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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
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1885.
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BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1886.
Buchdruckerei der Königl. Akademie der Wissenschaften (G. Vogt).
Berlin, Universitäts-Stralse 8.
Inhalt.
Verzeichnils der im Jahre 1885 stattgehabten Sitzungen der Akademie
und der darin gelesenen Abhandlungen . . . . .... 8. vO—xVIı.
Bericht über die zur Beantwortung der philosophischen Pasiofraie von
1882 eingegangenen Arbeiten . . 9 XVI—XX.
Verzeichnils der im Jahre 1885 erfolgten benanderen Geldhewilizun.
gen aus akademischen Mitteln zur Ausführung oder Unterstützung
wissenschaftlicher Unternehmungen . . . . 2 2 2 2.2.2 n XZX—XxXIlM.
Verzeichnifs der im Jahre 1835 erschienenen, mit Unterstützung der
Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen Werke . . . . „ XXII—XXIV.
Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des Jahres
SD: 0 0 9 „ XXIV—XY.
Verzeichnis der Mitelieder der aldi am Se ae) dähren 1885 » XXVI—XXKIV.
DıuımAnn: Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsius . . . ......8.1—25.
Abhandlungen.
Physikalisch-mathematische Classe.
Physikalische Abhandlungen.
EICHLER: Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. (Mit 5 Tafeln). S. 1— 24.
Philosophisch-historische Classe.
SCHRADER: Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des
Sebeneh> Suse (Miele RatelE re Ab TS lt
DiELs: Über die Berliner Fragmente der ’ASyvaruv woAırsi« des Ari-
ae A) ee a ee
DIIETIS:ISenecahunds rucanW ee N ESSTDIE 54%
VI
Abhandlungen nicht zur Akademie gehöriger Gelehrter.
Physikalische Abhandlungen.
HEIDER: Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L.
(Mit. "2 Eafeln)) a. ao SS En One RE ES
Philosophisch-historische Abhandlungen.
HırscHFrELD, G.: Paphlagonische Felsengräber. Ein Beitrag zur
Kunstgeschichte Kleinasiens. (Mit 7 Tafeln) . Abh. I. S. 1—57.
SCHWEINFURTH: Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im
Uadi Gasus. Mit Bemerkungen von A. Erman.
(Mit2 ra sem) RSnae BR SEES NEUN RE 22.37
Jahr 1885.
I.
Verzeichnifs der im Jahre 1885 stattgehabten Sitzungen
der Akademie und der darin gelesenen Abhandlungen.
Öffentliche Sitzungen.
Sitzung am 22. Januar zur Feier des Jahrestages
g s
König Friedrich’s II.
Der an diesem Tage vorsitzende Secretar, Hr. Auwers, er-
öffnete die Festsitzung mit einer Ansprache.
Hierauf hielt Hr. von Sybel einen Vortrag „Zur Erinnerung
an Jacob Grimm“. Dieser Vortrag ist in den Sitzungsberichten ab-
gedruckt.
Sitzung am 19. März zur Vorfeier des Geburtstages
Sr. Majestät des Kaisers und Königs.
Hr. Mommsen, als vorsitzender Secretar, eröffnete die Sitzung
mit einer in den Sitzungsberichten mitgetheilten Festrede.
VII
Hierauf wurden die statutarisch vorgeschriebenen Jahresbe-
richte über die fortlaufenden grölseren litterarischen Unternehmun-
sen der Akademie verlesen.
Hr. A. Kirchhoff berichtete über die griechische Inschrif-
tensammlung, Hr. Mommsen über die lateinische, sowie über die
Vorarbeiten für die römische Prosopographie.
Im Namen der akademischen Commission wurde über die
Herausgabe der Commentatoren des Aristoteles berichtet.
Hr. Duncker berichtete im Namen der Commission für die
Herausgabe der politischen Correspondenz König Friedrich’s II, so-
wie über die Fortsetzung der Preulsischen Staatsschriften aus der
Regierungszeit Friedrich’s II.
Der von Hrn. Weierstrals über die Herausgabe der Werke
Jacobi’s erstattete Bericht wurde mitgetheilt.
Schlielslich folgte die gleichfalls statutarisch vorgeschriebene
Berichterstattung der mit der Akademie verbundenen Stiftungen
und wissenschaftlichen Institutionen.
Der von der vorberathenden Commission der Bopp-Stiftung
erstattete Bericht wurde vorgetragen.
Hr. E. du Bois-Reymond, als Vorsitzender des Curatoriums
der Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen, erstattete
Bericht über die Wirksamkeit der Stiftung im verflossenen Jahre.
Hr. Waitz verlas den Jahresbericht der Oentral-Direction der
Monumenta Germaniae historica.
Hr. Conze berichtete über die Thätigkeit des Kaiserlich Deut-
schen Archaeologischen Instituts im abgelaufenen Rechnungsjahre.
Die Vorträge dieser Sitzung sind sämmtlich in den Sitzungs-
berichten abgedruckt.
IX
Sitzung am 2. Juli zur Feier des Leibniz’schen Jahres-
tages.
Hr. Curtius eröffnete die Festsitzung mit einer m den
Sitzungsberichten mitgetheilten Rede.
Hierauf hielten die neu eingetretenen Mitglieder HH. Schulze
und Hirschfeld ihre von den Secretaren beantworteten und in
den Sitzungsberichten mitgetheilten Antrittsreden.
Darauf verlas Hr. Zeller den Bericht über die zur Beant-
wortung der philosophischen Preisfrage eingegangenen Arbeiten.
Zum Schlufs las Hr. Dillmann eine Gedächtnilsrede auf
das verstorbene Mitglied der Akademie, Hrn. Richard Lepsius.
Dieselbe ist in den Abhandlungen der Akademie erschienen.
Gesammtsitzungen der Akademie.
Januar 8. Scherer, Betrachtungen über Goethe’s Faust.
Hausmaninger, V., in Graz, über die Theorie des
longitudinalen Stofses eylindrischer Körper. Vor-
gelegt von G. Kirchhoff. (8. 2.)
Januar 29. Virchow, über die Verbreitung des blonden und des
brünetten Typus in Mitteleuropa. (8. B.)
Februar 12. Schmidt, über die Bildung des Nominativ pluralis
der Neutra.
Siemens, über die von Hrn. Fritts m New York
entdeckte elektromotorische Wirkung des beleuch-
teten Selens. (S. PD.)
X
Februar 26. Munk, über totale Exstirpation der Sehsphäre beim
Hunde.
Röntgen, Prof., über die elektromagnetische Wir-
kung der di@lektrischen Polarisation. Vorgelegt
von v. Helmholtz. (8. B.)
März 12. Weber, über die beiden Anukramani der Naigeya-
Schule der Samasamhitä.
Hellmann, Dr. G., über gewisse Gesetzmälsigkeiten im
Wechsel der Witterung aufeinanderfolgender Jah-
reszeiten. Vorgelest von Auwers.
Braun, Prof. F., über die Thermoälektrieität geschmol-
zener Metalle. Vorgelegt von v. Helmholtz. (S.B.)
April 9. Waldeyer, über den Bau des Rückenmarks von Gorilla
Gina.
April 23. Curtius, Beiträge zur ältesten Stadtgeschichte von
Athen.
Hölder, Dr. O., über eine neue hinreichende Bedin-
gung für die Darstellbarkeit einer Function durch
die Fourier’sche Reihe. Vorgelegt von Weierstrals.
(8. B.)
Mai 7. von Sybel, Preulsen und die Union von 1850.
Juni 4& Duncker, des Perikles Fahrt in den Pontus. (1. B.)
Hoffory, Dr. J., Erklärung zweier Strophen der Voluspa.
Vorgelegt von Scherer. (8. B.)
Juni 18. Rammelsberg, über die Gruppe des Skapoliths.
Juli 9. Weierstrals, über die analytische Darstellbarkeit soge-
nannter willkürlicher Functionen einer reellen Ver-
änderlichen. (58. 2.)
Kronecker, über das Dirichlet’sche Integral. (S. B.)
Juli 23. Hofmann, über das pentamethylirte Amidobenzol. (S.2.)
XI
Hofmann, Untersuchungen über das polymere Sulfo-
cyanmethyl:
J. über die Sulfocyanursäure;
II. über alkylirte Melamine nebst Betrachtungen
über die Constitution des Melamins und der
Cyanursäure;
III. Polymerisationen des Phenyleyanamids. (S. 2.)
October 22. Schwendener, über Scheitelwachsthum und Blatt-
stellungen.
Schneider, Dr. R., der unterirdische Gammarus von
Clausthal. Vorgelegt von Schulze. (8. B.)
November 5. Diels, über Seneca und Lucan. (Abh.)
Weber, L., Prof. in Breslau, über einen Differen-
tial-Erd-Inductor. Vorgelegt von Siemens. (. D.)
November 19. Diels, über Seneca und Lucan. 2. Theil. (AdA.)
Westermaier, Dr. M., zur physiologischen Bedeu-
tung des Gerbstoffes in den Pflanzen. Vorgelest
von Schwendener. (5. D.)
December 3. Mommsen, über die ökonomischen Verhältnisse
und insbesondere die Bodenwirthschaft der römi-
schen Kaiserzeit.
December 17. Brunner, die Landschenkungen der Merowinger
und der Agilolfinger. (S. 2.)
Sitzungen der physikalisch-mathematischen Qlasse.
Januar 15. Kronecker, einige Anwendungen der näherungswei-
sen ganzzahligen Auflösung linearer Gleichungen.
b*
2.901
Fuchs, über den Charakter der Integrale von Diffe-
rentialgleichungen complexer Variabeln. (5. 2.)
Schering, E., zum dritten Gauss’schen Beweis des
Reciproecitätsgesetzes für die quadratischen Reste.
(S. B.)
Fritsch, Prof. G., über die Organisation des Gymnar-
chus nilotieus. Vorgelegt von E. du Bois-Reymond.
(S. B.)
Wilsing, Dr. J., über die Anwendung des Pendels
zur Bestimmung der mittleren Dichtigkeit der Erde.
Vorgelegt von Auwers. (8. 2.)
Februar 5. Websky, über die Vanadinsäure enthaltenden Bleierze
aus der Provinz Cordoba (R. A.). (8. B.)
Rammelsberg, über die Oxyde des Mangans und
Urans. (08. 2))
Koganei, Dr. J., über den Bau der Iris. Vorgelegt
von Waldeyer. (8. 2.)
Mendelssohn, Dr. M., Untersuchungen über Reflexe.
3. Mittheilung. Vorgelegt von E. du Bois-Reymond.
(S. B.)
Chun, Prof. C., über Entwickelung der Sinophoren.
Vorgelegt von Schulze. (8. 2.)
Februar 19. Schulze, über das Verhältnils der Spongien zu den
Choanoflagellaten. (8. 2.)
März 5. Eichler, zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblät-
ter. (Abdh.)
März 26. Landolt, über die Zeitdauer der Reaction zwischen
Jodsäure und schwefeliger Säure. 2. Theil. (S. 2.)
Rüdorff, Prof. Fr., über die Löslichkeit von Satzge-
mischen. Vorgelegt von Rammelsberg. (8. 2.)
XIH
Müller-Erzbach, Dr. W., über die Dissociation was-
serhaltiger Salze und daraus abgeleitete Folgerun-
gen über die Constitution der Salzbestandtheile.
Vorgelegt von Rammelsberg. (5. B.)
April 16. Schwendener, einige Beobachtungen an Milchsaftge-
fälsen. (8. 2.)
Albrecht, Prof. P., über die im Laufe der phyloge-
netischen Entwickelung entstandene, angeborene
Spalte des Brustbeinhandgriffes der Brüllaffen.
Vorgelegt von Waldeyer. (8. B.)
April 30. Kronecker, die absolut kleinsten Reste reeller Grös-
sen. . (8. B.)
Mai 21. Noetling, Dr., über Crustaceen aus dem Tertiär Aegyp-
tens. Vorgelegt von Beyrich. (8. B.)
Schweinfurth, Prof. G., über alte Baureste und hiero-
glyphische Inschriften im Uadi Gasus. Vorgelegt
von Beyrich. (Abh.)
Burmeister, Prof. H., Berichtigung zu Coelodon. (S. B.)
Steiner, Dr. Is., die Lehre von den Zwangsbewegungen
des Frosches. Vorgelegt von E. du Bois-Reymond.
(SB)
Juni 11. Roth, über die von Hrn. Dr. Paul Güssfeldt in Chile
gesammelten Gesteine. (5. B.)
Roth, über eine von ihm im Jahre 1881 ausgeführte
geologische Reise in Schweden.
Juni 25. Auwers, Mittheilung von Beobachtungen der Sonnen-
finsternils vom 16. Mai 1882 in Berlin, Potsdam
und Stralsburg und deren Ergebnissen.
Berendt, Prof., über das Tertiär im Bereiche der Mark
Brandenburg. Vorgelegt von Beyrich. (5. B.)
XIV
Juli 16.
Juli 30.
E. du Bois-Reymond, lebende Zitterrochen in Berlin.
Zweite Mittheilung. (8. 2.)
Kronecker, über eine bei Anwendung der partiellen
Integration nützliche Formel. (5. 5.)
Fuchs, über eine Classe linearer Differentialgleichungen
zweiter Ordnung. (8. 2.)
Kronecker, zur Theorie der elliptischen Functionen. (S. 2.)
Kronecker, über den Cauchy’schen Satz. (8. B.)
Weierstrals, über die analytische Darstellbarkeit soge-
nannter willkürlicher Functionen einer reellen Ver-
änderlichen. Zweite Mittheilung. (S. B.)
Noetling, Prof. F., Bericht über die von ihm unternom-
mene geognostische Forschungsreise im Öst-Jor-
danland. Vorgelegt von Roth. (8. 5.)
Weber, Prof. H. F., über das Wärmeleitungsvermö-
gen der tropfbaren Flüfsigkeiten. Vorgelegt von
v. Helmholtz. (8. 5.)
Wien, W., über den Einfluls der ponderablen Theile
auf das gebeugte Licht. Vorgelest von v. Helm-
holtz. (8.B.)
November 12. Kirchhoff, G., zur Theorie der Gleichgewichts-
vertheilung der Elektricität auf zwei leitenden Ku-
geln. (8. B.)
Kundt, über die elektromagnetische Drehung der
Polarisationsebene des Lichtes im Eisen. (S. B.)
von Lendenfeld, Dr. R., über das Nerven- und
Muskelsystem der Hornschwämme. Vorgelegt von
Schulze.21(8.2%)
Wiebe, H. F., weitere Mittheilungen über den
Einfluls der Zusammensetzung des Glases auf die
November 26.
December 10.
XV
Nachwirkungs-Erscheinungen bei Thermometern.
Vorgelegt von Auwers. (8. B.)
von Helmholtz, die Elektrodynamik nach Fara-
day-Maxwell’s Hypothese zurückgeführt“auf Hamil-
ton’s Princip.
Kronecker, über die absolut kleinsten Reste
reeller Grölsen. (8. B.)
von Jhering, Dr. H., über die Fortpflanzung
der Gürtelthiere. Vorgelegt von Waldeyer. (S. B.)
Heider, Dr. K., über die Anlage der Keimblät-
ter von Hydrophilus piceus L. Vorgelegt von
Schulze. (Abh.)
Virchow, über krankhaft veränderte Knochen al-
ter Peruaner. (8. 2.)
Sitzungen der philosophisch-historischen (lasse.
Januar 15. Brunner, über das Alter der lex Alamannica. (8. B.)
Menadier, Dr., über die Funde römischer Münzen
in den Dorfschaften Venne und Engter. Vorge-
legt von Mommsen. (8. B.)
Mommsen, über die Örtlichkeit der Varusschlacht.
(S. B.)
Gerhardt, über neu gefundene Manuscripte von Leib-
mizm SE.)
Februar 5. Pernice, über Ulpian als Schriftsteller. (S. 2.)
Februar 19. Schott, über eine illustrirte Bekanntmachung der
strafenden Gerechtigkeit in China. (8. 2.)
XVI
März 26. Kiepert, über den Gewinn für antike Geographie aus
türkischen Quellen.
April 16. Kirchhoff, A., über ein Selbsteitat Herodot’s. (5. B.)
April 30. Zeller, über den Ursprung der Schrift von der Welt.
(8. B.)
Mai 21.. Diels, über die Berliner Fragmente der "ASyvawv Terıreia
des Aristoteles. (Abh.)
Curtius, über das Heilisthum des Kodros, des Neleus
und der Basile in Athen. (8. 2.)
Juni 11. Vahlen, über die Elektra des Euripides.
Scherer, über altdeutsche Sagen. (S. B.)
Euting, Prof., epigraphische Mittheilungen. Vorgelegt
von Dillmann. (8. 2.)
Juni 25. Waitz, über den sogenannten Catalogus Felicianus der
Päpste.
Juli 16. Schrader, die Keilinschriften am Eingang der Quell-
grotte des Sebeneh-Su. (Abh.)
Juli 50. Dillmann, über Pithom, Hero, Kiysma nach Nawville.
(S. B.)
Foerster, Prof. R., über Handschriften des Libanios.
Vorgelegt von A. Kirchhoff. (S. 2.)
October 29. Tobler, über ein Lied Bernarts von Ventadour.
(S. B.)
November 12. Wattenbach, über die Inquisition, welche von
dem Coelestiner Petrus gegen die Waldenser in
Pommern und der Mark Brandenburg in den Jah-
ren 1393 und 1394 geführt wurde.
Lolling, Archaische Inschriften. Vorgelest von
A. Kirchhoff. (8. B.)
XVII
November 26. Mommsen, über die römische Legende von Kö-
nig Tatius.
December 10. Pernice, zum römischen Sacralrechte. I. (S. 2.)
Die mit S. B. bezeichneten Vorträge sind in den Sitzungsberichten, die
mit Abh. bezeichneten in den Abhandlungen aus dem Jahre 1885 abgedruckt.
1.
Bericht über die zur Beantwortung der philosophischen
Preisfrage von 1882 eingegangenen Arbeiten.
In ihrer öffentlichen Sitzung vom 29. Juni 1882 hatte die
Akademie zu Preisarbeiten eingeladen, deren Thema in den Wor-
ten ausgedrückt war:
„Die Akademie wünscht eine Darstellung und Prüfung der
Theorieen über den Ursprung, den Sinn und die Geltung
des Causalitätsgesetzes, welche auf die wissenschaftliche
Entwickelung der letzten drei Jahrhunderte Einfluls ge-
wonnen haben.“
Diese Aufgabe hat drei Bearbeitungen gefunden.
Die erste von diesen, mit dem Motto: „Suum cuique“, wel-
che in französischer Sprache abgefalst ist, und schon vor dem
€
xVII
Ende des Jahres 1883 einging, macht den Eindruck einer Schrift,
die in ihrem Hauptkörper nach einem andern Plan ausgeführt, der
von der Akademie gestellten Aufgabe erst nachträglich und un-
vollständig angepalst wurde. Nur ein Drittheil derselben ist näm-
lich der Geschichte der Theorieen über das Causalgesetz gewidmet,
während der doppelt so starke Rest in einer selbständigen philoso-
phischen Erörterung besteht, welche über das Gesetz der Causali-
tät weit hinausgeht. In seinen historischen Ausführungen beschränkt
sich der Verfasser auf das allgemein bekannte, und er behandelt
auch dieses oberflächlich und ungenügend, mit starken Verstölsen
im einzelnen, und bemüht sich weder um eine klare Hervorhebung
der Momente, auf die es für die Lösung der vorliegenden Aufgabe
ankam, noch um eine tiefere Erkenntnils des geschichtlichen Zu-
sammenhangs. Seine Schrift würde daher den von der Akademie
zu stellenden Anforderungen auch dann nicht entsprechen, wenn
die systematische Ausführung ihres zweiten Theils tiefer in den
Gegenstand eindränge und ihn mit gröfserer Schärfe behandelte,
als dies — trotz einzelner treffenden Bemerkungen und guten Aus-
einandersetzungen — geschehen ist.
Noch weniger genügt eine zweite Arbeit mit dem Motto:
„Ratio suffieciens“, da dieselbe statt der von der Akademie ver-
langten Geschichte und Beurtheilung der neueren Theorieen über
das Causalgesetz lediglich die eigenen, nicht sehr tief gehenden,
Reflexionen des Verfassers enthält, und dabei nur ein paarmal auf
einige von den bekanntesten früheren Philosophen einen flüchtigen
Blick wirft.
Viel gründlicher verfährt die dritte Arbeit, welche, 711 Fo-
lioseiten stark, das Motto trägt: „Vere scire est per causas scire*“.
Auch sie deckt sich zwar, ihrem Umfang und ihrer Abzweckung
nach, nicht genau mit der Aufgabe, deren Lösung die Akademie
XIX
gewünscht hatte; denn nur ihr erster Theil, drei Fünftel des Gan-
zen umfassend, beschäftigt sich mit den neueren Theorieen über
die Causalität, der zweite dagegen bringt speculative Untersuchun-
gen über diesen Gegenstand, welche die Grenzen der von der Aka-
demie gestellten Aufgabe zu weit überschreiten, um bei der Frage
nach der Beantwortung der letzteren in Betracht kommen zu kön-
nen, welche aber auch an sich selbst in ihrer dogmatischen Hal-
tung zur wissenschaftlichen Erkenntnils der Frage wenig beitragen.
Dagegen werden in dem ersten Theil die Ansichten von mehr als
vierzig Philosophen, theils ausführlicher, theils kürzer, dargestellt
und beurtheilt. So anerkennenswerth aber auch der Fleils und
die Sorgfalt ist, welche der Verfasser diesem Theil seiner Schrift
gewidmet hat, so leidet er doch, auch abgesehen von minder wich-
tigen Einzelheiten, an sehr erheblichen Mängeln. Für’s erste geht
nämlich aus der ganzen Darstellung hervor, dafs sich ihr Urheber
die ihm gestellte Aufgabe nicht klar gemacht hat. Während die
Akademie eine Darstellung und Prüfung der Theorieen über das
Causalitätsgesetz verlangt hatte, beschäftigt sich der gröfsere Theil
seiner Ausführungen nicht speciell mit den hierauf bezüglichen
Untersuchungen der von ihm besprochenen Philosophen, sondern
mit dem ganzen Inhalt ihrer Systeme; was sich ihnen dagegen in
Beziehung auf den Ursprung, den Sinn und die Geltung des Cau-
salitätsgesetzes entnehmen lälst, tritt bei den meisten durchaus
nicht scharf und klar hervor. Wenn ferner der Werth einer mo-
nographischen Untersuchung, wie die von der Akademie verlangte,
neben anderem wesentlich auch darauf beruht, dals ihre Angaben
durch einen in’s einzelne gehenden Nachweis ihrer Urkundlichkeit
sichergestellt werden, so hat es der Verfasser hieran viel zu sehr
fehlen lassen, und einzelne der von ihm besprochenen Theorieen
scheint er überhaupt nur aus secundären Quellen zu kennen.
c®
XX
Auch hinsichtlich der Vollständigkeit und Gleichmälsigkeit in der
Benutzung des geschichtlichen Materials ist namentlich in den Ab-
schnitten seiner Arbeit, welche sich mit den letzten Jahrzehenden
beschäftigen, manches zu vermissen. Ein wesentlicher Mangel die-
ser Arbeit besteht endlich darin, dafs sie sich fast durchweg be-
gnügt, die Philosophen einzeln an einander zu reihen, statt zu zei-
gen, um welche Fragen es sich bei der Untersuchung über das
Causalitätsgesetz handelt, wie weit man in der Beantwortung der-
selben bis zum 16. Jahrhundert gekommen war, was jeder von den
Späteren zur Berichtigung und Ergänzung seiner Vorgänger that,
welche Anregungen und Einflüsse er von ihnen erfuhr und wie er
seinerseits auf seine Nachfolger einwirkte. Auch diese Lösung der
von der Akademie gestellten Aufgabe kann daher als eine befrie-
digende nicht anerkannt werden.
IN.
Verzeichnifs der im Jahre 1885 erfolgten besonderen Geld-
bewilligungen aus akademischen Mitteln zur Ausführung
oder Unterstützung wissenschaftlicher Unternehmungen.
8000 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. A. Kirchhoff zur
Fortsetzung des Corpus Inseriptionum Graecarum.
38000 „dem Mitgliede der Akademie Hrn. Mommsen zur fer-
neren Herstellung von Supplementen zum Corpus In-
scriptionum Latinarum.
XXI
500 Mark demselben zur Fortführung der Prosopographie der rö-
4500
6000
2500
600
800
2000
”
”
”
”
”
”
”
mischen Kaiserzeit.
den Mitgliedern der Akademie HHrn. Zeller, Bonitz,
Vahlen und Diels zur Fortsetzung der Arbeiten für
eine kritische Ausgabe der griechischen Commentato-
ren des Aristoteles.
den Mitgliedern der Akademie HHrn. Duncker und
von Sybel zur Fortsetzung der Herausgabe der politi-
schen Correspondenz und der Staatsschriften König
Friedrich’s I.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Weierstrals zur
Fortsetzung der Herausgabe der Werke Jacobi’s.
dem Hrn. Landolt zu seinen fortgesetzten Untersu-
chungen über die chemischen Reactionen.
zur Anschaffung eines Box-Chronometers für die aka-
demische Instrumenten -Sammlung.
den HHrm. Dr. Arthur König und Dr. Franz Richarz
zu einer Bestimmung der mittleren Dichtigkeit der Erde.
dem Hrn. Dr. Rohde in Breslau für Ausführung von
Untersuchungen über Chaetopoden in der Zoologischen
Station zu Neapel.
dem Hrn. Dr. Joh. Walther in München zur Bearbei-
tung einer Sedimentkarte des Golfs von Neapel.
dem Hrn. Dr. Noetling in Königsberg i. Pr. zur geo-
logischen Erforschung der südöstlichen Abhänge des
Hermongebirges.
dem Hrn. Professor Dohrn in Neapel als weitere Un-
terstützung zur Fortführung des von der Zoologischen
Station in Neapel herausgegebenen Jahresberichts über
die Fortschritte der Zoologie.
XXI
5000 Mark dem Hrn. Professor Goebel in Rostock zu einer bo-
600
800
3000
1500
2000
2500
1000
2000
4500
1800
900
tanischen Forschungsreise nach den Tropen.
dem Hrn. Dr. OÖ. Zacharias in Hirschberg i. Schl. zu
einer faunistischen Untersuchung der Seefelder in der
Grafschaft Glatz.
dem Hrn. Professor L. Koch m Heidelberg zur Heraus-
gabe eines Werkes über Orobanchen.
dem Hrn. Professor Krause in Göttingen zu Untersu-
chungen über Nervenendigungen an Seefischen, speciell
des Mittelländischen Meeres.
dem Hrn. Professor Stenzel in Breslau zur Heraus-
gabe des Göppert’schen Nachlasses über fossile Coni-
feren.
dem Hrn. Premier-Lieutenant a. D. M. Quedenfeldt
hierselbst für eine naturwissenschaftliche Reise nach
Marocco.
dem Hrn. Professor Selenka in Erlangen zum Ankauf
von Beutelthieren u. s. w. zur Fortsetzung seiner em-
bryologischen Studien.
dem Hrn. Dr. Will in Rostock zu Studien über Eibil-
dung bei den Hydroiden auf der Zoologischen Station
in Neapel.
zur Unterstützung des Drucks von Brinker’s Wörter-
buch und Grammatik der Sprache der Herero im Da-
maraland und der Ovambo in Ondonaa.
für die Publication über Nemruddagh und die Ancyra-
Expedition an die D. Reimer’sche Buchhandlung hier-
selbst, und für dieselbe
dem Hrn. Dr. Humann und
dem Hrn. Dr. Puchstein als Honorar.
XXI
563 Mark dem Hrn. Professor Hübner hierselbst als Restkosten
900
180
”
”
B2)
zur Anfertigung von Zinktypen für die Exempla scrip-
turae.
der G. Reimer’schen Buchhandlung hierselbst als Beitrag
zur Herausgabe von Euting’s Nabatäischen Inschriften.
dem Hrn. Professor Partsch in Breslau zur Bereisung
der Ionischen Inseln behufs geographischer Studien.
dem Hrn. Dr. Lohmeyer in Kassel, zur Benutzung der
Handschriften des Willehalm Ulrichs von Türheim.
dem Hrn. Dr. Gaedertz hierselbst zum Besuch frem-
der Bibliotheken zum Studium über das niedersächsi-
sche Theater.
dem Hın. Dr. Menadier hierselbst zur Beschreibung
der Münzfunde bei Veene.
dem Hrn. Dr. Deufsen hierselbst als Zuschuls zur
Drucklegung seiner Ausgabe der Philosophie der Inder.
dem Hrn. Dr. Moritz, z. Z. in Damascus, zur Berei-
sung von Nord-Syrien.
dem Hrn. Dr. Winkler in Breslau als Unterstützung zu
sprachlichen Forschungen bei Bereisung der europäi-
schen Orientländer.
der G. Reimer’schen Buchhandlung hierselbst zur Her-
ausgabe des 3. Heftes des 5. Bandes der Etruskischen
Spiegel.
XXIV
IN:
Verzeichnifs der im Jahre 1S85 erschienenen mit Unter-
stützung der Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen
Werke.
Corpus inscriptionum latinarum. Vol. VI, P.V. Berlin.
Politische Correspondenz König Friedrich’s I. Bd. XIII. Berlin.
Supplementum Aristotelieum. WVol.I. 1. Aristophanis epitome etc.
ed. Lambros. Berlin.
Weber, A., Indische Studien. Bd. XVIl.
Euting, Nabatäische Inschriften. Berlin.
Dohrn, Jahresbericht der Zoologischen Station in Neapel für 1884.
Abth. I. II. II. IV. Berlin.
Leibnizens Philosophische Schriften. Herausgegeben von Gerhardt.
Bd. VI. Berlin.
V.
Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe
des Jahres 1885.
Gewählt wurden:
zum ordentlichen Mitgliede der philosophisch - historischen
Olasse:
Hr. Otto Hirschfeld am 11. December 1884, bestätigt durch Kö-
nigliche Cabinetsordre vom 9. März 1885;
zum auswärtigen Mitgliede der physikalisch- mathematischen
Olasse:
Hr. August Kekule in Bonn, bisher correspondirendes Mitglied,
am 29. Januar 1885, bestätigt durch Königliche Cabinetsordre
vom 2. März 1885;
Hr:
Hr.
Hr.
XXV
zum auswärtigen Mitgliede der philosophisch - historischen
Ulasse:
Otto von Boehtlingk in Leipzig, bisher eorrespondirendes
Mitglied, am 18. Juni 1885, bestätigt durch Königliche Cabi-
netsordre vom 30. November 1885;
zu correspondirenden Mitgliedern der physikalisch -mathe-
matischen Ulasse:
Wolecott Gibbs in Cambridge, Mass., am 29. Januar 1885,
Friedrich von Recklinghausen in Strafsburg i. E. am 26.
Februar 1885;
zu correspondirenden Mitgliedern der philosophisch - histo-
rischen Ulasse:
. Kuno Fischer im Heidelberg am 29. Januar 1885,
Christoph Sigwart in Tübingen am 29. Januar 1885.
Gestorben sind:
das Ehrenmitglied:
Johann Jacob Baeyer am 11. September 1885;
die correspondirenden Mitglieder der physikalisch - mathe-
matischen Classe:
Carl Theodor Ernst v. Siebold in München am 7. April 1885,
Friedrich Gustav Jacob Henle in Göttingen am 13.Mai 1885,
Henri Milne Edwards in Paris, am 29. Juli 1885,
Louis Rene Tulasne in Paris am 22. December 1885;
die correspondirenden Mitglieder der philosophisch - histo-
rischen Classe:
Leon Renier in Paris am 11. Juni 1885,
Georg Curtius in Leipzig am 7. August 1885,
Emile Egger in Paris am 30. August 1885,
Willem Jonckbloet im Wiesbaden am 19. October 1885,
Samuel Birch in London am 29. December 1885.
XXVI
Verzeichnils
der
Mitglieder der Akademie der Wissenschaften
am Schlusse des Jahres 1883.
I. Beständige Secretare.
Hr. du Bois- Reymond, Secr. der phys.-math. Classe.
- Curtius, Secr. der phil.-hist. Classe.
- Mommsen, Secr. der phil.-hist. Classe.
- Auwers, Secr. der phys.-math. Classe.
II. Ordentliche Mitglieder
der physikalisch-mathematischen der philosophisch-historischen
Classe. Classe.
.
Hr. Leopold v. Ranke
- Wilhelm Schott
Hr. Emil du Bois-Reymond EHRT SEM.
- Heinrich Kiepert .
- Heinr. Ernst Beyrich
- Jul. Wilh. Ewald
- Karl Friedr. Rammelsberg
- Ernst Eduard Kummer
- Karl Weierstra/s . N N he
- Albrecht Weber
- Theodor Mommsen
- Adolf Kirchhof
Datum der Königlichen
Bestätigung.
1832 Febr. 13.
1841 März 9.
185i März 5.
1853 Juli 25.
1853 Aug. 15.
1853 Aug. 15.
1855 Aug. 15.
1855 Dec. 10.
1856 Nov. 19.
1857 Aug. 24.
1858 April 27.
1860 März 7.
der physikalisch-mathematischen
Hr.
Classe.
Leopold Kronecker
Aug. Wilh. Hofmann
Arthur Auwers
Justus Roth .
Nathanael Pringsheim .
Gustav Robert Kirchhof .
Hermann von Helmholtz
Werner Siemens
Rudolph Virchow .
Martin Websky
Simon Schwendener .
Hermann Munk
August Wilhelm Eichler
Hans Landolt .
Wilhelm Waldeyer
Lazarus Fuchs .
Franz Eilhard Schulze.
der philosophisch-historischen
Classe.
en nn
Hr. Ernst Curtus .
Hermann Bonitz .
Eduard Zeller .
Max Duncker
Johannes Vahlen .
Georg Waitz
Eberhard Schrader
Heinrich von Sybel
August Dillmann .
Alexander Conze .
Adolf Tobler
Wilhelm Wattenbach
Hermann Diels
Wilhelm Scherer .
Alfred Pernice
Heinrich Brunner .
Johannes Schmidt.
Otto Hirschfeld
XXVI
Datum der Königlichen
Bestätigung.
1861 Jan. 23.
1862 März 3.
1865 Mai 27.
1866 Aug. 18.
1867 April 22.
15867 Dec. 27.
1868 Aug. 17.
1870 März 19.
1870 Juni 1.
1872 Dee. 9.
1373 Mai 14.
Lea Dec22:
1873 Dec. 22.
1874 Dec. 16.
1875 April 3.
1875 Mai 24.
1875 Juni 14.
1875 Dec. 20.
1877 März 28.
1877 Apnil 23.
11829 Juli 12.
1880 März 10.
1880 März 10.
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1884 Febr. 18.
1884 April 9.
1884 April 9.
1884 April 9.
18854 April 9.
1884 April 9.
1884 Juni 21.
1885 März 9.
d*
XxVII
der physikalisch-mathematischen Classe.
III. Auswärtige Mitglieder
Hr.
Franz Neumann in Königs-
berg
Robert Wilhelm Bunsen ın
Heidelberg
Wilhelm Weber in Göttingen
Hermann Kopp in Heidel-
berg
Richard Owen in London .
George Biddell Airy in
Greenwich
Charles Hermite in Paris
August Kekule ın Bonn .
der philosophisch-historischen Classe.
Sir Henry Rawlinson in
London
Hr. Franz Ritter v. Miklosich
in Wien .
Lebrecht Fleischer in
Leipzig .
Giovanni Battista de Rossi
ın Rom . us
August Friedrich Pott ın
Halle a. S..
Otto von Boehtlingk in
Leipzig .
Datum der Königl.
Bestätigung.
De
1850 Mai 18.
1858 Aug. 18.
1862 März 3.
1862 März 24.
1863 Juli 11.
1874 April 20.
1874 Mai 13.
1875 Juli 9.
1877 Aug. 17.
1878 Dee. 2.
1879 Febr. 8.
1854 Jan. 2.
1885 März 2.
1885 Nov. 30.
IV. Ehren-Mitglieder.
Hr. Peter von Tschichatschef ın Florenz
- Graf Helmuth v. Moltke m Berlin
Don Baldassare Boncompagni in Rom
Hr. Georg Hanssen in Göttingen
- (Carl Johann Malmsten m Upsala
S. M. Dom Pedro, Kaiser von Brasilien . 5
Earl of Crawford and Balcarres in Dunecht, Auen
XXIX
Datum der Königlichen
Bestätigung.
m
1853 Aug. 22.
1860 Juni 2.
1862 Juli 21.
1869 April 1.
1880 Dec. 15.
1882 Oct. 18.
1883 Juli 30.
XXX
V. Correspondirende Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Classe.
Hr. Hermann Abich in Wien
Adolf von Baeyer in München
Anton de Bary in Stralsburg
Eugenio Beltrami in Pavia .
P. J. van Beneden in Löwen
Enrico Betti in Pisa
Jean-Baptiste Boussingault in Be .
Francesco Brioschi in Mailand
Ole Jacob Broch in Christiania .
Ernst von Brücke in Wien .
Hermann Burmeister in Buenos Aires
Auguste Cahours in Paris
Alphonse de Candolle in Genf
Arthur Cayley in Cambridge .
Michel- Eugene Chevreul in Paris
Elvin Bruno Christofel in Strafsburg
Rudolph Julius Emmanuel Clausius in Bonn
James Dana in New Haven .
Ernst Heinrich Karl von Dechen in Ba
Richard Dedekind in Braunschweig
Franz Cornelius Donders in Utrecht .
Gustav Theodor Fechner in Leipzig .
Louis-Hippolyte Fizeau in Paris .
Edward Frankland in London
Datum der Wahl.
1858
1884
1878
1881
1855
1881
1856
1881
1876
1854
1874
1867
1874
1866
1834
1868
1876
1855
1842
1880
1873
1841
1863
1875
Oct. 14.
Jan. 17.
Dee. 12.
Jan. 6.
Juli 26.
Jan. 6.
April 24.
Jan. 6.
Febr. 3
April 27.
April 16.
Dee. 19.
April 16.
Juli 26.
Juni 5.
April 2.
März 30.
Juli 26.
Febr. 3.
März 11.
April 3.
März 25.
Ausg. 6.
Nov. 18
. Carl Gegenbaur in Heidelberg
Woleott Gibbs m Cambridge, ehe :
Benjamin Apthorp Gould in Wollaston, Massachusetts .
Asa Gray in Cambridge, Massachusetts och
Franz von Hauer in Wien .
Rudolf Heidenhain ın Breslau . :
Johann Friedrich Hittorf ın Münster .
Joseph Dalton Hooker in Kew
. Thomas Huxley in London
Joseph Hyrtl in Wien
Theodor Kjerulf in Ehastianın
Albert von Kölliker in Würzburg
Friedrich Kohlrausch in Würzburg
August Kundt in Stralsburg .
Rudolph Lipschitz in Bonn . :
Sven Ludvig Loven in Stockholm .
Karl Ludwig in Leipzig
Charles Marignac in Genf ANNE
Gerardus Johannes Mulder in Bennekan Ib Wögeniigen
Karl von Nägeli in München.
Simon Newcomb in Washington .
Eduard Pflüger m Bonn 5 :
Friedrich August von Quenstedt in en
Georg Quincke in Heidelberg
Gerhard vom Rath in Bonn
Friedrich von Recklinghausen in Strafsburg
Ferdinand von Richthofen in Leipzig .
Ferdinand Römer in Breslau .
Georg Rosenhain in Königsberg .
George Salmon in Dublin
Arcangelo Scacchi in Neapel . ale:
Ernst Christian Julius Schering in Göttingen
Giovanni Virginio Schiaparelli in Mailand
Ludwig Schläfli in Bern . 5
Heinrich Schröter in Breslau . 2
Philipp Ludwig von Seidel in München.
Japetus Steenstrup in Kopenhagen .
George Gabriel Stokes in Cambridge .
XXXI
Datum der Wahl.
es
1884 Jan. 17.
1885 Jan. 29.
1883 Juni 7.
1855 Juli 26.
1881 März 3.
1884 Jan. 17.
18854 Juli 31.
1854 Juni 1.
1865 Aug. 3.
1857 Jan. 15.
1881 März 3.
1873 April 3.
1884 Juli 31.
1879 März 13.
1872 April 18.
1875 Juli 8
1864 Oct. 27.
1865 März 30.
1845 Jan. 23.
1874 April 16.
1883 Juni 7.
1873 April 3.
1868 Apnil 2.
1879 März 13.
1871 Juli 13.
1885 Febr. 26.
1881 März 3.
1869 Juni 3.
1859 Aug. 11.
1873 Juni 12.
1872 April 18.
1875 Juli 8
1879.0.ct. 23.
1873 Juni 12.
1881 Jan. 6.
1863 Juli 16.
1859 Juli 11.
1859 April 7.
_
XXXI
Hr. Otto von Struve ın Pulkowa .
Sir
Bernhard Studer in Bern . |
James Joseph Sylvester in London .
William Thomson in Glasgow
Hr. August Töpler in Dresden .
Pafnuti; Tschebyschew in St. Betersburn
Gustav Tschermak in Wien
Gustav Wiedemann in Leipzig
Heinrich Wild in St. Petersburg i
Alexander William Williamson in London .
August Winnecke in Strafsburg
Philosophisch-historische Classe.
. Theodor Aufrecht in Bonn .
George Bancroft in Washington .
Heinrich Brugsch in Charlottenburg .
Heinrich von Brunn in München .
Franz Bücheler in Bonn.
Georg Bühler in Wien
Giuseppe Canale in Genua
Antonio Maria COeriani in Mailand
Alexander Cunningham in London
Leopold Delisle in Paris
Wilhelm Dittenberger in Halle
Ernst Dümmler in Halle
Petros Eustratiades in Athen .
Giuseppe Fiorelli in Rom .
Kuno Fischer in Heidelberg .
Paul Foucart in Athen 6
Karl Immanuel Gerhardt in msn
Wilhelm von Giüesebrecht in München
Konrad Gislason in Kopenhagen
Graf Giambattista Carlo Giuliari in lercnn
Datum der Wahl.
JVT|T—— — — — —
1868 April 2.
1845 Jan. 13
1866 Juli 26.
1871 Juli 13.
1879 März 13.
1871 Juli 13.
1881 März 3.
1879 März 13.
1881 Jan. 6.
1875 Nov. 18.
1879 Oct. 23.
1864 Febr. 11.
1845 Febr. 27.
1573 Febr. 13.
1866 Juli 26.
1882 Juni 15.
1878 April 11.
1862 März 13.
1869 Nov. 4.
1875 Juni 17.
1867 April 11.
1882 Juni 15.
1882 März 30.
18570 Nov. 3.
1865 Jan. 12.
1885 Jan. 29.
1854 Juli 24.
1861 Jan. 31.
1859 Juni 30.
1854 März 2.
1867 April 11.
XXXxIIl
Datum der Wahl.
we
p-
Hr. Aureliano Fernandez Guerra y Orbe in Madrid. 1861 Mai 30.
- Friedrich Wüh. Karl Hegel in Erlangen . . . 1876 April 6.
Emile Heitzum N Stealsburen al alı20:
Wilhelm Henzen, on kom 2 27718537 Juniele.
- Paul Hunfaloy m Pesth... :. STB eBehraler
- Friedrich Imhoof- Blumer ın hoch SIR und:
Se VortmoslavnJagienın St“ Betersburn. 2. 2...,22.221880, Dec. 16;
SE Heinen Keilmnwrlallenı 3 2 Se SS 2 und!
- Franz Kielhorn in Göttingen. . . .» . ..... 1880 Dec. 16.
- Ulrich Koehler in Athen . . . . EN SKKOERNEOYENSN
- Sigismund Wilhelm Koelle in Ten la Marl0!
- Stephanos Kumanudes in Athen . . . .. . 1870 Now. 3.
- Konrad Leemans in Leiden . . ». .......1844 Mai 9.
- Giacomo Lumbroso in Pisa . . . er Noy2 2‘
- Johann Nicolas Madvig in Kopenhagen 20230183000 Junı23%
- Giulio Minervinv n Neapel . . . . ...... 1852 Juni 17.
- Ludvig Müller mn Kopenhagen . . . . . . . 1866 Juli 26.
= Aloe, Allplllar on Osaoıl 6 0 0 Ka oe Be N ee 1
- August Nauck in St. Petersburg . . . . . . 1861 Mai 30.
- Charles Newton n London . . .........1861 Jan. 31.
- Theodor Nöldeke in Stralsburg . . . . . . . 1878 Febr. 14
Julusn Opperen na Bars a er 2118627 0 Märzua:
= Gaston Barisın Baris ın 2.2 2222. 02118822 April 20.
I @eongess Berrot nm Bars 0 ler Jul 2.
- Karl von Prantl n München . . ... .. .. 1874 Febr. 12.
SRzoNRomgabe, ınnBerlinn 2 2 2180 Aprl10:
Renz Ravanssonamı Bars 1a 2 sa uno:
- Ernest Renan ın Paris . . . 1859 Juni 30.
- Alfred von Reumont in ed ha en. 1854 Juni 15.
- Georg Rosen n Detmold . . ......... 1858 März 25.
SrRudolph Rotknan Rübineen, u... 0.2... 22 2l86ole Jan. a1
SBugene de, Roziene, in Barıs ......202 02000072.01864 Kebr. 11
- Hermann Sauppe in Göttingen . . » . . . . 1861 Jan. 31.
A mReodon Sickelnnı\waenı 87er AprılN6:
- Christoph Sigwart in Tübingen . . . . . . . 1885 Jan. 29
- Friedrich Spiegel in Erlangen. . . . . . . .. 1862 März 13.
. Aloys Sprenger in Heidelberg . . . - . . . 1858 März 25.
- Adolf Friedrich Stenzler in Breslau . . . . . 1866 Febr. 15
e
XXXIV
Hr. Ludolf Stephani in St. Petersburg
Wilham Stubbs in Chester.
Theodore Hersant de la Villemargue in Da
Lowis Vivien de Saint- Martin in Paris
Matthias de Vries ın Leiden .
. William Waddington in Paris
Natalis de Wailly in Paris
Friedrich Wieseler in Göttingen .
William Dwight Whitney in New En
Jean-Joseph-Marie- Antoine de Witte in Paris.
William Wright in Cambridge
Ferdinand Wüstenfeld in Göttingen
K. E. Zachariae von Lingenthal in Go n nlen
Datum der Wahl.
1875
1882
1851
1867
1861
1866
1858
1879
1873
1845
1868
1879
1866
en
Juni 17.
März 30.
April 10.
April 11.
Jan. 31.
—
Febr. 15.
März 25.
Febr. 27.
Febr. 13.
Febr. 27.
Nov. 5.
Febr. 27.
Juli 26.
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsius.
Von
H" DILLMANN.
Gedächtni/sreden 1885. 1
‚Arkiagäck |
An 10. Juli v. J. ist Richard Lepsius, einer der ältesten, der ver-
dienstvollsten, der berühmtesten aus unserem Kreise geschieden. Was er
war und wie er es wurde, wollen wir uns noch einmal vergegenwärtigen.
Das Wort dazu ist mir durch die Classe übertragen; weder meine per-
sönliche Bekanntschaft mit ihm, welche nur seine letzten Lebensjahre um-
falst, noch die Grenznachbarschaft meiner Studien zu den seinigen hätten
mir Recht oder Muth dazu gegeben.
Karl Richard Lepsius ist am 23. Dec. 1810 zu Naumburg a/S.
geboren, als 6“ von 9 Geschwistern. Sein Vater Karl Peter Lepsius
war Jurist, K. sächsischer Finanzprocurator des Thüringer Kreises, seit
1817 K. preufsischer Landrath des Kreises Naumburg; nach seiner Pen-
sionirung im Jahr 1841 lebte er noch 12 Jahre in Naumburg und erlebte
somit die Glanzzeit seines Sohnes. Vater Lepsius war nicht blos ein
tüchtiger, pflichttreuer Beamter und in seinem ganzen Kreise hoch ange-
sehen, sondern auch ein trefflicher Geschichts- und Alterthumsforscher,
welcher als Begründer des thüringisch - sächsischen Alterthumsvereins und
durch viele werthvolle Specialarbeiten über Stifter, Klöster, Schlöfser und
Baudenkmale der sächsisch -thüringischen Landschaft sich einen bleiben-
den Namen gemacht hat. Sinn und Verständnifs für derartige Forschun-
gen ist auf den Sohn übergegangen, wenn nicht angeerbt, so doch durch
1
4 DIELMANN:
die tägliche Anschauung der mit Lust geübten Thätigkeit des Vaters an-
gebildet. Anerzogen vom Vater ist ihm jedenfalls der strenge Ordnungs-
sinn und die musterhafte Pünktlichkeit, welche ıhn später in der Lebens-
führung und in der Arbeit auszeichnete und seine wissenschaftlichen Er-
folge wesentlich mit bedingte.
Nächst dem Vaterhaus verdankt er die nachhaltigsten Anregungen
der Schulpforta, wo er von Ostern 1823—29 seine Gymnasialbildung er-
hielt, und auf derselben namentlich den Professoren Lange und Kober-
stein, welche ihm die Schönheit des classischen und deutschen Alter-
thums aufzuschliefsen und sogar schon einen Vorschmack der in diesen
Studien neu auftauchenden Probleme zu geben verstanden. Mit pietät-
voller Dankbarkeit ist er dieser trefflichen Bildungsanstalt sein Leben lang
verbunden geblieben. Als ein harmonisch entwickelter, geistig geweckter
und gereifter Jüngling bezog er Ostern 1829, mit einem glänzenden Schul-
zeugnils, zum Studium der Philologie die Universität, zuerst in Leipzig,
wo er unter Gottfried Hermann der exegetisch-kritischen Richtung
sich hingab, sodann 1830— 32 in Göttingen, wo er durch Otfried Mül-
ler mächtig angefalst und bald ganz für die archäologische Richtung ge-
wonnen wurde. Mit beharrlichem, zielbewufstem Fleifs benutzte er hier
schon jede sich bietende Gelegenheit, um sich in Besitz der manmnigfalti-
gen Kenntnisse und Mittel zu setzen, welche ihn befähigen sollten, an der
Erforschung des gesammten Geistes- und Qulturlebens der alten Völker
mitzuarbeiten und den geschichtlichen Zusammenhängen seiner Entwick-
lung nachzugehen: neben Dissen und Müller hatte er darin auch Män-
ner wie die Grimm für deutsche Sprache und Alterthümer, Ewald für
Sanskrit, Heeren und Dahlmann für Geschichte zu Führern. Alter-
thumskunde und vergleichende Sprachwissenschaft war bereits sein ausge-
sprochenes Ziel, als er mit der Vorbereitung zur Doctor-Arbeit beschäftigt
im Sommersemester 1832 nach Berlin übersiedelte, um hier auch noch
die Weise von Boeckh, Lachmann und Bopp kennen zu lernen. Am
22. April 1833 (dem Tag, dessen 50 jährige Wiederkehr wir vor 2 Jahren
mit ihm feierten) promovirte er hier bei der philosophischen Faeultät
mit seiner Dissertation de tabulis Eugubimis, und gab damit seinen Uni-
versitätsstudien einen glänzenden Abschlufs. Mit jener auf OÖ. Müller’s
Anregung unternommenen Arbeit, worin er durch richtige Bestimmung
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsüus. 5
des Werthes zweier bis dahin unklar gewesener Schriftzeichen und durch
annähernd treffende Aufhellung der Zeit und Reihenfolge jener Tafeln die
umbrische Forschung entschieden förderte, wies er sich als einen vielver-
sprechenden jungen Gelehrten aus, und erwarb sich die Anerkennung der
bedeutendsten Männer des Fachs.
Derartige gelungene Erstlingsarbeiten sind bei vielen Gelehrten ent-
scheidend geworden für die Richtung ihrer ferneren Thätigkeit. Auch
bei Lepsius schien es so werden zu sollen. Da er zur Schulamtslauf-
bahn weder Lust noch Befähigung in sich verspürte, begab er sich, im
Einverständnifs mit dem Vater, im Juli 1833 zur Fortsetzung seiner ar-
chäologisch-sprachwissenschaftlichen Studien nach Paris, welches damals
seinen Rang als erste Hochschule für viele Zweige des Wissens und als
Bergungsort unerschöpfter geistiger Schätze noch immer behauptete, und
ein Anziehungspunkt besonders für die Orientalisten war. Durch keinen
geringeren als A. von Humboldt an ©. B. Hase, und von diesem an
die Koryphäen der Pariser Gelehrtenwelt empfohlen, noch mehr aber
durch seine Kenntnisse, seine feine Lebensart und seine vielseitige, auch
musikalische Bildung sich selbst empfehlend fand er überall freundliche
Aufnahme und Förderung. Er nahm es auch hier mit dem Studium sehr
ernst. Obwohl genöthigt, durch deutschen Unterricht und weiterhin durch
Arbeiten für den gelehrten Duc de Luynes sich die nötbigen Mittel
grolsentheils selbst zu verdienen, obwohl an den Kunstgenüssen und dem
Gesellschaftsleben der französischen Hauptstadt mit Lust sich betheiligend,
hörte er doch eifrig bei dem grofsen Philologen Letronne, frequentirte
Eugene Burnouf, liefs sich von Stahl sogar ins Chinesische einweisen,
und fand dennoch Zeit, gleich im ersten Jahr seine 2°, den Grimm ge-
widmete Schrift „Paldographie als Mittel für die Sprachforschung“ (Berlin
1834) ausgehen zu lassen, für welche ihm die französische Akademie den
prie Volney zutheilte. Die geistvolle, feinsinnige Weise, wie er aus den
stummen Zeichen der Devanagarı die geschichtliche Entwicklung der in-
dischen Schrift herauszulesen versteht, verdient gewils alle Anerkennung.
Wenn er aber an der Entwicklung dieser Schriftzeichen auch die Entwick-
lung der Sprachlaute selbst, z. B. sogar die Herausentwicklung sämmt-
licher Vokale, Halbvokale und Liquidae aus einem einzigen Urvokal nach-
weisen zu können meinte, so waren das Missriffe, die man jener Sturm-
6 DiLLMANN:
und Drangperiode der Sprachwissenschaft, in welche Bopp eben erst
normirend einzugreifen begann, zu gut halten muls. Glücklicherweise
waren das nur Vorübungen für realere Forschungen. Die Wendung, die
ihn auf sein eigentliches Berufsfeld zog, trat unmittelbar ein.
Vier Jahre vorher (1829) war das archäologische Institut in Rom
gegründet. Der Generalsecretär desselben, Josias Bunsen, mit seinem
vielumfassenden Geist, hatte längst die Bedeutung der eben aufblühenden
ägyptologischen Studien, für die er sich durch Fr. Champollion bei
dessen Anwesenheit in Rom (1826) hatte erwärmen lassen, für die Klar-
stellung der Zusammenhänge der alten Cultur erkannt und suchte wo
möglich Arbeiter auch in diesem Feld für das Institut zu gewinnen.
Durch Gerhard, der den jungen Lepsius in Berlin kennen gelernt
hatte, auf diesen aufmerksam gemacht, lud Bunsen (gegen Ende des J.
1833) ihn förmlich ein, nach Rom zu kommen, um theils mit der Samm-
lung der umbrischen, oskischen und etruskischen Alterthümer sich zu be-
fassen, theils allen Ernstes das Studium der Schrift und Sprache der al-
ten Ägypter vorzunehmen; er glaubte ihm in diesem Fall mit der Zeit
auch eine Anstellung im preufsischen Staat in Aussicht stellen zu kön-
nen. Nur zögernd und erst nachdem er durch eigne Prüfung die Über-
zeugung gewonnen hatte, dafs in der Entzifferung der Hieroglyphen wirk-
lich ein sicherer Grund gelest sei, gieng Lepsius auf das Anerbieten ein,
und wagte sich auf ein ihm bisher völlig fremd gewesenes Gebiet hinüber.
Aber Bunsen bleibt, neben vielen andern, auch das Verdienst, Lepsius
in seine Bahn gewiesen und uns den grolsen Ägyptologen gegeben zu
haben.
Die Schaar der Gelehrten und Techniker, welche General Bona-
parte auf seine ägyptische Expedition mitgenommen, hatte das alte,
längst vergessene Wunderland geistig wieder erobert, und in ihrem Rie-
senwerk, der Description de ÜEgypte, in Wort und Bild dem staunenden
Europa einen Begriff gegeben von der Fülle der Denkmäler und Cultur-
reste, welche es birgt; aber von Lichtung und Sichtung des ungeheuern
Materials konnte keine Rede sein, so lange die Inschriften der Monumente
unverständlich waren. Der Ruhm, mit Hülfe des dreifachen Schrifttextes
des Basaltblockes von Rosette diese stummen hieroglyphischen Zeugen
wieder zum Reden gebracht zu haben, gebührt bekanntlich, neben dem
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsius. 7
scharfsinnigen englischen Physiker Thomas Young (1819), dem genialen
Franzosen Francois Champollion (1822 Lettre & M. Dacier; 1824
Preeis du systeme hneroglyphique). Von da an datirt der Anfang der wis-
senschaftlichen Ägyptologie. Aber kleinere Geister bestritten noch län-
gere Zeit die Richtigkeit der Champollion’schen Entdeckung; den Mei-
ster selbst hatte (4. März 1832) ein frühzeitiger Tod vom Schauplatz ab-
gerufen; seine Schüler Salvolini und Rosellini hatten nicht oder noch
nicht das Gewicht von Auctoritäten. So lagen die Dinge, als der 23jäh-
rige Lepsius Bunsen’s Einladung zu folgen sich anschickte. Kaum
hatte er durch eigene Nachprüfung von der Sicherheit des durch Cham-
pollion gelegten Grundes sich überzeugt, und die Fülle dessen, was
noch zu thun sei, begriffen, so begann er seine volle Energie in den
Dienst des neuen Studiums zu stellen. Mit Eifer erlernte er zunächst
das Koptische, zu welchem das wichtigste Hülfsmittel, Peyron’s noch
immer unübertroffenes lewıcon linguae copticae eben damals im Erscheinen
begriffen war; für das hieroglyphische Studium hatte er sich der libera-
len Beihülfe Salvolini’s und Rosellini’s zu erfreuen; Champollion’s
nachgelassene Grammaire Egyptienne (1836) war damals eben erst im
Druck. Es ist aber leicht begreiflich, dafs sein Sprachvergleichungsinter-
esse unsern Lepsius zunächst auch noch in diese neuen Studien hinein
begleitete. Früchte dieser Combination sind seine „Zwei sprachvergler-
chende Abhandlungen“, unserer Akademie vorgelest 1835/6 („1. Über die
Anordnung und Verwandtschaft des Semitischen, Indischen, Äthiopischen,
Altpersischen und Altägyptischen Alphabets; 2. Über den Ursprung und die
Verwandtschaft der Zahlwörter in der Indogermanischen, Semitischen und der
Koptischen Sprache“. Berl. 1836), sprechende Zeugnisse seines wissen-
schaftlichen Sinnes, der beim einzelnen nicht stehen bleiben kann, son-
dern die letzten Zusammenhänge ermitteln will, mit vielen feinen Einzel-
beobachtungen und scharfsinnigen Combinationen, mit ahnendem Blick in
die letzte Verwandtschaft auch des Ägyptischen mit asiatischen Sprachen,
aber wegen Unzulänglichkeit der damaligen Hilfsmittel den Anforderungen
einer strengen Beweisführung längst nicht mehr genügend. Jedoch we-
der derartige Ausläufer seiner bisherigen Richtung, noch die von ihm stell-
vertretend übernommenen Geschäfte bei der Drucklegung der Schriften des
archäologischen Instituts konnten ihn mehr von seinem Hauptziel abbrin-
3 DILLMANN:
gen. Nachdem er lernend im Äsyptischen soweit fortgeschritten war,
dafs er selbständig zu forschen sich getraute, setzte er, bei dem damalı-
gen Mangel an brauchbaren publieirten Texten, alles daran, in Paris von
allen hieroglyphischen Texten, die auf den vielen dortigen Monumenten,
Gipsabgüssen u. s. w. aufzutreiben waren, Abschriften, Durchzeichnungen
und Papierabdrücke zu sammeln. Ausgerüstet mit massenhaftem Material
trat er dann (Ende des J. 1835) die Reise nach Italien an, für welche
ihm unsere Akademie zum Zweck der Untersuchung der dortigen ägypti-
schen Alterthümer eine Unterstützung von 500 Thlr. bewilligt hatte, die
ihm im Jahr darauf wiederholt wurde. Über Turin, wo er in dem an
Monumenten und wichtigen Papyri überaus reichen Museum ähnlich sam-
melte, und über Pisa, wo ihm Rosellini seine von seiner ägyptischen
Expedition mitgebrachten Schätze zur Verfügung stellte, kam er dann
(im Mai 1836) nach Rom, freudig bewillkommt von Bunsen, der ihm
bald ein väterlicher Freund und der einflufsreichste Förderer seiner Wege
wurde und bis an sein Ende blieb.
Während seines 2jährigen Aufenthalts in Rom (bis Juli 1838) hat
Lepsius nicht blos als Directionsmitglied und redigirender Sekretär des
archäologischen Instituts diesem wichtige Dienste geleistet und die Schrit-
ten desselben mit einer stattlichen Zahl von Berichten und Abhandlungen
archäologischen und kunstgeschichtlichen Inhalts bereichert, nicht blos die
umbrischen und oskischen Inschriften gesammelt und die etruskischen
Culturreste untersucht, sondern ist bereits im Altägyptischen in die Reihe
der Führenden eingetreten, indem er in seiner Lettre a Mr. H. Roselhni
sur Üalphabet hieroglyphique (Rome 1837) durch klare und scharfe Schei-
dung der rein alfabetischen Lautzeichen von der umfangreichen Olasse
der Sylbenzeichen das verwickelte Ohampollion’sche System vereinfachte,
und damit die feste Grundlage schuf, auf welcher alle Hieroglyphenlesung
seither beruht. Gleiche Meisterschaft bewies er zu gleicher Zeit im Ge-
biet der ägyptischen Kunstarchäologie durch seine Abhandlung sur l’ordre
des colonnes-pihers en Egypte et ses rapports avec le second ordre Egyp-
bien et la colonne grecque (Rome 1838), worin er mit Unterscheidung des
Felsenbaus und Freibaus die allmählige Herausentwicklung der beiden
ägyptischen Säulenordnungen bis zu ihrer höchsten Vollendung auf ge-
schichtlichem Wege maafsgebend nachwies.
Gedächtmifsrede auf Karl Richard Lepsius. 9
Als er (Juli 1838) Rom verliefs, führten ihn Geschäfte des Insti-
tuts noch einmal nach Paris; aber sein Vorsatz, sämmtliche in Europa
befindliche altägsyptische Materialien selbst kennen zu lernen und seiner
Sammlung einzuverleiben, zog ihn weiter in das schöne Museum nach
Leiden zu dem trefflichen Leemans, und zuletzt nach London (wo er
den dorthin übergesiedelten Bunsen wieder traf). Nachdem er alles ein-
geheimst, was in Europa vorhanden war, kehrte er (Nov. 1839) nach
Deutschland zurück. Aber nun trat nur um so unwiderstehlicher der
Wunsch in ihm hervor, das Land der Pharaonen selbst durchsuchen zu
dürfen. Auch dieser Wunsch sollte ihm erfüllt werden, nicht so ganz
schnell, wie er’s ersehnte, aber dann auch in einer alle Erwartungen über-
steigenden Weise.
Die Zeit des Wartens (es war zugleich die Zeit des Thronwechsels
in Preufsen) benutzte er zu rastloser Arbeit, um viel Vorbereitetes zu
vollenden und Neues vorzubereiten. Mit seiner sorgfältigen und verdienst-
lichen Ausgabe der umbrischen und oskischen Inschriften (Inseriptiones
Umbricae et Oscae quotquot adhuc repertae sunt ommes, ad ectypa monu-
mentorum ed. Lips. 1841 cum 8 tab.) und mit seiner Schrift über die
Tyrrhenischen Pelasger in Etrurien (Leipzig 1842) gab er diesem Zweig
seiner Erstlingsstudien den Abschlufs. In letzterer gieng sein Endergeb-
nıls dahin, dafs die Tyrrhener oder Trusker ein pelasgischer Stamm wa-
ren, der vom Nordosten her eingewandert die Umbrer unterjochte, diese
einer höheren Bildung zuführte und durch Mischung mit diesen die
etruskische Cultur und Sprache erzeuste, nur eine Hypothese freilich, aber
doch eine solche, die er mit nicht verächtlichen Gründen zu stützen ver-
stand. Theils für seinen eigenen Gebrauch, theils für Bunsen’s längst
geplantes grofses Werk (Ägyptens Stelle in der Weltgeschichte 1845 ff.), von
dessen Miturheberschaft er schliefslich wegen unübersteiglicher wissen-
schaftlicher Differenzen sich zurückzuziehen genöthigt fand, arbeitete er
schon damals in seinem Hauptfach an der Chronologie und dem Königs-
buch. In seiner „Auswahl der wichtigsten Urkunden des ägyptischen Alter-
tnıms (theils zum erstenmal, theils nach den Denkmälern berichtigt heraus-
gegeben und erläutert“, mit 23 Taf. Leipz. 1842 fol.) gab er den Lernen-
den und Suchenden ein willkommenes zuverläfsiges Hilfsmittel an die
Hand. Längst, besonders in Turin, hatte er den zahlreichen auf Sarko-
Gedächtnifsreden 1885. 2
10 DILLMANN:
phagen, Mumienbändern, Papyrusrollen überlieferten Texten, weil sie über
die religiösen Vorstellungen der Ägypter Aufschlufs zu geben versprachen,
seine Aufmerksamkeit zugewendet; ein neuer kurzer Besuch des Turiner
Museums (Winter 1841), auch zum Zweck der Beschaffung von Gypsab-
güssen für die hiesige ägyptische Sammlung unternommen, setzte ihn in
den Stand, von dem grolsen Turiner Papyrus eine genaue Ausgabe her-
zustellen (Das Todtenbuch der Ägypter, nach dem hieroglyphischen Papyrus
in Turin, 79 Tafeln, Leipz. 1842. 4°), und trotz der ungemeinen Schwie-
riskeit, welche derlei Texte, zumal in der jungen Turiner Abschrift, dem
Verständnils bieten, erkannte er doch schon völlig sicher, dafs diese Texte
nicht, wie man bisher gemeint hatte, Leichenritualien enthalten, sondern
vielmehr Anweisungen für den Todten seien zu dem, was er im Jenseits,
Angesichts der mannigfachen dort seiner wartenden Begegnisse, bis zur
Erreichung des Zustandes der Vergottung oder der Seligkeit, zu thun und
zu lassen habe; er entwarf: auch schon die Eintheilung des Buches, wel-
che seither, trotz der gefundenen vielen neueren und besseren Abschrif-
ten, sich bewährt hat. Er hat sein Leben lang diese für die Sprache und
Mythologie so wichtige Schrift im Auge behalten, und schliefslich für eine
auf ältere Texte basirte, mit sämmtlichen Varianten ausgestattete Ausgabe
den passendsten Mann, Herrn Naville in Genf, gewonnen und die Mit-
tel dazu von unserer Regierung erbeten und erhalten. Noch wenige Wo-
chen vor seinem Tod hatte er die Freude, die Nachricht von der Fertig-
stellung des Manuseripts zu erhalten; sie wird seinen Manen gewidmet
gegenwärtig hier gedruckt.
Man kann es heutzutage kaum verstehen, wie einem Mann von so
hervorragenden Leistungen, schon damals einem der bedeutendsten Nach-
folger Champollion’s, dem ersten wirklichen Ägyptologen Deutschlands,
trotz seines Gesuchs, ein Lehramt an unserer Universität versagt bleiben
konnte. Auch hierin, wie in so vielem anderen, bedurfte es erst der
Dazwischenkunft A. von Humboldt’s, um für das neue Fach eine aufser-
ordentliche Professur mit kleinem Gehalt zu gründen, welche Lepsius
endlich (26. Januar 1842) übertragen wurde, zu spät freilich, um sie so-
fort wirklich antreten zu können, da die Vorbereitung zur ägyptischen
Reise bereits in vollem Gange war.
Gedächtmfsrede auf Karl Richard Lepsüus. 11
Bunsen und A. von Humboldt war es gelungen, den kunst-
sinnigen König Friedrich Wilhelm IV, welcher schon als Kronprinz
die ägyptische Forschung mit wohlwollender Theilnahme verfolste und
mehrere Anschaffungen (z. B. auch der Passalacqua’schen Oolleetion)
für die ägyptische Sammlung im Schlofs Monbijou ins Werk gesetzt hatte,
für den Lepsius’schen Reiseplan zu gewinnen. Aber bei der detaillirten
Durchberathung erweiterte sich der Plan immer mehr, zumal ein Haupt-
zweck der Reise auch der sein sollte, schöne und merkwürdige Denkmä-
ler aus der Pharaonenzeit für das Schlofs Monbijou zu erwerben. Die
Reise des einzelnen Gelehrten wurde zu einer von den competenten Be-
hörden, auch der Akademie gründlich vorberathenen, auf mehrere Jahre
berechneten, auf Staatskosten auszuführenden wissenschaftlichen Expedition
eines sorgfältig ausgewählten Personals (von Bautechnikern, Zeichnern,
Malern und Formern) unter des 3ljährigen Lepsius Führung, mit eigen-
händiger Empfehlung des Königs an Mehemed Ali und durch diesen
mit unbedinster Vollmacht zur Vornahme von Ausgrabungen, zur Requi-
sition von Arbeitern und Transportmitteln, sowie zur Ausfuhr von Denk-
mälern und Funden ausgestattet. An die Spitze einer solchen Expedition
sich gesetzt zu sehen, war sicher ein seltenes Glück, und Lepsius hat
das nıe verkannt; aber ebenso sicher ist, dals ein würdigerer und ge-
schickterer Leiter zu dieser Unternehmung nicht gefunden werden konnte.
Der überaus günstige, programmmälsige Verlauf und die glänzenden Ergeb-
nisse lesen für die Sachkunde und Umsicht, für den Spürsinn und die
Beobachtungsgabe, für die unverwüstliche Arbeitskraft und das Organisa-
tionstalent des Mannes das beredteste Zeugnils ab. Das Tagebuch dieser
Reise, welches ebenso von dem Gang der Entdeckungen wie von seinen
persönlichen Erlebnissen und Empfindungen und seiner humanen Leitung
des Ganzen ein anmuthiges und lebendiges Bild gibt, sind seine an Ort
und Stelle geschriebenen, 1852 gesammelt herausgegebenen „Briefe aus
Ägypten, Äthiopien und der Halbinsel des Sinai“.
Vom 18. Sept. 1842 bis Oct. 1845 wurden auf der langen Strecke
von Alexandria bis Khartum die Reste besonders des höheren und höch-
sten Alterthums geschichtlich und antiquarisch untersucht und aufgenom-
men, die Inschriften vermittelst des von ihm damals zuerst angewendeten
Abklatsches genau eopirt: das alte Memphis und die Pyramidengegend,
PR:
13 DILLMANN:
das Fajüm und der Mörissee, auf dem Rückweg aus dem Süden Thebe
mit seiner Tempel- und Gräberwelt waren Hauptruhepunkte der Forschung;
quer durch die östliche Wüste über Hammamät und das rothe Meer nach
dem Sinai hinüber, und wieder nördlich durch das östliche Delta bis zum
Nahr el-Kelb in Syrien wurden Abstecher, nicht ohne erhebliche Ergeb-
nisse gemacht, nebenbei auch auf alles ethnographisch und geographisch
Wichtige die Beobachtung gerichtet. Aufser der ungeheuern Fülle ur-
kundlichen Materials, der Masse von Plänen, Rifsen, Bildern und Original-
Monumenten liest der Hauptertrag dieser Expedition in dem neuen Licht,
welches Lepsius selbst und durch ihn der Wissenschaft aufgieng über das
Alter und den Verlauf der ägyptischen Civilisation. Gerade die älteste
Pharaonengeschichte, die ganze Cultur des Alten Reichs, welches die fran-
zösisch-toskanische Expedition so gut wie unberührt gelassen hatte, wurde
durch Lepsius’ Nachforschungen auf den Pyramidenfeldern von Memphis
und in den Gräberstätten Mittelägyptens in die volle geschichtliche Helle
gerückt, so zu sagen von ihm zuerst aus dem Grabe wieder aufgeweckt,
und damit die Möglichkeit eröffnet, auch die Geschichte der Schrift und
Sprache, der Kunst und Religion über 1200 Jahre weiter rückwärts zu
verfolgen. Auch die Kenntnifs des Neuen Reichs, sowohl der thebani-
schen Prachtzeit als der folgenden Dynastien bis herunter auf die Ptole-
mäer und die römischen Cäsaren wurde sehr wesentlich ergänzt, berich-
tist, monumental gefüllt und gesichert. Der Traum (den Lepsius früher
selbst geträumt”) von einem uralten Mero& als dem Ausgangspunkt der
ägyptischen Cultur wurde durch die nubische Expedition, wie mit einem
Zauberschlag, verscheucht, und vielmehr das stufenweise Vordringen der
ägyptischen Civilisation nach Süden mit vollkommener geschichtlicher Klar-
heit erfalst. Eine Masse chronologischer, antiquarischer, kunst- und re-
ligionsgeschichtlicher Einzelfragen fanden ihre Lösung.
Wie ein ruhmgekrönter Sieger kehrte Lepsius (27. Jan. 1846) von
seinem friedlichen Feldzug heim; ein begeisterter Empfang wurde ihm al-
lenthalben in Deutschland, welches bisher in derlei Unternehmungen hin-
ter den andern grofsen Nationen hatte zurückstehen müssen, zumal in
1) z. B. über die Anordnung und Verwandtschaft des semitischen u. s. w. Alpha-
bets S. 78f.
Gedachtnifsrede auf Karl Richard Lepsüus. 13
Berlin zu Theil; er war von da an der berühmte Mann, noch ehe er
seine Ergebnisse veröffentlicht hatte.
Auf die ruhelose Wander- und Sammelzeit folgt nun, zugleich mit
dem Übergang in Amt, Beruf und Ehestand”, eine 35jährige Periode ru-
higer, aber unermüdlicher Verarbeitung des Gesammelten, die eigentliche
Höhezeit seines wissenschaftlichen Schaffens, sich erhebend auf dem Un-
tergrund eines ungetrübten häuslichen Glückes, umrankt von Auszeich-
nungen, Würden und Ehren, verschönert durch den geselligen Verkehr
mit den Besten seiner Zeit, bestrahlt von der Gunst des königlichen
Hauses.
Der von Lepsius zur Bereicherung der hiesigen öffentlichen
Sammlung mitgebrachten, sachkundig ausgewählten (gegen 1500) Origi-
nal-Denkmälern und Gypsabgüssen wurde im Erdgeschofs des damals im
Bau begriffenen Neuen Museums unter der Leitung des Herrn von Ol-
fers ein würdiges Heim bereitet. Lepsius selbst hatte von Kairo aus
(11. Juli 1845) den Plan dazu eingereicht. Dafs es ein harmonisch ge-
gliedertes, mit charakteristischen Denkmalen der Hauptperioden einer über
3000jährigen Geschichte reich ausgestattetes, stylvoll gehaltenes, histori-
sches Museum wurde, durch dessen Beschauung sich der Besucher nach
Ägypten selbst versetzt fühlt, hierin das erste in seiner Art unter den
ägyptischen Museen, das beruht auf seiner Conception, jedenfalls auf sei-
ner langjährigen aufopfernden Mitwirkung, und ist ein bleibendes Denk-
mal seines künstlerischen Geschmacks, für unsere Stadt eine einzige Zierde.
Erst fünf Jahre (1853) nach vollendeter Aufstellung wurde er Mitdirector
der Anstalt; selbständig leitete er sie als Director nach Passalacqua’s
Abgang von 1865 an, und sorgte als solcher für immer neue Bereiche-
rungen.
In freudiger Anerkennung und mit vollem Verständnils der elän-
zenden Ergebnisse der Expedition befahl König Friedrich Wilhelm IV,
durch Publication die heimgebrachten Schätze in der würdigsten Weise
der gelehrten Welt zugänglich zu machen. Die Geldmittel, bei der da-
maligen Technik des Vervielfältigungsverfahrens die Kosten der Expedition
1) Er wurde 26. Juni 1346 Ordinarius an der Universität, 18. Mai 1850 ord.
Mitglied der Akademie, verheirathete sich 5. Juli 1846 mit Frl. Elisabeth Klein.
14 DILLMANN:
fast dreifach übersteigend, wurden mit königlicher Munificenz zur Verfü-
fügung gestellt. Dreizehn Jahre später (1859) lagen die „Denkmäler aus
Ägypten und Äthiopien“, 12 Bände gröfsten Folioformates mit 894 Tafeln,
vollendet vor. Leider ohne begleitenden Text, aber streng historisch ge-
ordnet, gibt dieses Prachtwerk die fortlaufende monumentale und inschrift-
liche Illustration der gesammten ägyptischen Geschichte und Oultur, von
den ältesten Dynastien bis herunter auf die römischen Kaiser. Schon
äufserlich betrachtet, dem Kraft- und Zeitaufwand nach, ist es ein Werk
langer, mühevollster Arbeit, zugleich eine Prachtprobe der eigenen tech-
nischen Fertiskeit seines Urhebers und der hierogrammatischen Künstler
(der Brüder Weidenbach, seiner Naumburger Landsleute), die er sich
selbst herangezogen hatte. Sieht man aber auf den Reichthum, die streng
geschichtliche Anordnung, die Zuverlässigkeit und Genauigkeit des Inhalts,
worin es alle ähnlichen früheren Werke (auch die Champollion’s und
Rosellini’s) weit hinter sich läfst und auch nur von wenigen Textpubli-
cationen der Nachfolger erreicht wird, so muls man seine Herstellung
eine geistige That ersten Ranges nennen. Ohne die in langen Jahren er-
worbene vollständige und sichere Beherrschung des gewaltigen Stofis,
ohne das scharfe Auge für die feinsten Nüancen der Schriftzeichen und
Kunsterzeugnisse, ohne wirkliche praktisch-technische Kenntnisse und Er-
fahrungen, ohne die peimlichste Sorgfalt im einzelnen, wie sie Lepsius,
und eben nur ihm in dieser Verbindung eigen waren, konnte ein solches
Werk nicht angefertigt werden. Es ist das preiswürdigste von allem, was
er geleistet, für alle Zeiten „das grofse Haupt- und Grundbuch für die
gesammte Ägyptologie“ (Ebers), zu welchem die den monumentaien Stoff
massenhaft mehrenden neuen Expeditionen und systematischen Ausgrabun-
gen hervorragender Gelehrter nur Vervollständigung, aber nicht Correctu-
ren bringen konnten.
An die wissenschaftliche Verarbeitung des hier aufgehäuften Mate-
rials hat er noch zu gleicher Zeit mit dieser Publication rüstig Hand an-
gelest.
Seine „Uhronologie der Ägypter“ (1849. 4°), längst vorbereitet, un-
ter beständiger Rücksicht auf Biot’s und Boeckh’s Monographien und
den ersten Theil von Bunsen’s großem Werk ausgeführt und bei allem
Gegensatz gegen dessen System doch diesem seinem Wohlthäter und
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepswus. 15
Freund dedieirt, sollte den von ihm beabsichtisten geschichtllichen Auf-
bau fundamentiren. Es gibt nur die Einleitung und den ersten Theil,
die Kritik der Quellen, und stellt die Principien fest, nach welchen die
Manetho’sche Überlieferung zu corrigiren und mit den Ergebnissen der
Monumente in Einklang zu bringen sei. Sowohl manche einzelne Auf-
stellungen dieses Werkes, als auch sein Schluflsergebnifs, dafs Menes auf
das Julianische Jahr 3892 v. Ch. zu setzen sei, sind seither viel umstrit- .
ten worden; eine Menge anderer Berechnungen wurden versucht, und
heutzutage verzichtet man fast lieber auf jede sichere Zeitbestimmung für
die ältesten Dynastien. Aber die Gründlichkeit, methodische Sicherheit
und Klarheit, mit welcher er der Reihe nach die thatsächlichen Grund-
lagen der ägyptischen Zeitrechnung erörtert und die sämmtlichen litera-
rischen und monumentalen Quellen ihrer Brauchbarkeit nach beurtheilt,
hat etwas imposantes, und sichert dem Buch seinen Werth als wichtiges
Hilfsmittel für jeden, der sich über diese Fragen orientiren will. Und er
selbst wenigstens hat bis an sein Ende an der Richtigkeit seiner Ergeb-
nisse festgehalten. In einer Menge kleinerer Arbeiten” kam er aus An-
lafs der Untersuchungen seiner Nachfolger oder neuentdeckter kalendari-
scher Monumente der Ägypter, auch der assyrischen Eponymenlisten
(1868), immer wieder auf dieses Lieblingsthema seiner Studien zurück,
und hellte noch manche dunkle Punkte auf.
Die Durchführung seiner chronologischen Principien und Ergeb-
nisse durch den gesammten Umfang der ägyptischen Königsgeschichte
sollte der 2. und 3. Theil des Werkes bringen. Sie sind ungeschrieben
geblieben und wurden ersetzt durch sein viertes grolses Hauptwerk „Das
Königsbuch der alten Ägypter“ (Abth. I: 169 S. Text u. 23 synoptische Ta-
Jeln der ägyptischen Dynastien; Abth. II: 73 hieroglyphusche Tafeln mit 987
Königsschildern. Berl. 1856. kl. Fol.). Es gibt die Resultate seines 20jäh-
rigen Sammlerfleifses und zugleich den im engern Sinn geschichtlichen
Ertrag seiner Expedition, kritisch gesichtet, chronologisch geordnet, hie-
roglyphisch belegt, und ist das eigentliche Urkundenbuch der ägyptischen
Königsgeschichte, tadelloser Ausführung und dauernden Werthes, würdig
dem Könige selbst, dem erlauchten Förderer dieser Studien, gewidmet zu
1) aufgezählt bei Ebers Richard Lepsius S. 215.
16 DILLMANN:
sein. Monographische Behandlungen einzelner Ausschnitte dieser Königs-
geschichte giengen diesem grofsen Werke voraus: Die Abhandlung über die
12te ägyptische Dymastie (1852), über die 22te (1856), die 26te (1857),
über die Ptolemäergeschichte (1852), und sind „classische Beiträge für die
Kenntnifs dieser Könige und ihrer Folge“ (H. Brugsch). Dafs er haupt-
sächlich, vermöge seiner genauen Kenntnils der urkundlichen Geschichte
Ägyptens, den Fälscher Simonides zu entlarven half, soll hier nicht un-
erwähnt bleiben (Mon.-Ber. 1856).
Alle diese Arbeiten beziehen sich auf die Geschichte im engeren
Sinn. Der Religionsgeschichte speciell gehören seine Bemühungen um
Beschaffung und Aufklärung älterer Texte des Todtenbuches an (beson-
ders Älteste Texte des Todtenbuches nach Sarkophagen des altägyptischen
Reichs im Berliner Museum. 1867. Fol.), vor allem aber seine tiefein-
greifenden Abhandlungen „über den ersten ägyptischen Götterkreis“ (1851)
und „über die Götter der 4 Elemente bei den Ägyptern“ (1856). Von einer
wirklichen Lösung der Aufgabe, die Entstehung und Gliederung des über-
reichen ägyptischen Pantheons sicher festzustellen, konnte weder damals,
noch kann auch heute schon die Rede sein. Aber gegenüber von den
phantastischen Constructionen und Deutungen der Religionsphilosophen,
auf die geschichtliche Scheidung der Zeiten und Orte, sowie auf die Noth-
wendigkeit, die localen Bedingungen für das Aufkommen der mythologi-
schen Gestalten zu berücksichtigen, als den einzig richtigen Weg zur Lö-
sung mit Ernst hingewiesen und solide alte Urkunden in diesem Sinn
glücklich verwerthet zu haben, ist ein wesentliches Verdienst auch dieser
Arbeiten.
Die Kunst der Ägypter hat er seit seinem römischen Aufenthalt
stets im Auge behalten. Dem Kanon der Proportionen in der ägyptischen
Plastik ist er mit dem Maafsstab in der Hand eifrigst nachgegangen, und
hat schliefslich in einer classischen akademischen Abhandlung „über einge
Kunstformen und ihre Entwickelung“ (1871) seine Beobachtungen und Ent-
deckungen über die Bedingungen, die Entwicklung und die eigenthüm-
lichen Vorzüge der ägyptischen Kunstformen zusammenfassend dargelegt.
Auch sonst gibt es fast keinen Zweig der ägyptischen Alterthumskunde,
in dem er nicht aufklärend eingegriffen oder bleibend Gültiges erarbeitet
hätte. Aus einem Aufsatz über die in den hieroglyphischen Texten er-
Gedaächtnfsrede auf Karl Richard Lepsius. 17
wähnten Steine und Metalle, den er einst (1841) für A. von Humboldt
sefertist, ist seine musterhafte Abhandlung „über die Metalle ın den agyp-
tischen Inschriften“ (1871; „Kupfer und Eisen“ 1872) hervorgegangen.
Noch während seiner Reise hat er, allerdings mit Hülfe Erbkam’s, den
Bau der Pyramiden verstehen gelehrt (Mon.-Ber. 1843), den alten Nil-
messer bei Semne entdeckt und die Tragweite dieser Entdeckung nach
verschiedenen Seiten hin erläutert (Mon.-Ber. 1844); seine Untersuchun-
gen über die Vermessung der Ländereien, die zu dem alten Besitz des
Tempels von Edfu gehörten (Abh. 1854; Mon.-Ber. 1855) oder über das
Felsengrab Ramses IV (Abh. 1869; ZÄSp. 1884) zeigen ihn im Besitz
auch der mathematisch -technischen Kenntnisse, welche die Vorbedingun-
gen für seine metrologischen Untersuchungen waren. Auf seine treffliche
Abhandlung „über die altägyptische Elle und ihre Eintheilung“ (1865) folg-
ten einige kleinere Arbeiten über andere Maafse. Neuen Reiz, weil zu-
gleich zur comparativen Betrachtung der alten Culturen anlockend, be-
kamen diese Studien für ihn durch die assyrisch-babylonischen Entdeckun-
gen, und führten ihn zu der bewunderungswürdig scharfsinnigen Recon-
struction der Tafel von Senkereh (Abh. 1877). Nicht blos der Wider-
spruch mehrerer Gelehrten (eines Assyriologen und eines Architekten)
gegen seine Aufstellungen, sondern noch mehr die Bedeutung dieser Fra-
gen für die Ergründung des internationalen Oulturaustausches im Alter-
thum hielten ihn bis an sein Ende dabei fest, und noch kurz vor seinem
Tode vollendete er seine letzte Schrift „Die Längenmaafse der Alten“ (1884),
worin er seine Ergebnisse bezüglich der Längenmaalse der sämmtlichen
alten Culturvölker des Mittelmeerkreises übersichtlich zusammenstellte und
neu begründete.
Theils die Absicht, neue Erwerbungen für das Museum zu machen,
theils das Bedürfnifs, durch Autopsie sich über dieses und jenes Problem
zu unterrichten, hatten ihn wiederholt nach den andern Üentren ägypti-
scher Alterthümer (Paris, Leiden, London) geführt. Im Frühjahr 1866
aber gaben ihm die gelegentlich der Arbeit am Sues-Öanal gemachten
Aufsrabungen persisch-ägyptischer Trümmerstätten und Denkmäler die
äulsere Veranlassung, noch einmal das Land der Pharaonen zu besuchen
0)
und diesmal das östliche Delta, zugleich den Schauplatz der israelitischen
Auszugsgeschichte, zu untersuchen, und noch einmal leuchtete ihm der-
Gedächtnifsreden 1885. 3
18 DILLMANN:
selbe Glücksstern, welcher ihn in seiner Jugend begleitet hatte. Seine
Bestimmung der Lage von Avarıs (der alten Hyksosfeste) beim späteren
Pelusium (Mon.-Ber. 1866) hat alles für sich, ist aber noch nicht gesi-
chert; seine Ansetzung der Stadt Ramses bei Tell-el-Mashuta ist nach
Naville’s neuester Aufsrabung nicht mehr zu halten; aber das lange,
vollständig erhaltene, dreisprachige (hieroglyphisch, demotisch, griechisch)
Deceret von Tanis, genannt die Tafel von Kanopus (vom Jahr 238 v. Ch.),
welches er in den Trümmern des alten Tanis auffand, und in emer be-
sondern Schrift (1866) publieirte, war ein Fund ersten Rangs, welcher
neben manchem andern, namentlich kalendarischem, auch den Gewinn
abwarf, dafs dadurch die durch Öhampollion-Lepsius inaugurirte Hie-
roglyphenlesung das Siegel durchgängiger Bestätigung erhielt.
Auf dem gesammten Gebiet der ägyptischen Geschichte und Alter-
thumskunde hat Lepsius bleibende Spuren seiner Thätigkeit zurückge-
lassen und den Späteren allenthalben unverrückbare Marksteine für ihre
weiteren Forschungen gesetzt. Aber die Sprache selbst, die eigentliche
ägyptische Philologie, hat er unbearbeitet gelassen. Er hat die Hiero-
elyphen gewils so richtig als einer gelesen und verstanden, und seine ge-
legentlichen kritischen Bemerkungen zu den von Andern gelieferten Über-
setzungen hieroglyphischer Texte bekunden hinlänglich seine vollkommene,
in der Regel überlegene Sachkenntnils; er hat als Professor, neben der
Geschichte, den Denkmälern und den Sitten und Gebräuchen, wenigstens
von 1847—63 fast jährlich, und noch einmal 1872 u. 73 auch hierogly-
phische und ägyptische Grammatik zum Gegenstand seiner Vorlesungen
gemacht, und viele junge Männer in die Sprache eingeleitet; aber mit
Ausnahme eines Stücks (vom 17ten Kapitel) des Todtenbuchs und des
Deeretes von Kanopus hat er nie eine Übersetzung längerer hieroglyphischer
Texte veröffentlicht, in auffallendem Gegensatz gegen manche seiner aus-
wärtigen und deutschen Fachgenossen, welche dem wilsbegierigen Laien-
publicum den Inhalt ägyptischer Literaturstücke in flüssiger, auch elegan-
ter und poetischer Übertragung verständlich zu machen jederzeit bereit
sind. Aulser einem kleinen Aufsatz (über einige syntaktisehe Punkte der
hieroglyphrschen Sprache Mon.-Ber. 1846) hat er auch zur ägyptischen
Grammatik nichts publieirt. Das scheint auffallend, ist aber charakteri-
stisch für seine wissenschaftliche Art. Einer kann nicht alles. Lepsius
Gedächtnfsrede auf Karl Richard Lepsius. 18)
war durch Neisung und Bildungsgang Archäolog, nicht Philolog. Die
massenhaften archäologischen und geschichtlichen Probleme, die sich ihm
entgesgenthürmten, liefsen ihm die Zeit nicht zu der viel langwierigeren,
minutiösen philologischen Arbeit. Um über alle die dunklen Punkte der
hieroglyphischen Sprache grammatisch und lexikalisch in’s Reine zu kom-
men, dazu gehören viel mannigfaltigere Texte als die einförmigen monu-
mentalen, eine viel reichere und sicherere Papyruspublication, als man
sie damals hatte, eine genauere Kenntnils der mittleren oder demotischen
Schrift- und Sprachstufe, die erst H. Brugsch und E. Revillout auf-
zuschliefsen begannen; im ganzen gehört dazu das eindringende Studium
nicht eines einzigen, sondern vieler Gelehrten, ja ganzer Generationen von
solchen. Diese strengeren Philologenschulen fangen erst jetzt an aufzu-
blühen. Ehe sie das Ihrige gethan, waren und sind der Anstöfse, die
einem strengen Hieroslyphenübersetzer in den Weg treten, noch zu viele.
Das wulste Lepsius und darum enthielt er sich. Nicht sicher begründe-
tes oder nur halbverstandenes oder mit zu viel Unsicherem untermisch-
tes drucken zu lassen, war ıhm nicht gegeben. Das ist für ıhn ein
grolses Lob.
Statt der ägyptisch -philologischen Forschungen beschäftigten ıhn,
wie in seiner Jugend, so auch noch in seinen reifen Jahren, bis ins Al-
ter linguistische Arbeiten.
Die lautlich-alfabetischen Studien, in die er sich in Paris vertieft
hatte, wurden von ihm seit 1854 in gröfstem Maalsstab wieder aufge-
nommen auf Anregung der Church Missionary Society, welche für die
praktischen Zwecke der Missionen nach emem einheitlichen Lautschrift-
system für die mannigfaltigsten Sprachen begehrte. Das Problem war
nicht neu. Schon Sir William Jones, C. T. Volney u. A. hatten sich
daran versucht; der Volney’sche Preis war (1820) zum Theil recht
eigentlich dafür gestiftet worden; die verschiedenen Missionsgesellschaften
hatten vorgearbeitet; die indogermanischen und semitischen Sprachforscher
hatten sich je ihre besonderen Transscriptionsalfabete zurechtgemacht.
Zu einer, wo möglich allgememen und endgültigen Lösung machte Lep-
sius Jahre lang die eingehendsten Studien in der Lautphysiologie, in den
Lautsystemen aller durch besondere Schriftarten repräsentirten und einer
Unzahl der wilden schriftlosen Sprachen, hatte hier und in England viele
*
SV)
20 DILLMANN:
Conferenzen mit den besten Auctoritäten” in den einzelnen Sprachen,
oder holte schriftlich ihren Rath ein, unterbreitete auch (1855) sem dar-
auf gegründetes System einer Commission unserer Akademie (Bopp,
J. Grimm, Pertz, Gerhard, Buschmann und Joh. Müller), die dar-
über berichtete. Aus diesen Bemühungen ging dann sein Allgemeines lın-
quistisches Alphabet (1855) und in vervollkommneter Gestalt sein Standard
Alphabet (1863) hervor. Nichts hat seinen Ruhm als Linguistiker so po-
pulär gemacht in allen Ländern, wie diese Schrift, worin er sein System
im allgemeinen wissenschaftlich begründete und im einzelnen durch 150
Sprachen durchführte. Gewils war Lepsius durch seine paläographischen
Studien und sein scharfes, feines Gehör für die menschlichen Sprachlaute
zu einer solchen Aufgabe besonders befähigt, und ist auch sein System
das rationell sich am meisten empfehlende, hat sich. praktisch für die
Schreibung der wilden Sprachen bewährt, und im Bibelverbreitungs- und
Missionsdienst schon grofsen Nutzen gestiftet. Aber für die Transscription
der Schriftsprachen, namentlich der alten, konnte es nicht, oder höchstens
eklektisch, zur Annahme kommen, weil fast in allen derselben der Laut-
werth mancher Schriftzeichen weder durch die ganze Lebenszeit der
Sprache hindurch sich gleich blieb, noch auch schon sicher genug be-
stimmt ist, ein Transscriptionssystem ohne Rücksicht auf die sprachge-
schichtliche Entwicklung der Laute aber nur Irrthümer verfestigen würde.
Aus diesem Grunde konnte nicht einmal die von Lepsius in London 1874
vorgeschlagene einheitliche Transscription der Hieroglyphen durchdringen,
weil auch hier die genaue lautliche Geltung mancher dieser Zeichen noch
keineswegs sicher bestimmt, wenigstens nicht allgemein anerkannt ist. Über
die Lautverhältnisse von Sprachen, die man grammatisch und lexikalisch,
zugleich nach ihrer dialektischen Mamnigfaltigkeit und ihrer geschichtlichen
Entwicklung, nicht selbst beherrscht, Bestimmungen zu treffen, hat im-
mer etwas Bedenkliches, und von dieser Unvollkommenheit werden auch
sene andern ähnlichen Specialarbeiten (über chinesische und tibetanische
Lautverhältnisse 1860; über das Lautsystem der persischen Keilschrift 1862;
über das ursprüngliche Zendalphabet 1862), so emdringend und verdienst-
lich sie sonst sind, nicht frei zu sprechen sein.
1) aufgezählt in Standard Alphabet ? (1863) S. 311f.
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsius. al
Nicht blos auf das lautliche und alfabetische Aufsenwerk der
Sprachen, sondern auf die Sprachen selbst oder wenigstens auf einen be-
stimmten Kreis von Sprachen bezieht sich sein letztes grolses Werk, das
er eben noch vor dem Eintritt in das 70°“ Lebensjahr fertig stellte, sammt
dessen Vorstudien. Schon auf seiner ägyptischen Expedition hatte Lep-
sius den Sprachen der Völker, deren Gebiet er südlich vom ersten Ka-
tarakt berührte, eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, auf ihre Er-
forschung mit Hilfe der Eingebornen alle seine freie Zeit verwendet, na-
mentlich von der Nuba- (Berber), Kungära- (Neger von Dar Fur) und
der Bega-(Bisarin)Sprache sich die zur grammatischen und lexikalischen
Bearbeitung nöthigen Aufzeichnungen gemacht. Er hat es besonders auch
in der Absicht gethan, um dadurch möglicherweise Hilfsmittel zur Ent-
zifferung der noch immer unenträthselten äthiopisch - demotischen Inschrit-
ten auf dem Boden des alten Mero& zu gewinnen. Auf den damals und
durch spätere weitere Nachforschungen gewonnenen Kenntnissen beruht
seine gut orientirende Abhandlung „über die äthopischen Sprachen und
Völker zwischen Ägypten, Abessinien und den Ländern der Negervölker (1872).
Von einer jener Sprachen, der Nubasprache, in die er sich am gründlich-
sten hineingelebt, weil er sie damals noch für den eigentlichen Schlüssel
der Inschriften hielt, hatte er auch schon als Textprobe das Marcus-
Evangelium (1860) drucken lassen. Viel später erst, nachdem er auch
in andern afrikanischen, namentlich Negersprachen, sich genügend um-
gesehen, glaubte er seine grammatische Bearbeitung derselben soweit aus-
gereift zu haben, um sie als Nubische Grammatik (1880) erscheinen las-
sen zu können, unmittelbar nach Reinisch’s Arbeit gleichlautenden Ti-
tels (1879), neben welcher sie ihren selbständigen Werth hat, wie sie
auch von seiner Fähigkeit, gegebene Stoffe zu zergliedern und zu ordnen,
auf einem neuen Gebiet einen nochmaligen Beweis gibt. Besonders wich-
tig aber wurde dieses Werk durch die vorausgeschickte Einleitung „über
die Völker und Sprachen Afrika’s“ (126 Seiten), worin er auf Grund lang-
jähriger Einzelstudien zum erstenmal in kühnster Weise ein grolsartiges
Gesammtbild von der Gruppirung und geschichtlichen Verbreitung sämmt-
licher Sprachen und Völker Afrikas, von den Syrten bis zum Cap, ent-
worfen und seine letzten und höchsten Erkenntnisse über die vorgeschicht-
lichen Wanderungen der Völker Südwestasiens und Afrikas klar und bün-
93 DILLMANN:
dig zusammengefalst hat. Diese Schrift voll weittragender Ideen hat in
Kennerkreisen ein wohlberechtigtes Aufsehen erregt; ob die Grundzüge
des von ihm entworfenen Bildes durch die von ihm ins Feld geführten
Gründe genügend gestützt sind, kann erst künftige Einzelforschung ent-
scheiden; aber ein schöneres Zeugnils von den hochgesteckten Zielen, die
er mit allen semen Forschungen erstrebte, konnte er, vor seinem Abtre-
ten vom Schauplatz, der Nachwelt nicht vermachen.
Hier wären wir zu Ende, wenn wir eben nur seine grolsartige lite-
rarische Thätigkeit zu überblicken hätten. Aber er hat auch noch andere
Verdienste, an welche wenigstens flüchtig zu erinnern sich ziemt. An den
Verhandlungen und Arbeiten unserer Akademie hat er immer hervorra-
genden Antheil genommen; die meisten und besten seiner kleineren Ar-
beiten zieren ihre Schriften; die Herstellung unserer Drucktypen für
sprachwissenschaftliche Zwecke, vor allem unsere schönen hieroglyphischen
Typen, die auch das Ausland sich angeeignet hat, sind sein eigenstes
Werk. Die Lehrthätigkeit an der Universität trat bei ihm, der Natur
seines Faches nach, hinter der akademischen Forscherthätigkeit in den
Hintergrund; doch hat er in seinen besten Jahren mit Eifer, und wo er
begabte, strebende Schüler fand, mit grofser Hingebung sie ausgeübt. In
der Centraldirection des archäologischen Instituts, dem er zeitlebens ver-
bunden blieb, hat er seit Gerhard’s Tod (1867) bis 1880 den Vorsitz
geführt, viel Zeit und Kraft auf die damit verbundene Correspondenz ver-
wendet, die Erweiterung des Instituts zu einem Reichsinstitut und die Er-
richtung der Schwesteranstalt in Athen mit herbeiführen helfen. Seit dem
Jahr 1864 hat er sich der Leitung der von H. Brugsch gegründeten
„Zeitschrift für dgyptische Sprache und Alterthumskunde* angenommen, und
durch dieses Organ viel für Belebung und Sammlung der ägyptologischen
und verwandten Studien gewirkt. Ja bei schon angehendem Alter konnte
er sich noch entschliefsen, das Amt eines Oberbibliothekars der K. Biblio-
thek zunächst (April 1873) provisorisch, darauf (März 1874) definitiv zu
übernehmen, und allerdings nur auf Kosten seines Lehramts und unter
Zuhülfenahme jüngerer Kräfte für das Museum und die Zeitschrift, bis an
sein Ende zu verwalten. Man kann wohl fragen, ob es gerechtfertigt ist,
dals ein Mann in höherem Alter das Gebiet seiner Thätigkeit noch wech-
selt. Aber gerade im Alter, wo zwar nicht der Trieb, aber die Kraft
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsüus. 23
unausgesetzter intensiver wissenschaftlicher Arbeit abnimmt, kann solcher
Wechsel auch etwas erfrischendes haben. Seine nächsten Freunde sagen,
dafs gerade diese Nebenarbeit, die freilich unter andern Verhältnissen die
Hauptarbeit hätte sein müssen, ihn so lange geistig frisch und rüstig er-
halten habe. Und ohne viele gute und nützliche Frucht auch für die An-
stalt ist sie nicht geblieben, wenn gleich die wichtigste, durch ihn ange-
strebte Besserung für dieselbe, Umstände halber, nicht erreicht wurde.
Ein halbes Jahrhundert hindurch war es Lepsius vergönnt, den
innern Fonds geistiger Kraft, den der Schöpfer ihm mitgegeben, voll und
ganz aus sich herauszuarbeiten, und in vielen schönen und glänzenden
Werken zu verkörpern, zu seiner Ehre, zum Nutzen seines Vaterlandes,
zur Förderung der höchsten Ziele menschlicher Erkenntnils. Wie er noch
lebend unter seinen Zeitgenossen als der erste seines Faches im In- und
Ausland willig anerkannt und von einer Schaar mittelbarer oder unmittel-
barer Schüler als ihr Meister und Führer dankbar verehrt wurde, so wird
auch in Zukunft sein Name mit höchster Achtung genannt werden, so
lange es eine Alterthumswissenschaft gibt. Es ist wahr, ein seltenes Glück
hat ihn begünstigt, in seinem wissenschaftlichen und öffentlichen Wirken
ebenso wie in seinem häuslichen Leben. Eine Glücksfügung, wie sie nur
wenigen zu Theil wird, hat ihn gerade zur rechten Zeit auf ein fast noch
jungfräuliches Arbeitsfeld, und zwar auf ein Arbeitsfeld grolsartiger Be-
deutung, hineingestellt, wo die Aufgaben in Fülle sich drängten und ein
Erfolg den andern hervorlockte, hat ihn Gönner und Förderer finden
lassen, die ihm seine Wege ebneten, hat ihm die Gunst der Fürsten und
zweier Könige zugewendet, welche ihm die äufseren Mittel für seine Werke
reichten und ihn mit der Stellung und dem Ansehen bekleideten, die ihm
in vielem Nützlichen und Trefflichen, was zu seiner Zeit geschaffen wurde,
einen malsgebenden Einfluls gestatteten. Aber das meiste hat doch er
selbst gethan, um die von ihm erstiegene Stufe zu erreichen. Innerlich
erwärmt und getrieben von den höchsten Idealen menschlicher Erkennt-
nils, hat er verständig die Mittel erwogen, welche ihrer Erreichung zu-
führen, und dann in harter, unverdrossener Arbeit sich in ihren Besitz zu
setzen gewulst. Jeden Gegenstand, den er anfafste, hat er selbständig
von seinen Wurzeln an durchgearbeitet, durchdacht, nach allen Seiten über-
legt und immer wieder nachgeprüft, bis er zu voller Klarheit darüber und
34 DILLMANN:
zu festen Ergebnissen gekommen war. Und durch diese früh angewöhnte
Art seines Arbeitens, wie sie ihn bewahrte, je mit Halbreifem und Un-
vollendetem aufzutreten, wuchs ihm der Muth, auch die schwierigsten
Probleme anzufassen, und die Kraft, sie zu bewältigen. Darum sind auch
„alle seine Arbeiten fruchtbar und anregend“ (E. Curtius), auch wo An-
dere, von andern Gesichtspunkten ausgehend oder mit bessern Mitteln der
Forschung ausgerüstet, seinen Ergebnissen nicht mehr zustimmen können.
Weil mit dem ganzen Einsatz seines Könnens und Wissens erworben,
waren ihm seine Erkenntnisse so zu sagen ein Stück seiner eigenen Per-
sönlichkeit, und die grofse Zähigkeit, mit der er sie festhielt, eine nur zu
natürliche Folge davon. Dabei war er in seiner Forschung und Kritik
frei von aller Gebundenheit und von Vorurtheil, sei es einer Schule und
Partei, sei es religiöser Art, aber auch durchdrungen von der freudig-
festen Zuversicht, dafs man die Wahrheit mit den rechten Mitteln finden
könne, noch nicht angesteckt von der krankhaften Zweifelsucht, welche
zu keinerlei Überlieferung mehr Zutrauen zu fassen vermag.
Die strenge Arbeit und geistige Zucht seines wissenschaftlichen
Forschens hat sich denn auch in dem ganzen Mann, wie wir ihn unter
uns wandeln und wirken sahen, ausgeprägt. Jene leidenschaftslose Ge-
lassenheit, jene vornehme Haltung, jenes unentwegte Selbstvertrauen, jene
zähe Beharrlichkeit, welche man wohl auch Eigensinn nannte, waren Cha-
rakterzüge, die mit seiner wissenschaftlichen Art in engstem Zusammen-
hang standen. Obwohl gemüthlich reich beanlast, kehrte er doch in sei-
nem Thun und Auftreten mehr die nüchterne Verständigkeit heraus. Seine
Gewohnheit, alles reiflich zu überlegen, bewahrte ihn vor vorschnellem
Urtheil. Andere gerne in ihrem Werthe und nach ihrem Verdienst aner-
kennend, beanspruchte er das gleiche für sich. Er hatte ein starkes männ-
liches Selbstgefühl, aber Stolz und Eitelkeit blieben ihm fern. Ehren und
Anerkennungen fielen ihm von überall her, vom Inland und Ausland, von
Regierungen und gelehrten Körperschaften in reichlichstem Maafse” zu;
er prunkte nie damit; aller OÖstentation war er abhold; seine Werke glänz-
ten selbst, er brauchte Glanz und Ruhm für sie nicht zu suchen. Wahr
!) Dr. theol. von Leipzig 1859; Geh. Reg.-Rath 1873; Geh. Ob.-Reg.-Rath 1333;
bayr. Maximiliansorden 1869; pour le merite 1872, u. s. w.
Gedächtnifsrede auf Karl Richard Lepsius. 25
und zuverlälsig, edel denkend und das edelste erstrebend, mit vielen der
besten Männer, nicht Deutschlands allein, in treuer Freundschaft verbun-
den, seinen Wohlthätern dauernd dankbar und selbst wieder Vielen wohl-
thuend und helfend, so ist er geblieben bis zu seinem Ende.
Den Unbestand äulserer Güter hat er spät erst erfahren; mit männ-
lıchem Muth hat er ıhn überwunden. Auch der Schlaganfall, der an der
Scheide des 70°" Jahres vorübergehend seine eine Seite lähmte, ver-
mochte seine innere Kraft nicht zu brechen, noch ıhn auf die Dauer sei-
ner gewohnten Arbeit zu entziehen. Erst als ein dunkles Geschick ihm
sein häusliches Glück zerstörte, sank auch seine eigene Lebenskraft schnell
dahin. Ohne Klage nahm er an, was ihm beschieden war; sein Geist
blieb hell und wach; noch auf dem Sterbelager vollendete er seine letzte
Schrift. Kämpfend und schaffend ist er vom irdischen Schauplatz abge-
treten; seine Werke werden noch lange fortzeugend schaffen. Sein Ge-
dächtnils bleibt uns in Ehren.
Ein Verzeichnifs der Schriften von Richard Lepsius findet sich bei Georg Ebers,
Richard Lepsius, ein Lebensbild. Leipz. 1335, im Anhang 8. 376 — 390.
Gedächtnifsreden 1885. 4
PHYSIKALISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
AUS DEM JAHRE
1885.
MIT 5 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1886.
BUCHDRUCKEREI DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (G. VOGT).
a
Inhalt.
EICHLER: Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. (Mit 5 Tafeln). S. 1—24.
Ban
In
a
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter.
Von
H" EICHLER.
Phys. Abh. 1885. 1. 1
Gelesen in der Sitzung der physik.-math. Classe am 5. März 1885.
oe
ie die Entwickelung der Palmenblätter haben wir bereits Un-
tersuchungen von Mohl, Karsten, Trecul, Hofmeister und Göbel!).
Man weils durch dieselben, dafs die Fieder- oder Fächerform in dieser
Pflanzengruppe nicht, wie sonst, durch Hervorsprossen freier Segmente
aus der Rachis zu Stande gebracht wird, sondern dadurch, dafs in einer
zusammenhängenden Spreitenanlage bestimmte Gewebestreifen absterben.
Die Einzelheiten des Vorgangs sind jedoch noch nirgends genauer dar-
gestellt; man kennt wohl verschiedene Details, an einer vollständigen und
zusammenhängenden Entwickelungsgeschichte aber fehlt es noch, auch
wurden nur erst wenige Arten untersucht?). Zum Theil mag dies darin
seinen Grund haben, dafs zu den Untersuchungen ein reichlicheres Ma-
terial erforderlich ist, als jenen Beobachtern zur Verfüsung stand; da ich
1) Mohl, Vermischte Schriften (1845) p. 177 Taf. VI pp. — Karsten, die Ve-
getationsorgane der Palmen (1847) p. 7I ff. Taf. II pp. — Trecul, Ann. des science. na-
turelles III. Ser. vol. 20 (1853) p. 278 ff. Taf. XIV pp. — Hofmeister, Allgemeine Mor-
phologie (1868) p. 552. — Göbel, Vergleichende Entwickelungsgeschichte der Pflanzen-
organe (1383) p. 221 ff.
?2) So sagt auch der letzte Autor der über diese Materie gehandelt hat, Göbel
(l. e. p. 221): Die Entwickelungsgeschichte ist selbst für die wenigen Arten bei denen sie
untersucht ist, nur sehr lückenhaft bekannt.
4 BICHLER:
mich nun in dieser Hinsicht durch die Schätze des hiesigen botanischen
Gartens in günstigerer Lage befand, so schien es mir angemessen, den
Gegenstand einer erneuten Untersuchung zu unterwerfen. Zwar konnte
ich nicht erwarten, an dem oben bezeichneten Hauptergebnifs der früheren
Beobachter etwas Wesentliches abzuändern; aber immerhin durfte es als
eine nützliche Aufgabe erscheinen, bei einer so ausgezeichneten Pflanzen-
familie, wie die Palmen es sind, und gerade bei demjenigen Organe, in
welchem sie ihre hauptsächlichste Schönheit entfalten, die Entstehungs-
weise des letzteren vollständiger, als es bisher geschehen war, aufzuhellen.
Wenn dies nun hier ebenfalls nur für eine beschränkte Zahl von Arten
geschieht, so mag sich das daraus erklären, dafs einestheils auch im hiesi-
gen botanischen Garten die Mehrzahl der Arten, welche hier eultivirt
werden, nicht in der hinlänglichen Menge zur Verfügung standen, und
dafs anderntheils die Verhältnisse der Blattentwickelung sich im Grossen
und Ganzen so ähnlich erwiesen, dafs es nicht hinlänglich lohnend er-
scheinen mulste, die Untersuchung, welcher in jedem einzelnen Falle
mehrere ganze Exemplare geopfert werden mussten, noch weiter auszu-
dehnen.
Es wird für die Übersichtlichkeit der Darstellung zweckmäfsig
sein, zuerst die Entwickelung der fächerförmigen, dann die der fieder-
förmigen Palmenblätter an einigen ausgewählten Beispielen zu betrachten.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 5
I. Fächerförmige Blätter.
1. Pritchardia filifera Hort.
(Taf. I. Fig. 1—14.)
Das ausgebildete Blatt hat 20 und mehr Segmente, welche un-
gefähr bis zur Hälfte der Spreite hinabreichen und, wie bei allen Palmen
aus der Gruppe der Corypheae, welcher Pritchardia und auch die beiden
folgenden Gattungen angehören, ihre Mittelrippe nach unten wenden!). Die
Spitzen der Segmente zeigen sich in Fasern aufgelöst, ihre Ränder mit
zahlreichen rofshaarähnlichen, weifslichen Fäden besetzt, welche nach der
Blattoberfläche gewendet meist zu mehreren (2—6) übereinanderstehen
und sich einzeln bis zur Basis der Segmente herunter ablösen lassen.
Im untern zusammenhängenden Theil der Spreite fehlen solche Fasern,
und die von den Sesmenträndern herunterführenden Kanten erscheinen
entweder grün und glänzend oder nur da und dort mit einem weilsen,
abwischbaren Flaume bedeckt. Ein ähnlicher Flaum, nur in Form von
lauter kurzen Strichlein vertheilt, findet sich dann auch noch längs der
beiden Kanten der nach unten gerichteten Mittelrippen. — Der Petiolus
zeigt an den Rändern einzelne kurze Dörnchen; abwärts geht er — wie
nahezu bei allen Palmen — in eine geschlossene, im Alter zerfasernde
Scheide über; beim Eintritt in die Spreite bildet er oberwärts eine häu-
tige, weilsliche, fransig zerfaserte Schuppe, die als Ligula bezeichnet
werden kann.
Bei der ersten Anlage erscheint dies Blatt in Gestalt eines stumpfen
Zellhügels, seitwärts an dem breiten flachen Vegetationspunkt des Stammes.
Seine Basis wird rasch stengelumfassend, womit die Anlage der Scheide
gegeben ist; der Mitteltheil erhebt sich zu einem dieken stumpfen Zapfen
mit concaver Ventralseite (Fig. 1, 5). Nunmehr wird die Anlage der
1) Das nämliche ist auch, soweit Fächerpalmen in Betracht kommen, bei den
Borassineae der Fall, während in der Gruppe der Mauritieae die Mittelrippen der Seg-
mente nach oben gerichtet sind. (In der Bezeichnung der Gruppen folgen wir hier und
später den Genera plantarum von Bentham und Hooker.)
6 EICHLER:
Spreite sichtbar, in Gestalt eines flossenartigen Saumes, der über den
Scheitel jenes Zapfens hin, wo er am breitesten ist, an beiden Rändern
des letzteren herabläuft und nach unten sich allmälich verliert (Fig. 2).
Gegen das dicke Podium, aus dem er entspringt und das sich später
zum Petiolus streckt, erscheint dieser Saum, sowohl auf der Rück- als
auf der Vorderseite, durch eine leichte Furche abgegrenzt; anfangs schräg,
wird er durch gefördertes Wachsthum des Podiums auf der Innenseite in
Bälde nahezu horizontal gestellt (Fig. 4).
Fast unmittelbar nach seinem Auftreten beginnt nun die Spreiten-
anlage, in Folge verstärkten Breitenwachsthums, sich der Länge nach zu
falten, was äufserlich an einer Anzahl Furchen erkannt wird, welche so-
wohl auf der Rücken- als auf der Bauchfläche sichtbar und auf beiden
alternirend, vom untern Rande aus vertikal nach oben verlaufen. Sie
erlöschen jedoch, ehe sie den obern Rand noch erreicht haben, in gleichen
Abständen von letzterem; es bleibt somit ein continuirlicher Randstreif
ungefaltet (Fig. 4, 5). Im Übrigen zeigt sich die Faltung in der Mitte
der Spreitenanlage zuerst und schreitet von hier aus, aber sehr rasch,
rechts und links nach den Seiten; es kann dies als basipetal bezeichnet
werden. Die Falten legen sich ganz dicht aneinander und wachsen in
der Mitte am stärksten, so dass der Querschnitt des ganzes Complexes
von seiner anfangs oben vertieften Form (Fig. 9) zu einer beiderseits ge-
wölbten übergeht; das ganze Blatt erhält dadurch eine kegelförmige, mit
fortschreitendem Wachsthum sich mehr und mehr zuspitzende Gestalt
(Fig. 6—8). Dabei wächst, bis nahe zur Entfaltung, vornehmlich nur
die Spreite; die Scheide bleibt ganz bedeutend zurück und beim Petiolus
findet gar kein Längenwachsthum statt, so dafs Spreite und Scheide fast un-
mittelbar aneinander grenzen (Fig. 8). In der Scheide steckt dann allemal
ein nächstjüngeres Blatt, das mit seiner Spitze aus derselben hervorragt.
Wenn das junge Blatt etwa 1°“ Länge erreicht hat, so beginnt
der Procefs, durch welchen die bis dahin noch zusammenhängende Spreite
in ihre fächerförmigen Segmente zertheilt wird. Er hebt an bei der
Spitze und an den Flanken und schreitet von da nach abwärts und ein-
wärts fort; er besteht in nichts weiter, als in einem Absterben und Ver-
trocknen bestimmter Gewebsparthieen. Die Spitzen der Falten und der
ungefaltete Randstreif vertrocknen völlig; erstere zerfasern später, letzterer
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 7
löst sich in einzelne Flöckchen auf. Beim Haupttheile der Spreite, der
während dieses Desorganisationsprocesses beständig von unten her fort-
gebildet wird, findet aber das Vertrocknen nur an den nach vorn ge-
richteten Kanten (den „Oberkanten“) statt, alles andere bleibt intakt.
Vor dem Vertrocknen hatten sich bereits die Gefälsbündel differenzirt
(Fig. 10, 11), und zwar in den absterbenden Theilen mit besonders star-
kem Sklerenchymbelag; dieselben sterben daher zwar gleichfalls ab, ver-
hindern aber ein Verschrumpfen des Ganzen, die abgestorbenen Kanten
bleiben vielmehr ziemlich vollständig in Gestalt und Gröfse erhalten
(Fig. 12, 13).
Wenn nunmehr das Blatt aus der Knospe hervortritt, in Folge
Streckung der zum Petiolus werdenden Region zwischen Scheide und
Spreite, und wenn sich die Lamina ausbreitet, so reilsen die Spreiten-
falten an ihren abgestorbenen Oberkanten auseinander und stellen nun
die Segmente dar, deren Mittelrippen aus den intakt gebliebenen Unter-
kanten gebildet werden. Die abgestorbenen Oberkanten aber werden,
indem sie sich von den freigewordenen Segmenträndern ablösen, zu jenen
rofshaarähnlichen Fäden, nach welchen Prrtchardia fihfera benannt ist.
Das Absterben ergreift nicht nur die eigentlichen Ecken der Ober-
kanten bis hinein zum Innenwinkel, sondern auch — wenigstens bei etwas
entwickelteren Blättern — noch ein angrenzendes Stück der beiden die
Kante bildenden Lamellen. Es kann dasselbe ein oder mehrere Gefäls-
bündel enthalten (mehr als 6 habe ich indefs nicht beobachtet); diese
grenzen sich dann durch das Vertrocknen des umgebenden Parenchyms
rosenkranzförmig gegen einander sowie gegen das Eckstück ab und bilden
nachher beim entfalteten Blatte die mehrfachen Fasern, welche jeder
Segmentrand zeigt. Da sich dieselben, je weiter sie nach innen liegen, um
so weniger tief vom Segmentrande trennen, so stehen die Fäden, nach
oben kleiner werdend, etagenweise über einander, lassen sich aber alle-
sammt, wie schon oben gesagt, bis zum Grunde herunter ablösen. Die aus
der Kante selbst hervorgegangene Faser ist die dickste, die übrigen haben
unter sich ziemlich gleiche Stärke; erstere zeigt aulserdem auf dem Quer-
schnitt oft Spitzen, Zacken u. dgl. (ef. Fig. 12, 13), welche erst beim
Vertrocknen zu Stande kommen und wohl von ungleicher Schrumpfung
des Gewebes, sowie von einer geringen Pubescenz herrühren.
8 EICHLER:
Die Kanten der Segmente bilden gegen das vertrocknende Rand-
gewebe hin keme neue Epidermis; sie reilsen einfach von demselben ab,
zeigen infolgedefs unter dem Mikroskop kleinzackige Contouren (Fig. 14)
und bei Betrachtung mit freiem Auge eine weilsliche, borkige Beschaffenheit.
Im untern, zusammenhängenden Theil der Spreite, der bei dem
basipetalen Wachsthum zuletzt gebildet wird, findet jene Desorganisation
der Oberkanten nicht oder doch nur in unvollkommener Weise statt, so
dafs sich hier die Segmente nicht von einander trennen. Der abwisch-
bare Flaum, der sich hin und wieder an denselben und regelmälsiger
noch an den Unterkanten (Mittelrippen der Segmente) findet, rührt von
einer vertrockneten Pubescenz her, welche sich in den, zwischen den
Spreitenfalten verbleibenden kleinen Ecken zu entwickeln pflegt.
Bei jungen Pflanzen zeigen die Blätter noch keine Theilung, um
dann durch Mittelstufen — Trennung einzelner Segmente — zur voll-
ständigen Segmentirung erwachsener Blätter überzugehen; ein bei allen
Palmen mit getheilten Blättern wiederkehrendes Verhalten. Es braucht
kaum bemerkt zu werden, dafs ein Unterbleiben der Theilung seinen
Grund in unterbliebenem Absterben der Faltenkanten hat; sonst ist in
der Entwickelung kein Unterschied. Doch entbehren jüngere Blätter von
Pritchardia fihfer« auch der Petiolardornen und der Ligula; was die Ent-
wickelung dieser Theile anbelangt, so erscheinen beide erst spät, die
Ligula indefs schon bei einem Blatte, das noch keinen Petiolus hat, wäh-
rend die Petiolardornen natürlich erst auftreten, wenn sich jener ent-
wickelt. Beide stellen Emergenzen dar.
Noch ein Wort über den Mechanismus der Blattentfaltung. Die-
selbe wird bewerkstellist durch ein Gewebe, das sich im Innenwinkel
der Unterkanten und beim zusammenhängenden Theil der Spreite auch
im Innenwinkel der Oberkanten differenzirt. Es besteht aus ziemlich
weiten, zur Oberfläche des Blattes gestreckten, nach dem Innenwinkel
der Falten mehr weniger convergirenden Zellen mit farblosem Safte.
Dies Gewebe wird erst deutlich, wenn das Blatt sich der Entfaltung
nähert; durch die dann plötzlich erfolgende Vergröfserung seiner Zellen
wird die Falte auseinandergebogen. Es fand sich bei allen Palmen wieder,
welche darauf untersucht wurden; bei manchen, z. B. Livistona austrahs,
ist es von dünnen Sklerenchymsträngen durchzogen.
Zur Entwickehingsgeschichte der Palmenblätter. 9
Die ganze Entwickelung des Blattes verläuft in der Knospe ziem-
lich langsam, dann aber rasch, so dafs man von Blättern, die aus der
Knospe hervorgetreten sind, nur 2 oder 3 in verschiedenen Ausbildungs-
stadien, innerhalb der Knospe aber eine gröfsere Anzahl in allmälichen
Abstufungen vorfindet.
2. Livistona australis Mart.
(Taf. I. Fig. 15—19, Taf. I. Fig. 20— 23.)
Das Blatt dieser Art, mit welcher in der Hauptsache auch Lin-
stona chinensis R. Br. übereinstimmt, weicht von Pritchardia fihfera
hauptsächlich nur dadurch ab, dafs es der rofshaarartigen Fasern jener
Palme entbehrt und entweder glatte oder nur hier und da mit einem dün-
nen Fädehen versehene Segmentränder, sowie unzerfaserte Spitzen besitzt.
Aufserdem ist der Petiolus mit stärkeren und zahlreicheren Dornen be-
wehrt und die Ligula von derberer Consistenz.
Die ersten Entwickelungsstadien gleichen im Wesentlichen denen
von Pritchardia (cf. Fig. 15—19), nur dafs die Lisula hier schon früh-
zeitig, bald nach Anlage der Spreite, in Gestalt eines concaven dicken
Auswuchses auf deren Innenseite sichtbar wird (Fig. 20 bei). In der Folge
besteht der Hauptunterschied gegenüber Pritchardia darin, dafs das Ab-
sterben der Oberkanten sich nur bis zum Innenwinkel, nicht jedoch auf die
Lamellen selbst fortsetzt, sowie in der schwächern Ausbildung des die Ober-
kante durchziehenden Gefäfsbündels (Fig. 21), wodurch bewirkt wird, dafs
die absterbende Ecke viel mehr, als bei jener Art zusammenschrumpft
(Fig. 22). Bei der Entfaltung der Segmente bleibt sie gewöhnlich an dem
einen der freiwerdenden Ränder als weifslicher Streif haften oder löst sich
auch hin und wieder als dünne Faser ab; der andere Rand erscheint glatt
und läfst nur unter dem Mikroskop durch Unterbrechung der Epidermis
und Vertrocknen des an der Unterbrechungsstelle gelegenen Gewebes den
ursprünglichen Zusammenhang noch erkennen (Fig. 23).
Phys. Abh. 1885. I.
[>]
10 EICHLER:
6)
3. Chamaerops humilis L.
(Taf. II. Fig. 24—35, Taf. III. Fig. 48, 49.)
Das Blatt hat hier aufser der ventralen Ligularschuppe auch noch
eine dorsale Excrescenz am Eintritt des (unbewehrten) Petiolus im die
Spreite, oft eingebuchtet oder halbirt, kleiner als die Ventralschuppe und
zuweilen kaum angedeutet; auch die Ventralschuppe ist mitunter nur sehr
schwach entwickelt. Am entfalteten Blatte erscheinen die Segmentränder
ganz glatt und ohne Fasern; sie haben auch eine Epidermis, die sich
ohne Unterbrechung in die Flächenoberhaut der Segmente fortsetzt,
jedoch nach Göbel der Spaltöffnungen entbehren soll. Tritt das Blatt,
noch zusammengefaltet, aus der Knospe, so zeigt es sich mit einem weils-
lichen, abwischbaren Flaum bedeckt; bei der in den Gärten als Chamaerops
macrocarpa gehenden Varietät pflest derselbe schwächer zu sein und kann
auch ganz fehlen.
Die ersten Stadien der Blattentwickelung zeigen uns die junge
Spreite zwischen den beiden Ligularschuppen bald fast versteckt, bald
mehr weniger hervorragend (Fig. 25, 27), sowie eine reichliche, nament-
lich von der Spreite ausgehende, zottig-filzige Behaarung; sonst ist alles
in der Hauptsache wie bei den vorhergehenden Arten (vgl. Fig. 24—29
nebst der Erklärung). Die beiden Ligularschuppen werden von der sich
kräftig entwickelnden Spreite rasch überholt und bleiben, relativ immer
kürzer werdend, an deren Basis zurück (ef. Fig. 29a, 6) 1).
Der wichtigste Unterschied, der sich im weiteren Verlaufe der
Entwickelung bei Chamaerops gegenüber von Pritchardia und Livistona
zeigt, besteht darin, dals das absterbende Gewebe der Oberkanten der
Spreitenfalten nicht vertrocknend erhalten bleibt, sondern sammt der
Behaarung verschleimt und bis auf geringe flockige Reste verschwindet.
Dies beginnt schon frühe, wenn das Blatt noch ganz cambial ist; die
absterbenden Oberkanten haben demnach hier auch keine Gefälsbündel
(ef. Fig. 31— 33). Das intakt bleibende Gewebe der Lamellen differenzirt
1) Göbel (Vergl. Entwickelungsgesch. p. 222) sagt, dafs sie später vertrockne-
ten und abfielen; doch findet nur das erstere statt, namentlich an den Rändern, ein Ab-
fallen nicht.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 11
nunmehr am Rande eine Epidermis, welche in die, ebenfalls jetzt erst
sichtbar werdende Oberhaut der Seitenflächen continuirlich übergeht
(Fig. 34, 35, auch Taf. II. Fig. 48, 49 nebst der Erklärung).
Die von dem zerstörten Gewebe herrührenden Flöckchen sind bei
der Entfaltung des Blattes noch wahrnehmbar, um dann allmälich zu
verschwinden. Es wurde schon bemerkt, dafs sie bei der Varietät ma-
crocarpa schwächer zu sein pflegen, oder auch ganz fehlen; hier ist denn
auch die anfängliche Behaarung meist geringer, als bei der gewöhnlichen
Form (s. Fig. 25 —27). Die Haare stellen im Übrigen lange, gegliederte
Schläuche dar, die zu einem dichten Filz verflochten sind.
Bei jüngeren Blättern wird nur ein kleiner Theil der Oberkanten
soweit desorganisirt, dafs die Fächerstrahlen frei werden, bei mittelgrofsen
alle oder doch die meisten, bei noch weiter entwickelten geschieht es
auch mit einem Theile der Unterkanten, so dafs die betreffenden Segmente
nochmals, nur minder tief herunter, sich spalten. Auch hier wird dann
eine Epidermis an den Segmenträndern gebildet, wodurch man derart
freigewordene Abschnitte von solchen unterscheiden kann, die sich —
was ebenfalls vorkommt — durch mechanische Zerreifsung des Gewebes
längs der Mittelrippe getheilt haben.
Die Blattentwickelung von Chamaerops humilis ist vordem schon
von Tre&cul (Ann. sc. nat. 3. Ser. vol. XX p. 278) beschrieben worden;
über den interessantesten Punkt, die Bildung der Fächerstrahlen, hat sich
Treeul jedoch nicht ausgelassen. Auch läfst er die Spreite unter einem
behaarten Häutchen (pelhcule) sich bilden, welches seinerseits von der
Ventral-Ligula den Ursprung nehmen und durch das Längenwachsthum
der Spreite von ersterer abgelöst werden soll; wahrscheinlich hat hier
Treeul das verschwindende Gewebe der Blattoberseite im Auge gehabt.
12 EICHLER:
NM. Piedertormige Blätter.
4. Phoenix spinosa Thonn.
(Taf. III. Fig. 36— 47.)
Die Fiedern, zu beiden Seiten einer kräftigen, unterseits dickeren
Rachis eingefügt und dieselbe mit einem Endblättchen beschliefsend, sind
hier, wie bekanntlich in der Gattung Phoenix überhaupt, derart gefaltet,
dafs ihre Mittelrippe nach unten schaut. Bei der Entfaltung des Blattes
löst sich am Rande ein, die Spitzen der Segmente verbindender weils-
licher Gewebestreifen ab und ähnliche, nur schmälere, gleichfalls sich ab-
lösende Streifen zeigen sich auch an den Rändern der einzelnen Segmente.
Aufserdem bemerkt man an den Kanten der Rachis, sowie in der Mitte
ihrer Oberseite und unterwärts an der Mittelrippe der Segmente, Streifen
weilslicher Flöckehen; im Übrigen behalten auch diejenigen Stellen, längs
welcher sich die zusammenhängenden Fasern abgelöst haben, eine weils-
liche, borkige Beschaffenheit.
Die untersten Fiedern erscheinen reducirt und mehr weniger ver-
dornt, die folgenden oft paarweise an derselben Seite der Rachis einander
genähert und dann die eine nach vorn, die andere nach hinten gerichtet;
die obern Segmente liegen gewöhnlich in der nämlichen (Transversal-)
Ebene und haben untereinander gleiche Abstände. Die Rachis geht fast
ohne Petiolus zur Scheide über; eine Ligula oder ähnliche Bildung ist
nicht vorhanden, wie eine solche auch bei den weiterhin zu beschreiben-
den Arten fehlt !).
Bei der Entstehung stellt das Blatt auch hier einen stumpfen con-
caven Höcker dar, der zunächst durch Umwachsen der Axenspitze die
Scheide anlest (Fig. 36) und gleich darauf auch die Spreite in Gestalt
eines flossenartigen Saumes, der über den Scheitel hin am breitesten,
1) Eine Ligularbildung ist überhaupt bei fiederblättrigen Palmen nur selten an-
zutreffen; doch zieht sich z. B. bei Desmoncus die Scheide über der Exsertion des Petio-
Jus Ochrea-artig empor. Cf. Drude in der Flora Brasiliensis.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 13
nach abwärts sich verliert (Fig. 37). Auf diesen frühesten Stadien gleicht
das Blatt ganz dem der oben beschriebenen Fächerpalmen, nur dafs die
Rachis sich höher am Rücken hinaufzieht und die Spreite somit ihre
schräg absteigende Anfangsrichtung beibehält.
Sofort nach Anlage der Spreite beginnt denn auch wieder ihre
Faltung (Fig. 38). Dieselbe erfolgt basipetal, wobei ein Randstreif un-
gefaltet bleibt — alles wie bei Pritchardia. Die Falten, in der Mitte der
Spreite vertikal, an den Flanken schräg nach oben strebend, stellen sich
im Allgemeinen parallel von vorn nach hinten (Fig. 41—43); wo die
Rachis zwischen sie hineinragt, werden sie durch dieselbe in zwei, nach
hinten divergirende Packete gesondert (Fig. 43, 45) In diesem untern
Theil der Spreite bleiben die Oberkanten der Falten frei voneinander
(Fig. 45); oberwärts verschmelzen sie zu einer continuirlichen Schicht
(Fig. 41— 44). Im Übergang der obern zur untern Parthie wird diese
Schicht zuerst in der Mitte unterbrochen, entsprechend dem „foliolum ter-
minale“ (Fig. 42), dann auch weiter nach aulsen hin (Fig. 43), bis zu-
letzt sämmtliche Oberkanten getrennt erscheinen (Fig. 45).
Ehe nun noch die Falten sehr tief geworden sind, zu einer Zeit
etwa, wo das ganze junge Blatt eine Länge von 4°” erreicht hat, beginnt
der die Falten trennende Desorganisationsprocefs. Er hebt an am un-
sefalteten Randstreifen (Fig. 41, 42) und geht dann nach der Mitte
des Blattes weiter; in der Längsrichtung verläuft er basipetal. Zuerst
vertrocknet die Pubesceenz, die sich namentlich am Randstreif und innen
an der Rachis, doch auch auf den Aufsenkanten der Falten entwickelt
hatte; es bleiben davon nur flockige Reste übrig, die namentlich in den
Winkeln zwischen den Unterkanten der Falten und auf der Oberseite
der Rachis angetroffen werden und beim entwickelten Blatte die Flöck-
chen bilden, von welchen oben die Rede war. Das Gewebe der Falten
selbst, und zwar wiederum an den Oberkanten, verändert sich in der von
Pritchardia her bekannten Weise; es sind aber lediglich nur die eigent-
lichen Ecken, welche absterben, seltner geschieht es auch mit einem an-
srenzenden Glied der Lamelle (Fig. 45 bei ©). Im untern Theile der
Spreite sehen wir nunmehr nach dem vorhin Gesagten die abgestorbenen
Kanten getrennt von einander, auf dem Querschnitt als dreieckige Kappen
den einzelnen Lamellenpaaren aufgesetzt (Fig. 45); oberwärts flielsen
14 EICHLER:
sie zu einer continuirlichen oder nur in der Mitte unterbrochenen Schicht
zusammen (Fig. 44). Dies ist die Schicht, von welcher schon Mohl
spricht, deren Herkunft aber weder von ihm noch späterhin von Göbel
deutlich erkannt wurde !). Sie zeigt, correspondirend mit den einzelnen
Lamellenpaaren welche in sie einmünden, Gefäfsbündel, die sich abwärts
in die isolirten Faltenkanten fortsetzen (cf. Fig. 43, 45—47); sie sind
jedoch schwächer als bei Prrtchardia und zuweilen, namentlich im obern
Theil der Spreite, kaum angedeutet.
Bei der Entfaltung des Blattes werden die abgestorbenen Ober-
kanten von den zugehörigen Lamellenpaaren abgerissen und in Gestalt
weilslicher Fasern abgeworfen; die Schicht, in welche sie oberwärts zu-
sammenlaufen, wird dabei ebenfalls in Fasern zerlegt, wie sie den ein-
zelnen constituirenden Falten entsprechen. Die Lamellen werden somit
vorderseits sämmtlich von einander frei, hinten bleiben sie paarweise in
Verbindung und diese Paare sind wiederum die Segmente, die ihre Mittel-
rippe somit nach unten gewendet haben. Die freigewordenen Segment-
ränder zeigen gewöhnlich in Folge des Abreilsens von den abgestorbenen
Kanten eine breitere oder schmälere Unterbrechung der Epidermis mit
todtem Gewebe an der Unterbrechungsstelle (ähnlich fast wie bei Lin-
stona, s. Taf. I, Fig. 23), doch kommt es auch vor, dafs sie eine voll-
ständige Epidermis besitzen, in welchem Falle die letztere an der Tren-
nungsstelle nachträglich gebildet sein muls.
Bei grölseren Blättern theilen sich oft die Segmente nachträglich
auch längs der Mittelrippe, im einzelnen Segment gewöhnlich von der
Basis aus nach der Spitze hin. Dies geschieht dann stets nur durch
mechanisches Zerreilsen des Parenchyms der Unterkante neben dem Ge-
fäfsbündel her und hat nicht, wie bei Chamaerops, semen Grund darin,
dals auch die Unterkanten abzusterben vermögen.
1) Göbel (Vergl. Entwickelungsgeschichte p. 223) lälst es dahingestellt, ob sie
auf die oben angegebene Art, oder durch Verwachsung der Oberkanten mit dem einge-
schlagenen Blattrande resp. einer Wucherung desselben, oder durch Verwachsung mit
einer von der Blattbasis her sich entwickelnden Schuppe entsteht.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblaätter. 15
5. Caryota urens L.
(Taf. V. Fig. 61— 66.)
Hier zeigen die Blätter, wenigstens die gröfseren, doppelte Fiede-
rung, während kleinere oft nur einfach gefiedert sind. Die im Allgemeinen
rhombischen Segmente haben neben einer, nach abwärts gerichteten Mittel-
rippe noch mehrere schwächere, fächerförmig von unten ausstrahlende
Seitenrippen; die Ränder, unregelmälsig gezackt und gezähnt, werden bei
der Entfaltung von ablösbaren Fasern eingesäumt, auch finden sich solche
da und dort an den Rippen der Rückseite.
Anfangsstadien (Fig. 61—62) gleichen im Allgemeinen denen von
Phoenix, nur ist die Zahl der Falten geringer, auch gehen letztere bis
fast zum Rande, so dals nur ein ganz schmaler Saum ungefaltet bleibt.
Pubescenz wird nicht gebildet. Die Scheide besitzt nur eine ganz kleine
Öffnung (Fig. 62 bei «).
Die Falten der Spreite liegen anfangs glatt nebeneinander (Fig. 63,
64); ihr Flächenwachsthum ist jedoch so energisch, dafs sie sich bald zu
verbiegen beginnen; „da der Raum zur planen Entfaltung mangelt (weil
das junge Blatt in der Scheide des nächstältern eingeschlossen ist), knicken
sich die Blattflächen mehr und mehr ein; endlich zeigt der Querschnitt
ein vielfach gebogenes System von Faltungen, die alle auf einer der
Rippen (der Hauptrippe) oder auf einer der Seitenrippen erster oder
zweiter Ordnung spitzwinkelig sind“ (Hofmeister, vergl. Morphol. p. 532).
Aulsen sieht man jedoch von diesen Biegungen nichts; hier laufen die
Falten glatt nebeneinander herunter; auch hängt ihr Gewebe noch aller-
wärts zusammen (Fig. 65). Die nach der Rückseite gerichteten Kanten
sind die dieksten und bilden sich unter Auftreten starker Gefülsbündel
zu den Mittelrippen aus; die Nebenrippen entstehen aus Vorsprüngen,
welche im Innern der zusammengefalteten Spreite gelegen sind; die Kanten
an der Oberseite bleiben alle unverdickt (Fig. 66). Endlich, wenn das
Blatt sich schon zur Entfaltung anschickt, sterben die an der Oberseite
gelegenen Kanten ganz oder gröfstentheils ab, unter Zurücklassung trocke-
ner, weilslicher, mehr oder weniger zerfaserter Gewebsstreifen; auch im
Innern der Spreite sieht man da und dort, wie unter gleichen Erschei-
nungen sich einzelne Faltenecken von einander trennen (Fig. 66); an der
16 EICHLER:
freien Rückseite jedoch findet nur ein theilweises Absterben des Gewebes
statt, zur Zertheilung der Faltenecken kommt es hier nicht (Fig. 66). Es
braucht nun kaum gesagt zu werden, dafs auf diese Art das Blatt zu-
nächst in eine Anzahl primärer Segmente und diese dann wieder in secun-
däre zertheilt werden, sowie dafs die todten Gewebestreifen nachher die
Fasern an den Segmenträndern und auf den Rippen der Rückenseite
bilden; doch läfst sich bei den labyrinthischen Faltungen des jungen
Blattes und der leichten Zerreifsbarkeit seines Gewebes der Procels kaum
noch weiter in die Einzelheiten verfolgen. Auch kann ich nur vermuthungs-
weise aussprechen, dafs die Zacken und Zähne an den Segmenträndern
von dem geknickten Verlaufe der Falten herrühren, nicht aber etwa von
einem nachträglichen Wachsthumsvorgang, wie man vielleicht glauben
möchte, wenn man sieht, dals diese Zacken und Zähne bei entfalteten
und geglätteten Segmenträndern keineswegs mehr an einander hinpassen.
Die freigewordenen Segmentränder sind immer, wenn auch zu-
weilen nur an der äufsersten Ecke, ohne Epidermis; die Rückenkanten
jedoch bilden eine solche auch dann, wenn ihr äufserstes Gewebe des-
organisirt wurde. —
Ähnlich wie Caryota verhält sich auch Wallichra, soweit hier nach
dem fertigen Zustand ein Urtheil gestattet ist; nur sind in dieser Gattung
die Blätter immer blos einfach gefiedert. Martinezia und Iriartea dürften
sich von Wallichia wesentlich nur durch die nach rückwärts gefalteten,
also ähnlich wohl wie in den folgenden Beispielen zu Stande kommenden
Segmente unterscheiden.
6. Cocos Romanzoffiana Cham.
(Taf. IV. Fig. 50 — 60.)
In der Gattung Cocos, von der ich aufser der genannten Art auch
noch ©. Weddelhana Wendl. soweit untersuchte, um mich von der Ueber-
einstimmung beider in Bezug auf die Blattentwickelung zu überzeugen,
sind die Segmente mit ihrer Mittelrippe nach oben gewendet, ein Merk-
mal, das sämmtlichen Palmen aus der Unterfamilie der Areceae, mit Aus-
nahme nur der (aryotideae, gemeinsam ist. Ihre Ränder sind mit voll-
ständiger Epidermis bekleidet und mit einem Streifen feiner, faseriger,
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblatter. 17
weilslicher Flöckehen; die Spitzen werden vor der Entfaltung durch einen
nachher zerreifsenden und verschwindenden Randstreifen von gleichfalls
faserigem, weilslichen Ansehen zusammengehalten. Die obersten Segmente
hängen bei jüngeren und mittelgrofsen Pflanzen zu einer ungetheilten oder
auch 2- und 3spaltigen Endspreite zusammen, bei älteren sind sie eben-
falls gesondert.
Die jüngsten Stadien gleichen denen von Phoenix spinosa (Fig. 50
u. ff), nur sind die Falten viel zahlreicher und enger, nahezu horizontal
gestellt und es fehlt die Pubescenz. Die lang hinauflaufende Rachis
schiebt sich zwischen die Falten der rechten und linken Seite in Gestalt
einer nach vorn zugeschärften, dicken Schneide hinein, derart, dafs die-
selben im Jugendzustande völlig von einander geschieden sind (Fig. 535,
54c, 5dc bei 7); erst späterhin wachsen die, bei fortschreitender Ent-
wickelung zugleich mehr und mehr sich aufrichtenden Falten soweit nach
oben vor, dafs sie in einem spitzen Winkel aufeinander stossen (Fig. 60).
Die Oberkanten kommen daher hier nicht an die freie Aufsenfläche der
im Querschnitt eiförmigen Blattanlage zu liegen, die Aufsenfläche wird
vielmehr nur von den nach rückwärts gerichteten Kanten eingenommen.
Indem nun der Desorganisationsprocels, wie dies ja auch in den vorher-
gehend beschriebenen Beispielen allermeist der Fall war, blos an der
Aulsenseite der gefalteten Spreite vor sich geht, so erklärt sich, dafs
hier bei Cocos die Vorderkanten der Falten unverändert bleiben und blos
die Hinterkanten gelöst werden, mithin die freigewordenen Segmente
ihre Mittelrippe nach oben zeigen.
Der Desorganisationsprocels an den Unterkanten der Spreitenfalten
ist hier von gleicher Art, wie wir ihn bei Ohamaerops kennen gelernt
haben; das Gewebe lockert sich auf, verschleimt und verschwindet bis
auf jene faserig flockigen Restchen, welche man nachher an den Segment-
rändern vorfindet. Da das schon frühzeitig geschieht, wenn das Spreiten-
gewebe noch ganz meristematisch ist und eben erst die Gefäfsbündel auf-
treten, so bilden auch hier die Segmentränder eine neue, mit der Flächen-
oberhaut in Continuität stehende Epidermis (cf. Fie. 55c, 57, 58, sowie
59a und 5b nebst den Erklärungen).
Mohl hat die Blattentwickelung bei Cocos flexuosa Mart. unter-
sucht, jedoch den Trennungsprocefs der Segmente nicht näher verfolgt.
Phys. Abh. 1885. T. 3
18 The (e Jet aa, 121199 9
Er sagt darüber nur Folgendes (Verm. Schr. p. 177, 178): „Zwischen
der verdickten Mittelrippe und dem Blattrande bildet sich eine flache
Furche, auf deren Grunde man bei weiterer Entwickelung nahe anein-
anderliesende, etwas vertiefte Querstreifen, jedoch noch mit völligem Zu-
sammenhang des Blattgewebes sieht. Später findet man diese Querstreifen
in schmale Spalten verwandelt, welche bei Cocos flexuosa die ganze Dicke
des Blattes durchdringen, so dafs sie auf der untern und obern Blatt-
fläche gesehen werden. Die weitere Entwickelung zeigt, dafs sich der
zwischen je zwei Spalten liegende Theil zu einem Fiederblättchen aus-
bildet und auf einem Querschnitte oder noch besser auf einem Längs-
schnitte erkennt man, dafs diese Fiederblättehen zusammengefaltet sind
und dafs die Mittelrippe, in welcher die Faltung geschieht, bei Cocos in
der oberen Blattfläche liest, so dals also auf der untern Blattfläche dop-
pelt so viele Spalten als auf der obern sichtbar smd“. Weitere Unter-
suchungen über die Cocos-Blätter lagen bis dahin nicht vor.
7. Chamaedorea oblongata Mart.
(Taf. V. Fig. 67 — 72.)
Die wenig zahlreichen Segmente sind auch hier nach oben ge-
faltet, aber schwächer als bei Cocos, und haben aufser der Mittelrippe
noch einige kräftigere, mit derselben parallele Nebenrippen. Sie zeigen
an den Rändern einen feinen weilslichen Streifen; ein die Spitzen ver-
bindender Randstreif ist jedoch nicht vorhanden. Ihre Anlage erfolst
mit Querfalten, die hier aber nicht in basipetaler Folge entstehen, son-
dern, wie es auch Trecul für Chamaedorea Martiana angiebt, akropetal
oder richtiger etwas „divergirend“, indem sich nach den zuerst ent-
standenen auch nach abwärts noch einige Falten bilden (Fig. 67 — 69).
Die Stellung der sich vergröfsernden Falten zur Rachis ist im Allgemeinen
wie bei Cocos; die Oberkanten stofsen über der Rachis im Winkel auf-
einander, an der freien Aufsenfläche des jungen Blattes liegen nur die
Unterkanten. So werden denn nachher auch wieder nur diese gespalten,
die Oberkanten bilden die Mittelrippen. Die Spreitenlamellen bleiben
jedoch hier nicht flach, wie bei Cocos, sondern sie biegen sich in Folge
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 19
beträchtlichen Flächenwachsthums hin und her, jedes Lamellenpaar ge-
wöhnlich mit 3 oder 4 Knickungen, in deren Vorsprüngen sich dann, wie
bei Caryota, die Nebenrippen entwickeln (Fig. 70, 72). Das absterbende
Gewebe der Unterkanten (Fig. 71) verschwindet auch hier bis auf ganz
unbedeutende Reste; die freigewordenen Segmentränder stellen jedoch
keine complete Epidermis her, sondern zeigen, ähnlich wie Livistona, am
äufsersten Ende eine Unterbrechung der Oberhaut und eine todte Stelle,
die in Form jenes oben erwähnten weiflslichen Streifens den Segmentrand
begleitet. — Der Mangel eines die Spitzen der Segmente verbindenden
Randstreifens rührt hier davon her, dafs die Falten der jugendlichen
Spreite bis zum Rande selbst vordringen, und nur einen ganz feinen,
bald verschwindenden Saum ungefalteten Gewebes übrig lassen (s. Fig. 68).
Über die Entstehung der Segmente äufsert sich Treceul für Cha-
maedorea Martiana folgendermalfsen (]. c. p. 310): „Les sillons transversaux
.. s’enfoncent graduellement dans l’interieur du bourrelet (der Spreiten-
anlage), jusqu’a ce que ceux qui sont partis du cÖöte interne arrivent au
cöte oppose et y determinent une rupture, tandıs que ceux qui vont de
lexterieur & l’interieur s’arrötent avant d’arriver & la face interne“. TRECUL
stellt sich hiernach vor, dafs die Innenwinkel der Unterkanten sich in
eine das Gewebe durchdringende Spalte fortsetzen; dals die Trennung
durch Zerstörung des Gewebes der Unterkanten hervorgebracht wird, hat
er demnach nicht erkannt. Wenn er an anderen Stellen bemerkt, dafs
sich die Segmente der Palmenblätter überhaupt in einer durchscheinenden,
gelatinösen Substanz entwickelten, welche nachher vertrocknete und mit
kleinen Flöckchen abfiele, so hat er offenbar das in Desorganisation be-
griffene Kantengewebe im Auge, das ihm somit zwar nicht entgangen,
aber bezüglich seiner Herkunft unklar geblieben ist.
Mit Chamaedorea übereinstimmend bezüglich der Form, Knospen-
lage, Beränderung und jedenfalls auch Entstehung der Segmente verhält
sich Calamus adspersus Bl. Nur setzt sich hier bei ältern Blättern die
Rachis weit über die Segmente hinaus fort m Gestalt eines langen,
peitschenartiges Stieles, der auf der Rückseite zusammt dem untern Theile
der Rachis mit abstehenden, harten, meist 2—3 spitzigen Dornen besetzt
ist — bekanntlich der Apparat, mittelst dessen die kletternden Calamus-
Arten sich festhalten. Diese Dornen sind hier, wie in andern Fällen,
3*
30 EICHLER:
wo sie an Rachis und Petiolus auftreten, Emergenzen, welche anfangs,
wenn das Blatt noch geschlossen ist, der Rachis dicht nach aufwärts an-
gedrückt sind, so dafs das Blatt sich ungehindert aus der Knospe heraus-
schieben kann. Hiergegen stellen die Dornen am Rachisende von Des-
moncus erhärtete Blattsegmente dar, wie zwar nicht gerade entwickelungs-
geschichtlich, wohl aber durch die ganze Configuration, durch Übergänge
und andere Merkmale aulser Zweifel steht.
Ir erksprlenke
Ein Überblick über die im Vorstehenden beschriebenen Ent-
wickelungsverhältnisse ergiebt zunächst folgende, für alle Palmen — so-
weit sie untersucht wurden — gemeinsamen Züge:
1. Zuerst entsteht die Rachis mit der Scheide; sodann erscheint
die Spreite in Gestalt einer flossenartigen Ausbreitung am Rande der
Rachis. — Wo ein Petiolus vorkommt, bildet sich derselbe erst intercalar
bei Entfaltung des Blattes; die Ligula, wo sie begegnet, hat den Cha-
rakter einer Emergenz.
2. Die Spreite bildet sofort nach ihrem Auftreten in Folge über-
wiegenden Breitenwachsthums dicht aneinanderliesende Falten, welche bei
verkürzter Rachis (Fächerblättern) als Längsfalten, bei gestreckter Rachis
(Fiederblättern) zunächst als Querfalten erscheinen.
3. Durch Absterben bestimmter Kanten dieser Falten wird die
Spreite in Segmente zerlegt, die bei Entfaltung des Blattes sich von ein-
ander trennen.
Nach den verschiedenen Arten, resp. Gattungen der Palmen, zeigen
sich in Hinsicht des Absterbens wieder folgende Besonderheiten.
a. Nur die Oberkanten der Spreitenfalten sterben ab, die Seg-
mente haben daher ihre Mittelrippe nach unten: Pritchardia, Livistona,
Uhamaerops z. Th., Phoenix.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 21
b. Nur die Unterkanten sterben ab, die Segmente haben daher
ihre Mittelrippe nach oben: Cocos, Chamaedorea, Calamus.
c. Sowohl die Ober- als die Unterkanten sterben ab, die Segmente
haben daher gar keine Mittelrippe, resp. Mittelfalte: Chamaerops z. Th.
d. Aufser den Oberkanten sterben auch noch seitliche Kanten
der mehrfach gefalteten Lamellen ab, die Segmente werden dadurch fie-
derig getheilt: Caryota.
In Bezug auf das Verhalten der absterbenden Kanten zeigen sich
als bemerkenswertheste Modificationen:
a. Die absterbenden Kanten bleiben in Form zusammenhängender,
meist mit Gefäfsbündeln versehener Fasern erhalten. Die freiwer-
denden Segmentränder bilden (in der Regel) keine neue Epidermis.
a. Fasern kräftig, mehrere an jedem Segmentrande, ablösbar:
Pritchardia fihfera.
®. Fasern kräftig, meist einzeln an jedem Segmentrande, ab-
lösbar: Phoenix spinosa, Caryota urens.
y. Fasern zart, einzeln an den Segmenträndern, gewöhnlich
nicht ablösbar: Liwistona austrahis, Ohamaedorea oblongata,
Calamus adspersus.
b. Die absterbenden Kanten verschwinden bis auf geringe flockige
Reste; die freiwerdenden Segmentränder bilden eine neue Epi-
dermis: Ohamaerops, Cocos.
Unter vorstehende Abänderungen dürften sich, soviel nach den
fertigen Zuständen geurtheilt werden kann, wohl sämmtliche Palmen-
blätter einreihen lassen; doch soll das hier nicht weiter verfolgt werden.
Eine Besonderheit zeigt sich bei Ceroxylon andicola in dem breiten und
lange nach Entfaltung des Blatts die Fiederspitzen noch zusammenhalten-
den Randstreif; derselbe fand sich zwar auch in oben beschriebenen
Beispielen, namentlich bei Cocos, aber doch nirgends in solcher Aus-
bildung und Dauerhaftiekeit, wie bei jener Palme. —
Eine mit den Palmen übereinstimmende Bildungsweise der Blätter
ist anderweitig im Gewächsreiche kaum wieder anzutreffen — soweit meine
Erfahrungen reichen eigentlich nur noch bei Carludovica, die allerdings
9% EICHLER:
den Palmen verwandtschaftlich sehr nahe steht. Die Blätter der meisten
Arten gleichen hier durchaus denen der Fächerpalmen und entstehen, wie
ich mich bei (arlıdovwieca rotundifolia überzeugt habe, auch auf dieselbe
Weise, speciell in der bei Livistona kennen gelernten Modification. Ab-
weichend schon verhält sich der Familiengenosse von Carludovica: Öyc-
lanthus. Das Blatt ist hier zunächst gablig-zweinervig und, wenn es aus
der Kospe kommt, noch ungetheilt; erst nachträglich kann es sich von
oben herab in zwei Abschnitte spalten, bleibt indefs oft auch einfach.
Die Theilung ist dabei ein wirkliches Durchreifsen lebendigen Gewebes;
doch ist die Rifslinie imsofern vorgezeichnet, als sie einer scharfen Falte
entspricht, welche der im jungen Blatte zu äufserst liegende Mitteltheil
des Blattes macht. Aus der Fig. 73, Taf. V wird die Sache verständ-
licher sein als durch Worte; man sieht darin zugleich die eigenthümlich
verschlungene Knospenlage der ganzen Spreite. Die schärfsten Falten er-
scheinen nachher als zarte Längsrippen, doch ohne prononcirte Gefäls-
bündel, auf der Rückseite mit etwas vorspringenden Epidermiszellen, auf
der Oberseite mit einem Spreizgewebe, ähnlich dem, welches sich im
Innenwinkel der Palmenblattsegmente befindet.
Es ist weiterhin bekannt, dafs auch bei den Araceen, speciell in
der Gruppe der Monsteroideae (z. B. bei Monstera deliciosa Liebm., dem
„Philodendron pertusum“ der Gärtner) eine Theilung des Blattes in fieder-
artige Lappen durch frühzeitiges Absterben einzelner Gewebeparthieen zu
Stande gebracht wird 1). Doch ist dies eigentlich mehr eine Durch-
löcherung, als eine streifenweise Zerlegung der Spreite; eine solche Durch-
löcherung treffen wir dann bekanntlich auch noch bei Ownirandra fene-
siralis. Dies wären denn aber auch die letzten Beispiele, die noch emiger-
malsen mit der Bildungsweise der Palmenblätter in Vergleich gebracht wer-
den könnten ; denn die fiederförmige Zerschlitzung der Musaceenblätter durch
den Wind und die streifenförmige des Blattes von Welwitschia im höheren
Alter, beruhen doch nicht auf einem organischen Entwickelungsvorgang.
Eher könnte die Theilung des „Blattes“ von Laminaria Oloustoni und die
Art, wie die „Blätter“ bei Macrocystis gebildet werden, noch als ein solcher
1) S. hierüber Schwarz in Monatsber. der K. Akademie d. W. zu Wien 1872,
Aprilheft, sowie Engler in Decandolle, Monographiae phanerogam. vol. II. p. 20.
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 23
betrachtet werden !); allen auch hier liegt mehr eine mechanische
Zerreilsung lebendigen Gewebes in Folge ungleichen Wachsthums vor,
als eine Theilung des Organs längs bestimmt vorgezeichneter Linien, in
welchen das Gewebe frühzeitig abstirbt. Jene Entstehungsweise, wie wir
sie bei den Palmen kennen gelernt haben, erscheint somit, von Carlı-
dovica abgesehen, wesentlich auf diese Familie beschränkt und es ist
eine immerhin recht merkwürdige Thatsache, dafs dadurch so mannich-
fache und elegante Formen, wie sie die Palmenblätter darbieten, aus einer
ursprünglich einfachen Spreite hervorgebracht, gleichsam aus derselben
ausgeschnitten werden können.
1) Cf. Falkenberg in Schenk, Handbuch der Bot. II p. 227, und Will, über
Maerocystis luxurians in Botan. Ztg. 1884 n. 51.
34 EICHLER:
Erklärung der Abbildungen.
Tafel I.
Fig. 1—14. Pritchardia filifera Hort.
Fig. 1. Axenspitze mit dem jüngsten Blatt, von oben.
Fig. 2. Etwas weiter entwickelte Blattanlage, von der Seite; man sieht den An-
fang der Spreite.
Fig. 3. Axenspitze mit 2 Blattanlagen im Querschnitt. Vergr. von Fig. 1—-3=50.
Fig. 4—8. Junge Blätter in fortschreitenden Entwickelungsstadien; Fig. 5 von
innen, die übrigen von der Seite betrachtet. Bei 4 sieht man den Beginn der Spreiten-
faltung. Vergr. von Fig. 4 u. 5=30, Fig. 6— 20, Fig. 7 = 10, Fig. 3 —=5.
Fig. 9. Querschnitt durch den Spreitentheil eines Blattes, etwa vom Alter des
in Fig. 5 dargestellten. Vergr. — 66.
Fig. 10. Querschnitt eines Blattes vom Alter der Fig. 6, durch die Mitte der
Spreite. Vergr. 66.
Fig. 11. Rechte Ecke eines Querschnitts durch die Spreite eines Blattes vom
Alter der Fig. 7; das Absterben der Oberkanten beginnt. Vergr. 50.
Fig. 12. Linke Ecke des Spreitenquerschnitts durch ein weiter entwickeltes Blatt;
aulser den Oberkanten sterben auch noch einzelne Glieder der Lamellen ab. Vergr. 40.
Fig. 13. Ein ähnliches Stück, vordere Hälfte, aus einem der Entfaltung nahen
Blatt. Von den Lamellen rechts sind rosenkranzförmige Stücke mit mehreren Gefälsbün-
deln abgestorben. Vergr. 20.
Fig. 14. Endtheile zweier Spreitenlamellen, von welchen sich bei der links ge-
legenen der abgestorbene Endtheil ganz abgelöst hat, während bei der Lamelle rechts
noch ein abgestorbenes Glied anhaftet, im Querschnitt. Man sieht in dem Gliede rechts
den dicken Sklerenchymbelag des Gefälsbündels und an den Vorderrändern beider La-
mellen das durchrissene Parenchym, Vergr. 66.
Fig. 15 —19. Livistona australis Mart.
Fig. 15. Axenspitze mit den drei jüngsten Blattanlagen (1, 2, 3) im Querschnitt.
Vergr. 66.
Fig. 160. Blatt mit eben angelester, doch schon die Faltung zeigender Spreite,
seitlich betrachtet; Fig. 165 dasselbe in medianem, doch etwas einseitigem Längsschnitt.
Vergr. von 164 = 35, von 165 etwas mehr.
Fig. 17—19. Junge Blätter in fortschreitender Ausbildung, in der Scheide von
19 noch das nächstjüngere Blatt, alle von der Seite betrachtet. Vergr. von 17 = 30, von
18 ro vonWlL— 36:
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 25
Tafel I.
Fig. 20—23. Livistona australis Mart.
Fig. 20. Querschnitt durch zwei aufeinanderfolgende Blätter aus der Knospe,
das jüngere Blatt (a) näher der Spitze, das ältere ()) mehr am Grunde der Spreite ge-
troffen. Beim ältern Blatt sieht man nach rückwärts die Rachis, nach vorn die Ligula
Iy 2 Veron. 29.
Fig. 21. Linke Ecke des Querschnitts durch eine Blattspreite, bei welcher das
Absterben der Oberkanten beginnt. Vergr. 30.
Fig. 22. Vordertheil eines noch durch die abgestorbene Oberkante zusammenge-
haltenen Lamellenpaars aus einer sich eben entfaltenden Spreite im Querschnitt. Vergr. 66.
Fig. 23. Querschnitt durch den Rand eines Spreitensegments, von welchem die
abgestorbene Kante sich getrennt hat; man sieht an der Rilsstelle noch eine todte Ge-
webeparthie. Vergr. 120.
Fig. 24—35. Chamaerops humilis L., die Fig. 23>—29 und 31—35 von der Va-
rietät macrocarpa.
Fig. 24. Axenspitze mit den 5 jüngsten Blattanlagen im Querschnitt. Vergr. 66.
Fig. 25. Junges Blatt von der Seite; 1. v. die ventrale, 1. d. die dorsale Ligula,
wie auch in den folgenden Figuren. Vergr. 25.
Fig. 26. Wenig älteres Blatt, Scheide geöffnet, schräg von innen betrachtet, um
die Ventral-Ligula besser zu sehen. Vergr. 25.
Fig. 27. Blattanlage noch jünger als die in Fig. 25, im medianen Längsschnitt.
Vergr. 66.
Fig. 25. Blatt etwas älter als in Fig. 26, von innen; die Ventral-Ligula abge-
schnitten. Vergr. 20.
Fig. 29a. Weiter entwickeltes Blatt von innen, 295 dasselbe im medianen Längs-
schnitt. Vergr. 12.
Fig. 30. Querschnitt durch eine Knospe, in welcher die Spreiten dreier jungen
Blätter, nach ihrem Alter in abnehmenden Höhen, getroffen wurden, sowie die das Ganze
einhüllende Scheide eines vierten Blattes. Man sieht die Faltung, die Pubescenz und bei
der ältesten Spreite die beiden Ligulae, von welchen die hintere (l. d.) 2-theilig ist.
Vergr. 20.
Fig. 31. Junge Spreite im Querschnitt oberhalb der Ligulae, mit der Pubescenz.
Fig. 32. Vordertheil einer Spreitenfalte im Querschnitt, mit beginnender Desor-
ganisation der Oberkante. Vergr. 120.
Fig. 33. Einige Lamellenpaare (im Querschnitt), bei welchen die Oberkanten
verschwunden und die Lamellen dadurch oberwärts frei geworden sind. Vergr. 40.
Fig. 34. Theil aus Fig. 53, mehr vergr. (100 mal), um die Beschaffenheit der
Vorderränder deutlicher zu zeigen. Man sieht noch ein wenig von dem verschwinden-
den Gewebe, eine Epidermis ist noch nicht differenzirt.
Fig. 35. Ein ähnliches Bild wie Fig. 34, aber mit eben auftretender Epidermis.
Vergr. 100.
Phys. Abh. 1885. T. 4
26 BreHLEr:
Tafel II.
Fig. 36—47. Phoenix spinosa Thonn.
Fig. 36. Axenspitze mit den zwei jüngsten Blättern, Scheitelansicht. Vergr. 40.
“ Fig. 37—39. Blattanlagen in fortschreitender Entwickelung, die Blätter 4, 7 und
11 der nämlichen Knospe darstellend, von welcher in Fig. 1 der Scheitel mit den Blät-
tern 1 und 2 sichtbar ist; Vergr. von Fig. 37 — 33, von Fig. 58 = 15, von Fig. 39 = 5.
Fig. 40. Querschnitt von Fig. 38 bei dem Zeichen «.
Fig. 41—43. Querschnitte durch ein, in seiner Entwickelung etwa die Mitte
zwischen Fig. 38 und 39 haltendes Blatt; Fig. 41 ziemlich weit oben, 42 etwas tiefer, 43
noch tiefer, wo die Rachis bereits getroffen wird. Beim obersten Schnitt sind die Ober-
kanten der Spreitenfalten zu einer zusammenhängenden Schicht verwachsen, in Fig. 42
wird dieselbe in der Mitte unterbrochen, in Fig. 43 trennt sie sich nach Mafsgabe der
einzelnen Spreitenfalten; es ist auch dabei schon das Absterben der Oberkanten, resp. der
von ihnen gebildeten Schicht, bemerkbar. Bei Fig. 43 sind die Falten links etwas auf-
gelockert. Vergr. von 41 und 42 etwa 45, von 43 — 30.
Fig. 44. Querschnitt durch eine Spreite, etwa vom Alter der Fig. 39, etwas
oberhalb der Rachis. Die todten Oberkanten bilden eine fast ununterbrochene Schicht.
Vergr. 25.
Fig. 45. Querschnitt eines etwas weiter entwickelten Blattes, durch welchen auch
die Rachis getroffen wird. Die Oberkanten sind alle frei von einander, bei x aulser der
Oberkante noch ein angrenzendes Stückchen einer Lamelle abgestorben. Vergr. 20.
Fig. 46 u. 47. Lamellenpaare (Vorderenden) mit der absterbenden Oberkante,
46 jünger, 47 etwas älter.
Fig. 48. u. 49. Chamaerops humilis L.; gewöhnliche Form.
Fig. 48. Oberkante und weiter abwärts Unterkante eines Lamellenpaares einer
noch jungen Blattspreite, etwa vom Alter der Fig. 29 auf Taf. II. Die Oberkanten sind
frei geworden, die Epidermis hat sich differenzirt, vom abgestorbenen Gewebe sind aber
noch flockige Reste vorhanden; an den Ecken der Unterkante sieht man eine (vertrock-
nende) Pubescenz, im Innenwinkel beginnt das Schwellgewebe, durch welches die Seg-
mente ausgebreitet werden, sich zu differenziren.
Fig. 49. Querschnitt einer Segmentkante aus dem entfalteten Blatt; das abge-
storbene Gewebe ist zu einem dünnen, kappenförmigen Streifen zusammengetrocknet.
Vergr. 120.
Tafel’ IV.
Cocos Romanzoffiana Cham.
Fig. 50. Ganz junges Blatt, von der Seite; Spreite eben erst angelegt, in Ge-
stalt eines flossenartigen, noch ungefalteten Saumes. Vergr. 40.
Fig. 5l— 56. Weitere Stadien, fortschreitend aus der nämlichen Knospe; Fig. 51
im medianen Längsschnitt, Faltung der Spreite beginnend (Vergr. 25). — Fig. 52 nächst-
Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter. 27
folgendes Blatt, Seitenansicht (Vergr. 20). — Fig. 53@ nächstes Stadium (Vergr. 20); 535
Querschnitt von 53@ beim Zeichen «x, r die zwischen die Spreitenhälften vorspringende Rachis
(wie auch bei 54c und 55c). — Fig. 54 wieder um eine Stufe älteres Blatt, & in Seiten-
ansicht (Vergr. 9), 5 im medianen Längsschnitt, ce im Querschnitt beim Zeichen ax, d
Stück einer Spreitenhälfte von der Innenfläche gesehen, links die Rachis, rechts der ein-
gefaltete Randsaum; 54e Längsschnitt durch d bei der Linie ax. — Fig 55 nächstfolgen-
des Blatt, « in Seiten-, db in Vorderansicht, ce in schiefem Querschnitt beim Zeichen xx
in a (Vergr. ina und b= 4). — Fig. 56 wieder älteres Blatt, Seitenansicht, in Naturgr.;
dies ist nun schon der Entfaltung nahe.
Fig. 57a. So eben frei gewordene Unterkanten der Segmente aus Fig. döe,
Vergr. 55; 575 das Paar links in stärkerer Vergrölserung; man sieht das verschwindende
Gewebe, die Epidermis ist schon difterenzirt.
Fig. 58. Querschnitt von Fig. 56 beim Zeichen xx (Vergr. 10).
Fig. 59. Ober- und Unterkanten eines Segments von Fig. 58 (linke Seite),
mehr vergr.
Fig. 60. Segmentrand eines eben entfalteten Blatts im Querschnitt.
Tafel V.
Fig. 61—66. Caryota urens L.
Fig. 61. Junges Blatt, Seitenansicht. Vergr. 25.
Fig. 62. Nächstälteres Blatt, a in Seiten-, 5 in Vorderansicht, bei x Mündung
der Scheide (Vergr. 15).
Eig. 63. Querschnitt eines Blattes, etwa vom Alter des in Fig. 61 dargestellten.
Vergr. 50.
Fig. 64. Querschnitt eines etwas ältern Blattes, zugleich ein wenig tiefer ge-
nommen, wo die Rachis vom Schnitte getroffen wird. Vergr. 30.
Fig. 65. Noch weiter entwickeltes Blatt im (etwas aufgelockerten) Querschnitt
durch die Spreite, oberhalb der Rachis. Die Spreitenfalten hängen noch überall zusam-
men; oben sieht man die absterbenden und theilweise mit den Nachbarkanten verwachse-
nen Ränder.
Fig. 66. Ein ähnlicher Schnitt durch ein der Entfaltung nahes Blatt. Die Fal-
ten sind an verschiedenen Stellen, namentlich oberwärts, unterbrochen infolge Desorgani-
sation des Gewebes; auch an den Unterkanten ist eine solche vor sich gegangen, die
aber nicht zur Trennung der Falten, sondern nur zur Bildung todter Fasern am Rücken
der Segmente führt. Vergr. cc. 10.
Fig. 67—72. COhamaedorea oblongata Mart.
Fig. 6”—69. Drei auf einanderfolgende Blätter der nämlichen Knospe, Fig. 67
schräg von oben (Vergr. 40), Fig. 68 schief von der Seite (Vergr. 25), Fig. 69 gerade
von vorn (Vergr. 7).
Fig. 70. Querschnitt durch die noch gefaltete Spreite eines schon ziemlich ent-
28 EıicHuLEr: Zur Entwickelungsgeschichte der Palmenblätter.
wiekelten Blattes, dicht oberhalb der Rachis; alle Falten hängen noch zusammen, nur bei
x findet eine Trennung statt. Vergr. 30.
Fig. 71. Das Stückchen bei x der Fig. 70, mehr vergr.
Fig. 72. Schema der Blattvernation.
Fig. 73. COyelanthus eristatus Hort., noch zusammengefaltetes Blatt im Quer-
schnitt, bei © die Mittellinie des Ganzen, längs welcher später das Zerreilsen erfolgt. Die
drei Parthieen der Spreite, rechte Flanke, linke Flanke und Mittelstück zwischen den
beiden Hauptnerven, sind durch verschiedene Schraffirung schematisch gegen einander ab-
gehoben. — Nach einer (controlirten) Handzeichnung von Al. Braun.
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Kichler, Palmenblätter.
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Eichler, Palmenblätter.
PHILOSOPHISCHE UND HISTORISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
AUS DEM JAHRE
1885.
MIT 3 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1886.
BUCHDRUCKEREI DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (G. VOGT).
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Inhalt.
Schraver: Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des
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Dies: Über die Berliner Fragmente der ’ASywarwv moAırsia des Ari-
stoteles 4 (Mit 32) Tafelmyanı Da ee Ba STE
IDiosEMSenecagundWucan an SD“
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5
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte
des Sebeneh - Su.
Von
H" SCHRADER.
Philos.-histor. Abh. 1885. I. 1
Gelesen in der Sitzung der philos.-histor. Classe am 16. Juli 1885.
Au der Stralse nach Erzerum, 4 Stunden von Hänı und Ilid-
sche, entdeckte, wie er selber dem Königl. Museum berichtet, der durch
die Auffindung des Nimrüd-Dagh-Monuments wohlbekannte, in türkischen
Diensten stehende Ingenieur Sester, z. Z. in Diärbekr, „am Eingange
einer grolsen Grotte von Krystall“ (? — s. Anm.), die nach demselben
eine Stunde lang im Felsen sich „herumwinde“, eine in den Felsen einge-
hauene „Schrift“, von der er Papierabklatsche nahm und von welcher
er der Ansicht war, dafs sie noch „von Niemand abgeklatscht“ worden
und folglich „gänzlich neu“ sei!). Nachdem die Abklatsche im Museum
1) Das diese Notiz enthaltende Blatt ist ohne Datum. Aus einem Briefe vom
19. Aug. 1383 ergiebt sich, dafs Sester Juni bis Mitte August 1883 in der Gegend von
Sört-Mejjäfärikin — Ilidsche-Häni war. Nach diesem Briefe befinden sich übrigens dort
2 Grotten, von denen die eine eben 1 Stunde lang in den Berg hineinlaufe und viel Sal-
peter enthalte (darauf bezieht sich wohl die Bezeichnung „Krystall* in jener im Text an-
gezogenen Notiz). In einem anderen, älteren Briefe spricht Sester von „6 Inschriften
an 6 verschiedenen Stellen, im Felsen eingehauen bei einer sehr grolsen „Tropfstein“-
Grotte, die über eine Stunde lang in den Berg hineingehe — „vier Stunden von Lidge-
Hine beim Dorfe Dausler(?), auf dem Wege von Lidge-Hine nach Erzerum“. Bei zwei
dieser Inschriften befinde sich ein „Mann“; „der eine weise mit der Hand hinein nach
der Grotte, der andere hinaus“. Nach wiederum einer anderen, abermals undatirten No-
tiz befinden sich die 6 „Steinblätter* hoch im Gebirge an einer Grotte. Auch hier giebt
S. die Entfernung auf „4 Stunden von Hine und Lidge* an; die letztere Angabe findet
sich in seinen Briefen überhaupt dreimal.
1*
4 SCHRADER:
angelangt waren, unterzog ich sie einer näheren Untersuchung und er-
kannte bald, dafs wir es irgendwie dabei mit alten Bekannten zu thun
hätten, nämlich mit jenen Inschriften in der Quellgrotte an einem Quell-
arme des Tigris, die im Jahre 1862 der englische Consul J. Taylor zu
Diärbekr aufgefunden hatte und welche dann von Henry Rawlinson
und Fox Talbot im Londoner Athenaeum, Jahrg. 1862, 20. December
Nr. 1834, S. 811 (Notiz H. Rawlinson’s); 1863, 24. Januar Nr. 1839,
S. 120 flg. (Notiz Fox Talbot’s); Nr. 1842, S. 228ff. (H. R.) besprochen
wurden. So wenig der Zustand eines Theiles der Abklatsche, die dazu
nach ihrer Zusammengehörigkeit nur sehr mangelhaft bezeichnet waren,
zu einer Beschäftigung mit denselben einlud, ein Zustand, der natürlich
mit der Beschaffenheit der durch den Zahn der Zeit arg mitgenommenen
Felseninschriften selber zusammen hängt, glaubte ich dennoch nicht auf
den Versuch verzichten zu sollen, durch eime nähere Untersuchung der-
selben bisher dunkle Punkte aufzuhellen. Das Resultat dieser Untersuchung
lege ich im Folgenden vor.
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 5
Von den Inschriften sondert sich eine sofort bestimmt als eine selb-
ständige und in sich abgeschlossene aus: es ist das die, überall fast intakt
erhaltene, zehnzeilige des assyrischen Königs Tuklat-abal-ısarra, d. i.
Tiglath-Pileser’s I (ec. 1100 v. Chr.). Dieselbe ist (s. die beigef. Abbild.)
in der Weise eingegraben, dafs die von links nach rechts laufenden Schrift-
zeilen dem nach links blickenden und mit erhobener Rechte dastehenden,
in der Linken das keulenförmige Scepter haltenden Assyrerkönis zuge-
wandt smd!). Die Inschrift ist so angebracht, dafs die 10 Zeilen sich
von oben nach unten auf einen im Ganzen 60 Ctm. in der Höhe betra-
genden Raum links von dem Bilde vertheilen, so jedoch, dafs die oberste
Zeile noch über die Tiara des Königs hinaus zu stehen gekommen ist,
während andererseits die unterste Zeile etwa gerade eine Zeilenlänge ober-
halb des Fufsendes der Figur ihren Platz erhalten hat. Die einzelnen
Zeilen sind nicht, wie das auf Steininschriften seit Asurnäsirabal (885 —860;
1) Diese gegenseitige Richtung von Figur und Inschriftzeilen begegnet uns bei-
läufig bei allein stehenden Königsbildern, insbesondere auf Stelen, soweit sie auf der
Vorderseite Inschriften tragen, auch sonst, so bei Asur-näsir-abal, Salmänu-a$ärid II, Asarhad-
don (Nahr-el-Kelb), war anscheinend überhaupt die regelrechte. Auch da, wo die Inschrift
ganz gesondert von der Figur angebracht ist, wie auf der Darstellung: Sanherib vor Lakisch,
bei den Jagdbildern Asur-bäni-abal’s und sonst, hat dieselbe ihren Platz links von dem seiner-
seits nach links gewandten Antlitz des Königs. Ausnahmen machen der schwarze Stein mit
dem Bilde des Babylonier’s Marduk-nädin-ahi’s, sowie die nach der Eroberung Babel’s
(710/9) gefertigte Oyprusstele mit demjenigen Sargon’s, welche beide rechtsgewandt gezeichnet
sind, also dieselbe Richtung innehalten, wie die beigeschriebenen Inschriftzeilen. Hervor-
zuheben ist bezüglich der dem Tiglath -Pileser- Bilde beigefügten Inschrift, dafs dieselbe in
ihren Zeilen immer nur bis an die Umrisse des Bildes heranreichen, während bei Asur-
näsirabal und Salmanassar dieselben über die Figur selber hinlaufen, bei Sanherib und
Asurbäniabal endlich die Inschriften von den Figuren gänzlich gesondert erscheinen; bei
dem am Nahr-el-Kelb ausgehauenen Bilde Asarhaddon’s läuft freilich die Inschrift aber-
mals über die Figur selber hin (s. den Gypsabguls im Kön. Museum).
6 SCHRADER:
doch s. u.) üblich geworden ist!), durch Trennungslinien von einander ge-
schieden und halten eine ziemlich unregelmäfsige horizontale Richtung ein,
sind im Übrigen aber durch verhältnifsmäfsig grofse Zwischenräume von ein-
ander getrennt: zwischen einzelnen Zeilen, bezw. Zeichen der Zeilen steigt
der freie Raum bis zu 9 Ctm. an. Die — übrigens keineswegs gleich-
mälsige — Höhe der verticalen Keilelemente beträgt bis zu 6, ja 7 Centi-
meter. Die Länge der Zeilen ist eine verschiedene, da keineswegs, wie
man das nach III Rawl. 4 vermuthen sollte, Anfang und Ende bei den
verschiedenen Zeilen gleichmäfsig dieselben sind; dieselbe schwankt um
mehrere Centimeter, und wo der für die Worte der Zeile bemessene
Raum schliefslich nicht ausreichte oder auszureichen schien, ward, wie
bei der vierten, die Zeile nach unten umgebogen, ja es ward dieses Um-
standes wegen unter Umständen sogar ein sonst nothwendiges Wort un-
terdrückt (s. zu Z. 6). Im Durchschnitt beträgt die Länge der Zeilen
etwas über 60 Otm. Die Höhe der Relieffigur beträgt 66 Ctm.; der Ab-
stand zwischen dem oberen Rande der ersten Inschriftzeile und der Fuls-
sohle des Königsbildes beläuft sich auf 71 COtm.
Eine Vergleichung der Papierabklatsche mit der Edition im eng-
lischen Inschriftenwerke (III R. a. a. OÖ.) hat ergeben, dafs diese, von der
den Zeilen gegebenen schematisch gleichen Länge etwa abgesehen, als
eine gewissenhafte bezeichnet werden muls; immerhin habe ich die nachfol-
genden Versehen zu constatiren: Z. 5 ist fälschlich als Bezeichnung des
Gottesnamens Asur anstatt des Ideogramms »—, welches das Original bie-
tet, das indefs der Sache nach damit übereinkommende »>'Y gesetzt; dazu
steht im Original vor dem Namen, dessen ersten Theil dieses Ideogramm
bildet, nämlich — »TJEE 3 «f- nicht das III R. vorgefügte Perso-
nenideogramm Y. Des Ferneren fehlt Z. 6 a. E. im Original das II R.
a. a. O. nach Tiglath-Pileser’s Oylinderinschrift (Col. VII, 45) hinter „IL
beigefügte ESEJE] — Nusku; die Zeile schliefst mit ->F- ab und für ein
!) Ich erinnere daran, dals sich in Inschriften desselben Königs auch die er-
sten Versuche einer Worttrennung durch zwischen die einzelnen Wörter eingesetzte
Trennungslinien finden, wie auf den himjarischen Inschriften. S. die Inschriften Asur-
näsirabal’s von Balawat V. Rawl. 69. 70. Gemäfs ebend. 54 finden sich „division-marks*
auch auf etlichen Bericht-Täfelchen.
Die Keihnschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 7
SLJET ist schlechterdings kein Raum mehr. Aufserdem noch zeigt das
Zeichen E]JY in dem Namen T JE I Tr EI Aa EeIT Z. 4 nicht
diese gewöhnliche, regelrechte Form, wie sie auch das Inschriftenwerk
bietet, sondern die andere =, d. h. drei anstatt der regelrechten vier
senkrechten Keile, was wenigstens hätte angedeutet werden können. An
dem Tenor der Inschrift wird freilich durch alles dieses nichts verändert.
Für die scharfsinnigen und zweifellos richtigen Ergänzungen der engli-
schen Herausgeber am Anfange der 4. und 9. Zeile ist den mir vorlie-
genden Abklatschen sei es Bestätigendes, sei es Berichtigendes nicht zu
entnehmen. Am Ende der 7. Zeile ist indefs auf dem Sester’schen Ab-
klatsche von dem vermutheten Zeichen Z=JJf der Anfang in der Gestalt
der beiden horizontalen Keile &= (so!) noch vollkommen deutlich er-
halten.
Eine Transcription und Übersetzung des’Textes habe ich in mei-
nem Buche KAT? 91 gegeben. Der Vollständigkeit wegen reproducire ich
beide mit einigen Änderungen hierneben, indem ich für den Originaltext
auf die Beigabe verweise.
1. Ina ri-su-t sa Asur
2». Samas Ramman il
3. rabütı bili-a
4. [ana]-ku Tukul-t-abal-V-Sar-ra
5. sar mät Assur abal Asur-ris-i-$i1)
6. sar mät Assur abal Mu-tak-kıil- AN 2)
7. sar mät Assur-ma ka-Sid 18[tu)
s. häm-dı rabi-t Sa mät A-har-ri
9. [aldi tam- di sa mät Na-i-ri
10. III. sanit ana mät Na-i-ri alık
1) Für die Transceription ASur-ri&i-fi s. Fr. Delitzsch bei Lotz, Inschrr.
Tiglath-Pileser’s I S. 173.
>) UN 2 ist natürlich hier lediglich Deuteideogramm für den, Raumes-
mangels wegen, weggelassenen Gottesnamen Nusku, s. o. im Texte.
8 SCHRADER:
1. Unter dem Beistande Asurs,
9. des Sama$, des Rammän, der grofsen
3. Götter, meiner Herren,
4. bin icht), Tiglath-Pileser,
5. König von Assyrien, Sohn des Asurri'sisi,
Königs von Assyrien, Sohnes des Mutakkil-[Nusku],
Königs von Assyrien, herrschend
vom grofsen Meere des Landes Acharri
bis zum Meere des Landes Nairi,
ı0. zum dritten Mal?) nach dem Lande Nairi gezogen.
1) Für diese Construction s. Lotz a.a. O. 190.
2) Für diese Übersetzung (Lotz a. a. O. gegenüber KAT? 91) vgl. III Rawl. 5
Nr. 6, 40 und den Kl. Obelisk passim; auch Behistun 51. 55.
Die Keihnschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 9
I.
Wesentlich anders als bei der Tiglath-Pileser-Inschrift liest die
Sache bei den übrigen durch die Abklatsche repräsentirten Partien der
Felseninschrift, resp. Felseninschriften. Die Abklatsche sind zunächst, mit
einer Ausnahme, in einem ziemlich lückenhaften und, was den erhaltenen Text
anbetrifft, mangelhaften Zustande, der wiederum auf den verwitterten Zu-
stand des Origmals schliefsen läfst. J. Taylor nun und Henry Rawlin-
son (1863 Athenaeum Nr. 1842 p. 229 col. d) betrachteten die betr. Ab-
klatsche als solche, die zu einer und derselben, „zweiten“ Inschrift ge-
hörten, welche der Letztgenannte gemäls einer bereits ebend. 1862 Nr. 1834
noch vor dem Eintreffen der weiteren Abklatsche Taylor’s ausgesproche-
nen und später a. a. O. 1863 Nr. 1842 p. 2295 wiederholten Vermuthung,
und gemäfs der nach Eintreffen der betr. Abklatsche Taylor’s zweifellos auf
die Autorität seines Bruders Henry hin gemachten Aussage George
Rawlinson’s (the five great monarchies of the ancient eastern world
II. ed. vol. 2 p. 86 ann.), näher für eine solche Königs Asur-näsir-
abal (885 — 860) erklärte. Von einer Veröffentlichung derselben aber
glaubte er ihres beschädigten Zustandes wegen absehen zu sollen, und
was das auf Grund einer Stelle in der Hauptinschrift Asurnäsirabal’s (s.
dieselbe unt.) vermuthete oder erwartete Vorhandensem emer dritten
Inschrift, derjenigen des Tuklat-Adar, des Vorgängers des Asurnäsirabal,
anbetrifit, so glaubte er sich dahin aussprechen zu sollen, dafs dieselbe
in Folge des Einsturzes eines Theiles der Höhle oder Grotte ver-
nichtet sei!).
Es ist begreiflich, dafs auch ich mit dieser Voraussetzung an die
Prüfung der Abklatsche herantrat. Indefs schon beim Entrollen der Pa-
1) S. G. Rawlinson a.a. ©. II, 1871 p. 86: „In the cave above mentioned
Mr. Taylor found two of the three memorials mentioned by Asshur-izir-abal. These
were his own and Tiglath-Pileser’s. The theard has probably been destroyed by the
falling in of a part of the cave.* — Im Jahre 1865, vor dem Eintreffen der Taylor’-
schen Abklatsche, hatte H. Rawlinson noch die Hoffnung, dafs das von Fox Talbot
‚vermuthete „third tablet* — „will be still found in some of the dark recesses
of the cave“ (Athen. 1. c. 229).
Philos.-histor. Abh. 1885. I. 2
10 SCHRADER:
pierabdrücke in Gegenwart des Herrn Dr. Puchstein vom Königl. Mu-
seum wollte es mir scheinen, als ob die nicht zu der Tiglath- Pileser-
Inschrift gehörigen Inschriftreste keineswegs sämmtlich gleichartig
wären. Ich mufste indels alles Weitere einer näheren Untersuchung
vorbehalten, die ich inzwischen vorgenommen habe.
Vorab sondern sich unter den Inschriftresten als eine besondere
Gruppe die von mir mit A, B, © bezeichneten Bruchstücke aus. Sie
gehören zu einer und derselben Inschrift und diese Inschrift war eine sol-
che Königs Salmanassar II (860 — 825).
Zunächst die Zusammengehörigkeit dieser Bruchstücke ergiebt
sich 1) aus dem gleichen Schrifttypus. Die Zeichen sind sämmtlich
scharf eingeritzt, haben dieselbe mälsige Gröfse (31—41 Um.). Dasselbe
erhellt 2) aus dem Umstande, dafs die Zeilen dieser Bruchstücke durch
Zwischenlinien gegeneinander abgegrenzt sind, was zunächst bezüglich
der Tiglath Pileser-Inschrift (s. vorhin), aber auch bezüglich des Fragments
D, sowie der Bruchstücke E (s. u.) nicht gilt.
Sie sind aber nicht minder Bruchstücke einer Inschrift Salma-
nassar's. Auch dieses giebt zunächst schon der Schrifttypus an die
Hand: es ist unverkennbar der der Inschriften dieses Königs, wie er
uns insbesondere von dem sog. Kleinen Obelisk her hinlänglich bekannt
ist, welcher dazu ebenfalls Zeilentrennung durch Linien aufweist. o
Der Inhalt der Bruchstücke, soweit er sicher bestimmbar ist, be-
stätigt das Ausgeführte durchaus. Schon das Bruchstück A, welches augen-
scheinlich zum Eingange der Inschrift gehört — Z. 1—4° sind die Reste
der üblichen Erwähnung der Götter in den Eingängen der Königsinschrif-
ten —, ist entscheidend: dasselbe bietet Z. 4”’ff. Namen und Genealogie
des Königs: (AN) [Sul-Jma-nu-[asärıdut)) -halıe <6 [Sar| kıissati sar mät
Assur [abal-Asur-|näsir-abal....... [@]lda! Tuklat-Adar sar .
Es stimmt damit die Erwähnung des mät Urartu Z. 12, wiederholt bei
Salmanassar s. Monol. 1, 24; II, 48; Obel. 44 u. ö.; weiter die des mät
I'nzit! und mät Suhmi Z. 10.12, welche Länder sonst nur noch bei
Salmanassar (Monol. II, 42 fig. 45 flg.) genannt werden; endlich das %-
1) S. für diese Transeription des Namens meine Bemm. in Zeitschr. für Keil-
schriftforschung II (1885) S. 197 ff.
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 11
ämtu sa mdt Nairi 2.7, das so, aufser bei Tiglath-Pileser I (s. die Fel-
seninschrift Z. 10), so viel ich sehe, nur noch bei Salmanassar vorkommt —
s. darüber: „Die Namen der Meere bei den Assyrern“ (Abhandlungen der
Akad. d. Wiss. a. d. Jahre 1877 (Berlin 1878), phil.-histor. Olasse, S. 191).
Schon durch die Erwähnung zunächst des Landes Nairi (Z. 5)
wird inhaltlich auch das dem Schrifttypus nach derselben Inschrift zuzu-
weisende Bruchstück B mit dem Bruchstücke A zusammenklammert; die
weitere Nennung des Landes Kirzan (Z. 1.2), oft bei Salmanassar, be-
stätigt das Ergebnils.
Das dritte ebenfalls kraft des Schrifttypus sicher zu den vorher-
gehenden zu stellende Bruchstück C, lautend:
edel mo=-da-tauı..
a) am Una N.
N al nalusamalnan
da.
1 orückktienich-rdennlrıbuuy a.
2 empfinspiehnrr.g.r
3...... zog ich. An dem Quellorte des Flusses
bietet zwar sachlich nichts Entscheidendes; stimmt aber inhaltlich seiner-
seits zu der Annahme der Zugehörigkeit zu einer Inschrift des genannten
Königs. Es leitete wahrscheinlich in seinem: ena ris Uni när |...) zu dem
Schlufsberichte über die Aufsetzung der Inschrift und Anbringung des
Standbildes des Königs in der Felsengrotte (s. u.) über.
Über die Zusammengehörigkeit dieser Bruchstücke (A, B, C) und
ihre Zugehörigkeit zu einer Inschrift Salmanassar’s II kann nach dem Aus-
geführten kein Zweifel sein. Es erübrist, das Hauptbruchstück in Tran-
scription, soweit solche mit Sicherheit zu geben ist, herzusetzen. Das
Fragment lautet:
1) Das Y des Textes ist vielleicht zu einem al — madu, mattu zu ergänzen.
Ich mufs jedoch hierzu bemerken, dafs es nicht durchaus unmöglich ist, dafs mit den
Anfangsworten der im Texte abgedruckten Zeilen auch wirklich die betr. Zeilen der Fel-
seninschrift begannen, also dafs das beginnende Yr vor am-hur zu der Sylbe am in be-
kannter Weise hinzuzunehmen wäre.
9%
SB
SCHRADER:
IE Alsurtaepe al Br ER
BERSBSURAUNRILD ERammnaro AhoR RER.
DR Sram 196. mant Hab. ABB.
BSR UME HR, Sul-ma-nıu- asdridu
„2... sar kıssatı Sar mät Assur |abal Asur]- näsir- abal
..... . [a]bal Tuklat- Adar Sar ..... ka-[Sıd ıstu]
hamtı sa mät Na-[|)-ri a-|di tiamtı)
3a Suhım (du) Sam-Hio.. ti...
aınan Shchurs= De ku nd
ina mi-ri-bi sa mät In- zi-W
mät Su-uh-mi mät Ra(?)...ma(?)...
man Uerasap-im se soo 000008
a na so hints son 22
2.2.2... [ia ’ katd-] Su ıksu-ud
ra 2 Nsur,sdersblerräder) Götter
2 (Gott Rammany Goutgrn.
y ö elaebendie,. ir ee er
..... meinen Namen. Salmanassar,
König der Völkerschaar, König von Assyrien, [Sohn
Asur]-näsır-abal’s,
Sohnes des Tuklat-Adar, des Königs ......, herr-
[schend vom]
Meere des Landes Nafi]rı bis zjum Meere]
des Unterganoes>der Sonnen. we...
insgesammt nahm er ein...
Im Grenzgebiete des Landes Inzit! ... .
das"Land SuhmrrdasaBandı me 2
das@lband@Urartue. en
ın seiner Gesammtheit .......
....... [mit] seinen [Händen] nahm er ein.
Die Keilhnschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 13
III.
Wir kommen zu dem Bruchstücke D, aus 8 Zeilen bestehend (von
der sich daranschliefsenden 9. sind noch die oberen Köpfe etlicher Keil-
zeichen sichtbar). Die Natur des Abklatsches läfst auf eine starke Ver-
wüstung der Inschrift an der betr. Stelle schliefsen; die Zeichen haben
aulserordentlich gelitten. Was ich noch mit emiger Sicherheit erkennen
kann, sind lediglich einzelne Wörter und Phrasen, wie (elu) Asur du ra-
bü bil ili (ilu) Samas Z.1; ili rabüti; rämdt R. 2x7 = aram. 077
2.2; Sarrü-t-ja; $a aliküt inalpan bili)ti[ja] Z. 3; der Name Sul-
mänu-[asdridu] —= Salmanassar Z. 5; ... nısi(?), rubü, sangü Asur
2.6; käsıd vstu tiam-d{r] ... Z. 8, wie endlich der Name des Königs
der Inschrift: | Asur]-nas[ır|-abal, mit dem Titel sar kıssatı(?) sar mät Assur;
in welchem näheren Zusammenhange alles dieses aber steht, erhellt nicht;
nur im Allgemeinen kann darüber kein Zweifel sein, dafs wir es auch
hier mit dem Eingang der Inschrift (Göttererwähnung!) zu thun haben.
Die Höhe der senkrechten Keilzeichen 34 resp. 4—44 Utm. würde zu der
der Zeichen der Salmanassar-Fragmente stimmen; die fehlende Zeilen-
trennung durch Linien aber schliefst die Zugehörigkeit zu diesen Bruch-
stücken schon paläographisch kategorisch aus; die Inschrift mufs von
einem andern Könige aufgesetzt sein. Auf die Spur führt die Art der
Erwähnung des Vorfahren Salmanassar Z.5 vgl. Stand. Inschr. Asur--
näsir-abal’s (885 — 860) Z. 9; Monolithinschr. desselben I, 102; III, 132.
Auch der Ehrentitel EJJY »>'Y ist uns aus Asurnäsirabal’s Inschriften
bekannt (vgl. Stand. Inschr. 1). Zu einer Inschrift dieses Königs gehörte
das Fragment:!) Z. 7 weist noch die Rudimente des Königsnamens auf.
1) Auch noch andere Theile dieser Inschrift sind durch Abklatsche irgendwie
repräsentirt; dieselben sind aber in einem solchen Zustande, dafs an eine Herausgabe gar
nicht zu denken ist. Auf einem derselben, den ich mit F bezeichnen will, erkenne ich
noch Z. 1 ein ...yr ET \f (T Si] -T1«T 0.908.742 aim IT «& >I«
I Y IMZI SL ein Y [er] >>; auf allen übrigen, ihrer 6 an der Zahl, sind kaum
hier und da einzelne Zeichen, bei einzelnen auch solche nicht mehr zu erkennen.
14 SCHRADER:
IV.
‘Von den besprochenen Fragmenten sondert sich wiederum das
letzte noch zu betrachtende gröfsere, 13zeilige Bruchstück (? — s. u.) E
der Felseninschriften wie äulserlich so auch inhaltlich auf das Bestimm-
teste ah.
Zunächst schon ist der Schrifttypus ein von dem der im Vorher-
gehenden besprochenen Bruchstücke augenscheinlich differirender. Die Zei-
chen zeigen gegenüber denen der vorigen Inschriftstücke einen wenig, ele-
ganten und zierlichen Charakter, erscheinen ihnen gegenüber fast unbeholfen.
Dazu ist auch die Grölse derselben eine andere. Ist die Höhe der ver-
ticalen Zeichen der Bruchstücke A, B, 0, auch D etwa 34 bis 44 Otm., so
ist hier die Durchschnittshöhe 4 bis 54 Otm.; die Zeichen stehen so ihrem
äufseren Typus nach etwa in der Mitte zwischen den Zeichen der Inschrift
Tiglath-Pileser’s I (s. oben S. 6) und den der sub II bezw. III bespro-
chenen Fragmente. Es kommt hinzu, dafs die einzelnen Zeilen nicht, wie
die der Salmanassar-Inschrift durch einzelne Trennungslinien von einander
geschieden sind, sondern wie bei der Tiglath-Pileser-Inschrift und freilich
auch der aber hier ganz aulser Betracht fallenden Asurnäsirabal-Inschrift
nur durch Zwischenräume gegen einander abgesrenzt auf einander folgen.
Wir haben es somit, dies lehrt schon die bisherige Betrachtung, bei dem
in Rede stehenden Inschriftreste mit eimer von den Inschriften Tiglath-
Pileser’s ebensowohl wie Salmanassar’s und Asurnäsirabal’s verschiedenen,
vierten Inschrift zu thun.
Das bestätigt nun ein Blick auf den Inhalt des Schriftstücks. Wenn
negativ an die namhaft gemachten Inschriften nichts Specifisches erinnert,
so giebt sich anderseits die Inschrift insbesondere im Beginne als eine
völlige Parallele wie zu der Inschrift Tiglath-Pileser’s I, so zu der Sal-
manassar’s und bis zu einem gewissen Grade auch Asurnäsirabal’s, kann
also selber sowenig wie zu der ersteren, so zu einer der letzteren gehört
haben.
Zeile 2 der Inschrift — über Z.1 s. u. — mit ihrem (( EJ- dÄ
zy und Z. 3 mit ihrem dd ] dl % »>'W entsprechen augenscheinlich
Z.5 der Salmanassar-Inschrift Fragm. A, so jedoch, dafs hier zunächst
Die Keilinschriften am Bingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 15
nicht sicher zu sagen ist, ob, wie dort, der Titel auf den Sohn des im
Verfolg genannten Vaters (und wohl auch Grofsvaters), d. h. eben auf
den Verfasser der Inschrift selber, oder aber ob derselbe sich auf den
Vater (oder auch Grolsvater) desselben sich bezieht; doch s. hierüber wei-
ter unten. Augenscheinlich beginnt sodann in Vs.5 mit dem — »-T!«
SEE XI Y ma rı-su-t sa der eigentliche Bericht des Königs, vgl. die
völlige Parallele in der Inschrift Tiglath-Pileser’s Z. 1. Ebenso läuft Z. 6
das >] «a „Sy ] ü tk-L-su unserer Inschrift parallel dem
>T I EI- Y« >] T«« Tr il rabüt bili-a bei Tigl.-Pileser; wie hier
gingen in unserer Inschrift die bezüglichen Gottesnamen voraus. Mit Z. 7
ittala-ku-ma Sadı' danmüti des Fragments entfernt sich aber dieses inhalt-
lich von der Tiglath -Pileser-Inschrift: es folgt, wie sich schon aus eben dem
Verbum :ttala-ku-ma Z. 10/11; dem ıkdu la padü Z.10; dem :ttalaku-
ma 2.11; dem kıma birki(?) ebenda; dem naru Vs. 12, endlich dem u-kab-
bi-sa 2. 13 „er unterjochte“ R. 025 mit Sicherheit schliefsen läfst, der Be-
richt über die Thaten des Königs, d. h. ein Bericht, den anderseits für
Salmanassar bereits A (vgl. B, ©) bot. Die Titulatur m E Z. 1—3 end-
lich läuft parallel der Titulatur und Genealogie in A (Salmanassar) Z. 4
—6, sowie der Titulatur in D (AsSurnäsirabal) Z. 7. Von einer Ineinan-
derfügung dieses Berichts mit einem der beiden anderen (A und D) zu
einem Ganzen kann somit schlechterdings keine Rede sein: sie müssen
nothwendig verschiedenen Inschriften angehören und von verschiedenen
Königen herrühren.
So tritt nun an uns die Frage heran: welcher König war dieses? —
Der Inhalt der Inschrift selber giebt, nach dem bisher Erörterten, für die
Beantwortung der Frage zunächst keinen Anhalt. Sehen wir auf die Gröfse
der Zeichen, so hält diese bei der fraglichen Inschrift, wie oben bemerkt,
genau die Mitte zwischen derjenigen der Inschrift des älteren Tiglath-
Pileser (I) und derjenigen ASurnäsirabal’s bezw. Salmanassar’s. Man ist von
vornherein geneigt, an einen in die Zeit zwischen jenen und diese fallen-
den Herrscher zu denken. Durch die bisher noch nicht betrachtete Z. 1
des Fragments wird das nach unserm Dafürhalten nun auch positiv an
die Hand gegeben. Der betreffende assyrische König war Tuklat-Adar,
der Vater des Asurnäsirabal und Grofsvater des Salmanassar II (891 —
16 SCHRADER:
885 v. Chr.)D. Z.1 der Inschrift bietet noch, sehen wir anders recht,
die Rudimente des Namens, freilich eben nur dıe Rudimente. Der Name
war, so meinen wir, eingegraben in der Schreibung:
nahe
d.i. Tuklat- AN. NIN. IB — Tuklat- AN. BAR — Tuklat- Adar (ABK.
152 Nr. 51), eine Schreibung, welche sich zu der sonst bei diesem
Könige gewöhnlichen JE »H- oder T YET »F- verhält wie die Schreibung
Tr Es Ta > oder ähnlich zu der Schreibung T (( ZT,
der Schreibung Y »>T »-]] I Em T« »EIf »>=T zu der andern
TS IK ne u. s. f., d. h. es ist die für Prunkinschriften, wie
die in Rede stehende Inschrift, geeigneter erschienene gegenüber den ver-
kürzten Schreibungen in Berichten Späterer (Asurnäsirabal’s, der Epony-
nenlisten u. s. w.) über die betr. Persönlichkeiten.
Es hängt mit der Wahl je der längeren oder aber der kürzeren
dieser Schreibungen namentlich auch noch das Beifügen oder Weglassen
des Determinativzeichens bei den Gottesnamen zusammen, wie schon aus
einem Blicke auf den oben angezogenen Namen Sanherib’s erhellt. Auch
in dem Namen | »>] YET PM SE sr] ZI T “ud. i. Adar-abal-t-kur
(IR. 15. VII) steht vor dem Gottesnamen in der gewählten längeren
Schreibweise das Gottesdeterminativ »-J. Übrigens lesen wir in dem Na-
men des älteren Tuklat-Adar auch bei der Schreibung T EP —Kk >] »T-
dieses Determinativs (I Rawl. 35, 19). Die Wahl der betreffenden volleren
Schreibung des Namens überhaupt kann deshalb hier, wo es sich um eine
eigene Inschrift des Königs handelt, ebensowenig überraschen, wie die Bei-
fügsung des Gottesideogramms vor dem Gottesnamen in demselben.
Ich bemerke noch zu der Erhaltung des Namens im der Felsenin-
schrift, bezw. auf dem Sester’schen Abklatsche, dafs von demselben die
beiden ersten Zeichen YET »»T- in grolsen kräftigen Zügen in den Felsen
eingegraben gewesen sind, ein Umstand, dem es zuzuschreiben ist, dafs
das erste Zeichen trotz auch seiner theilweisen Beschädigung noch sicher
wiedererkennbar ist; nur der obere Querkeil, dessen Kopf dazu z. Th.
1) Die Eponymenlisten setzen bekanntlich die Trennungsstriche vor die Jahre
389 und 883. Vgl. hierzu KGF. S. 350; KAT? 470.
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 17
noch über den Anfang des Papier-Abklatsches würde herausgeragt haben,
ist nicht mehr vorhanden, und der linke senkrechte Keil, sowie die beiden
mittleren Querkeile haben gelitten, sind indefs in ihren Spuren noch zu
constatiren. Die Form dieses Zeichens war vermuthlich die gleiche,
wie die, welche in demselben Namen in dem Fragment A (Salmanassar)
Z. 6 steht. Das Gotteszeichen »-- ist sogar gänzlich intakt geblieben.
Die verwickeltere dritte Zeichengruppe ET "If, bei deren Eingra-
bung ohnehin der Steinmetz augenscheinlich mit dem Raum ins Gedränge
kam — die einzelnen Zeichenelemente sind deshalb entschieden kleiner
ausgefallen —, hat sehr arg gelitten und ist, da die feineren Endstriche
der Zeichen fast durchweg verschwunden sind, nur an der Hand der tie-
fer eingesrabenen Kopfenden der Keile und auch so nur sehr unvollkom-
men zu reconstruiren, bezw. lediglich zu erschliefsen!).
Ob sich an diesen Namen selber in der zweiten Zeile sofort die
Titel (( EI- ( eI!f -... geschlossen haben, ist mit Sicherheit nicht
auszumachen. Allerdings vermag ich dermalen in dem dem Titel vor-
aufgehenden Raume der Zeile auf dem Abklatsche Buchstabenreste
nicht mehr zu erkennen. Dies ist aber nichts Entscheidendes; es können
auch nach sonstiger Übung namentlich auf die Verehrung der Götter be-
zügliche Titel jenen Titelworten voraufgegangen sein, vgl. Stand. 1 und
sonst. Dasselbe gilt von dem d( 4 >» der folgenden Zeile, das die-
sen Titel abschliefsen könnte, aber auch auf einen andern König, den
1) Ich habe mich bei diesem trostlosen Zustande der beregten dritten Zei-
chengruppe gefragt, ob sich das JEY nz nicht vielleicht in anderer Weise fassen und
ergänzen liefse. Hält man an der Ergänzung selber fest, so wäre es ja am Ende ideell
denkbar, die im Text gesicherten beiden ersten Zeichen zu einem >| YSY oz 5.6.80
— [ina] tukulti mit nachfolgendem Gottesnamen zu ergänzen, also dals der Sinn wäre:
„Im Dienste [Adar’s (oder eines andern Gottes)] that ich dies oder das“. Aber abgesehen
davon, dafs bei so feierlichen Anfängen anstatt ina tukulti lieber ina risüti gesagt wird,
das ohnehin V.5 folgt, fehlt 1) das phonetische Complement IK, das in diesen Fällen
sonst zu stehen pflegt; und mülste 2) die Nennung eines andern Gottes als des Asur
überraschen, vgl. die Eingänge der Inschriften Tiglath-Pileser’s I, ASurnäsirabal’s, Salma-
nassar’s (die Jagdinschrift IR. 28 Z.1 kann natürlich nicht dagegen angeführt werden); der
Gottesname —WY aber steckt in der verderbten Zeichengruppe unter keinen Umstän-
den. Man wird somit von dieser Combination absehen müssen.
Philos.-histor. Abh. 1885. 1. 3
18 SCHRADER:
Vater des Betreffenden sich beziehen kann: wir kennen eben die ur-
sprüngliche Länge dieser Zeilen der Inschrift nicht (anders von Z. 7 an!),
welche, so weit sie im Übrigen erhalten ist, also lautet:
1e ® Tuklat- (du) |Adar?]
2 ? sarru rabü sarru dam |-nw)
3% ? sar kıssatı sar mät Assur . . .
40... [kul]-Zat(?) msi rab[atı?]
5 has ioesin=o. Sa (dla) © & 0 © one
Bl lo on Singen ae are.
7. itala-ku-ma Sadıi-ı danmüti ıstu
8. si-ıtlı) Samsı a-di d-[rib]
9. (iu) Sam-$i u - tam - mi’- ha
10. ık-du la pa-du-[u] . .
11. ıltala - ku- ma kima bürki(?)
12. ndaratı
13. u- kab - bi - sa
ST:
il ? Tuklat-[Adar?],
2 ? der grofse König, der mächtige König,
3. ? König der Völkerschaar, König von Assyrien ....
4 ...der Gesammtheit der grolsen Nationen.
5. Unter dem Beistande des (Gottes) ..... .,
6. der Götter seiner Verehrung,
7. zog er dahin; mächtige Gebirge vom
s. Aufgang der Sonne bis zum Unter[gange]
9. der Sonne brachte er unter seine Botmälsigkeit.
ı0. Gewaltig, unüberwindlich . .
11. zog er dahin und gleich dem [Blitze(?)]
2 Klüsser > En ah:
13. überwand er (wörtl. trat er nieder R. 222).
Als Resultat unserer Untersuchung hat sich herausgestellt: 1) die
Inschrift, zu welcher das Bruchstück (?) E gehört und deren Anfang es ir-
gendwie bildete, ist diejenige eines ebensowohl von Tiglath-Pileser I, als
von Asurnäsirabal, als endlich von Salmanassar II verschiedenen assyri-
Die Keihnschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 19
schen Herrschers; 2) dieselbe ist aus paläographischen Gründen einem
Könige zuzuschreiben, dessen Regierung in die Zeit zwischen Tiglath-Pi-
leser I und Asurnäsirabal fällt; 3) es mufs als möglich und kann als
wahrscheinlich bezeichnet werden, dafs Z.1 den Namen des Königs der
Inschrift in der Schreibung KU. AN. NIN. IB enthielt, dieser König so-
mit Tuklat-Adar, der Vater Asurnäsirabal’s, war. Dafs an diesen Herr-
scher im Übrigen jedenfalls in erster Linie zu denken, dürfte die Be-
trachtung in Abschnitt V an die Hand geben.
Noch eine ‚Schlufsbemerkung. Wir haben im Vorhergehenden die
behandelte Inschrift wiederholentlich als „Bruchstück“ bezeichnet, nicht
jedoch dieses, ohne ein Fragezeichen beizufügen. Es will uns nämlich
scheinen, als ob wir es im Grunde gar nicht mit einem Fragment, denn
vielmehr mit der ganzen betreffenden, nur an einigen Stellen beschädig-
ten Inschrift des betr. Königs zu thun haben. Wie die Inschrift mit dem
Namen des Königs Z. 1 und seinen Titeln ete. Z. 2—4 regelrecht be-
ginnt, mit dem „Ina rısütl“ Z.5 durchaus correkt neu anhebt, so schlielst
dieselbe Z. 13 mit dem ukabbisa in sich vollständig ab (wie denn auch
auf dem Original in dieser Zeile sicher kein Zeichen mehr folste). Der
enge, leicht herzustellende Zusammenschlufs der Zeilen 7— 9 (s. Text)
giebt zugleich ziemlich sicher an die Hand, wie viel oder wie wenig am
Schluls je der Zeilen zu ergänzen ist. Die Inschrift würde so als eine
ihrem wesentlichen Tenor nach ganz erhaltene in Parallele zu der In-
schrift Tiglath-Pileser’s I treten.
30 SCHRADER:
V.
In der Annaleninschrift ASurnäsirabal’s col. I, 104fle. (I Rawl. 19)
lesen wir: 104. Ina ki-bit Aur Sa-mas u Rammän li tik-l-ja narkabät
ummdändti-a ad-ki. Ina vis v-mi när Su-up-na-at a-sar sa-lam 105. 5a
Tukul-u-abal-ı-Sar-ra u Tukul-t-Adar Sar mät As$ur abi-a i- za-zu-u- ni
sa-lam Sarrlı-t-a ab-m ıt-H-Su-mu u-sl-zi-ız —, d. i. „Auf Geheils
des Afur, Sama$ und Rammän, der Götter meiner Verehrung, musterte ich
die Wagen meiner Heere. An dem Quellursprunge!) des Flusses Supnat,
an der Stelle des Bildes (Sing.!), welches Tiglath-Pileser und Tiglath-Adar,
die Könige von Assyrien, meine Väter, aufgerichtet hatten, fertigte ich mein
königliches Bild, liefs es neben ihnen aufrichten“. Von den hiernach zu
erwartenden drei Königsbildern ist nun zwar auf den Sester’schen Ab-
klatschen nur eines mit zum Abdruck gekommen, dasjenige Tiglath-Pile-
ser’s I, und Rawlinson und Taylor sprechen überhaupt nur von einem
Bilde, während allerdings Sester ausdrücklich von zweien solchen, die
vorhanden seien, berichtet (s. o.). Jedenfalls fehlen hiernach zwei der
mit dem Salmanassar’s (s. u.) zu vermuthenden vier Reliefs. Eins der
beiden vorhandenen könnte jedenfalls dasjenige sei es des Tuklat- Adar’s,
sei es des ASurnäsirabal’s sein?). Wie dieses Fehlen zunächst des dritten
1) ina ris ini = 2 wsn ist als „am Quellhaupte* — „am Quellorte“ zu
fassen, und nicht mit „an den Quellen“ zu übersetzen; ‘-ni ist Genetivus sing., wie
sich aus dem > -]EE (I- von C, 3 (vgl. oben S. 10) ergiebt.
2) Nahe liest es zu vermuthen, dafs das zweite „Mannes“-Bild, von welchem
Sester spricht (s. o.), das Stelenbild war, welches zu der Inschrift Tuklat-[Adar]’s
gehörte. Da diese Inschrift (s. 0.) im Allgemeinen, fast wie die des T. P. I, noch in einem
ganz erträglichen Zustande auf uns gekommen ist; da die Angabe Sester’s über die ver-
schiedene Richtung der Profile der beiden Reliefs darauf schlielsen läfst, dals dieselben
an den einander entgegengesetzten Seiten des Einganges der Grotte ausgemeilselt sind;
da es schliefslich eine nahe liegende Annahme ist, dafs der zweite König sein Bild-
nils dem früheren symmetrisch gegenüber an dieser zweiten Eingangsseite werde ange-
bracht haben, so gewinnt jene Vermuthung selbst eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Die Keilinschriften am. Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 21
Bildes neben den vorhandenen beiden Inschriften zu erklären, ist mit Sicher-
heit nicht zu sagen. Nicht ausgeschlossen ist, dafs dieses sowie auch das
vierte (s. u.) früher oder später eben als Bildwerk einer völligen Zerstörung
aus irgendwelchen, nicht fern liegenden Gründen unterzogen wurde, während
man sich bezüglich der Inschriften mit einer oberflächlichen Devastation be-
gnügte. Indessen ist ja Zerstörung der Bilder auch auf natürlichem Wege
durch Einsturz, Wasser oder sonstige örtliche Beschaffenheit keineswegs aus-
geschlossen. Zu Letzterem würde gut stimmen, dafs neben der so gut wie
völlig unversehrt gebliebenen Inschrift auch das hierneben reproducirte
Königsbild Tiglath-Pileser’s, welches beiläufig das älteste uns erhaltene
assyrische Königsbild ist, seinerseits fast intakt uns überkommen ist. Wie
immer es sich aber hiermit verhalten mag, es würde dieses Fehlen der Bild-
nisse an der Thatsache des Nebeneinander der Inschriften der zwei von
Asurnäsirabal namhaft gemachten assyrischen Herrscher (Tiglath-Pileser’s
sowie Tuklat-Adar’s) und seiner eigenen nichts ändern. —
Dals ferner der Sebeneh-Su, der Iinke Quellfluss des Tigris, auch
wirklich der von Asurnäsirabal unter dem Namen Supnat in Aussicht ge-
nommene Fluls war, dürfte füglich keinem ernstlichen Zweifel unterliegen. Es
ist ja richtig, dafs der Flufs wie als Sebeneh!), bzw. Tsebeneh (so H. Raw-
linson, bezw. J. Taylor), so auch als Zibeneh benannt wird, welche letz-
tere Aussprache auf J. Brant zurückgeht. Dals die Wiedergabe des betreffen-
den Zischlautes in europäischer Schrift und durch Europäer das eine Mal
durch s, das andere Mal durch z kein ernstliches Hindernifs für die Iden-
tificirung der beiden Namen mit dem einen urkundlich überlieferten Namen
Supnat bietet, bedarf keiner Auseinandersetzung, soll doch auch das eng-
lische z in diesem Falle jedenfalls irgendwie ein weiches s ausdrücken 2).
Dafs nun aber weiter der ın Rede stehende, auf den Monumenten er-
wähnte Flufs und insbesondere der dort in Aussicht genommene Quell-
ort auch zu der Localität, welche durch den jetzigen Sebeneh-Su und
1) H. Ritter schreibt X, 98 u. ö. Sebbeneh mit doppeltem b. Auf v. Moltke’s
Karte ist der Name nicht eingetragen.
?2) Wie es sich mit der sonst noch verzeichneten Aussprache Dibeneh verhält
(vergl. v. Gutschmid N. B. S. 27), vermag ich nicht zu sagen.
3% SCHRADER:
insbesondere durch die Grotte, in welcher die Inschriften gefunden wur-
den, an die Hand geseben wird, stimmt, ergiebt sich aus einer Ver-
sleichung des Berichtes Asurnäsirabal’s betr. den Feldzug, bei dessen
Anlass er sein Bild am betreffenden Orte aufstellen liefs, mit der Ört-
lichkeit, wo thatsächlich jene Inschriften entdeckt wurden. Auf eine
Nachricht hin, welche dem Könige nach Niniveh zuging, dafs nämlich
Nachkommen assyrischer Colonisten, welche einst Salmanassar I in der
Stadt Chalzilucha angesiedelt gehabt hatte, sich empört und zur Ein-
nahme der Hauptstadt Damdamusa ausgezogen wären (col. I, 101 ff.),
rückt der König zur Niederwerfung des Aufstandes aus, errichtet zu-
nächst (s. o. den Wortlaut dieser Stelle) sein Standbild in der Quell-
grotte des Supnat und zieht nunmehr nach Empfangnahme des Tributs
eines Gebietes Izala nach dem Lande Kasijari d. ı. vermuthlich Nord- oder
Nordwestsophene (KGF. 152 vol. 184. 186), um hier d. h. im Lande
Kasijjari die Empörer zu bekämpfen. Er erobert die Stadt des empöre-
rischen Präfekten Chulai, zerstört dieselbe und läfst den ersteren schin-
den und seine abgezogene Haut an der Mauer der Königstadt anheften
(eigentl. die Mauer mit derselben „bedecken“). Gemäls einer andern
Stelle derselben Inschrift (III, 105ff.) läfst der König nach Eroberung
des, wie es scheint, inzwischen abgefallenen und von einem gewissen
llani oceupirten gleichen Damdamusa von hier aus die Gefangenen sowie
die Häupter (der Erschlagenen) nach Amid-Diärbekr bringen: jene Stadt
ist also irgendwie als in der Nähe von Ami’d-Diärbekr belegen zu den-
ken. Dieselbe war ja ohnehin früher bereits eine assyrische „Königsstadt“
(s. 0.), war also im Bereich der assyrischen Herrschaft auch ihrerseits
belegen. Die Stadt ist unter Berücksichtigung beider Stellen als zwi-
schen Ami’d-Diärbekr und Nord- oder Nordwestsophene, also jedenfalls
irgendwie den Tigris stromaufwärts, nördlich von Diärbekr, liegend zu
denken. Zog nun der Assyrerkönig, der, wie ausdrücklich bemerkt wird,
die Nachricht von der Empörung der assyrischen Colonisten Sophene’s
in Niniveh empfing, mit seinem Heere auf dem nächsten direkten Wege
gegen das nordwestlich von Diärbekr belegene Gebiet d. h. aber über
Sört, Mejjäfärikin, Ilidsche, Häni gen West- oder Nordwestsophene, so führte
der Weg direkt über.den Supnat und an der Quellgrotte, wo die Inschrif-
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 23
ten eingegraben sind!), vorbei, wie ja denn gelegentlich dieser selben —
übrigens auch von v. Moltke zurückgelesten — Route Sester ganz zufällig
an der Höhle vorbeikam: er hatte keme Ahnung davon, dafs dort
Inschriften sich fänden, wie er uns ja versichert, dafs „Niemand
!) Hr. Kiepert hat auf der seiner Abhandlung über Tigranocerta beigegebenen
Karte (Monatsber. der Akad. der Wissensch. 1873 S. 210) als Örtlichkeit des assyri-
schen Monuments die Gegend an einem der beiden östlichen Quellarme des Sebeneh-Su
und zwar dem südlichsten derselben gesetzt und in seine unmittelbare Nähe das Anzita
des Ptolemäus — Inziti' der Inschriften verlegt. Es wird das im Wesentlichen auch das
Richtige sein (für Ihziti-Anzita s. KGF. 131. 134. 144ff.). Der nördliche bei Sivan-
Maaden vorbeifliefsende Quellflufs, bezw. Zuflufs kann unter keinen Umständen gemeint
sein; dieser führt niemals und nirgends den Namen Sebeneh, heilst vielmehr stets ein-
fach der „Fluls von Sivan-Maaden“; der Name Sebeneh, Zibeneh haftet jetzt ausschliefs-
lich am (südlichen) Hauptarme, wo noch jetzt ein Ort diesen Namen führt, und wenn
J. Brant (Journ. of Roy. Geogr. Soc. X, 1841 .p. 363) berichtet: „I was informed the
cource of this river was in a range of mountains, on the other side of which the Muräd-
Chai runs, the range being parallel to the course of the river,“ so palst diese Aussage
der Bewohner ebensowohl auf die östlichen wie auf die westlichen Quellarme des Flus-
ses, abgesehen davon, dals dieselben über die fraglichen Quellarme und deren Lauf,
überhaupt über die betr. Localitäten gar nicht genau unterrichtet gewesen zu sein brau-
chen. Entscheidend ist nach dieser Richtung die Aussage Sester’s. Er beschreibt die
Grotte als liegend 4 Stunden von Häni und gleichweit von dem östlicheren Ilidsche.
Nun giebt J. Brant als die Dauer seines Ritts von Ilidsche nach Häni auf 5 Stunden
an, indem er gleichzeitig die wirkliche Entfernung auf 15—20 (engl.) Meilen schätzt
(p. 361). Combiniren wir beide Angaben (auch Sester wird nach Lage der Dinge
4 Stunden Ritt gemeint haben), so gelangen wir für die Örtlichkeit des Monuments
zu einem Punkte, der in der Spitze eines gleichschenkligen Dreiecks liegt, dessen Basis
die östündige Entfernungslinie Häni-Ilidsche bildet d. h. aber in der Hauptsache dorthin,
wo Kiepert auf seiner neuesten Karte (les provinces asiatiques etc.) an dem südlichsten
der östlichen Quellflüsse des Zibeneh die Örter Malik und Dschehid eingetragen hat.
Da von Ilidsche über Dschehid die Strafse nach Palu-Erzerum führt, Sester aber aus-
drücklich berichtet, dafs die Inschriften in der Felsgrotte „auf der Stralse nach Erze-
rum“ eingegraben seien, so werden wir die Grotte selber eben hier, wenn auch vielleicht
noch etwas südlicher, nach Malik zu, d.h. mehr stromaufwärts zu suchen haben. Die
Assyrer, wenn sie auf der nördlicheren Route über Ilidsche vom jetzigen Palu aus
nach Armenien ziehen wollten oder aber wenn sie von Ilidsche über Häni aus den Sebe-
neh im mittleren Laufe überschreitend nach Westsophene oder aber Diärbekr ihren Marsch
richteten, mufsten in unmittelbarster Nähe der Felsgrotte vorüber. Es begreift sich, wie
vier Assyrerkönige am Eingange dieser Grotte ihre Bildnisse ausmeilseln und ihre In-
schriften eingraben lielsen.
94 SCHRADER:
vor ihm dieselben abgeklatscht hätte“ (J. Taylor seinerseits gelangte
von Egil, also vom Westen aus, hierher). Da nun weiter schon Salma-
nassar I. (um 1500 v. Chr.) gerade in das nördliche Sophene eine Colonie
führte (Asurn. I, 102 flg.); da schon Tiglath-Pileser I. (um 1100) hier an
der Quelle des Sebeneh-Su sein Bildnifs aufstellte, nicht minder dieses (die
Richtigkeit unserer These einmal vorweg angenommen) Tuklat- Adar, sowie
Asurnäsirabal und Salmanassar II im 9. Jahrhundert, thaten, so wird
jene Route d. h. der Weg von Niniveh den Tigris aufwärts nach Sört-
Hazu und von da nordwestlich weiter, sei es über Nerdsckki-Ilidsche, sei
es über Mejjäfärıkin-Hänı an den Sebeneh-Supnat seit Alters eine Heer-
stralse der Assyrer nach dem Nordwesten gewesen sein. Die nördliche,
über Nerdschki-Ilidsche gehende Route führt dazu fast geradeswegs an die
linke östliche, zugleich die Süd-Quelle des Supnat und die Felsengrotte.
Hiernach werden wir kaum anders sagen können, als dafs 1) der von
Asurnäsirabal namhaft gemachte Supnat der jetzt als Sebeneh - Su bezeich-
nete erste grölsere linke Neben- bezw. Quellflufs des Tigris ist; sodann 2) dafs
die von ihm als rs ni när Supnat bezeichnete Localität, wo die Bild-
nisse Tiglath-Pileser’s (I), Tuklat-Adar’s und sein eigenes nebenein-
ander aufgerichtet worden seien, eben die Grotte ist, aus welcher der
Sebeneh herausströmt und an deren Eingange die drei Inschriften des
Tiglath-Pileser I, des Asurnäsirabal und, ist anders unsere Entzifferung
von Zeile 1 der Inschrift E eine richtige, auch diejenige des Königs Tuk-
lat-Adar neben einander eingegraben, dazu des Erstgenannten (und
noch eines anderen Königs s. o.) Bildnils ausgemeilselt ist, und der in-
zwischen längst zu den Vätern versammelte Fox Talbot hätte, als er
nach Veröffentlichung der ersten Notiz Henry Rawlinson’s, betr. die
Entdeckung von Bildnifs und Inschriften in der Quellgrotte (des Sebe-
neh-Su) seitens J. Taylor’s auf die bezügliche Stelle in der Annalen-
inschrift Asurnäsirabal’s aufmerksam machte, mit diesem seinem Hinweise
noch in weit höherem Grade das Richtige getroffen, als er selber es sei-
ner Zeit geahnt.
Aber die Sester’schen Abklatsche gereichen möglicherweise wie
der angezogenen Aussage des Königs Asurnäsirabal, so nicht minder
der ausdrücklichen Angabe noch eines andern Assyrerkönigs zur Bestä-
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 25
tigung. Auch auf die vierte und jüngste der in der Quellgrotte des
Sebeneh-Su angebrachten Königsinschriften scheint in den assyrischen In-
schriften hingewiesen zu sein. Auf dem sog. kleinen Obelisk aus schwar-
zem Basalt erzählt Salmanassar II gelegentlich des Berichts über sein
7. Regierungsjahr (Face D. Z. 67—72; vgl. Stierinschrift Lay. 46, 9—12),
dafs er wider den König Chabini von Til-Abni am oberen Tigris (KGF.
195 Anm.) ausgezogen sei und diese Veste sammt den dazu gehörigen Ort-
schaften eingenommen habe. Alsdann fährt der Bericht fort 69 ff.: a-di res
när Ü-mi 3a när Diglat a-sar mu-su-u sa mie sak-nu a-hk; tuklat
Asur ina Ib u-hl-lu mi-ki a-na ıla-ni-ja as-bat, nab-kal hu-du-ut as-
kun, sa-lam Sarrü-ti-ja Ssur-ba-a Ü-bu-us, ta-na-U Asur bih-a al-ka-
[kat] kur-di-ja man-ma sa ina mätät Ü-t-bu-sa ina kir-bi-$a as-tur
ina hb-bi u-Sl-ziz; d. ı.: „Zu dem Quellorte des Tigris, zu der Stelle
des Ausgangs (R. xix — xt), welchen das Wasser gemacht hatte, zog
ich; den Dienst des Asur verherrlichte ich dort, Opfer brachte ich den
Göttern dar, in laute Freude brach ich aus, mein königliches Bild rich-
tete ich prächtig her, den Ruhm Asur’s, meines Herrn, meinen Siegeslauf,
wie nur irgendwer in den Ländern (solchen) zurückgelegt, schrieb ich dar-
auf, richtete es alldort auf“. Eine parallele Angabe findet sich in dem Be-
richt über den Kriegszug des 15. Regierungsjahres Obel. 92ff.; Lay 47, 28#f.
Der letztere, genauere, lautet: — a-na mät Na-i-ri al-hk; ina rts när
Ü-ni sa nar Diglat sa-lam sarrü-t-ja ina mät ka-a-pi (= hebr. >>,
aram. N29) sa sadı-ı ma si-ıt na-ga-bi-Sa (R. 272) ab-ni; ta-na-t kis-
su-b-ja al-ka-kat kur-di-ja ina ki-rio-Su al-tur. Man hat, sei es
die erste, sei es die zweite Stelle wohl auf jenes Standbild mit Inschrift
bezogen, welches sich bei Egil, mehr südwestlich, am heutigen Arghana-
Su, befindet und von J. Taylor signalisirt ist (s. noch neuerdings „Re-
cords of the Past“ I], 32 ann. 3). Mit gutem Fug hat sich aber bereits
H. Rawlinson (Athenaeum 1863 Nr. 1842 p. 229a) dagegen erklärt.
Hinwiederum palst jede der beiden Stellen, vor Allem die erstere, auf
die Quellgrotte am Sebeneh-Su, wo, wie wir durch die Sester’schen Ab-
klatsche nunmehr wissen, Salmanassar in der That seine Inschrift anbrin-
gen und wohl wiederum auch sein Bildnis aushauen liefs, wenn dasselbe
auch jetzt, wie es scheint, nicht mehr vorhanden ist. Dafs er bezw.
Philos.-histor. Abh. 1885. I. 4
26 SCHRADER:
sein in Niniveh arbeitender und die Ereignisse nach langen Jahren in
einer sehr summarischen Weise zusammenfassender Tafelschreiber den
Quell- und Nebenfluls des Tigris anstatt mit seinem Specialnamen mit
dem des Hauptflusses selbst belegte, wird schwerlich als ein stringenter
Gegengrund geltend gemacht werden können.
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 27
fern
‚ Inschrift Tiglath-Pileser’s 1.
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4 T IEDTIT-K ep a El
5 «= I ‚IE 2E de
6 «a- lem iene
7 «= El el Sl em
8 ABEL Ya ae IM
I PIPPI IE FT
oma See
1) Auf dem Papierabdrucke ist sicher lediglich ein Sf zu lesen.
2) Sie! — Fehler des Steinmetzen anstatt eIIIT-
3) Sie! Der Gottesname selbst fehlt.
*) Was erhalten ist, ist lediglich ein (, das aber auch in der folgenden 10ten
Zeile in dem Zeichen I dem senkrechten Keile nebengesetzt erscheint — R. Für die
Redensart kdsid istu — adi vgl. die Nachweise in KAT? Gloss. II s. 70».
28
1’)
SCHRADER:
Insehrift Tuklat-Adarß)'s.
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1) Das Erhaltene könnte auch ein a sein.
Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 29
3. Fragment der Inschrift Asur-näsir-abal's.
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4, Fragmente der Inschrift Salmanassar’s II.
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Die Keilinschriften am Eingange der Quellgrotte des Sebeneh-Su. 31
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Tat 1.
Phil- hist. Abh. 1885.
K. Preussische Akad. d. Wissensch.
linsehriften am Sebeneh-Su.
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SCHRADER: Ke
Uber die Berliner Fragmente der ASyvaiwv ToAıresia
des Aristoteles.
Von
EL DIEHIB IS:
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 1
D.: aus Faijüm stammende Berliner Papyrus 163 enthält wich-
tige Urkunden altattischer Geschichte, deren erste Entzifferung wir dem
scharfen Blicke von F. Blaf's verdanken. Leider hatte er seiner Abhandlung
kein Facsimile beigeben können, so dafs der geistvolle Herstellungsversuch
von Bergk im Einzelnen oft in die Irre gehen mulfste, wenn auch das
Hauptresultat seiner Untersuchung, dafs wir hier Bruchstücke aus Aristo-
teles’ "ASyvarwv rorıreia vor uns haben, unumstöfslich ist!. In der Zwi-
schenzeit ist freilich der Versuch einer Reproduction gemacht worden, aber
mit nicht genügender Sorgfalt, so dafs diese Arbeit eher Verwirrung als
Nutzen stiften kann?. Als ich mich hiervon dem Originale gegenüber
überzeugt hatte, schien es mir nützlich, selbst die schwierige Aufgabe einer
Faesimilierung in die Hand zu nehmen, nachdem sich eine mechanische
Reproduction der abgeblafsten Schrift gegenüber aussichtslos erwiesen und
auch der Versuch, durch einen nicht ungeübten Zeichner die Schrift fixie-
ren zu lassen, milsglückt war. Es haben sich mir bei der eingehenden
Untersuchung dieser Fragmente auch einige nicht unwichtige neue Lesungen
1! Blafs Hermes XV 366. XVI 42. XVII 478 (s. d. Anhang dieser Abh.),
Bergk Rhein. Mus. XXXVI 37. n
?® H. Landwehr de papyro Berolinensi Nr. 163, Berlin 1883 (s. Anhang). Einen
Theil der Versehen, die in den zwei autographierten Tafeln gemacht sind, hat der Verf.
selbst berichtigt in einem Aufsatze des Philologus Suppl. V 195. Eine Polemik gegen
diesen Aufsatz, der sehr dazu herausfordert, lag aulserhalb des Zweckes dieser Abhand-
lung, die sich auf die kurze Erläuterung der neuen Lesung beschränken wird.
1%
4 Dırns: Über die Berliner Fragmente
ergeben, aber mein Ziel war von Anfang an nicht auf Entdeckungen ge-
richtet, sondern lediglich darauf, das Sichere vom Unsicheren zu scheiden
und so jedem Leser die Controle selbst in die Hand zu geben. Nur das
bei günstigstem Lichte sicher Erkannte und wiederholt Nachgeprüfte ist
in voller Schrift ausgeführt, alle unsicheren Buchstaben sind punktiert
worden. Alle Lesungen also, die auf diesen unsicheren Buchstaben be-
ruhen, dürfen nicht als authentisches Material benutzt werden. Es sind
Combinationen oder Conjecturen, die eine lediglich subjective Gültigkeit
beanspruchen !.
Über das Alter der Papyrusschrift, namentlich der Buchschrift, wie
sie hier vorliest, ist man bis jetzt noch nicht im Stande andere als arbi-
träre Urtheile zu fällen. Wenn daher Ch. Graux unseren Papyrus spä-
testens auf das zweite nachchristliche Jahrhundert geschätzt hat, weil die
Schrift in der Mitte stehe zwischen dem grolsen Hypereidespapyrus und
der Ilias Bankesiana, so ist dies eine Rechnung mit zwei Unbekannten,
die keinen objeetiven Werth besitzt. Blafs hat sich daher auch nicht
abhalten lassen tiefer hinabzugehen, weil das Buchformat der Blätter und
das Alter der anderen Faijümer Funde auf spätere Zeit hinweise. Aber
diese dort in so grolser Anzahl zu Tage getretenen Papyri sind offenbar
verschiedenen Fundstätten entnommen und einige dieser Urkunden führen,
wie wir jetzt wissen, bis in die erste Kaiserzeit hinauf. Auch an und
für sich ist es ja denkbar, dafs unsere schon äufserlich viel weniger gut
erhaltenen Fragmente aus älterer Zeit sich im Besitze der Leute befanden,
mit deren Privaturkunden sie sich zusammen gefunden haben.
Anders stände es freilich, wenn die von Blals bemerkte Abkür-
zung und die stellenweise Bezeichnung von Spiritus und Accenten sich
wirklich auf unseren Fragmenten vorfände Namentlich bei einem Pro-
1 Ganz weggelassen sind die Schriftspuren, die eine Ergänzung zu irgend einem
Buchstabenbilde nicht gestatteten, selbstverständlich auch alle figuren- oder schriftartigen
Färbungen der Pflanzenfaser. Gerade diese erschweren die sichere Entzifferung ungemein.
Doch hat zur Unterscheidung der wirklichen Schrift von den zufälligen Färbungen und
Rissen des Papyrus ein von Hrn. Haubenreilser, Restaurator des Kgl. Kupferstich-
Cabinets, angegebenes Firnilsverfahren wesentlich beigetragen. Bei besser erhaltenen Pa-
pyri und Ostraka ist dieses Verfahren, namentlich unmittelbar nach dem Auftragen des
Firnisses, von aulserordentlichem Erfolg; auch in unserem so schlecht erhaltenen Exem-
plare sind hierdurch einige vorher ganz unsichtbare Buchstaben deutlich hervorgetreten.
der "ASyvalwv morıreia des Aristoteles. 5
saiker wäre dies ein Anzeichen möglichst späten Ursprungs. Aber von
allen diesen Zeichen habe ich keines bestätigt gefunden. Die Abkürzung
Tw = ray Ila 10 ist nicht vorhanden, sondern es steht ausgeschrieben
da Twni. Auch der angebliche Spiritus über oAwe 15 12 ist nur Schein,
der durch den zackigen Rand der Blattklebung hervorgebracht wird. Mit
der antiken Form des Spiritus Asper, wie ihn z. B. der Alkmanpapyrus
und die zweite Hand der Ilias Bankesiana und des Hypereides (pro Euxe-
nippo) zeigen, hat jenes angebliche Zeichen über oAwc so wenig zu thun
als das vor eXecoaı Ib 7 wirklich erscheinende Häkchen. Auch hier räth
nichts einen Spiritus Asper anzunehmen. Vielmehr scheint das Zeichen
einen Ausfall von Worten anzudeuten. Auch die diakritischen Punkte
über dem ı in ientac Ia 12 geben keine Altersmarke, da sie in-
schriftlich wie handschriftlich vom ersten Jahrhundert n. Chr. an nicht
selten sind.
Das Hauptargument, das für spätere Entstehung ins Treffen ge-
führt wird, ist die Buchform, in welcher nach Blafs’ Ansicht diese Blätter
ursprünglich zusammengeheftet waren. Die in neuerer Zeit begonnene
Untersuchung über Ursprung und Gebrauch der modernen Bucheinrichtung
scheint mir jedoch gerade in dem Fundamente nicht vorsichtig genug
geführt zu sein, so dals ein Schlufs daraus auf das Alter unserer Blätter
übereilt wäre. Überdies erscheint mir diese Annahme selbst, unsere
Fragmente seien in Buchform zusammengefaltet gewesen, aufserordentlich
problematisch.
Blafs hat nemlich die Reihenfolge der vier Fragmente so ange-
ordnet, dals der Text auf der einen Seite der Blätter (Aufsenseite) links
bei Columne Ia anfängt (Seisachtheia des Solon), dann auf die andere
Seite (Innenseite, linke Columne) Ib übergeht (Archontat des Damasias,
Streit der Paralier u. s. w.). Auf derselben Innenseite rechts folst II«
(Reform des Kleisthenes), endlich auf der Aufsenseite rechts schlielst das
Blatt mit Columne II (Ostrakismos, Flottengesetz des Themistokles).
Nimmt man nun noch mit Blafs an, dafs in der Mitte zwischen Id und
1 Der erste Strich des !! ist absolut sicher. Der horizontale Strich über dem
W ist das Ende eines bräunlichen linienartigen Streifens im Papier, der von unten auf-
steigend sich schräg über die Buchstaben OYCEKTW erstreckt.
6 Disers: Über die Berliner Fragmente
IIa ein oder mehrere Blätter ausgefallen sind, welche die Tyrannıs der
Peisistratiden umfafst haben müssen, so erhält man eine so einleuchtende
Folge historischer Thatsachen, dafs man sich nur schwer entschliefst an
einen Irrthum zu glauben. Die äufseren Indicien, von denen Blafs bei
seiner Anordnung ausging, sind einmal der Hauptbruch des Papyrus AB,
der thatsächlich nach innen zu (Columne Ib) klappt, zweitens der freie
Rand Ila rechts und II links und endlich das Übergreifen des Textes
von Ila auf den rechten Rand von Id. In der That, das stimmte alles
so hübsch zusammen, dafs auch ich längere Zeit von der Richtigkeit die-
ser Anordnung überzeugt war. Bedenklich stimmten mich zuerst die Über-
reste von Schrift, die ich am äulsersten Imken Rande von Ia bemerkte.
Sie sind sehr verwischt und undeutlich und waren daher früher nicht be-
rücksichtigt worden. Ist die Anordnung von Blafs richtig, so müssen
naturgemäls diese Zeilenausgänge ebenso mit den Zeilenanfängen von II
correspondieren, wie die Anfänge des rechten Randes von Ib mit IIa in
Verbindung gebracht worden waren. Legt man nun aber die zwei Bruch-
stücke der angeblichen Innenseite Ib und Ila so an einander, dafs nach
der Reconstruction von Blalfs z. B. rwy Ib (rechts von AB) an Ha 6
anschliefst, ebenso in der folgenden Zeile rois (aürcis) an &v (la 7) u.s.w.,
so ist es mir wenigstens unmöglich gewesen, die Zeilenausgänge des linken
Randes von Ia in ähnlicher Weise mit den gesenüberstehenden Anfängen von
IId zu combinieren. Selbst wenn man der allerdings starken Ungleichmäfsig-
keit der Linien und der schlimmen Mifshandlung des Papyrus den weitesten
Spielraum steckt, wird es schwerlich gelingen, die Zeilenausgänge des linken
Randes la zur Reconstruction von Ilb zu benutzen!. So war ich etwas muth-
los und zweifelhaft geworden. Als dann der Firnils eine Reihe vorher un-
sichtbarer Buchstaben an den scheinbar geradlinig abschliefsenden Aulsenrän-
dern zeigte, als sich dadurch auch die bisherigen Anschlüsse der Columnen
Ib und Ila als unmöglich herausstellten, als sich endlich sogar Buch-
stabenspuren, freilich unsichere, zeisten, die über den Bruch AB von der
einen Seite über die andere hinwegzuführen schienen, konnte der Ver-
dacht nicht länger unterdrückt werden, dafs die Anordnung eine andere ge-
wesen sein müsse als die bisher mit guten Gründen vertheidigte.
1 Ich will nicht verschweigen, dals ich eine Zeit lang Ia linker Rand (zwischen
Z. 13 und 14) #Jrerr.« und Id (neben Z. 10) Barzl:«- zu erkennen glaubte, was sich mit
der "ASyvamwv morıreıa des Aristoteles. 7
Die Schrift der Fragmente, die offenbar von einer Hand herrührt,
zeigt eine gewisse Zierlichkeit und ein Bestreben nach Eleganz, aber sie
entbehrt durchaus der Gleichmälsiskeit und Festigkeit. Grolse unge-
schlachte Buchstabengruppen wie z. B. in den Zeilenanfängen Ia 6. 8. 16
wechseln mit klemen, enggedränsten z. B. Ib 10 2. E., 18 Anf. Dieselben
Buchstaben wie r o werden bald grofs bald winzig klein gebildet; die ho-
rizontale Linie wird nicht inne gehalten, es geht bergauf bergab. Ähnlich
ungleichmäfsig ist die Vertheilung der Buchstaben auf die Zeilen. Freilich
Normalexemplare mit gleichmälsig 15—16 Silben (oder so und soviel Buch-
staben) in der Zeile haben sich bisher noch nicht gefunden, und die man
dafür ausgeben möchte, erweisen sich bei genauerer Untersuchung als
recht ungleichmälsig geschrieben!. Aber unser Exemplar ist doch beson-
ders unordentlich geschrieben, wenn die Ergänzungen richtig sind, die ja
in Col. Ia anderweitig gegeben sind. Man ist daher nicht im Stande aus
äufseren Gründen zu entscheiden, ob Z. Ia 20 nach zarsrys diuov noch
eine Zwischenbemerkung wie za: rar oder zal EregwSı vor dem weiteren
Oitat & yag 72erov gestanden hat oder nicht, wenn mir auch das letztere
viel wahrscheinlicher ist. Vergleicht man nun mit der Zeilengröfse von
Col. Ia die Rückseite Ib, so zeigen ja schon allein die nach r«@ geo (Z. 12)
und vor za revyew (Z. 15) nothwendigen Ergänzungen, dafs hier gröfsere
Zeilen auf der Seite gestanden haben müssen.
Alles zusammengenommen macht die ungleichmäfsige Ausführung
der Schrift den Eindruck von Dilettantismus oder Schülerarbeit. Wir sind
damit in eine Sphäre gewiesen, bei der man von der rationellen Anlage
der buchhändlerisch hergestellten Waare abstrahiren muls. Wir haben,
glaube ich, ein Analogon vor uns zu der Eido£ov rexvn mit ihren kindlich
gezeichneten Figuren und noch kindlicheren astronomischen Irrthümern
oder zu dem von H. Weil herausgegebenen Didot’schen Papyrus. Auch
dem Inhalte der gegenüberstehenden Columne berührte. Aber diese Wörter in einen Connex
mit dem erhaltenen Reste zu bringen war mir unmöglich und die Lesungen selbst sind zu
unsicher, als dafs hierauf irgend gebaut werden könnte.
1 Ich meine z. B. Vol. Here. ©. I vol. VI, das man als Normalexemplar mit Rei-
hen von Hexameterlänge betrachtet hat. Aber die Reihen variiren von 12—17 Silben
(285—38 Buchstaben). Ähnlich steht es mit dem kürzlich publicierten Wiener Thukydides-
fragment (Wessely Wiener Stud. VII 116), das auch nicht so gleichmäfsig geschrieben ist
wie der Herausgeber angenommen hat.
8 Dıievs: Über die Berhner Fragmente
diese sind opistograph, auch diese sind meines Erachtens Schulabschriften,
deren Unregelmäfsiskeiten und Absonderlichkeiten (das Euripidesstück ist
auf der Rückseite wiederholt) in den Zufälligkeiten ihrer Entstehung begrün-
det sind. So möchte ich auch in unseren Fragmenten zwei lose Blätter se-
hen, die ein arsimoitischer Schulknabe successive mit Abschriften bedeckt hat.
Und zwar denke ich mir die Entstehung so, dafs der Schüler zuerst ein mäfsig
grolses Blatt, etwa in der Gröfse des Didot’schen Papyrus, bei Ia (Vorder-
seite) mit einigen nebeneinanderstehenden Columnen anfüllte und dann
auf dessen Rückseite Ib überging, ferner ein zweites Blatt mit den II«
(Vorderseite) und IId (Rückseite) bedeckten Columnen beschrieb. Diese
Vertheilung widerspricht nun freilich der Beobachtung von Blafs, dafs
Ib und IIa sich schon durch die Glätte des Papyrus und die dadurch
bedingte bessere Erhaltung der Schrift als eigentliche Schriftfläche aus-
wiesen und von der Aulsenseite II und I«@ deutlich abhöben. Dadurch
wäre die Möglichkeit, Ia zur Vorderseite, Ib zur Rückseite zu machen
ausgeschlossen. Aber ich habe diese Beobachtung nicht bestätigt gefunden.
Die Glätte des Papyrus sowie die Lesbarkeit der Schrift ist strichweise auf
derselben Fläche sehr verschieden. Im Ganzen zeist der Papyrus auf bei-
den Seiten dasselbe Aussehen und denselben Zustand der Erhaltung. Am
besten ist 1b erhalten, dann Ia links von dem durch e[e]lusev Z. 2, sunna|o-
rugomv Z. 5 u.s.f. durchgehenden Bruche; Ila u. IId, die nach meiner Anord-
nung zusammengehören, sind ziemlich gleich schlecht lesbar. Es ist offen-
bar, dafs die Fragmente schon früh zusammengefaltet und in diesem Zu-
stande ungleichmälsig den zerstörenden Einwirkungen der Atmosphäre und
Feuchtigkeit ausgesetzt waren. Denn dafs diese Blätter später buchartig
zusammengeschlagen wurden, zeigt der Bruch AB!. Aber dies war selbst
1 Neben dem Hauptbruch AB zeigen sich noch andere schwächere Spuren der
Faltung (wie der eben erwähnte Bruch), die aber später entstanden zu sein scheinen.
Denn während rechts und links von AB sich eine deutliche und ziemlich gleichmäfsige
Vernichtung der Schrift zeigt, weisen die Partien nächst diesen schwächeren Biegungen
keinen ähnlichen Grad der Zerstörung auf. Am meisten haben die Ränder von IIa und
Ild (ursprünglich wohl auch Bruchstellen) gelitten, indem die Papyrus-Oberfläche gänzlich
zerstört und dadurch die Schrift völlig vernichtet ist. Dadurch ist der Anschein erweckt
worden, als ob gar keine Schrift vorhanden und breiter Rand gewesen sei, was mir nach
den oben mitgetheilten Gründen unmöglich erscheint. Man wird in der verticalen Aufsen-
linie der erhaltenen Zeilen Ta 13 —18 eine Ausbuchtung wahrnehmen, die auf der Rück-
der "ASyvarwv moAırsıia des Aristoteles. )
bei rollenartig angelegten Werken üblich, wie der Isokrates-Papyrus von
Marseille zeist (Schöne, Melanges Graux S. 483). Daraus also kann auf
das ursprüngliche Format in keiner Weise zurückgeschlossen werden.
Wie man nun auch über die ursprüngliche Entstehung und Anord-
nung dieser Fragmente urteilen mag, für die Ausnutzung des historischen
Gewinnes wird es durchaus gerathen sein, sich nur an die einzelnen F rag-
mente zu halten. Constatiert ist es also auch in keiner Weise, dafs alle
Fragmente aus einer Schrift stammen. Die Coincidenz des einen Frag-
mentes mit Aristoteles’ Politeia verbürgt durchaus noch nicht ohne wei-
teres, dals nun alle anderen denselben Ursprung haben mülsten, aber der
Inhalt spricht freilich durchaus für diese nächstliegende Vermuthung;
was Bergk wenigstens für seine Meinung, es lägen Excerpte aus ver-
schiedenen Schriftstellern vor, geltend gemacht hat, hat sich als irr-
thümlich herausgestellt. Aus inneren Gründen werden wir an dem
aristotelischen Ursprung aller Fragmente festhalten dürfen und ebenso
werden es innere Gründe sein müssen, die unser Urtheil über die Anord-
nung und chronologische Einordnung der erhaltenen Daten bestimmen.
seite IIb genau entsprechend wiederkehrt. Wenn jemand zweifeln sollte, dafs die Zerstö-
rung auf den Seitenrändern so gänzlich alle Schriftspuren beseitigt haben könne, so ver-
weise ich ihn auf den unteren Rand von IIa und IId, der ehemals ebenfalls mit Schrift
bedeckt war, von der jetzt jede Spur vertilgt ist.
Philos.-histor. Abh. 1885. II.
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IELS: Über die Berliner Fragmente
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Die zeitliche Einordnung der hier geschilderten Verfassungskämpfe
hat aufserordentliche Schwierigkeiten bereitet. Auszugehen ist von dem
Archon Damasias.
Die attische Archontenliste kennt zwei Eponymen
der "ASyvaiwv moAırsia des Aristoteles. 11
dieses Namens. Der erste wird Ol. 35, 2 (639/8)1 gesetzt, der zweite
wahrscheinlich 01.48, 3 (586/5), sicher zwischen 590/802. Wenn man also
bei unserer lückenhaften Überlieferung die paar vereinzelten Daten nicht
von vornherein in den Wind schlagen will, so kann die Frage nur so
lauten: Ist der Damasias unseres Fragments der Archon 639 oder 586,
d.h. fällt der geschilderte Verfassungskampf vor oder nach Solon?
Wer an der Buchform festhält, der mufs von vornherein, wenn er
nicht zu gekünstelten Hypothesen greifen will, unbedingt auf Damasias 1I
kommen. Wer dagegen in der Anordnung der Fragmente durch das For-
mat nicht gebunden ist, der kann an den Damasias vor und nach Solon
in gleicher Weise denken. Er wird zur Entscheidung sich nur auf die
1 Dionys. Ant. III 36 magaranBavesı Tyv aoyynv 6 Megxıos ZviaurW) Ösurigw TAGS TeLe-
HOOTNS za meumrNS OAUMTIcdos, nv eviza Schaipos Auzedamovios 20S" öv y,g9vov ’ASyuyei zyV
Eviaurıov doymv eiyye Aanarias.
2 Marm. P.33 &®’ od Ev Aerbois orebavirns Kyv mar rm Err HHHA[AI]II,
Eay,ovros "ASyunsı Aauesiov ro) Ösuregov (so Dopp Quaest. de M. P. p. 59), d.i. Ol. 48,
3 (86/5). Laert. Diog. 22 (Yarys) wewros vodes WvonasSn Ey,ovros ’ASyvrcı Auueciov,
2a” öv oi intra 224 Sncov, Ws dei Ayumrguos ö PaAngevs Ev N Tu Apyyovruv Kvaygabn.
Die Epoche des Thales scheint bestimmt durch die berühmte Sonnenfinsternis, 28. Mai
585, die also genau in die zweite Hälfte von O1. 48, 3 fällt. Ungenau Plinius Ol. 48, 4.
Hatte Apollodor Ol. 48, 3 zu Grunde gelegt, so fiel die nach der «un berechnete Ge-
burt in Ol. 38, 3 (626/5, genauer 625), was mit dem aus Apollodor berechneten An-
satze des Porphyrios stimmt (Abülfaradsch p. 33 Poe., Sharastäni II 145 Harbr. S. Nauck
Porpbyrii opuse. tria Praef. $. IX: dieit autem Porphyrius floruisse Thaletam post Nebu-
chadnesarem centum et viginti tribus annis), der auf das 123. Jahr der Nabonassar’schen
Aera bezogen wird (Beginn 26. Jan. 625), wobei die gewöhnliche Verwechselung der Ge-
burt und Blüthe zu statuieren ist. Dies als Berichtigung meiner früheren ungenaueren
Rechnung Rhein. Mus. 31, 15, zu der ich durch Unger Philol. 41, 623 veranlafst bin,
dessen Ansätzen gegenüber ich meine Grundansicht durchaus aufrecht erhalten mufs. Nur
in der Erklärung des falschen Ansatzes der Geburt des Thales auf Ol. 35, 1 resp. Ol.
35, 2 kann ich jetzt eine einfachere Lösung geben: der Damasias der Ol. 48, 3. 4 ist mit
dem Homonymen der Ol. 35, 2 verwechselt worden. War wie bei Demetrius nach Laertius
a. O. der Name Damasias schlechtweg überliefert, so mufste der in seiner Archontenliste
nachsuchende Chronograph fast nothgedrungen in den Irrthum verfallen, den ersten an-
zusetzen. Dadurch ist es gekommen, dals sich in unseren contaminierenden Quellen
Ol. 35 (die bestimmte Olympiade war wohl nicht genannt) statt des von Apollodor ge-
meinten Ansatzes eindrängte (Laertius, Eusebius, Suidas). Die in unseren Quellen heil-
los zerrütteten Ansetzungen des Kirrhäischen Kriegs und der Rinsetzung der Pythienfeier
halte ich für eine ungeeignete Basis zur Bestimmung des zweiten Damasias.
9r8
12 Driers: Über die Berliner Fragmente
Indiecien berufen dürfen, die sich aus dem Zusammenhange des Fragmentes
selbst mit Nothwendigkeit ergeben.
Innerhalb der Columne Ib ist eine grölsere Lücke oder ein Absatz
nicht wahrzunehmen. Wir sind daher berechtigt, ja genöthigt, die Be-
stimmung des Damasias aus dem Folgenden zu entnehmen. Da erscheinen
zuerst die Streitigkeiten der drei Klassen, der Eupatriden, Apoiken und
Demiurgen, um die Archontenwahl. Mit einem Oompromils wird dieser
Zwist vorläufig abgethan, Z. 6—12. Dann Fortdauer der Unzufriedenheit,
hervorgerufen durch den grofsen Umschwung der politischen Verhältnisse
die Fo (vewori?) meyaryv Yeyovevaı ueraergv Z. 15. 16, Verschiebung der Ver-
mögensverhältnisse bei den Wohlhabenden in Folge der xoewv amoxromn.
auveßeßyzeı yap areis yerferIaı ramewois?] za vevnsw 2.13.14. Diese po-
litische und sociale Umgestaltung kann sich schwerlich auf Verhältnisse des
7. Jahrhunderts beziehen. Denn lagen auch bereits alle diese Probleme in.
der Luft und mufste speciell die Schuldenerleichterung als erstes Heil-
mittel der zerrütteten Verhältnisse erscheinen, zur Ausführung ist dies
alles doch erst durch die Reform des Solon gekommen. Durch dessen
xgewv amoxorn allein konnte thatsächlich eine Beeinträchtigung und Ver-
armung der besitzenden Klasse herbeigeführt worden sein, und eine that-
sächlich erfolste, nicht eme projectierte Schuldentilgung setzen doch die
Worte LoxXnv zal moobanıv ENOVTES MW en... Tuv X,pewv droxcmyv Voraus.
Ein zweites Argument liest darin, dafs die Betheilisung der drei
Stände der Eupatriden, Apoiken und Demiurgen an dem passiven Wahl-
recht zum Archontate, wie es in dem Jahre des Damasias nach unserem
Fragment geschehen, die Solonische Reform bereits vorauszusetzen scheint.
Solon war es, soviel wir wissen, der die Macht des eupatridischen Ringes
gebrochen, der durch die Zulassung der reichsten Mitglieder der andern
Stände das Archontat des oligarchischen Charakters entkleidet hatte. Gä-
ben wir der Zeit des Archon Damasias I (639) bereits die Theilnahme aller
Stände am Archontat, so wäre die timokratische Reform des Solon ein
Act unbegreiflicher Reaction, insofern die von dem Demos im engeren
Sinne, den beiden niederen Ständen, bereits vor 40 Jahren eroberten Pri-
vilegien nun wieder eng beschnitten worden wären, weil ja der Öensus
den bei weitem gröfsten Theil der beiden niederen Klassen wieder aus-
geschlossen hätte. Ist dagegen Damasias der nachsolonische Archont, so
der 'ASyvaiwv worırsia des Aristoteles. 18
ergibt sich eine stetige und‘ rationelle Entwickelung. Die unerträgliche
Oligarchie der Eupatriden wurde durch Solon endgültig beseitigt. Auch
die beiden andern Klassen erhielten Zutritt, aber nur die, welche bereits
durch ihren Reichthum eine neue Aristokratie zu bilden begonnen hatten.
Nachdem durch Solon die Gleichberechtigsung proclamiert war, mulste so-
fort die Machtfrage auftreten, wer nun von den drei Ständen die meisten
Candidaten für das Archontat liefern solle. Zunächst waren die Eupatriden
im Vortheil, da sie natürlich zur ersten Steuerklasse das überwiegende
Contingent stellten. Aber die beiden andern Stände treten jetzt ebenfalls
auf den Plan und ihre Vertreter in der Zahl der Pentakosiomedimnen
suchen, gestützt auf die hinter ihnen stehende Masse, die Regierung zu
erhalten. Die alte Ständeeintheilung mufste jetzt in dieser Oonflietszeit
sich mit besonderer Schärfe markieren, da jetzt alle drei Parteien, vor
dem Gesetze gleichgestellt, um die Wette nach politischem Einflusse stre-
ben konnten.
Als erstes Anomalon tritt uns da die völlig unzweifelhafte That-
sache entgegen, dafs das Archontat des Damasias ein zweijähriges war.
Das bedeutet offenbar Usurpation und Tyrannis, mögen wir uns die Stel-
lung der acht übrigen Archonten zum ersten denken, wie wir wollen.
Diese Verfassungswidrigkeit zu begreifen, müssen wir einen Blick vorwärts
und rückwärts thun. Solon war, wie Plutarch (Solon e. 14) erzählt, von
allen Seiten aufgefordert worden, sein Reformwerk durch die Tyrannis zu
krönen, d.h. sein einjähriges Archontat dauernd zu gestalten!. Plutarch
hat die Verse an Phokos erhalten, in welchen er klar ausspricht, dafs es
ihm ein leichtes gewesen wäre, die Tyrannis zu erlangen, wenn er den
Ruhm seines Werkes hätte beflecken wollen (Fr. 32 B.). Einen ähnlichen
Gedanken spricht er im Fragment 35 aus, das demselben Gedicht an Pho-
kos entnommen zu sein scheint:
1IEAov Yag nev nparnmas, mAcdrov abIovov Aaduv
ral Tugavveunas "AOyv@v Mouvoy Aegav Kay
dsnos Ünregov dedag Sa namırergidIau yEvos.
! Etwa wie Pittakos, dessen Aisymnetie Aristoteles eine «ioery rugavvis nennt,
Pol. T 14. 1285a@ 31 ff. Die depossedierten-Aristokraten, wie Alkaios, sprechen natürlich
schlechthin von Tyrannis (Arist. a. O.).
14 Dres: Über die Berliner Fragmente
Gewöhnlich bezieht man dies auf Erfahrungen, welche die Tyrannis des
Peisistratos an die Hand gegeben hatte. Aber wenn hier eine bestimmte
Persönlichkeit geschildert werden soll, so kann unmöglich Peisistratos ge-
meint sein. Solon hatte sich auffallend mild über ihn ausgesprochen, ja
er hatte geäufsert, wie Plutarch offenbar nach seinen Gedichten berichtet,
wenn man von der Herrschsucht des Mannes absähe, gäbe es keinen tüch-
tigeren und trefflicheren Bürger als ihn!. Es ist also zu erwägen, ob
die Schilderung des habgierigen, ephemeren Tyrannen nicht auf Damasias
zielen soll, der den kurzen Rausch seiner Usurpation mit Verbannung und
wohl auch Vermögensverlust gebülst hatte. Die Gedichte Solons selbst
zeigen uns, wie es ja in der Natur der Sache lag, dafs diese grolse Re-
form, die in so viele politische und sociale Verhältnisse scharf einge-
schnitten hatte, nicht in der Weise glatt durchgeführt werden konnte, wie
sich das die Rhetorik des vierten Jahrhunderts vorzustellen pflest. Die
Uneinigkeit dauert fort, zu den alten Conflieten kommen neue, vor allem
aber bildet das Archontat, das noch immer die wirkliche Regierung
darstellt, den Zankapfel und den Machtmesser der Parteien. So konnte
die Bedeutung dieser Behörde und speciell die Stellung des ersten Archon,
die nicht mit der Bedeutungslosigkeit desselben in der Demokratie ver-
glichen werden kann, wohl zu Staatsstreichen verlocken. Die Tyrannis,
die Solon nur mit Mühe von sich abwandte, indem er nicht sich, sondern
seinen Verwandten Dropides für das folgende Amtsjahr wählen liefs, hat
Damasias acht Jahre später sich wirklich angemalst, indem er zwei Jahre
hinter einander (Ol. 48, 3.4) regierte. Somit reiht sich dieser freilich wenig
erfolgreiche Versuch des Damasias sehr wohl in die Kette gewaltsamer Usur-
pationen ein, wie sie in dem Kylonischen Aufstande und der Peisistra-
tidenherrschaft in ihren besonders hervorragenden Momenten überliefert
worden ist. Von diesem Standpunkte aus betrachtet erscheint das Solo-
nische Archontat nicht wie ein Abschlufs, sondern nur wie ein kurzer
Stillstand in dem gewaltig hin- und herwogenden Parteikampfe.
x 2 x NZELS: ’ e) > \ \ 3 x
1 Plut. Solon e. 29 6 de Zoruv rayı 70 7905 Ebwgasev auro) zur nV erıBovrsv
m > m > \ Sep) > 3) 53 “ \ Ss m \ x SEN, H.
meWros Eyrareidev, oU ugv Euionaev AAN Ersipero morÜvew zu vouSereiw zaı Moos aurov Ereye
\ NEE, & v 2£) \ ’ 3 ee = En
za mpos Ersgous ws, zı TıS EGeAoı To drAompurov auToü ns Wuxns za zyv EriDupev Iaaıro
n 7 > 2 7. > 7 x > \ EINS el: 7
ans Tugavvidos, our ErrIv aAAoS EUDVERTELOS mEOS gern oude Berrımv morıTYS.
der "ASyvalwv moAıreia des Aristoteles. 15
Gern möchte man auch diese Parteischiebungen genauer verfolgen
können und namentlich wichtig wäre es zu wissen, wer den Damasias auf
den Schild erhoben hat. Der Papyrus bricht unglücklicher Weise gerade
an der entscheidenden Stelle ab. Z. 4 uera de raura dia TÜV .nnennneen.
.... Aanasias aigeSeis apyav. Ja nicht einmal rwv ist sicher überliefert.
Blafs las Toın und diese Lesung lälst sich den verwitterten Zügen ebenso
gut entnehmen als TwN, das man später gelesen hat. Auch sprachlich
würde der Dual bei Aristoteles unanstöfsig sein, namentlich wenn dueiv
dazu gesetzt würde!. Man hätte unter diesen beiden &9vy mit Bergk
die Geomoren und Demiursen, also das niedere Volk im Gegensatz
zum eupatridischen Adel zu verstehen. Diese Ergänzung empfiehlt sich
auch dadurch von vorn herein vor dem von anderer Seite vorge-
schlagenen di ray eümargıdwv, weil die Tyrannis sich insgemein auf die
Menge stützt, wie Aristoteles öfter ausführt? und in der Natur dieser
Parteikämpfe der Demokratie gegen die Oligarchie begründet ist. Auch
widerspricht nicht die Stellung, die Solon selbst einnahm. Die Nach-
richt Plutarchs, dafs ihm die Tyrannıs von beiden Seiten angeboten wor-
den sei, ist ein Mifsverständnis®. Dafs sein Reformwerk nur unter Zu-
stimmung beider gegenüberstehender Parteien gelingen konnte, ist ebenso
selbstverständlich, als dafs die Anregung dazu von den Plebejern ausgehen
mulste. Daher bezeichnet auch Plutarch an einer späteren Stelle diese
deutlich als seine Wähler. Speciell bei emer Tyrannis konnte nur die
Plebs interessiert sein, die in einem solchen Haupte der herrschsüchtigen
Adelspartei ein wirksames Gegengewicht entgegenzustellen vermeinte. Ver-
1 Val. z.B. Pol. E 1, 13010 33.
, \ n > \ er ’ N
2 Pol. E 5, 1305a 21 #«vres de rouro Edowv Uno roÜ Onmov mısreuSevreg, 7 de
& CU OBEN), [3 \ x 7 © > SS,’ 7 7 ’ \
mıoTıs nv y ameyDsıa 7 moos vous mAousious orov "AQyuysı re Isioissonros aranıdsas Moos
\ 7
zoüs mediezous. Vgl. E10, 13105 14.
’ N x ’ En U 7 7
3 Plut. c. 14 Asyeraı de zar bwwn Tıs alrou megubegonevn mooregov eimovros ws 70
/ 7. n \ m m ’ \ m A m \ £) x 57
irov moASIV 0U mare zu: Tols ArnuaTızois ageszew zur TOlS Mrrmnonı TuV Wev dbig za agern,
m ds ’ \ > Q n 1) IE ö ’ IQ SEES > IS 7 e U
zav de nergw zu aaıDuW To imov Ebeiw moordoruivrwv. 0Iev Em EAmibog MEyRANS Eraregwv YE-
’ . ’ ’ 67 ’ Y 67 x L
vonevuv 0: mooLoTamevor moonzrswro ru NoAuvıe Tupavvidae MooSsvoüvres zu dvamsıSovres
> ’ Hl Q - ’ > m ,
euroAnorepov alaoar TN3 moleugs Eyzgarn Yevonevor.
EN b Re, Y , BER \ DD ,
4 C.15 oVde naRAazWns VO Umelzuv rois Ouvalevorg oUde meos ndornv Tuv EAomevwv
El \
EIero Fous voWoug.
16 Dies: Über die Berliner Fragmente
muthlich hat man so auch eine Stelle seiner Jamben zu verstehen, die
bisher nicht immer richtig gedeutet worden ist (Fr. 36, 16):
Iernov 0’ ömoiws TU nurnl TE nayayı
euSelav eis Eranrov dpmenas diamv
eypala. HEVTOoV Ö° @Aros Ws &yw Aadwv
nanebgad4s TE al bılorryawv ang
coÜr dv nareoye OMWov.
Statt &uov verlangt man Sunev oder gar gekünstelt AAu’ ov, während gar
nicht von der Selbstbeherrschung, sondern der Zügelung des weiter trei-
benden Volkes die Rede ist. Ein eigennütziger Mann hätte dem Drängen
des Volkes zum Ergreifen der Tyrannıs keinen Widerstand entgegengesetzt.
So nur allein ist auch das xevrgcv zu verstehen. Oder glaubt man, dafs
er den Stachelstock gegen sich selbst zur Anwendung bringen sollte?
Spielt also Solon mit diesen Jamben auf denselben Vorgang an, den er
in den oben (8. 13) angeführten Trochäen Fragm. 32. 33 im Sinne hat,
so wäre damit angedeutet, dals auch Damasias, wie das Solon angesonnen
wurde, durch die beiden unteren Stände seine illesitime Herrschaft zu
stützen suchte. Ich halte daher die Ergänzung di« roiv duciv &9volv (dıa rwv
övo &9var) dem Sinne nach für richtig, wenn auch die Lücke durch diese
Worte noch nicht genügend ausgefüllt wird.
Eine solche Ergänzung wird auch durch das nahe gelest, was in den
fast völlig verblichenen Schriftzügen Z. 2 ff. zu entziffern war. Das Wort
vor dıa raum Z. 3 ergibt soviel sichere Elemente, dafs schwerlich etwas
anderes als ekatfepjw gelesen werden kann. Da in der vorhergehenden
Zeile aOX,EvTaS sicher erhalten ist, so handelt es sich auch hier um die
Archontenwahl und vermuthlich um eben diese Machteonfliete der drei
Stände, von denen zwei besonders erwähnt werden. Ist nun das vor-
hergehende Wort, wie die leider nur sehr schwachen Spuren andeuten,
idıav, so wäre also von der eigenen Vertretung die Rede, die in Folge die-
ser Streitigkeiten (oder der Solonischen Verfassung?) nunmehr die beiden
niederen Stände zugebillist erhielten. Und zwar deutet auf einen gewissen
öleichmäfsigen Modus der Vertheilung der neun Stellen das vor «pxevras
Z.2 schwach erkennbare xar’ @£iav hin. Blafs hatte nur £.« gelesen und
da er im Folgenden nur AOXovra, nicht dowovras gesehen hatte, so war er auf
Eryxias gekommen, den letzten der zehnjährigen Archonten, eine Vermu-
der "ASyvawv rorırsia des Aristoteles. Ir
thung, die bei einer genaueren Prüfung der erhaltenen Spuren sich als
absolut unmöglich herausgestellt hat. Sie hat leider ihrem Urheber das
richtige Verständnis auch der ganzen folgenden Stelle verschlossen. In
zart’ aglav, das ich vor apxovras erkannt zu haben glaube, sehe ich einen
ächt aristotelischen Terminus, der gern von der gleichen Vertheilung der
@ox,aı gebraucht wird. Aristoteles setzt an mehreren Stellen seiner Politik den
Unterschied zwischen numerischer (quantitativer) und proportionaler (qua-
litativer) irorns auseinander. Demokratisches Prineip ist in dieser Termi-
nologie To Inov Exsiv zart’ agı I aov arra un zar agiav (22. 13175 3). Die
Quelle der oraseıs ist das Bestreben, das irov herzustellen: Aus yag ro
irov Curouvres oranıdlovow. Earı d& Örrov 70 inev. TO uw yap agıyuw, ro di
zar dEiav Eoriv- Acyw de agıSuw nv 70 mAyde N Meyete TaUTo Hal icov,
„ar dgiav Ö& To Tu Aoyw (E 1. 13015 28). Es ist wohlverständlich, dafs
Aristoteles auch in seiner roAırei« "ASyvarwv diesen wichtigen Unterschied
aristokratischer und demokratischer Verfassung ausdrücklich hervorgehoben
hat. Selbst das Compromils, das nach den Unruhen des Damasias ver-
einbart worden ist, entspricht noch durchaus nicht der demokratischen
irorns, da die Eupatriden vier Stimmen, die Apoiken drei und die De-
miurgen zwei Stimmen erhalten. Ein deutlicher Nachklang dieser aristo-
telischen Terminologie hat sich auch in der oben angeführten peripateti-
schen Erörterung Plutarchs über die Parteiverhältnisse zu Solons Zeit
erhalten !.
Leider gelinst es mir nicht, den Zusammenhang der vier ersten
Zeilen herzustellen, zumal mir die Deutung der Zeichen Z. 4 TTo..eıan
nicht geglückt ist?. Die Herstellung des folgenden Satzes Z. 6 ff. war
bisher daran gescheitert, dafs man am Schlusse statt ere vielmehr era
gelesen hatte. So war ErayOn de aürcis oder Erafavro d’ drroi oder eiarav
1 Siehe oben 8. 53: zw» mev aEie zaL agerN, ruv Ö8 Herou zaL REST To Irov
&Esıw moordozwvrw. Unter dem Peripatetiker verstehe ich nicht Hermippos, dem ja Plu-
tarch einen grolsen Theil seiner Vita verdankt (denn dies ist ein blofser Sammler), son-
dern seine älteren peripatetischen Quellen, unter denen Phanias genannt wird. S. S. 20, 6.
2 Die Lesungen @roıziav, Emoiyrev, morırsiev sind absolut ausgeschlossen. Der
Buchstabe nach © scheint eher ein K als ein | zu sein. Statt des € ist KCX nicht un-
denkbar, doch mülste man dann den oberen Bogen des Buchstabens als nicht zugehörig
betrachten.
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 3
15 Drexns: Über die Berliner Fragmente
ö’ arraı (sollte heilsen ci @orei!) versucht worden, Lesungen, die selbst
grammatisch anstölsig sind. Das ayrto Z. 7 ist sicher bis auf das v, das
aber auf keinen Fall ein c sein kann. Die Herstellung «ureis, welches eine
gewöhnlichere Construction von yıyvesSaıl herzustellen ermöglichte, schien
mir anfangs wie Blals am meisten den Spuren zu entsprechen. Doch
ergab sich mir bei genauerer Untersuchung, dafs der nach o sichtbare
Ansatz des folgenden Buchstabens eher auf NAAZTT als auf ı palst.
So möchte ich die freilich sehr unsichere Lesung vorschlagen Eoyevero de
Her’ aurov dia To orasınlew agyevras u. s. w. Die Macht der neun Archon-
ten, die während der gewaltsamen Herrschaft des Damasias gewils un-
gleichmäfsig vertheilt und zudem wegen der Präponderanz des &oywv
schattenhaft geworden war?, wird nun gleichmäfsiger auf alle drei Stände
vertheilt. Die Art, wie dies geschieht, ist die Folge des rranıcdew; der
Antheil, den bei der Theilung jeder der drei Stände davon trägt, ver-
räth die Stärke der Parteien: @pxovras XerIuı ... rerragas nv eumargıdw,
rgels de dmoinwv, Ovo de [xa1?] dymieveyav. Ist die Vermuthung erlaubt, dafs die
schwächste Partei bei der Austreibung des Damasias unterlegen ist, so
wäre damit bewiesen, dafs Damasias durch die plebejischen Demiurgen
seine Macht erlangt hätte, da diese die geringste Anzahl Archonten durch-
setzen, und dafs er durch die Eupatriden gestürzt worden wäre, wie oben
angenommen wurde. Aber es lassen sich ja auch andere Gründe der
vereinbarten Vertheilung denken, namentlich das Nachwirken der histori-
schen Machtstellung der drei Parteien®. Der angeführte Satz des Frag-
mentes &yevero — Önovpyav scheint nicht vollständig überliefert zu sein.
Das früher erwähnte Zeichen vor eXeceaı muls auf einen Ausfall hin-
deuten. Über diesem Worte nämlich bis in den freien Raum hinein
1 Ich führe ein Paar Xenophontische Beispiele an: Anab. I 9, 13 &v en Kugov aoxn
Eyevero zu: "EAAyvı zur Barßaou umdev &dızoüvrı adewc mogeVeoIau. Cyrop. VIIL 1, 15 zw Kyaw
Eyevero OAryors ÖraAzyorzvm umdev av olzelwv drnneryrws Eyysw. VI 3,11 Außer nor yevorro aurov.
Absolut V 2, 12 eugovraı mäsı Seois, yeverSon mors EmweisacQcı.. Oecon. 17, 3 & 6 Seos
ddaszeı oUrw yıyvera ömovoeiv. Aus Aristoteles kann ich die Construction nicht belegen.
2 Man hat keinen Grund anzunehmen, Damasias habe ohne suvagyovres ge-
herrscht, aber natürlich waren sie der Mehrzahl nach gewils Delegierte seiner Partei.
3 Es wäre ja auch möglich, dafs die Demiurgen trotz ihres durch die Verfassung
verbrieften Rechtes vor Damasias gar keinen Candidaten durchsetzen konnten. Dann be-
deutete allerdings die Bewilligung von zwei Vertretern einen politischen Erfolg.
der "AIyyalwv mworıresia des Aristoteles. 19
scheinen mehrere Worte nachgetragen zu sein, von denen noch sehr
schwache Spuren erkennbar sind. Der erste Buchstabe scheint ein e zu
sein (evvea oder &x zavrwv?), aber es ist nichts irgend sicheres mehr zu
ermitteln. Die Zusatzbemerkung za ourcı rev uer« Aauariav NoEav Eviaurev
ist in dieser Form ziemlich nichtssagend!. Vielleicht ist in der vor &viaurev
erscheinenden Lücke irgend eine adverbielle Bestimmung zu 19av ausge-
fallen. Mit dem folgenden Satze © zal OMAov en nEeyIornv duvanıv [exe]v
[eurn rau] @ox@v, in welchem das deutlich erhaltene ö seltsam verlesen
worden ist, kann sich der Verfasser nicht blos auf den letzten Satz be-
ziehen wollen. Vielmehr will er zusammenfassend die Bedeutung dieser
Parteikämpfe dahin erläutern, dafs das Archontat damals noch das sum-
mum imperium bedeutete und somit ganz natürlich den Zankapfel der
Parteien darstellte. Diese Auffassung mulste ja der späteren Demokratie
sanz fern liegen und daher hält es auch Thukydides nicht für überflüs-
sig, bei Gelegenheit des Kylonischen Aufstandes zu bemerken: rore r«
OA TOV moALTıRWV ol Evvew EOy,ovTEs EmDaTCeV. Früher las man drı neyirruv
dvvanır [eigev ©] aexwv; an dem Singular hat Blafs mit Recht Anstofs ge-
nommen. Ich ergänze daher, zugleich dem gröfseren Spatium Rechnung
tragend, orı HEyIoTnVv Öuvanıv eiy,ev au Toy dax,av?. Als Commentar zu der
ganzen Stelle kann die Ausführung der Politik gelten E 4. 13504a 33 xzai
eAws on de Touro an AavSavsıy, Ws ol duvanews alrıcı YEVOLEVOL, za ldıwrar xal
aoxyai za buAal mal Aus Megos zal Ömouovouv mANIos, Oranıy nıwovow. 7 yap
ci Touran bIovouvres TIUWMEVOLS Ay our 775 OrTareus N ovra did Tuv Ümegox,mv
00 Serousı eve Em Tav ıTwv.
Mit oAws de diererevv Z. 12 geht Aristoteles zu den folgenden Ver-
fassungskämpfen über. Sie sind ganz ähnlicher Natur wie die bisherigen,
aber andere Personen, andere Parteibildungen treten in den Vordergrund.
Der Gegensatz zwischen Arm und Reich bleibt, aber die ständische Glie-
derung wird durch eine geographische abgelöst. Die Paralier, Diakrier,
Pedieer treten gegen einander auf und ringen um die Herrschaft. Plu-
! Die Annahme, dieses Compromils habe nur ein Jahr gedauert, widerlegt der
Zusammenhang.
2 Mit der Form des Satzes vgl. Pol. Z 8. 13215 40 nera& de raus Eygouzım Ev,
dvayzaorarn de ycdov za KErEmUTaTN To aay,av eorw fi men: Tas meacsıs FaV Zaradt-
zus Svrwv.
3
20 Driens: Über die Berliner Fragmente
tarch erzählt uns von diesen Parteinahmen in der Biographie Solons an
zwei Stellen!. Einmal unmittelbar vor der solonischen Verfassung, das
andere Mal? unmittelbar vor der Erhebung des Peisistratos. Man wird
wohl die erste Erwähnung als Dittographie betrachten dürfen, die Plu-
tarch bei unvorsichtiger Benutzung seiner Quellen in Folge der traurigen
chronologischen Verwirrung der solonischen Lebensverhältnisse leicht unter-
laufen konnte. Im Grunde gehen wohl beide Berichte mit der ähnlichen
Charakteristik der Diakrier auf eine von der ’ASyvalwv orırea« abhängige
Urquelle zurück. Der Hauptgrund, diese Parteiorganisation der vorsolo-
nischen Zeit abzusprechen, liest darin, dafs Herodot I 59 erst dem Peisi-
stratos die Bildung der dritten Partei zuschreibt: narahgovyous Fuv Fugav-
vida Ayaıge rei oreow. Da nun die Ähnlichkeit der zweiten Plutarch-
stelle mit dem Aristotelesfragment (Z. 17 ff.) evident ist, so hat man auch
hier mit Recht an die Gährung vor der Tyrannis des Peisistratos ge-
dacht. Dann ist alles im besten Zusammenhange.
Im Einzelnen ist sofort klar, dafs Z. 12 hinter mPoc nicht ein
blofses Substantivum ausgefallen sein kann. Die Ergänzungen diereAcuv
Ta mg0 ZeAwvos oder ra m900.9EV ern oder 7« mocs srarıy sind ungriechisch.
Die von Blafs vorgeschlagene Lesung dier&Acuv ra 900.Iev morclvres ist we-
nigstens sprachlich möglich. Aber das Verbum ist zu farblos. Der Sinn
ist klar: sie setzten ihre alten Zwistigkeiten auch noch nach der Soloni-
schen Reform fort. Die Ergänzung ist nicht sicher zu treffen, etwa cAws
de diereAouv Ta moca.Tev Egigovres (diegicovrec)®.
Die verschiedenen Gründe zum neuen Hader setzt Aristoteles im
Folgenden auseinander. Der kleine Adel beklagt sich über den socialen
und politischen Umschwung, den die Reform des Solon verschuldet hatte.
e 29, m > 7 J n x \ 5
1 0.13 ci 8° ’ASyvaioı ns Kurwvsiou meraunzvns FROayAs ... Fyv maAaıcv auSıs
, GEN x , E DD 5 \ \ \ n D ’ EN 7
STaTıv vmed 775 TOALTELES ETTATIRSOV v2. TV Yag To MEV TWv dtazgımv Yzvos ÖNIORLEFIZUITEFOV,
> ’ Ss \ n 8 I 2 Sn c , ’ \ \ J2 [3 ’
ON YAOYLAITaTOV € To TWVv TEOLIEWV, Forzot o: TagaAoı JMEFOV TIva Aa MEIMJISEVOU R:IOU AEVOL
7 ’
MONFELGS FOomoV.
o Wa 9 7 > N > Rn 2 \ ’
2 0.29 o 0’ &v asreı mar Earasındov amoonkolvros rol Norwvos. zai mooesSTyREL
S \ r N) \ IR [Sr ’ N =
zuv EV medısnv Avzougyos, av d8E maparmv Meyazins 0 Arzuamwos, Ilesıszoaros de Wv
N ’ &) © ou ec Ss \ El \ 7 6 4 > Q 7
eezpIwv, EV 015 NV 0 IYTIHoS 0Y,Aos Au MaÄıSTE Tois mAOUTLOLS EY,DOlMeEvos.
>
® Eine Zeit lang glaubte ich ganz schwach ein © nach TIPOC zu erkennen, was
auf Bergk’s s@ #20 ZorAuvos führen würde, aber es ist kein Verlals darauf.
der ’ASyvawv morırsia des Aristoteles. Dal!
Das Archontat wie die übrigen hohen Ämter hatte ihnen vor Solon offen
gestanden, ohne dafs umfangreicher Grundbesitz die Bedingung zur Be-
werbung bildete. Der heruntergekommene Edelmann konnte immer noch
eine politische Rolle spielen. Das hörte mit der Timokratie auf. Ein
zweiter Grund war, dafs der Schuldenerlafs Solons gerade diese ner To-
Ara, geschädigt hatte. Solon selbst, der zu dieser Klasse gehörte, hatte
Handel treiben müssen und so war wohl überhaupt in diesen Kreisen die
Capitalwirthschaft vorherrschend, die bei der Entwerthung der Ausstände
durch die Solonischen tabulae novae schwerer getroffen werden mulste
als der altgefestigte Grundbesitz. Wenigstens ist dies die Auffassung un-
seres Fragmentes, in dem jene Partei ihre Verarmung auf die Seisachthie
zurückführt, ruveße@yxe yao adreois yeverSaı ... al mevmew. Der Verfasser
dieser Stelle hat sich also schwerlich unter der Seisachthie etwas anderes
vorgestellt als die meisten alten Autoren, nämlich eine vollständige Auf-
hebung der Schulden, wofür ja auch die buchstäbliche Auslegung der
Solonischen Verse (la 7 ff.) besonders sprechen mulste!.
Aber es ist nicht überliefert yeverSaı ... revmew, sondern vor
zevyciw ist zei, das bereits Blals richtig erkannt hatte, über jeden Zweifel
erhaben. Ich möchte daher vermuthen, da Amogaıs nach ysverSaı bedenk-
lich ist?, dals auch die Schädigung an politischem Einflufs ausgedrückt
war, welche dieser kleine Adel erlitten hatte: yeverSa rarsıvos nal
mEvNOLW.
Die zweite Klasse der Unzufriedenen, die Aristoteles hier unter-
scheidet, besteht wohl hauptsächlich aus dem hohen Adel mit grofsem
Grundbesitz, den eigentlich regierenden Geschlechtern. Es sind dieselben,
welche bereits Solon in seinen Gedichten als seine Gegner bezeichnet. Sie
werden hier allgemein charakterisiert oi de 7 Tora dunyegaivavres did
DO) U ’ ‚
70 (veweri ?) MEYyaryy Yeyovevar neraoryv.
t Von besonderem Gewichte zur Ermittelung der Aristotelischen Meinung scheint
auch mir das Excerpt des sogenannten Herakleides zu sein, dessen Abhängigkeit von der
Horıreie oft genug constatiert ist. Nur Bergk war es gestattet, dieses Zeugnis mit ge-
wohnter Kühnheit ins Gegentheil zu verkehren, Rhein. Mus. 36, 101.
? Man wird einen Hiat in eine populär gehaltene Schrift des Aristoteles nicht
ohne Noth einführen, wenn sich dieser freilich auch entschuldigen liefse.
[80)
[D>}
Dıens: Über die Berliner Fragmente
Als dritte Abtheilung erscheinen Einzelne, welche durch ehrgei-
zige Sonderbestrebungen Einflufs zu erlangen suchen: &vo nevzoı die zu
manaı mgös EAAmAous Bıroveiziav. Ich möchte darunter am ehesten die Alk-
mäoniden verstehen, die bereits im siebenten Jahrhundert, besonders zur
Zeit der Kylonischen Wirren, eine Sonderstellung einnehmen und zwischen
den Adligen alten Schlags und der immer dreister werdenden Volkspartei
eine Politik auf eigene Hand treiben. Es scheint, dafs die an der Küste
Angesiedelten, die auf Capitalbetrieb angewiesen nun durch die Solonische
Seisachthie sich beeinträchtigt glaubten, mit diesen ehrgeizigen Führern
des Alkmäoniden-Geschlechtes gemeinsame Sache gemacht haben. Die
oracıs rav mapaıiuv hat als Führer den Megakles, Alkmäons Sohn (Z. 18).
Diese Zwischenstellung der Paralier wird auch bei Plutarch hervorgehoben
mit den Worten (s. $. 20!) zgireı ö° ci magaAcı METoV ya nal MEHIYMEvoV Gi-
gounevaı moÄıreias Toomov Eurodwv Arav nal ÖlerwAvov Tous Eregouc AoarnFTan. Die
andere oben (S. 20?) erwähnte Plutarchstelle entspricht den aristotelischen
Fragmenten noch genauer, so dafs die Herstellung 7rav dt «i orassıs [aürwv
Tees, M nely zwv Tagarımv u. s. w. als wahrscheinlich gelten kann. Das
Folgende dagegen scheint sich einer einleuchtenden Ergänzung zu wider-
setzen, zumal der Name des Megakles, der in der Mitte von Z. 20 auf-
zutauchen scheint, keineswegs deutlich erhalten ist. Auch ist es zweifel-
haft, ob es duwzew zu irorıra oder etwa roüs rediazevs heilsen soll. Z. 21 ff.
scheint sich auf den %Aos rüv diazgiwv zu beziehen. Die Ergänzungen
iyavalarevv [us] Emo zaruv delrmorav neigonı nazois megimenovres?] schienen mir
den Spuren der fast völlig verschwundenen Schrift wenigstens nicht zu
widersprechen. Die socialen Reformen, die politische Umgestaltung, die
handelspolitischen Neuerungen (Münzreform) hatten das Elend des dritten
Standes nicht plötzlich ändern können. Die Leibeigenschaft war von
ihnen genommen, aber Verdienst war damit nicht über Nacht gekommen.
Die Erbitterung gegen die rAsvrıcı, die fort und fort alles an sich ris-
sen, mulste fortdauern. Das Gnadengeschenk der Seisachtheia hatte
nur die Begehrlichkeit der Armen gesteigert!, ohne ihnen dauernde Hülfe
EN u x ’ u m > s \ ’ E) 7 g J
1 Plutarch ec. 16 &rvmyss ... FoÜS meumras orı yys avadasudv our Emoiyaev EAmi-
I m
caTıv RUTOLS,
der "ASyvalwv morıreia des Aristoteles. 23
bringen zu können. So wählten sie sich einen Anwalt, der von neuem
gegen den mit dem Reichthum verbündeten Adel kämpfen sollte, Peisi-
stratos, dessen Namen jetzt Z. 23 am unteren Rande des Papyrus ziem-
lich deutlich erkennbar aufgetaucht ist. Das folgende Av d& dung, &s E...
(wenn so richtig gelesen ist) bildete wohl eine kurze Charakteristik dieser
Persönlichkeit, wie sie bei Plutarch steht (C. 29) BonSyrixes Av reis revneı
aaı moos Tas Ey, Ioas Emieinng nal Merglos ... ws eÜRaNs zul nompıos dvne. Das
letzte Wort, das glücklicherweise deutlich erhalten ist, xgea, zeigt, dafs die
Beseitigung des materiellen Elends auch jetzt noch die Hauptforderung
des dritten Standes bildete, dafs Peisistratos, der ‘Helfer der Armen’, hier
seinen Hebel einsetzte.
24 Dırus: Über die Berliner Fragmente
Ila.
N Zulle SEEN A9yalaıs - - =
= = 2. = = narleornge de zur Önmapy[eus -
\ DIN 7 > Ü m „
[Frv ale exovras] Erıuereiav Teis moo| FEegov =
[vauzpagcıs. zal yag] rolu]s duueus av[rı] av [vauzge-
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oe oe Tuv TR.aT.. dnNHL- - - -
PEN N oe
Der Anfang dieser Columne ist durch das von Bergk zuerst heran-
gezogene Aristotelesfragment sicher gestellt werden!. Das Folgende da-
1 ’ASyvalsv modrei« Fragm. 16 p. 419, Rose Arist. Pseud. (Fragm. 359 Ar.
\ \ \ E) , m ’
Acad. V p. 15385 34) Karsoryge mal Önoegy,ovs mv aurmv Eyovrag Emimersiav Tols mo Tegov
’ \ \ \ , DRN - 9 ,
VRVZIROLG. zer yaa Tous Önhous avTi TWV VRUZORQWV ETOMTE.
der "ASyvamwv morrreia des Aristoteles. 25
gegen läfst sich nicht zuverlässig ergänzen. Blafs vermuthet zgernyo-
gEUTE de Wu Öyuwv Tous Ev Emo TWv Tomuv, Toüs 0° dmo rwv oimıoavruv. Aber
der Möglichkeiten sind hier allzuviele. Auch das Z.7 Erhaltene ist mehr-
facher Deutung fähig. Vermuthlich will Aristoteles den grundlegenden
Unterschied klar machen zwischen der Demenverfassung des Kleisthenes
und der früheren Solonischen und vorsolonischen Geschlechterorganisation.
Kleisthenes hatte alle Athener in seine Demen aufgenommen und ihnen
dadurch ohne weiteres die Politie verliehen. Die früheren Geschlechts-
und Stammverbände verloren zwar ihre politische Bedeutung, sie bestan-
den aber in untergeordnetem Verhältnisse fort und behielten die sacral-
und privatrechtlichen Privilegien der Anchistie. Vielleicht war dieser Ge-
danke in dem Aristotelischen Bericht beispielsweise so ausgedrückt: [ereıdy
yagı] amavres Umnaxov Ev [rols Önuoıs, ümerafe (oder Ebnguore) Ta yevln zaı
Tas dgargias za, r|wv Yurıwv nerex,ew elanev] EHATTOUS Hard Ta ralreıa] 2.
In den folgenden Zeilen hat man wohl mit Recht einen Hinweis
auf die Benennung der zehn neuen Phylen erblickt. smuaivev ist dann
auf die Bestimmung des delphischen Orakels zu beziehen, das Kleisthe-
nes der Alkmäonide bei dieser Reform wohlweislich vorgeschoben hatte3.
Eine sichere Ergänzung erscheint mir unmöglich. Ich vermuthe etwa rwv
de BuAdv Ayenovas] nt Eruvuuous Er TaV [Evdogwv EAouevos ygwwv nal] Goxmye-
rav onuawew [epn röv Mu]. Für das Folgende hat die neue Lesung
Bergk’s Conjunctur [exar]ev de yerouevwv onluwv] bestätigt. Man dürfte
! Dies y&o bezöge sich dann auf ein vorhergehendes roüs Ö’ drd ru raraınv
evwv (Z. 6. 7), wie Ähnlich bereits Landwehr ereänzt.
2% ’ 5
. - . . &] \\ m
2 Das Letztere streitet nicht mit Arist. Pol. Z 4. 13195 19 !rı d2 za r& rawlre
’ G \ \ \ ’ \ ’ © Ss, > I > [?
u 5 \sıoS =
KATETAEVUROWATE Yoncına mgos mv Önmorgariav ryv rawuryv, ois KisıoSevng ve 'A9yunsıw Een
’ Fr N x x 5
caro ouAonsvos vera Fyv Önorgartv za megt Kvgyunv 0: rov Onmov zaIıcravres. pure
x 72 ’ 7 x ’ x \ 67 EINY) e m I 9) 32, x
TE YO ETEDL TOMTEect TTAELOUG aa Poargıaı Aa TREO TWV 2dımv LEDWU TUVRHTEOV EIS oAıya Aa
,} . .. .
zowe. Siehe R. Schöll Satura Sauppiana S. 172.
3 Pollux VIII 110 22 rowv dvouarwv ERonivov zod HvSiov. Paus. X 10,1 2
! 9
N‘ = ’ u © x n
de To now) ARAOUMEUWV "Egexy,Seus ... 00r0r ev zar (buAais ASYvnsw dvenare ZEr& wov-
7 m n El 23 m
reuna Edocev ro 22 AsAdbav. Etym. M. 369, 10 amopovvruv yao aUrWv ovoua Tas dbuAdis
’ [7 Ya !
’ Er E} , n n N ©
IerIaı amo rov Evdogoraerun Folro man ... 0 08 dena ap wv ai purer Moos yyogev.Sy-
© m \ Ü ’ _ ed e
Tav olov "Egey,Sevs 2... TaUrE de ra dere Ovonara mo ö 5 IuSıos eidero, KisıoStvous oürw
\ ’ m n
dıaraganevov 70 mav mn Dog eis Öera buAdc.
{
* Das H (nicht N) ist sicher. Eine andere Deutung dieses Restes als 7 ist nach
S. 21? nicht gerathen.
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 4
26 Drews: Über die Berliner Fragmente
vielleicht jetzt aufhören an der Hundertdemenverfassung des Kleisthenes
zu rütteln!. Das Weitere zu ergänzen ist mir nicht gelungen. Vermuth-
lich war von der Einrichtung der Bule die Rede, von dem Ausschufs
der präsidierenden Phyle (Z. 17 revraxovra), von den Gerechtsamen des
Raths (Z. 18 zugiav), vom Buleuteneid (Z. 20 z&v ©gxev), von der finan-
ziellen Aufsicht des Raths (Z. 22 ras evrn]zcoras? eolop|ev), von Wahlen
(Z. 23 pulans exaor[ns]?). Es wäre ganz passend, wenn Aristoteles den
demokratischen Verwaltungs-Schematismus gleich bei Gelegenheit der Klei-
sthenischen Neuordnung ausführlicher erörtert hätte. Soviel wissen wir
wenigstens aus den Fragmenten, dafs in der ’ASyvaiuv moArrei« die einzel-
nen Magistrate mit grofser Ausführlichkeit behandelt worden waren.
1 Die Herodotstelle V 69 dez« re d% Purcayous avrı Tesatawv Emolmssv, Öse de
za rolg Ömmous zarzvenev &5 res (PuAcs ist noch nicht in Ordnung. Der Gewaltstreich
von Madvig u. A. d2z« de zu tilgen, richtet sich durch den Zusammenhang. Aber zu
purcs kann ze nicht gezogen werden, es ist vielmehr (zer«) ögz« oder ein äquivalen-
ter Ausdruck herzustellen.
2 Böckh Staatshaush. d. Athener I, 425 (I? 382). Wir wissen nur von einer
wevryzoorn, aber es können wohl mehr gewesen sein. Ähnlich pluralisch Aristoph. Wesp.
658 zu. rag words irarosres. Z. 24 ist schwerlich InEieoyızd zu ergänzen. Denn ab-
gesehen von dem verzeihlichen Fehler € statt H, der auch Ia 11 wiederzukehren scheint,
ist der Raum zwischen € und X!I(?) kaum ausreichend. Auch erwartet man nicht die
Function des Demarchen hier erörtert zu finden.
der "'ASyvaiwv morıreıa des Aristoteles. 97
1Ib.
bamaleeuai nenne enden ae
Yap "Immagyos oo = neue nl:
u... deos Em) apyovros "EElnreoridou
"2... Xovr... zarabulole - - -
FOREN 7
5 2... Erwv Aauwv a Re Be EN OL
Tov Ev Tols TroOTEgoV lpovais
wjorgario Sn Meyarıns DE NER Nee
. Sev. "Emi uev o0v "Eänn[erridou rous Tuv rugav-
vav] Binous Wargameoy - - = = = = =. -
10 .... Hera de aura ray AlvrımoArrsvouevw - - -
orav] rıs dn oxn new [oluieuw - - - - al
meu]ros WorgaxisIn Fuv [rouourwv "Agınreiöns, N
6% Del \ \
ira] ZavSımmes. Ina yapı=z 3 == ==. =
Alla EUr® UNTEN. Ka Sn ee
15 Ta uerjarra ra & Magwag@ - - - - - - -
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nlearnuev[o]s erar[ov - - - - - - = >
.ovewy molüle auvmro - - - = - 1-00 =
76 da|yugıov a[n] Haveiyun - - - - - - -
En Xen naraon[evagew - - - - = = -
20 .. nelrandsvolulevas Er[arcv
c lt ’
. Aov ERAOTTW ra|Aavrov
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[0] avaruua ns v -
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2.05 un nouisarlar Ta
davsıranevwv 1a aaa Nee
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[S%1
Eromcrav Tomgeıs En|arov
N u zaV. EDEN U N EN
Der Zusammenhang dieser Seite ist im Ganzen jetzt besser erkenn-
bar geworden. Aristoteles spricht vom Ostrakismos des Kleisthenes. Er
unterscheidet zwei Phasen der Entwickelung dieser Institution. Zunächst
herrschte die Angst vor der Restauration der Peisistratidenherrschaft. Da-
4*
25 Diens: Über die Berliner Fragmente
her traf Verwandte und Freunde des Hippias und Hipparch der Auswei-
sungsbefehl. Dann aber wurde der Ostrakismos zu einer regelmälsigen
Einrichtung, welche alle die traf, die durch hervorragende Macht dem
demokratischen Gleichgewicht gefährlich zu werden drohten. Bereits Blafs
hatte Z.2 Hipparch erkannt und zweifelnd an den Sohn des Charmos
gedacht, den auch Androtion als den ersten nennt, den das Scherben-
gericht getroffen!. Dies scheint mir ganz zweifellos: ein näherer Zu-
satz zu den Namen ist in diesen Fragmenten gewöhnlich unterblieben;
einer Verwechselung mit dem Tyrannen mufste der Zusammenhang vor-
beugen. Wenn etwa im Vorhergehenden gesagt war [rovs Pireus ra) auy-
YEvEis TWV Heisırrgarıdav EEeßadcv 79 orrga num, [ws EmiGovAevovras rn moAL-
rei, so konnte ohne Furcht des Milsverständnisses fortgefahren werden
mewros] yag "Irwapx,os eugi|azeraı duyadeudsis Oi Exeivo To] deos Er’ aOX,ouros
"Eölnzerridev. Der Ausdruck di &xeivo 70 deos entspräche dann den Worten
da ryv Umoiav ray megi Meisiorgarov des Androtion. Evgirzereu, nämlich bei
den Atthidenschreibern. Den Archonten Exekestides glaube ich mit eini-
ger Wahrscheinlichkeit ergänzen zu können, nicht sowohl nach den Spu-
ren dieser Zeile, die allerdings am schicklichsten ez gedeutet werden, als
vielmehr nach den Z. 8 erscheinenden Namensresten ezuK, die freilich
auch nicht ganz sicher sind. Aber sicher ist, dafs auch dieser Name
einen Archonten bedeutet und höchst wahrscheinlich, dals es derselbe
ist wie der oben genannte?. Denn juev cuv zeigt, dafs der Schriftsteller
nach einer Abschweifung die mit Hipparch begonnene Liste der Tyran-
1 Harpoer. u. d. W. ’Irzagyos. Meg: roVrov [nämlich den Sohn des Charmos]
’Avdaorıwv Ev #7 ß lv Grı gusysevns mv Av Heisısroarov TOD Tupevvov za maWros EEweroa-
gorımv Ev m new orı auyyeuns N er) e Aa MOWEOS && eg
[a - \ x > x ’ er ’ = x 7
2109 TOoU MEgE TOov OTTIRRITLOV voRov TOoTE TOWFOV TEIEVTOG de an iroltav TWV mEdt Ileıs:-
I: & N x EN R \ = BAR (\ 2_ /) ne Pl t Ni 11 Ban dr Di A
OTIKToV oT OnaywWyos WVv za GFORTN Jos ETVDRVUNTEV. ut. NIC. C. TOwros TFTRIN,OS
ö KoAagyeus SUyYyEvnS TIS wv ToU FUgavvov.
2 Der Name ’E&yzesriörs ist in Athen gewöhnlich. Aufser bei Solons Vater
erscheint er öfter in den Inschriften. Man wird dieses Archontat, welches den Anfang
des Ostrakismos bedeutet, möglichst nahe an die Reform des Kleisthenes heranrücken
müssen, vielleicht 507. Denn 496 erscheint Hipparch selber auf der Archontenliste, de-
ren Namen von da an bis 488 bekannt sind. Anders Duncker 6, 596. Aber vgl. Lexic.
Cantabr. p. 675, 12 Porson. ed. Meier p. XIXf. BiAoy.0a0s erriSerar Tov OTrgazıa cv ev
Hy yacbwv OÜTW ... lovag de “Yrreoßoros dıe ll. dozer] eEorrgazıoTyvar dee Roy, Sngicev
TeonwV, ou dr Urorbıav Fuopavvidos, nEr@ de rourov zarsAuSn 70 8 Sog aoEcsvov vonoSery-
’ 2 x „ ’ 2 7 x \ J > u
oavros KAsınSevoug, core ToUs Fugavvous KRRTEAUCEV, OTWG suver@aAAn za ToUs DiAous aUrWv.
der "AIyvalwv morıresia des Aristoteles. 29
nenfreunde (Z. 9 &iAeus daroaaıgov) abschliefsen will, um zur zweiten Ab-
theilung überzugehen. Es scheinen nämlich aufser Hipparch auch noch
andere Anhänger der alten Regierung verbannt worden zu sein. Darauf
beziehe ich das Z. 4 ff. Erhaltene, das sich freilich einer irgend sicheren
Herstellung entzieht, zumal die wenigen Buchstaben nur mit der grölsten
Mühe erkennbar sind. Es scheint, dafs man ein Einverständnis mit dem
verbannten Hippias entdeckt hatte, etwa [z«l «ara d& reür’ Emar)yev r[ore?]
»arapuleje[Sevres, nämlich Emı@evAsvovres, was aus dem Zusammenhange
zu entnehmen wart.
Z.5 erscheint Asuwv. Bereits Bergk hatte den Namen dieses mu-
sikalischen Politikers unter der Liste der Ostrakisierten vermifst?. Frei-
lich suchte er ihn an einer anderen Stelle, und da er die chronologischen
Schwierigkeiten nicht verkannte, die es macht, den Zeitgenossen des Pe-
rikles hier unter die ersten Opfer des Ostrakismos einzureihen, so liefs
er seine Vermuthung wieder fallen. Jetzt, wo der Papyrus Z.5 völlig
deutlich jenen Namen erkennen lälst®, gelingt es leicht diese chronologi-
sche Schwierigkeit zu beseitigen. Die folgende Epanalepse &ri uev oüv so-
wie das in Z. 6 erscheinende &v reis moeregov govcıs gestattet die Vermu-
thung, dals er den Damon als ein bekanntes Beispiel des athenischen
Tyrannenhasses aus späterer Zeit den ersten Ostrakismen an die Seite
stellen wollte. Lautete etwa das Ganze so za di@a woAMav] Erwv Aauwv
[BıAorupavvos eivar denuv nara] 70 Ev Tois moorepov xlovois rgomov ... W]orga-
zn? Man hätte dann allerdings auf die bei Plutarch überlieferte ®1Ao-
rugavvie des Damon einen besondern Nachdruck zu legen. In Verbindung
mit ihm erscheint auch ein Megakles, doch wohl ebenfalls als Verbannter
und ®iAorugavvos. Wir haben unter ihm vermuthlich den Sohn des Klei-
sthenes, den Grofsvater des Alkibiades mütterlicherseits zu verstehen, der
1 Vgl. Pol. E5.1303a 34 ci &moızoı Emıßoursvovres dwonYevres 2Eemesov. Thuc.
1, 82 Erı@oursvcvres zarabwocv.
2 Plut. Per. 4 Aauw ... ws neyarorgeyamv zu dıAorugavvos ZEworgamieSn zu
mager y,s ToIs ZWWLROLG dueraunv. Arist. 1. Nic. 6.
3 A, UWN hatte ich bereits früher als sicher festgestellt. Ich vermilste aber
zwischen A und AU zwei Buchstaben. Der Firnils hat ein ganz deutliches, ungewöhnlich
grolses & nach A zum Vorschein gebracht, ein weiterer Beweis für die Ungleichheit der
Schrift, die jedes sichere Ergänzen der Lücken unmöglich macht.
30 Dıiens: Über die Berliner Fragmente
nach Lys. 14, 39 zweimal ostrakisiert (richtiger einmal vertrieben und ein-
mal durch Ostrakismos verbannt) worden war. Die Herstellung des Über-
lieferten ist aussichtslos, da wir nicht blos die Worte, sondern auch die
Geschichte zu erfinden hätten !.
Mit Em nv ouv ’E£nnferrideu rous ruv Tugavvw»] iAous uargdnıdov geht
der Autor auf die Anfänge der Institution zurück, um daran die spätere
Form des Ostrakismos zu knüpfen, bei welcher die Scherben den politischen
Zweikampf der Parteiführer entschieden. Ich lese Z. 10 Ner& de TaUra Tv
alvrımorurevouevwv(?), orav] rıs d9 ou neu [Olufyauıw?. Die Supplemente der
folgenden Zeile sind wieder unsicher. Man sollte erwarten, dals Kleisthe-
nes an die Spitze dieses zweiten Verzeichnisses gestellt wäre, der ja selbst
vom Ostrakismos betroffen worden sein soll. Wenn nur die Autorität für
diese pikante Geschichte besser wäre; aber Aelians Name genügt hierfür
nicht und seine Fassung ist entschieden fehlerhaft?. Mit mehr Berech-
tisung hat man vor Xanthippos den Namen des Aristeides ergänzt, da es
wegen der folgenden Erwähnung des Flottengesetzes sehr wahrscheinlich
ist, dafs hier der Hauptgeener der Themistokleischen Politik genannt war.
Fast sicher wird diese Restitution durch die unsere ganze Stelle kurz ex-
cerpierende Notiz des sogenannten Herakleides (Müller F. H. G. II 209, 7)
Kreis Sevns rev megt OTTERAIT OU voncv EIoyynTaro, 05 EreSn dia Tous FUpaYvLWV-
zas (— 2. 1ff.) zaı arnoı re UrTgaRioImTav (Z.4—8) xal Savdırmos zul
"Agıoreidys (Z. 12f.). Steht Aristeides an der Spitze dieser zweiten Reihe,
so wird klar, warum Aristoteles die $iRerugavvo: von den politischen Ri-
valen unterscheidet. An ein staatsgefährliches Complot konnte bei Ari-
steides Niemand glauben, wenn auch Plutarch dem Themistokles und dem
ı Es hilft daher auch nichts an Meyaza4s de ....... saurov EraSev zu denken.
2 Statt 6% #7, das nicht besonders gefällig erscheint, las man früher dozorm.
Aber AH ist absolut sicher, ebenso das H am Schlusse mit der Schleife des vorhergehen-
den Buchstabens, der nur AX K A gewesen sein kann. Der halbkreisförmige Haken nach
AH gestattet wohl keine andere Interpretation als C. In ähnlichem Zusammenhange drückt
sich Aristoteles Pol. E 2. 1302@ 15 so aus: orav rıs 7 zn Öuvensı eiguv.
3 Ael. XIII 24 KrsısSiuns de 6 ’ASyvaios 70 deiv EEoorgaziger Sun maWros Eamyy-
Fazvos aUrOS Eruye r7s zaradiens mawros. Dies zewros ist nachweislich falsch. Vermuth-
lich entspringt die ganze Geschichte (abgesehen von der rhetorischen Effeethascherei) dem
Mifsverständnis, durch welches auch die erste Vertreibung des Megakles (s. oben Z. 1) als
Ostrakismos gefalst wurde.
der "ASyvamwv meorırsıa des Aristoteles. 31
Demos diese Auffassung unterschiebt (Arıst. 7). Es ist also ein neues
Motiv, das von nun an den Ostrakismos beherrscht, die rrarıs auf einen
Zweikampf der beiden feindlichen rgorrar«ı zu reducieren. Die Verban-
nung des Aristeides fällt wahrscheinlich Ol. 74,2 (Januar 482, Archon
Nikodemos), das war 10 Jahre nachdem Themistokles Archon gewesen
und von da an langsam seine Vorbereitungen zur Hebung der Seemacht
getroffen hatte. Er begann mit dem Bau des Peiraieus und führte ‘in kleinen
Schritten Athen ans Meer’. Die Vergröfserung der Flotte konnte nur all-
mählich erfolgt sen. Das Jahr des Ostrakismos des Aristeides aber scheint
die Entscheidung zu bedeuten. Man hat daher wohl mit Recht in diese Zeit
die Vermehrung der Seemacht um 100 Trieren gesetzt, welche, durch den
reicheren Ertrag der Bergwerkseinkünfte ermöglicht, durch die Gegenpartei
nicht mehr gehindert, jetzt mit aller Energie durchgesetzt worden ist!.
Mit Aristeides zugleich erscheint hier bei Aristoteles Xanthippos.
Die Lesung von Blafs zaneımmoc o apı$ponoc hat sich als unmöglich
herausgestellt. kaı nach dem Namen ist sicher, rap wahrscheinlich. Ari-
stoteles hatte also nur ganz kurz die bekannten Namen gegeben, um daran
die Motive dieser Ostrakismen zu knüpfen, welche, wie das Weitere klar
zeigt, sich auf das Themistokleische Flottengesetz beziehen?. Von einer
Restitution dieses so ungemein interessanten Abschnittes kann leider nicht
die Rede sein, wenn auch derartige Versuche von Berek u. A. unter-
nommen worden sind. Von allen Berichten über den Antrag des Themi-
stokles stimmt thatsächlich der des Polyän® am meisten mit dem Reste
1 Herodot’s Bericht VII 144 scheint mir keine andere Deutung zuzulassen, als
dafs die Flotte kurz vor 450, jedenfalls nicht vor 490 erbaut wurde. Die Details seines
Berichtes sind unklar und ungenau.
® Ist diese Auffassung richtig, so ist nach der Reihenfolge des Fragmentes wahr-
scheinlich, dafs seine Verbannung in das Jahr nach Aristeides fällt. Natürlich wurden beide
vor der Schlacht bei Salamis restituiert (Plut. Arist. 8) und zwar muls Xanthippos noch
vor Aristeides zurückgekehrt sein, wenn die von Aristoteles erzählte Anekdote wahr ist
(Ar. Ps. fr. 354 [360. 361 Acad.]. Plut. Them. 10. Ael. V. H. 12, 35).
® Polyaen Str. 130, 6 Osmsromrns &v ro mass Alyınras morsuw werdovruv "AIy-
vorv znv &2 Tv agyvaeiuv moonodov, Erarov TANTE, dtavensrSaı, zWAUT«G Ersıcav Erarov av-
dgcrsı Tos mAoUTIWrErOIG Eraoru bodvaı FaAEVrOV. cv EV dgzn zo TORy,Smool.evov, zn moreı
70 avarnma AoyısSnvar, Eav d8 [7] apesn, roüs Aaßovras arodoüvern. Talra jnev edobev, ci 8
ec \ 7 {72 ’ ’ ’ n ’ 4 N ’
ERRTOV avöges EARTTOS MRV ToMaN ARFEITNTV Smouon KonTalsevor ZRANOUS zur FRY,oUc.
32 Dıeus: Über die Berliner Fragmente
überein. Namentlich die Zahl 100 für die verwandten Talente und er-
bauten Trieren ist deutlich erhalten Z. 16. 25. Aber Polyän gibt nur den
Sinn in freier Weise wieder. Der Wortlaut läfst sich für unser Fragment
daraus in keiner Weise wiedergewinnen.
Im Anfang war wohl der Ostrakismos der beiden begründet (za
yag) mit Hinweis auf die Streitfrage um die Verwendung der Bergwerks-
gelder. Das Volk hatte diese Gelder! immer unter sich viritim vertheilt.
Nun war damals für die Bergwerksbesitzer bez. Pächter (reis ra uejraar«
Ta Ev Maguwveig [rei ev Aaupeiw EN »jexrnuevau) eine ergiebige Ernte
gewesen, so dafs dem Staate 100 Talente eingingen. Da trat Themi-
stokles auf, der vorschlug, das Geld nicht zu vertheilen (0 «p]yvgrev un]
dı[ajvefi]ucı). Man müsse vielmehr mit dem aus den Bergwerken gewon-
nenen Silber Schiffe bauen (xg4 zaranzeuadeıw romgeıs rols — MeranAeuoue-
vesc)?. Und zwar solle man hundert angesehenen Bürgern ein Talent zum
Ankauf des Holzes bewilligen &x[arov reis mAcvsınrarcıs emı ro Eu]aov Erarrw
ra|ravrov deuva. Zircv ergänze ich, da man ja längst gesehen hat, dafs
die Summe zur vollständigen Herstellung der Schiffe nicht reicht®. Die
Takelage übernahm ja später stets der Staat, vielleicht kam er hier auch
für den Arbeitslohn auf, so dafs mit dem Talent nur das Holz bezahlt
war. Das Folgende hat Bergk nach Polyän so herzustellen versucht [zei
&av ageoy A vaus], [eo] dvanuma Tas [vews rn more AoyırSyvar], ejav] de wn,
zouisasrSuı [ro davaır ev, mag de rwv] daveıransvwv Aa]deiv &yyvous. Diese
Wiederherstellung scheitert vor allem an Z. 23, deren erster Buchstabe
1 Talr« wev 6 Öruos, aber auch für ralr« nv Oyuocıe ist Möglichkeit. Sicher
ist jedenfalls, dafs nach r«uUr« ein Al steht. Blafs war durch ein nicht ursprüngliches
Zeichen, welches wie N aussieht, getäuscht worden. Der Firnifs hat die wahre Lesung
hervortreten lassen. Somit ist hier der Archon Nikodemos, der auf diesem N beruhte,
beseitigt.
2 Vgl. Ar. Meteor. A 8. 384b 32 7& neraArsvoneve orov Ypvaos zal &eyugos. ID (dr
373a 27T da meraddsverai ... orov Siöngos YaRzos Xauaos. Pol. A 11. 12535 32 ror%« yag
sion 22 y7s MeradAsvonevuv Eoriv. Ist MEr@AAsVoREVOLG richtig gelesen und bezogen, so deu-
tet das Präsens auf eine dauernde Verwendung der Erträgnisse hin, welche in dem Pse-
phisma des Themistokles in Aussicht genommen war.
3 Bei der Ablösungstaxe von 5000 Drachmen, die im 4. Jahrh. ein Trierarch zu
zahlen hatte, wenn er sein Schiff nicht intaet ablieferte, ist der Werth der zurückgeliefer-
ten alten Triere in Abrechnung gebracht. Vgl. Koehler Mitth. d. arch. Inst. IV S1f.
der "ASyvarwv mweAırsia des Aristoteles. 383
sicher k ist!. Was hier gestanden hat, weils ich ebensowenig zu sagen,
als was Z. 24 mit davaraus[u]ly Aaß[ew?] anzufangen ist. Klar ist frei-
lich, dafs damit der Inhalt des Psephisma abgeschlossen und nun im
Folgenden das Resultat angegeben war, ähnlich wie bei Polyän. Etwa
[raüra uev &dogev, ci de] Emomaav Tomgeıs Enlarov].
Man wird hier erstaunt bemerken, dafs die Details einer Geschichte
weitläuftig erzählt sind, die mit dem Verfassungswerk wenig oder gar keine
Verbindung zu haben scheint. Je kürzer in diesen Fragmenten die wich-
tigsten Verfassungsänderungen mit ein Paar Zeilen skizziert sind, um so
mehr befremdet diese plötzliche Ausführlichkeit der Darstellung. Wer hier
die Laune eines Excerptors wittern wollte, hätte einigen Grund. Aber viel-
leicht erklärt sich die Ungleichmäfsigkeit der Behandlung auch aus einem
anderen Grunde, der in der Tendenz des Schriftstellers beruht.
In einer bekannten Stelle des zweiten Buches seiner Politik pro-
testiert Aristoteles gegen die damals landläufige Ansicht?, dafs Solon der
Begründer der attischen Demokratie sei. Er führt zuerst B 12. 12735 35
die Anschauung an, Solon habe sich durch Aufhebung der Adelsoligar-
chie und Einführung einer gemischten Verfassung als begabten Gesetz-
geber bewiesen. “Aber, fährt er fort, gerade die Freigebung der Recht-
sprechung an das Volk, welche den Fortschritt der Solonischen Verfassung
bedeutet, bildet für eimige einen Angriffspunkt. Sie sehen gerade hierin
den verderblichen Weg, der zur jetzigen Demokratie geführt hat. Denn
die Beschränkung des Areopags durch Ephialtes, die Besoldung der Dika-
sterien durch Perikles und die schrittweise erfolgten weiteren demokrati-
schen Änderungen seien nur Öonsequenzen der Solonischen Politik’. Ge-
gen diese oligarchische Auffassung vertheidigt Aristoteles den athenischen
! Der dritte und vierte Buchstabe, die ich als &C zu erkennen glaube, können
freilich auch AE gewesen sein, aber &&v ö& oder ei d& ist ausgeschlossen. Zudem wäre
zonisasTer ‘das Geliehene zurückerhalten’, auf die Stadt bezogen, seltsam. Statt ro dve-
Aupe 775 v[ews] würde ich eher an r7s v[euzyyias] denken.
®2 Vgl. z. B. Isoer. Areop. 16. Antid. 232. 313.
® Die Stelle ist von Göttling und Böckh für unecht erklärt worden, denen
sich Bernays Ges. Abh. I172 anschliefst. Aber wenn man von dem interpolierten Schlusse
p. 1274a 19 — 21 absieht, ist nichts Durchschlagendes vorgebracht worden. Die Gedan-
ken sind jedenfalls echt aristotelisch.
Philos.-histor. Abh. 1885. II. B)
34 Dıens: Über die Berliner Fragmente
Staatsmann in merkwürdiger Weise. Im Grunde seines makedonischen
Herzens ist er von der Schädlichkeit der athenischen Demokratie über-
zeugt, aber Solon, urtheilt er, ist daran ganz unschuldig. Seine Verfassung
hat dem Demos nur das Nothwendigste gegeben. Im Übrigen ist seine
Verfassung eine aristokratische im besten Sinne des Wortes. Das Übel
der Demokratie kommt vielmehr nur vom Zufall her: dawera cü ara ryv
ZoAwvos yeverYaı TolTo OOG:DEO!V, GAAQ uaAAov Ems vuurrwuares. Dieses FUu-
zruuc trat nach seiner Meinung ein in den Perserkriegen, als die See-
herrschaft durchgesetzt und durch den glücklichen Erfolg der Übermuth
erweckt war. Da begann die Herrschaft der schlechten Demagogen und
mit dieser der Ruin der Verfassung. Nach dieser Auffassung ist natür-
lich das Flottengesetz des Themistokles, das die Athener auf’s Meer stiefs,
des ganzen Übels Kern!. Unter solcher Beleuchtung gewinnt freilich das
Flottengesetz eine symptomatische Bedeutsamkeit für die Verfassungsge-
schichte, welche die Ausführlichkeit der Behandlung zu erklären geeignet
scheint.
” E77 n = mw
1 Ebenso Pol. E 4. 13035 20 5 vaurızds oXAos yevcnevos airıos 75 mer Daranıva
av IOy,Upo-
u
P} NEN ) 2 € ’ S \ \ N &2 , \
viIaNS Hit dia FAUTNS 7NS NYEIAOVERS , IE TNYV ARTE TEARTTEV Övvanın Fnv Önorger,
I E) ’
FEDV ETOINTEV.
10
15
der "ASyvawv morıreia des Aristoteles. 35
Ia.
Naar mtl Nemtne Wale
So doureulov ]ras ele]orev, @[ARo]ufs] de ex ns Eevns
oiza]de nalrıyayer ..... lea - = >
u... Aelysı de ourw megl au[rou dr Jaufgwv ..... Wi
Sorba]r« u a [r]vu[u]eorugen(v) raus” [av &v Arays
Seovw], Knrng neylirz]n danovwv "Orlvuriwv d-
gu]r« [U nirafı]lva, r75 eyw morl[e co]sus ave|iAov
m|erra]yn wernyeras- m000.9ev de dolursvov-
o]« [vuv] EreuSega. moANoUs Ö° ’ASıvas marg|ıö" eli]s [3e0-
wrırov] avyyayov m[g]aSevras amrov Er[dimws, ar-
Aov dılrauns, ToÜs 0° dvayrams Umo weln]erlev Aeyovras,
yAus]oav OÜHET ATTIRNV lEvTas, Ws alv ToAAa-
x mhajlvwuevous, rolüls 8° vSad’ aürcu devam[v @-
eınea] Exovras, non desmorWv rooueumev[ous &-
AeuIe]pous EeINa. ralü]r[«] Ev »ola]rn, Sucd Aiav [re
za di]unv owaguo[r]as ege£a za diyaYov [us Ü-
meoyolunfv. S]eruov [8°] öuoiws ru mans [re naya9o
eüIer]av eis Exaore|[v] dguocas dra[n]v elyeoJefıbe. KEev-
roov] Ö° are Ws &yw Aawv nar|obgadys TE
al di]Aorrnuwv a[vn]e cür dv zareloye Ö7-
nov. Ei] Yag NSErov & rolis EvJavrfio]aıv [Avdavev
rors,] adrıs NEINBIIChI 3er. 2. öleler[aı, dla Tor-
Av @v] Audguv DER exeılawOn merus
Durch die jetzt erkennbarer gewordenen Zeilen 1—4, deren Lesung
im Einzelnen freilich von Sicherheit weit entfernt ist, scheint soviel fest-
zustehen, dals wir darin nicht Reste des Solonischen Iambos zu erken-
nen haben, welcher Z. 4—5 beginnt, sondern eine Darlesung des Ari-
stoteles selbst, worin er die Hauptverdienste der Solonischen Seisachthie
Hi°
36 Diens: Über die Berliner Fragmente
kurz zusammenfafste!. Eine ähnliche Paraphrase der Solonischen Verse
gibt Plutarch Sol. 15 D Xgea Aaußdvovrss Emi rols owuarıy dyWyıneı Tois da-
veileusw Arav ci MEv aureD ÖeuAsuovres oi d’ Emi Eeuyv mımganroneven. Ähnlich
ce. 15, wo die Solonischen Verse eingemischt werden, Teuvuveras Yag ZoAuv &v
Fouraıs, ori 775 TE mOOUmORENNEUNE ns “ogovs dveide ToAAayN TemNyoras, mgoo.Sev
dE ÖeuAsvoune vüv EreuGega'. za Tuv dywylnwv Moss dgyuguov YEyovorwWv ToALTuV
Tols ulv dvyyayeı amo Eevns "YAwaTav cÜner arrınmy ievras’ ... EAeuZegous duri
WETOINHEVGL.
Am Anfange der Solonischen Verse ist Z.5 cauan zu erkennen,
wie der Papyrus ganz unzweifelhaft gibt. Das Parallelexcerpt des Ari-
steides, der gleichfalls dies Fragment erhalten hat, beginnt erst mit dem
Worte TUnuagrugoM. Trotzdem scheint nichts anderes übrig zu bleiben,
als den Rest eines vorhergehenden Verses darin zu erblicken, etwa # Sge-
La]r« u’ &2, was Blafs vorgeschlagen hat. Dann würde Aristeides bei
seinem Excerpte das Entbehrliche weggelassen haben, um mit einem vollen
Verse zu beginnen.
In den Versen selbst stimmt der Papyrus, so weit er erhalten ist,
mit Aristeides im Ganzen überein. Einzelne kleine Versehen wie suunap-
zugeiyy liegen vor, andere Kleinigkeiten hat er besser wie Aristeides, na-
mentlich, wie begreiflich, in den Endungen. Merkwürdig ist die Über-
einstimmung in dem wunderlichen Dialeetgemisch, indem zwischen Attisch
und Ionisch ohne erkennbares Prineip abgewechselt wird. Obgleich Ari-
steides uns die Ergänzung der Zeilen ermöglicht, so ist doch die Abthei-
lung der Zeilen schwierig. Der früheren Annahme, dafs die links erhal-
tenen Buchstaben den wirklichen Zeilenanfang bedeuten, kann ich nicht
beitreten. Denn abgesehen von Z. 7, wo die Silbenabtheilung zeigt, dafs
r noch vor H gestanden hat, zeigen sich einzelne Buchstabenreste Z. 7. 8.9
1 Statt des SouAsvovres Zsusev erwartet man eher Er«vcsev, wie Pol. B 12. 12735
25 Zorwva 8° Evıor mer olovraı yaverTaı vonoIernv cmoudaior. OAıyaoyiav TE yao ZETEAUTAL
Alav drgarov ovsav zu SovuAsvovr@ rov Oymov maücaı. Aber das W von erweev ist fast
sicher, AY jedenfalls unmöglich.
2 Ähnlich v4 rev Auvusov zov 82 Igel avre se bei Aristoph. Nub. 519, ferner von
Aischylos Anunrng 7 Serlase zyv Zunv daeva Ran. 386. Das doppelte &v macht keine
Schwierigkeit, auch das etwas auffällige Hyperbaton ist bei Solon erträglich.
der ’ASyvarwy moAırsia des Aristoteles. 37
auf dem abgescheuerten Rande, die sich vollkommen in den gegebenen
Zusammenhang einfügen. Ich habe danach das Übrige ergänzt. Freilich
stolsen dann die Buchstaben mit dem Ende der jenseits AB befindlichen
Columne nahe zusammen, namentlich weiter unten. Es ist daher mög-
lich, dafs in den späteren Zeilen weiter nach rechts angefangen war.
Denn auch hierin zeigen die uns erhaltenen Papyrustexte oft eine grofse
Unregelmälsigkeit.
Auffallend ist unter den Varianten des Solonischen Iambos Z. 11
xpe.... Die Überlieferung des Aristeides gibt reis d’ dvayzams Umo | wene-
uöv Asyovras, YAuoTav oUner” arrınmv ievras, Ws dv moAayf mAavwuevous. Es
ist, wie der Zusammenhang lehrt und Plutarch bestätigt!, von den Athe-
nern die Rede, die um der Leibeshaft zu entgehen auswanderten und im
Elende sich kümmerlich von Stadt zu Stadt durchschlugen. xgnrwev Acyovras
kann man zunächst nur auf Wahrsagerei beziehen, mit der sie ihr Leben
gefristet hätten. Aber man erwartet doch nach dem Vorhergehenden we-
nigstens die Erwähnung der Flucht. Ferner ist der Singular Xenruov unter
allen Umständen falsch?. Die Vorschläge xenruous Aeyevras oder schöner
xeneuwdeovrac, die wenigstens diesem Mangel abhelfen wollen, sind da-
her wohl berechtigt. Ich hatte mir vor Bekanntwerden des Papyrus die
Meinung gebildet, die Stelle sei schwerer verderbt, und hatte, gestützt
auf die Paraphrase des Plutarch1, xoeos oder xgea duyovras oder Armcvras
vermuthet?. Ich war daher überrascht, in den Publicationen des Pa-
pyrus xpe... angegeben zu finden. Aber meine Hoffnung, weitere Spu-
ren einer besseren Lesung zu finden, hat sich nicht verwirklicht. Denn
soweit die trügerischen Buchstabenreste nach xpe eine Deutung zulassen,
hat auch im Papyrus xpecuon mit einer auch in ägyptischen Urkunden
IESol c213 moANo de zur... jvayzagovro ... ryVv Mor beuysv dia mnv Yars-
nornra ruv Öawsısruv. Siehe $. 36, 6.
? Die gewöhnliche metaphorische Erklärung „unverständlich sprechend wie in
Orakeln“ leidet an denselben Fehlern wie die obige und an schlimmeren. Denn während
dann das Qapßagizeıw zweimal ausgedrückt ist, fehlt die causa efficiens, die das avayzalıs
Üzo und die Gegenüberstellung dieser Klasse mit roUs Ö£ erwarten läfst.
27042 91.353 Aatos za derwmov arvEus. Hesiod 647 W. u. T. Bovryaı 88 zer
m \N > , ’ . ’ m
mgopuyew za orspnea Ayov. Arist. N. 443 ra oe Ötadevgodlen.
38 Dıeus: Über die Berliner Fragmente
nicht ganz seltenen Vertauschung. der beiden E-laute gestanden!. Sind
also die Bedenken gegen die überlieferte Lesart berechtigt, so wird man
an eine antike Corruptel denken müssen, wie sie mir auch in Z. 33 deutlich
vorzuliegen scheint. Der Vers lautet bei Aristeides: aurıs Ö& reis ®ars(!)
dparaı dic, offenbar verderbt. Blafs hatte Hilfe in unserem Fragment zu
finden vermeint, dessen Lesung er so wiedergab arTicäen.ıo..Nn, indem
er zufügte, statt o sei auch a möglich. Er ergänzte danach aurıs 8° euya
auverapcıs dganaı, dia moAAav aA. Aber vuveragos ist nicht blos des Dia-
lectes, sondern vor allem der Endung wegen unmöglich. Denn der Ge-
brauch der älteren Lyrik kennt in dem Dativ Pluralis der beiden ersten
Declinationen nur die langen Formen auf ou(v). Ausnahmen sind gestat-
tet nur: 1) wenn ein Vocal folet, also das lota elidiert wird; 2) am
Ende des Verses und in der Mitte des Pentameters; 3) bei den Formen
des Artikels und des Relativum; 4) bei Combination mehrerer Dative.
Eine Form owveragos Opera ist also bei Solon unmöglich.
Die Spuren des Aristoteles deuten auch auf Anderes hin. Ich er-
kenne arricäein.ıcd. Steht aber, wie ich glaube, Acın da, so ist auch
die Öorruptel constatiert. Ich vermuthe daher für Solon in Anlehnung
an die Verderbnils des Papyrus aurıs 0° Zus pirusı auvdgacaı Aıg, mer-
Auv av dvdenv 10’ &xnpw@n morıs. Auch hier scheint &xeıgwS9n, also wohl
auch dia woAAwv &v] avdguv im Papyrus überliefert zu sein. Aber dies ist
anstölsig, nicht blos wegen der am Ende des Verses stehenden Präposi-
tion, sondern auch wegen des Zusammenhanges. Die zu erwartende Viel-
herrschaft konnte Solon unmöglich als schlimmes Schreckbild vor Augen
führen, zumal er ja gerade die Folgen der Tyrannis ausmalen will. Den
Nerv des Gedankens trifft allein das, was man längst hergestellt hat, ror-
Adv dv dvdo@v 0° ExngwOn merıs, wie Herodot VI 83 ähnlich sagt: "Agyos
dydoav Eymawon curw #7A. Hätte Solon gewaltsam, mit der Volkspartei allein
die Reform durchgeführt, so war Verbannung der Adligen die nothwen-
dige Folge.
1 Diese Vertauschung der beiden E-laute dürfte ein Anzeichen dafür sein, dals
die Handschrift nicht nach dem 3. Jahrh. n. Chr. geschrieben ist, nach welcher Zeit der
E-laut des „ wenigstens in Attika völlig aufgegeben worden ist. Doch bedarf es für
Ägypten hierüber noch einer Special-Untersuchung.
der ASyvaıwv morıreie des Aristoteles.
N
Anhang.
40
10
15
20
Diers: Über die Berliner Fragmente
I. Lesungen von Blafs (Hermes XV 368 ff.).
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AcAa.NnHcikonan - -
ZN TOR nee = =
CAUAN.TUUAPTTPOIHNTANA - -
USHIRTZHIPANIE N AdıuonwnoN - -
HUENS. NATHCEFTWNOT,:,@T€ = =
XHTTETTHFT. .acmpoceenAelor = =
ENETBEEPATTOANOTCAÄAOHNACTAT - -
ANHFATONTPABHENTACAN..NEKA - -
KAIWCTOTCÄANATKAIHCTTTOXPEC =. 08
SSNOTKSFAT.-KENISENTACWCR = -
NwuenorctorcäenesAärtoräork--
EXONTACHOHÄECHOTWNTPOUETU = =
POrCEeOeHKATAT..UENKPATHONOT - -
KHNCTYNAPUO. ACEPEZAKAIAIHÄGON - -
URN: UONAOUOIWCTWKAKW - - -
SNEICEKACTO.AP.OCACAÄIKHNE - -
AaN. SCcWcerwÄäABWw.KakKod ==
NOKTHUWNANHPOTKANKATE - =
FAPHOEN.NATTA.ÄENANTIOICIN - -
ATTICÄEN.IO..N ee
ANAPWNH..XE ar
Ia 21
“Von dem TT sind die senkrechten Striche zweifelhaft genug und ich möchte da-
her lieber dafür ein T lesen.
93 “Das € nach A ist mehr als zweifelhaft, die Senkrechte nach N vieldeutig; der
kleine, nach rechts offne Halbkreis, den ich vorläufig als O gedeutet habe, kann
auch zu einem & gehört haben.’
10
15
20
der ’ASyvalwv morreia des Aristoteles. 41
Ergänzungen von Blafs (XV 369 £.).
Ta.
ca uw av [or Juumagrugem[[]] rwe............. (radr" av Ev dan Kpovou Aristides)
Arne nelyirzn] damevav "OAluuriw ....... (agırra Aristides)
A (47 Aristides) neralılva, ns eyu moz[e op]ous [@veidov FoAAe-
7 ’ ’ \ / 67
xml) wernylorjas- mg00.Sev de dovfAsvouse, vüv
EAEUIERR. mwoAAcls 0° ASyvas mar|gıo" &s Seonrırov
dvyyayov moaIEvTas, ar[ro]v Endfırws, &AAov di-
kalws, Tols 0° dvayrams Umo *oma[uov (XgET ... pap.) Asyovras, YAur-
av oüner” "Ar[rı]le[a] ievras, WS al» ToAMayA(ı) FAa-
vwmevous, ToUs 0° &vIad” aurou dovAlımy dsızca
y y n ’ >: v
ExXovTas, 19m deomorWv Toomeuu|evous EAeude-
„y } S \ v an 7 U
gous eInra: raulra] ev zparn, OMoV Ve Te nal di-
ayv ouvaguo[e]es, egefa var OmA|Sov vs Umsoxo-
ulm. Ser]uov 8° öuaws ra(ı) zarulı) [re zayaSalı), suSei-
> Kl e IM [L El ’
av eis Enaorolv] dolu.]oses denv, elygala. HEuTgoV
0° arfao]s ds Eyw Aaßw[v], zanoh[oadns re zal Hı-
Aorryuwv dvng, oür av nare|syev Öfmov: ei
yag n9e1[o)v, u — Evavrıaııy [Avdavev Tore
N N ERS NE [daaraı, dia moAAav dv
avdawv ZI Zjxeleow 94 Tor. WVv oUver” aaynv HTE.
Ia4.5 “Etwa 4 Sorbasa u’ av.
21. 22 ‘Etwa «rals] 8° &vavrıaw [Hvdavev vor], aurıs 8° ev[n]e [rvJleregas Sgasaı?”
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 6
42 Dızus: Über die Berliner Fragmente
Id (Hermes XV 372 f.).
Aal, .&.APXONTAÄA.
in en een
DO ON 011.00.01,,019, 0.1000
"EWCESHÄNACOHBIATHCAPXHCETA
alle ATTO.....TOCTACIAZEINAPXJONTACcENEcedI
Rn ACUENErMaTrpıAwNTPp. ıcAaToIKkWNATO
aloe On Po WNKAIOTTOITONUETAÄAUACIANHP
Ge ATTONOCKAIÄHÄONOTIUETICTHNÄTNAWIN
10a. SPXWNFAINONTAIFAPAEICTACIAZONTEC
ANA el. KAJTH. APXHCOANWCAÄEAIETENOTNTATIPOC
ER AR OlUENAPXHNKAITTPOFACINEXONTECTHN
.XPEWNATTOKOTTHNCTNEBEBHKEIFAPATTOICTE
.KAITTENHCINOLÄETHTIONITEIAÄTCXEPAINONTEC
15 -... WEFANHNT..ONENAIUETABOÄHNENIOINUENAIA
.TPocaA\HNOTrTCc$dıNONEIKIANHCANÄEAICTACEIC
ENTWNTTAPAAIWNWNT.O.CTH.EIULEFA
NOGOT Too .EAOKOTNUMANICTAÄIWKEIN
Ib 3 ‘Zwischen Ol und K ziemlich viel Raum.” [TOIN “ich habe zuerst TON, dann
TWN, erst zuletzt TOIN gelesen’ XVII 478.]
5 “Von dem letzten T steht die Senkrechte sehr nahe an &. Ich las erst T.
11 “Hinter TH scheint eher N als C gestanden zu haben. Für Ale las ich erst Aıa,
was aber ‘unhaltbar ist.’
19 "Es folgen noch Reste von 5 Zeilen, aber so zerstört, dafs ich aulser dem Worte
zovngos am Schlusse von Z.22 nichts vollständiger lesen kann’ [Die Z. 23 (un-
ter moungos) schlofs mit LUEN[OCA]XPEA. XVI 45].
der ’ASyvawy merıreia des Aristoteles. 43
Ib.
ZT Eevjelslelv] daxevze 07 =
mol). 2. Sulamos oz zaugnv ZUR
ON] 80350 0.00 nv Ajmcıziav. ner« de raura die row
duoiv &Qvoiv] Aauanias aigeIeis aoywv, ern dvo
5 mgooTas ans mor]ews EEnaalls]]Sn Ric(ı) TS AOXMS- era-
Sn 8°] aure[is die] 70 aranızdev aglx,Jovras ENerIaı
\ > N IS 99 ’ 1
rerrap]as nv eümargıdwv, ro[elis d” amoizwv, duo
de Onnilevolyjav zei euro Tov Nerz Aauariav »-
3 / RR None J 7 R
Eav Evilavrev. oli]s zai dnAov orı neyiormv duvanın
10 Eigev 6] aoX,wv. balvovraı Yag del Oranıdlovres.
2 © FSE> > a N ’ \ /
raurns Evena] T7s aoyns. oAus de ÖlsreAcuvy va mooc-
Iev moioüvres], ci ev Eoymv zaı moopasıy EXovres En
v 67 > 1 \ 59
zav] Xgewv dmonommy. auveßeßyze yap adrois (amogoıs) Ye-
verSaı] zal mewmew. ci 08 rnlı) Ferırea(ı) dumy,egamvovres
15 a 70] neyaryy yleyJovevar ueraßornv. Evi. "de dia
nv] mocs arrmAovs biAov[[ejlziev. Arav dE ai araccıs
gel, ia 1a]ev Tav Hagariwv, @v *roosısen[x]eı Meya-
uns 6 "AAnuewvos. oür|oı 8] Edoxouv udroTa Own - -
1b
9 ‘Mit dem anscheinend überlieferten OC Z. 9 weils ich nichts anzufangen; ots liegt
am nächsten.
11 [Ich ergänze jetzt so: r@ moos | [or&sw] o rev. XVI 44.]
Ideklar mgosıoTnzei mag mooeormaeı dagestanden haben.’
18 "Zu dwzew war etwa looryre zu zowornre Object, vgl. Plut. Sol. 13.
23 ['Es war wohl von dem Anhange des Peisistratos die Rede, nachdem Z. 19 ff.
vielleicht von den Pedieern gesprochen war. XVI45.]
6 *
44 Dies: Über die Berliner Fragmente
Ib IIa (Hermes XV 379).
rechter Rand.
= 2.2. SOHNGSIONE
= Exlor.N. INEINEIKE AHuoI
an ETOUENTANT. & [na
=.,100%. cAnuorcana. .WN
EN NS: operceAetwn 5
- - NATOYTWNTOTCAATO
TWN un SMTANTECTTTHPXONEN
Toic - = HKAITAC$PATPIACKAI
} Te Kem or er a
Tp - - NEMWNTUOTCEKTW 10
TR PRIHITETLOIINICH MERAN EIN
- - NAÄETENOUENWNAÄA
uU = 2.2 WPOCESN EHEN ®N
an coAWNocNnouoc
Ehe ATOUHXPACEAIKAI 15
- = - SZzou
AICTMENTHKONTA
Id Hermes XVI 43 hat Blafs die Zeilenanfänge von Z.5—13 zum Theil abwei-
chend mitgetheilt. Siehe S. 45.
IIa 1ff. Theilweise anders las Blals Hermes XVI 43, wie sich aus der Ergänzung
(siehe S. 45) ergibt.
13 ‘Ob &rn zoA[i& (mit Bezug auf Orakel etwa) oder ©rn wor[A« stand, kann ich
nicht ausmachen.
13—25 ist so gut wie nichts zu lesen aufser Z. 20 - NOPKON....... „ Z. 22
- ANHCENATHC.
10
der "ASyvamwv moAırsı« des Aristoteles. 45
IIa (Hermes XVI 43).
N ee »are[orne]e, »[@i] nu[eo-
[xovs nv auryv Exovras] em[ı]uere[ı]ev z[oi]e weo[r]e-
[gev veuzgageıs: zai Yao] ro[u]s dnmous av|rı rar
veluzgagıwv Eromee. mo n|yJogeune de av
önluwv rovs uev dms ru] Tomwv, ToUs d” amd
av [einısavrw. Emeidn 8] amavres ÜmMoxXov Ev
rois [yuors, eiare ra yeu)n nal Tas Pogargias na
dalraıdexeus xl Yevapx,ous ?] EHEOTOUS KUTE TO TE-
role. zav de duAmv Eroimsely erwvunous Er ruv
erlıpavesraru jowwv za] apymyerav, olnmei]verv
Aleywv Fourous Tov Seov. Tüv de Yevonsvuv Ta-
ulıöv? - = disren]enev ern mor- I
a I
46 Dıens: Über die Berliner Fragmente
IId (Hermes XV 376).
RK. WAPROC erp = -
Necs ses. ApXeoNraeh a -
XONT...KATACOo\W Re
5 TEN N OUWNTWN - {
ToNnfollAetporTep oIN - -
CTPAKICOHULEFTAKÄHCA
BENEMIUENOTYTN[AN Ein
dıkorcwWceTPpakızo Kell
m MELTSACTAPTALTING = -
TICAÄOKOIHUEIZWN ANIWa
TOCWCTPAK | COHTWN =.
ZANGITTTOCCAPI$ - -
TOITON?. oo
1 OU NS ag NUaPpw 8
KeERmErse oo ETSERK
OINSTEWINTEERET moXNıtTw - =
Error ae RE VS
OTIRPEAN SL ee
I TON NEECH BUNG ==
NONeKkactwra ==
T.ONAAWUATHC - -
&: NEUHKOUICACHAI[N 20.
AS. EICAUENWNAÄAB ==
25 €.OIHCA.TPIHPEICA =
IId 2 ‘Statt P am Ende las ich vorher @.'
4 'XONTIA.? Das anscheinende TIA allerdings eng und klein geschrieben. — Hin-
ter N alles sehr unklar.’
10 ‘Von dem letzten & nur der Anfang der Schleife sichtbar.
14 N ist nicht sicher, weil andere Zeichen dazwischen und darunter sichtbar sind. Ich
denke, es ist hier etwas von der ursprünglich gegenüberliegenden Seite abgedruckt.
16 [Jetzt scheint mir am Ende der Z. &z«r[ov nämlich r«Aavr« die richtige Lesung.”
XVI 46.]
17 ‘Ob AI oder N ist nicht zu entscheiden. Der zweite Buchstabe vor IT scheint U.’
20 ["Z. 20 begann wohl mit K, auf welches etwa oNe folgten; doch kann der vierte
Buchstabe auch C, der dritte A gewesen sein. XVI 46.]
32 ["Schlufs der Zeile wohl AN, der von Z.23 N (nämlich sa] | davasayuzvan), der
von Z. 24 etwa z]je. XVI 46.]
der ’ASyvarwv morıreia des Aristoteles. 47
IId (Hermes XV 377).
9 "Ir]wapxos
[o-
7 orpanıoSy. Meyanıns Ole — — xarmm-
Sev. Em nv oiv [Zeitbestimmung, reis rar Tupavvuv
diAous worganeoy - -;
\ \ m En 2 mn Y
10 MBErE dE Talra, TWV alarwv molıTWwV El
, , 8 n 7 \ ns
rıs donom meilwv [eivar Tav vouwv. zul meW-
I a7 ' m
Ts Worgariaon ruv |roiurwv avdowv
/ ec ’ \ \
BavSımmos 6 "Agib|povos. Mer@ de
- ! \ > U ’
radra Nlız]odinuols 6 ra agyvpeia ME-
\ > m m
15 aaa ra [Ey Magw[vei@ 795 "Arrınns
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E] NSS Ey ’ A \
ovzwv [de] ForzW[v mAsıovuv 0: auxyor ag-
! > ’ > ! 62
Yugıov [Araußavov Er METAAAW, ..2.22.. EITEV
7) \ 7 [oJ \ \ \
orı on Ilnuoriav eivar 70 Acımov yv we-
’ © DENN ’ 2
20 TaAevoıv amao|av, Twv de nenTnMEvWv METAA-
Aov Ereoru(ı) aan
IId 21 ["Unzweifelhaft ist Z. 21 Bergk’s &xuorw ra&[Awvrov. XVI 46.]
22 [Tys v[ews nicht unmöglich, doch ebenso gut möglich r7s roxEews.” XVI 46.]
93 [Anfang ist ef] de 74 zu schreiben.” XVI 46.]
48
1.
Drens: Über die Berliner Fragmente
Ergänzungen von Bergk (Rhein. Mus. XXXVI 37 ff.).
10
15
18
Ib.
Eox,ovra oe
’Ernevidou nv mo]Av [ua ]uaros dia Taurıv Euv-
TUX,Lav naIapav Z]rafns]av: uler@ 62 ravra de roiv
dvolv &Ivoiv] Aunarias aipeSeis apywv Erm duo
mgooTEs 776 mor]ews EEnAaOn Bie 775 EOXMS- eli ]e-
say 8°] ale]roli dd] 70 araniagew apyovras Ereo-Iaı
rercag]es ev sumargıdwv, relelis I aroikwv, duo
de Önmulevoyav- zal cdroı T0v era Aananıav ne-
Eay ävilavrov. [Lücke einer oder mehrerer Zei-
len] .... 5 daulos. za 8AAov orı meyiornv duvanın
ehygev 6] doxwv. hawvovraı yap dei Oranıalovres
Taurys evexa] Tas aoxns oAws Ö& dlereAouy Ta mg6 >[o-
Awvos] ci Ev Gexmv nal reobarıv Eyovres mv
ray] Xgewv amoromnv: auveßeßyze Yap auTolg YE-
yeryo]Saı mevnow: ol de rn moÄreig Öuox,egawvovres
dia To] neyanıy yley]ovevaı neraßordv. Evıcı Mev(ro) did
zav] mgos AAANAcUS dıAovsıziav. —
— ovror 6” Edoxovv MAATTE diwneiv
ll
[Fels uera Kurwvos].
Ila.
zarjes[rns]e de »[ei] Önuap-
\ 3 \ Y > /2 &% !
Yous av auryv Exovras] Emiuereav z|or]s mo[o-
Tegov vauagaigoıs za vou]s önmovs dvrl[i r]@v
vaurgagımv Erroimde. mg00 n[y]ogevre de av
> [4 / > \ m \ Su)
[doyvglwv Tanias ayrı nw]Aargerwv, Tous Ö° dme-
[derras mooneInne. dena 0] amayres Umnex,ov
ra de yevln zaı Tas Poargıas za
c Y \ \ ’
ol eletteltee ERÜATTOUS KATA Ta TÜ-
der ’ASyvawv morırsıa des Aristoteles. 49
10 Tgıe. Toy de burm]v Eruvumous Eu Tüv
Evdogorarwv eu Nero] EoymyErWv* e[nuar]vewv
Yap TeuTo ov MySov. Enarolv de yevonevwv Ö4-
[uwv za: ra iepa zareoyee]
aa os] ZoAwvos vonele]s
ie [wel Soc. siryyarjaro un woeosarl.
Ib.
apyovros d..... [us za Asa]-
xov[res] za]i] 7« SoAwlvos HadIeigavra za neilw
5 Tav vonwv TWV [Targıwv evra drrganı-
<ev [nämlich Kleisthenes].
8... Emi mv olv dolwnis rev KAsınSeveus Fous
dious worganıdo[v rous Meisinrgarıdav
10 Mer@ de ralra rav a|AAuv morrav EEwpilov, eı
rıs doxom nerlwv [ws za KAsıaYevns aü-
705 Wo a 7] Toy Ders "Agıoreiöyg Hal
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1 °2.17 [e]is wevr/2ovr« war wohl von der neuen Organisation der Naukrarien,
sowie im Folgenden von der Umgestaltung der Qovrn die Rede Z. 22 ist vielleicht [rov-
rjavsies Evarns zu lesen.
?2 “Diese Zeile ist offenbar durch Nachlässigkeit des Schreibers ausgefallen. —_
Nimmt man keine Lücke an, so mülste man ergänzen or Kom Ölsavopmv € EEv za vals mov,
WE]rerrEVCL kFeas] mro[vs loıs dovras Eis or0]Aov Eraoru ra[ravrov.”
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 7
50
Diens: Über die Berliner Fragmente
III. Lesungen von Landwehr!.
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1 De papyro Berolinensi Nr. 163, Berlin 1883.
Die Fehlerverbesserung in des-
selben Forschungen zur älteren attischen Geschichte (Philologus Suppl. V 195) ist hier be-
rücksichtigt.
10
15
der 'ASyvalwv merıreia des Aristoteles.
Ergänzungen von Landwehr.
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N mernylor]as. maos.Iev de dou[Asvoure, vov]
EAeuIega. mwoAAous 0° "AIyvas ma|rgıd” eis Seönrirov]
duyyayov z|[o]«S[e]Jvr«s, ar[Ao]v Exd[izws, arAov di]-
Kalws, ToÜs 0° dvayzams Umo xgea|ov Aeyovras, yAuc]-
vav oüner” Arleıle]i]» ievras, ws av [morrayı FrQ]-
VWwWEVOUS, Tols 0° evSad [au]rov devalımv asızea]
EXOVTas, 7S[n] dermorav TooWeun|evous, &ev-IE]-
gous eSyna: rau[ra] uev »o[a]rı öucd [Bıav ve zu dr]-
nv ouvagnolo]as [ege]£a za dimSov [ds ümerxe]-
ulm. Ser]uov 8° önoiws rw narı [re zaya9a euSel]-
av eis Enasro|v] aolulonas diumv elygana. nevroov]
Ö° arfAlos es &yw 1aßwlv aarocbouöng Te xaı di]-
Aczryuwv ülvJne, cüx av zalrerge Svuor. aua de nrw: ei]
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52 Dıiens: Über die Berliner Fragmente
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12 [‘Vor Ol fand ich eine Schlinge auf der Linie, welche der Rest eines H (?)
sein kann.” Philol. Suppl. V 116 26].
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der ’ASyvalwv moAırsia des Aristoteles.
Ib.
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[Zav evilaurov. — xal ÖMAov or [u Jevioruv Suvanın
10° [eixev 6] aoywv- baivovrau Yag ala or]arı@deovrss
[raurns evena] Fnls] apyns‘ oAws 8 dlsreAouv Ta =000-
[Se] ci usv [eo]unv zaı mocbarıy Ex,ovres TV
[r@v] %gewV dmonomn- ouußeldnze yag auraı[s] Ye-
[vesS]a: wevnow- ci de mn maria dumy‚egaivoures
15 [da 76] ueyarnv Yleyovevaı meraferyv: Evıcı mev(reı) die
[7% m]eos aAANAous bıAoveiziav. Nav Ö8 ai oracsıs
[resis mia n]ev rov Fagarıwv, wv [r]ec(e)ı[orn]xe Meya-
[Hans 6 ’Arruew]vos- oürcı d° Edorovv marıcra duwasıv
[rovs Hesısroareu].
11 [7& #g0s[Sev 7’ Philologus Suppl. V 11626, 15573],
54
10
20
Ib.
Dres: Über die Berliner Fragmente
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20 So am Ende der Zeile rechts zeigt NOPKON das Facsimile.
10
der ’ASyvawv morırsia des Aristoteles. 55
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56 Dıeus: Über die Berhner Fragmente
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der "ASyvaiwv morırsıa des Aristoteles.
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Dies, Fragmente des Aristoteles.
Seneca und Lucan.
H" DIELS.
Philos.-histor. Abh. 1885. III.
Gelesen in den Gesammitsitzungen am 5. und 19. November 1885.
D: alte Scholiastentradition, dafs die sieben ersten Verse der
Pharsalia von Seneca verfalst seien, entbehrt jeglichen Grundes. Nichts ist
sicherer, als dafs jene Verse von Lucan selbst herrühren und gleich von
Anfang an an die Spitze des Proömiums gestellt worden sind!. Aber es
spricht sich doch im diesem Gerede das richtige Gefühl aus, dafs sich
kaum zwei Schriftsteller des Alterthums geistig so nahe stehen als die
beiden Glieder der Annäischen Familie. Schon durch ihre Abstammung
gehören sie jener Provinzialstadt an, deren Dichter das urbane Ohr eigen-
thümlich zu berühren pflesten. Die Rhetorik, die ihren oft geistvollen und
originellen Stil völlig vergiftet, ist ihnen nicht nur durch die Schule und
die Mode der Zeit, sondern auch durch die Familie eingeimpft worden.
Die stoische Erziehung drückte dann auch auf die Gesinnung den gleichen
Stempel. Die Ungnade des Kaisers führte die Leidensgenossen noch näher
1! Man hat geglaubt, den Kern der Fabel dadurch retten zu können, dafs man
diese 7 Verse als zweite Recension des Proömiums V. Sff. betrachtete. Aber mit Quüs
furor, o eiues, quae tanta licentia ferri anzuheben ist ebenso undenkbar als mit Musa
mihi causas memora und ris 7’ «9 spwe Sewv die Musterepen beginnen zu lassen. Denn
die beiden Theile des Lucan’schen Proömiums V. 1—7 und Sff. sind genau nach jenen
Mustern gearbeitet. Die Genesis des Scholiastenmythus ergründen zu wollen, ist wohl
vergebliche Mühe. H. Genthe de Annaei Lucani vita et scriptis, Berol. 1859 S. 77 denkt
an ein Mifsverständnifs der Frontostelle IV 1, in der das Lucanische Proömium V. 1—7
stilistisch mit Seneca’s Art verglichen wird. Jedenfalls hat das verwandtschaftliche Ver-
hältnifs, das lange im Gedächtnisse fortlebte, Einfluls gehabt. Citirt doch noch Hierony-
mus adv. Iovin. I 26 p. 185 eine Stelle Seneca’s: inguit Lucani poetae patruus.
1“
4 DIELS:
zusammen: sie warfen sich der politischen Opposition in die Arme, in
deren Schicksal sie beide verstrickt wurden.
Es wäre wunderbar, wenn bei diesen engen Beziehungen sich nicht
auch ein reger litterarischer Verkehr zwischen Oheim und Neffe entwickelt,
wenn nicht der fördernde Rath des erfahrenen und berühmten Schrift-
stellers die poetischen Versuche seines jugendlichen Verwandten begleitet
hätte. Gerade damals, als das grolse Epos des Lucan im Entstehen be-
griffen war, fühlte sich auch der entlassene Staatsmann wieder in seiner
gezwungenen Ruhe zu einer hastig und eifrig betriebenen Schriftstellerei
getrieben. Auch dichterisch thätig mufs Seneca um diese Zeit gewesen
sein, als Lucan sein Epos begann. Denn unter den Klagen, mit denen
man damals das Ohr des Fürsten einzunehmen suchte, brachte man bös-
williger Weise auch die vor, Seneca habe gerade, nachdem sein Zögling
an den Musen Gefallen gefunden, sich besonders eifrig um den Lorbeer
des Redners und Dichters beworben!. Diese Insinuation, ungereimt wie
sie ist, dürfen wir auf sich beruhen lassen. Die Thatsache aber, dafs sich
das Interesse des Dichterphilosophen an seinem Lebensabende wieder mehr
der Poesie zuwandte, könnte man wohl auf die Anregung des neu aufge-
henden Dichtergestirns zurückführen, das gerade auf eine Natur wie Se-
neca einen gewaltigen Einfluls ausüben mulste. Aber wir haben davon
keine Kunde. Wohl aber liest der Einflufs, den Lucan durch seinen
Oheim erfahren hat, in dem zehnten Buche der Pharsalia offenkundig
vor Augen.
Der Dichter hat zwischen die Schilderung der grausigen Ermor-
dung des Pompeius und des mifsglückten Mordversuches des Pothinus auf
Cäsar eine heitere Episode nicht ohne Absicht und nicht ohne Geschick
eingeschoben. An Cäsar’s Empfang in Alexandrien schliefst sich ein Ban-
quet, das durch Kleopatra’s Anwesenheit besondern Glanz erhält. Hier
hat der Dichter ein dankbares Thema. Hier kann er ganz in der Weise
seines Oheims die Entrüstung des Stoikers über den unerhörten Luxus
mit dem innern Behagen vereinigen, das er als Rhetor bei seinen Declama-
1 Tae. A. 14, 52 obiciebant etiam (i. J. 62) eloquentiae laudem uni sibi adseiscere
et carmina crebrius factitare, postgquam Neroni amor eorum uenisset (d.h. nach 59; s. Tac.
14, 16).
Seneca und Lucan. 5
tionen empfindet!. Ein alexandrinisches Symposion ohne Deipnosophistik
würde etwas Wesentliches vermissen lassen. So sorgt auch Lucan für
einen reichlichen Nachtisch. Aber kein Stipendiat des Museums tritt auf,
wie man erwarten sollte, sondern Achoreus, ein Priester von Memphis,
dessen Vortrag sich ernst und würdig abheben soll von dem leichtferti-
gen Luxus der Umgebung. Schon im achten Buche erscheint er in dem
Staatsrathe des Ptolemäus. Es handelt sich da um die Frage, ob Pom-
pejus freundlich aufgenommen oder als Feind behandelt werden solle.
Der hochbetagte, milde Greis ergreift zuerst das Wort und räth zum Gu-
ten. Ihm tritt der Bösewicht Pothinus entgegen, der den Plan des Ver-
breehens entwirft. Wenn nun die Mitglieder dieses Staatsrathes mit der
Bezeichnung omnia monstra Pellaene domus eingeführt werden?, wobei der
Dichter wohl an das Horazische fatale monstrum denkt, so ıst schwer ab-
zusehen, wie eine solche Einführung mit der Charakteristik des Achoreus
verträglich ist, der doch ausdrücklich jenen Ungeheuern zugerechnet wird.
Irre ich nicht, so ist dieser sehr starke Ausdruck ursprünglich nur auf
Pothinus und seine Genossen gemünzt gewesen, und die Person des Acho-
reus ist erst später, als die Episode des zehnten Buches feststand, in leicht
erkennbarer Absicht in den Zusammenhang eingefügt worden. Wir hät-
ten dann eine der ın den letzten Büchern zahlreichen Stellen vor uns,
deren Unebenheiten auszugleichen dem Dichter nicht mehr vergönnt war.
Dieser Achoreus also tritt auch bei Cäsar’s Anwesenheit hervor
und verspricht ihm kraft seines Priesteramtes, das lang verhüllte Ge-
heimnifs des Nils zu entdecken:
X 194 Fas mihl magnorum, Caesar, secreta parentum
Prodere ad hoc aewi populıs ignota profanıs.
1 Ganz ähnlich, aber sehr ungeschickt eingefügt sind die Declamationen gegen
den Luxus IV 375ff. und V 527 fl.
2 VIII 474 Consilii uiw tempus erat: tamen omnia monstra
Pellaeae coiere domus, quos inter Achoreus
Jam placidus senio fractisque modestior annis
(Hunc genuit custos Nili cerescentis in arua
Memphis uana sacris; illo cultore deorum
Lustra suae Phoebes non unus uexerat Apis)
Oonsilii uox prima fuit, meritumque fidemque
Sacraque defuncti iactauit pignora patris.
6 DIiELS:
Sit pietas alüs miracula tanta silere,
Ast ego caelicolis gratum reor üre per omnes
Hoc opus et sacras populis notescere leges!.
Ob die Person des Achoreus eine reine Fiction des Dichters ist?, wissen
wir nicht. Jedenfalls ist es die Situation, in der er hier eingeführt wird.
So seltsam diese Erfindung uns anmuthet, so kann man in der Wahl eines
Priesters von Memphis zur Erörterung des Zetema nur einen glücklichen
Griff erkennen. Denn von den ältesten Logographen an wird dem Zeug-
nisse der Priester, namentlich derer von Memphis, eine beachtenswerthe
Autorität in dieser Frage zuerkannt®. Freilich hat Lucan die Weisheit,
die sein Ägypter salbungsvoll vorträgt, weder aus ägyptischer noch aus
griechischer Quelle geschöpft, sondern kurzer Hand aus seines Oheims
“Physikalischen Fragen mehr oder weniger wörtlich herüber genommen #.
ı S. die Texte des Seneca und Lucan im Anhange.
?2 Da der Name ungriechisch ist, so ist zu erwägen, ob er ägyptisch sein kann.
In Parthey’s Verzeichnifs (Ägypt. Personennamen. Berl. 1864) stöfst zuerst Anchoreus
CAyXxogsvs) auf aus Syncellus (12.K. v. A.). “Dieser Name, ’Ayy,wesus geschrieben, lielse
sich etymologisiren ‘any-hör ‘Leben des Horos’, ein im Ägyptischen häufiger Eigenname.’
Damit ist vielleicht zu verbinden Odyogeus bei Diodor I 50, 3, der als Gründer der Stadt
Memphis genannt wird. “Diese Form ist sprachlich ein Unding, und darum liest vielleicht
dieselbe ungenaue Transcription des N. Achoreus vor, die Lucan benutzt hat. Ob dem
Dichter eine wirklich historische Person vorschwebte oder nur wegen der Beziehung zu
Memphis jener alte König den Namen herleihen mufste, mag dahingestellt bleiben. “Der
Königsname der XXIX. manethonischen Dynastie Axyugss, Azwoıs (Hazwars), Azogıs, äg.
Hagru (vielleicht libysch) mufs aus dem Spiele bleiben.” Ich verdanke die sprachliche Be-
lehrung der Freundlichkeit des Herrn Georg Steindorff.
® Hekataios Fr. 278 Müller. [Diodor I 37. Herodot II 21 vergl. mit 191]. Eudo-
xos [Aet. IV 1,7 vergl. Diod. 140 ruv &v Meubsı rwes diAosodwv. Schol. Homer. 8 477].
Auch Seneca hatte in seiner Übersicht über die Nilfrage Quaest. Nat. IV 2 die Ägypter
berücksichtigt; das Kapitel ist verstümmelt (s. u.), aber die Ansicht derselben ist durch
das Excerpt des Ioh. Lydos de mensibus IV S. 93, 3 Bekk. erhalten, der den Seneca
übersetzt hat. S. Rose, Ar. Pseud. S. 240.
* Diese Bemühungen der beiden Schriftsteller sind an einzelnen besonders schla-
genden Stellen schon den älteren Erklärern aufgefallen. Auch A. Bauer in seinem Auf-
satze Antike Ansichten über das jährliche Steigen des Nil (in den A. Schäfer gewidmeten
Historischen Untersuchungen 8. 91) hat diese Beziehungen gestreift. Er kommt zu dem
zweifelhaften Resultate: „Lucan bietet etwas mehr an Zeugnissen als Seneca, von dem er
aber gleichwohl nicht ganz unabhängig ist.“
Seneca und Lucan. 7
Seneca hatte die Frage der Nilschwelle mit demselben Eifer er-
griffen, den alle Vorgänger dem interessanten Probleme gewidmet hatten.
Die Zahl der Monographien über diesen Gegenstand muls im Alterthum
eine ungewöhnlich grofse gewesen sein!. So ist es begreiflich, dafs Se-
neca ihm ein ganzes Buch seiner Quaestiones naturales eingeräumt hat,
dessen eingehende und warme Darstellung gelegentlich die Anerkennung
Goethe’s gefunden hat?.
Seneca beginnt IV 2, 1 mit der einfachen Thatsache der Nilschwelle
im Hochsommer: Nelus ante ortus camiculae augetur medüs aestibus ultra
aequmoctium. Dem Dichter giebt dies Paradoxon zu einer weitschweifigen
und unklaren Paraphrase Anlafs V. 199 —218, die nach dem Geschmack
der Zeit astronomische Erudition und astrologische Superstition in selt-
samer Mischung vereinigt. Auf welchem Wege sich Lucan dergleichen
auch sonst bei ihm vorkommende theils triviale theils abstruse Weisheit
angeeignet hat (Einiges weist auf die Stoa d.h. Poseidonios hin), soll hier
nicht untersucht werden®. Wichtiger ist es, den folgenden Abschnitt ins
Auge zu fassen. Hier wendet sich der Dichter der geschichtlichen Seite
des Problems zu und führt uns mit doxographischer Genauigkeit eine
lange Reihe von Ansichten der Alten vor, die er alle mehr oder weniger
verwerflich findet:
219 Nana fides ueterum Nelo, quod crescat in arua,
Aethiopum prodesse niues. non arctos in «hs
Montibus aut boreas. testis tibı sole perust
Ipse color populi calidique waporibus austri.
Adde quod omne caput fluwi, quodeunque soluta
Praecipitat glacıes ingresso uere tumeseit
Prima tabe mus.
x
1 Ich nenne Aristoteles (Theophrast), Eudoros, Ariston (Strabo XVII 790), Ari-
steides (Aegyptios II 442 ff. Dind.), Theon den Mathematiker und Theodosios (Suidas),
Cicero und Gordianus (Capitolinus V. Gordiani 3, 2).
?2 Mater. z. Gesch. d. Farbenlehre, I. Nachtr.: „Er läflst keine Gelegenheit vor-
beigehen, prächtige und, wenn man den rhetorischen Stil einmal zugeben will, wirklich
köstliche Beschreibungen zu machen, wovon die Art, wie er den Nil und was diesen
Fluls betrifft behandelt ..., ein Zeugnils ablegen mag.“
®° Ganz ähnlich sind die Stellen I 650ff. VIII 167 ff. IX 531fk.
8 DIELS:
Die Ansicht, welche das Steigen des Nils mit dem Schmelzen des Schnees
in Äthiopien in Verbindung setzt, stammt von Anaxagoras, wie die ein-
stimmige Überlieferung bezeugt!. So giebt denn auch Seneca diesen Na-
men an: IV 2,17 Anaxagoras ait ex Aethiopiae vugis solutas niues ad Nr-
hım usque decurrere. in eadem opinione omnis wetustas fuit. hoc Aeschy-
lus Sophocles Euriprides tradunt. Es ist bemerkenswerth, dafs dieser Phi-
losoph bei Lucan wie bei Seneca den Reigen eröffnet. Die weite Ver-
breitung der Ansicht (omnis wetustas) mag dazu Veranlassung gegeben
haben, obgleich ja doch Anaxagoras keineswegs der älteste ist. Wenn
also Seneca mit einer auffallenden Ungenauigkeit zu Beginn dieses Ab-
schnitts sagt ab antiqwssimis incipiam ($ 17), so verräth er, dals er an
der von ihm befolgten Reihenfolge keinen Antheil hat. Hätte er nämlich
den Gesichtspunkt der antiquissimi betonen wollen, so mulste er den Tha-
les an die Spitze stellen, wie dies auch die meisten Berichterstatter ge-
than haben (Doxographi S. 228. Aristeides II 437). Da nun auch andere
Parallelexcerpte mit demselben Anaxagoras beginnen (Schol. zu Apollon.
S. 495, 17 Keil. Mela 1, 53), so sieht man, dafs Seneca hier einer älte-
ren Quelle folgt, als welche sich mit Wahrscheinlichkeit Poseidonios er-
mitteln läfst. Denn abgesehen davon, dafs die Quaestiones zum grolsen
1 S. Doxogr. S. 228. Herodot II 22 polemisirt bereits gegen ihn, freilich ohne
ihn zu nennen. Diese Polemik beginnt recht spitz: 7 de rar ruv cdwv (Nilerklärungen)
mov Emieizesrarn todea narıore Eleusre. Daraus ersieht man, dafs dies die damals
verbreitetste Ansicht war. Die beiden anderen, des Thales und Hekataios, die er berührt,
scheinen ihm eigentlich gar nicht erwähnenswerth. Das athenische Publicum, an das He-
rodot beim Schreiben in erster Linie denkt, hatte allerdings die des Anaxagoras für die
Emısizestern gehalten. Denn Sophokles und Euripides haben sie sich angeeignet, ja auch
Aischylos vertritt sie zweimal, in einem unbestimmbaren Fr. 293 N. (Memnon?) yevos nev
aweiv &zuaYev Emisranaı AiYıomidos yas, Neiros &uS' Emrapgoos yalav zUAVdE mVsUnaTuv
Emonßeie, ev 8 NArog mUaWmOS raus over FyzEL mergaiav Yove. mac 0 euIaAng
Atyuzros yvoo VIMRTOS mAngoUnEıM begesBtov Anunrgos AvTerAsı ray, ur. Sodann in den Hi-
ketiden V.539 K. (565 W.) izveireı d° eisızvounzvou Bercı Bovzorov Mreaoevros Alov maußorov
aAros, AsınWva Yıovoßoczov, over” Emzoy,erou Tupo 1Evog Ude 70 NeiMov voras aSızrov.
Da Anaxagoras’ Buch nach 468/7 veröffentlicht ist (Plin. N. H. II 149. Marm. Par. 57.
Ol. 78, 1), so wäre damit ein werthvolles Zeugnils für die späte Abfassung der Hiketi-
den gewonnen, welche zuletzt an Bücheler einen Fürsprecher gewonnen hat (Rh. Mus.
40, 629). Freilich die Gegengründe, welche u. A. Weil (Gissae 1866 S. VIIIf£.) und
W. Gilbert (Rh. Mus. 28, 481) für möglichst frühe Ansetzung geltend machen, sind noch
nicht widerlegt. S. Löschke Dorpater Progr. z. 12. Dez. 1885 S. 75.
Seneca und Lucan. 9
Theile mit dem Material jenes gelehrten Stoikers gearbeitet sind!, läfst
sich gerade für diesen Abschnitt noch ein besonderes Beweismoment: bei-
bringen. Poseidonios hatte die richtige Ansicht vom jährlichen Steigen
des Nils, die durch Eratosthenes in wissenschaftlichen Kreisen feststand
(Berger, Fragmente des Eratosthenes S. 304), zunächst auf Kallisthenes
zurückgeführt, der sie von Aristoteles kannte. Dieser wiederum habe sie
von dem alten Physiker Thrasyalkes aus Thasos und dieser endlich von
Thales erhalten®. Wenn nun auch bei lohannes Lydos?, d. h. bei Seneca
und nur bei diesem, Thrasyalkes und Kallisthenes verknüpft werden, so
hat man hier ein Beispiel, wie zuweilen die ursprüngliche Anordnung trotz
mehrfachen Excerpirens sich unversehrt erhalten hat.
Es ist anzunehmen, dafs Seneca aus Poseidonios nicht blofs die
historischen Notizen, sondern auch die kritischen Bedenken entlehnt hat,
welche gegen die Ansichten der Physiker geltend gemacht werden. Ge-
sen Anaxagoras sind es im Wesentlichen die bereits von Herodot II 22
beigebrachten Instanzen‘. Die Übereinstimmung des Lucan und Seneca
auch in der Polemik ist eine vollkommene:
1 S. Doxogr. 19, 225ff. Rusch, de Posidonio Lucreti auctore. Greifsw. Diss. 1882.
Ich habe a. ©. vermuthet, dafs Seneca nicht die Meteorologie des Poseidonios selbst, son-
dern eine Bearbeitung durch dessen Schüler Asclepiodot zur Hand genommen habe. Auch
für das Nilbuch ist diese Vermittelung das Nächstliegende. Dagegen kann nicht die IV 2, 16
erzählte Geschichte, die 43/2 spielt, aber erst nach 30 n. Chr. entstanden sein kann, gel-
tend gemacht werden. Asclepiodot, der im Index Stoicorum (herausgeg. von Comparetti,
col. 73, 3) bereits als Schüler des Panaitios erscheint, kann allerdings hier nicht die Quelle
sein. Aber das ist auch nicht nöthig, da diese Notiz ihrem ganzen Charakter nach zu
dem von Seneca selbst zugesetzten Anekdotenwerk gehört.
93
? Strabo XVII 790 (vergl. I 29). Ich lese statt z«g’ «%%ov mit C. Müller
magd Oadov.
3 De mens. IV S. 98, 10 Bekk. &?r« zaı Ogasvarzys 6 Oacıos Tols ernrious dyeww
’ 9 N
EEwSeiv zov Neirov. 775 Yo AlStomias ülrAcis mag« TE 20 nucs opscı dredwotevns, Umo-
Öey,omeuns Te Tas vecderas Moos FWv ernaiwv wWSoumevas erdıdovaı Fov Neiiov, Ws za Karıs$e-
uns 6 Degmarnrızcc ev Tu TereoTW Bıßary av "Erryvızav byew, Eaurov FustenreVcao da: ’Are-
Eavday zu Mazedovı zar yevonevov Em rns AlSıomias sugeiv rov Neidov 3a Armeiowv ou Bgsv zar'
> ’ ’ ’
EREIUND YEVOolLEVWV zaradego [AEVOV.
* Diese hat weder Aristoteles de Nilo (Aristot. Pseudepigr. ed. Rose $. 634)
noch Diodor I 38, wohl aber Aristeides II 442 berücksichtigt.
Philos.-histor. Abh. 1885. IL. 2
10
Herodot II 22, 2
7 \ SR) N
Torre de ol auSgwroL Ümo
TO HUUUATOS MEAavES Eov-
ECKE
nm \ \ ’
moWTev nv Aal MEYIOToV
’ Eu
MagrUgLov ei avsmoı Tap-
, \ SD
EX,OVTaL TVEOVTES AmO TWV
DIELs:
Seneca IV 2, 18
primo Aethiopiam fer-
uentissimam. esse indicat
hominum color adustus
| auster quoque, qui ex
lo tractu uenit, uentus
cahdissimus_ est.
Lucan
221 testıs tıbi sole per-
usti ipse color popul.
222 cahdıque uaporıbus
austrt.
2 2 7
Xwpewv Tourwv Tepual.
Auch die Reihenfolge der beiden Argumente ist dieselbe, während das
Original eine umgekehrte zeigt. Seneca hat aber auch noch eine Anzahl
anderer Bedenken gegen die Ansicht des Anaxagoras, deren erheblichstes
von der Analogie der andern Schneegebirge hergenommen ist, die zwar
auch Flüsse mit ihren Schneemassen speisen, aber nur im Frühjahre.
Auch hierin folgt ihm Lucan:
Lucan
Adde quod omne caput fu,
quodcumque sohuta
Seneca IV 2, 19
atqui horum montium flumina were
et prima aestate intumescunt,
223
deinde hibernis mimnora sumt ... nec Praecipitat glacies, ingresso
Rhenus nec Rhodanus nec Ister ...
aestate proueniumt ... tunc emim ma-
zime integrae adhuc miues ex molls-
were tumescit
Prima tabe niurs.
sımoque tabes est.
Während die früher angeführten Übereinstimmungen die Benutzung der
gemeinsamen Quelle, des Poseidonios oder seines Bearbeiters, nicht aus-
schlossen, ist diese Annahme hier unmöglich. Der Dichter zeist sich
nämlich, was im Verlauf dieser Untersuchung noch deutlicher hervortre-
ten wird, auch in der Wortauswahl deutlich durch seine lateinische Vor-
lage bestimmt. ingresso were tumescıt und prima tabe miuis sind unleug-
bare Reminiscenzen.
Die zeitliche Begrenzung der Nilschwelle, die Lucan mit den Wor-
ten ausdrückt
225 Nilus neque suscitat undas
Ante canıs radıos nec ripis allıgat ammem
Seneca und Lucan. 11
Ante parem nocti libra sub vudice Phoebum.
Inde etiam leges aliarum nescit aquarum,
ist einer früheren Stelle des Seneca entlehnt IV 1, 1ff., wo er die Ver-
gleichung des Nils mit der Donau zurückweist und dann fortfährt IV 2,1
at Nilus ante ortus camculae augetur meduns aestibus ultra aeqwinochum.
Die weitere Ausführung bei Lucan V. 229 nec tumet hibernus u. s. w. ist
lediglich poetisch -astronomische Erweiterung des 225—228 Gesagten, von
der das oben (S. 73) Bemerkte gilt.
Auf festen Boden kommen wir wieder mit den V. 239 ff., welche
ich gleich mit Seneca zusammenstelle:
Lucan Seneca IV 2, 22
239 Zephyros quoque uana wetustas | St Thaletı credıs, etesiae descendenti
His adsceripsit aquis, quorum Ntlo resistunt.
stata tempora flatus
Oontinwique dies et in aera longa
potestas.
Wenn Lucan Bedenken getragen hat das unmetrische etesiae ge-
waltsam, wie einst Lukrez, dem Verse anzupassen und statt dessen eine
etwas weitschweifige Umschreibung zephyros quorum stata tempora gewählt
hat, so wird man ihm das nicht allzusehr verargen. Nur befremdet die
Erwähnung der Westwinde. Man wird dies nicht mit der bekannten Will-
kür der lateinischen Dichter in der Bezeichnung der Winde entschuldigen
wollen!. Lucan meint wirklich den Westwind, wie das folgende zeigt
242 Vel quod ab occiduo pellunt tot? nubila caelo
Trans Noton et fluuio cogunt incumbere nimbos.
Da er sich hier um Regenwind handelt, so kann diese Paraphrase um so
eher gebilligt werden, als die Etesien keineswegs blofs Nordwinde sind
1.8. Palmerius in Oudendorp’s Lucan S. 952. Vgl. Strabo’s Polemik gegen
Eratosthenes I p. 2Sfi.
>)
Ich habe diese minder gut bezeugte Lesart statt depellunt nubila aufgenommen,
weil nicht abzusehen ist, wie sich aus dieser unanstöfsigen Wendung jene auffällige Va-
riante hätte entwickeln können. Aber das tot entspricht ganz dem declamatorischen Stil
des Lucan nnd besagt nicht mehr als multa. Vgl. VII 54. 500. 504. V 178. VI 204. IV 676.
5
12 DEBWSE
(s. Ideler z. Aristotel. Meteorol. I 582) und auch von andern Schriftstel-
lern als Nordwestwinde gefasst worden sind!. Um dergleichen Abände-
rungen auf eigene Hand auszuführen, dürfte wohl die allgemeine geogra-
phische Bildung des Verfassers ausgereicht haben.
Die Etesien spielen bei mehreren Erklärungen eine Rolle. Die
Ansicht des Thales wird genauer bestimmt in V.
244 Vel quod aguas totiens rumpentis hitora Nil
Adsıiduo feriunt coguntque resistere jlatu.
Ille mora cursus aduersique obice ponti
Aestuat in campos.
Dies entspricht Seneca IV 2, 22 Si Thaleti credis etesiae descendenti Nulo
resistunt et cursum eius acto contra ostia marı sustinent ıta reuerberatus ın
se recurrit nec crescıt, sed exitu prohibitus resistit et quacumque mox Po-
tuit inconcessus erumpit. Die letzten Worte sind wahrscheinlich unrichtig
überliefert und so kann vielleicht die Parallelstelle Lucans auch kritisch
nützlich werden?. Schwieriger ist es zu bestimmen, auf wen sich der
erste Theil der Alternative bezieht:
242 Vel quod ab occiduo pellunt tot nubila caelo
Trans Noton et fluwo cogunt incumbere nımbos.
Man könnte an die Ansicht der Ägypter denken, welche Seneca nach
1 Ich erwähne z. B. den Lucan’s Zeit und Sekte nahe stehenden Verf. von De
mundo c. 4 (Aristot. 395@ 2) ws oi Eryaiar Asyonevar miEw ExXovres TÜV TE Emo T7s &grrou
hegonzvuv ze Gedvgwv. Auch Herodot II 21 behauptet, die syrischen Küstenflüsse ström-
ten den Etesien entgegen aus. Aristeides II 439, 13 Dind. sagt ausdrücklich «Ar« uyv oud”
of Eryaimı zar& oTona mavramasır erburWcı od NeiMov, AAN sic zmv oy,Snv zu wer, 0:
yovv mAELOUG aurwWv eie: Öymou gedvgoı. cüroı OÖ amd Enmeges Moos MAıov AVITY,ovTe amo-
Feivousw.
2) Für inconcessus giebt es schwerlich ganz entsprechende Beispiele. Anderer
Art ist das von Bentley zu Hor. Od. Ill 6, 27 Gesammelte. Am ehesten läfst sich das
Vergilische fatis numquam concessa moueri Camarina (A. III 700) vergleichen. Vor allem
aber ist der Begriff, der in inconcessus liegen mülste, schon zur Genüge durch ewitu pro-
hibitus ausgedrückt. Daher läge es nach Anleitung der Lucanstelle aestuat in campos nahe,
in concessa zu vermuthen, was dem Sprachgebrauche Seneca’s gut entspräche. Aber auch
mox steht nicht an seiner richtigen Stelle, so dafs vielleicht ein tieferer Schaden vorliegt.
Seneca und Lucan. 13
dem Excerpte des Iohannes Lydos behandelt hatte S. 98, 3 o Aiyvrrıa
barı raus Eryrious TaTas &E ÜmegrEgeU Tas vebeAas Emi Tov vorov EEwIeiv #d-
HEiDev Rageias narabegoneuns Rooxins avaldAuceıw rev Neiiov. Aber auch die
oben angeführte Ansicht der Thrasyalkes deckt sich damit. Auch Pom-
ponius Mela I 53 verbindet beide Ansichten ähnlich: siue quod per ea tem-
pora flantes etesiae aut actas a septentrione in meridiem nubes super prin-
cipıa ewus (nämlich Nili) ımbre praecipitant aut wenienti obuwiae aduerso
spiritu cursum descendentis inpediunt und Plinius N. H. V 55 causas huius
incrementi uarias prodıdere, sed maxume probabilhs etesiarum eo tempore ex
aduerso flantium repercussum ultra in ora acto mari aut imbris Aethiopiae
aestiuos üsdem etesus nubila wllo ferentibus e religquo orbe!. Ebenso hat
der Scholiast des Apollonios 5. 496, 1 mit der Ansicht des Thales zugleich
jene anonyme verknüpft oder vielmehr verwirrt.
Eine merkwürdige Ansicht bringt Lucan V. 247 ff. vor:
sunt qui spiramına terris
Esse putent magnosque cauae compagis hiatus.
Commeat hac penitus tacıtis discursibus unda ...
253 ...... tunc omma flumina Ndus
Uno fonte uomens non uno gurgite perfert.
Seneca bezeugt uns, dafs diese Idee von dem Apolloniaten Diogenes her-
rührt. Seine Darstellung läfst trotz der Weitschweifiskeit die Vorstellung
des Philosophen nicht ganz klar hervortreten. IV 2, 28 Diogenes Apollo-
niates ait: „Sol humorem ad se rapıt: hunc adsiccata tellus eu mari duecit,
cum(?) ceteris aquıs. fieri autem non potest, ut una sicca sit tellus aha
abundet. sunt enim perforata ommia et inwcem peruia et sicca ab humadis
sumunt alıquando. mist alıqwid terra accıperet, exarwisset. ergo sol undigque
1 Der Ausdruck ultra in ora acto mari begegnet sich mit Seneca a. O. acto con-
ira ostia mari, so dafs Plinius vielleicht hieraus excerpirt hat. Unvorsichtig wäre es übri-
gens bei einer Übereinstimmung der Anordnung, wie sie hier vorliegt, sofort an eine ge-
meinsame Quelle des Schol. z. Apoll., Mela und Lucan denken zu wollen. Denn die
Combination der beiden Ansichten ergiebt sich durch die Sache selbst. Namentlich die
Benutzung des Landsmannes Mela neben Seneca, die ja für Lucan nahe genug lag, ist
abzuweisen. Denn Mela nennt nicht blofs die Etesien, sondern sagt ausdrücklich actas «a
septentrione in meridiem nubes, womit Lucan’s ab occiduo caelo unvereinbar ist.
lab DIES:
trahit, sed ex his, quae premit, maxime: haec meridıana sunt. terra cum
exaruit plus humoris ad se adduecit. ut in lucernis oleum illo flunt, ubi
exuritur, sic aqua illo incumbit, quo wis calorıs et terrae aestuantıs ar-
cessit. unde ergo trahit? ex ıllis scilicet partibus semper hiberms, quae
aguis exundant.“ Aus dieser umständlichen Schilderung das Wesentliche
zu erfassen, war für den Dichter nicht leicht. Bei Seite gelassen hat
er die Thätigkeit der Sonne, die Ägypten aussauge und dadurch das
ganze Nals der Erde dorthin ziehe, wie der Docht das Öl. Gerade hier-
auf legen die anderen Berichterstatter den Hauptnachdruck!. Lucan da-
gegen greift die phantastische Vorstellung von der Durchlöcherung der
Erde und der innern Communication der Ströme heraus. Dabei ist es
merkwürdig, dafs er wieder einen Ausdruck des Seneca wörtlich herüber-
genommen hat:
Lucan Seneca
249 Commeat hac penitus tacitis | Interrogare Diogenem hcet: quare,
diseursibus unda | cum pertusa sint cuncta? et inucem
commeent, non ommibus locıs aesta-
te marora sunt flumima?
Weniger leicht als die bisberigen Ansichten läfst sich die folgende
auf ihren bestimmten Urheber zurückführen.
355 Rumor ab oceano, qui terras alligat ommes,
Exundante procul wolentum erumpere Nılım
Aequoreosque sales longo mitescere tractu.
1 Aristoteles de Nilo 634, 27 Schol. Apoll. 496, 6 Aristeides II 476. Vgl. Schol.
des Lucan z. d. St. Ennius de Nilo ait, quod per aestatem sol ab inferioribus aquam supra
reuocet et hinc eo tempore Nilus increscat. Die Ansicht des Oenopides (Seneca II 4, 26)
und Timaeus bei Plinius V 55 ist ähnlich. Von Diogenes ist übrigens auch der Mythos
im Platonischen Phaidon p. 111 Cff. abhängig.
2 Diese Herstellung geht aus von P quasi conpertis as (asunt), die beste Hds.
E giebt quasi compertus animus (qı conı? atm?), also las der Archetypus quasicopertusas,
worin pertusa sich als richtig erweist beim Vergleich mit $ 28 sunt enim perforata omnia
et inuicem peruia (s. S.13 u.), vgl. Seneca im Ludus 14, 4 alea ludere pertuso fritillo, Lu-
crez III 936 pertusum uas. Mit der Form des Nebensatzes ist das Folgende zu vergleichen
quare ulla pars terrae sine humore, cum omnis ad se ex alüs terris trahat. Haase las quare
si complexus ammibus est et cuncta inuicem commeant, in Gedanke und Ausdruck verfehlt.
Seneca und Lucan. 15
Bei Seneca entspricht am meisten $ 22 Buthymenes Massiliensis testimo-
num dieit: „Namgam, ingwt, Atlanticum mare, unde Nilus hut, maior
quamdıu etesiae tempus obseruant. tunc enim eicitur mare instantibus uen-
tis. cum resederint, pelagus conquiescit minorque descendentl inde wis Nilo
est. ceterum duleis marı sapor est et similes Niloticis beluae.“ Bei ober-
flächlicher Betrachtung könnte man an eine Benutzung dieser Stelle glau-
ben!. Aber der dritte Vers
Aequoreosque sales longo mitescere tractu
läfst sich nicht mit der Auffassung des Euthymenes vereinigen, wie sie
uns abgesehen von Seneca durch viele Autoren bezeugt ist?. Der Mas-
saliotische Kaufmann hatte danach nicht behauptet, dafs der Nil, der im
Südwesten von Afrika aus dem Ocean gespeist werde, erst durch den
langen Lauf seines ursprünglichen Salzgehaltes beraubt werde, sondern
er fabulirte, der Ocean (f e£w Sararra) habe überhaupt sülses Wasser.
Soll man also annehmen, dafs Lucan die bei Seneca völlig deutlich refe-
rirte Fabel des Euthymenes auf eigene Hand rationalisirt habe? Ich glaube
nicht. Es ist viel wahrscheinlicher, dafs die entsprechende Stelle des Se-
neca uns verloren ist und sich auf einen andern Gewährsmann bezogen
hat. Denn aufser Euthymenes vertraten auch Hekataios (Fr. 278) und
die ägyptischen Priester bei Diodor I 37, 7 die Ableitung des Nils aus
dem Ocean. Hat doch sogar noch der kenntnifsreiche Geograph Dikaiar-
chos an dieser abenteuerlichen Ansicht festgehalten, wie Ioh. Lydos uns
aus Seneca’s verlorenem Abschnitte berichtet S. 98, 17: Arzarapyes &v IIe-
1 Siehe A. Bauer a. O., der seltsamer Weise die völlig selbständige Ansicht
V.258ff. damit confundirt hat. Auch die Gleichsetzung von Seneca IV 2, 24 quia dul-
cissimum quodque et lewissimum sol trahit mit Lucan V. 260 undae plus quam quod digerat
aer tollitur beruht auf Mifsverständnifs, wie es in jener Abhandlung leider nicht vereinzelt
vorkommt. So ist auch S. 75 der gezierte Satz des Aristeides II 475 «AR oUre Massa-
Aıyraı ralre Asyovsıv 09” 6 Massarıwrys dmoins Als eimev zur mısras, AA mis aay,alos
KEAAoV za momrızos übel mifsdeutet worden. Da auch Reiske ihn falsch verstanden hat,
so stehe hier eine Übersetzung: Weder wissen die Massalioten etwas davon (um die Ansicht
ihres Mitbürgers bestätigen zu können), noch ist der Massaliote (Euthymenes) ein ebenso
zuverlässiger Schriftsteller als er ergötzlich ist, sondern er gehört noch zur alten Fabulisten-
zunft (wie Herodot und die Logographen).
? Aristoteles de Nilo S. 636, 86, Anonymus de Nilo (Athenaeus ed. Mein.
S. 131, 17), Aötius IV 1,2 (Doxogr. 385, 1), Aristides II 481 Dind.
16 Da m 88
grodw us En Ns "Ardavrınns SaAarıns ov Neirov avaysıoIaı Bovrera (Fr.
Histor. II 52). Eine dritte Möglichkeit bleibt noch zu erwägen, dafs Lu-
can die Grundansicht des Euthymenes adoptirt, aber mit einer anderen
verquickt habe, welche auf die Priester von Memphis zurückgeführt wird.
Sie suchten zwar nicht die Quelle des Nils ım Ocean, aber die merkwür-
dige Sülsiskeit des Nilwassers leiteten sie, wie Lucan, aus dem langen
Laufe des Flusses durch die heilse Zone ab. Diodor I 40, 4 dia yap rs
HATOKELAUWUEINS aurov lg zaselerIa nal dia ToUTo yAunvrarov eva mav-
zuy Tuv Torauav, &re hureı ToU mugwWoous Tav 70 Üygov amoyAuraWovros. Dals
diese Ansicht auch sonst getheilt wurde, scheint Aristoteles zu bezeugen
Fr. 258 (V 12255 12) WomeQ Yap abmlnusvov 70 rov NeiNov Udwp eorıv.
Unbestimmbar bleibt zunächst die letzte Hypothese, welche uns
Lucan in seinem historischen Überblicke giebt:
258 Nec non oceano pascı Phoebumque polumque
Oredimus. hunc cahdi tetigit cum brachia cancerı
Sol rapıt atque undae plus quam quod digerat aer
Tolhitur. hoc noctes referunt Niloque refundunt.
Werden wir uns zuerst klar, was das heifsen soll: “Die Sonne und der
Himmel nähren sich vom Ocean. Steht die Sonne im Zeichen des Kreb-
ses, so zieht sie tags über jenes Wasser an sich und es steigt mehr Was-
ser auf, als die Atmosphäre verarbeiten kann. Diesen Überschufs schla-
gen die Nächte nieder und geben ihn dem Nil zurück’. Diese sinnreiche
Erklärung ist uns sonst völlig unbekannt, aber es ist nicht schwer, den
Urheber derselben zu errathen. Die Ansicht, dafs die Sonne sich von
der Ausdünstung des Oceans nähre, ist hauptsächlich von den Stoikern
vertreten worden (s. Zeller, Phil. d. Gr. III 1°, 189%), und der Vertreter
der späteren stoischen Meteorologie, Poseidonios, hatte sie adoptirt!. Auch
darin stimmte Poseidonios mit jener Hypothese überein, dafs das Steigen
des Nils aus atmosphärischen Niederschlägen auf dem Äquatorialgebirge
zu erklären sei (Strabo II 98. XVII 790). Man darf daher diese letzte
1 Macrob. Sat. 123, 2 Iovis appellatione solem intellegi Cornificius scribit, cui unda
oceami uelut dapes ministrat. ideo enim sicut et Posidonius et Oleanthes adfirmant, solis mea-
tus a plaga quae usta dieitur non recedit, quia sub ipsa currit oceanus.
Seneca und Lucan. nr
Hypothese mit emiger Wahrscheinlichkeit dem Poseidonios zuschreiben.
Ob sie aber Lucan durch Seneca wie das Übrige kennen gelernt oder
durch andere Vermittelung in seinem stoischen Katechismus gefunden hatte,
mufs unentschieden bleiben. Jedenfalls wird man das credimus des Dich-
ters ganz wörtlich als das Lehrbekenntnifs des stoischen Dichters auf-
fassen dürfen. Denn sein ägyptischer Priester bringt zum Schlusse eine
ganz andere Enthüllung.
Dem Verkünder uralter Weisheit würde eine so rationalistische Er-
klärung des geheimnifsvollen Vorganges schlecht anstehen. Er hatte bei
Beginn seiner Rede versprochen
195 secreta parentum
Prodere ad hoc aeuri populis ignota profanis.
Somit mulste er etwas Besonderes, Höheres, Mystisches verkünden:
262 Ast ego, si tantam dus est mihi soluere litem,
Quasdam, Oaesar, aquas post mundi sera peractı
Saecula concussis terrarum erumpere uenis
Non «id agente deo, quasdam conpage sub ipsa
Oum toto coepisse reor, quas ille creator
Atque opifex rerum certo sub dure cohercet.
Der Nil, verkündete er, nimmt eine bevorzugte Stelle in dem Weltall ein.
Er gehört zu den Urflüssen, die zugleich mit der Welt von dem Schöpfer
der Dinge geschaffen worden sind und seitdem nach ganz besonderen Ge-
setzen gelenkt werden.
Es ist wohl sicher, dafs die eigentliche ägyptische Priester-Weis-
heit, die nicht verwechselt werden darf mit dem, was griechische Leicht-
gläubigkeit auf diese Quelle zurückführt, den Nil nicht zum Gegenstande
tiefsinniger Speculation gemacht, sondern einfach als Göttergeschenk hin-
genommen oder auch selbst als Gott verehrt, seinen Ursprung aber als ein
den Menschen unbekanntes Räthsel unerörtert gelassen hat. Somit ist die
Enthüllung oder vielmehr Verhüllung des Achoreus ganz dem Wesen des
ägyptischen Priesters entsprechend. Auch könnte man jene Ansicht, dafs
der Nil vom Anfange der Welt stammt und seine besonderen Gesetze hat,
Philos.-histor. Abh. 1885. III. 3
18 DıEıs:
durch die Denkmäler selbst bestätigt finden wollen!. Aber der Dichter
hat es sich leichter gemacht, er hat auch diese Weisheit einfach aus Se-
neca herübergenommen. Die Stelle findet sich nicht in dem Nilbuche,
sondern beiläufig in dem Abschnitte über das Wasser III 22 alıud est
aquarum genus quod nobis placet coepisse cum mundo. siue ılle aetermus
est, haec [hoc E] quoque funt [fehlt E] semper: siue initium est aliquod [est
nach aliquod wiederholt E] «li, haec quoque cum toto dısposita est. quae
sit haec quaeris? oceamus [occeanus E] et quodeumque ex «llo terras mare
interhut. iudicant quidam flumina quoque, quorum inenarrabilis na-
tura est, cum ipso mundo traxisse principia ut Hıstrum |hystrum E]
ut Nilum, uastos amnes magisque insignes quam ut dicı possit
eandem illis originem guam ceteris esse. Besonders merkwürdig ist
es hier wieder, wie der Neffe den gezierten Ausdruck coepısse cum mando
aufgegriffen und in seinem cum toto coepisse nachgebildet hat?. Soll das
ein Compliment sein, wie es die Alten lieben, um dem geistigen Vater
der Episode den schuldigen Dank abzustatten, oder hat dem leidenschaft-
lichen Dichter, als er in der fieberhaften Aufregung jener Zeit seine letz-
ten Bücher hinschrieb, nur die Zeit gefehlt, die Gedanken eigenartig aus-
zuprägen? Fast sollte man das Letztere glauben, da sich der Dichter
auch im Folgenden selbst in trivialen Wendungen eng an sein Vorbild
anschlielst.
1 S. besonders die Nilstele von Gebel Silsileh, herausgeg. von Stern, Zeitschr.
für ägypt. Sprache 1873 8.130: „Es lebe der gute Gott, der den Nun liebende Nil, der
Vater der Götter des Götterkreises auf dem Ocean, die Fülle, der Reichthum, die Nahrung
Ägyptens, der ernährt alle Welt durch sich selbst, ehrwürdig in seiner Bahn und
reich in seinen Fingern. Die Auserwählten sind in Freude, wenn er kommt. Du bist der
einzige, der sich selbst erschaffen; nicht wei/s man, von wannen du bist.“ Papyr.
Sallier t. XIff. (Dümichen, Gesch. des alten Ägyptens 1879 S. 11*): „Anbetung dir, 0
Nil! der du dich offenbart hast diesem Lande ... Verborgener, der du bringst, was fin-
ster ist, zum Licht.“ Todtenbuch e. 146 12. Thor: „Es wendet Isis ihre Arme, um zu er-
leuchten den Nil (Ha'pi) in seiner Werborgenheit.“ Ob dies heilsen soll, dafs das Myste-
vium des Nils erst den Seligen offenbart werde, scheint mir wie einem sachverständigen
Freunde, dessen Rath ich eingeholt, sehr zweifelhaft. Ebensowenig ist mir klar, wen
Lucan’s Priester unter dem deus undarum celator, Nile, tuarum versteht, der ihm nach
V.280 das Geheimnifs enthüllt hat.
2 (Üoepisse in ähnlicher Bedeutung steht auch schon VIII 459 aut quemquam fas
est coepisse deorum.
Seneca und Lucan. 19
Achoreus hat die Neugier seiner Zuhörer schlecht befriedigt durch
seine mystische Auskunft. Das fühlt er selbst, darum fügt er einen zwei-
ten Theil an, in dem er den Lauf des Flusses, soweit er ihm bekannt ist,
beschreibt. Zwischen diese beiden Theile, den doxographischen und den
geographischen, schiebt er eine kurze historische Episode ein. Auch den
früheren Herrschern dieses Landes, führt er aus, ist es nicht gelungen,
das Geheimnifs des Nils zu lüften. Weder Alexander noch Sesostris noch
Kambyses ist es gelungen, den Nil von der Quelle zu trinken. Diese
Episode schwebte offenbar dem Dichter schon am Anfange des zehnten
Buches vor, wo er es als das letzte Ziel von Alexander’s unersättlichem
Ehrgeiz bezeichnet, den Nil von der Quelle zu trinken: “Wenn ihm der
Tod nicht Schranken gesetzt hätte,
40 Ambıssetque polos Nilumque a fonte bibisset’!.
Die historische Erudition, die sich hier zeigt, scheint von dem übrigen
Thema weit abzuliegen, so dafs man gern dem Dichter seine Freiheit
zurückgeben möchte. Aber gerade die Expedition Alexander’s zur Er-
forschung der Nilquellen bringt uns auf die alte Quelle zurück.
272 Summus Alexander regum, quem Memphis adorat
Inwdit No, musitque per ultima terrae
Aethiopum lectos. ıllos rubicunda perusti
Zona poll tenuit: Nilum widere calentem?.
Diese Expedition ist sonst nicht bekannt. Selbst der Alexander-
roman (Curtius IV 35) weils blofs, dafs der Eroberer sich mit dem Ge-
! Die Wiederholung dieses pointirten Ausdrucks V. 279 quam Nilum de fonte
bibit gehört zu den Zeichen mangelnder Feile. Martial de spectac. 3,5 Et qui prima
bibit deprensi flumina Nili in ähnlichem Sinne spielt wohl auf Lucan an.
2 Die alte Überlieferung der Hdss. quem hat man allgemein mit der offenbaren In-
terpolation guos vertauscht. Natürlich kann quem nicht auf Alexander gehen (um dies zu
ermöglichen, ist in M Summus regum Alexander, in Y Regum summus Alexander umgestellt
worden), sondern es bezieht sich auf Nilo und giebt zugleich das Motiv des inuidit an.
Diese Auffassung bestätigt der Dichter selbst VIII 474 (s. S.52) custos Nili ... Mem-
‚phis uana sacris. Über das NeiRoszorsiov in Memphis s. Diodor 136,11. Die göttliche
Verehrung des Flusses und seine Combination mit Osiris ist allgemein bekannt. Vogl.
Tibull. I 7, 23 ft.
3%
20 DıIsELs:
danken trug, der aber nicht zur Ausführung kam. Aber aus dem Ioh.
Lydos! geht hervor, dafs Seneca allerdings eine solche Expedition er-
wähnt und den Kallısthenes als Theilnehmer bezeichnet hatte. Da nun
Strabon an derselben Stelle, wo er diesen Bericht des Kallısthenes kurz
erwähnt (XVII 790 aus Poseidonios), auch der Expedition des Sesostris und
Kambyses nach Oberägypten gedenkt?, so liegt die Vermuthung aufser-
ordentlich nahe, dafs Lucan diese historischen Notizen aus Seneca’s Ex-
cerpt des Poseidonischen Berichts entnommen hat, dafs also Seneca für das
Mifsverständnifs der Alexander-Expedition verantwortlich zu machen ist.
Denn seinem griechischen Gewährsmann läfst sich dergleichen kaum zu-
trauen. Die ausführliche Schilderung, die Seneca an einer andern Stelle,
de ira ec. 20, vom Kambyses-Zug gegeben hat, stimmt vortrefflich zu Lu-
can’s kurzem Berichte.
Dem Anfange der geographischen Schilderung des Flusses bei Lu-
can 287—303 entspricht nichts in den ‘Physikalischen Fragen’. Entwe-
der hat der Dichter nach Schulreminiscenzen die nicht sehr genaue Schil-
derung entworfen oder er hat, was auf dasselbe hinausläuft, ein gewöhn-
liches Compendium zu Rathe gezogen. Die Schilderung von Meroe
303 Meroe fecunda colonis
Laeta comis ebeni, quae quamvıs arbore multa
Frondeat, aestatem nulla sibi mitigat umbra
1 De mens. IV 8. 98,3 Ws za KadrısSevns 6 Ilegrarnrızes ev ru Teraoru Bıßata
av "ErAyvızav dbycw Ervrov SUSTRaTEVTER IL "ArsEavdow Tu Mazedov: zaL YEvolevov em 775
AlSıorias eügeiv rov NeiAov EE Areigwv onBewv Har’ Erelvov yevonevav #aracbegolevor. An dem
Irrthum des Lydos-Seneca (s. Rose, Aristot. Pseud. 242) mag wohl Schuld sein, dafs
in der griechischen Quelle die Bezeichnung KarrıoSevng 6 ausrgareucanevos "Arebavdew mit
seinem Berichte über die Autopsie der Gewährsmänner confundirt wurde. Die Autopsie
bezeugt nämlich Aristot. de Nilo S. 639 Rose in sensum enim wenit quemadmodum per se
widentes facti a uisis d. h. ausorraı yeınSevres NoSovro, wie Strabo XVII 789 (s. oben)
von derselben Sache berichtet.
P} c , m > ’ > ’ 6 ’ J >, m J
0: raraı Bacıreis OVv TRVUO echgovrıoav TWV TOLOUTWV. AULTTEO orrRELoL cobıes YEyo-
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x 3 x m. \ ’ 5 [4 x n J
zyv AlyUmToV ARTEN wV MEoHATeE za exXgı zns Meoons nere zwv Alyurriwv Ara.
Seneca und Lucan. al!
entspricht im Allgemeinen Diodor I 33, 1. 3 (= Strabo XVII 321f.)1. Das
arbore maulta scheint dem Expeditionsberichte der von Nero ausgesandten
Centurionen (Plin. XII 19 s. S. 30%) zu widersprechen, welcher lautet raram
arborem Meroen usque ad Syenen ... nullamque nisi palmarum generis
esse docuit. Lucan scheint sich daher auf ältere Nachrichten zu stützen,
wie denn auch die allgemeine Beschreibung des Nilufers
290 Cursus in occasus flewu torquetur et ortus
Nunc Arabum populis, Libycis nunc aequus harems
sich mit dem erwähnten Abschnitt des Diodor berührt 132, 5 zauras rav-
ToIas Mololueves‘ more uEv Yap EAirreras Moos ruV Ew, more de mo0os Enmegav, Eomı d'
örE moos znv nernußgiav. Aber aus dergleichen Allgemeinheiten lassen sich
keine weiteren Schlüsse ziehen. Die Serer, welche dem Ursprunge des
Nils am nächsten wohnen sollen,
292 Teque (Nile) vident primi, quaerunt tamen hi quoque Seres
sehen ganz wie eine groteske Übertreibung des Dichters aus, der den
fabulirten Zusammenhang des Flusses und Äthiopenlandes mit Indien ins
Hyperbolische steigerte. In einem nur halbwegs wissenschaftlichen Buche
hat er dies gewils nicht gefunden?.
Von Philai an, wo Seneca’s Beschreibung beginnt, ist die Über-
einstimmung wieder eine vollständige.
307 Inde plagas Phoebi damnum non passus aquarım
Praeueheris sterılesgue diu metiris harenas,
Nunc omnes unum wires collectus in ammem,
Nunc uagus et spargens facilem tıbi cedere rıpam.
Rursus mulbfidas revocat piger alueus undas,
Qua dirimunt Arabum populis Aegyptia rura
Regni claustra Philae.
1 Auch die sonstigen Kenntnisse ägyptischer Verhältnisse Lucan’s (VIII 823 ff.
X 181ff.) berühren sich zum Theil mit Strabo und Diodor, ohne eine Entscheidung
zu geben.
2 Ich stimme hierin ganz mit Palmerius (bei Oudendorp S. 930) überein.
Die Gründe, warum in Heliodor’s Roman X 25 die Serer ebenfalls in der Nachbarschaft
der Athiopen erscheinen, hat gut entwickelt E. Rohde, Gr. Roman 4421,
223 DıELs:
Seneca IV 2,3 magnas sohtudines peruagatus et in paludes dıffusus et x
ingentibus sparsus circa Philas primum ex uago et errantı colligitur. Es
unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs wie das uagus dem ex uago der
Quelle entspricht, wie das gezierte spargens ‚facilem tbı cedere rıpam das
in paludes diffusa umschreibt, so das bei Seneca verstümmelte ngentbus
sparsus seine Entsprechung in multfidas undas finden muls. Ich ver-
muthe daher, dafs insulisgue ingentibus oder besser aremis ingentbus zu
ergänzen ist, s. Diodor 133, 4. Seneca fährt fort: ab hac Nilus magnus
magis quam wiolentus egressus Aethiopram harenas, per quas ad commer-
cia Indiei maris iter est, praelabitur. Wenn schon das praelabitur Lucan’s
praeueheris, das magnus magıs quam wiolentus das piger alueus hervor-
gerufen zu haben scheint, so ist in dem Folgenden der Anschluls so
eng, dafs man hierdurch dem verderbten Texte des Dichters zu Hülfe
kommen kann.
313 Regmi claustra Philae. mox te deserta secantem
Qua, dirimunt nostrum rubro commercia pontum.
So giebt die Vulgata den zweiten Vers sinnlos. Vergleicht man die Vor-
lage per quas ad commercia Indici manris iter est, so sieht man sofort,
qua entspricht dem per quas, ist also echt. Dagegen ist dirimunt un-
verständlich und durch ein leicht begreifliches Versehen aus Qua diri-
munt V.312 eingedrungen. Nach dieser Ausscheidung des Emblems bleibt
nach überwiegender handschriftlicher Überlieferung übrig:
314 Qua So- nostrum rubro commercia ponto.
Die früheren Vermuthungen sind alle unbrauchbar!. Ich vermuthe:
Qua vungunt nostrum rubro commercia ponto.
Schon bei Seneca wird der ruhige Lauf des Flusses durch die Wüste un-
terhalb von Philae in einen Gegensatz zu den Katarakten gesetzt IV 2, 4
! S. Trampe, De Lucani arte metrica. Berlin 1884. S.19. Die dem Verf. von
mir mitgetheilte Ergänzung tradit sollte nur den Sinn bezeichnen. Denn die Ellipse von
mare bei nostrum halte ich für unzulässig. Derselbe Sinn hätte sich z. B. durch Qua
mare dat nostrum rubro commercia ponto ausdrücken lassen, vgl. VIII 29 3 abruptumst no-
stro mare discolor unda. Aber die oben mitgetheilte Vermuthung verdient wohl den Vor-
zug, vgl. VIII 854 aut Arabum portus mercis mutator eoae.
Seneca und Lucan. 23
magnus magıs quam wolentus ... harenas ... praelabitur. excipiumt autem
cataractae nobilis spectaculo locus. Ebenso $5 ad ıd lutosus et turbidus
fluit: at ubi scopulos cautwum werberaut spumat. Die Rhetorik Lucan’s
weils diesen Gegensatz effecetvoll zu benutzen.
313 ... mox te deserta secantem ...
315 Mollis lapsus agıt. quis te tam lene fluentem
Moturum totas wiolenti gurgitis wras,
Nile, putet? sed cum lapsus abrupta warum
Excepere tuos et praecipites cataractae
Ac nusquam wuelltis ullas obsistere cautes
320 Indignaris aquwis, spuma tunc astra lacessıs.
Bemerkenswerth ist, abgesehen von dem genauen Anschlufs an Seneca’s
Ordnung, die Wiederholung des prosaischen excipere V. 318. Freier hat
er die anschauliche Schilderung des brausenden Katarakts wiedergegeben,
doch finden sich alle wesentlichen Momente wieder.
Von besonderem Interesse ist die Gegenüberstellung von V. 323 ff.
mit der Vorlage.
323 Hinc, Abaton quam nostra uocat ueneranda wetustas,
Terra potens primos sentit perculsa tumultus
Et scopuli, placuit fluwi quos dicere wenas,
Quod manrfesta now primum dant signa tumorıs.
Man darf ohne Weiteres behaupten, dafs diese Verse ohne Hilfe der Quelle
unverständlich bleiben würden: IV 2,7 exiquo ab hac spatio petra düun-
ditur: Abaton Graeci wuocant nec \llam ul misi antıstites calcant. la
primum saxa auctum flumimis sentiunt. post spatium deinde magnum duo
emrcant scopuli: Nili uenas uocant incolae, ex quibus magna wis fundi-
tur, non tamen quanta operire possit Aegyptum ... Man sieht daraus,
dals für Seneca der heilige Fels Abatos defswegen besonders merkwürdig
ist, weil sich hier zuerst das Steigen des Flusses ankündigt. Wer sollte
dies aus den Worten des Lucan
324 Pprimos sentit perculsa tumultus
herauslesen? Die völlige Übereinstimmung der beiden Autoren an dieser
Stelle ist nicht ohne Frucht in kritischer Hinsicht. Abaton quam nostra
34 DIisELSs:
uocat ueneranda uetustas ist anstölsig, weil ja nicht die Ägypter, sondern
die Griechen jene Benennung "Aßares gegeben haben. Darum haben schon
Hdss., danach auch neuere Kritiker statt uocat die Lesart coht befürwor-
tet. Seneca zeigt in seinem Ausdruck Abaton Graeci uocant, dafs die
handschriftliche Überlieferung bei Lucan richtig ist. Nicht einmal jene
Vergefslichkeit des Dichters wird man anzunehmen haben, mit der er
seinen Ägypter unbefangen vom mare nostrum reden läfst (V. 314), son-
dern er meint offenbar den Begriff der Heiligkeit, der im griechischen
Worte liest, nicht das Wort "Aßares selbst. Ebenso heifst es IX 822:
Eece procul saeuus sterıhs se robore truncı
Torsit et inmisit (daculum uocat Africa) serpens!.
Auch die Stelle des Seneca ist nicht unverdächtigt geblieben. Man
stiels an dem Wechsel petra — la saxa an. Gertz machte den plau-
siblen Vorschlag, das Sätzchen «la — sentiunt nach incolae zu setzen.
Keine Frage, dals ılla sava nach duo scopuh formell besser palst, auch
der Sinn leidet nicht. Aber die Parallelstelle Lucan’s erweist die Trüg-
lichkeit dieser Vermuthung. Denn Seneca’s :lla primum saxa auctum flu-
mins sentiunt entspricht dem Verse
324 primos sentit perculsa tumaultus,
der sich ebenso an die Erwähnung des Abatosfelsens anschliefst wie bei
Seneca. Auch zeigt die Wiederholung des eigenthümlich gebrauchten sen-
tire?, wie eng hier der Anschlufs des Dichters an sein Original ist.
Dagegen mufs wohl in dem Anfange des Verses 324 eine Verderb-
nifs anerkannt werden. Was terra potens hier bedeuten soll, ist nicht
abzusehen. Vielmehr empfiehlt sich die Verbesserung des Salmasıus Plin.
Exerc. 312, der, auf unsere Senecastelle exiguo ab hac spatio petra dundh-
tur gestützt, vermuthet hat terra patens d.h. quae hınc (s. V. 323) patet.
1 Ähnlich sind wohl auch die Wendungen bei Ennius Est locus, Hesperiam quam
mortales perhibebant und bei Lucrez in hoc caelo qui dieitur aer u. A. dgl. aufzufassen, die
natürlich das Verständnils der griechischen Sprache voraussetzen. Aber eine Absicht, sie
dadurch „als die allgemein geläufige Weltsprache* zu bezeichnen, wie man neuerdings geur-
theilt hat (L. Müller, Q. Ennius. Petersburg 1834. S. 35°), ist schwerlich anzuerkennen.
2 Vel. VIL77I animi sensere tumultus.
Seneca und Lucan. 235
Die folgenden Verse Lucan’s sind ein besonders schönes Beispiel
der Concordanz:
325 Et scopuli, placwt fluuri quos dicere uenas,
Quod manıfesta noui primum dant siıgna tumorvs.
Genau so, nur ausführlicher, hatte Seneca sich ausgedrückt IV 2, 7 post
spatium deinde magnum duo emicant scopuli (Nılı uenas uocant inco-
lae), ex quibus magna ws funditur, non tamen quanta operire possüt Aegyp-
tum. in haec ora stipem sacerdotes et aurea dona praefecti, cum sollemne
uenit sacrum, laciunt. hinc dam manıfestus novarum uirdum Nilus ...
Der Ausdruck Nih uenae muls Seneca selbst nicht gewöhnlich er-
schienen sein, da er die Metapher III 15, 1 ausführlich erläutert!. Da-
her die etwas umständliche Bezeichnung, die der Dichter treulich nach-
ahmt. Im Original war wohl einfach nur von hreQes Neirouv die Rede,
ohne dafs bei diesem den Griechen geläufigen Ausdrucke an einen beson-
deren Namen gedacht zu sein scheint. Denn davon ist sonst nichts be-
kannt, während die Felsen selbst offenbar identisch sind mit den bei He-
rodot II 28 in der Nähe von Syene erscheinenden, welche hier Krophi
und Mophi heifsen. Man glaubte, dafs dort der Flufs aus den Felsen
entspränge?, wie auch die zwei ÖOenturionen, die Nero zur Entdeckung
der Nilquellen ausgesandt hatte, zwei Felsen gefunden hatten, ex qubus
ingens ws Jluminis excıidebat (Seneca VI 8, 3). Auch Aristeides II 460
giebt davon eine angeblich auf Autopsie beruhende Schilderung, die aber
in der That nur eine Wiederholung von Herodot’s Bericht zu sein scheint.
Auch Seneca spielt offenbar auf Herodot an, aber so dafs man sieht, er
bringt nur die Polemik seines Originals in ein kurzes und fast undeut-
liches Excerpt. Die Worte IV 2, 7 ex qwibus magna ws funditur, non
tamen quanta operire possıt Aegyptum werden erst recht verständ-
lich, wenn man sich der Vorstellung des Saitischen Priesters erinnert, die
1 Im terra quoque sunt alia itinera per quae aqua, aliü per quae spiritus currit
adeoque ad similitudinem illa humanorum corporum natura formauit, ut maiores quoque no-
stri aquarum adpellauerint wenas. Doch gebraucht er III 2, 115 (Haupt), III 7,3, III
19, 4 den Ausdruck ohne Weiteres.
2 Siehe Nilstele a. ©. [S. 181] S. 132 So wenn der Nil aus seinen beiden Quellen
(Kerti) hervorkommt, dann mache man viel die Opfer der Götter.
Philos.-histor. Abh. 1885. III. 4
36 DIELS:
Herodot II 28 nicht ohne Bedenken wiedergiebt, dafs dort die wahre Quelle
des Flusses zu suchen sei, die ihr Wasser von diesen Felsen aus wie von
einer Wasserscheide nach Norden und Süden sende. Hiersegen war offen-
bar bei Poseidonios (wie bei Aristeides II 460, 18) ein entschiedenes Wort
gesagt und die Unmöglichkeit nachgewiesen worden, dafs alles Wasser der
Nilüberschwemmung aus dieser einen Quelle kommen könne. An einer
andern Stelle, wo Seneca im eigenen Namen spricht, läfst er die Sache
unentschieden!. Denn hier handelt es sich um den Bericht jener von Nero
abgesandten Officiere, dem zu widersprechen nicht räthlich war.
Noch unklarer als Seneca drückt sich Lucan aus:
325 placunt fluuii quos dicere uenas,
Quod manıfesta noui primum dant signa tumoris.
Offenbar soll der nouus tumor den nouae wuires bei Seneca entsprechen,
es soll der Zuwachs an Wasserfülle bezeichnet sein, der hier bei den
beiden Felsen zuerst deutlich sichtbar hervortritt. An die jährliche Nil-
schwelle kann man unmöglich denken wollen. Denn abgesehen von der
authentischen Interpretation, die wir seiner Quelle verdanken, würde der
Dichter sich selbst widersprechen. Schon der Abatosfelsen soll das Stei-
gen des Flusses zuerst verkünden. Wie könnten also die Nik uenae das
Merkmal ebenfalls zuerst angeben sollen? Ist diese Auffassung unmög-
lich, so kann auch et scopuli nicht, wie dıe Berner Commentare wollen,
auf sentiunt tumultus «wo xewed bezogen werden. Vielmehr ist et scopul
in freierer Weise an das hine V. 323 angeknüpft, die uns ebenfalls auf
die Conjeetur des Salmasius terra patens führt, bei welcher sich die Er-
gänzung hine patent zu et scopuli von selbst ergiebt.
Seneca beendet diese Beschreibung des Felsenthales mit den Wor-
ten IV 2, 8 hinc iam manıfestus nouarum wirium Nilus alto et profundo
alueo fertur, ne in latitudinem excedat obiectu montium pressus.
Dies hat der Dichter lebendig aufgefalst:
327 Hinc montes natura uagıs circumdedit undıs,
Qui Libyae te, Nue, negant: quos inter in alta
It conualle tacens iam morıbus unda receptis.
1 VI8,5 siue caput illa siue accessio est Nili.
Seneca und Lucan. 37
Es ist kaum nöthig darauf hinzuweisen, wie Seneca’s einzelne Sätz-
chen sich in umgekehrter Reihenfolge wiederfinden: obzectu montium pres-
sus in dem ersten Verse, ne in latitudmem excedat in dem Qui Libyae te,
Nile, negant, endlich das alto ac profundo alueo in dem quos inter in alta
it conualle wiederkehrt. Der in den Hdss. Lucan’s wunderlich varirte
Schlufs des Verses fügt, wenn die aufgenommene Lesart die echte ist,
ein poetisch empfundenes Bild hinzu. S. S. 42.
Bei Memphis erst erweitert sich das Bett: Seneca IV 2, 8 circa
Memphin demum hber et per campestria uagus in plura scinditur flumina.
Ebenso Lucan:
330 Prima tıbı campos permattit apertaque Memphis
Rura modumque uetat crescendi ponere ripas.
Damit schliefst die Beschreibung des Nillaufes und zugleich ziemlich un-
erwartet und effectlos die Rede des Achoreus.
Überblickt man das ganze Abhängigkeits-Verhältnifs des Lucan zu
seinem Vorbilde, so drängt sich die Überzeugung auf, dafs er bei der
Ausarbeitung dieser Episode seinen Oheim nicht blofs um Rath gefragt
oder etwa bei gelegentlichen Recitationen aus den Quaestiones den Stoff
im Allgemeinen kennen gelernt habe, sondern dafs das fertige Buch ihm
vorlag, das er mit Mulse studirt und oft sklavisch nachgeahmt hat. Be-
sonders wichtig ist es, dafs er auch bereits das dritte Buch gekannt,
also wohl das ganze Werk, nicht blofs die einzelnen, mit besonderen
Proömien an Lucilius gesandten Bücher zur Hand gehabt hat!.
Mit der Chronologie der beiden Schriften stimmt das Quellen-
ergebnils vollkommen überem. Wir wissen?, dafs die uns erhaltenen
1 Siehe F. Schultess, de Senecae Quaest. nat. et epist. Bonn 1872, S. 25. In
den übrigen Büchern der Pharsalia klingt V 336 ff. an Seneca III 4 miramur quod an,
V1343 ff. an VI25,2. Die Verse über Ägypten VIII 446 Terra suis contenta bonis non in-
diga mercis aut Iovis: in solo tanta est fiducia Nilo erinnern an Seneca IV 2,2. Über
die Ähnlichkeit von VI 817 mit Epigr. 400 (1263 R.) s. ©. Rofsbach Disqu. de Senecae
scriptis. Vratisl. 1882, S. 22. In den drei ersten Büchern, die den Quaest. natur. zeitlich
wohl vorausgehen, habe ich keine Reminiscenz bemerkt. Deutlich ist zwar I, 74ff. die Be-
nutzung der Consol. ad Marciam 26, 6, aber gerade das beweisende omnia miztis sidera si-
deribus concurrent ist wider Lucan’s Technik und vielleicht interpolirt. Trampe 8. 69.
? Schultess a. ©. S. 18ff.
4*
238 DısEurs:
Bücher der Quaestiones naturales in den Jahren 62 und 63 rasch hin-
geschrieben sind, nachdem die kaiserliche Ungnade dem Minister volle
Mufse gewährt hatte. Am Ende des Jahres 62, in welchem er entlassen
wurde, hatte er bereits unser viertes Buch vollendet, im sechsten er-
wähnt er bereits das Erdbeben, durch welches Pompeji nomis februarus
Regulo et Verginio consuhbus zerstört wurde und das siebente Buch muls
er noch vor dem Ende dieses selben Jahres 63 beendet haben!.
1 Martens, de Senecae vita. Altona 1871. S.45f. Ob dem siebenten Buche
diese Stelle nach dem sechsten zukommt, ist wie die ganze Ordnung der Bücher noch
eine offene Frage. Die Ordnung, die F. Schultess a. O. S. 16 aufstellt, Prologus, II,
III, IVa (de Nilo), IVb (de grandine), V, VI, VII, I, hat Manches für sich. Aber diese
Ordnung ist weder systematisch, noch erklärt sie genügend die Verstümmelung und die
verschiedene Anordnung in den beiden Hdss.-Klassen. Fordert man einen systemati-
schen Aufbau des (nicht abgeschlossenen) Werkes, so ist ein Aufsteigen von den terre-
stria (aqua, terra) zu den meteora (aer, aether) und caelestia das Natürliche. Den ersten
Theil scheint Buch III nach dessen Proömium einzuleiten bestimmt, wie Buch I nach sei-
nem Proömium die Vermittelung zwischen Erde und Himmel einleitet. Damit scheint keine
Anordnung der bisher bekannten Hdss. verträglich, wohl aber eine seltsame Zählung, die
im Parisinus 8624 erhalten ist. Ich gebe die Über- und Unterschriften nach freundlicher
Mittheilung des Hrn. O. Rofsbach: Titel des Buches fehlt. Dann Anfang:
(IVb) Grandinem ete.
Unterschrift: Zucii Annei Senece liber tercius explicit de nubibus.
(V) JImeipit IIII“: de uentis. Ventus est etc.
Unterschrift: ZLucii annei Senece naturalium quaestionum. ad lueilium iuniorem
de uentis liber III“: explieit.
(VI) Jneipit V** de terremotu. Pompeios etc.
Unterschrift: Expleit septimus.
(VII) Zneipit octauus. Nemo ete.
Explicit liber Sextus.
(ID) Imecipit Septimus. Quantum ete. (Prolog und I. Buch).
Explieit liber VII".
(II) Imcipit liber VIII. Omnis ete.
Eaplieit liber VLIT“®.
(UI) Ineipit IX. Non preterit ete.
(IVa) Incipit libeR X; Delectat ete. Der Codex bricht bereits wernis IV 219 (247,1
Haase) ab.
Die Reihenfolge dieser Hdss. IVd, V—-VH, I—IVa ist zwar die von PL und Vincentius
Bellovacensis, die Haase und Larisch als richtig zu erweisen suchten, während sie
F. Schultess mit guten Gründen zurückgewiesen hat. Nebenher aber geht in den Über-
und Unterschriften in dieser Hds. eine andere ältere Zählung, nach der das sechste
Seneca und Lucan. 29
Ja es ist wahrscheinlich, dafs das ganze Werk bereits im Jahre 63
abgeschlossen wurde. Diese Schnelligkeit hat nichts Überraschendes, wenn
man die geringe Selbständigkeit dieser Compilation erwägt. Auch hatte der
Verfasser für einzelne Abtheilungen bereits Vorarbeiten. So berührt sich
sein Buch de sıtu et sacris Aegyptiorum in dem einen erhaltenen Fragmente
(Servius Aen. VI154 — Lucan. Commenta Bern. X 323 (S. 328, 16 Us.) sehr
nahe mit den Quaest. Natur. IV 2, 7. Ferner hatte er in seiner Jugend
eine einschlagende Schrift de terrae motu verfafst. Er selbst spricht es
aus in der Praefatio zu seinem dritten Buche, dafs er am Abende seines
Lebens sich eines allzugrofsen Werkes unterfangen habe; defshalb müsse
wie auf einer Reise die Verspätung durch gröfsere Eile eingebracht wer-
den!. Es hat also gar kein Bedenken, die Quaestiones innerhalb dieser
zwei Jahre 62 und 63 vollendet zu denken.
Lucan’s zehntes Buch fällt, wie wir aus Allem schliefsen dürfen,
in die Zeit unmittelbar vor seiner Verhaftung. Setzt man den Abschlufs
Buch (das in der Hds. wirklich das dritte ist oder, da das erste als drittes bezeichnet
wird, als quintum bezeichnet sein sollte) als septimus und das folgende siebente als octa-
wus erscheint. Die Zählung des ersten Buches (= IVb unserer Zählung) als tercius
scheint ebenfalls dieser alten Zählung anzugehören, da das folgende explicit de nubibus
nur auf der Tradition des Archetypus, nicht aber auf Conjeetur beruhen kann, weil der
erste Abschnitt des Buches IV über die Wolken in allen Hdss. ausgefallen ist. Aus
der Subscription des Archetypus stammt auch in B f. 52" das verkehrt gestellte et nubi-
bus in dem Titel Buch IVb de grandine et nubibus. (Dem Kapitel über. den Hagel pflegte
von Aristoteles an ein Kapitel über die Wolken in der griechischen Meteorologie voran-
zugehen, vgl. Aötios III 4 reg: vedwv verwv Yıdvav Yaragıv.) Ist also IVd das dritte
Buch in der alten Anordnung gewesen, so wird man auf die Vermuthung geführt, dafs,
da ein Ausfall ganzer Bücher nicht wahrscheinlich ist, jene ältere Ordnung mit Buch III
de aquis, deren Proömium dazu trefflich stimmen würde (s. Schultess S. 11) begon-
nen (vgl. II1 13), und mit Buch VII de cometis als liber VIII geschlossen habe. Dann
würden Buch II und I vielleicht vor V (das sein Proömium verloren hat) gestanden ha-
ben. Auch gegen diese Ordnung läfst sich Manches anführen. Aber ich will diese Frage
hier nicht erörtern, zumal ich nicht im Besitze des ganzen hierfür nothwendigen Hand-
schriftenmaterials bin.
1 III Praef. 4 faciamus quod in itinere fieri solet: qui tardius ewierunt uelocitate
pensant moram. Wie rasch der Verf. arbeitete, ergiebt sich auch daraus, dafs er die sei-
ner Zeit allgemein (bei Vitruv, Plinius, Ammian, Cassius Dio) verbreitete Ansicht des
Juba vom Ursprung des Nils am Atlas mit keinem Worte erwähnt. Poseidonios wulste
freilich davon noch nichts.
30 DIELS:
und die Publication der drei ersten Bücher mit ihrer Schmeichelei für
Nero in die Jahre 61—631!, so bleibt für die späteren Bücher, die eine
deutliche Entfremdung, ja sogar Feindseliskeit gegen den Kaiser aus-
sprechen, nur die kurze Frist von ein bis zwei Jahren, die zwischen sei-
nem Anschlusse an die Pisonische Verschwörung und seiner Verurthei-
lung liegen. Lucan mufs fieberhaft gearbeitet haben. Der unfertige Zu-
stand der späteren Bücher liegt ja auch klar zu Tage. Der eitle Jüng-
ling wollte, mochte es nun gehen, wie es wollte, wenigstens seine dich-
terische Unsterblichkeit retten, die ihm der kaiserliche Rivale vorzuent-
halten suchte?. So begreift es sich leicht, wie der Dichter nach dem
nächstliegenden Material für seine Episode griff, wie er das kürzlich
veröffentlichte Buch semes Oheims als gute Beute betrachtete und in
seiner Hast oft ungenau, unklar und allzu sklavisch nachbildete. Für
den Unterschied der beiden sonst so ähnlichen Naturen scheint mir dabei
ein kleiner Zug bezeichnend zu sein. Nero hatte in seinem Ehrgeize das
von den grölsten Eroberern ungelöst gebliebene Problem der Nilquellen
lösen wollen. Er sandte zunächst zwei Centurionen nach Ägypten, die
natürlich nicht ans Ziel kamen, sondern, wie oben gezeigt, ihrem Auf-
traggeber nur eine alte Fabel als eigene Forschung zu berichten wuls-
ten®. Seneca durchschaut den Betrug, läfst aber mit einem diplomatischen
1 Genthe, de Lucani vita et scriptis. Berlin 1859, S. 61. 73.
2 IX 982 Inuidia sacrae, Caesar, ne tangere famae.
Nam si quid Latüs fas est promittere Musis,
Quantum Smyrnaei durabunt uatis honores,
Venturi me teque legent: Pharsalia nostra
Viuet et a nullo tenebris damnabitur aeuo.
In metrischer Beziehung hat er streng an der scrupulösen Technik der ersten Bücher fest-
gehalten. Doch findet sieh IX 256 einmal ergö pari am Anfang des Hexameters, was sonst
vermieden ist. Anderes bei Trampe S. 54.
3 Seneca VI 83 Nescis autem inter opiniones, quibus enarratur Nili aestiua inum-
datio, et hanc esse, a terra illum erumpere et augeri non supernis aquis, sed ex intimo red-
ditis? Ego quidem centuriones duos, quos Nero Caesar, ut aliarum wirtutum ita uerilatis in
primis amantissimus, ad inuestigandum caput Nili miserat, audiui narrantes longum illos iter
peregisse, cum a rege Aethiopiae instructi auzilio commendatique prozimis regionibus [so E]
penetrassent ad ulteriora. „<Et) quidem, aiebant, peruenimus ad immensas paludes, quarım
exitum nec incolae nouerant nec sperare quisguam potest: ita implicatae aquis herbae sumt
et aquae neque pediti eluctabiles nec nauigio, quod nisi paruum [per unum E] et unius ca-
Seneca und Lucan. 31
siue — sine die Sache unentschieden, und damit Nero ja keinen Anlafs
zur Mifsdeutung seiner Skepsis habe, geht er hier an dem Namen des
Kaisers mit einer besonders höflichen Verbeugung vorüber: Nero Caesar
ut aharum wirtutum ta weritatis in primis amantıssimus. Das stimmt mit
der reservirten Haltung des Seneca durchaus überein, der trotz seiner
tiefen Verstimmung keinen Augenblick die Maske der Loyalität ablegte.
Ja aus einer Stelle seiner Quaestiones scheint hervorzugehen, dafs er
noch immer hoffte, wieder wie ehedem in den Staatsrath des Fürsten
berufen zu werden. Er versteht es, seine Ansicht von der Nothwendig-
keit des Consiliums im Gegensatze zum Absolutismus sehr geschickt in
dem Capitel über die Blitze anzubringen II 43, 2 discant hi quicunque
magnam inter homines adepti potentiam sunt, sine consiho ne fulmen qw-
dem mitti: aduocent, consıderent multorum sententias, nociturum! temperent,
hoc sıbi proponant, ubi alıquid percuti debet, ne low qwidem suum satıs
esse consıhum?.
Ganz anders sein ungestümer Neffe. Wäre das Zerwürfnils mit
Nero nicht dazwischen gekommen, so wäre die Digression über den Nil
gewils nicht ohne Huldisung für den vorübergegangen, dem es gelungen
sei, das alte Welträthsel zu lösen (X 40). Welchen Ton der Schmeichelei
der rhetorische Dichter dabei anschlagen konnte, lehrt die gewils nicht
ironisch gemeinte Anrede an Nero im Proömium des ersten Buches.
Statt dessen werden zwar Alexander, Sesostris und Kambyses erwähnt
(X 272 ff), dagegen schweigt er von Nero’s jüngst unternommener Ex-
pax limosa et obsita palus non ferat. Ibi, inquit, widimus duas petras, ex quibus ingens wis
luminis exeidebat.“ Sed siue caput illa siue accessio est Nili, siue tunc nascitur siue in ter-
ras ex priore recepta cursu redit: nonne tu credis illam, quiequid est, ex magno terrarum
lacu adscendere® Plinius N. H. VI 181 Haec sunt prodita usque Meroen, ex quibus hoc
tempore nullum prope (oppidum) utroque latere exstat. certe solitudines nuper renuntiauere
principi Neroni missi ab eo milites praetoriani cum tribuno ad explorandum, inter religua
bella et Aethiopicum cogitanti. Siehe XII 19 (oben S. 21,3), woraus hervorgeht, dafs auch
Verwaltungs- und Finanzinteressen bei der Expedition ins Spiel kamen.
1 Sententias nocituri, uim conjieirt Gertz ohne Noth.
®? Erwähnung verdient auch, dafs er einmal einen Hexameter aus Nero’s Ge-
dichten eitirt I5, 6 ut ait Nero Caesar disertissime ...
colla C'ytheriacae splendent agitata columbae.
32 DIELS:
pedition, die doch Jedem damals bekannt sein mulste! und die nament-
lich das Interesse seines Oheims erregt hatte, welcher die Officiere selbst
gehört haben will. Dies Schweigen, das ja damals auch gefährlich wer-
den konnte, scheint mir für den feurigen Oppositionsmann ebenso charak-
teristisch als die Devotion der Quaestiones für den vorsichtigen Oheim.
12 Aus der Thatsache, dafs Seneca erst im sechsten Buche den Bericht der zwei
Centurionen ganz beiläufig erwähnt, der in dem eigentlichen Nilbuche nicht gestanden zu
haben scheint, darf man vielleicht schliefsen, dafs die Rückkehr der Expedition zwischen
die Abfassung des vierten und sechsten Buches fällt.
Seneca und Lucan. 33
ANHANG.
LUCAN PHARSALIA X 194—331
UND
SENECA NATURALES QUAESTIONES IV 1. 2.
Philos,-histor. Abh. 1885. IN. b)
34 DıEıs:
Bernensis 45, s. X.
Bernensis 370, s. X. Scholienlemmata aus Comment«
Bernensia ed. H. Usener, Lipsiae 1869.
Erlangensis 856 (Irmischer), s. XV.
Gemblacensis (Bruxellensis 5330), s. X.
Montepessulanus (Buherianus) H. 113, s. IX.
Parisinus lat. 8039, s. X (theilweise unlesbar).
Parisinus lat. 7900A, s. X.
Montepessulanus H. 362, s. X.
Vossianus Leidensis lat. fol. 63 (BD), s. X.
Vossianus Leidensis lat. q. 51 (A), s. X.
Berolinensis fol. 35, s. XI.
Berolinensis oct. 1, s. XII.
a
II
KeMsdamonzsonk
Bere
B! bedeutet B von erster Hand, B? von zweiter Hand u.s.f. Wo B! allein
steht, ist die richtige Lesart von späterer Hand corrigirt oder übergeschrieben. Dasselbe
gilt von den übrigen Siglen. Von PQ ist in der Regel nur die Lesung erster Hand,
von C nur das Auffälligere, wobei (C) die nach Verbesserung unwesentlicher Schreib-
fehler gewonnenen Lesarten der Lemmata bezeichnet, mitgetheilt. Die [ ] eingeklammer-
ten Buchstaben sind auf Rasur von späterer, durch den Exponenten bezeichneter Hand
geschrieben. 9 bedeutet ausradirten Buchstaben. Die Varianten ae, g oder e sind in der
Regel nicht berücksichtigt.
Für die Collationen bin ich folgenden Gelehrten zu Dank verpflichtet: Hrn.
Hermann Hagen, Bern (B), Hrn. Hermann Genthe, Hamburg (EMT), Hrn. Her-
mann Usener, Bonn (G), Hrn. Anton Elter, Bonn (PQ), Hrn. Carl Burger jun.,
Leiden (UV). X Y habe ich selbst verglichen.
Seneca und Lucan. 35
LUCAN PHARSALIA X 194—331.
„Fas mihi magnorum, Caesar, secreta parentum
195 Prodere ad hoc aeui populis ignota profanıs.
Sit pietas aliis miracula tanta silere,
Ast ego caelicolis gratum reor ire per omnis
Hoe opus et sacras populis notescere leges.
Sideribus, quae sola fugam moderantur olympi
200 Occurruntque polo, diuersa potentia prima
Mundi lege data est. sol tempora diuidit aeui,
Mutat nocte diem, radiisque potentibus astra
Ire uetat cursusque uagos statione moratur.
Luna suis uicibus Tethyn terrenaque miscet.
205 Frigida Saturno glacies et zona niualıs
Cessit. habet uentos incertaque fulmina Mauors.
Sub Ioue temperies et nunquam turbidus aer.
At fecunda Venus cunctarum semina rerum
Possidet. inmensae Oyllenius arbiter undaest.
195 Prodere MPTUY (s. 7 632, V 176, VI 428, X 181. 285) : Edere BEGQ
X adhuc P 196 sylere U 197 ego] ero Q:ergo T caelicolis CEM
TUV?: caeliolass BGPQV!XY reorZ B omnis GM!:omnes BCEM?PQT
UVXY 198 p populis U 199 syderibus BU sola M : cumque Priscian.
1193 H. moderatur U!: meditantur © (324,9) : mederantur C (324, 12) olimpi BG
QTUVY 200 pollo T! 201 au BEGMPQT!UVSXY?:ani EV!Y!
202 MZutatZ P : Muta C 203 in (getilgt) statione B : stacione Y 204 thetin UY:
tethinBGPTVX terrarumque Bl 205 Fragida B! glaties T [zJona T?
206 f[ullmina M mauos Q 207 numquam BMPUXY turbidis M1 208 Ad
B!M! foecunda EPV uenis Mi ’or rerum ein sofort getilgtes 1 P 209 im-
mensae RVY cillenius CPQU3Y:: cellenius U! unda est M! : undae est B?G
M?PUVX:unde et BBCQTY
A
36 DıieenSs:
20 Hunec ubi pars caeli tenuit, qua mixta leonis
Sidera sunt cancro, rapidos qua sirius ignes
Exerit, et uarıı mutator eirculus annı
Aegoceron cancerumque tenet, eui subdita Nili
Ora latent. quae cum dominus percussit aquarum
215 Igne superiecto, tunc Nilus fonte soluto
Exit, ut oceanus lunarıbus incrementis
Jussus adest, auctusque suos non ante coartat,
Quam nox aestiuas a sole receperit horas.
Vana fides ueterum Nilo, quod crescat in arua,
WD
1%]
(=)
Aethiopum prodesse niues. non arctos in illis
Montibus aut boreas. testis tibi sole perusti
Ipse color populi calidique uaporibus austri.
Adde quod omne caput fluui, quodeumque soluta
Praecipitat glacies, ingresso uere tumesecit
1557
w
a
Prima tabe niuis: Nilus neque suscitat undas
Ante canis radios nec ripis allıgat amnem
Ante parem nocti libra sub iudice Phoebum.
Inde etiam leges aliarum nescit aquarum,
Nee tumet hibernus, cum longe sole remoto
230 Officis caret unda suis: dare iussus iniquo
210 Nune Bt coeli E qui B2 qu[a mixta] U® mixta X : mista
Weber 211 Sydera V rapidos BEM?PQTUXY? (s. Oudendorp zu VI 337):
rapido M!: rabidos G V Y! syrius V ignis M! 212 Exserit ET ua-
rium Mi mutatorr CEQU!VXY (s. IX 496 nec sidera tota ostendit Libycae finitor
eirculus orae, vgl. Trampe a. 0.421) : mutatur B'EMPT U? : mutat[or] G? 213 Aego-
geron B! : Egloceron E canchrumque P : vielleicht cancrumue teneo P : tenent ©
214 latentZ M dominis, aber von erster Hand verbessert X 215 superreeto M!:
subperiecto Y tum X 216 ut] et QV1, als Variante X occeanus Y 217 auc-
tosque M1 coarctat Weber 213 aestiuat B! recepit B! 219. 220 lücken-
haft E 219 quo PQ 220 Aethyopum B : aetiopum Q arftos Ml: artos C:
arcthos V 221 sibi TZUV perustis B! 223 capud M!Q quodeungue
EGQTV solutas X 224 glaties T tumeseit, i aus a verbessert G 225 labe
EM!U! 226 rupis M! adligat ET 227 noctis M!Q, als Variante G?
228 eciam X 229 tumat B! : tu[met] T? hibernus CEGMQUVY : hiber-
[nus] T? : hiberno B : hibernos P : hibernüs X 230 Offtüs P :: Ofeiis MY mıa-
net Y! suus B!
Seneca und Lucan. 37
Temperiem caelo mediis aestatibus exit
Sub torrente plaga. neu terras dissipet ignis,
Nilus adest mundo contraque incensa leonis
Ora tumet cancroque suam torrente Syenen
235 Imploratus adest, nee campos lıberat undis,
Donec in autumnum declinet Phoebus et umbras
Extendat Meroe. quis causas reddere possit?
Sie iussit Natura parens discurrere Nilum,
Sie opus est mundo. zephyros quoque uana uetustas
240 His adseripsit aquis, quorum stata tempora flatus
Continuique dies et in aera longa potestas:
Vel quod ab occiduo pellunt tot nubila caelo
Trans noton et fluuio cogunt incumbere nimbos,
Vel quod aquas totiens rumpentis litora Nili
255 Adsiduo feriunt coguntque resistere flatu.
Ille mora cursus aduersique obice ponti
Aestuat in campos. sunt qui spiramina terris
231 Temperies M1 [mediis estatibus] G? aestantibus B 232 neu B(C)
EGPQTUVX2Y :ne[fe] M?:ne X1 dissipat B : dissecet G! : dusipet Y ignes
BIT 233 incaena B! 234 Oratum[et] U? : Oratu M! tuiet B1 torren-
tes M! sienen GPX!Y: sienem VU: siene@ : uenem M! : suenen M? 235 in-
ploratus XY adit M undas Ul 236 aultum]num” M? : auctumpnum E de-
elinat Y phoebus deelinett EG?QV phobus M! 237 Extendit, aber verbes-
sert E meroes QU und als Correctur Vi possitBGM?PQTUVXY: posset
EM! 238 Sie [iussit] U3 : Ni quis sit VI parans, sofort verbessert X! : potens
EX?Y discurrere BEGPQTUVX (s.V.249) : decurrere M : decurre (so!)Y Ny-
lum U 239 zephiroo QUVX 240 adseripit BEMPT V Priscian IV 13
(1 125, 2 H.) : ascripsit G Y einige Hdss. Priscian’s a. O. : asseripsit U : abseripsit Q : ad-
seribit X aquis fehlt U! 241 continuitque BM?P! in ara MQVX:
in aere BEGPTUY: inarent M! 242 quod aquas totiens (s. V. 244) ab hocei-
duo M! hoceiduo auch U pellunt tot EQVX und als Variante Gt: depellunt BG
MPTUY s. totiens V. 244, vgl. S. 112 243 nothon BGPUVY incurrere
G?Q nymbos PU 244 aquisY totiensBEGPQTUVX: tociens Y : toties
EM rumpentis CEGMI!T: rumpentes BMPQUVXY litora BEGMTV:
littora PQUY 245 Adsiduo EM : Atsiduo T: Assiduo BBGPUVXY:: Assidio
B! : Assidue nach einer Hds. Weber Assiduoque ferens cogunt C restere X! flatu
EQ und als Variante M? UV®X?Y?2:flutus BMIPTUV!, als Variante G? : fluetu
CGM?X, als Oorrectur V!, als Variante Q : fluctul Y 246 ceursus, u corrigirt U
38 DIL EIL Se:
Esse putent, magnosque cauae compagis hiatus.
Commeat hac penitus tacıtis discursibus unda
250 Frigore ab arctoo medium reuocata sub axem,
Cum Phoebus pressit Meroen tellusque perusta
Nlue duxit aquas, trahitur Gangesque Padusque
Per tacitum mundi: tune omnia flumina Nilus
Uno fonte uomens non uno gurgite perfert.
255 Rumor, ab oceano, qui terras allıgat omnes,
Exundante procul uiolentum erumpere Nilum
Aequoreosque sales longo mitescere tractu.
Nec non oceano pasciı Phoebumqgue polumque
Credimus. hunc, calidi tetigit cum brachia cancri,
»60 Sol rapit, atque undae plus quam quod digerat aer
Tollitur: hoc noctes referunt Niloque refundunt.
Ast ego, si tantam ius est mihi soluere litem,
Quasdam, Caesar, aquas post mundi sera peracti
Saecula concussis terrarum erumpere uenis
265 Non id agente deo, quasdam compage sub ipsa
Cum toto coepisse reor, quas ille creator
Atque opifex rerum certo sub iure cohercet.
248 putant X Y und a in ae corrigirt P1 magnosque, o aus a Q! con-
pagis B 249 Commeat GMPXY : comeat BIETV :: commoueat QX? hac E
VX:ac BEIG!M!TU:&%ePY: fehlt QX? tacitis penitus G! tacitus M1
250 Frygore B arZetoo M : arethoo V axe Bl 251 Com Y meroem B::
meroZen U : moeroen X tellus[que perusjta X 252 ducxit Y padusque, d cor-
rigirt V! : palusque B! 254 una fonte B1 mouens B gurgute X profert Y
255 occeano BUY adligat ET omnis C 256 Exendante T! 257 Eequo-
reosque B! : Aequoreasque UlP : Aequoreusque Q 258 porlumque T : polosque M
UX! 260 adque CM! digerit CX1: digerat auch Servius ad Aen. 1607 (I 179,
22 Thilo) 261 reserunt X : deferunt B! perfundunt M! U 262 tantum B!
M!: tanta Q : tantas X° ius B(O)G!MP!TUX, als Variante Q : fass EQV, als
Variante G? P?X2 263 peracta B 264 saeculla GM V: secula EPQTU
XY concussi P! : percussit B! ueris M! 265 non id agente BG!PU!VY:
non adigente G?: non adagente Q : non ite agante M!:non it agente M? : non ita agente
als Variante U? dao T conpage MX 266 com Y cepisse QTUY ce-
pissent con C reos B! 267 Adque M! coberceett EMPTU:: cocercet G :
ehoercet B : coerceet QVXY
Seneca und Lucan. 39
Quae tibı noscendi Nilum, Romane, cupido est,
Et Pharüs Persisque fuit Macetumque tyrannis,
270 Nullague non aetas uoluit conferre futuris
Notitiam, sed uincit adhuc natura latendı.
Summus Alexander regum, quem Memphis adorat
Inuidit Nilo, misitque per ultima terrae
Aethiopum lectos. illos rubicunda perusti
>75 Zona poli tenuit: Nilum uidere calentem.
Venit ad occasus mundique extrema Sesostris
Et Pharios currus regum ceruicibus egit:
Ante tamen uestros amnes Rhodanumque Padumque
Quam Nilum de fonte bibit. uesanus in ortus
2:0 Cambyses longi populos peruenit ad aeui,
Defectusque epulis et pastus caede suorum
Isnoto te, Nile, redit. non fabula mendax
Ausa loqui de fonte tuo est: ubicumque uideris,
Quaereris, et nullı contingit gloria genti,
285 Vt Nilo sit laeta suo. tua flumina prodam,
Qua deus undarum celator, Nile, tuarum
Te mihi nosse dedit. medio consurgis ab axe
268 noscente B! cupiö%do est X est BEMPQTUVY : nach Nilum
gestellt G 269 Et] Hec G macedumque E P! V Y : macerumque MI tiran-
nis GQ 271 Notiiam TUXY uncit B! 272 Summus regum Alexander
regum
M! : Summus //III/III alexander M2 : Regum summus Alexander Y qum BEPTU
V2X, undeutlich Y, als Variante Q, (s. 8. 19?) : quos GQ V!,o (auch s?) radirt M? mem-
NIS
phys TU: memphi radorat T 274 illo © ribicunda B 275 calljentem U®,
aus carentem? 276 occasus terrae mundique sesostris U occasuss BG!IMPTU
X3:occasum CEG?QVX! exterema M! seostres G! : sesosteris C : serostris X? :
serestris (re undeutlich) X 277 cursus M reg-um U 273 rodanumque PUY
279 nylum U: nillum Y 280 Cambises BCEPQTUVXY populos longi G!
281 partus Y 282 [nile] T2 : nilo B! redit] fuit G! 285 ubicungque EG
QTV uideres M1 284 conting[it] genti U3 : contingat X! 2835 leta Q@
UY :loeta BP: nota als Variante U? X? tua] tanta X fulmina B prodam
und die nächsten Versausgänge verwischt X 2866 Qua BEPTTU, als Variante V*:
qua
quae M' : que UV!:que Q : qua, a aus e verbessert und em übergeschrieben G? nyle U
287 michi U consurgit M! : cü surgis Y
40 Du Ss
Ausus in ardentem ripas attollere cancrum,
In borean is rectus aquis mediumque booten:
290 Cursus in occasus flexu torquetur et ortus
Nune Arabum populis, Libycis nune aequus harenis.
Teque uident primi, quaerunt tamen hi quoque Seres,
Aethiopumque feris alieno gurgite campos.
Et te terrarum nescit cui debeat orbis.
25 Arcanum natura caput non prodidit ulli
[Nee hieuit populis paruum te, Nile, uidere]
Amouitque sinus et gentes maluit ortus
Mirari quam nosse tuos. consurgere in ipsis
Jus tibı solstitus, alıena erescere bruma
30o Atque hiemes adferre tuas, solique uagarı
Concessum per utrosque polos. hie quaeritur ortus,
Ilie finis aquae. late tibi gurgite rupto
Ambitur nigris Meroe feeunda colonis
Laeta comis hebeni, quae quamuis arbore multa
305 Frondeat, aestatem nulla sibi mitigat umbra:
Linea tam rectum mundi ferit ılla leonem.
288 adtollere B 289 [is] M? T?2 : es B!: fehlt C boeten T 239.
290 am Ende unleserlich X in] ad © ocasuss BEGPTUVXY : occasum C
MQ fezu EGQTVX: fiexus B(C)PUY: flexuS M! torquer Q : torqul[etur]
ır2 [et] & : in € (327, 17) ortum Q : in ortum als Variante G? 291 libieis (C)
QUY:Iybiis BGPTV [equus] G? : aecus (C) arenis CEUVY 292 hy
BU: bie B?PT: hee M? 293 Aethyopumque U teris G! Y : feres M!: geris (C)
294 Ethie U!l: Hic et U3 nee seit U 295 Archandum GPUVXY 296 fehlt
GPQTAX!: nachgetragen G!P? X? : fehlt, von zweiter Hand nachgetragen, dann wieder ge-
tlgt B 297 Ammouitque M!Q : Admouitque G! : Ammonuitque T situs als Va-
riante U? 298 quem X! : qua undeutlich Y consurge P! 299 solstieiis U
300 Adque M! adferre BMP : afferre GITUVY: perferre EG?QX. Beides un-
verständlich. Vielleicht praeferre im Sinne von antieipare wie Liv. 39, 5, 12 praetulit trium-
phi diem, vgl. V. 229 tua MI 301 concessum est BPTX?, est als Variante über
concessum geschrieben X? [pl X? : per fehlt C utroque C querit Q hortus E
302 adquae M! lat[e] M? : lato C rumpto U : multo (©) 303 meroe (C)E
G!M : meroes BG?PQTUV meroeg nigris X foecunda EV 304 laeta7 P
comes M! : c[omi]s X3 hebeni UVY quamuis 2 G 305 estate nullas G1:
haestatem nulla Q : estatem nullas MI ibi MI uindicat G Q! umbras G!:
nuda X1 306 fuerit M!
Seneca und Lucan. 41
Inde plagas Phoebi damnum non passus aquarum
Praeueheris sterilesque diu metiris harenas,
Nune omnes unum uires collectus in amnem,
310 Nune uagus et spargens facilem tibi cedere ripam.
Rursus multifidas reuocat piger alueus undas,
Qua dirimunt Arabum populis Aesyptia rura
Regni claustra Philae. mox te deserta secantem,
Qua 7 dirimunt nostrum rubro commercia ponto,
315 Mollis lapsus agit. quis te tam lene fluentem,
Moturum totas uiolenti gurgitis iras,
Nile, putet? sed cum lapsus abrupta uiarum
Excepere tuos et praecipites cataractae
Ac nusquam uetitis ullas obsistere cautes
320 Indignaris aquis, spuma tunc astra lacessis:
Ouncta tremunt undis ac multo murmure montis
Spumeus inuitis canescit fluctibus amnıis.
Hine, Abaton quam nostra uocat ueneranda uetustas,
ı
307 fehlt, aber nachgetr. Q! In C In[de pljJagas T? pagas Ul damp-
num PU : dapnum Y 308 proueheris aus preueheris corrigirt G! sterilisque
x1 meteris X1 arenas EV : Zarenas Y 309 Hune M!T1! uires unum B
BER alm]nem U® 310 Hune T! [et spar]gens G? falicem C cedere
PV: cZedere & 311 renouat G! 312 u. 313 fehlen M!, am Rande nachgetra-
gen M? 312 Qua X hauen Q : dirimunt 7 (p scheint radirt) V populis ara-
bum Y populos EG!EM?QUX! aegiptia PQY rura corrigirt (aus dura?)
RT 313 phyle QV [secantem] U? : secante Y! 314 Qqua P dirimunt
8. 8.22 rubri UV! commertia BP@ : conmercia CY ponto BEGPQTV?
X? Y : pontum MX! ponti UV! : mundo C 315 Molles X1 tam] viel-
leicht iam G! moturus B 316 totass BGMPQTUVXY (s. 7207 totam dum
colligit iram, vgl. VIIT 336 totos tractus) : tantas E yras U 317 Nyle U ab-
rubta M T : abruta P 318 Excerpere T catarecte V 319 Afe nusquam
uet]itis T? nunquam G?Q uetilis M! : uestitis C ulla C [eautes] U? :
gautes C : captes Y 320 Indignatus G! aquis T! : aque U? tu castra T
321 Cunta P tremunt BEP!QTX!, als Variante G?M? : fremunt GIM1P?UVY:
premunt als Variante G? X? [murm]Jure U3 : marmore E montes B? 322 in-
vitis BG!MPQTUXY: inuictis EG? : inuiletis] V1(?) canescit EGIMQU!X1,
als Variante V3 : albescit BPTVY, als Variante G?Q X? : I tabeseit t albeseit U?2 Alu-
tibus Y 323 Hinfe] B? auaton C : habaton P : abathon Y uocat] colit G!
Philos.-histor. Abh. 1885. II. 6
43 DiEus:
Terra potens primos sentit percussa tumultus
325 Et scopuli, placuit fluuii quos dicere uenas,
Quod manifesta noul primum dant signa tumoris.
Hine montes natura uagis eircumdedit undis,
Qui Libyae te, Nile, negent. quos inter in alta
It conualle tacens iam moribus unda receptis.
3350 Prima tibi campos permittit apertaque Memphis
Rura, modumque uetat crescendi ponere ripas.“
324 potens] s. S. 24 sensit als Variante GE QX pereulsa BPTU (s. Ouden-
dorp zu I 487) 325 Scopulis © : ScopuliZ G quos fluuii Y! äs B! : quod
als Variante M? :a T 326 Quod BG!M?2PQ : Quo V! : Qui M!, in Correctur
Vi: Vel als Variante G? timoris U!, als Variante G? M?X2 327 Hie mor-
tes C eirecundedit GP V 325 libie PQUY : Iybie BGV : lib[ye] X? ne-
gentt EMPQTUV : negant GY : legent, in negent corrigirt B! in BEG!M’T
V2X:et ®, als Variante G? P?X? : [et] V!: ut Pl: fehlt M! 329 Iid (It B2)
conu. tacens im (iam B?) mollibus unda receptis B : Et conuallae iacens I. Q. (so!) C:
It conu. tac. iam motibus u. quietis E : Et (In G?) conu. iacens i[t] (tin Ras. 3 Buchst.,
stat G2) mo[nJtibus (darüber molibus G!) unda receptis (darüber quietis G!) G : It (& Va-
riante M2) conu. tacens (iacens Variante M?) iam moribus (mol@ibus M?) unda rec. M :
It conu. tac. iam mollibus u. receptis (darüber iacens P!) P : In conu. iac. stat motibus
u. quietis Q : I[t] conualle tac. iam mollibus u. receptis T : I[t] conualle tacens (iacens
U?) iam moribus unda receptis U : It c. iacens iam motibus u. quietis V! : In conu.
jac. stat motibus (molibus V*) u. receptis V2 : Est (It Variante) conualle iacens iam mol-
libus unda receptis, darunter von derselben Hand und in derselben Schrift At In conualle
iacens stat motibus unda quietis X : It (verwischt) conualle tacens (darüber iacens Y?)
iam molibus (darüber 4 moribus unda receptis (darüber quietis?) Y. Nach der aufgenom-
menen Lesart wird die in tacens begonnene Personification durch moribus receptis weiter ge-
führt, vgl. Statius Achill. IT 184 Ut leo materno cum raptus ab ubere mores Accepit. S.
19227. 330 permittat P : remittit B! memphys P
Seneca und Lucan.
SENECA NATURALES QUAESTIONES IV 1.2.
6*
45
44 Diesms 3
— Berolinensis (Erfurtensis) Oct. 9. Perg. s. XII £. 91“.
= Wirceburgensis M. Pap. f. 59 s. XV.
Vossianus Leidensis lat. fol. 69 Perg.
— Parisinus (Colbertinus) lat. 6628, oct. Perg. s. XII ex.
= Parisinus (Colbertinus) lat. 8624, kl. fol. Perg. s. XII ex.
SoryrH=sE
|
Für die Bezeichnung der Hände u. s. w. verweise ich auf das oben S. 34 Ge-
sagte. Die Berliner Hds. enthält auf den 7 Vorsatzblättern neben Excerpten aus den
Kirchenvätern etc. an erster Stelle f. 1" von einer Hd. d. XIII. J.: Anno domini 1264 julü
die 17 die solis ante aduentum aurore apparuit [co]meta de quo a multis interrogatus ego
lippoldus propter sollieitam illorum instanciam r[e]sponsum nolui denegare primo quidem na-
turaliter, secundo astrologice, tercio theologice respondendo: secundum scientiam naturalem
aristoteles dieit. Cometa est uapor terrenus habens partes fortiter conıtantes (d. i. coniectan-
tes, etwa concitantes?) ascendens ab inferiori esiu ad superiorem partem estus usque ad con-
tactum regionis ignis. Ob dies etwa ein Excerpt aus Leopolds von Östreich Compilatio
de Astrorum scientia (gedr. Augsburg 1489. 4°) ist, (s. Grässe Tresor IV 168) kann ich
hier nicht entscheiden. f. 1Y Schrift des XIV J.: Liber iste est [magistri franconis canonici
ausgekratzt, der Name kaum lesbar] vilicensis inguo duo libri, scilicet liber senece de na-
turalibus questionibus continentur. qui liber continet VIII. libros. et epistolas quas misit
Seneca ad paulum apostolum et beatus apostolus ad senecam. et liber tullii de amicitia cum
materia eiusdem libri. Ciceros Schrift fehlt heute. f. 98” in späterer Schrift erscheint als
Besitzer ein Conradus monachus de alemania. E ist bei weitem die beste Hds., aus der W
abgeschrieben scheint. Zur andern theilweise interpolirten Classe gehören LPQ. Der
Bambergensis M. IV. 16 und Pragensis L 94 enthalten IV 1.2 nicht. Für die zuvorkom-
mende Überlassung der Collation von WL bin ich Hrn. Bruno Larisch in Patschkau,
von PQ Hrn. Otto Rossbach in Breslau verbunden. E habe ich selbst verglichen.
Die Orthographie der Composita in Bezug auf die Assimilation ist allein nach dieser Hds.
gegeben, mit der die andern gewöhnlich stimmen. cöperimus u. dgl. ist stets comperimus
aufgelöst. Die Lesart vor ] ist die der Vulgata.
Seneca und Lucan. 45
I Itaque, ut totum te inde abducam, quamuis multa ha- 1
beat Sicilia in se circaque se mirabilia, omnes interim prouinciae
tuae quaestiones praeteribo et in diuersum cogitationes tuas abstra-
ham. quaeram enim tecum id, quod superiore libro distuli: quid
5 ita Nilus aestiuis mensibus abundat? cui Danubium similis natu-
rae philosophi tradiderunt, quod et fontis ignoti et aestate quam
hieme maior sit: utrumque apparuit falsum. nam et caput eius in 2
Germania esse comperimus et aestate quidem incipit crescere, sed
adhue manente intra mensuram suam Nilo primis calorıbus, eum
ı0 sol uehementior intra extrema ueris niues emollit, quas ante con-
sumit, quam Nilus tumescere incipiat: reliquo uero aestatis minui-
tur et ad hibernam quidem magnitudinem redit atque ex ea di-
mittitur.
II At Nilus ante ortus canıculae augetur medüs aestibus 1
ı5 ultra aequinoctium. hune nobilissimum amnium natura extulit ante
humani generis oculos et ita disposuit, ut eo tempore inundaret
Aesyptum, quo maxime usta feruoribus terra undas altius traheret
tantum hausura quantum siccitati annuae sufficere possit. nam in
ea parte, quae in Aethiopiam uergit, aut nullı imbres sunt aut rari
20 et qui insuetam aquis caelestibus terram non adiuuent. unam, ut 2
scis, Aesyptus in hoc spem habet suam: proinde aut sterilis annus
l ind te LPQ habet E 2 prouintie PQ 3 tuas fehlt P eX-
thraam L 4 libro superiore LPQ 5 habundat E : habundet LPQ similem
habere naturam LPQ 6 quam — aestate (S) im Texte ausgelassen, am oberen Rande
‚Folgendes ergänzt.: quam hyeme maior sit. utrumque apparuit falsum. nam et caput eius
in germania esse et pmissus (so!) L 8 estate quod incipit P 9 suam fehlt P
coloribus (l aus p? corr.) P 10 inter L niues (so!) EWLPQ mollit LPQ
11 tumescere (so!) EWLPQ nilus vor ineipiat LPQ uero fehlt P 12 qui-
dem (so!) EW: fehlt LPQ credit P demittitur L’P1Q 14 ac W eX-
orttum LPQ hestibus P 15 amnium LQ : annium P : aım d.h. animum E!:
amnem E?® W 16 ita] illa W ((E) ut]et P 17 egiptum PQ u. s. f. 18 usu-
ra E!WOQ :1thausura über der Zeile E?, al hausura Rand W : mensuram P animae W
19 quae] quam (so!) E 21 spem (speciem) LP suam habet LPQ
46 IDETEwSe:
aut fertilis est, prout ille magnus influxit aut parcior. nemo ara-
torum aspieit caelum: quare non cum poeta meo iocor et illı Oui-
dium suum impingo? qui ait nec Pluwo supplicat herba Iovi. unde 3
crescere inciplat si comprehendi posset, causae quoque incrementi
5 inuenirentur: nunc uero magnas solitudines peruagatus et in palu-
des diffusus et = ingentibus sparsus circa Philas primum ex uago
et errante colligitur. Philae insula est aspera et undique prae-
rupta. duobus in unum coeuntibus amnibus eingitur, qui Nilo
mutantur et eius nomen ferunt. urbs totam complectitur. ab hac 4
ıo Nilus magnus magis quam uiolentus, egressus Aethiopiam, harenas-
[que], per quas ad commercia Indici maris iter est, praelabitur. ex-
eipiunt autem cataractae, nobilis insigni spectaculo locus. ibi per 5
arduas exeisasque pluribus locis rupes Nilus exsurgit et uires suas
coneitat. frangitur enim oceurrentibus saxis et per angusta eluc-
15 tatus, ubicumque uincit aut uineitur, fluctuat et illice primum exci-
tatis aquis, quas sine tumultu leui alueo duxerat, uiolentus et tor-
rens per malignos transitus prosilit dissimilis sibi, quippe ad id
lutosus et turbidus fluit: at ubi [in] scopulos cautium uerberauit,
spumat et ılli non ex natura sua, sed ex iniuria loci color est.
20 tandemque eluctatus obstantia in uastam altitudinem subito desti-
tutus cadıt cum ingenti circumiacentium regionum strepitu. quem
perferre gens ibi a Persis collocata non potuit obtusis assiduo fra-
gore auribus et ob hoc sedibus ad quietiora translatis. inter mi- 6
1 inluxit P partior LP Q, vielleicht auch E 2 respiit LPQ nonL
Q :nuneEW ouidium LPQ : ouidianum E W 4 inci Z7, Anfang der Zeile piat E
5 solueitudines Q! 6 et ingentibus LP (s. $. 22) : gentibus EWQ 7 asper-
sa E? 8 coeuntibus W Vincent. Bell. : comitibus E : coituris LPQ anmibus P
9 urbs Fortunatus : urbem EWLPQ _conplectitur P 10 uiolentibus P 11 que
tilgte Haase iter nach quas LPQ commertia P 12 autem (au) EW : eum
LQ : enim P insignis W : in signo LP 13 exsurgit EW : insurgit LPQ
14 eluctatus PQL (s. Z.20) : reluctatus EW 15 primum exeitatis E1W : exei-
tatis primum E?P@ : exereitatis prius L 16 leu LPQ@ : leui oder leni EW
17 transilitus EW 18 at] aa W in(so!) EWLPO, vielleicht idem cautium
W : cautium oder cantium E : cantum PQ 19 illi] acuta L ex (nach non)
fehlt P ex (nach sed) über der Zeile © 20 uasta altitudine P 21 strepitu
regionum P 22 ibi aspersis P frangore P 23 nach hoc fügte Haase muta-
tis zu equietiora P translatis EWL?: translatus L!: translati sunt Vulgata iter P
RN
DIN
Seneca und Lucan. 47
racula fluminis incredibilem incolarum audaciam accepi: binı par-
uula nauigia conscendunt, quorum alter nauem regit, alter exhau-
rit. deinde multum inter rapidam insaniam Nili et reciprocos qui-
dem fluetus uolutati tandem tenuissimos canales tenent, per quos
5 angusta rupium effugiunt, et cum toto flumine effusi nauigium ruens
manu temperant magnoque spectantium metu in caput missi, cum
iam adploraueris mersos atque obrutos tanta mole credideris, longe
ab eo, in quem ceciderunt, loco nauigant tormenti modo missi.
nee mergit cadens illos unda, sed planis aquis tradit. primum in- 7
ı0 erementum Nili circa insulam, quam modo rettuli, Philas, nascitur.
Exiguo ab hac spatio petra diuiditur: Abaton graeci uocant, nec il-
lam ullı nisi antistites calcant. ılla primum saxa auctum fluminis
sentiunt. post spatium deinde magnum duo emicant scopuli (Nik
uenas uocant incolae), ex quibus magna uis funditur, non tamen
ı5 quanta operire possit Aesyptum. in haec ora stipem sacerdotes et
aurea dona praefecti, cum sollemne uenit sacrum, iaciunt. hinc 8
iam manifestus nouarum uirium Nilus alto ac profundo alueo fer-
tur, ne in latitudinem excedat, obiectu montium pressus. circa
Memphim demum liber et per campestria uagus in plura scinditur
20 flumina manuque canalıbus factis, ut sit modus in deriuantium po-
testate, per totam discurrit Aesyptum. imitio didueitur, deinde eon-
tinuatis aquis in faciem latı ac turbidı maris stagnat, cursumque
ıllı uiolentiamque eripit latitudo regionum, in quas extenditur dex-
tra laeuaque totam amplexus Aegsyptum. quantum creuit Nilus, 9
1 audatiam LP 3 multum fehlt EW quidem fehlt LPQ 4 volup-
tati P 5 effulsi P 6 temperant L Q : tenperant P : temperat (so!) EW 7 mer-
sos (so!) EW : mersosque LPQ atque] et P 8 in quam ceeiderint P 9 can-
dens EW illos (so!) EW : nach mergit LPQ 10 qua W rettuli (so!) E :
retuli LPQ nascitur] darüber von 2. gleichz. Hand uel uisitur @ 11 exigenti Pt
ab haec] ab hoe LQ : ob hoc EW spacio LQ illa P 13 magnum deinde spacium
LPQ eminent LPQ 14 excole P wis (so!) EWLPQ 15 possit (so!)
EWLPQ egiptum LPQ@ : oriri EW sacerdotis P 16 praefecti fehlt EW
sollempne EPQ 17 iam nach manifestus L 18 latitudinem Hortunatus : alti-
tudinem EWLPQ 19 demum LP W:: dein (d. i. deinde) E : demum nach circa P
20 diriuantium PQ 21 inicio Q 22 stagnatur W (stagnat.clüq; E!) que
fehlt PQ 23 illi, 11 in Correcetur (aus riui?) E
48 DIEMS-:
tantum spei in annum est. nec computatio fallit agricolam: adeo
ad mensuram fluminis respondet (terra), quam fertilem faeit Nilus.
Is harenoso et sitienti solo et aquam indueit et terram: nam cum
turbulentus fluat, omnem in siceis et hiantibus locis faecem relin-
5 quit et quiequid pingue tulit secum, arentibus locis allinit iuuatque
agros duabus ex causis, et quod inundat et quod oblimat. itaque
quieguid non adıuuit, sterile ac squalidum iacet. si creuit super
debitum, nocuit. mira itaque natura fluminis, quod cum ceteri 10
amnes abluant terras et euiscerent, Nilus, tanto ceteris maior, adeo
ıo nihil exedit nee abradit, ut contra adiciat uires nimiumque in eo
sit, quod solum temperat. illato enim limo harenas saturat et iun-
git debetque ıllı Aegyptus non tantum fertilitatem terrarum, sed
ipsas. illa facies pulcherrima est, cum iam se in agros Nilus in- 11
gessit: latent campı opertaeque sunt ualles. oppida modo insula-
ı5 rum exstant. nullum in mediterraneis nisı per nauigia commercium
est: maior est laetitia gentibus, quo minus terrarum suarum ul-
dent. sic quoque cum se ripis continet Nilus, per septena ostia 12
in mare emittitur. quodcumque elegeris ex his, mare est. multos
nihilominus ignobiles ramos in aliud atque alıud litus porrigit.
20 ceterum beluas marinis uel magnitudine wel noxa pares educat, et
ex eo quantus sit aestimari potest, quod ingentia anımalia et pa-
bulo sufficienti et ad uagandum loco continet. Balbillus, urorum 13
optimus profeetusque in omni litterarum genere rarissimi, auctor
2 terra fügte Haase zu 3 arenoso WL ac sitienti PQ terram indu-
cit et aquam P 4 fluat] fat EWLPQ et] atque LPQ hyantibus L fae-
cem fehtL 5 secum tulit LPQ adliut W 6 mdatL oblimat] oblinat EWLPQ
7 adiuuit] oblinit L scalidum P 8 vielleicht nocet mirai taque (— über a ra-
dirt) P 9 abluto L adeo fehlt EW 10 nichl PQ aditiat P minimum-
que Q 11 temperet P illato] illä (1 Zeichen der Correctur) L arenas WL et]
acHlQ iungit fehlt P 12 egigtus L sterilitatem W 13 est fehlt P
14 opertaque P modo insularum (so!) EW : insularum modo LPQ 15 null[u]
E@9 . nullam W commertium ELP 16 maiorque LPQ est fehli & letieia
LPQ:: letitia® E minus] darüber i. propius E? uident suarum von 1. Hand ver-
bessert Q 17 ripis se L_ hostia EP 18 ex his elegeris LPQ 19 nihilo
minus L : nilo minus EW : nichilominus PQ in aliud aq (aque P Q) litus (so!) E
WPRQ: in aliud et aliud litus L 21 estimari Q : extimariL : fehlt P 22 ba-
billus EW uirorum PQL : ur EW 23 profeetusque] perfectusque (so!) EW
LPQ litterarum EP : literarum WLQ rarissimus P
Seneca und Lucan. 49
est, cum ipse praefectus obtineret Aesyptum, Heracleotico ostio
Nili, quod est maximum ex (septem), spectaculo sibi fuisse delphi-
norum a mari concurrentium et cocodrillorum a flumine aduersum
agmen agentium uelut pro partibus proelium. cocodrillos ab ani-
5 malibus placidis morsuque innoxis uictos. his superior pars cor- 14
poris dura et impenetrabilis est etiam maiorum anımalıum denti-
bus, at inferior mollis ac tenera. hane delphini spinis, quas dorso
eminentes gerunt, submersi uulnerabant et in aduersum enisi dıui-
debant. rescissis hoc modo pluribus ceteri uelut acie uersa refu-
ı0 gerunt. fugax animal audacı, audacissimum timido. nec illos Ten- 15
tyritae generis aut sanguinis proprietate superant, sed contemptu
et temeritate. ultro enim insequuntur fugientesque iniecto tra-
hunt laqueo, plurimique pereunt, quibus minus praesens animus ad
persequendum fuit. Nilum aliquando marinam aquam detulisse 16
ı5 Theophrastus est auctor. Biennio continuo, regnante Cleopatra
non ascendisse, decimo regni anno et undecimo, constat. significa-
tam aiunt duobus rerum potientibus defectionem: Antoni enim et
Cleopatrae defecit imperium. per nouem annos non ascendisse Ni-
lum superioribus seculis Oallimachus est auctor.
20 Sed nunc ad inspieiendas causas, propter quas aestate Ni- 17
lus crescat, accedam et ab antiquissimis incipıam. Anaxagoras
ait ex Aethiopiae iugis solutas niues ad Nilum usque decurrere. in
eadem opinione omnis uetustas fuit. hoc Aeschylus, Sophocles,
1 obtinet W : optineret E heracleotico L : heracliotico E W : heracleatico
(ra aus re) P hostio EPQ 2 ex speetaculo EWP® : expectaculo L : septem
fügte ich ein 3 concurrentium E W : occurrentium LPQ cocodrillorum EWL
PQ (s. Rüschl op. II 461) flumine W auersum E W 4 velud EW per
partes P cocodrillos EWLQP 6 durum L inpenetrabilis Q 7 ac W
8 summersi Q uolnerabant Vulgata emisi P 9 reseissis Guelferbytanus : re-
eissis EW : reseisis PQ : recisis L velud EW u. s. f. 10 tumido L Tentyritae]
tanti rite EWLP : tintiritae @ 12 insecuntur P trabat P 13 plurimique
EW : plerique LPQ : plurimi quidem Haase 14 sequendum L 15 thophra-
stus E : theophästus Q : theofrastus L actor L cleopatra regnente L 16 anni
regno L adscendisse LW 17 antonii enim cleopatraegque PQ : antonii cleopa-
treque L 18 adscendisse LW 19 callimacus P : calliniacus Q 20 inspi-
tiendas P 23 opione W eschilus EWQP : escinus L sophodes P
Philos.-histor. Abh. 1885. III. 7
50 IDIEEHEES:
Euripides tradunt. sed falsum esse pluribus argumentis patet.
primo Aethiopiam feruentissimam esse indieat hominum color ad- 18
ustus et Trogodytae, quibus subterraneae domus sunt. saxa uelut
igni feruescunt, non tantum medio, sed inelinato quoque die. ar-
5 dens puluis nec humani uestigii patiens. argentum replumbatur.
signorum coagmenta soluuntur. nullum materiae superadornatae
manet operimentum. auster quoque, qui ex ıllo tractu uenit, uen-
tus calidissimus est. nullum ex his anımalıbus, quae latent, bruma
umquam reconditur. et per hiemes in summo et aperto serpens
ı0 est. Alexandria quoque longe ab immodieis calorıbus posita est:
niues non cadunt. superiora pluuia carent. quemadmodum ergo 19
resio tantis subiecta feruoribus duraturas per totam aestatem ni-
ues recepit? quas sane alıqui montes illie quoque exeipiant: num-
quid magis quam Alpes, quam Thraciae iuga, quam Üaucasus? at-
ı5 qui horum montium flumina uere et prima aestate intumescunt,
deinde hibernis minora sunt: quippe uernis temporibus imbres ni-
uem diluunt, reliquias eius primus calor dissoluit. nec Rhenus nec 20
Rhodanus nec Hister nee, qui ipsi subiacent polo, aestate proue-
niunt: et illis in septemtrionibus altıssimae iugiter sunt niues.
20 Phasis quoque per idem tempus et Borysthenes crescerent, si ni-
ues possent flumina contra aestatem magna producere. praeterea 21
l eripides EW : euripedes P argumentis pluribus L P 2 primam ethio-
piam L adustus color LPQ 3 trogodite LP, (das erste o aus a corrigirt) Q
(s. Parthey Abh. Berl. Ak. 1869 8.4. Puchstein Epigr. graeca, Argentor. 1880 $.53) : trago-
dite EW 4 illi P 6 superad[o]rnatae Q 7 uentorum LPQ 8 est fehlt P
bruina W 9 unquam PQ, vor bruma gestellt P et] eiam LPQ perhennes P
hyemes L serpens [nei E] ELPQ : spes d.i. species W 10 immodieis Q
12 tantis regio L 135 reeipit LPQ@ nunquid Q : nonquod P 14 tracie E :
traciae Q : trachie P iuga aut caucasus L P 15 uere et prima] et prima uera P
16 uernis] hier bricht Q ab 17 reliquas PL! dissipat LP renus PL 18 ro-
danus EL, aus rortanus von 2. gleichz. Hand P hister EWP : hyster L nee qui ipsi
subiacent polo schreibe ich : n (d.h. nec) ei ystrus subiacent. molo E, ebenso, aber subia-
cent — in tentrionibus (so!) am Rande W : nec caistrus subiacent molo P : nec caistrus sub-
iacent malo L (Die Variante Istrus zu Hister hat das Echte verdrängt, s. $.53, 8) : nec qui
alii hiberno subiacent coelo Haase 19 altissime ut in septemtrionibus LP iugis L
20 per idem tempus L : per indie tempus P : pin (= proinde) tempore E W bory-
sthenes L : horis tenes EW P si L: ut EWP 2I possent aus possint E flu-
mina possent LP
Seneca und Lucan. Hl!
si haec causa attolleret Nilum, aestate prima plenissimus flueret.
tune enim maxime integrae adhuc niues ex mollissimoque tabes
est: Nilus autem per menses quatuor liquitur et illiı aequalis acces-
sio est.
5 Sı Thaleti credis, etesiae descendenti Nilo resistunt et cur- 22
sum eius acto contra ostia mari sustinent: ita reuerberatus in se
recurrit nee erescit, sed exitu prohibitus resistit et quacumque mox
potuit inconcessus erumpit.
Euthymenes Massiliensis testimonium dieit: „Nauigaui,
10 inquit, Atlanticum mare, unde Nilus Aluit, maior quamdiu etesiae
tempus obseruant. tune enım eieitur mare instantibus uentis. cum
resederint, pelagus conquieseit minorque descendenti inde uis Nilo
est. ceterum duleis mariı sapor est et similis Nilotieis beluae.“
quare ergo, si Nilum etesiae prouocant, et ante illos incipit inere- 23
ı5 mentum eius et post eos durat? praeterea non fit maior, quo illi
flauere uehementius, nec remittitur incitaturque, prout illis impetus
fuit, quod fieret, si ıllorum uiribus eresceret. quid, quod etesiae
litus Aegyptium uerberant et contra illos Nilus descendit, inde uen-
turus unde illi, si origo ab illis esset? praeterea ex mari purus
20 et caeruleus efflueret, non ut nunc turbidus ueniret. adde, quod 24
testimonium eius testium turba coarguitur. tunc erat mendacio
2 maxime EWLP : maximae et Vulgata ex mollissimoque P : ex mollis-
simo qua L: ex moles fimo quae (que W) EW thabes ohne est L 3 quafuor] ııı
EP aequalis L : qualis EWP 5 taleti P et esie EWI!L descendente
L W : discedente (so!) E : discedent P cursum schreibe ich (s. 8. 12. 13,8) : cursu E
WLP : cursus Vulgata 6 hostia EWP mari L : maris E (so!) W P ita re-
verberatus LP@ : In reverberatus EW 7 exitu sed L_ quecumque Pi 8 in-
concessus EW: in concestus L : inconcestus P s. S. 12° 9 Euchimenes EWLP
10 athlanticum P : athalanticum EWL indeLP etesiae] esie EWPL! 11 eii-
eitur E 12 resederit pelagus (so!) EW : resederit et pelagus P : resederunt et
pelagus L descendentis EWLP indeuis LP: ındeur (so!) E : uidemus W 13 ce-
terum aus deterum P similis El: similes E? P: simile W 14 ethesie EP pro-
uocante tante E W P : prouocant et tante L 15 eas L! non sit quo illi L 16 fla-
uere] fauere EWLP incitatusque EW 17 ethesie P : esie EW 13 litus
L : littas P : lutus EW eeyptum EW L! : egiptum P : egypti L? ascendit L
uenturus est unde L 19 illi si L: illis EWP esset E?WLP: venit El (s.
2. 20) afflueret EW aueniret P : uenit EW : euenit L adde P: Age EWL
21 mendatio E : mendario P
52 DıieELs:
locus cum ignota essent externa. licebat illis fabulas mittere.
nune uero tota exteri maris ora mercatorum nauibus stringitur,
quorum nemo narrat initium Nili aut mare saporis alterius, quae
natura credi uetat, quia duleissimum quodque et leuissimum sol
5 trahit. praeterea quare hieme non crescit? et tunc potest uentis 25
coneitari mare, aliquando quidem maioribus: nam etesiae temperati
sunt. quod si e mari ferretur atlantico, semel oppleret Aegyp-
tum: at nune per gradus creseit.
Oenopides Chius ait: hieme calorem sub terris contineri. 26
ı0 ideo et specus calıdos esse et tepidiorem puteis aqguam: itaque ue-
nas interno calore siecari. Sed in alııs terris augeri flumina imbri-
bus: Nilum quia nullo imbre adiuuetur, tenuari, deinde erescere
per aestatem, quo tempore frigent interiora terrarum et redit rigor
fontibus. quod si uerum esset, aestate flumina erescerent (omnia), 27
15 omnes putei aestate abundarent. Deinde ‘calorem hieme sub ter-
ris esse maiorem’? at quare specus et putei tepent? 'quia ara
[et] rigentem extrinsecus non reeipiunt.. ita non calorem habent,
sed frigus exeludunt. ex eadem causa aestate frigidi sunt, quia ad
illos remotos seductosque calefactus non peruenit.
20 Diogenes Apolloniates ait: „Sol humorem ad se rapit:
hune adsiccata tellus ex marı ducit cum ceteris aquıs. fieri autem
1 licebat] libebat EWLP mittere EWLP : miscere Haase 2 nune] necL
exceri P hora EP 3 initium L? Haupt : nuntium EPL!: nuneium W alte-
rias 9eredi” | Anf. d. Z. uetat L que P : quam EWL : quod et Vulgata
4 queque W 5 ereseit] erescunt EWLP 6 aliquanto L ethesie EP 7 ath-
lantico P : athalanticoEWL semel LP: semper (so!) EW oppuleret L Sat
18 ge Welble 10 calidos L : cauosos E W P aquam L: quam EWP 11 in-
terno LP : intercio EW augeri L : augent EWP : augentur Vulgata imbribrus
(inbribus P) flumina L P 13 rigor EWLP : vigor Schottus 14 omnia fehlt
EWP : hinter flumina übergeschrieben L 15 omnesque Vulgata aestate — pu-
tei (16) fehlt EW 16 at quare specus L : aqua respecus P : aqua et specus Val-
gata 17 et EWL!P: et getilgt L? itaque L s. S. 53, 15 18 aestate L :
est atre P : est aer EW frigidi sunt schreibe ich : frigidus EW : fri®dunt P : frigi-
IN
II
ad s
dum L : frigeseunt Vulgata aer frigidus E W quia ab illo remotos seductos-
que “ L : quia ab illo remotos seductosque (sed doctusque P) EWP : quia illo remo-
tus seductusque aer Vulgata 20 duogenes P 21 cum (ce) El : cum ex E2P:
cum ex W: c ex L : tum ex Vulgata : vielleicht et
Seneca und Lucan. 53
non potest, ut una sieca sit tellus, alia abundet. sunt enim per-
forata omnia et inuicem peruia et sicca ab humidis sumunt ali-
quando. nisi aliquid terra acciperet, exaruisset. ergo sol undique
trahit, sed ex his, quae premit, maxime: haec meridiana sunt. terra 29
5 cum exaruit, plus humoris ad se addueit. ut in lucernis oleum illo
fluit, ubi exuritur, sic aqua ıllo incumbit, quo uis caloris et ter-
rae aestuantis arcessit. unde ergo trahit? ex ıllis scilicet partibus
semper hibernis, quae aquis exundant. ob hoc Pontus in infernum
mare assidue fluit rapidus, non ut cetera maria alternatis ultro
10 citroque aestibus, in unam partem semper pronus et torrens. quod
nisı factis itineribus quod cuique deest, redderetur, quod cuique
superest, emitteretur, iam aut sicca essent omnia aut inundata.“
interrogare Diogenem licet: quare, cum pertusa sint cuncta et 30
inulcem commeent, non omnibus locis aestate [uero] maiora sunt
ı5 flumina? "Aegyptum sol magis percoquit.. ıta Nilus magis crescit:
sed in ceteris quoque terris alıqua fluminibus fiat adıectio. deinde
quare ulla pars terrae sine humore, cum omnis ad se ex aliis
1 ut (aus aut) una sicca sie tellus L : ut auia suta sie tellus P : aut uia sicca . sic
tellus EW habundet EWP 2 aliquando (align) EWP: alioquin L 3 ali-
quid] a@ (= aliud?) E : etwa aliunde (s. Z. 17)? undique (vor sol) LP : und EW:
undas Vulgata 4 thrait L que P premunt maxime EWLP (prem’ L) :
premit maxime (ohne Komma) Haase, premunt : maxime Fickert 5 ad se humoris
LP trahit addueit Et 6 exuritur LP : exoritur EW 7 arcessit LP :
accessit (so!) EW 3 quae aquis exundant schreibe ich : septemtrionalis exundant
EWLP (Das Glossem septemtrione hat quae vermuthlich verdrängt. S. zu S. 47, 15. 50, 18) :
septentrionalibus unde exundat nach dem Guelferbytanus Vulgata 9 non ut LP : ut non
EW alternans W 10 eitro PL aestibus] estatibus EWPL 11 faetis
schreibe ich : fachis EWL : facit bis P : fieret hisque Vulgata ceuique] cu E W
LP cuique LP : cuiquam EW 13 liceet EW : libet LP quare si cum
pertusa sint cuncta et inuicem commeent schreibe ich S. 14° : quasi conpertis a8 (asunt)
euneta et inuicem commeant P : quasi percussa sint cuncta et inuicem commeant L :
quasi compertus aımus cuncta et inuicem commeant E W : quare cum pontus et amnes
euncti inuicem commeent Fickert : quare si complexus amnibus (est) et cuncta inuicem
commeant Haase 14 locis.. estate uero (ü) EW sint L 15 itaque LP Vul-
gata, aber s. S. 52, 17 16 abiectio PL 17 humore est LP
Philos.-histor. Abh. 1885. III. 8
54 Dıieus: Seneca und Lucan.
terris trahat, eo quidem magis quo calidior est? deinde quare Nilus
duleis est, si haec ıllı cum mari unda est? nec enim ullı flummı
duleior gustus.
1 terris EW: regionibus L P thraat L eo quod P 2 haee WLP:
hoc E illi eu mari EW : illie emari P : illi e mari L ulli] li W 3 dul-
tior P
ANHANG ZU DEN
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERUIN.
ABHANDLUNGEN NICHT ZUR AKADEMIE GEHÖRIGER GELEHRTER.
AUS DEM JAHRE
1885.
MIT 11 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1886.
BUCHDRUCKEREI DER KÖNIGL. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (G. VOGT).
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Inhalt.
Physikalische Abhandlungen.
HEIDER: Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L.
(Mit latelnyi in. ee a ee ee ee ee SA:
Philosophisch-historische Abhandlungen.
HıRscHFELD, G.: Paphlagonische Felsengräber. Ein Beitrag, zur
Kunstgeschichte Kleinasiens. (Mit 7 Tafeln) . Abh. I. S. 1—57.
SCHWEINFURTH: Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im
Uadi Gasus. Mit Bemerkungen von A. Erman.
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PHYSIKALISCHE ABHANDLUNGEN.
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Über die Anlage der Keimblätter von
Hydrophilus piceus L.
Von
Dr. KARL HEIDER,
Assistent am zoologischen Institut der Kgl. Universität zu Berlin.
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. 1
Vorgelest in der Sitzung der phys.-math. Classe am 26. November 1885.
Senon seit längerer Zeit habe ich die Embryonal-Entwickelung
des Hydrophilus zum Gegenstand eines eingehenden Studiums gemacht.
Mein Augenmerk war dabei vor Allem auf die Art der Entstehung der
Keimblätter gerichtet. Da nun meine bisherigen Untersuchungen mich in
Bezug auf diesen Punkt zu Resultaten von der mir wünschenswerthen
Klarheit und Bestimmtheit geführt haben, habe ich mich entschlossen,
dieselben schon jetzt der Veröffentlichung zu übergeben, während ich die
übrigen Beobachtungen einer späteren monographischen Darstellung re-
servire.
In Hinsicht auf die ersten Entwickelungsvorgänge, welche sich im
Ei, wenige Stunden nach der Ablage desselben, abspielen und schliefslich
zu jenem interessanten Procels von Zellenknospung an der Oberfläche
führen, den uns Bobretzky!) kennen gelehrt hat, und der zur Bildung
des Blastoderms führt, liegen mir bis jetzt nur wenige und unzusammen-
hängende Beobachtungen vor. Meine Schilderung wird daher der Haupt-
sache nach denselben Ausgangspunkt zu nehmen haben, wie die Beschrei-
bung Kowalevsky’s?), welche auch von dem Stadium nach vollendeter
Bildung des Blastoderms ausgeht.
1) N. Bobretzky, Über die Bildung des Blastoderms und der Keimblätter bei
den Insecten. Zeitschr. f. wiss. Zool. 1878. XXXI. Bd. pag. 195. Taf. XIV.
®2) A. Kowalevsky, Embryologische Studien an Würmern und Arthropoden.
Mem. de l’Academie des Sciences de St. Petersbourg. VII® ser. Tom. XVI. 1871.
ı1*
4 HEIDER:
Es sei mir jedoch erlaubt, über die früheren Vorgänge einige ein-
leitende Bemerkungen vorauszuschicken.
Das Ei des Hydrophrlus ist von länglich-ovoider Form und zeigt
einen vorderen spitzen und einen hinteren stumpfen Pol. (Vgl. Fig. 1—6
Taf. I.) Nach vorn zu ist dasselbe verschmälert, während sein gröfster
Breitendurchmesser dem hinteren Eipol genähert ist. An jener Seite,
welche später zur ventralen Fläche des Embryo wird, ist das Ei abge-
flacht, ja in vielen Fällen sogar schwach eingebogen, während entspre-
chend der späteren Dorsalseite sich eine stärkere Wölbung des Eies gel-
tend macht.
Das Ei ist von einer doppelten Hülle umgeben. Unter dem ver-
hältnifsmäfsig starken Chorion findet sich der Oberfläche des Eies anlıe-
gend ein äulserst zartes, wie es scheint, structurloses Häutchen, die Dot-
termembran. (Taf. I. Fig. 7a.)
An der Oberfläche des Eies selbst erkennen wir, bevor das Blasto-
derm gebildet ist, eine ziemlich schmale Zone von Protoplasma (Bildungs-
dotter), in welcher noch keine Zellkerne gelagert erscheinen (7.1. Fg. 7b)1).
(Weismann’s Keimhautblastem.) Diese Zone steht mit dem das Innere
des Eies durchziehenden Protoplasmanetze in Zusammenhang. In den
Knotenpunkten dieses protoplasmatischen Netzwerkes bemerkt man kern-
haltige Binnenkörper (Taf. I. Fig. 7c), welche aus emem grofsen Kern mit
umgebender Protoplasma-Ansammlung bestehen. Solche, amoeboiden Wan-
derzellen ähnlich aussehende Binnenkörper trifft man in den ersten Sta-
dien (einige Stunden nach der Eiablage) nur wenige im Innern des Eies.
Um so gröfser ist zu dieser Zeit der in ihnen enthaltene Kern, und um
so reichlicher die denselben umgebende Plasma-Ansammlung. Zehn bis
zwölf Stunden nach der Eiablage findet man ihre Zahl schon bedeutend
angewachsen; ihre Dimensionen dagegen sind geringere geworden. Auf
welche Weise diese zahlreichen Binnenkörper der späteren Stadien ent-
standen sind, habe ich nicht direct beobachtet; aber es ist wohl kein
Zweifel, dafs sie sich durch Theilung von den wenigen grofsen Binnen-
körpern der ersten Stadien ableiten.
1) Bobretzky (loe. cit. pag. 213) hat das Vorhandensein eines oberflächlichen
Plasma-Stratums am Hydrophilus-Ei geläugnet. Dasselbe ist aber stets und von allem
Anfange an zu beobachten.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 5
In dieser Periode der Entwickelung finden wir also im Hydrophr-
lus-Embryo nirgends abgegrenzte Zellen, sondern nur nach Art eines Syn-
eytiums im Innern des Eies verstreute Zellkerne mit umgebendem Pro-
toplasma, welches jedoch mit dem plasmatischen Netz und der oberfläch-
lichen Schichte in continuirlichem Zusammenhang steht.
Der ganze Zwischenraum im plasmatischen Netzwerk des Eiinnern
ist von Elementen des Nahrungsdotters erfüllt (Taf. I. Fıg. 19 — vergl.
Taf. I. Fig. 7). Dieselben sind von homogener, stark lichtbrechender Be-
schaffenheit und gelblicher Färbung und zeigen eine durch gegenseitigen
Druck polygonal gewordene Gestalt, jedoch von im Allgemeinen ziemlich
rundlichen Formen. Die kleinen Dotterkörnchen der Oberfläche, zunächst
der Plasmazone, sind vollkommen kugelis. Die Nahrungsdotter-Elemente,
welche nahe der Eioberfläche liegen, sind die gröfsten, während sie gegen
das Eiinnere zu immer mehr an Gröfse abnehmen, um schliefslich im
Centrum des Eies nur wie angehäufte Granula zu erscheinen.
Da in den Zwischenräumen zwischen den polygonalen Elementen
des Nahrungsdotters nicht nur die plasmatischen Stränge des Bildungs-
dotters verlaufen, sondern auch zahlreiche, kugelige Fetttröpfehen von
ziemlicher Gröfse eingebettet liegen, so zeigen die Elemente des Nah-
rungsdotters an Schnitten durch gehärtete Exemplare diesen Fetttröpf-
chen entsprechende, kugelsesmentförmige Ausschnitte an ihrer Oberfläche
(Taf. I. Fig. 19). Zumeist sitzen diese Fetttröpfehen in den Knotenpunk-
ten der zwischen den Elementen des Nahrungsdotters befindlichen Zwi-
schenräume.
Zu Beginn der Blastodermbildung ordnet sich ein Theil der im
Dotter vorhandenen kernhaltigen Binnenkörper in gleichen Abständen zur
Eioberfläche an, so dafs sie an Querschnitten einen mit der äufseren Um-
grenzung concentrischen Kreis bilden, (vgl. die Lage der Kerne in Taf. I.
Fig. 7), welcher je näher dem hinteren Eipole der Schnitt gelegt wurde,
um so mehr sich der Ei-Oberfläche nähert. Daraus folst, dafs in der
Umgebung des hinteren Eipoles die ersten kernhaltigen Binnenkörper
die Oberfläche erreichen müssen. Und so verhält es sich auch in der
That, wie wir schon aus den auf diesen Punkt der Entwickelung bezüg-
lichen Öberflächenbildern (Taf. I. Figg. 1 u. 2) entnehmen können. An
der Taf. I. Fig. 1 gegebenen Darstellung eines dreizehn Stunden nach
6 HEIDER:
der Ablage conservirten Eies erkennen wir am hinteren Eipole die ersten
auftauchenden Elemente des künftigen Blastoderms. Am Deutlichsten er-
scheinen sie am hinteren Eipole selbst; weiter vorn, wo sie noch in tie-
feren Schichten lagern, zeigen sie sich mehr schattenhaft verschwommen,
doch ebenso dicht aneinander gedrängt, wie am hinteren Eipole selbst.
Die kernhaltigen Binnenkörper lagern sich eben schon — wie oben be-
sprochen — in der Tiefe des Dotters in jener Ordnung zu einander, in
welcher sie später an der Oberfläche erscheinen.
Die Oberflächenansicht Taf. I. Fig. 2 ist einem um zwei Stunden
älteren Ei entnommen und zeigt einen noch weiter vorgerückten Zustand
der Blastodermbildung. Wir bemerken, dafs nur etwa das vorderste Vier-
tel des Eies an seiner Oberfläche keine Kerne erkennen läfst. Hier fin-
den wir nur die auch an der vorhergehenden Abbildung (Taf. I. Fig. 7)
vorfindlichen kleinen, vacuolenähnlichen Pünktchen, welche nichts Ande-
res sind als der Ausdruck jener oben erwähnten Höhlungen im Dotter,
die vorhanden gewesenen Fetttröpfchen entsprechen. Gehen wir an dem
in Rede stehenden Ei weiter nach hinten, so gelangen wir zur Zone der
auftauchenden Binnenkörperchen, welche uns dasselbe Bild darbietet, wie
die Gegend des hintern Eipoles im vorhergehenden Stadium. Noch wei-
ter rückwärts finden wir die ganze Oberfläche des Eies mit schon fertig
sebildetem Blastoderm bedeckt. Dieses an der Oberfläche sich hinziehende
Epithel nimmt an unserem Stadium bereits mehr als die hintere Hälfte
des Eies in Anspruch und zeigt sich wieder durch minutiöse Unterschiede
in verschiedene Zonen gegliedert — Details, auf die ich mich jedoch hier
nicht weiter einlassen will.
Das Wesentliche dieses interessanten Processes — das Einwandern
der kernhaltigen Binnenkörperchen in das oberflächliche Plasmastratum
und die Segmentirung desselben in den einzelnen Kernen entsprechende
Zellterritorien — wurde von Bobretzky!) und Anderen für verschie-
dene Insectenarten in befriedigender Weise geschildert.
Uns genügt hier, den Beweis erbracht zu haben, dafs es der hin-
!) Freilich hält Bobretzky das Keimhautblastem nur für ein durch die Zu-
sammenziehung des Bies während der Erhärtung entstandenes Kunstproduct; was ich aber
nicht annehmen kann.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 7
tere Eipol ist, an dem die Blastoderm-Bildung beginnt, und von dem
sie nach vorn zu allmählich fortschreitet. Bobretzky!) hat für das lang-
gestreckte Ei von Preris und Bütschli?), Kowalevsky°®) und Grassit)
haben für Apis den vordern Eipol als den Ausgangspunkt der Oberflächen-
furchung bezeichnet. Dagegen nähern sich nach Weismann’s wichtigen
Beobachtungen), die dem hinteren Polkern des Eies von Ahodıtes ent-
stammenden Kerne der Oberfläche und gehen allein in die Bildung des
Blastoderms ein, während bei einer Ohironomus-Art das erste Auftreten
von Blastodermzellen am vordern Pol der Eioberfläche beobachtet wurde.
Es scheint daher in diesem Punkte ein in den verschiedenen Insecten-
Ordnungen wechselndes Verhalten vorzuliegen.
Ferner konnte ich an diesen Oberflächenbildern mich überzeugen,
dafs die den einzelnen Stadien der Blastodermbildung entsprechenden Zo-
nen stets vollkommen in querer Richtung sich begrenzten, so dafs also
weder die spätere Rückenfläche, noch die Bauchfläche in Bezug auf die-
sen Vorgang vorauseilt.
Nach Beendigung des Processes der Blastodermbildung zeigt sich
das Ei an seiner ganzen Oberfläche von einem Epithel bedeckt, dessen
Zellen cubisch-abgerundete Form besitzen. Die Zellen sind in ihrem
ganzen Umfang scharf begrenzt und haben sich dicht aneinander geschlos-
sen. An der Oberfläche ragen sie kaum als flache Kuppe vor; dagegen
zeigt jede Zelle nach innen gegen die compacte Dottermasse eine rund-
liche Kuppe, von deren Berührungsstelle mit dem Dotter aus sich hier
und da pseudopodienartige Fortsätze in den Dotter einsenken.
Die zunächst eintretende Veränderung ist, dals die Zellen der
künftigen Ventralseite etwas an Höhe gewinnen, so dals dort das Blasto-
1) loe. eit. pag. 198 ff.
2) O. Bütschli, Zur Entwickelungsgeschichte der Biene. Zeitschr. für wiss.
Zool. XX. Bd. 1370. p. 522.
3) loe. eit. p. 45.
*) B. Grassi, Intorno allo sviluppo delle api nell’ uovo. Atti dell’ Academia
Gioenia di Scienze Naturali in Catania. Ser. 3. Vol. XVIII. 1884. pag. 7.
5) A. Weismann, Beiträge zur Kenntnils der ersten Entwicklungsvorgänge im
Inseetenei, in: Beitr. zur Anatomie und Embryologie als Festgabe für Jakob Henle.
Bonn 1832. pag. 80. Taf. X, XI u. XI.
S JEL 19 1. m 19, 3% 8
derm eine dickere Schicht darstellt. Damit ıst der Beginn jenes interes-
santen Vorgangs gekennzeichnet, der die Sonderung der Keimblätter ein-
leitet und in der von Kowalevsky beschriebenen Form einer Rinnenbil-
dung, abläuft.
Es sondert sich nämlich zu Beginn dieses Processes an der Ven-
tralseite des Eies eine verdickte Blastodermplatte von dem übrigen Theil
des Blastoderms dadurch ab, dafs sich zu beiden Seiten dieser Platte
Längs-Furchen bilden, welche lateralwärts von einem schwach vorragen-
den Wall begleitet sind. Die ersten Spuren einer solchen Sonderung
einer ventralwärts gelegenen Platte, welche durch Einstülpung zum un-
teren Blatte Kowalevsky’s (Entoderm — Mesoderm) wird, von dem
Rest des Blastoderms zeigen sich am klarsten an Querschnitten, welche
durch gehärtete Embryonen solcher früher Stadien angefertigt wurden.
Die Abbildungen (Taf. I. Fig. 8 u. 9) stellen Querschnitte durch
ein Stadium dar, welches der Kowalevsky’schen Fig. 1 auf Taf. VIII um
ein Weniges vorhergeht. Der Querschnitt Fry. 8 zeigt uns den ersten
Anfang des Processes der Keimblätterbildung. Wir erkennen das aus ku-
bischen Zellen (e) bestehende Ectoderm, während zwischen den Furchen
eine aus hohen Zellen bestehende Platte sich ausdehnt. Genau genom-
men reicht dieselbe jederseits über die begrenzende Furche (f) etwas
hinaus und bildet dort einen schwach vorragenden Wall (w). Dieser aus
cylindrischen oder prismatischen Zellen zusammengesetzte Schild zeigt an
Schnitten eine durchaus bilateral-symmetrische Anordnung, und es ver-
dient auch gleich als bedeutsam hervorgehoben zu werden, dals wir an
ihm stets einen medianen Theil von zwei seitlichen Theilen unterscheiden
können, die im Bau einige Verschiedenheit von demselben zeigen. Der
Schnitt Fig. 8 läfst uns der Medianlinie genähert mäfsig hohe cylindri-
sche Zellen bemerken, deren Kerne etwa in der Mitte des Zellleibs und
äulserst regelmäfsig in einem Horizont gestellt erscheinen. Zu beiden
Seiten, den Furchen entsprechend, finden wir höhere Zellen, die einen
weniger regelmäfsigen Anblick darbieten. Mehrere dieser Zellen sitzen
mit einer verhältnilsmälsig breiten Basis innen auf, während sie nur mit
einer ganz kleinen Fläche an der äufseren Oberfläche Theil nehmen, oder
umgekehrt. Ihre seitlichen Grenzen erhalten dadurch einen convergiren-
den Verlauf, und die ganze Zelle geht aus der prismatischen Gestalt in
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 5
die Form einer Pyramide über. Dem entsprechend haben die Kerne, wie
einem Druck gehorchend, sich in den breiten Basaltheil der Pyramide
zurückgezogen, daher denn die Kerne nicht gleichmäfsig in einer Reihe
gestellt erscheinen, sondern in verschiedenen Höhen gelagert sind. Im
Allgemeinen zeigen diese Zellen eine mehr weniger radiäre Anordnung
um einen Mittelpunkt, der zugleich als Krümmungs-Mittelpunkt für die
Furche, wie sie sich am Querschnitt darstellt, gelten kann.
Der Querschnitt Taf. I. Fig. 9 weist etwas weiter vorgeschrit-
tene Verhältnisse auf. Die beiden Furchen (f) haben sich ziemlich ge-
nähert. Wir sehen, dafs das Oylinderepithel der Platte im Allgemeinen
noch weit höher ist, und dafs die es zusammensetzenden Zellen noch
schlanker und unregelmälsiger sind als am vorhergehenden Schnitte. Nicht
nur den beiden Furchen entsprechend, sondern auch im Mitteltheil finden
wir pyramidenförmige Zellen und eine unregelmäfsige Lagerung der Kerne.
Den Furchen entsprechend scheinen manche Zellen von der Oberfläche
zurückgedrängt zu sein und so eine Pyramide darzustellen, deren Höhe
geringer ist als die Höhe des Epithels an dieser Stelle. Solche Bilder
zeigen uns, wie durch das Diekenwachsthum und den seitlichen Druck,
dem die Mittelplatte ausgesetzt ist, aus dem einschichtigen Cylinderepi-
thel ein mehrschichtiges wird. Von Wichtigkeit ist es noch, zu bemerken,
dafs die Mittelplatte an diesem Querschnitt gegenüber dem früheren an
Relief gewonnen hat. Die Furchen sind deutlich tiefer; auch scheint die
ganze Platte schon ein wenig unter das Niveau des Ectoderms gesenkt
zu sein.
Wır erkennen auch aus beiden Schnitten, dafs nicht sämmtliche
zellähnliche Binnenkörperchen aus dem Innern des Dotters an die Ober-
fläche getreten sind, um bei der Bildung des Blastoderms in dasselbe
einzugehen, sondern dafs noch eine Anzahl derselben im Dotter verblie-
ben ist.
Ich habe oben gesagt, dals die durch die lateralen Furchen und
Wälle begrenzte Platte zum unteren Blatt Kowalevsky’s wird, welches
sich — wie wir sehen werden — in Entoderm und Mesoderm scheidet.
Der nächste zur Beobachtung kommende Vorgang ist nun der, dafs die
in Rede stehende Platte in die Tiefe rückt und sich zu einem Rohr ein-
krümmt, welches von den in Form einer Falte der Medianlinie sich nä-
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. 2
10 HEIDER:
hernden Rändern des Ectoderms überwachsen wird. Der Wall w an un-
seren Querschnitten entspricht der Stelle, an welcher später sich die
höchste Erhebung dieser Falte ausbildet, während die Furche f die
Knickungsstelle anzeigt, über welche die erwähnte Falte sich herum-
schlägt.
Die Furchen sind an jenem Stadium, auf welches sich unsere
Querschnitte Taf. I. Figg. 8 u. 9 beziehen, noch ganz kurz und finden
sich an der ventralen Seite etwas hinter der Mitte des Eies gelagert.
Sie enden sowohl nach vorn als auch nach hinten, indem sie sich all-
mählich verflachen. Bald wachsen sie aber nach beiden Richtungen län-
ger aus und knicken sich dabei an einer etwa in der Mitte der Furche
gelegenen Stelle, so dafs sie dann von dieser Stelle aus sowohl nach
vorn als auch nach hinten in zu einander divergirender Richtung ver-
laufen. Diese Stelle, an welcher die Furchen der Medianlinie am meisten
genähert erscheinen, ist es, an der auch das nun zur Entwickelung kom-
mende Rohr zuerst zum Abschlusse gelangt. — (Vergleiche die einem
etwas späteren Stadium angehörige Oberflächen-Ansicht Taf. I. Fig. 3.)
Die durch die Furchen begrenzte mediane Platte hat an diesen
Stadien weder nach vorn noch nach hinten einen deutlichen Abschlufs,
sondern verläuft allmählich in die unveränderten Theile des Blastoderms.
Bald jedoch gewinnt sie einen Abschlufs nach vorn zu, indem die Längs-
furchen sich gegen einander biegen und in querer Richtung in einander
übergehen — ein Stadium, welches Kowalevsky in seiner Fig. 1 auf
Taf. VIII dargestellt hat. Auch auf meiner Fig. Z ist dieser Abschlufs
nach vorn — wenngleich an einem späteren Stadium — deutlich zu er-
kennen. Schon an diesen frühen Stadien zeigt die Mittelplatte die ersten
Anzeichen der späteren Segmentirung des Körpers, indem verdickte und
dünnere Parthien in aufeinanderfolgsender Reihe abwechseln.
Der Abschlufs, welchen die verdiekte ventrale Platte in den darauf
folgenden Stadien nach hinten zu erhält, lest sich nun merkwürdiger
Weise nicht im Zusammenhang mit den bisher beschriebenen Bildungen
an, sondern vollständig unabhängig von denselben, wie aus meiner Fig. £
hervorgeht. Und zwar geschieht dies in Form zweier nach hinten con-
vergirender Furchen (f'), welche sich immer mehr einander nähern bis
zu dem Punkte, wo sie in ein Grübchen einlaufen, welches mit dem ersten
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. a
Auftreten der Amnionfalte in Zusammenhang zu bringen ist (g). Da es
meine Absicht nicht ist, hier auf den Procefs der Amnionbildung näher
einzugehen, so muls ich in dieser Hinsicht anf die Schilderung Kowa-
levsky’s verweisen. Hier soll nur der Einstülpungs-Vorgang geschildert
werden, unter welchem die Bildung der Keimblätter einhergeht.
Auf meiner Fig. 5, welche ungefähr der Kowalevsky’schen Fig. 3
auf Taf. VIII (Claus Fig. 4765)1) entspricht, finden wir die Verhältnisse
schon um einen Schritt weiter gediehen. Die seitlichen Längsfurchen des
vorderen Theils der Embryonal-Anlage (Fig. 5f) und des hinteren Theils
(Fig. 5f') sind mit einander verschmolzen, indem sie ganz schwach an-
gedeutete Ausläufer gegen einander gesendet haben. Auf diese Weise ist
nun jene Platte, welche dazu bestimmt ist, in die Tiefe versenkt zu wer-
den, und welche — wie wir an Fig. 5 sehen — eine eigenthümliche,
lanzettförmige Gestalt angenommen hat, nach allen Seiten hin deutlich
abgegrenzt. Wir erkennen auch, dafs der Einstülpungs-Procels an der
vordersten Parthie dieser Platte schon am weitesten gediehen ist, indem
ihre seitlichen Ränder zur Bildung einer Rinne sich zusammengekrümmt
haben. Nur das allervorderste Ende (Taf. I. Fig. 5 bei a) nimmt an
dieser Rinnenbildung nicht Theil, sondern zeigt sich an diesem wie in
den darauf folgenden Stadien in der Form eines weit geöffnet bleibenden
rautenförmigen Feldes. Dieses rautenförmige Feld finden wir an späte-
ren Stadien noch weit geöffnet zu einer Zeit, da schon der ganze übrige
Theil der Rinne durch Berührung der sie überwachsenden Falten zum
Verschlufs gekommen ist; und da ich durch meine Untersuchungen dazu
geführt wurde, die Ränder der rinnenförmigen Einstülpung als
Blastoporus zu betrachten, so ist es vielleicht von Interesse, gleich
an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dafs der vorderste Theil des Blasto-
porus es ist, welcher am spätesten zum Verschlusse kommt, jener Theil,
welcher der Lage nach der in viel späterer Zeit erst auftretenden Oeso-
phagus-Einstülpung und definitiven Mundöffnung entspricht.
1) Zur Bequemlichkeit der Leser führe ich neben den Kowalevsky’schen Num-
mern der Stadien auch stets die in Claus, Lehrbuch der Zoologie, 3. Auflage 1885
durchgeführte Bezeichnung der Reproduction der Kowalevsky’schen Figuren in Klam-
mer mit an.
2%
12 Jal mar 10) 19,19, 8
Die Besprechung dieser Verhältnisse führt uns zu einer Schilde-
rung des Taf. I. Fig.6 dargestellten Stadiums, welches ungefähr gleich-
alterig ist mit Kowalevsky’s Fig. 4 auf Taf. VII (Claus Fig. 476e).
Wir sehen, dafs die Einstülpung des unteren Blattes an diesem Stadium
ihrem Abschlusse nahe ist, indem sich dıe Ränder der Rinne mit Aus-
nahme des eben erwähnten rautenförmigen Feldes (a) in ihrem ganzen
Verlaufe an einander gelegt haben. Durch Einkerbungen in diesen Rän-
dern (5) ist die Segmentation des Embryos angedeutet. Der hinterste
Theil desselben ist schon von der ziemlich weit nach vorn vorgeschobe-
nen Schwanzfalte des Amnions (s) überdeckt, während vorn eine von mir
gefundene, paarig auftretende und nur durch kurze Zeit als selbständige
Bildung zu beobachtende Kopffalte (X) die allmählich vollständig werdende
Überwachsung des Embryos mit Embryonalhäuten einleitet. Auch das
Eetoderm tritt an diesem Stadium als verdickte Zellplatte gegenüber den
dünneren und daher durchscheinenderen übrigen Parthien des Blastoderms
deutlich hervor. Wir erkennen auch in der Ectodermplatte Querfurchen
als erste Andeutung auftretender Segmentation.
In Hinsicht auf die nun weiter folgenden Veränderungen des Ober-
flächenbildes kann ich auf die Schilderungen in Kowalevsky’s schöner
und grundlegender Arbeit verweisen, der ich ja auch in Bezug auf die
besprochenen Stadien nur wenig neue Punkte habe hinzufügen können.
Die genaueren Details des im Vorhergehenden geschilderten Ein-
stülpungs-Processes lernen wir am besten durch serienweise durch die
verschiedenen Stadien angefertigte Querschnitte kennen. Daher gehe ich
nun zur Beschreibung der mir vorliegenden über. Ich werde vorerst die-
sen Einstülpungs-Procefs darlegen, wie er an dem weitaus gröfsten Theil
der Rinne — nämlich in den mittleren und hinteren Parthien derselben —
abläuft. Den Modus der Einstülpung in dem vordersten Theil der Rinne,
welcher etwas geänderte Verhältnisse aufweist, werde ich im Anschlusse
behandeln.
Die Taf. I. Figg. 10, 11,12,15,14 u. 15 abgebildeten Querschnitte!)
1) Die Zellen des Ectoderms färben sich etwas intensiver mit Carmin, als die
des unteren Blattes; ich habe sie daher in meinen Abbildungen durch einen dunkleren
Ton hervorgehoben.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus pieeus L. 13
geben uns eine Vorstellung von dem Typus, nach welchem die Emstül-
pung im gröfsten Theile der Rinne normaler Weise abläuft. Diese Quer-
schnitte entstammen alle ein und derselben Serie und zwar durch ein Sta-
dium, welches nur um ein Weniges älter war, als meine Fig. 5, und wel-
ches ungefähr dem Kowalevsky’schen Stadium der Fig. 3 auf Taf. VIII
(Claus Fig. 4765) entsprechen dürfte. Es waren die Ränder der Rinne
eine kurze Strecke weit bis zur Berührung genähert. Verfolgte man die
Schnitte von dieser Stelle aus bis in Regionen, welche der noch verbrei-
terten und flachen Mittelplatte entsprachen, so konnte man an dieser ein-
zigen Serie successive sämmtliche auf emander folgende Stadien des fort-
schreitenden Invaginations-Processes auffinden. Wir werden die Schnitte
in jener Reihenfolge besprechen, wie sie den immer weiter schreitenden
Vorgängen nach auf einander folgen.
Der Schnitt Fig. 10 schliefst sch an die für ein früheres Sta-
dium geschilderten Bilder an. Er zeigt fast dieselben Verhältnisse, wie
der auf Fig. 9 dargestellte Schnitt. Die Furchen sind tiefer geworden
und zu beiden Seiten derselben zeigt sich deutlich der sie begrenzende
Ectodermwall (w). Auch hier erkennen wir, wie in Fig. 9, eine schwache
Depression (m) der Oberfläche in der Medianlinie. Die Epithelzelle (p)
dieses Schnittes ist ein Beispiel einer pyramidenförmigen Zelle, die schon
bedeutend an Höhe abgenommen hat. Sie reicht wenig über die Mitte
der Höhe des Epithels hinaus.
Fig. 11 bietet wesentlich dieselben Verhältnisse. Nur erkennen wir
schon deutlich, wie die Mittelplatte unter das Niveau des Ectoderms in
die Tiefe gesuriken ist. Die den beiden Furchen entsprechenden Stellen
der Oberfläche (f) haben sich zu einem Winkel abgeknickt, und der ecto-
dermale äufsere Grenzwall (w) wird überhängend, indem die Ectoderm-
Zellen seitlich über die Mittelplatte gegen die Medianlinie hereinwuchern.
Die Lage und Form der Zellen a, d, c, d ist in dieser Hinsicht von
besonderem Interesse. Die Zellen der Mittelplatte sind noch höher ge-
worden, als an den vorigen Schnitten; ihre Kerne liegen noch unregel-
mälsiger.
An diesem Schnitt erkennen wir auch, was an den folgenden deut-
licher zu Tage tritt, dafs dıe Zellen des Ectoderms (ec) seitlich der Rinne
14 IEIEISDERERE:
ihre kubische Gestalt gegen eine eylindrische eintauschen, wodurch eine
Verdickung des Eetoderms entsteht.
Die Figg. 12 u. 13 zeigen bei Weitem vorgeschrittenere Verhält-
nisse und sind von besonderem Interesse und Werth für das Verständnils
der Formirung der Rinne. In Fig. 12 zeigt die Mittelplatte noch dieselbe
Grundform wie in den vorhergehenden Schnitten, nur hat sie sich mehr
in die Tiefe gesenkt, ist höher oder dieker geworden und hat an Breite
eingebülst. Aber noch erkennen wir, dafs die den beiden Furchen ent-
sprechenden Winkel (/) durch eine flache Vorwölbung nach aufsen in der
Medianlinie (m) getrennt sind, welcher Vorwölbung eine ıhr parallele des
Dotters entspricht (m)).
Die oben erwähnte Breiten-Abnahme der Mittelplatte ist durch
zweierlei Vorgänge bedingt: 1) Durch das Höhen-Wachsthum derselben.
Die Zellen werden immer höhere und schmälere Säulchen; sie schieben
sich in verschiedene Höhen neben einander, und so wird das Epithel der
Platte theils durch diese mechanischen Verschiebungen, theils wohl aber
auch durch Zelltheilungs-Vorgänge zu einem mehrschichtigen. 2) Durch
die Verengerung der Rinne. Immer mehr und mehr werden die seitlichen
Parthien der Platte senkrecht aufgestellt, um die Seitenwände der sich
vertiefenden Rinne zu bilden, während eine immer kleinere Medianparthie
der Mittelplatte für den Boden der Rinne bleibt.
In Fig. 15 ist der Boden der Rinne schon völlig fach und zeigt
nichts mehr von der früheren Vorwölbung nach aufsen. Dem entspre-
chend hat sich auch der Grenzcontour zwischen Platte und Dotter geän-
dert; er ist eine elliptische oder annähernd kreisförmige Linie geworden.
In Fig. 12 hat sich die Rinne noch um ein Bedeutendes weiter
verengt. Die Ectoderm-Ränder haben sich so sehr genähert, dafs die
Rinne nur mehr als schmaler Spalt zwischen den Eetoderm-Zellen be-
merkbar ist. Im Innern jedoch gewinnt sie ein etwas breiteres Lumen
von ungefähr kreisförmigem Querschnitt. Demselben entspricht em kreis-
förmiger Aulsencontour der Anlage des unteren Blattes. Das Ectoderm (ec)
ist zu einem ziemlich hohen Cylinderepithel geworden, dessen Zellkerne
sämmtlich in einer Reihe neben einander liegen.
Besonderes Augenmerk müssen wir den Zellen « und 5 zuwenden,
welche den medialen Rand des Ectoderms bezeichnen. Dieselben sind
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 15
über den aufsestülpten seitlichen Wulst der Mittelplatte in die Rinne hin-
eingewuchert und stehen sich mit convexer Oberfläche am Eingang der
Rinne gegenüber. Bei Verschlufs der Rinne schliefsen sich diese Zellen
an einander, indem die beiden convexen Flächen sich berühren.
Die Form der Zelle c ist gleichfalls von Interesse. Dieselbe ist
gegen den Dotter gedrängt und von unregelmäfsig polygonaler Form ge-
worden.
Der Schnitt Fig. 15 zeigt die an diesem Stadium am weitesten
vorgeschrittenen Verhältnisse. Die Rinne hat sich vollständig abgeschlos-
sen, und es ist dadurch zur Bildung eines Rohres gekommen, dessen Lumen
und äufserer Querschnitt schon einigermalsen flachgedrückt erscheinen.
Während die früheren Schnitte einen kreisförmigen Aulsencontour der An-
lage des unteren Blattes zeigten, erkennen wir an diesem Schnitt die
Form einer Ellipse, deren lange Axe der Oberfläche des Embryo’s pa-
ralell läuft. Die Anlage des unteren Blattes ist demnach in verticaler
Richtung abgeplattet, ferner bemerken wir, dals das Rohr sich mehr
und mehr von den angrenzenden Eetodermrändern emaneipirt. Es stehen
nur mehr wenig Ectoderm-Zellen in directem Contact mit der Anlage
des unteren Blattes. Der meniscoidale Spalt (sp) zwischen Ectoderm und
dem unteren Blatt greift immer weiter medianwärts und füllt sich mit
Nahrungsdotter-Elementen. Von Bedeutung ist die Art und Weise, ın
welcher der Verschlufs des Rohres bewirkt ist. An demselben betheilist
sich sowohl das Eetoderm als das untere Blatt. Während in der Tiefe
zunächst dem Lumen Zellen des unteren Blattes sich aneinandergelagert
haben, verschlielsen aufsen jene zwei Ectoderm-Zellen, welche in die
Rinne hineingewuchert sind, dieselbe, so dafs durch diesen Contact an
der Oberfläche das Ectoderm völlig geschlossen ist. Andererseits ist das
Rohr durch seinen vollständigen Verschluls auch zu einem Organ von
srölserer Selbstständigkeit geworden. Wenn wir uns denken, dafs der
von den Seiten gegen die Mittellinie fortschreitende Spalt die Mittellinie
erreicht, so gelangen wir zum Verständnils, wie die vollständige Sonde-
rung der Anlage des unteren Blattes vom Ectoderm sich vollzieht.
Ich mufs hier erwähnen, dafs die Schnitt-Serien in Übereinstim-
mung mit dem Oberflächenbild zeigen, dafs der Verschlufs der Rinne
nicht continuirlich von vorn nach hinten sich vollzieht, sondern dals im
16 HierTDeR:
Verlauf der abgeschlossenen Strecke den Segmenten entsprechend, von
Stelle zu Stelle sich offengebliebene, rautenförmige, kleine Lücken ein-
schieben (Taf. I. Fig.6), ein Verhalten, auf welches wir schon oben auf-
merksam gemacht haben. Der einem späteren Stadium angehörige Schnitt
auf Taf. I. Fig. 17 zeigt noch immer ganz deutlich diesen intersegmental
verzögerten Verschluls des zum unteren Blatt sich ausbildenden Rohres.
Die nächste nach vollendeter Bildung dieses Rohres zur Beobach-
tung kommende Erscheinung ist eine Verbreiterung desselben, welche
sleichzeitis mit einer Verringerung der Höhendimension einhergeht; oder,
da die vom Ectoderm bedeckte Fläche des Rohres der ventralen Seite
des Embryos entspricht, so können wir auch von einer Abplattung des
Rohres nach der dorsoventralen Richtung sprechen. Die Schnitte, welche
auf Taf. I. Fıgg. 16, 17 u. 18 abgebildet sind, zeigen den Beginn dieses
Processes, während wir sein Fortschreiten auf Taf. I an den Schnitten
Figg. 21, 22, 23 u. 24 verfolgen können.
Die auf Taf. I. Figg. 16 u. 17 dargestellten Schnitte entstam-
men einem Embryo, welcher um ein Weniges jünger war, als der in
Fig. 6 derselben Tafel abgebildete. Die querelliptische Gestalt, welche
uns der Querschnitt darbietet, ist ebenso auffällig, als die Abflachung,
welche das Lumen des Rohres nach derselben Richtung erfahren hat.
Dasselbe zeigt sich in der Form einer ziemlich abgeflachten Querspalte
von geringer Ausdehnung. Diese Schnitte machen den Eindruck, wie
wenn das Rohr durch einen in dorsoventraler Richtung wirkenden Druck
comprimirt worden wäre, und dieser Eindruck wird noch erhöht durch
die Verhältnisse, welche das Rohr dem Ectoderm gegenüber aufweist.
Während die seitlich von dem Rohr gelegenen Zellen der Ectodermplatte
ein hohes, aus regelmäfsigen Prismen bestehendes Oylinderepithel dar-
stellen, sind die über dem Rohr gelegenen Ectoderm-Zellen von mehr
wenig kurzeylindrischer oder kubischer Gestalt, und wenn wir die Schnitte
Fig. 16 u. 17 mit dem in Fig. 15 dargestellten Querschnitt eines frühe-
ren Stadiums vergleichen, so fällt uns auch auf, dafs nun der Contaet
des Rohres mit dem Ectoderm wieder ein viel innigerer geworden ist.
An Fig. 16 erscheint das Rohr des unteren Blattes durch den besproche-
nen dorsoventralen Druck geradezu wie in das Ectoderm hineingeprelst.
Das ist natürlich nur eine roh mechanische Vorstellung, welche zu nichts
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. AUG
anderem dienen soll, als uns den Ablauf dieser Wachsthumsprocesse in —
ich möchte sagen — symbolischer Art zu versinnlichen.
Betrachten wir die Zellen, aus denen das Rohr in dem besproche-
nen Zeitpunkt zusammengesetzt ist, so finden wir gegenüber der Fıy. 15
auch schon erhebliche Unterschiede. Allerdings haben zahlreiche Zellen
noch die langgestreckt prismatische, pyramidale oder Spindelform sowie
ihre Orientirung nach der radialen Richtung um das Lumen des Rohres
beibehalten. Aber wir finden doch schon bedeutend mehr kurzpyrami-
denförmige, kubische oder unregelmäfsig polygonale Elemente besonders
in den dem Ectoderm anliegenden Theilen des Rohres. Ich habe es nicht
untersucht, ob zahlreich auftretende Quertheilungen oder active Formver-
änderungen der das Epithel des Rohres zusammensetzenden Zellen die
Ursache dieser Umwandlungen sind, doch glaube ich, dafs beide Processe
gemeinsam nach dieser Richtung wirken. Auf jeden Fall hat bei dem in
Rede stehenden Stadium das Epithel des Rohres in noch viel höherem
Grade den Character des mehrschichtigen Cylinderepithels angenommen.
An dem in Fig. 18 dargestellten Querschnitt durch einen Em-
bryo, welcher nahezu dem Stadium Fig. 6 entsprach, finden wir diese
Umformung der Zellen des unteren Blattes in Elemente von unregelmälsig
polygonaler Gestalt noch weiter vorgeschritten. Ebenso hat die Abplat-
tung nach der dorsoventralen Richtung zugenommen. Das Lumen des
Rohres ist in Folge dessen dem völligen Verschwinden nahe. An unse-
rem Querschnitte zeigt es sich allerdings in der queren Richtung ziem-
lich ausgedehnt. Dafür ist es in der Medianlinie durch Aneinanderlage-
rung der der oberen und unteren Schicht des unteren Blattes angehörigen
Zellen beinahe zum Verschlusse gekommen. An anderen Schnitten der-
selben Serie, kann ich in der That kaum eine deutliche Spur dieses Lu-
mens mehr wahrnehmen.
Es sollte uns daher nicht wundern, wenn wir in den folgenden
Stadien dasselbe völlig obliterirt fänden, dennoch ist dies nicht der Fall.
Es erweitert sich im Gegentheil in darauffolgenden Stadien wieder etwas
mehr und wird zu einem Querspalt von erheblicher Ausdehnung. Der
von mir Taf. II. Fig. 212 abgebildete Querschnitt, welcher wieder einer
intersegmentalen Stelle entspricht und einem Embryo entnommen ist,
welcher ungefähr auf der Stufe der Kowalevsky’schen Fig. 6. Taf. VII
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. TI. 3
18 HEIDER:
(Claus, Fig. 476e) stand, zeigt diese dem vollständigen Verschlufs des
Lumens vorhergehende, mir anfangs auffällige Erweiterung auf das deut-
lichste. Ich habe dieselbe an Querschnitten durch diese Stadien so re-
gelmäfsig vorgefunden, dafs ich nicht umhin kann, diese Erscheinung als
der Norm des Entwickelungsprocesses zugehörig zu betrachten. Ich finde
die Ursache dieser Vergrölserung des Lumens 1) in der fortschreitenden
Ausdehnung, welche das untere Blatt nach der Breitendimension nimmt
und 2) in der stets zunehmenden Zusammenziehung der Zellen des un-
teren Blattes zu rundlichen oder unregelmäfsig polygonalen Formen. Denn,
da in früheren Stadien das verhältnifsmäfsig kleine Lumen des Rohres
von hohen prismatischen Zellen umgrenzt wurde, so mufs, wenn diesel-
ben sich nach der Höhendimension verkürzen und der Aufsencontour des
Rohres derselbe bleibt, das Lumen des Rohres entsprechend erweitert
werden.
Betrachten wir im Anschlusse den einem noch etwas weiter vor-
geschrittenen Stadium entnommenen Schnitt Taf. II. Fig. 22, so macht
uns derselbe den Eindruck, wie wenn nun die in dorsoventraler Richtung
wirkende Compression endgültig das Übergewicht erhalten hätte. Das
Lumen des Rohres ist vollständig verschlossen und wir erkennen die
letzte Andeutung desselben als einen kaum merkbaren Spalt (sp), der
aber dennoch deutlich die Grenze zwischen zwei Schichten des unteren
Blattes markirt.
Dafs die Ränder des Eetoderms an diesen Schnitten nicht anein-
ander schliefsen, während sie an den Schnitten Fig. 15 u. 16 der früheren
Stadien schon völlig mit einander verwachsen waren, darf uns nicht
Wunder nehmen. Solche Differenzen in der Entwickelung dieser ersten
Stadien, welche sehr rasch aufeinander folgen, finden sich gar häufig,
gleichen sich aber im Verlauf der weiteren Entwickelung immer wie-
der aus.
Wir wollen nun die Schilderung der weiter sich ergebenden Ver-
änderungen unterbrechen, um den Verschluls des vordersten oder rauten-
förmigen Theils des Rohres ins Auge zu fassen, welcher, wenngleich
nach demselben Typus, so doch unter einem etwas anderen Modus ab-
läuft, als der ist, den wir für die übrige Parthie des Rohres beschrieben
haben. Schon Kowalevsky hat auf diesen Unterschied aufmerksam ge-
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 19
macht. — Auf p. 34 seiner „Embryologischen Studien an Würmern und
Arthropoden“ sagt er: „Aus dem oben Gesagten ist es schon klar, dafs
das zweite oder untere Blatt aus dem oberen oder aus den Zellen des Bla-
stoderms entsteht, welche eine geschlossene Röhre bildeten, deren Zellen
sich abrunden und in eine Schicht oder das Blatt zerfallen; oder es entsteht
wie am vorderen Ende der Fig. 6, wo die Rinne sich nicht zu einem
Rohre schlie(st, dadurch, dafs die Zellen, welche den Boden der
Rinne bilden, sich abrunden und auseinander treten. Die eine
Art der Bildung geht in die andere ganz allmählich über.“ Seine hierauf
bezügliche Abbildung Taf. IX. Fig. 22 scheint mir allerdings einem Sta-
dium entnommen, an welchem auch im Vorderende der Rinne der Abson-
derungsprocels des unteren Blattes im Wesentlichen schon beendet ist.
An Querschnitten durch entsprechende Stadien gewinnt man in der That
häufig den Eindruck, wie wenn im vordersten Theile der Rinne die Ver-
senkung des unteren Blattes in der Weise vor sich ginge, dafs die me-
diane Platte unter das Niveau des Ectoderms einsinkt, und die Eetoderm-
ränder, nachdem sie den Zusammenhang mit dieser Platte verloren ha-
ben, sich einfach mediänwärts über dieselbe gegen einander schieben.
Nach einer genauen Durchmusterung zahlreicher Schnitte jedoch habe ich
bei aufmerksamem Zusehen auch hier den unteren umgeschlagenen Theil
jener Falte, welchen die medianwärts sich vorschiebenden Eetodermränder
mit der ın die Tiefe gesenkten Mittelplatte bilden, auffinden können, und
der von mir Taf. I. Fig. 20 dargestellte Schnitt läfst denselben ganz
deutlich erkennen (bei @). — Ich glaube, dafs der ganze Unterschied, der
sich hier im Typus der Einstülpung darbietet, darin begründet ist, dafs
der Verschlufs der Rinne so lange verzögert ist, während die übrigen Ver-
änderungen auch von diesem Theil der Mittelplatte mitgemacht werden.
Es ist daher die Mittelplatte schon in abgerundete und polygonale Zellen
zerfallen, welche in gelockerterem Zusammenhang stehen, als die prisma-
tischen Zellen, aus denen sie hervorgegangen sind, und die Rinne als
Ganzes (auch ihr Lumen) ist flachgedrückt und erscheint wie in das Ec-
toderm hineingeprelst, zu einer Zeit, da die Ränder derselben noch weit
von einander entfernt sind. Die Fig. 20 auf Taf. I weist ungefähr die-
selben Verhältnisse auf, wie Fig. 12 oder 23, wenn wir uns die erwähnten
Veränderungen an der Rinne vorgenommen denken. Wenn ich den Ein-
2%
{9}
30 HEIDER:
druck sprechen lassen darf, welchen das Bild in Fig. 20 und die hierher
gehörigen Schnitte hinsichtlich der Mechanik der hier ablaufenden Ein-
stülpungs-Vorgänge auf mich machen, so möchte ich sagen, es hat fast
den Anschein, als wenn bei dem Zerfall der Mittelplatte in zahlreiche,
gelockerte, polygonale oder rundliche Elemente und der gröfseren Ver-
schieblichkeit derselben, dieselbe dem von den Seiten her einwirkenden
Druck nicht mehr genügenden Widerstand dargeboten hätte, um als Gan-
zes zu einem eigentlichen Rohr eingebogen zu werden. Immerhin werden
wir auf diese Verschiedenheit im Einstülpungs-Modus gegenüber den mitt-
leren und hinteren Parthien der Rinne kemen besonderen Werth legen,
da ja der Typus der Einstülpung, wie wir gesehen haben, in beiden
Fällen derselbe ist.
Wenn nun die Rinne ihrer ganzen Ausdehnung nach zum Ver-
schlusse gekommen, und auch die Embryonalhüllen sich vollständig oder
doch nahezu vollständig über dem Embryo geschlossen haben, tritt der-
selbe in die zweite Entwickelungsperiode Kowalevsky’s ein. Man
könnte dieselbe bezeichnen als die Stufe der Organ- Anlagen aus den Keim-
blättern. Denn diese Thätigkeit des Embryos ist für die vorliegende Reihe
von Umwandlungen charakteristisch. Allerdings reicht auch die Sonde-
rung der Keimblätter von einander noch in diese Zeit des Embryonal-
lebens herein. Denn die Trennung der aus dem unteren Blatt Kowa-
levsky’s entstehenden Keimblätter: Entoderm und Mesoderm hat sich
zu Anfang dieser Periode noch nicht vollzogen und dieser Procels ist es
gerade, welcher unsere Aufmerksamkeit in hervorragendem Malse in An-
spruch nehmen wird. Wir werden sehen, dafs dieser Procefs mit dem
Auftreten der einzelnen Orsan-Anlagen Hand in Hand geht. Im Allge-
meinen können wir — wenn wir die fortschreitende Differenzirung vom
Allgemeinen zum Besonderen, je nachdem sie sich auf die Hervorbrin-
gung von Keimblättern, Anlagen von Organsystemen oder specifisch dif-
ferenten Geweben richtet, mit Karl Ernst v. Baer!) als primäre, mor-
phologische und histiologische Sonderung unterscheiden wollen — die von
1) Karl Ernst v. Baer, über die Entwickelungsgeschichte der Thiere. Königs-
berg 1828. I. Theil. II. Scholion. III. Innere Ausbildung des Individuums pag. 153.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 21
Kowalevsky geschiedenen drei Entwickelungsstufen des Hydrophilus-Em-
bryos auf jene drei Grade der Differenzirung beziehen.
Unser Taf. II. Fig. 235 abgebildeter Querschnitt gehört noch der
ersten Entwickelungsperiode an, steht aber mit den darauf folgenden an
der Grenze gesen die zweite. Er ist einem Embryo entnommen, welcher
der Kowalevsky’schen Fig. 7 auf Taf. VIII gleichwerthig ist.
Das Ectoderm läfst bereits zu beiden Seiten der Medianlinie eine
schwach angedeutete Verdickung erkennen, in welcher wir die erste
Andeutung des auftretenden Nervensystems (Primitivwülste Hatscheck’s)
erkennen. Die Embryonalhäute, welche sich über den Keimstreifen schlie-
fsen, sind der Einfachheit halber auf der Zeichnung nicht ausgeführt. Uns
interessiren vor Allem die Verhältnisse des unteren Blattes. Wenn wir
dieselben mit den in Fig. 22 dargestellten vergleichen, so ist die völlige
mediane Verwachsung des Ectoderms, die Anordnung der Zellen derselben
nach einer gerade fortlaufenden, basalen Linie, kurz die völlige Trennung
des Ectoderms vom unteren Blatt bemerkenswerth. Ferner sehen wir die
beträchtliche Breitenzunahme, welche dasselbe aufzuweisen hat. Während
in den bisher geschilderten Stadien das Rohr des unteren Blattes nur von
einem verhältnilsmäfsig schmalen, medianen Antheil des Ectoderms direct
bedeckt wurde, hat sich nun das untere Blatt zu einer Platte ausgedehnt,
deren Breite nahezu der des ectodermalen Antheils des Keimstreifens gleich-
kommt. Von dem Spalt, welchen wir als den letzten Rest des Lumens
des flachgedrückten Rohres erkannt haben, ist an dem vorliegenden Schnitt
kaum etwas zu erkennen, wenn ich nicht den letzten Rest desselben in
einer etwas unregelmäfsigen und weniger dichten Aneinanderlagerung der
. Zellen in den mittleren Parthien des unteren Blattes erkennen will. Den-
noch glaube ich keinen Fehlgriff zu begehen, wenn ich die zwischen den
beiden Schichton des unteren Blattes m den nächstfolgenden Stadien auf-
tretende Grenze auf diesen im vorliegenden Schnitt undeutlich geworde-
nen Spalt zurückbeziehe. Denn auch in dem vorhandenen Stadium kann
ich an histiologischen Unterschieden deutlich das Vorhandensein von zwei
Schichten erkennen, in welche das untere Blatt Kowalevsky’s getrennt
ist. Von diesen beiden Schichten will ich stets die dem Eetoderm an-
liegende als die äufsere (a) und die dem Dotter anliesende als die in-
nere (%) bezeichnen. Ich glaube, dafs die Grenze zwischen beiden
22 HEIDER:
Schichten hervorgegangen ist aus dem in querer Richtung ver-
breiterten Lumen des eingestülpten Rohres. Da ich diesen Ein-
stülpungs-Procefs als echte Gastrulation und das Lumen dieser Einstül-
pung als Urdarmhöhle auffasse, so werden wir in der Grenze zwischen
der inneren und äufseren Schicht des unteren Blattes den letzten Rest
der Urdarmhöhle zu erkennen haben.
Was die histiologischen Unterschiede, welche mich auch an dem
vorliegenden Stadium eine Sonderung in zwei Schichten erkennen lassen,
anbelangt, so sind es folgende: die Zellen der äufseren Schicht sind im
Wesentlichen unregelmäfsig polygonal oder kubisch geformt. Wenn man
an einigen von ihnen jedoch eine Dimension vergröfsert findet, so ist es
stets die Richtung senkrecht auf die Oberfläche des Embryos. Die Zellen
dieser Schicht zeigen sich also zum Theil in dorsoventraler Richtung ver-
längert. Ferner sind sie etwas stärker granulirt und zeigen auch gegen
Reagentien ein etwas anderes Verhalten, als die Zellen der inneren Schicht,
indem sich mit Carmin auch ihr Zellkörper etwas stärker färbt. Die
Zellen der inneren Schicht dagegen sind stets deutlich in der Richtung
parallel zur Oberfläche des Embryos abgeplattet. Sie erscheinen weniger
stark granulirt und ihre Zellsubstanz färbt sich weniger mit Carmin).
In Fig. 25 sind diese schwach ausgeprägten histiologischen Differenzen
durch Punktirung der stärker granulirten Zellen der äufseren Schicht an-
gedeutet.
Wenn ich mir die Frage vorlege, warum in diesem Stadium die
Grenze zwischen beiden Schichten des unteren Blattes so undeutlich er-
scheint, während sie schon in den nächstfolgenden Stadien wieder scharf
markirt hervortritt, so möchte ich als Ursache dieser Erschemung bezeich-
nen: die regen Wachsthums-Processe, durch welche die Volumsvermehrung
des unteren Blattes auf dieser Stufe hervorgebracht wird. Die Verbreite-
rung dieser Schicht geht unter reger Zellvermehrung und unter Verschie-
bungen und Änderungen der gegenseitigen Lage der Zellen vor sich. Ich
möchte sagen, das untere Blatt ist in dem besprochenen Zeitpunkt in
1) Bei diesen embryonalen Geweben zeist die Zellsubstanz selbst nach langem
Auswaschen der Färbeflüssigkeiten eine schwache Färbung. Es sind Nuancen in dieser
Färbung, auf welche ich mich oben beziehe.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 23
Flufs gerathen, um erst in den folgenden Perioden wieder wesentlich ge-
änderte, stabilere Verhältnisse aufzuweisen.
Es mufs hier darauf hingewiesen werden, wie wesentlich sich der
histiologische Charakter des unteren Blattes während der beschriebenen
Processe geändert hat. Während dasselbe in den früheren Stadien ein
anfangs einschichtiges, später mehrschichtiges Epithel dargestellt hat,
ist dasselbe nun zu einer Art Parenchym umgewandelt, welches zwischen
Ectoderm und Dotter als untere Schicht des Keimstreifs sich ausbildet.
Der folgende Schnitt (Fig. 22), welcher der Kowalevsky’schen
Fig. 26 auf Taf. IX gleich ist und dem Kowalevsky’schen Stadium
Fig. 8 auf Taf. VIII (Olaus Fig. 476) entnommen ist, zeigt gegenüber
dem eben besprochenen nur die regelmäfsigere Anordnung der Elemente
des unteren Blattes nach zwei Schichten, von denen die äufsere an man-
chen Stellen am Querschnitt aus mehreren über einander liegenden Zell-
reihen zusammengesetzt ist, während die innere Schicht (2) wohl überall
nur aus einer einzigen Zellschicht besteht.
Die nächste nun zur Beobachtung kommende Erscheinung ist, dafs
die innere Schicht des unteren Blattes längs der Medianebene des Embryos
sich trennt und von derselben sich zurückzieht, so dafs ın den dadurch
frei gewordenen Raum der Dotter sich vordrängt, bis er mit der äulse-
ren Schicht des unteren Blattes in Berührung tritt. Diese Veränderung
ist an dem in ig. 25 dargestellten Querschnitt durch den Abdommaltheil
eines Embryos zu sehen, welcher dem Kowalevsky’schen Stadium Fig. 9
auf Taf. VIII entspricht. Es folst in den nächsten Entwickelungs-Perio-
den ein Stadium, in welchem auch der Mediantheil der äufseren Schicht
des unteren Blattes die gleiche Trennung erfährt, so dafs der Dotter
bis an das Eetoderm heranreicht. Das erkennen wir an Kowalevsky’s
Fig. 27 auf Taf. X. Der von mir Taf. II. Fig. 26 abgebildete Schnitt
liest nun in der Mitte zwischen meiner Fig. 25 und der erwähnten Fig. 27
Kowalevsky’s. Er war dem Stadium von Kowalevsky’s Fig. 10 auf
Taf. VIII entnommen und ich konnte an diesen Stadien die ersten Spuren
der auftretenden Sesmentalhöhlen erkennen. Der in Rede stehende Schnitt
zeigt jederseits in den lateralen Parthien des unteren Blattes einen zwi-
schen der inneren (?) und äußeren (a) Schicht desselben aufgetretenen
Spalt. Wenn man eine vollständige Serie von Schnitten dieser Stadien
34 HEIDER:
übersieht, so finden wir an der Grenze zwischen je zwei Segmenten stets
eine Stelle, an welcher der Contact zwischen der äulseren und inneren
Schicht des unteren Blattes erhalten geblieben ıst. Es sind dies jene
Stellen, welche dem zwischen je zwei benachbarten Segmenthöhlen sich
bildenden Septum entsprechen.
Kowalevsky giebt an, dafs sich diese in sämmtlichen Segmenten
(mit Ausnahme des Kopf- und des Mandibularsegmentes) auftretenden
Ursesmenthöhlen in der Weise bilden, dafs die seitlichen Ränder des flä-
chenhaft ausgebreiteten unteren Blattes sich nach unten umschlagen und
eine Falte bilden, welche den segmentalen Hohlraum umgebe und aus
fast eylindrischen Zellen bestehe. Dagegen konnte ich mich auf das Be-
stimmteste überzeugen, dafs die Bildungsweise der Ursegmenthöhlen eine
andere ist. Es erweitert sich nämlich jederseits segmentweise
die zwischen der äuflseren und inneren Schicht des unteren
Blattes vorhandene Grenze zu einem Spalt, welcher in den folgen-
den Stadien immer mehr an Höhenausdehnung gewinnt, und so zu einem
auf dem Querschnitt mehr weniger rundlichen oder ovalen Hohlraum sich
ausbildet, während die denselben umgebenden Zellen sich immer mehr —
wie schon Kowalevsky angiebt — zu einem aus cylindrischen (später
aus eubischen) Zellen bestehenden Epithel organisiren. Da die Urseg-
menthöhlen stets nur auf den lateralen Antheil des unteren Blattes be-
schränkt bleiben, so müssen wir sowohl an der äufseren, als an der in-
neren Schicht desselben von nun an zwei Regionen unterscheiden, näm-
lich eine der Medianlinie genäherte Zone, welche den bisherigen Charak-
ter ungeändert bewahrt hat, und eine laterale Region, in welcher die Zel-
len zu einem die Segmenthöhle umschliefsenden niedrigen Oylinderepithel
sich angeordnet haben.
Für die äufsere Schicht des unteren Blattes hat nun diese Tren-
nung in eimen medianen und einen lateralen Antheil keinen besondern
Werth, da die beiden Parthien im Lauf der weitern Entwickelung ihren
Zusammenhang nicht verlieren, sondern sich als Ganzes stets dem Ecto-
derm des Keimstreifs anliegend zur Muskelschicht der Körperwandung
umbilden. Anders verhält es sich aber mit der innern Schicht des unte-
ren Blattes. Denn während jener laterale Antheil derselben,
welcher die Ursesmenthöhle begrenzt (2), zum gröfsten Theile zur Bildung
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 25
der Muskelschicht des Mitteldarms aufgebraucht wird und daher das
Darmfaserblatt darstellt, gewinnt die mediale Parthie sehr bald
einen histiologisch differenten Charakter und wandelt sich durch einen
merkwürdigen Umordnungsprocefs zur Epithelschicht des Mittel-
darms um, sodals sie von nun an als definitive Entoderman-
lage bezeichnet werden muls.
Ich bin in meiner Schilderung etwas vorausgeeilt und habe Verän-
derungen anticipirt, welche auf dem Schnitt Fig. 26 nur in ihren ersten
Anfängen zu erkennen sind. Der in meiner Fig. 27 dargestellte Schnitt
zeist schon wesentlich vorgeschrittene Verhältnisse (Stadium der Kowa-
levsky’schen Fig. 11 auf Taf. VIII) und schliefst sich an Fig. 26 nicht
ganz direct an. Immerhin lassen sich die eingetretenen Veränderungen
leicht auf die für die früheren Stadien beschriebenen Zustände zurück-
führen. Wir bemerken vor Allem — wenn wir das Ectoderm ganz aus
dem Bereich unserer Betrachtung ausschlielsen — eine ungeheure Zell-
production, durch welche die Elemente der äufseren Schicht des unteren
Blatts (somatische Mesodermschicht) sich beträchtlich vermehrt haben.
Das Epithel der Ursegmenthöhle (Ah) ist in seinem, auf der Abbildung
nach oben gekehrten, dem Ectoderm zugewendeten Antheile, welcher sich
an die somatische Mesodermschicht anschliefst, aus einem einfachen Lager
eubischer Zellen zusammengesetzt. Dagegen ist die untere, dem Dotter
zugewendete Hälfte desselben (splanchnische Mesodermschicht) zu einem
mehrschichtigen hohen Cylinderepithel umgewandelt. Nach innen von
dieser Schicht und noch die ursprünglichen Lagerungsverhältnisse aufwei-
send finden wir die Entodermanlage. Die Zellen derselben haben sich
nicht in gleichem Mafse vermehrt, wie die Elemente des Mesoderms; da-
gegen weisen sie schon jetzt in ihrem histiologischen Verhalten einige Dif-
ferenzen auf, durch welche sıe sich von nun an von den Elementen des
Mesoderms unterscheiden. Die Zellen des Entoderms sind vor Allem et-
was grölser, als die Mesodermzellen und von succulenterem Aussehen.
Während die Zellsubstanz der Mesodermzellen auch immer an gefärbten
Präparaten eine blasse Farbennuance angenommen hat, weisen die Ento-
dermzellen eine reine Kernfärbung auf und sind durch ihren etwas grös-
seren, stets stark gefärbten Kern auffällig. Solche minutiöse Unterschiede
des histiologischen Gesammteindrucks lassen sich bei dem wenig ausge-
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. 4
26 HEIDER:
prägten Verhalten des embryonalen Gewebes schwer beschrieben. Es
scheint mir auch, wie wenn die Zellen des Mesodermlagers etwas stärker
granulirt wären.
Ein weiterer, auffälligerer Unterschied betrifft die Form und die
Lagerung der Zellen zu einander. Die Zellen der Mesodermanlage liegen
in diesen Stadien noch dicht gedrängt; daher zeigen die Zellgrenzen po-
lygonale, eckige Umrisse, während die Zellen der Entodermanlage sich
abgerundet haben und zu einem lockeren Gefüge vereinigt sind, welches
zahlreiche Spalten zwischen den einzelnen Zellen erkennen läfst. Nur
emige der Medianlinie genäherte Zellen des Entoderms haben noch den
für die früheren Stadien beschriebenen abgeplatteten Umrifs beibehalten
(Fig. 27 bei a). —
In Bezug auf den Dotter hätten wir einer Veränderung Erwähnung
zu thun, welche seit dem durch Fig. 25 vertretenen Stadium aufgetreten
ist. Es ist dies der Procefs der Dotterfurchung, welcher dadurch zu
Stande kommt, dafs der Dotter in den einzelnen in ıhm enthaltenen Ker-
nen entsprechende Territorien zerfällt.
Die nächste nun zur Erscheinung kommende, wichtige Veränderung
ist, dafs die Entodermanlage als Ganzes sich nach der lateralen Richtung
verschiebt und dabei zwischen die splanchnische Mesodermschicht und
den Dotter einwandert. Über die Mechanik dieses Vorgangs kann ich
mich nur vermuthungsweise äulsern. Ich habe schon oben gesagt, dafs
die Entodermzellen dieser Stadien ein succulentes Aussehen und eine un-
regelmälsig rundliche Form zeigen und nur locker aneinander gelagert
sind. Ich kann hinzufügen, dafs sie fast den Eindruck von amoeboiden
Wanderzellen machen. Nun beginnt gerade in diesem Zeitpunkt eine par-
tielle Abhebung des Keimstreifs vom Dotter, durch welche die in Fig. 29
schon mächtig angewachsenen Höhlungen c zu Stande kommen, welche
mit einer eiweilshaltigen serösen Flüssigkeit sich füllen. In dem in Fig. 28
dargestellten Zeitpunkt erscheinen die dem Dotter anliegenden Theile des
Keimstreifs mit Rücksicht auf diese beginnende Ausbildung der Leibes-
höhle wie mit Serum durchtränkt und ein wenig gelockert. Auf jeden
Fall ist der Verband des Keimstreifs mit dem Dotter ein weniger inniger
als früher. Ich kann daher den Gedanken nicht von mir weisen, dafs die
Lageveränderung des Entoderms vielleicht doch durch actives Wandern
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 27
der diese Anlage zusammensetzenden Zellen zu Stande kommt. In wie
weit hierbei auch Wachsthumsdifferenzen in Frage kommen, wage ich
nicht zu entscheiden.
Der Querschnitt Fıy. 28, welcher diesen höchst wichtigen Pro-
ce{s der Umlagerung des Entoderms darstellt, stammt ungefähr von dem-
selben Stadium, wie der vorhergehende Schnitt. Da nicht alle Segmente
in der Ausbildung gleichen Schritt halten, so gelingt es oft sogar, an
den aufeinanderfolsenden Schnitten derselben Serie verschiedene Stufen
der Entwickelung aufzufinden.
Der nun zur Besprechung kommende Querschnitt eines Embryos
(Taf. II. Fig. 29) von der Entwickelungsstufe der Kowalevsky’schen
Fig 11 zeigt wichtige zur Ausbildung gelangte Differenzirungen, welche
ich, soweit sie mit dem hier zu besprechenden Thema in keinem direc-
ten Zusammenhang stehen, nur kurz erwähnen will. Dieser Querschnitt
hat das beiderseitige Tracheestigma eines 'T'horacalsegmentes getroffen.
Die Eingänge in die zu weiten, platten Säcken sich ausbuchtenden Eeto-
dermeinstülpungen der Tracheenanlage sind mit st bezeichnet. Median-
wärts von denselben finden wir die Extremitätenquerschnitte p, aus Ee-
toderm und noch solider Mesodermmasse bestehend. In der Medianebene
selbst sehen wir schliefslich den Querschnitt der Bauchganglienkette ge-
legen, aus den vom Ectoderm schon abgetrennten Seitensträngen (s) und
dem eingestülpten Mediantheil (m) bestehend. Fig. 30 auf Taf. II zeigt
diese Verhältnisse in vergröfsertem Malsstabe.
In erhöhtem Mafse müssen unser Interesse in Anspruch nehmen
die Veränderungen, welche die Gebilde des Mesoderms erkennen lassen.
Durch eine beiderseits aufgetretene Abhebung des Keimstreifs vom Dot-
ter hat sich ein mit seröser Flüssigkeit gefüllter Hohlraum (c) gebildet,
welcher nach aulsen zu von dem lockeren Lager des somatischen Meso-
derms begrenzt ist, während seine innere oder an der Zeichnung untere
Grenze direct von der nackten Oberfläche des Dotters dargestellt ist.
Wir bemerken derselben anliesend allerdings vereinzelte amoeboide Wan-
derzellen, welche sich auch zu Haufen aggregiren können (Figg. 29a, 32a).
Allein diese Elemente gaben keiner der späteren Organbildungen den Ur-
sprung, sondern werden, wie mir höchst wahrschemlich geworden, zu
Blutkörperchen umgewandelt.
4®
938 HEIDER:
Der Hohlraum ce, welcher sich zwischen dem Dotter und der so-
matischen Mesodermlage erstreckt, ist die erste Anlage der definitiven
Leibeshöhle der Insecten. Dieselbe bildet sich demnach unabhängis von
den Ursegmenthöhlen, und mufs der Art ihrer Bildung nach wohl von
der primären Leibeshöhle abgeleitet werden.
Wenn wir die Theile des Keimstreifs auf die spätere Larve bezie-
hen, so entspricht die Anlage der Bauchganglienkette der Ventralseite, die
Stellen, an denen wir die Stigmen an unserem Schnitte vorfinden, den
Seitentheilen der Larve, während die noch weit auseinander liegenden
zwei Punkte, wo das Eetoderm des Keimstreifs in das Amnion umbiesgt,
der Medianlinie des Rückens der Larve entsprechen. Da das Entoderm-
zellenlager (en) und die splanchnische Mesodermschicht (sp) diesem —
später dorsalen — Antheil des Keimstreifens angehören, so geht daraus
hervor, dafs an diesem Stadium die Mitteldarmwand beiderseits nur als
eine Platte entwickelt ist, welche der Lage nach dem späteren Dorsal-
antheil des Mitteldarms entspräche. Es wird sich daher im Folgenden
vor Allem darum handeln, zu zeigen, wie durch eimen fortschreitenden
Wachsthumsprocefs dieser Platte auch jene Parthien des Dotters, welche
dem (später) lateralen und ventralen Antheil des Keimstreifs entsprechen,
von der sich ausbreitenden Mitteldarmwand gegen die Leibeshöhle zu be-
deckt werden. Das Fortschreiten dieses Processes und die gleichzeitig
zunehmende Differenzirung der einzelnen Schichten der Mitteldarmwand
ist Taf. II. Fıgg. 31, 32, 33 dargestellt.
Fig. 31 zeigt die m Fig. 29 abgebildeten Verhältnisse in vergrös-
sertem Mafsstabe. Das die Ursesmenthöhle A umschliefsende Epithel ist
nach innen zu und an der dem Entoderm anliegenden Seite (a) zu einem
mehrschichtigen Zelllager geworden. Von diesem trennt sich ein Com-
plex von Zellen (dD) ab, um sich immer inniger der sich ausdehnenden
Entodermschicht anzulagern. Dieser Zellcomplex 5 ist die erste selbstän-
dige Anlage des Darmfaserblatts, während ich die Stelle, an welcher der-
selbe mit dem geschichteten Epithel der Ursesmenthöhle zusammenhängt,
als die Knospungszone des Darmfaserblatts bezeichnen möchte. Die
Schnitte Fry. 32 und Fig. 33 machen die geschilderten Wachsthumsprocesse
deutlich.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 29
Fig. 32, einem um Weniges älteren Embryo entstammend als Fig. 29,
zeigt sowohl das Entoderm, als auch das Darmfaserblatt verbreitert und
abgeflacht. Die Ursesmenthöhle steht durch einen Spalt mit der defini-
tiven Leibeshöhle in Zusammenhang — eine Communication, welche in
den späteren Stadien wieder unterbrochen wird, wie Fıy. 53 zeigt. Diese
letztere läfst uns zahlreiche Querschnitte durch Malpighi’sche Gefäfse
(M) erkennen. Das Darmfaserblatt sp, welches sich bei @ in Folge der
Präparation von dem Entodermzelllager en abgehoben hat, zeigt bereits
eine Anordnung in zwei Schichten, wie das unter stärkerer Vergröfserung
gezeichnete Bild Fig. 34 darstellt. Die den grofsen, succulenten Ento-
dermzellen en zunächst anliegende Schicht @ weist durch die langgestreckte
Spindelform ihrer Elemente darauf hin, dafs aus ihr die Ringmuskelschicht
des Darms entsteht. Die Schicht 5, welche zur Längsmuskelschicht sich
umbildet, zeigt auf Querschnitten rundliche oder polygonale Elemente.
Doch ist anzunehmen, dafs auch die Zellen dieser Schichte bereits dem
in Rede stehenden Stadium sich entsprechend ihrer späteren Ausbildung
in spindelförmige, längsgeordnete Elemente verwandelt haben. Das kann
man natürlich an Querschnitten nicht verfolgen.
Eine Umwandlung, welche den Nahrungsdotter betrifft und in
Fig. 32 zu erkennen ist, sei kurz erwähnt. Die polygonalen Elemente
des Nahrungsdotters erscheinen mehr abgerundet und liegen lockerer,
während ihre Zwischenräume von feinkörnigem Dotterdetritus erfüllt sind,
in welchem sich verschieden grofse Vacuolen vorfinden. Diese Verände-
rungen kennzeichnen die Umwandlung des Nahrungsdotters in einen für
die Entodermzellen resorptionsfähigen Zustand.
Über die weiteren Entwickelungsvorgänge des Mitteldarms können
wir uns kurz fassen. Nachdem auf die geschilderte Weise paarige Anla-
sen des Darmdrüsenblatts und der ihm anliegenden Darmfaserschicht zur
Ausbildung gekommen sind, verbreiten sich dieselben immer mehr und
mehr, bis sie durch diesen fortschreitenden Wachsthumsprocess in der
Medianlinie über dem Nervensystem zusammenstofsen und mit einander
verwachsen. Gleichzeitig hat aber der Keimstreif durch sein zunehmen-
des Breitenwachsthum den Dotter des Eies immer mehr umfafst, bis
(nach Ausbildung des Kowalevsky’schen Rückenorgans — jener eigen-
thümlichen Involutionsform der Embryonalhäute —) die anfangs lateralen
30 HEIDER:
und nachher dorsalen Ränder des Keimstreifs sich in der dorsalen Me-
diane erreichen und verwachsen. Auf diese Weise wird der Dotter sammt
dem in ihm versenkten Rückenrohre von der Entodermanlage völlig um-
wachsen und in das Lumen des nun zu einem geschlossenen Rohre aus-
gebildeten Mitteldarms aufgenommen.
Wir haben also gesehen, wie durch die von Kowalevsky zuerst
beschriebene rinnenförmige Einstülpung von dem Blastoderm eine Zell-
schicht abgetrennt wurde, das untere Blatt Kowalevsky’s, welches durch
fortschreitende Abflachung der anfangs röhrenförmigen Anlage zu einem
zweischichtigen Blatte sich ausbildet. Aus der inneren dieser beiden
Schichten wird das Entoderm und das Darmfaserblatt zur Sonderung ge-
bracht, während die äufsere Schicht das somatische Mesoderm darstellt.
Wir müssen aber nun auf ein höchst merkwürdiges Verhalten ein-
gehen, welches uns beweist, bis zu welchem Grade caenogenetische Ver-
änderungen den ursprünglichen Typus der Insectenentwicklung entstellen.
Während nämlich die geschilderte Abtrennung des Entoderms von dem
unteren Blatt Ko walevsky’s im vorderen Theil des Hydrophrlus-Embryos
(den Kopf- und Thoraxsegmenten) deutlich zu beobachten ist und ebenso
klar in den letzten Abdominalsesmenten zur Ausbildung kommt, treffen
wir entsprechend den vorderen Segmenten des Abdomens eine Querzone
des Embryos, in welcher keine Entodermschicht zur Anlage kommt —
mit anderen Worten: die Entodermanlage entwickelt sich im Vordertheil
und nahe dem Hinterende des Embryos in zwei gesonderten Stücken,
welche erst in späteren Stadien gegeneinander wachsen und miteinander
verschmelzen. Diese gesonderte Ausbildung des Entoderms vom Vorder-
und Hinterende des Embryos ist ein Seitenstück zu dem von uns ge-
schilderten und (Taf. I. Fig. Z) abgebildeten, selbständigen Auftreten des
Vorder- und Hinterendes der rinnenförmigen Einstülpung. Wie ich aus
den Angaben Kowalevsky’s und Grassi’s ersehe, weist: das Darmdrü-
senblatt der Biene hinsichtlich seiner ersten Anlage ganz ähnliche Ver-
hältnisse auf.
Ich habe bis jetzt den Dotter und die in ihm enthaltenenen Zell-
kerne gar nicht berücksichtigt. Wir haben gesehen, dafs die letzteren
sich an dem Aufbaue des Embryos nicht betheiligen. In der That ist
nur der Keimstreif als morphologische Anlage des Hydrophrlus-Embryos
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 31
zu betrachten, während ihm der Dotter und die Embryonalhäute gegen-
überstehen, aus denen kein Theil des Embryos (auch nicht die Rücken-
haut) zur Anlage kommt.
Wir haben gesehen, dals nicht sämmtliche aus der Theilung des
Furchungskerns hervorgegangenen zellähnlichen Binnenkörperchen des Dot-
ters in dıe Bildung des Blastoderms eingingen, sondern dafs noch ein
Theil derselben seine Lage im Innern des Dotters beibehalten hat. Diese
Elemente vermehren sich in späteren Entwickelungsstadien und zwar nicht
nur durch Theilungsprocesse, sondern auch durch neu hinzukommende,
welehe — wie ich mit ziemlicher Gewilsheit aussprechen kann — aus
dem unteren Blatt in den Dotter einwandern. Diese Einwande-
rung von Zellen aus dem unteren Blatt in den Dotter scheint in den
Stadien der Kowalevsky’schen Figg. 5 u. 6 eine besonders rege zu sein.
Auf Taf. I. Fig. 20 und Taf. II. Fig. 22 sind jene Bilder wiedergegeben,
welche mir einen solchen Einwanderungsprocefs wahrscheinlich machen.
Derselbe scheint zu Ende der ersten Entwickelungsperiode (Kowalevs-
ky’s) zum Abschlusse zu kommen. Die zellähnlichen Elemente lagern
sich im Dotter in gleichen Abständen und indem sie als Attractionscen-
tren wirken und die Nahrungsdotter-Elemente in Ballen um sich ansammeln,
während sich zwischen diesen Ballen Grenzfurchen ausbilden, kommt es zum
schon oben erwähnten Procefs der Dotterfurchung (Taf. IT von Fig. 25
angefangen). Der gefurchte Dotter geht nun im weiteren Verlauf der Ent-
wickelung keine bemerkenswerthen Veränderungen ein. Ich habe nie-
mals Bilder gesehen, welche nur irgend eine Andeutung davon
enthalten hätte, dafs Zellen aus dem Innern des Dotters sich
dem Keimstreif apponirt und dort zum Darmdrüsenblatt aggre-
girt hätten. Die Zellkerne des Dotters sind histiologisch sehr deutlich
charakterisirt und von denen des Keimstreifs so verschieden, dafs ein
Übertritt von Zellen aus dem Dotter an den Keimstreif oder eine Bil-
dung des Entoderms aus Binnenelementen des Dotters mir absolut nicht
hätte entgehen können. Dagegen war ich im Stande, die von mir ge-
schilderte Art der Bildung des Mitteldarms auf’s Genaueste und Unzwei-
felhafteste zu verfolgen.
Wir haben schon den Auflösungsprocels erwähnt, dem der Dotter
in den letzten Zeiten der Embryonalentwickelung anheimfällt. Die Gren-
32 HEIDER:
zen der Dotterballen werden undeutlich, die Nahrungsdotter-Elemente run-
den sich ab und zerfallen zu einem körnigen Detritus. Auch die im Dot-
ter vorhandenen Zellkerne (wozu auch die aus dem Zerfall des Rücken-
rohrs hervorgegangenen zu zählen sind) zeigen Veränderungen, welche ich
auf ihren Untergang bezog. Wenigstens habe ich die in einigen zu be-
merkende Rarefication des Kerngerüstes, die Zusammenballung des Chro-
matins zu homogenen, wie gequollen aussehenden Klumpen in anderen,
das Undeutlichwerden und den Schwund der Kernmembran als eine der
schliefslichen Auflösung vorhergehende Degeneration der Dotterkerne ge-
deutet.
Der so in eine granulöse Masse umgewandelte Dotter wird schliefs-
lieh von den nun zu einem einschichtigen Cylinderepithel angeordneten
Entodermzellen aufgenommen oder im wahren Sinne des Wortes aufge-
fressen. Diese Zellen, deren Plasma häufig gröfsere Vacuolen erkennen
lälst, entsenden an ihrer Oberfläche zahlreiche, feinste, wie Franzen in
die Detritusmasse des Dotters eindringende, pseudopodien-ähnliche Fort-
sätze, durch welche die Aufnahme der Dottergranula in’s Zellinnere be-
werkstelligt wird. In der That kann man im Innern der Entodermzellen
häufig grofse rundliche Ballen bemerken, welche nur aus aufgenommenen
Dottergranulis bestehen. Die oben erwähnten, pseudopodien-ähnlichen
Fortsätze der Zelloberfläche, welche mit einer feinen Längsstreifung im
Innern der Zelle in Zusammenhang stehen, werden wohl später zu dem
euticula-ähnlichen Stäbchensaum umgewandelt (Taf. 2I. Fig. 35).
Wie man aus der oben stehenden Beschreibung ersieht, ist meine
Darstellung der Hydrophilus-Entwickelung in ihren Hauptzügen eine Be-
stätigung der Kowalevsky’schen Funde!). Nur in zwei wesentlichen
Punkten stimme ich mit Kowalevsky nicht überein: der Entstehung der
Ursegmenthöhlen und der Art und Weise der Absonderung des Entoderms
vom unteren Blatte. Während Kowalevsky den Aufsenrand des unte-
ren Blattes sich nach unten und innen umschlagen und die auf diese
Weise entstandene Bucht oder Rinne zu den Ursesmenthöhlen werden
läfst, konnte ich mich überzeugen, dafs die letzteren als Spalträume zwi-
1) Vergl. A. Kowalevsky, Embryologische Studien an Würmern und Arthro-
poden. Mem. de l’Acad. des sciences de St. Petersbourg. VII® ser. Tom. XVI. 1877.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 33
schen den beiden Schichten des unteren Blattes in deren lateralem An-
theil ihren Ursprung nehmen. Nach Kowalevsky soll der umgeschla-
gene Theil die gemeinsame Anlage des Darmfaserblattes und des Ento-
derms repräsentiren und sich erstlich zu einem hochzelligen, mehrschich-
tigen Epithellager umbilden, in dessen ganzer Ausdehnung sodann durch
eine Art Abspaltung sich die Grenze zwischen splanchnischer Mesoderm-
schicht und Mitteldarmepithel manifestire, während nach meinen Unter-
suchungen die von mir so genannte innere Schicht des unteren Blattes
sich in einen medianen und einen lateralen Antheil sondert. Der late-
rale, die Ursegmenthöhle begrenzende Antheil repräsentirt die Anlage des
Darmfaserblattes und der mediane Theil, der durch eine inzwischen in
der Mittellinie aufgetretene Ruptur in einen rechten und linken durch sich
zwischenschiebenden Dotter getrennten Längsstreifen zerlegt wurde, wird
zur Entoderm-Zellschicht, indem die denselben zusammensetzenden Ele-
mente in ihrem Verband sich lockern und eine Umordnung erfahren,
welche gleichzeitig mit einer Verschiebung des ganzen Streifens nach der
lateralen Richtung einhergeht. Auf diese Weise gelangt die Entoderm-
anlage zwischen das Darmfaserblatt und die Dotteroberfläche, und es
bedarf nunmehr nur einer Ausdehnung beider Blätter nach der Flächen-
dimension, um den Dotter sowohl ventralwärts als auch dorsalwärts zu
umgreifen und endlich zu umschliefsen. Wie einschneidend die erwähn-
ten Differenzen aber auch scheinen mögen, so muls ich doch entschei-
dendes Gewicht darauf legen, dafs Kowalevsky und ich in dem einen
Hauptpunkte übereinstimmen, dafs nämlich die Elemente des Mitteldarm-
epithels, also das Entoderm, vom eingestülpten unteren Blatt ihren
Ursprung nehmen. Es ist dies eine Behauptung, mit der die Angaben
anderer Forscher, welche sich mit Insecten-Embryologie beschäftigt ha-
ben, durchaus nicht übereinstimmen. Man begegnet vielmehr, wenn man
die neuere Literatur über den in Rede stehenden Gegenstand durchsieht,
der Meinung, dafs die sogenannten Dotterballen d. ı. die kernhaltigen
Furchungskugeln des Dotters, nachdem sie den Nahrungsdotter in Körn-
chendetritus umgewandelt haben, zu kleineren, den übrigen embryonalen
Zellen ähnlichen Elementen sich umbilden und zum Epithel des Mittel-
darms organisiren. Wie wir gesehen haben, mufs ich diese Ansicht auf
Grund meiner Beobachtungen als eine irrige bezeichnen; und in der That
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. d
34 HEIDER:
muls es auch jedem, der die betreffenden Arbeiten einsieht, auffallen,
dafs der Übergang von Dotterballen in Entodermzellen von keinem der
betreffenden Forscher genau beobachtet und klar dargestellt wurde. Die
auf diesen Punkt bezüglichen Angaben machen sämmtlich mehr weniger
den Eindruck, dafs sie nur auf den Vergleich früherer und späterer Sta-
dien gegründete, aber doch erschlossene Meinungen darstellen.
Die Behauptung, dafs die zelligen Elemente des Dotters das Ento-
derm ausmachen und sich später zum Mitteldarmepithel umbilden, wurde
— wie ich glaube — zuerst von Dohrn!) ausgesprochen. Später haben
sich Graber?), Bobretzky°), Balfour®), die Brüder Hertwig°), Ti-
cehomiroff®), Patten?), Weismann®) und Korotneff?) dieser An-
1) Anton Dohrn, Medieinisches Centralblatt. Nr. 54. 1866. — Notizen zur
Kenntnils der Inseetenentwicklung. Ztschr. f. wiss. Zool. XXVI. Bd. 1876. pag. 113.
2) Graber, Vorläufige Ergebnisse über vergl. Embryologie der Insecten. Arch.
für mier. Anat. Vol. XV: 1878.
3) N. Bobretzky, Über die Bildung des Blastoderms und der Keimblätter bei
den Inseeten. Zeitschr. f. wiss. Zool. 1878. XXXI. Bd. pag. 195. Taf. XIV.
4) F. M. Balfour, Handbuch der vergl. Embryologie. Übersetzt von Vetter.
1880. pag. 385 u. 394.
5) ©. u. R. Hertwig, Die Coelomtheorie. Jena. 1881. pag. 71f. Taf. I.
Fig. 4, 5, 6 u. 8.
6) A. A. Tichomiroff, Die Entwicklungsgeschichte des Seidenspinners (Bombyx
Mori L.) im Ei. Arb. Labor. zool. Mus. Moskau. I. Bd. 4. 176. 1882. Russisch. Ref.
in: Zool. Jahresbericht für 1832. Herausgeg. v. d. Zool. Station zu Neapel. II. Abth.
pag. 101. — In seiner vorläufigen Mittheilung (Zool. Anz. 1879. Nr. 20. pag. 64) schlols
sich Tichomiroff hinsichtlich dieses Punktes an Kowalevsky an, wenngleich er eine
Vermehrung der Elemente des Mesoderms durch Aufnahme von Dotterzellen beobachtet
zu haben glaubte.
”) Will. Patten, The Development of Phryganids, with a preliminary Note on
the development of Blatta germanica. With 3 pl. in Quart. Journ. Mier. Soc. Vol. 24.
Oct. pag. 549—602. — Apart Inaug. Diss. (Leipzig). London 1884.
5) A. Weismann, Beiträge zur Kenntnils der ersten Entwicklungsvorgänge im
Insectenei. In: Beiträge zur Anatomie und Embryologie als Festgabe für Jakob Henle.
Bonn 1882. pag. SO. Taf. X. XI. XI.
?) A. Korotneff, Die Embryologie der Gryllotalpa. Zeitschr. für wiss. Zool.
XLI. Bd. 1885. pag. 570. Taf. XXIX—XXXI.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 35
sicht angeschlossen.!) Sie führt nothwendiger Weise zu der von den Brü-
dern Hertwig klar formulirten Consequenz, dafs man den mit zellähn-
lichen Bildungscentren erfüllten Dotter und die durch die langgestreckte
Gastrula-Einstülpung entstandene Zellschicht des unteren Blattes zusam-
aufzufassen habe. Der
Gastrulationsprocels würde daher bei den Insecten in zwei von einander
men als ein Ganzes — das primäre Entoderm
gesonderten Acten ablaufen, von denen der erste durch den Umwachsungs-
procels des Dotters durch das Blastoderm repräsentirt wäre, während die
darauf folgende Einstülpung jener Zellschichten, welche die Mesoderm-
elemente liefern, den zweiten Act der Gastrulation darstellen würde. Bei
einer solchen Anschauung mufs man, da der erste Act des Gastrulations-
vorganges nach dem epibolischen Typus abläuft, die centroleeithale Fur-
chung der Inseeten als einen speciellen Fall der discoidalen Furchung
betrachten und dieselbe von der inaequalen Furchung herleiten.
Der Ansicht, dafs wir ım Dotter des Insecteneies einen Theil des En-
toderms zu betrachten haben, kann ich mich — abgesehen davon, dafs der
Dotter am Aufbau des Embryos keinen Antheil nimmt, sondern völlig
resorbirt wird — schon aus dem Grunde nicht anschliefsen, weil jene
Beziehungen des gegenseitigen Zusammenhanges und der Lagerung nicht
vorhanden sind, welche wir in einem solchen Falle voraussetzen mülsten.
Die Blastodermbildung beginnt bei Aydrophrlus am hinteren Eipole und
schreitet gegen den vorderen Eipol vor. Der kreisförmige, in einer auf
die Längsaxe des Eies senkrechten Ebene gelagerte, freie Rand des den
Dotter umwachsenden Blastoderms rückt allmählich gegen den vorderen
Eipol vor, wo er zum Verschlusse kommt. Wäre dieser Umwachsungs-
procels der erste Act der Gastrulation, so hätten wir in diesem am vor-
deren Eipol sich schliefsenden Foramen jenen bei dem ersten Gastrula-
tionsact zum Verschlusse kommenden Antheil des Blastoporus zu erblicken.
Dieser mülste mit dem im zweiten Act der Gastrulation sich schliefsen-
den Theil des Blastoporus der Lage nach in directem Zusammenhang ste-
hen. Dies ist aber nicht der Fall. Die Längseinstülpung, in welcher
1) Auch Paul Mayer ist aus theoretischen Gründen zur gleichen Auffassung
gekommen. Vgl. Paul Mayer, Über Ontogenie und Phylogenie der Insecten. Jen.
Ztschr. f. Nat. 1876. X. Bd. p. 164.
36 HEIDER:
ich im Anschlusse an die Brüder Hertwig einen wirklichen Gastrulations-
vorgang erblicke, tritt in der hinteren Eihälfte auf und zwischen dem vor-
dersten Ende des auf diese Weise gebildeten Blastoporus und dem Punkte,
an welchem das Blastoderm zum Verschlusse kam, dehnt sich eine breite
Zone des Blastoderms aus, aus welcher zum Theil Gebilde des Eetoderms
zum Theil Embryonalhüllen hervorgehen. Jener Zusammenhang aber zwi-
schen dem Dotter und der durch die Einstülpung hervorgegangenen Ento-
dermschicht, welcher dadurch gegeben ist, dafs der eingestülpte Sack in
seinem Fundus eine Längsspalte zeigt, existirt — wie wir gesehen ha-
ben — nicht von Anfang an, wie wir doch erwarten mülfsten, wenn der
Dotter eine vielkernige, zwischen die übrigen Entodermelemente sich ein-
schiebende Entodermzelle darstellte, sondern die erwähnte Längsspalte tritt
erst in verhältnilsmäfsig späten Entwickelungsperioden auf, in welchen die
ursprünglichen Verhältnisse des Urdarmrohres schon in vieler Hinsicht
geändert und verwischt erscheinen. Sie ist — meiner Ansicht nach —
nichts als eine durch das fortschreitende Breitenwachsthum des Keim-
streifs erzeugte mediane Ruptur, welche aber dadurch von Bedeutung für
die weitere Entwickelung wird, dafs sie die Pforte darstellt, durch welche
der Dotter in das ursprüngliche Urdarmlumen aufgenommen wird.
Nachdem wir im Stande waren, den Nachweis zu liefern, dals
sämmtliche Keimschichten des Hydrophilus-Embryos vom Blastoderm sich
absondern, und dafs dieser Procels in der Form einer rinnenförmigen
Längseinstülpung vor sich geht, so müssen wir in dem diesbezüglichen
Entwickelungsstadium eine unzweifelhafte und echte Invaginationsgastrula
erkennen. Das primäre Entoderm der Insecten lest sich — wie wir ge-
sehen haben — nach Ablauf des Gastrulationsprocesses in Form eines
langgestreckten Rohres an, welches wir als Urdarm bezeichnen müssen
und welches nach erfolgter dorsoventraler Abflachung die Ursegmenthöh-
len durch Bildung seitlicher Divertikel zur Differenzirung bringt. Die Sup-
position, welche wir bei dieser Auffassung vornehmen, indem wir die zwi-
schen der äufseren und inneren Schicht des unteren Blattes vorhandene
Grenze als den Rest des spaltförmig abgeflachten Urdarmlumens in An-
spruch nehmen, ist gewils keine allzu gewagte, sondern meiner Ansicht
nach eine sehr nahe liegende. Die Ränder dieser Einstülpung, welche
über dem Urdarmrohre bald zum Verschlusse kommen, müssen wir als
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 37
einen langgestreckten Blastoporus ansehen, welcher — wie wir beobach-
ten konnten — in seinem vordersten der späteren definitiven Mundöffnung
entsprechenden Antheile zuletzt verschlossen wird.
Bei einer solchen Auffassung der Dinge, welche uns in dem Bla-
stoderm der Inseeten die ursprüngliche, einschichtige Keimblase erkennen
läfst, aus welcher sämmtliche Keimblätter des Insectenembryos ihren Ur-
sprung nehmen, werden wir zu der Ansicht geführt, dafs wir in dem In-
nenraum dieser Blase die Furchungshöhle oder primäre Leibeshöhle zu
erkennen haben!), welche in diesem Falle — und das muls uns allerdings
als das Merkwürdigste erscheinen — vollständig mit Nahrungsdotter er-
füllt ist. Diese Auffassung, so befremdend sie auch für den ersten Blick
erscheinen mag, wird durch den Vergleich der centrolecithalen Furchungs-
vorgänge, wie sie für die Eier mancher Örustaceen (Moima)?) beschrieben
sind, einigermafsen plausibel. In beiden Fällen wird durch die Bildung
des Blastoderms die gesammte Masse des Eies in zwei Antheile geschie-
den: einen plastischen Antheil, der durch das Blastoderm repräsen-
tirt, ist und der sämmtliche Schichten des Embryos und (bei den Insec-
ten) auch die Embryonalhäute aus sich entstehen läfst, und einen zwei-
ten Antheil, welcher zum gröfsten Theile aus Nahrungsdotter besteht, und
welcher an dem Aufbau des Embryos direct nicht betheiligt ist. Diesen
zweiten Antheil, dessen Rolle während der ganzen weiteren Entwickelung
mit Ausnahme des einzigen Actes der Dotterfurchung eine vollständig
passive ist, will ich als den trophodischen?) Antheil bezeichnen. Mor-
phologisch ist dieser trophodische Antheil nach beendigter Blastodermbil-
dung der Insecten eine einzige vielkernige Furchungskugel — eine Rie-
senzelle —, aus welcher durch einen oberflächlichen Knospungsvorgang
der ganze plastische Antheil des Insecteneies zur Abscheidung gekom-
men ist.
1) Es ist dies die Auffassung Haeckel’s. Vgl. Ernst Haeckel, Biologische
Studien. II. Heft. pag. 103.
2) Carl Grobben, Zur Entwicklungsgeschichte der Moina rectirostris. Arbeiten
aus dem zool. Institute Wien. Vol. II. 1879.
3) reobwörs, von nahrhafter Beschaffenheit.
38 HEIDER:
Nach beendigter Absonderung des plastischen Theils des Insecten-
eies stellt ‚der trophodische Antheil einen in der Furchungshöhle
gelegenen und dieselbe völlig erfüllenden Restkörper dar,
welcher als ein Depot von in späteren Perioden zur Verwendung kom-
menden Reservenahrungsstoffen anzusehen ist, aber, wie ich glaube, nur
schwer als einem bestimmten Keimblatte des Embryos zugehörig betrach-
tet werden kann. |
Bei den Crustaceen, wo, wie z. B. bei Moina sämmtliche Furchungs-
kerne und der grölste Theil des Bildungsdotters in das Blastoderm ein-
gehen, und im Innern der Furchungshöhle nur ein Ballen von Deutoplasma-
Elementen zurückbleibt, ist eine solche Betrachtungsweise ziemlich nahe-
liegend. Für die Insecteneier dagegen erwächst eine Schwierigkeit aus
dem Umstande, dafs der trophodische Antheil des Eies nicht blos aus
Deutoplasma besteht, sondern auch Zellkerne mit umgebender Plasma-
masse enthält, deren Wirksamkeit als Attractionscentren sich in dem ın
späteren Stadien auftretenden Procefs der Dotterfurchung äufsert. Wir
werden aber nicht aufser Acht lassen dürfen, dafs der Dotter des Insec-
teneies erst in verhältnifsmälsig späten Entwicklungsperioden zur Resorp-
tion kommt. Es mag in diesem Verhältnifs begründet sein, dafs dem
Dotter bei seiner Trennung vom plastischen Antheil des Embryos Bil-
dungsdottercentren beigegeben werden, welche den im Dotter — welcher
ja auch ein lebender Theil des Eies ist — vor sich gehenden Functionen
des Stoffwechsels vorstehen und vielleicht auch die Auflösung des Dot-
ters zu resorbirbarem Detritus vorbereiten. — Durch eine solche Betrach-
tung ist es nicht ausgeschlossen, dafs wir uns den trophodischen Antheil
des Insecteneies phyletisch aus nach dieser Richtung modificirten Ento-
dermfurchungskugeln ableitbar vorstellen. Die Verhältnisse, wie sie nach
Kowalevsky’s Schilderung bei Kuazxes sich vorfinden, würden eine sol-
che Ableitung nur begünstigen. Diese bei den Stammformen der Tra-
cheaten vielleicht bestehenden Verhältnisse sind aber in der Ontogenese
der Inseeten vollkommen verwischt durch den Umstand, dafs die Sonde-
rung eines trophodischen Entodermantheils von einem plastischen Ento-
dermantheil schon bei der Furchung geschieht und der Keimblätterbil-
dung vorausgeht.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 39
In diesem Sinne haben wir wohl auch die von Weismann!) ge-
lieferten hochinteressanten Angaben hinsichtlich der ersten Evolutionsvor-
gänge in Rrhodhtes-Eiern zu deuten. Dort theilt sich der Furchungskern
in zwei Theilstücke, welche nach ihrer Lagerung nahe den Polen des
langgestreckten Eies als vorderer und hinterer Polkern unterschieden wer-
den. Aus dem hinteren Polkern, welcher im weiteren Verlauf sich ra-
scher theilt, als der vordere, und in zahlreiche kleine Furchungskerne
zerfällt, gehen jene Kerne hervor, welche an die Oberfläche des Eies
rücken und sich an der Bildung des Blastoderms betheiligen. Der vor-
dere, längere Zeit inactiv verbleibende Kern liefert durch später eintre-
tende Theilungen die im Dotter bleibenden Bildungscentren und wird
daher von Weismann als Entodermkern bezeichnet. Ich muls diesen
Kern als den ersten Kern des trophodischen Eiantheiles betrachten und
als Deutung der besprochenen Entwickelungsvorgänge annehmen, dafs die
Trennung eines plastischen und trophodischen Antheils bei den in Rede
stehenden Eiern in die früheste Entwickelungsperiode zur Zeit des Ab-
laufs des ersten Kerntheilungsvorgangs verlest sei. Ob die bei diesen
kleinen, verhältnifsmäfsig dotterarmen Hymenoptereneiern beobachteten
Verhältnisse den ursprünglichen Typus repräsentiren oder ob sie sich von
den bei gröfseren, dotterreichen Insecteneiern sich findenden, bis jetzt noch
ununtersuchten Processen ableiten lassen, will ich dahingestellt sein las-
sen, da nur weitere Untersuchungen uns darüber Aufklärung verschaffen
können. Ein Einwand gegen die von uns gegebene Deutung der rinnen-
förmigen Einstülpung als Gastrula-Invagination könnte aus dem Umstande
abgeleitet werden, dals das Lumen, um welches die Entodermzellen in
späteren Stadien sich zum Mitteldarmepithel organisiren, nicht mit dem
Lumen des durch die Einstülpung gebildeten Urdarmrohres zusammenfällt.
Wir werden aber nicht aufser Augen lassen dürfen, dafs durch die er-
wähnte mediane Ruptur, durch welche die Entodermanlage in zwei paa-
rige Antheile zerfällt, das vermittelnde Glied in der Kette jener Umord-
nungsprocesse, durch welche das Entoderm betroffen wird, gefunden ist.
I) A. Weismann, Beiträge zur Kenntnils der ersten Entwicklungsvorgänge im
Inseetenei. In: Beiträge zur Anatomie und Embryologie als Festgabe für Jakob Henle.
Bonn 1882.
40 HEIDER:
Da wir den durch den Dotter erfüllten Raum als die Furchungshöhle in
Anspruch genommen haben, so wird die in Rede stehende Ruptur eine
Communication des Urdarmlumens mit der Furchungshöhle darstellen. Und
während durch das fortschreitende Breitenwachsthum des Keimstreifs das
Erstere sich stetig auf Kosten der Letzteren vergröfsert, stellt die frag-
liche Medianruptur die Durchgangspforte dar, durch welche die Aufnahme
des Nahrungsdotters in das Mitteldarmlumen bewerkstellist wird.
Ich kann es nicht unterlassen, zum Schlusse der Besprechung die-
ser Verhältnisse hervorzuheben, dafs die bei Bildung des Blastoderms ım
Dotter verbliebenen Kerne und die durch Theilung aus ihnen hervorgegan-
genen nicht die Gesammtzahl der in späteren Stadien im Dotter sich fin-
denden Kerne repräsentiren, sondern dafs ihre Zahl durch eine zweifache
Zellschöpfung aus den Derivaten des Blastoderms sich beträchtlich ver-
mehrt. Die erste Einwanderung von Zellen in den Dotter haben wir bei
Besprechung der Bildung des unteren Blattes erwähnt, die zweite kommt
durch die Aufnahme des Rückenrohres in den Dotter zu Stande.
Wir haben nun noch auf die Keimblätterbildung, wie sie für die
Biene beschrieben worden ist, zu verweisen, bei welcher Form sich Ver-
hältnisse ergeben haben, die sehr gut mit den von mir ım Anschlufls an
Kowalevsky geschilderten Processen in Übereinstimmung gebracht wer-
den können. Auch für Apes mellifica sind Kowalevsky’s Untersuchun-
gen fundamental gewesen. Ich will seine Schilderung der Entstehung des
Entoderms wörtlich anführen: „Beobachtet man diese Stadien von der Seite,
so sieht man, dafs ein grofser Theil des Rückens (Fig. 13) bis zur Bildung
des Oesophagus und Hinterdarms nur von einer Schicht flacher Zellen
gebildet war, die als ein äufseres Epithelium anzusehen ist; je weiter
aber der Kopf sich abschnürt und der Hinterdarm sich bildet, zieht
sich vom Kopf und Hinterende eine Schicht von Zellen, welche
sich zwischen dem Dotter und dem sie bedeckenden Hautschicht-Epithe-
lium einkeilen (Fig. 16ab). Diese Schicht ist, wie es scheint, die
unmittelbare Fortsetzung des auf die Rückenseite des Dotters
sich fortsetzenden zweiten Blattes des Keimstreifens; die von
hinten und vorn auf den Rücken wachsenden Zellschichten rücken gegen
einander, und da sie mit den Seitentheilen des Mittelblattes zusammen-
hängen, so wird bald der ganze Dotter auf der Rückenseite von zwei
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophihıs piceus L. 41
Zellenschichten bedeckt (Fig. 16 u. 27), von der oberen — der Haut, und
von der unteren — dem Darmdrüsenblatt oder dem Epithel des sich bil-
denden Darmkanals“!). Grassi?) in seiner schönen und sehr interessan-
ten, aber leider — wie ich glaube — nicht ganz ausgereiften Monogra-
phie der Bienenentwickelung hat die besprochenen Verhältnisse eingehend
studirt und konnte Kowalevsky’s Angaben bestätigen. Er fügte die be-
stimmte Versicherung hinzu, dafs das Entoderm vom vorderen und hin-
teren auf die Dorsalseite zurückgeschlagenen Ende des unteren Blattes
sich absondere und nicht von dessen seitlichen Rändern.
Wenn dies auch immerhin einen Unterschied gegenüber den bei
Hydrophilus vorfindlichen Verhältnissen darstellen würde, so ist uns doch
die eine Thatsache bedeutungsvoll, dafs auch bei der Biene das Ento-
derm vom unteren Blatte herstammt und in zwei gesonderten Parthien
angelegt wird, welche, vom Kopfende und Schwanzende des Embryos
gegen einanger wachsend, sich vereinigen und zur epithelialen Bekleidung
des Mitteldarms umbilden.
1) A. Kowalevsky, Embryol. Studien an Würmern und Arthropoden. Mem.
de l’Acad. imp. des sciences de St. Petersbourg. VII® ser. Tom. XVI. 1871. pag. 50.
2) B. Grassi, Intorno allo sviluppo delle api nell’ uovo. Atti dell’ Accademia
Gioenia di Scienze Naturali in Catania. Ser. 3. Vol. XVII.
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. TI. 6
HEIDER:
Es sei mir erlaubt, zum Schlusse noch einige weitere Resultate
meiner Untersuchungen kurz anzuführen:
1)
2)
Nicht blos am ersten Abdominalsesment, sondern auch an
sämmtlichen übrigen kann man zu einer gewissen Entwicke-
lungsperiode (Kowalevsky’s Fig. 12) Anlagen von Extre-
mitätenrudimenten erkennen.
Hinsichtlich der Ausbildung des Nervensystems kann ich im
Wesentlichen Hatschek’s Angaben bestätigen. Die Quercom-
missuren der Ganglienkette entstehen durch einen zwischen
die Seitenstränge sich einstülpenden Mitteltheil, welcher inter-
segmental seinen Zusammenhang mit dem Ectoderm beibe-
hält. Auch die in die Bildung des Gehirns eingehende Ein-
stülpung konnte ich — wie auch schon Patten — nach-
weisen. Die Schlundeommissur wird aus dem vordersten
Theil der Seitenstränge gebildet, ohne dafs das Mandibel-
ganglion an derselben Antheil hätte. Die Scheitelplatten
stehen von Anfang an mit den Seitensträngen in Zusam-
menhang. Das Ganglion frontale bildet sich unabhängig
vom Üentralnervensystem aus einer unpaaren Einstülpung,
welche an der Grenze zwischen der Öberlippenanlage und
der Oesophaguseimsenkung zur Entwickelung kommt.
Die von Kowalevsky beschriebene Bildung des Rücken-
rohres ist der Involutionsprocefs der Eihäute!). Nach dem
Aufplatzen derselben verwächst der Rand des Amnion mit
dem der Serosa und nach dem Zurückschlagen der Eihäute
auf die dorsale Seite des Eies verengen sich diese verwach-
senen Ränder zu einem immer kleiner werdenden Foramen,
wodurch die Rückenplatte in der schon von Kowalevsky
1) Wie schon Ayres behauptet hat. Vgl. H. Ayres, On the development of
Oecanthus niveus and its parasite Teleas.. Mem. Bost. Soc. Nat. Hist. Vol. 3. 1834.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 43
geschilderten Weise zu einem Rohr geschlossen wird, wel-
ches schliefslich in den Dotter einsinkt, um mit demselben
gemeinsam der Auflösung und Resorption anheimzufallen.
4) Die Malpighi’schen Gefäfse entstehen vom Ecetoderm als
Ausstülpungen des Enddarms.
6*
44 HEIDER:
%
Erklärung der Tafeln.
Tafel 1.
Fig. 1. Oberflächenansicht eines dreizehn Stunden nach der Ablage conservir-
ten Eies. Erstes Auftauchen von Zellkernen mit umgebendem Protoplasma am hinteren
Eipole.
Fig. 2. Oberflächenansicht eines fünfzehn Stunden nach der Ablage conservirten
Eies. Das gebildete Blastoderm nimmt bereits mehr als die hintere Hälfte des Eies ein.
In der vorderen Hälfte bemerkt man die auftauchenden Kerne.
Fig. 3. Oberflächenansicht eines der Kowalevsky’schen Fig. 1 knapp vorher-
gehenden Stadiums. f. Furchen, welche die Mittelplatte seitlich begrenzen; s. Segment-
grenzen in der Mittelplatte; %. Knickungsstelle der Furchen.
Fig. 4. Oberflächenansicht eines Stadiums, welches die erste Anlage des Hinter-
endes des Embryos und des demselben sich anschliefsenden Grübchens (9) zeigt. Zwi-
schen Kowalevsky’s Fig. 2 und 3 stehend. f. Furchen, welche die Mittelplatte vorn
lateralwärts begrenzen; f'. Furchen, welche die Mittelplatte hinten lateralwärts be-
grenzen.
Fig. 5. Oberflächenansicht vom Stadium der vollendeten Umgrenzung der Mit-
telplatte.e. Die dem vorderen Antheil angehörigen Furchen f. sind mit denen des hinteren
Antheils f' verschmolzen. a. vorderste, erweitert bleibende Parthie des sich schlielsenden
Blastoporus. Nahe dem hinteren Eipole rechterseits ist das Blastoderm losgelöst und man
erblickt den freiliegenden Dotter mit als Flecken erscheinenden, zahlreichen, kernhaltigen
Binnenkörperchen.
Fig. 6. Oberflächenansicht eines der Kowalevsky’schen Fig. 4 entsprechenden
Embryos. a. Vorderster erweitert gebliebener Theil des Blastoporus; Db, b. segmentweise
Erweiterungen des im Verschlufs begriffenen Antheils des Blastoporus; s. Schwanzfalte
des Amnions; k. paarige Kopffalten des Amnions; sp. flügelförmig nach vorn verlängerte
Anlage der Scheitelplatten.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 45
Fig. 7. Querschnitt durch ein Stadium, in welchem die der Oberfläche sich nä-
hernden kernhaltigen Binnenkörperchen die Oberfläche noch nicht ganz erreicht haben,
also etwa der Grenze des hinteren Dritttheils in Fig. 1 entsprechend. «a. Dotterhaut;
b. oberflächliche Plasmaschicht; c. kernhaltiges, zellähnliches Binnenkörperchen.
Fig. 8 u. 9. Querschnitte durch ein Stadium, welches der Kowalevsky’schen
Fig. 1 um ein Weniges vorhergeht. Beginnende Differenzirung der Mittelplatte. e. Ecto-
derm; /. Depression der Längsfurchen; w. seitlich dieselben begrenzender Wall.
Fig. 10 —15. Querschnitte durch ein der Kowalevsky’schen Fig. 3 entspre-
chendes Stadium den Einstülpungsprocels des unteren Blattes darstellend, wie derselbe
in den mittleren und hinteren Parthieen der Rinne abläuft. /. Querschnitt durch die la-
teralen Furchen; w. dieselben überwachsender Randwall des Ectoderms; ec. Ectoderm.
Fig. 10. m. mediane Depression der Mittelplatte; p. pyramidenförmige Zelle
in derselben.
„»„ 11. a,b, c,d. Randzellen des Ectoderms, welche die Mittelplatte in der
Richtung gegen die Mediane überwuchern.
„ 12. m. vorgewölbte Parthie der Mittelplatte; m’ entsprechende Einbuch-
tung an der Dottergrenze.
„» 14. a,b. Randzellen des Ectoderms.
» 15. sp. meniscoidaler, mit Dotter gefüllter Spalt zwischen Ectoderm und
dem unteren Blatt.
Fig. 16 u. 17. Querschnitte durch ein etwas jüngeres Stadium, als das in Fig. 6
abgebildete.
Fig. 18. Querschnitt durch einen Embryo, ungefähr dem Stadium der Fig. 6
entsprechend.
Fig. 19. Elemente des Nahrungsdotters in gehärtetem Zustand, zwischen sich
die rundlichen mit Fetttröpfehen erfüllten Hohlräume (a) aufweisend.
Fig. 20. Querschnitt durch den vordersten, rautenförmig erweiterten Theil der
Einstülpung; von einem der Fig. 6 entsprechenden Embryo.
46 HEIDER:
Tafel 1.
Fig. 21. Querschnitt durch einen Embryo, der Kowalevsky’schen Fig. 6 ent-
sprechend.
Fig. 22. Querschnitt durch ein etwas weiter vorgeschrittenes Stadium.
Fig. 23. Querschnitt durch den Abdominaltheil eines Embryos, der Kowa-
levsky’schen Fig. 7 entsprechend. a. äufsere Schicht, i. innere Schicht des unteren
Blattes.
Fig. 24. Querschnitt durch einen Embryo des Kowalevsky’schen Stadiums
Fig. 8. Dem von Kowalevsky auf Taf. IX Fig. 26 dargestellten Querschnitt entspre-
chend. a. äulsere, i. innere Schicht des unteren Blattes.
Fig. 25. Querschnitt durch den Abdominaltheil eines weiter ausgebildeten Sta-
diums (Kowalevsky Fig. 9). a. äulsere, i. innere Schicht des unteren Blattes.
Fig. 26. Querschnitt durch das Stadium der Kowalevsky’schen Fig. 10.
Durch Auseinanderweichen der äufseren (a) und inneren (2) Schicht des unteren Blattes
in ihrem lateralen Antheile sind die Ursegmenthöhlen gebildet worden. Daher kann man
an der inneren Schicht des unteren Blattes einen lateralen Theil (@), welcher an der Be-
grenzung der Ursegmenthöhle Antheil hat, und einen medianen Theil (?’) unterscheiden.
h. Ursegmenthöhle.
Fig. 27. Querschnitt durch das Abdomen eines Embryos vom Stadium der Ko-
walevsky’schen Fig. 11. mes. somatische Mesodermschicht; en. Entoderm,
Fig. 28. Querschnitt durch einen Embryo von ungefähr der gleichen Entwicke-
lungsstufe, wie der der vorhergehenden Figur, doch weiter gediehene Verhältnisse zeigend.
Dieselbe Bezeichnung, wie oben.
Fig. 29. Querschnitt durch ein Thoraxsegment eines Embryos, entsprechend der
Kowalevsky’schen Fig. 11. s. Seitenstränge der Anlage der Ganglienkette; m. einge-
stülpter Mediantheil; p. quergetroffene Extremitätenanlagen; st. Tracheenstigmen; tr. Tra-
cheeneinstülpung; c. definitive Leibeshöhle; a. amoeboide Wanderzellen (in Bildung be-
sriffene Blutkörperchen?); sp. splanchnische Mesodermschicht; en. Entoderm.
Fig. 30. Die Nervenanlage des vorhergehenden Querschnittes im vergrölserten
Malsstabe. Bezeichnung wie oben. x. vom Ectoderm stammende Zellen von mir unbe-
kannter Bedeutung.
Fig. 31. Region der Entodermanlage des in Fig. 29 dargestellten Schnittes, ver-
grölsert. Bezeichnung wie in Fig. 29. tr. Tracheeneinstülpung; ec. Ecetoderm; h. Urseg-
menthöhle; a. mehrschichtiges Epithel der Ursegmentanlage; db. von derselben abgetrenn-
ter Zelleomplex des Darmfaserblatts.
Über die Anlage der Keimblätter von Hydrophilus piceus L. 47
Fig. 32. Region der Entodermanlage eines Querschnitts durch ein etwas älteres
Stadium als Fig. 19.
Fig. 33. Querschnitt durch ein Abdominalsegment des Stadiums der Kowa-
levsky’schen Fig. 12. M. Malpighische Gefälse; sp. Darmfaserblatt; en. Darmdrüsen-
blatt; x. Abhebung dieser beiden Schichten (Artefact).
Fig. 34. Ein Stück der Fig. 33, stärker vergrölsert. a. Ringmuskelschicht;
b. Längsmuskelschicht des Mitteldarms; en. Darmdrüsenblatt.
Fig. 35. Ein Stück der Mitteldarmwand eines dem Ausschlüpfen nahestehenden
Embryos. a. Längsmuskelschicht im Querschnitt; c. Epithel des Mitteldarms; d. Nah-
rungsdotterkugeln; e. eine zu grobkörnigem Detritus umgewandelte Nahrungsdotterkugel;
F. feinkörniger Dotterdetritus; g. Ballen von Dotterdetritus, welche in die Zellen des Mit-
teldarmepithels aufgenommen wurden.
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Karl Heider:Ueber die Anlage der Reimblätter im Embryo von Ilydrophilus piceus I.
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Karl Heider:Veber die Anlage der Keimblätter im Embryo von Hydvophilus piceus I.
PHILOSOPHISCH - HISTORISCHE
ABHANDLUNGEN.
Paphlagonische Felsengräber.
Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Kleinasiens.
Von
GUSTAV HIRSCHFELD,
Professor in Königsberg.
Phil.- hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1.
Vorgelegt in der Sitzung der philos.-histor. Classe am 23. October 1884.
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Be { Nıa 7
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“_ u.
= Felsengräber.
x sogen! hititische Denkmäler.
umen Grenze zwischen beiden Denkmälergruppen.
Vertheilung der Felsendenkmäler in Kleinasien.
D.: von mir im Sommer des Jahres 1882 im Norden Kleinasiens
ausgeführte Reise hat, vorzüglich auf Paphlagonischem Gebiete, zur Auf-
findung einer Anzahl von Felsengräbern geführt, welche zunächst durch
ihre Eigenart die Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Je mehr die-
selben bei eindringenderem Studium aber auch in ihrem Verhältnifs zu
anderen Denkmälern Kleinasiens klar wurden, desto höheren Werth schie-
nen sie allmälich für eine Reihe von Fragen über älteste Volks- und Cul-
turzusammenhänge auf dem Boden des Landes zu gewinnen. Sind wir
1%
4 G. HIRSCHFELD:
doch von einer sicheren Kenntnifs derselben so weit entfernt, dafs wir
aus derselben heraus nicht nur nicht den Monumenten ihre Stellen an-
zuweisen vermögen, sondern hier vielmehr einmal den umgekehrten Ver-
such machen müssen, die Denkmäler zum Aussagen zu bewegen. Ich
habe das durch strenge Beschränkung auf das Thatsächliche durchzufüh-
ren gesucht; denn dem Hypothetischen auf einem jetzt noch so unbe-
grenzten Felde einen Platz einzuräumen, erscheint gefährlich, weil es
leicht ins Grenzenlose führt und geführt hat. Einer detaillirten Beschrei-
bung meiner Denkmäler und ihrer Analoga lasse ich die Schlüsse und
Vergleiche folgen, welche sich ungezwungen zu ergeben schienen. Die
Wichtigkeit, welche diesen Denkmälern schliefslich beigelegt werden muls,
mag die Ausführlichkeit der Beschreibung rechtfertigen.!)
Die Tafeln sind nach eigenen Photographien und Aufnahmen im
gemeinsamen Malsstab von 1:100 hergestellt; einzelne Skizzen schon be-
kannter Monumente vorhandenen Publicationen entlehnt.
1) Die Arbeit war seit dem Sommer 1884 abgeschlossen und nicht mehr in
meinen Händen; daraus erklären sich die mehrfachen durch Klammern [ ] eingeschlosse-
nen Nachträge.
Paphlagonische Felsengraber. B)
I.
1. Die Felsengräber von Kastamuni, Obhıkbaschr kayaltı
(Taf. V und VII).
Eine halbe Stunde westlich vom Bazar von Kastamunı, südsüd-
westlich der Stadtlage erhebt sich am westlichen Rande eines Feldweges,
dessen andere Seite Haushöfe begrenzen, eine steile, nicht sehr hohe Fels-
partie, an deren Fuls eine flachgewölbte grofse natürliche Höhlung sich
befindet. Darüber sind in der künstlich abgesteilten Wand die zwei gie-
belbekrönten, nach Osten gerichteten Fagaden angebracht, von welchen
N. Chanykof eine kleine, auch in der ganzen Situation nicht genaue
Skizze gegeben hat!). Die gröfsere rechts — nördlich — zeigt inmit-
ten zwei frei herausgearbeitete viereckige Pfeiler von etwa vier Metern
Höhe, welche keine Basis haben, aber oben durch ein rohes Capitel
mit einer flachen Hohlkehle abgeschlossen sind; der Stamm ist bei
beiden durch Verwitterung stark mitgenommen. Rechts und links
entspricht den Pfeilern je eine Ante; ein Epistylion von kunstvoller
Profilirung zieht sich darüber hin; der Giebel, den ich leider nicht
messen konnte, ist hoch, das Tympanon etwas vertieft; in demsel-
ben umsteht jederseits ein flach ausgemeilselter geflügelter Vierfüfsler,
welcher alle vier Fülse auf den Boden setzt, eine Mittelfigur, die mir sicher
eine menschliche zu sein schien und zwar wohl eine Frauengestalt in lan-
gem Gewande. Chanykof hat da ein ganz unförmliches Idol. Kopf und
Arme der Gestalt fehlen, die letzteren waren vermuthlich seitwärts ausge-
streckt auf die Thiere zu, ohne dieselben indessen wohl berührt haben
zu können. Nichtsdestoweniger ist die Analogie mit jener bekannten
Thiere haltenden oder würgenden weiblichen Gestalt orientalischer Her-
kunft in die Augen fallend.?)
1) Zeitschrift d. Gesellsch. f. Erdkunde I 1866 Taf. VI.
2) [Vor kurzem hat nun W. M. Ramsay ein sehr bedeutendes Phrygisches
Felsenmonument bei Liyen zwischen Afium Karahissar und Kutahia beschrieben — jour-
nal for promoting Hellen. stud. in England V 1884 S. 241ff. Taf. XLIV —, in dessen
6 G. HIRSCHFELD:
Aus der nur schmalen Vorhalle führt eine Thüröffnung von
1,70” Höhe, die sich nicht ganz in der Mitte der Rückwand befindet,
in eine allseitig geschlossene viereckige Kammer, deren Wände sorg-
fältiıg abgearbeitet sind. Von ihrem oberen Rande leitet eine vorsprin-
gende Leiste zur Decke über, deren Gestaltung augenscheinlich vom
Zeltdache hergenommen ist, indem die Mitte im der Querrichtung wie
zwei neben einander gelegte Rundhölzer gearbeitet ist, von welchen die
Deckenschrägen beiderseits mit flach nach unten gewölbtem Bogen gleich-
sam herabhängen (s. Taf. V,1'); auch die Decke ist von sorgfältiger Ar-
beit. Bis auf eine flache Nische in der südlichen kurzen Wand ist die
Kammer ohne jede Spur einer weiteren Anlage. Wie weit dieselbe etwa
einst von aulsen Licht empfing, war schwer zu sagen, da zur Zeit unse-
res Besuches die Zwischenräume zwischen den Pfeilern und Anten mit
Brettern verkleidet waren; denn der ganze Complex diente einer Familie
von Muhadjirs, die nach dem russisch-türkischen Kriege aus Rumelien
geflüchtet waren, zu dauerndem Aufenthalt.
Aus der linken südlichen Wand der Vorhalle leitet eine kleine
Pforte in eine zweite kleinere Kammer von ganz anderem Charakter;
die Decke ist hier vielmehr der Holzarchitektur nachgebildet: von einem
flachen Balken oder Brett inmitten ziehen sich die Schrägen gradlinig
zu den kurzen Wänden, wo sie wie in der ersten Kammer auf einer
Art vorspringender Leiste zu ruhen scheinen!). Die östliche, dem Feld-
Giebel zwei geflügelte Vierfülsler einen kurzen Mittelpfeiler umstehen, wie er uns noch
mehrfach beschäftigen wird. Ramsay beschreibt den auf S. 242 a. a. O. skizzirten Gie-
bel so: „two sphinxes of very archaic character stand in the two angles. turned towards
each other, but separated by the supporting column which always occupies the middle of
these pediments. Their faces are direeted outwards, the ears are very large, but the fea-
tures are now hopelessly obliterated. A long cur! hangs down in archaie style over
the shoulder of each.“
Wenngleich Wendung und Ausstattung der Thierköpfe auf dem Denkmal von
Kastamuni nicht mehr erkennbar sind, so springt doch die Ähnlichkeit der Giebelzierden
in die Augen. Doch befindet sich unter jenem Giebel nach Phrygischer Weise eine volle
Wand, nur unten von einer Thür durchbrochen, und nicht eine öffnende Säulenhalle.]
!) Zu vergleichen ist die Deckenbildung in einem etruskischen Grabe, s.
Gailhabaud, Denkm. d. Bauk. herausgeg. von Lohde, I. Etruskische Gräber, vorletzte
Tafel.
Paphlagonische Felsengräber. 7
weg zugekehrte Wand ist völlig geschlossen und glatt; an der westlichen
ist eine 0,60" hohe und 2,00” lange Steinbank stehen geblieben, deren Vor-
derseite, wiederum im Charakter von Holzarbeit eine von breitem Rande
umrahmte flache Einsenkung zeist. Die Oberfläche der Bank von etwa
0,70" Tiefe ist wie zu einem Lager eingearbeitet.
Aber der Complex ist damit noch nicht abgeschlossen, vielmehr
leitet ein relativ breiter (1,00”) und langer (2,50”) Gang von 1,50” Höhe
immer weiter in südlicher Richtung und schliefslich über zwei Stufen zu
einer Öffnung, welche nach gewissen Vorrichtungen an Schwelle und
Sturz zu irgend einer Zeit jedenfalls durch eine Thür verschliefsbar war.
Diese Öffnung leitet zu einem dritten Raum (s. Taf. V 3), demjenigen,
welcher aufsen als die zweite kleinere Felsfagade links neben der gröfse-
ren characterisirt ist; indessen ist die Front hier, wie bei einigen der
älteren Phrygischen Monumente, nur durch eine glatte Wand mit einer
Eingangsöffnung von 0,80" Breite und 1,00" Höhe gebildet; der Gie-
bel darüber ist unverziert. Der lange und schmale Innenraum ist
viel weniger sorgfältig hergerichtet, als die bisher betrachteten; die
Decke flach — der Länge nach — gewölbt, die innere westliche Längs-
wand ganz unregelmälsig gezogen, wie unfertis. Auch hier fehlt jede
Spur einer bestimmenden Anlage wie im ersten Gemach; diese bietet
auch hier wieder der südlich anstofsende letzte Raum (s. Taf. V, 1 +),
in welchen eine 1,00” hohe Thüröffnung leitet; dieser ist wiederum sorg-
fältıg ausgearbeitet, die Decke als ein Giebeldach gestaltet, dessen Schrä-
gen auch hier auf Vorsprüngen der Längswände ruhen; an den letzteren
sind auch hier Felsbänke beiderseits stehen geblieben von 2,00” Länge
wie jene im zweiten Gemach. Diesen Raum benützten die Muhadjirs
nicht, denn es herrscht der Glaube, dafs der verschwinde, welcher sich
darin niederlege. Auch unterhalb der letzten Kammern sind in der Fels-
wand ein paar kleinere Höhlungen im Felsen zum Theil künstlich aus-
gearbeitet.
Diese ganze zusammenhängende Gruppe hat eine Längenentwicke-
lung von 22,7”. Die durchgängige Verbindung aller Räume steht, soweit
ich sehen kann, unter den analogen Anlagen einzig dar.
In der Nähe dieser Felsendenkmäler sind einige Höhlen und viel-
leicht Abarbeitungen des Gesteins erkennbar, aber weiter keine Spur von
8 G. HIRSCHFELD:
Resten; unmittelbar über den Felsfacaden ist ein etwas gewelltes Plateau,
auch dies ohne Reste des Alterthumes; von hier aus überblickt man den
ganzen umschlossenen Kessel, welchen die späte Kastamon (s. Ritter,
Kleinasien I 414ff.) ausfüllt, gleich Iinks erhebt sich der Burgberg, des-
sen eine ruinengekrönte Spitze wie die zwei unbebaueten mit etwa 950"
absoluter Erhebung ca. 120” über dem Stadtboden (832”), liegt, wie ich
nach fünftägiger häufiger Barometerbeobachtung gegen Ainsworth’s 2350'
engl. — 716” (travels I S. 84) und in größerer Übereinstimmung mit
Tehihatcheff’s 850” sagen darf.
Kastamon wird bekanntlich erst seit dem XII. Jahrhundert genannt,
aber schon Ritter (a. a. O.) hat mit Recht bemerkt, dafs es wohl eine
alte Stadt sein kann. Bedeutend kann diese indessen schon der einge-
pferchten Lage wegen nicht gewesen sein; aber mancherlei Säulenreste
und vor Allem ein Reliefstück in Marmor (Sarkophag?) mit drei durch
Guirlanden verbundenen Stierköpfen, welches bei der schönen, wohl sel-
dschukischen Pforte am Yelanglytekesi eingemauert ist, weisen doch in
antike Zeit zurück; der Name wird dann wohl in Ptolemaeus V 4, 5
stecken!).
1) [Erst jetzt bin ich aufmerksam geworden auf eine Beschreibung Kastamunis
von A. D. Mordtmann, welcher die Stadt im October 1856 besuchte, im bullettino d.
Inst. 1859 S. 201ff. Die hierher gehörige Stelle S. 203 lautet:
Al piede della collina (der Burg), laddove ella presenta il lato sinistro ad una
strada della eitta, un ragazzo che mi conduceva ai diversi monumenti me ne mostro
una serie che fino ad ora sono sfuggiti all’ attenzione de’ viaggiatori. La pietra della
collina vi forma diversi muri verticali; cominciando dalla man sinistra, si vede al li-
vello della strada una porta, la cui meta & nascosta dal livello attuale; essa & fatta
regolarmente ed & coronata d’un architrave di forma triangolare. L’interno € scavato
per servire di sepolero. Viene poi una seconda caverna, la cui bocca non & scolpita
regolarmente o piuttosto la scultura non & stata terminata. La terza caverna € sopra
il livello della strada ed ha una piccola entrata semicircolare; non avendo scala ne
altro mezzo per entrarvi, non ne ho potuto esaminare le parti interne.
Sopra questa terza, la dove la pietra retrocede, vi si trovano altre caverne sca-
vate con maggiore arte; sotto un frontone triangolare s’incontrano due porte quadran-
golari, e alla destra due altre caverne con entrata bassa semicircolare. Finalmente
la pietra avanza di nuovo e la faccia € scolpita con grande regolarita. Vi troviamo
un portico formato da due pilastri quadrilateri e da due ante, e sopra questo vedesi
un frontöne, nel quale sono scolpiti due leoni alati e nel mezzo una corona sovrastante
ad una colonna. Sotto al portico due ingressi conducono al interno di altre caverne.
Paphlagomische Felsengräber. 9
2. Das Felsengrab im Halysthal, Hambarkaya (Taf. I. U. V).
Unter allen Felsengräbern, deren nähere Umgebung mir genauer
bekannt geworden ist, hat Hambarkaya, der „Scheunenfelsen“ im Halys-
thal die weitaus bedeutsamste, man könnte sagen die betonteste Lage.
Denn hier findet sich und zwar am rechten Ufer des Stromes die letzte
grolse und fruchtbare Ebene, jetzt die Olivenebene, Zeitünowasi, genannt,
auch heute und zumal hier auffallend durch viele Dörfer und dichte Be-
wohnung. Zur vollen Würdigung der Lage ist es nöthig etwas weiter
auszuholen: etwa bei Osmandjik darf man in der Entwickelung des Halys
einen scharfen Abschnitt machen, denn hier beginnt derjenige — unter-
ste — Lauf des Stromes, welchem der Kampf mit dem Gebirge des
Nordrandes seinen Öharacter giebt; ein Kampf, welcher keinem der Flüsse
an der kleinasiatischen Nordküste erspart bleibt, und der beim östliche-
ren Iris wenig unterhalb der Breitenlage von Osmandjik mit geradezu
drohender Grolsartiskeit anhebt.
Zwischen Felsen eingesenkt bahnt sich der Halys seinen Weg zum
Meere, erst ganz nahe demselben wird der Flufs wieder frei und tritt in
Q
Il primo, 2 o 3 piedi sopra il livello del portico, & molto stretto e di forma semieir-
eolare; Valtro & al livello della sala stessa; entrando in quest’ ultimo, una galleria
scavata nella pietra conduce fin’ alla prima delle due porte anteriormente descritte, che
si trovano sotto un frontone comune.
Diese Beschreibung der Denkmäler von Kastamuni kann ich auf keine Weise mit
den meinigen iu Einklang bringen; ich mufs annehmen, dafs die erste Gruppe von .ange-
häufter Erde verdeckt war, denn dals in der zweiten, so wenig die Notizen im Einzelnen
mit den meinigen stimmen, diese gemeint sei, scheint mir zweifellos, einmal wegen der
Beschreibung des Giebels, dann wegen des Ganges, der in die andern Grotten führt. Ich
kann nur sagen, dals ich meine Notizen mit Aufmerksamkeit und unmittelbar vor den
Denkmälern gemacht habe. Auch die Angabe der Lage bei Mordtmann, die Bestimmung
vom Burgberg aus, ist nicht glücklich, da sie einen falschen Eindruck hervorrufen mufs.
Mordtmann vergleicht die Felsenreliefs von Bogazköi und das Verwandte, er-
innert bei den geflügelten Löwen sogar daran, dafs die Tradition die Veneter aus Pa-
phlagonien auswandern liefs, und dafs Venedig den geflügelten Löwen im Wappen führe;
er schreibt die Monumente dem VII. oder VIII. Jahrhundert zu und hält sie für Anzei-
chen einer alten Stadt in dem Bezirk, den Strabo Blaöne nenne.]
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. I.
[S0}
10 G. HIRSCHFELD:
seine Mündungsebene, welche er durch die mitgeführten Sinkstoffe allmä-
lich immer weiter hinausschiebt und ungesund macht. In seinem Eng-
laufe hat ihm das Gebirge viele und stark von einander abweichende
Richtungen aufgezwungen; aber die bisherige Memung, als ob der Strom
bald nach seiner Veremigung mit dem Dewrektschai in unzugängliche
Steilfelsen eintrete (Ritter, Kleinasien I S. 402, vgl. S. 398) ist nicht zutref-
fend: vielmehr lockert sich die enge Umgürtung in kleineren und gröfse-
ren Abständen; zum gröfsten Theil sind es freilich nur ganz kleine Ebe-
nen, gleichsam Bergbuchten, welche sie am Rande des Flusses gestattet,
fruchtbar, heils, aber im Alterthum gewils so emsig bewohnt wie heuti-
gen Tages. Das beweisen schon die zu beiden Seiten entlang ziehenden
Pfade, die bald unten am Ufer, häufiger auf den Felsen hoch oben sich
hinwinden, immer hart am Rande des purpurschlammfarbigen, schnell
dahinströmenden Flusses. Dafs diese Pfade im Alterthum gebahnt sind,
kann nicht bezweifelt werden.
Auf dieser letzten Entwickelungsstufe des Stromes, auf dem Wege
von Ösmandjık an, ist wohl die erste gröfsere Ebene diejenige westlich
von Kargü, wo der Dewrektschai von Westen her einmündet, welcher
vorzüglich die Gewässer von der Rückseite Paphlagoniens, vom Olgassys
her, dem Halys zuführt. Dann erreicht man in einer kleinen Tagereise
von sechs bis sieben Stunden erst wieder eine grölsere Ausbuchtung, zu-
mal am rechten Ufer, die von einer eigenen kleinen Wasserader, dem Zei-
tüntschai, durchzogen wird, einem Bergbach, dessen breites weılses Bett
schon aus weiter Ferne entgegenleuchtet: das eben ist die Zeitünowasi.
Auch am linken Ufer ist eine kleine Ebene, deren verfallendes Örtchen
unter hochragenden gewaltigen Felsen — Ulukaya — den bezeichnenden
Namen Köprübaschi, d. ı. Brückenkopf, führt. Überraschend wirkt da
der Rest eines reichen türkischen Baues, welcher durch gestürzte Fels-
blöcke zerstört zu sein scheint. Drohende Stellen sind da noch mehrfach
sichtbar. Vom Dorfe an bleiben hier die Felsen wieder hart am Flufs;
auch drüben am rechten Ufer treten ihnen gleich jenseits der Einmün-
dung des Zeitüntschai wieder röthlich schimmernde Felsmassen entgegen,
und durch diese Ausgangspforte verläfst dort der Fluls diese letzte
srölsere Ebene, die ihm auf seinem untern Laufe gestattet ıst und tritt
zunächst in ein schmales nach Nordosten gerichtetes Thal ruhigen Cha-
Paphlagonische Felsengraber. 11
rakters; er ist da noch 271” über dem Meere und hatte am 16. Septem-
ber 1882 eine Breite von 70 Schritt, welche indessen zur Frühlines- und
Winterszeit bedeutend wächst; denn diese Wasserader erschien nur wie
ein Band inmitten des breiten durch Geröll und Lehmboden gekennzeich-
neten Inundationsgebietes.
Der Pfad am linken Ufer ist in mäfsiger Höhe — bis etwa 25"
über dem Flufs in den rauhen Fuls des Kalksteinfelsens eingearbeitet,
auch wohl nur eingetreten; einmal bleibt da zur Rechten ein grofser
isolirter Block, der künstlich geglättet und abgesteilt erscheint. Wo man
zum letzten Mal die sanft ansteigende Ebene drüben mit ihren abgetheil-
ten Feldern, ihren Baumgruppen und vielfach zerstreuten Ansiedelungen
überblickt, d.h. wo der Pfad gerade einlenkt ins Nordostthal, da läfst er
zur Rechten einen von der Hauptmasse ins Flufsbett vortretenden starken
Felsblock von etwa dreikantiger Gestalt, dessen Spitze im Wasser ruht,
während seine Grundfläche von der Ebene abgewendet in das schmale
Thal bliekt (s. Taf. I u. I): diese ist es, in welche das bedeutende Fel-
sengrab eingemeifselt ist, welches dem Blocke den Namen Hambarkaya
eingetragen hat.
Die Bildfläche, um sie ım ihrer Gesammtheit so zu nennen, war
anscheinend schon von vorn herein ziemlich gleichmälsig gestaltet und ist
durch Abarbeitung zu einer Wand geworden, deren Böschungswinkel etwa
12° beträgt; bis zur höchsten Spitze milst dieselbe 13,70”. Etwa in
ihrer Mitte, 8345 — 4" über dem ansteigenden Boden sitzt das Denkmal, so
gestellt und so grofs, um dem ganzen Block den Charakter eines Monu-
mentes zu geben. Dieses vortreffliche Verhältnils zu den umgebenden
Felspartien, „das gute Sitzen“, wenn ich einmal so sagen darf, fällt zwar
auch bei ein paar andern Denkmälern — wie beim Deliklitasch (Perrot
Exploration Taf. 5) und beim Grab von Tokäd (s. unten) ins Auge, aber
nirgends erscheint Grab und Umgebung bei der Harmonie aller Verhält-
nisse so sehr aus einem Gusse wie beim Hambarkaya.
Die Arbeit des Denkmals ist im Ganzen wie ım Einzelnen von
grölsester Sorgfalt; dasselbe steht senkrecht im Felsen, der Übergang aus
der Neigung der Wand zur Senkrechten ist geschickt durch zwei breite
(0,27— 28) hinter einander zurücktretende bandartige Streifen bewirkt,
welche die rechteckige Einhöhlung an den zwei Seitenrändern umziehen
9%
12 G. HIRSCHFELD:
und die am obern Rande naturgemäls als zwei flach neben einander lie-
gende Bänder erschemen; am untern Rande ist die entstehende Differenz
zur Anlage einer Stufe benützt, auf die wir noch zurückkommen. Die
so umrahmte rechteckige Höhlung (Taf. V, ı‘), welche 5,40 in der Länge
mist, hat an der linken Seite eine Tiefe von 1,74, an der rechten —
bei der leisen Neigung der Wand auch in der Breitenentwickelung —
eine Tiefe von nur 1,51”, diesen schmalen Raum füllen fast ganz die
drei gewaltigen Säulen der Front, welche 3,13” in der Höhe messen;
dieselben erscheinen kurz und dick durch die starke Verjüngung des
Stammes, welche auf 2,19” Länge fast 0,20 (0,85 : 0,66) beträgt (s. Taf.
II u. V, ı°) beträgt. Für die Malsangaben bemerke ich ein für alle Mal,
dafs die entsprechenden Malse bei allen hierher gehörigen Denkmälern
keineswegs immer einander gleich sind, im Gegentheil ist Verschiedenheit
die Regel. Meme Angaben beziehen sich im vorliegenden Falle auf die
mittlere Säule und treffen auf die beiden andern nicht vollständig zu,
doch stimmen alle drei in ihrer Gliederung durchaus überein. Die Basis
besteht aus einem sehr kraftvollen, weit ausladenden Torus, dessen
1 99m
grölsester Durchmesser 1,55" beträgt bei 0,54” Höhe, und welcher
auf dem Boden oder besser auf einer gemeinsamen Stufe aufliest.
Eine scharf sich absetzende Leiste vermittelt den Übergang zum Stamm.
Die nicht übereinstimmenden Entfernungen der Basen von einander, von
der Rückwand und den Seitenwänden sind aus dem Grundrifls ersichtlich.
Das Intercolumnium in halber Höhe des Stammes beträgt links 1,20”,
rechts 1,22”. Eigenthümlich wie die Basis, ja weit befremdlicher ist
auch das Capitell der Säulen gestaltet: in diesem ist der Nachklang des
Holzbaues unverkennbar. Das Rund des Säulenstammes geht da ohne
weitere Vermittelung in einen viereckigen Abschlufs über, der mit einer
Breite von 0,66” nur ganz unbedeutend über den Stamm hervorragt.
Der Höhe (0,35) nach ist das Capitell in drei Theile gegliedert, welche
als zwei dünnere und als eine stärkere obere Platte characterisirt sind.
(So gewils richtig nach meinen vor dem Monument gemachten Skizzen;
nach der Photographie würde man geneigt sein, die mittlere Platte für
stärker zu halten.) Für das Capitell darf man vielleicht auf den unte-
ren Theil des oben ionisirenden Capitels an den zwei kleinen Säulen auf
einem bekannten Relief von Khorsabad (Botta und Flandin Taf. 114,
Paphlagonische Felsengräber. 13
Kugler, Gesch. der Bauk. I S. 88) verweisen!), obgleich auch diese Ana-
logie zu wünschen übrig läfst. Für die Basis finde ich eine solche an
der eigenthümlichen durch eine Palmette abgeschlossenen kurzen Säule
in einem sehr alten phrygischen Grabe?), das ich, auch seines später
noch zu berührenden Interesses wegen hier verkleinert folgen lasse.
Die Säulen des Grabes von Aladja (Perrot, Exploration Taf. 33, hier Taf.
VII) sind in jeder Beziehung entwickelter.
1) Dafs dieser Bau ein Tempel ist, kein königliches Lusthaus, wie Kugler am
a. ©. meinte, geht mit Sicherheit aus einer Darstellung vom Nordpalaste zu Kujundjik
hervor (Brit. Mus.), abgebildet bei Rawlinson, the five great monarchies I S. 388, den
ich leider nur nach der ersten Auflage eitiren kann, wo unmittelbar neben einem analo-
gen Bau ein Königsbild dargestellt ist, auf welches ein breiter Weg zuführt, in dessen
Mitte ein Altar sich erhebt. Ich lasse das wesentliche Stück dieser Darstellung hier
folgen, weil es mir sehr wichtig zu sein
scheint für den Sinn von Figuren wie die
bekannte Stele des Sargon, des Merodach-
idin-aki (Perrot, histoire de l’art dans
Pantiquite II S. 509) für das Denkmal von
Biredjik (transactions of the Society of bibl.
archaeol. VII zu S. 250), für die Felsenbil-
der bei Beirut (Ritter, Kleinasien I Taf.
VIII, jetzt besser bei Perrot, histoire etc.
II S. 641) und bei Nymphi, die drei letzte-
ren sogenannten „hittitische* Gebilde, über
welche unten S. 45.
[Beide Säulenbauten jetzt auch bei
Perrot, histoire ete. II p. 142f., der eine
bezeichnet als Kiosk am Wasser, der an-
dere, hier abgebildete, als eine des edicules
ou chapelles qui decorent les jardins royauz.
Über die assyrischen Königsstelen im Allgemeinen spricht Perrot a. a. ©. $. 619
mit der richtigen Bemerkung, dals aus denselben eine göttliche Verehrung der Könige
nach ihrem Tode zu folgern sei.)
?) Journal for promoting Hellenie studies in England 1882 Taf. XIX S.24. Ich
gestehe übrigens in der Aufnahme des Grabes mich nicht ganz zurecht finden zu können.
Leider mulste auch Hr. Ramsay seine Beschreibung anfertigen, ohne die Zeichnungen
zur Hand zu haben.
14 G. HIRSCHFELD:
Vor und (0,28) unterhalb der Säulen ist, wie schon oben ange-
deutet, als Differenz zwischen der Schräge der Wand und der Senkrech-
ten des Denkmals, d. h. als die kurze Kathete des rechtwinkligen Dreiecks,
dessen Hypothenuse die Wandschräge, dessen andere Kathete die Senk-
rechte des Felsgrabes ist, ein 0,74 breiter Streifen entstanden, welcher
beinahe 7" lang ist. Etwa in der Mitte desselben, vor und unter der
mittleren Säule, ruht ein aus dem Felsen gearbeiteter Löwe von über 2”
Länge, die Vorderbeine vorgestreckt, das etwas entstellend verwitterte
Haupt gesenkt; links hinter ihm kommt ein etwa 1,30” langes Vorder-
theil eines zweiten Löwen aus der Wand und von rechts her kommt ihm
ein gleiches von 1,52” Länge entgegen, also eine völlig symmetrisch ge-
gliederte Darstellung. An der vordern Seite haben die Thiere wohl kaum
je wesentlich anders gewirkt als jetzt, denn sie waren nie rund heraus
gearbeitet, sondern haben sich der geradlinig abfallenden Wand gefüst, so
dafs sie an ihrer Vorderseite wie durchschnitten erscheinen; aber ihre
Rückenrundung war ausgedrückt, ist jedoch bei der ganz ungeschützten
Lage dieser Theile stark verwittert, am wenigsten beim mittleren. Dafs
hier Löwen gemeint sind, kann nicht bezweifelt werden; hat das mittlere
Thier die Haltung der bekannten bronzenen Gewichtslöwen von Nimrud!),
so erinnern die Vordertheile, bis auf die hier wohl geschlossenen Rachen
an jene ältesten Iydischen Münzen?); ein Typus, in welchem übrigens
1) Vgl. z. B. Barclay V. Head, coinage of Lydia and Persia S. 2. [Vgl. jetzt
besonders Perrot, histoire ete. II S. 566 Taf. XI.]
?2) Vgl. Percy Gardner, types of Greek coins Taf. IV 13, Barclay V. Head
a.a. ©. Taf. I6 und 9— 13.
Paphlagonische Felsengräber. 15
sowohl Herleitung des Gewichtes aus dem Mittelstromlande, wie der Zu-
sammenhang der Münze mit dem Gewicht ausdrücklich mir gewahrt
scheint.!)
Über der Säulenhalle, von der vertieften doppelten Umrahmung
durch ein 0,52” breites erhöhetes Band getrennt, war ein ganz flacher
Giebel eingearbeitet, der aus dem gleichen Grunde wie die Löwen unten,
besonders in seinem rechten Theile stark durch Verwitterung gelitten hat;
doch sind alle Ecken kenntlich und so die Grundfläche auf ca. 5,70”, die
Höhe auf etwa 14” zu bestimmen. Der so entstandene Raum war durch
eine figürliche Darstellung gefüllt, welche links bei passender (Morgen-)
Beleuchtung im Ganzen wahrnehmbar ist; sie zeigt zunächst einen Vier-
füfsler, der schreitend oder stehend alle vier Tatzen auf den Boden ge-
setzt hat; der geringelte Schweif, der starke Abfall des Rückens nach
hinten, die Ähnlichkeit des Kopfes mit demjenigen des unten rechts ru-
henden Löwen lassen mich auch hier an einen Löwen denken und Zoo-
logen bestärken mich in dieser Ansicht. Dem Vierfüfsler folgte in der
Ecke ohne Zweifel ein Vogel, man darf an einen Hahn denken. Die am
weitesten vorgesetzte Tatze des Löwen ruht schon über der Mitte der
Mittelsäule, sein Maul unter der Spitze des Giebels; wenn aber auch keine
völlig symmetrische Raumvertheilung statt fand, so darf doch nach den
dem Löwen gegenüber noch erkennbaren Oontouren nicht bezweifelt wer-
den, dafs ın der rechten Seite die Darstellung der linken sich durchaus
wiederholte.
Am meisten Schwierigkeit macht der fast schattenhafte, aber völ-
li gesicherte Umrils über der linken Giebelseite, zu welchem ich einen
entsprechenden auf der anderen Seite auf einem mir vorliegenden Negativ
mit der Loupe zu erkennen glaube. Man wird auch hierin kaum etwas
anderes als ein lagerndes Thier erkennen können); ich dachte auch an
1) Doch verdient an dieser Stelle bemerkt zu werden, dafs Löwen auf dem Bo-
den Kleinasiens angeblich noch im XVI. Jahrhundert gesehen worden sind, und früher
mehrfach erwähnt werden: Hymnus auf Aphrodite V. 69. 199. Aelian hist. animal. XVII
31. — Konstantin Porphyrog. de Thematib. I. p. 19 ed. Bonn. Vel. H. Schliemann,
Ilios S. 129 nach Tehihatcheff.
?) Zu vergleichen wäre Etrurisches, so der bekannte Chiusiner Cippus im Ber-
liner Museum, wo je ein Löwe auf dem Ende des Giebeldaches ruht (Abeken, Mittel-
16 G. HIRSCHFELD:
eine Verzierung der Giebelspitze etwa in der Art des Midasgrabes [oder
des schon oben genannten durch Ramsay neuerdings aufgefundenen Phry-
gischen Felsengrabes, journal V S. 242], allein diese Spitze ist sammt ihrer
nächsten Umgebung hier so scharf erhalten, dafs dann wohl ein Ansatz
erkennbar sein würde.
Nach dieser Schilderung des Äufseren treten wir in die Vorhalle:
die Seitenwände derselben sind an ihrem vorderen und oberen Rande von
einem schmalen, etwas erhöhten Bande umzogen, die Rückwand (Taf. V, ı")
bildet eine glatte Fläche. In derselben ist auch hier unsymmetrisch, nach
rechts verschoben und 0,75” über dem Boden der Vorhalle eine Thüröff-
nung angebracht, die bei 0,95” Höhe sich auch nach oben um 6°" ver-
jüngst und nach dem umziehenden Falze durch eine Platte geschlossen
war. Zur Pracht der Vorbereitung bildet die Kammer einen starken Öon-
trast (Taf. V, 1" und m‘); die Arbeit ist freilich auch hier sorgfältig, die
Decke als ein Giebeldach — in Querrichtung — characterisirt aber die
Dimensionen sind auffallend klein, die Wände völlig glatt. Die Thür sitzt
fast in der Ecke der Kammer, welche jetzt durch das einströmende Ta-
geslicht vollkommen erhellt wird. Fast die halbe Breite und die ganze
Länge des Gemaches nimmt die an der Hinterwand stehen gebliebene
Felsbank ein (0,55 hoch, 0,95 breit), deren rechtes nördliches Ende z. Th.
zerstört ist. Der Boden der Kammer war mit Steinen und Sand gefüllt.
Es ist wohl möglich, dafs der Halys bisweilen so hoch steht, Wassermar-
ken sind da unterhalb des Denkmals nah dem Fluls 2 und 3” hoch über
dem Boden bemerkbar; und drüben am jenseitigen Ufer etwas weiter zu-
rück sind einige Partien erdiger Abstürze, welche auch auf eine zeitwei-
lige starke Höhe des Wassers zu deuten scheinen.
Reste des Alterthums sind in der Nähe von Hambarkaya nicht
vorhanden, wie sich nach eigenem Suchen und vielfachem Herumfragen
ergab. Vollends wollte man von der Existenz ähnlicher Denkmäler weit
und breit im Umkreise nichts wissen.
italien Taf. VIII); dazu die spätere Facade von Norchia Mon. dell’ Inst. I Taf. XLVII;
doch verkenne ich nicht, dafs diese Erscheinungen sehr viel verständlicher sind.
Paphlagonische Felsengräber. 17
3. Die Felsengräber zu Iskelıb (Taf. III, IV, VI, VII).
Von diesen Denkmälern habe ich schon in den Monatsberichten
der Berliner Akademie von 1885 S. 1254 eine kurze Nachricht gegeben.
Dieselben sind in den Fufs des gewaltigen Burgberges eingearbeitet, wel-
chen ich für denjenigen von Tavium halte. Es sind vier an der Zahl,
drei derselben bilden eine Gruppe in zwei Etagen; das einzelne Grab der
unteren Etage, in welches man vom jetzigen Boden, dem Hof eines tür-
kischen Hauses unmittelbar eintritt, befindet sich ziemlich genau unter
dem gröfsesten der oberen Etage, von dessen unterem Rande seine Gie-
belspitze 0,64" entfernt ist; unmittelbar rechts neben dem oberen ist das
dritte kleinste Grab (s. Taf. II). Zwischen den beiden Etagen ist jetzt
ein Bretterboden gezogen, der die untere Anlage völlig ins Dunkel lest;
aber auch eine Untersuchung des oberen Grabes war nur mit Licht mög-
lich, weil dıe Intercolumnien mit Holzvorräthen verstellt waren. Da fer-
ner der Bretterboden sich nicht bis zum kleimen Grabe der oberen Reihe
erstreckt, auch eine Annäherung von unten ausgeschlossen war, so hat
dasselbe nicht näher untersucht werden können; die darauf bezüglichen
Malse sind aus der Photographie berechnet worden und treffen nur un-
sefähr zu.
Das gröfseste Grab (Iskelik I — Taf. III und VI) ist von grofser
Schärfe der Arbeit und äufserlich wenigstens am reichsten ausgestattet:
die Front bilden zwei starke Säulen, welchen vortretende Anten seitlich
entsprechen; absolute Gleichheit der Mafse der symmetrischen Theile ist
auch hier nicht gewahrt. Die Säulenhöhe von fast 3 Metern (2,98”) ver-
theilt sich so, dafs — bei der linken besser mefsbaren Säule — 0,57"
auf die Basis, 0,29" auf das Capitell kommen. Die Basis ist ein Seiten-
stück zu derjenigen von Hambarkaya, nur steht der Torus hier auf einer
0,10” dünnen Plinthe von 0,95” Breite, nähert sich mehr der Form eines
Kessels und ist an seinem obern Theile fast wagerecht abgeschnitten;
auf diesem setzt auch hier eine rings herumgeführte Leiste auf. Der Säulen-
stamm verjüngt sich auf 2,12" Höhe um 21°“ (von 0,72 auf 0,51). Das
Capitell setzt auch hier viereckig auf — bei der linken Säule mit 0,53”,
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. 3
18 G. HIRSCHFELD:
bei der rechten mit 0,52 —, springt also zunächst auch hier kaum über
den Stamm vor; dann aber ladet es ın einer flachen Hohlkehle aus, die
zuletzt in einen viereckigen Abakus übergeht, der bei der linken Säule
vorn und hinten 0,64”, an den Seiten 0,68” milst; bei der rechten Säule
ist das ensprechende Verhältnifs 0,57:0,74”. Auch das Antencapitell
(0,38) ist zweigliedrig, zeigt aber statt der Hohlkehle nur eine schräge
Linie (0,18 hoch), eine Basis haben die Anten nicht; bei einer Breite
von 0,56 bez. 0,53” treten sie 0,40 bez. 0,58” vor die Seitenwände der
Vorhalle vor. Über Säulen und Anten ist ein 0,55 breites stark vortre-
tendes, glattes Band als Epistylion und darüber vertieft der Giebel ein-
geschnitten, der in der Mitte hier ebenfalls etwa 14” hoch ist. Auch in
der Umgebung des Denkmals ist der Felsen bearbeitet, vorgerichtet gleich-
sam wie zur Herstellung einer Bildfläche oder einer Gesammtumrahmung,
deren Contouren den senkrechten Seiten wie den ansteigenden Giebellinien
folgen, etwa wie man es beim Relief en creux gewöhnt ist und auch
bei Phrysischen Gräbern sieht. Die Mitte des Giebels ist durch die zu-
gleich einzige Ausstattung desselben bezeichnet, ein pfeilerartiges Gebilde
in hohem Relief, von welchem leider nur ein kleinerer Theil sich erhal-
ten hat, während der obere sammt der Giebelspitze abgestolsen ist. Die
sonstige Erhaltung des Grabes läfst hier eine absichtliche Zerstörung ver-
muthen, was für die Deutung dieser Verzierung und anderer gleichartiger
(s. unten) vielleicht ins Gewicht fällt. Ich bemerke ausdrücklich, dafs
der Giebel niemals einen anderen weiteren Inhalt gehabt hat.
Auch die Vorhalle dieses Grabes ist ungewöhnlich geräumig, links
2,31”, rechts 2,25” tief. Die Decke derselben ist als ein ganz flaches
Giebeldach gestaltet. An der linken Seitenwand zieht in der Breite der
Ante eine 0,44" hohe Stufe oder Bank sich hin, darüber, etwa 1,00”
über dem Boden der Halle, ist eine ziemlich tiefe halbrunde und gewölbte
Nische in den Felsen gearbeitet. Die Thüröffnung in der Rückwand steht
wiederum nicht genau im der Mitte und setzt ziemlich hoch über dem
Boden ein; sie verjüngt sich um 0,20" und ist von einem Falz umzogen.
Auch die Kammer dieser Anlage ist ungewöhnlich grols; sie hat
über 3” Länge und 21” Breite; die 1,55" hohen Seitenwände sind glatt,
die Decke ist — in der Längsrichtung — als Wölbung charakterisirt,
das Gemach an der höchsten Stelle 1,90” hoch. Fast die Hälfte des
Paphlagonische Felsengräber. 19
Raumes nimmt auch hier die 0,79” hohe Steinbank an der Rückwand
ein, deren Vorderseite in der auf Taf. VI, e bezeichneten Weise profilirt
ist; an der oberen Fläche ist der äufsere Rand erhöht. Vom linken unte-
ren Ende der Steinbank zieht sıch eine flache 0,35” breite Stufe bis zur
entsprechenden Vorderwand; an die rechte untere Ecke des Lagers scheint
eine kleine quadratische jetzt zerstörte Stufe gestolsen zu haben. —
Das kleine, anstofsende Grab (Iskelib II), dessen Facade bei 2”
Länge etwa 1,75" Höhe hat, zeigt in auffälliger Weise eine Säule in der
Front; diese wie der Giebel darüber sind arg zerschunden, und so-
weit das erkennbar ist, auch ursprünglich wenig sorgfältig angelegt: Das
Gemach befindet sich da nicht im Rücken der Vorhalle, sondern seitlich
rechts. Eine Verbindung zwischen den zwei Gräbern, wie in Kastamuni,
besteht nicht.
Das untere Grab (Iskelib III — Taf. VI) ist in mehrfacher
Beziehung das merkwürdigste der Gruppe; zwar ist die Säule, welche
auch hier allein die Mitte der Facade einnahm, herausgebrochen, und ihre
Stelle oben und unten ziemlich glatt abgearbeitet; gewils wollte man spä-
ter einmal die auch hier ziemlich geräumige Vorhalle — 3,50 Länge zu
1,50 Tiefe — freier benützen können; die Anten an ihren zwei Aufsen-
ecken sind erhalten und 1,90” hoch; einen oberen Abschlufs derselben habe
ich mir ebensowenig notirt wie einen Inhalt des Giebels. Die Decke der
Vorhalle ist sehr sorgfältig als Dach gearbeitet (Höhe inmitten 2,48”);
um die seitlichen und den oberen Rand der Rückwand (Taf. VI, 5) ist
eine 0,07” starke saubere Leiste stehen gelassen worden. Die wiederum
unsymmetrisch sitzende Thüröffnung ist auch hier von einem Falz um-
zogen, verjüngt sich aber nicht; sie leitet zu einem Gemach von ganz
einziger Sorgfalt der Arbeit, welches der Länge nach (3,41”) fast der
Vorhalle entspricht, und der Tiefe nach in einen grofsen (2,28”) vorde-
ren und einen kleinen, kürzeren hinteren Raum (0, 96) zerfällt, der ab-
getrennten Stätte des Todten.
Die Decke ist auch im vorderen Gemach wieder dem Giebeldach
entlehnt. Die an den zwei kurzen Seitenwänden entstehenden Giebel
sind etwas unterhalb der Ansatzstelle der Dachschrägen durch ein sau-
beres etwas vortretendes Band abgeschlossen (Taf. VI, c). Die Mitte des
dadurch etwas überhöheten Giebelfeldes nimmt jederseits jenes eigenthüm-
g#
20 G. HIRSCHFELD:
liche Gebilde ein, das aus einer dünnen Plinthe, einem viereckigen Stamm
und einem oberen Abschlufs besteht, der sich in die Giebelspitze lest
und dadurch das Aussehen einer Art von Kappe erhält. Bei demjenigen
der rechten Seite tritt ein Mittelstreifen des Stammes der Länge nach
etwas vor (s. Taf. VI, e, f).
Der Raum des Todtenlagers hat eine eigene Bedachung, unter
welcher das Bett des Todten wie unter einem Baldachin steht; dasselbe
füllt die ganze Breite des Raumes, aber nicht die Länge: läfst vielmehr
bei einer Ausdehnung von 2,15” an jedem Ende Raum für zwei Stufen;
seine Höhe beträgt 0,80”. Die Vorderseite ist in zwei vertiefte Felder
zwischen breiten Streifen getheilt, wie das entsprechend auch an der
Rückwand hinter und über dem Lager geschehen ist (Taf. VI, d); man
meint Paneele zu sehen, wie sie an hölzernen Thürflügeln gebräuchlich
sind. Der Übergang aus der Wand in das Lager ist durch zwei halbe
Rundstäbe bewirkt, der vordere Rand der Steinbank auch hier erhöht,
sodals für die eigentliche Lagerstätte wenig mehr als 0,60” Breite übrig
bleiben (Taf. VI, c). Alles ist von der grölsten Zierlichkeit und Schärfe.
Eine ganz besondere Eigenthümlichkeit erwähne ich zuletzt, es ist
das eine viereckige 0,30 : 0,22 grofse Öffnung, welche die Wand des Ge-
maches links neben dem Ausgang mit starker Verjüngung bis zur Vor-
halle durchsetzt, wo sie wie ein kleines Guckfenster aussieht.
Das vierte einzelne Grab (Iskelib IV — Taf. IV u. VII) befin-
det sich in einiger Entfernung östlich von der Gruppe und sitzt etwa 3”
über dem jetzigen Boden im Felsen. Nur in den Elementen, zwei Säu-
len und Giebel gleicht es dem grofsen oberen Grabe der anderen Gruppe,
in allen Einzelheiten ist es von diesem wie von allen übrigen mir be-
kannt gewordenen sehr verschieden. Seine Erhaltung läfst zu wünschen
übrig; aber auch die ursprüngliche Arbeit zeigt nicht die bisher meist
gefundene Sorgfalt, endlich fehlt es nicht an Spuren von späten Umar-
beitungen.
Die viereckige Öffnung ist wie bei Hambarkaya von einem dop-
pelten Bande umzogen; sie bietet eine Länge von 3,72”, eine Höhe von
2,80”. Die Säulen erscheinen hier durch eine Verjüngung des Stammes,
welche etwa ein Sechstel seiner Höhe und ein Drittel (0,32”) seines un-
teren Durchmessers (0,95”) beträgt, ganz besonders gedrungen, dick und
Paphlagonische Felsengräber. Jıl
kurz. Die Basen sind arg zerschunden, lassen aber auch einen weitaus-
ladenden, doch niedrigen (0,50”") Torus von ca. 1,40" Durchmesser er-
kennen; eine Plinthe darunter ist ebensowenig wahrnehmbar, wie eine
umziehende Leiste oben, erstere war wohl auch nie vorhanden. Das
Merkwürdigste sind die ungefügen, vierkantigen, 0,50” hohen Capitelle,
welche fast die halbe (#) Höhe des Säulenstammes haben und vorn 0,73,
an den Seiten 0,95” messen. Aus ihrer Vorderfläche blickt ein Thier-
kopf mit zerschlagener Schnauze entgegen, unter welchem die Stüm-
pfe der Vordertatzen hervorspringen; in Übereinstimmung mit Zoologen
sehe ich auch in diesen Resten Löwenköpfe. Eine völlig zutreffende Ana-
logie zu dieser Gestaltung des Capitells kenne ich nicht. Denn sowohl
die bekannten Pferdecapitelle von den Königsgräbern zu Persepolis und
Naksch-i-Rustam!), und die Greifencapitelle von Persepolis, von wel-
chen ich hier eine Abbildung nach Rawlinson (a. a. O. S. 277) beifüge,
wie die nicht sehr frühen ionischen Capitelle mit Stiervordertheilen zu
Ephesos und die noch bekannteren dorischen von der Halle Philipps V.
in Delos?) zeigen die Thiere in Function als Stützen. In diesem Sinne
kann freilich auch ein Capitell wie das zu Iskelib ursprünglich nur ge-
dacht sein, dabei kann die Bestimmung als Wächter ganz gut noch mit-
gewirkt haben. Als freie Bekrönung zeigt aber zwei hervorspringende
1) Vgl. z. B. Kugler, Gesch. d. Baukunst I S. 112. Rawlinson, the five great
monarchies IV S. 296, vor Allem die trefflichen unter so unsäglichen Anstrengungen
gemachten Aufnahmen von Stolze, Persepolis I Taf. 70 II Taf. 106 ff.
?) Durm, die Baukunst der Griechen $. 173 u. 155.
22 G. HIRSCHFELD:
Stiervordertheile ein Pfeiler oder eine Säule an einem der Felsenreliefs
zu Bavian!) in Assyrien, welche auf das erste oder zweite Regierungsjahr
Sanheribs bezogen werden. In altorientalischen Vorstellungsformen bewe-
gen wir uns da sicherlich, auch noch in den Ausläufern zu Ephesos und
Delos?).
Die Säulenbasen nehmen die ganze Tiefe der Vorhalle ein; an den
vorderen Ecken derselben sind glatte Anten — 0,55 bez. 0,48 breit —
ausgearbeitet. Die rechte Seitenwand der Vorhalle zeigt auch hier 0,95
über dem Boden eine grofse, etwas unregelmäfsig geformte Nische.
Eine beschädigte 0,80" hohe Thüröffnung, vor welcher — spä-
ter? — eine Stufe ausgearbeitet ist, führt in eine enge, 2,50” tiefe Kam-
mer von wenig sorgfältiger Arbeit; die Decke ist gewölbt und an höch-
ster Stelle nur 1,80” über dem Boden. An der linken und an der hin-
teren Wand ist je eine ganz niedrige Steinbank stehen geblieben von 0,77
Breite; der vordere Rand der seitlichen ragt mit etwa 0,11” in die Thür-
öffnung hinein. Über der rechten Thürecke aufsen mündet auch hier
eine fensterartige kleine Öffnung, welche vorn durch ein im Gestein aus-
top]
gespartes Kreuz wie ein Gitterfenster characterisirt ist.
Ich stelle an den Schlufs dieser Beschreibung den Giebel mit
seinen Seltsamkeiten. Derselbe erinnert im Ganzen am meisten an Ham-
1) Hier abgebildet nach Layard, discoveries S. 211, oder
ist eine Standarte gemeint? Ich will nicht verschweigen, dals es mir
überhaupt immer als eine bedenkliche Methode erscheint, so. verein-
zelte und abgelegene Erscheinungen heranzuziehen.
?2) Es mufs Zufall sein, dafs wir erst in Persien Analogien begegnen, denn
die Persische Baukunst begann ja bekanntlich erst verhältnilsmälsig spät; dais sie da-
bei stark unter dem Einflufs der schon entwickelten Baukunst im Westen, in Kleinasien
stand, hat bei Gelegenheit der Säulen auf der Grabstätte des Kyros schon Kugler
I S. 100 bemerkt. Aber ganz besonders fällt da ins Gewicht, dals die Persische Bau-
kunst, so abweichend von Assur und Babylon, auf der Säule beruht, wie Rawlinson
(I S. 380 Note 6) hervorgehoben. Wenn aber derselbe (III S. 21) dabei an Medischen
Vorgang denkt, so ist das doch zu unsicher. Richtig bleibt allerdings immer und zu-
gleich erklärend für-den — freilich keineswegs gänzlichen ER Säulenmangel im Mittel-
stromlande, wenn derselbe a. a. ©. sagt: a pillar architecture naturally began in a coun-
try where there was abundant wood. Dafs trotzdem Persien im Stil seiner Zierformen
im weitesten Sinne an Assyrien anknüpfte, ist klar und bekannt genug.
Paphlagonische Felsengraber. 23
barkaya, nur ist Alles viel weniger scharf und präeis. Dadurch dafs die
Grundlinie des Giebels auch in diesem Falle nicht unmittelbar über der
Umrahmung liest, entsteht auch hier über den Säulen ein drittes Band,
so dals auch hier wiederum — gewils durchaus zufällig — eine Drei-
theilung nach Art des ionischen Epistylion herauskommt. Wie bei Ham-
barkaya sind die unteren Giebelecken etwas überhöht und ein wenig
eingerückt, was auch an phrygischen Gräbern begegnet. Die Höhe des
Giebels beträgt 1,20— 1,25”; der Neigungswinkel bewegt sich in allen
unsern Fällen um einen Werth von 20 — 25°; ist also sehr viel grölser
als bei griechischen Bauten und findet eher in Etrurien Analoga.
Nun wird das Tympanon ausgefüllt durch zwei geflügelte einander
gegenüber schwebende Knabengestalten, von denen derjenige zur Rechten
in beiden Händen ein flatterndes Gewandstück vor sich hält; der Andere
trägt in seiner Linken einen Gegenstand, der wie eine Frucht oder auch
wie ein kleines Gefäfs aussieht. Die Gestalten sind von sehr flacher Ar-
beit, verschwimmen beim Betrachten vielfach mit dem röthlichen Gestein
und sind wie die Löwen im Giebel von Hamarkaya deutlicher auf der
Photographie zu erkennen, als am Monument selber. So ist denn an den
Eroten — denn so dürfen wir sie doch nennen — nicht viel Detail wahr-
zunehmen, wohl aber bezeugt die leichte ungezwungene Bewegung, die
flotte Art der Behandlung, ja die Thatsache selber, dafs hier zwei Ero-
ten dargestellt sind, dafs wir in keine zu frühe Zeit zurückgehen dürfen;
auf der andern Seite füllen sie durch Haltung, Flügel, Gewandstück den
Giebelraum ganz befriedigend aus. Dennoch sind diese Gestalten gerade
an dieser Stelle aufserordentlich befremdlich: wenn ich auch einmal da-
von absehe, dals schwebende Figuren in einem Giebelfelde ein innerer
Widerspruch sind, der vielleicht in einer Verfallzeit einmal möglich ist!),
so ist dieser Schmuck doch jedenfalls derartig, dafs an eine Gleichzeitig-
keit mit dem Giebelschmuck von Hambarkaya und Kastamuni gar nicht
gedacht werden kann. Ich greife mit dieser zeitlichen Andeutung frei-
1) [Nackte fliegende Eroten im Relief zeigen die Eckakroterien des spitzen Gie-
beldaches auf einem schlichten grofsen Sarkophage der Gräberstralse zu Sidyma, s.
Benndorf, Reisen in Lykien und Karien S. 80. Die Inschrift weist den Sarkophag ins
zweite oder dritte Jahrhundert nach Christus. ]
94 G. HIRSCHFELD:
lich schon vor. Da nun die übrigen Theile des vorliegenden Grabes
nicht blos untereinander, sondern auch mit den verwandten Denkmälern
vollkommen harmoniren, so bleibt nur übrig, jene Decoration als einen
späteren Zusatz zu betrachten, von dem ich mir vor dem Monument sel-
ber notirte, dafs er in die spätere Römische Kaiserzeit zu fallen scheine.
Dann entsteht aber die Frage, ob der Giebelraum früher anders verziert
gewesen sei. Dafs ein Mittelstück von der Art des am grofsen Grabe
befindlichen ausgefallen, scheint mir unwahrscheinlich, da dann bei der
Abarbeitung die obere Giebelspitze innen wohl weniger scharfe Oontouren
erhalten hätte, als sie zeigt. Ich habe früher hinter dem Eros links eine
verwitterte Vogelgestalt zu erkennen geglaubt, sehe aber bei genauer
Nachprüfung meiner photographischen Aufnahmen, dafs wenigstens der
vermeintliche Kopf derselben nichts anderes ist, als die zwischen den
Füfsen des Schwebenden entstehenden Contouren. Bei der starken Ver-
witterung möchte ich nichts für gewils geben; aber selbst ein ursprüng-
lich leerer Giebel würde kaum anstölsig sein, wofür ich auf das untere
Grab der Gruppe (Iskelib III) und auf das eine zu Kastamuni verweise.
Man begreift nun auch die auflserordentliche Flachheit der Eroten, die
hier nicht durch Wasser verwischt sein können, wie der Giebel von Ham-
barkaya, da sie unter dem Schutze des Giebelrahmens liegen. Die Spä-
teren scheuten eben zu viel Abarbeitung.
Bei der Bestimmung dieser Monumente darf man also ohne Wei-
teres von diesen Eroten absehen, die mit den ungefügen Löwencapitellen
ohnehin absolut unvereinbar sind.
Die spätere Benützung älterer Grabstätten ist zumal auf dem Bo-
den Kleinasiens nach positiven und negativen Thatsachen (Verboten) et-
was so Gewöhnliches, dals es fast als die Regel erscheint. In Beziehung
auf späteren Gebrauch einer älteren Felsenanlage darf ich auf das Prie-
stergrab zu Amasia hinweisen (s. unten S. 28 Anm. 1).
Das letzte von mir gesehene Felsengrab dieser Art ist zu Tokäd
an der Südwestseite des vewaltigen langgestreckten nach Südost streichen-
den Burgfelsens. Das Grab, dessen Skizze ich Taf. VII, ım gebe, ist nur
von kleinen Dimensionen, seine Vorhalle ruht auf einem vierkantigen kur-
zen gedrungenen Mittelpfeiler; die Thüröffnung sitzt in der rechten Ecke
der Rückwand und zeigt an ihren Aufsenrändern zwei symmetrische Ver-
Paphlagomische Felsengraber. 25
tiefungen einander gegenüber, die hier einmal auf einen Verschlufs in
Metall hindeuten. Das Gemach ist klein und unregelmäfsig, ein Lager
ist nicht darin. Die Felspartie, in welchem das Denkmal sich befindet,
erscheint, etwas unterhalb betrachtet, wie ein isolirtes gleichschenkliges
Dreieck, dessen Spitze zugleich die höchste Spitze des Burgfelsens bildet,
während die Mitte seiner Grundlinie das Grab freilich nur zu einem recht
kleinen "Theile besetzt hält.
Zu diesen Monumenten füge ich zunächst ein dreisäuliges, wel-
ches nach mir gemachten Angaben im Amniasthale auf dem Wege von
Taschkoeprü (Pompeiopolis Paphlagon.) nach Boiabäd rechter Hand, fünf
Stunden von letzterem Orte liegen soll.
Dann hat Chanykof 41 Stunde NW. von Tschangri (Gangra)
hoch oben in einer colossalen Felswand eine Grotte bemerkt mit dreiecki-
gem, von einer Säule gestützten Giebel, die er den zuerst von ihm in
Kastamuni bemerkten anscheinend sehr ähnlich nennt.!)
Von den schon bekannten Denkmälern der vorliegenden Gattung
nenne ich zuerst jenes grolsartige Denkmal etwa zwei Stunden nordwest-
lich von Aladja, welches Hamilton (I S. 401) aufgefunden und Perrot
veröffentlicht hat?) und das jetzt den Namen Gerdek kayası führt. An
der Seite eines Engthales oben über einem ziemlich steilen rasigen Hange
ist das Grab in einen Felsblock gegraben, welcher nach Osten gerichtet
ist. Auch hier scheint wie bei Hambarkaya durch das Verhältnils der
Mafse der ganze Block den Eindruck eines Denkmals zu machen. Drei
starke Säulen von fast 4” Höhe stützen die sehr geräumige Vorhalle,
welche 9,70” lang und etwa 34” tief ist und welche sich 6— 8” über
dem darunter liegenden Erdreich befindet. Die Basis der Säulen bildet
eine 0,20” hohe runde Plinthe von 1,40 Dm., auf welcher (s. Taf. VII, ır)
der Säulenstamm mit einem Ablauf sich erhebt; seine Verjüngung ist sehr
stark und beträgt auf 3,20” Länge fast 0,60. Das Capitell setzt über
einer halbrunden vorspringenden Leiste mit einem Echinus an und wird
durch einen viereckigen Abacus abgeschlossen. Über den Säulen zieht
sich ein einfaches Band hin, welches nur an dem linken Teile gedoppelt
1) Zeitschr. d. Ges. f. Erdkunde 1866 S. 424.
2) Perrot, Guillaume et Delbet, exploration de la Galatie ete. Taf. 33 8. 339.
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. geh. Gelehrter. 1885. 1. 4
236 G. HIRSCHFELD:
erscheint, wie zu Iskelib und Hambarkaya. Aus der linken Wand der
Vorhalle leitet eine fast 1” hoch angebrachte niedrige Thüröffnung in
das Hauptgemach, welches nach aufsen als eine Wand mit zwei Anten
markirt ist, zwischen welchen ein zierlich umrahmtes, giebelbekröntes
Fenster sich öffnet, das auch hier von innen nach aufsen sich verjüngt.
Der Innenraum zerfällt hier, ähnlich wie einmal in Iskelib (No. II), im
einen gröfseren vorderen Raum (3,94: 3,63) mit Giebeldach und einen
kleineren, welchen das nach Westen etwas ansteigende Lager ausfüllt.
Diesem Gemach entspricht ein viel weniger sorgfältiges zur Rechten, das
keine Spur eines Lagers zeigt, aber auch durch eme Fensteröffnung et-
was Licht und Luft empfängt.
Endlich ist in der Rückwand, weit nach rechts zwischen die
zweite und dritte Säule gerückt, eine dritte Thüröffnung, welche aber in
einen ganz engen kleinen unregelmälsigen, anscheinend nur eben begon-
nenen Raum führt (vgl. den Durchschnitt Taf. VID). Unter dem Denkmal
und zwar unter der ersten Säule links, ıst hier wie ın Kastamuni ein
Eingang zu einer Höhle sichtbar, die zweitheilig ist, von Menschenhand
zugerichtet, wenigstens nachgebessert; ıhr ursprünglicher Zugang soll in-
dessen nach Perrot nur durch ein Loch oben im Boden neben der ent-
sprechenden Säule stattgefunden haben.
Unter allen bisher betrachteten Monumenten macht Gerdek kayasi
den vorgeschrittensten, man kann sagen, den am meisten abgeklärten Ein-
druck. Um so geflissentlichter habe ich die Berührungspunkte mit den
übrigen hervorgehoben, Punkte, welche Perrots Betrachtungsweise noch
nicht nahe liegen konnten.
Das letzte Denkmal, welches ich nennen will, führt weit hinab
nach Süden, in die Nähe von Urgub, westlich von Mazaca-Üaesarea. Es
ist jene imposante, Dikilitasch genannte Anlage, welche bis jetzt leider
nur wie jenes ganze merkwürdige Thal durch Texier’s Aufnahmen be-
kannt geworden ist!).
1) Texier, description de ’Asie Mineure Taf. 92 und in der Didot’schen Samm-
lung L’Univers, Asie Mineure S. 552, wo Texier von einem style egyptien spricht! H.
Barth (Reise von Trapezunt nach Seutari im Herbst 1858, Ergänzungsheft zu Peter-
mann’s Mittheilungen 1560 S. 63) hat das Grab nicht auffinden können, weil die unmit-
telbar benachbarte hohe Säule, nach der es benannt ist, und an welcher es schon von
Paphlagonische Felsengräber. 27
Hier ist zunächst ein bedeutender Vorraum hergestellt, in welchem
zu beiden Seiten ein paar gewaltige basenartige Quaderblöcke aus dem
Felsen gehauen sind; durch dieselben schreitet man auf die Facade zu,
welche durch zwei starke kurze runde Säulen in der Mitte, dann jeder-
seits durch einen viereckigen Pfeiler und eine Ante — alle sechs ohne
Basen und mit gleichem oberen Abschluls — gebildet wird; darauf ruht
ein niedriger Giebel von 14,55" Länge und 1,56" Höhe, welcher leer ist.
Die Capitelle sind denen von Aladja ähnlich. Eine 1,50” hohe, nach
oben verjüngte Thür leitet aus der Rückwand in das Grabgemach, das
je ein Lager an den Seiten, im Hintergrunde aber eine dritte Todtenstelle
in vertiefter Form enthält, wie solche in Phrygischen Gräbern vielfach
vorkommen.
Das Grabmal von Nakoleia!) gehört natürlich nicht in diesen Zu-
sammenhang — wenn auch Texier dasselbe als vorpersisch bezeichnet —,
und ebensowenig das sogen. Grabmal des Jacobus, welches Durm nach
de Sauley für uralt hält?); diese haben in ihrem characterlosen Grae-
eismus höchsten ein Interesse als Spätlinge, ohne einen Anspruch auf
originale Bedeutung machen zu können. Dasselbe wird wohl von den
Gräbern zu Neupaphos gelten?), wenn auch zu wünschen ist, dafs dieselben
fern kenntlich gewesen wäre, mittlerweile von den Eingeborenen in die Luft gesprengt
sei, wohl um angeblich darunter befindliche Schätze zu suchen. Auch in einer Polemik
über die in dem betreffenden Thal (Dz:ogexes) vorhandenen Felswohnungen (von Anacho-
reten?) zwischen Mordtmann (dem Vater) und Paranikas einerseits und Sophokles und
Basiades andererseits finde ich das Denkmal nicht genannt (5 &v Kuworavrwoumere &yvi-
»os ouAAoyos I S. 207f. 296ff.). Ebensowenig wird es von H.F. Tozer bei seinem Be-
such des Thales „Gueremeh“ erwähnt (Turkish Armenia and Eastern Asia Minor Lond.
1881 S. 159ff. s. auch das Titelbild).
1) Texier, description de l’Asie Mineure Taf. 60, ungenau in den Details nach
Ramsay journal 1832 S. 28.
2) Durm, die Baukunst der Griechen S. 8, wo überhaupt seltsame Dinge vor-
getragen werden.
>) Cesnola, Cyprus S. 224. Pottier, les hypogees doriques de Nea Paphos,
im Bulletin de Corresp. Hellen. IV S. 497ff., der in einem übrigens sehr anfechtbaren
Versuch, die Felsengräber des griechischen und weiteren Ostens zeitlich zu ordnen, die
betr. Denkmäler von Neupaphos überhaupt unter griechischem Einflufs entstanden denkt.
[Vgl. jetzt Perrot, histoire III S. 223£.: frühestens aus dem V. Jahrhundert, vielleicht
erst nach Alexander.]
4*
98 G. HIRSCHFELD:
noch genauer bekannt werden. Auf Lykische Gräber einzugehen wird spä-
ter Gelegenheit sein.
II.
Die bisher betrachtete Reihe von Felsengräbern findet sich, wie
man bemerken wird, nur auf verhältnilsmäfsig kleinem Gebiete; nach der
Landschaft, in welcher sie am zahlreichsten sind, sei es gestattet, diesel-
ben paphblagonisch zu nennen. Ich habe diese Denkmäler ohne Weiteres
als Gräber bezeichnet; den Beweis dafür wird man erlassen. Aber wenn
alle anderen Indieien fehlten, so würde man den Rückschlufs aus den
gesicherten Königsgräbern zu Amasia ziehen können, welche aufserdem
ebenso offenbar als absichtliche Nachahmungen der früheren einheimischen
Grabanlagen durch die Fürsten des III. u. II. Jahrh. (s. Perrot Exploration
S. 371) betrachtet werden dürfen, wie die Pergamener Herrscher für gut
fanden, im Tumulus einen alten nationalen Typus wieder aufzunehmen!).
1) Wenn Perrot (S. 372) das bekannte Felsengrab am Irisufer bei Amasia mit
der Inschrift
IREIRS
APX
NERBIENGE
— das sog. Spiegelgrab — um die Zeit des Augustus ansetzt, so ist das entschieden ein
Milssriff, einmal wegen des offenbaren zeitlichen Zusammenhanges der Felsengräber von
Amasia, ganz besonders aber aus epigraphischen Gründen: die Inschrift ist etwa um das
dritte Jahrhundert anzusetzen; das lälst sich — trotz des geringen datirbaren inschrift-
lichen Materials — von Amasia mit Sicherheit behaupten. Perrot’s Irrthum beruht, so-
viel ich sehen kann, auf einer petitio principü, dals nämlich die Fürsten wohl keinem an-
dern Zeitgenossen gestattet haben würden, ein den ihrigen ähnliches Denkmal zu errich-
ten. Indessen kann das Rechnen mit persönlichen Beweggründen auch in diesem Falle
kaum für bündig gelten, und die von Perrot selber erwähnten Felsengräber von Achor-
önü unmittelbar bei der Stadt, sowie die stark mitgenommenen beim Aufgang zu den
Königsgräbern (erwähnt auch bei Perrot S. 382), bezeugen für Amasia eine weitere Be-
nützung dieser Form. Die Königsgräber sind dadarch vor den andern ausgezeichnet, dafs
Paphlagomische Felsengräber. 29
Wir dürfen aus diesen Analogien wohl noch mehr schliefsen, nämlich
dafs auch unsere Felsengräber den Herren des Landes angehörten, was
ihr sparsames Vorkommen, ihre Vereinzelung und die offenbar freie Wahl
ihrer stets bedeutsamen, oft imposanten und erhöheten Lage erst hinrei-
chend erklärt. Während einige unter ihnen augenscheinlich für Einzelne
bestimmt waren, bieten andere (z. B. Iskelib IV) mehrere Lagerplätze,
noch andere — wie diejenigen zu Kastamunı und Aladja — sind an-
scheinend allmälich nach Bedürfnils erweitert worden und tragen mehr
den Charakter von Familiengräbern. Die Kammern ohne besondere Vor-
richtung könnten wohl Sammelgräber gewesen sein, doch machen da
die analogen Königsgräber von Amasia (s. unten) stutzig.
Die Felsengräber sollten, abgesehen von ihrer Lage wirken durch
ihr Äufseres, denn dieses ist auch da mit Sorgfalt ausgeführt, wo das
Innere vernachlässigt ist!).
Die Felsengrotten, in welchen man die Todten bestattete, in ihrem
sie wie der Palast &v rw zsa@ory liegen (Strabo S. 561), und diese Angabe macht sie
eben auch noch für uns erkennbar. Handelt es sich nun beim Spiegelgrabe, wie ich mit
Perrot (S. 372) glauben möchte, wirklich um den Hohenpriester von Komana, so heilst
es ja bei Strabo S. 557 ausdrücklich vom iegeus: nV Öeuregos zara ınyv nere rov Qacıra
und zwei Mal im Jahre trug er ein Diadem. Darnach könnte man sogar vermuthen, dafs
auch die übrigen zerstreueten Felsengräber in und bei Amasia solchen Priestern angehör-
ten. Dafs am Spiegelgrabe, wo die Inschrift nun einmal in die Wand gegraben war —
bei den übrigen mul[s sie in anderer Weise hinzugefügt sein, wie beim Grabe des Kyros
(vgl. Stolze zu Taf. 128) — kein Name angegeben ist, kann auffallen; aber die Reste
einer Inschrift unter der anderen und unter der Eingangsthür, die ich abweichend von
Perrot als
z
KA (02
sah, haben mit jener älteren nichts zu thun, und können nur als ein Beweis späterer
Benützung gelten, worauf ich schon oben S. 24 hingewiesen habe. Es ist auch sehr wohl
möglich, dafs das Spiegelgrab zur Beisetzung der Hohenpriester überhaupt oder doch
mehrerer gedient hat.
Zu den Gräbern von Amasia stellt sich übrigens wohl das des IKEZION (so?),
welches Ainsworth (travels in Asia minor I S. 99) sah, dessen Abbildungen allerdings
leider keinen hohen Grad von Genauigkeit haben.
!) [Einen besonders augenfälligen Gegensatz bei einem lykischen Felsengrabe
(des Amyntas) hat auch Benndorf betont, Lykien S. 41 vgl. principiell S. 96; in Phry-
gien Ramsay, Athenaeum 1884 S. 864.]
30 G. HIRSCHFELD:
Äufseren architektonisch zu gestalten, ist eine Neigung, die wir auf dem
Boden Kleinasiens vielfach verbreitet finden, und so hat man in diesen
Anlagen eine Eigenthümlichkeit des Landes erkennen zu müssen geglaubt.
Das ist auch im Ganzen richtig, und in dem Umfange richtig, dafs die
an den verschiedensten Punkten vorkommenden Gräber ohne Weiteres mit
einander verglichen, aus einander erklärt werden dürfen und — bei dem
vorliegenden Material — oft nur durch einander völlig zu verstehen sind.
Dennoch bedarf jener Satz in hohem Grade näherer Bestimmungen, die
ebensoviele unterscheidende Charakteristica der hier in Frage kommenden
Klassen sind.
Zu ganz allgemeiner Abgrenzung darf man zunächst sagen, dafs
westlich einer idealen Linie von der Propontis nach Karien, etwa zwi-
schen dem 26ten und 27ten Grad OÖ. L. von Paris — d.h. am vorde-
ren Rande Kleinasiens der Tumulus das Felsengrab als nationale Grab-
form ablöst!) eine Form, welche dann die Griechen lediglich mit mythi-
schen Ereignissen und Heroen in Beziehung setzen. Die Seltenheit des
Tumulus in Phrygien ist schon früher als auffallend bemerkt worden?);
dem sporadischen Vorkommen entsprechend wird auch einmal ein Felsen-
grab, dasjenige im Thal des Rhyndakos (bei Perrot, Exploration Taf. 7)
weit nach Westen vorgeschoben gefunden. Verschiedenartige Völker und
Bräuche erscheinen durch solches Vorschieben gleichsam in emander
verzahnt.
Gewils gehen diese Formen auch von grundverschiedenen An-
schauungen aus; für die Felsengräber wird darauf später zurückzukom-
men sein. Wie der Tumulus gruppen- ja schaarenweise in Sardes und
auf der troischen Ebene, sonst aber fast nur vereinzelt vorkommt, so
treten die Felsengräber mit Facaden als durchgängige Form und in
1) Dals er das auch in T'hracien ist und zwar bis in römische Zeit hat A. Du-
mont bemerkt, Archives des missions scientif. et litt. 1871 S. 457 ff.
?) Ramsay, journal III 1882 S. 18, one is surprised by the rarity of tumulus
in Phrygia. Three at wide intervals in the Afium Karahissar valley, one between Kum-
bet and the Midastomb, another beside Nacolea (Seid-el-Ghari); dazu sind nun einige bei
Seldjükler zwischen Uschak und Ischikli gekommen (journal IV S. 409), deren Alter mir
indessen nicht klar ist wegen des finely-built sepuleral chamber, das in dem einen neuer-
dings aufgedeckt ist.
Paphlagomische Felsengräber. 31
ganzen Nekropolen auf in Lykien. Dort zeigen sie bekanntlich in ihrer
Gestaltung die ganze Scala von einfachstem Aussehen bıs zu grolsartiger
und aufwändigster Ausstattung und erscheinen überall als Supplement zu
Resten bewohnter Städte. Aber diese Deckung findet so vollkommen nur
dort statt! Schon in Phrygien scheint das anders zu werden: zwar kom-
men auch hier die Felsengräber noch in ganzen Nekropolen vor und in
einem Falle ist eine bewohnte Stadt in der Nähe gesichert!); ein anderes
Mal meint Ramsay die Stadtreste nur noch nicht gefunden zu haben.
Aber hier ist schon eine gewaltige Kluft zwischen den bedeutenden und
unbedeutenden Denkmälern, und der Unterschied betrifft nicht blofs die
Dimensionen, sondern den ganzen Stil. In Beziehung darauf will ich an
dieser Stelle nur bemerken, dafs die mit gradlinigen Mustern überzogenen
Felswände nur hier vorkommen, und dafs die Felsengräber mit plastı-
schem Schmuck, auch die späteren, hier durchaus eigenartig sind.
Ganz anders die paphlagonischen Gräber: sie kommen nur verein-
zelt vor, liegen in mälsiger Höhe, aber doch ohne dafs ein Zugang beab-
sichtigt wäre, Stadtreste in ihrer Nähe sind zumeist nicht nachzuweisen.
Kündigen sich schon durch diese Äulserlichkeiten die von uns betrachte-
ten Anlagen als eine Art an, so vollendet und sichert erst diesen Zu-
sammenschlufs ihre Gestaltung, und zwar in erster Linie das für die Er-
scheinung der Paphlagonischen Gräber wesentliche Element: die offenen
von freien Säulen getragenen Vorhallen. Phrygien kennt diese
Anlage gar nicht, sondern nur eine decorative, allerdings recht alte Ver-
wendung der Säule, wie sie auch bei den Persischen Königsgräbern von
Persepolis und Naksch-i-Rustam stattfindet (Stolze, Persepolis I Taf.
70£. II 106ff.), Lykien kennt diese von Säulen getragenen Vorhallen,
aber nur in seinen ionisirenden Anlagen, Bauten, welche frühestens
dem Ausgang des fünften Jahrhunderts angehören (s. unten) und die vor-
ionisch zu nennen niemals Jemandem hätte beikommen dürfen?).
1) Ramsay, journal III 1882 S. 6.
?2) Durm a.a.0. S.158.- [Das erlösende Wort über diese Anlagen hat nun be-
kanntlich Benndorf gesprochen, Lykien S. 110ff., dessen Zeitbestimmung auch der mei-
nigen entspricht. Im Hinblick auf die Benndorfschen Anschauungen und seine Herlei-
tung des Lykisch-Jonischen Styles vom Westen wird es interessant sein, ein entsprechen-
des Felsgrab so weit nach Westen vorgeschoben zu finden, wie dasjenige, welches ich am
©
DD
G. HIRSCHFELD:
Die Zahl der Säulen wechselt zwischen einer, zweien, auch dreien;
eine besondere Absicht oder auch der Reflex eines bestimmten baulichen
Prineips liegt in der Zahl der Säulen gewifs nicht; dieselbe wächst mit
dem allgemeinen gröfseren Aufwand der Ausstattung und war in letzter
Instanz eine Frage der Mittel. Zu der offenen Halle tritt in den Paphla-
gonischen Gräbern als zweites Element gewöhnlich der Giebel. Aber
zwischen diesem und der Säulenhalle findet sich hier keiner der bekann-
ten architektonischen Übergänge: beide trennt einmal ein starkes Band,
dann die zweifach oder dreifach gegliederte Einrahmung, deren Ähnlich-
keit mit dem ionischen Epistyl sich schon dadurch als eine wesenlose er-
weist, dafs sie mehrmals auch die Seitenränder der Denkmale umzieht.
Wollte man Anlagen wie Hambarkaya und das grofse obere Grab zu
Iskelib solcher Abweichungen wegen von einander trennen, so würden —
abgesehen vom ganzen Aufbau — die Säulenbasen wieder beide aneinan-
der fügen. Und so treten bei allen diesen Gräbern gewisse Ähnlichkei-
ten, sei es in den Säulen, sei es im Giebel und in dessen Überhöhung
und Einrückung oder in gewissen Zierformen oder Symbolen, so stark in
den Vordergrund, dafs sie bei aller Verschiedenheit im Einzelnen zu einem
zusammenhaltenden Bande vollkommen genügen. Auf die angedeutete
Mannigfaltigkeit, daneben wohl auch auf die Abweichung der entsprechen-
den Mafse, darf vielleicht schon hier als ein Kennzeichen echter alter le-
bendiger Kunstübung aufmerksam gemacht werden. Das am weitesten
entwickelte Grab, dasjenige von Aladja, zeigt freilich keinen Giebel, aber
nicht etwa aus Unkenntnils dieser Form, wie die schräg geschnittene
Schluls dieses Aufsatzes abbilden lassen kann. Dasselbe befindet sich an der Spitze der
Bai von Giova (Kegausızös z0%r05) nahe den Resten des alten Bargasa; es ward im Jahre
1370 von Herrn H. Kiepert aufgefunden, der die grofse Güte hatte, mich auf dasselbe
hinzuweisen und mir die Zeichnung zu überlassen. Derselbe bemerkt, dafs die Höhe der
Thür im Lichten 1,81” betrage, und dals die innere Kammer „rohe Felswand“ sei. Am
nächsten liest der Vergleich mit dem bekannten Amyntasgrabe (Benndorf, Taf. XVII
bes. S. 40, auch 115).
In diesen Zusammenhang gehören wohl auch die Grabfacaden von Kaunos, die
leider nur sehr ungenügend beschrieben sind (bulletin de Corr. Hellen. I S. 344); es wird
nichts über Säulen gesagt, obgleich das Äufsere Antentempeln ähnlich genannt wird.
Die Verzierung eines Giebels wird mit derjenigen von Kumbet (Perrot, Exploration
Taf. 7) verglichen.]
Paphlagomische Felsengräber. 33
Deckung der Kammern und besonders die Fenstereinfassung zur Genüge er-
weist. Am Ende ist es hier auch nur eine Folge von Verwitterung, dals
der vielleicht nur ganz flach angegebene Giebel fehlt, wie ja auch die
rechte Fortsetzung der oberen Umrahmungslinie nicht mehr sichtbar, und
wie auch bei dem übrigens so gut erhaltenen Hambarkaya der Giebel im
Schwinden begriffen ist.
Die Gestaltung der Todtenräume in den Paphlagonischen Felsen-
gräbern ist in keinem wesentlichen Punkt eigenthümlich: der verschiedene
Schnitt der Decken — als Wölbung oder Giebeldach — begegnet bekannt-
lich in den Grabkammern auch anderer Gegenden und der verschieden-
sten Zeiten; einzig steht vielleicht die zeltmälsige Bedeckung in der gro-
fsen Kammer von Kastamuni da; in derselben sind, wie in mehreren
anderen Räumen keine Vorrichtungen zur Bestattung sichtbar, ebensowe-
nig wie in einigen Gräbern zu Amasia (Perrot a.a. ©. Taf. 73. 77. 79);
sonst erscheint hier — aufser bei dem so weit südlich vorgeschobenen
Dikilitasch — den Senkungen in Phrygischen Gräbern gegenüber als das
Regelmäfsige die erhöhete Steinbank, wie eine solche z. B. auch in Etrus-
kischen Grabkammern nicht selten vorkommt. Die Gräber zu Amasia
verrathen ihren späteren, compilatorischen Charakter, wenn der Ausdruck
erlaubt ist, schon in der Vermischung beider Bestattungsarten (vgl. Per-
rot Taf. 72. 74. 76). Wo die Steinbank eine Kunstform hat, ist diese
der Holztechnik entlehnt, viel einfacher freilich, als das zuweilen in Etru-
rien und in der scheinbar künstlich gedrechselten Lagerstatt eines bedeu-
tend späteren, durch Heuzey bekannt gewordenen Grabes zu Pydna
auftritt).
Auf der Oberfläche der Steinbank ist hier und da eine Art Lager
eingearbeitet (Kastamuni, Iskelib I und II); eine Erhöhung für den Kopf,
wie sie u. A. in Etrurien vorkommt, habe ich nirgends bemerkt.
Von einer Tendenz das Todtengemach zu verstecken, welche bei
den Phrygischen Gräbern mit den verzierten Felswänden und bei den
Tumuli beobachtet ist, ıst hier keine Rede. Denn auch der kleine unre-
gelmäfsige Raum in der Rückwand des Grabes zu Aladja ist ein aus ir-
‘) Exploration de la Mac&doine Taf. XVIIf. Heuzey selber weist $. 258 auf
Kleinasien, S. 262 auf Etrurien hin.
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. I.
a
4 G. HIRSCHFELD:
©
send einem Grunde aufgegebener Anfang eines Todtengemaches, aber keine
Vexiranlage. Die durch eine Platte verstellte Eingangsöffnung, die aller-
dings niemals Mannshöhe hat, gestattet doch immer einen bequemen Zu-
sang; der Boden im Innern liegt gewöhnlich in etwa gleicher Höhe mit
der Schwelle derselben.
Sehr auffällig ist die Anbringung von Fenstern in den Grabkam-
mern, wie dieselbe an zwei Gräbern zu Iskelib und kunstvoller an dem-
jenigen zu Aladja zu beobachten ist. Da dieselben an andern fehlen, so
können sie keinen wesentlichen Bestandtheil des Todtenraumes gebildet
haben und ihr Zweck war wohl lediglich ein praktischer, nämlich durch
Zuführung frischer Luft die Zersetzung der Leiche zu beschleunigen!),
welche, wie man vermuthen darf, einfach auf der Steinbank aufgebahrt
wurde. Bei der Vereinzelung dieser Gräber, bei der Seltenheit ihrer Be-
nützung (s. unten), bei ihrer erhöheten Lage war eine Verpestung der
umgebenden Luft kaum zu befürchten; auf die Isolırtheit der Lage in
Beziehung auf bewohnte Stätten darf man aber wohl in diesem Zusam-
menhange nicht hinweisen, denn diese ist vielleicht nur scheinbar, worü-
ber unten noch Einiges zu sagen ist. Auch sonst gewährt die Ausstat-
tung des Todtenraumes manchen Aufschlufs: die Stufen an oder nahe
der Steinbank haben wohl zur Aufstellung von Mitgaben gedient; auf die
vielleicht bedeutungsvollen Symbole in dem untern Grabe der Gruppe zu
Iskelik sei hier nur erst beiläufig hingewiesen. Die Nischen, welche sich
mehrfach in den Vorhallen finden, mögen auf Cultus deuten; doch hat
ein soleher wohl nur bei besonderen Gelegenheiten statt gefunden, da
gegen eine regelmälsige Annäherung die erhöhete Lage der meisten der-
artigen Gräber über dem Boden spricht. Dafs man dieselben nach der
ersten Benützung wiederum betrat, ist in den Fällen wo mehrere Lager
oder mehrere Kammern vorhanden sind, ohnehin deutlich. Für die Ver-
ehrung des Todten in unmittelbarer Nähe seiner Ruhestätte dürfen viel-
leicht auch die Gräber von Amasia angeführt werden, da denn Späteres
1) In dieser Annahme bestärkt mich mein College, der Professor der Anatomie
Dr. Fr. Merkel, der auf viele moderne Analogien hinweist. In Etruskischen Gräbern fin-
den sich Fenster nur in den Zwischenwänden zwischen den einzelnen Todtenkammern,
vgl. z. B. Dennis, cities and cem. ? I S. 256.
Paphlagonische Felsengräber. 35
nicht selten eine ursprüngliche Absicht augenfälliger, wenigstens ausführ-
licher und handgreiflicher auszusprechen pflest. Vor dem einen Königs-
grabe sind die Spuren eines Altares sichtbar (Perrot, Explorat. Taf. 79);
doch ist ja da auch eine Beeinflussung durch spätere Anschauungen nicht
ausgeschlossen, und es ist eine Zeit, in der göttliche Verehrung der Für-
sten, zumal nach ihrem Tode, die Regel war.
Wie dem aber auch sei, eine Verehrung des Todten an seiner Ru-
hestätte scheint mir auch bei den Gräbern gesichert. So wenig nun aber
ein nicht profaner Charakter in mancherlei Einzelheiten dieser Gräber
wird verkannt werden können, so wenig ist gewils auf der andern Seite
denen beizupflichten, welche solche Anlagen aus heiligem Baustil, aus
Tempelanalogie meinen herleiten zu müssen. Das ist neuerdings wieder
bei den Phrygischen geschehen. Allein da liest eine Verwechselung, ein
aus griechischen Erscheinungen erklärbares Vorurtheil, welches den Tem-
pelstil als das Frühere, Mafsgebende auffafst, statt auf die gemeinsame
Quelle zurückzugreifen. So viel ist allerdings wohl unumstöfslich, dafs
auch den Paphlagonischen Gräbern Freibauten zu Grunde liegen: denn
die Säule ist ja so wenig als blofse Zierform entstanden zu denken, wie
der Giebel, vielmehr sind beide Elemente, zumal das Giebeldach, als Fol-
sen des Holzbaues zu betrachten, bei welchem sie sich constructiv erga-
ben. In Holz ist auch anderwärts und in sehr alter Zeit gebauet wor-
den, aber dem Steinbau hat der Holzbau nirgends so scharf seinen Stem-
pel aufgedrückt, wie in Kleinasien, nirgends so vielfach wie hier liegen uns
so authentische steinerne Abdrücke der ehemaligen leichteren Anlagen
vor, gleichsam Versteinerungen längst verlorener Bauformen. Ich sehe
von der Frage ab, ob die Säulen im Einzelnen fremden Einfluls verra-
then, und werfe zunächst nur diejenige auf, ob die giebelbekrönten Säu-
lenhallen unserer Gräber in ihrer Gesammtheit als Form irgendwoher wie
fertige Importartikel übernommen sind, oder ob ihre Bildung an Ort und
Stelle sich vollzog? Gewils war das Letztere der Fall, aus mancher-
leı Gründen, hauptsächlich aber deswegen, weil uns hier zum ersten
Male jenes neue, nur auf constructivem Wege entstandene Element des
Giebels begeenet. Der Giebel als Kunstform tritt uns meines Wissens
überhaupt zuerst in unsern Gräbern und deren näheren und ferneren
5*
36 G. HIRSCHFELD:
Verwandten entgegen!) und es ist dabei auch wichtig zu bemerken, dafs,
so gewils der Giebel vom Holzbau kommt, er doch keineswegs unter al-
1) Die einzige Ausnahme, welche mir bekannt geworden ist, scheint das auf
sechs Pfeilern ruhende Gebäude zu bieten, welches auf einem Relief zu Khorsabad vor-
kommt (Botta et Flandin Taf. 141) und das hier auf die Hälfte verkleinert folgt:
Botta (V S. 160) nennt den Bau un palais ou temple & fronton triangulaire; die
Abtheilungen zwischen den Pfeilern bezeichnet er als Fenster. Zunächst ist das Denk-
mal verhältnifsmälsig jung, da es eine That Sargons darstellt. Herr E. Schrader,
von mir befragt, gab folgende höchst willkommene Aufschlüsse: „Der über dem Relief
eingegrabene Stadtname ist derjenige der uns Assyriologen wohlbekannten armenischen
Stadt Muzazir. Von der Einnahme dieser Stadt und der Besiegung ihres Königs Urzana,
der mit Ursa von Urartu (Araratland — Araxesebene) im Bunde stand, berichtet der as-
syrische König an verschiedenen Stellen seiner Inschriften.“ Die Einnahme fand nach
Schrader, (die Keilinschriften und das Alte Testament S. 404) im Jahre 714 statt.
Das Gebiet des Königs Urzana kann nach Herrn S. nicht wohl nördlich von
Assyrien gelegen haben, weil es sonst zwischen dasselbe und Urartu gefallen wäre, des-
sen König doch als direetester Gegner genannt ist. Auf der andern Seite mufs aber Mu-
zazir doch Assyrien sehr nahe gerückt gewesen sein, da von König Urzana ein Siegel
mit assyrischer Keilinschrift und assyrischen Kunstformen sich findet (s. Schrader, Mo-
natsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1879 S. 288 ff.). Hr. S. vermu-
thet das Gebiet des Urzana in der Umgebung des Van-See und wohl eher im Westen
desselben. Dals es ein .gebirgiges Land war, wird nun aulser jener Siegelinschrift
auch durch einen Berg an der linken Seite unseres Reliefs bezeugt. In Bezug auf
dasselbe fügt Hr. S. hinzu, „dals die auf Seilen hinaufklimmenden Krieger Assyrer
sind“. Derselbe theilt die Ansicht, dafs hier ein Heiligthum vorgestellt sei; der untere
Theil ist noch ein Bild des Friedens: ruhig saugt das junge Thier (welcher Art?) an
seiner Mutter, grolse Weihebecken (?) stehen vor der Pforte, welche zwei Krieger bewa-
Paphlagomsche Felsengräber. 37
len Umständen seine Öonsequenz sein muls, wie z. B. so zahlreiche moderne
Hütten in Kleinasien erweisen, die mit einer offenen Umgangshalle aus
Baumstämmen ein plattes Dach verbinden. Das Giebeldach ist ja zunächst
lediglich als praktische Anlage zu verstehen, und mufs in Aufnahme ge-
kommen sein, wo starke Niederschläge das platte Dach ungeeignet er-
scheinen liefsen; wie sehr dies auf die Nordregionen Kleinasiens — und
auch auf Lykien — zutrifft, leuchtet en. Es ist sehr wahrscheinlich,
dafs auch der Gedanke der Giebelverzierung zuerst bei der Übertragung
dieser Form im Relief, d. h. bei ihrer Benützung als Zierform und somit
auch auf dem Boden Kleinasiens aufgetaucht ist.!)
Wir werden uns erinnern dürfen, dafs der Holzbau gerade im
Nordosten Kleinasiens in so ausgedehntem Gebrauch war, und vielleicht
beruht auch die Vereinsamung der Mehrzahl unserer Denkmäler nur auf
dem Umstande, dafs sie von leicht gebauten Holzan siedelungen umgeben
waren, die vergangen sind, ohne eine andere Spur zu hinterlassen, als
eben diese steinernen idealisirten Abbilder. Bei Iskelib darf man ohne-
hin Bewohnung für sicher halten (vgl. Sitzungsberichte der Berliner
chen. Aber auf dem Dache herrscht stürmische Bewegung: Die einheimischen (?) Krieger
haben — den Speer geschultert, also nicht mehr auf Vertheidigung bedacht — Geräthe
ergriffen, wie sie noch unten in den Fensteröffnungen angebracht sind, es sind wohl hei-
lige Gegenstände, welche sie retten wollen, dabei stolsen sie an der rechten Seite des
Daches auf die eindringenden Feinde. Dafs diese Scenen gerade auf dem schrägen Gie-
beldache stattfinden, ist eine etwas wunderliche Zusammenziehung, welche durch die Enge
des Raumes erklärt wird, wo rechts noch eine Burg, links die Scene einer Aufzeich-
nung, wohl der Beutestücke, anzubringen war. Hr. S. bemerkt, dafs das Gebäude durch
seine Fremdartigkeit auf die Assyrer Eindruck gemacht zu haben scheine; eine Herkunft
dieser Kunstform vom Mittelstromlande sei ausgeschlossen, aus Nordwesten wohl möglich;
und das Gebiet ist es ja gerade, wohin unsere Denkmäler führen. Aber erst eine Aulfin-
dung von Mittelgliedern, welche hoffentlich nicht allzu lange auf sich warten läfst, könnte
weiteren Aufschlufs geben über das Alter und die ursprüngliche Heimath. Vielleicht wird
auch in diesem Zusammenhange die öfter betonte Verwandtschaft zwischen Phrygiern
und Armeniern noch einmal berücksichtigt werden müssen. Die runden Verzierungen
an den Pfeilern erinnern auch an Lykisches, vgl. z. B. das Grab des Amyntas und un-
ten S. 50. Dafs Giebeldächer auch im Armenischen Hochlande praktisch sein mulsten,
leuchtet ohne Weiteres ein. [Vgl. auch die Bemerkung am Schlufs.]
1) Was Pindar von den Korinthern sagt (Ol. XIII 21), kann, wie so manche
andere Angabe über Erfindungen, welche Griechen gemacht haben sollen, nicht einmal in
dem Umfange zutreffen, auf welchen es schon Welcker (A.D. I. S. 170) beschränkt hatte.
38 G. HIRSCHFELD:
Akademie 1884 S. 1252), bei Ksatamuni für wahrscheinlich. Weit von
bewohnten Strecken kann in Anbetracht der umgebenden Natur (s. oben)
auch Hambarkaya nicht gedacht werden.
.So sind unsere Felsengräber zunächst Nachahmungen von wirklich
Gebauetem. Das Grab hat aber in Kleimasien da, wo es überirdisch ist
und überhaupt eme Kunstform hat, dieselbe durchgehends dem Hause
entlehnt: die Bestimmung, die Stelle, die Technik erweitern die dadurch
gegebenen Elemente, gestalten sie auch wohl etwas um, aber das Gerüst
bleibt unverändert; noch die späten vorzugsweise kleinasiatischen grolsen
Sarkophage mit den hohen dachartigen Deckeln!) halten die Idee einer Be-
hausung fest?). Auf die Analogie Iykischer Grabesbauten mit modernen
Häusern derselben Region ist gleich nach ihrer Entdeckung und vielfach
hingewiesen worden; auf die jetzigen Behausungen in Paphlagonien habe
ich eben aufmerksam gemacht. Auf einen Durchgang durch heilige Bau-
ten, also Tempel, deutet auch bei den Paphlagonischen Gräbern nichts
hin. Legt man, was ich freilich nicht für berechtigt halte, griechischen
Mafsstab an, so wäre die Einzahl und Dreizahl der Säulen wohl noch
gegen Herkunft vom Tempel geltend zu machen. Beiläufig bemerke ich
übrigens, dals kein Grund vorliest, für die Phrygischen Königsgräber
nach einem andern Motiv zu suchen, bei deren Nlächenhafter Decoration
man bekanntlich an Vorhänge, welche Heiliges verhüllen, erinnert hat.
Ich sehe darin nichts anderes, als die Nachahmung geschnitzter Holzflä-
chen?) und kann mir auch nur unter dieser Annahme erklären, dafs am
Midassrabe auch die Giebeleinrahmung, bei einem neulich entdeckten
Grabe (journal 1882 Taf. XXT) selbst der Mittelpfosten des Giebels von der
Decoration mit ergriffen wird. Man darf vielleicht auch dafür den noch
jetzt im Norden Kleinasiens bestehenden Brauch geltend machen, die Holz-
balken aufsen an den Hütten mit eingeschnittenen und bemalten Verzie-
rungen zu überziehen.
Liest also bis dahin in der äufseren Erscheinung der Paphlagoni-
schen Gräber nichts, was über die Nachahmung täglicher Bauten himaus-
1) [Auch darüber vgl. jetzt Benndorf, Lykien S. 103f.]
2) Eine Analogie hierfür findet sich ebenfalls wieder in Persien, in dem bekann-
ten Grabe des Kyros; s. jetzt Stolze, Persepolis II Taf. 128.
3) Ähnlich urtheilt Kugler, Gesch. d. Bauk. I 8. 165.
8)
(3%)
Paphlagonısche Felsengräber.
weist, so erübrigt nun, diejenigen Elemente zu nennen, welche sicher oder
wahrscheinlich eine specielle Beziehung zur Grabstätte haben, zunächst
die Löwen. Die Verwendung derselben als Grabwächter ist bekannt
genug und hat ihre vollkommene Analogie in den Phrygischen Gräbern!)
in Etrurien, Oypern und z. B. ja auch noch beim Maussolleum von Halı-
karnals?). Im Einzelnen weisen die gepaarten heraldischen Löwen im
Giebel von Hambarkaya so gut wie das Löwenpaar von Kumbet (Perrot,
Exploration Taf. 7) nach Osten, wofür ich ein für alle Mal auf Cur-
tias’ Abhandlung „über Wappengebrauch und Wappenstil im griechischen
Alterthum“®) verweise; für die Zusammenstellung mit Vögeln am Ham-
barkaya darf an alte griechische Vasenbilder erinnert werden. In den
lagernden Löwen ist die Ähnlichkeit mit den bronzenen Gewichten von
Nimrud unverkennbar; vgl. oben S. 14 und S. 5 über die Giebelverzie-
rung zu Kastamuni, die bei aller Wappenhaftiskeit zugleich noch eine
religiöse Anschauung birgt, was bei den Löwen nicht so ohne Weiteres
gesagt werden kann.
Eine noch auffallendere Berührung mit Phrygischen Monumenten
verräth jener eigenthümliche kleine Pfeiler, welcher inmitten des Giebels
beim grolsen Grabe zu Jskelib und im Innern des darunter liegenden
zweimal erscheint, und der in zwei äulserst merkwürdigen, neuerdings
von Ramsay entdeckten Gräbern Phrygiens an entsprechender Stelle
wiederkehrt: einmal im Innern der Grabkammer, an dessen Aufsenseite
der ungeheure assyrisirende Löwe sich befand (journ. III Taf. XVII, XIX)
— s. oben im Text 5. 14 — und dann im Giebel der schon oben ange-
führten Grabwand mit geometrischer Decoration (journ. II Taf. XX])
[und am Grabe zu Liyen s. oben S.6 Anm., wo die Bemerkung which
always occupies the middle of these pediments entschieden zu weit geht].
Dieser Gegenstand kann als rein constructives Element, nämlich als Mit-
telstütze des Giebels gefafst werden, und ich finde, dafs Kugler (Gesch.
d. Bauk. I S. 169) Analoges in Lykien so deutet; und wo er ganz glatt,
wie anscheinend im Giebel des grofsen Grabes Iskelib I gebildet ist, liegt
1) Ramsay, journal 1882 III S. 19.
2). Vel. Dennis 2 I S. 33.199, Note/7.
?) Abhandl. d. K. Akad. d. Wissensch. zu Berlin 1874.
40 G. HIRSCHFELD:
diese Auffassung in der That nah, wenn auch hier schon stutzig machen
kann, dafs der obere Theil dieses Gliedes bei dem übrigens so gut erhal-
tenen Grabe wohl absichtlich zerstört worden ist. Dagegen erscheint die
Gliederung, wie die übrigen derartigen Gebilde (s. Taf. VI, ı1“") sie zei-
gen, bei der obigen Voraussetzung wenigstens nicht nothwendig, und vol-
lends, wo es die Giebelspitze gar nicht berührt und durch eine Art von
Kappe abgeschlossen (vel. das bei-
stehend in Abbildung wiederholte
Grab von Pischmisch Kalesı bei Per-
rot S. 146) oder in dieser Gestalt
noch von Stier und Pferd umstan-
den ist, wie ebenfalls beistehend nach
journ. III Tf. XXVIII die Abbildung
wiederholt ist!), scheint eine Deu-
tung aus dem Constructiven ausge-
schlossen. Diese kann für den Ur-
sprung darum immer noch zutreffen.
Perrot hat an einen Phallus
gedacht und ich halte diese Ausle-
gung für möglich; grofse Phallen, höchst wahrschemlich alte Grabbekrö-
nungen, habe ich selber auf Paphlagonischem Boden im Thale des De-
vrikiantschai‘ gefunden. Eine bestimmte Bedeutung darf wohl auch aus
der völligen Gleichheit des Gebildes an so weit getrennten Stellen wie
Phrygien und Iskelib gefolgert werden, obgleich am Ende auch dafür der
constructive Ursprung genügen möchte. Doch kann wohl auch hierher
gehören, was ohne eine Giebelumrahmung zwischen den zwei höchst al-
terthümlichen Löwen (journal 1882 Taf. XVII) erscheint und von Ram-
say als Obelisk bezeichnet ist.
Den vollen Gewinn aus neuentdeckten Denkmälern kann die Wis-
senschaft erst dann ziehen, wenn es gelingt, dieselben wenigstens relativ
zu datiren. Auf gewisse Berührungspunkte mit dem Mittelstromlande ist
1) [Ramsay sagt nichts vom Innern dieses Grabes, wo nach Barths Skizze
(Reise von Trapezunt u. s. f. S. 94) ebenfalls ein Giebel mit dem betreffenden Mittelstück
erscheint. ]
Paphlagomische Felsengräber. 41
schon öfter hingewiesen worden, allein es würde verkehrt sein, wenn man
diese inhaltlichen unmittelbar auch in zeitliche umsetzen wollte. Auf
conservativem, dem Weltverkehr immer mehr entrücktem Boden, wie wir
ihn da in Kleinasien vor uns haben, erhalten sich alterthümliche Erschei-
nungen unberechenbare Zeit!), und es war ein Fehler von Perrot, bei
der zeitlichen Bestimmung des Denkmals von Kumbet vom Wappenge-
bilde über dem Eingange wie von einem datirbaren Factor auszugehen.
Ein Grab, dafs seiner ganzen Erscheinung nach frühestens im IV. Jahr-
hundert möglich ist, würde er wohl ohne jenes Vorurtheil nicht ins V.
oder gar VI. Jahrhundert gesetzt haben.) Hiervon hätte schon ein Blick
auf das grofse Iykische Grab in Myra (Texier III Taf. 225) abhalten
müssen, dessen Giebel einen viel strenger und alterthümlicher gebildeten
!) Vgl. z. B. über die Widderdenkmäler A. Milchhöfer, Arch. Zeitg. 1883
S. 263£.
?) Es scheint mir sogar beträchtlich jünger und zum Beweise will ich es kurz
beschreiben. Der untere Theil des Felsengrabes ist verschüttet. Über der Thür zieht
sich ein breites, mannigfaltig aber geradlinig profilirtes Gesims hin; dann folgt ein brei-
tes Band, das an den zwei Enden genau so abgeschlossen ist, wie die überaus zahl-
reichen Tablets mit Grabschriften aus römischer Zeit. Um einen grolsen Krater von völlig
entwickelter späterer Form steht da links ein Löwe, rechts eine Löwin, matt und schwächlich
in Zeichnung und Bewegung. Darüber steigt der hohe Giebel auf: die Schrägen zeigen an
ihrer unteren Seite, also im Tympanon, doppelten Zahnschnitt; inmitten ist ein runder
Schild gebildet, zu dessen Seiten je ein Adler in Vorderansicht steht; diese zwar etwas
beschädigt, aber doch erkennbare spätere Arbeiten, flott und frei ohne jede Spur einer
Stilisirung. Die Reverse ägyptischer Königsmünzen sind zu vergleichen. Die Palmetten
auf Giebelecken und Spitze, die durch Rankenwerk mit einander verbunden sind, sind
das Feinste an der ganzen Ausstattung, aber auch diese ohne jede Spur von Alterthüm-
lichkeit.
Ich verstehe nicht recht, wie Perrot (Exploration S. 141) die Löwen von Kum-
bet mit dem streng stylisirten und alterthümlichen von Kalaba (Expl. Taf. 32) vergleichen
konnte; und ebenso sprechen wenigstens die Abbildungen gegen Ramsay, wenn er das
uralte Löwengrab (journal Taf. XVII) mit dem obigen vergleicht, in dessen Giebel Pferd
und Stier den Pfeiler umstehen (journal III S. 257). Gegen die Bemerkung a. a. O.:
I do not know any other case where the bull appears on Phrygian tombs verweise ich
übrigens auf die Aussenwand des Grabes von Kumbet mit dem „boeuf bossu* — Per-
rot 8.139. Reste des Buckelochsen haben sich vielleicht in der Troas gefunden;
s. Virchow, Alttrojanische Gräber und Schädel S. 111 (Abhandlungen der Berliner
Akademie 1832).
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. 1. 6
43 G. HIRSCHFELD:
Kampf eines Löwen gegen einen Stier, aber in seinem Aufbau ausgebil-
dete ionische Formen zeist. Ein ähnliches Grab aus Antiphellos „vor-
ionisch“ zu nennen, blieb nur Durm (a. a. O. S. 158) vorbehalten. Es
ist möglich und an dieser Stelle wichtig, diese Iykischen Monumente ge-
nauer zu datiren. Von dem bekannten Felsengrabe des Amyntas (bei
Texier III Taf. 169) sehe ich ab, weil die Inschrift nicht genau genug
bekannt, auch wenig umfangreich ist!). Aber Kugler (Gesch. d. Bauk.
I S. 171) bat nach einer Skizze des Malers Berg ein einsäuliges ioni-
sches Felsgrab von Kyaneai-Jaghu von grofser Einfachheit und Strenge
des Aufbaues abbilden lassen, dessen „griechische Inschrift noch aus best-
griechischer Zeit“ stamme (S. 173 Anm. 3); es ist Lebas-Waddington II
n. 1289, wie mir Herr Benndorf nachweist, dem ich zugleich eine ge-
naue Revision der Inschrift von Petersen verdanke. Ich habe dieselbe
mit Abklatschen der Maussollosinschrift von Phaselis (jetzt im Berliner
Museum) und der Pixodarosinschrift von Xanthos (jetzt im Britischen
Museum) vergleichen können; das genügt allerdings nur zu ganz unge-
fährer Bestimmung, sichert aber doch so viel, dafs die Inschrift unter
keinen Umständen über das vierte Jahrhundert hinaufgehen kann. Noch
in dieser Periode also kommt auf Lykischen Gräbern jenes altorienta-
lische Schema, freilich in vollendeter Ausführung vor.
Die Phrygischen Gräber hat Ramsay in eine relative Folge zu
bringen versucht, die ich hier mit seinen eigenen Worten anführe:
I the period of sculpture in relief,
II the period of geometrical ornamentation and of inscriptions,
III the architectural period under the influence of Greek art.
Wenn diese letztere vom Jahre 585 an datirt wird, weil erst da-
mals die Mermnaden begonnen hätten, Lydien dem westlichen Einflufs
zu öffnen und ihr Reich bis zum Halys auszudehnen, so ist das eines je-
ner sehr allgemeinen historischen Argumente, deren Beweiskraft für specielle
Erscheinungen auf realem, auch künstlerischem Gebiete jetzt nicht selten
überschätzt zu werden scheint. Auch macht ein Vergleich der Paphlago-
nischen Gräber bedenklich, da sie Elemente von I und III verbunden
1) [Jetzt bei Benndorf, Lykien Taf. XVII, die Inschrift S. 40; das Denkmal
wird ins vierte Jahrhundert gesetzt.]
Paphlagonısche Felsengräber. 43
zeigen, wie ja auch das merkwürdige Grab bei Ramsay Taf. XVIIIf. mit
dem alterthümlichen Löwen der Vorderseite ausgesprochene architektoni-
Gliederung im Innern vereinigt; ja die Giebelstütze verknüpft hier auf
der einen Seite mit den Phrygischen Flächengräbern, auf der andern mit
den Paphlagonischen, wohin auch die Basis der kurzen palmettenbekrön-
ten Säule weiset (s. oben 8. 14). Wenn aber über jeden Zweifel ist, dafs
gerade, dieses Grab — wie die älteste Phrygische Gruppe mit den
Wappenthieren überhaupt — vor jeden griechischen Einflufs fällt,
so zieht das die Paphlagonischen Felsengräber nach sich, vor Allem Ham-
barkaya, bei welchem der Stil der bildlichen Verzierungen ohnehin deut-
lich genug für eine solche Periode spricht. Wenn darnach diesem Grabe
ein hohes Alter zukommt, so könnten freilich darum doch seine einzelnen
Bestandtheile, vor Allem die Säulen, welche wieder die übrigen Paphla-
gonischen nach sich ziehen, fremden Vorbildern entlehnt sein. Indessen
mehr noch als die meisten andern Paphlagonischen Gräber trägt Ham-
barkaya durch die starke Verjüngung seiner Säulen, den gewaltigen To-
rus, den bedachtsam aufgebauten oberen Abschluls den Stempel eines
lebendigen Stilgefühles an sich, so sehr, dafs der Gedanke an eine mehr
oder weniger unlebendige Entlehnung vollkommen ausgeschlossen erscheint.
Es ist ein eingewurzeltes Vorurtheil, dafs Alles, was an Säulen auf später
hellenisirtem Gebiet erscheint, griechischem Einflufs verdankt werde; sonst
hätten weder Perrot noch Ramsay fragen können, Jener ob er in Al-
adja, Dieser ob er in Phrygien etwa entartete griechische Formen vor
sich habe. Aber wie in Griechenland, so suchen wir auf dem Boden des
Mittelstromlandes vergebens nach Vorbildern unserer Paphlagonischen Säu-
len. Für den Torus, der so griechisch empfunden aussieht und doch kein
schlagendes griechisches Analogon hat, kann ich immer nur wieder auf
das uralte Phrygische Grab (journal Tat. XIX) verweisen. Es ist nicht an-
ders: ein freier Säulenbau mit eigenartigen Säulen und mit Giebeldach
ist in gewissen nördlichen Gegenden Kleinasiens zuerst aufgekommen,
eher jedenfalls, als wir jetzt im Stande sind, diese Combination in Grie-
chenland nachzuweisen. Fertig konnte dieselbe den Griechen in Klein-
asien entgegentreten, zugleich — wenn wir Ramsays neue Phrygische
Funde hinzunehmen, was nach Abweisung seiner Datirung erlaubt ist,
mit einer Fülle von Säulengestaltungen, von denen einige sicher, viele si-
6*
44 G. HIRSCHFELD:
cher nicht nach dem ferneren Osten weisen. Es ist von vorn herein in
hohem Grade unwahrscheinlich, dafs diese Vielheit aus den einfachen we-
nigen Formen der Griechen abgeleitet werden konnte, sondern vielmehr
wahrschemlich, dafs sie denselben vorangehe. Ein Charateristicum sehr
alter Zeit ist gerade die Manniesfaltigskeit der Formen, die erst allmälıch,
und keineswegs immer und überall, durch unablässige Arbeit geläutert
und vereinfacht, und dadurch verringert und beschränkt werden: so ist
es ım Ganzen, so im Einzelnen, wie uns die ältesten Denkmale des do-
rischen Stiles noch neuerdings eindringlich gelehrt haben.
So zeigen uns auch die Säulenformen Kleinasiens ein tappendes
Versuchen, dem die Willkür nicht fremd ist. Hier wurden den Griechen
keine einseitig ausgesprochenen Gebilde vorgelest, sondern eine lange Reihe
von Formen; um so grölser erscheint ein Genius, der mit sicherer Hand
hineingriff und aus jener Fülle in weiser Selbstbeschränkung wählte und
zum Einfachsten und darum Fruchtbarsten umgestaltete. In Kleinasien
wucherten dann die mannigfachen Formen weiter; wo man sich nicht, wie
in Lykien, den Griechen vollkommen in die Arme warf, kam es nicht
zur strengen Auswahl des Lebensfähigsten, Treffendsten: dazu reichte die
Begabung offenbar nicht aus. So werden die oft so seltsamen phrygi-
schen Säulenformen zu erklären sein, die allerdings wie die paphlagoni-
schen unter dem vorgetragenen Gesichtspunkt aufserordentlich an Inter-
esse gewinnen. Wie Nachgeahmtes auch auf diesem Boden aussah, näm-
lich unverkennbar schwächlich und unlebendig, zeigt das schon oben S. 27
eitirte Grab von Nacoleia (Texier Taf. LX)!).
An den Schlufs stelle ich einige Bemerkungen über das Verhältnils
unserer Denkmäler zu andern alten Monumenten Kleinasiens; bei fortge-
setzter Vermehrung und Prüfung wird gerade dieser Punkt an Wichtig-
keit immer mehr zunehmen; von diesem aus haben wir, wenn nicht ganz
!) [Die Benndorfsche Erklärung der hellenischen Bauformen in Lykien —
s. oben S. 31 Anm. 2 — kann man annehmen, ohne dieselbe jedoch auf Phrygien aus-
zudehnen, wo ein umgekehrtes Verhältnils stattfand. Fragt man aber, weshalb denn Ly-
kien nicht von Phrygien beeinflufst sei, so kann man wohl antworten, dafs Lykien ur-
sprünglich doch einen eigenen ausgebildeten Baustyl hatte, den zu überwinden die ge-
schlossene Gruppe durchgearbeiteter Formen, wie sie von Jonien kam, wohl geeignet und
im Stande war, aber nicht die noch unconsolidirten auseinanderfallenden Formen Phrygiens.]
Paphlagonische Felsengraber. 45
besondere und unerwartete Glückszufälle eintreten, am meisten Belehrung
über die ältesten Volks- und Culturströmungen des Landes zu erwarten.
Vor Allem gilt es da Stellung zu nehmen zu den Denkmälern, welche in der
ganzen Südhälfte Kleinasiens vom westlichen Saume bis nach Syrien hinein
verfolgt werden können, und welche Englische Gelehrte besonders Sayce
„hittitisch“ nennen, ein Name, der auch in Deutschland hie und da Ein-
druck gemacht zu haben scheint!). Ich habe die Ansicht, dafs für eine
solche Bezeichnung bisher auch nicht die Spur eines Beweises erbracht
worden ist und freue mich, darin mit einigen Englischen Gelehrten zu-
sammenzutreffen, wie mit Gardner, der „Anatolisch“ vorschläst, und
besonders mit Rylands, der sich bisher um die betreffenden Denkmäler
das grölseste Verdienst erworben hat, da er eine bedeutende Reihe der-
selben in authentischen Abbildungen veröffentlicht und mustergiltig be-
schrieben hat?). Unter Anerkennung Hittitischen Ursprunges hat dann
Fr. Lenormant in einem seiner letzten Aufsätze mehrere treffende Be-
merkungen gemacht?). Derselbe hat richtig die Verschiedenheit der hier-
her gezogenen Monumente bemerkt, unter denen er fast so viele Grup-
pen heraussondert wie Plätze ihres Vorkommens vorhanden sind. Das
ist schon bezeichnend genug, und es steht zu hoffen, dafs gerade für
das Verschiedene unser Auge bei eingehenderem Studium und auch er-
weitertem Material sich immer mehr schärfen wird. Schon Perrot hatte
Karabel (den „Sesostris“ Herodot’s) und Giaurkaleh einerseits, Öjük und
Bogazköi andererseits zusammengestellt*®).
Wie die Sachen jetzt liegen, so ist zunächst ganz im Grofsen eine
westliche Gruppe von einer östlichen zu sondern, welche ich von Iwris,
nördlich am kilikischen Taurus beginnen lasse, dessen Denkmal jetzt in
1) vgl.z. B. G. Ebers, annali dell’ Instituto 1883 S. 109.
2) Transactions of the society of biblical archaeology VII 1882 S. 429 ff. mit
6 Tafeln.
3) Gazette archeologique 1883 S. 121.
*) Memoires d’archeologie S. 43ff. Bei dem noch geringeren Material hat aber
Perrot, so gut wie bisher Andere, nicht Zusammengehöriges vermischt; gerade von die-
sem genauen Kenner auch der orientalischen Kunst haben wir aber gewils jetzt werthvolle
Aufschlüsse zu erwarten.
46 G. HIRSCHFELD:
einer anscheinend treuen Copie von Davis vorliest!). Zur westlichen
Gruppe rechne ich den Karabel, die sog. Niobe(?), Giaurkaleh, Öjük und
Bogazköi und wohl das Denkmal von Eflatun, östlich vom Beischehrsee
(Hamilton, researches II S. 350), das mir in einer genaueren Skizze
von Ramsay vorliest?). In der östlichen Gruppe kommen zu den grölse-
ren Monumenten die zahlreichen bildlichen Schriftzeichen, die noch
ihrer kunsthistorischen Verwerthung harren, bei denen übrigens Rylands
nach früherem Vorgange mit Recht wieder auf die sichere Bustrophedon-
richtung als etwas besonders Merkwürdiges hingewiesen hat.
In der westlichen Gruppe ist eine spitze Kopfbedeckung häufig,
die auf den östlichen nicht wiederkehrt, auch nicht an den zahlreichen
bildschriftlichen Köpfen derselben: ein Kopf zeigt da eine Tiara, andere
eine flache Kappe, vorn mit einer Art von Stutz. Alle Denkmäler die-
ser Art zeigen die Schnabelschuhe, wie sie ja bekanntlich auch auf den
ältesten griechischen vorkommen®). Wie wenig das ganze Bild den Cheta
im Schlachtbilde von Kadesch entspricht, hat, denke ich, schon Rylands
bemerkt und auch Lenormant widerwillig anerkennen müssen. Die öst-
1) Transactions of the soc. of bibl. arch. IV 1876 S. 336. Für die grölsere Ge-
stalt mit Ähren in der L., Trauben in der R. sind Münzen von Tarsos (z. B. Gardner, ty-
pes of greek coins Taf. X, 30) zu vergleichen, welche Baal auf dem Thron zeigen mit Trau-
ben und Ähren in der R. Eine hierher gehörige Felseninschrift giebt Davis zwischen Tschif-
teh Chan und Bulgarmaden an in seinem Buche: Life in Asiatie Turney S. 222; zwei gleich-
artige hat Sir Ch. Wilson bei Gurun nördlich von Tyana gefunden nach W. M. Ram-
say, der in Tyana selber nennt ‘a stone with similar sculpture and inscription (on early
historical relations between Phrygia and Cappadocia, Separatabdruck aus dem Journal of
the R. As. Soc. XV, Part 1, 1883 S. 5).
?2) An der bequemen Naturstralse zwischen Karajükbazar und Buldur, etwa
halbwegs in Karaatlü hat E. J. Davis (Anatolica S. 145) gesehen ‘some coarse bas-
reliefs on a erystalline white limestone rock in the village, consisting of two tall standing
figures, but so much defaced and worn that we could make nothing of them. It was
evidently not greek work and I concluded that it was of the same nature, perhaps of
the same age, as the rock carvings at Buyuk..
Herr Ramsay, der Karaatlü besucht hat, schreibt mir, dals er auf eiligem
Marsche die betreffenden Felsen nur aus der Entfernung (100 yards) habe betrachten
können, wobei ihm das eigenthümliche Aussehen Witterungseinflüssen verdankt zu werden
schien; er hatte aber zu seinem Bedauern damals keine Kenntnils von Davis’ Notiz.
Es bleibt also dieser Punkt einem künftigen Reisenden zu erledigen.
?) Vgl. A. Furtwängler, die Sammlung Saburoff zu Taf. I.
Paphlagonısche Felsengräber. 47
liche Gruppe scheint auch durch ihre Schriftzeichen zusammengehalten
zu werden; wie weit die gleichen oder auch andere bei der westlichen
vorkommen, mufs leider noch als offene Frage behandelt werden, denn
mit der Bildtafel von Bogazköi (Perrot, Exploration Taf. 35) ist nichts
oder noch nichts anzufragen, und die Beischriften beim Karabel und der
„Niobe“, wie sie Sayce gegeben hat!), können für gesichert nicht gel-
ten, wofür ich mich auf die so sehr verschiedene Abzeichnung der letzte-
ren bei Dennis (Transactions III S. 49) und auf Rylands (a. a. O. S. 439)
berufe.
Die Verbindung zunächst der östlichen Gruppe mit dem Mittel-
stromlande beweisen rein äulserlich jene Thonsiegel mit offenbar gleichen
Schriftzeichen, die Layard in Kuyundjik gefunden hat (Rylands a. ©.
Taf. V). Für Bogazköi und Öjük hat Perrot Einiges beigebracht — Me-
langes etc. S. 56ff., vgl. bes. das Felsengrab von Malthai, nördlich von
Mossul bei Place, Ninive Taf. 45 [Perrot, histoire II S. 642] — was bei so
vielerlei Fremdartigem doch nach Assur weist, obgleich seine Zusammen-
fassung aller alten kleinasiatischen Denkmäler auch da zu mancher schie-
fen Auffassung geführt hat. Der Phönikische Antheil bei den südlichen
Denkmälern bleibt wohl noch aufzuklären. Man darf sagen, mit dem wei-
teren Vorrücken nach Osten und Südosten wird die Erscheinungsform die-
ser Denkmäler auch in Einzelheiten immer orientalischer, oder umgekehrt:
ein breiter von Osten ausgehender Kunststrom, wenn der Ausdruck er-
laubt ist, fluthet in die vorgestreckte Halbinsel hinein, verzweigt sich
mannigfach, nimmt allerlei Eigenartiges auf und endet in Gestalten wie
der Karabel, welchem etwas Knappes, Zusammengefalstes, Geläutertes
gegenüber den östlicheren Gestalten nicht abzustreiten ist. Aber dieser
Strom geht nur durch den Süden des Landes. Wie von dem gewaltigen
Massengebirge im Osten zwei grolse Arme sich ablösen, von welchen der
eine den Süden des Landes, der Andere den Norden durchzieht und be-
stimmt, so geht ein Kunststrom durchaus getrennt von jenem südli-
chen durch das nördliche Kleinasien — und in ihn hinein gehören die
Denkmäler Paphlagoniens und Phrygiens. (Vgl. die Kartenskizze am An-
fang über dem Text.) Man begreift nun, weshalb wir den Namen einer
!) Bei Rylands a.a. ©. S. 439 und Taf. V.
48 G. HIRSCHFELD:
„anatolischen“ Kunst für die südliche Gruppe ablehnen müssen, er besagt
zu viel und zu wenig. Wie die Denkmälergruppen der Configuration der
Halbinsel entsprechen, zeigt sich noch deutlicher, wenn man auch das
Verbreitungsgebiet der Tumuli in Betracht zieht.
Die nördliche Gruppe verzahnt sich durch ihr Vorgreifen nach
Aladja und Urgub gleichsam mit der südlichen, aber innerlich haben sie
beide keine Berührungspunkte — aulfser etwa in ihrem Ausgange.
Auch die Anregungen der nördlichen Gruppe stammen zum guten Theil
— auch hier etwa bis auf das architektonische Gerüst — von Osten, aber
aufgenommen wurden sie hier von einem ganz verschiedenen Volk oder
Völkern, worauf auch schon die Verschiedenartigkeit der Gegenstände hin-
deutet, welchen jede Gruppe ihre bildnerische Thätigkeit zuwendet. Die
südliche hat sich im Stil wenigstens fremden Einflüssen unselbständig gefüst,
ist über eine gewisse Handfertigkeit auch nirgends hinausgekommen; die
nördliche, ungleich eigenartiger, geht im Aufbau ihrer Denkmäler nicht
blos selbständig, sondern auch künstlerisch vor, experimentirt unermüd-
lich mit den Elementen, die sie schafft oder umbildet, zeigt Empfindung
für die architektonische Form, hat in ihrer ganzen idealischen Richtung,
wenn man mit einem Anachronismus so sagen darf, etwas Hellenisches.
Darum haben auch die Griechen an die südlichen Anlagen nicht, wohl
aber an die nördlichen anknüpfen können, welche ihnen hinem bis in
die Wahl ihrer Zierobjecte homogen waren; Kleinasien war nicht blos die
Brücke, auf der die Kunst- und Culturblüthen des ferneren Asıens den
Griechen zugeführt wurden, wie man uns oft glauben machen möchte,
sondern auch selber eine Schatzkammer, aus welchen die Griechen ent-
nahmen, um allerdings mit den reichsten Zinsen zurückzugeben.
Das ist lange anerkannt und liest handgreiflich für Jedermann
vor Augen auf dem Gebiete der Münzkunst, da die Griechen das Metall-
stück, das ursprünglich in rein commercieller Absicht gestempelt wurde,
zu einem Kunstwerk umschufen, das dann freilich wieder seinen Weg
nicht bios nach Kleinasien, sondern auch nach dem ferneren Osten machte.
Die Paphlasonischen und Phrygischen Gräber erweisen einen ähnlichen
Vorgang auch für die Baukunst.
Paphlagomische Felsengraäber. 49
Bemerkung zu S. 36f. Anm. 1.
Es ist mir daran gelegen, die Bedeutung dieses Bauwerkes nicht abschwächen
zu lassen, und ich gehe daher noch kurz auf Perrot’s Ansicht ein, welcher dasselbe
neuerdings (histoire de l’art II 409 ff.) abgebildet und besprochen hat. Wohl mit Recht erkennt
er in dem Bau „la demeure du dieu Haldia* in der Stadt Muzazir (vgl. Oppert, anna-
les de Sargon bei Place, Ninive II 313). Neben den Stufenbauten, welche den eigent-
lichen Typus des chaldaeisch-assyrischen Tempels bildeten, setzt Perrot die Existenz
secundärer Typen voraus, ‘qui se pretaient & une grande variete de forme’; als ein Bei-
spiel dafür sieht er unsern Bau an: entweder sei hier wirklich eine ungewöhnliche Form
nach den Berichten von Theilnehmern des Feldzuges gegeben, oder der Künsler habe, um
zu zeigen, dals es sich um einen Tempel handle, einen geläufigen Typus gewählt. Per-
rot entscheidet sich für das Letztere; aber auch, wenn ein treues Bild des Armenischen
Tempels vorliege, so sei doch der Typus von der Assyrischen Kunst abzuleiten, da die
Armenier in jener Zeit keine eigene Civilisation gehabt hätten. Wie die Schrift über
Assyrien .bezogen sei, so zeigten alle Objeete, welche um den Vansee gefunden werden,
eine rein assyrische Physiognomie. Sehr ähnlich hatte sich vorher schon Duncker,
auch unter ausdrücklicher Berücksichtigung des Reliefs von Khorsabad ausgesprochen
(Gesch. d. Alterth. I® S. 449, vgl. auch Tozer, Turkish Armenia and Eastern Asia Mi-
nor S. 363). Und auf einen uralten Verkehr der Bewohner der holzreichen Berge Ar-
meniens mit Babylon kann man gewils auch Herodot I 194 beziehen. Einen Zweifel
darüber, ob es gestattet sei, die Bauformen armenischer Städte auf den Reliefs ohne Wei-
teres mit assyrischen gleichzusetzen, finde ich nur angedeutet bei Rawlinson, the five
great monarchies I S. 381, freilich bei Gelegenheit von Anlagen, die gerade in Perrot’s
so durehdachter Darstellung der Assyrischen Architektur jetzt eine gewisse Rolle spielen
(histoire II 139f. 219£.).
Zunächst muls man, glaube ich, Einspruch erheben gegen die allgemeine Folge-
rung, welche an die Überführung der Schrift, dieses formalsten aller Exportartikel, ge-
knüpft wird; denn Phönikier haben doch auch die Schrift den Griechen, und diese wieder
den Phrygern gegeben. Ebensowenig können Gegenstände der Kleinkunst beweisen, wo
es sich um die eigenste und unmittelbarste Bedürfnils- und Kunstäufserung eines Volkes,
den architektonischen Aufbau handelt. Und da fällt es stark ins Gewicht, dals der
Tempel von Muzazir auf den Monumenten des Mittelstromlandes kein auch noch so ent-
ferntes Analogon findet; und gegen diese Thatsachen nützt auch der allgemeine Hinweis
auf die so viel höhere Cultur der Assyrer nichts.
Auch gegen Perrot’s Auffassung jenes Baues im Einzelnen muls ich mich er-
klären, es wird am kürzesten bei Anführung seiner eigenen Worte geschehen können:
“Nous reconnaissons d’ailleurs ieci & un detail caracteristique le goüt et le faire de l’As-
syrie. L’entree etait flanguee de grands lions pareils & ceux qui gardent l’entree du
temple de Nimroud’; dazu die Anmerkung: “Le sculpteur pour aller plus vite n’en a in-
diqu& qu’un, celui qui est & droite de la porte; l’autre est sous-entendu. Habitu& & voir
partout la paire de taureaux ou de lions l’esprit du spectateur comblait aisement la lacune‘,
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. TI. 7
50 . @. HIRSCHFELD:
Aber dies Thier ist sicherlich kein Löwe, auch wenn es.nicht gespaltene Klauen haben
sollte, wie es nach der grölseren Abbildung bei Botta den Anschein hat; vollends steht
ein lebendiges Thieridyll, wie es hier vorliest, mit der tektonischen Verwendung, von wel-
cher Perrot spricht, dem Gedanken wie dem wirklichen Gebrauch nach in entschiedenem
Widerspruch; von der gezwungenen Erklärung in der Anmerkung kann man ganz absehen.
Die Darstellung besagt, dafs im Bezirke des Gottes Thiere gehalten wurden.
Für die Weihebecken verweist Perrot auf Syrischen Brauch und das „Eherne
Meer“ Salomons. Die Lanzen von den Pfeilern erklärt er als schlanke Säulehen mit
Lanzenspitzen, die Davorstehenden für Figuren Anbetender, vielleicht Statuen oder Bas-
reliefs. Dies kann richtig sein: auf der unmittelbar anstolsenden Platte (Botta II 140)
wird eine etwa entsprechende Figur eben zerschlagen. Aus der Anmerkung S. 37 ist er-
sichtlich, weshalb ich auch Perrot’s Bemerkung ablehnen mufs, dafs an der rechten
Seite die Löwenköpfe zu den Pfeilern gehörten. Aber das ist richtig, nur in etwas an-
derm Sinne: ‘ce type est interessant par l’analogie qu’il presente avec le temple grec.
Felsengrabkammer bei Giova in Karien.
(Nach H. Kiepert; s. S. 31 Anm. 2.)
Paphlagonische Felsengräber. 51
Inhalt.
Ri Seite
Vorwort BONO HG: 6: 4700 3
I. Beschreibung der Felsengräber:
Die Felsengräber von Kastamuni . 5
Das Felsengrab im Halysthal 9
Die Felsengräber zu Iskelib 17
Zerstreute Felsengräber : 5 25
II. Thatsachen und nn
Verbreitung und Gebrauch der Felsengräber in Kleinasien . . . . 2 2.2..2...28
Die Paphlagonischen Felsengräber, äufsere und innere Ausstattung . . 2... ol
Herleitung aus freien Bauten in Holz 35
Analogie in Armenien 36
Verwendung der Löwen . 39
Der Mittelpfeiler des Giebels 39
Zeitbestimmung . ERHLSERUNGEEN 16 . 41
Verhältnifs der Säulenfoninen zu den Grieohischen 43
Die „hittitischen* Denkmäler 45
Ihr Verhältnifs zu den Felsengräbern 47
49
Der armenische Tempel
92
G. Hırscursuo: Paphlagomsche Felsengräber.
Verzeichnifs der Tafeln und der übrigen Abbildungen
sowie der im Text auf sie bezüglichen Seiten.
it
TafelI. Hambarkaya, Gesammtansicht; an der linken Seite ist der Halys a
und ein Stück der Zeitünowasi sichtbar . . . . 2 2.2... 10£.
Sn NESEEHambankayza, suölsere, Ansicht. er RE 320
. ITSBelsensräber, dsund-IID)Ezu@lskelibr ee 17f. 32f£.
„IV. Welsensrab) (IM) zu lskelibin.. er Se 20f.
»„ V—V1U. Pläne und Einzelheiten der Felsengräber
lan \Ye von Keriamnl 6 0 0.0 oo 0 on eo“ af. 33
Hambarkaya s. oben.
BaraVil:vonlskelibalsund STE 34. 39£.
Mar. Val: vonalskelib Vin. ce er 34
Von Ro Kaas U ln pn nn Ka En 11. 24
Von STAU N 9. 39
vonlEA ads cha 15325
Im Text:
S. 3. Skizze von Kleinasien mit Bezeichnung der Felsendenkmäler, vgl. S. 45ft.
„13. Assyrische Tempel vom Nordpalast zu. Kujundjik.
„14. Innenansicht eines Phrygischen Grabes, vgl. auch S. 39. 43.
„21. Greifencapitell von Persepolis.
„22. Felsenrelief von Bavian.
» 36. Armenischer Tempel von einem Relief zu Khorsabad, vgl. auch S. 49£.
„40. Aufsenwand eines Phrygischen Grabes von Pischmisch Kalesi.
» » Giebel eines Phrygischen Grabes zu Yapuldash, vgl. S. 41 Anm. 2.
„90. Felsengrab bei Giova in Karien s. S. 31 Anm. 2, vgl. S. 37 Anm.
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G. HIRSCHFELD
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BE u RE a
Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften
Uadi Gasus.
Von
G. SCHWEINFURTH,
Professor in Kairo.
Mit Bemerkungen
von
Prof. A. Erman,
Director der aegyptischen Abtheilung der K. Museen.
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. II. 1
Abhandlung gelesen in der Sitzung der phys.-math. Classe am 21. Mai 1885.
II. den Thälern, die nördlich Qoseir von den zwischen dem Nil
und dem Rothen Meere verlaufenden krystallinischen Ketten herabsteigend
die Küste erreichen, ist das Uadı Gasus durch seine aus dem Alterthum über-
lieferten Reste von besonderem Interesse. Die Wüstenbewohner (Ababde)
unterscheiden zwei Thäler dieses Namens, von denen das nördliche, Uadi
Gasus el foganı genannt, eine gröfsere Ausdehnung landeinwärts erreicht,
während das südliche unbedeutend ist. Im Vergleich mit den gröfseren
Thalsystemen dieser Gegend kommt indels auch dem erstgenannten ein
untergeordneter Rang zu, da die gesammte Längenentwickelung seiner
Wasserzüge vom Ursprung bis zur Küste schwerlich eine 25 Kilometer
viel überschreitende Ausdehnung erreichen dürfte. Zwei Kilometer in
Südost vom grölseren mündet das sogenannte Uadı Gasus el tahtanı (zu
deutsch: das untere Thal des Spions). Die vom Gebirge kommenden
Regenwasser haben hier in den den Küstensaum darstellenden Korallen-
riffen (Saumriffen) durch Ertödtung des an einen ganz bestimmten Salz-
gehalt gebundenen animalischen Lebens eine hafenartige Öffnung, ausge-
fressen, wie solche tiefere Buchten überall an diesen Gestaden die Mün-
dungsstellen der Thäler zu kennzeichnen pflegen, und dieser kleine Boot-
hafen muls bereits im Alterthum eine Haltstation für den Küstenverkehr
abgegeben haben; denn auf der Nordseite, auf einer die Thalaustritts-
1%
4 SCHWEINEFURTEH:
stelle begrenzenden gegen 10 Meter hohen Böschung von recenter Mee-
resbildung kann man noch die Reste einiger unbedeutenden Baulichkeiten
wahrnehmen, unter denen ein kreisrunder Unterbau wahrscheinlich dem
alten Signal- oder Feuerthurm entspricht, der hier zu ptolemaeischer oder
römischer Zeit gestanden haben mag. Dr. Klunzinger hielt diese Reste
für neueren Ursprungs; allein auf emem dem Fels, der das runde Mauer-
werk trägt, angehörigen Block, gebildet aus durch recente Kalkmasse
verbundenen krystallinischen Trümmergesteinen, erkennt man eine In-
schrift in grolsen griechischen Charakteren, welche, sieben an Zahl, in-
defs durch Verwitterung des untauglichen Materials so undeutlich gewor-
den sind, dafs nur noch ein Z und ein K ausgeprägt erscheinen.
Da die Geographen des Alterthums für die Küstenstrecke zwischen
Myoshormos” (— Mirsa Nugara nach Carl Müller”) und Leukos (Qo-
seir) keinen anderen Namen überliefert haben, als höchstens den sehr
zweifelhaft eingeschalteten Aias mons des Ptolemaeus und des Plinius
(— Gebel Nugära nach ©. Müller), so ist in Betreff der Beziehungen
zu den nach dem Nilthale oder den in den benachbarten Gebirgen in
Betrieb gewesenen Steinbrüchen und Bergwerken führenden Verkehrswe-
gen für die vorliegende Örtlichkeit keinerlei Anhalt geboten. Die eigen-
thümliche Bezeichnung des Thals der heutigen arabischen Namengebung
1) resp. Philotera (= Abuschar) nach der Reihenfolge des Ptolemaeus, nicht des
Plinius, nicht Strabo’s.
2) Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht unterlassen, meine völlige Übereinstim-
mung mit C. Müller’s Zurechtlegung der alten Ortsnamen am Rothen Meere auszuspre-
chen. Völlige Gewilsheit wird man nie erlangen, da die alten Schriftsteller, die hier in
Betracht kommen, offenbar selbst häufig sehr im Ungewissen waren.
Alte Baureste und hueroglyphische Inschriften im Uadı Gasüs. 5
zufolge (Gasus — Spion) dürfte sich aus dem Alterthum überliefert ha-
ben, wenn nicht auch hier, wie in so vielen anderen Fällen der geogra-
phischen Nomenelatur der Araber, ein unverstanden gebliebener hamiti-
scher Name durch allitterirende Unterschiebung eines ähnlich klingenden
Worts ersetzt worden ist.
Bezeichnend für den den heutigen Verhältnissen durchaus entge-
gengesetzten grolsen Verkehr, den diese Küstenstriche im griechisch - rö-
mischen Alterthum aufwiesen, sind auch die deutlich erhaltenen Reste
eines grolsen Fahrweges, welche sich südlich in einem Abstande von
1 Kilometer längs dem Meeresufer hinziehen und beim Uadı Abu Schege-
leh (unter 20° 30’ n. B.) in besonders wohlerhaltenem Zustande angetrof-
fen werden. Hier hat sich eine 8 Meter breite Wegeinfassung erhalten,
die sich in Gestalt von angehäuften Steinreihen sehr kenntlich von der
mit kleinem Geröll bedeckten Ebene abhebt. Aufserdem gewahrt man in
regelmälsigen Abständen zu beiden Seiten der Strafse Steinhaufen, die
aus den zur Freilesung des Fahrweges aufgelesenen gröfseren Stücken
bestehen. Spuren dieser Art sollen sich bis zum Hafen von Qu&h
(20° 22’ n. Br.) nach Angabe meiner Ababde-Gewährsmänner verfolgen
lassen. Hier haben wir also einen greifbaren Belag für die Angabe Wil-
kinson’s, dafs eine Römerstrafse sich längs der Küste hinzog und dafs
sein Myoshormos (d. h. Philotera) mit Berenice auch durch einen Land-
weg in Verbindung stand.
Ganz ähnlich gestaltet an Form und Umfang wie bei dem alten
Thurm erweist sich die an der Mündungsstelle des grolsen Uadı Gasus
belegene Hafenbucht (Mirsa Gasüs el foganı der arabischen Küstenschif-
fer). Dieser Platz ist auf Nares’ Karte des Golfs von Sues (1871) un-
ter 26° 35’ n. Br. und 34° 1'’20" in Ost von Greenwich eingetragen, süd-
lich von einer im rechten Winkel vorspringenden höheren Felsecke, die
als „Safagah Ulbur“ bezeichnet erscheint.!)
!) Auf Dr. ©. B. Klunzinger’s vortrefflicher Karte seiner Routen um @oseir
(Zeitschr. für Erdk. Bd. XIV Taf. VII 1879) ist die Lage dieser Hafenbucht weiter nach
Süden gerückt worden, so dafs die nördliche Mirsa Gasus an der Stelle der südlichen,
die südliche aber an der als „Boat Harbour“ auf Nares’ Karte bezeichneten zu liegen
kommt. Die Configuration der Küstenlinie und die vorgenommenen Gebirgspeilungen von
auf Nares’ Karte bestimmten Punkten ergaben diesen Irrthum.
6 SCHWEINFURTH:
Das grolse Uadi Gasus verläuft in seinem unteren Theile mit we-
nig ausgeprägten Windungen ziemlich gerade in Ostnordost zwischen nie-
deren Bänken eines aus dem angeschwemmten Schutt der Urgebirge zu-
sammengesetzten Sandstein- und Kalkeonglomerats. Ungefähr 7 Kilome-
ter von der Küste entfernt treten recente Kalkbildungen (alte Riffe) von
30 bis 40 Meter Höhe als Thalbegrenzung auf und auf der Südseite des
Uadis sind dieselben auf Diorithügel angelagert, die sich in Südwest an
die ersten Ketten des Urgebirges anschlielsen. Hier verläuft das gegen
150 Meter breite Thalbett in Ost zu Süd und wird innerhalb der höhe-
ren Kalkabstürze von 10 Meter hohen Böschungen begrenzt, die aus bunt-
farbigen Mergeln bestehen, über welche sich eine dünne Decke von re-
centen Kieseleonglomeraten und Sandsteinen ausbreitet.
Mitten im Rinnsal treten hier deutlich erhaltene Mauerreste auf-
einander geschichteter Steine auf, die sich in einer Länge von 150 Me-
ter hinziehen und in Gestalt eines länglichen Vierecks einen Raum um
schlossen zu haben scheinen, der offenbar eine alte Brunnenanlage enthielt,
wie die noch erhaltene tiefe von einem Schuttringe umfriedigte Grube zu
erkennen gibt. Ob die gegenwärtig noch 1 Meter hohen Mauern als
Fangdamm für das Regenwasser des Thalbetts gedient haben, vermochte
mir wegen ihrer gegenwärtig fast mit der Längsaxe des letzteren zusam-
menfallenden Stellung nicht klar zu werden. (S. nebenstehende Zeichnung.)
Das jetzige Hauptrinnsal verläuft auf der Südseite der Anlage, hat eine
Ecke des Mauerwerks fortgespült und verräth bedeutende Veränderungen,
welche im Laufe der Zeit die Configuration des Thalbettes erfahren hat.
Einiges Tamariskengesträuch (T. nılotica Ehrbg.) bei der Brunnengrube,
namentlich aber das Vorhandensein zahlreicher grofser Acacien (A. tortilks
Hne.) etwas oberhalb im Thal gibt die an dieser Stelle immer noch vor-
handene ausgiebige Grundfeuchtigkeit zu erkennen.
Dafs hier, auf halbem Wege zu der das ganze Jahr hindurch vor-
treffliches Trinkwasser liefernden Cisternenschlucht von Abu Qäua am
Ursprung des Uadı Gasus, und noch näher benachbart der gleich vor-
züglichen Wasserstelle Hauadat in Westen, eine wichtige Station der zur
Küste führenden alten Verkehrsstrafsen, vielleicht in Verbindung mit Stein-
brüchen oder Metallminen ım Innern, bestanden habe, dafür sprechen
aufs deutlichste mehrere Überbleibsel von Gebäuden, die man auf der
7
Alte Baureste und hieroglyphasche Inschriften im Uadı Gasus.
auptbaw.
H
„ ®
MASSSTAB i: 2000
so
8 SCHWEINFURTH:
südlichen Thalseite oberhalb der Böschung antrifft. Mit den als „Hy-
dreuma“ bezeichneten Wasserstationen aus ptolemaeischer und römischer
Zeit, wie solche sich noch in vielen Thälern zwischen Qeneh und Qoseir
an den alten vom Nil zum Meere führenden Strafsen erhalten haben, läfst
sich diese Niederlassung im Uadi Gasus nicht ohne Weiteres in Vergleich
bringen; denn statt des einen inwendig vielzellisen von hohen Mauern
und Thurmvorsprüngen umgebenen grofsen Baues, der stets ein ausge-
mauertes Wasserbecken oder einen ähnlich angelegten Brunnen in sich
schliefst, stöfst man hier auf vier zerstreut liegende Gebäude von gerin-
gem Umfange nnd ohne jede Spur einer Umfassungsmauer. Auch er-
scheinen diese nur in den Grundmauern erhaltenen Überbleibsel in weit
höherem Grade vom Zahne der Zeit benast, als man es sonst an den
Hydreuma dieser Gegend bemerkt. Wohlerhalten und besonders als Ty-
pus einer solchen alten Wasserstation zu betrachten erscheint diejenige,
welche ich im mittleren Uadı Semneh (dem Oberlauf des Uadi Sagqı)
20 Kilometer in Ost vom Gebel Geddameh der centralen Granitkette
auszumessen Gelegenheit fand. (Siehe nebenstehende Zeichnung.)
Der Hauptbau am südlichen Rande von Uadi Gasus stellt ein et-
was längliches Viereck von 14 Meter Länge dar, das durch Quermauern
in 10 ungleich grofse Kammern abgetheilt war. Das Mauerwerk, ur-
sprünglich durch Lehm mit einander verkittet, bestand in den unteren
Lagen aus schwarzen Dioritstücken, in den oberen aus Kalksteinblöcken,
deren weiche Beschaffenheit ein fast völliges Zerfallen herbeiführt. In
Folge dessen ist der Innenraum zwischen den stehengebliebenen Mauer-
resten hoch ausgefüllt.
An einem zweiten Bau, der westwärts näher am Rande der Bö-
schung gelegen ist, läfst sich nur eine einfache Reihe aufeinander folgen-
der Kammern unterscheiden. Schräg zu diesem gestellt erhebt sich in
seinen stehen gebliebenen Grundmauern bis zu Meterhöhe ein kleinerer
quadratischer und massiver Bau, aus grofsen Kalkquadern gefügt, der
nach Süden zu eine Thüröffnung zeigt. Diesem ist auf der Südseite ein
viermal grölseres aus krystallinischen Gesteinstücken aufgeschichtetes
Mauerviereck vorgebaut, eine Art von Pronaos; denn man darf in diesen
Überbleibseln füglich eine alte Tempelanlage vermuthen. Topfscherben
Alte Baureste und hieroglyplnsche Inschriften im Uadı Gasas.
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Masssiab, 1: 500 An 2
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. II. 2
10 SCHWEINFURTH:
finden sich merkwürdiger Weise nur sehr spärlich vor und alles erhalten
gebliebene zeugt von hohem Alter.
Die Stelle mit den Hieroglyphen ist von der alten Station im Uadi
Gasüus etwas über 7 Kilometer entfernt und genau in Südwest gelegen.
Man geht das Uadi eine kurze Strecke westwärts hinauf, auf einen das
Thalbett um 150 Meter überragenden Kalkabfall zu, hinter welchem die
Brunnenstelle Hauadat gelesen ist und vor welchem das Uadı Gasus in
einem Knick nach Südsüdwest abbiest. Ein kleines Seitenthal, das Uadi
el Abiad steigt alsdann in einer Öffnung zwischen den Kalkabfällen von
West herab, während an das Hauptthal hier auch auf der gegenüberlie-
genden östlichen Seite ein Kalkabsturz herantritt. Es folgen einige Bänke
von älterem (nubischen) Sandstein, die unter den alteocänen Schichten
(die obersten Kreidebildungen sind hier nicht zur Entwickelung gelangt
und fehlen) am Thalrande hervortreten, und dann hat man ım Westen
eine vorgeschobene krystallinische Kette vor sich, bestehend aus einer
nordwärts verlaufenden Gruppe schwarzer Diorithügel mit zackigen Kup-
pen und Kegeln, die ungefähr 500 Meter Meereshöhe erreichen. Der
eigentliche Centralstock dieser Gruppe der Gebel Hauadat liest 5 Kilo-
meter vom Uadı Gasus entfernt weiter in Nordwest und soll nach der
englischen Admiralitätskarte eine Höhe von 660 Metern erreichen. Seine
aus drei kegelförmigen Zacken gebildete Masse, der sich nordwärts und
südwärts in gerader Linie noch ähnliche niedere anschlielsen, hebt sich,
bereits von der Küste betrachtet, durch seine charakteristische Gestalt
von dem Gewirre zahlloser Berge und Hügel deutlich ab.
Während das Hauptthal Uadı Gasus südwärts weiter reicht, tritt
nun von Südsüdwest ein gleich starker Arm aus dem dunkeln Urgebirge
heraus, in welches einbiegend man nach einer südwärts gerichteten Bo-
genkrümmung bei einer abermaligen Bifurcation an der Ecke des Seiten-
thals zur Rechten (d. h. an der nach Süden gekehrten Thalecke der Bi-
furcation) die Inschriftenstelle erreicht. Ein Kilometer weiter in Südwest
theilt sich das Hauptthal abermals in zwei Schenkel, von denen der
westwärts gerichtete zu einem tiefbeschatteten Felskessel, der romanti-
schen Wasserschlucht von Abu Qäua führt, dem Ursprunge dieses aus
dem Urgebirge kommenden westlichen Arms vom Uadi Gasus.
Alte Baureste und hieroglyphnsche Inschriften im Uadı Gasüs. 11
Dr. ©. B. Klunzinger, der hochverdiente Erforscher der Rothen-
meerfauna, der die Gebirge von @oseir im weiten Umkreise nach allen
Richtungen durchschweifte, hat von dem Vorhandensein der Inschrift
keine Kunde gehabt!), obgleich dieselbe vielen Eingeborenen bekannt ist
und der Führer auf meine desfallsige Nachfrage mich unverzüglich zu der
Stelle geleitete. Dieser Id benannte Abadi, dem gerade in dieser Gegend
die umfassendste Ortskenntnils zu Gebote stand, behauptete aufs Entschie-
denste, dals aulser der in Rede stehenden Inschrift keine zweite Stelle
der Art in der Umgegend bekannt sei. Die erste Kunde von ihrem Vor-
handensein ward mir aus dem Munde des russischen Aegyptologen Gole-
nischef. Dieser ausgezeichnete Gelehrte wulste mir keine Quelle anzu-
geben, aus welcher er die Nachricht geschöpft hatte, theilte mir aber zu-
gleich mit, dafs in einem englischen Privatmuseum, zu Alnwickeastle, der
Besitzung des Herzogs von Northumberland, zwei Stelen aufbewahrt wür-
den, die der XII. Dynastie angehörten und gleichfalls aus dem Uadi Gasus
herstammen sollen. ?)
An der beschriebenen Thalecke des Uadı Gasus befindet sich die
1) In Zeitschrift der Ges. f. Erdk. Bd. XIV S. 427, 428.
2) Diese beiden kleinen Stelen sind von Wilkinson und von Burton in einem
kleinen Tempel im Wadi Gasüs gefunden worden (Wilkinson, manners and customs,
2. ed. I. p. 252; derselbe, Egypt and Thebes p. 364) und sind von mir in der Aesypt.
Zeitschrift 1382 S. 203 und von Birch im Catalog des Museums von Alnwick Castle
(London 1880, S. 267ff. Taf. 3. 4) veröffentlicht worden. Die eine ist im 28ten Jahre
Amenemhet 1I. zu Ehren des Gottes Min errichtet von einem Oberschatzmeister, „nach-
dem er glücklich aus Punt zurückgekehrt war, seine Soldaten waren mit
ihm heil und gesund und seine Schiffe waren in (?bei?) Sauu gelandet“;
Punt ist die vielberühmte Heimath des Weihrauchs, Sauu wird der Name des Hafens von
Gasus sein. Die andere Inschrift, vom ersten Jahre Usertesen’s I., gehört ebenfalls
einem hohen Schatzbeamten an, der hier „im Gotteslande“ (d.h. im Osten Aegyptens)
sein Denkmal vor dem Gotte Sopd, dem Herren des Goldlandes und des Ostens
errichtete. Beide Inschriften liegen nur wenige Jahre auseinander, ebenso wie die neuen
Inschriften von Wadi Gasüs ja auch ihrerseits nur einen kurzen Zeitraum umfassen.
Zwischen beiden liegen rund gerechnet anderthalb Jahrtausende, die im Wadi Gasüs keine
Spur hinterlassen haben, während im benachbarten Hamamat die Inschriften doch eine
ziemlich zusammenhängende Reihe bilden. Daraus folgt wohl, dass die Strafse von Wadi
Gasus es nıe zu der Bedeutung gebracht hat, wie die von Hamamat. Man hat es wohl
zeitenweise mit ihrem Hafen versucht, um schliefslich doch wieder zu dem alten Weg zu-
rückzukehren. Erman.
1m SCHWEINRURTE:
Inschrift an einer in Mannshöhe senkrecht bis zur völlig ebenen mit klei-
nen Geschieben bedeckten Fläche des Rinnsals abstürzenden Felswand,
über welcher Schutzhalden und zersetztes Trümmergestein lagern. Die
glattgescheuerten oder ihre natürlichen Kluftflächen darbietenden Fels-
blöcke, ‚welche hier anstehen, sind aus demselben feinkörnigen schwarz-
grauen Gestein gebildet, das die ganze Hügelgruppe zusammensetzt, die
in Südost vor dem Gebel Hauadat vorgelagert ist. Diese Gesteinsart ist
überhaupt unter allen Vorgebirgsketten centraler und höherer Granitstöcke
in der östlichen Wüste der Thebais von gröfster Verbreitung. Es ist das
nämliche porphyrartige Gestein, das die Aesyptologen häufig mit Basalt
bezeichnen und das die alten Aegypter hauptsächlich im Thal von Hama-
mat auf der von Qeneh nach @oseir führenden Stralse in grolsen Brüchen
ausgebeutet haben, um aus demselben Sarkophage, Sphinxe, Apisbilder,
Statuen und andere Denkmäler herzustellen, wie man derartige an fast
allen Tempelstellen des Alterthums in diesem Lande aufgefunden hat.!)
In diesen Thälern stehen an vielen Stellen solche glattflächige Blöcke
zu Tage, die sich vermittelst eines spitzen Instruments sehr bequem zur
Herstellung von Inschriften verwenden lassen; denn eine Verwitterungs-
kruste von ungefähr 4 Millimeter Dicke und von der Färbung des Milch-
kaffees bedeckt alle glatten, ursprünglich Kluftflächen darstellenden Aulsen-
seiten des im Bruch dunkelschiefergrauen Gesteins, und man braucht die-
selbe nur zu durchschlagen, um auf braunem Grunde scharf ausgeprägte
1) Jedenfalls ist dies die Gebirgsart, die Cl. Ptolemaeus unter dem „Schwarzen
Gestein“ (Lib. III. 5) im Auge hatte, bei seiner von Norden nach Süden gegebenen Auf-
zählung der Gebirgsrücken am Rothen Meer, die er in der Namengebung petrographisch
charakterisirt. Er lälst an jener Stelle auf die dorsa „porphyriti montis“ die des „nigri la-
‚pidis“ folgen und schlielst mit denen des „basaniti lapidis“, worunter nicht unser Basalt
zu verstehen ist, sondern der auch heut in Europa als „pierre de Koseir“ in den Handel
kommende Schleif- und Probierstein, eine harte Schieferart, die südlich von @oseir sehr
verbreitet ist. Ich finde nirgends eine mikroskopisch mineralogische Beschreibung des
Gesteins von Hamamat. Da es in der östlichen Wüste eine Menge äulserlich sehr ähn-
licher Steinarten giebt, die mikroskopisch durchaus verschiedenes Gefüge zu erkennen ge-
ben, so wage ich nicht dieses feinkörnige Gemenge, das Quarz, Orthoklas und Plagioklas-
theilchen enthält, ohne Weiteres mit einem ähnlichen Quarzporphyr vom Gebel Mangul
zn identifieiren, welchen Th. Liebisch seiner Zeit bestimmt hat. O. Fraas (aus dem
Orient, I. S. 36) hat das Gestein von Hamamat als „Melaphyr-Diorit oder Porphyr“ be-
zeichnet.
Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im Uadı Gasüs.. 13
. hellgrau erscheinende Zeichen hervorzurufen. Diese graue Schrift, die
vor 2} Jahrtausenden in die Felswand gegraben ward, unterscheidet sich
durch nichts in ihrer Färbung von derjenigen, die man zum Vergleich
heute daneben herstellen kann, ein Beweis von dem unendlich langsamen
Verwitterungsprocels, dem dieses homogene und feste Material unterwor-
fen gewesen ist.
Die bildlichen Darstellungen und Schriftzeichen bedecken an der
beschriebenen Stelle einen Flächenraum von ungefähr 6 []Meter. Ver-
schiedene feine parallelepipedische Risse gehen mitten durch dieselben,
denn dieses Gestein, welches, wie der antike Porphyr des Gebel Duchan
und andere krystallinische Mischgesteine der östlichen Wüste häufig in
parallele Lager von je 2—3 Meter Mächtigkeit gegliedert ist, sondert an
den meisten Stellen mit prismatischen Stücken ab, deren Endflächen,
rhombisch und dreieckig, gewöhnlich schräg gestellt sind, sodals die ganze
Felsmasse sieh sehr häufig in lauter kleine Rhomboöder und drei- bis
mehrkantige Prismen aufzulösen scheint. Diese Erscheinung mag zu der
irrthümlichen Bezeichnung mit Basalt Veranlassung gegeben haben.
Wenn man annehmen darf, dals die Inschriften in Mannshöhe,
soweit der Arm reichte, in die Felswand geschlagen wurden, so würde
sich hieraus eine diesem Mafse entsprechende Auffüllung der Thalsohle
für die Dauer von 2500 Jahren (seit Psametik I.) herausstellen. Die
unterste Schrift reicht nämlich heute fast bis auf die Fläche des Rinnsals
hinab. Ich habe die Schuttmasse des letzteren einen halben Meter tief
weggeräumt, ohne tiefer unten befindliche Schriftzeichen am Felsen zu
erkennen.
Das Hauptbild stellt die Prinzessin Nitokris, die Tochter Psame-
tiks I., dar, die von ihren Eltern begleitet den Amon-R&@ von Theben
(den Herrn des Tempels „Throne beider Länder“, d. h. Karnaks)
und den ithyphallischen Min von Koptos, den Schützer der Wüstenwege,
verehrt. Psametik steht voran, mit der Krone Oberaegyptens geschmückt,
zwei Weinschalen in der Hand; ıhm folgt, von ihrer Mutter Schepenopet
zärtlich umfalst, die Nitokris, die durch ihre runde Frisur als besonders
jugendlich charakterisirt wird. Nitokris ist in üblicher Weise bezeichnet
als die Tochter des Königs Psametik, die Gottesverehrerin Ni-
tokris, deren Mutter das verstorbene Gottesweib Schepenopet,
14 SCHWEINFURTH:
die Tochter des verstorbenen Königs Pi’anchi war, und diese In-
schrift ist so angebracht, dafs über den Kopf jeder der drei Figuren ihr
Name zu stehen kommt. Zum Schlufs folgt eine Verticalinschrift, die mit
dem Titel IR zu beginnen scheint, der einen Bildhauer oder etwas ähn-
liches bezeichnet (Beispiele bei Brugsch, Wb. Suppl. S. 153. 154) und
im benachbarten Hamamat oft vorkommt. Er scheint SS l En w zu
heifsen, was freilich eine sonst nicht zu belegende Namensform wäre.
Verwischt haben sich aufserdem mehrere der zwischen den einzelnen Fi-
guren vertical verlaufenden Zeilen. Unter den fünf Figuren läuft eine
Horizontalzeille hin, dıe wahrscheinlich den Namen des Verfassers des
Proseugma enthält.
Aufser der Hauptgruppe sind an mehreren Stellen noch Min-
Darstellungen roherer Art zu unterscheiden. Die dazu gehörigen Verti-
calzeilen sind unleserlich. Der obersten Figur waren 40 Zeichen in 2
Verticalreihen beigefügt, die gleichfalls unkenntlich geworden sind. Man
sieht auch zwei ausgekratzte Figuren an der Felswand, die wahrschein-
lich von ungeübter Hand herstammend von späteren Besuchern, die auf
dem Wege zum Wasser sich an dieser Stelle verewisten, unterdrückt und
zum Theil überzeichnet wurden. Einige halbverwischte schematisch -roh
gehaltene Kamelzeichnungen, die sich ganz oben erkennen lassen, mögen
von rohen Hirten bereits in alter Zeit angebracht worden sein. Derar-
tige kindliche Darstellungen sollen ebensogut aus den ältesten Zeiten
stammen, wie sie noch heutigen Tags von mülsigen Beduinenhänden her-
rührend an Wasserstellen und Viehrastplätzen häufig wahrgenommen wer-
den können.
Ein besonderes Interesse beanspruchen zwei Namenschilder, die
die oberste Ecke rechts einnehmen und aufser den Namen des Gottes-
weibes Schepenopet (der Mutter der Nikotris) und der Gottesver-
ehrerin Amenerdas auch die sie betreffende Jahreszahl angeben, was
bei den Namen von Königinnen sonst nicht vorkommt. Beide sind als
lebend bezeichnet. Die auf Amenerdas Bezug habende Ziffer ist un-
deutlich geworden und kann entweder als a 20 oder als fl 13 gedeutet
werden.
Die Inschrift in Uadı Gasus verdient insofern eine besondere Be-
achtung, weil sie gewissermalsen ein geographisches Unicum ist. Aufser
Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im Uadı Gasüs. 15
den Inschriften im Uadi Hamamat, die sich auf eine einzige Örtlichkeit
beschränken, hatte man bisher nirgends in der tieferen Wüstenregion, das
heilst auf mehr als eine Tagereise vom Nil entfernt, Hieroglyphen aufge-
funden, es sei denn in den dichtbevölkerten Oasen der Libyschen Wüste.
Obgleich ich nun das Gebiet zwischen dem Nil und dem Rothen Meere
bis zu 26° n. Br. nach allen Richtungen hin durchstreift habe, sind mir
dennoch nirgends bisher an anderen Stellen Hieroglyphen aufgestolsen.
Was mir von Schriftzeichen aus dem Alterthum vorgekommen, beschränkt
sich überhaupt fast ausschliefslich auf die lateinischen und griechischen
Inschriften in den Steinbrüchen vom Porphyritis mons (Gebel Duchan)
und in denen vom Gebel Fatireh aus der Zeit des Trajan und Hadrian.
Die Anachoreten des 4ten Jahrhunderts scheinen aufser Kreuzen und
Fufsspuren-Exvota (Sohlenumrisse) nichts dem Felsen eingegraben zu ha-
ben. Nur im oberen Uadı Dachl bei dem von Figarı Bey angelesten
Stollen fand ich 1878 an einem srolsen Sandsteinblock den seltenen Na-
men: „Natiras Presbyteros“ eingekratzt. Natiras soll nach H. Brugsch
um das Jahr 400 n. Chr. Bischof des Klosters Feräan am Gebel Serbal
(Sinai-Halbinsel) gewesen sein.
Zum Schlufs habe ich noch die Baureste im Uadı Hauadat zu er-
wähnen. Dieselben sind von der alten Station im Uadı Gasus nur
314 Kilometer westlich entfernt, man hat aber, wie ich erwähnte, um hin-
zugelangen einen Umweg durch das Seitenthal Uadi el abiad zu beschrei-
ben. Unterhalb der Brunnenstelle von Hauadat, da wo das Thal aus en-
ger Klause zwischen rothen Granitfelsen hervortritt und sich den Kalk-
abstürzen der Ostseite gegenüber erweitert, sind in grolser Zahl kleine
viereckige Mauerwerke aufgeschichtet, die ich trotz ihrer Anzahl für Hür-
deneinfriedisungen gehalten haben würde, wie sie die heutigen Wüstenbe-
wohner für ihr Kleinvieh herzurichten pflegen, wenn nicht die mich be-
gleitenden Ababde dieselben ganz entschieden für Überbleibsel aus alter
Zeit erklärt hätten. Ein Hydreuma oder ein von Mauerwerk umfriedig-
ter umfangreicherer Raum liefs sich hier nirgends ausfindig machen. Die
alten Häuschen sind zum Theil an den unteren Abhängen der Granitfelsen,
zum Theil mitten im Rinnsal des Thals errichtet. Ihre Bestimmung er-
scheint mir wegen der Abwesenheit eines gröfseren Baurestes sehr fraglich.
Waren es Arbeiterwohnungen, so entsteht die Frage, welcherlei Arbeit hier
16 SCHWEINFURTEH:
verrichtet wurde, da in der Umgegend weder Spuren von Bergbau noch von
Steinbrüchen angedeutet erscheinen. Man wird am wenigsten fehlgreifen,
wenn man diese Stelle als das auffafst, was sie noch heutigentags ist:
ein vielbesuchter, unentbehrlicher Wasserplatz. Das vorzügliche Trink-
wasser von Hauadat findet sich 2 Kilometer in Südsüdwest von dieser
Stelle am Ursprunge der engen Granitschlucht und in Gruben von rei-
nem, lockeren Granitschutt. Klunzinger berichtet, dafs es nicht selten
bis nach Qoseir auf den Markt gebracht werde. Da neben dem benach-
barten, gleich vortrefflichen und ebenso das ganze Jahr mit Sicherheit
anzutreffenden Wasser in der vorhin erwähnten Schlucht von Abu Qäua
in der ganzen Küstengegend am Rothen Meer, das heilst auf einem: Flä-
chenraume der nach jeder Richtung hin 80 bis 100 Kilometer mifst, ein
gleich tadelloses Wasser erst an den Granitbergen von Hendosse und Abu
Tiur (45 Kilometer in Süd von Qoseir) und westwärts erst halbwegs zum
Nil bei el-Sid an der Qeneh-Qoseir-Stralse anzutreffen ist, so mulste
dieser Brunnenstelle von jeher eine besondere Bedeutung zufallen, na-
mentlich aber in einer Epoche, wo der Verkehr selbst in diesen entfern-
ten Gebirgseinöden ein so reger war.
Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im Uadı Gasüs. 17
Bemerkungen.
Von Adolf Erman.
Das neue Denkmal, das Schweinfurth in seinem vorstehenden
Aufsatze veröffentlicht, nennt uns drei Prinzessinnen des saitischen Kö-
nigshauses — Amenerdas, Schepenopet und Nitokris —, während man
sonst in derartigen Inschriften den Namen des regierenden Königs zu fin-
den pflegt. Es hängt dies mit dem priesterlichen Amt zusammen, das
diese Damen einnahmen und das ihnen für einen Theil des Landes eine
wenigstens nominelle Unabhängiskeit verlieh.
Da mir die abnorme Stellung dieser Frauen bisher nicht ganz
richtig aufgefalst zu sein scheint, seien mir hier einige Bemerkungen ge-
stattet, die vielleicht zur richtigen Würdigung des Sch weinfurth’schen
schönen Fundes beitragen.
Seit dem Anfange des neuen Reiches begegnen wir auf den Denk-
mälern Thebens Frauen königlichen Geschlechtes, die im Cultus des Amon
ein hohes priesterliches Amt bekleiden. Es sind dies die 1% die Got-
tesweiber des Amon, die auch die Titel 7 , Kotteshand!) und In
= =)
Gottesverehrerin?) führen und gleichsam als die legitimen Gemahlin-
ı) Dafs dieser Titel (der zuerst LD III 655 sicher nachzuweisen ist) die ange-
gebene, übrigens auch durch die Schreibung wahrscheinliche Bedeutung hat, möchte ich
aus LD III, 74a schliefsen, wo er in auffälliger Weise neben der Hand der Dame steht.
2) Zuerst unter Ramses IX. sicher nachweisbar, vgl. Abb. 3, 17 u.o. Die dort
gegebene Orthographie lehrt die Bedeutung des Titels.
Phil.-hist. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1885. II.
oa
18 SCHWEINFURTE:
nen des Gottes fungiren,!) während die Frauen der Hohenpriesterfamilie
den Rang seiner obersten Kebsweiber einnehmen.?) Sie gehören stets
zur Königsfamilie?) und sind oft die Gemahlinnen des regierenden Herr-
schers *); ihre Würde vererbt sich von der Mutter auf die Tochter?) und
ist — zum Mindestens seit dem Ende der 20. Dynastie — mit einem
eigenen Vermögen ausgestattet, das eine besondere Verwaltung hat).
In zwei Epochen der aesyptischen Geschichte treten nun die Got-
tesweiber besonders hervor. Das erste Mal im Anfange des neuen Rei-
ches”), wo insbesondere die Gemahlin des Amosis und Mutter des ersten
Amenophis, die fh > eine wichtige politische Rolle gespielt zu haben
scheint. Im Steinbruch von el Bosra steht ihr Name allein®), als sei hier
1) Ihre Aufgabe im Cultus ist, das Sistrum in den Händen, ihren Vater Amon
mit Musik zu erfreuen (LD III, 147a und öfters). Betend, mit einem andern Priester
zusammen, ist sie LD III, 74a dargestellt.
2) LD III, 132. Champ. Not. I, 5llff. Lieblein, Diet. de noms 991. Meh-
rere sind uns auch durch den Fund von D£r-el-bahri bekannt geworden, vgl. Aeg. Ztschr.
1833 S. 70.
3) Diese ohnehin feststehende Thatsache wird noch bestätigt durch die Art, wie
Amenophis IV., der religiöse Reformator, das Relief LD III, 74a behandelt hat. Wäh-
rend er die darauf befindlichen Bilder der Götter und eines Priesters zu zerstören ge-
sucht hat, hat er das dazwischen stehende Bild einer ©] ganz verschont, offenbar weil
oa
er in dieser Priesterin zugleich ein Mitglied seines Geschlechtes sah.
4) So sicher z. B. bei den ersten 5 Königen der achtzehnten Dynastie.
5) So sicher in der späteren Zeit Ein interessantes Beispiel bei der bekannten
Gemahlin Thutmosis II. der = A, . So lange diese nur Gemahlin des Königs war,
a
fungirte sie auch als Gottesweib (LD III, 25 bis l. q.), als sie aber nach dem Tode
ihres Mannes selbst den Thron bestieg, folgte ihr in der Stelle des Gottesweibes ihr
Töchterchen, die Prinzessin ol I (LD II, 25i. 25 bis 9).
6) Zuerst wird dies Vermögen, das Haus der Gottesverehrerin, ausdrück-
lich genannt Abb. 1, 6. 2,5. 4,7. Man könnte es indefs wohl auch schon in den in den
vorigen Anmerkungen eitirten Stellen finden.
”) Bis auf Amenophis II. zähle ich etwa 12 Gottesweiber, in der folgenden
Epoche aber bis zum Ende der 20. Dynastie finde ich in dem mir vorliegenden Material
nur fünf genannt! Das ist gewils nicht zufällig.
s) LD III, 3e.
Alte Baureste und hieroglyphısche Inschriften im Uadi Gasas. 19
auf ihren Befehl gearbeitet worden und im Steinbruch von Maasara hebt
die Inschrift ihren Namen neben dem des Amosis in auffallender Weise
hervor.!) Ebendort heifst sie U)0l König und eine spätere Inschrift 2)
3 (6) ES :
nennt sie sogar an Tochter des Sonnengottes, gibt ihr also einen
Titel, der nur wirklich regierenden Königinnen zukommt. Fast möchte
man daher vermuthen, dafs schon dieses Gottesweib, ähnlich wie wir es
bei ihren Nachfolgerinnen in der Spätzeit sehen werden, eine halb unab-
hängige geistliche Fürstin gewesen sei. Sieben Jahrhunderte später, zu
der Zeit wo Aegypten in Kleinstaaten zerfällt, treten dann diese königli-
chen Priesterinnen des höchsten Gottes ganz wie selbstständige Dynasten
auf. Sie sprechen von ihrer Stadt und ihrem Gau°), in den Inschrif-
ten erscheinen sie als Herrscher und man datirt, wie dıe Felswand von
Wadı Gasus jetzt lehrt, nach den Jahren ihrer Regierung. Ja sie be-
sitzen sogar eine volle königliche Titulatur mit einem Horusnamen und
zwei Schildern, die sie freilich nur ausnahmsweise anwenden*). Es kann
somit kein Zweifel sein, dafs wir in diesen Damen in der aethiopischen
und saitischen Zeit unabhängige Herrscherinnen zu sehen haben; die alte
heilige Stadt Theben?) war ein geistliches Fürstenthum geworden, das
D)FED IM, 3@.0.
2) Lepsius, Königsbuch 316e.
3) Mar. Karn. 45e.
4) Zuerst nachweisbar bei den lybischen Prinzessinnen | | ‚5 und [J
(Leps. Königsb. 575 und 601), sodann bei NN (Mar. Karn. 45e),
re] et
vum (Horusname und ein Schild, Berliner Museum 7972) und | a
0x os ISH
(Horusname und zwei Schilder, Champ. Not. 855, 856). Bezeichnend ist dabei, dass die
Vornamen dieser Gottesweiber mit dem Namen der Göttin Mut zusammengesetzt sind:
Mut voran, Mut die Schönheitsglänzende, Mut die Herrin der Schönheit.
Diese Göttin ist ja die himmlische Gattin des Amon, und es ist daher in der Ordnung,
dafs ihre irdische Stellvertreterin, die 7 ,„ sich nach ihr nennt.
EN
>) Da in Wadi Gasüs drei Generationen dieser Fürstinnen und keiner der gleich-
zeitigen Könige vertreten ist, so könnte man vermuthen, der Ausgangspunkt der frag-
lichen Wüstenstrafse habe auch noch zu ihrem Gebiete gehört. Dem widerspricht aber,
da[s in dem doch noch näher an Theben gelegenen Hammamat sich auch Inschriften des
Schabaka und des Nacho finden.
230 SCHWEINFURTHE:
von der Stellvertreterin des Gottes, seiner irdischen Gemahlin, verwaltet
wurde.
Wie es nun aber in der Natur der Sache liegt, haben die aegypti-
schen Herrscherhäuser jener verworrenen Zeit sich bemüht, Einflufs auf
diesen Kleinstaat zu gewinnen, der ja schon durch das ungeheure Tem-
pelvermögen des Amon ein nicht zu unterschätzender Besitz war. So
finden wir denn nach einander Prinzen der bubastischen, aethiopischen und
saitischen Familien als Gatten unserer Fürstinnen, je nachdem die The-
bais unter dem Einfluls dieser oder jener Könige stand. Freilich haben
diese Gatten sich mit einem Einfluls hinter der Scene begnügen müssen,
denn für die officielle Anschauung existirten sie nicht; officiell besals das
Weib des Gottes nur eben seinen einen himmlischen Gemahl. Man er-
kennt dies leicht an ihren Inschriften. Keine einzige der fünf Frauen,
von denen wir Denkmäler besitzen, nennt selbst ihren Gemahl, während
sie selten unterlassen, ihren vornehmen Vater zu nennen. Den könig-
lichen Bruder oder Grofsvater rechnen sie uns mit Stolz vor, den könig-
lichen Gatten verschweigen sie — offenbar, weil sie ihn officiell nicht
nennen dürfen. So nennt sich z. B. Amenerdas: Tochter des Königs
Kaschta und des Gottesweibes Schepenopet und Schwester des
Königs Schabaka, aber ıhren Gemahl nennt sie nie; und erst aus den
Inschriften ihrer Tochter, die den König Pianchi als ihren Vater angibt,
erfahren wir, wie der Gatte der Amenerdas hiefs. Das Gleiche gilt, wie
gesagt, von allen Inschriften dieser Frauen.t)
Fassen wir schliefslieh zusammen, was sich über diese Gotteswei-
ber der späteren Zeit ermitteln läfst. Ihre Reihe stellt sich, anscheinend
ohne Lücke, so dar:
1) Dieser eigenthümliche Gebrauch scheint übrigens auch schon in älterer Zeit
bestanden zu haben. Wenigstens nennen sich, soviel ich sehen kann, die Gottesweiber
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der achtzehnten und neunzehnten Dynastien nur dann 1 ‚ wo sie allein oder mit ihrem
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Sohne dargestellt sind. Sobald ihr königlicher Gemahl neben ihr steht oder genannt ist,
geschieht ihres Verhältnisses zu dem himmlischen Gatten keine Erwähnung. Vergl. LD
III, 3c mit ib. 3a. b; ib. 625 mit ib. 33a; Leps. Königsb. 417 mit 423.
Alte Baureste und hieroglyphische Inschriften im Uadi Gasus.. 21
1) Name unbekannt, Gemahl ein König Osorkon!), der nach
seinem Namen zu urtheilen zu der Königsfamilie von Bubastis gehört
haben wird.
2) SchepenopetI., Tochter der vorigen?). Gemahl der aethio-
pische König Kaschta.
3) Amenerdas, Tochter der vorigen und Schwester des Königs
Schabaka®), Gemahl, der wahrscheinlich aethiopische, König Pianchi. Re-
gierte gleichzeitig mit Schabaka*) (also um 725 v. Chr.) und herrschte,
wie die Inschrift von Wadi Gasus zeigt, mindestens 12 Jahre lang.
4) Schepenopet II., Tochter der vorigen’), Gemahl der saiti-
sche König Psametik I. Regierte anscheinend schon gleichzeitig mit
Schabataka®) (also vor 704) und herrschte, wie Wadi Gasus lehrt, min-
destens 19 Jahre hindurch. Sie starb, wie dieselbe Quelle?) lehrt, noch
unter Psametik I., und in der That muls sie ja bedeutend älter gewesen
sein als dieser König, der, wenn man ihm nicht ein Alter von mehr als
80 Jahren geben will, nicht vor 690 geboren sein kann.
5) Nitokris, Tochter der vorigen®). Ein Gemahl ist nicht be-
!) Lieblein, Aeg. Denkm. aus St. Petersburg p. 6 Taf. I, 4 — II, 7.
a ip el.
3) ib. 1.1. LD V, le Mar. Karn. 45c.d.e. Greene, fouilles 9, 3. ib. 10
und die analoge Berliner Statue. Berlin 7497.
*) Mar. Karn. 45c.
5) Berlin 7972. 8168. Greene 8,1. 9,3. LD III, 271a.
%) Turiner Stele in Pleyte’s Aufsatz: Aeg. Ztschr. 1876, 5l; es wird nach Ana-
logie aller andern Inschriften unserer Fürstinnen hier zu lesen sein Schepenopet [Toch-
ter des] Pianchi, deren Mutter die Amenerdas war, und dementsprechend auch
Schabataka [Sohn des] Schabaka.
7) Ebenso wird Champ. Notices p. 856 und Mar. Mon. div. 90 Psametik I. noch
als lebend bezeichnet, während Schepenopet schon todt ist.
°) Mar. Mon. div. 90. 91. — LD III, 2715. 272a.b. (= Champ. Notices 511)
2% SCHWEINFURTH:
kannt. Kam, wie Wadı Gasus lehrt, jung auf den Thron und zwar zu
Lebzeiten ihres Vaters Psametik I. (663 — 610). Da sie gerade eine Toch-
ter Psametik II. zur Nachfolgerin erwählt hat, so wird sie wohl noch
unter diesem König (594—589) gelebt haben. Sie hat also in jedem
Fall ein hohes Alter erreicht!).
6) Anchnes Raneferab?) heifst die Tochter Königs Psa-
metik II., deren Mutter die Gotteshand Nitokris ist, geboren
von der Königlichen Gemahlin Tachuat°); also kann Netokris nur
ihre Adoptivmutter gewesen sein. Regierte noch unter Amasis (569 —
526)*) und könnte wohl bis ans Ende der Dynastie gelebt haben, wo
Kambyses jedenfalls auch diesem geistlichen Fürstenthum ein Ende ge-
macht hat.
Man sieht deutlich genug aus diesem kurzen Abrils, dals der Staat
dieser Hohenpriesterinnen nicht besonders ernst zu nehmen war. Er
glich schliefslich etwa einem reichsunmittelbaren Frauenstift mit reichen
Einkünften, dessen Regierung Prinzessinnen auch im Kindesalter schon
— Champ. not. p. 855. 856. LD III, 271a — Greene, fouilles 9, 1.2. — Mar. Abyd.
I, 256. — Ihr Sarg.: Academy 1883 nr. 585 p. 51.
1) Man hat von dieser Nitokris diejenige scheiden wollen, die auf dem Sarge
3 . 5 6 & oO
der Anchnes Raneferab genannt wird, da diese letztere hier zuweilen den Beinamen 5
trage. Aber mit demselben Rechte mülste man dann auch die in dem Sarge bestattete
Anchnes Raneferab selbst für eine andere erklären als die sonst bekannte Prinzessin,
denn auch diese führt auf dem Sarge zuweilen den Beinamen ah den sie sonst nie
trägt. Es liegt zu beiden gar kein Grund vor und ich kann mich daher dieser, soviel
ich sehen kann, allgemein adoptirten Annahme nicht anschlielsen.
>) 1EID) JUNE Ada a Duden,
3) Auf ihrem eben eitirten Sarg, vgl. Lepsius, Über die 22. aegypt. Königsdy-
nastie (Abh. d. Berl. Akad. 1856) S. 305. Diese Angabe ist von allen Interpreten falsch
verstanden, da man sie nicht wörtlich zu nehmen wagte, und hat arge Verwirrung im
Stammbaum der 26. Dynastie angerichtet.
*) LD III, 2740.
Alte Baureste und lweroglyphusche Inschriften im Uadı Gasüs. 23
verliehen werden konnte als eine gute Versorgung für ihr Leben. Die
eigentliche Verwaltung lag in den Händen ihrer „grofsen Hausvor-
steher “, jener vornehmen Leute, die sich selbst auf den Tempelwänden
hinter ihrer Gebieterin darstellen lassen konnten und deren grolsartige
Grabbauten wir noch heute bewundern.
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