bituberculato)
thorace inermi sparsim punctato, elytris punctato-striatis. Mas Fem. long.
lin. 54.
Vom Kap. Aus Sendungen des Herrn Krebs.
Gröfse, Farbe und Gestalt eines weiblichen B. quadridens. Der Kopf
ist mit erhöheten Punkten dicht besetzt, das Kopfschlld gerandet, bei dem
Männchen mit einem kurzen, etwas zusammengedrückten Horn nicht weit
vom vordern Rande bewaffnet, beim Weibchen in der Mitte mit zwei Höckern
Physik.-maih. Kl. 1843. G
50 Kıuc: Die Coleopteren- Gattungen:
versehen. Das Halsschild ist zerstreut punktirt, vorn kaum merklich ein-
gedrückt, in der Mitte der Länge nach schwach gestreift. Das Schildchen
ist dichter punktirt. Die Deckschilde sind punktirt gestreift. Die untere
Fläche des Körpers, so wie die Seiten, sind mit rothgelben Haaren besetzt,
die vordersten Schienen sechsgezahnt.
17. Bolboceras pallens.
B. testaceus, capite trituberculato, thorace dorso late excavato, ely-
tris punctato -striatis. long. lin. 4.
Odontaeus pallens Ela; Erman Reise um die Erde p. 35. n. 79.
Von Ile de prince. Aus einer von Herrn Prof. Erman von seiner Reise
mitgebrachten, dem Königl. Museum überlassenen Sammlung.
Sehr ähnlich dem folgenden B. senegalensis, nur gröfser, heller braun,
mit einer stärkern, fast dreieckigen Vertiefung am Halsschild, an dessen vor-
dern Rande in der Mitte zwei kleine Zähnchen hervortreten. Kopf, Hals-
schild und Deckschilde sind schwarz gerandet, auch sind die Hörnchen des
Kopfschildes schwarz. An den vordersten Schienen sind sechs Zähnchen.
18. Bolboceras senegalensis.
B. castaneus, capite trituberculato, thorace vix excavato, elyER pun-
ctato-striatis. long. lin. 34.
Bolboceras senegalensis Comte de Castelnau Hist. nat. des In-
sectes Col£opteres I. II. p. 105. n. 8. Pl. 7. Fig. 5.
Vom Senegal. Von Herrn L. as
Der Kopf ist hinter den Höckern fast glatt. Das Halsschild ist beson-
ders vorn punktirt. Die Mitte durchzieht eine schwach vertieftepunktirte Längs-
furche. Auch hier finden sich an den vordersten Schienen sechs Zähnchen.
Ob dies die unter demselben Namen in Dejean’s Catalog (p. 166)
vorkommende Art sei, wie fast zu vermuthen, hat Herr Graf von Castelnau
nicht bemerkt.
19. Bolboceras tumefactus.
B. luteus, capite medio cornuto toto, thorace antice elevato, utrinque
excavato, quadrituberculato, basi maculaque dorsali media, elytris punctato-
Athyreus und Bolbocer.as. 51
striatis, macula magna laterali, sutura, scutelloque nigris. Mas (Fem. ca-
pite inermi, thorace antice retuso medio transversim carinato differt.)
Scarabaeus tumefactus Palisot de Beauvois Insectes p. 91. Pl. HI.
5. Fig. 6.
Aus Nord- Amerika. Von der folgenden Art durch Kopf- und Hals-
bildung sowohl, als Farbenvertheilung, hinreichend verschieden. Die schwar-
zen Flecken verschwinden jedoch allmählig so weit, dafs selbst einfarbig
gelbe Individuen, wenn gleich nur selten, angetroffen werden.
20. Bolboceras farctus.
B. rufus, capite cornu brevi truncato clypei armato postice, thorace
retuso transversirn carinato basi, elytris punctato -striatis sutura cum scutello
apiceque nigris. Mas (Fem. capite inermi fronte transversim carinata differt.)
Scarabaeus farcius Fabr. Syst. entom. p. 14. n. 43. Sp. Ins. IT. p. 14.
n. 53. Mant. Ins. I. p. 7. n. 56. entom. syst. I. p. 22. n. 65. Linn. S.N. ed.
Gmelin I. 4. p. 1540. n. 153. Panz. Fn. Am. bor. p. 3.n. 8. Herbst Na-
turs. II. p. 112.n. 80. Voet Col. Tab. X. f. 92. übers. v. Panzer]. p- 61.
Scarabaeus Cephus Fabr. Syst. ent. p. 18. n. 64. Sp. Ins. I. p. 19.
n. 78. Mant. Ins. I. p. 10. n. 85. Linn. S. N. ed. Gmelin 1. 4. p. 1550. n. 191.
Herbst Naturs. II. p- 286. n.177. Oliv. Ent. 1. 3. p. 68. n. 76. Pl. XI.
Fig. 96. Illig. Übers. I. 4. p. 162. n. 76. Sturm Abb.1I.p.50.n. 76. T.29.
Fig. 9. Palisot de Beauvois Ins. p. 90. Pl. II. 2. Fig. 5.
Geotirupes farctus Fabr. Suppl. ent. Syst. p. 21. n. 58. Syst. Eleuth. 1.
p- 19. n. 64.
Aus Nord- Amerika. In Palisot’s Werk sind von dieser und der fol-
genden Art nur Weibchen abgebildet. Bemerkenswerth ist, dafs bei dieser
Art nur selten und ausnahmsweise auf den Deckschilden die vierzehn Punkt-
streifen vorkommen, die beim Zumefactus jederzeit angetroffen werden. Ge-
wöhnlich sind nur eilf Reihen vorhanden, die zweite, fünfte und achte fast
oder ganz erloschen, die mittleren dadurch genähert.
21. Bolboceras Lazarus.
B. castaneus, capitis clypeo cornu brevi emarginato armato, thorace
antice retuso, dorso punctato, canaliculato, utrinque excavato, tuberculato, ely-
tris punctato-striatis. Mas(Fem.capitethoraceque obsolete tuberculatis differt.)
G2
52 Krvc: Die Coleopteren- Gattungen:
Scarabaeus Lazarus Fabr. Syst. ent. p. 11.n. 31. Spec. Insect. I. p. 11.
n. 34. Mant. I. p. 5. n. 25. ent. syst. emend. I. p. 14. n. 40. Syst. Eleuth. I.
p-23.n.5. Linn. Syst. Nat. ed. GmelinI. 4. p. 1538. n. 140. Jablonsky
Naturs. I. p. 296. n. 38. Oliv. Ent. I. 3. p. 63. n. 70. Pl. XVI. Fig. 146.
Tllig. Übers. I. 3. p. 155. n. 70. Sturm Abb. I. p. 44.n. 70. T.29. Fig. 6.
Panzer Fn. Am. bor. p. 2. n. 4.
Bolboceras Lazarus Cte de Castelnau Hist. nat. II. p. 105. n. 11.
Vaterland: Nord- Amerika.
22. Bolboceras bonariensis.
B. piceus, capite punctato, fronte tuberculata, thorace sparsim pun-
ctato, antice retuso, dorso transversim sulcato, postice laevi, elytris pun-
ctato-striatis. long. lin. 44.
Von Montevideo, aus einer Sendung des verstorbenen Sellow.
Von dunkel brauner Färbung. Der Kopf ist dicht punktirt, das Kopf-
schild schmaler, auch etwas weiter vorgestreckt, als gewöhnlich und von
dem Kopf nicht durch eine Leiste, sondern eine eingedrückte Queerlinie ge-
trennt. Mitten auf der Stirn befindet sich ein stumpfer, ziemlich breiter
Höcker. Das Halsschild ist, mit Ausnahme des hintern glatten Theils und
einer queer laufenden Erhöhung in der Mitte, zerstreut punktirt, vor dieser
schwach ausgehölt, hinter derselben unregelmäfsig vertieft. Die Erhöhung
erhält hierdurch die Gestalt eines in die Queer gezogenen Dreiecks. Auf
dem Rückenschildchen befinden sich nur wenige eingedrückte Punkte, auf
jedem Deckschild zehn Punktreihen, von welchen die an der Nath von der
folgenden mehr entfernt ist, die übrigen paarweis genähert stehen.
23. Bolboceras striato-punctatus.
B. ferrugineus, capite confertim punctato, transversim tricarinato,
carina intermedia denticulis obsoletis tribus armata, thorace marginato,
lateribus vage punctato, antice trituberculato, dorso sulcato, elytris pun-
ctato-striatis. long. lin. 44.
Bolboceras siriato-punctatus Cte de Castelnau Hist. nat. des In-
sectes Col. II. p. 105. n. 9.
Vaterland: Brasilien und, wie die vorige Art, aus einer Sellowschen
Sendung.
Athyreus und Bolboceras. 33
Dem B. sculpturatus sehr ähnlich, unterschieden jedoch durch den
überall stärker punktirten Kopf und den einfachen, breiten und stumpfen,
oben wenig ausgehölten und nicht so aufgeworfenen Mittelhöcker vorn am
Halsschild. Aus der hier ebenfalls vorhandenen, seitwärts kaum aus-
gedehnten Vertiefung, verläuft nach hinten, in schräger Richtung nach
aufsen, zu jeder Seite eine kurze, gleich der Rinne in der Mitte des
Rückens, punktirte Furche. Die Linien auf den Deckschilden bestehen
aus grolsen, stark eingedrückten Punkten. An den Schienen der vorder-
sten Beine bemerkt man zehn Zähne. Die untere Körperseite ist roth-
gelb behaart.
24. Bolboceras sculpturatus.
B. capitis clypeo postice carinato, carina medio denticulo armata,
fronte excavata, punctata, carinata, thorace impresso-punctato, dorso ca-
naliculato, antice retuso, trituberculato, tubereulo intermedio majori biden-
tato, supra excavato, elytris punctato-striatis, ferrugineus, nitidus. long.
lin. 34.
Odontaeus sculpturatus Mannerheim M&moires de la societe imp.
des Natur. de Moscou Tom. VII. (nouveaux Mem. I.) p. 44.
Vaterland: Brasilien. Am Salto grande von Sellow gesammelt.
Geataltet wie B. quadridens. Glänzend rothbraun. Die eingedrückte
Stirn hin und wieder punktirt, die Leiste, welche dieselbe vom Kopfschilde
trennt, mit einem Zähnchen in der Mitte, die Seiten gerandet, die hintere
Leiste gebogen, mit scharf vortretenden Ecken, der Scheitel glatt. Das
Halsschild gerandet, am Rande dicht, tiefer, doch nur einzeln, an den Seiten,
der Rücken nur in der Rinne punktirt. Vorn das Halsschild in der Mitte
etwas eingedrückt und seitwärts eingebogen. Drei stumpfe Höcker, von
welchen der mittlere breiter, zweigezahnt, oben etwas ausgehölt und an der
Spitze aufgeworfen ist, treten über dem Eindruck hervor. Das Rücken-
schildchen ist glatt. Die Deckschilde sind punktirt gestreift, die Streifen
ziemlich gleich weit von einander entfernt. Die Vorderschienen haben nur
sieben Zähne. Die untere Seite ist rothgelb behaart.
54 Kıuc: Die Coleopteren-Gatiungen:
25. Bolboceras lucidulus.
B. rufo-ferrugineus, nitidus, capite transversim carinato, carina den-
ticulo medio armata, fronte impressa, laevi, thorace semigloboso, sparsim
impresso-punctato, elytris punctato-striatis, striis per paria approximatis.
long. lin. 3—4.
! Vaterland: Brasilien. Aus einer am Salto grande veranstalteten
Sammlung des verstorbenen Sellow.
Ändert in der Gröfse und Färbung ab, ist dunkelbraun oder braun-
roth, immer aber glatt und glänzend. Die untere Seite ist etwas heller ge-
färbt, dicht rothgelb behaart. Der Kopf ist vorn hin und wieder punktirt,
der hintere Theil ganz glatt, das Kopfschild durch eine gerade Leiste von
der Lefze und durch eine zweite, etwas gekrümmte, in der Mitte mit einem
Zähnchen bewaffnete, von dem übrigen Kopf getrennt. Das Halsschild ist
stark gewölbt, ganz ohne Erhöhungen oder Furchen, unregelmäfsig zer-
streut, regelmäfsiger und dichter den Rand entlang punktirt. Das Rücken-
schildchen ist ohne Punkte. Auf den Deckschilden sind überhaupt neun,
auch zehn Reihen eingedrückter Punkte. Sechs in der Mitte sind an
beiden Enden abgekürzt und paarweis genähert, die erste Reihe läuft
vom Schildchen an in gleicher Richtung mit der Nath bis zur Spitze der-
selben entlang, wo sie sich mit der ihr vom Aufsenrande entgegenkommen-
den vereinigt, die neunte an den Schultern gebogene senkt sich bald in die
des Aufsenrandes ein, wo dann neben ihr auch noch von einer achten eine
Spur sich zeigt.
26. Bolboceras caesus.
B. ferrugineus, nitidus, capitis clypeo transversim carinato, fronte
depressa, thorace sparsim excavato-punctato, longitudinaliter sulcato, ely-
tris striato- punctatis. long. lin. 34.
Von Britisch- Guyana. Aus Sendungen des Herrn Schomburgh.
Eine von den ähnlichen vorhergehenden besonders durch die flache,
niedergedrückte, von einer Leiste nicht durchzogene Stirn und die sehr
seichten vordern Eindrücke des in der Mitte von einer tiefen Längsfurche
ebenfalls durchzogenen Halsschildes verschiedene Art. Zu bemerken ist
aufserdem, dafs der Kopf zerstreut punktirt und die Gränze des Kopfschildes
Athyreus und Bolboceras. 35
durch eine etwas gebogene scharfe Kante begränzt, das Halsschild geran-
det, vorn in der Mitte etwas aufgeworfen und vortretend, sonst aber, na-
mentlich über dem Höcker und an den Seiten mit grofsen, eingedrückten
Punkten, doch nicht dicht, besetzt, wie denn auch die Furche in der Mitte
selbst punktirt ist. Das Rückenschildchen ist glatt. Auf den Deckschil-
den, in fast gleicher Entfernung von einander, sind zehn Reihen tief einge-
drückter, ziemlich nahe stehender Punkte zu bemerken. Die untere Seite,
sammt den Fühlern und den Hüftstücken und Schenkeln der Beine, ist hel-
ler braun. Die vordersten Schienen sind mit drei grofsen Zähnen an der
Spitze und über diesen noch mit sieben kleinern, die dicht gedrängt stehen,
an dem äufsern Rande bewaffnet.
Die in der hiesigen Sammlung noch fehlenden beschriebenen Arten
sind: D. Cyclops (Comte de Castelnau hist. nat. II. p. 104. n. 1. Se.
Cyclops Oliv. Ent. 1. 3. p. 60. n. 67. Pl. 15. Fig. 140 übers. v. Illiger L. 3.
p- 152. n. 67. Sturm Abb. I. p. 42. n. 67. Tab. 29. Fig. 2. Fabr. entom.
syst. I. p. 15. n. 44. Syst, El.T. p.24.n.8. Geotrupes Cyclops Fabr. suppl.
entom. syst. p. 17.n. 39.) vonJava. — B.Coryphaeus (Sc. Coryphaeus Fabr.
syst. ent. app. p. 817. n. 17—18. Spec. Ins. I. p. 8. n. 22. Mant. Ins. I. p. 5.
n. 23. entom. syst.I. p.9.n. 22. Syst. El.I. p.22.n. 2. Linn. S. N. ed. Gme-
lin 1.4. p. 1529. n. 106. Jablonsky Naturs. I. p. 255. n. 22. Oliv. Ent.
I. 3. p. 61. n. 68. Pl. 16. Fig. 150, übers. v. Illig. 1.3. p. 153.n.68. Sturm
Abb.I. p.43.n. 68. Tab. 29. Fig. 3. Geotrupes Coryphaeus Fabr. Suppl.
entom. Syst. p. 13. n. 22.) vom Kap. — B. impressus (Se. impr. Wiedemann
zool. Mag. II. 1. p.6.n. 5.) aus Bengalen.— B. nigriceps (Se. nigriceps Wie-
demann zool. Mag. II. 1. p. 8. n. 7.) von Java.— B. carenicollis (Cte de
Castelnau hist. nat. II. p. 104. n. 2) aus Östindien. — B. furcicollis (Ote de
Castelnau a.a. O. II. p. 104. n. 3) aus Nord- Amerika. — B. ferrugineus
(das. p. 104. n. 4.) ohne Angabe des Vaterlandes. — B. geoirupoides (das.p. 404.
n.5) von Chili. — B. globosus (das. p. 105. n. 10) aus Brasilien. Diese Art ge-
hört deutlich zur Abtheilung mit nur eilf Streifen und kann leicht eine der von
mir beschriebenen Arten sein. — B. modestus (das. p. 105. n. 13.) von Neu-
Granada. — B. gallicus (Mulsant hist. nat. des Col. de France p. 350. n. 2.
Pl. 1. Fig. 15— 17) eine südfranzösische, dem B. Bocchus wohl nahe verwandte,
nach der Beschreibung jedoch in mehreren Punkten verschiedene Art. — Hin-
zu kommen noch die folgenden Neuholländischen Arten: B. Reichei (Gu£rin
56 Kıuc: Die Coleopteren-Gattungen:
Meneville Insectes du voyage de laFavorite, Magasin de Zool. 8°anneeCl. IX.
p. 50) von Swan River. — B. Kirbü (Bainbridge on several species ofBolboce-
ras Kirby from New Holland in the transactions ofthe entom. society of Lon-
don Vol. III. Part. I. p. 79. sp. 1.) von Melville Island. Hope (observations
onthe Coleoptera of Port Essington in Australia im Journal of Proceedings of
the entomological Society of London 1841) führt p. 43 ebenfalls einen B. Kir-
bi Bainbridge auf, wo jedoch die kurze Beschreibung mit der von Bainbridge
a.a. OÖ. gegebenen nicht übereinstimmt. — B. serricollis (das. p. 80 sp. 3) von
Swan River. — B.7-tuberculatus (das. p. 81.sp.5.). — B. fissicornis (das. p. 82.
sp. 6.) eben daher. — B.neglectus (Hope im Journal of proceedings ofthe ento-
mological Society of London 1841 S. 43). — B.rotundatus und B. rubescens
(ebend.)— Der Graf von Castelnau erwähnt (Hist. nat. II. p. 106) eines an-
scheinend dem B. gallicus Mulsant ähnlichen, in Spanien und Portugal einhei-
mischen B. Zusitanicus (vermuthlich Zusitanieus Dej. Cat. p. 166.), dessen Be-
kanntmachung durch Hrn. Rambur zu erwarten ist, desgleichen eines B. fulvus
Gory (Gu&rin Iconographie du regne animal Ins. pl. 22, f.8. Gray in Grif-
fith the animal kingdom, Clafs Insectal. Pl. 23. fig. 8. Duponchel in d’Or-
bigny Diet. un. d’hist. nat. II. p. 639), welcher vom B. senegalensis verschieden
sein soll. InDejeans Katalog sind: B. Lecontei, concinnus und americanus
aus Nord-Amerika, rotundatus und globosus aus Brasilien, dituberculatus
aus Nubien, Zrituberculatus und senegalensis vom Senegal, letztere vielleicht
eins mit der vom Gr. v. Castelnau beschriebenen Art gleiches Namens, sämmt-
lich hier unbekannt, noch namentlich aufgeführt. Endlich hat Hope den
vonihm im Journal of Proceedings a. a. OÖ. beschriebenen 2. neglectus mit
einem B. Zatreillei, über den das nicht angegebene, aber wahrscheinlich vor-
handene Nähere, sich hier nicht hat ermitteln lassen, verglichen.
mE NIIN ID
Athyreus und Bolboceras. 97
Erklärung der Abbildungen.
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Fig. 1.a. Athyreus bifurcatus. b. c. Kopf und Halsschild des Weibchen.
— 2a. —_ tridens.
— a. _ aeneus.
— 4a. _ eyanescens. b.c. Kopf und Halsschild des Weibchen.
— 5... _ Zrituberculatus.
— 6.a. _ orientalis.
— 7.a. — porcalus.
— 8a. _ Zridentatus.
— 9a. _ excavatus.
— 10. a. _ corinthius.
— 11... _ violaceus.
— 12. a. _ anthracinus.
Taf. II.
Fig. 1.a. Athyreus kordofanus.
— 2a _ lanuginosus.
— 93a _ angulatus.
— 4a —_ mexicanus.
— 5a _ bicolor.
— 6.a. Bolboceras quadricornis.
— Ta _ frontalis. b.c. Kopf und Halsschild des Weibchen.
— Ba = reclicornis.
— 9a _ excavatus.
— 10. a —_ coronalus.
— 11.a _ trisulcatus.
— I.a. Des Athyreus bifurcatus Maxille. 2. Unterlippe.
— I.a. Des Odontaeus mobilicornis Maxille. d. Desselben Unterlippe.
— II.a. Des männlichen Boldoceras proboscideus Maxille. 2. Unterlippe.
— IV.a. Des weiblichen 2. proboscideus Maxille. 5. Dessen Unterlippe.
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Über
die Pyroelektrieitat der Mineralien.
I Von den
H"- P. RIESS und G. ROSE.
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 6. April 1843.]
Einleitung. Pyroclektrieität') und Untersuchung derselben.
FE. Krystall ist pyro@lektrisch, wenn er während einer Änderung seiner
Temperatur die beiden Elektricitätsarten an bestimmten Stellen hervortreten
läfst. Je zwei solcher entgegengesetzt elektrischen Stellen nennt man Pole,
und eine Linie, welche zwei Pole verbindet, elektrische Axe des Krystalls.
An jedem der beiden Pole einer Axe treten successiv beide Elektricitäten
auf, indem nämlich ein Pol, der erwärmt, die eine Elektrieitätsart zeigt,
bei constanter Temperatur unelektrisch ist und bei dem Erkalten die entge-
gengesetzte Elektrieität frei werden läfst. Hierdurch bietet sich eine be-
queme, leicht fafsliche Bezeichnung der Pole dar, durch welche die Art der
Elektrieität bei einer Temperaturänderung im Allgemeinen unzweideutig
ausgedrückt wird. Wir wollen analog elektrischen Pol den Pol nen-
nen, an welchem das algebraische Zeichen des Temperaturzuwachses dem
Zeichen der dadurch erregten Elektrieität entspricht, antilog elektri-
schen Pol denjenigen, an welchem sich diese Zeichen widersprechen.
Der analoge Pol eines Krystalles wird also durch Erwärmung positiv, durch
Erkaltung negativ elektrisch, der antiloge Pol hingegen durch Erwärmung
negativ, durch Erkaltung positiv.
(') Wir haben diese, von Brewster vorgeschlagene Bezeichnung gewählt, weil die
sonst gebräuchliche und passendere (Thermo£lektricität) auch für eine Klasse von Erschei-
nungen gebraucht wird, bei welchen das Elektroscop keine Anwendung findet. Das Wort
Krystallelektrieität, nach Schweigger, anzuwenden, haben wir angestanden, weil die Kry-
stalle auch durch Reibung, Druck, Spaltung elektrisch werden und daher immer hinzuzuse-
tzen wäre, dafs die Erregung durch Wärme gemeint sei.
H2
60 Rırss, G.Rose:
Um einen Krystall als pyroelektrisch gelten zu lassen, mufs man sich
überzeugen, dafs die an ihm merkbare Elektrieität an bestimmte Stellen ge-
bunden und dafs sie wirklich von einer Wärmebewegung abhängig ist. Bei
den mannigfachen Täuschungen, welche die Untersuchung geringer Elektri-
citätsmengen mit sich bringt, ist es nothwendig, entweder eine und dieselbe
Stelle des Krystalles bei Erwärmung und Erkaltung zu prüfen, wo dann ent-
gegengesetzte Elektrieitäten gefunden werden müssen, oder bei Einer Art
der Temperaturänderung die entgegengesetzten Elektricitäten an verschiede-
nen Stellen des Krystalles aufzusuchen. Haüy, der die letzte Untersu-
chungsart anwandte, hat Krystalle als pyro@lektrisch angegeben, die es un-
zweifelhaft sind, Brewster hingegen, der sich nach ihm mit Aufsuchung
solcher Krystalle beschäftigte, hat weder auf die Elektrieitätsart, die er ge-
funden, noch auf die Stelle des Krystalles, welche sie zeigte, geachtet.
Das Verzeichnifs, das Brewster von pyroelektrischen Krystallen gegeben'),
hätte daher nicht unbedingt angenommen werden dürfen, wie er es denn
selbst zu weiterer Prüfung empfohlen hat,
Wir wollen zuerst unsere Prüfungsart der Pyroelektrieität und die Vor-
sichtsmafsregeln angeben, die wir dabei zu beobachten nöthig fanden; alle
Fehlerquellen zu entfernen, ist freilich nur nöthig, wo sehr schwacheElektri-
eität zu untersuchen ist, aber sie zu kennen, ist jedenfalls von Nutzen. Wir
prüften die Krystalle an einem Behrens’schen Elektroscope mit trockner
Säule (das zu diesem Zwecke zuerst von Schweigger?) vorgeschlagen
wurde), und zwar mit der von Fechner?) angegebenen Einrichtung. Dies
bequeme empfindliche Elektroscop leidet an dem wesentlichen Mangel, dafs
die beiden elektrischen Pole der trocknen Säule nicht constant in gleicher
Stärke erhalten werden können, und daher das Goldblatt auch bei genaue-
ster Ajustirung der Polplatten, niemals eine längere Zeit hindurch frei zwi-
schen den Platten hängt. Eine Ableitung des Goldblattes zur Erde kann
demselben die freie Stellung nicht wiedergeben. Wir öffneten deshalb von
Zeit zu Zeit den Kasten, in welchem die trockene Säule liegt (derselbe war
dazu mit einer Thür versehen), wir schlossen sodann die Säule und öffneten
(') Poggendorff. Annalen B. 2. S. 301.
(?) Schweigger. Journal für Chemie Bd. 25. S. 159.
(°) Poggendorff. Annalen B. 41. S. 230.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 61
sie gleichzeitig an beiden Polen. Hierzu diente ein messingener, der Säule
parallel liegender Stab, der durch eine auf seine Mitte wirkende Feder von
den Polfassungen der Säule entfernt gehalten wurde. Diese Feder hat die
Breite des Raumes zwischen den beiden Holzstützen, welche die Säule tra-
gen (64 Linien), und kann daher nicht seitlich ausweichen; ein Druck ge-
gen einen auf der Mitte des Stabes angebrachten Knopf schliefst die Säule,
und das Nachlassen des Drucks öffnet sie. Es ist nöthig, möglichst normal
gegen den Knopf zu drücken, damit die Säule an beiden Polen gleichzeitig
geschlossen und geöffnet werde. Bei gehöriger Stellung der Polplatten darf
das Goldblatt bei dem Öffnen der Säule nicht die geringste Bewegung zei-
gen, erst hierdurch überzeugt man sich, dafs es frei hängt. Nachdem der
Stift, an welchem das Goldblatt hängt, isolirt worden, wurde derselbe mit
einem Leiter berührt, um’zu sehen, ob eine Bewegung des Goldblattes er-
folgte. Eine solche Bewegung konnte doppelter Art sein. Geschah die-
selbe ruckweise und kehrte das Goldblatt nach Entfernung des Leiters vom
Stifte nicht auf seinen frühern Stand zurück, so war die trockne Säule vor-
her nicht an beiden Polen gleichzeitig geöffnet worden; es wurde daher
Schliefsung und Öffnung derselben sorgsamer wiederholt. Bewegte sich
das Goldblatt hingegen schwungweise und kehrte wieder zurück, so war dies
ein Zeichen, dafs die Glasglocke, welche den obern Theil des Instruments
deckt, elektrisch geworden war. Diese Bewegung geschieht immer, wie
die Anzeige von negativer Elektrieität. Die leichteste Berührung der
Glasglocke mit dem Finger oder dem Rockärmel reicht hin, dieselbe äufser-
lich zu elektrisiren und das Goldblatt in Bewegung zu setzen. Diesem Feh-
ler ist indefs leicht abzuhelfen. An der Seite, von welcher her der prü-
fende Leiter an den Stift angelegt war, wurde die Glasglocke bis zur Me-
tallfassung hin stark angehaucht, der Stift selbst ableitend berührt. (Dies
Mittel, Isolatoren zu entladen, ist bei einer andern Gelegenheit von Fara-
day angegeben worden). Half dies Mittel nicht, so mufste die Glasglocke
an ihrer innern Seite elektrisch sein — ein Fehler, dem nicht augenblicklich
zu begegnen ist; er nöthigt oft, viele Minuten, ja Stundenlang die Versuche
am Instrumente auszusetzen. Innerlich kann die Glocke elektrisch werden,
wenn das Goldblatt lange Zeit an einer Polplatte gehaftet hat, ohne mit der
Erde in Verbindung zu stehen. Es wurde daher jedesmal nach den Versu-
chen das Goldblatt mit einer Ableitung in Verbindung gesetzt, oder bei
62 Rırss, G. Rose:
längern Pausen jede Polplatte so weit abgerückt, dafs ein Anschlagen des
Goldblattes an dieselbe vermieden war.
Obgleich durch Näherung der Polplatten die Empfindlichkeit des
Elektroscops gesteigert werden konnte, so ist dies doch nur selten von uns
geschehen. Je näher die Polplatten einander stehen, desto schwerer ist es,
das Goldblatt freischwebend zu erhalten und desto leichter kann das An-
schlagen des Blattes an eine Polplatte eintreten, was bei feinen Versuchen
vermieden werden mufs. Die Polplatten standen gewöhnlich 15 Linien von
einander entfernt; ein weilses Kartenblatt mit einer scharfen vertikalen Li-
nie, das aufserhalb der Glocke angebracht war, diente zur Bemerkung der
kleinsten Bewegung des Goldblattes. Das Instrument wurde stets so em-
pfindlich erhalten, dafs die Elektricitäten eines schwerer zu erregenden Tur-
malins sich daran bestimmen liefsen, nachdem der Krystall einige Sekunden
lang in der hohlen Hand erwärmt worden war.
Der zu prüfende Krystall wurde unmittelbar an den Stift des Elektro-
scops angelegt, der sich hierzu mit einem abgestumpften Kegel endigte.
Hierbei kann folgende Täuschung statt finden. Viele Krystalle, wie Axinit,
Topas, Bergkrystall, werden sehr leicht durch Reibung elektrisch. Hat
man einen solchen Krystall nicht vorsichtig genug an den Stift angelegt, so
erhält man zuerst Anzeige von negativer Elektrieität, die dem geriebenen
Messing zugehört; da man nun vor dem folgenden Anlegen den Stift ablei-
tend berührt, so kommt bei dem |folgenden Versuche die ebenfalls durch
Reibung entstandene positive Elektrieität des Krystalls zur Anzeige. Zum
bequemen Anlegen wurde der Krystall in einer Zange befestigt, die mit
Kork gefüttert war, theils der besseren Befestigung, theils der elektri-
schen Isolirung wegen. Trockner Kork isolirt die Elektrieität hinlänglich,
aber er hat zugleich die Eigenschaft, durch Druck gegen viele Krystalle
elektrisch zu werdeu, und diese Elektricität eine geraume Zeit zu behalten.
Wo daher ein Krystall mit Kork in Berührung war, wurde die Untersu-
chung erst nach längerer Zeit vorgenommen, oder der bereits festgedrückte
Krystall wurde vor der Erhitzung in Wasser getaucht. Sollte mit den Kry-
stallen in einer Zange schnell gewechselt werden, so wurde die Isolirung
und zugleich jener Nachtheil durch Bekleidung des Korks mit Stanniol auf-
gehoben.
über die Pyroelektrieität der Mineralien. 63
Um die Pyroälektrieität bei Abkühlung zu untersuchen, wurde der
Krystall in einem Schrotbade erhitzt. Das Bleischrot (feinster Sorte) befand
sich in einem Porzellantiegel und war mit einer guten Ableitung verbunden.
Die bei der Erhitzung auf dem Krystalle erzeugte Elektricität wurde hier-
durch gröfstentheils abgeleitet, wie auch die Elektrieität, welche durch
Reibung des Schrotes gegen den Krystall bei dem Einlegen desselben ent-
standen war. Durch vorsichtiges Herausheben des Krystalles aus dem
Schrote gelingt es, ihn fast ganz frei von fremder Elektrieität zu erhalten;
wo indefs diese Elektrieität gefürchtet wurde, beseitigte man dieselbe augen-
blicklich, indem man den Krystall schnell durch die Spitze einer Spiritus-
flamme hindurchführte. Das Bestreichen mit der Flamme ist überhaupt das
wirksamste Mittel, einen Isolator von Elektricität zu reinigen, und ist häufig
von uns angewendet worden, um die nach längerer Zeit der Erkaltung auf
einem Krystalle zu stark angehäufte Elektricität augenblicklich zu entfernen.
Der Krystall blieb, je nach seiner Masse, eine längere oder kürzere
Zeit in dem Tiegel, um die Temperatur anzunehmen, die ein mit seiner
Kugel in das Schrot versenktes Thermometer angab.
Da die Erwärmung eines der Untersuchung zugänglichen Krystalles
niemals so gleichförmig sein kann, wie die Erkaltung desselben, so wurden
die meisten elektrischen Bestimmungen während der Erkaltung gemacht.
Zur Controle dieser Bestimmungen wurde aber auch an einzelnen Krystallen
die Elektrieität während der Erwärmung untersucht, und zwar auf die ein-
fache und bequeme Weise, dafs ein Ende des Krystalles in einer Spiritus-
flamme erhitzt, und das andere, also kalte Ende, an das Elektrometer an-
gelegt wurde. Man erhielt dann die Elektrieität des angelegten Endes des
Krystalles bei der Erwärmung, und diese ging nach längerer oder kürzerer
Zeit durch Null in die entgegengesetzte Elektricität über, die der Erkaltung
zugehörte. Hatte der Krystall mehr als Zolleslänge, so wurde nicht das
Ende, sondern ein Stück desselben erhitzt, das der untersuchten Stelle näher
lag. Diese Methode gelang selbst bei ganz kleinen und dünnen Krystallen,
wo aber die Elektrieität der Erwärmung nur kurze Zeit anhielt. Bei Kry-
stallen von einiger Masse ist es leicht, die Elektrieität bei Erwärmung, wie
die bei Erkaltung, während mehrerer Minuten zu beobachten. Zum Auf-
suchen von elektrischen Polen eignet sich diese Untersuchungsart nicht,
wohl aber, um die Elektricität eines schon bestimmten Pols zu verificiren.
64 Rızss, 'G. Rose:
Sie hat selbst bei Borazitwürfeln von kaum einer Linie Seite ganz unzwei-
deutige Resultate gegeben. Da sich nirgends eine Ausnahme von dem Ge-
setze fand, dafs entgegengesetzte Temperaturwechsel entgegengesetzte Elek-
trieitäten an den Krystallen erzeugen, so ist nur in besonderen Fällen ange-
geben, dafs der Krystall auch bei Erwärmung untersucht worden ist.
Die Untersuchung, deren Resultate hier mitgetheilt werden, hatte
den Zweck, das Brewstersche Verzeichnifs und einige neuere Angaben
über die Pyro&lektrieität zu prüfen, dann auch die Lage der elektrischen
Axen bei einigen Krystallen zu bestimmen. Hierbei ist folgendes zu bemer-
ken. Negativen Resultaten pyroelektrischer Versuche kann nur ein tempo-
rärer Werth beigelegt werden. Bei den anerkannt pyroelektrischen Krystal-
len wird häufig bemerkt, dafs schon bei einer geringen Anzahl von Exem-
plaren sich grofse Unterschiede in der Stärke der erregten Elektricität zei-
gen, eine Verschiedenheit, die auch im Verhalten der Krystalle gegen das
Licht statt findet; es kann daher geschehen, dafs Krystallgattungen später
pyroelektrisch gefunden werden, von welchen hier Exemplare als nicht elek-
trisch aufgeführt sind. Ferner schien es uns für den Unterricht gerathen,
in der Hauptrubrik nur solche Krystalle aufzuführen, bei welchen die Py-
ro@lektrieität und ihre Vertheilung sich leicht und sicher wiederfinden liefs,
und in eine zweite Rubrik die Krystalle zu bringen, die zwar pyroelektrisch
sind, deren elektrische Axen aber nicht angegeben werden konnten. — Was
die Bestimmung dieser Axen betrifft, so kann diese nicht durch elektrische
Versuche allein gegeben werden, sondern bedarf immer der krystallogra-
phischen Begründung. Die Elektricität häuft sich stets an Kanten und
Ecken auch des besten Isolators an und wird hier der Prüfung am zugäng-
lichsten. Was die Untersuchung als die am stärksten elektrische Stelle des
Krystalls angiebt, ist oft nur eine der elektrischen Anhäufung günstige Stelle,
die dem wirklichen Pole nahe liegt. Zu diesem Irrthum führt die Prüfung
am Elektroscope besonders bei den schwach elektrischen Krystallen, wo die
Elektricität der Anhäufung bedarf, um merklich zu werden. Die elektrische
Prüfung giebt daher dann nur Polgegenden an, und selbst diese, die doch
immer einen Bezug zu der Gestaltung des Krystalles haben, nicht immer mit
genügender Bestimmtheit. Die meisten Krystalle sind mehr oder weniger
zufällig verletzt, sie haben Gruben und Sprünge und gewähren so der Elek-
trieität Stellen der Anhäufung, die bei dem intakten Exemplare fehlen. Es
über die Pyroelektricität'der Mineralien. 65
ist klar, dafs hierdurch die Polgegenden selbst verrückt werden können, und
dafs nur durch eine grofse Zahl von Versuchen an verschiedenen Exempla-
ren eine genaue Bestimmung derselben möglich ist.
Hat der Experimentator bei:den feinern Bestimmungen der Pyroelek-
trieität stets die so wandelbaren Erscheinungen der elektrischen Anhäufung
zu beachten, so hat er sich endlich noch vor den Täuschungen zu bewahren,
die ihm die verwickelten Erscheinungen der Wärmebewegung selbst darbie-
ten. Diese Fehlerquelle, zuletzt genannt, ist nicht die unerheblichste und
mufs dazu bewegen, die Erhitzung und Erkaltung der Krystalle auf eine
möglichst gleichförmige und einfache Weise zu bewirken.
A. Pyroelektrische Krystalle.
a. Terminal-polarische.
41. Turmalin.
Der Turmalin hat eine elektrische Axe, die mit der krystallographi-
schen Axe seines sechsseitigen Prisma zusammenfällt. Nach einer frühern
ausführlichen Untersuchung von G. Rose!) hat man, um unmittelbar aus
der Krystallform die Lage der elektrischen Pole zu erkennen, nur das die
Krystallform des Turmalins so auszeichnende dreiseitige Prisma, welches der
Hälftflächner des zweiten sechsseitigen Prisma ist, und die Lage des Haupt-
rhombo&ders gegen dasselbe zu beachten. Das Ende, an welchem die Flä-
chen des Hauptrhombo&ders auf den Kanten des dreiseitigen Prisma aufge-
setzt erscheinen, enthält den antilog elektrischen Pol?), das, an wel-
chem sie auf den Flächen des dreiseitigen Prisma aufgesetzt erscheinen’),
den analog elektrischen Pol.
In der Regel bleibt die Bestimmung der Pole nicht zweifelhaft; das
dreiseitige Prisma, wie auch das Hauptrhombo&der, fehlen sehr selten, und
wo das letztere nicht da ist, läfst sich seine Lage meistentheils nach den übri-
(*) Abhandl. d. Berl. Akad. d. Wiss. für 1836. S. 215, und Poggendorffs Annalen
B. XXXIX. S. 285.
() In den den citirten Abhandlungen beigefügten Zeichnungen das obere oder das
Ende 2.
(°) In jenen Zeichnungen das untere oder das Ende A.
Physik.-math. Kl. 1843. I
66 Rırss, G. Rose:
gen vorkommenden Endflächen beurtheilen. Zuweilen finden sich aber noch
die Flächen des andern dreiseitigen Prisma, welches das gewöhnlich vor-
kommende zum zweiten sechsseitigen Prisma ergänzt; auch dann kann man
noch meistentheils die Flächen des gewöhnlichen dreiseitigen Prisma daran
erkennen, dafs sie theils gröfser sind, als die des andern, theils noch mit
der Hälfte der Flächen eines zwölfseitigen Prisma (%- in den citirten Zeich-
nungen, A bei Haüy) vorkommen. Aber diese finden sich doch nicht immer
und kommen bei einer Varietät, die wir jetzt beobachtet haben, auch voll-
ständig, also an beiden dreiseitigen Prismen vor; und in Rücksicht der erste-
ren Flächen kommen nicht allein einzelne Fälle vor, wo die Flächen des un-
gewöhnlichen Prisma gröfser sind, wie überhaupt die verschiedene Ausdeh-
nung der Flächen gröfsern Zufälligkeiten unterworfen ist, bei einigen Varie-
täten sind auch regelmäfsig die ungewöhnlichen Flächen gröfser als die ge-
wöhnlichen.
Diefs findet z.B. bei den Krystallen von Bovey Tracy in Devonshire und
vom Sonnenberge bei Andreasberg statt, die beide nur sehr schwach elek-
trisch werden, so dafs bei den erstern in der angeführten Abhandlung die
Art der Elektricität der verschiedenen Pole gar nicht bestimmt wurde. In
beiden Varietäten finden sich an einem Ende die Flächen des ersten spitzern
und des Hauptrhomboeders, am andern die Flächen des ersten stumpfern
und des Hauptrhomboedders; die erstern glänzend, die letztern bei den Kry-
stallen vom Sonnenberg matt, und bei denen von Bovey so stark nach den
schiefen Diagonalen gestreift, dafs die Flächen ganz drusig erscheinen und
oft gar nicht bestimmbar sind; aufserdem aber beide dreiseitige Prismen.
Bei unsern jetzigen Versuchen erkannten wir das erstere Ende, an welchem
sich die Flächen des Haupt- und ersten spitzern Rhomboeders finden, für
den antilogen Pol, das Ende, an welchem sich die Flächen des Haupt- und
ersten stumpfern Rhomboe&ders finden, für den analogen Pol, obgleich in
beiden Fällen die Flächen des gewöhnlichen dreiseitigen Prisma meistentheils
kleiner sind, als die des ungewöhnlichen Prisma, und auch öfter gänzlich
fehlen!). Wenn die Krystalle sich aber hierdurch vor den übrigen beob-
(') Hiernach sind die Angaben in den angeführten Abhandlungen, Abhandl. der Akad.
S. 226 und S. 224, und Pogg. Ann. S. 297 zu berichtigen und die Stellung der Krystalle
dieser beiden Varietäten ist umzudrehen.
über die Pyroclektrieität der Mineralien. 67
achteten Varietäten des Turmalins auszeichnen, so erscheinen sie nun doch
darin wieder in Übereinstimmung mit diesen, dafs sich die Combination des
Haupt- und ersten spitzern Rhombo&ders am antilogen, und die des Haupt-
und erstern stumpfern Rhomboäders am analogen Pol findet; und man
würde berechtigt sein, auch nach dem Vorkommen des ersten spitzern und
des ersten stumpfern Rhomboeders die Pole zu bestimmen, und den Pol,
wo sich jenes findet, für den antilogen, den, wo sich dieses findet, für den
analogen zu halten, wenn nicht doch zuweilen die Flächen des ersten spi-
tzern Rhomboeders auch an dem analogen Pol vorkämen, wie bei den
Krystallen von Krageröe (Abhandlungen der Akad. Fig. 7.), und sich die
Flächen des ersten stumpfern Rhombo&ders auch an dem antilogen Pole fän-
den, wie bei den weiter unten zu beschreibenden Krystallen von Gouver-
neur in New- York.
Wir haben nun noch einige andere Varietäten untersucht, in deren
Besitz die Königl. Sammlung in neuerer Zeit gekommen ist, und die in man-
cher Rücksicht merkwürdig sind.
1. Turmalin von St. Pietro in Campo auf Elba, aus den Dru-
sen des Granits, wo er in Begleitung von krystallisirtem Feldspath, Albit,
(Quarz und rosenrothem Beryli vorkommt. Die Krystalle sind säulenförmig,
1—2 Zoll lang und verhältnifsmäfsig dick, und bald mit dem analogen, bald
mit dem antilogen, zuweilen auch mit einer Seitenfläche aufgewachsen, so
dafs die Krystallform beider Enden zu sehen ist. Sie sind im Allgemeinen
grünlichweifs und durchsichtig, und nur an den Enden und bei den mit der
Seite aufgewachsenen Krystallen auch in der Mitte mehr oder weniger dun-
kel grünlichschwarz gefärbt. Am analogen Ende ist die Färbung dunkel-
schwarz und bildet nur eine schmale Schicht, die an dem ungefärbten durch-
sichtigen Krystall in einer geraden Fläche scharf abschneidet; am antilogen
Ende ist sie weniger dunkel, sie schneidet hier nicht so scharf ab, sondern
verläuft allmählig in den ungefärbten Theil des Prisma, und diefs findet
auch bei der mittleren Färbung und zwar nach beiden Seiten statt. Von
Seitenflächen finden sich hier nur die Flächen des zweiten sechsseitigen
Prisma «a mit den Flächen des gewöhnlichen dreiseitigen Prisma g’, welche
letztere nur untergeordnet zu den erstern hinzutreten. Am antilogen Ende
erscheinen die Flächen des ersten spitzern, und untergeordnet zuweilen auch
die Flächen des Hauptrhomboeders, am analogen Ende die Flächen des
T2
68 Rırss, G. Rose:
Hauptrhomboeders. Das erste spitzere Rhomboeder am antilogen und das
Hauptrhomboä@der am analogen Pol, sind also auf den Flächen des dreiseiti-
gen Prisma aufgesetzt. Die Krystalle haben demnach in ihrer Form eine
grofse Ahnlichkeit mit den Krystallen vom Sonnenberg!), ausgenommen,
dafs sich bei erstern nur das gewöhnliche dreiseitige Prisma findet, die Kry-
stalle länger und die Flächen am analogen Pol auch glänzend sind.
Die Krystalle werden sehr stark pyro@lektrisch. Sie wurden bei den
Versuchen bis 100° erwärmt. Waren sie einer höhern Temperatur ausge-
setzt gewesen, so zeigten sich die durchsichtigsten bei dem ersten Anlegen
an das Elektroscop fast ganz unelektrisch und gaben erst im Verfolge der
Abkühlung ihre sehr starke Elektrieität zu erkennen. Diefs Verhalten ist
schon von frühern Beobachtern bemerkt, aber nicht genügend erklärt wor-
den; es hat seinen Grund in einer Wärmeerscheinung, von der bei dem
Borazite die Rede sein wird.
9%. Turmalin von Gouverneur in New-York, Taf. I.
Fig. 10—12; er findet sich hier in körnigem Kalkspath mit Tremolit und
Quarz eingewachsen. Die Krystalle sind von verschiedener Gröfse, einen
Zoll bis nur einige Linien grofs und verhältnifsmäfsig dick, von einer bei
dem Turmalin sonst nirgends beobachteten hyazinthrother Farbe und nur
an den Kanten durchscheinend. Sie sind an beiden Enden auskrystallisirt
und durch die grofse Menge zum Theil ganz neuer Flächen ausgezeichnet,
wodurch diese Varietät alle übrigen bekannten Varietäten so überragt, dafs
durch sie der Turmalin, der bisher durch seinen Reichthum an einfachen
Formen keinesweges ausgezeichnet war, den formenreichsten Mineralien mit
zugezählt werden mufs. Indessen sind die Krystalle sehr brüchig, so dafs
es schwer hält, sie aus dem Muttergestein, ohne sie zu zerbrechen, her-
auszulösen.
Unter den Seitenflächen herrscht ein dreiseitiges Prisma vor; aufser
diesem finden sich noch die Flächen des zweiten sechsseitigen Prisma, und
untergeordnet das andere dreiseitige Prisma, das zwölfseitige Prisma % (5- der
frühern Zeichnungen), welches hier vollzählig, sowohl neben den Flächen
des gröfsern, als des kleinern dreiseitigen Prisma vorkommt, und der Hälft-
(') Am antilogen Pol kommen bei diesen Krystallen auch noch die Flächen des Skalen-
o@ders 5 und des zweiten spitzeren Rhombo&ders vor, die indessen doch gewöhnlich fehlen.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 69
flächner eines andern zwölfseitigen Prisma Z2 neben den Flächen des gröfsern
dreiseitigen Prisma. Die Flächen dieses letztern Prisma sind immer stark
vertikal gestreift, die übrigen Seitenflächen glatt.
An dem einen Ende (Fig. 10 und 11) finden sich herrschend die Flä-
chen des Hauptrhomboeders, die hier auf den breiten Flächen des dreiseiti-
gen Prisma aufgesetzt sind, ferner das erste spitzere Rhomboeder 27’, das
Skaleno@der 5; untergeordnet die Flächen des ersten stumpfern Rhomboe-
ders 4r', des Skalenoeders x (2 der frühern Zeichnungen), das zweite spi-
tzere Rhomboeder Ar, ein neues Rhomboöder 57’ und ein neues Skalenoeder v.
An dem andern Ende (Fig. 12) finden sich die Flächen des Hauptrhom-
boeders, die auf den Flächen des schmalen dreiseitigen Prisma aufgesetzt sind,
das erste spitzere 27’ und das Skaleno@der 3; untergeordnet ein neues Ska-
lenoeder 2, das erste stumpfere Rhombo&@der 47 und die gerade Endfläche ec.
Die Flächen an beiden Enden sind glatt und glänzend.
Es kommen demnach an dieser einzigen Varietät nicht allein fast alle
Flächen vor, die sonst bei dem Turmalin beobachtet sind, sondern auch
mehrere neue Flächen, nämlich die:
des Bhomboeders 57"; .....j..1... : nal Asa 20a: c)
des Hälftflächners des zwölfseitigen Prisma 2 = (a:2a: 2a:c)
des,Shkalenoeders 2 “4. u son jms.tam- .=($>a:Za:2a:c)
desiSkalenoeders v2... 002 as sea. 4 =(3a:+a:a:c)!)
Legt man die von Haüy beim Turmalin angenommenen Winkel zum
Grunde, so beträgt die Neigung:
vonstg lt
snars2ar=157, 1
nn. 8 La 4630.54
Ze A000 ME
„2:R =ıa 34
ELTERN
SR Yu 3271600638
(') Die ausführlichen Zeichen dieser beiden Skalenoeder sind:
70 Rıess, G. Rose:
Die Krystalle werden sehr stark elektrisch, aber das Ende, bei wel-
chem die Flächen auf dem breitern dreiseitigen Prisma aufgesetzt sind, ist
der antiloge Pol, das andere der analoge Pol. Die Krystalle machen daher
wie die vom Sonnenberge und von Bovey eine Ausnahme von der Regel,
indem hier das ungewöhnliche dreiseitige Prisma gröfser als das gewöhn-
liche ist!).
2. Kieselzinkerz.
Die Krystalle des Kieselzinkerzes sind 1- und 1-axig. Sie finden
sich zuweilen in ziemlich verwickelten Combinationen, die zum Theil von
Mohs?) beschrieben sind; da wir aber aufser diesen noch mehrere andere
beobachtet haben, so wollen wir die sämmtlichen beobachteten einfachen
Formen zuerst aufführen:
41. Einzelne Flächen.
b = (wa:b:occ)
ci (W105. NE)
a = (a: oobi2 6oe)!
3. Rhombische Prismen.
a) Vertikale Prismen.
g = (a: b:ooc)
38= (a:zb:c)
4g= (a: +b:000)'
db) Horizontale Prismen.
&) Querprismen.
di=(areob:c)
3d=($a:b:c)
(') Nach diesen Erfahrungen möchte es doch wohl wahrscheinlich sein, dafs auch das
ungewöhnliche dreiseitige Prisma ohne das gewöhnliche vorkommen kann, und dafs daher -
die in der oben angeführten Abhandlung (Abh. der Akad. S. 244. Fig. 18, und Pogg. Ann.
S. 317. Fig. 20.) beschriebene Varietät von Penig zweckmälsiger anzusehen ist als eine
Combination des Hauptrhombo@ders mit dem ungewöhnlichen dreiseitigen Prisma, als, wie
dort angenommen, des Gegenrhomboeders r mit dem gewöhnlichen Prisma g’. Auch haben
wir ohne Zweideutigkeit das Gegenrhombo@der nie beobachtet, wenn gleich Haüy es so
(z. B. mit dem Hauptrhomboäder) beschreibt.
2
Leichtfalsliche Anfangsgründe der Naturgeschichte des Mineralreichs, 2. Ausgabe.
Ö)
Th. I. S. 129.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 71
ß) Längsprismen.
+J/= (ma: 2b:c)*
f=ilcoan\d:le)
2f=(ma:zb:c)
sf=(xa:zb:c)
sf=(ma:-b:c)*
af (a :—b sie);
3. Rhombenoctaäder.
s=(a:—b:c)
ae (+ a bl c)
lan tbro)
n=(+a:4b:0/')
Die mit einem Stern bezeichneten Flächen sind bis jetzt noch nicht
beschrieben, dagegen führt Mohs noch eine einfache Form an, die wir
nicht beobachtet haben und deren Formel bei unserer Grundform: (4a: ic)
sein würde. Geht man von den Winkelangaben von Mohs aus, mit denen
die von uns angestellten zwar nicht völlig übereinstimmen, indessen doch
nicht bedeutend abweichen, so beträgt die Neigung:
von Z—g gegend ....... 156056’
EL EDEINEN bs wAo
> DRUM. NE 403. 3X
NEN URELNNIITE NEST: 30
BAaLE A, A LE SR EERRER EEE
Plan ELBE an ARE 1.000.1
5 a0. I, Ser. 0n.. 160 3—
ey wlüber af) u
1
(‘) Das Rhombenoctaäder (@:3:c), von welchem wir als Grundform ausgegangen sind,
ist demnach unter den vorkommenden Formen noch nicht beobachtet worden, dennoch
haben wir diese Form als Grundform gewählt, da sie in den einfachsten Beziehungen zu
den Prismen g und @ steht, die durch die ihnen parallel gehende deutliche Spaltbarkeit eine
besondere Berücksichtigung verdienen und weil bei dieser Annahme auch die Formeln für
die übrigen Formen am einfachsten werden. Mohs nahm zur Grundform das Rhombenoc-
taöder s an, das allerdings unter den vorhandenen Rhombenoctaödern am häufigsten, und
an dem selten zu beobachtenden untern Ende in der Regel allein vorkommt, das aber jene
andern Vorzüge nicht hat; daher wir uns für das erstere bestimmt haben.
I
DD
Rızss, G. Rose:
Die Lage dieser Flächen und den Parallelismus der Kanten ersieht
man aus den Figuren.
Die Krystalle des Kieselzinkerzes sind durch die so auffallend ver-
schiedene Ausbildung der beiden Enden bemerkenswerth, die aber doch nur
äufserst selten zu sehen ist, da die Krystalle gewöhnlich mit einem und zwar
stets mit demselben Ende aufgewachsen sind!). Haüy erwähnt dieser ver-
schiedenen Ausbildung der beiden Enden nicht; er beschreibt die Krystalle
als an beiden Enden gleich ausgebildet, und hat daher wahrscheinlich an
beiden Enden ausgebildete Krystalle nicht gesehen. Der erste, welcher
dergleichen beobachtete, war Mohs; er sah sie an den Krystallen vom Al-
tenberg bei Achen, wir beobachteten sie noch an den Krystallen von Blei-
berg und Nertschinsk.
1. Kieselzinkerz vom Altenberg bei Achen. Die gewöhn-
lich vorkommenden Krystalle haben die Form wie Taf. I. Fig. 1 und 2. Sie
sind etwa einige Linien breit, mit dem untern Ende aufgewachsen, und die
obern Enden, an welchen 3d und 3f vorherrschen, sitzen dicht nebeneinan-
der gedrängt; in seltenen Fällen sind noch Theile der Seitenflächen zu sehen.
Fig. 3 und 4 kommen in kleineren und einzelner stehenden Krystallen vor,
und an ihnen sind auch schon öfter am untern Ende, wenngleich sie mit die-
sem aufgewachsen sind, die Flächen s sichtbar. Im sehr seltenen Fällen
kommen die Krystalle auch in einem eisenschüssigen Thone liegend, um
und um ausgebildet vor. Die, welche wir gesehen haben, sind nur 1 bis 2
Linien lang, und an ihnen herrscht an dem einen Ende die gerade Endfläche
sehr vor?).
Die Flächen s, die an dem untern Ende herrschen, kommen an dem
obern auch vor, wo sie aber in andern Combinationen ganz anders erschei-
nen. Sämmtliche Flächen sind durch den Parallelismus ihrer Kanten be-
stimmbar; die Kanten zwischen d und f, zwischen 3d und s und zwischen
n und 7 bilden in der horizontalen Proportion Fig. 3. d. eine gerade Linie.
Die gerade Endfläche ist, wo sie vorherrscht, rundlich, 2 ist ge-
wöhnlich vertikal gestreift, die untern Flächen s sind bei den aufgewachse-
(') Die Krystalle kommen auch häufig excentrisch zusammengruppirt vor, aber auch hier
sind stets die freien Enden dieselben.
(?) Einen solchen Krystall verdankt G. Rose Herrn Bergrath Haidinger.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 73
nen Krystallen ganz drusig, bei den um und um ausgebildeten glatter; die
übrigen Flächen sind in der Regel glatt und glänzend, und zu genauen Mes-
sungen oft recht gut geeignet.
Bemerkenswerth sind die Zwillingskrystalle Taf. I. Fig. 5, die
bei dieser Varietät vorkommen!). Die Individuen bilden niedrige Prismen,
die an dem einen, obern Ende hauptsächlich mit der geraden Endfläche,
die hier sehr vorherrscht, an dem andern, untern, mit den Flächen s, die
sehr rauh erscheinen, begränzt sind. Mit diesen Enden sind die Krystalle
verbunden, die gemeinschaftliche Ebene ist der geraden Endfläche parallel,
und die Flächen 5 beider Individuen fallen in eine Ebene. Bei allen Zwil-
lingskrystallen, die wir beobachteten, sind die Flächen s der beiden Indi-
viduen an den verbundenen Enden noch deutlich sichtbar; rückten die Kry-
stalle näher aneinander, so dafs sie nicht mehr zu sehen wären, so würden
sich die Zwillingskrystalle des Kieselzinkerzes von den einfachen Krystallen
in Rücksicht der Krystallform nur dadurch unterschieden, dafs sie an beiden
Enden gleich krystallisirt sind, was bei den einfachen Krystallen nicht vor-
kommt, daher sie, wenn man die verschiedene Ausbildung der Enden nicht
beachtet, leicht verkannt werden könnten.
2. Kieselzinkerz von Bleiberg in Kärnthen, Fig. 9. Die
Krystalle unterscheiden sich von den vorigen besonders dadurch, dafs die
Längsfläche 5 sehr vorherrscht, wodurch die Krystalle ein tafelförmiges
Ansehen erhalten; an dem obern Ende finden sich besonders die Flächen
d und f; die Fläche 3d nur untergeordnet, an dem andern, mit welchem
sie aber gewöhnlich aufgewachsen sind, und das daher nur sichtbar ist, wenn,
sie mit einer Seite auf der Unterlage befestigt vorkommen, die Flächen f
und s, letztere als Abstumpfungsflächen der Kanten zwischen f und g. Diese
letztern Flächen sind aber abgerundet und fliefsen in eine rundliche Fläche
zusammen, an der man aber doch zuweilen noch die Flächen s durch Mes-
sung bestimmen kann.
Die Krystalle sind an dem Exemplare, welches wir zu beobachten
Gelegenheit hatten, einzeln auf dichten Kalkstein aufgewachsen.
Auf eine gleiche Weise sind auch die in den Mineraliensammlungen
gewöhnlich sich häufiger findenden Krystalle von Raibel in Kärnthen gebil-
(') Eine kleine Druse mit solchen Krystallen erhielt schon vor längerer Zeit G. Rose
in Bonn unter dem Namen Hopeit.
Physik.-math. Kl. 1843. K
74 Rızss, G. Rose:
det, doch sind sie meistentheils mehr zusammengehäuft, indem sie mit den
breiten Seitenflächen so aneinander liegen, dafs diese wie die Blätter eines
aufgeschlagenen Buches divergiren.
3. Kieselzinkerz von Scharley bei Tarnowitz, Fig. 8. Die
Krystalle sind ebenfalls tafelartig, und an dem einen, obern, Ende mit den
Flächen d begränzt, deren Zuschärfungskante durch c nur schwach abge-
stumpft wird; das andere Ende haben wir nicht ausgebildet gesehen. Die
Krystalle sind meistentheils ebenso zusammengehäuft, wie die vorigen, sie
schliefsen aber dann gewöhnlich noch enger aneinander, so dafs die Flächen
c einen förmlichen Bogen beschreiben. In andern Fällen schliefsen sie aber
auch weniger eng aneinander und kommen auch einzeln auf einem eisen-
schüssigen dichten Galmei aufgewachsen vor.
4. Kieselzinkerz von Rezbanya. Fig. 7. Die Königliche
Sammlung besitzt einige sehr schöne Stücke, an welchen einzelne Krystalle
zwischen andern undeutlichern und stark zusammengehäuften überaus schön
ausgebildet erscheinen, mit sehr glatten glänzenden Flächen, durchsichtig
und bläulichweils. Die Krystalle sind auch tafelartig, mit dem einen Ende
aufgewachsen, und an dem freien mit den Flächen 3d, d und c begränzt.
Zuweilen finden sich auch die Flächen - f, f und die kleinen dreieckigen Flä-
chen z, Fig. 7, 6, die hier auf eine eigenthümliche Weise an dem Ende der
Kanten zwischen d und 3d erscheinen!). Die Krystalle sind 2 bis 3 Linien lang.
5. Kieselzinkerz von Nertschinsk (Ildeschauskischen Grube)
Fig.6. Die Krystalle sind bis einen Zoll lang, aber sehr dünn und tafelar-
tig, und meistentheils zu büschelartigen Gruppen aufgewachsen. Sie sind
an den freien obern Enden durch das Vorherrschen der Flächen 3d ausge-
zeichnet, zu welchen gewöhnlich noch untergeordnet die Flächen /, und zu-
weilen auch noch c, 2f und 3/ (Fig. 6, 5.) hinzutreten. An einigen Krystal-
len, die quer auf den andern auflagen, fand sich auch noch das andere Ende
ausgebildet, das hier durch die Flächen s wie bei den Krystallen von Alten-
berg begränzt war. Die Flächen 6 sind zart vertikal gestreift.
Aufser diesen Krystallen kommen an andern Drusen aus der Gegend
von Nertschinsk Krystalle vor, an denen die Flächen / vorherrschen und 3d,
(') Sie sind aber auch hier an ihrer Lage zu erkennen, indem die Kante mit 34 der
gegenüberliegenden Kante von 34 und g und die Kante mit d der gegenüberliegenden Kante
zwischen d und f auf dieselbe Weise wie in Fig. 2 parallel ist.
über die Pyroelektrieität der Mineralien. 75
zuweilen auch noch d untergeordnet hinzutreten. Diese Krystalle finden
sich oft von bedeutender Gröfse und Dicke, an einer Druse der Königlichen
Sammlung, die G. Rose von Herrn Wörth in Petersburg erhielt, von 14
Zoll Länge und 1 Zoll Breite. Die gröfsern Krystalle sind auch auf den
Flächen g gestreift, die Flächen f sind matt. —
Das Kieselzinkerz ist sehr stark pyro&lektrisch. Die Krystalle wurden
bis 40° erhitzt, das gewöhnlich freie, in den Zeichnungen nach oben gestellte
Ende erwies sich an allen analog, das aufgewachsene antilog elektrisch. Die
Zwillingskrystalle vom Altenberg sind an beiden Enden analog, und in der
Mitte an der Zwillingsebene antilog elektrisch.
Das Kieselzinkerz hat also Eine elektrische Axe, die mit der Haupt-
axe der vertikalen Prismen zusammenfällt; an dem analogen Pole herrschen
die horizontalen Prismen, und die Rhombenoctaöder konımen nur unterge-
ordnet vor, an dem antilogen Pole findet sich gewöhnlich nur das Rhom-
benoctaeder s, oder es kommt mit dem Querprisma der Grundform zu einer
rundlichen Fläche verflossen vor.
3. Skolezit.
Gehlen und Fuchs haben bekanntlich in einer sehr gründlichen
Untersuchung!) die Haüysche Gattung Mesotyp in 3 Gattungen getheilt,
denen sie die Namen Natrolith, Mesolith und Skolezit gaben, und deren
chemische Zusammensetzung sie durch die Formeln:
SSEerÄlS fo eH
20a
bezeichneten. Nach ihnen untersuchte Freismuth?) den Mesolith von
Hauenstein in Böhmen, seine Analyse führte zu der Formel:
ıNa Saar g Fansı Hure
10a
(') Schweigger’s Journal für Chem. u. Phys. B. XVII. S. 1.
(2) A. a ©. B.XXV. S. 425.
76 Rızss, G. Rose:
die sich also von der von Gehlen und Fuchs aufgestellten Formel durch
ein etwas abweichendes Verhältnifs von Natron und Kalkerde, besonders
aber durch einen etwas gröfsern Wassergehalt unterscheidet.
Die Krystallform ist nach Gehlen und Fuchs bei allen jenen 3
Gattungen 1- und 1-axig, und abgesehen von kleinen Winkelunterschieden
gleich. Sie ist nach ihnen die Combination eines Rhombenoctaöders mit
einem rhombischen Prisma mit folgenden Winkeln:
stumpfe Seitenk. stumpfe Endk. scharfe Endk.
Natrolith 91° 3 aha g' au3° 25’
Mesolith 9ı 25
Skolezit 9ı 20 143 33 142 401)
Mohs trennt in der ersten Ausgabe seiner Mineralogie die 3 Gattun-
gen noch nicht. Die Winkel aber”), welche Haidinger in der englischen
Übersetzung derselben angiebt, beziehen sich nur auf den Natrolith aus der
Auvergne und sind folgende:
stumpfe Seitenk. stumpfe Endk. scharfe Endk.
91° 143° 20° 142° 407
Haidinger bemerkt dabei, dafs eine Varietät aus Island in Zwillings-
krystallen vorkäme und in den Winkeln, von denen er einige angiebt, von
den Winkeln des Natrolith der Auvergne abwiche. Diefs veranlafste G.Rose,
diese Krystalle einer genauen Messung zu unterwerfen, wodurch sich ergab,
dafs dieselben, wiewohl in den Winkeln dem Natrolith der Auvergne sehr
ähnlich, doch bestimmt 2- und 1-gliedrig waren. Er fand die Winkel in der
stumpfen Seitenkante (g:g Taf. II. Fig. 17.) 91° 35’
vorderen Endkante (0:0 & 021404720
hintern * (020 = Do EANE2D
unsymmetrischen „ (0:0 hs 1.)
Neigung der Basis zur stumpfern Seitenkante 90 54
Er beobachtete ferner, dafs die Zwillingsebene parallel der Abstum-
pfungsfläche der stumpfen Seitenkante wäre, so dafs, wenn sie genau durch
die Mitte eines Krystalls geht, an dem einen Ende sich nur die Flächen des
vordern schiefen Prisma 0, an dem andern nur die Flächen des hintern
(') Diese Winkel sind nach den von Fuchs angegebenen berechnet.
(2) Vol.II. p. 236.
über die Pyroelektricität der Mineralien. Zur
schiefen Prisma 0’ fänden!); diese wären aber nie sichtbar, weil die Krystalle
mit ihnen stets aufgewachsen sind. Rücksichts ihrer chemischen Zusammen-
setzung enthalten die Krystalle Kalkerde und Natron; sie gehören also zum
Mesolith. Ob die Krystallform des Natroliths und Skolezits mit ihnen über-
einstimmt, wurde wegen Mangels an gut mefsbaren Krystallen unausgemacht
gelassen.
In der zweiten von Zippe besorgten Ausgabe des zweiten Theils von
Mohs Mineralogie?) sind die 3 Gattungen von Fuchs, der Natrolith, Sko-
lezit und Mesolith unter dem Namen des prismatischen, harmophanen und
peritomen Kuphonspaths aufgeführt. Für den erstern sind die Haidinger-
schen Winkel für den Natrolith der Auvergne, für den zweiten die Winkel
von G. Rose für den Mesolith von Island angenommen. Der dritte um-
fafst nicht nur den Mesolith von Fuchs, sondern auch den Comptonit, in-
dem sich Zippe hier hauptsächlich auf eine Beobachtung von Haidinger°)
stützt, nach welcher der Mesolith von Hauenstein mit diesem in der Krystall-
form übereinstimmt‘). Dieser Übereinstimmung in der Form entspricht
aber keine Übereinstimmung in der chemischen Zusammensetzung, wie schon
aus der Analyse von Zippe des Comptonits von Kaaden, und noch be-
stimmter aus einer genaueren von Rammelsberg hervorgeht, nach wel-
cher dem Comptonit die Formel:
Nam. aus sus
zukommt°).
Was das elektrische Verhalten anbetrifft, so gab Haüy an, dafs nur
ein Theil der Krystalle seiner Gattung Mesotyp elektrisch, ein anderer
ganz unelektrisch sei. Gehlen und Fuchs fanden, dafs die unelektri-
schen Krystalle dem Natrolith angehörten, und sahen darin ein bestimmtes
(') In der beigefügten Zeichnung geht die Ebene nicht genau durch die Mitte, was
auch in der Natur gewöhnlich nicht der Fall ist.
(2), S..62.
(°) Verhandl. der Gesellsch. des vaterländischen Museums in Böhmen. Jahrg. 1836. S. 44.
(*) Die Krystalle sind indessen gewöhnlich nur sehr undeutlich. Er kommt immer nur
nierenförmig mit rauher Oberfläche und deutlich fasrigen Zusammensetzungsstücken in den
Höhlungen eines Phonoliths vor.
(°) Poggendorffs Annalen XLVI. S. 286.
78 Rıess, G. Rose:
Unterscheidungsmittel des Natroliths von dem Skolezit und Mesolith. Sie
beobachteten ferner, dafs die Krystalle dieser letztern an den freien Enden
stets antilog elektrisch und mit den analogen Enden stets aufgewachsen wä-
ren, was auch G. Rose später bestätigt fand!).
Wir hatten Gelegenheit, einen sehr schönen Natrolithkrystall zu mes-
sen, den G. Rose schon vor mehreren Jahren von Herrn Prof. Forch-
hammer in Copenhagen erhalten hat, und der daher wahrscheinlich aus
den Ferröern stammt, wiewohl uns sonst kein Natrolith aus den Ferröern
oder auch aus Island vorgekommen ist, und auch von Gehlen und Fuchs
nicht angegeben wird. Der Krystall ist bestimmt 1- und 1-axig und nach
vorläufigen Messungen, die wir damit angestellt haben, nähern sich die Win-
kel sehr denen, die Haidinger bei dem Natrolith der Auvergne angegeben
hat. Man kann daher sehr gut schon an den Winkeln, besonders der ver-
tikalen Prismen, den Natrolith von dem Mesolith aus Island unterscheiden,
indem die stumpfe Seitenkante bei dem erstern von 91°, bei dem letztern
von 91°35’ ist, ein Unterschied, der bei der Glätte der Seitenflächen in der
Regel nicht zu verkennen ist. Aufserdem kommt der Natrolith nie, der
Mesolith von Island stets in Zwillingskrystallen vor.
Der untersuchte Natrolithkrystall ist ganz unelektrisch; ebenso fan-
den wir auch in Übereinstimmung mit Fuchs die Natrolithe von andern
Fundörtern, die wir untersucht haben: aus der Auvergne, vom Fassa-Thal,
von Jacoben bei Aussig in Böhmen und von Brevig in Norwegen (den sog.
Radiolith Esmark’s); lauter Krystalle, die theils durch ihre bekannte Zu-
sammensetzung, theils durch ihre deutliche Krystallform sich als Natrelith
bewiesen; denn nach der chemischen Zusammensetzung müfste man viel-
leicht den Natrolith von Jacoben schon zum Mesolith rechnen, da er nach
einer damit angestellten Prüfung schon eine ziemliche Menge Kalkerde ent-
hält. Indessen fanden wir auch den Mesolith vom Fassa-Thal, der nach
Fuchs 9,61 Proc. Kalkerde enthält, ganz unelektrisch; wir sind gewils, ganz
ähnliche Stücke gehabt zu haben, wie die, welche Fuchs untersucht hat,
denn sie waren von derselben Beschaffenheit, wie er sie beschreibt, die
Krystalle in Rücksicht der Form nicht genau bestimmbar, excentrisch grup-
pirt, immer etwas geknickt und von röthlicher Farbe; auch enthielten sie
()EEREEEIO FE FRRRIK 15298:
über die Pyroclektricität der Mineralien. 79
nach einer chemischen Untersuchung viel Kalkerde. Ganz unelektrisch
wurde ferner noch der Mesolith von Hauenstein befunden.
Sehr stark elektrisch verhielt sich dagegen der Mesolith und Skolezit
von Island. Wir untersuchten die von G. Rose beschriebenen Mesolith-
krystalle'), eine andere, nicht weniger schön krystallisirte Varietät aus der
Königlichen Sammlung, und mehrere derbe Massen, die aus excentrisch zu-
sammengehäuften fasrigen Individuen bestanden, die auch öfter in ausgebil-
deten Krystallspitzen ausliefen?). Stets waren die freien oder divergirenden
Enden antilog elektrisch, die verwachsenen oder convergirenden Enden
analog elektrisch.
Aus dem Angegebenen scheint nun wohl hervorzugehen, dafs der
gröfste Theil des Mesoliths keine selbstständige Gattung bildet, sondern theils
zum Natrolith, theils zum- Skolezit gehört, dafs es aber kalkhaltige Natro-
lithe, sowie natronhaltige Skolezite giebt. Genauere chemische Untersu-
chungen werden die kleinen Zweifel, die jetzt noch über den Wassergehalt
des Mesolithes statt finden, heben. Wahrscheinlich wird aber die allge-
meine Formel für den Natrolith:
ei Se
a
für den Skolezit
Ca ..._+..
Na
(') Sie enthalten neben einer grolsen Menge von Kalkerde, Natron, denn wenn man
die Krystalle in Chlorwasserstoffsäure legt, so bilden sich nach einiger Zeit in der entstan-
denen Gallerte Hexa@der von Chlornatrium. Diefs ist ein einfaches Mittel, wie man den
Natrongehalt der durch Chlorwasserstoffsäure zersetzbaren Silikate nachweisen kann, wel-
ches sich nicht nur bei dem Zeolithen, sondern auch bei dem Phonolithe und Basalte an-
wenden läfst, da man das Natron sonst nur durch eine mühsame Untersuchung finden kann.
(?) Darunter auch ganz natronfreie Skolezite. Eine solche Varietät, die in dem Labo-
ratorium des Prof. H. Rose von Herrn v. Gülich untersucht wurde, enthielt:
Kalkerde..... 13,68
Thonerde ... . 26,22
Kieselsäure ... . 46,76
Wasser ....- 13,94
100,60
50 Rızss, : G. Rose:
sein, so dafs der ganze Unterschied in der chemischen Zusammensetzung,
aufser dem vorwaltenden Natron- oder Kalkerdegehalt bei dem einen oder
dem andern, in dem 1 Atom Wasser liegt, das der Skolezit gegen den Natro-
lith mehr hat. Aufserdem trennen Krystallform und elektrisches Verhal-
ten!), anderer Charaktere, wie des specifischen Gewichtes, des Verhaltens
vor dem Lothröhre u. s. w nicht zu gedenken, beide Gattungen bestimmt
von einander. Da nun Natrolith und Skolezit nicht mehr zwei Species einer
und derselben Gattung, des Mesotyps, ausmachen, wie man bisher annahm,
so scheint es wohl zweckmäfsig, um nicht den bekannten Haüyschen Namen
ganz fortfallen zu lassen, ihn für die Gattung Natrolith zu bestimmen, und
diesen Namen verschwinden zu lassen, da Haüy bei seiner Beschreibung den
Natrolith doch vorzugsweise berücksichtigt hat und dieser Name eigentlich
eine gleiche Bedeutung mit dem des Sodaliths hat, der ein ganz anderes Mi-
neral ist. Welche Bewandnifs es mit dem Mesolith von Hauenstein habe,
mufs noch dahingestellt bleiben. Der chemischen Zusammensetzung nach
pafst er vollkommen zum Skolezite, aber die nach Haidinger verschie-
dene Krystallform?), so wie sein gänzlicher Mangel an Elektricität trennen
ihn bestimmt davon. Wahrscheinlich bildet er eine Gattung für sich.
Der Skolezit hat demnach Eine elektrische Axe, die mit der Haupt-
axe seines vertikalen Prisma zusammenfällt, und das Ende, an welchem sich
die vordern schiefen Prismen finden, oder das freie divergirende Ende (denn
er kommt stets nur in excentrisch zusammengehäuften Krystallen vor) ist
antilog, das aufgewachsene, convergirende Ende analog elektrisch. Die
Vertheilung der Elektrieität ist demnach ganz wie beim Turmalin und Kie-
selzinkerz°). Da aber die Krystalle, wie früher gezeigt ist, stets Zwillings-
krystalle sind, und an den Enden jedes dieser Krystalle sich also die Flächen
der entgegengesetzten Enden des einfachen Krystalles vereinigt finden, so
(') In der zweiten Ausgabe von Mohs Mineralogie ist irriger Weise der Natrolith
(prismatische Kuphonspath) als pyro&@lektrisch angegeben. Th. II. S. 261.
(?) An den Stücken der Königlichen Sammlung kann man nur so viel erkennen, dafs
die Form dieses Mesolithes nicht mit der des Skolezites übereinstimmt.
(°) In der Art, wie die Krystalle der 3 Gattungen aufgewachsen erscheinen, verhalten
sie sich aber sehr verschieden. Der Turmalin ist ebenso häufig mit dem analogen, als mit
dem antilogen Pol, und selbst bei einer und derselben Druse aufgewachsen. Das Kiesel-
zinkerz ist immer an dem antilogen Pol, zuweilen nur seitlich, nie mit dem analogen Pol,
der Skolezit nie mit dem antilogen Pol aufgewachsen.
über die Pyroelektricität der Mineralien. $1
kann man fragen, wie die Vertheilung in dem einfachen Krystalle ist. Er-
schiene sie auch hier wie am Turmalin, so kämen bei dem Zwillingskrystalle
an beiden Enden positive und negative Elektrieität zusammen, die sich auf-
heben müfsten. Es scheint hier kein anderer Ausweg möglich zu sein, als
anzunehmen, dafs die einfachen Krystalle, die man bis jetzt nie beobachtet
hat, unelektrisch sind, und die Elektricität bei dem Skolezite erst durch die
Zwillingsbildung entsteht, und der Zwillingskrystall sich nun in Rücksicht
der Vertheilung der Elektrieität wie ein einfacher Krystall verhält!). Daraus
folgt nicht, dafs wenn man bei dem Skolezit durch Abschleifen den einen
Krystall ganz fortschafft, der andere nun unelektrisch würde, und ebenso
wenig, dafs alle Zwillingskrystalle anderer Mineralien elektrisch wären.
Weder das eine noch das andere ist der Fall; wovon wir uns übrigens durch
besondere Versuche überzeugten.
4. Axinit.
Der Axinit ist wie bekannt 1- und 1-gliedrig und kommt in sehr aus-
gezeichneten Krystallen im Dauphine vor. Dergleichen Krystalle haben wir
vorzugsweise zu unsern Untersuchungen benutzt. Die Krystalle, 15 an der
Zahl, hatten im Allgemeinen die Taf. 11. Fig. 16. dargestellte Form. Zwei davon
konnten nicht deutlich elektrisch gemacht werden, darunter ein um und um
ausgebildeter Krystall. Die übrigen Krystalle wurden, nachdem sie 120 bis
130° erhitzt waren, deutlich aber schwach elektrisch; jedoch blieb die er-
regte Elektrieität sehr lange. Der Axinit wird aber auch durch Reibung
elektrisch, und verlangt daher ein sehr vorsichtiges Anlegen an den Stift des
Elektroscops. Es war nöthig, den Krystall während der Prüfung öfter durch
die Flamme von Reibungs-Elektrieität zu reinigen, wodurch aber auch die
angehäufte Pyroelektricität entfernt und der Zeitpunkt der deutlichen An-
(‘) Der excentrisch stänglige Skolezit verläuft nach unten sehr häufig in eine fa-
srige, fast dichte, undurchsichtige weilse Masse, die, wo sie rein ist, ganz unelektrisch ist,
und dann erst Spuren von Elektricität zeigt, wo sich in ihr nach oben zu deutliche Kry-
stallnadeln eingemengt finden. Eine mit dieser dichten Masse angestellte qualitative Unter-
suchung gab dieselben Bestandtheile, wie bei den obern durchsichtigen Krystallen; da wir
damit aber noch keine quantitative Untersuchung angestellt haben, so müssen wir es noch
dahin gestellt sein lassen, ob der Mangel an Elektrieität daher rührt, dafs diese dichte Masse
der undeutliche krystallinische Zustand des Skolezits, oder von diesem ein ganz verschiede-
nes Mineral ist. Wahrscheinlich ist doch wohl nur das Erstere der Fall.
Physik.-math. Kl. 1843. L
82 Rızss, G.Rose:
zeige weiter hinausgeschoben wurde. Diese Umstände erschwerten die Auf-
findung der Pole des Axinits. Stets aber fand sich ein antiloger Pol auf der
kleinen, gewöhnlich dreieckigen Fläche n (Taf. I. Fig. 16.), ein analoger Pol
unterhalb der stets sehr glänzenden Fläche s, an der scharfen Ecke zwischen
den Flächen v, x und dem hintern P, und ein zweiter an der ihr parallelen
obern Ecke, Die Krystalle waren alle an einer Seite verbrochen, so dafs
sich unter ihnen keiner fand, welcher beide Flächen n zeigte, aber an eini-
gen fand sich die linke obere, an andern die rechte untere, und beide waren
stets antilog elektrisch; im Allgemeinen die antilogen Pole stärker als die
analogen Pole. |
Hieraus folgt, dafs der Axinit 2 elektrische Axen hat, die von der
obern linken Fläche n nach der untern rechten scharfen Ecke, und umge-
kehrt von der untern rechten Fläche n nach der obern linken scharfen Ecke
gehen. Die Flächen n enthalten die antilogen, die bezeichneten scharfen
Ecken die analogen Pole. Die elektrischen Axen gehen also nicht durch
den Mittelpunkt des Krystalls und fallen mit keiner krystallographischen
Axe zusammen.
5. Borazit.
Die Borazitkrystalle von Lüneburg sind gewöhnlich nur Combinatio-
nen des Hexaäders a, Dodecaöders d und eines Tetraäders o (Taf. I.
Fig. 13 — 15), an welchen bald die Flächen der einen oder der andern die-
ser Formen, am häufigsten die des Hexaöders und Dodecaeders vorherrschen.
Nicht selten tritt zu der Combination dieser drei Formen auch noch das andere
Tetra&der o’ hinzu, welches das erstere zum Octaäder ergänzt (Fig. 13— 15),
ferner das Triakistetraeder +0" =(a:a:-a), der Hälftflächner des Leuci-
toöders (Fig. 14u. 15), und zuweilen auch ein Hexakistetraeder =(a: 5a: a)
(Fig. 15). Die Flächen des zweiten Tetra@ders o’ finden sich nicht immer,
sind aber zuweilen noch gröfser als die des ersten Tetra&ders o (Fig. 14.); man
unterscheidet indessen die Flächen beider Tetraäder leicht an ihrem Anse-
hen, indem die Flächen des ersten stets glatt und glänzend sind, und nur
mit den Flächen des Hexakistetraäders vorkommen, die Flächen des zweiten
matt und selbst rauh erscheinen, und sich in Verbindung mit den Flächen
des Triakistetra@ders finden.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 53
Die Krystalle von Segeberg sind kleiner, kaum von einer Linie Durch-
messer, sonst aber ebenfalls Combinationen des Hexaöders, Dodecaeders
und des glänzenden Tetraäders, aber die Flächen des Hexaäders walten in
der Regel so vor, dafs die Flächen des Dodecaöders und Tetraeders nur als
sehr schwache Abstumpfungsflächen der Kanten und Ecken des Hexaöders
erscheinen.
Der Borazit wird, wie Haüy entdeckt hat, sehr stark pyro&lektrisch;
die vier elektrischen Axen fallen mit den Eckenaxen des Hexaöders zusammen,
und zwar enthalten, wie schon Köhler!) angegeben, die Hexaäderecken,
an welchen sich die glänzenden Tetraederflächen finden, die antilogen,
die andern, die theils ohne, theils mit den matten Tetraöderflächen vorkom-
men, die analogen Pole.
Es wurden 17 Krystalle von Lüneburg, bei welchen theils die Hexae-
der-, theils die Dodecaöderflächen vorherrschten, und 2 Krystalle von Se-
geberg untersucht. An allen Krystallen fanden sich die Pole nach der obi-
gen Regel vertheilt.
Dr. Hankel hat am Borazite aufser diesen 4 Axen noch drei ange-
geben, die durch die Mitte der diametralen Würfelflächen oder durch die
diametralen Octaederecken gehen sollen?). Zur Prüfung dieser Angabe un-
tersuchten wir zuerst einen Borazitwürfel von 5- Linien Durchmesser auf
der Mitte zweier diametralen Würfelflächen bei Erkaltung. Es fand sich an
beiden Stellen starke positive Elektricität, aber diese konnte durch momen-
tanes Bestreichen mit der Flamme sofort entfernt werden. Dafs dieses Be-
streichen nicht erregend wirkte, war an dem kalten Krystalle untersucht
worden. Zur weiteren Prüfung wurde ein Dodekaöder von 34 Linien
Würfelseite gewählt, an dem 3 in der Nähe einer Tetraöderfläche liegende
Würfelflächen (Abstumpfungen der Octaederecken) bezeichnet wurden. Der
Krystall wurde 16 mal erwärmt und während der Abkühlung untersucht.
Es zeigte sich
die erste Würfelfläche positiv bei 38 Prüfungen
„ diametrale „, positiv „ 33 Li
„ zweite 23 negativ „ 28 5
„ diametrale „, negativ „ 31 s‘
(‘) Poggendorff’s Annalen B. XVII. S. 150.
(?) Poggendorff’s Annalen B.L. S. 482.
L2
84 Rırss, G. Rose:
die dritte Würfelfläche positiv bei 37, negativ bei 43 Prüfungen
„ diametrale „ positiv „ 20, negativ „ 32 Bi
An einem andern Dodekaeder fand sich eine Würfelfläche positiv, die
diametrale negativ, eine andere negativ, die diametrale gleichfalls negativ,
endlich die dritte Würfelfläche positiv, die diametrale positiv oder negativ.
Es folgt hieraus, dafs in den Würfelflächen (Octaöderecken) des Borazits
keine elektrischen Pole liegen, dafs die bemerkten Elektrieitäten von Anhäu-
fungen herrühren, die an einigen Octa@derecken, welche durch Oberflächen-
beschaffenheit mit einer naheliegenden Würfelecke in Verbindung stehen,
einen constanten Charakter haben, an anderen hingegen unbestimmt bleiben.
Man kann diese Elektricität in jeder Phase der Erkaltung auf die angegebene
Weise fortschaffen, so dafs der Krystall nur die 8 wirklich polaren Stellen
behält.
Am angeführten Orte hat Hr. Dr. Hankel ferner angegeben, dafs
die Elektricitäten, welche die Ecken des Borazitwürfels entwickeln, nicht
von der Art der Wärmebewegung allein abhängig sind, sondern auch von
den Temperaturgränzen, zwischen welchen dieselbe statt findet. Eine ge-
wisse Ecke z.B., die von 16 bis 69 Grad erhitzt, positiv elektrisch war,
zeigte sich von 69° an weiter erhitzt negativ. Ein ähnlicher Polaritätswech-
sel wurde bei Abkühlung des Borazits bemerkt. Dafs ein Wechsel der Po-
larität des Krystalls ohne vorhergehenden Wechsel der Wärmebewegung
statt findet, ist eine so neue Thatsache, eine so unvereinbare mit der ganzen
bisherigen Kenntnifs der Pyroälektrieität, dafs sie nur nach sorgfältigster
Prüfung hätte angenommen werden können. Bei den vielen Versuchen, die
wir zur Ermittelung der Pole des Borazits angestellt hatten, war kein Wech-
sel der Polarität bemerkt worden, obgleich die Krystalle bis 110° R. erwärmt
und bis zur vollständigen Erkaltung untersucht worden waren. Es wurde
nun der leicht erregbare Würfel von 5-- Linien Durchmesser in den mit
Schrot gefüllten Tiegel gelegt, so dafs eine Ecke desselben mit einer glän-
zenden Tetraederfläche frei blieb. Das eine Ende eines Platindraths wurde
an dem Stifte des Elektroscops befestigt, das andere Ende mit einer gläser-
nen Handhabe versehen, so dafs mit dem letztern der Krystall an einer be-
liebigen Stelle berührt, und so die Elektricität dieser Stelle geprüft werden
konnte. Es ist dies die von Dr. Hankel überall bei seinen pyroelektri-
schen Versuchen befolgte Methode, nur hat derselbe den Krystall frei auf
über die Pyroelektricität der Mineralien. 85
einem Bleche stehen lassen, statt dafs er hier in das Schrot versenkt war.
Das Schrot wurde durch eine Lampe mit doppeltem Luftzuge langsam er-
wärmt. Bei dieser Erwärmung, die bis 202°R. getrieben wurde, gab die
freie Ecke des Krystalles nur negative, bei der nachfolgenden Abkühlung
nur positive Elektricität zu erkennen, obgleich die Untersuchung von Se-
kunde zu Sekunde fortgesetzt wurde. Diese Prüfung wurde zu wiederhol-
ten Malen mit demselben Erfolge angestellt. Die Anzeigen der Elektricität
waren im Allgemeinen schwach, und zu Ende der Erwärmung, wo die Tem-
peratur sehr langsam stieg, wie zu Anfange der Erkaltung, verschwindend.
Um dem Einwurfe zu begegnen, dafs dieser besondere Krystall keinen Pol-
Wechsel besafs, oder dafs die dazu nöthige Temperatur (die Hitze durfte
des Schrotes und Thermometers wegen nicht über 210° gebracht werden)
noch nicht erreicht worden war, wurde der Krystall bei 200° mit der Zange
aus dem Tiegel gehoben und bei Abkühlung in freier Luft untersucht. Hier
zeigte sich die von Hankel beschriebene Erscheinung in hohem Grade.
Jede Würfelecke mit glänzender Tetraöderfläche war stark negativ, jede
Würfelecke mit matter positiv elektrisch, und beide Elektricitäten gingen
nach kurzer Zeit durch Null in die entgegengesetzten, also die den bezeich-
neten Stellen nach dem Gesetze zukommenden, über. Diese Umkehrung
der gesetzlichen Polarität bei plötzlicher Erkaltung nach starker Erwärmung
ist bei allen vorliegenden Exemplaren bewirkt worden, aber mit gröfserer
oder geringerer Leichtigkeit. Die undurchsichtigen Exemplare mit rauher
Oberfläche zeigten sie nach Erhitzung bis 130° R., die mit glatten Flächen
mufsten bis 150° erwärmt werden, und die durchscheinenden Krystalle ent-
wickelten, selbst nach Erhitzung bis 205°, die anomale Elektrieität sehr
schwach, während die folgende gesetzmäfsige mit grofser Intensität eintrat.
An einem schwach durchscheinenden Borazitdodekaöder mit stark glänzen-
den Flächen konnte an den unabgestumpften Würfelecken keine Umkehrung
hervorgebracht werden; doch war dieser Krystall im Allgemeinen schwer
erregbar. Bei keinem Krystalle ist ein wiederholter Wechsel vorgekom-
men; wenn die normale Elektricität eingetreten war, blieb sie bis zum voll-
ständigen Erkalten. Es wurden einige Exemplare auf die in der Einlei-
tung angegebene Weise beim Erhitzen untersucht, ohne dafs ein anomales
Verhalten beobachtet wurde. An einem Dodekaäder z.B. gab eine glän-
zende Tetraöderfläche, nach heftigster Erhitzung der diametralen Fläche,
s6 Rızss, G. Rose:
einige Sekunden hindurch negative Elektrieität, die durch Null in die posi-
tive überging, und diese hielt bis zur vollständigen Erkaltung an, ganz wie
es das Gesetz verlangt. — Aus diesem Allem geht hervor, dafs die bemerkte
Anomalie nicht der Pyro&lektrieität zugehört, sondern nur scheinbar ist und
von einer übersehenen, in der Masse des Krystalles stattfindenden Wärmebe-
wegung herrührt. Die Erscheinung kann zuerst eintreten, wenn der Kry-
stall an seiner Oberfläche die Wärme besser leitet als im Innern , und die
Erhitzung
8
gebracht hat. Alsdann wird der Krystall, wenn er an das Elektroscop an-
nicht die ganze Masse desselben zu einer constanten Temperatur
gelegt wird, von einer Hülle umgeben sein, die heifser ist als das Innere
desselben, und nach aufsen erkaltend, die Masse nach Innen erwärmt. Auf
diese Weise läfst sich die anomale Erscheinung leicht künstlich hervorbrin-
gen. Der Turmalin in natürlichem Zustande giebt dieselbe bekanntlich nie-
mals; läfst man aber seine Endigungen an einer Ollampe anschmauchen, so
zeigt er sie in einem hohen Grade. Ein schwarzer Turmalin, 5-- Linien lang,
3-- Linien dick, wurde an beiden Enden mit einer leichten Rufsschicht be-
deckt. Nachdem der analoge Pol desselben 30 Sekunden lang erwärmt wor-
den war, gab er am Elektroscop 1 Minute lang starke positive Elektricität,
die allmälig bis Null sank, und dann die normale negative Elektrieität. Ähn-
liches zeigte der antiloge Pol. Bei diesen Versuchen ist der Erfolg abhän-
gig von einer unvollkommenen Erwärmung des Krystalls; wurde jener Tur-
malin 2 Minuten lang in der Lichtflamme erhitzt, so zeigte er nichts Unge-
wöhnliches. Ohne Zweifel würde der Borazit unter den eben genannten
Bedingungen die anomale Elektrieitätsentwickelung zeigen; dieselbe kann
aber an ihm noch auf andere Weise entstehen. Der grofse Borazitwürfel
wurde während 10 Minuten im Schrotbade bei einer Temperatur von 190
bis 200 Graden erhalten, dann bei 190° aus dem Tiegel genommen und ge-
prüft; er gab die anomalen Elektrieitäten während —- Minute sehr stark,
nach welcher Zeit sie in die gesetzmäfsigen übergingen. Hier mufste das
Umgekehrte des im vorigen Falle Angegebenen geschehen. Die Oberfläche
des Krystalls erkaltete hier sehr schnell, und wir hatten an das Elektroscop
gleichsam eine kalte Krystallschale und einen heifsen Kern angelegt. An
jedem Punkte, wo der Krystall geprüft wurde, gab das Elektroscop die Dif-
ferenz zweier entgegengesetzten Elektricitäten an, der Elektricität der sich
über die Pyroelektrieität der Mineralien. 37
erwärmenden Schale, und der des erkaltenden Kerns'). Am Anfange des
Versuches, wo die Erwärmung der Schale schneller geschieht, als die Ab-
kühlung des Kerns, überwiegt die elektrische Wirkung der ersten, tritt aber
bald gegen die Wirkung der Erkaltung zurück, zumal da diese eine immer
gröfser werdende Masse des Krystalls ergreift. Die sich erwärmende Schale
des Krystalls kann nur dünn sein, da es einer hohen Temperatur bedarf,
damit die in ihr erregte Elektrieität merklich werde; ein Borazitkrystall,
noch so lange bei einer Temperatur unter 120° R. erhalten, giebt bei der
Abkühlung keine andere Elektrieität, als die gesetzmäfsige. Wol aber er-
scheint er dann bei dem ersten Anlegen an das Elektroscop fast unelektrisch,
ganz wie es bei Topas, Turmalin, Axinit nach der stärksten Erhitzung der
Fall zu sein pflegt. Dies bekannte Verhalten der letztgenannten Krystalle
hat man so gedeutet, dafs die Elektrieität sich erst anhäufen müsse, um das
Elektrometer zu affieiren. Dafs dies nicht der Hauptgrund sei, erhellt
daraus, dafs wenn man in einer spätern Phase der Abkühlung einen Turma-
lin durch die Flamme von der angehäuften Elektricität säubert, die elektri-
sche Anzeige zwar geschwächt, aber nie so schwach wird, wie zu Anfang
des Versuchs, wo doch die Elektricitätserregung am stärksten sein mufste.
Es findet also bei allen Krystallen in dem angeführten Falle ein anfängliches
Verstecken der Elektrieität des Krystallkerns durch Entgegenwirken der
Elektrieität der Schale statt, eine Erscheinung, die sich bei dem Borazite,
zufolge seiner besondern Oberflächenbeschaffenheit und leichten Erregbar-
keit, nach starker Erhitzung zu einer völligen Umkehrung der normalen
Elektriecität steigert.
(') Wenn man die undurchsichtigen Krystalle zerschlägt, so erscheinen sie gewöhnlich
im Innern fasrig, und die Fasern stehen auf den äulsern Flächen senkrecht, eine Erschei-
nung, die Herr Prof. Weils schon lange bemerkt hat. Diefs ist indessen nur eine Zufäl-
ligkeit bei der Krystallbildung, wie sie wohl öfter bei Krystallen stattfindet und die nicht
mit einer spätern Veränderung in der Lage der kleinsten Theilchen, oder der chemischen
Zusammensetzung zusammenhängt; denn die durchsichtigen und undurchsichtigen Krystalle
zeigen, wie Rammelsberg (Poggendorffs Annalen B. XXXXIX. S. 448) bewiesen hat,
nur unmerkliche Verschiedenheiten im specifischen Gewicht nnd der chemischen Zusammen-
setzung. Man findet aber öfter in den undurchsichtigeu Krystallen einen stärker durchschei-
nenden Kern, welcher der erste Anschufs war, um den sich dann der spätere gelegt hat,
was wohl zur Vermehrung der eben angegebenen Erscheinung beitragen kann.
58 Rızss, G. Rose:
6. Hihodıizit.
Der Rhodizit kommt in seiner Form und in seinem elektrischen Ver-
halten mit dem Borazit ganz überein. Die Krystalle sind Combinationen
des Dodecaöders mit dem glänzenden Tetraäder, 1 bis 2 Linien grofs, und
werden deutlich, wenngleich im Allgemeinen wohl etwas schwächer als der
Borazit, pyro&lektrisch. Die Pole liegen ebenfalls in den dreiflächigen oder
Hexaöderecken des Dodekaeders; die mit den (glänzenden) Tetraöderflächen
versehenen werden antilog, die unabgestumpften analog elektrisch, wie
es schon G. Rose bei der Bekanntmachung des Rhodizits angeführt hat!).
Der Rhodizit hat also auch, wie der Borazit, 4 elektrische Axen, die
mit den Eckenaxen des Hexaeders zusammenfallen.
b. Central-polarische Krystalle.
4. Prehnit.
Die Krystallform des Prehnits ist ein rhombisches Prisma von nahe
100°, das an den Enden mit der geraden Endfläche begränzt und an den
scharfen Seitenkanten mehr oder weniger stark abgestumpft ist.
ant.
anal.
ant
Gewöhnlich ist das Prisma niedrig und tafelartig, wie besonders bei den
Krystallen von Bourg d’Oisans im Dauphine, seltener sind die Flächen des
Prisma etwas gröfser, wodurch die Krystalle säulenförmig werden, wie zu
Ratschinges in Tyrol. Sehr selten sind aber die Krystalle glattflächig, die
kleinern tafelartigen Krystalle sind auf den Flächen des Prisma horizontal
(') Reise nach dem Ural und Altai, Thl. I. S. 469.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 8%
gestreift, die gröfsern erscheinen gewöhnlich als eine Zusammenhäufung vie-
ler Krystalle, bei welchen die Axen, die den kürzern Diagonalen der Basis
parallel sind, divergiren, was oft so stetig geschieht, dafs die stumpfen Sei-
tenkanten einen vollkommenen Bogen beschreiben. Diefs Aufblättern der
Krystalle, wie man diefs Verhalten auch nennt, geschieht oft nach beiden
Enden der kürzern Diagonale, so dafs in diesem Fall auf der geraden End-
fläche des Krystalls, oder vielmehr der Zusammenhäufung, eine grofse, der
längern Diagonale entsprechende Vertiefung entsteht. Die Krystalle von
Ratschinges sind glatiflächiger, zeigen aber ebenfalls eine Anlage zu einem
solchen Aufblättern.
Aufserdem findet sich der Prehnit auch kuglig und nierenförmig; die
Oberfläche dieser Massen ist gewöhnlich rauh und oft ganz drusig, und das
Innere besteht aus fasrigen’ oder stängligen Zusammensetzungsstücken. Bei
dem nierenförmigen Prehnite von Dumbarton sind die Individuen noch deut-
lich erkennbar; die prismatischen Krystalle entstehen hier dadurch, dafs die
Abstumpfungsflächen der scharfen Seitenkanten sehr grofs werden.
Die Pyroelektrieität des Prehnits ist sehr ausgezeichnet; da dieselbe
bisher nur sehr unvollständig gekannt war!), so wird es nothwendig, unsere
Versuche einzeln anzugeben.
Es wurden folgende Exemplare geprüft, Erwärmung 130 — 145° R.
Tafel von Bourg d’Oisans in der langen Diagonale abgebrochen,
längste Dimension 2-- Linie. Die stumpfe Seitenkante antilog, die Mitte
der Bruchfläche analog elektrisch.
Tafel ebendaher in der kurzen Diagonale abgebrochen, scharfe Sei-
tenkante abgestumpft, längste Dimension 3 Linien. Beide Ecken an der
(') Wir haben nur folgende Angaben über den Prehnit gefunden:
L’axe electrigue passe par le centre du plan, qui soudivise la forme rhomboidale dia-
gonalement. Haüy, tableau comparatif. p. 197.
D’axe electrique est situE dans le sens de la petite diagonale du noyau (prisme droit
rhomboidal). Haüy traitE de mineralogie. sec. ed. t. IT., p. 604.
Die elektrische Axe läuft nach Herrn de Dr&’s Beobachtung durch den Mittelpunkt
einer Ebene, welche mit der kurzen Diagonale der geschobenen vierseitigen Tafel parallel
geht. Hoffmann, Mineralogie Th. IL,1. S. 225.
Die elektrische Axe ist parallel der grofsen Diagonale der P Fläche (der Basis des
geraden rhombischen Prisma). v. Leonhard, Oryktognosie S. 471.
Physik.-math. Kl. 1843. M
90 Rızss, G. Rose:
Bruchfläche antilog, scharfe Ecke schwach antilog, die Mitte beider Haupt-
flächen der Tafel stark analog elektrisch.
Tafel ebendaher, Bruchstück mit 2 aufeinander folgenden Seitenkan-
ten, die scharfe abgestumpft, längste Dimension 3Z Linie. Stumpfe Kante
sehr stark antilog, die abgestumpfte Kante und die Mitte der Haupifläche
der Tafel analog elektrisch.
Tafel ebendaher vollständig, aber aufgeblättert, die eine Basis frei
mit der charakteristischen Vertiefung in der Mitte, die andere Basis mit frem-
der Masse bedeckt. Lange Diagonale 3’, längste Seitenkante 1 Linie.
Beide stumpfe Seitenkanten stark antilog, die scharfen nicht elektrisch, die
Vertiefung auf der Basis analog elektrisch.
Tafel ebendaher vollständig, aber aufgeblättert, die stumpfen Seiten-
kanten stark gekrümmt, starke Vertiefung auf der einen Basis, die andere
-
Basis nur zum Theil frei. Lange Diagonale 5, stumpfe Seitenkante 3”.
Beide stumpfe Seitenkanten in ganzer Ausdehnung antilog elektrisch, die
scharfen gänzlich unelektrisch. Die Vertiefung auf der freien Basis analog
elektrisch, an der andern Basis gleichfalls analoge Elektricität bemerklich.
Dieser ausgezeichnete Krystall wurde auch bei Erwärmung untersucht.
Tafel über Zolllänge und verhältnifsmäfsig dick, ebendaher, auf dem
Gestein aufsitzend, die stumpfe Seitenkante gekrümmt, die scharfe stark ab-
gestumpft. Die stumpfe Kante stark antilog, die scharfe abgestumpfte stark
analog. Erhitzung in der Flamme.
Prisma von Ratschinges abgebrochen, stumpfe Seitenkante und gerade
Endfläche sichtbar. Die Kante antilog, ebenso die ihr gegenüberliegende
Masse. Endfläche unelektrisch, ihr diametral eine analog elektrische Stelle.
Prisma daher, wie die vorige. Gleiches elektrisches Verhalten.
Prisma, eine stumpfe Seitenkante mit den anliegenden Flächen aus-
gebildet. Längste Dimension der Endfläche 4 Linien, Seitenkante 27”.
Die stumpfe Seitenkante antilog elektrisch, ebenso der ihr gegenüberliegende
verbrochene Theil. Der Krystall wurde bis zur Mitte abgeschliffen, die
künstliche Fläche ist stark analog elektrisch.
Grofse hellgrüne Kugel vom Cap der guten Hoffnung, deutlich aus
Tafeln zusammengesetzt. Auf der Kugelfläche lassen sich analog und antilog
elektrische Stellen unterscheiden.
über die Pyroclektrieität der Mineralien. 9
Abgebrochenes Stück einer im Innern fasrigen Kugel, ebendaher;
Kugelfläche nicht elektrisch. Auf der Bruchfläche analog und antilog elek-
trische Stellen.
Abgebrochenes Stück einer fasrigen grünen Kugel, ebendaher. Auf
der Bruchfläche deutlich stralig, die Fasern von einem Punkte ausgehend.
Dieser Punkt bis zu einem kleinen Umkreise stark analog, die äufsere Ku-
gelfläche antilog elektrisch.
Alle diese Beobachtungen stimmen mit einander überein und lehren
eine eigenthümliche, bisher unbekannte Vertheilung der elektrischen Pole
an Krystallen kennen. Bei den bisher aufgeführten Krystallen (den Termi-
nal-polarischen) mündete nämlich jede einzelne elektrische Axe an der
Oberfläche des Krystalls, und es fand sich daher stets eine gerade Anzahl
von Polen vor. Der Prehnit hingegen hat zwei gegen einander gekehrte
elektrische Axen, deren analoge Pole zusammenfallen, und erscheint daher
3polig. Die kurze Diagonale der Basis des Prisma giebt die Richtung bei-
der Axen, deren gemeinschaftlicher analoger Pol in der Mitte liegt, wäh-
rend die zugehörigen beiden antilogen Pole an den Enden dieser Linie
liegen. Da diese Vertheilung durch die ganze Masse des Krystalles geht,
so müssen die scharfen Seitenkanten unelektrisch sein, eine Abstumpfung
der scharfen Seitenkante trifft immer den analogen Pol, eine Abstumpfung
der stumpfen Kante nur dann, wenn sie durch die lange Diagonale der Basis
geht. Wir nennen diese Art der pyroelektrischen Vertheilung Central-
polarisch.
2. _Topas.
Es wurden 28 Exemplare untersucht, zumeist brasilianische, wenige
sibirische und sächsische. Die ersten waren am stärksten elektrisch, zwei
sächsische und einer vom Ural waren es so schwach, dafs sie kaum eine Be-
stimmung zuliefsen. Die Krystalle hatten, bis auf zwei, nur Ein vollstän-
dig auskrystallisirtes Ende, am andern Ende waren sie verbrochen. Wir
suchten zuerst die elektrische Axe des Topases in der Säulenaxe zu bestim-
men, konnten aber zu keinem Resultate kommen. Die Krystalle waren bis
130 oder 150° erhitzt und dann bei Abkühlung untersucht worden; das aus-
krystallisirte Ende fand sich bei einigen Exemplaren positiv, bei andern ne-
gativ elektrisch, ohne dafs eine wesentliche Verschiedenheit in der Ausbil-
M2
92 Rızss, G. Rose:
dung dieser Enden bemerkt wurde. Ferner aber fand nicht überall ein Ge-
gensatz zwischen den beiden Enden desselben Exemplars statt. Ein sehr
ausgezeichneter brasilianischer Krystall 127” lang, gab an beiden Enden,
die mit der einfachen 4flächigen Zuspitzung versehen waren, positive Elek-
trieität, und dieselbe Elektricität an den stumpfen Seitenkanten der Säule;
negative Elektricität war nur in zwei zufälligen Gruben an beiden Enden zu
finden. Das andere an beiden Enden auskrystallisirte Exemplar, brasilia-
nisch, 11 Linien lang, war an dem einen Ende negativ, an dem andern Ende
(dessen Spitze zufällig abgesprengt war) gleichfalls negativ, und an den stum-
pfen Seitenkanten positiv elektrisch. Ein weifser Topas aus Nertschinsk
5-" lang, an einem Ende mit den Flächen des horizontalen ' Prisma zuge-
schärft, war an der Zuschärfung positiv, an der andern durch den Bruch
gebildeten Endfläche negativ, an den stumpfen Seitenkanten positiv elek-
trisch. Ein brasilianischer Topas mit 6flächiger Zuspitzung 6” lang wurde
an der Spitze negativ, an der entgegengesetzten Bruchfläche gleichfalls ne-
gativ, an den stumpfen Seitenkanten positiv. Diese Beispiele genügen, die
Gesetzlosigkeit der elektrischen Vertheilung nach der Axe der Säule zu zei-
gen; zugleich war die Elektrieität der Endspitzen nur schwach, während die
der Seitenkanten verhältnifsmäfsig stark auftrat. Hierdurch entstand die
Vermuthung, dafs in der Säulenaxe des Topases keine elektrische Axe läge,
und folgender entscheidende Versuch bestätigte dies vollkommen. Ein 14
langer Krystall mit 4flächiger Zuspitzung wurde in der Richtung des Haupt-
bruchs in zwei Stücke gesprengt. Beide Bruchflächen, die, beiläufig be-
merkt, vollkommen auf einander pafsten, zeigten sich bei Abkühlung nega-
tiv elektrisch; ein strenger Beweis, dafs diese Flächen, die normal gegen
die Säulenaxe stehen, von keiner elektrischen Axe geschnitten werden. Der-
selbe Versuch, an einem zweiten 11’ langen Exemplare wiederholt, gab
dasselbe Resultat, ein gleiches elektrisches Verhalten der beiden Bruchflä-
chen des senkrecht gegen die Säulenaxe zersprengten Krystalls.
Die elektrischen Axen des Topases liegen in der Ebene der vollkom-
menen Spaltungsfläche, und schon die oben angeführten Versuche lehrten
dieselben näher kennen. Es ist nämlich angeführt worden, dafs die stum-
pfen Seitenkanten der Säule sich in elektrischer Beziehung gleich verhielten.
An den scharfen Seitenkanten ist dies nicht der Fall. Zu Anfange der Ab-
kühlung des Krystalls sind die scharfen Kanten unelektrisch, und in einem
über die Pyroclektrieität der Mineralien. 93
spätern Zeitpunkte theilen sie gewöhnlich die Elektrieität der stumpfen Kan-
ten, an den Enden oft auch die Elektricitäten der Endflächen. Es zeigt sich
diese Elektricität der scharfen Kanten als eine zufällige, von einer Anhäu-
fung herrührende, da sie immer schwächer ist als die ursprüngliche der wirk-
lichen Pole und sich leicht durch Bestreichen mit der Flamme entfernen
läfst. — So bleibt also nur übrig, die Elektrieität des Topases central -pola-
risch anzunehmen, so wie sie am Prehnite aufgezeigt wurde.
Der Topas hat zwei gegen einander gekehrte elektrische Axen, die
in der Richtung der kurzen Diagonale der Basis des Prisma liegen. Die bei-
den analogen Pole der Axen fallen in der Mitte der Diagonale zusammen,
die beiden antilogen Pole liegen in den diametralen stumpfen Seitenkan-
ten des Prisma.
Zur Prüfung dieses’ Gesetzes wurden folgende Versuche angestellt.
Ein 4flächig zugespitzter brasilianischer Topas, 7 Linien lang, zeigte sich
an der Zuspitzung und dem entgegengesetzten verbrochenen Ende analog,
an den stumpfen Seitenkanten antilog elektrisch. Derselbe wurde parallel
einer Abstumpfungsfläche der stumpfen Seitenkanten so stark abgeschliffen,
dafs die Abstumpfungsfläche bis zur Mitte des Krystalls reichte, und er ein
3seitiges Prisma mit einer stumpfen Seitenkante und zwei scharfen Seiten-
kanten darstellte. (Es ist hier überall der Kürze wegen auf die Zuschärfun-
gen der Säulenkanten keine Rücksicht genommen). Die angeschliffene und
polirte Fläche war in ganzer Ausdehnung stark analog elektrisch, die stumpfe
Seitenkante antilog; beide scharfe Kanten waren gänzlich unelektrisch.
Ein Topas von 9°" Länge, der am auskrystallisirten Ende analog, an
dem entgegengesetzten verbrochenen Ende ebenso, an den stumpfen Seiten-
kanten antilog war, wurde mit einer künstlichen Fläche versehen, welche
eine scharfe Seitenkante abstumpfte. An dieser Fläche war, ihrer ganzen
Länge nach, schwache, aber deutlich analoge Elektrieität merkbar.
Ein Bruchstück desselben Krystalls, 5 Linien lang, wurde an einer
stumpfen Seitenkante durch eine künstliche Fläche abgestumpft. Diese
Fläche war in ganzer Ausdehnung stark antilog elektrisch.
Diese Versuche bestätigen die angegebene Vertheilung der elektri-
schen Pole am Topase vollkommen; es läfst sich aus ihnen das elektrische
Verhalten zerschnittener Topase folgendermafsen bestimmen.
94 Rızss, G. Rose:
1 2. 3
PER antı ent.
Ba sah:
= | fin ah a: 5 ==
7 bes
BT I ca L
and. ant. ent,
Eine Ebene, welche einer Seitenkante und der kurzen Diagonale der Basis
parallel geht, Fig. 1., theilt den Topas in zwei dreipolige Stücke. Die bei-
den durch den Schnitt gebildeten Flächen sind analog elektrisch. An dem
kleinern Stücke sind die beiden neugebildeten Seitenkanten, an dem gröfsern
die stumpfen Seitenkanten antilog elektrisch. Eine Ebene, der langen Dia-
gonale und einer Seitenkante parallel, theilt den Topas in zwei Stücke, von
welchen das kleinere zweipolig, das gröfsere dreipolig ist, Fig. 2. Die bei-
den durch den Schnitt gebildeten Flächen sind entgegengesetzt elektrisch,
die künstliche Fläche an dem kleinern Stücke ist analog, an dem gröfsern
antilog elektrisch. Geht die Theilung durch die lange Diagonale der Basis,
Fig. 3., so sind beide Stücke zweipolig, beide künstliche Flächen analog
elektrisch. Eine beiden Diagonalen parallele Fläche giebt zwei Stücke, an
welchen die elektrische Vertheilung dieselbe ist, wie am ganzen Krystalle.
Ein vollkommen gleichmäfsig ausgebildeter Topas, die 4seitige Säule
mit den 4flächigen Endigungen würde sich folgendermafsen pyroelektrisch
verhalten. Beide Endigungen würden unelektrisch sein; die antiloge Elek-
trieität würde auf den stumpfen Seitenkanten der Säule nach ihrer ganzen
Ausdehnung auftreten, von dort auf den Seitenflächen schnell abnehmen
und gegen die scharfen Seitenkanten hir, wie auf diesen selbst, verschwinden.
Analoge Elektrieität dürfte auf der ganzen Oberfläche des Krystalls nicht zu
finden sein. Von diesem normalen Verhalten weichen die Topase vielfältig
ab. Verletzungen an der scharfen Seitenkante werden nach obigem Schema
ein Hervortreten an analoger Elektricität, Verletzungen der stumpfen Kante
ein stärkeres Auftreten von antiloger Elektricität an den verletzten Stellen
veranlassen. Die Endkanten selbst nehmen Elektrieität von den ihnen zu-
nächst liegenden elektrischen Stellen auf, die Endspitze, gewöhnlich abge-
stumpft, entwickelt selbst schwache analoge Elektricität. Ist eine Bruch-
fläche da, so entwickelt diese in der langen Diagonale analoge Elektrieität,
die, wenn sie zuweilen auf der Fläche wegen zu grofser Nähe der stumpfen
über die Pyroelektricität der Mineralien. 95
Ecken nicht merklich ist, jedenfalls den elektrischen Zustand der nächsten
Kanten verändert. Nimmt man hierzu, dafs die Pyroelektrieität des Topases
im Allgemeinen schwach ist und bei vielen Exemplaren eine Anhäufung der
entwickelten Elektrieität nöthig macht, um am Elektroscop merklich zu wer-
den, so dürfen mannigfache scheinbare Abweichungen von der regelrechten
Vertheilung der Pole nicht weiter auffallen. Durch Spalten des Krystalls,
oder durch Anschleifen künstlicher Flächen, wird man stets auf die wirkliche
Polarität des Topases hingewiesen.
Historisch ist noch zu bemerken, dafs Canton, Haüy, Forbes und
Hankel die beiden Hauptpole des Topases in die Endigungen der Säule ge-
legt haben. Hankel hat aufserdem ganz neuerlich vier schwächere Pole an-
genommen, von welchen zwei gleiche in den stumpfen, die andern beiden in
den scharfen Seitenkanten liegen sollen'). Erman hat über die Pyroelektri-
eität des Topases wörtlich angegeben: „Die Eine Thätigkeit (—E) herrscht
in der Axe und den Parallelen mit der Axe; die Andere (+ E) hat ihre Rich-
tung senkrecht auf die Axe und ihr Sitz istüberall an der perimetrischen Ober-
fläche aller Seitenflächen?)”.— Hiermit ist wol zuerst ausgesprochen worden,
dafs die elektrische Axe des Topases nicht in der Säulenaxe liegt.
B. Pyroclektrische Krystalle, an welchen die
elektrischen Axen nicht bestimmt wurden.
41. Titanit.
Es wurden 7 Exemplare untersucht nach einer Erhitzung von 120 bis
130 Grad. Vier Exemplare (ein durchscheinend grünes, ein grünes un-
durchsichtiges, zwei röthlich braune Krystalle) gaben keine deutlichen und
constanten Anzeigen von Elektrieität. Die andern drei Exemplare gaben
deutliche Anzeigen beider Elektriecitäten, das eine von ihnen (ein grünes
durchscheinendes) sogar ziemlich starke Ausschläge. Da aber jeder von
diesen elektrischen Krystallen aus zwei durchwachsenen Individuen bestand,
so wurde die Lage der Axe nicht näher bestimmt. Ein Wechsel der Elek-
(') Poggendorffs Annalen B. LVI. S. 44.
(?) Abhandl. d. math. phys. Klasse d. Akad. d. Wiss. 1829. S. 41.
96 Rızss, G. Rose:
trieität einer bestimmten Stelle bei der Erkaltung von 120° an (wie ihn
Dr. Hankel beschreibt) ist nicht bemerkt worden.
2. Schwerspath.
Es wurden zwei Exemplare nach Erwärmung bis 180° untersucht. Es
zeigte sich bei der Abkühlung deutliche positive Elektrieität, und zwar an
dem einen Krystall am stärksten am verbrochenen Ende, dicht unter der Ab-
stumpfung der stumpfen Seitenkante. Negative Elektrieität ist nicht be-
merkt worden. Es ist wahrscheinlich, dafs der Schwerspath central -pola-
risch ist und sich dem Prehnite und Topase anreihen wird.
3. Bergkrystall.
An fünf, einige Zolle langen, ziemlich dicken Exemplaren wurde nach
der stärksten Erhitzung keine Pyroelektrieität merklich. Von zwei, unge-
fähr 6 Linien langen, 2 Linien dicken Krystallen blieb der eine unelektrisch,
der andere zeigte sich deutlich polarisch. Analoge Elektrieität fand sich
auf einer Fläche der 6seitigen Zuspitzung, antiloge auf einer Fläche des
6seitigen Prisma. Die Krystalle erfordern grofse Vorsicht bei der Prüfung,
da sie leicht durch Reibung elektrisch werden.
C. Krystalle, an welchen keine Pyroelektrieität
merklich wurde.
Amethyst. Ein Krystall. Ein Geschiebe. Erwärmung 140° R.
Analeim. Drei aufgewachsene Krystalle. Erhitzung in der Flamme.
Beryll. Drei gelbe Krystalle. Ein grüner Krystall. Erw. 130°.
Brookit (Titansäure). Ein Krystall. 70°.
Cölestin (schwefelsaurer Strontian). Ein Krystall. 80°.
Diamant. Ein Krystall. 130°.
Dichroit. Ein Krystall. Ein Geschiebe.
Diopsid. Zwei Krystalle. 130°.
Feldspath. Zwei Zwillingskrystalle von Baveno.
Flufsspath. Drei rothe Krystalle. Ein blauer Würfel. 100°.
Granat. 1 Melanit, 2 Grofsulare, 3 rothe Granaten. 150°.
über die Pyroelektricität der Mineralien. 97
Helvin. Ein Krystall. 180°.
Honigstein (Mellit). Zwei Krystalle. _ 75°,
Kalkspath. Vier Krystalle. 180°,
Natrolith. Vier Krystalle. Büschel von durchscheinenden diverg. Nadeln.
Phenakit. Ein Krystall.
Pistacit. Drei Krystalle. 200°.
Rauschgelb. Zwei Exemplare. 70°.
Skapolith. Ein Krystall.
Schwefel (künstlicher). Zwei Krystalle. 70°.
Thompsonit. Drei Krystalle. 70°.
Vesuvian (Idocrase). Zwei Krystalle. 130°.
Weifsbleierz (kohlensaures Bleioxyd). Ein Krystall. 70°.
Von dem Brewsier’schen Verzeichnifs sind daher. nur Skolezit,
. Mesolith (zum Theil), Schwerspath und Quarz pyroelektrisch gefunden
worden.
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die Stellung der Cycadeen ım natürlichen System.
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[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. Februar 1843.]
F. giebt ein Gesetz in der Natur, welches sie hochgebietend beherrscht,
das Gesetz der Entwickelung, nach welchem die Mannichfaltigkeit aus dem
Einfachen hervorgeht. Es zeigt sich zuerst in den einzelnen Naturkörpern
und besonders deutlich in den Pflanzen, wo wir sehen, wie aus der Knospe
sich der Ast entwickelt, wie aus dem Keim im Samen nach und nach der
gröfste Baum mit allen seinen Theilen hervorgeht. Wenn es im Thierreiche
nicht ganz so deutlich ist, so kommt dieses daher, weil die meisten Thiere
ihre erste Lebenszeit im Verborgenen verleben und sich dadurch der Beob-
achtung entziehen. Indessen finden wir doch eine auffallende, gewächsar-
tige Entwickelung in den Larven, wo die Zergliederung uns gezeigt hat, dafs
der Schmetterling mit allen seinen, aber noch weichen Theilen in der Raupe
schon vorhanden ist und sich nach und nach aus ihr hervorbildet. Ja der
Krystall ist, wenn wir ihn rasch bei seiner ersten Bildung fassen, ein Tro-
pfen, einfach und in sich selbst gleich, aber plötzlich entwickelt er sich zu
einem Körper von mannichfaltigen Flächen und Ecken. In dem Keime des
entstehenden organischen Körpers sind die folgenden Theile gleichsam ver-
einigt und zusammengezogen, so dafs sie die Verrichtungen, denen sie be-
stimmt find, noch nicht ausüben können, und gehen wir weiter, so möch-
ten wir endlich auf ein geistiges Präformationssystem treffen.
Was von dem einzelnen Naturkörper gilt, läfst sich auch von ganzen
Naturreichen sagen. Auch hier kommt uns das Pflanzenreich sprechend
entgegen. Ein Gras ist einfacher gebildet als eine Lilie; die Blnmen haben
sich hier schön entwickelt, die zwischen den Bracteen des Grases durch
kleine Schuppen nur leise angedeutet waren; die Lilie ist einfacher gebildet,
N2
100 Lıne:
als die Palme, an der sich das einfache Blatt in ein gefiedertes verwandelt
hat; die Palme mit ihrem einfachen Stamme ist weniger entwickelt, als die
stark verästelte Adansonia mit ihrer weit verbreiteten schön belaubten Krone
und ihren grofsen prachtvollen Blüthen. Noch auffallender wird dieses,
wenn wir von dort bis zur Alge hinabsteigen, zu dem einfachen Faden einer
Öscillatorie, in dem man nicht einmal Querwände entdeckt. Nicht weniger
deutlich ist dieses Gesetz der Entwickelung im Thierreiche; der Spulwurm
ist viel einfacher gebildet als der Käfer mit seinem deutlichen Rückenmark
und seinen Luftröhren;; der Fisch steht weit unter dem Menschen, der durch
sein vollendetes Nervensystem allein ihn schon weit übertrifft. Doch ich
rede von bekannten Dingen, an denen niemand zweifelt, und wenn auch
die Vergleichung eines ganzen Reiches mit einem Individuum sich nicht so-
gleich aufdringt, so liegt sie doch gar nicht fern, und ist gewifs schon oft
angestellt, wenn auch nicht immer bestimmt ausgesprochen worden.
Das Gesetz der Entwickelung hat erst seine genauen Bestimmungen
durch die Mifsverständnisse, denen es ausgesetzt gewesen ist, erhalten. . Das
erste und wichtigste Mifsverständnifs bestand darin, dafs man glaubte, alle
Theile eines organischen Individuums schritten zugleich in ihrer Entwicke-
lung und Ausbildung fort und dafs auf diese Weise eine Stufenfolge in der
Natur, eine Leiter der Natur hervorgehe. In dieser Bedeutung hatte zwar
der berühmte Mann, der zuerst von einer Leiter der Natur ausdrücklich re-
dete, den Gedanken nicht aufgefafst, aber von den Nachfolgern, wie von
den Gegnern wurde er so gedeutet. Herrmann in Strafsburg, ein vor-
trefflicher Zoologe seiner Zeit, bewies in einem grofsen Werke, dafs keine
Stufenfolge, wenigstens im Thierreiche, sich bemerken lasse, dafs vielmehr
die Ähnlichkeiten gleich den Fäden eines Netzes sich verknüpften; eine sehr
unbestimmte Angabe, da das Netz sehr unregelmäfsig sich darstellte, aber
doch eine vortreffliche Widerlegung der gewöhnlichen Annahme. Blumen-
bach, der nie tief in die Natur drang, aber freundlich umher spielte, stellte
manche Thiere auf, vor allen das Pferd, welches in keine Reihenfolge sich
wollte stellen lassen. Er lud zum tiefern Nachdenken, eigentlich durch sein
Absprechen, ein, und da ergab sich bald, dafs nicht alle Theile des orga-
nischen Körpers zugleich ihre Reihenfolge der Entwickelung durchgehen,
sondern dafs, indem ein Theil auf seiner Stufe verbleibt, die andern ihre
besondern Stufenfolgen durchschreiten. Ich übergehe die andern beiden
über die Stellung der Cycadcen im natürlichen System. 101
Mifsverständnisse des Entwickelungsgesetzes, erstlich, dafs man Vielheit mit
Mannigfaltigkeit verwechselte, wobei man nicht bedachte, dafs der Julus
auf tausend Füfsen nicht so schnell sich bewegt, als eine Cieindela auf sechs,
und zweitens, dafs man die kleinen Thiere und Pflanzen ohne genaue Unter-
suchung für unvollkommner hielt, als die gröfsern; ein Vorurtheil, welches
Hr. Ehrenberg genugsam widerlegt hat. Immer bleibt aber eine Monade
weniger ausgebildet, als ein Räderthier, aus dem einfachen Grunde, weil
sie keine Räderorgane hat.
Indessen in der systematischen Botanik mufste jenes Mifsverständnifs
von einer Stufenfolge oder Reihenfolge in der Natur noch inniger sich ein-
drängen, weil man die Pflanzenfamilien in einer Reihe folgen läfst. Da nun
kein Grundsatz sich fand und finden konnte, diese Reihenfolge zu bestim-
men, so kam es auf ein gewisses Gefühl, auf einen Takt an, wie man zu sa-
gen pflegt, um die Pfianzenfamilien gehörig zu ordnen. Jussieu’s Anor-
dnung, die erste seit Linne’s Entwurf, ist mit richtigem Takt gemacht, so
viel es die Kenntnisse zu seiner Zeit erlaubten, und in seinen spätern Bemer-
kungen trug er zwar Manches in dieser Rücksicht nach, änderte aber die
Folge nicht. Es wäre besser gewesen, wenn er die Kryptogamen ans Ende
geworfen hätte, statt sie im Anfange aufzuführen. Dies bei Seite gesetzt,
fängt er mit den Gräsern an und hört mit den Coniferen auf, eine zweckmä-
fsige Stellung, da er nun die Equiseten konnte folgen lassen, die wenigstens
nicht gar ferne stehen. Dafs seine Nachfolger die Coniferen mit den Amen-
taceen in die Reihe der Apetalae gesetzt haben, ist von keinem Nutzen für
die natürliche Anordnung gewesen, und de Candolle’s Änderung, der in
der Mitte der Pflanzenbildungen und zwar mit den Ranunculaceen anfängt,
hat das Ganze entstellt. Unstreitig wollte er seinen berühmten Prodromus,
oder früher sein Systema Regni Yegetabilis nicht mit den unscheinbaren,
kritischen Gräsern anfangen.
Die Cycadeen hatte Jussieu, vorzüglich wegen der eingerollten jun-
gen Blätter, den Farrn beigeordnet, worin Linn& ihm vorangegangen war.
Adanson trennte sie von ihnen und stellte sie zu den Palmen, mit denen
sie im Äufsern allerdings die gröfste Ähnlichkeit zeigen. Aber Petit Thouars
hatte bei der Untersuchung des Keimes einer Cycadee geäufsert, dafs dieses
von dem Keimen der Monokotyledonen verschieden sei, und sich dem diko-
tyledonischen Keime nähere, worauf sie dann zuerst Persoon in seiner
102 Lıse:
Synopsis als eine besondere Familie unter dem Namen der Cycadeen auf-
führte.
Nun erschien L. Richards des Vaters vortreffliches Memoire sur les
Coniferes et les Cycadees (Stuttgard 1526, 4.). Er zeigt, dafs. die männliche
Blüthe der Cycadeen einige, die Frucht der Cycadeen aber eine sehr grofse
Ahnlichkeit mit der Frucht der Coniferen habe, versteht sich, dem innern
Baue nach. Es geht dieses aus seiner eben so genauen Darstellung, als
scharfsinnigen Deutung der Fruchttheile beider Familien auffallend hervor.
Wenn auch Rob. Browns Deutung davon abwich, und in gewisser Rück-
sicht sich mehr empfahl, so ging dadurch doch Richards genauer Darstel-
lung und der Analogie der Frucht zwischen beiden Familien nichts ab. Bald
fafste Ad. Brongniart die Ähnlichkeit auf, und suchte sie auch in andern
Theilen, und zuerst und vorzüglich im Stamme nachzuweisen (Annales des
Sciences naturelles T. 16. p. 380). Er fand in den Cycadeen, wie in den
Coniferen, weder Spiralgefälse, noch poröse Gefäfse, noch Treppengänge,
wohl aber die verlängerten, eigenthümlichen, porösen Zellen, welche das
Holz der Coniferen sehr auszeichnen. Von dem Stamme der Monokotyle-
donen unterscheidet sich der Stamm der Cycadeen auffallend dadurch, dafs
sich in dem letztern Holzringe (deren er zwei bemerkte) befinden, da hin-
gegen in den Monokotyledonen einzelne Holzbündel durch den ganzen Stamm
zerstreut sind. Esist auffallend, dafs Brongniart keine Spiralgefäfse in
den Coniferen fand, die wir in Deutschland lange vorher schon gesehen und
beschrieben hatten, auch dafs er die porösen Gefäfse in den Cycadeen nicht
sah, wo sie leicht zu sehen sind, und man mufs Mohl beistimmen, wenn
er sagt, dafs die Abhandlung gar flüchtig geschrieben sei. Doch folgte ihr
Lindley mit grofsem Zutrauen, und noch in der zweiten Auflage seines na-
türlichen Systems der Botanik hat er eine (zweite) Klasse der Gymnospermae,
wo er die Gnetaceae, Cycadaceae, Coniferae oder Pinaceae, Taxaceae und
Equisetaceae zusammenstellt, worauf dann keinesweges die übrigen Farrn, son-
dern sogleich die Endogeneae oder Monocotyledoneae folgen; eine höchst
widernatürliche Zusammenstellung. Wir Deutschen haben uns sehr zu be-
klagen, dafs unsere genauen Arbeiten im Auslande wenig oder gar nicht ge-
kannt sind.
Sehr genau dagegen ist Mohls Abhandlung in den Denkschriften der
Akademie zu München: Über den Bau des Cycadeenstammes und sein Ver-
über die Stellung der Cycadeen im natürlichen System. 103
hältnifs zu dem Stamme der Coniferen und Baumfarrn. Nachdem er den
Bau des Stammes der Cycadeen dargestellt hat, vergleicht er ihn zuerst mit
dem Stamme der Palmen. Während, sagt er, in dem Stamme der Cyca-
deen das Holz einen einfachen, von vielen Markstralen durchsetzten, eine
grofse Markmasse einschliefsenden Cylinder bildet, besteht das Holz der
Monokotyledonen aus einer grofsen Menge dünner, im ganzen Stamme ohne
bestimmte Ordnung zerstreuter Faserbündel. Ferner setzt er hinzu: Wäh-
rend bei den Palmen (und bei den übrigen Monokotyledonen) jeder einzelne
Gefäfsbündel in Hinsicht auf seine anatomische Zusammensetzung vollkom-
men mit einer zwischen zwei Markstralen liegenden Abtheilung des Holzkör-
pers eines jungen dikotyledonischen Gewächses übereinstimmt, indem er
aus einem der corona der Dikotyledonen entsprechenden Holzkörper, aus
einem Bastbündel und aus’ einem zwischen die genannten Theile eingescho-
benen Bündel eigener Gefälse zusammengesetzt ist, so bestehen die einzelnen
Abtheilungen des Holzeylinders der Cycadeen nur aus einem Bastbündel und
aus einem einzig und allein von Gefälsen gebildeten Holzkörper. Eben so
treffend urtheilt Mohl über die Ähnlichkeit der Cycadeen mit den Dikoty-
ledonen, welche Brongniart behauptet hatte. Es sei, was den Bau des
Stammes betrifft, nichts dafür, sagt er, als der von Markstralen durchzogene
Holzcylinder, der Mark umschliefst, dagegen aber der Habitus dieser Pflan-
zen, die monokotyledonenartige Wurzelbildung, der Mangel an Bildung von
Jahresringen, und endlich der ganze Bau des Holzes. Ferner gleichen die
Cycadeen im Baue des Stammes den Coniferen nur in Rücksicht auf die Ge-
stalt der einzelnen Gefäfse, und entfernen sich sonst von ihnen gar sehr
durch den Mangel an aller Verästelung, und den Mangel an Jahresringen.
Am meisten kommt ihr Stamm nach Mohls Meinung mit dem Stamme der
baumartigen Farrn überein. Es erhelle dieses aus der grofsen Masse des
Markes, aus dem Mangel an Holzzellen, aus der Einfachheit des Holzringes
und aus dem Mangel der Jahrringe sehr deutlich.
Gewissermafsen hat Mohl ganz Recht; der Stamm der Cycadeen ist
eben ein solcher Theil, wie der Stamm der baumartigen Farrn. Denn in
beiden Fällen ist der sogenannte Stamm nicht ein wahrer Stamm, sondern
eine von den veränderten Gestalten des Stammes; eine Anamorphose des
Stammes, wie man solche Veränderungen nennen mag. Von dem baumar-
tigen Stamme der Farın habe ich dieses in den Abhandlungen über den Bau
104 Lıne:
der Farrn zu zeigen gesucht, von den Cycadeen mufs es jetzt geschehen.
Der baumartige Stamm der Farrn ist ein verlängerter Wurzelstock, in dem
die Wedelstiele als wesentliche Theile mit eintreten. Der baumartige Stamm
der Cycadeen hingegen ist zwar ein Wurzelstock, wie der baumartige Stamm
der Farrn, in dem aber die Blattstiele nicht auf eine solche Art hineintreten,
wie in den Stamm der baumartigen Farrn. Die sonderbar geformten Holz-
bündel, unstreitig von Wedelstielen entsprungen, deren Mohl bei dieser -
Gelegenheit nicht erwähnt, zeigen doch einen sehr auffallenden Unterschied
zwischen den baumartigen Farrn und den Cycadeen, und es bleibt keine an-
dere Verwandtschaft zwischen beiden, als zwischen Pflanzen stattfindet, wel-
che Zwiebeln haben.
Der Beweis, dafs der Stamm der Cycadeen ein Wurzelstock sei, wird
leicht zu führen sein.
Es kommt nämlich hiebei ein Umstand in Betracht, dessen Mohl
ebenfalls nur kurz erwähnt, ohne irgend einen Schlufs daraus zu ziehen, der
mir aber von grofser Wichtigkeit zu sein scheint. Er betrifft den Bau des
sogenannten Markes in den Cycadeen. Ich habe in den anatomisch - botani-
schen Abbildungen z.E. d.G. d.Kr. T.9. F. 1. dieses sogenannte Mark
von Encephalartus Altensteinü darstellen lassen, und Fig. 2. ein Bündel
von Spiroiden. Ferner ist dieses Mark von Encephalartus Frid, Guil. IIL.
in den ausgewählten anat. bot. Abbildungen H. 2. T. 1. F. 1 und 2 abgebil-
det. Wir sehen hier, dafs ein Netz von Holzbündeln aus Spiroiden das
Mark überall durchzieht und sogar das sogenannte Holz durchdringt, um
sich zu den Blättern zu verbreiten. In dem Stamme aller Dikotyledonen
ist dieses nicht der Fall; selten erscheinen Holzbündel im Marke, am
wenigsten verzweigte, netzförmige Holzbündel. In dem Stamme der Mono-
kotyledonen ist bekanntlich kein Mark, aber wenn man den innern, lockern
Theil des Stammes Mark nennen will, so findet man zwar Holzbündel darin,
aber nur aus geraden Gefäfsen gebildet, die den Stamm der Länge nach in
gerader oder wenig gebogener Richtung durchziehen. Betrachtet man einen
solchen Holzbündel im Querschnitt, so sind darin die Spiroiden und das be-
gleitende Zollgewehe regelmäfsig gestellt, jene nach der Mitte des Stammes,
diese nach dem Umfange. Nichts von diesem Allen sieht man hier, und
dieses Mark ist daher dem Marke der Dikotyledonen und der Monokotyle-
donen ganz ungleich. Das sogenannte Holz, wie es in einem Cylinder das
über die Stellung der Cycadeen im natürlichen System. 105
Mark umgiebt, besteht abermals aus unregelmäfsig gebogenen Bündeln von
Spiroiden mit einigem Zellgewebe dazwischen und ist folglich in der Bildung
von dem Holze der Monokotyledonen und Dikotyledonen gleich weit ent-
fernt (S. Ausgew. Abb. T. a. a. O. F. 5.1). Es ist also kein eigentlicher
Stamm, den wir vor uns haben, Womit sollen wir aber diesen Theil ver-
gleichen? Die Analogie ist leicht zu finden. Man betrachte nur den Wurzel-
stock von Nufar, Nymphaea, oder eine bekannte Knolle von Apium graveo-
lens, oder die sogenannte Wurzel von Feratrum album, die ein Wurzel-
stock ist, oder endlich die Unterlage irgend einer Zwiebel, den Theil näm-
lich, woraus nach unten die Wurzeln, nach oben die Blattschuppen, Blätter
und Blüthen entspringen. In allen diesen Theilen sieht man Bündel von
Spiroiden, welche sich netzförmig durch das Zellgewebe in der Mitte ziehen,
bald mit begleitendem Zellgewebe, wie in jenem Encephalartus (F. 3.), bald
ohne dasselbe, wie in der Zamia. Nur fehlt hier in der Regel der Holz-
eylinder, welcher das Mark umschliefst, aber in der sogenannten Wurzel
von Feratrum album ist allerdings ein solcher vorhanden. Dieser Wurzel-
stock ist lang gezogen im Kleinen, wie der Stamm einer Cycadee, und nä-
hert sich einem Rhizom. Dem innern Baue nach ist also der Stamm einer
Cycadee keinesweges ein eigentlicher Stamm, sondern nur ein verlängerter
Wurzelstock. Ja, wenn eine Zamia noch jung ist, stellt sich auch der
Stamm als ein Wurzelstock, oder eine Zwiebel dar. Wir haben Wurzel-
stöcke in allen Familien, und so entfernt sich der Bau des Stammes der Cy-
cadeen nicht von den Monokotyledonen, wozu auch die ganze Bildung sie
hinführt.
Die unregelmäfsige Art der Vertheilung der Holzbündel erklärt es
ferner, warum man zwar meistens nur einen Holzcylinder, zuweilen zwei,
wie Brongniart, zuweilen mehre beobachtete, wie Treviranus in seiner
Physiologie der Gewächse Th. 1. S. 188 anführt. Mit den Jahrringen ha-
ben sie auch im Bau nichts gemein; sie sind viel einfacher.
Betrachten wir die sogenannten Blätter der Cycadeen, so bestätigt
Alles die gegebene Darstellung. Jedes dieser Blätter ist von einer blattarti-
gen Schuppe unterstützt. Im ganzen Pflanzenreiche ist das wahre Blatt nie-
(') Diese Tafeln überhaupt sind vorläufige Darstellungen, die meistens eines Commen-
tars bedürfen.
Physik.-math. Kl. 1843. (6)
106 Lıne:
mals von einem andern blattartigen Theile unterstützt, und wenn dieses der
Fall ist, kann man sicher schliefsen, dafs eine Anamorphose vorgegangen
ist, und dafs ein anderer Theil die äufsere Gestalt eines Blattes angenommen
hat. Da nun die Blätter in der Regel einen Ast unterstützen, so können
wir auch annehmen, dafs dieses scheinbare Blatt ein Ast ist, oder vielmehr
die Anamorphose eines Astes. So bemerkt man eine Schuppe unter den
büschelförmigen Blättern von Asparagus, und abgesehen davon, dafs es
eigentlich keine büschelförmigen Blätter giebt, kann man schon aus der
Stellung der Schuppen schliefsen, dafs die scheinbaren Blätter Äste sind,
und die Vergleichung mit einem blühenden Asparagus albus zeigt deutlich,
dafs sie zu den Blüthenstielen, allerdings eine Art von Ästen gehören. Den-
selben Fall finden wir an Ruscus, ein scheinbares Blatt trägt die Blüthe, aber
es ist sicher ein breitgewordener Ast, der wohl Blüthen tragen kann, denn
darunter zeigt sich das wahre Blatt als eine Schuppe. Ähnliche Betrachtun-
gen lassen sich über die Gattung Phyllanthus, die zu einer weit entfernten
natürlichen Familie gehört, anstellen. Eben so mufs man auch hier die
scheinbaren Blätter der Cycadeen für Äste halten, oder vielmehr für Stämme,
die aus einem Knollen hervorkommen. Der innere Bau bestätigt dieses.
Man sieht in ihnen einen Kreis von Holzbündeln, zuweilen wie in Cycas
revoluta neben zwei Reihen anderer Holzbündel, deren jeder einen rechten
Winkel bildet. Diese Holzbündel haben durchaus den Bau der Holzbündel
in dem Monokotyledonenstamme; die Spiroiden stehen an der einen Seite
des Bündels, das Zellgewebe an der andern, und immer sind diese Seiten
regelmäfsig nach einer Richtung gekehrt. Cycas circinalis trägt die Früchte
an dem Rande eines Blattes; Rob. Brown führt dieses bei der Gelegen-
heit an, wo davon die Rede ist, dafs die Klappen der Samengehäuse eigent-
lich Blätter sind, welche am Rande den Samen tragen; ich möchte eher
daraus schliefsen, dafs die fruchttragenden Blätter nur scheinbare Blätter,
und eigentlich Zweige sind.
Die getüpfelten Gefäfse der Coniferen und der Cycadeen haben Ähn-
lichkeit, aber doch nur eine entfernte. Die Tüpfel in den Cycadeen sind
kleiner, und die Öffnung ist länglich, die in den Coniferen in der Regel
rund ist. Es giebt in manchen andern Gewächsen, namentlich im Sambu-
cus, getüpfelte Gefäfse, die den Gefälsen in den Cycadeen ähnlich sind.
über die Stellung der Cycadeen im natürtichen System. 107
Allerdings ist der Same, oder das Eichen der Coniferen, dem der
Cycadeen gar sehr ähnlich, wie Richard gezeigt hat — man mag den ein-
zelnen Theilen eine Bestimmung geben, welche man will. Richards Un-
tersuchung hat die Erfindung der andern, sehr erzwungenen Ähnlichkeiten
beider Familien veranlafst, wie schon erwähnt wurde. Wir haben einen
Fall im Pflanzenreiche, wo ebenfalls sehr ähnliche Bildungen in sehr ver-
schiedenen Familien vorkommen; Rob. Brown hat die Analogie der männ-
lichen Geschlechtstheile in den Orchideen und den Asklepiadeen gezeigt,
aber dennoch sind die beiden Familien weit von einander entfernt. Es ist
eine Entwickelungsstufe eines Theils, die mit sehr verschiedenen Stufen an-
derer Theile zusammentreffen kann.
Das Keimen, was man nur von Cycas circinalis genau beobachtet hat,
scheint mir ein wahrhaftes Monokotyledonen Keimen. Man sehe Taf. 25.
bei Richard eine Abbildung nach Petit Thouars, der das Keimen allein
beobachtete. Das Würzelchen hat den Cotyledonenkörper aus der Nufs
mit sich genommen, er spaltet sich und aus der Spalte kommt eine Knospe
von Schuppen, in deren Mitte sich ein sogenanntes Blatt erhebt. Es ist
hier offenbar ein Seitenkeimen, wie bei allen echten Monokotyledonen,
Übrigens sieht man auch hier die Richtigkeit der obigen Darstellung. Die
Knospe besteht aus Schuppen, nämlich Blättern, und in der Mitte erhebt
sich ein sogenanntes Blatt. Nie hat man dergleichen beim Keimen gesehen,
aber das Sonderbare verschwindet, denn das in der Mitte aufsteigende schein-
bare Blatt ist ein Stamm. Miquel sagt in seiner vortrefllichen Monogra-
phia Cycadearum Traject. ad Rhen. 1842. fol., worin er auch die Angaben
der Schriftsteller über den innern Bau dieser Gewächse historisch und voll-
ständig anführt, er habe das Keimen von Encephalartus spinulosus im Roter-
dammer Garten beobachtet. Aber er sagt davon nur ganz kurz, es sei von
dem Keimen des Cycas circinalis nicht verschieden gewesen. Eine genauere
Beschreibung und Abbildung hätten gewifs alle Botaniker von dem genauen
Beobachter gewünscht.
Wohin sollen wir also die Oycadeen stellen? Offenbar zu den Mono-
kotyledonen in die Nähe der Palmen. Es sind weniger entwickelte Palmen;
es sind palmenartige Zwiebelgewächse. Aus dem Wurzelstock oder Zwie-
belstock treiben schuppenartige Blätter hervor, wie sie die Zwiebeln in der
Regel haben, dann blattartige Stämme oder Schafte, den Blättern der Pal-
02
108 Ling: über die Stellung der Cycadeen im natürlichen System.
men ähnlich. Es ist eine Verwechselung vorgegangen, möchte ich sagen,
der Stamm oder Ast hat sich statt des Blattes blattartig entwickelt, wofür
schon manche Beispiele oben angeführt wurden und in seiner Entwickelung
ist er den Palmen ähnlich geworden. Blüthe und Frucht sind auf einer un-
tern Stufe zurückgeblieben, nach dem Gesetz, dafs jeder Theil der Pflanzen
seinen eigenen Entwickelungsgang befolgt; ein Gesetz, welches die Reihen-
folge zerstört, aber die natürlichen Verbindungen zur Übersicht bringt.
An einem andern Orte habe ich die Entwickelungs- oder Verwandtschafts-
gesetze aufgestellt. Zu dem dortigen ersten, eben erwähnten, kommt ein
zweites, dafs nämlich die in einem Individuum verbundenen Theile von ver-
schiedenen Entwickelungsstufen gleichsam auf einander wirken, sich steigern
und zurückhalten, und so ist hier in der Cycadee durch die einfache Blüthen-
und Fruchtbildung der Stamm zum Wurzelstock, das Blatt zur Schuppe,
der Ast zur Blattbildung zurückgeführt, oder in der Entwickelung gehemmt
und zurückgehalten worden (!).
(') Spätere Untersuchungen haben mich gelehrt, dafs der Palmenstamm in der Jugend
ebenfalls ein Zwiebelstock ist, welcher sich im Alter nur verlängert. Dies nähert die Cy-
cadeen den Palmen noch mehr.
———Z IDEE II—
Untersuchungen uber die Eingeweide der Fische,
Schlufs der vergleichenden Anatomie der Myxinoiden.
v von
H" MULLER.
mumnnmnnnnnann
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 16. und 23. Juni 1842.]
I. Abschnitt.
Über die Eingeweide der Myxinoiden.
1. früheren Abhandlungen!) ist die Anatomie der Myxinoiden so weit aus-
geführt worden, dafs nur noch die Beschreibung der Eingeweide übrig ge-
blieben ist. Auch von diesen ist Stückweise schon in den früheren Theilen
gehandelt, auf welche ich mich jetzt beziehe. So enthält der erste Theil
bereits die Beschreibung der Mundhöhle, der Zähne, des Nasengaumenca-
nals, des Schlundsegels*), der Muskeln dieser Theile und auch des ganzen
Kiemenapparates und seiner Muskeln®). Auch ist in der dritten Fortsetzung
von dem peritoneum und dem Zusammenhang der Bauchhöhle mit dem Herz-
beutel gehandelt*).
Bau der Kiemensäcke.
Die Kiemensäcke, deren bei Myxine jederseits 6, bei Bdello-
stoma 6 — 7 sind°), stehen durch die inneren Kiemengänge mit der
(‘) Vergleichende Anatomie der Myxinoiden. I. Theil. Osteologie und Myologie. Ab-
handl. der Akad. der Wissensch. a. d. J. 1834. Über den eigenthümlichen Bau des Gehör-
organes bei den Cyclostomen und die ungleiche Ausbildung der Sinnesorgane bei den My-
xinoiden. Abhandl. d. Akad. a. d. J. 1837.
Vergleichende Neurologie der Myxinoiden. Abhandl. d. Akad. a. d. J. 1838.
Vergleichende Anatomie der Myxinoiden. Dritte Fortsetzung. Gefälssystem. Abhandl.
der Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1839.
) Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a.d. J. 1834. p. 84.
) Ebend. p. 262— 277.
*) Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1839. p. 177.
) Über die Variationen s. Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1838. p. 171.
110 MÜLLER:
Speiseröhre in Verbindung. Durch die äufseren Kiemengänge führen sie
nach Aufsen; bei den Myxinen kommen alle äufseren Kiemengänge jeder-
seits zu einer einzigen, am Bauche liegenden Öffnung zusammen, bei Bdello-
stoma hingegen münden alle äufsern Kiemengänge getrennt aus, und es giebt
daher eben so viele äufsere Kiemenöffnungen als Kiemensäcke.
Aufserdem besitzen beide Gattungen einen ductus oesophago cutaneus,
der nur auf der linken Seite vorhanden ist und von der Speiseröhre direct
nach aufsen, nämlich bei Mywine in die linke äufsere Kiemenöffnung, bei
Bdellostoma in die linke letzte äufsere Kiemenöffnung führt!).
Die Kiemensäcke liegen in eigenen serösen Höhlen, und aufserhalb
dieser ist der ganze Kiemenapparat mit dem dazu gehörigen Theil der Spei-
seröhre von eigenthümlichen musculösen Schleifen umgeben, welche früher
beschrieben und abgebildet worden?).
Die Kiemensäcke sind platt, rund, und bei Bdellostoma am Rande
auch mehr oder weniger eingeschnitten. In der Mitte ihrer entgegengesetz-
ten Flächen nehmen sie die äufseren und inneren Kiemengänge auf. Die
äufsere Haut der Säcke und eines Theils der Gänge, so weit sie innerhalb
der serösen Höhlen um die Kiemen liegen, ist eine seröse Haut. Unter die-
ser Haut besitzen die Kiemensäcke und Kiemengänge eine Muskelschichte,
deren Bündel mit Querstreifen versehen sind. An den Kiemensäcken ver-
laufen die Muskelbündel in concentrischen Schleifen, deren Mittelpunkt die
Achse des Sackes ist. Am äufseren Kiemengange ist der Lauf der Muskel-
bündel mehr schief longitudinal, am innern Kiemengange circular. Die
innere Haut der Kiemensäcke erhebt sich zu Kiemenblättern. Sie stehen
radial, gehen von der einen zur andern Wand des Sackes hinüber, und sind
an beiden Rändern gerade da angeheftet, wo die Radien der Vertheilung der
arteriösen und venösen Blutgefäfse liegen. Nur der gegen die kurze Achse
des platten, rundlichen Sackes gerichtete kleinere Rand der Kiemenblätter
ist frei und reicht gegen den Durchgang vom äufsern zum innern Kiemen-
gang durch die Kieme. Von dort aus kann das Wasser in die blinden Ver-
tiefungen zwischen den radialen Scheidewänden eindringen. Die Scheide-
wände sind wieder in kleinere Querfältchen gelegt, und auf diesen breitet
(') Abhandl. d. Akademie a. d. J. 1834. Tab. VII.
(2) Ebend.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 111
sich das Capillargefäfssystem der Kiemen aus. Übrigens sind nicht alle ra-
dialen Scheidewände des Kiemensacks gleich lang; viele davon reichen nicht
bis zur Stelle der Insertion der Kiemengänge, und die Zahl der Scheide-
wände vermehrt sich daher von der Mitte gegen die Peripherie des Sackes.
In Bohuslän habe ich an lebenden Myxinen die Schleimhaut der Kie-
men untersucht, sie zeigt nichts von Wimperbewegung.
Hinter den Kiemen, wo sich die Muskelschleifen, welche den ganzen
Kiemenapparat umfassen, in einen constrictor cardiae verwandeln, tritt die
Speiseröhre in die Bauchhöhle.
Darmcanal. Leber.
Die Verdauungsorgane der Myxine sind von Retzius!) beschrieben,
sie verhalten sich ebenso bei Bdellostoma.
Der Darmcanal zeigt keine Abtheilungen, weder Magen, noch Dünn-
und Dickdarm, sondern verläuft gerade und von gleicher ansehnlicher Weite
bis zum After, am Gekröse befestigt. Die innere Haut bildet einige sehr
niedrige Längsfalten, sonst ist die innere Oberfläche völlig glatt und es fehlt
von der spiraligen Falte der Perromyzon?) jede Spur, gleich wie sich die
Petromyzon und Myxinoiden auch durch den Mangel des Gekröses bei den
erstern unterscheiden. Wimperbewegung kommt im Darm nicht vor.
Die Leber ist doppelt, eine vordere und eine hintere. Die vordere
kleinere bildet ein rundliches Blatt, das unter dem Herzen und unter dem
obersten Theil des Darms liegt. Diese hängt in einer Bauchfellfalte, deren
beide Lamellen vor der Leber an einander liegen und hinter sich die Höhle
haben, worin das Herz liegt. Rechts von der Leber ist diese Falte mit
freiem unterm Rande gegen die rechte Bauchwand ausgespannt, und unter
dem freien Rande gelangt man aus der Bauchhöhle in den Raum vor der
Leber, worin das Herz liegt, die Fortsetzung des Peritonealraums, oder den
Herzbeutel, dessen obere Wand die Cardia bedeckt. Diese sehr eigenthüm-
lichen Verhältnisse sind bereits in der Angiologie beschrieben und abgebildet.
Die hintere Leber ist einen halben Zoll von der vordern entfernt, liegt
unter dem Darm in einer Bauchfellfalte, welche mit dem Darm zusammen-
hängt. Sie ist länglich, und doppelt so lang als die vordere.
(') Kongl. Vedenskaps Academiens Handl. 1824.
(*?) Rathke, Bau der Pricke. Danzig, 1826. p. 38.
1412 MüuteEr:
Die Gallenblase liegt zwischen beiden Lebern unter dem Anfang des
Darms, sie ist oval und nimmt aus jeder Leber einen Gallengang auf, über
und unter dem Abgange des Blasenganges, dieser mündet in den Anfang
des Darms.
Den Petromyzon fehlt die Gallenblase, aber bei Ammocoetes, wo sie
Rathke vermifste, habe ich sie vorgefunden, sie ist von Lebersubstanz
etwas verhüllt.
Die Myxinoiden besitzen ein wahres Pfortaderherz. Es ist das Or-
gan, welches Retzius!) als sackförmige Erweitung der Pfortader zuerst bei
Myxine beobachtete und beschrieb. Obgleich die Form dieses Organes auf
die Idee eines accessorischen Herzens führt, so war es mir doch nicht gelun-
gen, Muskelfasern in seinen Wänden zu finden, wie ich in der Angiologie
der Myxinoiden bemerkte; ich war daher sehr gespannt auf die Gelegenheit,
diesen Theil bei einer lebenden Myxine zu beobachten, wozu sich im Jahre
4841 inBohuslän die Gelegenheit darbot. Da zeigte sich die rhythmische Zu-
sammenziehung des Organes als ein prachtvolles Phänomen. Die Contra-
ction hat 2 Momente. Erst zieht sich der Stamm der Pfortader gegen die
sackförmige oder herzförmige Erweiterung hin zusammen. Sogleich darauf
zieht sich die letztere zusammen in der Richtung gegen die Leber, die Ver-
längerung des Sacks als Gefäfs für die Leber zeigte keine Contraction. Es
ist daher ein zusammengesetztes Pfortaderherz vorhanden. Der Stamm der
Pfortader bildet bis an die herzartige Erweiterung den Vorhof. Der Sack
ist als Kammer zu betrachten, der aus dem Sack hervorgehende Ast zur Le-
ber verhält sich zu dem Sack, wie die arteria pulmonalis zu ihrer Kammer.
Der herzartige Pfortadersack liegt hinter der Bauchfellfalte, unter welcher
der Eingang aus der Bauchhöhle in den Herzbeutel stattfindet. Siehe die
Abbildungen in der Angiologie der Myxinoiden.
Die Milz und das pancreas fehlen.
Geschlechtsorgane.
Die Geschlechtsorgane hängen in einer langen Bauchfellfalte an
der rechten Seite des Darmgekröses. Bdellostoma und Myzxine ver-
halten sich darin ganz gleich. Auch ist die Beschaffenheit in beiden Ge-
(') Meckels Archiv 1826. 386.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 113
schlechtern völlig gleich, Es ist auch sehr schwer, Hoden und Eierstock
zu unterscheiden.
Die Hoden bestehen aus einer Anzahl runder und rundlich länglicher
Körner, welche den Eiern gleichen, jedes hat eine äufsere Haut, gleich der
Eihaut, und einen dem Dotter zu vergleichenden Inhalt; dieser unterschei-
det sich aber von den Dotterkörnern, und besteht aus verschieden grofsen
viel kleineren granula. Samenthierchen waren zur Zeit, wo die Myxinen
frisch untersucht wurden, August, nicht vorhanden; sie sind wahrschein-
lich nur zur Brunstzeit zu beobachten. Der wichtigste Unterschied der Ho-
denkörner und der Eier scheint darin zu bestehen, dafs in den erstern das
Keimbläschen fehlt.
Die Eier sind wenn klein, rund, weiterhin werden sie stark länglich
und die reifen sind sehr’grofs; ich habe sie an in Weingeist aufbewahrten
Exemplaren schon bis zu 6” Länge gesehen. Zur Zeit, wo ich die Myxinen
lebend untersuchte, im August, waren jedoch die Eier nicht grofs. In allen
jungen Eiern sieht man aufser den Dotterkörnern das Keimbläschen sehr
deutlich, es enthält, aufser kleineren granula, 2 oder 3 Zellen mit Kern,
welche den Keimfleck bilden. Wenn die Eier länglich geworden sind, so
liegt das Keimbläschen immer an einem der dünnen Enden des Eies. Die
Eier unterscheiden sich aufser ihrer Gröfse von den Hodenbläschen durch
ihren Inhalt, einmal, dafs nur die Eier ein Keimbläschen enthalten, zwei-
tens, dafs die Dotterkörner ganz anders als die granula des Hodenbläschens
beschaffen sind. Die granula der Hodenbläschen sind viel kleiner und
rundlich, die Dotterkörner sind dagegen länglich und gleichen ganz den
Dotterkörnern der Haifische, d. h. sie zeichnen sich auf ihrer Oberfläche
durch quere Linien aus, welche eine Absonderung der Substanz anzudeuten
scheinen und an die Amylonkörner erinnern. Diese Linien sind schon im
ganz frischen Zustande vorhanden, ebenso wie auch an den frischen Dotter-
körnern der Haifische und Rochen.
Besondere Ausführungsgänge der männlichen und weiblichen Ge-
schlechtsorgane fehlen. Wie bei den anderen Cyelostomen müssen Eier und
Samen in die Bauchhöhle gelangen und durch die Bauchhöhlenöffnung ab-
geführt werden.
Am Ende der Bauchhöhle, rechts und links neben dem Mastdarm,
geht nämlich ein kurzer Canal durch die Bauchhöhlenwand in den un-
Physik.-math. Kl. 1843. 1%
114 MÜLLER:
paaren porus, welcher hinter dem After zwischen den zweien Hautlippen
gelegen ist, welche auch den After einschliefsen und eine Art Cloake bilden.
Diese Ausmündungen verhalten sich ganz so wie bei den Peiromyzon, nur
dafs der porus dort in ein ansehnliches aufsenhin hervorstehendes Röhrchen
ausgezogen ist. Die Bauchhöhle der Petromyzon marinus und fluviatilis
ist im Mai voll Samen. Ich hatte sie beide frisch, denn sie kommen zu die-
ser Zeit in der Havel vor. Die Zoospermien von Petromyzon mari-
nus haben einen länglich eiförmigen Körper oder Kopf, bei P. Aluviatilis
ist der Körper viel länglicher, so wie es R. Wagner abgebildet hat. Ein-
zelne von den Zoospermien des Petromyzon marinus hatten auch am
Shwanzende eine bedeutende rundliche oder eiförmige Anschwellung, und
einzelne hatten selbst noch in der Mitte oder vor dem Ende des Schwanzfa-
dens eine knotige Anschwellung. Ein Weibchen von Petromyzon marinus
(Mai) hatte eine grofse Menge Eier in der Bauchhöhle, die beim Druck auf
den Bauch aus der Öffnung hinter dem After ausilossen.
Dumeril ist der erste, welcher die Bauchöffnungen der Petromyzon,
Ammocoetes und Myxine, und den Mangel eines andern ausführenden Ge-
schlechtstheils beobachtete. Seine Beobachtungen sind in seinen memoires
d’anatomie comparde p. 145 mitgetheilt. Carus!) hat dieselbe Structur bei
den Forellen, Rathke?) bei den Muraena entdeckt.
Bei den Thieren, wo die Geschlechtsproducte durch die Bauchhöhle ab-
gehen, scheint diese in einem Theil ihrer Oberfläche mit Wimperbewegung
versehen zu sein, und dem Inhalt eine Bahn nach der Abdominalöffnung an-
zuweisen. So ist es wenigstens von Vogt bei den Salmonen beobachtet.
Bei den Stören scheinen die Eier, vom Bierstock ohne Ausführungsgang
abfallend, durch die Trichter abzugehen, welche sich aus der Bauchhöhle in
die Harnleiter einsenken und welche bei den Männchen durch v. Baer°),
bei den Weibchen von Rathke*) beschrieben sind und nach diesen Beob-
achtungen in die Harnleiter offen sein sollen. Ich finde die Enden dieser
(') Zootomie 1818. Cuvier (kist. net. d. poifs. T.I. S. 533.) schreibt diese Beobach-
tung an den Salmonen Dumeril zu, aber in der Abhandlung von Dumeril, welcher
diese Thatsache in den Cyclostomen entdeckte, sind die Salmonen nicht erwähnt.
(?) Beiträge zur Geschichte der Thierwelt. 2. Halle 1824. 123.
(°) Bericht von der anatomischen Anstalt zu Königsberg. II. Leipz. 1819. 40.
(*) Beiträge zur Geschichte der Thierwelt. 2. 125.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 115
Trichter im Innern der Harnleiter bei denmehrsten alten und jungen Stören,
Weibchen und Männchen, blinddarmförmig und völlig verschlossen, und nur
in seltenen Fällen in den Harnleiter geöffnet, und schliefse daraus, dafs sie
nur zur Zeit des Abganges der Eier durch Dehiscenz geöffnet werden. Ich
sah sie nur zweimal offen, das eine Mal an den Eingeweiden eines männli-
chen Störs, das andere Mal an einem weiblichen Scaphirhynchus Raffines-
quü Heck. Die ersteren Eingeweide sind ein älteres Präparat der Samm-
lung, das vielleicht schon vor mir untersucht und verletzt sein könnte. Aber
die Beobachtung am Scaphirhynchus, den Niemand vorher untersucht ha-
ben konnte, hindert mich , die zeitweilige Öffnung. jener Canäle in den
Harnleiter zu läugnen. Die Sturionen haben übrigens auch Bauchöffnungen
jederseits des Afters.
Zu der einseitigen Ausbildung der Genitalien bei den Myxinoiden,
worin sie von den Peiromyzon und Ammocoetes abweichen, liefern einige
Haien eine interessante Parallele, wovon in dem folgenden Abschnitt zu
berichten ist.
Nebennieren.
Hinter den Kiemen liegt zu beiden Seiten der Cardia der Myxinoiden
eine eigenthümliche traubige Drüse. Die rechte trifft man hinter der Bauch-
fellfalte rechts von der Leber, unter welcher man in den Herzbeutel kommt,
die linke kommt in dem Theil des Herzbeutels, worin der Vorhof gelegen
ist, über diesem zum Vorschein. Retzius vermuthete, dafs sie Nieren seien,
aber er konnte keinen Ausführungsgang an ihnen wahrnehmen. Ihre Blut-
gefälse verhalten sich auf beiden Seiten ungleich, auf der rechten Seite er-
gielst sich ihre Vene mit einer Vene der Seitenmuskeln in die Pfortader, auf
der linken in das Körpervenensystem.
Ich halte diese Organe für die Nebennieren, sie sind jedenfalls Drü-
sen ohne Ausführungsgänge.
Ihr feinerer Bau ist sehr eigenthümlich. Sie bestehen aus Büschelu
sehr kleiner länglicher Zoduli, welche an den Blutgefäfsen hängen und durch
lockeres Bindegewebe verbunden sind. Jeder Lodulus oder Cylinder der
Büschel besteht, mit dem Compositum untersucht, aus einer doppelten
Reihe von cylindrischen Zellen mit Kernen, die den Zellen des Cylinder-
epitheliums gleichen. Beide Reihen biegen am Ende des zottenförmigen
19%
116 MÜLLER:
Lobulus in einander um. Zwischen beiden verlaufen die Blutgefäfse und
ein Strang von Bindegewebe.
Bei den Petromyzon kommt diese Drüse nicht vor. Wenigstens ver-
hält sich die von Rathke!) beschriebene Drüse, welche an der obern
Wand der Cardia der Petromyzon einen queren Wulst bildet, deren fei-
nerer Bau von Bardeleben°) beschrieben ist, ganz anders. Mayer
und Bardeleben verglichen die Drüse der Peiromyzon der Milz, die bei-
den Drüsen der Myxinoiden sind ohne Zweifel die Nebennieren.
Ich rechne hieher als Analoga der Organe der Myxinoiden gewisse
weifse Zapfen, womit die Stämme der hinteren Körpervenen bei Ammo-
coetes besetzt sind. Sie sind von Rathke*) dort zuerst gesehen und be-
schrieben, ich habe sie wiedergesehen.
Dagegen scheinen die sogenannten Fettkörper der Nieren der Petro-
myzon°) den hier beschriebenen Organen fremd zu sein, um so mehr, da sie
auch bei Ammocoetes®) vorhanden sind.
Nieren.
Zu den Harnwerkzeugen gehören die beiden Gefäfse, welche Retzius
erwähnt, und von welchen er sagt, dafs sie an den Seiten der Hohlvene lie-
gen, eine grüne Materie enthalten und sich in die Papille der Cloake öffnen.
Ihr oberes Ende sah er sich in einen feinen Gang in der Richtung gegen die
Nebennieren verwandeln, in welchen keine Injectionsmasse eindrang. Er
war geneigt, sie für die Ureteren zu halten, wenn jene Organe (die Neben-
nieren) die Nieren sein sollten. Diese Canäle sind in der That die Ureteren,
aber die eigentlichen Nieren sind bisher unentdeckt geblieben. Die Nieren
sind bei diesen Thieren von einer Einfachheit, wie kein anderes Beispiel ge-
kannt ist, sie sind in viele kleine Organe zerfallen, womit die Ureteren be-
setzt sind. Diese Art von Nieren verhält sich zu den Nieren derübrigen Thiere,
(') Über den innern Bau der Pricke. Danzig, 1826. p. 39.
(?) Analekten für vergl. Anat. Bonn 1835. p. 10.
(°) De glandularum ductu excret. carentium structura. Berol. 1841.
(*) Beiträge zur Geschichte der Thierwelt. IV. p. 99.
(°) Rathke, Bau der Pricke. 52.
(°) Beiträge IV. 92.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. la.z/
wie die blindsackförmigen Milchdrüsen des Schnabelthiers zu den Milchdrü-
sen der übrigen Säugethiere, und wie die blindsackartige Leber des Amphi-
oxus zu der zusammengesetzten Leber aller übrigen Wirbelthiere.
Ich zeigte diese Organe im Archiv für Anatomie und Physiologie,
J. 1836. Jahresbericht LXXXVL, an. Über den feineren Bau derselben
habe ich nach meinen fortgeschrittenen Beobachtungen in der dritten Fort-
setzung der vergl. Anat. d. Myxinoiden. Gefäfssystem. Berlin 1841. p. 43.
Abhandl. der Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1839. Berlin, 1841. p. 185. also
berichtet.
„Ein langer, jederseits durch die ganze Bauchhöhle reichender Ureter
giebt in grofsen Zwischenräumen von Stelle zu Stelle ein kleines Säckchen
nach aufsen ab, welches durch eine Verengung in ein zweites blindgeendig-
tes Säckchen führt. Im Grunde dieses Säckchens hängt ein kleiner Gefäfs-
kuchen, der nur an einer kleinen Stelle, wo die Blutgefäfse zutreten, be-
festigt, sonst aber von allen Seiten frei ist. Harncanälchen lassen sich in
dieser placentula nicht erkennen.”
Früher (Archiv 1836) vermuthete ich in dem in dem Säckchen ange-
hefteten Körperchen die Nierensubstanz, und ich stellte es damals fraglich
hin, ob die in diesem Körperchen mit dem Mikroscop erkannten Windungen
Harncanälchen seien. Später überzeugte ich mich, dafs dies nicht der Fall
ist, dafs die Körperchen Gefäfskuchen sind und dafs sich keine Harncanäl-
chen darin erkennen lassen, und ich habe dies im J. 1841 in der vor-
her angeführten Stelle ausgesprochen. Hieraus Schlufsfolgerungen auf den
Bau der Nieren der höheren Tbiere zu ziehen, lag sehr nahe; denn ich hatte
selbst von den Blutgefäfsknäueln glomeruli in den Nieren der höheren Thiere
längst gezeigt, dafs sie in eigenen häutigen Kapseln lose liegen und nur an
einem Punkt mit der Wand der Kapsel zusammenhängen, wo die Arterie
zum Blutgefäfsknäuel hinzutritt!). Indessen hielt ich diese Kapseln für ver-
schlossen und ohne Zusammenhang mit den Harncanälchen, und daher war
mir die Anwendung der bei den Myxinoiden entdeckten Structur auf den
Bau der Nieren der übrigen Thiere verschlossen.
Im Jahre 1842 erschienen die Untersuchungen Bowman's über den
Bau der Nieren bei den höheren Thieren. Bowman, welcher von meinen
(') De glandul. penitiori structura. Lips. 1830. p. 101.
118 MÜüLLEr:
Beobachtungen über den Bau der Nieren nur die in dem Drüsenwerk enthal-
tenen von den Kapseln der glomeruli kannte, hat die Entdeckung gemacht
und durch die verschiedenen Thierklassen durchgeführt, dafs die Harncanäl-
chen die Fortsetzung der Kapseln der glomeruli sind. Bei dem Übergang
verengt sich das Lumen des Oanälchens etwas, an welcher Stelle nach Bow-
man Wimperepithelium vorkommt, während das Harncanälchen in seinem
übrigen Verlauf mit einfachen Epitheliumzellen besetzt ist.
Vergleicht man die Beobachtungen von Bowman mit den meinigen,
so wird es klar, dafs die Kapseln der Gefäfskörper der Myxinoiden den Kap-
seln der glomeruli der übrigen Thiere analog, die an einem Punkte, wo die
Blutgefäfse zutreten, in der Kapsel aufgehängten Gefäfskörper in beiden
Fällen gleich sind. Die von den Ureteren der Myxinoiden ausgehenden
kurzen Canäle sind die Analoga der Harncanälchen, die Verengung zwischen
diesen und der Kapsel ist in beiden Fällen vorhanden. Bei den Myxinoiden
besteht jeder renculus aus einem einzigen äulserst kurzen Harneanälchen,
seiner Kapsel und dem darin aufgehängten glomerulus, während die äufsere
Haut des Harnleiters sich auch über diesen blindsackartigen renculus fortsetzt.
Was die Vertheilung der Arterien an die Nieren betrifft, so verhalten
sie sich ganz ebenso zu denselben, als zu den Nieren der höheren Thiere,
nämlich alles Arterienblut, welches den Nieren der Myxinoiden zugeführt
wird, vertheilt sich erst in dem im Innern des Säckchens liegenden Gefäls-
körper. Diese Arterien sind im Verhältnifs jener Körper sehr grofs, und
jede entspringt unmittelbar aus der Aorta. Siehe die Abbildung. Venen
gehen aus diesen Körpern nicht zur ena cava zurück; ich fand keine, ob-
gleich ich an grofsen Exemplaren des Myxinoids der Südsee darnach suchte.
Wahrscheinlich geht das arterielle Blut aus dem Gefäfskörper, so wie aus
dem glomerulus als einem Wundernetz, durch Zweige, welche sich auf die
Wände der Säckchen verbreiten, weiter. Die Venen der Nieren sind mir
bis jetzt unbekannt geblieben, und ebenso wenig weifs ich, ob es zuführende
Nierenvenen bei diesen Thieren giebt.
Die beiden Harnleiter münden in den porus oder die papilla aus, in
welche die Bauchöffnungen zur Ausführung der Geschlechtsproducte über-
gehen. Die oberen Enden der Ureteren reichen bis nahe an die Nebennie-
ren. Das Ende wird plötzlich dünn und zieht sich, indem es die Höhlung
verloren hat, in einen feinen Strang von Bindegewebe aus, der keine Höh-
Uutersuchungen über die Eingeweide der Fische. 119
lung mehr enthält und welcher das einzige ist, was die Richtung noch weiter
den Nebennieren entgegen verfolgt.
Schleimsäcke.
Die an den Seiten des Körpers der Myxinoiden liegenden Schleim-
säcke, deren Lageverhältnisse im ersten Theil der vergl. Anatomie der My-
xinoiden beschrieben sind, sind jeder von einer besondern musculösen Haut
umgeben. Ihre innere Oberfläche ist glatt, aber ihr Inhalt ist höchst merk-
würdig und bei Wirbelthieren einzig in seiner Art. Retzius hat diese in-
teressante Thatsache schon vor langer Zeit entdeckt und in seiner zweiten
Abhandlung über die Mywxine glutinosa mitgetheilt!). Diese Säcke enthal-
ten nämlich eine grofse Anzahl ovaler Körper, welche aus einem in unzähligen
Windungen aufgewickelten Faden bestehen. DieMaterie, woraus dieser Faden
besteht, heftet sich sehr leicht an alle Körper, die damit in Berührung kom-
men, an, worauf sich die Körperchen zu langen klebrigen Fäden abwickeln.
Die Gröfse der gewickelten Fadenkörper beträgt im gröfseren Durchmesser
0,0047 Zoll, der Durchmesser der Fäden ist 0,0000. Wenn man eine lebende
Myxine anfafst, oder durch die Hände durchgehen läfst, so sind die Hände
bald über und über von diesen klebrigen Fäden umsponnen.
Blutkörperchen.
Die frisch untersuchten Blutkörperchen der Myxine glutinosa sind
elliptisch, platt wie gewöhnlich und mit einem rundlichen Nucleus versehen,
dessen Oberfläche ein granulirtes Ansehen hat. Die jüngeren Blutkörper-
chen geben sich durch ihre blassere Farbe und ihren rnnden Umfang zu er-:
kennen. Ihr auf der Oberfläche granulirter Kern hat die gröfste Ähnlichkeit
mit gewissen im Blute seltenen Körperchen, den Lymphkörperchen, an de-
nen die umhüllende Zelle fehlt, welche aber sowohl dieselbe Gröfse wie
die Kerne der Blutkörperchen, als auch ihre mit Rauhigkeiten wie bestäubte
Oberfläche besitzen. Aufser den runden Lymphkörperchen kommen auch
einzelne längliche Formen mit derselben rauhen Oberfläche vor, die ihnen
ein Ansehen giebt, als wenn sie mit äufserst kleinen Zacken besetzt wären.
Die länglichen Lymphkörperchen sind nicht selten nach beiden Seiten in
(') Kongl. Vetensk. Akad. Handl. 1824. Tab. VII. liefert die Abbildung.
120 MÜLLER:
eine Spitze verlängert, so dafs einige selbst 3 — 4 mal so lang als breit sind.
Die Lymphkörperchen sind sämmtlich blafs und farblos.
U. Abschnitt.
Bemerkungen über den Bau der Eingeweide
bei einigen Plagiostomen.
Die Plagiostomen sind im Allgemeinen nach einem sehr gleichförmi-
gen Plan organisirt. Zwar sind die beiden Abtheilungen derselben, die Hai-
fische und Rochen, von einander scharf geschieden, dadurch dafs die Kie--
menlöcher der erstern immer lateral, der letztern immer ventral unter den
Brustflofsen liegen, dafs der Schultergürtel nur bei den Rochen vollständig
ist, bis zur Wirbelsäule und bis unmittelbar unter die Haut des Rückens
reicht, während die Schulter der Haien im Fleische verborgen bleibt, dafs
nur die Rochen Schädelflofsenknorpel!) zwischen der Brustflofse und dem
Schädel besitzen, dafs der vordere Theil des Rückgraths bei den Rochen zu
einem langen ungetheilten Stück verschmiltzt, in dessen Innerem die Wir-
belkörper immer feiner werden, ohne das vordere Ende des Rückgraths zu
erreichen, dafs das obere Augenlied am Auge angewachsen ist, oder dafs
die Augenlieder ganz fehlen. Und in dieser Hinsicht verhalten sich die
rochenartigen Sägefische, Pristis als wahre Rochen, die Sägefische unter den
Haien, Pristiophorus als wahre Haien. Aber die Eingeweide der Rochen
und Haifische sind im Allgemeinen sehr gleichförmig gebildet. Dagegen
kommen zwischen den Familien der Haifische einige auffallende Abweichun-
gen vor, die mehrsten ereignen sich in der Abtheilung der Haifische, welche
mit einer Nickhaut versehen sind, daher es zweckmäfsig sein wird, von die-
sem Organ einiges vorauszuschicken.
41. Nickhaut und Nickhautmuskeln.
Dafs einige Haifische mit einer Nickhaut versehen sind, ist schon von
Rondelet entdeckt. Er erwähnt sie vom Galeus canis?) und bei seinem
(‘) Vergl. Anat. d. Myxinoiden. I. Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1834. p. 237.
(?) De piscibus marinis. Lugd. 1554. p.377. Ex parte oculorum inferiore tunica ena-
seitur, quae totum oculum operit, palpebrae avium modo, non quod revera palpebra sit.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 2
Galeus glaucus !), der ohne Zweifel Carcharias glaucus ist, und bemerkt,
dafs sie den andern Haien fehle. Die Nickhaut ist einer ganzen Abtheilung
von Haien eigen, nämlich den Familien Carchariae (Gattungen Carcharias
mit ihren Untergattungen und Sphyrna), Triaenodontes (Gattung Triae-
nodon), Galei (Gattungen Galeus, Galeocerdo, Loxodon, T'halassorhinus),
Scylliodontes (Gattung Triakis), Musteli (Gattung Mustelus). Siehe
Müller und Henle, systematische Beschreibung der Plagiostomen. Berlin
1841.
Dafs dies Organ mit einem Muskel versehen ist, war nicht bekannt,
ich zeigte es im Monatsbericht der Akademie 1839. 52. an. Jetzt will ich
diesen Muskel beschreiben.
Die Nickhaut ist eine Duplicatur der Haut, welche sich aus der innern
Lamelle des untern Augenliedes entwickelt und bald den gröfsten Theil des
Auges, wie bei den Carcharias, bald nur einen kleinen Theil des Auges be-
decken kann, wie bei den Mustelus. Sie liegt nicht blofs unten, sondern
genauer unten und vorn, so dafs ihr Stand schief gegen die Längsachse des
Körpers gerichtet ist. Die Membran ist nicht durchsichtig wie bei den Vö-
geln, vielmehr auf ihrer äufsern Oberfläche, wie die Haut, beschuppt und
von derselben Farbe, in der Tiefe hört die Beschuppung auf.
Der Muskelapparat der Nickhaut ist von dem der Vögel und Amphi-
bien sehr verschieden. Auch bei den Reptilien ist der Nickhautmuskel am
Auge selbst befestigt wie bei den Vögeln und es fehlt der Sehne nur der
zweite auch am Auge befestigte Muskel der Vögel, der für die Sehne wie
eine Rolle wirkt. Wenigstens finde ich bei den Schildkröten nur einen
Muskel. Der Nickhautmuskel der Haien liegt nicht auf dem Auge auf
und hat nicht am Auge seine Befestigung; er liegt aufserhalb und hinter
der Augenhöhle. Im einfachsten Zustande ist nur ein Muskel vorhanden,
welcher von der Seite des Schädels entspringt, nach abwärts vorwärts gegen
den hintern Umfang der Orbita verläuft und sich hier in dem hintern Theil
der Nickhaut vermittelst einer kurzen Sehne befestigt. So ist es bei den
Galeus und Mustelus. Bei den Carcharias ?) hingegen, wo die Nickhaut am
ausgebildetsten ist, ist aufser diesem Muskel noch ein zweiter vorhanden,
(') Ebend. p. 379.
(?) auch durch eine senkrechte Pupillenspalte ausgezeichnet.
Physik.-math. Kl. 1843. Q
122 MÜLLER:
welcher die Function einer Rolle halt, wie der eine der Nickhautmuskeln der
Vögel. Er bildet eine an der Haut, welche den hintern Theil der Augen-
bedeckung ausmacht, befestigte muskulöse Schleife, von der Haut entsprin-
gend und zur Haut zurückkehrend, durch diese Schleife geht der eigentliche
Muskel der Nickhaut durch, welcher bei den Carcharias sehr lang ist und
sehr steil vom Schädel herabsteigend durch diese muskulöse Rolle erst die
Richtung seines Zuges nach hinten und oben dem Zwecke gemäls corrigirt.
Bei deu Sphyrna Raff. ist der Nickhautmuskel aufserordentlich lang,
Er entspringt mittelst einer langen dünnen Sehne vom hintern Rande des
Kopfknorpels an dem hammerförmigen Seitentheil des Kopfes, folgt anfangs
dem hintern Rande des Schädels und schlägt sich dann bogenförmig unter
den Kopfknorpel nach vorn gegen das Auge und die Nickhaut, um sich in
letzterer zu befestigen.
2. Verdauungsorgane.
Die Verdauungsorgane der Plagiostomen sind nach einem constanten
Plan gebildet, innerhalb dessen nur gewisse Verschiedenheiten gestattet sind.
Sie haben alle einen langen grofsen Magen, dessen unteres Ende entweder
selbst in das aufsteigende pylorische Rohr (dranche montante) umbiegt,
wie bei Mustelus, Centrophorus, Myliobatis, Squatina, Scymnus, oder blind
endigt, um neben dem blinden Ende das pylorische Rohr abzugeben,
Sphyrna. Letzteres ist bei einigen ziemlich kurz wie bei Scymnus, lang
bei den Nickhauthaifischen und biegt gegen den Klappendarm wieder um.
An der Stelle der Umbiegung befindet sich der eigentliche Pylorus, der in-
wendig eine eirkelförmige oder trichterförmig vorspringende Falte bildet.
Zwischen dem Pylorus und dem Anfang der Klappe befindet sich eine
klappenlose, oben kuppelförmig gedeckte Höhle, in welche sich der Gallen-
gang und Pancreasgang ergielsen und wo beim Fötus auch der Ducius
vitello-intestinalis einmündet. Diese Abtheilung des Darms ist die Bursa
Entiana'!). Sie entspricht dem Duodenum anderer Thiere. Darauf folgt
der weite Klappendarm, und indem sich dieser wieder zusammen zieht, geht
er in das klappenlose Endstück oder den Mastdarm über, in dessen Ende
(') Über den glatten Hai des Aristoteles. Abhandl. der Akad. d. Wissensch. a. d. J.
1840. p. 228.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 123
sich ein länglicher drüsiger Schlauch ergiefst. Der Klappendarm ist der
chylopoätische Theil des Darms, wo die durch die Klappe bewirkte Vermeh-
rung der Oberfläche die Windungen des Darms ersetzt. Bis an die Bursa
Entiana reicht der Magen.
Die Bursa Entiana entspricht ihrem Namen bei den Haien, bei eini-
gen Rochen wird sie länger ausgezogen und röhrig, z. B. bei Myliobatis, wo
der Pylorus schon. vor der Umbiegung des aufsteigenden Rohrs in den Klap-
pendarm sich befindet, während der Gallengang in der Nähe des Anfangs der
Klappe wie gewöhnlich eintritt. Die Bursa hat in diesem Fall die Gestalt
eines Destillirhelms, sie hat einen Hals.
Der Magen zeigt in allen Gattungen durchaus dieselbe Zusammen-
setzung, aus einem hinabsteigenden Sack und dem heraufsteigenden oft sehr
langen pylorischen Rohr, 'wie bei vielen andern Fischen. Wenn Blain-
ville!) bei Selache vier Magen unterscheidet, so scheint mir diese Bezeich-
nung nicht gerechtfertigt. Denn sein erster Magen ist der Schlund, der
zweite der eigentliche sackförmige Magen, der dritte und vierte Magen sind
das pylorische Rohr.
Bei den Stören, Polyodon und Polypterus, die ebenfalls einen Klap-
pendarm besitzen, hat man auch zwischen Magensack, pylorischem Rohr,
Duodenum und Klappendarm zu unterscheiden. Bei den Stören ist das
pylorische Rohr sehr lang, es schwillt hier gegen sein Ende in einen star-
ken länglich rundlichen Muskelmagen an. Muskelmagen am pylorischen
Rohr des Magens haben ferner einige Mugiloiden, wie Mugil, Dajaus und
einige Gattungen in der Familie der Charaeinen, nämlich Anodus, Prochilo-
dus, und eine neue Gattung, Hemiodus Muell., die in dem Artikel von der
Schwimmblase beschrieben werden soll.
Die Störe unterscheiden sich von den Plagiostomen wesentlicher, dafs
die Strecke zwischen Pylorus und Klappendarm, welche bei den Plagiosto-
men auf die Bursa Entiana reducirt ist, hier einen besondern längern Theil
des Darms ausmacht, es ist das Duodenum. In den Anfang desselben ergie-
fsen sich die appendices pyloricae und der Gallengang. Das Ende springt
trichterförmig in den Klappendarm vor und von diesem Trichter entspringt
die Spiralklappe. Diese Strecke vom Pylorus bis zum Klappendarm ent-
(') Annales d. Mus. d’hist. nat. T. XVII.
Q2
124 MÜLLER:
spricht der Bursa Entiana der Haifische. Der Klappendarm der Störe wird
von Brandt ') als Dickdarm angesehen, er mufs jedoch als derselbe Theil
des Darms, wie der Klappendarm der Plagiostomen erklärt werden, dafür
spricht noch mehr das Verhalten bei den Polypterus, die ebenfalls einen
Klappendarm besitzen.
Beim Polypterus bichir endigt das pylorische Rohr des Magens in den
Klappendarm selbst. Der Pylorus springt in das obere Ende des Klappen-
darms vor, über dieser Stelle liegt der einzige Blinddarm, appendix pylorica,
des Polypterus. Von dem Pylorus aber entspringt die Spiralklappe. In
den Anfang des Klappendarms geht der Gallengang. Hier ist der Duodenal-
raum des Darms auf die kleine Stelle zwischen dem Pylorus, dem Anfang
der Klappe und der appendix pylorica beschränkt, diese entspricht der Bursa
Entiana der Haifische und dieser kleine Raum fängt an bei den Rochen sich
zu verlängern und bei den Stören ist es eine ganze Darmschlinge geworden.
Daher ist beim Stör die Darmschlinge, woran die Milz hängt, bis zum
Klappendarm dem Duodenum, der Klappendarm dem übrigen Dünndarm
und nur das klappenlose Ende dem Dickdarm zu vergleichen.
Auch die Knochenfische haben vom Dickdarm nichts als den Mastdarm,
durch eine Ringfalte vom übrigen Darm getrennt.
Die Lepidosiren haben ebenfalls eine Duodenal-Portion des Darms,
hinter dem Pylorus, ehe die Spiralklappe beginnt. ?) Und die Petromyzon
haben wenigstens eine Andeutung der Spiralklappe in ihrem Darm. Hier
fehlt die Scheidung des Darmschlauchs in mehrere Regionen.
Merkwürdig ist die Veränderung, welche die Klappe des Klappen-
darms bei einigen Haifischen aus der Familie der Nickhaut-Haien erleidet,
nämlich bei den Gattungen Sphyrna, Carcharias, Thalassorhinus, Galeo-
cerdo. Sie ist hier nicht schraubenförmig, sondern gerollt. Bei den mehr-
sten Haien und allen Rochen ist ihr äufserer Rand wie eine Wendeltreppe
an den Darmwänden befestigt und ihre Form schraubenförmig; bei jenen
Gattungen dagegen verläuft ihr angewachsener gleich wie ihr freier Rand ge-
rade abwärts vom obern Ende des Klappendarms nach dem untern, dabei
ist die Klappe um ihren freien Rand gerollt, der daher in der Mitte der Rolle
(') Mediz. Zoologie I. 353.
(?) Siehe Owen. Zinn. Transaect. Vol. XVIH. tab. 25.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 125
liegt. Der Darminhalt geht hier zwischen den Windungen der Rolle hin.
Die Stämme der Arterien und Venen liegen, nicht wie sonst aufsen,
sondern in dem eingerollten freien Rande der Klappe. Diese merkwürdige
Form der Klappe ist zuerst von Meckel bei den Hammerfischen Sphyrna _
beobachtet !).
Duvernoy ?) fand sie bei einem Fisch der Gattung T’halassorhinus‘
Val., und ich habe sie bei den Carcharias °) und zwar bei allen Untergat-
tungen derselben, Prionodon, Hypoprion, Aprion, Scoliodon, Physodon, be-
obachtet. Der von Cuvier irrthümlich zur Gattung Carcharias gezählte
Squalus vulpes gehört nicht hierher und nicht einmal unter die Nickhaut-
haien. Endlich findet sie sich noch in der Gattung Galeocerdo M. H., wel-
che sich in diesem Punct sehr von der ihr verwandten Gattung Galeus unter-
scheidet. Sie fehlt den übrigen Gattungen der Nickhauthaien, z. B. den
Galeus, Mustelus, deren Darmklappe wendeltreppen- oder schrauben - för-
mig ist.
Bei den Sphyrna Carcharias u. a. ist der äufsere Rand der Klappe
immer in ganzer Länge angewachsen. Ich habe aber ein Beispiel beobach-
tet, wo die Klappe in der Nähe des angewachsenen Randes der Länge nach
tief gespalten ist. Eine Ablösung hat nicht stattgefunden, die Schleimhaut
bekleidet den Rand unversehrt. Es ist der Darm -Kanal eines Fisches, den
Meyen von seiner Reise um die Welt mitgebracht hat und der einem Squa-
lus glaucus angehören sollte. Von Carcharias glaucus ist er nicht, dessen
Darm ich untersucht habe. Auch von keinem Fisch der Gattungen Galeo-
cerdo, die ich ebenfalls beobachtet. Es ist auch nicht der Darm des T’ha-
lassorhinus vulpecula V al., den Duvernoy untersuchte. Die Beschreibung
der Darmklappe bei Duvernoy giebt darüber Aufschlufs, die vorher von
unserm Präparat erwähnte Eigenthümlichkeit ist nicht erwähnt.
Nach Duvernoy soll die Darmvene innerhalb des freien Randes der
gerollten Klappe eine herzartige Verdickung ihrer Wände erleiden, von die-
ser habe ich mich jedoch nicht überzeugen können. Vielmehr gehört das
das Muskelfleisch, welches die Blutgefäfse umhüllt, dem Darm an. Bei den
(') System der vergl. Anat. IV. 315.
(?) Ann. d. sciences naturelles. T. IM. 1835. 275.
(°) Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1835. 326.
126 MÜLLER:
Petromyzon liegen die Blutgefäfse auch im freien Rande der Spiralklappe 1).
Den Petromyzon fehlt das Gekröse.
Die Wundernetze am chylopoätischen System unterhalb oder oberhalb
der Leber bei einigen Haifischgattungen (Alopias, Lamna,) habe ich in
früheren Abandlungen beschrieben?). Den Nickhauthaifischen fehlen sie,
so wie den ürigen Familien der Haien und Rochen.
Das Pancreas bietet bei den Haien keine Verschiedenheiten dar °).
Die Milz ist bei den Zamna und unter den Nickhauthaifischen bei den
Carcharias in eine aufserordentliche Zahl von getrennten Milzen zerfallen,
welche das Ende des sackförmigen Magens und den pylorischen Canal des
Magens begleiten, bei vielen anderen Plagiostomen ist die Milz einfach, und
selbst bei andern Nickhauthaien, wie Mustelus, Sphyrna. Bei Sphyrna hängt
sie Jang und schmal am pylorischen Rohr, bei andern ist sie dreieckig und
ist an der Umbiegung des Magensacks in den pylorischen Canal aufgehängt.
3. Geshlechtsorgane.
a. Zusammenhang des Hodens und Nebenhodens der Haien und Rochen
durch vasa efferentia.
Die inneren männlichen Geschlechtsorgane der Plagiostomen bestehen
aus drei Theilen, einem körnigen aus kleinen Bläschen gebildeten Hoden,
dem aus einem gewundenen Canal bestehehenden Nebenhoden und einer
dem Hoden zunächst anhängenden, davon gänzlich verschiedenen weifslichen
Substanz, welche von Monro beschrieben ist, und welche nur sehr kleine
Köruchen enthält. Ich bezeichne sie kurz als die epigonale Substanz der
Geschlechtsorgane, da ich sie auch in weiblichen Haien gefunden habe. Der
Zusammenhang des Hodens und Nebenhodens ist den älteren Beobachtern,
Cuvier, Treviranus, unbekannt geblieben, mir selbst war es bei früheren
(') Rathke über den Bau der Prike. p. 39.
(?) Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d. J. 1835. 325 u. a. d. J. 1839. 271. Siehe
auch Barth de retidus mirabilibus. Berol. 1837.
(°) Es ist nach neueren Beobachtungen den Plagiostomen nicht allein eigenthümlich.
E. H. Weber hat es beim Hecht, Esox Zueius, (Meckel’s Archiv 1827. 297), Brandt
beim Wels, Silurus glanis, (Med. Zool. II. 33.), und Alessandrini beim Stör entdeckt,
bei welchem letztern es neben den appendices pyloricae besteht. Ann. d. sc. nat, 1829.
Nov. comment. Bonon. II. 1836. 335. Tab. XIV.
Untersuchnngen über die Eingeweide der Fische. 197
Untersuchungen nicht gelungen, ihn zu beobachten, und ich war daher der Mei-
nung, dafs der Samen aus den Hodenkörnchen in die Bauchhöhle gelange und
durch die Bauchöffnungen neben After abgeführt werde. Fortgesetzte Un-
tersuchungen über diesen Gegenstand, besonders an wohlerhaltenen Zitter-
rochen und Haifischen, liefsen mich jedoch diesen Zusammenhang finden.
Und schon im Jahre 1836 zeigte ich ihn an, Archiv für Anatomie und Physio-
logie. 1836. Jahresbericht LXXXIX. Er geschieht durch sehr feine Canäle,
welche aus den Hodenbläschen entspringen und sich zu vasa efferentia sam-
meln und ganz deutlich aus dem Hoden in den Nebenhoden übergehen.
Diese Beobachtung ist am leichtesten bei Zitterrochen anzustellen. Ich
lernte zuerst die vasa efferentia kennen, ich verfolgte sie unter dem Ver-
gröfserungsglas in den Hoden, und indem ich sie mit den nächsten Theilchen
des Hodens unter dem Mikroskop weiter zergliederte, erkannte ich die That-
sache mit völliger Sicherheit. Dieselbe Beobachtung ist später auf einem
andern Wege von mehreren Forschern gemacht worden. John Davy!),
R. Wagner ?), Stannius °), Hallmann *) beobachteten die Zoospermien
von Haien und Rochen im Hoden gleichwie im Nebenhoden.
6. Mangel des einen Eierstocks bei den Scyllien und den mit einer Nick-
haut versehenen Haifischen. °)
Die merkwürdige Äufserung von Aristoteles über die Zeugung der
Haifische und Rochen, Thiergeschichte VI. 10, welche schon einmal der
Gegenstand einer Untersuchung von mir gewesen, liefert einen Ausgangs-
punct für die gegenwärtigen Beobachtungen, da Aristoteles Bemerkung
unter vielen über die Geschlechtsorgane der Haien und Rochen erschienenen
Arbeiten die einzige ist, mit welcher die gegenwärtigen Beobachtungen in
einiger Beziehung stehen. Es heifst nämlich in jener Stelle: Einigen
Haien sind die Eier mitten zwischen den Muttergängen der
(') Physiological researches. London. 1839. Vol. I. 436.
(?) Frorieps Notizen. XII. 1839. p. 97.
(?) Archiv f. Anat. Physiol. u. wissensch. Med. 1840. 41.
(*) Archiv f. Anat. Physiol. u. wissensch. Med. 1840. 469.
(°) Ein Auszug dieser Abhandlung befindet sich im Monatsb. d. Akademie. Juni 1842,
und im Archiy f. Anat. u. Physiol. 1842. 414.
128 MÜLLER:
Wirbelsäule angeheftet, so bei den Scyllien, weiterhin: Der
Dornhai hat die Eier unter dem Zwergfell über den Brüsten,
endlich: Die aber unter den Haien glatte genannt werden, tra-
gen die Eier mitten zwischen den Muttergängen gleichwie die
Scyllien.
Bekanntlich ist der Eierstock der Acanthias wie gewöhnlich, und auch
bei vielen andern Haien doppelt, ein rechter und linker, aber es ist eine von
Niemand bisher beobachtete Thatsache, dafs die Scyllien und der glatte Hai
des Aristoteles, nämlich Mustelus und noch viele andere Haifische nur
einen einzigen und zwar ursprünglich entweder rechten oder linken Eier-
stock besitzen, in ähnlicher Weise wie die mehrsten Vögel, und dieses ist es,
was Aristoteles vor sich gehabt hat, als er sagte, dafs die Eier bei den
Scyllien und bei den glatten Haien mitten zwischen den Eileitern angeheftet
seien, wenn gleich Aristoteles die Hauptursache des Unterschiedes, näm-
lich die Doppeltheit oder Einfachheit des Eierstocks nicht aufgefafst oder
nicht ausgedrückt hat. Was er von der Lage der Eier bei den einen in der
Mitte sagt, ist auf die erwachsenen Individuen mit ausgedehnten Eiern zu
beziehen.
Der Unterschied ist ein durchgreifender nach den Familien der Hai-
fische. Bei den Rochen scheint der Eierstock immer doppelt zu sein, so bei
den Rhinobatus, Raja, Trygon, Torpedo, Myliobatis, und so ist es auch bei
mehreren Familien der Haifische, den Haien ohne Afterflosse, Spinaces !),
Scymni ?), und den Haien mit nur einer Rückenflosse, Hexanchus °) und
Heptanchus *), welche alle von mir untersucht sind.
Einfach aber ist der Eierstock bei der Familie der eierlegenden Hai-
fische oder Scyllien und bei der ganzen Familie der Haifische mit einer Nick-
(') 4canthias vulgaris Risso, untersucht von Stenonis in Act. Hafn. I. 222. Vrolik
in Heusinger’s Zeitschrift f. organ. Phys. II. 489. Treviranus in Tiedemanns Zeit-
schrift f. Physiol. I. p. 7. Taf. III. Fig. 3. Spinax niger untersucht von Gunner Dronth.
Gesellsch. Schrift. II. 289. Centrophorus granulosus M. H., Centrophorus squamosus M.H.,
beide so wie die vorhergehenden von mir untersucht. i
(?) Scymnus lichia Bonap., Echinorhinus spinosus Bl., Pristiophorus cirratus M.H. von
mir untersucht.
(°) Hexanchus griseus, untersucht von Risso, hist. nat. III. 130, und von mir.
(*) Heptanchus cinereus, untersucht von mir.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 129
haut des Auges, also den Carcharias, Hammerfischen Sphyrna, den Muste-
Zus und Galeus, und zwar ist der Eierstock in allen diesen Fällen unsymme-
trisch. Er liegt zwar bei diesen Haien, wenn sie erwachsen sind und die
Eier sich vergrölsern, ohngefähr in der Mitte oder wie Aristoteles sagt,
mitten zwischen beiden Muttergängen, aber es ist nur das Ovarium einer
Seite, entweder das rechte oder linke, verschieden nach den Gattungen, so
wie auch bei den Myxinoiden der Eierstock einseitig ist.
Wenn die Eierstöcke doppelt sind, so liegen sie weit auseinander, je-
der an der innern Seite seines Eierleiters.
Bei den Scyllien hängt der Eierstock in einem unpaaren Mesoarium
zwischen den beiden Uteri und Oviductus, er geht sehr tief hinab und ist bei
erwachsenen dem Ende der Bauchhöhle viel näher als bei irgend einem Haien.
Er beginnt in der Gegend der Eischalendrüsen der Eileiter und reicht bis
zum letzten Viertel der Bauchhöhle. Rondelet de ptscibus 380 wiederholt
die Angabe des Aristoles vulram bifidam, in cujus medio ad spinam adhae-
rent ova. Bei jungen Scyllien läfst sich nun sehen, dafs der Eierstock von
der rechten Platte des Darmgekröses ausgeht und bei sehr jungen überzeugt
man sich, dafs der Eierstock ganz auf der rechten Seite unter dem rechten
Leberlappen liegt. So fand ich es bei einem noch ganz jungen Pristiurus
melanostomus Bonap. Von einem linken Eierstock zeigte sich keine Spur.
Der glatte Hai des Aristoteles, dessen Eier nach ihm wie bei den
Scyllien liegen, ist, wie in einer früheren Abhandlung bewiesen worden, ein
Fisch der Gattung Mustelus Cuv. Mustelus laevis M. H. Bei den erwach-
senen finde ich den Eierstock mitten zwischen beiden Eischalendrüsen in
einer Bauchfellfallte, die mit dem Darmgekröse zusammenhängt. Wenn ich
aber junge Individuen oder gar Embryen untersuchte, so fand ich immer nur
einen Eierstock auf der rechten Seite der Wurzel des Darmgekröses unter
dem rechten Leberlappen und auf der linken Seite zeigte sich nie eine Spur
dieses Organes. Der Eierstock der noch jungen Thiere bildet eine Platte,
welche sehr regelmäfsig durch Furchen der Quere nach getheilt ist, die que-
ren Leisten zeigen eine Anzahl von unregelmäfsigen Vertiefungen und Ein-
schnitten. So verhält sich der Eierstock bei allen jungen Haien, auch in den
andern Gattungen. Später geht durch das Wachsthum der Eier diese Form
ganz verloren und der Eierstock wird traubig. Auch bei denEmbryen findet
Physik.-math. Kl. 1843. R
130 MÜürLver:
sich kein Rndiment des zweiten Eierstockes vor, wenigstens nicht in Embryen
der mittlern und spätern Entwicklungsstadien. Hr. Rathke!), welcher eine
Beschreibung des reifen Eierstocks von Sgalus Mustelus, der ihm ausgeschnit-
ten gebracht worden, lieferte, giebt einen doppelten Eierstock an. Entweder
gehörte dieses Orarium einem andern Haifisch an, oder es wurden verschie-
dene Gruppen der Eier für ein rechtes und linkes Organ genommen.
Wie bei Mustelus, verhält es sich bei Galeus, nämlich bei Galeus canis.
Junge Individuen haben blofs einen rechten Eierstock an der Wurzel des
Darmgekröses in einer Falte, die sich aus diesem hervorhebt. Bei älteren
treibt er tiefer hinab und gegen die Mitte des Körpers. In keinem Alter
zeigte sich eine Spur eines linken Eierstockes.
Endlich haben auch die Carcharias und Hammerfische einen unpaa-
rigen und zwar ursprünglich der einen Seite allein angehörenden Eierstock.
Einige ältere Angaben sprechen das Gegentheil aus und beruhen auf Ver-
wechselungen, die in der Geschichte der Carcharias bis auf die neuesten
Zeiten so häufig sind. So giebt Bloch bei seinem ‚Squalus glaucus, der
Carcharias glaucus ist, einen doppelten Eierstock an. Diese Bemerkung
findet sich blofs in der deutschen, nicht in der französichen Ausgabe seines
Werkes. Bloch hat schwerlich einen wahren Carcharias mit Eiern unter-
sucht, das von ihm abgebildete Exemplar ist ein sehr junges Thier, was in
keinem Fall eine solche Angabe veranlassen konute. Im Artikel vom Squale
Requin hat Lacepede?) sehr gute Nachrichten aus den Manuseripten von
Commerson mit den verschiedenartigsten nicht dahin gehörenden Dingen
vermengt. Da wird dem Sgale Requin auch ein doppelter Eierstock zuge-
schrieben. Commerson hatte allerdings einen wahren Carcharias zerglie-
dert; denn die gerollte nicht schraubenförmige Darmklappe, welche für diese
Thiere so charakteristisch ist, wird erwähnt ?); aber man weifs nicht, ob La-
cepede bei jener Angabe vom Eierstock gerade die Manuscripte von Com-
merson vor sich gehabt hat oder von seinem eigenen hinzugefügt hat. Wie
Lacepede bei einem und demselben Object die Gattungen und Familien
der Thiere verwechselt, davon mag ein Beispiel genügen, nämlich seine Be-
(') Beiträge zur Geschichte der Thierwelt. IV. p. 1.
(?) Hist. nat. d. poiss. I. p. 190.
G)mneisze
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 131
merkung !), dafs die Eischale der Roussette (des eierlegenden Scyllium) fast
ganz gleich derjenigen des Aeguin sei, deren Ausbildung im Uterus unter
ganz andern in der Abhandlung über den glatten Hai des Aristoteles be-
schriebenen Verhältnissen vor sich geht.
Ich habe den Eierstock bei mehreren Exemplaren von Carcharias
glaucus untersucht und habe nur ein rechtes Oparium vorgefunden an der-
selben Stelle, wie bei den Mustelus und Galeus ?). Ganz eben so verhält
es sich bei den Hammerfischen Sphyrna Raff., welche überhaupt nur Car-
charias mit flügelförmig ausgebreitetem Kopfe sind. Die von den Carcha-
rias mit Sägezähnen oder Prionodon abgesonderten Scoliodon mit glatten
Zähnen von schiefer Schneide weichen auch in Hinsicht der Lage des un-
symmetrischen Eierstockes von den Carcharias mit Sägezähnen, ja von allen
übrigen mit einer Nickhauüt versehenen Haifischen ab, denn der unsymmetri-
sche Eierstock ist hier der linke, während er bei allen übrigen Gattungen mit
Nickhaut und den Myxinoiden der rechte ist.
Wie sich der Eierstock einiger lebendiggebärenden Haifische ohne
Nickhaut, der Lamnoiden, Cestracionen und Alopecien verhalte, ist noch zu
untersuchen, zwei von mir untersuchte weibliche Individuen von Zamna
cornubica von 5 Fufs Länge, waren noch gar jung in Bezug auf den Zustand
der Geschlechtsorgane. Die Eileiter waren noch sehr dünne Röhren, und
ich mufs bekennen, dafs ich die Eierstöcke gar nicht erkannt habe.
Wenn der Eierstock unpaarig wird, so nehmen die Eileiter an der
Asymmetrie nie Antheil, sie sind auf beiden Seiten gleich ausgebildet.
c. Epigonales Organ der weiblichen Geschlechtstheile.
Bei den mit einer Nickhaut versehenen Haifischen habe ich ein epigo-
nales Organ der weiblichen Geschlechtstheile gefunden, welches mit dem
Eierstock von Ungeübten verwechselt werden kann. Dieses Organ ist im-
mer symmetrisch doppelt. Vor der Wirbelsäule und vor den Nieren, nach
innen von den Eileitern ziehen sich bei diesen Thieren zwei Bauchfellfalten
herab, welche oben mit dem Darmgekröse zusammenhangen, so dafs jede
C) p. 19.
(*) Nach einer Mittheilung von Dr. Peters von Mozambique über einen von ihm zer-
gliederten Carcharias Lamia Risso, und nach den eingesandten Geschlechtstheilen verhält
es sich hier ebenso.
R2
132 MÜLLER:
Falte an ihrer Seite der Wurzel des Gekröses fortläuft bis unter die Leber,
und beide gleichsam hier aus den Blättern des Gekröses nach verschiedenen
Seiten ausgezogen sind. Diese Falten enthalten eine weifs-röthliche drüsige
Substanz, bestehend aus kleinen vielleicht hohlen Körnchen, welche zahl-
reich in eine Faserlage eingesprengt sind. Von jungen Eichen ist in diesen
Organen keine Spur, sie bestehen auch nicht aus Fett; denn wenn man die
Subtanz mit kochendem Weingeist behandelt, so bleibt die Hauptmasse und
gerade auch der körnige Theil ungelöst. Diese Organe reichen durch den
gröfsern Theil der Bauchhöhle und zwar an der Seite, wo der Eierstock liegt,
dicht bis an diesen, auf der andern Seite aber, wo der Eierstock fehlt, hört
das Organ viel früher auf. Daher ist das epigonale Organ bei den Galeus,
Mustelus, Carcharias ( Prionodon) und bei den Hammerfischen Sphyrna auf
der rechten Seite länger, bei den Scoliodon aber, die den Eierstock auf der
linken Seite haben, ist es auf der linken Seite länger. Nach hinten reichen
die Organe bis fast ans Ende der Bauchhöhle.
Diese Organe sind bisher noch nicht bei weiblichen Haien beobachtet
worden, ich halte sie aber für identisch mit einer bei männlichen Haien und
Rochen seit Monro bekannten Substanz, welche vom Hoden und Neben-
hoden sehr verschieden ist.
Die Bedeutung dieser Organe ist räthselhaft. Sie gehören unter die
Drüsen ohne Ausführungsgänge; auf die Nebennieren sind sie nicht zu be-
ziehen; denn diese, welche von Hrn. Retzius !) bei Haifischen und Rochen
entdeckt sind, liegen nach seinen Beobachtungen hinter den Nieren verborgen.
Es liegt der Gedanke sehr nahe, dafs sie als metamorphosirte W olffsche
Körper zu betrachten seien. Wenn sie gleich bei Embryen der Mustelus
Galeus, Carcharias schon sehr deutlich sind, so habe ich doch einen
den Wolffschen Körpern analogen röhrigen Bau und ebensowenig einen
Ausführungsgang an ihnen erkennen können, so dafs diese Analogie nur
scheinbar und nicht wahr ist. Die Plagiostomen besitzen noch eine andere
Drüse ohne Ausführungsgang, sie liegt an der Kehle und ist von Stenonis?)
entdeckt und auch von Retzius°) beschrieben.
(!) Observationes in analomiam Chondropterygiorum, Lundae 1819.
(?) Stenonis Aajae anat. De musculis et glandulis. Lugd. B. 1683. p. 86.
a0 pt:
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 133
d. Eileiterdrüse der Plagiostomen.
Auch der leitende Apparat der weiblichen Geschlechtsorgane zeigt
unter den Familien und Gattungen der Plagiostomen einige Abweichungen.
Was zunächst die Uteri betrifft, so sind sie im Innern glatt ohne Fältchen
und Zotten bei den Scyllien und bei den Haien, die mit einer Nickhaut ver-
sehen sind, dagegen ist der Uterus mit langen Zotten besetzt bei Spinax ni-
ger, Scymnus lichia und Torpedo oculata, mit Längsfalten besetzt bei Acan-
thias vulgaris, Centrophorus granulosus, squamosus, Rhinobatus Columnae
Torpedo marmorata. Dafs die beiden Europäischen Arten der Gattung
Torpedo sich in dieser Weise wesentlich unterscheiden, ist zuerst von J.
Davy beobachtet. Zotten und Längsfalten sind übrigens verwandt; denn
die Zotten der Scymnus und Torpedo oculata stehen in Längsreihen und die
Fältchen der Acanthias haben Neigung, in dreieckige Blätter zu zerfallen.
Bei allen Plagiostomen vereinigen sich die Eileiter über der Leber im
Ligamentum suspensorium hepatis zu einer gemeinschaftlichen mittlern Ab-
dominalöffnung. Bei allen ist auch der Uterus vom Eileiter durch eine in
den Grund des Uterus herabhängende cirkelförmige Klappe abgesondert.
Grofse Verschiedenheiten finden sich in der Ausbildung und Form
der Drüsen zur Absonderung der Eischale am Eileiter, welche Körper von
Aristoteles zuerst beobachtet und von ihm Brüste genannt worden sind.
Bei den Zitterrochen findet sich kaum eine geringe Spur davon,
wie aus der Beschreibung von Lorenzini!) und J. Davy ?) hervorgeht.
Doch zeigt der Eileiter an der Stelle, wo sonst die Drüse zu liegen pflegt,
die hier gewöhnlichen feinen (Querfurchen, in welchem die drüsigen Poren
zu liegen pflegen. Bei den Zitterrochen fehlt auch die Eischalenhaut dem
Ei. Unter den Haifischen bin ich von Zamna zweifelhaft, ob die Eischalen-
drüse existirt. Bei den freilich noch jungen Lamnen von 5 Fufs Länge gab
sich die Stelle, wo sonst aufsen die Drüse sichtbar ist, nur inwendig durch
feine parallele Längsfurchen zu erkennen. Auch bei noch jungen Squatinen
von 3 Fufs Länge fand sich keine besondere Drüse.
(') Osseroazioni intorno alle Torpedine. Firenze 1678. p. 69. Tab. 3. Fig. 1. 2.
(?) Philosoph. transact. 1834. p. 351.
134 MürLter:
Gleichwohl sieht man bei andern jungen Haifischen die Eileiterdrüsen
sehr gut, wenn der Uterus noch nicht weiter ist als der Eileiter, z. B. bei
Carcharias, Galeocerdo.
Bei reifen und trächtigen Acanthias vulgaris bildete die Eischalendrüse
am obern Theil des Eileiters einen ganz glatten %” breiten, 1”’ dicken Ring.
Die innere Fläche ist sehr regelmäfsig in die Quere gestreift.
Bei trächtigen Scymnus lichia ist sie zwar auch ringförmig, aber dieser
Ring besteht aus zwei vereinigten platten Hälften, welche oben und unten
convex sind, der Ring ist daher an zwei Stellen dünner, wo die Platten ver-
einigt sind. Inwendig springen die drüsigen Platten oben und unten wie
Lippen vor. Es ist auffallend, dafs die Seymnus trotz dieser Entwickelung
der Drüse keine Eischale besitzen. Der piscis ex canum genere des Steno-
nis, der ein Scymnus gewesen zu scheint, hatte ringförmige Eischalendrüsen
Elem. myol. 146. annulus solidior.
Beim Heptanchus cinereus zeigt der Eileiter an der Stelle der Drüse
eine spindelförmige Anschwellung mit inneren feinen Querfurchen.
Die mit einer Nickhaut versehenen Haien besitzen eine für diese Fa-
milie characteristische Form der Drüse. Sie besteht aus 2 hohlen, schnek-
kenartig gebogenen Hörnern. So bei den Musteli, Galei, Carchariae. _ Die
Wände der Hörner sind drüsig, in der Höhle des Horns liegt ein ebenso ge-
wundener Kamm, der mit seinem einen Rande angewachsen ist, mit dem
freien Rande in feine Querfältchen auseinandergeht. Siehe die Abbildungen.
Die Drüse des Rhinobatus (Syrrhina) Columnae sitzt dicht über dem
Uterus und ist herzförmig, ihre Höhle gleicht ihrer äufsern Gestalt, so dafs
sie zwei Seitenbuchten besitzt. Die innere Haut des Eileiters hat über der
Drüse lauter longitudinale Blätterchen.
Am gröfsten ist die Drüse bei den eierlegenden Haifischen, Scylla,
den eierlegenden Gattungen der Rochen, Aaja und Platyrhina, und bei den
ebenfalls eierlegenden Chimären. Sie besteht bei ihnen aus zwei convexen
auf den Eileiter aufgesetzten drüsigen Massen, welche an den Seitenwänden,
wo sie sich berühren, etwas zusammenfliefsen. Im Innern bildet die Höhle
des Eileiters bei den Rochen und Scyllien jederseits nach aufwärts eine Ver-
tiefung, welche die Ursache der Spitzen oder Fäden an den Ecken des vier-
eckigen Eies wird. Die Schleimhaut zeigt an der Stelle der Drüse sehr
regelmäfsige ganz feine parallele Furchen wie die Haut der Hohlhand, welche
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 135
quer verlaufen. Hier öffnen sich die unzähligen Röhrchen, aus denen die
ganze Masse besteht. Eine Abbildung des röhrigen Baues habe ich de glan-
dularum structura, Tab. 1. Fig. 14. 15, gegeben.
III. Abschnitt.
Beobachtungen über die Schwimmblase der Fische‘).
Soüberraschend genau Aristoteles Kenntnisse in Hinsicht der Gene-
ration der Knorpelfische sind, so ist es gleichwohl gewifs, dafs seine Schriften
keine sichere Spur der Schwimmblase bei irgend einem Fische enthalten.
Naturgeschichte der Thiere IV. 9. äufsert er sich über die Ursache der
Töne einiger Fische und führt darunter auch die Luft in den Eingeweiden
an. Teis &vros reis megı Fnv Radlav. moEUN« yap Exyeı reirwv &narrev. Diese Stelle
kann ich nicht anders verstehen, als sie hier wiedergegeben ist, und sie scheint
mir nicht speciell auf die Schwimmblase allein bezogen werden zu können,
wie sie Schneider nozit. liter. pisc. 190 auslegt.
Galenus, der nach seiner Angabe de anatomica administratione
libr. VI. cap. I. Fische zergliedert hat, sagt nichts von der Schwimmblase,
wo er de usu partium lib. VI. cap. 9. vom Athmen der Fische handelt.
Rondelet (1554) scheint der erste zu sein, bei dem man einige
Kenntnifs der Schwimmblase antrifft, und er erwähnte schon einige Ver-
schiedenheiten derselben.
Dela Roche, Cuvier, E. H. Weber haben durch Entdeckung
neuer Thatsachen das meiste zur Kenntnifs des Organes geleistet, ersterer
durch seine Beobachtungen über die Schwimmblase vieler Gattungen euro-
päischer See- und Flufsfische und über die Gefäfskörper der Schwimmblase,
Ann. du mus. d’hist. nat.T.XIV., Cuvier durch die Beobachtungen über die
Schwimmblasen der Sciaenoiden mit Blinddärmen, und die zellige Schwimm-
blase einiger Fische, Weber durch die Entdeckung der Verbindung der
Schwimmblase mit dem Gehörorgan in mehreren Gattungen.
Ich habe schon einmal von diesem Organ an gegenwärtigem Orte ge-
handelt, nämlich alsich darzulegen suchte, dafs die Gefäfskörper der Schwimm-
(') Ein Auszug dieser Untersuchung befindet sich im Monatsbericht der Akademie, Juni
1842, und im Arch. f. Anat. und Physiol. 1842. p. 306.
136 MÜLLER:
blase Wundernetze sind und ihr Verhältnifs zu den Wundernetzen anderer
Theile bestimmte. Abhandl. d. Akad. d. Wissensch. a. d..J. 1839. 262. Ich
werde jetzt über mehrere andere Structuren derSchwimmblase handeln, zuerst
werde ich einige neue Beobachtungen über zellige Schwimmblasen mitthei-
len, dann einen eigenthümlichen Federapparat zur Verdünnung der Luft bei
mehreren Fischen beschreiben, endlich über eine neue Familie von Weich-
flossern berichten, welche sich durch den Besitz der Verbindung zwischen
Gehörorgan und Schwimmblase durch eine Kette von Gehörknöchelchen
auszeichnet.
Unter allen Organen zeichnet sich die Schwimmblase durch die grofse
Mannigfaltigkeit und gänzliche Verschiedenheit der organischen und physi-
kalischen Vorrichtungen aus, welche sie in einzelnen Familien und Gattun-
gen darbietet. Die Schwimmblase hat nicht eine Function allein, die Natur
verwendet sie zu mehreren ganz verschiedenen Zwecken, die sich mit inne-
rer im Körper selbst erzeugter Luft bei einem im Wasser lebenden Thier
erzielen lassen.
1. Über zellige Schwimmblasen und Lungen.
a. Zellige Schwimmblase der Erythrinus.
Die älteren Angaben über lungenartige Organe und zellige Schwimm-
blasen bei Fischen von Severinus, Schoepf, Broussonet, Brodbelt
haben sich nicht bestätigt.
M. A. Severinus (Antiperipatias h. c. adversus aristotelicos de respi-
ratione piscium diatribe. Neapoli 1659) glaubte bei einigen Fischen ein eige-
nes Lungengewebe gefunden zu haben, und war durch die Nieren getäuscht
worden.
Schoepf’s Angabe über die zellige Schwimmblase des Tetrodon
hispidus in Schriften der Gesellsch. naturf. Freunde VII. 199. beruhte auf
einer ähnlichen Täuschung, Broussonet ist dasselbe bei Diodon begegnet,
Brodbelt wollte eine zellige Schwimmblase beim Schwertfisch Xiphias
beobachtet haben. Diese Angabe ist völlig unverständlich, da die Schwimm-
blase dieses Thiers auch nicht die geringste Spur davon zeigt. Auch ist es
nicht wahrscheinlich, dafs die anderen Gattungen von Schwertfischen Tetra-
pturus und Istiophorus hierin abweichen.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 137
Erst Cuvier entdeckte eine wirkliche zellige Schwimmblase, ähnlich
der Lunge eines Reptils bei zweien nordamerikanischen Fischen, bei Lepi-
sosteus osseus!) und Amia calva. Regne animal. II. Ich habe diese Stru-
etur noch in einigen anderen Fischen gefunden. So bei der Gattung Ery-
ihrinus, wo ich sie schon vor einiger Zeit anzeigte?). Hier besteht die
Schwimmblase, wie bei den Cyprinoiden, aus einer vordern kleinern und
hintern gröfsern Abtheilung, welche durch eine Einschnürung zusammen-
hängen. Der Luftgang geht aus dem vordern Theil der zweiten Abtheilung
ab. Die hintere gröfsere Abtheilung ist in ihrer ganzen vordern Hälfte rund-
um von zelliger Beschaffenheit. In der vordern Abtheilung und in der hin-
teren Hälfte der hinteren Abtheilung fehlen die Zellen. Diese Beobachtun-
gen waren an Erythrinus unitaeniatus Ag. angestellt, wie im Archiv 1841,
p- 225 angezeigt worden: Hr. Agassiz hatte bei Herausgabe der Pisces
brasilienses von Spix die Schwimmblase eines Erythrinus, nämlich des
E. macrodon Ag. untersucht, aber sie nur als grols angegeben, ohne eines
zelligen Baues zu erwähnen. Hr. Valentin?) hat nun in Folge der diessei-
tigen Beobachtungen eine andere der von Hrn. Agassiz beschriebenen
neuen Arten von Erythrinen, die er von Hrn. Agassiz selbst erhalten,
E. brasiliensis, untersucht; und bei dieser Art fanden sich keine Zellen
der Schwimmblase, so dafs die von mir beobachtete Bildung nicht bei
allen Arten der Gattung vorzukommen schien. Will man den Begriff der
Gattung wörtlich nach der Cuvierschen Definition, d. h. mit hechelförmigen
Gaumenzähnen nehmen, so bleibt die Zellenbildung der Schwimmblase in
(') Man sehe ferner über dieses Organ Agassiz in Proceedings of the zool. soc. 1834.119.
Valentin in dessen Repertorium 1840. 392. und Van der Hoeven in Müll. Archiv 1841.
220. Nach Valentin entsteht der anscheinend zellige Bau bei. Zepisoszeus durch die zrabe-
culae carneae in den musculösen Wänden des Organes. Ich finde jedoch bei Untersuchung
dieses Fisches, dafs der zellige Bau von diesen Balken unabhängig ist, denn zwischen den
kleinsten Zellenhaufen oder areae von Zellen giebt es keine fleischigen Bündel mehr. Amia
calva, welche ich ebenfalls untersucht habe, hat gar nichts von Muskelbalken. Die Schwimm-
blase ist rein zellig in ihren Wänden, ihr oberes Ende theilt sich in 2 kurze weite Hörner.
Auch sind die von mir gefundenen weitern Beispiele zelliger Schwimmblasen ohne alle Be-
ziehung zu Muskeln. Zusatz.
(?) Siehe Jacobi diss. de vesica aörea piscium cum appendice de vesica aörea cellulosa
Erythrini. Berol. 1840 ce. tab., und Müll. Archiv f. Anat. und Physiol. 1841. 223.
(°) Repertorium f. Anat. und Physiol. VI. 1841. p. 180.
Physik.-math. Kl. 1843. S
138 MüuLver:
der That ein Gattungscharakter. Der dahin gehörende E. salvus Ag. ver-
hält sich nämlich im zelligen Bau der Schwimmblase ganz so wie E. uni-
taeniatus. Hr. Agassiz hat aber den Begriff der Gattung insofern weiter
gefalst, dafs er zur selbigen Gattung auch diejenigen seiner Erythrinen zählt,
welche vor den hechelförmigen Zähnen am Gaumen noch eine Reihe stärke-
rer kegelförmiger Gaumenzähne besitzen, wie sie Hr. Agassiz bei seinem
E. macrodon und E. brasiliensis beschreibt. Ich habe beide Arten unter-
sucht, beide haben nichts von Zellen. Diese Erythrinen haben viel grö-
{sere Hundszähne und die Ränder ihrer Zähne sind scharf. Hiernach kann
man die Erythrinen in 2 Untergattungen zerfällen.
Errrurınus Cuv. Müll.
Einfach hechelförmige Gaumenzähne. Kieferzähne kegelförmig. Die
grölseren oder Hundszähne unter den Kieferzähnen sind verhältnifsmä-
fsig kurz, die Schwimmblase zellig.
Arten 1. Erythrinus unitaeniatus Spix. 42. Tab. 19.
Synon. Synodus erythrinus Bl. Schn. 397. Die Exemplare
mit der Längsbinde haben immer auch den dunkeln Fleck am
Kiemendeckel, welcher bei Synodus erythrinus angegeben ist.
2. Erythrinus salvus Ag. Spix. 41.
Macrovon Müll.
Vor den hechelförmigen Gaumenzähnen eine Reihe gröfserer kegelför-
miger Gaumenzähne; unter den Kieferzähnen, welche lanzettförmig
sind, einzelne sehr grofse Hundszähne. Die Schwimmblase ohne Zellen.
Arten 1. Macrodon Trahira M.
Synon. Erythrinus Macrodon Ag. 43. Erythrinus Trahira
Spix. Tab. 18. Esox malabaricus Bl. 392. Synodus mala-
baricus Bl. Schn. 397 zufolge Untersuchung des Blochschen
Originalexemplares. Dafs er aus Malabar kommen soll, be-
ruht offenbar auf einem Irrthum.
2. Macrodon brasiliensis M.
Synon. Erythrinus brasiliensis Spix. 45. Tab. 20.
In der Gestalt gleicht sich übrigens die Schwimmblase in beiden Gat-
tungen, sie besitzt auch in beiden die musculösen Streifen ganz so wie bei
den Cyprinoiden an jeder Seite der hinteren Blase, und den unteren muscu-
lösen Streifen an der vorderen Blase. Diese Streifen bestehen aus queren
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 139
Bündelchen. An der hinteren Schwimmblase der Macrodon verlaufen die
musculösen Streifen bis zu der Einschnürung, an der Schwimmblase der
Macrodon aber nur bis zu dem zelligen Theil der Schwimmblase. Die
Balken zwischen den Zellen sind nur sehnig, ein gröfserer sehniger Balken
liegt vorn in der Mitte der Vorderwand.
d. Zellige Schwimmblasen bei einigen Siluroiden.
In der Familie der Siluroiden kommen mehrere Fälle von zelligen
Schwimmblasen vor, abgesehen von der kammerigen Schwimmblase der
Gattungen Bagrus und Arius Val. Bei letzteren ist die Schwimmblase
durch unvollkommene Scheidewände inwendig nur in einige wenige grofse
Abtheilungen gebracht, so dafs 2 Reihen jederseits communicirender, in der
Mitte getrennter Kammern entstehen, während eine unpaare vordere, aus
welcher der Luftgang entspringt, beide Reihen verbindet. Dahin gehört
auch was Cuvier (Zee. d’anat. comp.) die zellige Schwimmblase des Silu-
rus felis L. nennt und abbildet. Aber beim Platystoma fasciatum fand ich
eine Verbindung des kammerigen Baues mit einem eigenthümlichen platten
zelligen Saum an den Seiten und am bintern Umfang der Schwimmblase.
In diesem verzweigen sich feine Luftcanäle, nach vorn hin verwandelt sich
der zellige Saum jederseits in einen platten freien zelligen Flügel. Platy-
stoma lima und coruscans haben nichts davon, sondern nur Kammern.
Bei einer neuen Gattung von Welsen sind die zelligen Säume durch
einen Kranz von kleinen Blinddärmchen ersetzt. Pimelodus macropterus
Lichtenst. (Wiedem. Zool. Mag. I. 1819, p. 59) hat eine sehr kleine
herzförmige platte Schwimmblase, an den Seiten und am hintern Umfang mit
einem Kranze kleiner Blinddärmchen zierlich umgeben, vorn wo bei Platy-
stoma fasciatum die zelligen Flügel abgehen, befindet sich jederseits ein sehr
langer weiterer Blinddarm. Dieser schon vor langer Zeit beschriebene Fisch,
welcher in Hrn. Valenciennes Arbeit über die Welse fehlt, bildet mit dem
Pimelodus etenodus Ag. eine neue Gattung unter den Siluroiden mit weiten
Kiemenspalten, deren Charaktere folgende sind:
Genus Carornysus Müller et Troschel (Mse. über neue Gattungen und
Arten der Welse).
Keine Zähne am Gaumen. Eine Reihe stärkerer Zähne am Oberkiefer
und Unterkiefer, hinter welchen in dem einen oder andern noch eine
52°
140 MÜLLER:
Reihe kleinerer Zähne. Der erste Strahl der Brustflosse und Rücken-
flosse am Ende einfach gegliedert, ohne Zähne. Zugleich eine lange
Fettflosse. 6 Bartfäden. 7 Strahlen der Kiemenhaut.
Arten 1. Calophysus macropterusM.T.
Synon. Pimelodus macropterus Lichtenst. a.a. ©. Am Ober-
kiefer eine Reihe (20) platter schmaler Zähne, hinter dieser
eine zweite Reihe niedrigerer Zähne, im Unterkiefer nur eine
einzige Reihe Zähne (30).
Calophysus ctenodusM.T.
Pimelodus ctenodus Ag. Spix. pisc. brasil. p. 21. Tab. VII. a.
Diese Art ist zweifelhaft. Ich vermuthe, dafs es die vorher-
gehende ist, und dafs bei der Beschreibung Ober- und Un-
terkiefer verwechselt sind.
ID
Eine der merkwürdigsten Schwimmblasen beobachtete ich bei einem
1819 von Hrn. Lichtenstein beschriebenen, seither vergessenen Fische,
Pimelodus filamentosus Lichtenst. (Bagrus filamentosus Müll. Trosch.)
Dieser Fisch, mit Bartfäden dreimal länger als sein Körper, hat zwei hinter
einander liegende, ganz getrennte platte Schwimmblasen, beide durch und
durch zellig, aus der vorderen geht der Luftgang, die hintere enthält nichts
von einer gemeinsamen mittleren Höhle. Das ganze Innere besteht aus klei-
nen lufthaltigen Zellen.
c. Zellige Schwimmblasen und Lungen.
Die zelligen Schwimmblasen schienen die Analogie der Lungen und
der Schwimmblase zu bestätigen, und besonders wurde diese Analogie durch
den mit Lungen und Kiemen zugleich versehenen Lepidosiren unterstützt,
welcher von Hrn. Owen für einen Fisch erklärt wurde, indem er sich zu-
gleich auf die zellige Schwimmblase des Zepisosteus berief. Dies machte es
nothwendig, den Begriff beider Organe anatomisch-und physiologisch fest-
zustellen. Es lag am nächsten, zum Begriff der Lunge anzunehmen, dafs
sie von der ventralen Wand des Schlundes aus sich entwickele, zum Begriff
der Schwimmblase, dafs sie von der dorsalen Wand des Schlundes ausgehe.
Aber diese Ansicht läfst sich zufolge der von mir angestellten Beobachtun-
gen nicht mehr festhalten. Bei den Eryihrinus mündet der Luftgang der
Schwimmblase in die Seite des Schlundes ein, und bei Polypterus sogar in
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 141
die ventrale Wand. Geoffroy St. Hilaire!), der die zellenlosen sack-
förmigen doppelten Schwimmblasen mit gemeinsamem grofsen Schlitz im
Schlunde beschrieben und abgebildet, hat diese merkwürdige Thatsache
übersehen und gradezu das Gegentheil angegeben, dafs die Öffnung sich im
oberen Theil des Schlundes befindet, und die späteren Beobachter sind ihm
auf diesem Irrthum gefolgt. Dieses Organ öffnet sich also ganz wie eine
Lunge in den Schlund. Die wesentliche Eigenschaft einer Lunge ist aber,
dafs sich die Blutgefäfse darin wie in einem Athemorgan vertheilen, dafs die
Arterien, umgekehrt wie im übrigen Körper, dunkelrothes Blut zuführen,
die Venen hellrothes Blut abführen. Dies ist bei Polypterus nicht der Fall.
Die Arterien der Säcke entspringen aus der Kiemenvene der letzten Kieme,
welche nur eine halbe Kieme ist; ihre Venen ergiefsen sich in die Leberve-
nen. Die Lage der Mündung entscheidet also auch nicht, sie kann bei einer
wahren Schwimmblase rund um den Schlund wandern.
Aber auch die zelligen Schwimmblasen sind keine Lungen, denn ich
fand bei den Erythrinus, dafs ihre Gefäfse sich ganz verschieden von denen
eines Athemorganes verhalten, dafs ihre Arterien aus den Arterien des Kör-
pers entspringen, ihre Venen in die des Körpers zurückgehen. Diese That-
sache habe ich bereits in meinen Briefen an Prof. Van der Hoeven in
Leyden vom 8. und 14. Nov. 1840 angezeigt, welche im Archiv f. Anat.
und Physiol. 1841 abgedruckt sind. Ebenso ist es an der zelligen Schwimm-
blase von Platystoma fasciatum und an dem aufser der Schwimmblase vor-
handenen ventralen Luftkropf der Tetrodon.
Endlich wird dies auch durch die vorher beschriebene Structur der
Schwimmblase bei Bagrus filamentosus M. T. bewiesen, bei welchem eine
zweite zellige Schwimmblase ohne alle Verbindung mit der ersten und ohne
Ausführungsgang, ohne Communication mit einem athembaren Medium
besteht.
Hierdurch ist bewiesen, dafs die Schwimmblase in allen Fällen, mag
sie zellig sein wie eine Reptilienlunge, oder nicht, mag sie ventral, lateral
oder dorsal vom Schlund ausgehen, Schwimmblase bleibt und dafs Lungen
und Schwimmblasen anatomisch und physiologisch völlig verschieden sind.
Beiderlei Organe kommen darin überein, dafs sie sich als Ausstülpnn-
(') Description de P’Egypte. 2. Ed. Tom. 24. p. 167.
142 MüıLver:
gen aus dem Schlunde entwickeln, dies theilen sie noch mit andern Bildun-
gen, mit den Tuben und Luftsäcken der Kehlkopfgegend. Es giebt indefs
noch ein anderes gemeinsames Fundament ihrer Formation, und in diesem
mufs man einen gewissen Grad von Analogie anerkennen, während man jede
Ähnlichkeit in Bezug auf die physiologische Bedeutung der Lungen zur Re-
spiration läugnen mufs. Es giebt nämlich auch an den Lungen einen nicht
respiratorischen Theil, die Luftröhre und ihre Äste. Dieser besitzt seine
besonderen Blutgefäfse, die vasa bronchialia, sie verhalten sich wie alle er-
nährenden Gefäfse des Körpers und gerade entgegengesetzt den Lungenge-
fäfsen, es ist bekannt, dafs sich dieses nutritive System bis in die Substanz
der Lungen verzweigt. Die Schwimmblase und ihr Gefäfssystem kann daher
dem nicht respiratorischen Theil der Athemwerkzeuge verglichen werden.
Stellt man sich vor, dafs bei einem Thier mit einem Lungensack das respi-
ratorische Blutgefäfssystem sich verkleinere, bis es Null wird, so bleibt ein
Sack übrig, der sich ferner nicht mehr von der Schwimmblase unterscheidet.
In der vergleichenden Anatomie der Myxinoiden wurden die beiden
entgegengesetzten Gefäfssysteme auch an den Kiemen nachgewiesen. Bei
einigen Fischen mit weniger als 4 Kiemen wird ferner das respiratorische
Gefäfssystem an den kiemenlosen Kiemenbogen völlig auf Null reducirt,
d.h. an dessen Stelle ist ein Aortenbogen, und es bleibt nur das nutritive
übrig. Bei Amphipnous Cuchia Müll. (Archiv 1840) geschieht diese Re-
duction bis auf den Verlust der mehrsten Kiemen, so dafs nur am zweiten
Kiemenbogen eine eigentliche Kieme bleibt, auch bei den nackten Amphi-
bien geht zur Zeit der Verwandlung das respiratorische Gefälssystem der
Kiemen, nämlich Kiemenarterie und Kiemenvene derselben völlig verloren
und verwandelt sich in einen Aortenbogen.
So gewifs die Schwimmblase der Fische keine Lunge ist, eben so we-
nig kann die Entwickelung einer wahren Lunge bei Fischen als unmöglich
geläugnet werden. Dem Wesen nach besteht die Lunge aus einem Sack mit
einem respiratorischen Gefälssystem. Dieser Sack kann an verschiedenen
Stellen gelegen sein, er kann von der ventralen Seite des Schlundes ausge-
hen, er kann aber auch auf jeder Seite des Schlundes oder aus der Kiemen-
höhle sich entwickeln, er kann innerhalb der Rumpfhöhle, er kann auch
aufserhalb derselben liegen. Letzteres ereignet sich in der That bei zweien
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 143
Fischen. Taylor!) hat sie zergliedert und gezeigt, dafs sich die Blutgefäfse
auf den Säcken wie auf einem Athemorgan verbreiten, d. h. dunkelrothes
Blut zuführen und hellrothes abführen. Die Organe kommen bei einem
Wels und einem Aal vor, die auf dem Lande zu athmen dadurch befähigt
werden, gleichwie die Labyrinthfische durch ihre Labyrinthkiemen befähigt
werden, auf das Land zu gehen. Der erste ist Silurus fossilis Bloch, $i-
lurus singio Buch., Heteropneustes fossilis Müll.?), Saccobranchus singio
Val. Seine Athemsäcke gehen von der Kiemenhöhle aus und liegen in den
Rückenmuskeln. Der zweite ist Unibranchiapertura Cuchia Buch., Am-
phipnous Cuchia Müll. Hier sind der erste und vierte Kiemenbogen völlig
kiemenlos, der dritte Bogen hat nur eine glatte Hautleiste ohne Kiemen-
blättchen, der zweite eine kleine Kieme. Der Luftsack geht jederseits von
der Kiemenhöhle aus und reicht weit über den Kopf hinaus. Taylor stellte
dieses Thier zwischen die Fische und Amphibien, aber es ist ganz entschie-
den ein Fisch und steht Symdranchus und Monopterus am nächsten.
Bei Monopterus ist schon der vierte Kiemenbogen kiemenlos und trägt
statt des Kiemengefälssystems einen einfachen Aortenbogen. Hr. Walker
hat den Cuchia in Bengalen neuerdings auch im lebenden Zustande un-
tersucht, die Beobachtungen von Taylor bestätigt und hat bemerkt,
dafs das Thier Schleimporen am Kopfe wie andere Fische und kleine in
der Haut versteckte Schuppen wie der Aal hat. Ich habe das Thier
kürzlich trocken selbst untersucht. Die Gelenke der Wirbel sind wie bei
Symbranchus, die Wirbelkörper haben conisch ausgehöhlte Facetten, wo-
von die vorderen sehr flach, die hinteren sehr tief sind. Der Schädel arti-
culirt mit dem ersten Wirbel, welcher letztere einen mittleren Gelenkkopf
hat wie bei Symbranchus, aufserdem artieuliren Kopf und Wirbel wie auch
sonst durch Seitenfortsätze. Die unpaare Kiemenöffnung soll nach Taylor
in der Mitte durch eine Scheidewand getheilt sein, was von Symbranchus
abweichen und sich Monopterus nähern würde, es wurde aber keine solche
Scheidewand gesehen.
Lepidosiren von Natterer entdeckt, hat keine Kiemenhöhlenlungen,
wie die vorgenannten, sondern eine eigentliche zellige Lunge mit einer un-
(') Edinb. Journ. of Sc. Juli 1831.
(*) Archiv f. Anat. und Physiol. 1840. p. 115.
144 MÜLLER:
paaren ventralen Stimmritze, wie aus den Untersuchungen der Herren Owen
und Bischoff hervorgeht. Die Lungen erhalten ihr Blut wie bei Am-
phibienlarven und die Lungenvenen geben das oxygenirte Blut in den
Vorhof des Herzens ab, was für einen Fisch höchst eigenthümlich ist, da
das oxygenirte Blut der Kiemenhöhlenlungen der beiden vorher erwähnten
Fische nicht erst zum Herzen gelangt, sondern sich mit dem Blut der Kie-
menvenen zum Arteriensystem des Körpers vereinigt. Lepidosiren para-
doxa soll nach Hrn. Bischoff 2 Vorhöfe haben, wovon der eine das dun-
kelrothe Körpervenenblut, der andere das hellrothe Lungenvenenblut auf-
nimmt wie bei einem Amphibium. Zepidosiren annectens hingegen soll nach
Hrn. Owen nur einen Vorhof haben. Nach der ersten Angabe wurde das
Thier für ein Amphibium, nach der zweiten für einen Fisch erklärt. Die
von Bischoff beobachtete, von Owen geläugnete Perforation der Naslö-
cher kann nicht entscheiden, da einige Fische, die Myxinoiden wirklich
einen durchbohrenden Nasengang besitzen. Einige waren geneigt, beide
Thiere für ganz verschiedenen Klassen angehörend zu betrachten. Ihr Äufse-
res und Inneres ist aber so völlig übereinstimmend, dafs sie ohne Zweifel .
Arten einer und derselben Gattung sind.
Ich glaube die Verwickelungen, in welche die vergleichende Anato-
mie durch diese scheinbar anomalen Facta versetzt worden, durch die fol-
genden Combinationen, Consequenzen tieferer anatomischer und physiolo-
gischer Studien zu lösen.
Man konnte es bisher als einen durchgreifenden und fundamentalen
Unterschied der Amphibien und Fische ansehen, dafs bei jenen die Urin-
blase vor dem Mastdarm, bei diesen hinter ihm gelegen ist, dafs bei den Fi-
schen die Urogenitalöffnung, wenn vom After geschieden, hinter demselben
liegt. In dieser Hinsicht verhält sich Zepidosiren als Fisch. Von jener
Anordnung findet sich in der That unter den Amphibien keine Ausnahme.
Aber das Branchiostoma lubricum (Amphioxus lanceolatus) stört diesen Plan
unter den Fischen, da bei ihm die sonst vor dem Bauch gelegene Kiemen-
öffnung in der Mitte des Bauches mit dem Porus zusammenfällt, durch wel-
chen Samen und Eier abgehen, weit vor dem After. Da bei den Knorpel-
fischen regelmäfsig Öffnungen der Bauchhöhle in der Nähe des Afters vor-
kommen, so kann, um jene Anomalie bei Branchiostoma zu erklären, der
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 145
Porus abdominalis in der Mitte des Bauches als eine Fusion der Kiemen-
spalten und jener Bauchspalten angesehen werden.
Einen viel wichtigeren Unterschied der Amphibien und der Fische
habe ich in der Osteogenesis der Wirbelsäule gefunden. Bei den Fischen
entsteht die Wirbelsäule nach meinen Beobachtungen aus 5 Theilen, einem
centralen ringförmigen, der Össification der Scheide der Chorda, zwei obe-
ren und zwei unteren sich damit verbindenden Stücken, wovon das obere
Paar das Rückenmark umwächst und den oberen Dorn bildet, die unteren
am Schwanz um die Art. caudalis sich zum unteren Dorn verbinden, am
Rumpfe aber in die den Fischen eigenen unteren Querfortsätze oder Quer-
fortsätze der Wirbelkörper auslaufen und die Rippen tragen, wenn sie vor-
handen sind. Andere Wirbelthiere haben diese unteren Stücke nie am
Rumpf, und (zuweilen) nur am Schwanze. Bei Zepidosiren verwandeln
sich die rippenartigen Stücke, die an der Chorda befestigt sind, am Schwanz
in untere Dornen.
Was nun die Streitfrage über die Einfachheit oder Doppeltheit des
Vorhofes bei Zepidosiren betrifft, so glaube ich, dafs die Stellung derselben
von der Entscheidung dieses Punktes gar nicht abhängig gemacht werden
kann, wie sich aus den folgenden Combinationen ergiebt:
1) Ein Thier, das 2 verschiedene Venenstämme, der Körpervenen und
Lungenvenen, in einen einfachen Vorhof des Herzens aufnimmt, hat
dem Wesen nach eben so viele Theilungen des einfachen Vorhofes, da
die Muskelsubstanz des Herzens sich bei allen Thieren auf einen Theil,
sowohl der Körpervenen als der Lungenvenen, fortsetzt und die Venen-
stämme bis an eine bestimmte Grenze sich selbstständig zusammenzie-
hen, also in jeder Beziehung die Eigenschaften des Herzens theilen.
Sobald also in einen einfachen Vorhof ein Körpervenenstamm und ein
Lungenvenenstamm eingehen, so ist es durchaus eben so viel, als wenn
zwei Vorhöfe vorhanden sind, die eine gemeinschaftliche Basis haben,
d. h. deren Scheidewand keine vollkommene Trennung bewirkt, und
umgekehrt wenn letzteres, so ist es dem Wesen nach ganz dasselbe,
als wenn in einen Vorhof sich die Körpervenen und Lungenvenen er-
giefsen. Das Wesentliche im letztern Falle liegt weniger in der Ein-
fachheit oder Doppeltheit des Vorhofes, als darin, dafs sich der Lun-
Physik.-math. Kl. 1843. 1:
146
2)
3)
MÜLLER:
genvenenstamm zum Körpervenenstamm gesellt, was aber für alle Lun-
gen charakteristisch ist, während es bei den Kiemen nie vorkommt,
Daher ist es ein Charakter der Kiemen bei Amphibien und Fischen,
dafs die Kiemenvenen unmittelbar in die Körperarterie sich fortsetzen
und kein Herz dazwischen liegt, oder mit anderen Worten, dafs die
Kiemenvenen nicht zum Herzen wie die Körpervenen gehen. So ver-
halten sich auch die von den Kiemenhöhlen ausgehenden Luftsäcke des
Heteropneustes und Amphipnous.
Es ist ein Charakter der Lungen, aber deswegen nicht allein der Am-
phibien, dafs die Lungenvenen zu den Körpervenen oder zum venösen
Theil des Herzens gehen.
Kiemenarterienast und Kiemenvenenast einer Kieme sind zusammen
(nicht functionell, sondern in der Metamorphose identischer Theile)
Äquivalent eines kiemenlosen Aortenbogens, sowohl bei Fischen als
bei Amphibien, denn sie werden in einander verwandelt. Dieser Fall
ereignet sich in der Verwandlung der Amphibien und in gleicher Weise
an einzelnen Kiemenbogen des Monopterus, des Cuchia und der Lepi-
dosiren.
5) Daher können in diesen Combinationen die Kiemengefäfse eines Kie-
ID)
7)
9)
menbogens einem Aortenbogen und ein Aortenbogen den Kiemengefä-
fsen eines Kiemenbogens substituirt werden.
Arterielle Äste von Kiemenvenen sind daher Aequivalente von Ästen
eines Aortenbogens nnd beide können einander substituirt werden.
Betrachtet man die Kiemenarterie und die Kiemenvene des letzten Kie-
menbogens von Polypterus als einen Aortenbogen, so wird der Ast der
Kiemenvene zur Schwimmblase Lungenarterie und die zur Leberhohl-
vene gehenden Venen der Schwimmblase werden Lungenvenen.
Es fehlt daher, damit die lungenartige Schwimmblase des Polypterus
Lunge werde, nichts als dafs das Capillarnetz des vierten Kiemenbogens
eingehe und die Stämme der Kiemengefäfse in einen Aortenbogen ver-
wandelt werden, wie es bei Monopterus wirklich geschieht, dann hätte
Polypterus eine Lunge, und dieser Schritt ist bei Lepidosiren geschehen.
Die Kiemenhöhlenlungen sind Verlängerungen der respiratorischen Kie-
menblutbahn in die Kiemenhöhle, die sonst nichts davon aufnimmt und
sonst nur eine nutritive Blutbahn hat, oder es sind Verlängerungen der
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 147
respiratorischen Kiemenblutbahn in sackförmige Verlängerungen der
Kiemenhöhle. Das ist ihr Unterschied von den eigentlichen Lungen.
10) Die Lungen im engern Sinne, wie sie unter den Fischen nur Zepidosiren
hat, haben ihre Arterien aus der arteriösen Herzkammer oder aus den
Körperarterien, nämlich den Aortenbogen und geben ihre Venen immer
zum Herzen gleich den Körpervenen.
11) Wenn die Lungen und Kiemen zugleich vorhanden sind, so entspringt
die Lungenarterie nie aus den Kiemenvenen selbst, sondern es ist immer
zugleich ein an den Kiemen vorbeigehender Aortenbogen, der, ehe er
sich mit dem Zusammenflufs der Kiemenvenen zur Aorte verbindet,
die Lungenarterie abgiebt, so ist es bei allen Proteiden. Hr. Owen!)
hat zwar bei Siren lacertina das erstere abweichende Verhältnifs gese-
ben, indefs habe ich bei Untersuchung der Siren lacertina den zur Lun-
genarterie gehörigen, aus dem Zruncus arteriosus und wieder mit dem
Zusammenflufs der Kiemenvenen verbundenen Aortenbogen gefunden.
2. Über einen Springfederapparat zur Erweiterung der
Schwimmblase bei mehreren Gattungen der Welse.
Die mehrsten Fische sind nicht im Stande, willkürlich ihre Schwimm-
blase zu erweitern und die Luft derselben zu verdünnen. Die Muskeln der
Schwimmblase sind der Verdichtung der Luft bestimmt. Bei mehreren Gat-
tungen von Welsen habe ich eine Einriehtung entdeckt, wo die Erweiterung
und Verengerung der Schwimmblase, oder Verdünnung und Verdichtung
ihrer Luft unter die Action zweier im Fische selbst wirksamen Kräfte gesetzt
sind, so zwar, dafs die Verdichtung beständig wirksam ist und von der Ela-
„ stieität einer Feder herrührt, die Verdünnung aber von der Action und Aus-
dauer vitaler Muskelkräfte abhängt, welche die Feder aufser Erfolg setzen.
Die Siluroiden, bei denen ich diesen Apparat beobachtet habe, be-
sitzen enge Kiemenspalten. Die grofse Familie wird überhaupt in ihren na-
türlichen Verwandtschaften viel übersichtlicher, wenn man die dahin gehö-
rigen Gattungen in 2 Gruppen vertheilt, mit sehr engen und mit weitge-
schlitzten Kiemenspalten, bei welchen letzteren die Kiemenhäute in der
Mitte aneinanderstofsen.
(') Transact. Zool. Soc. Vol.I. 217.
148 Mütter:
Zu den letzteren gehören die Gattungen Silurus, Schilbe, Bagrus,
Phractocephalus, Platystoma, Silundia, Pangasius, Galeichthys, Arius,
Pimelodus, Calophysus nov. gen., Hypophthalmus, Ageneiosus, Astroblepus,
Clarias, Heterobranchus, Heteropneustes Müll. (Saccobarnchus Val.),
Plotosus, Chaca, Sisor und Pygidium Meyen (Wiegm. Arch. 1835.11.269.).
Die Siluroiden mit engen Kiemenspalten sind die Gattungen Cetopsis,
Auchenipterus!'), Tracheliopterus, Synodontis, Doras, Malapterurus, Euane-
mus nov. gen., Callichthys, Arges, Brontes, Aspredo, der eine besondere
Familie bildenden Loricarinen nicht zu gedenken.
Von den vorhergenannten Gattungen der Siluroiden sind die Cetopsis?),
Callichthys, Arges, Brontes, Loricaria, Rhinelepis, Hypostoma ohne Schwimm-
blase. Der fragliche Apparat findet sich bei den noch übrigen Siluroiden
mit engen Kiemenöffnungen, mit Ausnahme der Aspredo oder Platystacus.
Ich fand ihn nämlich bei den Gattungen Auchenipterus, Euanemus, Syno-
dontis, Doras und Malapterurus. Alle diese Fische haben am ersten Wirbel
jederseits einen grofsen dünnen Fortsatz, der mit einer schmalen dünnen
Platte vom Wirbel entspringt, zuletzt sich zu einer grofsen runden Platte
ausdehnt. Dieser Fortsatz ist die elastische Feder, welche mit ihrem plat-
tenförmigen Ende die Schwimmblase jederseits der vordern Fläche tief ein-
drückt. Ein dieker Muskel entspringt von der innern Fläche des Helms
des Schädels und heftet sich an die plattenförmige Ausdehnung, wenn er
wirkt, so hebt er die Platte schief nach vorwärts und aufwärts, wodurch die
Schwimmblase erweitert und ihre Luft verdünnt wird; zieht man ihn an und
läfst dann vom Zuge nach, so springt die Knochenfeder von selbst zurück
durch ihre Elasticität und verdichtet wieder die Luft des Behälters.
Bei den Auchenipterus, Euanemus, Doras, Malapterurus verhält sich
der Apparat ganz in gleicher Weise, aber bei den S'ynodontis ist sowohl die
Feder als der Muskel von einer aufserordentlichen Stärke. Die Feder hat
hier einen eigenen processus muscularis und der Muskel hat einen ganz ver-
schiedenen Verlauf, er geht nicht von vorn nach hinten, sondern vom hin-
(') Auchenipterus furcatus Val. ist Silurus nodosus Bloch nach Untersuchung des Ori-
ginalexemplars.
(?) Valenciennes schreibt den Cetopsis eine grofse Schwimmblase zu durch ein Mils-
verständnils, denn bei Agassiz ist nicht von der Schwimmblase, sondern der grolsen Gal-
lenblase die Rede Das hiesige Exemplar hat keine Schwimmblase.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 149
tersten Theil des Helms entspringend, verläuft er erst nach vorn und dann
in einem Bogen nach abwärts, um den processus muscularis zu erreichen.
Betrachtet man das blofse Skelet, so mufs man erstaunen über einen so
höchst eigenthümlichen Knochen, und bei ihm sogleich eine wichtige Be-
deutung vermuthen. Valenciennes hat seiner bei Beschreibung des Ske-
lets der Synodonten vorübergehend gedacht, ohne jedoch seine Bestimmung
aufzusuchen oder zu errathen.
Die neue Gattung von Siluroiden, welche auch den Springfederap-
parat besitzt, hat folgende Kennzeichen:
Euanemus Müll. Trosch.
Enge Kiemenspalten, Körper seitlich zusammengedrückt, der Helm ist
von Haut bedeckt. Die Zähne am Oberkiefer und Unterkiefer hechel-
artig in einer Binde, keine am Vomer und Gaumenbeinen, der erste
Strahl der Rückenflofse und Brustflofse ist ein Dorn. Die Rücken-
flofse steht ganz vorn und ist klein. Aufserdem eine sehr kleine Fett-
flofse. Afterflofse sehr lang. Strahlen der Bauchflossen viel zahlrei-
cher als bei andern Siluroiden. Die Augen sind von der Haut bedeckt.
6 Bartfäden.
Euanemus colymbetes M.T.
B. 7. P.1, 11. D. 1,6. A:44. V. 14.
Surinam.
Die Fische, welche die beschriebene Federeinrichtung besitzen, wer-
den, so lange der Muskel die Feder nicht in Thätigkeit setzt, bei verhält-
nilsmäfsig comprimirter Luft, in der Tiefe schweben, welche ihrem spe-
eifischen Gewicht bei dem Zustande der Verdichtung der Luft in der
Schwimmblase entspricht, dagegen zur Oberfläche steigen müssen, sobald
die Muskeln die Federn in Thätigkeit aufser Thätigkeit setzen und die
Schwimmblase um so viel erweitert wird, als die Zusammendrückung der
Schwimmblase durch die Feder vorher betragen hat. Dies setzt voraus,
dafs die Schwimmblase eine gewisse Steifigkeit ihrer Wände besitze und bei
der Verdünnung ihrer Luft nicht nachgebe, d. h. dem nun stärker geworde-
nen äufsern Druck auf den übrigen Theil der Wände nicht nachgebe. Die
Wände der Schwimmblase sind bei diesen Thieren im Allgemeinen zwar
fest, aber nicht fester als bei andern Siluroiden. Es kann daher wohl sein,
dafs die bezeichnete Wirkung nicht der wesentliche Zweck der beschriebe-
150 n MürLrer:
nen Einrichtung ist, dafs sie vielmehr bezweckt, durch Erweiterung des
vordern Theils der Schwimmblase, den Fisch in seinem vordern Theile spe-
cifisch leichter zu machen. Diese Wirkung mufs in der That unfehlbar er-
folgen und der vorher horizontal schwebende Fisch sogleich mit seinem vor-
dern Theil sich erheben, sobald der Muskel der Feder wirkt, sich aber
wieder senken, sobald der Muskel erschlafft und die Feder in Thätigkeit tritt.
Diese Ansicht von der Natur und dem Zweck des Apparates ist um so
wahrscheinlicher, da es unter den Fischen noch 2 Beispiele von andern
Einrichtungen giebt, die denselben Zweck erfüllen. Die eine ist die merk-
würdige Organisation der Schwimmblase der Ophidien, wovon in dem fol-
genden Artikel gehandelt wird, die andere bieten die Cyprinoiden und Cha-
racinen mit doppelten Schwimmblasen, einer vordern und hintern dar,
welche durch eine verschliefsbare Einschnürung zusammenhängen, und so-
wohl vorn als hinten mit Muskeln versehen sind. Hier kann die vordere
Schwimmblase, welche sehr elastisch ist, beträchtlich erweitert werden,
wenn die Muskeln der hintern unelastischen Schwimmblase sich zusammen-
ziehen, denn die Luft wird dann in die vordere Schwimmblase hineinge-
drückt. In der That läfst sich an der herausgenommenen Schwimmblase
einer Plötze durch Zusammendrückung der hintern Schwimmblase die vor-
dere um ein ganzes Drittheil ihres Volumens ausdehnen. - Geschieht diese
Wirkung beim Fische selbst, so mufs sein Vordertheil aufsteigen, läfst die
Zusammenziehung der Muskeln nach, so mufs der Fisch wieder horizontal
schweben. Zieht sich aber der Muskel der vordern Schwimmblase zusam-
men, so wird der Fisch in seinem vordern Theil specifisch schwerer, als er
vorher gewesen ist und wird mit seinem Vordertheil in eine abschüssige Stel-
lung sinken.
Auf diese Schwimmblasen werden wir in dem letzten Artikel zurück-
kehren, wo von ihrer Verbindung mit dem Gehörorgan die Rede ist.
3. Über die Schwimmblase der Ophidien.
Willoughby') hat bei Ophidium barbatum eine sehr eigenthümliche
Structur der Schwimmblase entdeckt, welche von Broussonet ?) beschrie-
(') Willoughby. Risz. pise. Oxon. 1686. 113.
(?) Philosoph. transact. Vol. 71. p. 437.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 154.
ben und abgebildet wurde. Etwas Ähnliches findet sich auch in den andern
Arten der Gattung, aber merkwürdiger Weise in jeder Art in ganz eigen-
thümlicher Abänderung. Diese Verschiedenheiten der Arten, wovon bis
jetzt nur ein Theil bekannt ist, sind für die Kenntnifs des Zwecks der Ein-
richtung von dem gröfsten Interesse, nur dadurch kann der räthselhafte Ap-
parat seine Aufklärung erlangen. Um das Verständnifs der Beschreibung
nicht zu erschweren, werde ich mich hier kurz fassen, ich verweise in Hin-
sicht der Details auf die Abbildungen und ihre Erklärung.
Bei Ophidium barbatum sind am ersten Wirbel 2 nach unten gerich-
tete Knochenstücke eingelenkt, welche durch Muskeln vorwärts gezogen
werden können, von ihren Spitzen ist ein Faden quer zu dem grofsen halb-
mondförmigen Knochen gespannt, der wie ein Stopfen in das vordere Ende
der Schwimmblase ragt und zwischen zwei dicken Knochenfortsätzen vom
vierten Wirbel liegt. Durch eigene Muskeln wird der halbmondförmige
te)
Knochen von der Schwimmblase entfernt. Broussonet hat zweierlei In-
dividuen von Ophidium barbatum (mit schwarzem Saum der verticalen Flos-
sen) von ganz abweichender Structur der Schwimmblase gesehen. De la
Roche!) hat die eine von beiden, nämlich die oben bezeichnete, beschrie-
ben, aber noch eine ganz abweichende Varietät, kennen gelehrt, welche letz-
tere seitdem wieder von Rathke?) beobachtet ist. Bei der zweiten Varie-
tät ist der Stopfen der Schwimmblase ein keilförmiger Knochen, die Kno-
chenfortsäte zu den Seiten des vordern Theils der Schwimmblase sind hier
sehr dünn, die Schwimmblase hat einen vordern und hintern Hals und in
letzterem eine eigene röhrige Einstülpung, die in der Mitte durchbrochen,
nur von Schleimhaut geschlossen und sonst von Gallerte gefüllt ist. Die
dritte Varietät von O. barbatum hat nichts von einem knöchernen Stopfen,
die Schwimmblase ist lang, ohne Hals. Von dem halbmondförmigen oder
keilförmigen Knochen ist keine Spur vorhanden. Die Mukeln, welche sonst
die Knochen ziehen, und die Bändchen setzen sich hier an die Schwimm-
blase selbst. Dies sind die Individuen anderer Categorie von Broussonet,
welche De la Roche nicht gesehen. Ich habe von der ersten von Brous-
sonet und De la Roche gesehenen Form 3 Individuen, von der zweiten
(') Annales du mus. d’hist. nat. T. XIV. p. 275.
(?) Müll. Archiv 1838. p. 423. Es ist die ursprüngliche von Willoughby.
152 MÜLLER:
von De la Roche und Rathke gesehenen 21), von der letzten nur von
Broussonet gesehenen Form 14 Indıyiduum untersucht ?). Die Erklärung
der Verschiedenheiten durch Geschlecht wird widerlegt durch die dreifache
Abweichung, vom Alter rühren sie eben so wenig her, denn es wurden junge
und alte Thiere mit gleicher Formation von mir gesehen. Es sind daher 3
Arten unter Ophidium barbatum verborgen. Dafür spricht, dafs andere Ar-
ten auch andere Modifikationen des Apparates zeigen. Die Ophidien jener
3 Kategorien haben denselben schwarzen Saum der verticalen Flossen, die-
selbe Zahl der Flossenstrahlen und Kiemenstrahlen, dieselbe Länge der
Bartfäden. Die Individuen der ersten Form mit halbmondförmigem
Knochen der Schwimmblase haben 5 - 6 gezähnelte Stachelchen am ersten
Kiemenbogen, die Fische der zweiten und dritten Kategorie nur 4 solche
Stachelchen. Die Spitze des Ethmoideum ist bei der ersten Form haken-
förmig gekrümmt. Die ersten mögen O. barbatum ferner heilsen, die
zweiten können O. Rochiü, die dritten ©. Broussoneti heifsen ; äufserlich las-
sen sich beide letztere jetzt noch nicht unterscheiden.
Ophidium V asalli, breviberbe sind bis jetzt noch nicht untersucht worden.
O. Vasalli bietet eine Variation des Apparates dar, die sich an die zuletzt
beshriebene anschliefst aber doch wieder deutlich davon verschieden ist.
Die Schwimmblase ist äufserst kurz, kuglig, hat hinten eine Öffnung von
der innern Haut und Gallerte geschlossen. Es ist kein knöcherner Stopfen
vorhanden, die Muskeln ziehen an 2 dünnen Knochenplatten, die vorn in der
Haut der Schwimmblase liegen. Diese Platten sind jederseits durch eine an
der Wirbelsäule eingelenkte Kochenplatte wie durch eine Feder zurückge-
halten. Die Muskeln wirken den Federn entgegen und erweitern die
Schwimmblase nach vorn. Diese Muskeln sind aufserordentlich viel länger
(') Seither untersuchte ich in Neapel von der Art mit keilförmigem Knochen und mit
dem Hals der Schwimmblase 18 Individuen. Sie waren todt, aber ich untersuchte sie noch
frisch, so wie ich sie vom Fischmarkt erhalten. Es waren alle Männchen. Im Inhalt der
Hoden längliche nach dem einen Ende verschmälerte Körperchen, wahrscheinlich die Kör-
per der Zoospermien, einige bewegten sich noch. Die Schwanzfäden sah ich nicht.
(2) Seither untersuchte ich in Neapel von der Art ohne Knochen der Schwimmblase 20
Individuen. Davon waren die mehrsten Weibchen mit Eiern. Vier Stück waren Männ-
chen, ihre dünnen Hoden enthielten längliche stabartige Körperchen, von überall gleicher
Dicke.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 153
und dicker als bei den vorhergehenden Arten, ihr Ursprung ist nicht hinten
am Cranium, sondern vom Vomer. 3 Exemplare.
Bei O. dreviberbe aus Brasilien befindet sich im vordern Umfang der
länglichen Schwimmblase, die keine hintere Öffnung hat, eine quere dicke
Schwiele mit einem henkelförmigen Fortsatz aufsen am vordern Ende der
Blase. Durch diesen Handgriff ist quer eine Chorda gespannt, die jederseits
an einer knopfförmig endigenden an der Wirbelsäule eingelenkten Knochen-
platte befestigt ist. Diese Knochen sind auch durch Bändchen an den Grund
der Swimmblase geheftet. Indem die Knochen durch Muskeln vorwärts ge-
zogen werden, wird der Grund der Swimmblase mittelst der Chorda und
den Bändchen von dem Körper der Blase entfernt und diese erweitert.
O. imberbe s Fierasfer imberbis hat eine längliche Blase vorn mit einem
Halse. Vor dem Halse ist sie wieder weiter, hier ist sie seitlich von 2 Kno-
chenplatten festgehalten. Der innere Knochen fehlt und ist schon von Cu-
vier vermifst. Mem. d. Mus. T.I. 320. Lange Muskeln ziehen am vordern
Umfang der Blase, der sich leicht von der obern Wand der Schwimmblase
abbewegt. 10 Exemplare wurden untersucht !).
UÜbereinstimmend mit den Fierasfern ist der Bau der Schwimmblase
' bei einem Fisch von den Philippinen, welcher der Typus eines neuen Ge-
nus unter den Ophidien ist, das sich von den Fierasfern durch den Mangel
der Brustflossen auszeichnet.
Encneriornıs Müll.
Keine Brustflossen. Die Kiemenspalten beider Seiten durch Vereini-
gung der Kiemenhäute in der Mitte verbunden. Der After liegt viel
weiter nach vorn als bei den Opbidien sogleich hinter den Kiemen.
Strahlen der Kiemenhaut 6.
(') Bei einer neuen grolsen gefleckten Art von Ophidium aus Peru, welche Dr. v.
Tschudi beschreiben wird, ist die Schwimmblase wieder eigen. Es ist kein Knochen in
derselben. Ein von der Wirbelsäule abgehendes eingelenktes Knochenstück, das mit der
Schwimmblase durch ein Band verbunden, wird durch einen Muskel bewegt, ein viel grö-
fserer Muskel setzt sich an den Grund der Schwimmblase, die jederseits eine schwielige
Stelle hat. Die Schwimmblase ist wie bei O. reviberbe.
Ophidium blacodes Forster, welches Blinddärme haben soll, ist von Cuvier als
Art der Gattung aufgeführt, gehört aber offenbar nicht hierher.
Physik.-math. Kl. 1843. U
154 MÜLuveEr:
Art Encheliophis vermicularis M. 4 Zoll lang. Der Körper läuft
nach hinten ganz spitz aus. Farbe überall schwarzbraun. Fundort
Philippinen.
Übersieht man alle diese Bildungen bei den Ophidien, so überzeugt
man sich, dafs sie keine Beziehung zur Entstehung von Tönen haben können,
sondern zur Erweiterung und Verlängerung des vordern Theils der Schwimm-
blase bestimmt sind, also berechnet sind das specifische Gewicht des Fisches
im vordern Theile zu verändern. Besonders giebt darüber die Beschaffen-
heit der Schwimmblase bei den Fierasfern und Encheliophis Aufschlufs.
Daher auch der halbmondförmige oder keilförmige Knochen zweier Ophi-
dium-Arten als Stopfen betrachtet werden mufs, dessen Bewegung nach
vorn den lufthaltigen Theil der Schwimmblase nach vorn verlängert. Der
hintere Umfang der Schwimmblase der Ophidien ist nirgends befestigt und
die Wände der Schwimmblase selbst so weich, dafs sie keinen Widerstand
leisten können, wenn vorn eine Erweiterung geschieht, welche Verdünnung
der Luft hervorbringen müfste, wenn die Wände der Schwimmblase steif
genug wären, zu widerstehen. Die Gallerte in dem hintern Hals der
Schwimmblase des Ophidium Rochi mufs übrigens ihre Stellung verändern,
je nach dem verschiedenen Stand der Bewegung am vordern Theil des Or-
gans. Sie mufs nach einwärts hervortreten und die Schleimhaut hinein drän-
gen, wenn die Schwimmblase nach vorn verlängert wird, sie mufs in entge-
gengesetzter Richtung sich bewegen, wenn die Schwimmblase verkürzt wird
und auch wenn die Luft derselben durch die Körper- Wandungen des Fi-
sches zusammengedrückt wird.
4. Uber die Schwimmblase der Characinen, einer neuen Fa-
milie, in welcher dieses Organ mit dem Gehörorgane durch
eine Kette von Gehörknöchelchen verbunden ist.
Unter den Salmonen Cuvier’s giebt es eine Anzahl Gattungen von
4-5 Kiemenstrahlen aus den Flüssen Africas und Südamericas, welche sich
nach Cuvier’s Angabe durch eine quergetheilte Schwimmblase, ganz
gleich derjenigen der Cyprinoiden, auszeichnen. Es sind die Gattungen
Citharinus, Anodus, Pacu, Myletes, Tetragonopterus, Leporinus, Gasterope-
lecus, Schizodon, Chalceus, Serrasalmo, Piabuca, Hydrocyon. Diese Gat-
tungen haben sich zum Theil aus der Gattung Charax Gronovy entwickelt,
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 155
aber Gronov unterschied neben seinen Charax andere Gattungen Gaste-
ropelecus, Anostomus, welche ebenfalls hierher gehören, gleichwie Artedi’s
Gattung Teiragonopterus. Sie haben sämmtlich eine vordere kleinere und
hintere gröfsere Schwimmblase, wovon die hintere den Luftgang abgiebt,
beide verhalten sich sowohl in ihren Häuten als in ihrer Muskulatur ganz so
wie bei den Cyprinoiden. Die hintere besteht aus einer festen unelastischen
äufsern Haut, die mit der Schleimhaut innig verbunden ist, die andere be-
steht aufser der Schleimhaut aus 2 andern Häuten. Von diesen ist die äufsere
eine sich leicht ablösende dicke weiche faserige Membran, deren Fasern
leicht zerreifsen, und die selbst sehr leicht zerreifst. Die wichtigste Haut der
vordern Schwimmblase ist die zweite Membran. Diese ist fest aber elastisch
und dadurch unterscheidet sie sich wesentlich von der Haut der hintern
Schwimmblase. Bei den Oyprinoiden findet sich derselbe Unterschied der
vordern elastischen und der hinteren unelastischen Schwimmblase. Die
zweite Membran der vordern Schwimmblase besteht ganz aus elastischem
Gewebe, und man hat nicht leicht Gelegenheit, eine so dauerhafte zusam-
menhängende feste und zugleich höchst elastische Membran in solcher Aus-
dehnung zu benutzen.
Diese Membran ist an ihrem vordern Umfange durch ein Band an einen
eignen Fortsatz des 2. Wirbels befestigt, so dafs diese Stelle das punczum
fixum für die Volumsveränderung der Blase bilden mufs.
Die Characinen besitzen Muskeln an der Schwimmblase. Geoffroy
St. Hilaire') hat sie bei denjenigen des Nils bemerkt, es sind dieselben,
die bei den Cyprinoiden nach E.H. Weber’s?) Beobachtungen vorkom-
men. Die ältern Beobachter haben sie an der Schwimmblase der Cyprinen
verkannt und für Bänder genommen wie Treviranus°); dies ist sehr leicht,
wie ich aus eigener Erfahrung weils, wenn man die Schwimmblase in con-
trabirtem Zustande der queren Muskelfasern beobachtet. Weber’s Beob-
achtungen machen jedoch eine weitere Verkennung des Gegenstandes un-
möglich.
(') Description de ?’ Egypte. 2. Edit. Tom. 24. p. 222. 234.
(?) Weber de aure et auditu. Lips. 1820. p. 48.
(°) Vermischte Schriften. I. 161.
156 MÜLLER:
Die vordere Schwimmblase der Cyprinen besitzt einen Muskel an ihrer
untern Fläche. Er stellt eine muskulöse aus Querfasern bestehende Binde
dar, welche vom vordern Theil der Blase bis zum hintern reicht und welche
in die elastische Haut eingesetzt ist. Die Muskeln der hintern Schwimm-
blase sind doppelt, ein rechter und linker, und sind Binden, welche die gan-
zen Seiten der Blase bekleiden, sie bestehen ebenfalls aus Querfasern.
Am vordern Theil der hintern und am hintern der vordern Schwimm-
blase liegt noch ein ringförmiger Muskel aus radialen Fasern, in der Mitte
desselben geht das Verbindungsrohr der beiden Schwimmblasen ab.
Bei den vorher bezeichneten Gattungen der Salmonen, die eine dop-
pelte Schwimmblase haben, sind die Muskeln dieselben, nur bei einigen thei-
len sich die seitlichen muskulösen Binden von Querfasern vorn gabelförmig
und verbinden sich mit den Gabeln der entgegengesetzten Seite, wie es
Geoffroy St. Hilaire in der Description de U Egypte von Citharinus
Geoffroyi Cuv. beschrieben. So ist es auch noch bei Schizodon, Hydro-
cyon und a.
Eine doppelte Schwimmblase finde ich ferner bei der Gattung Ery-
ihrinus Gronov, welche Cuvier unter seine Clupeen gebracht hat.
Ihrer ist in dem ersten Artikel über die Schwimmblase gedacht. Bei der
von mir aufgestellten Gattung Macrodon verhält sie sich wie bei den genann-
ten Salmonen und bei den Cyprinoiden. Auch sind ihre Muskeln analog.
Bei der Gattung Erythrinus ist die hintere Schwimmblase in ihrer vordern
Hälfte zellig und ihre Seitenmuskeln reichen bis an den zelligen Theil.
Alle vorher genannten Fische besitzen auch eine Verbindung der vor-
dern Schwimmblase mit dem Gehörorgan durch eine Kette der Gehörknö-
chelchen. E.H. Weber hatte diese Verbindung bei den Cyprinus, Cobitis,
Silurus entdeckt !). Sie findet sich in allen Gattungen der wahren Cypri-
noiden (nach Abzug der Cyprinodonten), auch bei der schuppenlosen Aulo-
(') Die Verbindung der Schwimmblase ohne Gehörknöchelchen mit dem Labyrinth
durch lufthaltige Canäle, wie bei Clupea, findet sicb noch bei anderen Gattungen unter
Cuvier’s Clupeen, so bei Engraulis und Notopterus. Beim Kapirat gehen- vom vordern
Umfang der Schwimmblase zwei weite Canäle durch ansehnliche Öffnungen zum Labyrinth.
Bei Engraulis verhält es sich ganz wie bei Clupea. Butirinus hat die Verbindung nicht,
die Schwimmblase schickt vorn zwei blind endigende Blinddärmchen ab.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 157
pyge Heck. und ebenso bei allen mit einer Schwimmblase versehenen Silu-
roiden !).
Die Cyprinoiden umfassen die Weichflosser mit Gehörknöchelchen der
Schwimmblase, ohne Kieferzähne, mit grofsen Schlundzähnen unten, ohne
obere Schlundknochen. Die Coditis gehören dazu, ihre von Knochen ein-
geschlossene Schwimmblase ist dasselbe, was sich in mehreren Gattungen
der Siluroiden ereignet, Clarias, Heterobranchus, Heteropneustes Müll.
(Saccobranchus V al.) und Ageniosus. Bei den letzteren liegt die Schwimm-
blase in einer kleinen knöchernen Blase, die von den ersten Wirbeln gebildet
wird, an den Seiten offen und in der Mitte durch eine knöcherne Scheide-
wand getheilt ist. Bei Ageniosus militaris schickt sie durch 2 kleine ÖfE-
nungen nach hinten 2 freie Blinddärmchen ab.
Die Cyprinodonten Agass. gehören nicht zu den Cyprinoiden, sie
besitzen obere und untere Schlundzähne, Kieferzähne, und ihre einfache
Schwimmblase besitzt keine Verbindung mit dem Gehörorgan, weder durch
eine Kette von Gehörknöchelchen, noch auf andere Weise. So die Gattun-
gen Anableps, Cyprinodon, Poecilia, Fundulus, Molienesia, Orestias \V al.
Bei den Siluroiden ist die Schwimmblase immer mit dem Gehörorgan
‚durch Gehörknöchelchen verbunden. Ihre Schwimmblase ist in der Regel
einfach.
Bei einer neuen Art von Bagrus, welche sich durch 2 Felder von
Zähnen noch hinter Vomer und Gaumenzähnen auszeichnet und Typus einer
Untergattung ist, Bagrus (Sciades) emphysetus Müll. Trosch. ist die
Schwimmblase sehr lang und besteht aus 3 hintereinander liegenden durch
Verengungen zusammenhängenden Blasen.
Ich finde die Verbindung der Schwimmblase mit dem Gehörorgan
durch 3 Gehörknöchelchen in ganz gleicher Weise wie bei den Cyprinoiden,
bei den Erythrinen und bei allen vorher angezeigten sogenannten Salmoni-
den aus Africa und Südamerica, unter welchen letztern die Gegenwart der
Gehörknöchelchen bei Gasteropelecus von Heusinger ?) angezeigt ist. Die
(') Die Gattungen Hypophthalmus, Cetopsis und Pygidium (Meyen Wiegm. Arch. 1835.
2. 269 Eremobius Val.) sind ohne Schwimmblase. Die Gruppe der Loricarien ist auch
ohne Schwimmblase, sie ist von den Siluroiden durch den Besitz der Pseudobranchien ver-
schieden.
(?) Meckel’s Archiv. 1826. 325.
158 MÜrLvER:
von mir untersuchten Gattungen sind Myletes, Tetragonopterus, Chalceus,
Citharinus, Serrasalmo, Piabuca, Hydrocyon, Anodus, Leporinus, Schizodon,
Xiphostoma, Gasteropelecus, Pacu. Hierher gehört auch die neue Gattung
Hemiodus Müll.
Im Zwischenkiefer eine Reihe Zähne, wie runde Blättchen, am Rande
gezähnelt, im Unterkiefer keine Zähne.
Art Hemiodus unimaculatus.
Synon. Gronov. Zoophyl. n. 379.
Salmo unimaculatus Bloch. tab. 381. fig. 3.
Dlemiodus erenidens Müll. Monatsbericht der Akademie der
Wissensch. 1842. Juni. p. 324.
B:5:. Die da ai ak
Die Stelle, welche Cuvier den Erythrinen angewiesen, nämlich un-
ter den Clupeen, ist unpassend. Sie weichen von allen Clupeen durch die
Gehörknöchelchen der Schwimmblase, die doppelt ist, wie bei den Cypri-
noiden, ab.
Genau dieselben Verhältnisse finden sich bei den oben erwähnten Cha-
racinen, die Gasteropelecus, Myletes, Tetragonopterus, Chalceus, Citharinus,
Serasalmo, Piabuca, Hydrocyon, Anodus, Xiphostoma, Schizodon, Lepori-
nus, Hemiodus, Pacu haben nicht blofs die Gehörknöchelchen sondern auch
die getheilte Schwimmblase der Cyprinen, sie unterscheiden sich auch von
allen übrigen Salmonen Guviers, dafs sie keine sichtbaren Nebenkiemen
besitzen, worin ihnen wieder die Erythrinen gleich kommen, welche gleich-
sam Hydrocyon ohne Fettilossen sind. Die Fettflosse, auf deren Gegenwart
Cuvier seine bunt zusammengesetzte Familie der Salmonen gründete, kann
nicht zur Bildung natürlicher Familien benutzt werden, sie kommt vor und
fehlt in verschiedenen Gattungen einer und derselben sicher begründeten
Familie, der Siluroiden. Ich vereinige alle mit einer getheilten Schwimm-
blase und mit Gehörknöchelchen versehenen beschuppten Fische ohne die
grolsen Schlundzähne der Cyprinen, ohne sichtbare Nebenkiemen, mögen
sie eine Fettllosse haben oder nicht, mögen sie bezahnt, halbbezahnt ( Hemi-
odus) oder zahnlos ( Anodus) sein, in eine neue Familie, welche ich Cha-
racini nenne und welche zu den sichersten und schärfsten Familien der
Fische gehört. Die Gegenwart oder der Mangel der Zähne ist in einer und
derselben natürlichen Familie völlig untergeordnet. In vielen Familen giebt
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 159
es bezahnte und zahnlose Gattungen, so sind unter den Clupeen die Cha-
toessus, unter den Salmonen die Coregonus, unter den Siluroiden die Hypo-
phthalmus zahnlos. Die Characinen haben sackförmige Eierstöcke, welche
die Eier selbst ausführen, diese fallen nicht in die Bauchhöhle wie es bei den
Salmen der Fall ist. Gleich den Characinen mit Fettflosse verhalten sich
auch in dieser Hinsicht die Erythrinen.
Nach Abzug der Characinen von den Salmonen Cuvier’s bleibt
noch ein Gemisch von Fremdartigen übrig, vereint durch die Fettflosse. Alle
diese haben kiemenartige Nebenkiemen. Ich theile sie nochmals in 2 Fami-
lien, die eigentlichen Salmones oder Salme und die Scopelini.
Unter den Salmones verstehe ich blofs die eigentlichen Salmo mit
ihren Untergattungen, bei welchen die von Carus entdeckte Eigenthümlich-
keit vorkommt, dafs die Eier in die Bauchhöhle fallen und durch eine Öff-
nung derselben ausgeführt werden, während der Samen der Männchen durch
einen eigentlichen Samengang abgeht. Ihr Maul wird vorn vom Zwischen-
kiefer, seitlich vom Oberkiefer begrenzt Sie haben nur eine einfache
Schwimmblase ohne Gehörknöchelchen. Hieher gehören nur die Gattungen
Salmo, Osmerus, Coregonus, T’hymallus, Mallotus, Argentina. t
Die Scopelinen sind Fische mit Fettflosse, meist ohne Schwimmblase,
ihre Zähne sind nur im Zwischenkiefer und der Öberkiefer begleitet sehr
characteristisch nur wie eine Leiste den Zwischenkiefer. Ihre Eierstöcke
verhalten sich nicht wie bei den Salmonen, sondern sind wie bei andern Fi-
schen Eiersäcke, in welche die Eier fallen und aus welchen sie ausgeführt
werden, wie man bei Aulopus und Saurus sehen kann. Hieher die Gat-
tungen Aulopus, Scopelus, Saurus, Odontostomus, Chlorophihalmus, Sterno-
piyx und mehrere andere, die ich in einer besondern Abhandlung über die
natürlichen Familien der Fische analysiren werde.
Ich kehre zur Familie der Characinen zurück. Sie enthält theils
Fleischfresser, wie Hydrocyon, Erythrinus, Macrodon, Serrasalmo u. a.
theils Pflanzenfresser, wie die Citharinus, Schizodon, Leporinus u. a., theils
solche, die von Pflanzen und Insecten leben, wie Myletes, Chalceus. Es
giebt auch welche, die blofsen erdigen und infusorienhaltigen Schlamm fres-
sen, wie die Anodus, Hemiodus. Alle haben einen Blindsack des Magens,
selten ist er wenig ausgebildet, wie bei Memiodus. Bei einigen entwickelt
sich der aufsteigende Canal des Magens, Branche montante, zu einem
160 MÜüuLLer:
sehr fleischigen Magen, gleich wie bei den Mugil und den Stören. Diese
Erscheinung ist von Rob. Schomburgk !) bei den Pacu beobachtet.
Viel stärker und eben so sehr als bei den Mugil ist dieser Muskelmagen bei
den Anodus entwickelt. Weniger bei Hemiodus. Bei Anodus trifft der
Muskelmagen mit sehr langem Gedärm zusammen, wie bei Mugil, bei He-
miodus mit einem kurzen Darm. Die Bedeutung dieses Magens ist um so
weniger bekannt, als die Anodus nur feine Infusorienerde innerhalb dieses
Muskelmagens haben, welche seine kleine Höhle ganz ausfüllt.
Alle Characinen haben pylorische Blinddärme. Bei den mehrsten
reicht ihre Zahl nicht unter 10 und nicht über 30, 40, 50. Aber bei den
Pacu und Citharinus nefasch sind sie unzählbar. Die Länge des Darms ist
wie bei den Cyprinoiden den gröfsten Variationen unterworfen. Es giebt
wie dort Characinen mit sehr kurzen Därmen, wie die Hydrocyon, wo der
Darm nicht einmal eine Windung macht, andere wo er sich mehrmal windet,
wie Citharinus nefasch, und endlich solche, wo die Windungen äufserst zahl-
reich und die Därme fadenförmig sind, wie bei Anodus. Diese entsprechen
den langdärmigen Labeo unter den Cyprinoiden und Hypostoma unter den
Locarinen. Zwischen Länge des Darms und Zahl der Blinddärme giebt
es kein bestimmtes Verhältnifs. Denn es giebt Gattungen mit vielen Win-
dungen und sehr zahlreichen Blinddärmen.
Aunwhwabng:
Erläuterungen zu der Abhandlung über die Schwimmblase,
betreffend die Statik der Fische.
Die Fische haben wie alle Thiere die gröfste Empfindlichkeit für die Verän-
derung des Gleichgewichtes ihres Körpers, und reagiren dagegen theils durch will-
kührliche, theils durch instinktmäfsige Bewegungen. Die letztern äulsern sich am
auffallendsten an ihren Augen. Wenn ein Fisch aus seiner gewöhnlichen Stellung
gebracht wird, so suchen die Augen ihre Stellung zu behaupten. Diese der künst-
lichen Veränderung der Stellung des Fischkörpers entgegengesetzte Bewegung erfolgt
(') Fishes of Guiana. p.1. Edinb. 1841. p. 259. 262.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 161
mit physischer Nothwendigkeit und ist so lange an einem Fische bemerkbar, als er
lebendig ist, daher sie allein hinreicht, sich von dem Leben oder Tod eines Fisches
zu überzeugen. Wird ein lebender Fisch aus der gewöhnlichen Stellung auf die
Seite gelegt, so strebt er mit den Augen die Stellung gegen den Horizont, so weit
es die Lageverhältnisse und Befestigung der Augen gestatten, zu behalten. Wird er
erst auf die Seite gelegt und dann noch weiter umgedreht, bis der Bauch oben hin
kommt, so stellt sich die normale Stellung der Augen oder das Gleichgewicht wieder
her, und sie stehen so, wie bei der Lage mit dem Bauche nach unten. Wird ein
Fisch um eine Querachse der verticalen Ebene seines Körpers gedreht, so erfolgen
dagegen Rotationsbewegungen der Augen um ihre eigene Achse, bei der Drehung
nach oben oder unten in entgegengesetzter Richtung. Beide Abweichungen betragen
zusammengerechnet gegen 45°. Bei der Drehung aus.der Bauchlage in die verticale
Stellung der Längsachse des Körpers, so dafs der Kopf oben oder unten hin kommt,
erfolgt die Drehung der Augen in umgekehrter Richtung mit der Drehung des Kör-
pers. Bei der Drehung aus der verticalen Stellung der Längsachse in die Rücken-
lage drehen sich die Augen in gleichnamiger Richtung mit dem Körper. Bei der
Rückenlage haben die Augen wieder ihre normale Stellung gleich wie in der Bauch-
lage. Diese Beobachtungen sind am Hecht, Esox lucius, und an der Plötze, Cyprinus
(Leuciscus) erythrophthalmus, angestellt.
Die Erhaltung des Gleichgewichts des Fischkörpers im Wasser ist von der
Schwimmblase unabhängig. Diese ist ihm dazu eher hinderlich als förderlich, vielmehr
wird das Gleichgewicht, dafs der Fisch nämlich horizontal schwebend, den Rücken
nach oben behält, allein durch die Thätigkeit der Flossen, und zwar theils durch
die horizontalen Flossen, noch mehr aber, und schon allein hinreichend, durch die
verticalen Flossen behauptet.
Ein lebender Hecht, dem ich die horizontalen Flossen, nämlich Brustflossen
und Bauchflossen, abgeschnitten hatte, konnte sich noch im Gleichgewicht erhalten,
aber als die Rücken- und Afterflosse abgeschnitten war, fiel er auf die Seite und
sogar auf den Rücken.
Einer lebenden Plötze wurden alle horizontalen Flossen abgeschnitten. Sie
fiel auf die Seite, und dann ganz um, den Rücken nach unten, aber schief. Eine
andere, die lebhafter zu sein schien, konnte nach dem Abschneiden aller horizon-
talen Flossen noch recht gut schwimmen, sie fiel nicht auf die Seite, und erhielt
sich vollkommen im Gleichgewicht durch die Rücken- und Afterflosse. Sie schwamm
entweder mit der ganzen Schwanzflosse, die nach einer Seite geschlagen wurde, oder
mit dem obern Lappen der Schwanzflosse allein, oder mit beiden Lappen der
Schwanzflosse, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegten.
Wenn eine Plötze das Gleichgewicht völlig verloren hat, so liegt sie in der
Regel schief im Wasser mit dem Rücken nach unten und seitwärts. Diese Lage
scheint davon herzurühren, dafs der leichteste Theil zwischen Rücken und Bauch,
Physik.-math. Kl. 1843. X
162 MöürLter:
der Rücken aber schwerer als der Bauch ist. Ein im Wasser schief liegender Fisch
kann einer im Wasser aufgehängten Wage verglichen werden mit ungleich schweren
Armen, deren Hypomochlion der leichteste Theil des Fisches, die Schwimmblase ist.
Auf kurze Zeit mufs es allerdings möglich sein, dafs der Fisch vertical liegt, den
Rücken gerade nach unten, aber die geringste Bewegung im Wasser mufs ihn auf
die Seite schief umlegen.
Die mit einer Schwimmblase versehenen Fische sind doch oft schwerer als
Wasser. Ein lebender Hecht, dem ich die horizontalen Flossen, auch die After-
und Rückenflosse, abgeschnitten hatte, sank ganz unter. Eine lebendige Plötze sank
mit unversehrten Flossen zu Boden und schwamm auf dem Boden des Gefälses. In-
dessen stehen viele mit einer Schwimmblase versehenen Fische in Hinsicht ihres speci-
fischen Gewichtes dem des Wassers so nahe, dafs eine Kleinigkeit hinreicht, sie an
die Oberfläche zu halten oder zu Boden sinken zu lassen '). Eine Plötze, die ich lange
in den Händen gehabt hatte, schwebte unter der Oberfläche des Wassers; als ich
sie todt am andern Tage wiedersah, lag sie am Boden des Gefäfses, wahrscheinlich
weil ein Theil der Luft durch Erschlaffung des Ausführungsganges der Schwimm-
blase ausgetreten war. Eine andere Plötze, der ich frisch das Gehirn quer ge-
theilt hatte, sank unter, entweder weil die Muskeln der Schwimmblase contrahirt
waren und die Luft derselben mehr verdichtet war als in der ersten, oder ein
Theil derselben ausgetreten war. Eine lebendige Plötze, die vor dem Abschneiden
der Flossen schwerer als Wasser war und auf dem Boden eines tiefen Behälters
schwamm, befand sich nach dem Abschneiden der horizontalen Flossen dicht unter
der Oberfläche. Sie schwamm. im Gleichgewicht, und zuweilen näherte sie sich dem
Boden, und schwebte hier, ohne dafs dies von Schwimmbewegung abhängig war.
Es reicht also bei einem mit der Schwimmblase versehenen Fisch eine geringe
Zusammendrückung der Schwimmblase, sei es durch ihre eigenen Muskeln oder, wenn
sie keine besitzt, durch die Muskeln der Seitenwände hin, um den Fisch sinken zu
machen und umgekehrt.
In grolsen Tiefen wird der Fisch schon durch den stärkern Druck des Was-
sers auf die Blase befähigt, in der Tiefe zu verweilen.
Wenn ein Fisch sich dicht unter der Oberfläche des Wasser befindet, so ist
seine Schwimmblase ungefähr so ausgedehnt, wie sie in der atmosphärischen Luft
über dem Wasser sein würde und wie wir sie sehen, wenn wir den Fisch aus dem
Wasser herausnehmen und seine Schwimmblase untersuchen. Die Schwimmblase der
frischen Cyprinoiden ist dann immer sehr ausgedehnt. Es ist das Maximum ihrer
Ausdehnung bei dem geringsten Druck. Steigt ein Fisch von der Oberfläche bis 32
(') Die grölsere specifische Schwere des Wassers in grolsen Tiefen kommt nicht in Betracht, da das
Wasser durch einen Druck von 326 Atmosphären nur um 0,035, durch eine Atmosphäre 0,0001 com-
P I
primirt wird.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 163
Fufs hinab, welches gleich- ist dem Druck einer Atmosphäre, so erleidet die Luft
seiner Schwimmblase einen doppelt so hohen äufsern Gegendruck als an der Ober-
fläche, sie steht also unter dem Druck von 2 Atmosphären und ihr Volumen mufs
nach dem Mariotte’schen Gesetz halb so grofs sein als an der Oberfläche. Bei
320 Fufs Tiefe drücken 11 Atmosphären auf die Schwimmblase. Ihr Volumen und
das ihrer Luft muls 11 mal so gering sein als an der Oberfläche. Ein Fisch, der
in 1000 Fufs Tiefe lebt, hat das Volumen der Schwimmblase 32 mal kleiner, als wenn
er an der Oberfläche des Wassers ist. In diesem Zustande mufs die Schwimmblase
ganz collabirt sein.
Würde ein Fisch von der Oberfläche in eine grofse Tiefe, und dann von der
Tiefe wieder schnell zur Oberfläche steigen, so würde die Luft der Schwimmblase
sich gerade wieder zu dem Volumen ausdehnen, das sie vor dem Senken gehabt hat,
und es ist kein Grund vorhanden, anzunehmen, dafs diese platzen soll. Hat aber ein
Fisch längere Zeit in der Tiefe gelebt, und hat sich die Luft, selbst bei ihrer Ver-
dichtung, durch neue Absenderung vermehrt, und er wird dann plötzlich ge-
fangen an die Oberfläche heraufgezogen, so wird die Schwimmblase entweder
platzen müssen oder durch die zu grolse Ausdehnnng ein Theil der Baucheingeweide,
z.B. der Magen durch den Mund herausgeprefst werden.
Die mit einem Luftgang versehenen Fische, die Malacopterygü abdominales,
die Aale und Störe können sich gegen diese Gefahr schützen, indem sie einen Theil der
Luft durch den Luftgang als durch ein Sicherheitsventil austreten lassen, durch Wir-
kung der Muskeln der Schwimmblase oder Seitenwände. Wenn die Luft der
Schwimmblase in der Tiefe des Wassers stark comprimirt ist, so wird keine Luft
von selbst durch den Gang austreten können, weil er nach unten von der Blase
abgeht. Es ist also ganz derselbe Fall, wie wenn ich ein Glas mit Luft in Wasser
umstürze und immer tiefer hinabsenke, die Luft wird immer stärker comprimirt ein
immer kleineres Volumen einnehmen, nichts davon kann entweichen. Polypterus
bichir ist der einzige Fisch, wo der Luftgang nach oben, d.h. in der untern Wand
des Schlundes nnd zwar mit einem weiten Schlitz sich öffnet. Da die Schwimm-
blasen selbst höher liegen als die Ausmündung, so ist der gröfsere Theil der Luft
von selbst vor dem Entweichen gesichert, und nur derjenige Theil der Luft, der den
unpaaren Anfang der beiden Schwimmblasen nahe der Öffnung füllt, mufs durch den
Sphincter vom Entweichen gehindert werden. Wenn ein Theil davon von Zeit zu
Zeit entweicht, so wird er ohne Zweifel durch beständige Absonderung der Luft
wieder erzeugt, es ist auch möglich, dafs diese Fische Luft an der Oberfläche des
Wassers schlucken, ihre Spritzlöcher, mit knöchernen Klappen versehen, und mit
Muskeln derselben, werden sie daran nicht verhindern.
Das combinirte System einer vordern elastischen und hintern unelastischen
Schwimmblase, wie es bei den Cyprinoiden und Characinen erscheint, bringt ein
neues Element in die Statik der Fische. Es kann den vordern oder hintern Theil
xX2
164 MürvLer:
des Fisches leichter machen und ein Aufsteigen des einen und andern Theils bedin-
gen. Obgleich die Cyprinoiden meist horizontal im Wasser schweben, so habe ich
doch gesehen, dafs diese Stellung nicht constant bleibt, auch dann, wenn sie sich durch
ihre horizotalen Flossen nicht ändern kann. Eine Plötze, der alle horizontalen Flos-
sen abgeschnitten waren, und welche noch ganz im Gleichgewicht schwebte und
schwamm, behielt bald eine mehr horizontale Stellung, bald hingegen war das Hinter-
theil höher und der Kopf unten, und sie schwebte eine lange Zeit in dieser Stellung.
Wenn die Muskeln der hintern Schwimmblase allein wirken, so mufs ein Theil der
Luft in die vordere Blase gedrückt und diese bei ihrer Elastieität ausgedehnt wer-
den, der Fisch also vorn leichter werden und aufsteigen. Umgekehrt mufls die
Contraction und Verkleinerung der vordern Blase den vordern Theil des Körpers
specifisch schwerer machen.
Drückt man an einer herausgenommenen Schwimmblase eines Cyprinen nach
Unterbindung des Luftganges die hintere zusammen, so läfst sich die vordere um %
ihres Volumens ausdehnen, wie man sieht, wenn man die vordere Schwimmblase
dabei in ein graduirtes Gefäfs mit Wasser eingetaucht hat und das Niveau des Was-
sers beobachtet. Die hintere Schwimmblase verändert ihr Volumen so gut wie gar
nicht beim Zusammendrücken der vordern, wenigstens nicht bei der noch vollen
gespannten Schwimmblase einer frischen Plötze. Ist aber ein Theil der Luft erst
ausgetreten, so läfst sich auch die hintere Schwimmblase erweitern durch Zusam-
mendrückung der vordern, indem das Gewebe der hintern Blase zwar unelastisch
ist, aber doch gleich andern Häuten bis auf einen gewissen Grad ausgedehnt werden
kann. Dieser Grad ist aber bei dem Volumen, welches die Schwimmblase eines
frisch aus dem Wasser geholten Cyprinen hat, bei der hintern Blase schon erreicht,
während die vordere im höchsten Grade ausdehnbar bleibt.
Bringt man die Schwimmblase eines frischen Cyprinen in die Luftpumpe,
so schwillt die hintere Schwimmblase wenig oder gar nicht an, die vordere aber
dehnt sich auffallend aus. Und läfst man den Druck der Atmosphäre wieder plötz-
lich zu, so zieht sich die vordere Blase schnell und sichtbar durch ihre Elastieität
auf ihr voriges Volumen zurück. Hieraus kann man abnehmen, wie eine Compres-
sionspumpe auf diese Blase wirkt. Denn beim Zutritt der Luft geschieht dasselbe
wie wenn ich die Blase an der Luft in eine Compressionspumpe bringe.
Man darf diese Blasen nicht lange im luftleeren Raum lassen, sie verlieren
sonst einen grolsen Theil der Luft durch Entweichen durch die Wände.
Aus diesen Versuchen kann man sich einen Begriff machen, wie der mit der
Tiefe des Wassers zunehmende, beim Aufsteigen abnehmende Druck des Wassers
verschieden auf die beiden Blasen wirken ınufs. Denn wenn die Fische hinabstei-
gen, so mufs die vordere Schwimmblase sich stärker vermindern als die hintere, weil
ihre Elasticität mit dem verminderten innern Druck zusammenkommt. Die Fische
werden daher von selbst in eine dem Herabsenken entsprechende Stellung kommen,
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 165
und sie auch in der Tiefe behalten. Wenn sie dagegen aufsteigen, so wird sich in
dem Grade, als sich der Druck der Wassermassen vermindert, das Volumen der
vordern Schwimmblase stärker als die hintere ausdehnen, und der Fisch nothwendig
dadurch eine schief aufsteigende Stellung bekommen. Die Muskeln, welche jede der
Blasen besitzt, können, wenn sie allein wirken, diese Wirkungen aufheben und dem
Fische in jeder Tiefe eine horizontale Schwebung sichern.
Was bei den Characinen und Cyprinoiden durch ihre doppelte Schwimm-
blase geschieht, das ist bei den Ophidien und Siluroiden, die den beschriebenen
Springfederapparat besitzen, auf andere Weise ersetzt. Alle diese Einrichtungen
bezwecken die Erweiterung des vordern Theils der Schwimmblase.
ANNO NND
Erklärung der Abbildungen.
Nach dem Druck der Abhandlung sind (April 1845) neue Materialien zur Anatomie
der Myxinoiden angelangt, welche noch für die Abbildungen benutzt werden konnten. Hr.
Dr. Peters hat nämlich vom Cap 12 Stück des grolsen südlichen Myxinoides in Weingeist
eingesandt, diese waren zum Theil so gut erhalten, dals mir bei einzelnen die Injection der
Blutgefäfse noch theilweise gelang. Hierdurch bin ich in den Stand gesetzt, über das Ver-
halten der Arterien zu den Gefälskörpern der Nieren weitere Aufschlüsse zu geben. Es
wurden die Arterien beobachtet, welche aus den Gefälskörpern wieder herauskommen und
sich dann in der Capsel des Gefälskörpers und dem leitenden System verzweigen. Daher
sich die Gefälskörper der Nieren mit ihren zuführenden und ausführenden Arterien ganz
wie die Gefäfskörper oder amphicentrischen Wundernetze der Schwimmblase verhalten. Der
grölste Theil des Ureters, die davon ausgehenden kurzen Gänge und die Capseln selbst er-
halten ihr arterielles Blut aus dem Gefälskörper der Capseln durch die ausführende Arterie
des Gefälskörpers, welche die Capsel wieder verlälst, der Urezer erhält aber auch einige
_ arterielle Zweige, welche von den Gefälskörpern unabhängig sind und Zweige von Ästen der
aorta zu den Seitenmuskeln sind. Ein von den Gefälskörpern unabhängiger Zweig zum
ureter entsprang selten selbst aus der zuführenden Arterie des Gefälskörpers, ehe dieser in
die Capsel des Gefälskörpers eintrat. Dies Verhalten ist auch analog demjenigen der Arte-
rien in der Schwimmblase der mehrsten Fische, deren innere Haut aulser den Arterien, welche
aus den Wundernetzen kommen, auch Zweige von Arterien erhält, die von den Gefälskör-
pern unabhängig sind. Diesmal gelang es auch die Venen der Nieren zu beobachten, sie
entspringen auf dem harnleitenden System und treten zahlreich zur hintern Körpervene ihrer
Seite, aus den Gefälskörpern der Nieren treten keine Venen hervor.
Sämmtliche letzterhaltene Exemplare des Thieres hatten nur 6 Kiemenöffnungen auf
jeder Seite. Bdellostoma Forsteri Müll. var. hexatrema, welche Varietät daher ungleich
häufiger ist als var. heptatrema. Vgl. Abhandl. d. Akadem. d. W. a. d. J. 1838. p. 173.
166
Fig.
Fig.
ke
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
MÜLLER:
Taf. 1.
Eingeweide der Myxinoiden.
1. Unterleibseingeweide der Myxine glutinosa.
a. Leber. a’. Gallenblase. d. Darm. c. Gekröse. d. Hoden an seinem Ho-
dengekröse. e. Niere der rechten Seite. /. Schleimsäcke. gA. Cloake.
g. After. Ah. porus urogenitalis.
DD
Vorderer Theil der Niere von Bdellostoma Forsteri in natürlicher Gröfse.
a. Harnleiter, d. davon ausgehender kurzer Harncanal, c. Verengung zwi-
schen diesem und der Capsel d, in welcher der Gefälskörper e aufgehängt ist.
f. Arterie des Gefälskörpers die Capsel durchbohrend, entspringt meist aus den
den Arteriae intercostales und Zumbales entsprechenden Arterien der Leibes-
wände, oder auch direct aus & der Aorta. g. Oberes blindes Ende des Harn-
leiters. A. Nebenniere.
. 3. Ein Theil der Niere in natürlicher Gröfse. Bezeichnung wie in der vorigen
Figur.
4. Gefäflsverzweigung der Nieren von Bdellostoma Forsteri.
A. Ureter. B. Davon ausgehender Harncanal. €. Aufgeschnittene Capsel des
Gefäfskörpers. D. Injicirter Gefälskörper. a. Zuführende Arterie desselben,
5b. ausführende Arterie. c. Eine vom Gefäfskörper unabhängige Arterie des
Ureters. d. Eine vena renalis zur hintern Körpervene. Siehe über diese Ge-
fälse die Vorbemerkungen zur Erklärung der Abbildungen.
5. Eine ähnliche Ansicht von einer andern Stelle bei noch geschlossener Capsel.
A. Ureter, B. Ast desselben, €. Capsel des Gefälskörpers. -a. Arterie des
Gefäfskörpers in die Capsel eintretend. 5. Ausführende Arterie des Gefäls-
körpers aus der Capsel austretend. 2’. Zweig derselben zur Capselhaut. 2”.
Zweige derselben zum Ast des Ureters, 2’’ zum Ureter.
6. Ein von der Aoria aus injieirter Gefälskörper D. aus seiner Capsel herausge-
nommen mit der zuführenden Arterie @ und ausführenden Arterie d, ver-
gröfsert.
Ein injieirter Gefälskörper innerhalb seiner aufgeschnittenen Capsel.
A. Ureter. B. Ast desselben. C. Capsel. D. Gefäfskörper. a. Zuführende,
db. ausführende Arterie des Gefälskörpers und ihre Zweige zum harnleitenden
System. ;
8. Ein Stück der Nebenniere, von Myxine glutinosa vergrölsert, Zobuli derselben.
x
8*. Ein einzelner Zodulus.
a. peritoneum. b. Zellenschnur. c. Bindegewebe und Blutgefäfse.
8%**, Einzelne Zellen aus der Reihe 2 isolirt.
9. Gallenblase von Myxine glutinosa.
A. Darm. B. Vordere, C. hintere Leber. D. Gallenblase. 6. c. Gallengänge,
d. Gallenblasengang.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 167
Taf. TI:
Eingeweide der Myxinoiden uud Plagiostomen.
1. Kiemensack von Bdellostoma Forsteri.
4%. Schleimhaut des Kiemensacks und ihre radialen Scheidewändchen mit den Quer-
fältchen der letztern.
1*#*, Muskelfasern des Kiemensackes.
a. Ringförmige Muskelbündel des Kiemensacks, 5. Muskelbündel des äufsern
Kiemenganges, c. des innern Kiemenganges.
2. Falten des Darms von Bdellostoma Forsteri.
Hodenbläschen am Hodengekröse von Bdellostoma Forsteri, natürliche Grölse.
R
.4. Der Reife nahe Eier am Eierstockgekröse von Myxine glutinosa, natürliche Gröfse.
Vergl. die Abbildung in der vergl. Neurologie der Myxinoiden. Abh. d. Akad.
d. Wissensch. a. d. J. 1838 Taf. II. Fig. 6.
5. Reifes Ei vom Eierstockgekröse von Bdellostoma Forsteri, natürliche Gröfse.
6. Sehr junges noch durchsichtiges und rundes Ei von Myxine glutinosa, frisch unter
dem Mikroskope.
a. Eihaut. a’. Dotterkörnchen, noch sehr klein und rundlich. 5. Keimbläschen,
c. darin enthaltene Zellen, welche ein oder mehrere kernartige Körperchen
enthalten.
ST
.
Junges noch durchsichtiges, aber schon verlängertes Ei der Myzine glutinosa, frisch
unter dem Nikroskop. Bezeichnung dieselbe.
. 8. Dotterkörner aus reifern Eiern von Myxine glutinosa, sie sind grölstentheils frei,
einzelne @ aber mit einem Hofe umgeben, der einer Zelle ähnlich sieht.
. 9. Aufgewickelte Fadenkörper aus den Schleimsäcken der Myxine unter dem Mikroskop.
. 10. Blutkörperchen der Myxina giutinosa. Fig. 10’. Dieselben jung, d.h. rund und kleiner.
. 11. Lymphkörperchen des Blutes.
. 11’. Metamorphosirte seltenere Lymphkörperchen des Blutes.
. 12. Cloake der Myzine.
a. Sphincter der Cloake, entspringt auf jeder Seite auf den Seitenmuskeln. und
vor dem After findet eine theilweise Kreuzung der Bündel statt. Die innersten
Bündel bilden Schleifen um die Cloake. 2. Darm. c. After. d. porus uro-
genitalis, ist vom After durch eine halbmondförmige Falte getrennt. Dieser
porus führt nach der Richtung der Sonde in die Bauchhöhle. Die Öffnung
ist aulsen einfach, inwendig wird sie durch das Ende des Darmgekröses in eine
rechte und linke Hälfte getheilt.
13. Geschlechtsorgane eines Scoliodon.
A. Intestinalgekröse. B. Einseitiger Eierstock. €.C. Epigonale Substanz, in
den Bauchfellfalten D. D.
14. Eileiterdrüsen des Mustelus vulgaris, die eine Hälfte ist aufgeschnitten.
15. Zusammenhang des Hodens und Nebenhodens bei Torpedo marmorata.
16. Hodenbläschen und die davon entspringenden Canälchen von Scyliium canicula.
168
=
er)
Yo
MÜLLER:
Taf. II.
Schwimmblase der Welse.
Vorderer Theil des Skelets von Synodontis Schal.
a.b. Knochenfeder für die Schwimmblase.
Die Wirbelsäule allein mit der Knochenfeder.
a. Wurzel der Feder. 2. Platte derselben, welche die Schwimmblase ein-
drückt. ce. Processus muscularis.
Knochenfedern von unten und hinten angesehen. Bezeichnung dieselbe.
Die Schwimmblase des Synodontis in situ.
a. Schwimmblase. 2. Muskel.
Schwimmblase von Auchenipterus nodosus in situ.
a. Schwimmblase. d. Knochenfeder.
Dasselbe mit dem Muskel der Knochenfeder c.
Die beiden Schwimmblasen von Bagrus filamentosus.
a. Vordere und 2. ihre Muskeln und c. Hörner. d. Hintere Schwimmblase.
Die hintere Schwimmblase allein.
Dieselbe aufgeschnitten, zellige Structur.
Knöcherne Schwimmblase von Ageneiosus militaris.
a. Öffnungen, woraus b. die Blinddärme hervortreten. c. Erster Wirbel.
Taf.’ IV.
Schwimmblase der Ophidien*) und Welse.
Ophidium barbatum Müll.
a. Knochenstück, am ersten Wirbel eingelenkt, mit dem davon ausgehenden
Bändchen zum halbmondförmigen Knochen c. der Schwimmblase. 2. Fortsatz
vom Basilartheil des vierten Wirbels, schon der dritte trägt etwas dazu bei,
dann auch der fünfte und sechste, welche an der Basis die Knochenplatte bil-
den, welche der Schwimmblase zur Befestigung dient. Diese Knochenplatte
verbindet sich mit dem Fortsatz d, welcher hauptsächlich dem vierten Wirbel
angehört. Die Rippen sind aulserdem vorhanden. a’. Muskel zur Bewegung
des Knochenstücks a. c. Halbmondförmiger Knochen der Schwimmblase. a. Bänd-
chen desselben, von dem beweglichen Knochenstück @ entspringend. e. Muskeln,
welche den halbmondförmigen Knochen der Schwimmblase vorwärts ziehen.
Fig. 2. Ophidium Rochü Müll.
a. Wie in Fig. 1.
*) Ich habe kürzlich Gelegenheit gehabt Ophidium blacodes Forster zu untersuchen und mich über-
zeugt, dals dieser Fisch, obgleich er von den andern Ophidien durch die Gegenwart der appendices pylo-
ricae abweicht, doch ein wahres Ophidium ist.
Dr Wr)
x
Untersuchungen über die Eingeweide der Fische. 169
Knochenfortsätze von der Wirbelsäule, welche den Hals der Schwimm-
blase festhalten, entsprechen den Fortsätzen 2. Fig. 1.
Keilförmiger Knochen der Schwimmblase.
Wie Fig. 1.
Muskel.
Vorderer, y- hinterer Hals der Schwimmblase.
Fig. 3. Ophidium Broussonedi Müll.
dad.
e.
Bewegliches Knochenstück mit Muskel wie in Fig. 1. und 2., davon geht
ein Bändchen zur Schwimmblase ohne Knochen.
Fortsatz von der Wirbelsäule wie in den vorigen Figuren, davon ein
Bändchen zur Schwimmblase.
Muskeln, welche den vordern Theil der Schwimmblase anziehen.
Fig. 4. Ophidium brevibarbe Cuv. Brasil.
a.
b.
Bewegliches Knochenstück, am ersten Wirbel eingelenkt.
Fortsatz der Wirbelsäule, auf jeder Seite, sich an die Schwimmblase an-
legend und sie festhaltend.
Henkelförmiger Fortsatz der Schwimmblase.
Fibrösknorpeliges Polster zwischen der äufsern und innern Haut der
Schwimmblase, den Knochen ersetzend.
Bändchen, welches von dem Knochen a. zur andern Seite durch den hen-
kelförmigen Fortsatz c. durchgeht.
Zweites Bändchen von dem Knochen a. zur Schwimmblase.
Tiefer kleinerer Muskel zur Bewegung des Knochens a.
a”. Oberflächlicher gröfserer Muskel zur Bewegung desselben Knochens, wo-
durch der Muskel e. der vorigen Figuren ersetzt wird, der Muskel ist
auf der einen Seite vom Knochen a. abgelöst, um diesen Knochen ganz
blos zu legen.
Fig. 5. Ophidium Vasallii Risso.
a.
b
c.
c
Knochenstück an der Wirbelsäule eingelenkt.
Fortsätze der Wirbelsäule.
Knochenplatte auf jeder Seite der vordern Wand der Schwimmblase.
Zweite Knochenplatte auf jeder Seite der Schwimmblase.
Man sieht diese zweite besser in der aufgeschnittenen Schwimmblase
Fig. 5*.
Muskel, welcher die Knochenplatte c. nach vorn zieht, wodurch c. von c’.
entfernt und die Schwimmblase vorn erweitert wird.
Die Knochen a. wirken diesen Muskeln wie Federn entgegen und
drücken auf die Knochenplatten c. der Schwimmblase.
Fig. 6. Fierasfer imberbis Cuv.
a.
b.
Schwimmblase mit vorderm Halse, der von den
schildförmigen Wirbelfortsätzen festgehalten wird.
Physik.-math. Kl. 1843. NG
170
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
YD
Münzen: Untersuchungen über die Eingeweide der Fische.
e. Muskeln, welche die vordere Wand der Schwimmblase von dem Halse
abziehen.
Alle diese Apparate kommen darin überein, dals die Schwimmblase
vorn an den Seiten von Wirbelfortsätzen festgehalten wird, und dafs Mus-
keln die vordere Wand der Blase von dem fixirten Theil entfernen,
ohngefähr so, wie man mit einer Hand den Hals einer Flasche festhält,
und mit der andern Hand einen Stopfen aus dem Hals der Flasche
auszieht.
Schwimmblase von Calophysus macropterus Müll. Trosch.
a. Luftgang.
Schwimmblase von Platystoma fasciatum.
a. Luftgäng.
d. Muskeln.
c. Zellige Säume.
d. Zellige Flügel.
Die Kammern derselben Schwimmblase.
a. Seitliche Kammern.
d. “Vordere unpaare Kammer, woraus der
ce. Luftgang abgeht.
Mat vr
Nickhautmuskel von Mustelus vulgaris M. H.
a. Nickhaut.
6. Nickhautmuskel.
Derselbe von Carcharias Dussumieri Val.
a. Nickhaut.
d. Nickhautmuskel.
c. Zweiter Nickhautmuskel, eine an der Haut befestigte Schleife bildend,
wodurch der Muskel 2. durchtritt.
Derselbe von Sphyrna Zygaena Raff.
a. Nickhaut.
öd. Nickhautmuskel.
Encheliophis vermicularis Müll., natürliche Gröfse.
Derselbe von unten.
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Zu Herr Müllers dbh. über Eingeweide der Fische. Jahrgang 8-43.
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Über
das Maafs der körperlichen Winkel.
Von
Hm: WEISS,
mn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 12. und 19. Januar 1843.]
D. Lehrsätze über das Maafs der körperlichen Winkel entwickeln sich
auf elementar-geometrischem Wege ganz einfach und sehr leicht.
Wenn drei oder mehr Ebenen in Einem Punkte sich schneiden, so
beschreiben die Ecken, welche um den Schneidungspunkt sich bilden, zu-
sammen den ganzen körperlichen Raum, der um einen Punkt beschrieben
werden kann; die Summe dieser Ecken ist also gleich Einer Raumesto-
talität, wie wir uns ausdrücken wollen.
Wenn eine Kante durch eine Ebene geschnitten wird, so sind die
zwei Ecken, welche im Schneidungspunkte entstehen, zusammen im Werthe
der Kante gleich, d.i. sie beschreiben um den Schneidungspunkt zusammen
den eben so vielten Theil des um den Punkt herum zu beschreibenden kör-
perlichen Raumes, als der Kantenwinkel, in gewöhnlicher Weise ausge-
drückt, einen Theil von 360° ausmacht. Kanten, deren Summe 360° ist,
wie die, welche zwei sich durchschneidende Flächen bilden, machen also
ebenfalls eine Raumestotalität aus.
Dasselbe Verhältnifs, durch welches die ebnen Winkel in Sinus, Co-
sinus und Radius ausgedrückt werden, gilt streng auch für dıe Werthe der
körperlichen Ecken in ihrem Verhältnifs zur Raumestotalität; und in diesem
Sinne also wird es sein, wenn wir z. B. im folgenden sagen werden: der
Werth der halben Ecke des regulären Octaäders sei
sin=-
War
Wendet man die Theilung in 360 gleiche Theile für die Raumestota-
lität in gleicher Weise an, wie sie für die in einer Ebene um einen Punkt
herum beschriebene Totalität des Raumes, als der Summe von vier rechten
Winkeln gleich, üblich ist, so können nicht allein die Werthe der Ecken
Y2
172 Weıss
oder körperlichen Winkel in den entsprechenden Zahlen ausgedrückt, son-
dern es können auch unsre trigonometrischen Tafeln unmittelbar zur Auffin-
dung des entsprechenden Werthes der körperlichen Ecken in Zahlen, wenn
ihrtrigonometrischer Ausdruck bekannt ist, oder umgekehrt, gebraucht werden.
Wird also die Eintheilung der körperlichen Raumestotalität ebenfalls
in 360 gleiche Theile beibehalten und diese Grade genannt, ihre Sechs-
zigstel Minuten u. s. f., so ist demnach die Würfelkante = 90° körp.
Maafs, die Würfelecke = 45° körperl. Maafs — der Hälfte der Würfel-
kante, u.s. f.; jederzeit, wenn eine Kante durch eine aufihr rechtwin-
kliche Ebene getheilt wird, wird sie durch dieselbe halbirt. Wollte man
es vorziehen, der Würfelecke 90° körperlichen Maafses zu geben, also die
Raumestotalität in 720 Grade zu theilen, so ergäben sich die veränderten
Ausdrücke in Zahlen von selbst; indels würde damit eben nichts gewonnen;
wir bleiben daher bei der obigen Theilung der Raumestotalität in 360°.
Wenn eine Kante von zwei parallelen Ebenen geschnitten wird,
so ist die äufsere Ecke, welche die eine Ebene mit der Kante bildet,
gleich der inneren, welche an der anderen gebildet wird, und umgekehrt;
folglich ist die Summe der beiden Ecken, in welchen eine Kante von zwei
parallelen Ebnen begrenzt wird, gleich der Kante selbst, eben so, wie es
die Summe einer äufseren und einer inneren Ecke ist, in welche sie von
jeder der beiden Ebnen zerschnitten wird.
Nennen wir die vier verschiedenen Ecken eines Parallelepipedes
A,E,IL,O, die ihnen entgegengesetzten und gleichen 4’, E’, IT, O', so ist
klar, dafs, wenn das Parallelepiped durch 3 seinen Flächenpaaren parallele
Ebnen zerschnitten wird, die um den Schneidungspunkt entstehenden 8
Ecken die entgegengesetzten, also gleichen der 8 Ecken des (zerschnittenen)
Parallelepipedes sind; und da sie den ganzen körperlichen Raum um den
Schneidungspunkt beschreiben, also zusammen einer Raumestotalität gleich
sind, so folgt, dafs die Summe der Ecken eines Parallelepipedes jederzeit
—1AR. Tot. — 8 Würfelecken u. s. f. ist; also A+E+1+0 = ne = 150°.
Nennen wir nun die Kanten des Parallelepipedes, in welchen E, I, O
mit A verbunden sind, 5, c, d, so ist
A+E=b
ATI Te
A-+ O=d
über das Maa/s der körperlichen Winkel. 173
Da nun A+E+I1+0= 180°, so ist 5+c+d=180°+24; folglich
graz d+c-+d— 150°
2
So hat man auf rein elementar-geometrischem Wege den Beweis des
bekannten Lehrsatzes; denn jede dreiflächige Ecke läfst sich als Ecke eines
Parallelepipedes ansehen, oder zu einer solchen machen; der Beweis ist also
für jede dreiflächige Ecke gültig.
Ist die Ecke mehrflächig, so wird sie, wenn n die Zahl der Flächen
ist, die sie bilden, durch Schnitte, die man durch eine ihrer Kanten und
jede der gegenüberliegenden (nicht ihr benachbarten) legt, in (2 — 2) drei-
flächige Ecken zerlegt. Die Summe der (n — 2) Ecken ist die mehrflächige
Ecke, die Summe der Kanten dieser (n— 2) Ecken wiederum die Summe
der Kanten der mehrflächigen Ecke selbst. Wenn also die Ecke E, und
die sie einschliefsenden Kanten 2, c, d,f;g.... sind, so hat man
TE ee Zi a eh aa El
EL Fe SET CT STREET 1° 0
also den allgemeineren Lehrsatz auf demselben rein elementar-geometri-
schen Wege.
Für das Rhomboöder, dessen Endspitze wir A, die Lateralecke E,
die Endkante 5 nennen wollen, ergiebt sich sowohl aus den allgemeinen
Eigenschaften des Parallelepipedes, als aus der specielleren Betrachtung,
dafs der Werth der Endspitze + einer Lateralecke = der Endkante, also
A+E=b, zwei Lateralecken aber an Werth gleich der Lateralkante, d.i.
dem Complement der Endkante zu 180°, also 2E = ıs0°— b,
150° — b &
Ez = go 215
2 2
zer zuoeane
wu + =
wie die allgemeine Formel es ergiebt wegen der Gleichheit der Endkanten,c,d.
Das Granat-Dodeka@der besitzt vorzugsweise zu erwähnende
Eigenschaften in Betreff des Werthes seiner Ecken, welche sich sehr leicht
unmittelbar an demselben anschaulich machen lassen. Seine 6 scharfen
Ecken, um Einen Punkt herum gelegt, beschreiben Eine Raumestotalität!);
(') Durch Schnitte, durch den Mittelpunkt und die kurzen Diagonalen der Flächen des
Körpers gelegt, zerfällt es in 6 Octaäder, deren nach aufsen gekehrte Endspitzen die schar-
fen Ecken des Granato@ders sind, die nach innen gekehrten aber den Raum um den Mittel-
punkt vollständig beschreiben.
174 Weıss
also ist jede = + R. Tot. = oder — Würfelecke. Je vier seiner 8 stum-
pfen Ecken beschreiben ebenfalls eine Raumestotalität um einen und densel-
ben Punkt!); jede von ihnen ist also = — Raumestotalität— 2 Würfelecken
— ı Würfelkante; die Summe der 8 stumpfen Ecken also =:R.Tot., die
der 6 scharfen = ı R. Tot., die Summe seiner sämmtlichen Ecken =3R. Tot.
Wenden wir uns zur Bestimmung des Werthes der Ecken des regulä-
ren Octaöders und Tetraöders, und nennen die Octaöderecke O, die Te-
traöderecke 7, so haben wir
6O+sT=ıR. Tot., odr30 +4T=
r — 150°;
denn wenn das Octaeder durch 4 Ebnen, parallel seinen Flächenpaaren,
eine jede Ebne den Körper halbirend, zerschnitten wird, so liegen um den
Mittelpunkt 6 Octaöderecken und 8 Tetra@derecken herum, und erfüllen
den ganzen körperlichen Raum um den Schneidungspunkt.
Nennen wir ferner die Tetraöderkante 7, die Octa@derkante o, welche
bekanntlich beide Complemente zu einander sind, d.i.o=1s0°=t, so ha-
ben wir
1
t . or .
für —» sin:cos:rad=1:V2:V3; für z, sin: cos:rad=Ys:ı1:3; cost=—
für —, sin: cos:rad =Y2:1:V3; füro, sin :cos:rad=Vs:— 1:3; coso=—-4
Am Rhomboöäder des Tetraäders ist die Lateralecke =O-+-T,, die Endspitze
—T, daher die Endkante e=O0-+2T. Oder auch:
Wenn die Kante des Tetraäders durch zwei den Octaäderflächen pa-
rallele Abstumpfungsflächen seiner Ecken in Einem Punkte geschnitten wird,
so zerfällt sie im Schneidungspunkte in zwei Tetra&derecken und eine Oc-
taederecke; folglich ist wiederum die Tetraäderkante = O0 +2T.
°,_ und
i B O
Wenn aber, nach dem obigen, 2T+ O0 = 90), soistt + — = %
——90°—t
2
folglich für 2 sin:cos:rad=1:V3:3, d.i.
sın ar 9
(‘) Es zerfällt nämlich durch Schnitte, welche die Kanten von 4 abwechselnden seiner
stumpfen Ecken der Länge nach halbiren, in 4 Rhomboöder, deren nach aulsen gekehrte End-
spitzen die 4 unzerschnittenen stumpfen Ecken sind, während die ihnen gleichen, nach innen ge-
kehrten, den Raum um den Mittelpunkt vollständig einnehmen.
I
ou
über das Maa/s der körperlichen FM inkel. 1
woraus weiter folgt für O, sin :cos:rad=YV32:7:9, oder
eos) =.
und O= 10% — 21!=0-—..
Sucht man für die Summe aller 6 Octa@derecken den streng trigono-
metrischen Ausdruck, so findet er sich
sin: cos:rad—=— 2.460.329 V2 : 329? — 2.460? :3'?
= 17.97.19
are 150°+ (cos m )
in Zahlen, 233° 39’ 16;7, die Raumestotalität = 360° gesetzt.
Für die einzelne Octa@derecke ist der Zahlenwerth 38° 56’ 32’s; für die
halbe 19° 23’ 16/4 (oder die Neigung in der Octa@derkante — 90°) d. i. der
Winkel, dessen sin =+.
Geometrisch wird der Werth der halben ÖOctaederecke leicht an-
schaulich, da die Octaöderecke durch eine durch entgegengesetzte Kanten
derselben gelegte Ebene halbirt wird.
Die beiden durch je zwei entgegengesetzte Kanten gelegten Ebnen
theilen die Octaöderecke in gleiche Viertheile; und 3 solche Viertel
+ einer Tetraöderecke sind gleich einer Würfelecke; denn wenn
30 +4T= ı50°, so it -0+T= 45°—= Würfelecke.
Sucht man den trigonometrischen Ausdruck für das Viertel der Oc-
ta@ederecke, so ist für Q,
sin :cos:rad—=V2—1:V2+1:V6=1:3+Vs : Y6.V3+ys
u VE
V?+1 343
oder tang O —
Die Octaöderkante o, als Lateralkante des Rhomboeders des Tetraö-
ders angesehen, ist gleich der doppelten Lateralecke dieses Rhomboöders,
deren jedee=O+T; also o=20+:2T, oder<2=0+T
mithin T—= — —0O
. .. o .
Nun ist für —, sin: cos:rad=V2:1:Y3,
für O, sin:cos:rad—=4V2:7:9,
also für T, sin: cos: rad=3V2 : 15:9V3—=Y2:5:3V3
/
oder tang elle
5
in Zahlen ausgedrückt ist der Werth der Tetraäderecke T = 15° 47 35” 4.
176 Weıss
Das gleiche Resultat konnten wir daraus ableiten, dafs, wie oben be-
merkt, =0+:T, aloe T=+-— 2
1:V2:Y3,
. ne HZ °
Nun ist für z, Sin : cos: rdd=
ONE
für Zn, Sin: cos: rad 1:eV2:3,
also für T',, sin : cos: rad=Y2 :5:3Y3.
Suchen wir den trigonometrischen Ausdruck für die Summe der 4
Ecken des regulären Tetraäders (das Minimum des Eckenwerthes eines Kör-
pers), so findet sich für 47
sin : cos: rad = 20.232 : 629 — 300 : 3° 4602 : 329 : 729
329__7.47
oder cs T=——= —
29° 3
Dafs die Summe von 3 Octaöderecken das Complement von 47 zu
10° ist, gab die obige Formel 30 +4T = 150°,
also ist für 30, sin : cos : rad = 20.232 : — 329 : 729
Eben so ist für s7', als dem Complement von 60 zu 360° aus dem
obigen klar, dafs für s7
sin : cos: rad = 2.460V2 : 329° — 2.460°:3'”—= 2.460V2 : — 17.97.191 : 3"?
17.97.19
81°
Dat=0-+:T, soist32:=30+6T, folglich, das0O +4 T= ı50°,
3t:=ı0 +27
undi=60+--T,;
T=>(t—-0) = t—%
Die Summe der 6 Kanten des Tetraäders aber ist = 360° +4T, d. i.
360° die Summe seiner Ecken.
In ähnlicher Art, ddo=20 -+2T, ist die Summe der 12 Kanten des
Octaeders = 40 +2 T=60 +3.(60+sT)=60-+3.360°, d. i. die
Summe der Kanten des regulären Octaöders ist = 3mal die Raumestotalität
cos slT=—
-++ die Summe seiner Ecken.
Fügt man hinzu das Parallelepiped, so ist die Summe der 12 Kanten
desselben jederzeit =6.150°—=3.360°. Da nun die Summe seiner Ecken
— 360°, so gilt für das Parallelepiped der Satz, dafs die Summe seiner Kanten
über das Maa/s der körperlichen Winkel. 177.
= 2.360°, oder zweimal die Raumestotalität + die Summe seiner Ecken,
für das Tetra&der einmal » » + >» » » »
» » Öcta@der dreimal » » + » » » »
und zwar gilt dies für jedes Octa&der (mit je zwei parallelen Flächen und
6 vierkantigen Ecken) und für jedes Tetraäder, nicht etwa blos für das
reguläre (1). Es sei das Octaeder ein irreguläres, von viererlei verschie-
denen Flächen 4,B,C, D, A', B’, C', D', je zwei einander parallel gebildet,
so wird es dreierlei Ecken E, I, O, und sechserlei Kanten haben, immer je
zwei entgegengesetzte gleich. Getheilt durch die Schnitte parallel den 4 Flä-
chenpaaren durch den Mittelpunct gelegt, wird es immer in 6 ihm ähn-
liche Theiloctaöder und 8 Theiltetra@der zerfallen, deren 6 Kanten
die Complemente der sechserlei Kanten des Octaöders zu 150°, und deren 4
verschiedene Ecken a,b, c,d die den Flächen A, B', C, D’ gegenüberliegen-
den sind. Immer werden die im Mittelpunct zusammenstofsenden 2(E+J4-0)
und 2(@+5-+c-+-d) — Eine Raumestotalität — 360° sein. Jede Octaöderkante
ist = zwei Octaederecken, wie E, I, oder O, und zwei Tetraederecken,
wie a,b, c, oder d. Man erhält durch Summirung der ı2 Kanten die Summe
s(E+I4-O) + 6(a+b+-c+d). Da nun 6(E+I4+O) + 6(a+b-+c+-d) — 3.360°,
so ist die Summe der Kanten = 3.360°° + 2(E+I/+O), d.i. + die Summe
der Octa@derecken.
Eben so ist jede Tetra@derkante = einer Ecke ihres Theiloctaöders,
d.i. einer Octa@derecke E, I oder OÖ, + 2 Tetra@derecken wie a, b, c oder d;
die Summe der 6 Tetraederkanten wird =2(E+I+0O) + 3(a+d+c+d).
Da nun 2(E+J+0)-+2(a+b-+c+d) = 360°, so ist die Summe der Tetraeder-
kanten = 360°+ (a+5+-c+-d), d.i. = 360°+ die Summe der Tetraederecken.
Da, wie wir oben sahen, o0=20-+2T, also 2o=40-+4T, so ist
auch 2o= 0 + 150°, und o=Q@+9%°, oder O= 2.(0—90°).
2
(') Durch diese Bemerkungen veranlalst, fand Hr. Steiner alsbald den schönen all-
gemeinen Lehrsatz:
„Man denke sich ein beliebiges Polyeder, bezeichne die Anzahl seiner dreikantigen Ecken
„durch @, seiner vierkantigen durch 6, seiner fünfkantigen durch c, seiner sechskantigen
„durch d u. s. f., ferner die Summe aller Kanten durch 3%, und die Summe aller Ecken
„durch &e, so erhält man:
ISk=Ne+(a+2d+3c+4id-+ ....) 90°.”
Physik.-math. Kl. 1843. Z
178 Weiss:
Man kann also auch sagen, © ist gleich dem Complement des Zwillings-
winkels am Spinellzwilling zu 150°, d.i. an dem Zwilling, welchen 2 Octaöder
bilden, die eine Octa@derfläche als Grenze gemein, die übrigen Octaeder-
flächen in umgekehrter Lage (gegen die Grenzfläche) haben; denn dieser
Zwillingswinkel ist = 22; t = 150°— 0; sein Complement zu 90° ist = 0— 90°;
2.(0—90°) ist zweimal das Complement des halben Zwillingswinkel zu 90°,
also das Complement des ganzen zu 180°.
In Bezug auf andere Körper des regulären Krystallsystems möchte zu-
nächst Erwähnung verdienen, dafs am Granat-Dodekaäder die scharfe
Ecke, die, wie wir sahen, — 4 Raumestotalität, eben darum gleich ist
O+*T,; das 14T hat aber wiederum seinen geometrisch anschaulichen
Character, da die Tetraöderecke in 3 gleiche Theile leicht getheilt wird
durch halbirende Ebnen der drei Kanten, welche in der Ecke zusammen-
stofsen.
Da, wie bereits erwähnt, die Summe der 6 scharfen Ecken des Gra-
natdodekaäders —= Einer Raumestotalität = 360°, die seiner acht stumpfen
Ecken = 2.360°, die seiner 24 Kanten aber (deren jede = 120°) = 3.360°, so
ist klar, dafs
die Summe seiner Kanten —= 5.360° + die Summe seiner Ecken.
Beim Mittelkrystall zwischen Würfel und Octaöder, dem Kubo-
Octaöder (dem Gegenkörper des Granatdodekaeders, wie Octaöder und
Würfel Gegenkörper von einander sind) ist der Werth einer Kante — 90°+ 2,
also der Werth der 24 Kanten = 6.360°+ 122; der Werth einer Ecke wie-
derum =t, der Werth der ı2 Ecken also = ı2t; folglich
die Summe der Kanten —= 6.360°-++ die Summe der Ecken.
Die Octaäderfläche nemlich als Abstumpfung der Würfelecke schnei-
det von der Würfelkante eine Ecke ab, welche eingeschlossen wird von einer
Kante von 90° (der Würfelkante) und zwei Kanten, jede gleich einer halben
0o— 90°
Octaäderkante; der Werth einer solchen Ecke ist also — Zwei sol-
che Ecken von der Würfelkante abgezogen, giebt den Werth der Ecke des
Mittelkrystalls; dessen Ecke ist also 10° —o=!t.
Dafs die Kante des Mittelkrystalls, d.i. die Kante zwischen Octa&der-
fläche = 90°+ 2, ist wohl von selbst klar, oder kann auch dadurch erläutert
werden, dafs sie die Kante ist zwischen der geraden Abstumpfung der Te-
über das Maa/s der körperlichen Winkel. 179
traöderkante (dies ist Würfelfläche) und der Tetra@derfläche; also die halbe
Tetra@derkante -+ 90°.
Bei dem Würfel mit schwächer abgestumpften Ecken ist die Zahl der
Kanten des Mittelkrystalls vermehrt durch die Zahl der Würfelkanten, de-
ren Summe = 3.360°; die Zahl der Ecken ist verdoppelt, und jede vergrö-
fsert um den Werth einer Ecke 2”
2 2
ZT — 1274 120— 3.300 + 121 = (6—3) oder 3.360°+ 121.
o
‚s. vorhin. Die Summe der Ecken be-
trägt also 2.127-+24.
Die Summe der 36 Kanten ist = (6+3) 360° + ı2t, d.i.
6.360°-+ die Summe der Ecken.
Bei dem Octaöder mit schwach abgestumpften Ecken ist die Zahl der
Kanten des Mittelkrystalls vermehrt durch die Zahl der Octaöderkanten,
deren Summe —=3.360° +60; aber da Dojo. it, so ist 6O = 3.360°— 12t;
folglich die Summe der Kanten dieses Körpers = 6.360°+ 121-4 3.360° — 121
1943602.
Die Ecke desselben ist = dem Werth der Octaöderkante, abgezogen
den Werth einer dreikantigen Ecke, die von einer Octaöderkante und zwei
‚halben Octaöderkanten eingeschlossen, deren Werth also ss =0— 9°
ist (!); aber o — (o— 90°) = 90°; also ist der Werth einer Ecke, die die
Würfelfläche als Abstumpfung der Octaöderecke mit je zwei Octaeder-
flächen bildet, = einer Würfelkante — 90°; und die Summe der 24 Ecken
des in Rede stehenden Körpers = 6.360°. Ist nun die Summe seiner Kanten
= 9,.360°, so ist diese wiederum = 3.360° + die Summe seiner Ecken.
Für die Werthe der einzelnen Ecken ergeben sich, wie man sieht,
an den genannten Körpern mehrere unerwartete Eigenschaften.
Der Mittelkrystall zwischen Würfel, Octa@der und Granatoeder hat
2ı Kanten zwischen Würfel- und Granatoederflächen, jede zu 135°, und 24
Kanten zwischen Octaöder - und Granatoederflächen, jede zu 90°+ 2; der
Werth sämmtlicher 4s Kanten beträgt also 15.360°+120. Der Ecken sind
24 gleiche, gebildet jede von 2 Kanten zu 135° und 2 zu Elgn „23 also jede
90° o a
Ecke = 5 die Summe der 24 also 3.360°+ ı20. Also
die Summe der Kanten = 12. 360° + die Summe der Ecken.
(') Übereinstimmend hiemit findet sich der Werth der Ecke des Mittelkrystalls als
=0—2.(—9%°), d.i.=10°— 0o=t, wie oben.
Z2
180 Weiss
Die Hauptkörper der übrigen Krystallsysteme einer ähnlichen kurzen
Betrachtung zu unterwerfen, möchte wohl gestattet sein.
Am viergliedrigen Octaöder haben wir die Endspitze A von den
Lateralecken E, so wie die Endkanten m von den Lateralkanten Z zu unter-
scheiden. Nennen wir die halbe Axe des Octaeders c, den kleineren Halb-
messer seiner quadratischen Grundfläche s, so ist für die halbe Neigung der
Flächen gegen einander in der Lateralkante, oder für Z sin; c08.— €.)
und für die halbe Neigung in der Endkante, d.i. für 7 bekanntlich
sin:cos:rad—= V2s’+c’:c:Yz(s’+c’);
also für m, sin: cos:rad = cY2s’+.c’: — s’:s’+c®.
Die Endspitze A hat den Werth = Ze = 2m — 180°;
also E —m 90%
dessen sin:rad = s’:s’+c”
2
Ss
& RAN
folglich sin)
2 s’t+c
woraus für die Endspitze A selbst sich der Ausdruck ergiebt
a c2@s®+ c?) — si
EospA ne een a ae
ce'+s'+2s°c (s’ + c?)
und für den vierten Theil =;
sin:cos:rad = m — c:m’+c:2Vs’+.c®, (wo mM = V:s’+c®).
Der Werth der halben Lateralkante ist - — + — 90°
der ganzen E= m-+I1-1ı50°
In ähnlicher Weise am Rhomben-Octa@der, wenn dessen dreierlei
Kanten d, f, g heifsen,
der Werth der dreierlei Ecken, d+f— 150°, d+g— 180°, f+g— 150°,
d if o d SO le IS5ER. o
der halben, +. — 90°, or
Bei dem Geschlecht der viergliedrigen sowohl als der Rhomben-
octaeder besitzen die beiden Grenzfälle des unendlich Scharf- und unendlich
Stumpfwerdens derselben beiderseits die Eigenschaft, dafs die Summe ihrer
Ecken = Einer Raumestotalität — 360° wird. Beim ersten Fall werden die
Endspitzen = Null, die Lateralecken = den Seitenkanten einer (rechtwink-
lichen oder schiefwinklichen) vierseitigen Säule; bei dem zweiten wird jede
Endspitze = ıs0°, die Lateralecken = Null. Beim regulären Octaeder er-
über das Maa/s der körperlichen Winkel. 181
reicht die Summe der Ecken das Minimum ihres Werthes; von da nähert
sie sich dem Werthe Einer Raumestotalität sowohl für die schärferen als die
stumpferen viergliedrigen, und für sämmtliche Rhomben-Octaeder.
Die Gesetze zu verfolgen, welche für die Glieder einer Hauptreihe von
schärferen und stumpferen gelten, (letztere durch die geraden Abstumpfungs-
flächen der Endkanten der vorhergehenden gebildet) bietet keine Schwierig-
keit dar. Die Werthe der Ecken des nächsten stumpferen ÖOctaeders
von einem gegebenen viergliedrigen sind in den Formeln des letzteren aus-
gedrückt, wenn überall statt s® gesetzt wird 25°, statt s, sYz; des nächsten
2
schärferen, wenn statt s” gesetzt wird = statt s, ve
Für das Rhombo£der hatten wir oben bereits den Ausdruck der
Endspitze A und der Lateralecke E, wenn d die Endkante ist
4=+5—-90; E=w—..
Suchen wir nun die streng trigonometrischen Ausdrücke dieser Werthe
in den Fundamentalgröfsen s und c, welche Sinus und Cosinus der Neigung
der Rhomboöderfläche gegen die Axe ausdrücken, so haben wir bekanntlich
für = die Formel,
sin:cos:rad = m:cV3:2r
LÄSS-CH,
wom=]| undr—=YVs’+c?
woraus E direct, oder da für die halbe Lateralkante als dem Complement
der halben Endkante 2 zu 90° umgekehrt
sin:cos:rad = cY3:m:2r
die Lateralecke E aber der halben Lateralkante gleich,
cosoE=", oder sinE— ale
Zr 2r
Für 5, sin:cos:rad = mcV3:c’—25°:2(s°+c?)
A=b-—-E
daher für A, sin:cos:rad = 3s’cV3:(2c°—s”)m:2r’ (1)
(‘) So z.B. für das Haüy’sche Kalkspathrhombo@der, wo s=c, erhält man für die End-
spitze 4 den Werth, sin: cos:rad = 3y3:y5:4y2, oder sin = ”, in Zahlen 66° 42’53,'5.
182 Weıss
none: 202 —s? Vi 2 2
ED el gie nn
2r 2(s?+ e?)Vs?-+c?
B 35?cy3
oder sın Az BEN ER. 1 RER.
2(s’+ c?)Ys?+c?
Wenn man die Endspitze A durch 3 die Endkante halbirende Ebnen
in 3 gleiche Theile zerfällt, so ist z = -— 30°; folglich
für = sin:cos:rad = (m— c)V3:m+3c:4r
Am Dihexaöder kann die Endspitze A eben so in 6 gleiche Theile
durch die die Endkanten 5 halbirenden Ebnen zerlegt werden, und es ist
A b
=I——o—60%
6 2
Da nun bekanntlich für . am Dihexaöder die Formel gilt
sin:cos:rad = Yıs’+3c”’:c:2r = m’Y3:c:2r
R NA .
so ist für —, sin:cos:rad = (mM’—c)Y3:3m’+c:Ar
a Ad
A ist — 3b— 360°, oder = +5 — 150°;
| R —
daher für ee sin:cos:rad = s’Vis’+3c°: (@s’-+2c’)c:2r°;
UT, | s:m’yY3
sın — = ZEN
2 2r
Die Lateralecke E it = 5 +1 — 150°,
wenn 2 die Lateralkante, für deren Hälfte sin:cos=c:s, und 5 die End-
kante bedeutet;
And RER:
wol ’
daher für —, sin:cos:rad = Vis’+3C°— s)e:sVis’+3cC’+c’:2r?
Der Ausdruck der sflächigen Ecke E, deren Kanten «x, y, z sind, ist
at+yt:—10 x De Men
E= 2 Dar uk:
Wenn nun, wie bei den aus gleichen Hälften krystallonomisch zu-
sammengesetzten, oder krystallonomisch halbirbaren Kanten, der einfachste
Ausdruck des Gesetzes des Winkels im Verhältnifs von Sinus, Cosinus und
über das Maa/s der körperlichen Winkel. 183
Radius seiner Hälfte liegt, und wir setzen (!)
sin” : cos
f7
x x f
zmad;=s:c:r
E 2 2 r4 „ „ ”„
ER rad ==ıs Ch: 7
sin :c0s, rad- Sic
so ist
ul 0 NinaN,, EA ZA ERW En EN
sin (5+%+3): 005 (5+3+35): rad (+45) =
sccC+sce.+s’cd—sss’scecdd— cHs'— dss'— c"ss:rr'r"
also
rennen EN TNEE. 1% (z Te )=
sin (C+2+5 90°) : cos (> ++ 90°) :rad (++ — 9
cr rd cld:scl +scc+s’cd—sss’:rrr"
daher die gleichgeltenden Formeln
5 > ers c cc
am JE, en en
2
Set res!
cos E m m
DET
E Eee
tang Fed DR
sc + sc" +s’cd—ss's”
(') Setzen wir hingegen
Sina cos rad rs) :leN-ir:
siny:cosy:rady=s:c:r
sinz:cosz:radz=s":c”:r
dann wird
sin (e-+y-+2) : cos (c+y-+2): rad (c<-+y-+:) =
sc. + sc. + s’cc—ss's’ıc cc’ — (ce s’s’+ c'ss’+ec"ss): rr'r”
folglich
sin (e-+y-+ 2 — 150°) : cos (@-+y-+z — 180°) : rad (@-+y-+ 2 — 190°) =
SE (s ‘+ sec +s’ce):css’+css’+ c"ss’—ecc:rr'r”
also
H ss — (s cc’ + s’cc"+ sc ec)
sın2E= — .,
rr'r
N erste”
oder cos 2E = ————— a
rr'r
DEE (s cl’ E IE CE s”c c')
aderitang 2E— = Teenm RG ETaR
css pcess +ess—cce
folglich
n E ss (5 cc’ + scc”’+ "cc rt + ecde— (css + css’ css’)
an = — m —_ IL,
5 rrt' Hr css’ css’ css’ — ccc” ss (sc + scc"+5”cc)
184 Weıss über das Maa/s der körperlichen Winkel.
Der Ausdruck einer 4flächigen Ecke A, deren Kanten x, y, z und gq
sind, ist
e z+9— 2.150°
A= uHHTT — -+24+24+2— 180.
Setzen wir für die vierte Kante sin 7 : cos n : rad T A
. . . . . j .. . EL .
das übrige, wie vorhin, so wird für die Summe (+ + +2), sin:cos:rad =
s cc’ + se dc’+ se ec’ + s"c dc sss’c"— ss d— ss’ ce — sc .
rs 11 rn Im Na! Nm al. rn UA
PZN (NR 777 "”
CCCC +SSSS CCSS —CCSS — CC SS —CCSS — CC SS — CC SS:
rr'r!r"
also für "+2 +5 +7 — 180°, sin: cos: rad =
mn ram m .m ru
cs + +" rs — (sec "Hscc"Hs’ccd"+s"cce):
mr ın mu VEIT HU rt IN
cc" Hess" Hecls Hess" Hec"ss Hess? — (ss! + cccc”):
PTR EN
m
’ ’ nn U) m IN IN NN
est cs c'sss rc }
sl "+ sec" + s’ccc"+s"cce”)
(ETEN77)
also sin A= EN
Tr I -T:
7 ’ mI rn m rn „ nm ’ ’ „nn
ee esse" Hd" (555 "+ ce"c”)
HIN
oder cs A= -
7 (dr 1ER) u
Hop Done
Nachtrag ()
zu einer Abhandlung vom Jahre 1829.
(Abh. d. phys. Klasse v. J. 1829. S. 89 u. fgg.)
Von
Hm WEISS.
nnwmnnnw
I. das Dihexa@der, dessen ebner Endspitzenwinkel gleich ist dem Nei-
gungswinkel seiner Fläche gegen die Axe, und welches, wie a. a. O. gezeigt
wurde, zugleich der Invertirungskörper seiner selbst ist, d.i. sein
ebner Endspitzenwinkel gleich dem Complement der Neigung seiner Flä-
chen in der Endkante zu 150°, wurde vermöge beider erwähnter Eigenschaf-
ten für sein Verhältnifls s:c, d.i. des Sinus zum Cosinus der Neigung seiner
Fläche gegen die Axe der Ausdruck gefunden (a. a. ©. S. 91.)
4 ; 4 ns Sf
SC=V: RN Ve
der gewöhnliche trigonometrische Ausdruck also würde sein: es ist das-
jenige Dihexaeder, für welches, wenn der Neigungswinkel der Fläche gegen
die Axe « heilst,
Y 2 v3
tange=V- oder tang’a = Ze
Ein gleichgeltender Ausdruck mit diesem aber ist
cos — V3—ı1
und auf diesen Ausdruck führt die Rechnung direct, wenn man statt der
Gleichheit des ganzen ebnen Endspitzenwinkels und des Neigungswinkels
der Fläche gegen die Axe die Gleichheit ihrer Hälften zum Grunde legt;
man erhält dann:
Fe ssc+ Ver,
also c+Vs’+c’—= V3.Vs’+c*;
(*) Gelesen in der Akademie der Wissenschaften den 12. Januar 1843.
Physik.-math. Kl. 1843. Aa
156 Weıss:
folglich c= (V3—1) Vs’+c’, und = V3—1, d.i.
V>?+c®
cos« = V3—1, wie oben.
Die Identität beider Ausdrücke tanga = y3, und cosa=V3—1
möchte x überflüssig sein zu erweisen; indefs darf man dem Verhältnifs
s:c=YV3:YV2 nur den Ausdruck des Radius hinzufügen, so hat man
sina:cosa:rade=s:c:Vs’+c? — V3:V2: Ve V5;
also cos@a = Vrr
aber ya: Ye + V3> = V3—ı:1
denn (2e+V3) (Y3—ı)’ = 2
weil (Ys—1)’= 4—2YV3;
aber (2-+V3) (4—2V3) = s—AV3+41V3—6 = 2
folglich, wenn 2:2+Y3 = (V3—1)':1, so ist auch
Vv2:VYe+V3s = V3—1:1
und Y3—ı = Vs, = cos«.
Von selbst folgt für den Neigungswinkel y in der Endkante dieses
Dihexaeders
cosy=1—V3
da y = 190’ —a.
Für diejenigen Dihexaäder, bei welchen — wie bei dem des Quar-
zes — der ebne Endspitzenwinkel stumpfer ist, als der Neigungswinkel
der Fläche gegen die Axe, hat man
TE :Vs re As:c+Vs’+c‘,
also c+Vs’+c’AV3.Vs’+c’;
ce (V3—1) Vs’+c’;
“_Xys3—ı, oder cosa A (V3—1).
Vs?’+ec?
Umgekehrt für diejenigen, deren ebner Endspitzenwinkel der klei-
nere von beiden ist,
cosa / (V3—1).
Aequivalente für diese Ausdrücke sind nach dem obigen
Nachtrag zu einer Abhandlung vom Jahre 1829. 187
x Zr)
I für erstere (die schärferen Dihexaöder), je & er oder
NR pi u
Er /
Pa tang’a LU;
.
2 /
für letztere (die stumpferen), = N =, oder
/
tang’a \ ;
. 4,
im ersteren Falle, s: ce / V3:V2
- ” 4
im zweiten, siic.NV3 :V2
Es wurde in der nemlichen Abhandlung zweier anderer Winkel eines
sehr verwandten Gesetzes gedacht, welche beide an der Elementarform des
Feldspathes nach Haüy’s ursprünglicher Bestimmung derselben sich finden
würden, wenn das Gesetz für die Aufsetzung seiner Schief-Endfläche P auf
die stumpfe Seitenkante von 120° wirklich das wäre, dafs der ebne Winkel
auf der Endfläche gleich würde dem Neigungswinkel derselben gegen die
Seitenkante. Der eine dieser Winkel ist der Neigungswinkel der Schief-
Endfläche gegen die Seitenfläche, der andere der gegen die Seitenkante
selbst (= dem ebnen Winkel der Schief-Endfläche); es findet sich nun
he 8 el
für jenen der Ausdruck, cos = er,
Fo . ar
für diesen » » cos — } TE
Das erstere ist a.a. O. S.92. 2.4.5. ersichtlich in den Worten,
sin:cos:rad = VYız:V3—ı:2
(3—1 . R
} z ! ist die
Hälfte des cos «, von welchem oben die Rede war; nur ist der Ausdruck
Die Folgerung ist: der Cosinus dieses Winkels, oder cos =
dem Complement des Neigungswinkels der Schief-Endfläche gegen die
Seitenfläche, d.i. dem scharfen Winkel (68° 317 45)5) angepafst; dessen Co-
sinus ist es, welcher die Hälfte ist von dem Winkel « oben, d.i. von
42° 56' 29,04.
Übrigens läfst sich der Ausdruck dieses Feldspathwinkels auch in den
gleichgeltenden umgestalten::
y3—1 1
cos = —— =
2
188 Weiss: Nachtrag zu einer Abhandlung vom Jahre 1829.
Der zweite eben erwähnte Feldspathwinkel, von welchem a. a. O.
S. 111. die Rede war, nemlich die Neigung der Schief-Endfläche gegen die
Seitenkante von 120° unter vorausgesetzter Gleichheit derselben mit dem
ebnen Winkel der Schief-Endfläche, also der Winkel von 115° 0’ 7J16 oder
vielmehr sein Complement, 64° 59’ 52,54 war der, für welchen wir hatten
sin:cos = Wı2—ı :V3—1;
fügt man hiezu den Ausdruck des Radius, so hat man
sin:cos:rad = VYıa—ı:Y3—1:Y3
y3—1
Em
folglich cos =
Über
eın Goniometer.
Von
H=. E. MITSCHERLICH.
nn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 9. Januar 1843.]
D. Goniometer, wovon ich hier die Beschreibung gebe, ist von mir seit
sechszehn Jahren zur Messung von Krystallen angewandt worden; Herr G.
Rose hat sich gleichfalls desselben zu seinen vielen Messungen bedient und
mehrere andere Krystallographen benutzen es. Da also die Einrichtung des-
selben sich durch den Gebrauch bewährt hat, so halte ich es nicht für un-
zweckmälsig, jetzt sie ausführlich anzugeben; eine Zeichnung und Beschrei-
bung desselben ist vor einiger Zeit von Becquerel (!) und Dufrenoy (?)
erschienen.
Fast von allen etwas gröfseren Krystallflächen, selbst wenn man
durch Reflexion von denselben mit blofsem Auge nur ein Bild eines Gegen-
standes unterscheiden kann, erhält man, wenn man ein vergröfserndes Fern-
rohr anwendet, eine grofse Anzahl von Bildern, so dafs also ein grölserer
Krystall aus einer grofsen Anzahl neben einander liegender einzelner Kry-
stalle, deren gleiche Flächen nicht vollkommen in dieselbe Ebne fallen, be-
steht. Je kleiner eine Fläche ist, desto weniger störende Einflüsse haben in
der Regel bei ihrer Bildung statt gefunden; das Bild, welches sie giebt, ist
daher in der Regel um so schärfer, je kleiner sie ist, jedoch verträgt es we-
gen der geringen Menge Licht gar keine oder nur eine geringe Vergröfserung.
Man mufs daher, um das Bild zu betrachten, ein Rohr anwenden, wovon
das Ocular und Objectiv gleiche oder sehr nahe gleiche Brennweite, etwa von
1%; rhein. Zoll oder 33"”” haben; ein sehr schönes Fernrohr dieser Art er-
hält man, wenn man die Linsen No. 1 und 2 eines Mikroskops von Schiek
271:
(') Becquerel zraite de physig. T. I, p.
(?) Dufrenoy zraite de mineralog. T.1I, p. 192.
190 MıTtscHErLıcH
oder Plöfsl, die eine als Ocular, die andere als Objectiv, dazu anwendet.
Das Fadenkreuz e (Fig.8) mufs man, um den Fehler der Parallaxe zu vermeiden,
genau auf die Stelle bringen, wohin das von dem Objectiv gebildete Bild des
Gegenstandes, welchen man zur Beobachtung wählt, fällt; man erreicht die-
ses, wenn man die Hülse, worin das Fadenkreuz befestigt ist, vermittelst eines
hohlen Rohres so lange verschiebt, bis, wenn man das Bild durch das
Ocular betrachtet, es bei jeder Stellung des Auges auf derselben Stelle
des Fadenkreuzes bleibt; wendet man das Auge rechts und erscheint das
Fadenkreuz links vom Bilde, so steht es zwischen dem Ocular und dem
Bilde, erscheint es rechts, so steht es zwischen dem Objectiv und dem Bilde.
Direct kann man mit dem Nonius des Instruments eine halbe Minute
ablesen und kleinere Werthe noch durch Abschätzung bestimmen. Diese Ge-
nauigkeit ist vollkommen hinreichend, denn höchst selten findet man Krystalle,
wenn sie unter verschiedenen Umständen sich gebildet haben, welche nicht
einen Unterschied von mehreren Minuten zeigen, so dafs ich, ausgenommen
bei der Bestimmung der Ausdehnung der Krystalle durch die Wärme, nie
Veranlassung gehabt habe, mich eines grofsen Goniometers, das ich für diese
Bestimmung habe anfertigen lassen und an welchem man bis auf zwei Secun-
den die Winkel bestimmen kann, zu bedienen; selbst bei diesen Bestimmun-
gen war ich, aufser beim Kalkspath und (Quarz, gezwungen, die natürlichen
Flächen durch Schleifen ebnen zu lassen, um bei einer zwanzigfachen Ver-
gröfserung ein deutliches Bild zu erhalten. Durch die Einrichtung zur Ein-
stellung der Kanten zweier Flächen, deren Neigung man messen will, kann
man leicht eine solche Genauigkeit erreichen, dafs, wenn man das Bild eines
Gegenstandes, welcher 100 Fufs und darüber entfernt ist, beobachtet, der
Fehler, welcher aus einer nicht zu vermeidenden unrichtigen Einstellung ent-
stehen kann, weniger als ; Minute beträgt. Die Einrichtung dieses Gonio-
meters ist demnach von der Art, dafs es eine viel gröfsere Genauigkeit der
Messung selbst zuläfst, als man bei der Beschaffenheit der Krystalle errei-
chen kann.
Die starke Hülse A Fig.1 u.2 und der Ständer A sind aus einem Stück
verfertigt und von unten durch Schrauben unverrückbar auf der messingenen
Platte B befestigt. An den Ansatz der Hülse, welcher genau centrisch mit die-
ser abgedreht ist, ist der Ring C mit seiner Platte C) welche die Nonien €’ trägt,
wovon nur der eine sichtbar ist, indem der andere mit ihm einen Winkel von
über ein Goniometer. 191
90° oder 180° macht, angeschroben; diese Theile sind also unbeweglich.
Das Licht fällt auf die Nonien, so wie auf die Theile des Kreises, durch geöl-
tes Papier e, welches auf einem kleinen messingenen Rahmen aufgespannt
ist. An die Platten C’sind die Träger f der Mikroskope g vermittelst Schraube
und Platte befestigt; man kann die Mikroskope so weit bewegen, dafs man den
ganzen Nonius übersehen kann. Durch die Hülse A geht die hohle Axe DD,
auf welche der Kreis EE durch Schrauben befestigt ist. Die grobe Bewegung
dieses Kreises geschieht vermittelst der gerändelten Scheibe F', die genaue
vermittelst der Mikrometerschraube @, die durch die Klemme und Schraube
hh mit dem Kreis in Verbindung gebracht werden kann. Durch die Axe DD
geht die Axe HH, welche den Krystall mit seinem Einstellungsapparat trägt
und deren grobe Bewegung durch die gerändelte Scheibe X, die feine durch
die Mikrometerschraube .J vermittelst der Klemme und Schraube ii’ bewirkt
wird. Wenn man also die Klemme A anzieht und die Klemme : löst, so kann
man den Krystall mit seinem Apparat bewegen, während der Kreis still steht;
und umgekehrt, wenn man die Klemme ; anzieht und die Klemme A löst, so
kann man den Kreis bewegen, während der Krystall ruhen bleibt, und wenn
man beide Klemmen löst, so bewegt man beide vermittelst der Scheibe F
oder der Mikrometerschraube @.
Ehe man anfängt das Instrument zu Messungen zu benutzen, bringt
man das Fernrohr Z und das Kreisinstrument in eine solche Stellung zu ein-
ander, dafs die Axe des Kreises rechtwinklig gegen die verlicale Ebene, in
welcher sich das Fernrohr bewegen läfst, steht. Es ist am besten, dafs diese
Einrichtung von demjenigen, der die Messungen anstellt, gemacht werden
können. Zuerst stellt man das Fernrohr so, dafs der zu messende Krystall
in dem Sehfelde des Fernrohrs befindlich ist; dazu sind in der Platte A”, wor-
auf die Säule NZ des Fernrohrs ruht, zwei Einschnitte, so dafs man es nach
rechts und links bewegen kann, die Platte A’ wird mit den Schrauben mm an
die untere Platte Z angeschroben. Darauf wird, so genau wie es nach dem
Augenmaafs ausführbar ist, der Platte Z durch die Schrauben y eine solche
Lage gegeben, dafs die Axe des Goniometers horizontal liegt und die Axe des
Fernrohrs mit der Kreisfläche parallel eingestellt; die Spitzen der Schrau-
ben ruhen sicher auf Platten, welche Schlitze mit ausgeschrägten Flächen ha-
ben, und der Tisch, worauf das Instrument steht, ist fest an den Fufsboden
angeschroben. Dann giebt man durch die Schrauben 000, welche mit Spitzen
192 MıTscHErtLicH
gegen das Lager O drücken, dem Fernrohr eine solche Stellung, dafs die opti-
sche Axe desselben, wenn es um seine horizontale Axe gedreht wird, eine
perpendiculäre Kreisfläche beschreibt; man bewerkstelligt dies, indem man
in einiger Entfernung einen Faden, an dem unten ein Gewicht hängt, mit
dem Fernrohr betrachtet, und hat es erreicht, wenn der Faden seiner ganzen
Länge nach an derselben Stelle im Fernrohr und zwar da, wo die Fäden
desselben sich kreuzen, erscheint. Durch die Schraube p wird das Lager O
an die Säule M angeschroben. Darauf bringt man die Axe des Goniometers
in eine horizontale Lage; zu diesem Behufe befestigt man vorn am Gonio-
meter eine dünne Glasplatte mit zwei parallelen Flächen und unter dieselbe
stellt man eine Schaale mit Quecksilber. Die eine Fläche der Glasplatte
bringt man darauf in eine solche Lage, dafs eine Stelle des perpendiculären
Fadens, von der Glasplatte und von der Quecksilberfläche reflectirt, an der-
selben Stelle im Fernrohr erscheint, indem man auf eine ähnliche Weise wie
bei der Einstellung der Krystalle, die ich gleich anführen werde, verfährt.
Darauf dreht man den Kreis um 180° und bringt das Goniometer vermittelst
der Anziehungsschrauben x xx und der Abstofsungsschrauben yyy nach
und nach in eine solche Lage, dafs man von beiden Flächen der Glasplatte
und von der Oberfläche des Quecksilbers einen bestimmten Theil des Fa-
dens im Fadenkreuz erblickt. Wenn beim Umdrehen des Goniometers däs
Bild des perpendiculären Fadens seiner ganzen Länge nach nicht im Faden-
kreuz bleibt, so findet eine Abweichung der Axe des Goniometers von der
Verticalbewegung des Fernrohrs und zwar in der Horizontalebene statt.
Diese Abweichung, welche nun stets nur sehr klein sein kann, nimmt man
dadurch weg, dafs man vermittelst der Schrauben vv Fig. 1 und 9 die Stel-
lung des Lagers des Fernrohrs verändert und nachher auch die des Loths
um so viel, dafs es wieder im Fadenkreuz erscheint. Beim Gebrauch des
Goniometers kann man sich von Zeit zu Zeit leicht vermittelst der Glasplatte
überzeugen, ob Fernrohr und Goniometer in der richtigen Stellung geblieben
sind, welche sich auf sehr lange Zeit erhält.
Den Krystall befestigt man entweder mit Wachs an das kleine Kugel-
segment ı (Fig. 3.4.5.6), oder vermittelst einer kleinen Zange = (Fig.7), deren
Backen sich durch eine linke und rechte Schraube so bewegen, dafs der zu fas-
sende Gegenstand stets in der Mitte bleibt. Diese Zange schiebt man vermit-
telst eines Zapfenstücks po in die Öffnung des kleinen Kugelsegments ı. Dieses
über ein Goniometer. 193
kann man in dem hohlen Kugelsegment 2 vermittelst der beiden Schrauben 3
und 4 (Fig. 3u.4) nach zwei auf einander perpendiculären Richtungen bewegen.
Vermittelst der Schraube 3 nämlich bewegt man das Stück r auf dem Cylin-
der 5 (Fig. 5 u.6) und vermittelst der Schraube 4 das Kugelsegment ı (Fig. 6).
An den hohlen Zapfen des Kugelsegments ı ist eine Mutter 6 (Fig. 5 u. 6) an-
geschroben, welche die Feder 66 gegen das Segment 2 andrückt, wodurch eine
sehr sanfte und sichere Bewegung bewirkt wird. Sehr bequem ist es, den
Krystall so zu befestigen, dafs eine Fläche desselben mit einer dieser Bewe-
gungen ungefähr parallel liegt. Diese Fläche stellt man nun vermittelst der
Schraube so, dafs das Loth im Fadenkreuz des Fernrohrs erscheint und dann
stellt man die zweite Fläche eben so ein. Da der Mittelpunkt der Bewegung
der beiden Kugelsegmente in der optischen Axe des Fernrohrs liegt, so entfernt
sich bei diesem Einstellen der Krystall nicht aus dem Sehfelde des Fernrohrs.
Um die Kante des Krystalls nun in die Axe zu stellen, dienen die
Schlitten A’ und $’ (Fig. 1.3 u. 4), die durch die Schrauben Q und P be-
wegt werden. Die untere Platte des Schlittens S’ ist an die Axe AH (Fig. 1)
angeschroben und die untere Platte des Schlittens R an das Schiebstück $’
des Schlittens S und an das Schiebstück A’ der Apparat uw. Man hat die
Einstellung erreicht, wenn die Kante des Krystalls, durch das Objectiv des
Fernrohrs betrachtet, beim Drehen des Goniometers sich nicht bewegt. Um
dies zu beobachten, steckt man vorn an das Fernrohr eine kleine Hülse y
mit einem Fadenkreuz ö’ (Fig. 8), welches nur wenig von der Kante des Kry-
stalls entfernt ist, etwa 4 Linien, nimmt das Ocular des Fernrohrs heraus
und steckt statt dessen, um das Auge zu fixiren, eine Platte mit einer kleinen
Öffnung auf; das Objectiv des Fernrohrs dient alsdann als eine vergröfsernde
Linse, durch welche man das Fadenkreuz y und die Kante des Krystalls zu-
gleich betrachtet. Noch bequemer ist es, wenn man auf das Fernrohr (Fig.8)
noch eine zweite Objectiv-Linse uuv von etwa 14, Zoll Brennweite aufsteckt,
das Bild der Kante fällt auf das Fadenkreuz e, wenn die Entfernung der Objec-
tiv-Linse £ von der Kante ungefähr 17 Zoll und die der Linse v 1% Zoll ist;
will man die Messung selbst anstellen, so schlägt man den Rahmen s mit der
Linse v zur Seite. Sollte die Kante des Krystalls nicht scharf sein, so mufs beim
Drehen die eine Fläche genau in die Lage der andern kommen. Da leicht das
Fernrohr verschoben werden kann, weil man es häufig zu berühren hat, so ist es
zweckmäfsig, einen Ring ö daran zu befestigen, welcher mit einer Schraube 7
Physik.-math. Kl. 1843. Bb
194 MırTtscnerLicH
versehen ist (Fig.9). Diese stellt man so, dafs, wenn sie gegen den untern Theil
des Lagers anschlägt, das Fernrohr in seiner richtigen Stellung ist. Der Ge-
genstand, dessen Bild man betrachtet, mufs scharf begrenzt und gut beleuch-
tet sein; sehr gut eignet sich dazu das Fadenkreuz eines Fernrohrs, welches
man mit dem Objectiv dem Krystall zukehrt, wie es von Babinet und Rudberg
vorgeschlagen worden; vor das Ocular stellt man ein Licht, wodurch das
Fadenkreuz beleuchtet wird; steht das Fadenkreuz im Brennpunkt des Ob-
jectivs, so verhält es sich bei der Beobachtung, wie ein unendlich entfernter
Gegenstand; man giebt dem Fadenkreuz diese Stellung, wenn man es mit
dem Fernrohr des Goniometers durch Reflexion von der oberen und unteren
Fläche einer etwa zwei Linien dicken Glasplatte, deren Flächen einander pa-
rallel sind, beobachtet und es so lange verschiebt, bis die Bilder von beiden
Flächen zusammenfallen. Mit dieser Platte überzeugt man sich auch, dafs,
wenn man einen über 100 Fufs entfernten Gegenstand, dessen scheinbarer
Winkel weniger als eine Minute beträgt, beobachtet und wenn die eine Fläche
so eingestellt ist, dafs die verlängerte Axe des Goniometers in derselben liegt,
der Fehler der Einstellung der einen Fläche also der Dicke der Platte gleich
ist, die Bilder der beiden Flächen nicht getrennt erscheinen; da man nun
genauer als bis auf }, Linie einstellen kann, so findet man, wenn man die
Verminderung der Entfernung der beiden Bilder durch die Brechung der
Strahlen des einen Bildes im Glase mit in Rechnung zieht, dafs danach der
Fehler, welcher von der Einstellung herrühren kann, geringer als 4 Minute
ist. Auch durch directe Messungen, indem man die Bilder naher Gegen-
stände, welche man von der einen Fläche und nach Umdrehung der Platte
von der anderen Fläche erhält, ins Fadenkreuz bringt, kann man sich über
den Fehler der Einstellung unterrichten. Am besten lernt man ihn aus folgen-
der einfacher Berechnung kennen: vo sei die Lage, in welche die eine, so die,
in welche die andere reflectirende Fläche des Krystalls beim Messen gebracht
wird, ma die Richtung des auf die eine, my des auf die andere Fläche fallen-
den Lichtes des Gegenstandes m, welchen man beobachtet, qgx die Rich-
tung des von den beiden Flächen reflectirten Lichtes, py ist senkrecht auf
so, und px senkrecht auf vo, und gr parallel mit so. Der Winkel i ist also
der Fehler, welcher durch die unrichtige Einstellung entsteht; er ist gleich
der Hälfte der Neigung der beiden auffallenden Strahlen my und mx, denn
urd5=h+riundhA=d-+rialsou=2i. Ferner ist ya I =,
über ein Goniometer. 495
esınB sin2ab
b R zm
und da sin2d = 2sindcosd, so ist sinu—=- »2cosd. Je
und da nach einer bekannten Formel sinC =
neh, sin 2b
ea sımb zm
weiter also m entfernt ist, desto kleiner werden zu und i; wenn yz und wm
unverändert bleiben, so ist der Fehler am gröfsten wenn 5 = 0° und ver-
‚sostsnu=yx
schwindet wenn 5 = 90°, er verschwindet gleichfalls, wenn os und gr zu-
sammenfallen. Ist z.B.yz = ı Linie, «m = 50 Fufs oder 7200 Linien, 5 = 30°,
1 „
so ist uv= 49/6 undi—= 24s; und wenn yz = Z; Linie, so ist i = 1%".
Fig. 10.
ap‘ ER
Für gewöhnliche Bestimmungen, wenn man z.
B. ermitteln will, ob man mit einem Körper zu thun
hat, dessen Form schon bekannt ist, oder wenn man
sich über die Lage der Flächen und ihr Verhältnifs un-
7A
terrichten will, wende ich ein Goniometer an, dessen
Kreis 21, Zoll Durchmesser hat und dessen Nonius den
Winkel bis auf 4 Minuten angiebt, welches ganz ähnlich
dem Goniometer von Wollaston (!) eingerichtet ist.
An dem von Wollaston zuerst angegebenen konnte
man auch nur 5 Minuten ablesen, und 4-5 Minuten ist
in der That die Genauigkeit, bis zu welcher man bei
Beobachtungen mit dem blofsen Auge damit gelangen
kann. Um dieses Goniometer leicht transportiren zu
können, insbesondere auf Reisen, kann es von dem hoh-
(') Vgl. Philosoph. Transactions of the Royal Society of Lon-
don for 1809 und Gilb. Annal XXXVIL, 357.
Bb2
196
Mitschertich
len Cylinder P abgeschroben werden und wenn man die Schraube r löst und
den Ständer d in die Hülse f etwas senkt, umgekehrt in den Cylinder P einge-
steckt und durch die Schraube A fest und darin freistehend angeschroben
werden.
Zum Einstellen der Krystalle ist hier gleichfalls statt der von Wolla-
ston angegebenen Einrichtung eco Fig. 11, eine ähnliche aber viel einfachere,
Fig. 12.
Fig. 14.
wie bei den grölsern Goniometern, sehr zweck-
mälsig. Der Krystall wird zuerst an die kleine
Fläche v der Platte v’ Fig. 12 angeklebt; ist er
z.B. ein Prisma, so legt man ihn auf einen ebe-
nen Gegenstand und an denselben diese Fläche
und klebt beide zusammen, so dafs eine Fläche
des Krystalls und die Fläche der Platte v’ in
einer Ebene liegen. Die Platte steckt man als-
dann in den Schlitz des Stieles o Fig. 12 u. 13,
welcher an ein hohles Kugelsegment % befestigt
ist, das sich zwischen zwei andern Kugelseg-
menten p und g Fig. 13, die an der Axe des
Kreises befestigt sind, befindet. Indem man
den Stiel o in seiner Hülse 2 hin- und her-
schiebt und ein wenig um seine Axe dreht,
kann man die Kante zweier Flächen in die Axe
des Instruments, und in dem man vermittelst
der Stiele o und s das hohle Kugelsegment k
bewegt, die Kante parallel mit der Axe des In-
struments einstellen, und zugleich so, dafs der
Nullpunkt des Nonius an einer beliebigen Stelle
des Kreises, also bei 0° oder 180°, steht. Man
bedarf also bei diesem Goniometer nur einer
Hülse, welche den Nonius, und einer einzigen
Axey Fig. 14, die den Kreis dd trägt. Um das
Auge zu fixiren, bringt man das Bild des durch
Reflexion vom Krystall beobachteten Gegen-
standes mit dem Bilde desselben Gegenstandes,
welches von einer Quecksilberfläche oder Glas-
über ein Goniometer. 197
platte reflectirt wird, oder mit dem eines andern gleich weit entfernten Ge-
genstandes zum Decken. Durch diese gleiche Entfernung wird der aus dem
Spielraum der Reflexion entspringende Fehler gänzlich beseitigt (').
Das grofse Goniometer ist in der Werkstätte von Pistor bis auf die
Theile 2, 3 und 4 der Einstellung, diese sowie das kleinere in der Werkstätte
von Oertling ausgeführt worden; beide Werkstätten liefern diese Instrumente
in ausgezeichneter Vollkommenbheit.
Für Bestimmungen, welche einen hohen Grad von Genauigkeit erfor-
dern, z. B. Ausdehnung der Krystalle durch die Wärme, sind diejenigen Ap-
parate und Einrichtungen, die ich in frühern Abhandlungen angegeben habe,
vorzuziehen.
(') Über den Werth der Fehler, welche durch unrichtiges Einstellen und den Spielraum
der Reflexion bei diesen kleinen Goniometern entstehen können, siehe Naumann’s Lehr-
buch der Krystallographie Band 2. $. 690-695.
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Mathematische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Aus dem Jahre
1843.
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie
der Wissenschaften.
1849.
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CRELLE: Eine Anwendung der Facultätentheorie und der allgemeinen Taylorschen
Reihe auf die Binomial- Coefficienten. ...... 222222202 20..
Derselbe: Einige Bemerkungen über die Anwendung der Polynome in der
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B
Eine Anwendung der Facultätentheorie und der
allgemeinen Taylorschen Reihe auf die
Binomial - Coefficienten.
+‘ Von
Hm. CRELLE.
annnnnnnnnwWwe
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 30. März 1843.]
7
D: unter dem Namen der Taylorschen bekannte Reihe ist die Grund-
lage der sogenannten Differential- und Integralrechnung oder der sogenann-
ten Infinitesimalrechnung. Lagrange hat Solches überzeugend nachgewiesen.
Begründet man die Infinitesimalrechnung auf eine andere Weise, so geschieht
es nur auf Umwegen, mit selbst geschaffenen Schwierigkeiten; die wahre
Quelle der Theorie wird blofs umgangen.
Nun hat mich schon vor einer langen Reihe von Jahren der Umstand,
dafs die Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die Entwickelung gewisser
besonderer Functionen, z. B. der Facultäten, eigenthümliche Schwierigkei-
ten findet, auf die Vermuthung gebracht, dafs die besondere Taylorsche
Reihe nicht die allgemeinste Grundformel der analytischen Entwickelun-
gen sein möchte, sondern dafs die tiefere und allgemeinere Quelle dersel-
ben in der Differenzenreihe, die ein beliebiges Glied einer Reihe von
Gröfsen durch die wiederholten Differenzen der vorhergehenden Glieder
ausdrückt, zu suchen sein dürfte; und zwar deshalb, weil aus dieser Reihe,
welche man die allgemeine Taylorsche Reihe nennen könnte, sobald
man sie in ihrer vollen Allgemeinheit nimmt, die eigentlich sogenannte
Taylorsche Reihe als ein besonderer Fall hervorgeht, nemlich als der
Fall, wenn die Veränderung der Gröfse, von welcher die Glieder der Reihe
Functionen sind, gleich Null gesetzt wird.
Sodann hat es mir bei der Entwickelung von Functionen vermittelst
der allgemeinen, oder auch vermittelst der besondern Taylorschen Reihe
Physik.-math. Kl. 1843. A
2 Crerue. Eine Anwendung der Facultätentheorie
geschienen, dafs diese Entwickelung, sobald die entwickelten Ausdrücke für
ganz beliebige, algebraische, oder transcendente, reelle, oder imaginäre
Werthe der Gröfsen, von welchen die Functionen zu nehmen sind, gelten
sollen, eigentlich nur auf die Weise geschehen könne, dafs man die Grund-
regeln, welchen die Functionen folgen, wenn die Gröfsen, von welchen
sie abhängen, sich verändern, als Bestimmungen ihrer Eigenschaften
festsetzt und danach die Entwickelung, etwa vermittelst der allgemeinen
oder der besonderen Taylorschen Reihe, ausführt. Da nun die Festsetzung
der Grundregeln für eine Function, blofs unter der Bedingung, dafs die Re-
geln nichts einander Widersprechendes geben, willkürlich ist: so ist es
zugleich bei dieser Verfahrungsweise leicht möglich, dafs man durch sie zu
manchen neuen Functionen und ihrer Entwickelung gelange, die von den
bekannten wesentlich abweichen. Will man aber auch zu Grundregeln die-
ser oder jener Function diejenigen Gesetze annehmen, welche sie für be-
sondere, z. B. für reelle oder für ganzzahlige Werthe der Gröfsen, von
welchen sie abhängt, wirklich befolgt, so hindert daran nichts. Man erhält
alsdann Functionen und ihre Entwickelung, welche die Eigenschaft haben,
für besondere Werthe ihrer Elemente die vorausbestimmten Regeln zu
befolgen; und die Functionen, in ihrem allgemeinen Sinne genommen, wer-
den nunmehr durch diese auf den allgemeinen Fall ausgedehnten Regeln de-
finirt. Soz. B. haben Potenzen die Eigenschaft, dafs in dem besonde-
ren Falle, wenn y und k ganze positive Zahlen bezeichnen,
1.30) want und
BI re
ist. Facultäten haben die Eigenschaft, dafs, wenn wieder z und k posi-
tive ganze Zahlen bezeichnen, in welchem Falle man die Facultäten auch
Factoriellen zu nennen pflegt,
I BEN ERFN EHEN HN)
4. (nz, +ny) = (&,+y)'.n‘ und
9. (ty) =x
ist. Nun hindert nichts, Functionen zu setzen, die auch dann, wenn in
(1. 2.) y und k, und in (3. 4. und 5.) zund k nicht ganze positive, sondern
beliebige, reelle oder imaginäre Zahlen sind, dieselben Grundregeln befol-
gen, und diese Functionen Potenzen und Facultäten zunennen. Es
kommt nur daraufan, dafs die Voraussetzung nicht auf Widersprüche führt;
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 3
was auch, wenigstens bei den Potenzen, leicht sich nachweisen läfst. Die De-
finition der Potenzen und Facultäten wird dann durch jene Grundregeln
ausgedrückt. In der That geschieht auch wirklich, wenn man auf den Grund
geht, selbst bei der gewöhnlichen Theorie der Potenzen und Facultäten im
Wesentlichen eigentlich nichts anderes; nur dals man das Verfahren
nicht geradezu und offen ausspricht.
Die obigen beiden, auf analytische Entwickelungen sich beziehenden
Ansichten suchte ich zuerst vor 20 Jahren in einer Schrift „Versuch einer
allgemeinen Theorie der analytischen Facultäten, Berlin bei Reimer, 1823.”
etwas näher auseinanderzusetzen und zu verfolgen. In meinem „Lehrbuch
der Arithmetik und Algebra, Berlin, bei Reimer, 1825.’ folgte ich ihnen
ebenfalls. Späterhin kam ich darauf bei einzelnen Anwendungen und bei
den Bemühungen um ihre weitere Vereinfachung und Vervollständigung öfter
zurück. Im Jahre 1828 beehrte ich mich, hier in der Akademie einen
Aufsatz über die Grenzen der Werthe des Restes der allgemeinen Taylor-
schen Reihe vorzulesen, als einen Versuch der Schätzung der Convergenz
der Reihen, auf welche es bei dieser, wie bekanntlich bei allen Reihen, so-
bald sie ohne Ende fortlaufen, vorzüglich ankommt. In den Jahren 1829
und 1830 trug ich, ebenfalls in der Akademie, Einiges über die Anwendung
der allgemeinen Taylorschen Reihe auf Potenzen vor. Im 4. Bande des
Journals der Mathematik, im Jahre 1829, theilte ich einen allgemeinen und
einfachen Beweis des binomischen Lehrsatzes mit, den ich auch noch jetzt
für den einfachsten, wenn nicht einzig wirklich strengen Beweis dieses Satzes
halte, insofern der Satz in seiner gröfsten Allgemeinheit dargethan werden
soll. Im Jahre 1839 suchte ich in einem in der Akademie vorgelesenen,
im 22‘ Bande des Journals der Mathematik gedruckten Aufsatze die im
Jahre 1828 mitgetheilten Bemerkungen über die Grenzen des Restes der all-
gemeinen Taylorschen Reihe zu vervollkommnen und weiter zu verfolgen.
Je länger ich über den Gegenstand nachdenke, je mehr befestigt sich
in mir die Ansicht, dafs der angedeutete Weg der rechte für analytische Ent-
wickelungen sei, und dafs auf diesem Wege auch das Vorhandene auf die
einfachste und naturgemäfseste Weise, aufserdem aber wahrscheinlich auch
Neues und Bedeutendes zu erzielen sein dürfte. Man kann freilich gegen
die allgemeine Taylorsche Reihe das Bedenken aufstellen, dieselbe sei im
Grunde nur einidentischer Ausdruck und lehre also von den Functionen,
A2
4 Crerıe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
welche man durch sie ausdrückt, nichts Neues. Allein gerade die Identität
giebt ihr ihren hohen Werth. Eben dadurch besitzt sie die vollendetste
Strenge und Wahrheit, die keine Ausnahme gestattet. Und was sind am
Ende überhaupt richtige Reihen -Entwickelungen, sobald man den Rest
nicht wegläfst, anderes als identische Ausdrücke? Was anderes ist z. B.
die Entwickelung des Bruches —
zz =1-ara—a....+ - ?
Auch der binomische Lehrsatz ist für ganzzahlige positive Exponenten, wo
kein Rest der Reihe weggelassen wird, nichts anderes als ein identischer
Ausdruck. Die Identität hört erst auf, wenn der Rest weggelassen
wird und weggelassen werden darf; welches letztere, insofern die Reihe
ohne Ende fortläuft, dann der Fall ist, wenn der Rest immerfort abnimmt
und im Unendlichen Null ist oder die Reihe convergirt. Auch bei
der allgemeinen 'Taylorschen Reihe kann der Rest weggelassen werden, so-
bald für jede besondere Anwendung derselben nachgewiesen worden ist,-
dafs die Reihe in solchem Falle convergire oder dafs ihr Rest immerfort
abnehme und im Unendlichen Null sei: und auch dies zu beurtheilen, ist sie
ganz, und ähnlich der besonderen Taylorschen Reihe, insbesondere dadurch
geeignet, dafs sie an ihrem Schlusse, nach beliebiger Fortsetzung, einen be-
stimmten Ausdruck des Restes angiebt.
Ich habe die Überzeugung, dafs nicht sowohl die besondere, als
vielmehr die allgemeine Taylorsche Reihe eine sehr ergiebige Quelle ana-
lytischer Entwickelungen ist und dafs sie, während sie für passende Fälle auf die
besondere Taylorsche Reihe als einen einzelnen in ihr enthaltenen Fall re-
duecibel ist, nicht blofs diejenigen Entwickelungen zu geben vermag, welche
die besondere Taylorsche Reihe oder, was dasselbe ist, die Differential-
und Integralrechnung mit so grofser Leichtigkeit liefert, sondern auch, un-
mittelbar und unreducirt, in ihrer Allgemeinheit, andere Entwickelungen,
die jene weniger leicht giebt und zu welchen man nur durch mannichfache
einzelne Kunstgriffe gelangt. Ich halte, wie gesagt, die allgemeine Taylorsche
Reihe für eine gute und für die festeste Grundlage der gesammten Rech-
nungmit veränderlichen Gröfsen und bin der Meinung, dafs diese Rech-
nung nur erst dann ein grofses und schönes wissenschaftliches Ganze aus-
machen werde, wenn sich jene Grundformel ihr an die Spitze gestellt hat.
Kürzlich wurde ich zufällig bei einer andern Arbeit (aus der Theorie
der Zahlen) darauf geleitet, die Eigenschaften der Binomial-Ooeffi-
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 5
cienten auf eine möglichst allgemeine Weise zu discutiren. Nachdem ich
Anfangs die gewöhnlichen Mittel nicht ohne Mühe dazu zu benutzen gesucht
hatte, fand sich, dafs auch die mannichfachen, theils bekannten, theils viel-
leicht auch noch nicht bemerkten Eigenschaften der Binomial- Coefficien-
ten mit der gröfsten Leichtigkeit unmittelbar aus der allgemeinen Taylor-
schen Reihe sich herleiten lassen. Es wird sich Solches aus Dem, worauf
ich gekommen bin und was ich als ein ferneres Beispiel der Ausführung mei-
ner obengedachten Ansichten hier kürzlich vorzutragen mich beehren will,
ergeben.
2.
Wenn Fx irgend eine Function der veränderlichen Gröfse x bezeich-
net, und es verändert sich x um die beliebige Gröfse k, so ist, der allgemei-
nen Taylorschen Reihe Bi
k (k—e) (k—2e)
RX Ar, Pax...
6. F(etk)=Fz+ A, Far 9 a Fr+
k(k—e) (k—2e)...(k— (n—1)e) ‚u
So osnc EEE IN A AH Fx
2.3.4...Ke
k(k—e)(k—2e)...(k—we) (2)
ARIORN TECHN FB KR SAN
Ti: 2ESCA ee k
In diesem Ausdruck bezeichnet e eine gänzlich willkürliche, weder von
x, noch von k abhängige Gröfse, und A, zeigt an, dafs in Dem, wovor essteht,
x -+ e statt x und zugleich k — e statt % gesetzt und von dem Resultat Das
woraus es entstand, wieder abgezogen werden soll. Also bedeutet z. B.
A,.Fxsovielals ?(«-+e)—Fx; AR, FxbedeutetA, (A,. F(x-+e)—A,,Fx);
A*, Fx bedeutet A,, (A F(@x-+e)—A;-'Fx); der Ausdruck des Rests
der Reihe, mit welchem sie schliefst, bedeutet A, az Sue er
k—e
— Al," Fer 2) Der Ausdruck (6) ist vollkommen identisch; und
wenn man alle Glieder, sammt dem Rest, nach der eben angezeigten Bedeu-
tung der Zeichen entwickelt, so erhält man zuletzt die identische Glei-
chung F(e+k)=F(x-+k). Die sehr einfache Herleitung der Reihe
hier zu wiederholen, ist nicht nöthig, denn sie steht z. B. in der obenge-
dachten, in der Akademie am 31. Januar 1823 vorgelesenen Abhandlung
S. 4 und 5.
6 Crerte. Eine Anwendung der Facultätentheorie
3.
Facultät, und wenn z und k ganze positive Zahlen sind, Fac-
torielle, soll diejenige Function heifsen, welche die durch die drei Glei-
chungen (3, 4 und 5 $ 1.) ausgedrückten Bedingungen erfüllt. x soll Basis,
y Differenz und z oder k Exponent heifsen.
Setzt man in (3) k= ı und der Reihe nachz = 1, 2,3....u, so erhält
man vermöge der Gleichungen (3 und 5):
Hy’ = (Hy) (cry +Y)=e(e Hy),
HN = Hy’ +3y HN) = +y)’(e+2y),
” 2 S ana a 7 2 @ u ie Ba
ei 4 Be pn RR a) (+(R—2)Y)
NR Er RN) NHN RN (ar lR—i)y)-
Substituirt man die erste dieser Gleichungen in die zweite, das Resultat in
die dritte, das Resultat in die vierte u. s. w., so erhält man
I. SHN rer) Ey) aRH3y) er R—1)N);
woraus folgt, dafs die durch die drei Gleichungen (3. 4. 5.) bestimmte oder
definirte unbekannte, willkürlich durch (x,-++ y)‘ bezeichnete und Facultät
benannte Function in dem Falle, wenn der Exponent z eine positive ganze
Zahl u ist, dem Producte der x Factoren x, + y,2-+2y, +3 Ye...
x + (w — 1) y gleichkommt. Sie heifst in diesem Falle Factorielle. Dafs
die dritte Gleichung (4), welche bei der Entwickelung des Resultats (8) für
den Fall eines ganzzahligen positiven Exponenten u nicht benutzt wurde,
dem Resultate für diesen Fall nicht widerspreche, folgt unmittelbar;
denn setzt man in ($) nx und ny statt x und y, so erhält man
(n&,+ny)"=nx (n&-+-ny) (ne+2ny) (n&-+3ny)....(na+(#— ı)ny),oder
(n&x,+ny)"—=n"x (e+y) (e+2Yy) (e+3Y) ....(e+(R—1)y)
oder, vermöge (8),
9, (nx,+ny)*=n*(z,-+-Y)*;
wie es die Gleichung (4) verlangt. Was die unbestimmte Function (x,+y)'
in dem andern Falle, wenn z nicht eine ganze positive Zahl ist, sein, oder
welchen Werth sie dann, den drei sie definirenden Gleichungen (3. 4. 5.)
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 7
gemäfs, haben werde, mufs ihre Entwickelung nach der allgemeinen Taylor-
schen Reihe (6) ergeben, weil diese für jede beliebige Function Statt
findet.
4.
Ein Binomial-Ooefficient ist nur in dem Fall, wenn sein Zeiger
u eine ganze positive Zahl ist, der Quotient zweier Factoriellen; nem-
lich der »“ Binominal-Coefficient zum Exponenten x, den man durch x, zu
bezeichnen pflegt, ist
De ren Ne Na,
I DEZE I RGz
welches zufolge (8) auch wie folgt geschrieben werden kann:
Berge (x, — 1)*
Ne
Es würde indessen nichts hindern, den Begriff des Binomial-Coet-
11m
ficienten auch auf den Fall auszudehnen, wenn sein Zeiger » nicht eine
ganze positive, sondern eine beliebige, ganze oder gebrochene, rationale
oder irrationale, reelle oder imaginäre Zahl ist, und also allgemein den Quo-
tienten x, der beiden Facultäten (x,— 1)” und (1,+ 1)”, nemlich
x,—1)”
12. Be ee
mit dem Worte Binomial-Coefficient zu bezeichnen. Die Facultät
(1,+ 1)” im Nenner von x, wäre dann Das, was man auch durch T'” auszu-
drücken pflegt.
Es könnte scheinen, dafs sich der Begriff des Binomial-Coefficienten
noch mehr erweitern lasse, wenn man auch noch die Differenz der bei-
den Facultäten, deren Quotient gemeint ist, nicht gerade =— ı und + 1,
sondern beliebig, z.B. =n und e annähme, und also
1% ee
setzte; allein dieser Ausdruck drückt rücksichtlich der darin vorkommenden
Facultäten nichts von (12) wesentlich Verschiedenes aus; denn zufolge
der zweiten Grundgleichung (4) erhält man für (13)
Ga ua) naeh) eu „ie
er — 2 eiag er FI — =
8 Crerre. Eine Anwendung der Facultätentheorie
so dafs auch (13) nichts anderes ist als ein Binomial-Coefficient, nach (12),
blofs noch mit einer Potenz multiplieirt. Es kommt nur darauf an, dafs
die Exponenten der beiden Facultäten im Zähler und Nenner einander und
dafs Basis und Differenz der Facultät im Nenner unter einander gleich sind.
Unter dieser Bedingung für den mit dem Namen Binomial-Coefficient
belegten Quotienten zweier Facultäten ist schon der Ausdruck (12) völlig
allgemein.
Der Fall, wenn in (13) m nicht eine ganze positive, sondern eine
beliebige Zahl ist, möge für jetzt, um das hier Vorliegende nicht zu
sehr zu verlängern, dahingestellt bleiben, und nur insbesondere der Fall
untersucht werden, wenn m eine ganze positive oder negative Zahl + u oder
— u 1st.
5.
Es wird also darauf ankommen, zu sehen, was sich für den Bino-
mial- Coefficienten x, = Be durch die allgemeine Taylorsche Reihe oder
durch andere allgemeine Entwickelungs - Ausdrücke ergebe.
Zu dem Ende wird es nöthig sein, zunächst einige allgemeine Ver-
wandlungs-Formeln für Facultäten überhaupt herzusetzen, weil die wei-
tere Entwickelung ihrer bedürfen wird. Auch wird es des methodischen
Zusammenhanges der Entwickelungen wegen gut sein, herzusetzen, wie der
binomische Lehrsatz selbst unmittelbar aus der allgemeinen Taylorschen
Reihe folge.
Für alles Folgende werde bemerkt, dafs, um möglichst die Wie-
derholung von Erläuterungen durchWorte zu ersparen, alle Zahlen, welche
beliebig sind, das heifst, positiv oder negativ, ganz oder gebrochen, rational
oder irrational,reell oder imaginair sein können (so wie es auch schon bishier-
hin beobachtet worden ist), jedesmal nur durch lateinische Buchstaben be-
zeichnet werden sollen: sobald aber die Zahlen der Bedingung unterworfen
sind, nur ganz oder positiv zusein, sollen dafür griechische Buchstaben
und möglichst die correspondirenden Buchstaben geschrieben werden.
Unter dieser Beobachtung ist dann durch den blofsen Anblick die Bedeu-
tung der Buchstaben und der Ausdrücke zu erkennen.
A. Aus (3) folgt fürz=oundk=.:
BHNEEN EN!
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 9
und daraus
13. @+yer
Jede Facultät mit dem Exponenten o ist also = ı.
B. Aus (3) folgt, wenn man — z statt z und z statt % setzt,
(+) = +)" (a —yHy)=ı (15),
und hieraus
4
(&—2y,+Jy)°'
Dieses ist der Ausdruck einer beliebigen Facultät durch eine andere, mit
16. (v+Y) =
demselben, aber mit entgegengesetztem Zeichen genommenen Exponenten.
Für z= ı giebt (16)
re (2%, +Y) = Eane ni ; ©:
C. Aus (4) folgt
18: (2, +yY)' Ey
Ferner folgt aus (3)
(+ =) (ur2.oure) ER FDN "Er = e)
oder, davermöge (4) C n,+ e) =(+ ) o* ist,
19. De — (u, Eu Be 1) »o
Setzt man hierinaus (18) (+ =, so ergiebt sich
=
Y ut ==r E eN:
(u,+ 9) = (u, -+P) (x, +Y) (>) 5
und hieraus
(w+ o)
Vermöge dieser Formel kann jede Facultät (x,-+ y)' durch zwei andere
Facultäten, jede mit der beliebigen andern Basis und Differenz u und v, aus-
gedrückt werden.
Physik.-math. Kl. 1843. B
10 Crerwe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
Nimmt man in (20) ı für das ganz willkürliche z und v, oder setzt man
auch nur v=r in (20), so erhält man
14 14
z (1,1) z 1m z
9, (x,+Y) en ame
RES v
So also kann jede Facultät blofs durch die Function IT’ ausgedrückt werden.
Setzt man in (20) u=x, v=-— y, so erhält man
a,
DDR (2,+Y) = ann .(— 1).
1)"
Dies ist der Ausdruck einer beliebigen Facultät durch zwei andere, in wel-
chen die Basis dieselbe ist, die Differenz aber das entgegengesetzte Zei-
chen hat.
D. Wenn der Exponent z einer Facultät eine ganze positive Zahl
Cist, so ist
23. (+) =(& + G-),— N):
Dieser Ausdruck findet aber auch nur für ganzzahlige positive Expo-
nenten oder nur für Factoriellen Statt, nicht nothwendig allgemein für
beliebige Exponenten oder für Facultäten. Letzteres ergiebt sich,
wie folgt.
Man setze in (20) u=x-+(2—1)y, r=-—y, so erhält man
ze e
24. (o,+y)' N ——N))
HEN
2x
re —1
Ar HN —(y.
(er @Ny en
Aber zufolge (3) ist
a a =(e+@=), N) CHE=)I-2,N)
oder aba a,
(«+ @—1)y,—y) (+ BY) (en N »
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 11
also ist in (24)
Zr A
[md z .(—y— ) z
235. (ty) =(e+l21)1,—Y) I — er 1).
He
Wäre nun allgemein, für jedes beliebige z, (e+y) = (&,+(2—1)y,—Y)';
so müfste gemäfs (25)
un (—1)=1 oder
FE
@+@-1,—y)
6 N, Seren)
sein; und nur unter dieser Bedingung wäre allgemein
27. (+) = (2 + (@—1)y,—Y)-
Nun ist zufolge (3) in (26)
2x
Gy) die”
(e—-y—22%4+4,—y)' (—1)'
2x
=(e-y,—y) (N) (1) oder
ee 1 ==
3. (ey) (Na (+) ().
Dagegen ist andrerseits in (26), ebenfalls vermöge (3),
2x 2x
—+t:-—1 —1
HEN) =&a+ß@-ı)y N) (e+@=1)y—ay,—y)” oder
2x
—-1
29. «+@-1)),=y) Zu ee)
Setzt man die beiden Ausdrücke (28 und 29) nach (26) einander
gleich, so redueirt sich die Bedingung (26) für das allgemeine Stattfin-
den von (27) auf
2x 2x
= —1i
E-H—N » @HN Sa@+@- NH N a-r—N
oder auf
30. (&,+Y)" = (e&+(2—1)y,—Y)-
Dieses ist aber die Gleichung (27) selbst. Also findet dieselbe nur unter
der Bedingung Statt, welche sie selbst ausdrückt; mithin findet sie nicht
B2
12 Creııe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
nothwendig Statt, und folglich nur, wie sich oben ergab, für Factoriellen,
nicht allgemein für Facultäten.
6.
Für Binomial- Coefficienten ergiebt sich nun zunächst, vor der An-
wendung von Entwickelungs- Ausdrücken, Folgendes.
A. Ist in dem allgemeinen Ausdruck eines Binomial-Coefficienten
(n, — 1)”
4. m=0% (1)
m gleich Null, so findet sich aus (15)
39 (n,— u) 28
1
Ki Te neeri
Ein Binomial-Coefficient mit dem Zeiger o ist also immer = ı\.
B. Setzt man in (31) m=1, so ergiebt sich zufolge (5)
33, a
Ein Binomial - Coefficient mit dem Zeiger ı ist also immer seiner Basis gleich.
C. Setzt man in (31) n= der ganzen positiven Zahl v, und m ebenfalls
=», so erhält man nach (8)
a lee) v2) VI... b EN) red GI u) BEZ Be
2 (1,1) Ersee oaa 122.3.4ea..D
D. Zufolge (31) und (8) ist
35, (n+ 1) e (n+H1)n (n—1) (n—2)...(n++1— (u—1)) Ta (n++1) n(n—1) (n—2).. a)
1.2.3.4... AZ EZ
36. EI RITEN EN ER, a
1.2.3. Aooc.l&
r n (n—1) (n—2) (n—3)....(n—(u—2))
37. le 123. E
Daraus folgt
n(n—1) (n—2) (n—3)..... u) f (? + 229) ode
1 1a
1.2.3.4....d—1
(n+1),—n,=
_ n(n-—i) (n—2) (n—3)....(n— (u—2)) \ u—1
Fern HRTEREE EWR TEN 12207 U TRRRTERN 7
oder
1.2.3.4... —1
(+1), —n,
38. (r+1),—n,=n,_;:
und der allgemeinen Taylorschen Heihe auf die Binomial- Coefficienten. 13
E. Multiplieirt man (36) mit #, so ergiebt sich
kin — 1 un) Cut) RER ud Cu) PR CD u) a) ER m nu) oder
r 1.2.3.4... —1 1.2.3.4... 21
39.
m, nn —i), .-
F. Multiplieirt man (36) mit n— u, so ergiebt sich
(My) Be R—1) RN) (n—3).... (n-(u—1)) (n—u)
1.2.3.4... oder
40. (n—u).n,=n.(n—1),.
G. Es ist
3 v(v—1) (v—2) (v—3) ....(v— (1)
4. YuT RE
is (—1) GEN - kur aa) x (v— 1) Bari) W—u—2) ...1 Sa
1.2.3.4....]%& 1.2.3.4....(v—1)
_»@—1) 2) W—3)... 1 5
Tr LAIEN ER12E, DIR oder
iR
5) EB ee CE
42. „= T#“ T’-# =
: . ! Tv
H. Setzt man in (41) v— u statt u, so ergiebt sich v, , = Trap”
Dieses ist aber dasselbe wie v, (41), also ist
43. =»
I. Itv<u, so kommt in (41) im Zähler des Bruches immer der
Factor o vor. Also ist
44. v0 füry<yp.
—n,—1)" n,—1)* 7
(mi rn. (—1)* (4) oder
= n), gr n(n-H1) er he) (1) are
Aa ei n), is (n+n—1) (n+n—2) a ae 1)".
1.2.3.4...
Der Factor von (— ı)* rechts ist nichts anderes als (a+w— ı),. Also ist
46. (nn), =(n-+u—1),.(— 1)".
L. Aus (38) folgt für a=1, (n+1), —n,=n, oder zufolge (32 und
33.) a+1—n=1, wie gehörig. Ferner giebt (38)
14 Crerrze. Eine Anwendung der Facultätentheorie
Füru=0, n,=(n+1), —n, =1—1(32)=0, alsoauch (n-H1)_,—=o,
ji Füra=—1, n,=(n+1)_,—n_,=0—0=0, also auch (n-+1)_,=0,
**) Füru—=—2, n,=(n+1) ,—n ,„=0—0=0, also auch (n-+H1)_,— 0.
U. s. w.
Also ist überhaupt
48. 'n,=0:
das heifst, alle Binomial- Coefficienten mit negativen ganzzahligen Zei-
gern sind Null.
7:
Der binomische Lehrsatz in unbedingter Allgemeinheit ergiebt sich
aus dem allgemeinen Taylorschen Lehrsatze wie folgt.
Man setze in der Reihe (6) e=1, so reducirt sie sich auf
49. F(a+k)=Fx+k, A, Fx+k,A}, Fe+k’A}, Fox...... Da
rk, At, Fo+k,(k—u) Ar, (7),
Nun setze man
80. Fx=u”,
so ist
91.- A, Fa =u’" —-usau’ (ui). *
Daraus folgt
A?,Fx = (u‘*— u’) (u—ı) =u’(u—ı1)’,
A’, Fx = (u"*"— u”) (u—ı1)’ =u’(u—ı)’,
A), Fax = (u**'— u”) (u—ı)’ =u’(u—1)',
[
[89)
Aa", Fx = (u — u”) (u—ı)"=u"(u—1)";
also giebt (49)
53. u =u[ır+k, (u—1)+k,(u—1)’+k,(u—1)’....+k,(u—ı)*]
+k,(k—u)A}, (=).
Dieses reducirt sich für x = 0 auf
54. u'"—= ı+k, (u—1)+k, (u—1)’+k, (u—1)’....+k,(u—1)*
k
+k,(k—u) AL, (7)
und, wenn man 2 +1 statt u schreibt, auf
E In) —1i
5. (+n)=ı+kn+kn’+kn’...+k,n"+k,(k—u)AL, (II).
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 15
Dieses ist der binomische Lehrsatz für jedes beliebige n und %;
zugleich mit dem Ausdruck k, (k— u) A) des Rests der Reihe.
Ist der Exponent k eine ganze positive Zahl x, so bricht die Reihe mit
dem Gliede «,n*ab und reducirt sich auf
56. ((+n) =1+%2,n+2,n’+2,n’.....+2,_,n""'+n‘;
denn wegen des Factors «— u in dem Ausdruck des Rests ist dann der
Rest für «—=x Null. Ist z nicht eine ganze positive Zahl, so läuft die
Reihe ohne Ende fort und es ist alsdann ihre Convergenz zu untersuchen ;
was ich im 2" Hefte 5“ Bandes des Journals der Mathematik gethan habe.
8.
Nach diesen Vorausschickungen wird sich nun die allgemeine Taylor-
sche Reihe zur Entwickelung von Ausdrücken der Binomial-Coefficienten
wie folgt benutzen lassen.
Zunächst lassen sich unmittelbar aus der Reihe dergleichen Aus-
drücke entnehmen, und zwar, indem man zuförderst Fx—=x, setzt.
Hierauf wird erst ein zweiter Ausdruck, der eben so allgemein ist, wie
die allgemeine Taylorsche Reihe selbst, aus ihr zu entwickeln sein; nemlich
der Ausdruck einer beliebigen Differenz A* Fx durch die Glieder der Reihe
Fax, F(x-+e), F(x+2e), F(x-+3e)....F(@-++1e). Dieser Ausdruck
ist eine Art von Umkehrung der allgemeinen Taylorschen Reihe, welche
ihrerseits F(x-+%) durch die Differenzen der Glieder der Reihe Fx,
F(x + e), F(x+2e)....F(x-+ne)....giebt. Aus jenem Ausdrucke wer-
den sich dann wieder, indem man Fx—= x, setzt, Formeln für die Binomial-
Coefficienten entnehmen lassen. Und zwar ist der neue allgemeine Ausdruck
deshalb erst aufzustellen, weil dabei die unmittelbar aus der allgemeinen
Taylorschen Reihe gewonnenen Ausdrücke der Binomial-Coefficienten A n-
wendung finden.
Wiederum aus der allgemeinen Taylorschen Reihe wird eine zweite
allgemeine Gleichung zwischen den verschiedenen Differenzen, von A*’Fx an,
und den Gliedern der Reihe Fx, F(x-+e) F(x-+2e)......,zu entwickeln
sein; wobei wieder die bis dahin gewonnenen Ausdrücke der Binomial-Coef-
ficienten eine Anwendung finden. Diese Gleichung wird ebenfalls wieder
Ausdrücke für die Binomial- Coefficienten geben, indem man Fa=x, setzt.
16 Crerzz. Zine Anwendung der Facultätentheorie
Endlich wird, nicht sowohl aus der allgemeinen Taylorschen Reihe,
als vielmehr a priori, und auf ganz ähnliche Art wie jene gefunden wird, ein
eben so allgemeiner Ausdruck aufzustellen sein, welcher F(x=-+-%), nicht
wie die allgemeine Taylorsche Reihe durch die wiederholten Diffe-
renzen der Glieder der Reihe Fx, F(x-+e), F(x -+2e), F(x +3e)....,
sondern vielmehr durch ihre wiederholten Summen giebt. Auch dieser
Ausdruck wird Formeln für die Binomial- Coefficienten liefern, wenn man
darin Fx=x, setzt.
Man kann aber noch, nicht sowohl Fxr=x,, als vielmehr Fx=n,
setzen; welches ebenfalls Ausdrücke für die Binomial - Coefhicienten liefern
wird, von welchen insbesondere diejenigen einfach ausfallen, welche sich
aus der letzten allgemeinen Entwickelungs-Formel ergeben, in welcher die
Summen der Glieder der Reihe Fx, F(x=-+e), F(x-+ 2e).... vorkommen.
l. Unmittelbare Anwendung der allgemeinen Taylorschen Reihe
auf die Binomial- Coefficienten.
I:
Zunächst ist zu bemerken, dafs sich der allgemeine Taylorsche Lehr-
satz (6) auch wie folgt ausdrücken läfst. Schreibt man nämlich ke statt k,
so giebt (6)
564 Flarke)=Fa+k, A,.Fa+k,A?,Fac+k,A),Farccıe.
F(x—+-ke)—Fx
Re Se ee
Schreibt man in (6) erst — e statt + e, welches angeht, da e gänzlich
willkürlich ist, und’ darauf kestatt k, so giebt (6) folgenden andern Ausdruck:
F(x-+ke)=Fa—k,A_,Fx+(k+1),A°,Fx—(k+2),A°, Fa...
Dan, +(— 1)" (k+1—1),A%, Fr + (— 1) (kHp—1) (k—p)AU. (er)
Sodann ist, nach dem Sinne des Zeichens A:
A, Fe=F(«—e)-Fe=—A,,F(x—e)
A?,Fx=A_,F(a@—) =+A})F(&x—2e)
A’,.Fa=A?,F(la—) =—A,)F(x—35e)
si Telgte zfe. ikea He tTe tie itelrieitjegiee
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial- Coefficienten. 17
Setzt man dieses in (57), so ergiebt sich folgender dritte Ausdruck:
59. F(x+ke)=Fx+k,A,, F(x—e)+(k-+1),A7,F\ (2—2e)+(k-+2),A,. F(x-3e)..
et (k+u—1), Ar. Fla—ue)+(k+R— 1), (k+W)A,, u
In diesen verschiedenen Gestalten (56. 57 und 59) läfst sich der allge-
meine Taylorsche Satz auf die Binomial - Coefficienten wie folgt anwenden.
10.
4. Man setze
60. Kae unde—4,
so ist
A,Fx=(x-+1),,—a,=x,_, (38), also
AR, Fxı= A, Kulı Ku-2)
61. AN EE ZA BE x,
A HB—ENE—2.—ı (82),
A as a, 0 (AS) HUREN — 42,360.
Setzt man nun (61) in (56), so ergiebt sich
62. (rk), =&, FRE. FRE then: +k_,x+k,
oder, wenn man n statt x + k schreibt,
63. n,= (n—k),+k,(n—k),_,+k,(n—k),_....+k,_,(n—k),
+k,_ ,(n—k), + k,,
wo k gänzlich willkürlich ist. Diese Reihe für n, ist diejenige, welche
auch aus einer der bekannten Facultäten -Entwickelungen unmittelbar her-
vorgeht; wie gehörig, da die Entwickelung denselben Weg nimmt.
B. Itn—k=e gleich einer ganzen positiven Zahl und e<y, wo k
noch nicht nothwendig eine ganze positive Zahl ist, so fallen in (63) die
ersten Glieder bis zu dem Gliede k,_.e, weg, weil in diesen ersten Gliedern
n— k negative Zeiger hat. Die Reihe (63) reducirt sich also in diesem
Falle auf
GA.n=k, Aare he ar hs th se te He
C. Ist k eine ganze positive Zahl z und < u, so fallen in (63) die letz-
ten Glieder mit #,,2,_,,#%,_2..--%,,, weg und die Reihe reducirt sich auf
65. n,=(n—x),+2,(n—r), +2 (Nn—%)._e + +#,_2(R—#),_.r2
+#,_: (R—#),_.4 +{n—#),-.-
Physik.-maih. Kl. 1843. C
18 Creure. Kine Anwendung der Facultätentheorie
D. Ist auch n eine ganze positive Zahl vund v— x =, auch zugleich
e<p, »<u, also v<2p, so fallen in (65) auch die ersten Glieder mit e,,
€ Er e,, weg und die Reihe reducirt sich auf
66.- v, =, „FH, er ten Malers FR, RR De NG a
E. Setzt man in (63) — k statt +%k, so verwandelt sich (63), weil
nach (46) (— x), = (kr — 1), (— 1)’ fürA= 1, 2,3, 4....ist, in
67. n,=(n+k),—k, (n+k),_,+(k+H1),(n+k),_2.....:
+ (— 1) (k+a—2),_,(n+k), +(— 1)" (k+n—1),-
F. Ist in (67) n negativ undk —n=e<u, so fallen die ersten Glie-
der mit e,, &,_,> &,_2++.-&,,, weg und die Reihe (67) reducirt sich auf
(—n),=(1)"(krpR—e—1),_ 8: + (1) lkkEHm—E),_erieıerer-
2. + (1) (kB —2),_, 8, + (— 1)" (k++u— 1), oder
68. (nm), 1)" =(k+R—1),—(k+u—2),_,E+(kHR—3),_282 ser r1.:
Säle +1) (kn —E),_.4 8: (1) (K+ru—E—1),_.:
G. Setzt man in (63) das willkürliche k=n— u, so erhält man
69. n,=1+(n—u) u, (Rn — 1), HN — RR) zu. H(n— U), Rt (NR).
H. Ist n eine ganze positive Zahl vund v— u<u, alsov<2u, so fal-
len in (69) die letzten Glieder bis zu dem Gliede mit (v— w),_, weg und
man erhält
70.9, 14), + WHY) Kae HOW), a to
van
T. Itin(6)n=v<pundv—n=—s, so ergiebt sich
71. 0=1+(—2), 4, +9,14, + (— 8); %3 :.... +(— 2,8%, tr).
oder zufolge (46)
72. 0=1—8,9, +(E+1),%,— (£#+2), Ka... + (—1)" (EH-R—2),_ı >:
HE HL—I),-
Für e= ı giebt (72)
73. 0=1—u, +, ec + (1) =(1—1)"=0;
wie gehörig.
K. Setzt man in (67) k=u—n, was also, da dort k positiv ist,
> n voraussetzt, so giebt (67)
74. n,=1— (un), HR —nH1)Bae +1)" (.u—v—2),-ı Mu-ı
FIIR IE:
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial- Coefficienten. 19
Z. Setzt man in ((7)n=y—eundk=x»-+, so ergiebt sich
75. B—2),=@+r),—@— 2) (AR) H@HEHN) (UHR) _ee rennen
HN EHER), BF FRN* are +1),
oder auch, da zufolge (43) (u+ x), = + Wr. = (u +%),,, ist, für
jedes ?%:
76. WB), =), ar) HN) FRHEHN), (HM):
NT RrRte—2), tr) +1 ar rent),
Für z= 0 giebt (76) die Gleichung (72) und ist also eine Verallgemeinerung
derselben.
M. Setzt man in (61) der Reihe nach x—ı, x—2, &—3.... statt x,
so ergiebt sich
„Fl&@—ı)= (2—1),_,
A, F(@&—2)=(&—2),_.
Zn: a F(x—3) == (2—3),_3
a, Fa) = (@—p),.= (= 1
A F(a—u) = (@—u—R) ,—=0, für jedes?.
Setzt man nun (77) in (59), so erhält man
78. (c+k),=x,+k, (—1),_, + (kH1),(@—2),_2 >... :-
ge +(k+u—2),_,(@—u +1), +(k+u—1),
oder, wenn man n statt x + k schreibt:
79, n,—=(n—k), +k, (n—k—1),_,+(k+1), .n—k—2),_,.:.::.:-
+(k+R—2),_, (n—k—u-+1), +(k+u— 1).
In diesem Ausdruck darf jedoch n — k oder in (78) x nicht eine posi-
tive ganze Zahl <a sein. Denn für <u sind in (59) Fx, A, F(x— e),
Ar, F(x—2e) u.s. w. zufolge (77) sämmtlich Null; dagegen wird (k+u— ı),,
wenn 4 immerfort wächst, unendlich grofs. Die Reihe endigt also alsdann
nicht und giebt blofs einen unbestimmten Ausdruck von (x + %),.
N. Setzt man in (79) — k statt + k, so ergiebt sich
80. n,=(n+k),+(—k) (n+k—1),_,+(—kH1),(n+k—2),_2..:::
ys* .(—k+R—2),-. (n+k—uH+1), +(—k+R—1),
C2
20 Crerze. Eine Anwendung der Facultätentheorie
oder, da zufolge (46) - kr), u =(k- AH +11): (1)*
—k,,, (—1)”*' ist, für jedes:
S1. n,=(n+k),—k,(n+k—1),_,+k(n+k—2),_2:..::.:
2... (1) k,_, (an +k— +1), +(—1)"k,;
wo nun zufolge (M) n-+%k keine ganze positive Zahl < u sein darf.
O. Ist n-+%k eine ganze positive Zahl e, was noch nicht 2 und % selbst
als positive ganze Zahlen voraussetzt, so giebt (81)
32. n,=e,—k, (e—1),_,+kz(e—2) 2... (1) k,_, (ea +1), (—1)"k,
oder auch, da nach (43) (e—A), ‚= (e—A)._,_ ._,, = (e—A)._, für jedes ist,
33. n,=8E._,— (en), (e—1)._,+ (en), (e—2)._,.:...-
+ (1) (en),_, (e-BH+1)._,+(—1)" (en),;
wo nun e>y sein muls.
P. Ist k eine ganze positive Zahl z< u, so fallen in (81) die letzten
Glieder bis zu dem Gliede mit x, weg und die Gleichung reducirt sich auf
84. n,=(n+#),—r, (nr —1),_,+%,(Nn+2—2),_2°...-
lt), (Rt), rer)" N
wo nun n-+x, wenn es eine ganze positive Zahl ist, nicht < 1 sein darf.
Q. Ist in (84) auch z eine ganze positive Zahl v, so ergiebt sich
5. 1, =W#+2),—2,! HR —1),_, +4, WHR2—2),_2..:.-
ie .+(-1)" Ku Va +(-1)' Ya
oder, v+x2=e gesetzt, wie in (O):
36. v,=e_,—(evV), (e1)._,+(eV),(E-2)._..:..-
2... + (1) (ee V)._,, @H1):, (1) "95
wo nune>u und #z<py, also e—v<p oder e< u-+v sein muls.
R. Sind in (81) n und k beide ganze Zahlen v und x, und ist «>»,
also e—v> u, welches dann die andere Bedingung e> u schon von selbst
erfüllt, so ergiebt sich
37. v„=E,— (ev), (1), ,+le—vV),(E2)._2..,: ,..
+ (1) (eV), E-RH 1), +1)" (eV),
oder vermöge (<—A) ‚= (<A?) 3), = (e—?)
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 21
33. v,=8_,—(eV), (1)... + (eV), (E2)._ur..:
2... + (1) (EV), _, ER 1)._. + (1) (EeV)._,5
wo e>4-+-v und v>yu vorausgesetzt wird.
S. Setzt man in (79) das willkürliche k gleich n—u, was die Bedin-
gung, dafs n —%k nicht eine ganze positive Zahl <u sei, erfüllt, indem jetzt
n—k gleich «ist, so ergiebt sich
89. n,=1-H-(n — u), Hr —uH+1),,+(n — RH+2),::.- (N -2),_, +(Rr—1),;
ohne weitere Bedingung.
T. Ist in (89) n eine ganze positive Zahl v, so ist v„,—=v,_, (43), also
giebt dann (89), wenn man u statt v — u schreibt,
9. „ir, +(RH+1), + (u 4 2)3....9v—2),_,_,+(w—1),_. oder auch
1. „ei+n,, FRH) FR H) er FV/- IM. te).
Diese Gleichung (91) ist der nach Fermat und Pascal benannte
Ausdruck für die sogenannten figurirten Zahlen.
U. Setzt man in (91) v+w— 1 statt v, so ergiebt sich, die Reihe in
umgekehrter Ordnung geschrieben:
2. (HR), =t/+R—2),_, FY$HR-3),_, +oY+R—), ee Hl;
also, da zufolge (46) „—u-H1),=(—v). (—1)"=(—v). (—1)* und für jedes
rl, WHR—A),_,=(—V+r—2),_,(— 1)" ist:
ll) Tr). HH) I HM). (1), ] oder
93. (—V),= Pr IS +(-2),_, +3), ee Fe N.)
V. Die Gleichung (92) kann in umgekehrter Ordnung auch wie folgt
geschrieben werden,
94. WHRA,=RA, tun ter) teH) ee HOHR2).-ı
Multiplieirt man dieses mit (—ı)*, so erhält man zufolge (46):
3 VAN Mr), tut Rate:
ee HU HR 2),_.]
oder auch vermöge (43):
% (=) Tr +1), HR) HlHR—2),-l
Crerze. Eine Anwendung der Facultätentheorie
188)
[9]
II. Herleitung des allgemeinen Ausdrucks von A:L.Fx
aus der allgemeinen Taylorschen Reihe.
14
Man setze in der allgemeinen Taylorschen Formel (6) der Reihe nach
37. Fee, BIP, SEELE
so erhält man
Fx — Ex
F(x-+ e) —EE; +A,Fx
F(x +20) =F&x +2,A,.Fx +A?, Fx
BKiz-F30o) =#x +3,A,.Fx +3,A,,Fx+A,,.Fx
Fa+6H))=Fx-+(r+1) an Fx+(r+ 1),A2, Fx.....
un +(7+1).A2.Fx+ (r+1) .,, Al" Fan.
F(x+(7+2)e)=Fx+(r+2),A,.Fx+(r+2),A2. Fa...
Brebs +(7+2),A,.Fx+ (+2) „.,452° Fx+(r-H2),.,822°Fx
Fx+Rr—1))>=Fa—(A—1),A,.Fx+H{R—1),A,, Fax...
99.
F(x-+?e) —#X +r,A,.Fx EX, AR Fr.
Aue A +1,A,,Fx +2, Air" Fan... +1, AL, Fe.
Nun multiplieire man die erste dieser Gleichungen mit ı oder A,,
die zweite mit A,, die dritte mit A, u.s.w., die r-+-ıte mit A,, die r+2te
mit A,,, etc., die vorletzte Ate mit A,_,, die letzte A-H1te mit A, oder 1,
nehme die Producte abwechselnd mit entgegengesetzten Zeichen und ziehe
sie zusammen, so ergiebt sich aus den Gliedern linkerhand
99. Fa—r, F(x+e)+r, Flx-+2e)—r,F(@x-+30)........
+1), Fa +lR—1)e)+(—1) Flx-+re).
Rechterhand wird eine beliebige Reihe senkrecht unter einander
stehender Producte, z. B. derer, die sämmtlich A}, x enthalten, durch
100. RR, , (FH). HR, (FH), Ars (FF 3). er...
2 HAN) R_,A—1).+(—1)"1,1,}A,, Fr,
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coeffieienten. 23
oder auch zufolge (43) durch
101. 2,60 HH), FA. (CH) As (FH) +:
HN) IR, AA), St)" ARA_,}A,. Fr
ausgedrückt.
Nun setze man in (76) y=A—r, e=ıund»=r,
so ergiebt sich
102. A—r—1),_.=A,—R,, , (FH) HA, (FH) A, (3) >
= +(—ı) "A, (?—1),_-. +1)" %_-,
also reducirt sich (101) auf
103. (A—r—1),_.A,.Fx.
Es ist aber nach (44 und 48) (A—r-— 1),_.=0, für alle r, von ı an
bis A— 1, so wie auch für r>A. Blofs fürr =A ist A—r7—1),_,=(—1),
= ı(32). Also ist die Summe der sämmtlichen Producte, die man rechter-
hand in (98) erhält, bis auf das einzige letzte Glied in der untersten
Reihe, welches (—1)’2,.2,A!,Fx=(—ı)’A},Fx giebt, Null. Folglich
ist dieses einzige Glied der Reihe (99) gleich und folglich erhält man
104. Fx—r, F(x+e)+r,F(x+2e)—r,F(x+3e).......-
See: +(—1)""%,_,F(@+(R—1)e)+(—1) F(ax+re)=(—1)' A) Fx
oder, mit (— 1)” multiplicirt und die Reihe in umgekehrter Ordnung ge-
schrieben:
105. A). Fr=F(x+re)—r, F(x+(R—1)e)+2, F(x-H(R—2)e).....
Buelale +(—1)""r1,_, F(a+e)+(—1)' Fx.
Dieses ist der Ausdruck der ersten Differenz von beliebiger Ordnung der
Glieder der Reihe Fx, F(x-+e), F(x-+1e).... F(x-+Ae) durch diese
Glieder selbst.
Die Anwendung derselben auf die Binomial-Ooeffhicienten ist Folgende.
Il. Anwendung des Ausdrucks von A}, Fx auf die
+
Binomial- Coefficienten.
12.
A. Man setze wieder
1er =anmnde=r
24 Crervıe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
g
so ist nach (61)
REN
für jedes beliebige A. Setzt man dieses in (105), so ergiebt sich
105. 2, ,=l@ HA), —A, (C-HA—1), HR, (CHR 2), A, (CHA), 22.»
et (1) R,_, (a1), (1) 8,
oder, wenn man n statt x, e statt A, und a + e statt u schreibt,
109. n,=(n-+e),,.—E, (n+E—1),,. HE; (NtE—2),4: +:
ee (1) EL, AH), He) Nuss
wo e eine willkürliche positive ganze Zahl ist.
B. Setzt man in (109) a=0, so ergiebt sich
110. 1ı=(n-+e),—e, (n+E—1),+8,(n+E—2).......-
(1) E,_,(RH1).+(—1)'n..
C. Setzt man in (109) —n statt n, so ist
111. (na), =(—nH+e),,..—&E(—N+E—1),,. #8, (—NHE—2),,.:*..-
(1) E,_, (—RH1),,.+(—1) (—n),,.=(n+R—1),(—1)* (46).
Schreibt man hierin n stattn +» —1ı, alsow—ı—n statt — n, und
multiplieirt mit (—1)“, so ergiebt sich
112. ,=(—1)[(u+e—n—1),,.—8,(u-HE—Nn—2),,.HEs(u HE N—3),4.--+-
+ (1) TE, (Bon)... +1) (B—n—1).c)
D. Istn eine ganze positive Zahlv>yn, aber <u-+es, so fallen in
(109) letzte Glieder weg, bis zu dem Gliede, in welchem v+e—A=u-+e,
aloA=v—wist, und die Gleichung (1) reducirt sich auf
1135. v=lWHE)..—EWHE1) HE, WHE— 2) ger... -
see (— 1)’ 7"'e,_,_,(a+E-H1) ..+(—1)
vl
En
E. Ferner fallen für = v in (112) zwar keine letzten Glieder weg,
indem % —v— ı negativ ist, dav> u sein mufs, aber erste Glieder können
wegfallen; nemlich alle Glieder, für welche »+e—v—X positiv oder o
und <w-+e ist. Für das erste bleibende Glied it „He v A=-—1,
also A=p-+e—v-+1. Dadurch reducirt sich (112) auf
114. vv (ME, De rN Tre Dar ie
sleje.e (—1)" €, _1 (B—V)...t+(—1)| Wr—1),..]-
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 25
F. Ferner fallen in (114) erste Glieder weg, wenn e<v — w ist.
Für das erste bleibende Glied ist daan + s— vr = 0, alorA=v—u—
Dadurch reducirt sich (114) auf
115. v, =(—1)"[ (u +. v1)... (AHV 2), (U HE v3).
Eu NE Bet)
oder auch, wenn man v—u statt e schreibt, so dafs nun e—_ u <v— u oder
€ <v vorausgesetzt wird, auf
116. v,=(—1)[(e—v—1).—(ev—2). (e— 1), +(eVv—3). (MW); 2.»
Delete +1) (le p)._.. (ar). (1)" (ar —1).].
G. Setzt man in (110) n=e, so erhält man
117. 0=(2e),—e, (22—1),+8, (2E—2),— 8; (2E—3)5,.:. 2...»
+ (1) E,_,(e+2), + (1) Tele),
wenn e gerade ist, und
118. 2=(22),—e,(22.—1).+8,(2E—2).— 8, (283), 22... .::
....(—1) °E,_,(e+2).+(— 1)" e(e-+H1),
wenn e ungerade ist.
H. Istn=v, so ist gemäfs (43) („-+e—R),,..=(+.—R)
VHE—i—n—E
=(v+e—R),_, ,. Setzt man dieses und der Reihe nach A=0, 1,2,3....e— 1,8
in (109), so ergiebt sich
119. v, =(+2),_,—:.,. 0 +1), +8: / +2), 2_2:...--
in +(— 1) Span („+ N er —t- (—1)' V,_u-e®
Dieses giebt, wenn man 7 statt v— u, und e — v statt e schreibt, so dafs also
e>v und r<v vorausgesetzt wird,
120. v,=8:,— (ev), (r—1),_,+ (eV), (e—2),_, — (eV), (Ee3)._3 4.»
+ (1) Er) WHAT en Ne Yan
J. Setzt man in (108) e=u— ı undA =, so fällt allein das letzte
Glied weg und man erhält
121. (B—1),_.= (a He—1).—8E, (uHE—2), +8; (AH+E—3).::..::
Hanber +(-1)"e_,(@#+1), +1)" 8,_,.:
Physik.-math. Kl. 1843. D
236 COreıve. Eine Anwendung der Facultätentheorie
IV. Herleitung von Gleichungen zwischen den Gliedern
einer Reihe und ihren wiederholten Differenzen.
13.
A. Setzt man in der allgemeinen Taylorschen Formel (6) der
Reihe nach
122. k=0, —e, —2e, —3e....—Ab....,
so erhält man
(ee er
F(&x— e) — HE NW ALTE ED AN.HE —3,A° ‚Fa...
i ..+(—1)’7,A},F2.....
F(x—2e) =Fx, —2A.Px ı,#3,A!,Fx — 14,4), Fix...
...+(—1)’ (+1), AL. F@.....
123./FP&-3e) =Fx —34A,Fx +414°,Fx —5,A} Fax...
...+(—1)(F+2),A,.Fx.....
Fx—Q@—ı)e)=Fx—(r—1),A, 7x +2,4°,Fx—(R+1),A,.Fx....
...+(—1) (r+r—2),A,. Pen.
F(x—re) =Fx —1A,Fx+0+1),47. Fx— (%4+2),A,.Fx....
+ (1) (F-HR—1), A), Peer.
B. Man multiplieire die erste dieser Gleichungen mit (— 1)’, =1,
die zweite mit (—1)'A,, die dritte mit (—1)’A, u. s. w., die vorletzte mit
(— 1)" ?,_, und die letzte mit (— 1)” A, — (— ı)" und nehme die Summe
der Producte.
Dieses giebt für die Glieder links sämmtlicher Gleichungen:
124. Faz—r, F(x—e)+r, F(x—2e)—r,F(x—3e)......
Br +(— 1)" R,_,F(@—(A—1)e) + (—1)" F(@—Re).
C. Rechterhand giebt die erste Reihe der senkrecht unter ein-
ander stehenden Glieder, also derjenigen, welche sämmtlich Fx enthalten,
125. Frl, +21, 2,....(1)"R,_, +1) 1, ]=Faxlı—1)’=0.
D. Jede folgende Reihe rechts senkrecht unter einander stehender
Glieder, z. B. aller derer, welche sämmtlich A}, 7x enthalten, hat zur Summe
der Producte:
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 27
126. (—1)’A,.Far[—r, +r, (+1). - 2, (+2), HA, (FH 3)... >
(1) TA, (HA), +1) (FH R—1),],
oder auch, wenn man den Factor vor den Klammern mit (— ı)” dividirt und
dagegen den Factor zwischen den Klammern mit (— ı)" multiplicirt, zugleich
aber die Reihe rückwärts schreibt:
127. (1) "AL. Falle HA—1),—A,(FHA—2), HR, (HAB), 22... >
+ (1) °R, (FH). +1)" 2].
E. Nun ist nach (121), wenn man daselbst r und A statt & und e schreibt,
128. (1), ,=(F+rR—1),—A, (FHA—2) HR, (THR—3),......
(1) PR, (HN). Het) 2.
Also wird auch zufolge (127) die Summe der Producte aus jeder Reihe der
in (123) rechts senkrecht unter einander stehenden Glieder durch
129. (I) TALF&.(Fr—1)_,
ausgedrückt.
F. Für r=1,2,3....2—1ist r—A negativ; also ist vermöge (48)
die Summe der Producte (129) aus allen in (123) rechts senkrecht unter
einander stehenden Gliedern, bis zu denen, welche A}, Fx enthalten, gleich
Null; eben so wie es zufolge (C) die Summe der Producte aus den ersten
senkrechten Reihen von Gliedern war.
Es bleiben also nur diejenigen Reihen, für welcher =, A+1,% +2
etc. ist, und für diese sind nach (129) die Summen der Producte der Reihe nach
(Ar. Fx.@-1,=+A,.F,
Ina. = EN URDSN,,
130. 2 (1) A Fx.AH+1),=+AtFax.(A+1),,
|vairnern ah. Q-+2),;
G. Die Gesammtsumme hiervon ist der Summe der Producte (124),
die von den Gliedern links in (123) herkommen, gleich; also erhält man
die Gleichung
131. Fx—r, F(x—e)+r, F(x—2e)—r1, F(x—3e).......
Ike «mb +1)", _, Fe —@A—1)e)+(—1)’ F(x—re)
= N... Fx—1, 0% Fr+ +1), Pr—(@+2), A, Fr
+@A+3,AT Faxe...
D2
28 Crerze. Kine Anwendung der Facultätentheorie
Dieses ist eine allgemeine Gleichung zwischen den Gliedern der Reihe
Fx, F(x+e), F(x+2e)....F(x—e), F(x—2e).... undihren ersten wie-
derholten Differenzen.
H. Da in (131) e willkürlich ist, so kann man auch —e statt + e
schreiben. Dieses giebt:
132. Fax—r, Pla +e)+r, F(lx+2e)-1, F(x+30)........
oa + (1) "1, Fa +aRA—1)e)+(—1)’F(x-+Re)
=AN'.Fa—1, A" Fx+(A+1),A Fx— (+2), A Fx
+A+3), A” Pa........
Nun ist zufolge (58):
133. AL. Pa=(—1),.F(a—Re).
Benutzt man dieses für (132), so erhält man
134. Fax—r, F(x-$e)+r1, F(x+2e)—A, F(x+30).......
33500 +(-1)"R1,_,F(x+@A—1)e)+(— 1)" F(x-+Re)
=(—1)'[A,.F(a—re)+r, A FR — AH1)e)+(A+1), A F(x— Ar2)e)
+(A+ 2), AP F(-AH3)e)..:.. l:
Dieses ist eine zweite allgemeine Gleichung zwischen den Gliedern der
Reihe Fx, F(x-+e), F(x-+2e) .... F(x—re), F(\x— (a1) e), Fix — (AH2)e)....
und ihren ersten wiederholten Differenzen.
V. Anwendung der allgemeinen Gleichungen zwischen den
Gliedern einer Reihe und ihren wiederholten Differenzen
auf die Binomial - Coefficienten.
14.
x EN
A. Setztiman wiederum Aa = a, e=1,/7s0rdalsgA,, 2, a,
hierin der Reihe nach x — 1, &—2, x — 3 etc. statt x, und dann die Resul-
tate in die allgemeine Entwickelungsreihe (131), so erhält man:
135. 2,—A, (21), +9, (&—2),— A, (23)... ...-
(1) A, _, (RK AH+1), +1) (a2),
=, N 8, Sn tßH)8%, ao: (A) AHT), mare
Hier fallen rechterhand alle Glieder weg, in welchen die Zeiger zu x
negativ sind. Also ist für das letzte bleibende Glied u—A—r=0, folg-
lich r=4—%. Daher reducirt sich die Reihe rechts in (135) auf
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 29
136. 2, , N, 2, FA HN), 8, Leser
ee ENTTRN) ana HN RN)
und man erhält aus (135), wenn man 2 statt x und e statt A setzt, die Gleichung
137. n,—e, (n—1),+8,(n—2),—2,(n—3),......
2... +1) e,_,(R-Ee+1),+(—1) (n—e),
ns —ENn,_. + (eH1),1._._. —(Ee+2)zn,_._3 +... :
Fe Te A).
für jedes beliebige n, » und e<u.
B. Setzt man in (137) das willkürliche e gleich , so bleibt rechter-
hand blofs das erste Glied 2, = ı und man erhält
138. n,—u, (n—1),+4,(n—2),— 4, (Nn—3,...::.
2. +1) u, AR), +1) (Rn — u) 1;
welches mit (110) übereinkommt, wenn man n + e statt und « statt u setzt.
C. Iste>yu, so sind alle Glieder rechts in (137) gleich Null, also
ist alsdann
139. n,—e,(n—1),+8,(n—2).—:,(n—3)... +...»
lt) TE, (REH1),+(—1) (n—E),= 0.
—=x,_, mit den verschiedenen Werthen
von x in die andere allgemeine Entwickelungsformel (134), so ergiebt sich:
140. a —A, (CH1), +9, (a2) — A, (a 3)e rer.
el N) TR, (cc HA), + N) (ac+R),
= (1) [ae -A,.,+%, (a1), FAH1N), (aA), ._err:
ee HAHT—1), @ AT.)
wo man wieder n und e statt x und A schreiben mag. Die Reihe rechts
bricht wieder für r=1— ab und folglich reducirt sich (140) auf:
D. Setzt man das obige A},
7
141. n,—e, (n-H1),+8,(R+2)—8,(N-+3),....»-
eh (1) TE, (n+E—1),+(—1) (n+ 8),
=(—1) [n—2),_.+8:, Nn—e-—1),_,_,+E+1),(n—E—2),_._ar.*.-
ae +(R—2),_.2 RUN), +W— 1), _.]-
E. Setzt man in (141) das willkürliche e gleich u, so bleibt rech-
terhand blofs das erste Glied n,—= 1, und man erhält
142. m, — U, (AH), HU, (NH), — U, (NH3),......
HN TH ARHRN. + Na:
30 Crerrte. Eine Anwendung der Facultätentheorie
F. Ist in (141) e>p, so sind alle Glieder rechts Null, und folglich
ist alsdann::
143. 7, —E,(RH1), +8 (NH2),— E53 (NH3),......
BERRHRA +(— 1) &_, n+E—1),+(— 1) (n+e),—0.
G. Setzt man in (141) das willkürliche e gleich 1, so bleiben links
nur die beiden ersten Glieder und man erhält, wenn man z statt n-+ 1 schreibt,
144. n,=(n—1),+(n—2),_,+(n—3),_.+(nr—1) 3... -+(n—u), +1;
was mit (89) übereinkommt.
H. Ist n eine ganze positive Zahl v, und» >v— u, also 2u>v, so
fallen in (138) die letzten Glieder bis zu (—1)’*u,_,(v— #—W)).
= (—1)’”*w,_, weg, und man erhält:
145. v,—u, 1), +9, — 2), — 43 W— 3), +...»
ER ee.
I. Itn=vunde>», so giebt (139):
146. v,—8:,W—1),4+3,W#—2),— 8; W— 3)... +» +(—1)"te,_.W,
HN, EAN TEE. EN, 0,
+(—1)""e,, (1), +1) EM: .::::
2... +1) E_,W—E+1),+(— 1)" WE), 0.
Die in der zweiten Reihe stehenden Glieder sind sämmtlich Null; die
in der dritten Reihe lassen sich nach (46) verwandeln und man findet zu-
sammen:
147. ,—8,W—1), +8, (€ 2), — 8 — 3)... .+(— 1)" E,_,
2. le) E_, (He — v2) 5,_,+(— 1)" (are Vv—1)_,]-
VI. Entwickelung allgemeiner Gleichungen für das letzte
Glied einer Reihe durch die wiederholten Summen der Glieder.
13.
Die der Entwickelung der allgemeinen Taylorschen Reihe ganz ähn-
liche Entwickelung a priori der in ($8) gedachten allgemeinen Gleichung
zwischen den Gliedern einer Reihe und ihren Summen ist folgende.
A. Es ist identisch:
148. Flak) Br
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 31
und wenn man
149, ERDE (a)
setzt,
1590. F(ia+k)=Fx+kf(x,k).
B. Nun verändere sich x um + e und zugleich k um — e, so bleibt
F(x-+k) unverändert Dasselbe und (150) giebt:
151. F(x+k) = F(x-+e) + (k—e)f(c-+e,k— e).
Die Summe von (150 und 151) ist, wenn man durch 3 bezeichnet,
dafs in Dem, wovor 3,, steht, & um +e und k um — e verändert und
das Resultat mit Dem, woraus es entstand, summirt werden soll:
152. 2F(x+k)=2,,Fx+(k—e)2,.f(&,k)+ef(x,k).
C. Man setze in (152) von Neuem x + e statt x und k — e statt k,
so ergiebt sich
153. 2F(a+k)=3,. F(x+e)+(k—20)2,.f(e+e,k— e)+ef(x+e,k—e).
Nimmt man wieder die Summe von (152 und 153), so ergiebt sich,
nach dem Sinne des Zeichens 3, .:
154. 2? F(&+k)=22,Fx+(k—20)22,f(&,k)+2e2,. f(&,k).
D. Setzt man abermals in (154) x -+ e statt x und k — e statt k, so
erhält man:
155. 2’F(x+k)=3}, F(x+k)+(k—3e)3},f(a+e,k—e)+2e3,, f(x+ek—e),
und wenn man die Summe von (154 und 155) nimmt,
156. 2’ F(c+x)=3,.Fx+(k—3e)3,.f(&x,k)+3e2;.f(&,k).
E. So weiter fortfahrend, erhält man zusammengenommen:
32 Creute. Eine Anwendung der Facultätentheorie
F(x+k)=Fx+kf(x,k) (150);
—_ F(a +) — ee,
22 a
3,.f(&,k)—kf(&,k) (152);
Fia+h)=+? 23, Par E99 yeah)
lee
+09 21 Aa,k) 154);
F(<+k)= a 2 5 Fx
2.8.e>
el 2)
157. / Knacı
N Be nr ee —e —LEe
__ ke) (k—20) (k—3e) 5 fe u I “
Zushe>
1)" 2"k(k—e) Ben aa 1)" a ne eb 2“) FH
2.3.40... MeH 2.3.4... MeH
N 5, fla;h)
eh 2,3. jRee
„k(k—e) (k—2e)....(k-(n—1)e) <,_ı
a een
F. Addirt man alle diese Gleichungen (157), so ergiebt sich, weil
sich rechterhand die zweiten und dritten Glieder, bis auf das zweite Glied in
der letzten Gleichung, sämmtlich unter einander aufheben:
? k(k—e 3 K(k—e) (k—2e
158. F(x+k) |: —_ un en nun
un Klk—e) (ke). (K—( —1)e)
A ) Ze =
—Fx— —2,.Fx+ an = eis Den Have nann
„R(k—e) BERN nA „K(k—e) (k—2e)...(k—e) —,
a) N Fr or Te fh)
oder, wenn man ke statt k schreibt:
159. F(ax+ke) ı—2k +2’, 2 kzerenee +(—1)'"k,]
= Fa—k, 2,.Fa+k,2}, Fa—k,2,.F&....+(—1)'k,2, x
+(—1)"k,(k—u)e2;.f(z,k).
Dieses ist ein allgemeiner Ausdruck von F(x-+ke) durch die wieder-
holten Summen von fx, F(x-+e), F(x+-2e) etc.
G. Schreibt man in (158) —e statt -He, so ergiebt sich:
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 33
160. F(a+k) [1+” a eu
„u K(k+e) (k+2e)..(AH(a—1)e)
BR LE 2.3-Aune el
— per 2 Pot 2 EI Fu.
k(k-re) (k-r2e).....(kH(v—1)e k(k-He) (kAr2e).....k-H-e
se ee en Fx retten floh),
Hier bedeutet $_,F&x nach dem Sinne des Zeichens & so viel als
F(x—e)+Fx, also so viel als 3,.#"(x—e); 3°,F'x bedeutet so viel als
>3_(F(x—e)+Fx), oder 3_,2,.F(x—e), oder 2! ,F(x—2e); 2’, Fx be-
deutet so viel als 3). F(2—3e) u.s.w. Setzt man Dieses in (160) und zu-
gleich ke statt k, so erhält man:
161. Fla-+ke)ı+2k,+2°(k-H1),+2(k+2) 2... +2 (kHu—1),]
=Fa+k,2,.F(x—e) + (k+1),3,.(0—2e)+(k+2),3,. F(x—3e).....
+ (Ara), 2, Pape) Hr) (krp)e3i. (ok).
Dieses ist ein anderer Ausdruck von F'(x-+ke) durch die wiederholten
Summen von Fx, F(x—e), F(x—2e) etc.
H. Schreibt man in (161) —k statt + k, so ergiebt sich vermöge (46):
162. F(a—ke)[ı—2k, +2’k,—2’k,....+{—1)"2"k,]
=Fax—k,2, ei si —k,23,.F(x—3e).....
Bar +(—1)"k,3).F(@&—ne)+(—1)k,(k—p)3%.f(&,—k).
Dies ist ein dritter Ausdruck von F(x—.ke) durch die wiederholten
Summen von Fax, F(x—e), F(x—2e) etc.
I. Schreibt man in (159) —k statt k, so ergiebt sich:
163. Fla—ke) [1—2(—k) +2°(—k),—2°(—k);.....+(—1)*2°(—k), ]
= Fx— (-k),2,.Px+(—k),22. Fx—(—R),22. Fx.... +1)" (R)2% .Px
HAN h Xi fh),
oder zufolge (46):
164. F(a—ke) [1-+2k,+2°(k+1),-+2°(k42) 322... 2° (k+Hu—1),.]
=Fx+k,2,.Fx+(k+1),2),. Fa +(k+2),3,. Fax... +(k+u—1),2%,Fx
— (ku) (krn)e33.f(&—k).
Dies ist ein vierter Ausdruck von F(x— ke) durch die wiederholten
Summen von fx, F(x-+e), F(x-+-2e) etc.
Physik.-math. Kl. 1843. E
34 Creuıe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
v1. Entwickelung. allgemeiner Gleichungen
zwischen den Gliedern einer Reihe und ihren wiederholten Summen.
16.
Ganz auf dieselbe Weise wie in (II.) der Ausdruck von A! , 7x aus der
allgemeinen Taylorschen Differenzenreihe gefunden wurde, liefse sich
auch ein Ausdruck von 3}. 7x aus den Summen-Ausdrücken von (VI.)
entnehmen. Aber man kann 3} .7x auch wie folgt aus A}, 7x selbst nehmen.
Nach dem Sinne der Zeichen A und $ ist nemlich:
A.fx .=Flate) —Fi%, >,Fx, =FP(xre) #fa,
A? Fx =A,,.F(x+e)—A,.F%x, 3,,Fx=2,.F(x+e)+3,.Fx,
165. A), Fx =A,,F(x-+e) —A},Fx, ee 2’, Fa=2},F(a+e)+2,.Fx,
A,,Fx =A,),F(a-+e) —A),Fx, 2',Fx=2,.F(x+e)+2}.Fx,
A). Fa=A},'F(a+e)—A},'Fx; 3), Fx=2,,' F(x+e)+2,, Fix.
Hieraus folgt, dafs man die Gleichungen (166) blofs dadurch aus den
Gleichungen (165) erhält, wenn man in letzteren überall 3 statt A und +
statt — schreibt. Da nun der Ausdruck von A}, Fx aus der Substitution
Dessen hervorgeht, was die der letzten in (165) vorhergehenden Gleichungen
ergeben und das Gleiche mit 3 ,F'x in (164) der Fall ist, so mufs sich der
Ausdruck von 3, ,F'x unmittelbar aus demjenigen (105) von A},F'x ergeben,
wenn man in diesem blofs 3 statt A und überall + statt — setzt. Es ist da-
her zufolge (105), die Reihe umgekehrt geschrieben, noihwendig:
167. 2,,Fx=Fx+r, F(x-+e)+r, F(ao-+2e) +2, F(x-430)......
teile +1,_, Fr +A—1)e)+F(x-+Re).
1:9.
Ausdrücke zwischen den wiederholten Summen einer Reihe finden
sich wie folgt.
A. Ist in (163) k eine ganze positive Zahl x, so ist daselbst von
F(x— ke) der Factor = (1—2)*= (—1) "= (—1)*, also nach (164):
168. (1) Flr—pe)=Fr+u,2,.Fx+(#+1),2,.Fx+(v+2),2,./%
+(u+3),2,.F&..... -
wo die Reihe rechts ohne Ende fortläuft.
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 35
B. Setzt man nun in (168) der Reihe nach „=0, 1, 2, 3, 4....... 2,
so ergiebt sich:
+Fx — Hr
— F(x—e) = +,3,Ffz -#227.Fx -+3,2).Fa...
TIER IN
+F(a—2e) =Fx +2,2,Fx -++3,2).F% +1,23} F%&...
+ (7+1),3,. Feen.
169, —F(x—) =Fx +3,2.fx +4,3),.Ffz +5,2,.Fa..
....+(7+2),37,F.u
e.50, olini lin anstatt SE air aa in ae ce Jemme,iit dd, Ta 0, li, ea.
(—1)"" Fla—(R—1)e)=Fx-+QR—1),2,.Fx +1,23, Fx-+(R+1),2,. 8...
...+(749—2),3,.FX......
(—1)” Fia—e) =Fx +?,3,.Fx+(+1),27,.Fx+(R+2),2,.F 8...
uch(F+R—1),2,, Fr.
C. Die Zahlen-Coeffhcienten von 3,,Fx, 3/_Fx, 3}, Fx..... rech-
terhand in diesen Gleichungen sind denen von A,,Fx, A}, Fx, A}. Fx.....
in (123) vollkommen gleich. Also folgt auch, wie dort in ($ 13.), dafs, wenn
man, wie daselbst geschehen, die Gleichungen der Reihe nach mit (—1)°2,,
(1)'R,, 1)’ Ra... (1) R,_, und (—1)’A, multiplieirt und die Summe
der Producte nimmt, die Summen aller senkrecht unter einander stehenden
Glieder, bis zu denjenigen, welche 3}, Fx enthalten, Null sind, und dafs über-
haupt die Summe der senkrecht unter einander stehenden Producte nach
(129) durch
170. (—1)"3,,Fx.(—1),,=(—1)"3},.Fx.(r—1),_,
ausgedrückt wird; nemlich weil hier der Factor (—ı)” in (126 und 129) nicht
Statt findet, indem alle Glieder rechts in (169) positiv sind. Dieses giebt
Null für #=0, 1, 2, 3... 0A-1. Fürs=i-+1, A+2, A333. aber
giebt es
NE, FR, (Az Fr, AYEFrOH),NEZPFROHN),....
D. Daher erhält man denn aus den Gleichungen (169), wenn man
damit nach (C) verfährt:
171. Fx+r, F(x—e)+r,F(x—2e) +r, F(x—3e)........
rhi,_, Fx—(ri—1)e)+-F(x—re)
=(—1)' [3}, Fx+2,3)7' Fax+H+1),2, 7 Fx+{+2),2,7 Fx....]
E2
36 Crerre. Eine Anwendung der Faculiätentheorie
E. Schreibt man in (171) —e statt +e, so geht die Reihe links in
diejenige (167) rechts über und ist folglich ==", Fx. Mithin ist
172. 2), Fe=(—1)’[2}, Fx+1,2.7' Fx+(A+1),2,7’ Fr+(A2),2' F...].
Dieses ist ein Ausdruck zwischen den wiederholten Summen der Glie-
der der Reihe Fx, F(x—e), F(x—2e).....F(x-+e), F(x-r2e), F(x-+3e) etc.
F. Da zufolge ($ 15. G.)
173. 2 Fx—=2.*+ F(x—(AH+F)e)
ist, so giebt (172) auch, wenn man in (173) der Reihe nach r=0, 1, 2, 3, 4...
setz
- 174. 3), Fe=(—1)’[3}, F(a—re) +r,3,%' F(x— (RHH1)e)
+(A+1),2,7 F(x— (R+2) e) + (A+2),2, F(x— (A#3) e)....];
welches ebenfalls ein Ausdruck zwischen den Gliedern der Reihe Fx,
F(x-+e), F(x-+2e).....F(x—e), F(x—2e), F(x—3e)..... ist.
VII. Anwendung der allgemeinen Gleichungen zwischen den
Gliedern einer Reihe und ihren wiederholten Summen (VI. u. VII.)
auf die Binomial - Goefficienten.
18.
A. Man setze
175. &=e' Fe=n, =n, unde=ı,
so ist zufolge (38), wenn man daselbst e + ı statt u setzt,
176. n,+n,,=(n#H1).45
also ist, da hier 3, fx=2, ,n, ist und n.-+n,, , bedeutet,
EHFRUN—(RENNG; folglich
3,,fx=2, (rn). =(R#2).42:
177. EFF =3 ar) Kerr)
no -tetlier a Yalye. = 8. veltelellier le lei, ie
>, Fan):
B. Setzt man Dies z. B. in (159) und daselbst A statt u, so ergiebt
sich, weil hier X (x+ke)=n,,, ist,
178. n, „rk, 2’, 2 kzereree .(—1)'2’%k,]
=n,—k, (n+1)., +k,(n-+2).,.— k;(n+43) 3... H(—1) k(n+A).,,
+(—1)"k,(k—r)2}.f (sk).
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 37
C. Setzt man hierin e+k=u, also auch für % die ganze positive
Zahl »—e, so ist, wenn man die Reihen in (178) bis zuA=u-—: fortsetzt,
vonn,,‚odervonn, der Factor=(1—2)*""—=(—ı)*""; desgleichen ist der Factor
k—? in dem Rest rechts alsdann = (u—e—(u—))—0, so dafs der Rest weg-
fällt. Also reducirt sich dann der Ausdruck (178) auf
179. (—1)"n,=n,.— (u—8) (R+1).,, + (BE) (RH2) 42,4. :
Mr HEN WU, Bere
-
K—E
oder auch, wenn man mit (—ı)
Reihe rechts rückwärts schreibt, auf
150. n,=(n+e),— (n+E—1),_ 8; +(N+E—2),_5&3 +r.+-
isn + (1) TR), 1) R,_.-
D. Ist in (178) k.oder u—e negativ, also e>u, so fällt der Rest
rechterhand für kein A weg. Der Ausdruck (175) giebt also dann n.,, oder
n, durch keine endliche Zahl von Gliedern.
E. Setzt man in (180) 2 negativ, so kommt man nach den gehöri-
gen Verwandlungen auf den Ausdruck (65); der sich also hier auf einem an-
deren Wege findet.
F. Aus (175 und 177) folgt:
multiplieirt, e statt a—e setzt und die
Fx —
3, F(a—1)=(n-+1),.,
37, F(2—2)=(n+2).,
3, F(2<—3)=(n-+3),,
3, Fa —r)=(n+R)..
181.
Setzt man Dies in (162) und A statt x, so ergiebt sich
182. n._,l1—2k,+2°k,—2"k,.....4(—1)"2”k,]
=n.—k, (n+1).+k,(n+2).—k,(n-+43)......+(—1)"k,(n-HA).
+ (—1)"k,(k-r)2,, fle—k).
G. Setzt man in (182) k=s—u undA=k, so ist wieder der Factor
zu n,_, oder n, gleich (—1)°"* und die Reihe rechts bricht mit dem Gliede
(—1)""(e—w)._,(n+e—u). ab. Sie giebt also dann:
183. (—1)””"n,=n.— (eu), (R+1).+ (ep), (n+2)......:
ee NT) HN) ar).
38 Creıte. Eine Anwendung der Facultätentheorie
oder wenn man e-++% statt e schreibt, so dafs also e>u ist, mit (—1)' multi-
plieirt und die Reihe rechts rückwärts schreibt:
184. n,=(n+:) ..— (NHE—1), 2.8 H(N+E—2) o42&gr er.
“use +1)" nH+1),4. 8 HA) n,;.::
H. Ist in (184) n eine ganze positive Zahl v>pu aber <u-re < 2y,
so bricht die Reihe rechts schon mit dem Gliede v-+—(—n)) .4.8,_.(—1)"""
ab und es ergiebt sich:
155. v1, =(t+2),,. (HE). HF o@HE—2) upeEarr rer
set (AT Br ET
welches mit (113) übereinkommt.
J. Setzt man (177) in (167), so erhält man:
186. (MA). =Nn. HAN FAN FAN ee FAN:
Setzt man hier e-+Hr=u, also u>e, so giebt (186):
157. (W+a—e),—n.+(W—e),Nn. tr (MR E),Nn. tr RE) N. y3 N,
oder, wenn man hierin e statt u—e setzt, so dafs also e<y ist:
(n+:),—n,_.+E,Nn,_ a ten _aeee ten, t+n,, also
188. n,=(n+e),—[e,n,_,+8n,_ct En, ee HEN, _eı FR.)
K. Für e=ı giebt (188) n,=(n-+H1),—n,_,; welches die Gleichung
(38) ist. Für e=n-—1 giebt (188):
189. n,=(n+R—1),— [W—1) 2, + RN) n,_2 + (BP) a3,_3+ 0:
et (1), sN,tn].
L. Für n=u giebt (188):
1=(u+E),— [EM HER, _et E35 Mu_se HE Kun tu.) Oder
1%. 1=(u+2),—lE, KıtE, Kot; Kart E,_ Kit.)
oder auch, wenn man vstatt a-+s, also v>u und v—u<u, folglich v<2u setzt:
191. „=%,_. FR) MO —P)2R,_.2 re +l—R),_.-ı M,-t1.
M. Für n=v<u ist in (188) n,—=o, also alsdann:
192. WHEN, Et ee RE Maler PVu-e*
Rechterhand fallen hier die ersten Glieder weg, bis zu dem Gliede
€ =e,_,, mithin bleibt:
nr un)
193. Wr) Et tar HE Yale Fame)
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 39
wo auch nach der Bedingung für (188) #>e und nach der gegenwärtigen Be-
dingung u >v, also 2u>v+-s sein mufs. Schreibt man in (193) v statt v+s,
also v—e statt v, so ergiebt sich:
HR 1 SREREHRR (’knnad) Ph vi FHFIRREEREIFL (Zuaak ) PETE ui FERRR (Zul) PERF ui (Ak) PETE
oder nach (43):
194. v,=8,_,+8,_,_., 0-8), #8,_,..0-9) 2...» +8._, 0-8) ,_.. +8) ._:
N. Die allgemeinen Ausdrücke (172 und 174), auf die Binomial-
Coefficienten angewendet, geben nur mehr ohne Ende fortlaufende Reihen.
IX. Ein allgemeiner Ausdruck für die Binomial- Coefficienten,
der aus dem binomischen Lehrsatze folgt.
19.
1 2 3 4 €
‚A, «Es'seienn, 2, Bu Rise n beliebige Zahlen, und ihre Summe sei
2 3 4 €
1
495. nFn-+n+n...n=n.
Nun ist nach dem binomischen Lehrsatze
19. (1+a)"—=1+n, cn,’ un, an.
Desgleichen ist, der Eigenschaft der Potenzen zufolge, für (195):
1 2 3 €
197. (+2) —=(1+8)" (148) (1+8)”.....(140)” .
Setzt man in (197) der Reihe nach n—n, n, NN; n, so ergiebt sich aus
(196) die Gleichung:
195. ı+n,X0+n,2’+n,X’ na... — (-Fn,chn.x rn,’ En, Ban )
x (En, acn en, en.x° BR: )
x (In an,’ -Fn,@’en,a Solch )
x (Ikn,ctn,2 en en an.)
x (In, cn,’ na en&n..)
B. Werden hier die Factoren rechts in (198) mit einander multiplicirt,
so ergiebt sich eine Reihe, die, gleich der Reihe links in (198), alle die Po-
tenzen von x mit den Exponenten 0, 1, 2, 3, A..... enthält. Der Coefficient
zu einem beliebigen Gliede der Reihe rechts aber, z. B. zu dem Gliede mit
40 Crerte. Eine Anwendung der Facultätentheorie
x", wird die ‚Summe aller der Producte der Binomial-Coeffieienten mit den
Exponenten n, n, ln sein, deren Zeiger zusammen x ausmachen;
und da nun dieser Coefficient dem Coefficienten n, zu &* links in (198)
gleich sein muls, so folgt, dafs n, duch
198,. n am, .n, B n, : nu. urn, :)
ausgedrückt werden kann, wo die Bedingung ist, N)
2 3
1 4 €
199. ARTE a
1 2 3
sei, wenn man durch y, u, M... a die verschiedenen Zeiger derjenigen Bi-
1 3
nomial- Coefficienten mit den Exponenten n, n, n.....n bezeichnet, die in
dem Gliede mit &* vorkommen können.
C: Istz.B.e=3, »=;5, so kann in‘ (199) sein:
1
—10207 52.100, 4m 21 ROTE SPS Re
2
200. Ba 5.0 ON FR 230 Eee
3
Ba 0,0 AAN Dee ee
und also nach u):
2
201. n,=n,+n, +n,
2 3 23 3 3 1.42
+n,n,+n,n en n en, n ‚#n, n „+rn,n,
273 CHA FT) 3 ı 2 TR
+n,n,+n,n „En ‚nn, n,-En, n,+n,n,
ATZE IH 4722773 le Tel at en} AEWES
+n,n,n,+n,n,n,-+n,n,n, +n,n,n,-+n,n,n,+n,n;n,
1 2
3 €
won, n, n.....n willkürliche Zahlen sind; nur unter der Bedingung (195),
1 2 3 €
dafs n+n+n.....+n=n sei.
D. Für den Fall von
1 2 3 €
DIISaR Zn —n. sen,
1 3 [3
also, wenn man n stattn=n=n....=n schreibt, en statt n gesetzt wer-
den mufs, giebt (198):
203. (en), =2(n,.n,.n,. 2 );
[ud [0
6
stets unter der Bedingung (199).
E. In dem Beispiel (C.) wäre
(37) ,—=3n,-+6n,n,+-6n,n,-+3n,n,n,-+3n,n,n, oder
204. (sn),=3[n,-+2n,n,-H2n,n,-Hnin,-+n,nz].
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 41
F. Füre=2 eieht ee
3 1 2 1 2 4-2 2
205. Go _n REN. HT, aNzurneune +n,n,_,Fn,,
oder, wenn man n + BE n, Der setzt,
206. n,=(n—k),+(n—k),_ ‚k,+(n—k),_ Kgrsse. +(n—k),k,_,+k,;
welches die Gleichung (63) ist.
X. Übersicht der Resultate in dem Obigen.
20.
Überall bedeuten die lateinischen Buchstaben beliebige, die griechi-
schen Buchstaben ausschliefslich ganze positive Zahlen.
A. Allgemeine Entwickelungs-Formeln.
207. F(a+ke)=Fx+k,A,. Fx+k,A}, Fx+k,A}), Fax...
En +k,A,, Fark (k—u)A}, (29) (56).
Dieses ist die allgemeine Taylorsche Reihe. x, %k, e und F sind gänzlich
willkürlich; k, k,, Rz... k, sind die Binomial-Coefficienten zu dem Ex-
ponenten %k, und A,, bedeutet, dafs in Dem, wovor es steht, re statt x,
und k—e statt k gesetzt und von dem Resultat die ursprüngliche Gröfse wie-
der abgezogen werden soll.
208. Fla+ke)=Fx—k,A_, Fx+(k+1),A°, Fx—(k+2),A°, Fx..
.(—1)"(k+n—1),A2. Far (—1)"(krnmı), s. (E=®) on
209. ee, A,.F(x—e)+(k+1),82,.F(&—2e)+(k-+2),A2,.F(&—3e)..
+ (+1), A Fl@—ue)+(kru—1),Ar. (a rö-E =) (59).
Dieses sind zwei andere Formen der allgemeinen Taylorschen a
210. A), PFax=Flx-+re)—r, Fl +A—1)e)+r, Fa HA—2N)e):....:
eeB- +(—1)""1,_,F(@+e)+(—1)’Fx (105.
Dieses ist von der Reihe Fx, F(x-+e), F(x-+2e), F(x-H3e).... die erste der
Differenzen von der Ordnung A.
211. Fx—r,F(x—e)+r,F(x—2e)—1,F(x—30)......
+1) AR, _, Fr—A—N)e)+(—1)" F(@—Ae)=A,. Fx—r, Ar Fax
+(?+1), A’ Fx— (?+2) A, F+(R43) A, Paan.. (1531).
Physik.-maih. Kl. 1843. F
42 Creuue. ‚Eine Anwendung der Facultätentheorie
212. Fa—r, F(x-te)+r,F(x-+2e)—r, F(x-430).....
+ (1) R,_, FR HA—Ne)+(—1)" F(x+re)=(—1)'[A),.F(x-+Re)
+1,A,% F(@—(AHI)e)-H{AH1),ArT F(X— (A-F2)e).....] (134).
(211) und (212) sind Gleichungen zwischen den Gliedern der Reihe
213... P(&—3e), F(x—2e), F(x—e), Fx, F(x+e), F(x-rH2e), F(x-+3e)..
und ihren wiederholten Differenzen.
214. . FlKa+ke) ı —2k,+2’k,—2°kz...... +(—1)*. 2%. k,]
=Fx—k,3,.Fx+k,2),Fx—k,3},Fx...+(—1)'k,2,,.Fx
HN)", (kn)e23, (FT) (159 und 149).
215. era at =. +2*(k+u—1),]
=Fx+k,3,.F(x—e)+(k+1),3,. F(x—2e)+(k+2),2,. P(&—3e).....
(kt), EL, Fla—ue)+krum),(krn)ezt, (>) (161.149).
216. Fix—ke)fi—2k,+2’k,— 2 kzerrenrr. +(- ı)"2"k,]
=Fx—k,2,.F(x—e)+k,2}, Fed k,3,, PF(x—30).......
(RZ, Fan) "ku (k-u) Er, (On) (162 und 149),
217. F(x—ke)[ı-+2k,+2°(k+1),+ 2° (KAp2) 320.00... +2". (k+u—1),]
—=Fx+k,3,. Fx+(k+1),2,. Fx+(k+2),2), F'x... H(k+Hu—1), 3,,Fx
+ (+41) (kei. (2) (164 und 149).
218. 3, Fa=Fax+r, F(o+e)+r,F(ao+2e)+R,F (2430)...
Each +r,_,F(a+aA—1)e)+F(x+re) (167).
219. 3), Fe=(—ı)'[32}, Fx+r,2’" Fax+ßRH+1),2” Fx
+Q@-#+2),2,7 Fax...) (172).
220. 2, Fr=(-1) [ER Fle—r0)42,2%' Fiac-QH)e)
+ AH) EFF (AH2)E) re: ] (174).
Die Ausdrücke (214 bis 229) sind Gleichungen zwischen den Gliedern
der Reihe (213) und ihren wiederholten Summen. =,, bedeutet, dafs in
Dem, wovor es steht, x te statt x, und ke statt k gesetzt und zu dem Re-
sultat die ursprüngliche Gröfse addirt werden soll.
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 43
B. Einige allgemeine Formeln aus der Facultätentheorie.
221. (N) =ary) at) 8);
222. (nx,+ny" =(z,+y)'n‘ (4);
223. (e+y)'=x (5).
Dieses sind die die Facultäten definirenden Grundformeln.
224. (8 +Y)=x(a+y) (a+2Y) (a+3Y)....(cHa—ı)y) (8):
Dieses ist der aus den Grundformeln folgende Ausdruck einer Factorielle
oder Facultät mit positivem ganzzahligem Exponenten.
225. (x,+y)’ =ı (15);
1
N
227. (x,+Y)' Dei in ( 2) (20), wowunde willkürlich sind;
(wre)? ds & E
238. (w.+y) = wa —_ y= ——r (21);
(,-H1) Ä r”
229. (way) =)
on”
230. (+) =(a+@&—-)y,—y)‘ (23).
C. Formeln für die Binomial-Coefficienten, welche
unmittelbar aus den Facultäten-Ausdrücken hervorgehen.
231. = 7 (19;
2 — a — De Vnlrmu) (10), nur, wenn der
Exponent eine ganze positive Zahl ist;
238. 7, —A (82);
234. n=n (33);
235. (n+1),—_n,=+n,_, (8);
236. p.n,=n.(n—ı), , (39);
237. (n—p)n,=n.(n-—ı), (40);
238. „urn (2);
F2
Ad Crerıe. Eine Anwendung der Facultätentheorie
28Ierernlaulds):
240. v,=ofürv<pn (44);
24. (nem (46);
242. n.\>=0%.(48).
D. Formeln für die Binomial-Coefficienten, welche aus den
obigen allgemeinen Entwickelungs-Ausdrücken (A) hervorgehen.
243. n,=(n—k),+k,(n—k),_,+k,(n—k),_2......
Hein +k,_,(n—k),+k,_,(n—k),+k, (65),
wo k gänzlich willkürlich ist.
2414. naht He Er, denn
Mae +k,_8:_.t+k,_ı8:._, tk. (64),
wo e=n-—k und <y, übrigens k willkürlich ist.
245. n,=(n—a), +r,(n—r),_,+#,(Nn—#),_2..-
HH), rt nr #), FH R—R),. (65),
wo » <a und übrigens willkürlich ist.
h en
246. „=r,_. +8, _.n:: tere Here Fr en Fe. (00),
wo e=v—z und<y, #z<p undv<2n.
247. n,=(n+k),—k,(n+k),_,+(k-H1),(n-+k),_2....-
+ (1) (kra—2),_, (nk), +(—1),(k+R—1). (67),
wo k ganz willkürlich ist.
248. (-n),=(—1)[(k+R—1),— (k+R—2),_, + (k+n—3),_582:.:-
eh (a rl re
wok—n=eund<yu, k positiv und übrigens willkürlich ist.
249. n,—=1+{n—1), MıF(RN—W) gr H(N—R); Mzererer:
nut BR), ku HR). (69),
für jedes beliebige z und x.
250. v=14-W—H) HOW) HY—U)sHzrer
are Hr). (70),
fürv>p und <2u.
251. 0=1—8,4,-+(cH1),%, —(EH2) Ma: .....-
Se (YET HR— 2), ar N ler —1). (72),
für jedes beliebige e oder u.
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 45
252. n,=1—(n—n) u, +(B—NnH1)glgeen
HEN TER-RR) HN ER—nHi). (74),
füru>n
253. (RE) =(urr),— (#8) (ur). + (AH), (UHR) ar re:
en HN RR) rn RrRe—1). (76),
für jedes beliebige u, # oder e.
254. n,=(n—k),+k (n—k—1),_,+(k-H1),(n—k—2),_3.....:
Kane +(k+u—2),_, (n—k—pH+1),+(k+u—1). (79),
wo k gänzlich willkürlich ist, jedoch n — k keine positive Zahl < u sein darf.
255. n,—=(n+k) —k(n+k—1),_,+k,(n—k—2),_3.....
+(— 1) Tk,_,(a+k— a1), +(—1)"k, (80),
wo %k positiv ist und n-+% keine positive ganze Zahl < u sein darf (81).
256. n,=8e,_,—(e—n), (e—1),_,+(e—n),(e—2)._,....:
+ (1) (eN),_,(Ee-U+1)._,+(—1)"(e—n). (83),
füre>u.
257. n,=(n+r),—#,(n+Hr—v),_,+#,(N4Hr—2),_o.:
en El) er RT. EI;
wo »<n und 2n-+ x keine ganze positive Zahl > x sein mufs.
259. ,=8,_,— (eV), (e—1)._,+(eV),(Ee2)._u4r
uns an _," (6),
füre>pund<u-+v.
259. v,=8_,— (eV), (e1)._,+(EeV), 2). _ur..r..-
EN NEN. 8),
für ein beliebiges e> u + v.
260. 2,=1+({n—) + (n—H+1),-H{N—U-2) 5... (n—2),_,+(n—1). (89),
für jedes beliebige n und u.
261. „=14R, +(uH1),+ (a2)... 2), +0W—1),_. (90),
für jedes beliebige v > u.
262. IH HH) re Hl), Fr), (9),
für jedes beliebige v>y. Dieses ist der Ausdruck der sogenannten figurir-
ten Zahlen.
263. (—)= -[(1),.+2).. +53) 2 (N). (93),
für jedes beliebige v und u.
46 Crerue. Kine Anwendung der Facultätentheorie
364. Ela)
sn. +(+2—2),_, 95),
für jedes beliebige v und x. | 2)
25. NH HH) RR) Hrn2),-] 96),
für jedes beliebige v und x.
266. n,=(n+e),,..—E(n+E—1) 4. FE, (NHE—2) ger ..
eben +(—1)"e,_,n+H1),42.+(—1)'n,,. (109
für jedes beliebige n, u und e. h I
267. 1=(n+E),—E,(n+E—1).+E,(N+E—2).e200..
Bde +(—1)"e,_,(n+1).+(—1)'n. (110),
für jedes beliebige n und e.
268. 2,=(—1)[(a+.—n—1),,.—8: (U HE—N—2),,c FE, (RP HE—N—3) ger
ae Dr de ne (112),
für jedes beliebige », e und positive n.
269. v,=(H+8),.. EHE). FE. (HE 2) er:
Bo +(—1)"—'E,_,_ ,(RHE—1),..t(—1)""e,_, (113),
fürv>kund<u-+e.
270. 1 a DE el er.
für beliebige p, eundv>u. Bien
7. 1, =(1)[le—v—1),— (ev 2). (eV) te V—3),(E-W) zer...
un +9 ea) Be). da lo
für jedes beliebige u, e und v>n.
272. o=(2e),—e,(22—1),-+E,(22.—2).—8,(22—3) ++...
BR: +{(—1)"*e,_,(+2).+(—1)""s(e+1) (117),
für jedes gerade «.
273. 2=(2e),—e,(22—1).+8,(2.— 2), —8;(22—3). +...
+(—1)"e,_,(&+2).+(— 1)" e(e+1) (118),
für jedes ungerade «.
274. 1,=8,— (ev), (e1),., le —V),(Ee2),_2° Hr.
Me +(—1)7""" (ev) (Hr), HN) rn (120),
füre>vundr<v».
275. (R—1),_.= (mW HE—1),—E,(UHE—2) HE (UHE— 3) seen.
has +(—1)e,_,(u +1), +1)", (121),
für jedes beliebige x und e.
und der allgemeinen Taylorschen Reihe auf die Binomial-Coefficienten. 47
276. n,—e,(n—1),+2,(n—2),—8,(Nn—3)........
u.) RE Ho), (ner, HAin=e),
=n,_.—EN,_._ ++) ,N,_._2 (le?) 3Nn._e_3+
ng +1) RN), HN... (137),
für jedes beliebige n, u und e<u.
277. n,—e,(n—1),+8,(n—2),— &,(Nn—3),......-
+ (1) "E,_,(n—eH1),+(—1) (n—e),—=0 (139),
für jedes beliebige n, » unde>u.
278. n,—e,(n-H1),+8,(n+2).— E,(N+3).2.2.1..
a +(—1)"e,_,(n+—1),+(— 1) (n+8),
=(—1) [(n—e),_.+:,(n—:—1),_,_,+(&H1),(n—e—2),_._2:°. +:
we HR), a RH)HR—),-.) (4),
für jedes beliebige n, x und e.
279. n,—a,(n+1),+8,(n+2), —u;,(N-43). 2...
BERER HN Tr AR —1), +1) (a1), (142),
für jedes beliebige 2 und u.
2850. n,—e,(n-H1).+8,(n+2), —8;,(N+43).....-
ch +(—1)"e,_,(n+—1),+{(—1)"(n+:),=0 (143),
für e>u.
231. u, W 1,4, u Ww3)uerr0e:
un HN) HN), (145),
für v>n und <2u.
252. ,—:,W-1), 48,2). 8,3), 2424...
un HN TE, HH)
=(—1)"*[e,,, 8,42 (UI) HE, (A323) 2
nel 1) RE, (uhe—2)._,_. +1)" (ur —1)._,_,] (147),
für e>v.
283. 72,=(n+e),— (n+—1),_,8,+{N+HE—2),_28&2.. ++.
| HAN Rent) (180),
füna <ii:
284. n,=(n+e),,.— (n+E—1),,.8, NE 2), ,-&3.....-
Seas +(- 1)" (nH1),42.8 tn... (184),
für e>u.
48 Caeııe. Kine Anwendung der Facultätentheorie etc.
285. n,—=(n+2),— [E;7,_,+E&,N,_e tn, FE. N. Ne] (188),
füre<u. ;
286. 2, —=(n+a—1),—[R, +1) N; HR); aNgersree:
: Kt et), _,n,_,] (189,
für jedes beliebige 2 und u.
237. =», to—R), KR, tO—) ER ee FO) Mt 1 (194),
für v>p und < u.
288. v,=E,_, +8,09), +8, 0 dr N), rer —g),_. (194),
fürv>nu und <2ep unde>v—. u.
E. Eine Formel für die Binomial-Coefficienten, die aus
dem binomischen Lehrsatze hervorgeht.
vr 1 2 3 4 €
289. 1,2, — ER, on Rss. 0) (198),
1 n Boom r
1 2 3 4 € {
fürn=n+n-+n-+-.n....+n. 3 bedeutet, dafs in Dem, wovor es steht,
1 2 3 E
Ik, 1%, Mer... alle möglichen ganzzahligen positiven gleichen und ungleichen
4
1 2 3 €
Werthe bekommen sollen, welche der Gleichung Au Hk HM... -u=M
genugthun, und dafs dann von den daraus entstehenden Producten die Summe
zu nehmen sei.
Berlin im April 1842.
—ue—
Einige Bemerkungen über die Anwendung der
Polynome in der Theorie der Zahlen.
vv Von
Hm. CRELLE.
nnnnnnnnnn
[Gelesen in der Sitzung der physicalisch-mathematischen Classe der
Akademie der Wissenschaften am 12. Juni 1843.]
ö E Polynom
drückt unzählige ganze Zahlen aus, wenn die Coefficientien @ bestimmte
ganze Zahlen sind und x eine beliebige ganze Zahl ist.
So wie nun eine ganze Zahl durch andere kleinere ganze Zahlen
theilbar sein kann, oder nicht, so kann auch ein Polynom für jeden
beliebigen Werth von & mit andern Polynomen von niedrigerem Grade
entweder aufgehen, oder nicht; diese Polynome von niedrigeren Graden kön-
nen wieder mit andern Polynomen von noch niedrigeren Graden aufgehen,
n—1
Mo BE a SEO DIT 0 x-EQ
n n—i1 n—z 1 o
u. s. w., bis zum Binom vom ersten Grade hinunter. Ein Binom aber
vom ersten Grade, z.B. x—a, kann nicht weiter mit einem andern Poly-
nom und selbst nicht mit einem andern Binom x&—5 vom ersten Grade für
jeden beliebigen Werth von x aufgehen.
Wenn man also überhaupt Polynome mit ganzen Zahlen vergleichen
will, so werden Binome vom ersten Grade mit den absoluten Primzahlen
verglichen werden müssen, und Polynome, die mit andern kein Polynom
oder Binom zum gemeinschaftlichen Theiler haben, mit den relati-
ven Primzahlen.
Auch das Wachsen und Abnehmen der ganzen Zahlen findet bei Po-
lynomen Statt; aber nicht um Einheiten, wenn & um Einheiten wächst oder
abnimmt, sondern der sich verändernde Werth eines Polynoms wie (1), vom
Grade n, bildet die Glieder einer arithmetischen Reihe n‘* Ordnung, die mit
x zugleich, in so fern x positiv ist und alle « positiv sind, wachsen und
Physik.-math. Kl. 1843. G
50 Crerue. Einige Bemerkungen über die Anwendung
abnehmen; nicht aber, wenn x negativ gesetzt wird, und auch nicht, wenn
die Coefficienten « nicht alle positiv sind.
Dergleichen Analogieen würde es zwischen ganzen Zahlen und Polyno-
men geben, und ihrer wegen wäre die Frage, ob es nicht auch zu mancherlei
Sätzen aus der Theorie der Zahlen analoge Sätze für die Polynome gebe.
Die Beantwortung dieser Frage würde für die verwickelteren Sätze der Zah-
lentheorie, so wie im Allgemeinen, offenbar ungemein schwierig sein, und sie
liegt wahrscheinlich noch in weiter Ferne. Gelänge es aber, Sätze für Po-
lynome, die denen für die ganzen Zahlen analog sind, zu finden, so würde
man dadurch vielleicht zu einer wesentlichen Verallgemeinerung und Entwei-
terung der Zahlentheorie gelangen.
Es möge hier Einiges von Sätzen für Polynome vorzutragen versucht
werden, welche bekannten einfachen Sätzen für ganze Zahlen analog sind.
Diese Sätze sind zwar zum Theil schon bekannt; aber auch bei den bekann-
ten werden einige Bemerkungen zu machen sein, die vielleicht nützlich sein
können. — Der Gegenstand ist noch zu neu, als dafs man damit sogleich auf
ein weiteres Feld sich hinaus wagen möchte.
2.
Ehe der Versuch selbst beginnt, mögen erst über einen, demselben
verwandten, schon öfter behandelten Gegenstand einige Bemerkungen fol-
gen, die freilich nicht gerade in der Absicht des gegenwärtigen Vortrages
liegen, aber doch vielleicht schicklich hier eine Stelle finden: nemlich über
den Satz von der Anzahl der ganzzahligen Werthe von x, für welche ein
Polynom von x wie (1) durch eine bestimmte Primzahl p theilbar sein kann.
Die hier folgende Behandlung dieses Satzes dürfte von der gewöhnli-
chen etwas abweichen.
Man bezeichne das Polynom (1) durch $,.x, so dafs sein Grad durch
den Zeiger an dem Functionszeichen $ angedeutet wird. Dividirt man
das Polynom ®,& durch das Binom x-e,, wo e, eine willkürliche
ganze Zahl bezeichnet, so wird der Quotient «, zum Coefficienten seiner
höchsten Potenz von & haben und vom Grade n—1 sein, also durch $,_,x&
bezeichnet werden können; der Rest aber, der für ein unbestimmtes e,
immer Statt findet und der 7, sein mag, wird gar kein x enthalten oder
eine Oonstante sein. Man wird also zu setzen haben:
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 51
2. 9,2 =(@—e,)d,_,c#r,.
Dividirt man weiter den Quotienten $,_,x durch ein anderes Binom
x—£,, so wird ebenso, wenn der Rest durch r, bezeichnet wird,
3. „1 r=(X— E,)d,_,C-H+T,,
und folglich nach (2):
9,2—=(@—e,)[(x—e,)®,_,2-+Hr,]-+r,, oder:
4. 6,2=(x—e,)(x—e,)P,_C+(&—e,)r,+r,
sein, wo der Quotient $,_,® wiederum nothwendig «, zum Coefficienten
seiner höchsten Potenz von x hat und 7, eine Constante ist.
Dividirt man den Quotienten $,_,x durch ein drittes Binom x—e,, so
erhält man:
9. 9,2 =(x—e,)P,„3cCH+T,,
und folglich nach (4): S
6. P,xr=(x—e,)(&—E,) (x— e,)Pd.3° +(&—e,)(x—E,)7,;,+(&—Ee,)r,+T, >
Auch hier hat der Quotient $,_,= nothwendig «, zum Coefficienten seiner
höchsten Potenz von x, und r, ist eine Constante.
So läfst sich weiter fortfahren, bis zu dem Quotienten $, x; aber nicht
weiter; denn dieser Quotient giebt:
7. 9,2 =(0—e)d,cCHT,,
wo d,x eine Constante und zwar der Coefficient «, selbst ist. Man er-
hält also zuletzt:
8. 9,0 =(@x—e,)(x—e,)(x—e,)....(2—e,)e,
+(@—e,)(=—e,) (2—e,)....(2—e Zr.
+(@—6,)(&-6,) (2 6,)..-(&- Jr...
+(x—e,)(2—e,)r;
+(0—e,)r,
+r..
Ist nun z.B. e, einer der ganzen positiven Werthe von &<p, für
welchen $,& mit der Primzahl p aufgeht, so folgt aus (8), wenn man darin
x=e, Setzt,
SR d,e,=T,;
und folglich, weil $,e, der Voraussetzung nach mit p aufgeht,
40.017, —=Np:
G2
52 Crerıe. Einige Bemerkungen über.die Anwendung
Ist e, ein zweiter der ganzen positiven Werthe von x<p, für
welche $,& mit p aufgeht, so folgt aus (8), wenn man darin «==e, setzt, weil
r, schon =Np war,
11. $,e,=(e,—e,)T;+-Np,
und mithin, weil $,e, der Voraussetzung nach mit p aufgeht,
12. Np=(e,—e,)r,.
Aber e, und e, sind nach der Voraussetzung beide <p: also ist es auch
der absolute Werth ihrer Differenz e,—e,, und folglich geht in (12) der
Factor e,—e, rechterhand nicht mit p auf. Daher mufs der andere Factor
r, mit p aufgehen und es folgt also:
13u7=Np.
Ist e, ein dritter der ganzen positiven Werthe von x<p, für welche $,x
mit p aufgeht, so folgt aus ($), wenn man darin x=e, setzt, weil r, undr,
schon =Np waren,
14. 9,e,=(e,—e,) (&;—e,)7;+-Np,
und folglich, weil #,e, der Voraussetzung nach mit p aufgeht,
15. Np=(e,—e,)(e,—e,)r;.
Hier sind wieder nach der Voraussetzung e,, e, und e, alle <p: also sind es
auch die absoluten Werthe ihrer Differenzen e,—e, und e,—e,. Folglich
gehen in (15) die Factoren e,—e, und e,—e, rechterhand nicht mit p auf.
Mithin mufs der letzte Factor 7, mit p aufgehen und es folgt also:
Ir, —=Np:
So folgt der Reihe nach:
17. TE Tee RD,
wenn o,x für alle die ganzzahligen positiven Werthe e,, e,, &,....._,<p
von x mit p aufgeht und (8) reducirt sich auf:
18. 9,2 =(2—e,) (@—e,)(x—e;...)(0—e,_,)(x—e,)e,-H-Np,
für jeden beliebigen Werth von x.
Dieser Gleichung zufolge kann $,.x, aufser für x=e,, &,, &3...&,_, <P;
wie schon vorausgesetzt, auch noch für x—=e,<p mit p aufgehen, und zwar
eben so wohl, wenn «, selbst durch p theilbar ist, als wenn es nicht mit p
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 53
aufgeht. Der erste Fall würde der sein, wenn nicht blofs «,, der Coefhi-
cient des ersten Gliedes des Polynoms (1), sondern zugleich auch die Coef-
fieienten @,_,, @,_3.....@, aller seiner übrigen Glieder mit p aufgehn. Denn
stellt man sich die Factoren in den Gliedern rechterhand in (8) in einander
multiplicirt vor, so bekommen alle Potenzen von x in dem entstehenden Po-
lynome Zahlen zu Coefficienten, die mit p aufgehen, weil, wie sich vorhin
fand, alle 7 eben so wohl als «, durch p theilbar sein müssen, wenn $,x für
X E,5 65, Ezrer..C„_, mitpaufgehen soll; und diese Coefficienten zu den ver-
schiedenen Potenzen von x sind jetzt die übrigen «in (1). Im Fall also «,
mit p aufgeht, kann #,x nur dann, aufser für z=e,, &,, £,..... ei tguch
noch für x=e, mit p aufgehen, wenn nicht blofs der Coefficient «, des
ersten Gliedes des Polynoms (1), sondern auch zugleich die Coefficienten
aller seiner übrigen Glieder mit p theilbar sind.
Ist dagegen «, nicht durch p theilbar, so kann gleichwohl zufolge
(8) $,x auch noch für = e, <p theilbar sein, also immer überhaupt für
die n ganzen positiven Werthe e,, e,, e,...e,<p von a: aber aufserdem nun
auch für keinen andern ganzen positiven Werth <p mehr von x. Denn
wäre z. E. e ein solcher Werth, so müfste nach (18)
19. $,2=(e—e,) (—e,) (—£,)....(—e,_,)(e—e,)@,HNp=Np
sein; was nicht sein kann, da alle die Zahlen e,, e,, e,....e, und e der Vor-
aussetzung nach <p und folglich auch die absoluten Werthe der Differenzen
&—6,, 8—£,, &—£,....E—e, kleiner als p sind und mithin keiner dieser Facto-
renin (19), eben so wenig wie «,, mit p aufgeht; mithin auch ihr Product nicht.
Es folgt also, dafs das Polynom (1), wenn der Coefficient «, seines
ersten Gliedes mit der Primzahl p nicht aufgeht, für 2 verschiedene ganz-
zahlige positive Werthe von &<p mit p aufgehen kann, aber nicht für
mehrere.
Indessen kann das Polynom (1) aufserdem auch noch für n andere,
negative ganzzahlige Werthe von x, deren absolute Werthe <p sind,
mit p aufgehen: nemlich auch noch für die n Werthe e,—p, e,—p, &,—p...
....6,—p, die alle negativ sind, deren absolute Werthe aber alle von e,, e,,
&3....e, verschieden sein können, und die zugleich alle <p sind. Denn
die Voraussetzung, dafs &,@ für = e,, e,, e,....e, mit p aufgehe, bedingt,
wie sich oben zeigte, die Gleichung (18), und diese wird auch für =e,—p,
54 Crerrze. Einige Bemerkungen über die Anwendung
z=6,—Pp, =, — Pre... a—=e—p erfült. ZB. fra =e—p
giebt sie:
20. 9,.(.—PpP)=Pp(pte—e;) (Pte —e3(...)P+e—&_,) (Pe —e,)@,H-Np;
und dieser Gleichung zufolge ist allerdings $,(e,—p) durch p theilbar.
Vollständig also heifst der bekannte Satz wie folgt.
Ein Polynom
2 ae +4,CH+0,
vom Grade n kann, wenn der Coefficient «, seines ersten Gliedes mit der
Primzahl p nicht aufgeht, für 27 verschiedene ganzzahlige Werthe von x,
die, ohne Rücksicht auf das Zeichen genommen, sämmtlich kleiner als p sind,
und zwar für z positive und für die n negativen Werthe von x, welche
von ersteren abgezogen p geben, mit p aufgehen; aber nicht für mehrere
ganzzahlige Werthe von x.
Zum Beispiel das Polynom vom dritten Grade
22. a r2x’ + c—4
geht für die sechs verschiedenen Werthe +1, +3, +5, —10, —s und —6
von & mit der Primzahl p = ı1 auf.
Die obige Verwandlung eines Polynoms kann auch nützlich sein, um
die Anzahl der ganzzahligen Werthe von x zu finden, für welche das Poly-
nom mit einer nicht untheilbaren Zahl aufgeht.
Nach dieser Abschweifung mögen nun einige Sätze von Polynomen
folgen, welche bekannten Sätzen aus der Zahlentheorie analog sind; und zwar
möge gestattet sein, von den einfachsten Sätzen anzufangen, um die Analo-
gie der Polynome und der Zahlen und das analytische Verhalten der erstern
um so näher vor Augen zu bekommen.
>
Der Satz, dafs man, wenn man eine gegebene Zahl durch eine gege-
bene kleinere dividirt, darauf den Rest in die kleinere, den neuen Rest in den
vorigen Rest, und so ferner, zuletzt nothwendig auf den Rest o kommt, und
dafs der diesem letzten Rest zunächst vorhergehende Rest der gröfste ge-
meinschaftliche Theiler der beiden gegebenen Zahlen ist, gilt auch für Po-
lynome; nur mit der Veränderung, dafs hier unter dem Rest Null ein Poly-
nom vom Grade Null, also eine Constante, und unter dem gröfsten ge-
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 55
meinschaftlichen Theiler das Polynom von der höchsten Ordnung zu
verstehen ist, welches in den beiden Polynomen zugleich aufgeht; welches
der bekannte Satz ist, nach welchem man den gröfsten gemeinschaftlichen
Theiler zweier Polynome findet. Dafs der Beweis dieses Satzes ganz die
gleiche Form wie bei Zahlen habe, möge hier in Kurzem auseinandergesetzt
werden.
Das Polynom von höherer Ordnung sei z,, das von niedrigerer
Ordnung z,. Man setze:
2, =Nz, +r,,
2, =Nr, +r;,
N
u EN hr
93. rn, =Nr, +r,,
ra=NT,atr,_o
” = N
n.,=Nr,_.tr,_, b)
er
ZI NT nr.
Alle Buchstaben, auch die N, bezeichnen hier Polynome. Der erste Rest
r, ist nothwendig wenigstens um ı Grad niedriger als z,; der zweite
1
Rest 7, ist wenigstens um einen Grad niedriger als r,; der dritte r, ist um
einen Grad niedriger als , u. s. w. Man wird also nothwendig zunächst
auf einen Rest 7,_, kommen, der vom Grade Null, also eine Constante ist,
oder der kein & mehr enthält.
Ist nun diese Constante
n—1
nicht Null, so ist in der letzten Glei-
chung r, ,=Nr,_,+r, (23) N ein Polynom von gleichem Grade wie r,_,;
und dann ist 7, nothwendig Null. In jedem Falle also geht dann die Con-
in r,_, auf, also vermöge der vorletzten Gleichung (23) auch in
7,_,, und dasieinr, , und ,_, zugleich aufgeht, vermöge der vorvorletzten
Gleichung auch in r,_, u. s. w. bis zu der ersten der Gleichungen (23)
hinauf: folglich in z, und z, zugleich. Sie ist also ein gemeinschaftli-
cher Theiler vonz, und z, und zwar der gröfste; das heifst: es giebt kein
Polynom von einer höhern als der Ordnung Null, die in z
stante 7
n—1
‚ und z, zugleich
aufginge. Denn gäbe es ein solches Polynom, so müfste es vermöge der
ersten der Gleichungen (23) auch in r, aufgehen, also in z, und r, zu-
gleich; mithin zufolge der zweiten Gleichung (23) auch in r,, also in ,
und r, zugleich; mithin zufolge der dritten Gleichung (23) auch in r,
56 Crerre. Einige Bemerkungen über die Anwendung
u. s. w., mithin zufolge der vorletzten Gleichung (23) auch in die Con-
stante z,_,; was nicht möglich ist. Dieses ist also der Fall, wo z, und z,
kein Polynom mit x zum gemeinschaftlichen Theiler haben.
Ist dagegen schon die Constante r,_,, auf welche man durch die Di-
vision immer kommt, gleich Null, so reducirt sich die vorletzte Glei-
chung (23) auf
DU Ne
‚ von welchem Grade es auch
sein mag, in v,_, aufgehen mufs. Es mufs also nunmehr vermöge der vor-
und es folgt daraus, dafs das Polynom r
n—2
vorletzten Gleichung (23) auch nothwendig in ,_, aufgehen, und so wieder
weiter bis zur ersten Gleichung hinauf: mithin in z, und z, zugleich. Es
n—4
ist also noihwendig von z, und z, ein gemeinschaftlicher Theiler, und
zwar der gröfste; das heifst: es geht kein Polynom von höherer Ordnung
alsr,_,inz, und z, zugleich auf. Denn wäre es der Fall, so müfste die-
ses höhere Polynom vermöge der ersten Gleichung (23) auch in r, auf-
gehen, also in z, und r, zugleich; mithin vermöge der zweiten Gleichung
(23) auch in 7, u. s. w.; zuletzt also auch, vermöge der vorletzten Glei-
chung (23), die sich hier auf (24) reducirt hat, in
was für r,_, nicht möglich ist.
und 7',_, zugleich ;
n—=3
4.
Eben wie ferner ein echter Zahlenbruch keine ganze Zahl sein kann,
so kann auch ein Polynomenbruch, dessen Nenner von höherer Ordnung
ist, als der Zähler, kein ganzes Polynom sein.
Denn wäre z.B. in
25.
ala
—'g
u von höherer Ordnung als z, und q ein ganzes Polynom, also minde-
stens vom Grade Null, so müfste, da
26. z=ug
und ug ein Polynom wenigstens von demselben Grade ist wie u, das
Polynom z, welches von niedrigerem Grade als u vorausgesetzt wird, dem
Polynom ug von höherem Grade gleich sein; welches für jeden beliebi-
gen Werth von x nicht möglich ist.
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 5%
5.
So wie ein Zahlenbruch, dessen Zähler, wenn gleich gröfser als der
Nenner, keinen Theiler >ı mit dem Nenner gemein hat, keiner ganzen
Zahl gleich sein kann, so kann auch kein Polynomen-Bruch, dessen Nenner
in den Zähler nicht aufgeht, einem ganzen Polynom gleich sein.
Dennistin dem Polynomenbruch e erstlich z von höherer Ordnung
als z, so kann nach ($4.) —, kein ganzes Polynom sein.
Ist z von höherer Ordnung als zw, so erhält man, wenn man z mit w
dividirt,
27. z=qgu-+r,
wo der Quotient g ein ganzes Polynom und der Grad des Polynoms r we-
nigstens um 1 niedriger ist, als der Grad des Polynoms u. Dividirt man nun
die Gleichung (27) durch u, so erhält man:
9 a et
38. „79=7
Wäre hier - ein ganzes Polynom, so wäre auch 4 ein solches, weil
esg ist. Also müfste — einem ganzen Polynom gleich sein. Dieses aber
ist nach ($ 4.) nicht möglich, weil 7 von niedrigerem Grade ist, als w.
6.
Wenn ein Polynom z mit einem andern u keinen von x abhängigen
Theiler gemein hat, so hat auch das Product von zin irgend eine Con-
stante c mit v keinen solchen Theiler gemein.
Denn hat ein Polynomenbruch im Zähler und Nenner einen x enthal-
tenden gleichen Factor, so lassen sich statt Zähler und Nenner andere Po-
lynome setzen, die um den Grad des gemeinschaftlichen Factors niedriger
sind. Ist es nicht der Fall, so geht dies nicht an. Hätten nun cz und x
einen von x abhängigen gemeinschaftlichen Factor, so müfste
sein, wo y und p beide von niedrigerem Grade sind, als z und u. Aus
(29) folgt:
Physik.-math. Kl. 1843. H
58 Carerıze. Einige Bemerkungen über die Anwendung
Aber *- ist von gleichem Grade wie y, also müfste statt — ein an-
derer Bruch mit Zähler und Nenner von niedrigerem Grade gesetzt werden
können, als z und u, was nicht der Fall ist, da z und x nach der Vorausse-
tzung keinen von x abhängigen Factor gemein haben.
1,
Der Satz, dafs eine ganze Zahl, die mit keiner von zwei oder mehre-
ren andern gleichen oder ungleichen Zahlen einen Theiler gröfser als ı ge-
mein hat, auch mit dem Product dieser letzten Zahlen keinen solchen Thei-
ler gemein haben kann, findet gleicherweise auch für Polynome Statt; nur
mit der Veränderung, dafs unter dem Theiler ı hier eine Constante oder ein
Polynom vom Grade Null zu verstehen ist, und unter einem gröfseren
Theiler ein Polynom von einem höheren Grade als Null.
Auch hier hat der Beweis ganz dieselbe Form wie bei ganzen Zahlen;
nemlich folgende.
Es seien zuerst z, und z, zwei Polynome von beliebigem Grade, mit
welchen das Polynom u, ebenfalls von beliebigem Grade, keinen x enthal-
tenden Theiler gemein hat. Je nachdem u von höherem oder von niedri-
gerem Grade ist als eins der beiden Polynome z, und z, z. B. z,, setze man:
u..=Nz, #r,, oder (z, =Nu +32,
ZN Ser; u =Ng, +2
r, =\r, +7, dı =Ng, +2;
31. r, =Nr, +r,, 39, 02 =N:, +2,
Ta—NT. str. 0, =Ng,_3+Q,_25
N) BR 9. =Nd,_>+2,_1>
r„=Nr,_,+#T,; 9.2. =Ng._ #0,
In (31) ist 7, nothwendig um wenigstens einen Grad niedriger als z,,
r, wenigstens um einen Grad niedriger als 7, u. s. w., also kommt man
wieder zuletzt nothwendig auf einen Rest r,, der vom Grade Null oder eine
Constante ist. Eben so verhält es sich in (32). Auch hier kommt man
zuletzt nothwendig auf einen Rest g,, der vom Grade Null ist oder kein x
mehr enthält.
Nun multiplicireman alle die Gleichungen in (31 und 32) mit z,, welches
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 59
u2, 1 =N22 0 hr und (2,2,:=Nuz, -+g,2,,
2,2, =Nr,2, +72 u2z, =Ng,2, 40:25
7,2; —=Nr,;2, +Tr;2;, 0,25 =Ng,2, +05255
72 ENTER, Z 2, =Np,2, #023
a, 2° 2 372 229 34, 9222 0322 0,22
7,23 =NT,_32547,_2225 9,2: =Nd,_>2:4+0,_2235
7,32 =NT,_,2;+7,_,235 0,2, =Nd,_,2,4+2,._1225
7,2; =NT,_22h7,.23;5 9.22: =Nd,_,2:4 9,2
giebt.
Hätten nun v und das Product z,3, der beiden gegebenen Polynome
z, und z, ein Polynom von höherem Grade als Null, z. B. das Polynom »
zum gemeinschaftlichen Theiler, so müfste # zunächst vermöge der ersten
Gleichung (33) nothwendig auch in r,z, aufgehen, folglich in 2,2, und 7,2,
zugleich, mithin zufolge der zweiten Gleichung (33) auch in r,z,, folglich
in 7,2, und 7,2, zugleich, mithin zufolge der dritten Gleichung (33) auch
in 7,2, u. s. w.; zuletzt also auch in r,2,. Also hätten r,z, und u den von
x abhängigen Factor pr gemein. Aber z, und w haben nach der Vorausse-
tzung keinen von x abhängigen Factor gemein. Deshalb aber haben auch
zufolge ($ 6.) r,z, und v keinen solchen gemeinschaftlichen Factor, denn 7,
ist eine Constante. Also findet ein von x abhängiger Factor #, der u und
dem Producte z,z, gemein wäre, nicht Statt.
Aus der ersten Gleichung (34) folgt, dafs wenn v und das Product
2,2, einen von x abhängigen Factor p gemein hätten, dieser Factor auch in
o,2, aufgehen müfste, folglich in uz, und 9,2, zugleich. Er müfste also
weiter vermöge der zweiten Gleichung (34) auch in g,z, aufgehen, folglich
in g,2, und 9,2, zugleich, mithin vermöge der dritten Gleichung (34) auch
in 0,2, u. s. w.; zuletzt also auch in g,z,. Also hätten 9,2, und u den von x
abhängigen Factor v gemein. Aber z, und u haben nach der Voraussetzung
keinen solchen gemeinschaftlichen Factor, und also auch zufolge ($ 6.) g,2,
und u nicht; denn o, ist eine Constante. Also findet auch hier ein von x
abhängiger Factor #, der u und dem Product z,2, gemein wäre, nicht Statt.
Daraus nun, dafs, wenn zwei Polynome z, und z, mit dem Polynom
u keinen von a abhängigen Factor gemein haben, auch ihr Product 2,2, und
u keinen solchen gemeinschaftlichen Factor haben kann, folgt weiter, dafs
das Gleiche auch für das Product dreier Polynome z,,z, und z, Statt
H2
60 Creııe. Einige Bemerkungen über die Anwendung :
findet, deren keins mit u einen von x abhängigen Factor gemeinhat. Denn
man kann in dem Product z,2,2, das Polynom z,z, für einen einzelnen, und
, für den zweiten Factor nehmen; u. s. w. für vier und mehrere Polynome.
Auch macht es offenbar keinen Unterschied, ob die Factoren der Polyno-
men-Producte einander ungleich oder gleich sind.
8.
Für ganze Zahlen findet bekanntlich folgender Satz Statt. Es sei die
Zahl u ein Product beliebiger Factoren v, z. B.
oe a 2
z sei eine andere Zahl, welche mit u keinen Factor gemein hat.
Man dividire z durch x auf einmal, bezeichne den Quotienten durch
Q und den positiven echten Rest durch 7, so dafs also
36. z=Qu+R
ist. Hierauf dividire man z erst durch p,, bezeichne den Quotienten durch
q,, den positiven echten Rest durch r,; sodann dividire man den Quotien-
ten q, durch p,, bezeichne den Quotienten durch q,, den positiven echten
Rest durch r,, u. s. w., bis alle Factoren p von u erschöpft sind, so dafs also
3 =qf,t7T,,
9, =I:f:thT,,
37% 9 =I, 755
Ia-ı— Ta er
gesetzt wird.
Alsdann ist
38.
das heifst: man erhält denselben Quotienten, es mag die mit u nicht auf-
gehende Zahl z durch v auf einmal, oder erst durch einen der Factoren
von wu, der Quotient durch den zweiten Factor u. s. w., bis zum letzten
Factor dividirt werden; eben wie wenn u in z aufginge. Der Rest A ist:
39. Bzr,v pp. 0 FT 00a Le FTP PT PT»
Dieser nemliche Satz findet auch Statt, wenn z, w und die v, also auch
die g, die r, so wie Qund R, Polynome sind, und läfst sich, wie folgt, auf
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 61
ähnliche Art wie der Satz für Zahlen beweisen. Statt auf die positiven
echten Reste kommt es hier blofs auf die Reste der Divisionen an; gleich-
viel ob sie positiv oder negativ sind.
Man substituire nemlich die zweite Gleichung (37) in die erste,
so erhält man:
40. z=g,9 #;-r,#, +7,»
In diese Gleichung substituire man die dritte Gleichung (37), so er-
giebt sich:
4. z=g,000; 47,0 0,707,»
Fährt man so weiter fort, bis zur letzten Gleichung (37), so erhält man:
42. ZEQ,00 0 Te Te TTS HT
oder, da p,0,9,....#,—u ist (35),
43. 2=Q,UH|T,0 0 03200, HT, 00 Par ge ch 70 PT PT].
Hier ist in dem ersten Gliede Dessen, was rechterhand in Klammern ge-
schlossen ist, 7, vermöge der letzten Gleichung (37) Rs wenigstens
' um einen Grad niedriger als v,: also ist das Glied r,v,v,r,....v,_, wenig-
stens um einen Grad niedriger als v,9,9,....#,_,e, oder u. I zweiten Gliede
ist r,_, vermöge der vorletzten Gleichude (37) wenigstens um einen Grad
niedriger als v,_,; abs ist das Glied wenigstens um einen Grad niedriger als
GE = ‚und folglich um so mehr von niedrigerem Grade als ı.
Für äle dritte Glied folgt auf ähnliche Weise, dafs es naikprenldig wenigstens
um einen Grad niedriger ist als —
‚ mithin um so mehr von niedrigerem
Grade als u. Ähnliches folgt füralle übrigen Glieder. Mithin ist die Summe
aller rechterhand in (43) in Klammern geschlossenen Glieder ein Polynom,
dessen Grad wenigstens um ı kleiner ist, als der von x.
Man bezeichne nun diese Summe durch g, so dafs in (43)
a nu
ist. Es soll aber zufolge (36) auch s= Qu-+-R sein. Also mufs sein:
45. „u+g=Qu+R,
so dafs 46. ni
ist. Hier sind q, und @ beides ganze Polynome, und q,—Q ist folglich
auch ein ganzes Polynom. ZA und 9, also auch R—o sind ebenfalls ganze
62 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
Polynome, 21 aber ist ein Bruch-Polyuom, denn Rund p und folglich
R—g sind wenigstens um einen Grad niedriger als u. Daher ist die Glei-
chung (46), die Statt finden mufs, nicht anders möglich, als dafs
47. Q=gq, und A=p
ist; und das ist, was die Gleichungen (38 und 39) behaupten.
Für Zahlen folgt die Gleichheit von Q und g, und von A und;
daraus, dafs in (37) r, höchstens p,—ı, r,_, höchstens #,_,—1, r,_,
höchstens p,_,—ı sein kann u. s. w., so dafs aus (43) der höchste Werth
von p
= (7, —1)P 9,0302. 0n., (911) 9 PP 3 One (Pa _2—1)9 PP ar Page
+ (#1) 0,0,4(0,—1) 0, +9, —ı oder
[En I PU ZRRE A AUT ARDE HRG, 2102 ARE RBB LADE uU a2
00 de Pd Pa, —ı oder
g=P,9,0,...9,—1 oder
48. g=u—1
ist. Der kleinste mögliche Werth von 9 dagegen ist Null. Er findet
Statt, wenn die sämmtlichen r in (37) Null sind. Da nun auch der gröfste
mögliche Werth von A in (36) u—ı und der kleinste ebenfalls Null ist und
es immer nur einen positiven echten Rest giebt, so folgt, dafs g=R und
folglich dann auch q,=Q sein mulfs.
9.
Auch der Satz, dafs es für zwei ganze Zahlen, welche keinen Theiler
>ı gemein haben, immer zwei andere, kleinere ganze Zahlen giebt, die,
wenn man die eine mit der ersten, die andere mit der zweiten gegebenen
Zahl multiplieirt und die Producte von einander abzieht, auf eine Zahl füh-
ren, die kleiner ist als die kleinste der beiden gegebenen, findet ganz ähnlich
auch für Polynome Statt. Nemlich wenn y ein Polynom in x vom Grade
m, und z ein Polynom in x vom Grade n ist, so giebt es immer zwei Poly-
nome » und u von niedrigeren Graden als m und z, welche
49. yp—zu=w
geben, wo w ein Polynom in x von niedrigerem Grade als m und ist. Auch
können die Polynome w und e durch Division ganz auf ähnliche Art gefun-
den werden, wie die beiden Multiplicatoren von y und z, wenn y und z
ganze Zahlen sind.
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 63
Es liefse sich dies, was den Grad der Polynome betrifft, schon zei-
gen, wenn man für w, oe und w Polynome mit unbestimmten Coefficienten
voraussetzte; auch liefsen sich die Polynome u, # und w auf diese Weise
finden; nemlich wie folgt. Man bezeichne nemlich die Grade der Poly-
nome u, p und w durch u, vund A und bemerke sie, so wie die Grade m und
n der gegebenen Polynome y und z, über den Buchstaben, welche die Po-
lynome vorstellen, so dafs also die vorausgesetzte Gleichung (49) folgende ist:
m v n 77 A
50. y.r—2.u=w.
Hier hat das Polynom p, da man der höchsten Potenz von x in ihm
den Coeffieienten ı geben kann, v unbestimmte Coefficienten; das Polynom
u hat auf gleiche Weise x unbestimmte Coefhicienten: hingegen das Polynom
w, in welchem der Coefficient der höchsten Potenz von x nicht mehr will-
kürlich ist, hat A-Fı unbestimmte Coefficienten. In allem sind also
51. #-FvV-HA-+ı unbestimmte Coefficienten
vorhanden, welche aus der Gleichung (50) gefunden werden müssen. Das
Product yo aber hat m-+v Glieder, welche unbestimmte Coeffieienten ent-
halten und welche also zur Bestimmung der Coeffieienten dienen, und das
Product zu hat n-+u solcher Glieder. Es mufs also entweder
52. m+V=u+Vv-Hr+1 oder
II. NMHR=UHYHAH1
sein. Im ersten Falle darf n+u nicht gröfser als m+v, im andern Falle
m-++-v nicht gröfser als n-+u sein. Aus (52) folgt
94. p=m—i1—A,
welches anzeigt, dafs A nicht gröfser sein kann als m—ı. Aber es kann
auch die Werthe o, 1, 2, 3....m—ı haben, und v mufs so angenommen wer-
den, dafs, wie gesagt, n+u nicht gröfser als m-+v sei. Aus (53) folgt
99. v=n—1—A,
und daraus, dafs jetzt A nicht gröfser sein kann, alsn—ı. Es kann aber
wieder alle die Werthe o, 1, 2, 3....n—ı haben, und u mufs nun so angenom-
men werden, dafs, wie gesagt, m-++v nicht gröfser sei, alsn-+u.
Es giebt also immer ein Polynom wvon niedrigerem Grade als m oder
n, welches, mit zwei andern Polynomen rn und # zusammen der Gleichung
64 Creııe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
(30) genug thut, und die „-+v-FA-++1 unbestimmten Coefficienten dieser drei
Polynome u, v und w können auch aus der Gleichung selbst gefunden werden;
und zwar durch lineäre Gleichungen, da die unbestimmten Coefficienten
nirgend in einander multiplicirt vorkommen.
Da indessen für die unbestimmten Coeffieienten identische Glei-
chungen sich ergeben könnten, und diese Art, die Polynome u, p und w zu
finden, die Analogie des Satzes mit dem ähnlichen Satze von ganzen Zahlen
nicht zeigt, so wird es besser sein, den Satz auf ähnliche Art wie bei Zah-
len, nemlich durch Division zu behandeln, wie folgt.
10.
1. Es sei in (50) m gleich oder gröfser als n. Dann dividire man y
durch z, bezeichne den Quotienten durch g,, den Rest durch z,. Ferner
dividire man z durch den Rest r,, bezeichne den Quotienten durch g,, den
Rest durch r,. Man dividire den Rest r, durch den Rest r,, bezeichne den
Quotienten durch g,, den Rest durch g, u. s. w.; setze also zusammen die
Gleichungen:
=q,T,+T,,
56. T,=4T; 73,
N,=49;T;+T;;
T,—4Q,T, HT; >
“ ia) loyielie @
I;
In diesen Gleichungen ist 7, ein Polynom, dessen Grad um 1 niedriger als
der von z, also =n—1ıist. r,istein Polynom, dessen Grad um ı niedriger
als der vonr,, alıo=n-—2 ist. r,ist ein Polynom, dessen Grad um 1 nie-
driger als der von r,, also =n--3 ist u. s. w., bis zu dem Rest r, hinunter,
welcher ein Polynom vom Grade o oder eine Constante ist. Die Reste r,,
Ty_1y Ta_ge..7, sind also Polynome der Reihe nach von den Graden o, 1, 2,
3....2—1. Der Quotient g, ist ein Polynom vom Grade m—n. Alle übri-
gen q sind vom Grade ı, also Binome.
II. Bei den verschiedenen Divisionen, welche nöthig sind, um für
die Gleichungen (56) die qg und die 7 zu finden, ergeben sich aber noth-
wendig Brüche der constanten Coefficienten der Polynome y und z.
Wenn nemlich
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 65
m m—1 —2 3
III HET HET HT ET Tann
n n—1 n—2 n—3
98. Zen tn HE A" erh Ho
gesetzt wird, so kommt schon in den Gliedern des ersten Quotienten g, und
des ersten Restes , der erste Coefhcient #, von z bis zur Potenz «,”""*' im
Nenner vor; denn es kann m—n-+ı mal dividirt werden, ehe der Rest um
einen Grad niedriger ist als der Divisor z, mit welchem Rest dann erst die
Division aufhört. Aber wäre auch #,=1, so wäre doch der erste Coeffi-
cient des Restes 7,, mit welchem für die zweite Gleichung z zu dividiren ist,
nicht nothwendig 1, und es kämen also wenigstens schon in gq, und in r,
nothwendig Brüche vor; und dann so weiter in den folgenden Gleichungen
noch um so mehr. Und zwar käme, weil r, nothwendig um einen Grad
niedriger ist als ”,, in der zweiten Gleichung der erste Coefhicient von r,
nothwendig bis zur zweiten Potenz vor; in der dritten Gleichung der erste
Coefficient von r, ebenfalls nothwendig bis zur zweiten Potenz; u. s. w. in
allen folgenden Gleichungen.
Diese Brüche nun, welche für die Rechnung unbequem sind, werden
vermieden, wenn man nicht sowohl y selbst mit z dividirt, sondern vielmehr
y, multiplieirt mit der m-+-n—ıten Potenz des ersten Coefficienten von z;
ferner nicht sowohl z mit 7,, sondern z, zuvor multiplieirt mit der zweiten
Potenzdes ersten Coefficienten vonr,; nicht sowohl 7, mit r,, sondern 7, zu-
vor multiplieirt mit der zweiten Potenz des ersten Coefficienten von 7,,u.s.w.
Statt der Gleichungen (56) stelle man daher, die ersten Coefficienten
Von 2, 7,5 Tyy Pzerr... Jene von z wie oben durch #,, die andern der Reihe
nach durch x,, #,, %,....x, bezeichnend, folgende Gleichungen auf:
m—n+1
Ko &) 9,2 +7,
1,2 —g,74 E%R 3
Kr, — 1 2Tz +7r;,
HT, =g,7; +7,,
99. SE —QFh ER EG,
2 ”
Kn_3ar —Ia-sTa-s Ft Tn_23
2 ” — -
r _aln_3 =I_-2Tna-etTa-ı ’
2 — ”
In — GT B
Physik.-maih. Kl. 1843. I
66 Creuze. Einige Bemerkungen über die Anwendung
In diesen Gleichungen haben dann die Glieder der Polynome q und z,
wie yundz, keine Brüche mehr.
II. 4. Nun setze man:
60. .,=u, und Sn =e,
so giebt die erste Gleichung (59):
61. n,=+(ypv,—zu,).
B. Die zweite Gleichung (59) giebt
r,—#r3—g,r, =#ni2—q,(yr,—zu,) (61), oder
r,=—[YyP,9,—23(u,9,+%#1))
oder, wenn man
62. u,g,+r;=u, und p,q,=Pr,
setzt,
63. 1, — (yP,—zu,).
C. Die dritte Gleichung (59) giebt
Hr — gr, =, (yo, —zu,)+9;(yP.—2zu,) (61 und 63), oder
r,=y(#20,+9,9:)—2(#2u, +U;:9;),
oder, wenn man
64. u,g,+rzu,=u, und p,9,+#3P,=v,
setzt,
65. 7, =+(yV,—zu,).
Und so weiter.
Zusammen also ist
r =+Wye, —2u) (61),
r, =—(yv, —zu,) (63),
r, =+(yr,;, —zu,) (65),
67. ”’, =—(yv, —zu,),
TED):
re =FE(lgeR Ru);
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 67
ul RE ee, (60),
u, =u,g, +4, mn gr =rqg, (62),
u Zuge ER, er en +20, =P,9,+227 (64),
68. u, =U;g; +#U,, 9%, —=P:9; +150,,
u, =U,g; HU, Rd u 7C2E
u ZUG AFFE Ur MER — U IERU VER EHE BERN
FR. 2 vr; 2
u. =U,_,9:-ı FR._ıU._o pP. =P,_,9:.-ı t%:_1P:_a
ist. Das obere Zeichen in (67) gilt, wenn e ungerade, das untere,
wenn e gerade ist,
E. Aus (65) folgt auch
y == 2 s : 2 .
A! u. 1 =lU,_ 4. tm Her -g)U,...Oder
* — 2 , ’
69. UP. PU, TR _ (uU._1H eV. ıli_2);
also, eben so, e—ı statt e gesetzt,
, — 2 % %
70. WANN mu. — m _elU._ 05 Pe_U._3);
und folglich vermöge (69):
5 4 AR ö
71. UI. HTW ZH _ el. a Ve nslb.25),
und so weiter; also zuletzt:
- e FA 2 2 2 2 S
12. 00. u. = Er che gen (Ur —P,U,),
und da nach (68)
u 2 ee pa
73. uP, —v,u,—(u,9,+#,)P,—P,q,u,=riv =x?c
ıst,
TA.» 09, UU N —ZEREHNS ee =
Also auch u,v,_,—v.u._, ist, eben wie yp.—zu,.=Fr, (67), für jedes e
eine Constante.
F. Desgleichen folgt aus (67 und 68):
ru, ,+r._u.=H(yP,—2zu,)u,_,F(YP._,—2u._,)U,; oder
719. 7u ET),
und folglich vermöge (74):
FE 2,2,2 2
DSYT Host, Wu. —=b0 Rinne anne
Ähnlicherweise ist:
12
68 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
re, tr... =t(yP,. —zu),._,F(YP._ı—ZUu._,):, oder
1. 79.7.9. =F2(u,v,_,+P:u._,)
und vermöge (74):
2
78. 7.0, 7. ZH OHinehe sack
12:
G. Jede der Gleichungen (67) hat die Form Ya. u=w; wie (50).
tr tritt an die Stelle von w, und da die verschiedenen 7 in (59), eben wie
die in (56), der Reihe nach die Grade n - 1, n—2, n—3....o haben, so kann
auf die obige Weise auch durch die Division immer eine Gleichung von
der Form (50) aufgestellt werden, in welcher der Grad des Polynoms «
eine der Zahlen o, 1, 2, 3....n—1 ist. Für die zugehörigen Polynome v und
v gelten die Gleichungen (68), und für das zugehörige +7, hier w, gilt die
entsprechende Gleichung (67).
H. Das Polynom gq, (68) ist, wie aus (59) folgt, vom Grade m—n;
alle übrigen q sind vom Grade ı. Die x sind alle vom Grade 0. Also ist
zufolge (68):
u, vom Grade m—n, e, vom Grrde o,
U, » ” m—n-1, % » ” 1,
79 N; » » m-—n-+2, LEE?) » 3
U» » m—n-+3, pP, m LE: })
n, ” ” mM—n-+E—1; Er ” „ €—1;
und folglich ist in der Gleichung (50), oder in der analogen Gleichung
80. y.e.—2.u,=H4r, (67)
das Product y.v. vom Grade m+e— ı; das Product 2. u. ist ebenfalls vom
Grade m-+e—ı und r, ist vom Grade n-—e.
Dieses stimmt mit dem Ergebnifs in ($ 9.) überein. Denn setzt man
den dortigen Grad A des Polynoms # in (50) dem Grade n—e des Poly-
noms r, in (80) gleich, so ist z. B. zufolge (54) „=m—ı-+-n—e; und das
ist zufolge (79) der Grad des Multiplicators u, wie z in (80).
I. Die Multiplicatoren u und v für die Gleichungen (80) oder (50)
ergeben sich nun auch ganz eben so, wie bei ganzen Zahlen, wenn man den
Bruch #°Y nach der Gleichung (59) auf folgende Weise in einen Ket-
tenbruch auflöset, nemlich:
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 69
a BiB Ip DR Paeslc, a 2 SB dr, er
= — »®z It Pr Io rg
m ur rı
r Zu U a RE 4
—gIcH Erz To #2 dark #2
9ı+ a, 9ı+ zn 9ı+ ra
— gt —
u. s. w.; zuletzt also "2 =
rei, Pr
81. =—=g+ er
z 1
qıt+ »2 Ba,
gg t—euert .
3 Te
ae
zmhn—
Alsdann ist der letzte an den Bruch A - I convergirende Bruch:
S 2
82. Got —— —
ME SE, 2
g92.t+ OO E51 3
93 Iz-ı
und, wie in (67) ist
83. yp,—zu,=Htr..
Dieses läfst sich aus den Ausdrücken von u und » (2 wie folgt nachweisen.
K. «) Setzt man nemlich in v,—=g,, 947 —- statt q,, so erhält man
909141 — Mgzi _ Up
— —.
9ı 91 91
Be
Setzt man in u,—=u,9,+*?, 9,+ -—- statt q,, so erhält man
92
u,(g,+ #3 anti = tt Dnuteit, — Usgetr2u _ uz i
492 92 92 92
Setzt man in u,—=u,9,+r2u,, 9
»3 Ya PR (ua9g+22 u )g5+#3U2 __Uz93-4+#3 Us __ us
det mu me — a a — u
q 93 43 93
Und so weiter.
Ahnlicher Weise ist zunächst, wenn man, wie in (68), der Kürze wegen
SET ER
setzt, P,=04Q,.
2
. . . . .. . . r2
£) Setzt man hierauf wieder, wie vorhin für die u, in 0,=rg,, 9,+ TG
12
$ »2 © eo» 0s95+c»3 v
statt q,, so erhält man (9,+-) eg Pa Er Pe Ins la tin 98 |
12 92 92 92
70 Creıue. Einige Bemerkungen über die Anwendung
Bug
Setzt man in 0, =v,9,+0x2, 9:+ ai stattq,, so erhältman
3
(95,954 #02 _ 93956750 _ 94
„2 Ri 0
p, (+) — a
K: F- 93 93 93 93
Setzt man in #, —=9,95;+#30, 9:4 —- “statt g;, so erhält man
— (395+#3% Jg #403 BORN 5
94 94 14
ars
Und so weiter.
y) Nun ist q, der erste an den Kettenbruch (82) convergirende Bruch;
und dieser ist gemäfs (68) und (81):
oder=-—.
Io 5,
2
Der zweite an (82) convergirende Bruch ist Io+ n . Man erhält ihn
1
also aus dem ersten, wenn man in diesem g,+ a statt q, setzt; und dieses
1
giebt, wenn es in dem Ausdruck (85) von q,, nemlich in u, geschieht, zu-
folge (a), 5 — = (68); also ist:
v4
6. + =.
I 9 eg
2
D . . # PR
Der dritte an (82) convergirende Bruch ist 9, + ——; undman erhält
Ren >:
. . . cz 2 .
ihn aus dem zweiten, wenn man in diesem q,+-- statt q, setzt. Dieses
92
giebt, wenn es in dem Ausdruck (86) von g,+ ne geschieht, nemlich in w,
Pr 1 gi
und »,, zufolge (« und A), Zr E Fe also ist
2
2
1
87. a
#2 us
94,+
' 92
„2
Der vierte an (82) convergirende Bruch ist ,+ — ——— und man er-
zZ
gt = FE
93
hält ihn aus dem dritten, wenn man in diesem 0 _ statt q, setzt. Dieses
giebt, wenn es in dem Ausdruck (86) von g,+ ea geschieht, nemlich
PN
9ı g2
cu .
in u, und v,, zufolge (« und £), — =; : 2 : also ist
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 74
SE EBEFE VER EE
Und so weiter; wie es (32) behauptet.
6) Die Gleichung (83) ist die letzte in (76) selbst.
L. Anders läfst sich eine End-Gleichung für r, auch direct aus den
ursprünglichen Gleichungen (59) wie folgt finden.
a) Die erste und zweite Gleichung (59) geben:
gırı hr, Tr
70 — ag Fra 2
Eger, # — nt gor,
2 (ırıtr,):z Aırı tr,
Setzt man hierin den Werth von r, aus der dritten Gleichung, so er-
hält man
(1091 +) EFT
2% gor, 5 R
I DO. A =2 _ (aot)gs+ 10) + +
z ol’o e #2 2
ENTE tra #, (91954 #)ra + gıra
Setzt man hierin weiter den Werth von r,, aus der vierten Gleichung,
in das Resultat den Werth von r, aus der fünften Gleichung, und so fer-
ner, so bekommt — offenbar die Form
94, BE —_ Pour. tS.-ır:
E $)
2 Pe-ile-ı FSe-1T:
wo P, $, pund s kein r, sondern nur q und x enthalten, und e jede von
den Zahlen ı, 2, 3, 4....n sein kann. Die Ausdrücke gehen, von.e=2 an, der
Reihe nach aus einander hervor, wenn man aus den Gleichungen (59) in den
Ausdruck für e=2 den Werth von r,, in den Ausdruck für ==3 den Werth
von 7‘, u. s. w. setzt; so wie es oben geschehen.
£) Setzt man also in den Ausdruck (91), nachdem darin e—ı statt e
geschrieben worden, was
9 Er a P._ore_et+S:_ore_ı
z Ps-2T:-2tS$:_2rT:-ı
giebt, den Werth von r,_, aus den Gleichungen (59), welcher
ge-ifs-ı FT:
2
FE
95. Tr
Ee—2
ist, so mufs daraus der Ausdruck (91) so wie er ist hervorgehen. Es ist also
72 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
gGe-1le-ı Te
P), 2 — omas; +S._or.-4
2 u TuS, ur
E— = e—1lEe— SEE v—ABle: oder
ge-ıTfe-ı Te ivp, 1Te-ı Teile
ER rs Ders + S2-2Te-1 u
E—1
(P._29:-ıh#2-1Se-s)re-ıtPe-are _ Per: th Se-ıre
94. 5 =
(p 2-29e-ı F#E_i1se-2)Te-ıtPe-2 Te Pe-1le-ıtSe-iTe
Da nun P, p, Sund s von den 7 unabhängig sind, so müssen die
Coefficienten zu den r mit gleichen Zeigern in dieser Gleichung gleich,
und es mufs folglich
95. Meer RI ER
k Sr Ss, —P:-2
sein.
y) Die Ausdrücke (95) geben:
P: 8 PAR see Pe
— (DER, 3, oder
I. ax 1Se-1 —P:_,9._ rn Mr n.S.)-
Man findet also P,_,s._,—p._,S._, aus P,_,s._2—P._,S._,, wenn
man Letzteres mit #_, multiplieirt und das Product mit entgegengesetztem
Zeichen nimmt. Also erhält man, wenn man von e=3 anfängt, der Reihe nach:
P,.s 4 Bped, nel, Ss —P Ss),
Pi NDS HD..8 -DN.So,
97... Pe sn pa en DB, "sp i—Pp;* w
da. 8 Sn 1 —P:— 8.2, = er PAIR 2 P:- Se
und, in einander substituirt:
88: P, Ss... =p. 48. Een nn (De Bi):
Das obere Zeichen gilt, wenn e gerade, das untere, wenn e ungerade ist.
8) Nun ist in (89) e&—ı=2, also, mit (91) verglichen:
P=494+% P=I:
= 3, —055 gt.
Dieses giebt für (97):
100. Ps—pIS=(gtEN-9,9%
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 73
also ist zufolge (98):
OWEN Ep IS ren...
e) air erhält man den letzten an °” (81) convergirenden Bruch (S2),
der durch °°= bezeichnet werden mag, wenn man in (81), also m, r,.—0
setzt. Geschieht dies in (91), so ergiebt sich für “7°- der Ausdruck :
109. u Ber —_ Pen,
1) Pe-ıle—ı P:—ı
£) Aus (102 und 91) folgt weiter:
(oz [2 Per, FI. 4r ip
ge a A ee gder
z zo Pest seir: Pe:—ı
o(2— Yo y)= een Tara oder
z zo oe)
103. (2 -2)=- tee
N)
z
z zo
oder, weil nach (102) p.,_,=2,, zuach (ON), Behr, „es; 7, —2 und. nach
[6 LI a
R,R
222 2, Pr 2»
a — Feen", oder
Zoo
2
AUT Aal, 2) Eure 4er;
%,
wo nun, wie in (F.), im Gegensatz von (C. y), das obere Zeichen gilt, wenn
€ ungerade, das untere, wenn gerade ist.
„) Dieses ist die aus den Gleichungen (59) direct folgende Endglei-
chung. Um sie mit der Endgleichung (83), die statt y, und z, uw. and v.
enthält, zu vergleichen, dividire man (104) mit den Factoren von +...
Dieses giebt:
= oz (
105. ee —z = z a y0 n —
#,#2# AA BEHTHzrennenn RA:
Also mufs
[ol oz
106. en =U,, und ll =p,
Mrz ei Kor a,
sein, und dieses giebt:
Physik.-math. Kl. 1843. K
74 Crerue. Einige Bemerkungen über die Anwendung
2
wie gehörig; denn o— ist nach (82) der Bruch , + —————— ,
Ve EERNE
und co 22 bezeichnet ihn nach (e. 102) ebenfalls.
Aus (107) folgt:
Nach (106) kann man für die Gleichung (104) y, und z, durch u, und
p, aus den Gleichungen (68) berechnen. Direct aber vertritt die Endglei-
chung (83) diejenige (104).
02
Die Endgleichung ye.—zu.==+r, (83) der Rechnungen im vorigen
Paragraph, für welche man die u und » durch die Gleichungen (68), und für
diese die g und x, so wie r., unmittelbar durch wiederholte Divisionen fin-
det, ist natürlich identisch, da sie für jeden beliebigen Werth von
x Statt findet.
Die u und v, welche man findet, lösen die Gleichung yr.—zu.=+r.,,
wenn man z. B. bis zu demjenigen r geht, welches nach x vom Grade o, also
eine Constante ist, in ganzen Zahlen auf, wenn die Coefficienten
von y und z ganze Zahlen sind; und zwar für jeden beliebigen ganzzah-
ligen Werth von x; freilich aber nur für den durch die Coeffieienten von y
und z bestimmten Werth von r,. Kann man aber den Coefficienten von
y und z solche Werthe geben, dafs r, einen vorausbestimmten Werth
bekommt, z. B. den Werth ı, so lösen die zugehörigen u und p die Glei-
chung yp,—zu,— tr, für diesen vorausbestimmten Werth von 7,
auf; und zwar wieder für alle möglichen ganzzahligen Werthe von x zu-
gleich.
Desgleichen dient die Gleichung yr.— zu.— tr. bekanntlich zur Eli-
mination von x zwischen den beiden Gleichungen y=oundz=o. Das
Resultat der Elimination ist unmittelbar die Gleichung r.—=0; denn es er-
giebt sich aus der Gleichung yr.— zu. —=r,, wenn man dariny=ound
2=0 setzt.
ST
Qi
der Polynome in der Theorie der Zahlen.
Beispiel. Es sei
409. y=a’+ax+b,
£ ‚woalso z,—=1, c=1 (84) ist.
Ze, +ax+ß,
Die erste Division giebt:
a +ac+ß |aHax+b| ı=g,;
110. ee een.
(a—«)x+b—-P=r, und
„=a—0, #,,=b—R.
Die zweite Division giebt:
411. #02, , |wiarriactaiß |, w-tan,—r, ,=q,
—(a—e)x+e(a—a)—(b—£) oder
Br q4,=(a—«) (x-+«) —(b—P)
Harn, 18
„(an — x, „Ja+r’ß
— (an, —r, „)a—r, (er, —%;, .)
wB—ar,x, „+ ı=T, oder
(a—a)’B—a(a—e) (b-L)+(b—R)’=r, oder
(a—«) (aß —be)+(b—-P)’=1r,.
Es ist also hier in (77):
u,
En a) (+0) —(6-)-Ha-)'= (aa) (+0) -(b-P);
Eh
113. | P,—= (a—a) (x-+«) —(d—£).
Also ist, da hier e=2 ist, die Endgleichung (84):
113. (x’-+ax+b)|(a—e) («+a)—(db-P) (a +ax+R) [(a—a) (x-+a)—(d—R)]
= (0-0) (a2) —(b-P}
Setzt man hier 7,—=o, so erhält man:
114. (a—a) (ad—ba) +(b—-P)=0,
und dies ist das Resultat der Elimination von x zwischen den beiden Glei-
chungen @’+ax-+5=o und a’ +ax+Pß=o.
K2
76 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
Schreibt man in (109) 2a und 2« statt a und «, und a° und «® statt 5
und ß, so giebt die Endgleichung (113):
(z-+a)’ [2(a—a) (x-+2«) —(a’—a’) )—(x-+a)’[2(a—e) (x-+2a) —(a’—a°)]
= — 2(a—e) (au —2a’e) —(a’—a”)” oder
(z-+a)’ [2(0-+20) —a—a] —(x-+a)? [2(x-+20) —a—e]
= -+4aa(a—a) —(a’—a”) (a+«) oder
115. (a-+a)’[2x-+32—a] —(x+a)’[20-4+3a—0]=— (a—a)’,
und setzt man a=0, so erhält man:
116. a’ [20-4302] —(x-+e)’ [20 —a]=e’.
Dies giebt für a=ı:
117. x°(2x43) —(x-H1)° (20 —1) =1,
welches also die Gleichung
115. a’m—(x-H)’n=ı
durch m=2x-+-3 und n=2x—1 für jedes beliebige x auflöset.
12.
Wenn man sich für ganze Zahlen der Methode in ($ 10.) bedient, um
einen Bruch - in einen Kettenbruch aufzulösen, in welchem die Zähler
nicht ı sind, so lassen sich beliebige, an - convergirende Brüche —
finden, welche vermöge der Gleichung (83) um
My
z 0. Z0:
von — abweichen. Die x in (59) sind alsdann ganz willkürlich und brau-
chen auch keine Quadrate zu sein. Die Gleichungen (67) sind in diesem
Falle:
u,—=4go v,=1,
u,—=u,9,+%,5 P,=4,I1
U,=U,9;t+%;1U;, U U Pi 2
120. U,=U,g;+%;,U,, P—r,g;4830;;
U,—U,G, FR Us, IR Fi
teten! at Ne Delta dere were), il ai nel eikleihon u ua. uu ame
u.—=Uu. ‚IJ-ıtR_ıl_2 P.—r_,IıtR_ fee:
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 77
Die ursprünglichen Gleichungen, auf welche die (68) sich beziehen, sind:
#4:1 =00. 42. h%u,
Cs TB
BT 0, Pan Ess
#%,.T, =4;.T; HT,
121. SE re PR N
wo r, nothwendig = ı ist.
Beispiel. Es sei
122. y=23, 2=184,
so erhält man, wenn man zuerst auf die gewöhnliche Weise die sämmtli-
chen » gleich ı setzt, in (121):
235 =1.1844+- 51, g,=1, r,=5l,
1843. 51431, q,=3 r,=3l,
51=1. 31+20, 9,=1; T,=20,
123. 31=1. 20-+11, od eh We
20=1.11+ 9, g,=h T,=9),
1=1. 9+ 2, 9,1, T,= 2,
9—4 2-1; g=b r=1.
Dieses giebt zufolge (120):
u—, en
u=3. pi='4, v,= 3,
MM 5, v,=3 +1=4
124. uv=5 Hi 9, RE. De
u= Ir 5=1, p,—H.r A=1,
u.=ı14 + 9= 23, p = + 7=18,
uU, 23.44 14106; pP, —18.411= 33;
78 Crerze. Einige Bemerkungen über die Anwendung
also in (83), der Reihe nach e=1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 gesetzt,
235. 1—184. 1=-+51,
DS 51 235 az 9
235. 3—184. 4=—31, a 4 114? 14 o M 14184?
235. 4—154. 5=-+20, 235° 4 31 23505023 2
Pr Errea Bez „> FEATURE 7 ’
195. 235. 718 an, und 3 3.184 14 18 18.184
R e DB; Sen. 20 235 106__ 1
a 14 4 EN TEEN
235.18 —184. 23=— 2, 235 9 4
235.83 —184.106 —-+ 1; FT a a
: 235 i ” = Re 5
so dafs also die an = convergirenden Brüche der Reihe nach ee
9 Mm 3 106 . v 235 ar &, $
Der und = sind, die dem Bruche Fr allmälig immer näher kommen.
4‘
Setzt man dagegen willkürlich z. B.:
126. KH,m5, =, 4,3 und %,=2,
so geben die Gleichungen (121):
5.235 6.1844-71, =: \r, =,
2.181= 5. 113 Behr =as
127. Yhckklenmliell JB
3. 71=16. 13-+ 5, g9,=16, T,= 5,
2. 13= 5. 5-+ 15 I:= 5, r,=1
Dieses giebt zufolge (120):
u—b6, pl, ,
u, 6.542 =32, v= 5.5 ==25%
128.
u. 32.1643. 6= 530= 2.2354 60, 9, 25.1645. 3= 415 2.1844 47,
u, 530. 5-+2.32=2714=11.2354+1295 9,—15. 542.25=2125=11.184-4101,
also zufolge (67), der Reihe nach, da man n2-+v und ny-+u statt v, und w.
schreiben kann,
235.1.5— 184. 6=-+-71, ee n 2 0 R
235. 25181. 2=—13, weten a Ta?
12% und
235. 47— 284. 0=-+ 5, er 13 235 429 7 1
= =
235.101 181.19 =— 1, 134.25 25.154’ 184 101 101.184
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 79
1 ı E “ 6 32 7)
so dafs man jetzt noch die an - convergirenden Brüche un =
+
findet, die unter den obigen nicht mitbegriffen sind. Und da die x will-
kürlich sind, so lassen sich noch viele andere finden.
. 13.
Auch auf die Zerlegung algebraischer Brüche in einzelne
Brüche, von deren Nennern das Product dem Nenner des gegebenen Bruchs
gleich ist, lassen sich die Verwandlungen in ($ 10.) wie folgt anwenden.
A. Essei z.B. der Bruch , in welchem k ein Polynom von &
bezeichnet, dessen Grad aber immer wenigstens um ı niedriger angenommen
werden kann, als der Grad des Products yz, weil sich, wenn der Grad von
k höher wäre, erst ein ungebrochener Theil durch Division absondern lassen
würde, in die beiden Brüche = und — zu zerlegen, so dafs man also
130. ea Bl
3 % =
setzt, wo u und v gesucht werden, die nothwendig von niedrigeren Graden
sein müssen als y und z.
B. In den Gleichungen (67) mufs, wenn r eine Constanter, sein
soll, zufolge der Gleichungen (59) e=n genommen werden, und dann ist
zufolge (67): ;
131. r,==+(yv,—zu,).
Dieses giebt, wenn man mit % multiplieirt und mit r,y3 dividirt,
ko, ku, )
7,2 I
132. a (
€. Nun sind zwar v, und v, von niedrigeren Graden als y und z, denn
u, und v, sind zufolge (79) nur von den Graden m—ı und n—ı, während y
und z von den Graden m und n sind. Aber kw, und kr, können von höhe-
ren Graden als yund z sein; denn % ist nur von niedrigerem Grade als das
Product yz(4A), und kann also bis auf den Grad m-+n—ı steigen, so dafs
k,u, und k,v, bis auf die Grade am-n—2 und m-H2n—2 steigen können.
Man wird also k,u, durch y, und k,e, durch z dividiren und mithin
ku, =r,y+U und
2 I; v,—=r,24+V/
80 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
setzen können, wor, und r, ungebrochene Polynome, U und Y aber
von niedrigeren Graden als y und z, also höchstens von den Graden m — ı
und n — 1 sind.
Setzt man die Ausdrücke (133) von k,u, und k,v, in (132), so er-
hält man:
z V {
+ (H- nE #2) oder
% Y
k
\
1 u 20
=+—(n-r,+ —— —_).
Do Y 2
1
134.
y=
D. Diese Gleichung ist aber nicht anders möglich, als dafs, —r,=0,
oder 7,=r, ist. Denn sie giebt:
KE(Uz—Py)__
=:
135. = an),
und hier ist % höchstens vom Grade m-F-n—1, Uz ist höchstens vom Grade
m—ı-+-n und /y höchstens vom Grade n—ı-+m: also ist der gesammte
Zähler linkerhand höchstens vom Grade m-++n—1ı, der Nenner yz dagegen
ist vom Grade m-+n. Mithin ist der Bruch in (135) linkerhand ein echt-
gebrochenes Polynom; und dieses kann keinem ungebrochenen Po-
lynom 7, —r, gleich sein. Also mufs 7, —r,=0 sein.
E. Daraus folgt für (134):
k U v
136. nt 2
Vergleicht man dieses mit (170), so folgt, dafs die dortigen u und v
die Werthe
137.
haben müssen, wo sich U und Y aus (133) finden. Das obere Zeichen
gilt, wenn n ungerade, das nn, wenn n gerade ist.
F. Um also den Bruch X in zwei Partialbrüche zu zerlegen, deren
Nenner y und z sind, ahnen man u, und p. nach ($ 10) für die Gleichung
138. rn, —=t(yvr,—zu,),
multiplieire darauf nach (133) v, und p, mit k und dividire die Producte
durch y und z, so sind die Reste U und Y dieser beiden Divisionen, noch
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 81
durch die Constante 7, dividirt, die gesuchten Zähler der beiden Partial-
brüche , und er: zufolge (136).
nz?
G. Hat der Nenner des gegebenen Bruches mehr als zwei Factoren
y und z, und ist also der Bruch von der Form
1 1
erst in zwei Brüche von der Form 5, und
1
ve RER zerlege man ihn
a
; darauf den zweiten die-
2
ser beiden Brüche in zwei von der Form 2 und — U, u. s. w., so er-
Yı Y3Y ar Ir
hält man zuletzt die Zerlegung des gegebenen Bruchs in die Partialbrüche
A
To a RG U
at Fre er
Auch macht es keinen Unterschied, wenn von den Factoren im Nen-
ner des gegebenen Bruchs Potenzen vorkommen, und also der gegebene
ra
YY3- Nr
4
D
Bruch von der Form u ist. Alsdann giebt die Zerlegung Par-
ER FE
tialbrüche von der Form Un U 3 U et a . Diese kann man wei-
au 20 Var
ter, wenn es nöthig ist, auf eine der sonst gewöhnlichen Arten zerlegen,
z. B. den Bruch Beben der Form a
N eye? Yı
wo die A Constanten sind, wenn y, vom Grade 1 ist.
H. Beispiel. Es sei der Bruch
ER, air k
139 x x nee +7x—11 al
(z+1)'.(c+ 3)> Yz
zu zerlegen.
Hier ist
k=x—-a’+r2x’Fre—1,
> y =(aHı) =a’ +10’ + 68° +40,
2 = (+3) =ax°’+ 6x4 9,
Ei
Die Gleichungen (59) geben also hier:
(2-+1)'= (x’— 2049) (0+3)’— (32.080),
141. R 3
32°. (x+3)’= (32%-+112) (320+80)-#256,
und folglich ist:
Physik.-math. Kl. 1843. IB
52 Crerıe. Einige Bemerkungen über die Anwendung
JZR’— 20-49,
149. 4,=—(32%-+ 112),
n,=—32,
7,256;
mithin in (68):
u=x’—2x-9, DR—UR
143. u,—=— (x — 22049) (322% +112)+32°, 09,=—(320%-H112),
= —16(28’+30°+41x—1), =—16(2x%+7).
Dieses giebt in (133):
— (a a’ +20° +7 —11)16(20° 30° +4r—1)
444. IF! ew! —sa’ 100° — 180416) (z+H1)'+16(1038°-+221%°+217%+35),
— (2° — 2° +20°4+70%—11)16(2047)
= —16(20°—52° 4100” — 18046) (243) ’-+16(87200+191);
also ist
U—=+16(1038°++2212°+2172%— 35),
— | V =+16(87%°+491);
und folglich gemäfs (136):
da’ 2 er 10327’ 221%° 2170-35 870-4491
a6 a nr
(<H1)*(&+3)? 16(&-+1)* 16(x+3)
14.
Ein Satz, ähnlich dem verallgemeinerten Fermatschen Satze, dafs,
wenn man irgend eine ganze Zahl z, die mit der Zahl y keinen Theiler ge-
mein hat, zu derjenigen Potenz erhebt, deren Exponent die Anzahl der
Zahlen z<y ist, welche mit y keinen Theiler gemein haben, und darauf
diese Potenz durch y dividirt, immer der Rest ı bleibt, findet für Polynome
auf folgende Weise Statt.
A. Es sei, wie weiter oben, das Polynom y von x vom Grade m, und
das Polynom z von x vom Grade n, und m>n, während y und z keinen
von x abhängigen Factor gemein haben. Dividirt man y durch z, so erhält
man die Gleichung *
m_nn n—1
147. y=q,3 +#r,;
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 53
denn g, ist vom Grade m—n und r ist vom Grade n—ı. Die Ooefficienten
der vier Polynome y, z, q, und r, sind bestimmt.
B. Nun multiplieire man das Polynom y mit r, und dann noch mit
einem Polynom ®&, vom Grade z, mit unbestimmten Coeffieienten: z da-
gegen mit einem Polynom g,, ebenfalls mit unbestimmten Coefficienten
und von solchem Grade A, dafs der Grad des Products $,7,y dem Grade
des Products q,z gleich ist, und setze
148. 6,7, y=qar,:
so mufs «-+n—1--m=r-+-n, also A=m-+xz—ı sein. Dem Polynom 9,
kann man willkürlich ı zum Coeffhicienten seiner höchsten Potenz von a ge-
ben; dann enthält dieses Polynom » unbestimmte Coefficienten; das’ Poly-
nom g, dagegen enthält A+1=m-+-x dergleichen Coefficienten ; mithin sind
zusammen m -+2* unbestimmte Coefficienten vorhanden. Die Producte
‚”,y und gq,=z aber haben jedes m-+z-+n Glieder. Vergleicht man davon
die m-+ 2x ersten Glieder mit einander, um die m-+2* unbestimmten Coef-
ficienten von $, und g, zu finden, so bleiben noch m+x+n—m— 22 —=n— x
Glieder übrig, und diese sind r,; und folglich ist 7, vom Grade n— x — 1.
Macht man nun das willkürliche x gleich ı, so ist A=m, und r, ist vom
Grade n—; folglich giebt dann (148) die Gleichung
1 n—i m m n n—2
149. 9.7. y=g,:2r,.
C. Man multiplicire von Neuem y mit r, und dann noch mit einem
Polynom #, vom Grade » mit unbestimmten Coeffieienten, z dagegen mit
einem Polynom q, ebenfalls mit unbestimmten Coefficienten, von solchem
Grade A, dafs wieder der Grad des Products $,7,y dem Grade des Products
q;2 gleich sei, und setze
n—2 m 2 n
150. d, - r,.y=9, .ZH+T,.
Hier istä=m-+x#—2. Dem Polynom 9, kann man wieder willkürlich
ı zum Coefficienten seiner höchsten Potenz von x geben. Alsdann enthält
solches z unbestimmte Ooefhicienten; q, hat deren ?+1=m+z-— 1, mithin
sind überhaupt m-+ 22 —ı unbestimmte Coeffieienten vorhanden. Die Pro-
ducte &,r,y und q,z haben jedes m-+n-+-z2—ı Glieder. Vergleicht man
L2
84 Crerıue. Einige Bemerkungen über die Anwendung
davon die ersten m-+2#x— 1 Glieder, um die m-+22— 1 unbestimmten Coef-
ficienten zu finden, so bleiben m--n+2z— 1—m—2#+1=n—x Glieder
übrig, und diese sind r,; folglich ist", vom Grade n—#x—ı. Macht man
nun das willkürliche x gleich 2, so ist A=m, und r, ist vom Grade n—3.
Also giebt (133) die Gleichung
2 n—2 m m n n—2
191. 6,.7,7=g. 24T,
D. So kann man weiter fortfahren und erhält zusammen die Glei-
chungen
m m—n n n—1
Y=9 +7,
1 n—1 m m n n—2
®, .T, al e Z+T,,
2 n—2 m m n n—3
52, Pd, .-.T,.Yy=9: - ZT;
3 n—3 m m n n—4
Pd. 7, .V=QG; » Mess
so dafs man zuletzt nothwendig auf einen Rest z, vom Grade o kommt.
E. Nun multiplicire man die sämmtlichen Gleichungen (152) in ein-
ander, so ergiebt sich:
1 2 3 n—1 n—An—2 n—3 n—1i n—2 n—3 1 [}
153. 9,- Der Gaanı hd, rd Das el —Nz+ ie.
und daraus folgt
n—1 O n—1i n—2 n—3
154. [N ®.-62-83::..®,_,—r.] N TR NH
1
F. Es kann aber #, mit z keinen von x abhängigen Factor gemein
haben, denn sonst müfste dieser Factor zufolge der zweiten Gleichung (152)
auch in r, aufgehen, und folglich in z und 7, zugleich, mithin nach der drit-
ten Gleichung (152) auch in r, und folglich in z und 7, zugleich, mithin
nach der vierten Gleichung (152) auch in r, u. s. w.; zuletzt also auch in r,,
was nicht sein kann, da 7 vom Grade o ist und also kein & enthält.
Eben so wenig können #, und z einen von x abhängigen Factor ge-
mein haben; denn wäre es so, so mülste dieser Factor zufolge der dritten
Gleichung (152) auch in 7, aufgehen, folglich in z und r, zugleich, mithin
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 55
nach der vierten Gleichung (152) auch in 7, u. s. w.; zuletzt in r,, was
nicht sein kann.
Aus gleichem Grunde können #,, ®,....$,_, mit z keinen von x ab-
hängigen Factor gemein haben. Also kann kein $ mit z einen von x ab-
hängigen Factor gemein haben. ;
G. Ferner können r, und z keinen von x abhängigen Factor gemein
haben. Denn wäre es so, so müfste derselbe zufolge der ersten Gleichung
(152) auch in y aufgehen, folglich in y und z zugleich; welches der Vor-
aussetzung entgegen ist. Sodann können 7, und z keinen von x abhängigen
Factor gemein haben; denn sonst müfste derselbe zufolge der zweiten Glei-
chung (152) auch in y oder in z, oder in ®, aufgehen, und folglich müfsten
z und y oder zund r, oder z und 9, diesen Factor gemein haben. Das erste
ist nach der Voraussetzung.nicht der Fall; das zweite findet, wie sich so eben
vorhin zeigte, nicht Statt, das dritte, wie sich in (F.) fand, ebenfalls nicht.
Aus gleichem Grunde können 7, und z keinen Factor gemein haben, u. s. w.
Also kann kein 7 mit z einen von x abhängigen Factor gemein haben.
H. Nun mufs aber zufolge der Gleichung (154) z nothwendig in
das Product linkerhand aufgehen. Mit keinem r hat es einen Factor ge-
mein; also geht z in dem Factor 7,r,r,....r,_, nicht auf: folglich mufs es
n—i1
in den andern Factor aufgehen, und also folgt aus (154):
m 4, ars n—1 in o
155. Pd NET,
wo r, eine Constante oder von x unabhängig ist.
Dieses ist der dem Fermatschen ähnliche Satz für Polynome.
Der Grad des Products linkerhand in (155) ist
- 4+n—1 n.n—i —1
156. Mn-Hi-F243...n—1 = mn+ — .n—1=mn+ —=n(m+”).
15.
Man kann in der Reihe der Gleichungen (152) auch wieder für y
und z statt zweier Polynome zwei ganze Zahlen setzen, welche keinen
Theiler gemein haben. Die r werden dann in die Reihe der Zahlen gehö-
ren, die mit z keinen Theiler gemein haben; ganz aus demselben Grunde
wie oben; und die $ kann man ebenfalls aus der Reihe der zu z relativen
Primzahlen, und zwar so annehmen, dafs sie beliebige vorausbestimmte
56 Orzıre. Einige Bemerkungen über die Anwendung
r geben: alles nur unter der Bedingung, dafs das letzter, also r,, =1 an-
genommen werde. Alsdann findet aus dem obigen Grunde die Gleichung
(155) Statt, welche hier, da r, immer =ı angenommen werden mufs, die
Form
157. 1"0,98,9:--.. 6, —=N2-+1
hat, oder auch, wenn man noch
158. ,05dan. B,—=Nsto
setzt, wo nothwendig & wieder eine der Zahlen sein wird, welche mit z kei-
nen Factor gemein haben, weil alle Factoren des Products linkerhand der-
gleichen Zahlen sind, die Form
y’(Nz+$)=Nz-+1, oder
159. Y’o=Nz-+1,
wo nun an willkürlich ist und jede ganze Zahl sein kann, von 2 an bis zu
der Anzahl der Zahlen <z, die mit z keinen Factor gemein haben.
In dem Fall n= der Anzahl dieser Zahlen, ist dem Fermatschen
Satze zufolge immer y’=Nz-+1, also giebt in diesem Falle (159) (Nz-H1)®
—=Nz+1, oder o=Nz-+1, oder, weil $<zist, $=1; und also ist dann zu-
folge (158)
160. 9,9,93-...d,. —NzH+1.
Da man aus dem verallgemeinerten Wilsonschen Satze weils, dafs,
die drei Fälle ausgenommen, wo z die Zahl 4, oder irgend eine Potenz einer
Primzahl, oder das Doppelte einer solchen Potenzist, für alleandern Werthe
von z die Gleichung (160) immer Statt findet, so folgt aus dem Obigen,
dafs es immer möglich sein mufs, während in (152) die r alle zu z relativen
Primzahlen durchlaufen, auch die # so anzunehmen, dafs sie ebenfalls alle
diese Zahlen durchlaufen, ohne sich zu wiederholen. Liefse sich dieser
Umstand für sich selbst beweisen, was aber freilich Schwierigkeiten haben
würde, so würde dadurch umgekehrt ein Beweis des verallgemeinten Wil-
sonschen Satzes aus dem allgemeinen Fermatschen Satze folgen.
Es möge ein kleines Beispiel für das Obige hier stehen.
Es sei
der Polynome in der Theorie der Zahlen. 37
Man setze zuerst für die Gleichungen (152) folgende:
s=NZz+ 5,
14.8 8=NZ—+11,
162. 15.1.8=NZ+ 2,
1. 28=NZ-+ 7,
11. 78=NZ+ 1,
so istn=6, 9,9,9,9,=14°.71=Nz+2, also $#=2,
und (159) giebt
163. s’.2=Nz-+1;
wie gehörig.
Setzt man die Gleichungen
s—NZz+ 5,
7. 8.3=N2-+13,
4.13.3s=NZ-+11,
13.11.S=NZ+ 4,
11. 4.8=NZ2+ 7,
7. 7S=NZ+ 2,
14. 28=NZ-H14,
1314.3=NZ-+ 1;
164.
wo nun die r alle zu z relativen Primzahlen durchlaufen, so giebt (160):
7°.4 .13°.11.14—=Nz-+1 oder
2 2 ENTE
165. 7°.42.11 .14 =Nz+1 oder
Tal —=Nz-+1 oder
4° =Nz-+1;
wie gehörig.
Es dürfte wohl der Mühe nicht unwerth sein, das Verhalten der Po-
lynome auch in verwickelteren Sätzen, die denen für ganze Zahlen ähnlich
sind, weiter zu erwägen. Fänden sich auch hier Sätze für Polynome, die
denen für die ganzen Zahlen analog sind, so würde sich, wie im Eingange
bemerkt, für diese daraus vielleicht eine oder die andere Erweiterung oder
Verallgemeinerung ergeben.
Berlin, im October 1842.
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Philologische und historische
Abhandlungen
der
Königlichen
Akademie der Wissenschaften
zu Berlin.
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Berlin.
Gedruckt in der Druckerei der Königl. Akademie
der Wissenschaften.
1845.
Ina Commission bei F, Dümmler.
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G-IROSEN. über. die Sprache, ders Bazenı.. 2 a. un. ee ea lare ebene alelenne RN
HOFFMANN über staatswirthschaftliche Versuche den ganzen Bedarf für den öffent-
lichen Aufwand durch eine einzige einfache Steuer aufzubringen
H. E. DirksEn über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes, Verzeichnis auslän-
discher Waaren, von denen eine Eingangssteuer an den Zoll-
stätten des römischen Reiches erhoben wurde. ..............
JACOB GRIMM: Deutsche grenzalterthümer Ne ae, ee lehrer a ee a
Derselbe: Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer und aus
seiner so wie der nächstfolgenden zeit..............- ER
PANOFRAY Die Heilgötter der Griechen. .......2........... Erler ilascheie ap dlene
N: RAUMER«) Diderot undsseine VVierke;.r.y.l.02 2 ana. ne arauenone opera arehenate u alepe
NEANDER über die welthistorische Bedeutung des neunten Buchs in der II. En-
neade des Plotinos oder seines Buchs gegen die Gnostiker.....
GERHARDSübersVenusidolen. 0... 20 ren fare eanefereyieehede DR Re ep
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Y.
Über
die Sprache der Lazen.
Von
Hr: G. "ROSEN.
[Vorgelegt in der Akademie der Wissenschaften am 11. November 1843.]
D. geographische Gebiet der Lazischen Sprache reicht, soweit ich habe
erfahren können, nicht über die Gränzen des zum Paschalik Trabison gehö-
rigen Sandschakat’s Lazistan hinaus; d.h. dasselbe zieht sich von dem soge-
nannten Gürtel-Vorgebirge, Kjemer-Burnu, an der Küste des Schwarzen
Meers bis zur Mündung des Tschorok hin, erstreckt sich in seinem südwest-
lichen Theile von Kjemerburnu bis zum Fürtuna-Sui, nur wenige Stunden
von der Küste in das Innere, nordwärts vom Furtuna-Dere-fsi aber nimmt
es die Flufsthäler ganz ein und erhebt sich bis zur Wasserscheide gegen den
Tschorok, welche es im Börtscha- Thale noch sogar überschreitet. Zum
Sandschakat Lazistan gehört noch jenseit des Tschorok die Seestadt Batum
und ihr Gebiet, wo aber, wie man mir sagte, schon der Grusische Dialect
Guriens gesprochen wird. Die politischen Gränzen des Sandschakats sind
also gegen Nordost die zu Trabison gehörige Provinz Adschära, d.i. der
türkische Antheil an Gurien, gegen Osten das von Erserum abhängige Bej-
lik Livane oder Artwin, gegen Süden und Südwest die zu Trabison gehöri-
gen Sandschakate Hemschin und Riza. (>)
(') Klaproth, Asia polygl. p.111. kennt aulser dem von Hope (Chopa) und Kjemer -
Burnu noch einen Trebisondischen Dialect der Lazischen Sprache, von dem er c. 40 Wör-
ter aufführt, die ich in meiner Wörtersammlung zum Vergleiche hersetzen werde. Wir
haben in den Thälern der Umgegend von Trebizonde aufser Türkischen nur Griechische
und wenige Armenische Landleute gefunden, welche durch Türkische Bestandtheile verderbte
Dialecte ihrer Sprachen reden. In der Stadt selbst, als der Capitale des Paschaliks, sind im-
mer viele Lazen gegenwärtig, welche politische und commerzielle Absichten hinziehn. Doch
sind diese aus allen Theilen Lazistans, und von einem besondern Trebisondischen Dialecte
des Lazischen kann nicht die Rede sein. Selbst in dem benachbarten Riza und Hemschin,
an der oberen Fürtuna, habe ich mich überzeugt, dafs fast Niemand die Sprache versteht,
geschweige denn redet.
Philos.-histor. Kl. 1843. A
[89]
Rosen
Wortvergleichungen mit Grusischen Dialecten haben schon Klaproth
unumstöfslich die Verwandtschaft des Lazischen mit dem Iberischen Sprach-
stamm ergeben. Dieser bildet also einen Gürtel, welcher vom Schwarzen
bis zum Caspischen Meere den südlichsten Theil des Caucasischen Isthmus
einnimmt. Von demselben bildet das Lazische Gebiet das Südwest-Ende,
an das sich östlich Livane und Ardanutsch reihen, deren Bevölkerung, ob-
wohl jetzt gröfstentheils islamitisch, ein reineres Georgisch, „> gjürgii,
redet.
Das grammatische Verhältnifs zwischen den Grusischen Dialecten und
dem Lazischen, würde sicher von besonderem Interesse sein: aber es fehlen
mir dazu hier die nöthigen Hülfsmittel, so dafs auch ich vorläufig nur Wort-
vergleichungen anstellen kann. Die Formenvergleichung denke ich in einer
späteren Arbeit nachzuliefern, nachdem ich meinen Aufenthalt in Tiflis zur
Erlernung der Georgischen Schriftsprache benutzt haben werde.
Von der Geschichte des Lazischen Volks ist nur Weniges bekannt,
und selbst dies darf hier nur berührt werden. Im Anfange des Mittelalters
bildete es ein Königreich, das sich über ganz Imerethi ausdehnte und be-
deutende Macht nach Aufsen entwickelte. Diese Macht vernichteten im 10.
Jahrh. die Bagratidischen Könige Armeniens, welche sich aber selbst nicht
lange behaupten konnten. Das eigentliche Lazistan wurde wahrscheinlich
später von den Grusischen Herrschern zu Hemschin abhängig, und zerfiel,
nachdem diese c. 1580 von den Türken besiegt, und zum Islam überzutre-
ten gezwungen waren, in ebensoviele unabhängige Bejlik’s oder Fürstenthü-
mer, als das Land Thäler besitzt. Die Kriege der kleinen Dynasten dieser,
der Dere-Bej’s oder Thal-Fürsten, welche"nun auch allmählig mit dem
Volke zum Islam übertraten, theils unter einander, theils gegen die gleich-
falls fast unabhängigen Be&j's von Hemschin und Riza, welche im Bereich des
Pontischen Gebirges noch in aller Munde leben, füllen die Zeit aus, bis
vor c. 10 Jahren Ofsmän-Pascha von Trabison, Bruder des jetzigen Abdul-
lah-Pascha, die theils aufrührerischen, theils noch völlig freien Bergyölker
der Hohen Pforte unterworfen hat.
Welche Religion die Lazen vor Annahme des Islam gehabt, habe ich
im Volke selbst nicht erfragen können: „Wir sind schon lange Türken”,
hiefs es immer, „was wir früher gewesen, wissen wir nicht”. Doch erfährt
man aus dem Procop sicher, dafs das Lazische Reich damals dem Griechisch-
über die Sprache der Lazen. 3
catholischen Christenthum anhing, mit dem eine gewisse Oultur unter das
wilde Volk gekommen sein mag, deren Spuren ich in einer Anzahl Griechi-
scher Wörter, die mit geringer Veränderung in der Lazischen Sprache ge-
blieben sind, wiederzufinden glaube. Ob sie sich der Griechischen, oder
irgend einer andern Schrift bedient, läfst sich jetzt nicht mehr erkennen,
zumal da das Land keine so alte Baudenkmale besitzt. Jetzt gebrauchen sie,
wie alle muhammedanischen Völker, ausschliefslich das Arabische Alphabet
mit den Erweiterungen, welche Perser und Türken demselben gegeben.
Doch schreiben sie ihre Sprache nur selten, weil sie dieselbe (wenigstens
äufserte sich so über sie der Ajan von Ätina) für eine alte Sünde halten,
die längst hätte ausgerottet werden müssen, und bedienen sich lieber des mit
dem Islam heimisch gewordenen Türkischen.
Eine Lazische Literatur hat ohne Zweifel nie existirt, denn diese
würde einen Dialect mehr hervorgehoben und denselben zur allgemeinen
Landessprache consolidirt haben. Das ist aber keineswegs geschehen, denn,
wie man mir versichert, hat ein jedes Thal seinen besonderen, von den Nach-
barthälern merklich verschiedenen Dialect. Um von Allen, oder doch meh-
reren dieser eine genauere Nachricht geben zu können, würde ein längerer
Aufenthalt im Lande selbst erforderlich gewesen sein, das wir, von den
schädlichen Einflüssen der Luft längs der Seeküste bedroht, ziemlich schnell
durcheilt sind. Ich gebe daher in weiterer Ausdehnung nur den Dialect von
Ätina, in welchem ich auf dem Wege von Trebisonde bis Artwin mit Hülfe
eines in der Medrefse erzogenen Lazen, Ibrahim Efendi, den auf die Bitte
meines verehrten Begleiters, des Hrn. Prof. Koch, der Pascha von Trabi-
son uns als Kavafs mitgegeben, meine Studien gemacht habe. Da dieser
Ibrahim ein Okumisch, d.h. Gelehrter, war, (er konnte nämlich lesen und
schreiben), so hatte ich den Vortheil, die von ihm erfragten, mit Türkischen
Buchstaben von mir niedergeschriebenen Wörter zur Vermeidung von Ge-
hörsfehlern immer nachsehn lassen zu können, wodurch meine Sammlung
an Accuratesse sehr gewonnen hat. Zur Transscription habe ich mich dann
der jetzt fast allgemein angenommenen bequemen Methode bedient, welche
wir Herrn Professor Bopp verdanken, und bemerke nur noch, dafs gh, dem
& entsprechend, vollkommen wie das matte norddeutsche 7 ausgesprochen
wird, wogegen r =, das geschnarrte r ist, und dafs man das ch = z sehr
A2
4 Rosen
rauh zu sprechen hat; s = we, ist immer scharf; den weichen s-Laut
drücke ich durch z aus.
1. Das Nomen.
Die Lazische Sprache unterscheidet die drei natürlichen Geschlechter
nicht durch besondere Endungen, d.h. sie hat kein grammatisches Geschlecht.
Eben so fehlt ihr der bestimmte Artikel, und den unbestimmten, der hier,
wie in den meisten Sprachen durch das Zahlwort ‚| ar eins ausgedrückt
wird, wendet sie bei weitem seltner an, als die Türkische.
Die Substantiva und Pronomina erleiden eine Flexion, in der ein
zwiefacher Numerus, Singularis und Pluralis, und in beiden diesen verschie-
dene Casus gebildet werden. Dies geschieht durch Suffixe und zwar beim
Substantiv ganz gleichmäfsig; beim Pronomen finden einige Abweichungen
statt, welshalb ich dies später besonders mit seiner Declination hersetzen
werde. Das Adjectivum wird überhaupt nicht flectirt, sondern folgt, wie im
Türkischen, unveränderlich der Flexion des ihm beigegebenen Hauptworts.
I. Das Substantiv. — Die forma rudis, die der Declination zum
Grunde liegt, fällt mit dem Nominativ zusammen, mit der einen Ausnahme,
dafs, wenn ein Wort auf z endigt, der Plural wie von einer auf e ausgehen-
den Form gebildet wird. Schliefsen die Hauptworte consonantisch, so wer-
den e und i als Bindevocale zwischen dem Endconsonanten und dem Casus-
Suffix eingefügt.
Der Accusativ lautet bei den vocalisch endigenden Wörtern wie der
Nominativ, bei den auf einen Consonanten ausgehenden ist es gleichgültig,
ob man sie unverändert lassen oder ein i anhängen will. Der Dativ und Lo-
cativ fallen zusammen und werden durch ein dem Endbuchstaben, wenn dies
ein Vocal ist, angehängtes s, ist es aber ein Consonant, durch die Sylbe is
gebildet. Ebenso hat der Genitiv die doppelte Endung si und ö-sö und der
Instrumentalis fe und ite. Der letzte Casus auf sa oder i-sa ist eine selt-
same, wenigstens mir in keiner anderen Sprache bekannte Erscheinung.
Derselbe drückt nämlich schlechthin nur die Bewegung aus, gleichviel ob
nach einem Orte hin oder von einem Orte her, entspricht also zu gleicher
Zeit dem Accusativus und Ablativus loci anderer Sprachen. Man überläfst
dabei dem hinzugefügten Verbum die Entscheidung, welche Richtung der
über die Sprache der Lazen. 5
Bewegung gemeint ist. — Der Plural bildet sich vom Singular durch An-
hängung der Sylbe p£ an die Endvocale a, e, o; statt welcher man an con-
sonantisch schlielsende Wörter und solche, die auf den Vocal ausgehn, nach
Abstofsung dieses, die Sylben &p£ fügt. An diese Endung schliefsen sich
dann die besprochenen Charactere der verschiedenen Casus regelrecht an,
wie es folgende Beispiele deutlich an das Licht stellen werden.
Sing. Plur.
m u —n KT |
Nom. le.; zugha das Meer ln; zughäpe
Acc. L.; zugha lE,; zughäpe
kl wi; zughas umlös; zughäpes
Loc. ;
Gen. ls; zughäsi wen, zughapesi
Instr. Sie, zughate Sl,; zughapete
Motativus. Lil; zughäsa nl; zughapesa.
Nom. Acc. bs karmate die Mühle öl karmatepe
Dat. Loc. wsbS karmates wäh karmatepes
Gen. us karmatesi ws karmatepesi
Instr. zübs karmalete sub karmatepete
Mot. LWubs karmaltesa Lib5 karmatepesa.
Nom. Acc. »;» 5020 das Mädchen sun» bozöpe
Dat. Loc. wm; 5ozos vun.» bozoöpes
Gen. Gin; bo20$Si seyn bozopesi
Instr. Syn bozote Sun» bozopete
Mot. Lin; bozosa Wunn bozopesa.
Nom. Acc. 4 {li die Lanze uU ilepe
Dat. Loc. uud vlis ut! zlepes
Gen. zlisi u dlepesi
Instr. sul! dlite sul) ilepete
Mot. Lulu ilisa ul dlepesa.
6 Rosen
Sing. M Plur.
— m
Nom. Acc. 3259 lazud Mais 32259 lazudepe
Dat. Loc. wös;) lazudis um) lazud£pes
Gen. 0) lazudisi adj) lazudepesi
Instr. 8259 lazudite 259 lazudepete
Mot. 1259 lazudisa Liu2;) lazudepesa.
II. Das Adjectiv setzt man, wie im Türkischen, dem dadurch näher
zu bestimmenden Hauptworte vor und behandelt dann beide wie ein Com-
positum, bei dem alle Flexion nur am Ende bezeichnet wird. Z.B. sagt
gzate mittelst
des guten Weges, 221;5 ws worsigzape die guten Wege. Setzt man das
Adjectiv nach dem Substantiv, so entsteht ein nominaler Satz; z.B. (s»> 1;5
gza chavi der Weg ist schlecht.
man 1; m» worsi gza der gute Weg, 15 m» worsi
Für die Comparation ist keine besondere Form vorhanden. Um nun
die Steigerung ausdrücken zu können, bedient man sich der Partikel \» da,
sicher aus dem Türkischen „>> entstanden, das in diesen Gegenden Asiens
immer daha oder da gesprochen wird. Der verglichene Gegenstand wird
dabei in den Motativ gesetzt, der in diesem Falle die Stelle eines Ablativ
vertritt: z.B. Se) u bb 15 „8 Li „2 him quasa ham qua da bgii
onu hoc lapide ille lapis durior est. — Auf ähnliche Weise wird der Super-
lativ umschrieben: \zäw 5 Lulu dielisa da squa omnibus pulcrior, d.i.
der Schönste.
III. Das Pronomen. Bei diesem Redetheile mufs man in Beziehung
auf die Flexion genau unterscheiden, ob es substantivisch oder adjectivisch .
gebraucht wird, indem es in letzterem Falle indeclinabel ist, in ersterem
aber, wie schon oben berührt, eine von der Flexion der Substantiva nur
wenig abweichende Declination hat. Der Natur der Sache nach immer
substantivisch ist das pronomen personale; im Lazischen ist dasselbe bei dem
relativum und interrogativum der Fall. Das possessivum ist nur adjectivisch
und das demonstrativum und indefinitum kann auf beide Weisen gebraucht
werden. Die erstgenannten Fürwörter werden nun folgerecht im Lazischen
immer, die zuletzt genannten im Falle sie Substantiva vorstellen, und das
possessive nie declinirt. s
ar
über die Sprache der Lazen. 7
a. Das persönliche Fürwort. In der Declination der ersten und
zweiten Person ist bemerkenswerth, dafs eine absolute Form für den Dativ
fehlt. Derselbe wird durch ein dem Verbum präfigirtes, oder ihm einge-
schaltetes m für die erste und %k oder g für die zweite Person ausgedrückt,
denen man, um den Pluralis vom Singularis zu unterscheiden, und über-
haupt wenn ein Nachdruck beabsichtigt wird, den Nominativ beider Nume-
ren vorsetzt. (!) Die Declination ist folgende.
Erste Person.
Sing. Nom Ace. Lk ma Plur» „is sku
Dat. “ab mam- Ash sku m-
Gen. ni skimi dis skuni
Mot. wünäs Sskiminde Ass Skuninda.
Zweite Person.
Nom. Ace. ws si du 5 Zqua
Dat. Sm sig Sshö tquag
Gen. aliw skani ae /quani
Mot. Als skaninda AUS tquaninda.
Dritte Person.
Nom. Ace. 2 him er cur hini
Dat. wu? hımus vuup hinis
Gen. ae himüsi HESS hinisi
Mot. Iuus himisa Luus hinisa.
b. Das Possessiv ist nichts Anderes als der Genitiv des persönlichen
Fürworts, wie in den meisten Sprachen, entweder dieser Casus selbst, oder
ein daraus gebildetes Adjectiv also gebraucht wird. Es lautet:
Sing. Plur.
m oo m— zn on
PRR er E . . ao e .
n&% skımi mein dis Skuni unser
aliw skani dein es /quani euer
2 himusi sein is hinısi ihr.
(') Ähnlich wie man in den Semitischen Sprachen dem tonlosen Verbalsuffix durch Hin-
ee
8 Rosen
c. Das Demonstrativum kann näher oder entfernter sein.
Das nä-
here ist im Lazischen mit der dritten Pers. des personale 2 identisch, und
demselben entspricht das entferntere „L® häm, welches ebenso declinirt wird
(d.h. den obliquen Casus beider liegt eine Form auf u, „2, „lo, zum
Grunde)
Sing. Plur.
„m nn
Nom. Acc. PO ham jener ab hani
Dat. wl® hamus usb hanis
Gen. me hamuüsi eB hanısi
Mot. liuls hamusa Liu hanısa.
d. Das Relativum ‚5 nam unterscheidet sich in seiner Flexion von
den Demonstrativen nur durch die Endung des Dativ sing., den es in der
Weise der Interrogativa bildet. Es lautet
Sing. Plur.
u ——
Nom. Acc. eö nam welcher db nani
Dat. il namuseni vl nanis
Gen. el namuüsi (el nanısi
Mot. Liu namusa Lisl nanısa.
e. Das Interrogativum ist besonders merkwürdig, weil es den einzi-
gen Fall darbietet, wo von den beiden Geschlechtern ein Neutrum unter-
schieden wird.
gedrückt.
aus.
Sing.
m —
Nom. Ace. ws? mi wer?
Dat. Hin misonu
Gen. en misi
Mot. Liu misa
f. Indefinita sind folgende:
Erstere werden durch ‚„, Letzteres durch Lu» muia aus-
Die Declination zeichnet sich durch die verlängerte Dativ-Form
(Plur. fehlt)
Sing.
(FT — ————
sr muia was?
ln muiaseni
B elite
al muiasi
D PA
Lil muiasa.
;! ri ein Jeder, Au dieli Alle, sa
miti Jemand, S3,', gar mitiwaronu Niemand, ‚s;; adzur (eig. ar dzur
über die Sprache der Lazen. 9
ein Paar) einige, L>&u ‚} ar mudcha Etwas, u! amsika (für ar sika)
ein Wenig, &! - ä! arti-arti der Eine - der Andere.
Nom. Acc. .sz! zri ein Jeder J& dieli Alle
Dat. ur) iris ls bieliseni
Gen. “Eee irıisi Ne btelisi
Mot. Liu irısa Lulu bielisa.
Nom. Ace. gar miti Jemand
Dat. m miliseni
Gen. ri mitisi
Mot. Liu mitisa.
Sing. Plur.
nn /\_ ms || on A mm
Nom. Acc. &! arti der Andere ss) artepe
Dat. ums) drtis ws) artepes
Gen. Wa artisi a} artepesi
Mot. Las) artısa Lius)) artepesa.
9. Das Numerale.
Die Zahlwörter folgen im Lazischen dem decadischen Systeme, indem
die einfachen Zahlen bis 10 reichen und von da die zusammengesetzten be-
ginnen. Merkwürdig ist nur dies, dafs aufserdem auch je 20 einen beson-
deren Abschnitt bilden, indem für die ungeraden Zehner 30, 50, 70, 90
kein anderer Ausdruck existirt als der jedesmal geringere Zehner plus 10,
also um z.B. von 40 zu 60 zu gelangen, man die Zahlen von 1-19 beisetzen
mufs. Die geraden Zehner werden durch Multiplication der Zahl 20 mit 2,
3 und 4 gebildet. (?)
(') Das völlige Durchführen dieses Systems scheint mir der Lazischen Sprache eigen-
thümlich zu sein. Übrigens ist dasselbe zu natürlich, als dafs sich nicht vereinzelt Analogien
in andern Sprachen finden sollten. Das Französische quatre-vingt und guazre-vingt-dix sind
völlig gleiche Ausdrücke; im älteren Englisch hat man das Wort score für zwanzig, mittelst
dessen Shakespear im Macbeth die Zahl 70 durch zhree score and ten umschreibt. — Die
Suanische Sprache multiplizirt mit 10 — ein ganz ähnliches Verfahren.
Philos.- histor. Kl. 1843. B
10 Rosen
Die Zusammensetzung geschieht bei den Zahlen von 11 bis 19 durch
blofse Juxtaposition. Bei den Zahlen über 20 aber wird der Zehner mit
dem Einer durch die Partikel dö und verbunden. Die Zehner, welche
durch Multiplication der Zahl zwanzig entstehn, setzen zwischen diese und
den Multiplicator die Sylbe en (nach zs,} och an), welche mir die Multi-
plication auszudrücken und so unserm deutschen „mal” zu entsprechen
scheint. Offenbar haben mehrere Zahlen einen in einer früheren Sprach-
periode vorhandenen Endvocal verloren, der in der Zusammensetzung wie-
der hervortritt: z.B. a otch = 4 hat ein End-o eingebüfst, das noch die
Partikel en (in der Zahl 80) in an verwandelt; os hundert steht für osi.
Tausend, silia, ein späteres Culturwort, ist nichts sonst als das Griechi-
sche Ra.
Von den Cardinalien werden die Ordinalia auf die einfachste Weise
durch Anhängung der Sylbe mus gebildet.
Cardinalia. Ordinalia.
gm / | ms | ee
er Vi) drmus
„„, dzur Vin; dzurmus
> gum us> gummus
öl otch mi! oichumus
ws> chut urss> chulmus
e
as etc. etc.
gran
ÖI 9
wußs sSkit
»») ovro
yo dchoro
wit
„run wilwar
Do 8 00
E
\s
ze» wildzur
DD m m oa
BL
oc
=)
a
u
ö PER
Az») ÖcDoar
[6
>
B>2
BA) öcpogum
30 wunsA>
31 eis! Öcnowitwar
_
all;
Am) öcpodzur
DD
yD -
nl .
öcpowit
h ER ut
4 al,» dzur ex öc
41
50
60
70
50
90
100
101
105
200
1000
4000
über die Sprache der Lazen.
Cardinalia.
EEE 4 EU EN
nz! BES
nt Dr))
er
zul >
BER,
gen)
U
BETEN)
wu 8
U) Br)
U sn]
a: ’
dzurzxöcpoar
dzurEznöcpowit
! .
gum EN öc
r ward “
gQUMENOCcDowit
PTR }
otchanöc
otchanöcdowit
os
osipoar
osipo chut
dzur os
silia
otcho silia.
11
Ich füge hier nach Klaproth (Kaukas. Sprachen p.269.) die Zahlen
dreier verwandten Dialecte zum Vergleiche bei, indem die Übereinstimmung
Ssuanisch.
u
1 esgu
2 jeru
8 semi
4 worstcho
5 wochusi
6 usgwa
7 isgwit
:8 ara
9 cchara
10 jest
20 jer-est
30 sem-esi
40 worstch-est
100 asir
Mingrelisch.
m
arti
shiri
sumi
otchi
chuthi
apchsui
sqwithi
ruo
cchoro
withi
etsi
osi
der Einer für die Stammgemeinschaft ein Hauptzeugnifs ablegt.
Georgisch.
rn
erthi
ori
sami
othchi
chuthi
ekhwssi
swidi
rwa
zehra
athi
ozi
assi.
B2
12 Rosen
3. Das Verbum.
Der ansprechendste Redetheil in der Lazischen Sprache, in dem sich
am meisten das eigenthümliche Leben derselben zeigt, ist das Zeitwort; doch
bietet eben dieses auch aus verschiedenen Rücksichten bei weitem die mei-
sten Schwierigkeiten dar, und nur durch Vergleich einer grofsen Menge Bei-
spiele ist es mir gelungen, die Hauptbildungsregeln zu erkennen.
Wie in den indoeuropäischen Sprachen liegt dem Verbo eine der Re-
gel nach eiusylbige Wurzel zum Grunde, welche aufser den Flexions-Ver-
änderungen 'noch verschiedene Erweiterungen erleiden kann. Diese selbst
sind zweifacher Art, d.h. entweder Sylben, die vor, oder solche, die nach
der Radix angefügt werden. Ersteres sind Präfixe, als o (vor c’ und g’ on),
do, ko, m'-, e, em, Letzteres die Sylben ap, in, letin. An die Enderweite-
rungen, oder, wo diese fehlen, an die Radix selbst schliefst sich die Infini-
tiv-Endung, welche in der Conjugation selbst wegfällt und den Personal-
und Temporal-Endungen Platz macht.
Die Erweiterung einer Wurzel durch ap und letin giebt ihr immer
eine transitive, dagegen die durch die Sylbe in der Regel nach eine intransi-
tive Bedeutung. Über die Wirkung der präfigirten Sylben o, do, ko, e, em
habe ich zu keiner bestimmten Ansicht gelangen können. Nur von m- ist
mir durch Beispiele klar geworden, dafs dadurch ein Transitivum entsteht.
Mit Ausnahme von o halten sich die Präfixe sämmtlich in der Flexion; o aber
wird bisweilen in do oder i verwandelt, bisweilen gar ganz abgeworfen, und
bleibt nur selten unverändert. Einige andere Präfixa, die nur bei den 4
unregelmäfsigen Derivaten von \y,) olwa gehn vorkommen, lasse ich jetzt
unberührt.
Um nun zum regelmäfsigen Verbo überzugehn, so habe ich einen In-
finitiv, ein Präsens, ein Präteritum, einen Imperativ, ein Participium Prä-
sentis, Präteriti (mit activer und passiver Bedeutung) und Futuri, und ein
Gerundium durch besondere Formen gebildet entdeckt, und aufser diesen
ein Perfect und Plusquamperfect durch Umschreibung mit dem Verbum
substantivum.
Der Infinitiv hat die Endungen u, nu, inu, lu, alu, apu, mu, amu,
umu, von denen die fünf letzteren fast ausschliefslich den Transitiven ange-
hören. Das participium praes. endigt sich auf ms; das part. fut., der Form
über die Sprache der Lazen. 13
nach mit der 3. pers. sing. praes. identisch, auf asere, und das part. praet.
auf ri. Das Gerundium hat die Endung do.
Im Verbum finitum haben die beiden unmittelbar gegenwärtigen Per-
sonen im Sing. wie im Plur. eine Form, doch hat die redende vor der an-
geredeten den Character der ersten Person voraus, welches ein 5 oder w,
also auch hier eine Labiale ist, die aber nicht, wie das m der indoeuropäi-
schen Sprachen in der Endung, sondern’ in dem Präfix oder der Stammsylbe
angebracht wird, und sehr oft das Wort beginnt. Von beiden ersteren un-
terscheidet sich die dritte Person durch die Endung.
Praes. Sing. Plur.
b, w-dre b, w-atere
-dre -alere
-asere -anene.
Das Präteritum wird meistens durch das Präfix ko, seltner do näher bezeich-
net, doch dürfen diese der Verständlichkeit unbeschadet fehlen.
Praet. Sing. Plur.
b,w-i b, w-it
-i -iL
-uU -£S.
Der zweiten Pers. sing. praet. nach Abstofsung der Präfixe (wenn diese nicht
zugleich der Infinitiv- und Präsens-Bildung angehören) ist die zweite Person
Imperativi gleichlautend. Im Plural unterscheidet sich die erste Person von
der zweiten auch durch die Endung.
Imperat.
1.20, w-@L
De, 3% -it
& -an.
Die Form des Präsens erscheint apocopirt nach der Negativ-Formel wa oder
wato: hier wird nämlich von der Endung re, ere und ene abgestofsen,
worauf für die beiden ersten Personen Sing. a, für die dritte as, für die
beiden ersten Personen Plur. at und für die dritte Person an bleibt. Das
Präteritum wird nicht apocopirt, doch verliert es, wenn die Negativ -Parti-
14 Rosen
kel wa davortritt das Präfix ko oder do. Der Imperativ hat eine besondere
Negativ- oder vielmehr Prohibitiv-Partikel mo, nach welcher auch seine
Endung sich verändert.
Das Perfectum und Plusquamperfectum werden durch das Partieipium
praet. und das Präsens und praeter. des Verbum abstractum gebildet.
Als Beispiele zu dem Gesagten lasse ich einige Paradigmata regelmäfsi-
ger Verha folgen. Doch schicke ich denselben das Hülfsverbum sein 4
konu voraus, welches die Eigenthümlichkeit einer gewissen Unregelmäfsig-
keit mit anderen Sprachen theilt, zugleich aber allein, so weit ich habe er-
fahren können, eine besondere Form für das Futurum bewahrt hat, wovon
die andern Verba nur das Participium besitzen.
Das Hülfsverbum 5 konu sein (rad. o)
Praes. Imperf.
Sing. Plur. Sing. Plur.
nn nn sure — —— m m
5» k ma wora Sn „Ah Ssku woret Js» worti wu» wortit
Sy) w si oore Sy) WS Zqua orei Ss orti wu, ortit
Ss mo him onu ohy2) SP hini oreran „,,) ortu ums) ortes.
Futur. Perf.
Sing. Plur. Sing.
Su» wiare sb» wialere a2 dewiji -_
sLi zare ssL) zatere E— _
_
sl) iasere sül) ianene „> diu =
_
Participia.
Praesentis #») onu. Praeteriti „> diu. Futuri suL! dasere.
Rad. chask graben
verliert in der Flexion sein Präfix und setzt den Character der ersten Person
vor die Stammsylbe.
Infinit. „ars ochasku.
über die Sprache der Lazen. 15
Praesens. Praeteritum. Imperativus.
Sing.
„ui behaskare HE, do behaski
s, Den chaskare > PS do chaski chaski
smläh> chaskasere süh> 0 dochasku
Piur.
sslse behaskatere wm ,s dobchaskit wiss behaskat
ssas> chaskatere wnä> ,s dochaskit wnäs> chaskit
sülaı> chaskanene wäh>,s dochaskes „&h> chaskan.
Gerundium.
„aäh> chaskido.
Participium.
Praes. m&A> chaskams. Praet. s&&> chaskeri.
Fut. sw&&> chaskasere.
Perf.
35 (sah> Lk ma chaskeri wore
Plusquamp.
Sn» säh> chaskeri worti.
Praesens negativum.
Sing. Plur.
en In), N Dr
Bi sh b ma wato bchaska wis Si, „Au Skuwato bchaskat
lai> sl, si wato chaska wläs> sh, 5 zqua wato chaskat
wii> sl, 9 him watochaskas „Es> Si, &9 hini wato chaskan.
Praet. negat.
Sing. Plur.
vn A mn / | mm |
„Eh wa behaski wiss, wa behaskit
seh, wa chaski wmnäs>ı, wa chaskil
sieh, wa chasku wäh>), wa chaskes.
Prohibitivus.
‚ün> „» mo chaskam.
16 Rosen
Rad. kan schiefsen
nimmt das Präfix do an, dessen Vocal durch den Character der ersten Per-
son, hier w, getheilt, also in zwei Sylben verwandelt wird.
Infinit. 55 dokanu.
Praes. Praet. Imperat.
Je | m | je on ss | m
Sing.
05 dowokanare 4085 ko dowokani “0 dokani
5668 dokanare 56055 ko dokani =
wild dokanasere 5,055 ko dokanu
35 en
Plur. ° ;
ss, dowokanaltere ww ko dowokanit wii, dowokanat
55 I
ssili,s dokanatere uni ko dokanit usb dokanit
sülli,s dokananene wiss ko dokanes lo dokanan.
Gerundium.
„Anl,s dokanido.
Participium.
Praes. „mil dokanamıs. Praet. (s;l0 dokaneri.
Fut. smbl,s dokanasere.
Rad. konz öffnen.
Der Character der 1. Pers. vereinigt sich hier mit dem n der Stammsylbe
zu m.
Infinitiv. „u; konzumu.
Praesens.
Sing. »i# komzare Plur. Si komzalere
s1;ö konzare ssi5ö konzatere
sw; konzasere sülyö konzanene.
Praet. Imp.
Sing. (5 komzi ws konzi
5; konzi
»p3 konzu etc.
über die Sprache der Lazen. AR
Rad. nog’ad nageln.
Der Character der 1. Pers. wird hier doppelt ausgedrückt, einmal durch
Theilung des o der ersten Sylbe mittelst w, und zweitens durch Verwande-
lung des z in m.
Infin. „sl>s nog'adu.
Praes. Praet.
solar mowogadare sol mowogadi
sole nogadäre los nogädi
swiöl>s nog’adasere „les nogadu
etc. etc.
Imperat. sl>s nog'adi
eic.
Rad. swel helfen.
Das m des Präfixes me, mit dem dies Wort gebildet wird, geht, als dem
Character der ersten Person zu nahe verwandt, vor der zweiten und dritten
Pers. in n über.
Infin. syn meswelu.
Praes. Praet.
ish mewusweläre Sin mewusweli
Isis nüsweldre Sseis nüsweli
swIsäs nüswelasere süss nüswelu
etc. eic.
Imperat. dei, nüswel.
Nachdem ich durch diese Beispiele die hauptsächlichsten Flexions -
Erscheinungen dargelegt, lasse ich nach der alphabetischen Ordnung ihrer
Radices eine Reihe Verba folgen, deren jedem ich den Infinitiv, das Präsens
und bisweilen noch andere Formen beifüge.
bkar weinen. Inf. ZW») odkarinu. Praes. s),läu, widkarare. Imp.
el) ibkari.
bris abreifsen. Inf. „us! odbrisu. Praes. suwu,0 dodribsare. Imp.
> dodrisi.
Philos. - histor. Kl. 1843. C
18 Rosen
chel erfreuen. Inf. J>,i ochelu. Praes. As, wichelare. Imp. Re,
icheli.
chin machen (mit ap). Inf. „lu>s! ochinäpu. Praes. »LLu>, wochina-
pare. Imp. „Uu>» wochinäpi. Imp. „&u>s}. Gleichbedeutend ist
das defective Verbum der Radix z(?), dessen Formen nur aus der En-
dung bestehn. Praes. sl» pare, sj) are etc. Praet. .. »2 (do) pi, (sl »»
(do) i etc. Imp. «sti. Part. praes. ss} ikums. Infin. „> diu.
chmar benutzen. Inf. „u>s} ochmaru. Praes. w1,u.>, wochmarare.
Imp. sus! ochmari.
chom vertrocknen (mit in). Inf. Yus>s! ochominu. Praes. »Lus>,0 do-
wochominare.
chond leben. Inf. „a, mechondu. Praes. »1A,>. mewochondare.
chosk auslöschen (mit in). Inf. „u&s=" mechoskinu. Praes. Lamm
mewochoskinare. Imp. säws>s nochoskini.
chu beerdigen. Inf. „1,>,> dochwälu. Praes. 1>,5 dowochware. Imp.
Gr dochwi.
chul nähern. Inf. „%,=" mechulapu. Praes. »,%,>1» mewachulare.
Imp. „ob nachuli.
chwat beilsen. Inf. Ys1,=2' mechwatinu. Praes. s5,>.» mewochwata-
re. Imp. äy>s nochwati. Part. praet. (s3'= mechwateri.
cehun ]. heifs sein. Inf. 3=>=,! occhunu. Praes. yu=>, wocchuna-
re. Imp. asS>) occhuni.
II. heifs machen. Inf. 5,5%! oncehunu. Praes. si,S=3,0 dowon-
cchunare. Imp. isS=5! oncchuni.
cin erkennen. Praes. lu, wicinare. Inf. ui ocinu. Imp. sus
icini. Part. prt. (szL&u> cinaperi.
cir schwimmen. Inf. „ass! onciru. Praes. si4=% wincirare. Praet.
rs dewinciri. Imp. s+2% inciri. Part. pri. 4> cireri.
c’od folgen (mit in). Inf. „us>s! ocCodinu. Praes. Las dowocod-
inare.
cod ausleeren (praef. m). Inf. Z3s>s» mocodinu. Praes. „luas> mo-
wocodinare.
c’op festhalten. Inf. „.:>»! ocöpu. Praes. yus=4 bc’opare. Imp. .2,> copi.
cu anzünden. Inf. „>,} ocumu (anzünden). Praes. 1.24 be’'ware. Praet.
ses beiwi, (ss> cwi, „> cu. Imp. >> cwi.
über die Sprache der Lazen. 19
cwa brennen. Inf. Zi>si ocwalu. Praes. sis) obeware. Praet. (ss55\
obcwi, (ss>s! ocwi, „as} ocu.
dis lachen. Inf. Jusos) odisinu. Praes. uU bdisare. Part. prs. ya»
disams.
dor od. or aufgehn (d.h. oriri) (mit in). Inf. „u,,> dorinu. Praes. »,L4,,0
dowarinare.
dwa kleiden. Inf. Si» modwalu. Praes. 1,0» mowodware.
et 1. sich ereignen. Inf. 33lb} etapu. Praes. sl»! ewozare.
II. antreffen (mit ap). Inf. „u,,\b) etapumu. Praes. sUulb,} ewotapare.
ezd bewahren. Inf. „5; ezdümu. Praes. s10;} ebzdare. Imp. (ss; ezdi.
gha bringen. Inf. „Ju moghalu. Praes. sl » muwighare. Imp. „Es
moghi bring!
ghur sterben. Inf. „s3&} oghüru. Praes. 51, 54° dobghurare. Imp.
2 ghuri.
ghwar grünen. Inf. „isss} oghwaru. Praes. s1\s&,0 dewighwarare.
giec' schlagen. Inf. „lss giecamu. Praes. = giebcare. Imp. „ss
gieci. Imp. neg. „LSs, mo gjecam.
gieg anfangen. Inf. „ss gieg’apu. Praes. sl>sS giewog’are. Imp.
EN giegi.
gjib backen, kochen. Inf. „us ogjibu. Praes. sWu& bgjidare. Imp.
os gjibi. Part. prt. (s-S gjiberi.
giol fallen. Inf. „23,5 giolapu. Praes. s,95 giewolare. Imp. „ss gioli.
giör schelten. Inf. 21,,5>| ogjörapu. FPraes. s1,,5, wogjörare. Imp.
Ss, ogiöri.
gna 1. verstehen. Inf. „Us,) ognapu. Praes. sus, wognare. Imp.
Ns ogni.
II. enthüllen, offenbaren (mit ap). Inf. „Us,; ognapu und „us,
ognapümu. Praes. Luis, wognapare. Imp. „WS,) ognapi.
gont riechen. Inf. „iss gontumu. Praes. süss gomtare. Part. praes.
umlös gontams.
g aufrichten. Inf. „u>,} ogümu. Praes. sl=u bg’are. Imp. > gi.
gar schreiben. Inf. „Lei ong’aru. Praes. silsu mgarare, sylsu
ngarare etc. Praet. ‚s,lsw mg'ari.
ger glauben. Inf. „,} ogeru. Praes. 1, wigerare. Praet. (s;=;> de-
wigeri.
C2
20 Rosen
gghon vertheilen. Inf. sis} ong'ghönu. Praes. si,x=s, wung'ghu-
nare.
gin schlafen. Inf. „u>s} oginu. Praes. sl4>y5 dewiginare. Imp. sus»
dig'ini.
gim regnen. Inf. „uasVl ongimu. Praes. „r> giims es regnet (vielleicht
Partic. praes.), giimasere es wird regnen.
gis erreichen. Inf. yususu meg/sinu. Praes. sLuusur mebgisare.
g’ol abschlagen. Inf. „Is=%;} ong’olapu. Praes. I, 4, wung’ulare.
g’op I. nehmen. Inf. 4: 3>1 eg’opumu. Praes. u ,SsUl ebg’opare. Imp.
ns> eg'opi.
II. halten. Inf. „u,>} og’opu. Praes. su,subg'opare. Imp. „>>
gopi.
indr gefrieren. Inf. „all. 2,0 (5); das Wasser ist gefroren. 3. P.
praet.
il tödten. Inf. „Jus»t ojilu. Praes. su, piläre. Praet. Aus» dopili. Imp.
dswlh.
jindr kaufen. Inf. „us! ojindru. Praes. 1, Aus, wijindrare. Imp.
ul ijindri. Ger. „Ayaul ijindrido.
kac greifen.. Inf. „Ws dokacu. Praes. »>&,> dewikacare. Imp.
rl dikaci.
kap ablegen (mit in). Inf. „ul, okapinu. Praes. s,Lu,.L, wokapinare.
kons auflösen. Inf. „„Uwss5 konsapu. Praes. sl komsare.
konz öffnen, aufdecken. Inf. „a; konzumu und „15,5 konzapu. Praes.
sis komzare. Imp. (s5# konzi.
konzd spannen. Inf. „55 konzdumu und 2.1%555 konzdapu. Praes.
siop komzdare. Imp. (255 konzdi.
kor I. suchen. Inf. », 3} okoru. Praes. >), „& bkorare. Imp, (s, » kori.
Ger. „u, 55 korido. Part. prt. (s,, 5 koreri.
II. ausforschen (mit ap). Inf. „1, 5} okoräapu. Praes. sl), 23, wo-
korapare. Imp. ..\, „3! okorapi.
kos abwischen. Inf. „wi okosu. Praes. sLwu& bkosare. Imp. „ws kosi.
kozd heben. Inf. „>; 2} ekosdumu. Praes. 515 „ul ebkozdare. Imp.
55 ekozdi.
ks faulen. Inf. „uns! oksinu. Praes. sImü bksare.
über die Sprache. der Lazen. 21
kut 1. sich entsetzen (mit in praef. em). Inf. Yu! emkutinu.
II. stehn (mit in praef. do). Inf. „u, dokutinu. Praes. sis
dobkutare. Imp. iss dokuti.
kur lesen, studieren. Inf. „, > dokuru. Praes. j, 55,0 dowokurare.
Imp. (5,>5> dokuri.
leb beschmutzen. Inf. „J,! ol&bu. Praes. ul» dewiledare. Imp. >
dolebi.
mec geben. Inf. „ls“ mecämu. Praes. ls“ mebcare. Praet. „se #
ko mebci. Imp. uw meci.
mt fliehen. Inf. Yu) omiinu. Praes. 6x, wimtare. Imp. z! imti.
monz schwellen (mit in). Inf. „o;»» monzinu. Praes. Las» mowunzi-
nare.
murd wachsen. Inf. „5, » murdäpu. Praes. sd, » mowurdare.
nach waschen. Inf. „Eis onachu. Praes. si nabchware.
obgh rasieren. Inf. „%»} odghumu. Praes. »l&, wodghare. Imp. „>!
obghi.
purk blühen. Inf. 35, 2»! opurku. Praes. sb, „4, wipurkare.
quat abhauen. Inf. „ii,ä mequatu. Praes. sösär mebkotare.
quand wünschen. Inf. „15! oguandu und „ui oguandinu. Praes.
sl, wiguandare.
sad ansehn. Inf. „sum osadu. Praes. sol. wsadare. Imp. ‚sw sadi.
sel aufstehn. Inf. „us moselu. Praes. sw. „» mowiselare. Imp. Jo
noiseli.
skud bleiben. Inf. „3.5 doskudu. Praes. s0u,> dobskudare. Imp.
Dr doskudi.
swa ziehn. Inf. Ay Br Praes. slews» mewusware. Imp. (ss
nüswi.
sku essen (mit m). Inf. ai) oskıumu. Praes. siwsään) obskomare.
Imp. ‚ss oskomi.
sku nähren (mit Zetin), Inf. „usäi,i oskuletinu. Praes. sLux,ä, wo-
skuletinare. Ebenso bildet sich von der Rad. g’w das Verbum
„li oguletinu erreiten. Praes. Uux,>, wog’uletinare.
skur drohen (mit in). Inf. „u, is! oskurinu. Praes. »L;, ai, woskur-
inare.
sum sich berauschen. Inf. „us! osumu. Praes. Susi, wisumare.
22) Rosen
tach brechen. Inf. „>b% meiachu. Praes. yl#lua mebiachare. Imp.
plan metachi.
tor steigen. Inf. », „>! otoru. Praes. 5}, ,&:; bzorare. Imp. (5) „> tori.
twa legen. Inf. „15,5 dozwalu. Praes. 515 dobzware.
zir 1. sehen. Inf. „';»| oziramu. Praes. 51,253, wizirare. Imp. (52;
iziri.
II. finden. Inf. „55! oziru. Praes. si,» bzirare. Praet. (522%
kobziri.
zob aufhängen. Inf. „u; 535 kozodumu. Praes. sl»; „5 kozowbare.
Imp. 2; # kozobi.
sobch bauen. Inf. »S3;,! ozobchu. Praes. sl; bzodchare.
Einige mehrsylbige Radices sind:
chapar reden. Inf. „Ul>si ochaparu. Praes. »,u>,, wichaparare.
Imp. „U ichapari.
gjegir ausstreichen. Inf. „45 gjegiru. Praes. sta=us gjebg’irare.
gibal entreifsen. Inf. JLu>s! ogibalu. Praes. Yu: > wigibalare.
kuresch erwecken. Inf. yuSw, 35 kokureschinu. Praes. sl, y& „5
kobkureschare.
lokun kleiden. Inf. 33,5 dolokunu. Praes. s,lsö, J»0 dolobokunare.
palakar bitten. Inf. „EIus} opalakaru. Praes. »1,ö3,, wopalakar-
are.
Verba denominativa bildet man dadurch, dafs man dem Nomen, wenn
es nicht mit einem Vocal beginnt, das allgemeinste Verbalpräfix o vorsetzt,
und nach Abwerfung der etwaigen Endvocale, die Conjugationsendungen
anfügt. Beispiele sind:
Inf. „Wu! ops-apu füllen, von Lio,i BP r.es. si, wopsare. —
Inf. „>! ochaziru bereiten, von yol> gegenwärtig, Praes. 1,3,
wochazirare. — Inf. SWwäss) opysmanu (von „ass pesimän, hier
pysman ausgesprochen) bereuen, Praes. sis, wipysmanare. —
Inf. „AS odis-chiru, von „ws dis-chir das Blut, bluten; Praes.
lass wodis-chirare. — Inf. „sus! ongumoru salzen, von
»o> gumu Salz, Praes. 1, 2a s%W mgumorare. — Vielleicht auch
5,5 opurku, s.o., von &, „2 purki die Blume. — Auf gleiche Weise
werden auch nach Abstreifung ihrer Flexions- Endungen Türkische Verba
über die Sprache der Lazen. 23
in Lazische verwandelt: z.B. (5 kyzkanmak wird SB, okyzkanu
beneiden; (imli sasmak — „ill osasu bewundern.
Auf eine laxere Manier als diese werden viele Verba durch Zusam-
mensetzung eines Nomen mit den Verben „Uu>s»! ochinapu machen und
„eu mec’amu geben gebildet (wie im Persischen mit „25, „x>w etc. im
Türkischen durch x}, &L} etc. und &.s). Z.B.
„> m sika diu verringern,
um) SL pak ochinapu reinigen,
- 5b pai - zertheilen,
- dei kabıli - annehmen,
- Us dilia - arbeiten,
- wuä> chyzmet- dienen,
e „we ichtijäg' - dürftig sein,
- de ghuli - biegen,
- del aghani - erneuern,
len (sa> chaberi mecamu berichten,
- al> glewabi - antworten,
- 15 kira - belohnen,
- 15° gza - frei geben (Weg geben).
Einige unregelmäfsige Verba, d.h. solche, in denen der Infinitiv,
wenigstens dem gewöhnlichen Flexionsgange nach, den übrigen Conjuga-
tionsformen nicht entspricht, sind folgende:
Inf. \£,} olwa gehn.
Praes.
Sing. > Plur.
m rurz | m
Ya, wizalare sous widatere
21; izalare ss) zdatere
sl) idasere sulu) idanene.
Praet.
wlan wizali we. wulut
wi izali we ulut
>) izalu sie) ulwan.
24 Rosen
Imp. (s! idi oder ‚JSIz!.
So auch ) au bile olwa begleiten.
Die folgenden Verba bilden ihre Tempora von einem verloren gegan-
genen Stamme echt, dem verschiedene Präfixe vorgesetzt werden.
Inf. 1£,5° herabsteigen.
Praes. Praet.
„Liss giöftare U ey are
us giöchtare ss giöchtatere etc.
si, giöchtasere ssl>ss giöchtanene.
Inf. 1J,),5 kololwa vorbeigehn.
Praes. Praet.
„LES kolaftare sstu8N,5 kolaftatere eds kolafti
su>3s5 kolachtare szLu>NS5 kolachtatere etc.
eic.
Imp. >35 kolachti.
Inf. \2s:} ejolwa herausgehn.
Piyet { „ua eftare
s„uU>} echtare etc.
Imperat. ‚>! echti.
Inf. +» molwa kommen. Praes. su» meftare, su mechtare.
Praet. sa 5 ko mefti. Imp. = mechti(!).
Ebenso werden !} amolwa hereinkommen und Id (55, wazi molwa
zurückkommen flectirt.
Das ursprüngliche ch, das sich in diesen Verben mit dem Charakter
der ersten Person zu f vereinigt, geht in dem Dialecte von Artaschin neben
demselben ganz verloren, dagegen spricht man also: meptare, gioptare
eic.
(') Nach Klaproth im Dialect von Kjemer-Burnu mokti komm!
[80]
ou
über die Sprache der Lazen.
Inf. SS gjechonu reiten, Rad. gjeched?
Praes. sus giebehedare. Imper. sASS gjechedi. — Ahnlich
Inf. 5s>,5 dochunu sitzen, Rad. dochad?
Praes. s15l&35 dobchadare. Imp. sa>0 dochedi.
Inf. „;»! ozitw befehlen, Rad. ku.
Praes. 51,85 diquare. Imp. s>ö iqui. P.prt. (sw; zitineri
Inf. 23,5} oropu lieben, Rad. or.
Praes. 2,2 » ma porum? Imp. (s,>) ori.
Jetzt bleibt mir noch übrig, über das impersonelle Verbum zu reden,
dem ich aber des leichteren Verstehens halber einige Worte über die schon
oben andeutungsweise besprochene Verbindung des Datiy pronominis pers.
voranschicke.
Der Dativ der ersten Person wird durch ein m bezeichnet, und der
der zweiten durch ein k oder g, welche beide verschiedentlich vocalisirt
werden können, ohne dafs sich darüber eine Regel aufstellen liefse. Ob
sie überhaupt mit Vocalen zu versehen sind oder nicht, hängt von der Stel-
lung ab; Ersteres ist dann der Fall, wenn man sie dem Zeitworte präfigirt,
Letzteres, wenn man sie am Ende einer Sylbe einfügt. Z.B. saw me-
cari du giebst, (sl=2 memcari du giebst mir, „2“ meci gieb,
mumei gieb mir; „55 giecu er schlug, „SS giemcu er schlug mich.
Stöfst das k mit dem Charakter der ersten Person zusammen, so verdrängt
es denselben, z.B. sls. mebcare ich gebe, sI&& mekcare ich gebe
dir; sis“ megaarare (von ong’aru) ich schreibe, »,\,Lsus king’arare
ich schreibe dir, (s,s4S king’äri ich schrieb dir. Den Plural drückt man
durch dieselbe Pronominal-Formation aus, fügt aber der Deutlichkeit und
Unterscheidung wegen den Nominativ hinzu, was man häufig aus demselben
Grunde oder auch des Nachdrucks wegen im Singularis thut. Für die dritte
Person ist ein Verbalpronomen nicht vorhanden, indem diese ausschliefslich
nur durch die absoluten Formen ws? himus im Sing. und „ai hinis
im Plur. ausgedrückt werden.
In der Lazischen Sprache nun regieren die Verba impersonalia den
Dativ, indem man z.B. sagt: mir ist Durst, mir ist Schmerz, mir ist Gehör
(ich höre). Hier leidet also das eben besprochene seine Haupt- Anwendung.
Philos.- histor. Kl. 1843. D
26 Rosen
Das Verbum steht dabei natürlich in der dritten Person, welche sich im
Sing. Präsentis regelrecht auf asdre im Plural dagegen, vom Gewöhnlichen
abweichend, auf an£re (statt andne) endigt. Im Präteritum finden wir die
bekannten Formen; im Imperativ aber treten neue hervor.
Beispiele sind
Inf. „55,2 doguru hören (Rad. gur).
Praes.
Sing. Seh ssiss b ma domagurasere
sl sß,8 u si dogagurasere
sl, 530 wme9 himus dogurasere
Plur. sl ses zär sku domaguranere
55 hs zqua dogaguranere
sh, 82 wmuu® hinis doguranere.
Praet.
Sing. „125 ko domaguru Plur. wiss ko domagures
„bs ko dogaguru wm SV ko dogagures
ya kodoguru WS» ko dogures.
Imp. why 5% dogaguras.
Inf. 555} ozunu Schmerz empfinden (Denominativ von l»; zuna Schmerz)
Praes.
Sing. sl; KL ma mazunasere
sul wu si gazunasere
sarly;) ua? himus azunasere
Plur. splyj% „as sku mazunanere
sl; 5 Zqua gazunanere
Säle; ui? hinis azunanere.
Praet.
Syke k ma mazunu
Sf m si gazunu
#5) vum? himus azunu
etc.
über die Sprache der Lazen. 97
Inf. Yu! ominu dursten (Rad. min).
Praes. ef
Sing. sell Lk ma miaminasere
smlinls m si giaminasere
eie.
Plur. ssumla „as sku miaminanere
s5umus „5 Zqua giaminanere.
etc.
Praet.
Sing. „ul miaminu Plur. ul miamines
sulsS giaminu uminls‘ giamines.
Eine abweichende Flexion haben „ö3,} okyzkanu, zuäi) oskinu
und Ssis mesonu, von denen ersteres nur den Singularis, letztere beide
Zahlen auf eine andere Weise bilden.
Inf. 555,1 beneiden (Denominatiy von .,5#)
Praes.
Sing. eniähk Lk ma makyzkanen
ri! a si gakyzkanen
öl un himus akyzkanen
Plur. sp zes sku makyzkanere
s2E38 5 iqua gakyzkanere
sel us hinis akyzkanere.
Praet.
Slöb Lk ma makyzkanu
usääk „as sku makyzkanes.
Inf. Yäi! oskinu wissen (Rad. sk).
Praes.
Sing. Aus komiskum Plur. ones komiskuran
rss kogiskun ns kogiskuran
se) wem himus uskun oh) vu hinis uskuran.
Imperat. „us giskurdas. 2.P.plur. „1, 5 giskurdan.
D2
28 Rosen
Inf. Sei» mesonu hoffen (Rad. son).
Praes. Sl memasonem.
geht wahrscheinlich wie das Vorige, bei dem die 1. Pers. Sing. sich eben-
falls auf m endigte.
4. Die Partikeln
bieten in etymologischer Beziehung nichts Bemerkenswerthes dar; es mag
daher genügen, wenn ich die aufgezeichneten Wörter dieser Classe nach ih-
rer Ordnung wiedergebe.
ww? hus jetzt. sS>li) ukaccha darauf. W leba später. wi _u2
him wakyt damals. An opsa wakyt häufig. Kuh m® husi si-
küle von nun an. »9,»! ordo schnell. uw sijas kürzlich. ax
itizali ziemlich. „L& dieli ganz. Ss> chwala wenigstens. KUNA
kassdite (Instrument. von &e) absichtlich. zuni> cetinite kaum.
»ail,) okwanduta freiwillig (cf. rad. qguand). Wi) 5 war
oquanduta unfreiwillig. 2 ho ja. | da nein. „» war nein, nicht.
ws mundas wann? (Locativ-Form). sz{3s munaperi wie? yie
muku wieviel? Ljawo? sLnak wohin? So hakhier. „io haso,
Diuls hamusacha so, wie dies. aus szle aufwärts. Aw sale nie-
derwärts. suss} oghine vorwärts. s>)0 doloche drinnen. „eo sso
heuer. (»ilw sanas nächstes Jahr.
ge Seni in c. genit. ss tere bei ec. genit. Läss! opsa über
(= voll) ce. locat. xsät nach, watssw somusis gegen, &B kale aufser,
Yas skala mit, „58 dicho ohne.
Als Anhang zu N.1., dem Abschnitt vom Nomen, lasse ich hier zum
Beschlusse meine Sammlung Lazischer Substantiva und Adjectiva folgen,
mit der Bemerkung, dafs die schr zahlreichen Türkischen Wörter, die mir
als zugleich Lazisch angegeben sind, wenn sie gleich als ein Zeugnifs der
heutigen Cultur, in ihrer Durchdringung mit dem Muhammedanismus, nicht
uninteressant sind, doch nur in sehr beschränktem Maafsstabe haben aufge-
über die Sprache der Lazen. 29
nommen werden können. — Klaproths Lazische Wörtersammlung habe ich
einzeln angeschlossen, und die 3 Dialecte, welche Klaproth unterscheidet,
den von Trebisonde (?), Kjemerburnu und Chopa durch T. K. und Ch.
bezeichnet.
Die Vergleichung mit dem Mingrelischen, Georgischen und
Suanischen ist nach Klapr. As. Pol. p. 111.sq.
I. Substantiva.
Bm (5)
dary pug'epe wilde Thiere.
e=w s-cheni Pferd. Kl.K. zek£ni.
Ch. skn£ni. $
‚> lagi Hund. Kl.K.u. Tr. Zaki.
„»\ katu Katze. Ming. katu. Geor.
kata.
ws tügi Maus. Georg. tagwi.
>>> chogi Ochs. Mingr. id. Georg.
sm. pug’epe Thiere.
chari.
>» pügi Kuh. Kl. id. Suan. pu.
Georg. puri.
ES gjeni Kalb.
hi dawari Ziege.
Kl. Treb. zikani Lamm.
GW skeri Hirsch.
55 gjöri Wolf.
RIPOS) zerdowal Dachs.
> capu Schackal.
&s tuti Bär. Georg. datwi.
is Es» sugha tuti Seebär.
SWS kengi Vogel. Kl. K. kinci.
T. keins.
a, 55 köorme Henne.
Wr» mumuli Hahn. Kl. T. ma-
mouüli. Mingr. mumuüli. Georg.
mamali.
(bis monta Küchlein.
053 tirghon Turteltaube.
s>5 kachi Sperling.
v3 Mus silidon Schwalbe.
5) uri Rabe.
>> bürbu Eule.
si zesku Adler.
Ss) ortiki Wachtel.
ww > dchömi Fisch. Kl. Kj. ce-
komi. Mingr. dchomi.
Se u bobula Insect.
Um sisila Schlange.
5,6 taweri Blindschleiche.
slel> Caghana Krebs. Neugr. bei
Trapez. TTayavws.
„> g’abu Frosch (Slavisch?).
ULB kaplia Schildkröte. Türkisch
an,
1, $»> cholıra Eidechse.
U>, rachna Spinne. Griech. agayın.
0,0 dıing’u Ameise.
(hl kamkuli Fliege.
>, putügi Biene.
sen is tuti putugi Hummel.
«ss tebi Haut. Kl. T. keb:.
ws s—> chorts Fleisch. Kl. id.
Mingr. u. Geor. chorzi.
30 Rosen
W,b toma Haar. Kl. id. Mingr. id.
Geor. ima.
> SW s-cheni Cocoka Mähne.
>53 saw s-cheni kuccha Huf.
‚ss pigi Maul, Mund. Kl. K. pi-
chi. Mingr. pig’i. Geor. piri.
lu bus-cha Nagel, Klaue.
1) akra Horn. Kl. id. (Griech. xe-
gas?). Geor. rka.
5; buüzi Euter, Brüste. NGr. 3
Rue.
2555 kudeli Schwanz. Geor. kudi.
lub .SuS kengi toma Feder.
san „u kengi s-chindi
Schnabel.
saw s-chindi Schnauze.
Sir makwali Ei. Kj. id. Mingr.
markwali.
(sr »> topri Honig. Kl. T. topuri.
= ciri Wachs. Gr. anpiov.
‚> köogi Mensch. Kl. K. gaz.
Ch. Ankog‘. Mingr. kög’i. Geor.
katsi.
sy. ghureri Todter (vid. rad.
ghur).
PS dischir Blut.
mm=öbs! opatchaps Puls.
& Zi Kopf. Kl. id.
\, wa Stirn. Mingr. kua.
&sb toli Auge. Kl. id. Mingr. id.
Geor. twali. Suan. te.
wuss} ofrit Braue. Gr. öpgus. Ngr.
Hgvdı.
lud dub tolikamsdmi Wimper.
mol» sadums Blick (vid. rad. sad).
aus> cchind die Nase. Kl. Tr.
izindi. Mingr. c’chindi. Geor.
zschwiri.
>» ugi Ohr. Kl. T. id. Mingr. id.
Geor. kuri.
ol, il osurat Schläfe.
w);> charadi Backe.
Ss leskiLippe. Ming. ‚—S legii.
Georg. lasi. ;
5 kibr Zahn. Kl. T. u. K. kibri.
Kl. K.’u. T, 4.
Ch. nem. Mingr. nina. Geor. £na.
Wi nena Zunge.
„ss noku Kinn.
X ali Kehle.
3,55 kotula Nacken.
>>> behoögii Schulter.
3,5 kapula Rücken.
ls ska Rückgrad.
‚„lsu> chang'ali Arm.
s> ceh Hand. Kl. T. che. Ch. cheb.
Mingr. che. Georg. cheli. Suan.
SE
‚4> gichi Faust.
us kiti Finger. Mingr. id. Georg.
Liti.
Da>s kuccha Fufs. Kl. Ch. kuc-
che. T. kuska. K. kassi.
5 s\> chaguri palma.
3 Zu Spanne.
Li zba Busen.
5 > kog'i buzi Brüste.
b,»5 korba Bauch.
U; zıpa Nabel.
5,» burguli Knie. Kl. Tr. Bur-
ghili. Ming. burguli.
über die Sprache der Lazen. 31
‚ste ghangii Bein.
Fr nl ghangi cchomi
Wade.
ss tutuli Schenkel.
G.mu mens-churi Gelenk.
(5. güri Herz. Ge. guli.
2 pürpu Lunge.
=! Galle.
(5,5) oregsi Magen. Griech. öge£ıs
appelitus.
SWL pansala Milz.
gas busti Blase.
‚s2>} upi Schweils. Ming. opu. Suan.
opi. Geor. opli.
sAU> cilambri Thräne.
5% suri Athem, Leben, Seele. Kl.
id. Geor. zuli.
über momantu Geruch.
os nosion Geschmack.
US$ gaide Stimme.
‚ws nösi Verstand.
oe miskun Meinung.
en. mewojun Neigung.
eur, wamikoren Abneigung.
eu, wichelum Freude.
Lu, „as skurina Furcht.
(#= ask Liebe arab. Kl. Tr. oropa.
Hs, um maschorinu Schreck.
Ash mebsonem Hoffnung.
3% bella Wahnsinn.
ui) aghnuse (Gr. ayvuria?).
Ss nosoni Weisheit.
&s'; sabuni Krankheit.
\.; zuna Schmerz.
ds; «575 kibri zuni Zahnweh.
BE zabun Kranker.
„as > gecch uru Fieber.
Sla> % 5 korba cchaäla Ruhr.
DE,
Sy E% urzuli Pest.
ga, hl isskorini Hunger.
cum! omini Durst.
>} ochwalu Husten.
oo.» pupuli Geschwür.
Usl> chamia Bad.
um „Sm dis-chir egopum 17
Aderlafs (Blut-nehmen).
es> ding’ Gesundheit.
„Au>ss nuchondu Leben.
se ghura Tod.
wo!
1,2 dura taub.
SL pala stumm. WW „5,5 dicho ne-
artoli einäugig.
na id. (ohne Zunge).
„> kjor blind pers.
öl; „> lahm türk.
ws»o ssoi Vorfahren.
LL baba Vater.
sb nana Mutter.
Min. u. G. mama.
Kl. id.
rarres. Grofsvater.
Min. dida
„L papu. Gr.
‚ss dıdi Grofsmutter.
Mutter. Geor. deda.
‚> kogi Ehemann.
1, »> chorza Ehefrau.
Ju> cili Weib. Mingr. id.
Leum sıg’a Bräutigam.
Weis nusa Braut.
u! eskis Sohn. Kl. T. siri. Min.
squa.
wm) osuri Tochter. Ming. id.
Suan. surag. Klap. 5ozo cf. seq.
32 Rosen
>; bozo Mädchen. Kl. K. Okurza.
Ch. kale.
out ebic' Kinder, proles.
> guma Bruder. Georg. Dzma.
Min. Dzima.
\$ Schwester. Georg. id. Min. Dac-
kim. Suan. Dacur.
& 3 tubi Zwilling.
‚s'® dai Oheim. Griech. Seios.
»» u> guma bere Neffe.
Liu Alter.
‚s2b badi Greis.
> J0cho Namen.
bb tl; zalwa nana Amme (Milch -
Mutter).
Ins sira Witwe. Griech. xyga.
wmzlusi eknanacums Thürhüter.
een giarinacums Becker.
o4>» sogaman Schuhmacher.
Die
sonstigen Handwerks - Benennun-
„#1 marangho Drechsler.
gen sind türkisch.
&5)1 arguni Hacke.
> gara Wissenschaft.
I>,> chog'a Gelehrsamkeit.
„ul, pchapare Beredsamkeit.
>> iu nosoni choga Krank-
heitslehre.
„bull ochaparu Wort.
(') Eigentlich Ufer, was sich aus der Beschaffenheit des Landes erklärt.
less nogha Markt. (!)
ealösl oklim Handel.
wAX&ı mekdas Seide. NGr. usra£ı.
sl endaze Elle.
Gy,& karawi Schiff. NGr. nagaßı.
Rad.
33 3> chope Ruder. NGr. zwruov.
„U Ziman Hafen. Gr. Adunv.
Alysäis) oskomale Speise. Bortscha-
Thal stsä>,! ockomale.
«5, giari Brod. Kl. Ch. diari, ko-
bali. K. kiudi. Suan. Dier. im
Bortschath. ‚suS> c’chidi. Min.
ckomi.
325? lazud Proviant (eig. Mais).
ss tebi Rinde.
5 guri Krume.
«5 giöri Mehl.
un.s> Ss gjene chorts Kalb-
fleisch.
> gumu Salz. Kl. T. cumo. K.
Guimu. Ming. sumi.
G.r> gumori Essig.
w'» wali Käse. Bortschathal —!ss
kwali. Kl. Ch. zwali.
&ae ghirni Wein. Bortscha-Thal
(es gwini. Kl. K. Ghini.
Mingr. Gwini. Geor. Gwino.
pl mejape£ri Joghurt.
Das Meeres-
Ufer bietet den Bewohnern jedes Thals den einzigen ebenen Platz dar, wo eine Reihe
Buden zu Handel und Verkehr neben einander stehen können.
Dahin versammeln sich die-
selben daher einmal in der Woche, gewöhnlich Freitags, und tauschen ihre Waaren, Lein-
wand, Lebensmittel ete. aus oder verkaufen sie für Geld.
Man findet ebendaselbst Moscheen, Bäckerladen und Kaffeehäuser.
Archave, Chopa etc.
Ein Nogha ist in Atina, Witze,
über die Sprache der Lazen. 33
!£}; zalwa Milch. Kl.K. g’aloga.
Ch. za. T. 13a.
SJ,0 dolokunu Kleidung.
s>,> Coche Mantel.
de, »ö Ssüroni Busentasche.
>,» borg’a Hemde. Kl.K. borcha.
Saw sindeki Strumpf.
‚u> ching'i Brücke. Geor. chidi.
>>») ochori Haus. Kl.K. okori.
Sa mertek Dach.
us ekna Thür.
3,5 kola Schlüssel.
äl> chale Abtritt. -
&u,} armdli Schrank.
‚> chami Messer. Kl. K. kami.
Ch. komi.
‚= lemsi Nadel. Georg. nemsi.
GH onsori Sieb.
\.elo ssaghra Teller.
5» kuzi Löffel.
&: kalati Korb. Griech.
sh nosk£ri Kohle.
Ks! ug'ili Topf.
os) otreb Heerd.
ss dis-cha Brennholz.
di,> Cukani Kessel.
S giase Glas.
ES burdak Krug. Türk.
s&lh mandre Stall. Ngr. Havdo.
Aslio skafind Trog. Gr. vzaon.
wm) omisura Krippe.
Is liwadi Garten.
Amls gjetasule Obstgarten.
2 sl liwadi akra Zaun.
li ona Acker.
Philos. - histor. Kl. 1843.
oo, sirt Thal.
&>2 ghurni Bienenstock.
ds2)o drapöni Siechel. Ngr. Öderav.
su karmate Mühle.
us> ces Schaafhirt.
ass kucche gza Fufsweg.
15 gza Weg. Georg. id.
uml> gamis Schaafstall.
sans kucchete pedes.
Almis Zzuksali Bogen.
ls> chutali Pfeil.
&U) zli Lanze. cf. rad. il.
o51# kazari Burg.
Less kawgha Krieg.
\sss! okonwa Schlacht.
uns og'gines Sieg.
ro) omtinu Flucht.
ws, „2 ghormot Gott. Kl. K. Gor-
moti. Tr. u. Ch. ormoti. Georg.
Gmerti. Ming. Gorunti. Suan.
Gerbet.
sw sana Jahr. Kl. T. tzana. Ming.
zana.
iss tuta Monat, Mond. Geor. zwe.
Min. zuta.
jo dra Tag. Geor. Dg‘a. Min. Ge.
Georg. Dro Zeit.
ds Cumani Morgen.
«5 seri Nacht. Min. id.
dh; jendrani morgen, cras.
Mus paraskendra gestern.
del IL» sana aghäni Neujahr.
Islas 1,0 dra bololwa Vergangenheit.
wi Sem? hussuner wagyt Ge-
genwart.
E
34
8 Hs gololweri dra die alte
Zeit.
Us dulia Dienst. (devreia?)
Lili oskena Mitte.
>>b,! ukaccha Ende.
Wochentage:
olleo ssabaton Zaßßarov.
sen bgiaccha.
ss > gumaccha (von >
gum 3)
sS>lWust ekinaccha.
s&lLlo ssadbatandi Mittwoch.
sas> caccha.
nl paraske. Gr. maganzeun.
>> chui Natur.
1; dza Himmel. Kl. Kj. za. Ch. ka.
Tr. saa. Georg. u. Suan. dza.
Ming. zas.
sw, murunschi Stern. Kl.
Ch. muruki. Ming. muruts.
u bsora Sonne. Kl. K. g’ara.
Ming. dsa. Geor. Mse.
ls tutaste Licht.
,!iwora Schatten.
bs5 Zuta Mond.
su. mapche Mondschein.
1 Bulera Gewölk. Kl. K. pula.
vmSieo diwalams Blitz.
um)s5, 5 gurgulams Donner. M.
gurgin.
= ichi Wind.
Lu> cima Regen.
@S teni Feuchtigkeit.
Ieu> chomola Trockne.
Li>,> guchapa Hitze.
Rosen
wr} ini Kälte.
oWws> duman Nebel. Türk.
54 ineri Reif.
„Elh, 2 horsakali Hagel.
ya} iner Eis. Min. ini.
«5.» tori Schnee. Kl. id. Ming.
teri. G. towli.
Gmb dats-chiri Feuer. Kl.K.
daskuri. Ch. takuri. Mingr.
dac'cheri.
5 >% paluri Flamme.
Julu> gilid Funken.
Ws5 koma Rauch. Min. kuma. Geor.
komli.
by mtuta Asche.
&& tiki Tropfen.
„im powar Quelle.
«5; dzari Wasser. Kl. K. u. T. id.
Ch. tzekali. Min. tzchari. Geor.
izquali.
‚sl= c’ai Flufs (Türk.) Kl. Ch. or-
ouba.
L,b toba See. Geor. tba.
Le, zugha Meer. Kl. id. G. sgwa.
LEsinogha Ufer.
LI Zeta Erde. K.u. Ch. id.
Js} W leta ugeli Töpferthon.
rw s-chukümi Kies.
»> chum Sand. Kl. T. Chirimi.
Min. Chumi.
13 kwa Stein.
Für die Metalle hat man mir nur die
Türkischen Benennungen gegeben.
Doch hat Klaproth von Chopa für
Eisen das Wort erkina.
über die Sprache der Lazen.
Less dogha Rost.
p> daer Kraut, Gras (Türk.).
‚sp'> danzi Distel, Dorn.
„lo ssapu Moos.
pl> 545 kibri Caer Salbei (Zahn-
kraut).
3 kromi Zwiebel. NGr. xzgon-
nodı.
Lu # Zobia Bohne.
Liu minta Münze.
Zu Kohl.
1» dika Waizen.
3 alaf Hafer. Türk. I
du pati Hirse.
3353 lazud Mais.
5b» wilari Flachs.
&» purki Blume.
3} Ela Rose.
Sr oskuri Apfel.
ww s-chuli Birn.
is! ombri Pflaume.
shi} araranzi Orange.
>» binechi Weinstock.
»; dzu Kirschlorbeer.
won buli Kirsche.
str loghi Feige.
sp nezi Nufs.
Is! uwa Dattel.
&j,»! urzeni Traube.
„lb kandghu Erdbeere.
w&s> gooni Eiche.
>» sipri Buche.
„> chlamur Linde.
Ta Zweig.
»% pawri Blatt.
ss tebi Rinde.
‚lb tasi Saamen.
Ju pipili Kern.
II. Adjectiva.
ss»! onu seiend.
Hy war-onu abwesend.
(> worsi gut, angenehm, lieblich.
gzülbb katandgheri alltäglich.
is bsqua schön, reizend. Kl. T.
suaren. Min. squami.
pl memsquan£ri anständig.
ent> chain aufgeblasen (viell. vom
Arab. „L>).
>> kocon aufrichtig.
ut sineri ausgezeichnet.
sr) emkutineri ängstlich. (cf.
rad. kuz)
rise motwaleri bedeckt. (v. rad.
iwa)
gnlS) ignapen begreiflich. (v. rad.
gna)
PS ss gurigedwal£r beherzt.
sms niswelasere behülflich (r.
swel).
(S»o» nossoni behutsam.
Gr sanerialt (von sana).
u gnaperi bekannt (v. rad.
gna).
öl elasineri erwähnt.
(sr Ssum£ri berauscht (rad. sum).
E2
36 Rosen
(Sr0s u peghinossoni beschei-
den.
ui> Cetin beschwerlich.
P'Wh pandaneri beständig.
s=1 49 hepe ig’e beträchtlich.
u prike bitter.
sEls> güng’u bloß.
cu! ipelen brauchbar.
sasu bg’ire breit.
su hindoneri damalig.
> —ös elughi chuckun
dankbar.
wma „l® Aamu numkums der-
gleichen.
bgii dicht.
> geghu dick.
‚& kaimi dreist.
umlöüs‘ (sb suri gontams wohl-
riechend. (rad. gont)
susu bg’ipe dünn.
gas} ominer durstig. (rad. min)
‚„' ar einzeln.
sl mandre fern.
u) Ws duliana uskun erfah-
ren.
rm dogironu erforderlich.
sh> chel£ri erfreut. (rad. chel)
Hy Sb jassak waronu (nicht
verboten) erlaubt.
Gr mezbuneri erstaunlich.
ome-äi) iskomen elsbar (v. rad.
sku).
Grlwö ksaperi faul. (rad. ks)
„LS gamacamı feil.
sd»! ordo fliuk.
Gr skurineri furchtsam (rad.
skur).
52 dorineri gebürtig (dor).
Lil „D tobasa geheim.
dy,l> g’aroni gelehrt. (g’ara Wis-
senschaft.)
lim sika wenig, gering.
Gl: ghomaneri gestrig.
ph, indraneri heutig.
Ss tilane gewißs.
bs; zorba grausam.
2b tomalari haarig.
5 querdi halb.
‚Su dgi hart. Suan. bekgii.
s tuich lose.
Gy} orop£ri heilig.
Ws tusa warm. Kl. Tr. zulza.
Ws Lin»! opsa Lusa heifs.
Us kompa heiter.
265 Zubag hun hinreichend.
ie > doloche bosi hohl.
‚> gasi hölzern.
a Skorini hungerig.
>> dolocheni innerlich.
+»; zulu klein.
snlmıd disasere lächerlich (rad.
dis).
wis kunse lang.
sul 200 dido behapare laut.
>?) lafr oni leicht. Griech.
sslsi ukacchineri letzter.
oe) 5 didona uskun listig.
Js Lin») opsa tewul mancherlei.
Lxi) oskena mittler.
ge En BA
‚sF4> gineri müde (rad. gi).
über die Sprache der Lazen. 87
ws kuschu munter.
ur serisi nächtlich ((s» seri
Nacht).
Jums karsimal nebelig.
„El aghani neu. Georg. achali.
„us sileni oberhalb.
‚ww saleni unterhalb.
LS‘ kima regnerisch.
Und, giml, wamiskurdusa plötz-
lich.
sr4> chnaperireif.
‚Sb pagirein. Pers. Su
Lu> gita roth. Min. cita. Georg.
tziteli.
»eimsi na doskudu übrig.
ha> chumjari sandig.
srl; zghaperi satt.
rm silipo sauer.
gS} ekti schamlos.
sasist ung’ire schläfrig (rad. g'i).
bu Bata schlaff.
(54 Zebiari schmutzig (rad. led).
y,l> gareri schriftlich (rad. g’ar).
>»! uc’a schwarz. Kl. id. Min. ucla.
Georg. cavi.
lüsn munka schwer. Min. moka.
sy.>® ghureri seelig (»>,) rad.
ghur.
„as: mekdasi seiden.
op) izir en sichtbar (vad. 5).
I) lola süls.
wos komoli tapfer.
=" pelaperi thätig.
umstl ilums tödtlich (rad. i2).
oh) iswen trinkbar.
Y,»> chomola trocken.
wt> chäwi schlecht. Georg. avi.
Suan. choja.
sel bs korba acchen verdau-
lich.
Di si Ib baba skimi sacha
verdienstlich (wie mein Vater).
sh> cileri verheirathet (> cili
Frau).
Lust opsa viel, sehr.
srl psaperivoll.
Wü iptineri vorder.
es &b toli konsumer vorsich-
tig (mit geöffnetem Auge).
ums „Ü teli numkums wahr-
scheinlich.
bj); dzariari wässerig.
ss! upere welk.
ookms numskun werth.
>> turi wild.
GB kapineri wohnbar.
I) dbulera wolkig.
Habe ich nun so die mir in Beziehung auf die Lazische Sprache ob-
liegende Aufgabe mit mehr Vollständigkeit, Dank den günstigen Umständen,
gelöst, als ich vorher hoffte, so mufs ich doch zugleich bekennen, dafs man-
ches Räthsel sich mir selbst im Laufe meiner Untersuchungen geknüpft hat,
38 Rosen über die Sprache der Lazen.
ohne dafs ich im Stande gewesen wäre, es mir zu erklären. Ich hatte kein
anderes Medium der Unterhaltung mit meinem Lazischen Begleiter, Ibrahim
Effendi, als die selbst an Formen nicht sehr reiche Türkische Sprache; was
ich aber gegeben habe, ist Alles nur aus der Lazischen Übersetzung Türki-
scher von mir gestellter Fragen abstrahirt. J a ich mufste mich noch glück-
lich schätzen, dafs ich, nicht ohne viele Mühe, den Effendi allmählig ge-
wöhnen konnte, mir immer die verlangte Antwort zu geben, d.h. nicht eine
beliebige Form des Verbi finiti zu sagen, wenn ich nach einem Infinitiv ge-
fragt u. dgl.m. Grammatische Begriffe verlangen eine höhere Bildungs-
Stufe, als zu welcher selbst die sogenannten Gelehrten dieser Gegenden
sich aufzuschwingen vermögen. Manches mag der Lazische Sprachgenius
noch enthalten, das mir so entgehen mufste, weil kein grammatisch gebil-
deter Mann selbst meine Aufmerksamkeit darauf lenkte.
a —
Über
staatswirthschaftliche Versuche den ganzen Bedarf für
den öffentlichen Aufwand durch eine einzige einfache
Steuer aufzubringen.
Von
H'"- HOFFMANN.
nmnnmnamwwn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 22. Juni 1843.]
D. Wissenschaft, indem sie die Räthsel zu lösen versucht, welche das
Leben ihr vorlegt, geräth zuweilen auf Abwege, die zu folgereichen Irrthü-
mern verleiten, die lange festgehalten und durch Geist und Gesinnung ver-
theidigt, zuletzt weniger Vernunftgründen, als der Erfahrung weichen. Die
wissenschaftlich behandelte Staatswirthschaft bot seit den letzten achtzig Jah-
ren zwei Erscheinungen dar, die, wiewohl in ganz entgegengesetzter Rich-
tung sich bewegend, dennoch das gemein haben, dafs sie treffende Beispiele
der Verirrungen sind, welche diese Bemerkung bezeichnet. Franklin’s oft
wiederholter Ausspruch — Steuern geben und sterben, mufs der
Mensch überall — stellt die Steuern neben den Tod, neben das, der all-
gemeinen wenn auch nur bedingt wahren Meinung nach, gröfste der Übel,
welchem der Mensch sich nur mit Gleichmuth unterwirft, weil seine Kraft
unvermögend ist, einer unbedingten Nothwendigkeit zu widerstehen. Schon
das Entstehen der Vorstellung, dafs Steuern ein solches Übel sind, würde
ganz unbegreiflich bleiben, wenn nicht die Geschichte des Ursprungs der
neuern Staaten und die Neigung der Menschen, das Gewohnte für nothwen-
dig zu halten, sich zu dessen Erklärung vereinigten. So wenig Anlafs zur
Klage darin liegt, dafs die Frucht der menschlichen Arbeit verwendet wer-
den mufs, um dem Geschlechte Nahrung, Kleidung, Wohnung, überhaupt
Lebensunterhalt zu verschaffen, so wenig besteht auch ein Grund zur Be-
schwerde über den Aufwand, welchen das Erhalten und Verbessern des Zu-
40 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
standes der Gesittung erfordert, wodurch allein der Genufs aller der Güter
des Lebens möglich wird, deren sich die Gegenwart erfreut. Aber wie die
neuern Staaten gröfstentheils aus Grundherrlichkeiten erwuchsen, so sprofs-
ten auch die Abgabensysteme der Regierungen aus den gutsherrlichen Ge-
fällen hervor. Was der Grundherr von seinen Untersafsen an Diensten, Na-
turallieferungen und Geldabgaben erhebt, ist zunächst für seinen Verbrauch
bestimmt; und erhält er aus diesem Einkommen auch Anstalten zum Besten
seiner Untergebenen, so geschieht dies doch zunächst nur, weil sein eigener
Vortheil erfordert, dafs Ordnung und Wohlstand in seinen Besitzungen er-
halten und gemehrt, und dadurch die Leistungsfähigkeit seiner Dienstleute
gesichert und erhöht werde. Selbst von Verwendungen, woraus kein un-
mittelbarer Vortheil für ihn hervorgeht, die nur als Aufserungen seiner Frei-
gebigkeit, als reine Gnadenbezeugungen erscheinen, ärndtet er dennoch die
köstlichste Frucht, die Treue und Anhänglichkeit dankbarer Herzen. Die
Vorstellungen von einem solchen Verhältnisse sind aus dem Zustande der
Gutshörigkeit in das Staatsleben übergegangen, das Staatseinkommen gilt in
den Patrimonialstaaten noch immer für Einkommen des Regenten, und die
grofse Mehrheit seiner Untergebenen ist noch weit von der Überzeugung
entfernt, dafs sie nur ihren Beitrag zur Erhaltung der Anstalten entrichtet,
wovon die Sicherheit, Bequemlichkeit und Annehmlichkeit ihrer Arbeiten
und Genüsse abhängt, indem sie Steuern zahlt. Hierzu kommt, dafs eben
die kostbarsten der öffentlichen Anstalten, die Verwendungen auf Alles was
über den klaren Bedarf kleiner Ortsgemeinden hinausgeht, nicht nur den
untern Volksklassen, sondern selbst wohl der einflufsreichen Schaar der
Halbgebildeten sehr entbehrlich oder wenigstens viel zu kostbar eingerichtet
erscheinen. Der Zustand, worin wir erzogen wurden, erscheint uns allge-
mein als ein so natürlicher, dafs nur ein hoher Grad echter Bildung der kla-
ren Überzeugung Raum verschaffen kann, dafs wir den gröfsten Theil des-
sen entbehren würden, was uns jetzt unentbehrlich scheint, wenn jene ver-
meintlich überflüssigen Anstalten nicht beständen. Wir ahnen nicht, wie
gern der Einwohner eines halbbarbarischen Staates die Hälfte seines Erwer-
bes hingeben würde, um für den ungestörten Genufs der andern Hälfte die-
jenige Sicherheit zu gewinnen, welche wir mit weniger als einem Zehntheile
unseres Einkommens übermäfsig theuer zu bezahlen vermeinen. Jemehr
der Abstand in den Begriffen von Lebensberuf und Lebensgenufs zwischen
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 41
den höhern und niedern Ständen unter dem Einflusse der Selbstsucht und
Verbildung wächst, desto mehr erscheint den höhern ein unnützer Aufwand,
was für den dringendsten Bedarf der niedern geschieht, und diesen eine
schamlose Vergeudung, was jenen nur die mäfsigste Forderung des noth-
dürftigsten Anstandes dünkt. Bei solchen Ansichten können Steuern nur für
eine Belästigung, und die Versuche, sich denselben zu entziehen, nur für eine
Nothwehr gelten; wo diese Nothwehr sich innerhalb der Schranken gesetz-
licher Ordnung hält, gestalten sich die Steuern als ein unvermeidliches Übel.
Die nächste Folge dieser Vorstellung ist eine grofse Schwierigkeit, die Bei-
träge zur Bestreitung des öffentlichen Aufwands so zu vertheilen, dafs sie
mit Sicherheit und Leichtigkeit von den einzelnen Steuerpflichtigen aufzu-
bringen und einzuziehen sind. Übernimmt die Regierung selbst diese Ver-
theilung, so bleibt es ihr stets unmöglich, einen Mafsstab dafür aufzufinden,
dessen Richtigkeit Jedermann anerkennt. Sie mag die Befähigung, Abgaben
zu zahlen, in dem Besitze nutzbarer Sachen — sogenannter Güterquellen —,
oder in persönlichen Eigenschaften und Stellungen im Leben suchen; so
wird die Mannigfaltigkeit dieser Zustände, die Verschiedenheit der Meinungen
über den Ertrag, welchen sie gewähren, und die Veränderlichkeit dieses Er-
trages selbst in jeder Anordnung von Klassen oder Abstufungen des Steuer-
satzes eine Willkür oder Partheilichkeit erblicken lassen, wodurch die Steu-
erpflichtigen sich zu Beschwerden über Unterdrückung und Überlastung be-
rechtigt achten. Überläfst die Regierung denselben die Vertheilung, indem
sie — durch Abgaben auf den Verbrauch oder Verkehr — Handlungen be-
steuert, deren Verrichtung, wenn auch nicht unbedingt, so doch in Bezug
auf Maafs und Zeit in der Wahl der Betheiligten beruht; so werden Anord-
nungen unvermeidlich, welche verhindern, dafs diese Handlungen ohne Vor-
wissen der Steuerbeamten geschehen. Je gröfser die Neigung ist, sich den
Abgaben auf diese Handlungen zu entziehen, desto strenger müssen die An-
ordnungen, dies zu verhindern, sein, und desto tiefer müssen sie demnach
in die Geheimnisse des gewerblichen und häuslichen Lebens eindringen ;
schmerzliche Beschränkungen im gewerblichen und geselligen Verkehr, Ver-
letzungen des sittlichen Gefühls hier durch bodenlosen Argwohn, dort durch
lockende Versuchung, ein ewiger innerer Krieg zwischen der Regierung und
ihren Untergebenen, sind, einer traurigen Erfahrung nach, hiervon fast un-
zertrennbar. Unter solchen kläglichen Verhältnissen wird das Auffinden
Philos.- histor. Kl. 1843. F
42 Horrmann über staatswirthschaftliche F ersuche
einer, den Forderungen der Gerechtigkeit und den Bedürfnissen der Zeit
gleich vollständig genügenden Vorschrift für die Vertheilung der Beiträge zur
Bestreitung des öffentlichen Aufwands eine der höchsten Anstrengung wür-
dige Aufgabe. Was Erfahrung bisher nicht zu leisten vermochte, hat die
Wissenschaft zu lehren versucht. Abgesehen von allem, was nur als Noth-
behelf für das Bedürfnifs des Augenblicks anzusehen ist, haben ihre For-
schungen seit den letzten achtzig Jahren aus zwei ganz entgegengesetzten An-
sichten auf zwei Grundgesetze für die Steuervertheilung geführt, welche beide
gleich blendend durch den Anschein einer einfachen Wahrheit, doch in ihrer
ganzen Ausdehnung gleich unausführbar geblieben sind.
Die Fortschritte der Bildung erfordern unablässig eine Vermehrung
der öffentlichen Anstalten zur Verbesserung des Zustandes der Völker, weil
das, was der einzelne für sich und seinen Haushalt zu thun vermag, mit der
Ausdehnung der Anforderungen immerfort unzureichender wird. Auch wach-
sen die Verwendungen der Staaten auf Erweiterung ihres Einflusses über die
Grenzen ihres Machtgebietes hinaus mit der Zunahme der gewerblichen und
sittlichen Verbindungen zwischen den Nationen, welche die wohlthätige
Folge der Verbreitung echt menschlicher Bildung sind. Beides vermehrt
den öffentlichen Aufwand und mit demselben die Schwierigkeit, die Mittel
zur Bestreitung desselben durch Besteuerung aufzubringen. Insbesondere
wird die Vertheilung der Steuern durch die Höhe ihres Betrages erschwert.
Zahlreiche Klassen der Einwohner befinden sich bald in der klaren Unmög-
lichkeit, die von ihnen geforderten Zahlungen aufzubringen. Den öffentli-
chen Aufwand selbst zu mindern schien unmöglich, und nur in dem gründ-
lichen Erkennen der Quellen des Einkommens der Völker war noch insofern
Hülfe zu suchen, als dieses auf Mittel leiten konnte, dieses Einkommen selbst
zu vermehren und den öffentlichen Aufwand leichter daraus zu bestreiten.
Dieser Aufgabe bemächtigte sich die Wissenschaft in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts; sie glaubte mit grofser Zuversichtlichkeit die Lösung dersel-
ben durch ein neues System gefunden zu haben, welches sich schnell einen
sehr verbreiteten Beifall und selbst die Achtung seiner Gegner erwarb, und
obwohl bereits seit mehr als dreifsig Jahren gänzlich aufgegeben, nicht blofs
in der Erinnerung der älteren Zeitgenossen, sondern selbst noch in der Rich-
tung fortlebt, welche es den Meinungen der meisten Staatswirthe, vielleicht
ihnen selbst unbewufst, gegeben hat, Die Grundlehren dieses Systems —
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s.w. 43
des physiokratischen — sind allgemein bekannt; sie beruhen wesentlich
auf der Vorstellung, dafs nur allein diejenigen Arbeiten das Vermögen der
Völker wirklich vermehren, die wesentlich produktiv sind, welche dem Men-
schen aneignen, was durch Naturkräfte hervorgebracht wird, indem alles Ein-
kommen, welches durch die weitere Bearbeitung oder Vertheilung dieser
Erzeugnisse, d. i. durch Fabrication und Handel, entsteht, nur eben zur Er-
stattung des Aufwandes hinreicht, welchen die deshalb unternommenen Ar-
beiten erfordern. Was jene ausschliefslich produktiven Arbeiten über den
Ersatz der Verwendungen darauf hervorbringen, bildet dieser Lehre nach
allein einen Erwerb, worüber die Nation frei verfügen kann ; nur aus diesem
Erwerbe — Bodenrente genannt — können nach diesem staatswirthschaft-
lichen Systeme Steuern entnommen werden, welche deshalb auch ganz ein-
fach nach dem Betrage der Bodenrente auf die Empfänger derselben, d.i. auf
die Eigenthümer der benutzten Naturkräfte, zu vertheilen sind. Fabrikation
und Handel fördern nach dieser Lehre allerdings den Wohlstand der Völker,
aber nicht, indem sie selbst neue Werthe erzeugen, sondern nur indem sie
den Verbrauch von Naturerzeugnissen erweitern, und dadurch den Anlafs
zur Verwendung von Arbeiten auf Aneignung derselben, das ist: auf Pro-
duktion vermehren. Deshalb fordern die Physiokraten eine ganz unbe-
dingte Gewerbe- und Handelsfreiheit, und versöhnen hierdurch vollkommen
die Fabrikanten und Kaufleute mit der untergeordneten Stellung, welche sie
denselben in ihrem Staatswirthschaftssysteme anweisen. Die Besitzer des
Bodens, dem die Kräfte der Natur inwohnen, die Grundherrn, treten hervor
als einzig wahre Eigenthümer der Quellen des Nationalwohlstandes, woraus
unmittelbar der Bedarf zur Bestreitung des öffentlichen Aufwands hervor-
geht, und welche demnach die wahren Träger und Ernährer aller Macht der
Staaten sind. Lieuchtete auch die Unmöglichkeit, den öffentlichen Aufwand
nur allein durch Besteurung der Bodenrente zu bestreiten, so klar ein, dafs
ein Versuch, den Haushalt eines wahrhaft selbstständigen Staats nach diesen
Vorschriften des physiokratischen Systems einzurichten, nirgends zur Aus-
führung gebracht werden konnte; so trösteten doch die Freunde desselben
sich damit, dafs die Besteurung der Bodenrente vorjetzt nur deshalb noch
nicht zur Bestreitung des öffentlichen Aufwandes hinreiche, weil einerseits
viel unnütze Verwendungen gemacht, und andrerseits viel Naturkräfte noch
immer schlecht oder gar nicht benutzt würden. Die staunenswürdigen Er-
F2
44 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
weiterungen der Herrschaft des Menschengeschlechts über die Natur erhöh-
ten inzwischen zwar unablässig die Benutzung von Naturkräften, aber gleich-
zeitig auch den öffentlichen und häuslichen Aufwand zur Befriedigung der
Bedürfnisse des Menschen auf jeder neuerklommenen Stufe höherer Bildung.
Wären die Vorstellungen der Physiokraten von den Quellen des Ver-
mögens der Völker auch nicht endlich für irrig anerkannt worden; so bliebe
doch die Folgerung darum nicht minder unstatihaft, welche daraus in Bezug
auf Erheben und Vertheilen der Steuern hergeleitet wurde. Eben weil der
Aufwand auf Unterhaltung der öffentlichen Anstalten für die Sicherheit, Be-
quemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens durchaus kein willkürlich ge-
schaffenes Bedürfnifs, sondern zum wahrhaft menschlichen Leben ebenso
nothwendig ist, als die Verwendungen auf Nahrung, Kleidung und Wohnung;
ebendeshalb ist auch das Entrichten der Steuern nicht auf einen etwa ver-
bleibenden Überschufs des Erwerbes über den Verbrauch anzuweisen, son-
dern unter die Verwendungen zur Unterhaltung der Arbeitskrafte selbst auf-
zunehmen. Staats-, und selbst nur Gemeindeverbände bestehen zunächst
zur Unterhaltung solcher Anstalten durch gemeinsame Leistungen, zu deren
Unterhaltung die Kräfte des Einzelnen nicht hinreichen, obwohl er derselben
zum wahrhaft menschlichen Leben dringend bedarf. Ob das Vermögen eines
Staats- oder Gemeindeverbandes zunimmt, sich nur eben noch erhält, oder
selbst sich vermindert, hat nur darauf einen Einflufs, dafs je nach Verschie-
denheit dieser Zustände mehr oder weniger auf öffentliche Anstalten verwen-
det werden kann; aber so lange noch überhaupt solche Verbände bestehen,
müssen auch öffentliche Anstalten unterhalten, also Mittel dazu aufgebracht,
d.i. Steuern entrichtet werden. Schon in dieser Beziehung ist demnach die
Vorstellung durchaus irrig, dafs die Steuern nur aus dem entnommen wer-
den, was von den Früchten der Arbeit nach Erstattung des Aufwandes zur
Unterhaltung derselben übrig bleibt.
Aber der Begriff von einer Bodenrente, wie das physiokratische Sy-
stem denselben aufstellt, erscheint überhaupt als eine eitle Täuschung. Es
ist allerdings durchaus wahr, dafs der Mensch unter keiner Bedingung aus
Nichts Etwas machen kann. So wie seine Seele zur Offenbarung ihres
Waltens und Wirkens in der Sinnenwelt eines Körpers als Werkzeug bedarf,
so bedarf der mit diesem Werkzeuge ausgerüstete Mensch auch ferner eines
körperlichen Stoffs, um Arbeit daran zu verrichten. Diesen Stoff beut ihm
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 45
die Natur in seinen äufsern Umgebungen dar; aber er wird nur nutzbar für
ihn, indem er sich denselben durch Arbeit aneignet. Die Frucht dieser Ar-
beit ist der natürliche Lohn derselben; sie gehört dem Arbeiter in sofern
ganz, als der Stoff, woran — und die Hülfsmittel, womit er dieselbe ver-
richtet, sein Eigenthum ist. Lieh ein Anderer ihm diesen Stoff oder die
Mittel zur Förderung seiner Arbeit, so kann dieser sich wohl berechtigt
achten, einen Antheil an dem zu verlangen, was durch die Arbeit hervor-
gebracht wurde, welche sein Beistand möglich machte. Diese Miethenun
ist die Rente, und zwar insbesondere die Bodenrente, wenn sie für
Darreichung eines unmittelbar von der Natur hervorgebrachten Stoffs ent-
richtet wird. Solcher Stoff wird in der Regel ausschliefsliches Eigenthum
eines Menschen, weil der Raum auf dem Erdboden es ist, worin er sich
befindet, oder worauf die Natur ohne menschliches Zuthun ihn hervorbringt;
daher der Name Bodenrente. Der Empfänger dieser Rente wäre offenbar
ein unnützes Glied des Staats- oder Gemeindeverbandes, wenn er blofs die
Früchte der Arbeiten verbrauchen hülfe, ohne dafür irgend etwas zur För-
derung der gemeinsamen Wohlfahrt zu thun; und die Vertheilung des Erd-
bodens zum ausschliefslichen Eigenthume einzelner Menschen — womit doch
geschichtlich das Erheben des Menschengeschlechts über einen blofs thieri-
schen Zustand beginnt — wäre sodann eine der verderblichsten Erfindungen
menschlicher Thorheit. Dafs dem nicht so sein darf, dafs der Empfänger
der Bodenrente kein fauler Pflegling auf Kosten des Schweifses der Arbeiter
sein soll, dafs er vielmehr zur höchsten und edelsten Wirksamkeit für die
Wohlfahrt des Menschengeschlechts berufen und die Rente nur der wohl-
verdiente Lohn seiner Arbeiten ist, — das überzeugend darzustellen, darf
hier unterlassen bleiben, weil es schon an einem andern Orte geschah (').
Hier genügt es, daran zu mahnen, dafs alles, was der Eigenthümer des Bo-
dens als Rente desselben empfängt, nicht minder ein Erzeugnifs der Arbeit
ist, als dasjenige, was der Handarbeiter‘ unter der Benennung Arbeitslohn
zu seiner freien Verfügung behält. Es ist ein merkwürdiges Beispiel von der
Unvertilgbarkeit solcher Meinungen, welche der menschlichen Selbstsucht
(‘) In der Abhandlung: Über die wahre Natur der Renten aus Boden- und
Kapitaleigenthum, gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 20. October 1836
und abgedruckt in den Abhandlungen der Akademie aus demselben Jahre.
46 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
schmeicheln, dafs der Glauben fortbesteht, die Bodenrente sei die Frucht
der Naturkräfte, welche, vereint mit menschlichen Kräften, nutzbare Sachen
hervorbringe. Wie so ganz allein es von menschlicher Arbeit abhängt, ob
irgend ein Raum auf dem Erdboden eine Rente gewähren soll, das bezeugen
wohl am unverkennbarsten die Preise der Bauplätze im Innern reicher Städte.
Ein Boden, der durchaus keine nutzbare Pflanze hervorzubringen vermag,
nackter Fels, reiner Thon, ist eben der beste Baugrund, welcher vielfältig
noch bedeutend höher, als mit einem Thaler für den Quadratfufs bezahlt
wird ; aber derselbe Raum wird schon in geringer Entfernung von der Stelle,
worauf der Mensch ihn zu nutzen vermag, als sogenanntes Unland völlig
werthlos, und wo solcher Boden in Massen vorkommt, worin die schwache
Bevölkerung ihn nicht zu gewältigen vermag, wird er das ausdauerndste Hin-
dernifs des Gedeihens menschlicher Thätigkeit, eine Wüste, vor deren
Schrekken auch die Kühnsten erbleichen. Während solche Zeichen vor
Aller Augen stehen, erscheint die Bodenrente noch einer bei weitem über-
wiegend grofser Mehrheit verständiger und erfahrener Staatswirthe als die
sicherste und unwandelbarste aller Einkommenquellen, und deshalb als der
auserwählteste aller Gegenstände der Besteuerung. Unter allen wahrhaft
selbstständigen Staaten Europas hat bis jetzt nur allein Grofsbritanien, über-
all voranschreitend auf den Bahnen zur höhern Bildung, seine Grundsteuer
ablöslich gestellt. Die Macht der Grundherrlichkeit beruht nicht auf dem
Besitze von Bodenraum, sondern auf der Möglichkeit, mittelst ihres Eigen-
thumsrechtes auf diesem Raume über die Kräfte der Menschen zu verfügen,
welche denselben bewohnen oder sonst benutzen; der Werth einer Russi-
schen Grundherrschaft wird noch jetzt nicht nach dem Maafse der Boden-
fläche, welche sie umfafst, sondern nach der Zahl der Erbunterthanen ge-
schätzt, die dazu gehören. Während mit den Fortschritten der Bildung die
Staatsgewalt die Bande löst, welche den Menschen an die Scholle knüpfen,
worauf er geboren wurde, und dadurch anscheinend die Macht der Grund-
herren mindert, bereitet die wachsende Dichtheit. der Bevölkerung und
die Zunahme des Gewerbfleifses eine neue Abhängigkeit, welche die grund-
herrliche Macht mehr erhebt, als jene Befreiungen sie herabdrückten. Das
Brittische Reich hat die mächtigste Grundherrlichkeit in Europa nebe der
weitesten Entfernung von jeder Art der Gutshörigkeit.
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s.w. 47
Indem das physiokratische System nur noch durch seinen Nachlafs —
den Begriff einer von menschlicher Arbeit unabhängigen Bodenrente — unter
uns wirksam bleibt, und alle Neigung im Reiche der Wissenschaft, dasselbe
zu vertheidigen, gänzlich erloschen ist, bildet sich in dieser Region eine ge-
radehin entgegengesetzte Lehre, welche nur das mit jenem Systeme gemein
hat, dafs sie mit gleicher Zuversichtlichkeit eine vermeintlich leichte, aber
in der Wirklichkeit ebenso wenig anwendbare Form der Besteurung empfielt.
Diese Lehre beruht auf zwei sehr wichtigen Wahrnehmungen, welche der
Beachtung jedes Staatswirthes höchst würdig sind. Wird einerseits auch
dankbar anerkannt, dafs die Hebung der Abgaben möglichst erleichtert wird
durch ihre Vertheilung auf alltägliche Genüsse und auf Begebenheiten, die
mit Einnahmen und Gewinnen verbunden sind; so kann doch andrerseits
auch nicht übersehen werden, dafs etwas Erniedrigendes in den Bemühungen
der Staatsgewalt liegt, ihren Untergebenen den Beitrag zur Unterhaltung aller
für das gemeine Wohl unentbehrlichen Anstalten gelegentlich unter mannig-
faltigen und zahlreichen Vorwänden abzulocken, statt geradehin einzuziehen,
was mit so gutem Rechte gefordert wird. In der That verhindert dies Ver-
fahren die Völker, mit den Fortschritten der Bildung endlich auch zu dem
Bewufstsein zu gelangen, dafs durch die Zahlung der Steuern nur eine Pflicht
erfüllt wird, welche vollkommen ebenso begründet ist, wie die Pflicht, Waa-
ren und Dienste, welche wir empfangen, auch zu bezahlen. In kleinen Ge-
meinden, deren einfaches Bedürfnifs durch von den Mitgliedern derselben
unmittelbar eingezahlte Beiträge bestritten wird, fühlt der Einzelne sich er-
hoben und geehrt dadurch, dafs er nicht als Almosen, sondern gegen voll-
ständige Bezahlung die Vortheile des Gemeinverbandes geniefst, und er wi-
dersteht, gestärkt durch dieses Gefühl den Versuchungen, seinen Beitrag
unter einem scheinbaren Vorwande zu schmälern. In gröfsern Gemeinden
verbreitet ein ähnliches Gefühl sich in dem Maafse, worin mit der höhern
Bildung Einsicht in den verwickeltern Haushalt derselben und Vertrauen
auf den Verstand und die Rechtlichkeit ihrer Vorsteher wächst, und der
Gemeinsinn, welcher hieraus hervorgeht, verleiht der Verwaltung der öffent-
lichen Angelegenheiten eine Kraft und einen Adel, worin das Übergewicht
der sittlichen Macht über die materielle sich offenbart. Jemehr das umfas-
sendste aller Gemeinwesen, der Staat, sich von solchen Beweggründen an-
48 Horrmann über staatswirthsch aftliche Versuche
eignen kann, desto leichter und erfolgreicher zugleich wird die Regierung
desselben; und es ist in dieser Beziehung dringend zu wünschen, dafs Jeder-
mann wisse, was er zur Unterhaltung der Staatsanstalten beiträgt. Von dieser
Ansicht aus erscheint in hoher Würdigkeit der Vorschlag, den Bedarf für
den öffentlichen Aufwand auf die Mitglieder des Staatsverbandes zu verthei-
len und unmittelbar von denselben in verständig angeordneten Zahlungs-
fristen einzuziehen. Bei solchem Verfahren würde nicht allein jedem klar,
was er zur Unterhaltung der öffentlichen Anstalten beiträgt, sondern es wür-
den auch überdies alle die mannigfaltigen Beschränkungen des gewerblichen
und geselligen Lebens vermieden und die bedeutenden Kosten erspart, welche
von der Erhebung der Steuern auf Verbrauch und Verkehr unzertrennbar
sind. Darüber scheint kaum irgend ein Zweifel zu bestehen, dafs die vorge-
schlagene Hebungsform den entschiedensten Vorzug vor jeder andern habe,
und dafs alle Regierungen dieselbe mit Freuden ergreifen und ihr Steuer-
system danach anordnen würden, wenn sie nur ausführbar wäre; aber es
erschien bis jetzt unmöglich, für den gesammten Betrag des unentbehrlichen
öffentlichen Aufwands eine Vertheilung aufzufinden, wobei das Vermögen
und die Bereitwilligkeit der Steuerpflichtigen, die zugewiesenen Beiträge
pünktlich zu zahlen, auch nur mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen wäre.
Diesem Einwande stellt die Wissenschaft in der neusten Zeit eine
zweite Wahrnehmung entgegen, deren Richtigkeit ebenfalls unbedenklich
erscheint; hiernach mühen die Regierungen sich vergebens ab, die Steuer-
last auf die einzelnen Mitglieder des Staatsverbandes nach ihrer Einsicht zu
vertheilen. Die Macht der Verhältnisse, welche die menschliche Natur unter
dem Schutze der Staatsgewalt entwickelt, überwiegt auch hier das Vermögen
der kräftigsten Regierungen. Überall trägt eben keineswegs die Steuern, wer
sie zahlt; Jedermann versucht sich dieselben von Andern soweit wiederer-
statten zu lassen, als es die Stellung, worin er sich gegen diese befindet, nur
immer zuläfst. Bleibt das Steuersystem nur lange genug unverändert, dafs
diese Versuche, welche sich gegenseitig bekämpfen, endlich einen Ruhestand
hervorbringen, indem jeder Theil sich überzeugt, dafs er dem andern nichts
mehr abzugewinnen vermöge; so entsteht eben dadurch die gerechteste Ver-
theilung der ganzen Steuerlast. Deshalb werden durch ein uraltes Herkom-
men unyerbrüchlich festgestellte Steuern, welcher Gestalt dieselben auch
sein mögen, mit Leichtigkeit getragen, so lange die Lebensverhältnisse sich
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 49
nicht wesentlich ändern; dagegen begleitet neue Steuern, wie schonend und
vorsichtig dieselben auch angelegt sein möchten, doch stets nach irgend einer
Seite hin ein fühlbarer Druck. Auf diese Wahrnehmung gestützt, erscheint
es nun zulässig, den Gesammtbedarf für den öffentlichen Aufwand gleichför-
mig unter sämmtliche selbstständige Mitglieder des Staatsverbandes zu ver-
theilen, und das Ausgleichen darüber dem Leben im Volke selbst anheim zu
stellen. Vorbehalten wird hierbei, dafs der Übergang zu dieser neuen Be-
steurungsform nur allmälig eingeleitet und mit solcher Vorsicht angeordnet
werde, dafs die Versuche, das Gleichgewicht in der Vertheilung herzustellen,
nicht in verderbliche Reibungen ausarten, sondern in den Schranken einer
durch Rechtlichkeit und Sittlichkeit gemilderten Mitbewerbung bleiben. In-
dem die Wissenschaft sich dieser Ansicht zuneigt, giebt sie bereits den sitt-
lichen Gewinn auf, welcher durch die vorgeschlagene Besteurungsform er-
reicht werden sollte. So wenig irgend ein menschlicher Verstand das ganze
Gewebe der Lebensverhältnisse mit voller Unbefangenheit zu durchschauen
vermag, so wenig vermag auch irgend ein Steuerpflichtiger sich klar
bewufst zu werden, wie viel von den Steuern, welche die Regierung ein-
zieht, von ihm selbst wirklich getragen wird. Jedermann weifs nur, wie
viel Steuer er zahlt, nicht wie viel er trägt, und der Unverstand, welcher
Beides verwechseln wollte, könnte wohl hier eitles Aufblähen, dort bittern
Mifsmuth, nirgend aber wahren Gemeinsinn erzeugen. Indessen würde die
Verminderung der Hebungskosten und vornämlich die Befreiung der gewerb-
lichen und geselligen Verhältnisse von allen den Beschränkungen, welche die
jetzigen Besteurungsformen unentbehrlich machen, noch immer ein sehr
wichtiger materieller Gewinn bleiben; allein dieser erscheint bei der vorge-
schlagenen Vertheilung unerreichbar, weil weder das Vermögen, noch die
Bereitwilligkeit zur Einzahlung der solchergestalt vertheilten Beiträge zu
gewärtigen ist.
Wenn die Regierungen es gänzlich aufgeben, auf irgend einem andern
Wege, als durch unmittelbares Einziehen von Beiträgen, die Mittel zur Be-
streitung ihres Aufwands herbeizuschaffen,; so werden kaum irgend wo in
Deutschland weniger als fünf Thaler jährlicher Beitrag auf den Menschen im
Durchschnitte kommen. Es wird hierbei vorausgesetzt, dafs die Regierungen
kein eigenes Vermögen an Grundstücken oder Kapitalen zu benutzen, aber
auch keine Schulden zu verzinsen haben, dafs sie keine Landwirthschaft,
Philos.- histor. Kl. 1843. G
50 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
Bergbau oder anderes lohnendes Gewerbe für ihre Rechnung betreiben las-
sen, dafs sie für keine ihrer Handlungen Sporteln oder andere besondere
Zahlung nehmen, und dafs als Staatslast alle Verwendungen betrachtet wer-
den, die nicht blofs für das besondere Bedürfnifs einer Ortsgemeinde oder
einer Korporation von Privatleuten bestimmt sind. Da die Kinder unter
vierzehn Jahren allein schon wenigstens ein Drittheil der Bevölkerung aus-
machen, welche aufser denselben noch sehr viel andere Personen enthält,
die den eignen Unterhalt theils gar nicht, theils nicht vollständig erwerben
können; so wird es an sich klar, dafs die Steuer nicht nach Köpfen, sondern
nach Haushaltungen zu vertheilen ist, welchen eine Person vorsteht, unter
deren Leitung die Familie ihren Unterhalt durch Arbeiten oder Renten be-
zieht. Nach einer gewöhnlichen, auch durchschnittlich durch Zählungen
hinlänglich bestätigten Annahme sind fünf Personen verschiedenen Alters
und Geschlechts auf eine Haushaltung zu rechnen; hiernach würden von
jeder Haushaltung jährlich 25 Thaler zur Bestreitung des öffentlichen Auf-
wandes beizutragen sein. Im Preufsischen Staate beträgt der Tagelohn eines
gesunden vollständig arbeitsfähigen Mannes für gemeine Handarbeit, nach
Verschiedenheit der Gegenden, fünf bis zehn Silbergroschen, und folglich —
wenn der Mann auch wirklich in sämmtlichen 300 Werkeltagen also lohnende
Arbeit fände, — für das Jahr doch nur zwischen 50 und 100 Thaler. Würde
nun auch was aus der Beihülfe der übrigen Familienmitglieder zum Unter-
halte gewonnen wird, noch auf die Hälfte dieses Erwerbs — also 25-50 Tha-
ler angeschlagen; so leuchtet doch ein, dafs von den 75 bis 150 Thalern jähr-
lichen Erwerbs einer solchen Familie nicht 25 Thaler Steuer aufgebracht
werden können, wenn auch dieselbe in wöchentlichen Zahlungen von + Thlr.
erhoben werden wollte. Hierzu kommt, dafs in sehr vielen Fällen das Ein-
kommen, besonders der ländlichen Handarbeiter, fast ganz in Naturalien
besteht, und ihnen das ganze Jahr hindurch nicht soviel baares Geld zufliefst,
als nur allein hiernach als Steuer zu zahlen wäre. Selbst in denjenigen Fa-
milien, welche zunächst über dem gemeinen Handarbeiter stehn, würde das
Entrichten einer Steuer von ungefähr 2 Thaler monatlich, oft genug uner-
schwinglich bleiben, oder doch nur durch Maafsregeln, welche das häusliche
Glück zerstören, erzwungen werden. Vergebens wird dem Volke vorgehalten,
dafs alle seine Genüsse um den Betrag der Abgabe wohlfeiler sind, welche
nach andern Steuersystemen darauf liegt; es wird antworten, dafs es seine
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 51
Genüsse nach dem Maafse seines Erwerbs beschränken könne, die Steuer
aber terminlich bei besserem oder schlechterem Erwerb gleichförmig bezah-
len müsse.
Wäre demungeachtet die Möglickeit vorhanden, Steuern von solcher
Beträchtlichkeit allgemein einzuziehen; so würde dennoch die Bereitwillig-
keit, dieselben zu zahlen, in solchem Maafse mangeln, und der Unwillen
über die vorgeschlagene Vertheilung derselben sich mit solcher Heftigkeit
offenbaren, dafs jede Regierung auf unserer Bildungsstufe von der Einfüh-
rung eines Steuersystems abstehen müfste, das den gesammten Bedarf für
den öffentlichen Aufwand durch gleichförmig auf alle Haushaltungen ver-
theilte Beiträge aufzubringen unternimmt. Allerdings vertheilt jede Steuer,
wenn sie nur lange genug unverändert erhoben wird, sich endlich vollkom-
men nach dem Vermögen der Steuerpflichtigen, Abgaben zu zahlen; aber die
Richtung, welche diese Vertheilung nimmt, kann ebensowobl eine sehr wohl-
thätige, als eine höchst verderbliche werden. Wird der Lohn einer Arbeit
dadurch ungenügend, dafs der Arbeiter mehr davon an die Steuerverwaltung
abgeben mufs, als er neben vollständiger Befriedigung der in seiner Stellung
unentbehrlichen Bedürfnisse dazu verwenden kann; so verschwindet jeden-
falls die Möglichkeit, die gleiche Arbeit fernerhin für den bisher bestandenen
Lohn zu verrichten. Erhöhen diejenigen, welche der Arbeit bedürfen, den
Lohn dafür soweit, dafs dem Arbeiter davon ebensoviel wie vorhin für andre
Bedürfnisse bleibt, und wird der Bedarf an solchen Arbeiten durch diese
Vertheurung nicht vermindert; so entsteht allerdings aus einer solchen hö-
hern Besteurung des Arbeiterstammes kein wesentlicher Nachtheil für densel-
ben und überhaupt für die wirthschaftlichen Verhältnisse der Nation. Es ist
nun zwar sehr unwahrscheinlich, dafs die Verhältnisse sich so günstig gestal-
“ ten werden; nur wenige Arbeiten sind nach Maafs und Zeit so ganz unent-
behrlich, dafs der Bedarf davon nicht wenigstens einstweilig beschränkt wer-
den könnte. Dadurch aber wird der Arbeiter genöthigt, sich entweder Ent-
behrungen aufzulegen, welche seinen Zustand wesentlich verschlimmern, oder
die Zahlung der Steuer zu verweigern, und sich allem Ungemach auszusetzen,
das hieraus hervorgeht. Im ersten Falle sinkt dieser Theil der Bevölkerung
auf einen niedrigern Stand an Lebensgenufs und Gesittung herab; die Ver-
suchungen, welchen die Noth ihn aussetzt, verleiten ihn minder zuverlässig
in seinem Berufe zu werden, und er liefert für geringern Lohn auch schlech-
G2
52 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
tere Arbeit: im andern werden Steuerausfälle, welche die Finanzen des Staa-
tes zerrütten, selbst dann unvermeidlich, wenn Gewalt zum Eintreiben der
Steuer angewandt wird; denn Auspfändungen können doch auch nur Ver-
armung erzeugen. Aber selbst wenn eine vollständige Ausgleichung der
Steuerpflichtigen gegeneinander durch die Vorsicht einer weisen Regierung
und den Gemeinsinn der wohlhabendern und gebildetern Stände dergestalt
einzuleiten wäre, dafs der Übergang dazu nur mit erträglichen und bald vor-
übergehenden Unbequemlichkeiten erkauft würde; so bleibt dennoch in dem
vorgeschlagenen Steuersysteme soviel Anstöfsiges und den Begriffen der Völ-
ker Widersprechendes, dafs es in seiner vollen Ausdehnung niemals die Mei-
nung für sich gewinnen, und daher auch niemals mit günstigem Erfolge durch-
geführt werden kann. Die bei weitem überwiegende Mehrheit der Menschen,
selbst bis zu den höhern Bildungsstufen hinauf, vermag nur von demjenigen
Überzeugung zu gewinnen, wovon ihre Phantasie sich eine sinnlich anschau-
ende Vorstellung bilden kann. Es giebt viele Wahrheiten, welche fast all-
gemein gewufst, aber nur von Wenigen geglaubt werden. Bis in die Volks-
schulen hinab wird gelehrt, dafs der Erdboden ein im Freien schwebender,
ringsum bewohnbarer Körper ist, das Dasein von Gegenfüfslern kann Nie-
mand läugnen; aber nur sehr Wenige vermögen die Vorstellung davon mit
ihren sinnlichen Begriffen von Oben und Unten zu vereinigen, und der
hieraus entstehende Mangel an Überzeugung tritt nur darum seltener hervor,
weil die Gebildetern sich schämen, ihn einzugestehen. Gleichermaafsen er-
geht es auch dem Lehrsatze, dafs die Steuern sich nicht nach den Vorschriften
der Regierungen, sondern unvermeidlich nach den bestehenden Lebensver-
hältnissen vertheilen, sofern nur Zeit genug zu deren Ausgleichung gelassen
wird. Die verschiedenen Stufen der Wohlhabenheit unterscheiden sich zu-
nächst durch die Leichtigkeit, Bedürfnisse zu befriedigen. Der Millionär
bedarf ebensowohl Kleidung, als der Handarbeiter, welcher bei knappem
Tagelohn von einem Tage zum anderen nothdürftigen Unterhalt gewinnt;
allein die Empfindungen, womit beide dies gemeinschaftliche Bedürfnifs be-
friedigen, sind sehr verschieden. Jener wechselt so oft und mit so kostbaren
Kleidern, als es seinen sehr weit ausgebildeten Begriffen von Schicklichkeit
und Bequemlichkeit angemessen ist, ohne sich deshalb irgend einen andern
Genufs zu versagen; diesen zwingt die Nothwendigkeit, ein Kleidungsstück,
dessen Abnutzung er längst mit Bekümmernifs sah, durch ein neues zu erse-
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 53
tzen, sich mannigfaltig lockende Genüsse zu versagen. So verhält es sich
auch mit der Einzahlung von Steuern. Der Reiche zahlt ein Vielfaches des-
sen mit Leichtigkeit, was der Arme nur kümmerlich aufbringt. Eine völlig
gleiche Vertheilung geradehin einzuziehender Steuern wird auf den Grund
dieser Vorstellungen den Schaaren der Armen, und selbst den nur mäfsig
Begüterten als eine schreiende Ungerechtigkeit, den Wohlhabendsten aber
als eine nicht einmal dankenswerthe Schonung erscheinen. Eine Vertheilung
der Steuern nach dem Vermögen, dieselben zu zahlen, wird hierdurch un-
vermeidlich; aber es bleibt durchaus unmöglich, einen richtigen Maafsstab
für diese Vertheilung aufzufinden. Dieser Mangel wird um so schmerzlicher
empfunden, je gröfser die Summen sind, welche durch solche Vertheilungen
aufgebracht werden sollen; und dies Gefühl würde sich bis zur Unerträglich-
keit steigern, wenn die Regierung eines wahrhaft selbstständigen Staats den
Versuch wagte, die Mittel zur Bestreitung des Auiwandes, dessen sie auf
unsrer Bildungsstufe bedarf, nur allein durch von ihr festgesetzte Beiträge
von den Steuerpflichtigen unmittelbar einzuziehn,
Obwohl ein solcher Versuch nie gewagt werden konnte, so mangelt
es doch keineswegs an Erfahrungen, die vollkommen zur Vernichtung der
Zuversichtlichkeit hinreichen, womit die Wissenschaft sich Täuschungen hin-
giebt, zu welchen das unbedingte Anwenden bedingt richtiger Lehrsätze sie
verleitet. In neueren Zeiten haben die Regierungen grofser Staaten sich der
Einkommensteuern immer nur als eines Nothmittels bedient, um in Zeiten
eines aufserordentlichen Bedarfs Summen aufzubringen, welche durch Erhö-
hung der für den gewöhnlichen Aufwand angelegten Steuern nicht erlangt
werden konnten. Obwohl dies Opfer nur in Zeiten gefordert wurde, wo die
Steuerpflichtigen selbst dessen Nothwendigkeit erkannten, und eben deshalb
williger wurden, Mängel in der Vertheilung der Lasten zu dulden; so blieben
doch auch dann die niedern Volksklassen ganz mit dieser Anforderung ver-
schont. Überhaupt aber wurde diese Besteurungsform eilig wieder aufgege-
ben, sobald die Bedrängnisse schwanden, welche zu deren Anwendung ge-
nöthigt hatten. In Staaten, deren Selbstständigkeit nicht auf ihrer eigenen
Kraft, sondern nur auf einer politischen Konvenienz beruht, ist der Bedarf
für den öffentlichen Aufwand ebendeshalb viel geringer; sie stehen fast all-
gemein auf derjenigen Stufe der Entwickelung, worin die Grundherrlichkeit
eben in Landesherrlichkeit übergeht, und haben daher meistens beträchtliches
94 Horrumann über staatswirthschaftliche Versuche
Einkommen aus Domänen. Hier vermindert sich der Betrag dessen, was
durch Steuern aufzubringen ist, so bedeutend, dafs ein beträchtlicher Theil
desselben durch auf die Steuerpflichtigen vertheilte Beiträge erhoben werden
kann; und diese Vertheilung wird dadurch sehr erleichtert, dafs die Lebens-
verhältnisse der verschiedenen Einwohnerklassen hier bei weitem minder ver-
wickelt sind, als in dem Gewühle gröfserer Massen. Demungeachtet finden
die Regierungen solcher Staaten eine sehr grofse Erleichterung in ihren Fi-
nanzverhältnissen, wenn es ihnen möglich wird, durch Verbindungen, wie
beispielsweise der Deutsche Zollverein, Einkommen mittelbar durch Besteu-
rung des Verbrauchs und Verkehrs einzuziehen. Die Preufsische Regierung
hat seit dem Jahre 1820 ungefähr ein Zehntheil des Bedarfs zur Bestreitung
des öffentlichen Aufwands in dem weiter oben bezeichneten Umfange durch
eine den Steuerpflichtigen aufgelegte Personensteuer erhoben, sie hat es nicht
gewagt, diese Besteurungsform auf ansehnliche Städte auszudehnen, worin
die gröfsere Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse deren Anwendung allzu
schwierig machen würde. Nach einem Voranschlage für das gegenwärtige
Jahr sollen von beinahe 12! Millionen steuerpflichtigen Einwohnern nicht
ganz 7% Millionen Thaler (') durch diese Personalabgabe — Klassensteuer
genannt — aufgebracht werden, wonach auf den Menschen durchschnittlich
15 Silbergroschen 6 Pfennige, oder 7 Thaler kommen. Hiernach würden
auf eine Haushaltung von fünf Personen jährlich im Durchschnitte 3; Thaler
fallen. So gering dieser Beitrag im Verhältnifs desjenigen ist, was selae
werden müfste, wenn der ganze Bedarf für den öffentlichen Aufwand aus
dem Ertrage einer solchen Steuer entnommen werden sollte; so hat die Re-
gierung es doch keinesweges möglich gefunden, denselben allen Steuerpflich-
tigen gleichförmig aufzulegen. Sie hat vielmehr vier Hauptabtheilungen der-
selben unterschieden, in deren jeder wieder verschiedene Besteurungsstufen
angenommen sind. Dieser Stufen sind in der Regel drei. Die Steuer wird
in gleichen monatlichen Zahlungen erhoben, und beträgt für die Haushaltung
jährlich
in der ersten Hauptabtheilung nach den drei
Steuerstufen . 2.2...» .. 144 — 96 — und 48 Rthlr.
in der zweiten Hauptabtheilung ebenso... . 24-18 — „ 12 „
(') In genauern Zahlen: von 12,162,245 Steuerpflichtigen 7,482,560 Thaler.
„ den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u. s. w. 55
in der dritten Hauptabtheilung ebenso. ..... 8— 6 — und 4 Rthlr.
in der vierten Hauptabtheilung endlich ebenso. . 3—2— „AM ,„
Einzelne, welche selbstständig aufser den Haushaltungen stehen, ent-
richten die Hälfte dieser Beiträge nach Verschiedenheit der Abtheilungen,
welchen sie beigeordnet sind. In der dritten Stufe der vierten Klasse wird
überhaupt nicht nach Haushaltungen gesteuert, sondern es zahlt jeder ar-
beitsfähige Mensch, welcher das sechszehnte Jahr überschritten, das sech-
zigste aber noch nicht vollendet hat, monatlich 15 Pfennige, also jährlich 4
Thaler. In Folge dieser Beschränkungen befinden sich in einer Haushaltung
auf dieser Steuerstufe gewöhnlich nur zwei steuerpflichtige Personen und
dieser Satz ist daher auch in vorstehender Zusammenstellung angenommen
worden. Ungeachtet der so bedeutenden Verschiedenheit dieser Beiträge wer-
den doch dem erwähnten Vooranschlage nach von jedem Hunderttausend
des ganzen Steuerbetrages durchschnittlich nur aufgebracht
von der ersten Hauptabtheilung . ...... 2.2.2.2... 3,708 Thaler
von der zweiten ei PR I EONNNEEEESOB 5
von der dritten 4 Hrn gu an 3087 #
von der vierten er VER URILURR, 48,997 ar
Summe... 100,000 Thaler
Es kommen hiernach ein durch die Zahlungen der ersten Hauptab-
theilung 37 proCent oder noch nicht ganz ein Siebenundzwanzigstel,
durch die der zweiten 151 oder noch nicht ganz ein Sechstheil, durch die
der dritten 31% oder noch nicht ganz ein Drittheil, durch die der vierten
beinahe 49 proCent, oder fast die Hälfte der ganzen Steuer. Die Gering-
fügigkeit des Ertrages der Klassensteuer in der zweiten, und noch weit mehr
in der ersten Hauptabtheilung ungeachtet der verhältnifsmäfsig sehr ansehn-
lichen Höhe der Steuersätze beruht keineswegs auf einer unzeitigen Milde
der Steuerbeamten; vielmehr beweist die fortwährend beträchtliche Zahl
und Dringlichkeit der Beschwerden über allzu hohe Einschätzung, dafs nicht
leicht irgend Jemand in Bezug auf den Steuersatz allzu niedrig angesetzt wird.
Aber die Zahl der Haushaltungen und einzelnen Personen, welche in die hö-
hern Steuerabtheilungen aufgenommen werden können, mindert sich um so
mehr, je höher der Steuersatz wird, welcher darin entrichtet werden soll.
Selbst in den vier Hauptabtheilungen sind wiederum diejenigen Steuerstufen
am zahlreichsten, und eben deswegen am einträglichsten, worin der niedrigste
56 Horrmann über staatswirthschaftliche Versuche
Satz gezahlt wird. Die letzte Steuerstufe der vierten Abtheilung enthält sogar
noch etwas über 31 Million —.nämlich 3,255,832 — einzeln Steuernde, und
ergiebt allein über ein Fünftheil des ganzen Einkommens aus der Klassen-
steuer, nämlich auf jedes hundert Tausend durchschnittlich 21,756 Thaler.
Ungeachtet dieser klaren Thatsachen beruhigt sich die Meinung nicht allein
der grofsen Volksmassen, sondern selbst der bei weitem überwiegenden An-
zahl der Gebildeten so wenig bei einer gleichen Vertheilung nach der ein-
fachen Anzahl der Steuernden, dafs sie vielmehr immerfort strebt mannigfal-
tigere und stufenweise immer mehr erhöhte Steuersätze aufzustellen. Als die
Preufsische Regierung im Jahre 1820 die vorstehend beschriebene Personal-
steuer aufzulegen beabsichtigte, wurden zunächst nur vier verschiedne Steu-
ersätze in Vorschlag gebracht. Ein Beitrag von vier T'halern jährlich sollte
in monatlichen Zahlungen von 10 Silbergroschen auf die Haushaltung in der
dritten Steuerklasse entrichtet werden, welche die grofse Anzahl derer be-
griff, die zwar selbst Handarbeit, aber für eigene Rechnung verrichten, wie
beispielsweise Handwerker und Bauern. Die vierte Klasse unter dieser soll-
ten diejenigen Handarbeiter bilden, welche blofs für Tagelohn oder Lohn
und Kost, wie Tagelöhner und Gesinde von ihrem Lohnherrn angewiesene
Dienste verrichten; hier sollte die arbeitsfähige Person jährlich 4 Thaler oder
monatlich 15 Pfennige steuern. Über der dritten Klasse sollte nur noch
eine zweite mit 12 Thalern jährlich oder 1 Thaler monatlich, und eine
erste mit 24 Thalern jährlich, oder 2 Thaler monatlich besteuert, stehen;
jene sollte Diejenigen enthalten, welche durch ihre geistigen Fähigkeiten ge-
werbliche Arbeit noch bis in’s Einzelne hinein leiten, diese dagegen die höch-
sten Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, welche von dem Ertrage grofsen
Grundeigenthums, beträchtlicher Kapitale oder ansehnlicher Besoldungen
leben. In den Städten bezeichneten vormals die Benennungen Patricier,
Grofsbürger, Kleinbürger und Beisassen diese vier Abstufungen; auf
dem Lande wäre dabei zunächst an Grundherrn, gebildete Landwirthe,
Bauern und Einlieger zu denken. Werden die Begriffe festgehalten, welche
Jedermann im gemeinen Leben mit diesen Benennungen verbindet, und wird
weder der Hoffahrt noch der niedern Gesinnung eine Stimme bei der Ver-
theilung eingeräumt, so wird ein unbefangener Sinn kaum irgendwo Schwie-
rigkeiten dabei finden. Aber vergebens ward darauf hingewiesen, dafs die
wohlhabendern Einwohner durch die Verbrauchssteuern sehr viel stärker
den ganzen Bedarf für den öffentlichen Aufwand u.s. w. 57
betroffen würden als die ärmern, und dafs sie die Dienste, deren sie bedürfen,
um so höher bezahlen müssen, je theurer der Lebensunterhalt des Arbeiter-
stammes wird. Es blieb durchaus unmöglich, die vorgeschlagene einfache
Vertheilung durchzusetzen und nur die vorstehend beschriebene von zwölf
verschiedenen Steuersätzen befriedigte bis jetzt nothdürftig in sieben Provin-
zen des Staats; in der achten, der Rheinprovinz, konnte jedoch die Meinung
auch dadurch noch nicht gewonnen werden, und errang wenigstens die Be-
fugnifs, unter jene zwölf Steuersätze noch acht Zwischenstufen einzuschieben.
Obwohl das Vertheilungsgeschäft in dem Maafse lästiger wird, worin die Zahl
der Steuersätze sich mehrt, und obwohl die Beiträge durch ihre Vertheilung
in monatliche Zahlungen so geringfügig werden, dafs sie bei verständig ge-
ordnetem Haushalte sehr viel leichter gezahlt werden können, als der gröfste
Theil der gewöhnlichen Wirthschaftsausgaben ; so scheint dennoch nach einer
mehr als zwanzigjährigen Erhebung der Klassensteuer die Meinung mehr be-
schwichtigt als befriedigt. Sogar ist bei den ständischen Verhandlungen eini-
ger Provinzen der Antrag vorgekommen, diejenigen, welche nur 15 Pfennige
monatlich steuern, von dieser Besteurung ganz zu entbinden. Dabei wurde
wahrscheinlich ebensowenig daran gedacht, dafs durch solche Befreiung über
ein Fünftheil des ganzen Steuereinkommens weggegeben würde, als daran,
dafs es nicht sowohl darauf ankommt, den Tagelöhnern eine Abgabe von 15
Pfennigen monatlich zu ersparen, als darauf, ihnen anhaltend lohnende Ar-
beit anzuweisen. Wenn ein Mann, der werktäglich in einem grofsen Theile
des Staats nicht einmal fünf Silbergroschen verdienen kann, weil er selbst
um diesen geringen Lohn nicht einmal täglich Arbeit findet, werktäglich un-
ausgesetzt sechs Silbergroschen erarbeiten könnte; so wäre sein jährliches
Einkommen um mehr als zehn Thaler gebessert, wogegen der ganze Steuer-
erlafs ihm jährlich nur einen halben Thaler erspart. Wenn solche Erfah-
rungen gemacht werden mulfsten bei der Erhebung nur eines sehr mäfsigen
Theils des gesammten Bedarfs für den öffentlichen Aufwand; so tritt wohl
ganz unzweifelhaft die gänzliche Unausführbarkeit des Vorschlags hervor, je-
nen Bedarf vollständig durch eine gleichförmig vertheilte Personensteuer ein-
zuziehen, und der Glanz, womit die Wissenschaft diesen Vorschlag umgiebt,
verschwindet wie die Zauberschlösser der Fata morgana.
ii
Philos.- histor. Kl. 1843. H
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Über
ein, in Justinians Pandekten enthaltenes, Verzeichnis
ausländischer Waaren, von denen eine Eingangssteuer
an den Zollstätten des römischen Reiches
erhoben wurde.
Von
ME DIERKSEN.
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 2. November 1843.]
I. einem Bruchstücke der, von den Compilatoren der Justinianischen Pan-
dekten epitomirten, Monographie des Juristen Aelius Marcianus über die
Rechte und Pflichten der öffentlichen Angeber, (!) findet man eine ausführ-
liche Aufzählung einzelner Waaren des Auslandes, die bei der Einführung
über die Zollinie des römischen Reiches den Pächtern der öffentlichen Steu-
ern anzumelden waren, zum Behuf der Erlegung der gesetzlichen Abgabe.
Dieses Fragment, das durch seinen Inhalt ganz geeignet ist, den Mittelpunkt
zu bilden der Untersuchung über die, nichts weniger als genügend aufge-
klärte, Lehre von den Handelsabgaben unter der Regierung der römischen
Kaiser, (?) gehört zu den bekanntesten Überresten der römischen Rechts-
doctrin. Mit der Kritik und Auslegung der Textesworte desselben haben
die Bearbeiter dieses Gegenstandes (°) vielfach sich beschäftigt. Allein we-
PETE: S. 7. D. de publican. 39.4. Marcianus lib. singul. de delatoribus.
(*) Die Literatur ist verzeichnet in Haubold’s Institution. iur. rom. priv. histor. dogm.
lineam. Pars gen. lib. 3. ce. 3. tit. 4. d. Ausg. v. C. E. Otto. S.103. Lips. 1826. 8. Das
Werk von P. Burmann de vectigalib. pop. rom. c. 5. (de portoriis.) S. 50. fgg. Leid.
1734. 4. ist von den spätern Bearbeitern dieses Gegenstandes vorzugsweis benutzt wor-
den; unter andern hat Heineccius (Syntag. antiquitatt. I. R. lib.1. Append.I. 1. $. 59.)
die Ausführung dieses Gewährsmannes abgeschrieben, ohne denselben zu nennen.
(°) Eine übersichtliche Zusammenstellung der juristischen Literatur findet man in F.
Hommel’s Corpus iur. civ. c. not. variorum. (Dig. XXXIX. 4. Fr. 16. 8.7.) und in Smal-
H2
60 H. E. Dırnksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
nige Stücke der Rechtsbücher Justinian’s bieten eine gleich grofse Schwie-
rigkeit dar, die Lesarten der Handschriften und Ausgaben nach festen Prin-
eipien zu ordnen, und von denselben die Resultate der Conjectural-Kritik
zu trennen. In den, zur Literatur dieses Pandekten -Fragments gehörenden,
Schriften vermifst man daher verläfsliche Resultate, sowol in Beziehung auf
die Construirung des Textes, als auch hinsichtlich der historischen Würdi-
gung des gesammten Referates von Marcianus.
Die Aufgabe der gegenwärtigen Erörterung ist nicht diese, eine um-
ständliche Erklärung der Einzelheiten jener Mittheilung unsers Juristen zu
unternehmen, und daran die geschichtliche Untersuchung der Eingangszölle
bei den Römern zu knüpfen. Es soll freilich die Deutung der einzelnen Ar-
tikel unseres Zolltarifs nicht durchaus abgewiesen werden; und vielleicht
dürfte es uns gelingen, durch die Benutzung einer für diesen Zweck noch
gar nicht ausgebeuteten Quelle, nämlich des Strabo und der sogenannten
kleinen griechischen Geographen, (!) ungleich sicherere Resultate als bisher
für die Auslegung des in Frage stehenden Fragments zu gewinnen. Allein
dadurch würde unser Hauptzweck noch nicht erreicht sein. Wir wollen vor-
nehmlich dasjenige Verfahren bezeichnen, welches am besten geeignet zu
sein scheint, um für die Wort- und Sach-Kritik die Lösung der nachstehen-
den wichtigen Fragen vorzubereiten: was wollte der Verfasser jenes Bruch-
stücks durch die Mittheilung des Verzeichnisses steuerbarer Gegenstände be-
wirken? welches sind die Gegenstände der Besteuerung, die er wirklich ge-
nannt hat? enthält das Verzeichnis derselben eine erschöpfende Aufzählung’?
aus welcher Quelle ging dieses hervor, und nach welchem System ward es
lenburg’s Ausg. von A. Schulting’s Notae ad Pandectas (Lib. 39. Tit. 4. a. a. 0.) Un-
ter den daselbst namhaft gemachten Autoren haben Gu. Pancirolus (Thesaur. var. le-
ction. II. 110. in des Heineccius Jurisprud. Rom. et Att. T. I, p. 1216. sq. Vergl. Pan-
cirolus rerum memorabil. libri p. 9. sqgg. Amberg. 1607. 8.) und Bynkershoek (Öbser-
vation. IV. 5.) mit unserm Fragment am ausführlichsten sich beschäftigt. Unter den Nicht-
juristen, welche des Inhalts dieser Pandekten-Stelle gedenken, ist auszuzeichnen Cl. Sal-
masius (Plinianae exercitation. in C. I. Solini polyhistora. Par. 1629. Fol.) Unbedeutend
ist dagegen das von D. A. Hegewisch (Histor. Versuch üb. d. röm. Finanzen. S.196. fg.
S. 257. S. 341. Altona 1804. 8.) darüber bemerkte.
(') Namentlich des Arrianus, in dessen Periplus ponti Euxini, gleichwie in dem Pe-
ripl. maris Erythraei. (Vergl. die Sammlung der Geograph. vet. scriptor. graec. minor.
Vol. I. Oxon. 1698. 8.)
Verzeichnis ausländischer WW aaren, u. s. w. 61
geordnet? endlich die ganze Mittheilung des, unter der Regierung der Se-
vere blühenden, Juristen Ael. Marcianus welche Geltung hat sie für das
Zeitalter Justinian’s?
E
Der Text desjenigen Abschnittes unsers Pandekten-Fragments, der
mit den einzelnen für die Einfuhr besteuerten Waaren (species pertinentes ad
vectigal) sich beschäftigt, liegt in den Ausgaben der Justinianischen Pandek-
ten, welche unabhängig von der Florentiner Handschrift ihre Textesrecen-
sion gebildet haben, in einer scheinbar nicht minder rathlosen Verfassung
vor uns, als dies bei den in griechischer Sprache verfafsten Stellen der Rechts-
bücher Justinian’s der Fall ist. Daher haben denn auch wol die Ausleger,
die nach dem Bekanntwerden der Florentiner Ausgabe der Pandekten jenen
Theil des in Frage stehenden Fragments zum besondern Gegenstand ihrer
Forschung sich erwählten, ausdrücklich erklärt oder stillschweigend ange-
deutet, (!) dafs die Lesarten der Nicht -Florentinischen Pandekten-Ausgaben
hier nicht weiter in Betracht kämen, indem dieselben zum Theil ganz unla-
teinische Ausdrücke enthalten, oder auch Bezeichnungen fremdartiger Gegen-
stände von unverbürgter Achtheit anführen.
Dies Verfahren kann man nicht gut heifsen. Es läfst sich mit Be-
stimmtheit nachweisen, dafs die Glossatoren zu Bologna in dem hier zu prü-
fenden Abschnitt unsers Pandekten-Fragments einen vollständigen Text vor
Augen hatten, und diesen in ihren Lehrvorträgen und Schriften erläuterten.
Dafür zeugen die in der Glosse des Accursius erhaltenen Spuren von Ver-
suchen zur Deutung einzelner Textesworte. Dagegen bei griechisch abge-
fafsten, so wie bei defecteu lateinischen, Texten ist das Verfahren jener Ex-
egeten ein ganz anderes. Sie ignoriren alsdann diesen Theil des Textes voll-
ständig, und entziehen ihm jede Erklärung, mit Ausnahme der gröfseren
griechischen Pandekten-Excerpte, für welche eine lateinische Übersetzung
ihnen vorlag, die sie zum Theil als das Original betrachteten. (?) Ferner die
verdorbenen Lesarten in dem vorstehenden Paragraphen unsers Fragments,
(') Jenes gilt z.B. von Bynkershoek a.a.0., dieses von Pancirolus a. a. 0.
(2) Vergl. Savigny Gesch. d. R. Rechts im M. A. Bd. 3. Cap. 22. $.176. S. 482.
Ausg. 2. Heidelb. 1834.
62 H. E. Dinksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
die auf der Textes-Redaction der Glossatoren (der sogenannten Recensio
Bononiensis) (1) beruhen und die Zectio Vulgata bilden, sind im Ganzen
nicht unwerth der Beachtung, so wenig auch handgreifliche Irrthümer im
Erkennen und Verknüpfen des einzelnen in Abrede gestellt werden können.
Durch die Vergleichung dieser Lectio Vulgata mit der Florentiner Handschrift
wird der Text der letztern, bei einigen zweifelhaften Ausdrücken, unterstützt
und wol gar berichtigt. (?)
Um aber den Gang der Bildung des Textes in unserm Pandekten-
Fragment vollständig zu übersehen, genügt es nicht, die Lesarten der Glos-
satoren (die Lectio Fulgata) jenen des Florentiner Textes (der Zectio Flo-
rentina) gegenüberzustellen, und diesen beiden etwa noch die Textes-Re-
cension der Synkretisten (der sogenannten Fditiones Mixtae) hinzuzufügen.
Diese herkömmliche Olassificirung würde für den vorliegenden Fall schon
aus dem einfachen Grunde nicht ausreichen, weil gerade in dem vorstehen-
den Fragment die s. g. gemischten Ausgaben der Pandekten, fast nur mit Aus-
nahme jener von Haloander, auf die Mittheilung des reinen Florentinischen
Textes sich beschränken. Irren wir nicht, so sind für unsern Text vier Rei-
hen von Ausgaben zu unterscheiden, die nicht nach der Zeitfolge der Be-
kanntmachung sich abgrenzen, sondern nach dem Prineip der Constituirung
des Textes. Die Anhaltpunkte werden freilich auch hier durch die Vulgata
und die Florentina Lectio gebildet, denen eine Mixta Lectio zur Seite geht;
allein die Mischung der letzteren ist nicht beschränkt auf die Verbindung der
Elemente der Bolognesischen Textesrecension mit den Lesarten der Floren-
tiner Handschrift, (wie die Vertheidiger der Kategorie gemischter Pandekten-
Ausgaben behaupten,) vielmehr kann man auch diejenigen Ausgaben zu den
gemischten zählen, welche, ohne Kenntnis der Florentina, ihren Text aus
der Vulgata und aus freien Conjectural-Varianten zusammengestellt haben.
In die erste Reihe stellen wir diejenigen Ausgaben, welche annähe-
rungsweise am treuesten den Text der Glossatoren in Bologna, d.h. die Le-
ctio Vulgata, wiedergeben. Es darf hier nicht eine genaue Übereinstimmung
(') S. ebendas. $.168. S. 461. vergl. Bd. 2. $. 54. S. 157.
(°) Aus dem folgenden Schema der Varianten unsers Pandekten-Textes ist zu entnehmen,
dals einige von den am meisten charakteristischen Lesarten der Florentiner Handschrift auch
in einzelnen Codices Vulgati vorkommen, z. B. in dem Königsberger Pandekten - Manuscript.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 63
der Lesarten erwartet werden, da das in Frage stehende Bruchstück ein Ag-
gregat zahlreicher fremdartiger Bezeichnungen bildet, so dafs Lese- und
Schreibe-Fehler auch von sorgfältigen Abschreibern leicht begangen werden
konnten. Man kann, bei der Feststellung des Gebietes der Ausgaben mit
Bolognesischem Text, nur dies fordern, dafs die vorkommenden Varianten
weder als das Ergebnis der CGonjeetural-Kritik des Editors sich darstellen,
noch als die Wirkung des Einflusses der Florentiner Pandekten - Handschrift.
In diesen Kreis sind daher nicht blos die Ausgaben des funfzehnten Jahrhun-
derts zu ziehen, sondern auch einige aus dem Anfange des sechszehnten,
welche von den Eigenheiten andrer gleichzeitiger Ausgaben, nämlich von je-
nen der zweiten und dritten Serie, sich frei erhalten haben.
Die Ausgaben der zweiten Reihe zeichnen sich aus durch das Be-
streben, den Text der Vulgata einer selbständigen Kritik zu unterwerfen.
Seit dem Beginne des sechszehnten Jahrhunderts war, vornehmlich durch
den Einflufs der Lehre so wie der Schrifen des Andr. Alciatus, das Be-
dürfnis einer solchen Textes-Kritik für die Rechtsbücher Justinian’s lebhaft
angeregt worden. Allein es fehlte anfangs noch gar sehr an den unentbehr-
lichen Hülfsmitteln zur Förderung dieses Zweckes. Namentlich hatte für die
Pandekten die Kritik der Inscriptionen, und die Berichtigung des griechischen
Original-Textes einzelner Fagmente, noch nicht die Beihülfe der vollständi-
gen Vergleichung des Florentiner Codex erfahren, indem die von Politia-
nus und Bologninus besorgten Collationen weder veröffentlicht noch
gründlich benutzt waren. (1) Die Textes-Kritik dieses Zeitraums, der bis
zur Mitte des sechszehnten Jahrhunderts sich erstreckt, und in vereinzelten
Erscheinungen auch noch ungleich weiter hinaus seine Einwirkung bethätigt
hat, blieb nicht frei von dem Einflusse, den die in der Accursischen Glosse
enthaltene Auslegung auf die Überlieferungen der Justinianischen Rechts-
quellen zu äufsern damals noch nicht aufgehört hatte. Vornehmlich aber
schöpfte sie ihre Mittel aus einer gründlicheren Kunde der Gesetze der la-
teinischen Sprache, und aus der vergleichenden Zusammenstellung der man-
nichfachen, in den Rechtsbüchern Justinian’szerstreuten, Zeugnisse der Rechts-
quellen, zum Theil wol auch aus den entsprechenden Äufserungen der nicht-
juristischen Classiker. Die Conjectural-Kritik bewegte sich mit grofser Frei-
(') Vergl. H.Brencmann Histor. Pandectar. IV.1.2. p.306.fg. Traiecti ad Rh. 1722. 4.
64 H.E. Dınksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
heit, und diese artete wol sogar in schrankenlose Willkühr aus, wenn ein
dunkler Text, wie der unsers Pandekten-Fragments, zur Behandlung vorlag.
In die dritte Classe gehört Haloanders Recension des Justiniani-
schen Pandekten-Textes. Sie hält die Mitte zwischen der willkührlichen
Kritik der Ausgaben der zweiten Ordnung und zwischen der Methode derje-
nigen Herausgeber, die den Text der Florentiner Handschrift entweder ganz
getreu wiedergeben, oder demselben blos vereinzelte Varianten hinzufügen.
Bei unserm Pandekten-Fragment dringt sich uns, mehr noch als an andern
Stellen, die Überzeugung auf, dafs Haloander, der nur die ungenaue Bo-
lognini’sche Collation des Florentiner Manuscripts benutzen konnte; (!)
gleichwol aus dieser die Lesarten der Recensio Bononiensis zu berichtigen,
und überhaupt einen selbständigen Text zu construiren verstanden hat. Da-
her denn auch besonders hier das, für die genannte Pandekten -Ausgabe in
unsrer Zeit in Umlauf gesetzte, Prädicat einer, aus Florentiner und Bologne-
ser Lesarten, gemischten Textes- Recension als gerechtfertigt erscheint.
Die vierte Classe der Pandekten- Ausgaben hat es ausschliefslich
mit dem reinen Text des Florentiner Codex zu schaffen. Dieser ist bei un-
serm Fragment, für die Kritik sowol der Inscription als auch der einzelnen
Textesworte, mit allen Merkmalen der Verläfslichkeit ausgestattet. Gleich-
wol bewährt sich auch hier die richtige Vorstellung von der Selbständigkeit
der Codices Vulgati. (?) Denn in einigen Punkten, wo die Vulgata richtiger
liest als die Florentina, gleichwie an andern Stellen, wo in jener ganz verun-
staltete Bezeichnungen aufgenommen sind, ist nicht zu verkennen, dafs die-
selbe auf Abschriften sich stützt, die von dem Florentiner Codex durchaus
unabhängig waren.
Nach den hier entwickelten Principien ist das folgende Schema der
verschiedenen Recensionen des Textes unsers Paragraphen zusammengestellt.
Von den Ausgaben der dritten und vierten Serie, die den Text der Haloan-
drischen Recension, oder der Florentiner Pandekten-Ausgabe, unverändert
wiedergeben, brauchte nicht weiter die Rede zu sein. Allein auch für die
Ausgaben der beiden ersten Classen konnte an eine vollständige Vergleichung
nicht gedacht werden. Es reichte für unsern Zweck aus, auf diejenigen Aus-
(') A. Augustinus Emendation. et opinion. 1.1.4. Brencmann a.a.0. c.3. p. 325. fg.
(?) Savigny a.a.0. SS.168. fgg. S. 460. fgg.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 65
gaben sich zu beschränken, welche die Merkmale ihrer Classe unverkennbar
hervortreten lassen.
1,,(2)
8.7.9)
Species pertinentes
ad vectigal: ?) cina-
°) Nureinige Ausgaben
dieser Classe ziehen die
Schlufsworte des $. 6. mit
den Anfangsworten des
DI. (°)
807
Species pertinentes
ad vectigal: “) cina-
“) puta cinamomum. 1,
U. Illa. IV.
I. (3)
1p)
Species pertinentes
ad vectigal, puta cin-
-F) Haloander hat die
88. 6. und 7. zu einem
fortlaufenden Redesatz
zusammengezogen.
IV. ()
8.7.
Species pertinenfes
ad vectigal: cinna-
$.7. zusammen: profiteri
volentem: species perti-
nentes ad vectigal etc.
Dies sind I. und Ile.
°) vectigal: sunt C. R.
(') Der zu Grunde gelegte Text ist jener des Digestum novum, Lugd. ap. Fr. Fradin.
4511. Fol. Die in den Noten beigebrachten Varianten sind aus den nachbenannten Quellen
gezogen: C. R. (Königsberger Handschrift des Digest. nov. Ms. no. 10. der dortigen K.
Universitäts-Bibliothek.) I. (Ausgabe des Dig. nov. Romae ap. S. Marcum. 1476. F.) Ia.
(Die Edit. Dig. novi. op. Nicolai Jenson, Gallici. Venet. 1477. F.) I. (Ed. per And. Ca-
labr. de Papia. Venet. 1489. F.) IIa. und II2. (Edd. ap. Bapt. de Tortis. Venet. 1491.
und 1498. F.) IH. und Illa. (Editt. ap. Fradin. Lugd. 1515. und 1517. F.) IN2. (Dig.
nov. ap. Io. Saccon. Lugd. 1508. F.) IV. (Ed. per Ioan. Syberalmanum. s.l. 1482. F.) \V.
(Dig. noy. Venet. p. Bernardin. de Noyaria et Anton. de Starchis de Valentia. 1485. F.)
(?) Die Grundlage bildet der Text der Ausgabe des Dig. nov. Lugd. ap. Fr. Fradin.
1528. F., der im wesentlichen übereinstimmt mit jenem der Edit. Digestorum, s. Pandecta-
rum. Par. ex offic. Rob. Stephani. Vol. IV. 1528. F. In den Noten sind die nachbenannten
Ausgaben verglichen: I. (Ed. Digestor. iur. ciyv. ex emend. Ant. Augustini. rest. Paris.
1550. 4.) II. (Ed. Dig. novi. Lugd. ap. Hugon. a Porta. 1556. F.) IH. (Dig. nov. excud.
Franc. Fradin. impr. Hug. a Porta. Lugd. 1531. F.) IIIa. (Dig. nov. ap. Hugon. et here-
des Aimonis a Porta. Lugd. 1540. F. Es bedarf nicht der Einschärfung einer schon oft
wiederholten Bemerkung, dals die verschiedenen Porta’schen, gleichwie die Fradin’schen
und Tortis’schen, Ausgaben der Pandekten auf zum Theil sehr abweichenden Textesrecen-
sionen beruhen. Schrader Prodrom. corp. iur. civ. etc. p. 6. not. 5. Berol. 1823. 8.)
IV. (Corp. iur. civ. cur. Baudoza Cestio. Antverp. 1600. 4.)
(?) Hier folgt der Text der Libri L. Digestorum, seu Pandectarum, ed. p. Greg. Ha-
loandrum. Norimb. 1529. 4.
(*) Text der Florentiner Pandekten-Ausgabe. (Digestorum, s. Pandectarum, libri L. ex
Florentin. Pandect. repraesent. stud. fratr. Taurelliorum. Florent. 1553. F.) Die in den No-
ten beigebrachten Varianten beziehen sich auf die Gothofredische Textes-Recension, und
auf die, durch die fratres Kriegelii besorgte, Leipziger Ausgabe des Corp. iur. civ.
Philos.-hisior. Kl. 1843. I
66 H.E. Direksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
I.
momum,‘) piperlon-
gum, piper album,
folium pentafolium,
“)folium barbaricum,
folium pentaforum,‘)
costum, castramo-
mum, /) nardista-
chis, &) cassia turia-
na, *) xillocassia, ?)
smurma,’)amomum,
”) zinziber, ”) mala-
bastrum, °) aroma
°) cynamomum. C. R.
cinnamomum, IIDb.
<) pentasphorum. C.R.
pentaforum. IId. IV. V.
penthaforum. II. pentha-
folium. 1.
°) penthaforum. I. Ia.
TV.V. Der C.R. hat nach
folium barbaric. sogleich:
costum. Einige Ausgg.
z.B. II. lassen sowol fo-
lium barbar. als auch fol.
pentaforum ganz fallen.
f) castomomum. C.R.
castromomum Ile.
&) nardicachis. V. nar-
distrachis. IV.
#) cassia turana. C. R.
cassiaturiana, (ohne Ab-
theilung.) I. IIa.
’) xilocassia. C.R. Ia.
Ub. xilo cassıa. I. IV.
V. xylocassia, IIa.
°) smurna. C.R. II. Ile.
sinurna. IId. sinirina. I.
Ia. simirina. V. ciniri-
am. IV.
”) ammomum. 1.1a. IV.
amomus. Il. IIa.
”) zinciber. I.
°) malabatrum. C R.
mala bastrum. II.
I.
momum, piper lon-
gum, piper album,
folium, gariophyl-
lon, ®) costum, cas-
samum, nardo sta-
chys, casia, ”) thy-
miama, °) xylocasia,
‘) smurna, °) amo-
mum, ”) zinziber, *)
malobathrum, ‘) am-
moniacum, chalba-
ne, *) laser, agolo-
ß) gariophyllum. I. IHe.
gariophilum. I. II.
7) cassia. I. IV. cassa.
I.
d) thymiana. IV.
©) xylocassia. I. IL. IV.
xilocassia. III. Ile.
°) smyrna. I. I. IM.
Illa.
”) amomus. II. IIa.
>) zynzyber. II. zyn-
ziber. Ile.
‘) Vergl. Fr. Hoto-
manus in comm. verbor.
iur. v. Malabathrum.
(Opp: T. 1. P. 2. p.768.
Genev. 1599. F.)
*) chalbane laser. II.
II. IIfg. chalbanum, la-
ser. IV.
I.
namomum, piper
longum, piper al-
bum, folium penta-
sphaerum, folium
barbaricum, costum,
costamomum, nardi
stachys, cassia tu-
xylocassia,
smyrna, amomum,
zinziberi, malabath-
riana,
rum, aromalndicum,
chalbane, laser, agal-
IV.
momum, piper lon-
gum, piper alVum,*)
folium pentasphae-
rum, folium barbari-
cum, costum, costa-
momum, nardi sta-
chys, cassia turiana,
*")xylocassia, smVr-
na,***)amomum, zin-
giberi, malabathrum,
aromalndicum, chal-
bane, laser, alchelu-
*) album. D. Gotho-
fred.
°*) tyriana, lesen eini-
ge Nach-Gothofredische
Ausgaben.
**) smyma. D. Go-
thofred.
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 67
T:
indicum, ?) galbane
laser, ?) alchelunsia,
”) sargogalla, ‘) ome-
raticum, ‘) cardamo-
mum, xillocinnamo-
mum, ?) opus bussi-
cum, *) pelles bau-
mestie,*) pelles ba-
bilonice,:) ebur, fer-
rum indicum, carba-
sum, lapis universus,
«=) margarita,?) sar-
donis, ceurauium, “)
?) aromaindicium. Ile.
9) gualbane, laser. C.R,
galbane, laser. I. II. Ha. b.
”) alchelucia. C.R. al-
chelusia. I. Ia. alcheus.
II. Ha. alcheusi. IV. V.
alche. III.
*) sargo, gallaoni. C.R.
sargogailla. IITb. sargo
galla. III.
*) zorabicus. C.R. ome
rabicum. IId. omerabi-
cum. II. Ha. IV.V.
°) xilo cinamomum. C.
R. xilocinamomum. Ia.
II. V. xyloecinnamomum.
I. Ua. xilonamomum. IV.
*) opus bulacum. C.R.
opus bussicus. III. V. o-
pus byssicus. III 2.
7) bumestie. III.
*) babylonice. Ia. IIb.
V. pelles hindonice, pel-
les partice. C. R.
°@) carbasum, lapsump-
sius. 1.
°®) margaritas. C.R.
°< ) sardonix coranni-
um. C.R.
rauium. III.
ceurauium. 1. 1a. III. IV.V.
sardonix ceu-
sardonis
11%
chon, *) sarcocolla,
gummi arabicum,
cardamomum, xylo-
cinnamomum,“) car-
pesium, opus byssi-
num, pelles parthice,
”) pelles babylonice,
°) ebur, hebenum in-
dicum, lapis univer-
sus, margarita, sar-
donyx, ceraunium,
hyacinthus, ”) sma-
ragdus,"adamas, sa-
*) agalochum. I. IH.
IITa. agallochum. I. a-
gallocum. IV.
*) xylocinamomum. I.
Dy
”) pelles Parthycae. IV.
pell. Parthicae. I. II.
°) Babylonicae. I. II,
IV.
=) hiacynthus. I.
IM.
lochus, ++) sarcocol-
la, onyx Arabicus,
cardamomum, xylo-
cinnamomum, opus
byssinum, pelles Ba-
bylonicae, pelles
Parthicae, ferrum
Indicum, carbasum,
lapis universus, mar-
garita, sardonyx, ce-
raunium, hyacin-
thus, smaragdus, a-
damas, sapphirus,
+++) Am Rande ist be-
merkt: Al. alchelucia.
BY:
cia,****) sargoGalla,
“= )onyxArabicus,
cardamomum, xylo-
einnamomum, opus
bVssicum,*****Npel-
les Babylonicae, pel-
les Parthicae, ebur,
ferrum Indicum, car-
pasum,*******) Japis
universus, margari-
ta, sardonyx, cerau-
nium, hyacinthus,
smaragdus, adamas,
°**) Im Text der Flo-
rentiner Ausgabe ist ein
Zeichen (*). Die Krie-
gelsche Ausgabe theilt
die Conjectural-Variante
mit: alga Lycia,
“*) sargogalla. D. Go-
thofred.
»*) byssicum. Ders.
") Einige neuere
Herausgeber ändern dies
in: carbasum.
12
68 H.E. Dirksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
T.
iacinthus, )
ragdus, adamas, sa-
sma-
phirus, °) calamus,
f') berillus, chellim,
8) opia indica, **)
vela, sarta,”) metaxa,
vestis serica vel sub-
serica, vela tincta,”)
carbasea, nema seri-
cum,””=) spadones,
sardonis ceuraunium. 11.
sardonis ceurannivum.
IIa.b.
44) jacinctus. I. hieyn-
thus. U. hiacyntus. IV. V.
hiacynthus. Ia. IIb. II.
©) safırius. C.R. sa-
phir. I. saphyrus. II. I
a.b. IV.V. In Ia. u. I.
fehlen die Worte: sma-
ragdus, bis saphirus.
Sf) callaynus. C. R.
callaginus. I. callamus.
Ta. II. IIa.b. IV.V.
#8) chelnne. C.R. che-
li. I. Ta.d. chelis. I.
chelim. Ia. MD. IV. V.
chellim. IL
##) opiam. opia indi-
ca. C.R.
‘@) vel adserta. C. R.
I. Ia. MID.
uella sarta. IV. uel a sar-
ta. V.
taxa. Ile. b.
2!) vel accincta. C.R.
uelatincta. I. la.
tincta. IV. V.
mm) harbasea, nema se-
GIER.
nemasericum, Ta.V. car-
vela sarta,
vela sarta et me-
uela
rieum. carbasea,
basea, nema, sericum.
I.
IR.
phirus, ®) callimus,
beryllus, °) cylin-
drus, opera indica,
vela sarmatica,")met-
axa, vestis serica vel
subserica,”) vela tin-
cta, carbasea, nema
sericum, spadones,
indici leones, leene,
?) leopardi,“) pan-
®) sapphirus. I, IV.
”) berillus. IV.
”) vel Sarmatica. I.
Ill.
”) metaxa vestis, seri-
ca vel subserica. 1.
?) leaenae. III. spado-
nes indici leones, leae-
nae. 1.
%) pardi, leopardi. IV.
1.
callainus, beryllus,
chelidoniae, omnia
++H)Indica, velaSar-
matica, metaxa, ves-
tis serica vel subse-
rica, uela tincta, car-
basea, nema_ seri-
cum, spadones, In-
dici leones, leaenae,
pardi, leopardi, pan-
+77) Randnote: Qui-
dam „Opera.”
IN®
saphirinus, callai-
nus, Veryllus,*) che-
lyniae,**) hopia In-
dica,***) veladserta,
*’**) metaxa, vestis
serica vel subserica,
uelattincta,‘****)car-
basea, nema sericum,
spadones, Indieci le-
ones, leaenae, pardi,
*) beryllus. D. Gotho-
fred.
**) chelonia. Kriegel.
**) Die Florentiner _
Ausgabe wiederholt bei
hopia das Zeichen (*).
**°°) vela serta. Krie-
gel.
°«e*) vela tincta. Ver-
schiedene neuere Aus-
gaben.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w.
I.
indici leones, ””) lee-
ne, leopardi,°) pan-
there, purpura. Item
apocorum lana, suc-
cus, 7?) capilli in-
dici. 9)
””) spadones indici,
leones. III. la. b.
°°) pardi, leopardi. C.
R. Ile.
?P) jtem apecoporum
nl.
there, Y) purpura,
item a pecorum la-
na suceus,“) capilli
indici.*“)
Y) pantherae. IV.
=) item lana, fucus. I.
“@) et caetera. Ill.
IH.
therae, purpura, item
lana++++) fucus, ca-
pilli Indiei, et cae-
tera.
+++r) Am Rande:
Alii legunt: „lana suc-
eida.”
69
IV.
leopardi, pantherae,
purpura, item maro-
corum ******) Jana,
fucus, capilli Indici.
**°**) Die Florentiner
Ausgbe setzt hier das
Zeichen *. Kriegel e-
mendirt: „arborum la-
na.”
lana fucus. C.R. item a
pecorum (oder apeco-
rum. Ia. oder item pe-
corum. III.) lana suc-
cus. I. II. IIa.b. Illa.
IV. V. item apocorum-
lana-succus. III.
97) vel apilli indici.
G.R.
Aus der Zusammenstellung dieser verschiedenen Textes-Recensionen
ergiebt sich vor allem ein Resultat, das die höchste Beachtung verdient, ob-
wol Kritiker und Ausleger bisher kaum Kenntnifs davon genommen, (') viel
weniger also es versucht haben Vortheil aus demselben zu ziehen. Es ist
dies die Thatsache, dafs fast sämmtliche Ausgaben der Pandekten, mit Ein-
schlufs der Florentiner, einen eignen Paragraphen beginnen lassen mit den
Worten unsers Fragments: ‚Species pertinentes ad vectigal etc. während Ha-
loander den Inhalt desselben mit dem vorhergehenden Paragraphen zu
einem fortlaufenden Ganzen verbunden hat. Dies Verfahren ist nicht als das
Product der Conjectural-Kritik des genannten Herausgebers zu betrachten,
sondern darf auf das Zeugnis von Handschriften zurückgeführt werden. (?)
(') Blos beiläufig ist dies angedeutet worden von Pancirolus a.a.O. (Thesaur. var.
lection. II. 110. z. Anf.)
(?) Über die Sorgfalt, mit welcher Haloander seine Texteskritik überall durch das
Zeugnis von Handschriften zu begründen suchte, vergl. A.W. Cramer dispunction. iur. civ.
lib. sing. p. 55. ff. Suer. et Vismar. 1792. 8.
70 H.E. Dırksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
Denn abgesehen von einigen Ausgaben der ersten Serie, welche die Textes-
worte in ähnlicher Weise abtheilen, (!) ist die Glosse des Accursius bewei-
send, die zu den angeführten Worten unsers Pandekten - Fragments erinnert:
„Et non habent quidam hic $, sed cum praedictis continuatur.” Ungleich ent-
scheidender ist dieses Argument. Wenn Haloander, unabhängig von den
Hülfsmitteln der äufsern Kritik, blos gestützt auf den Zusammenhang der ein-
zelnen Glieder der Darstellung des Juristen, jene Verknüpfung der beiden
gröfseren Redeabtheilungen zuerst hätte begründen wollen, dann würde er
wol ausdrücklich darauf hingewiesen haben, und jedenfalls könnte es ihm
nicht in den Sinn gekommen sein, durch die, beziehungsweis im Eingange so
wie am Schlusse des Verzeichnisses der steuerbaren Gegenstände, in den Text
übernommenen Zusätze: puta, und ei cetera, (?) die Vortheile wiederum
preiszugeben, welche die Auslegung aus der Verbindung jener beiden Para-
graphen abzuleiten berechtigt ist.
Auf diese Zusätze werden wir sogleich weiter zu sprechen kommen,
sobald die Frage wegen der Vollständigkeit des. vorliegenden Verzeichnisses
der Waaren zur Erörterung gelangt sein wird. Die Verknüpfung der einzel-
nen Theile unsers Fragments zu einem Ganzen wird scheinbar wenig unter-
stützt durch die Wahrnehmung, dafs daselbst eine grofse Anzahl verschieden-
artiger Gegenstände, denen lediglich die Beziehung auf die Bestrafung der
unterlassenen Anmeldung verzollbarer Artikel (d. h. die s. g. poena commissi)
gemeinsam ist, als blos äufserlich verbunden sich darstellt. Eine bessere Ein-
sicht in den Zusammenhang des Ganzen ist erst durch die Herstellung der
vollständigen Inscription dieses Pandekten-Fragments vermittelt worden. Ha-
loander (°) kannte nur den Namen des Juristen, und theilt daher diesen al-
lein in seinem Textes-Abdruck mit. Die Florentiner Pandekten -Ausgabe fügt
in der Inscription unsers Fragments die Bezeichnung des excerpirten Werkes
hinzu, (Marcianus lib. singul. de delatoribus,) und der Index Florentinus
(') Vergl. das obige Schema der Varianten Anmerk. a.
(?) Wegen der Unterstützung dieser Zusätze durch andere Ausgaben, und beziehungs-
weis durch Handschriften, ist gleichfalls das obige Schema zu Rathe zu ziehen.
(°) Dessen Pandekten-Ausgabe enthält nur für die Fragmente der ersten vier und zwan-
zig Bücher die vollständigen Inseriptionen, weil dieselben in Politians und Bolognins
Vergleichungen der Florentiner Pandekten-Handschrift für die andere Hälfte der Pandekten
nicht berücksichtigt worden waren. S. oben S. 63. Anmerk. 1.
Verzeichnis ausländischer / aaren, u. s. w. 74
nennt dieses gleichfalls unter den epitomirten Schriften des Ael. Marcianus.
Die Vergleichung mit den übrigen Auszügen aus dem genannten Werk des
Juristen, welche in die Pandekten Justinian’s aufgenommen sind, (!) dient
dazu, unsern Vermuthungen über Plan und Ausführung des Ganzen eine si-
chere Grundlage zu verschaffen. Wir können daraus entnehmen, dafs darin
die Rechte und Pflichten der Angeber in der Form einer selbständigen Dar-
stellung entwickelt werden sollten. Diesen, unter der Kaiserregierung durch
die Ausbildung des Prineipes der Fiscalität zu einer umfassenden praktischen
Bedeutung erhobenen, Gegenstand pflegten die römischen Juristen nur bei-
läufig zu erörtern, entweder in den Monographieen de iure fisci, (?) uud de
poenis, oder in ihren verschiedenen casuistischen Schriften, (?) gleichwie in
den Beiträgen zur Exegese einzelner Rechtsquellen von vorherrschendem fis-
calischem Gepräge. (*) Die von Marcian vorgezogene isolirte Auffassung
der öffentlichen Stellung der Delatores konnte nicht verfehlen, bei der Er-
wägung der vornehmsten Anwendungsfälle für die Ausübung des Geschäftes
der Angeber, zugleich auf die genaue Begrenzung der Voraussetzungen zu
führen, unter denen der Fiscus, sowie alle, die von dessen Bevollmächtigung
ihre eigenen Ansprüche herleiteten, (z. B. die Steuerpächter,) eine Strafe als
verwirkt bezeichnen konnten. Sodann mufste besonders Rücksicht genom-
men werden auf den Inhalt der zahlreichen kaiserlichen Constitutionen, durch
welche die praktische Anwendung des Principes der Fiscalität auf die einzel-
nen Fälle des Verkehrs allererst ein ausreichendes Regulativ erlangt hatte.
Und dafs diese Methode der Darstellung in der fraglichen Monographie des
Juristen Marcianus wirklich sei befolgt worden, geht aus den uns erhalte-
nen Excerpten überzeugend hervor. Selbst die kürzeren von den, in Justi-
nian’s Pandekten übertragenen, Auszügen lassen dies nicht verkennen; (°)
(') Die Zusammenstellung derselben findet man in F. Hommel’s Palingenesia libror. iur.
veter. T. I. p. 426. sqq. Lips. 1767. 8.
(2) Vergl. Fr.1. Fr.2. D. de iure fisci. 49.14. und das Fragm. de iure fisci. S$.1. sqq.
(°) S. die Titt. Dig. de publicanis. 39. 4. und de iure fisci. 49. 14.
(*) Namentlich in den Commentaren ad LL. Iul. et Pap. Popp. Vergl. Fr. 13. — Fr.16.
DI. 914:
(°) Vergl. Fr. 46. D. de contr. emt. 18.1. Fr. 15. D. de S. C. Silan. 29.5. Fr. 48.
D. de damno inf. 39. 2. Fr. 30. D. de donat. 39. 5. Fr. 24. D. de iure fisci. 49.14. Fr. 10.
D. ad municip. 50.1.
72 H.E. Dirksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
obwol die ausführlicheren Bruchstücke ungleich mehr geeignet sind, jenes
Verfahren anschaulich entgegentreten zu lassen. (') Vornehmlich bietet un-
ser Pandekten-Fragment ein fortlaufendes Referat des Inhalts, sowie der
Auslegung zahlreicher, den Regierungen der Kaiser von Hadrian bis auf
Caracalla herab angehörender, Rescripte, welche die Lösung enthielten für
eine Menge vereinzelter Fragen, die sämmtlich auf die Verheimlichung steu-
erbarer Gegenstände und auf die poena commissi sich bezogen. Man hat da-
her sich zu hüten vor jeder Trennung der zusammen gehörenden Redesätze‘;
denn dadurch würde einer blos vereinzelten Äufserung der Schein einer all-
gemeinen Geltung, auf welche sie keinen Anspruch machen sollte, zugewen-
det werden. Dies führt uns zur Übersicht des Inhalts unsers Fragments.
Das Prineipium und die ersten vier Paragraphen beschäftigen sich mit
den Einzelheiten des Regulativs für die Besteuerung von Sklaven. Dieser
Einfuhrartikel, zugleich einer der häufigsten und der verhältnismäfsig kost-
barsten, gab den Stoff her zu den künstlichsten Betrügereien, und nicht min-
der zu den belangreichsten Reclamationen. (?) Daran knüpft der $. 5. die
Frage: ob der blofse Einwand des Contravenienten, dafs die Steuervorschrift
ihm unbekannt geblieben sei, denselben von der Strafe entbinden könne?
Dies wird schlechthin verneint, auf Grund einer Constitution Hadrian’s.
In $.6. ist noch weiter ausgeführt, dafs in einem Rescript von M. Antonin
und Commodus die Steuerpächter nur für verbunden erklärt seien, den sich
meldenden Steuerpflichtigen genügende Auskunft zu ertheilen, nicht aber
diejenigen, welche die Zolllinie ohne Anmeldung passiren, unaufgefordert
in Kenntnis zu setzen von dem, was ihnen obliege. In den $$. 8. bis 14. wird
untersucht, inwiefern eine, durch Zufall gleichwie durch den entschuldbaren
Irrthum des Betheiligten, und durch Handlungen dritter Personen bewirkte,
Umgehung der Zollgesetze, oder die Entrichtung einer gröfsern als der ge-
setzlichen Steuersumme, Anspruch auf Straflosigkeit, und beziehungsweis auf
Entschädigung, begründen kann? Diese Frage ist sorgfältig erwogen, mittels
(') Z.B. Fr.1. D. ne de statu defunct. 40.15. Fr. 3. D. de bon. eor. qui ante sent.
48. 21. Fr. 18. Fr. 22. D. de iure fisci. 49. 14.
(°) Vergl. das, in Fr. 203. D. de verbor. signif. 50. 16. erhaltene, Excerpt aus des Ju-
risten Alfenus Varus Lib. VO. Digestorum. S. auch Burmann a.a. 0.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 73
genauer Unterscheidung der vornehmsten Anwendungsfälle, und unter An-
führung der bezüglichen Entscheidungen kaiserlicher Rescripte. (1)
Aus dieser Darlegung des Zusammenhanges unsers Pandekten -Frag-
ments ergiebt sich ein wichtiger Fingerzeig für die richtige Auffassung desje-
nigen Paragraphen dieses Excerpts, mit welchem die vorstehende Untersu-
chung sich zu beschäftigen hat. Die isolirte Aufstellung eines allgemeinen
Tarifs von verzollbaren Gegenständen würde vielleicht nicht durchaus wider-
streitend dem Plane der fraglichen Schrift des Juristen Marcianus zu nen-
nen sein; allein jedenfalls könnte ein solches Vorhaben nicht an diesem Orte,
und in dem vorstehenden Zusammenhange der Darstellung, zur Ausführung
gelangt sein. Denn eine Auseinandersetzung von solcher Allgemeinheit pafst
nicht zu einem Theil des Inhalts, der recht eigentlich die Mitte bildet in dem
Referate der Entscheidung einzelner Rechtsfragen durch entsprechende kai-
serliche Verfügungen. Es bleibt demnach nur die Wahl zwischen der Ver-
zichtleistung auf die Erhaltung des Zusammenhanges unsers, in allen seinen
Theilen wohl gefügten Fragments, und zwischen der Verbindung der $$. 6.
und 7. zu einem Ganzen; welche Vereinigung Haloander, geleitet durch
das Zeugnis einiger Handschriften, zur Grundlage seiner Textes -Recension
gemacht hat. In Folge dieser Verknüpfung stellt das vorliegende Verzeich-
nis steuerbarer Einfuhr-Artikel sich dar als das Referat des Inhalts eines Re-
scriptes von M. Antonin und Commodus. Und diese einfache kritische
Operation dient zugleich die Lösung der schwierigen Fragen vorzubereiten,
die oben als der eigentliche Zweck unsrer Untersuchung bezeichnet wurde.
Wir treten diesem Gegenstande nunmehr näher.
11.
Die Unstatthaftigkeit des Postulates, als ob der Verfasser unsers Frag-
ments ein selbständiges Verzeichnis steuerpfllichtiger Einfuhr-Artikel an die-
sem Orte habe mittheileu wollen, ist aufser dem so eben bemerkten auch aus
den folgenden Gründen erweislich. Hätte Marcianus eine solche Absicht
gehabt, dann würde er nicht unterlassen haben, die Quelle dieses Tarifs ge-
(') S. E. Platner Quaestion. de iure crimin. rom. p. 321. Marb. et Lips. 1842. 8.
Philos.- histor. Kl. 1543. K
74 H.E. Dırksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
nau zu bezeichnen; gleichwie bei allen einzelnen positiven Festsetzungen,
deren die übrigen Theile des Inhalts dieses Auszuges und aller sonstigen Ex-
cerpte der nämlichen Schrift gedenken, auf die Quelle derselben hingewie-
sen ist. () Uberdem würde der Jurist nicht umhin gekonnt haben, sich zu
rechtfertigen wegen der zu Tage liegenden Unvollständigkeit des vorstehen-
den Verzeichnisses. Denn im Eingange unsers Fragments ist ausführlich ge-
handelt von der Versteuerung der, in das römische Gebiet einzuführenden
Sklaven, welche einen der am meisten begehrten Handelsartikel ausmachten.(?)
Gleichwol ist in dem Verzeichnis von Objecten der portoria, welches der frag-
liche Paragraph unsers Fragments mittheilt, von keinen andern Sklaven als
von den Eunuchen die Rede. Nicht minder vermifst man eine erhebliche
Anzahl sonstiger Gegenstände, die zur Zeit der römischen Kaiserherrschaft
einem drückenden Eingangszolle unterlagen. (?) Es würde aber selbst die,
durch die Wortfassung des Excerptes keineswegs unterstützte, Voraussetzung
wenig Abhülfe gewähren, dafs der vorstehende Tarif nur die Artikel der Ein-
fuhr aus den Provinzen des Orients habe umfassen sollen. Denn die, hier
ganz mit Stillschweigen übergangene, Einfuhr von rohen und verarbeiteten
Stoffen aus Agypten kann im Zeitalter der Severe, welchem der Verfasser
unsers Fragments angehört, nicht eine allgemeine Befreiung von Abgaben ge-
nossen haben, (*) obwol eine Erleichterung der Besteuerung derselben, zu-
mal seit der Regierung Hadrian’s und der Antonine, eingeräumt werden
mag. (°)
(‘) Man kann auch nicht etwa sagen, dafs eine, dem Plane des Ganzen zu Grunde lie-
gende, Rechtsquelle stillschweigend angedeutet sei. Dies würde auf ein exegetisches Werk
passen, z.B. auf Zidri ad Edictum; bei einem ber singularis de delatoribus ist an etwas der
Art nicht zu denken.
(?) Strabo Geograph. XIV.4. 8.2. berichtet, die Nachfrage nach Sklaven auf den rö-
mischen Märkten sei, zumal in früheren Zeiten, so ungeheuer gewesen, dals dadurch die
Seeräuber auf die Betreibung des gewinnreichen Menschenraubes geleitet wurden.
(°) S. P.Burmann a. a.0. Cap.5.
(*) Der Bericht des Vopiscus (in D. Aureliano c.45. Vectigal ex Aegypto urbi Romae
Aurelianus vitri, chartae, lini, stupae, atque anabolicas species aeternas constituit. c.47. Pa-
nibus urbis Romae unciam de Aegypto vectigali auxit.) besagt nicht, dafs K. Aurelius über-
haupt die Besteuerung der genannten Einfuhr-Artikel aus Ägypten zuerst angeordnet, sondern
vielmehr dals er den Ertrag dieser längst bestandenen Abgabe, ganz oder theilweis, den öf-
fentlichen Einnahmen der Stadt Rom zur Unterstützung überwiesen habe.
(?) Vergl. des Verf. Schrift: Die scriptores historiae Aug. S.109. fg. Leipz. 1842. 8.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 75
Mit dem Zugeständnis der Unvollständigkeit des Cataloges der porto-
ria in dem Excerpte des Marcianus wächst die Schwierigkeit einer genü-
genden Deutung des Ganzen. Nichts scheint näher zu liegen als die Voraus-
setzung, dafs hier nur eine Auswahl habe gegeben werden sollen von den
vornehmsten steuerbaren Einfuhr-Artikeln, namentlich von den aus Indien
zu beziehenden Waaren. Und diese Annahme hat entschieden die meiste
Gunst bei den Auslegern gefunden, von den Zeiten der Glossatoren (!) bis
herab auf unsere Tage. (?) Aus ihr ist auch der Versuch der Conjectural-
Kritik hervorgegangen, an den Eingang des Verzeichnisses (nach den Wor-
ten: Species perlinentes ad vectigal) die Partikel puta zu stellen, und am
Schlusse hinzuzufügen: et cetera.(?) Diesem Verfahren leistet aber das Zeug-
nis der Handschriften nicht genügend Vorschub. Von den Codices, die den
Text der Recensio Bononiensis wiedergeben, hat keiner das ei cetera am
Schlufs; von einer Phrase im Eingange (puta, oder sunt,) geben die Hand-
schriften, und nach diesen die älteren Ausgaben, ausnahmsweis unverkenn-
bare Andeutungen, (*) indefs es ist zu vermuthen, dafs bei dieser Einschal-
tung die Gonjectural-Kritik der Glossatoren thätig gewesen sei. Das Flo-
rentiner Manuscript hat keine Spur aufzuweisen von der einen oder der an-
dern Zugabe.
Jenes Postulat einer, in unserm Paragraphen niedergelegten, blofsen
Auswahl von Gegenständen, die der Eingangssteuer unterlagen, erscheint
überdem bei genauerer Prüfung eher geeignet, die Schwierigkeiten der Aus-
legung zu vermehren, als dieselben zu beseitigen. Denn hätte der Jurist nur
einige Beispiele aus der allgemeinen Liste der portoria hervorheben wollen,
so würde er dies schwerlich auf eine, dem Zweck durchaus nicht entspre-
chende, Art ausgeführt haben. Alsdann hätte nämlich etwa der dritte Theil
des aufgezählten Materials ausgereicht, und die Specificirung würde bei den
phen unsers Pandekten-Fragments, bemerkt: Item et cave tibi, quia non tantum de his prae-
Cod. de vectigalib. univers. Sed
(') In der Glosse des Accursius ist, zum Er in Frage stehenden Paragra-
statur (se. vectigal,) cum deferuntur, sed ex omnibus:
gratia exempli de his dieit, ut infra (fr.1. $.25. D. de vi et vi arm. 43. 16.).
(*) Vergl. Hugo’s Lehrb. d. Gesch. d. R. Rs. bis auf Justinian. S. 961. Aufl. 11. Berl.
1832. 8.
(°) Vergl. das obige Schema der Varianten unsers Pandekten -Textes.
(*) S. ebendas. namentlich unter den Varianten der Königsberger Handschrift. 5
K2
76 H. E. Dınksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
einzelnen Gegenständen nicht in ein ermüdendes Verzeichnis der geringfü-
gigsten Individualitäten ausgeartet sein.
Um über den eigentlichen Zweck, und über die wahrscheinliche Be-
deutung, des vorstehenden Verzeichnisses steuerpflichtiger Waaren gründliche
Aufklärung sich zu verschaffen, dient die sorgfältige Beachtung aller Einzel-
heiten der Darstellung unsers Juristen zur besten Vorbereitung. Schon eine
flüchtige Anschauung des Textes ergiebt, dafs Marcianus die aufgestellte
Liste als eine, für die von ihm vorausgesetzte Bestimmung, vollkommen aus-
reichende habe wollen angesehen wissen. Ferner ist zu entnehmen, dafs die
Zusammenstellung des Ganzen nach einem gewissen System geordnet ist, und
dafs daher die zahlreichen Einzelheiten nicht zufällig aneinander gereiht sind,
sondern in gewisse Ordnungen, oder Classen, zerlegt werden können.
Indem wir jetzt zur genaueren Erörterung dieses Gegenstandes über-
gehn, glauben wir vorweg uns verwahren zu müssen gegen das Verfahren
derjenigen, welche nach vorgefafster Ansicht eigene Kategorieen gebildet ha-
ben, die auf den ersten Blick als unzureichend sich bewähren; (!) oder die,
auf Kosten einer gewissenhaften Textes-Kritik, ein gemeinsames Kriterium
sämmtlicher verzeichneter Gegenstände postuliren, nämlich das Ursprungs-
Attest als Waaren Indiens. (?) Die zuletzt erwähnte Petitio Prineipii strei-
tet sowol gegen die sorgfältige Ausdrucksweise der classischen römischen Ju-
risten, als auch überhaupt gegen den Sprachgebrauch der Römer unter der
Kaiserregierung. Marcian hat nur bei wenigen Artikeln ausdrücklich hin-
zugefügt, dieselben müfsten aus Indien herstammen, bei andern nennt er
Arabien, Persien, Babylonien, Marocco als die Gebiete der Erzeugung, oder
Versendung, der verschiedenen Stoffe. Es steht ferner fest, dafs einige von
den Handelsartikeln, die der Jurist aufgeführt hat, z.B. Parfumerieen, Gummi,
(') Hegewisch a. a. O. S.196. fg. rubricirt die Waaren unsers Verzeichnisses .also:
„Specereien, Gewürze, Edelsteine, Baumwolle, Seide.” Es ist ihm in der Eile entgangen,
dafs diese Kategorieen keinen Raum lassen für die kostbaren Farbewaren, das Elfenbein und
Eisen aus Indien, die Wolle aus N:
arocco, die Eunuchen und die bestiae Africanae.
IE
®?) Hugo a.a.O. hat sich auf die folgende Bemerkung beschränkt: „Für das ganze
5 5 5 ” 5
Reich kamen Zölle, besonders von indischen Waaren, mit Übertretungen (commissa) vor.”
Einer ähnlichen Ansicht waren schon diejenigen Kritiker zugethan, die in dem Text unsers
Pandekten-Fragments die Worte: opia (oder hopia) Indica, emendiren in: opera oder omnia,
5 pP J4 pP
Indica. Vergl. die Varianten der zweiten und dritten Serie von Pandekten- Ausgaben, nach
dem obigen Schema.
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 77
Elfenbein, kostbare Steine, gleichwie das Pigment der Purpurschnecke, nicht
vorzugsweis und unmittelbar von Indien her, sondern aus Arabien, Aethio-
pien und Ägypten, durch die Römer bezogen wurden. (!) Wenn für alle
dergleichen orientalische Luxus- Gegenstände eine Gattungs-Bezeichnung
hätte gewählt werden sollen, so würden die damaligen Römer sicherlich die
Benennung der arabischen, persischen, syrischen, oder ägyptischen Waaren,
jener der indischen Handels-Artikel vorgezogen haben. (?) Das römische
Volk betrieb überhaupt nicht directen Handelsverkehr mit Indien, welches
Land Strabo, (?) der Zeitgenosse der Kaiser Augustus und Tiberius, als ein
von wenigen Griechen und Römern theilweis besuchtes, und nur unvollstän-
dig bekannt gewordenes, schildert. Gleiches bezeugt Plinius. (*) Es lag
daher nahe, die wirklich aus Indien herstammenden Handels-Artikel viel-
mehr nach den Stapelplätzen und Häfen zu bezeichnen, von welchen diesel-
ben nach Europa verführt wurden. Dies aber waren die Stapelplätze Arme-
niens und Kleinasiens, so wie die Häfen Persiens, Arabiens, Syriens und
Aegyptens, vornehmlich jene von Berytus und Seleucia, Alexandria und
(') Strabo Geograph. XV.1. $. 22. XVI 4. SS. 19. 24. XVII. 1. 8.45. XVII 2. 8.2.
Arrian’s Periplus maris Erythraei. pag. 3. 6. sq. 16. (der Geograph. vet. scriptor. graec. min.
Vol. I. Oxon. 1698. 8.). Plinius Hist. nat. V.1. a.E. 2.19. VI. 23. Pomponius Mela
de situ orbis III. 10. Vergl. Is. Vossius Obseryation. ad h. I. pag. 605. sq. (der Edit. Pomp.
Melae von Abr. Gronovius. Lugd. B. 1722. 8.). Salmasius a. a. O. pag. 522.530. (S.
oben S. 59. fg. Anm. 3.). Heeren Histor. Werke Thl. 13. S. 452. fg. Thl. 14. S. 381. fg.
(?) So werden selbst die, in unserm Pandekten-Fragment aufgeführten, Edelsteine von
den andern Classikern bald Indische, bald auch Arabische, Juwelen oder Perlen, genannt.
Plinius H.N. XI. 18. XXXVIL 6. fgg. Dio Cassius Histor. Rom. Lib. 72. c.17. Ar-
rian a.a.0. pag.28.sq. 31.sq. Solinus in polyhistor. c. 52. Salmasius a. a.0. pag.
1073. sq. Vergl. Heeren’s Histor. Werke Thl.11. S.252.fg. Wir verweisen ferner auf
den Bericht des Dio Cassius a.a.O. Lib. 72. c.24. über den Brand in Rom, welcher der
Ermordung des K. Commodus unmittelbar voranging, und den man als die Verkündigung
dieses Ereignisses deutete. Darin ist ausdrücklich gesagt, dals die Feuersgefahr auch dem
kaiserlichen Palast sich genähert habe, nachdem die, in der Umgebung desselben belegenen,
Waarengewölbe der ägyptischen und arabischen Handelsleute von der Glut verzehrt worden
waren. Ähnlich ist an andern Orten (z. B. in des Eumenius orat. pro restaurand. schol.
ce. 12.) die Rede von syrischen, delischen und indischen Kaufleuten.
(°). 2.2.0. XV.1. 88.1.2. 10. 12.
(*) a.a.0. VI.17.fg. 23. Vergl. P.v.Bohlen, das alte Indien. Thl. I. Einleit. S.70. fg.
Königsbg. 1830. 8.
78 H.E. Dinksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
Koptos. (') Daher nennt Dioscorides, (?) dem Plinius (°) gefolgt ist,
verschiedene Pflanzen des Orients, nachdem er sie zuvor dem Vaterlande
nach als indische oder arabische bezeichnet hat, hinterher als Handelsartikel
Syriens und Armeniens. Ähnlich verfahren die Periplisten. Sie nennen das
cinnamomum, sowie das ferrum Indicum, gelegentlich einen arabischen
Tauschartikel, weil derselbe durch Arabien nach Syrien und Ägypten ver-
führt wurde. (*) Ferner kommt damit überein, was durch Strabo und die
andern Geographen über die Handelswege berichtet wird, auf welchen die
Luxus-Waaren des Orients verführt wurden. (°) Und in gleicher Weise be-
(') Ders. XVI.1. 88.7. 13. 16. 45. vergl. XIV.1. $.24. Arrian a.a.O. pag. 7.13. sq.
28. sq. Orbis descriptio sub Constantio Imp. c.17; c.21. in A. Maii collect. classicor. auctor.
e codd. Vatic. T. IH. pag. 395. 398. Rom. 1831. 8. Nearchus paraplus ex Arriano pag.
22. Cedrenus historiar. compend. p.172. Procopius histor. arc. c. 25. Salmasius a.
a.0. pag: 1060. sq. vergl. Heeren’s Histor. Werke. Thl. 13. S. 455. fg. Montesquieu
Esprit des lois. XXI. 16.
(?) De materia medica I. 5.sq. Vergl. C.Sprengel in Comm. ad h.]. (in C.G. Kühn’s
Ausgabe der Opera medicorum graecor. Vol. XXVI. pag. 345. Lips. 1830. 8.). Strabo a.
EHE RAMIE AS SS oa kan
C) H.N. XII. 12. vergl. Arrian a. a. O. pag. 28.
(*) Ders. a. a.O. pag.5. Nearchus a.a.O. pag. 22.
(°) Strabo a.a.0. XI. 5. 8.9. XL 7. 8.3. vergl. XV. 1. 88. 10. 12. XVL 3. 8.3. XV.
4. 88.4. 24. fg. XVII 1. 8.45. spricht von indischen, babylonischen, arabischen und äthio-
pischen Waaren, mit besondrer Hinsicht auf solche Handelsartikel, die durch Meder, Arme-
nier u.a. auf Cameelen verführt wurden, theils zum Behufe .des Binnenhandels, theils zur
Verschiffung über den arabischen Meerbusen. Die Andeutungen Strabo’s (a.a.0. XV. 2.
88.1. 8. fg. 14. XV. 3. $$.1.4.fgg. XVL 1. 88. 9.16. 27. XVL 2. 5.30. XVI 3. 88.3.7.
XVI. 4. 88.18. 22. 24. fg. XVII 3. $.2.) über die Handelsstralsen und Stapelplätze für diese
Waaren erscheinen als schwankend und höchst ungenügend. Ungleich bestimmter lauten die
Äufserungen der Periplisten. (Vergl. Arrian a.a.O. pag. 22. 28. fg. 31.fg.). Indem sie
nämlich eine Übersicht der aus Indien transitirenden Güter geben, welche auffallend über-
einstimmt mit dem Verzeichnis der steuerpflichtigen Handels- Artikel in unserm Pandekten -
Fragment, erinnern sie ausdrücklich, dafs diese Waaren theils aus den benachbarten Gebie-
ten nach den Stapelplätzen in Central-Indien geschafft würden, theils dals man sie auf den,
in der Mündung des Indus belegenen und der Herrschaft der persischen Könige unterwor-
fenen, Inseln aufspeichere, um sie seewärts zu verschiffen. S. auch Plinius a. a.O. V1.17.
25. Im Allgemeinen ist zu vergleichen, über den ältesten Handelsverkehr mit indischen
Waaren, Heeren’s Histor. Werke. Bd. 11. S.149. fg. 209. fgg. 216. fgg. 220. 227. fg. Bd.
12. S.343. Bd.13. S. 452.fg. Bd.14. S. 381. fg. Göttingen 1824. 8. und C.Ritter’s
Erdkunde von Asien IV. 1. S. 436. fg. 442. fg. 527. 871. fg.
?
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 79
-nachrichtigt uns auch Procopius, (') dafs die Verhandlungen K. Justinian’s
mit den Aethiopischen Völkerschaften, um den Handelsweg für indische Sei-
denwaaren über Aethiopien zu leiten, deshalb zu keinem Resultat gediehen
seien, weil die Inder ihre Waaren in den ihnen benachbarten persischen
Häfen zu verkaufen gewöhnt waren. (?)
Wenn man aber auch versuchen wollte, der unzulässigen Benennung
„indische Waaren” die äufserlich mehr beglaubigte Terminologie von „per-
sischen, arabischen, syrischen und ägyptischen Handels-Artikeln” zu substi-
tuiren, so würde gleichwol für das Verständnifs unsers Waaren - Cataloges
nicht irgend erhebliches dadurch gewonnen sein. Denn in demselben ver-
mifst man gerade ein den Römern am frühesten bekannt gewordenes und,
wegen der Unentbehrlichkeit desselben für den Hausaltar und Tempel-
dienst, zugleich am meisten begehrtes (?) Product des Orients, nämlich den
Weihrauch. .
Unser zuvor berührtes Postulat, dafs in dem Rescripte von M. Anto-
nin und Commodus, als dessen integrirender Bestandtheil das Verzeichnis
der Handelsartikel zu betrachten ist, (*) mit dem wir hier uns beschäftigen,
ein gewisses System für die Zusammenstellung der einzelnen Gegenstände sei
festgehalten worden, scheint auf den ersten Blick wenig Bestätigung zu finden.
Denn nicht allein dafs rohe Stoffe und Erzeugnisse des Kunstfleifses durch
einander geworfen sind; es scheint sogar bei Gegenständen derselben Gat-
tung die Verknüpfung des gleichartigen fast absichtlich umgangen zu sein.
So z.B. bei den verschiedenen Species von Amomum und Cassia; denn auf
cinnamomum, womit die Herzählung der einzelnen Stücke beginnt, folgt nach
längerer Unterbrechung costamomum, dann cassia turiana und xylocassia,
später amomum, und noch weiter unten cardamomum und »ylocinnamo-
mum. Einige dieser Störungen sind freilich durch die Schuld der Abschrei-
(') De bello Persico I. 20. vergl. de bello Goth. IV. 17.
(?) Dafs aber die aus chinesischen Schriften abgeleitete Erzählung von einer, unter Marc-
Antonins Regierung, nach China abgegangenen römischen Gesandtschaft nichts weniger ;
erwiesen ist, darüber vergl. P. v.Bohlen a.a.0. S. 72. Anm, 228. 2
(°) Vergl. Arnobius advers. gentes. VI. 26. fgg. und Heeren’s Histor. Werke. Th.
12. S. 333. fg.
(*) Dies setzt voraus, dals man die $$. 6. und 7. unsers Pandecten - Fragments zusammen-
ziehe. Vergl. den Schlufs von Absch. I.
2
80 H.E. Dirxsen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
ber herbeigeführt worden. Denn wenn man in der Florentiner Handschrift den
onyx Arabicus mitten unter den Specereien antrifft, ganz gesondert von dem
später erst folgenden Verzeichnis der edeln Steine, so darf dies auf die Mifs-
deutung des Original-Textes zurückgeführt werden, der, nach der im Gan-
zen übereinstimmenden Lesart der Codices Vulgati, also lautet: gummi Ara-
bieum. Andere Störungen dagegen rühren von dem willkührlichen Verfah-
ren der Kritiker her, z. B. die Verwandlung von: opia, in opera (Indica.)
Die Liste der verschiedenen besteuerten Artikel kann gleichwol ohne
besondere Mühe in die nachbenannten Kategorieen zerlegt werden:
1. Gewürze und Specereien. (Von cinnamomum bis &ylocinnamomum.)
2. Baumwollen-Gewebe (opus byssicum.) Kostbare Pelz-Waaren aus dem
Orient (pelles Babylonicae, pelles Parthicae.) Elfenbein und indisches
Eisen.
3. Edelsteine der verschiedensten Art.
4. Opiate aus Indien; indische Matten, (vela serta;) rohe und gesponnene
Seide, (metaxa, und nema sericum;) seidene und halbseidene Gewebe,
(vestis serica, vel subserica:) gleichwie andere orientalische Gewebe,
die in Beziehung auf den Stoff, oder wegen der Färbung, besonders
kostbar waren, (vela tincta, carbasea.)
5. Eunuchen aus dem Orient, (spadones;) und die, zu den Kampfspielen
in Rom zu beziehenden, sogenannten Africanae bestiae, (Indici leones,
leaenae, pardi, leopardi, pantherae.)
6. Werthvolle Farbewaaren, (purpura, fucus;) und feine Wolle aus dem
Orient, (Marocorum lana, capilli Indici.) .
Zum Behufe dieser Classificirung hat einzelnes, das von Seiten der
Wortkritik bestritten ist, nach den für eine bestimmte Lesart ermittelten
überwiegenden Gründen, vorweg als erledigt betrachtet werden dürfen; wäh-
rend bei andern Punkten nur übrig blieb, einsweilen das wahrscheinlichste
Resultat zu postuliren. Gleichwol sind vielfache Bedenken zu beseitigen,
hinsichtlich der Verknüpfung der einzelnen Elemente jeder Classe, sowie in
Beziehung auf das den sämmtlichen Kategorieen gemeinsame Princip. Auf
diese Gegenstände hat die folgende Untersuchung einzugehn. Sie wird der
Aufgabe sich nicht entziehen können, mit der Kritik und Auslegung der
zweifelhaften Bezeichnungen einzelner Handelsartikel sich zu befassen, und
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 1
zu dem Ende aus den noch nicht genügend benutzten Hülfsmitteln des clas-
sischen Alterthums Vortheil zu ziehen. (')
I.
Die Elemente der ersten Classe, der die Gewürze und Specereien
angehören, sind von den Auslegern am ausführlichsten besprochen worden.
Und allerdings bieten sich gerade hier die zahlreichsten Bedenken dar. Es
kann nämlich an dieser Stelle nicht vorausgesetzt werden, dafs die aufgeführ-
ten vegetabilischen Stoffe nach festen wissenschaftlichen Regeln bestimmt
und bezeichnet seien. Eine solche Bestimmung war den Römern überhaupt
nicht geläufig, (?) und sie würde überdem für die in Frage stehende Anwen-
dung wenig gepafst haben. In einem Zolltarif ist den, im Handelsverkehr
gebräuchlichen, allgemein verständlichen Namen der steuerpflichtigen Gegen-
stände unbedingt der Vorzug zu geben vor den kunstgerechten Bezeichnun-
gen. (?) Die vulgären Benennungen der Pflanzen und Arzneistoffe wechseln
(‘) Schon im Eingange dieser Abhandlung (s. S.60. Anm.1.) ist auf die Bedeutsamkeit der
griechischen Geographen, für die Förderung des Verständnisses unsers Pandekten - Fragments,
aufmerksam gemacht worden. Wir stellen hier, zur Bestätigung des dort Gesagten, einige
Mittheilungen des Arrian zusammen, die durch die auffallende Übereinstimmung mit dem
Inhalt des Waarenverzeichnisses in dem Fragment unsers Juristen Marcianus sich auszeich-
= Fi £ Eat ’ ’ Y
nen. Periplus maris Erythraei pag- 22: "Avrıogri‘ era de 30506, LEHRE, Avuzıov, vagdos, zur
.. ON A. 5 3 \
Y,nAcivos AlSos, za Fapeıgos, za Fnginc Örgnare, za 0.Doviov, za URIACE aygızov, zu Tvdızev
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r27%«v* (Contra exportatur costus, bdellium, lycium, nardus, callaina gemma, sapphirus, sericae
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pelles, othonium, filum sericum, Indicum nigrum.) Pag.28. "Ev: de durzs zur 2E dverorgs
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zur dSovıov mavrolov, zu Sngicv, zaı [oAcywov, Hr Vila, 20 memig Iorzgov, zu 78 dmo av
’
Eiamogı sv pegoneva Vergl. ebendas. pag. 29. fg. 31. fg.
() Isidor Origin. XVII. 9. $.1. schickt der Erklärung der Bezeichnungen: folium, nar-
dus und costum, diese allgemeine Bemerkung voran: Exstant et quarundam herbarum nomina,
quae ex aliqua sui causa resonant, habentes nominum explanationem. Non tamen omnium
invenies etymologiam herbarum. Nam pro locis mutantur etiam nomina.
(°) So z.B. das ddellium, ein aromatisches Harz, (wahrscheinlich identisch mit der Ben-
zo&,) das die alten Ärzte zu den energischen Heilmitteln zählen, (Dioscorides a. a. 0.
Philos.-histor. Kl. 1843. U
82 H. E. Dinxsen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
aber sowol nach den Zeiten als nach den Orten; es ist daher leicht zu be-
greifen, dafs es den Auslegern unsers Pandekten-Fragments nimmermehr ge-
lingen konnte, die Identität aller einzelnen daselbst verzeichneten Pflanzen-
namen mit genügender Sicherheit zu ermitteln.
Zur Bestätigung des gesagten mag hier nicht verwiesen werden auf den
bestrittenen Unterschied von cinnamomum und cassia, oder zingiber und pi-
per, sowie aylocinnamomum und xylocassia; (1) wir beschränken uns auf
den zweifelhaften Gattungsnamen folium. Man könnte versucht sein anzu-
nehmen, dafs hier die vulgäre Benennung folium auf den gesammten Stamm
der in Frage stehenden Pflanze, mit Ausschlufs der Wurzel, sei bezogen wor-
den, und nicht blos auf das Blatt derselben. Allein die schwierige Aufgabe
ist eben diese, die Identität der Pflanzen zu ermitteln, mit welchen jene Be-
zeichnung folium in Verbindung gesetzt ist. Der Text der Florentiner Pan-
dekten- Handschrift, (folium pentasphaerum, ‚JFolium barbaricum,) der ent-
schieden unterstützt wird durch das Zeugnis des Königsberger Manusecripts,
(‚folium pentasphorum, folium barbaricum,) dürfte gegen alle Anfechtun-
gen (?) sich vertheidigen lassen. Die, auf die sogleich näher zu bespre-
chende Mittheilung des Plinius zu stützende, Vermuthung ist wol zu sehr
gewagt, das Original möge also gelautet haben: folium microsphaerum, seu
pentafolium. Die Lesart der Recensio Bononiensis: folium pentafolium, fo-
lium barbaricum, folium pentaforum, ist vielleicht aus einer mit dem Floren-
tinischen Text übereinstimmenden Quelle hervorgegangen. Man darf vor-
aussetzen, dafs die griechische Ausdrucksform: pentasphaerum, den Glossa-
toren in Bologna unverständlich war, so dafs sie dieselbe umbildeten in:
pentasphorum, oder pentaforum, und zur Erklärung hinzufügten: i. e. pen-
I. 80. und Sprengel, im Conm. ad h.]. vergl. auch Plinius H. N. XII. 19.) kommt un-
ter diesem Namen nicht vor in unserm Waaren-Verzeichnis. Gleichwol wird dasselbe von
andern classischen Referenten (S. Arrian a. a. ©. zuvor S. 81. Anm. 1.) unter den im römi-
schen Handelsverkehr begehrten orientalischen Specereien ausdrücklich aufgeführt.
(') Dioscorides a.a.0. 1.13. (vergl. C. Sprengel in comm. h. ]. pag. 351.) und Il.
188. fgg. Salmasius a.a.O. p.399. fg. 1502. 1306. Pancirolus 'Thesaur. var. lection.
II. 110. p. 1216. fg. Vergl. C. Ritter’s Erdkunde von Asien IV.1. S. 823. fgg. IV.2. S.
123. fe.
(?) Salmasius a.a.O. pag. 1072. hält die Emendation: folium cataspkaerum, für zuläs-
sig. Dagegen Is. Vossius a. a.O. pag. 556. (s. S.77. Anm. 1.) vertheidigt den Florentiner
Text.
Verzeichnis ausländischer WW aaren, u. s. w. 83
tafolium; von den Abschreibern aber wurde das Glossem zum Text gezogen.
Durch die Sicherstellung des Florentinischen Textes ist freilich das Geschäft
des Auslegers nur vorbereitet, nicht erledigt. Wir wissen nicht mit Bestimmt-
heit, welche Pflanze unter dem folium pentasphaerum zu verstehen ist, und
noch weniger kann man errathen, auf welche die Benennung folium barba-
ricum hindeutet. Man mag dem Salmasius (!) bereitwillig einräumen, dafs
das Prädicat: barbaricum, und scythicum, nicht selten den Producten Asiens,
und zumal jenen Indiens, beigelegt wird; allein wenn er hinzufügt, das fo-
lium barbaricum sei eben nichts anderes gewesen als das folium Indicum,
und dieses dürfe als identisch mit dem malabathrum angesprochen werden,
so geräth er in Widerspruch theils mit seinen eignen anderweiten Äufserun-
gen, (?) theils mit dem Inhalt unsers Pandekten-Fragments, welches unter
den aufgezählten Waaren auch das malabathrum besonders verzeichnet hat.
Noch weniger dürfte hier an den Rhabarber zu denken sein, dessen Vor-
kommen im Handelsverkehr des Alterthums nicht in Abrede gestellt wer-
den soll. (°)
Es ist mit grofser Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen, dafs die von
unserm Juristen ausgezeichneten beiden Arten der folia, gleich den andern
in die erste Classe gestellten Artikeln, zu den Specereien gehört haben,
und nicht zunächst zu den Heilmitteln; sodann dafs hier die Unterscheid-
ung der folia zur Bezeichnung der vornehmeren Species der Narde habe
dienen sollen, welche ein wichtiges Ingrediens zur Bereitung kostbarer Sal-
ben bei den Römern bildete. Gerade die werthvolleren unter den zur ersten
Classe gehörenden Substanzen, die man gegenwärtig nur als Medicamente
oder Gewürze gebraucht, wurden bei den Römern regelmäfsig zu Specereien
verwendet, z.B. die Alo&. (*) Ferner die Salben, die aus den, in der ersten
Classe unsers Waaren-Üataloges aufgeführten, Stoffen bereitet wurden, (°)
findet man zwar in den römischen Rechtsquellen zum Theil auch als solche
(') Ebendas. pag. 1150. vergl. p. 1073.
(?) Das. pag. 1308.
(°) Heeren conamina ad explicanda nonnulla histor. mercat. ant. cap. (Götting. Gel. An-
zeig. Jahrg. 1834. Bd. 3. S. 2050. fgg.)
(‘) Salmasius a. a.O. pag. 504. 538. fg. Dals der offieinelle Gebrauch nicht ganz un-
bekannt gewesen sei, mag eingeräumt werden. Dioscorides a.a. 0.1.21. II. 22.
(°) Über diese Bereitung vergl. Dioscorides ebendas. I. 52. fg. II. 31. fg.
u2
84 H. E. Dinksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
bezeichnet, die möglicherweise um der Gesundheit willen in Anwendung zu
bringen seien. (!) Allein es ist nicht zu verkennen, dafs diese von den Ju-
risten (?) nur zu den die Gesundheit erhaltenden, nicht zu den eigentlichen
curativen Mitteln gezählt wurden, und dafs deren Bestimmung für den Luxus
als obenan gestellt erscheint. Wenn aber überhaupt in der ersten Kategorie
unsrer Steuerliste eine Übersicht der heilsamen und schädlichen Medicinal-
Kräuter hätte sollen gegeben werden, dann würde vor allen Dingen andrer
Droguerieen zu erwähnen gewesen sein, deren Gebrauch bei den Römern
zweifellos ist, und von denen einige gleichfalls aus dem Orient, namentlich
aus Indien, (°) oder aus Judäa, (*) bezogen wurden.
Was die zuvor postulirte Beziehung der von dem Juristen erwähnten
‚folia auf die im Handelsverkehr der alten Welt vorkommenden, im Preise
sehr verschieden gestellten, Species der Narde anbelangt, so dient demsel-
ben die Aussage des Plinius zur Stütze. Dessen Zeugnis (°) hatin dem vor-
stehenden Falle, wo nicht von der Terminologie der ärztlichen Technik die
Rede ist, sondern von dem vulgären Sprachgebrauch des römischen Handels-
verkehrs, sogar stärkere Beweiskraft als jenes des Dioscorides, seines ge-
wöhnlichen Gewährsmannes. Plinius () schildert das coszum als eine Pflanze,
(!) Fr. 21. $.1. D. de auro argento. 34.2. Pomponius lib. FI. ad Sabinum. Unguentis
legatis, non tantum ea legata videntur, quibus unguimur voluptatis causa, sed et valetudinis:
qualia sunt commagena, glaucina, crina, rosa, myrra, colum, nardum purum; hoc quidem
etiam, quo elegantiores sint et mundiores, unguuntur feminae. Vergl. Fr. 25. 8.12. eod tit.
(2) Von einem andern Standpunkt sehen begreiflich die alten Ärzte diesen Gegenstand
an. Vergl. Dioscorides a.a.0.
(C) Fr.3. 8.3. D. ad L. Cornel. de sicar. 48. 8. Vergl. das Verzeichnis der Medicinal-
stoffe bei Dioscorides. S. auch Plinius H.N. XI. 8.
(*) Tacitus Histor. V. 6.
(°) Auf dasselbe ist schon von andern Auslegern unsers Pandekten-Fragments Bezug ge-
nommen, obwol nur beiläufig. Vergl. Brissonius de verbor significat. v. Folium $. 2.
(°) H.N. XII.2. De costo, et nardo, et differentiis nardi. Radix et folium Indis est
maximo pretio. Radix costi gustu fervens, odore eximio, frutice alias inutili. Primo statim
introitu amnis Indi, in Patale insula, duo sunt eius genera: nigrum et, quod melius, candi-
cans. Pretium in libras X. VI. De folio nardi plura dici par est, ut principali in unguentis.
Frutex est gravi et crassa radice, sed brevi ac nigra, fragilique quamvis pingui, situm redo-
lente ut cyperi, aspero sapore, folio parvo densoque. Cacumina in aristas se spargunt, ideo
gemina dote nardi spicas ac folia celebrant. Alterum eius genus apud Gangem nascens
damnatur in totum, ozaenitidis nomine, virus redolens. Adulteratur et pseudo - nardo
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 55
deren Wurzel allein zur Bereitung von Salben gebraucht werde; dagegen die
Narde nennt er ein Gewächs, dessen Blätter und Blüthen für dieselbe Be-
stimmung besonders gesucht waren, (!) während die Wurzel nur zur Fäl-
schung des Gewichtes im Handel gebraucht ward. Die Verschiedenheit der
Species dieser Pflanze erkannte man an den Blättern. Die Bezeichnung die-
ser Blätter, welche Plinius gebraucht, weichen nur in der Form des Aus-
druckes ab von den Benennungen der folia in dem vorliegenden Pandekten -
Fragment. Man kann entweder sagen, dem folium microsphaerum bei Pli-
nius, d.h. der theuersten Sorte der indischen Narde, entspricht das folium
pentasphaerum bei dem Juristen Marcian; und die geringere Sorte, welche
bei jenem als folium hadrosphaerum figurirt, trifft zusammen mit dem folium
barbaricum des andern. Oder, was ungleich wahrscheinlicher ist, das folium
pentasphaerum des Juristen-umfafst alle Arten der indischen und beziehungs-
weis der syrischen Narde, während dem folium barbaricum ‚die andern Gat-
tungen dieser Pflanze zufallen, welche der römische Handel, nach des Pli-
nius Aussage, aus Gallien und Oreta bezog.
Unter den Specereien in unserm Verzeichnis begegnen wir ferner der
cassia luriana, dem malabathrum und dem aroma Indicum. Nur hinsichtlich
der zuerst genannten Species (?) ist die Textes-Kritik ernstlich bestritten,
und zwar aus zureichenden Gründen. Denn abgesehen davon, dafs eine Gat-
tung der Cassia, mit solchem Prädicat wie hier, nirgend genannt wird, es
hat auch die Wortbildung: zZuriana, oder T'yriana, die Regeln der Sprache
herba, quae ubique nascitur, erassiore atque latiore folio, et colore languido in candidum
vergente. Item sua radice permixta ponderis causa, et gummi spumaque argenti, aut stibio,
ac cypero cyperive corlice. Sincerum quidem levitate deprehenditur, et colore rufo, odo-
risque suayitate, et gustu maxime siccante os, sapore iucundo. Pretium spicae in libras X.
C. Folii divisere annonam; ab amplitudine hadrosphaerum vocatur, maioribus foliis, X. L.
Quod minore folio est, mesosphaerum appellatur; emitur X. LX. Laudatissimum microsphae-
rum, e minimis folium; pretium eius X. LXXV. Odoris gratia omnibus maior recentibus. —
In nostro orbe proxime laudatur Syriacum, mox Gallicum, terlio loco Creticum. Vergl. den-
delben XXII. 24. Über die Unterscheidung der drei Gattungen des malabathrum, welche
dieser Classifieirung der folia bei Plinius entspricht, s. Arrian a. a.O. pag. 37. fg. wovon
noch weiter unten (S. 87. Anm. 5. fg.) Vergl. auch €. Sprengel’s Comm. ad Dioscorid.
de maäter. med. 1.6. (Vol.XXVL p.345. fg. d. Ausg. von Kühn.) Isidor Origin. XVII. 9.
(') Costum und Narde sind eben so neben einander genannt bei Arrian a.a. O. pag. 22. 28.
(?) Freilich lesen die Pandekten- Ausgaben der zweiten Serie: ammoniacum, anstatt aro-
ma Indicum; allein diese blolse Gonjectural-Variante ist ohne hinreichende Haltung.
56 H. E. Dırksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
gegen sich; man mag diesen Zusatz auf das Vaterland der Pflanze beziehen,
oder eine Hinweisung auf die dem Weihrauch verwandten Eigenschaften der-
selben darin gewahr werden wollen. Denn die Ableitung von T’hurü würde
auf T’hurinus, so wie die von T'yrus auf T'yrius führen; (!) die Etymologie
von Zhus aber könnte nur /hureus geben, und etwa noch Z/hurarius. (2) Un-
ter diesen Umständen hat es nicht an Versuchen gefehlt, der räthselhaften
Lesart: Zuriana, durch Emendirung des Textes zu Hülfe zu kommen. Die
Pandekten-Ausgaben der zweiten Serie unsers Schema’s lesen: casia, thymi-
ama. Und dies würde der Auslegung einen schicklichen Anhaltspunkt bie-
ten; denn unter dem Namen: ammoniacum thymiama, thymiama Mocroti,
s. regium, wurden im Alterthum gewisse, aus kostbaren Specereien zusam-
mengesetzte, und zum Räuchern bestimmte, vegetabilische Stoffe begriffen. (?)
Die Griechen gebrauchten auch wol denselben Ausdruck als eine Collectiv-
Bezeichnung für sämmtliche arabische Specereien, mit Ausschlufs des Weih-
rauchs; (*) und diesem scheint der spätere lateinische Sprachgebrauch sich
angeschlossen zu haben. (°) Indefs da die Lectio vulgata mit der Florentina
in der Anerkennung des Textes: cassia turiana, oder Zurana, übereinkommt,
so kann man nicht sagen, dafs diese Emendation, der manche ähnliche Ver-
suche (°) der Kritik zur Seite gestellt werden können, das Zeugnis der Hand-
schriften für sich habe. Am nächsten der Lesart des Königsberger Manu-
scripts (cassia turana) tritt die Veränderung des Textes: cassia turaria. Wir
glauben darin die Bezeichnung wahrzunehmen einer der geringeren, unter
(') Die Bezugnahme auf die inswa Tyrina, im persischen Meerbusen, dürfte ganz un-
statihaft sein, indem diese, nach der Schilderung Strabo’s (Geogr. XVI. 3. $.5.) dem Han-
delsverkehr der Römer fremd geblieben zu sein scheint.
() Vergl. Festus v. Acerra (pag.18. d. Ausg. v. O. Müller.).
(°) Dioscorides a.a.O. III. 88. [al. 89.]. Celsus medicinae libb. V.18.fg. Arrian
a.a.0. pag. 6.fg. Isidor a.a.0. IV.12. $.2. Salmasius a. a.O. pag. 1058.
(*) $. des Nearchus paraplus ex Arriano. pag. 37.
(©) Isidor a.a.0. XVIL 8. S.9.
(°) So z.B. die Veränderung in: Casia Syriana, oder Syriaca. (vergl. Smallenburg
a.a.0. s. oben S. 59. fg. Anm. 3.) oder die von Salmasius (a.a.O. pag. 1302.) empfohlene
Kritik: casia, surinx. Wollte man sich in dergleichen Träumereien ergehen, so würde man
auf Grund desjenigen was Strabo a.a.0. XI.7. 8.3. über das, zu Räucherungen ver-
wendete, Gummi von Styrax aus Selge in Pisidien berichtet, sogar die Emendation cassia
styracina vorschlagen können.
-
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 87
den zahlreichen im Alterthum bekannten, (!) Gattungen der Cassia, die man
zum Räuchern gebrauchte, und nach dem Weihrauch benannte, wegen des
verwandten Wohlgeruchs. Ob dies aber die sogenannte harte Cassia gewe-
sen sei, die Arrian (?) neben dem Weihrauch nennt; oder die geringere
Gattung des cinnamomum, welche Dioscorides (°) schildert, als den Ge-
ruch des Weihrauchs und der Myrrhe nachahmend; oder blos die Rinde des
Weihrauchbaumes, die man bei Räucherungen anwendete und auch als Arz-
neimittel gebrauchte, (*) dürfte nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln sein.
Dafs das malabathrum, welches in unserm Verzeichnis neben der so
eben besprochenen Species der Oassia figurirt, nicht mit dem folium barba-
ricum verwechselt werden darf, wurde oben (S.83. Anm.1.fg.) gegen Salma-
sius ausgeführt. Schon Dioscorides(°) erinnert, dafs manche mit Unrecht
das malabathrum mit der nardus Indica identificiren. Er selbst hält den
Unterschied beider Stoffe fest. Arrian (°) scheint in dem so eben gerügten
Irrthum befangen zu sein, denn er wendet auf das malabathrum die nämliche
Unterscheidung der Species an, welche bei der Narde anerkannt war. In-
dem aber diese Gewährsmänner das malabathrum, neben dem Pfeffer, als ein
viel begehrtes orientalisches Gewürz schildern, fügen sie nichts hinzu über
die Merkmale der Gattung und Art dieser Pflanze. Nach neuerer wissen-
schaftlicher Bestimmung ist dieselbe wahrscheinlich für eins mit dem Betel-
blatte (7) zu halten.
Die Deutung von aroma Indicum ist nicht minder zweifelhaft. Man
kann diese Benennung auffassen theils als den Collectiv- Ausdruck für alle
Wobhlgerüche des Orients, theils als die gesonderte Bezeichnung einer ver-
einzelten Gattung dieser Parfumerieen. Dem zuerst genannten Postulate
(') Dioscorides a.a.0. 1.12.
(?) a.a. ©. pag: 6. 18.
GC), 22.02.48:
(*) Ebendas. I. 82.
(°) a.a.0. 1.11. (S.Sprengel in comm. ad h.1. p.348. fg.) vergl. 1.75. fg. und Pli-
nius a.a.0. XI. 26. XIV. 16. XXI. 4.
(°) 2.2.0. pag. 31. fg. pag.37.fg. Vergl. oben S.85. Anm. 6. a. E.
(”) Vergl. CE. Ritter Erdkunde v. Asien. IV.1. S. 858’fgg. 875. der sich auf die Aus-
führung Heerens Conamina a. a.0. S.2054. fg. (oben S.83. Anm. 3.) stützt. Vergl. auch
des letztern Histor. Werke. Bd. 12. S. 356. fg.
88 H.E. Dirksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
scheint die Wahrnehmung günstig zu sein, dafs sowol bei Plinius (?) als auch
in den römischen Rechtsquellen (?) die Collectiv-Bezeichnung odores bald
neben den unguenta angetroffen wird, bald aber diesen untergeordnet ist;
sodann dafs Pomponius Mela, (?) nach dem Vorgange der griechischen
Geographen, (*) denselben Ausdruck angewendet hat, zur Bezeichnung des-
jenigen Küstengebietes von Asien, wo Weihrauch und Myrrhen gewonnen
werden. Gleichwol steht dieser so nahe liegenden Deutung die Form des
Ausdrucks entgegen. Der Jurist spricht nicht von aromata, sondern er macht
das aroma Indicum namhaft. Dies mufs demnach eine besondere Gattung
wohlriechender Substanzen gewesen sein, und die Ermittelung derselben er-
fordert ein genaueres Eingehen in den Sprachgebrauch des Alterthums.
Die Terminologie der classischen Autoren wendet aber das Prädicat aroma
nicht vorzugsweis auf den Weihrauch an; auch nicht auf den sogenannten
calamus aromalicus, dessen bei der Bereitung von Ölen und Salben oft-
mals gedacht wird; (°) wol aber auf die Myrrhen.(%) Man entgegne nicht,
dafs die griechischen Geographen (?) bisweilen die suigv« von den dgunara
unterscheiden. Sie bleiben sich nicht gleich in der Begrenzung der letzte-
ren; denn bald zählen sie dahin, bald trennen sie davon die Cassia, den
Weihrauch und die andern Specereien, bald nennen sie wieder die Faugva
(') H.N. lib. XII. Prooem. Vgl. V. 11.
(2) z.B. in den folgenden Formularen: Odores, vel aromata. (Fr. 11. D. de usufr. ear.
rer. 7. 5.) Odores et unguenta. (Fr.3. $.6. Fr.7. 8.3. D. de in rem verso. 15. 3.) Coctis
odoribus unguenta facere. (Fr.27. $.1.D. de adquir. rer. dom. 41. 1.)
(©) De situ orbis. III.8. Ultra Arsinoe, et alia Berenice. Tum silva, quae hebenum odo-
resque generat, et manu factus amnis etc.
(*) Arrian a. a. O. pag.11. fg. 15. fg. Marcianus Heracleota Periplus. pag. 12.
(Geograph. vet. script. graec. minor. Vol.1. Oxon. 1698. 8.) Bei andern ist die Collectiv-
Bezeichnung gebräuchlicher: regio zhurifera. Dioscorides a.a.0. 1.81. Isidor Origin.
XIV. 3. 8.15. XVII 8. S$. 1.fgg. Während Strabo a. a. O. XVI.4. S$. 4. 14. 20. 24. fg.
XVI. 1. S$. 1.5. in der Beschreibung Arabiens, die myrrhifera, cinnamomifera und thuri-
fera regio genau scheidet.
(°) Dioscorides a.a.0©. 1.17. 68. II. 91. fg. und die Ausleger desselben. Der calamus
aromaticus Arabiens wird von dem iuncus, oder calamus aromaticus Syriens gesondert.
Strabo a. a.0. XVI. 2. 8.16. XVL.4. 8.19. Vergl.,Isidor a.a.0. XIV.3. 88.6. 21.
XV. 8. SS. 13. fg.
(°) Salmasius a.a.O. pag. 709. 1058.
(”) Arrian a.a.0. pag.6.fgg. 16. fg. 28.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 59
allein, statt aller andern kostbaren Parfumerieen.(!) Strabo hat, wenigstens
in der Beschreibung Arabiens, (?) indem er die Myrrhe neben Weihrauch
und Cannelle aufführt, jener die Bezeichnung &guu« vorzugsweis beigelegt.
Auch der andere ungleich scheinbarere Einwand dürfte sich beseitigen lassen,
dafs in dem Verzeichnis unsers Juristen zuvor schon, neben cassia turiana und
aylocassia, ausdrücklich namhaft gemacht ist die, unter der Bezeichnung smyrna
bekannte Essenz, bei deren Verfertigung der Myrrhen-Extract als ein we-
sentlicher Bestandtheil genannt wird. Es genügt in Erinnerung zu bringen,
dafs die Myrrhen auch zur Bereitung andrer Öle und Salben verwendet wur-
den, gleichwie sie als kostbares Material zu Räucherungen und Arzneien vor-
kamen. (°)
An das aroma Indicum schliefsen sich in dem vorstehenden Cataloge
der Specereien die nachbenannten Stoffe: galbanum, laser, agallöchus, sar-
cocolla und gummi Arabicum. Hier ist die Aufgabe der Auslegung des Tex-
tes einfacher als jene der Wort-Kritik. Denn nur bei der Benennung laser
steht die Lesart der Handschriften fest, während hinsichtlich der übrigen
vorliegenden Bezeichnungen die Unsicherheit der Schreibart nicht weniger
in der Florentina hervortritt, als in der Vulgata Lectio. Der Unterschied
der Varianten: galbanum, und chalbane, kann freilich als unerheblich be-
trachtet werden, indem derselbe zunächst nur auf dem Gegensatz der grie-
chischen und der lateinischen Form des Ausdruckes beruht. Desto schwie-
riger ist aber die Ermittelung des richtigen Textes bei dem Ausdruck: agal-
löchus, oder agallöchum. Die Florentiner Handschrift hat statt dessen: al-
chelueia; und dies kommt überein nicht allein mit dem Königsberger Manu-
script, sondern auch mit dem nur wenig veränderten Text (alchelunsia, und
alchelusia,) der Ausgaben der ersten Serie. Dies kann gleichwol nicht als
die übereinstimmende Lesart sämmtlicher Codices Vulgati angesprochen wer-
den. Denn nicht blos die Pandekten- Ausgaben der zweiten Serie unsers
Schema’s setzen: agallochus, oder agolochon, sondern auch der, von diesen
unabhängige, Haloander liest: agallochus. Nun aber läfst agallochum,
wie weiter unten gezeigt werden soll, eine genügende, und dem Zusammen-
() Strabo a. 2.0. XV.1. $.22. XV.2. 8.3. XVL1. 8.2.
(?) Ebendas. XVI. 4. S$.4. 14. 18. fg. 22. 24. fg.
(°) Dioscorides a.2. 0. 1.65.fg. 77.1g: 85. IL 91.fg., III. 84, [al. 94.] 87.12. V. 65.
Philos.- hisior. Kl. 1843. M
90 H. E. Dırkszen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
hange unsers Pandekten-Textes genau entsprechende Deutung zu, während
die Lesart alchelueia weder einen passenden Sinn giebt, noch als die Grund-
lage einer haltbaren Emendation benutzt werden kann. Denn die Hypothese
des Salmasius, (!) dals alchelueia die verderbte Schreibart für aylochia sei,
welches letztere die griechische Bezeichnung für agallochum bilde, beruht
auf einer Folge von unzulässigen Prämissen. Auch minder gewaltsame kri-
tische Operationen sind nicht unbedenklich, (?) selbst der Vorschlag eines
neueren Editors, (?) der alchelucia in alga Lycia umwandeln möchte. Denn
die Unterstützung, welche von Seiten der Paläographie dieser Emendation
mag gewährt sein, wird weit überboten durch das Bedenken, das in der Stö-
rung des Zusammenhanges der Darstellung liegt. Die Algen (*) nämlich
können nicht in der Kategorie der Specereien einen Platz ansprechen, son-
dern nur in jener der Farbewaaren; und bei diesen ist ihnen in der That
eine Stelle vorbehalten, d.h. in der sechsten Classe, unter der Collectiv-
Bezeichnung fucus.
Was den Ausdruck sarcocolla angeht, so steht die abweichende Lesart
der Florentina: sargogalla, nicht vereinzelt da, vielmehr kommt die Recen-
sio Bononiensis damit überein. Es ist hier aber dasselbe zu wiederholen,
was zuvor bei chalbane und galbanum erinnert wurde; sarcocolla und sar-
gogalla sind nicht Bezeichnungen von verschiedener Gattung, sondern jenes
ist die lateinische und dieses die griechische Form der Orthographie dessel-
ben Ausdruckes.
Gröfseres Bedenken erregt die Kritik des Ausdrucks: gummi Arabi-
cum. Die Lectio Vulgata: ome rabicum, läfst sich in allen Varianten, welche
die Pandekten- Ausgaben der ersten Serie darbieten, ohne Mühe auf diesen
(') a.a.0. pag. 1054. fg.
(?2) z. B. wenn man lesen wollte: ariszolochia. Unter diesem Namen kommt im Alterthum
allerdings eine Pflanze vor, allein dieselbe gehörte zu den Gewächsen, die innerhalb der
Grenzen des römischen Reiches einheimisch waren. Dioscorides a. a. O. IH. 4. fgg. (Vgl.
C. Sprengel in Comm. ad h. 1. pag. 493.).
(°) Vergl. die Kriegelsche Ausgabe des Corp. iur. civ.
(*) Das Avxıv, welches Arrian a. a.0. pag. 22. 28. (s. oben S. 81. Anm. 1.) neben co-
stum, bdellium und nardus, anführt, war ein, nicht aus einer Species der Algen, sondern
aus einem strauchartigen Gewächs, extrahirtes Medicament. S. Dioscorides a.a.O. I. 132.
(und die Ausleger dazu). Celsus a. a. 0. V. 26.
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 9
Text zurückführen, schwieriger dagegen erscheint die Vermittelung des Flo-
rentinischen Textes: onyx Arabicus, den auch Haloander sich angeeignet
hat. Dafs diese Lesart, durch welche die Ordnung und Verknüpfung der
Kategorieen unsers Waaren-Verzeichnisses durchaus würde gestört werden,
nicht richtig sein kann, ist schon oben (!) angedeutet worden. In diesem
Cataloge bildet nicht weniger der vorstehende Abschnitt, der von den Spe-
cereien handelt, als wie die dritte Classe, die mit den Edelsteinen sich be-
schäftigt, einen geschlossenen Kreis. Zu den letzteren ist nun unfehlbar der
onyx Arabicus zu zählen, und gleichwol würde er von diesen ganz getrennt
sein, nicht nur durch die hinterher noch aufgeführten einzelnen Specereien,
sondern durch die ganze eingeschobene zweite Classe von orientalischen Na-
turproducten und Fabricaten. Wie aber ist der Ursprung der Florentiner
Lesart zu erklären? Die nahe liegende Voraussetzung, dafs der Ausdruck
onyx Arabicus durch die Schuld des Abschreibers aus der rechten Stellung
gerückt worden sei, indem er im Original, neben dem sardonyx, in der drit-
ten Classe figurirt habe, bewährt sich bei näherer Prüfung nicht. Denn die
übrigen Onyx-Arten, mit Ausschlufs des Sardonyx, sind in dem vorliegen-
den Waaren-Catalog durch den Collectiv- Ausdruck: lapis universus, absor-
birt. Wahrscheinlicher ist es, dafs der griechische Schreiber des Florentiner
Pandekten-Manuscripts die griechische Übertragung der Benennung gummi,
nämlich zouui, wegen des folgenden Prädicates: Arabicum, mit onyx ver-
wechselt haben mag.
Die Erklärung der einzelnen hier zusammengefafsten Specereien un-
terliegt, wie bereits bevorwortet wurde, geringeren Schwierigkeiten als die
Berichtigung des Textes. Des galbanum gedenkt Dioscorides,(?) und
nach ihm Plinius,(°) unter den, in Arabien, Syrien und Judäa einheimi-
schen balsamischen Pflanzen, und weist demselben einen ausgezeichneten
Platz an unter den Ingredenzien zur Bereitung kosmetischer sowie medicini-
scher Essenzen. Genauer handeln die Classiker von dem Zaser, d.h. von
(') Am Schlusse der zweiten Abtheilung, bei der Übersicht der Classen unsers Cataloges.
(?) a. a.0. 1.74. II. 87. Vergl. C.Sprengel in Comm. ad h.l. pag. 532.
() H.N. XIL 25. XXIV. 5. Vergl. Salmasius a. a.O. pag. 351. fg. 1049. fg. Ob dies
galbanum für identisch zu halten ist mit dem dschalban, oder dschalbanak der arabischen
Ärzte, mögen andere erörtern. S. Ebn-Baithar grofse Zusammenstellung der Heil- und
Nahrungsmittel. Übersetzt von J. v.Sontheimer. Bd.1. S.250. Stuttg. 1840. 8.
M2
ND H. E. Dırksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
dem Extract des Zaserpitium, einer Pflanze, die zu dem Geschlecht sylphium
gehört. (1) Plinius (?) führt an, dafs das Präparat am meisten geschätzt
und bezahlt wurde, welches man von dem in der Afrikanischen Landschaft
Cyrene vorkommenden Sy/phium gewann. (?) Die griechischen Geogra-
phen machen bei der Provinz Cyrene besonders aufmerksam auf das be-
schränkte Gebiet, in dessen Grenzen dieses vielbegehrte Zaserpitium wuchs,
welches sie von der ungleich geringeren Species des sy/phium, oder laserpi-
tium, Medicum, Libycum und Armenicum sorgfältig unterscheiden. (*)
Sämmtliche angeführte Autoren kommen überein, dafs das kostbare Cyre-
nische /aserpitium durch die Habsucht der römischen Steuerpächter ganz
ausgerottet worden war; die Identität der Pflanze ist daher nicht mehr zu
constatiren, und die Beschreibung derselben durch Dioscorides a.a.O.
kann nicht für geeignet gehalten werden, die Ansicht über jeden Zweifel zu
erheben, dafs das sy/phium Cyrenaicum identisch sei mit unserer assa foetida.
— Unter agallöchum hat man wahrscheinlich zu verstehen das Holz der Aloe
aromalica, das im Alterthum zu den feinen Specereien gezählt ward, und
vielfache Nachfrage fand für die Verfertigung von Salben, gleichwie zu Räu-
cherungen bei der Leichenfeier. (°) Die Sarcocolla schildert Plinius, (°)
oder vielmehr der von ihm ausgeschriebene Dioscorides, (7) als eine Gat-
tung orientalischen Gummi’s, das dem Pulver des Weihrauchs sehr geähnelt
habe, und von den Arzten als adstringirendes Mittel gebraucht, gleichwie von
den Malern zur Befestigung der Farben auf Gemälden angewendet sei. Diese
Charakterisirung scheint zu passen auf den Mastyx, wofür auch die Zusam-
menstellung mit dem Gummi Arabicum sprechen würde; gleichwol steht
(') Vergl. Columella de R. R. VI.17. Vitruvius VII. 3.
(?) a.a.0. XIX. 3. XX. 9. Vergl. Salmasius a. a.O. pag. 261. 352. fg. 360. fg.
(°) Auch Vitruvius de architectura. VII. 3. weist darauf hin.
(*) Strabo a.a.0. X1.12. $.7. XVI.3. S$.20.22.fg. Skylax Caryandens. periplus.
p- 45. Nearchus paraplus ex Arriano. p.40. (der Oxforder Ausg. Vol. I.) Vergl. auch
Dioscorides a.a.O. Ill. 54. [al. 94.].
(°) Dioscorides a.a.0.1. 21. (und Sprengel in comm. pag. 360.fg.) Isidor Origin.
XV. 8. 8.9. Salmasius a.a. 0. pag. 1058. fg.
(°) H.N. XIH. 11. XXIV.14. Salmasius a. a.O. pag. 508. fg.
(’) a. a. O. IM. 89. [al. 99.]. Über die hier gerügten Plagiate vergl. C. Sprengel in der
Praefat. zu Dioscorides pag. IX.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 93
einer solchen Auslegung das Zeugnis des Dioscorides() entgegen, der den
Ausdruck wasiyn freilich in einer etwas unbestimmten Weise gebraucht, in-
defs die FapnonorAa davon unterscheidet.
Fafst man das bis hierher über die Specereien der ersten Classe
unsers Oataloges ausgeführte in die Frage zusammen: Was als das, sämmtli-
chen einzelnen Species gemeinsame, Kriterium anzuerkennen sei? so dürfte
die Antwort nicht eben schwer fallen. Die Specereien sind nicht als Heil-
mittel hier aufgezeichnet; wie zu entnehmen ist aus der Verschweigung der
drastischen Medicamente, von welchen die Pharmakopöe des Alterthums
überfüllt war. Dieselben kommen auch nicht als Stoffe in Erwägung, die
bei dem Opferdienst nicht entbehrt werden konnten; denn alkdlan wrüßde
unser Verzeichnis vorweg den Weihrauch ausgezeichnet haben. Sie sind
nur genannt als Luxus-Artikel, theils zur Unterstützung der Kosmetik und
Schwelgerei der Lebenden, (?) theils zur Verwendung bei Leichenfeierlich-
keiten. Namentlich werden die letztern, im Zeitalter der römischen Kaiser,
als der Abgrund geschildert, der den jährlichen Ertrag orientalischer Spece-
reien zum grofsen Theil verschlungen habe. (°)
IV.
In die zweite Classe der einzelnen Artikel unsrer Waaren -Tabelle
sind gestellt worden: baumwollene Gewebe, Rauchwaaren aus Babylonien
und Persien, Elfenbein und indisches Eisen. Hier leidet die Wort-Kritik
weniger an Unsicherheit, und auch die Erforschung des unmittelbaren Wort-
verstandes bietet nicht erhebliche Schwierigkeiten.
Das opus byssinum, oder byssicum, kann wol nur von feinen Baum-
wollen-Geweben verstanden werden, wie sie damals noch ausschliefslich der
(') Ebendas. I. 81. 90.
(?) Dioscorides I. 5.fg. 13. fg. 62. fg. IT. 91.fg. handelt bei den einzelnen Gewürzen,
und den officinellen Kräutern, sowol von der Verwendung derselben zu Arzneimitteln, als
auch von deren Gebrauch zur Bereitung von Oelen und Salben. In Fr.5. $.1. D. de penu
leg. 33.9. findet man gleichfalls einige der hier aufgezeichneten Artikel, z. B. piper und Zaser,
zu den Stoffen gezählt, welche die Mitte halten zwischen Medicamenten und Comestibilien.
(°) Plinius H.N. XI. 18. und Tacitus Annal. XVI. 6. Vergl. Heeren’s Histor. Werke
Thl. 12. S 320.
94 H.E. Dirksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
Orient lieferte: namentlich von indischen Musselinen, die unter der
Regierung der römischen Kaiser sehr gesucht wurden für die Toilette gefall-
süchtiger Weiber. So schildert Plinius (!) das dyssinum. Wenn aber der-
selbe auf dergleichen Gewebe gelegentlich (?) auch die Bezeichnung Zinteum
anwendet, so ist deshalb keineswegs an einen flachsartigen Stoff zu denken.(°)
Die Bezeichnungen: pelles Babylonicae und pelles Parthicae, die von
Seiten der Kritik kaum anzufechten sind, indem die entsprechende Lectio
Florentina auch in einzelnen Codices Vulgati, z.B. in der Königsberger Hand-
schrift, zu erkennen ist, werden von einigen Auslegern (*) auf kostbare Rauch-
waaren und Teppiche bezogen. Andere dagegen denken an bereitetes und
gefärbtes orientalisches T,eder; indem sie auf den Bericht des Plinius (°)
sich stützen, der unter den chinesischen Handelsartikeln hervorhebt Seiden-
gewebe, Felle und Eisen. In ähnlicher Weise führt Arrian (°) unter den
Waaren indischen und chinesischen Ursprunges, die von den persischen Sta-
pelplätzen seewärts verschickt wurden, ongır« Öeguare an. Da nun Pelzwaa-
ren, als Gegenstand zur Bekleidung, und zwar nicht blos für den gewöhnli-
chen Gebrauch, (7) sondern auch zum Luxus und namentlich zum weiblichen
Putz, (3) den Römern bekannt waren, die Rauchwaaren des Nordens aber
(') Ebendas. XIX. 1. a. E. vergl. VI. 17. Strabo a. a.0. XV.1. 8.20. Gibbon Gesch.
d. Verfalls u. s. w. Cap. 40.
(?) Das. XII. 10. fg. Vergl. Salmasius a.a.O. pag. 295. fg. 997. fg. und C. Ritter’s
Erdkunde. Thl.2. S. 637. fg.
(°) Jul. Pollux Onomastie. VIL 75. Kar un zur ra Qvoswe, zu 5 Bursos, Avov rı
&ıdos mug Wvöcis.
() Hugo Grotius Florum sparsio ad ius Justinian. Dig. XXXIX. 4. pag. 223. Byn-
kershoek observation. IV.5. Heineccius in seiner Ausg. des Brissonius deV.S. v. Pellis.
(°) H.N. XXXIV. 14. Ex omnibus autem generibus (sc. ferri) palma Serico ferro est.
Seros hoc cum vestibus suis pellibusque mittunt. Secunda Parthico; neque alia genera ferri
ex mera acie temperantur, caeteris enim admiscetur mollior complexus. Vergl. Isidor a. a.
0. xVL 2128.2.
(°) a. a.0. pag.22. (S. oben S. 81. Anm. 1.). Vergl. Heeren’s Histor. Werke. Bd. 12.
S. 353. fgg. vergl. S. 316.19.
(”) Paulus sententiar. III. 6. $.79. Veste legata, ea cedunt quae ex lana et lino texta
sunt: item serica et bombycina. — Pelles quoque indutoriae continebuntur. Fr.23. 8.3.
Fr. 24. D. de auro arg. 34. 2. Vergl. Paulus, bei Festus v. Pellem. p. 207. d. Ausg. v.
Müller.
(®) Festus v. Ruscum. p. 265.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 95
wol nur durch die östlichen Caravanenzüge die Handelswege zu den Römern
fanden, (1) so dürfte der Ausdruck pelles in unserm Verzeichnis auf feine
Rauchwaaren zu beziehen sein, zumal da der gleichzeitige sowie der spä-
tere Sprachgebrauch darauf hinweist. (2) Überdem wird werthvolles Pelz-
werk unter den Handelsartikeln des Orients nicht vermifst, (?) und auch bei
andern Referenten (*) geschieht der pelles Babylonicae Erwähnung, für wel-
che die Stadt Cäsarea in Cappadocien als Stapelplatz bezeichnet ist. Wir
wagen nicht zu den pelles auch das kostbare orientalische Leder zu
zählen, (°) und jedenfalls bleibt die Anwendung auf Teppiche, mit Rücksicht
auf den Redeausdruck, ausgeschlossen. Auch rohe Thierhäute können
hier nicht gemeint sein; denn die Geschichtschreiber der römischen Kaiser-
zeit, (°) welche der Verhandlungen wegen Erleichterung des Verkehrs an der
persischen Grenze gedenken, nennen unter den Gegenständen des activen
Handels der Perser mit Rom, neben den Specereien, vornehmlich Frzeug-
nisse des Kunstfleifses, z. B. Metallarbeiten und feine Gewebe. Und ähnli-
ches gilt von dem Handel an der Mündung des Euphrat, wo diejenigen Waa-
ren ausgeführt wurden, die in der Gegend von Babylon ihre Stapelplätze
hatten. (7)
Die Bezeichnung parthischer und babylonischer Waaren ist
nicht als das untrügliche Ursprungs- Attest derselben zu betrachten, sondern
ist auf die Handelswege gerichtet, die der Verkehr der alten Welt verfolgte.
Gleiches gilt auch von dem Ausdruck : ferrum Indicum, in unserm Verzeich-
nis. Plinius (°) charakterisirt genauer das orientalische Eisen, indem
(') S. Heeren’s Histor. Werke Thl. 11. S. 297. fg. 304. fg. und C. Ritter’s Erdkunde
Thl. 2. S. 617.fg. Berl. 1818. 8.
(2) Strabo XI. 2. 8.3. Theod. Cod. XIV. 10.
(°) Vergl. Heeren’s Conamina a. a.O. (oben S. 85. Anm. 3.) S. 2074.
(*) Orbis descriptio sub Constantio Imp. c. 23. p. 399. (S. S.78. Anm. 1.) „In qua (sc.
Cappadocia) est civitas maxima, quae vocatur Caesarea. — Haec ubique leporinam vestem
emittit, et babylonicarum pellium et divinorum animalium pulchritudinem.”
(?°) Heeren, in den Histor. Werk. Bd.12. S.355.fg. ist dieser Beziehung nicht durch-
aus entgegen.
(°) Herodian Histor. rom. IV. 10.
(’) Arrian a.a.0. pag.37.fg. Heeren a.a.0. Thl. 11. S.149.
(°) a.a.O. (vergl. zuvor S. 94. Anm. 5.).
96 H. E. Dıinxsen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
er auch das chinesische dahin zieht, gleichwie das persische; und es ist
bekannt, dafs noch in unsern Tagen der Stahl aus Indien und Japan beson-
ders geschätzt wird. (!) Die vorausgesetzte Lesart unsers Textes hat die An-
erkennung der Lectio Vulgata gleichwie der Florentina für sich, und die Con-
jecetural-Variante (Rebenum Indicum) der Pandekten-Ausgaben unsrer zweiten
Serie entbehrt jeder Unterstützung. Denn das ferrum Indicum bildete im
Alterthum einen weit erheblichern Handelsartikel als wie das Ebenholz. (?)
Anders verhält es sich mit der Skepsis, deren Gegenstand der letzte
Artikel in dem zweiten Abschnitt unsers Waaren - Cataloges geworden ist.
Die Florentina führt nämlich hinter ferrum Indieum noch an: carpäsum.
Die Handschriften, die den Text der Recensio Bononiensis wiedergeben, le-
sen hier carbäsum. Die Pandekten- Ausgaben der zweiten Serie, indem sie
den Eingebungen der Conjectural-Kritik folgen, setzen carpesium, und rük-
ken dies von dem Schlufs des zweiten Abschnittes an den des ersten, indem
sie ihm hinter aylocinnamomum seinen Platz anweisen. Carpesium war ein
den Alten bekanntes und von ihnen geschätztes Gewürz, dessen Identität mit
einer bestimmten Species der gegenwärtig im Handel vorkommenden Ge-
würze, der ungenügenden Beschreibung wegen, schwer zu ermitteln ist. (°)
Carpasum dagegen ist nicht, wie man nach dem ausdrücklichen Zeugnis Ar-
rian’s (*) vermuthen sollte, die Bezeichnung des unverarbeiteten indischen
Flachses; sondern vielmehr der indischen Baumwolle, wie C. Ritter’s
Untersuchungen ergeben. (°) Demnach ist es überflüfsig, hier mit Salma-
sius (°) an das iinum vivum, s. asbestinum, zu denken, d.h. an die, nach der
Stadt Carpasia in Cypern benannten Asbest-Gewebe, welche die Römer
theuer bezahlten, um davon bei der Leichenfeier der Reichen, zum Verbren-
nen des Leichnams Gebrauch zu machen. (°)
(') Bynkershoek a.a.0. Heeren a.a.O. Thl.12. S.334. €. Ritter a.a.O. IV. 1. S. 448,
(?) Arrian a.a.0. pag. 5. 20.fg. 28. fg. 31. fg. Vergl. Heeren’s Histor. Werke Thl.
11. S.249. C. Ritter a. a.O. IV.1. S. 528.
(°) Namentlich, ob etwa die Cubeben darunter zu verstehen sind? Dioscoridesa.a.
0.1.2. Galenus de simplic. medicam, VIL. 1. Vergl. Salmasius a.a.0. pag. 1304. 1306.fg.
(*) a.a.0. pag. 24. Vergl. Strabo XV.1. 8.13.
(222202 IV.1.,5.436:
(°) a.a.O. pag. 178. 998.
(°) Strabo Geograph. XIV. 5. 8.3. Plinius H.N. XIX. 1.
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 97
Die dritte Classe der zu versteuernden Waaren, welche die Edel-
steine umschliefst, nimmt nur an einigen Stellen die Sorgfalt des Kritikers,
sowie des Auslegers, in Anspruch. Die Collectiv-Bezeichnung: Zlapis uni-
versus, am Eingange dieses Abschnittes, erregt einiges Bedenken. Der Text
der Codices Vulgati bietet hier nur wenige Varianten, und auch diese erschei-
nen durchaus nicht als belangreich. Jeder Versuch der Conjectural-Kritik,
in dem Zusatz universus etwa das verdorbene Epithet einer vereinzelten
Steinart zu ermitteln, dürfte abzuweisen sein. (!) Es handelt sich nur um
eine genügende Deutung jenes Ausdrucks, nämlich um die Entscheidung der
Frage: Ob hier unter Zapis eine allgemeine Bezeichnung der Edelsteine, oder
vielmehr der Ausdruck für kostbare Steine zu Erzeugnissen der Plastik, und
der Baukunst, vorauszusetzen sei? Es unterliegt keinem Zweifel, dafs der
römische Sprachgebrauch die Benennung Zapides, als gleichbedeutend mit Za-
pilli, auch auf Edelsteine angewendet hat. (?) Allein in dem vorstehenden
Pandekten-Texte dürfte diese Bedeutung als ausgeschlossen erscheinen, so-
wol durch die Verbindung des Redesatzes als auch durch die grammatische
Bildung der Redetheile.(?) Denn die, in die einfache Form der Wortbeug-
ung gekleidete, Bezeichnung: Zapis universus, ist wenig geeignet zur An-
deutung der Beschränkung auf Edelsteine; und die Voraussetzung, dafs die
Collectiv-Benennung vorangeschickt sei der Aufzählung der einzelnen gem-
mae, widerstreitet der Wahrnehmung, dafs unmittelbar auf den Ausdruck
lapis universus die margaritae folgen, und an diese erst die gemmae oder la-
pilli sich reihen. Diesen Bedenken unterliegt nicht die andere Deutung, nach
welcher die Worte Zapis universus auf sämmtliche Gattungen des Aufser-Ita-
lischen, namentlich des orientalischen Marmors, sowie andrer kostbarer Steine
zum Gebrauch der Plastik und Architektonik, zu beziehen sind. Für diese
Erklärung spricht überdem das Zeugnis des Plinius, (*) der in seinem gro-
fsen Werke, in entsprechender Zusammenstellung, zuerst die Zapides abge-
(') Ohne Emendirung des Textes würde eine solche Auslegung jedenfalls nicht zu er-
reichen sein.
(?) Fr.19. $$.17. fg. Fr.25. 8.11. D. de auro arg. 34.2. Arrian a. a..O. pag. 32.
Vergl. Salmasius a. a.O. pag. 1114.
(°) Freilich behaupten einzelne Ausleger das Gegentheil. So z.B. Bynkershoek a.a.O.
(*) H.N. XXXVI 1.fg. 15. fg. XXXVI. Prooem. c.1.fg.
Philos.- histor. Kl. 1843. N
98 H.E. Dıinksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
handelt hat, und dann die gemmae. Ferner ist zu erwägen, dafs es unbe-
greiflich sein würde, die kostbaren Steine, mit welchen die Prunksucht der
Römer, im Zeitalter der Kaiser, ihre Gebäude schmückte, (!) in dem Ver-
zeichnis steuerpflichtiger Luxus- Artikel ganz mit Stillschweigen übergangen
zu sehen.
In Beziehung auf die Liste der einzelnen Edelsteine ist nur weniges
zu erinnern. Die Reihenfolge, in welcher dieselben hier aufgeführt sind,
kann wol nicht als der Mafsstab für deren Werthschätzung betrachtet wer-
den. Denn der, fast in den Hintergrund gestellte, adamas ist der eigentliche
Diamant, (?) und es ist kein Grund zu der Annahme, dafs derselbe geringer
als die farbigen Edelsteine sei geschätzt worden; vielmehr entscheidet das
ausdrückliche Zeugnis des Plinius (°) für das Gegentheil. Daran, dafs al-
lein des Sardonyx, nicht aber der übrigen Onyx- Arten gedacht ist, könnte
man Anstofs nehmen, um so mehr da Arrian (*) sämmtliche Gattungen des
Onyx unter den orientalischen Handelswaaren namhaft gemacht hat. Gleich-
wol darf man unsern Text für vollständig halten. Zu den Edelsteinen, die
man ihrer Kostbarkeit wegen als Geschmeide anwendete, zählten die Römer
wirklich nur den Sardonyx; (°) während die andern Onyx-Arten, die man
zu sonstigen Luxus- Artikeln verarbeitete, zu der vorangestellten Kategorie
des Zapis universus gehörten. Dazu kommt, dafs der Sardony.x nur in Indien
und Arabien gewonnen wurde, während die gemeineren Onyx-Arten
auch innerhalb der Grenzen des römischen Reiches, z. B. in Cappadocien,
vorkamen (°) und demnach in unserm Verzeichnis ausländischer Handels-
Artikel nicht ausdrücklich hervorgehoben werden konnten.
Die Florentiner Lesart: ceraunium, wird auch durch die Codices Vul-
gati unterstützt; denn die Varianten der letzteren darf man als blofse Lese-
fehler der Abschreiber betrachten, die das Original nicht zu entstellen ver-
(!) Ebendas.. XXXVIL 9. fg. Strabo XI.7. 8.14. XII. 1. 5.16. XIV. 2. S. 23.
(2) Vergl. C.Ritter a.a.O. IV.2. S. 343. fg.
() a.2.0. XXXVII 4.
(*) a.a.O. pag. 28. fg.
(°) Plinius XXXVI. 6. Vergl. des Verf. Manuale latinit. font. iur. R. v. Sardonyx.
(°) Strabo XI.2. 8.11. Isidor Origin. XIV. 3. 8.15. XVLS8. 8.4. Heeren’s Co-
namina a.O. (S. S. 83. Anm. 3.) S. 2065. Vergl. dessen Histor. Werke. Thl. 11. S. 211. fg.
Thl. 12. S. 323. fg.
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 99
mocht haben. Gröfser ist die Abweichung bei den Ausdrücken: callainus,
und chelyniae. Unter jenem hat man vielleicht den Aquamarin sich zu
denken, nicht den Türkis. (1) Die Bezeichnung callis, deren sich Plinius
bedient, (?) ist scheinbar als die mehr lateinische Form anzusprechen, dage-
gen zaAraivos (ArSes) als die griechische. Jener grammatischen Bildung ge-
hören keineswegs die Varianten an, welche der Text der Codices Vulgati an
dieser Stelle aufzuweisen hat, (?) denn sie geben in Wahrheit, gleich der
Lectio Florentina, der andern Wortform den Vorzug. In dem Verzeichnis,
welches Arrian (*) von den, aus indischen und persischen Häfen zu verschif-
fenden Waaren giebt, ist der callainus lapis ausdrücklich genannt.
Dem Text der Florentina: chelyniae, steht gegenüber die Recensio
Bononiensis, welche schwankt zwischen: cheli, chelis und chellim. Die Kri-
tik des Haloander, welche sich für chelidoniae entschieden hat, ist auf die
Lesart des Florentiner Manuscripts gestützt. Die Conjectural-Kritik der
Pandekten-Ausgaben der zweiten Serie, welche cylindrus lesen, ist eine
durchaus willkührliche; während jene des Salmasius (°) den Beifall ver-
dient, den sie erhalten hat. Er erinnert, dafs in unserm Verzeichnis werth-
voller Steine nicht an die Schaale der Schildkröte (xeAvUvn) zu denken ist,
die dem griechischen Schreiber des Florentiner Pandekten-Codex mag vor-
geschwebt haben, sondern dafs das Original gelesen hat: chelonia, unter
welcher Benennung bei Plinius (°) ein kostbarer Stein aufgeführt ist, mit
dem Bemerken, derselbe werde auch oculus Indicae testudinis genannt, we-
gen seiner äufsern Ähnlichkeit mit diesem Gegenstande. Zur Unterstützung
dieser Deutung dient vornehmlich das Zeugnis Arrian’s, (7) welcher die xe-
(') Wie wenig die Gelehrten darüber einig sind, ob selbst mit den gleichlautenden Be-
zeichnungen einzelner Edelsteine eine, dem heutigen Sprachgebrauche entsprechende Bedeut-
ung sei verbunden worden, findet man ausgeführt in C. Ritter’s Erdkunde. Thl.2. S. 550.
fgg. Berl. 1818. 8.
(*) H.N. XXXVII. 10. Vergl. Salmasius a. a.O. pag. 236. fg.
(?) Calamus, callamus, callaginus, callimus. Vergl. oben das Schema der Lesarten.
(*) a.a.0. pag.22. (S. oben S. 81. Anm. 1.).
(?) a.a.O. pag. 1189.
(°) H.N. XXXVIL 10.
(”) a. a.0. pag. 32.
N2
100 H.E. Dırksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
Auyn ygurcvmswwrıan als einen orientalischen Edelstein schildert, mit welchem
ausgedehnter Handel getrieben werde.
In die vierte Classe unsers Waaren-Oataloges wurden verwiesen:
Opiate aus Indien, indische Matten, rohe und gesponnene Seide, seidene
und halbseidene Gewebe, gleichwie andere kostbare Stoffe aus dem Orient.
Bei den einzelnen Artikeln dieses Abschnittes hat die Kritik, sowie die Aus-
legung ein weites Feld für ihre Conjecturen gefunden, indem das Zeugnis der
Handschriften eine nicht hinreichend verläfsliche Grundlage darbietet für die
Bildung eines unbestrittenen Textes.
Die an die Spitze gestellten indischen Opiate haben die Zeugnisse
der Recensio Bononiensis, (1) gleichwie der Florentina Lectio, für sich. Der
Sprachgebrauch der Römer (?) ist dem nicht entgegen, da Plinius (°) den
verdickten und zubereiteten Mohnsaft, den er als einen bekannten Handels-
Artikel bezeichnet, mit dem Namen opion, oder opium, belegt. Auch die
Zusammenstellung mit den zuvor genannten und den folgenden Waaren un-
sers Verzeichnisses dürfte keine erhebliche Schwierigkeit erregen, indem das
indische Opium schon frühe unter den, nach dem Westen verführten, Han-
delsartikeln genannt wird. (*) Jedenfalls aber sind die bisherigen Versuche
der Textes-Verbesserung abzulehnen, als Ergebnisse einer willkührlichen
Conjectural-Kritik. So z. B. die Behauptung des Salmasius, (°) dafs der
Schlufs der dritten Kategorie mit dem Anfange der vierten also zu verbinden
sei: chelone Aethiopica, vel Indica. Ebenso die Emendation der Pandekten-
Ausgaben der zweiten Serie: opera Indica; und die Lesart der Textes-Re-
cension Haloander’s: omnia Indica; denn über die Unstatthaftigkeit der
(') Man darf nur die folgende Bemerkung zu diesem Ausdruck vergleichen, welche die
Glosse des Accursius enthält: Quae (sc. opia) faciunt homines dormire.
(2) Die griechischen Ärzte ziehen freilich die Bezeichnung smiconium (unzuveiov) vor.
Dioscorides a.a.O. II. 87. [al. 97.] IV. 64. fgg.
() H.N. XX. 5. 18. XXV.10.
(*) Vergl. Heeren a.a.O. (oben S. 83. Anm. 3.) S.2055.fg. C. Ritter a. a. O. IV.1.
S.448. IV.2. S.774.
(°) a.a.O. pag. 1189. Er geht von der irrthümlichen Voraussetzung aus, dals in dem
Text der Florentina zu lesen sei: chelyni et hopia vela Indica.
Verzeichnis ausländischer WW aaren, u.'s. w. 101
Voraussetzung, dafs alle von Indien zu beziehende Waaren in unsern Oata-
log aufgenommen seien, ist schon anderweit (1) gesprochen worden.
‘Für den, auf die Opiate folgenden, Gegenstand ist die Lesart: vela
sera, von uns in Schutz genommen, und die Beziehung auf indische Ge-
flechte, oder Matten, daran geknüpft. Man kann diesen Text, (?) der von
manchen Herausgebern als eine blofse Conjectural-Variante bezeichnet wird,
durch das Zeugnis der Handschriften vollständig rechtfertigen. Die Recensio
Bononiensis erkennt entschieden die Lesart an: vela sarta. Der Text des
Florentiner Codex, dem hier das Königsberger Manuscript zur Seite steht,
setzt vel adserta, worin die Corruption von vela serta kaum zu verkennen ist.
Die monströse Emendation: vela Sarmatica, welche Haloander den Pan-
dekten-Ausgaben der zweiten Serie abgeborgt hat, beruht auf dem Bestre-
ben, die Lectio Vulgata durch Conjectural-Kritik zu heilen. Der Versuch
einiger Ausleger, aus den Worten der Florentina den Text zu bilden: vela
serica,(?) oder das Prädicat adserta von einer eigenthümlichen Gattung indi-
scher Gewebe zu deuten, (*) zerfällt in sich selbst.
Die Erklärung der Benennungen: metaxa, vestis serica vel subserica,
— nema sericum, kann keinem Zweifel unterliegen. Noch in den römischen
Rechtsquellen aus der späteren Zeit (?) begegnet man dem Ausdruck metaxa
in der Anwendung auf rohe Seide; sowie der Bezeichnung seidener und
halbseidener Gewebe, mittels der Namen vestes holosericae und subseri-
cae: damit ist die Hinweisung verbunden auf die Kostbarkeit solcher Stoffe,
für welche der gesteigerte Luxus ein allgemeines, durch die Gesetzgebung
vergeblich beschränktes, und durch die Steuerverwaltung zum Vortheil des
(') Vergl. Abschn. 2. und 5. dieser Abhandlung.
(2) Zur Unterstützung unsrer Deutung können wir auf das Zeugnis des Strabo uns be-
rufen. Nicht auf dessen Ausführung in Geogr. XV.1. S$.20. 60. wol aber auf das, was
er XVI. 1. 8.9. über die Erzeugnisse des Assyrischen Kunstlleilses berichtet, und unter de-
nen auch Rohrgeflechte vorkommen.
(°) Bynkershock a.a.0.
(*) Pancirolus a.a.O©. pag. 1223.
(°) Theod. Cod. X.20. (de murilegul.) X. 21. (de vest. holoser.) J. Gothofredus
in Comm. ad h.1l. Just. Cod. IV.40. c.1.fg. (Qu. res yaen. non. poss.) Vopiscus in D.
Aurelian. c. 45.
4102 H.E. Dırnksen über ein, in Justinian's Pandekten enthaltenes,
Staatsschatzes auszubeutendes, Begehren hervorgerufen habe. Die Pflege der
Seidenwürmer, und die Verarbeitung ihres Gespinnstes, wurde sowol im
Zeitalter der Antonine als auch noch ungleich später, als ein Geheimnis der
Chinesen angesehen. (!) Plinius(?) und Arrian (?) schildern die seide-
nen Stoffe als einen Handelsartikel der Serer; während die späteren Rechts-
quellen die allgemeine Bezeichnung der Barbaren substituiren. (*)
Neben der vestis serica, vel subserica, nennt unser Verzeichnis noch
die vela tincta, vel carbasea. Die Recensio Bononiensis kommt hier überein
mit dem Text der Florentina.. Denn die Variante: wel attincta, ist beiden
Recensionen gemein. Auch führt es zu keiner erheblichen Verschiedenheit,
ob man Zincta liest, oder attincta, und ob man dies, gleich dem folgenden
carbasea, auf vela bezieht, oder von dem voranstehenden vestis regiert wer-
den läfst. Denn das Färben der Seide, sowie das Zusammenweben derselben
mit Wolle, Baumwolle, oder Leinen, wurde gleichfalls zu den Geheimnissen
des Orients gezählt. (°) Jedenfalls ist hier nur an orientalische Gewebe
zu denken, (%) und zwar nicht an die gemeinen Stoffe, z. B. von indischem
Linnen-Gespinnste, dergleichen als gemeine Tausch-Artikel für den Bin-
nen-Handel im Orient vorkamen. (7) Unter carbasea ist wahrscheinlich das
9eviov zu verstehen, welches Arrian (°) unter den kostbaren Transit - Gü-
tern aus Indien aufgeführt, und demselben zwischen den angına ösguare und
dem vyne Ongınov eine Stellung angewiesen, die jener der carbasea in unserm
Waaren-Verzeichnis entspricht. Er bemerkt ferner, (?) dafs das öSovicv aus
(') Gibbon a.a.O. Cap.40. C. Ritter die Erdkunde von Asien. IV. 1. S. 437. VI. 1.
S. 679. fg. Vergl. Heeren’s Histor. Werke. Thl.12. S.328. fg. 345. fg.
(°) a. a. 0. XXXIV. 14.
(°) a.a.0. pag. 36. fg. Vergl. Heeren a.a.O. Thl. 11. S. 218. fg.
(°) Cod. Just. c.2. 1.1. Vergl. oben S. 101. Anm. 5.
(°) Gibbon a.a.0. Salmasius a. a.O. pag. 987. fg. Ders. in den Anmerkungen zu
Vopiscus a.a.0.
(°) Pancirolus a.a.O. pag. 1224. und Heineccius a.a.O. v. Carbasea, wollen hier
nur Gewebe aus feinem spanischen Flachs verstanden wissen.
(”) Arrian a.a.O. pag. 22.
(°) Ebendas. pag. 24.
(?) Ebendas. pag. 24. 28. Die swöcvss Ivöizer, die er gleichfalls namhaft gemacht hat,
(pag- 28. fg. 32.) waren baumwollene Gewebe, (pag. 35.fg.) und dasselbe gilt denn auch
Verzeichnis ausländischer W aaren, u. s. w. 103
dem carpasum Indicum sei verfertigt worden, und dafs dieses Product des
Gewerbfleifses auf den Stapelplätzen Central-Indiens den Gegenstand eines
lebhaften Handelsverkehrs für die Einwohner des römischen Reiches gebil-
det habe. Nach dem, was oben (!) über das carpasum bemerkt ist, würde
daher in unserm Verzeichnis an indische Baumwollen —, nicht aber an
Leinen-Gewebe zu denken sein.
Die fünfte Classe der steuerpflichtigen Waaren begreift die Eunu-
chen, und die zu den Kampfspielen der Römer geeigneten wilden Thiere.
Es ist von den Auslegern unsers Pandekten-Fragments (?) nachgewiesen wor-
den, dafs unter der Regierung der römischen Kaiser dem Begehren nach ver-
schnittenen Sklaven nur habe genügt werden können durch deren Einführ-
ung aus Territorien, die der römischen Herrschaft nicht unterworfen waren.
Denn die römische Gesetzgebung jener Zeit ahndete die Entmannung der
Knaben gleich den schwersten Verbrechen. (?) Die Einführung von Eunu-
chen aus der Fremde war freigegeben, (*) allein mit Abgaben belastet.
Die Beziehung der hier aufgeführten Thiere des Orients, auf
Kampfspiele und Thierhetzen in Rom, unterliegt nicht einem ernstlichen
Bedenken.(°) Es sind nicht die zahmen, oder zähmbaren, Thiere jener Zone
genannt, z.B. Cameel, Elephant, Giraffe. (°) Auch ist nicht eine Auswahl
der wilden Bestien des Orients gegeben, und durch eine Ergänzungsphrase
wol von den owöcves ZuavSeis des Strabo, (XV.1. SS. 54. 71.) die daher nicht mit dem
oSoviov mavroiov des Arrian a.a.O. (vergl. Strabo ebendas, $$. 20. 67. 71.) zu verwech-
seln sind.
(') S.96. Anm. 5.
(2) S. Smallenburg a.a.0. (oben S.59. fg. Anm. 3.)
(°) Fr. 4. 8.2. Fr. 5. Fr.6. D. ad L. Corn. de sicar. 48. 8. Just. Cod. IV. 42. c.1.fg.
(de eunuchis.) Vergl. Procopius de bello Goth. IV.3.
(*) Just. Cod. 1. 23 2.
(°) Niemand wird wol in Ernst hier voraussetzen eine Beziehung auf Geschenke orien-
talischer Dynasten an den römischen Kaiser. Dergleichen kamen zwar später vor, allein
sie bestanden nicht in Kampf- sondern in Zugthieren, und sie würden jedenfalls nicht zu Ge-
genständen einer regelmälsigen Zollerhebung geeignet gewesen sein. Vergl. Mamertini pane-
gyric. Maximiano A. diectus. c. 10. a. E. Pacati panegyr. Theodosio A. c. 22. Marcellini
chronicon, ad ann. 496. pag. 45. sq. Lutet. 1619. 8.
(°) Strabo Geogr. XV. 1. 8.42. XVI. 4. S.16.
104 H.E. Dirksen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
die Gleichstellung der übrigen angedeutet. (1) Es sind sämmtliche, in dama-
liger Zeit (?) als kampffähig bekannte, Bestien einzeln aufgezählt. Vielleicht
ist aber die Beschränkung auf indische Löwen wol nicht wörtlich zu neh-
men; (?) wie wenig auch zu bezweifeln steht, dafs es von Alters her Löwen
in Indien gegeben habe. (*)
Die sechste und letzte Classe der Steuer-Artikel kündigt sich, mit-
tels der Phrase item, als einen Nachtrag zu den früheren Kategorieen an. Die
Einzelheiten des Inhalts sind von den Kritikern und Auslegern lebhaft ange-
fochten worden. Den vorangestellten Purpur erkennen freilich sämmtliche
Handschriften an; auch ist demselben kein beschränkendes Prädicat beige-
geben, welches die Exegese in Verlegenheit setzen könnte. (°) "Hinsichtlich
der auf den Purpur folgenden Artikel lauten die Lesarten der Handschriften
zum Theil sehr abweichend. Statt des Florentiner Textes: Marocorum lana,
‚fueus, setzt die Mehrzahl der Codices Vulgati: apocorum [apecorum, oder
a pecorum] lana, succus; und diese monströse Lesart ist, durch die willkühr-
liche Conjeetural-Kritik der Pandekten - Ausgaben zweiter Serie, verwandelt
worden in: e pecorum lana succus [oder suecida.] Gleichwol ist nicht zu
verkennen, dafs in diesem formlosen Text (°) blos die Verunstaltung der Flo-
(') Arrian a.a.O. pag.29. Bei andern Veranlassungen pflegen die römischen Rechts-
quellen das Verzeichnis der schadenbringenden Thiere überhaupt in der hier angedeuteten
Weise zu formuliren. Fr. 40 fgg. D. de Aedil. edicto. 21. 1.
(?) Die Anwendung andrer ausländischer Thiere, als der hier genannten, zu den Kampf-
spielen in Rom, z. B. jene der Crocodile, (Strabo XVII. 1. 5.44.) bildete so sehr die
Ausnahme von der Regel, dafs eine Steuerrolle nicht in dem Falle war Kenntnis davon zu
nehmen. Der Sprachgebrauch in den Tagen Cicero’s belegte mit dem Namen: Africae
bestiae, vorzugsweis die Löwen und Panther. (Varro de L. L. VII. 40. d. Ausg. v. O.Mül-
ler.) Spuren anderer Vulgär-Benennungen von einzelnen ‚dieser Thiere findet man bei
Festus v. Passer marinus; v. Rhinocerotem (pag. 222. 270. d. Ausg. v. O. Müller.) Vergl.
auch Isidor origin. XI. 2. 8.15.
(°) Zu den indischen Löwen sind wol auch die aus Arabien herstammenden zu
zählen; dagegen nicht die africanischen. Über alle diese vergl. Strabo XVI. 1. 8. 24.
XVL 4. 8$. 15. 18. XVIL 2. 8.2. XVIL 3. 88.4. fg.
(*) Vergl. C. Ritter a. a. O. IV. 2. S. 688. 703. fg.
(°) Namentlich nicht die Beschränkung auf indischen Purpur. S. Strabo XVl. 2.
S. 23. Arrian.a.a.O. pag. 13. Plinius H.N. IX. 36.fg. Vopiscus in D. Aureliano c. 28.
(°) Die daran geknüpfte Deutung, als ob hier swecus ex Zana, oder l/ana succida, das
Verzeichnis ausländischer Waaren, u. s. w. 105
renliner Lesart vorliegt, entsprungen aus dem mangelhaften Verständnis der,
den Abschreibern in Bologna minder geläufigen, Bezeichnung: Marocorum
lana, fucus.
Die Bedeutung von fucus ist nicht zweifelhaft. Die lateinischen Gram-
matiker () verstehen darunter die Färbestoffe, die namentlich zur Herstel-
lung des falschen Purpurs, sowie andrer Abstufungen der rothen Farbe,
dienten. (*) Ob dabei an das indische Lacca zu denken sei, (°) das zur Be-
reitung einer kostbaren rothen Farbe diente, wagen wir nicht zu entscheiden.
Weniger ist man einverstanden über die Erklärung von Marocorum lana,
und capilli Indiei. Die Versuche zur Emendirung des Textes haben kein be-
friedigendes Resultat geliefert. (*) Wir glauben, dafs die Lesart der Floren-
tiner Handschrift unverändert beibehalten werden kann, und dafs eine genü-
gende Deutung daran sich knüpfen läfst.
Die Bezeichnung Marocorum lana scheint nicht auf den Ort der Er-
zeugung oder Verarbeitung des Materials hinzudeuten, sondern auf die Wege
des Handelsverkehrs in der alten Welt; obwol dann eher zu vermuthen wäre,
dafs Babylonien als der Stapelplatz für die Wolle des Orients hätte genannt
unter dem Namen oesypum von Dioscorides (a. a.0. I. 84.) beschriebene Medicament be-
zeichne, bedarf keiner Widerlegung.
(') Servius zu Virgil’s Georg. IV. 39. Vergl. Plinius IX. 38. Salmasius a.a.O.
pag. 1143. fg. Die Färber, welche Stoffe hochroth oder purpurähnlich färbten, führten be-
sondere Namen bei den Römern. Festus v. Flammearii. (pag. 89. Müller.). Über die
Kostbarkeit auch der gewöhnlicheren rothen Färbestoffe, im Anfange der Kaiserregierung,
vergl. Vitruvius de architect. VII. 5. a. E. 7. fgg. Es steht übrigens dahin, ob zu dem
fucus auch der sandyx zu zählen ist, der bei der Specifieirung orientalischer Färbestoffe aus-
gezeichnet zu werden pflegt. Strabo XI.13. 8.9. Plinius H.N. XXXV. 6.
(?) Vergl. darüber Vitruvius a.a.O. VII. 13.14. W.A. Schmidt Forschungen auf
dem Gebiete des Alterthums. S. 99.-157. Berlin 1842. 8.
(°) S. Heeren’s Conamina. a. a.0. (oben S. 83. Anm. 3.) S. 2072. fg. und dessen Histor.
Werke. Thl. 11. S. 214. fg. Thl. 12. S. 334.
(*) z.B. der Vorschlag, Marocorum lana, in Omdrycorum lana, oder arborum lana, und
capilli Indiei in bacilli Indiei zu verändern. (Bynkershoek a.a.0. Pancirolus pag.
1225. fg.) An die Substituirung: apicarum lana hat mit Recht niemand gedacht. Die Wolle
gewisser Schaafe mit unbehaartem Bauche wurde also bezeichnet; (Varro de R.R. I. 2.)
allein dies waren einheimische Schaafe, deren Vliels geringgeschätzt wurde, mithin in un-
serm Verzeichnis nicht berücksichtigt sein kann.
Philos.-histor. Kl. 1843. Ö
106 H.E. Dinxsen über ein, in Justinian’s Pandekten enthaltenes,
werden sollen. (!) Vielleicht liegt in dem Text unsers Fragments eine Vul-
gär-Benennung vor für sämmtliche Gattungen orientalischer Wolle, oder
wenigstens für das rohe Material, das in den römischen Handel kam. An
eine Beschränkung auf die s. g. Schawl-Wolle ist bei dem in Frage stehenden
Ausdruck wol eben so wenig zu denken, als an die Ausdehnung auf sämmt-
liche. kostbare wollene Gewebe, welche der Orient schon in alter Zeit lie-
ferte. (2)
Bei den Worten: capilli Indici, ist die Versuchung zur Emendirung
des Textes in: Zapilli Indici, sehr nahe gerückt. (?) Nicht als ob eine Hin-
weisung auf Edelsteine in diesem Ausdruck stecken könnte; wol aber we-
gen der Bezugnahme auf das Indigo-Pigment, das wol von jeher in der
Form kleiner rautenförmiger Tafeln in den Handel kam, und das unter den
indischen Ausfuhrartikeln in den Berichten der griechischen Geographen na-
mentlich hervorgehoben wird. (*) Gleichwol enthalten wir uns jeder Tex-
tes-Kritik, indem die, durch die Handschriften beglaubigte, Lesart capill
Indici eine genügende Auslegung zuläfst. Es ist dabei wol nicht zu denken
an die pinna maris, d.h. an den feinen Faserstoff, den eine gewisse Muschel
ausscheidet, die an den Küsten des mittelländischen Meeres vorkommt. Aus
diesem Material fertigten die Armenier, und später die Römer, feine Gewebe,
die hoch im Preise standen. (°) Ungleich näher liegt die Bezugnahme auf
die fibri capilli, oder die lana fibrina, d.h. auf Biber-Haare, die der Luxus
der Römer zu Gewändern verarbeitete. Diese wurden pelles Bebrinae, oder
Ponticae, genannt; (°) unser Waaren-Verzeichnis dürfte es vorgezogen ha-
ben, die Bezeichnung capilli Indici, als eine in der Sprache des Verkehrs ge-
(') Vergl. Heeren a. a.O. Thl.11. S. 207.
(?) Strabo XV.3. $.21. vergl. C. Ritter a.a.O. IV.1. S.448. u. Heeren’s Conam.
S. 2062. fg. 2073. nebst dessen Histor. Werken Thl. 11. S. 205. 215.fg. Thl. 12. S. 325. fg.
(°) Die Lesart der Königsberger Handschrift: ve? apilli Indiei, würde, durch Vermittelung °
der Gemination des Z, eine solche kritische Operation auch durch eine äufsere Beglaubigung
unterstützen.
(*) Arrian a.a.0. pag.22. Über die Benutzung des Indigo’s als eines Arzneistoffes,
vergl. Dioscorides a.a.0. V. 107. (C. Sprengel in comm. h. |. pag. 646.) Siehe auch
Heeren’s Histor. Werke. Thl. 12. S. 334.
() Procopius de aedific. IH.1. vergl. Gibbon a.a.0. Cap. 40.
(°) Isidor origin. XIX. 27. Vergl. A. G. Cramer: in Juyenal. satyr. comm. vetust. II.
106. p. 60. Hamburg 1823. 8.
Verzeichnis ausländischer WW aaren, u. s. w. 107
bräuchlichere und verständlichere, darauf anzuwenden. Denn die kostbaren
Biber-Felle wurden auf den Handelswegen der orientalischen Waaren an die
Grenzen des römischen Reiches gebracht.
Y;:
An die bis hierher fortgeführte Untersuchung des einzelnen reiht sich
die kurze Übersicht der daraus abgeleiteten Resultate, welche dem Verständ-
nis des Ganzen zu gut kommen.
Wir haben den von uns vorangestellten Satz bestätigt gefunden, dafs
dem Verfasser unsers Pandekten-Fragments die Absicht fern gelegen hat,
einen vollständigen Tarif für alle, dem portorium unterworfene, Einfuhr-
Artikel zu entwerfen. Es sollte vielmehr nur der, beiläufig in Erwägung ge-
zogene, Inhalt eines Rescripts von Mare-Antonin und Commodus, in
den beiden zusammengehörenden $$. 6. und 7. wortgetreu referirt werden.
Diese Pandekten-Stelle, sowie das ganze Werk des Juristen, dem dieselbe
entnommen ist, hat es mit der Begrenzung der Rechte und Pflichten der de-
latores zu schaffen; in dem nämlichen Zusammenhange mufs daher auch das
in Frage stehende Rescript jener Kaiser aufgefafst werden. Die Angeber von
Zoll-Defraudationen wurden belohnt durch einen Antheil an der Strafe,
welche zunächst die Verwirkung des Eigenthums der defraudirten Zollwaare
(commissum) zum Gegenstand hatte. (1) Es ist aber nicht unwahrscheinlich,
dafs dieser Antheil der delatores weniger die gewöhnlichen zu versteuernden
Artikel begriffen habe, als vielmehr die werthvollen Gegenstände, deren Be-
steuerung den luxuriösen Reichen traf. Hier konnte dem Angeber ein fester
Antheil am Gewinn der commissa gewährt werden, ohne die Steuerpächter
zu sehr zu benachtheiligen, denen das übrige verblieb. Bei den übrigen steu-
erbaren Gegenständen mögen die praemia delatorum mehr facultativ gewesen
sein, oder vielmehr blos in einem Antheil an der Geldbufse bestanden haben.
Das Rescript der Kaiser würde demzufolge nur die Bestimmung gehabt haben,
die kostbaren Einfuhr-Artikel einzeln aufzuzählen, bei deren Beschlagnahme
die Belohnung der Angeber in der Zuweisung eines gesetzlich fixirten An-
theils an den commissa bestand.
(') Index graec. ad Harmenopuli promtuar. v. KrerroreAnvySev. (in Meerman’s Thesaur.
T. VII. p. 413.) Vergl. Cujacius Observation. XIV. 3.
02
108 H. E. Dirksen über ein, in Juslinian’s Pandekten u. s. w.
Unter dieser Voraussetzung schwinden die erheblichsten Bedenken,
welche gegen die Ableitung und Chronologie, gleichwie gegen die Fortdauer
der praktischen Geltung dieses Steuer-Cataloges könnten erhoben werden.
Es ist nämlich hier nicht die Rede von einer Waaren-Liste, die einer Lex
Censoria entnommen wäre, oder dem Edikte eines römischen Beamten;
sondern es handelt sich vielmehr von dem Referate eines kaiserlichen Re-
scriptes, welches die Merkmale seines Ursprunges unverkennbar an der Stirne
trägt, nämlich die Bezeichnung des Zeitalters der Antonine. Justinian’s
Compilatoren konnten kein Bedenken haben, diesem Excerpt einen Platz
unter den Auszügen aus dem classischen Juristen-Recht anzuweisen. Nie-
mand wurde dadurch in Versuchung gebracht, eine allgemeine Liste für die
Eingangs-Zölle darin gewahr zu werden; während andrerseits der Inhalt die-
ses Rescriptes immer noch von genügendem Interesse war für die Rechts-
Praxis der damaligen Zeit. Denn die Verpachtung der portoria hatte damals
noch nicht durchweg aufgehört; wovon die Mittheilungen über die Zocatio
vectigalium in Justinian’s Constitutionen-Sammlung Zeugnis ablegen. (') Fer-
ner waren die, in dem Rescripte des Antonin und Commodus aufgezähl-
ten, species perlinentes ad vectigal auch im Zeitalter Justinian’s fortwährend
einer Eingangs-Steuer unterworfen geblieben, (?) und daher konnte jenes
Aktenstück, für die Beurtheilung der Ansprüche der delatores auf die com-
missa, nach wie vor, als eine Quelle des praktischen Rechts benutzt werden.
(') Vergl. Cod. Just. IV. 61. de vectigal. et commiss.
(2) Diese Zölle waren weder durch Nero, (Tacitus Annal. XII. 50. fg.) noch durch
K. Pertinax (Herodian Historiar. II. 4.) umfassend und bleibend aufgehoben. Vergl. P.
Burmann a.24.0. c.5.-7.
Deutsche grenzalterthümer.
von herfin JACOB GRIMM.
[gelesen in der Akademie der wissenschaften am 27. juli 1843.]
In will dem was das altdeutsche recht von den verhältnissen der grenze mel-
det aufschlüsse ab zu gewinnen suchen über die landtheilung und für die
mythologie. Sollten sie noch geringfügig erscheinen, die aus den rechtsquel-
len geschöpften oder auch lebendiger volkssage abgehörten altväterischen
bräuche selbst wird man bei ihrer schmucklosigkeit gern vernehmen, hin und
wieder gewagte anlehnungen an das classische alterthum gestatten. Denn
auch das mufs dem unsrigen die geneigtheit, deren es noch lange bedarf, eh
man auf seine ergebnisse ein wenig trotzen kann, leichter zuwege bringen,
dafs nicht selten gelingt den dürren buchstab der urkunden mit dem athem
lebendiger überlieferung zu erwärmen und in der freien luft zu erfrischen,
die uns aus den so reichen und vielseitigen werken der Griechen und Römer
anweht, dafs sie selbst unsrer barbarei begegnen können.
Es leuchtet ein wie wesentlich der begrif der grenze mit dem des eigen-
thums sich verknüpfe. Wenn das unser eigen ist worüber wir schalten und
walten, so setzt solches schalten und walten absonderung der gegenstände
voraus. Bewegliche sachen, was unser recht fahrende habe nennt, sind ihrer
natur nach schon durch ihre gestalt gesondert; der aneinander hängende lie-
gende grund und boden fordert eine scheide, und diese landscheide ist es
welche wir grenze heifsen: ohne grenze sind eigenthum und besitz am land
unmöglich. Damit dafs die völker sich allmälich über die unbewohnte erde
ergossen, wurde sie ihnen soweit zu eigen als sich ihre herschaft erstreckte
und weder durch das flutende meer, durch unwirtliche urwälder und gebirge
noch durch den entgegen rückenden nachbar aufgehalten war. Alles dem
grundeigenthum eines volks zugefallne land muste aber, wenn es genutzt wer-
den sollte, unter stämme, geschlechter und einzelne menschen weiter ausge-
110 Jacog GkımMm:
theilt werden; hier entsprangen nach oder nebeneinander zwei arten, durch
welche wir die älteste lebensweise unmittelbar bedingt sehn. Entweder ge-
schah nemlich der völligen zerlegung einhalt, sobald ansehnliche ländereien
in die gemeinschaft mehrerer genossen gelangt waren, oder es wurde mit der
sonderung in einzelne stücke fortgefahren: im ersten fall bildete sich ein ge-
sammteigenthum, im andern ein sondereigenthum, wie jenes dem hirtenle-
ben, dieses dem ackerbau angemessen ist. In die gemeinschaft der markge-
nossen fielen die grofsen wälder und weidetriften, an denen das alte Deutsch-
land überreich war, viele solcher markgenossenschaften haben sich von früh-
ster zeit an bis auf unsere tage hin, obschon in fortschreitender verminderung,
mit sehr alterthümlichen gebräuchen erhalten. In der regel beförderte das
dem ackerbau günstige ausrotten der wälder die zunahme des willkürlich zer-
theilbaren sondereigens. Beide arten des eigenthums scheinen aber auch,
wie sich zeigen wird, in der weise ihrer abgrenzuug wesentlich verschieden
gewesen zu sein.
Die grenze ist also eine äufsere und innere, eine grofse und kleine,
jenachdem sie ganze reiche und völker, genossenschaften oder einzelne eigner
von einander trennt. Sie mufs nicht blofs als trennendes, sondern zugleich
als einigendes princip behandelt werden, aus welchem neben der nothwendi-
gen scheide ein band der nachbarschaft und gemeinschaft sich entfaltete, des-
sen heiligung und weihe unserm alterthum aufs höchste angelegen war.
I. Namen.
Meine ganze folgende untersuchung hat von einer durchsicht der ver-
schiednen wörter auszugehn, mit welchen der eben entwickelte begrif der
grenze bezeichnet wird. So wenig ist das heutige wort grenze der echte aus-
druck für den begrif einer landscheide, dafs er unsrer ältesten, selbst der
mittleren sprache unbekannt, erst in den letzten drei oder vier Jahrhunderten
um sich gegriffen hat. Unser älteres schöneres wort lautete marka, womit
Ulfilas ©gıv verdeutscht, ahd. marcha, alts. marka, ags. mearc, und aus der
bedeutung grenze sehen wir es allmälich vorschreiten in die des abgegrenzten
landes oder dazu verwandten zeichens; gerade daher, dafs diese noch dem
goth. marka abgehn, leite ich ihre ursprünglichkeit. Nun dürfte man an das
nach der lautverschiebung entsprechende lat. margo denken und ora, rand,
deutsche grenzalterthümer. 111
äufserstes ende als den eigentlichen sinn des wortes aufstellen, erhöbe sich
dawider nicht der altnordische sprachgebrauch. Dieser nemlich unterschei-
det zwischen einem fem. mörk, gen. markar silva, saltus und einem neutrum
mark oder merki limes, terminus; beide müssen eng verwandt sein. Die
wurzel von mörk scheint sich aber zu ergeben, wenn man das ad). myrkr ob-
scurus hinzu hält, da in sprache und poesie der schwarze, dunkle wald sein
gutes recht hat (!) und die von den Römern überlieferte benennung marci-
ana silva, das eddische Myrkvidr, die silva quae Miriquidui dieitur bei Diet-
mar von Merseburg richtig übereinstimmen. Jenes altn. mörk mag also die
urbedeutung von marka enthalten, die keine andere als wald sein kann. In
den ulfilanischen fragmenten mangelt überhaupt nur gelegenheit den begrif
des waldes auszudrücken, wir wissen nicht, ob vidus, valds oder auch marka
dafür zu gebot stand. Marcomanni sind gleich treffend bewohner des walds
oder der grenze zu deuten, da zu jener frühen zeit, wie vorhin gesagt wurde,
ganz Deutschland waldbedeckt war. Auch bewahrten sich das ganze mittel-
alter hindurch die inhaber der waldgenossenschaften den namen markge-
nossen oder märker, während in Niedersachsen, wo der ausdruck holt
(holz) für silva geläufiger war, die benennung Aolten gleichbedeutig galt (?);
hiefsen die märker ahd. kimarchon, so können sie goth. gamarkans geheifsen
haben, es sind die commarchani der lex Bajuvariorum (11,5. 16,2. 21,11)
und sie dürfen, gleich jenen Marcomannen, welche die forschung als stamm
der heutigen Baiern anerkennt, sowol für confines als silvicolae genommen
werden. Als kühne Nordmänner von Grönland aus lange jahrhunderte vor
Columbus die nordamericanische küste erreichten, nannten sie das waldbe-
deckte spätere Neuschottland sehr treffend Markland d.i. waldland. Aber
nicht blofs das goth. marka, auch die altn. benennung Danmörk (Dänemark),
Hünmörk (Hunenland, hunische mark) machen augenscheinlich, wie frühe
die vorstellung silva übertrat in die von limes und regio. Zugleich ist dies
marka eins der deutschen wörter die von alter zeit an in alle romanischen
(') Schwarzwald (silva nigra) zwischen Alemannien und Schwaben; Arduenna, Ar-
dennen waldgebirge, von celtischen arddu (niger), vielleicht dem altd. hart (silva) verwandt;
Montenegro oder Tschernagora, slavisches waldgebirg.
(°) Die Holtsäten sind also auch Marcomannen; bekanntlich ist aus Holsten = Holtseten
sinnlos das hochdeutsche Holstein gebildet.
112 Jacos Grimm:
sprachen mit der bedeutung von terminus und nota eingieng, ohne dafs ir-
gend eine verwandtschaft mit dem lateinischen margo geahnt wurde.
Wie der begrif von grenze aus dem sinnlichen wald, entfaltete er sich
aus dem von moor (palus, lacus) weil in niederungen sümpfe die landscheide
hergaben. Altn. ist mari, landamceeri nicht blofs ebene planities, sondern
auch grenze, terminus; kaum würde sich begreifen lassen, dafs aus der vor-
stellung endloser ebene zwischen völkern die einer trennenden scheide ent-
sprossen sei, ohne in der fläche zugleich den aufhaltenden sumpf anzuneh-
men. Darum scheint auch in Hochdeutschland, wo moor und marschland
selten ist, kein entsprechendes muori, lantmuori für grenze zu begegnen,
während jener ausdruck aufser den nordischen ebenso den sächsischen völkern
gemein war. Westfälische urkunden des neunten jh. (bei Möser n? 2. 13. 18.
19) liefern bei einer grenzangabe Drevanameri, Dummeri, wo der sinn blofs
einen sumpf, kein meer gestattet, daher auch in ihnen nur & als umgelautetes
ö, nicht e statthaft ist. Ags. sind mere, gem£re, landgem£re, und noch heute
englisch meer beides sumpf und grenze, das verbum meer abgrenzen; mnl.
meer grenze, meeren limitare (1). Schwierig bleibt, dafs die gewöhnliche
ags. schreibung, ze statt € verwendend, landgemaere darbietet (?) und das altn.
wort ebenfalls maeri geschrieben werden darf, wozu selbst das fries. mär,
pl. märar, welches in den gesetzen mehr einen graben, als moor oder grenze
ausdrückt, zu stimmen schiene. Einem solchen m:eri, gemaere wüste ich
keine passende deutsche wurzel aufzuweisen, und an das slav. mera modus,
meriti metiri wird doch nicht zu denken sein.
Ein andrer ausdruck ist desto hochdeutscher und noch jetzt auf allen
unsern feldfluren üblich, aber mehr für die innere begrenzung der äcker, als
die äufsere zwischen völkern. Wir nennen rain einen am ackerfeld unge-
pflügt bleibenden, erhabnen, grasbewachsnen landstreif; doch wird das wort
auch für damm oder überragenden meeresrand gebraucht. Mhd. bi des me-
res reine. Mar. 133; an eines stades reine. Diut. 3, 98; üfeime grüenen reine.
Renn. 54.115. Ahd. urkunden gewähren ortsnamen wie Wägreini im Pon-
gau (°), Olreini bei Ried n’. 86 (a. 901). Die niederd. dän. schwed. form
(') belg. mus. 5, 78. Diutiska 2, 221°.
(?) Kembles chartae anglosax. 2, 265. 384. 399.
(°) trad. juvay. p. 88 (a. 837): juxta Ipusa flumen ex utraque parte fluminis terminatur,
quod theodisca lingua wagreini dicitur.
deutsche grenzalterthümer. 113
lautet zdn und schon die altschwed. volksrechte gewähren sie, die norweg.
rein (Gulabingsl. 460 markrein confinium), das isl. rein wird von Biörn por-
ca, lira gedeutet, aufgeworfne furche und erhöhung. Und wie die altschwe-
dische formel ren ok sten (Vestg. lag 51. 192) verbindet auch die hochdeut-
sche rein und stein (z. b. weisth. 1, 231) so dafs unter rein ein erdaufwurf
neben dem gesetzten stein zu denken ist. Nirgends finde ich das R in rein
aspiriert, aber auch in andern wörtern erlischt die aspiration, der wir in äl-
teren formen begegnen könnten; ‘offenbar würde Areini besser mit hrinan
tangere, adhaerere, vielleicht mit hreini mundus, purus sich verknüpfen.
Fast noch sichrer erscheint seine unmittelbare verwandtschaft mit dem slav.
gran, böhm. hrana ecke, mahlstein und granitza, böhm. hranice terminus (t),
welches allen Slaven geläufige wort vom osten vordrang und uns den aus-
druck grenze zuführte (?),' der jetzt unsere älteren wörter verdrängt oder
beeinträchtigt. Es geschieht hier, wie öfter, was wir in hrein, rain schon
besafsen erborgten wir aus der fremde. Daneben mufs noch das slav. krai,
böhm. krag ende, ort, rand und kraina, böhm. kragina grenzland, land,
ganz im sinne von marca erwogen werden; von krai den kehlanlaut wegge-
nommen das finn. raja, esthn. raia grenze.
Doch an dieses raia gemahnt eben sosehr ein schwed. r@, das schon in
den alten gesetzen, zumal Uplands und Vestmannalag ganz geläufig ist und in
der alliteration mit rör verbunden wird. Das altn. r& (fem.) zeigt uns zwei
bedeutungen, die von angulus und antenna, beide werden sowol schwed. als
(') Lateinische in Polen abgefafste urkunden des 14. jh. geben granicia, granicies.. Du-
cange Ss. v.
(?) Ich weils noch nicht sicher wann und wo zuerst? Hoffmanns fundgr. 1, 374 bringen
aus der Leobschützer willkür in Böhmes diplom. beitr. 1, 25. 26 grenitz bei, das wort mag
schon im 14. 15. jh. und sehr allgemein vorgedrungen sein, weil wir auch das niederlän-
dische grens (pl. grenzen), niederdeutsche grensinge, gränsinge, schwed. gräns, dän. grändse
finden, und das s dieser mundarten bezeugt den unorganischen ursprung des hochdeutschen
z in grenze. Nordische sprachforscher haben granne, dän. grande = vicinus, und zumal den
ausdruck granzla ed (juramentum vieinorum) im Vestmannalag s. 56 erwogen. Das ist frei-
lich ein markgenosseneid, doch granni ist das goth. garazna, von razn domus, altn. rannr,
und der begrif des hauses würde im alterthum schwerlich auf den der grenze geleit haben.
Wäre nicht das altn. rein, so dürfte an grein, schwed. dän. gren, ramus und dann distinctio,
divisio gedacht werden. Gar keinen anspruch auf verwandtschaft hat das ahd. mhd. grans
(prora), eigentlich schnabel, vorragender schifschnabel.
Philos.-histor. Kl. 1843. BD
114 Jıcos Grimm:
dän. in ra, raa limes, terminus und vrä, vraa angulus gespaltet, für welche
letztere sich auch das isl. kr& darbietet. Ad antenna ist das mhd. rahe mit
gleicher bedeutung, welches sich doch niemals für grenze oder grenzpfahl
verwandt findet. Da nun rör als ein pfahl zwischen geordneten steinen er-
klärt wird, mag die formel r& ok rör mit ren ok sten beinahe zusammenfallen.
Snaat, snede, das noch heute in niederdeutschen gegenden für grenze
gebraucht wird, hat sichtbar den begrif des einschnittes, sei dadurch ein zei-
chen in stein, baum oder blofs in den erdboden bewirkt worden. Ahd. sneida
(Graff 6, 844), in den langob. gesetzen sinaida, das kaum signata zu deuten
ist. Die ags. form gewährt ein männliches snäd, pl. snädas (Kemble 1, 257.
261). Das altn. sneid (segmen) hat meines wissens niemals die bedeutung von
grenze. Aus dem altn. skil discrimen entfaltete sich leicht die im schwed.
und dän. skäl, skjel herschende bedeutung von grenze.
Noch allgemeineren sinn gewährt unser ende, die äufserste erstreckung
in raum oder zeit, gleich dem lat. inis schon frühe für grenze gebraucht;
enden und wenden stehen formelhaft verbunden, gewande ist grenze, vgl.
gr. drgamos grenzpfad von sgerw. Schon Ulf. setzt Rom. 10, 18 den acc. pl.
andjans (vom nom. sg. andeis) für r« regara. Ahd. treffen anti finis und anti
frons zusammen, obgleich altn. endir finis, terminus und enni frons geson-
dert werden, welche verschiedne schreibung auf eine strengere ahd. unter-
scheidung zwischen anti finis und andi frons leitet, als ich sie beachtet finde.
Indessen haben auch alle romanischen sprachen mit einem leibhaften germa-
nismus aus /rons stirne, vordertheil, ende einer sache ihr frontiera, frontera,
‚frontiöre für grenze gebildet (). Andi, anti führe ich auf die partikel and
zurück.
Ahd. drum, altn. bröm ist finis, ora, margo (Graff 5, 260) und ent-
spricht genau dem gr. TEQUG, ToglLos, lat. terminus, die liquiden laute sind um-
gestellt wie in unserm dritto, gr. Tgıros und lat. tertius. Ergibt sich aber aus
(‘) Auch das spanische bornear bedeutet enden und wenden, und die ital. borni sind
wendesteine. Es ist nicht leicht über den ursprung des mittellat. Borna, franz. borne zu
entscheiden, so sicher die bedeutung meta, limes, terminus scheint, denn die form lauft über
in bonna, bonda, bondula, bodula, bosula, und mag auf die botones, bodones der agri-
mensoren zurückgehn. Das provenz. born bezeichnet rand und bord. Aus dem franz.
bonne, boonne, bonde, borne entsprang das engl. bourne, boundary, boundstone, nicht aus
der deutschen wurzel binden.
deutsche grenzalterthümer. 115
rzgua verglichen mit regas, dafs das m nicht der wurzel angehört, so entspringt
unmittelbare berührung jenes drum mit der präp. durch, goth. pairh, die
sich dem sinn jenes and nähert. Hierbei ist das verhältnis von per, egi und
megas nicht zu übersehn.
Das lat. imes scheint gleich ömen aus limus, obliquus, transversus ab-
zustammen und sinnliches querlegen einer stange oder eines balkens anzu-
zeigen. Dabei kann aber wieder die vorstellung trans angeschlagen werden.
In 6005 darf die aspiration nicht hindern 0905 berg hinzuzuhalten, da die
jonische form cüges sowol für das männliche wort mit der bedeutung grenze,
als das neutrale mit der von berg gilt. Auch gewährt eine inschrift bei Böckh
2,1104 (w aus cö) @ges terminus und die slavischen sprachen haben in ihrem
gora, hora gerade für berg den gutturallaut. Von der sinnlichen bedeutung
des abschliefsenden hügels öder bergs mag der begrif der grenze entnommen
sein, wie unser marcha aus dem säumenden wald hervorgieng.
II. Zeichen.
Sieht man von einigen abstracten, aus dem begrif des äufsersten randes
entnommnen ab, so gehn fast alle namen auf die beschaffenheit des zur be-
grenzung gewählten zeichens selbst zurück.
Diese zeichen müssen mannigfach gewesen sein. Wo die natürliche
lage der gegenden wald, berg, hügel, graben, sumpf, bach oder flufs darbot,
fielen abtheilung und zeichen zusammen, höchstens bedurfte es einfach her-
vorhebender merkmale. Wurden aber beim innern anbau des landes weitere,
wenig oder gar nicht mehr von der natur des bodens abhängige scheidungen
vorgenommen, so muste auch für die art der bezeichnung zugleich gröfsere
willkür und festigkeit eintreten. Was dem sinnlichen zeichen abgieng ersetzte
die strengere regel. Während der grofse grenzenzug bergen, wäldern und
gewässern nachfolgt und gleich der natur selbst gerade linie meidet, behält
zwar die innere, kleine grenze hügel, bäume und graben zum zeichen bei,
pflegt aber schon nach stange oddr schnur zu messen oder mit dem pflug
eine furche zu ziehen.
Zwischen landschaften und gebieten, wo völker oder stämme sich von
einander abschlossen, gewahren wir durchgängig natürlichen grenzlauf; ge-
radlinige scheiden, wie sie nordamericanische landkarten aufweisen, wurden
P2
116 Jacos Grimm:
erst der todten berechnung moderner zustände möglich: sie bezeichnen sehr
treffend die praktische langweilige sinnesart der jüngeren zeit. Selbst da, wo
die natur wenig aushalf, hat in unserm alterthum kein seil die völkergrenzen
ermessen. Eginharts vita Oaroli cap. 7: termini Francorum et Saxonum pene
ubique in plano contigui, praeter pauca loca, in quibus vel silvae majores vel
montium juga interjecta utrorumque agros certo limite disterminant; was un-
bestimmt blieb, mochte lieber krieg und zwist herbeiführen. Aus den ge-
schichtschreibern und sagen lassen sich beispiele berühmter waldgrenzen
in menge anführen. Als Hlödr in der Hervararsage (fornald. sög. 1, 483) von
seinem bruder die hälfte des väterlichen reiches forderte, nennt er:
hris bat it maera er Myrkvidr heitir,
gröf pä hina helgu, er stendr ä götu bioda,
stein bann inn fagra & stödum Danpar,
den grofsen, Myrkvidr genannten wald, den ich schon vorhin der Marciana
silva verglich, den heiligen graben der auf der strafse der völker steht, den
leuchtenden stein auf Danparheide. Sicher ist damit grofse landscheide ge-
meint, da gleich (s. 496) ausdrücklich hinzugefügt wird, dafs Myrkvidr grenze
zwischen Hünaland und Reidgotaland bilde. Der wald, welcher Schweden von
Östgotland trennte, hiefs Kolmörk, gen. Kolmerkr (fornald. sög. 1, 378) (1),
der welcher Gestrikaland und Helsingeland schied, Eyskogamörk (fornald.
2,132), der zwischen Nerike und Vestmanland Kiägla (Vestg. lag s. 173),
heute Käglan; auch in diesen benennungen findet sich der alte sinn von
marka unverkennbar. Zwischen Thüringen und Sachsen machte der Harz-
wald die alte grenze (Pertz 6, 159) und hart, harz bedeutet silva. Britannien
und Schottland wurden durch einen grofsen wald gesondert (Saxo gramm. 27).
Pausanias 4,1 gedenkt der Xoigıos varn (poreinus saltus) zwischen Messenien
und Laconica, v@ern drückt sehr eigentlich ein wildes waldgebirge aus.
Auch quellen, die sich vom gebirge ergiefsen, und ihrem ursprung
nahe sind, mündungen und confluenzen ergeben passende scheide; in einer
urk. von 1053 (Schultes histor. schrift. s. 436. n°. 17) heifst es: hinc ad fon-
tem ubi duae provinciae dividuntur Suevia et Franconia, Lechus Bajoarios
(') Vestgötalag s. 173 verderbt in Colmar, heute Kolmärd, Kolmord (Ihre s. v.) Xol-
mörk berührt sich genau mit dem altn. adj. kolmyrkr d.i. koblschwarz, es ist wieder der
finstre Schwarzwald. Mehr über die altschwed. waldgrenzen bei Schlyter om Sveriges äld-
sta indelning i landskap. Ups. 1835. s. 13. 14.
deutsche grenzalterthümer. 117
ab Alamannis dividit. Eginhard cap. 12. Seltner scheinen jedoch weit ins
land vorgeschrittene flüsse und ströme, die ein täglicher verkehr ohne un-
terlafs zu überschreiten hat, für die grenze grofser völker, mehr schon für
die zwischen stammverwandten landschaften geeignet. Dann ist die mitte des
baches und flusses (1) scheidepunct oder die mitte der darüber geschlagnen
brücke: verbrecher die man sich gegenseitig zuwies pflegten im nachen mit-
ten auf den flufs geführt oder mitten auf die brücke gestellt zu werden.
Ebenso scheinen in früher zeit bräute und leichen bis in diese mitte geleit zu
fordern; auch von der übergabe königlicher bräute auf des grenzstroms mitte
sind einige beispiele aufbehalten. Ich habe anderswo alte zeugnisse für die
zusammenkünfte deutscher könige mit fremden, die auf schiffen mitten im
flufs oder auf der brücke statt fanden, gesammelt (?): jeder der beiden für-
sten, während er sich mit dem fremden einigte, blieb noch auf seinem eignen
gebiete stehen.
In hohen gebirgen pflegten gipfel und ragende felsen zur länderscheide
auserkoren und gern mit besondern zeichen versehn zu werden, sei es dafs
man diese eingrub oder äufserlich daran befestigte. So soll schon zu Dago-
berts zeiten an der burgundischen grenze ein felsengipfel das ausgehaune
bild eines mondes getragen haben; die bewährende unverdächtige urkunde
rührt erst aus späterer zeit (?). Zwischen Chavannes und Simandre, gleich-
falls in Burgund, wo heute das dep. du Jura und de l’Ain an einander rei-
chen, heifst die uralte grenze quenouille de la fee (*), ein höheres wesen hat
den ungeheuern felsgrat unter seinen armen herangetragen. Gerade solch eine
landmark, die kunkel genannt scheidet Elsafs von Lothringen (°) und man
ist befugt, einige der vielen Brunhilden und Kriemhildensteine, die verschie-
dentlich spil oder spille genannt werden, aus spindel zu deuten und für alte
grenzsteine zu halten. Die meisten solcher steine, je höher man in das al-
terthum hinaufzurücken vermag, gewinnen mythologische beziehungen. In
(') de rivo tobropotoch (d. i. dobropotok), quod teutonice guotpach dicitur, usque ad
flumen Fiustriza et a summo verlice Creinae montis usque in medium fundum Sowae flu-
minis. ch. a. 1073 MB. 29°, 90. 184.
() In der vorrede zu den gedichten des X und XI jh. s. xıv.
(°) Deutsche mythol. s. 671, vgl. Stälins würtenb. gesch. 1, 187.
(*) Mem. des antiquaires de Fr. 4, 409.
(°) Schreibers feen p. 20.
118 Jacos Grimm:
engpässen des Jura stand zur zeit der Heiden ein haus oder tempel, isar-
noduri (ostium ferreum) genannt, wahrscheinlich opferstätte und landscheide
zwischen gallischen und deutschen völkern. Durchlöcherte steine die für beilig
galten (mythol. s. 1118) scheinen auch bei grenzen berücksichtigt worden zu
sein; die grenze eines im j. 1059 bestimmten wildbanns führt ad apicem ge-
meinen gunbet (?guntpetti) und ad durechelenstein MB. 29°, 143, und gera-
deso wird in einer ags. urkunde bei Kemble n’. 260 (a. 347) from Pyrelan
stäne ausgegangen.
Unsern grenzurkunden gereichen hügel und grofse steine zu hauptan-
haltspunkten. Der hügel heifst ahd. Aouc, altn. Aaugr, und oft verbindet sich
damit die vorstellung eines tumulus oder grabmals, goth. hläiv, ahd. bleo.
Nakt aus dem boden hervorstehende steinblöcke werden wacken genannt und
meist in weifser oder schwarzer farbe angegeben. Auch Il. 23, 329 sind die
Ade Övo Acuzw, zwar als todtenmale oder rennziele vorgestellt, leicht aber als
grenzzeichen aufzufassen, zumal sie ausdrücklich an eichenpfäle angelehnt
werden, ganz wie sich in grenzen steine mit bäumen verknüpfen. Virgil
(Aen. 12, 895-98) läfst den Turnus einen ungeheuern stein aufgreifen:
saxum antiguum ingens campo quod forte jacebat
limes agro positus, litem ut discerneret arvis,
vix illud lecti bis sex cervice subirent
qualia nunc hominum produeit corpora tellus.
In der litth. sprache ist kapas todtenhügel, kapezius grenzhügel, apkapiti
begrenzen. Aus dem slav. kupa, kupice haufe ist das ahd. kuffihoug und kuf-
‚iso, grenzhügel. Unsere alten gerichtsstätten und malberge waren von steinen
umkränzt, auch den ansehnlichen markscheiden wird solche umsteinung nicht
gemangelt haben; es ist die arepava griechischer grenzurkunden (inser. 2,1103).
Ragende bäume, zu grenzzeichen auserlesen (olla veter arbos templum
tescumque finito. O. Müll. Etr. 2, 133), im Sachsenspiegel malbome, mahl-
bäume genannt, werden noch mit besondern malen oder merkmalen ausge-
stattet. Solch ein zeichen führt in unsrer alten sprache den namen /dA, voll-
ständig mit aspiration hldh, und scheint den einschnitt, die ineisio auszudrük-
ken, welche in bäume, aber auch wol in steine und felsen gemacht wurde,
davon ist uns noch heute die benennung lochbäume,lochsteine geblieben
und man hat dazu den vorhin entwickelten begrif der snat oder sneida zu
nehmen, obgleich ich niemals lach oder loch, wie jenes snat für die grenze
deutsche grenzalterthümer. 119
selbst gebraucht finde. Unter allen bäumen werden eiche, buche, tanne vor-
zugsweise zur grenze verwendet: usque ad Treniches eihi (trad. fuld. Pistor.
2, 54. Schannat n°. 146) auch in slav. urkunden dub peretnet, dub meznyi
(Kucharski p. 23); in thia houges duochun (Schlöppach n°. 1. a. 983); altn.,
merkibiörk (betula terminalis) Grägäs 1,300. Magna quercus sub qua et
quidam magnus lapis affıxus jacet, et a sua magnitudine accepit nomen wili
damb (pol. wielki dab) in meklenb. grenzurk. von 1174 bei Lisch 1,7. 22.
Beispiel einer grenzkiefer hat Schmeller 2, 603: ad duo mantala.
Es scheint, dafs man auch an grenzgraben wilde kräuter, die mit brei-
ten blättern wucherten, unterhielt, woraus ich den ahd. namen reinefano ta-
nacetum (Graff 3, 521) erkläre, gleichsam webte die pflanze ein tuch an der
stelle, und hiefs grenzfahne, grenztuch, von dem oben erläuterten rein, hreini,
und varm, farn filix, heute rainfarn; rainweide ist ligustrum vulgare. Apulejus
de herbis 114 erwähnt cannabis agrestis, quam Itali zerminalem apellitant,
und in ags. grenzurkunden finde ich ‘tö fearnleage geate ad filiceti partem
(Kemble 2, 250) (').
Im gegensatz zu diesen wäldern, sümpfen, felsen und bäumen erschei-
nen nun aber eingeschlagene pfäle und eingesetzte von menschenhand be-
hauene steine (marksteine), die von den natürlichen richtungen abweichen
und nach schnurgeraden zeilen oder reihen die grenze zu bilden bestimmt
sind. Hierauf wende ich zumal einige altnordische ausdrücke an. Fardi
ist strues lapidum, dann aber meta, scopus, hlada varda bedeutet grenzsteine
aufrichten, thürmen. In den schwed. gesetzen begegnet jene formel r& ok
rör: zwei, drei, vier oder fünf steine stehn in bestimmter ordnung, mitten
’
dazwischen ein pfal. Unter solchen steinen pflegte man im innern Deuzechi
land eirunde kieslinge, geldstücke, gläser, kohlen und andere der verwesung
ununterworfne gegenstände einzugraben, die nach dem verlauf langer zeit den
hergang bezeugen konnten. Alle regeln, die dabei befolgt wurden, verdie-
nen aus den nordischen gesetzen und den grenzurkunden des innern Deutsch-
lands sorgfältig gesammelt zu werden.
Man ahnt es, dieser vorspringende unterschied der messung und theilung
des landes müsse mit dessen anbau überhaupt, ich meine mit den schon oben
hervorgehobnen gegensätzen der deutschen landbestellung zusammentreffen.
(‘) Das brem. wb. 2, 540 hat ein grensekruud, das ist aber das ahd. grensinc (poten-
tilla) Graff 4, 333.
120 Jacos Grimm:
Tacitus berichtet, dafs ein haupttheil der Germanen zu seiner zeit zwi-
schen unermefslichen waldungen einzeln und zerstreut wohnte: ne pati qui-
dem inter se junctas sedes, colunt discreti ac diversi, ut fons, ut campus, ut
nemus placuit, wer aber so angesessen war, und einer geraden gasse der häu-
ser auswich, dem wird auch keine schnur die äcker eingefriedigt haben; da
muste noch der feldbau vor dem hirtenleben und der viehzucht zurückwei-
chen. Von andern deutschen stämmen namentlich den Sueven, die Caesar
ins auge fafst, wissen wir dagegen dafs ihnen damals schon regelmäfsige ac-
kerbestellung nach weise der späteren dreifelderwirthschaft bekannt war.
Dürfen nordwestliche Germanen diesen Sueven, darf lange nachher noch
sächsische sitte und lebensart der fränkischen und alamannischen entgegenge-
setzt werden, so ist wol anzunehmen, dafs wie unter jenen höfe mit einzel-
nen häusern durch das land verbreitet waren, unter diesen stattliche dörfer
alle wohnungen an einander reihten, auf den sächsischen triften länger der
hirtenstab herschte, auf den schwäbischen früher schon der pflug des bauers
die furche zog, darum auch in der feldflur dort die naturgrenze, hier eine
schon kunstgerechtere vermessung des bodens werde gefallen haben. Viel-
fache abweichungen und übergänge von der einen zu der andern ordnung
des anbaus mögen eingetreten sein, aber ihre grundverschiedenheit ist eine
durchgreifende, deren einflüsse auf landeigenthum und ackerbau nach allen
seiten hin gar nicht ausbleiben konnten. Nichts zeugt uns deutlicher von
jenem freieren und zugleich roheren zustand der feldbehandlung als die le-
bendige eigenthümlichkeit der markgenossenschaften und nirgend in Deutsch-
land hat sie sich länger und treuer bewahrt als in Niedersachsen und West-
falen. Überwiegt bei einem volke schon der ackerbau, so wird es geneigt
sein, auch die äufsere grenze seiner fluren, dörfer und städte durch den pflug
oder die mefsrate zu weihen; waltet noch das hirtenleben vor, so finden die
alten bezeichnungen der triften und weiden auf die äcker anwendung. Hier
geht von der mark das ackerfeld, dort von dem acker alles übrige aus.
IH. Arten der landtheilung.
Wir wollen suchen von ganz einem andern puncte her dasselbe ziel
zu erreichen und für die vorgetragnen ansichten desto willkommnere bestä-
gung zu gewinnen.
deutsche grenzalterthümer. 421
Auch die Römer scheinen bei anordnung der grenze zwei durchaus
verschiedne weisen gekannt zu haben, die sich als volksmäfsige und gelehrte,
als natürliche und künstliche, folglich als ältere und jüngere darstellen, wie-
wol verhältnismäfsig schon der letzteren hohes alter zugesprochen wer-
den mufs.
In der römischen einrichtung tritt nemlich finis dem limes, arcifinium
der Zimitation entgegen. Arcifinal heifst der gewöhnliche fundus und ager
wie ihn natürliche grenze und althergebrachte zeichen scheiden. Erwächst
darüber streit, so gilt ein finium regundorum judicium. Aber auch erober-
tes land, unvertheiltes gemeinland sind areifinien. Limitation hingegen ist
eine öffentliche kunstfertige vermessung der mark, die von den agrimenso-
ren, nach dem rigor, cardo und decumanus vorgenommen wird (!). Der
finis endet und wendet nach’ kehre und biegung, rücken und wasserscheide,
der limes hat gerade linien und wird durch steine und pfäle abgesteckt.
Diese lehre strenger landmessung, eng verbunden mit altetruskischen
bräuchen scheint den freieren, ungekünstelten sitten der Griechen fremd
geblieben.
Nicht ein gleiches, doch ähnliches verhältnis wie das römische würde
sich für unser deutsches alterthum aus dem vorhin entwickelten unterschiede
der markverfassung und geregelten ackerbestellung etwa ahnen, kaum nach-
weisen lassen, böten nicht die schwedischen volksrechte bestimmtere aus-
kunft dar. Hat man diese stellen erst gewahrt, so scheinen auch andere spu-
ren in dem innern Deutschland aus weit älterer zeit erkennbar.
Im Uplandslag s. 215 heifst es gleich zu eingang des ganzen vihärbo-
balkr, d.i. des titels vom anbau der nachbarn: viliä böndär by aff nyu byg-
giä, äller iggär han i hambri ok i forni skipt, pa skal hvar sinä trau sa, ok
sibän gangi ny skipt a (wollen landbauer ihr grundstück von neuem bauen,
oder liegt es im hammer und in alter theilung, so soll jeder seine trate, d.i.
brache besäen und dann die neue theilung ergehn. Hier wird verordnet,
brach oder ungebaut gelegnes land, das zwischen zwei nachbarn in alter weise
geschieden sei oder im hammer, d. i. hammerwurf liege, solle von jedem be-
sät und dann nach neuer weise getheilt werden. Warum ausstellung des lan-
des der neuen theilung vorangehn müsse, ist mir unklar; hängt es etwa mit
(') Niebuhr röm. gesch. 2, 699. Rudorff zeitschr. f. rechtsw. 10, 360 ff.
Philos.- histor. Kl. 1843. Q
122 Jıcog Grimm:
gesetzen der dreifelderwirtschaft zusammen? Dafs die neue theilung aber
sonnentheilung, rechte sonnentheilung, im gegensatz zur hammertheilung
biefs, folgt aus den am schlufs des capitels s. 216 gebrauchten worten: byi
rättri solskipt liggär, vgl. s. 217.
Aus Södermannalag gehört eine s. 98 im capitel von der grundtheilung
(um tompta skipte) enthaltne stelle her: delä tve um tompter, havi ben viz-
orb, solskipt vill hava, vari all hamarskipt aflagd ok havi engin vizorp: thei-
len zwei ihre höfe (tompt, altn. topt entspricht dem lat. area), so wird der
zum beweis gelassen, welcher sonnentheilung verlangt, alle hammertheilung
soll abgeschaft sein und keinen beweis haben. Der weitere hergang bedient
sich wiederum des ausdrucks rätt solskipt, rechte sonnentheilung.
Vestmannalag, im beginn des bygninga balkär d.h. des titels vom an-
bau, s. 195. 196 bedient sich völlig der aus Uplandslag angeführten worte,
hat aber auch noch anderwärts s. 32 den bemerkenswerthen ausdruck: läggi
by soldraghin, liegt ein grundstück nach der sonne gezogen, dragin ent-
spricht dem lat. tractus.
Schlyter, nach dessen ausgabe ich diese gesetzstellen mitgetheilt habe,
sträubt sich (Upl. s. 339. Söderm. s. 295. 337) dawider, dafs in dem worte
hambr hier der begrif von hammer, malleus angenommen werde, er will dar-
unter saxum, felsland verstehn. Ohne zweifel hat hamar beide bedeutungen
und die des geräths ist eben von der masse geleitet, da im alterthum hämmer
und messer aus den härtesten steinen gefertigt wurden. Unser altes wort
sahs, culter war ein steinmesser und ist völlig das latein. saxum, obgleich in
unsrer sprache die bedeutung des felsens aufgegeben, in der lat. die des mes-
sers vielleicht gar nicht entwickelt wurde; das volk der Sachsen, die nach
dem streitmesser benannt sind, läfst die sage aus felssteinen @ro rergns er-
wachsen. Unbefangne auslegung unsrer gesetzstellen mufs aber nothwendig
den begrif von felsen ablehnen; was kann bedeuten: der grund, das grund-
stück liege im felsen, in felsichtem land, solle aber neu besät nach der sonne
getheilt werden? Auf steinigem boden wird niemand seinen acker angelegt
haben und wie könnte es durch veränderte landtheilung in taugliches baufeld
umgeschaffen worden sein? Schlyter, wo ich ihn recht fasse, scheint anzu-
nehmen, dafs die alten landesanbauer ihre wohnungen auf felshügeln errich-
teten und nach diesem mittelpunct nun die umliegenden gründe geschieden
wurden. Dann aber würde kaum liggia i hambri und i forni skipt einander
deutsche grenzalterthümer. 123
gleichgestellt, vielmehr a hambri gesagt, noch weniger die zusammensetzung
hamarskipt gebraucht sein, welche augenscheinlich theilen nach dem ham-
mer meint, wie das entgegenstehende solskipt theilen nach der sonne sein
mufs. Leicht aber kann, weil der alterthümliche brauch allgemein bekannt
war, hamar für hamarkast, hammerwurf stehn: liggia i hamri heifst darum
nichts als durch geworfnen hammer geschieden sein.
Was mir den gewonnenen sinn hauptsächlich rechtfertigt, ist die wahr-
nehmung dafs auch in dem innern Deutschland nicht nur in zahlreichen urkun-
den des mittelalters, sondern einzeln in den alten volksrechten, deren abfas-
sung weit über die der schwedischen gesetze hinaufreicht, auf ähnliche weise
die grenze durch den wurf einfacher geräthe, vorzugsweise des hammers
und beils ermittelt wird. Beispiele sind in meinen RA. s.55 ff. gesammelt,
eine neue ausgabe des buchs wird sie beträchtlich mehren und umständlich er-
örtern. Hier genügt es zu bemerken einmal dafs das hohe alter und die weite
verbreitung der sitte durch zahlreiche fast in allen gegenden vorkommende
fälle gesichert wird, dann dafs die überlieferung des hammerwurfs eben zu
allerlängst unter den markgenossen haftete. Die gemeinmarken waren aber
arcifinium, das bei althergebrachter scheidung verharrte und jedwede limita-
tion von sich ausschlofs. Wären wir vom verhältnis altrömischer latifundien
genau unterrichtet, ich zweifle kaum, es würden sich auch hier keilwürfe,
beilwürfe, hammerwürfe nachweisen lassen. Wie, sollte arapennis, arepen-
nis ein bekannter ausdruck für ein mafs der ackertheilung und schwerlich
gallisches wort, nicht das geräth bezeichnen und nah verwandt sein mit di-
pennis beil, sollten nicht auch den Römern arapennis und bipennis im wurfe
die flur geweiht haben (')?
Aufser hammer- und beilwurf hielt sich die volksmäfsige abgrenzung
der flur und des grundeigenthums natürlich noch an manche andere bestim-
mungen, zumal wo die markscheide ganzer gemeinden und landgebiete vor-
(') Quinctilian VIIL 6,73 theilt aus einem libellus jocularis Ciceronis folgendes distichon mit:
fundum Varro vocat, quod (al. qua, quem) possim mittere funda,
ni tamen exciderit, qua cava funda patet.
von diesem ciceronischen gedicht weils man sonst aber nichts und ist geneigt es dem Lau-
rea Tullius, Ciceros freigelafsnen beizulegen. Ebenso wenig mag dem Varro die im penta-
meter verspottete deutung von fundus gehören, den nach dem hexameter der geschleuderte
stein bestimmt, falls so etwas wirklich aus den worten zu folgern ist,
Q2
124 Jacos Grimm:
gezeichnet werden soll. Eine der schönsten oft wiederkehrenden formeln
ist die der schneeschmelze, schneeschleife oder des divortium aqua-
rum vom kamm hoher gebirge herab: als der schnee schmilzt und das wasser
rinnt; als regen rinnt und flufs fliefst(!); als schnee und wasser scheidet, sicut
montes et convalles se respiciunt et aqua pluvialis a vertice montis se dimittit.
Wie der von der sonne aufgelöste schnee in unwandelbarer richtung nach
den verschiednen seiten in die niederungen fliefst, sind die menschen auf die
gefilde gleichsam herabgeströmt. Nicht selten ist auch dazu das niederrollen
eines runden gegenstandes ausgedrückt: wie kugel walzt und wasser rinnt;
als stein und wasser rinnt; als der schlegel herab walgt (weisth. 3, 654)
und man darf an den mythischen schlegelwurf denken, der fast die bedeu-
tung des hammerwurfs zu haben scheint (?); in dem Wilzhuter ehhaftrecht
heifst es: wan der vorstmaister irrig wurde, wo sein gericht angehet oder
aufhört, soll er ein ai nemen und auf der höhe niederlegen, so weit es ab-
wärts lauft stöfst sein forstgericht an das urbar (weisth. 3, 679), d. h. die
mark an das angebaute ackerfeld, deren scheide anderwärts durch hammer-
wurf bestimmt wurde. Wenn aber flug von hahn und henne die strecke
eines grundstücks ermitteln, gerade wie im altnord. gesetz eine weite nach
dem flug des habichts am sommerlangen tag ermessen wurde, wen gemahnt
das nicht an die fundos quantum milvi volant, quantum milvus oberrat?
Wenden wir uns nun auch zu der sonnentheilung und forschen,
welchen zusammenhang sie mit römischer oder etruskischer limitation haben
könne, deren system wiederum gebräuche älterer volksmarkscheiden ver-
wischt haben mag. Uplandslag s. 218, Suderm. s. 98 ist die grundregel aus-
gesprochen, dafs nach rechter sonnentheilung die zompt, d.h. area, des ak-
kers mutter werde: tompt är akärs moper, nu er tompt teghs mober;
tegher, schwed.teg, altn. teigr finde ich bald arvum bald pratum bedeuten.
Das wird keinen andern sinn haben als von der area geht das mafs der gan-
zen flur aus, nach diesem mittelpunct wird sie geregelt. Die nähere ausfüh-
rung theile ich blofs in den übersetzten worten mit: acker soll man nach
dem grund (der area) legen und dem endemann (ändäkarl, vgl. gr. aupıreg-
Awv, lat. amterminus) besserung geben, einen fufs vom vogelrain, zwei vom
(') Die genaue sprache unterscheidet zwischen rinnendem und fliefsendem wasser (re-
gen und flußs), vgl. MB. 29%, 309-317. (?) Deutsche mythologie s. 1205.
deutsche grenzalterthümer. 125
gangrain, drei vom almendeweg, der zwischen kirche und stadt liegt. Acker
hat die wiese, wiesgrund den waldgrund, waldgrund den rohrgrund zu mes-
sen, rohrgrund das wasser, wasser den netzwurf zu theilen. Da wo keine
steine liegen können, dafs man sie sehen mag, soll stange und stock die rohr-
gründe scheiden.
Das ist die künstliche, von hammerwurf, schneeschmelze und hahn-
flug völlig abweichende landmessung; aber die namen solskipt und soldragen
nöthigen vorauszusetzen, dafs dabei ein bestimmter stand der sonne, man
mufs denken, in regelmäfsig kehrender jahrszeit beobachtet und nach den
himmelsgegenden orientiert wurde. Wahrscheinlich fand auch dabei priester-
liche leitung und aufsicht statt. Mittensommer oder die sonnenwende (unser
Johannistag) wird, wie ich mutmafse, dabei den ausschlag gegeben haben.
Nun ist bekannt, dafs.auch die agrimensoren ihren cardo und decu-
manus zur zeit des aequinoctium regelten, erst unwissendere messer mit dem
zufälligen stand der sonne zu andern jahrzeiten sich behalfen. Noch lange
wurden die limites nach sonnenuhr gezogen: limites in sextam horam con-
versi (Frontinus p. 116. 134); zwischen landmessung und tempelschau be-
stand aber deutlicher zusammenhang und alle limites scheinen nach analogie
des templum gezogen. Das templum könnte die mutter der gemessnen flur
heifsen, wie jene schwed. tompt des ackers mutter. Da wo auf limitiertem
felde cardo und decumanus sich durchschnitten, durften auspicien so gut als
im tempel selbst vorgenommen werden. Der pflug aber rifs die erste heilige
furche in den erdboden (!).
Niemand wird die schon aussterbende schwedische solskipt begreifen
wollen aus einer nachahmung der altrömischen limitation, die zur zeit wo ein
frühster einflufs classischer gebräuche auf den norden annehmbar wäre, un-
ter den agrimensoren selbst bereits verwildert war. Es ist hier, wie so oft,
urverwandtschaft da, neben welcher besonderheiten und abweichungen un-
ter jedem volk in menge stattfinden.
(‘) Festus: primigenius sulcus dieitur, qui in nova urbe condenda tauro et vacca desig-
natur, ut haec copulatio jumenti velut exemplum conjugü sit (vgl. Tac. Germ. cap. 18).
Es war altslavischer brauch, wenn ein dorf angelegt wurde, ein joch ochsen vor den pflug
zu spannen, deren einer weils, der andere schwarz sein muste. Diese rinder umpflügten
des neuen dorfes grenze, und die gezogne furche hiels poln. zagon, böhm. zahon, d. i. acker-
beet, aulserhalb des zagon war alles cudzo, böhm. cuzo d.i. fremd.
126 Jacos Gkiımm:
Noch weniger darf befremden, dafs von der sonnentheilung, die wie
ich sagte in undenklich früher zeit entsprungen sein muls, keine spur auf-
zutauchen scheint in dem innern Deutschland, das sie von der nothwendig
noch ältern hammertheilung in überflufs darreicht. Denn diese fand gerade
in den ungetheilten Rn ihren natürlichen anhalt, während die formeln
und gebräuche jener in der lebhafteren übung des privateigenthums vielfa-
chen anstofs geben, und als mit dem untergang des heidenthums alle ange-
stammten rechtsgewohnheiten sich vergröberten, bald in vergessenheit sin-
ken musten. Hat sich doch auch aufser den eigentlich schwedischen land-
schaften weder in gothländischen, norwegischen noch isländischen die vor-
getragne alte landscheidung bewahrt. Zugleich erkennen wir die beschaf-
fenheit der altschwed. solskipt nur so unvollständig, dafs schwer zu bestim-
men ist, was in den übungen künstlicher landmessung des innern Deutsch-
lands alterthümlich genug scheine, um sich ihr vergleichen zu lassen, oder
was uns aus der römischen agrimensur zugeführt worden sei.
IV. Götter.
Es geht aus allen diesen nachrichten hervor, dafs schon in hohem al-
ter eine zwiefache art und weise die grenze zu ordnen gegolten habe, gleich-
wol die eine nothwendig als später hinzugetretene zu denken sei. Sollte die
künstliche, in scandinavischen strecken bestimmt nachzuweisende limitation,
wie den Griechen, auch dem herzen von Deutschland unbekannt geblieben
sein; so müssen dafür die gebräuche der älteren volksmäfsigen abgrenzung
desto länger gehaftet und ihre wurzel noch in jüngere zeiten ausgebreitet ha-
ben. Unbedenklich aber schlägt der ursprung beider arten noch in unser
heidenthum selbst zurück und es drängt sich die frage auf, in welchem zu-
sammenhang zu der altdeutschen mythologie sie gedacht werden müssen ?
Die älteste weihe aller grenze, die ursprüngliche austheilung des fe-
sten landes ist in dem glauben der völker von den göttern selbst ausgegan-
gen. Im finnischen epos wird berichtet, dafs ehmals zwei göttliche wesen,
Wäinämöinen und Joukahainen, auf dem wege sich begegnend, einander
nicht ausweichen wollten und nun in wechselrede ihre macht und kunst zu
rühmen begannen, da sagt Wäinämöinen, der höchste und angeschenste aller
götter, unter andern, dafs von ihm das meer gepflügt und das land in acker-
-
deutsche grenzalterihümer. 197
rücken getheilt, das hohe gebirge gethürmt und die felsenmasse gehäuft wor-
den sei ('). So weit nun reichen unsre deutschen mythen nicht, oder wir
müsten es verstehn volkssagen in die, wie nicht zu bezweifeln ist, ihnen un-
terliegende heidnische form zurück zu übersetzen. Zwischen Schweden und
Rufsland läfst das volk einen waldgeist die grenze hauen (?), wie in Frank-
reich die spinnende fee den felsgrat heran trug; was man in Deutschland
teufelsmauer nennt soll immer vom bösen feind, hinter dem ein alter gott
steckt, über nacht aufgeworfen sein. Lange stritt, wie eine Harzsage mel-
det, mit dem lieben gott der teufel um die herschaft der erde, bis endlich
eine theilung des damals bewohnten landes verabredet wurde, und der teu-
fel unter lautem jubeltanz da seine mauer baute, wo zwischen Blankenburg
und Quedlinburg neben einem felsenrif eine fläche noch heute des teufels
tanzplatz genannt wird (?). Die ältere heidnische überlieferung wird zwei
götter über die grenze ihres gegenseitigen gebiets im streit dargestellt haben.
Bei Griechen so wie Römern heiligte die höchste gottheit den bestand
der grenze. Jenen hiefs Zeus ögıss (nicht zu vermengen mit oUgıcs, einem an-
dern beinamen des gottes, der auch günstigen wind verlieh), den Römern
hiefs Jupiter terminalis. Numa, wie uns Dionysius 2,74 meldet, verordnete,
jeder solle sein eigenthum umgrenzen und steine auf der scheide setzen, wo
an bestimmtem jahrestage den unsterblichen göttern opfer zu bringen sei.
Diesen stein, unter dem namen Termo, Terminus, stellte man sich auch als
eignes göttliches wesen vor, auf welches noch andere sagen, wie nach Lactan-
tius, dafs es der von Saturn statt Jupiters verschluckte stein gewesen sei, an-
wendung fanden; ursprünglich gieng der abgeleitete gott immer auf Jupiter
selbst zurück.
In dem deutschen heidenthum, wie ich darzuthun gesucht habe, scheint
ögıos Zeus, oder auch axguos, Er&rgıos einen unmittelbar entsprechenden namen
geführt zu haben, Fairguneis (von fairguni öges) was buchstäblich dem lit-
thauischen Perkunas und slavischen Perun begegnet, die alle den donner
schleudern; doch der deutsche name bleibt am durchsichtigsten, allmälich
wich er dem allgemeineren Donar oder T’hörr, ohne dafs dadurch die gott-
(') Kalewala, herausgegeben von Lönnrot, Helsingfors 1835 theil I. s. 201.
(?) Deutsche mythologie s. 455.
(°) Deutsche sagen n°. 189.
128 Jaıcos Grimm:
heit selbst geändert wurde. Wie nun Zeus aus den wolken sein geschofs (ßz-
Asuvov, Rersuvirns) niederfahren läfst, wird unserm Donar ein hammer beige-
legt, der in der edda Miölnir (vergleichbar dem slav. molnija für blitzstrahl)
heifst und ein characteristisches zeichen seiner göttlichen macht ist. Dieser
hammer hatte kriegerische und friedliche geschäfte auszurichten; wie er feind-
liche riesen zu boden stürzte, weihte er den geschlossnen ehebund und hei-
ligte land oder grenze.
Hammerwurf führt also unmittelbar auf Donar zurück. Sehr be-
zeichnend wird bei besitzergreifungen herrenloser gründe das erworbne land
dem Donar geweiht: helgadi landnäm sitt pör, ok kalladi börsmörk heifst
es im isländ. landnäma bök 5,2 s. 218: er heiligte seine landnahme dem
Thor und benannte sie Thorsmörk, d.i. Donarsmark (!), was sich wiederum
doppelt auffassen läfst, sowol Donnerswald als Donnersgrenze. Der zuk-
kende blitzstrahl macht die äcker fruchtbar, zugleich hat er sie von anfang
an geweiht, ihre grenze, wenn man will, mit feuer gezogen.
Dem donnergott ist unter allen bäumen des hehren waldes vorzugs-
weise die eiche heilig, wie alle Donnerseichen darthun, die von den christ-
lichen bekehrern gefällt wurden: robur Jovis, magna Joris antiquo robore
quercus; diesem ausdruck entspricht der slavische perunowa dub, denn dub,
poln. dab bedeutet eiche. Wenn wir nun in den meisten grenzbegängen die
scheide durch eichen bezeichnet finden, kann das weder zufall noch bedeu-
tungslos gewesen sein. Im heidenthum wird das volk zu Donnerseiche ge-
zogen sein und unter ihrem schatten geopfert haben; urkunden des slaven-
volks gewähren bei grenzfestsetzungen den bedeutsamen ausdruck: do pe-
runowo duba, bis zu Peruns eiche; heilige wälder hiefsen perunowa dubrawa,
Jovis quercetum, Donares marcha.
Die hammertheilung und alles was ihr ähnlich ist, der beilwurf mufs
unter dem Donnergott gestanden haben. Ich wage aber zu mutmafsen, son-
nentheilung werde auf Wuotan zurückzuführen sein.
Das verhältnis dieser beiden götter, Wuotan und Donar, wenn auch
noch vielfacher aufklärungen bedürftig, läfst sich in den hauptzügen schon
klar erkennen. Offenbar haben beide sich getheilt in die gewalt, die dem
griech. Zeus allein zusteht; doch Wuotan wird als Donars vater und ihm
(') Vgl. deutsche mythologie p. 127.
deutsche grenzalterthümer. 129
überlegen dargestellt, wie der vater mächtiger als der sohn ist. Wuotan mufs
aber dem Donar einige ämter seiner waltung überlassen, dafür streifen auf
ihn bezüge der gottheit, die Griechen und Römern das wesen Hermes und
Mercurs bildete, der umgekehrt als sohn des Zeus dargestellt wird. }
Wuotan erscheint ungleich milder und schöpferischer als Donar, seine
ordnung ist vollendeter: man darf in Donar eine frühere, rohere gewalt, in
Wuotan die nachher obenan tretende geistige von nicht geringerer kraft er-
kennen. Hierzu würde jene aufeinanderfolge der hammer und sonnenthei-
lung treffen.
Keinen hammer schleudert Wuotan, er führt speer oder stab, und
ist der sonne allsehendes auge, was die griechische mythologie durch einen
andern ausflufs der höchsten göttlichen kraft, nemlich Phöbus Apollo dar-
stellt, mit welchem Wuotan noch manche andere gaben, zumal der sage und
dichtkunst, gemein hat. Hermes war gott der wege und mafse, gleich Wuo-
tan; ich finde keinen bezug des Hermes auf die markscheide, worin doch
naher zusammenbhang mit jenen geschäften gefunden werden dürfte.
Unser alterthum zeigt uns mehrfache freilich verdunkelte vorstellun-
gen von drei oder vier wegen, welche den himmelsgegenden nach, von be-
stimmter mittelseule aus, ähnlich dem cardo und decumanus der römischen
limitation, das gesamte land zu theilen scheinen. An dem heiligthum der
Irmansül hat sich noch nichts sicheres ausdeuten lassen; war sie, wie es am
wahrscheinlichsten ist, eine heidnische weltseule, so dürfen auch auf sie die
vorgetragnen angaben näheres licht werfen. Selbst das alte sonnenlehn,
das bei neuer besitzergreifung altes grundeigenthums, gleichsam von der
sonne empfangen werden mufste, kann in den zusammenhang treten.
Eine lateinische grenzurkunde vom 7. 862 in Kembles cod. diplom.
aevi saxonici 2,73, die aber für den genaueren ausdruck der markscheidung
selbst, wie öfter geschieht, sich ags. sprache bedient, gewährt einigemal den
merkwürdigen eigennamen F’önstoc, tö päm Yönstocce, was ich ohne langes
zaudern, schon weil aufserdem alle deutung des wortes entwiche, in die voll-
ständige form Jödenstoc zurückleite. Dazu bin ich ermächtigt, in vielen
anderen zusammensetzungen wird der gen. Vödens gerade so in Vöns, Vön
verkürzt. Bekanntlich heifst es Wonstag, Gunstag für Wodenstag, Gudens-
tag d.i. dies Mercurii; ein niedersächsisches altes kloster, wahrscheinlich
zur stelle eines heidnischen heiligthums gestiftet führt den namen MWunstorp,
Philos.- histor. Kl. 1843. R
130 Jacos Grimm:
wofür ältere urkunden Modenstorp liefern (z. b. eine von 1179 in Falke
trad. corbei. p. 770) (1). In den Niederlanden hiefs ein gewisses handmafs
oder die spanne MWoenslett (mythol. 145) d.i. wieder Woedenslet, Woedens-
glied, Ary,ds, der raum zwischen daumen und zeigefinger und auch in dieser an-
wendung erscheint jaWodan als gott des mafses. Jenes ags. F’ödensstoc drückt
also buchstäblich nichts anders aus als Wuotani palus, und stock oder pfal
müssen, ein gegensatz zu der mark und dem hammer des Donnergottes, als
zeichen fortgeschrittner, verfeinerter landmessung angesehn werden, welche
regelmäfsige stöcke und raine an die stelle der älteren zeichen setzte. Auch
in einer andern grenzurkunde bei Kemble 2, 250 der ausdruck se szoc.
Diesen vermutungen, die sich bei fortgesetzter aufmerksamkeit viel-
leicht von andern seiten her bestätigen werden, füge ich noch einiges
über die heiligkeit der grenze und grenzzeichen hinzu, das sobald man einmal
ihren bezug auf bestimmte gottheiten, sei es Wuotan oder Donar anerkennt,
wenig auffallen wird. Vorhin sahen wir, wie einzelne grenzfelsen nach hö-
heren wesen benannt sind.
Ich finde dafs gottesurtheile, namentlich zweikämpfe, häufig auf der
landesgrenze vorgenommen wurden, weil an solcher stelle die gegenwart der
gottheit jeden frevel abwehrte, und zwischen zwei gebieten der grenzraum
jedem kämpfer aus beiden theilen sicherheit gewährte. So z. b. kämpft
Thörr selbst mit dem riesen Hrüngnir “at Zandameeri’ Sn.108. Darum fal-
len im mittelalter so viele holmgänge oder inselkämpfe vor; inseln oder auen
lagen mitten zwischen zwei ländern. Noch heute pflegen zweikämpfe auf der
grenze stattzufinden, damit der überlebende theil ungehindert die flucht er-
greifen könne.
Schwere strafen und bufsen waren gegen jeden verordnet, der die
grenze beschädigte, den rain abweidete oder laub von dem heiligen mahl-
baum brach (?). Die härteste aber traf den frevler, der grenzeichen mutwil-
lig verrückte und grenzsteine in trügerischer absicht ausgrub. Einen solchen
(') Wie heifst das baireutische Wonsiedel in alten urkunden?
(') So in einem cretischen grenzstreit, der beim altar der Diana Leucophryena verhan-
delt wurde (Böckh inser. 2, 1103) vouors isgois zur ageis zur Erırincıs dvuSev ÖerszwAUro,
ive ur Seis Zu Fu isou ToU Ars 700 Arzraou wire Evvepım Mrs EvavAosrern anrs amsın nurs
EvrsVn. Doch mag dies verbot mehr auf des Zeus heiligen berg in Creta gehn als auf
den caros.
deutsche grenzalterthüm er. 131
bezeichnet in den altschwedischen gesetzen die schelte ormyJja, gleichsam
ausreifser, der die erde aus dem boden hebt. Nach den welschen gesetzen
verfiel, wenn die grenze zwischen zwei dörfern umgepflügt worden war, holz
und eisen des pflugs, samt dem pflügenden ochsen dem könig und soviel des
pflügers rechter fufs, des treibers linke hand werth waren, muste entrichtet
werden. Unsere weisthümer sprechen so grausame strafe in uralter formel
aus, dafs man sicher annehmen darf, niemals weder unter Heiden noch Chri-
sten sei sie zu wirklicher anwendung gediehen; was in frommer scheu vor
der entweihung des gottes entsprungen und lange zeiten hindurch fortgesagt
worden war, liefsen auch die christlichen gerichte noch verkünden. Aus
einer menge ähnlicher und doch immer im einzelnen wieder abweichender
fassungen wähle ich hier nur einige. Am Hernbreitinger Petersgericht wurde
im j. 1506 gewiesen (weisth. 3, 590): der einen markstein wissentlich aus-
grebt, den soll man in die erde graben bis an den hals und soll dann vier
pferde, die des ackers nicht gewohnt sind, an einen pflug spannen, der da
neu sei, und sollen die pferde nie gezogen, der enke (ackerer) nie geern (ge-
ackert), der pflughabe nie den pflug gehalten haben, und soll ihm so lange
nach dem hals ern bis er ihm den hals abgeern hat, Ein Corbacher weisthum
von 1454 (3, 80) drückt sich so aus: we den faerstein edder kam umme erede
mit vorsate, den sol men in de erden graven und laten sin hovet dar ute, so
ho als de faerstein gestanden hait uf der stedde, un sol mid einen nygen ploge
(eren) dar nicht mede geeret ist, un mit vere vollen an den plog gespannen,
de nicht mer getogen hebben, un nyge gescherre an den plog gedon un einen
ploghelder un driver (nemen), de nicht meer einen plog gehalden edder ge-
dreven hain und sollen den acker eren, un mag sich dan de begraven man
wat behelpen, dat mag er doen. Zu Niedermendig (an der Mosel) wiesen
die scheffen 1564 (2, 494): auch so iemants so vermessen, der markstein
ausöre oder grübe, den sol man gleich dem gürtel in die erden graben und
soll ihm mit einem pflug durch sein herz fahren, damit soll ihm gnug und
recht geschehn sein. Dafs aber neuer pflug und neues geschirr, junge fohlen
und pflüger, die noch nie pflügten, erfordert werden, darin ist keine schär-
fung der strafe, sondern, wie mich dünkt, nur die ehrerbietung zu erblicken,
die man dem gott zur sühnung des frevels schuldig war. Auch bei andern
anlässen sind einem heiligen oder könige rosse vorzuführen, auf denen noch
nicht zaum und sattel gelegen hatte, wie viel mehr einem gott? Welche bufse
R2
132 Jacos Grimm:
die alten gesetze von Wales, so eigenthümlich und seltsam sie lautet, auf den
grenzfrevel verfügen, übergehe ich, weil es sich nicht unmittelbar mit unsern
deutschen alterthümern berührt; anzuführen ist aber noch ein tief wurzeln-
der zug selbst des heutigen volksaberglaubens, wonach die seelen aller, die
sich an marken und grenzen vergriffen, auf den fluren als irwische oder feu-
ermänner umwandern. Unzählige volkssagen melden davon die vielfachsten
umstände und auch landmesser, die mit falschem mafs die äcker mafsen oder
abgrenzten, sollen nach ihrem tode mit feurigen stangen und schnüren ihren
fehler nachmessen und die furchen auf und abwandeln. Beim pflügen einer
zweifelhaften schnat hört man unter dem gemeinen mann die äufserung, es
sei rathsamer nicht auf ungewissem lande zu bestehn, als nach dem tode zu
spuken. Die heiligkeit der äcker und des ackergeräthes ist dem glauben un-
seres volks auf das tiefste eingeprägt; hätte es doch auch niemals den frevel
erfahren müssen und sich gefallen lassen, dafs der grenze des vaterlands grofse
stücke von übermütigen nachbarn abgepflügt und abgerissen wurden, uns
aber immer erst einige derselben zurückgestellt sind.
V. Begang.
In gewissen fällen war es nothwendig die grenze zu begehn, d.h. von
wissenden oder kunstverständigen ihren lauf und ihre zeichen untersuchen zu
lassen. Dies hiefs in der alten sprache Zantleita, marchganc, markleita (),
altn. merkja gänga, schwed. rägang; in unsrer späteren zeit schnadgang
und grenzbegang. Urkunden des mittelalters haben eircumducere termi-
nos, circuire fines, circuire marcham, auch da es bei grofsen marken zu
pferd geschah cavallicare marcam. In slavischen gegenden finde ich ugezd,
ujezd, augezd, d.i. beritt, abritt von ugezditi, bereiten. Den Griechen hiefs
es megıerJely Tv Kugav.
Ein solcher begang konnte gefordert werden, wenn ein grundstück
aus einer in die andere hand übertragen wurde; der neuerwerbende ergrif
eben dadurch leiblichen besitz, dafs er sich zu dem grund und boden hinbe-
gab, auf einem dreibeinigen stul in dessen mitte niederliefs, dann aber auch
alle enden und wenden in augenschein nahm. So hatte selbst der neue kö-
(‘) Die marke beleiten. Kaiserrecht 2, 57.
deutsche grenzalterthümer. 133
nig, beim antritt der herschaft sein reich nach bestimmten wegen zu durch-
ziehen und von allen marken feierlichen besitz zu nehmen. Eine andere
veranlassung zu den grenzgängen fand sich darin, dafs über ihre genaue stelle
hader und streit ausgebrochen war und sachverständige oder markgenossen
zu entscheiden hatten. Endlich wurde, zumal in ansehnlichen marken die
ganze grenze in bestimmter frist, gewöhnlich von sieben zu sieben jahren
feierlich begangen oder beritten und ihre abzeichen dem gedächtnis der mit-
lebenden eingeprägt. Ein solcher begang glich den jahreszügen der gottheit
durch das land oder der umtracht des gottes durch die fluren, und bildete
ein wahres volksfest, dem die ganze gemeinde fröhlich beiwohnte, wobei es
nicht an gelagen und schmäusen, im heidenthum gewis nicht an opfern fehlie.
In Wales geleitete ein geistlicher das umziehende volk und sprach, wenn es
zum grenzstein gelangt und mit entblöfsten häuptern darum gestellt war,
einen fluch gegen den aus, der des nachbars grenze verrücken werde, worauf
alle amen riefen.
Unsere urkunden gewähren zahlreiche beispiele von grenzbegängen,
an deren schlufs sie feierlich aufgenommen wurden; die bedeutendsten die-
ser urkunden verdienten zusammengestellt und aus allen die hergänge und
terminologien des sprachgebrauchs vollständiger, als es bis jetzt geschehn ist,
erörtert zu werden.
Es kam besonders auf die kundigen, erfahrnen männer an, welche von
der grenzzeichen lage und beschaffenheit unterrichtet, sie sicher nachzuwei-
sen im stande waren. Aus einer meldung des zehnten jahrhunderts dürfen
wir entnehmen, dafs ein einzelner grenzführer gewählt wurde, der seine rechte
feierlich mit dem handschuh bekleidend damit auf die zeichen fingerdeu-
tete: circumductor efficitur, praecedens et indice demonstrans ..... ibat
ergo, et cirolfeca, quam rustici wantum vocant, manu superducta, demon-
stravit (!). Sollte sich aus dieser anwendung des im alten rechtsgebrauch
oft vorkommenden handschuhs etwa der bei mehrern örtern begegnende
name Handschuhsheim, Handschuhsleben erklären? (?)
Während die ältesten greise, die das höchste menschliche ziel erreicht
hatten, auserlesen wurden, um sicherste kundschaft von der mark zu erstat-
(') Sigehardi miracula sancti Maximini, bei Pertz 6, 232.
(°) Berliner jahrbücher für kritik 1842 sp. 794.
134 Jaıcos Grimm:
ten, säumte man nicht auf grenzbegängen eine zahl von knaben mitzuführen,
deren frischer sinn alle hergänge lebhaft zu fassen und treu zu bewahren fä-
hig war. In einzelnen gegenden, namentlich bairischen pflegte man sie und
überhaupt alle zeugen am ohr zu ziehen (testes more bavarico per aurem
tracli); es geschah auch woi sonst etwas unerwartetes, das die erinnerung
an den vorfall nicht wieder erlöschen liefs, Böhme in seinen beiträgen zu
deutschen rechten 1, 76 meldet, dafs bei einer schlesischen grenzhandlung
des fürsten von Liegnitz forstmeister nach der mahlzeit allen zugezogenen
männern die bärte abgeschnitten habe, wobei er aber hinzu setzt: "ausge-
nommen den herrn bürgermeister, welcher nachdem er diesen handel ver-
merket sich verborgen und danach stillschweigend davongeritten’ Gewöhn-
lich warf man auch geld, brot oder kuchen unter das mitlaufende volk. Die
von Osterndorf diesseits, von Thierhaupten jenseits stritten um ihre grenze;
da ritt kaiser Ludwig der Baier durch das Lechfeld, liefs zwei wagen mit
brot nachfahren, kehrte sich um und warf das brot unter die jungen leute:
‘sage das einer dem andern und seinen kindern, dafs könig Ludwig heute
kundschaft gegangen hat zwischen Baiern und Schwaben; was der Lech her-
über legt gen Baiern das soll Baiern gehören, und was er gen Schwaben legt,
soll Schwaben gehören? Als das brot zu ende gieng, nahm er einen eisen-
hut, füllte ihn mit pfenningen und warf sie unter das volk zu ewigem ge-
dächtnis (!).
Bei bestimmten grenzzeichen, namentlich steinen, wurden in glei-
cher absicht, um dem vorgang gröfsere weihe zu verleihen, symbolische
handlungen oder spiele vorgenommen. Noch bis auf unsere tage herschte zu
Lügde, einem paderbornischen städtchen (unfern Pyrmont), am jährlichen
grenzbegang folgende gewohnheit: neben einer mühle stand ein grenzstein,
sobald sich diesem der zug nahte muste der müller hinzueilen und mit einem
aus dem zug carten spielen; jedesmal aber hatte er dabei anzugeben, welche
carte das jahr zuvor trumpf gewesen war und eine strafe zu entrichten, wenn
er sich dabei irrte. Ich zweifle kaum, dafs die carten an die stelle eines an-
dern spiels und andrer angaben getreten sind. Zu Adeldorf an der Vils in
Baiern war alljährlich auf pfingstmontag der sogenannte wasservogelum-
ritt um die markung: ein knecht, der am spätesten sich eingestellt hatte,
(') Freybergs erzählungen aus der bair. geschichte. München 1842. 1, 253.
PT,
deutsche grenzalterthümer. 135
wurde mit laub und schilf eingebunden und vom pferde herab in einen bach
oder teich geworfen (Schm. 1, 320. 4, 172). Auch zu Köpenik in der hiesigen
gegend feiert man alle zwei jahre zur sommerzeit den grenzbegang so, dafs fei-
erlich von hügel zu hügel gezogen wird und am letzten hügel diejenigen welche
binnen diesen zwei jahren bürger geworden sind von dem schulzen des kie-
zes sechs schläge mit der peitsche empfangen, den ersten für den könig, den
zweiten für den magistrat, den dritten für die stadtverordneten, den vierten
für die bürgerschaft, den fünften für die nachbarschaft, den sechsten thut
der schulze für sich selbst (Ad. Kuhn märk. sagen s. 371). Bei westfälischen
schnatgängen pflegte man torf zu graben, durch ein haus zu gehn, welches
mitten von der grenze durchzogen wurde und das haal auf dem heerde (woran
der kessel hängt) niederzuschürzen. Es mufs hoch in das alterthum hinauf-
reichen, dafs man die grenze zuweilen mitten über heerd oder die haustenne
leitete, beides waren heilige den göttern geweihte örter. Ich führe noch
einige belege hierzu an. In dem östr. pantaiding von Wartenstein (weisth.
3, 710) wird die grenze gezogen: von dem stein auf den spiegelhof durch
den ofen; und in dem von Grimmenstein (ibid. 3, 717) ‘durch den stadel
mitten über der tenn.” Zu Zscheiplitz bei Freiburg (in Thüringen), wo
die grenzlinie mitten durch die schenkstube lief, muste bei dem fünfjährigen
flurengang jedesmal ein bürgersohn rückwärts zum stubenfenster hinein ge-
hoben werden, um die thür von innen zu öfnen, und man unterlief[s nicht
seinen namen in das protocoll aufzuzeichnen, damit die alte gerechtsame un-
verbrüchlich gewahrt bliebe (Rosenkranz neue zeitschr. 1. 3. p. 4). -
Es ist ein uralter ausdruck für gemeinschaft und nachbarschaft, dafs
menschen zusammen am tische sitzen und brot essen (wie das salische gesetz
sagt: in beudo pultes manducare), in einem weisthum (1, 395) beifst es, dafs
vier hirten, nachdem sie geweidet haben, zusammentreffen und auf einem
gaspreiteten mantel mit einander essen. Dieser friedliche zug findet eine
schöne anwendung in den markbegängen unseres deutschen alterthums, da
wo das gebiet dreier markgenossen aneinander stöfst, ahd. drimarcha, lat. tri-
‚finium, gr. gıogia, serb. tromedia; dann entspringt ein liebliches bild vollen-
deter eintracht, das nicht besser erdacht werden könnte, in jeder der drei
ecken steht ein stul um einen tisch in der mitte, so dafs jeder auf seinem
grund und boden sitzt, alle von dem gemeinschaftlichen tisch essen. Dana-
holm, ein platz unweit Göteborg, da wo Götaelf sich ins meer ergiefst, soll
136 Jacog Grimm:
soll vor alters die grenze zwischen drei königreichen, Schweden, Dänmark
und Norwegen gebildet haben. Die sage meldet, dafs die drei könige feier-
lich da zusammen kamen den grenzbegang hielten und an einem und dem-
selben tisch, doch jeder in seinem reich safsen. Nach einer schon ins west-
gotische rechtsbuch s. 67. 68. aufgenommenen, freilich unhistorischen nach-
richt ordneten unter könig Emund (etwa in der mitte des zehnten jahrhun-
derts) zwölf männer, vier aus Jeglichem der drei reiche die streitig gewesene
grenze, und als nach vollbrachtem geschäft Emund zu pferde stieg, hielt ihm
der könig von Dänmark den zaum, der könig von Norwegen den steigbügel.
Ähnliche sagen gehen von andern orten in Deutschland. Auf der Desburg
einem vorgebirge der Rhön steht ein alter hoher grenzstein, in welchen eine
schüsselähnliche vertiefung und daneben drei löffel gehauen sind. Hier grenz-
ten die ämter Lichtenberg, Kaltennordheim und Sand aneinander und man
erzählt, dafs vor alters beim grenzbegang die amtleute der drei ortschaften
aus dieser schüssel suppe mit einander afsen (!).
Folgende stellen der weisthümer gehören hierher:
1, 638 grenzbegang zu Kirburg a. 1583:
und ist von den alten geredt, wan man einen dreistailigen stul setzet mitten
in die wolfskaule, solle drei herrlichkeiten bereichen, nemlich Sain, Beil-
stein und Marienstatt.
1, 833 weisthum der grafschaft Wied a. 1553, ein Brunnen Dodersbrunn ge-
nannt:
da soll man stellen einen dreistempligen stul, daran sollen sitzen die Col-
nischen, Wiedischen und Isenburgischen jeder in seines gn. herren ebrig-
keit und sollen aus einer schuttelen essen.
2,51 weisthum von Fechingen 15. jh.
auf dem Scharberg: da stossent der vier herren gericht des dorfs zu-
sammen.
2, 75 weisthum von Wiltingen 1504:
an dem scheitborn, wisen wir den hern von Falkenstein u. unsers hern
voigt von Broich in mins gn. h. vogdie von Trier und eines probsts vodien
von S. Paulin: dafs die vier hern morgent sitzen uf dem born und ein
yckliche dem andern zu essen mag geben uf den vier vodien.
(') Bechstein sagen des Rhöngebirgs s. 49.
deutsche grenzalterthümer. 137
2,529 beschreibung des hofbanns zu Berisborn:
und die bach scheid drei hern hochheit, dem hern von Prüm, Gerhard-
stein und Kail, und kunten wol die drei hern alda an einem tisch sitzen,
doch jeder auf seiner hochheit.
2, 765 weisthum von Dreiborn: da mogen vier landshern sitzen an einem
disch und ein jeder auf seiner herlichkeit.
2, 682 weisthum von Zinxheim 1622:
daselbst ein stein gestanden, darauf drei hern nemblich der churfürst von
Köln, der herzog von Jülich und der graf von Blankenheim sitzen sollen
und jeder auf seiner hochheit zusammen essen an einem tisch kees
und brot.
Das genaue verhältnis fordert aber nur drei genossen, nicht den vierten:
unter vieren können immer nur drei von jeder seite an einander stofsen.
“Driu lant an einander gewant’ lautet auch in Hartmanns Erec 6750 die rechte
formel. Die schottische sage weils von einem zauberkräftigen bogen, der
aus den rippen eines da wo dreier herrn land zusammenstiefs (!) begraben
liegenden mannes gemacht war; der todtenhügel bildete den mahlstein.
Pausanias 7, 10 erzählt, den zu Aroe, Antheia und Mesatis wohnenden Ioni-
ern habe ein der Artemis Triklaria heiliger wald und tempel (reuevos za} vacs)
gemeinschaftlich zugestanden: wahrscheinlich liefen auf dieser stelle die ge-
biete der drei gemeinden zusammen und selbst der göttin beiname TgızAagia
ist eben von »A&gos oder »Angos erbland, grundland herzuleiten, wie Diane
und Hecate auch anderwärts trivia und triformis heifsen, ohne dafs ich jedoch
aus griechischen schriftstellern die unsrer deutschen entsprechende sitte des
feierlichen stul oder tischsetzens an dem ort, wo die grenze sich begegnete,
aufzuführen wüste. Die errichtung des göttertisches oder tempels war aber
noch heiliger.
VI. Grenzstreit.
Wenn über eines landes grenze unter nachbarn zwist ausbrach, galt
dieser für einen solchen, den die gemeine kundschaft bald zu schlichten wuste.
Es scheint beachtenswerth, dafs gleich der lateinischen sprache, die hier statt
(') Where three lairds lands meet. Keightley fairy mythology 2, 161.
Philos.-histor. Kl. 1843. S
138 Jacog Grimm:
lis das gelindere jurgium, statt litigare nur jurgare braucht ('), auch die un-
sere von grenzirrungen lieber hader als streit, die ältere aber päga anwen-
det, was einen blofsen zank meint. Schon in einem gedicht des neunten
jahrhunderts (Muspilli 64) finde ich: war ist denne diu marha, dar man dar
&o mit sinen mägon pieh. Darf auch dem griech. Öngiaouas dieser mildere
sinn von jurgo beigelegt werden: «u® ovgamı du dvege ÖngiaanIov Il. 12, 421
von öngıs hader?
Zog sich der streit in die länge, so scheint es im alterthum herkom-
men zu sein, während seiner dauer die stelle des grunds, worüber gehadert
wurde auch schon aus der gewalt des bisherigen besitzers zu setzen. So ver-
fuhr man noch in den westfälischen marken. Möser (werke 6, 45) drückt
sich folgendergestalt aus: wenn zwei marken wegen ihrer grenzen im streit
sind, so macht man den raum, worüber beide theile nicht eins werden kön-
nen, zur streitmark. Beide theile müssen sich dessen mit holzhauen und
plaggenschaufeln enthalten, das beiderseitige vieh aber kann das was darauf
wächst mit dem munde theilen (?).
Reich aber ist unsre volkssage an auskünften, wenn bei abgang aller
kundschaft über die gerechte grenze keine sicherheit zu erlangen ist: dann
schlägt sie mittel vor, die gleich gottesurtheilen schlichten, und auch ohne
zweifel im höhern alterthum durch nichts als gottesurtheile vertreten wurden.
Andere lösung des haders war nicht möglich.
Entweder läfst die sage eigens bestimmte thiere laufen, ein blindes
pferd die grenze ermessen, oder gar einen rückwärts kriechenden krebs durch
seine unregelmäfsigen bewegungen die ecken und winkel hervorbringen, nach
welchen die grenze abgesteckt scheint. Schon unser altes thierepos erzählt,
dafs widder um die grenze ihres grundstücks hadernd gegen einander laufen
sollen und da, wo sie mit den hörnern zusammenstofsen die grenze gesetzt
wird; ungefähr wie eine scholie zu Pindar (Pyth. 4, 6) berichtet, dafs Zeus,
als er den mittelpunct der bewohnten erde genau bestimmen wollte, von bei-
den enden im esten und westen zwei gleichschnelle adler ausfliegen liefs, die
(') Horat. epist. II. 1, 38 excludat jurgia finis. Nonius s. v. jurgium. Rudorff zeitsch.
10, 346.
(?) Bedenklich scheint Mösers annahme, diese streitmark sei im heidenthum durch den
priester feierlich geheiligt worden. Denn die “incerta loca, quae colunt pro sanctis im in-
diculus paganiarum haben schwerlich mit einem rechtsstreit etwas zu schaffen.
deutsche grenzalterthümer. 139
auf der davon benannten nabelstelle zu Delphi zusammentrafen. Dieser hei-
lige öuparcs, ein weilser, wie ein bienenkorb gebildeter stein gab gleichsam
die grenze an (!). In der Schweiz wiederholt sich an mehr als einem ort
die rübrende meldung von einem grenzlauf, den zwei männer aus den strei-
tenden marken vollbrachten. Als die Graubündner von Maienfeld mit dem
fürsten von Lichtenstein uneins wurden, vertrug man sich dahin, dafs zu
gleicher stunde zwei läufer aus beiden orten gegeneinander rennen und da,
wo sie sich begegnen würden, immerwährend diel änder geschieden sein sollen.
Unter grofsem zustrom des versammelten volks brachen zwei rüstige jüuglinge
auf und sparten ihre schritte nicht; aber berganklimmend gewahrte der Mai-
enfelder den von Balzers, der schon den gipfel erstiegen hatte und herab-
eilte. Laut klagend schrie er ihm entgegen; das bewegte dem Balzerner,
der schon viel gewonnen hatte, das herz, und er verhiefs seinem gegner so viel
landes zurückzugeben, als er ihn auf die schulter nehmend im laufe noch
hinantragen würde. Mutig rafte sich der Maienberger auf und klomm mit
der schweren last nicht blofs zur höhe des steilen bergs, sondern auch noch
ein stück auf der andern seite hinab bis dahin wo ein quell in grüner wiese
springt, da sank er ausathmend nieder, und da steht noch heute der mark-
stein, auf der einen seite mit dem fürstlichen wappen, auf der andern mit
der inschrift ‘alt fri Rhätieu’ (?).
Das ist noch schöner ausgeschmückt in der sage von einem grenzstreit
zwischen Uri und Glarus. Biedermänner sprachen aus, zur tag und nacht-
gleiche solle von jedem theil früh morgens beim ersten hankrat ein felsgänger
sich erheben, nach jenseits laufen, und wo beide männer auf einander
stielsen, die grenze bleiben. Jedes volk wählte nun seinen mann und sorg-
sam den hahn, der den tag anzukrähen hatte und sich nicht verschlafen durfte.
Die Urner aber nahmen den habn, setzten ihn in einen korb und gaben ihm
sparsam zu essen und zu saufen, weil sie glaubten hunger und durst müsse
ihn früher wecken. Die Glarner dagegen fütterten und mästeten ihren hahn,
dafs er freudig den frühen morgen grüfse. Als nun der herbst kam und der
bestimmte tag erschien, geschah es, dafs zu Altdorf der schmachtende
hahn zuerst erkrähte, da es kaum dämmerte, und froh brach der Urner fel-
(') Vgl. Pausanias 10, 16.
(?) Alfons von Flugi volkssagen von Graubünden 101.
140 Jaıcog Grimm:
senklimmer gegen die mark auf. Drüben im Linthal stand aber schon die
volle morgenröthe am himmel, die sterne waren erblichen und noch schlief
der fette hahn in guter ruhe; traurig umstand ihn die ganze gemeinde, allein
es galt redlichkeit und keiner wagte ihn zu wecken, endlich schwang er seine
flügel und erkrähte. Wie schwer wird es dem Glarner sein dem behenden
Urner den vorsprung abzugewinnen! Ängstlich sprang er und schaute gen
Scheideck, wehe, da sah er oben am grat schon den mann schreiten und berg-
abwärts niederkommen, aber der Glarner schwang die fersen und wollte sei-
nen leuten noch retten so viel als möglich. Und bald stiefsen die männer
zusammen und der von Uri rief: hier die grenze! Nachbar, sprach betrübt
der von Glarus, gib mir des weidelandes noch ein stück das du errungen
hast. Das erbarmte jenen und er antwortete: so viel du mich an deinem
hals iragend bergan laufen wirst, sei dir gewährt. Da fafste ihn der recht-
schafne senner von Glarus und klomm ein gut stück feldes hinan, manche
iritte gelangen ihm noch, endlich versiegte sein athem und todt sank er zu
boden. Noch heutiges tags zeigen sie das grenzbächlein, bis zu welchem der
einsinkende Glarner den siegreichen Urner getragen habe.
Solche sagen müssen weit in Europa erschollen sein, ein verwandter
zug schlägt an in dem mythus von dem jüngling, der seine geliebte nur um den
preis erwerben soll, dafs er sie auf den schultern tragend einen steilen berg
ersteige, der nun zwar mit den letzten kräften seines lebens die höhe erreicht,
oben aber erschöpft zu boden sinkt: auf diesem gipfel quillt fortan la-
bender brunnen und heilkräftige kräuter entspriefsen (!). Statt der grenz-
scheidung hat hier die fabel eine andere absicht zum grunde gelegt. Allein
das classische alterthum bietet eine näher liegende grenzsage zum vergleiche
dar. Valerius Maximus buch 5 cap. 6 erzählt, dafs einst zwischen Carthago
und Cyrene grenzhader waltete und von beiden städten beliebt wurde zu
gleicher zeit ein paar jünglinge auszusenden: wo sie auf einander träfen sollte
künftig die grenze sein. Da machten zwei Carthager, ein brüderpaar Phi-
laeni mit namen, voll eifers ihrem lande den vortheil zuzuwenden, vor der
anberaumten stunde sich auf den weg und erliefen eine grofse strecke landes
eh sie mit dem boten von Cyrene zusammenstielsen; aber die Cyrenenser ge-
wahrten den trug und wollten in den verlust nur dann willigen, wenn die
(') Lai des deux amans, bei Marie de France und anderwärts.
deutsche grenzalterthümer. 141
Philaenen lebendig sich an der stelle begraben liefsen, wohin sie mit unred-
licher eile vorgedrungen waren. Aus vaterlandsliebe gaben die brüder sich
hin und wurden alsbald in die erde verscharrt. Wiederum weiht ein grab-
hügel die markscheide. Ich habe absichtlich den jüngeren berichterstatter
vorausgeschickt und will dafür Sallusts sorgfältigere darstellung in dessen
eignen worten (bell. jugurth. cap. 79. 81) ausheben: qua tempestate Car-
thaginienses pleraeque Africae imperitabant, Cyrenenses quoque magni at-
que opulenti fuere. Ager in medio arenosus, una specie, neque flumen ne-
que mons erat, qui fines eorum discerneret, quae res eos in diuturno bello
inter se habuit. Postquam utrimque legiones item classes fusae fugataeque
et alteri alteros aliquantum adtriverant, veriti ne mox victos victoresque de-
fessos alius adgrederetur, per indicias sponsionem faciunt, uti certo die le-
gati domo profieiscerentur: ‘quo in loco inter se obvii fuissent, is communis
utriusque populi finis haberetur. Igitur Carthagine duo fratres missi, quibus
nomen Philaenis erat, maturavere iter pergere; Cyrenenses tardius iere. Id
secordiane an casu acciderit parum cognovi. Ceterum solet in illis locis
tempestas haud secus atque in mari retinere. Nam ubi per loca aequalia et
nuda gignentium (!) ventus coortus arenam humo excitavit, ea magna vi agi-
tata ora oculosque implere solet; ita prospectu impedito morari iter. Post-
quam Oyrenenses aliquanto posteriores se vident et ob rem corruptam domi
poenas metuunt, criminari Carthaginienses ante tempus domo digressos,
conturbare rem, denique omnia malle quam victi abire. Sed cum Poeni
aliam conditionem tantummodo aequam peterent, Graeci optionem Carthagi-
niensibus faciunt, vel illi, quos finis populo suo peterent ibi vivi obrueren-
tur, vel eadem conditione sese quem in locum vellent processuros. Philaeni
conditione probata seque vitamque suam reipublicae condonavere. Ita vivi
obruti. Carthaginienses in eo loco Philaenis fratribus aras consecravere alii-
que illis domi honores instituti.
Hier kann sich nun critik der sage üben. Offenbar will Sallust die
im mythus hervorgehobne list der Carthaginienser verwischen und das ver-
späten der Cyrener aus den hemmungen der sandwüste erklären; dessen
bedurfte es nicht einmal, da die grofsmütige hingabe der Philaenen in den
tod alle flecken sühnte. Dies eingraben lebendiger wesen am heiligen ort
(') Flache und kein gewächs hervorbringende gegenden.
142 Jacos Gxrimm: deutsche grenzalterthümer.
der grenze, wie sonst in den grundfesten neu erbauter burgen oder thürme,
welche allein dadurch stätigkeit erlangen können, kehrt auch in deutschen
und slavischen überlieferungen wieder und wird durch nebenumstände auf
das manigfaltigste ausgeschmückt. Der eingegrabne mensch, der begrabne
heros ist das höhere die stätte heiligende wesen, und dafs grabhügel, grab-
steine, wie wir oben sahen, in den begrif der grenzzeichen übergehn, ein-
zelne benennungen beider ganz zusammenfallen, wird uns dadurch verständ-
licher. Volksüberlieferungen melden dafs zu pestzeiten, um der feindlichen
seuche eingang ins land zu wehren, arme kinder oder erkaufte zigeunerkinder
als opfer lebendig auf der grenzscheide in den grund vergraben wurden.
Aber unsere Schweizersagen, welchen zwar das lebendigbegraben des schuld-
freien siegers fremd bleibt, sollten sie dennoch aus römischer quelle geflossen
sein? Valerius zumal war lange im mittelalter gelesen, Heinrich von Müg-
lein hat ihn schon 1369 verdeutscht. Doch zweimal an verschiedner stelle
der Schweiz, wer weils ob nicht öfter, sehen wir und verschieden gestaltet
den mythus erwachsen. Ganz anders ist er in allen fugen gewendet, wir
stehn auf keiner sandfläche sondern athmen reine alpenluft. Gegen jene
punische list und untreue wie sticht der Glarner redlichkeit ab, die den
schlummernden vogel des tags umstehn und zu wecken sich nicht ge-
trauen. Dieser gerade unmittelbar aus dem munde des volks übernommne
zug von den beiden hähnen ist epischer als des Valerius ganze erzählung, und
ein volk, das fremde überlieferungen solcher gestalt zu verschönern fähig
wäre, mufs ohne zweifel auch in sich selbst alle kraft besitzen sie vollständig
und unerborgt zu erzeugen, Es ist besser gethan im ganzen umfang des al-
terthums, seinem recht, seiner poesie und sprache eine gleiche allgemeine
wirksamkeit aller triebe, nach nicht mafsloser doch unermefßslicher fülle ge-
währen zu lassen, als durch zurückführung des einen auf den andern ihnen
willkürliche schranken engherzig zu stecken und eben damit ihr geheimes
und erfreuendes walten abzuschneiden.
Nachtrag zu s.126. Das jütische gesetz 1, 55 redet zwar von solskifte, aber von kei-
ner hammerskifte.
Gedichte des mittelalters auf könig Friedrich 1.
den Staufer und aus seiner so wie der
nächstfolgenden zeit.
von herrn JACOB GRIMM.
mm
[gelesen in der Akademie der wissenschaften am 24. april 1843.]
D.. lange hinhaltenden ruhm, wie ihn volksdichtung fordert und hegt,
haben unter allen königen Deutschlands nur zwei davon getragen: Carl der
grolse und Friedrich Rothbart; man möchte ihnen den ersten Otto zugesel-
len, über dem noch streiflichter der poesie schweben; aber auch hier be-
zeugtsich ein in unsrer geschichte und sprache überwiegendes hochdeutsches
element, welches nicht gestattet um eines sächsischen fürsten haupt strahlen
zu sammeln, wie sie das des Franken und Schwaben umgeben. Zwar be-
hauptet nun Carl den rang weit vor Friedrich, weil er in höheres, dunkleres
alterthum hinaufreicht, auch weil er deutschen und romanischen völkern ge-
meinschaftlicher geworden ist als es Friedrich werden konnte; doch die sage
spielt an beide helden und mengte sie sogar, denn nicht allein Carl, auch
Friedrich sitzt in bergesklüften am tisch, um den sein bart gewachsen ist.
Ein schöner niederschlag viel älterer mythen und lange ein trost für das volk,
dem in zeiten der noth sein gläubiges vertrauen auf dereinstige rückkehr des
siegreichen kaisers, wie den Briten auf die wiederkunft Arturs, unbenom-
men blieb.
Carl liefs die epischen dichtungen des volks sammeln, die in seinen
tagen unverschollen waren; sichtbar schon hängt Friedrich mit einer gedei-
henden kunstpoesie zusammen, die bereits Carl zu pflegen dachte und doch
gar nicht erleben konnte. Das zwölfte jahrhundert sah sie in Deutschland
und Frankreich fast gleichzeitig mit unhemmbarer kraft erwachen, und zu
der pracht königlicher hofhaltungen werden sich neben spielleuten und gauk-
lern damals schon deutsche, provenzalische und lateinische dichter feinerer
144 JacosB Grimm:
ausbildung herangedrängt haben. Soll doch im idiom der meist, wie man weifs,
gibellinisch gesinnten troubadours von Friedrich selbst ein bekanntes, er-
haltnes lied verfafst worden sein; solchen ursprung wird man ihm nicht leicht
einräumen, sichrer sind deutsche minnelieder zweien des königs nachkommen
beigelegt. Aber seine siegesgröfse und freigebigkeit lebten im preis der deut-
schen wie der fremden sänger: ein hehrer tag zu Mainz, pfingsten 1184, wo
der glückliche vater zweien seiner fünf söhne (1) schwert gab, war aus der
erinnerung weder Heinrichs von Veldeck (?), noch Guiots von Provins (?)
zu tilgen; ohne zweifel ertönten zu dem fest auch lieder. Radevicus mel-
det 2, 4 am schlusse des reichstags auf den roncalischen feldern im nov. 1158:
his finitis ea die in vesperam protracta curia solvitur. Fuere etiam qui ibi-
dem in publico facta imperatoris carminibus favorabilibus celebrarent. Das
müssen welsche oder lateinische preislieder gewesen sein, die, als Friedrich
erst sechs jahre geherscht hatte, gesungen wurden; wir werden nachher ein
lateinisches 1162 auf Friedrich verfafstes kennen ‚lernen. Bernard von Ven-
tadour forderte ihn in einem 1159 geschriebnen gedicht auf gegen Mailand,
Pons von Capdeuil in einem späteren von 1188 gedenkt seines kreuzzugs (*).
Ein nordfranzösischer dichter Gautiers von Arras widmete dem könig sein
erzählendes gedicht, lai d’Isle et de Galeron (°). Wie viel ähnliches wird
uns entgangen sein. In Italien blieb il buon Barbarossa, wie ihn Dante (pur-
gatorio 18, 119) nennt, lange zeit dichtern, annalisten und erzählern un-
vergessen.
(') Nach der repkowischen chronik den beiden ältesten: ....... zu der groter hogezit
zu Mainze, da de koninc Henrich in de herzoge Vredrich van Swaven, des kaiser Vredrichs
sun, riddere worden. dat was der groister hogezide eyn dat ey gewart an duytschen lan-
den. da worden geachtet de riddere up xxxxm., ayn ander volc. Ebenso nach der clo-
sterneuburgischen bei Rauch 1, 63: MCLXXXIV curiam celebrem in pentecoste Maguncie ce-
lebravit, in qua duos filios suos Heinricum regem et Fridericum ducem Suevie gladio mili-
tarı accinxit. Auch Lachmann (zu Iwein s. 347) nimmt Heinrichs und Friedrichs swertleite
für die zu Mainz stattgehabte. Philipp der jüngste sohn ward erst 1196 ritter, vgl. Lach-
mann zu Walther 18, 36.
(?) En. 13019-51.
(°) Meon 2, 316.
(*) Diez leben der troubadours s. 33. 260.
(°) Malsmanns Eraclius s. 415. 556.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 445
Es ist für die geschichte der Staufer (!) zu beklagen, dafs ein auf
Friedrich, wahrscheinlich noch im ersten drittel des dreizehnten jahrhun-
derts abgefafstes deutsches gedicht uns gerade verloren gieng. Das bedauern
würde nicht wenig steigen, wenn nähere erwägungen der darüber vorhandnen
nachricht auf einen der ausgezeichnetsten dichter schliefsen lassen sollten.
Ich mufs aber aus der oft gedruckten und besprochnen stelle Rudolfs in sei-
nem 1241 gedichteten Wilhelm die betreffenden worte umständlich anfüh-
ren, weil man einen anstofs, den sie geben, noch gar nicht beachtet zu ha-
ben scheint. Bei aufzählung seiner vorgänger, welche den absichten der
Muse besser als er selbst entsprochen hätten, sagt Rudolf im gespräch mit
dieser: wolde iuch meister Fridane
getihtet hän, sö waeret ir
baz für komen dann an mir;
oder von Absalöne,
haet er iuch alsö schöne
berihtet als diu maere,
wie der edel Stoufeere,
der keiser Friderich verdarp
und lebende höhez lop erwarp.
Alle bisher bekannten und verglichnen handschriften, die Münchner, Hei-
delberger, Stuttgarter, Casseler, Blankenheimer, Haager, stimmen in diesem
(') So muls, wenn der name richtig sein soll, gesagt werden, nicht Staufen, noch we-
niger Hohenstaufen. Stouf ist calix, poculum, von der kelchähnlichen gestalt der berggipfel
oder thürme hiels die burg, des geschlechtes stammsitz (Otto frising. de gestis Frid. 1, 3 in
castro Stouphe dicto). Fredericus de Stoupha hat eine urk. von 1155 MB. 29, 324. 325
und eine von 1166 bei Lacomblet n°. 417; nachher wurde der dat. pl. üblicher. Reinmar
von Zweter MS. 2, 1312 sagt: von Stoufen Friderich, und noch Closener s. 22 Fridreich
von Stoufen. Zuerst in den 1531 geschriebnen anmerkungen Spiegels von Schletstadt zum
Ligurinus p. 447 finde ich comes de Hohenstaufen, wiewol es viel früher vorkommen kann,
da den namen hochgelegner berg und waldgegenden man gern das adj. hohen beifügte (Ho-
henlohe, Hohenstein, Hohenfels, Hohenecke). Staufer gab es noch anderwärts in Deutsch-
land, dem geschlecht der schwäbischen alpe unverwandte, wie in mehrern landschaften berg-
örter den namen Stauf oder Staufen führen, z.b. Stauf an der Donau (Donaustauf) und ein,
ich weils nicht ob davon verschiednes, Stauf im Passauer gebiet, und gerade diese bairischen
Staufer schieben im dreizehnten jahrhundert das hohen vor: Chunradus de Hohenstoufe MB.
29°, 72 (a.1212); Leutoldus de Hohenstoufe MB. 282, 200 (a. 1222), um so passender wird
es den schwäbischen in jener zeit entzogen.
Philos.-histor. Kl. 1843. at
146 Jacog Grimm:
text wesentlich überein, und doch mufs die vierte zeile einen aufmerksamen
leser stutzen machen. Auf sie sich gründend haben in unsrer literargeschichte
ohne weiteres einer nach dem andern einen dichter’des namens von Absa-
lone angenommen, obschon jeder kenner der mittlern und neuen geogra-
phie Deutschlands eingestehn wird, dafs es einen ort, eine burg Absalon we-
der gegeben habe noch gebe, nach welcher ein edles geschlecht, von dem
sich auch in keiner urkunde die geringste spur zeigt, jemals geheifsen hätte.
Wie also wenn dies Absalone auf den gegenstand des gedichts, nicht den
dichter zu beziehen wäre?
Letzteres scheinen dennoch gute gründe anzurathen, und ich will sie
nicht verschweigen. In der ganzen vorausgehenden aufzählung pflegt Rudolf
von einem dichter zum andern gerade mit der partikel oder” fortzuschreiten:
es ist natürlich die worte “oder von Absalone’ in demselben sinn zu fassen.
An etwas anderes mahnt, der für die eritik unsrer alten gedichte alle zahl-
verhältnisse mit so entschiednem erfolge zu handhaben weifs, Lachmanns
scharfsinn. Im Alexander hat Rudolf sechzehn dichter hergezählt; es ist
wenig wahrscheinlich, dafs er im spätern verzeichnis, wobei ihm das früher
gegebne vorschweben muste, nur funfzehn genannt haben sollte. Statt der
unleidlichen lesart für den namen des sechzehners ist Lachmann mit an-
nehmlich klingender besserung zur hand: ‘nicht von Absalöne, aber wol von
Arböne konnte der dichter gebürtig sein, da Rudolf vorzugsweise dichter sei-
ner landschaft nennt und auch sehr unberühmte? Das verlorne und ver-
gessne gedicht soll also durchaus von einem unberühmten herrühren, der
dann geheifsen haben mag wie er will. Arbon ist ein bekanntes altes städt-
chen am Bodensee, nach dem ein ganzer Arbongau benannt wurde, ich wü-
ste nicht, dafs adliche oder ritter davon ihren namen führten. Es läfst sich
nur schwer begreifen, wie aus der rechten lesart Arböne jemals in den ab-
schriften die einstimmige verunstaltung Absalöne entsprungen wäre. Auch
mufs geltend gemacht werden, dafs in allen handschriften ebenso einstimmig
vor den worten “von Absalöne’ das der alten sprache grammatisch unerläfs-
liche pronomen der gebricht: die gedankenlosen abschreiber beruhigten
sich bei dem dichter Absalon und construierten etwa jene worte unstatthaft
zu dem ‘er’ des folgenden verses.
Unter diesen bedenklichkeiten würde es mir auch an funfzehn dich-
tern, zumal Rudolf sonst nicht viel auf zahlen zu geben scheint, genügen,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 147
wenn sich der name Absalon mit dem inhalt eines verlornen gedichts verein-
baren liefse, welches freilich nur durch die annahme möglich wird, dafs in
allen unsern handschriften, die sämtlich von einem und demselben text aus-
gegangen sein müsten, nach dem worte “mir” zwei ganze verse weggefallen
seien. Wird doch auch ein in Wolframs Wilhelm 57,27 fehlendes distich
für alle und so gute handschriften gemutmafst. In unsrer stelle liefse sich
die lücke schnell füllen, wenn bei dem namen Absalön zunächst an den bi-
blischen und an eine darstellung der geschichte Davids und seines sohnes
denken wollte; Rudolf könnte geschrieben haben:
der uns kunde mxere sagen
von Davides kinttagen
oder von Absalöne,
vielleicht auch: der uns kunde tihten
von Davits geschihten
oder von Absalöne,
wobei es frei stände statt des lästigen “oder’ ein blofses ‘und’ zu vermuten.
Doch wie soll dieser dichter an David und Absalon gekommen sein? Ich will
etwas kühneres, gescheidteres rathen. Die geschichte der eignen zeit Fried-
rich Rothbarts wird uns hier besser leiten als das alte testament. Aus deutschen
und dänischen, zumal des Saxo grammaticus berichten, ist bekannt, wie ge-
waltig damals Absalon (71201) der freund und rathgeber könig Waldemars
hervorragte; er wurde in geschäften Waldemars nach Deutschland geschickt,
um bei Friedrich zu unterhandeln, kam aber auch mit Heinrich dem löwen,
Reinold von Cöln und andern ausgezeichneten männern jener zeit in berüh-
rung. Von den thaten dieses dänischen kriegshelden und bischofs mögen
frühe schon manigfache sagen umgegangen sein (!) und sehr wol ist glaublich
dafs sie ein deutscher dichter im beginn des dreizehnten jahrhunderts ver-
nommen hatte und bearbeitete. Da man weils, dafs einheimische, nahe und
halbhistorische stoffe dem geschmack der damaligen wie der folgenden zeit
wenig behagten, so wird begreiflich, warum gedichte dieser art, welche
doch der fähigkeit und darstellungsgabe jener dichter vorzüglich zugesagt
hätten, selten geblieben und beinahe sämtlich verloren gegangen sind. Ge-
setzt nun es bestand wirklich eine solche dichtung, in der Absalon hervor-
(') Vgl. Dahlmanns geschichte von Dänemark 1, 279.
T2
148 Jacos Grimm:
trat, so wäre es leicht ergänzungen der vermuteten lücke aufzufinden, z. b.
folgende: der von dem her der heiden sprach,
wiez dulte manec ungemach
dicke von Absalöne (!);
ohne dafs durch diesen satz die verbindung der folgenden verse mit dem na-
men des dichters gehemmt würde. Die gewagten worte zielen freilich ins
blaue; eine gutes glück müste wollen, dafs das entbehrte gedicht oder eine
ältere vollständige handschrift des Wilhelm von Orlens zum vorschein käme.
Was immerhin an der stelle ursprünglich gestanden habe, der verstüm-
melnde schreiber, der sich nicht darin zu finden wuste, konnte absichtlich
die partikel “oder” einschwärzen, um den schein eines aufgezählten dichters
herbeizuführen.
Man braucht aber nicht einmal eine kecke ergänzung, blofs die noth-
wendigkeit irgend eines bezugs des namens Absalon auf den inhalt des ge-
dichts zu billigen, und es ist eine menge von folgerungen eingeräumt. Fällt
der zwischendichter weg, so wird augenscheinlich Freidank, den wir bis-
her blofs als verfasser des grofsen spruchgedichts kennen, auch in die reihe
erzählender dichter aufgenommen; könnte etwas an sich natürlicher und an-
gemessener scheinen? Das ist klar, dafs Rudolf, seiner absicht nach, hier
blofs aventiurendichter herzählend, den Freidank, wenn wir nichts von ihm
hätten als die Bescheidenheit, gar nicht “in dirre schar’ nennen durfte; jetzt
aber scheint sich alles zu fügen. Freidank findet seinen platz, weil er von
Absalon und kaiser Friedrich dichtete, und wie treffend schicken sich beide
gedichte nebeneinander, beide für ihn. Absalons thaten konnten schwerlich
besungen werden, mindestens von einem Deutschen nicht, ohne dafs Friedrich
und vielleicht Heinrich und Reinold in die geschichte eingewebt wurden,
wer weils ob sie ihr und der ganzen anlage des werks nicht wesentlich wa-
ren? Ein dichter, der sich diesen stof aus einer von ihm selbst noch miter-
lebten oder kurz verwichnen zeit erlas, muste nothwendig dahin geführt wer-
den, die thaten und das leben Friedrichs bis zu dessen ruhmvollem tod zu
behandeln; beide gedichte hiengen innerlich zusammen, ja sie könnten ein
(') Im sinn habe ich die von Saxo gramm. p. 738 ff. (ed. Müller) erzählten vorgänge
der jahre 1158. 1159, vgl. Bartholds gesch. von Rügen und Pommern 2, 152. Giesebrechts
wendische gesch. 3, 92.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 149
und dasselbe werk gebildet haben. Hartmann, Wolfram, Gotfried wurden
blofs durch höfische mythen angeregt, und nie, scheint es, liefsen sie sich
von vaterländischer geschichte oder den eindrücken der gegenwart erwär-
men, die auf viele der damaligen Iyrischen dichter grofse gewalt übte. Frei-
dank, der die fahrt nach dem heiligen land gethan und etwan in Akers
mündliche nachrichten über den tod des grofsen königs eingezogen hatte,
welcher ihm leicht noch von angesicht bekannt war, konnte bevor oder
nachdem er die sprüche gedichtet, aufgelegt und berufen sein, das leben
Friedrichs und andere sagen seiner zeit zu besingen; seiner art und weise
sagten solche stoffe zu. Da von Rudolf alle dichter nach ihrer zeitfolge auf-
geführt sind, auf Veldeck, Hartmann, Wolfram, Gotfried, Blicker, Ulrich
und Wirnt erst Freidank genannt ist, werden seine gedichte wol in die zwan-
ziger jahre des dreizehnten jahrhunderts gefallen sein. In Rudolfs Alexan-
der nimmt er die zehnte stelle unter den sechzehnen ein, zwischen Heinrich
von dem Türlein und Conrad Flecke:
tumpheit sträfen unde spot,
die werlt erkennen, minnen got,
des libes und der selen heil,
wertlicher eren teil
in dirre werlte kurzen tagen
lerte künsteliche bejagen
der sinneriche Frigedane,
dem äne valschen wanc (?valsches underswanc)
elliu rede (der) volge iach
wes er in tiutscher zungen sprach.
Der allgemein gehaltne ausdruck dieser letzten zeile mufs auf mehr als die
blofse spruchsamlung gehn und fordert einen fruchtbarern dichter. Rudolfs
anführungen im Alexander unterscheiden sich von denen im Wilhelm darin,
dafs es hier auf die aventiuren abgesehn ist, die darum jedesmal neben den
namen der meister genannt stehn, dort die dichterische begeisterung über-
haupt ins auge gefafst wird, angabe der werke meist unterbleibt. So wenig
also die einzelnen gedichte Hartmanns oder Wolframs ausgehoben werden,
kann es befremden, dafs auch bei Freidank diesmal keines Absalons und kei-
nes Friedrichs meldung geschah. Unmöglich aber scheint es mir Freidanks
grofsen ruhm überhaupt auf die sprüche einzuschränken, deren guter theil
150 JacoB Grimm:
noch dazu gemeingut und aus dem volk selbst geschöpft und geliehen war.
Nicht einmal sind alle sprüche, die auf seinen namen gehn, in die uns er-
haltne samlung eingelassen, da zu den früher bekannten ergänzungen (!) im-
mer noch andere, jetzt aus der Zürcher handschrift (?) und bei Seifried Hel-
bling sich gesellen. Denn ich pflichte dem herausgeber des letztern gar nicht
bei, wenn er sie s. 246 einem jüngern Freidank beilegen will und des älteren
für unwürdig erklärt; die ausflucht hält nicht stich, nicht nur ist 8, 489. 490
augenscheinlich in der bisherigen samlung, sondern auch der gerügte reim
8, 491.492 wird vollkommen rein, sobald man das unpassende spott in spät
(lähmung) bessert. Es ist auch nicht einzusehn, warum Helblings wieder-
holte angabe, dafs Freidank den vornamen Bernhart führe, unwahr und un-
willkommen sein soll. Gegen die meinung, welche, als sie zuerst aufgestellt
wurde, nicht gering anzog und keines scheins ermangelte, dafs Freidank und
Walther von der Vogelweide ein und derselbe dichter seien, treten nunmehr
zwei, wo nicht entschiedene, doch schwer abzuweisende gründe. Der erste,
dafs Walther ein blofs lyrischer sänger war oder nach Gotfrieds ausdruck
unter die nachtigallen gehört (weshalb auch Rudolf in jenen beiden aufzäh-
lungen seiner geschweigt), Freidank umgekehrt, wie seine grabschrift richtig
meldet, ‘nur sprach, nie sang, nur sprüche und mxere, keine lieder verfafste;
wie wäre ein jüngerer spafs gerade auf diesen zug gerathen? Dann aber, dafs
Walther zu Wirzburg begraben liegt (°), Freidank zu Treviso; ich bin nicht
zweifelsüchtig genug, um das echte, was bei den grabschriften, oder auch
nur der sage von ihnen vorausgesetzt werden mufs, zu verschütten. Freidank
war viel gewandert, die annales colmarienses des dreizehnten Jahrhunderts
sagen ausdrücklich “Frydankus vagus fecit rithmos theutonicos gratiosos’ (*),
er mufs durch den Elsafs oder die umgegend gekommen oder gar daselbst
sefshaft gewesen sein, wie auch aus Rudolfs stellen, der gern nahe dichter
nennt, zu schliefsen wäre, seine gedichte konnten in der damals noch viel
deutscheren Lombardei (°), die ihm zur grabstätte wurde, gunst und beifall
() Freidank s.182 und die im Renner befindlichen stellen.
(2) Haupt 4, 398.
(?) Böhmers fontes rerum germanicarum I]. s. xxxvIL. Haupts zeitschr. 1, 30.
(*) Haupt 4, 573.
(°) Ulrich von Lichtenstein erstreckte seine abenteuerliche fahrt im jahre 1227 noch bis
Meisters (Mestre) und Tervis, wo er mit den leuten fertig werden konnte.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 151
finden; seine bezeichnung als meister” schickt sich nicht für ‘hern’ Walther
v.d.V. Es verlohnte sich ausführlicher zu sein über einen berühmten dich-
ter unsrer vorzeit, dem ich zwar eine glänzende beziehung abgesprochen,
dafür aber zwei andere dichtungen, deren untergang sogar für die deutsche
geschichte des zwölften jahrhunderts unersetzlich scheint, angeeignet habe.
Von Freidank war allem anschein nach nicht blofs Friedrichs tod in dem
strom, sondern der ganze zug gegen die ungläubigen, und vielleicht das
gesamte frühere leben des königs besungen worden. Hatte sein werk diesen
gröfseren umfang, so glaube ich kaum, dafs es mit dem kleinen buch des
Österreichers Ansbert (!) irgend in zusammenhang stand. Rudolf, der spä-
ter seine oft genannte, leider unherausgegebne weltchronik dichtete, mochte
sich schon vorher darauf vorbereitet und nach büchern über die deutschen
könige umgesehn haben, so dafs ihm damals noch ein gedicht auf Friedrich
bekannt sein konnte, das den spätern geschichtschreibern völlig entgieng und
vielleicht Ottokars von Horneck treue der erzählung mit einem weit glänzen-
dern vortrag verband.
In einer der fortsetzungen, vielmehr überarbeitungen der rudolfischen
chronik findet sich ein abenteuer des 'hern Fridreich von Auchenfurt, eines
gesellen kaiser Friedrich des ersten, welches in der Münchner handschrift,
woraus Docen (misc. 2, 159) diese nicht unmerkwürdige nachricht mittheilt,
bald nach dem anfang abbricht. Man sollte es, falls es noch in andern hand-
schriften vorkommt, daraus bekannt machen; dann erst würde sich über sei-
nen geschichtlichen oder dichterischen werth ein urtheil ergeben. Dieser
ritter von Auchenfurt mag, soviel ich sehe, einem bairischen geschlecht
angehört haben, denn ein flüfschen Auch mufs sich zwischen Passau und
Braunau in den Inn ergiefsen. Eine Passauer urkunde von 1259 nennt (MB.
vol. 29° p. 233) einen ort Auchental, in dessen nähe jenes Auchenfurt zu su-
chen wäre (?).
(') Historia de expeditione Friderici imp. edita a quodam austriensi clerico, qui eidem
interfuit, nomine Ansbertus. Prag 1827.
(*) Blofs in die anmerkung verweise ich den titel eines mir noch nicht zur hand ge-
kommnen französischen buchs, in dem eine sage von Friedrich Rothbart enthalten sein könnte:
le chäteau de Frederic Barberousse & Döle, ou le malefice. Chronique du 12° siecle, attri-
bude ä Hues de Brayes Selves, et publice par L. Dusilbet. Lons le Saulnier et Paris 1843.
1494 bogen in 8. Der könig hielt sich öfter in Burgund auf und zu Dole namentlich im
noy. 1157 und sommer 1166 (Böhmers regesta n®. 2379. 2519).
152 Jacos Grimm:
Nach Wilkens verzeichnis der Heidelberger handschriften s. 544 sol-
len im cod. palat. 844 blatt 135-150 bruchstücke eines altdeutschen gedichts
auf Friedrich Rothbart enthalten sein; das liefse kostbaren fund erwarten.
Es ist aber nichts als der bekannte brief des priesters Johann über seine herr-
lichkeiten, der bald an den griechischen kaiser Emanuel (1143-1180), bald
an den deutschen Friedrich gerichtet wird (1), hier, nach dieser letzteren
version, von einem Deutschen zu Königsberg (Ujbanya) in Ungern, wahr-
scheinlich gegen den schlufs des vierzehnten oder schon im funfzehnten jahr-
hundert ziemlich roh und ungeschlacht gedichtet; den namen Oswalt am
schlusse und die jahrzahl 1479 beziehe ich blofs auf den schreiber (?). Will-
kommen scheint dennoch die zuletzt darin enthaltne umständliche meldung,
wie das schreiben des priesters Johannes mit andern geschenken begleitet
über Italien nach Deutschland gelangt, von Friedrich geehrt und durch eine
gegengabe erwiedert wird; der kaiser habe aus den kleinoden ein fingerlein,
das unsichtbar machte, heimlich für sich behalten, und als er späterhin in
des pabstes bann gefallen, diesen ring auf einer jagd an die handgelegt, sei
dann plötzlich verschwunden und nimmer erblickt worden. das gemeine
volk aber glaube an seine dereinstige wiederkehr. Dieser ganze bericht ist
merkwürdig genug um im anhang A mitgetheilt zu werden: augenscheinlich
sind dabei der erste und zweite Friedrich vermengt (°), auf keinen derselben
fügt sich das in der volkssage wol schon früh begründete verschwinden des
königs, dessen ersehnte rückkunft eben aus dem wunder geschlossen wird.
Friedrich 1 ertrank 1190 im Kalykadnus und wurde zu Antiochien begraben,
Friedrich 2 starb 1250 siech zu Luceria und ihm wurde in Sicilien ein präch-
tiges grabmal errichtet. Aus dem gedicht erhellt nicht sicher, welchen könig
der verfasser meint; die kunde vom priester Johann erscholl zuerst in der
mitte des zwölften jahrhunderts und wie an Emanuel ist der brief Johanns
(') Nach beiden formularen, lateinisch und französisch, gedruckt in Jubinals Rutebeuf
2, 444-470.
(2) Ein anderes völlig verschiednes gedicht über denselben gegenstand steht gedruckt in
Haupts altd. blättern 1, 308-324.
(°) Man unterscheidet sonst den ersten durch den beisatz ‘des alten, z. b. in einer
MB. 29, 310 gedruckten chronik heifst es: Eckprecht von Puten, der fuor mit dem alten
chaiser Fridreich gegen Mailan. Das volk hatte lange die redensarten: auf den alten kai-
ser hinein leben, warten, vgl. deutsche mythol. s. 910.
s
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 153
an den gleichzeitigen Friedrich den ersten. Diesen aber traf kein bannstrahl,
Friedrich der zweite wurde zwar nicht von Honorius dem dritten, dagegen
von Gregor dem neunten zweimal, 1227 und 1239, gebannt. Philipp von
Frankreich (1180-1223) schickt sich zu beiden Friedrichen. Der durch lange
jahrhunderte dauernde volksglaube an des geliebten helden verschwinden
und rückkehr (?) konnte sich leichter auf einen im fernen morgenland unge-
wöhnlicher weise in den wellen ertrunknen könig beziehen, als auf den jün-
gern Friedrich, der im bett, wie man wol glaubte, vergiftet starb; doch Jo-
hann von Winterthur, seine chronik in der mitte des vierzehnten jahrhun-
derts schreibend, gedenkt allerdings einer sage, dafs Friedrich der zweite
durch weissagungen erschreckt aus der heimat gewichen sei und mit treuen
dienern in anderm welttheil glücklich lebe; ursache auszuwandern hatte der
im bann von seinen eignen unterthanen gemiedne könig. Der ältere Fried-
rich hingegen eignet sich weit mehr für die volkssage (?) und es könnte sein,
dafs schon dreifsig jahre nach seinem tod das dem Freidank überwiesene ge-
dicht von dem verschwundnen berichtete.
Ich wende mich zu der lateinischen poesie.
Der frühste dichter, von dem man bisher lateinische verse auf Fried-
rich Rothbart kennt, wo nicht schon jene carmina favorabilia (s. 144) aus
dem jahr 1158 lateinische waren, ist Gotfried von Viterbo. Lange zeit
in der kaiserlichen capelle, erst von Conrad dem dritten, dann von Fried-
rich und Heinrich dem sechsten zu geschäften verwandt, ein Welscher, aber
in Bamberg auferzogen und immer den hofhaltungen aus Italien nach Deutsch-
land folgend, hat im xvır. buch seines weitläuftigen pantheons die deutschen
könige, zuletzt also auch Friedrich und dessen ältesten sohn besungen, das
ganze werk ist bis zu 1186 geführt und noch bei Friedrichs lebzeiten vollen-
det. Ein mann der so viel gesehn und gelesen, wie Gotfried, wäre noch zu
reichhaltigeren mittheilungen, als er in dem weitgreifenden buche gibt, ge-
eignet gewesen; aus breiter, mönchischer prosa pflegt er abwechselnd in leo-
(') Deutsche mythologie s. 906-910.
(2) Die cento noyelle antiche, eine ungefähr in der mitte des dreizehnten jahrhunderts
entsprungne samlung, erzählen nov. 20. 21. 22. 23. 88. 98 nur vom ersten Federigo. Nach
der letzten noy. soll er auf den berg des alten (alla montagna del veglio), d. h. zum alten
vom berg, dem herrn der Assassinen gekommen sein.
Philos.-histor. Kl. 1843. U
154 Jacos Grimm:
ninische verse überzugehn und neben historischen berichten verschmäht er
sogar die volkssage nicht; den Deutschen hat er ihre unbeholfenheit abge-
lernt, sich nicht ihr treues vaterländisches gefühl erworben; er hebt von
Friedrich blofs die händel mit den lombardischen städten, den päbsten und
die römische krönung hervor, züge aus dem eigentlichen leben des königs
darf man in solchen, zwar nicht gehaltlosen, aber kahlen und matten schil-
derungen nirgend erwarten.
Ungleich höheren schwung scheint ein andrer zeitgenosse des königs,
der sogenannte Günther in seinem Zigurinus zu nehmen, der ganz eigent-
lich auf die thaten Friedrichs gerichtet und dem königshause selbst, dem kai-
ser mit den fünf söhnen zugeeignet ist. Das gedicht müste nicht vor 1186
fertig geworden sein. Nicht minder als zehn langathmige bücher singen in
fliefsenden hexametern beredt, oft unter angenehm eingestreuten, nur allzu
gelehrten bildern lauter bekannte begebenheiten. Man ermüdet das gesamte
werk zu geniefsen, weil man schnell gewahrt, dafs ihm alles neue und eigne
abgeht, es bietet gar nichts dar als einen baaren auszug aus Otto von Frei-
singen und Radevicus, Friedrichs eigentlichen geschichtschreibern, deren un-
geschminkte einfachere prosa weit gröfsere anziehungskraft hat, als des an-
geblich welschen dichters gemeinplätze. Diese inhaltsleere und armut ist es,
welche den Ligurinus verurtheilt; schlagend ergeben sie sich daraus, dafs
nach 1160, wo ihm die quelle versiegt, aus den fünfundzwanzig späteren jah-
ren er nichts weiter hinzuzusetzen hat und seines helden gröfste begegnisse
verschweigt Was von solchem machwerk urtheilen soll man? Pithou im vor-
bericht zu seinen scriptoren (1569) meint recht naiv, Celtes habe wol die
argumenta librorum hinzugemacht. Dieser oder einer seiner freunde und
genossen könnte den ganzen Ligurinus gedichtet haben, dem mehr der aus-
gang des funfzehnten jahrhunderts als des zwölften zusagt. Keine einzige
handschrift des gedichts ist an den tag gekommen, so wenig als des zu ein-
gang und am schlufs erwähnten Solymarius, worin der kreuzzug unter Con-
rad dem dritten besungen und welcher dem gleichnamigen sohne Friedrichs
gewidmet gewesen sein soll. Des Ligurinus dürfen alle historiker entrathen
und sprachforscher thun recht ihn bei seite zu legen, es sei denn um den
jüngeren stil darin vollends zu gewahren (!).
(') Der verfasser gebärdet sich als könne er die wollautenden städtenamen Magadeburg,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 155
Wie sehr steht von den rohen versen im pantheon, von den geleckten
des Ligurinus ab die einfache natur älterer bisher völlig unbeachtet geblieb-
ner lateinischer gedichte auf Friedrich und seine zeit.
Als ich noch der Göttinger bibliothek vorstand und ihre handschrif-
ten genauer durchsuchte, boten sich mir in einem mehrerlei enthaltenden
octavbande acht lateinische gedichte des mittelalters dar auf pergamentblät-
tern, wie es schien, des dreizehnten Jahrhunderts mit ziemlich nachlässiger
schrift. Ihr inhalt wies allenthalben auf Friedrich Rothbarts heerzüge in Ita-
lien, so wie auf seinen rathgeber und geschäftsführer Reginald von Cöln,
den erzkanzler (!). Sobald ich genauer las überraschten unverkennbare an-
klänge an die weise eines andern und unter anderm namen bekannten dich-
ters jener zeiten, von welchem gleichwol nichts herausgegeben war, was mit
dem hier wahrgenommnen inhalt übereinzutreffen schien.
Unter acht gedichten führen sieben die überschrift archipoeta, ein
ausdruck der bei Ducange, selbst in der neuen ausgabe, nicht einmal ver-
zeichnet ist. Ich stofse auf ihn aber sonst in den dialogen des Caesarius von
Heisterbach, der noch unter Friedrich dem ersten zu Cöln oder in der nach-
barschaft geboren, im jahr 1188 ein knabe war, und im jahr 1222 sein stark
nach dem mönch riechendes aber lesenswerthes buch de miraculis et histo-
riis memorabilibus vollendete. Lib.2 cap. 16 schreibt Caesarius: anno prae-
terito apud Bonnam, vicum dioecesis coloniensis, vagus clericus quidam,
Nicolaus nomine, quem vocant archipoetam, in acutis graviter laboravit, et
cum mori timeret, tam per se ipsum quam per canonicos ejusdem ecclesiae,
ut in ordinem susciperetur, apud abbatem nostrum obtinuit. Quid plura?
cum multa, ut videbatur nobis, contritione tunicam induit, quam facta crisi
celerius exuit, et cum quadam irrisione projiciens aufugit. Was nun heifst
das? Schwerlich konnte einem vagus clericus überhaupt damals die benen-
nung archipoäta zustehn; war es ein bestimmter beiname dieses Nicolaus, so
hätte man statt vocant eher vocabant zu gewarten, welches vielleicht die häu-
Franconefurt, so gut sie sich den fülsen des hexameters bequemen, vor barbarischem klang
nicht hervorbringen, das zu sagen wäre keinem zeitgenossen Friedrichs beigefallen.
(') Die geschichte weils, wie viel dieser bei Friedrich galt und noch nach seinem tod
in dankbarem andenken blieb; man lese die ihm in den schenkungsurkunden für Cöln er-
theilten lobsprüche (Lacomblet n°. 407. 417. 426).
U2
156 Jacos Grimm:
figen handschriften des Caesarius, dem ich eine critische behandlung in den
monumentis historiae Germaniae wünsche, darbieten. Wir werden sehn,
dafs die abfassung unsrer lateinischen gedichte in die sechziger jahre des
zwölften jahrhunderts fällt. Es widerstrebt keiner möglichkeit, wenn der
alte lebensmüde archipoäta vom fieber befallen sich bei den Cistereiensern
(das waren sie zu Heisterbach) hätte aufnehmen lassen, und kaum genesen,
wie ein gezähmtes wild plötzlich wieder in den freien wald lauft, zu der an-
gewöhnten umschweifenden lebensart zurückgekehrt wäre. Wurden die lie-
der, wie man nothwendig annehmen mufs, in schäumender jugend verfafst,
so hätte Nicolaus, etwa zwischen 1145-1150 geboren, als siebzigjähriger greis
zwischen 1215 und 1220 zu Heisterbach können einkehren; genau wissen wir
nicht, welches jahr Caesarius unter anno praeterito meinte, er konnte diese
erzählung niedergeschrieben haben, eh er das übrige buch vollendete. Frei-
lich ein beisatz von senex oder aetatis decrepitae in jenem bericht würde die
vermutung wahrscheinlicher machen und der archipo&ta der gedichte kann
allerdings schon ein vorgänger des niederrheinischen Nicolaus gewesen sein.
Es käme darauf an, archipoeta in andern stellen als einen ausdruck allge-
meiner bedeutung nachzuweisen. Jetzt bin ich blofs im stande ihn aus weit
späterer zeit, nemlich noch der des beginnenden sechzehnten jahrhunderts
beizubringen. Camillo Querno, hofsänger oder hofnarr Leo des zehnten,
führte damals noch den also auch in Italien hergebrachten beinamen archi-
poeta ('), als er einmal dem pabst über sein mühsames amt klagte:
archipoeta facit versus pro mille poöätis,
versetzte Leo alsobald:
et pro mille aliis archipoeta bibit.
Das stimmt völlig schon zu der weise der wandernden sänger in früherer zeit.
Ist nun das erste der acht gedichte zufällig ohne die aufschrift archipoäta ge-
blieben, oder kommt sie ihm nicht zu, weil es allein an mehrere gönner,
die übrigen alle an den einen gerichtet sind, in bezug auf welchen der dich-
ter jenen namen führt? Wir müssen aber noch andere züge und nachrichten
über ihren verfasser aus ihnen gewinnen.
Der dichter stellt sich in diesen nicht nur als einen fahrenden schüler
dar, der mit dem deutschen heer in Welschland herumzieht, sondern er be-
(‘) Flögels geschichte der hofnarren s. 436. 437 wahrscheinlich aus Jovius in vita Leonis X.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 157
schreibt auch selbst seine lebensart und gesinnung in so lebendigen, unver-
holnen zügen, dafs man aus seinen liedern blicke in die damalige zeit wer-
fen kann und aufschlüsse erhält über das, was diesen wandernden, armen
sängern damals gemeinschaftlich gewesen sein mufs. Er erscheint lustig,
verschwenderisch, ausschweifend, lumpig, bettelhaft, der bei jedem anlafs
um geld und kleider fleht und für die erwartete gabe reumütig seinen sünd-
lichen wandel abzulegen verspricht. Dennoch regt sich in ihm ein gewis-
ser stolz, er will mit dem schwarm der gemeinen bänkelsänger und spiel-
leute, die er leccatores (altn. leikarar, warum nicht ahd. leichara?), histrio-
nes, balatrones nennt, unvermengt sein, und scheint sich mit seiner lateini-
schen bildung vorzugsweise an die geistlichen herrn zu schliefsen, ja zwischen
ihm und einem derselben, dem berühmten, am heer wie bei hof einflufsrei-
chen erzkanzler Reinald von Cöln mufs irgend ein näheres verhältnis bestan-
den haben: an Reinald ist gerade der gröfste theil dieser lieder gerichtet.
Ich will vorerst stellen ausheben, die das gesagte beweisen, und dann weiter
mutmafsen. Im vierten gedicht nennt er sich von kriegern stammend (ein
soldatenkind), nicht für bäurische arbeit geschaffen:
fodere non debeo, quia sum scolaris
ortus ex militibus preliandi gnaris;
sed quia me terruit labor militaris
malui Virgilium sequi quam te, Paris,
d.h. ich hätte ein held werden können, wollte aber lieber dichter sein, weil
das kriegshandwerk mich schreckte;
mendicare pudor est, mendicare nolo,
fures multa possident, sed non absque dolo;
quid ergo jam faciam, qui nec agros colo
nec mendicus fieri nec fur esse volo.
Mit dem meiden des bettelns scheint es ihm aber kein rechter ernst, denn
bald darauf heifst es: scribere non valeo, pauper et mendicus
que gessit in Latio cesar Fridericus,
und das erste gedicht hat es noch weniger hehl:
viri digni fama perpetua F
prece vestra complector genua,
nec recedam hinc manu vacua;
fiat pro me collecta mutua,
158 Jıcos Grimm:
es möge für ihn zusammengeschossen werden, eh die versammlung aus ein-
ander gehe. Das dritte beginnt:
omnia tempus habent, et ego breve postulo tempus
ut possim paucos presens tibi reddere versus
electo sacro, presens in tegmine macro; ?
virgineo more non hoc loquor absque rubore.
Der electus ist kein andrer als Reinald, der zum erzbisthum Cöln erwählte
erzkanzler, den er öfter electus Colonie anredet, und dem er hier in aller
eile, um nicht zu belästigen dreiundzwanzig leonine vorträgt, dünn bekleidet
(in tegmine macro), es zielt auf die gabe eines neuen rockes. Im ersten ge-
dicht wird von der traurigen nothwendigkeit geredet, ein kleid, wenn bei-
steuer ausbleibe, zu verkaufen:
si vendatur propter denarium
indumentum quod porto varium,
grande mihi fiet opprobrium;
malo diu pati jejunium:
largissimus largorum omnium
presul dedit mihi hoc pallium,
majus habens in celis premium
quam Martinus, qui dedit medium.
Nunc est opus ut vestra copia
sublevetur vazis inopia:
dent nobiles dona nobilia
aurum, vestes et his similia.
Gold und kleider werden auch in den deutschen gedichten des mittelalters
den sängern vertheilt. Indumentum varium ist was die französischen dichter
jener zeit vair, die deutschen bunt nennen; meist stehen griseum et varium,
vair et gris, grä und bunt neben einander (?); es war die tracht der weltli-
lichen und reichen, der aber auch scholaren und sänger nachstrebten; der
unsrige klagt im vierten gedicht, dafs sie gemeinen bänkelsängern zu theil
werde: doleo, cum video leccatores multos)
& sericis et varüs indumentis cultos.
Ein paar strophen weiter heifst es noch kläglicher:
(‘) grä, hermin unde bunt. Iw. 2193. Wigal. 1703. 9077. Grä unde bunt. Nib. 60, 4.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 159
unde fit, ut aliquid petere presumam,
nudus ego metuens frigus atque brumam,
qui vellus non habeo nec in lecto plumam;
tam libenter mihi det, quam libenter sumam.
Im fünften gedicht:
debes mihi magnum quid in hoc festo dare,
und zu ende des siebenten:
archicancellarü vatem pulsat nuditas,
unde bene meruit mantellum et tunicam.
Im dritten drückt sich der archipoöta folgendergestalt aus:
frigore sive fame tolletur spiritus a me,
asperitas brume necat horriferumque gelu me
in Zali veste'non sto sine fronte penes te.
Dafs nun dieser dichter ein Deutscher, kein Italiener war, läfst
sich fast schon aus dem tadel abnehmen, den er diesen, dem lob, das er je-
nen spendet.
In seinem dritten gedicht, das auge zurück über die alpen in die hei-
mat lenkend, redet er seinen beschützer an:
tu Zransmontanos, vir transmontane, juva nos.
Er nennt sich also selbst einen Nordländer (transmontanus) und das ent-
scheidet. Von Reinald heifst es im siebenten:
tu cum trans alpes famosus, ut hic, habearis,
re famam superas, non a fama superaris;
und im dritten wird deutsche freigebigkeit welscher knauserei entgegengesetzt:
a viris Zeutonicis multa solent dari,
digni sunt pre ceteris laude singulari ;
presules Italie, presules avari,
potius idolatre debent nominari.
Ja im sechsten gedicht macht er die Italiener noch schlechter:
optime vir, cujus soror est amica Minerva,
qua bene cuncta regis, quamyvis in genie proterva.
Und wer weifs, ob sie nicht auch 2, 70 unter den gentes infrunitae gemeint
sind; so seine heimat schelten wird auch kein den fremden gewalthabern
schmeichelnder Welscher. Unsers dichters deutsche abstammung würde
aber kaum einem zweifel unterliegen, wenn er, wie es beinahe scheint, sei-
160 JAcos Grimm:
nem vielgepriesenen vornehmen gönner durch engere bande verbunden, an
dessen prächtigem hofe unterhalten und mit ihm über die alpen gekommen
war. Zu dergleichen annahmen fordert das zweite gedicht auf, in welchem
der dichter unter dem bufsnamen Jonas thränen der reue vor seinem herrn
vergielst und sich zu rechtfertigen versucht über eine unbesonnene flucht,
aus der er nun im drange gröfster noth zurückkehrt. Zumal meine ich fol-
gende stellen: lacrimarum fluit rivus,
quas effundo fugitivus
intra cetum (?) semivivus,
fuus quondam adoptivus.
Und hunc reatum si remittas,
vitans ea, que tu vitas,
poetrias inauditas
scribam tibi, si me ditas.
ut jam loquar manifeste,
paupertatis premor peste
stultus ego, qui penes te
nummis, equis, viclu, veste
dies omnes duxi feste.
Geht hieraus nicht hervor, dafs Reinald sich des armen, vielleicht hübschen
und fähigen knaben, seines adoptivus, d.h. den er zur taufe gehalten hatte
(Ducange s. v. adoptio), ferner annahm, ihn unter sein hofgesinde zog und
in seinem hause heranwachsen liefs? Und bei Reinald, dem gebornen gra-
fen zu Dassel, der seine jugend in Niedersachsen und Hildesheim zugebracht
hatte, aber wol frühe mit Cöln, zu dessen bisthum er hernach erwählt wurde,
in berührung stand, erinnert man sich da nicht wieder jenes an demselben
Niederrhein zu Bonn auftauchenden Nicolaus, der gleich seinem herrn nach
Deutschland heimgekehrt, dort, wer weils es wo, das übrige leben verzehrte,
und lange nach des erzbischofs tode einen versuch des klosterlebens machte?
In allen gedichten nennt er sich vates, poeta, servus des erzkanzlers, dessen
frühe schon 1168 erfolgtes hinscheiden auch des dichters frohste hofnungen
zerstört haben konnte? Soll archipoeta den dichter des archicancellarius
bedeuten, oder allgemein den höfischen, hoffähigen, der im gegensatz zu ge-
(') Im bauche des wallfisches.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 161
meinen spielleuten gleich dem erzschenk, erzkämmerer ein hofamt beim kö-
nig oder fürsten versah? Jenes scheint unterstützt zu werden durch die schon
vorhin gemachte wahrnehmung, dafs die überschrift archipoeta dem ersten
gedicht mangelt.
Doch es ist zeit, ehe wir gewagten mutmafsungen nachhängen, auf die
historischen bezüge, welche die gedichte an hand geben, und auch auf den
könig, den wir fast aus dem auge verloren haben, zurückzukommen.
Bevor ich aber dazu schreite, habe ich eines neuen fundes zu erwäh-
nen, der die zahl der lieder um zwei, und die allerbesten vermehrend, jene
ermittlungen vielfach sichert. Es war schon im allgemeinen zu erwarten,
dafs der wandernde schüler eine weit gröfsere zahl von gedichten, aufser den
bettelliedern an Reinald, verfafst haben und davon noch manches in andern
handschriften aufbewahrt sein müsse.
Eine solche handschrift bewahrte ehmals Stablo und von da war sie
nach Brüssel gelangt, wo sie noch heute vorhanden ist. Das pertzische ar-
chiv 7, 1008 beschreibt sie folgendermafsen: cod. membr. sec. xır, einst
Stablo gehörig, enthält ein buch de arte dictandi unter erzbischof Reinald
von Cöln geschrieben und ein gedicht an kaiser Friedrich I. ‘salve mundi
dominus, cesar noster ave’; dann “estuans interius ira vehementi’ an erzbi-
schof Reinald, “archicancellarie’ an denselben, mit anderer dinte aber von
derselben hand geschrieben.
Wir befinden uns hier ausgemacht auf dem felde der Göttinger ge-
dichte, unter denselben leuten, und kein zweifel, dafs die angeführten drei
gedichte von dem verfasser jener acht ausgegangen sind, obgleich hier der
name archipoäta völlig fehlt. Herr von Reiffenberg hat im bulletin de l’aca-
demie royale de Bruxelles tome 9 (1842) n°. 5 die drei gedichte herausgege-
ben. Das letzte derselben ist das siebente der Göttinger samlung, nur un-
vollständiger, dagegen das zweite (schon aus Aretins beiträgen 9, 1318-1322
bekannt) mit dem Göttinger vierten sechs strophen gemein hat, das erste gar
nicht unter den stücken der Göttinger handschrift enthalten ist. Ich füge die
beiden ersten, in berichtigtem text, meiner ausgabe der acht gedichte als
neuntes und zehntes hinzu.
Alle zehn mögen in den jahren 1162 bis 1165 verfafst worden sein;
später als 1167 könnte schon darum keins derselben fallen, weil im herbst
dieses jahrs erzbischof Reinald, der in allen als lebend vorausgesetzt wird,
Philos.- histor. Kl. 1843. X
162 { Jıcog Grimm:
auf dem gipfel seines ruhms einer bösen seuche erlag. Zwei andere gedichte
aber erwähnen des niederbruchs der mauern Mailands, der im merz 1162
nach der zweiten einnahme der stadt erfolgte:
adhuc starent menia Mediolanensium,
nec cesar per prelia victor esset hostium,
nisi dei gratia te dedisset socium,
ruft, stark schmeichelnd, seinem gönner unser dichter zu. Zwar einige der
übrigen gedichte dürften vor 1162 entsprungen sein, da Reinald schon im
october 1157 auf dem reichstag zu Besancon des königs geschäft besorgte,
und von dieser zeit an ununterbrochen die seele der reichsverwaltung blieb.
Genau weifs ich nicht, wann Reinald das canzleramt zuerst versah, sicher
schon 1156 (!), electus Coloniae heifsen konnte er nur seit 1158, in welchem
jahr diese vom pabst gemisbilligte wahl erfolgte (*); sein vorgänger Friedrich
von Altenau starb 1159. Immer aber zögerte die päbstliche weihe, und erst
im mai 1165 auf dem Wirzburger reichstag empfieng er sie aus Paschalis
händen und leistete den eid. Zwischen 1158 und 1165 gebührt ihm also der
titel Coloniensium electus (?), und archicancellarius (per Italiam) konnte er
ebensowol sein, archiepiscopus aber nur seit jenem Wirzburger tage heifsen (*).
Da nun der dichter ihn archicancellarius, nicht archiepiscopus (aber praesul)
anredet, so sind diese lieder sämtlich vor 1165 zu setzen. Auch rührt schwer-
lich eins von ihnen noch aus dem jahr 1167; es würde sonst kaum unterlas-
sen worden sein, des von Reinald über die Römer erfochtnen siegs und des
einzugs der Deutschen in Rom (30. juli 1167) meldung zu thun. Friedrich
war vom herbst 1164 bis zum herbst 1166 in Deutschland, die gedichte wur-
den aber auf welschem boden abgefafst: ich möchte die meisten in das spät-
jahr 1162 oder zwischen den herbst 1163 und 1164 legen.
Die übersicht der einzelnen stücke wird noch einiges besondere dar-
bieten.
(!) Urkunde a. 1156 bei Lacomblet n°. 389. Die fast unentbehrlichen canzlernamen sind
uns in den böhmerschen regesten noch nicht verzeichnet.
(?) Von Raumers Hohenstaufen 2, 109.
(°) Urkunde von 1164 bei Lacomblet n°. 407.
(*) Urkunde vom 11. dec. 1165 bei Lacomblet n°. 410.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 163
Das erste gedicht beginnend ‘lingua balbus, hebes ingenio’ leitet aus
frommen betrachtungen die mit höchst weltlichem gebet schliefsende bitte
um unterstützung des dürftigen dichters, historische bezüge gewährt es keine.
Es ist auch das einzige, was weder an Reinald noch an Friedrich, sonderu an
mehrere höhere geistliche zusammen gerichtet wird; doch meint es unter
dem largissimus praesul jenen ersten.
Das zweite ‘fama tuba dante sonum’ könnte auf den ersten blick an
den kaiser selbst sich wenden, nicht an Reinald, denn es fährt fort:
excitata vox preconum
clamat viris regionum
advenire virum bonum,
patrem pacis et patronum,
cui Vienna parat thronum.
multitudo marchionum,
turba strepens histrionum
jam conformat tono tonum,
genus omne balatronum
intrat ante diem nonum,
quisque sperat grande donum,
hier wird ein öffentliches fest geschildert, zu welchem adel, sänger und spiel-
leute herbeiströmen, gegen die der niedergebeugte, von seiner flucht zurück-
kehrende dichter absticht. Doch die geschichte meldet uns von keinem zu
Vienne, der geistlichen hauptstadt Burgunds gehaltnen reichstag. Seit seiner
vermählung mit Beatrix von Burgund im jahr 1156 hatte Friedrich oft ver-
anlassung sich in diesem königreich aufzuhalten und dessen abhängigkeit von
der deutschen krone zu festigen; gleich 1157 war ein grofser tag zu Besan-
con (1) und aus Böhmers regesten ersieht man, dafs der könig damals vom
24. oct. bis ende nov. in Burgund verweilte, während dieser zeit konnte ihm
auch ein fest zu Vienne veranstaltet worden sein, dessen weder Radevicus
noch andere erwähnen. Da aber der verfolg des gedichts deutlich auf Rei-
(') Im Ligurinus, aber auch in urkunden jener zeit (Pertz 4, 179) heifst diese stadt
Chrysopolis; ich glaube man bezog die form Bisuntium, Bisantium auf bysantes, byzantes,
die goldmünzen.
xX2
164 Jaıcos Grimm:
nald geht und die worte "esto vati tuo mitis’ für den könig nicht passen, so
wäre ich geneigt den festtag überhaupt für Reinald gelten zu lassen, der, wie
wir sahen, schon 1157 unter den Burgunden gewaltig aufgetreten war, 1162
den könig nach Burgund begleitete, als die zusammenkunft mit könig Ludwig
von Frankreich an der Saone (!) verabredet war, und diesem zu Lovigennes
rede stand. Die burgundischen geistlichen mochten grund genug haben,
Reinald, des kaisers rechte hand, auf dessen namen (Reginaldus) im vierten
liede unser dichter anspielt:
a regni negotio nomen est sortitus,
festlich zu ehren, und sie durften ihn schon pater pacis, pacis auctor, ultor
litis nennen.
In dem dritten gedicht (“omnia tempus habent et ego breve postulo
tempus’) drückt der archipoeta, diesem eingang treu bleibend, in wenigen
versen dem hohen gönner seine bittere armut aus.
Ungleich bedeutsamer erscheint das vierte gedicht, es läfst uns tiefer
blicken in die seele dieses wunderlichen sängers:
archicancellarie, vir discrete mentis,
cujus cor non agitur levitatis ventis
aut morem transgreditur viri sapientis,
non est in me forsitan id quod de me sentis.
audi preces, domine, veniam petentis,
exaudi suspiria gemitusque flentis,
et opus impositum ferre non valenlis,
quod probare potero multis argumentis,
er hat das ihm aufgetragne, übernommne versäumt und hascht nach ent-
schuldigungen:
jubes angustissimo spatio dierum
me tractare seriem augustarum rerum,
quas neque Virgilium posse nec Homerum
annis quinque scribere constat esse verum.
vis et infra circulum parve septimane
bella scribam fortia breviter et nane,
(‘) Auf den 29. august; sie kam aber nicht zu stande (v. Raumers Hohenstaufen 2, 151.
152), obwol eine urkunde MB. 10, 17 angibt, dals sie an diesem tag stattgefunden habe.
gedichte des mittelaliers auf könig Friedrich I. den Staufer. 165
que vix in quinquennio scriberes, Lucane,
vel tu vatum maxime, Maro mantuane.
Man sei nicht immer zu dichten aufgelegt, sondern müsse begeisterung ab-
warten: aliquando facio versus mille cito,
et tunc nulli cederem versuum perito,
sed post tempus modicum, cerebro sopito,
versus a me fugiunt carminis oblito.
Ihm thue Reinalds huld und beistand noth:
scribere non valeo pauper et mendicus
que gessil in Latio cesar Fredericus,
qualiter subactus est tuscus inimicus,
preter te ('), qui cesaris integer amicus.
Die weitere und eigentlich poetische auseinandersetzung ist aber mit der im
zehnten lied enthaltnen umdichtung so genau verwebt, dafs ich hernach dar-
auf werde zurückkommen. Nur hier die schlufsstrophe noch:
archicancellarie, spes et vita mea,
in quo mens est Nestoris et vox ulixea,
Christus tibi tribuat annos et trophea,
et nobis facundiam, ut scribamus ea.
Der dichter war also beauftragt, angestellt von dem erzkanzler, die thaten
Friedrichs in Welschland zu besingen, und es ist nicht zu bezweifeln, dafs er,
dem die verse leicht flossen, öfter dazu die feder angesetzt haben werde,
wenn er auch, wie es scheint, seinem beschützer nicht fleifsig genug ar-
beitete. Im neunten gedicht hat von seinem beruf und talent glänzende
probe abgelegt.
Auch das fünfte (‘nocte quadam sabbati somno jam refectus’) sehn
wir wiederum an Reinald gerichtet und eine art von vision beschreiben, nach
welcher, bei nächtlicher weile in den himmel entzückt, archipo&@ta unaus-
sprechliche geheimnisse erkundet habe, unter andern dafs dem erzkanzler
ein schutzengel zur seite stehe, unter dessen geleit er schlachten gewinne
und auch in bälde den sicilischen könig überwinden werde:
per hune regnum Siculi fiet tui juris,
ad radicem arboris ponitur securis;
(') Ohne dich (wan dü) vermag ich nicht zu schreiben.
166 JAacos Grimm:
tyrannus extollitur et est sine curis,
sed ejus interitus venit instar furis.
Aussicht, könig Wilhelm von Sicilien, der feindlich gegen Friedrich es mit
dem pabst hielt, mochte nach 1162 mehrmals, besonders lebhaft freilich erst
1166. 1167 auftauchen; auch im neunten gedicht heifst es:
jam tiranno siculo Siculi detrectant,
Siculi te sitiunt, cesar, et exspectant,
jam libenter Apuli tibi genuflectant,
mirantur quid detinet, oculos humectant.
Doch in jener himlischen gesellschaft, denn er wolle nicht schmeicheln, son-
dern wahrheit einschenken, habe plötzlich der heilige Martin sich erhoben
und vor gott über Reinald klage erheben wollen, nur durch des dichters in-
brünstiges weinen sei er davon abgestanden. Wach geworden von diesem
seinem eignen heifsen weinen, flehe er nun Reinalden, mit dem heiligen Mar-
tin sich auszusöhnen: das sei mehr werth als des Palatinus freundschaft.
Dies ist nun der bekannte pfalzgraf Otto von Wittelsbach, der vereint
mit Reinald so mächtig dazu hingewirkt hatte das kaiserliche ansehn in Ita-
lien zu erhöhen. Wer, wenn er Radevicus gelesen hat, entsinnt sich nicht
der bewegten schilderung, die in dessen buch 1,18 von beiden genossen ent-
worfen ist? Inerat utique his praeclaris viris personarum spectabilitas gra-
tiosa, generis nobilitas, ingenium sapientia validum, animi imperterriti, quippe,
ut alias de quibusdam dieitur, quibus nullus labor insolitus, non locus ullus
asper, non armatus hostis formidolosus. Nullius sibi delieti, nullius libidinis
gratiam faciebant. Laudis avidi, pecuniae liberales erant, gloriam ingentem,
divitias honestas volebant. Aetas juvenilis, eloquentia mirabilis, prope mo-
ribus aequales, praeter quod uni ex officio et ordine clericali necessaria in-
erat mansuetudo et misericordia, alteri, quem non sine causa portabat, gla-
dii severitas dignitatem addiderat. His moribus talibusque studiis sibi lau-
dem, imperio gloriam et utilitates non modicas domi militiaeque peperere,
adeo quod tune temporis pene nihil ingens, nullum exquisitum virtutis faci-
nus in ea expeditione gestum est, in quo has heroas aut primos aut de primis
non compererim extitisse. Und wer glaubt wol, dafs Reinald der laune sei-
nes dichters, den Otto, wie 22,4. 23,4 gesagt ist, durch aufschlagen des
weins geärgert hatte, irgend werde nachgegeben haben? Anführungswerth
ist auch die schlufsstrophe noch:
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 167
interim me dominus juxta psalmum David
regit, et in pascue claustro collocavit,
hie michi, non aliis, vinum habundavit,
abbas bonus pastor est, et me bene pavit.
Psalm 22,1 hiefs es: dominus regit me et nihil mihi deerit, in loco pascue
ibi me collocavit. Es scheint, der dichter war eine zeitlang dem abt eines
klosters empfohlen, in dem es ihm wol gieng.
Im sechsten gedicht (‘en habeo versus te precipiente reversus’) er-
zählt er aber von seinem aufenthalt zu Salerno, mit dem er weit weni-
ger zufrieden ist:
dum sapiens fieri cupio medicusque videri,
insipiens factus sum mendicare coactus,
nunc mendicorum socius sum, non medicorum.
Den unruhigen sänger hatte es über die Lombardei hinaus nach Salerno un-
ter die ärzte getrieben; wollte er arzneikunde erlernen oder sich heilen las-
sen? Es scheint ihm aber dort nicht gelungen zu sein.
Das siebente, beginnend ‘archicancellarie viris major ceteris’ befin-
det sich zu Göttingen und Brüssel, doch hat der letztere codex nur die funf-
zehn ersten verse, jener noch achtzehn mehr. Es sind blofse lobsprüche auf
Reinald und bitte um gaben.
Vom achten, ‘presul urbis Agrippine’ sind in dem Göttinger codex
nur die sechs ersten verse enthalten, der damit abbricht. Keine bekannte
andere handschrift gewährt das weitere.
Das neunte gedicht ist ausdrücklich an den kaiser nach der einnahme
von Mailand 1162 selbst gerichtet und eins von denen, durch welche der
dichter den ihm gewordnen ehrenvollen auftrag rechtfertigte. Es beginnt:
salve mundi domine, cesar noster ave,
cujus bonis omnibus jugum est suave,
und schildert mit dichterischer kraft die macht des kaisers und den gestraften
übermut Mailands, wogegen Pavia und Noyara als unterwürfig gepriesen wer-
den; der letzten stadt weissagt er ewige dauer, da sie nun durch sein lied
verjüngt sei. Dem siegreichen Friedrich, dessen ruhm mit rosses schnellig-
keit fliege (1), habe jedoch der erzkanzler den weg gebahnt:
(') Ecus dem reim zu liebe — equus.
168 JacoB Grimm:
ipse Jugo cesaris terram subjugavit
et me de miserie lacu liberavit.
Ich führe die stelle ausdrücklich an, wenn jemand bezweifeln wollte, dafs
das lied von dem verfasser der acht vorhergehenden ausgegangen sei, deren
art und weise es nirgend verleugnet.
Wir schreiten fort zu dem zehnten lied, dessen reicher inhalt, dessen
eigenthümliche berührung mit dem vierten aufschlüsse über den verfasser
herbeiführen und uns die ganze art und weise dieser poesie genauer enthüllen
soll. Im vierten nemlich schien sich der dichter vor dem kanzler, der ihn
der saumseligkeit geziehen haben mochte, zu rechtfertigen. Von den 32 stro-
phen des vierten gedichts kehren nun sechs auch in dem zehnten wieder,
das ihrer überhaupt nur 25 zählt; aufser den sechs ihnen beiden gemein-
schaftlichen hat demnach das vierte 26, das zehnte 21 eigne, woraus folgt,
dafs, wäre man berechtigt beide bearbeitungen zu verschmelzen, das ganze
53 strophen bilden würde. Solche verschmelzung wäre aber unzulässig,
gleichwol bekennen sich beide recensionen zu demselben dichter, der seinen
ersten entwurf hernach wieder umzugielsen sich veranlafst fühlte. Beide das
vierte wie zehnte wurden augenscheinlich nur für den erzkanzler gedichtet,
und in jedem ist er ausdrücklich angeredet, die vertheidigung scheint aber im
zehnten ofner und vollständiger angelegt; ich wage nicht zu bestimmen, wel-
che fassung als die erste oder zweite anzusehn sei, in der des vierten gedichts
ist mehr rückhalt. Im zehnten klagt sich der dichter selbst an, dafs ihn drei
dinge ('), frauenliebe, spiel und wein zu grunde richten, ohne wein er aber
verse zu machen nicht vermöge. Das vierte äufsert sich ausführlicher gegen
der gemeinen bänkelsänger unwürdigkeit. Alle diese geständnisse sind in
solcher fülle und behendigkeit der sprache abgelegt, dafs sie jeden zweifel
an dem wahrhaftigen beruf ihres verfassers für die poesie niederschlagen:
sie scheinen mir das vollendetste was mittellateinische mit ihren mitteln über-
haupt hervorbringen konnte; flufs und wollaut der rede, die gewalt des
reims sind unvergleichlich.
Kaum aber wird einem, der diese strophen hat vorlesen hören, etwas
nicht einfallen. Einige gerade der schönsten sind unserm gedächtnis lange
eingeprägt, und werden in der literargeschichte, wie wir jetzt erkennen, aus
(') Die drei bekannten W: weiber, würfel, wein.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 169
ihrem lebendigen zusammenhang, in dem sie mit Friedrich und Reinald
stehn, gerissen, einem englischen dichter beigemessen, dessen name allen
ruhm davon getragen hat, während der des wahren verschollen blieb. Seit
Balaeus und Flacius, der hier alles nur aus jenem hat, gehen lateinische
gedichte um eines Walterus Mapes oder auch Golias, der in der zweiten
hälfte des zwölften und im beginn des dreizehnten jahrhunderts, gerade un-
sers dichters zeitgenosse, gelebt haben soll. Das verhältnis hat in der that
etwas räthselhaftes. Zuvörderst Golias ist gar kein eigenname, appellati-
visch bezeichnet es eben solch einen umschweifenden sänger, wie ich ihn
unter dem ausdruck archipoöta geschildert habe. Wer weils, ob irgend da-
bei an den riesen Golias oder Goliath des A. T. gedacht wurde, der bei volks-
spielen und processionen des mittelalters oft eine rolle zu spielen hatte; aber
gleichbedeutig findet sich auch geschrieben Goliardus, und das romanische
gouliard, goulard soll gourmand, glouton, debauche@ bedeuten, würde also
für solche vaganten taugen. Die grandes chroniques du Hainaut stellen ‘jon-
gleurs ou gouliars’ zusammen (!). Erst vor einigen jahren ist gerade in Eng-
land hand gelegt worden an eine vollständige ausgabe aller lateinischen ge-
dichte, welche diesem Golias, oder Walter Mapes zugeschrieben werden: the
latin poems commonly attributed to Falter Mapes collected and edited by
Thomas Wright, London printed for the Camden society 1841. xuıx und
3715. 8°. Zu den bekannten nachrichten (?) gewährt des vielgeschäftigen
herausgebers neue untersuchung sehr dankenswerthe beiträge. Walter soll ca-
nonicus von Salisbury, 1196 vorsinger der kirche zu Lincoln, 1198 archidia-
conus von Oxford gewesen sein und noch 1210 gelebt haben. Das älteste zeug-
nis scheint Giraldus cambrensis in seinem ungedruckten speculum ecelesiae
zu liefern, wonach (man lese die im anhang D ausgehobnen worte des ori-
ginals) Walter Map oder Mapus mit Giraldus selbst befreundet, könig
Heinrich des zweiten günstling und kaplan, ja eine zierde des hofes war.
Heinrich der zweite herschte von 1154 bis 1189, Girald, geboren 1146, mufs
erst zu beginn des dreizehnten Jahrhunderts gestorben sein, weil er seine Hi-
bernia expugnata noch dem könig Johann (reg. von 1199 bis 1216) zueignete.
(‘) Angeführt in Barrois ausgabe des Ogier. Paris 1842 vorrede s. LI.
(*) Cave script. ecel. 2, 281. Oudin 2, 1645. Fabricii bibl. lat. med. aevi 3, 117
(ed. Mansi).
Philos.--histor. Kl. 1843. %
170 Jacog Grimm:
Die vorrede dieser Hibernia beklagt aber bereits in folgenden worten Wal-
thers tod: unde et vir eloquio clerus MWalterus Mapus archidiaconus (cujus
animae propicietur deus) solita verborum facetia et urbanitate praecipua di-
cere pluries et nos in hunc modum convenire solebat: “multa magister Gi-
valde scripsistis et multum adhue scribitis, ei nos multa diximus, vos scripta
dedistis, ei nos verba’ - Mapus gibt sich hier selbst mehr für einen lebendi-
gen dichter oder sprecher (!), dessen worte nicht in die feder genommen
werden, als für einen schriftsteller. Gleichwol sind ihm verschiedne, sämt-
lich ungedruckte, kaum alle handschriftlich vorräthige prosaschriften beige-
legt, ein buch de nugis curialium (wo nicht gar der bekannte Policraticus
des etwas älteren Joannes sarisberiensis, geb. 1110 + 1182), ein tractat “Va-
lerius ad Rufinum de non ducenda uxore, worauf ich zurückkommen werde,
sogar die abfassung eines oder mehrerer romane von der tafelrunde, wor-
über wir gar keine sichere gewähr besitzen. Aus den im anhang B mitge-
theilten stellen des roman de Lancelot ergibt sich allerdings, dafs diese in
die geschichte des heiligen graal und des todes von könig Artus überlau-
fende fabel von meister Gautiers auf befehl könig Heinrichs geschrieben
wurde. Das steht schon mit jener eignen aussage Walters, dafs er nichts ge-
schrieben habe, in widerspruch, und es wäre aufserdem die frage, ob er sich
dazu der lateinischen, ihm nach den liedern geläufigen sprache oder der fran-
zösischen bediente? So viel ist klar, dafs die in den handschriften des Lan-
celot vorliegende prosa nicht in den schlufs des zwölften jahrhunderts zu-
rückreicht. Noch verworrener wird die sache durch die von Rustieien de
Pise und Luces du Gast über die abfassung des Roman de Tristan gegebnen
nachrichten, in deren erster Gautier herr und ritter heifst, was sich mit sei-
ner geistlichen würde nicht verträgt. Die worte “qui fist le propre livre de
latin’ könnten wol bedeuten: der das eigentliche lateinische buch machte,
den herausgebern der hist. litt. de France 15, 497 sagen sie aus: qui tradui-
sit du latin le livre meme, es heifst aber nicht du sondern de latin, und faire
de latin darf wol ausdrücken: latine, en latin. Ein lateinischer text aller
dieser romane hat sich indessen nirgends erhalten, die übersetzungen sind in
vielen abschriften, obgleich jüngeren texten verbreitet. Wie man insgemein
(') “der ie sprach und niht enschreip könnte man’ übersetzen, in unwillkürlicher erin-
nerung an Freidanks angebliche grabschrift zu Treviso (s. 150).
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 171
nichts sicheres weils über Rustieian, Luces, Robert und die eigentliche be-
schaffenheit ihrer arbeiten, scheint auch alles, was sie von Gautier Map mel-
den, sagenhaft und verdächtig. Der canonicus, praecentor und archidiaco-
nus war niemals ritter und schrieb wahrscheinlich keine romane; sein archi-
diaconat soll er 1198 oder 1197 empfangen haben, auch, was uns besonders
wichtig sein muls, in Rom gewesen sein zur zeit des streites zwischen seinem
freunde Girald und Hubert, dem erzbischof von Canterbury: in welches jahr
dieser streit fiel, vermag ich jetzt nicht anzugeben. Wenn Fauriel (de l’ori-
gine de l’epopee chevaleresque p. 68) dem Walter Map auch eine galische,
d.h. welsche übersetzung der lateinischen chronik des Galfrid von Monmouth,
nach dessen eigner angabe, beilegt, so ist das an sich sowol als der zeit nach
unglaublich, da der bischof von Asaph sein bekanntes werk bereits 1138 vol-
lendete, Walter vierzig oder funfzig jahre später blühte. Galfrid erklärt zu
eingang und am schlufs dieses buchs, dafs Walter archidiaconus von Oxford
ihm eine britische chronik aus der Bretagne mitgebracht habe, nach welcher
er übersetze. Der name Walter war in England häufig, dieser mufs ein mit
Galfrid gleichzeitiger älterer gewesen sein und soll Walter Calenius gehei-
fsen haben (1). Britische abkunft auch bei dem jüngern Walter vorauszuse-
tzen nöthigt übrigens schon sein zuname Map, der entweder aus dem wel-
schen und armorischen mab filius (irish mac) oder aus einer von diesem ver-
wandtschaftsbegrif abgeleiteten würde zu erklären ist. Beispiele führt Du-
cange s. v. mepe aus demselben Galfrid von Monmouth an.
Wie nun aber die auffallende erscheinung deuten, dafs einzelne stro-
phen und lieder dieses englischen Walther Map völlig eins sind mit denen
unseres archipoöta?
Wright s. xvır seiner einleitung sagt, der name Walthers zeige sich in
keiner handschrift der lateinischen gedichte vor dem vierzehnten jahrhun-
dert, und merkwürdig ist, dafs von dieser zeit an Galterus, Gauterus (nirgend
steht Map daneben) gesetzt wird, wo andere, wie es scheint, ältere hand-
schriften Golias gewähren, man vgl. s. 80.82 der wrightischen ausgabe.
Wright ahnt noch gar nicht den bezug, worin das bei ihm s. 71-75
unter der aufschrift confessio Goliae eingerückte gedicht “aestuans interius
(') Douce zu Warton 1,199, vgl. Lappenbergs engl. gesch. 1, xL und A. W. Schlegels
essais p. 382.
Y2
172 Jacos Grimm:
ira vehementi’ auf Friedrich und Reinald stehn ; wie hätte er ihn sollen wis-
sen, da in den englischen handschriften gerade alle übrigen unserm archipo-
eta gehörigen lieder mangeln? Aus Wright nun auch der rubrik des Brüsse-
ler codex “poete confessio’ ein "Goliae’ beizufügen liefs sich Reiffenberg ver-
führen: es mufs auf alle weise gemieden werden.
In demselben liede sehen wir aber statt der beiden an unsern electus
Coloniae gerichteten strophen, in einigen (nicht allen) englischen handschrif-
ten die folgende eingeschwärzt:
presul Coventrensium, parce confitenti,
fac misericordiam veniam petenti,
et da penitentiam culpas sie dicenti;
feram quicquid jusseris animo libenti.
Hiermit scheint sich ein knote zu lösen. In des archipoita liedern ist keine
spur, dafs er englischer abstammung gewesen, für seine herkunft aus Deutsch-
land habe ich gründe aufgestellt. Niemals in den deutschen handschriften
wird jenes Golias der englischen gebraucht, wie umgekehrt den ausdruck
archipoöta diese meiden. Unsre lieder sind durchdrungen von Welschland,
Friedrich, Reinald: das ist in den englischen handschriften getilgt; stehn
geblieben scheinen genug anspielungen auf Italien, die in England eher ver-
standen werden konnten.
Es hätte doch viel oder alles gegen sich auf die vermutung zu fallen,
unser archipoeta habe seit Reinald seines beschützers tod sich nach England
gewandt nnd dort unter dem namen Walther, welcher sogar sein eigner, den
wir noch nicht kennen, gewesen sein könnte, eine gröfsere rolle gespielt.
Dazu würde schon der beiname Map nicht stimmen; bei Giraldus und an-
dern, die von Map zeugen, hätte sich doch irgend eine anspielung auf den
Deutschen, in seinen liedern hätte sich gewis das andenken an Friedrich und
Reinald treuer bewahrt. Viel statthafter wäre es, eine reise oder wander-
schaft des Engländers nach Italien anzunehmen, und dann liefse sich wie-
derum mancherlei denken. Entweder kam er als jüngling zu dem deutschen
heer, in Reinalds gefolge, und er war es, der dort diese lieder dichtete; aber
auch dann würde er später und in die heimat zurückgekehrt nicht bestrebt
gewesen sein, jene spuren seines umgangs mit den Deutschen zu tilgen. Oder
der wandernde Engländer bekam zur zeit seines uns gemeldeten aufenthalts
in Rom die lieder des archipoöta zu gesicht, fand geschmack daran und eig-
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 173
nete sich das schönste derselben an, indem er es unter seine eignen ähnli-
chen poesien mengte. Statt des electus coloniensis schaltete er aber seinen
bischof von Coventry ein, von dem das ursprüngliche gedicht kein sterbens-
wörtchen weifs. Oder drittens, erst späterhin nach Walthers tod wurden
von latein dichtenden geistlichen, wie man ihm die abfassung des Lancelot
beilegte, auch die zechlieder auf ihn übertragen und statt Reinalds der von
Coventry eingeschwärzt.
Wie die volkssage von ort zu ort, von namen auf namen übergeht,
scheinen auch schon unter den dichtern des mittelalters, aber mit bewuster
absicht weisen und lieder entwendet zu werden. Desto gröfsern beruf hat
die critik gerechtigkeit zu üben, das plagiat zu enthüllen und hier, wie ich
glaube, unserer landsleute einem wieder zu geben was ihm gebührt. Alle
umstände reden für die priorität des archipoöta, und wenn auch sein zeitge-
nosse, scheint Walther Map doch zehn, zwanzig jahre später, als der heerzug
des Staufers nach Italien fällt, aufzutreten. Bedarf es eines zeugnisses für
den deutschen grundton dieser lateinischen poesie, so mag angeführt werden,
dafs das freilich unübersetzbare ‘mihi est propositum in taberna mori, wo
sich der reim innig mit der empfindung des menschlichen herzens vermählt,
am glücklichsten nachgeahmt worden ist (!) von Bürger, in welchem auch
eine ader dieser wilden, das leben bis zur neige auskostenden vagantenpo-
esie war.
Die metra wechseln. Das dritte gedicht ist in hexametern, die aber
schon beim dritten vers leoninisch werden; solche leonine hat auch das sechste
bis zum zweiundzwanzigsten vers, auf welchen strophisch gereimte hexame-
ter folgen. Doch ist diese messung nach quantitäten dem dichter unbequem,
und leichter bewegt er sich in accentuierten versen mit trochäischem fall.
Am häufigsten (IV. V. IX. X) gebraucht er die dreizehnsilbigen, mit dem
einschnitt nach der siebenten silbe. VIII, von welchem nur eine strophe üb-
rig ist, bildet sie aus vier achtsilbigen zeilen und zwei damit verschlungnen
siebenzeiligen. VII hat vierzehn silben, deren erster theil bis zur caesur mit
IV übereintrift, dem zweiten aber noch eine silbe zugibt, und dreizeilige stro-
phen, die in der mitte und am ende reimen, entspringen. I ist unstro-
phisch, oder sammelt nach art des leichs strophen aus ungleichen, stets acht-
(') Ich will einst bei ja und nein vor dem zapfen sterben.
174 Jacos Grimm:
silbigen reimzeilen. Im ersten gedicht wird die zehnsilbige zeile gebaut aus
zwei trochaen und zwei dactylen, in deren ersten der alten quantität zumeist
gewalt geschieht. V und X zählen jedes gerade hundert zeilen. Gewandt
werden die reime gehandhabt und ihren reinen flufs macht die lateinische
sprache leicht, wobei nicht zu übersehen ist, dafs alle ae und oe zu e gewor-
den sind, folglich evi (aevi): levi, fatue (fatuae): vacue, mine (minae): Con-
stantine, tedio (taedio): medio, meste (moeste, maeste): teste rein stimmen;
unbefugt hat Wrights ausgabe den diphthong hergestellt. Nicht selten sind
reime wie vas cor: nascor, peste: penes te, indiscrete: de te, injectus: nec
thus, vereor te: cohorte. 9,24 reimt rocus (f. rogus): jocus, 10,6 mecor
(moechor): decor, 2, 41 absorte (f. absorptae): forte. Einigemal, zumeist im
eingang, lauft der reim durch zwei strophen fort. Weder aus der reimleich-
tigkeit und fülle, noch aus formen und wörtern wie eri 15, 3 für heri (ital.
ieri), istriones für histriones 2,8, balatrones (Ducange hat nur ballatores),
poetria 2,73 und dergleichen schliefse ich auf einen welschen dichter, weil
der deutsche bei dem langen aufenthalt in Italien sich auch welsche aus-
drücke und formen angewöhnen konnte. Für seine deutschheit lassen sich
vielleicht noch einige redensarten geltend machen: curare cutem 9, 14 und
cutis curam gerere 10, 5 scheinen unser auf der faulen haut liegen, seiner
haut pflegen; crede mihi 1, 33 mag eine in deutschen klöstern hergebrachte
ausdrucksweise sein (Haupts zeitschrift 2, 191); sollte nicht arx cerebri 4, 15
an das noch übliche hirnkaste gemahnen? wofür sich auch hirnburg denken
liefse, wie altn. hugborg Saem. 213° herz oder haupt bedeutet, MS. 2, 23? der
wize kaste, der weifse kasten die stirn ist; Nithart nennt den magen hunger-
kasten (MsH. 3, 279°) und wie dem Schweizer das herz blutkaste heifst,
könnte Wolfram die mutterbrust milchkaste nennen, wenigstens war er Parz.
110,30 nah daran: du bist kaste eines kindes spise. Den Angelsachsen ist
Birnponne (hirnpfanne) der schädel, rüncofe (secreti eubile)-die brust, darum
scheint mir arx cerebri deutsch gedacht, wenn schon Seneca und Claudian
arx corporis = caput brauchen. Bursam nodare 6, 5 den beutel zuknüpfen.
Cornua sumere 9,9 superbire, reniti, gleich stofsenden widdern.
Sollte nach Wrights in mehr als einer rücksicht unbefriedigender eine
neue ausgabe des dichters unternommen werden, auf den Deutschland, wie
gemutmafst und gezeigt worden ist, rechtmäfsigen anspruch hat; so wären
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 175
nicht blofs einzelne gedichte aus Leipziger (') und Giefser (?) handschriften
zu vergleichen, sondern vor allem müste eine Münchner zu rathe gezogen
werden, aus deren inhalt Docen anziehende, aber doch nach mehr lüstern ma-
chende proben gegeben hat, die den ganzen stil und geist dieser poesie kei-
nen augenblick yerleugnen (°). Kann der abgebrochne text des anmutigen
gedichts von Phyllis et Flora aus Wright s. 265 ergänzt werden, so sind ohne
zweifel viele mängel der Londoner ausgabe aus dem Münchner codex zu be-
richtigen. Aber auch ihm scheint der name Walthers nicht fremd, nach der
merkwürdigen, bei Wright abgehenden stelle:
versa est in luctum cythara Waltheri,
welche in den aretinischen beiträgen 7, 302 angezogen ist. Nächstdem ver-
dient zu Brüssel die nach Pertz unter Reinald geschriebne ars dietandi oder
summa dictaminum nachgesehn und vieler beziehungen halben vielleicht her-
ausgegeben zu werden; vorläufige nachricht von ihr ertheilt herr von Reif-
fenberg im bulletin de l’academie de Bruxelles tome 9 n°. 8; daraus dafs darin
pabst Eugen der dritte, die deutschen könige Conrad der dritte und Fried-
rich Rothbart, so wie der heilige Bernhard genannt vorkommen, erhellt, dafs
seine abfassung in die mitte des zwölften jahrhunderts fiele, was für unsern
archipoöta um zehn jahre zu früh schiene. Doch die von Reiffenberg uner-
wähnte angabe des erzbischofs hätte zu entscheiden. Aus dieser summa er-
gibt sich eine nicht gemeine belesenheit ihres verfassers in den classischen
dichtern, wie sie auch in unsern liedern vielfach zu spüren ist.
So weit um sich greifen konnte die untersuchung. Als ich im herbst
1843 nach Italien reiste, fanden sich auf meine nachfrage um solche lieder
zwar keine unter den handschriften zu Mailand, Neapel, Rom und Florenz;
doch zu Venedig ward ich einiger habhaft, vor allem sah ich zu München
den schönen codex, Docens schatzgrube, und durfte mir eines morgens viel
mehr daraus abschreiben, als er noch mitgetheilt hatte. An diesem neuge-
wonnenen stof lassen sich die ergebnisse fortspinnen und ergänzen.
(') Leyser hist. poet. med. aevi p. 779.
(°) Otto comment. in cod. gissenses p. 160-163.
(°) Aretins beiträge 7, 297-309. 498-508. 9, 1311-1322. Miscellaneen 2, 190-208.
176 JaıcosB Grımm:
Die Münchner handschrift stammt aus Benedictbeuern, man möchte
sie, ihrem länglichen octavformat, den festen, reinlichen buchstaben nach,
noch am ende des zwölften Jahrhunderts geschrieben glauben: sie gehört
aber, wie der inhalt ausweist, des dreizehnten erster hälfte an. Sie enthält
auf 112 blättern lateinische gedichte, welche beinahe sämtlich der bisher ge-
schilderten vagantenpoesie überwiesen werden dürfen, “die handschrift ist so
prachtvoll, dafs ihr anblick Docens vermutung, sie sei ehedem in den hän-
den solcher umwandernden leute gewesen, widerlegt; im jahr 1824 meinte
er mit gröfserer wahrscheinlichkeit, ein geistlicher herr habe darin zusam-
menschreiben lassen was er von fahrenden leuten zu hören liebte. So ur-
theilt Lachmann in der vorrede zu Walther von der Vogelweide s.ıx. Dafs
sie ungleich reichhaltiger ist als alle übrigen, begreift sich schon aus ihrem
umfang, sie enthält eine menge lustiger und ernster, zum theil freier, ausge-
lassener lieder von minne, wein, spiel und armut; vollständig in hinsicht auf
unsern verfasser kann sie nicht genannt werden, da ihr die meisten gedichte
der Göttinger und Brüsseler fehlen; auch entspricht die richtigkeit ihrer texte
nicht überall dem äufseren aufwand, sie setzt also bessere voraus.
Vorerst ist nun der ganze eindruck des buches der von mir verfocht-
nen ansicht, dafs diese lateinische poesie, oder vielmehr was ihren ton zuerst
anschlug, von keinem andern als einem deutschen dichter ausgegangen sein
müsse, allergünstigst. Italien hat uns solche lieder nicht bewahrt, so viel
wir wissen auch Frankreich nicht; in Deutschland fanden sie sich zu Bene-
dietbeuern und Stablo in alter fast gleichzeitiger abschrift, woher die Göt-
tinger auch alte stamme ist unbekannt; alle in England vorräthigen reichen
nicht so weit hinauf und scheinen sich erst im 14. 15 Jahrhundert zu verviel-
fältigen. In allen liedern des gesamten bandes ist gar keine anspielung we-
der im ganzen noch einzelnen auf England. Blatt 51 wird eines ungenann-
ten königs tod beklagt, dessen England und Frankreich beraubt sei; gemeint
ist Richard Löwenherz, der 1199 starb, den auch Deutschland kannte. Was
aber vorzüglich merkwürdig scheint, zwischen einzelne lieder sind deutsche
und romanische worte gemengt, z. b. 97° der ausruf wafna wafna! 98° schil-
link, 90° per dulzor, 49° der refrain “tort a vers mei (moi) dama’; ja ganze
gesänge von unsern ältesten minnesängern werden eingeschaltet, von Wal-
ther, Reinmar dem alten, Heinrich von Morunge, Dietmar von Aste, Otto
von Botenloube und Nithart, lauter dichtern, die wo nicht ins zwölfte rei-
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 177
chen, dem beginn des dreizehnten jahrhunderts beigelegt werden müssen.
Blatt 90° treffen wir auf eine strophe aus dem Eckenlied, dessen hohes alter
dadurch gesichert wird, und 110° auf eine reihe freidankischer sprüche, die,
wie mich dünkt, bereits vor 1229 vorhanden gewesen sein können. Diese
deutschen stellen hat schon Docen in seinen miscellaneen 2, 190-208 mei-
stens zusammengetragen, doch die handschrift gegen 1250 gesetzt, vielleicht
um wenigstens dreifsig oder vierzig jahre zu jung gemacht.
Ich mufs, bevor weitere schlüsse erlaubt sind, diese bezüge auf Deutsch-
land und die angegebne zeit auch aus dem übrigen inhalt der gedichte bestä-
tigen. 49°” wendet der dichter mit den nachdrücklichsten betheuerungen von
sich den vorwurf eines unnatürlichen lasters ab, dessen seine heimat oder
sein wohnort frei zu sprechen sei: 'nostra Briciawia’ scheint mir den Breis-
gau anzuzeigen, wofür sich auch sonst in alten denkmälern Brisigavia, Bris-
gowia geschrieben findet (!); wie lebhaft ist gleich darauf 50° von dem va-
ganten heimatsgefühl und vaterlandsliebe ausgedrückt! 88° wird Alsatia der
Elsafs, und 90° Trier mit seinen feurigen weinen (Docen a.a.o. s. 192) er-
wähnt. Das alles weist auf unsere Rheingegend. Ein gedicht 17° hat aus-
drückliche zeitangabe, die des jahrs 1177, in welchem das schisma zwischen
Friedrich Rothbart und Alexander III, wie hier der dichter anerkennt (?),
hauptsächlich durch bemühung des sächsischen erzbischofs Wichmann, end-
lich beigelegt und der ausgesprochne bann gelöst wurde (?). Wichmann aber
safs auf dem Magdeburger stuhl von 1152 bis 1202, und nur ein zeitgenosse,
der damals selbst mit in Italien gewesen war, konnte so, wie hier geschieht,
von ihm sprechen. Das schon von Docen ganz mitgetheilte lied fol. 15° auf
Saladins sieg im heiligen land gehört gleich bestimmt dem jahre 1187:
exeunte Junio anno post milleno
centum et octoginta juncti cum septeno.
Ich weifs nicht, ob ein späteres auf die wiedereroberung Akkons im jahre
(') Dumbeck geographia pagorum cisrhenanorum p. 323.
(?) Seltsam heilst es in einer folgenden strophe “passeres’ Alexander guarzus, da doch der
dritie gemeint sein muls, denn der vierte wurde erst weit später 1254 erwählt und starb
1261. Ich wüste nicht, dafs zwischen diesen beiden päbsten die zahlen schwanken. Hatte
sich der dichter in gedanken vielleicht verzählt? Das ist eine bedenkliche auskunft.
(°) Von Raumers Hohenstaufen 2, 256; von diesem schisma redet auch der deutsche dich-
ter Wernher am schluls seiner Maria, und urkunden in ihrem datum, z. b. MB. 10, 43.
Philos.- histor. Kl. 1843. Z
178 Jıcos Grimm:
1191 von demselben dichter oder, weil ihm nur geringer poetischer werth
zusteht, von einem andern ausgegangen ist; ich fand es zu Bamberg im cod.
AB. 4, 29 fol. 143-149° (saec. xım ineunt.) und setze daraus den anfang und
das ende her:
Rithmus de expeditione ierosolimitana.
Dum romanus pontifex degeret Verone,
Vrbanus memorie atque fame bone,
Saladinus ipsius absque ratione
occupavit Syriam fera ditione;
urbe Tyberiadis armis expugnata
cetera sunt menia (sua) sponte data,
non est opus lancea, non est opus spata,
sic ei subveniunt cum fortuna fata.
149? A natali domini mille ducentorum
novem minus spacium fluxerat annorum,
Acon fere circulis obsessa duorum
idus quarto Julii redditur annorum.
Den blatt 9° gepriesenen Petrus papiensis, electus meldensis mufs man
entweder für Petrus I, der 1173, oder für Petrus II halten, der 1175 bischof
zu Meaux war (1), und Alexander, den der dichter suus nennt, schiene
wieder pabst Alexander der dritte (- 1181), wenn nicht das “ibi” stutzig
machte und wenigstens auf einen in Frankreich lebenden geistlichen des na-
mens Alexander schliefsen liefse. Gleich darauf wird ein Franco getadelt,
dessen zeit und wohnort ich zu bestimmen mir nicht getraue, ein Franco von
Afflighem fällt schon in das erste drittel des zwölften Jahrhunderts (?), ein
Franco von Cöln in noch etwas frühere (?); der name war aber geläufig und
es wird manche geistliche, die ihn führten, gegeben haben.
Des liedes auf Richard Löwenherz (-1199) wurde bereits gedacht,
bis zum jahre 1208 leitet das auf die ermordung könig Philipps durch den
pfalzgrafen, den neffen des oben s. 166 geschilderten, dessen treue anhäng-
lichkeit an das staufische haus nicht ahnte, dafs die “gladii severitas’ gegen
(') Gallia christiana 8, 1116. 1117.
(?) Hist. litt. de France 11, 588.
(°) Von Raumers Hohenstaufen 6, 666.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 179
Friedrichs eignen sohn wüten würde. Diese begebenheit und der anrnf ein-
zelner volksstämme fol. 95° lassen an dessen, der sie dichtete, deutschheit
keinen zweifel übrig.
Wie aber die eingestreuten deutschen lieder oder liederanfänge nicht
von einem dichter, sondern von mehrern herrühren, also noch weniger dem
verfasser der lateinischen beizumessen, vielmehr aus einer damals schon um-
gehenden samlung, mindestens aus lebendiger überlieferung entnommen sind;
scheint es eher gerathen als geboten, auch für die lateinischen gedichte meh-
rere dichter vorauszusetzen, die keineswegs nothwendig auf den unsrigen
zurückführen. Dafs bei meistentheils mündlicher übung und fortpflanzung
der lieder eine gewisse leichtigkeit der form und sprache, die dem nachah-
men und nachsingern allen vorschub leistete, wie in der deutschen poesie,
damals auch in der lateinischen sich entfalten konnte, stelle ich nicht in ab-
rede, und der allerwärts wahrnehmbare wechsel der lesarten, ja das verhält-
nis zwischen unserm archipoöta und dem englischen Map scheinen dafür zu
streiten.
Es wäre damit lange nicht alles aufgegeben. Offenbar gehören auch
in der Münchner handschrift die schönsten, bedeutendsten und ältesten ge-
dichte keinem andern als dem archipoäta, wie das an den electus Coloniae
gerichtete undwidersprechlich darthut. Seine übrigen lieder wurden ent-
weder dem, der die zierliche samlung anlegte, nicht bekannt, oder, was mir
wahrscheinlicher ist, ihres ernsteren, frommen oder geschichtlichen inhalts
wegen, aus dem kreis der lustigen vagantenpoesie ausgeschlossen. Der haupt-
sache nach liegt uns immer sein buch vor.
Die unserm zehnten gedicht in diesem codex neu hinzutretenden
schlufsstrophen geben reichere aufschlüsse über das verhältnis des verfassers
zu Reinald, sie verändern einigermafsen die vorher darüber gebildete ansicht.
Als er dies lied dichtete, scheint der wandernde sänger sich schon unter den
Welschen umgetrieben zu haben, und aller ausgesprengten verleumdung zum
trotz, jetzt dort dem erzkanzler und dessen hofe zu dienst anzutragen;, hier-
nach wäre er erst in Italien zu Reinald gekommen, falls nicht ein älteres ver-
hältnis diesmal nur erneuert wurde. Er bietet sich, wolle ihn der gönner
behalten (tenere), zum briefschreiben und dichten an, und das deutliche
“vices in dictamine potero supplere’ bringt doch zu grofser wahrscheinlich-
keit, dafs jene summa dictaminum damals oder schon vorher (als noch könig
Z2
180 Jacos Grimm:
Conrads andenken frischer war) wirklich aus seiner feder geflossen sei. Die
gelehrte bildung seines zeitalters hatte er sich früh erworben.
Nirgend gewährt dieser codex den namen archipoäta, wol aber ver-
räth er uns plötzlich, im anziehenden liede 51° einen andern, vielfache erin-
nerungen aufregenden: der dichter, dessen leier in trauern gesenkt ist, hiefs
Walther, gleich jenem englischen Walther Map, gleich unserm deutschen
Walther von der Vogelweide, der ihm beinahe ebenzeitig erscheint, von des-
sen liedern einige gerade unter die lateinischen hier gemengt werden. Wer
nichts vom archipoöta wüste und dies lateinische gedicht in einer offenbar
Deutschland und dem beginn des dreizehnten jahrhunderts angehörigen hand-
schrift läse, würde ihm nicht die eithara Waltheri unbedenklich die unsers
berühmten deutschen sängers sein? Dennoch ist es blofser schein, den man
alsbald wieder fahren läfst. Der minnesänger, wenn auch vielgewandert, bis
in die Lombardei und vielleicht ins heilige land vorgedrungen, hat sich doch
hauptsächlich an höfen des inneren Deutschlands aufgehalten, der archipo-
eta, so viel wir wissen und mutmafsen, fast nur in den Rheingegenden, län-
gere zeit in ganz Italien und in Frankreich; von so naher berührung mit den
Welschen, von Friedrich Rothbarts siegeszügen, von Reinald beim Vogel-
weider keine spur. Dieser mag zwanzig, dreilsig Jahre später geblüht haben,
seine dichtkunst ist edler, wärmer, feitegbiltietkn, wenn auch nicht kräftiger
und voller als die ausschweifende und zügellose des vaganten. Noch mehr
entscheidet, dafs Walther von der Vogelweide gar keine lateinische bildung
kund gibt ('), und dem ritterstande angehört, der archipoöta, sei er nun blofs
scholar oder wirklicher clericus gewesen, dem geistlichen. Wären beide ein
und derselbe dichter, so würde doch wol eins der deutschen lieder jenes
einem der lateinischen dieses begegnen; einzelne gegenstände, z. b. Philipps
ermordung könnte jeder von ihnen besungen haben: bliebe uns von dem
Vogelweider ein gedicht auf sie übrig, wie weit würde es die flachen redens-
arten des lateinischen (52°) hinter sich lassen. Mit dem lateinischen MMalte-
rus (51°) einerlei sein mufs doch der Galtherus (97°), welcher sich scherz-
baft einen subprior nennt, oder einen abbas cucaniensis (97°). Übrigens ge-
(') Das ‘set liberä nos ä mälö’ 17, 338 wird man nicht anschlagen; die formel war aus
dem pater noster auch dem laien bekannt und wird oft angewandt, z. b. im lied von sacer-
dos et lupus 17, 4.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 181
mahnen der ejectus und ductus extra gregem cleri (51°), die ejecti vilitas
morbi, der exul elericus (53°) wirklich an jenen bericht des Caesarius von
dem krank ins kloster aufgenommnen, aber nach der genesung flüchtig ge-
wordnen vagus clericus (s. 155); sollte zu Bonn der archipoäta unter dem
namen Nicolaus statt Walther aufgetreten sein? könnte Caesarius die namen
vermischt haben? Alle handschriften, die ich vergleichen konnte, geben Ni-
colaus. Aber dies ereignis müste zehn, zwanzig jahre früher fallen, weil
man anzunehmen hat, dafs der archipoäta auch nach solchem versuch des
klosterlebens in seiner alten weise zu dichten eine zeitlang fortfuhr.
Die handschrift erst in die mitte des dreizehnten jahrhunderts zu ver-
legen wurde Docen ohne zweifel durch das auf den blättern 104.105 ent-
haltne und von ihm im neuen lit. anzeiger 1807 p. 247 herausgegebne lied
“pange vox Adonis’ veranlafst. Dies soll vom Marner sein, dessen name am
rande, was Docen verschweigt oder übersieht, von jüngerer hand beige-
schrieben steht, und die weise scheint (nicht ganz genau) zu einem deutschen
liede Marners zu stimmen. Allein dies lied findet sich seltsam, mitten in das
von blatt 99° bis 106° laufende mysterium, auf dem vielleicht für ein bild
leer gelassenen raum (fol. 104° zeile 20-22 und fol. 105° zeile 1-2), augen-
scheinlich später eingeschaltet und kann dem höheren alter des eigentlichen
codex keinen eintrag thun ('). Habe Marner das stück abgefafst oder umge-
arbeitet, die andern gedichte des buchs reichen fast ein halbes jahrhundert
über ihn und seine zeit hinaus.
Geringere schwierigkeit scheinen mir die verhältnisse des unter Deut-
schen und in Deutschland hausenden armen Waltherus zu dem äufserlich in
gunst und ansehn stehenden englischen Waltherus Map zu geben. Es mufs
bei der aufgestellten vermutung bleiben entweder, dafs dieser letztere sich
der lieder des namensverwandten bemächtigt, oder dafs ein dritter sie auf
seinen landsmann angewandt und dazu den text in einigen stellen geändert
habe. Das wenig sichere, was wir von der poesie des Oxforder geistlichen
wissen, darf die deutlichen beziehungen des archipoöta zu Reinald, Friedrich
und Deutschland nicht gefährden.
(') Ein angefügtes mir von Schmeller mitgetheiltes facsimile von 1052 macht die sache
anschaulich.
182 JacoB GkrımM:
Auf den namen Golias stofsen wir in allen deutschen handschriften
niemals, dagegen ist die benennung secia Decü für spielbrüder, hergenom-
men von dem namen des würfels selbst, so wie der schon zu altdeutschem
sprachgebrauch stimmende ausdruck Hashardus (!) ein zeugnis für des dich-
ters langen verkehr unter den Franzosen. Bedeutsamer wird aber der neben
dem personificierten Decius stehende Primas vilissimus sogleich für unsre
untersuchung werden: dieser Primas ist nichts als wieder ein andrer im mit-
telalter gangbarer name für archipoeta.
In einer Venediger handschrift des vierzehnten jahrhunderts fand ich
nemlich ‘versus Primatis presbyteri) die auf ein haar denen des archipoeta
glichen, und das gereimte “consilium Primatis de uxore non ducenda, ist
ohne zweifel das bei Wright (oben s. 170) angeführte werk “Valerius ad Ru-
finum de non ducenda uxore, in welches aber hier Petrus de Corbolio (bi-
schof zu Cambrai und erzbischof zu Sens, ‘7 1222), ein zeitgenosse unsers
dichters, seltsam genug mit Johannes Chrysostomus und Laurentius zusam-
mengestellt, miteingeführt wird. Wer noch zweifeln wollte, dafs dem archi-
po&ta auch die gedichte des Primas gehören, würde überführt werden da-
durch, dafs im codex gleich nach dem schlufs des lieds de uxore non duc.
vier strophen aus unserm zehnten, das in keiner zeit seine wirkung verfehlte,
geschrieben stehn. Wie abbas, prior, subprior scheint die hohe geistliche
würde des primas scherzweise zur bezeichnung des umziehenden vagus scho-
laris verwandt, den auch der name archipoeta verherrlichte.
An dieses ergebnis reihen sich zwei andere unverwerfliche zeugnisse.
Die schon angezognen annales colmarienses nennen unmittelbar hinter Hugo
Ripilinus de Argentina, frater Henricus prior basiliensis, Fridankus vagus
und Conradus de Wireiburc: ‘Primas vagus multos versus edidit magistra-
les’ (?). Es scheinen lauter in der dortigen gegend bekannt gewesene sänger,
Conrad lebte lange zu Basel und starb zu Freiburg im Breisgau, Hugo war
aus Strafsburg (°), Heinrich aus Basel, Freidank mufs auf jeden fall in jene
landschaft gekommen sein, es ist seltsam, dafs ihm, den diese abhandlung oft
(') Haupts zeitschrift 1, 576 und deutsche mythologie s. 841.
(2) Haupts zeitschrift 4, 573.
(°) Nach Schilters vorrede zu Königshofen erscheint ein Hugo Rippelin 1230. 1237. 1239
als magistrat zu Stralsburg.
gedichte des mittelaliers auf könig Friedrich I. den Staufer. 183
zu nennen hatte, wir auch hier im geleite des Primas begegnen, und dafs
. beide vagus genannt werden. Versus magistrales sind meisterlieder, wie sie
sich der spätere Colmarer nun dachte. Zur nähe von Basel, Colmar, Strafs-
burg, Freiburg stimmt der aus dem Münchner codex ausgehobne Elsafs und
Breisgau. Da mag der unstäte Walther eine zeitlang gewohnt haben; einen
jüngern Walther von Breisach, der deutsch dichtete, kennt auch die zweite
hälfte des dreizehnten Jahrhunderts.
Eine zu Boccaccios ohr gelangte sage, die er aber seiner weise nach
so treflich erzählt, dafs man ein wirkliches ereignis im hintergrund vermuten
sollte, meldet wie dieser Primas, den er Primasso nennt, sich auch in Frank-
reich umtrieb; seiner bekanntschaft mit der französischen sprache versichern
uns die den lateinischen gedichten (deren mindestens einige ihm selbst gehö-
ren werden) eingestreuten’romanischen worte. Boccaccio bezeichnet ihn
“un gran valente uomo in gramatica, oltre ad ogn’ altro grande e presto ver-
sificalore, was könnte besser die eigenschaften ausdrücken, die wir an un-
serm dichter und dem verfasser der summa dietaminum wahrgenommen ha-
‚ben? Da soviel ich weils die gesamte deutsche, französische und italienische
literargeschichte ungerecht seiner geschweigen, weder Manni noch der jün-
gern commentatoren des decamerone sich auf die hübsche fabel eingelassen
haben, so erachte ich es der mühe werth sie im anhang € auszuheben, damit
fernere untersuchungen erleichtert werden können. Sinnreich wird die ge-
schichte dem messer Cane della Scala, der zu Friedrich des zweiten zeit
lebte, vorgetragen, woraus von selbst folgt, dafs sie sich früher, und wol
noch unter Friedrich dem ersten mag ereignet haben. Wäre des abts von
Cluny name ausgedrückt, würde sich eine sichre zeitbestimmung ergeben.
Diese abtei war ob ihrem grofsen reichthum berühmt, ihre güter sollen sich
sieben meilen in die runde erstreckt haben (!), dem hof und mahl des abts
strömten sänger und spielleute aus allen gegenden zu, und der dürftige, an-
fangs karg empfangne dichter wird hinterher mit geld, kleid und pferd so
reich begabt, wie es seine lieder nur wünschen konnten. Man denkt an un-
sern Walther von der Vogelweide, der vom reichen tische des abts zu Teger-
see, nur mit wasser gelabt, schied.
(') Me&on nouveau recueil 1, 318; da Cluny fern in Burgund liegt, so muste der abt sechs
meilen von Paris auch einen ort, wo er sich zuweilen aufhielt, besitzen.
184 Jacos Grimm:
Von den sitten und bräuchen der wandernden sänger, deren ältestes
vorbild für uns Vidsid und Nornagestr erscheinen, beabsichtige ich bei ande-
rer gelegenheit ausführlicher zu handeln. Wenn der unsere nicht allein in
Deutschland und Italien, sondern auch wie eben die letzte fabel und sein
verhältnis zu Petrus meldensis lehrt, in Frankreich umher gefahren war; so
möchte ich auf ihn den Galterus beziehen, an welchen das buch de arte
amandi et de reprobatione amoris von seinem Freunde Andreas, Franco-
rum aulae regiae capellanus gerichtet ist. Es sind die bekannten regulae
amoris ('), welche die neuere critik überbedächtig ins funfzehnte, wenig-
stens vierzehnte jahrhundert herabsetzen will (?), deren inhalt aber unver-
kennbar auf die zweite hälfte des zwölften weist, und aufser entscheidenden
namen ausdrücklich die jahrzahl 1174 an hand bietet. Was fordert man mehr?
Schon in einem provenzalischen liede wird dieses Andrea di Franza gedacht (?),
mag er nun capellan (Ludwig des siebenten?) gewesen sein oder nicht; schwer-
lich pabst Innocenz des vierten, wozu ihn eine ausgabe der regeln stempelt.
Auf seine genossenschaft hätte Walther, dessen Flora und Phyllis solch ein
minnenrecht darstellt, gerechtesten anspruch, wie dies lied überhaupt auf.
die romanische poesie wies.
Dafs alle lateinischen lieder der Münchner handschrift einem verfas-
ser beizulegen seien, erzwinge ich nicht, aber die besten und ältesten darun-
ter sind es, voraus die mit geschichtlichen anspielungen. Es war weder mein
ziel eine ausgabe dieses zu lange verborgnen codex zu unternehmen, noch
konnte ich einmal seinen reichen inhalt irgend erschöpfen, selbst für meine
absichten nicht. Aber ich wünsche das bedürfnis einer baldigen bekanntma-
chung dieser für sprache und sitte des mittelalters wie wenig andere ergibi-
gen samlung angeregt zu haben, und von wem könnte sie besser erwartet
werden als von Schmeller?
Wenn uns die zehn lieder auf die Jahre 1162-1165 und gar noch et-
was früher hinauf leiteten, im Münchner codex hingegen die jahrzahlen 1175.
(') Christoph von Aretin aussprüche der minnegerichte s. 117. Raynouard des trouba-
dours et de cours d’amour. Paris 1817 p. LXXXI.
(?) Ebert im Hermes 1821 st. 4 s.72. Fr. Diez beiträge zur romant. poesie. Berlin
1825 3.77.
(°) Crescimbeni volgar poesia 2,13. Millot hist. des troubadours 1, 90. Sollte Andrieus
in einem liede des Gaucelm Faidit (Raynouard 2, 300) nicht der nemliche sein?
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 185
1177. 1187. 1199. 1208 ausfündig gemacht wurden; so liegt eine lange dich-
terische laufbahn vor augen, die wir nur sehr lückenhaft ermessen. Von
1165-1175 erscheint kein einziges gedicht; fiel in diese zeit des sängers fran-
zösischer aufenthalt? Zwischen 1162 und 1208 breiten sich nahe funfzig
jahre, und es heifst viel behauptet, dafs ein dichter so lange die gabe und
lust des liedes fort erhalten habe, zumal sich von greisenalter keine anspie-
lung findet. Soll man das gedicht von Philipps tod einem andern beilegen?
Das auf Richard möchte ich dem unsern auf keinen fall nehmen; damit blie-
ben ihm immer noch gegen vierzig sangesjahre, während unserm Walther
sich kaum dreifsig nachrechnen lassen; schwer aber würde noch des Caesa-
rius Nicolaus, falls seine angaben genau sind, zum alten archipoöta gerecht
sein. Nicht wenige gedichte aus der früheren zeit des fruchtbaren sängers
müssen uns fehlen. Über den ursprung aller kleinen lieder ohne namen und
zeit will ich nichts abthun, nur dafs sie nicht jünger sein können als die hand-
schrift alt ist; nicht ohne gewicht scheinen die eingestreuten leonine, wie sie
schon der archipoät liebte. Dafs unsere deutschen dichter des dreizehnten
jahrhunderts diesen lateinischen weder kennen noch nachahmen, braucht
nicht zu verwundern, auch die französischen und italienischen wissen nichts
von ihm; nennen ihn doch die Colmarer annalen zuerst und in Deutschland
allein, in Italien nur Boccaccio.
Wer es sich nicht wehren kann, in diesen lateinischen gedichten die
glätte der reime, den flufs der sprache, die vielen aus der classischen litera-
tur entlehnten namen und vergleichungen (!) lediglich auf rechnung eines
welschen verfassers zu bringen; der hat doch zu erwägen, dafs ein langer
aufenthalt in Italien, das die wiege der ältesten dieser lieder war, den dichter
vertraut machen konnte mit einer weise, die wir hernach in allen übrigen,
ganz entschieden auf deutschem oder englischem boden entsprungnen, ebenso
gewandt und glücklich gehandhabt finden. Belesenheit und lateinische sprach-
gabe muste längst schon andern Deutschen, z. b. dem dichter des Rudlieb
zuerkannt werden; aber in den hundert jahren von ihm bis auf den archipo-
eta hatte der geschmack sich umgewandelt, dennoch gleicht die einmischung
deutscher worte unter lateinische rede Rudl. 16, 12 ff. völlig der in unsern
(') Z.b. das ‘dabitur saliens aries’ 56°, wie schon der ältere dichter der Ecbasis captivi 122
ein “dabitur caper omnibus aris’ dem Aur. Prudentius contra Symmachum 129 entwandte.
Philos.-histor. Kl. 1843. Aa
186 Jacos Grimm:
gedichten. Wie wenig auch am verkehr des archipoöta mit Ttalienern und
Franzosen zu zweifeln ist, so ergibt doch das eigne geständnis, dafs er ein
Transmontane sei, sein nahes verhältnis zu Reinald und die nachrichten des
Caesarius nnd der Golmarer sowol seine deutsche abkunft als das vorkom-
men solcher sänger, wer sie nun gewesen seien, in deutschen ländern.
Ansprüche der Engländer scheinen mir durch das frühere auftreten
des archipoäta und die absichtliche unterdrückung aller auf Friedrich und
Reinald bezüglichen stellen im text der englischen handschriften abgefertigt.
Unmöglich kann Walther Map von liedern urheber sein, die sein eigner freund
und zeitgenosse nicht ihm, sondern einem verachteten Golias beilegt; aber
die folgenden jahrhunderte wandten seinen einheimischen ruhm auf diese
lieder an, wobei zu statten kam, dafs in englischen handschriften und deut-
schen der name Waltherus, Galtherus, Gauterus zu treffen war. Und wenn
hernach England, wie die wrightische samlung darlegt, in dieser poesie frucht-
bar fortdichtete, warum hätte sie nicht auch in Deutschland, Italien und
Frankreich angehalten? Wir wollen französischen und niederländischen bi-
bliotheken zutrauen, dafs sie noch handschriften dieser lieder verschliefsen
und dann werden vollere aufschlüsse zu erlangen sein.
Den namen archipoäta und primas fanden wir bei Italienern und Deut-
schen; es ist auffallend, dafs beide in England gemieden werden, wo goliar-
dus vorwaltet, das eben so wenig als jene einen eigennamen enthält, sondern
das gewerbe bezeichnet, ich will dem schon s. 169 darüber gesagten hier
noch einiges beifügen. Den Provenzalen war galiar, gualiar betriegen, gua-
liaire, gualiador betrieger (Raynouard 3, 420), die altfranz. form lautet goli-
art, gouliart. Hierzu stimmt ein seltnes mhd.‘wälen oder spiln’ Ls. 3, 422.
fragm. 28°, vielleicht schon der bei Graff 4, 1022 beigebrachte ahd. eigen-
name Wälhart. Da nun die romanische aufnahme den namen Wielant in Ga-
lans ändert, könnte jenem sonst unerklärbaren galiar die deutsche wurzel
wielan, wölan, welche triegen, berücken ausdrückt (1), untergeschoben wer-
den, was den begrif eines vagus erreichen würde. Auch das 2,82 besprochne
trutannus gemahnt ans ahd. truhting sodalis, paranymphus (Graff 5, 517. 519)
und so weist selbst die lateinische sprache unsrer gedichte mehrfach auf ein
deutsches element.
(') Deutsche mythol. s. 351.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 187
In der zweiten hälfte des zwölften jahrhunderts entsprungen, wilder
auswuchs der damaligen schulgelehrsamkeit, aber leicht übergänge findend
in die preis und scheltlieder, in den minnesang und die volksdichtung, in das
leben frölicher und ausgelassener zecher, hat diese vagantenpoesie von der
Lombardei aus im Südwesten Deutschlands, im nördlichen Frankreich eine
zeitlang, am längsten in England gewuchert (!). Derber als das minnelied,
o?
dem die schmiegsame innigkeit der muttersprache zu gebot stand, durfte sie
dafür den fremden ausdruck mit gröfserer keckheit brauchen, und in einzel-
nen gesängen, namentlich der confessio poetae liegt unvergängliche kraft.
Was frischeres könnte aufgewiesen werden als die strophe “Tune rorant scy-
phi desuper et canna pluit mustum’? Die weinlieder unserer minnesänger
scheinen zu ungesellig; hier aber schallt ein voller jubel der gelage, wie
in Fischarts litanei der trunknen. Dafs man auch ernste gegenstände vor-
nahm lehrt das gedicht von den funfzehn zeichen des jüngsten tags, geistliche
eingänge, wie der des ersten gedichts, sind die dürrsten. Den gebundnen
aber rührigen sinn des zeitalters verräth uns diese lateinische poesie besser
als urkunden und annalen; nicht an geist, sinn und lebensfreude gebrach
es ihm, aber an freiem mafs und fortschritt.
Blofs die ältesten und besten der lieder führe ich auf einen und den-
selben dichter zurück; es ist nicht anzugeben, wie viel den nachahmern ge-
bührt, mehrere gesänge zeugen von umguls und geschickter überarbeitung,
wie sie damals auch in deutschen und romanischen dichtungen allerwärts
vorkommen. Nicht einmal über das alter der Münchner handschrift soll
entschieden sein, die ich einen halben tag durchblättern und ausziehen, nicht
ganz lesen konnte. Ihr voller inhalt mag noch ausdrücke und gegenstände
darbieten, die weiter führen. Die stutzig machenden stellen über den vier-
ten Alexander und Marner sind unverholen geblieben: selbst wenn diese
samlung erst nach 1250 vollendet wäre, kann das den stücken, die früher
fallen, keinen abbruch thun und blofs sie nehmen wir für den älteren dich-
ter daraus in anspruch.
(') Wrights political songs of England, London 1839 an vielen stellen, und desselben
anecdota literaria London 1844 liefern s. 92-101 gute nachträge solcher lateinischen lie-
der. Von geringerm werth sind 25 strophen, die nach 1245, ohne zweifel in Italien ge-
dichtet wurden, in Const. Höflers kaiser Friedrich II. München 1844 s. 430.
Aa?
188 Jacos Grimm:
Proteusartig hat er sich uns als Walther, Nicolaus, Map, Golias, Ar-
chipoöta und Primas gezeigt, den händen die ihn ergreifen wollten, mehr-
mals entschlüpfend. War der erste name sein richtiger, so muste er, die ge-
samte art und weise der alten im land ziehenden hofsänger scheinbar an den
andern Walther und an Freidank gemahnen, von dem ich hier gewisserma-
fsen anhub. Das “quasi niuno era, che non sapesse, chi fosse Primasso,
konnte bis auf meine noch sehr unvollkommen gelungne untersuchung um-
gekehrt gelten.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
1 Boa balbus, hebes ingenio
viris doctis sermonem facio,
sed quid loquor, qui loqui nescio?
necessitas est, non presumptio.
2 Ego juxta divinum eloquium
viris bonis hoc reor congruum,
ut subportet magnus exiguum,
egrum sanus et prudens fatuum.
3 Ne sim reus et dignus odio,
si lucernam premam sub modio,
quod de rebus humanis sentio
pia loqui jubet intentio.
4 Brevem vero sermonem facio
ne vos gravet longa narratio,
ne dormitet lector pre tedio,
& “tu autem dicat in medio.
Ad eternam beatitudinem
lapsum deus revocans hominem
au
verbum suum, suam imaginem
misit ad nos per matrem virginem.
6 Est unita deitas homini,
servo suo persona domini,
morti vita, splendor caligini,
miseria beatitudini.
7 Scimus ista potentialiter
magis facta quam naturaliter,
serutantibus spiritualiter
(sci)re licet quare, non qualiter.
S Arte mira, miro consilio
10
11
12
14
189
querens ovem bonus opilio,
vagantibus in hoc exilio
locutus est nobis in filio.
Sanctum sue mentis consilium
patefecit mundo per filium,
ut_rejecto cultu sculptilium
deum nosset error gentilium.
Poetarum seductos fabulis
veritatis instruxit regulis,
signis multis atque miraculis
fidem veram dedit incredulis.
Obmutescant humana somnia.
nil occultum, jam patent omnia,
revelavit fata latentia
non sapiens, sed sapientia.
Conticescat falsa temeritas,
ubi palam loquitur veritas,
quod divina probat auctoritas
non inprobet humana falsitas.
Hujus mundi preterit orbita,
stricta ducit ad vitam semita;
qui serutatur renum abscondita
trutinabit hominum merita.
Judex iustus, inspector cordium
nos ad suum trahit judicium,
redditur ad pondus proprium
bonum bonis, malis contrarium.
In hac vita misere vivitur,
vanitas est omne quod cernitur;
1}
2,4 cod. eger sanum.
4,4 vermutlich unterbricht im kirchengesang ein mit den worten des psalms (21, 20) “tu autem domine
anhebendes responsorium. Auch in der apocalypsis Goliae 336 heilst es: clamantes septies "tu autem do-
mine‘, und ein von Wright (anecdota literaria. London 1844. p.93) herausgegebnes gedicht schlielst "tu
autem domine.
14,4 cod. bona.
190
eri natus hodie morifur,
finem habet omne quod oritur.
16 Sed qui dedit ad tempus vivere,
—I
vitam brevem potest producere,
vitam potest de morte facere,
qui mortuos jubet resurgere.
Nos ad regna vocat celestia,
ubi prorsus nulla miseria,
sed voluptas et vera gaudia;
quod sit deus omnibus omnia.
18 Puniamus virtute vitium,
cujus caret fine supplicium,
terreat nos ignis incendium,
fetor, fletus et stridor dentium.
19 Sciens deus nos esse teneros
& zehenne dolores asperos
ko) ’
pia voce revocat miseros
ovem suam ponens in humeros.
0 O pietas inestimabilis,
omnipotens, incorruptibilis,
creature misertus mobilis,
est pro nobis factus passibilis,
21 Est alapas passus et verbera,
[%6}
ludierorum diversa genera,
sputa, spinas, et preter cetera
crucis morte dampnatur aspera.
2 Cum creator in cruce patitur,
ferreus est, qui non compaltitur;
cum salvator lancea pungitur,
saxeus est, qui non compungitur.
3 Compungamur intus in aniına,
iram dei placantes lacrima;
dies ire, dies novissima
cito venit, nimis est proxima.
24
26
27
31
32
Jıcog Grimm:
Ecce redit districetus arbiter,
qui passus est misericorditer,
redit quidem, sed jam minaciter,
coactus est, non potest aliter.
Mundus totus commotus acriter
vindicabit auctorem graviter,
et torquebit reos perhenniter,
quamvis juste, tamen crudeliter.
Vos judieis estis discipuli,
in scriptura divina seduli,
christiani, lJucerna populi,
contemptores presentis seculi.
Vos non estis virgines fatue,
vestre non sunt lampades vacue,
vasa vestra manant assidue
caritatis oleo mutue.
Vos pascitis gregem dominicum,
erogantes divinum triticum
quibusdam plus, quibusdam modicum,
prout quemque seitis famelicum.
Decus estis ecclesiasticum,
cum venerit iudex in publicum,
ut puniat omne maleficium,
sedebitis in thronis iudicum.
Verum tamen in mundi fluctibus,
ubi nemo mundus a sordibus,
quod dicitis in vestris cordibus,
compungendum est in cubilibus.
Insistite piis operibus
bene vestris utentes opibus,
nam deo dat, qui dat inopibus,
ipse deus est in pauperibus.
Vt divina testatur pagina
opes multe sunt justo sarcina,
20,3 mobilis scheint hier den sinn von servilis zu haben, die ereatur ist eine res mobilis, wie das vieh
in des herrn hand, vgl. Ducange s. v. mobilitas.
23,3 keine anspielung auf das bekannte lied des Thomas von Celano (im beginn des 13 jh.), da der tag
des zorns aus der bibel entnommen war (proverb. 11. 4).
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 191
summa virtus est elemosina, presul dedit mihi hoc pallium,
dici debet virtutum domina. majus habens in celis premium
35 Hanc commendo vobis pre ceteris, quam Martinus, qui dedit medium.
abscondatur in sinu pauperis, 40 Nunc est opus, ut vestra copia
crede mihi, si quid deliqueris, sublevetur walis inopia:
per hanc deum placare poteris, dent nobiles dona nobilia,
34 Hanc commendo vobis precipue, aurum, vestes, et his similia.
hec est via vite perpetue, 41 Ne pauperi sit excusacio,
quod salvator ostendens congrue det quadrantem gazofilacio;
dixit: omni petenti tribue. hece vidue fuit oblacio,
35 Seitis ista, neque vos doceo, quam divina commendat racio.
sed quod scitis facere moneo; 42 Viri digni fama perpetua
pro me loqui jam tandem debeo, prece vestra complector genua,
(non) sum puer, etatem habeo. ne recedam hine manu vacua,
36 Vitam meam vocis enucleo, ‚fiat pro me collecta mutua.
paupertatem meam non taceo, 45 Mea vobis patet intentio,
sic sum pauper, et sic indigeo, vos gravari sermone sentio,
quod tam siti quam fame pereo. unde finem sermonis facio,
37 Non sum nequam, nullum deecipio, quem sic finit brevis oratio:
uno tantum laboro vitio, 44 Prestet vobis creator Eloy
nam libenter semper accipio, caritatis lechitum olei,
et plus mihi quam fratri cupio. spei vinum, frumentum fidei,
38 Si vendatur propter denarium et post mortem ad vitam provehi.
indumentum quod porto warium, 45 Nobis vero mundo fruentibus,
grande mihi fiet obprobrium; vinum bonum sepe bibentibus,
malo diu pati jejunium. sine vino deficientibus
39 Largissimus largorum omnium nummos multos pro largis sumptibus.
amen.
33,3 dies von Ovid (met. 1,361) gelemte crede mihi pflegten die deutschen mönche gern im munde
zu führen, vgl. Haupts zeitschr. 2, 191.
35, 4 ich bin schon majorenn, vgl. leg. Liutpr. 2,45 de puero qui infra aetatem est. X, 7nennt er sich juvenis.
39,4 ein verbreiteter und ganz volksmälsiger zug der heiligenlegende: quodam hiemali tempore per por-
tam Ambiennensium transiens pauperem quemdam nudum obvium habuit, qui cum a nullo eleemosynam
accepisset, Martinus hune sibi servatum intelligens arrepto ense clamidem, quae sibi tantum super erat, di-
vidit, et partem pauperi tribuens reliqua rursus induitur. Leg. aur. cap. 162. In einer predigt des 13 jh. bei
Grieshaber s. 73: waiz got, daz tet s. Martin niht, der gab sin vele (velum, voile) einem armen durftigen
durch got. Ebenda s. 167: wan dö er den durftigen sach sizzen under dem tor also nachende in dem win-
ter, dö zöch er sine vele ab sinem libe und gab im die.
44,2 lechitus für lecythus, AyxvSog flasche.
Fama tuba dante sonum
excitata vox preconum
clamat viris regionum,
advenire virum bonum,
5 patrenm pacis et patronum,
cui Yienna parat tronum.
Multitudo marchionum,
turba strepens istrionum
jam conformat tono tonum;
10 genus omne balatronum
intrat ante diem nonum,
quisque sperat grande donum.
ego caput fero pronum,
tanquam frater sim latronum,
15 reus, inops racionum,
sensus egens et sermonum.
Nomen wvatis vel personam
manifeste non exponam,
sed quem fuga fecit Jonam,
20 per figuram satis bonam
Jone nomen ei ponam.
Lacrimarum fluit rivus,
quas effundo fugitivus,
intra celum semivivus,
25 tuus quondam.adoptivus;
sed pluralis genitivus
nequam nimis et lascivus
mihi factus est nocivus.
Voluptate volens frui
comparabar brute sui,
nec cum sancto sanctus fui;
11.
Jacos Grimm:
Archipoeta.
55
40
55
60
unde timens iram tui,
sicut Jonas dei sui,
Jugam petens fuga rui.
Jonam deprehensum sorte,
reum tempestatis orte
condempnatum a cohorte
mox absorbent ceti porte.
sic et ego dignus morte,
prave wivens et distorte,
cujus carnes sunt absorte,
sed cor manet adhuc forte,
reus tibi. vereor te
miserturum mihi forte.
Ecece Jonas tuus plorat,
culpam suam non ignorat,
pro qua ceftus eum vorat,
veniam vult et implorat,
ut a peste qua laborat
solvas eum, quem honorat,
tremit, colit, et adorat.
Si remittas hunc reatum,
et si ceto das mandatum,
cetus, cujus os est latum,
more suo dans hiatum
vomet valem decalyatum,
et ad portum destinatum
feret fame tenuatum,
ut sit rursus vates vatum,
scribens opus tibi gratum.
te divine mentis fatum
ad hoc jussit esse natum,
26 was er unter genitivus pluralis versteht, sieht man aus vers 88, Raynouard 3, 458 hat s. v. genitiw
beide bedeutungen, die von genitoire und dem casus. So brauchen wir heute noch vocalivus für einen
schlauen, hinterlistigen gesell.
65
70
75
ver begrif aulser gebrauch gekommen ist, fruritus darf man auch ohne Festus (O. Müller 98) vorausse-
tzen. Ebenso steht dem nah verwandten adpwv kein dpwv zur seite. Ein gedicht aus dem letzten drittel
des 12 jh. in Mones anz. 1838 s.10 hat gleichfalls mores infrunitos. Andere stellen sammelt Henschel in
der neuen ausg. des Ducange 3, 828° Altfranz. erfruns (couronn. Renart 511); provenz. efruns (Rayn.
gedichte des miltelalters auf könig F' riedrich I. den Siaufer.
ut decore probitatum
et exemplis largitatum
reparares mundi statum.
Hunc reatum si remittas,
inter enses et sagittas
tutus ibo, quo me mittas,
non timebo Ninivitas,
neque gentes infronitas,
vincam vita patrum vitas,
vitans ea, que tu vitas;
poetrias inauditas
scribam tibi, si me ditas.
Vt jam loquar manifeste,
pauperlatis premor peste,
stultus ego, qui penes te
nummis, equis, wictu, veste
80
85
90
I.
dies omnes duxi feste,
nunc vesanus plus Oreste
male vivens et moleste,
trutannizans inhoneste,
omne festum duco meste;
res non eget ista teste.
Pacis auctor, ultor litis,
esto vati tuo mitis,
neque credas imperitis.
genitivis Jam sopitis
sanctior sum heremilis,
quiequid in me malum seitis
amputabo, si velitis;
ne nos apprehendat sitis,
ero palmes et tu vitis.
Archipoeta.
Omnia tempus habent, et ego breve postulo teınpus,
ut possim paucos presens tibi reddere versus
electo sacro, presens in tegmine macro,
virgineo more non hoc loquor absque rubore.
5 vive vir inmense, tibi concedit regimen se,
consilio cujus regitur validaqgue manu jus.
pontificum flos es, et maximus inter eos es,
incolumis vivas, plus Nestore consilii vas,
70 infronitus, stultus, arrogans, bei Seneca und Gellius znfrunitus, eins der vielen adj., deren positi-
3,971), vgl. franz. effronte, mlat. infrontatus (Ducange 3, 828°).
8,59: saepe ab hujusmodi Zruttanis (f. trutannis) illusus estis. Concil. trevir. a.1227 bei Martene coll.
amp]. 4, 117:
73 vgl. IV, 7,4 poetria carmen (Ducange s. v.), altfranz. poetrie, engl. poetry.
82 irutannus (roman. truan, truand. Raynouard s. y.) ist ein bettler und vagant. Caesarius heisterbac.
Trutannizare also herumstreichen, das volk betriegen.
Philos.- histor. Kl. 1843.
Bb
19
sacerdotes non permittant /rutannos et alios vagos scolares aut goliardos cantare versus etc.
19:
10
15
20
Jacos Grimm:
vir pie, vir juste, precor ut moneam precibus te,
vir racione vigens dat honorem tota tibi gens,
ampleeti minimos magni solet esse viri mos;
cor miseris flecte, quoniam probitas decet hec te,
pauperie plenos solita pietate fove nos,
et transmontanos vir transmonlane juva nos.
nulla mihi certe de vita spes nisi per te,
Jrigore sive fame tolletur spiritus a me,
asperitas brume necat horriferumque gelu me,
continuam tussim pacior tanquam tisicus sim,
sencio per pulsum quod (non) a morte procul sum,
esse probant inopes nos corpore cum reliquo pes,
unde verecundo vultu tibi verba pretundo,
in tali veste non sto sine fronte penes te;
liber ab interitu sis, et memor esto mei tu!
IV.
Archipoeta.
1 Archicancellarie, vir discrete mentis,
cujus cor non agitur levitatis ventis
aut morem transgreditur viri sapientis,
non est in me forsitan id quod de me sentis.
2 Audi preces domine veniam petentis,
exaudi suspiria gemitusque flentis,
et opus impositum ferre non valentis,
quod probare potero multis argumentis.
3 Cujus in perpetuum servus & poeta,
ibo si preceperis etiam trans freta,
et quodcumque jusseris scribam mente leta,
sed angusti temporis me coartat meta.
4 Jubes angustissimo spacio dierum
me tractare seriem augustarum rerum,
quas neque Virgilium posse nec Homerum
annis quinque scribere constat esse verum:
Vis et infra eirculum parve septimane
au
148 = phthisicus,
4,4.2 wortspiel mit angustus und augustus.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
bella scribam fortia breviter et nane,
que vix in quinquennio scriberes, Lucane,
vel tu vatum maxime, Maro mantuane.
6 Fir wirorum optime parce tuo wali,
qui se totum subieit tue voluntati.
precor, cum non audeam opus tantum pati,
ut rigorem temperes ardui mandati.
7 Nosti quod in homine non sit ejus via,
prophecie spiritus fugit ab Helia,
Helyseum deserit sepe propheeia
nec me (semper) sequitur mea poetria.
8 Aliquando facio versus mille eito,
et tunc nulli cederem versuum perito,
sed post tempus modicum, cerebro sopito,
versus a me fugiunt carminis oblito.
9 Que semel emittitur neseit vox reverti,
scripta sua corrigunt etiam diserti,
versus volunt corrigi denuoque verti,
ne risum segnicies pariat inerti.
10 Loca vitant publica quidam poetarum,
et secretas eligunt sedes latebrarum,
student, instant, (vigilant), nec laborant parum,
et vix tandem reddere possunt opus clarum.
11 Jejunant et abstinent poetarum chori,
vitant rixas publicas et tumultus fori,
et ut opus faciant quod non possit mori
moriuntur studio subditi labori.
42 Unicuique proprium dat natura munus,
ego nunquam potui scribere jejunus,
me jejunum vincere posset puer unus;
sitim & jejunium odi quasi funus.
15 ÜUnicuique proprium dat natura donum,
ego versus faciens bibo vinum bonum,
et quod habent melius dolia cauponum,
tale vinum generat copiam sermonum.
14 Tales versus facio, quale vinum bibo,
195
5,2 weil nanus einen homo brevis bedeutet, wird hier nane für breviter gebraucht; ich wüste nicht,
dals die romansprachen auf solche weise mit dem wort verführen.
Bb2
196 Jacos Grimm:
nichil possum facere nisi sumpto cibo,
nichil valent penitus, que jejunus scribo:
Nasonem post (calices) carmine preibo.
15 Michi nunquam spiritus prophecie datur,
nisi prius fuerit venter bene satur;
dum in arce cerebri Bachus dominatur,
in me Phebus irruit et miranda fatur.
16 Scribere non valeo pauper et mendicus
que gessit in Latio cesar F' redericus,
qualiter subactus est tuseus inimicus,
preter te, qui cesaris integer amicus.
47 Poeta pauperior omnibus poelis,
nichil prorsus habeo nisi quod videtis,
unde sepe lugeo, quando vos ridetis:
nec me meo vitio pauperem putetis.
18 Fodere non debeo, quia sum scolaris
ortus ex militibus preliandi gnaris,
sed quia me terruit labor militaris
malui Virgilium sequi, quam te, Paris.
19 Mendicare pudor est, mendicare nolo,
fures multa possident, sed non absque dolo;
quid ergo jam faciam, qui nec agros colo,
nec mendicus fieri, nec fur esse volo?
20 Sepe de miserie mee paupertatis
congueror in carmine wiris litteratis ;
laici non capiunt ea que sunt vatis,
et nil mihi retribuunt. quod est notum satis.
21 A wiris teutonicis multa solent dari,
digni sunt pre ceteris laude singulari;
presules Italie presules avari,
pocius ydolatre debent nominari,
vix quadrantem tribuunt pauperi scolari.
quis per dona talia poterit ditari?
[89
139)
Doleo, cum video leccatores multos
penitus inutiles penitusque stultos,
nulla prorsus animi racione fultos,
serieis et variis indumentis cultos.
18,4 Paris bedeutet held, vgl. Phyllis et Flora 12, 1,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
23
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25
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30
Vellem soli milites eis ista darent
et de nobis presules nostri cogitarent,
non leonum spoliis asinos ornarent;
sed dum querunt gloriam pietate carent.
Eia nunc pontifices pietatis mire,
cum poeta soleat foris esurire,
mimi solent cameras wvestras introire,
qui nil seiunt facere preter insanire.
Pereat ypocrisis omnium parcorum,
scimus quod avarus est cultor idolorum,
commendetur largitas presulum largorum:
electus Colonie primus est eorum.
In regni negociis potens et peritus
a regnı negocıo nomen est sorlılus,
precepti dominici memor, non oblitus,
tribuit hilariter, non velud invitus.
Vnde fit, ut aliquid petere presumam
nudus ego metuens frigus atque brumam,
qui vellus non habeo nec in lecto plumam;
tam libenter mihi det, quam libenter sumam.
Archicancellarie, spes es mea solus,
in te non est macula, non est in te dolus;
longa tibi tempora det fatalis colus,
eujus illustrabitur claritate polus.
Nummos, quos tu dederas, bene dispensavi,
pauperem presbiterum hac estate pavi,
ut te deus protegat in labore gravi,
et coram te corruant inimici pravi.
Largum habens dominum nolo parcus esse,
nolo sine socio mea frui messe,
nobilis est animi pluribus prodesse,
largo nunquam poterit animo deesse.
197
26 am rand zu dieser strophe mit gleichzeitiger schrift: Rustica deflenti parvo jurave(rat olim), der be-
ginn des avianischen, im 12 jh. langst bekannten fabelbuchs; wie es scheint ohne allen bezug auf unsern
text.
26,2 der eigenname des erzkanzlers braucht hier, und in keinem dieser lieder ausgedrückt zu sein, je-
dermann kennt ihn; Reinaldus oder Reginaldus, Regnaldus wird aber geschickt auf regnum ange-
wandt; schon den Gothen war raginön regnare.
198 Jıcos Grimm:
31 Secundum quod habeo tribuo libenter
neque panem comedo solus et latenter,
et non sum qui curias intrem imprudenter,
sicut illi faciunt quorum deus venter.
32 Archicancellarie, spes et vita mea,
in quo mens est Nestoris et vox ulixea
Christus tibi tribuat annos et trophea,
et nobis facundiam, ut scribamus ea.
N
Archipoeta.
1 Nocte quadam sabbati somno jam refectus,
cum mihi fastidio factus esset lectus,
signo crueis muniens frontem, vultum, pectus,
indui me vestibus, quibus eram tectus.
2 Sic dum nec accumberem neque starem rectus,
tantus meis naribus odor est injectus, 1
quantum nunquam protulit spica nardi, nec thus,
neque liquor balsami recens et electus.
(>)
Ortus erat lucifer, stella matutina,
cum perfusus undique luce repentina
sum raptus ad ethera quadam vi divina:
ubi deus raptor est, dulcis est rapina. '
4 Repente sub pedibus hunc relinguo mundum,
et in orbem videor ingredi secundum,
cujus admirabile lumen et jocundum,
non valet exprimere verbis os facundum.
5 Non est ibi gemitus neque vox dolentis,
ubi sanctus populus inmortalis gentis
liber a periculis, tutus a tormentis,
32,2 cod. ilixea.
3,1 also auch ein traum gegen morgen (vuxres duoAyö), wo er am wahrhaftigsten ist (deutsche mythol.
s.1099).
3,3 solch eine entzückung auch in der apocalypsis Goliae 417:
His gestis deferor in summa nubium,
coelumque raptus sum usque ad tertium;
und in 'Thetis et Lyaeus 2: Tum ego in spiritu vel in carne gravi
raptus sum et terlium coelum penetravi.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 199
pace summa fruitur et quiete mentis.
6 Ibi pulchritudinem vidi domus dei,
ipsum tamen oculi non videre mei:
nam divine tantus est splendor faciei,
quod mirantur angeli, qui ministrant ei.‘
7 Hic nec Arist(ot)ilem vidi nee Homerum,
tamen de sentenciis nominum et rerum,
de naturis generum atque specierum
magnus mihi protulit Augustinus verum.
S Post hec ad archangelum loquens Michaelem,
qui regit per angelos populum fidelem,
ab eo sum monitus, ut secreta celem
et celi consilia nemini revelem.
9 Vnde quamvis cernerem de futuris multa,
que sunt intellectibus hominum sepulta,
celi tamen prodere videor occulta;
tu vero ne timeas, presul, sed exulta.
10 Tibi deputatus est unus angelorum,
super omnes alios habet is decorum,
sicut tu virtutibus operum clarorum
meritis preradias omnium proborum.
11 Hujus ope prelia te wicisse scias,
ut des deo gloriam, non superbus fias,
tui dux itineris est per omnes vias,
de tuis excessibus preces fundens pias.
12 Per hunc regnum Siculi fiet tu juris,
ad radicem arboris ponitur securis,
tyrannus extollitur, et est sine curis,
sed ejus interitus venit instar furis.
15 Nolo tibi denique nimium blandiri
neque meo domino blandiens mentiri,
nemo potest adeo mundus inveniri,
ut sit sine macula mens et actus viri.
14 Ille sanctus inchtus gemma sacerdotum,
6,3 am rand: propinaculum, was ich nicht fasse, auch wenn man propinnaculum ändert; es hat aber
mit dem texte nichts zu schaffen.
11,1 siege in den jahren 1158. 1162. 1166. 1167 erfochten.
14,1 er meint den h. Martinus, vgl. str. 19.
15
16
ART
19
20
21
16,3 die terra ridentium, wo niemand weint (5,1), ist der himmel, das land der wonne, im gegensatz
Jıcos Grimm:
cujus nomen omnibus reor esse notum,
qui suis miraculis replet orbem totum,
se dieit adversum te nimis esse motum.
Cumque vellet conqueri de te coram deo,
vix querelam distulit flexus fletu meo,
flebam namque graviter, sicut sepe fleo,
lacrimis inducias postulans ab eo.
Fluebant ab oculis lacrimarum rivi,
et quia compescere lacrimas nequivi,
de terra ridentium lacrimans exivi
inventus in lectulo more semivivi.
Precor ergo domine, flos presentis evi,
ut ad sancti gratiam redeas in brevi,
res ejus diripiunt quidam lupi sevi,
quas tu restituere verbo potes levi.
Quamvis incessabilis sarcina curarum
mentem tuam distrahat nec fatiget parum,
scire tamen opus est, quod sit deo carum
juvare viriliter res ecclesiarum.
Fac ergo concordiam cum sancto Martino,
qui pro te multociens me potavit vino,
quod hec pax sit melior quam cum Palatino
novit quisquis agitur spiritu divino.
Cum te wir sanctissimus vellet accusare
vix eum prohibui lacrimans amare,
et quia sic volui pro te laborare
debes mihi magnum quwd in hoc festo dare.
Tussis indeficiens et defectus vocis
cum ruinam nuncient obitus velocis,
circumdant me gemitus in secretis locis,
nec jam libet solitis delectari jocis.
Quamvis tamen moriar et propinquem fini
et me fata terreant obitus vicini,
non possum diligere zomen Palatıni,
per quem facta carior est lagena vini.
zur erde, dem thränenthal.
17,1 vgl. II, 7.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 201
23 Aftlixit injuriis populum et clerum,
sed de tot injuriis diversarum rerum
ego non conquerer(er), ut jam loquar verum,
nisi mihi carius venderetur merum.
24 Üt tyrannis comitis exponatur ipsi,
tales versus facio quales nunquam seripsi,
omne ve quod legitur in apocalipsi
ferat, nisi liberet vites ab eclipsi.
25 Interim me dominus iuxta psalmum David
regit, et in pascue claustro collocavit;
hie michi, non aliis, vinum habundavit,
abbas bonus pastor est, et me bene pavit.
VI.
Archipoeta.
En habeo versus, te precipiente, reversus,
sit (tibi) frons leta versus recitante poeta.
laudibus eternum nullus negat esse Salernum,
üllue pro morbis totus circumfluit orbis.
5 nec debet sperni, fateor, doctrina Salerni,
quamvis exosa michi sit gens ılla dolosa;
quid sim passus ibi nequit ex toto modo scribi.
Jam febre vexatus nimioque dolore gravatus
hie infirmabar, quod vivere posse negabar,
10 et michi dicebant mediei, qui signa videbant:
‘ecce, poeta, peris, non vives, sed morieris!’
sed febrem tandem medicina fugavit eandem.
nostri languoris testis tibi sit color oris,
in vultu pallor apparet adhuc, nisi fallor,
15 dum sapiens fieri cupio medicusque videri
insipiens factus sum mendicare coactus.
nunc mendicorum socius sum, non medicorum,
nudus et incultus cunctis appareo stultus,
pro vili panno sum vilis parque tyranno,
20 nec me nudavit ludus neque fur spoliavit,
pro solo victu sic sum spoliatus amictu,
25,2 cod. reget.
Philos.-histor. Kl. 1843. Ge
202
©
Qu
Jacos Grimm:
pro victu vestes consumpsi, dii michi testes.
Dum redeo didiei populi tocius ab ore,
quod tua distribuas solo pietatis amore;
per mundum redoles tanto bonitatis odore,
cesaris adjutor, speciali dignus honore.
Te pauper sequitur, te predicat omnis egenus,
ideirco quod sis hilaris dator atque serenus,
tu miseris pater es multa dulcedine plenus,
nulla quidem virtus est, a qua sis alienus.
Cum de presulibus male quisque loquitur avaris,
omnes extollunt te laudibus undique claris,
tu cum trans alpes famosus ut hic habearis,
re famam superas, non a fama superaris.
Optime vir, cujus soror est et amica Minerva,
qua bene cuncta regis quamyis in gente proterva,
ne totum dones aliis, vero (quid) michi serva.
Vir pie, qui nunquam bursam pro paupere nodas,
quantum sis largus largo michi munere prodas,
inde peeta tuus tibi scribam carmen et odas.
sit finis verbi verbum laudabile do, das.
vn.
Archipoeta.
Archicancellarie, viris major ceteris
splendore prudentie, qua prudentes preteris,
jubar es ecclesie, sicut sol est etheris.
Laudes tibi canimus, cujus luce jubaris
illustratur animus Friderici cesaris,
quod libenter facimus, cum sis dator hilaris.
Pollens bonis moribus et nitore generis,
in humanis artibus et divinis litteris,
ter sis major omnibus, nullo minor ederis.
Vir fortis et sapiens, fortunam non sequeris,
in adversis patiens, modestus in prosperis,
3,3 über den alpen, in Deutschland (vgl. II, 14) wie hier, in Italien.
4,3 scheint ein vers ausgefallen.
3,3 cod. stab. cum sis... .. crederis.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
10
11
6,2 cod. David.
6,3 cod. Martino.
cuncta bene faciens recta vi» graderis.
Ulixe facundior, tulliane loqueris,
columba simplicior nulli fraudes ingeris,
serpente callidior a nullo deeiperis.
Alexandro fortior inimicos conteris,
Davide mansuetior a cunctis diligeris,
et Martino largior das quod juste peteris.
In regni negotio fit quodcungue precipis,
qui sine consilio nichil prorsus incipis:
invidet tanto socio mens romani principis.
Adhue starent menia Mediolanensium,
nec cesar per prelia wictor esset hostium,
nisi dei gratia te dedisset socium.
Electum Colonie, elaris dignum laudibus,
pre multa pauperie nudis laudo pedibus,
conqueror hoc hodie coram sanctis omnibus.
Dum sanctorum omnium colitur celebritas,
singuli colentium gerunt vestes inclitas,
archicancellarü vwatem pulsat nuditas.
Poeta composuit racionem rithimicam,
atyrus imposuit melodiam musicam,
unde bene meruit mantellum et tunicam.
VIH.
Archipoeta.
Presul urbis Agripine,
qui rigorem discipline
bonitate temperas,
nichil agens indiscrete
ne sit fama mendax de te
vita famam s(uperas).
(cetera desunt)
11,2 atyrus? ich denke satyrus, der flötende waldgeist, faun.
Ce?
9
y
03
(0%)
Jaıcog Grimm:
IX.
Ad Fridericum cesarem.
(cod. stabul.)
Salve mundi domine, cesar noster
cujus bonis omnibus jugum est su
quisquis contra calcitrat putans illud gr
obstinati cordis est et cervieis pr
Princeps terre principum, cesar Frider
cujus tuba titubant arces inim
tibi colla subdimus tygres et form
et cum cedris Libani vepres et mir
Nemo prudens ambigit, te per dei n
super reges alios regem constit
et in dei populo digne consec
tam vindicte gladium quam tutele sc
Unde diu cogitans, quod non esset tut
cesari non reddere censum vel trib
vidua pauperior tibi do min
de cujus me laudibus pudet esse m
Tu foves et protegis magnos et min
magnis et minoribus tue patent f
omnes ergo cesari sumus debit
qui pro nostra requie sustinet lab
Dent fruges agricole, pisces piscat
auceps volatilia, feras venat
nos poete pauperes, opum contempt
scribendo cesareos canimus hon
Filius ecclesie fidem sequor s
contempno gentilium falsitatem v
unde jam non invoco Febum vel Di
nec a Musis postulo linguam tulli
Christi sensus imbuat mentem christi
ut de Christo dominum digna laude c
qui potenter sustinens sarcinam mund
relevat in pristinum gradum rem rom
ave
ice
utum
ores
anam
$,2 der von gottes gnaden, durch Christi befehl herr und könig ist.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
9 Scimus per desidiam regum roman
ortas in imperio spinas impi
et sumpsisse cornua multos popul
de quibus commemoro gentem Lombard
orum
10 Que dum turres erigit more gigant
volens altis turribus obviare d
contumax et fulmine digna ciclop
co
instituta prineipum sprevit ausu r |
11 De tributo cesaris nemo cogit
omnes erant cesares, nemo censum d abat
civitas Ambrosü velud Troja st
deos parum, homines minus formid
12 Dives bonis omnibus et beata s
nisi quia voluit repugnare f Ark
cujus esse debeat summa libert
ut, quod erat cesaris, daret ei gr
13 Surrexit interea rex jubente d
metuendus hostibus tamquam ferus 1
similis in preliis Jude Machab
de quo quiequid loquerer minus esset
14 Non est ejus animus in curanda c |
eo
curam carnis comprimit animi virt Yre
de communi cogitans populi sal
pravorum superbiam premit servit
15 Quanta sit potentia vel laus Frider
cum sit patens omnibus, non est opus d
qui rebelles lancea fodiens ultr
ici
representat Karolum dextera vietr
16 Hic ergo considerans orbem conturb
potenter agens dicat opus deo gr AR
et ut regnum revocet ad priorem st
repetit ex debito cesar civit
17 Prima suo domino paruit Pap
urbs bona, flos urbium, clara, potens, p
digna fores laudibus et topograph
nisi quod nunc utimur brevitatis v
18 Post Papiam ponitur urbs noyari
eujus (in) prineipio dimicavit en
frangens et reverberans viribus inm
impetum superbie mediolan
[597
206
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Jacos Gkımnm:
Carmine, Noparia, sepe meo v
cujus sunt per omnia commendandi c
inter urbes alias eris laude d
donec desint alpibus frigora vel n
Letare, Noyaria, nunquam vetus f
meis te carminibus renovari sc
fame tue terminus nullus erit d
nune est tibi reddita post laborem qu
Mediolanensium dolor est inm
pro dolore nimio conturbatur s
civibus Ambrosi furor est acc
dum ab eis petitur, ut a servis, c
Interim precipio tibi, Constant
jam depone dexteram, tue cessent m
Mediolanensium tante sunt ru
quod in urbe media modo regnant sp
Tantus erat populus atque locus
si venisset Grecia tota cum Ach
in qua tot sunt menia, tot potentes v
non eam subjicere possent armis m
Jussu tamen cesarıis obsidetur 1
donec ita venditur esca sicut cr
in tanta penuria non est ibi j
ludum tandem cesaris terminavit r
Sonuit in auribus angulorum t
et in maris insulis hujus fama g
quam si mihi liceat plenius ref
hoc opus Eneidi poteris pref
Modis mille scribere bellicos confl
hostiles insidias et viriles
quantis minis impetit ensis hostem str
qualiter progreditur castris rex inv
Erant in /talia greges vispill
semitas obsederat rabies pred
ives
ies
ensus
ine
ille
Ocus
erre
ictus
onum
20,4 Reiffenberg:
22,1 Reiffenberg
solcher name vor.
nuel, der 1167 zu gunsten des pabsts gegen Friedrich handelte; vgl. 30, 2.
nec,
: prineipio. Wen versteht er aber unter Constantin? bei den Mailändern kommt kein
Meint er den griechischen kaiser, als nachfolger Constantins? der damalige hie/s Ema-
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
28
29
30
32
quorum cor ad scelera semper erat pr
quibus malum facere videbatur b
Cesaris est gloria, cesaris est d
quod jam patent omnibus vie regi
dum ventis exposita corpora latr
surda flantis Boree captant aure s
Iterum describitur orbis ab aug
redditur respublica statui vet
onum
; 5 , usto
pax terras ingreditur habitu ven
et jam non opprimitur justus ab inj
Volat fama cesaris velut velox
hac audita trepidat imperator gr Bu
jam quid agat nescius, jam timore c
timet nomen cesaris, ut leonem p
Jam tiranno siculo Siculi detre
Siculi te sitiunt, cesar, et expe ah
jam libenter Apuli tibi genufle
mirantur quid detinet, oculos hume
Archicancellarius viam prepar
dilatavit semitas, vepres extirp h
ipse jugo cesaris terram subjug a
et me de miserie lacu liber
Imperator nobilis, age sicut
sicut exaltatus es, exaltare m
i agis
fove tuos subditos, hostes cede pl 5
m (m \ss un) sen mu) mn u sun mn
super eos irruens ultione str
X.
Poete confessio.
Estuans intrinsecus ira vehem
in amaritudine loquor mee m enti
factus de materia levis elem
folio sum similis, de quo ludunt v
28,3.4 hänga vindga meidi ä&. Sem. 27°; vargtre vindköld. Sem. 271°.
30,1 ecus = equus, vgl. Phyllis 30, 4.
31, 3 genuflectare f. genu flectere.
1,3 cod. monac. cinis elementi.
I
208
Jacos Grimm:
Cum sit enim proprium vero sapi
supra petram ponere sedem fundam
stultus ego comparor fluvio lab
sub eodem aere nunquam perman
Feror ergo veluti sine nauta n
ut per vias aeris vaga fertur
non me tenent vincula, non me tenet el
quero mei similes et adjungor pr
Mihi cordis gravitas res videtur gr
locus est amabilis duleiorque f
quidquid Venus imperat labor est su
qui nunquam in cordibus habitat igu
Via lata gradior more juvent
implico me viciis immemor virt
voluptatis avidus magis quam sal
mortuus in animo curam gero €
Presul discretissime, veniam te pr
morte bona morior, dulei nece n
meum pectus sauciat puellarum d
et quas tactu nequeo, saltem corde m
Res est arduissima vincere nat
in aspectu virginis mentem esse p
juvenes non possumus legem sequi d
leviumque corporum non habere c
Quis in igne positus igne non ur
quis Papie demorans castus habe
ubi Venus digito juvenes ven
oculis illaqueat, facie pred
Si ponas Ypolitum hodie Pap
non erit Ypolitus in sequenti d
enti
avis
utis
ecor
uram
atur
ie
cod. monac.
cod. monac.
cod, monac.
cod. monac.
cod. monac.
viro sapienti.
eodem tramite.
implicor et.
in anima.
juvenumque.
Wright s. 72: quis in mundo demorans.
cod. monac.
oculos inlaqueat, facies predatur.
cod. monac. si feras Hippolytum. Hippolytus ein märtyrer des 3. jh.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 209
10
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12
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15
16
Veneris in thalamos ducunt omnes v
non est in tot turribus turris Aleth
Secundo redarguor etiam de I
frigidus exterius mentis estu s
sed cum ludus corpore me dimittit n
tunc versus et carmina meliora c
Tertio capitulo memoro tab
illam nullo tempore sprevi neque sp
donec sanctos angelos venientes c
cantantes pro mortuis requiem et
Meum est propositum in taberna m
vinum sit appositum morientis
tune cantabunt letius angelorum ch
sit deus propitius huic potat
Poculis accenditur animi luc
cor imbutum nectare volat ad sup
mihi sapit duleius vinum de tab
quam quod aqua miscuit presulis pinc
Unicuique proprium dat natura m
ego nunquam potui seribere jej
me jejunum vincere posset puer
sitim et jejunium odi tanquam f
Unicuique proprium dat natura d
ego versus faciens bibo vinum b
et quod habent purius dolia caup
vinum tale generat copiam serm
Tales versus facio, quale vinum b
nil possum incipere nisi sumpto c
|
|
|
|
|
}
udo
ernam
ori
erna
unus
onum
ibo
9,3 cod. monac. V. ad thalamum omnes currunt vie. Wright: hunc ad opus V.
9,4 Wright: Aliciae, cod. mon. Galathiae, nach Docen anspielend auf Pamphilus und Galatea, wovon ein
altfranz. gedicht in Jena sei.
11,4 cod. venet. pro ebriis. Wright: pro mortuo.
12,2 cod. ut sit vinum perennum m. 0. cod. mon. ubi yina proxima m. 0. cod. venet. ut sint vina proxima
sitienti ori.
12,3. cod. venet. dicant ut cum venerint bibulorum chori, d. s. p. tanto p.
13 folgen im cod. monac. 18. 19. 16. 17. 14. 15.
43,1 cod. oculis.
15,4 cod. mon. tale vinum.
Philos.- histor. Kl. 1843.
Dd
210 Jıcos Grimm:
nichil valent penitus, que jejunus ser
Nasonem per calices carmine pre
17 Mihi nunquam spiritus poetrie d
nisi prius fuerit venter bene s Re
dum in arce cerebri Bachus domin
in me Phebus irruit et miranda f
18 Loca vitant publica quidam poet
et secretas eligunt sedes tenebr
arum
student, instant, vigilant, nec laborant p
et vix tandem reddere possunt opus el
19 Jejunant et abstinent poetarum ch
vitant rixas publicas et tumultus f
ori
et ut opus facianft, quod non possit m
moriuntur studio, subditi lab
20 Ecce mee proditor pravitatis f
de qua me redarguunt servientes t | He
sed eorum nullus est aceusator s
quamvis velint IJudere secundoque fr
21 Jam nune in presentia presulis be
secundum dominici regulam mand afi
mittat in me lapidem neque parcat v
cujus non est animus conscius pece
22 Sum locutus contra me quiequid de me n
et virus evomui, quod tam diu f | Er
vita vetus displicet, mores placent n
homo videt faciem, sed cor patet J
23 Jam virtutes diligo, viciis ir
renovatus animo, spiritu ren | aa
quasi modo genitus novo lacte p
ne sit meum amplius vanitatis v
16,4 cod. mon. post calicem jejunus. Wright: post calices.
18,2 cod. sedes late tenebrarum; offenbar sollte erst latebrarum geschrieben werden. Cod. mon. late-
brarum.
18,4 cod. mon. vix inde.
19,4 Reiffenberg liest moriantur.
20,3 cod. mon. sed eorum nullius accusator fui.
21,4 cod. mon. est aliquis.
22,4 cod. mon. homo videt facie, corda patent Jovi.
23,1 cod. mon. Nam.
23,4 cod. mon. mihi a. y. Zascor. Das allein richtige vas cor ist unzweifelhaft.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 211
24 Electe Colonie, parce penit
fac misericordiam veniam pet
et da penitentiam culpam confit ar
feram quiequid jusseris animo lib
25 Pareit enim subditis leo rex fer
et est erga subditos immemor ir
arıum
et vos idem facite, principes terr
quod caret dulcedine nimis est am
Auszüge aus dem Münchner codex.
1192 Quod si placet verum seribi,
unus tantum portus ibi
una tantum insula,
ad quam licet appellari (')
et fracturam reparari
cum fracta navicula.
Petrus enim papiensis,
qui electus meeldensis,
portus vere dieitur;
nam cum mare fluctus tollit,
ipse solus mare mollit,
et ad ipsum fugitur.
Est (et) ibi major portus,
fetus ager, florens ortus,
pietatis balsamum:
Alexander ille meus,
meus inguam, cui det deus
paradisi thalamum.
= Ille fovet litteratos,
cunctos malos incurvatos,
si posset, erigeret.
24,1 cod. mon. nunc egenti.
24,2 cod. mon. famulo petenti.
24,3 cod. mon. culpae penitenti.
25,1 cod. mon. Assis ergo subditis immemor irarum,
parcit enim subditis leo rex ferarum
Den löwen hatte gerade zur zeit des dichters der verfasser des Isengrimus als könig der thiere vorgestellt.
(‘) Appellare für appellere, applicare.
Dd2
9492 Jacos GriImm:
verus esset cultor dei,
nisi latus Elysei
et Jezi corrumperet.
Franco nullius miseretur,
nullum sexum reveretur,
nulli pareit sanguini:
omnes illuc dona ferunt,
illuc enim ascenderunt
tribus tribus domini.
f. 9 cardinales — cogunt bursam vomere.
f. 10° papa, si rem tangimus, nomen habet a re,
quisquid agunt alii, solus vult papare;
vel si nomen gallicum vis apocopare:
paga, paga dele marc, si vis impetrare.
f. 14° Hoerstu friunt den wahter an der cinne (Docens misc. 2, 307 aus
einem wächterliede des Otto von Botenloube, Ms. 1, 16°).
f. 15° Heu voce flebili cogor enarrare
facinus, quod accidit nuper ultra mare,
quando Saladino concessum est vastare etc.
(gedruckt in Aretins beitr. 7, 297 und wiederholt bei du Meril p. 411-414).
f. 17° Exultemus et cantemus canticum victorie,
et clamemus, quas debemus, laudes regi glorie,
qui salvavit urbem David a paganis;
hodie festum agitur, dies recolitur,
in qua Dagon (') frangitur,
natus Agar pellitur, Abimelech vincitur,
Terusalem eripitur et christianis redditur ete. etc.
Anno Christi incarnationis,
anno nostre reparationis
millesimo centesimo
septuagesimo septimo
rex eterne glorie,
dono sue gralie,
tenebrosam nebulam scismatis fugavit,
quassamque naviculam Symonis salvavit.
hoc chaos obduxerat
orbem immo infecerat
(*) Ein syrischer abgott.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 213
annis quater quinis,
scismatum pruinis
scintilla caritatis alserat facta jam cinis.
Hoc decus concordie
sanxit los Saxonie
noster felix pontifex
Wichmannus omnis pacis artifex
mira gratia,
per quem talia fiunt consilia,
que hunc errorem
valent reducere sic ad pacis honorem etc. etc.
Passeres illos, qui transmigrant supra montes,
Alexander quartus, sagax et fidelis
archivenator illaqueavit,
vulpes, que demoliuntur vineas, captivavit,
anguem stravit, qui disseminavit
discolum virus, quod infrigidavit
igniculum fidei, quique cecavit (').
f. 30° Dum caupona verterem vino debachatus etc.
f. 32° Tune respondens inquiens: stella matutina () etc.
f. 36° Veris duleis in tempore florenti
stat sub arbore Juliana
cum sorore Dulcisamor.
refl. qui te caret hoc tempore fit vilior.
f. 385° Exiit diluculo rustica puella
cum grege, cum baculo, cum lana novella;
(') Unmittelbar nach einem ereignis des j. 1177 muls es auffallen Alexander den vierten erwähnt zu
finden, der von 1254 bis 1261, fast hundert jahre später auf dem päbstlichen stuhl sals; das widerspricht
dem inhalt der hs. und der feststellung ihres alters. Alexander der dritte (+ 1181) würde passen; sollten
sich dichter oder abschreiber in der zahl geirrt haben? ich wüste auch nicht, dals dem dritten Alexander
irgend ein gegenpabst vorausgegangen wäre, der mitgezählt ihn zum vierten machen könnte. Acht blätter
voraus war von einem Alexander die rede, welchen der dichter den seinigen nennt, der aber gar kein pabst,
sondern ein geistlicher zu Pavia gewesen zu sein scheint; sollte auch dieser Alexander quartus auf ihn oder
jemand andern als den pabst zu deuten sein? bei den lateinischen dichtern wie den troubadours herschte
gibellinische gesinnung vor und man findet die päbste weit eher angegriffen als gepriesen. Das worauf in
unsrer stelle gewiesen wird, läfst sich nicht bestimmt fassen; wer soll unter den vom erzjäger bestrickten
sperlingen, die über die berge wandern, gemeint sein?
(°) Ein lieblicher kosename; auch ein dentscher dichter redet an ‘min morgensternlin!” MSH. 3, 307°
und in Polen wird geschmeichelt ‘gwiazdo’, “iutrzenko!” (Linde 2, 925° ).
214 Jıcos Grimm:
sunt in grege parvulo ovis et asella,
vitula cum vitulo, caper ct capella.
conspexit in cespite scolarem sedere:
“quid tu facis domine? veni mecum ludere!
f. 49 Cur suspectum me tenet domina?
cur tam torva sunt in me lumina?
refl. Tort a vers mei dama.
Testor celum celique numina,
que verentur (]. veretur) non novi erimina. Tort etc.
Celum prius candebit messibus,
feret aer ulmos cum vitibus, Tort etc.
Dabit mare feras venantibus,
quam Sodome me jungam civibus. Tort. etc.
Licet multa tirannus spondeat
et me gravis paupertas urgeat. Tort etc.
Non sum tamen cui plus placeat
id quod prosit, quam quod conveniat. Tort ete.
Naturali contentus Venere
non didiei pati sed agere. Tort etc.
Malo mundus et pauper vivere
quam pollutus dives existere. Tort etc.
Pura semper ab hac infamia
nostra fuit Briciauuia ('). Tort etc.
Ha peream quam perimit (? primum) patria
sordis hujus sumant (l. sumat) inicia. Tort etc.
f. 50° Dulce solum natalis patrie (?),
domus joci, thalamus gratie,
vos relinguam aut cras aut hodie
periturus amoris rabie.
Vale tellus, valete socii etc.
f. 51° Plange regem Anglia, nuda patrocinio,
(‘) Der vers fordert ein sechssilbiges wort, falls nicht der eigenname andere scansion gestattet, es wäre
leicht Brisiacawia, Brisacagawia zu vermuten. Ed. du Meril poesies popul. latines, der s. 123 dies gedicht
aus Wolfs leichen s. 433 entlehnt, will Brescia (warum nicht auch Brixia?) avia; was sollte aber hier avia?
(*) Altfranzösische dichter nennen ihr vaterland oft “dowce France’ z. b. Meon 2,311. Berte 149. Aimon
91,442. und so wird übersetzt “das sueze lant van Frankeriche’ in Roths denkm. 10, 28; auch mn]. Rei-
naert 2263 “int soete lant’ (von Waes). Bei mhd. dichtern treffe ich diesen schönen zug von vaterlands-
liebe nicht, aber in Westfalen gibt es ein Sauerland.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 215
fulcimento Gallia, virtus domicilio etc.
Versa est in luctum eythara JValtheri,
non quia se ductum extra gregem cleri
vel ejectus doleat, vel abjecti lugeat
vilitatem morbi,
sed quia considerat, quod finis accelerat
improvisus orbi.
Refl. Libet intueri
judices ecclesie, quorum status hodie
pejor est quam heri.
Umbra cum videmus valles operiri,
proxime debemus noctem experiri,
sed cum montes videris et colles cum ceteris
rebus obscurari;
nec fallis nec falleris, si mundo tunc asseris
noctem dominari.
f. 52° Dum Philippus moritur Palatini gladio,
virtus mox conteritur scelerosi vicio,
dulcis mos obtegitur a doli diluvio.
heu, quo progreditur fidei transgressio!
lex amara legitur, dum caret principio,
mel in fel convertitur, nulla viget ratio.
versus. :
Ante dei vultum nil pravi constat inultum.
felices oculi, qui cernunt gaudia celi,
grande scelus grandi studio debet superari.
f. 55° Exul ego clericus ad laborem natus
tribulor multociens paupertati datus;
litterarum studiis vellem insudare,
nisi quod inopia cogit me cessare.
Ille meus tenuis nimis est amictus,
sepe frigus pacior, calore relictus,
interesse Jaudibus non possum divinis,
nec misse nec vespere dum cantetur finis.
Decus .H. dum sitis insigne ('),
postulo suffragia de vobis indigne,
(') in dieser zeile ist der abgekürzte name fünfsilbig zu ergänzen, da nun decus einen genitiv des ortes
fordert, rathe ich auf Herbipoleos.
216
f. 56°
f. 62?
Jıcos Grimm:
ergo mentem capite similem Martini ('),
vestibus induite corpus peregrini,
ut vos deus transferat ad regna pol(or)um,
ibi dona conferat vobis beatorum.
Cedit hyemps tua duricies,
frigor abiit, rigor et glacies,
brumalis est feritas abies (l. rabies),
torpor et improba segnicies,
pallor et ira, dolor et macies.
Veris adest elegans acies,
clara nitet sine nube dies,
nocte micant Pliadum facies,
grata datur modo temperies,
temporis optima mollicies.
Nunc Amor aureus advenies,
indomitos tibi subicies.
tendo manus, michi quid facies?
quam dederas rogo concilies,
et dabitur saliens aries.
Der starche winder- etc. (Docen 2, 197).
Si ist schoener den vrowe Dido was,
si ist schoener denne vrowe Helenä,
si ist schoener denne vrowe Pallas,
si ist scheener denne Ecubä,
si ist minnechlicher denne vrowe Isabel
unde vrölicher denne Gandile,
mines hercen chle (°)
ist tugunde richer denne Baldine (°).
Salve ver optatum
amantibus gratum,
gaudiorum fax, multorum
florum incrementum.
multitudo florum,
(*) Fafsteuch einen Martinus mut, ein herz wie M.; mhd. sagt man ‘den sin nemen.’ Iw. 1487. Otto-
car 436°.
(?) Parz. 710, 28 “mines herzen verch’, meines herzen seele; irre ich nicht, so brauchen die Serben dje-
telina (klee) wie perunika und andere blumennamen für die geliebte.
(°) Das lied fehlt in Docens misc. 2, 201.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 217
et color colorum
salvetote, et estote
jocorum argumentum.
dulcis avium concentus
sonat, gaudeat juventus,
hyemps seva transiit, nam lenis spirat ventus.
Tellus purpurata
floribus, et prata
revirescunt, umbre crescunt,
nemus redimitur.
lascivit natura,
omnis creatura
leto vultu, elaro cultu
ardor investitur.
Venus subditos titillat,
dum nature nectar stillat;
sic ardor venereus amantibus seintillat etc.
(Aretins beitr. 9, 1315.)
f. 65° Ab (') estatis floribus Amor nos salutat,
humus picta floribus faciem commutat.
flores amoriferi jam arrident tempori,
perit absque Venere flos etatis tenere.
Omnium principium dies est vernalis,
vere mundus celebrat diem sui natalis,
omnes hujus temporis dies festi Veneris,
regna Jovis omnia hec agant solempnia.
Diu werlt etc. (Docen misc. 2, 201.)
O consocri, quid vobis videtur,
quid negocii vobis adoptetur?
leta Venus ad nos jam ingredietur,
illam chorus Driadum sequetur;
O quam, socii (?), tempus est jocundum,
dies ocii redeunt in mundum,
ergo congaudete, cetum letabundum,
tempus salutantes (hoc) jocundum!
Venus abdicans cognatum Neptunum
(*) Ab mit der bedeutung per ist romanisch. Raynouard 1, 6.10. Oder zul. foribus, an der schwelle?
(?) Cod. quos socii.
Philos.- histor. Kl. 1843. Be
218 Jacos Grimm:
venit applicans Bachum oportunum
quem dea pre cunctis amplexatur unum,
quia tristem spernit et jejunum.
Ergo lucens (') cetus hic imbutus
signa Veneris militet (?) secutus,
estimetur autem laicus et brutus,
nam ad artem surdus est et mutus.
His numinibus volo famulari,
his et omnibus, qui volunt beari;
que dem (°) excellente populo scolari,
ut amet et faciat amari?
Suoziu etc. (Docen 2, 201).
f. 69° veni veni venias, ne me mori facias,
hyria.hyrie, nazaza trilliriuos.
f. 72° Florem Flora vide, quem dum videas mihi ride,
flore Floremene, tua vox cantus Phylomene (*),
oscula des flori, rubeo flos convenit ori.
flos in pictura non est flos, imo figura,
qui pingit florem, non pingit floris odorem.
f. 73° Antioche cur decipis me etc.
(aus dem Apollonius von Tyrus).
De Phyllide et Flora.
al Anni parte florida, celo puriore,
picto terre gremio vario colore,
dum fugaret sidera nuncius Aurore,
liquit somnus oculos Phyllidis et Flore.
2 Placuit virginibus ire spatiatum,
nam soporem rejicit pectus sauciatum:
equis ergo passibus exeunt in pratum,
ut et locus faciat Judum esse gratum.
3 Erant ambe virgines et ambe regine,
Phyllis coma libera, Flora comto crine,
(') Für lucens fordert reim und metrum ein dreisilbiges wort wie etheris (aetheris), generis; aber wel-
chen sinn gäbe luceris?
(?) Cod. militem.
(°) Cod. quedam.
(*) Vgl. meine anmerkung zur Ecbasis s. 322.
2,3 Wr. gressibus.
4,3
4,4
5,2
5,3
6,2
7,1
7,2
9,2
9,3
10,2 Wr. istam de.
gedichte des mitielalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
Wr.
10
non sunt forme virginum, sed forme divine,
et respondent facies luci matutine.
Nec stirpe nec facie nec ornatu viles
et annos et animos habent juveniles,
sed sunt parum impares et parum hostiles,
nam huic placet clericus, illi vero miles.
Non est differentia corporis aut oris,
omnia sunt communia et intus et foris,
sunt unius habitus et unius moris,
sola differentia modus est amoris.
Susurrabat modicum ventus tempestivas,
locus erat viridi gramine festivus,
et in ipso gramine defluebat rivus
vivus atque garrulo murmure lascivus.
Ad augmentum decoris et caloris minus
füit secus rivulum spaciosa pinus,
venustata foliis, late pandens sinus,
nec intrare poterat calor peregrinus.
Consedere virgines, herba sedem dedit,
Phyllis prope rivulum, Flora longe sedit,
et cum sedit utraque ac in sese redit,
amor corda vulnerat et utramque ledit.
Amor est interius latens et occultus,
et corde certissimos elieit singultus,
pallor genas infieit, alterantur vultus,
sed in verecundia furor est sepultus.
Phyllis in suspirio Floram deprehenhit,
et hanc de consimili Flora reprehendit,
pares impares et pares h.
illi placet.
omnia similia sunt intus.
ejusdem h. et ejusdem.
gramine viridi.
Ut puellis noceat calor solis minus.
fuit juxta.
certissimo.
alternantur. Vgl. ital. alterare, franz. alterer.
Ee2
219
220 Jacos Grimm:
altera sic alteram mutuo deprehendit,
tandem morbum detegit et vultus ostendit.
11 Iste sermo mutuus multum habet more,
et est quedam series tota de amore,
amor est in animis, amor est in ore;
tandem Phyllis incipit et arridet Flore:
12 ‘Miles, inquit, inclite, mea cura, Paris,
ubi modo militas, vel ubi moraris?
o vita militie vita singularis
sola digna gaudio Dionei laris!’
15 Flora ridens oculos jacet in obliquum,
dum puella recolit militem amicum,
et in risu loquitur verbum inimicum:
“‘amens, inquit, poteras dicere mendicum.
14 Sed quid, Alcibiades, facis, mea cura?
res creata dignior omni creatura,
quem beavit omnibus gratiis natura:
o sola felicia clericorum jura!’
15 Floram Phyllis arguit de sermone duro,
in sermone loquitur Floram commoturo,
nam “ecce virguncula' inquit ‘corde puro,
cujus pectus nobile servit Epicuro!
16 Surge, surge, misera, de furore fedo,
solum esse clericum Epicurum eredo;
nihil elegantie clerico concedo,
cujus implent latera moles et pinguedo.
47 A castris libidinis cor habet remotum,
10,3 Wr. altera sic alteri mutuo rependit.
10,4 Wr. et quid sit ostendit.
11,2 Wr. quidem.
42,2 Wr. ubi nunc moraris.
13,4 Twerhe blicke Iw. 6092. twerhiu ougen Walth. 57, 36. twerhez sehen. Walth. 59, 9.
13,4 Wr. amas et quem poteras.
44,4 Wr. Aristoteles facit.
14,2 Wr. pulcrior.
15,2 Wr. et sermone.
15,4 Wr. nobili.
16,1 Wr. surge inquit m.
47,1 Wr. cupidinis.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
17,4 Wr.
18,1 Wi.
18,3 Wr.
18,4 Wr.
49,1 Wr.
20,2 Wr.
20,3 Wr.
ZA Wr.
21,4 Wr.
22,4 Wr.
23,3 Wr.
18
19
20
21
22
25
quod est.
qui somnum desiderat et cibum et potum;
o puella nobilis, omnibus est notum,
quam sit longe militis ab hoc voto votum.
Solis necessariis miles est contentus,
somno, cibo, potui non vivit intentus,
amor illi prohibet ne sit somnolentus,
ceibus, potus militis amor et juventus.
Quis amicos copulet nostros loro pari?
lex nature prohibet illos copulari,
meus novit ludere, tuus epulari,
meo semper proprium dare, tuo dari.
Haurit Flora sanguinem vultu verecundo,
et apparet pulchrior in risu jocundo,
et tandem eloquio resonat facundo
quod corde conceperat artibus fecundo.
‘Satis plus quam deceat, Phyllis, es astuta,
nimis es eloquio velox et acuta,
sed non efficaciter verum prosecuta,
ut per te prevaleat lilio cicuta.
Dixisti de clerico quod indulget sibi,
servum somni nominas et potus et cibi:
sic solet ab invido probitas describi;
ecce parum, patere, respondebo tibi.
Tot et tanta, fateor, sunt amici mei,
quod nunquam incogitat aliene rei,
celle mellis, olei, Cereris, Lyei,
aurum, gemme, pocula famulantur ei.
rebus militaribus.
ille.
potus cibus,
quos.
secundo.
tandem in el. reserat.
Satis inquit libere.
dieis quod pr.
parum tolera.
vasa mellis, tritici, olei.
[6>)
222 Jacos Grimm:
24 In tam dulei copia vite, clericalis,
quod non potest aliqua pingi voce talis,
valet et duplieibus semper plaudit alis
amor indeficiens, amor immortalis.
25 Sentit tela Veneris et amoris ictus,
non tamen est clericus macer et afflictus,
quippe nulla copie parte .derelictus,
cui respondet animus domine non fictus.
26 Macer est et pallidus tuus preelectus,
pauper et vix pallio sine pelle tectus;
nec vires nec animum nec robustum pectus,
nam cum causa deficit, deest et effectus.
Turpis est pauperies imminens amanti,
D
{I
quid prestare poterit miles postulanti?
sed dat multa clericus et ex abundanti,
tante sunt- divitie reditusque tanti.
25 Flore Phyllis objieit: ‘multum es perita
in utrisque studiis, in utraque vita,
satis probabiliter es pulchre mentita;
sed hec altercatio non quiescat ita.
29 Orbem cum letificat hora lucis feste,
tune apparet clericus satis inhoneste
in tonsura capitis et in atra veste,
portans testimonium voluntatis meste,
30 Non est adeo fatuus aut Omnino cecus,
cui non appareat militare decus;
24,2 Wr. aliquis voce pingi.
24,3 Wr. volat.
25,2 Wr. non est tamen.
25,3 Wr. gaudii parte.
26,3 Wr. non sunt arctus validi.
28,2 Wr. in utroque studio vel.
28,3 Wr. et pulcre.
29,2 Wr. tum.
29,3 vgl. 37, 2; wäre das gedicht bereits nach stiftung der bettelorden geschrieben, so würde die
schwarze tracht des hier unter dem clericus gemeinten Benedictinermönchs nicht mehr auszeichnend ge-
wesen sein.
30,1 Wr. Non est ullus adeo fatuus et cecus,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
tuus est in otio quasi brutum pecus,
meum tegit galea, meum portat ecus.
31 Meus armis dissipat inimicas edes,
et si forte prelium solus intrat pedes,
dum tenet Bucephalum suus Ganymedes,
ille me commemorat inter ipsas cedes.
32 Redit fusis hostibus et pugna confecta,
et me sepe respieit galea rejecta,
ex his et ex aliis ratione recta
est vita militie mihi preelecta.
35 Movit iram Phyllidis et pectus anhelum,
et remittit multiplex illi Flora telum:
‘frustra' dixit ‘loqueris, os ponens in celum,
et per acum.niteris figere camelum.
34 Mel pro felle deserius et pro falso verum
approbans militiam reprobando clerum,
facit amor militem strenuum aut ferum?
non, immo pauperies et defectus rerum.
35 Multum est calamitas militis attrita,
sors illius dura est et in arto sita,
cujus est in pendulo dubioque vita,
ut habere valeat vite requisita.
36 Pulchra Phyllis, utinam sapienter ames,
nec veris sententiis amplius reclames;
tuum domat militem sitis atque fames,
quibus mortis petitur et inferni trames.
31,4 Wr. Miles minis dissipat i. sedes.
31,2 Wr. meus init pedes.
31,3 Wr. quadrupedem.
31,4 Wr. me saepe.
31,4 vgl. deutsche mythologie s. 371.
33,4 Wr. trahere.
34,2 Wr. quod probus militiam inprobando.
35,1 Wr. Militis cal. multum est.
35,2 Wr. dira,
35,3 Wr. dubio penduloque.
36,2 Wr. meis sententiis.
36,3 Wr. et sitis et.
224 Jacos Grimm:
37 Non dicas obprobrium, si cognoscas morem,
vestem nigram clerici, comam breviorem,
habet ista clericus ad summum honorem,
ut sese significet omnibus majorem.
38 Universa clerico constant esse prona,
et signum imperii portat in corona,
imperat militibus et largitur dona:
famulante major est imperans persona.
39 Ociosum clericum semper esse juras;
viles spernit operas, fateor, et duras,
sed cum ejus animus evolat ad curas,
celi vias dividit et rerum nafuras.
40 Meus est in purpura, tuus in lorica,
tuus est in prelio, meus in lectica,
ubi facta principum recolit antiqua;
scribit, querit, cogitat totum de amica.
41 Quid Dione valeat et amoris deus,
primo novit clericus et instruxit meus,
factus est per clericum miles cythereus;
est semper hujusmodi tuus sermo reus.
42 Liquit Flora pariter vocem et certamen,
et sibi Cupidinis exigit examen.
Phyllis primum obstrepit, acquiescit tamen,
et probato judice redeunt per gramen.
45 Totum in Cupidine est certamen situm,
suum dicunt judicem verum et peritum,
quia juris noverit utriusque ritum:
jamjam sese preparant, ut eant auditum.
44 Pari forma virgines et pari colore,
pari voto militant et pari pudore,
40,3 Wr. relegat.
44,1 Wr. Dianae.
44,2 Wr. et amicus meus.
44,4 Wr. illis et hiis modis est.
43,3 Lanfrancus, im beginn des 13. jh. wird als erster juris utriusque doctor angegeben (Savigny gesch.
des röm. rechts im MA. 5,68); immerhin konnte der ausdruck jus utrumque schon früher gebraucht und
unter Italienern vernommen worden sein.
43,4 Wr. et jam.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
Phyllis veste candida, Flora bicolore,
mulus vector Phyllidis erat, equus Flore.
45 Mulus quidem Phyllidis mulus erat unus,
quem creavit, aluit, domuit Neptunus:
hunc post apri rabiem, post Adonis funus
misit pro solatio Cytheree munus.
46 Pulchre matri Phyllidis et probe regine
illum tandem prebuit Venus hiberine,
eo quod indulserat opere divine:
ecce Phyllis possidet datum leto fine.
47 Hic decebat nimium virginis persone,
pulcher erat habilis et stature bone,
qualem esse decuit, quem a regione
tam longinqua miserat Neptunus Dione.
48 Si qui de suppositis et de freno querunt,
quod totum argenteum dentes muli terunt,
sciant, quod hec omnia talia fuerunt,
qualia neptunium munus decuerunt.
49 Non decore caruit illa Phyllis hora,
sed satis apparuit dives et decora,
et non minus habuit utriusque Flora:
nam equi predivitis frenis domat ora.
50 Equus ille domitus pegaseis horis
satis pulchritudinis habet et decoris,
pietus artificio varii coloris,
nam mixtus nigredini color est oloris.
45,3 Wr.
45,4 Wr.
46,3 Wi.
46,4 Wr.
47,4 Wr.
47,3 Wr.
47,% Wr.
48,1 Wr.
49,4 Wr.
50,1 Wr.
50,2 Wr.
50,4 Wr.
quem post,
in solatium.
ei.
illum dato fine.
Congruebat nimium.
bonum morem docuit quem de r.
Nereus.
Qui de superpositis vel de freno q.
nam zque pr. freno.
Equus fuit d. p. loris.
multum p. h. et valoris.
candor est.
Philos.-histor. Kl. 1843. Ff
226 Jıcos Grimm:
51 Pulcre fuit’habilis, etatis primeve,
et respexit paululum timide, non seve,
cervix fuit ardua, 'coma sparsa leve,
auris parva, prominens pectus, caput breve.
Dorso pando jaeuit virgini sessure
au
[86]
spina, que non senserat aliquid pressure;
pede cavo, tibia recta, longo crure,
totum fuit sonipes studium nature.
55 KEquo superposita radiabat sella,
ebur enim' medium ‘clausit auricella,
et cum essent quatuor selle capitella,
venustavit singulum gemma velut stella.
54 Multa de preteritis rebus et ignotis
erant mirabilibus ibi sculpta notis,
nuptie Mercurii, superis admotis,
fedus matrimonii, plenitudo dotis.
55 Nullus ibi locus est vacuus aut planus,
habet plus quam capiat animus humanus,
solus illam. sculpserat hec spectans Vulcanus,
vix hec suas credidit potuisse manus.
56 Pretermisso elypeo Muleiber Achillis
laboravit phaleras et indulsit illis
ferraturam pedibus, frenum et maxillis,
et habenas addidit de sponse capillis.
57 Sellam texit purpura subinsuta bysso,
quam Minerva, religuo studio dimisso,
athamo texuerat et flore narcisso,
51,2 Wr. munde non.
52,1 Wr. cessurae,
52,3 cod. dedit cavo. Wr. largo crure.
52,4 Wr. totus.
53,1 Wr. A qua supraposita congruebat.
53,2 Wr. claudit auri cella.
53,4 Wer. eingulum.
54,4 Wr. foedus matrimonium.
55,2 Wr. erat plus.
55,3 Wr. illa sc. aurifex.
55,4 Wr. condidisse.
57,3 de arante texerat (doch was soll hier nochmals tegere, da schon texit vorausgeht und was wäre
aus de arante zu machen? statt des auch unverständlichen athamo vielleicht: e ihymo texuerat?)
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 227
et per partes marginum fabricavit scisso.
58 Equitabant pariter ambe domicelle,
vultus verecundi sunt et gene tenelle:
sic emergunt lilia, sie rose novelle,
sic decurrunt pariter due celi stelle.
59 Ad Amoris destinant ire paradisum,
duleis ira commovet utriusque visum,
paris pulchritudinis decus est illisum;
fert Phyllis aceipitrem manu, Flora nisum.
60 Parvo tractu temporis nemus est inventum,
ad ingressum nemoris murmurat fluentum,
ventus inde redolet myrrham et pigmentum,
audiuntur tympana cythareque centum.
61 Quidquid potest hominum comprehendi mente,
totum ibi virgines audiunt repente,
vocum differentie sunt illic invente,
sonat diatessaron, sonat diapente.
62 Tympanum, psalterium, Iyra, symphonia
sonat et mirabili plaudit harmonia,
sonant ibi phiale voce valde pia,
et buxus multiplici cantum edit via.
63 Sonant omnes volucrum lingue voce plena,
vox auditur merule dulcis et amena,
corydalus garrulus, turtur, philomena,
que non cessat conqueri de transacta pena.
64 Instrumento musico, vocibus canoris,
tum diversi specie contemplata floris,
57,4 Wr. margine fimbria inciso.
58,1 Wr. duae.
58,3 Wr. erumpunt.
59,3 Wr. Phillis Florae Phillidi Flora movet risum.
60,3 Wr, myrrhis.
61,1 Wr. hominis.
62 mit drei zeilen aus dieser strophe bricht der cod. ab, die er so gibt:
Sonant voces ayium modulatione pia
et buxum multiplici cantum edit via
et amorıs stu—
ich gebe diese strophe und alles folgende aus Wright p. 265-267, nur nehme ich von der Münchner hs.
cantum edit statt des bei Wr. unverständlichen: movet vitae via.
Ff2
2
8
65
66
67
68
69
710
71
72
—I
[WP7
74
JAacos Grimm:
tum odoris gratia redundante foris
conjectatur teneri thalamus Amoris.
Virgines introeunt modico timore,
et eundo propius crescunt in amore;
sonant queque volucrum proprio rumore,
accenduntur animi vario clamore.
Immortalis fieret ibi manens homo,
arbor ibi quelibet suo gaudet pomo,
vie myrrha, einnamo fragrant et amomo:
conjectari poterat dominus ex domo.
Vident choros juvenum et domicellarum,
singulorum corpora corpora stellarum,
capiuntur subito corda puellarum
in tanto miraculo rerum novellarum.
Sistunt equos pariter et descendunt, pene
oblite propositi sono cantilene;
sed auditur iterum sonus philomene
et statim virginee recalescunt vene.
Circa silve medium locus est occultus,
ubi viget maxime suus deo cultus,
fauni, nymphe, satyri, comitatus multus
tympanizant, coneinunt ante dei vultus.
Portant thyma manibus et coronas florum,
Bachus nymphas instruit et choros faunorum:
servant pedum ordines et instrumentorum,
sed Silenus titubat et salit in chorum.
Sompnes (l. sompnos) urget senior asino pervectus (l. provectus),
et in risus copiam solvit dei pectus,
clamat ‘io’, remanet sonus imperfectus,
viam vocis impedit vinum et senectus.
Inter hec aspicitur Cytheree natus,
vultus est sidereus, vertex est pennatus,
arcum leva possidet et sagittas latus:
satis potest conjici potens et elatus.
Sceptro puer nilitur floribus perplexo,
stillat odor nectaris de capillo pexo;
tres assistunt Gratie digito connexo,
et Amoris calicem tenent genu flexo.
Appropinquant virgines et adorant tute
[89]
[88]
oo
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
deum venerabili einetum juventute,
gloriantur numinis in tanta virtute,
quas deus considerans prevenit salute.
75 Causam vie postulat. aperitur causa,
et laudatur utraque tantum pondus ausa,
ad utramque loquitur, modo parum pausa,
donec res judicio reseretur clausa.
76 Deus erat, virgines norunt deum esse,
retractari singula non fuit necesse,
equos suos deserunt et quiescunt fesse.
Amor suis imperat, judicent expresse.
77 Amor habet judices, Amor habet jura,
sunt Amoris judices usus et natura,
istis tota data est curie censura,
quoniam preterita sciunt et futura.
78 Eunt, et justitie ventilant vigorem,
ventilant et retrahunt curie rigorem
secundum scientiam et secundum morem:
ad amorem clericum dicunt aptiorem.
79 Comprobavit curia dietionem juris
et teneri voluit etiam futuris;
parum ergo precavent rebus noeituris
que sequuntur militem, et fatentur pluris. (')
79,1 wart volge getan.
79, 2 vgl. de ordine vagorum 9, 1 imis teneatur.
(') Da schon im liede 72? der dichter seine geliebte Flora und Floramene nennt, darf man nicht zwei-
feln, dafs auch in diesem längeren streitgedicht, welches den vorzug eines geistlichen liebhabers vor dem
weltlichen darstellt, sie als Flora von ihm, dem clericus, besungen werde. Aber die beziehung von Flora
und Phyllis (laubast) erinnert an die berühmte, dem zwölften jh. sicher schon bekannte sage von Flore
und Blancajlor, auf welche z. b. die gräfın von Dia in einem liede anspielt (Rayn. 2, 304), nur dafs diese
namen zwischen liebhaber (Floris, früher wol Floro?) und der geliebten (Blancaflor) getheilt sind, hier
zwischen zwei jungfrauen. Der vermutete zusammenhang erhebt sich zur gewisheit durch die verglei-
chung altfranzösischer, unserm lateinischen liede entsprechender gedichte; ich meine das jugement d’amour
oder de Florance et de Blancheflor (Neon 4, 354-365) und Hueline et Aiglantine (Meon nouyeau re-
eueil 1, 353-363), in jenem liegt die ähnlichkeit der namen noch augenscheinlicher vor, und auch in diesem
bezeichnet Aiglantine den weilsdorn (blancaflor); es ist ein liebliches märchen vom zwist der blumenjung-
frauen, den sie vor den richtstul des liebesgottes bringen und da schlichten lassen. In beiden französischen
dichtungen, zumal.dem ersten, wird der eigentliche rechtsgang genauer berichtet als im lateinischen lied:
die vögel mengen sich in den streit und nehmen partei, papegai und nachtigall treten auf als zweikämpfer
für Florance, die den ritter, und für Blancheflor, die den mönch liebt; die nachtigall siegt und das gericht
230
Jıcos Grimm:
f. 84 Estuans interius etc. Unser zehntes, an den erzkanzler gerichtetes ge-
dicht, nach der 25' strophe aber noch mit den fünf folgenden wichtigen vermehrt:
26 Cum sit fama multiplex de te divulgata,
veritati consonent omnia prolata,
colorare stultum est bene colorata,
et non decet aliquem serere jam sata.
27 Raptus ergo specie fame decurrentis
veni non in modicum verba dare ventis,
sed ut rorem gratie de(m) profunde mentis,
preciput sed dominus trahat offerentis.
28 Vide, si complaceat tibi, me tenere,
in scribendis literis certus sum wvalere,
et si forsan aceidat opus imminere,
vices in dietamine potero supplere.
29 Hoc si recusaveris, audi quod attendas,
pauperlatis onera (l. oneri) pie condescendas
et ad penas hominis hujus depellendas
curam aliquatenus muneris impendas.
30 Pater mi, sub brevi tam multa comprehendi,
quia doctis decens est modus hie loquendi,
et ut prorsus resecem notam applaudendi,
non in verbo logieus (l. longius) placuit protendi.
f. 86° De conjlictu vini et aque.
4 Denudata veritate non est bona, nec laudari
suceinctaque brevitate debet, imo nuncupari
racione varia, melius confusio.
dico quod non copulari 3 Vinum sentit aquam secum;
debent, imo separari, dolens inquit: “quis te mecum
que sunt adversaria. ausus est conjungere?
2 Cum in cypho reponuntur surge, exi, vade foras,
vinum, aqua, conjunguntur, nec eodem loco moras
talis (l. talium) conjunctio mecum debes facere.
thut seinen spruch zu gunsten des geistlichen. Der überwundnen Florance bricht aber das herz, alle vögel
begraben sie und werfen blumen über sie. Diese schönen züge entgehen dem latein. gedicht, aus welchem
schon deshalb die französischen nicht entsprungen sein können, so grols die ähnlichkeit aller drei, zumal in
der ausführlichen schilderung der pferde und des sattelzeuges ist. Gemeinsame quelle für sie sämmtlich
muls eine schon am schlufs des 12. jh. in mund oder schrift umgehende fabel gewesen sein; so viel ich
weils haben dieses stofs altdeutsche dichter sich nicht bemächtigt, was zu verwundern ist. Eine alt-
englische übersetzung gibt Wright p. 364-371.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 331
4 Vilis et inverecunda
rimas queris, ut immunda
mundi loca subeas;
super terram debes teri,
et cum terra commisceri,
ut in lutum transeas.
5 Mensa per te non ornatur,
nullus homo fabulatur
in tua presentia;
sed qui prius est jocundus,
ridens verboque facundus
non rumpit silentia.
si sit sanus, tunc egrotat,
conturbas precordia:
tonat venter, surgit ventus,
qui inclusus, non ademtus
multa dat supplicia.
tunc diversos reddit flatus,
exuritque gutture,
et cum ita dispensatur
venter, aer perturbatur
a corrupto munere.
8 Aqua contra surgit ila:
“turpis jacet tua vita
in magna miseria;
qui sunt tui potatores,
vitam perdunt atque mores
tendentes ad vitia.
9 Tu scis linguas impedire,
titubando solet ire
tua sumens basia,
verba recte non discernens
Cum quis de te forte potat,
Sed cum venter est inflatus,
10
11
12
centum putat esse, cernens
duo luminaria.
Et qui tuus est amator?
homicida, fornicator,
Davus, Geta, Byrria;
tales tibi famulantur,
tales de te gloriantur
tabernali curia.
Propter tuam pravitatem
nullam habes libertatem,
domos tenes parvulas,
ego magna sum in mundo,
dissoluta me diffundo
per terre particulas.
Potum dono sitienti,
ad salutem me querenti
valde necessaria. (hier bricht es ab.)
f, 87? Profertur sermo varius:
‘Deu sal mi sir, bescher deuin’! (')
tunc eum osculamur,
wir enahten niht üf den Rin,
sed Bacho famulamur.
Tunc rorant cyphi desuper,
et canna pluit mustum,
et qui potaverit nuper
bibat plus quam sit justum.
Tune postulantur tessere,
pro poculis jactatur,
nec de furore Boree
quiequam premeditatur.
In taberna quando sumus,
non curamus quid sit humus,
sed ad ludum properamus etc.
(*) Ich denke: besier de vin, ein kus oder küssen vom wei, beim trinken, die ganze zeile grulsformel
der zecher; man muls das ‘tua sumens basia’ im vorigen lied dazu halten. Im gedicht vom weinschwelg
empfängt der trinker den wein als seinen herrn mit gruls, neigen und fulsfall, und hierauf sind die bekann-
ten weinsegen gegründet. Zwischen beiden darf also auch ein kus gedacht werden.
332 JAcoB Grimm:
f.8S Das bekannte trinklied:
Bibit hera, bibit herus,
bibit miles, bibit clerus etc.
f.88° ‚Symon in Alsaciam Cutis ejus semper plena
visitare patriam velud uter et lagena,
venit ad confratres, jungit prandium cum cena,
visitare partes, ubi vinum j unde pinguis rubent (l. rubet) iena (gena),
et albinum et rufınum et si quando surgit vena,
potant nostri fratres. fortior est quam catena.
f. 90° Vns seit von Lutringen Helfrich etc. Sie religionis cultus
(Docen mise. 2, 194). in Venere movet tumultus,
f. 91.92 Leoninische verse. rugit venter in agone,
f. 92° Alte clamat Epicurus, vinum pugnat cum medone.
venter saltur est securus; vita felix ociosa
venter deus meus erit, circa ventrem operosa.
talem deum gula querit, Venter inquid, nihil curo
cujus templum est coquina, preter me, sic me procuro,
in qua redolent divina. ut in pace in id ipsum,
Ecce deus oportunus, molliter gerens me ipsum,
nullo tempore jejunus, super potum [et] super escam
ante cibum matutinum dormiam et requiescam.
ebrius eructat vinum, Nu lebe ich mir etc. (Docen 2, 207).
cujus mensa et cratera f. 95° Incipit officium lusorum.
sunt beatitudo vera. f. 94 Landrus.
Sequentia falsi evangelii secundum marcam argenti (').
‘Fraus tibi Decie’ cum sero esset una gens Jusorum, venit Decius in medio
eorum et dixit: ‘fraus vobis, nolite cessare ludere, pro dolore enim vestro missus
sum ad vos’ Primas autem, qui dieitur vilissimus, non erat cum eis quando venit
Decius. dixerunt autem alii discipuli ‘vidimus Decium! qui dixit eis: 'nisi mittam os
meum in locum peccarii (°), ut bibam, non credam. Primas autem, qui dicitur wilissi-
mus, jactabat decem, alius duodeeim, tercius vero quinque, et qui quinque projecerat,
exhausit bursam et nudus ab aliis se abscondit. Loculum humilem salvum facias
Decie, et oculos lusorum erue Decie. — — mirabantur omnes inter se, quod
Decius abstraxerat cuilibet vestes.
(‘) Vgl. das initium sancti evangelii secundum marcas argenti in Ed. du Meril poesies populaires latines
anterieures au douzieme siecle. Paris 1843 p.407. Unter sequentia versteht man eine zwischen den
kirchengesang geschaltete prosa, und das initium scheint darauf bezüglich. Fast jedes wort ist parodie.
(*) Des bechers.
.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
233
f. 95° Audientes audiant! Sieut eribratur triticum,
diu Schande vert al uber [da]z lant, alsö wil ich die herren tuon,
querens wiles [et] tenaces; liberales cum cribro,
si hät sich vermezcen des, die [bie] Bösen wisent in daz strö,
quod velit assumere viles sunt zizaniä,
die bösen herren, swie [e]z erge daz si der tievel alle erslä,
ad prodendum in Dothaim: et ut in evum pereant:
nu hin nu hin, nu hin (nu hin)! avoy avoy, alez avant!
O liberales clerici Rusticales clerici
nu merchet rehte wi dem si: semper sunt famelici,
date, vobis dabitur, die geheizent und lobent vil
ir sult län offen iwer tur
wagis et egentibüs, quisque colit et amät
sö gewinnet ir daz himelhüs
daz in sin art geleret hät,
et in perenni gaudio, natura vim non patitur,
alsus als6, alsus also.
f. 95° 4 Marchiones, Bayari, Saxones, Australes,
quotquot estis nobiles vos precor sodales,
auribus percipite noyas decretales,
quod avari pereant, et non liberales.
2 Secta nostra recipit justos et injustos,
claudos et (I. sicut) debiles, senio conbustos,
3 Bellosos, pacificos, mites et insanos,
Boemos, Teutonicos, Sclavos et Romanos,
stature mediocres, gigantes et gnanos,
in personis humiles et econtra vanos.
4 De vagorum ordine dico vobis jura,
quorum vita nobilis, duleis est natura,
quos delectat animo pinguis assatura,
revera quam faciat ordei mensura.
5 Ordo noster prohibet matutinas plane,
sunt quedam fantasmata, que vagantur mane,
per que nobis veniunt visiones vane;
sed qui tune surrexerit non est mentis sane.
2,3.4 fehlen. Senio conbusti = decrepiti.
4,4 statt jura vielleicht plura,
4, A statt revera wol verius.
5,2 vgl. deutsche myth. 450. 467.
Philos.- histor. Kl. 1843. Gg
hin vur hin vur, hin vur hin vur!
und loufen(t) hin zer Schanden zil.
234 Jıcos Grimm:
6 Ordo noster prohibet semper matutinas,
sed statim cum surgimus querimus pruinas,
illuc ferri facimus vinum et gallinas;
nil hie expavescimus preter Hashardi wminas.
7 Ordo procul dubio noster secta vocatur,
quam diversi generis populus sectatur,
ergo hic et hec et hoc ei proponatur,
quod sit omnis generis, qui tot hospitatur.
8 Ordo noster prohibet uti dupla veste,
tunicam qui recipit, [ut] vadat vix honeste,
pallium mox rejicit Decio conteste,
cingulum huic detrahit ludus manifeste.
9 Quod de summis dieitur, [in ]imis teneatur,
camisia qui fruitur bracis non utatur,
caliga si sequitur, calceus non feratur;
nam qui hoc transgreditur excommunicatur.
10 Nemo prorsus exeat hospitium jejunus,
et si pauper fuerit, semper petat munus,
inerementum recipit sepe numus unus,
cum ad ludum sederit lusor oportunus.
11 Nemo in itinere contrarius sit ventis,
nec a paupertate ferat vultum dolentis,
sed spem sibi proponat semper consulentis,
nam post grande malum sors sequitur gaudentis.
12 Ad quos perveneritis, dicatis eis, quare
singulorum cupitis mores exprobrare,
reprobare reprobos et probos probare,
et probos ab improbis veni segregare.
6,2 pruinae kühle plätze.
6,4 vgl. Haupts zeitschr. 1,577. deutsche myth. 841.
7.1 1.0. p.d. secta voecitatur (oder nuncupatur).
9,2 1. qui camisa fr.
9,3 1. sin caliga sequitur, calceus feratur.
10,1 1. hospitio.
11,4 ]. contraeat ventis, gehe gegen den wind. Die lehre kennt Tanhäuser noch Ms. 2, 69°: riten gegen
dem winde. ;
11,2 die caesur fällt hier ungewöhnlich nach der silbe fe.
12,1 1. his dicatis.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Siaufer.
596
10
Sepe de miseria mee paupertatis
conqueror in carmine viris literatis.
Poeta pauperior omnibus poetis,
nihil prorsus habeo nisi quod videtis,
unde sepe lacrimor quando vos ridetis,
nec me meo vicio pauperem putetis.
Fodere non valeo, quia sum scolaris,
ortus ex militibus preliorum ignaris;
quia me nune terruit labor militaris,
malui Virgilium quam te sequi, Paris.
Mendicare pudor est, mendicare nolo,
fures multa possident, sed non absque dolo,
quid ergo miser faciam, qui nec agros colo,
qui nee fur-nec mendicus neutrum esse volo.
Nullus ita parcus est, qui non ad natale
emat cappam, pallium, pelles vel quid tale,
sed non statim dissipat nec custodit vale (l. male),
nec ducit ad quodlibet festum, sed annale.
Parcus pelles perticat et involvit pannis,
et indutas rarius multis servat annis
a lesura, maculis, notis et a dampnis
fumi, vini, pulveris et ignis et amnis.
Vidi quosdam milites nuper convenire,
de festivis gestibus gestu superbire,
cum haberent pallia vetustatis mire,
que Ulixes rediens posset reperire.
Color sepe palliis et forma mutatur,
color (?) cum pro viridi rubrum conparatur,
vel quod est interius foris regiratur,
vel cum a tinctoribus color coloratur.
Forma cum in varias formas est mutata,
vestimenta divitum vice variata
in nova fert animus dicere mutata,
vetera vel pocius sint inveterata.
Vidi quosdam divites fame satis clare
formas in multiplices vestes variare,
contra frigus hiemis pallium cappare,
1-4 aus dem vierten liede der Göttinger hs. und danach zu berichtigen.
235
236 Jaıcos Grimm:
veris ad introitum cappam palliare.
11 Cum hoc tritum sepius sepius refecit,
et respectum sepius sepius defecit,
noluit abjicere statim nec abjecit,
sed parcentem tunice juppam sibi feeit.
12 Sie in modum Gorgonis formam transformavit,
immo mirus artifex ermofroditavit,
masculavit feminam, marem feminavit,
et vincens Tiresiam sexum terciavit.
13 Parum sibi fuerat pallium cappare,
e cönverso deinceps cappam palliare,
recappatum pallium in juppam mutare,
si non tandem faceret juppam caligare.
14 Hoc Galtherus subprior jubet in decretis,
ne mantellos veteres (vos) refarinetis,
renovari prohibens calce vel in cretis;
hoc decretum vacat jam, sicut vos videtis.
15 Excommunicamus hos et recappatores
et capparum veterum repalliatores,
et omnes hujusmodi reciprocatores;
omnes anathema sint, donec mulent mores.
f. 97° Ego sum abbas cucaniensis ('),
et consilium meum est cum bibulis,
et in secta Decii voluntas mea est;
et qui mane me quesierit in taberna,
post vesperam nudus egredietur,
et sic denudatus veste clamabit wafna, wafna!
quid feeisti sors turpissima,
nostre vite gaudia
abstulisti omnia.
f. 98° Non debet homo pius
causa schillink unius (°)
14,2 refarinare was wir heute kollern (colorer) nennen, schmutziges tuch mit kreide (mhd. kridenmel
Troj. 13989. 19871) reiben, vgl. den folgenden vers.
(*) Aus Cucania, dem Schlaralfenland; ältester beleg für einen namen, der sich hernach in dem fabliau
du pays de Coquaigne (Meon 4,175), Cocagne, dem ital. Cuecagna oder Cocagna, dem engl. Cockney wie-
derfindet. Ich führe ihn zurück auf das deutsche kuchen (ahd. chuocho), weil in diesem lande die häuser
mit kuchen und fladen gedeckt sind. Kokanisch gewant, Helbling 8, 738.
(?) Der wegfall der flexion im gen. schillink erklärt sich nach den gramm. 4,464 behandelten beispielen.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 237
verti, quod sit mentis alius,
nisi ut fuit prius.
f. 99° Archisyna(go)gus cum suis Judeis etc.
(eine art biblischen dramas von Christi geburt bis zur flucht nach Aegypten).
f. 1042. 105°
Pange vox Adonis nobilem prelatum de solio,
qui gaudet in donis et caret viciorum lolio;
est jocundus letus et affabilis,
in promisso stabilis,
providus, prudens, honorabilis.
Cum architriclino dicere possum ejus vultibus,
tu servasti vino nobili finem atque dapibus,
et post primum non datur deterius,
verum loquor verius,
funditur bonum atque melius.
Ad gradus virtutum properas ut sol ad meridiem,
paupertatis nutum senties, queres ejus faciem.
cur, fortuna vitrea, sic deficis?
cur cito non efficis,
quod sit hic in loco pontificis?
Sed si non est princeps cathedre scilicet officio,
ut clerus deinceps memorat quando (fit) electio,
est statura ceteris prestantior,
vultu elegantior,
moribus cunctis honorantior.
Major mea laude forma (?hujus est) veri hominis,
tamen sine fraude gloriam cano sui nominis,
verbi dei gratia fit ratio,
non est adulatio,
hunc decet vere collaudatio.
Huic ignoro parem circiter per totam Carinthiam,
si perambularem Saxones, Francos et Bawariam,
Swevos, Renum, vertilem (sic) Alsatiam,
ibi finem faciam,
non habet clerus talem (neuti)guam (').
(‘) Hierher gehört das oben s. 181 versprochene facsimile.
238
Jacogs Grimm:
Aus dem cod. venetus 8. Marci.
(lat. class. XIV. n® CXXVII. charlac. sec. XV.)
f. 191° versus primatis presbiteri. (')
Dum tenerent omnia medium tumultum,
post diversas epulas et post vinum multum,
postquam voluptatibus caput est invultum,
me clamarunt socii vino jam sepultum.
Tum ego in spiritu vel in carne gravi
raptus sum, et tertium celum penetravi,
ubi secretissima quedam auscultavi,
que post in concilio fratrum reseravi.
Dum sederet vehemens in excelsis deus,
et cepisset spiritus trepidare meus,
statim in concilium Thetis et Lieus
adstat, et alteruter actor est et reus.
(39 strophen, die letzte:)
Istis ergo vocibus, tale post examen
excitavi proprii somnii velamen,
et laudavi concinens patrem, natum, flamen,
usque et ad gloriam dei patris. amen.
f. 194 Signa judieü. (°)
Antequam judicii dies metuenda
veniat, sunt omnia mundi commovenda,
nam per dies quindecim mundo sunt videnda
(') Bei Wright p. 87-92 Goliae dialogus inter aquam et vinum. 44 strophen. Thetis tritt für das
wasser, Bacchus für den wein auf. Einen ganz verschiednen conflictus vini et aquae lieferte der Münchner
cod. f. 86. (vorhin s. 233).
1,3 invultum für involutum? oder kann es heilsen bezaubert? Ducange s. v. invultare. Wright: volup-
tatibus ventris est indultum, me liquerent,
2,1 Wr. at ego in spiritu non i. c. g.
3,1 Wr. sederet equidem,
3,3 Wr. ecce in judicio.
39 bei Wright:
quorum ecce vocibus tandem post examen
excitatus extuli sompnii velamen,
et laudavi consonans, patrem, natum, flamen,
terminans in gloria dei patris. amen.
(*) Aus einer Breslauer hs. theilt Sommer in Haupts zeitschr. 3,523-525 15 strophen mit, welche die
funfzehn zeichen des gerichts schildern. Sieben strophen mangeln also dieser hs.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 239
signa nimis aspera et nimis horrenda,
(22 strophen, deren letzte:)
22 Ergo quisque properet reus emendari,
studeat eriminibus omnibus lavari,
et venturum judicem curet incunctari,
ut in die valeat malis liberari.
f. 195° Consilium primatis de usore non ducenda et matrimonio non contrahendo (').
1 Sit deo gloria et benedictio,
Johanni pariter, Petro, Laurentio,
quos misit trinitas in hoc naufragio,
ne me permitterent uti conjugio.
2 Vxorem ducere quondam volueram,
ut viam sequerer quorundam miseram,
decoram virginem, pinguem et teneram,
quam inter alias solam dilexeram.
3 Hince quidam socii dabant consilium,
ut cito currerem ad matrimonium;
viam conjugii Jaudabant nimium,
ut in miseriis haberent socium.
4 Tam cito nuptias volebant fieri,
ut de me misero gauderent miseri,
sed per tres angelos, quos missos reperi,
me deus eruit a porta inferi.
5 Accensus siquidem amore virginis -
in verno tempore, cum sol in geminis,
illam elegeram in cunctis feminis,
ut ei nuberem in fide numinis.
6 Sic in perpetuum volebam subici,
et collum subdere pene multiplici,
sed a me trinitas patris magnifiei
movit per angelos in forma triplici.
7 In valle duplici, quam Mambre dicimus,
venit per angelos deus altissimus,
(*) Bei Wright p. 77-85: Golias de conjuge non ducenda. 53 strophen. Andere hss. sind überschrie-
ben: ‘de tribus angelis, qui retraxerunt a nuptiis’ oder “naufragium nubentium secundum Goliam’ Nach
Wrights introd. p. IX ist auf mehreren englischen bibliotheken eine prosaschrift “Valerius ad Rufinam de
non ducenda uxore’ vorhanden, die von //alterus Map herrühre. Vgl. oben s. 170.
2,3 pulcram et teneram,
40 ö Jıcog Grimm:
inter quos loquitur Johannes ultimus,
os habens aureum, vir consultissimus.
8 In tribus angelis accessit trinitas,
quibus vox varia, sed sensus unicus,
ut innotesceret uxoris pravitas,
quam sua gerit cordis fragilitas.
9 P.de Corbolio uxorem fragilem
probat, Zaurentius stultam et labilem;
Johannes asserit hanc nunguam humilem,
sed superbissimam et irascibilem.
40 Datur predicere P. de Corbolio,
ut sua probabilis pateat ratio;
sic ergo sequitur de matrimonio
et de nubentium labore vario.
11 Qui dueit conjugem, se ipsum onerat,
a cujus onere mors sola liberat:
vir servit conjugi et uxor imperat,
et servus factus est, qui liber fuerat.
12 Semper laboribus laborem cumulat,
labor erebreseit, qui semper pullulat:
ipse est asinus, quem uxor stimulat,
ut pascat filios, quos ipsa bajulat.
13 Se semper mulier infirmam asserit,
bibit et comedit, mingit et egerit,
at vir laboribus se multis inserit,
et tunc incipiet cum consummaverit.
(zu diesen 13 noch 34 andere strophen, worunter):
24 Plus sapientie datur Zaurentio,
nam Jaurus viridis cum pleno folio
viret in hyeme, siccat (l. sicut) in Junio;
hic sequens loquitur de matrimonio.
etc. etc.
8,4 Wr. cor semper varium, carnis fragilitas,
10,4 Wr. Datur potentia.
10,2 Wr. quae notat firmitas et petrae ratio.
10,3 Wr. hie prius loquitur.
12,2 Wr. et labor advenit et labor pullulat.
13,2 Wr. et vomit nauseam postquam conceperit.
13,3 Wr. multis atterit.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. Da
31 Johannes loquitur, in quo est gratia
afllatus spiritu majori copia,
qui sicut aquila videt sottilia,
sic ipse disputat super conjugia.
zuletzt: Post hec angelico finito nuntio,
dietis epistolis et evangelio,
ipsis trahentibus me de incendio
respondi breviter: vobis consentio (').
(unmittelbar darauf fol. 198. strophe 11. 12. 13. 14. des zehnten lieds).
Aus Wrights ausgabe s. 41.
Die dreizehnte strophe des gedichts ‘Dilatatur impii regnum Pharaonis’ lautet:
Cum secare nequeam, fungar vice cotis;
imitantur praesules Christum a remotis,
horum nullus cireuit orbem in melotis (?),
immo mundum viribus amplexatur totis.
Den bezug dieser stelle auf ein andres lateinisches, in Wrights political songs p. 44
mitgetheiltes lied übersah der herausgeber nicht. Dies letztere befindet sich auch
unter den von Mone, im siebenten jahrg. des anzeigers, aus einer hs. von S. Omer
abgedruckten lat. gedichten, wo die strophe s. 203° steht:
Licet aeger cum aegrotis
et ignotus cum ignotis
fungar tamen vice cotis,
jus usurpans sacerdotis:
flete Syon filiae!
praesides ecclesiae
imitantur hodie
Christum a remotis.
Mone stellt diese lateinischen, sicher nicht von unserm archipoeta herrührenden, schon
steiferen und kälteren lieder mit fug in das letzte drittel des 12. jh. und man darf
(’) Die vierte zeile der zwanzigsten strophe, oder vers SO lautet bei Wright: Golias igitur uxorem
fugiat; der vierte der dreilsigsten oder vers 120: desistat igitur Golias nubere; die vierte der zweifund-
funfzigsten: uxorem igitur Golias fugiat. Andere hss. lesen aber statt Golias Gauterus, Galterus, Gal-
winus; die lesart des cod. ven. kann ich nicht angeben, wenn er diese zeilen und strophen überhaupt unter
seinen 47 strophen hat, was ich bezweifle; die namen wären beim durchlesen von mir nicht übersehen
worden. Es ist also hier wiederum interpolation anzunehmen.
(°) Pellibus lanatis, quibus utuntur monachi. Ducange s. y. melote.
Philos.-histor. Kl. 1843. Hh
242 Jacos Grimm:
kaum zweifeln, dafs die ausgehobnen worte auf die strophe “cum secare nequeo' an-
spielen, sie also voraussetzen.
Aus Wright s. 85. 86.
Golias de equo pontifieis.
Pontificalis equus est quodam lumine coecus,
segnis et anliquus morsor, percursor iniquus;
nequam propter equam, nullamque viam tenet aequam
cespitat in plano, nec surgit poplite sano:
si non percuteret de vertice saepe capistrum,
et si portaret passu meliore magistrum,
nil in eo possemus equo reperire sinistrum.
Epigramma de mantello a pontifice dato.
Pontificum spuma, faex cleri, sordida struma,
qui dedit in bruma mihi mantellum sine pluma.
Dice mihi, mantelle tenuis, macer et sine pelle,
si potes, expelle pluviam rabiemque procellae.
Inquit mantellus: “mihi nec pilus est neque vellus;
inplerem jussum, sed Jacob, non Esau sum’ (').
Epigramma de Goliardo et episcopo.
Goliardus.. Non invitatus venio prandere paratus;
sic sum fatatus, nunqguam prandere vocatus.
Episcopus. Non ego curo vagos, qui rura, mapalia, pagos
perlustrant, tales non vult mea mensa sodales.
Te non invito, tibi consimiles ego vito;
me tamen invito potieris pane petito.
ablue, terge, sede, prande, bibe, terge, recede.
Diese drei kleinen gedichte in leoninen schienen mir aushebenswerth, weil die
beiden ersten den aufenthalt des dichters in Italien, und ein übles vernehmen mit
dem geitzigen pabst (welcher es nun gewesen sei, Alexander III oder einer der ge-
genpäbste) voraussetzen. Sie halten ganz die weise des archipoeta und der mantellus
macer, die bruma stimmen zu unserm liede 3, 3.17. Das dritte gemahnt an die be-
gebenheit mit dem abt von Cluny, und es werden wol abweichende lieder von die-
sem vorgang oder von ähnlichen umgelaufen sein. Der letzte vers schildert aufs ge-
drängteste den brauch bei mahlzeiten.
(‘) Ich bin glatt, nicht rauh, d.h. allzu abgetragen.
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich
I. den Staufer. 243
Anhange.
Aus dem gedicht über priester Johann.
cod. pal. 844.
D. der brief versiegelt wart,
die herren zogten mit der vart,
vnd zogten von dem land
vf dem wafser vnd vf dem sand,
so lang das sie zu land kamen.
vnd die halb (l. habe) zu Pullen namen
in der stat zu Paren,
do liefsen sie die schiffer varen.
vf ir pert sie sazzen
vnd ritten vf die strazzen,
die gerichts gen Rom gat;
do man vernam in der stat,
das komen solt der cardinal,
die paffen ghen yme alle zu mal
zu Rom fur die stat giengen,
vnd yne mit schonheit enphiengen.
manig kardinal und pischoff
in furten an des babstes hoff;
der babst yne tugentlich enphie,
der schriber mit ym gie.
der babst fragt yn der mer,
wie es ym ergangen wer?
der cardinal sagt im besunder
die wirdickeit vnd die wunder,
die er alda het gesehen,
des must ym der schryber jehen.
der babst zeigt alda
dem poten die Veronica,
darzu das prepucium
vnd ander gros heiltum.
do das der schriber ersach,
zu dem pabst er do sprach:
ich mufs mit der warheit jehen,
ich hab cleinad hie gesehen,
das alles gold vnd alles gestein,
peide gros und klein,
die man in vnsern landen sicht,
gen disen dingen sint zu nicht.
Von dem babst er vrlaub nam
vnd von dem cardinal alsam,
vnd reit vfs der stat zu Ram
als lang, als er zu Schwaben kam
in die veste zu Staufle
wan er mit hufs alda sazz,
die selbe stat sin erbe wazz.
der pot fur den keiser gie,
tugentlich er yne entphie;
do er den keiser ansach,
zuchtiglich er zu ym sprach:
von Yndia priester Johan
min herr heifset uch grufsen lan,
vnd hat vch dissen briff gesant,
der uch sagt vnd tut bekant
sin er vnd sin wirdekeit
vnd siner lant gelegenheit,
vnd auch sin herschaft offenbar,
sin leben vnd auch sin glaubn gar.
er hat uch von sinem land
disse cleinad gesand,
Hh2
244 Jacog Grimm:
die sult ir versuchen lan,
ob sie solich craft han,
als uch min her geschriben hat,
so wert yr gewar vf der stat
alles das uch der prieff seit,
das das ist ein warheit.
Der keiser selber den briff las,
wann er wol geleret was;
ygelichs lase er besunder,
yne nam des vil wunder,
wie nur vf der erden
solh herschaft mocht werden.
die cleinat er alle glich
selb versucht tawgenlich;
do er an yne allen sampt
die ganczen warheit erfant,
do glaupt er dester pas
das an dem buch geschriben was.
Der keiser sant all zu hant
prieff in alle eristen lant,
beid nahent vnd verren,
allen fursten vnd herren
vnd manigem richen. bischoff,
er wolt haben einen grofsen hoff
zu Ach in der stat,
dar zu er sy komen bat
vnd lued sie alle glich,
wan er wolt gar reichlich
grozz ritterschaft da tun
vnd wolt kronen sin sun
zu romsch rich
wit der fursten rat glich,
das er des riches plegar
in allen dutschen landen war:
so wolt er aber so mit her
vf die heiden vber mer.
Er sant auch besunderlich
sin brif dem konig von Frankrich;
das er zu syme hof kam,
vnd gros wunder da vernam,
vnd alle sin truwe gedacht,
vnd die durnein kron bracht
mit sampt ym an der vart,
die got in sein haupt gedruckt wart.
Dar nach der romsch vogt
richlich gegen Ach zogt,
die fursten vnd die herren rich
zogten alle tag teglich,
peide spat vnd fru
mit grolser herschaft zu.
do si waren komen al
mit reicheit vnd mit grofsem schal,
der keiser vf ein hoch trat,
den brief er [von im] zu lesen pat,
den ym prister Johan da
gesent het von India.
er hies yns lesen alles gar;
do der schriber kam aldar,
das er solt lesen von dem stein,
vnd des edelheit allein,
von der (man) vnsichtig ist
pis die zyt als lang vrist
er ist verporgen in blofser hant,
der keiser winckett ym zu hant
vnd hies yne verdagen,
wann er wolt is nymant sagen.
den andern cleinad er yn gar
zeugt, vnd versucht sy offenbar,
den rock von salamander tewr
warff er vor yne yn ein fewr,
der möcht mit nicht vorprinnen,
er ward nur new vnd licht dar innen.
er gab den fursten alle sampt
des pruns zu trincken alle zu hant,
yedoch der keiser das vermaid,
das er sin tugent nicht gar said.
das (l. do) sie die warheit sahen,
gemeinigkleich (sie) des jahen,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 245
das an richeit sin gelich
nyndert lebt von ertrich.
doch (l. do) der hof ein ende hat,
die herren wurden des zu rat
mit einander glich,
das sy (die) cleinad von dem rich,
das krutz, die nagel vnd das sper,
vnd vnser frauwen hemd her,
das (sy) die kron durnin,
dar zu der (l. den) rock purpurin
dem gaste zeigen solden
vnd yne damit eren wolden.
dar nach des dritten morgen fru
die herren gingen all zu,
die pischoff vnd die paffheit
mit zir vod mit heilekeit,
vnd zeigten die cleinad gar
aller werlt offenbar.
Do der pot die cleinad sach
zu den fursten allen er sprach:
ich mag gesprechen vnd getar
von mym hern offenbar,
das all sin richeit ist
gen disser richeit als ein mist.
der edel vnd der rich
konig Philip von Frankrich
ein dorn vfs der kron brach,
das es der bot ansach,
der keiser Friderich selber schneidt
ein spann lang vnd preidt
von des edeln holez baum stam,
da got den tod selbs an nam,
vor allen fürsten offenbar,
das ersach der schrybar.
die cleinad sand der keiser da
priester Johan von India,
der keiser lie nicht pliben,
er hiefs ym wieder prieff schriben
vnd danckt ym gar ser
vmb die truwe und vmb die er,
dye er in het angeleit,
vnd auch der richen cleit.
der pot heim zu varen gert,
der edel keiser yne des gewert;
von dem keiser er vrlaub nam
vnd von den fürsten alsam.
der keiser yne beleiten lie
bis in die stat Venedie,
da selb er vf das mer sas
vnd fur aber fur bas.
wo er furpas da zu land kam,
oder wenn er heim kam,
das ward mir nicht kund getan,
darumb will ich es liegen lan.
Der edel keiser Friderich
behielt die cleinat flissiclich
in seiner gewalt fur war,
ich wails darnach wie manig jar,
bis das [sich] der babst Honorius
gen yme sich gestalt alsus,
das er sin vngenad gewan,
vnd yn det yn den ban,
vnd yne von sinen eren seit
vnd von der gemein der cristenheit,
vnd die fursten hochgeporn,
die dem rich hatten geschworn
[vnd] dort vnd auch hie
der aid er [sich] ledig lie.
do nu de fursten stunden ab,
des gewan er grolsen ungemach (l. ungehab),
wann ir lutzel zu yme ritten
is welch stat er die wile reit,
gotes ampt man vermeyt,
dwil er darin was,
voud man kein messe darin las,
noch kein tagzyt man darin sang;
die zal wert gar lang,
246 Jacog Grimm:
das man is nie berichten kund.
der keiser zu einer stund
vor dem osterlichen tage (? beit),
darvmb das (die) cristenheit
die heilig zyt sol began,
das er sy icht yrret daran,
der keiser bereit sich
mit sinem jaged weidlich,
niemant wust under yn
sinen mut noch sınen sin;
die edel wat die legt er an,
dye man yme sand von Indian,
vnd die fleschen er alsam
mit dem prun dar vnder nam,
der so schmackhaft was;
vff ein gut ros er do sas,
mit yme ritten etlich herrn,
do er kam in den walt verrn,
sin vingerl nam er yn die hant:
an dem gejaid er verschwant,
das man den edeln keiser her
sind gesach nyemer mer.
Also ward der hochgeporn
keiser Friderich do verlorn;
wo er dar nach ye hin kam,
oder ob er den end da nam,
das kund nyeman gesagen mir,
oder ob yne die wilden tir
vressen habn oder zerissen,
es kan die warheit nyemand wissen,
oder ob er noch lebentig si,
der gewissen sin wir fry
vnd der rehten warheit;
yedoch ist vns geseit
von pawren solh mer,
das er als ein waler
sich oft by yne hab lafsen sehen,
vnd hab yne offenlich verjehen,
er süll noch gewaltig werden
aller romischen erden,
er süll noch die paffen storen
vod er wol noch nicht vf horen,
noch mit nichten lafsen abe,
nur er pring das heilge grabe
vnd dar zu das heilig lant
wieder in der cristen hant,
vnd wol sines schiltes last
hahen an den dorren ast.
das ich das für ein warheit
sag, das die pauren haben geseit,
das nym ich mich nicht an,
wan ich sin nicht gesehen han,
ich han ys auch zu kein stunden
noch nyndert geschribn funden,
wan das ichs gehort han
von den alten pauren an wan.
Aber das der hochgeborn
keiser Fridrich wurd verlorn
alsus vnd auch alda,
das sagt die romisch veronica (l. cronica),
davon ichs wol gesagen tar
vnd geschriben offenbar,
das leyen noch die paffen
(mich) daran nicht mogen gestraffen
das ich dort doben han geseit,
ob das sy die warheit,
vnd ob ym allen sy also,
das hab ich nicht gesehen do,
wan ich da nicht bin gewesen,
ye doch hab ich vor war gelesen
in (l. ein) puch zu latin,
da es ist geschribn in
zu der zyt do es geschach,
vnd aber manig jar darnach
han ich mich des betracht
vnd habe sin genomen acht,
tugent ere vnd manheit
noch milt noch gerechtekeit,
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
gewaltigkeit vnd schon
in Vngern land druge die kron,
in siner stat zu Konigsperck
han ich volbracht dis werck.
welch hern oder gesellen
es nicht gar gern glauben wellen
oder von guten willen,
der schwige darzu gar stillen
vnd heifs mich nicht liegen,
wenn ich will nyemant betriegen
hie noch mit halt (?) pringen
vmb kein pfenningen,
wann ich keines mannes gab
darumb nie genomen hab,
nüri durch guter gesellen pet
ich es williclichen det,
vnd ich die wile vertreib do-mit
vnd auch mucezgang vermit.
Dis puch ist (? puchis) tichtar
[vad] heifset Oswalt der schribar.
got ringe all vnser schwar.
anno 1478.
Explicit hoc totum.
infunde, da mychi potum.
247
D.
Roman de "Lancelot, cod. bonnensis p. 416°: Si fenist ci maistres Gautiers
son liure et conmence a parler del saint graal. p. 489: Si se taist ore maistres
Gautiers Map del ystoire de Lancelot. Car bien la tout menee a fin selonc les
choses qui en avindrent, et define ensi en son liure si outreement, que apres ce
nen porroit nus raconter chose quil nen mentist. Explicit. Arnulfus de Kayo
seripsit istum librum, qui est Ambianis en lan de lincarnacion MCC.mı.VI (1286)
el mois daoust le iour deuant les. jehan de colase (Johannis decollatio). — Cod.
venetus: ci fenist ici maistres Gautiers map son liure et commence le graal. —
Cod. hafniensis im beginn: apres ce que maistres gautiers map ot portreites deus
auentures dou saint graal asses soffisantment, si com il li sembloit, si fu auis au
roy hanri son signor, que ce que il auoit fait ne deuoit pas soffrire (l. soffire), se
il ne recontoit la fin de cels, dont il auoit deuant fait mencion, et comment cil
morrirent, de cui il auoit les proeces remanteues en son liure. et por ce reco-
menca il ceste dereiene partie, e quant il lot ensemble mise, si la clama /@ mort le
roi artu, porce que vers la fin est escrit si comme li rois artus fu naures en la
battalia de saliberere, comment il se parti de gifler, qui tant li auoit fait compaignie
que apres lui ne fu nul hom, qui le uist uiuant. si comanca maistres gautiers en
tel maniere ceste dereane partie. Am schlufs bl. 103°: a lendemain se parti le roi
beort de la joiose garde et enuoie sun cheualier et sun sergent en sun pais, et
mandes a ses hommes, quil feisent de rois, com il uoldroient. car il ne uendra ia
mais. Il sen ala auec larceuesque et auec brioberis et uge auec cels le remanent
de sa uie. Si traist (I. taist) hore atant maistre gautiers map de lestorc lancelot.
car bien la tote mene a fin, selonc le chose quil auindrent, et fenist ci son liure si
orroement, que apres ce ne poroit nuls reconter, quil ne mentist de tote chose.
248 Jacos Grimm:
Finito libro sit laus et gloria xpo. Explicit liber mortis regis artus. Coscio da
cezane cil que mescrist poisse aler a Ihuerist. et trestuit cil que me liront et que
cest liure garderont. poisent a paradis aler. sens nulle encontrement trouer.
Rusticien de Pise im roman Meliadus de Leonnois, von der abfassung des
roman de Tristan redend, sagt: messire Luces du Gau (Gast) sen entremist premiere-
ment, et ce fut le premier chevalier qui sen entremist et qui s’estude y mist et sa
cure, que bien savons ..... il translata en langue francoise partie de listoire de
monsieur Tristan . . apres s’en entremist messire Gasses li blons, qui parens fu le
roy Henry ... . apres s’en entremist messire Gautier Map, qui fu chevalier le roy,
et divisa cilz I’ystoire de Lancelot du Lac, que d’autre chose ne parla il mie gram-
ment en son livre, messire Robert de Borron sen entremist. Schlufs des roman de
Tristan n° 7177 fol. 263: apres le grant travail de cestui livre que fet ai, ai demore
un an entier, ai laisse totes chevaleries et toz autres soulaz, me retornerai sor le
livre de latin et sor les autres livres qui trait sont en francois, et puerrai de chief
le livre que nos i troveron. Je acomplirai, se diex plaist, tot ce que (? firent) mestre
Luces del Gait, qui premierement comenca & translater, et mestre Gautier Mes
(Mapes) qui fist le propre livre de latin, (et) meistre Robert de Boron. Tot ce que
nous navons men€ ä fin je acomplirai, se diex me doint tant de vie, que je puisse
celui livre mener ä fin. ‚Et je en dois moi merci moult le roi Henri mon seignor
de ce quil loe le mien livre et de ce que il li done si grand pris. Yei fenist le
livre de Tristan.
Die beiden letzten stellen entnehme ich aus der hist. litt. de France 15,405.
496; nicht zur hand ist mir Paris mss. de la bibl. du roi 2, 347. 362.
C.
Boccaccio, decamerone 1,7: Signor mio, voi dovete sapere, che Primasso
fu un gran valente uomo in gramatica, e fu oltre ad ogn’ altro grande e presto
wersificalore, le quali cose il renderono tanto ragguardevole e si famoso, che an-
chorache per vista in ogni pärte conosciuto non fosse, per nome e per fama quasi
niuno era che non sapesse, chi fosse Primasso. Ora avvenne, che trovandosi egli
una volta a Parigi in povero stato, siccome egli il piü del tempo dimorava, per la
virtü, che poco era gradita da coloro, che possono assai, udi ragionare dello abate
di Cligni, il quale si crede, che sia il piü ricco prelato di sue entrate, che abbia
la chiesa di dio, dal papa in fuori. E di lui udi dire maravigliose e magnifiche
cose in tener sempre corte, e non esser mai ad alcuno, che andasse la, dove egli
fosse, negato ne mangiare ne bere, solo che, quando Yabate mangiasse, il doman-
dasse. La qual cosa Primasso udendo, siccome uomo, che si dilettava di vedere i
valenti uomini e signori, deliberö di volere andare a vedere la magnificenza di que-
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer. 249
sto abate. E domandö, quant’ egli allora dimorasse presso a Parigi? a che gli fü
risposto, che forse a sei miglia ad un suo luogo, al quale Primasso pensö di potere
essere, movendosi la mattina a buona ora, ad ora di mangiare. Fattasi adunque la
via insegnare, non trovando alcun che v’andasse, temette, non per isciagura gli ve-
nisse smarrita, e quinci potere andare in parte, dove cosi tosto non troveria da
mangiare, perche se ciö avvenisse, accioche di mangiare non palisse disagio, seco
pensö di portare tre pani, avvisando che dell’ acqua (comecche ella gli piacesse
poco) troverebbe in ogni parte. E quegli messisi in seno, prese il suo cammino, e
vennegli si ben fatto, che avanti ora di mangiare pervenne la, dove l’abate era. E
entrato dentro andö riguarduando per tutto, e veduta la gran moltitudine delle ta-
vole messe e il grande apparecchio della cueina e Yaltre cose per lo desinare ap-
prestate, fra se medesimo disse: veramente e questo cosi magnifico, come uom dice:
E stando alquanto intorno a queste cose attento, il siniscalco dello abate (perciocche
ora era di mangiare) comandö,-che l’acqua si desse alle mani, e data l’acqua misse
ogni uomo a tavola. E per avventura avvenne, che Primasso fu messo a seder ap-
punto di rimpelto all’ uscio della camera, donde l’abate dovea uscire per venire
nella sala a mangiare. Era in quella corte questa usanza, che in su le tavole vino,
ne pane, ne altre cose da mangiare o da bere si ponea gia mai, se prima l’abate
non veniva a sedere alla tavola. Avendo adunque il siniscalco le tavole messe,
fece dire all’ abate, che qualora gli piacesse, il mangiare era presto. L’abate fece
aprir la camera per venir nella sala, e venendo si guardö innanzi, e per ventura il
primo uomo, che agli occhi gli corse, fu Primasso. Il quale assai male era in ar-
nese, e cui egli per veduta non conoscea, e come veduto l’ebbe, incontanente gli
corse nell’ animo un pensier catlivo e mai piü non statovi, e disse seco: vedi a cui
io do mangiare il mio., E tornondosi a dietro comandö, che la camera fosse ser-
rata, e domandö coloro, che appresso lui erano, se alcuno conoscesse quel ribaldo,
che a rimpetto all’ uscio della sua camera sedeva alle tavole? Ciascuno rispose del
no. Primasso, il quale avea talento di mangiare, come colui che caminato avea, ed
uso non era di digiunare, avendo alquanto aspettato, e veggendo, che l’abate non
veniva, si trasse di seno l’un de’ tre pani, i quali portati avea, e cominciö a man-
giare. L’abate poiche alquanto fu stato, comandö ad un de’ suoi famigliari, che ri-
guardasse, se partito se fosse questo Primasso. Il famigliar rispose: messer no, anzi
mangia pane, il quale mostra che egli seco recasse. Disse allora l’abate: ‘or mangi
del suo, se egli n’ha, che del nostro non mangierä egli oggi.’ Avrebbe voluto Yabate,
che Primasso da se stesso si fosse partito, perciocche accommiatarlo non gli pareva
far bene. Primasso avendo un pane mangiato, e labate non vegnendo, comincio
a mangiare il secondo. Il che similmente all’ abate fu detto, che fatto avea guardare,
se partito si fosse. Ultimamente non vegnendo labate, Primasso mangiato il se-
condo, incomineiöo a mangiare il terzo, il che ancora fu all’ abate detto, il quale
Philos.-histor. Kl. 1843. Ti
250 Jıcos Grimm:
seco stesso cominciö a pensare ed a dire: ‘deh questa che novita € oggi, che nell’
animo m’e venuta? che avarizia, chente sdegno, e per cui? io ho dato mangiare il
mio, gia sono molt’ anni, a chiunque mangiare n’ha voluto, senza guardare se gen-
tile uomo €, o villano, 0 povero, 0 ricco, o mercatante, o barattiere stato sia, ed
infiniti ribaldi, con l’occhio me l’ ho veduto straziare, ne mai nello animo m’entro
questo pensiero, che per costui mi ce oggi entrato; fermamente avarizia non mi dee
avere assalito per uomo di piccolo affare. Qualche gran fatto dee esser costui, che
ribaldo mi pare, posciache cosi mi s’ € rintuzzato l’animo d’onorarlo?®’ E cosi detto
volle sapere chi fosse, e trovato ch’era Primasso, quivi venuto a vedere della sua
magnificenza quello, che n’ aveva udito, il quale avendo l’abate per fama molto tempo
davante per valente uomo conosciuto, si vergognö, e vago di fare Y’amenda, in molte
maniere s’ingegno d’onorarlo. Ed appresso mangiare, secondo che alla sofficienza
di Primasso si conveniva, il fe’ nobilmente westire, e donatigli denari e palafreno,
nel suo arbitrio rimise l’andare e lo stare: di che Primasso contento, rendutegli
quelle grazie, le quali pote maggiori, a Parigi, donde a pie partito s’era, ritornöo a
cavallo.
D.
Aus Silvester Giraldus cambrensis speculum ecelesiae nach dem ms. cotton.
Tiberius B. XIII. fol. 126° bei Wright p. xxxymm-xxxıx (vgl. Ducange s. v. Goliardus
wonach die stelle dem cap. 16 des vierten buchs des spec. angehört).
Qualiter etiam sicut olim ducibus romanis et prineipalioribus, sieut (l. ita)
et nune summis pontificibus majori temeritate similiter objeeta est infamiae nota.
Ad haec etiam non solum antiquis diebus et tenebrosis temporibus, verum
etiam tempore gratiae fideique Christi lampade mundum illuminante lucidius et irra-
diante, quaedam sicut in ceteros sie et in viros eliam apostolicos et apostolorum
successores, in praescripti eriminis suggillationem ora maledica metrieis etiam carmi-
nibus in hune modum confinxerunt, generaliter scilicet hoc versiculo:
Roma manus rodit, quos rodere non valet odit.
Item, in papam nostri temporis egregium, scilicet Alexandrum III, qui propter
schisma diutinum urgens et ingruens pertinaciter Roma relicta apud Beneventum
perhendinavit, guidam specialius sub hoc tenore scribere praesumpsit:
Ni fecit argentum, bene venit hic Beneventum
verba dat in ventum, nisi proferat ante talentum.
Item et in Zucium tertium, qui primo loco post Alexandrum sedit, alius inveheba-
tur acerbius in hunc modum:
Lucius est piscis rex atque tyrannus aquarum,
a quo diseordat Lucius iste parum:
devorat hie homines, hie piscibus insidiatur,
IN)
oı
m
gedichte des mittelalters auf könig Friedrich I. den Staufer.
esurit hic semper, hie aliquando satur,
amborum vitam si lanx aequata levaret,
plus rationis habet, quam (l. qui) ratione caret.
Item parasitus quidam Golias nomine nostris diebus gulositate pariter et leccacitate
(al. dicacitate) famosissimus, qui Golias (l. Gulias) melius, quia gulae et crapulae
per omnia deditus diei potuit, Zitteratus tamen affatim, sed nec bene morigeratus,
nec bonis disciplinis informatus, in papam et curiam romanam carmina famosa plu-
ries et plurima tam metrica quam ridmica non minus impudenter quam imprudenter
evomuit. De quibus invectionem ridmicam temere nimis et indiscrete compositam
casualiter incidens, clausulas aliquot inde ad detestandum quidem et condempnan-
dum, non approbandum aut imitandum, has scilicet hie apposui ('):
Roma caput mundi est, sed nil capit mundum,
quod pendet a capite totum est immundum,
trabit enim vitium primum in seeundum:
et de fundo redolet quod est juxta fundum.
Roma cepit singulos et res singulorum,
Romanorum curia non est nisi forum:
ibi sunt venalia jura senatorum,
et solvit contraria copia nummorum.
In hoc consistorio si quis causam regat
suam vel alterius, hoc inprimis legat:
nisi det pecuniam Roma totum negat,
qui plus dat pecuniae, melius allegat.
Romani capitulum habent in decretis,
ut petentes audiant manibus repletis:
dabis aut non dabitur; petunt quando petis,
qua mensura seminas, et eadem meltis.
Cum ad papam veneris, habe pro constanti,
non est locus pauperi, soli favet danti;
et si nummis praestitum non sit aliquanti,
respondet: haec tibia non est mihi tanti (°).
Papa, si rem tangimus, nomen habet a re ('),
quiequid habent alii, solus vult papare,
(‘) Das vollständige lied aus andern hss. findet sich bei Wright p. 36-39.
(*) Ovidius metam, 6, 386 von Marsyas:
“ah piget, ah non est’ clamabat “tibia tanti.’
und fast. 6, 695 von Minerva:
“ars mihi non tanti est, valeas mea tibia, dixi.”
(°) Vel. oben s. 212.
[89]
ou
[85]
Jacos Grimm:
vel si verbum gallicum vis apocopare,
‘paez, paez, dit li mot, si vis impetrare.
Porta quaerit, (chartula quaerit,) bulla quaerit.
papa quaerit, cardinalis quaerit, omnis quaerit,
(omnes quaerunt) et si quod des uni deerit,
totum mare salsum (est) ('), tota causa perit.
Des istis, des aliis, addas dona datis,
et si satis dederis, quaerunt ultra satis.
o vos bursae iurgidae, Romam veniatis,
Romae viget phisica bursis constipatis.
Porro quid feret hic tanto dignum delator hiatu? si curia romana corporalem delin-
quentibus poenam infligeret, dignus iste non suspendio solum verum et incendio fo-
ret. Sed aliis quomodo male scribendo litterisque suis mordaciter abutendo deferre
valeret, qui sibi ipsi in tractatu quodam ridmico, quem ipse de moribus suis et
vita miserrima finalique tamquam epitaphio proprio conscripsit, minime deferre
dignum duxit. Ubi quidem ex cordis abundantia loquens ait:
Tertio capitulo memoro tabernam:
illam nullo tempore sprevi neque spernam,
donec sanctos angelos venientes cernam
cantantes pro mortuo requiem aeternam.
Meum est propositum in taberna mori,
vinum sit appositum morientis ori,
ut dicant cum venerint angelorum chori:
deus sit propitius huic potatori.
Ich weifs nicht, in welchem jahr das speculum des Giraldus vollendet wurde,
die hier ausgehobne stelle mufs nach 1185 geschrieben sein, da Lucius III. von
4181-1185 auf dem stul safs. Jedenfalls ergibt sich, dafs der dichter, den Giraldus
Golias nennt und geringschätzig behandelt, obgleich er ihm abundantiam cordis beilegt,
sein zeitgenosse war, und dafs beide, auch im Münchner codex befindlichen, hier
angeführten lieder damals bekannt waren. Nirgends aber bezeichnet er ihren ver-
fasser als einen Engländer oder seinen landsmann.
(') Weights political songs s. 228:
quod si murmuraverit,
ni statim satisfecerit,
est tolum salsum mare,
ou
=
gedichte des mittelalters auf’ könig Friedrich I. den Staufer. 2
Bemerkung zu s. 150. 151.
Einen abstand Walthers und Freidanks aus ihrer spracheigenthümlichkeit dar-
zuthun fällt schwer, da von beiden wir nicht text genug vor uns haben, Freidank
aber bei zusammenstellung grofsentheils schon überlieferter sprüche leicht ausdrücke
und wendungen behielt, die nicht einmal in seiner mundart vorhanden waren. Es
kommt hinzu, dafs seine Bescheidenheit nicht in ihrer echten gestalt aufbewahrt, und
auf die jüngeren, mehr unvollständigen als interpolierten abschriften kein verlafs ist;
die wenigen gerade auch in unsre Münchner lateinische samlung s. 110° aufgenomm-
nen und daraus in Docens miscellaneen 2, 195. 196 abgedruckten sprüche gewähren
älteste urkunde. Ich habe s. 177 geäufsert, dafs sie schon vor 1229 da gewesen sein
können, denn alle zeitbestimmung über die abfassung des gedichts gründet sich auf
den abschnitt von Akers (s. 154-164), der eigentlich gar keine sprüche enthält und
nicht recht in das wahrscheinlich schon früher entsprungne werk sich schickt, aber
nachher, als Freidank in den jahren 1228. 1229 auf dem kreuzzug gewesen war,
eingeschaltet oder vielmehr angehängt wurde. Begreiflich hat auch der niederlän-
dische bearbeiter (in Willems belg. mus. 6, 184-213) aus diesem abschnitt nichts.
Die ausgabe führt durch daz mensche 5, 12. 6, 18. 7, 25. 19-22. 38, 23.
116, 17; Walther sagt der mensche 15,14. 24, 26; doch die lesarten bei Freidank
gewähren auch den männlichen artikel, der 144, 5 selbst im text steht, warum sollte
er nicht noch in andern zulässig, vielmehr warum nicht bei demselben dichter ein
wechsel des geschlechts statthaft sein? Wolfram hat Parz. 462, 14 der mensche,
Wh. 308, 16. 19 daz mennisch. Freid. 59, 4. 108, 3 sterre, Walth. 46, 15. 52, 35.
54, 31 sterne, was leicht für jenes gesetzt werden könnte. gebür, gebüres Freidank
65, 24. 121, 17. 20. 122, 5; gebüre, gebüren Walth. 28, 36. Das sonst unerhörte
lönelin Freid. 103,17 erklärt uns die ahd. alemannische glosse (gr. 3, 671) und das
altschwed. länia in Reuterdahls sprichw. n°. 102. wasten, in der zu 109, 6 ange-
nommnen bedeutung ist schwer zu glauben, ich lese: swer hiure den maste (sagina-
vit), der tuot wol, den er ze järe slahen sol; es handelt sich von einem schlacht-
ochsen. vaste (festsetzte) würde schlechter passen. Wichtiger ist der spruch 124, 3:
‘swie man ze walde rüefet, daz selbe er wider güefet, wo auch gelesen werden darf
ruofet : guofet; dies guofen begegnet sonst weder mhd. noch ahd. und mag zum ver-
lornen thema gapan, göp gebracht werden, aus dem begrif des gaffens folgt der des
klaffens, schallens. guft aviditas, arrogantia scheint unverwandt, falls es nicht für
guoft steht, vgl. goth. hvöftuli zauxnuz und hvöpan zauxardaı, verschieden von vö-
pjan clamare, mhd. wuofen. mertelere Freid. 67, 24. martel 173, 2. 180, 6. ge-
martelöt 175, 9; marterer Walth. 32, 32. Renn. 361 (fehlerhaft martelaere Reinh.
s. 595) marteraere Gregor 3207. Trist. 7652, wo aber 17089 martilaere; jenes stimmt
zu Otfrieds martolön I. 15, 47. IV. 6, 54. V. 4, 45. Ich halte die Lform für rheinisch
2354 Jıcoß Grimm:
(ober und niederrheinisch), die R form für tiefschwäbisch, bairisch, fränkisch. Wal-
ther würde wol pratum wise ausgedrückt haben, wir ersehn es nicht; bei Freidank
ist, ich glaube mit recht, mate gewählt, obschon die meisten hss., denen man weni-
ger vertrauen darf, wise geben, und noch heute gehört matte der alemannischen,
elsässischen mundart, man vgl. die elsässischen weisthümer 2, 662. 678. 683. 725. 727
oder die schwarzwaldrheinischen 2, 334. 360. 363. Bon. 42, 23 liest eine bei Ober-
lin angeführte hs. mattschreck f. höistuffel, und schon N. ps. 104, 34. 108, 23 ge-
währt matoscrecech locusta. Wegen des ‘geraetet kalten’ Freid. 133, 24 wurde schon
gramm. 4,96 gefragt. Jetzt haben uns Colmarer die erste nachricht von Freidank,
die man örtlich beziehen darf, gegeben: es ist natürlich ihn dem Oberrhein und Ale-
wannien anzueignen, welches der vermutung meines bruders begegnet, die ihn ins
herzogthum der Staufer setzt (s. x.r), was nicht nur seinen zug im geleite des zwei-
ten Friedrich, sondern auch sein gedicht auf den ersten erklärt. In Italien scheint
er mehr als einmal verweilt zu haben, namentlich in Rom, das er lebendig schildert:
‘Merbot und ander wirte, gebüre unde hirte vergebent alle sünde dä, der eigenname
Merbot, Marbod ist freilich altdeutsch genug, die lesarten merebotin, merbotten, mar-
boeten (Haupt 3, 1) führen näher aufs romanische marabotinus (Ducange ed. Hen-
schel 4, 269. 270. Raynouard s. v. marabeti): das goldstück ist es, was sünden vergibt.
Hugo von Trimberg, welchem Walther von der Vogelweide, wegen der nähe
Wirzburgs, noch genauer bekannt sein muste, nennt ihn 1218, den also davon ver-
schiednen Freidank aber bald mit vorgesetztem meister (5224) bald her (5374. 6138 ff.)
und dies her wird ihm auch von Helbling, Amür 2013 und bei Haupt 3, 398 beige-
legt, während Rudolf im Alexander wieder nur meister zuläfst, wozu der Freidankus
vagus in gesellschaft meister Conrads und jenes Primas, der versus magistrales dich-
tete, besser stimmen. Helblings Bernhart Fridank gemahnt an ‘'her Jacob Friheit von
von Seven ritter’ in den jahren 1386 und 1417 (weisth. 2, 215. 487). Schon viel
früher wurde gedichtet: ther geist ther bläsit stillo thara imo ist muatwillo, und
Dietmar sagt Ms. 1, 40°: gedanke sint lediefri, oder Walther 62, 19: joch sint iedoch
gedanke fri, was auch unser meister wiederholt haben mag, der es 115, 12-22 aus-
führt; um solcher sprüche willen könnte sich Bernhart den beinamen Freidank zu-
gelegt oder erworben haben, dessen erster träger er war, den hernach auch andere
wählten. Siegfried Helbling (obolus) und viel ähnliche beispiele zeigen das auf-
kommen von dergleichen namen im 12. und 13. jahrhundert.
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Jacctb 6rımm. Friedrich BRethbart Khelel. dl. 1853.
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gedichte des mittelaliers auf könig Friedrich I. den Staufer.
ab = per 217
Absalon bischof 147
adoptivus 160. 192
aetatem habere 191
Aiglantine 229
Alethiae turris 209
Alexander 211
Alexander MI. 177. 250
Alexander IV. 177. 213
Alsatia 232. 237
alterare 219
Andreas capellanus 184
Angliae rex 214
Apollonius tyrius 218
appellare f. appellere 211
Apuli 207
archipoeta 155 ff.
arx cerebri 174
Auchenfurt 151
Australes 233
Avıani fabulae 197
baiser de vin 231 *
balatrones 192
Bandin& 216
Bavarı 233
Bernhart Fridank 150. 254
bibit hera 232
Blancheflor 229
Briciauuia 177. 214
bruma 194. 242
Caesarius heisterbacensis 155
cappare 235. 236
Christi purpurrock 245
de Christo 204
Carinthia 237
Register.
Chrysopolis 163
Cluny 183. 242. 248
combusti senio 233
Constantinus 206
cotis vice fungi 241
crede mihi 191
Cucania 236
Decius 182. 232. 234. 236
dietamen 179. 230
Duleisamor 213
duleis patria 214
Eckenlied 242
ecus f. equus 207. 223
electus Coloniae 158. 162
electus meldensis 211
255
evangelium secundum marcam argenti 232
Flora 218. 229
Floramene 218
Franco 178
Freidank 148 ff. 253. 254
Galtherus 171. 180. 236. 241
Gandile 216
genitivus 192. 193
genullectare 207
gnani 233
goliardus 169. 186. 242
golias 169. 238. 239. 241. 242. 251
Gotfridus viterbiensis 153
Güntheri Ligurinus 154
guofen 253
Hashardus 182. 234
Helfrich von Lutringen 232
Herbipolis 215
hermaphroditare 236
Hugo Ripilinus 182
256 Jıcog Grimm: gedichte des mitielalters u. s. w.
infronitus 193 poetria 193. 195. 210
invultus 238 Primas 182. 183. 232. 238. 239
Jacob Friheit 254 Primasso 248-250
priester Johannes 152. 243 propinaculum 199
Juliana 213 pruina 234
juppa 236 refarinare 236
jus utrumque 224 Reinaldus coloniensis 155. 158. 166. 197
herzen kle 216 Richard löwenherz 178
Landrus 232 rocus f. rogus 206
leccatores 156. 198 Rusticien de Pise 170. 248
lechitus 191 Saladinus 212
Luces du Gast 170. 248 Salernum 201
Lucius II. 250 satyrus 203. 228
map 171 Saxones 233
Marabotinus 254 schisma 177. 212
Marchiones 233 sequentia 232
mare totum salsum est 252 Siculi 207.
Marner 181 signa judicii 238
Martinus 191. 216 Simon 232
malte, wiese 254 Solymarius 154
melote 241 Staufer 145
mertelsere 253 stella matutina 213
mobilis 190 summa dietaminum 161. 179
montagna del veglio 153 terra ridentium 200
nane 195 tibia non est tanti 251
Nicolaus clericus 155. 156. 181 tisicus 194
Nornagestr 183 trutannus 186. 193
Noyaria 206 Trier 177
oculos in obliquum jacere 220 tu autem 189
Oswalt 152. 247 vagorum ordo 233.
Palatinus 166. 215 varıus 158
papare 212. 251 Vidsidh 183
Papia 208. 213 Vienna 163
peccarius 232 viles 233
Petrus corboliensis 482. 239. 240 Waltherus 175. 180. 215
Petrus papiensis 178 Walther Map 169. 170. 171. 247. 248
Philippus rex 215 Walther von der Vogelweide 150. 180. 183.
Philomene 218 253
Phyllis 218 ff. Wichmann 177. 213
s. 152510 1. 1478. s. 177, 23 1. 1152 bis 1192. s. 223. 34,1 1. deseris.
Die Heilgötter der Griechen.
"Von
I: PA NOFKA.
mmnnnnwn
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 16. November 1843.]
Nach dem jüngeren Gott Asklepios, dem wir einen besonderen Aufsatz zu
widmen gedenken, auf sämmtliche Glieder seiner Familie Rücksicht neh-
mend, pflegt man dem Apollon und dem Chiron Kenntnifs und Kraft der
Heilkunde in der hellenischen Götterlehre allgemein zuzuerkennen. Die
grofse Anzahl andrer Heilgötter aber, welche neben diesen ihre Stelle fin-
den, ist bisher in den Lehrbüchern griechischen Götterwesens weniger be-
achtet, noch, wie es sich gebührte, zu klarer Anschauung zusammengestellt
worden, obschon eine solche Arbeit um so lohnender erscheint, als sie zu-
gleich das merkwürdige Ergebnis liefert, dafs zwar eine jede Gottheit der
Hellenen ihren eigenthümlichen, festen Charakter besitzt, und in einer ange-
messenen Kunstbildung ausspricht, aber deshalb es nicht verschmäht, in die-
ser oder jener Localität, wo ihre Macht am bedeutendsten ist, auch eine
Anzahl andrer Charaktere, die andern Gottheiten vorzugsweise eigen sind,
an sich zu ziehen, und dadurch ihren Ruf zu vergröfsern, so dafs zuletzt der
einzelne Gott in ein vollständiges Pantheon sich umbildet. Auf die Heilkraft
machen so viele Götter Anspruch, dafs aus dem gesammten Kreise der Göt-
terwelt nur sehr wenige übrig bleiben, die darauf verzichten; desto gröfser
ist die Zahl derer, denen die Zeugnisse der Litteratur in Dee!
mit denen der Kunst in dieser oder jener Stadt die Heilkraft beilegen. —
Um die Ordnung der Zwölfgötterzahl in unsrer Untersuchung beizubehal-
ten, beginnen wir mit
Zeus, der unter dem Beinamen Paian auf Rhodos (') verehrt, in dem
Lorbeerbekränzten Jupiterkopf auf den Erzmünzen dieser Stadt (?) wol zu
(') Hesych. v. IIawcv.
(?) Mionnet Supplem. T.VI, p. 602, n. 301: Tete lauree de Jupiter ä dr. Ry. PO Fleur
du balaustium en calice, dans le champ II. — Vgl. auch n. 302.
Philos.-histor. Kl. 1843. Kk
2358 Pınorkra:
erkennen sein möchte. Auch der Zeus Soter, dessen Kopf die Münzen
von Agrigent (1) mit gleicher Bekränzung zeigen (?), gehört offenbar in das
Gebiet der Heilgottheiten hinein, insofern der ihm geweihte Trinkbecher
auch der Becher der Hygieia (?) genannt wurde, und seinen Ursprung nahm
von dem in die Weinnegen des Krater herabgefallenen Regenwasser, dessen
angenehmer Geschmack die Menschen auf die Mischung des Weins mit Was-
ser hinleitete (*), als deren Lehrer und wohlthätiger Abwehrer der Trun-
kenheit, Zeus der Erretter, Zeus Soter, im Gegensatz mit dem Geber des
starken, süfsen, ungemischten Weines, dem Förderer der Trunkenheit,
Akratos, dem guten Dämon, Daimon Agathos angerufen wurde (°). Deshalb
weihte auch Valerius Julianus aus Smyrna eine Statue des Zeus Soter mit
silberner Basis dem Asklepios mit dem Beinamen der Arzt, IHTHP (°).
Zwei merkwürdige Votivreliefs in Marmor, wohl von der Insel Melos her-
stammend, gegenwärtig im K. Museum zu Berlin, zeigen, das eine, unter
zwei Augen mit dem Anfang der Nase in der Mitte, die Inschrift
EICIAOTH AlIIY
VICTW
das andre unter einer wenig erhobenen weiblichen Brust die Worte
EYTYXIA
YYEIZTo
EYXHN
(') Mionnet Suppl. 1, 363, n. 49: AKPA .... Tete imberbe diademee & dr. derriere
une grappe de raisin; dessous K. Rv. AIOY IQTHPOS Aigle debout sur un foudre tourne
A dr. et regardant & g. AE. — p. 362, n. 39 Tete laurde de Jupiter & dr. derriere deux
feuilles. Bv. AKPATANTIN®N Aigle eploy& & g. devant une corne d’abondance, derriere
une etoile. — Vgl. Suppl. V, p. 316, n. 215 Münze von Kyzikos mit dem Kopf des Trajan
und Ry. ZEY SQTHP KYZIKHN2N Jupiter Sauveur nu debout et tourne ä g. le pallium
derriere les &paules, portant un aigle sur la main dr. @tendue et la g. sur la haste pure.
(?) Vgl. auf unsrer Tafel I, 1 denselben Kopf auf einer Münze von Nysa in Karien.
Christ. Ramus, Cat. num. vet. reg. Daniae, T.I, p. 253, No.1. Mionnet Suppl. VI, p. 517,
n. 396 NYSAERN Tete lauree de Jupiter. Ry. HAIAN..... AOHNAI .. . Figure de-
bout, vetue de la stola, tournde ä dr. posant la main dr. A cequ’il parait, sur un tr&pied. AB.
(°) Athen. II, p. 38 d.
(*) Athen. XV, p. 675 a.b.
(°) Panofka Terrakotten d. B. Mus. S. 3. 5.136. 139.
©)
°) Mus. Veron. p. XXXVII.
Die Heilgötter der Griechen. 259
und beweisen, dsfs der höchste Zeus, Zeis "Wılırros, an diesem Ort auch
Augen- und Brustübel zu heilen vermochte.
Auf gleiche Weise stellte sich Hera Soteira, Juno Sospita(!) durch
die grofse Schlange, der sie Nahrung bringt (siehe Taf. I, 2), auf Denaren der
Gens Roscia (?) als Hygiea dar, wohin auch die zu Athen verehrte Hera
Telxinia (°) zu ziehen sein möchte, so gut, wie die Telchinia (*) in Ialy-
sos auf Rhodos, als eine Zauberinn wie Medea aus einer Schaale eine Schlange
tränkend (°) in der Kunstbildung zu denken.
Auf der Insel Lemnos, deren vulkanischer Boden den Kultus des H£-
pra1stos als Hauptgottes der Insel hervorrief, scheint dieser Feuergott eben-
falls die Heilkraft sich angeeignet zu haben, da einerseits die Erde, worauf
der Gott fiel, terra Lemnia sigillata, den Wahnsinn, den Bifs der Wasser-
schlange heilen, und den Blutflufs stillen konnte (°), anderseits auch die
Priester des Hephaistos den Bifs der Schlangen zu heilen verstanden (7).
Unzweifelhafter aber, vielseitiger und verbreiteter ist der Kultus der
Aruene als Heilgöttinn. Sie hatte auf der Hochburg von Athen (°) unter
dem Namen Athene Hygieia nicht nur einen Altar, sondern daneben auch
eine Statue von Erz, von Perikles geweiht, als beim Bau der Propyläen un-
ter dem Architekten Mnesikles einer der tüchtigsten Zimmerleute, von der
Höhe herabgestürzt, und von den Ärzten schon aufgegeben, nur durch ein
Wunder der Göttin gerettet ward, die dem Perikles im Traum erschien, und
das erfolgreiche Heilmittel des Krautes Parthenion für den Kranken angab (°).
Eine schöne Vorstellung dieser Göttin (siehe Taf. I, 4) zeigt uns ein Kandela-
berfufs im Vatikan (!°); ein durch die Inschrift HYFIA gesichertes Bild der-
(') Panofka Terrakotten S. 36. 40. 41.
(?) Morelli G. Roscia I, 14.
(°) Hesych. v. O:r&ıwe.
(*) Diodor. V, 55.
(°) Millingen Peint. d. Vas. gr. Pl. VI.
(°) Philostrat. Heroic. V, 2.
(”) Eustath. ad Hom. p. 330,12. Dietys I, 14. Pelios oder Pylios, Sohn des Hephästos,
heilte auf Lemnos den verwundeten Philoktet (Ptolem. Heph. L. vi).
(&), MBaus: Iaım,ro.
(°) Plut. Pericl. XII.
('°%) Viseonti Mus. Pio-Clem. IV, 6. Millingen G. myth. XXX VI, 134. Vgl. d. Karneol d.
K. Mus. (Tölken Gemmenyerz. II. Kl. II. Abth. VI, 333) Minerya Medica mit aufgestütztem
Kk2
260 Pınorka:
selben, von ihrer sonstigen vollständigen Bewaffnung nur die Lanze zurück-
behaltend, in der Nähe des Hesperidenbaums und mitten unter Hesperiden,
tritt uns auf der von Gerhard (!) erläuterten Midiasvase des brittischen Mu-
seums entgegen. Auch in dem attischen Demos Acharnä (?) stand ein be-
sondrer Altar der Athene Hygiea neben dem Dionysos dem Sänger, Melpo-
menos, bei welchem Gott auch in Athen die Statue der Athene Paionia (°)
errichtet war, dieselbe Heilgöttinn, welche in Oropus im Tempel des heilen-
den Orakelgottes Amphiaraus (*) ihren eignen Altar besafs. In Kyzikos ver-
ehrte man die Athene Iasonia (°), von lason bei der Rückkehr aus Kolchis
eingesetzt, ohne Zweifel aus Dank für den Beistand, den Athene ihm bei der
Bekämpfung des Drachen, der das goldne Vliefs bewachte, geleistet hatte.
Über die ernste Ursache, die den Iason zu dieser Votivstatue bestimmte, ver-
breitet ein merkwürdiges, von Gerhard (°) publicirtes Vasenbild (siehe Taf. I,
5), das nöthige Licht. Auf demselben nämlich sieht man in Folge eines
Brechmittels, das Athene dem Drachen gegeben, den schon in den Schlund
dieses Ungethüms versunkenen Iason wieder mit dem Kopf zuerst zu Licht
und Leben herauskommen; wenn irgend wo, so hat hier Athene sich als
Heilgöttinn, Iaso, bewährt. Der Athene lasonia auf Kyzikos entspricht noch
entschiedner die Athene Ietes, welche die Münzen von los (7) mit einer
Arm sich auf eine Säule lehnend und die Heilschlange, die sich um ihre Lanze windet,
vor sich haltend, steht vor dem mit erhobnem Scepter thronenden Jupiter, nach Winckel-
mann (Catal. Stosch. I. Cl. IV. Sect. 214) Aesculap.
(') Abh. d. K. Akad. d. Wissensch. 1839 Vase d. Midias Taf. II.
(2) Paus. I, xxx, 3.
(°) Paus. I, ı1, 4. Wohl auf eine Keule gestützt, wie Aesculap und dem Ansehn nach
ähnlich der Melpomene. Vgl. Tassie Catalog. pag. 136: Cornaline au Cab. de Flor. (Gori
I, 44, 3. Praef. 10) Minerve avec une massue c. a. d. Alcide des Macedoniens. ‘A sa droite
sont deux petites figures avec des branches d’olive. Vgl. auch Millingen Anc. coints Pl. V,
4 die comanische Götiin.
(*) Paus. I, xxxIv, 2.
(°) Apollon. Rhod. Argon. I, 960. Müller Orchom. S. 265. Gerhard Prodrom. Taf. I,
Anm. 74. Taf. II, Anm. 96. Ann. d. Instit. VII, p. 294. In ihrem Tempel wurde ein An-
ker des Schiffes Argo geweiht.
(°) Monum. d. Instit. arch. T. II, Tav. XXXV.
(”) Monum. ined. d. Instit. T. I, Pl. LVO, B.7. Ann. Vol. V, p. 267-269. Abh. der
K. Akad. d. Wiss. 1840. Vom Einfl. der Gotth. Taf. II, 23.
Die Heilgötter der Griechen. 361
Schaale in der Hand vor einem Altar darstellen. Vielleicht gehört die Athene
Pareia(') in Sparta, deren Statue im Freien neben dem Hieron des Achill
stand, auch in diesen Cyclus der Heilgottheiten, da ragei« eine dem Äsculap
geweihte Schlange bedeutet, und Achill zu den bekanntesten Heroen der Heil-
kunde gezählt ward. Bei den Römern scheint Minerva Memor auch die
Heilkraft besessen zu haben, da der Erfolg ihrer Arzneimittel Coelia Juliana
von schwerer Krankheit befreite (?). Allein nicht blofs im Allgemeinen ler-
nen wir Athene als Heilgöttinn kennen, auch eine besondre Gattung der
Heilkunde scheint sie besonders für sich in Anspruch zu nehmen, die der
Augenkrankheiten. Auf dem Wege nach der Burg von Argos errichtete
Diomedes der Athene als Scharfsehenden ’Ofvdsgxw ein Heiligthum, weil
sie ihm den Nebel von den Augen hinweggenommen hatte (°). Auf gleiche
Weise widmete der Gesetzgeber Lykurg der Athene als Augengöttinn
’ObSaruirıs (+) oder ’Orrierıs (°) einen Naos in Sparta, weil ihr Schutz bei
einem Aufstand ihm das einzige, noch übrige Auge gerettet hatte. Indefs wie
Apollo als Pestvertreiber, zugleich aber auch als Pestsender in dem Glauben
der Hellenen erscheint, so erzählt auch ein Mythos von der Athene, dafs sie
den Tiresias des Augenlichts beraubt habe, weil er sie nackt im Bade
gesehn (°).
Der entschiedendste Heilgott aber ist Arorro, der sowohl (siehe Taf.
1, 10) mit dem Lorbeerbaum und der Phiale (7), als (siehe Taf. I, 6), indem
er mit der Hand eine neben ihm sich aufrichtende Schlange hält (°), den
Charakter eines Heilgottes offenbart. In Delos und Milet verehrte man ihn
mit dem Beinamen OvVAıos (?), welches durch üyıerrızes und ramvızes erklärt
(‘) Paus. III, xx, 8.
(?) Gruter Thes. Inscr. I, p. LXXx1, 9.
(°) Paus. II, xxıv, 2.
(*) Paus. III, xvın, 1.
(?°) Plut. Lycurg. c. 11.
(°) Apollod. II, 6,7. Callim. Lavacr. Pallad. v. 82.
(”) Von einem Vasenbild bei Millin Peint. d. Vas. 1, 46. Müller Denkm. a.K. II, xrıı, 142.
(°) Statue der Villa Albani (Raffei Ricerche sopra un Apolline della Villa Albani) ge-
genwärtig in Neapel (Gerhard u. Panofka Neap. Antiken S. 29). Müller Denkm. a. K. I,
xıI, 137.
(?) Spanhem. Obss. ad Callim. H. in Apoll. v. 40.
262 Pısorka:
wird, der Gesundmacher, da oiAely üyıaivew bedeutet (1). In Oropus
befand sich im Naos des Amphiaraos ein Altar, der nächst vielen andern
Göttern auch dem Apollo Haıwv geweiht war (?), demselben Gott, den Pin-
dar (?) als Haıay (siehe Taf. I, 14) anruft (*), und wol nicht verschieden von
jenem Paeon, dessen Statue im Tempel des Äseulap zu Syracus wegen ihres
Kunstwerths ebenso bewundert, als wegen ihrer Heiligkeit verehrt ward, wie
denn auch dieser Gott am alljährlichen Feste des Äseulap sein besonderes
Opfer daselbst erhielt (°). Mit Rücksicht auf den im Worte Haıwv liegenden
Begriff des Schlagens (°), des Austreibens der Krankheit durch
Schläge vermuthete ich in der, von einer Hirschkuh begleiteten, mit einem
Baumzweig schlagenden Götterfigur (siehe Taf. I, 3.11) der Münztypen von
Kaulonia (7) eine Form dieses Apollo Paeon, und finde die Bekräftigung in
dem Büschel, welches Apoll auf dem hereulanischen Bilde der drei Heilgöt-
ter (siehe Taf. II, 1) in der Linken hält (3), und das ähnlich dem der kaulo-
nischen Münzen, mit Tänien umwunden, sich in der gesenkten Rechten einer
sehr ähnlichen Apollofigur auf einem pompejanischen Wandgemälde (?) wie-
derfindet. Der Beiname Retter, owrrg, unter welchem Sophokles (1?) mit
(') Strab. XIV, p. 635.
(2); Baus. I, xxxıv, 2.
(*) Pyth. IV, 481. Soph. Oed. T. v. 154.
(*) Auf dieser Münze von Nysa mit der Vorderseite des Antoninus Piuskopfes hat schon
Harduin und nach ihm Liebe (Goth. numar. p. 336) in dem Typus des Apoll einen Paio-
nios vermuthet und als Anspielung auf den Namen der Magistratsperson Paionios aufgefalst,
eine Deutung, welcher Avellino (Notiz. di un busto di Demostene Nap. 1841. p.19) bei-
pflichtet. Mir scheint es jedoch zu kühn, einen Haupttypus mit dem Bilde eines Gottes
durch die Namensanspielung auf einen Sterblichen hervorgerufen zu glauben, viel wahr-
scheinlicher dagegen, dafs der Sterbliche seinen Namen dem an dem Orte verehrten Apollo
Paion verdankte.
(°) Cic. Verrin. I, ıv, 58.
(°) Aeschyl. Agam. 99. Hav yevoö rrsöe Megluns. Vgl. unser „Schlag dir die Sorge
aus dem Kopf.”
(”) Mionnet Deser. Recueil d. Pl. LIX, 2; Müller Denkm. I, xvı, 72. Gerhard Archäo-
log. Zeit. 1843. S. 165.
(°) Millin Gal. mythol. CLIH, 554. Panofka Bild. ant. Leb. VII, 1.
(°) Mus. Borb. Vol. X, Tav. XX. Panofka v. d. Einfl. d. Gotth. Abh. d. Akad. 1840.
Taf. II, 28.
; &
(1°) Oed. T. v.150 aurng 8’ iz01r0 2a vorou MEUSTNBLOS.
Die Heilgötter der Griechen. 263
Bezug auf die Pest den Apollon anruft, dürfte wol denselben Gesundheits-
geber Paeon angehen, so wie der andre, Apollo Arzt, ’Iargös, bei welchem
Hippokrates schwur (!), diesen Gott voranstellend dem Asklepios, der Hy-
gia und der Panakeia. In Zeiten der Pest ward bekanntlich sein Orakel zu
Delphi befragt, und in diesem Sinne nennt ihn Äschylos in den Eumeni-
den (?) iergonavrıs, Arzt und Seher zugleich. Fafst man diesen Begriff
auf, so erklärt sich auch das in dem Namen des Gottes Asklepios vorherr-
schende Beiwort Yrıss, der milde, besänftigende, welches Kallima-
chos (*) dem Apoll auf Delos beilegt. In Athen hatte Kalamis zu Anfang
des peloponnesischen Krieges wegen der Pest eine Statue des Übelabweh-
rers Apollo, @s£iraxos, gearbeitet (*), und fast um dieselbe Zeit derselbe
Gott unter dem Namen der Helfer, Eminougios jenen berühmten, von Iktinos
erbauten und noch jetzt aufrecht stehenden Tempel zu Bassae bei Phigalia
in Arkadien erhalten (°), dessen Fries Apollo und Artemis auf Hirschzwiege-
spann, ersteren Pfeil abschiefsend darstellt (%), und gegenwärtig einen Haupt-
schmuck des brittischen Museums bildet. Auf dem Forum zu Elis hatte der-
selbe Heilgott Apollo unter dem Beinamen &z£rıcs einen Naos und eine Sta-
tue (7). Achtzig Stadien von Koronea lag am Meere ein Hieron des Apollo
»öguvSos; das Schnitzbild war sehr alt; Pausanias (®) fügt hinzu: auch Krank-
heiten heilt der Gott, zaı voryuara 5 Seos iarcı. Der eigenthümliche Name
»oguvSos läfst sich, da vvSce, wie bei’OAuvSos, nur Endung ist, mit dem Her-
5
mes waıderopes, dem Knabenwärter in Metapont (?) vergleichen, und ent-
(') Spanhem. Obss. ad Callim. H. in Apoll. v. 40. Pind. Pyth. Od. IV, v. 270: "Ierra
Emimgoraros. Aristoph. Av. 584. Peisthet. a “amorAuv, karacs y uw, idaıw* Ms-Tocoget d8.
(2) v. 62. Liv. IV, 22.
(@) H. in Del. v. 214 Yzus 2&ıSı z0%meV. Cf. Lycophr. v. 1054, c. schol.
(*) Paus. I, ıı, 3.
(?) Paus. VII, xuı, 5.
(°) Stackelberg d. Apollotempel zu Bassae. Müller Denkm. a. K. I, xxvıu, 1232. Die-
sem Gott wird ein Eber geopfert. Paus. VII, xxxvıu, 6. Später stand die Tempelsta-
tue auf der Agora zu Megalopolis.
(7) Paus. VI, xxıv, 5. Apollo "Az2rrws. Eurip. Androm. v. 900 ’Q Bil? dztrrwe mru-
rum done Alzıv.
(®) Lib. IV, xxxıv, 4.
(@), Hes. s.v.
264 Pınorka:
spricht dem lateinischen Wort curator, wie wir ja auch von Kuren der
Ärzte reden. Eine merkwürdigere Form des Apollo als Heilgott findet sich
in Magnesia am Flufs Lethäus, wo er als Waldgott “‘YPAarys mit einer sehr al-
ten Statue verehrt ward, die Kraft zu jeglicher Handlung gab. Seine Hiero-
dulen sprangen unverletzt von hohen Felsen und trugen grofse Bäume mit
den Wurzeln ausgerissen die abschüssigsten und engsten Pfade (1). Erwägt
man, dafs diese Eigenthümlichkeit den Centauren vorzugsweise zukommt,
und dafs die Magneten dem Chiron als dem Lehrer der Arzneikunde gött-
liche Ehre erwiesen, indem sie ihm die Erstlinge der Vegetation opferten (?),
so schliefst sich hieran die natürliche Vermuthung, dafs der Apollo Hylates auf
Magnesia nichts andres als einen humanisirten Centaur Chiron bedeute, dem
als solchen die Gabe, Kraft und Stärke zu verleihen, als Haupteigenschaft
inwohnt. Als Lapithengott erscheint Apoll ebenfalls in der Eigenschaft eines
Heilgottes und zwar wie er den an Flechten und Ausschlag leidenden Cen-
tauren Chiron wieder herzustellen sucht (?). Die Augenheilkunde end-
lich schreibt Hygin (*) dem Apoll als Erfinder zu; ob dem Iycischen, weil
eine Augensalbe Avxıov hiefs (°), wage ich nicht zu behaupten.
Auch Apollos Schwester, Artemis, besitzt die Sühnungs- und Hei-
lungskraft an mehr als einem Orte Griechenlands. In Lusoi in Arkadien
wo Melampus die wahnsinnigen Prötiden reinigte, ward sie unter dem Bei-
namen die Besänftigerinn, “Hasgyri«, die Sühnerinn, Aovria, angebe-
tet (°), und wahrscheinlich mit einer Phiale als Symbol der Lustration pla-
stisch dargestellt. Auch in Phocis erfreute sich Artemis als Gesundheitsge-
berinn in der Gesundheitsstadt Hyampolis eines besondern Kultus. Pau-
sanias (7) versichert, die ihr heiligen Thiere werden ohne Krankheit aveu vorcu
aufgezogen; in Hypsoi an der Grenze Lakoniens wird man fast versucht,
(') Paus. X, xxxı1, 4. Kar iryiv Em’ Eoyu mageyeren mar.
() Plut. Sympos. III, 1, 3.
(°) Panofka Bilder ant. Leb. S. 51 52. Taf. VII, 5.
(*) Hygin fab. CCLXXIV.
(°) Panofka Mus. Bartoldiano p. 141, n. 82.
(°) Paus. VIH, xvıu, 3. Callim. H. in Dian. v. 235 c. not. Spanhem. Steph. Byz. v.
\ ’
Aovscor: et "Acavın.
(”) Paus. X, xxxv, 4.
Die Heilgötter der Griechen. . 265
dieselbe Gesundheitgeberinn in der Artemis Daphnaia zu vermuthen, welche
ein gemeinschaftliches Hieron mit Asklepios daselbst besafs ('). Den Kopf
der Artemis Soteira, der Retterinn (siehe Taf. 1], 13), zeigen Münzen von
Syracus (?) übereinstimmend mit denen der lakonischen Stadt Boia (3) stets
mit dem Köcher, der die Tod- und Pestbringenden Pfeile in sich schliefst,
auf dem Rücken.
Auch Dionysos führt den Beinamen des Arztes, ’Iargcs (*) und Ge-
sundheitsgebers, "Yyıdras, letzteren nach dem Ausspruch der Pythia (°);
diese Beinamen stehen im engsten Zusammenhang mit der Gabe des kum-
merverscheuchenden Rebstock, welche das Menschengeschlecht dem
Dionysos verdankte (°), wie auch Alcäus singt: „denn den Wein, den Sor-
genbrecher, gab der Semele und des Zeus Sohn den Menschen” (7). Un-
ter dem Namen Retter, Zuwrn ruft der Chor im Sophokleischen Ödipus Ty-
rannos (°) den Dionysos an, mit brennender Fackel gegen die Pest zu kom-
men; jugendlich und fast unbekleidet zeigen ihn Münzen von Maroneia (°),
in der Rechten eine Weintraube, in der Linken bald einen, bald zwei Speere
haltend (siehe unsre Taf. 1,12). Als Heilgott, der im Traum den Kranken
die Mittel der Genesung anzeigte (!°), erfreute er sich in der phocischen
Stadt Amphikleia, später Ophiteia genannt, einer besonderen Mysterienfeier:
. Pausanias (!!) bemerkt, dafs nirgends eine Statue dieses Dionysos sichtbar
)2 Baus. II, xXTy,.6-
) Mionn. Deser. I, 314, n. 942. Ry. SYPAKOXIQN Foudre aile. AE. Cf. 1,333, n, 54.
?) Mionn. Suppl. IV, 230, n. 54.
) Athen. I, 22e Euseb. Praep. Evang. V, 30. Eustath. ad Hom. p. 1624, 37.
) Mnesitheos ap. Athen. I, 362.
) Iausinumov Eumerov dovvaı Beoreis Eurip. Bacch. 772.
7) Bei Athen. XI, 481a: owvov yag Ieusrds zur Ads vies Aatızadia avSgwmanıv Eöwze.
Cf. axerpogos Aurns ap. Athen. 1. c.
() v.210. Lycophr. Cass. 206.
(°) Mionn. Deser. I, 390, n. 174. Tete de Bacchus ä& dr. ceinte d’une couronne de li-
erre. Rv. AIONYSOY SQTHPOS MAPRNITRN Bacchus nu, debout, tenant de la droite
une grappe de raisin et de la g. deux traits et une draperie. AR. — Suppl. I, p. 337,
n. 823 dieselbe Vorstellung, mit deux javelots et le strophium.
(‘°) Wie Amphiaraos (Paus. I, xxxIv, 3).
EN) Lib. X, xxxıu, 5: duvassyv avdgre errıovrnv Ex Sour UmorreVsavse 85 vmmov mr,
zaraIerSau Fov raid © es ayıyalov, za aan Tr «woas, eva 0: adeıcv drssSar TEN sirrnv
Philos.- histor. Kl. 1843. Ll
266 Pınworeka:
war. Wahrscheinlich genügte das bedeutsame, Arzt und Seher (!) auf gleiche
Weise bezeichnende Bild einer Schlange als Agathodaemon an diesem Ort.
Ob Proserrina, die Gemahlin des Dionysos Soter, als Jungfrau
Retterinn, Kcgn Swrega, in Sparta (?) in einem besondern Naos, in Mega-
lopolis zugleich mit Demeter in einem grofsen Tempel (?), unabhängig (siehe
unsre Taf. I,9) auch in Kyzikos (*) verehrt, die Fähigkeit der Heilkunde mit
ihrem Gemahl getheilt, oder darauf verzichtet hat, läfst sich bis jetzt nicht
mit Sicherheit bestimmen, wenngleich der Löwenkopf (°), noch mehr aber
die sich aufrichtende Schlange (°) als Rückseite des Ährenbekränzten Haup-
tes der Kore Soteira auf den Münzen von Kyzikos darauf hindeuten könnte.
Der Soteria weihte Eurypylos, Sohn des Euaemon zum Dank, dafs sie ihn
vom Wahnsinn befreit, ein Hieron und Standbild von Marmor in Patrae (7).
Der Proserpina Servatrix errichtete C. Vettius Silvinus für die Genesung
seiner Gemahlin Ennois Plautilla eine Statue (°).
Desto unzweifelhafter darf sich Hermes zu den Heilgöttern bekennen,
da nach dem Zeugnifs des Hygin (?) Hera ihn so liebte, dafs sie mit der Mut-
termilch ihm schon die Heilkunde beibrachte; er hat eine Herme in Trözen
als Gesundheitreicher, Horvyıos, wo Herakles seine Keule niederlegte, die in
E, 2 x \ IS E) > m % S } 88 > x 7 \ x E
NmIgTaro" Auzov ev On Emiysıgeiv ru madı' Ögazovre be Inyugav ExXew Tyv dpovpav Eomeipe-
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gav rw gaizovrı zn FU) madı Emoiysev Ev zowW" To TE On Ywglov koizva 26 Todes #uronevn
5 ÄDER RE, er), \ r. > , E S
mug dacı, zu mo roü Ögazovros Exreivou syv moRAw "Odırsiav Ovonas>gvet.
7 . ”
(') Ioazwv, odıs und 70 oızıR0v beiden gemein.
(2) Paus. II, xıı, 2 von Orpheus oder Abaris geweiht.
(°) Paus. VIII, xxxt, 1.
(*) Erzmünze mit Inschrift. Mionn. Descr. I, p. 530, n. 97. Rv. Bacchus assis sur
une panthere marchant & dr.
(°) Mionn. Deser. I, 529, n. 95. Löwenbacchus als Dionysos Saotes auf Samos ver-
‚ehrt Plin. H. N. VIII, 21, Aelian. V. H. VII, 11, Panofka Terrak. d. K. Mus. Taf. XXXV, 1,
S. 110.
(°) Mionn. Descr. II, 530, 96.
(”) Paus. VII, xxı, 2 und xıx, 3.
(?) Gruter Thes. Inscr. T. I, p. XCVII, 6.
(?) Hygin f. 119 Nov. ap. Maj. class. auct.
Die Heilgötter der Griechen. 267
die Erde gesteckt wieder Schöfslinge trieb ('). Auch der Hermes Airvurcs,
der in Tegea bei dem Tempel der Minerva Alea seinen Naos hatte (?), be-
kundet sich als Sühnungsgott, insofern er mit Athene gesandt wurde,
um die Danaiden von dem Mord ihrer Männer zu entsühnen (?). Dem Apol-
linischen Beinamen ’Ars£izaxos entspricht der des Hermes "Azaxyrıss, in des-
sen Naos in Megalopolis Pausanias (*) nur eine Schildkröte von Marmor
fand, und den ich als Erfinder der Schildkrötenleier und zugleich als Un-
heilabwehrer anderwärts nachgewiesen habe (°). Endlich gehört der Her-
mes Widderträger, xgiopcges, hierher, dem in Tanagra (°) ein Hieron er-
richtet war, weil er den Einwohnern eine Pest abgewehrt hatte, einen Wid-
der um die Mauer herumtragend; zum Andenken an seine Rettung feierte
man ein Fest, wo der schönste Ephebe einenWidder auf seinen Schultern trug,
Auf gleiche Weise hatte Kalamis das Tempelbild des Gottes dargestellt, das
eine Marmorstatue (siehe unsre Taf. I, 8) der Pembrokeschen Sammlung (7)
und das Bild (siehe unsre Taf. I, 7) einer volcenter Kylix (°) uns vergegen-
wärtigen. Auf Münzen der mysischen Stadt Pergamos tritt derselbe Gott
mit einem Widderkopf auf der rechten Hand dem Asklepios gegenüber (°).
Der in Trözen verehrte Pan Aurngios, welcher den Magistratspersonen
im Traum (!°) Heilmittel gegen die Pest angegeben hatte, in Arkadien im
Bezirk der Despoina zu den mächtigsten Göttern gezählt, die Gebete der
Gläubigen zu erfüllen vermögend, ein eignes Hieron besafs (!!), und bei der
Baus I s2s1,19.
Paus. VIII, xLvIs, 3.
Soph. Philoct. v. 133. Apollod. II, 1, 5.
L. VII, xxx, 3 und ım,1. Callim. H. in Dian. v. 143.
Tod des Skiron und des Patroklos S. 8, Not. 58.
Paus. IX, xxıı, 2.
Müller Denkm. II, xxıx, 324.
Mus. Chius. Tav.XXXV. Der Name des Besitzers EzıR0s hängt mit Eco» Wolle zusammen.
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III IE N I NZ
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N a a a N Ma
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Mionn. Suppl, V, 472.1159. Tete radiee de Trajanus Decius avec le paludamentum.
Rv. EMI C KOM. d. FAYKQNOC MEPFAMHNR2N IPRTDN T. NEQKQPQN
Mercure Criophore debout portant sur la main dr. une tete de belier et tenant de la g.
son caducee et la penula; en face Esculape debout avec ses attributs. AB.
(1°) Paus. II, xxxıı, 5.
(‘‘) Paus. VII, xxxvum, 3.
L12
268 Pınorka:
Marathonischen Ebene auf dem Pansberg durch Bäder als Heilgott sich kund
gab ('), möchte wol auch ein Schmerzenlöser gewesen sein, und in so
manchen schönen Kunstdarstellungen des dornausziehenden Gottes (?) einer
seiner Hauptzüge sich uns offenbaren.
Mit Äsculap die Keule gemeinschaftlich besitzend erscheint er.
in mehr als einem Orte als Heilgott, in den Kunstvorstellungen ausruhend
und auf die Keule gestützt, zu erkennen. Zur Begründung dieses Satzes las-
sen sich einerseits die heifsen (Juellen anführen, welche dem Herakles
heilig sind (°), namentlich die in Trözen von ihm entdeckte Heraklesquelle
vor dem Hause des Hippolyt, dessen Statue daselbst auch den Namen Äscu-
lap führte (*), die ihm heiligen Thermen in Aidepsos (°) auf Euboea, die
sicilischen in Himera und Segesta (°), der nach ihm benannte Flecken He-
rakleia in Elis, mit einer Quelle, bei welcher ein Hieron der Heilnym-
phen, "Iwvides, errichtet war (7). Auch in Böotien, wo Herakles die vorzüg-
lichste Verehrung genofs, ward er in Hyettos als Gesundheitsgeber verehrt
in einem Naos, a Standbild ein unbehauener Stein war, bei dem aber
nichts desto weniger, wie Pausanias (®) versichert, die Kranken Heilmit-
tel fanden. Später trat wohl ein Standbild des Gottes mit einer Sau (Ös) da-
vor an die Stelle.
Auch Srrvanus, den Waldgott scheinen die Römer, wie den Apollo
Hylates die Griechen, als Heilgott angerufen zu haben: denn dem Gesund-
heitgeber Silvanus, Silvano Salutari weihte L. Manlius Saturninus zu-
folge einer Traumerscheinung eine Statue (°).
(Gy) Baus Exa%y, 16:
(2) Hirt myth. Bilderb. II, xx, 9. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. VII, 6.
(°) Athen. XI, 512 f. die Thermopylen. Strab. IX, p. 4282.
(°) Paus. II, xxxıt, 3.
(?) Strab. IX, p. 4254. Lib. I, p. 60. Athen. IH, 73c.
(°) Diod. IV, xxıı.
(”) Paus. VI, xxı, 4.
(°) Paus. IX, xxıv, 3. Vgl. das Relief, wo die Sau und der Skyphos neben dem auf die
Keule gestützten, die Hesperidenäpfel haltenden Herakles sichtbar sind, Visconti Mus. Pio-
Clem. IV, 42; Millin g. myth. CIX, 480.
() Re Thes. Inscr. T. I, p. ıxv, 1.
Die Heilgötter der Griechen. ' 269
HEILDÄMONEN UND HEILHEROEN.
Den ersten Platz unter den Heildämonen darf wol der Sohn des Kro-
nos (!) und der Philyra, Curkox in Anspruch nehmen, der wegen seiner Ge-
rechtigkeit und Weisheit gepriesene (?), edelste der Centauren, dem die
Magneten als dem ersten Heilkünstler die Erstlinge der Vegetation darbrach-
ten, weil er mit Wurzeln und Pflanzen die Krankheiten zu heilen pflegte (°).
Sein Wohnsitz war die Chironshöle (*) auf dem an heilkräftigen Kräutern
reichen Pelion, wo nach ihm das Tausendgüldenkraut HEVraUpLoV genanrt
ward (°). Von Apoll selbst unterrichtet (°), lehrte er die Heilkunde wie-
derum nicht blofs dem Asklepios und dessen Söhnen Machaon und Podalei-
rios, sondern anch dem Achill, Hippolyt, Amphiaraos und Anderen. Dem
Phönix, dem nachmaligen Erzieher und Begleiter des Achill, welchen sein
Vater Amyntor des Augenlichts beraubt hatte, gab Chiron dasselbe wieder
zurück (?). Die Bedeutung des Namens als Mann der Hand und Reprä-
sentant der Chirurgie hat Welcker (°) in einer gelehrten Monographie die-
ses Centauren festgestellt, dagegen die Kunstdenkmäler, in denen der Cha-
rakter des Heildämon durch unzweideutige Attribute sich uns offenbart, we-
niger berücksichtigt. Vor allem verdient hier das längst publieirte Wandge-
(*) Welcker Allgem. Schulzeit. 1831, Abth. II, n. 99, S.785 erklärt diese Elternschaft
als Symbol des äufsersten Alterthums der Völkerschaft und der von Chiron geübten Kunst
der Kräuter, da ja Philyra statt Phyllira die Kräuterfrau bedeutet. Letzteres zugebend, zie-
hen wir zu Gunsten des Kronos die Ableitung von zgivw vor, wie sie sich im Beiwort &y-
zuAouyrns bei Hesiod. Theog. 137 offenbart, zumal Pindar Pyth. VI, 21 den Kroniden Chi-
ron als Aaöyuzr« anruft, und bringen auch die Verwandlung des Kronos in ein Rols grade
bei der Zusammenkunft mit Philyra und Zeugung des Chiron als Beweis gegen die Wel-
ckersche Auffassung in Anschlag.
(?) Hom. Il. XI, 832.
(°) Plut. Sympos. III, 1, 3.
(*) Pind. Isthm. VII, 41. Pyth. IX, 30. IV,102. VI, 21. Nem. IH, 53.
(?) Plin. H. N. XXV, 6, 30. Virg, G. IV, 270.
(°) Philostr. Heroic. IX, Imagg. II, 2. Pind. Pyth. IX, 65.
(’) Tzetz. ad Lycophr. Cass. v. 421. Hom. Il. X, 448 sqq. Aristoph. Acharn. y. 421.
(°) Zimmermanns Allgemeine Schulzeitung 1831, Abth. I, N. 99.
2370 Pınorka:
mälde von Pompeji (?) eine Erwähnung, da es den Chiron höchst bedeutsam
mitten zwischen Apoll und Asklepios (siehe unsre Taf. II,1) darstellt, und
zwar ein Büschel Kräuter in der Rechten haltend. Nicht minder merkwür-
dig, obwohl bisher übersehen, dünkt uns ein schon bei Tischbein (?) publi-
cirtes Vasenbild, wo der Centaur Chiron durch edle Gesichtszüge ausgezeich-
net, das Haupt Lorbeerbekränzt, mit einem Pantherfell bekleidet, in der er-
hobnen Rechten eine lodernde Fackel, in der Linken eine Schaale mit Früch-
ten und einen Lorbeerbaum trägt, an welchem Binden und Votivbilder an-
gehängt sind (siehe unsre Taf. II, 2), zur Andeutung seines Oultus; durch
dieses Attribut von überraschender Ähnlichkeit mit einer bildlichen Darstel-
lung des Apoll auf einem anderen Vasenbild (°) in der Nähe des zu sühnen-
den Orestes: dem Chiron voran schreitet ein Silen mit einem Thyrsus in
der Rechten und einer Frucht in der Linken. Diese Vasenvorstellung kann
schwerlich auf einen mythischen Zug aus der Lebensgeschichte des Chiron
sich beziehen; sie schliefst sich vielmehr an den oben erwähnten Cultus des
Chiron als Heildämon bei den Magneten an, wie ein nicht minder merkwür-
diges, unedirtes Vasengemälde im Blacasschen Museum, das einen unbärtigen
Centauren mit einem Tänienumbundnen Lorbeerbaum in der Linken und
einem Kranz in der Rechten einherschreitend zeigt, während eine tan-
zende Frau mit einem Weineimer in der Rechten, mit lodernder Fackel ihm
voranleuchtet: nicht zu übersehen ist das Centauren sonst nicht grade zu-
kommende Gewand, in welches die linke Hand eingehüllt ist, an der Stelle,
der gewöhnlichen Pantherfelle (siehe unsre Taf. II, 4). Nicht minder wich-
tig, wenngleich bisher ebenso unbeachtet, ist das Auftreten desselben Lor-
beerbekränzten Centauren auf einem Vasenbilde der Hochzeit des Peleus
und der Thetis, wo das Brautpaar zu ihm herantritt; er trägt daselbst nicht,
wie andre Male, einen mit Hasen an den Ästen bespickten grofsen Baum,
sondern einen Knotenstab, ähnlich dem des Äsculap (+). Seine Persönlich-
(') Millin Gall. myth. CLIII, 554. Jorio Descript. d. Peintures de Portici Tab. IV,
p: 61. Panofka Bild. ant. Leb. Taf. VII, 1.
(°) Vas. d’ Hamilt. T. I, pl. 42.
(°) Millin Monum. ant. ined. I, 29; Gall. myth. CLXXI, 623.
(*) Mus. Chius. XLVI und die Inschrift KIPOX zu vergleichen mit dem Namen KYPOY
den in Achaja ein Heiligthum des Asklepios und Kurort für Kranke führt (Paus. VII, xxvus, 4).
Die Heilgötter der Griechen. 271
keit tritt diesem letzteren Gotte dadurch noch näher, dafs er menschliche
Vorderfüfse hat, und wie auch anderwärts, die Bekleidung eines langen, bis
an die Füfse reichenden Chiton (siehe unsre Taf. I, 5). Die Ansicht, dafs
der Heros der Heilkunde mit den übrigen Centauren nicht einmal die Halb-
rofsgestalt gemein habe, sondern von diesen dem Trunk und der Zügellosig-
keit ergebenen Ungeheuern, wie in seinem Wesen, so in seiner äufseren,
menschlichen Gestalt (') sich völlig unterscheide, hat bis jetzt von Seiten
der Denkmäler der Kunst die gewünschte Bestätigung vergeblich erwartet,
und scheint um so weniger nothwendig, als das Verhältnifs des Chiron zu
den übrigen Centauren sich vermuthlich in der griechischen Religion so ge-
staltete, wie das des alten Silen, des Dionysoserziehers, zu der Schaar der
andern Silene und Satyrn.
Dem Chiron schliefsen wir einen andern dem Kronischen Zeitalter
angehörigen Heros an, den Titan Promersevs, den Sohn des Iapetos (?).
Bei den Panopäern in Phocis sah Pausanias (?) ein nicht grofses Gebäude
aus rohen Ziegeln, darin eine Statue von pentelischem Marmor, welche die
einen Asklepios, die anderen Prometheus nannten. Für diese letztere
Benennung spricht, dafs man daselbst noch Überreste von dem Lehm zeigte,
aus welchem Prometheus das Menschengeschlecht gebildet hatte. Inwiefern
eine künstlerische Darstellung des Asklepios mit der des Prometheus sich
verwechseln liefs, kann auf den ersten Anblick befremdend erscheinen, je-
doch ein Grabdenkmal des Arztes Iason aus Acharnä (siehe unsre Taf. II, 3)
mit dem Relief eines Arztes, der einen Kranken befühlt (*), unterscheidet
sich so wenig von den Reliefs, auf welchen Prometheus einen Menschen bil-
det (°), dafs dieses Denkmal allein schon für die doppelte Benennung der
Statue bei den Panopäern Zeugnifs abzulegen vermag. Indefs den Cha-
rakter des Heildämon als dem Prometheus neben so vielen andren angehörig,
sichert auf das Bestimmteste die Rede des Prometheus selbst in dem gleich-
(') Welcker in der allgem. Schulzeitung 1831, Abth. II, 99.
(2) Dem Iapetos selbst möchte man fast schon die Heilkunde beischreiben, da der Lieb-
ling des Apoll, Tapis, ein Sohn des Iasos, Weissagung, Musik nnd Schielskunst verachtend,
die Heilkunde wählt und an dem verwundeten Äneas bewährt (Virg. Aen. XII, 391 sqgq.).
(En Pr
(*) Panofka Cab. Pourtales Pl. XXVI; Bilder ant. Leb. VII, 4.
(°) Kapitolinischer Sarkophag Mus. Capit. I,19. Millin G. myth. XCII, 383.
72 Pınorka:
namigen Äschyleischen Stück v. 478 u. ff., wo Prometheus die Wohlthaten,
die er dem Menschengeschlecht bereitet, aufzählt, und „unter diesen die
gröfste, wenn einer in Krankheit verfiel, so war kein Arzeneimittel, weder
zum Essen, noch zum Salben, noch zum Trinken, sondern aus Mangel an
Arzeneien vertrockneten sie, bis ich ihnen zeigte die Mischungen milder
Heilmittel, durch welche sie alle Krankheiten abwehren”.
Arıs der Namengeber von Argolis, welches nach ihm, dem Arzte,
früher das Apische Land genannt wurde, kam, ein Sohn Apollos, in der
Eigenschaft eines Sehers und Arztes zugleich, aus Naupaktos, reinigte das
argolische Land nicht blofs, sondern bewährte sich auch als glücklicher Arzt
und Chirurg, und fand defshalb zum Lohn eine Erwähnung in den Gebe-
ten (1). Er erinnert an Sarapis in Ägypten, der nicht blofs als Unterwelts-
gott, sondern auch als Heilgott Verehrung genofs.
Ein dem Herakles gleichzeitiger Heros, Anrıkyreus (mit »Ugos, cura-
tor, der Kurenmacher zu verbinden), heilte den Herakles von seinem Wahn-
sinn durch Anwendung des Nieswurz, welches er in Antikyra in Phocis ent-
deckt haben soll (?).
Den Schüler des Chiron, Acnırr, finden wir, den verwundeten Arm
des Patroklos verbindend, auf der berühmten Trinkschaale des Sosias im kö-
niglichen Museum (3). Sein Hieron lag neben dem des Asklepios in der lako-
nischen Stadt Brasiä, deren Finwohner ihm alljährlich auch ein besonderes Fest
feierten (*). Seine berühmte eschene Lanze, durch die Telephus verwundet
und nachher im Beisein des Agamemnon (siehe unsre Taf. II, 7) auch geheilt
wurde (°), zeigte man als Weihgeschenk in dem Tempel der Athene von
Phaselis (°), vermuthlich auch einer Athene Hygiea.
Bei den Römern finden wir den Acırıus, den Schutz- und Namenge-
ber der gens Acilia ebenfalls als Heildämon wieder, und die Denare dieser
(') Aeschyl. Suppl. 259 sqgq.
(2) Ptol. Heph. L. II. Paus. X, xxxv1, 3.
(°) Monum. ined. d. Inst. T.I, Tav. XXV;, Müller Denkm.I,xLv, 210a; Gerhard Trinksch.
Taf. VI, vır; Panofka Bild. ant. Leb. Taf. VII, 10.
(*) Paus. III, xxıv, 3.
(°) Eitruskischer Spiegel, publieirt von Gerhard: die Heilung des Telephos. Festpro-
gramm zum Winckelmannsfest Berlin 1843. 3
(°) Paus. II, u, 6.
Die Heilgötter der Griechen. 273
Gens mit den Bildern und Sinnbildern der Heilgottheiten (!) bestätigen diese
ziemlich allgemein angenommene Bedeutung.
Auffallend aber ist es, wenn in Trözen Pausanias (?) eine Statue an-
führt, welche die Einen Asklepios, die Andern Hippolytos nannten.
Dafs von keinem bärtigen Gott die Rede sein konnte, verstand sich von
selbst (?); allein die sonstige Analogie zwischen zwei scheinbar so verschie-
denen Persönlichkeiten mufste dunkel bleiben, und mit dem allgemeinen
Satze, dafs Unwissenheit und Uneinigkeit der Denkmälererklärer schon im
Alterthum denselben Statuen oft ganz verschiedene Namen beilegten, sich ab-
finden. Der berühmte Agrigentiner Marmorsarkophag (*) mit den verschie-
denen Scenen aus dem Leben des Hippolyt belehrt uns aber eines Besseren.
Er zeigt, dafs die beiden Attribute des Äseulap, die Keule und der zur Seite
stehende Hund (°), auch dem Jäger Hippolytos wol zukommen, und ein flüch-
tiger Blick auf die Figur (siehe unsre Taf. I, 7) jenes Marmorsarkophags reicht
hin, uns zu überzeugen, dafs die Trözener nicht mit Unrecht für dieselbe
Figur den Namen Asklepios und den des Hippolytos gebrauchten. Dafs
Hippolytos vom Äseulap wieder ins Leben zurückgerufen worden, ist eine
von allen Mythologen bezeugte Thatsache. Wichtiger und für unsern Zweck
förderlicher ist aber die nachbarliche Beziehung, in welcher Hippolyt statu-
arisch an mehreren Orten zu dem Asculap hinzutrat. So stand in Epidauros
in dem heiligen Bezirk des Äseulaptempels eine alte Stele mit dem Vierge-
spann, auf welchem in Folge des Fluchs des Theseus der unglückliche Sohn
der Amazone seinen Tod fand (°). In Sparta erhob sich ebenfalls sein He-
roum neben dem des Aulon (7). — Das Räthsel des Jagd- und Heilgottes
in einer und derselben Person und Kunstbildung wird noch entschiedener
in der Figur des Geliebten der Demeter, des Heros Iasıon gelöst, dessen
Name den Heilgott verräth, während seine Erscheinung als Ephebe mit einem
(') Panofka Antike Weihgesch. Abh. d. Akad. 1839. S. 46. Taf. IV, 9. 10.
(?) L. II, xxxu, 3.
C). Baus. VIE SS 1.
(*) R. Politi Illustraz. al sarcof. agrig. Palermo 1822.
(°) Paus. II, xxvı, 4; II, xxvı, 2.
(°) Paus. II, xxvu, 4. Monatsbericht d. K. Akad. 1840. S. 33-35.
(7) Paus. II, xıı, 9.
Philos.- histor, Kl. 1843. Mm
274 Pınorka: Die Heilgötter der Griechen.
Speer, und einem Hunde zur Seite (1) offenbar einen Jäger bezeichnet,
Dem Iasion entspricht der Heros Axzsızs, mit @zew heilen zusammenhän-
gend, den die Silbermünzen von Segesta(*) als Waidmann darstellen.
(°) Visconti Vas. Poniatowsky; Millin Peint. d. Vas. II, pl. 33. Guigniaut Relig. Pl.
CXLIV ter, 551a. Vgl. Panofka Einfl. d. Gotth. Abh. d. Akad. 1840. Taf. II, 3 und 10.
(2) Duc de Luynes Choix de Med. Pl. 8et9. Panofka Einfl. d. Gotih. auf d. Ortsna-
men Abh. d. Akad. d. Wiss. 1840. Taf. II, 4.
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Lumofna, die Heitgötter. Hist ph. Il. 1843. Taf.
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Diderot und seine Werke.
Von“
Hr": von RAUMER.
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 16. März 1843.]
I. der Abhandlung, welche ich am 20°“ Julius 1840 die Ehre hatte über
Lord Bolingbroke vorzulesen, machte ich auf die Wichtigkeit derjenigen
Männer aufmerksam, welche zwar nicht den philosophischen Meistern bei-
zuzählen sind, aber doch als kluge Liebhaber der Philosophie und verwand-
ter Wissenschaften mächtig auf ihre Zeit einwirkten, und zugleich deren
Wesen und Inhalt in merkwürdiger Weise zurückspiegelten. Ohne Zweifel
gehört der Franzose, von welchem ich heute sprechen will, der so eben be-
zeichneten Klasse an, und verdient um so eher an diesem Orte umständlicher
charakterisirt zu werden, da er Mitglied unserer Akademie war.
Dionysius Diderot (?) gebohren im Oktober 1713 zu Langres in der
Champagne, war der Sohn eines Messerschmidts, zeigte schon früh bedeu-
tende Anlagen und ward in einem Jesuitencollegium zu Paris erzogen, ohne
in die Sinnesart des Ordens einzugehen. Liebe zu den Wissenschaften uud
Abneigung irgend ein bürgerliches, gemeinnütziges und einträgliches Geschäft
zu ergreifen, gingen bei ihm (wie bei so manchem talentvollen jungen Manne)
Hand in Hand. Sein Vater besafs weder Reichthum, noch Willen, allen den
hieraus entstehenden Verlegenheiten des Sohnes abzuhelfen; und diese mehr-
ten sich noch durch die übereilte Verheirathung mit einer Frau, welche an-
fangs schön, stets häuslich und in ihrer Weise fromm, aber nicht im Stande
war Diderot für immer zu fesseln. Daher andere Liebschaften, welche zwar
zum Theil geistig und über Gemeinheit erhaben sein mochten, aber doch
durch ihre unplatonische Seite den Hausfrieden störten und zu übertriebe-
nen Ausgaben Veranlassung gaben. In angestrengter Thätigkeit suchte Di-
derot dann wohl Beruhigung und Erwerb; doch war es gewils nicht das
(‘) Me&moires sur Diderot, par sa fille Mde. du Vandcul. Ouyrages inedits Vol. 1.
Mm 2
276 von RAUMER:
Gefühl innerer Zufriedenheit, welches ihn ausrufen liefs (1): „wehe dem,
welchem seine Arbeit nicht Quelle seines gröfsten Genusses, und der nicht
mit dem Beifalle Weniger zufrieden ist.”
Aber eben der Beifall, welchen er als geistreicher Gesellschafter fand,
führte ihn oft vom Arbeitstische hinweg, auch gesteht er, dafs er sehr gern
gut und viel esse und trinke (?). Die Folgen dieses unhäuslichen Lebens und
der leeren Zerstreuungen blieben indefs nicht aus, und in einem Augen-
blicke aufgezwungenen Besinnens schrieb er deshalb (*): „Unter Schmerzen
hülflos gebohren werden, ein Spielwerk von Unwissenheit, Noth, Krankheit,
Bosheit und Leidenschaft, Schritt vor Schritt zum Kindischsein zurücksin-
ken, verkehren mit Schurken und Narren aller Art, nicht wissen woher man
kommt, wohin man geht, wozu man da ist; — dies nennt man das wichtigste
Geschäft unserer Ältern und der Natur, — dies nennt man Leben!”
Durch die Grofsmuth der Kaiserinn Katharine ward Diderot endlich
in eine äufserlich unabhängige Lage versetzt und man hofft zuversichtlich:
mit der Beseitigung aller irdischen Sorge, werde auch sein Geist freier und
heiterer geworden sein. Statt dessen schreibt Diderot bald darauf seiner Ge.
liebten, dem Fräulein Voland (*): „Wie oft urtheilen wir unrichtig über die
Dinge, wie oft werden wir hinsichtlich der Vortheile betrogen, welche wir
davon erwarten. Ich sah durch die Kaiserinn Katharine mein Besitzthum in
einem Augenblicke verdoppelt und die Ausstattung meiner Tochter zur Hand,
ohne meine mäfsigen Einnahmen anzugreifen. Ich sah die Annehmlichkeit
und Ruhe meines Lebens gesichert; ich freute mich darüber, Sie freuten
sich mit mir. — Und nun, jetzt; was hat mir das gebracht, was ist wahr,
reell in dem Allem? Die Gabe der Kaiserinn zwang mich im ersten Augen-
blicke zu aufserordentichen Ausgaben und einer Anleihe. Diese Anleihe
verminderte mein kleines Einkommen. Die neue Art der Verwendung mei-
nes Geldes, die im voraus genommene Einnahme, führte zu einem zweiten
Anlehen, und aus diesen Zahlungen, Anweisungen und Abrechnungen dürfte
zuletzt Alles auf Nichts hinabkommen, ohne dafs ich auf nur einen Augen-
) Oeuvres IV, 438.
?) Memoir. inedits I, 234.
) Aus einem Briefe an Fräulein Voland Mem. ined. I, 202.
)
Mem. Inedits II, 379.
Diderot und seine Werke. I
blick lang reicher gewesen bin, oder verschwendet habe.””— Diese Bekennt-
nisse erweisen, dafs Maafs, Ordnung und Selbstbeherrschung unentbehrlich
sind und mehr zum Lebensfrieden beitragen, als einzelne Glücksfälle, welche
immer nur Wenigen zu Theil werden können, und selbst dann so oft zum
Unglück, als zum Glück gereichen.
Von einem anderen Standpunkte konnte man es ebenfalls als ein aus-
gezeichnetes Glück betrachten, dafs Diderot einstimmig zum Mitgliede der
französischen Akademie gewählt wurde; aber Ludwig XV bestätigte die Wahl
nicht, theils weil Vorurtheile den König beherrschten, theils weil Diderot
allerdings zu manchen Bedenklichkeiten Veranlassung gab. Diese Bedenk-
lichkeiten hatten in Berlin kein Gewicht: wenigstens finden wir Herrn Dio-
nysius Diderot, Doktor der Mediein zu Paris, im Adrefskalender des Jahres
1752 als Mitglied der Berliner Akademie aufgeführt. Über Veranlassung und
Art der Aufnahme ist aber weder in den Papieren der Akademie, noch des
königlichen Archivs etwas aufzufinden. Vielleicht brachte die Empfehlung
d’Alemberts (des Mitherausgebers der hauptsächlich von Diderot unternom-
menen Encyclopädie) die Wahl in Anregung, welche (zu Folge eines Ver-
zeichnisses der Mitglieder im Jahrgange der Schriften 1770) am 4“ März 1751
statt fand. Obgleich die Akademie nach den Gesetzen vom 24“ Januar 1751
volle Wahlfreiheit hatte und keine höhere Bestätigung vorbehalten war, mag
König Friedrich II. im Jahre 1751 die Aufnahme Diderots gebilligt, oder be-
fördert haben; später (!) hingegen den 7“ Januar 1774 schreibt er an
d’Alembert: Diderot est a Petersbourg, ou l’imperatrice l’a combl& de bon-
tes. On dit cependant qu’on le trouve raisonneur ennuyeux; il rabäche sans
cesse les mömes choses. Ce que je sais c’est que je ne saurais soutenir la
lecture de ses livres, tout intrepide lecteur que je suis; il y regne un ton
suffisant et une arrogance qui revolte l’instinct de ma liberte. — Von diesem
Urtheile mochte Diderot gehört haben und vermied deshalb auf der Rück-
reise nach Berlin zu kommen. Auch finden sich in seinen Principes de po-
litique des Souverains, bittere Beziehungen auf den König, und in dessen
Briefen heiterer Spott über den verletzten Philosophen.
Diderot starb den 30°“ Julius 1784. Das letzte Wort, welches seine
Tochter von ihm hörte, war: le premier pas vers la Philosophie est l’incre-
(‘) Oeuvr. posthum. XI, 181, 186.
278 von RAvMmER:
dulit@, ein Ausspruch, den man als ein letztes, niederschlagendes Eugebnifs
deuten könnte; der sich aber auch in dem Sinne Bacons auslegen läfst, wo-
nach dem ersten Schritte mehre folgen, und dann zu Gott zurückführen. Ge-
wifs war jedoch Diderot nicht eines Sinnes mit seinem Bruder, welcher sagte:
aufserhalb der Kirche, kein Heil!
Mehr noch als durch sein persönliches Gewicht in den pariser gesel-
ligen Kreisen, wirkte Diderot als Schriftsteller; am meisten als der thätigste
Herausgeber und Mitarbeiter an der grofsen Encyclopädie, welche nicht
blofs alles früher Gewufste zusammenstellen und von Neuem beurtheilen
und würdigen; sondern auch für die wichtigsten Gegenstände ungekannte
Bahnen eröffnen und allen zeitherigen Irthümern und Vorurtheilen ein Ende
machen sollte. An derlei Irthümern und Vorurtheilen war gewifs kein Man-
gel und nicht wenige derselben wurden siegreich widerlegt; gleich daneben
aber ward Zweifelhaftes als erwiesen hingestellt, der Aberglaube durch Un-
glauben bekämpft, und von dem Standpunkte der pariser Salons das Tiefsin-
nigste gar oft milsverstanden und verhöhnt. Anstatt die Herausgeber der
Encyclopädie zu schonen, oder zu gewinnen, oder die wahren Übel selbst
zu bekämpfen; nahm die Regierung Partei, erhöhte die Beliebtheit der lei-
tenden Männer, indem man ihnen Hindernisse in den Weg legte, und glaubte
sehr irrig durch Censurstriche diese gefährlichen Meteore der Zeit und Lite-
ratur rechtläufig machen zu können. Nur ein einziges, unverstümmeltes
Exemplar der Encyelopädie ist mit Diderots Bibliothek nach Petersburg ge-
kommen. Die damalige Meinung: es sei gerade das Beste und Geistreichste
gestrichen worden, dürfte (wenn alle die verworfenen Stellen jetzt vorlägen)
schwerlich Bestätigung finden; vielmehr würde, nach wesentlich veränderter
Richtung und Stimmung der Zeit, die Anklage gegen die Encyclopädie und
ihre Urheber, wahrscheinlich noch härter und schärfer hervortreten. Da es
indefs nicht meine Absicht ist, den Inhalt der Encyclopädie näher nachzu-
weisen, oder Lob und Tadel derselben aufzuzählen; so wende ich mich zu
den beim Leben, oder nach dem Tode herausgegebenen Werken Diderots.
Seine Regel ('): „wenn man schreibt mufs man stets die Tugend und
die tugendhaften Leute vor Augen haben”; ist von ihm keineswegs immer
befolgt worden; und gutentheils hieran reiht sich das strenge Urtheil, wel-
(') Oeuyr. IV, 443.
Diderot und seine IV erke. 279
ches Barante über ihn ausspricht (1). „Diderot (sagt er) hat brennenden
Trieb, aber keine feste Aufmerksamkeit, keine gründliche Kenntnifs, und
Feuer ohne Brennstoff. Da ihm feste Überzeugung fehlte, irrte er im Un-
bestimmten und hatte Achtung und Ehrfurcht vor Nichts. Die Philosophie
welche er annahm, mufste ihn verderben; er war ein unheilbringender Schrift-
steller für Literatur und Moral.’
Die Persönlichkeit Diderots lernt man am Besten aus den vertrauten
Briefen an seine Geliebte, das Fräulein von Voland kennen; ja diese sonder-
bare Mischung von Klatschereien, Zweideutigkeiten, edlen Gedanken, tiefen
Beobachtungen, Übermuth, Verzweiflung u.s.w. ist charakteristisch für die
ganze Zeit. Ich gebe wenigstens einige Proben. „In dem Gebäude der
Sittlichkeit, sagt er, hängt Alles zusammen. Es ist schwer, dafs ein Mann
immer Paradoxen schreibe, und einfach sei in seinen Sitten. Die Unordnung
des Kopfes wirkt auf das Herz, und umgekehrt (?). Viele glauben: die Tu-
gend stehe ihnen in jedem Augenblicke zu Dienste, und man könne ein recht-
licher Mann werden, von heute zu morgen. Eine schlechte Gewohnheit
wechselt man aber nicht so leicht wie ein Hemde. Das Gute thun, das Wahre
erkennen, dies unterscheidet einen Menschen vom andern; alles Übrige ist
nichts. Das Lob von tausend Leuten von Ehre, Geist und Geschmack, trö-
stet nicht über den Tadel eines Narren (?). In der Liebe sticht ein Narr
(Sot) gewöhnlich den geistreichen Mann aus: man will lieber einen Thoren
beherrschen, als von einem Klugen unterjocht werden. Die Lebemänner,
libertins, finden in der Welt den meisten Beifall. Sie (*) sind heiter, milde,
ausgeberisch, gefällig, richten sich zu Grunde indem sie Andere bereichern,
unterhalten uns von dem, was wir nicht zu sagen und zu thun wagen, stellen
durch ihre schwachen Seiten uns in ein günstiges Licht, haben mehr Geist
und Menschenkenntnifs als die Meisten und werden von den Frauen geliebt,
weil diese Libertines sind. — Ich (?) habe die Weisheit aller Völker kennen
gelernt; aber ich denke, sie ist nicht so viel werth als die süfse Thorheit,
(') De la litt@rature francaise 196.
(?) Me&moires inedits I, 78, 158, 208.
() Vol. IL, 121,119.
(C)R Vol. 11166:
(°) Vol. I, 205, 366.
2350 von RAUMER:
welche mir meine Freundinn einflöfst. Sie fürchtet jedoch zu sehr die Lan-
geweile, und das Lächerliche berührt sie zu lebhaft, als dafs sie die Tugend
in ihrem ganzen Werthe schätzen könnte.”
Die Frage über die Rangordnung geistiger und Eurlicher Vorzüge wird
von Diderot mehre Male berührt und verhandelt. In einem Briefe an Fräu-
lein Volant sagt er (!): einen schlechten Dichter mit guten sittlichen Eigen-
schaften, stelle ich nach einem grofsen Dichter mit schlechten sittlichen
Eigenschaften. Das Werk des Genius ist ewig; von dem andern bleibt da-
gegen nichts übrig. — Die Einseitigkeit dieser Frage und das Ungenügende
ihrer Auflösung (?) mochte Diderot in anderer Stimmung einleuchten; we-
nigstens giebt er an einer Stelle in Rameaus Neffen der Sittlichkeit des Men-
schen gröfseren Werth, als seinen geistigen Anlagen, und sagt an einer zwei-
ten: Voltaires Mahomet ist ein herrliches Werk ; aber ich möchte lieber das
Angedenken des Calas hergestellt haben. Mifsgelaunt über die täglichen Er-
fahrungen fügte er hinzu: angenehme, selbst mittelmäfsige Talente bringen
einen Menschen rasch vorwärts in einem Volke, das ohne Sitten und in Aus-
schweifungen verlohren ist.
Diderot legte seiner Geliebten mehre Male die sonderbarsten Colli-
sionsfälle der Sittenlehre zur Entscheidung vor. Ich bitte um die Erlaubnifs
wenigstens einen beispielsweise mitzutheilen (?). Eine arme, mit zahlreicher
Familie versehene Frau, kann ihre Kinder zu guter Erziehung, und ihren
Mann zu Amt, Würden und reichem Auskommen verhelfen, wenn sie ihm
— einmal untreu wird. Comment tout se fait ici. Un poste vaque, une
femme le solicite, ou leve un peu ses jupons, elle les laisse retomber; — et
voila son mari de pauvre commis ä cent francs par mois, Mr. le Directeur
a 15000 ou 20000 francs par an. — Als Fräulein Volant allerlei Bedenken
über diesen Vorschlag erhebt, erklärt sich Diderot für die Untreue und fügt
hinzu: Vous voulez qu’on ne fasse rien pour le bonheur d’un mari, pour la
fortune d’une p£piniere d’enfans, parmi lesquels peut-£tre il yen a qui n’ap-
partiennent point au mari. C’est un ouyrage tout pur de la raison, le coeur
et les sens n’y sont pour rien. — Die Frivolität der Betrachtung und Ent-
(') Vol. II, 100,
(©) 5.13, 57,123.
C) 113, 137, 158.
Diderot und seine Werke. 281
scheidung springt in die Augen; doch mochte Diderot meinen: bei dem be-
rühmten Collisionsfalle von den beiden Männern auf einem Brette im Meere,
sei nur Selbstliebe in Spiele; hier dagegen die Rede auch von Nächstenliebe,
Aufopferung und Pflichten gegen Andere. — Zuletzt könnte man jene, nur
in kurzem Auszuge mitgetheilten Erörterungen für einen kühnen Spott hal-
ten. Wenigstens sagt Diderot bei einer ernsteren Veranlassung (!): Wenn
Männer und Weiber öffentlich Zügellosigkeit an den Tag legen, verbreitet
sich das Laster über Alles, selbst über den Geschmack, und die Fortpflan-
zung des menschlichen Geschlechts nimmt aus leicht erkennbaren Gründen
ab. — Ja, so wenig Gewicht und Ansehen damals auch Ehe und Keuschheit
hatten, bricht doch (trotz aller Sophismen der Theorie und aller Willkür
der Praxis) die Kraft der Wahrheit und ächter Sittenlebre hindurch, wenn
Diderot seiner Tochter Lehren giebt, ganz im Widerspruch mit jenen leicht-
sinnigen Grundsätzen (?). Die Anwendung dieser letzten (ruft er aus) würde
mir und deiner Mutter vor Schmerzen den Tod bringen. — Mit dieser wür-
digeren Ansicht stimmt ganz das Lob, welches Diderot über Richardsons
Romane ausspricht.
Moralische Zwecke im engeren Sinne hat sich Diderot beim Entwer-
fen seiner Romane unmittelbar gar nicht vorgesteckt, und kaum dürfte man
es rügen, wenn zur die Dichtkunst um so siegreicher hervorträte. Dies ist
jedoch nur sehr selten der Fall, und Vollendung des Einzelnen, kann die
Mängel des Ganzen nicht. ersetzen oder verdecken. So erscheint in Jacob
dem Fatalisten der Gedanke gut, die Lehre vom Fatalismus für ernste und
scherzhafte Verwickelungen zu benutzen; doch giebt solch ein Einfall noch
keinen genügenden Inhalt. So wenig wie Voltaire im Candide etwas Gründ-
liches und Erhebliches wider die Vorsehung nachgewiesen; so wenig hat Di-
derot die Sache tiefer aufgegriffen und die Schwierigkeiten zum Bewufstsein
gebracht, oder in Thatsachen dargestellt, welche die Lehre von der Vorher-
bestimmung und der menschlichen Freiheit zeigt. Das ganze Buch ist eine
Mischung von allerhand Gedanken und Geschichten, ohne organischen Zu-
sammenhang und Fortschritt, ohne Faden der Erzählung und genügende
Entwickelung. Diderot erwähnt an einer Stelle des Tristram Schandi, und
(') Eneyelop. Philosophie II, 216, Artikel Diderot.
(?) Memoir. III. 45.
Philos.-histor. Kl. 1843. Nn
282 von RAumer:
ohne Zweifel hat dieser Roman auf die Behandlung des Jakob den wesent-
lichsten Einflufs gehabt; aber ohne Zweifel steht Diderot an Geist, Laune,
Erfindung und Gefühl weit dem Sterne nach.
Die Grundlage für die Bijouwx indiscrets ist bekanntlich ein aristopha-
nischer Witz, an den sich gar viel Lustiges anreihen läfst. Der beste Einfall
reicht aber nicht hin ein ganzes Buch zusammenzuhalten; vielmehr werden
die gar vielen Wiederholungen sehr ähnlicher Lagen und Erzählungen lang-
weilig und das Ausmahlen des Unanständigen wird eckelhaft. Allerdings ge-
hen neben diesem Unanständigen geistreiche Betrachtungen her und manches
was pariser Zustände und Personen betrifft, hatte damals ein gröfseres In-
teresse und ist jetzt unverständlich geworden. Mit einem Commentare zur
Erläuterung, insbesondere der vielen skandaleusen Geschichten wäre aber
auch nichts gewonnen. Gewifs erlaubte man sich damals über Geschlechts-
verhältnisse Dinge zu sagen und zu schreiben, welche jetzt den gröfsten An-
stols geben würden.
Rameaus Neffe ist lebendiger und dramatischer als Diderots Drama,
und zugleich charakteristisch für die damaligen Sitten, und die furchtbare
Entartung innerhalb der, scheinbar fortschreitenden Bildung.
Die Nonne. Dies Werk dankt seinen Ursprung keineswegs einem
Überschwange poetischer Begeisterung, sondern dem nicht sehr zarten Scherze,
dafs ein Freund durch erdichtete Briefe einer Nonne sollte nach Paris zu-
rückgelockt werden. Sobald dieser Zweck erreicht war, bricht das Werk
rasch ab und ist zu keinem genügenden Schlusse hinausgeführt; auch gefällt
sich der Verfasser in dem letzten Drittel an einem unanständigen und unschö-
nen Ausmahlen des Sittenlosen und Naturwidrigen. Dagegen sind die beiden
ersten Drittheile des Romans von einer unübertreffllichen Kraft, Wahrheit
und Lebendigkeit der Darstellung. Trotz der Einfachheit der Begebenhei-
ten, und den ins Kleinste eingehenden Berichten, bleibt das Interesse sich
gleich, ohne dafs die Spannung herbeigekünstelt, oder nur auf äufsere Wir-
kung hingearbeitet wäre. Ja ächt sittlich und tragisch ist das Werk, sofern
es aus einem Fehltritte (den Diderot anderwärts sehr leicht nimmt) fast noth-
wendig eine ganze Reihe von Unfällen und Leiden ableitet; und wenn es
auch die Nachtseite des Klosterlebens und Klosterzwanges hervorhebt, so
werden doch auch edle Naturen vorübergeführt, und von dem Verfasser nicht
verhehlt, umgangen, oder bespöttelt: dafs es für viele Menschen einen christ-
Diderot und seine Werke. 2383
lich-religiösen Trost giebt, der über allen philosophischen hinausreicht.
Alle Persouen sind mit einer Leichtigkeit, Sicherheit und Klarheit gezeich-
net, dafs man sie vor Augen sieht und die Vermuthung nahe liegt: Diderot
müsse eine aufserordentliche Gabe für dramatische Arbeiten besessen haben.
Diese Vermuthung bestätigt sich indessen nicht.
Das Schauspiel der natürliche Sohn ist eine Anekdote, oder bietet
höchstens Stoff zu einer kurzen Erzählung. Zu fünf Akten ausgedehnt, giebt
es ein lJangweiliges hin und herreden, ohne Handlung und genügenden Fort-
schritt. Auch der Hausvater ist ein langes Gerede, welches (sehr uner-
wartet bei Diderot) die Dichtkunst unter moralisches Wasser setzt, und wo-
gegen Iflands häusliche Dramen, wegen schärferer Beobachtung, Charakte-
ristik und theatralischer Entwickelung den Vorzug verdienen. Wenn Lessing
in seiner Dramaturgie von Diderots Schauspielen und dramatischen Grund-
sätzen mit Achtung spricht; so geschieht dies hauptsächlich weil er uner-
wartet an dem Franzosen einen Bundesgenossen gegen die übertrieben ver-
ehrte französische Bühne fand. Diderot sagt rund heraus (!): sie sei von
der Wahrheit und dem guten Geschmacke weit entfernt, und überhaupt leide
in Frankreich Poesie, Drama und Darstellung an Vorurtheilen, Pedanterie,
Unnatur, Schwäche und Übertreibung. Ohne Einbildungskraft (fährt er fort)
kann man kein guter Dichter, ja nicht einmal ein tüchtiger Mensch sein.
Wahrheit und Tugend sind Freundinnen der schönen Künste. Wer Schrift-
steller und Kritiker sein will, beginne damit ein rechtlicher Mann zu sein (?).
Beim Schreiben und Spielen soll man nicht an den Zuschauer denken, und
die Charaktere nicht nach der Persönlichkeit einzelner Schauspieler, sondern
den Verhältnissen gemäfs entwerfen. Wer zu stark anfängt, kann nicht in
demselben Tone fortfahren, mithin sinkt das Werk. — Vor Allem wollte
Diderot den Zwischenraum zwischen Trauerspiel und Lustspiel, durch ein
besonderes bürgerlich moralisches Schauspiel ausfüllen, und legte viel Nach-
druck auf Personifieirung allgemeiner Begriffe und ganzer Stände. Eben so
wollte er den bösen Charakteren durch Darstellung vollkommener Personen
entgegenwirken. Es ist um so weniger meines Amts auf diese und ähnliche
Ansichten näher einzugehen, da sie Lessing nach seiner Weise bereits einer
() Oeuvres Vol. IV. De la poesie dramatique.
&) 52373
Nn2
284 von Raumer:
höchst scharfsinnigen Prüftung unterworfen hat. Hingegen scheint es ange-
messen (!), Einiges aus den sehr lehrreichen Briefen mitzutheilen, welche
Diderot an eine Schauspielerinn Demoiselle Jodin schrieb. Er fordert von
ihr nicht die strengste stoische, oder ascetische Moral, wohl aber hinsichtlich
ihres Wandels das Höchste, was man damals bei einer Schauspielerinn für
irgend möglich hielt, und giebt treffliche Lehren über ihre künstlerische
Ausbildung. — Glauben sie nicht, schreibt er, dafs ihr Betragen in der Ge-
sellschaft gleichgültig sei für den Erfolg auf der Bühne. Ungern beklatscht
man die, welche man hafst, oder verachtet. Sein Sie verständig, wenn Sie
es können; und wenn Sie es nicht können, so haben Sie wenigstens den
Muth, die Strafe des Unverstandes zu ertragen. Grüfsen Sie meinetwegen
den kühnen Mann, welcher den harten und schweren Dienst hat überneh-
men wollen, Sie zu leiten. Gott erhalte ihm dazu die Geduld! Sobald ich
mir nichts mehr aus Ihnen mache, werde ich Ihnen keine Härten mehr schrei-
ben; sondern (wenn ich anders dann noch schreibe) lauter gewöhnliche Höf-
lichkeiten. Die Achtung,
Anderen. Wenn Männer gegen eine Frau fehlen, hat sie sich gewöhnlich zu-
welche man vor sich selbst hat, erzeugt sie auch in
erst vergessen. Nach der Sorgfalt, einen ehrenwerthen Charakter auszubil-
den, wenden Sie alle Thätigkeit auf Vervollkommnung Ihres Talents. Der
beste Rath, selbst für den Erfolg des Talents, ist gute Sitten zu haben. Nur
ununterbrochener Beifall kann für die Anstrengungen und die Unannehm-
lichkeiten Ihres Standes entschädigen. Kein Loos ist unglücklicher als das,
einer nur mittelmäfsigen Schauspielerinn. Gehen Sie nie über das für Ihre
Rolle Schickliche hinaus. Wenig Bewegungen, sonst schaden sie dem Nach-
drucke und Adel. Leidenschaftliche Stellen zu deklamiren ist äufserst leicht,
die ruhigen Scenen sind die schwersten: da braucht eine Schauspielerinn
Geschmack, Geist, Feinheit, Urtheil, Zartheit — wenn sie dies Alles besitzt.
Lassen sie sich nicht durch die Coulissen zerstreuen. Besonders da mufs
man von sich abhalten alle Galanterien und Schmeicheleien, sowie Alles,
was Sie aus ihrer Rolle herausversetzen könnte. Mäfsigen Sie Ihre Stimme,
Ihre Empfindlichkeit. Der Vortrag mufs stets dem gesammten Inhalte des
Stücks entsprechen, sonst spielt man wohl eine Scene gut, die ganze Rolle
aber schlecht. Verändern Sie Ton und Accent nicht nach den Worten, son-
(') Oeuvres in@dites, in besonderem Bande, worin auch Rameaus Neffe.
Diderot und seine Werke. 285
dern nach den Dingen und Verhältnissen. Mein System der Deklamation ist
dem jetzt gebräuchlichen schlechthin entgegengesetzt. Die Regeln machen
die Schauspieler zu Holzpuppen; je mehr man sie vermehrt, desto schlim-
mer (!). Wenige Schauspieler verstehen, zu hören. Trachten Sie nicht da-
nach Ihre Mitspieler aufzuopfern. Sie werden — vielleicht — etwas dabei ge-
winnen; aber die Stücke, die Gesellschaft, der Dichter und das Publikum
verlieren. Wenn Sie das rechte Gefühl für die wahre Würde haben, werden
Sie weder niedrig familiär, noch lächerlich gespreitzt sein. Nehmen Sie keine
Manier an; sie ist abscheulich in allen Künsten und Nachahmungen. Es giebt
Mittel gegen das Schwerfällige, Rauhe, Ungeschickte, Harte, Unedle; es giebt
kein Mittel gegen eine kleinliche Manier und Affektation. Nichts ist gut in
dieser Welt, als was wahr ist; sein Sie wahr auf und aufser der Bühne. Ein
Schauspieler, dem Sinn und Urtheil fehlt, ist kalt; wer nur Feuer und Em-
pfindung zeigt, ist ein Narr. Eine gewisse Mischung von verständiger Ein-
sicht und Wärme, macht den edlen Menschen. Wer auf der Bühne und in
der Welt mehr zeigt, als er fühlt, rührt nicht, sondern macht sich lächerlich.
Solange Ihr Spiel nichts ist, als ein Gewebe von kleinen Erinnerungen, wer-
den Sie Nichts sein.
Die wahre Tragödie ist noch zu erfinden (?), und mit allen ihren Feh-
lern waren ihr die Alten vielleicht näher, als wir. Wie aufgebauscht und
übertrieben finde ich unsere dramatischen Schriftsteller, wie widerwärtig
sind mir ihre Deklamationen, wenn ich an die Kraft und Einfachheit der Al-
ten denke.
Dieselbe Theilnahme, wie für das Theater, zeigte Diderot für die
Malerei,.und seine Beurtheilungen der pariser Kunstausstellungen füllen
ganze Bände. Die meisten der damaligen Künstler sind vergessen und ihre
Werke verlohren; doch bleibt es merkwürdig, dafs Diderot, unter so schlech-
ten Umgebungen, an einem höheren Begriffe der Kunst fest hielt und ihm
beim Vergleichen mit den französischen Künstlern seiner Zeit (°), die Ehr-
furcht vor Phidias und Raphael so wenig verschwand, als vor den alten Tra-
gikern. Ja er erkannte die Nothwendigkeit, eine Wissenschaft des Schönen,
(') Oeuvres XV, 463, 468.
(?) Oeuvres inedites IV, 72-74.
(°) Oeuyres XIII, 474.
2386 von Ravmer:
eine Ästhetik zu begründen und zeigt in seiner Schrift über die Natur und
den Ursprung des Schönen (!), dafs die bisherigen, und besonders die da-
maligen Ansichten und Erörterungen, schlechterdings nicht ausreichten.
Platon (sagt Diderot) zeigt uns mehr, was das Schöne nicht ist, als was es
ist. Des Augustinus Darlegung trifft mehr den Begriff der Vollkommenheit,
als des Schönen. In ähnlicher Weise bezieht sich bei Wolf Alles darauf, ob
ein Ding vollkommen sei, oder gefalle. Huchesons geforderte Einheit in der
Mannigfaltigkeit findet sich auch bei Dingen, die nicht schön sind, und sein
sechster Schönheitssinn bleibt eine blofse Voraussetzung. Am wenigsten end-
lich darf man das Nützliche als das Wesen der Schönheit betrachten.
Diderot sagt: ich nenne schön (aufser mir) das was in sich etwas be-
sitzt, in mir den Gedanken der Verhältnisse (rapports) zu erwecken; und
schön (in Beziehung auf mich) Alles was diesen Gedanken erweckt. Subject
und Object sind bei diesen Fragen ins Auge zu fassen. Die Schönheit fängt
an, wächst, nimmt ab und verschwindet mit diesen Verhältnissen (rapports).
Man betrachtet hiebei ein Ding, oder eine Eigenschaft in so fern, als dieselbe
ein anderes Ding und eine andere Eigenschaft voraussetzen. In bezug auf
das Schöne gehört aber ein solches Verhältnifs nur hieher, welches ein ver-
ständiger Geist leicht und klar fassen kann. — Allerdings ist (wie Diderot
behauptet) die Beziehung von Einem auf das Andere, es sind Vergleiche,
Sonderungen, Entgegensetzungen, Verhältnisse bei der Schönheitslehre vom
höchsten Gewichte, z. B. in der Baukunst, Musik, Malerei u. s. w.; allein
Beziehungen erschliefsen nie vollständig das eigene Wesen. Noch übler, dafs
sich auch bei dem Häfslichen überall Verhältnisse finden; wie denn über-
haupt weder Diderot, noch ein Anderer Grund, Ursprung, Nützlichkeit,
Nothwendigkeit, Bedeutung u.s. w. des Häfslichen gehörig aufgeklärt hat.
Nicht das Wahre, Gute, Schöne ist das Kreuz, oder das Räthsel des Philo-
sophen; sondern der Irrthum, das Böse und das Häfsliche.
Hauptsächlich dem Versuche Diderots über die Malerei ist Folgendes
entnommen (?). Das stete Zeichnen nach dem Model hemmt oft die Frei-
heit und führt zu unnatürlichen, erkünstelten, falschen Stellungen. Ein An-
deres sind Stellungen, ein Anderes Handlungen. Tausend Maler sind ge-
(') I, 405, 440-456, 464.
(*) Oeuyres Vol. XII, 380-462; XV, 168.
Diderot und seine Werke. 287
storben und werden sterben, ohne zu wissen was Fleisch ist. Der Regenbo-
gen ist für den Coloristen das, was der Grundbals für den Musiker. Unsere
platten Bewegungen, Complimente und Kleidungen, sind gleich unkünstle-
risch. Es giebt Karikaturen der Zeichnung und der Färbung, und jede Ka-
rikatur ist übelen Geschmacks. Das Gefühl des Schönen ist das Ergebnifs
einer langen Reihe von Beobachtungen; der Geschmack ist eine durch wie-
derholte Erfahrungen erlangte Leichtigkeit das Wahre und Gute, so wie den
Umstand zu fassen, welcher dasselbe schön macht, und hievon schnell und leb-
haft berührt zu werden. Die Absicht jedes redlichen Mannes, welcher Feder,
Pinsel, oder Meifsel ergreift, ist, die Tugend liebenswürdig, das Laster ver-
hafst und das Lächerliche in die Augen fallend (saillant) zu machen. Aber
fast in allen unsern Gemälden ist eine solche Schwäche der Erfindung und
eine solche Armuth der Gedanken, dafs sie durchaus keine tiefe Empfindung
erzeugen können. Alle Nachahmungen der Thiere und der todten Natur
sollte man (überhaupt ein sehr schlechtes Wort) Genremalerei, alle Nachah-
mungen der empfindenden und lebenden Natur, geschichtliche Malerei nen-
nen; dann wäre wenigstens ein verkehrter Streit beendet.
Es genügt nicht (sagt Diderot (!) in einem anderen Aufsatze) Talent
zu haben, man mufs auch Geschmack besitzen. Jenes erkenne ich fast in
allen niederländischen Gemälden, und vermisse diesen; doch ist mir Roheit
lieber als Ziererei, und ich gebe zehn Watteaus für einen Teniers. Virgil ist
mir lieber als Fontenelle, und Theokrit ziehe ich beiden vor, Manche indefs
wollen einfach sein, und werden platt. Manier ist in den Künsten, was Heu-
chelei in den Sitten. Ohne Naives, keine Schönheit; naiv ist die Sache selbst,
ohne die geringste Veränderung. Kunst ist nicht mehr dabei.
Rubens verehrte die Alten, ahmte sie aber nichtnach. Warum immer
die groben Gestalten seines Landes? Das begreift sich nicht! Kann man
einen reinen Geschmack haben, bei verdorbenem Herzen? Jedes unedle
Werk (ouvrage malhonnete) ist zum Untergange bestimmt, es sei durch den
strengen, oder den abergläubischen Sittenrichter. Mifsverstehen des Religiö-
sen und Märtirergeschichten führten oft zu schlechten Wahlen und wider-
wärtigen Kunstwerken. Die Regeln haben oft aus der Kunst eine Routine
gemacht und mehr Schaden als Nutzen gestiftet. Alles Andere gleichgestellt,
(') Vol. XV, 167-229; XIU, 433.
288 von RAumEr:
liebe ich in der Malerei Geschichte mehr, als Erfindungen. Ovids Metamor-
phosen geben bizarre, Homer bietet grofse Gegenstände. Kein geschmack-
voller Künstler wird des Odysseus Gefährten in Schweine verwandelt malen;
doch that dies Caracei im Palaste Farnese. Medea (sagt Horaz) wird ihre
Kinder nicht vor Aller Augen tödten, und doch malte Rubens die Judith,
wie sie dem Holofernes den Kopf abschneidet. Horaz hat eine Albernheit
(sottise) gesagt, oder Rubens eine begangen. Alles Schreckliche mufs durch
einen grofsen sittlichen Gedanken ermäfsigt sein; ja jedes Werk der Malerei
und Bildhauerei mufs eine wichtige Lehre, einen Grundsatz aussprechen;
sonst bleibt es stumm. Wirkliche Personen sind symbolischen vorzuziehen.
Selten ist die Allegorie erhaben, fast immer dunkel und frostig; ja sie ist
eine Art Lüge, die meist nur durch ihre Dunkelheit gegen Verachtung ge-
schützt wird. Es giebt eine doppelte Begeisterung, der Seele und der Hand,
des Metier. Ohne jene bleibt die Erfindung kalt, ohne diese die Ausführung
schwach: erst ihre Vereinigung schafft erhabene Werke. Wer hat Moses ge-
sehen? Michel Angelo! Wer hat Gott geschaut? Raphael Sanzio!
Der Gegensatz, in welchem sich Diderot hinsichtlich des Theaters und
der Kunst zu seiner Zeit und noch mehr zu seinen Landsleuten befindet, ist
ein Beweis, dafs seine Eigenthümlichkeit in dem allgemeinen Strome nicht
ganz verschwand, obgleich er sich (wie wir sahen und sehen werden) dieser
mächtigen Einwirkung keineswegs ganz entziehen konnte. Gewils ist es ein-
seitig und ungenügend unter dem Namen der Philosophen sehr verschiedene
Männer in Frankreich zusammenzuwerfen und ihre Ansichten als ganz gleich-
artig zu betrachten. So urtheilt Diderot (!) über das Buch des Helyvetius de
V’esprit in den Formen zwar sehr höflich und äufsert, es werde den grofsen
Werken des Jahrhunderts beigezählt werden. Dann aber fügt er hinzu: es
enthält viele falsche Grundsätze und Paradoxien, und giebt oft Beweise einer
schlechten Auswahl und eines schlechten Geschmacks. So ist es falsch: dafs
die Empfindung Eigenschaft einer jeden Malerei sei, dafs denken und urthei-
len nichts sei als*empfinden, dafs es kein ewiges unbedingtes Recht und Ge-
rechtigkeit gebe, im Gegensatz von Unrecht und Ungerechtigkeit, dafs allge-
meiner Eigennutz das Maafs der Beurtheilung aller Talente und Tugenden
sei, dafs lediglich die Erziehung alle Verschiedenheiten unter den Menschen
(') Oeuyres III, 469.
Diderot und seine Werke. 289
hervortreiben, dafs der Zweck aller Leidenschaften nur in sinnlichen Gütern
und Genüssen bestehe u. s. w.
Es sei erlaubt hier das Urtheil eines anderen Mannes einzuschalten,
den man wohl auch kurzweg den Philosophen jener Zeit beigezählt hat.
König Friedrich II schreibt (') an d’Alembert: Ich habe das Buch des Hel-
vetius gelesen und es thut mir um seinetwillen leid, dafs es gedruckt worden.
Es ist keine Dialektik in demselben, sondern nur Trugschlüsse, irrige Erör-
terungen, Paradoxen und völlige Thorheiten, an deren Spitze man die fran-
zösische Republik stellen mufs. Helvetius war ein ehrlicher Mann, aber er
hätte sich nicht in Dinge mischen sollen, die er nicht verstand u. s. w.
Bemerkenswerth sind unter den Schriften Diderots (?), die Prineipes
de Politique des Souverains. Sie sind nicht entworfen, um dieselben in ein
schönes Licht zu stellen; doch finden sich neben manchen schroffen, man-
chen bitteren meist aus der römischen Kaiserzeit hergenommenen Beispielen,
auch unabhängigere und merkwürdige Gedanken. Wir geben Beweise für
beide Richtungen. Ein Staat wankt, wenn man die Unzufriedenen berück-
sichtigt, er ist dem Untergange nahe, wenn er sie zu den ersten Würden er-
hebt. Befehlen, was sonst ohne Zustimmung geschähe, verdeckt wenigstens
die Schwäche. Die Faktiosen warten ab Zeiten des Unglücks, Hunger, Krieg,
religiösen Zwist, dann ist das Volk zu Allem bereit. Man mufs Klagen und
Spöttereien erlauben; denn verschlossener Hals ist gefährlicher wie offener.
Es ist leicht gelobt zu werden: man besticht die Gelehrten mit so wenig
Kosten, viel Herablassung nämlich und Schmeichelei, und ein wenig Geld.
Ein stolzes Volk, wie das römische, wird, wenn es ausartet, schlimmer als ir-
gend ein anderes; denn die ganze Kraft, welche es früher in der Tugend
zeigte, bringt es nunmehr dem Laster, und wird ein Gemisch von Stolz,
Niederträchtigkeit, Wildheit und Narrheit. Man weifs nicht wie es regieren:
Milde macht es unverschämt, und Härte empört. Ein Mann wie Aristopha-
nes wäre unschätzbar für eine Regierung, um diejenigen Personen, welche
die bürgerliche Gesellschaft beunruhigen, lächerlich zu machen, statt sie
einzusperren (?). Die schlechtesten Politiker sind gemeiniglich die Rechts-
(') Oeuvr. posthumes XI, 180.
(?) Oeuvr. IX, 341.
(°) Oeuvr. IV, 456.
Philos.- histor. Kl. 1843. Oo
290 von RAumER:
gelehrten, weil sie stets geneigt sind die öffentlichen Angelegenheiten nach
Weise der Privatangelegenheiten zu behandeln (!). Unter welcher Regie-
rung es auch sei, giebt es ein einziges Mittel frei zu sein (361), wenn nämlich
Alle Soldaten wären und jeder ein bürgerliches und ein Kriegskleid hätte.
Kein‘Herrscher wird diese Erziehung einführen (?). Je mehr Menschen sich
mit einer Sache abgeben, desto mehr machen sie schlecht (?), aber desto
mehr machen sie auch gut. Einem Volke Sitten (moeurs) geben, heifst seine
Energie vermehren für Gutes und Böses, für grofse Verbrechen und grofse
Tugenden. Mifstrauet dem Urtheile der Menge. In Sachen der Forschung
(raisonnement), der Philosophie, ist ihre Stimme die der Bosheit, Dumm-
heit, Unvernunft und -der Vorurtheile. Mifstrauet ihr eben so in allen
Dingen, welche viel Kenntnisse und einen geläuterten Geschmack erfordern.
Die Menge ist unwissend und stumpf, und wenn sie zuletzt Recht behält, so
geschieht dies nur, weil sie das Echo weniger klugen Männer wird und deren
Urtheil (welches das Urtheil der Nachwelt vorausnimmt) wiederholt.
Eben so entfernt von den Lehren späterer Revolutionaire zeigt sich
Diderot in den Unterhaltungen eines Vaters mit seinen Kindern, wo jener
(angeblich Diderots Vater) die Gefahr entwickelt, sich über die Gesetze hin-
wegzusetzen. Auf geistreiche Weise werden Collisionsfälle des Gefühls und
buchstäblichen Rechts vorübergeführt, und der Vater sagt am Schlusse sehr
richtig: ein oder zwei Bürger mögen in einem Staate so kühnen Sinnes sein
und ihren Gefühlen mehr folgen, als den Gesetzen; aber ich würde daselbst
nicht wohnen, wenn alle so dächten. An einer anderen Stelle bemerkt Di-
derot ausdrücklich (*): man müsse keinen Unterschied machen zwischen einer
grofsen und kleinen Gerechtigkeit, sondern überall und in allen Dingen ge-
recht sein. Hiemit will aber Diderot nicht sagen: dafs Staats- und Privat-
recht ganz dasselbe sei, oder eins von beiden allein herrschen dürfe.
In einer Schrift, über die Auslegung der Natur, sagt Diderot(?): Un-
sere Naturphilosophen theilen sich in zwei Klassen; die einen haben viel
(*) IX, 401.
(?) Doch that es König Friedrich Wilhelm III von Preulsen.
(°) Mem. inedits I, 321.
(°) Oeuvr. IX, 346.
GO) 261.
Diderot und seine Werke. 2391
Werkzeuge und wenig Gedanken, die andern viel Gedanken aber keine In-
strumente. Die Erfahrungen, die Versuche kosten bedeutende Summen. Es
wäre zu wünschen, dafs die Reichen und Grofsen, zu so vielen andern Mit-
teln, sich zu Grunde zu richten, auch dies hinzufügten. Besser durch einen
Chemiker, als durch Beamten und Geschäftsleute (!). Die Beobachtung
sammelt Thatsachen, die Reflexion verbindet sie, die Erfahrung bestätigt das
Ergebnifs der Vergleichung. Selbst die Mathematik führt in der Erfahrung
zu nichts Bestimmtem, sondern zu einer Art allgemeiner, metaphysischer Phy-
sik, wo die Körper ohne eigenthümliche Eigenschaften betrachtet werden.
Es giebt organische, lebende Körper, Thiere, die sich unseren Augen und
Mikroskopen entziehen (?). Wer weils, wo der Fortgang der organisirten
und lebenden Natur aufhört, und welches die Ausdehnung der Leiter ist,
nach welcher sich die Natur vereinfacht. Wer weils, wo die letzte Gränze
dieser Einfachheit ist, wo die lebende Natur aufhört, und die unlebendige
beginnt. Die abstrakten Wissenschaften haben die besten Köpfe zu lange und
mit zu wenig Frucht beschäftigt. Man forschte nicht nach dem wahrhaft
Wissenswürdigen, es fehlte an Auswahl, Richtung und Methode, und wäh-
rend die Worte sich ins Unendliche vermehrten, blieb die Kenntnifs der
Sache zurück. Der spekulative Philosoph sieht wie von Bergen herab, de-
ren Gipfel sich in die Wolken verlieren; die Gegenstände der Ebene sind
ihm verschwunden. Nichts bleibt ihm, als das Schauspiel seiner Gedanken
und das Bewufstsein der Höhe, zu welcher er sich erhoben und wohin nur
Wenige folgen und athmen können. Um eine Hypothese zu erschüttern,
braucht man sie oft nur aufs Äufserste anzuwenden. Die Zeit hat fast alle
Systeme der rationalen Philosophie umgestürzt. Glückselig ist der systema-
tische Philosoph, dem die Natur (wie dem Platon, Aristoteles, Epikur, Lu-
krez) gegeben hat eine starke Einbildungskraft, eine grofse Beredsamkeit und
die Kunst, seine Gedanken in schlagenden und erhabenen Bildern darzustel-
len. Das Gebäude, welches er aufführte, kann eines Tages niederstürzen;
aber seine Bildsäule bleibt unter den-Ruinen aufrecht stehen und der vom
Berge herabrollende Stein wird sie nicht zerbrechen, denn ihre Füfse sind
nicht von Thon.
(') II, 285.
(°) Encyelop. method. Philosophie, Article Diderot 206.
002
292 von RAUMmER:
Aus der Art wie Diderot in der Encyclopädie die verschiedenen Sy-
steme der Philosophie darstellte, kann man auf seine eigenen Ansichten zu-
rückschliefsen. Weil indefs ein solcher Versuch zu viel Raum und Zeit ko-
sten würde, will ich aus seiner Schrift ('), philosophische Gedanken
betitelt, die wichtigsten Punkte ausheben und durch andere Stellen seiner
Werke erläutern und vervollständigen.
Nur die Leidenschaften, die grofsen Leidenschaften, sagt er, können
die Seele zu grofsen Dingen erheben. Ohne jene verschwindet das Erhabene
in den Sitten und Werken, die schönen Künste kehren zurück zur Kindheit,
und die Tugend wird kleinlich. Man kann von mir verlangen, dafs ich die
Wahrheit suche, nicht dafs ich sie finde. Was nie in Frage gestellt ward, ist
auch nicht erwiesen; was nie ohne Vorurtheil geprüft ward, ist niemals gut
geprüft worden. Der Skeptieismus (?) pafst nicht für jeden; er fordert eine
tiefe und unbefangene Forschung. Doch schelten die Frommen mit Unrecht
auf denselben: denn wenn zur Annahme einer wahren und zur Verwerfung
einer falschen T,ehre gehört, dafs man sie kenne; so wird skeptische For-
schung, Wahrheit und Irrthum schon sondern. Wiederum (°) giebt es eine
gewisse Feinheit (subtilit&) des Geistes, welche sehr gefährlich ist; sie säet
nur Zweifel und Ungewifsheit aus. Diese Wolkensammler mifsfallen mir
sehr; sie gleichen dem Winde, welcher die Augen mit Staub erfüllt. Der
Idealismus (*) mag das absurdeste System sein, aber er ist doch am schwer-
sten zu bestreiten. Nur die Fähigkeit zu denken und zu fühlen ist angeboh-
ren (°), alles Andere erworben. Wäre der Mensch von Natur böse, so müfste
er vielmehr Gewissensbisse über seine guten, als seine bösen Handlungen
empfinden. Die Natur hat uns nicht schlecht gemacht (°), vielmehr verder-
ben uns schlechte Erziehung, schlechte Beispiele und schlechte Gesetzge-
(') Oeuyr. Vol.1.
(?) Encyclop. Philos. Article Diderot.
(?) - Oeuvr. XV, 172.
)1,218:
(19871993
(°) Memoir. inedits I, 401. Oeuyr. IV, 446; II, 206, 213.
Diderot und seine Werke. 293
bung. Doch ist das Böse da, und Folge der allgemeinen Naturgesetzgebung,
nicht Wirkung eines lächerlichen Apfels. Es ist zugleich mit dem Guten
gegeben, und man kann nicht das Eine, oder das Al delle aufheben. Ich
habe mir alle Mühe gegeben, eine Welt ohne Übel zu begreifen, bin aber
damit nicht zu Stande gekommen. Alle Wahrheit in uns ist Folge natürli-
cher Anlagen und Erfahrung; aller Irrthum entsteht aus dem Mangel beider
Mittel, ei des einen, oder durch die Anwendung derselben. Die Erfah-
rung ist spekulativ, oder praktisch. Praxis ohne Spekulation entartet zu einer
beschränkten Übung (routine bornee); Spekulation ohne Erfahrung ist nichts
als eine gewagte Vermuthung. In jedem Augenblicke nehmen wir den Wil-
len für die Freiheit.
Das Zeugnifs, welches man sich selbst über sich ablegt und ablegen
mufs, ist die Quelle aller wahren Güter und aller wahren Übel (1). Die Li-
nie der strengen Rechtlichkeit ist schmal; auch die kleinste Abweichung
führt im Fortschritt immer weiter und man befindet sich (wenn der Weg lang
ist) unendlich weit vom rechten, schwer wieder zu findenden Wege.
Man fragt die Kinder: was ist Gott? und doch haben die Philosophen
grofse Mühe diese Frage zu beantworten. Die Gerechtigkeit Gottes steht
zwischen übermäfsiger Milde und Grausamkeit; daher weder ewige, noch
gar keine Strafen. Der Gedanke, dafs es keinen Gott gebe, hat noch nie-
mand mit Entsetzen erfüllt, wohl aber, dafs ein solcher sei, wie man ihn ge-
wöhnlich abmahlt. Nur der Deist kann dem Atheisten die Spitze bieten;
der Abergläubige hat dazu keine Kraft. Haben wir ein Recht jemand zu be-
leidigen, weil er mit Unrecht nicht an Gott glaubt? Man nimmt hiezu nur
seine Zuflucht, wenn es an Beweisen fehlt. Einst fragte jemand: ob es wahre
Gottesläugner gebe? Der Befragte antwortete: glauben sie, dafs es wahre
Christen giebt?
Der Kenntnifs der Natur war es vorbehalten, die wahren Deisten zu
erzeugen. Ich unterscheide drei Klassen von Atheisten. Einige denken und
sagen rund heraus, dafs es keinen Gott giebt; das sind die wahren Gottes-
läugner. Viele wissen nicht, was sie darüber denken sollen, und möchten
die Frage gern wie: „Schrift oder Bild”, entscheiden; das sind die skepti-
(') Encyclop. Diderot 214, 215.
294 von RAUMmER:
schen Gottesläugner. Noch weit mehr möchten, dafs es keinen Gott gäbe,
sie stellen sich und leben, als wären sie davon überzeugt; das sind die Prah-
ler und Aufschneider der Partei. Ich verabscheue die Prahler, sie sind falsch;
ich beklage die wahren Atheisten, aller Trost scheint mir todt für sie; und
ich bitte Gott für die Zweiller, es fehlt ihnen an Erleuchtung.
Mein ganzes Leben hindurch war ich ohne Kummer unwissend über
das, was ich unmöglich wissen kann und was schon deshalb gewifs für mich
nicht nothwendig sein kann. Der Unglaube ist bisweilen das Laster eines
Thoren, und Leichtgläubigkeit der Fehler eines Mannes von Geist. Es er-
scheint gleich gefährlich, zu viel und zu wenig glauben. Auf allen Seiten
klagt man über (impiete) Gottlosigkeit: der Christ heifst gottlos in Asien,
der Muhamedaner in Europa, der Papist in London, der Calvinist in Paris,
der Jansenist in der Jakobsstrafse, der Molinist in der Vorstadt S. Medard.
Was ist nun ein Gottloser (un impie)? Jeder ist es, oder niemand.
Mein Bruder würde ein guter Freund (!), ein guter Bruder gewesen
sein, wenn ihn nicht das (angebliche) Christenthum gelehrt hätte, alle diese
Elendigkeiten mit Füfsen zu treten. Er ist ein guter Christ, der mir stünd-
lich beweiset, es sei besser ein guter Mensch zu sein. Das was sie evange-
lische Vollkommenheit nennen, besteht nur in der unheilbringenden Kunst
die Natur zu ersticken. Der Glaube an Gott macht fast eben so viel Fana-
tiker, als Gläubige, und wo es einen Cultus giebt, wird die natürliche Ord-
nung der sittlichen Pflichten umgeworfen und die Sittenlehre verderbt. Ich
läugne die Unsterblichkeit der Seele (?), oder behaupte wenigstens, dafs man
nichts darüber wisse; wohl aber erkenne und vertheidige ich den hohen
Werth, die Wichtigkeit, die antreibende begeisternde Kraft des Nachruhms.
Nach mir die Sündfluth, ist ein Sprichwort, aufgebracht durch kleine, ge-
ringe, eigenliebige Seelen. Nie hat es ausgesprochen ein grofser Herrscher,
ein würdiger Staatsmann, ein guter Vater. Das niedrigste und verächtlichste
Volk wäre das, wo jeder es zur Regel seines Benehmens und Thuns ma-
chen wollte.
Die Göttlichkeit der Schrift, der Bibel, ist nicht so unläugbar aufge-
prägt, dafs ihr Ansehn ohne Rücksicht auf andere Zeugnisse allein gölte.
(') Mem. inedits I, 117, 283.
(*) Ib. III, 183, 360.
Diderot und seine Werke. 295
Indem ich Beweise suche, finde ich Schwierigkeiten. Bücher, welche die
Gründe meines Glaubens enthalten, bieten mir zu gleicher Zeit Veranlas-
sungen zum Unglauben. Sie sind Zeughäuser für beides. Je weniger Wahr-
scheinlichkeit eine Thatsache hat, desto mehr verliert das geschichtliche
Zeugnils an Gewicht. Wenn die Evangelisten Wunder erzählen, verdienen
sie nicht mehr Glauben als in gleichem Falle Herodot und Livius. Von sech-
zig Evangelien hat man sechsundfunfzig verworfen; blieb gegen die vier be-
stätigten nichts zu erinnern? Die Propheten, die Apostel, die Evangelisten
haben geschrieben, wie sie es verstanden. Wäre es uns erlaubt die Geschichte
des jüdischen Volkes, wie ein einfaches Erzeugnifs des menschlichen Geistes
zu betrachten; so würden Moses und seine Fortsetzer nicht dem Livius, Sa-
lust, Cäsar und Josephus voranzustellen sein, welche doch gewifs nicht durch
Eingebung, Inspiration, schrieben. Wenn die Religion, welche du mir an-
kündigst wahr ist, so muls sich ihre Wahrheit durch unüberwindliche Gründe
darthun lassen. Finde diese Gründe auf, und beunruhige mich nicht mit
Wundern, wo du mich mit einem Schlusse niederwerfen kannst. Sollte
es denn leichter sein, einen Lahmen zu heilen, als mich aufzuklären? Ist es
nicht genug ein Christ sein, warum soll ich es aus schlechten Gründen
werden.
Die Vernunft macht die rechten Gläubigen und ist sie eine Gabe von
oben, so mufs ich auch auf ihre Stimme hören. Märtyrer finden sich für
sung; sie beweisen also nicht blofs für eine Partei.
gung;
Entsage ich meiner Vernunft, so habe ich keinen Führer mehr. Ich mufs
jede religiöse Überzeu
als Blinder ein untergeordnetes Prineip annehmen und das voraussetzen, was
in Frage steht. Nachts in einem unermefslichen Walde verirrt, habe ich nur
ein kleines Licht mich zu führen. Kommt ein Unbekannter und spricht:
blase dein Licht aus, um besser den Weg zu finden, — dieser Unbekannte
ist ein Theolog!
Bedarf es noch einer neuen Gnade, um gut zu handeln, wozu hat denn
der Tod Christi genützt? Giebts auf tausend Verdammte nur einen Geret-
teten, so bleibt der Teufel im Vortheil, ohne seinen Sohn dem Tode preis
gegeben zu haben. Der Gott der Christen macht viel aus seinen Äpfeln und
wenig aus seinen Kindern. Wäre es nicht gerathen, seine Kinder umzubrin-
gen, wenn man sie dadurch gegen die Gefahr ewiger Höllenstrafen schützen
könnte? Wenn Christus Gott ist, so betete er auf dem Ölberge zu sich selbst,
296 von Raumer:
und Gott stirbt um Gott zu besänftigen. Dieser Leib verstockt, dieses Blut
wird sauer, diesen Gott essen die Würmer. Blindes Volk, dummer Ägyptier,
öffne deine Augen.
Obgleich die zuletzt mitgetheilten Auszüge frommen Christen schon
mehr als hinreichende Veranlassung zu einer Anklage Diderots geben; darf
ich doch einige Umstände nicht verschweigen, welche dieselbe noch erschwe-
ren dürften. In der Encycelopädie finden sich nämlich Auszüge aus dem Te-
stamente eines Geistlichen Meslier, und die Bibliotheque universelle nimmt
das Dasein des Mannes und die Ächtheit jenes Testaments an, ohne irgend
eine Seitenbemerkung beizufügen. Indessen drängt sich die Vermuthung auf,
dafs, wenn auch ein solcher Geistlicher existirte, doch Diderot ein Testa-
ment unter dessen Namen entworfen, oder verändert und ausgeschmückt
habe, um heftige Angriffe auf das Christenthum an den Mann zu bringen,
welche selbst auszusprechen er Bedenken trug. Auch wären derlei Beden-
ken sehr begründet gewesen: denn der Inhalt ist keineswegs tiefsinnig, und
die Form meistentheils platt und gemein. Das Gehaltenere und minder An-
stöfsige findet sich dagegen oft buchstäblich in Diderots pensees philoso-
phiques wieder, so dafs er entweder aus Meslier abschrieb, oder abgeschrie-
ben wurde. Beides erscheint unwahrscheinlicher, als dafs Diderot und Mes-
lier nur eine und dieselbe Person ist. Hierauf deutet noch ein anderer Um-
stand. In einer angeblich scherzhaften, in Wahrheit argen und wilden Di-
thyrambe, welche Diderot zu einem Bohnenfeste unter dem Titel les Eleu-
theromares schrieb, finden sich die furchtbaren Verse ('):
Et ses mains ourdiraient les entrailles du pretre
Au defaut d’un cordon pour £trangler les Rois.
Dieser Gedanke, welcher nicht einmal an dieser Stelle durch den Zusam-
menhang, oder als vorsetzliche Übertreibung, entschuldigt wird, erscheint in
dem Artikel Meslier verstärkt und zugespitzt wieder. Je voudrais (disait Mes-
lier) et ce sera le dernier comme le plus ardent de mes souhaits, je voudrais
que le dernier des Rois fut &trangl& avec les boyaux du dernier des pretres.
On £crira (heifst es weiter) 10 mille ans si l’on veut sur ce sujet, mais on ne
(') Oeuyr. XV, 495. Dafs die Dithyrambe nicht von Diderot herrühre, ist zu seiner
Entschuldigung vermuthet, aber nicht erwiesen worden. Sein Freund Naigeon hat sie in
den Werken Diderots abdrucken lassen.
Diderot und seine Werke. 397
produira jamais une pensce plus profonde, plus fortement concue et dont le
tour et l’expression ayent plus de vivacit€ de preeision et d’energie. Was ist
nun wahrscheinlicher: dafs der unbekannte Meslier diesen Gedanken so scharf
auffafste und ausdrückte, und Diderot ihn nachmals abgeschwächt in sein
Gedicht aufnahm; oder dafs Diderot selbst der Urheber und der Fortbild-
ner desselben war, und ihn lobte oder loben liefs?
So wie sich Freunde jetzt bemühen, Denken und Thun eines berühm-
ten Mannes wohlwollend in das beste Licht, und ihn als redlich, fromm und
christlich darzustellen; so hält Diderots Freund Naigeon es umgekehrt für
seine Pflicht, ihm den Ruhm eines entschlossenen Gottesläugners beizulegen.
Diderot (schreibt er) war ein Atheist (!), und selbst ein sehr fester und sehr
überdachter Atheist. Zu diesem Ergebnifs war er gekommen durch eine
gute Methode der Forschung uud durch alle die Wege, welche am gerade-
sten und sichersten zur Wahrheit führen, nämlich durch Nachdenken, Er-
fahrung, Beobachtung und Berechnung.
Trotz dieser bestimmten Lobrede zweifele ich sehr, dafs Diderot zu
den von ihm selbst so bezeichneten entschlossenen Gottesläugnern gehörte.
Nur die, auf dem Boden des Verstandes unlöslichen Gegensätze trieben ihn
in die Skepsis, und die damaligen Theologen halfen aus derselben nicht her-
aus, wenn er sie z.B. fragte (?): wie Gott zugleich sein könne überall, und
nicht räumlich, unbewegt und Alles bewegend; wie die Dreieinheit, die
Brotverwandlung u. s. w. zu beweisen sei u. s. w.
Als Hume (der Skeptiker) in einer pariser Gesellschaft sagte (°): er
glaube nicht, dafs es Gottesläugner gebe; so antwortete einer der Gegen-
wärtigen: von uns 18 sind es 15, und drei wissen nicht was sie darüber den-
ken sollen. Unter jenen waren gewifs (nach Diderots tadelnder Bezeichnung)
Prahler und Aufschneider; doch drang diese Flachheit auch in andere Kreise
und nahm daselbst aus natürlichen Gründen eine ernstere Gestalt an. Ein
Mönch (erzählt Diderot) las mir eine frische und kräftige Abhandlung vor (*)
über den Atheismus, voll neuer und kühner Gedanken. Ich erfuhr zu mei-
(') Eneyclop. Philosophie III, 340.
(*) Oeuvr. II, 265; IV, 108.
(°) Memoir. inedits II, 253.
©) IbidSIIzz2:
Philos.- histor. Kl. 1843. Pp
298 von Raıvumer: Diderot und seine Werke.
ner Erbauung (avec Edification), dafs diese Lehre in ihren Hallen die ge-
wöhnliche sei.
Nach so umständlichen Mittheilungen ist es wohl unnöthig ein allge-
meines Urtheil über Diderot auszusprechen. Es wird nicht nur sehr ver-
schieden ausfallen, nach dem Standpunkte, nach der Strenge oder Milde des
Beurtheilenden, sondern auch nach Mafsgabe der so mannigfaltigen Schrif-
ten Diderots. Gewils war er ein thätiger, vielseitiger, leichtfassender und
gestaltender Geist, bald im gerechten Widerspruch gegen Vorurtheile und
Irrthümer seiner Zeit, bald ergriffen und fortgerissen von dem mächtigen
Strome. Dieser Strom entsprang aber nicht in der Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts, erhielt nicht alle Zuflüsse aus dieser Zeit, sondern man kann
ihn aufwärts zu seiner Quelle verfolgen und man wird danach übertriebenes
Lob der früheren, und übertriebenen Tadel unserer Tage ermäfsigen und
berichtigen müssen. Insbesondere war der Kampf gegen die Unduldsamkeit
der Kirchen und die schroffen Gegensätze ihrer Lehren, damals zunächst
eine erlaubte Nothwehr. Aber freilich ging man aus der Vertheidigung bald
zu eitelem Selbstvertrauen, gehässigem Angriffe, und ungerechtem Verdam-
men anders Gesinnter über (!); welches Alles ein bejammernswerthes Ge-
genstück zu der früheren Kirchentyrannei darbietet. Noch weniger als diese
beiden entgegengesetzten Erscheinungen menschlicher Irrthümer würde es
sich entschuldigen lassen, wenn in ruhigen, friedlichen Zeiten, eine gemä-
fsigte, vielseitige Entwickelung verschmäht, und Hartnäckigkeit für Tiefsinn,
Leichtsinn für Geistesfreiheit, Leidenschaft für Charakterkraft und der Buch-
stabe für den Geist gehalten und angepriesen würde.
(‘) Zum Schlusse mag noch eine passende Betrachtung aus Tiedemanns Geist der spe-
kulativen Philosophie II, 425 hier Platz finden. Sie lautet: dals in aufgeklärten Zeiten der
Gottesläugner Zahl sich mehrt, ist nicht alleinige Folge grölserer Verderbtheit des Herzens
und Ungebundenheit der Sitten, ist Folge des natürlichen Ganges vom Verstande. Wozu
noch kommt, dafs in eben den Zeiten, wo die Aufklärung wächst, auch die Freiheit im
Denken sich erweitert, und dafs eben dies Gefühl gröfserer Zwanglosigkeit und eben ab-
geschüttelter Fesseln, allemal in Zügellosigkeit und Frechheit übergeht, weil den goldenen
Mittelweg zu halten, nun einmal nicht Loos der Menschheit ist.
—eit till >—
Über
die welthistorische Bedeutung des neunten Buchs
in der II. Enneade des Plotinos oder seines Buchs
gegen die Gnostiker.
’ Von
Hm NEANDER.
wunnnmminnminwun
[Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 14. December 1843.]
D. grofse Bedeutung dieses Buchs für die weltgeschichtliche Betrachtung
besteht darin, dafs das Verhältnifs der durch diesen tiefsinnigen Denker sy-
stematisch ausgebildeten neoplatonischen Philosophie zu der aus einer Ver-
mischung des Christenthums mit manchen fremden Elementen hervorgegan-
genen grolsartigen Erscheinung des Gnostieismus und zu dem Christenthum
selbst sich darin abspiegelt. Der Kampf des als ein neues Prineip in die
Weltgeschichte eintretenden Christenthums mit den Geistesrichtungen der
alten Welt, welche theils in ihrer reinen Eigenthümlichkeit, theils in man-
nichfachen Mischungen gegen dasselbe sich zu behaupten suchten, mufs die
Theilnahme eines Jeden, der die Geschichte der Menschheit erforschen will,
besonders in Anspruch nehmen. Nachdem in den ersten Jahrhunderten der
christlichen Zeitrechnung, den Zeiten des Eklektieismus und Synkretismus,
die platonische Philosophie mit christlichen und orientalischen Geistesele-
menten sich vielfältig vermischt hatte, wurde sie durch den Plotin, um nicht
seinen Lehrer, den Ammonius Sakkas, zu nennen, von dem wir zu wenig
wissen, als dafs wir seinen Einflufs genauer zu bezeichnen vermöchten, aus
jenen Mischungen entbunden und zu einer selbstständigen Entwicklung ge-
führt. In der Philosophie wie in der Religion ist er ein Repräsentant des
hellenischen Geistes, der sich im Gegensatze mit dem orientalischen und dem
christlichen selbstsständig zu erhalten suchte, des Standpunktes der alten
Welt, welcher das Prineip eines neuen nicht aufkommen lassen will. In dem
Gnosticismus aber erkennen wir jenen Standpunkt der alten Welt von einer
Pp2
300 Neanver über die welthistorische Bedeutung
andern Seite, in der Form des orientalischen, mit hellenischen Elementen
geschwängerten Geistes, und zwar wenn bei dem Neoplatonismus in offenem,
unverhülltem Gegensatze gegen das neue weltumbildende christliche Prineip,
so bei dem Gnosticismus in dem Streben, sich mit diesem neuen Prineip,
das über ihn selbst eine anziehende Macht ausgeübt hatte, zu vermischen.
Dadurch wird das Verhältnifs des Neoplatonismus zu dem Gnostieismus be-
stimmt; einerseits mulste jener in diesem das Prineip der christlichen Welt-
anschauung bestreiten, andrerseits lehnte sich der selbstständige Geist hel-
lenischer Speculation gegen die mehr in Anschauungen sich bewegende ori-
entalische Theosophie auf. Es erhellt daher, dafs wenn auch Plotin in die-
sem Buche, in welchem er den Gnosticismus vom Standpunkte des Neopla-
tonismus bestreitet, nichts mit Bewufstsein und Absicht gegen das Christen-
thum sagen sollte, er doch auf jeden Fall in seiner Polemik gegen den Gno-
sticismus auch zugleich das neue weltumbildende Princip des Christenthums
angreifen mufste. Und es ist daher dieses Buch wichtig, um diese drei gro-
{sen Mächte, von welchen die Bildung jener Zeit bewegt wird, in ihrem Ver-
hältnisse zu einander kennen zu lernen.
Aber freilich könnte ein Zweifel darüber entstehen, ob dies Buch
wirklich gegen Vertreter der vorhin bezeichneten Richtung geschrieben ist,
da der Name der Gnostiker in demselben nirgends vorkommt, und wenn wir
aus den hier bestrittenen Lehren ein System zusammensetzen wollen, wer-
den wir dieses in keinem der uns bekannten gnostischen Systeme wiederfin-
den. Überhaupt werden wir manche einander widerstreitende Elemente,
welche gegen die Verschmelzung zu einem Systeme sich sträuben, zu er-
kennen genöthigt werden. Erst der Ordner der Schriften Plotin’s, sein Schü-
ler Porphyrius, hat jenes Buch als ein gegen die Gnostiker gerichtetes be-
zeichnet; in seiner Lebensbeschreibung Plotin’s aber führt er nur solche
Namen derselben an, die uns fast ganz unbekannt sind, und grade die Namen
der uns bekannten Vorsteher gnostischer Schulen fehlen an jener Stelle durch-
aus. Doch wird die Richtigkeit des von ihm herrührenden Titels durch den
Inhalt des Buches selbst bestätigt, denn in den durch dasselbe widerlegten
Lehren können wir die Grundzüge einer gnostischen Weltansicht und insbe-
sondere der valentinianischen in mancheın Einzelnen und vornehmlich in der
eigenthümlichen Auffassung von dem Verhältnisse dieser Welt zu einer hö-
heren, nicht verkennen. Nur dürfen wir nicht meinen, dafs alle von Plotin
des neunten Buchs in der LI. Enneade des Plotinos. 301
bekämpfte Lehren in irgend einem besonderen gnostischen Systeme ihren
Platz finden müfsten. Porphyr hat ja dieses Buch als ein gegen die Gnosti-
ker überhaupt gerichtetes betitelt. Nun gab es aber kein allgemeines gnosti-
sches System, sondern bei einer gewissen gemeinsamen Grundrichtung ka-
ınen in den verschiedenen Schulen und Systemen der Gnostiker bedeutende
Gegensätze vor. Wer daher einen Vorwurf, welcher einem Theile derselben
gemacht werden kann, auf alle ausdehnen will, kann grofser Ungerechtigkeit
sich schuldig machen, was dem Plotin allerdings widerfahren ist, wie wir
später nachweisen werden. Eine unbefangene und gerechte Polemik hätte
es sich angelegen sein lassen müssen, das Gemeinsame und Verschiedenartige
in den gegnerischen Richtungen zu unterscheiden. Darauf läfst sich aber
Plotin nicht ein, sondern er verbindet mit einander alle ihm bekannt gewor-
denen Merkmale des Gnostischen, wenn sie auch keineswegs alle in einem
Systeme sich vorfanden. Wie es den vorherrschend systematischen Geistern
leicht so geht, fehlte ihm überhaupt die Fähigkeit, in den Zusammenhang
der von ihm bestrittenen Denkweise recht einzugehen, daher er auch gegen
seine Widersacher manche Einwendungen vorträgt, welche sie von ihrem
Standpunkte zurückzuweisen wohl im Stande gewesen wären. Wenn sich
nun manche von Plotin bestrittenen Lehren nicht in irgend einem der gno-
stischen Systeme nachweisen lassen, so müssen wir theils bedenken, dafs er
kein ganz treues Bild der von ihm bestrittenen Lehren giebt, diese selbst
nicht immer recht zu verstehen wulste, theils dafs wir auch nur eine unvoll-
ständige Kenntnifs der gnostischen Systeme, unter denen es so mannichfach
verschiedene Schattirungen gab, empfangen haben; und da, wie wir bemerk-
ten, die von Porphyr angeführten Namen fast nirgends vorkommen, kann es
wohl sein, dafs wie die ursprünglichen gnostischen Systeme durch spätere
Schüler auf mannichfaltige Weise modifieirt wurden, jene Namen solchen
Männern des dritten Jahrhunderts angehören, durch welche eigenthümliche,
uns unbekannt gebliebene gnostische Systeme gebildet worden sind. Wir
werden deshalb keineswegs berechtigt sein, mit Kreuzer anzunehmen, dafs
Plotin auch auf das manichäische System, welches ihm der Chronologie nach
unmöglich bekannt sein konnte, Rücksicht genommen haben sollte. Wenn
Porphyrius in seiner Lebensbeschreibung Plotin’s von denen, gegen welche
dessen Schrift gerichtet ist, sagt, dafs sie mit untergeschobenen Offenbarun-
gen Zoroasters sich herumtrugen, so enthält auch dies durchaus kein auf den
302 NEANDER über die welthistorische Bedeutung
aus dem Parsismus hervorgegangenen Manichäismus uns hinweisendes Merk-
mal, denn der zoroastrische Dualismus übte ja längst einen mächtigen Ein-
flufs auf die in dem römischen Weltreiche circulirenden Lehren aus. Unter
dem Namen Zoroasters konnten längst solche Stücke, durch die man gewisse
Ansichten in Umlauf setzen wollte, untergeschoben worden sein, wie man unter
dem Namen eines Gustasp schon im zweiten Jahrhundert solche Schriften
untergeschoben hatte. Nicht die Verbindung der zoroastrischen Lehren
mit dem Christenthume, sondern das Vorherrschen des parsischen und das
Zurücktreten des christlichen Elements und namentlich der Versuch, Zoro-
astrismus, Buddhaismus und Christenthum zu verschmelzen, macht das Eigen-
thümliche des Manichäismus. In Plotin’s Polemik findet sich auch durchaus
keine Spur der Anspielung auf manichäische Elemente und fände sich eine
solche, so würden wir vielmehr an eine ältere gemeinschaftliche Quelle, aus
welcher auch Mani geschöpft hätte, als an dessen eigenes System zu den-
ken haben.
Die Gnostiker, welche Plotin bestreitet, traten mit der Behauptung
auf, dafs Platon die höchste Aufgabe der Speculation keineswegs gelöset
habe, sie wollten ihn ergänzen, sie schrieben der alten hellenischen Philoso-
phie nur einen untergeordneten Standpunkt zu, als wenn sie erst das We-
sen des Geistes erkannt hätten, nicht aber Platon und die übrigen herrlichen
Männer (!); womit auch übereinstimmt, was Porphyr von der Anmafsung, mit
der sie so auftraten, sagt (?). Plotin giebt ihnen Schuld, dafs sie Alles, was sie
Wahres sagten, von den Alten genommen hätten, dies aber verdürben, indem
sie etwas Neues hinzufügen und die Alten verkleinern wollten. Hier thut er
ihnen nun gewifs Unrecht, wenn er es so darstellt, als wären sie nur eben darauf
ausgegangen, Neues zu sagen und auf Kosten der Alten sich zu überheben.
Es war ja vielmehr eine nothwendige Folge ihrer ganzen Stellung zwischen
der alten und der neuen Welt, dafs sie so über die Alten, in welchen sie
keine befriedigende Antwort auf die Fragen, welche ihren Geist am meisten
beschäftigten, finden konnten, urtheilen mufsten. Doch Plotin, welcher
ganz dem Standpunkte der alten Welt angehört, und diesen mit systemati-
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des neunten Buchs in der II. Enneade des Plotinos. 303
scher Strenge und Consequenz entwickelte, konnte freilich, wie es in seiner
ganzen Polemik gegen die Gnostiker sich zu erkennen giebt, das neu in die
Welt eingetretene Prineip nicht verstehen und in seiner welthistorischen Be-
deutung würdigen; ihm mufste Alles nur als willkürliche, phantastische Ab-
weichung von den Principien der alten hellenischen Philosophie, die er in
ihr volles Recht einzusetzen sich berufen fühlte, erscheinen. Aus dem Ge-
sagten können wir dies folgern, dafs diese Gnostiker, was für ihre Charakte-
ristik im Verhältnisse zu andern dieser Gattung wichtig ist, nicht zu denen
gehörten, welche ihre Gnosis nur im Gegensatze zu allem Früheren oder
wenigstens zu allem aufser der Offenbarungsreligion Gegebenen darstellten,
sondern zu denen, welche eine Vermittelung zwischen der alten und neuen
Welt suchten, die Philosophie der alten als eine vorbereitende Stufe in der
Entwicklung des Geistes anerkannten. Plotin hatte dabei Ursache, sich scho-
nend auszudrücken, denn es müssen in seiner nächsten Umgebung dieser Rich-
tung ergebene Männer gewesen sein, die er nicht beleidigen wollte. Er selbst
sagt, es halte ihn eine gewisse Pietät(!)gegen einige Freunde zurück, welche, be-
vor sie seine Freunde geworden, sich von jener Lehre hätten einnehmen lassen,
und bei denen er sich nicht zu erklären wisse, wie sie dabei geblieben wären
und solche Dinge vorzutragen kein Bedenken hätten. Er war sich auch wohl
bewulst, dafs er diese Leute selbst, wie allerdings bei einem nicht blofs in ein-
zelnen Meinungen, sondern tiefer in dem ganzen Princip der Denkweise be-
gründeten Gegensatze eine Verständigung unmöglich war, nicht werde überzeu-
gen können. Nicht auf sie selbst war seine Widerlegung berechnet, sondern
auf seine andern Bekannten, damit diese von jenen Leuten, welche keine Be-
weise, sondern nur Machtsprüche anführten, nicht gequält werden sollten. Er
sagt, dafs die Alten von dem Wesen der Geisteswelt weit Besseres gelehrt hät-
ten, werde auch leicht von allen denen eingesehen werden, welche in der unter
den Menschen grassirenden Täuschung nicht befangen wären (?). Man könnte
meinen, dafs er unter dieser Täuschung nur die Herrschaft der gnostischen Prin-
eipien, welche würklich eine grofse Gewalt über viele Geister ausübten, verstan-
nden hätte, wie erin diesem Zusammenhange allerdings nur von den gnostischen
Lehren redet. Doch fragt es sich, ob sein Ausdruck nicht zu viel sagt, um ihn
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304 NEANDER über die welthistorische Bedeutung
von solchen Lehren zu verstehen, welche immer nur bei einer verhält-
nifsmäfsig kleineren Zahl Eingang finden konnten. Da doch aus dem, was
er gegen die Gnostiker sagt, auch auf jeden Fall sein Gegensatz gegen das
Christenthum erhellt, da dasselbe eine feindliche Stellung gegen die Princi-
pien der alten Philosophie einnehmen mufste, da es damals unter der Regie-
rung Gallien’s, unter welcher es zuerst den Rang einer religio licita im rö-
mischen Reiche eingenommen hatte, als eine mit unwiderstehlicher Gewalt
5
um sich greifende Macht erscheinen mulste, diese Macht aber dem Plotin
von seinem Standpunkte nur als die Macht einer Täuschung erscheinen
konnte, ist es wohl nicht unwahrscheinlich, dafs er hier das Christenthum
meint. Seine Schonung giebt sich aber in dem Ausdrucke, der nur erra-
then lassen kann, was er meint, auf eine merkwürdige Weise zu erkennen,
wie er überhaupt das Christenthum, dessen Widersacher er doch sein mufste,
nirgends ausdrücklich erwähnt.
Wir haben schon bemerkt, dafs Plotin den Gnostikern darin Unrecht
thut, wenn er, was nur von einer Klasse unter denselben mit Recht gesagt
werden konnte, dieser Richtung im Ganzen Schuld giebt. So vermifst er
bei ihnen durchaus das ethische Element, sie hätten sich — sagt er — mit
den Untersuchungen über die Tugend, die verschiedenen Arten derselben
gar nicht beschäftigt, das viele Gute, was von den Alten darüber gesagt wor-
den, ganz vernachläfsigt, und schön ist es, wie er sich gegen die Trennung
des ethischen und contemplativen Elements bei manchen Gnostikern aus-
spricht. Es hilft nichts zu sagen: „Blicke zu Gott hin”, wenn man nicht lehrt,
wie Einer dazu gelangt, zu ihm hinaufzublicken, denn was hindert Einen
zu sagen, dafs er zu ihm hinaufblicke und sich doch keiner Lust zu enthal-
ten, seinen Zorn nicht zu beherrschen, indem er zwar den Namen Gottes im
Munde führt, aber von allen Leidenschaften zugleich sich beherrschen läfst.
Die zur Vollendung gelangende und mit Weisheit gepaart der Seele einwoh-
nende Tugend läfst dich Gott erkennen, ohne Tugend aber ist Gott nur ein
blofser Name. Und er leitet diese Vernachläfsigung des Ethischen aus der
Weltverachtung der Gnostiker ab, aus dem Gegensatze, den sie zwischen
einer höheren und niederen Welt, zwischen der Welt des höchsten Gottes
und der des Demiurgos machten. Er sucht darzuthun, auch dies auf eine
treffende Weise, dafs eine solche Lehre zu noch schlimmeren Ergebnissen
als die Lehre Epikurs, welche die Vorsehung läugne und die Lust zum höch-
des neunten Buchs in der II. Enneade des Plotinos. 305
sten Gut mache, hinführen müsse, denn jene Lehre verachte auf noch ver-
wegenere Weise den Herrn der Vorsehung und die Vorsehung selbst, alle
Gesetze hienieden und Alles, was von allen Zeiten her für Tugend gehalten
worden, damit nur diese Welt von allem Guten entblöfst erscheinen solle,
und so bleibe auch von diesem Standpunkte aus nichts Andres übrig, als dafs
man die Lust und das Nützliche zum Ziel sich setze, wobei er aber doch die
von der Billigkeit in dem Urtheile über Widersacher, in denen er das System
und die Person wohl aus einander zu halten wufste, zeugende Bemerkung,
die seinem Charakter zur Ehre gereicht, hinzusetzt, wenn Einer nicht durch
seine Natur besser sei als ein solches System.
Entsteht nun die Frage, welche unter den verschiedenen gnostischen
Sekten dem Plotin, als er dies schrieb, vorschwebte, so könnte man mit
Einigen an die Sekte Marcions denken, denn diese nahm einen solchen Ge-
gensatz zwischen den beiden Welten an. In diesem Fall würde der Vorwurf
nicht ganz gerecht sein, denn Marcion vernachläfsigte das Ethische durchaus
nicht. Aber wenn zur Vollziehung der ethischen Aufgabe oder zur Verwürk-
lichung des höchsten Gutes zwei Thätigkeiten zusammenkommen müssen,
eine weltbekämpfende und eine weltaneignende, so war seine ethische Rich-
tung, wie es aus jenem von ihm angenommenen Gegensatze hervorging, eine
einseitige, nur eine weltbekämpfende, daher einseitig ascetische. Die käm-
pfenden Tugenden konnten bei ihm wohl zu ihrem Rechte gelangen, nur
nicht die aneignenden. Da aber die Schule Marcions sich eben durch das
Vorherrschen des praktisch Religiösen, das Zurücktreten des Speculativen
von allen andern gnostischen Sekten unterscheidet, da sie auf Untersuchun-
gen der hellenischen Philosophie sich gewifs nicht einliefs, so ist es auch sehr
unwahrscheinlich, dafs Leute von dieser Richtung mit Plotin in Berührung
gekommen sein sollten, und man mufs vielmehr eine andre Beziehung seiner
Polemik aufsuchen. Von denselben dualistischen Principien wie Marcion
gingen aber auch andere Gnostiker aus, welche die von Plotin angeführten
Folgerungen würklich daraus ableiteten, welche, indem sie die Welt als eine
dem Göttlichen ganz entfremdete betrachteten, eben daraus folgerten, dafs
sie durchaus in keiner Beziehung zu dem Sittlichen stehe; Trotz gegen die
Welt und den Geist, von dem sie herrührt, durch Verachtung aller Schran-
ken des Sittengesetzes, war daher ihr höchstes ethisches Prineip, wodurch
alle Ausschweifungen beschönigt werden konnten. Dafs solche Richtungen
Philos.-histor. Kl. 1843. Qgq .
306 Neanver über die welthistorische Bedeutung
dem Plotin vorschwebten, werden wir um desto mehr anzunehmen berech-
tigt sein, da sein Schüler Porphyrius in seinem Werke über die Enthaltung
vom Fleischessen würklich eine gnostische Sekte bestreitet, welche den
Grundsatz von der Freiheit der Vollkommenen auf solche Weise verdrehte,
dafs alle Ausschweifungen der Sinnenlust dadurch gut geheifsen werden
konnten.
So richtig aber auch das ist, was Plotin über den Zusammenhang zwi-
schen den ethischen und den kosmologischen Principien sagt, und wenn-
gleich der eigenthümliche Charakter mancher gnostischen Sekten grade dazu
dient, diesen Zusammenhang im Einzelnen zu bestätigen, so kann doch der
Richtung des Gnostieismus überhaupt dies nicht aufgebürdet werden, eben
weil auch in diesen kosmologischen Prineipien, in der Auffassungsweise des
Dualismus nicht alle gnostischen Sekten mit einander übereinkommen. Plo-
tin verstand aber, wie auch durch manches Andere in seiner Polemik dies
bestätigt wird, den Zusammenhang der gnostischen Ideen nicht genug, um
diese Differenz bemerken zu können. Dieser von ihm nicht bemerkte Un-
terschied der ethischen Prineipien unter den Gnostikern, welcher aus dieser
Differenz der kosmologischen Auffassung hervorgeht, dient wieder zum Be-
leg für das, was er selbst über den Zusammenhang zwischen den kosmologi-
schen und den ethischen Prineipien überhaupt bemerkt.
Wenn nämlich die Unterscheidung zwischen einem höchsten Gott,
dem Urquell alles Seins und einer unmittelbar aus demselben hervorgegan-
genen, ihm verwandten höheren Weltordnung von der einen, und einem
Demiurgos und einer, seinem eigenthümlichen Wesen verwandten, niedern
Schöpfung von der andern Seite das Gemeinsame der Gnostiker bildet, so
ist ein durchgreifender Unterschied zwischen ihren Systemen dadurch be-
dingt, wie das Verhältnifs jener Grundprincipien des Daseins zu einander in
denselben aufgefalst wird. Die Einen nehmen einen absoluten, unvermittel-
ten Gegensatz zwischen dem Demiurgos und dem höchsten Gott und daher
auch zwischen den beiden Weltordnungen an und solche trifft eben der von
Plotin in Beziehung auf das ethische Element gemachte Vorwurf. Andere
aber betrachteten den Demiurgos nur als das zuerst unbewufst handelnde
Organ des Gottes, von dem zuletzt Alles ausgeht, der erst später zur be-
wufsten Anerkennung des höchsten Gottes und der von ihm herrührenden
Weltordnung, der er früher unbewufst dienen mulste, geführt wird. Das
des neunten Buchs in der II. Enneade des Plotinos. 307
Letzte wird durch das Christenthum vermittelt. Nach dieser Auffassung ist
daher der Dualismus hier eigentlich nur ein scheinbarer. Diese Welt ist von
Anfang Offenbarung der göttlichen Vernunft und der göttlichen Ideen, aber
eine im Werden begriffene, vom Unbewufsten zum Bewufsten sich entwik-
kelnde. Die in der Weltschöpfung ursprünglich angelegten Ideen gelangen
nun erst durch das Christenthum, als Mittelpunkt und Ziel der ganzen Welt-
geschichte, zum Bewufstsein und zur Verwürklichung, das Ziel, dem früher
unbewufster Weise Alles entgegenstrebte. Was vom Geiste der Menschheit
zu sagen ist, wird von diesen Gnostikern in dem Demiurgos objektivirt dar-
gestellt. Es erhellt nun, dafs diese Classe der Gnostiker von der Beschul-
digung Plotin’s keineswegs getroffen wird, wie es auch gewifs ist, dafs Män-
ner aus dieser Schule z.B. ein Isidorus, Sohn des Basilides, mit Untersu-
chungen über die Ethik in besonderen Werken sich beschäftigt haben, denn
nach ihrer Lehre ist diese Welt allerdings dazu bestimmt, dafs Göttliches in
ihr verwürklicht werde. Die Ideen, welche in der Schöpfung angelegt sind,
mit Bewufstsein zu erkennen und darzustellen, so das Einheitsband zwischen
dem zoruos vonros und dem zoruos aisSyres zu bilden, dies ist die höchste
Bestimmung der Menschheit, welche durch das Christenthum zu ihrer Er-
füllung gelangt. Hier wird das Ethische als weltbildendes Prineip erkannt,
hier kann sowohl die aneignende als die kämpfende Richtung des ethischen
Geistes ihre Geltung erhalten. Wenn Plotin ächt platonisch nachzuweisen
sucht, wie das was die Seele in der Schönheit und Harmonie der Sinnenwelt
anziehe, eben die ihr entgegenkommende Offenbarung der idealen Welt als
ihre eigentliche Heimath sei, wie Keiner das Göttliche lieben und sich dem-
selben verwandt fühlen könne, ohne auch dessen Abbild in dieser sichtbaren
Welt mit Liebe zu umfassen, an das verwandte dadurch erinnert zu werden,
so erhellt aus dem Gesagten, dafs dieses keineswegs etwas der Anschauungs-
weise der so eben bezeichneten Gnostiker Widerstreitendes ist. Wir werden
vielmehr hier etwas anerkennen müssen, was der ethische Standpunkt dieser
Gnostiker vor dem ethischen Standpunkte Plotin’s, wie dieser mit dem der
alten Welt zusammenhängt, voraus hat. Schleiermacher hat mit Recht die
Ethik als die Wissenschaft der Geschichte . bezeichnet, die Wissenschaft,
welche die Aufgabe, deren Lösung die Geschichte erstrebt, zum Bewulst-
sein bringt. Fern war aber dem Alterthum die Idee von einem Ziele, auf
das sich die ganze Entwicklung des Lebens der Menschheit beziehe, die An-
Qq2
308 NEANDER über die welthistorische Bedeutung
erkennung einer solchen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt bezogenen hö-
heren Einheit derselben, fern alles, was zum teleologischen Gesichtspunkte
gehört, es konnte nur von Völker- und Staatengeschichte, nicht von einer
Geschichte der einem Ziele entgegenstrebenden Menschheit die Rede sein.
Eine Ahnung eines solchen Zieles, eine von den unbewulsten Weissagungen
die in den edleren Philosophieen des Alterthums uns nicht selten entgegen-
treten, finden wir freilich in den erhabenen Worten des Zeno der Stoa in
seinem Werke von der roAıreia, wo er als Ziel setzt, dafs die Menschen nicht
mehr durch Städte und Völker getrennt sein sollten, und alle nur ihren eig-
nen Gesetzen folgen, sondern wir alle Menschen halten sollten für dyucras
zaı morıras, eine Lebensweise und eine Welt, wie eine von einem gemein-
samen Gesetze zusammengehaltene Heerde (!). Plutarch, dem wir die Mit-
theilung dieser schönen Worte verdanken, der in einer Zeit schrieb, als
durch das neue weltumbildende Prineip die Realisirung dessen, was jener
Weise geahnt hatte, angebahnt werden sollte, er bemerkt mit Recht in sei-
nem 1. B. über Alexanders Glück oder Tugend, dafs Zeno hier nur ein phi-
losophisches Traum- oder Schattenbild sich gemacht. Wenn nun aber Plu-
tarch durch die grofsartige Verbindung des Orients und Occidents, welche
durch Alexanders des Grofsen Siege herbeigeführt wurde, dies verwürklicht
zu sehen meinte, so erhellt, dafs er diese Weltbegebenheit, eine so wichtige
Vorbereitung für eine weit gröfsere Weltumbildung sie auch war, doch an
und für sich zu hoch anschlug. Die Sittenlehre jenes antiken Standpunktes
konnte nur aus der subjectiven Vernunft geschöpfte Ideale aufstellen, wenn
sie auch dabei unbewufster Weise von einer höheren historischen Nothwen-
digkeit geleitet wurde, nicht aus der Betrachtung der Weltgeschichte die
durch sie zum Bewulstsein gebrachten Gesetze als die in dieser selbst begrün-
deten nachweisen und so die Bürgschaft für ihre nothwendige Verwürkli-
chung darthun. Alles dies konnte erst davon ausgehen, dafs durch das Chri-
stenthum ein höchstes Gut der ganzen Menschheit, dessen Verwürklichung
von ihrem Entwicklungsgange erzielt wird, in der Idee des Reiches Gottes
an das Licht gebracht wurde. So ist nun auch dem Plotin der historische
wie der teleologische Gesichtspunkt ein durchaus fremder. Es giebt keine
sittliche Gesammtthätigkeit der ganzen Menschheit, in der Theilnahme an
1 Bu. m ’ ’
(') ayeans zowS vouw suvrpehonevvs.
des neunten Buchs in der Il. Enneade des Plotinos. 309
welcher auf dem ihm angewiesenen Standpunkte der Einzelne die ihm ge-
stellte sittliche Aufgabe findet, sondern Alles steht vereinzelt da ohne höhe-
ren Zusammenhang und fortschreitende Entwicklung. Jene Gnostiker aber
sind, wie aus dem Bemerkten sich ergiebt, die Ersten, bei welchen die ge-
schichtliche Beziehung der Sittenlehre hervortritt, eine Aufgabe, deren Er-
füllung nach ihrer Anschauungsweise durch den Demiurgos, oder mit andern
Worten die vorchristliche Offenbarung der Vernunft in der Weltgeschichte,
zuerst unbewufster Weise angebahnt wird, zu deren Bewufstsein sodann das
Christenthum führt, deren Verwürklichung von nun an das Werk bewufster
sittlicher Thätigkeit wird. Nach Plotin’s Weltanschauung hingegen geht al-
les in stetem, unabänderlichem Kreislaufe nach denselben sich immer gleich-
bleibenden Gesetzen fort, es bleibt Alles wie es war.
Allerdings hat der ethische Standpunkt dieser Gnostiker auch seine
eigenthümlichen Mängel, das sind aber solche, welche er mit dem Neopla-
tonismus theilt, welche eben damit zusammenhängen, dafs auch der Gnosti-
eismus noch in dem Standpunkte der alten Welt, welcher durch das Chri-
stenthum noch nicht genug überwunden worden, befangen ist. Nach der
Lehre Platon’s wird zwar eine Ausprägung der Ideen in dem Werden oder
in der Erscheinungswelt anerkannt, aber auch eine dem Göttlichen wider-
streitende, die Idee in ihrer Selbstoffenbarung trübende Macht der vn.
Wenn daher von der einen Seite die sittliche Aufgabe entsteht, die Idee in
der Erscheinungswelt darzustellen, und dies zu dem von Platon im Theätet
zur Aufgabe gestellten Gott-ähnlich-werden gehört, so steht doch von der
andern Seite der bildenden Macht des Göttlichen die trübende Macht der
üAn immer entgegen, und es bleibt hier ein nicht zu beseitigender Rest, ein
nicht zu vermittelnder Zwiespalt. Das Höchste kann daher in dieser Welt
nicht verwürklicht werden, die wahre öuciwrıs ro Sew kann nur durch die
Flucht des Geistes aus dieser Welt, durch die Betrachtung, vermöge welcher
er sich zu dem »öruos vonres emporschwingt, erlangt werden; und dies war
der Anschliefsungspunkt für die ascetische Körperverachtung des spätern
Platonismus und die einseitige Überschätzung des contemplativen Lebens.
Daher erklärt auch Plotin in seinem ethischen Werke, seinem Buche von
den Tugenden, die Contemplation für das höchste Ziel, und durch vorbe-
reitende Reinigung den Geist dazu tüchtig zu machen, für das höchste Ge-
schäft des sittlichen Entwicklungsprocesses. Der Gnosticismus unterschied
310 Neanver über die welthistorische Bedeutung
sich zwar von dem neoplatonischen Standpunkte durch die Anerkennung der
Erlösung als einer geschichtlichen Thatsache, wodurch das Höchste in die
Erscheinung eingetreten, der Zwiespalt zwischen Idee und Erscheinung aus-
geglichen worden, aber auch nach der gnostischen Anschauungsweise bildet
die üAy einen immer fortdauernden Gegensatz mit dem Göttlichen in dieser
Welt, wodurch daher auch, was hier weiter zu entwickeln unserm Zwecke
ferner liegt, ihre Auffassung von jener Thatsache der Erlösung und dem Le-
ben des Erlösers eigenthümlich modifieirt werden mufste. Hier wollen wir
nur dies bemerken, dafs also auch dem gnostischen wie dem neoplatonischen
Standpunkte zufolge die weltbildende sittliche Thätigkeit in der Macht der
Un eine nicht zu beseitigende und nicht zu überwindende Schranke finden
mufste. Und daraus ergiebt sich bei der Classe von Gnostikern, welche wir
hier meinen, der Gegensatz zwischen einem gemeinen, der Sinnenwelt zu-
gewandten Leben, dem Standpunkte der in den gewöhnlichen Geschäften
sich herumtreibenden Menge, der oArcı und dem göttlichen über den Ver-
kehr mit der üA4 sich erhebenden Leben der Betrachtung, die Überschätzung
des contemplativen Lebens und die Zurückstellung des praktischen. Erst
durch das Christenthum ist das Höchste unmittelbar in das Leben eingeführt
und zu einem Gemeingut der Menschheit gemacht worden. Der christliche
Standpunkt läfst kein Gebiet des gemeinen Lebens gelten, sondern verlangt
Alles auf gleiche Weise durch die Beziehung auf das Höchste in der Gesin-
nung zu verklären. Der Gegensatz zwischen dem contemplativen und prakti-
schen Leben ist hier ein aufgehobener. Die Liebe ist das gemeinsame Band,
wodurch das Höchste wie in das Leben so in das Bewulstsein eingeführt wird,
das Leben der Liebe eins in der Betrachtung und im Handeln. Die Gnosti-
ker aber stehen hiernach auf dem Standpunkte der alten Welt, gleichwie die
Neoplatoniker. Damit hängt auch der auf jenem Standpunkte nothwendige
Bildungsaristokratismus zusammen, wo es an einer allen Menschen ohne Un-
terschied zugänglichen Vermittlung für das Höchste fehlt, die nur für eine
kleine Zahl geeignete Betrachtung oder Wissenschaft diese Vermittlung bil-
det und also die gröfsere Menge der in den Geschäften des Lebens sich Be-
wegenden als davon ausgeschlossen betrachtet werden mufste. So erkennen
wir diesen Aristokratismus in der Art, wie Plotin die Welt gegen die Anklage
der Gnostiker vertheidigt und die Nothwendigkeit mannichfaltiger Stufen in
dem Leben der Menschheit nachzuweisen sucht. Er unterscheidet einen
des neunten Buchs in der II. Enneade des Plotinos. 311
zwiefachen Standpunkt, den der Edlen (sroudaicı) und den der Menge, den
des auf das Höchste gerichteten Strebens, der selbstgenugsamen Contempla-
tion, was er ohne Zweifel darunter versteht, und den mehr menschlichen
(ivSgwrizuregcı). In Beziehung auf diesen letzten Standpunkt unterscheidet
er wieder diejenigen, bei welchen ein gewisses sittliches Streben und eine
gewisse Theilnahme an dem Guten stattfindet, die ügern rorırıry und den
grofsen Haufen, wie Handwerker, welche nur das zum Lebensunterhalt Noth-
wendige treiben, von dem Göttlichen ganz entfremdet sind. Dieser nur eine
kleine Kaste der für das Höchste Privilegirten unter den Menschen zulas-
sende Aristokratismus tritt uns nicht minder auch bei den Gnostikern entge-
gen in der Art, wie sie die höheren geistigen Naturen, welche allein durch
die Gnosis zu dem Höchsten gelangen können, von der Menge der Psychiker
unterscheiden.
Die Beschuldigungen, welche Plotin gegen die Gnostiker vorträgt,
beziehen sich theils auf das, was dieser Richtung eigenthümlich ist und kei-
neswegs mit dem Wesen des Christenthums zusammenhangt, namentlich das,
was den Unterschied zwischen hellenischer Philosophie und orientalischer
Theosophie ausmacht, theils auf das, was in der Gnosis zu dem Eigenthüm-
lichen des christlichen Standpunktes gehört. Zu dem Ersten rechnen wir
den Gegensatz der mythischen Anschauungsform und des rein begrifflichen
Denkens. So greift Plotin die Vervielfältigung der Hypostasen bei den Gno-
stikern an, er beschuldigt sie, dafs, indem sie eine Menge von geistigen We-
sen (rA7Ios voyruv) nannten, sie dadurch die genauere Erkenntnifs erlangt zu
haben meinten, da sie doch im Gegentheil durch die Menge selbst das ein-
fach geistige Wesen (die vonrn $Ucıs) dem Sinnlichen und Niedern ähnlich
machten. Indem er die gnostische Magie bestreitet, rühmt er an dem philo-
sophischen Standpunkte, zu dem er sich bekennt, die mit dem reinen Den-
ken verbundene Einfachheit des Charakters, fern von aller grofssprecheri-
schen Charlatanerie.
Er bekämpft zwar zunächst nur die eigenthümliche gnostische, na-
mentlich valentinianische Kosmogonie und die damit zusammenhangende
Lehre vom Ursprunge des Bösen, aber der Gegensatz trifft zugleich, wenn
er es auch nicht dabei im Sinne hat, die ethische, teleologische Weltanschau-
ung des Christenthums, denn damit steht in Widerspruch das unter dem
Scheine des Dualismus durchaus monistische System Plotin’s, das System
312 NeEaAnDEr über die MT TERN MR Bedeutung
einer immanenten Vernunftnothwendigkeit, nach welchem mit dem absolu-
ten, dem &v, die ganze Kette des Daseins vom Ersten- bis zum Letzten, bis
zur Schranke alles Seins, der üAn gegeben ist. Es kann daher von keinem
Anfang und keinem Endziel, von keinem geschichtlichen Verlaufe und kei-
nem Zwecke, von keiner Bedeutung der Freiheit als eines der Faktoren in
dem Entwicklungsprocesse der Geschichte, wie überhaupt von keinem ge-
schichtlichen Entwicklungsprocesse die Rede sein. Alles ist auf gleiche
Weise unter dem Gesetze einer starren, unbedingten Nothwendigkeit be-
griffen.
Es war Lehre des Valentinus, dafs Gott durch seine Weisheit die Welt
geschaffen, oder, um in seiner Sprache es auszudrücken, dafs er dem Aeon
Sophia die Idee der Weltbildung eingegeben habe, um dadurch geehrt zu wer-
den, dafs in dem Abbilde das Urbilde geehrt werden sollte. Eine solche
Auffassung erscheint dem Plotin als etwas Lächerliches, als eine unpassende
Vergleichung Gottes mit einem Künstler unter den Menschen. Aber seine
Anklage ist eine ungerechte. Ein Mensch zwar, der ein Werk verrichtete,
um geehrt zu werden, sich selbst zu verherrlichen, würde von egoistischer
Triebfeder beseelt sein, und wenn kein höheres Interesse ihn erfüllte, auch
kein Werk, das würklich zur Verherrlichung seines Geistes gereichen könnte,
zu vollbringen im Stande sein. Aber Gott, so wahr er Gott ist und das höch-
ste Gut, kann in Allem nur sich selbst zum Ziel und Mittelpunkt machen,
und es läfst sich daher kein anderer Zweck der Schöpfung denken als der
von jenen Gnostikern bezeichnete, Gottes Offenbarung oder Verherrlichung,
wie Beides zusammenfällt. Die Scholastiker des dreizehnten Jahrhunderts
haben schon auf eine tiefsinnige Weise Treffliches über diesen Gegenstand
gesagt, indem sie sich mit der Untersuchung der Frage beschäftigten, ob die
Ehre Gottes oder das Beste der Geschöpfe der höchste Zweck der Schö-
pfung sei, und nachgewiesen, dafs das zweite in dem ersten begründet sei.
Mit Recht sagt Bonaventura bei dieser Untersuchung: „Wenngleich bei den
Geschöpfen dies etwas Selbstisches sein würde, ihre eigene Ehre zu suchen,
so ist es doch etwas Anderes bei Gott, denn es läfst sich hier zwischen dem
besondern und dem gemeinsamen Gute nicht unterscheiden, er ist selbst das
höchste Gut. Wenn er daher nicht Alles, was er thäte auf sich selbst be-
zöge, wäre es nichts wahrhaft Gutes’.
des neunten Buchs in der LI. Enneade des Plotinos. 313
Doch was dem Plotin in dieser Betrachtungsweise der Gnostiker das
Anstöfsige war, das ist nicht blofs dieser einzelne Punkt, diese besondere
Bestimmung über den Zweck der Schöpfung, sondern überhaupt die Über-
tragung des Zweckbegriffs auf Gott und die Schöpfung, der ganze teleolo-
gische Gesichtspunkt selbst, dessen wahre Bedeutung er von dem Stand-
punkte seines nur eine immanente Vernunftnothwendigkeit anerkennenden
Monismus nicht verstehen konnte, der ihm als etwas blofs Menschliches und
Beschränktes erscheinen mufste.
Dieser Punkt steht mit einem andern in Verbindung, der Theodicee,
auf welche sich gleichfalls der Gegensatz zwischen dem Plotin und den Gno-
stikern bezog. Von einer Seite könnte er in der Bestreitung des gnostischen
Dualismus mit dem christlichen Standpunkte übereinzustimmen scheinen,
wenn er den Gnostikern ihre Schmähungen gegen die Weit als Werk des
Demiurgos verweist, sie des Mangels an Pietät (eir«ßeı«) anklagt, Gottes
Schöpfung und Weltregierung gegen sie vertheidigt. Aber diese Überein-
stimmung ist doch auch nur eine partielle und scheinbare, wie dies aus dem
Zusammenhange mit seiner ganzen Denkweise folgt. Es ist der Optimismus
einer die Bedeutung des einen der Faktoren in der Weltgeschichte verken-
nenden monistischen Weltansicht, welche Plotin dem gnostischen Dualismus
entgegensetzt. Es erscheint danach Alles, wie es ist, als gleich nothwendig
in den manichfaltigen Abstufungen des Daseinsentwicklung. Das Böse ist
nur da für die vereinzelnde Betrachtung, welche nicht Alles im Zusammen-
hange des Ganzen, Jedes auf dem hier ihm angewiesenen Platze betrachtet.
Die Frage über den Ursprung des Bösen, mit welcher die Gnostiker sich so-
viel beschäftigten, erscheint von diesem Standpunkte aus selbst als eine thö-
richte, welche nur in der Unkunde der Gesetze des Universums ihren Grund
hat, wie Alles vom Ersten bis zum Letzten als Resultat einer nothwendigen
Entwicklung sich darstellt und Alles immer nach denselben Gesetzen vor
sich geht, nach einem Anfang überhaupt nirgend gefragt werden kann. Und
so kann auch von einer weltgeschichtlichen Reaction gegen das Böse, wie die
Gnostiker dem christlichen Standpunkte zufolge in der Erlösung eine solche
als Mittelpunkt der ganzen Weltgeschichte anerkannten, hier nicht die Rede
sein. Wenn es einer deIuris bedurft hätte, würde nach der Lehre Plotin’s,
in welcher die Bedeutung der Freiheit als welthistorischer Faktor nicht an-
Philos.- histor. Kl. 1843. Rr
314 Neanver über die welthistorische Bedeutung
erkannt wurde, der Vorwurf auf die göttliche weltbildende und weltregie-
rende Thätigkeit als welche ein mangelhaftes verbesserungsbedürftiges Werk
hervorgebracht hätte, zurückfallen. — Auch wenn Plotin die Gnostiker eines
ungemessenen Hochmuths beschuldigt, hat dies zwei Seiten. Es kann sich
blofs auf die Gnostiker beziehen und wenigstens einem Theile derselben nicht
ohne Grund dies Schuld gegeben werden, es kann aber auch eine Feind-
schaft gegen den christlichen Standpunkt überhaupt sich darin aussprechen.
Mit Recht konnte er gegen den Stolz, mit welchem die vorgeblichen Pneu-
matiker unter den Gnostikern vermöge ihrer privilegirten höheren Natur
über die ganze Schöpfung und über alle andere Menschen sich erheben und
Alles verachten zu können meinten, sagen: „Die unvernünftigen Menschen
aber folgen solchen Reden, indem sie auf einmal hören: du wirst besser sein
nicht blofs als alle Menschen, sondern auch als die Götter, denn grofs ist bei
den Menschen der Hochmuth. Auch der, welcher vorher ein Niedriger und
Mittelmäfsiger und Unwissender zu sein schien (!), wird sich bald über alle
Andere erhaben wähnen, wenn er hört: du bist ein Sohn Gottes, die An-
dern aber, welche du bewunderst, sind keine Söhne Gottes, und das, was
sie von den Vätern empfangen haben und hochhalten, ist etwas Nichtiges;
du aber bist, ohne dich anzustrengen, höher auch als der Himmel, zumal
wenn auch Andre ihm dies mitzurufen. So wie wenn Einer, der von den
Zahlen nichts wüfste, hörte, dafs er tausend Ellen grofs sei, und alle Ande-
ren nur fünf Ellen, dies würklich meinte und stolz darauf wäre”. Es mögen
diese Worte gegen den gnostischen Naturenaristokratismus gerichtet sein, sie
können aber auch in dem Sinne dessen, der sie aussprach, einem Standpunkte
entgegengesetzt sein, welcher allen Hochmuth zu demüthigen und allem Ari-
stokratismus ein Ende zu machen bestimmt war, dem Christenthum, welches
als die wahre religio popularis, wie Augustin sagt, Allen ohne Unterschied der
Völker, der Abkunft, der Bildung und der Begabung, Allen, die es mit em-
pfänglichen Sinne annehmen wollten, dasselbe göttliche Leben darbot, was
freilich dem Plotin, der keine andere Vermittlung als die Philosophie, um zu
dem Höchsten zu gelangen, kannte, als träger Dünkel, der das Höchste ohne
Mühe haben wollte, erscheinen mufste. Und wenn Leute, die keinen An-
1 € , \ x ’ 10 SET NR 4 >,
(!) © mooregov Tamewos zu Wergos mat idıwrys avyo.
des neunten Buchs in der LI. Enneade des Plotinos. 315
spruch auf hohe Bildung machen konnten, auf einmal über alles von den
Vätern Überlieferte sich erheben zu können, in ihrem religiösen Glauben
weit mehr, als in den Schulen der Philosophen gegeben wurde, zu haben
meinten, so mufste er auch darin eine grofse Anmefsung sehen.
Was die Gnostiker von der über die ganze siderische Welt erhabenen
Würde der für ein ewiges himmlisches Dasein bestimmten geistigen Naturen
lehrten, stand zu der Weltanschauung Plotin’s in umgekehrtem Verhältnisse.
Nach den platonischen Ideen erkannte er in den Weltköepern lebende We-
sen, Seelen, die auf eine freiere Weise mit den Körpern verbunden sind
und dieselben beherrschen, welche in dem regelmäfsigen Laufe der Gestirne
ihr gesetzmäfsiges Walten offenbaren. Die Seele des Menschen ist weit un-
tergeordnet jener Allseele, kann nur durch sittliche Anstrengung zu jener
Freiheit und Herrschaft über den Leib zu gelangen streben, welche jene hö-
heren Seelen von Natur besitzen, in der @r«Ssi@ ihnen ähnlich zu werden.
Daher macht er es den Gnostikern zum Vorwurf, dafs sie die Ordnung auf
eine naturwidrige Weise umkehren, statt den Menschen der Welt und den
Weltkörpern unterzuordnen, ihn vielmehr weit darüber erheben wollten,
dafs sie, wie er sich ausdrückt, ihre eigene Seele eine unsterbliche und eine
göttliche nennen, und auch die der schlechtesten Menschen, nicht aber aner-
kennen wollen, dafs der ganze Himmel und die Gestirne an der unsterbli-
chen Natur Theil haben. Auch hier steht die Betrachtungsweise Plotin’s
nicht blofs mit dem gnostischen, sondern mit dem christlichen Standpunkte
überhaupt in Widerspruch. Die durch das Christenthum hervorleuchtende
Würde des Menschen als Ziel und Mittelpunkt der ganzen Schöpfung war
etwas der antiken Weltanschauung, von der auch Plotin ausging, durchaus
Fremdes.
Er bestreitet ferner die träumerische Spekulation der Gnostiker, welche
zu dem Übervernünftigen hinstrebend in das Unvernünftige verfallen. „Wir
müssen”, sagt er ihren Dünkel angreifend, „so weit uns erheben, als unsre
Natur vermag, nicht wie im Traume fliegen, indem wir durch unsre Schuld
nicht dazu gelangen, Gott zu werden, so weit es der menschlichen Seele
möglich ist. Sie vermag es aber, so weit die Vernunft führt. Das Überver-
nünftige aber heifst schon aus der Vernunft herausfallen”. Auch hier ist
zwar seine Polemik nur gegen die ins Phantastische sich verlierende Speku-
Rr2
316 NEAnver über die welthistorische Bedeutung u. s. w.
lation der Gnostiker gerichtet, aber wir erkennen zugleich daraus, wie ihm
das Vorgeben einer Offenbarung im eigentlichen Sinne, alles Übernatürliche
als etwas Unvernünftiges erscheinen mufste, und von dem Standpunkte sei-
nes Monismus seiner auf eine immanente Vernunftnothwendigkeit Alles zu-
rückführende Lehre konnte er nicht anders urtheilen.
Es ist das, was ich darthun wollte, wie Plotin in seiner Bestreitung
der Gnostiker auch sein Verhältnifs zum Christenthum zu erkennen giebt.
— ie —
UBER VENUSIDOLE.
„Non
H” GERHARD.
[Gelesen in der Königl. Akademie am 20. August 1843.]
I. den Untersuchungen über griechisches Götterwesen sind die uns erhal-
tenen Kultusbilder vorzüglich geeignet, theils die verschiedenen Auffassungs-
weisen dieser und jener Gottheit uns augenfällig zu machen, theils die Ver-
zweigungen ihres Kultus zu überschauen und zu verfolgen. Nicht wenige
Denkmäler solcher Art sind für den Götterdienst der griechischen Aphro-
dite, der italischen Venus, uns übrig geblieben und machen, zunächst jenem
ersteren Zwecke zu Gunsten, auf genauere Kenntnifs und Prüfung An-
spruch.
Hier entsteht nun zuvörderst die Frage, welche Bildungen Aphrodi-
tens dem Kultus ausschliefslich gehörten und welche andre als freiere Pro-
duktionen des künstlerischen Genius davon auszuscheiden sein mögen. Im
Ganzen ist diese Scheidung nicht schwer: sie wird bedingt durch den alter-
thümlichen Styl der Zeichnung, den man für Kultusbilder bis hinab in die
Kaiserzeit gern bewahrte und der für kein einziges nacktes Venusidol sich
angewandt findet; daher wir denn mit dem Grundsatz beginnen können, dafs
alle ältere und strengere Auffassung der Naturgöttin Aphrodite bekleidete
Kultusbilder voraussetzt, dafs unsre Untersuchung demnach nur bekleideten
Venusidolen gilt. Abweichungen von diesem Grundsatz lassen sich eingangs-
weise beseitigen; weder die hermenförmige Bildung des Untertheils, wie in
einem albanischen Marmor (Taf. II), noch die Verbindung eines Herme-
ros, wiein einem Relief des Vatikans, noch auch die Fülle von Attributen,
die ein von Millingen hochgestelltes Idol zeigt (!), vermögen neben dem
(') Millingen On a figure of Aphrodite Urania 14 $. 8 (den Abhandlungen der Royal
Society of Literature, Vol.1. der neuen Folge angehörig). — Die dort bekanntgemachte im
britischen Museum befindliche Erzfigur einer sich beschuhenden nackten Venus, in ihrer Stellung
318 GERHARD
Kunstcharakter spätrömischer Zeit auch unbekleidete Venusidole zum Gegen-
stand einer Untersuchung zu machen, welche den älteren Tempelbildern dieser
Göttin gilt. Das nur ist einzuräumen, dafs die entwickelte griechische Kunst
hie und da die Strenge des Kultus zu täuschen wufste, dafs die enthüllte Göt-
tin des Praxiteles (?) dem Kultus der Knidier als schaumgeborne Urania,
dem korinthischen Kultus desgleichen als bewaffnete Schöpfungsgöttin be-
schönigt wurde; wonach denn die römische Zeit sich berechtigt fand, in der
zu Knidos geheiligten Gestalt der Anadyomene jene beträchtliche Schaar rö-
mischer Matronenleiber erscheinen zu lassen, die unsre Museen mit Venus-
gestalten erfüllen.
Die Untersuchung über Venusidole auf bekleidete Darstellungen der
Aphrodite zu beschränken, steht mit der gewöhnlichen Ansicht allerdings in
Widerspruch. Die ästhetische Richtung bisheriger Kunstgeschichten hat es
mit sich gebracht, dafs über die knidische, mediceische, kapitolinische, über
die melische, korinthische, kapuanische Venus, und über noch andere unbe-
kleidete Darstellungen derselben Göttin zum Überflufs, über bekleidete aber
so wenig verhandelt wurde, dafs eine oberflächliche Kenntnifs alter Kunst-
gebilde fast zweifeln darf, ob überhaupt bekleidete Darstellungen der Schön-
heits- und Liebesgöttin uns übrig blieben. Indefs sind nach aller Analogie
altgriechischer Bildungen nicht nur die Aphrodite des Kanachos (?), sondern
auch die mehreren Aphroditestatuen des Phidias (*) und die gefeierte Gar-
tengöttin des Alkamenes (?) nur bekleidet zu denken, wie denn auch die koi-
sche des Praxiteles bezeugtermafsen es war (°). Nur von dieser letzteren
werden noch Nachbildungen in unserm Statuenvorrath vorausgesetzt. Frau-
einem Münztypus von Aphrodisias (Pellerin P. et V. II, 66, 19) entsprechend, ist wegen der
pantheistischen Häufung aphrodisischer Attribute sehr merkwürdig.
(?) Müller Handb. $.127,4. Vgl. Neapels Bildwerke S. 8 ff.
(°) Aphrodite des Kanachos zu Sikyon: Paus. II, 10, 4.
(*) Aphrodite des Phidias zu Elis: Paus. VI, 25, 2.
(°) Aphrodite des Alkamenes zu Athen: Paus. I, 19, 2.
(°) Plin. H. N. XXXIV, 4, 5: velata specie. Bekleidet nicht nur, sondern auch verschlei-
ert ist die von Eros umschwebte Meeresgöttin bruttischer Münzen (Millin Gall. XLVIH, 176).
Vgl. Aphrodite Morpho Paus. IH, 15, 8 und die verschleierte Hermen unserer Taf. II, 2
(Müller Handb. S. 555).
über F enusidole. 319
engestalten, deren koisch dünnes Gewand die schönen Formen des Ober-
körpers durchschimmern läfst, und deren Oberkleid nur dazu dient den
schönen Arm zierlich erhoben zu zeigen, sind unsern Begriffen von praxite-
lischer Kunst und von dem besondren Bemühen dieses Künstlers um Sin-
nenreiz der Göttergestalten entsprechend genug, um eine Reihe römischer
Statuen davon abzuleiten. Mit Recht nämlich scheint Visconti den bezeich-
neten statuarischen Typus (7) als Darstellung der römischen Stammgöttin
gefafst zu haben; sofern nur statt eines durchgängig üblichen Bildes dersel-
ben eine der mehreren für Venus genitrix gültigen Formen darin erkannt
wird. Die Münzen des julischen Geschlechtes sowohl als die der Cäsaren
geben uns das Bild jener ihrer Stammgöttin in sehr verschiedener Gestalt;
wie sie unter wechselnden Namen, als genitrix, vietrix, felix, mit verschie-
denen Attributen (Waffen, Apfel und andren) erscheint, sind auch Stel-
lung und Anordnung nur zuweilen, keineswegs immer, dem schönen griechi-
schen Urbild entnommen, welches vielleicht von Praxiteles herrührt. Es
sind die verschiedenen Ausdrücke eines Götterbegriffs, dessen wechselnde
Formen mit Verdrängung früherer Venusidole hauptsächlich in gemeinsamer
Bewaffnung ihren Mittelpunkt und in dem eben auch dafür nachweislichen
Namen einer Venus caelestis oder Urania ihre älteste und gültigste Benen-
nung fanden (°).
Aphrodite URANIA, die Uranostochter und Schaumgeborne, eine Na-
turgöttin, welcher die ethische Idee himmlisch reiner Liebe ursprünglich fern
liegt, die Idee der Weltschöpfung aber im Anfang der Dinge um so näher
verwandt ist, war in ihren ältesten Bildungen (Taf. I. II) theils als Geburts-
und Schicksalsgöttin, als älteste Möra, in pelasgischer Hermenform (°), theils,
ebenfalls als Schwester der Mören (!°), mit Waffen und Siegsgewalt darge-
(”) Visconti Pio-Clem. IH, 8.
(°) Weitere Ausführung dieser Ansicht in „„Neapels antiken Bildwerken” S. 6 ff.
(°) Pausanias I, 19, 2: &s de zo Augiov, © Kyzous övouagousı, za rrs "Abgodirns Föv vedv
oudeis Asyonsvos aıbısıv Errı Adyos, 0) MV oUde &s ryv "Adgodıryv, N FoÜ vaod mArFIov Erryze.
FaUTyS yag FYnlac ev Fergayuvov zard TaurE zu Tois Egciis, vo de Erriygayajace Syıkatvsı Frv
Ogaviav "Abaodıryv zuv zaAounevwv Morwv eivar mgesQurarv. 70 de Ayorhtace FNS "Agoöirrs
&v reis Kyras eoyov erriv "Arzanzvovs zur av "ASyunsıw Zu SAryors Sas agıov. Verwandt
war auch das dädalische Venusidol zu Delos: IX, 40, 2.
('°) Moigiv zur "Apaodirns ZvomAtou: Corp. Inscr. no. 1444.
320 GERHARD
stellt (!). Symbol dieser Himmelsgöttin ist das Himmelsgewölb, welches
im runden als Kugel oder Scheibe gedachten Polos, im kugelförmigen Ball
oder Apfel, oder auch in der gewölbten Schildkröte (Taf. II, 3) seine An-
deutung fand: thronend mit Polos, Apfel und Mohn hatte sie Kanachos,
stehend mit einer Schildkröte zu Füfsen Phidias im eleischen Tempel
sie gebildet, in dessen Umkreis noch ein andres Bild Aphroditens, die Pan-
demos des Skopas, auf einem Bock sitzend sich vorfand (!?). Es ist aber
Aphrodite PANDEMOS, ihres Namens die „Allgemeine’”, nicht blofs in Elis,
sondern auch anderwärts als eine ergänzende, dem menschlichen Bedürfnifs
näher gerückte, Auffassung Aphroditens zu betrachten, deren Begriff ur-
sprünglich in dem der Urania aufging, allmählich jedoch davon abgelöst die
irdische Wirkung Aphroditens ihrer himmlischen Abkunft und Geltung ge-
genüber stellte. In diesem Sinn fügte Theseus, der Gründer des attischen
Gemeindewesens, zum Uraniadienst seines Vaters Aegeus den Dienst der Pan-
demos (!3), deren Sinnbild dort (*) und in Elis der zeugungslustige Bock
war; aber auch minder derbe Symbole, Andeutungen der grünenden Natur,
kamen ohne Zweifel ihr zu, einer dritten ganz ähnlichen Zusammenstellung
in Athens Gärten zufolge, wo dem älteren hermenförmigen Tempelbild
Aphrodite Urania’s benachbart das zierliche Bild des Alkamenes entspre-
chen sollte (15%). Ohne Zweifel galt dieses letztere einer Pandemos als Göt-
tin des Wachsthums, in eben dem Sinn, den Pandemos von Theseus gegrün-
det ohnweit Demeter Chloe der „Grünenden” ausspricht (!°), und, wie
in der Mehrzahl archaischer Venusidole (Taf. III) es üblich ist, durch eine
von ihr gehaltene Blume andeuten mochte.
('') Zu Argos (Niznbogos der Hypermnestra Paus. II, 19, 6), Sparta (’Aosi« Paus. II, 17, 5),
Kythera (III, 23,1), Korinth (II, 4,7). Vgl. Engel Kypros I, 212 ff.
('?) Pausan. VI, 25, 2.
(‘?) Pandemos des Theseus: Paus. I, 14, 6. Vgl. I, 22,3.
('*) ’Erırgayie: Plut. Thes. 18. Ein vom Gesammtbegriff der Urania nachweislich (Suid.
Oigavia ac) abgelöster Begriff.
('?) Paus. I, 19, 2 (oben Anm. 9).
('°) Theseisch. Paus. I, 22, 3: "Abgodiryv Ö2 rrv Mavöymov ».. Oyssüs auryv ve aeßerIaı
za Has zaresenee ... Errı de zur Dis #augoraocou za Aylıyraos iepov Xrore.
über V enusidole. ; 321
Neben diesen und ähnlichen (!7) Zeugnissen eines der Urania hinzu-
gefügten Pandemosdienstes sind Spuren vorhanden, welche die Erweiterung
des Aphroditenbegriffs zu einer dreifachen Zahl (1°) von Idolen bezeu-
gen. In Theben (1°) finden wir unter den von Harmonia eingesetzten Schutz-
bildern Aphroditens neben der uralten Schöpferin Urania und der leutseli-
gen Pandemos eine dritte Aphrodite unter dem Namen APOSTROPHIA ver-
ehrt: sei es als Abwenderin des Unheils (?°), während Pandemos nur Segen
ertheilt, oder sei es als eine „von sich abwendende’”’, der Sühnung bedürf-
tige, Todesgöttin, der in verwandtem euphemistischem Ausdruck die mega-
rische Epistrophia (*'), die spartanische Ambologera (??), „Alterscheu-
cherin”, und selbst die römische Yerticordia (?°), „Herzumwenderin”, sich
verknüpfen. 2
Diese verschiedenen Auffassungen der, bald in oberster Himmelsmacht
bald in nahem freundlichem oder auch feindlichem Verhältnifs zum Men-
schengeschlecht gedachten, Aphrodite wurden in gangbaren Formen altgrie-
chischer Kunst verkörpert, wie sie in Erzfiguren etruskischer Kunst (Taf. I),
nebenher auch in griechischen und unteritalischen Erz- und Thonfiguren
uns überliefert sind. Gleichviel welcher der üblichste Name jener als Juno
oder Venus, als Cupra oder Turan benennbaren statuarischen Bildung war,
ist die gedachte Idee einer dreifachen Aphrodite in den verschiedenen dahin
gehörigen Bildungen unverkennbar, deren hohe vormalige Geltung durch
('”) Gerhard Prodromus S. 131 (Paus. VII, 21, 4. VII, 37, 9).
('°) Dreifach war auch die knidische Aphrodite als Doritis, Akräa, Euplöa (Paus. I, 1, 3),
was Engel (Kypros II, 365) mit einer Dreitheilung des Phurnutus (c. 24: Urania, Pandemos,
Pontia) vergleicht. Land, Burg und Meer könnten gemeint sein.
1?) Theben: Paus. IX, 16, 2. Wiederholt in Megalopolis (VII, 32, 1), wo neben Ura-
Mr) galop
nia und Pandemos das dritte Idol unbenannt war. Vgl. Engel Kypros II, 362 ff.
(?°) Der Blutschande nach des Pausanias (IX, 16, 3) Deutung, der Welcker (Kret. Kol.
S. 41) beipflichtete. 2
(°') Epistrophia: Paus. I, 46, 5. Vgl. Prodr. S.131. Engel Kypros II, S. 363.
22) Ambologera: Paus. II, 18,1. Vgl. Ser außovrı: II, 13, 4. Prodr. S.131. Pa-
5 5
nofka Terra-Cotten S. 53.
(*°) Verticordia, eine Keuschheitsgöttin auf sibyllinischen Bescheid verehrt a. u. 639:
Ovid. Fast. IV, 157 ff. Klausen Aen. I, S. 285.
Philos.-histor. Kl 1843. Ss
322 GERHARD
den vorhandenen Überflufs etruskischer Venusidole aufser Zweifel gesetzt
wird. Keine andere Göttergestalt ist in Etrurien häufiger als eben jene, die
bald den Apfel Urania’s (II, 5), bald die Blüthe (III, 4) der Gartenvenus
Pandemos an sich trägt, bald aber auch durch erhobne Bewegung des rech-
ten Arms (III, 6) als abwehrende Apostrophia sich zu erkennen gibt. Lange
Bekleidung ist allen jenen Figuren gemein, dagegen andere ihrer Merkmale
nur einzelnen jener drei Darstellungsweisen eigenthümlich sind. So mag
dieselbe Himmelsbeziehung einer Urania, die durch das Attribut des Ei’s(? *)
und besonders des Apfels sich kund gibt, auch den hohen und spitzen, ur-
sprünglich wol gewölbten, Haaraufsatz, den Tutulus veranlafst haben, der
etruskischen Venusbildern jeder Art den himmelsförmigen Polos griechischer
Sitte ersetzt; so ist andremal Beflügelung (1,1. 2. IV,5), Strahlenbekrän-
zung (1V,5), nebenher das Attribut der brünstigen Taube (I, 1.2. IH, 4)
angewandt, um die himmlische und ursprüngliche Schöpfungsgöttin vor an-
deren ihr verwandten Gestalten auszuzeichnen. So ferner wird die in sinn-
licher „Allgemeinheit’” gedachte Pandemos an Merkmalen ihres schmei-
chelnden Reizes erkannt: zunächst an der zierlichen fast tanzmäfsigen He-
bung ihres mit der linken Hand berührten Gewandes (Taf. II. IV), dann
aber auch an sprechenden Attributen, Zweig, Balsamgefäfs (Taf. 1,3), haupt-
sächlich an einer Blume (?°?) als sprechendstem Zeichen der Frühlings-
und Gartengöttin. Was endlich die Apostrophia betrifft, so ist eine andre
Andeutung dieses verhältnifsmäfsig seltenen Götterbegriffs als die bereits be-
merkte durch wehrhaft erhobene Hand nicht mit Sicherheit anzugeben; doch
mochte die hie und da zur Bezeichnung von Schlaf oder Tod auf die Brust
gelegte Hand (°°) einen gleichen Begriff der zurückscheuchenden Göttin aus-
zudrücken bestimmt sein.
Diese symbolischen Andeutungen genügten, um einen der drei unter-
scheidenden Venusbegriffe — Schöpfung, Erdenlust, Tod — unzweifelhaft
auszudrücken. Ihre Vereinzelung gehört einseitiger Auffassung, ihre Ver-
(2*) Venusidole mit einem Ei oder zweien: Micali Storia XXXIL, 2. XXXV, 3. 4.
(2°) Häufigstes Attribut: Taf. I, 4. II,1-5. IV, 6. Über deren Bedeutung vgl. Auserl.
Vasenbilder I, S. 128 ff.
(2°) Wie auf unserer Tafel II, 4. VI, 1.2. Der symbolische Sinn dieser Geberde ist
auch an schlafenden Nymphen nachweislich. Vgl. Venere-Proserpina (Fiesole 1825) p. 40 ff.
über V enusidole. 323
knüpfung der gemeinsamen Einheit an, zu deren dreifachem Ausdruck sie
dienten. Es darf demnach nicht befremden, wenn Apfel und Tutulus der
Urania, Blume und Gewandhebung der Pandemos, abwehrende oder in sich
geschlossene Handbewegung der Apostrophia als bedeutsame Attribute eines
einzigen Venusbildes vereinigt wurden. Bildungen solcher die Einheit des
Venusbegriffs erschöpfender Art sind namentlich zu erkennen, wenn jene
Bewegungen der Pandemos und Apostrophia mit einem vorzüglich bezeug-
ten Symbol Urania’s, der Schildkröte, sich verknüpfen (Taf. II, 3), wenn
Blume und zierliche Gewandhebung der Pandemos mit dem Kopfschmuck
der Erdgottheiten, dem Kalathos oder Modius, zusammentreffen (Taf. IV, 6),
oder wenn eben jene gefällige Blume und Gewandhebung, der Pandemos
sowohl als römischer Spesfiguren, mit drohender Geberde (Taf. 1,6. II, 5)
und der auf die Brust gelegten Hand (III, 3. 4) verbunden sind, die wir als
Todesandeutung und als ein Merkmal der Apostrophia fasten. Erschöpfende
Bildungen solcher Art mochten dem Kultus willkommen sein, dessen Göt-
teridee durch jede Auflösung in mehrere Gestalten nothwendig gefährdet
wurde, und es ist daher ganz natürlich, dafs Beispiele ähnlicher Auflösung,
wie sie aus Theben und aus Athen allerdings uns bezeugt ist, in unserm Denk-
mälervorrath nur ganz unscheinbare Spuren gelassen haben. Zwei oft wie-
derholte archaische Bildungen können jedoch hieher gezogen werden. Einem
Exkurs mag es überlassen bleiben der Frage nachzugehn, ob Urania und Pan-
demos oder ob nur ein Doppelausdruck der letzteren darin gemeint sei; ge-
wifs ist, dafs eine jener Gestalten das ernste, die andre das heitere Walten
derselben Göttin uns vorführt.
Wir gedenken zuerst dieser letzteren, nämlich der durchaus heiteren
gefälligen Bildung, in der Aphrodite Pandemos als Göttin des Wachsthums
und aller menschlichen Einigung anschaulich gemacht werden sollte. Es ist
die aus Götterzügen hieratischen Styls wohlbekannte einer mit zierlich er-
hobnem Gewand einherschreitenden Göttin, in deren Hand eine Blume be-
merklich ist. Aufser den Reliefs, welche diese heitre Tempelbildung Aphro-
ditens bezeugen, treten sowohl Erz- und Thonfiguren altgriechischer und
etruskischer Kunst (Taf. I. III) als auch die römischen Bildnereien bestäti-
gend ein, in denen dieselbe Figur allerdings nicht Venus genannt wird, son-
dern SPES. Es kann aber wol kaum noch geleugnet werden, dafs diese Be-
nennung eines in griechischem Tempelstyl gebildeten Idols weder als Spes
Ss2
324 GERHARD
noch als Elpis (7), noch, wie sie ein andermal heifst, als Gamos (°°), noch
als sonstige unpersönlich gebliebene Eigenschaft sich verstehen läfst, son-
dern lediglich als Appellativ derjenigen Göttin, zu deren Darstellung die-
selbe Gestalt in andern Fällen sich angewandt findet(°?). Nur eine ganz gleiche
Göttin des Wachsthums konnte gemeint sein, wenn Spes ‘als Naturgöttin,
als Hoffnung des Jahressegens im alten Rom frühzeitig Tempel und Feste
hatte (3), deren Jahrestag mit Kaiser Claudius’ Geburtstag zusammentref-
fend ihr erstes Erscheinen auf Münzen veranlafst haben mag (°!). Eben die-
sem der Venus entsprechenden Kultusbegriff, weit leichter als einem rein
allegorischen Gedanken, ist es auch beizumessen, dafs die allegorisch ge-
dachte Spes der Kaiserzeiten als Glücksgöttin künftigen Ehesegens mit einem
Füllhorn versehen (III, 6.VI, 4), dafs sie bald der Fortuna (°*), bald auch der
Nemesis verknüpft ist(°°). Zur Bestätigung dieser Erklärun
ches Götterverhältnifs uns bezeugt, wodurch wir bei Venusidolen allgemein-
sten Begriffes an Ilithyia und deren Bezug zur delischen Aphrodite (°*), bei
gsweise wird man-
(°”) Spät und vereinzelt ist die Inschrift Spei Helpidis bei Gruter CI, 2.
(2°) Teuos: Karneol der Kestnerschen Sammlung (Antike Bildw. Taf. CCCXV, 6).
(°) Wie in meiner Venere-Proserpina p. 25 ff. (Kunstblatt 1825 S.71) weiter ausge-
führt worden ist. Vgl. Taf. IH,1 und den Exkurs am Schluls dieser Abhandlung.
(6°) Die aulserhalb Roms (am esquilinischen Thor nach Frontin) gelegene Spes vezus
wird schon im Vejenter Krieg erwähnt (Liv. II, 51: pugnatum ad Spei), vom berühmteren,
den M. Attilius Calatinus im punischen Krieg a. u. 495 am Forum olitorium weihte (Cic.
Legg. I, 11. Liv. XXIV, 47) und Germanicus erneute (Tac. Ann. II, 49) zeugen noch jetzt
neben Fortuna- und Matutatempel (Liv. l. c.) die Säulen bei S. Nicola in Carcere. Auch
dieser Tempel war aufserhalb der Stadt, extra portam (Liv. XXV, 7), nämlich Carmentalem;
was wegen des etruskischen Verbots, Venustempel nur aufser der Stadt zu haben (Vitr. 1,7.
Müller Etr. II, 74), nicht unerheblich ist. Als Festtag der Spes und zugleich als Geburts-
tag des Claudius wurden die Kalenden des August im Antiatischen Kalender bezeichnet
(Orell. Inscer. I, p. 415).
(°') Eckhel D. N. VI, p. 238 f. Dafs der Tempel der Spes durch Germanicus, des Kai-
sers Bruder, eben erneut worden war, machte den Tag seiner Geburt noch bedeutsamer.
(°?) Spes und Fortuna: Mus. Chiaram. I, 20.
(°?) Spes und Nemesis: auf dem Chigischen Marmorkrater (Creuzer Abbild. Taf. XXX VII,
S. 24) und auf einem Cippus zu Florenz (Visconti Pio-Clem. I, 13). Vgl. Venere-Pro-
serpina p. 29 (Kunstblatt 1825 S.71). Prodr. S. 109. 212.
(°*) Müller Dor. I, 113. Gerhard Prodr. S.35. Vgl. auf unserer Taf. IV, 6 ein spes-
ähnliches Idol mit Weihungsinschrift an Ilithyia.
über Venusidole. 325
Spes und Fortuna an Aphrodite und Demeter (°°), bei Spes und Nemesis an
des Agorakritos Statue erinnert werden, die zur Darstellung Aphroditens
bestimmt und gebildet, als Nemesis aber benannt und verehrt ward (°°).
In durchaus verwandter Bildung, aber auch in einem ganz entgegen-
gesetztem Sinn stellt eine andere Reihe archaisch gebildeter Venusidole, der
Urania fast entsprechender als der Pandemos, die ernstere Seite derselben
Göttin uns dar. Als entscheidendstes Attribut dieser Idole kann die auf der
Brust ruhende, dann und wann mit einem Apfel versehene, Hand betrachtet
werden, die wir schon oben als Sinnbild des Schlafs oder Todes deuteten.
Gleiche Anordnung des rechten Arms findet bei gleichem Attribute des
Apfels, eines sowohl auf Proserpina als auf Venus Urania bezüglichen Sym-
bols, auch in Idolen der dreifachen Hekate (Taf. V, 1-3) sich vor; bedeu-
tungsvoll, auch ohne dies Beiwerk, dient eben jene Anordnung des Arms als
hinlängliche Auszeichnung einer von Niken und Chariten umgebenen Aphro-
dite rhodischer Münzen (V, 7.8). Dieses gemeinhin unverstandene Götter-
bild ist strahlenbekränzt; es ist einem Kopf des Sonnengottes entgegengesetzt,
welcher nach korinthischer Analogie eines ähnlichen Göttervereins (°’) in der
Gefährtin des Helios eine bewaffnete Urania voraussetzen läfst, deren Begriff
mit dem einer Todesgöttin, einer Siegerin über alles Lebendige, wohl zusam-
mentrifft. Derselbe Begriff der Todesgöttin ist in gröfseren Wiederholungen
obengedachten Idols durch den Kopfschmuck der Erdgottheiten, den Modius,
ausgedrückt, wie auch sonstige griechische Venusidole, namentlich asiatischer
Münzen (°°), ihn zeigen; nebenher auch durch die Umgebung gröfserer Fi-
guren, deren berühmteste die Jünglinge Tod und Schlaf in der Gruppe von
S. Ildefonso (VI,1) sind. Zugleich aber ist in den Repliken jenes Idols,
deren nicht wenige uns bekannt sind (°°), die Gewandhebung fast durchgän-
gig zu bemerken, die als eigenthümlicher Zug heiterer Venus- und Spesfigu-
. ren die Identität jener Aphrodite des Todes, jener Pasiphaessa, T’ymbo-
(°?) Aphrodite und Demeter: Prodr. S. 94. 102.
(°°) Plin. XXXVI, 5. Vgl. Sillig catal. p. 27 ff. Müller Handb. $. 117, 2.
(27) Pausan. II, 4 extr. Vgl. Prodr. S. 167,10.
(°°) So in Münztypen von Aphrodisias (Pellerin II, 66,10) und Nagidos (Mus. Hunt. 39,
7). Zu vergleichen der Polos im Aphroditenbilde des Kanachos (Paus. II, 10, 4).
(°?) Zusammengestellt in meiner Venere - Proserpina (Fiesole 1825. Kunstblatt 1825
no. 16-19). Vgl. Clarac Musee pl. 632 4.2. Eben dahin gehören die unedirten Gruppen
326 'GERHARD
rychos, Libitina (*°), mit den milderen Darstellungen derselben als Lebens-
göttin gedachten Aphrodite vor Augen legt und weniger in der Himmelsgöt-
tin Urania als im Doppelsinn tellurischer Gottheiten ihre Erklärung findet,
denen auch Aphrodite, namentlich als LIBITINA, angehört (*!).
Hiemit ist unsere Sichtung der Venusidole auf einen Punkt gelangt,
der uns gestattet das bisher gewonnene Ergebnifs weiter zu verfolgen. Am
leitenden Faden der Kultusbilder trat anfangs die alleinige Geltung Aphro-
ditens als bewaffneter strahlenbekränzter Schöpfungsgöttin uns vor Augen,
der Urania-Herme Athens und der mit Mars verbundenen Stammmutter Roms
gleich entsprechend; dann die Milderung jener furchtbaren Himmelsgöttin
durch hinzutretende Kultusbilder einer in irdischem Bezug „allgemeinen’” ir-
dischen Wachsthums- und Freiheitsgöttin Pandemos; weiter die Äufserung
ängstlicher Scheu im dritten Kultusbild einer furchtbaren Todes- und Sühn-
göttin Apostrophia, zuletzt aber und am gewöhnlichsten der Gegensatz einer
heiteren Göttin der Blüthen und einer ernsten des körnigen Todesapfels.
Noch eine Entwickelungsstufe dieser zwischen Chaos und Licht, Leben und
Tod, Ernst und Heiterkeit sich bewegenden Tempelbildnerei einer und der-
selben Gottheit bleibt uns übrig: nämlich die Einigung der streitenden, in
verschiedenen Idolen aufgelösten, Elemente des Aphroditedienstes durch
ein aufserhalb ihres Zwei- oder Dreivereins gesetztes höheres Wesen.
Diese Form einer obersten, hochgestellten Gottheiten vorangesetzten,
Göttereinheit ist zur Rettung des öfters in sich zerfallenden Polytheismus
bereits in altgriechischer Zeit mehrfach angewandt worden. Namentlich im
eleusinischen Götterwesen scheint die Person einer Göttermutter, der Pallas
Athene identisch, alt und gesetzlich gewesen zu sein (*), und ein ähnlicher
Sinn giebt auch in allegorisch benannten Personen gröfserer Göttervereine,
namentlich in der sikyonischen T'yche sich kund, die man als Schicksalsgöt-
tin der Götter, als Tiyn Sewv (*°), von den Schutzgöttern irdischer Zustände
unserer Taf. II, 5. 6. Ein Verzeichnils sämmtlicher hieher gehöriger Idole folgt am Schlufs
dieser Abhandlung im Exkurs.
(*°) Creuzer Symb. IV, 91,161. Vgl. Venere-Proserpina p. 18 (Kunstblatt 1825 S. 66).
Engel Kypros II, 243 ff. Panofka Terra-Cotten S.78 ff.
(*') Pandemos als Erdgöttin lockend und tödtend zugleich, wie Libitina: Panofka T.C. S.79 ft.
(**) Gäa Olympia: Prodromus S. 87.
(*°) Paus. I, 11, 8. Prodr. S. 99.
über Venusidole. 327
unterschied. In ganz ähnlicher Weise finden sich nun auch jene Venusidole,
die wir zu menschlichen Dingen herabgezogen in ihrer Vereinzelung betrach-
teten, zur Einheit einer sie bindenden Eintrachtsgöttin zurückgeführt; die
Beweise dafür werden aus Theben und Rom uns gegeben. Zuvörderst aus
Theben. Wenn auf dem jetzigen Standpunkt mythologischer Forschung
Kadmos und seine Harmonia als ein heroischer Doppelausdruck von Her-
ınes und Aphrodite, Harmonia’s Mutter, verstanden werden (**), und wenn
die Idee der „Einigung”, die aus Harmonia’s Namen spricht, anerkannt auch
Aphroditen gehört, die zu Delphi ganz ähnlich den Beinamen Harma (“°)
führte, so kann die Einsetzung der drei oben von uns erörterten Venusidole
durch Harmonia wol kaum etwas andres bedeuten als ein seit ältester Zeit be-
glaubigtes Götterwesen, in welchem die später getrennten Gestalten eines ver-
wandten aphrodisischen Götterdienstes sich vereinigt fanden. Diese Ideen-
verknüpfung steht aber nicht einzeln da. Wenn der zweifache Gegensatz
einer Urania und Pandemos, einer Spes und Libitina, jenem dreifachen The-
bens vergleichbar, wenn der griechische Name Harmonia der römischen
CONCORDIA identisch, dieser Name selbst ein schickliches Appellativ der Ve-
nus „die Herzen einiget’’ ist, so wird es nicht schwer sein, aus einigen bisher
unbeachtet gebliebnen Kunstdenkmälern nachzuweisen, dafs auch in Rom
aller besondere Venusdienst in einer venusähnlichen Göttereintracht, einer
Göttin Concordia, seine oberste Einheit und Heiligung fand.
Auf einer Kaisermünze des Commodus (Taf. VI, 4) ist Concordia mit
deutlicher Beischrift ihres Namens dargestellt: in einer behaglich sitzenden
bekleideten Frau, deren rechte Hand nach gnädiger Gottheiten Art zur Libation
einer Schale ausstreckt; ihr linker Arm ist auf ein statuarisches Bild der Hoff-
nungsgöttin gelehnt, die aus der Besonderheit ihres erhobenen Gewandes
kenntlich und von einem Füllhorn als Zeichen des Segens begleitet ist. Nicht
unwahrscheinlich wird diese Darstellung auf den von Crispina verhofften
Ehesegen bezogen (“°), und es ist demnach jene kaiserliche Concordia sammt
der sie begleitenden Spes Augusta vielleicht nur als allegorischer Ausdruck
ehelicher Eintracht in eben der Art zu fassen, in welcher die ‘Ouoveia grie-
(**) Welcker Kret. Kolonie S. 35 ff. Engel Kypros I. S. 55.
(°°) Plutarch. Erot. 23. Engel Kypros I. S. 55.
(*°) Buonarroti Medaglioni pag. 418.
328 GERHARD
chischer Städtemünzen verschiedne Personen ganz äufserlich zu verbinden
pflegt. Nicht anders mag eine ganz ähnliche Gruppe auf Münzen des Clau-
dius (VI, 5.6) gemeint sein, in welcher die ähnliche Figur der Pietas eben-
falls einer Statue aufruht, welche wol kaum ein Götterbild sondern eher ein
Glied der Cäsarenfamilie, Livia oder Agrippina, in Bezug auf des Claudius
vielbewährte Pietät (7) und auf die Weihung des Augusteischen Tempels
bezeichnen mag, auf welche jener Münztypus sich bezieht. Eine solche Con-
cordia persönlicher Verhältnisse wäre der zahlreichen Schaar andrer Perso-
nificationen römischer und moderner Zeit anzureihen, in denen Friede und
Freiheit, Treue und Sicherheit, Vorsehung und Ewigkeit durch Beischrift
und Attribute, wenn auch durch keine persönliche Gewähr ihrer göttlichen
Geltung, sich kenntlich machen (°°). In gleicher Nüchternheit ihres Begriffs
ist Concordia der römischen Münzbildnerei auch nicht fremd; doch sind wir
deshalb nicht minder befugt den ursprünglichen Begriff dieser Göttin höher
zu achten, dergestalt dafs sie der Venus als hieratischer Doppelausdruck in
ähnlicher Weise verknüpft zu denken ist, wie Fortuna der Ceres (“), Virtus
der Minerva es war (°°), und wie in Bezug auf Venus selbst die vorher be-
rührte Spes oft anschaulich es ist. Nur eine solche Ansicht über Concordia
zu hegen, wird uns durch ihre Stelle im römischen Kultus sehr nahe gelegt.
Obwohl es im alten Rom an Altären und Heiligthümern für mehr ideelle als
mythische Gottheiten, Mens, Fides, Febris und andre, nicht fehlt (°'), so be-
durfte es doch einer ganz anderen Geltung, um jenen ansehnlichen Kultus
hervorzurufen, für den auf dem römischen Forum ein durch Camillus ge-
weihter (°*), durch Tiberius prachtvoll erneuter, zu Senatsversammlungen
besonders häufig benutzter Tempel bestand. Nichts ist natürlicher als den
tieferen Grund dieses Kultus in einer ursprünglichen Verwandischaft der
Concordia mit Venus zu suchen: wie der Sitz des Senats im Concordiatempel
(*7) Eckhel D. N. VI p. 239.
(*°) Müller Handb. S. 626.
(*?) Creuzer Symb. IV, 218. Gerhard Prodr. S. 83. 101, 141.
(°°) Virtus wird behelmt dargestellt, wie auch Roma; der Typus beider ist von Miner-
venköpfen entlehnt.
(2) Gic.: Nat. D. II, 24.
(°?) Liv. VI, 42. Plut. Cam. 42. Ovid. Fast. 1, 641 (Merkel p. 125). Klausen Aeneas
II, 742.
über V enusidole. 329
der Venus Cloacina im nahen Comitium, entspricht Concordia, als Venus
„Eintracht”, gleich der Theseischen Volksgöttin Pandemos (°?), dem altbe-
zeugten Beinamen einer als Venus Zwietracht, als „Herzabwenderin”, gefei-
erten Göttin Verticordia (°*). Gewifs aber ist diese politische Seite des Göt-
terbegriffs der Venus noch nicht genügend den hohen Begriff auszufüllen,
welchen das alte Rom der Concordia widmete; vielmehr wird es erlaubt
sein einen Ausdruck der obersten Göttereinheit in ihr zu erkennen, welche,
gleich der Harmonia Thebens, alle einseitigen Ausflüsse und Gestalten der
Schönheits- und Liebesgöttin beherrschte.
Diese Ansicht, deren Begründung bereits kurz vorher versucht ward,
wird durch zwei Marmorwerke bestätigt, in denen jener an und für sich un-
erhebliche Münztypus des Commodus als ansehnliches Tempelbild wieder-
kehrt. Für ein Tempelbild wenigstens sind wir berechtigt eine verstümmelte
Statue anzusehn, welche an einem vielbesuchten Orte des Vaticans von Künst-
lern, angeblich seit Rafaels Zeit, viel beschaut und bewundert worden ist,
während ihr antiquarisches Verständnifs unterblieb. Im Durchgang von Zim-
mer des Torso zum Zimmer des Meleager befindet sich unter vier andern
geachteten Statuenresten das Untertheil eines bis gegen die Brust erhaltenen
weiblichen Marmorbildes (Taf. VI, 3), dessen doppeltes Obergewand zierlich
umgeschlagen bis an die gekreuzten Füfse reicht. Die linke Hand dieser be-
haglich sitzenden Figur ist auf den Sessel gestützt noch vorhanden; dieser
mit einem Franzengewand bedeckte Sessel selbst verdient besondre Auf-
merksamkeit. Als stützende Verzierung desselben war jederseits ein bedeut-
sames Figürchen angebracht: zur linken Seite der Sitzenden ein stehender
Flügelknabe, zu ihrer Rechten ein fast zerstörtes, aus wenigen Spuren je-
doch noch immer bestimmbares Götterbild. Es genügt nämlich das Mafs der
noch erhaltenen Füfse, nicht nur ein weibliches Idol, sondern auch ein solches
uns kenntlich zu machen, welches mit einem hohen Kopfschmuck versehen
war und durch diesen die erforderliche Höhe der Stuhlverzierung erreichte.
Idole solcher, mit dem Modius bedeckter Art, sind aber vorzugsweise im
(°°) Über Venus als plebejische Volksgöttin (Libertas, Libera, Libitina) vgl. Klausen
Aeneas II. S. 750.
(°*) Verticordia: Ovid. Fast. IV, 157 ff. Val. Max. VIII, 15, 12. Klausen Aeneas I.
S. 285 ff. Ihr Kopf auf Münzen der Familie Cordia.
Philos.-histor. Kl. 1843. Art
330 GERHARD
Kreis der Venusbilder zu suchen (Taf.VI, 1), und dafs ein solches alterthüm-
liches Venusbild auch neben der Vaticanischen Statue vorauszusetzen sei,
wird überdies durch Vergleichung noch eines Marmors uns augenfällig.
Dieser Marmor (Taf.VI, 2) ist ein verstümmeltes Relief, welches im
Jahr 1830 aus römischen Ausgrabungen des Herzogs Torlonia mir zu Gesicht
kam. Zwar die sitzende Figur, die wir so eben in statuarischer Bildung dem
Concordia-Typus der Commodusmünze entsprechend fanden, ist hier noch
verstümmelter zu bemerken; dafs es aber eben jene Concordia sei, läfst aus
der Verbindung sich schliefsen, in welcher die vorher bemerkten Stützen
ihres Throns in gröfserem Mafsstab sich wiederfinden. Der vorgedachte
stützende Amor erscheint hier als thätige Hauptfigur der sitzenden Göttin
gegenüber, und das Idol mit dem Modius, das kurz vorher nur zu erra-
then war, ist hier als Stütze und Kultusbild des geflügelten Gottes ausführ-
lich und wohlerhalten zu sehen. ?
In dieser merkwürdigen Darstellung fesselt zunächst uns jener geflü- _
gelte Gott, theils als Hauptfigur, theils wegen der ihm ungewöhnlichen Reife,
theils und hauptsächlich wegen des priesterlichen Verhältnisses, in dem er
das oben von uns besprochene alterthümliche Venusidol begleitet. Er erin-
nert an jenen Amor, welcher dem Doppelpaar antiatischer Fortunen (eine
Minerven, die andre der Venus ähnlich) beigesellt ist (°°), an den mit Juppi-
ter und Juno verbundzen geflügelten „Maxsumus” auf Familienmünzen der
Egnatia (°°), an etwanige geflügelte Darstellungen des von Fortuna genährten
Juppiter puer (°’), endlich an die vorausgesetzte Verwandtschaft des Amor
mit dem Stadtgenius Roms (°°), — Analogieen und Deutungen, denen zuletzt
auch die Gräberbedeutung des Amor (°?) sich anreiht,; im Zusammenhang
der bisherigen Darstellung aber vermag jener geräumige Spielraum mytho-
logischer Räthsel uns nicht zu fesseln. Wichtiger ist uns, jenem aphrodisi-
(??) Prodromus S. 66 (Antike Bildwerke IV, 5).
(°°) Prodromus S.109, 215 (Ant. Bildw. CCCH, 8).
(°”) Juppiter von Fortuna genährt nach Cic. Divin. II, 41. Vgl. Prodr. S. 58,129. Ge-
flügelte Münztypen des Juppiter Custos und Maximus: Prodr. S. 41, 113. 110, 215. Zu
vergleichen der Epeur (ertovgos), von Hercules an Juppiter gereicht, eines berühmten etru-
skischen Spiegels (Monum. d. Inst. II, 6).
(°°) Prodromus S.70.
(°?) Cupido inferorum: Doni inscriptt. I, 34. Vgl. Prodromus $. 253 f.
über Venusidole. 334
schen Dämon wie seinem Idol gegenüber, die Nachweisung einer Concordia,
die wir als herrschende Gottheit in solcher Umgebung uns denken dürfen.
Nachgewiesen als eine Göttin, die neben Spes und Libitinaidolen, neben
Pandemos und neben Urania thront, verdiente sie ihren Ehrenplatz auf Roms
Forum und die Anwendung ihres Tempels zu Staatsversammlungen zunächst
als höchster politischer Ausdruck der römischen Staats- und Muttergöttin,
sodann aber auch in jeder andern religiösen Beziehung griechischen und rö-
mischen Venusdienstes: dergestalt dafs, wie Fortuna den cerealischen Göt-
terkreis, Concordia gleicherweise die Kultusverzweigungen der äneadischen
Stammutter Roms beherrscht.
EXCURS
ÜBER LIBITINAIDOLE.
Der oben S. 325 f. berührte und früher (Venere-Proserpina. Fiesole 1825.
Kunstblatt 1825 no. 16-19) von mir ausführlich behandelte statuarische Ty-
pus ist hauptsächlich aus den nachfolgenden Marmorgruppen bekannt.
1) Tod und Schlaf, das Idol daneben. Gruppe von $. Ildefonso.
Vgl. Maffei Stat. tav. 121. Winckelm. Mon. p. xıv. Venere-Proserpina
tav.V. p.49 ff. Welcker akad. Kunstmuseum 1827. S.53 ff. Das Idol
auf unsrer Tafel VL, 1.
2) Bacchus (vermuthlicher), darauf gestützt. Im Yatican: Venere-Pro-
serpina tav. XIII. p. 56 f. (das Idol ebd. tav. III. p. 81). Beschreibung
Roms II, 2. S.110. Clarac no. 1422.@. Vgl. Bacchus auf eine Spesfi-
gur gelehnt auf unsrer Taf.V, 5.6.
3) Merkur (vermuthlicher), hochauftretend, vielleicht zur Beschuhung, und
dabei auf das Idol gelehnt. Fragment einer kleinen Gruppe zu Pompeji:
Venere-Proserpina tav. XIV. p.68 ff. Das Idol, mit wohlerhaltener rech-
ter Hand auf der Brust, unterscheidet sich von den übrigen durch Entblö-
fsung der linken Brust; der Kopf desselben fehlt.
IN
332
4)
GERHARD
Venus oder Eingeweihte, halbnackt und myrtenbekränzt, auf das
Idol gestützt. Im Casino der Filla Panfili zu Rom: Venere- Proser-
pina tav. XI. Clarac no. 1422. D.
5-9) Venus oder Eingeweihte, bekleidet und auf das Idol gestützt, wel-
10)
ches mit einem Gewandstück bedeckt zu sein pflegt. Diese Vorstellung
ist in folgenden Gruppen vorhanden:
5) Herculanische im Museum zu Neapel. Lebensgrofs. Finati Museo
Borbonico no. 83. Neapels Bildw. S.27f. Venere-Proserpina tav.
VIH. p. 60. Clarac no. 1422. E.
6) Tusculanische in Villa Ruffinella bei Frascati. Lebensgrofs. Venere-
Proserpina tav. IV. p. 61. Clarac no. 1422. A. Die Hauptfigur mit
entblöfster Schulter.
7) Florentinische von geringerer Gröfse, zu Poggio Imperiale. Venere-
Proserpina tav. X. p. 61 f. Clarac n. 1422. B.
8) Tarquiniensische, unter Lebensgröfse, jetzt in Berlin, auf unsrer
Tafel II, 5.
9) Rollinsche zu Paris, nur 14 Zoll hoch, auf unsrer Tafel II, 6.
Amor oder Todtengenius, auf das Idol gestützt. Torlonia’sches
Relief unsrer Tafel VI, 2.
Sitzende Concordia, deren Thron einen Amor und wiederum ein
ähnliches Idol zur Stütze hatte. Statuenfragment im Yatican. Taf. IV, 3.
Idol aus Pompeji. Jenen verschiednen Gruppirungen des gedachten
Idols reiht ein aus Pompeji (Casa della Fortuna) herrührender Mar-
mor, 1 Fufs 5 Zoll hoch, sich an, in welchem das Idol, mit Ausnahme
der fehlenden Beine vorzüglich wohlerhalten, ohne Spur einer Neben-
figur erscheint; der Rest eines Metalleinsatzes auf der Höhe des Mo-
dius ist zu deren Nachweisung nicht genügend. Es wäre also vielleicht
ein Kultusbild in diesem Idol erhalten; eine Annahme, womit die be-
sondere Deutlichkeit desselben, wie auch die weite an llithyiabilder er-
innernde Verschleierung, durch welche es von den vorgedachten sich
unterscheidet, wohl stimmen. Abgebildet mit Finati’s Text im Museo
Borbonico IV, 54; ferner bei Müller Denkm. IH, 262 („Urania, älteste
Möra’’) und bei Clarac no. 1422. I.
Der Typus dieses Idols, für welches der letztgedachte Marmor
von Müller mit Recht zum Musterbild gewählt ward, ist aufserdem am
13)
über V enusidole. 333
deutlichsten in der Gruppe von S. Ildefonso (daraus in unsrer Taf.VI, 1),
in der Tusculanischen (oben no.6) und der Pamfilischen (no. 4) Gruppe
erhalten. In den übrigen ist er theils durch Überdeckung von Seiten
der Hauptfigur (no. 2-5), theils auch durch mindere Erhaltung oder
geringere Sorgfalt des Künstlers theilweise verdunkelt. Namentlich ist
die Spesbewegung hie und da unkenntlich geworden, wie in der Vatica-
nischen und Florentinischen Gruppe (no. 2. 7); selten verdunkelt ist
der Kopfaufsatz des Modius und die sprechende Geberde der auf die
Brust gelegten rechten oder auch (no. 7) linken Hand. Beides zugleich
ist nur in der Herculanischen Gruppe (no. 5) völlig verdunkelt, deren
Idol, abgesehen von grofsem Ohrenschmuck, unansehnlicher als die
übrigen ist, den Modius nicht blicken läfst und beide Arme das Gewand
berührend gesenkt hat. Andeutungen eines Apfels in der aufruhenden
Hand kann hie und da, namentlich in der Vaticanischen Gruppe (no. 2),
vorausgesetzt werden, da sie auch sonst (Apfel: Taf.V, 1-3. Blume:
III, 3) sich findet, ist jedoch in den erwähnten Marmorwerken nicht
sicher.
Nach Vergleichung der obigen Gruppen läfst nun jenes Idol noch
in mancher andern abweichenden Gestalt sich erkennen.
In Idolen mit dem Tutulus statt des Modius; nämlich in denen,
welche nach etruskischer Sitte einen dem Himmelssymbol Polos ent-
sprechenden Kopfputz statt des in der Marmorbildnerei ausschliefsend
üblichen Erdsymbols, des Fruchtmafses, tragen. So in der Erzfigur
unsrer Tafel II, 4, welche durch Gewandhebung und durch die auf die
Brust gelegte Hand den beschriebenen Marmorwerken übrigens ent-
spricht.
14-16) In Idolen mit der Hand auf der Brust, auch ohne die übrigen
gedachten Merkmale. Namentlich:
14) Auf den rhodischen Münzen unsrer Tafel IV, 7. 8, wo jener An-
deutung einer Todesgöttin die Andeutung einer Lichtgöttin durch
Strahlenbekränzung hinzugefügt ist.
15) Weibliche Brustbilder von Thon, grofsgriechischer Abkuntt,
denen die Andrückung einer Hand oder beider Hände, mit oder ohne
Frucht, an die Brust (mehrere Exemplare im Königl. Museum zu Ber-
lin) mit den beschriebenen Idolen gemeinsam ist, gehören ebenfalls
334
16)
17)
18-22)
GERHARD
hieher und liefern im Zusammenhang mit andern ähnlichen einer
Aphrodite ganz ähnlichen Brustbildern (Antike Bildw. Taf. XVII)
einen der bündigsten Beweise für Aphroditens Begriffsverwandtschaft
mit Kora und für die Kunstdarstellung dieser letzteren in den gefäl-
ligen Formen Aphroditens. Vgl. Antike Bildw. S. 229, 1.
Votivrelief bei Caylus Recueil VI. p. 117. An ein stehendes Idol
mit Modius und mit beiden Händen auf der Brust ist eine sitzende
Eingeweihte gelehnt; neben ihr ein Hund oder Reh, vor ihr ein Al-
tar und vier dahin schreitende weibliche Figuren.
Eine spätrömische kleine Gruppe von Erz, 6 Zoll lang zu 4 Zoll
Höhe, gallischer Abkunft und von Grivaud Antigq. Gaul. pl. XXV,7
bekannt gemacht, stellt Venus bekleidet und mit der Hand auf der Brust
als sitzende Lenkerin eines Wagens dar, dessen Hauptsitz von einem
stehenden Hekatebild mit Pinienapfel bekrönt eingenommen ist.
In Idolen mit Modius, den vorigenähnlich, doch ohne die auf
der Brust ruhenden Hand.
18)
Auf einem apulischen Aryballos der Palagi’schen Sammlung zu
Mailand. Idol mit Modius und Spesbewegung, zwischen zwei be-
haubten Frauenköpfen, vermuthlich der eleusinischen Göttinnen.
19) In einer attischen Gruppe von Thon. Die Darstellung von zwei
Frauen, vielleicht Braut und Brautmutter (A.L. 2.1838 Erg. Bl. n0.76),
ist von einem Idol mit strahlengeschmücktem Modius begleitet, dessen
beide Hände gesenkt das Gewand berühren. Stackelberg Gräber der
Hellenen Taf. LXIX.
Auf einer römischen Lampe. In einem Idol mit Modius und ge-
senkten beiderseits das Gewand berührenden Armen ist Aphrodite
Pasiphaessa und neben dem ihr opfernden Herakles (Aristot. Mirab.
cap. 145) dargestellt auf einer nach Passeri Lucern. II, 3 in meiner
Venere-Proserpina tav.VI. p. 56 ff. abgebildeten Lampe.
21) Im Relief einer Marmorplatte im Garten des Palazzo Baronale
zu Palestrina (Venere-Proserpina Titelvignette und tav. IV. p. 81)
bemerkt man ein ähnliches Idol mit Modius und mit zierlicher He-
bung des Obergewandes vermittelst des rechten Arms; der linke ist
nicht sichtlich. Ein Panther an der Basis bezeichnet dieses unsern
über V enusidole. 335
Venusidolen entsprechende Götterbild als Libera; es ist dargestellt
neben dem bacchischen Tanz eines Satyrs und einer Bacchantin.
22) Idol mit voraussetzlichem Modius, welches einer mit Stephane ge-
schmückten halbnackten Venus zur Stütze dient; Gruppe von
Thon im Königl. Museum zu Berlin. Die Übereinstimmung dieser
Gruppe mit der vorgedachten von Marmor ist so grofs, dafs sie der-
selben früher (Venere-Proserpina tav. XII. p. 64 ff.) von mir unbe-
denklich gleichgesetzt wurde, und bleibt neben den zahlreichen Be-
legen jenes statuarischen Typus wichtig genug, um die vorige Deu-
tung nicht schlechthin aufzugeben, obwohl der rechte Arm des Idols,
nach dem Haupt erhoben, an Karyatiden erinnert und auch ein
Münztypus von Eukaipia (Millingen Sylloge II, 57. p. 79) die Mög-
lichkeit darlegt, dafs Demeter Polykarpos (Theoer. X, 42) oder eine
ihr entsprechende Hore Karpo (Paus. IX, 35, 1) gemeint sein könne.
Letzteres ist Panofka’s Ansicht: Terra-Cotten II, 20, 1. S.72 ff. Eine
Abbildung auch bei Clarac n. 1422 F\
23) Idol mit Modius, welches ein Becken haltend dann und wann auf Gem-
19
menbildern neben einem kitharspielenden Apollo erscheint (Maffei
tav. 4. Lippert I, 55. Stosch II. no. 1129. Müller Denkm. II, 129).
Das Becken ist von Winckelmann für einen Bogen, von Andern (Raspe
zu Tassie I. p.203) für ein Kind gehalten worden; daher die verschiede-
nen Benennungen des Idols, das bei Gori Diana, bei Winckelmann The-
mis, bei Maffei eine Pythia, bei Raspe Peitho, bei Müller eine Möra
heifst. An eine Hore zu denken läge noch ungleich näher; der Modius
aber ist auch einer Hore weniger passend als einer alterthümlichen
Aphrodite, einer d@gxeie, wie sie im apollinischen Delos verehrt ward
(Paus. IX, 40, 2. Call. Del. 308 not. Panofka Terra-Cotten S. 56 ff.).
In ihrem fraglichen Attribut ist wahrscheinlich eine Muschel gemeint,
wie in dem mit einem bärtigen Bacchus verwechselten Idol eines hercu-
lanischen Reliefs (Neapels Bildw. S.129f. Vgl. Panofka T.C. S. 61 ff.).
Im Giebelportal eines durch Paciaudi (Mon. Pelop. I. p. 210. Creu-
zer Abb. z. Symb. Taf. XLIX. S. 59 ff.) bekannten Reliefs steht eine
vom Obergewand umkleidete und mit dem Modius bedeckte Göttin
in vorgebückter Stellung einer unterwärts halb erscheinenden Sterbli-
chen (einer Epitymbias nach Creuzer S. 49) zugewandt, die eine Gans
336 GERHARD
ihr als unterirdisches (Creuzer Abb. S.59. Gerhard Ant. Bildw. S. 94)
Opfer darbringt; in beiden Händen der Göttin bemerkt man das nackte
Idol einer Venus. Die besondre Beziehung der Gans, eines brünstigen
Thiers der Tiefe, auf Venus Libitina hat bereits Creuzer S. 60 her-
vorgehoben. Die ganze Darstellung jenes merkwürdigen Reliefs stellt
unsres Erachtens das Idol der oben no. 1-12 beschriebenen zwölf Mar-
morwerke in einer frei behandelten dem Idol gleichbedeutenden Göt-
tergestalt und in umgekehrtem Verhältnifs zu den auf das Kultusbild
gestützten weiblichen Figuren no. 4-9 vor: etwa Kora das Idol einer
Aphrodite Pandemos haltend, während dort Aphrodite auf das Idol der
Unterweltsgöttin sich lehnte.
25) In weiblichen Hermenbildern.
Eine Hermengestalt mit weiblichem Kopf, den ein Modius bedeckt
und ein Gewandstück unterwärts bekleidet, befindet sich statt der übli-
chen Idole neben einer darauf gelehnten mit einem Stirnband ge-
schmückten Frau, den früher (no. 4-9) bemerkten Gruppirungen ganz
ähnlich, in einer kleinen Marmorgruppe im Magazin des Faticans. Ve-
nere-Proserpina tav.VII. p. 59 f.
Hermenbildungen der Aphrodite wurden oben Anm. 9 berührt
und sind auf unsrer Tafel II, 1.2 bildlich nachgewiesen.
26 ff.) In Pfeilerbildungen.
Statt des bewufsten Idols und statt einer ihm entsprechenden Her-
menbildung finden sich auch Pfeiler vor als einziger Untersatz darauf
gelehnter Frauen, die in Gestalt und Gruppirung den oben no. 4-9 be-
schriebenen durchaus entsprechen. Es giebt deren in den Museen des Ka-
pitols (Beschr. Roms III, 1,161, 5), zu Neapel (zwei: Finati no. 277. 280),
Paris (Clarac 508, 1019) und Berlin (Berlins Bildw. 1. S.57. Vgl. Venere-
Proserpina p.62. Neapels Bildw. S.83 ff.), wo sie gröfstentheils als Musen
gefalst und namentlich zur Euterpe ergänzt sind; auch unter Thonfiguren
giebt es ähnliche (Nackte „Ambologera”: Panofka T.C. XIV; in der
Königl. Sammlung auch eine bekleidete. Vgl. De Witte Cab. Beugnot
no. 194). Ein Vogel, vielleicht eine Taube, weist am Schaft noch eines
Exemplars (Clarac 295,1016) auf eine andre Deutung hin, die am sicher-
sten auf die Analogie obiger Gruppen und auf den Umstand begründet
wird, dafs Aphrodite, die länger als andre Gottheiten als roher Stein ver-
über V enusidole. 337
ehrt ward, auch häufiger als es bei andern üblich ist an einen steinernen Pfei-
ler gelehnt erscheint. In diesem Sinn hat auch Lenormant (Nouv. Gall. myth.
III, 2. p.118) den Münztypus einer smyrnäischen Münze, wo eine Frauen-
gestalt auf einen Pfeiler gestützt erscheint, als Aphrodite Nikephoros erläu-
tert. Vgl. de Witte Ann. d. Inst. VI, 252 ss. Nouv. Ann. I. p. 80.
Bei so viel Belegen eines bereits im Jahre 1825 vielfach von mir nach-
gewiesenen Idols bleibt der im Alterthum übliche Name desselben doch im-
mer noch ungewils. In der früher von mir angewandten, der ’Apgodiry Harı-
paessa (Arist. Mirab. 145. Creuzer Symb. IV, 92) nachgebildeten, Benen-
nung Venus-Proserpina ist jene Schwierigkeit fürs erste umgangen, ohne
dafs die gewählte und wenigstens dem Begriff entsprechende Benennung als
alter und allein gültiger Name dem Leser aufgedrungen worden wäre; die
Benennung Libitina, welche eben so nahe lag, ward als ausschliefsend rö-
misch gemieden. Seitdem hat Müller (Denkmäler II, 262) das Idol als
Urania und älteste Möra benannt: eine Ansicht, welcher zunächst der tel-
lurische Modius aller jener Idole als einer „Himmelsgöttin”’ widerstrei-
tet. Dieser Einwurf kann jedoch beseitigt werden, wenn ein ganz ähnliches
etruskisches Idol (Taf. II, 4) an gleicher Stelle den polosähnlichen Tutulus
uns zeigt, und wenn der Modius selbst bald strablenbekränzt erscheint (Taf.
IV, 5. 7.8), bald mit ähnlichen Lichtsymbolen verziert sich denken läfst, wie
denn ein Lorberkranz dann und wann auch das Fruchtmafs des Unterwelts-
gottes Serapis schmückt. Ferner spricht für Urania die Hermengestalt eines
der obigen Marmorwerke (no. 22), und es sind demnach die von uns ge-
wählten Belege jenes Idols mit den für uns sichersten Bildungen der Urania
auch unsererseits (Taf. II) zusammengestellt worden.
Ist nun hiemit der unleugbaren Verwandtschaft unsres Idols mit der
„Himmels-” und Schöpfungsgöttin Urania ihr volles Recht widerfahren, so
läfst sich doch auch nicht verkennen, dafs ihr Gesammteindruck, sowohl
nach dem Modius als nach der Bewegung beider Arme, der einer Erdgöttin
ist und somit vielmehr den Gegensatz ausfüllt, in welchem Pandemos zur
Himmelsgöttin Urania sich befindet. Es läfst sich demnach gern zugestehn,
dafs die auf der Brust ruhende Hand, verbunden mit Strahlenkranz, hie und
da (no.14) eine Heliosgemahlin Urania ausdrückte, ja dafs auch die beiden an-
dern Merkmale, Modius sowohl als Gewandhebung, mit einer Urania als al-
Philos.- histor. Kl. 1843. Uu
338 GERHARD
leiniger Aphrodite ältester Auffassung nicht unverträglich waren, wie denn
auch etruskische Idole (Taf. I, 6. II, 4) dafür sprechen. In den Zeiten jedoch,
aus denen die meisten Belege unsres Idols herrühren, nicht nur die Mar-
more, sondern auch die Denkmäler desselben aus Unteritalien (no.17) und aus
Athen (no. 18), war Aphrodite Pandemos offenbar eben so sehr und noch
mehr durch die Kunst ausgebildet worden als früher Urania. Blume und
Gewandhebung waren in vielen Idolen (Taf. I, 4. II, 1.2) ein genügendes
Merkmal jener gefälligsten Auffassung Aphroditens geworden, und auch die
gefürchteten Eigenschaften einer Erdgöttin wurden in steigendem Mafs an
Pandemos und gleichbedeutenden Venusidolen dargelegt, je mehr man es
vorzog den Todesbegriff, der die Erdenlust abschnitt, an die Verleiherin dieser
Erdenlust, eine Erdgöttin Pandemos, lieber zu knüpfen als an die im Hinter-
grund älterer Kulte immer mehr verschwindende Göttin uranfänglicher Schö-
pfung, Urania. Überhaupt darf ein solcher allmählicher Übergang der Ura-
nia zur Pandemos in allen den Kulten vorausgesetzt werden, in denen das
Götterbild Aphroditens ein einziges und dessen Erneuung im Zeitgeschmack
unverwehrt war; der Polos ging dann in ein Fruchtmafs über und die ab-
wehrende oder geschlossene Bewegung der Hand ward mit der gefälligen
Gewandhebung verbunden, um in der hochgestellten Pandemos die Macht
Urania’s nicht vermissen zu lassen. Bei solchem Entwickelungsgang braucht
denn selbst die Hermengestalt nicht schlechthin einer Urania zu gelten; sie
konnte zur allgemeinen Andeutung für hohes Alter des in einem einzigen
Idol verehrten Venusdienstes gereichen.
Nach so viel Empfehlendem, für den Namen Urania sowohl als für
den einer Pandemos, blicken wir auf die entschiedene Todesbeziehung
zurück, die in unserm Idol so vorzüglich ausgeprägt und durch die Erschei-
nung desselben als Hekate (Taf.V, 1-3) vollends beglaubigt ist, und wenn
wir damit die geläufigsten Begriffe der stets kosmisch gedachten Urania und
der gemeinhin heiter gedachten Pandemos gleich unvereinbar finden, so dür-
fen wir nicht unterlassen dem herrschenden Namen dieses Idols noch wei-
ter nachzugehn. Immerhin mag jenes Idol rhodischer Münzen (Taf. IV, 7.8),
dem statt des Modius Strahlenbekränzung gegeben ist, eine Urania, des auf
dem Revers abgebildeten Helios Gemahlin, darstellen; in Athen (no. 18) und
in Unteritalien (no.17) liegen cerealische und bacchische Gebräuche und
Nebenbeziehungen uns ungleich näher und nöthigen uns im Idol einer To-
über V enusidole. 339
desgöttin zunächst an Kora zu denken, deren Darstellung auf den unterita-
lischen Vasen mit den zierlichsten Bildungen Aphroditens identisch, mithin
der Pandemos durchaus verwandt, erscheint. Nicht unmöglich, dafs ein so
gangbar gewordenes Idol aus attischem Kultus stammte, vielleicht aus dem
in den kleinen Eleusinien vorzugsweise besuchten Heiligthume der Kora
(Schol. Aristoph. Plut. 846: Arav d& ra nv ueydra KUTTARLG Tis Anumross, ra de
Hırga Ilegrepevns).
In Rom wäre demnach der Name Libera als der dem Namen Kora
entsprechendste mehr als andre für unser Idol uns nahe gelegt. Auch die
Verknüpfung spesähnlicher Venusbilder mit bacchischem Festzug (Taf. III, 1)
und die Vergleichung von Venusbildern, die neben Bacchus- oder Priapus-
idolen erscheinen (Panofka-T.C. S. 65), mit unsern Gruppen der einem
weiblichen Idol beigeordneten Venus (n. 4-9), endlich die Verbindung ver-
muthlicher oder wirklicher Bacchusfiguren mit diesem Idol (no. 2. Vgl. Taf.
IV, 5. 6), sind der Benennug desselben als Libera günstig. Hiebei ist jedoch
nicht zu verschweigen, dafs unser Idol, von jenen seltenen Nebenfiguren ab-
gesehen, ohne alles bacchisches Beiwerk, namentlich ohne bacchische Be-
kränzung der ihm verknüpften Figuren erscheint (vgl. den Myrtenkranz no. 4),
wie auch dafs es an andern Bildungen der Libera keineswegs fehlt (Antike
Bildw. XI. XLII, 1 und sonst), und es wird daher für den römischen Kunst-
gebrauch der Name einer Venus Libitina vermuthlich richtiger sein, in
welchem theils der Begriff der Todesgöttin, den unsre Figur überwiegend
darstellt, ausschliefslicher enthalten war, theils auch, schon durch den Na-
men gegeben (a libitu), die gefällige Spesbewegung mit gröfserem Rechte
sich kund gab. Hiedurch wird denn allerdings der Begriff unsres Idols von
dem der Urania immer mehr auf den der Pandemos zurückgewiesen, die im
Begriff einer Erdgöttin (worüber zuletzt Panofka T.C. S.79 ff.) der Urania
als Himmelsgöttin ursprünglich entgegengesetzt, in diesem Begriff aber auch
aller Ausdehnung der Lebenslust auf das Ende des Lebens empfänglich ist,
die im römischen Dienst der aus Kunstwerken auch sonst bezeugten (*)
„Lustgöttin’” Libitina zu Tage liegt.
(*) Am entschiedensten auf Gemmenbildern (Kunstblatt 1827. no. 69. 70), aber auch hie
und da auf römischen Reliefs (Prodr. S. 251). Griechische Vorbilder dieser Todesgöttin
finden sich auch auf apulischen Gefälsen: theils bewaffnete, die an Urania erinnern (Dubois-
Yu
340 GERHARD
Es werden demnach die bis hieher betrachteten Spes- und Libitina-
idole, die auf den ersten Blick als zwiefache Bildung dem Gegensatz der Ura-
nia und Pandemos zu entsprechen scheinen, richtiger als Doppelausdruck der
einzigen Pandemos von uns zu bezeichnen sein; dieses um so mehr als die
Gewandhebung beider Idole mit einer zwiefachen Auffassung der Pandemos
zwar sehr wohl stimmt, dem scharfen Gegensatz aber der Himmels- und
Erdgöttin ungleich weniger entsprechend sein würde.
——Z MILE EI —
ERKLÄRUNG DER KUPFERTAFELN.
Tafel I. ETRUSKISCHE IDOLE, in Ermangelung altgriechischer Darstellungen als die uns
bekannten ältesten Kunstformen der griechischen Aphrodite, nächst dem paphischen
Stein (Millin Gall. XLIII, 172. Müller Handb. $. 239, 2), zu betrachten.
1. Geflügelte Venus Urania, mit dem Tutulus bedeckt, der den griechischen Polos
vertritt, in der Hand eine Taube haltend. Erzfigur aus Perugia, nach Micali (Storia
de’ popoli ital. tav. XXIX, 2), welcher dieses Idol als asiatisch, vielleicht assyrisch, be-
zeichnet, ohne ihm einen Namen zu geben.
2. Ähnliche Flügelgestalt mit einer Taube auf dem Kopf; Erzfigur, wahrscheinlich von
gleicher Abkunft, Unedirt.
3. Venus mit Tutulus, Balsamar und einem Myrtenzweig; Figur eines Erzbleches aus
Perugia, von Vermiglioli als Nemesis, von Micali als Schutzflehende gedeutet. Nach
Mais. pl. 47: halb entblöfst, mit Schild, Speer und Kranz), theils auch solche, in denen ne-
ben Attributen der Liebesgöttin (Taube und Spiegel: Mus. Borb.VII, 23. Inghir. I, 42) eine
Amphora der oft bodenlosen (Luynes Ann.V, 319) und daher vorzugsweise sepuleralen Form
zur Stütze dient (Vgl. Panofka T.C. S.79,10), oder auch ein Grabespfeiler die Stelle
dieser Amphora vertritt. Eine Epitymbia dieser letztern Art findet auf einem Bild, das De
Witte auf den Streit um Adonis deutet (Elite c&ramogr. I, 34. p. 84, nach Hancarv. II, 89.
Inghir. I, 180), einer verschleierten Göttin mit Thyrsus, Libera-Kora, sich entgegenge-
setzt.
PR
Tafel II.
über F enusidole. 341
Micali XXXI, 3. Vgl. Inghirami Mon. Etr. III, 16,2 und noch eine ähnliche mit Gra-
natapfel und Spesbewegung ebd. III, 16, 1.
Venus im Charakter der Pandemos, mit einer Blüthe in der rechten Hand; ihre
Linke hebt das Gewand nach Art der Spesfiguren. Erzfigur der Gallerie zu Florenz;
auch bei Micali XXX V, 12. ;
Venus im Doppelausdruck der Urania und der Pandemos, in der Rechten einen Apfel
haltend; ihre Linke hebt das Gewand nach Art der Spesfiguren. Erzfigur der Gallerie
zu Florenz. Unedirt.
Venus im Ausdruck ihrer dreifachen Bedeutung. Der Urania entspricht sie
durch den Tutulus auf ihrem Haupt, durch strahlenförmiges Halsband und durch mond-
förmige Beschuhung; ihre linke Hand erhebt sie als Aposzrophia, während die rechte
zierlich das Gewand hebt, der Pandemos entsprechend, nach Art der Spesfiguren.
Erzfigur der Gallerie zu Florenz, ähnlich der Oddi’schen Erzfigur im Königl. Museum
zu Berlin (Micali XXXÄII, 1.2). Unedirt. Vgl. oben S. 323.
URANIA und LIBITINA. Über Urania vgl. oben $. 319 f. Anm. 9 ff. S. 325 f.; über
Libitina S.325 f. S.331 ff. Die Übereinstimmung beider gibt auch in bewaffneten Ve-
nusbildern dann und wann, obwohl selten, sich kund. So ward eine bewaffnete Grä-
bervenus aus einem Vasenbild (Dubois-Mais. pl. 47) kurz vorher (S. 339 Anm.) von uns
erwähnt; eine bewaffnete Urania (oben Anm. 11) findet sich in phrygischem Münzty-
pus von Kolossä (Pellerin II, 45, 55. Vgl. 54).
Herme der Villa Albani; Marmor, fast lebensgrofs. Nach Winckelmann Storia delle
arti I. tav.1. Zu vergleichen das von Theseus dem delischen Apollo geweihte, von
Ariadne empfangene (Plut. Thes. 21), dädalische Idol in Hermenform mit freiem Arm
(Paus. IX, 40,2; @syeie: Call. Del. 305) und das ebenfalls hermenförmige zu Athen in
den Gärten (Paus. I, 19,2). Oben S. 319. Anm. 9.
Verschleierte Herme des brittischen Museums, von Payne Knight als Aphrodite Ar-
chitis (Macrob. I, 21) oder Atergatis bezeichnet. Nach den Specimens of anc. sculpt.
I, 55. Townley Gallery III, 37. p. 263; bei Clarac 591, 1286 als junger Herkules. Vgl.
Böttiger Amalthea I, 364. Müller Handb. S. 555. Oben Anm. 6. 9.
Venus auf einer Schildkröte; Erzfigur am Schaft eines etruskischen Kandelabers
im Königlichen Museum zu Berlin. Nach Panofka Skiron Taf. IV, 12. S. 8.
. VenusUrania, durch den etruskischen Tutulus als solche bezeichnet. Im Doppelaus-
druck der Pandemos und Apostrophia entspricht sie mit der an das Gewand gelegten Lin-
ken den Spesfiguren, mit der aufdie Brust gelegten Rechten aber dem Begriffeiner Schick-
sals- und Todesgöltin. Erzfigur der Gallerie zu Florenz, nach der in meiner „‚Venere-
Proserpina” tav. 4 zu p. 81.32 gegebenen Zeichnung.
Venus Libitina nach dem römischen Typus, der aus der Gruppe von S. Ildefonso
(Taf.VI, ı) und aus zahlreichen anderen Marmorwerken bekannt ist, die im vorstehen-
den Excurs $.331f. verzeichnet sind. Statt des Polos und Tutulus bedeckt ein Frucht-
mals (Kalathos, Modius) das Haupt dieser Götterbilder; Anmuth ist in der tanzmälsi-
gen Hebung des Gewandes, Todesschlaf in der auf die Brust gelegten Hand ausge-
drückt, welche zuweilen einen Apfel hält. Eine grölsere Figur pflegt sich auf dieses
342
GERHARD
Idol zu lehnen; hier ist es eine verschleierte Frau: ob eine Göttin, Priesterin oder
Eingeweihte, bleibt unentschieden. Marmorgruppe, vormals im Haus Falzacappa zu
Corneto, gegenwärtig in Privatbesitz zu Berlin. Unedirt.
Ähnliche Gruppe von minder entschiedenem Ausdruck, ebenfalls von Marmor,
nur 14 Zoll hoch. Im Besitz des Hrn. Rollin zu Paris. Unedirt.
Tafel IH. APHRODITE PANDEMOS.
1.
4
Aphrodite mit Blume und Scepter, von Eros umgaukelt, als Göttin Libera von bac-
chischen Frauen umtanzt; aus dem Relief einer vierseitigen Ara des Museo Chiara-
monti (I. tav. 36).
Aphrodite mit Blume und tanzmäfsiger Gewandhebung; Statue im Louyre. Nach
Bouillon Mus£e des antiques. Stat. 15.
Ähnliche Figur von gebrannter Erde, die linke Hand mit der Blume auf die Brust
gelegt. Im Königl. Museum zu Berlin. Vgl. Terra-Cotten Taf. LIV, 2: „Demeter
Chloe”.
Ähnliche Figur, mit dem Zusatz einer Taube in der linken Hand. "Thonfigur.
Unedirt.
Ähnliche Figur, die vielleicht thronend zu denken ist. Thonfigur im Königl. Mu-
Berlin. Unedirt.
. Spes oder Venus; durch die bekannte Gewandhebung den Spesfiguren, durch ein
Füllhorn in der Linken der Tyche gleichgesetzt. Marmorstatue der Dresdener Samm-
lung. Nach Becker’s Augusteum J, 11.
Tafel IV. SOLARISCHE VENUS, der Urania entsprechend.
1-3. Samothrakischer Dreiverein von Dionysos-Liber, Kora-Libera und Hermes-
Kadmilos, nebst den entsprechenden Reliefgestalten von Helios-Apollo, Aphro-
dite-Kora und Eros-Kadmilos. Dreifache Marmorherme der Herzogin von Cha-
blais, gegenwärtig im Magazin des Vatikans. Nach der in meinen Antiken Bildwer-
ken Taf. XLI gegebenen Zeichnung. Vgl. ebd. S.286. Hyperbor. Studien S. 45. 101.
Apollo und Aphrodite, Gruppe von gebrannter Erde. Unedirt.
Etruskisches Idol, durch gewandhebende und durch abwehrende Bewegung als
Venus, durch Strahlenbekränzung als solarisch bezeichnet; beflügelt nach etruski-
schem Kunstgebrauch. Clusinische Erzfigur, nach Micali XXXV, 11.
5. Venusidol, der Licht- und Geburtsgöttin geweiht. Erzfigur, durch den Kalathos
als Erdgöttin, durch Gewandhebung und eine Blüthe als heitere Gottheit des Len-
zes bezeichnet. Diese Kennzeichen erinnern mehr an Pandemos als an Urania, da-
gegen die griechische Inschrift dieser letzteren entsprechender ist. Sie sagt aus, dals
diese Figur der Ilithyia von einer Aristomacha dargebracht ward (APISTO-
MA-+A ANE®BEKE TA EAEYOIA, "Agısroncye aveSyze ra (1) "ErevSıe d.i.
r& EreuSsig) und erinnert dadurch an die Theseische Aphrodite @gx,«ie, deren deli-
scher Kultus (vgl. zu Taf. II, 1) sowohl mit Apollo (Paus. IX, 20, 2) als mit Ilithyia
(Müller Dor. I, 313) verwandt war. Unedirt. Vgl. Monatsbericht der Königl. Akade-
mie vom Jahre 1840 8.3 ff.
über V enusidole. 343
7. Aphrodite Urania, durch die auf ihre Brust gelegte Hand als Todesgöttin, durch
Strahlenbekränzung und den gegenüberstehenden Helioskopf als Gemahlin des Son-
nengottes bezeichnet. Rhodische Kupfermünze, nach Mus. Hunter XLV, 19.
. Aphrodite Urania mit der Hand auf der Brust, von zwei schwebenden ungeflü-
gelten Siegsgöttinnen mit Palmenzweigen umgeben, weiter unten von zwei kleineren
Figuren, in denen die Chariten oder schutzflehende sterbliche Frauen gemeint sein
mögen. Rhodische Silbermünze nach Mus. Hunter XLV, 11; bei Eckhel D. N. I.
p- 603 unerklärt gelassen: „‚domesticum alizuod Rhodiorum numen, cuius generis signa
pleraeque urbes aliqua privatim habuere”.
Tafel V”. TELLURISCHE VENUS, der Pandemos entsprechender.
1.2. Dreifache Hekate, in einer ihrer Gestalten den mehrgedachten Typus der als
Erd- und Todesgöttin gedachten, mit der Hand auf der Brust und einem Apfel darin
versehenen, Venus Libitina wiederholend, oberwärts mit den entsprechenden kleine-
ren Figuren von Pan und Telete als Weihungsgottheiten versehen. Die zweite grö-
fsere Figur hält ein Tympanum, die dritte legt ihre Hände auf je einen Pfeiler. Mar-
morgruppe im Museum zu Caziaio. Unedirt. Vgl. Cavedoni Indicazione del Museo
Estense p. 107 f.
. Dreifache Hekate, in mehreren ihrer Gestalten dem gedachten tellurischen Typus
einer Venus mit dem Apfel auf der Brust entsprechend. Marmorgruppe gegen 4 Fuls
hoch, im Museum zu Zeiden. Abgebildet in meiner Archäolog. Zeitung I. Taf. VIII,
wo jedoch $.132 irrig angegeben ist, die Gruppe sei lebensgrols.
. Hekatebild, mit tanzenden Horen am Schaft, im Antikenvorrath der 5. Mar-
ceusbibliothek zu Yenedig. Nach (Zanetti) Statue di S. Marco. II, s. Ein ähnlicher Mar-
mor aus Salamis ist, nach einer Zeichnung von Stackelberg, in meiner Venere-Pro-
serpina tav. I. p. 50 abgebildet; noch ein ähnlicher, wo bei ausgeführteren Hekatefigu-
ren eine derselben die Hand auf der Brust zeigt, befindet sich in der Glyptothek zu
München (Schorn no. 48). Wie Venus und die Horen verbunden werden: Hygin.
Astr. II, 5 und sonst.
. Dionysos auf das Idol einer Spes oder Venus gestützt, die eine vermuthlich er-
gänzte Blume hält. Gruppe der Hope’schen Sammlung unter Lebensgröfse, nach Cla-
rac Mus£e de sculpt. no. 1614.
. Ähnliche Gruppe, vielleicht dieselbe in verschiedener Ergänzung; das Idol mit
einem Balsamgefäls in der Hand. Nach Clarac Muste no. 1615; früher bei Guattani
Mon. ined. 1784. Sett. 2 als Bacchus und Melpomene abgebildet. Ist die von Buonar-
roti Medaglioni p. 420 aus dem Haus Cavallieri erwähnte Gruppe. Vgl. Maffei Statue
tav. 134.
Tafel VI. CONCORDIA. Vgl. oben S. 327 ff.
1.
Venus Libitina nach dem schon oben Taf. II, 5. 6. V, 1-3 berührten Typus, in wel-
chem sie zugleich als Spes und Unterweltsgöttin, der Kora identisch, erscheint; be-
rühmtestes Exemplar dieses Idols aus der zu S. Ildefonso befindlichen Gruppe von
Schlaf und Tod. Nach Winckelmann Monum. p. xıv. Vgl. Venere-Proserpina tav.V.
p- 49 ff. Welcker akad. Kunstmuseum. 1827. S. 53 ff.
344
Geruarn über FV enusidole.
Amor auf das Idol einer Venus Libitina gestützt; daneben eine sitzende Frau, die
man nach Vergleichung der folgenden Zeichnungen auf Concordia deuten wird. Mar-
morfragment von erhobener Arbeit, unter den im Jahre 1830 erfolgten Ausgrabungs-
funden des Herzogs von Torlonia (Bull. d. Inst. 1830. p.75 ff.) von mir bemerkt und
nach meiner Andeutung vom Zeichner ergänzt. Unedirt.
Sitzende Concordia, deren Thron einerseits vom Idol einer Venus Libitina,
andrerseits von einem Amor gestützt war. Erhalten sind von der Göttin das Unter-
theil bis an die Brust, vom Idol nur Basis und Füfse, von der Figur des Amor das
Öbertheil bis an die Schenkel. Berühmtes statuarisches Fragment im Belvedere des
Vatikans. Vgl. Beschreibung Roms II, 2. S. 122. Prodr. S.67, 213. Unedirt.
Concordia auf einIdol der Spes gelehnt; Revers einer Erzmünze des Commodus.
Nach Buonarroti Medaglioni XXX VIJ, 2. p. 417 ff., wo auch ein ähnlicher Typus mit
dem Avers der Sabina erwähnt wird (p. 420).
5.6. Münztypen der auf verwandte Idole gelehnten Pietas. Nach Münztypen des Caligula,
bei Morelli Thes. famil. IV, 9. 10. p. 655.
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