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ABHANDLUNGEN
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ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
AUS DEM JAHRE
1596.
MIT 16 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1896.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
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Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei. |
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Inhalt.
Ofentlicheg Sitzungen ee
Verzeichnils der im Jahre 1396 gelesenen Abhandlungen . . . .
Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1396 und neue
Preisausschreibungen dar, I .e
Verzeichnils der im Jahre 1896 erfolgten Geldbewilligungen aus aka-
demischen Mitteln zur Ausführung wissenschaftlicher Unter-
Veh a or re A Er
Verzeichnils der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage oder mit
Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen
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Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des Jahres 1896
Verzeichnils der Mitglieder der Akademie am Schluls des Jahres 1896
ScHmotLter: Gedächtnilsrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich
NOREIITEIISCHRET er ee ee
pu Boıs-Reymonp: Gedächtnilsrede auf Hermann von Helmholtz
Abhandlungen.
Physikalisch-mathematische Classe.
Physikalische Abhandlungen.
Enster: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver-
hältnils zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.).
Enster: Über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im
Verhältnis zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.) .
Philosophisch--historische Classe.
WeınH#orp: Zur Geschichte des heidnischen Ritus . en res
Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy-
rus 3024 der Königlichen Museen lıerausgegeben. (Mit 10 Tafeln.)
Srunmer: Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik .
. VII— VII.
. VIII— XVI.
. KVII—-XX.
. KX — XXIII,
. XXIII —XXV,
» KXV—-XXVI
. XKXVIII—XXXV.
Ged.Red.I. S.1—43.
» 11. S.1—50.
Abh. I. S. 1—28.
Il. S. 1— 36.
ll. S. 1—77.
III. S. 1—85.
Anh ang.
Abhandlungen nicht zur Akademie
2 Physikalische Abhandlungen.
eos: Grundzüge der Entwickelung und des Körperl
Odonaten und Ephemeriden. (Mit 2 Tafeln.). . .
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Jahr 1896.
Öffentliche Sitzungen.
Sitzung am 23. Januar zum Gedächtnifs Friedrich’s Il. und
zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers
und Königs.
Der an diesem Tage vorsitzende Secretar Hr. Diels eröffnete die
Sitzung mit dem Glückwunsch der Akademie zum Geburtsfest Seiner
Majestät des regierenden Kaisers und Königs und mit Worten der
Erinnerung an Friedrich den Grofsen. Dann legte er in einem
Rückblick auf die letzten 25 Jahre die Veränderungen dar, wie sie
sich für die Wissenschaft innerhalb und aufserhalb der Akademie
seit der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches entwickelt haben.
Alsdann wurden die Berichte erstattet: über die »Politische
Correspondenz Friedrich’s des Grofsen« —— über die »Acta Borussica«
— über die »Sammlung der griechischen Inschriften« — über die
»Sammlung der latemischen Inschriften«e — über die »Prosopo-
graphie der römischen Kaiserzeit« — über das »Corpus nummorum «
— über die » Aristoteles-Commentare« — über die »Ausgabe der
griechischen Kirchenväter« — über den » Thesaurus linguae latinae«
— über die »Humboldt«-, »Savigny«-, »Bopp «-, »Eduard Gerhard «-
und »Hermann und Elise geb. Heckmann W entzel«- Stiftungen,
ferner über das »Historische Institut in Rom« und über die »Kant-
Ausgabe«.
VIII
Sitzung am 2. Juli zur Feier des Leibniz’schen Jahrestages.
Hr. Waldeyer, als vorsitzender Secretar, eröffnete die Sitzung
mit einer Ansprache, welche den Leibniz-Tag unter dem Gesichts-
punkt der Erinnerungsfeiern des 250 jährigen Geburtstages Leib-
nizens und der 25. Wiederkehr der grolsen Gedenktage von 1870
und 1871 nach verschiedenen Richtungen beleuchtete. Dabei wurde
der im Jahre 1596 begangenen Bisaecularfeier der Akademie der
Künste gedacht und mit einer Kundgebung von Wünschen, welche
die bevorstehende gleiche Feier der Akademie der Wissenschaften
nahe legt, geschlossen.
Die neu eingetretenen Mitglieder der physikalisch-mathemati-
schen Classe, HH. Kohlrausch, Warburg und van't Hoff hielten
ihre Antrittsreden,. welche von Hın. Auwers als Glassensecretar
beantwortet wurden.
Hr. Schmoller hielt eine Gedächtnifsrede auf die seit dem
letzten Leibniz-Tage verstorbenen Mitglieder Heinrich von Sybel
und Heinrich von Treitschke.
Schliefslich erfolgten die Preiszuerkennungen aus der Charlotten-
Stiftung, aus der Graf Loubat-Stiftung und aus der Diez-Stiftung,
ferner wurde die Preisaufgabe der Cothenius-Stiftung und ein Be-
schluss der Commission für die Eduard Gerhard-Stiftung mitgetheilt.
Verzeichnils der im Jahre 1896 gelesenen Abhandlungen.
Physikalisch -mathematische Olasse.
Physik und Chemie.
Biltz, Dr. H., über die Bestimmung der Moleculargröfse einiger an-
organischen Substanzen. Vorgelegt von Fischer. (G.S. 9. Jan.;
S.B. 30.Jan.)
IX
Fischer und W. Niebel, über das Verhalten der Polysaccharide
gegen einige thierische Secrete und Organe. (G.S. 30. Jan.;
S.B.)
Planck, über elektrische Schwingungen, welche durch Resonanz er-
regt und durch Strahlung gedämpft werden. (Cl. 20. Febr.; S. B.)
Holborn, Dr. L., über den zeitlichen Verlauf der magnetischen In-
duetion. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 27. Febr.; S. B.)
Warburg, über die Wirkung des Lichts auf die Funkenentladung.
(Cl. 5. März; S. B.)
Fischer, Configuration der Weinsäure. (G.S. 12. März: S.B.)
Duane, W., über eine dämpfende Wirkung des magnetischen Feldes
auf rotirende Isolatoren. Vorgelegt von Warburg. (Cl. 23. April:
S. B.)
Brandes, Dr. G., über die Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen. Vor-
gelegt von Schulze. (Cl. 7.Mai; S. B.)
Kayser, Prof. H., über die Spectren des Argon. Vorgelegt von
Warburg. (Cl. 7.Mai; S. B.)
Landolt, über das Verhalten cireularpolarisirender Krystalle im ge-
pulverten Zustand. (G.S. 11. Juni; S. B. 9. Juli.)
Goldstein, Prof. E., über Aufnahmen mit Röntgenstrahlen. Vor-
gelegt von Möbius. (Cl. 18. Juni; S.B.)
Holborn, Dr. L. und Dr. W. Wien, über die Messung tiefer Tem-
peraturen. Vorgelegt von Kohlrausch. (Cl. 18. Juni; S.B.)
Duane, W., über elektrolytische Thermoketten. Vorgelegt von
van’t Hoff. (Cl. 23. Juli; S. B. 30. Juli.)
König, Prof. A., über qualitative Bestimmungen an complemen-
tären Spectralfarben. Vorgelegt von du Bois-Reymond. (G.S.
30. Juli; S. BD.)
Nichols, E. F., über das Verhalten des Quarzes gegen langwellige
Strahlung, untersucht nach der radiometrischen Methode.
Vorgelegt von Warburg. (Cl. 22.0ct.; S. B. 5. Nov.)
b
x
Kohlrausch, über elektrolytische Verschiebungen in Lösungen und
Lösungs-Gemischen. (Cl. 19. Nov.; S. B.)
Rubens, Prof. H. und E. F. Nichols, Beobachtung elektrischer Re-
sonanz an Wärmestrahlen von grolser Wellenlänge. Vorge-
legt von Planck. (Cl. 17. Dee.; S.B.)
Mineralogie, Geologie und Palaeontologie.
Wulff, Dr. L., zur Morphologie des Natronsalpeters. Zweite Mit-
theilung. Vorgelegt von Klein. (G.S. 13. Febr.; S. B.)
Wulff, Dr. L.. zur Morphologie des Natronsalpeters. Dritte Mit-
theilung. (Cl. 23. Juli; S. B.)
Klein, über Leucit und Analcım und ihre Beziehungen zu einander.
(CE 22:.0e1.,85D. 1897)
Frech, Prof. F., über den Gebirgsbau der Radstädter Tauern. Vor-
gelegt von Dames. (Cl. 22.0ct.; S.B. 19. Nov.)
Salomon, Dr.W., geologisch -petrographische Studien im Adamello-
Gebiet. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.Oct.; S.B.)
Moericke, Dr. W., geologisch-petrographische Studien in den chi-
lenischen Anden. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.Oct.; S.B.
5. Nov.)
Dames, Beiträge zur Geotektonik Helgolands. (Cl. 5.Nov.; S. BD.)
Botanik und Zoologie.
Engler, über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver-
hältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Cl. 16.Jan.: Abh.)
Schaudinn, Dr. F., über den Zeugungskreis von Paramoeba eilhardi
n. g.n. sp. Vorgelegt von Schulze. (Cl. 16.Jan.; S. BD.)
Dahl, Prof. F., vergleichende Untersuchungen über die Lebensweise
wirbelloser Aasfresser. Vorgelegt von Möbius. (Cl. 16.Jan.;
S.B.)
xX1
Schaudinn, Dr. F., über die Copulation von Actinophrys sol Ehrbg.
Vorgelegt von Schulze. (G.S. 30.Jan.; S. B.)
Selenka,. Prof. E., die Rassen und der Zahnwechsel des Orang-
Utan. Vorgelegt von Schulze. (Cl. 5. März; S.B. 19. März.)
Schwendener, das Wassergewebe im Gelenkpolster der Maranta-
ceen. (Cl. 7.Mai; S.B.)
Dahl, Prof. F., die Verbreitung der Thiere auf hoher See. Vor-
gelegt von Möbius. (G.S. 25. Juni; S. B.)
Schulze, über diplodale Spongienkammern. (G.S. 30. Juli; S. B.)
von Leyden, Prof. E. und Dr. F. Schaudinn, Leydena gemmipara
Schaudinn, ein neuer in der Ascites-Flüssigkeit des lebenden
Menschen gefundener amoebenähnlicher Rhizopode. (G.S.
30. Juli; S..B:)
Heymons, Dr. R., Grundzüge der Entwickelung und des Körper-
baues von Odonaten und Ephemeriden. Vorgelegt von Schulze.
(Cl. 22.Oct.; Abh.)
Möbius, über die aesthetischen Eigenschaften der Foraminiferen,
Radiolarien und Spongien. (G.S. 29. Oct.)
Engler, über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im
Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (G.S. 26.Nov.;
Abh.)
Heymons. Dr. R., ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der In-
secta apterygota. (G.S. 10.Deec.; S. B.)
Anatomie und Physiologie.
Hertwig. über den Einflufs verschiedener Temperaturen auf die
Entwickelung der Froscheier. (Cl. 6.Febr.; S. BD.)
Kossel, Prof. A., über die basischen Stoffe des Zellkerns. Vor-
gelegt von du Bois-Reymond. (Cl. 9.Apnil; S. B.)
Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. (Cl. 4.Juni; S. B.
5. Nov.)
b*
XI
Waldeyer, die Caudalanhänge des Menschen. (Cl. 18.Juni; S.B.
9. Juli.)
Cohnstein, Dr.W. und Dr. H. Michaelis, über die Veränderung
der Öhylusfette im Blute. Vorgelegt von Munk. (Cl. 9. Juli; S.B.)
Schulze, über die Verbindung der Epithelzellen unter einander.
(G.S. 16. Juli; S. B. 30. Juli.)
Gerota, Dr. D., über Lymphscheiden des Auerbach’schen Plexus
myentericus der Darmwand. Vorgelegt von Waldeyer. (Cl.
23.Juli; S. B.)
Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. Weitere Mit-
theilung. (Cl. 5. Nov.; S.B.)
Verworn, Prof. M., zellphysiologische Studien am Rothen Meer.
Vorgelegt von Munk. (Cl. 19.Nov.; S. B.)
Anthropologie.
Fritsch, Prof. G., über die Ausbildung der Rassenmerkmale des
menschlichen Haupthaars. Vorgelegt von du Bois-Reymond.
(Cl. 19. März; S.B. 23. April.)
Virchow, Anlage und Variation. (G.S. 30. April; S. B.)
Astronomie und Geophysik.
Vogel, über das Spectrum von Mira Ceti. (G.S. 26.März; S. B.)
Helmert, Prof. F. R., Ergebnisse von Messungen der Intensität der
Schwerkraft auf der Linie Colberg-Schneekoppe. Vorgelegt
von Dames. (Cl. 9.April; S. B.)
Auwers, über die mittleren Eigenbewegungen in den drei ersten
Gröfsenclassen der teleskopischen Fixsterne. (Cl. 23. April.)
von Bezold, über die Theorie des Erdmagnetismus. (Cl. 23.Juli;
S.B. 1897.)
üischenhagen, Prof. M., über die Aufzeichnung sehr kleiner Va-
nationen des Erdmagnetismus. Vorgelegt von v. Bezold. (G.S.
30.Juli; S. B.)
XIII
Vogel, die Lichtabsorption als mafsgebender Factor bei der Wahl
der Dimension des Objectivs für den grolsen Refractor des
Potsdamer Observatoriums. (Cl. 19.Nov.; S. B.)
Richarz, Prof. F. und Krigar-Menzel, Dr. O., Gravitationsconstante
und mittlere Dichtigkeit der Erde, bestimmt durch Wägun-
gen. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 26.Nov.; S. B.)
Mathematik.
Frobenius, über die cogredienten Transformationen der bilinearen
Formen. (Cl. 16.Jan.; S. B.)
Mertens, Prof. F.. über die Gaussischen Summen. Vorgelegt von
Schwarz. (G.S. 30.Jan.; S. B. 27.Febr.)
Schwarz, über einen von Weierstrals herrührenden geometrischen
Beweis des Fundamentalsatzes der projectivischen Geometrie.
(Cl. 9. April.)
Busse, Stud. math. F., über diejenige punktweise eindeutige Be-
ziehung zweier Flächenstücke auf einander, bei welcher jeder
geodaetischen Linie des einen eme Linie constanter geodaeti-
scher Krümmung des andern entspricht. Vorgelegt vonSchwaız.
(G.S. 30.April; S. B. 11. Juni.)
Frobenius, über vertauschbare Matrizen. (G.S. 21.Mai: S. B.)
Frobenius, über Beziehungen zwischen den Primidealen eines alge-
braischen Körpers und den Substitutionen seiner Gruppe.
(G.S. 25.Juni; 8. B.)
Fuchs, über eine Classe linearer homogener Differentialgleichungen.
(Cl. 9.Juli; S. 2.)
Frobenius, über Gruppencharaktere. (G.S. 16.Juli; S. DB. 30. Juli.)
Jahnke, Dr. E., über ein allgemeines aus Thetafunctionen von zwei
Argumenten gebildetes Orthogonalsystem und seine Verwen-
dung in der Mechanik. Vorgelegt von Fuchs. (G.S. 16.Julı;
S.B. 30.Julı.)
XIV
Koenigsberger, über die Prineipien der Mechanik. (G.S. 30. Juli;
S..B.)
Koenigsberger, über die Prineipien der Mechanik. Nachtrag. (Cl.
22.Oct.; S. B. 5.Nov.)
Frobenius, über die Primfacetoren der Gruppendeterminante. (Cl.
3.Dec.; 8. B.)
Schwarz, zur Theorie der Minimalflächen, deren Begrenzung ein von
ngeradlinigen Strecken gebildetes n-Seit ist. (Cl. 17.Deec.)
Philosophisch-historische Ulasse.
Philosophie.
Dilthey, über Hermeneutik. (G.S. 25. Juni.)
Geschichte.
Harnack, das Zeugnils des Ignatius über das Ansehen der römischen
Gemeinde. (Cl. 6.Febr.; S. 5.)
Curtius, die Schatzhäuser von Olympia. (Cl. 5.Mäız; S.B.)
Wattenbach, über Widukind von Corvey und die Erzbischöfe von
Mainz. (G.S. 12.Mäız; S.B.)
Köhler, über die /lorreia Aaredayoviov Kenophon’s. (Cl. 19. März;
S.B.)
Hirschfeld, Aquitanien im der Römerzeit. -(G.S. 16. April; S. B.)
Harnack, die pseudojustinische »Rede an die Griechen«. (Cl. 4. Juni;
S.B.)
Hirschfeld, zu Tibullus I, 7, 11. (Ergänzung zum Vortrag über
Aquitanien.) (G.S. 25.Juni: 8. B.)
Schmidt, Dr. Karl. ein vorirenäisches gnostisches Originalwerk in
koptischer Sprache. Vorgelegt von Harnack. (Cl. 9. Juli; S. B.
16. Juli.)
XV
Köhler, zur Geschichte des athenischen Münzwesens. (Cl. 22.0ct.;
S..B.)
Schürer, der Kalender und die Aera von Gaza. (Cl. 22.0ct.; S. B.)
Wattenbach, über die Legende von den heiligen Vier Gekrönten
(O1 51Nov.;29:32..11 9.Nov.)
Hirschfeld, über Clodius Albinus. (Cl. 17.Dec.)
Staats- und Rechtswissenschaft.
Brunner, über die uneheliche Vaterschaft in den älteren germani-
schen Rechten. (G.S. 9.Jan.)
Schmoller, über die historische Entwickelung der Verfassung und
der Politik des Getreidehandels. (Cl. 20.Febr.)
Liebermann, Prof. F., Kesselfang bei den Westsachsen im sieben-
ten Jahrhundert. Vorgelegt von Brunner. (Cl. 18.Juni; 8. B.
9. Juli.)
Pernice, über wirthschaftliche Voraussetzungen römischer Rechts-
sätze. (Cl. 19.Nov.)
Brunner, der rechtliche Antheil des Todten am eigenen Nachlals
in germanischen Rechten. (Cl. 3.Dee.)
Allgemeine, deutsche und andere neuere Philologie.
Weinhold, zur Geschichte des heidnischen Ritus. (Cl. 9. April: Abh.)
Schmidt, E., Faust und Luther. (Cl. 7.Mai: 8. B.)
Tobler, Etymologisches. (Cl. 23.Juli; S. B.)
Classische Philologie.
Diels, zum delphischen Paian des Philodamos. (G.S. 16. April:
5: B.)
Stumpf, über die musikalische Section der Aristotelischen Probleme.
(Cl. 23. April; Abh.)
Vahlen, über Ennius und Lucretius. (G.S. 25.Juni; S. B.)
xXVI
Vahlen, über einige Anspielungen in den Hymnen des Callimachus.
Is (CE 993.2.)
Diels, über die poetischen Vorbilder des Parmenides. (G.S. 12. Nov.)
Förster, Prof. R., über einen Palimpsesten des Libanius in Jeru-
salem. Vorgelegt von Diels. (Cl. 3.Dee.; S. BD.)
Schmidt, J., über wa ia und über lateinische Nommative Singu-
larıs auf -s aus -Zos. (G.S. 10.Dee.)
Archaeologie.
Borchardt, L., Bericht über den baulichen Zustand der 'Tempel-
bauten auf Philae. Vorgelegt von Erman. (G.S. 30.April;
S.B. 12.Nov.)
Conze, über den Ursprung der bildenden Kunst. (G.S. 30.Julı.)
OÖrientalische Philologie.
Weber, Vedische Beiträge IV (Schlufs). (Cl. 16.Jan.; S. BD. 5.März)
Sachau, über die Poesie in der Volkssprache der Nestorianer. (G.S.
13.Febr.; S.B. 27.Febr.)
Reisner, Dr. @., Altbabylonische Mafse und Gewichte. Vorgelegt
von Erman und Sachau. (Cl. 19.März; S.B. 9. April.)
Lyons, G.H. und L. Borchardt, eine trilingue Inschrift von Philae.
Vorgelegt von Erman. (G.S. 26.Mäız; S.B. 16. April.)
Spiegelberg, Dr.W., die erste Erwähnung Israels in einem aegyp-
tischen Texte. Vorgelegt von Erman. (Cl. 7.Mai; S.B.)
Erman, über die Reden eines Lebensmüden und seiner Seele (Be-
arbeitung des Papyrus P.3024 der Königl. Sammlung). (G.S.
21.Mai; Abh.)
Weber, Vedische Beiträge V., ein indischer Zauberspruch. (Cl.
IS. Juni; 8. B.)
Weber, Nachtrag zu Vedische Beiträge V. (Cl. 23.Juli; 8. B.)
Sachau, Aramäische Inschriften. (Cl. 22.0et.; S.B.)
XVII
Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1896
und neue Preisausschreibungen am Leibniz-Tage 1896.
Ertheilung des Preises der Charlotten-Stiflung.
Die Akademie hat im vorigen Jahre folgende Preisaufgabe der
Charlotten-Stiftung für Philologie gestellt:
»Cicero’s Timaeus soll auf Grund des veröffentlichten Materials
in neuer textkritischer Bearbeitung vorgelegt und knapp gehaltene
Prolegomena über die Recensio, die Authentie der Übersetzung und
die Composition des beabsichtigten Dialogs vorausgeschickt werden. «
Es sind rechtzeitig zwei Bewerbungsarbeiten der Akademie ein-
geliefert worden, die eine mit dem Euripideischen Motto: öAßıos
öoTis ns ioToplas U. Ss. W., die zweite mit dem Horazischen: Est
quadam prodire tenus u. S. w.
Beide Bearbeiter haben eigene Collationen angefertigt, was
nicht verlangt werden konnte, und auch sonst dem Thema Sorgfalt
und Fleifs angedeihen lassen. Leider haben sie beide die Recension
nicht so sicher begründet als es möglich gewesen wäre, wenn die
Hdss. auch durch die übrigen Schriften des Corpus genau verfolgt
und die neuere Litteratur hierüber sorgfältiger benutzt worden wäre.
Abgesehen von diesem Mangel, der beide Arbeiten ziemlich gleich-
mälsig trifft, zeigt sich in ihrer ganzen Anlage und Methode em
deutlicher Unterschied. Die erste Bearbeitung, welche das Euri-
pideische Motto trägt, hat allen Anforderungen zu genügen gesucht
und einzelne Abschnitte, wie den über die Authentie der Über-
setzung, recht befriedigend behandelt. Auch verfügt ihr Verfasser
über eine gute Kenntnils der neueren Litteratur sowohl nach der
sprachlichen wie nach der realen Seite hin. Aber in der Haupt-
sache, der kritischen und exegetischen Behandlung des Textes,
c
XV
stellt sich seine Leistung doch gegen die zweite gehalten als min-
derwerthig dar.
/war hat der Verfasser dieser zweiten, mit dem Horazischen
Spruche versehenen Arbeit das Thema (dureh Krankheit verhindert,
wie er angiebt) nicht in seinem vollen Umfange behandelt, und
seine ganze Richtung zeigt ihn mehr nach der grammatischen als
nach der realen Seite hin mit dem Gegenstande vertraut. Aber
seine Kenntnils des classischen Latems und seine Sicherheit ın
kritisch-exegetischen Fragen verräth eine ausgesprochen philolo-
gische Begabung. die ihn für die in Aussicht genommene weitere
Aufgabe, eine Neuausgabe des philosophischen Corpus Cicero’s, in
erster Linie geeignet erscheinen läfst. Die Akademie trägt daher
kein Bedenken, dem Verfasser dieser zweiten Bewerbungsschrift den
Preis, bestehend in einem Stipendium von jährlich 1200 Mark auf
4 Jahre zu ertheilen, dagegen dem Verfasser der ersten, mit dem
Euripideischen Motto bezeichneten Arbeit als Anerkennung einen
Nebenpreis von 1000 Mark zuzuerkennen. A
Die Eröffnung des versiegelten Umschlages mit dem Motto:
Est quadam prodire tenus u. s. w ergab als Verfasser
Hrn. Dr. Otto Plasberg zu Berlin,
der also das Stipendium erhalten wird.
Als Verfasser der mit dem Nebenpreis gekrönten Arbeit, welche
das Kennwort OAßios dortıs Tns ioToplas u. Ss. w. trägt, ergab sich
Hr. Dr. Karl Fries zu Berlin.
Zugleich ergab sich aus den beiden Umschlägen beigefügten
Nachweisen, dafs die in $3 des Stiftungsstatuts bestimmten Vor-
aussetzungen bei den Bewerbern zutreffen.
Ertheilung des Preises der Graf Loubat- Stiftung.
Die Akademie hat auf Vorschlag der Commission für die Graf
Loubat-Stiftung beschlossen, dem Dr. Eduard Seler, Privatdocen-
XIX
ten an der Universität und Direetorial- Assistenten am Museum für
Völkerkunde in Berlin, für die von ihm eingereichte Arbeit »Die
mexikanischen Bilderhandschriften Alexander von Humboldt’s ın
der Königlichen Bibliothek zu Berlin«, Berlin 1893, den Preis von
3000 Mark zuzuerkennen.
- Ertheilung des Preises der Diez-Stiftung.
Der Vorstand der Diez-Stiftung hat, gemäfs der in der Plenar-
sitzung der Akademie am 11. Juni gemachten Mittheilung, be-
schlossen, den aus der Stiftung ım Jahre 1596 zu vergebenden
Preis im Betrage von 2000 Mark dem Dr. Wilhelm Meyer-Lübke,
ordentlichen Professor der romanischen Sprachen an der Universität
Wien, für seine »Romanische Formenlehre«, Leipzig 1894, zuzu-
sprechen.
Neue Preisaufgabe der Cothenius- Stiftung.
Die Akademie schreibt für die Cothenius -Preisstiftung auf Vor-
schlag der physikalisch-mathematischen Classe folgende Preisauf-
gabe aus: »Die Königliche Akademie der Wissenschaften wünscht
eine auf eigenen Versuchen und Beobachtungen beruhende Abhand-
lung über die Entstehung und das Verhalten neuer Getreidevarietäten
im Laufe der letzten 20 Jahre.«
Bewerbungsschriften sind spätestens am 31. December 1898
ım Büreau der Akademie, Berlin NW. Universitätsstrafse 8, einzu-
reichen. Dieselben können in deutscher, lateinischer, französischer,
englischer oder italiänischer Sprache abgefafst sein.
Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruchwort zu bezeich-
nen, welches auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich den
Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äufser-
lich wiederholt ist. Schriften, welche den Namen des Verfassers
nennen oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausge-
c*
XX
schlossen. Ebenso können Schriften, welche in störender Weise
unleserlich geschrieben sind, durch Beschlufs der Classe von der
3ewerbung ausgeschlossen werden.
Die Verkündung des Urtheils erfolgt in der Leibniz-Sitzung
des Jahres 1899.
Der ausgesetzte Preis beträgt Zweitausend Mark. Aufserdem
übernimmt die Akademie, wenn der Preis ertheilt wird und der
Verfasser die gekrönte Preisschrift in Druck zu geben beabsichtigt,
die Drucklegung oder die Kosten derselben in der nach ihrem Er-
messen geeigneten Form.
Sämmtliche Bewerbungsschriften nebst den zugehörigen Zetteln
werden ein Jahr lang vom Tage der Urtheilsverkündung ab für den
Verfasser aufbewahrt, und einem jeden Verfasser, welcher sich als
solcher nach dem Urtheil des vorsitzenden Secretars genügend legiti-
mirt, die seinige gegen Empfangsbescheinigung ausgehändigt. Ist
die Arbeit als preisfähig anerkannt, aber nicht prämirt, so kann der
Verfasser innerhalb dieser Frist verlangen, dafs sein Name durch die
Schriften der Akademie zur öffentlichen Kenntnils gebracht werde.
Nach Ablauf der bezeichneten Frist steht es der Akademie frei die
nicht abgeforderten Schriften und Zettel zu vernichten.
Verzeichnils der im Jahre 1896 erfolgten Geldbewilligungen
aus akademischen Mitteln zur Ausführung wissenschaftlicher
Unternehmungen.
Es wurden im Laufe des Jahres 1596 bewilligt:
4000 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. Kirchhoff zur Fort-
setzung der Arbeiten für Sammlung der griechischen
Inschriften.
XXI
7200 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. Diels zur Fortsetzung
7000
3900
2000
118
100
1000
3000
1500
1200
»
der Arbeiten für die Herausgabe der griechischen Com-
mentatoren des Aristoteles.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Schmoller zur Fort-
führung der Arbeiten für Herausgabe der politischen
Correspondenz König Friedrich’s L.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Dilthey zur Heraus-
gabe der Werke Kant's.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. W eierstrafs zur Fort-
setzung der Herausgabe seiner gesammelten Werke.
75 Pf. dem Mitgliede der Akademie Hrn. Klein zu Re-
paraturen an Apparaten zu krıystallographischen Unter-
suchungen.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Weber zur Herausgabe
des 18. Bandes seiner »Indischen Studien«.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Conze zum Zwecke
einer erneuten Untersuchung der in Pergamon entdeck-
ten Druck wasserleitung.
dem Mitgliede der Akademie Hrn. Sachau zur Her-
stellung einer Copie der altaramäischen Bauinschrift des
Königs Panamü.
dem correspondirenden Mitgliede Hrn. Imhoof-Blumer
für die Fortführung seiner Bearbeitung der Sammlung
der nordgriechischen Münzen.
Hrn. Dr. OÖ. Bürger in Göttingen zur Ausführung emer
zoologischen Forschungsreise in den Anden von Üo-
lumbia.
Hın. Dr. Ludwig Wulff zu Schwerin i. M. zur Fort-
setzung seiner Versuche über Krystallzüchtung.
Hrn. Dr. Paul Kuckuck auf Helgoland zur Fortsetzung
seiner Untersuchung der dortigen Algenflora.
XXI
1000 Mark Hrn. Prof. K. Futterer in Karlsruhe zur Fortsetzung
2000
2500
600
1500
>00
1000
900
600
1500
1500
600
»
seiner geologischen Studien m den Südost-Alpen.
Hın. Prof. Dr. Wernicke m Breslau zur Herstellung
eines photographischen Atlas von Schnitten durch das
Gehirn.
Hrn. Oberbibliothekar Dr. Valentin in Berlin zur Fort-
setzung seiner Arbeiten für eme allgemeine mathematische
Bibliographie.
Hın. Dr. K.Verhoeff in Bonn zur Fortsetzung seiner
Studien über Myriopoden, Isopoden und Opilioninen.
Hrn. Dr. A. Tornquist m Stralsburg zu einer geologi-
schen Erforschung der Gebirge von Recoaro und Rhio
in der Provinz Vicenza.
Hrn. Dr. A. Bethe in Heidelberg zu einer Reise nach
Neapel behufs Fortsetzung seiner physiologischen Unter-
suchung des Centralnervensystems von Careimus maenas.
Hrn. Prof. Dr. Maximilian Curtze in Thorn zu Vorarbei-
ten für eine Geschichte der Geometrie des Mittelalters.
Hrn. Dr. Karl Kamillo Schneider zu Heidelberg zu
Untersuchungen über Hydroidpolypen auf der zoologi-
schen Station in Rovigno.
Hrn. Prof. Dr. H. Ziegler in Freiburg ı. B. zur Fortsetzung
seiner Untersuchungen über Ktenophoren- und Echino-
dermen - Eier.
Hrn. Prof. Dr. Arthur Milchhoefer in Kiel zu einer
topographischen Untersuchung von Attika.
Hrn. Dr. W. Judeich in Marburg zu emer archaeologi-
schen Reise nach Kleinasien.
Hrn. Dr. Hermann Schöne m Köln zur Herausgabe
seiner Bearbeitung der Schrift des Apollonius von Kitium
mept apdpwr.
XXIII
1200 Mark Hrn. Dr. Josef Paczkowskı ın Berlin zu agrarhistori-
550 »
600 »
600 »
2500»
600»
1IS0 »
850 »
600»
25.0, 25
schen Untersuchungen.
Hrn. Geh. Reg.-Rath W. Schmitz m Köln zur Heraus-
gabe eines in tironischen Noten geschriebenen Ab-
schnittes des Cod. Vatıc. Christinae S46 saec. IX.
Hrn. Dr. Georg Steinhausen in Jena zur Herausgabe
von Privatbriefen des 14. und 15. Jahrhunderts.
Hın. Dr. Bruno Gebhardt in Berlin zu archivalischen
Studien behufs Fortführung seines Werkes über Wil-
helm von Humboldt.
Hrn. Dr. C. Pauli zur Herausgabe des Corpus inseriptio-
num Etruscarum.
Hrn. Dr. Paul Wendland in Charlottenburg zur Vollen-
dung der von der Akademie angeregten Philoausgabe.
der @. Reimer’schen Buchhandlung in Berlin zur Heraus-
gabe von Gerhard »Etruskische Spiegel« Bd.V H. 14.
dem Oberlehrer Hrn. Dr. Heinrich Winkler in Breslau
zur Fortsetzung seiner altaischen Sprachstudien.
Hrn. Prof. Dr. Erdmann in Halle zur Fortsetzung psycho-
physischer Untersuchungen über den Vorgang des Lesens.
Hrn. Geh. Sanitätsrath Dr. Laehr in Zehlendorf zur Her-
ausgabe seines Werkes über die Litteratur der Psychiatrie,
Neurologie und Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert.
Verzeichnils der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage
oder mit Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder
herausgegebenen Werke.
Acta Borussica. — Denkmäler der Preussischen Staatsverwaltung
im 18. Jahrhundert. Herausgegeben von der K. Akademie
der Wissenschaften. — Die einzelnen Gebiete der Verwaltung.
XIV
Getreidehandelspolitik. Bd. 1. Die Getreidehandelspolitik der
uropäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert.
Darstellung von W. Naude. Berlin 1896.
Politische Correspondenz Friedrich’s des Grofsen. Bd. 22.23. Berlin
189571896.
Commentaria in Arıstotelem Graeca edita consilio et auctoritate
Academiae litterarum Reg. Borussicae. Vol. XXI. p.U.: Ano-
nymi et Stephani in artem rhetoricam commentaria ed. Hugo
Rabe. Berolini 1896.
Corpus inseriptionum Etruscarum administrante Danielsson ed.
Carolus Pauli. [Fasc.V. VI.] Lipsiae. (1896). 4.
Etruskische Spiegel. Herausgegeben von Eduard Gerhard. Bd.V. Im
Auftrage des Kais. Deutschen archaeologischen Instituts bearbei-
tet von A. Klügmann und G@. Körte. Heft14. Berlin 1896. 4.
Ergebnisse der Plankton-Expedition der Humboldt-Stiftung. —
Bd. Il. E.b. Die Pyrosomen der Plankton-Expedition. Von
Oswald Seeliger. — Bd.I. F.e. Die Acephalen der Plank-
ton-Expedition. Von Heinrich Simroth. — Bd.II. H.£.
Die Polycladen der Plankton-Expedition. Von Marianne
Plehn. — Bd. Il. E.c. Die Appendicularien der Plankton-
‘xpedition. Von H. Lohmann. Kiel und Leipzig 1895/96. 4.
Altmann, Wilhelm, die Urkunden Kaiser Siegmunds (1410-1437).
Lief. 1. Innsbruck 1896. 4.
Apollonius von Kitium. Illustrierter Kommentar zu der Hippokra-
teischen Schrift Tlepı ap@pwv. Herausgegeben von Hermann
Schöne. Leipzig 1896. 4.
Ascherson, Paul, Synopsis der mitteleuropäischen Flora. Bd. 1.
Lief. 1. 2. Leipzig 1896.
Buchenau, Franz, Flora der ostfriesischen Inseln. Leipzig 1896.
Chun, Carl, Atlantis. Biologische Studien über pelagische Or-
ganısmen. Bibliotheca zoologica. Origmal- Abhandlungen aus
XV
dem Gesammtgebiete der Zoologie. Herausgegeben von
R. Leuckart und C. Chun. Heft 19. Stuttgart 1896. 4.
Fausböll, V., the Jatakä together with its commentary, being
tales of the anterior births of Gotama Buddha. Vol. Vl.
London 1896.
Finke, Heinrich, Acta concilı Constanciensis. Bd.I. Münster ı.W.
1896.
Gebhardt, Bruno, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. Bd.1.
Bis zum Ausgang des Prager Congresses. Stuttgart 1896.
Grube, Wilhelm, die Sprache und Schrift der Jucen. Leipzig 1896.
Schmitz, Wilhelm, Miscellanea Tironiana. Aus dem Codex Va-
ticanus Latinus reginae Christinae 846 (Fol. 99-114) heraus-
gegeben. Leipzig 1596. 4.
Wernicke, Carl, Atlas des Gehirns. Abth. I. Breslau 1597. 4.
Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des
Jahres 1896.
Zum Nachfolger des am 31. December 1895 von seinem Amte
als Secretar zurückgetretenen Hrn. E. du Bois-Reymond wurde
von der physikalisch-mathematischen Classe Hr. Waldeyer gewählt
und bestätigt durch K. Cabmetsordre vom 20. Januar 1896.
Zum ordentlichen Mitgliede der physikalisch- mathematischen
Classe wurde gewählt:
Hr. Jakob Heinrich van't Hoff am 30. Januar 1596, bestätigt
durch K. Cabinetsordre vom 26. Februar 1596;
zu ordentlichen Mitgliedern der philosophisch-historischen Classe:
Hr. Reinhold Koser am 18. Juni 1896, bestätigt durch K. Cabinets-
ordre vom 12. Juli 1596,
XXVI
Hr. Max Lenz am 26. November 1896, bestätigt durch K. Cabinets-
ordre vom 14. December 1896.
Zu correspondirenden Mitgliedern wurden gewählt:
in der physikalisch - mathematischen Classe
Hr. Ernst Abbe in Jena am 29. October 18596,
» Rudolf Fittig in Stralsburg am 29. October 1596,
» Karl Wilhelm von Kupffer in München am 30. April 1396,
» Vietor Meyer in Heidelberg am 12. März 1896,
» Georg Neumayer in Hamburg am 27. Februar 1896,
» Max Noether in Erlangen am 30. Januar 1596,
» Jules-Henri Poincare in Paris am 30. Januar 1596,
» William Ramsay in London am 29. October 1896,
Lord Rayleigh in London am 29. October 1596,
Hr. Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg am 12. März 1596,
» Heinrich Weber in Stralsburg am 30. Januar 1596,
» Johannes Wislicenus in Leipzig am 29. October 1596;
in der philosophisch--historischen Classe
Hr. Johann Ludwig Heiberg in Kopenhagen am 12. März 1596,
» Otto Ribbeck in Leipzig am 16. Juli 1896,
» Heinrich Weil ın Paris am 12. März 1896.
(estorben sind:
die ordentlichen Mitglieder der physikalisch-mathematischen
Classe: .
Hr. Heinrich Ernst Beyrich am 9. Juli 1896,
» Emil du Bois-Reymond am 26. December 1896;
die ordentlichen Mitglieder der philosophiseh -historischen Classe:
Hr. Heinrich von Treitschke am 28. April 1896,
» Ernst Curtius am 11. Juli 1896;
Hr.
XXVIl
das auswärtige Mitglied der physikalisch-mathematischen Classe:
" August Kekul& von Stradonitz in Bonn am 13. Juli 1896;
die correspondirenden Mitglieder der physikalisch -mathema-
tischen Classe:
Armand-Hippolyte-Louis Fizeau in Paris am 18. Septem-
ber 1896,
Benjamin Apthorp Gould in Cambridge, Mass., U.S. A., am
26. November 1896,
Adalbert Krueger in Kiel am 21. April 1896,
Philipp Ludwig von Seidel m München am 13. August 1896;
die correspondirenden Mitglieder der philosophisch -historischen
Classe:
. Giuseppe Fiorelli m Neapel am 30. Januar 1896,
Adolf Merkel in Strafsburg am 30. März 1896,
Eugene de Roziere in Paris am 26. Juni 1596,
Louis Vivien de St. Martin in Paris am 26. December 1896.
de
Verzeichnils
der
Mitglieder der Akademie der Wissenschaften.
Am Schlusse des Jahres 1896.
I. Beständige Secretare.
Gewählt von der Datum der Königl.
Bestätigung
Hr. Auwers Sn. Fphys.-math. Classes 2.727 7°°5218782Apnleli)!
Ze Vahlen u. 2.22 2 rnhileihast: ee
SD TRe Enns Ssphil.-ibist. Schu ıne ASIHEN DZ
- Waldyr - . » . ... phys.-math - 23 896 Tanz!
I. Ordentliche Mitglieder
der physikalisch -mathematischen Classe der philosophisch -historischen Classe DatumbdersK angehen
Bestätigung
Hr. Heinrich Kiepert . . . . 1853 Juli 25.
Hr. Karl Friedr. Ramnelbarg . 220. nn nn nz Hl8barrNue
=. - Karl ‚Weterstraß 0000 Fr E5eN ya
- Albrecht Weber . . . . . 1857 Aug. 24.
- Theodor Mommsen . . . 1858 April 27.
- Adolf Kirchhof. . . . . 1860 März 7.
- Arthur Auwers a0 elle Aug. 18.
=. "Rudolf Verchow>. 02 u. ee re Sl) ee
- Johannes Vahlen . . . . 1874 Dee. 16.
- Eberhard Schade . . . 1875 Juni 14.
- Alexander Conzee . . . . 1877 April 23.
= ., Simon. ‚Schwendenen:: . m nu an. we er 1879 ll
= „Hermann. Munle 2... 2 2 1550 Marzald
- Adolf Tobler Se TEL. Aug. 15.
Hı
der physikalisch -mathematischen Classe
m
" Hans Landolt
Wilhelm Waldeyer
Lazarus Fuchs
Franz Eilhard Schulze .
Wilhelm von Bezold .
Karl Klein
Karl August Möbius
Adolf Engler .
Hermann Karl Vogel
Wilhelm Dames
Hermann Amandus Schwarz .
Georg Frobenius
Emil Fischer .
Oscar Hertwig
Max Planck
Friedrich Kohlrausch
Emil Warburg . . . .
‚Jakob Heinrich van’t Hof
der philosophisch-historischen Classe
Hr. Wilhelm Wattenbach
- Hermann Diels .
- Alfred Pernice .
- Heinrich Brunner .
- Johannes Schmidt .
- Otto Hirschfeld .
- Eduard Sachau .
- Gustav Schmoller
- Wilhelm Dilthey
- Ernst Dümmler
- Ulrich Koehler .
- Karl Weinhold .
- Adolf Harnack .
- Karl Stumpf
- Erich Schmidt .
- Adolf Erman
- Reinhold Koser .
- Max Lenz
XXIX
Datum der Königlichen
Bestätigung
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1881 Aug. 15.
1884 Febr. 18.
1884 April 9.
1884 April 9.
1854 April 9.
1884 April 9.
1884 Juni 21.
1885 März 9.
1886 April 5.
1887 Jan. 24.
1887 Jan. 24.
1887 Jan. 24.
1587 April 6.
15888 April 30.
1888 Dee. 19.
1888 Dec. 19.
1889 Juli 25.
1890 Jan. 29.
1890 Febr. 10.
1892 März 30.
1892 März 30.
1892 Dee. 19.
1893 Jan. 14.
1893 Febr. 6.
15893 April 17.
1894 Juni 11.
1595 Febr. 18.
1895 Febr. 18.
1895 Febr. 18.
1895 Aug. 13.
1895 Aug. 13.
1896 Febr. 26.
1896 Juli 12.
1896 Dee. 14.
II. Auswärtige Mitglieder
der physikalisch-mathematischen Classe
| mm nn
Hr. Robert Wilhelm Bunsen ın
Heidelberg 5
- Charles Hermite in Paris .
- Albert von. Kölliker in Würz-
burg
der philosophisch -historischen Classe
Hr. Otto von Boehtlingk in
Leipzig .
IV. Ehren-Mitglieder.
Earl of Crawford and Balcarres in Dunecht, Aberdeen
Hr. Max Lehmann in Göttingen .
- Ludwig Boltzmann in Wien .
- Eduard Zeller in Stuttgart
.
EE, ee
1892
1895
Datum der Kö,
B
1883 Juli
‘1887 Jan
1885 Jun
V. Correspondirende Mitglieder.
Physikalisch-mathematische Ülasse.
Ernst Abbe in Jena
Alewander Agassiz in Ceahäidee, DR
Adolf von Baeyer in München .
Friedrich Beüstein in St. Petersburg .
Eugenio Beltrami in Rom
Eduard van Beneden ın Lüttich
Francesco Brioschi in Mailand .
Stanislao Cannizzaro in Rom
Eleim Bruno Christoffel in Stralsburg
Ferdinand Cohn ın Breslau .
Alfonso Cossa in Turin
Luigi Uremona in Rom .
Richard Dedekind in Braunschweig
Alfred- Louis- Olivier Des Cloizeauxw in BER
Rudolf Fittig in Stralsburg .
Walter Flemming in Kiel
Edward Frankland ın London .
Remigius Fresenius in Wiesbaden .
Carl Gegenbaur in Heidelberg
Archibald Geikie in London .
Wolcott Gibbs in Newport, R. 1.
David Gill, Königl. Sternwarte am Cap der Gricch Hoffming
Karl Wilhelm von Gümbel in München
Julius Hann in Wien .
Franz von Hauer in Wien
Rudolf Heidenhain in Breslau
Wilhelm Ilis in Leipzig
‚Johann Wilhelm Hittorf in Münster
Sir Joseph Dalton Hooker in Kew .
Hr. William Huggins in London.
Lord Kelvin in Glasgow
Hr.
Leo age in else
Carl Wilhelm von Kupfer in München
Rudolf Leuckart in Leipzig .
Franz von Leydig in Würzburg
Rudolf Lipschitz in Bonn
Moritz Loewy in Paris 5 :
Eleuthere- Elie- Nicolas Mascart in Pane y
XXXI
Datum der Wahl
1896
1895
1884
1888
1881
1887
1881
1888
1565
1889
1895
1886
1880
1895
1896
1893
1875
1888
1884
1889
1885
1890
1895
1889
1881
1884
1893
1884
1854
1895
1871
1893
1896
1887
1387
1872
1895
1895
Oct. 29.
Juli 18.
Jan.l7.
Dee. 6.
Jan. 6.
Nov. 3.
‚Jan. 6.
Dee. 6.
April 2
Dee. 19.
Juni 13.
Juli 15.
März 11.
Juni 27.
Oct. 29.
Juni 1.
Nov. 18.
Dee. 6.
Jan. 17.
Febr. 21.
Jan22).
Juni 5.
Juni 13.
Febr. 21.
März 3.
JanıL7.
Juni 1.
Juli 31.
Juni 1.
Dee. 12.
Juli 13.
Mai 4.
April 30.
Jan. 20.
Jan. 20.
April 18.
Dee. 12.
Juli 18.
XXXU
Hr. Victor Meyer ın Heidelberg .
Karl Neumann in Leipzig
Georg Neumayer in Hamburg
Simon Newcomb in Washington
Max Noether in Erlangen
Wilhelm Pfeffer in Leipzig
Eduard Pflüger in Bonn .
Henri Poincare ın Paris
Georg Quincke in Heidelberg
William Ramsay in London
Lord Rayleigh in Witham, Essex
Hr.
Friedrich von Recklinghausen in Stralsburg .
Gustav Retzius in Stockholm
Ferdinand von Richthofen in Berlin
Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg .
Heinrich Rosenbusch ın Heidelberg
(George Salmon in Dublin Kı ASEPFER
Ernst Christian Julius Schering in Göttingen
Giovanni Virginio Schiaparelli in Mailand
Albrecht Schrauf in Wien.
‚Japetus Steenstrup in Kopenhagen
iv Gabriel Stokes in Cambridge
'. Eduard Strasburger in Bonn
- Otto von Struve in Karlsruhe
‚James Joseph Sylvester in London
August Töpler in Dresden
(Gustav Tschermak in Wien
Heinrich Weber in Stralsburg
Gustav Wiedemann in Leipzig
Heinrich Wild in Zürich .
Alexander William Williamson ın EDER Pitfold, Be
August Winnecke in Stralsburg .
‚Johannes Wislicenus in Leipzig .
Adolf Wüllner in Aachen.
Ferdinand Zirkel in Leipzig .
Karl Alfred von Zittel in München
Philosophisch-historische Classe.
-. Wilhelm Christian Ahlwardt in Greifswald
Graziadio Isaia Ascoli in Mailand .
Theodor Aufrecht in Heidelberg
Datum der Wahl
Er
1896 März 12.
1893 Mai 4.
1896 Febr. 27.
1883 Juni 7.
1896 Jan. 30.
1889 Dee. 19.
1873 April 3.
1896 Jan. 30.
1879 März 13.
1896 Oct. 29.
1896 Oct. 29.
1885 Febr. 26.
1893 Juni 1.
1881 März 3.
1896 März 12.
1887 Oct. 20.
1873: Juni 12.
1875 Juli 8.
1879 Oct. 23.
1895 Juni 13.
1859 Juli 21.
1859 April 7.
1889 Dee. 19.
1868 April 2.
1566 Juli 26.
1879 März 13.
1881 März 3.
1596 Jan. 30.
1879 März 13.
1881 Jan. 6.
1875 Nov. 18.
1879 Oet. 23.
1896 Oct. 29.
1889 März 7.
1887 Oct. 20.
1895 Juni 13.
1888 Febr. 2.
1857 März 10.
1564 Febr. 11.
XXXIIN
Datum der Wahl
ERellEa Benndorf inıWıen . 20. ern. .001893' Nov. 30:
Emo eBüchelensn Bonner 882 Fum 5:
eo EBühler me EEEIANTETEN: Aprul-LI.
SE aamPBmessernn: ondont. Wurm rel Bit HDE1887. 7 Nov. 17.
- Antonio Maria Ceriam in Maland . . . 2. .2.222.2...1869 Nov. 4.
- Edward Byles Cowell in London . . . 2» 2.2 ..2.2..2...1893 April 20.
Eu Teonsld- Veeior /Dehsle ın Panis.'. ......2°.,.. 7.7.1867 "April 11:
Hl eanmıcha)enstenın komı a. NEIN Dee» LE:
SE Wilhelm Ditienberger mn Halle. 2... m... ne u 1882 Juni 15:
- Louis- Marie- Olivier Duchesne n Rom . . . . 2... 1893 Juli 20.
ET RUSBTRCKerE DE nn EDrUCKEE er near TEI3r Tu 20:
Be RunDWbaschersnwkleidelberen en ee 18857 Jan.429:
Rau SRromsnsSHoucorenRans et en VE erale17.
- Karl Immanuel Gerhardt in Graudenz . . . . . . .... 1861 Jan. 31.
20 dona Kommerz Vene ee 893 Vetr19:
Se VEREINE ae We EEEEITNOCENN:
- Friedrich Wilhelm Karl Hegel in Erlangen . . . . . .. .. 1876 April 6.
- ‚Johann Ludwig Heiberg m Kopenhagen . . . . ..... 1896 März 12.
- Antoine- Marie- Albert Heron de Villefosse in Paris . . 11771218937 Febr: 2.
Se Hermann, von Holst in Chicago). 0... ger. % 2. 71889 Juli 25.
- Jean- Theophile Homolle in Athen . . . . ». 2 2.2..2...1887 Nov. 17.
- Friedrich Imhoof- Blumer in Wintertur. . . . » . .... 1879 Juni 19.
SE Vratostaus.Jagse 1nOW 1oe Ih Ren a . LBE0NDee. ‘16.
Kane lustnn® Bonn tee ish) kennt 1893, XNoY:.30.
Se PanaffionsRabbodiasiopNthenwes a eat Nov. 17.
Geo Bisabel, 10. StEalsbure wi... Matze eh ta SAL ‚Juni 4.
ehranza Kaelhoras in Göblineen 2 18807 Dee. 16.
Georg, Rriedrich Bnapp ın Stralsbure: - 22... 7718937 Dee. 14:
- Sigismund Wilhelm Koelle in London. . . . 2. ..2..2..2...1855 Mai 10.
-_ Stephanos Kumanudes in Athen . . 2. 2 2.2.2.2..2...1870 Nov. 3.
= Basil Latyschew in St. Petersburg... .- „1.02% u... 189, \duni 4.
GoEomDEInnmbr:050 Rom 2 1BTASENDW 2.
Ronradı MauressnaVMDinchen nn 1889 Juli 25.
do eMichaels inasStralsbursee ann 1888 Jung 21.
eos Miller sinn OxTorde ee, Mana ln. 7781865 Jan. 12.
Se iheoage Nöldeke ın Stralsbürg.. *. er mern Welle) „W187 Febr. 14.
ulusa OppertunBarısıe er u elle a: BEA März 18:
Gaston Fans m ‚kanns „wilkdhsinstnd. „Sonanlerrtt: 1188215 April' 20.
Se eorgesllkerr one arnısu ee ker ER ne er ui, 17.
SE WElReINERertscln 0 Gotha nn. .1888., Bebr. 2.
= Wilhelm Radlof in St. Petersburg. . . -. - ». 2... 189 Jan. 10.
XXXIV
Datum der Wahl
Eir= Fehr: Ravaisson ın Bars. 2.0 rat Teunmll:
-,,).O#0, ‚Ribbech: in Leipzig. .. : 2 2. We, 0 ae leunesjuleplig:
- Emil Schürer ın Göttingen ee ee a 20),
Ir Theodor. won‘ Sickel mn Rom. 2.22 rE SO eNDEMO:
- 1, Christoph‘ Stgwart in Tübingen. . . 2 REISE BBar an. 29.
- Friedrich ‚Spiegel in München . . © 2 2 21.2.2... .. 1862 März 12.
= (Wallicm. Stubbs 10 Oxford 2... SS2EENErZESUR
- Edward Maunde Thompson in London . . . . 2 .......1895 Mai 2.
= Hermann Üsener in Bonn een
- Curl Wachsmuth in Leipzig... =. nalen a SON
=. .Heinrich; Wei ın Paris 0.000.200 1S90 Marz
- Ulrich von Wilamowitz- Möllendorff in Göttingen . . . . . 1891 Juni 4.
- Ludwig Wimmer in Kopenhagen . . . . 2.2.2... .. 1891 Juni 4.
- Ferdinand Wüstenfeld ın Götungen er 1879 Febr. 27.
-ı Karl‘ Zangemeister n Heidelberg . . . . 2... 2.2... 0221887 Febr..10.
Wohnungen der ordentlichen Mitglieder.
Hr. Dr. Auwers, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lindenstr. 91. SW.
- - von Bezold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lützowstr. 72. W.
- —- Brunner, Prof., Geh. Justiz-Rath, Lutherstr. 36. W.
- - Conze, Professor, Charlottenburg, Fasanenstr. 14.
- - Dames, Professor, Joachimsthalerstr. 11. W.
- = Diels, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Magdeburgerstr. 20. W.
- - Dilthey, Prof.. Geh. Regierungs-Rath, Burggrafenstr. 4. W.
- - Dümmler, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Königin Augusta-Str. 53. W.
- = Engler, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Motzstr. 89. W.
- - Erman, Professor, Südende, Bahnstr. 21.
- - Fischer, Professor, Dorotheenstr. 10. NW.
- - Frobenius, Professor, Charlottenburg, Leibnizstr. 70.
- - Fuchs, Professor, Charlottenburg, Rankestr. 14.
- - Harnack, Professor, Fasanenstr. 43. W.
- - Hertwig, Professor, Maalsenstr. 34. W.
- - Hirschfeld, Professor, Charlottenburg, Carmerstr. 3.
- - vamwt Hof, Professor, Charlottenburg, Uhlandstr. 2.
- - Kiepert, Professor, Lindenstr. 11. SW.
AXXV
Kirchhoff, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 23. W.
Klein, Prof., Geh. Bergrath, Am Karlsbad 2. W.
Koehler, Professor, Königin Augusta-Str. 42. W.
Kohlrausch, Professor, Charlottenburg, Marchstr. 25”.
Koser, Prof., Geh. Ober-Regierungs-Rath, Director der Königl.
Staatsarchive und des Geheimen Staatsarchivs, Charlottenburg,
Hardenbergstr. 20.
Landolt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Albrechtstr. 14. NW.
Lenz, Professor, Augsburgerstr. 52. W.
Moöbius, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Sigismundstr. S. W.
Mommsen, Professor, Charlottenburg, Marehstr. 8.
Munk, Professor, Matthäikirchstr. 4. W.
Pernice , Prof., Geh. Justiz-Rath, Genthinerstr. 13". W.
Planck, Professor, Tauentzienstr. 18°. W.
Rammelsberg, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Grofs-Lichterfelde, Belle-
vuestr. 15.
Sachau , Prof., Geh. Regierungs-Rath, Wormserstr. 12. W.
Erich Schmidt, Professor, Matthäikirchstr. 8. W.
Joh. Schmidt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lützower Ufer 24. W.
Schmoller, Professor, Wormserstr. 13. W.
Schrader, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Kronprinzen-Ufer 20. NW.
Schulze, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Invalidenstr. 43. NW.
Schwarz, Professor, Villen-Colonie Grunewald, Boothstr. 33.
Schwendener, Prof.. Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 28. W.
Stumpf, Professor, Nürnbergerstr. 14/15. W.
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Vahlen , Prof., Geh. Regierungs-Rath, Genthinerstr. 22. W.
Virchow, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Schellingstr. 10. W.
Vogel, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Potsdam, Astrophysikalisches
Observatorium.
Waldeyer, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Lutherstr. 35. W.
Warburg, Professor, Neue Wilhelmstr. 16. NW.
Wattenbach, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Corneliusstr. 5. W.
Weber, Professor, Ritterstr. 56. SW.
Weinhold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Hohenzollernstr. 10. W.
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Gedächtnifsrede auf Heinrich von Sybel und
Heinrich von Treitschke.
- Von
I" GUSTAV SCHMOLLER.
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Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 2. Juli 1896 L}
[Sitzungsberichte St. NXXII. S. 747].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 10. Jı
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.
Ar: Leibniz-Tage sind für die Akademie Tage der Freude, sofern wir neue
Genossen willkommen heifsen, Tage der Trauer, sofern wir dem Schmerze
um Dahingeschiedene Ausdruck geben. Ich soll heute versuchen, uns
nochmal klar zu machen, was uns, was der Nation und der Wissenschaft
Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke waren. Jeder-
mann weils, dafs unter allen lebenden Deutschen, welche der neueren
Geschichte ihre Kraft widmeten, keiner diesen beiden Männern gleichkommt,
dafs ebenbürtig neben ihnen unter allen deutschen Historikern nur noch
zwei unserer ältesten Mitglieder genannt werden, um deren Erhaltung wir
täglich das Geschick bitten.
Nur schweren Herzens habe ich den Auftrag übernommen, über die
zwei Dahingegangenen zu reden. Aber da die Akademie im Augenblick
keine vollen Vertreter der neueren Geschichte hat, so mulfste ich eintreten,
wenn auf die Akademie nicht der Makel fallen sollte, sie habe über zwei
ihrer besten Glieder nichts zu sagen gewulst an dem Tage, welcher ihren
grolsen Todten geweiht ist. Und ich kann wenigstens das für mich an-
führen, dafs ich beiden in langjährigem Verkehr nahe stand und dafs
‘manchmal unbefangener sieht und urtheilt, wer von einem nachbarlichen
Gebiete aus beobachtet.
IE
Ich möchte mit einem Worte persönlicher Erinnerung an die Tage
beginnen, da ich beide zum erstenmal im Kreise der gesammten Berliner
Historiker sah und kennen lernte.
Ich kam zu Anfang des Jahres 1864 zuerst hieher und habe dann in
den folgenden 10-15 Jahren fast stets die Frühjahrsferien in Berlin zu-
1"
4 G. ScumoLteEr:
gebracht, um in den hiesigen Bibliotheken und Archiven zu arbeiten. Ich
traf da meinen alten Lehrer Max Duncker, der mich in Tübingen in die
historischen Studien eingeführt hatte, der mir stets nach Charakter und poli-
tischem Urtheil ein verehrungswürdiges Vorbild blieb, dann J. G. Droysen,
dessen männliche charaktervolle Geschlossenheit ebenso auf mich wirkte,
wie seine preufsischen Studien, die ich nach der Verwaltungsseite hin
fortzuführen unternahm. Bald liefs auch Ranke mich einmal zu sich
rufen und ich könnte heute noch den Eindruck schildern, den diese
erste Begegnung, der Tiefsinn der hingeworfenen Worte des grofsen
Mannes mir machte. Auch Wilhelm Nitzsch sah ich in jenen Jahren
zuerst, er zog mich als der Begründer der älteren deutschen Wirthschafts-
geschichte doppelt an; seine stets geistreichen, wenn auch oft gewagten
Combinationen haben mir erst die ältere deutsche Geschichte verständlich
gemacht, jedenfalls mehr als diefs die Urkundenforscher vermochten, als
deren gröfster Vertreter ja dann Waitz nach Berlin kam, um neben Nitzsch
hier in der Akademie zu sitzen. Wenn ich mich recht erinnere, war es
in Gesellschaft von Waitz, Duncker und Droysen, dafs ich Heinrich
von Sybel zum erstenmal sah. Er erschien damals vor Allem als der
grolse vornehme Führer der Landtags-Opposition, als einer der wenigen,
dem die ganze liberale Welt die Fähigkeit und die Kraft zu einem Minister-
posten zutraute. Treitschke war in jenen Jahren meist zur selben Zeit
wie ich in Berlin; wochenlang haben wir damals nach dem Archiv täglich
im hintern Stübehen bei Lutter und Wegner zusammen gegessen; gar oft
waren er, Baumgarten und ich das Kleeblatt, das sich zusammenfand; er
war damals das Bild jugendlich männlicher Kraft und Lebendigkeit, un-
erschöpflich im Discutiren und Erzählen; er war damals des Gehörs noch
nicht ganz beraubt.
Alle diese genannten Männer waren Zierden der deutschen Geschichts-
wissenschaft, alle waren Mitglieder dieser Akademie; trotz aller Verschieden-
heit und Gegensätze waren sie in gewissen Hauptpunkten der Methode und
in einer idealen Weltanschauung einig; sie bilden zusammen mit wenigen
anderen Historikern den Kreis der Männer, welche die deutsche Geschichts-
wissenschaft des 19. Jahrhunderts auf ihre Höhe geführt haben. Ihre Geburts-
Jahre fallen in die Epoche von 1795-1834, ihre Todesjahre in die kurze
Spanne von 1880-1896. Sie alle deckt heute der grüne Rasen, fast alle lie-
gen nachbarlich gebettet auf demselben Friedhof. Als wir von Sybel’s und
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 5
Treitschke’s Begräbnifs heimkehrten, erfüllte mich vor Allem die Frage,
haben wir hier nicht mehr, als zwei grofse Freunde, Genossen und Lehrer,
haben wir hier nicht die grofse Blüthezeit deutscher Geschichtschreibung
begraben? Ist sie mit ihnen wirklich dahin? sind wir in eine kleine Zeit
der Epigonen eingetreten? Warum fassen wir die Zeit von Ranke bis
Treitschke als den Höhepunkt deutscher Historie auf, was waren ihre
Ursachen, wodurch unterscheiden sich die jüngeren und späteren Historiker
von diesen Koryphäen? Haben wir das Wort Sybel’s auf sie und ihre
Nachfolger anzuwenden: nur eine grolse Zeit kann grolse Historiker
haben?
Ich will noch nicht versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Nur
darin möchte ich mich gleich Sybel anschliefsen, dafs allerdings die
grolsen Schicksale unseres Vaterlandes auch die letzte Ursache des wissen-
schaftlichen Aufschwungs in den letzten hundert Jahren waren. Die Siege
von Hohenfriedberg, Rofsbach und Leuthen, von Leipzig und Waterloo,
von Königgrätz und Sedan waren die Vorbedingung für eine deutsche
Geschiehtswissenschaft grofsen Stils, oder vielmehr sie gingen aus derselben
geistigen Spannkraft hervor, welche zur Blüthe unseres geistigen Lebens
führte. Wie nach und während der Freiheitskriege Niebuhr auftrat und
der Freiherr vom Stein die Monumenta Germaniae gründete, so hat die
Welt- und Geistesstimmung von 1815-1840 Ranke, die von 1840-1880
die politischen Historiker erzeugt. Es war die allgemeine Lage der vater-
ländischen Angelegenheiten, welche die besten und fähigsten Köpfe von
ıSoo an in den Dienst der Geschiehtswissenschaft führte, sie zur Er-
forschung der deutschen Vergangenheit, der grofsen Epochen unserer Ge-
schichte, zur Untersuchung unserer Stellung im Zusammenhang der abend-
ländischen Cultur trieb. Freilich kam Anderes hinzu. Lessing und Goethe
hatten die deutsche Sprache auf die Höhe der westeuropäischen gehoben,
das goldene Zeitalter der deutschen Poesie und der deutschen Philosophie
hatte einen edlen Idealismus erzeugt, die Fortschritte des Naturerkennens
und der Philologie hatten den Sinn für nüchterne Einzelforschung gestärkt.
Das war der Moment, da Niebuhr und Ranke die deutsche Geschichts-
forschung auf den Boden der kritischen Methode hinüberführen und der
deutschen Geschichtschreibung zugleich jenen Adel idealen Geistesschwunges
verleihen konnten, der erst weltbürgerlich und klassisch, dann national
und politisch gefärbt die Resultate der Forschung zu unvergänglichen
6 G. ScHMOLLER:
Kunstwerken zu verwerthen und die Menschen, die historischen Verhält-
nisse und Schicksale an den höchsten Mafsstäben des Werthes messend,
diese Kunstwerke selbst zu grofsen Ereignissen und Ursachen der natio-
nalen und geistigen Weiterentwickelung zu erheben vermochte.
Denn das ist ja das Eigenthümliche: die beste empirische Methode
der Forschung macht noch keine grofsen Historiker. Sie kann Einzel-
forscher, Editoren, Urkundensammler, Kritiker erzeugen. Wer aber die
Schicksale der Völker erzählen, aus ihrer stets trümmerhaften Überlieferung
ein Ganzes machen, wer, wie Savigny sagt. aus dem Mannigfaltigen,
welches die Geschichte darbietet, die höhere Einheit,. das Lebensprineip
suchen will. woraus das Einzelne zu erklären ist, — der mufs einmal
ein Menschenkenner ersten Ranges sein, und aufserdem mit divinatori-
schem Geist, mit universaler Bildung die Höhen und die Niederungen alles
menschlichen Lebens überblicken und mit Scharfsinn durchdringen können.
Alle historische Kritik wird ihm nur Anlafs zu neuem besserem Aufbau.
Er mufs als grofser Künstler das unerschöpfliche Meer der Einzelthatsachen
gleichsam comprimiren, die grofse weite Welt wie in einem verkleinern-
den Hohlspiegel zusammenfassen und sie doch ganz in der Art des Zu-
sammenhanges und unter Aufdeckung der Causalität darstellen können,
welche die Wirklichkeit beherrschte. Und bei diesem Geschäft, wie bei
seinem Urtheil über die Menschen und Ereignisse leitet ihn neben dem
genialen Blick zuletzt vor Allem seine Weltanschauung, d. h. diejenige
Gruppe centraler Vorstellungen und Urtheile, in deren vollendeter Ein-
heitlichkeit seine Individualität besteht, deren geschlossener Ring sein prak-
tisches, wie sein theoretisches Handeln bestimmt. Alle grofsen Menschen,
alle bedeutenden und eingreifenden Denker und Forscher müssen zu einer
klaren Einheit, zur Herrschaft bestimmter Vorstellungen in ihrem Geiste
kommen; sie müssen — das folgt aus dem unwiderstehliehen Einheitsdrang
der menschlichen Vernunft — zu einer einheitlichen Weltanschauung sich
durchringen, welche Zweifel im Einzelnen so wenig ausschliefst, als die
Einsicht, dafs diese Weltanschauung nicht ganz auf der Erfahrung ruht.
Jede Weltanschauung geht über die ganz gesicherte empirische Erkennt-
nifs hinaus; denn sie giebt Antwort auf die letzten grofsen Fragen der
Menschheit. Es hat nie einen grofsen Historiker gegeben, der nicht über
das Verhältnifs der Gottheit zur Menschengeschichte, über Ursprung und
Ziel der historischen Entwiekelung, über Fortschritt oder Rückschritt und
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. ®
ihre Ursachen, über die grofsen Tendenzen in den inneren Veränderungen
der Staaten, über ihre Wechselwirkung unter einander, über die letzten
sittlichen und politischen Fragen eine feste Überzeugung gehabt hätte.
Ohne einen solchen festen Punkt müsste sein Gerede in eklektischem
werthlosem Hin- und Herreden verlaufen. Die Überzeugung kann enger
begränzt, auf bestimmte Zeiträume und partielle Theile der Entwicke-
lung beschränkt oder weiter greifend universal sein; sie kann in mehr
empirischem oder mehr philosophisch konstruktivem Gewand auftreten.
Immer wird sie in ihrem fest begründeten Theil auf dem vorhandenen
Bestande des empirisch gesicherten Wissens ruhen, aber darüber hinaus
Hypothesen, Ahnungen, Wahrscheinliehkeiten enthalten und so subjeetiv
gefärbt sein. Sie wird um so werthvoller sein, je umfangreicher das Wissen
ist, aus dem sie entstanden, und je höher der ganze Standpunkt des
Historikers gegriffen ist. Aber sie wird nie ausschliessen, dafs spätere
Zeiten, andere Richtungen zu einer anderen Weltanschauung und damit zu
einer anderen Art der Betrachtung der Erscheinungen, zu einem anderen
Urtheil über das Wesentliche der Ursachen und über den Werth der
Menschen und der Einrichtungen kommen.
Von diesem Werthurtheil, das bei keinem grofsen Historiker fehlt,
hängt ein guter Theil seiner Wirksamkeit und Bedeutung ab. In diesem
Werthurtheil zeigen sich die innersten Vorgänge seines Gemüthslebens wie
die letzten Wurzeln seiner Bildung, seiner Begabung, seiner geistigen Grölse,
zeigt sich die Art, wie sein Genius in seiner Zeit wurzelt, seine Zeit ver-
steht und sie erhebt.
Wir werden also auch Sybel und Treitschke nur verstehen können,
wenn wir versuchen, sie nicht nur als Gelehrte und Forscher, sondern
auch als Charaktere und Vertreter einer bestimmten Weltanschauung zu
begreifen und wenn wir so zugleich den Punkt finden, um sie selbst in den
Zusammenhang des deutschen Geisteslebens und der grofsen nationalen
Ereignisse einzureihen. Das scheint am leichtesten, wenn wir ein Wort
über Ranke vorausschicken, um die Beiden in ihrem Zusammenhang,
wie in ihrem Gegensatz zu ihm zu begreifen.
Ranke’s Weltanschauung wurzelte in der weltbürgerlichen Humanität,
der romantiseh-philosophischen und aesthetischen Stimmung der Zeit, welcher
Goethe und Hegel den Stempel aufgedrückt; seine stärkste Überzeugung
war doch wohl die religiöse. Eusebianisch -augustinische Gedankengänge
8 @. SCHMOLLER:
verbinden sich in ihm mit dem lebendigsten lutherischen Protestantismus.
In der deutschen Reformation sieht er, der sonst in solchen Äufserungen
so vorsichtige, den Finger Gottes; hier glaubt er den Plänen der göttlichen
Weltregung zu lauschen. Er beherrscht die ganze Philosophie seiner
Zeit, die Litteratur der Alten und der Renaissance; und indem er dazu
eine unglaubliche Menge neuer aus den Archiven geholter, auf ihren ächten
Gehalt zurückgeführter Kenntnisse fügt, möchte er einerseits die Welt-
geschiehte in ihrer Einheit, das Wechselspiel der romanischen und ger-
manischen Völker vom 15.-18. Jahrhundert in seiner Totalität erkennen,
— wie er als 33Jjähriger schreibt: die Entdeckung der unbekannten Welt-
geschichte wäre mein gröfstes Glück, — und andererseits verurtheilt er
jede Construction, findet jedes philosophische System unbefriedigend, be-
tont er nüchtern stets wieder die engen Gränzen unseres Wissens, will
über die grofsen Männer, denen er seine ganze Forschung gewidmet, nur
schüchtern ein Urtheil wagen. Er verwirft jeden Strich der Zeichnung,
den er nicht quellenmäfsig belegen kann. Ganz philosophisch angelegt,
wird er doch zum Begründer der kritischen Methode, ist ganz realistisch,
verfährt ganz empirisch. Er sagte einmal, er wolle zur Erfüllung seines
universalhistorischen Zweckes gelangen durch den Weg, den Niebuhr ein-
schlug, und zugleich durch die Tendenz, die Hegel vorschwebte. Nur
ein so ganz aufserordentlicher Geist konnte so weit auseinander Liegendes
in sich vereinigen, konnte auf der einen Seite so klar, voraussetzungslos
und nüchtern die politischen Machtentwickelungen und Charaktere zeichnen,
auf der anderen so kühn versuchen, die letzten Ursachen alles historischen
Geschehens in grandiosen Ideenbildern, Ideenkämpfen wie Ideenevolutionen
zusammenzufassen. Er erschien darum dem Einen als Mystiker, dem An-
dern als sittlich und politisch indifferenter Realist. Es lag in seinem Wesen
das höchste Mafs von historischer Objeetivität, aber aufgebaut auf einer
religiös-philosophischen, von der Gegenwart abgewandten quietistischen
Stimmung. Wie er an keinen geistig-sittlichen Fortschritt glaubte, so hat
er den Einflufs der grofsen Männer später immer geringer geschätzt gegen-
über den allgemeinen geistigen Tendenzen und von einer Geschichtschreibung
der Gegenwart wenig wissen wollen, weil kein Mitlebender den Standpunkt
hoch genug greifen könne. Vollends die Messung der historischen Er-
scheinungen an den politischen Theorien der Gegenwart erschien ihm als
schlechtweg verwerflicher Doectrinarismus.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. $)
Das waren Anschauungen, die 1815-1840 entstehen konnten, ja mufsten,
die aber in dem Geschlecht, das 1830-1860 heranreifte, nicht fortzudauern
vermochten. An die Stelle der weltbürgerlichen Humanität trat deutscher
Patriotismus, an die Stelle einer philosophisch-aesthetischen eine politisch-
verfassungsgeschichtliche Atmosphaere, an die Stelle einer Empirie, die
nur den Zusammenhang der Ereignisse und der Ideen untersucht, eine
solche, welche Recht, Verfassung, Kunst, Litteratur, sociale Zustände und
Verwaltungseinrichtungen ebenso ergreifen will. Nicht mehr Abwendung
von der Gegenwart, sondern Leben in ihr und Wirken auf sie mufste die
Losung der jüngeren Generation werden. Auch die, welche wie Duncker
und Droysen noch ganz mit der Philosophie begannen, wendeten sich
bald der realistischen Erfassung der historischen Thatsachen zu. Dahl-
mann’s energischer patriotischer Charakter wurde das Vorbild für die
besten Köpfe und die edelsten Gemüther. Deutschland mufste eine ganze
Schule politisch-nationaler Historiker erhalten, die in Duncker, Droysen,
Häusser, Sybel und Treitschke ihre Führer und Höhepunkte hatte.
I.
Heinrich von Sybel war 1817 geboren; er stammte aus gebildeter,
wohlhabender Familie; väterlicherseits aus Soest, wo seine Ahnen nach-
weisbar als Patrieier seit dem 15. Jahrhundert lebten, um später zum
Pfarrerberuf überzugehen, während sein Vater ein angesehener Jurist von
starkem Selbstgefühl war; mütterlicherseits aus Elberfelder Fabrikanten-
und Kaufmannskreisen. Er kam 1834 nach Berlin, um Geschichte und
Jura zu studiren, als eben das gebildete rheinische Bürgerthum in Hanse-
mann’s Schrift »Frankreich und Preufsen 1833« die altväterische Berliner
Bureaukratie belehrt hatte, dafs die rheinisch-constitutionellen Ideen Einflufs
im Staate begehrten. Die Hansemann, von der Heydt, Kamphausen,
Mevissen, die von nun an über ein Menschenalter die Spuren ihrer Wirk-
samkeit dem preufsischen Staate aufdrückten, waren die Freunde seines
Vaters auf den rheinischen Landtagen und wurden bald seine eigenen.
Wenn man sagen kann, die Auseinandersetzung zwischen den rheinisch-
liberalen Ideen und den altpreufsischen aristokratisch-feudalen habe die
innere Geschichte des preufsischen Staates 1830-1870 beherrscht, so wird
man auch behaupten dürfen, Heinrich von Sybel sei der wissenschaft-
Gedächtnifsreden. 1896. 1. 2
10 G. SCHMOLLER:
liche Vorkämpfer dieses rheinischen mafsvollen, etwas kaufmännisch-aristo-
kratisch gefärbten Constitutionalismus geworden.
Zunächst ging er durch die Schule von Ranke und Savigny. Der
Letztere gab ihm, wie er selbst sagt, »jenes volle Quantum juristischer
Bildung, das die unerläfsliche Bedingung für die Erkenntnifs und Dar-
stellung politischer Geschichte ist«; in den umfangreichen juristischen
Studien vollendete sich seine rationelle Verständigkeit, seine logische Klar-
heit und dialektische Gewandtheit. Noch gröfseren Einfluls aber gewann
doch Ranke; von ihm übernahm er die streng kritische wissenschaftliche
Methode, den Sinn für universale Bildung, die Abneigung gegen das
historische Specialistenthum; wie Ranke hat er gleichmäfsig in antiker,
mittelalterlicher und neuer Geschichte gearbeitet; er theilt mit ihm die
idealistische Grundstimmung, die reinen sittlichen Empfindungen. Und
doch stand der kunst- und scharfsinnige, bei aller Gemüthsweichheit schlag-
fertige und kampflustige junge Rheinländer seinem thüringischen tiefsinnig
contemplativen Lehrer von Anfang an als eine gänzlich andere Natur
gegenüber. Niebuhr und Burke hatten als Charaktere und politische
Köpfe doch eigentlich noch tiefern Eindruck auf ihn gemacht. Sybel hatte
ein ganz anderes Bedürfnils, die Dinge realistisch zu fassen, den Mechanismus
des Verfassungs- und Wirthschaftslebens zu verstehen. »Übel war es«,
sagt er selbst von seiner Studienzeit, »dafs ich nicht gleichen Fleils wie auf
die juristischen Studien auf die Philosophie verwandte;« er gesteht, dafs
er Hegel nicht recht habe bewältigen können. Die letzten und grofsen
Fragen der Philosophie sind ihm stets fern geblieben; ja er hatte eine
förmliche Abneigung gegen alles Speculative, wie es doch in Ranke immer
wieder durchbricht. Religiös nicht indifferent, war er neben Ranke doch
das heitere lebensfreudige, in der sonnigen Helle rheinischer Kunst und
Lebenslust erwachsene Weltkind, dem Pfaffengezänk, Glaubensdruck und
weltliche Priesterherrschaft zeitlebens das Unerträglichste dünkte.
Es will mir scheinen, man fasse sein geistiges Wesen am richtigsten
so zusammen: eine erstaunliche Dosis gesunden Menschenverstandes, eine
scharfe, durchdringende Menschenkenntnifs, ein förmlicher Spürsinn für alle
Feinheit diplomatischer Verschlingungen und komplieirter politischer Vor-
gänge, ein freier, klarer Blick für das Grofse und das Kleine der mensch-
lichen Dinge, unbestechliche Wahrheitsliebe, kampflustige Schärfe und
feine Ironie, vornehme Urbanität, Glück und Geschick in der eigenen
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 11
Lebensführung, im Haus und auf dem Katheder, in den Geschäften und
in der Politik: so war Heinrich von Sybel. Von Haus aus mehr gesetzt
als lebhaft, ursprünglich kein geborener Redner, im Stil stets einfach,
zurückhaltend, meist einer leidenschaftslosen Ruhe beflissen, ist er doch
durch Fleifs und Selbstzucht, durch angeborenes feines Gefühl und künst-
lerische Phantasie der feinste und klarste historische Erzähler, einer der
glücklichsten akademischen Lehrer und politischen Redner geworden. Poli-
tisches Interesse und Patriotismus haben ihn immer wieder der Wissen-
schaft zu entführen gesucht: ein freundliches Geschick hat ihn immer
wieder der schriftstellerisch-historischen Thätigkeit zurückgegeben. Nur
hat er seine Aufgaben immer mehr der Gegenwart und ihren grofsen
politischen Interessen angepalst.
Es ist erstaunlich, zu sehen, wie er in seinen jungen Jahren, ja bis
in die Tage des Gulturkampfes, jeden Moment bereit ist, in den öffent-
lichen Kampf der Geister einzutreten, unbarmherzig alles, was ihm dunkel,
mystisch, unklar dünkt, zu bekämpfen, in scharfer Polemik dem Gegner
zu Leibe zu gehen. Klingen doch schon die Thesen, die er seiner Doctor-
dissertation anhängt, halb wie kampflustige Ironie gegen seinen Meister. Er
erklärt, man müsse Geschichte »cum ira et studio« schreiben; Personen,
nicht Einrichtungen bestimmten die Geschicke der Völker. Seine erste grofse
wissenschaftliche Schrift über den ersten Kreuzzug will den romantischen
Nimbus, den die Sage und Legende um Peter von Amiens und Gottfried
von Bouillon gewunden, zerstören. Eine »bissige« Kritik Schlosser’s.
wie er sie selbst nennt, will den philisterhaften Moralisten treffen; da sie
Eichhorn gefällt, verschafft sie ihm die aufserordentliche Professur. Mit
der Schrift über den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen
heiligen ungenähten Röcke (1844) will er der damaligen Agitation der
Ultramontanen und der ganzen mittelalterlichen Weltanschauung entgegen-
treten, wie bald darauf mit der Broschüre über die politischen Parteien
im Rheinlande (1847). Und indem er nun in mehrjähriger Arbeit seine
mittelalterlichen Verfassungsstudien in der Schrift über die Entstehung
des deutschen Königthums zusammenfalst, so ist auch hier die Polemik
nieht zu verkennen; sie ist gegen die romantische Deutschthümelei ge-
richtet, die die alte germanische Verfassung statt aus der realen Erkennt-
nils wirthschaftlicher und socialer Zustände aus einem bevorzugten ger-
manischen Volksgeist ableiten, nieht anerkennen will, welch grofse Wir-
I*
12 G. SCHMOLLER:
kungen das römische Staatswesen auf das spätere germanische Königthum
geübt habe.
Auch in Marburg und München bleibt er im Vordertreffen der poli-
tischen Kämpfe und Aspirationen. Er sagt dem ihm so freundlich gesinnten
König Maximilian, dafs die von ihm in’s Auge gefafste politische Triasidee
ein Unsinn sei, und in fast unhistorischer Identifieirung der alten deutschen
Kaiserzüge nach Italien mit den Tendenzen habsburgischer Hauspolitik
erklärt er den für deutsches Kaiserthum schwärmenden Bajuwaren, dafs
diese ritterlichen Züge nach Italien falsch, weil nicht national sondern
auf Weltherrschaft gerichtet gewesen seien. Und nach Bonn zurückgekehrt
theilt er viele Jahre hindurch seine Zeit zwischen Wissenschaft und Politik,
nicht ohne zeitweise dem Parteipolitiker die Herrschaft über den wissen-
schaftlichen Denker einzuräumen. Von seiner Oppositionsthätigkeit in den
Jahren 1862-1364 hat er später selbst ähnlich gedacht, wie seine meisten
wissenschaftlichen Freunde schon damals. Er sollte und wollte im Januar
1864 für die Mehrheit des Abgeordnetenhauses dem Ministerium Bismarck
die ı2 Millionen Thaler zum Krieg gegen Dänemark verweigern; daran
hinderte ihn ein Diphtherieanfall. Er verzeichnet selbst später das Ereignils
mit den Worten »der Himmel war so gnädig, mich an weiterer Blamage
zu hindern«. Der Ausspruch ehrt ihn nur, denn er zeigt seine Wahrheits-
liebe und seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Im Ganzen aber dürfen wir auch
von seiner politischen Thätigkeit sagen, dafs sie durch Takt, Lebensklug-
heit, diplomatische Gewandtheit, wie durch grofsen Blick und weites histo-
risches Urtheil sich auszeichnete. Es waren dieselben Eigenschaften, die
ihn zum Archivleiter, Herausgeber der historischen Zeitschrift, zum Orga-
nisator so vieler wissenschaftlicher Unternehmungen und Editionen grolsen
Stils besonders befähigten.
Aber so Vieles er so praktisch und politisch leistete, wir feiern ihn
heute hier nicht wegen dieser Verdienste, sondern als Gelehrten. Für uns
ist er in erster Linie der Verfasser der Geschichte des Revolutionszeitalters
und der Begründung des Deutschen Reiches. In diesen Werken, besonders
im ersteren, liegt seine eigentliche Lebensarbeit, seine Gröfse und sein
wissenschaftliches Verdienst.
Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm enthält
die Geschiehte der preufsisch-deutschen auswärtigen Politik von 1858 bis
zum Ausbruch des Krieges von 1870 in sieben Bänden; an der Fertig-
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 13
stellung hat der Tod den Verfasser gehindert. Die deutsche Nation kann
dem Verfasser nicht dankbar genug sein, dafs er ihr diese musterhafte Dar-
stellung nach den preufsischen Acten geliefert hat; persönliche Erlebnisse
und Eigenschaften, wie amtliche Stellung befähigten ihn, wie keinen anderen,
zu dieser grolsen Leistung. Viele Theile des Werkes, wie die Schilderung
des Feldzuges von 1866 und der Bismarck schen Staatskunst von ı863 bis
1866 werden für alle Zeiten zu den Perlen der historischen Litteratur zählen.
Wir werden ähnlich wie in Bezug auf Ranke’s Weltgeschichte immer
wieder bewundernd ausrufen müssen, welche Kraft, die nach dem 70. Jahre
Derartiges vollenden konnte. Aber die Bedeutung seines anderen Haupt-
werkes kann das Buch doch nicht beanspruchen. Die innere Politik Deutsch-
lands wird in demselben nur da und dort gestreift; das Ganze ist mehr
nur eine äufsere Erzählung, als eine Herleitung aus den innersten bewe-
genden Kräften; das Urtheil ist zurückhaltender, die Darstellung noch
glatter als in seinen früheren Werken; sie muls über Vieles weggleiten,
redet sie doch von den lebenden und regierenden Personen der Gegenwart
und des eigenen Staates. Ohne Sybel’s Kunst und Discretion wäre das
Buch gar nicht möglich gewesen. Aber unüberwindliche Schranken lagen
hier auch für den freiesten Geist und den geschicktesten Historiker vor.
Über Vieles wird erst die Zukunft und die Eröffnung der fremden Archive
volle Aufklärung bringen. Auch das Urtheil über die handelnden Personen
wird anders werden, selbst über Bismarck, den Sybel ja voll anerkennt
und bewundert, über dessen Contliete mit dem König und dem Hof er
aber nichts sagt. Selbst von befreundeter Seite äufserte man, in seiner
Darstellung komme der Löwe nicht zum Ausdruck: von anderer Seite meinte
man gar, er habe aus einer Tiger- eine zahme Hauskatze gemacht. Auch
darin lag eine Schranke, dafs der 70jährige die Erreichung seiner poli-
tischen Lebensideale erzählt; wer in dieser Lage ist, kann für die neuen
gährenden Elemente der nachdrängenden Zukunft kein volles Verständnils
haben.
‚In weleh anderer Lage war da Sybel dem Revolutions-Zeitalter gegen-
über. Die volle Kraft seiner besten Jahre hat er dieser Aufgabe gewidmet.
Er stand diesem gröfsesten politischen Ereignifs der neueren europäischen
Geschichte mit der vollen Theilnahme des Mannes gegenüber, der noch
unter ihren Nachwirkungen lebt, aber andererseits hatte er die volle Un-
befangenheit des Deutschen und des Forschers, der durch 60-70 Jahre
14 G. SCHMOLLER:
von dem abgelaufenen Zeitalter getrennt ist. Er war zu dem Ergreifen
dieses Themas auch durch einen praktisch-politischen Anlafs gekommen; es
waren 1848-1850 wieder communistische Ideen aufgetaucht. Sybel wollte
das Fiasco derselben in der französischen Revolution den Zeitgenossen vor-
führen. Aber seine Studien führten ihn weiter; er durchsuchte die euro-
päischen Archive und die Zeitungen und Broschüren jener Tage: seine
kritische Methode nöthigte ihn immer weiter in’s Einzelne einzudringen,
den Gegenstand von allen Seiten zu fassen. So wurde aus der beabsich-
tigten Broschüre ein grofses erst dreibändiges Werk, das die sechs Jahre
1789-1795, später ein fünfbändiges, das ıı Jahre 1789-1800 behandelte.
Fast 30 Jahre seines Lebens, 1850-1880, hat er dieser im ganzen so kurzen
Epoche gewidmet. Immer wieder hat er neue Archivalien herangezogen,
seine Darstellung revidirt, in Streitschriften mit den Gegnern verthei-
digt. Aber was hat er auch damit erreicht! Die anerkannt erste ganz
wahrheitsgetreue Berichterstattung über die Revolution, die Zerstörung
aller der Legenden und politisch-tendenziösen Erzählungen, die haupt-
sächlich in Frankreich bisher geherrscht hatten. Eine Darstellung, die nicht
blofs auf Grund einiger Gesandtschaftsberiehte, wie es Ranke liebte, in
wenigen grolsen Strichen ein neues Bild gab, sondern die Schritt für Schritt
durch Einzeluntersuchung und Heranziehung eines fast unübersehbaren
Materials die ganze innere und äufsere, die wirthschaftliche, sociale, ad-
ministrative, finanzielle und Verfassungsgeschichte Frankreichs nebst allen Be-
ziehungen zum Auslande und den kriegerischen Ereignissen giebt: aber
er beschränkt sich als ächt Ranke’scher Schüler nieht blofs auf die diree-
ten Beziehungen Frankreichs zu dem Ausland; er erkennt, dafs man die
französische Revolution nicht blofßs aus sich, sondern ebenso aus den ge-
sammten Beziehungen und Spannungen Frankreichs zum übrigen Europa
verstehen lernen muls. Und so verknüpft er in äufserst geschiekter Grup-
pirung des Stoffes die französische Geschichte mit der Schilderung der
ganzen damaligen europäischen Staatenwelt. Er führt uns diese Staaten
in grols gehaltenen Umrissen, ihre Fürsten und Staatsmänner, ihre poli-
tischen Tendenzen vor. Wir sehen den Zusammenhang der französischen
und der russischen Kriegsabsichten, wir begreifen so, wie der Untergang
des französischen Feudalstaates und die Revolution mit der Auflösung des
deutschen Reiches und der Zertheilung Polens zusammenhängt, wie es
sich um einen grofsen einheitlichen europäischen Zersetzungsprocefs han-
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 15
delt; es liegt in der Aufdeckung dieser Zusammenhänge die eigenartigste
Leistung Sybel's.
Und wenn die damaligen politischen Vorstellungen und Neigungen
Sybel’s in das grofse monumentale Werk naturgemäls mit eindrangen, wenn
wir seine socialen und volkswirthschaftlichen Urtheile heute nicht mehr ganz
theilen, wenn wir heute fordern würden, dafs das Urtheil sich ebenso
sehr auf einer Vergleichung von 1700 und 1790, wie auf einer solchen
von 1790 und 1850 aufbaue, wenn die heutige Forschung bereits die
Schuld der einzelnen mitwirkenden Personen und Parteien wieder etwas
anders beurtheilt, so thut das doch der Gröfse des Werkes keinen Eintrag.
Sybel’s Revolutionszeitalter bleibt ein epochemachendes Werk nach Form
und Inhalt. Seit der erste Band erschienen ist, sind 41 Jahre verflossen.
Kein anderes grofses deutsches Werk über neuere Geschichte hat es nach
allen Seiten hin übertroffen; nur Treitschke’s deutsche Geschichte ist in
der Darstellung glänzender, in der Wirkung bedeutungsvoller. Die ganze
seitherige Forschung und Geschiehtschreibung über das Revolutionszeitalter
ruht auf Sybel, knüpft an ihn an, auch in Frankreich. Taine’s berühmtes
Buch über die Entstehung des neuen Frankreich läfst sich eigentlich mit
Sybel nicht vergleichen; denn dieser will als Historiker den geschicht-
lichen Verlauf erzählen, jener will eine politische und sociale Psychologie,
eine sociologische Schilderung der Zustände und Einrichtungen jener Tage
geben. Dabei bleibt Sybel stets ruhiger Berichterstatter, Taine schildert
viel anschaulicher, bewegter, drastischer, mit französischer Beredsamkeit und
mit französischem Geist. Im Grunde aber sind sie in den Ergebnissen eins
und Taine ist der, welcher aus Sybel gelernt hat. Ja man könnte sagen,
die Grundzüge seines politischen Urtheils habe er aus Sybel entnommen.
Denn das ist ja doch auch bei Sybel der springende Punkt, der rothe
Faden, der durch Alles hindurchgeht: er will zeigen, wohin der Radi-
ealismus, die Volkssouveränetät, die Rousseau’schen und communistischen
Staatstheorien praktisch führen; er will stets zugleich beweisen, dafs eine
freie Staatsverfassung mit Erhaltung einer geordneten Staatsgewalt möglich
sei. Und weil er nicht blofs Historiker, sondern zugleich Politiker, Finanz-,
Verfassungstheoretiker und Jurist ist, wufste er die rechten Fragen zum
ersten Male gegenüber diesem gröfsesten politischen Stoffe der neueren
Zeit zu stellen und Antworten zu geben, die für seine Zeit einen aulser-
ordentlichen Fortschritt bedeuteten.
16 G. SCHMOLLER:
Es ist das der Punkt, wo wir sehen, wie enge sein gröfstes Lebens-
werk — freilich auch viele seiner kleinen schönen Aufsätze, auf die wir
hier leider nieht eingehen können — mit seinen politischen Grundprin-
eipien und seiner Weltanschauung und diese mit seiner Methode und seiner
Persönlichkeit zusammenhingen.
Mit seinem optimistischen Idealismus und seiner klaren Verständigkeit
war sein fester Glaube an die kritische Methode und an jenen mafsvollen
Liberalismus gegeben, der von starkem Staatsgefühl und Patriotismus ge-
tragen ist. Mit der kritischen Quellenprüfung nach Niebuhr’s und
Ranke’s Vorbild und mit seiner Kenntnifs der Politik glaubte er die
vollen Gesetze des historischen Wissens zu besitzen, nicht blofs den
Schlüssel, um deseriptiv die historischen Vorgänge wahrheitsgetreu zu
schildern, sondern auch um ihren inneren Zusammenhang, ihre causale
Verknüpfung ohne Rest zu verstehen. Sein politischer, kirchlicher, soeialer
Standpunkt war ihm nur denkbar als Consequenz der rechten Methode;
seine Urtheile von diesem Standpunkt aus schienen ihm so sicher, wie
die unumstöfslichen Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung. Alle
ältere Betrachtungsweise, selbst die Ranke’sche, verurtheilt er. Fast
hart sprieht er 1856 von der vornehmen Neutralität, die ohne Rettung
seelenlos oder affeetirt werde, die nie zu der Fülle, der Wärme und der
Freiheit der wahren Natur sich zu erheben vermöge. Er jubelt, dafs es
mit der weltbürgerlichen Ruhe, die einst Johannes von Müller zur
Mode gemacht habe, nun in der deutschen Geschichtschreibung für immer
vorbei sei und es nur noch religiöse und atheistische, protestantische und
katholische, liberale und conservative, aber keine objeetiven unparteiischen,
blut- und nervenlosen Historiker mehr gebe. Aber er fügt in dieser
merkwürdigen Rede »über den Stand der neueren deutschen Geschicht-
schreibung« gleich bei, dafs er diese verschiedenen Richtungen nicht für
gleichwerthig halte. Nur die ist ihm die wahre, welche die grofsen politischen
Gegensätze in sich ausgeglichen habe; die liberale, soweit sie die radicalen
Elemente ausgestolsen, die conservative, soweit sie liberal geworden. Er
ruft: die grofsen Historiker, Mommsen und Duncker, Waitz und
Giesebrecht, Droysen und Häusser, gehören alle diesem Centrum an;
was weiter rechts und weiter links steht, was die extremen Parteien daneben
neuerlich geleistet haben, kommt »nach wissenschaftlichem Werth« gar
nicht in Betracht. Und in ähnlicher Weise verkündet er in dem Vorwort
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. W
zur historischen Zeitschrift 1859, sie solle die wahre Methode historischer
Forschung vertreten, nieht antiquarisch und nicht politisch sein. Aber
aus der geschichtlichen Betrachtung, aus der Erkenntnifs der sittlichen
Gesetze und dem Wesen der Entwickelung der Staats- und Culturformen
folgert er, dafs ihr politisches Urtheil bekämpfen müsse »den Feudalismus,
weleher dem fortschreitenden Leben abgestorbene Formen aufnöthige, den
Radiealismus, welcher die subjeetive Willkür an die Stelle des organischen
Verlaufs setze, den Ultramontanismus, welcher die nationale und geistige
Entwiekelung der Autorität einer äufseren Kirche unterwerfe«.
Ich möchte mich methodologisch mit all diesen Sätzen keineswegs
identifieiren. Sie scheinen mir die Gränzen zwischen gesichertem empiri-
schen Wissen und dem aus einer bestimmten Weltanschauung folgenden
Urtheil, den mit Hilfe einer solchen versuchten grofsen Conceptionen ganz
zu verkennen. Aber ich gebe Sybel Recht, dafs 1840-1880 die von ihm
und den genannten Historikern vertretene Weltanschauung die wissen-
schaftlich und sittlich höchststehende und darum kräftigste, berechtigtste,
siegreiche war. Und Sybel’s grofse Bedeutung liegt mit darin, dafs er
von diesem Standpunkt aus Geschichte schrieb und Werthurtheile abgab,
dass er damit den Schritt von der blofs deseriptiven Wissenschaft zur eausal
erklärenden, zu der die grofsen Zusammenhänge aufhellenden in seiner Art
vollzog. In dem Dienste des grofsen Problems, wie in dem modernen
Grofsstaat die Befreiung des Individuums verträglich sei mit einer festen,
starken, nationalen Regierung, hat Sybel gleichsam stets gestanden; er
wollte es durch empirische zuverlässige Untersuchung fördern, von dieser
Einzeluntersuchung aus zu allgemeinen Wahrheiten kommen. Nicht darauf,
ob er dabei in jedem einzelnen Punkte mit seinen Generalisirungen das
Richtige getroffen, kommt es an, sondern darauf, dafs Sybel nach seiner
Natur und seiner Zeit sich als Historiker keine gröfsere Aufgabe stellen
konnte und dafs er bei der Beantwortung des grofsen Problems auf das
rechte Ziel gerichtet war. Nicht umsonst sagte Ranke von ihm, wohl
im Gegensatz zu anderen seiner Schüler, er sei stets auf dem rechten Wege,
auf dem Boden der richtigen Methode geblieben.
Er würde das wohl von Treitschke nicht behauptet haben, wiewohl
er seine Grölse noch erlebte und mit wachsendem Beifall doch seine deutsche
Geschichte in sich aufnahm.
Gedächtnifsreden. 1896. 1. 3
18 G. SEHMOLLER:
I.
Heinrich von Treitschke ist in dem Jahre geboren, in welchem
Sybel die Universität bezog. Als Kind einer sächsischen adeligen Offiziers-
familie, die einst um ihres Glaubens willen hatte Böhmen verlassen müssen,
ist er in Dresden aufgewachsen. Seine patriotisch gesinnte Mutter und
die Ereignisse von 1840-1855 bestimmten sein erstes politisches Denken;
der kernhafte ritterliche Vater war ein ausgezeichneter Offiecier und der
Sohn würde, wie er oft erzählte, dieser Laufbahn gefolgt sein, wenn ihn
nicht ein frühes Gehörleiden daran gehindert hätte.. Er war nach körper-
lichen und geistigen Eigenschaften zu einem Leben der That, der Ent-
schlossenheit, des Handelns geboren; freilich hatte ihm eine gütige Fee
zugleich die Gaben des Dichters in die Wiege gelegt, eine kräftige lebendige
Phantasie, ein wunderbares Form- und Sprachgefühl, einen enthusiastischen
Schwung der Seele, eine himmelstürmende Leidenschaft für grofse Ideale.
Er hat noch lange in seiner Studienzeit zwischen dem Beruf des Gelehrten
und des Dichters geschwankt, Simrock immer wieder seine poetischen
Produete vorgelegt. Zunächst hatte er in der trefflichen Kreuzschule in
Dresden das Gymnasium durchlaufen und dann in Bonn begonnen Staats-
wissenschaften und Geschichte zu studiren, doch so, dafs während seiner
ganzen akademischen Laufbahn in Bonn, Leipzig, Tübingen, Heidelberg
und Göttingen die nationaloekonomische und staatswissenschaftliche Thätig-
keit vorwog. Immerhin hatte Dahlmann den grölsesten Eindruck auf
ihn geübt und nachdem er sich in Leipzig als Docent mit einer staats-
wissenschaftlichen Abhandlung über die Gesellschaftswissenschaft (1859),
die gegen Robert von Mohl gerichtet war, habilitirt hatte, drängten ihn
doch bald das politische Interesse und der Erfolg seiner Vorlesungen über
neuere Geschichte vollends ganz zur Historie hinüber. Aber daneben be-
hielt er stets die Verfassungsfragen in erster Linie im Auge; die Geschichte
der politischen Theorien und die Politik blieben seine Lieblingsvorlesungen.
Treitschke ist so noch mehr als Sybel staatswissenschaftlich - politischer
Historiker. Aber von den staatswissenschaftlichen Fragen traten doch nur
die über die politische Freiheit, über die eonstitutionelle Verfassung, über
das Königthum und die nationalen Einheitsstaaten in das innerste Centrum
seines Denkens und Strebens.
Sie wurden für ihn das grofse Thema seines Lebens; sie suchte er
als publieistischer Schriftsteller, als Staatstheoretiker, als Docent, als Ge-
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 19
schichtschreiber, als Abgeordneter des Parlaments zu fördern, auszuge-
stalten, zu vertiefen, immer zugleich praktisch und theoretisch wirkend,
immer zugleich als Künstler gestaltend, als Patriot mahnend und handelnd,
als Lehrer die Jugend begeisternd, als Historiker seine Nation belehrend
und erziehend. Es wird erst eine eingehende Biographie uns schildern
können, wie die gährenden und theilweise widersprechenden Elemente in
ihm sich ausgleichen und zu jener grolsen Wirkung kommen konnten, die
theils schon bei seinen Lebzeiten und noch mehr in der Zukunft den Eindruck
des Genialen und Titanenhaften gemacht haben und machen werden.
Sehon äufserlich mufste er Jedem, der ihn zum ersten Male mit seinen
breiten Schultern, seiner grofsen kühnen Stirn und Nase sah, den Ein-
druck des gewaltigen Kämpen machen. Aber wer in diese treuen tiefen
Augen sah, der empfand sofort, dafs zugleich ein Mann von seltener
Herzensgüte, von vornehmstem Edelmuth, von sinnigem, tief bewegtem
Gemüthsleben vor ihm stand. Kein Falsch war in seiner Seele; ohne
Egoismus und Ehrgeiz ging er durch’s Leben, so stark sein Selbstgefühl
auch war; er setzte von allen Menschen das Beste voraus; selbst die
Taubheit hat ihn nie zu dem natürlichen Fehler der Tauben, zum Mils-
trauen gegen andere gebracht. Aber wo er auf Widerspruch, auf Ge-
meinheit, auf Lehren stiefs, die er für falsch und verderblich hielt, da
konnte er in wildester, fast berserkerartiger Leidenschaft losbrechen, un-
barmherzig mit Keulen dreinschlagen. Er liebte und hafste mit elemen-
tarer, fast vulkanischer Gewalt; und das hielt er für sein gutes Recht;
er konnte sich keinen rechten Mann denken ohne solchen Hafs und ohne
solehe Liebe. »So gewils der Mensch nur versteht, was er liebt«, mit
diesen Worten hat er uns den 5. Band der deutschen Geschichte übergeben,
»ebenso gewifs kann nur ein starkes Herz, das die Geschicke des Vater-
landes wie selbsterlebtes Leid und Glück empfindet, der historischen Er-
zählung die innere Wahrheit geben«. In dieser Macht des Gemüthes,
fügt er bei, liegt die Gröfse der Geschichtschreiber des Alterthums. Früher
schon hatte er sich mal auf die Frage, »Wen zählen alle Völker mit Vor-
liebe unter ihre grofsen Redner und Schriftsteller?« die Antwort gegeben
»doch gewifs jene streitbaren Naturen, die etwas vom Helden in sich
tragen und deren Worte klingen wie Trompetengeschmetter«.
Und in dieser seiner Eigenart hat ihn nun notlıwendig sein Schick-
sal gesteigert. Zunächst die erzwungene Einsamkeit, zu der ihn seine
3*
20 G. SCHMOLLER:
Taubheit verurtheilte. Er konnte nicht mehr in lebendiger Rede und
Gegenrede seine Urtheile abschleifen und modifieiren; auf sich selbst eon-
centrirt, lebte er ein doppelt innerliches Leben, die Glut seines Herzens
immer nachhaltiger sammelnd, auf grofse Ziele hinrichtend. Er wulste
durch kluges reiches Beobachten um so mehr in sich aufzunehmen, er
wulste aus einem Worte ganze Zusammenhänge zu errathen, er las, er
sammelte um so mehr, je weniger er mehr hörte; aber all das hob die That-
sache nicht auf, dafs er wie kaum ein Anderer seinen Schwerpunkt allein in
sich selber fand. Wenn sein Inneres sich öffnete zu einem jener Mono-
loge, die wir alle so gern, oft mit Beifall, oft mit Kopfschütteln hörten,
so empfand Jeder, welche ungewöhnliche lang gesammelte und zurückge-
haltene Kraft hier gährte.
Die schwersten Kämpfe mit Vaterhaus und Heimat wurden ihm,
dem glühenden Preufsenverehrer, nicht erspart. Auch sonst hat sein
warmes Herz viel Schweres erdulden müssen. Er hat sich in Demuth
vor dem Schicksal gebeugt, ist nie dadurch auf die Dauer verbittert ge-
worden, er blieb stets des Lebens froh, des Vertrauens auf seinen Gott
voll — bis zuletzt; das schwerste Schicksal hat ihm nur den kühnen
Muth gestärkt, auf sich selbst stehend sich ganz auszuleben, eigenartig
und kraftvoll durch die Welt zu schreiten. Die »That« war ihm nun ein-
mal das Lebensideal.
Er war sich wohl bewufst, dafs dies eigentlich in Widerspruch stehe
mit kühler Untersuchung, mit abwägender Gelehrsamkeit. »Es ist«, sagt
er einmal, »der Mehrheit der Menschen nicht gegeben, sich selber und ihr
eigenes Thun nur als historisch bedingte Erscheinungen zu begreifen«. Aber
er fand doch immer wieder den Weg, das Ideal des handelnden und des
forschenden Menschen zur Harmonie zu verbinden. »Es ist« — ruft er
aus — »eine höchste Blüthe feiner und dennoch kräftiger Bildung möglich,
welche mit dem raschen Muthe der That die überlegene Milde des Histo-
rikers verbindet. Es ist möglich, fest zu stehen und um sich zu schla-
gen in dem schweren Kampf der Männer und dennoch das Geschehende
wie ein Geschehenes zu betrachten, jede Erscheinung der Zeit in ihrer
Nothwendigkeit zu begreifen und mit liebevollem Blicke auch unter der
wunderlichsten Hülle der Thorheit das liebe traute Menschenangesicht auf-
zusuchen. Diese zugleich thätige und betrachtende Stimmung des Geistes,
welche in jedem Augenblicke reif und bereit ist, abzuschliefsen mit
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 21
dem Leben, soll einem geistreichen Volke immer als ein Ideal vor Augen
schweben. «
So hat er zeitlebens in sich gerungen; immer reiner hat ein edler
sittlicher Idealismus das unbändige Temperament in ihm beherrscht, immer
sehöner hat die Muse der Geschichte und der Genius des Künstlers in
ihm die Leidenschaft gedämpft. Aber er war und blieb — und darauf
beruhte vor Allem seine grofse Wirkung auf die Jugend — ein stürmischer
Redner; auch wo er an den Verstand sieh wenden wollte. appellirte er
zuletzt an die Gefühle. Auch sein geschriebenes Wort war im Sinne der
Rede und der Überredung gehalten. Alles, was er schrieb, hatte etwas
Rhetorisches; aber jedes Wort war aus seinem Innern entsprungen, wahr-
haftig erlebt. Immer in vollen Akkorden erging sich sein Stil, vorwärts
drängend, wie seine Gedanken, immer farbenreich und pointirt, dem älteren
Leser oft zu unruhig, zu wenig zu schlichter Erzählung, zu objectiver
verstandesmälsiger Auseinandersetzung gelangend. Da Alles in ihm lebendig
widerklang, so konnte er nur schwer anders als impulsiv reden; die Ein-
drücke des Tages, seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen kann man
oft zwischen den Zeilen lesen. Ich möchte sagen, die starken Bewe-
gungen seiner Künstlerseele kamen nur dadurch zur Ruhe, dafs er sie zu
Mahnworten und Reden, zu Gestalten und Bildern umformte, dals er das
Empfundene und Durchdachte zu geist- und lebensvoller Darstellung brachte.
Auch wo er mehr theoretisch verfährt, ist der intuitive Blick, der rasch,
springend zu scharf ausgeprägten Resultaten kommt, das Wesentliche.
Wo er schildert, weils er mit schlagenden Metaphern, mit glücklichen
Vergleichen, mit einer Häufung anschaulicher Beiworte das Vergangene
vor die Augen zu zaubern, als ob wir dabei wären. Er gibt als Historiker
meist mehr Farbe, als Zeichnung; helle Lichter und dunkle Schatten stehen
neben einander, die Mitteltöne fehlen. Die Urtheile lauten gern absolut,
eine Generalisirung wird ausgesprochen, um damit die Behauptung zu dem
Range einer höheren eindringlicheren Wahrheit zu erheben, auch wo nur
ein oder ein paar Beispiele dem Redner als Beweis vorschweben. Meist ist
es schwer, aus seinen Schriften Auszüge zu geben, weil das Gerippe ohne
die Sprache und Farbe des Autors nicht mehr als sein Gedanke erscheint.
Doch müssen wir, wenn wir ihn nun als Schriftsteller ganz verstehen
wollen, scheiden zwischen seinen kleinen Schriften einerseits, seiner deutschen
Geschichte andererseits.
[80)
DD
G. SCHMOLLER:
Treitschke’s kleinere Sehriften, die uns in den drei Bänden histo-
rischer und politischer Aufsätze, in den »zehn Jahren deutscher Kämpfe«
und in zahlreichen Aufsätzen der preufsischen Jahrbücher und anderer
Zeitschriften, sowie in selbständigen Broschüren vorliegen, zerfallen in
drei Gruppen.
Die erste enthält Reden und Aufsätze über einzelne Persönlichkeiten,
Fürsten, Staatsmänner, Politiker, Dichter und Schriftsteller. Auf biogra-
phischer Grundlage werden farbenreiche hinreifsende Portraits der Be-
treffenden uns vorgeführt, die mit seltener Kraft auf den Hörer und Leser
wirken. Vielleicht gehören diese Bilder zum Formvollendetsten und Le-
bendigsten, was er geschaffen: Seine Reden über Luther und Gustav
Adolph, seine Aufsätze über Pufendorf und Milton sind Meisterstücke
lapidarer grofser Personenschilderung. Und seine Aufsätze über deutsche
Dichter, über Lessing und Kleist, über Uhland und Hebbel gehören
für mich zu dem Besten und Packendsten, was die deutsche Litteratur-
geschichte geschaffen. Man spürt, dafs ein Berichterstatter redet, der
alle Geheimnisse der Dichter- und Künstlerseele kennt. Auch hier freilich
gelingt ihm das am besten, was ihm ganz congenial ist, wie die Schilderung
der Poesie des politischen Hasses bei Kleist. Er lehrt uns verstehen,
wie der gewaltige Dichter mit Mordgedanken gegen Napoleon umgehen
konnte und wie er die Germania jene furchtbaren Worte an ihre Kinder
richten lälst:
»Schlagt ihn todt, das Weltgericht
Fragt Euch nach den Gründen nicht«.
Die zweite Gruppe hat er selbst einmal bezeichnet als Studien ver-
gleichender Staatswissenschaft, wobei ihm die Art vorschwebte, wie Dahl-
mann in seinen Vorlesungen über Politik Durchschnittsbilder des venetiani-
schen oder anderweiten Verfassungslebens gab. Er ist sich wohl bewulst, dafs
sie nicht unter den Begriff der untersuchenden und erzählenden Geschichte
fallen; sie wollen bestimmten Zuständen und Formen des Staatslebens
ihre Stelle im Zusammenhange der Geschichte anweisen, die Berechtigung
dieser Formen, die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalls
ergründen. Solche Studien gehen, sagt er, von einem Durchschnitt des
Geschehenen aus; aber, fügt er bei, sie lüften dafür zuweilen den Vorhang,
welcher die unabänderlichen Naturgesetze des Völkerlebens dem Auge des
Forschers verbirgt.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 23
Hauptsächlich die Arbeiten über Cavour (1869), über die Republik der
vereinigten Niederlande (1869), über Frankreichs Staatsleben und den Bona-
partismus (1869), welch letzteres fast ein selbständiges Buch bildet, gehören
hieher, aber auch die über das deutsche Ordensland Preufsen (1862) und
manches Andere. In gewissem Sinne fallen auch erhebliche Theile seiner
publieistischen Schriften in dieses Bereich, sofern in dieselben Schilde-
rungen der schweizerischen oder amerikanischen Bundesverfassung und
Ähnliches einverleibt und zu vergleichenden Betrachtungen benutzt sind.
Die Politik des Aristoteles, die Staatslehren von Macchiavell,
Bodinus, Pufendorf, die ganze neuere politisch-theoretische Litteratur,
hauptsächlich Dahlmann, Gneist, da und dort auch Lorenz von Stein,
gaben ihm die Kategorien, nach denen er den Stoff ordnete, vielfach auch
den Mafsstab, nach dem er urtheilte. Das Wesentliche aber sind die leben-
digen Anschauungen, die er in das Gerüste dieser Kategorien einordnet.
Da er sehr deutliche, immer lebensvolle, klare Vorstellungen über Land und
Leute, wirthschaftliche und sociale Verhältnisse, geistige und kirchliche
Zustände der verschiedenen Staaten in Vergangenheit und Gegenwart hatte,
so gelangte er vielfach zu richtigeren Schlüssen, zu schlagenderen Verglei-
chen als andere Gelehrte, die im Übrigen ihm vielleicht überlegen waren,
aber in das Getriebe ihrer Überlegungen keinen so anschaulichen Stoff, keine
so lebensvolle Erfassung der Realitäten hineingeben konnten. Die wesent-
lichsten Resultate dieser Studien sind ähnliche wie bei der dritten Gruppe
seiner kleinen Schriften, welehe der deutschen Tagespolitik dienten.
Hier erhebt er sich zu seiner ganzen Gröfse. Er ist der erste, vor-
nehmste deutsche Publieist in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Hier lebt er sein Naturell voll aus, hier zeigt er ganz die Fähigkeit, sein
sittliches Pathos und seine historischen und staatswissenschaftlichen Kennt-
nisse in den Dienst der grofsen politischen Action zu stellen; hier ent-
hüllt er den Blick des denkenden, scharfsichtigen Politikers, der sah, wo
die Macht und die gesunde Staatsbildung lag, durch welche Mittel die Zu-
kunft Deutschlands zu retten sei.
Gewils trug er die Fahne der klein-deutschen Politik nicht allein.
Seit den Tagen Gustav Pfizer’s, dann hauptsächlich in der Frank-
furter Paulskirche waren bei Gagern, Dahlmann, Beseler, Duncker,
Droysen die Gedanken gereift, denen damals die preufsische Staatsleitung
wie Bismarek noch feindlich gegenüberstand. In der schweren Zeit von
24 G. ScHMOLLER:
ıS5o an, seit der Schmach von Olmütz, hatte die Sehnsucht. nach der Ein-
heit Deutschlands dann alle Patrioten ergriffen. Aber Niemand wulste das
erlösende Wort zu sprechen. Zweifelnd stand die Nation vor der neuen
Ära und dem Bismarck’schen Regiment. Treitschke gehörte nicht zu
denen, welche sofort diesem Staatsmann zustimmten; er hatte sich deshalb
Juli 1863 von den preufsischen Jahrbüchern losgesagt. Aber schon 1864
sah er die Berechtigung der preufsischen Politik gegen Dänemark ein. In
diesem Jahre erschien das glänzendste Produet seiner publicistischen Feder,
die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat; 1866 die Broschüre über
die Zukunft der Mittelstaaten; 1869-1871 die Arbeit über das constitutio-
nelle Königthum in Deutschland. In dem Bande Zehn Jahre deutscher
Kämpfe sind 50 Aufsätze vereinigt, die sich auf die Tagespolitik von 1865
bis 1S79 beziehen. Die Jahre 1863-1870 hat er überwiegend dieser Thätig-
keit gewidmet. In dieser Zeit hat er, ein zweiter Pufendorf, sein ausge-
reiftes politisches Glaubensbekenntnifs mit solcher Kraft verkündet, so
unerbittlich die schiefen radiealen und föderalistischen Gedanken bekämpft,
so durchschlagend die Mission der preufsischen Monarchie vertheidigt, daß
man ihn mit Recht den Propheten des neuen deutschen Reiches genannt
hat. Vor allem die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat von 1864
ist die Vollendung der Träume von 1848, ist der Höhepunkt der ganzen
publieistischen und historisch-politischen Schule, ohne deren Hilfe das
deutsche Reich nicht zu Stande gekommen wäre. Sie ist ein Muster von
Wahrheit und Unerschrockenheit, hinreifsender historischer und staatsrecht-
licher Beweisführung. Nie ist schöner auf wenigen Seiten die preufsische
Geschichte erzählt und gedeutet worden. Ich kenne keine glänzenderen
historischen Parallelen, als die hier zwischen Preufsen und Italien, Deutsch-
land und der Schweiz durchgeführten. Sie wird immer ein Ruhmestitel
deutscher Publieistik bleiben, wird immer wieder gelesen werden, obwohl
Treitschke den deutschen Einheitsstaat verlangte, während dann 1866 und
ıS70 nur der Bundesstaat zu Stande kam.
Die politischen Gedanken, für welche Treitschke in diesen, wie
in seinen staatsvergleichenden Schriften auftrat, lassen sich in wenigen
Sätzen zusammenfassen. Er ging ursprünglich wie Sybel von einem etwas
optimistischen Liberalismus aus. In dem Essay über die Freiheit (1861)
konnte er schreiben: »Alles Neue, was das ıg. Jahrhundert geschaffen,
ist nur ein Werk des Liberalismus«. Ja er fügt die Worte der amerika-
a
SER.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 25
nischen Bundesverfassung bei: »Die gerechten Gewalten der Regierung
kommen her von der Zustimmung der Regierten«. Aber schon damals
pries er die politische Freiheit nicht, wie J. St. Mill oder Laboulaye,
um ihrer selbst willen, sondern weil sie die beste Staatsgesinnung erzeuge.
Schon damals beschäftigte ihn, wie die anderen politischen Historiker vor
Allem das Räthsel, wie die Volksfreiheit sich versöhnen lasse mit der
Staatsmacht. Schon damals schien ihm jede Freiheit werthlos, die nicht
im national geeinten Staate die Richtung auf die grofsen Ziele des ein-
heitlichen Nationalstaates erhalte. Schon damals verachtet er tief die man-
chesterlich-liberale Auffassung, die im Staate nur ein Mittel für die egoistisch-
wirthschaftlichen Zwecke der Einzelnen oder gar der Reichen sieht. Ganz
wie Sybel bekämpft er die Lehre von der Volkssouveränität und der Ge-
waltentheilung, er weils, dass der deutsche Staat durch Königthum, Heer
und Beamtenthum geschaffen sei, dafs die wahre politische Freiheit mehr
auf einer gesunden Selbstverwaltung und auf einem ausgebildeten, gericht-
lich geschützten Verwaltungsrecht, als auf der Macht des Parlaments be-
ruhe. Immer denkt er noch 1866 so hoch von den Rechten des Abge-
ordnetenhauses, dass er ein Anerbieten Bismarcek’s, in Berlin als Professor
in seinem Sinne zu wirken, ablehnt, weil er über den Verfassungsbruch
noch denkt, wie die Liberalen. Aber den Gedanken betont er stets: der
Staat muls Macht sein, eine kraftvolle selbständige Spitze haben; sie bleibt
freilieh nur im Recht, wenn sie sittliche Macht bleibt, über den socialen
Classeninteressen steht. Und das ist von der deutschen Monarchie sicherer
zu erwarten, als von einer englischen Adels-, einer französischen Bourgeois-
herrschaft oder einer Herrschaft der unteren Classen, sei sie direet oder
durch eine Tyrannis ausgeübt.
In der Frage der deutschen Bundesverfassung war sein Axiom, ein
wirklicher Bundesstaat setze kleine, gleichgrofse, demokratische Gemein-
wesen voraus, die sich gegenseitig respectiren; die ganze deutsche Ge-
schichte sei monarchisch und sei in einer Stufenreihe von Annexionen
verlaufen, wie sie in der Schweiz und den Vereinigten Staaten niemals
vorgekommen. Das letzte Ziel sei daher der monarchische Einheitsstaat
oder, wie er sich nach 1870 ausdrückte, die nationale Monarchie mit
bündischen Formen: die kleinen deutschen Staaten haben für ihn keine
Souveränität mehr, da ihnen die Kriegsherrlichkeit sowie die Vertretung
nach Aufsen genommen sei und sie einer Ausdehnung der Bundeskompetenz,
Gedächtnifsreden. 1896. 1. 4
26 G. SCHMOLLER:
trotz der für Einzelne formal bestehenden Reservatrechte, sich nieht wider-
setzen könnten.
Überall beherrscht ihn der stolze Gedanke, wer die deutsche und
preufsische Geschichte kenne, müsse sich losreifsen von den abstraeten
politischen Phrasen Westeuropas, müsse. verstehen, welch eigenartiges poli-
tisches Geschick uns zu Theil geworden, welch eigenthümliche Verfassung
das Deutsche Reich durch Preufsen, dureh die Hohenzollern, durch Bis-
marck erhalten habe. Der Stolz auf die Macht und die Gröfse des Vater-
landes hat ihn von der ersten Zeile an, die er schrieb, bis zur letzten
erfüllt. Die bewundernde Verehrung für den grofsen Staatsmann, der das
Deutsche Reich geschaffen, blieb in seinen späteren Jahren die Axe seines
politischen Glaubensbekenntnisses.
Wenn er im Einzelnen seiner politischen und sonstigen Überzeugungen
oft geschwankt hat, im Ganzen immer conservativer und religiöser wurde,
jedenfalls später die Betonung der liberalen Seite seiner Gedanken immer
mehr fallen liefs, so ist er im innersten Kern seiner sittlichen und poli-
tischen Prineipien doch immer derselbe geblieben. Auch in Bezug auf
seine religiöse Seite gilt dies. Wenn er in seiner Jugend jede Orthodoxie
und jede Dogmatik schroff bekämpfte, und später seinen Trost in dem
hingebendsten Glauben an eine persönliche Gottesregierung fand, so ist
er doch stets ein frommes Gemüth gewesen; er fand nur früher die wahre
Frömmigkeit ausschliefslich bei den Männern humaner Bildung, bei den
»Weltlichen« und sehr wenig bei denen, die sich gern und laut zum
Dogma bekennen. Und eine freie Geistesrichtung in religiösen Dingen hat
er sich bis in’s Grab bewahrt. Er gehörte zu jener grofsen Gemeinde
ächt religiöser, aber über den Confessionen und Dogmen stehender Männer,
die seit den Tagen der Reformation die gröfsten Geister Westeuropas um-
falst hat. Was seinen Wechsel in den politischen Aussprüchen betrifft, so
dürfen wir nur nicht vergessen, dafs es zum Wesen des Politikers und
noch mehr des Publieisten gehört, unter dem Eindruck der Tagesereig-
nisse und Tagesstimmungen die grofsen Ziele und die einzelnen kleinen
Mittel zu scheiden, in den ersteren fest, in den letzteren belehrbar und
anpassungsfähig zu sein. Wer auf die öffentliche Meinung wirken will,
wie ein Publieist, mufs heute mehr die liberale, morgen mehr die eon-
servative Richtung seiner Gedanken betonen. Und so weit Treitschke’s
Stimmung thatsächlich später nach rechts rückte, war es eine Verschiebung,
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 27
die nicht blofs bei den meisten politisch Denkenden mit dem Alter sich
vollzieht, sondern die gerade auch durch die deutsche Geschichte von
1860-1890 ähnlich bei Millionen sich vollzog. Nur Eins bleibt für ihn
eigenthümlich: der Eintlufs seines impulsiven Gemüthslebens, seiner grossen
Empfänglichkeit und die unvermittelte Umsetzung seiner Gemüthserregungen
in Urtheile und Schlüsse. Mit dieser Eigenschaft kam er in den Schriften
zur Tagespolitik immer wieder zu schärferen Accenten, als er sie später
selbst für richtig fand; er mufste immer wieder das, was ihm jetzt die Haupt-
sache schien, absoluter formuliren, als es der Historiker in ihm eigentlich
gestattete. Aber es ist deshalb doch falsch, ihm grofse Vorwürfe daraus
zu. machen, dafs er 1864 die Waitz’sche Bundesstaatstheorie billigte und
1874 verwarf, dafs er erst den Culturkampf mitmachte, später ihn ver-
urtheilte, dafs er einmal die deutschen Universitäten einer deutschen Cen-
tralgewalt unterordnen wollte und später für diesen Punkt doch die Fort-
existenz der deutschen Einzelstaaten richtig fand.
Ich füge ein Wort über seine wirthschaftlichen und socialen Ansichten
und deren Wechsel bei. Sie beruhten auf einem nicht ganz in ihm aus-
geglichenen Gegensatz zwischen den praktischen Idealen der Gewerbe- und
Handelsfreiheit einerseits, die er in den fünfziger Jahren rückhaltlos in sich
aufnahm und nie später durch Specialstudien modifieirte, die er deshalb auch
nieht so voll und ganz in ihrer begränzten Bedingtheit verstehen lernte,
und der Verachtung andererseits, die ihm seine ideale Staatsauffassung
für die theoretischen Grundlagen des Manchesterthums einflöfste, ohne
dafs ihm dabei doch ganz klar wurde, wie diese zugleich das Fundament
der politisch-volkswirthschaftlichen Ideale des älteren Liberalismus bildeten.
So kam er dazu, die liberalen wirthschaftlichen Gesetze Hardenberg’s
und den Segen und die Gerechtigkeit der liberalen deutschen Bundesgesetze
von 1867-1875 zu überschätzen. So konnte er noch 1874 zornig den
staatlichen Arbeiterversicherungszwang und das Staatseisenbahnsystem ab-
weisen. Aber die Lehre von der Interessenharmonie hat er stets als einen
falschen Aberglauben verurtheilt, wie er mit souveräner Verachtung von
der ganzen mammonistischen Richtung unserer besitzenden Classen und von
Buckle’s banausischem Worte sprach, dass aller Fortschritt auf der Liebe
zum Gelde beruhe. Er hat stets einer energischen Fabrikgesetzgebung
das Wort geredet und warnende Worte gegen den Geiz der Fabrikanten
und die Verkennung der einfachsten socialen Pflichten durch zahlreiche
4*
28 G. SCHMOLLER:
Rittergutsbesitzer niemals zurückgehalten. Er hat die heutige Bewegung
der unteren Classen nie recht und voll verstanden, weil er sie nie genauer
kennen gelernt hat. Darum war sein Urtheil über die Socialdemokratie
übertrieben und einseitig, obwohl er andererseits ein warmes Herz für die
Leiden der kleinen Leute und ein tiefblickendes Verständnifs für die
tüchtigen Eigenschaften des Gemüths, des natürlichen Verstandes, der
körperlichen Rüstigkeit hatte, wie sie die unteren Classen auszeichnen;
er nennt sie mit Recht den Jungbrunnen der Gesellschaft. Aber er hält
schroff an dem Gedanken fest, dafs jede Gesellschaftsgliederung eine aristo-
kratische sein müsse. Als 1872 der Verein für Socialpolitik gegründet
wurde, drückte er mir mit Begeisterung seine Zustimmung aus. Als aber
nach dem Katzenjammer der Gründerperiode die deutsche Arbeiterbewegung
ihre häfslichsten Seiten einseitig hervorkehrte, entstanden wohl mit auf
das Drängen einiger wirthschaftlich lIinksliberaler Freunde, die ihm weis
gemacht hatten, auf allen Kathedern ertöne der Ruf nach einem vier- bis
sechsstündigen Arbeitstag, jene Aufsätze über den Socialismus und seine
Gönner, die gegen mich und meine socialpolitischen Gesinnungsgenossen
gerichtet waren, obwohl Treitschke auch damals uns viel näher stand,
als Männern wie Bamberger und Herr von Eynern, die er in Schutz
nahm. Er glaubte nur, uns könne ein kalter Wasserstrahl nicht schaden,
und es mülste gesagt werden, dafs die Verrohung der unteren Classen
die ganze deutsche Gesittung bedrohe. Er hat diese Aufsätze selbst später
als das bezeichnet, was sie in ihren Spitzen sind: als einen momentanen
Stimmungsausdruck, an dem er so wenig festhielt', wie an seiner damali-
gen Verurtheilung des Versicherungszwangs oder an seiner absolut frei-
händlerischen Stimmung. Zu den politischen Grundgedanken freilich dieser
Aufsätze hat er sich stets bekannt. Und man wird auch nicht leugnen
können, dafs sie, sofern man die dort ausgesprochenen absoluten Sätze
mehr in den Flufs der historischen Entwickelung -versetzt, grofse social-
politische Wahrheiten aussprechen und zwar in der glänzendsten Form.
Ich habe nie verkannt, dafs sie zu den bedeutsamsten staatswissenschaft-
lichen Leistungen der Gegenwart gehören, und dafs wir damals wie
später in Bezug auf die Forderungen einer energischen monarchischen
' Er meinte wohl scherzend, ich würde wohl so wenig als er an jedem damaligen
Worte festhalten, die Wahrheit werde zwischen uns in der Mitte liegen.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 29
Soecialreform auf demselben prineipiellen Boden standen. Er hat es, wie
ich sicher weils, in den letzten Jahren tief beklagt, dafs Fürst Bismarck,
der einst unter dem verantwortlichen Gefühl der Ministerstellung und dem
persönlichen Eintlufs des Geh. Rathıs Hermann Wagener Socialpolitik
grolsen Stils getrieben hatte, nun aus dem Amte geschieden, seinem Organe
gestattete, sich in die Reihen jener Vertreter einseitig egoistischer agrarischer
und grofsindustrieller Interessen zu stellen, welche jede weitere Socialreform
verdammen und hindern, die Leidenschaften der höheren Classen gegen die
Arbeiter entflammen, die Staatsgewalt zu einer einseitigen und schroffen
Stellungnahme gegen die Arbeiter bringen wollen. Treitschke sah in
diesen Tendenzen immer überwiegend die erwerbssüchtige Herzenshärte,
welche in Zeiten, wie die unserige leider ist, so leicht einen Theil der be-
sitzenden Classen ergreift.
Alle die Gedanken und Erörterungen, die in Treitschke's staats-
wissenschaftlichen und publieistischen Aufsätzen zerstreut zu Tage treten,
hat er in seiner Vorlesung über Politik einheitlich und systematisch zu-
sammenzufassen gesucht. Es war sein Lieblingsgedanke, nach Vollendung
seiner deutschen Geschichte an ein erneutes Studium dieser Dinge heran-
zutreten, alles was seit den letzten 25 Jahren auf diesem Gebiete erschienen
sei, durchzuarbeiten und so mit der zu publieirenden Politik zu vollenden,
was einst Dahlmann und Waitz versucht hatten; er traute sich zu, die
Gedanken des Aristoteles im Sinne unserer heutigen Staatserkenntnils
nicht blols zu vertiefen, sondern umzubilden und zu einer neuen Wissen-
schaft zu gestalten; er meinte wohl, das sei seine eigenste wissenschaftliche
Bedeutung.. Ich konnte ein sehr gutes Heft seiner Vorlesung aus den
achtziger Jahren durchsehen. Die Vergleichung, Beurtheilung und Be-
sprechung der Verfassungsformen ist ihr Höhepunkt. Sie ist voll geist-
reicher Bemerkungen und lehrreicher Schlufsfolgerungen, bespricht alle
politischen Tagesfragen mit Glück und Nachdruck. Was aus ihr geworden
wäre, wenn Treitschke’s Hoffnungen auf eine Vollendung sich erfüllt
hätten, ist schwer zu sagen. Offenbar ist auch aus dem besten nach-
geschriebenen Heft mit seinen kurzen Notizen nur ein matter Abglanz dessen
zu verspüren, was sein zündendes Wort bedeutet hatte. Im Ganzen aber
habe ich doch den Eindruck, dafs die Grundgedanken dieselben sind, wie in
seinen Aufsätzen, und dafs sie dort in der Treitschke’s Wesen entprechen-
deren Form auftreten. In den Reden und Aufsätzen schadet die aphori-
30 G. SCHMOLLER:
stische Form so wenig, als die scharfe Zuspitzung zu praktischen Zwecken;
hier sind wir nieht enttäuscht, wenn mehr eine Fülle von Gedanken-
blitzen, als erschöpfende Untersuchungen uns entgegentreten. Hier ge-
statten wir dem handelnden Politiker viel mehr als in einem theoretischen
Werke die Tendenz, neue Gedanken, um sie zum Siege zu führen, als ab-
solute Wahrheiten hinzustellen, sie zu überschätzen, wie er das selbst als
die Kehrseite jedes praktisch wirkenden Staatstheoretikers bezeichnet hat.
Am angezeigtesten erschiene mir daher der Versuch, einzelne der besten
Capitel seiner Politik nach stenographischen Niederschriften zu redigiren
und sie, soweit sie sich nicht mit den Aufsätzen decken, der Sammlung
derselben einzuverleiben.
‘ Aber nicht blofs für seine Politik, auch für sein grofses Lebenswerk,
seine deutsche Geschichte, waren die sämmtlichen kleineren Schriften eigent-
lich nur Vorarbeiten. Und dieses Ziel hat Treitschke wenigstens zu
einem grolsen Theile erreicht. Fünf umfangreiche Bände derselben sind
1879-1894 erschienen. Von Anfang der siebziger Jahre an hat Treitschke
fast ausschliefslich an diesem Werke gearbeitet. Es ist das eigentliche
Vermächtnifs des Historikers an sein Volk. Voll ausgereift und abgeklärt
kam er an die Aufgabe. Fehlte ihm zum Staatstheoretiker doch etwas
die leidenschaftlose Ruhe des abstracten juristischen und staatswissen-
schaftlichen Denkers, brachen bei seiner Publieistik immer wieder die Ein-
drücke des Tages mit ihren Erregungen durch: um dem deutschen Volke
die Geschichte seiner Entwickelung im 19. Jahrhundert zu erzählen und
zwar im Stile des nationalen Stolzes und der nationalen Erziehung zugleich,
dazu hatte ein gütiges Geschick alle Erfordernisse mit verschwenderischer
Hand auf ihn gehäuft.
Als der erste Max Duncker gewidmete Band 1879 erschien, der
einen Überblick der deutschen und preufsischen Geschichte bis 1815 gibt,
wirkte er doch gleich wie ein grofses Ereignils. Nicht blofs ebenbürtig,
sondern sie weit überragend trat das Buch neben Häusser’s deutsche Ge-
schichte jener Zeit, indem Treitschke die innere Entwickelung des preufsi-
schen Staates und die grofsen Wandlungen des geistigen Lebens in den
Vordergrund rückte. Auch die Widerstrebenden beugten sich nun vor dieser
unvergleichlichen Kraft. Ranke gehörte selbst zu ihnen; er war noch halb
erstaunt und halb abwehrend gegenüber dieser Art der Geschichtsbehand-
lung, aber er fügte doch schon bei »ja es muls auch solche Werke geben«.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 31
Jeder weitere Band wurde von der ganzen Nation mit Spannung er-
wartet und sofort in einer Weise verschlungen, gelesen, besprochen und
angegriffen, wie es keinem anderen deutschen Geschichtswerke je begegnete.
Und doch erzählten diese weiteren vier Bände nicht grofse Kriegsthaten
und Staatsveränderungen, sondern die lange stille Friedenszeit von 18135
bis 1848; die Epoche, welche die ältere Generation noch miterlebt hatte
und darum zu kennen glaubte, über welche die jüngere Generation längst
vom Standpunkt vorangeschrittener Theorien und Ideale glaubte den Stab
definitiv haben‘ brechen zu dürfen. Diesem scheinbar spröden und un-
dankbaren Stoff wulste Treitschke ein Leben einzuhauchen, wie es nur
den gröfsesten Historikern aller Zeiten mit den gröfsesten Stoffen gelungen
war; und dies Wunder gelang ihm dadurch, dafs er, der stürmisch-leiden-
schaftliche, sich die für ihn doppelt harte, entsagungsreiche, sein Augenlicht
fast mit Vernichtung bedrohende Arbeit auferlegte, 25 Jahre seines Lebens
den Staub der Archive zu schlucken, den empirisch-kritischen Weg voll
und ganz zu betreten, den uns Ranke gelehrt hatte, und dafs er nun
zur Ausgestaltung des so erworbenen Stoffes seine reiche politische Er-
fahrung, seine tiefgreifenden staatswissenschaftlichen Studien, seine histo-
rische sittliche Weltanschauung und eine Künstlerseele, eine Phantasie mit
heranbrachte, wie sie in dieser Kraft, mit dieser Anschaulichkeit entfernt
keiner der anderen deutschen Historiker, auch Ranke nicht besessen hatte.
Es lag in der Natur des Stoffes, der geschilderten Zeit, dafs Treitschke,
welcher so gern davon redete, dafs die wahre Geschichte nur die Geschichte
der Staats- und Machtbildung, der grofsen Staatsmänner und Generale sei,
doch uns eigentlich eine Culturgeschichte bietet. Die ganze Geschichte des
geistigen und kirchlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Littera-
tur, der gewerblichen und Handelsverhältnisse wird uns neben der poli-
tischen vorgeführt. Und das ist nicht zufällig. Einen der Grundgedanken
des ganzen Werkes könnte man so fassen: Treitschke will zeigen, dafs
die Neubildung Deutschlands im 19. Jahrhundert aus zwei Wurzeln und
ihrer Vereinigung erwachsen sei: aus der gesunden staatlichen Organisation
Preufsens und aus dem geistigen und wissenschaftlichen Leben, das zuerst
wesentlich aufserhalb Preufsens entstanden, erst nach 1806 von diesem
anerkannt und aufgenommen worden sei. Die Versöhnung des preufsischen
Staates mit der Freiheit deutscher Bildung, das, sagt er, ist die grolse
Wendung, welche den Gang unserer Geschichte bestimmt hat. Und es
32 G. SCHMOLLER:
ist deshalb kein Zufall, wenn er stets neben einander die Helden des
Schwertes und die der Feder auftreten läfst, in demselben Capitel Stein,
Hardenberg und Scharnhorst, Schleiermacher, Fichte, Goethe
und Kleist schildert, wenn er neben die Wiederherstellung des preulsi-
schen Staates 1815-1830 und die damaligen süddeutschen Verfassungs-
kämpfe die Romantiker jener Tage und die burschenschaftlichen Bewe-
gungen stellt.
Sybel pilegte im Scherze öfters zu sagen: er weils zu viel, er weils
zu viel. Ich möchte sagen, ohne diese seltene Vielseitigkeit, hauptsächlich
ohne die eingefügte Geistesgeschichte würde es nicht möglich gewesen
sein, den Stoff so zu beleben. Und eine vollendete Einheitlichkeit bleibt
dadurch gewahrt, dafs der Verfasser doch Alles auf einen Punkt bezieht
und dem entsprechend ordnet, auf die Frage, wie haben alle einzelnen
Elemente und Vorgänge dazu mitgewirkt, aus Deutschland wieder eine
grolse einheitliche Nation und einen grofsen Staat zu machen. Eben des-
halb stellt er auch die politische und verfassungsrechtliche, die innere
und geistige Geschichte Preufsens und die der Mittel- und Kleinstaaten
stets neben einander. Ihre Wechselwirkung, ihre Kämpfe mufste er in
erster Linie schildern; ihre Versöhnung im Jahre 1866 und 1870 darzu-
legen, war ihm leider so wenig mehr vergönnt, als die Geschichte Preufsens
von 1548-1866 zu schreiben, die wir neben Sybel’s Erzählung so gern
von ihm erhalten hätten. Aber das wenigstens hat er erreicht: die Zeit
1815-1840 erscheint uns jetzt nicht mehr als eine traurige träge Zeit
verlorener Hoffnungen, sondern als eine Zeit der Sammlung, der Vor-
bereitung, der Ausbildung grofser geistiger und sittlicher Kräfte; und die
Jahre 1840-1848, die man auch früher schon öfter als die bewegteste
Zeit unserer neueren deutschen Geschichte bezeiehnet, mit den Tagen vor
der Reformation verglichen hat, jetzt erst verstehen wir sie voll und ganz
in ihrer grundlegenden Bedeutung; jetzt erst sehen wir, wie alle die
grolsen Männer, die uns bis 1890 regiert haben, damals ihre Lehrjahre
durchgemacht, ihren Stempel erhalten haben. Es ist ein unersetzlicher
Verlust, dafs Treitschke diese Erzählung nicht wenigstens bis 1857
vollenden konnte.
Der Zusammenhang der deutschen mit der europäischen Politik wird
von Treitschke ebenso berücksichtigt, wie die innerdeutsche Politik. Auf
beiden Gebieten bringt er uns eine Fülle neuer Aufklärungen, bringt er
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 35)
die Wahrheit auf Grund der ächten Quellen, der authentischen Überliefe-
rung und auf weite Strecken als der Erste zu Tage. Aber es liegt ebenso
im Wesen der nieht durch Kriege und grofse diplomatische Actionen be-
wegten Zeit, als in dem des Autors, dafs nicht sowohl die fortlaufende
Erzählung der Ereignisse als die Schilderung der Menschen, der Zustände,
der Einrichtungen im Vordergrunde steht. Und dabei kommt, da stets nur
summarische Endergebnisse, Durehschnitte gegeben werden können, eben-
so viel oder noch mehr auf die Kunst des Historikers an, als auf seine
Quellenforschung.
Die Schilderung, die Treitschke von allen wichtigeren deutschen
Landschaften, von dem Volkscharakter ihrer Bewohner, von einzelnen
Städten, von den Verfassungs- und Verwaltungszuständen zu geben weils,
ist unübertrefflich, und man könnte fast sagen, er male die Rhein- und
Neckarlande, Weimar und das Regiment Karl August’s, seine sächsische
Heimat mit noch mehr Vorliebe, mit stimmungsvollerem Pinsel und mehr
innerer Wärme aus, als Preufsen und Berlin. Und doch ist das der Punkt,
der ihm so viele Feinde gemacht hat. Der partieularistische Territorial-
und Localpatriotismus war nirgends ganz zufrieden mit dem, was er sagte.
Freilich meist deshalb, weil er rückhaltlos die Wahrheit verkündigte.
Ich möchte behaupten, die politischen Stimmungs- und Verwaltungsbilder
aus den deutschen Mittel- und Kleinstaaten gehörten zum Besten des ganzen
Werkes. Gerade auch die kurze Geschichte Sachsens im dritten Bande ist
ein historisches Meisterwerk ersten Ranges; ebenso sind die Schilderungen
der bayrischen und württembergischen Zustände im Ganzen ebenso an-
ziehend, als wahr. Treitschke war der erste, der es erklärte, warum
Preufsen von 1815-1848 mit dem aufgeklärt rationalen und büreaukratisch-
eonstitutionellen Regiment dieser Südstaaten sich so viel besser als mit
den in ständischer Reaction verharrenden norddeutschen Staaten, Sachsen
und Hannover, verständigen konnte.
Aber eins bleibt dabei wahr. Der politische Standpunkt des Ver-
fassers lälst ihn in der Farbengebung und im Urtheil oft etwas zu weit
gehen, und theilweise konnte er auch nieht über alle Menschen und Vor-
gänge, besonders die in den kleinen deutschen Staaten, gleichmälsig gut
unterrichtet sein.
Bei einem Werk, wie das von Treitschke, das den Gesammtgang
der deutschen Geschichte einheitlich vorführen will, ist es ganz ausge-
Gedächtnifsreden. 1896. I. 5
34 G. SCHMOLLER:
schlossen, dafs der Geschichtschreiber alle Archivalien voll erschöpft haben
sollte. Er hätte für jedes Jahr, das er schildert, und jede Specialfrage
ein ganzes Leben archivalischen Forschens einsetzen müssen, wenn er
vorher alle Acten lesen wollte. Aufserdem waren ihm bestimmte Archive
überhaupt verschlossen. Er mufste also seine archivalische Forschung auf
gewisse Hauptpunkte und erreichbare Positionen einschränken, im Übrigen
versuchen, aus der sonstigen besten Überlieferung zu schöpfen. Dafs er
deshalb in manchen Neben- und Aufsenpunkten bald berichtigt werden
würde, war nicht zu vermeiden. Es ist deshalb aber auch kein Vorwurf
für ihn, wenn z.B. ein agrarischer Specialist wie F. G. Knapp die grofsen
Agrargesetze von 1807 und 1811 anders und wahrheitsgetreuer dargestellt
hat, wenn Süddeutsche auf Grund archivalischer Studien ihn da und dort
eorrigiren.
Der Vorwurf Hermann Baumgarten’s gegen ihn, er hätte da, wo
er auf einseitig preufsische Acten sich stützt, vorsichtiger urtheilen sollen,
bezieht sich zugleich auf die Art seiner Schilderung, auf die Werthurtheile,
die er abgibt. Er kann nicht anders schildern, als durch starke, plastische
Beiworte und Vergleiche; da mufs mancher subjective Zug mit unterlaufen;
und er kann nicht anders urtheilen als unter Anlegung moralischer Mafsstäbe
und politischer Ideale. Seine schroff abgegebenen Urtheile heben den Einen
auf Kosten des Andern empor, verdunkeln auch oft die Causalzusammen-
hänge etwas, legen oft in frühere Zeiten Forderungen des Patriotismus und
Nationalgefühls hinein, die nicht ganz gerecht sind. Die unitarische Politik
wird zu oft als einziges Kriterium verwerthet, wie er z.B. in einer seiner
kleinen Schriften dem beustischen und augustenburgischen Partieularismus
sogar die sächsische und holstein’sche Socialdemokratie in die Schuhe schieben
will. Die Schilderung König Friedrich’s von Württemberg hat von einem
durchaus preufsisch gesinnten Gelehrten G. Rümelin' auf Grund der Acten
mit Recht Widerspruch erfahren; es wird gezeigt, dals Treitschke hier
einfach dem Zerrbild Häusser's ohne selbständige Nachprüfung folgte.
Die Regierung dieses Königs wird von Treitschke als ein Sündenregiment
bezeichnet, wie es der deutsche Boden noch nie gesehen, er selbst als der
geistvollste aber auch ruchloseste der Satrapen Napoleons. Und doch war
der aufgeklärte Despotismus dieses in Preulsen grofs gewordenen Fürsten
‘ Reden und Aufsätze, dritte Folge, 1894, S.39.
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 35
wesentlich nur eine Nachahmung der Fridericianischen Regierungsweise.
Seine rücksichtslose Unifieirung der verschiedenen Landestheile war ein
Stück in dem sonst von Treitschke stets gebilligten Kampf gegen die
politische Krähwinkelei; er gibt auch zu, dafs es eine »nothwendige Re-
volution« gewesen sei. Wesentlich Vorwürfe aus seinem Privatleben dienen
Treitschke zur Begründung des harten Urtheils. Im Übrigen gibt er
zu, dafs dieser König der einzige der Rheinbundfürsten war, der Napoleon
Achtung abnöthigte; sagte der Korse doch von ihm, wenn er 100000 Mann
hätte, so mülste ich einen Krieg mit ihm führen.
Hier, wie an anderen ähnlichen Stellen ist nicht sowohl die Schil-
derung an sich falsch, sondern der Künstler in Treitschke hat nur, um
die Gegensätze lebendiger zu machen, die Liehter und die Schatten schärfer
vertheilt, als billig war. Man sieht das besonders in Bezug auf Erschei-
nungen, die er mehrmals berührt. Seine Dresdener Mitbürger beehrt er
häufig mit dem Beiwort der Bedientenhaftigkeit, aber an anderer Stelle
redet er so wahr und so schön auch von den guten Seiten des Dresdener
Lebens, dafs man sieht, es sei nicht so schlimm gemeint. Durch charakte-
ristische Anekdoten seine Gegner zu ironisiren, kann er sich nicht ver-
sagen, wie er z. B. den Leipziger Anatomen für ewig dem Gelächter preis-
gegeben hat, der bei Napoleon’s Einzug sogar die »Todten« ein durch
Illumination hervorgebrachtes Vivat rufen liels. Und doch ist er so häufig
stolz auf die Leipziger Gelehrten, vor Allem auf jene Reihe streitbarer
sächsischer Geister, denen es, wie Pufendorf und Thomasius, Lessing
und Fiehte, Moritz Haupt und Richard Wagner in Leipzig und in
Sachsen, wie ihm selbst, zu enge wurde. In behaglicher Stunde beim Glase
Wein konnte er sogar seine Liebe zur Heimat in stärkster Betonung der
sächsischen Stammesvorzüge äufsern und eitirte dann mit Vorliebe das
Verslein:
» Womit salzte man das deutsche Land,
Wenn der Herr uns Sachsen nicht erfand !«
Wenn man so von einzelnen scharfen Worten, Anekdoten und Ur-
theilen absieht und die Erzählung Treitschke’s im Ganzen ansieht und
nachprüft, so hat man sie stets in allen Hauptpunkten streng wahrheits-
getreu gefunden. Sybel hat bei Gelegenheit der Verleihung des Verdun-
preises die wichtigsten Treitschke gemachten Vorwürfe im Einzelnen
genau untersucht und war in seinem ausführlichen Gutachten darüber er-
5*
36 G. SCHMOLLER:
füllt von der Umsicht und Vorsicht, der Zuverlässigkeit und Praeeision
der Forschung. Und andere neuere Untersuchungen, z. B. die von Stern,
scheinen auch in allem Wesentlichen trotz des verschiedenen politischen
Standpunktes die Ergebnisse Treitschke's zu bestätigen.
Freilich wird man nicht erwarten dürfen, dafs spätere Forscher die
Dinge und die Menschen immer wieder genau ebenso beurtheilen. Wenn
Treitschke Friedrich Wilhelm III. günstiger auffafste, als z. B. Max Leh-
mann oder Hans Delbrück, so liegt die Ursache hievon nicht darin,
dafs die Forschung verschieden weit ginge, verschieden zuverlässig wäre,
sondern darin, dafs das psychologische und politische Werthurtheil über
Fürsten immer je nach der Weltanschauung, nach den angelegten ver-
schiedenen Mafsstäben, nach der psychologischen Fähigkeit, fremde Men-
schen zu erfassen und zu verstehen, ein verschiedenes sein wird. An Furcht-
losigkeit, auch die Hohenzollern wahr und ohne Schminke zu zeichnen,
hat es jedenfalls Treitschke nicht gefehlt. Das tragische, so überaus
gelungene Bild Friedrich Wilhelms IV. im letzten Bande zeigt den vollen
edlen Freimuth des seines Richteramtes sich bewulsten Historikers.
Aber das Richteramt, das er für sich in Anspruch nimmt, ist aller-
dings ein anderes, als es Ranke und andere Historiker verstanden haben.
Es kann eben jeder Historiker nur urtheilen vom Standpunkt seiner höch-
sten Ideale, seiner Weltanschauung. Ranke ging von gewissen Vorstellun-
gen über die Entwickelung der Religionen und Ideen in der Weltgeschichte
und über die persönlichen Kräfte, die in den Dienst der Ideen treten, aus;
unseren politischen Historikern gaben gewisse verfassungsgeschichtliche und
patriotische Ideale ihren Standpunkt; speeiell für Treitschke trat Alles
zurück gegenüber der Einheit des Vaterlandes und den politischen Ge-
danken und Formen, die er für die unerläfsliche Bedingung dieser Einheit
und der Gröfse Deutschlands hielt. Sein Patriotismus war seine Weltan-
schauung. Und diesen Patriotismus hatte er zugleich erfüllt mit dem Glau-
ben an das Walten der sittlichen Mächte, an den Sieg der grofsen Ideale,
wie sie von den Tagen der Reformation bis zur Gegenwart Deutschland
emporgeführt hatten.
Sein Idealismus, seine Weltanschauung, sein frommer kindlicher Glaube
an Gottes Walten in der Geschichte, an den Sieg der Vernunft über die
Unvernunft in ihr war nicht der eines kritischen Philosophen oder eines
entwiekelungsgeschichtlichen Theoretikers; es war mehr die Weltanschauung
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 37
eines tiefen Gemüthsmenschen und einer Künstlerseele. Aber jedenfalls
war es der Standpunkt eines grossen vollen Menschen, eines tapferen
Charakters, eines klaren politischen Denkers und eines Historikers ersten
Ranges.
Unserer Akademie hat er nur ganz kurz angehört. Seine Taubheit
und manche anderen zufälligen Umstände wirkten mit, dafs er später als
viele andere gewählt wurde; man hat wohl auch gemeint, sein ganzes
Wesen passe nicht in den Rahmen der Akademie. Und gewils, einige der
gewöhnlichen Gelehrteneigenschaften hatte er nicht, aber um so mehr jene
grolsen Eigenschaften des Geistes und des Gemüthes, des Charakters und
des Intelleets, die ihn weit über das durchsehnittliche Niveau des Ge-
lehrten hinausheben, die ihn zu einem der grofsen Männer des 19. Jahr-
hunderts machen.
IV.
Darf ich zum Schlufs nochmal auf die Fragen zurückkommen, mit
denen ich begann, und damit versuchen, zusammenfassend Sybel und
Treitschke ihre Stellung in der Entwickelung des deutschen Geisteslebens
und der deutschen Geschichtswissenschaft anzuweisen, so kann ich das
freilich nur von meinem methodologischen und allgemein wissenschaftlichen
Standpunkt aus. Mir scheint die Sache so zu liegen:
Die Zeit von 1815-1840 war politisch für Deutschland eine Epoche
der Ruhe und Sammlung, wissenschaftlich eine solche tiefer Studien, ern-
ster Anläufe, allgemeinster Bildung, aber zugleich der Romantik und der
Schwärmerei. Von 1840-1870 steigerten sich die politischen und socialen
Kämpfe; es war eine Zeit der höchsten Anspannung und der gröfsten Er-
folge. Wissenschaftlich eine Epoche, in welcher die Nebel sanken, der
vornehmste Idealismus sich mit nüchterner Klarheit verband, die einzelnen
Wissenschaften ihre gröfsten 'Triumphe feierten. Ich glaube, man wird
nieht zuviel behaupten, wenn man sagt, Deutschland habe ein so geistes-
starkes Geschlecht von Männern der That und der Wissenschaft seit Jahr-
hunderten nicht gehabt. Es war natürlich, dafs nun, nach Erreichung so
grolser Resultate, von 1370-1890 an eine gewisse Erschlaffung eintrat, die
Spannung der Geister nachliefs. Stets macht nach grofsen Zeiten die ge-
meine Natur des Menschen sich geltend; man will nun eine Zeit lang leben
und leben lassen; die fähigsten Köpfe traten nicht mehr wie bisher in den
38 G. SCHMOLLER:
Dienst des Vaterlandes und der Wissenschaft, sondern in den des Erwerbs-
lebens.
In der wissenschaftlichen Bewegung, wenigstens in der der Geistes-
wissenschaften, mufste die von 1815 bis zur Gegenwart sich vollziehende
Hinwendung von grofsen Idealen und allgemeiner Bildung zur Arbeits-
theilung und empirischen Einzelforschung in verschiedenen . Stadien ver-
laufen, verschiedene Combinationen erzeugen. Es wird keinen gesicherten
Fortschritt in der Wissenschaft geben können, ohne den siegreichen Fort-
schritt der Empirie und ohne die Speeialisirung. Aber es ist auch klar, dafs
der Specialist und Detailforscher, indem er am Einzelnen kleben bleibt, gar
leicht den Überbliek verliert und sich so um die Möglichkeit bringt, die
grofsen Zusammenhänge zu verstehen, an ihrer Lösung mitzuwirken. Es
ist die Tragik des Gelehrtenlebens, das sich opfert, im Detail untergeht,
um späteren Generationen, die die Früchte der Detailforschung ohne deren
Schattenseiten genielsen, wieder das Aufsteigen zu einem höheren Stand-
punkt zu gestatten.
In der deutschen Geschichtswissenschaft wufste Ranke noch die volle
Universalität einer philosophischen Epoche zu verbinden mit dem Beginn
einer kritischen Detailforschung. Seine nächsten Nachfolger gehörten einer
Zeit noch an, die gleich kühn, gleich geistesmuthig nach den höchsten
Zielen griff, zwar seine universale Bildung nur theilweise bewahren, dafür
aber den politischen Theil der Geschichte viel kräftiger und congenialer
erfassen konnte; die Forscher setzten mit ihren Studien breiter und tiefer
an den Stellen ein, auf die sie sich concentrirten. Wenn die heutigen
Rankeschwärmer oft die ganze Generation der politischen Historiker, vor
Allem auch Sybel und Treitschke, als einen Rückschritt bezeichnen,
so verkennen sie ebenso die Gesetze des Wandels der geistigen Richtungen,
wie den Werth der wissenschaftlichen Kräfteconcentration. Wenn Sybel,
Treitschke und die anderen politischen und rechtsgeschichtlichen Historiker
auf der einen Seite unter Ranke stehen, so stehen sie auf der anderen
über ihm. Ihre Thätigkeit war so nothwendig und so heilsam als die
Ranke's; sie ergänzte seine Ideengeschichte und seine Geschichte einzelner
Personen und Ereignisse durch eine empirische Geschichte der Institutionen
und Zustände, die er wohl auch berührt, aber nicht erschöpft, ja kaum
ernstlich in Angriff genommen hatte. Die Forschung wurde durch sie
langsamer, umständlicher, aber auch sicherer. Wo Ranke Andeutungen
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 39
und Ahnungen gibt, gewähren sie Sicherheit. Wenn Ranke alle paar
Jahre ein neues grolses Werk erscheinen lassen konnte, so blieben sie
ein halbes Menschenleben an einem begränzten Stoffe, den sie nicht ein-
mal von allen Seiten fassen wollten. Aber indem Mommsen die römische
Geschichte, Waitz die deutsche Verfassungsgeschichte vom Standpunkt
des Rechtshistorikers schrieb, indem Nitzsceh von dem des Wirthschafts-
historikers das deutsche Mittelalter, Burckhardt von dem des Cultur-
historikers die italienische Renaissance beschrieb, indem Droysen die
grolsen spätgriechischen Reiche, Duncker das griechische Alterthum,
Sybel, Droysen, Häusser, Treitschke die neuere Geschichte vom
Standpunkt des Politikers abfafsten, so erledigten sie historische Fragen
ersten Ranges, die Ranke offen gelassen, gewannen sie ganze Provinzen
der historischen Herrschaft. Sie kehrten in gewissem Sinne damit zu
einer Betrachtung zurück, die schon Niebuhr erstrebt hatte. Denn er
hatte als Staatsmann mit juristischen und staatswirthschaftlichen Kennt-
nissen seine römische Geschichte geschrieben, während Ranke als Theo-
loge und Philologe, als Freund von Fürsten und Staatsmännern, als
Bücherleser und Archivarbeiter zwar sich die universalste Bildung, aber
doch nicht alle die Kenntnisse gleichmäfsig erworben hatte, die für den
Historiker wichtig sind. Gewils besafsen nun Sybel und Treitschke
dafür einzelne grofse Vorzüge, über die Ranke verfügte, nicht. Aber
anders als durch Einseitigkeit ist uns sterblichen Menschen kein Fort-
schritt möglich.
Jeder Mensch hat die Fehler seiner Tugenden. Ranke’s religiös ge-
färbte Weltanschauung war für seine Tage so berechtigt und so hoch-
stehend, wie Sybel’s rationalistisch-politische und Treitschke’s sittlich-
nationale für die ihrigen. Keine enthielt allein und für sich den Schlüssel
zur vollen Wahrheit, jede war ein Versuch, zu einem geschlossenen ein-
heitlichen Standpunkt zu kommen, die Einzelerkenntnifs einzuordnen in
ein Gedankensystem, das zugleich einen Werthmafsstab gebe. Wie konnten
die besten Geister 1840-1870 sich der Wahrnehmung entziehen, dafs ınan
Geschichte nur verstehen könne, wenn man sie als Verfassungsgeschichte
politisch behandele. Der so eingenommene Standpunkt war ein eben-
so fruchtbarer, als er daneben in seiner Überspannung auf Irrwege führen,
falsche Werthurtheile erzeugen konnte. Sybel’s Glaube, die Verbindung
von Geschichte und Politik ergebe die letzte zu absolut gesicherten Wahr-
40 G. SCHMOLLER:
heiten führende Vollendung der Geschichte, war sicher eine Überschätzung.
Noch weniger konnte die ausschliefsliche Anlegung des Mafsstabes patrio-
tisch-nationaler Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu gewissen Parteilehren
die einzig richtigen historischen Werthurtheile geben. Solcher Einseitigkeit
gegenüber hatte Ranke mit seinen kritischen Zweifeln gegenüber dem
Urtheil nach den politischen Doctrinen des Tages ganz Recht. Aber anderer-
seits sind Patriotismus und richtige politische Einsicht, noch mehr die
Fähigkeit politisch richtig zu handeln, seinem Staate die rechte Verfassung
zu geben, gewils Eigenschaften, die man rühmen, zeitweise als die höchsten
Tugenden preisen kann. Und wer also in gerechter Weise diesen Mafsstab
neben anderen seinem Werthurtheil zu Grunde legt, braucht deswegen nicht
zu irren. Und jedenfalls war die genauere Erforschung der politischen
Einrichtungen und Verfassungen eine Erweiterung des empirischen Wissens-
gebietes und sie war aulserdem, soweit wir die Anfänge einer Politik als
Wissenschaft seit Aristoteles haben, die Benutzung dieser Wissenschaft zur
besseren Causalerklärung der Geschichte. Natürlich sind Verfassung, Ver-
waltung und politische Parteikämpfe weder die einzigen Gegenstände und
Formen des historischen Lebens, noch sind die hier wirksamen Kräfte die
einzigen Ursachen des geschichtlichen Lebens. Aber es handelt sich doch
um einen der wichtigsten Theile desselben, der durch die ganze Schule,
hauptsächlich durch die Lebensarbeit Sybel’s und Treitschke’s in helleres
Licht gerückt wurde.
Die Schule hatte das Verdienst, zunächst an einem Punkte die Wissen-
schaft der Geschichte in die rechte Verbindung mit den anderen benachbarten
Wissenschaften zu bringen, die, halb aus ihr, halb aus anderen Erkennt-
nifsquellen entsprungen, den Versuch machen, den Stoff, den die Geschichte
erzählend vorführt, nach theoretischen Gesichtspunkten und nach Causal-
zusammenhängen zu einem selbständigen System von Wahrheiten zu ord-
nen. Die Wissenschaften der Sprache, der Religion, der Sitte und des
Rechts, der Politik und der Volkswirthschaft müssen, je weiter sie sich
ausbilden, desto mehr vom Historiker gekannt, berücksichtigt, verwerthet
werden. Es wird damit nichts Fremdes in die Geschichte hineingetragen,
sondern nur ein Bestand gesicherten Wissens zur Erklärung verwerthet;
darauf verzichten heifst sich die Augen zubinden, heifst Rückschritte
machen, ganz ebenso, wie wenn man auf die kritische Prüfung der Quellen
verzichten wollte.
Gedächtni/srede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. Al
Ob man nun bei solcher Auffassung der Dinge Ranke oder Sybel
oder Treitschke höher stellen wolle, bleibt zuletzt Sache subjectiver
Empfindung. Wenn auch ich geneigt bin, Ranke als Forscher und För-
derer der historischen Wissenschaft die erste Stelle zu lassen, zuzugeben,
dafs er, begünstigt durch ein langes Leben, durch die Concentration auf
reine Gelehrtenthätigkeit, durch die erste Eröffnung der Archive und durch
eine Genialität ohne Gleichen, doch noch mehr für die Geschichte that
als diese, so stehen sie ihm doch jedenfalls ebenbürtig und ergänzend
zur Seite und haben ihn in der Wirksamkeit vielleicht noch überholt.
Treitschke’s Werke haben auf Tausende gewirkt, wo Ranke auf Hun-
derte Einflufs gewann. Sybel und Treitschke haben zugleich der Gegen-
wart in einer Weise politisch die Wege gewiesen, wie es Ranke nicht
vermochte. Sie gehören zusammen und werden darum mit Ranke an
erster Stelle genannt, wenn von dem goldenen Zeitalter der deutschen
Geschichtschreibung die Rede ist. Noch neuerdings hat der erste Ranke-
kenner A. Dove Niebuhr als den Lessing, Ranke als den Goethe,
Treitschke als den Schiller der deutschen Historie bezeichnet.
Und brauchen wir Nachlebende den Muth sinken zu lassen, weil
dieses Zeitalter nun zur Rüste geht? Sollen wir den etwas pessimistisch-
elegischen Ton anschlagen, den Sybel und Treitschke selbst in den
letzten Jahren gern hervorkehrten? Sie haben beide trübe in die Zukunft
ihrer Wissenschaft gesehen, manche Wendungen beklagt, die heute sich
geltend machen: sie fürchteten beide das historische Speeialistenthum, das
die Geschichte zu einer zünftigen Fachwissenschaft machen wolle; sie ver-
hielten sich kritisch und zweifelnd gegen die zunehmende Bedeutung der
wirthschafts- und socialgeschichtlichen Studien, gegen die Zurückdrängung
des persönlichen Heldenthums in der Geschichtserklärung; sie verhielten
sich ablehnend gegen das Eindringen entwickelungs- und urgeschichtlicher,
anthropologischer, darwinistischer, materialistischer Betrachtungsweisen.
Sie haben vielleicht im Urtheil über einzelne Bücher und Autoren
halb oder ganz Recht gehabt. Vielleicht ist ihnen Manches ungünstiger
erschienen, weil sie es nicht genauer mehr kennen lernten, weil sie nach
ihrer Weltanschauung dem jüngeren Geschlecht nicht mehr ganz gerecht
werden konnten. Jede wissenschaftliche Richtung mufs, wenn ihre Ver-
treter älter werden, doch an ihrem Standpunkt festhalten; das Bündnifs
zwischen Politik und Geschichte, die Verknüpfung des praktisch -politi-
Gedächtnifsreden. 1896. 1. 6
42 G. SCHMOLLER:
schen Lebens mit der Historie mufste Beiden in zu idealem Lichte er-
scheinen.
Recht hatten sie darin, dafs unter ihren Nachfolgern die Zahl der
grofsen und erheblichen Geister eine sparsame ist; ein früher Tod hat
uns die Besten vor der Zeit hinweggerafft. An ganz grofse Aufgaben
wagte man sich nieht mehr so leicht wie früher. Die Speeialforschung,
die blofse Kritik nahm auf Kosten der Darstellung grofser historischer
Stoffe zu. Und wo ganz neue Richtungen eingeschlagen wurden, da ist
von Musterwerken, wie Ranke und die politischen Historiker welche ge-
schaffen, doch noch nieht voll die Rede.
Aber der Ruf ist deshalb nicht berechtigt, zum Alten, sei es zu
Ranke's, sei es zu Sybel’s Standpunkt zurückzukehren. Die neuen
Richtungen sind nicht unberechtigt; ebenso wenig die weitere Speeialisirung
der Forschung und die Wendung zu einer noch realistischeren Behandlung
der Geschichte in Darstellung und Causalerklärung. Von den neueren Rich-
tungen will ich nur noch ein Wort über die wirthschaftsgeschichtliche
sagen; in gewissem Sinne haben Sybel und Treitschke sie mitbegründen
helfen, und wenn sie ihr später halb kopfschüttelnd gegenübertraten, so
übersahen sie, dafs hier ganz Ähnliches für unsere Zeit erstrebt wird, wie
sie es selbst vor 40 Jahren mit der Politik und Verfassungsgeschichte ver-
suchten. Gewifs kann damit die Aufmerksamkeit einseitig auf gewisse Er-
scheinungsreihen gelenkt werden; aber anders vollzieht sich kein Fortschritt;
wenn nur damit bisher dunkle Gebiete und Zusammenhänge aufgehellt
werden, das Gleichgewicht wird sich nachher schon wieder einstellen. Und
was die Speeialisirung und Arbeitstheilung betrifft, so kann sie natürlich
auch Folge einer gewissen Enge des Horizonts und einer philisterhaften Ein-
spinnung in byzantinischem Kleinkram sein. Aber sie kann ebenso gut Folge
Jener gewissenhaften Akribie sein, ohne die der historische Fortschritt nicht
möglich ist, und sich verbinden mit weitem Blick, mit der Arbeit auf mehre-
ren, besonders benachbarten Gebieten und kann so Grofses schaffen. Und wer
wollte leugnen, dafs auch die lebende Generation Namen verzeichnet, die
gerade in dieser Richtung das Bedeutendste geleistet haben, uns geschichtliche
Werke schenkten, die in ihrer Art der Dahingegangenen würdig sind, ja in
gewissem Sinne sie ebenso überholten, wie sie einst die Schriften Ranke’s.
Wir sind noch kein mattes Zeitalter der Epigonen. Natürlich wechseln
auch in der Geschichte jeder Wissenschaft Berg und Thal. Und wenn wir
Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 43
heute in der That im Thal angekommen sein sollten, die Kräfte, wieder zu
Berge zu fahren, sind da. Und wenn wir mit Sybel wiederholen wollen,
dafs nur eine grolse Zeit grolse Historiker habe, so erklären wir stolz,
auch die grolsen Tage werden für Deutschland wiederkommen. Die Gröfse
Ranke’s, Sybel’s und Treitschke’s legt uns nicht blofs unendliche
Verpflichtungen für die Zukunft auf, sie wird uns auch den neuen Auf-
stieg erleichtern, uns die Bewältigung noch schwierigerer Aufgaben ge-
lingen lassen. Wir werden sicher wieder grofse Historiker erhalten und
sie werden dann in der Methode die ächten Schüler Ranke’s und Sybel’s,
in der Weltanschauung und in dem Gebiete ihres Forschens ächte Söhne
ihrer Zeit sein, die Gedankenwelt und die Erkenntnisse ihrer Zeit in sich zu-
sammenfassen. Denn dabei wird es bleiben: die grofsen Historiker werden
immer nicht blofs grofse Forscher und Gelehrte, sondern mehr als das,
grolse Charaktere, grofse ihre Zeit beherrschende Denker, die Lehrer und
Propheten, die Richter und Pfadfinder ihres Zeitalters sein müssen.
Das ist bedingt durch die centrale Stellung, welche die Geschichte
neben der Philosophie im System der Geisteswissenschaften einnimmt,
welche sie im System der geistigen Ursachen des praktischen Lebens zu
erfüllen hat.
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Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz.
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EMIL DU BOIS-REYMOND.
Gedächtnifsreden. 1896. II.
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Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 4. Juli 1895 z
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E- ist nicht mehr! Wo immer auf Erden die Wissenschaft eine noch so
bescheidene Stätte sich bereitete; wohin immer das elektrische Nervensystem
der Culturmenschheit ihr Allgegenwart verlieh; wo dann an jenem ver-
hängnifsvollen Septemberabend zwei Männer sich begegneten, die noch so
entfernt in irgend einer Beziehung zu irgend einem Punkt der Naturlehre
standen: »Wissen Sie es schon?« war ihr bekümmerter Ausruf: » Wissen
»Sie es schon? Er ist nicht mehr!«
Wer war es, von dessen vorzeitigem Hingange die Welt dergestalt
schmerzlich ergriffen war? War es ein auf der Menschheit’Höhen gekrönt
einherschreitender Sterblicher? Ein gewaltiger Staatsmann, dessen Genie
und Charakter das Werk unserer Tage ruhmvoll aufreeht erhalten, ja fort-
führen zu können schien? Ein neuer Schlachtendenker, der an der Spitze
von Hunderttausenden das Vaterland nöthigenfalls zu beschirmen, und ihm
weithin hier Furcht, dort bewundernde Achtung zu sichern vermocht hätte?
War es ein Künstler, dem unerhörte neue Schöpfungen im bildnerisch
Schönen gelangen, oder ein Dichter, dessen Gestaltungen und Laute alle
Gemüther erschütternd packten? Oder endlich ein Erfinder, der durch
sinnreiche Anwendung der Naturkräfte die Macht und die Genüsse unseres
Geschlechtes in's Unbegrenzte zu steigern versprach ?
Oh nein, das Alles war es nicht. Herrmann von HermnoLtz, denn
von ihm ist die Rede, war einfach ein Forscher und Lehrer, und unserer
Genossen Einer. Eine Wirkung nach aufsen üben zu wollen, lag ihm
ganz fern, und wenn das Geschick sie ihm in die Hand gab, wie in dem
Falle des Augenspiegels, so geschah es nach dem FontEseLre’schen Prineipe,
dafs grofse praktische Funde nicht absichtlich als solche gemacht werden.
sondern meist als Folge idealer Bestrebungen nebenher sich ergeben. Was
aber abgesehen von dieser rein theoretischen Natur seiner Arbeiten die
1*
4 E. nu Boıs-Revymonp:
Höhe seines Ruhmes und die allgemeine Theilnahme an seinem frühen Hin-
scheiden noch bedeutsamer erscheinen läfst, das ist die Richtung seiner
wissenschaftlichen Thätigkeit. HeLmHortz ist der vollkommenste und höchste
Typus des theoretischen Naturforschers.. Nun können wir uns aber nicht
verhehlen, dafs wenigstens in Deutschland das Interesse der weitaus über-
wiegenden Mehrheit trotz dem unermefslichen Einflusse, den die Natur-
forschung nach allen Seiten auf das menschliche Leben übt, den geschicht-
lichen, litterarischen , künstlerischen Dingen fast ausschliefslich zugewendet
ist und bleibt. Man frage sich nur, wie viele Gebildete, die sich nicht ver-
zeihen würden, von einem Clavier- oder Geigen-Virtuosen nicht alles Er-
denkliche zu wissen, keine Ahnung haben von der Gröfse eines Gauss, eines
Farapar. Zum Theil erklärt sich die beispiellose Anerkennung, deren HeLn-
HOLTZ genols, aus der gleich beispiellosen, den ganzen Kreis der theoretischen
Naturforschung, von der physiologischen Anatomie bis zur Psychophysik
umfassenden Mannigfaltigkeit seiner Leistungen, da denn unter den theore-
tischen Naturforschern von Fach selber kaum Einer war, dessen Arbeit
nicht in irgend einer Art mit den seinigen zusammentraf. Allein was
neben dieser erstaunlichen Vielseitigkeit ihm eine Überlegenheit sonder-
gleichen verlieh, das war das unübertroffene Geschick, diejenigen Fragen
auszufinden und siegreich zu beantworten, die an jedem Punkte gerade
die wichtigsten waren und deren Behandlung den besten Erfolg versprach.
Der hervorragendste Zug in HernHorız’ wissenschaftlicher Gestalt ist
indefs neben so vielen anderen Gaben sein transscendentes mathematisches
Talent. Dies Talent hat mit dem musikalischen Talent, mit welchem es
oft und auch bei ihm vereint gefunden wird, das gemein, dafs es schon
in früher Jugend sich verräth, wovon auf der einen Seite Braıse PascAL,
auf der anderen Mozart bekannte Beispiele sind. Von HermsoLrz wissen
wir durch ihn selber, dafs er als Schüler im Gymnasium zu Potsdam —
wo er am 31. August 1821 geboren war —, manches Mal, wenn die Classe
Cicero oder Virgil las, welche beide ihn höchlichst langweilten, unter dem
Tische den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope berechnete und dabei
schon einige optische Sätze fand, von denen in den Lehrbüchern nichts
zu stehen pflegte, die ihm aber nachher bei der Construction des Augen-
spiegels nützlich wurden.
Von erblicher Herkunft des mathematischen Talentes ist bei ihm nicht
füglich die Rede. Hermnorrz’ Vater war Professor an demselben Gymna-
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 5
sium, von Fach Philologe und Philosoph, ein hoch intellectueller, freidenken-
der und gebildeter Mann, dessen Einflufs auf seinen Sohn aber vielmehr
dahin ging, ihn zum Sprachstudium, zur Philosophie etwa im Sinne Kanr's
und Ficnte’s, allenfalls zur Pflege der schönen Litteratur anzuhalten. Diesem
Einflufs ist es wohl eher zuzuschreiben, dafs Hermnortz noch als Student
die Fabeln des LoxmAn in der Ursprache lesen konnte. Ebensowenig ist
natürlich daran zu denken, dafs jenes Talent ihm durch seine Mutter
zugeflossen sei, von der wir nur wissen, dafs sie, eine geborene PEnnr,
in männlicher Linie von dem bekannten amerikanischen Bürger Wiıruıam
Pens, in weiblicher aus einer zum Refuge gehörigen Familie Sauvasr ab-
stammte, so dals, wie die Brüder von HumsoLpr, HreLmnortz zum Theil
französischen Ursprunges war.
Wenn nun aber dergestalt sein mächtiges Talent gleichsam durch
Urzeugung entstand, so ist nicht weniger auffallend, dafs es sieh auch
ganz selbständig weiter entwickelte, ohne dafs ein bedeutender Lehrer
ihm zu Hülfe kam und die Bahn wies. In der That ist nicht einmal etwas
von einer mathematischen Vorlesung bekannt, die er gehört hätte. So in
der Stille vollzog sich diese Entwickelung, dafs Brücke und ich, seine
nächsten Freunde, während wir uns in die dem preuflsischen Gymnasiasten
heute bekanntlich höheren Ortes untersagte analytische Geometrie auf eigene
Hand hineinarbeiteten, nichts von der ungeheuren Stärke ahnten, welche
damals noch, wohl ihm selber halb unbewufst, in ihm schlummerte, sondern
in ihm nur einen besonders gescheidten Medieiner erbliekten.
{o)
Die Vermögensverhältnisse seiner Familie erlaubten nämlich unserem
Hermann nieht — aufser ihm waren noch ein Bruder und zwei Schwestern zu
versorgen —— seinen geistigen Neigungen frei zu folgen. Es war ein merk-
würdiges Schicksal, dafs er, anstatt, wie es etwa jetzt der Fall sein würde,
dureh ein Stipendium dazu in Stand gesetzt zu werden, in das Königliche
medieinisch -ehirurgische Friedrich-Wilhelms-Institut Aufnahme fand, eine
Anstalt, deren Zöglinge, zu Militär- Ärzten bestimmt, übrigens an der Uni-
versität gleich den Medieinstudirenden vom Civil die beste eben verfügbare
Bildung erhalten, und dann im Charite-Krankenhause eine Zeit lang lehr-
reiche praktische Dienste thun; die Anstalt. aus welcher von bekannteren
Forschern neuerlich Meves und Rrıcurrr hervorgingen, und zur selben Zeit
wie Hrrunorrz noch eine glänzende Zierde des gelehrten Berlins, unser Vır-
cnow. Ich sage, es war ein merkwürdiges Schicksal, welches HernnoLtz
6 E. ou Boıs-Reymonn:
diesen Weg führte, indem er so die Riehtung und die natürliche Grundlage zu
physiologischen Arbeiten erhielt, da er sonst wohl unzweifelhaft ein mathe-
matischer Physiker ersten Ranges geworden wäre, aber schwerlich zugleich
der tiefste Erforscher der Muskeln, Nerven und Sinnesorgane, ein Lehrer
der Anatomie, der Physiologie und der Allgemeinen Pathologie, und neben-
her sogar ein tüchtiger praktischer Arzt. Er selber wufste wohl, was er
diesem Bildungsgange verdankte, und auch auf dem Gipfel wissenschaft-
licher Höhe, zu dem er sich emporschwang, hörte er nicht auf, sich als
Mediciner zu fühlen. »Ich betrachte das medieinische Studium«, sagte er
in der von ihm am 2. August 1877 zur Feier des Stiftungstages der militär-
ärztlichen Bildungsanstalten gehaltenen Rede über ‘das Denken in der Me-
diein‘, »als diejenige Schule, welche mir eindringlieher und überzeugender,
»als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller
»wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze, so einfach und doch
»immer wieder vergessen, so klar und doch immer wieder mit täuschen-
»dem Schleier verhängt. ..... Die Mediein ist doch nun einmal das geistige
»Heimathsland, in dem ich herangewachsen bin, und auch der Auswanderer
»versteht und findet sich verstanden am besten in der Heimatlı«. Immer-
hin befand er sich als Elöve der Pepiniere in einer wundersam zwiespaltigen
Lage: wenn er auf der einen Seite in der Bibliothek des Institutes p’ALEm-
BERT'S Traite de Dynamique entdeckt und mit geistigem Heifshunger ver-
schlingt, auf der anderen sich dem hinreifsenden Zauber von Jonanses
Mürrer’s anatomisch -physiologischen Lehrvorträgen gefangen giebt, welcher
naturgemäls für lange Zeit die Oberhand gewinnt.
So kommt es denn, dafs seine erste, in seiner medieinischen Inaugural-
Dissertation vom 2. November 1842 niedergelegte Arbeit — De Fabrica
Systematis nervosi Evertebratorum — ihn uns als mikroskopisch-anatomischen
Beobachter vorführt, indem er am Nervensystem von wirbellosen Thieren,
vom Blutegel, Krebs u. a., den lange vergeblich gesuchten Zusammenhang
der Nervenfasern mit den von EurENBERG 1833 entdeckten Ganglienkugeln
nachwies; ein von Jonannes MÜLLER, dem die Dissertation gewidmet ist,
als theoretisch nothwendig gefordertes Verhalten, welches seit Kurzem in
neuer Gestalt die Histiologen wieder lebhaft in Anspruch nimmt. Es ist
rührend zu vernehmen, wie HermnorLrz zu dem Mikroskope kam, mit
welchem er diese denkwürdige Leistung vollbrachte. Im Charite-Kranken-
hause am Typhus daniederliegend, und als Eleve unentgeltlich verpflegt,
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 7
sah er sich als Reconvalescent im Besitze seiner aufgesparten kleinen Ein-
künfte. Mit diesen erwarb er das Mikroskop. Das Instrument war nicht
sehön; um so mehr gereicht ihm zum Ruhme, was ihm damit gelang.
Hier beginnt die unermefsliche, diehtgedrängte, bis zu seinem Tode
ununterbrochene Reihe seiner Arbeiten. Da diese oft kurz nach einander,
ja zu gleicher Zeit ganz verschiedene Gegenstände betreffen, so ist es
unausführbar, davon eine völlig folgerichtige Darstellung zu geben, vollends
diese mit der Erzählung seiner Lebensereignisse Schritt halten zu lassen.
Es bleibt nichts übrig, als die Arbeiten ohne bestimmte Regel, ohne
allzu strenge Rücksicht auf ihren Inhalt, auf Zeit und Ort ihrer Entstehung,
sonst so zweckmäfsig wie möglich an einander zu reihen.
Wir machen den Anfang mit denen, zu welchen HErmHoLtz einiger-
mafsen den Ansto[s erhielt durch den Kreis von Mürrer’s Jüngern, in
welchen er jetzt gerieth und mit dem ihn natürliche Sympathie verband,
insofern diese jungen Leute, gleich ihm, wenn auch mit geringerer Be-
fähigung, neben der Physiologie der Physik oblagen. In dem Colloquium
bei ihrem Lehrer Gustav Macsus hatten sie sich mit anderen jungen Natur-
forschern, Physikern und Chemikern, zusammengefunden, hatten mit diesen
die Physikalische Gesellschaft gegründet, und waren glücklich, ihr in
HELnHoLtz offenbar einen aufgehenden Stern erster Grölse zuführen zu
können, der sich denn auch über ein Jahrzehnd lang an der Bericht-
erstattung in den 'Fortschritten der Physik’ für Thierische Wärme und für,
Akustik betheiligte. Die Physikalische Gesellschaft, sowohl als Ganzes,
wie durch ihre einzelnen Mitglieder, hat für HermnorLzz’ Entwickelung
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt, zum Beweise wofür es
wohl genügt neben den eigentlichen Stiftern der Gesellschaft, neben Gustav
Karsten, Berrz, Brücke, Hertz, KnogLaucn und dem Redner, an die
Namen Crausıus, Kırcnuorr, QUINCKE, WERNER SIEMENS, TYNDALL, WIEDE-
MANN u. A. zu erinnern. Ich kann nicht umhin, hier wiederholt zu be-
tonen, dafs es ein Fehler ist, der fortwährend begangen wird, und in den
seltsamer Weise HrrLnnorLtz selber verfällt, zu diesem Kreise von MÜLLERr’s
Schülern auch Lupwıe zu zählen, der in Marburg lebte, nie bei MÜLLER
hörte, und gerade das Verdienst hat, in dieser Vereinsamung selbständig
das Befreiungswerk aus dem Vitalismus unternommen zu haben.
Es war die Zeit, da Liesıs gegen die von ScHwann und ÜA6NIARD-
Latour entdeckte belebte Natur der Hefe und deren Rolle bei der weinigen
fo) E. vu Boıs-Reymonp:
Gährung zu Gunsten der rein chemischen Theorie von Gährung und Fäulnifs,
wie sie Gay-Lussac’s Versuchen entnommen wurde, einen erbitterten Krieg
führte. In Maenus’ Privatlaboratorium wurde es HeımHoLrz vergönnt, den
Beweis zu liefern, dafs unter Bedingungen, welche eine chemische Wirkung
nicht, wohl aber eine solehe dureh geformte Fermente ausschliefsen, Gährung
und Fäulnifs ausbleiben, woraus die belebte Natur der Fermente auf’s Neue
sich ergab. Während hier der Vitalismus scheinbar einen Sieg davontrug,
bereitete sich von einer anderen Seite her, unter wesentlicher Beihülfe von
HeErmnoLtz, eine Wendung vor, welche sein nahes Ende verkündete. Eine
täglich sich mehrende Summe von Thatsachen und Einsichten hatte die
Naturforschung gezwungen, die so lange gehegte Vorstellung von der
Wärme als einem unwägbaren Stoff, zu deren Prüfung einst VoLTAIRE
riesenhafte Versuche angestellt hatte, aufzugeben, und in der Wärme nur
noch eine Art von innerer Bewegung der Materie zu erblieken. Auch
ohne Flamme erschien neben Druck, Stofs und Reibung der Chemismus
überall als Kraft- und Wärmequell. In diesem Sinne sehen wir HeLmHoLTz
nun zunächst bemüht, bei der Muskelaction Stoffverbrauch wie auch Wärme-
entwiekelung nachzuweisen. Bei dem ersten Unternehmen ist er wohl minder
glücklich gewesen, als wir ihn sonst zu finden gewohnt sind. Die Säurung
der Muskeln beim Absterben und durch Tetanus entging ihm, doch hat
er das Verdienst durch Experimentiren am Frosch die am Warmblüter
aus dem Blutumlauf und dem schnellen Absterben entspringenden Schwierig-
keiten, und durch Reizung der Muskeln mittels elektrischer Entladungs-
schläge etwaige elektrolytische Täuschungen vermieden zu haben. In der
Untersuchung über Wärmeentwickelung bei der Muskelaction entfaltet er
alsbald sein aufserordentliches technisches Vermögen. Wieder wendet er
sich an »die alten Märtyrer der Wissenschaft, die Frösche«. Er lehrt
mit deren Gliedmaaflsen in mit Wassergas gesättigten Räumen experimen-
tiren, um Erkältung und Trocknifs zu verhüten. Einen Thermomultipli-
cator von noch kaum dagewesener Empfindlichkeit verwandelte er durch
empirische Graduation in ein Thermometer für tausendstel Grade. Indem
er dann eine dreigliederige Eisen-Neusilber-Säule in die Muskeln beider
Oberschenkel so versenkte, dafs sich je drei zusammengehörige Löthstellen
in Jedem Oberschenkel befanden, erhielt er beim Tetanisiren des einen
Oberschenkels vom Rückenmark aus mittels eines Nerr’schen Magnetelektro-
motors Anzeichen einer Temperaturerhöhung, welche zwar äufserst gering
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 9
war, jedoch sicher von nichts herrühren konnte, als von Molecularpro-
cessen in den Muskeln selber. An den Nerven war die entsprechende
Wirkung, wenn überhaupt vorhanden, gegen die in den Muskeln ver-
schwindend klein. In dieselbe Reihe von Arbeiten gehört auch der freilich
nur theoretische, jedoch höchst gedankenreiche, Begriffe klärende und er-
weiternde Aufsatz über Thierische Wärme im Berliner "Encyklopaedischen
Wörterbuch der medieinischen Wissenschaften‘.
Der diesen Arbeiten zu Grunde liegende Gedanke wurde, wie gesagt,
damals vielfach gehegt, und war unter verschiedener Gestalt schon an’s
Licht getreten. Sapı CARNOT, ÜLAPEYRON, JuLius ROBERT MAYER, HoLTzmann,
Franz Ernst NEUMANN, JoULE, Corpıne hatten ihn schon in einzelnen Fällen
mit befriedigender Schärfe, sonst im Allgemeinen auf die blofse Anschauung
hin gefafst und verfolgt, und zwischen den Naturvorgängen des Ver-
schwindens und des Auftretens von Kraft eine Aequivalenz mit mehr oder
weniger Wahrscheinlichkeit behauptet, wovon das kühnste Beispiel wohl
(GEORGE STEPHENSON’S, des Erfinders des Eisenbahn-Dampfwagens, genialer
Ausspruch ist, »die Kraft seiner Locomotive sei vor Millionen Jahren
»in den Steinkohlen auf Flaschen gezogenes Sonnenlicht«.
Hier nun ist es, wo Hermnortz mit einer That einsetzte, welche zu-
erst die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, und im Laufe der
Zeit weltberühmt wurde. Am 23. Juli 1847 trug er in der Physikalischen
Gesellschaft seine Abhandlung “über die Erhaltung der Kraft‘ vor, in welcher
er sich zu unserem Erstaunen mit Einem Schlage als einen jeder Aufgabe
gewachsenen Physieo-Mathematiker offenbarte. Unter Erhaltung der Kraft
als Bewegungsursache verstand er deren Constanz in der Physik in der-
selben Art, wie Constanz der Materie von Lavoisıer als Fundamentalprineip
der Chemie erkannt worden war. Er unternahm und vollbrachte es, durch
das ganze Feld der hinreichend bekannten Naturerscheinungen die Er-
haltung der Kraft mathematisch in der Form darzuthun, dafs die Summe
der lebendigen und der von ihm sogenannten Spannkräfte constant sei.
Er fand, dafs die Richtigkeit dieses Gesetzes den höchsten Grad von Wahr-
scheinlichkeit für sich hat, insofern es »keiner der bisher bekannten That-
»sachen der Naturwissenschaften widerspricht, von einer grofsen Zahl der-
»selben aber in einer auffallenden Weise bestätigt wird«.
Eine unmittelbare Folge davon ist die Unmöglichkeit eines Perpetuum
mobile. Die sichere Begründung dieser Einsicht ist natürlich an und für
Gedächtnifsreden. 1896. IT. %
10 E. ou Boıs-Reymonp:
sich eine Leistung vom höchsten Werth, allein an dieser Stelle hat sie für
uns noch eine andere Bedeutung. HermHortz hatte nämlich schon als Knabe
aus Gesprächen seines Vaters mit einem mathematischen Collegen von der
Frage gehört, ob ein Perpetuum mobile möglich sei, und von den vielen ver-
geblichen Versuchen ein solches herzustellen. Als er später Sraur's Theorie
der Lebenskraft kennen lernte, fand er, dafs diese Theorie jedem lebenden
Körper die Natur eines Perpetuum mobile beilegte.
Es wäre ein Wunder gewesen, wenn eine Aufstellung von so unermels-
licher Tragweite, durch welche die materielle Welt zu einem verständlichen
Mechanismus wird, ohne Gegenrede geblieben wäre. Die älteren Berliner
Physiker, Macnus, Dove, Rıess, wollten nichts davon wissen, selbst Mathe-
matiker wie LEJEUNE-DiricHhLeT und Eisexstein schüttelten dazu den Kopf,
nur Jacogı erwies sich einsichtiger. Po66ENDORFF verweigerte die Aufnahme
der Hermnorrz’schen Schrift in seine Annalen aus dem Grunde, dafs ihr
rein theoretischer Inhalt nicht in deren Rahmen passe. Ich ging aber mit
dem Manuseripte zu dem grolssinnigen Verleger meiner damals im Drucke be-
findlichen "Untersuchungen über thierische Elektrieität’, Grore Ernst REımEr,
und verbürgte mich bei ihm für den Werth der "Erhaltung der Kraft‘.
Sofort wanderte sie in die berühmte Reimer’sche Druckerei, und HELmHoLTz
erhielt sogar einen buchhändlerisch angemessenen Ehrensold. Was ihm
aber vielleicht noch mehr Vergnügen machte, war, dafs ihm von hoher
militärischer Seite die wärmsten Lobsprüche gespendet wurden für die
wichtige praktische Richtung, die er seinen Studien zu geben gewulst
habe. Sein Gönner hatte nämlich geglaubt, dafs es sich um die Erhaltung
einer ganz anderen und für den Laien allerdings interessanteren Kraft
handele, als der von Hrınnorrz gemeinten.
Von noch anderer Seite wurde nun zwar Richtigkeit und Wichtigkeit
der Lehre zugegeben, jedoch, wie es zu gehen pflegt, HrımnoLrz das Ver-
dienst abgesprochen, sie gefunden zu haben. Er sollte sie dem Heilbronner
Arzte Juuıvs Rogßert MAvEr entlehnt haben, welcher fünf Jahre früher eine
populäre Darstellung in ähnlichem Sinne gegeben, auch schon ein mecha-
nisches Wärmeaequivalent herausgerechnet hatte. Diese Anklage hat sich,
wie der Ruhm der Hrrmsorrz’schen Abhandlung, bis auf den heutigen Tag
erhalten, und wird von denen. die es lieben, das Strahlende zu schwärzen,
gern geglaubt. Die Tadler bemerken nicht, dafs sie dabei sich selber eine
gröbliche Blöfse geben. Man kann bedauern, dafs HrımnorLrz in seiner
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 11
Schrift es versäumt hat, seine Vorgänger in diesem Gebiete zu erwähnen.
welche er übrigens versichert. nicht gekannt zu haben, und denen er
später bemüht gewesen ist. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allein
die Lehre von der Erhaltung der Kraft gehört Junıus ROBERT MAYER gerade
so wenig wie ihm. Sie ist, mathematisch ganz richtig formulirt, schon im
Jahre 1686 von Leısnız ausgesprochen worden, sie findet sich sogar im
Anschlusse an Leissız 1742 von der Marquise Du ÜHÄTELET in ihren Institu-
tions physiques adressees a Mr. son fils so klar und bündig auseinander-
gesetzt, dafs von dem, was sie sagt, nichts zu streichen. und dazu nichts.
was sie damals hätte sagen können, hinzuzufügen ist. Es wäre hier nicht
der Ort zu untersuchen. wie es hat kommen können, dafs eine so grofse
Erkenntnifs, wie die Erhaltung der Kraft, nachdem sie während der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Gemeingut der Gelehrtenwelt gewesen
war, dann so verloren ging, dafs sie erst in unserer Zeit wiedergefunden
wurde, und schliefslich von Hermnortz bis auf die ja wohl von RankınE
herrührenden Namen der Potential- und der kinetischen Energie ihren end-
gültigen Ausdruck erhielt.
Hermnorrz selber hat, während seines Aufenthaltes in Königsberg, in
einem Vortrage über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf
bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik‘, eine gemeinfafsliche Dar-
stellung seiner Lehre gegeben, welche unter einer Fülle geistreicher
Bemerkungen in unscheinbarer Form einen seiner grofsartigsten Funde
birgt. Eines der gröfsten Räthsel war nämlich bis zu ihm der Ur-
sprung der Sonnenwärme, welche hienieden die beiden Kreisläufe unter-
hält, von deren einem, abgesehen vom Vulcanismus und von Ebbe und
Fluth, alle unorganische Bewegung, von dem anderen alles Leben stammt,
den Kreislauf des Wassers durch Wolkenbildung, Niederschläge und Ströme,
und den Kreislauf des Lebens durch den Stoffwechsel der Pflanzen und
Thiere. Einen gröfseren Gegenstand giebt es nicht. Man wufste genau ge-
nug, wie heifs die Sonne sei und wieviel Wärmeeinheiten sie seit ungezählten
Jahrtausenden unaufhörlich allerwärts entsende, aber keine irgend stichhaltige
Vermuthung über deren Quell liefs sich ausdenken. Bekanntlich hatten Kanr
und nach ihm Larracr ein anderes Problem gleicher Erhabenheit glücklich
gelöst. Indem sie annalımen, dafs die jetzt in der Sonne und den Planeten
nebst ihren Trabanten vertheilte Materie vor unvordenklicher Zeit in Gestalt
eines kreisenden Nebelballes den Raum erfüllte, von dessen Umfang die Bahn
y*
2
12 E. pu Boıs-Reymonp:
des äufsersten Planeten noch weit entfernt bleibt. und dafs diese Materie
durch Gravitation allmählich den Mittelpunkten der heutigen Sonne und der
Planeten sich näherte, hatten sie die Entstehung unseres Planetensystemes
begreifen gelehrt, dessen Glieder fast sämmtlich in dem Sinne, wie einst jener
Nebelball, um sich selber und um die Sonne sich drehen. An der Hand
der mechanischen Wärmetheorie ergänzte jetzt HrrLnuoLrTz diese astro-
nomische Conception, von der einer seiner populären Vorträge eine vor-
treffliche Darstellung giebt, zu einer physikalischen, indem er die Wärme
berechnete, welche durch das Zusammenstürzen der Materie entstehen
mufste, sofern die durch die Potentiale aller Himmelskörper auf sich
selber beim Anlangen in den Mittelpunkten der Sonne und der Planeten
geleistete Verdichtungsarbeit in Wärme verwandelt wurde. Für die Sonne
ergab sich so, auch wenn man ihr die gröfste bekannte Wärmecapaeität,
die des Wassers, zuschrieb, die unvorstellbare Temperatur von 28611000
hunderttheiligen Graden, was für alle ihre Leistungen eine genügende Er-
klärung gab, freilich mit dem wenig tröstlichen Ausblick auf eine Zeit,
wo jene ursprüngliche Wärmemitgift der Sonne erschöpft sein wird, und
der Menschheit das jüngste Gericht einer ewigen Eiszeit droht. Hinaus-
gerückt wird dies dureh Lord Kervın, damals Wırzıam Tuonmsox, schon
vorhergesehene Verhängnifs, wie Hrımuorsz bemerkte, dadurch, dafs die
Sonne bei ihrer Zusammenziehung in Folge der Abkühlung stets wieder
einen gewissen Wärmezuschuls erhält. Beiläufig gesagt kein viel besserer
Trost, als der, den hinzuzufügen er für nöthig hält: »Wie der Einzelne
»den Gedanken seines Todes ertragen muls, mufs es auch das Geschlecht:
»aber es hat vor anderen untergegangenen Lebensformen höhere sittliche
»Aufgaben voraus, deren Träger es ist, und mit deren Vollendung es
»seine Bestimmung erfüllt. «
Die Lehre von der Erhaltung der Kraft, oder, wie wir jetzt zu sagen
vorziehen, der Energie, wurde aber auch in der Biologie von bahn-
brechender Bedeutung. Sie erklärte den Stoffwechsel im Thierkörper,
der dem Vitalismus stets eine unüberwindliche Schwierigkeit geboten hatte,
und ertheilte dem Truggebilde einer Lebenskraft den letzten Stofls. Die
Gruppe von MüLzer’s Jüngern, zu der Hermnortz sich hielt, war es, welche,
obschon zu den Füfsen des Meisters sitzend, sich doch von seinen vita-
listischen Träumereien losgesagt hatte und jenes Truggebilde nach allen
Richtungen zu erschüttern sich bemühte. Ohne gerade polemisch aufzutreten,
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 13
was seiner Natur fern lag, leistete HeıLmnoLtz diesen Bestrebungen den
mächtigsten Vorschub, indem in der Lehre von der Erhaltung der Energie
den Bekämpfern der Lebenskraft eine unschätzbare Bundesgenossin erwuchs.
Es kam Herınnorrz sehr zu statten, dafs damals den physikalischen
Versuchsweisen durch die Einführung elektrischer Mechanismen eine
bisher ungeahnte Bereicherung und Verfeinerung zu Theil ward. Pouvier
hatte, ursprünglich zu artilleristischen Zwecken, eine Art angegeben
die kürzesten Zeiträume mit vollendeter Genauigkeit durch den Aus-
schlag zu messen, welchen ein elektrischer Stromstofs einer Galvano-
meternadel ertheilt, unter der Voraussetzung, dafs dessen Dauer gegen
die Schwingungsdauer der Nadel verschwindet, und dafs man Anfang und
Ende des Zeitraumes mit denen des Stromstofses zusammenfallen lassen
kann. Hier nun gab es wiederum ein Problem von höchstem Interesse zu
lösen. Zwischen dem Augenblicke der Reizung eines Nerven und dem der
Zuckung des zugehörigen Muskels, ja der durch Reflex übertragenen Zuekung.
kann die gespannteste Aufmerksamkeit keinen Unterschied wahrnehmen.
Doch mufs ein soleher vorhanden sein, und es fehlte auch in früherer Zeit
nicht ganz an Versuchen, dessen Dauer, oder, was auf dasselbe hinaus-
läuft, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung im Nerven zu schätzen.
Die Iatromathematiker von Montpellier glaubten, dafs diese Geschwindigkeit
zu der des Blutes in der Aorta sich so verhalten müsse, wie der Quer-
schnitt der Aorta zu dem einer Nervenfaser, wonach sie über sechshundert-
mal gröfser sein sollte als die des Lichtes. Harzer legte die Anzahl der
Schwingungen der Zunge beim Aussprechen des Buchstaben AR zu Grunde,
und gelangte durch eine Reihe von Schlüssen, deren jeder ein handgreif-
licher Fehlschlufs war, merkwürdigerweise zu einem Ergebnifls, welches
der Wirklichkeit, wie wir sie jetzt kennen, ziemlich nahe steht. JonanNnes
Mürzer durehschaute natürlich die kindische Unvollkommenheit dieser Be-
mühungen, er schrieb aber wegen der Unmöglichheit, mit blofsem Auge einen
Zeitunterschied zwischen Reizung und Zuckung wahrzunehmen, dem Nerven-
prineip wieder eine Geschwindigkeit von gleicher Ordnung mit der des
Liehtes oder der Elektrieität zu, und hielt daher, wegen der Kürze der
Nervenbahnen in einem Thiere, deren experimentelle Bestimmung für un-
ausführbar. Das war die Lage der Dinge, als Hrrmnorsz sich ihrer mit
jener unbegreiflichen Biegsamkeit des Talentes bemächtigte, vermöge welcher
14 E. ou Boıs-Revymonp:
er sich an einem winzigen Froschpraeparat, wo es sich um Tausendstel von
Seeunden handelt. so vollkommen zu Hause fand, wie in den Welt- und
Zeiträumen des Planetensystemes. Vor allen Dingen vervollkommnete er
Povizrer’s Methode, indem er an Stelle der empirischen Graduation der
chronometrischen Bussole, womit jener sich begnügt hatte, ein theoretisch
streng begründetes Verfahren setzte. Sein Versuchsplan war nun der, dafs
in demselben Augenblicke, wo ein Öffnungsinduetionsstrom von verschwin-
dender Dauer ein Nervmuskelpraeparat reizte, der zeitmessende Strom
geschlossen werden sollte, um nach der zu bestimmenden Zeit durch die
Zuckung selber wieder geöffnet zu werden. In bewunderungswürdig sinn-
reicher und einfacher Art brachte HrrnnorLtz Beides zu Stande. Dann
traf er solche Einrichtung, dafs er die Reizung des Muskels bald an ihm
selber, bald an einem ihm möglichst nahen, bald an einem möglichst weit
von ihm entfernten Punkte des Nerven vornehmen konnte. Es zeigte sich,
dafs auch bei Reizung des Muskels selber die Zuckung nicht unmittelbar
eintrat, sondern erst nach einem kleinen, aber doch merklichen Bruch-
theil einer Secunde. Das war das bei dieser Gelegenheit entdeckte Latenz-
stadium der Reizung, womit der von Epuarp WEBER aufgestellte Unter-
schied zwischen organischer und animalischer Bewegung hinfällig ward. Die
Verzögerung des Reizerfolges wuchs aber. wenn die Reizung am Nerven
selber stattfand, und um so mehr, je entfernter vom Muskel er gereizt
wurde. Die Länge der Nervenstrecke zwischen den beiden Reizungs-
punkten, dividirt durch den Unterschied der beiden letzteren Zeiträume,
ist die gesuchte Geschwindigkeit des Nervenprineipes, und zwar wurde sie
über zehnmal kleiner gefunden als die Schallgeschwindigkeit in der Luft,
so dals zunächst jede Verwandtschaft zwischen Nervenprineip und Elek-
trieität abgeschnitten zu sein schien. Bei niederer Temperatur fiel die
Geschwindigkeit noch kleiner aus.
Dabei blieb aber Hermuorrz nicht stehen. Der Begriff der durch eine
Curve darstellbaren Funetion war seit Kurzem in seiner Umgebung rein
theoretisch in die Biologie eingeführt worden, und schon hatte ihn auch
Lupwiıs durch die von James Warr und Tnomas Youne erfundene auto-
graphische Methode mittels seines Kymographions für unsere Wissenschaft
so fruchtbar gemacht, dafs selbst deren äufsere Gestalt, wie ein Blick in
eine physiologische Abhandlung oder ein Handbuch vor und nach jener
Zeit lehrt, eine ganz andere ward. Lupwıc liefs so den Blutdruck in den
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 15
Gefälsen eines lebenden Thieres seine Schwankungen oder Wellen ver-
zeichnen, daher der Name seines Apparates. HELMHOLTZ seinerseits con-
struirte ein Myographion, an welchem ein Muskel seine Verkürzung mit
solcher Treue aufschrieb, dafs man nicht allein zum ersten Mal ein Bild
von deren Gesetz erhielt, sondern dafs auch durch die Verschiebung der
vom Muskel selber, und von zwei Punkten des Nerven aus gezeichneten
Curven gegen einander die dabei in Betracht kommenden Zeitverhältnisse
mit aller Sicherheit wahrgenommen wurden.
Der Muskel zeichnete diese Curven mittels einer Stahlspitze auf einem
berufsten Glasceylinder über einem weifsen Grunde. Den dem Augenblick
der Reizung entsprechenden Punkt auf dem Umfang des Cylinders erfuhr
man, indem man den Muskel bei so langsam aus der Hand gedrehtem
Cylinder reizte, dafs der auf- und der absteigende Schenkel der Zuckungs-
eurve mit einander zu einer senkrechten Geraden verschmolzen. Ein ein-
ziger Versuch, dessen Ergebnifs Hrımnortz überdies noch leicht und sicher
beliebig lange aufbewahren lehrte, liefs so mit Einem Blick alles das er-
kennen, wozu es bei dem Povirer'schen Verfahren einer ganzen Versuchs-
reihe bedurft hätte, und eine Fülle von Fragen drängte sich jetzt zur Be-
antwortung, an welche früher nicht einmal hatte gedacht werden können.
So stellte Hrrmnortz fest, dafs die, eine secundäre Zuckung erzeugende
negative Schwankung des Muskelstromes früher eintritt als die Zusammen-
ziehung des Muskels: dafs der Elektrotonus der Nerven dagegen nicht
später eintritt als der ihn erregende elektrische Strom. Er untersuchte
was bei einer doppelten Reizung, d. h. bei zwei einander so dicht fol-
genden Reizungen sich begiebt, dafs ihre Wirkungen sich summiren; endlich
wann die reflectirten Zuckungen eintreten, von denen man früher meinte,
dafs sie von der Reizung durch gar keinen merklichen Zeitraum getrennt
seien. Im geraden Widerspruch damit zeigte sich, dafs bei den scheinbar
blitzschnell eintretenden Stryehninreflexen die Übertragung der Reizung im
Rückenmarke eine mehr als zwölfmal so grofse Zeit beansprucht als die Lei-
tung in den zu- und abführenden Nerven.
Dies Alles geschah noch am Frosch. Nun aber wandte sich Hrın-
HoLrz auch an Muskeln und Nerven des lebenden Menschen, zuerst in
der Weise, dafs der Experimentirende auf eine augenblickliche elektrische
Reizung einer mehr oder weniger vom Gehirne entfernten Hautstelle mit
einer bestimmten Handlung zu antworten hatte, welche um so später ein-
16 E. ou Boıs-Revymonp:
trat, je länger die sensible Bahn zum Gehirne gewählt war. In später mit
Hrn. N. Baxr aus Petersburg angestellten Versuchen wurde aber an einer
motorischen Nervenbahn und den zugehörigen Muskeln ganz wie am Frosch
verfahren, wobei sich, in vollkommener Übereinstimmung mit dem dort
Wahrgenommenen, ergab, dafs die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Rei-
zung in den Nerven bei höherer Temperatur, beispielsweise des Armes,
über doppelt so grofs ausfiel, als bei niederer. Noch später wurde
wiederum mit Hrn. Baxr die Zeit bestimmt, welche für das Bewulstwerden-
eines mehr oder minder zusammengesetzten Gesichtsbildes nöthig ist.
Diese Versuche sind der Ausgangspunkt gewesen für die wichtigen Er-
mittelungen besonders von Donpers über die Zeit, welche verschiedene
Vorgänge im Gehirne für ihren Ablauf beanspruchen. Aus dieser Art von
Bestimmungen und dem WEBER-Feonner'schen Grundgesetze besteht zur Zeit
das empirische Material der sogenannten Psyehophysik. Übrigens hat
Hernnorrz das Ganze der von ihm hier erfundenen und meisterhaft an-
gewandten Methoden der Messung kleinster Zeittheile und ihrer Anwen-
dung für physiologische Zwecke zum Gegenstande eines gemeinfafslichen
Vortrages gemacht.
Mittlerweile hatte Brücke die Anatomie des Auges in einem monumen-
talen. Werke zu hoher Vollkommenheit gebracht. Zwei Entdeckungen
waren es vorzüglich. durch die er dabei der physiologischen Optik neue
Wege eröffnete, und einen mächtigen Fortschritt. wenn auch nicht selber
vollendete, doch ermöglichte und anbahnte. Die erste dieser Entdeckungen
war die Erkenntnifs, dafs der bis dahin als Corpus eiliare beschriebene
Körper zwischen dem Scnwemn’schen Kanal und der Zonula Zinni ein
Muskel von völlig gleicher Beschaffenheit mit der Iris sei. Mit mehr
Emphase als man sonst bei ihm gewohnt ist, sagt Brücke: »der Muskel
»ist sehr leicht zu finden, denn er ist nichts anderes als der hellgraue
»Ring, welehen man auf der äufseren Fläche des vorderen Theiles der
»Chorioidea nach Ablösung der Sklerotika findet und der bis jetzt in der
» Anatomie unter dem Namen Ligamentum ciliare, Orbicuhus ciliaris, Oirculus
»ciliaris, Plexus eiliaris, Ganglion eiliare u. s. w. eine so traurige Rolle ge-
»spielt hat«. Wir nennen ihn nach seiner Function Tensor Chorioideae
oder mit Donvers seinem Entdecker zu Ehren Muscuhts Brückianus; seine
physiologische Bedeutung hat Hrımnortz aufgeklärt. Denn auch hier
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 17
gab es ein fundamentales Problem zu lösen, welches seit langer Zeit
den Bemühungen der ausgezeichnetsten Forscher getrotzt hatte, das Pro-
blem der Accommodation des Auges für das Sehen in verschiedene Ent-
fernungen. Alle nur denkbaren Gestaltveränderungen, Verschiebungen,
sogar substantiellen Wandlungen des Augapfels, bez. seiner Theile, waren
seit KEPLER und ScHEINER zur Erklärung der Accommodation ersonnen und
herangezogen worden. Einiges Richtige fand sich darunter, nichts hatte
seiner Zeit völlig befriedigt, geschweige sich dauernd bewährt. Nur
zweierlei stand fest. Durch einen elassischen Versuch hatte, Tnuomas Youns
bewiesen, dafs keine Veränderung der Cornea die Accommodation begleite.
Andererseits wulste man längst, dafs bei der Accommodation für die Nähe
die Pupille sieh verengere, doch liefs sich damit zur Erklärung des deut-
lichen Sehens in die Nähe nichts Rechtes anfangen. Dagegen hatten
Max LAsGEnBEcK und der Holländer A. Cramer in Groningen einen Weg
betreten, der sie, namentlich den letzteren, über kurz oder lang wohl
zum Ziele geführt hätte, wäre nicht Heımnorrz auf eben demselben Wege
ihnen erfolgreich zuvorgekommen. Dieser Weg bestand darin, anstatt Ge-
staltveränderung oder Verschiebung der optischen Medien des Auges bei
der Accommodation unmittelbar zu beobachten, vielmehr die von deren
Flächen entworfenen drei Spiegelbilder, welche fälschlich statt nach Purkıne,
nach dem englischen Augenarzte Sanson genannt werden, zum Gegenstande der
Untersuchung zu machen. Üramer hatte dazu ein Ophthalmoskop angegeben,
Herunorrz aber schuf‘ mit siegreicher Überlegenheit sein Ophthalmometer,
ein Instrument von astronomischer Feinheit, mit welchem er jene Bildchen
so genau zu messen vermochte, dafs sie ihm von der veränderlichen Krüm-
mung der Augenmedien und ihrer Lage im Augapfel sichere Kunde brachten.
Es ergab sich, dafs die Linse im Zustande der Ruhe des Auges, wo es in
die Ferne deutlich sieht, merkwürdigerweise nicht ihre natürliche Gestalt
hat, sondern durch benachbarte Gebilde plattgedrückt gehalten wird, dafs
ihr aber durch den Zug des Brücke'schen Muskels gestattet wird, vermöge
ihrer Elastieität ihre stärker gekrümmte natürliche Gestalt und gröfsere
Dieke anzunehmen, und so das Auge für das Sehen in die Nähe zu be-
fähigen. Die aus den Messungen berechnete optische Wirkung genügte
zur Erklärung der Accommodation, und die ausgeschnittenen Krystalllinsen
von Leichen zeigten dieselben Mafse wie die Linsen von Lebenden im
accommodirten Auge.
Gedächtnifsreden. 1896. II. 3
185 E. vu Boıs-Reymonp:
Brücke's zweite Entdeckung betraf das sogenannte Leuchten der Augen.
Es war natürlich jederzeit bekannt, dafs die Augen gewisser Thiere, ins-
besondere der nächtlichen Räuber, wie Katzen und Eulen, im Dunkeln
leuchten, und noch 1811 hatte unser Pırras davon die Erklärung gegeben:
vielleicht sehe man dabei die nackte Elektrieität der Nervenhaut — forte
nudum electrum retinae nervosae. Aber schon Jonannes MÜLLER hatte über-
zeugend die Richtigkeit der Lehre Hassesstein’s dargethan, dafs die so-
genannten leuchtenden Augen nicht wirklich leuchten, sondern nur Licht
reflectiren, so dals sie in einem wahrhaft dunkeln Raume nicht leuchten,
und es fand sich auch, dafs die Nervenhaut der stärker leuchtenden Augen
in einem sogenannten Tapetum einen hellen, zur Zurückwerfung des Lichtes
besonders geeigneten Hintergrund habe. Brücke stellte nun zuvörderst die
Art fest, wie man am besten die Augen leuchten sieht, nämlich indem man in
einem sonst dunklen Raume eine Blendlaterne auf das zu beobachtende Auge
richtet, und an ihr vorbei in das Auge blickt. So weit gekommen, begab er
sich Nachts mit seiner Laterne in die Ställe des Zoologischen Gartens, und
fand, dafs er bei passender Stellung die Augen aller Thiere zum Leuchten
bringen konnte. Diese Thatsache und gewisse Erinnerungen erweekten
in ihm die Vermuthung. dafs auch die Augen des Menschen leuchten
möchten. Aus dem Hause seiner Pflegeeltern in Stralsund war ein Dienst-
mädchen entfernt worden, weil man dessen Augen hatte leuchten sehen,
wodurch es ihnen unheimlich wurde. So liefs er mich denn eines Abends
ihm in passender Weise meine Augen darbieten, die auch wirklich die
ersten menschlichen Augen waren, welche ein wissenschaftlicher Beobachter
zweckbewulst leuchten sah. Denn nun fand es sich, dafs schon einer
unserer Studiengenossen, Hr. Dr. Carı von Erracn aus Bern, welcher ge-
legentlich eine Hohlbrille trug, bei gewissen Stellungen ihrer Gläser die
Augen von Menschen hatte leuchten sehen, was auch seitdem bei gehöriger
Anleitung jedem Brillenträger gelang.
Damit begnügten wir uns; der weiter bliekende und tiefer überlegende
HeımnoLtz aber sagte sich, dafs das von der Nervenhaut diffus refleetirte
Lieht mittels passender. optischer Medien dazu gebracht werden könne, ein
deutliches Bild zu entwerfen, und daraus ward. zunächst nach Analogie
des Gauiter schen Fernrohres, der Augenspiegel, der neben der Lehre von
der Erhaltung der Kraft wohl am meisten dazu beigetragen hat, den Ruhm
seines Erfinders zu begründen und zu verbreiten.
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 19
Noch nie hatte sich wie bei Hrımnortz die vollendetste Kenntnifs der
physikalisch-mathematischen Optik mit eben so genauer und lebendiger
Anschauung der anatomischen Bedingungen des Sehens verbunden. In
jener bewährte er sich nebenher als vollkommener Meister, indem er in
der Theorie des Mikroskopes mit Hrn. Asse in Jena wetteiferte, und die
theoretische Grenze für die Leistungsfähigkeit der Mikroskope zog, wie
auch, indem er durch eine tiefgehende Untersuchung die erst unlängst von
ÜUHristıansen in Öopenhagen entdeckte, von Aususr Kunpr weiter verfolgte
paradoxe Erscheinung der anomalen Dispersion auf Grund der SELLMEYER-
sehen Annahme verständlich machte, dafs in den Aether ponderable, des
Mitschwingens fähige Molekeln eingelagert sind. Von Hermnorrz' späteren,
das Verhältnifs zwischen Licht und Elektrieität betreffenden optischen Ar-
beiten kann hier noch nicht die Rede sein. Interessant ist seine Äufserung,
dafs das Auge, trotz seiner bewundernswürdigen Leistungen, als optisches
Werkzeug so voll arger Fehler sei, dafs er einem Künstler, der ihm ein
solches Instrument brächte, die Thüre weisen würde. Nachdem er aber
einmal, wie wir sahen, in der physiologischen Optik Fufs gefafst hatte,
hörte er sobald nieht wieder auf, sich mit hervorragenden Punkten dieser
ihn offenbar besonders fesselnden Diseiplin zu beschäftigen. Sofort finden
wir ihn bei dem Gegenstande thätig, der ihn lange auf das Lebhafteste
beanspruchen sollte, bei der Zusammensetzung der Farben, besonders der
Spectralfarben. Er klärte die Begriffe von der Farbenmischung auf, indem
er zeigte, dafs nicht, wie die Maler jederzeit glaubten. und wie jeder
Schulknabe nach Aussage seines Tuschkastens beschwören würde, Gelb
und Blau Grün geben, sondern Weifs. Er widerlegte BREwSTERs neue
Analyse des Sonnenlichtes. Er machte das ultraviolette Licht sichtbar.
Er berichtigte die Erklärung des Glanzes. Er studirte auf seine Weise
Nachbilder und Farbenblindheit. Er zerstreute das Trugbild der Irradiation.
Er entdeckte die Fluorescenz der Hornhaut, Linse und Netzhaut. Er be-
wältigte die schwierige Aufgabe der Augenbewegungen und ihrer Be-
ziehungen zum binocularen Sehen, mit Inbegriff der sogenannten Rad-
drehung des Auges. Auch sie ist dem Willen unterworfen, sobald sie
nöthig ist, »um der einzig möglichen Willensintention zu dienen. welche
»für die Augenbewegungen gebildet werden kann, nämlich die: einfach
»und deutlich zu sehen«. Er erfand das Telestereoskop. Er löste voll-
ständig das altberühmte Problem des Horopters, von dessen hyperboloi-
3*
20 E. vu Boıs-Reymonp:
daler Fläche einst Vıern und JoHAnNes MÜLLER einen einzelnen Kreis er-
kannt hatten. Er wiederbelebte endlich Tuomas Youne’s Lehre von den
drei Urfarben, als welehe er Roth, Grün und Violet bestimmte.
Doch es ist unmöglich, ihm weiter in die unzähligen Einzelheiten zu
folgen, mit welchen er die physiologische Optik bereicherte. Aber hier
lernen wir mit Einem Male HermnoLzz von einer neuen Seite kennen.
In einem umfangreichen, einheitlichen, doch auf das Feinste gegliederten
Werke, seinem 'Handbuche der physiologischen Optik’ stellte er diesen Zweig
der Physiologie systematisch und litterar-geschichtlieh in gröfster Voll-
ständigkeit dar, von den mathematischen Anfangsgründen der geometrischen
Optik bis zu den letzten erkenntnilstheoretischen und aesthetischen Gesichts-
punkten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dafs keine wissenschaftliche
Litteratur irgend einer Nation ein Buch besitzt, welches diesem an die
Seite gestellt werden kann, von welchem Hr. Prof. Arrnur Könıs die noch
von HernnoLtz begonnene zweite Auflage vollenden wird; nur ein zweites
Werk von Hernnortz selber kann daneben genannt werden; nur er selber
kam ihm selber gleich.
Man erräth, dafs von seiner "Lehre von den Tonempfindungen als
physiologischer Grundlage für die Theorie der Musik’ die Rede sein soll.
Während er gänzlich in die physiologische Optik versenkt erschien, zeitigte
er zugleich dies noch merkwürdigere Werk, merkwürdiger, weil es dem
erfahrungsmäfsigen wie dem theoretischen Inhalt nach neuer und ori-
gineller erscheint, als das optische Seitenstück. Auch hier traten ihm
zunächst gewisse physiologische Fragen entgegen, deren Interesse nicht
wenig erhöht wurde theils durch das ehrwürdige Alter, welches sie un-
gelöst erreicht hatten, theils durch ihre Bedeutung für Musik und Sprach-
wissenschaft. Vor allen Dingen indefs stellt er sich wieder als eben solcher
Meister in der physikalischen Akustik dar, wie vorher in der physikalischen
Optik. In einer umfangreichen Untersuchung von grenzenloser Tiefe giebt
er eine Theorie der Luftschwingungen in Röhren mit offenen Enden, welche
mit Berücksichtigung des von seinen Vorgängern vernachlässigten Überganges
der Schwingungen in den freien Raum, wie auch der Reibung in der Luft
und an den Wänden, besser als deren Bestimmungen mit der Erfahrung
palst. Zu den von SoreeE früh entdeckten Combinationstönen, die er als
Differenztöne unterscheidet, fügt er eine zweite Olasse, die der Summations-
töne, deren Schwingungszahl gleich ist der Summe der primären Töne.
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 21
Er findet, dafs man es in den akustischen Untersuchungen mit Funetionen
zu thun hat, die unter gewissen Voraussetzungen in die Formen der elek-
trischen Potentialfunetionen übergehen und mit diesen eine ganze Reihe
von interessanten Eigenschaften gemein haben.
Was nun jene in erster Linie sich zudrängenden physiologischen Fragen
betrifft, so steht obenan die nach dem Wesen der fälschlich sogenannten
Klangfarbe, deren Namen er jedoch beibehalten hat. Wenn die Stärke des
Klanges von der Amplitude der Schwingungen, seine Höhe und Tiefe von
deren Anzahl in der Zeiteinheit herrührt, so schien nichts näher zu liegen,
als die Klangfarbe abhängig zu machen von der scheinbar letzten noch
übrigen Variablen, der Gestalt der die Schwingungen darstellenden perio-
dischen Curve. Hermnortz fand eine andere schon von Wiırrıs vorbereitete
und von GEoR6e Simon Oum weiter entwickelte Auskunft, indem er die Zu-
sammensetzung der gewöhnlichen Klänge aus einem Grundton und einer
in der Norm harmonischen Reihe von Öbertönen darthat, welche durch
einfach pendelartige oder sinusoide Schwingungen der Lufttheilchen zu
Stande kommen, und durch ihre verschiedene Anzahl und relative Stärke
die Klangfarbe bedingen. Als Typus von Klängen verschiedener Farbe
erscheinen namentlich die durch dasselbe musikalische Instrument, den
menschlichen Kehlkopf, erzeugten Vocale. Sie sind durch gewisse Eigen-
töne charakterisirt, welche zum Theil von der Gestaltung der Mundhöhle
als des Ansatzrohres eines membranösen Zungenwerkes herrühren. Die
doppelte Art, wie Hermnortz dies bewies, nämlich synthetisch dureh den
ihm vom Könige Maxmızıan von Bayern geschenkten Stimmgabelapparat,
und analytisch mittels seiner Resonatoren, ist so allgemein bekannt, dafs
es genügt, hier daran zu erinnern. Bei der synthetischen Darstellung
gesungener Vocale mittels der elektromagnetisch erregten Stimmgabeln
konnte er die Phasen der Schwingungen der Obertöne ohne Einfluls auf
die Klangfarbe gegen einander verschieben, eine wichtige Thatsache,
woraus die Unrichtigkeit der Erklärung der Klangfarbe aus der Gestalt
der Schwingungseurve sich besonders deutlich ergiebt, und auf welcher,
wie Redner gezeigt hat, die Möglichkeit des Telephonirens beruht.
Von nicht leicht vorauszusehender Bedeutung und bezeichnend für
Heımnorzz’ stets allumfassende Forschung ist nun aber seine Erläuterung
der Function der Schnecke und der Akustieusfasern beim Hören überhaupt
und insbesondere bei dem der Klangfarben. Seine Vorstellung knüpft an
[59]
2 E. ou Boıs-Revmonp:
JOHANNES MÜLLER s berühmte Lehre von der speeifischen Energie der Ner-
ven an, welche so durch Hrımnortz endgültig aus den gesammten Nerven
in die einzelnen Fasern und weiter in das Üentralorgan verlegt wurde.
Er denkt sich zunächst, dafs jedes Element des Corrrschen Organes oder,
wie man jetzt annimmt, jede Falte der Membrana basilaris nur durch eine
bestimmte sinusoide Schwingung in Mitschwingung versetzt wird. Die mit
dem Element oder der Falte verbundene Akusticusfaser wird dadurch erregt
und überträgt ihre Erregung auf eine zur Empfindung einer gewissen Ton-
höhe vorgerichtete diminutive Provinz der seitdem durch Hrn. Hermann
Musk ermittelten Hörsphaere des Öentralorganes. Der Vorgang in jeder
Nervenfaser ist dabei qualitativ ganz und stets der nämliche, nur nach
den Umständen quantitativ verschieden, entsprechend der Thatsache, dafs
alle Nervenfasern mikroskopisch, chemisch und physikalisch sich ganz gleich
verhalten. Durch die Erregung jener bestimmten Provinz der Hörsphaere
gelangt eben nur die bestimmte Sinusoide mit der entsprechenden In-
tensität zur Wahrnehmung. Bei Erregung mehrerer Elemente des CorTI-
schen Organes oder mehrerer Basilarfalten werden gleichzeitig, obschon
völlig von einander getrennt, die zugehörigen Akustieusfasern und weiterhin
die entsprechenden Provinzen der Hörsphaere erregt, und so die betreffenden
Sinusoiden, beispielsweise die Sinusoiden der charakteristischen Obertöne
eines gegebenen Vocales, zur Wahrnehmung gebracht. Der ganze Mecha-
nismus des Hörens wird dergestalt auf das Prineip des Mitschwingens
zurückgeführt. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dafs zur selben
Zeit wo Hermnortz diese Dinge enträthselte, Hr. Victor Hessen in Kiel
bei seinen Studien über das Gehörorgan der Dekapoden das von Hern-
HOLTZ mit geistigem Auge (resehene mit leiblichem Auge zu sehen bekam.
Er sah, wie von den Hörhärchen am Schwanze von Mysis gewisse Töne
eines Klapphornes einzelne in starke Vibration versetzten, andere Töne
andere Härchen. Durch die Beachtung der Obertöne berichtigte auch
Hernnorrz die Grenze der Hörbarkeit tiefer Töne, indem er zeigte, wie
sich durch. die Obertöne der an sich unhörbaren Schwingungen die Beob-
achter, unter ihnen Savarr, hatten täuschen lassen.
Ein zweites fundamentales Problem, welches sich hier HrLmaortz darbot,
ist die Deutung der bekanntlich sehon von PryruAscoras gemachten Ent-
deckung, dafs Schwingungen von einfachem Zahlenverhältnifs, wie Oetave,
Quint, Duodeeime, grolse Terz, einen angenehmen Eindruck hervorbringen,
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 23
daher die Reihe der in solchem Verhältnifs einander folgenden Obertöne
harmonisch genannt wird, während die Töne von mehr verwickeltem
Verhältnifs der Schwingungszahl, wie die Septime, dissonant sind. Man
pflegte davon die Erklärung zu geben, dafs die Seele an dem einfachen
Verhältnifs der Schwingungen Vergnügen empfinde. Erst nach mehr als
zweitausend Jahren hat Hrımsorız an die Stelle dieser, um das Geringste zu
sagen, höchst unbefriedigenden Erklärung eine andere gesetzt. Er hat be-
obachtet, dafs die Obertöne der eonsonirenden Töne mit denen des Grund-
tones entweder noch zusammenfallen oder mit ihnen harmonisch erklingen,
dagegen die Obertöne der dissonirenden Grundtöne Schwebungen erzeu-
gen, welche dem Ohr einen widrigen Eindruck machen, wie dem Auge
das unerträgliche Flackern eines Lichtes. Unläugbar ist so ein wichtiger
Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz aufgedeckt. Doch verdient
zweierlei bemerkt zu werden, erstens dafs man den himmlischen Wohl-
klang eines Könıe’schen Stimmgabel-Accordes noch vernimmt und im
Wesentlichen ungestört geniefst, wenn auch dicht daneben gefeilt, gesägt
oder gehämmert wird, zweitens dafs auch zugegeben, dafs die Schwebungen
der Grund der Dissonanz seien, dadurch doch nur erklärt würde, weshalb
dissonirende Töne unangenehm, nicht aber, weshalb consonirende angenehm
seien, so dafs unmusikalischerseits gespöttelt werden konnte, HELMHOLTZ
habe ja wohl jetzt erklärt, weshalb nicht alle Musik unangenehm sei.
Wie dem auch sei, auf seiner erschöpfenden Kenntnifs der bis zu
ihm nur unvollständig beobachteten Partial- oder Obertöne führte nun
HernnorLrz ein System der Akustik in physikalisch - mathematischer,
physiologischer und aesthetischer Hinsicht auf, von welchem hier eine
einigermalsen zutreffende Darstellung zu geben auch dann kaum möglich
sein würde, wenn der Gegenstand dem Redner so vertraut wäre, wie er
ihm leider, wenigstens in der letzten Richtung, fremd geblieben ist. Wie
in der Optik kann hier nur erinnert werden an einige der hervorragendsten
Leistungen, durch die auch auf diesem Gebiete Hrımnorrz’ Name der Ge-
schichte der Wissenschaft unauslöschlich eingeprägt ist. Der Physiko-
Mathematiker Hrrmmortrz, welcher in den Beilagen zu dem in Rede
stehenden Werke sich in den höchsten rechnerischen Regionen ergeht,
legt zunächst,. durch seine medieinische Schulung befähigt, selber Hand
an die überaus schwierige feinere Anatomie des inneren Ohres, und er-
läutert mittels der von ihm beschriebenen und verstandenen Einrichtungen
24 E. pu Boıs-Revmonp:
den Mechanismus der Schwingungen des Trommelfelles und der Gehör-
knöchelehen. Das Gelenk zwischen Ambofs und Hammer vergleicht er
den Gelenken der mit Sperrzähnen versehenen Uhrschlüssel, welche in
einer Richtung frei drehbar, in der anderen, wenn sich ihre Sperrzähne
auf einander stemmen, nicht die kleinste Drehung erlauben. Die Folge
davon ist, dafs, wenn der Hammer mit seinem Stiel nach innen gezogen
wird, er den Ambols fest packt und mitnimmt. Wird er nach aufsen
getrieben, so braucht der Ambofs nicht mitzugehen. Dies hat den sehr
grofsen Vortheil, dafs der Steigbügel nicht aus dem ovalen Fenster ge-
rissen werden kann, wenn die Luft im Gehörgang erheblich verdünnt
wird. Eintreibung des Hammers durch Verdichtung der Luft im Gehör-
gange ist ebenfalls ohne Gefahr, da sie durch die Spannung des trichter-
förmig eingezogenen Trommelfelles selber kräftig gehemmt wird. Nicht
minder tief und fein hat HrrnmorLrz die Bewegungsart des Trommelfelles
ergründet, wovon sich aber ohne Abbildungen keine Vorstellung geben läfst.
Die Musik betreffend führt HrımmorLtz in die Lehre von der Melodie
den Begriff der Klangverwandtschaft ein, welche darin besteht, dafs zwei
Klänge gleiche Partialtöne haben. Doch vermifst man ungern die Er-
örterung der Rolle, welche der Rhythmus oder Takt in der Melodie spielt.
Nach einem von Lissasous gemachten Anfang construirt er ein Vibrations-
mikroskop, mittels dessen er die merkwürdige Schwingungsform der
Violinsaiten festzustellen vermag. Er lehrt einfache Töne herstellen und
ein Harmonium in natürlicher reiner Stimmung bauen. Er entwickelt die
schon von Dovr vervollkommnete Sirene CAGntarD-LAaTour's zu seiner mehr-
stimmigen Sirene. Dabei beherrscht er vollständig die Geschichte der Musik
in ihrer Erscheinung zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern.
Die Lehre von den Tonleitern und den 'Tonarten, die Gesetze der Stimm-
führung, allgemeine Betrachtungen über das Wesen des musikalischen Ge-
nusses beschliefsen das Werk. Von seiner Thätigkeit während dieser seiner
Arbeitsperiode giebt es ein Bild, dafs er gelegentlich des Telephones mir
schrieb, »die Sache sei ihm so selbstverständlich erschienen, dafs er es nicht
»für nöthig gehalten habe, eine Theorie davon zu geben; aber freilich, er
»sei Jahre lang mit Fourıer’schen Reihen im Kopfe zu Bett gegangen und
» wieder aufgestanden, und dürfe in diesem Falle keinen Schlufs von sich
»auf Andere machen«. Von welchen Abenden jedoch wohl die auszu-
nehmen sind, an denen er auf dem von den HH. Sremway in New York
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 25
in begeisterter Anerkennung seiner Verdienste um die Musik ihm verehrten
Flügel durch Bacr’sche Fugen seinen rastlos arbeitenden Verstand zur Ruhe
gewiegt hatte, oder wo er den köstlichen Versuch anstellte, eine geübte
Sängerin in den Flügel bei gehobenem Dämpfer auf irgend einen Saiten-
ton die Reihe der Vocale kräftig singen zu lassen, die dann der Flügel
wieder aus sich heraus singt.
Zu Hermnorrz’ physiologisch-akustischen Studien gehören noch seine
Versuche über das sehon von dem alten GrmALDI, später von WOLLASTON
und Pau Erman beobachtete, die Muskelzusammenziehung begleitende
Geräusch. Trotz seiner Bedeutung für die Lehre von den Herztönen
wurde es erst von HrrnmmorLrz genauer untersucht, welcher zunächst zeigte,
dafs der willkürlich tetanisirte Muskel 18-20 Stöfse in der Seeunde giebt,
so dafs nur seine Obertöne hörbar sind. Dann aber den elektrisch teta-
nisirten Muskel behorehend vernahm er den Ton des in einem durch zwei
geschlossene Thüren getrennten Zimmer befindlichen, 240 Schwingungen
vollziehenden Induetoriums. So wurde Epvarp Weger's auch schon durch
den seceundären Tetanus untergrabene Auffassung des Tetanus als eines
zweiten Gleiehgewichtszustandes der Muskelsubstanz vollends unmöglich
gemacht, und die innere Arbeit des tetanisirten Muskels auf's Neue er-
wiesen.
Es wird hier der beste Ort sein, um von einigen kleineren physio-
logischen Arbeiten Hermnorrz’ Nachricht zu geben. So sei denn angeführt,
wie er in einem Anfall von Heufieber, woran er zu leiden pflegte, patho-
gene Algen auf seiner eigenen Nasenschleimhaut nachwies, und mit Chinin
erfolgreich bekämpfte, zu einer Zeit, wo von Antisepsis noch kaum die
Rede war; wie er die Temperaturerhöhung seines eigenen Körpers durch
das Besteigen des Königsstuhles von Heidelberg aus durch die höhere
Temperatur des auf dem Gipfel gelassenen Harnes mafs; wie er sich mit
Lord Kervıw in dem Vorschlage begegnete, die Schwierigkeit der Urzeu-
gung auf Erden durch das Herüberfliegen von Keimen in Meteoriten aus
schon belebten Welten zu beseitigen; endlich wie er in die seit HAMmBERGER
und Harzer schwebende Controverse über die Funetion der Zwischenrippen-
muskeln eingriff, und die Wirkungen der Muskeln der oberen Extremität einer
genauen Musterung unterwarf, unter Anderem auf die bisher nieht beachtete
Rotation der ersten Phalangen um ihre eigene Axe aufmerksam machte,
welche bei gebogener Stellung durch die M. interossei zu Stande kommt.
Gedächtnifsreden. 1896. 11. 4
26 E. pu Boıs-Reymonp:
Wenn. wir nun zu elektrischen Untersuchungen unseres Forschers
übergehen, so ist zunächst wieder zu bemerken, dafs auch in diesem Felde
physiologische Fragen anfänglich seinen Gang bestimmten. Er war Zeuge
und Theilnehmer meiner Versuche über thierische Elektrieität gewesen,
und hatte sich sogar bemüht, aus Silber in Silbersalzlösung unpolarisir-
bare Elektroden herzustellen, was nicht gelang. Die einzigen seitdem
entdeckten unpolarisirbaren Elektroden aus verquicktem Zink in Zinklösung
sind theoretisch unverständlich, konnten folglich auch nicht theoretisch
vorhergesehen, sondern nur durch glücklichen Zufall gefunden werden.
Heımsorrz hat die Ergebnisse meiner Versuche in einem eigenen gemein-
fafsliech gehaltenen Aufsatze zusammengestellt. Ich stiefs bei diesen Unter-
suchungen fortwährend und überall auf die Aufgabe, in unregelmäfsig ge-
stalteten Leitern, in denen elektromotorische Kräfte thätig gedacht werden,
die daraus entspringende Stromvertheilung zu erschliefsen. Die Gesetze
der Stromvertheilung in nicht prismatischen Leitern waren zwar schon
durch KırcHanorr für zwei, durch WiırLem SmAAsEn für drei Dimensionen
ermittelt worden, doch reichte dies nicht hin, um sich in so verwickelten
Verhältnissen, wie die der thierischen Erreger, zurechtzufinden. Es handelte
sich darum, aus der anderweitig gerechtfertigten Annahme den Muskel
erfüllender peripolar-elektromotorischer Molekeln die an seiner Oberfläche
hervortretenden Potentialunterschiede abzuleiten. Dies gelang wohl für die
Ströme zwischen Längs- und Querschnitt, nicht aber für die sogenannten
schwachen Ströme zwischen Punkten des Längsschnittes oder des Quer-
schnittes allein. Diesem Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung stand
ich um so rathloser gegenüber, als die scheinbar gesetzwidrigen Ströme
auch an meinen elektromotorischen Muskelmodellen aus Kupfer, Zink und
verdünnter Schwefelsäure sich kundgaben.
Hier nun kam mir Hernnorrz’ überlegene Zergliederung zu Hülfe.
Durch Weiterentwickelung der Lehre von der Stromvertheilung in nicht
prismatischen Leitern gelangte er zu mehreren Sätzen, von denen an dieser
Stelle nur das Princip der elektromotorischen Oberfläche und das Theorem
von der gleichen gegenseitigen Wirkung zweier elektromotorischer Flächen-
elemente erwähnt werden können, mittels welcher die früher unüberwind-
lichen Aufgaben fast zu elementaren wurden. An ihrer Hand zeigte er,
dafs bei meiner Annahme die ganze Muskelmasse durchsetzender überall gleich
starker peripolar-elektromotorischer Molekeln in der That keine schwachen
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 27
Ströme am Längsschnitt und am Querschnitt zu Stande kommen dürften,
und dafs auch nicht, wie ich gefunden hatte, der Potentialunterschied
zwischen Längs- und Querschnitt mit den Dimensionen des Muskels wachsen
würde. Er deutete aber zugleich an, dafs diese Abweichungen zwischen
den Thatsachen und meiner Vermuthung über den elektromotorischen Bau
des Muskels einfach daher rühren könnten, dafs »die oberflächlichen Theile
»der thierischen Gebilde, welche der Eintrocknung, der Berührung der
»Luft und fremdartiger Flüssigkeiten ausgesetzt sind, ihre elektromotorischen
»Kräfte nicht ungesehwächt erhalten«, und dafs diese Kräfte vielleicht,
sicher aber die der Muskelmodelle, dureh Polarisation inconstant seien,
wodurch gleichfalls jene Abweichungen erklärt würden. Durch meine Ver-
suche über die innere Polarisirbarkeit der Muskeln und ihre von Hr.
Lupmar Hermann festgestellte Oberflächenzehrung ist somit die früher hier
waltende Schwierigkeit gehoben.
Es ist mir, beiläufig gesagt, unverständlich, wie der verstorbene
Dospers in einer HeLmnorrz gewidmeten Festrede ihm als ein ganz besonders
bewundernswerthes Verdienst habe anrechnen können, dafs er schon in der
Art, wie später ein bekannter Physiologe, die Praeexistenz der elektrischen
Kräfte des Muskels geläugnet habe. Hermnortz giebt allerdings an, dafs
am unverletzten Muskel zwischen Längsschnitt und natürlichem Querschnitt
kein Strom nachweisbar sei, übersieht aber dabei. wie er mir mündlich
bedauernd zugestand, dafs dies auf einem Mifsverständnifs beruhe, und nur
ein seltener Ausnahmefall sei; dafs man vielmehr den unversehrten natür-
lichen Querschnitt bald schwach negativ. bald unwirksam, bald sogar
schwächer positiv gegen den Längsschnitt finde. So wenig dachte aber
Hernnortz daran, die Praeexistenz der elektrischen Muskelkräfte zu läugnen,
dafs er im Gegentheil in dem hier in Rede stehenden Aufsatze meine Hypo-
these peripolar-elektromotorischer Molekeln als Ursache des Muskelstromes
vollständig gelten läfst, emphatisch billigt, und sogar unumwunden es
ausspricht: »dafs.... die elektrischen Kräfte der stromumtlossenen Molekeln
»in einer Theorie ihrer Bewegungen mit in Betracht gezogen werden müssen,
»versteht sich von selbst«. Ja noch mehr. Hrernnortz hat offenbar aus-
drücklich darüber nachgedacht, wie dies wohl am Besten geschehen könne,
und hat auch wirklich eine seiner ganz würdige, ungemein sinnreiche und
ansprechende Vermuthung über die Theilnahme der elektromotorischen
Kräfte der Molekeln an der Zusammenziehung, mit Berücksiehtigung der
4*
28 E. vu Boıs-Reymonp:
negativen Schwankung, zu Stande gebracht, welche er mir gleichsam zum
Geschenk machte und zur Publication überliefs, da ich sie denn bei nächster
Gelegenheit veröffentlichen werde.
HELMHoLTz war es, der, um meine thierisch -elektrischen Versuche
seinen Königsberger Zuhörern vorzuführen, zuerst das so schöne und so
nützlich gewordene Verfahren anwandte, einen mit dem astatischen Systeme
verbundenen Spiegel einen Lichtstrahl auf eine an der Wand befindliche
weithin siehtbare Theilung zurückwerfen zu lassen. Ihm gelang es auch,
an dem bekannten Schlitteninductorium eine wesentliche Verbesserung anzu-
bringen, nämlich die physiologischen Wirkungen des Schliefsungs- und des
Öffnungs-Induetionsstromes nach Bedürfnifs einander dadurch gleich zu
machen, dafs der Wasner'sche Hammer nicht durch Schliefsen und Öffnen
des primären Stromes, sondern durch Öffnen und Schliefsen einer Neben-
leitung zu diesem Strom in Gang erhalten wird, so dafs der durch das Ver-
schwinden des primären Stromes indueirte Extraeurrent das Sinken des Stromes
ebenso verzögert, wie der durch das Entstehen indueirte sein Ansteigen.
Eine elektrische Arbeit unseres Forschers sodann, welche ihn immer
noch in naher Beziehung zur Physiologie zeigt, ist seine Theorie der
Dauer und des Verlaufes der so vielfach physiologisch und therapeutisch
angewandten Induetionsströme. Er berichtigt dabei einen Fehler, in welchen
Marranını und ich selber in Folge mangelhafter Isolation an unseren In-
duetorien verfallen waren, indem wir fanden, dafs in der secundären Rolle
noch ein Strom entsteht, auch wenn sie erst eine gewisse Zeit nach dem
Öffnen der primären Rolle geschlossen wird. In Hinblick auf die Um-
gestaltung des Wacner’schen Hammers habe ich übrigens die HeLnHorrz-
sche Theorie auf den Fall ausgedehnt, dafs die Induetion durch Öffnen
und Schliefsen einer Nebenleitung zu Stande kommt. Hier knüpfen sich
Untersuchungen an über die physiologische Wirkung kurz dauernder elek-
trischer Schläge im Inneren von ausgedehnten leitenden Massen, über elek-
trische Oseillationen und über die Gesetze der inconstanten elektrischen
Ströme in körperlich ausgedehnten Leitern. HeımmoLzz wurde dazu ge-
führt theils durch die Ergebnisse an Froschpraeparaten, theils durch die
Erfahrungen der Elektrotherapeuten, und wohl auch durch gewisse Ver-
suche von Brücke am Menschen. Hierher gehört nebenher ein Unter-
nehmen, welches er nicht zu Ende brachte, weil ihm Kırcmnorr darin
zuvorkam, nämlich die numerische Bestimmung der in den Formeln von
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 29
F. E. Neumann und von W. WEBER vorkommenden Constanten eg, von welcher
die Intensität indueirter elektrischer Ströme abhängt. Ich erwähne dies,
weil bei dieser Gelegenheit sich uns wieder die erstaunliche Vielseitigkeit
und Beweglichkeit seines wissenschaftlichen Interesses offenbarte. Von den
zu jener Bestimmung nöthigen Rechnungen und Versuchen erholte er sich
von Zeit zu Zeit, indem er mit dem Fernrohr aus dem Fenster seines in
einem Thürmehen an der Dorotheen- und Sommerstrafsen-Ecke gelegenen
Laboratoriums die Bewegungen der durch das Brandenburger Thor aus-
und eingehenden Personen beobachtete und sie mit den Darstellungen in
dem elassischen Weger’schen Werke über die menschlichen Gehwerkzeuge
verglich. Er entdeckte in der Art, wie die Weser’schen Figuren den Fufs
aufsetzen, einen Fehler von einiger praktischen Bedeutung, sofern darauf hin
Tausende von Reeruten zu unnatürlicher Haltung ihrer Füfse beim Parade-
marsch gezwungen werden, und seine Bemerkung wurde lange nachher
durch die Augenblicksphotographie bestätigt.
Es folgen nun elektrische Arbeiten, welche sich mehr auf die Ent-
stehung von Strömen und auf deren Wirkungen im Kreise selber beziehen:
über galvanische Polarisation in gasfreien Flüssigkeiten, über die Elektro-
lyse des Wassers, über galvanische Ströme verursacht durch Concentrations-
unterschiede, mit Folgerungen aus der mechanischen Wärmetheorie; über
elektrische Grenzschiehten, über Bewegungsströme am polarisirten Platin,
über galvanische Polarisation des Quecksilbers und darauf bezügliche neue
Versuche des Prof. Arrnur Könıs, wobei das Lirpmann sche Capillar-
elektrometer zur Sprache kommt. Hier tritt naturgemäfs die matlema-
tische Behandlung etwas zurück gegen die inductorisch -experimentelle,
da wir denn Hrımnorrz auch in solcher Forschung als Meister bewundern
lernen. Der Grundgedanke, der in diesen Arbeiten immer wieder durch-
bliekt, ist die Erhaltung der Energie auch unter oft sehr dunklen und
verwickelten Bedingungen. Eine neue elektrische Versuchsweise schuf
Hermnortz, indem er aus der Wärmelehre in die Elektrieitätslehre den
Begriff der Conveetion übertrug, worunter er hier dem dortigen Gebrauch
entsprechend die Fortführung der Elektrieität durch Bewegung ihrer pon-
derablen Träger versteht. Sie wurde in seinem Laboratorium dureh
Hrn. Henry A. Rowrann in’s Werk gesetzt; ihre Bedeutung besteht unter
Anderem darin, dafs die so gewonnenen Convectionsströme gleichsam ein
Surrogat liefern für die Elektrieitätsbewegung in ungeschlossenen Leitern,
30 E. ou Boıs-Reymonp:
und dadurch zur Entscheidung wichtiger theoretischer Fragen die Möglich-
keit eröffnen, hinsichtlich deren, wie Hrrmnorrz sagt, noch die üppigste
Flora von Hypothesen wuchert. Eine andere Gattung von Üonveetions-
strömen sind die elektrolytischen, bei welchen in der elektrolytischen
Flüssigkeit gelöste Gase eine Rolle spielen, worauf hier nicht näher ein-
gegangen werden kann.
Ein weiteres neues Moment in Hermnorrz Polarisationsarbeiten wurde
ihm durch die von Tuomas Gramam entdeckte Ocelusion der Gase in Me-
tallen, besonders des Wasserstoffes in Platin und Palladium, geboten. Am
schönsten und einfachsten springt dieser wunderbare Erfolg in die Augen
in dem von Hrımnortz dem Dr. Erınu Root aus Boston an die Hand ge-
gebenen Versuche, ob der durch Elektrolyse gegen die eine Seite einer
dünnen Platinplatte geführte Wasserstoff nach einiger Zeit sich auch an
der entgegengesetzten Seite dadurch bemerkbar machen würde, dafs er
auch dort galvanische Polarisation hervorbringe, d.h. das Platin positiver
erscheinen lasse: wie sich das in der That herausstellte.
Hier schliefst sich eine längere Reihe von mathematisch -physikalischen
Abhandlungen über die Theorie der Elektrodynamik an. Es handelt sich
darin vorwiegend um die Vergleichung der verschiedenen für die elektro-
dynamischen Kräfte aufgestellten Gesetze. des Amp£re’schen und des Nev-
Mann schen, sowie des auf einer bisher in der Physik unbekannten Vor-
stellungsweise beruhenden WeEBER'schen Gesetzes, welches nämlich die
Fernkräfte der Elektrieität aufser von deren Entfernung und Menge von
ihrer Geschwindigkeit und ihrer relativen Beschleunigung abhängen läfst.
In wiederholten Auseinandersetzungen zeigt Hrrmnorız, dafs dies letztere
Gesetz unhaltbar ist, indem es, im Widerspruch mit der Erhaltung der
Energie, das Gleichgewicht der ruhenden Elektrieität zu einem labilen macht,
und weiterhin zu unendlicher Geschwindigkeit und zu noch anderen Un-
möglichkeiten führt. Er spricht sich, unter gewissen Vorbehalten, für das
Neumann’sche Potentialgesetz aus, und übt gelegentlich an einigen Gegnern
eine sonst nicht in seinen Gewohnheiten liegende Kritik. Die Theorie
der ungeschlossenen Ströme und der sogenannten Gleitstellen wird erörtert,
und der Begriff der ponderomotorischen Kräfte im Gegensatz zu solchen,
welche nur zwischen elektrischen Theilchen thätig sind, wird eingeführt. In
diese Gruppe von Arbeiten gehört auch noch eine Studie über absolute Maafs-
systeme für elektrische und magnetische Gröfsen und deren Dimensionen.
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 31
So weit etwa reicht bei ihm und überwiegt offenbar noch die alte
Lehre von der Elektrieität, wie sie durch CouLomg im Anschlufs an die
Newron’sche Gravitation, und unter dem Anschein entstanden war, dafs
die elektrischen Fernkräfte sich gleich der Schwere durch den leeren
Raum fortpflanzen, und dafs ihre Leistung mit dem Produet der auf einander
wirkenden Elektrieitätsmengen wächst, mit der Entfernung in dem Mals ab-
nimmt, wie deren Quadrat zunimmt. Mittlerweile hatte jenes aufserordent-
liche experimentelle Genie, welches angeblich zwar kein Binom zu quadriren
verstand, aber des tiefsten Einblieks in die Naturgeheimnisse theilhaftig war,
Faravay hatte sich, auf Newron selber sich berufend, über die seit einem
Jahrhundert herrschende Gravitationslehre abfällig geäufsert, und an Stelle
der nach deren Vorbild aufgestellten Lehre von der Elektrieität und dem
Magnetismus polarisirte Kraftlinien gesetzt und nachgewiesen. Ein Mathe-
matiker ersten Ranges, in diesem Felde HrrmuorLrz wohl ebenbürtig zu
nennen, James CLerk Maxweır, hatte diese Theorie, die sich kurz als die
der dielektrischen Polarisation beschreiben läfst, in eine mathematische
Form gegossen, und zu der Theorie des Lichtes in der Art in Beziehung
gebracht, dafs beide, Lieht und Elektrieität, fortan auf Aetherschwingungen
als auf den nämlichen letzten Grund zurückgeführt, und als wesentlich
einerlei erkannt waren. Noch fehlte für diese Synthese der handgreif-
liche, experimentelle Beweis. Wenn er nicht von Hrımnortz selber ge-
liefert wurde, so geschah es doch durch denjenigen seiner Schüler, der
ihm in diesem Gebiete nach Richtung und vielleicht nach Begabung am
nächsten stand, durch den leider kurz nach dem hier von ihm erfochtenen
Siege verstorbenen Heinrich Hertz. Dieser zeigte, dals von elektrischen
Funken ausgehende Strahlungen ganz wie die Aetherschwingungen des Lichtes
interferiren, refleetirt, gebrochen und polarisirt werden; sie pflanzen sich
mit einer der des Lichtes vergleichbaren, wenn nicht gleichen Geschwin-
digkeit fort; genug, sie sind transversale Aethersehwingungen gleich denen
des Lichtes, nur ungleich länger. Hermnorrz hat sich denn auch in seinen
späteren Arbeiten der Faranpay-Maxweır'schen Theorie rückhaltlos ange-
schlossen, ja er hat die elektrische Theorie des Lichtes in einem wichtigen
Punkte vervollständigt, indem er die elektromagnetische Theorie der Farben-
zerstreuung entwickelte, wobei er die zur Erklärung der anomalen Dis-
persion schon früher von ihm angenommene Srırmeyer’sche Hypothese von
ponderablen, des Mitschwingens fähigen Molekeln im Aether zu Grunde legt.
32 E. ou Boıs-Reymonp:
Er hat auch in einem vor der Chemical Society gehaltenen Vortrage Faranay's
neue Auffassung der Elektrieität dargestellt, und zugleich die elektrische
Theorie der chemischen Verbindungen und die Theorie der Elektrolyse in
ihrer neuen Gestalt abgeleitet, wobei er als Grundvoraussetzungen das
Gesetz von der Constanz der Energie und die strenge Gültigkeit von
Farapay's elektrolytischem Gesetze festhielt. Letzterem entsprechend kann
Elektrieität aus der Flüssigkeit an die Elektroden nur unter aequivalenter
chemischer Zersetzung übergehen, was aber nur dann möglich ist, wenn
die Zerlegung der chemischen Verbindungen durch die vorhandenen elek-
trischen Kräfte geleistet werden kann. Dafs diese hierzu ausreichen, er-
giebt sich aus der von HeımnorLtz berechneten überraschenden Gröfse der
bei diesen Processen ausgetauschten elektrischen Aequivalente.
Hermnortz hat später, als das sogenannte Prineip der kleinsten Action
seine Aufmerksamkeit fesselte, die Theorie der Elektrodynamik auch aus
diesem abgeleitet. Er hat auch in seinen Folgerungen aus Maxweır's
Theorie über die Bewegungen des reinen Aethers’ unter der Voraus-
setzung, dals der reine Aether eine reibungslose, incompressible Flüssig-
keit ohne Beharrungsvermögen sei, gefunden, dafs die von MAxwELL
aufgestellten, von Hrrrz vervollständigten Gesetze in der That ge-
eignet seien, Aufschlufs über die im Aether auftretenden Bewegungen
zu geben.
Wenn wir endlich noch hinzufügen, dafs HrıLmsorrz eine den Schwan-
kungen des Erdmagnetismus entzogene elektrodynamische Wage construirte,
zu der hin und von der fort in sinnreicher Weise Streifen von Rauschgold
die Ströme leiteten, so dürfte das Vorige bei aller Unvollkommenheit wohl
für ein ziemlich vollständiges Bild von Heımnorrz’ elektrischen Arbeiten
gelten. Dabei konnte dieser aber nicht stehen bleiben. Es liegt in der
Natur der Dinge, dafs, wie er die Rolle der Elektrieität in den chemischen
Vorgängen aufgeklärt hatte, er ebenso, und noch viel unmittelbarer, die
der Wärme in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen mufste. Die von
Crausıus vervollständigte mechanische Wärmetheorie führt er in die Theorie
der chemischen Vorgänge ein. Er lehrt dabei die in’s Spiel kommende
gesammte innere Energie eines körperlichen Systemes in zwei Theile
trennen, in die freie und die gebundene Energie, von denen die erste
freier Verwandlung in reversible Arbeitsformen fähig ist, die zweite als
zum Theil irreversible Wärme zu Tage treten mufs. Seine Bestimmungen
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 33
entsprechen im Allgemeinen den von Crausıus aufgestellten Begriffen der
Energie und der Entropie, und Crausıvs’ Ergal heifst bei HeLmmortz die
Quantität der Spannkräfte. Doch es ist unmöglich, bei dieser Gelegenheit
tiefer in diese äufserst schwierigen und verwickelten Dinge einzugehen.
Es genüge, daran zu erinnern, dafs diese unscheinbaren Ermittelungen es
sind, welche schliefslich zu der schon oben angedeuteten tragischen Einsicht
führen, dafs die Welt, wenn auch erst nach unendlicher Zeit, als ein Eis-
klumpen von einer nur unendlich wenig über dem absoluten Nullpunkt
erhabenen Temperatur enden werde.
Von hier ab fehlt es noch mehr als bisher an einem die HELMHoLTZ-
schen Arbeiten stetig verknüpfenden Faden, und wir gehen ohne wei-
teres zu einigen seiner Leistungen im Gebiete der allgemeinen Physik
über. An ihrer Spitze steht die berühmte Abhandlung über Integrale der
den Wirbelbewegungen entsprechenden hydrodynamischen Gleichungen,
durch welehe er unstreitig einen der ersten Plätze unter den Physico-
Mathematikern aller Zeiten einnahm, und eine Fülle wunderbarer 'That-
sachen an’s Lieht zog, die dadurch noch bedeutsamer erscheinen, dals
zwischen den Wirbelbewegungen des Wassers und den elektromagneti-
schen Wirkungen elektrischer Ströme eine auffallende Analogie stattfindet.
Wirbellinien nennt er Linien, welche durch die Flüssigkeitsmasse so ge-
zogen sind, dafs ihre Richtung überall mit der Richtung der augenblick-
lichen Rotationsaxe der in ihnen liegenden Wassertheilchen zusammentrifft.
Wirbelfäden nennt er dann Theile der Wassermasse, welche man dadurch
aus ihr herausschneidet, dafs man durch alle Punkte des Umfanges eines
unendlich kleinen Flächenelementes die entsprechenden Wirbellinien con-
struirt. Die Wirbelfäden müssen innerhalb der Flüssigkeit in sich zurück-
laufen, endigen können sie nur an deren Grenzen. Geschieht das erstere,
so entstehen in reibungsloser Flüssigkeit Wirbelringe, in welchen die
lebendige Kraft der Zeit nach constant ist. Haben zwei Wirbelringe
gleiche Axe und Rotationsrichtung, so schreiten sie beide in gleichem
Sinne fort; es wird der vorangehende sich erweitern. dann langsamer
fortschreiten, der nachfolgende sich verengern, dann schneller fortschrei-
ten, schliefslich bei nieht zu verschiedener Fortpflanzungsgeschwindigkeit
den anderen einholen, ja durch ihn hindurchgehen. Dann wird sich das-
selbe Spiel mit dem anderen wiederholen, so dafs die Ringe abwechselnd
Gedächtnifsreden. 1896. II. 5
34 E. ou Boıs-Reyuonp:
der eine durch den anderen hindurchgehen. Haben die Wirbelringe gleiche
Radien, gleiche und entgegengesetzte Rotationsgeschwindigkeit, so werden
sie sich einander nähern und sich gegenseitig erweitern, so dafs schliefs-
lich ihre Bewegung gegen einander immer schwächer wird, die Erweite-
rung dagegen mit wachsender Geschwindigkeit geschieht.
Wegen einiger Punkte in dieser Darlegung wurde HELMHoLTz von dem
Pariser Akademiker Hrn. BErTrRAnn mehrfach angegriffen, es ward ihm aber
leicht, nachzuweisen, dafs dessen Kritik nur auf Mifsverständnissen beruhe.
Besser erging es seinen Ergebnissen in England. Lord Kervın gründete
nämlich auf die von Hernmortz eingeführte Vorstellung der Wirbelringe eine
eigene Theorie der Constitution der Materie. Er stellte sich vor, dafs die Atome
kleinste, von Ewigkeit her und in Ewigkeit fort sich drehende Wirbel-
ringe seien, und dafs die chemische Verschiedenheit der Atome darin be-
stehe, dafs wir es in ihnen mit verschiedentlich geknoteten Wirbelringen zu
thun haben. Wir werden später sehen, wie merkwürdig Hrrnnorzz selber
Lord Kervın's Auffassung auszugestalten versuchte.
In einer besonderen Abhandlung über discontinuirliche Flüssigkeits-
bewegungen geht Hrrmmorrz aus von der oben erwähnten Übereinstim-
mung zwischen den hydrodynamischen Gleichungen und den für stationäre
Ströme von Elektrieität oder Wärme bestehenden, und sucht die trotz
dieser scheinbaren Analogie doch vorhandenen, in vielen Fällen leicht
erkennbaren und sehr eingreifenden Unterschiede auf, welche sich nament-
lieh auffallend zeigen, wenn die Strömung durch eine Öffnung mit scharfen
Rändern in einen weiteren Raum eintritt.
Eine andere für die hydrodynamischen Theorien grundlegende Forde-
rung war die genauere Bestimmung der Reibung tropfbarer Flüssigkeiten.
Hern#ortz unternahm diese in zwei Arbeiten, deren eine sich die Ver-
vollkommnung der Theorie der stationären Ströme in reibenden Flüssig-
keiten vorsetzt, die andere, bei welcher Dr. G. von Pıorrowskı ihm experi-
mentell zur Seite stand, die Frage nach den Vorgängen an der Grenze
der Flüssigkeit und der sie umschliefsenden Wandungen näher in’s Auge
falst. Diese Untersuchung geschah, indem eine mit verschiedenen Flüssig-
keiten gefüllte, innen polirte und vergoldete Kugel mittels eines besonderen
Apparates in reine Schwingungen um ihre senkrechte Aufhängungsaxe
versetzt, und die durch die Flüssigkeit bewirkte Verzögerung der mit
Spiegel und Fernrohr beobachteten Schwingungen gemessen wurde. Leider
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 35
zeigte der Erfolg, dafs die gewöhnliche, durch Poiszvirze's Versuche an
sehr langen und dünnen Röhren scheinbar bestätigte Annahme, wonach
die oberflächlichste Schieht der Flüssigkeit den Wänden des Gefälses fest
anhaftet, für die wässerigen Flüssigkeiten in polirten und vergoldeten
Metallgefäfsen nicht zutrifft. während dies für Alkohol und Aether aller-
dings nahehin der Fall ist.
Zu den Überraschungen, welche man beim Durchmustern der HELNHoLTZ-
schen Arbeiten erfährt, gehört es wohl, dafs man den Mathematiker und
Experimentator. den wir bisher in ihm kennen gelernt haben, plötzlich
der geographischen Physik und der Meteorologie mit gleicher Liebe und
Meisterschaft sich zuwenden sieht. Seine erste Leistung in diesem Sinne
betrifft das Eis und die Gletscher, und sie verdankt ihre Entstehung sicht-
lich zweierlei Umständen, erstens den von HeLmHoLtrz unternommenen
Gletscherwanderungen, zweitens den gerade damals aufgestellten Gletscher-
theorien. und den daran sich knüpfenden Erörterungen über die Eisbildung.
Faravay hatte entdeckt, dafs zwei an einander geprelste Eisstücke von Null
Grad zusammenfrieren und sich fest vereinigen, und James Tnuonsox hatte
dies durch die Erniedrigung des Gefrierpunktes erklärt, welche nach ihm
den Druck begleitet. Es entstand aber die Schwierigkeit. dafs Faranay die
Regelation auch bei sehr kleinem Drucke, freilich erst im Laufe einiger
Stunden, eintreten sah. Diese Thatsachen waren von hohem Interesse, in-
dem dadurch die von Renxpv. Forses, Tysvarı erkannte Ähnlichkeit der
Bewegung der Gletscher mit einem Strome zähflüssiger Substanz ihre Er-
klärung zu finden schien. Durch eine Reihe von zweckmäfsig ersonnenen
Versuchen, in welchen gefrorenes Wasser in allen erdenklichen Zuständen
verschiedenem Druck ausgesetzt wurde, gelang es Hermnorzz, das Entstehen
des charakteristischen Gletschereises aus dem Firn mit überzeugender Treue
nachzuahmen.
Die Abhandlung "über ein Theorem, geometrisch ähnliche Bewegungen
flüssiger Körper betreffend, nebst Anwendung auf das Problem, Luftballons
zu lenken‘, knüpft noch an die Hydrodynamik an, indem sie lehrt, an
einer Flüssigkeit und an Apparaten von gewisser Grölse und Geschwindigkeit
gewonnene Beobachtungsresultate zu übertragen auf eine geometrisch ähn-
liche Masse einer anderen Flüssigkeit und Apparate von anderer Gröfse
und anderer Bewegungsgeschwindigkeit, beispielsweise aus den Bewegungen
eines Schiffes auf die eines Luftballons zu schliefsen. Vögel anlangend,
58%
36 E. vu Boıs-Revymonp:
erscheint es wahrscheinlich, dafs im Modell der grofsen Geier die Natur
schon die Grenze erreicht habe, welche mit Muskeln, als arbeitleistenden
Organen, und bei möglichst günstigen Bedingungen der Ernährung, für
die Gröfse eines Geschöpfes erreicht werden kann, das sich dureh Flügel
selber heben und längere Zeit in der Höhe erhalten soll. Unter diesen Um-
ständen ist es nach HrrmnorLtz kaum als wahrscheinlich zu betrachten, dals
der Mensch auch durch den allergeschicktesten flügelähnlichen Mechanismus,
den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, in den Stand ge-
setzt werden würde, sein eigenes Gewicht in die Höhe zu heben und dort
zu erhalten. Neuere Versuche von Hrn. S. P. Lanerey und Hrn. O. Liumex-
rHuAL über den Luftwiderstand wenig geneigter ebener Flächen bei starker
horizontaler Bewegung lassen jedoch diesen Sehlufs vorläufig noch als nicht
ganz unbedenklich erscheinen.
Die Reihe von Hrrmnortz’ meteorologischen Arbeiten beginnt mit
einem gemeinfafslichen Vortrage über "Wirbelsturm und Gewitter‘, der aber
zur Erläuterung des Vorgangs der Bildung von Wirbelstürmen einen merk-
würdigen schematischen Versuch enthält, in welehem durch eine kreisende
Wassermasse eine senkrechte mit Luft gefüllte Röhre sich bildet. genau
von der Form, in der man die Wasserhosen darzustellen pflegt. Dem-
nächst hat es den Anschein, als hätte eine zufällig vom Gipfel des Rigi
aus Hermnortz sich darbietende Wolken- und Gewitterbildung seine Auf-
merksamkeit diesen Naturerscheinungen zugelenkt. Zwei gewaltige Ab-
handlungen “über atmosphaerische Bewegungen’ und eine dritte über die
Energie der Wogen und des Windes’ enthalten in meist streng mathema-
tischer Form die Ergebnisse. zu denen Hernnorrz gelangte. und welche
hier nieht näher dargelegt werden können. Der Grundgedanke ist indessen
der, dafs eine ebene Wasserfläche, über die ein gleichmäfsiger Wind hin-
streicht, sich in einem Zustande labilen Gleichgewichtes befindet, und dafs
die Entstehung von Wasserwogen wesentlich diesem Umstande zuzuschreiben
ist. Der gleiche Vorgang mulfs sich auch an der Grenze verschieden schwerer
und an einander entlang gleitender Luftsehiehten wiederholen, hier aber
viel gröfsere Dimensionen annehmen. Da wir bei den am Erdboden vor-
kommenden mälsigen Windstärken oft genug Wellen von einem Meter Länge
haben, so würden dieselben Wellen in die Luftschichten von 10° Tempe-
raturdifferenz übersetzt. 2 bis 5"" Länge erhalten. Gröfseren Meereswellen
von 5 bis 10” würden Luftwellen von ı5 bis 30*" entsprechen, die schon
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 37
das ganze Firmament des Beschauers bedecken könnten. An den Grenz-
flächen verschieden schwerer Luftschichten müssen dergleichen Wellen-
systeme aufserordentlich häufig vorkommen, wenn sie uns auch in den
meisten Fällen unsichtbar bleiben. Der Vorgang wird gelegentlich nur
sichtbar durch die gestreiften Cirruswolken, welche sich zeigen, wenn an
der Grenze der beiden Schichten Nebel niedergeschlagen werden. Unter
solehen Bedingungen, wo wir Wasserwellen branden und Schaumköpfe
bilden sehen, werden zwischen den Luftschichten sich ausgiebige Mischun-
gen herstellen müssen. Um uns Hermnorrz wissenschaftliche Gestalt voll-
ständig zu vergegenwärtigen, darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, dafs
er die Meteorologie keinesweges so zu sagen am Schreibtische trieb, son-
dern beispielsweise es nicht verschmähte, auf dem Cap d’Antibes mit einem
kleinen tragbaren Anemometer selber Beobachtungen über Windstärke und
Wellengang anzustellen, und seine Formeln mit der Wirklichkeit zu ver-
gleichen.
Diese Arbeiten von Heımnorrz sind die letzten, welche im engeren
Sinne als naturwissenschaftlich bezeichnet werden können, insofern darin
von Darstellung, Beobachtung und Deutung von Naturerscheinungen die
Rede ist. Es folgen nun zunächst fünf Studien zur Statik monoeyklischer
Systeme, welche lediglich analytisch- mechanischen Inhaltes sind. Mono-
eyklische Systeme sind solche, in deren Innerem eine oder mehrere
stationäre, in sich zurücklaufende Bewegungen vorkommen, die aber, wenn
deren mehrere sind, nur von Einem Parameter abhängen. Das Haupt-
interesse solcher Untersuchungen liegt darin, dafs auch die Wärmebewegung,
wenigstens in ihren nach aufsen beobachtbaren Wirkungen, die wesent-
lichen Eigenthümlichkeiten eines monoeyklischen Systemes zeigt, und dafs
namentlich die beschränkte Verwandlungsfähigkeit der in die Form von
Wärme übergegangenen Arbeitsaequivalente unter gewissen Bedingungen
auch für die Arbeit der monocyklischen Systeme gilt.
Denselben analytisch- mechanischen Charakter haben die Aufsätze "über
die physikalische Bedeutung’ und "zur Geschichte des Prineips der kleinsten
Action‘. Dies von Maurrrrurs aufgestellte Prineip besagt, dals das von
Leisnız Action genannte Produet aus der Zeit in die lebendige Kraft stets
ein Minimum sei, so dafs man aus der Bedingung für das Minimum Bahn
und Geschwindigkeit der bewegten Masse eindeutig erhalte. Maurertuis
legte indefs seinem Prineipe eine ungemeine Wichtigkeit ganz anderer Art
38 E. ou Boıs-Revmonp:
bei, indem er darin den sichersten und unwiderleglichsten Beweis für das
Dasein Gottes erblickte. Er vermochte aber nicht einmal einen mathe-
matisch stichhaltigen Beweis für das Prineip zu geben, welches somit,
wie seiner Zeit das Prineip der Erhaltung der Energie, lange unter dem
Vorurtheile litt, dafs es nur eine halb metaphysische Fietion sei. Zwar
hatte eine Reihe von Mathematikern ersten Ranges, von Eurer bis zu
Jacogı, sich schon bemüht, es correct zu gestalten. Es ist aber ein eigenes
Zusammentreffen, dafs es Hrımnorzz, der schon dem Prineipe der Erhaltung
der Energie solchen Dienst leistete, vorbehalten war, nun auch noch dem
Prineipe der kleinsten Action die höchste Weihe zu ertheilen.
Was uns jetzt noch von HermHoLzz’ Arbeiten zu betrachten bleibt.
führt uns wieder in ein ganz neues, diesmal sogar dem gewöhnlichen
Naturforscher einigermaalsen fremdes Gebiet, in welchem aber jener sich
mit gleichem Vermögen und gleichem Behagen bewegt, wie vorhin in der
Mechanik. der Physik, der Physiologie: in das Gebiet der Erkenntnifs-
theorie. Auf dreifachem Wege kam er dazu, sich damit zu beschäftigen.
Einmal, indem er den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinnes-
eindrücke als blofser Zeichen, nicht etwa Abbilder, der äufseren Gegenstände
klarzulegen suchte. Dann, indem er die der Geometrie zu Grunde liegen-
den Thatsachen auf die Richtigkeit der ihnen als Axiome zugeschriebenen
Bedeutung prüfte. Endlich, indem er in dem Aufsatze über "Zählen und
Messen erkenntnilstheoretisch betrachtet‘ das Nämliche mit den Axiomen
der Arithmetik vornahm. Wie in dem Vorigen das Princip der Erhaltung
der Energie uns stets als sicherer Leitfaden durch HrınnorLız’ Gedanken-
wege diente. so fehlt es auch in diesem Abschnitt nicht an einem ähn-
lichen Führer. Der diese Untersuchungen beherrschende Gedanke ist die
empiristische Weltanschauung, weicher Heınnorrz huldigt, im Gegensatze
zu der von ihm verworfenen nativistischen. Es ist dies derselbe Gegen-
satz, der schon im siebzehnten Jahrhundert zwischen der Leıssız’schen
praestabilirten Harmonie und dem Locke’schen Sensualismus bestand, dem
aber dann Kant eine entschiedene Wendung zu Gunsten der ersteren Lehr-
meinungen gab. Der Königsberger Weltweise behauptete bekanntlich, dafs
seine zwölf Kategorien des Verstandes, insbesondere das Causalgesetz, dafs
die Anschauung der Zeit, des Raumes mit seinen drei Dimensionen, und die
geometrischen Axiome, transscendentalen Ursprunges, dafs sie uns a priori
vertraute, eingeborene Einsichten seien. Gegen diesen von ihm sogenann-
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 39
ten Nativismus erhob sich Hrıunorrz sichtlich aus dem Grunde, dals er
einen supernaturalistischen Ursprung voraussetze, und somit gegen jenes
erste, in der "Erhaltung der Kraft‘ von ihm an die Spitze gestellte Prineip
verstolse, »dafs die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu be-
»greifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse«.
Er zieht also vor, sich zu denken, dafs das neugeborene Thier, dafs der
Säugling durch die zunächst ganz zufälligen und zwecklosen Bewegungen
seiner Gliedmaalsen und Sinnesorgane und die dadurch bewirkten Verän-
derungen von Sinneseindrücken zur Vorstellung der Aufsenwelt gelange.
Übrigens bemerkt er. dafs der einzige Einwurf, der gegen die empiristische
Erklärung »vorgebracht werden könnte, die Sicherheit der Bewegung vieler
»neugeborener oder eben aus dem Ei gekrochener Thiere ist. Je weniger
»geistig begabt dieselben sind, desto schneller lernen sie das, was sie über-
»haupt lernen können ...... Das neugeborene menschliche Kind dagegen
»ist im Sehen äufserst ungeschickt, es braucht mehrere Tage, ehe es lernt,
»nach dem Gesichtsbilde die Richtung zu beurtheilen, nach der es den
»Kopf wenden mufs, um die Brust der Mutter zu erreichen. Junge Thiere
»sind allerdings von individueller Erfahrung viel unabhängiger. Was aber
» dieser Instinet ist, der sie leitet, ob direete Vererbung von Vorstellungs-
»kreisen der Eltern möglich ist, .... darüber wissen wir Bestimmtes noch
»so gut wie nichts«.
Eine hierher gehörige Betrachtung scheint aber HrrLmnoLrz entgangen
zu sein. Vielleicht hat in unserer Übersicht seiner Arbeiten der Eine oder
Andere mit Befremden eine Äufserung über das gröfste in diesem Zeitraum
die Biologie bewegende Ereienils vermifst: über Darwın’s Theorie des
Ursprunges der Arten. Nun, wo immer dazu Gelegenheit war, hat Hrrın-
HOLTZ nicht versäumt, sogar eifriger als es sonst seine Art ist, sein Ein-
verständnifs mit der neuen Lehre und seine Bewunderung der Grofsthat
des Britischen Forschers und Denkers an den Tag zu legen. Hier jedoch,
in der Streitfrage zwischen Nativismus und Empirismus, dürfte er die
durch den Darwinismus herbeigeführte Veränderung der Sachlage über-
sehen oder doch nicht gebührend gewürdigt haben. Denn so bedenklich
der Nativismus klingt, wenn er so verstanden wird, dafs eine Generation
auf die nächstfolgende unmittelbar der Wirklichkeit entsprechende Vor-
stellungen vererbe, so annehmbar gestaltet er sich, wenn man eine all-
mähliche Entwickelung durch eine beliebig ausgedehnte Reihe von Ge-
40 E. vu Boıs-Reymonp:
schlechtern zu Hülfe nimmt. Dies ist die von Hrn. HerBERT SPENCER und
dem Redner unabhängig von einander vorgeschlagene Versöhnung zwischen
Nativismus und Empirismus, welche mindestens ebenso berechtigt erscheint.
wie nach Darwinistischen Prineipien die Entstehung eines Auges oder
Ohres. Von supernaturalistischer Einmischung ist dabei keine Rede mehr.
Viel schwieriger als solch nativistisches Werden einer Thierseele ist es
jedenfalls sich empiristisch vorzustellen, wie ein eben erst der Larve ent-
schlüpfter Schmetterling in der kurzen Frist seines neubewulsten Daseins
den Raum mit seinen drei Dimensionen. die Gravitation, den Luftwider-
stand, das Aussehen der ihm vortheilhafte Gelegenheiten darbietenden
Blumen erfahrungsmäfsig erkennen solle. Seine Erlebnisse als Raupe
werden ihm dabei kaum von Nutzen sein. Und da Heımnorrz selber ge-
neigt scheint, in dieser Art von Thatsachen eine Schwierigkeit für den
Empirismus anzuerkennen, so wird es vielleicht am Platze sein, weiter
zu fragen, wie das Menschenkind während der ersten drei Lebensmonate,
von denen es, wohl bemerkt. etwa elf Zwölftel schlafend verbringt, —
des dummen Vierteljahres, wie unsere Wärterinnen es nennen —, den
Gebrauch seiner Augen und Hände durch Tastversuche sieh aneignen
könne, die, um es zu belehren, eigentlich die Vorstellungen sehon vor-
aussetzen, welche sie nach der empiristischen Theorie erst erwecken
sollen. Womit nicht gesagt sein soll, dafs es nicht Fälle gebe, in denen
der empiristischen Auffassung der Vorzug mit vollem Rechte gebühre.
Es wird ja wohl hier, wie an so vielen Stellen, das Vorsichtigste und
Richtigste sein, wenn man beide Vorstellungsweisen im Auge behält
und nach den Umständen bald der einen, bald der anderen den Vorzug
schenkt.
Der besondere Gesichtspunkt nunmehr. aus welchem Hermnorrz die
beiden Weltanschauungen einander vergleichend gegenüberstellt, und auf
ihre Berechtigung prüft, ist die oben schon erwähnte Kanr’sche Auffassung
des Raumes und der geometrischen Axiome. Zunächst führt er an die
Stelle der üblichen geometrischen Betrachtungsweise, welche mancherlei
Täuschungen ausgesetzt ist, die analytische Behandlung ein, aus der sich
eine neuere rechnende Geometrie ergiebt. Sodann wird gezeigt, dafs aus
Thatsachen wie die Selbstverständlichkeit der Axiome und die Unmöglich-
keit, uns eine vierte Dimension vorzustellen, keineswegs auf den transscen-
dentalen, aprioristischen Ursprung unserer Anschauungen zu schliefsen sei.
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 41
Man kann sieh nämlich verstandbegabte Wesen denken. welche. anstatt
in einem dreidimensionalen Raume, auf‘ der Oberfläche irgend eines unserer
festen Körper lebten und nicht die Fähigkeit hätten, irgend etwas aulser-
halb dieser Oberfläche wahrzunehmen, wohl aber vermöchten, den unserigen
ähnliche Wahrnehmungen innerhalb der Ausdehnung der Fläche zu machen,
in der sie sich bewegen. Wenn sich solche Wesen ihre Geometrie aus-
bildeten, so würden sie ihrem Raume natürlich nur zwei Dimensionen zu-
schreiben. Sie würden in diesem Raume, den wir uns im einfachsten Falle
als eine unendliche Ebene denken können, gewisse Axiome unseres Raumes
auffinden und für angeborene Einsichten halten, wie dafs zwischen zwei
Punkten nur eine Gerade, durch einen dritten Punkt nur eine Parallele
mit jener möglich sei, u. s. w. Aber sie würden von einem weiteren räum-
lichen Gebilde, was entstände, wenn eine Fläche sich aus ihrem tlächen-
haften Raume herausbewegte, sich ebensowenig eine Vorstellung machen
können, als wir es können von einem Gebilde, das durch Herausbewegung
aus dem uns bekannten Raume entstände. Man kann dergestalt neben
unserer Geometrie, welche als die Eukuipische zu bezeichnen ist, mehrere
andere Geometrien entwickeln, welche die auf die Oberfläche bestimmter
räumlichen Gebilde beschränkten intelligenten Wesen sich construiren wür-
den: aufser jener der unendlichen Ebene entsprechenden, welche mit un-
serer Planimetrie zusammenfiele, eine sphaerische Geometrie, welche die
gedachten Wesen auf einer Kugeltläche, eine pseudosphaerische Geometrie.
welche sie auf einer sattelförmigen Fläche ersinnen würden u. d. m. Solche
Nicht-Evkuiische Geometrien sind schon vor längerer Zeit von LOBATSCHEWSKIJ
in Kasan, später von Hrn. Berrramı in Bologna ausgearbeitet worden,
während von Gauss selber und dem früh verstorbenen Rırmann der Grund
zu den metamathematischen Untersuchungen gelegt wurde, in welchen neben
unserem Raume von gekrümmten Räumen die Rede ist. Dieser Ideenkreis
höchster mathematischer und erkenntnifstheoretischer Speculation ist es,
aus welchem HermHoLtz zu dem Schlusse gelangt, dafs Kant's Annahme
einer Kenntnifs der Axiome aus transscendentaler Anschauung erstens eine
unerwiesene, zweitens eine unnöthige, drittens eine für die Erklärung un-
serer Kenntnifs der wirklichen Welt gänzlich unbrauchbare Hypothese ist.
Der Raum kann übrigens transscendental sein, ohne dafs es die Axiome
sind, und das Causalgesetz ist wirklich ein a priori gegebenes transscenden-
tales Gesetz, worin also HerLmnoLtTz von JoHannes MÜLLER abweicht, der
Gedächtnifsreden. 1896. II. 6
42 E. vu Boıs-Reymonp:
gerade umgekehrt an dem Begriff der Causalität seine eigene empiristische
Auffassung der Verstandeskategorien entwickelt.
Wir haben nunmehr einen zwar äufserst flüchtigen, übrigens ziem-
lich vollständigen Überblick über Hrımnourz’ wissenschaftliches Lebenswerk
erlangt. ausreichend um das Eingangs Gesagte zu begründen, dafs dies
Werk von der physiologischen Anatomie bis zur Erkenntnifstheorie alles
theoretisch Zugängliche umfasse, und haben dabei überall neben der feinsten
Technik in Beobachtung und Versuch den Gipfel mathematischer und meta-
physischer Befähigung zu bewundern gefunden. Um ein Beispiel solcher
unerhörten Allseitigkeit im Wissen und Können anzutreffen, mu[s man um
zwei Jahrhunderte, bis zu den Riesengestalten eines Leısnız, eines DESCARTES
zurückgehen, wobei aber zu bemerken ist, wie unvergleichlich reicher und
bunter, und also schwieriger zu bewältigen seit deren Tagen der Inhalt
der Wissenschaft ward. Von denen. die es vergeblich unternahmen. die
unermelsliche Reihe von HeLnnorzz’ Schöpfungen in den drei Bänden seiner
gesammelten wissenschaftlichen Abhandlungen sich anzueignen, wird viel-
leicht mancher Diperor's Empfindung theilen, der von Leissiz sagt: »Wenn
»man auf sich zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen
»eines Leısnız vergleicht, wird man versucht. die Bücher von sich zu
»werfen und in irgend einem versteckten Weltwinkel ruhig sterben zu
»gehen.« Und doch geben diese streng wissenschaftlichen Aufsätze, von
deren Seiten Differentialgleichungen und Integrale einer grofsen Mehrzahl
von Lesern abschreckend entgegenstarren, von HELnHoLTz' geistiger Pro-
duetionskraft noch keine entsprechende Vorstellung. Denn nebenher läuft
damit vielfach eng zusammenhängend eine Reihe gemeinfafslicher Vorträge
und Reden, welche bei verschiedenen Gelegenheiten bald hier, bald dort
gehalten, in willkommener Weise die Ergebnisse jener schwierigen Dar-
legungen vor Augen führen. Von einigen unter ihnen ist im Obigen schon
die Rede gewesen: von anderen, wie "über die Natur der menschlichen
Sinnesempfindungen', "über das Sehen des Menschen‘, “über das Verhältnis
der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften‘, “über die
Axiome der Geometrie‘, “über die Thatsachen in der Wahrnehmung’, 'Opti-
sches über Malerei‘, können hier nur die Titel angeführt werden. Noch
andere, wie die Rede "zum Gedächtnifs an Gustav Masnus', die Rectorats-
rede über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten‘, die Rede
beim Empfang der Grarre-Medaille, die "bei der hundertjährigen Gedenk-
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 43
feier von Joserun FRAUNHOFER's Geburt, die Rede "über GoETHE’s natur-
wissenschaftliche Arbeiten” vom Jahre 1853, die "über Gorrne's Vor-
ahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen’ vom Jahre 1892, —
stehen mehr selbständig da. Darunter werden naturgemäls die beiden
letztgenannten am meisten anziehen, mit um so gröfserem Rechte, als sie,
von verschiedenen Gesichtspunkten aus, über den Dichter als Naturforscher
zu weit aus einander gehenden Urtheilen gelangen. Denn während in der
ersten Rede Hrımnortz mit dem Verfasser der Farbenlehre und fanatischen
Gegner Newron’s in's Gericht geht, preist er in der zweiten ebenso rück-
haltlos den prophetischen Scharfbliek, mit welchem GorrnE die grofsen
Grundgedanken der vergleichenden Anatomie erfafste und ihre Folgerungen
voraussah. In allen diesen Aufsätzen, welche zwei ansehnliehe Bände füllen,
erfreuen nicht minder die durch tiefste Sachkenntnifs ermöglichten sinn-
reichen Gedankenwendungen, wodurch die schwierigsten Combinationen
leicht verständlich werden, als der stets völlig natürliche, gelenkige und
doch klangvolle Stil.
Wer nun vox Heımmortz nur als Gelehrtem wülste, tröstete sich viel-
leicht. um den allzu peinlichen Eindruck einer so überwältigenden Über-
legenheit einigermaalsen zu mildern, mit der Vorstellung, jener habe, um
Kraft und Mulfse für eine solche Fülle vollendeter Leistungen zu erübrigen,
so zu sagen nichts Anderes zu thun gehabt, mit anderen Worten er habe
stets ruhig bei der Stange bleiben können, wie man sich dies von manchem
deutschen Universitätslehrer. im Auslande etwa von einem Üuvier, BER-
zEeuIus, Farapay zu denken geneigt ist. Allein dies wäre ein vollkommener
Irrthum. wie sich alsbald ergiebt, wenn man, wozu es jetzt an der Zeit
ist. Hrımnortz’ äufsere Lebensschicksale in Augenschein nimmt.
Wir verliefsen den Dr. Hermann Hernnorzz, als so eben promovirten
Zögling des medieinisch-ehirurgischen Friedrich Wilhelms-Institutes, und
müssen ihm zunächst, als Charite-Chirurgus in das bekannte grofse Kranken-
haus, das Jahr darauf, im Oetober 1843, als Escadron-Chirurgus in die
Öaserne des Königlichen Leib-Garde-Husaren-Regimentes in Potsdam folgen.
Hier führte er 1845 seine Versuche über den Stoffverbrauch bei der Muskel-
action aus, wozu ich ihm eine von Hatske mit eigner Hand für mich zu
einer unterbliebenen Malapterurus-Reise gebaute tragbare Wage hinüber-
brachte. Am 1. Juni 1847 wurde er in das Königliche Regiment der Gardes-
6*
44 E.,pu Boıs-Reynmonp:
du-Corps. gleichfalls in Potsdam, versetzt. In dieser Stellung hielt er im
Juli desselben Jahres in der Physikalischen Gesellschaft den epochemachenden
Vortrag über Erhaltung der Kraft. Ein Jahr später, am 30. September 1848.
hatte er so volle sechs Jahre als Militärarzt gedient und es bis zum Ober-
arzt gebracht. Inzwischen hatte das Revolutionsjahr eine glückliche Ver-
änderung in seiner Lage herbeigeführt, wenn auch nicht durch seine po-
litische Bewegung. Doch giebt es einen Begriff’ von den damaligen Stim-
mungen, dafs nach dem 18. März unser Freund von Potsdam herüberkam.
um nach Brücke und mir zu sehen, und durch Kufs und Händedruck seine
tiefe Erregung verrieth.
Brücke, welcher Lehrer der Anatomie bei der Akademie der Künste
und Assistent an der anatomisch-zootomischen Sammlung war. erhielt nun
aber einen Ruf als Burnpacn's Nachfolger für die Professur der Physiologie
und Allgemeinen Pathologie in Königsberg. Da mein Vater die Güte hatte,
trotz seinen beschränkten Vermögensverhältnissen, mich. ohne auf prakti-
sche Ziele zu drängen, in meinen thierisch -elektrischen Untersuchungen
gewähren zu lassen. und ich somit für den Augenblick genügend versorgt
schien. so wurde unter uns verabredet. dafs Hrrmnorrz Brücke's Stellen
erhalten sollte. Es kostete wenig Mühe. um mit Hülfe des damals über
die Berliner wissenschaftlichen Geschicke waltenden guten Genius ALEXAN-
DER'S von HunsorLpr. HerLunorrz von seinen noch übrigen drei pflichtmälsigen
Dienstjahren zu befreien und ihn an Brücke's Stelle bei der Kunstakademie
und der anatomisch-zootomischen Sammlung unterzubringen. Die Akademie
und Jonanses MÜLLER waren es zufrieden; allein der Zustand wurde nicht
von Dauer, denn schon ein Jahr später erhielt Brücke den für seine ganze
Laufbahn entscheidenden Ruf als Professor der Physiologie nach Wien,
Hernnorrz folgte ihm 1849 auch in seiner Königsberger Stellung. und ich
selber nahm nun seine hiesigen Stellungen ein. In Königsberg hatte Hrın-
noLtz also als Burnacn's und Brücke's Nachfolger Physiologie und Allge-
meine Pathologie zu doeiren. Dort war es, wo er mehrere seiner bedeu-
tendsten Jugendarbeiten ausführte, die Geschwindigkeit des Nervenprineipes
maals, die Muskelzuekung sich aufschreiben liefs, den Augenspiegel erfand.
Sieben Jahre später, 1856, als Aus. Franz Jos. Kart Mayer in Bonn die
Professur der Physiologie und Anatomie niederlegte, ward Hernnorrz dessen
Nachfolger. In dieser Stellung entstanden seine anthropotomischen Arbeiten
über die Muskeln des Brustkastens und die Wirkungen der Muskeln des
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 45
Armes. Aber schon das Jahr darauf, 1857. wurde er nach Heidelberg be-
rufen, um die dort neubegründete Professur der Physiologie und die Leitung
des physiologischen Institutes zu übernehmen. Sein dortiges Zusammen-
wirken mit Hrste als Anatomen, Kırcnnorr als Physiker, Bunsen als
Chemiker war für die süddeutsche Universität eine Zeit des Glanzes,
wie sie selten für irgend eine da war und nicht leicht wiederkehren
wird. Aus Heidelberg sind die Vorreden zu den ersten Ausgaben des
Handbuches der physiologischen Optik und der Lehre von den 'Tonempfin-
dungen gezeichnet.
In Heidelberg war endlich Heınnorrz eine rein physiologische Lehr-
thätigkeit, ohne anatomische, geschweige pathologische Beimischung zu
Theil geworden, doch hatte er noch lange nicht die ihm durch das Geschick
zugedachte Höhe erreicht. Im April 1870 starb Gustav Massus, und die
Professur der Physik an der Berliner Universität wurde frei. Als damaliger
Rector der Universität erhielt ich von dem Minister von Münter den ehren-
vollen Auftrag mich nach Heidelberg zu begeben, und nach dem Beschlufs
der hiesigen philosophischen Faeultät in erster Linie Kırcnnorr, oder wenn
dieser nicht zu haben wäre. HermHorız für uns zu gewinnen. KırcHHorF
wurde von der Grofsherzoglich Badischen Regierung festgehalten, dagegen
Hernnortz, dessen Wünschen der Minister mit dankenswerther Freigebigkeit
entgegenkam,. der unserige ward. So geschah das Unerhörte, dafs ein Me-
dieiner und Professor der Physiologie den vornehmsten physikalischen Lehr-
stuhl in Deutschland erhielt, und so gelangte Hrrmnorzz, der sich selber
einen geborenen Physiker nannte, endlich in eine, seinem specifischen Ta-
lente und seinen Neigungen zusagende Stellung. da er damals, wie er mir
schrieb, gegen die Physiologie gleichgültig geworden war und eigentliches
Interesse nur noch für die mathematische Physik hatte. Es versteht sich,
dafs er nach seiner Übersiedelung hierher aus einem auswärtigen Mit-
gliede der Akademie, was er seit dem ı. Juni 1870 war. statutenmälsig am
1. April 1871 unser ordentliches Mitglied wurde.
Doch sollte noch einmal, und noch viel wesentlicher als bisher, seine
Lage sich ändern. Es kam die Zeit, wo unser grolser Freund, WERNER
vox SIEMENS, zum Theil mit eigenen, nur ihm möglichen riesigen Geld-
opfern, die Gründung einer Physikalisch-Teehnischen Reichsanstalt in Char-
lottenburg zuwege brachte. Nun war uns nicht unbekannt. dafs Sırmens
46 E. pu Boıs-Reymonp:
immer mit Bedauern sah, wie Hrrmnoutz einen grolsen Theil seiner Zeit
und Kraft, anstatt der Fortführung seiner unvergleichlichen Arbeiten, seinem
Lehramte widmen mufste; und so blieb uns auch nicht verborgen, dafs er
Hermsorrz die Stelle eines Praesidenten jener Anstalt zugedacht hatte, als
eine solche, welche ihn von jeder anderen, als einer wissenschaftlichen
Thätigkeit befreien würde, eine Lage, wie nur ein reiner Akademiker sie
sich als Ideal träumen könnte. Seine gute Absicht wurde aber nur unvoll-
kommen erreicht. Da Heınnorrz aus gewissen Gründen Universitätsprofessor
bleiben mufste, so mufste er nothwendig auch noch Vorlesungen halten,
wenn auch zwei Stunden wöchentlich genügten, um seine Verpflichtungen
zu erfüllen. So las er bis zu seinem Tode kleinere Speeialcollegia, wie
über die mathematische Theorie der oseillatorischen Bewegungen, über die
Theorie der Elektrodynamik, über mathematische Optik, über die mathe-
matische Wärmetheorie u. d. m., welche stenographirt eine höchst werth-
volle Ergänzung zu seinen systematischen Schriften bilden. Dann aber
liegt es in der Natur der Dinge, dafs der Praesident eines so umfang-
reichen, vielfach gegliederten. zum Theil den Charakter einer Unterrichts-
anstalt, zum Theil den einer Fabrik tragenden Institutes mit einem Per-
sonal von fünfzig Beamten, eine gewaltige Menge von täglich sich erneuern-
den Verwaltungsgeschäften zu erledigen hat, welehe weit entfernt Heın-
Horzz im Vergleich zu seinen bisherigen Beschäftigungen eine Erleich-
terung zu gewähren. durch ihre Neuheit und Fremdartigkeit ihn vielmehr
erst recht belasteten. Dieser Übergang von Hrımnorsz zu dem ihm von
SIEMENS geschaffenen Wirkungskreise fand im October 1887 statt. Drei
Jahre später, den 13. December 1890. gab er eine 'Denkschrift über die
bisherige Thätigkeit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt' heraus,
die, zur Kenntnifsnahme durch den Reichstag bestimmt, Zeugnifs davon
ablegt, mit welchem Eifer und welcher Thatkraft er auch in dieser Stel-
lung allen Anforderungen zu genügen vermochte. Diese Denkschrift, zwei-
undzwanzig enggedruckte Seiten stark, zerfällt, wie die Reichsanstalt selber,
in zwei Abtheilungen. Die erste, physikalische, umfafst Thermometrische
Fundamentalarbeiten. und handelt unter dieser Aufschrift vom Normal-
Quecksilberthermometer, der Auswahl der Röhren, der Herstellung der
Theilung, der Abweichung der Capillare von der idealen Cylindergestalt,
den Verbesserungen für den Fundamentalabstand und wegen des inneren
und äufseren Druckes; dann von Barometrischen Untersuchungen, Ausdeh-
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 47
nungsbestimmungen, Normalgewichten, Elektrischen Fundamentalarbeiten.
Die zweite, technische Abtheilung beschäftigt sich unter der Aufschrift
”Thermometrische Arbeiten mit der Prüfung ärztlicher Thermometer, deren
nahezu 25000 in den drei Jahren des Bestehens der Reichsanstalt von
dieser geprüft und gestempelt worden waren; dann der Thermometer für
wissenschaftliche und soleher für chemische Zwecke, der Alkoholthermometer
für niedere Temperaturen. Es folgt die Prüfung von Quecksilberbarometern
und Aneroiden. von Manometern und Petroleumprobern und von Schmelz-
ringen. von elektrischen Mefsgeräthen, worüber eine besondere Bekannt-
machung in der ‘Zeitschrift für Instrumentenkunde’ Auskunft giebt. Dann
kommen auf Herstellung einer unveränderlichen Lichteinheit gerichtete
photometrische Arbeiten, ebenso zur Erzeugung von Normal-Stimmgabeln
geeignete Versuche, endlich auf Einführung einheitlicher Schraubengewinde
abzielende Studien, die Anlauffarben der Metalle, Störungen der Libellen.
Diese sehr unvollständige Aufzählung genügt wohl schon, um einen Begriff
von der Art von Untersuchungen zu geben, welche Hermnotsz zur Ab-
wechselung von seinen erkenntnifstheoretischen Speculationen jetzt gleich-
sam zur Pflicht gemacht wurden.
Bedarf es mehr, um das Irrthümliche der Meinung in’s Licht zu
stellen, dafs er durch die ruhige und gleichmäfsige Natur seiner Berufs-
arbeiten in seiner produetiven 'Thätigkeit begünstigt gewesen sei? Sieht
man nicht, dafs er im Gegentheil ungleich öfter als die meisten Universitäts-
lehrer in die kraft- und zeitraubende Lage gekommen ist, nicht blofs Ort
und Umgebung, sondern sogar Lehrauftrag und Natur seines Unterrichtes
von Grund aus zu ändern? Das Geheimnifs seiner dennoch auch in der Fülle
der Erzeugnisse beispiellosen Produetivität lag denn auch vielmehr, wie
kaum gesagt zu werden braucht, in seinem unermüdlichen Fleifse und
seiner Fähigkeit, eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Thatsachen und
Gedanken sich stets gegenwärtig und gleichsam zum Zugreifen und zum
Verwerthen bereit zu halten.
Dafs die letztere Eigenschaft, verbunden mit einer wissenschaftlichen
Erfahrung und einem geistigen Überblick ohne.Gleichen, ihn auch zu einem
der wirksamsten Lehrer machte, versteht sich von sich selber. Auf dem
Katheder wie im Laboratorium gab er in eindringlicher Weise das Beste,
was er hatte, aber freilich mehr an die Minderzahl sich wendend, welche
im Stande war, es zu empfangen und zu würdigen. Nie liefs er, wozu
48 E. ou Boıs-ReEeymonp:
es ihm doch an Gelegenheit nicht fehlte, Andere seine Überlegenheit pein-
lich fühlen, und es war nur deren eigene richtige Empfindung, wenn sie
ihnen doch zum Bewulstsein kam.
Nichts wäre aber irriger, als sich nun vorzustellen, dafs Heımnorrtz
durch seine wissenschaftliche Thätigkeit völlig in Anspruch genommen
gewesen sei. Neben dem Allen war er ein ganzer Mensch. Er hatte sich
früh, 1849. in Potsdam mit Fräulein OL«A von VELTEN verheirathet, die
er aber kurz nach seiner Niederlassung in Heidelberg verlor. Von den
beiden Kindern aus dieser Ehe starb die Tochter als Gattin des Professors
der Geologie Hrn. Branco. der Sohn lebt in München als angesehener
Techniker. 1861 schlofs HermsorLrz in Heidelberg eine neue Ehe mit
Fräulein Anna von Monr, aus der berühmten Württembergischen Gelehrten-
Familie. welche nicht allein sein Leben fortan wieder verschönte, sondern
auch durch ihre hervorragende Persönlichkeit sein Haus zu einem Mittel-
punkte bedeutender Geselligkeit machte. Von den aus dieser Verbindung
entsprossenen Kindern wurde ihm der ältere Sohn leider durch den Tod
entrissen, als er eben anfing, als Physiker sich seines Namens würdig zu
zeigen; durch eine Tochter ist seine enge Beziehung zu WERNER VON
Sırmens ein verwandtschaftliches Verhältnifs geworden.
Hermnorrz’ Äufseres zu schildern, würde in diesem Kreise, dem er
so lange angehörte, überflüssig sein. Der Mit- und Nachwelt wird es in
Bildnifs und Büste durch die besten Deutschen Künstler vergegenwärtigt
und aufbewahrt. Für die, denen es fremd geblieben sein sollte, sei hier
gesagt, dals es ganz seiner inneren Gröfse entsprach. Ein fast über-
mächtiger Schädel, aber von reinster Form, barg das wundervolle Denk-
organ, ein Paar herrlicher Augen liefs nicht erkennen, welches gefähr-
liche Maafs von Anstrengung in subjectiven Versuchen es ohne Schaden
ertragen hatte, während die untere Hälfte des bräunlichen Antlitzes durch
die Kleinheit und Zierlichkeit die Feinheit seiner geistigen Neigungen
spiegelte.
Er war von mehr als mittlerer Gröfse, kräftigem Wuchs und edler
Haltung, ein rüstiger Bergsteiger, und als Sohn der Havel ein tüchtiger
Schwimmer. Weite Spaziergänge, an welche er in Potsdams schöner Um-
gebung durch seinen Vater früh gewöhnt worden war, hatten, wie er be-
richtet, für ihn noch eine andere als hygienische Bedeutung erlangt. Es
Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 49
war beim gemächlichen Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter,
dafs ihm über die ihn gerade beschäftigenden Probleme Aufschlüsse kamen,
die ihm mit der Feder in der Hand am Schreibtische versagt blieben.
Dureh Reisen, welche sich gelegentlich bis über die Meerenge von Gibraltar
und über den Atlantischen Ocean erstreckten, erhielt er sich frisch und
seinen erstaunlichen Leistungen gewachsen. Wie die Natur, war auch die
Kunst für ihn ein Element der Abspannung und des heiteren Genusses.
Von seinem Sinn für Musik war schon oben die Rede, und zwar gehörte
er zu Rıcuarn Wasner’s Bewunderern. In der Malerei hatte er seine Freude
an Böckrin’s phantastischen Fischgestalten.
Von den unzähligen Auszeichnungen aller Art, welche ihm im In- und
im Auslande von allen Seiten zu Theil wurden, seien schliefslich hier nur
zwei erwähnt.
Des Kaisers und Königs Majestät verliehen HerLmnortz durch Erhebung
in den Adelstand und durch Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rathe
die höchsten bürgerlichen Ehren und geruhten die Errichtung seines Stand-
bildes auf öffentlichem Platze zu befehlen.
Die andere Ehrung, welche Hermnortz in ihrer Art als die stolzeste
erschien, die ihm erwiesen werden konnte, war die Gründung der inter-
nationalen Stiftung, welche bei der Königlichen Akademie der Wissen-
schaften seinen Namen trägt, und aus der in gemessenen Zeiträumen eine
mit seinem Bilde und Namen bezeichnete Medaille einem hervorragenden
Gelehrten und Forscher in einem seiner zahlreichen Arbeitsgebiete als Preis
verliehen wird. Die jedesmalige Wahl des Preisträgers ist bis auf Weiteres
Hermnorrz vorbehalten. Ich selber hatte so das unschätzbare Glück, aus
Hermnorrz’ eigener Hand das erste von ihm verliehene Exemplar seiner
Medaille entgegennehmen zu dürfen.
Sein früher Tod, der am 8. September 1894 durch Hirnblutung ihn
aus voller Schaffenskraft hinwegraffte, ist nicht blofs, wie Eingangs geschil-
dert, als ein für die Wissenschaft unsagbarer Verlust, sondern sogar als
nationales Unglück empfunden worden. Wir aber, die Königlich Preufsische
Akademie der Wissenschaften, sind es, welche dieser Verlust am schmerz-
lichsten trifft. Wir wissen am besten, was wir an ihm besafsen und was
wir von ihm noch erhoffen durften. Der Glanz seines Namens bestrahlte
unsere Körperschaft, der Ruhm alles dessen, was er vollbracht hatte, kam
uns in ihm zu Gute. Nichts verhindert uns zu träumen, dafs, nachdem
Gedächtni/sreden. 1896. Il. 7
®
50 E. nu Boıs-Revmonn: Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz.
mit seiner Hülfe Lieht und Elektrieität als einerlei erkannt worden waren,
es ihm auch noch glücken würde, das seit Newron scheinbar ewig dunkle
Wesen der Gravitation in Etwas zu enthüllen.
Er ist nieht mehr. Nichts bleibt uns, als jener zweifelhafte Trost
des Dichters: Er war unser. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen;
ja es ist die Frage, ob eine Gestalt, wie die seinige, je wieder zum Vor-
schein kommen kann.
PHYSIKALISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
AUS DEM JAHRE
1896.
MIT 4 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1896.
GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI,.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
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Inhalt.
ENGLER: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver-
hältnils zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.).. . Abh. I. S.1—28.
Derselbe: Über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im
Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.) .. » 11. S.1—36.
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Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im
Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung.
Von
H” ADOLF ENGLER.
Phys. Abh. 1896. 1.
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Gelesen in der Sitzung der phys.-math. Classe am 16. Januar 1896 Pr
[Sitzungsberichte St. II. S. 5]. j
Zum Druck eingereicht am 9. April, ausgegeben am 2. Juni 1896.
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Systematisch botanische Studien gewinnen erheblich an allgemeiner Be-
deutung, wenn bei einem zweifellos natürlichen Formenkreis nach Er-
mittelung der phylogenetischen Stufenfolge die Gruppirung der Gattungen
der letzteren möglichst angepalst und zugleich die geographische Ver-
breitung der einzelnen Gruppen sorgfältig beachtet wird. Es ergeben
sich dann oft so auffallende Correlationen zwischen der geographischen
Verbreitung und der systematischen Gruppirung, dafs wenigstens einzelne
Momente aus der Entwickelungsgeschichte der untersuchten Formenkreise
deutlich hervortreten. Allerdings sind dies nur einzelne, vielfach nur die
hauptsächlichsten Grundzüge in der Entwickelung, während über den zahl-
reichen Einzelvorgängen, welche die Formenentwickelung und die Formen-
verbreitung bewirkt haben, ein Schleier liegt, den wir nur selten in be-
friedigender Weise werden lüften können. Aber jeder Monograph einer
Familie oder gröfseren Gattung macht die Erfahrung, dafs die scheinbar
so trockenen Herbarstudien durch die Aufdeckung der Verwandtschafts-
verhältnisse und das Eingehen auf die Verbreitung der einander nahe
stehenden Verwandtschaftskreise erheblich an Reiz gewinnen. Leider sind
aber immer noch wenig systematische Botaniker geneigt, diesen Fragen
eine grölsere Beachtung zu schenken und sie mit demselben Interesse zu
behandeln, das sie den Nomenclaturfragen entgegenbringen.
Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte ich mich mit der über
einen grofsen Theil der Erde verbreiteten und etwa 750 Arten zählenden
Familie der Rutaceen und den ihr zunächst stehenden Familien beschäftigt,
und in den letzten Jahren hatte ich diese Familie für die Bearbeitung in
den von mir herausgegebenen »Pfilanzenfamilien« noch genauer studirt.
1%
4 A. ENGLER:
Die Familie ist bekanntlich, wie ich vor 2ı Jahren gezeigt habe, in ihren
Blüthenmerkmalen nicht scharf geschieden von den nahestehenden Familien
der Geraniaceen, Zygophyllaceen, Simarubaceen, Burseraceen und Melia-
ceen; sie ist jedoch sehr scharf charakterisirt durch die in den Stengeln
und Zweigen oder Laubblättern, oft auch in den Blüthenphyllomen vor-
kommenden Iysigenen Öldrüsen, welche bei den Dictyolomeae durch mehr-
zellige Öldrüsen mit nicht resorbirten Wänden vertreten sind. In den
Blüthen ist bekanntlich als constantes, aber auch anderen Geraniales zu-
kommendes Merkmal die Stellung der Samenanlagen mit ventraler Raphe
und nach oben gekehrter Mikrophyle zu beachten; diese Stellung ist in-
sofern constant, als bei Vorhandensein einer einzigen Samenanlage dieselbe
stets und bei Vorhandensein von zwei oder mehreren Samenanlagen in einem
Carpell wenigstens eine oder einige in der angegebenen Weise orientirt sind.
Sehen wir zunächst von dem vielfach mit den klimatischen Verhält-
nissen im vollsten Einklang stehenden, bei der weiten Verbreitung in allen
tropischen und subtropischen Gebieten aber sehr verschiedenen Habitus der
Rutaceen ab, so treten als rein morphologische und theilweise auch bio-
logische, aber vom Klima unabhängige Merkmale in den Vordergrund: die
öntwickelung der Blüthenhüllen, die Zahl der Samenanlagen in den Car-
pellen, der Vereinigung der Carpelle, die Entwickelung der Frucht zu einer
in meist aufspringende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp zerfal-
lenden oder zu einer Steinfrucht oder Flügelfrucht oder zu einer Beere,
die Erhaltung des Nährgewebes in den Samen bis zur Keimung oder die
vollständige Aufzehrung desselben durch den Keimling. Auf den in diesen
Verhältnissen sich darbietenden morphologischen Fortschritten basirt die
von mir in den Pflanzenfamilien (II. 4 S.ıı0, ııı) gegebene Gliederung
der Familie; ich mufs jedoch erklären, dafs ich die 3 bei der Familie
auftretenden Hauptformen der Fruchtbildung für vollkommen gleichwerthig
ansehe, dafs ich unter den jetzt lebenden Rutaceen nicht die beerenfrüch-
tigen oder die steinfrüchtigen oder die kapselfrüchtigen als die weiter vor-
geschrittenen anzusehen vermag; jede dieser 3 Fruchtformen ist für die
Verbreitung der Samen geeignet und somit auch zur Erhaltung befähigt
gewesen, und in jeder der 3 durch ihre Fruchtbildung charakterisirten
Sippen finden sich Gattungen mit auf niederer Stufe stehenden Blüthen
und solche mit vorgeschrittenerem Blüthenbau. Es ist ferner zwar sehr
wohl denkbar und der Differenzirung der Gewebe entsprechend, dais die
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 5
Früchte zunächst mit fleischigem Pericarp versehen waren, dafs dann bei
einem Theil der Rutaceen das Pericarp sich in ein fleischiges Mesocarp
und ein hartes Endocarp sonderte und dafs schliefslich das pergamentartig
gewordene Endocarp die Fähigkeit, sich elastisch abzulösen und die Samen
herauszuschleudern, erlangte: aber es fehlt an Anhaltspunkten dafür, dafs
irgendwelche Gattungen mit verschiedenartiger Frucht unter einander in
näherer verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als die Gattungen mit gleich-
artiger Fruchtentwickelung. Sodann fällt aber noch ein anderer Umstand
bei den Erwägungen über einen etwaigen Fortschritt in der Fruchtbildung
erheblich in’s Gewicht. Die kapselfrüchtigen Rutaceen stehen zwar in der
Entwickelung des Pericarpes höher als die steinfrüchtigen und beeren-
früchtigen; aber sie nehmen eine niedere, d.h. dem urspünglichen Verhalten
näher stehende Stufe ein hinsichtlich der Vereinigung der Carpelle. Diese
ist bei den mit aufspringenden Kapselfrüchten versehenen Rutaceen eine
oft sehr geringe, in sehr vielen Fällen nur vor der Befruchtung durch die
Vereinigung der Griffel bewirkte, während bei den steinfrüchtigen und
beerenfrüchtigen Rutaceen die Carpelle entweder gänzlich oder mit ihren
Övarien unter einander vereint sind, also gerade mit dem Theil, welcher
bei den kapselfrüchtigen entweder von Anfang an frei ist oder bei der
Fruchtreife frei wird. Man kann also die Hauptmasse der Rutaceen auf
3 Unterfamilien vertheilen: ı. Rutoideae mit bei der Reife getrennten Car-
pellen und vorzugsweise aufspringenden Früchten, 2. Toddalioideae mit
syncarpem Gynäceum und Steinfrüchten, 3. Aurantioidese mit syncarpem
Gynäceum und Beerenfrüchten. Es bleiben dann noch einige Gattungen
übrig, welche theils sich einer dieser 3 Unterfamilien, theils aber auch
einer der mit den Rutaceen verwandten Familien nähern. Die nur 2 Arten
zählende Gattung Dictyoloma DC. besitzt das Gynäceum der Rutoideae; aber
die in den Blättern vorhandenen Öldrüsen sind nicht lysigen, die Blätter
doppelt gefiedert, die Staubblätter am Grunde mit Schüppchen versehen,
wie bei vielen Simarubaceen und Zygophyllaceen und vor Allem fehlt dieser
im tropischen Amerika vorkommenden Gattung irgend welcher Anschlufs
an eine andere jetzt lebende, sie ist aulserdem durch mehreiige Carpelle
charakterisirt, welche bei den zunächst stehenden Rutoideae verhältnifsmäfsig
selten und bei keiner der amerikanischen Rutaceen vorkommen; diese
Gattung muls also im Rutaceenstamm von Anfang an eine selbständige
Stellung eingenommen haben und stellt daher eine eigene Unterfamilie
6 A. EnGLER:
Dictyolomoideae dar. Ähnlich ist es mit den Flindersioideae, Flindersia R.Br.
und Chloroxylon DC., die man früher zu den Meliaceen gestellt hatte;' sie
haben die lysigenen Drüsen der Rutaceen, vor der Befruchtung vollständig
vereinte Carpelle, eine fachspaltig oder scheidewandspaltig aufspringende
Kapsel mit bleibendem Endocarp und mehrere Samen in den Fächern.
Sie sind also eine Art Bindeglied zwischen den Rutaceen und Meliaceen,
wegen ihrer lysigenen Drüsen aber entschieden der ersteren zuzurechnen.
Endlich findet sich auf den Inseln West-Indiens eine Gattung Spathelia L.,
die im Habitus mit einzelnen Fagara, aber auch mit gewissen Bursera und
Bosiwellia übereinstimmt, mit lysigenen Drüsen nur an den Blatträndern
versehen ist, ein Gynäceum wie die Toddalioideae besitzt, bei der Frucht-
reife aber durch eine geflügelte Steinfrucht mit einem 3-fächerigen Stein-
kern ausgezeichnet ist. Zudem kommen auch hier am Grunde der Staub-
blätter bisweilen schuppenförmige Bildungen vor, wegen deren man auch
die Gattung zu den Simarubaceen stellen wollte” Endlich ist auch noch
als anatomische Eigenthümlichkeit constatirt worden, dafs in der Rinde
und dem Mark ölführende Secretzellen zerstreut vorkommen. Alles dies
rechtfertigt die Absonderung der Gattung Spathelia von den übrigen Ruta-
ceen als Vertreter einer Unterfamilie Spathelioideae.
Butoideae- Xanthozsyleae.
Wenden wir uns nun der Hauptmasse der übrigen Rutaceen zu, so
finden wir unter den Rutoideae zunächst 2 Gruppen dadurch ausgezeichnet,
dafs bei ihnen noch Gattungen auftreten, die in ihren Carpellen mehr als
2 Samenanlagen besitzen, während bei allen übrigen Rutoideen und nament-
lich bei allen, die gewisse morphologische Fortschritte in der
Blüthe aufzuweisen haben, die Zahl der Samenanlagen nicht über 2
hinausgeht. Diese beiden Gruppen sind die Xanthoxyleae und Ruteae.
Wir fassen zunächst die Xanthoxyleae in's Auge, I. weil zu ihnen eine
Gattung, Xanthoxylum L. selbst, gehört, die nur eine einfache Blüthen-
hülle besitzt, mit welcher die darauf folgenden Staubblätter alterniren,
2. weil diese gattungsreiche Gruppe eine grofse Zahl von Gattungen mit
! Bentham et Hooker, Gen. pl. 1. 340.
?2 Bentham et Hooker, Gen. pl. 1. 315.
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 7
nur schwach corollinischer Ausbildung der Blüthenhüllen enthält. Xantho-
azylım, durch die einfache Blüthenhülle auf niederer Stufe stehend, ist
aber wegen ihrer stets 2-eiigen Carpelle weiter vorgeschritten als 3 andere
Gattungen, Pagetia F. Muell., Bouchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell.
mit mehreiigen Carpellen. Die Sonderstellung von Xanthoxylum kommt
auch in ihrer geographischen Verbreitung zum Ausdruck. Zwar finden
sich einige ihrer Arten im subtropischen Amerika und subtropischen Asien;
aber die übrigen gehören dem temperirten Ost-Asien und dem atlantischen
Nord-Amerika an, es convergiren diese Verbreitungsgebiete erst im Polar-
gebiet, wie es bei so vielen Gattungen der Fall ist, welche sicher in der
Tertiärperiode existirten und von den Polarländern aus einerseits das nord-
östliche Asien, andererseits das atlantische Nord-Amerika oder auch das
paecifische Nord-Amerika besiedelten. Die 3 bereits genannten Xanthoxyleen-
gattungen Pagetia F. Muell., Bouchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell.,
welche durch mehreiige Carpelle vor allen anderen ausgezeichnet sind, bei
der Reife aber nur 2 (Douchardatia) oder ı Samen in denselben enthalten,
welche ferner alle gegenständige Blätter besitzen, sind auf die Uferwälder
Ost-Australiens in dem kleinen Küstenstrich 234°—-30° s. Br. beschränkt. In
diesem selben Gebiet kommt auch die ebenfalls mit gegenständigen, aber
einfachen Blättern versehene Gattung Pleiococca F. Muell. vor, die sich
dadurch auszeichnet, dafs die Zahl der Carpelle die der Kelehblätter über-
steigt. Die Zahl der Samenanlagen beträgt hier aber schon nur 2, wie
bei allen folgenden Gattungen der Xanthoxyleae- Evodiinae. Von diesen be-
sitzen Melicope Forst., Sarcomelicope Engl., Pentaceras Hook. f. und Pelea
A. Gray ebenfalls 2 Staubblattkreise, wie die 4 genannten ost-australischen
Gattungen, hingegen Fagara L., Geijera Schott, Evodia Forst., Boninia Planch.,
Orica Thunb. nur einen Staubblattkreis; innerhalb der Gattung Melicope
treten aber auch Arten mit 4 Staminodien an Stelle der epipetalen Staub-
blätter auf, und es ist kaum zweifelhaft, dafs die haplostemonen Gattungen
sich aus obdiplostemonen Formen entwickelt haben. Dafs bei einzelnen
Gattungen die Blätter gegenständig, bei anderen die Blätter wechselständig
sind, ist nicht von Belang, da diese Verschiedenheit bei unserer Familie
auch innerhalb derselben Gattung angetroffen wird. In dem Verbreitungs-
gebiet der 4 zuerst besprochenen Gattungen kommen auch noch Pentaceras
Hook. f. und einige Arten von Geijera vor, doch ist letztere noch weiter ver-
breitet, südwärts bis Vietoria und von da nach Süd- und West-Australien.
fe) A. En6eLER:
und endlich kommt eine Art @. cauliflora H. Baill. in Neu-Kaledonien vor, das
zugleich aus der Gruppe der Xanthowyleae-Evodinae eine endemische Gattung
Sarcomelicope besitzt, welche durch ein sehr diekes Mesocarp ausgezeichnet ist.
Weiter ab von Australien werden wir geführt, wenn wir der Verbreitung der
Gattungen Melicope, Evodia, Boninia, Orixa, Pelea und Fagara nachgehen.
Im subtropischen Ost-Australien stofsen wir noch auf 4 Arten von Melicope,
von denen 3 zwei Staubblattkreise besitzen, ı einen Staubblattkreis und einen
Staminodialkreis; sodann kennen wir 2 Arten in Neu-Seeland, ı auf den
Philippinen, ı auf Borneo und 2 auf Malakka. Von Meliope nur sehr
wenig durch klappige Knospenlage der Blüthenblätter verschieden ist die
artenreiche Gattung Pelea, von der 3 Arten in Neu-Kaledonien, ı auf
Madagaskar und ı8 auf den Sandwich -Inseln wachsen, wobei noch zu
bemerken ist, dafs die Arten jeder Inselgruppe für sich eine durch wenige
Merkmale charakterisirte Section bilden. Der grofse Artenreichthum von
Pelea auf den Sandwich-Inseln findet seine Analogie in dem Verhalten vieler
anderer daselbst vorkommender Gattungen. Die Melicope ebenfalls nahe-
stehende Gattung Evodia Forst. besitzt etwa 45 Arten in 2 Seetionen. Zu
der durch einfache oder gedreite Blätter und nur wenig vereinte Carpelle aus-
gezeichneten Section Lepta (Lour.) gehören 6 ebenfalls in Ost-Australien vor-
kommende Arten, ı auf der Lord Howes-Insel, 3 in Neu-Kaledonien,
9 in Hinter-Indien, darunter Z. triphylia DC. auf den Philippinen, in China
und Süd-Japan, E. glabra Blume auch auf Java, E. Roxburghiana Benth. auch
in Cochinchina, auf‘ Java und den Fidschi-Inseln, ferner 2 nur auf Sumatra,
ı nur auf Java, ı nur auf Borneo. 3 Arten, wie die vorigen mit gedreiten
Blättern, kommen in Kaiser Wilhelms-Land auf Neu-Guinea vor und £. hor-
tensis Forst. ist auf den Fidschi-Inseln, den Wallis-Inseln, den Neuen He-
briden und auf Neu-Guinea constatirt worden. Zu diesen, wie wir sehen,
auf den Inseln des indischen Archipel verbreiteten Arten kommen aber
andere, mit einfachen Blättern versehene, welche von dem Centrum der
gedreitblättrigen noch weiter entfernt sind, nämlich 3 Arten auf Mada-
gaskar und 2 auf den Maskarenen, endlich 7 auf den sonst an endemischen
Arten so armen Gesellschafts-Inseln. Die zweite Section von Evodia, Te-
tradium (Lour.) umfafst 4 Arten mit gefiederten Blättern und stärker ver-
einten Carpellen, welche im Himalaya, im mittleren China und Cochin-
china, theilweise auch im südlichen Japan nachgewiesen wurden. Die
bemerkenswertheste Thatsache der Verbreitung von Evodia ist das Vor-
Wr
Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 9
kommen auf den Gesellschafts-Inseln, den Maskarenen und Madagaskar,
das Fehlen an der afrikanischen Küste und in Vorder-Indien.
Nur wenig von Evodia verschieden ist die auf den Bonin-Inseln mit
2 Arten vertretene Gattung Boninia Planch. und die vorzugsweise durch
eingeschlechtliche Blüthen, sowie durch eineiige Carpelle charakterisirte
Gattung Orivca Thunb., deren einzige Art vom mittleren China bis in das
mittlere Japan vorkommt. Die artenreichste Gattung der Rutaceen ist
Fagara L., die lange Zeit mit Unrecht zu Xanthoxyhım L. gerechnet wurde
und, wie aus der Verbreitungskarte ersichtlich, in fast allen tropischen
Ländern verbreitet ist. Es dürften etwa 140-150 Arten bekannt sein,
von denen die meisten auf die Section Macqueria mit 5- oder 4-theiligen
Blüthen und mit sich ablösendem Endocarp entfallen; dieselben sind so-
wohl im tropischen Asien wie im tropischen Afrika und Amerika zahl-
reich, und zwar herrschen im Allgemeinen in der alten Welt Arten mit
4-gliedrigen Blüthen, in der neuen Welt solche mit 5-gliedrigen Blüthen
vor; ein durchgreifender Unterschied ist jedoch nieht vorhanden; beachtens-
werth ist aber, dafs die kleine 9 Arten zählende Gruppe Pterota (P. Browne),
welche 4-theilige Blüthen und geflügelte Blattstiele besitzt, sich von Para-
guay und Argentinien, sowie von den angrenzenden südlichen Provinzen
Brasiliens durch die Anden nach West-Indien und Üentral-Amerika, sowie
bis nach Florida erstreckt, dagegen im mittleren und nördlichen Brasilien,
sowie in Guiana fehlt. Neben Macqueria sind als kleinere, aber gut
charakterisirte Sectionen zu nennen: Mayu Engl. mit ı Art auf Juan Fer-
nandez, Tobinia Desv. mit etwa 13 Arten, die durch 3-theilige Blüthen
ausgezeichnet sind, auf den west-indischen Inseln und in Columbien; ferner
in der alten Welt Blackburnia Forst., ausgezeichnet durch nur theilweise
sich ablösendes Endocarp, mit 6 Arten in Nord-Ost-Australien, von denen
eine auch auf der Lord Howes Insel vorkommt, und mit 6 sehr variablen
Arten auf den Sandwich-Inseln. Diese Arten sind auch dadurch inter-
essant, dafs nicht selten die gefiederten Blätter in gefingerte übergehen
und von den 4 Blüthenblättern bisweilen je 2 mit einander verwachsen.
So sehen wir also an der Peripherie des ausgedehnten Areals von Fagara
eigenartige Gruppen dieser Gattung auftreten.
Dieser Überblick über die Xanthoxyleae- Evodünae zeigt uns deutlich,
dafs diese Gruppe vorzugsweise auf den Inseln und dem westlichen Küsten-
gelände des stillen Oceans entwickelt ist, und dafs nur einzelne Gattungen
Phys. Abh. 1896. 1. 2
10 A. En6eLeEr:
weiter nach Westen und Osten vorgedrungen sind, das continentale Afrika
und Amerika haben nur Vertreter der Gattung Fagara, letzteres auch noch
solche der Gattung Aanthowylum aufzuweisen. Bei der grofsen Verbreitung
einzelner Arten und Gattungen auf entfernten Inseln und Inselgebieten ist
es wichtig, die Verbreitungsmittel dieser Gruppen kennen zu lernen. Die
Früchte besitzen nur äulserst selten ein fleischiges Mesocarp, das Vögel zum
Genufs verlocken könnte, es fehlt gänzlich an Haftapparaten, welche ein
Verschleppen der Früchte bewirken könnten, und die Samen sind, wie
bei allen Rutaceen, so schwer, dafs eine Verbreitung durch den Wind über
grolse Meeresstrecken hinweg gänzlich ausgeschlossen ist. Aber die Früchte
springen auf, und die stets glatten kugeligen, sehr oft durch starken Metall-
glanz und stahlblaue Färbung ausgezeichneten Samen, welche bei der
Reichblüthigkeit der Blüthenstände in grofser Zahl produeirt werden, liegen
offen da in den aufgesprungenen Früchten, festgehalten durch den Funi-
eulus und oft auch an diesem heraushängend. Die meist recht dicke
Samenschale gewährt sicheren Schutz dem reichlichen Nährgewebe und
dem in demselben eingeschlossenen Embryo. Leider fehlt es gänzlich an
Nachrichten darüber, ob diese Samen von Vögeln aufgesucht, verschluckt
und dann in noch keimfähigem Zustande wieder herausgegeben werden;
es ist aber kaum anders möglich, dafs dem so ist, denn nur auf diese
Weise ist es denkbar, dafs die Verbreitung dieser Pflanzen auf den vul-
kanischen Inseln des stillen und indischen Oceans eine so ausgedehnte
werden konnte. Wäre die Verbreitung der Xanthoxyleen-Gattungen nicht
auf diesem Wege erfolgt, dann bleibt nur die Annahme übrig, dafs alle
vulkanischen Inseln des stillen und indischen Oceans einst einem ver-
sunkenen Continente angehört haben. Es wäre leichtfertig, diese Annahme
auf die geographische Verbreitung der Pflanzen allein zu gründen, bevor
man nicht genau über die Verbreitungsmittel der die Inseln bewohnenden
Pflanzen unterrichtet ist. Nach meiner Ansicht spricht aber auch noch ein
anderer Umstand für die erste Annahme, das ist der, dafs vorzugsweise
andere Arten auf den oceanischen Inseln wachsen, als auf den Continenten
und auf den jetzt insularen, ehemals continentalen Gebieten des indischen
Archipels, desgleichen auch die Thatsache, dafs auf einzelnen Inselgebieten,
wie den Sandwich-Inseln und den Gesellschafts- Inseln einzelne Gattungen
zu einem grolsen Formenreichthum gelangt sind. Daraus ergiebt sich, dafs
die Besiedelung der vulkanischen Inseln mit den Inlandformen, welche in
Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer sıyst. Gliederung. 11
len südlichen Randländern des stillen Oceans ihren Ursprung hatten, sich
nicht so oft wiederholt hat wie bei den Arten der Strandformationen,
deren Samen und Früchte immer wieder vom Meer herangespült werden.
Aus der grolsen Anzahl von nahestehenden Arten einer Insel oder eines
Inselgebietes auf ein sehr hohes Alter der Einwanderung zu schliefsen,
halte ich nicht für gerechtfertigt; denn wir sehen nicht selten in Gultur
genommene Arten unter neuen Verhältnissen sich in eine grofse Zahl neuer
Formen spalten, und es ist auf Inselgebieten mit verhältnifsmälsig geringer
Zahl von eoneurrirenden Formen für eine Art, welche dort geeignete Existenz-
bedingungen findet, die Möglichkeit gegeben, sich in einer gröfseren Zahl
von Varietäten zu erhalten. Wenn also auch die oceanischen Inseln erst
in der Tertiärperiode emporgestiegen sein sollten, so würde die seit der-
selben verflossene Zeit sehr wohl zur Entwickelung der auf diesen Inseln
vorkommenden endemischen Arten ausreichend gewesen sein. In der Tertiär-
periode waren aber sicher auch im südlichen Australien, auf den südlichen
oceanischen Inseln und in den Süd-Polarländern die Bedingungen für eine
subtropische Vegetation gegeben, so dals Arten der in Ost-Asien und
Australien entstandenen Gattungen auch nach Süd-Amerika gelangen konn-
ten, sofern ihre Samen nur von Insel zu Insel verbreitet werden konnten.
An die Xanthowyleae- Evodiünae schliefsen sich an die ZLunasünae, die
Decatropidinae, die Choisyinae und Pitavünae, die ersteren mit sehr kleinen
Blüthen in kleinen kopfförmigen Knäueln und auf die Sunda-Inseln be-
schränkt, habituell durch ihre abwechselnden, langgestielten, dünnkrautigen,
lanzettlichen und am Rande welligen Blätter mehr an Euphorbiaceen als
an die übrigen Rutaceen erinnernd, und die 3 letzteren in den Blättern
mit den Zvodinae übereinstimmend, aber mit weilsen Blüthen, sowie die
meisten Evodiünae mit Nährgewebe im Samen und mit flachen Keimblättern.
Die Decatropidinae und Choisyinae haben wie alle anderen Xanthoxyleae auf-
springende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp; die Pitavünae da-
gegen unterscheiden sich von allen anderen Xanthoxyleae durch steinfrüchtige
Theilfrüchte; sodann sind die Choisyinae durch abfallende Kelchblätter und
ziemlich grolse weilse Blumenblätter charakterisirt. Nur die letztere Gruppe
ist durch die Gattungen Medicosma Hook. f. und Dutaillyea Baill. noch im
australischen Gebiet vertreten; erstere findet sich auch in Ost- Australien,
letztere auf Neu-Kaledonien. Dutaillyea Baill. weicht von den übrigen
Choisyinae dadurch ab, dafs nur ein Staubblattkreis vorhanden ist, stimmt
9x
12 A. ENGLER:
aber darin mit mehreren Evodinae überein. Die verwandtschaftlichen Be-
ziehungen Ost- Australiens zu den Sandwich-Inseln, welche sehon bei Fagara
Seott, Blackburnia und Pelea hervortraten, zeigen sich auch in der Gruppe
der Choisyinae darin, dafs auf den Sandwich-Inseln eine Gattung Platydesma
Mann vorkommt, welche Medicosma Hook. f. nahesteht; sie ist hauptsäch-
lich durch verwachsene Staubblätter charakterisirt. Von den 3 noch übrigen
Gattungen der Choisyinae finden sich Peltostigma Walp. und Choisya Kunth
ziemlich unter denselben Breiten wie Platydesma, Choisya in Mexiko, Pelto-
stigma auf Jamaika, während die mit Choisya sehr nahe verwandte Gattung
Astrophyllum Torr. et Gray in Arizona vorkommt. Auf Central- Amerika
sind auch die 3 von Hooker fil. aufgestellten Gattungen der Decatropi-
dinae, Decatropis, Polyaster und Megastigma beschränkt, während die durch
steinfrüchtige Theilfrüchte charakterisirte Gattung Pitavia Molina nur im
mittleren Chile vorkommt. Die meisten dieser Gattungen sind mono-
typisch; es würde zu überflüssigen Hypothesen führen, wenn wir versuchen
wollten, für dieselben irgend einen bestimmten Anschlufs bei den Evodünae
zu ermitteln; wir begnügen uns mit der feststehenden Thatsache, dafs sie
denselben näher stehen als anderen Rutaceen, und wie ihre Verbreitung zeigt,
aus dem alten Xanthoxyleenstamm hervorgegangen sind, welcher zur reich-
sten Entwiekelung von Gattungen an den Gestaden des stillen Oeeans und
ursprünglich wohl an den dem Südpol zunächst gelegenen gelangt ist.
Rutoideae- Ruteae.
Die Ruteae sind mit Ausnahme des im Damara-Land vorkommenden
Thamnosma africanum Engl. alle der nördlich gemäfsigten Zone eigenthüm-
lich; die Areale der Gattungen convergiren nach den nördlichen Gestaden
des stillen Oceans, obwohl gegenwärtig der gröfste Artenreichthum der
Gruppe im Mittelmeergebiet anzutreffen ist. Von den Rutinae ist Boenning-
hausenia Rehb. von den Grenzen Afghanistans bis nach Japan verbreitet, die
nahestehende Gattung Psilopeganum Hemsley findet sich in der Mitte der
Areale von Boenninghausenia in Hupeh im mittleren China. In den Blüthen-
merkmalen ist von Psilopeganum Hemsley die ebenfalls bicarpelläre Gattung
Thamnosma Torr. kaum verschieden, und die 4 Arten dieser Gattung haben
die eigenartigste Verbreitung in der ganzen Familie: TA. montanum Torr.
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 13
findet sich im südlichen Kalifornien, in Utah und Nord-Amerika, eine
zweite Art Th. texanum (Gray) Torr. in Texas, eine dritte Th. socotranum
Balf. f. auf Socotra und eine vierte Th. africanum Engl. im Damara-Land;
dabei stimmt die letztere Art mit der socotraner zwar in der Beschaffen-
heit der Samen, im Habitus aber mehr mit den amerikanischen Arten
überein. Ein diphyletischer Ursprung ist wahrscheinlich die Ursache dieser
eigenartigen Verbreitung der heutigen Gattung Thamnosma Torr. Die nord-
amerikanischen Arten, welche wir als Untergattung Zuthamnosma Engl.
bezeichnen können, dürften wie Psilopeganum von einer mit Boeninnghausenia
verwandten Rutacee abstammen, Th. socotranum Balf. f. und Th. africanum
Engl., welche die Untergattung Palaeothamnosma Engl. ausmachen, dürften
aus Ruta oder den nächsten Vorfahren von Ruta hervorgegangen sein. Das
isolirte Vorkommen der süd-afrikanischen Art Th. africanum Engl. zeigt, wie
weit entfernt vom Entwickelungscentrum einer Gruppe einzelne Arten der-
selben noch auftreten können, wenn solche erst wieder die eigenartigen
Existenzbedingungen wiederfinden, welche in dem ersteren dargeboten
wurden. Die artenreichste Gattung der Gruppe, Ruta L., ist von Dahurien
bis nach den kanarischen Inseln verbreitet, sie ist bekanntlich im Mittel-
meergebiet überall anzutreffen und in den Steppengebieten desselben mit
der sehr formenreichen Section Haplophyllum vertreten, welche auch noch
ganz besonders dadurch interessant ist, dafs bei ihr eine Reduction in
der Zahl der Samenanlagen von 6 auf 2 und auch geschlossene Theil-
früchte an Stelle der aufspringenden vorkommen. Entsprechend den kli-
matischen Verhältnissen finden wir bei Ruta alle Übergänge von der Staude
zum Halbstrauch und auf den kanarischen Inseln sogar eine Art Ruta
pinnata L. f., die wie so viele kanarische Arten mediterraner Gattungen
unter dem Einflufs des gleichmäfsigen Klimas sich zu einem Strauch ent-
wickelt hat. Endlich ist noch den Rutinae die durch ı Carpell, gegen-
ständige Blätter und strauchigen Wuchs ausgezeichnete Gattung Cneoridium
Hook. f. zuzurechnen, welche auf das südliche Kalifornien beschränkt ist.
Wir sehen also die Mehrzahl der Gattungen der Rutinae auf der nörd-
lichen Hemisphaere in den Ländern zu beiden Seiten des stillen Oceans.
Die auf dem Höhepunkt der Entwickelung stehende Gattung Ruta ist aller-
dings in Ost-Asien nicht durch Arten vertreten, welche so wie die medi-
terranen echten Ruta den Ausgangspunkt für die in dieser Gattung auf-
getretenen Umgestaltungen bilden konnten, und es ist daher nicht unwahr-
14 A. En6tLERr:
scheinlich, dafs Ruta von einer ost-asiatischen Stammform abstammt, aus
der anderseits Boenninghausenia hervorgegangen ist. Die Dictamninae ent-
halten nur ı Art Dietamnus albus L., von der allerdings verschiedene Varietäten
unterschieden werden können; aber es ist nicht möglich, dieselben schärfer
zu begrenzen. Wie aus dem Verbreitungskärtchen zu ersehen ist, ist das
Areal von Dictamnus etwas weiter nach Norden vorgeschoben, als das-
jenige von Ruta und reicht auch noch etwas weiter nach Osten. Die-
tamnus ist keineswegs sehr nahe mit den Auteae verwandt, der Habitus
ist ein anderer als bei diesen und die wenn auch schwache Zygomorphie
der ansehnlichen Blüthen ist ein hervorragendes Merkmal; durch das sich
ablösende Endocarp nähern sich die Dietamninae mehr den Xanthosxyleae
als die Rutinae, und es ist ganz zweifellos, dafs Dietamnus neben den Rutinae
selbständig entstanden ist und nicht dem Zweig der vorher besprochenen
Gattungen angehört.
Rutoideae- Boronieae.
Unter den übrigen Gruppen der Rutoideae sind zunächst die Boronieae
zu betrachten, meist Halbsträucher und Sträucher mit gegenständigen oder
wechselständigen, bisweilen gedreiten oder gefiederten Blättern und mit
ziemlich ansehnlichen, eorollinisch gefärbten Blüthen. Die zahlreichen (17)
Gattungen, welche zusammen etwa 145 Arten umfassen, gehören zu den
charakteristischen Bestandtheilen der Gesträuchflora in den Küstenländern
von Ost-, Süd- und West-Australien, namentlich auch der gebirgigen
Gegenden. Da sie alle in ihren Samen Nährgewebe besitzen und ab-
gesehen von den corollinischen Blüthen sich von den Xanthoxyleae- Evo-
diüinae vorzugsweise durch den stielrunden Embryo mit schmalen Keim-
blättern unterscheiden, so ist ganz sicher, dafs die Boronieae nichts weiter,
als etwas vorgeschrittene Xanthoxwyleae-(Evodinae) sind, welche sich in
Australien und auch nach dem benachbarten ehemals wohl mit Australien
verbundenen Neu-Kaledonien ausgebreitet haben, im Übrigen nur noch mit
einer Art in Neu-Seeland vertreten sind. Die Blüthenverhältnisse com-
plieiren sich in dieser durchweg auf Inseetenbestäubung angepalsten Gruppe
erheblich; die Staubblätter sind bald in 2 Kreisen fertil, bald nur in dem
einen, bald auf einen einzigen Kreis beschränkt. Innerhalb der beiden
Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 15
grössten Untergruppen, der Boronünae mit gegenständigen Blättern und
der Eriostemoninae mit wechselständigen Blättern stehen sich die Gattungen
aufserordentlich nahe, so dafs dieselben auch verschieden begrenzt werden.
In Süd- und West-Australien treten die Boronieae sparsamer auf als in Ost-
Australien, und hier sind auch Gattungen mit weiter vorgeschrittenen Blüthen
und Blüthenständen entstanden, die als Vertreter eigener Untergruppen zu
gelten haben. Bei Correa, die auf das südliche Australien beschränkt ist,
finden wir vollständige Sympetalie der Blumenkrone, dasselbe auch bei Nema-
tolepis Turez. im südlichen West- Australien, doch kommt hier noch hinzu,
dafs die Staubblätter mit Ligularbildungen versehen sind wie bei der Gattung
Chorilaena Endl., welche auch nur auf einen kleinen Theil West-Australiens
beschränkt ist. Bei den ebenfalls nur in West-Australien entwickelten
Diplolaeninae, welche ebenso wie die Nematolepidinae sich mehr an die Erio-
stemoninae und am meisten an die Gattungen Phebalium A. Juss. anschliefsen,
sind die Blüthen der einzelnen Blüthenstände dicht köpfchenförmig zusam-
mengedrängt, die Tragblätter der Inflorescenz zu einem dreireihigen In-
voluerum vereinigt und die inneren Blätter corollinisch: in Correlation mit
dieser Vergrölserung der Tragblätter steht die gänzliche Verkümmerung der
Kelchblätter und eine erhebliche Verkleinerung der Blumenblätter, während
die Staubblätter und Griffel sehr stark verlängert sind. Auf diese Weise hat
der Blüthenstand grofse Ähnlichkeit mit einer Einzelblüthe bekommen. Ein
Blick auf die Darstellung der Verbreitung der Boronieae zeigt, dals die-
selben mit Ausnahme von Boronia Smith und PAilotheca Rudge auch in
Nord-Australien fehlen; sie gedeihen am besten in den extratropischen
Gebieten Australiens. Dafs sie auch auf Neu-Kaledonien mit mehreren
Arten und theilweise endemischen Gattungen vertreten sind, dürfte auf
den auch durch andere Verbreitungserscheinungen höchst wahrscheinlich
gemachten einstigen Zusammenhang dieser Insel mit dem australischen Fest-
land zurückzuführen sein. Die einzige neuseeländische Boroniee Phebalium nu-
dum Hook f. steht dem ost-australischen Ph. elatius F. Müll. sehr nahe; es ist
daher nicht ganz unwahrscheinlich, dafs diese Art aus Ost-Australien in Neu-
Seeland eingewandert ist. Im Allgemeinen liegen bei den Boronieae die
Verhältnisse für die Verbreitung der Samen durch Vögel nicht so günstig
wie bei den Xanthowyleae, da die Samen nach dem Aufspringen der Früchte
bald ausfallen, während sie bei den Xanthoxyleae meist lange Zeit von dem
Funiculus festgehalten werden.
16 A. ENGLER:
Die ungemein formenreiche Entwickelung der Boronieae auf Australien
mit sparsamerer Vertretung auf Neu-Kaledonien hat bekanntlich ihr Ana-
logon bei zahlreichen anderen Familien oder Unterfamilien, von denen
einzelne auch auf Australien beschränkt sind, ich erinnere nur an die
Asphodeloideae- Johnsonieae, Dasypogoneae, Lomandreae, Calectasieae; an die
Casuarinaceae, am die Proteaceae - Persoonioideae- Persoonieae, Franklandieae
und Conospermeae, Grevilleoideae-Grevilleeae und Banksieae,; an die Euphor-
biaceae - Stenolobeae, an die Sterculiaceae - Lasiopetaleae,; an die Dilleniaceae-
Hibbertieae,; an die Myrtaceae- Leptospermeae und Chamaelaucieae, an die La-
biatae- Prostantheroideae. Es ist aber auch darauf aufmerksam zu machen,
dafs in ähnlicher Weise wie die Boronieae Australiens sich morpholo-
gisch an die weiter verbreiteten Xanthoxyleae anschliefsen, auch mehrere
der genannten Pflanzengruppen mit anderen weiter verbreiteten Gruppen
derselben Familien nahe verwandt sind, und ferner ist hervorzuheben,
dafs in ähnlicher Weise wie bei den Boronieae- Nematolepidinae und Di-
plolaeninae auch bei mehreren der anderen Pflanzengruppen sehr gedrängte
Blüthenstände, theilweise mit redueirten Blüthen auftreten. So finden
wir bei den Johnsonieae, Dasypogoneae und Lomandreae gedrängte ähren-
förmige oder köpfehenförmige Blüthenstände, bei welchen die Blüthen
mehr oder weniger von Hochblättern bedeckt und mit häutigen oder hoch-
blattartigen Blüthenhüllen versehen sind. Unter den australischen Protea-
ceae sind die Banksicae durch sehr gedrängte, zusammengesetzte, ähren-
förmige oder kopfförmige Blüthenstände ausgezeichnet, während die ihnen
nahestehenden und weiter verbreiteten (rrevilleeae vielfach noch weniger
gedrängte Blüthenstände aufzuweisen haben. Die Lasiopetaleae sind nach
Schumann (in Engler-Prantl, Pflanzenfam. IV.6 S. 90) mit den weit
verbreiteten Büttnerieae nahe verwandt und speciell mit der nicht blofs
in Australien, sondern auch auf Madagascar vorkommenden Gattung Au-
lingia, ihre Blumenblätter sind klein und schuppenförmig oder fehlen ganz;
hier sind die Blüthen redueirt, während der Blüthenstand bei den meisten
noch ein lockerer ist. Bei den australischen Dilleniaceae- Hibbertieae finden
sich häufig unterhalb der einzeln stehenden Blüthen mehrere Vorblätter,
welche darauf schliefsen lassen, dafs ursprünglich dichasiale Blüthenstände
vorhanden waren, von denen nur die Endblüthe zur Entwickelung gelangt
ist. Die in Australien so ungemein reich entwickelten Myrtaceae- Lepto-
spermoideae sind mit wenigen Arten auch im indisch-malayischen Gebiet
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 17
Y
und im Kapland vertreten; aber die Gruppe der Chamaelaucieae ist auf
Australien beschränkt; sie ist zugleich diejenige, bei welcher die Familie
der Myrtaceae die weitestgehende Reduction erreicht hat, indem das Gynä-
ceum auf ein Carpell redueirt ist, das meist nur wenige Samenanlagen
und bei der Reife nur einen Samen enthält; bei der zu dieser Gruppe
gehörigen Gattung Darwinia sehen wir die Kelehblätter und Blumenblätter
in der mannigfachsten Weise entwickelt, bisweilen ganz redueirt und
schliefslieh bei Darwinia maerostegia (Turez.) Benth. und einigen anderen
Arten einen köpfehenförmigen Blüthenstand mit hochentwickelten corolli-
nischen Involueralblättern. Endlich ist auch noch darauf hinzuweisen, dafs
bei allen genannten Gruppen mit gedrängten Blüthenständen oder redueirten
Blüthen die meisten Arten in West- und Süd-Australien anzutreffen sind,
wo eben auch die gedrängtblüthigen Doronieae vorkommen. Es hängt dies
wohl damit zusammen, dafs in Süd- und West-Australien auf die Zeit der
Winterregen ein langer regenloser Sommer erfolgt, der der Entwickelung
geschlossener Blüthenstände mit sitzenden Blüthen besonders günstig ist.
Dafs auch unter anderen klimatischen Verhältnissen und in anderen Erd-
theilen Pflanzen mit verkürzten Blüthenständen häufig genug vorkommen,
ist ja bekannt; hier handelt es sich blofs darum, zu zeigen, dafs bei einem
Theil der Australien eigenthümlichen Gruppen eine bestimmte Entwicke-
lungsriehtung in West-Australien häufiger ist als in Ost- Australien.
Rutoideae- Diosmeae.
Wir kommen nun zu den Diosmeae, die mit nahezu 180 Arten in
Süd-Afrika auf einen viel kleineren Raum eingeschränkt sind als die Bo-
ronieae in Australien. Die Frucht zeigt äufserlich dieselbe Beschaffenheit
wie bei den Xanthoxyleae und Boronieae, aber das Nährgewebe wird hier
frühzeitig vom Embryo aufgenommen, und die reifen Samen enthalten nur
den letzteren mit dicken fleischigen Keimblättern; es sind somit die Dios-
meae in ihrer Samenentwickelung weiter vorgeschritten als die Boronieae
und die meisten Xanthoxyleae, auch im Andröceum ist meistens der Fort-
schritt eingetreten, dass die vor den Blumenblättern stehenden Staubblätter
staminodial geworden oder ganz abortirt sind. Es sind 3 Untergruppen
zu unterscheiden, die Calodendrinae mit der monotypischen Gattung Calo-
Phys. Abh. 1896. 1. 3
18 A. Enerer:
dendron 'Thunb., ein schöner Baum mit grofsen, schwach zygomorphen
Blüthen und theilweise anhaftendem Endocarp in den Früchten, vom öst-
lichen Theil der Kapkolonie bis Natal verbreitet und auch im Hochland
von Leikipia, die sehr zahlreichen Diosminae, meist kleine Sträucher mit
einfachen Blättern, oft von heidekrautartigem Habitus, meist mit zahlreichen
bunten für Inseetenbefruchtung eingerichteten Blüthen, und die Eimpleurinae,
eine sehr kleine Gruppe mit eingeschlechtlichen Blüthen, die bei Empleu-
rum Soland. blumenblattlos geworden sind und, wenn sie weiblich sind,
nur ein einziges fertiles Carpell entwickeln. Diese Diosmeae stehen den
Nanthoxyleae- Evodiinae nicht so nahe wie die Boronieae, aber sie kommen
doch dieser Untergruppe der Xanthowyleae näher als jeder anderen, zumal
gerade einzelne Gattungen der Evodinae auch nährgewebslose Samen be-
sitzen; irgend welche engere Verbindung mit einer der jetzt lebenden Gat-
tungen der Evodünae ist aber nicht zu constatiren; sie müssen sich daher
von ihnen sehr frühzeitig abgezweigt haben. Noch mehr als bei den
Boronieae tritt bei den Diosmeae im Gegensatz zu den Evodünae die con-
tinentale Verbreitung hervor, welche darauf beruht, dafs, wie bei den Bo-
ronieae, die Samen aus den sich öffnenden Früchten bald herausfallen und
nicht, wie bei den Zvodiünae, lange Zeit den Vögeln zugänglich sind, dem-
nach auch nicht über das Meer hinweg transportirt werden können.
Rutoideae- Cusparieae.
Eine dritte von den Xanthosxyleae abzuleitende Gruppe ist die der
Cusparieae im tropischen Amerika. Bei den Pilocarpinae mit den Gattungen
Pilocarpus Vahl, Esenbeckia H. B. Kunth und Metrodorea St. Hil. finden wir
noch Blüthen mit schwach corollinischer Ausbildung, wie sie etwa bei
Fagara L. und Evodia Forst. vorkommen. Ein engerer Anschlufs dieser
Gattungen an die im tropischen Süd-Amerika so reich entwickelte Gattung
Fagara L. ist nieht vorhanden; dagegen dürften diese Cusparieae von dem
Xanthoxyleen-Stamm herzuleiten sein, aus dem die hauptsächlich in Central-
Amerika und West-Indien heimischen Choisyinae entstanden sind, sicher
aber nicht direet von den Choisyinae; denn in der Ausbildung der Blumen-
krone stehen die Ousparieae- Pilocarpinae auf niederer Stufe als die Choisyinae,
durch die Entwickelung nährgewebsloser Samen stehen sie auf höherer
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 19
Stufe als diese. Von den 3 Gattungen der Pilocarpinae nimmt wieder
Pilocarpus Vahl, welche nur wenig über das continentale Süd- Amerika
hinaus verbreitet ist, durch die traubige Anordnung der Blüthen und die
bei der Reife weitergehende Trennung der Carpelle eine Sonderstellung
gegenüber den beiden Gattungen Esenbeckia H. B. Kunth und Metrodorea
St. Hil. ein, welehe unter einander näher verwandt sind. Metrodorea St.
Hil. ist auf einen kleinen Bezirk im süd-östlichen Brasilien beschränkt,
Esenbeckia H. B. Kunth dagegen ist über Süd-Amerika hinaus bis nach
West-Indien und Mexiko verbreitet. Bei Pilocarpus Vahl finden wir fiede-
rige Blätter, gedreite und einfache, während bei den beiden anderen Gat-
tungen ausschliefslich gedreite Blätter vorkommen, welche auch bei den
meisten amerikanischen Toddalieae angetroffen werden; da nun diese auch
ziemlich kleine, grünliche oder grünlich weifse Blüthen besitzen, so sind
dieselben im blühenden Zustande oft den Esenbeckien sehr ähnlich, und
es ist bei Fehlen von Früchten Unsicherheit bezüglich der systematischen
Stellung vorhanden.
Die zweite Untergruppe der Cusparieae, die Cusparünae, umfalst aufser
der einzigen einjährigen Gattung der Familie, aufser Monnieria L. zahlreiche
Gattungen kleiner Bäumehen und Sträucher, welche entsprechend ihrem
ausschliefslichen Vorkommen in den feuchten Tropenwäldern Amerikas
grolsentheils sehr ansehnliche gefingerte oder gedreite oder auch auf ein
Blättehen redueirte Blätter besitzen. Während die Fruchtbildung ganz mit
der der Pilocarpinae übereinstimmt, der Embryo auch wie dort stark ge-
krümmt ist, tritt in den Blüthen der Cusparieae eine so weitgehende fort-
schreitende Entwickelung hervor, wie bei keiner anderen Gruppe der Familie.
Die Blütenaxe stellt nicht selten einen concaven Becher oder einen hohlen
Cylinder dar, welcher den unteren Theil des Fruchtknotens umschliefst
und bisweilen mit den Staubblättern abwechselnde Effigurationen besitzt;
bei der stark zygomorphen Blüthe von Monnieria L. wird der Discus ein-
seitig. Die Kelchblätter zeigen bei Erythrochiton sehr weitgehende Ver-
wachsung und corollinische Färbung, während bei Ravenia Vell. und Mon-
nieria L. die frei bleibenden äufseren Kelchblätter sich auffallend vergröfsern.
Die Blumenblätter sind bei allen lineal-lanzettlich oder länglich und auf-
gerichtet; bei Leptothyyrsa Hook. f., Almeidea St. Hil. und Spiranthera St. Hil.
sind sie noch frei; aber bei den zahlreichen übrigen Gattungen hat die
aufrechte Stellung der seitlich an einander liegenden Blumenblätter zu
3)
"HU
20 A. Ene6LEr:
vollständiger Sympetalie geführt, wie bei Correa. Die Blüthen waren nach
dieser Gestaltung vorzugsweise zur Bestäubung durch Inseeten mit Rüssel
geeignet. Es ist nun durchaus wahrscheinlich, dafs mit dem Fortschritt
der Insecetenbefruchtung in dieser Gruppe die Zygomorphie weiter vorge-
schritten ist und sich namentlich auch auf das Andröceum erstreckt hat.
Vielfach finden wir 2 hinten stehende Staubblätter, das mediane und ein
seitliches kräftiger entwickelt als die übrigen 3, oder sie sind allein fertil,
und die 3 vorderen Staubblätter in Staminodien umgewandelt. Auch bei
dieser Gruppe fallen die reifen, ziemlich grofsen Samen bald aus: es ist
somit auch hier mehr die eontinentale Verbreitung begünstigt. Die Gattungen
Erythrochiton Nees et Mart., Raputia Aubl. und Ravenia Vell. sind am weitesten
verbreitet, wenn auch arm an Arten; alle übrigen Gattungen überschreiten
nicht die Landenge von Panama; am artenreichsten und verbreitetsten ist
unter diesen Ousparia, während die meisten anderen Gattungen nur kleine
Bezirke einnehmen. Die ganze geographische Verbreitung der Cusparünae
und ihre eigenartige morphologische Entwickelung zeigt, dafs ihre Ver-
breitung von Süd-Amerika ausgegangen ist; sie müssen sich frühzeitig
von dem Stamm der Xanthoxyleae, aus dem die Pilocarpinae hervorgegangen
sind, abgezweigt haben. Für ein sehr hohes Alter der Ousparünae spricht
auch der Umstand, dafs die Areale der gröfseren Gattungen sehr unter-
Zur
brochen sind.
Toddalioideae.
Es bleiben uns nun von den gröfseren Gruppen der Rutaceen noch
die Toddalioideae und Aurantioideae übrig, beide mit weitergehender Ver-
einigung der Carpelle als die Rutoideae; die ersteren steinfrüchtig mit nur
theilweise saftigem Pericarp oder mit trockenen Flügelfrüchten, die letzteren
mit ganz fleischigem Pericarp, somit beide zur Verbreitung durch Vögel
geeignet. Bei den steinfrüchtigen Toddalioideae ist der Same im Magen
des Vogels durch das steinige oder krustige Endocarp mehr geschützt als
bei den Aurantioideae, doch ist bei letzteren die Samenschale meist dieker
als bei den ersteren. Die Toddalioideae sondern sich in die pluricarpellären
Toddaliinae und Pteleinae und in die unicarpellären Amyridinae. Die Tod-
dalünae sind in fast allen tropischen und subtropischen Ländern, wenn
auch nirgends in grofser Zahl anzutreffen.
Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 21
Im nördlichen extratropischen Küstengelände des stillen Oceans haben
wir zunächst die Gattung Phellodendron Rupr. im Amurland und auf Japan,
vom Habitus der in Ost-Asien vorkommenden Fagara-Arten und dadurch
von den übrigen Toddalieae abweichend; im tropischen Küstengelände des
stillen Oceans finden wir im Westen und zum Theil weit nach Indien und
China verbreitet die Gattung Acronychia Forst. mit etwa 17 Arten, und an
sie schliefsen sich die ebenfalls mit einfachen Blättern versehenen Gattungen
Skimmia Thunb. und Halfordia F. Muell. an, die erstere von der Grenze
Afghanistans an durch den Himalaya bis Hupeh verbreitet und dann auch
in Japan und auf Sachalin, die letztere im tropischen Ost-Australien und
auf Neu-Kaledonien zusammen mit Acronychia. Sodann erreicht ebenfalls
die Küsten des stillen Oceans die kletternde Toddalia aculeata Lam., welche
auch im Himalaya, in den Gebirgen Vorder-Indiens, auf den Mascarenen,
auf Madagascar und in den Gebirgen Ost-Afrikas nicht selten ist; das
zerstreute Vorkommen dieser Art in von einander entfernten tropischen
Gebirgsländern ist auf keinen Fall anders zu erklären als durch den von
Vögeln bewirkten Transport. Mit Toddalia verwandt sind Toddaliopsis Engl.
und Vepris Comm., von denen die erstere nur an der Ostküste Afrikas,
die andere in Ost-Afrika, auf Madagascar, den Mascarenen und im west-
lichen Vorder-Indien mit 6 Arten vertreten ist. Aufser diesen 3 unter
einander ziemlich nahe verwandten, in Afrika vorkommenden Gattungen ist
im westlichen tropischen Afrika noch eine neue Gattung Araliopsis Engl.
endemisch, die durch 2-samige Steinkerne charakterisirt ist, ein Verhalten,
welches auch bei der süd-amerikanischen Gattung Hortia Vandelli vor-
kommt, doch hat diese mit Araliopsis sonst nichts gemein. Mit den alt-
weltlichen Gattungen der Toddalinae stimmen auch die einander ziemlich
nahe stehenden Gattungen Sargentia Wats. und Casimiroa Llav. et Lex.
nur in den allgemeinen Blüthenverhältnissen überein, dagegen weichen sie
von den altweltlichen Gattungen hauptsächlich durch ihr sehr fleischiges
Sareocarp ab, und Casimiroa, deren Samen wir kennen, ist ganz besonders
durch die grofsen Früchte mit nährgewebslosen Samen und dieken Kotyle-
donen charakterisirt. Man wollte Casimiroa aus diesem Grunde auch zu
den Aurantioideae stellen; aber die Früchte von Casimiroa besitzen krustige
Steinkerne, wie sie bei den Aurantioideae nie vorkommen; die Beschaffen-
heit der Samen ist bei den Toddalioideae ebenso wie bei den Xanthowyleae
eine ungleiche. Jedenfalls stehen die amerikanischen Toddalünae in keiner
22 A. EneLeEr:
nahen Verwandtschaft zu denen der alten Welt; es ist daher sehr wahr-
scheinlich, dafs sie sowohl in der alten wie in der neuen Welt gleich-
zeitig entstanden sind. Die Gruppe der Pfeleinae dagegen, welche durch
geflügelte Trockenfrüchte charakterisirt ist, fehlt in der alten Welt gänz-
lieh; die beiden Gattungen Balfourodendron Hook. f. und Helietta Tul. sind
auf das tropische Amerika, Ptelea L. auf das extratropische Nord- Amerika
beschränkt. Irgend welcher Übergang zwischen dieser Untergruppe und
der der Toddalünae in der Fruchtbildung existirt nicht. Den Toddalieae
sind auch die Amyridinae anzureihen, welche sich von den nährgewebs-
losen Toddalinae nur dadurch unterscheiden, dafs das Gynäceum ein einziges
Carpell enthält; im tropischen und extratropischen Afrika haben wir nur
die 6 Arten zählende Gattung Teelea Delile, welche von Abyssinien bis
Natal, auf Madagascar und den Comoren verbreitet ist, in West-Indien
und Central-Amerika, sowie in den angrenzenden Gebieten die Gattung
Amyris (P. Br.) L. mit etwa 14 Arten. Ein Übergang von den unicarpel-
lären Amyridinae zu den pluricarpellären Toddaliinae ist nicht vorhanden;
mir scheint es wahrscheinlich, dafs diese Gruppe diphyletisch ist, denn
die afrikanischen Teelea haben habituell mit den amerikanischen Amyris
wenig Merkmale gemein und anderseits sind die Teclea, abgesehen von der
Entwickelung nur eines Carpelles, den Gattungen Vepris und Toddaliopsis
recht nahestehend.
Aurantioideae.
Die Aurantioideae sind, wie die Verbreitungskärtchen angeben, aus-
schliefslich in der alten Welt und zwar vorzugsweise im indisch-malayischen
Gebiet heimisch, namentlich auch in dem hierzu gehörigen tropischen Austra-
lien. Die Aurantieae können wir in 2 Untergruppen spalten, in die Li-
monünae und Citrinae, erstere nur mit je 2 Samenanlagen in jedem Fach
des Fruchtknotens, letztere mit mehreren Samenanlagen. Unter den Li-
moninae haben die Gattungen Micromelum Bl., Clausena Burm., (Glycosmis
Correa, Luvunga Ham. den Habitus der Xanthowyleae- Evodiüinae und nur
kleine Beerenfrüchte; besonderes Interesse gewährt von diesen Gattungen
hinsichtlich der Verbreitung nur Clausena Burm., die über Vorder-Indien
hinaus im tropischen und südlichen Afrika ausgedehnte Verbreitung ge-
ne a
EBENE
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 23
funden hat. Für die Gattung Triphasia Lour., die durch 3-gliedrige mittel-
grolse, weilse Blüthen ausgezeichnet ist, habe ich kein Verbreitungskärtchen
entworfen, da über die Heimat dieser in Vorder-Indien häufigen, im
tropischen Asien und auch in West-Indien eultivirten Pflanze noch Zweifel
bestehen. Anschaulichere Blüthen kommen bei Murraya L. und Limonia
Burm. vor, von welcher Gattung ich auch 4 Arten im tropischen Afrika
nachweisen konnte. Bei Atalantia Correa und Paramignya Wight, welche
nur einfache Blattspreiten besitzen wie die meisten Citrus, auch wie diese
nicht selten auffallende Verdorrung der ersten Blätter ihrer Knospen zeigen,
treten ebenfalls gröfsere Blüthen mit weifsen Blumenblättern auf; Atalantia
Correa kommt auch den Citrinae noch dadurch näher, dafs die Staubfäden
wie bei Citrus stark verbreitert sind und bisweilen mit einander verwachsen.
Trotzdem möchte ich aber nicht annehmen, dafs die Citrinae von den Li-
monünae abzuleiten seien, vielmehr halte ich es für das Wahrscheinlichere,
dafs die älteren Aurantioideae sich in solche mit vieleiigen und zweieiigen
Carpellen gesondert haben. Dazu kommt noch, dafs die Citrinae die Nei-
gung besitzen, eine gröfsere Anzahl von Carpellen zu entwickeln, als
Blumenblätter vorhanden sind, und dafs auch bei Citrus bisweilen Neigung
zur Apocarpie beobachtet wird; es zeigen also die Citrinae in ihrem Gynä-
ceum sehr ursprüngliche Verhältnisse. Unter den Citrinae nimmt dann
wieder eine sehr eigenartige Stellung die in Vorder-Indien verbreitete Fe-
ronia Elephantum Correa ein, da die Carpellränder nicht vollständig zu-
sammenschliefsen, und die parietalen Placenten mit zahlreichen an den
Flächen stehenden Samenanlagen besetzt sind. Bei Aegle Correa und Citrus L.
stehen die Samenanlagen in 2 Reihen; aber auch diese beiden Gattungen
sind nicht sehr nahe verwandt, denn Aegle hat die höchst auffallende
Eigenschaft, dafs die Samen behaart sind, und die Polyandrie des Andrö-
ceums scheint nicht auf Spaltung von Primordien zu beruhen, wie sie bei
Citrus beobachtet wird. Eine ziemlich auffallende Verbreitungserscheinung
ist die, dafs aufser der in Ost-Indien verbreiteten Aegle Marmelos (L.) Correa
noch eine zweite Art A. Barteri Hook. f. im Nigergebiet des tropischen
Afrika vorkommt. Über die Heimat der eultivirten Citrus- Arten herrscht
noch grofse Ungewilsheit, da sie in den wärmeren Ländern, wo sie ein-
mal cultivirt werden, auch verwildern; auf unserem Kärtehen sind nur
diejenigen Gebiete eingezeichnet, in denen das Vorkommen von (itrus ein
sicher oder höchst wahrscheinlich spontanes ist. (Vergl. hierüber Citrus
24 A. ENGLER:
in Engler-Prantl, Die natürlichen Pflanzenfamilien II 4, S. 196-200,
sowie auch für die übrigen Gattungen die dort gemachten Verbreitungs-
angaben.)
Wenn wir die Verbreitungserscheinungen innerhalb der Familie der
Rutaceen und die Entwickelung der einzelnen Gruppen noch einmal über-
blicken, so treten uns als Ergebnisse von allgemeinerer Bedeutung folgende
entgegen:
1. Einige Gruppen zeigen einen grofsen Reichthum nahe ver-
wandter Formen auf beschränktem Gebiet. Dies ist im höchsten
Grade der Fall bei den Rutoideae- Diosmeae und Rutoideae- Boronieae. Ihre
Gattungen und in diesen die Arten stehen einander so nahe, dafs wir
diese Gruppen als auf dem Höhepunkt der Entwickelung befindlich an-
sehen können. Nichtsdestoweniger bleiben sie auf engere Gebiete be-
schränkt wegen ihrer Organisation. Beide Gruppen enthalten subtropische
dauerblättrige Sträucher und Halbsträucher, welche einerseits von den aus-
gesprochenen Xerophytengebieten, anderseits von den Gebieten der Hydro-
megathermen ausgeschlossen sind. Der Ursprung dieser Gruppen mulfs in
den südlichen extratropischen Gebieten gewesen sein; sie haben sich nicht
weiter nach dem Aequator hin verbreiten können, weil einerseits ein Klima
mit länger andauernder Feuchtigkeit und Wärme, anderseits ein Klima
mit sehr langer Trockenperiode ihrer Verbreitung entgegentrat; da sie ferner
ihre Samen bald auswerfen, und dieselben wohl nur selten im keimfähigen
Zustande über das Meer gelangen, so sind sie auf enge Gebiete beschränkt
geblieben. Bei diesem Verhalten der Diosmeae und Boronieae ist sowohl
die Existenz von Calodendron in den Gebirgen von Leikipia wie das Vor-
kommen einiger eigenthümlicher Gattungen der Doronieae in Neu-Kaledonien
sehr beachtenswerth. (Calodendron ist, wie mehrere andere kapländische
Arten und Gattungen, in Ost-Afrika nur auf den Gebirgen anzutreffen,
welche einstmals unter einander und mit denen Süd-Afrikas in grölserem
Zusammenhang standen als jetzt. Somit ist das disjunete Vorkommen von
Calodendron dadurch zu erklären, dafs in dem ehemals mehr zusammen-
hängenden Areal Lücken entstanden sind. Dafs von den Boronieae einige
eigenthümliche Gattungen in Neu-Kaledonien vorkommen, trotzdem die
Boronieae sich im Allgemeinen nicht über das Meer hinweg verbreiten,
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 25
spricht dafür, dafs einst ein indireeter Zusammenhang zwischen Australien
und Neu-Kaledonien bestand. Es wird von Suefs (Antlitz der Erde Il. 203)
darauf aufmerksam gemacht, dafs nach Clarke die östliche Fortsetzung
des australischen Festlandes durch eine jüngere Senkung abgeschnitten sei,
da die die Südküste Australiens begleitenden Meeresablagerungen der ganzen
Ostküste fehlen, und dafs auf Lord Howes-Insel sich Reste riesiger Land-
thiere, von Eidechsen, gefunden haben, welche daselbst in noch sehr junger
Zeit lebten. Die grofse Verwandtschaft der neu-kaledonischen Flora mit
der von Australien macht es durchaus wahrscheinlich, dafs über die Lord
Howes-Insel hinweg eine Verbindung Australiens mit Neu-Kaledonien be-
standen hat. — Wir finden ferner in einzelnen Gebieten eine ganz besonders
reiche Entwickelung einer Gattung oder einer Gattungssection; solche zeigt
Fagara Sect. Tobinia in West-Indien und Columbien, welches oreographisch
durch den Inselbogen der Antillen und nicht durch die Landenge von Pa-
nama mit Mexiko verbunden ist, Fagara Sect. Blackburnia mit einem sehr
eigenartigen und Neubildungen zeigenden Formenschwarm auf den Sand-
wich-Inseln, Platydesma mit 4 Arten und Pelea Sect. Eupelea ebenda, Ruta
Untergattung Haplophyllum mit etwa 50 Arten vorzugsweise im östlichen
Mittelmeergebiet und Central- Asien und zwar mit Arten, welche so ver-
schiedenartige Carpell- und Fruchtbildung aufweisen, dafs, wenn einstmals
die Bindeglieder verschwunden sein sollten, mit Leichtigkeit mehrere Gat-
tungen daraus gemacht werden könnten, Metrodorea im südlichen Brasilien,
ein Theil der Cusparieae (Cusparia, Galipea, Ticorea) in Süd- Amerika, Amyris
mit etwa 13 Arten auf dem schon oben erwähnten Bogen, der von Mexiko
über die Antillen nach Columbien führt, Teelea im tropischen Afrika, G/ly-
cosmis im indisch-malayischen Gebiet. Diese Thatsachen sind für die Ent-
wickelung der Arten ganz besonders lehrreich, weil sie zeigen, wie in
einem Gebiet, welches einem Typus besonders zusagende Bedingungen ge-
währt, derselbe sich in ähnlicher Mannigfaltigkeit ausgestalten kann, wie
bisweilen eine Culturpflanze, von welcher auf einem ihr zusagenden Terrain
durch künstliche Fernhaltung der Coneurrenten zahlreiche Varietäten er-
halten werden.
2. Einige Gruppen zeigen auf beschränktem Gebiet eine
ziemlich grol(se Zahl entfernt stehender Formen oder Gattungen,
so die Xanthoxwyleae- Evodünae (6 Gattungen) in Ost-Australien, die Xan-
thowyleae- Decatropidinae (3 meist monotypische Gattungen) in Mexiko und
Phys. Abh. 1896. 1. 4
26 A. ENGLER:
West-Indien, die Choisyinae (3 Gattungen) in Mexiko und West-Indien, die
XNanthoxyleae- Lunasünae und die Aurantieae im indisch -malayischen Gebiet.
Diese Gruppen stehen gerade im Gegensatz zu denen der vorigen Kategorie;
es sind Gruppen, welche ein hohes Alter besitzen müssen, da die Binde-
glieder zwischen den jetzt noch existirenden Gattungen fehlen.
3. Einige Gruppen und Gattungen besitzen + zahlreiche
Formen in von einander entfernten Gebieten, so Xanthoxylum in
der nördlichen Hemisphaere, Fagara in der nördlichen und südlichen Hemi-
sphaere, Evodia mit Boninia und Oriva auf der östlichen Halbkugel, Olausena
und Toddalia im palaeotropischen Gebiet. Dies sind entweder Gattungen,
deren Samen oder Früchte zur transoceanischen Verbreitung durch Vögel
geeignet sind, oder es sind sehr alte Gattungen, welehe früher mehr pol-
wärts existirt haben müssen und, gegen den Aequator hin gewandert, nun-
mehr durch gröfsere Zwischenräume von einander getrennt sind. Das erste
trifft für die meisten Xanthoxyleae- Evodünae zu, das zweite auflserdem für
die Gattung Xanthoxylum.
4. Einzelne Gruppen und Gattungen enthalten nur wenige
Formen, die in weit von einander entfernten Gebieten vorkommen.
Hier sei erinnert an die Choisyinae, zu denen ich aufser 2 central-ameri-
kanischen Gattungen und einer west-indischen auch noch einige pacifische
rechne; ferner an das disjunete Vorkommen der Arten von Thamnosma,
Raputia, Erythrochiton, Ravenia, an die getrennten Areale der 3 Gattungen
der Pteleinae und der zahlreicheren Toddaliinae. Man ist oft geneigt, in
solehen Fällen anzunehmen, dafs man Reste von früher weiter verbreiteten
und formenreicheren Gruppen oder Gattungen vor sich habe; es ist dies
aber bei den genannten Rutaceen schwerlich durchweg der Fall; viel mehr
hat bei einigen Gattungen die Annahme für sich, dafs ältere ausgestorbene
Gattungen einer weiter verbreiteten Gruppe an entfernten Stellen der Erde
zu ähnlichen Bildungen gelangt sind. So ist es unwahrscheinlich, dafs
die flügelfrüchtigen Pieleinae alle direet von einer gemeinsamen Stammform
der Toddaliewe abstammen; es kann die Flügelbildung sehr wohl dreimal,
in Nord- Amerika (Pielea), in Central- Amerika (Helietta) und in Süd-Amerika
(Balfourodendron), eingetreten sein. Namentlich aber bei Thamnosma ist
es höchst unwahrscheinlich, dafs die 4 bekannten Arten die Reste einer
einst in der alten und neuen Welt mit zahlreichen Arten vertretenen Gat-
tung seien. Die beiden altweltlichen Arten, welche habituell recht ver-
Zaun Zinn ©.
Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 27
schieden sind, haben beide stachelige, die beiden neuweltlichen dagegen
haben glatte Samen. Nun sind aber diese neuweltlichen Arten auch noch
dadurch ausgezeichnet, dafs ihr Fruchtknoten deutlich gestielt ist; der
Grund, weshalb alle 4 Arten zu einer Gattung gerechnet werden, liegt
darin, dafs bei ihnen allein unter den Rutinae der Fruchtknoten bicarpellär
ist. Es ist aber sehr wohl denkbar, dafs die Verminderung der Glieder
im Gynäceum bei 2 verschiedenen älteren Gattungen der Rutinae einge-
treten ist, und dafs der Unterschied in der Samenschale auch wichtig genug
ist, um 2 Gattungen Thamnosma und Palaeothamnosma zu unterscheiden,
von denen die erstere sich mehr an Boenninghausenia und Psilopeganum,
die letztere mehr an Ruta anschliefsen dürfte. Hingegen sind die anderen
oben erwähnten Gattungen Erythrochiton, Ravenia und Raputia in allen
ihren Arten von anderen Gattungen der Cusparieae so verschieden, dafs
man jede als eine natürliche Gattung ansehen kann, die jetzt nur noch
in einer geringen Zahl von Arten in weit von einander entfernten Gebieten
erhalten ist.
5. Endlich rechnen wir zu den Rutaceen noch einige morpholo-
gisch innerhalb der Familie ganz isolirte und formenarme Gat-
tungen wie Spathelia, Chloroxylon, Dietyoloma, von denen man annehmen
mulfs, dafs sie nicht aus einer der gröfseren und weiter verbreiteten Gruppen
hervorgegangen, sondern vielmehr neben diesen entstanden und nicht zu
weiterer Entwickelung gelangt sind.
Erklärung der 3 Tafeln.
Die Verbreitung der einzelnen Gattungen ist durch grüne oder rothe Färbung ihrer
Areale angedeutet, und zwar wurde bei den Gattungen mit grünlichen oder grünlich-weilse
Blumenblättern grün, bei den Gattungen mit lebhafter gefärbten Blüthen roth verwendet.
der Gruppe der Rutinae jedoch wurde für Ruta ebenfalls grün gewählt, um das Areal dies
Gattung neben dem der übrigen besser hervortreten zu lassen.
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Engler: Geographische Verbreitu ng der Rutaceen.
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Über die geographische Verbreitung der Zveophvyllaceen
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im Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung.
Von
H" ADOLF ENGLER.
Phys. Abh. 1896. 11. 1
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Gelesen in der Gesammtsitzung am 26. November 1896
[Sitzungsberichte St. XLVII. S. 1303].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 1896.
ERNENEZE 7ER
ı® meiner Abhandlung über die geographische Verbreitung der Rutaceen
im Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung (Abh. d. K. Preufs. Akad.
d. Wiss. 1896) handelte es sich um eine grofse, in allen wärmeren Gebieten
der Erde und auch noch in den gemälsigten Zonen vertretene Familie,
deren Unterfamilien und Gruppen grolfsentheils auf ein gröfseres Mals von
Wärme und Feuchtigkeit angewiesene Pflanzen, anderseits aber auch mehrere
Xerophyten umfassen, welche zu den übrigen Rutaceen in so naher ver-
wandtschaftlicher Beziehung stehen, dafs mehrfach eine Ableitung der
hydromesothermen Typen von hydromegathermen und xerophytischer von
hydromesothermen möglich ist. Die Zygophyllaceen dagegen, bekanntlich
den Rutaceen so nahe stehend, dafs früher vor der Werthschätzung ana-
tomischer Merkmale für die Systematik einzelne ihrer Gattungen bei jenen
untergebracht wurden, sind eine Familie von 24 Gattungen, welche alle
mehr oder weniger xerophytische oder auch haloxerophytische Arten ent-
halten. Es gewährt daher ein ganz besonderes Interesse, die Verwandt-
schaftsverhältnisse dieser in allen wärmeren Theilen der Erde zerstreuten
Gattungen festzustellen und die Entwickelungscentren der durch ihre Merk-
male abgegrenzten Gattungsgruppen zu ermitteln. Vielfach neigt man zu
der theilweise auch wohlbegründeten Ansicht, die von den Xerophyten
und namentlich den Haloxerophyten bewohnten Gebiete als verhältnils-
mälsig junge Landbildungen anzusehen. Wäre diefs richtig, dann mülsten
alle Bewohner der Steppen und Wüsten sich verwandtschaftlich eng an
Pilanzen der auf länger anhaltende Feuchtigkeit angewiesenen Formationen
anschlielsen. Es ist daher wichtig. den verwandtschaftlichen Beziehungen
ı*
4 A. EneLEeEr:
einer so ausgesprochen xerophytischen Pflanzengruppe, wie die Zygophyl-
laceen sind, genau nachzugehen.
Da die Zygophyllaceae seit langer Zeit (1814) als selbständige Familie
angesehen wurden, so ist schon von vorn herein ziemlich wahrscheinlich,
dafs dieselben nieht von einer anderen Familie abgeleitet werden können
und ein hohes Alter besitzen; jedoch soll diese Frage noch eingehender
erörtert werden. Die zweite Frage wird die sein, wie sich die zu unserer
Familie gestellten Gattungen morphologisch und geographisch zu einander
verhalten. Scharfe Abgrenzung von Gattungsgruppen und isolirte Stellung
einzelner Gattungen würde mit Sicherheit auf hohes Alter hinweisen. Eine
dritte Frage ist die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver-
breitung; diese Frage hat aber bei unserer Familie ein ganz besonderes
Interesse deshalb, weil die Zygophyllaceen alle Bewohner von Wüsten und
Steppen (im weitesten Sinne) sind, diese Formationen aber gegenwärtig in
den verschiedenen Erdtheilen theilweise von einander sehr entfernt auf-
treten. Es wird sich daher vor Allem auch um eine Untersuchung der
Verbreitungsmittel handeln, um zu entscheiden, ob die Beschaffenheit der-
selben die gegenwärtige Vertheilung der Arten ermöglichen konnte; es wird
aber auch ferner die frühere Configuration der Erdtheile in Betracht zu
ziehen sein, um zu entscheiden, ob diese eine Wanderung einzelner Arten
in höherem Grade als die heutige gestattete.
Die Zygophyllaceae (Zygophylleae) wurden zuerst von R. Brown im
Jahre 1814 (Flinders Voy. I, App. 3, 545; Verm. bot. Schrift. I, 34) als
selbständige Familie hingestellt; bis dahin war diese Pflanzengruppe, ent-
sprechend der Anschauung A. L. de Jussieu’s, mit den Rutaceen vereinigt
worden; ja bei diesem Autor umfafste die Familie der Rutaceen sogar we-
niger echte Rutaceengattungen (4), als Zygophyllaceengattungen (5). Auch,
nachdem de CGandolle (Mem. Mus. IX (1822), 139 und Prodr. I, 703) die
Zygophyllaceen als selbständige Familie anerkannt hatte, wurden dieselben
wieder von A. Jussieu (Mem. Mus. XII (1825), 394. 450) als Unterfamilie
der Rutaceen behandelt, und in neuerer Zeit hat sogar noch Baillon (Hist.
des plantes IV (1873), 415 ff.) dasselbe gethan, zugleich aber auch die Cneo-
raceen und Simarubaceen in dieselbe Familie eingeschlossen. Diese An-
schauungen basirten auf einer Überschätzung der in den Blüthenverhält-
nissen dieser Pflanzen bestehenden Übereinstimmung. Ein ganz wesentlicher
Fortschritt wurde erreicht, als Bentham und Hooker, den hohen syste-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 5
matischen Werth der Stellung der Samenanlagen erkennend, eine der un-
natürlichsten Pflanzengruppen, die Terebinthinae, beseitigten und in ihrer
Reihe der Geraniales die Zygophyllaceae, Rutaceae, Simarubaceae, Burseraceae
neben einander stellten, die Anacardiaceae aber in eine Parallelreihe, die-
jenige der Sapindales, verwiesen. Ein zweiter wesentlicher Fortschritt wurde
durch dieselben Autoren eingeleitet, indem sie die Aurantieae mit den Ru-
taceae vereinigten. Hierdurch war auf einmal der hohe Werth eines ana-
tomischen Merkmales, der lysigenen Drüsen, in’s helle Licht gesetzt, und
es bedurfte nur noch einer eonsequenteren Berücksichtigung dieses Merk-
males, um die Familie der Rutaceen natürlich zu umgrenzen. Die Probe
auf die Richtigkeit dieses Verfahrens ergab sich dann aber auch dadurch,
dafs nun die Nachbarfamilien der Simarubaceae und Zygophyllaceae bei Be-
rücksichtigung der anatomischen Verhältnisse sich einheitlicher gestalteten.
Aber selbst dann, wenn man auf die Iysigenen Drüsen der Rutaceen nicht
so grolsen Werth legen wollte, würde man keine Zygophyllacee in irgend
welche nähere Verbindung mit einer Rutaceengattung bringen können; auch
die Gattungen Peganum und Tetradielis, welche Bentham und Hooker
noch bei den Rutaceen führten und welche ich zu den Zygophyllaceen ver-
weise, bieten keinerlei Anhaltspunkte zu irgend welcher Verknüpfung mit
einer Rutacee. Auch von den isolirt stehenden Gruppen der Rutaceen, den
Spathelioideae, Dictyolomoideae und Flindersioideae, welche von der Haupt-
masse dieser Familie erheblich abweichen, steht keine den Zygophyllaceen
nahe. Wie steht es nun mit Anknüpfungspunkten zwischen Zygophyllaceae
und Simarubaceae? Ein durchgreifendes anatomisches Merkmal kommt der
letzteren Familie nicht zu (vergl. meine Bearbeitung in den Nat. Pflanzen-
familien II. 4, S.203), und ebenso wenig ist dies bei den Zygophyllaceen
der Fall; ferner gehört zu den Simarubaceen eine Gruppe Simaruboideae - Sima-
rubeae, bei welcher am Grunde der Staubfäden Ligularschuppen vorkom-
men, wie bei sehr vielen Zygophyllaceen. Dazu sind die Simarubaceen
keineswegs völlig einheitlich, sondern ich mufste hier 4 Unterfamilien unter-
scheiden, von denen ich (a. a.0. S.206) erklärte, es könnten dieselben auch
als eigene Familien angesehen werden. Man könnte also erwarten, hier
vielleicht bei einer oder der anderen dieser Unterfamilien nähere Bezie-
hungen zu den Zygophyllaceen zu finden; bei letzteren aber wird man
von den dahin gestellten Gattungen hauptsächlich diejenigen zum Vergleich
heranziehen, welche nieht die für die echten Zygophyllaceen so charakte-
6 A. En6LEr:
ristischen paarig- gefiederten Blätter besitzen. Dies ist der Fall bei den
Chitonioideae, Peganoideae, Nitrarioideae und den Zygophylloideae - Fagonünae
(vergl. Nat. Pflanzenfamilien II. 4, S.78. 354). Die Zygophylloideae - Fagoniinae
und die Peganoideae umfassen krautartige Pflanzen, und solche finden sich
unter den Simarubaceen gar nicht; ferner haben die Fagonünae in ihren
Carpellen an einem dünnen Funieulus hängende Samenanlagen und auf-
springende Carpelle, was beides bei den Simarubaceen nicht vorkommt.
Die Peganoideae aber haben in ihren später aufspringenden Carpellen zahl-
reiche Samenanlagen und können deshalb mit keiner Simarubacee in Verbin-
dung gebracht werden. Auch für die Nitrarioideae sieht man sich vergeblich
nach Anknüpfung an irgend eine Simarubacee um; denn die einzigen Gat-
tungen der letzteren, welche einfache Blätter besitzen, die Suriana, Cadellia,
Castela, Holacantha, haben lange freie Griffel, während bei Nitraria, wie bei
allen anderen Zygophyllaceen, die Griffel vereint sind und aufserdem die
Narben mit denjenigen der Zygophylloideae - Tribuleae übereinstimmen. So
bleiben noch die Chitonioideae übrig. Chitonia Moc. et Sesse besitzt un-
paarig-gefiederte (oder gedreite) Blätter, wie sie bei den Simarubaceen so
häufig sind, sodann aber vollständig verwachsene Carpelle mit mehreren
Samenanlagen; letzteres kommt bei keiner Simarubacee vor. Ebenso ist
bei Viseainoa Greene und bei Sericodes A. Gray das Gynäceum vollkom-
men syncarp; ein solches besitzen unter den Simarubaceen nur Pieramnia
und Alvaradoa; bei beiden sind jedoch noch die Griffel frei; zudem hängen
bei Pieramnia die Samenanlagen vom Scheitel des Faches herunter und bei
Alvaradoa sind sie sogar grundständig, ihre Mikropyle nach unten kehrend,
während bei Viscainoa und Sericodes die Samenanlagen, wie bei anderen
Zygophyllaceen, ziemlich in der Mitte des Faches ansitzen. Aus alledem
ergiebt sich, dafs auch bei den Simarubaceen ebenso wenig wie bei den
Rutaceen ein engerer Anschlufs für die Zygophyllaceen gefunden werden
kann, d.h.: die Zygophyllaceen sind eine alte Familie von Xero-
phyten und Haloxerophyten.
Was nun die zweite und dritte der oben gestellten Fragen betrifft,
die nach dem morphologischen und geographischen Verhalten der Gattungen
zu einander sowie die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver-
breitung, so bilden diese den Hauptgegenstand dieser Abhandlung. Indem
ich mich auf meine in den Pilanzenfamilien gegebene Beschreibung der
Zygophyllaceen beziehe, werde ich hier hauptsächlich die ptlanzengeogra-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 7
phischen und phylogenetischen Verhältnisse der einzelnen Unterfamilien und
Gruppen behandeln und zugleich auch noch einige Verbesserungen der phylo-
genetisch-systematischen Eintheilung der Zygophyllaceen rechtfertigen.
Zygophylloideae - Zygophylleae.
Die Gruppe der Zygophylleae kann, weil sie die Mehrzahl der Gat-
tungen umfafst, als die typische der Familie gelten, ohne dafs sie darum
als die älteste angesehen wird. Charakteristisch für diese Gruppe ist, dafs
bei ihr im Gegensatz zu den Tribuleae die Samen mit Nährgewebe versehen
sind, welches allerdings bei Seetzenia nur sehr dünn ist: ein wichtiges Mo-
ment für die Samenverbreitung, weil das Nährgewebe um den Keimling
herum einerseits eine Schutzhülle gewährt, anderseits demselben bei der
ersten Entwickelung die nothwendigsten Nährstoffe darbietet.
Von den übrigen Zygophylleae sondern sich leicht ab wegen ihrer ge-
dreiten Blätter, die bisweilen auf das Mittelblättehen redueirt sein können,
die Fagoniinae mit den beiden Gattungen Fagonia Tourn. und Seetzenia R. Br.
Bei beiden Gattungen sind die Samen! im feuchten Zustande schleimig und
klebrig. Bei Fagonia liegt der Keimling in einem 2-3-schichtigen hornigen
Nährgewebe mit sehr stark verdickten, von Tüpfelkanälen durchzogenen
Wänden, deren Durchmesser das Lumen der Zellen häufig übertrifft, und
die Samenschale besteht meist aus 2 Zelllagen, einer inneren mit kleinen
rechteckigen, braunwandigen, rhombische Einzelkrystalle führenden Zellen
und einer äufseren mit im Wasser sehr stark aufquellenden, farblosen, völlig
durchsichtigen Zellen, welche die Zellen der inneren Schicht 6-10mal an
Gröfse übertreffen; an den Ecken dieser im groben Umrifs rechteckigen
Zellen finden sich in den Grübehen zwischen den nach aufsen gewölbten
Aufsenwänden concentrisch strahlige, rundliche Körper, die von einem
dünnen Häutchen überzogen sind; ebenso finden sich solche bisweilen an
der Oberfläche der Aufsenwände. Nach Behandlung mit Salzsäure bleiben
an Stelle der kugeligen Körper helle, aber feinkörnige Massen zurück. Bei
! Eine vollständige vergleichende Untersuchung der Zygopbyllaceen-Samen, insbeson-
dere ihrer Samenschalen, lag jetzt nicht in meiner Absicht, sondern ich wollte mich mit
Rücksicht auf die pflanzengeographischen Fragen nur insoweit unterrichten, als es nöthig
war, um die Möglichkeit der Samenverbreitung festzustellen. Die nöthigen Praeparate wurden
unter meiner Aufsicht von meinem derzeitigen Assistenten Hrn. Dr. Diels angefertigt.
fe) A. EnsLer: x
Seetzenia dagegen ist ein Äufserst dünnes Nährgewebe vorhanden; die innere
Schicht der Samenschale besteht aus braunwandigen rechteckigen, nicht
eubischen, in radialer Richtung etwas mehr gestreckten, ebenfalls Einzel-
krystalle führenden Zellen; hierauf folgt eine ebenso dicke, den ganzen
Samen überziehende feinkörnige Schleimschicht und hierauf eine Lage von
in radialer Richtung bedeutend gestreckten, 3-5 mal so langen als breiten,
stark nach aufsen gewölbten, vollkommen durchscheinenden Zellen, die im
trockenen Zustande eine zähe, feste, fast lederige Schicht bilden. Die beim
Aufquellen der Aufsenschieht entstehende Schleimhülle bietet zunächst wie
bei vielen anderen Samen den Vortheil, dafs das aufgenommene Wasser für
längere Zeit festgehalten wird und bei der Keimung von Vortheil ist; so-
dann aber ist auch klar, dafs die kleberige Beschaffenheit der Samen leicht
einen Transport derselben durch Vögel begünstigt, an deren Füfsen die
Samen haften bleiben. Auch ist wahrscheinlich, dafs die Samen beider
Gattungen von Vögeln verzehrt werden und der Samenkern unversehrt durch
ihren Darmkanal hindurchgeht. Hierzu kommen noch folgende Momente:
ı. Alle Fagonia- Arten und auch Seetzenia orientalis Deene. wachsen auf
sterilem Wüsten- und Steppenterrain in grofsen Mengen gesellig. 2. Alle
diese Arten blühen sehr reichlich und erzeugen eine grofse Anzahl von
Früchten. 3. Bei beiden Gattungen lassen die reifen Theilfrüchte ihre
Samen bald heraustreten, indem sie sich an der Bauchseite öffnen, und
bei Fagonia wird die Entleerung der Theilfrüchte noch dadurch begünstigt,
dafs das Endocarp sich von dem Exocarp zuerst theilweise, dann gänzlich
ablöst und sich zusammenrollend dazu beiträgt, den Samen herauszustofsen.
Durch diese Verbreitungsmittel erklärt sich leicht die Verbreitung der Gat-
tung Fagonia auf der östlichen Hemisphaere, auf welcher die Arten dieser
Gattung sicher einen noch gröfseren Raum einnehmen, als durch die auf
unserem Kärtchen angegebenen, bis jetzt bekannten Fundstellen angedeutet
ist. Es werden gegenwärtig 19 Arten unterschieden, die gröfstentheils ein-
ander sehr nahe stehen, so nahe, dafs man ebenso gut durch Zusammen-
ziehen einzelner in Boissier’s Flora orientalis unterschiedener Arten die
genannte Zahl vermindern, wie anderseits auch durch die Erhebung man-
cher Varietäten zu Arten vermehren könnte. Die gröfsere Hälfte der Arten
(10) findet sich in Aegypten, namentlich in Unteraegypten, einige davon
werden auch in den benachbarten Gebieten Arabien (4), Syrien, Palaestina
und Persien (3), in Algier (3) angetroffen; andere sind bis Nubien und Abes-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung.
sinien (2) verbreitet, ı (F. arabiea 1.) auch bis Socotra und Ostindien. Auch
in mehreren der genannten Länder treten aufser den verbreiteteren Arten
endemische auf, so F. socotrana (Balf. f.) Engl. auf Socotra, F. fruticans
Coss. in Algier, F. myriacantha Boiss. und F. tenuifolia Hochst. et Steud. in
Arabien, F. acerosa Boiss. in Persien, F. grandiflora Boiss. in Persien und
Syrien, F. subinermis Boiss. in Südpersien und an der Somaliküste. Die wei-
teste Verbreitung hat F. eretica L. im Mittelmeergebiet erreicht; sie ist die
einzige Art, welche aufser in Nordafrika (Aegypten, Tunis, Algier, Marokko,
Canaren), auch weiter nördlich auf Oypern und Creta, in Spanien und dem
südlichen Portugal, ja sogar im Mündungsgebiet der Wolga bei Astrachan
und auch im Somaliland in dem Gebiet von Ogaden angetroffen wird. Von
ganz besonderem Interesse ist aber, dafs einige Formen, die ich nur als
Varietäten der Fagonia eretica L. ansehen kann, in Nord- und Südamerika
vorkommen, nämlich var. californica (Benth.) Engl. mit kleineren Früchten,
schmaleren Blättehen und von kurzen, sehr zerstreuten Borsten und etwas
rauhem Stengel im südlichen Californien (San Diego, Los Angeles Bay) und
Nordmexiko (Val de las Palmas), var. chilensis (Hook. et Arn.) Engl. mit
kleineren Früchten und kahlem Stengel im nördlichen Chile (Coquimbo,
Tarapaca, Atacama u. s. w.), var. aspera (Gay) Engl. mit kleineren Früchten,
breiten Blättern und rauhem Stengel, ebenda (Quebrada de Gaihuano). Diese
Pflanzen kann ich nur als Abkommen der mediterranen F. cretica L. an-
sehen, deren Samen mit Waarenballen u. dergl. auf Schiffen von Spanien
und Portugal sowohl nach Californien und Nordmexiko, wie nach Chile
gelangt sind. Dafs dorthin die Verbreitung durch Vögel erfolgt sei, ist
durch die Lage ausgeschlossen. Ebenso halte ich es für unwahrscheinlich,
dafs das Vorkommen der F. cretica L. var. californica in Californien aus vor-
historischer Zeit datire und etwa so zu erklären sei, wie das Auftreten
von Pistacia in Mexiko, d. h. aus einer ehemaligen weiteren Verbreitung
der Gattung durch Asien. Dagegen spricht das absolute Fehlen von Fagonia
in den centralasiatischen Steppen, in deren südlichen Theilen Fagonia-Arten
doch recht gut gedeihen könnten. Auch die im Hereroland vorkommende
F. minutistipula Engl. schliefst sich ziemlich eng an F. cretica L. an.
Besonders reich an Gattungen ist die Gruppe der Zygophylleae- Zygo-
phyllinae, bei denen wir vorherrschend paarig-gefiederte Blätter mit einem
bis mehreren Blattpaaren finden, während seltener einfache, ungetheilte
Blätter auftreten.
Phys. Abh. 1896. Il.
02
10 A. En6LEeEr:
Die sehr artenreiche Gattung Zygophyllıum L. gliedert sich in einige
theils scharf, theils schwächer begrenzte Seetionen, welche auf engere Ge-
biete beschränkt sind. Die Areale einiger Sectionen treffen in Vorderasien
zusammen.
Auf die Steppen- und Wüstengebiete des westlichen und centralen
Asiens beschränkt, nur mit Z. Fabago L. auch nach den nördlichen Ge-
staden des Schwarzen Meeres und nach Tunis reichend, finden wir die
durch fachspaltige Kapseln ausgezeichnete Section Fabago, deren Verbrei-
tungsgebiet auf dem Kärtchen durch zusammenhängende rothe Flecke be-
zeichnet ist, während ı9 andere in verschiedenen Theilen der central-
asiatischen Steppen zerstreute Arten sich in den durch ein rothes +
bezeichneten Gebieten finden. Die meisten der hierher gehörigen Arten be-
sitzen ein kräftiges ausdauerndes Rhizom von fleischiger Beschaffenheit, aus
dem alljährlich Sprosse mit ziemlich dieken fleischigen oder lederartigen
Blättern hervortreten; die letzteren sind stets paarig-gefiedert und theils
4—-3-paarig (Z. macropterum G. A. Mey., Z. mueronatum Maxim., Z. subtri-
Jugum C. A. Mey.), theils 2-paarig (Z. turcomanieum Fisch., Z. Potaninü
Maxim., Z. pterocarpum Bunge, Z. Karelinü Fisch. et Mey., Z. miniatum
Cham. et Schlecht., Z. Melongena Bunge), meistens ı-paarig (Z. Fabago L.,
Z. furcatum C. A. Mey., Z. brachypterum Kar. et Kir., Z. Rosowiü Bunge,
Z. latifolium Schrenk, Z. gobieum Maxim., Z. ovigerum Fisch. et Mey.,
Z. Eichwaldü GC. A. Mey., Z. stenopterum Schrenk). Die meisten Arten ent-
halten in ihren Fruchtfächern 3 Samen, Z. Melongena Bunge und Z. ste-
nopterum C. A. Mey. nur ı Samen. Die Verbreitung derselben ist wie bei
Fagonia durch eine Schicht grofser (hier eylindrischer) verschleimender
Zellen begünstigt, unter denen eine Schicht kleiner, rhombische Einzel-
krystalle enthaltender Zellen sich befindet. Die verschleimenden Zellen er-
scheinen innen mit einem eigenartigen Netzfasersystem versehen, in welchem
man bisweilen 2 von einander getrennte Spiralen erkennen kann, zwischen
denen mehrfach gleich dieke und dünnere Verbindungsfasern auftreten. In
jungen Zellen dieser Quellungsschicht sind die Fasern einander mehr ge-
nähert, in älteren sind sie mehr von einander entfernt; es ist kein Zweifel,
dafs diese Fasern, ebenso wie die weiter unten bei der Seetion Capensia
und Zoeperia zu besprechenden Spiralfasern, durch einen eigenthümlichen
Spaltungsprocefs der Innenlamelle entstanden sind, der von Nägeli (Sitzungs-
berichte der Königl. Bayr. Akad. der Wissensch. 1864, 9.Juli, Botanische
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 11
Mittheilungen, II. Bd. Nr. ı7) für die Epidermiszellen der Fruchtwandung
von Salvia Aethiopis L., S. Horminum L., für die Epidermiszellen der Samen
von Collomia-Arten und für Samenhaare von Dipteracanthus ciliatus Nees
nachgewiesen wurde. — Trotz der Befähigung zur Verbreitung sind, aufser
dem weit verbreiteten Z. Fabago, die meisten Arten auf kleinere Gebiete
beschränkt; so kommen ı Art (Z. pterocarpum Bunge) nur am Altai, 8 in
der Songarei, 3 in der Wüste Gobi, ı in Kansu, 6 nur in der Turkmenen-
steppe vor, darunter 3 einander sehr nahe stehende Arten (Z. ovigerum,
Z. furcatum und Z. Eichwaldiü) mit schmal linealischen Fiederblättehen. Im
Anschlufs an die Seetion Fabago sei hier auch gleich die Gattung Mil-
tianthus Bunge genannt, welche habituell und durch ihre langen Früchte
den Zygophyllen der Seetion Fabago sehr nahe steht, sich aber durch das
tleischige Pericarp der letzteren und den Abort der Blumenblätter auszeich-
net: es ist wohl kaum zu bezweifeln, dafs die auf die Wüste zwischen
Buchara und Komnine beschränkte Pflanze Miltianthus portulacoides (Cham.
et Schlecht.) Bunge sich aus einer Art von Zygophyllum Section Fabago
entwickelt hat. Innerhalb des Areals der genannten Section liegt auch
dasjenige der Section Sarcozygium (Bunge), mit der einzigen Art Z. wantho-
wylum (Bunge) Engl.: es ist das ein kahler Strauch mit holzigen Zweigen
und kleinen kurzen Dornästen, welche ı-paarige Blätter mit schmalen linea-
lischen Blättehen tragen. Zwar enthalten die Fruchtknoten in ihren Car-
pellen mehrere Samenanlagen. aber bei der Reife sind sie ı-samig, breit
geflügelt und nicht aufspringend; die Samenschale ist ganz ähnlich be-
schaffen wie bei der vorigen Section. Wir haben also hier zunächst eine
für die Verbreitung vortheilhafte Anpassung, welche bei der ersten Seetion
fehlte, nämlich Flügelfruchtbildung, die bei Steppenpflanzen so häufig vor-
kommt und zur Erweiterung ihres Areales beiträgt, aufserldem aber auch
die vortheilhafte Einrichtung der vorigen Section, welche bei der Verbrei-
tung der frei gewordenen Samen und bei deren Keimung sich von Vortheil
erweist. Z. wanthowylum (Bunge) Engl. ist ein Salzsteppenstrauch, der
bis jetzt aus dem westlichen Theil der Wüste Gobi bekannt, aber vielleicht
auch noch weiter verbreitet ist.
Ebenfalls monotypisch ist die Section Halimiphyllum (Engl.) mit Z. atri-
plieoides Fisch. et Mey., einer strauchigen Art von ZLyeium-artigem Habitus,
mit ebenfalls weifslichen Zweigen wie bei Z. wanthowylum und mit läng-
lichen oder verkehrt-eiförmigen grauen Blättern, sowie mit breit geflü-
DE,
12 A. En6vwEr:
gelten Früchten mit ı -samigen aufspringenden Fächern. Abgesehen von dem
eigenartigen Habitus (Langtriebe mit gegenständigen, von verkehrt-eiför-
migen Blättern bedeekten Kurztrieben) ist kein hervorragender Unter-
schied gegenüber Fabago vorhanden, da auch zu dieser Section einzelne
Arten mit ı-samigen Fächern gehören. Auch die Samenschale zeigt die-
selbe Beschaffenheit wie bei den Seetionen Fabago und Sarcozygium. Diese
auffallende Art ist von Persien und Kurdistan bis Beludschistan und Afgha-
nistan verbreitet.
Wir kommen nun zu der artenreichen, in Afrika, Arabien und dem
nordwestlichen Vorderindien verbreiteten Section Agrophyllum Neck., bei
welcher im Gegensatz zu den fachspaltigen Früchten von Fabago die Kap-
seln scheidewandspaltig sind. Vielleicht wird es später nothwendig werden,
diese Seetion noch mehr zu spalten; denn die dahin gehörigen Arten sind
habituell ziemlich verschieden. Nur eine der zu Agrophyllum gestellten
Arten, das einjährige Z. simplex L., hat eine weite Verbreitung erlangt; es
ist sehr häufig zu beiden Seiten des Nil von Suez bis Kordofan, bis zum
Somaliland und auf Socotra, in Arabien und den Wüstengebieten des nord-
westlichen Vorderindiens, auf den Cap Verden und Comoren, im Küstenland
von Benguella, im Hereroland, Namaland und Busehmannland etwas süd-
lieh vom Oranjeflufs. Auffallend ist das Fehlen dieser Art in Algier. Die
Theilfrüchte und erst recht die kleinen Samen sind so leicht, «dafs sie sicher
von heftigen Wüstenwinden auf gröfsere Strecken fortgetrieben werden,
während anderseits auch hier die kleberige aufquellende Aufsenschicht des
Samens das Anheften der feuchten Samen an den Füfsen der Vögel ge-
stattet. Eine Spaltung der inneren Membranschicht der Epidermiszellen
in Spiral- oder Netzfasern ist bei dieser Art nicht zu beobachten; aber
auch hier liegt unter der verschleimenden Zellschicht eine krystallführende.
Mehr oder weniger prismatische oder verkehrt-pyramidale Früchte und
einfache Blätter besitzen auch noch einige andere Arten, welche in dem
trockenen Küstenland von Mossamedes bis zur Saldanha-Bay vorkommen,
Z. orbiculatum Welw. (Mossamedes), Z. Pfeilü Engl. (Deutsch - Südwestafrika,
Port Nolloth-Oakup), Z. cordifolium L. £. (Olifant-River bis Saldanha-Bay),
Arten mit grolsen rundlichen sitzenden Blättern, ferner Z. paradowum
Schinz (Angra Pequena) und Z. prismatocarpum E. Mey. (südlich vom Oranje-
{lufs), mit verkehrt-eiförmigen bis spatelförmigen Blättern. Ähnliche Früchte,
wie die vorigen, aber ı-paarige Blätter haben 7 andere Arten, darunter 5
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 13
einander sehr nahe stehende mit stielrundlichen Blättern, die auf Nord-
afrika, Arabien und Seindh beschränkt sind. Alle diese Arten wachsen
namentlich in den Salzwüsten in gewaltigen Mengen gesellig, blühen und
fruchten ungemein reichlich, so dafs ihre Verbreitung sehr begünstigt wird.
Z. coceineum L. finden wir in Aegypten, Arabien und Seindh, Z. album L.
in Cypern, Aegypten, Arabien und auf Socotra, die sehr nahe stehenden
Z. cornutum Coss. und Z. Geslinii Coss. in Algier, Z. Webbianum Coss. in
Marokko und auf den Canaren. Flache Blättehen haben dagegen das
aegyptische Z. decumbens Delile und Z. cinereum Schinz in Angra Pequena.
Sodann stelle ich vorläufig zu Agrophyllum auch noch eine Anzahl Arten
mit breit geflügelten Fruchtfächern und ı-paarigen Blättern. Die eine
dieser Arten, Z. dumosum Boiss., welche in Syrien und Palaestina nicht
selten vorkommt, schliefst sich in der Ausbildung der Blättehen an die
Artengruppe des Z. coceineum an, während 4 andere Arten, Z. Morgsana L.,
Z. Stapfii Schinz, Z. latialatum Engl. und Z. mierocarpum Lichtenst., flache
rundliche bis lanzettliche Blättehen besitzen.
Von den zahlreichen Arten dieser Gruppe wurden 2 nordafrikanische,
Z. coceineum und Z. album, sowie 2 südwestafrikanische, Z. latialatum und
Z. mierocarpum, auf ihre Samenschale hin untersucht. Bei allen 4 Arten
ergab sich, dafs in den Zellen der äufseren Quellschicht die innere Mem-
bran in steil aufsteigende, hier und da netzförmig verbundene Fasern zer-
fällt; nur in einigen Fällen und zwar an noch ziemlich jungen Samen-
schalen, bildeten die verschleimenden Zellen eine Schicht, in der man jedoch
neben einzelnen Faserzellen auch andere ohne Fasern bemerkt. An etwas
älteren Samenschalen sieht man von den faserlosen Zellen nichts, dagegen
haben die Anfangs eylindrischen Zellen eine abgestutzt kreiselförmige Ge-
stalt, nicht selten mit ringsum übergebogenem Rand angenommen, und die
Längsfasern sind häufig am Ende umgebogen. Nicht selten ist auch die
verschleimende Zelle am Scheitel ‚eingesenkt, so dafs sie beinahe die Form
einer mit einem Fufs versehenen tiefen Schale erlangt.
Eine neue Seetion von Zygophyllum, die ich Melocarpum nenne, um-
falst bis jetzt 2 Arten des Somalilandes, Z. Robeechü Engl. und Z. Hilde-
brandtiü Engl.; es sind dies holzige Sträucher mit einfachen flachen und
lederartigen rundlichen oder verkehrt-eiförmigen graugrünen Blättern und
mit kurz-eiförmigen, stumpf gelappten, melonenförmigen, wahrscheinlich
septieiden Früchten; aufserdem weichen diese Arten von den übrigen Zygo-
14 A. EnsLer:
phyllen durch das Fehlen von Ligularschuppen am Grunde der Staubblätter
ab. Reife Samen standen leider nicht zur Verfügung.
Dieser Section entspricht im Karroogebiet des Caplandes, südlich vom
Oranjeflufs, die Seetion Capensia Engl. mit etwa 20 halbstrauchigen, ein-
ander meist sehr nahe stehenden, ziemlich grofsblumigen Arten, deren Staub-
blätter am Grunde mit Ligularschuppen versehen sind. Merkwürdiger Weise
besitzen die zahlreichen in unseren Herbarien befindlichen Exemplare dieser
Arten nur äufserst selten Früchte; vollkommen reife fand ich nur von Z. sessili-
Jolium L. und Z. flexuosum E. Mey.; sie sind eiförmig und 5-lappig, in jedem
Fach mit je einem ziemlich dieken eiförmigen Samen, dessen Samenschale zu
äufserst mit einer Schieht dicht an einander schliefsender eylindrischer und
zuletzt verschleimender Zellen versehen ist, in denen die innerste Membran-
schicht sich in ı oder 2 einander anliegende Spiralen spaltet, deren Windungen
einander Anfangs genähert sind, später von einander abstehen. Interessant
ist bei dieser Section die in so vielen Gattungen des Caplandes hervortre-
tende weitgehende Artenbildung auf verhältnifsmäfsig kleinem Raum, welche
durch die zahlreichen Gebirge des Landes begünstigt wird.
Es bleiben nun noch 7 australische Arten übrig, von denen die in
älterer Zeit bekannten von A. Jussieu zu einer besonderen Gattung Roepera
vereinigt wurden. Es sind jedoch diese Arten in ihrer Fruchtbildung
ziemlich heterogen, so dafs ich dieselben auf 2 Sectionen der Gattung
Zygophyllum vertheilen zu müssen glaube. Z. fruticulosum DC. (Roepera
‚fabagifolia A. Juss.) ist ein niedriger, sparrig verzweigter Strauch mit ein-
paarigen Blättern und schief längliehen oder lanzettlichen Blättehen, mit
4-theiligen Blüthen, mit Staubblättern ohne Ligula und mit nieht auf-
springenden, breit geflügelten Früchten mit ı-samigen Fächern. Leider
konnten reife Samen dieser Art nicht untersucht werden. Die 6 anderen
Arten Australiens sind meist Kräuter, nur Z. apiculatum F. Muell. ist ein
Halbstrauch; sie haben meist 4-theilige, aber auch 5-theilige Blüthen,
theils mit Ligula versehene, theils derselben entbehrende Staubblätter,
immer aber nicht geflügelte, loeulieid aufspringende Kapseln mit sich ab-
lösendem Endocarp. Die Fächer enthalten meist einen, bei Z. glaucescens
F. Muell. jedoch 2-3, manchmal auch 4-5 Samen. Höchst auffallend ist
an vollkommen reifen Samen die Beschaffenheit der Samenschale, deren
Oberfläche mit zahlreichen Spiralfasern von der Länge des Samendurch-
messers besetzt ist. Diese Spiralfasern entsprechen denen des eapensi-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 15
ge0g 90 Y g
schen Zygophyllum sessilifolium L.., haben aber das Charakteristische, dafs sie
nach Verschleimung der primären Membran erhalten bleiben und sich lang
aufrollen. Zu dieser Artengruppe gehört auch Z. Billardierü DC., welches
von A. Jussieu als Aoepera (Mem. Mus. Par. XII, 454) bezeichnet wurde
und demnach als erste Art der Section Roepera oder richtiger Roeperia
angesehen werden kann.
Interessant ist bei dem Verhalten der einzelnen Sectionen zu einander,
dafs die 3 asiatischen, Fabago, Sarcozygium und Halimiphyllum, in der Be-
schaffenheit der Samenschale am meisten übereinstimmen, dafs die Seetion
Agrophyllum, welehe in Nord- und Südafrika vertreten ist, Arten enthält,
bei denen die innere Membranschicht der Samenepidermiszellen auch netz-
faserig, aber doch wieder in anderer Art als bei den 3 erstgenannten Sectio-
nen zerfällt, dafs dagegen die Secetionen Capensia und Roeperia in der spirali-
gen Faserung ihrer Samenepidermiszellen übereinstimmen. Es ist zweifellos
das Verhalten der inneren Membranschicht der Samenepidermiszellen von
gröfster Bedeutung für die phylogenetisch -systematische Gruppirung der
Arten von Zygophyllum, und ich bin überzeugt, dafs ich, wenn mir erst
von mehr Arten Samen zur Untersuchung vorliegen werden, zu weiteren
werthvollen Ergebnissen bezüglich der Gruppirung der Zygophyllum- Arten
gelangen werde.
An die Zygophyllinae schliefse ich jetzt auch die Gattung Augea Thunb.
an. In den »Pflanzenfamilien« hatte ich dieselbe als Repraesentant einer selb-
ständigen Unterfamilie angesehen, die ich Augeoideae nannte; ich that dies
einerseits mit Rücksicht auf das aus 10 Carpellen gebildete Gynäceum und
den eigenthümlichen Zerfall der dünnwandigen, zugleich scheidewand- und
fachspaltigen, das Endocarp abwerfenden Frucht, anderseits, und zwar vor-
zugsweise mit Rücksicht auf das Nährgewebe, das nach Bentham und
Hooker’s und anderer Angabe fehlen sollte. Nachdem aber nun reife
Früchte im Berliner Herbarium sich gefunden haben, habe ich mich davon
überzeugt, dafs Augea eine ähnliche Beschaffenheit der Samen wie Zygo-
phyllum, Seetion Capensia und Roeperia, besitzt. Es ist ein ziemlich dickes
Nährgewebe vorhanden, dessen Zellmembran ebenso wie bei Zygophylhum
sehr dick und mit Tüpfelkanälen versehen ist. Die krystallführende Zell-
schicht der Samenschale verhält sich wie bei Zygophyllum, und von den
Epidermiszellen bleiben nach Verschleimung der äufseren Membranschicht
sehr dicke Spiralfasern zurück, die sich so wie bei der Section Roeperia
16 A. EnGLER:
aufrollen. Es findet also in dieser Beziehung ein Anschluls an («lie Section
Capensia statt, obwohl habituell Augea etwas mehr einzelnen Arten der
Seetion Agrophyllum ähnlich ist.
Wenden wir uns nun nach Amerika, so finden wir dort eine gröfsere
Anzahl strauchiger und baumartiger Gattungen der Zygophylleae, die zwar
recht gut charakterisirt sind, aber doch unter einander in ziemlich naher
verwandtschaftlicher Beziehung stehen, so dafs ich sie als Guajacinae zu-
sammenfassen wollte. Ich wollte dies namentlich deshalb thun, weil einige
der hierher gehörigen Gattungen aufserhalb der krystallführenden Zellschicht
der Samen einige oder mehrere Schichten von im trockenen Zustande col-
labirenden, angefeuchtet rasch aufquellenden Zellen besitzen. Von einem
derartigen Verhalten konnte ich mich bei den Samen der Gattungen Gua-
jacum, Porlieria, Larrea überzeugen; weitere Untersuchungen aber ergaben
die auffallende Thatsache, dafs bei Bulnesia (untersucht wurden B. Retama
(Gill. et Hook.) Griseb., B. Schickendantzü Hieron., B. Sarmienti Lorentz) nur
eine einschichtige Lage von aufquellenden Zellen vorhanden ist und dafs
die langgestreckten Zellen dieser Schicht eine ganz ausgezeichnet netz-
faserige Structur ihrer inneren Membran aufweisen, dafs also hier ein ganz
ähnliches Verhalten auftritt, wie bei den altweltlichen Zygophyllum- Arten.
Am längsten bekannt sind die beiden blau blühenden Gattungen Guajacum L.
und Porlieria L., die sich von einander nur sehr wenig durch das Ver-
halten der Staubblätter unterscheiden, welche bei Porlieria mit Ligular-
schuppe versehen sind, bei Guajacum derselben entbehren. Guajacum um-
falst jetzt nur 4 Arten, welche in Centralamerika, auf der Südspitze von
Florida, in Westindien und Venezuela zumeist an trockenen Küstenstrichen,
aber auch im Gebirge vorkommen. Ausser den beiden bekannten, das offiei-
nelle Guajakholz liefernden @. offieinale L. und @. sanctum L. giebt es auch
noch 2 Arten, @. parvifolium Planch. und @. Coulteri Gray in Mexiko. Schon
in Mexiko und Texas tritt eine Porlieria, P. angustifolia (Engelm.) A. Gray,
auf, welche als Übergangsglied zwischen Guajacum und Porlieria angesehen
werden kann, da die- Staubblätter nur kurze Anhängsel besitzen. Sodann
kommt im südlichen Peru und nördlichen Chile die bekannte Porlieria hygro-
metrica Ruiz et Pav. vor, während in den Steppen Argentiniens von den
Anden bis Cordoba P. Lorentzü Engl. sehr häufig ist, welche sich von der
P. hygrometrica hauptsächlich durch kleinere Früchte auszeichnet: es sind
also die Areale der 3 Arten von Porlieria durch grolse Zwischenräume von
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer sıyst. Gliederung. 17
einander getrennt. Sowohl bei Guajacum wie bei Porlieria besitzen die
Früchte ein dünnes fleischiges Exocarp, das Vögel zum Genufs wohl an-
locken und somit die weite Verbreitung beider Gattungen in Amerika be-
wirkt haben kann.
Diesen beiden mit blauen Blüthen versehenen Gattungen stehen mehrere
andere fast gänzlich auf Südamerika beschränkte gelb blühende gegenüber,
welche sich vorzugsweise durch die Früchte von einander unterscheiden. Die
in der Provinz Atacama des nördlichen Chile vorkommende Pintoa chilensis
(Gay zeigt in der Fruchtentwickelung ein ursprünglicheres Verhalten als die
übrigen Gattungen, insofern nämlich die längliche Frucht dünnwandig und
scheidewandspaltig ist; auch sind in den einzelnen Fächern einige kantige
Samen enthalten, während bei den übrigen Gattungen dieses Verwandtschafts-
kreises die Fächer oder Theilfrüchte einsamig sind. Leider habe ich solche
Früchte nicht selbst untersuchen können.
Bulnesia Gay hat breit geflügelte ı-samige Theilfrüchte, zeigt also
Anpassung an Windverbreitung in offenen Terrains, in Steppen. Wir kennen
7 Arten, darunter 6 in den Steppengebieten Argentiniens verbreitete, wäh-
rend ı Art, B. arborea (Jaeq.) Engl., in den Savannen Columbiens und Vene-
zuelas vorkommt. Dafs die Flügelfrüchte chilenischer oder argentinischer
Bulnesien über die südamerikanischen Waldgebiete hinweg nach Columbien
und Venezuela gelangt seien, ist nicht wahrscheinlich, vielmehr dürften die
venezuelisch-columbische und die argentinisch-chilenischen sich gesondert
aus einem ehemals weiter verbreiteten Typus entwickelt haben. Bei den
argentinischen Arten macht sich eine ziemlich grofse Verschiedenheit in der
Ausbildung der Blätter bemerkbar; besonders auffallend ist B. Retama (Gill.
et Hook.) Griseb., da ihre 2-3-paarigen Blätter frühzeitig abfallen und
die nun spartiumähnliche Pflanze allein mit ihren langen Stengelinternodien
assimilirt.
Bei den 3 Gattungen Larrea Cav., Metharme Phil. und Pleetrocarpa Gillies
sind die Früchte ziemlich klein und mit langen diekwandigen Haaren besetzt,
sie zerfallen bei den beiden ersten Gattungen schliefslich in 5 einsamige, nicht
aufspringende Theilfrüchte. Dafs dieselben durch ihre Behaarung leicht an-
haften, kann man nicht behaupten. Nun haben wir aber bei Zarrea die eigen-
thümliche Verbreitungserscheinung, dafs L. mexicana Morie. vom Colorado-
gebiet Californiens bis zum westlichen Texas und im trockeneren Mexiko
verbreitet ist, während 3 andere Arten in den Sandsteppen und Salzwüsten
Phys. Abh. 1896. Il. 3
18 A. Ene6LeEr:
Argentiniens von den Anden bis Cordoba in ausgedehnten Beständen auf-
treten. Diese Arten sind sowohl von einander, wie auch von der mexikani-
schen sehr verschieden, so dafs die Entstehung derselben sehr alten Datums
sein und eine gröfsere Anzahl von ausgestorbenen Formen angenommen
werden mufs, welehe sowohl morphologisch wie räumlich die jetzt lebenden
Larrea- Arten mehr verknüpften. Metharme lanata Phil. und auch die durch
einstachelige Theilfrüchte ausgezeichnete Plectrocarpa tetracantha Gill. stehen
Larrea so nahe, dafs sie als frühzeitige Abzweigungen des Larrea-Typus an-
gesehen werden können. Vergleichen wir das Auftreten der Zygophyllinae in
der alten und in der neuen Welt, so verdient hervorgehoben zu werden, dafs
in der alten Welt bei der Gattung Zygophyllum sich eine weitgehende Formen-
entwickelung bemerkbar macht, die mit der dort jetzt bestehenden Ausdeh-
nung der Steppen- und Wüstengebiete im Zusammenhang steht, dafs dagegen
in der neuen Welt eine gröfsere Anzahl von Gattungen mit wenigen, meist
scharf geschiedenen Arten vorkommt, welche als Reste einer ehemaligen for-
menreicheren Entwiekelung anzusehen sind; nur Bulnesia zeigt eine gröfsere
Reihe nahestehender Arten.
Versuchen wir auf Grund der angeführten Thatsachen, uns eine Vor-
stellung von der Entwiekelung der ganzen Gruppe der Zygophylleae zu machen,
so stolsen wir zunächst auf eine grolse Schwierigkeit bezüglich ihrer Ver-
theilung auf der östlichen und westlichen Hemisphaere. Zwar findet sich Fa-
gonia auf beiden Hemisphaeren, jedoch sind die amerikanischen Vorkommnisse
höchstwahrscheinlich nur Folgen von Einschleppung. Sodann bleiben uns in
Amerika 7 Gattungen, auf der östlichen Hemisphaere 3, von denen Zygophyllum
offenbar mit der amerikanischen Gattung Bulnesia sehr nahe verwandt ist.
Irgend welche sichere Anhaltspunkte dafür, dafs in der während der Tertiär-
periode den nördlichen pacifischen Ocean umgebenden ostasiatischen und west-
amerikanischen Landmasse der Ausgangspunkt für die neuweltlichen und alt-
weltlichen Gattungsgruppen zu suchen sei, sind nicht vorhanden. In Nord-
amerika finden sich nur wenige Repraesentanten von 3 in Südamerika stärker
vertretenen Gattungen, im pacifischen Ostasien fehlen die Zygophylleen ganz
und erst in der Wüste Gobi finden wir von Osten kommend die ersten
Vertreter von Zygophyllum. Wollte man anderseits annehmen, dafs das alt-
weltliche Areal der Zygophylleae mit dem amerikanischen durch Afrika in Ver-
bindung gestanden habe, so müfste man auf die Juraperiode zurückgehen,
während welcher nach der Ansicht mehrerer Geologen der brasilianisch-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 19
aethiopische Continent existirte. Könnte eine solche Landverbindung noch
für die Kreideperiode angenommen werden, dann würde sehr wohl die Ent-
wickelung der Zygophylleae in den brasilianisch -aethiopischen Continent ver-
legt werden können. Die morphologischen und geographischen Verhältnisse
unserer Familie sind einer solehen Annahme durchaus günstig; denn Bulnesia
ist wegen der oben erwähnten Beschaffenheit ihrer Samenschale offenbar
nächstverwandt mit Zygophyllum. Es ist diese eben angeführte pilanzen-
geographische Thatsache um so beachtenswerther, weil auch bei den Sima-
rubaceen und Burseraceen, die ich in späteren Abhandlungen zu besprechen
gedenke, ebenfalls sehr nahe verwandte Gattungen und derselben Gattung
angehörige Arten in Afrika und Südamerika vertreten sind.
Jedenfalls weisen diese Übereinstimmung einer südamerikanischen Gat-
tung mit einer altweltlichen und die scharfe Begrenzung mehrerer ameri-
kanischen Gattungen der Zygophylleae auf ein recht hohes Alter dieser Gruppe
hin. Befriedigender gestalten sich unsere Anschauungen von der Entwicke-
lung der Gattungen Fagonia, Seetzenia und Zygophyllum. Die Verbreitungs-
areale der Fagonünae convergiren in Mittelaegypten, diejenigen der Zygophyl-
linae in Aegypten und dem westlichen Vorderasien, also in Gebieten, welche
zwar selbst während der Kreideperiode und der Tertiärperiode grofsentheils
vom Meer bedeckt waren, sich aber in nächster Nachbarschaft derjenigen
Theile von Afrika und Arabien befinden, welche nie unterseeisch waren und
im Inneren auch schon frühzeitig Steppentlora beherbergen mulfsten.
Wie wir oben gesehen haben, stehen Miltianthus und von Zygophyllum
die Seetionen Fabago, Sarcozygium und Halimiphyllum in nächster verwandt-
schaftlicher Beziehung; fast das ganze Areal von Zygophyllum Fabago liegt
auf Neuland, welches am Ende der Tertiärperiode oder nach derselben ge-
bildet wurde, und auch die meisten anderen Arten kommen in Steppen
vor, welche erst am Ende der 'Tertiärperiode entstanden sind, während
vordem in denselben Gebieten insulares Klima herrschte. Dafs dieser Typus
ehemals weiter südlich eine reichere Entwickelung gehabt hätte, ist keines-
falls anzunehmen, da die klimatischen Verhältnisse daselbst erheblich von
denjenigen verschieden sind, unter denen jetzt die erwähnten Zygophyllen
gedeihen, welche gröfstentheils während des Winters Schneedeekung ver-
langen. Das grolse Areal der Section Agrophyllum, auf unserem Kärtchen
von einer gewellten grünen Linie umrandet, enthält die meisten Arten in
Nordafrika und Südwestafrika, theilweise auf Terrain, welches nie vom
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20 ASENGTLER!:
Meer bedeckt war, theilweise auf solchem, welches seit der Kreidezeit oder
seit der Tertiärperiode vom Meer entblöfst ist. Im nördlichen Arabien
dürfte sich das ursprüngliche Areal dieser Section mit demjenigen der
Section Fabago berührt haben; die klebrige Beschaffenheit angefeuchteter
Samen ermöglichte die Verbreitung derselben über den Aequator hinweg
nach Südafrika, und während im Norden neben Agrophyllum die Section
Melocarpum (im Somaliland) sich abzweigte, entwickelte sich im Süden auch
noch die Seetion Capensia. Recht schwer verständlich ist das Auftreten en-
demischer Zygophyllum-Arten in Australien. Wie wir gesehen haben, be-
sitzen die australischen Arten der Section Roeperia, ebenso wie die zwei
Arten aus der Section Capensia, deren Samenschale ich bis jetzt untersuchen
konnte, spiralfaserige Struetur der Innenwand, allerdings noch mit der
Steigerung, dafs die Spiralfaser sich abrollt und ganz aus der Schleimhülle
heraustritt. Es ist daher nieht unwahrscheinlich, dafs die Section Roeperia
und wahrscheinlich auch Roeperiopsis von der Section Capensia abstammt
oder mit dieser gleichen Ursprung hat. Die Reconstruetionen der Conti-
nente, welche uns bis jetzt die Geologen bei ihren Darstellungen der Ver-
breitung von Wasser und Land in der Kreide- und Tertiärperiode gegeben
haben, lassen nicht erkennen, dafs einstmals eine Landverbindung zwischen
Südafrika und Australien bestanden habe. Es ist aber sehr fraglich, ob
alle die ziemlich starken verwandtschaftlichen Beziehungen, welche zwischen
der Flora des südlichen Afrikas und derjenigen Australiens bestehen, sich
durch transoceanische Verbreitung von Samen und Früchten erklären lassen
werden. Im vorliegenden Fall jedoch ist die Möglichkeit gegeben, dafs
von Südafrika aus einmal schleimige Samen eines Zygophyllum nach Austra-
lien gelangt sind und dafs sich dann dort eine neue Gruppe mit einigen
Arten entwickelt hat. Es hat diese Hypothese um so mehr Wahrschein-
lichkeit, als sich in Australien auch 2 Arten von Pelargonium finden, einer
Gattung, die bekanntlich in Südafrika ganz aufserordentlich formenreich,
in Ostafrika mit einer geringeren Zahl von Arten auftritt. P. australe Willd.
ist in Australien von Neu-Süd-Wales über Victoria, Tasmanien und Süd-
Australien bis West-Australien verbreitet und steht sehr nahe dem ca-
pensischen P. anceps Ait., welches auch für eine Varietät des daselbst
vorkommenden P. grossularioides Ait. angesehen wird. Eine Varietät, ero-
dioides (Hook.) Benth., die von Neu-Süd-Wales bis Tasmanien und auch in
Neu-Seeland vorkommt, und eine auf Tristan d’Acunha wachsende Pflanze
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 21
(P. acugnaticum 'Thouars) sind nach Bentham (Flora Austral. I. 299) von
dem oben genannten P. anceps Ait. nicht zu trennen, so dafs also kaum
daran zu zweifeln ist, dafs das Auftreten von Pelargonium in Australien
auf transoceanischen Transport von Samen aus Südafrika zurückzuführen
ist. Die zweite australische Art, P. Rodneyanum Lindl., steht einer andern
capensischen Art, dem P. reniforme Curt., nahe; es würde also auch dieser
Fall für transoceanischen Transport und im neuen Land erfolgte Umwand-
lung sprechen.
Zygophylloideae - Tribuleae.
Die Tribuleae sind, wie aus dem Verbreitungskärtchen ersichtlich, die-
jenige Gruppe der Familie, welche die weiteste Verbreitung erlangt hat.
Allgemein bekannt ist die einjährige krautige Pilanze T. terrester L., welche
namentlich in den wärmeren Ländern der östlichen Hemisphaere zwischen
48° n.Br. und 40° s.Br. vorzugsweise auf trockenen und sandigen Plätzen,
vielfach auch auf brachliegendem Culturland häufig beobachtet wird und
diese weite Verbreitung den reich bestachelten, sowohl im Gefieder der
Vögel, wie auch im Pelz der Vierfüfsler und in den Umhüllungen der
Waarenballen leicht anhaftenden Früchten verdankt, deren zähe holzige
Fruchtwandung um die nährgewebslosen und dünnschaligen Samen eine
ausreichende Schutzhülle bildet. Ein wochenlanger Transport durch Vögel,
Landthiere und Schiffe kann der Keimfähigkeit der geschützten Samen
keinen Eintrag thun. T. terrester L. gehört zu den veränderlichsten Pflanzen
hinsichtlich der Behaarung, der Zahl und Gröfse der Blättehen, der Grölse
der Blumenblätter, der Bestachelung der Früchte, sowie der Zahl der Samen
in den Theilfrüchten. Es sind demzufolge von mehreren Autoren eine grolse
Anzahl unhaltbarer Arten aufgestellt worden, welche höchstens als Varietäten
und Subvarietäten unterschieden werden können. Im Allgemeinen wird
T. terrester L. in wärmeren Ländern und namentlich in den trockeneren Ge-
bieten der Tropen grofsblumiger: diese grofsblumige Pflanze mit Blumen-
blättern, welche 2-3 -mal so grofs sind als die Kelchblätter, ist von Linne als
T. cistoides beschrieben, von FE. von Mueller und Oliver zuerst als Varietät
der T. terrester hingestellt worden. . Demnach kann man zunächst unter-
scheiden T. terrester L. var. parviflorus, die gewöhnliche Pflanze des Medi-
terrangebietes und überhaupt der gemälsigten Zonen, welche übrigens auch
22 A. Ensoter:
noch mehrfach in den Tropen vorkommt, und T. terrester L. var. eistoides (1..)
Oliv. Zu var. paroiflorus Engl. sind als Subvarietäten zu rechnen: T. bimu-
eronatus Viv., ausgezeichnet durch am Rücken mehr abgerundete und häufig
nur zweidornige Theilfrüchte, von Aegypten bis Afghanistan, T. orientalis
Kerner mit 1-3-samigen, in der Mitte am Rücken fast gekielten Theil-
früchten, in Ungarn bei Budapest, T. /anuginosus 1. mit mehr oder weniger
diehter Behaarung der Blätter und der am Rücken etwas abgerundeten,
stumpf’höckerigen, meist nur 2-stacheligen 'Theilfrüchte, in Beludsehistan
und Vorderindien, bisweilen dureh etwas gröfsere Blumenblätter und Fieder-
blättehen auch an die var. eistoides (L.) Oliv. erinnernd. Innerhalb der var.
eistoides (1..) Oliv. sind hauptsächlich folgende Subvarietäten zu unterschei-
den: subvar, medius Engl., abstehend behaart und mit verkehrt-eiförmigen
Blumenblättern, die 2-2%-mal so lang sind als die Kelehblätter, von
Somaliland bis Deutseh-Ostafrika und auf Sansibar; subvar. Zeyheri (Sond.)
Sehinz, abstehend behaart und mit sehr grolsen verkehrt-eiförmigen Blumen-
blättern von der dreifachen Länge der Kelehblätter, in Südwestafrika und
Südafrika; subvar. oblongipetalus Engl., ziemlich kahl oder angedrückt be-
haart, mit grolsen länglich- verkehrt-eiförmigen Blumenblättern, besonders
häufig im tropischen Amerika, aber auch auf Madagascar, im tropischen
Asien und auf den Sandwieh-Inseln. Eng schliefst sieh dureh seine grofsen
Blätter an T. terrester L. var. Zeyheri (Sond.) Schinz T. Pechuelit OÖ. Ktze. aus
dem Hereroland an, bei dem nur noch bisweilen an den jungen 'Theil-
früchten Stacheln beobachtet werden, während in den meisten Fällen die
'Theilfrüchte weder Stacheln noch starke Höcker besitzen, sondern nur
schwach grubig sind; die früher von mir (Bot. Jahrb. X. 32) untersehie-
denen Arten T, inermis und ereetus gehen auch in T. Peehuelii auf. Ganz
besonders charakteristisch und wiehtig für diese Art sind aber die auf-
rechten und auch verholzenden Stengel. Dureh diese Eigenschaft wird
einigermalsen zu den beiden nachher zu bespreehenden in Afrika ende-
mischen Zygophylleen- Gattungen, Aelleronia und Sisyndite, bezüglich des
Wachsthums ein Übergang vermittelt. T. Pechuelüi O. Ktze. ist entsprechend
der Niehtentwiekelung von Stacheln, die als llaftorgane dienen könnten,
in seiner Verbreitung auf das Hereroland beschränkt. Eine ganz andere
Kruchtentwiekelung als bei den bisher betrachteten Arten von Tribulus
finden wir bei T. alatus Delile, T. pterophorus Presl., T. maeropterus Boiss.
und 7. pterocarpus Ehrenb., deren 'Theilfrüchte jederseits mit 2 Flügeln ver-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 23
sehen sind, die eine leichtere Verwehung derselben durch den Wind er-
möglichen. Sowohl bei dem in Aegypten, Arabien und Seinde verbreiteten
T. alatus Delile, wie bei dem im nordwestlichen Capland vorkommenden
T. pterophorus Presl. (inel. T. eristatus Presl.) sehen wir an den Theilfrüchten
jederseits an Stelle der pfriemenförmigen Stacheln breite, steife, deutlich-
gezähnte Flügel, die nieht blofs für die Windverbreitung von Bedeutung
sind, sondern auch mitunter das Anhängen am Pelz von Vierfüfslern oder
im Gefieder von Vögeln gestatten. Bei T. macropterus Boiss. hingegen sind
die Theilfrüchte fast noch breiter als bei T. alatus Del. geflügelt und mit
mehreren Zähnen versehen; diese Art hat sich von Oberaegypten durch
Arabien bis nach Persien verbreitet. Bei T. pterocarpus Ehrenb. endlich,
welche in Nubien von Dongola ostwärts bis gegen Suakin vorkommt, finden
wir breite, dünne, fast halbkreisförmige Flügel, die am Rande nur schwach
gezähnt oder gewellt sind. Alle diese Arten besitzen auch diehte graue Be-
haarung, die sie als Bewohner des trockenen Wüstenbodens kennzeichnet.
Die jungen Fruchtknoten von Tribulus sind mit steifen, aufwärts ge-
richteten Haaren besetzt, welche bei vielen Arten später ganz abfallen;
bei 3 anderen afrikanischen Gattungen der Tribuleae, bei Kelleronia Sehinz,
‚Neotlüderitzia Schinz und Sisyndite E. Mey. machen sich diese Fruchtknoten-
haare ganz besonders bemerkbar.
Bei Kelleronia Sehinz (in Bull. Herb. Boissier III. 400, t. IX) sind zu
der Zeit, wo die Antheren noch nicht ausgestäubt haben, die Fruchtknoten-
haare noch ziemlich kurz, nur 4-4 so lang wie die Staubfäden; wenn
aber die Antheren sich öffnen, dann haben diese Haare die Länge der
Staubfäden und ein Theil des entleerten Pollens liegt den Spitzen der
Haare auf. Während bei Tribulus während der Fruchtreife die die Haare
tragenden Hlöckerchen des Pericarps sich vergröfsern, bleiben bei Aelleronia
diese im Wachsthum mehr zurück, die von ihnen getragenen Haare ver-
längern sich aber dafür um so mehr. Bei der vollständigen Reife werden
jedoch die Haare ganz abgestolsen und die nunmehr 9-10"" im Durch-
messer haltende 5-lappige Frucht besteht aus 5 Theilfrüchten, die ebenso
wie die gewöhnlichen Formen des Tribulus terrester mit 2-4 einsamigen
Querfächern versehen sind. Die nahe Verwandtschaft mit Tribuhıs ist nun
recht in die Augen springend; aber auch sonst ist dieselbe nicht zu ver-
kennen, obwohl X. splendens Schinz ein ansehnlicher, über ı" hoher, mit
aufrechter, in der Jugend längsfurehiger, im Alter mit mehrschichtiger
24 A. EnGLER:
subepidermal entstehender Korklage versehener Strauch ist, und die 3-4-
paarigen, mit 1-2 angen und 6-12""” breiten Blättehen versehenen
Blätter meist abwechselnd stehen. Hier und da sind die Blätter auch
em 1 nm
„en
gegenständig, wie bei Tribulus, und die Blüthen mit etwa 3°" langen hell-
gelben Blumenblättern erinnern stark an die grofsen Blüthen von Tribulus
Pechuelüi ©. Ktze. Kelleronia splendens wächst im inneren Somalilande an
krautreichen Plätzen der inneren Plateaulandschaften, bei Abdallah (C. Keller),
am Gananeflufs bei Malkao und Nogal: sie ist offenbar auch ein Xerophyt,
aber ein Xerophyt offener Buschgehölze und die einzige strauchige Zygo-
phyllacee der alten Welt, welche in der Gröfse ihrer Blättehen an die mit
gröfseren Blattflächen versehenen Formen der neuen Welt, an die Bulnesia-
Arten und beinahe auch an Guajacum sanctum herankommt.
Während Xelleronia durch ihre quergefächerten Carpelle der Gattung
Tribulus noch sehr nahe steht, weichen Neoluederitzia Schinz (in Bull. Herb.
Boiss. II. 191, t. I) und Sisyndite E. Mey., die im Namaland endemisch sind,
durch ihre einfächerigen einsamigen, bei der Reife an der Bauchnaht auf-
springenden Carpelle von den bisher genannten Gattungen der Tribuleae
und auch von Kallstroemia Scop. ab. Man kann die anderen Gattungen
als Tribulinae und diese beiden als Neohuederitziinae bezeichnen. Sehinz hält
es bei dem dürftigen und unvollkommenen Material, welches jetzt von
Neoluederitzia vorliegt, für schwierig, derselben eine Stellung im System an-
zuweisen und glaubt, dafs einzelne Verhältnisse auf die Chitonioideae- Seri-
codeae hinweisen; es besteht aber jetzt für mich auch nicht der geringste
Zweifel daran, dafs die Pflanze die nächste Verwandte von Sisyndite und
eine Tribulee ist. Neohuederitzia ist ein über mannshoher Strauch vom Fisch-
flufs in Grofs-Namaland und besitzt wie XKelleronia eine gelbe Korkschicht
und abwechselnd stehende, 3-4-paarige Fiederblätter; aber dieselben sind
hier meist noch mit einem unpaarigen Endblättchen versehen, wie es bei
den centralamerikanischen Chitonieae die Regel ist; jedoch darf darauf für
die systematische Stellung nicht allzuviel Werth gelegt werden, da es wahr-
scheinlich ist, dafs das ursprüngliche Zygophyllaceenblatt unpaarig gefiedert
gewesen ist. Wichtig ist die Haarbekleidung des heranwachsenden Frucht-
knotens, welche sich genau so verhält wie bei Kelleronia. Was aber die
vor den Kelehblättern stehenden 3”” langen zungenförmigen, am Grunde
zusammenhängenden Schuppen betrifft, so können diese einerseits den 5
birnförmigen Discuseffigurationen bei Kelleronia und den 5 vor den Kelch-
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 25
blättern stehenden 3-spaltigen Schüppchen von Sisyndite entsprechen, oder
aber Ligularschuppen verkümmerter Staubblätter sein. Beide Deutungen,
von denen jetzt keine mit absoluter Sicherheit gegeben werden kann,
sprechen nicht gegen die Zugehörigkeit von Neoluederitzia zu den Tri-
buleae.
Was nun die Gattung Sisyndite E. Mey. betrifft, so gewährt diese inner-
halb der Familie durch ihren spartiumartigen Habitus, wegen dessen die ein-
zige bekannte Species 8. spartea E. Mey. genannt wurde, einen recht fremd-
artigen Anblick, und die Verwandtschaft mit Tribuluıs scheint zunächst nicht
einleuchtend. Die graugrünen Zweige streben unter spitzem Winkel nach
oben, und erst bei genauer Betrachtung erkennt man, dafs nicht kleine, auf
ein geringes Mafs redueirte, sondern sogar ziemlich hoch entwickelte Blätter
vorhanden sind. Es sind Fiederblätter da wie bei Tribuhıs, und zwar haben
dieselben eine bedeutende Länge, bis zu 1""; aber von dem Blatt ist vorzugs-
weise die stielrunde stengelähnliche Rhachis entwickelt, an welcher Paare
sehr kleiner Blättehen in grofser Entfernung von einander stehen. Die Blü-
then erinnern an die von Äelleronia, und zur Zeit der Fruchtentwiekelung ist
der Fruchtknoten von langen Haaren dicht bedeckt, wie bei Neolaederitzia;
die Frucht besteht wie bei dieser Gattung aus 5 an ihrer Bauchnaht sich öff-
nenden einsamigen Theilfrüchten. Es sei hier darauf hingewiesen, dafs auf
der westlichen Hemisphaere in den trockenen Gebieten Argentiniens eine
Zygophyllacee von etwas ähnlichem Habitus wie Sisyndite spartea zur Ent-
wickelung gekommen ist; es ist dies Bulnesia Retama (Gill. et Hook) Griseh.
Es bleibt nun noch die Gattung Kallstroemia Scop. übrig, welche der
Gattung Tribulus näher steht, als alle anderen bisher angeführten und auch
von vielen Autoren mit der letzteren vereinigt wird. Da aber hier, soweit
ich eonstatiren konnte', die Theilfrüchte, wenn sie reif abfallen, ein Mittel-
säulchen mit dem ganzen Griffel zurücklassen, so halte ich es für zweck-
mälsig, die Trennung beider Gattungen aufrecht zu erhalten. Da ich nicht
alle australischen Arten und namentlich nicht im Fruchtzustande gesehen
habe, da ferner die vorhandenen Beschreibungen der australischen Arten
recht kümmerliche sind, namentlich nicht das für die Gattung entscheidende
Verhalten des Griffels bei der Fruchtreife berücksichtigen, so vermag ich
vorläufig nicht zu entscheiden, ob aufser dem Tribulus terrester auch noch
‘ Von den australischen Arten der Gattung habe ich leider nur 3 zu sehen bekommen.
Phys. Abh. 1896. II, 4
26 A. EnsteEr:
andere der bisher als Tribrelus angesehenen Zygophyllaceen Australiens dahin
oder zu Aallstroemia gehören. T. ranuneuliflorus F. Muell., T. hystrix R. Br.,
T, maerocarpus F. Muell., T, astrocarpus F. Muell. dürften vielleicht noch echte
Tribulus sein, zumal die erste Art, bei weleher auch noch 2-samige gefächerte
rüchte vorkommen. Auch bei den beiden strauehigen Arten T. platypterus
Benth. und T. Airsutus Benth., welehe ich in meiner Bearbeitung der Zygophyl-
Jaceae in eine Seetion von Kallstroemia, Thamnozygium vereinigt habe, konnte
ich über das Verhalten bei der Fruchtreife keinen Aufschlufs erhalten. Da-
gegen stimmen T. pentandrus Benth., T. bieolor F. Muell., T. Solandri F. Muell.,
T. minutus Leiehhardt mit den amerikanischen Kallstroemia bezüglich des
(riffels überein, und es sind daher diese Arten ganz sicher als Kallstroemia
zu bezeichnen. Es ist wahrscheinlich, dafs in Australien die Abzweigung
der Kallstroemia von Tribulus aufgetreten ist, da T. rammeuliflorus F. Muell.
oder Kallstroemia ranumeuliflora (F. Muell.) mitunter noch quergefächerte Theil-
früchte erzeugt, bei den amerikanischen Arten aber solche nie beobachtet
werden. Von den beiden amerikanischen Kallstroemia, welche meistens ein
10-carpelläres Gynäceum besitzen, ist A. triübwloides (Mart.) Wight et Arn.
auf das andine Argentinien und Brasilien beschränkt, während die andere,
(dureh kleinere Blüthen ausgezeichnete A. maxima (1..) Torr. et Gray von den
bolivianischen Anden nordwärts durch Centralamerika und Westindien bis
in die südlichen vereinigten Staaten verbreitet ist. Da die Theilfrüchte von
Kallstroemia sieh ziemlich ähnlich, wie die Theilfrüchte einer Malva verhalten,
so ist wahrscheinlich, dafs ihre Verbreitung in ähnlicher Weise leicht erfolgt
wie die von Malva rotundifolia I. und ihren Verwandten. Bei der ausge-
(lehnten Verbreitung der Tribuleae mufs man über ihr Entstehungsgebiet auch
im Zweifel sein; aber es giebt doch einige Anhaltspunkte dafür, die es uns
wahrscheinlich erscheinen lassen, «dals dasselbe in Afrika gelegen sei. In
ganz Kuropa und Asien, wo Tröbulus terrester sich in allen wärmeren Steppen-
gebieten verbreitet hat, ist keine ausgesprochen endemische Form vorhanden,
(dagegen finden wir in Nordafrika den gewöhnlichen T. terrester L. und die
ihm zunächst stehenden Varietäten Zeyheri und eistoides, welche letztere in
den wärmeren Ländern, auch in Australien und Amerika, sich Terrain erobert
hat, dank der für die Verbreitung vortheilhaften Stachelentwickelung an den
Früchten; wir finden dann ferner sowohl im Nilgebiet und seinen Nachbar-
gebieten, wie in Südwestafrika, andere ausgezeichnete Arten von Tribulus,
sodann im Somaliland die endemische Gattung Xelleronia, in Südostafrika
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 27
die Gattungen Sisyndite und Neoluederitzia, die letzteren beiden mit so anderer
Fruchtentwickelung als bei Tribulus und Kelleronia, dals für sie eine schon
frühzeitige Absonderung vom Tribulus-Typus angenommen werden mufs. Was
nun das Vorkommen von Tribulus in Australien betrifft, so liegt darin nichts
Auffälliges, da die Verbreitung dorthin sowohl von Asien her, wie von Afrika
aus, erfolgen konnte. Wie schon oben angedeutet wurde, ist dann wahr-
scheinlich in Nordaustralien die Gattung KAallstroemia entstanden, welche
nieht blofs in Australien sich weiter ausbreitete, sondern auch nach Süd-
amerika gelangte, wo 2 Arten sich ein weites Gebiet eroberten.
Es bleiben nun noch einige von den Zygophylloideae mehr oder weniger
erheblich abweichende Unterfamilien übrig, die zum Theil monotypisch sind.
Chitonioideae.
Die Chitonioideae mit den Gattungen Chitonia Moe. et Sesse., Viscainoa
Greene und Sericodes A.Gray weichen von dem gewöhnlichen Zygophyllaceen-
Typus dadurch ab, dafs die Blätter abwechselnd und entweder länglich un-
getheilt (Viscainoa, Sericodes) oder unpaarig gefiedert (Chitonia) sind. An die
Zygophyllaceae werden wir aber durch die scheidewandspaltigen Kapseln
aller 3 Arten und dadurch erinnert. dafs bei Sericodes die Kelchstaubblätter
mit tief 2-spaltigem Anhängsel versehen sind. Bei allen 3 Gattungen be-
sitzen die Samen Nährgewebe: es nähert sich diese Unterfamilie dadureh
den Zygophylloideae- Zygophylleae; aber jedenfalls stellt sie einen ganz selb-
ständigen centralamerikanischen Zweig der Familie dar, wie etwa bei den
Rutaceen die tropisch amerikanischen Dietyolomoideae und Spathelioideae.
Peganoideae.
Die bekannte Gattung Peganum L. weicht von den echten Zygophylloi-
deae sehr erheblich ab, so dafs viele Autoren sie zu den Rutaceen neben
Ruta gestellt haben. Jedoch ist auch zu keiner Gattung dieser Familie
eine engere Verwandtschaft nachzuweisen, selbst dann nicht, wenn man
auf das bei den Rutaceen nun allgemein als wesentlich anerkannte Merkmal
(ler Iysigenen Drüsen, die eben bei Peganum fehlen, weniger Werth legen
wollte. Die unregelmäfsig zerschlitzten Blätter besitzen am Grunde kleine
4*
28 A. EngLer:
borstenähnliche Stipem und zeigen nur dadurch eine kleine Übereinstim-
mung mit den Blättern der Zygophylloideae. Dafls die Staubblätter keine
Anhängsel besitzen, ist nicht so wichtig, da solche auch mehrfach bei
Zygophyllum fehlen; auffallender ist, dafs nicht selten 15 Staubblätter an-
statt 10 vorkommen, jedoch begegnet uns dieses Verhalten auch wieder
bei Nitraria. Ganz besonders abweichend von dem Verhalten der übrigen
Zuygophyllaceae ist aber der Umstand, dafs in dem Fruchtknoten an den
Placenten zahlreiche Samenanlagen mit sehr kurzem Funiculus ansitzen und
radienförmig ausstrahlen, während sonst die Samenanlagen an längerem Funi-
culus von der centralwinkelständigen Placenta herunterhängen. Dagegen
erinnern die langen, am Griffel herunterlaufenden Narbenleisten entfernt an
die Narben der Tribuleae. Aus alledem geht hervor, dafs Peganum inner-
halb der Zygophyllaceen eine isolirte Stellung einnimmt und in derselben
nur als Repraesentant einer eigenen Unterfamilie, der Peganoideae, geführt
werden kann. Von den 4 Arten der Gattung besitzt die weiteste Verbrei-
tung das bekannte Peganum Harmala L., von Marokko bis nach dem nord-
westlichen Indien und der Songarei, nordwärts bis Budapest und Sarepta,
wobei jedoch zu beachten ist, dafs erst von den östlichen Theilen der
Balkanhalbinsel bis nach der Songarei ein geschlosseneres Areal vorhanden
ist, während weiter westlich die Pflanze nur an sehr entfernten Localitäten
vorkommt, im südöstlichen Steppengebiet Spaniens, in Unteritalien bei Po-
tenza und bei Budapest. Im östlichen Asien, in der östlichen und süd-
lichen Mongolei tritt dann das mit P. Harmala L. sehr nahe verwandte
P. Nigellastrum Bunge auf und im nördlichen Mexiko das mit der chine-
sisch-mongolischen Art sehr nahe verwandte P. mewicanum A.Gray. Diese
disjunete Verbreitung dreier einander nahe stehenden Arten entspricht der
Verbreitung von Pistacia und von Cereis und ist wahrscheinlich darauf zurück-
zuführen, dafs in früheren Perioden die Gattung Peganum weiter nördlich
verbreitet war und bei der Wanderung nach Süden sich in den drei ge-
nannten Steppengebieten erhielt. P. erithmifolium Eichwald, vorzugsweise
ausgezeichnet durch 2-fächerige Beerenfrüchte, ist eine auf das östliche
Gestade des Kaspischen Meeres beschränkte Art, die Fischer und Meyer
zur Aufstellung der Gattung Malacocarpus Veranlassung gab, aber natur-
gemäls nur eine Seetion bilden kann; sie ist offenbar unter dem Eintluls
eines sehr salzreichen Bodens und wahrscheinlich erst in jüngerer Zeit
entstanden.
Die geogr. Verbreit. d. Zygoplnyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 2%
Tetradiclidoideae.
Eine andere, von Bentham und Hooker (Genera pl. I. 288) zu den
Rutaceen, aber schon von Ehrenberg (Linnaea IV. 403) mit Recht zu
den Zygophyllaceen, später von Bunge (Linnaea XIV. 177) zu den Crassu-
laceen gestellte Gattung ist Tetradielis Stev., ein höchst eigenartiges ein-
jähriges, suceulentes Pflänzchen, unten mit gegenständigen, weiter oben
mit abwechselnden Stengelblättern, von denen die unteren fiedersehnittig,
die oberen fiederschnittig oder zerschlitzt sind, und mit sehr zahlreichen,
kleinen, in Wiekeln stehenden haplostemonen, vollkommen isomeren Blüthen,
deren tief gelapptes Gynäceum sich bei der Fruchtreife in höchst eigen-
artiger Weise verhält, anderseits aber doch auch an andere Zygophyllaceen
erinnert. Der centrale Griffel entspringt am Grunde der Carpelle, wie es
bei Simarubaceen häufiger vorkommt, und besitzt am Ende 3-4 linealische
herunterlaufende Narben, wie bei den Tribuleae. Die Samenanlagen sind
länglich und mit langem Funieulus versehen, sind aber in jedem Carpell
an eine frei aufsteigende Placenta befestigt; zu dieser Eigenthümlichkeit
kommt noch die andere, dafs jedes Carpell durch Ausbuchtung der Seiten-
wände in 3 communieirende Kammern getheilt wird und dafs die mittlere
Kammer die frei aufsteigende Placenta mit 4 Samenanlagen, jede seitliche
Kammer nur ı Samenanlage einschliefst. So complieirt dieses Verhalten
ist, so erinnert es doch an die bei Tribulus und Kelleronia vorkommende
Querfächerung der Carpelle.. Bei der Reife springt jedes Carpell nach
innen fachspaltig auf, und zugleich löst sich das Epicarp von den Scheide-
wänden ab, welche sich erst später spalten. So werden nun die beiden
Epicarptheile jedes Carpells, welche je einen Samen einschliefsen, frei und
herausgeworfen, während die 4 (durch Abort bisweilen weniger) Samen
des Mittelfaches zunächst an der aufsteigenden Placenta hängen bleiben,
dann aber von derselben abfallen. Die Samen der Seitenkammern sind
nun jeder von einer Endocarphälfte eines Faches eingeschlossen, der auf der
convexen Seite noch Reste des Mesocarpes anhängen, sie sind demzufolge
mit einer Hülle versehen, die dem Wind eine genügende Angriffsfläche
darbietet und die Verbreitung eines Theiles der produeirten Samen durch
den Wind ermöglicht, während die im Mittelfach entwickelten und dann
herausfallenden Samen meist am Platze der Mutterpflanze bleiben. Das
interessante Pflänzchen wächst herdenweise auf im Frühjahr feuchtem
30 A. EneLEr:
Bittersalzboden der Wüsten und Steppen Unteraegyptens, Vorderasiens und
Centralasiens; wie aus unserem Kärtchen zu ersehen, sind die jetzt be-
kannten Fundstätten ziemlich getrennt; aber die Pflanze, welche in einem
Monat ihre ganze Entwickelung von der Keimung bis zur Samenreife be-
endet, dürfte auch noch an mancher anderen Stelle zwischen den bekannten
Fundstätten existiren. Eine Ähnlichkeit mit den Zygophylloideae tritt na-
mentlich bei den mit langem Funieulus versehenen Samenanlagen und bei
der Keimung hervor, wo die ersten Blätter noch gegenständig sind. Durch
den complieirten Bau des Gynäceums erscheint Tetradielis morphologisch
mehr vorgeschritten gegenüber Zygophyllum; an eine direete Abstammung
vom Zygophyllum-Typus, wie etwa bei Augea, ist aber nicht zu denken,
denn einmal ist die Haplostemonie der Blüthe sehr auffällig und dann be-
sitzt die Samenschale keine krystallführende Zellschicht, wie sie bei den
altweltlichen Zygophylleae vegelmäfsig vorkommt; auch ist die Samenepi-
dermis anders beschaffen, als bei Fagonia und Zygophyllum, indem dieselbe
hier aus papillenartigen, bienenkorbähnlichen, in eine kurze Spitze endenden
und nur wenig verschleimenden Zellen gebildet ist, so dafs nicht an
eine direete Abstammung von Zygophyllum, sondern an eine solche von
einem älteren ausgestorbenen Zygophylleen-Typus zu denken ist, bei welchem
auch in den Carpellen mehrere Samenanlagen eingeschlossen waren. Dals
Tetradielis auch im Süden des tertiären Mittelmeeres entstanden ist, ist wolıl
kaum zu bezweifeln.
Nitrarioideae.
Während bei den bisher besprochenen Gruppen das Gynäceum und
die Frucht mehr oder weniger gelappt ist, finden wir bei den beiden letzten
monotypischen Gruppen, den Nitrarioideae und Balanitoideae ein vollkom-
men syncarpes ungelapptes Gynäceum und Steinfrüchte. Bei den Nitrari-
oideae mit der Gattung Nitraria L. treten die augenfälligen habituellen Zygo-
phyllaceenmerkmale nur sehr schwach hervor. Die dünnen holzigen Zweige
erinnern durch ihre dünne graue Rinde an die Zweige von Zygophyllum Seect.
Sarcozygium und Halimiphyllum; aber die Blätter stehen in Kurztrieben,
welche auf theils verdornenden, theils in einen Blüthenstand endigenden
Langtrieben spiralig angeordnet sind; an den Kurztrieben stehen 2-3 keil-
förmige ungestielte Blätter in einem Büschel, und jedes der Blätter ist mit
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 31
2 kleinen Nebenblättern versehen: es erinnern also die einzelnen Blätter
etwas an die Blätter des Zygophyllum atriplieoides Fisch. et Mey. In den
Blüthen ist, wie schon oben bei Peganum hervorgehoben wurde, das Andrö-
ceum häufig aus einem 10- und einem 5-gliedrigen Kreise gebildet. Der
synearpe längliche Fruchtknoten geht allmählich in einen kegelförmigen
Griffel über, der mit 3 herunterlaufenden Narben versehen ist, wie wir sie
bei den Tribuleae fanden. Auch die sehr längliche und an fadenförmigem
Funieulus hängende Samenanlage ist denen der meisten Zygophyllaceen nicht
unähnlich. Während wir aber bei allen anderen Zygophyllaceen eine gleich-
mälsige Samenentwickelung in allen Fächern eines Gynäceums wahrnahmen,
kommt in jeder Frucht von Nitraria nur ein einziger Same zur Reife. Die
Fruchtwandung sondert sich in ein steinhartes, unten grubiges Endocarp,
ein dünnfleischiges Mesocarp und ein dünnes gelbes oder rothes Epicarp.
Nach den Angaben von Maximowiez (Enumeratio plantarum hucusque in
Mongolia nee non adjacente parte Turkestaniae sinensis leetarum, Fase. 1.
(1889) p.ı22) sind bei der asiatischen N. Schoberi L. Gröfse, Gestalt und
Farbe der Frucht sehr veränderlich; im Allgemeinen hat die in den kas-
pischen Steppen vorkommende Pflanze (var. caspia Pall.) länger zugespitzte
Früchte, die songarische und westmongolische weniger zugespitzte, die bai-
kalische und ostmongolische (var. sibirica Pall.) kleinere eiförmige schwarze
oder bläuliche und wenig zugespitzte Früchte; auch soll die kleinfrüchtige
ostmongolische Pflanze nur 1-2 Fufs hoch, die grofsfrüchtige westliche
bis 5 Fufs, die südliche bis S Fufs hoch werden; doch kann die klein-
früchtige Pflanze je nach dem Boden auch kräftiger werden. Auch hat
Maximowicz von Ordos am Hoang-ho eine grofse Anzahl verschiedener
Früchte von Nitraria Schoberi erhalten, unter denen er 3 Formen zu unter-
scheiden vermochte, eine zur var. caspia gehörige lange mit reichlichem
Fruchtfleisch, und 7 kleinfrüchtige schwarze, zur var. sibirica gehörige, davon
die eine mit wenig, die andere mit reichlichem Fruchtfleisch. Von den
Chinesen sollen jedoch, wahrscheinlich nach dem Geschmack der Früchte,
noch mehr Varietäten unterschieden werden. Aus alledem geht hervor, dafs
N. Schoberi sich im Stadium einer reichen Formenbildung befindet. Auch
kommen nach Maximowiez (Flora tangutica p. 102) Formen mit Blüthen
vor, welche zur Eingeschlechtlichkeit neigen. Bei der geringen Anzahl
saftiger Früchte in den Wüsten- und Steppengebieten Centralasiens ist es
nicht zu verwundern, dafs Menschen, Quadrupeden und Vögel den salzig-
32 A. EnGLER:
süfslich, bisweilen auch angenehm süfs schmeekenden Früchten der N. Schoberi
nachstellen; nach den Angaben von Przewalski (in Maximowiez, Flora
tangutica p.102) sollen sogar alljährlich im Herbst die Bären von Tibet
nach Tsaidam kommen und sich an Nitraria-Früchten deleetiren. Alles dies
erklärt leicht die grofse Verbreitung der Nitraria Schoberi in den Steppen
und Wüsten Asiens. Da aber centralasiatische Zugvögel im Winter bis nach
Australien vordringen und der in dem Endocarp eingeschlossene Same hin-
länglich geschützt ist, so erklärt sich die eigenthümliche Thatsache, dafs
N. Schoberi L. auch im südlichen und westlichen Australien vorkommt; es
wurde diese australische Pflanze, welche ebenfalls mit gelben, rothen und
dunkelbraunrothen Früchten varürt, früher als eigene Species N. Labillardieri
DC. angesehen; aber gegenwärtig kann die australische Pflanze nicht einmal
als Varietät von der asiatischen abgetrennt werden. Hingegen hat Maxi-
mowiez (Enum. plant. hucusque in Mongolia ete. p.ı22) eine im südlichen
Theil der Wüste Gobi und südlich von Hami vorkommende Pflanze N. sphae-
rocarpa Maxim. der N. Schoberi L. als Species gegenübergestellt, weil die
Steinfrüchte kugelig sind und einen mit tiefen Löchern versehenen Steinkern
besitzen. Den beiden genannten und nahe verwandten Arten steht eine
dritte, N. retusa (Forsk.) Aschers. gegenüber, welche in den Salzwüsten Palae-
stinas, Nordarabiens, Algiers und Senegambiens bis 2" hohe, dichte Büsche
bildet. Es ist diese Art von N. Schoberi L. durchaus verschieden durch die
breiteren, keilförmigen, bisweilen gestielten Blätter und die häufig abfallen-
den Nebenblätter; ihre Früchte werden ebenso wie die der centralasiatischen
Art gewonnen, und das zerstreute Vorkommen der Pflanze in den Wüsten
des eisaequatorialen Afrikas weist auch auf eine Verbreitung durch Vögel
und andere Thiere hin; offenbar besitzt aber diese Art ein gröfseres Wärme-
bedürfnifs als N. Schoberi ‚ da sie sich nicht weiter nach Asien verbreitet hat.
Da N. retusa von Senegambien bis Syrien verbreitet ist und sehr bald östlich -
von diesem Areal das Gebiet der N. Schoberi anschliefst, letztere auch vor-
zugsweise auf jungem Land vorkommt, das in der Tertiärperiode vom Meer
bedeckt war, so ist auch für die Gattung Nitraria mit ziemlicher Wahr-
scheinliehkeit anzunehmen, dafs sie im nordöstlichen Afrika entstanden ist.
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 33
Balanitoideae.
Die Gattung Balanites Delile, welche auf Ximenia aegyptiaca L. gegründet
wurde und nur eine von Afrika bis Ostindien und Burma verbreitete Art,
B. aegyptiaca (L.) Delile, umfafst, wurde von de Candolle 1324 im ersten
Bande des Prodromus (p.708) ganz richtig zu den Zygophyllaceen gestellt,
von Endlicher (Gen. pl. 1043 n. 5498) als eine den Olacaceen nahe ste-
hende Gattung bezeichnet, von Planchon (Ann. sc. nat. 4. ser. II. 249)
zu den Meliaceen gestellt, von Bentham und Hooker (Gen. I. 315) zu
den Simarubaceen gebracht. Letztere Autoren geben an: »Folia bijuga,
epunctata, stigmata simplieia et flores hermaphroditi Zygophylleis accedunt,
a quibus Balanites differt foliis alternis, staminibus esquamatis, ovulis soli-
tariis fructuque drupaceo«. Nun kommen aber abwechselnde Blätter, wie
wir sehen, mehrfach bei den Zygophyllaceen vor, bei einzelnen Tribuleae,
bei den Chitonioideae, Peganoideae und Nitrarioideae; ferner sind Staubblätter
ohne Anhängsel auch nicht selten, selbst innerhalb der Gattung Zygophyllum,
endlich kommen einzelne Samenanlagen in den Fächern der Frucht mehr-
fach vor, bei mehreren Zygophyllum, bei Kallstroemia, Sisyndite, Neoluederitzia,
Sericodes, Nitraria. Dafs von den ursprünglich vorhandenen Samenanlagen
nur eine zu Samen wird, ist ebenfalls bei Nitraria der Fall. Also können
diese Merkmale von Balanites keinen Grund bieten, die Gattung von den
Zygophyllaceen auszuschliefsen; auffallend könnte nur der dicke, ringförmige,
die Basis des Fruchtknotens umgebende Discus sein. Endlich ist auch noch
zu berücksichtigen, dafs an jungen Zweigen zu beiden Seiten der Blattstiele
kleine, sehr bald abfallende Nebenblätter vorhanden sind. Es ist also Bala-
nites zweifellos eine Zygophyllacee, aber ebenso wie Nitraria ohne engeren
Anschlufs an irgend eine andere Gattung. Die Fruchtentwickelung findet
in ähnlicher Weise wie bei Nitraria statt; aber es kommt hier zur Aus-
bildung einer recht grofsen (3-4°" langen) gelblichen Steinfrucht mit flei-
schigem, öligem Sarcocarp und sehr dickem, schwach 5-kantigem, knochen-
hartem, ı-fächerigem Steinkern. Wie bei Nitraria, ist auch hier der Same
ohne Nährgewebe. Die Verbreitung der Früchte erfolgt wohl weniger durch
Vögel als durch Vierfüfsler und Menschen; letztere genielsen in Afrika
vielfach die süfsen Früchte, auch wird aus ihnen von den Negern Liqueur
bereitet. Auf unserem Verbreitungskärtchen erscheinen die bekannten Fund-
orte von einander sehr entfernt, aber es ist wohl anzunehmen, dafs Bala-
Phys. Abh. 1896. II. 5
34 A. Enster:
nites in Nordafrika noch häufiger vorkommt und ebenso in Arabien. Die
ostindische Pflanze, welche sich durch behaarte Blumenblätter auszeichnet,
hat Planchon als eigene Art B. Roxburghiü beschrieben; aber sie kann
wegen dieses geringfügigen Merkmals doch nur als Varietät angesehen werden.
Auch für Balanites ist ebenso wie für Nitraria das nordöstliche Afrika als
Heimat anzunehmen.
Unter Berücksichtigung der in dieser Abhandlung hervorgehobenen
morphologischen und geographischen Thatsachen dürfte das phylogenetisch-
systematische System am besten folgendermafsen zum Ausdruck kommen.
A. Frucht fach- oder scheidewandspaltige, oder zugleich fach- und scheidewandspaltig sich
öffnende Kapsel, oder in 1—mehrsamige geschlossene Theilfrüchte (Coccen) zerfallend,
selten beerenartig.
a, Blätter alle abwechselnd, vielspaltig. Frucht kugelig, mit mehrsamigen Fächern, fach-
spaltige Kapsel oder beerenartig . » » » cv... | Peganoideae
ı,. Peganum 1.
b. Blätter alle abwechselnd, einfach oder unpaarig gefiedert 11. OAdtonioideae
a, Blätter entlernt stehend. Frucht eine scheidewand-
spaltige Kapsel”. und 1. Chitonieae
2. Chitonia Mog. et Sesse, 3. Sericodes A.Gray.
ß. Blätter in Kurztrieben. Frucht in einsamige 'Theil-
tniichte, zeriallende. nn 2. Sericodeae
4. Sericodes A. Gray.
e. Die untersten Blätter gegenständig, die oberen wechselstän-
dig. Blüthen haplostemon. Jedes Fach des tief 3—4-lap-
pigen Fruchtknotens durch Ausbuchtung der Seitenwände
mit 3 kleinen communieirenden Kammern, mit einer keulen-
förmigen, in der mittleren Kammer aufsteigenden Placenta,
von welcher je 4 Samenanlagen in die mittlere Kammer,
je ı in die seitliche Kammer herabhängen. Nährgewebe
ziemlich dünnwandig. » 2 2 2 2 2220202. . 1. Teiradiclidoideae
5. Tetradiclis Stev.
d. Blätter alle gegenständig oder bisweilen oberwärts am
Stengel wechselständig, einfach oder gedreit oder (meist
paarig) gefiedert nn... 1V. Zygophylloideae
a. Samen mit Nährgewebe, dasselbe diekwandig, nur
bei Seetzenia schwach entwickelt . : x x 2 0. 1. Zygophylleae
l. Kräuter oder niedrige Sträucher mit gedreiten,
oder in Folge von Verkümmerung der Seiten-
blättchen nur ein Blättchen tragenden Blättern . ra Fayoniinae
6. Fagonia lourn., 7. Seetzenia R. Br.
Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 35
II. Kräuter oder Sträucher mit ungetheilten oder
paarig gefiederten Blättern Reh, ıb Zygophyllinae
8. Zygophyllum L., 9. Miltianthus Bunge,
10. Augea Vhunb., ı 1. Guajacum L., ı2. Por-
lieria Ruiz et Pav., 13. Pintoa Gay, 14. Bul-
nesia Gay, 15. Plectrocarpa Gillies, 16. Larrea
Cav., 17. Metharme Phil.
ß. Samen ohne Nährgewebe, Blätter bisweilen wechsel-
n
nen u nd . Tribuleae
I. 5 Theilfrüchte, vom Mittelsäulchen sich ablösend,
ı-samig, an der Bauchnaht aufspringend . . 2a Neoluederitziinae
18. Neoluederitzia Schinz, 19. Sisyndite E. Mey.
Il. 5 oder ro’T'heilfrüchte, 1-mehrsamig, geschlossen 2b Tribulinae
20. Kelleronia Schinz, 21. Tribulus Tourn.,
22. Kallstroemia Scop.
B. Frucht steinfruchtartig, mit harten einsamigen Steinkernen.
Blätter abwechselnd. Sträucher.
a. Blätter ı-paarig . .
ie oh V., Balanitoideae
23. Balanites Delile.
b.- Blätter ungetheilt . . . 2 2 2.2. 20202020202. VI Nötrarioideae
24. Nitraria L.
Ihrer Stellung nach noch durchaus zweifelhaft: Tetraena Maxim.
Durch diese Art der Anordnung werden die von den typischen Zygo-
phyllaceen am meisten abstehenden Gruppen an den Anfang gestellt; die
typischen Gruppen kommen in die Mitte, und am Ende haben die beiden
Gruppen ihren Platz gefunden, welche zwar unzweifelhaft auch den Zygo-
phyllaceen zugehören, aber innerhalb der Familie etwas isolirt stehen.
Die genaue Verfolgung der Verbreitung der einzelnen Gruppen der
Zygophyllaceen hat also im Wesentlichen zu dem Resultat geführt, dals für
die altweltlichen Zygophylloideae (Zygophylleae- Fagoniinae und Zygophyllinae
zum Theil), für die Tribwleae und Augeeae, desgleichen für die Tetradiclidoi-
deae, Nitrarioideae und Balanitoideae das erste Entwickelungsgebiet im nord-
östlichen Afrika und Arabien zu suchen ist und dafs von da aus die weitere
Verbreitung einzelner Typen nach Norden hin erst nach der Bildung der
west- und centralasiatischen Steppen erfolgte, dafs auch die Besiedelung
australischer Steppen durch Zygophyllaceen von dem afrikanischen Üonti-
nent ausging. Trotzdem diese Zygophyllaceen zum Theil nach ihren morpho-
36 A. Eneuer: Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen u. s. w.
logischen Merkmalen, namentlich hinsichtlich ihrer Fruchtbildung sehr aus
einander gehen, so kann doch über ihre Zusammengehörigkeit zu einer
Kamilie kein Zweifel bestehen; ebenso sicher ist, dafs die genannten Gruppen
schon existirten, bevor die Gattung Zygophyllum ihre heutige Formenent-
wiekelung in Asien erlangte, also wahrscheinlich in der Tertiärperiode.
Da nun die genannten altweltlichen Gruppen der Zygophyllaceen alle in
Afrika entstanden sein müssen, so ist es wahrscheinlich, dafs die ameri-
kanischen Zygophyllinae einstmals, als noch das heutige Südamerika und
Afrika zusammenhingen, mit den afrikanischen Zygophylleae in engerer Be-
ziehung gestanden haben. Ganz besonders spricht hierfür das Verhalten
der Samenepidermis von BDulnesia. Die Peganoideae und Chitonioideae stehen
nur in entfernter verwandtschaftlicher Beziehung zu den übrigen Zygophyl-
loideae und dürften schon neben diesen existirt haben, als die eigentlichen
Zygophylloideae sich weiter spalteten.
K.Preuss, Akad, d.Wissensch.
Zygophylloideae
| N
Tribuleae-Tribulinae
N
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© Kallstroemia Soop
Ject. 273
Spee. 2 amerisanar
marima (Jh) Torw et Gra
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10) Gugjacum L.(+)
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Chitonioideae
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Piys Abh. 1896.
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an Geographische efhraitun der Zygophyllaceen.
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PHILOSOPHISCHE UND HISTORISCHE
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
AUS DEM JAHRE
1596.
MIT 10 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1896.
GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
FHMIHOTFN rn
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Inhalt.
Weınsorp: Zur Geschichte des heidnischen Ritus . I
Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy-
rus 3024 der Königlichen Museen herausgegeben. (Mit 10 Tafeln.)
Srumrr: Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik .
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Abh. I. S.1—50.
» 1. S. 1—77.
» 11. S.1—85.
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Zur Geschichte des heidnischen Ritus.
Von
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Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 9. April 1896
[Sitzungsberichte St. XIX. S. 415].
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 30. April 1896.
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J: mehr die Bedeutung des Cultus und der mit ihm zusammenhängenden
Riten für die Religionsgeschichte erkannt wird, um so mehr lockt es zur
allein förderlichen Einzeluntersuchung den Spaten in den Boden zu stolsen,
der sich über den alten Trümmern aufgehäuft hat. Man wird hier sehr
bald auf verschiedene Zeitschichten gerathen und überrascht sein, dafs
sich in den mysteriösen Gebräuchen auch der cultivirtesten Völker des
Alterthums und der Gegenwart starke Reste einer praehistorischen wilden
Periode erhalten haben, die ihr Entsprechendes in den Anschauungen und
Riten der sogenannten Naturvölker noch jetzt finden. Man wird dann
erkennen, dafs diese zur beleuchtenden Vergleichung herbeigezogen werden
müssen und dafs die Beschränkung der Untersuchung auf ein einzelnes
Volk unmöglich ist, wenn die Gebräuche eines solchen auch mit Vortheil
in den Vordergrund gestellt werden.
Wer in den deutschen Aberglauben auch nur leieht hineingräbt, wird
sehr bald darauf stofsen, dafs die Personen, welche gewisse geheimnils-
volle Handlungen vornehmen, nackt sein müssen; und wer sich dann bei
anderen Völkern und in anderen Zeiten umschaut, wird derselben Forde-
rung häufig begegnen. Hier haben wir denn sogleich einen Überrest aus
uralter Vergangenheit, in welcher die Nacktheit eine völlig andere Be-
deutung hatte als später, nichts Anstöfsiges war, sondern, um es kurz zu
sagen, etwas Geheiligtes, das aus diesem Grunde in den Culthandlungen
verschiedenster Art auftritt.
Merkwürdiger Weise hat man sie von diesem Gesichtspunkt aus wenig
beachtet. Meine hier vorgelegte Untersuchung soll für Deutschland das
Versäumte nachholen und für andere Länder wenigstens Beiträge liefern.
1*
4 K. Weınnmoup:
Allerdings haben einige Forscher nach dem Grunde jener Nacktheit
gefragt. G. L. Gomme hat sie in seiner Ethnology in Folk-lore bei Er-
wägung der Godiva-Legende (S. 39. 177) als a survival of a rude pre-
historie eult erkannt. Adolf Wuttke in seinem Buche: Der deutsche
Volksaberglaube der Gegenwart (Berlin 1869) $249 sagt: »der Grund der
Nacktheit bei Zauber und Weissagung ist ein ähnlicher wie bei Bevor-
zugung der Dämmerung; der Mensch mufs das Alltägliche, dem natürlich-
bürgerlichen Leben Angehörige, und gewissermafsen seine Einzelheit ab-
streifen und in einem gewissen Sinne opfern, um unbehindert in den
allgemeinen Zusammenhang des All-Lebens einzutreten; mufs das für ge-
wöhnlich Verborgene offenbar machen, um das verborgene Walten des
Schicksals und der Natur offenbar zu machen; mit dem Abstreifen der
leiblichen Hüllen fallen auch die Hüllen des Geistes, des Schicksals und
des geheimnifsvollen All-Lebens; es liegt eine thatsächliche Poesie darin
und hat in mancher Beziehung eine ähnliche Bedeutung wie das Preis-
geben der Jungfrauschaft in manchen heidnischen Religionen«.
Richard Heim (Incantamenta magica graeca-latina: Supplemen-
tum XIX. Annal. philolog. p. 507. Lips. 1892) und W. Crooke (An intro-
duetion to the popular religion and folk-lore of Northern India. Allahabad
1894. p.40) finden den Grund der ritualen Nacktheit in ihrem obscoenen
oder indecenten Element, welches magische Wirkung auf die bösen Geister
übe, eine ganz einseitige und, wie ich zu erweisen hoffe, falsche Auf-
fassung.
Man mufs zunächst die Handlungen, bei denen die rituale
Nacektheit gefordert wird, als das beurtheilen, was sie ursprünglich
waren, als gottesdienstliche Acte, durch welche die Gnade der Gott-
heit, ihr Segen für das Leben in Menschen, 'Thieren und Gewächsen, ihr
Schutz gegen feindliche Kräfte und Wesen erwirkt werden sollte. Zu
solchen Zweeken mufste sich der bittende und opfernde Mensch in mög-
lichster Ablösung von dem unreinen gewöhnlichen Leben nahen. Wie
in dem römischen Cultus nach Numa’s Ordnung die castitas, die innere
und äulsere Reinheit, von dem Beter und ÖOpferer gefordert ward, so
überhaupt in den ältesten Religionen. Der naive Ausdruck davon ist die
Abstreifung der Gewänder und der Schuhe. Hierauf gründet sich die
Barfüfsigkeit der israelitischen Priester, die Exodus 3, 5, Josua 5,15 ge-
fordert wird; das Ablegen der Sandalen bei den Muhamedanern, wenn sie
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 5
feierlich beten oder die Moschee betreten; die Reinigung des Heiligthums
der Athene im nachhomerischen Troja durch barfüfsige Jungfrauen;' die
römischen Nudipedalia, die Barfüfserprozession bei anhaltender Trockenheit ;?
die Barfüfsigkeit kappadokischer Weiber beim Feldzauber (Plin. h.n. 28, 23)
und der kimbrischen Priesterinnen beim Menschenopfer (Strabo VII. 2, 3).
Eine anglicanische Secte, die society of S. Osmund, schreibt in ihrem
Ritual für die Charwoche vor, dafs die »cleres« bei der Verehrung des
heiligen Kreuzes unbeschuht (with feet unshod) sein müssen (Folk-lore VII, 50).
Wenn hier nur die Nacktheit der Füfse, die den geweihten Boden
betreten, vorgeschrieben ist, so ist das eine Beschränkung der Entblöfsung
des ganzen Leibes auf einen Theil, der wir auch an einem anderen Gliede
später begegnen werden. Eigentlich mufste der ganze Mensch sich der
vom Verkehr mit dem Irdischen befleckten Hüllen vor dem Göttlichen ent-
ledigen. Der nackte Mensch versetzt sich in den Zustand des noch nicht
bekleideten, von dem Leben noch nicht befleckten Kindes. Er nähert
sich aber andererseits den göttlichen Wesen, besonders der unteren Stufe,
welche eine Vermittelung zwischen Erde und Himmel bilden und mit den
vom Leibe getrennten Seelen zusammenhängen. Die altindischen Apsaras, die
den germanischen Wasser- und Wolkenmädchen entsprechen (den Schwan-
jungfrauen und Walküren), sind in ihrer eigensten Erscheinung nackt,
ebenso die deutschen Wassergeister und jene elementaren Dämonen, die
noch in unserem Aberglauben als Alpe und Druden leben. Nicht minder
stellt sich die Bevölkerung von Bengalen die bösartigen Baumgeister, die
Bhutas, welche nächtlich die Felder umirren, nackt vor (Örooke Folk-lore
of Northern India 152), ganz wie der Hellene und der Italer die mannig-
fachen Baum- und Wald-, Berg- und Bach-Dämonen. Ja selbst die höchste
künstlerische Erfassung der grofsen Gottheiten weils keine vollendetere
Bildung zu finden, als die des unverhüllten Menschenleibes. Wer also
eine über menschliche Kraft reichende Handlung vollziehen will, den
Göttern gleich wirken möchte, versetzt sich in ihre Erscheinungsform, wird
nackt. So heifst denn der indische Gott Qiva, der Gott des Zauberwesens,
Nagna, der nackte, auch digambara, digvastra, digvasas, der splitternackte.”
! Roscher, Lexik. d. Mythol. 1, 138.
® Hierzu gehört Petron. cena Trimalch. 44 von dem Bittgang der stolatae nudis pedibus
in elivum passis capillis.
® Gütige Mittheilung von Prof. R. Pischel.
6 K. Weınmoup:
Daraus erklärt sich nun auch, dafs die, die vom göttlichen Geist
ergriffen werden, sich entkleiden. So König Saul, als er zu Samuel
kommt, dem Vorsteher des Chors der Propheten. Da kommt über ihn, wie
vorher über seine Boten, der Geist Gottes, und er zieht seine Kleider aus,
weissagt und liegt den ganzen Tag und die ganze Nacht nackt (1. Samuelis
19,24). Die Nacktheit der Kassandra in der troischen Schreekensnacht,
die durch viele antike Bildwerke bezeugt ist, darf wohl (wie Ferd. Dümm-
ler, Philol. LII, 208 vermuthet) mit ihrer Prophetie in Verbindung gebracht
werden. Von göttlichem Wahnsinn ergriffen (uawouevaı) durch der Kypris
Zorn liefen die Proitostöchter nach Aelian (var. hist. III, 42) nackt umher.
Eine unscheinbare süddeutsche Sage dürfen wir diesen antiken Beispielen
anreihen: In der Westenvorstadt in Eichstätt sind zwei Felshöhlen, das
Hohloch und das Hexenloch. Im Hexenloch sitzt am Morgen des Johannis-
tages (24. Juni) das Drudenweibel nackt auf einem Baumast (oder einer
Stange), singt ein Gesänglein und wiegt den Tag ab." Dieses Druden-
weibel ist eine halbgöttliche Prophetin.
Bei einem grolsen Givafeste der Malabaren in Indien sah A. Bastian
1865 ungefähr siebzig junge Frauen nackt bis auf das Hüfttuch und mit
aufgelösten Haaren vor dem Tempel. Nachdem sie mit Asche bestreut
waren, geriethen manche bei rauschender Musik in ekstatische Verzückungen
und gebärdeten sich wie Besessene. Das war das Zeichen besonderer Gnade
des Gottes. Die nicht besessen wurden, hatten dem Civa durch Fasten
und Opfer nieht genügt (Bastian, Die Welt in ihren Spiegelungen. $. 59.
Berlin 1887).
Hier knüpfen sich auch die deutschen volksthümlichen Bräuche an,
die auf einen Einblick in die Zukunft und die Erkenntnifs
geheimnifsvoller Erscheinungen zielen, und bei denen die Nacktheit
Forderung ist,
In der heiligen Zeit der Wintersonnenwende suchen die Mädchen durch
ganz Deutschland ihren künftigen Gatten im Sehattenbilde zu schauen. Die
eigentliche heilige Zeit ist dafür nach vor- und rückwärts allmählich aus-
gedehnt worden: sie beginnt mit dem Andreasabend und reicht über
Thomas-, Christ- und Sylvesterabend hier und da bis Pauli Bekehrung
(25. Januar) und Mathiastag (25. Februar). Die Gebräuche im Einzelnen,
' Fr. Panzer, Bayrische Sagen und Bräuche 2, 201. München 1855.
Ba a 5 a 2 0,
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 7
durch welche das Bild des Ersehnten herbeigelockt werden soll, sind ver-
schieden, wesentlich aber ist die Nacktheit des Mädchens, die bis in die Ge-
genwart hinein noch häufig vorkommt. Ich verweise dafür auf A. Wuttke,
Aberglaube $$ 348. 352. 358. 360-365; ferner auf Grimm, D. Mythol. 107 1;
U. Jahn, Opfergebräuche 255; Hexenglaube 159 f.; Wolf, Niederländ. Sa-
gen Nr. 273; Kuhn, Westfäl. Sagen 2,123; Mülhause, Urreligion 96. 98;
Witzschel, Sagen aus Thüringen 1,155. 180; Chemnitzer Rockenphilosophie
170ff.; Schroller, Schlesien 3, 394; Schönwerth, Aus der Oberpfalz
1,141.143; K. Stieler, Kulturbilder aus Bayern 104; Wolf-Mannhardt,
Zeitschr. f. deutsche Mythol. 4, 48; E. Meier, Sagen aus Schwaben 455;
Birlinger, Aus Schwaben ı, 381; Birlinger, Volksthümliches aus Schwa-
ben I, 343.
Ich will nur zwei der Litteratur angehörige Zeugnisse ausheben.
Abraham a.S. Clara erzählt im Judas, dem Erzschelm 2, 233: »Am Abend
des h. Thomas hat im Algäu eine Magd sich ganz allein in ihre Kammer
gesperrt, dieselbige ganz ohne Kleydung doch zuruckwerts ausgekehrt
und den einstigen Gatten erblickt«. Und Daniel Stoppe aus Hirsch-
berg in Schlesien reimt in seinem Parnass im Sättler (S. 338): »Jocaste
kniet mit gleichem Sinn Ganz nackend vor ihr Bette hin, Um Sanet An-
drefsen zu bewegen, Ihr ihres Bräutigams Gestalt Durch seine träumende
Gewalt In ihre Phantasie zu legen. Hier zehlt man Holz, dort schifft die
Nufs, Man deckt den Tisch, man schüttelt Zäume, Und schweigt der Hund,
so fällt der Schlufs, Man bleibe noch diefs Jahr daheime«.
Bemerkt mag werden, dafs in den Aufzeichnungen unserer Sitten-
und Sagensammler die Nacktheit bei diesen Zukunftsforschungen — die
übrigens immer ohne Zeugen vorgenommen werden — häufig aus einem
falschen Anstandsgefühl verschwiegen wird. Sie ist zuweilen auch nicht
mehr vollständig: so im norwegischen Lister- und Mandals- Amt, wo sich
die am Weihnachtabend nach der künftigen Ehehälfte neugierig um-
schauenden Personen beiderlei Geschlechts in weilsen Laken auf den Weih-
nachtstuhl setzen. Zuweilen setzt sich die Mannsperson ohne Laken (wohl
ganz nackt?) auf eine vollständige Frauenkleidung, das neugierige Mädchen
auf eine vollständige Männerkleidung (Liebrecht, Zur Volkskunde 325).
Auch Beschränkung der Entblöfsung auf die Füfse kommt vor: In
einem thüringischen Dorfe drehte sich vor einigen Jahren ein Mann am
Andreasabend mit dem nackten rechten Fufse auf einem Thaler, der auf
8 K. WEIınHoLD:
die Thürschwelle gelegt war, dreimal von links nach rechts unter Her-
sagung eines Verses herum. Dann legte er sich in den Raum hinter dem
Stubenofen (in der Hölle) schlafen. Um Mitternacht sprang er plötzlich
mit einem Schrei auf und lief barfufs nach Hause. Er hat später erzählt,
dafs ihm ein Mädchen erschienen sei, ihn an der rechten grofsen Zehe
gepackt und mit sich fortgezogen habe. Dieses Mädchen hat er später
geheirathet (M. Lehmann-Filhes in der Zeitschrift des Vereins für Volks-
kunde V, 97).
Wenn nach sehwäbischem Glauben die Mädehen, die in der Christ-
nacht in den Ofentopf (den Höllhafen) sehen, den künftigen Gatten nackt
darin erblicken (Zeitschr. für deutsche Mythologie 4, 48), so erinnert dies
daran, dafs der aus der Ferne herbeigezauberte Liebste nackt erscheint
(Aus Prätorius Weihnachtfratzen bei Grimm, Deutsche Sagen Nr. 116).
Einer der tollsten abergläubischen Gebräuche ist das Barziehen im
bajuvarischen Gebiete." Es soll dadurch der Einblick in verborgene Ge-
heimnisse gewonnen werden, die sehr verschieden sein können. Die Nackt-
heit der Theilnehmenden ist dabei bezeugt.
K. von Leoprechting erzählt in seinem Buche »Aus dem Lechrain«
(München 1855) S. 45, dafs sich um das Jahr 1345 fünf Männer aus Utting
am Ammersee zusammenthaten, um die Glücksnummern im Lotto zu er-
fahren. Sie betraten faselnackt mit dem Glockenschlag der Mitternacht den
Freithof, gruben das Grab einer im ersten Kindbett mit dem Kind ver-
storbenen Wöchnerin” auf, huben den Sarg heraus und legten einen von
sich, nackt wie er war, in das Grab. Dann trugen die andern vier in
höchstem Stillschweigen den Sarg dreimal um den Freithof und beschworen
die abgeleibte Seele, die fünf Nummern anzuzeigen, die in der drittnächsten
Lottoziehung gezogen werden würden. Darum hatten sie dem im Grabe
liegenden alle 9o Nummern der Lotterie, deutlich auf einen Zettel ge-
schrieben, in den Mund gelegt, in der Meinung, dafs die fünf Glücksnum-
mern erlöschen würden. Alles geschah ohne Widergang. Fünf Nummern
waren wirklich erloschen und wurden hoch besetzt. In der betreffenden
Ziehung kamen sie auch wirklich mit sehr hohen Gewinnen heraus. Aber
! von Wlislocki, Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner, S. 141 f. berichtet
es auch von den siebenbürgischen Zigeunern.
2 Einer solchen steht der Himmel offen; das Kind wird ihr in den Arm gegeben,
Jungfrauen tragen sie zu Grabe und ein Jungfernkrönlein wird auf ihr Grab gestellt.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 9
die Sache war ruchbar geworden. Die fünf Beschwörer wurden gefänglich
eingezogen und ihr Einsatz für ungiltig erklärt.
Bei dem Todtenbahrziehen im steirischen Ennsthal und um Eisenerz,
bei dem es ebenfalls gilt, viel Geld zu gewinnen (meine Weihnachtspiele
S. 28f.) habe ich die Nacktheit nicht erwähnt gefunden; ebenso sagt J.
Zingerle (Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes, Nr. 312. 880)
nichts davon, wo er von dem Herumtragen eines Sarges oder der Todten-
bahre um die Kirche zu Mitternacht oder in einer heiligen Nacht spricht,
das auch einen Schatz verschaffen soll.
Zur Schatzhebung ist überhaupt die Nacktheit ein nachweisliches Mittel.
So wird aus Nieder-Österreich berichtet, dafs auf dem Wendelgupf bei Lilien-
feld ein goldener Wagen versunken ist. Nur in der Christnacht während
der Mette ragt die Deichsel heraus. Wer nun zu dieser Zeit nackt, ohne
von Jemand gesehen zu werden, auf den Berg gelangt, wird den Wagen
leicht an der Deichsel herausziehen können (Leeb, Sagen aus Nieder -Öster-
reich Nr. 78).
Mit dem Grabe einer Wöchnerin, das als besonders geheiligt und
wirkungsvoll gilt, wird auch abergläubischer Unfug getrieben, um einen
Zauberspiegel zu gewinnen. Im westlichen Thüringen meint man (Wucke,
Sagen von der mittleren Werra, 2. A. Nr. 577): um einen Erdspiegel zu
erhalten, mufs man ohne zu feilschen einen kleinen Schiebespiegel kaufen,
dann Nachts ıı Uhr ganz nackt über die Kirchhofmauer springen und ein
Loch in das Grab einer am Charfreitag begrabenen Wöchnerin machen. In
dieses Loch steckt man den Spiegel, das Glas nach unten, und entfernt sich
dann im Namen Gottes, rückwärts gehend, die Augen auf das Grab ge-
richtet. Solches thut man drei Nächte hintereinander. In der dritten Nacht
zieht man den Spiegel in drei Teufels Namen heraus, drückt ihn fest an
den Leib und geht rückwärts ab, ohne sich durch die Mifshandlungen des
Teufels irren zu lassen, und springt wieder über die Kirchhofmauer. In dem
Spiegel kann man nun verborgene Schätze, Diebe, Hexen u. s. w. erkennen.
Andere Weisen, an dem Grabe einer Wöchnerin (auch eines Selbst-
mörders) einen Erdspiegel zu bekommen, aber ohne Erwähnung der Nackt-
heit, berichtet Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2, 218. Jedenfalls ge-
hörte auch hier die Nacktheit zu der Handlung.
Der Erdspiegel verhilft, wie eben gesagt, auch zur Entdeckung
der Hexen. Man braucht ihn aber dazu gar nicht, wenn man sich nur
Philos. - histor. Abh. 1896. I. 2
10 K. Weınnoud:
nackt im 'Thau wälzt. So thaten ein Paar junge Knechte im Schleswig-
schen. Sie gingen in der Johannisnacht auf eine Wiese, zogen sich aus
und wälzten sich im Thau. Sonntags darauf gingen sie in die Hüttener
Kirche und sahen manehe Weiber mit einer Milchbütte auf dem Kopf. Das
waren die Hexen (Müllenhoff, Schlesw.-holst.-lauenb. Sagen Nr. 290).'
Bei den Südslaven geschieht es so: wer wissen will, welche Frauen
Hexen seien, geht in der Georgsnacht vor Sonnenaufgang auf eine Wiese,
entkleidet sieh ganz, wendet die Kleider um und zieht sie so an. Dann
schneidet man ein grünes Rasenstück aus und legt es sich auf den Kopf,
oder man duckt sieh mit dem Rasen bedeckt hinter die Stallthür. Dann
sieht man die Hexen, diese aber können den lauschenden nicht sehen
(Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven. Münster
1890 $.120).”
Wenn man den Teufel in seinem Thun beobachten will, soll man
nach Mecklenburger Recept Folgendes machen: man met sik ganz nackt
uttreeken un dörch de Bein kiken. Denn kann man seihn wo de Düvel
towt, ob he 'n Wiw oder ’n Kirl to faten het (Zeitschr. d. Vereins f. Volks-
kunde 5, 443).
Ist in diesen abergläubischen Handlungen die Nacktheit eine Bedingung,
um den Einblick in die Dimonenwelt zu gewinnen, so erscheint sie anderer-
seits als ein Sehutzmittel gegen dieselbe. Die Geister und Gespen-
ster scheuen den nackten Menschen.
Kein Gespenst wagt nach isländischem Glauben einen ganz nackten
Mann anzugreifen. Daher empfiehlt sich, wenn man ein Gespenst erwartet,
sieh völlig zu entkleiden (nach Jön Arnarson, Islenzk. 'Thiodsögur 1.;
Liebreeht, zur Volksk. 370). Im Erzgebirge glaubt man sogar, dafs Ringe,
die ein Schmied nackt aus Sargnägeln schmiedet, die in der Charfreitag-
nacht vom Kirchhof geholt sind, gegen Geister schützen (Wuttke $ 186).
Leute, die oft von bösen Träumen heimgesucht werden, können sich
dagegen wehren, wenn sie beim Schlafengehen sich in der Mitte der Stube
! Über Mittel, die Hexen zu erkennen, A. Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 28f. Wuttke,
Aberglauben $ 373 fl.
?2 Hier ist die Nacktheit verdrängt durch einen naiven Versuch, sich durch Umdrehen
der Kleider unkenntlich zu machen. Verstümmelt, nur auf die Umdrehung der Kleider be-
schränkt, wird dieses Mittel aus Ostpreulsen berichtet; auf das Rasenstück beschränkt aus
Schlesien und Brandenburg, Wuttke $ 376.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 11
ganz entkleiden und rückwärts zu Bett gehen (Bartsch, Sagen aus Mecklen-
burg 2, 314).
An Stelle der völligen Nacktheit kommt nun auch die beschränkte vor.
Der Schlofsgeist von Ober-Gösgen in Solothurn hinderte einmal die
Flöfserknaben, das Treibholz aus der Aare zu fischen. Da vertrieb ihr
Vater, der alte Flöfser, den Geist, indem er ihm den blofsen Hintern
zeigte (Rochholz, Naturmythen 65).
Wenn Einer den rothglühenden Drachen niedrig ziehen sieht, muls
er sich unter ein Dach! stellen und ihm das nackte Gesäls zukehren. Da
platzt der Drache und seine Ladung fällt herab. Thut man das aber im
freien Felde, so bewirft Einen der Kobold mit Unrath, und den Gestank
wird man sein Leben lang nicht mehr los. (Müllenhoff, Sehlesw.-
holst.-lauenb. Sagen Nr. 280; Kuhn-Schwartz, Nordd. Sagen Nr. 5. 421;
Wuttke 49).
Durch diese Wirkung menschlicher Nacktheit auf überirdische Wesen
fällt nun auch Licht auf eine entscheidende Stelle in der indischen Ge-
schiehte von Purüravas und Urvacı. Im Gatapatha-Brahmana 11,5, 1.
wird sie so erzählt:” Urvacı war eine Apsaras und hatte sich in den Puru-
ravas, den Sohn der Ida, verliebt. Unter den Bedingungen, die sie bei
ihrer Vereinigung stellte, war: »auch will ich dieh nieht nackt sehen,
das ist so Mode bei uns«. Sie lebte lange mit ihm. Da sprachen die
Gandharven zu einander: »Zu lange fürwahr hat diese Urvacı bei den
Menschen gelebt; man sollte auf etwas sinnen, dafs sie wieder zurück-
kehre«.. — An ihrem Bett hatte sie ein Schaf mit zwei Lämmern an-
gebunden. Die Gandharven raubten ein Lämmchen, Urvacı merkte es
und rief: »Man stiehlt mir mein Kind, als gäbe es hier zu Lande keine
Männer«. — Dann raubten die Gandharven das zweite. Sie rief wieder
also. Da dachte Pururavas: »Wie sollte es dort keine Männer geben, wo
ich bin?« und nackt wie er war, sprang er aus dem Bett und nach, denn
es däuchte ihn zu lange, sein Kleid anzulegen. Da erzeugten die Gan-
dharven einen Blitzstrahl und Urvacı erblickte den Pururavas nackt, so
deutlich wie am hellen Tage, und da verschwand sie.
! Unter der Dachtraufe ist man nach allgemeinem Glauben gegen den Teufel und
alle bösen Geister geschützt. Wuttke $8 107. 494. Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4,
446; Zeitschr. f. Ethnol. 26, 568.
2 A. Weber, Indische Streifen 1, 16; Geldner in den Vedischen Studien ı, 244.
DE
12 K. Weınnmoup:
Die Umkehr der Wirkung der Nacktheit, dafs nämlich der Mensch
die Unsterblichen nicht in ihrer eigensten Gestalt sehen darf, und dafs sie
ihm, wenn es geschieht, enttiliehen, ist bekannter, am bekanntesten durch
das Märchen von Amor und Psyche. Hierher gehört die Melusinensage,
eine schlesische Nixensage' und alle jene über die ganze Welt verbreiteten
Geschichten von der Verbindung eines Menschen mit einem geisterhaften
oder verzauberten Wesen, das er in seiner eigensten Gestalt nicht sehen
darf”.
Ich schliefse hier am besten die Verwandlungen an, die nach ur-
altem Glauben der Mensch, gleich den Göttern, an sich zu vollziehen ver-
mag, und bei denen die Nacktheit als natürliche Voraussetzung erscheint.
Die Verwandlungsfähigkeit beruht auf dem im Totemismus der Natur-
völker zum Dogma ausgebildeten Glauben, dafs Alles in der Welt lebendig
sei und dafs alles Lebendige seine Gestalt wechseln, also sich verwandeln
könne. Der Mensch kann demnach auf einige Zeit zum Thier werden, wie
die Götter sich in Menschen oder Thiere wandeln; das Lebendige kann
auch zum Stein oder Baum werden, scheinbar starr und leblos erscheinen,
aber dennoch seine lebendige Menschheit im innersten der unbeweglichen
Masse bewahren. Die Märchen und die mythischen Sagen der kultivirte-
sten Völker bezeugen diesen Totemismus aller Orten. Der Mensch kann sich
durch eigene Kunst selbst verwandeln, er kann aber auch durch einen
Zauberer in eine beliebige Gestalt verwünscht werden. Festgehalten ist aber
immer, dafs, wenn er wieder zum Menschen wird, er nackt erscheint, und
dafs er vor der Verwandlung ganz unbekleidet sein muls.
In dem altnordischen Heidenthum war der Glaube an die Verwandlungs-
fähigkeit (at skipta homum, at hamaz) sehr verbreitet.‘ Gewöhnlich wird
der Gestaltenwechsel in naiv sinnlicher Art gedacht als das Hineinschlüpfen
in eine andere Hülle. Wie die Walküren in eine Schwanen- oder Krähen-
haut, Freyja in eine Falkenhülle schlüpfen und damit zu Schwänen, Krähen,
Falken werden, so die Menschen, die nicht eingestaltig (einhamir) sind, in
ein Wolfs-, Bären-, Hundefell, oder sie legen wenigstens einen Gürtel aus
Woltfsfell an und werden zu diesen Thieren mit deren wilden Eigenschaften.
!° Meine Abhandlung: Beitrag zur Nixenkunde, in der Zeitsch. d. Vereins f. Volks-
kunde 5, 126. ar
J. Kohler, Der Ursprung der Melusinensage. Leipzig 1895.
®° K. Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes 2, 101-118.
Zur Geschichte ‚des Jieidnischen Ritus. 13
Es sind nicht blofs Heroengeschlechtern angehörige. Menschen, ‘gleich den
Wolsungen, sondern auch aus gewöhnlichen Sippen entsprossene. Die Ver-
wandlung dauerte gewöhnlich neun Tage, die mythische alte Zeitfrist; am
zehnten bekam der Verzauberte seine eigene Gestalt wieder. Und dafs er
dann nackt dastund oder dalag, hat wenigstens das jüngere Hyndlamärchen
treu bewahrt, das K. Maurer in seinen Isländischen Volkssagen der Gegen-
wart (Leipzig 1860 S. 315 f.) erzählt hat. Die von ihrer hexenartigen Stief-
mutter in einen Hund verzauberte Königstochter Signy durfte jede neunte
Nacht des Hundefells ledig werden; dann lag sie nackt auf freiem Felde,
das Fell neben ihr.
So steht denn auch der entzauberte Lukios des griechischen Romans
vom Eselmenschen nackt vor aller Augen, und in den späteren und heute
noch lebenden Fortsetzungen dieses Märchens ist die. Nacktheit nach der
Rückkehr in die Menschengestalt nicht vergessen." Der Werwolf, dieses
uralte Geschöpf westarischer totemistischer Phantasie, wird noch nach deut-
schen Volkssagen durch Berührung mit Eisen oder Stahl oder Lösung
des Gürtels in seine nackte Menschennatur zurückgewandelt.” Er wird
auch wieder zum nackten Menschen, wenn man ihn dreimal bei seinem
Taufnamen ruft. } ?
Ganz dasselbe glaubt man von dem Alp oder der Drud, die sich in
allerlei Gestalten wandeln können, in Strohhalme, Federn ‚Schuhe, und die
festgehalten, eingeklemmt, angenagelt oder zerdrückt, dann in wahrer Ge-
‘stalt meist als nacktes Weibsbild erscheinen. In Bamberg warf der von
der Drud geplagte Schustergesell den Strohhalm, den er ergreift und zer-
reilst, zum Fenster hinaus. Am andern Morgen lag ein nacktes Weib mit
gebrochenem Halse auf der Strafse (Panzer, Bayrische Sagen 2,165). —
Im Brandenburgischen hat ein Knecht die Marte, die ihn immer drückte,
gefangen, nachdem er alle Löcher in der Stube bis auf eins verstopft hatte.
Als Licht gemacht war, sah er ein junges nacktes Mädchen vor sich, das
hat er geheirathet und Kinder mit ihm gehabt. Einmal zeigte er ihr das
Astloch in der Stubenwand, durch das sie hereingekommen war und zog
den Pflock heraus. Da ist sie sofort verschwunden gewesen. Aber sie
kam noch eine Zeit lang Sonntags wieder, unsichtbar, und besorgte die
! Meine Abhandlung in den Sitzungsberichten unserer Akademie 1893. 8. 475—488.
® W. Hertz, Der Werwolf, Beitrag zur Sagengeschichte. Stuttgart 1862 S; 79. 35.
91.97; Wuttke 8 405.
14 K. Weınmorp:
Kinder, bis er dem Prediger Alles erzählte. Sie war aus England, wie sie
aussagte.'
An diesen beiden Alpgeschichten mag es genügen. Ganz dasselbe gilt
aber auch von den Hexen. Wird der Zauber durch irgend Etwas gelöst,
so steht die Hexe splitternackt vor Einem oder stürzt aus den Wetterwolken
nackt herunter. Stahl oder Eisen, Brotkugeln, Rufen des Namens, Glocken-
geläut, Werfen oder Schiefsen mit geweihten Dingen berauben die Hexen
ihrer Macht und entzaubern sie. Nur einige Beispiele.
Nach einer badischen Sage schofs einmal bei einem sehr lange stehenden
Gewitter ein Jäger mit einer geweihten Kugel in die schwärzeste Wolke. Da
stürzte ein nacktes Weib todt herunter, und das Wetter zog sogleich fort
(Mone, Anzeiger f. Kunde deutscher Vorzeit 4, 309). Bei einem fürchter-
lichen Gewitter in Neumarkt in der Oberpfalz schofs ein Kapuziner in die
Wetterwolke, und herunter stürzte ein mutternacktes Weibsbild; das war die
Hexe, die immer im Wetter drin ist (Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2,
126). In Feldkirch in Vorarlberg verspätete sich eine Hexe auf ihrem Ritte
und, als sie gerade über dem Kapuzinerkloster war, begann das Glöcklein
das Aveläuten. Sie stürzte herab und lag splitternackt und todt im Kloster-
garten (Zingerle, Sagen aus Tirol 2. A. S. 674). In Forchheim in Ober-
franken hielten die Franziskaner bei einem furchtbaren Donnerwetter einen
Umgang im Klostergarten. Beim ersten Segen mit der Monstranz stürzte
eine nackte Frau aus den Wolken herab (Panzer, Bayrische Sagen 2,167).
Wenn man in einen Staubwirbel einen Rosenkranz oder sonst was Geweihtes
wirft, sieht man die Hexe splitternackt vor sich stehen (Stöber, Alsatia.
1856/7 S.133). In Westfalen nennt man das: die Hexe blank maken (Kuhn,
Westfäl. Sagen 2, 31).
Zur Vergleichung sei nur aus finnischer Mythologie beigebracht, wie
das Goldmädcehen (Alten Arga) den Werbungen des Alten Aira in einem
Federgewand (d.i. als Vogel) entflieht. Er schlägt mit der Peitsche nach ihr,
und das Federhemd platzt.” Da stürzt sie nackt herunter (Castreen, Ethnol.
Forschungen S. 187. Petersb. 1837).
Aber nicht blofs bei der Aufhebung der Verwandlung, auch bei dem
Beginn der magischen Handlung ist die Nacktheit Bedingung. Das be-
! Diese merkwürdig erhaltene Sage von einer Elbin, die sich einem Manne vermählte,
bei Kuhn-Schwartz, Norddeutsche Sagen Nr. 102 mit Anm.
® Wie bei dem Werwolf das Fell oder der Wolfsgürtel platzt.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 15
richtet Petron (cena Trimalch. 62) von dem Soldaten, der sich in einen Wolf
wandelt. In der Normandie herrscht der Glaube, dafs lebende Frauen als
Irrlichter (fourolles) umgehen können, wenn sie sich auf dem Felde in
der Nacht nackt ausziehen und auf die Erde legen. Die Seele wird
dann auf einige Zeit zum Irrlicht. (Am. Bosquet, La Normandie ro-
manesque 247.)
Das Hexenfest ist eine orgiastische Opferfeier, auf Bergeshöhen gehalten,
wohin die verzückten Weiber, nachdem sie in Nacktheit zu Thieren sich ver-
wandelten, durch die Lüfte sich erhoben. Wilder Tanz, Menschenopfer und
Genuls von Menschenfleisch sind Acte des Festes, die aus dem deutschen
Hexenglauben sich deutlich ergeben.
Ganz wie die thrakischen Weiber, deren geheimes Treiben Apulejus
(Metam. 3, 21) schildert, salben sich die deutschen Unholden den nackten
Körper und fahren dann entweder in Weibesgestalt' oder in Vögel (Gänse,
Enten, Elstern, Eulen) oder rasche Vierfüfsler (Hasen, Katzen, Geilse,
Wölfe, Pferde) verwandelt, durch die Lüfte nach dem bestimmten Fest-
platz, der in den verschiedenen Ländern ganz verschieden ist, gleich der
Zeit, für welche allerdings Walpurgis, also eine Frühlingsnacht, am meisten
genannt wird. Der zum Opferfest gehörige Reigen, der Hexentanz, ist in
allen volksthümlichen Schilderungen der Hexennacht festgehalten; ebenso
die Opfermahlzeit. Dafs es ein Menschenopfer war, und die Hexen Men-
schenfleisch und namentlich die Herzen verzehrten, überliefern allerdings
nur ältere Zeugnisse, so das Salische Recht (l. Sal. 64, 3, Cod. 5. 6. 10
emend.); das langobardische (ed. Roth 376) und das Karl’sche Capitulare
für Sachsen (e. 5), beide als sträflichen Aberglauben; ebenso namentlich
vom Herzessen der Indieulus superstit. et paganiarum von 743 und der
Correetor des Burchard von Worms (Friedberg S.97). Mit ihm fast
gleichzeitig weils auch Notker Teutonicus, dafs hier zu Lande die Hexen
(hazessa) wie die Menschenfresser (manezon) thun sollen.” Genügend ist also
für die deutschen Feste orgiastischer Natur das Menschenopfer bezeugt.
! In Centralindien ist der Glaube an die Hexen noch jetzt ganz fest. Den 14., 15. und
29. jeden Monats sind die Hexennächte; dann fahren die Hexenweiber, nachdem sie sich
entkleidet, auf Tigern oder anderen wilden Thieren, wohin sie wollen; haben sie zu einer
Wasserfahrt Lust, bieten sich ihnen die Alligators dar. Am Morgen kehren sie nach Hause
zurück. Crooke, Introduetion to the popular religion and folklore of Northern India 353 f.
® Anderes bei J. Grimm, D. Mythol. 1034 f.
16 K. WEınHoLp:
In dem indischen Kathä Sarit Sagara I. e. 20' finden. wir nun die
Erzählung, dafs König Adityaprabha, von der Jagd heimkehrend, die
Wächter des Harems über seine Ankunft bestürzt findet, in das Innere
eindringt und die Königin Kuvalayävali in Verehrung der Götter findet,
ganz nackt, mit aufgelöstem Haar, die Augen halb geschlossen, mit einem
grolsen rothen Fleck auf der Stirn, ihre zitternden Lippen murmeln
Zauberformeln. Sie stand mitten in einem Kreise, der mit bunten Pul-
vern bestreut war, und sie hatte ein Opfer von Blut und Menschen-
fleisch gebracht. Als der König eintrat, ergriff sie ihre Gewänder,
und nachdem sie ihn um Verzeihung gebeten für das, was er gesehen,
sprach sie: »Ich habe diese Ceremonien vollzogen in der Absicht, Euch
Glück zu erwirken, und ich will Euch, mein Gebieter, erzählen, wie
ich diese Gebräuche erlernt und das Geheimnifs meiner Zauberkunst er-
worben«. Und sie erzählte, dafs sie durch ihre Freundinnen, als sie
noch im Vaterhause war, gehört, dafs Mädehen durch die Verehrung
des Ganesa (des Gottes des Glücks) einen passenden Gatten bekommen
könnten, und weiter, dafs sie später gesehen, wie ihre Freundinnen
sich plötzlich aus eigener Kraft in die Lüfte erhoben und sich darin
belustigten. Diese Freundinnen sagten ihr, dafs man diesen Hexen-
zauber durch den Genufs von Menschenfleisch erlange, ihre Lehrerin sei
eine Brahmanin, Kälavätri genannt. Die Königin erzählt dann weiter,
dafs dieses Scheusal sie in der Zauberkunst unterrichtete. Nachdem sie
gebadet und den Ganesa verehrt, mufste sie sich ganz entkleiden und,
in einen Kreis gestellt, eine fürchterliche Ceremonie zu Ehren des Siva
in seiner schreekhaften Gestalt verrichten. Darauf ward sie mit Wasser
besprengt, Kälavätri lehrte sie verschiedene Zauberformeln und dann
mufste sie als Opfer Menschenfleisch verzehren. Unmittelbar darnach
flog sie, nackt wie. sie war, in den Himmel empor, und nachdem sie
sich mit ihren Freundinnen erlustigt, kam sie wieder zu ihrem Vater-
hause herunter. »So ward ich in meinen Mädchenjahren eine Genossin
der Hexen, und bei unseren Zusammenkünften haben wir die Körper
vieler Männer verzehrt. «
Diese indische Geschichte ist von grofser Wichtigkeit für die Beur-
theilung der Hexenfeste als in der Volkserinnerung festgehaltener heid-
n7
! Übersetzung von C. G. Tawney in der Bibliotheca Indica I, 154 fl. Caleutta 1880.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 7
nischer Opferfeste germanischer Weiber, die ihr Entsprechendes in den
Culten der verschiedensten Völker und Zeiten finden. Vorzüglich wird
man an die arkadischen Opferfeste des Zeus Lykaios denken, blutige Sühn-
feste auf dem Grenzberge zwischen Arkadien und Messenien, bei denen
Menschen und Thiere als Opfer fielen und Verwandlungen der Opfernden
in Wölfe nach dem Glauben geschahen, nachdem sie von dem Opferfleische
genossen hatten.
Eng verwandt mit diesen Opferfesten sind die thrakischen orgiastischen
Feste auf Bergen! gewesen, bei denen zwar meines Wissens nicht die Nackt-
heit der Theilnehmenden, wohl aber die Umhüllungen mit Thierfellen (Nach-
ahmung der Thierverwandlung) erwähnt werden. Auch an die dionysischen
Feiern mag man sich erinnern, bei denen die Weiber ganzer Gegenden
von ekstatischer Tanzwuth ergriffen wurden (Rohde a.a. 0. 328-333),
was wieder an den epidemischen Tanzwahnsinn erinnert, den wir in Deutsch-
land im 14. und 15. Jahrhundert auftreten sehen.
Örgiastischer Natur war auch in ältester Zeit die Bestattungsfeier
in den vornehmen attischen Geschlechtern. Das weibliche Trauergefolge,
aus freien Frauen der Familie gebildet, ging unbekleidet, laut wehklagend
hinter der Leiche. Es ist dies aber schon vor Solon abgekommen.”
Im alten Israel gingen die Trauernden nackt, wie aus Jesaia 32, 11;
Micha ı, 8 sich deutlich ergiebt,’ und dazu stimmt, dafs auch für die
Araber der vorislamischen Zeit die Nacktheit in der Trauer erwiesen ist.'
In Dörfern von Nordindien ist es noch jetzt Brauch, dafs am Ende
des Jahres, in dem ein Familienglied gestorben ist, der nächste männ-
liche Verwandte nackt mit einem blofsen Schwerte in der Hand einen
ganzen Tag und eine Nacht zum Trommelschlage tanzt. Den zweiten Tag
wird ein Büffel geopfert, indem er mit indischem Hanf und Schnaps be-
täubt und dann mit Knüppeln todt geschlagen wird (Crooker, Introduet.
to the popular religion of Northern India ı11).
! E. Rohde, Psyche 301—14.
2 F. Dümmler im Philologus LIII, 212; Brückner, Athen. Mittheil. XVIII, 102 ff.
® Fr. Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten
Israel. Gielsen 1892 S. ır,
* Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten III, 107.
Philos. -histor. Abh. 1896. TI. 3
18 K. WEınHoup:
Gewils wird sich Entsprechendes mehr aus den Trauergebräuchen er-
geben. Aus Deutschland wüfste ich keine Spur der Zerreifsung der Ge-
wänder und theilweiser oder ganzer Nacktheit in dem Begräbnifsritus auf-
zuweisen.
Der altattische Leichenzug, in dem nackte Frauen freien Standes ein-
herschreiten, leitet zu gottesdienstlichen Aufzügen über, bei denen
die Nacktheit gerade der Weiber bezeugt ist. Plinius berichtet h.n. 22, 2,
dafs die verheiratheten Frauen (conjuges nurusque) der Britten bei gewissen
gottesdienstlichen Festen ganz entkleidet, nur mit dunkeln Farben den
Körper bemalt, einherschreiten. Dazu stimmt merkwürdig eine Procession
der Frauen an der Goldküste in Afrika, die sie noch jetzt halten, wenn
die Männer im Kriege sind. Täglich ziehen sie ganz nackt, die schwarzen
Leiber über und über mit weilser Farbe bestrichen, und mit Perlen und
Amuletten behängt, durch das Dorf. Sie führen dabei Kriegsspiele auf.
Kein Mann darf während des Aufzuges im Orte sein.’ Es scheint ein
Bittgang für das Leben ihrer Männer und den glücklichen Ausgang des
Krieges. Die Bemalung dieser Negerinnen ist gleich der der alten Brittinnen
nicht als Verdeckung der Nacktheit zu deuten, sondern sie entspricht der
in antiken und wilden Mysterien der Gegenwart nachzuweisenden Be-
streichung mit Lehm als Symbol der Unreinheit oder Befleckung, die nach
der rituellen Handlung entfernt wird; der von Sünde befleckte Mensch ist
dadurch rein geworden, entsühnt”.
Wir haben eine weitere Parallele in einem südindischen, hauptsäch-
lich von Schafhirten und Parias begangenen ländlichen Feste der Göttin
Pötrai. Am dritten und vierten Tage, die den persönlichen Opfern, die
in Rindern und Schafen gebracht werden, und dem Wohl der einzelnen
Familien und dem Feldsegen gelten, ziehen manche Frauen zur Erfüllung
ihrer Gelübde nackt, mit grünen Zweigen bedeckt und von ihren weib-
lichen Verwandten umringt, zu dem Tempel.’
' Hartland, The Science of Fairy Tales. London 1891 p. 86.
® Andr. Lang, Mythes, Cultes et Religion; traduit par L. Marillier. Paris 1896
p- 263 fl.
3
Nach W. Elliot, Journal Ethnological Soc. NS. I, 97—ı00; mitgetheilt von Gomme,
Ethnology in Folk-lore 22 f. 39.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 19
Die Nacktheit ist hier Erfüllung eines Gelübdes, und dies hat den
bekannten englischen Forscher Edw. Sidn. Hartland an die Legende von
der Lady Godiva erinnert,' die er durch jene indische Procession er-
läutert sieht.
Die Geschichte vom nackten Ritt der Lady wird zuerst von dem
englischen Chronisten Roger von Wendover (Anfang des 13. Jahrhunderts)
in seinen Flores historiae zum Jahre 1057 erzählt. Godiva oder eigentlich
Godgifu, die Gattin des Earl Leöfrie von Mereia, hatte denselben wiederholt
gebeten, den Einwohnern von Coventry einen lästigen Zoll zu erlassen.
Um ihrer Bitten ledig zu werden, erklärte er schliefslich, er wolle thun
was sie wünsche, wenn sie nackt vor allem Volke von einem Ende der
Stadt zum andern reiten werde. Zum Erstaunen des Earl that es seine
Frau, nur von ihrem langen aufgelösten Haar verhüllt, so dafs man von
ihrem Körper nur die schönen Beine sah. Earl Leöfrie hielt sein Ver-
sprechen.
Hartland hat das Ungeschichtliche dieser Geschichte nachgewiesen,
obschon Lady Godiva selbst eine historische Persönlichkeit bleibt. In Co-
ventry ward die Erinnerung an die Wohlthäterin des Ortes durch eine
jährliche Procession, great Fair genannt, die am Tage nach Frohnleichnam
statthatte, erhalten, wobei ein Mädchen im ungefähren Costüm der Lady
Godiva dieselbe vorstellte. Das älteste Zeugnifs für die wirkliche Aus-
führung dieses Aufzuges stammt erst von 1678. Damals vertrat übrigens ein
Knabe oder Jüngling (Ja. Swinnertons son) die Lady (Hartland a. a. 0.75).
Auch im Dorfe Southam bei Coventry ist diese Procession gehalten
worden, und hier ritten zwei Godivas, eine weifse und eine schwarze, in
dem Zuge.”
Endlich haftete eine verwandte Sage, nach Rudders History of
Gloucestershire (1779), an dem Orte St. Briavels in Gloucestershire. Hier
soll die Gemahlin des Earl of Hereford unter denselben Bedingungen wie die
des Earl von Mereia von ihrem Gatten für die Bewohner von St. Briavels
die Freiheit erlangt haben, in dem Forest of Dean holzen zu dürfen. Die
Hauswirthe des Dorfes mufsten aber noch eine kleine Steuer dafür zahlen,
! Über diese Legende hat Mr. Hartland in seiner Science of Fairy Tales p. 71-92
sehr gut gehandelt.
2 Genaueres ist nicht bekannt, Hartland 35.
3*
20 K. WEınHouıD:
von der eine Vertheilung von Brod und Käse am Weifsensonntag in der
Kirche geschah.'
Mit Recht hat E. S. Hartland in der historischen Legende die
Erinnerung eines heidnischen Festes zu Ehren einer germanischen Göttin
erkannt, von dem die Männer ausgeschlossen waren (a. a.0. S.92). Ich
will näher darauf eingehen.
Die great Fair von Coventry und St. Briavels fällt um Pfingsten, war
also Theil eines Sommerfestes. Die Pfingstumzüge mit Umführung eines
nackten, laubumhüllten Menschenkindes geben aus deutschen und slavischen
Landschaften eine Menge von Vergleichungen. Ich meine nicht den fest-
lichen Eintritt der Vertreter der Sommergottheiten, sondern jene Bitt- und
Opferfeste, welche die Erweckung des für das Gedeihen von
Feld und Weide nöthigen Frühlingsregens zum Ziele hatten: der
süd- und mitteldeutsche Umzug des Wasservogels und der deutsche und
slavische des Regenmädchens.
Die Einkleidung eines Jünglings oder Knaben in Laub, Schilf
und Blumen, die Umführung desselben im Dorfe, schliefslich seine Be-
gielsung oder sein Sprung oder Sturz in das Wasser sind die Acte des
gewöhnlich zu Pfingsten stattfindenden Brauchs.” In Bayern heifst die
Hauptperson desselben gewöhnlich der Wasservogel.” Im angrenzenden
Schwaben kommt dieser Name nur in den Orten vor, die mit altbayri-
schen in nahem Verkehr stehen; der Brauch selbst ist, obschon mit anderen
Pfingstbräuchen gemengt, lebendig (Panzer, 2,83-90; Birlinger, Aus
Schwaben 2,109. 112; Schmid, Schwäb. Wörterb. 518), ebenso in Öster-
reich, wo der Pfingstkönig, der Vertreter des alten Frühlingsgottes, in das
Wasser geworfen wird (J. Grimm, D. Mythol. 562). In niederbayrischen
Orten (Niederaltaich, Niederpöring, auch in Wehring im bayrischen Kreise
Schwaben, Panzer, 1, 235f. 2,83) heifst der laubumhüllte Knabe der Pfingstl,
in der Pfalz der Pfingstquak (Panzer, ı, 238). In Niederpöring wird der
Pfingstl, der, nach dem Bericht zu schliefsen, ganz nackt, nur mit Laub
' Whitsunday heifst in England der Pfingstsonntag (Hampson, Calendarium II, 392),
während in Deutschland der Sonntag Invocavit darunter verstanden wird.
” Sofern ein stattlicher Umritt dabei gehalten wird, sind Theile des Sommereinzugs
eingemischt.
> Über ihn hat Fr. Panzer, Bayerische Sagen u. Bräuche 1,226 ff. 2, 81 ff. 444 ff.
ausführlich gehandelt.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 21
und Wasserpflanzen bekränzt, einherschritt und dabei fortwährend begossen
ward, schliefslich in den Bach geführt und von einem seiner Begleiter
(Weiser) mit einem Schwerte scheinbar geköpft (Panzer, 1, 236).
Auch in Thüringen hat sich der uralte Brauch bis in neue Zeit er-
halten. Hier heifst der laubumhüllte und mit Bändern geschmückte Bursche,
der während des Pfingstumzuges mit Wasser begossen und am Ende in’s
Wasser gestürzt ward, das Laubmännchen. In Dörfern um Mühlhausen
ward der dem österreichischen Pfingstkönig entsprechende Schofsmeier,
der mit Blumen und Laub geschmückt einreitet, auch in's Wasser geworfen,
also auch hier Mischung zweier verschiedener Scenen des Sommerfestes.
Die Bedeutung der Handlung für den Feldsegen erweist sich auch dadurch,
dafs in Grofsvargula die Hauptperson der Graskönig heifst, und die Zweige
der Pappelpyramide, unter der er einreitet, um die Flachsfelder gesteckt
werden, damit der Lein hoch wachse (Witzschel, Sagen, Sitten und Ge-
bräuche aus Thüringen 2, 203. Wien 1878). Im Usingischen in Nassau
heifst der umkränzte Knabe die Laubpuppe (Kehrein, Volkssprache und
Volkssitte in Nassau 2, 156).
Bei den Winden in Kärnten und Krain wird am Georgstage (24. April)
ein Frühlingsfest gefeiert, das sich diesen deutschen vergleicht. Die Haupt-
person des Aufzuges der männlichen und weiblichen Dorfjugend ist ein über
und über in grünes Birkenlaub gehüllter junger Bursche, der grüne Georg
(zelene Jury) nach dem Tagespatron genannt. Er ward in’s Wasser zum
Schlufs geworfen; jetzt geschieht es nicht mehr mit dem Menschen selbst,
sondern mit einer rasch untergeschobenen Puppe. Doch wird mancher Orten
noch der Bursche selbst in dem Flusse oder Teiche gebadet, und der Glaube
herrscht im Volke, dafs dadurch im Sommer genügender Regen für die Felder
erwirkt werde.'
Für die Laubeinkleidung eines Mädchens und das Bad desselben
im Flusse, um Regen zu gewinnen, haben wir für Deutschland das älteste
Zeugnifs im 19. Buche der Canonessammlung Bischofs Burchard von Worms
(F 1024), welches auf mittelrheinischem Volksbrauche beruht. Der Beichtiger
fragt, ob die Beichtende Theil nehme an dem Brauche,” bei Regenmangel
sich zusammen zu thun und ein kleines Mädchen zu erwählen, es nackt aus-
! Mannhardt, Wald- und Feldeulte r, 312f. Über einen entsprechenden russischen
Brauch am Georgstage I, 317.
®2 Friedberg, Aus deutschen Bulsbüchern S. or.
22 K. WEINHoLD:
zuziehen und zu einer Stelle aufser dem Dorfe zu führen, wo Bilsenkraut
wächst. Dort mufs das nackte Kind eine Bilsenpflanze mit dem kleinen
Finger der rechten Hand entwurzeln, die darauf an die kleine Zehe des
rechten Fufses gebunden wird. Zweige in den Händen, führen sie dann die
Kleine in den nächsten Bach, besprengen sie mit den in’s Wasser getauchten
Zweigen, indem sie dazu ein Zauberlied singen, und führen darauf rückwärts
gehend' das nackte Mädchen in das Dorf zurück. Sie hoffen dadurch Regen
zu bekommen.
Man beachte, dafs in diesem ältesten Bericht über das Regenmädchen
keiner Laubverhüllung gedacht wird; die älteste Weise des Regenopfers ist
hier deutlich zu erkennen. Das Mädchen wird ganz nackt, nachdem es ein
Zauberkraut nach ritueller Vorschrift ausgegraben hat und ihm dasselbe an
dem entblöfsten Leibe befestigt ist,” mit weihendem Wasser besprengt und
dann in das Wasser unter liedartigem Gebet untergetaucht, d.h. wie wir
zeigen werden, ursprünglich getödtet als Opfer des Regengottes.
Längst ist hierzu von Jac. Grimm in seiner Mythologie 561 der
serbische Brauch der Dodola verglichen worden. Ein Mädchen, Dödola ge-
nannt, (wie es scheint, nach dem Refrain des dabei gesungenen Liedehens:
oj dödo oj dödo le), wird ganz entkleidet und mit Gras, Kräutern und
Blumen umwunden. Unter Tanz” und Liedern führen Jungfrauen die Dodola
durch den Ort, und die Hausfrauen begiefsen sie.
Dem serbischen Brauche entspricht ganz der bulgarische, der bei Dürre
geübt wird. Das Regenmädchen heifst hier Djuldjul oder Peperuga; ferner
der walachische um Mediasch in Siebenbürgen, wo das Mädchen Papaluga
genannt wird (Grimm 560; Mannhardt ı, 329), und der neugriechische der
Pyperuna, den Grimm ebenfalls schon nach Th. Kinds Tpayodıa rns veas
ErAaöos S. 13 erzählt hat (a. a. O. 561). Wenn längere Zeit Dürre herrscht,
wird ein kleines Mädchen, meist ein armes Waisenkind, ganz entkleidet,
von Kopf bis Fufs mit Kräutern und Feldblumen umhüllt, im Dorf umher-
geführt und von den Hausmüttern mit Wasser begossen.
' Das Rückwärtsgehen war bei Zauberhandlungen Brauch, auch im Norden, Maurer,
Bekehrung 2,137; Grimm, D. Mythol. 3,417; Wuttke, Aberglauben $ 250.
® An eine Zehe des linken Fulses hat der nackte Bilweils die Sichel gebunden, womit
er das Getreide fremder Felder für sich schneidet.
® Das von Tanz begleitete Lied heilst prporysche, der ganze Umzug prpatz, nach Vuks
Serb. Wörterb, neue Ausg.: Grimm, Mythol. III*, 169.
Zur Geschichte des heidnischen Rilus. 23
Aus der Bukowina, bei Rumänen wie bei Ruthenen, ist der Brauch
vom Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt, bei anhaltender Dürre nackte
Weiber in das Wasser zu werfen, um den Regen zu erzwingen. Im Gou-
vernement Chersson badeten am Johannistage 1884 Weiber bekleidet im
Flusse und begossen dabei eine aus Zweigen und Kräutern gemachte Puppe,
um Regen zu schaffen. In Podolien ist zum selben Zweck ein Pope im
ÖOrnat auf die Erde geworfen und mit Wasser beschüttet worden (Zeitschr.
d. Vereins f. Volkskunde 3,85).
Prüfen wir nun diese alten weit verbreiteten Gebräuche, deren Ab-
sicht ist, in dürrer Zeit den ersehnten Regen zu erwecken, so finden wir
die Anschauung darin, durch Besprengen oder Begiefsen eines Menschen
oder eines Gegenstandes könne das himmlische Wasser aus den ver-
schlossenen Wolken befreit werden. Alle sogenannten Zauberhandlungen
versuchen durch menschliche Nachahmung eines Naturvorganges die über-
oder unterirdischen Mächte zu veranlassen, denselben in der Natur zu voll-
ziehen. Es ist der homöopathische Grundsatz similia similibus, der im ent-
gegen gesetzten Falle bei Regenüberflufs dazu führt, das Wasser oder ein
Wasserthier zu vergraben. In Nordindien sammelt man, um den Regen zu
stillen, Wasser aus sieben Häusern in einem irdenen Topf und vergräbt es.
Oder eine Jungfrau bedeckt eine Stelle mit Kuhdünger und vergräbt einen
Frosch darin (Folk-lore VII, 95).
Als ein einfaches Mittel, den Regen hervorzurufen, dient die Berührung
einer Quelle mit einem Zweige oder Stabe.
Beim Regenmangel im Peloponnes ging der Priester des Zeus Lykaios
auf dem lykaiischen Berge nach einem Gebete zu einer heiligen Quelle des
Berges und berührte das Wasser mit einem Eichenzweige, worauf das
Wasser in Aufruhr kam und ein Nebel daraus aufstieg, der Wolken bil-
dete und den Regen brachte. Ganz wie dieser Zeuspriester verfahren die
deutschen Wettermacher. Sie schlagen so lange in Bäche oder Teiche mit
Gerten, bis Nebel aufsteigen und Wolken sich bilden, auf denen dann die
Hexen hinfahren, wenn sie den Feldern schaden wollen (Grimm, Mythol.
1041 nach Hexenacten des 16. und 17. Jahrhunderts). Eine hessische Hexe
bekennt 1596, mit einem weilsen Stecken im Bach gerührt zu haben, darauf
es gedonnert und ein Wetter worden (Wolf, Zeitschr. f. deutsche Mythol.
2,76). In dem Marburger Hexenprocefs von 1546 bekennt ein windisches
Weib, sie habe einmal auf einer Wegscheide eine Wasserlacke mit einer
24 K. WEınmorp:
Ruthe geschlagen und angesprochen, darauf Schauer und Regen über die
Weingärten gegangen sei (Mittheil. des histor. Vereins für Steiermark
XXVI, ı25). Das Pemmererweiblein rifs einen Tannenzweig ab, rührte
in einer Lacke, und im Nu stiegen die Wetterwolken auf (Zingerle, Sagen
aus Tirol, Nr. 786, 2. A.). Ein Knabe, der von einer Magd Wettermachen ge-
lernt, zeigte seinem Vater, wie er das mache. Er holte ein Schaff mit
Wasser, schnitt einen Stecken vom Baum, zog einen Kreis um das Schaff
und rührte darin. Bald war das Wasser verschwunden, es bildete sich
eine Wolke und hagelte über den Kreis herunter (Zingerle, Nr. 778).
Bei Sterzing in Tirol zeigte ein Zigeunerbube, den der Kurat zu sich
genommen hatte, demselben, wie man ein Hagelwetter mache. Er ging
in ein Wasser, streekte die Hände aus, sprach allerlei, und das Wetter
kam (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 1, 69). In Westfalen herrscht jetzt
noch der Glaube, in der Heuernte dürfen die Mäher keinen Rechen in
das Wasser tauchen, sonst komme Regen (Wuttke, $ 663).
Eine andere Weise, Regen (und Hagel) zu erzeugen, ist Wasser auf
Steine zu giefsen oder Steine in ein Wasser zu werfen. Durch Chrestiens
von Troies und Hartmanns von Aue Iwein ist der Brunnen von Berenton
im Walde Breceliande bekannt.
Gols man aus diesem Brunnen Wasser auf die Steine, so erhob sich
sofort Regen und Unwetter. Der Glaube daran dauert noch heute dort
fort. Bei anhaltender Dürre wird eine kirchliche Procession zu dem Brun-
nen gehalten und es genügt, dafs der Maire seine Fülse kreuzweise in die
Quelle tauche, um Regen zu bekommen (Grimm, Mythol. 562).
Bei dem vorhin erwähnten Hexenprocefs zu Marburg an der Drau von
1546 sagen die windischen Weiber aus, wenn sie ein Wetter machen wollten,
hätten sie bei einem Wasser neun Steine wohl geputzt; nach welcher Rich-
tung sie dieselben in’s Wasser geworfen, dahin sei zur Stund der Schauer
gegangen (Mittheil. d. hist. Vereins f. Steiermark XXVI, 124).
Bekannt ist der im Alterthum wie im Mittelalter und noch jetzt ver-
breitete Glaube, dafs in gewisse Seen und Teiche kein Stein geworfen
werden dürfe, es entstünde sonst sofort Regen und Unwetter."
Die Nacktheit der Wettermacher ist in den angeführten Beispielen
nicht besonders erwähnt. Dass sie aber wie bei allem Zauber uranfänglich
' Plinius, Hist. nat. II, 44; Pompon. Mela I,3; Grimm, D. Mythol. 564; Liebrecht,
Gervas. 146; Zingerle, Sagen aus Tirol, 2. A. Nr.165. 250 mit Anm,
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 25
Bedingung war, bezeugt noch Manches. Zunächst erinnere ich daran, dafs
wenn der von Hexen erregte Wetterzauber zerstört wird, die Hexen nackt
aus den Wolken herunterstürzen. Dann an den Holzschnitt vor der Pre-
digt von den .Unholden und Hexen in Geiler’s Emeis (Strafsburg 1517
fol. 37°). Drei Hexen sind beim Wettersieden dargestellt: die linke und
mittlere sind ganz nackt bis auf das Haarnetz, die rechte ist bekleidet,
Dämpfe steigen aus dem Topf, den die linke in der Hand trägt. Ein
rothes Tuch schwebt über ihnen.
In Bernau in der Mark Brandenburg machte ein nacktes Weib Ge-
witter (Märkische Forschungen 1,256).
In der Oberpfalz wird erzählt, dafs einmal ein wandernder Hand-
werksbursch (die nach der Volksmeinung mehr wissen als andere Leute)
einem Bauer zeigte, wie man beim heitersten Himmel ein Unwetter machen
könne. Er ging in eine Wiese, wo ein Brunnflufs war und stiefs dreimal
mit dem nackten Hintern in das Wasser. Sogleich stieg Rauch auf, der
sich zu einer schwarzen Wolke verdichtete, und ein schreckliches Wetter
brach los. Der Handwerksbursche aber war verschwunden (Schönwerth,
Aus der Oberpfalz 3,184).
Wie die Wettermacher so ist auch der die Ernte schädigende Bilmis-
schnitter bei seinem Werke nackt, wenn er durch das reifende Kornfeld,
mit der Sichel am Fufs und Zaubersprüche murmelnd, schreitet (J. Grimm,
D. Mythol. 444; Schönwerth, Aus der Oberpfalz 1,427).
Die Erregung des Wassers zur Nebel- und Wolkenbildung und dadurch
zur Erzeugung des Regens geschah zwar mit Gebet und bestimmtem Brauch,
aber die zuletzt angeführten Nachweise sprechen (abgesehen von der neueren
kirchlich umgestalteten Procession von Berendon) nur von einzelnen Wetter-
machern. Feierlicher und allgemeiner wird die Handlung, wenn sie von
der ganzen Dorfgemeinde vollzogen wird mit festlichem Auf- und
Umzug, Gesang und Tanz und mit Opfer, wie das in den Pfingstbräuchen
und der weiblichen Procession mit dem Regenmädchen entwickelt ist.
Diese Aufzüge sind die Reste theils eines grofsen Frühlingsfestes,
welches die Gunst der Gottheit für fruchtbares Wetter zum Sommer durch
das Höchste, ein Menschenopfer, erwirken sollte, theils einer durch Dürre
bedingten Nothprocession. Aus mythischer Überlieferung wissen wir, dafs
die Schweden bei mehrjährigem Mifswachs und dadurch entstandener Hun-
gersnoth, in der viel Volk verdarb, den ersten Herbst Rinder opferten,
Philos. -histor. Abh. 1896. I. 4
26 K. WEINHoLD:
den zweiten Menschen, den dritten den König (Heimskr. Yngl. S. e. 18).
Bei den Kaffern wird, wenn kein Viehopfer zum Regen verholfen hat, von
den Zauberern ein (gewöhnlich reicher) Mann als Verhinderer des Regens
bezeichnet (er habe sich auf den Kopf gestellt und dem Himmel seinen
Hintern gezeigt). Derselbe wird geopfert und seine Herden weggenommen
(von Andrian, Wetterzauberei S. 54). W. Mannhardt (Wald- und Feld-
eulte I, 356. 360 ff.) hat aus Mexiko, ferner von Indianern und Afrikanern
Menschenopfer bei Frühlings- und Erntefesten nachgewiesen und dabei,
trotzdem ihm sein Vegetationsdämon sehr unbequem wird, dem Schlusse
nicht ausweichen können, dafs der »Laubmann« in den deutschen Pfingst-
bräuchen eigentlich ein Menschenopfer bedeute. Dafs der Pfingstl, Pfingst-
könig, Schofsmeier oder wie der laubumhüllte Bursche heifse, gewaltsam
in den Bach oder Teich geworfen wird, dafs in Niederpöring in Baiern
der Pfingstl dabei noch geköpft wird (Panzer, ı, 236) macht diese Auf-
fassung ganz unabweislich. Thieropfer für Regen sind aus Westfalen und
Böhmen als noch bestehend nachgewiesen: wenn man Regen bedarf, wird
in Westfalen ein Frosch (ein Regenthier und Prophet) getödtet (Kuhn,
Westf. Sagen 2, 80, Nr. 244), in Böhmen eine Schlange (Wuttke, Aber-
glauben $ 153). Die Ersetzung des Menschen durch ein Menschenbild,
eine Puppe, wie bei dem grünen Georg der Slovenen, und wie bei dem
Todaustreiben in Mitteldeutschland und angrenzenden slavischen Land-
schaften, ist von Griechen und Römern und von heutigen Naturvölkern,
sowie aus fortdauernden europäischen Volksgebräuchen bekannt.'
Die Umhüllung des ursprünglich nackten Knaben oder Jünglings oder
des nackten Regenmädchens mit Laub und Kräutern hatte ursprünglich
nicht die schamhafte Verdeckung der Nacktheit zum Grunde, sondern ist
die Bekränzung des Opfers. Nach Burchard von Worms ging das mittel-
rheinische Regenmädchen ganz nackt in dem Aufzuge der begleitenden
Jungfrauen. Dafs die zum Opfer bestimmten Menschen ganz entkleidet
wurden, kann das klassische Beispiel der Polyxena in Euripides Hekuba 555
beweisen.
! Marquardt, Alterth. 3, 186; K. Fr. Herrmann, Antiqu. 2, 159 ff.; Andr. Lang,
Mythes, Cultes et Religion (trad. par L. Marillier) p. 246 ff.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 27
Es liegt mir nicht ob, überhaupt über den segnenden und fruchtbaren
Wassergufs zu handeln. Ich habe ihn nur berühren müssen, weil die dabei
nachweisbare Nacktheit darauf führte. Diese Nacktheit erscheint nun
auch bei anderen Gebräuchen, die Segen oder Schaden von Feld
und Weide bezwecken.
Wir wollen das Pflugziehen' voranstellen, weil es sich auch mit
dem Wassergufs und dem Waten in einem Flufs verbunden zeigt. Es ist
eine uralte weitverbreitete Sitte der Feldbauer, die von der Wintersonnen-
wende an bis zur Feldbestellung nachzuweisen ist und durch eine Gult-
handlung die Befruchtung des Ackers erwirken will.
Thomas Kirehmair (Naogeorgus 1511-1587) schildert in seinem
Regnum papistieum (Ed. 1559 S.144) auch die Fastnachtgebräuche und
erzählt unter dem Aschermittwoch Folgendes:
Mutuo se capiunt alii ac in flumina portant
contis impositos, ut festi quiequid inhaesit
stulti, tollatur mersum fluvialibus undis. —
est ubi se sociant juvenes tibieine sumpto
et famulas rapiunt ex zdibus et ad aratrum
jungunt, quas scutica pellitque ae dirigit unus.
unus item stivam tenet, at tibicen aratri
considet in medio ridendasque oceinit odas.
unus item sequitur sator, is vel spargit arenam
vel fatuo cinerem gestu vultuque severo.
postquam luserunt ita per fora perque plateas,
per rivum tandem ancillas et dueit aratrum
rector et ad coenam madidas vocat atque choreas.
Für denselben Brauch in Oberschwaben am Aschermittwoch zeugt
der Verfasser der Zimmern’schen Chronik: medlin und megt, auch die
jungen gesellen zogen zu Scheer einst eine egge durch die Donau (Barack’s
Ausg. v. 1869 II, 117). Andere Zeugnisse für das Pflugumziehen im Vor-
frühling, wobei besonders die ledig gebliebenen Mädchen vorgespannt wur-
den, geben: Das Fastnachtspiel die Egen (Keller, Nr. 30), Hans Sachs,
Die Hausmaide im Pflug (Keller’s Ausg. V,179) und Sebast. Franck
(nach Joannes Boemus) im Weltbuch. Der alte zum Fastnachtscherz ge-
wordene Frühlingsritus hat sich mit natürlichen Änderungen in Tirol, Fran-
ken, Schlesien, in den windischen Gegenden von Kärnten und Krain, in
Dänemark und England erhalten.
‘ Mannhardt, Wald- und Feldeulte ı, 553 fl.
4*
28 K. Weınnoup:
Die Nacktheit der vorgespannten Frauenzimmer mufs im 15. und 16.
Jahrhundert schon aufgegeben worden sein, jedenfalls weil sich nicht mehr
blofs weibliche Festgenossen an dem Brauche betheiligten. Aber sie wird
als nothwendig zu diesem Zauberritus anderswoher bezeugt. In Böhmen
war es nach Krolmus Staroteske povesti Brauch, dafs die Bauern in der
Zeit der Frühlingssaat in grofsem Aufzuge zur Nachtzeit einen Pflug, vor
dem ein nacktes Mädehen und ein schwarzer Kater gingen, auf das Feld
zogen, wo sie den Kater lebendig vergruben. In anderen Dörfern waren
drei nackte Weiber vor den Pflug gespannt (Mannhardt, 1,561).
Bei Zeiten der Dürre und dadurch entstandener Hungersnoth findet
noch jetzt in Indien ein ganz entsprechender Umzug durch Weiber statt,
der auch für die deutschen Bräuche den Zweck, Regen für das Frucht-
Jahr zu erwirken, beweist. — Bei der grofsen Hungersnoth in Gorakhpur
von 1873/74 zogen, um Regen zu schaffen, die Frauen ganz nackt bei Nacht
einen Pflug kreuz und quer über die Felder. Kein Mann durfte ihnen
begegnen, sonst war nicht blofs die Ceremonie fruchtlos, sondern auch
Unglück über das Dorf gebracht (aus Panjab Notes and Queries II, 41.
115 bei Hartland, Science of Fairy Tales S.84). — Während der grofsen
Dürre, die im Sommer 1892 im Distriet Mirzapur in Nordindien herrschte,
ward in der Nacht des 24. Juli in Chunär folgende Ceremonie vollzogen.
Zwischen 9-10 Uhr Abends ging das Weib des Bartscherers von Haus zu
Haus und forderte die Frauen zum Pflügen auf. Dieselben sammelten sich
auf einem Felde, das kein Mann betreten durfte. Drei Weiber aus einer
Bauernfamilie entkleideten sich, zwei spannten sich gleich Ochsen vor einen
Pflug und das dritte lenkte sie. Sie thaten als ob sie pflügten. Die Pilug-
führerin rief dann aus: »O Mutter Erde, bringe geröstetes Korn, Wasser
und Spreu. Unsere Magen zerbrechen vor Hunger und Durst!« — Dann
näherte sich der Gutsbesitzer und der Verwalter und legten etwas Korn,
Wasser und Spreu auf das Feld. Die drei Frauen kleideten sich wieder
an und gingen heim. Unmittelbar hierauf änderte sich das Wetter und
es fiel reichlich Regen (aus North Indian Notes and Queries I. 210 bei
Crooke, Folk-lore of N. India43). In Madras tanzt bei Dürre ein häfs-
liches altes Weib, zuweilen nackt, mit einem brennenden Holzscheit und
sieht gegen die Wolken, um den Sonnengott durch ihren Anblick zum
Rückzuge zu zwingen (Crooke, 46). Von Wasserguls oder Besprengung
ist weder bei diesem indischen noch dem vorangehend erwähnten ezechi-
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 29
schen Pflugumziehen etwas gesagt, aber ich glaube mit Mr. Frazer (Gol-
den Bough ı, 17), dafs der Zauber unvollständig ist, ohne das Eintauchen
oder Besprengen des Pfluges oder der Pflugzieherinnen. Dafür spricht
auch Folgendes. In Westfalen war es noch um 1830 hier und da Sitte,
dafs die Weibsbilder die Ackerleute, wenn sie zum ersten Male im Jahre
mit dem Pfluge vom Felde heimkamen, mit Wasser begossen (Kuhn,
Westfäl. Sagen 2,153) und ganz dasselbe ist aus Brandenburg (Engelien
und Lahn, Der Volksmund in der Mark Brandenburg S.270), vom Eichs-
felde (Waldmann, Eichsfeldische Gebräuche und Sagen. Heiligenstadt
1864 S.ı1) und aus dem Hennebergischen (Zeitschr. f. Deutsches Alterth.
3,361) bekannt. Auf dem Eichsfeld werden auch die Mädchen begossen,
wenn sie das erste Mal im Frühjahr mit einer Tracht Gras heimkommen.
Ich wende mich nun zu den magischen Handlungen, ohne Wasser-
gufs und Pflug, bei denen Frauen in Nacktheit auftreten, seltener Männer,
und welche sich auf den Feldbau beziehend, theils den Gedeih der Saat
oder Pflanzung, theils die Abwehr schädigender Einflüsse zur Absicht haben.
Sie bestehen noch heute in Deutschland oder sind erst vor Kurzem ver-
schwunden. Gleiches aus anderen Völkern wird beigebracht.
In Ostpreufsen säen manche Bauern in der Nacht nackt den Samen
in den Acker (Wuttke, $ 653). Im Saalfeldischen umtanzten nach dem
Journal von und für Deutschland von 1790 (Mannhardt, Wald- und Feld-
eulte 1, 484) nackte Mädchen die Flachsfelder, damit er hoch wachse, und
wälzten sich im Flachs. In Schlesien ist es noch jetzt verbreitete Sitte, dafs
die Bauersfrau oder auch die Mädchen des Hauses zu Fastnachtabend vom
Tische springen; so hoch sie springen, so hoch wird der Flachs werden. Die
Nacktheit der Mädehen (ledige Frövelker) bezeugt Schroller (Schlesien
3, 291. 403) aus der Goldberger und der Striegauer Gegend. Dasselbe ist
für das Voigtland verbürgt (Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 368),
wo in manchen Orten die Hausfrau zu jenem Zweck zu Fastnacht um
Mitternacht oder vor Sonnenaufgang nackt vom Tische springt. Aus Öst-
preufsen wird die Nacktheit nicht erwähnt, die Sprünge geschehen beim
Tanze der Hausmutter mit dem Hausvater oder der Töchter, wobei die
Tänzer dieselben möglichst hoch zum Sprunge zu heben suchen. Auch in
30 K. Weınnmorp:
Böhmen ist der Sprung beim Tanze üblich (Wuttke, Abergl. $ 657). In
dem von Grimm, Mythol. 1189 aus Lasiez eitirten samogitischen Brauch
ist noch Gebet, Speise- und Trankopfer als zu dem Flachssprung gehörig
erhalten. Durch die Betheiligung von Männern ist die Nacktheit natürlich
ausgeschlossen worden, denn im Allgemeinen war sie nur bei den Riten
zulässig (wie durch Beispiele genug im Vorangehenden belegt ist), welche
die Frauen allein vollziehen.
Das Ganze war ursprünglich eine Opferhandlung der Frauen zum Ge-
deihen des Flachses, der ihnen besonders werthen Feldfrucht. Der sym-
bolische Sprung erhielt sich daraus am längsten.
In Chatapur in Nordindien legen, wenn Regen fällt, die Hausfrau
und ihre Schwägerin alle Kleider ab und werfen sieben Kuhfladen in ein
schlammiges Wasserbecken, damit das Getreide wachse (for storing grain).
Gewöhnlich geschieht es Sonntags oder Mittwochs. Der Mann und sein
Mutterbruder könne diese symbolische Düngung des Ackers auch vorneh-
men; aber meist geschieht es durch jene Frauen (Crooke, Introd. to Folk-
lore of N. India 41). Um die Fruchtbarkeit des Feldes zu fördern, streuen
die Manghs nackt Stücke von Weihfleisch (holy meat) auf den Acker
(Crooke, ebd. 40).
Wir kommen nun zu Gebräuchen ganz orgiastischer Natur, die Frauen
und Männer gemeinsam begehen und die natürlich nieht von dem Stand-
punkt feinerer Cultur zu beurtheilen sind, sondern nur als Reste sehr ur-
sprünglicher Zustände.
In dem Zeitpunkte der höchsten Blüthe des Naturlebens, zu Mitt-
sommer, sind Feste gefeiert worden, bei denen an die Tänze nackter
Weiber sich geschlechtliche Vereinigung ungescheut anschloßs. Noch im
vorigen Jahrhundert tanzten in Esthland am Johannisabend um ein Feuer,
in das Opfergaben geworfen wurden, unfruchtbare ganz entblöfste Weiber,
während die andere Gesellschaft den Opferschmaus hielt und schliefslich
Unzucht trieb.'
Aus Polen ergiebt sich dureh Synodalbeschlüsse unter Bischof Laskari,
dafs gegen wilde Tänze mit geschlechtlichen Ausschweifungen eingeschritten
' Nach Böcler der Esthen abergläubische Gebräuche (1854) bei Wuttke, $ 429.
Von einem etwas “gemilderten Johannisbrauche auf der esthnischen Insel Moon spricht
Mannhardt. Wald- und Feldeulte 1, 469 nach den Verhandl. d. esthn. Gesellschaft Dorpat,
1872 VII, 63 1.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 31
werden mufste, die am Johannis- und am Peterpaulsabend Brauch waren.
In der Ukraine, Wolhynien und Podolien kommt es noch vor, dafs sich
zu Johannis Paare auf den Getreidefeldern wälzen, um eine gute Ernte
zu erwirken, und dasselbe wird von Paaren wie von Einzelnen auch aus
Thüringen und Hessen, sowie aus England berichtet (Mannhardt, Wald-
und Feldeulte ı, 480-88). Das sind eben nur Abschwächungen jenes
ritualen Actes alter Wildheit, der durch indische Zeugnisse weiter ver-
bürgt wird. Im alten Indien wurden am Mahävratatage (Sonnenwendtag)
die Frauen mehr als sonst zu den Öpferhandlungen herangezogen, Sie
trugen Wassereimer um das Feuer und schlugen die Laute. Dann ward
ein Paar ausgewählt aus einer bestimmten Kaste, das südlich von dem
grolsen Feuer sich gefehlechtlich vereinigte (A. Hillebrandt, Die Sonnen-
wendfeste in Alt-Indien: Romanische Forschungen V, 336). Ganz verwandt
ist der Vorgang bei dem südafrikanischen Volke der Kimbunde: an dem
Erntefeste derselben tanzen nackte Frauen um die brennenden Holzstöfse
und geschlechtliche Orgien schliefsen sich an (Mittheilung A. Bastians
nach Magyar).
Auf denselben Grundgedanken geht ein javanischer Brauch zurück.
Zur Erzielung reicher Reisernte laufen nächtlich Männer und Frauen die
Felder entlang und opfern linga und yoni (d. i. begatten sich). Selbst bei
den christlichen Amboinesen geschieht es noch, dafs bei Anzeichen magerer
Öbsternte der Besitzer des Baumgartens Nachts in denselben geht, sich
entkleidet und an einem Baume stehend, die Gebärde des Coitus macht,
damit der Baum fruchtbar werde (Wilken, Vergl. Volkenkunde van Nederl.
Indie. Leiden 1893 S. 550).
Zu vergleichen ist dazu, dafs in Bijapur in Nordindien unfruchtbare
Weiber, um empfänglich zu werden, eine nackte weibliche Figur verehren
(Crooke, Introd. to Folk-lore of N. India 40), und dafs in Bombay unfrucht-
bare Frauen früh Morgens in den Tempel des nichtarischen Gottes Haneman
gehen, sich entkleiden und das Götzenbild umarmen (Crooke, ebd. 46).
Wir gehen von den positiven zu den negativen Riten über, denen,
welche Schaden verhüten sollen, der über den Acker und seine Früchte
kommen könnte. Die Nacktheit der Weiber zeigt sich auch hier als alte
32 K. WeınHhoup:
Forderung, zuweilen auch, dafs die Handlung während der Menstruation
geschehe.'
Zur Abwehr der Dürre kommt bei den Szeklern in Siebenbürgen vor,
dafs der Bauer ein Weib, gewöhnlich eine Zigeunerin, dazu gewinnt, dafs
es sich nackt am Johannismorgen auf den Acker legt und der Sonne zu-
ruft: Junger Sonnenherr, thu mir und dem, was um mich ist, keinen
Schaden (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 403).
Gegen Ungeziefer strebte man vor Allem die Feldfrüchte zu schützen.
Plinius berichtet (Hist. nat. 28, 23),” dafs ein Mittel gegen saatenschädliche
Würmer und Käfer die Umschreitung der Feldgränzen durch nackte Weiber
sei. Nach Metrodorus Scephius geschehe das in Kappadokien gegen die
zahlreichen Kanthariden und zwar, indem die Weiber die Kleider über das
Gesäfs heraufheben und so die Saaten durchschreiten. Anderwärts seien
sie zwar bekleidet, aber mit abgethanem Gürtel, gelösten Haaren und bar-
fufs. Die Ersetzung der Nacktheit, von der wir wiederholt sprachen, ist
hier recht deutlich.
Belege aus neuerer Zeit schliefsen sich an.
Nach dem um Belluno in Venezien herrschenden Aberglauben müssen
sich zur Vertreibung der Raupen ein nacktes Mädchen und ein Priester
früh Morgens in dem vom Frafs heimgesuchten Felde begegnen (Bastanzi,
Superstizioni religiose nelle provincie di Treviso e di Belluno. Firenze
1887).
Im Meininger Oberlande läuft am ersten Markttage nach Bartholomae
ein Weib vor Sonnenaufgang nackt dreimal um den vom Raupenfrafs heim-
gesuchten Krautacker; dadurch werden die Raupen von der Ecke aus, in
der der Lauf begann, von dem Kohl weg nach dem Markte vertrieben
(Witzschel, Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen 2, 217).
In der Mark ist die Nacktheit vergessen, aber die dreimalige Um-
schreitung des Raupenfeldes vor Sonnenaufgang durch die Hausfrau (auch
den Hausvater) bewahrt. Der Bannspruch: »Rupen, packt ju, de Män geit
weg, de Sunn kümt!« zeigt, wie das Ungeziefer als etwas Geisterhaftes ge-
fafst ist (Kuhn, Märkische Sagen S. 382).
! Über die magische Wirkung des Menstruationsblutes Plols-Bartels, Das Weib.
13, 275—285; Lammert, Volksmediein in Bayern S.ı46f.; G. Pitre, Medicina popolare
sieiliana (Torino 1896) p. 132.
®2 Vergl. hierzu R. Heim, Incantamenta magica p. 508.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 33
Bei dem Indianerstamm der Algonkin geht die Hausfrau Nachts bei
wolkigem Himmel nackt um das Feld, um es gegen Insecten, Eichhörnchen
und Mehlthau zu schützen (Mannhardt, Wald- und Feldeulte ı, 560 Anm.,
ergänzt durch eine Mittheilung A. Bastian’s).
Bei den masurischen Polen herrscht der Glaube, dafs zum. Schutze
des Erbsenfeldes vor Mehlthau ein nacktes Frauenzimmer vor der Saat das
Feld umgehen mufs, oder es mufs wenigstens sein Hemd' darum getragen
werden (M. Toeppen, Aberglaube aus Masuren, 2. A. S. 93. Danzig 1867).
Namentlich gegen Vogelfrafs ist unser Mittel bewährt. In der Johannis-
nacht geht man in Mecklenburg nackt in das Kornfeld und mäht an jeder
Ecke einige Halme ab: es ist das ein Opfer für die Vögel, die das Feld
dann schonen, so wie in Masuren beim Säen eine Handvoll Körner für
die Vögel ausgeworfen wird (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 161).
Wer das Saatfeld gegen Vogelfrafs schützen will, so meint der Sieben-
bürger Sachse, gehe Morgens ganz früh auf den Acker, ziehe sich nackt
aus, gehe dreimal ohne rückwärts zu sehen und ohne zu sprechen um
das Getreide, bete das Vaterunser, dann ziehe er sich wieder an, mache
etwas Schwefeldampf, nehme eine Kornähre in den Mund und gehe, ohne
mit Jemand zu reden, nach Hause. In Martinsberg geschieht es, wenn
das Getreide körnert, in Halwelagen in der Johannisnacht ıı-ı2 Uhr. In
anderen Dörfern umschreitet die Bäuerin vor Sonnenaufgang nackt den
Acker (in Jaad bei Bistritz trägt sie dabei ein Licht in der Hand) und
streut von Zeit zu Zeit dabei Erde mit Asche über das Feld. In manchen
Orten wird Erde von drei oder sieben oder neun Kirchhofsgräbern” dazu
genommen, was auch von den siebenbürgischen Rumänen geschieht (G.
Ad. Heinrich, Agrarische Sitten und Gebräuche unter den Sachsen Sieben-
bürgens. Hermannstadt 13850 S. 14 und Haltrich-Wolff, Zur Volkskunde
der Siebenbürger Sachsen S. 280). In magyarischen Gegenden umschreitet
der Bauer in der Laurentiusnacht nackt das Hirsefeld zum Schutz gegen
die Sperlinge. Im Torda-Aranyoser Bezirk holt der Bauer in der Georgs-
nacht nackt von einem frischen Grabe Erde und streut dieselbe gegen Vogel-
frafs über den Acker (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 398. 405).
' Bei den Siebenbürger Sachsen dieselbe Vertretung der Nacktheit bei Besprechung
der Feuersbrunst, vergl. S. 35.
2 Über die abwehrende Kraft der Graberde meine Bemerkungen in meiner Zeitschrift
5,422 f.
Philos. -histor. Abh. 1896. 1. 5
34 K. Weınmorp:
Gegen Brand im Getreide schützt nach siebenbürgisch-sächsischer Mei-
nung, wenn die Hausfrau in der nächsten Vollmondnacht nach der Aussaat
von dem Hause bis zum Acker nur in ein Leintuch gehüllt geht, am Acker
das Tuch abwirft und nun ganz nackt ihn umschreitet (Heinrich, Agrar.
Sitten 8. 15).
Auch gegen Ungeziefer im Hause hilft eine von nacktem Weibsbild
ausgeführte magische Handlung. In vielen Orten des sächsischen und
bayrischen Voigtlands kehrt die Frau oder die Magd zur Fastnacht vor
Sonnenaufgang nackend die Stube und den Hausflur aus und schüttet das
Kehricht vor eine fremde Hausthür. Dadurch werden z. B. alle Flöhe auf
das andere Haus übertragen (E. Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 369).
Um die Wanzen zu vertreiben, geht »man« in Thüringen am Char-
freitag vor Sonnenaufgang ganz nackt an drei Wänden der Stube herum
und spricht: Wanz in der Wand, Wanz in der Wand, die Ostern sind vor
der Hand (Witzschel, 2, 195).
In Ostpreufsen gehen in der Osternacht vier nackte Mädehen an die
vier Ecken des Hauses, klopfen an die Wand und sprechen: Ratz, Ratz
aus der Wand! Östern ist im Land! (E. Lemke, Volksthümliches in Ost-
preufsen. Mohrungen 1884 1,14).
Gefährlicher als Raupen- und Würmerfrafs wird den Feldern Sturm
und Hagelschlag und Gewitter. Schon Plinius, Hist. nat. 28, 23 erwähnt,
dals die elementaren Gefahren durch ein nacktes Weib, wenn es in seiner
Zeit ist, abgewendet werden können; Unwetter zur See auch aufser dieser
Periode.
Zum Schutze gegen Gewitter wird in Oberungarn zu Johannis ein
nacktes Mädchen in einen Brunnen hinabgelassen, worein es Stahl und
Feuerstein wirft (meine Zeitschr. 4, 402).
In Südungarn läuft in der Georgsnacht die Bäuerin nackt um die
Äcker, um sie für den Sommer gegen Hagel zu schützen. Urinirt dabei
der Mann auf den vier Ecken der Felder, so hat er keine Überschwem-
mung dies Jahr zu fürchten (meine Zeitschr. 4, 398).
Bei den Huzulen in Ostgalizien beschwört der Wetterbeschwörer den
Hagel für das ganze Jahr, indem er in der Weihnacht nackt auf dem
Felde seinen Zauber treibt. Auch Weiber besprechen so den Jahreshagel,
indem sie die Schürzen über den Kopf schwenken und den Hagel zu einer
folgenden Mahlzeit einladen.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 35
Bei heraufziehendem Hagel stellen sich nackte Huzulinnen auf das Feld;
in einer Hand halten sie geweihte Weidenpalmen, einen Besen, Schürhaken
oder Ofenschaufel, in der anderen ein mit der Schneide aufwärts gekehrtes
Beil. Wenn gar nichts hilft, bücken sich die Zauberinnen und zeigen dem
Hagel den blofsen Hintern (Kaindl, Die Ruthenen 2, 90).
Unter den Siebenbürger Sachsen ist Folgendes als Mittel gegen Blitz-
feuer, wie auch gegen andere Feuersbrunst noch 13887 von abergläubischen
Weibern vollzogen worden. Eine Mutter übertrug ihre Kunst auf die
Tochter also: die Tochter legte sich in der Laurentiusnacht (10. August)! ganz
nackt in freiem Felde rücklings nieder und die Mutter zog mit glühenden
Kohlen einen Kreis um sie, überschritt sie drei Mal und tropfte ihr drei
Blutstropfen in die linke offene Hand. Dadurch erlangte die Tochter die
Macht, eine Feuersbrunst sofort zu löschen, ob sie auch vom Blitz er-
zeugt wäre, wenn sie die Brandstätte drei Mal nackt umlief. Es genügte
aber auch, dafs ein Kleidungsstück von ihr um das Feuer getragen wurde
(Wlislocki, Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen S. 81).
Wahrscheinlich ist das Hemde gemeint, als das dem nackten Körper nächste
Gewand, wie in Masuren beim Schutz gegen Mehlthau (oben S. 33).
Auch bei den magischen Handlungen, welche ı. Krankheit ab-
wehren, oder 2. die Gesundheit sichern und stärken sollen, ist die
Nacktheit zu erweisen.
ı. Plinius giebt hist. nat. 26, 60 als ein kräftiges Mittel gegen Gesch wulst
nach vieler Leute Erfahrung an, dafs eine nackte Jungfrau nüchtern dem
nüchternen Kranken das Pflaster auflegt, ihn mit dem Handrücken” berührt
und dann nach Umkehr der Hand sprieht: » Apollo verbietet der Krankheit
(pestis), bei demjenigen zu wachsen, dem eine nackte Jungfrau sie erstickt«.
Hierauf mufs sie und der Kranke ausspucken.
Verwandt ist ein Recept gegen elbische Besessenheit in einer Mün-
chener Handschrift des ı5. Jahrhunderts (Analeeta Graecensia, Gräz 1893
S. 43 Nr. 28). Wenn der Besessene einen Vater oder eine Mutter hat (auch
! Der h. Laurentius, als auf dem Rost gebraten, schützt gegen Feuersbrünste.
2 Mit umgekehrter Hand, d.h. mit dem Handrücken streicht die oberösterreichische
Bäuerin den Frühlingsthau über die Kühe, um ihnen reichlich Milch zu verschaffen: Aın.
Baumgarten, Aus d. volksth. Überlieferung der Heimat 1, 29.
5*
36 "K. WEINHoLD:
können es sich Gatten gegenseitig thun), so soll der Kranke nackt auf dem
nackten Beine des Heilenden eine gute Weile sitzen, und der Gesunde soll
mit seiner Zunge dem Kranken über die Nase fahren. Schmeckt die Nase
gesalzen, so rührt die Krankheit von den Elben her. Ein ander Zeichen
dafür ist, wenn die Augen und Adern des Leidenden zwinkern (zwiddern).
Auch gegen Thierkrankheiten ist bei Anwendung der Mittel des Arztes
Nacktheit heilsam, wie nordindische Bräuche zeigen. Wird ein Thier krank,
so zieht sich der Heilende in Jalandhar nackt aus und geht mit einem
brennenden Strohwisch oder Rohrfasern um das Thier herum (Crooke, 42).
Wenn in Sirsa ein Rofs erkrankt, tödtet man einen Vogel oder eine Geils
und läfst das warme Blut in das Maul des Pferdes rinnen. Ist das nicht
gut zu machen, so genügt, dafs sich ein Mann ganz entkleidet und mit
seinem Schuh sieben Mal auf die Stirn des Rosses schlägt (Crooke, 41).
In beiden Fällen Austreiben der Krankheitgeister unter Anwendung von
Nacktheit.
Um sich von einem unheilbaren Leiden zu befreien, mufs der Kranke
nach jütischem Glauben, während der Priester auf der Kanzel steht, ganz
nackt in die Kirche treten, dreimal auf die Altarstufen laufen und dreimal
den Namen der Krankheit, an der er leidet, laut sagen (Kr. Nyrop, Navns-
magt S. 68 f. 97).
Als französischer Aberglaube wird aus dem 17. Jahrhundert berichtet,
dafs Frauen und Mädchen, um vom Fieber geheilt zu werden, sich ganz
nackt der aufgehenden Sonne zeigten und eine gewisse Zahl von Vater-
unser und Ave Maria beteten (Liebrecht, Gervas. otia imper. S: 254 aus
J.B. Thiers, Traite des superstitions. Par. 1697).
Gegen die Nesselsucht ist ein probates Mittel in Pommern, in einen
frisch ausgeschütteten Mehlsack nackt rückwärts zu kriechen (U. Jahn,
Hexenwesen 154).
Wenn man sich am Maitag vor Sonnenaufgang nackt im Thau wälzt,'
wird man von jeder Krankheit, namentlich von Krätze und Läusen befreit
(Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 266).
Wer am Schwindel leidet, laufe nach Sonnenuntergang nackt dreimal
um ein Flachsfeld, dann wird der Schwindel (Brand) auf den Flachs über-
tragen (Kuhn, Märkische Sagen S. 386).
! Über die Wirkungen des Maithaues S. go f.
Zur Geschichte. des: heidnischen Ritus. 37
Ein Kind mit englischen Gliedern lege man am Johannismorgen nackt
in den Rasen und säe Leinsamen darüber. Wenn die Saat zu laufen (auf-
gehen) beginnt, fängt auch das Kind zu laufen an (aus Oldenburg, Wuttke
$ 543).
Ein uraltes, weit verbreitetes Mittel zur Heilung eines Leidens war und
ist das Durchkrieehen durch ein Loch oder eine Öffnung in der Erde, in
Felsen oder Bäumen, oder durch eine künstlich gebildete Höhlung. Es ist
eine rituale Handlung, die wohl nicht das Abstreifen der Krankheit und
die Übertragung auf den Stein oder den Baum u. s. w. bezweckt, wie manche
angenommen haben,' sondern welche die symbolische Wiedergeburt als
gesunder Mensch bedeutet. Dafs dabei zugleich an eine sittliche Reinigung
gedacht sei, wie Kr. Nyrop (Dania ı,21.23.29) meint, scheint mir zu
weit gegangen.
Dafs die Handlung als Opferritus zu nehmen ist, beweisen die von den
Durchgekrochenen oder Durchgezogenen gebrachten Opfer an Kleidungs-
stücken oder Kleiderfetzen, die sich neben den Spaltbäumen noch jetzt
oft aufgehängt finden. Der Brauch ist aus Indien, Syrien, Kamtschatka,
aus Afrika, aus Frankreich (schon durch eine Predigt des h. Eligius aus
dem 7. Jahrhundert), Belgien, Deutschland, England, den skandinavischen
Ländern bezeugt” und. wird noch heute geübt. In Frankreich findet das
Durchkriechen nicht selten unter den Altären kirchlicher Heiligen statt, und
dasselbe ist aus katholischen Landschaften in Bayern erwiesen: zur Heilung
von Rückenschmerzen werden Höhlungen durchkrochen am Grabe des
h. Otto in Banz, des h. Kilian in Würzburg, des h. Nonnosus in Freising
(Lammert, Volksmediein in Bayern. Würzburg 1869 S. 269).
Mir kommt es hier besonders darauf an nachzuweisen, dals die ur-
sprünglich allgemein bei diesem Ritus vorauszusetzende Nacktheit sich noch
jetzt erhalten hat.
In einem Walde bei Fakse auf Seeland steht eine grofse Eiche mit
einem Loche, weit genug, dafs ein Mensch durchkrieche. Es wird gegen
' U.a. J. Grimm, D. Mythol. 2°, 1119; Gaidoz, Un vieux rite medicale. Paris 1892
‚8.78 f.
?2 Grimm, Mythol. 1118; Gaidoz (vergl. oben); Nyrop, Daniaı,ı-31; Th.A.Müller,
Dania III, 139f.; Hammarstedt, Om smögning og därmed befryndade bruk. Stockh. 1893;
A. Hock, Croyance et remedes popul. Liege 1888 S. 30.5715 Wuttke, $ 121. 503; Zeitschr.
d. Vereins f. Volkskunde I, roı. I, 81. III, 36; Panzer, Bayrische Sagen 2, 201. 301. 428;
Schmidtkonz, Der Deichbaum (Mittheil. zur bayrischen Volkskunde. 1895 Nr. 2).
38 K. Weınmoup:
Gicht und Halsdrüsen noch jetzt benutzt; der Kranke mufs ganz nackt
dabei sein. Es werden Späne in gewisser Zahl aus dem Baume geschnitten, '
die zusammen mit einem Kleidungsstück oder wenigstens einem Lappen
am Fufs der Eiche niedergelegt werden. Alles muls schweigend nach
Sonnenuntergang geschehen (Nyrop, Dania I, 9-15). ?
In Mecklenburg ist das Durchkriechen oder Durchziehen durch enge
Löcher, namentlich die von einem Doppelbaum gebildete Öffnung? gegen
Lähmungen, Rheumatismen, Brüche sehr üblich gewesen und auch heute
noch in Anwendung. Manche Bäume (gewöhnlich sind es Eichen) sollen
nur wirken, wenn der Kranke nackt durchkriecht; andere wirken auch
durch die Kleider durch (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 321 f.).
Bei den Südslaven findet sich eine hierher zu stellende Entzauberung bei
Krankheiten. Nach vorausgegangenen Sprüchen und Handlungen legt die
Zauberin zwei Rasenstücke auf den Boden, so dafs Raum bleibt, zwischen-
durch zu schreiten; auf einer Seite legt sie vier, auf der anderen fünf Huf-
eisen zu dem Rasen, stellt je ein Glas Wasser und ein Stückchen von einer
Weihnachtkerze hinzu, und legt zwei trockene Stäbchen, hier von Kornel-
kirsche, dort von Elsenholz (Faulbaum) hinzu. Dann schreitet der Kranke
nackt dreimal zwischen den Rasenstücken hindurch, während das Zauber-
weib eine Beschwörung der Geister spricht (Fr. Kraufs, Volksglaube der
Südslaven 52).
Aus Dänemark ist berichtet, dafs ein Mädchen sich für die Zukunft
leichtes Gebären sichern kann, wenn es um Mitternacht nackt durch
die ausgespannte Geburtshaut eines Füllen hindurchkriecht. Aber die
Geister verlangen dafür ein Opfer: die Knaben werden Werwölfe und die
Mädchen Maren (Alpe): Thiele, Danmarks Folkesagn II, 279. III, 186.
Dieses Durchkriechen kann aber auch höheres Wissen verleihen. So wurden
jüngst im Dorfe Kleinsölk in Obersteiermark zwei Bauern belauscht, als sie
! Bei dem Milchzauber schneidet die nackte Hexe drei Späne aus dem Thore der
Nachbarin, Grimm, Mythol. 3*, 417.
2 Abbildung eines Zwieselbaumes (Doppelbuche) aus Eldena in Pommern, von E. Friedel,
in meiner Zeitschrift II, 81.
3 Anmerken will ich hier einen steirischen Brauch, bei dem zwar das Durchkriechen
nicht vorkommt, der sich aber auf kommenden Kindersegen bezieht. Die Nacht vor der
Trauung soll das Mädchen in einen Wasserbottich steigen und darin niedertauchen. So oft
sie es thut, so viel Kinder wird sie kriegen (Schlossar, in der Germania 36, 404).
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 39
nackt durch eine gespaltene Buche krochen, in der Meinung, darnach hexen
zu können (Meine Zeitschrift 5, 410).
Alle aufgeführten Fälle betrafen die Krankheit einzelner Personen.
Wichtiger noch sind die Versuche, grofse Seuchen abzuwehren.
Nach dem Glauben der polabischen Wenden schützte gegen die Pest,
wenn ein nackter Mann bei Sonnenaufgang mit dem Kesselhaken seines
Herdes um seinen Hof — oder auch um das ganze Dorf — lief, und
dann den Haken unter seiner Thürschwelle — oder unter der Brücke, die
zum Dorfe führt — vergrub. Dadurch ward der Pestgeist von dem Dorfe
— oder dem Hause — ausgeschlossen. So erzählte der wendische Bauer
Johann Parum aus Süten im Lüneburgischen um die Mitte des 17. Jahr-
hunderts in seiner Chronik (J. Grimm, Mythol. 1138 f.). Der Kesselhaken
ist wohl Vertreter des heiligen Herdfeuers, aulserdem schützt Eisen über-
haupt gegen böse Geister. '
Die Umfurchung eines Orts mit dem Pflug als Abwehr gegen Seuchen
erweisen russische Bräuche, bei denen auch die Nacktheit der vor den
Pflug gespannten Weiber nicht überall verschwunden ist. Da die Geist-
lichkeit den alten Heidenritus in manchen Orten in eine kirchliche Pro-
cession umwandelt, ist die Nacktheit theils ganz beseitigt, theils durch
Einhüllung in weifse Hemden ersetzt (Mannhardt, Wald- und Feldeulte
1, 561£.).
In ihren Wanderings of a pilgrim in search of the Pieturesques er-
zählt Mrs. Fanny Parkes Folgendes von einer Geremonie der Hindufrauen
zum Schutz gegen die Cholera. Am Abend um 7 Uhr ungefähr versam-
meln sich zuweilen einige Hundert Weiber, jede mit einem Gefäfs, worin
Wasser, Zucker und Gewürze sind. Daraus bereiten sie ein Getränk. Dann
führen sie, indem sie ihr leichtes Gewand möglichst hoch um die Hüften
heben, einen wilden Tanz auf, während in ihrem Kreise fünf oder sechs
ganz nackte tanzen und die Hände bald über dem Kopf, bald am Rücken
zusammenschlagen. Das Geschrei der Frauen, die Musik der Männer, die
sich in einiger Ferne halten, machen einen wahnsinnigen Lärm, der mit
allem übrigem den Choleradämon verscheuchen soll (Crooke, Folk-lore
of Northern India 41 f... Dafs auch die Umpflügung in Nordindien ge-
! Über allerlei Talismane zur Absperrung der Seuchen von Ortschaften bei den Natur-
völkern M. Bartels, Die Medicin der Naturvölker S. 250 ff.
40 K. WeınHorp:
schieht, erhellt aus dem jüngst aus Berar berichteten Gebrauch. dafs man,
wenn die Cholera in einem Dorfe ist, dasselbe rings umfurcht, aber eine
Lücke läfst, durch die der Cholerageist entschlüpfen soll. Dort wird ein
Vogel und eine Geifs geopfert und vergraben, der Pflugbaum und das
Joch werden in die Erde eingegraben und verehrt. (Aus North Indian
Notes and Queries vol. IV, in Folk-lore VII, 93. 1896.)
2. Alles das waren abwehrende Mittel gegen Krankheiten und leib-
liche Schäden, bei denen die‘ Nacktheit gefordert ward. Sie läfst sich
aber auch nachweisen, wenn sich der gesunde Mensch die Gesundheit
und damit noch verbundene Schönheit sichern wollte.
Die Kraft des Wassers, dieses reinen und reinigenden Urelements, das
nichts Unreines und Böses duldet, kannte und benutzte die Menschheit
von Anfang an. Vorzüglich aber mufste das sanfte Nafs des Himmels,
der die Pflanzenwelt erquiekende und befruchtende Thau, auch Menschen
und Thieren heilsam erscheinen.
In Oberösterreich (unteres Mühlviertel) war es noch in den ersten Jahr-
zehnten des 19. Jahrhunderts Brauch, am Morgen des Georgitags (23. April)
thaufangen oder thaufischen gehen. Das Weibsbild, das es that, ging vor
Sonnenaufgang nackt auf Wiese oder Feld und streifte »das« Thau in einen
Krug. Zu Hause fuhr sie mit der thaunassen umgekehrten Hand den
Kühen über den Rücken, die dadurch erstaunlich viel Milch gaben. Thau
in das Futter gegeben schützte gegen Verhexung des Viehs. Aber auch
die Hexen gingen thaufangen, weil sie den Thau zur Hexensalbe brauchten.
(Am. Baumgarten, Aus der Heimat 1, 29.) Das beweist die magische Kraft
des Frühlingsthaus.
Auch nach holsteinischem und oberpfälzischem Glauben kann man
dureh Maithau reichlich Butter gewinnen (Wuttke, $ 88).
Durch das Abstreifen des Thaues werden nach der Meinung in
Thüringen und an der Rhön die Hände heilkräftig. Man soll es in der
Östernacht Schlag ı2 Uhr thun und dabei sagen: »Was ich anfasse, ge-
deihe! was ich berühre, verschwinde!« (Witzschel, Sagen, Sitten und
Gebräuche aus Thüringen 2, 198).
Die Nacktheit wird hier nicht erwähnt. Bestreichen der Hände oder
Waschen tritt an die Stelle des Thaubades. So in Woldegk in Mecklen-
burg, wo die Mägde am Österabend Linnen im Garten ausbreiten und
sich mit dem darauf gefallenen Thau, Regen oder Schnee am Morgen
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 41
waschen. Das bewahrt das ganze Jahr vor Krankheit (Kuhn-Schwartz,
Norddeutsche Sagen 374).
Weit verbreitet ist in ganz Deutschland und auch sonst die Meinung,
dafs Abreibung des Gesichts mit Maithau gegen alle Hautunreinheiten,
Blattern, Sommersprossen schütze (Wuttke, $ ıı3; Lammert, Volks-
mediein in Bayern 179. Questionnaire de Folk-lore. Liege 30). Auch wenn
man im Thau barfufs geht, zieht es alle Unreinheit aus dem Körper
(Sehönwerth, Aus der Oberpfalz 2,133). Maithau giebt Gesundheit
und schützt gegen böse Geister nach dem Glauben der Bewohner der ur-
sprünglich irischen Insel Man (Moore, The Folk-lore of the Isle of Man.
London 1891 S. ıır).
Aber auch die alte Nacktheit bei dem Thaubade läfst sieh noch aus
vielen deutschen Ländern nachweisen. Die Folge ist Schutz gegen Haut-
krankheiten, Ungeziefer, überhaupt Gesundheit und schöne Haut (Wuttke,
S$ 88.113; Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 266). Sogar die verlorene Jung-
frauschaft soll das Mittel wiederbringen (Schönwerth, Aus der Ober-
pfalz 2,133).
In Böhmen legt man sich Nachts gegen das Fieber nackt unter einen
Kirschbaum und schüttelt den Thau auf den Rücken (Wuttke, $ 529).
In Schlesien (Striegau, Freiburg, Schweidnitz) gehen die Mädehen vor
Sonnenaufgang in die bethauten Weizenfelder und wälzen sich nackt darin,
weil das schön weifs macht (Schroller, Schlesien 3,331). Ganz ebenso
wälzen sich in Poitou die Mädchen entkleidet im Mai im thaunassen Grase,
um schönen Teint zu bekommen (L. Pineau, Le Folk-lore de Poitou 498).
Auf Island gilt der Thau der Johannisnacht für so heilsam, dafs Jeder,
der sich nackt darin wälzt, von jeder Krankheit, welche es auch sei,
genese (Isländische Volkssagen aus der Sammlung von Jön Arnason,
übersetzt von M. Lehmann-Filhes 2, 264).
Abseits dieser Heilmittel mit Frühlingsthau liegt ein sympathetisches
Mittel, das beim Zahnen der Kinder in Thüringen, Schlesien, der Altmark
und Östpreufsen angewandt wird. Wenn eine Mutter ihr Kind entwöhnt und
ihm steinharte Zähne sichern will, so mufs sie sich unter dem Einläuten zum
Gottesdienst mit blofsem Gesäfs auf einen Stein (am Besten auf einen Grenz-
stein) setzen. Soll das Kind leicht zahnen, so soll sie sielı nach Wetterauer
Meinung ebenso setzen, aber dem Kinde einen Stofs geben, so dafs es auf
dazu hingelegtes weiches und weilses Brot falle (Wuttke, $ 601).
Philos. - histor. Abh. 1896. I. 6
42 K. WeEınnmou:
Bei den weitverbreiteten, aus der antiken Welt hauptsächlich durch
die Luperealien und das Fest der Fauna oder Bona Dea bekannten Bräuchen,
dafs zu gewissen Zeiten (Jahresbeginn, Frühlingsanfang) durch Herum-
schwärmende die Begegnenden mit Ruthen, Peitschen, Riemen geschlagen
werden, um ihnen Gesundheit und Fruchtbarkeit durch Austreibung hin-
dernder Dämonen zu verleihen, ist mir die Forderung der Nacktheit, ab-
gesehen von den römischen Luperei, nicht bekannt; denn die muthwilligen
oder rohen Entblöfsungen, die dabei mitunter vorkamen, gehören nicht
hierher. Die Prügelweihe des Bräutigams und das Schlagen der Braut,
das landschaftlich bei den Hochzeiten vorkommt, geschieht in der oben
bezeichneten Absicht.
Über diese Bräuche hat W. Mannhardt ausführlich gehandelt in den
Mythologischen Forschungen S.72-152 und in den Wald- und Feldeulten
I, 252-303.
Dies Schlagen mit der Lebensrute, wie Mannhardt es nannte, wird
beim ersten Austrieb der Herden im Frühjahr ebenfalls vollzogen. Auch
hier kann ich nicht die Nacktheit des Hirten nachweisen, wohl aber bei
anderen Bräuchen, die sich auf den Gedeih des Viehes und den Nutzen
von demselben beziehen.
In Mecklenburg setzte man ein nacktes neugeborenes Kind männlichen
Geschlechts auf ein Pferd und führte es auf demselben auf dem Hofe herum.
Dadurch werden alle Rosse, die ein soleher Knabe besteigen wird, den
besten Dägen (Gedeih) haben, und selbst kranke 'Thiere, die er besteigen
wird, sollen alsbald heil werden (Ackermann, Mecklenb. Monatschr. 1792
S. 345; bei Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 41).
Soll eine Kuh zum ersten Male kalben, so mufs eine nackte Frau
um sie herumgehen, ihr Hemd über den Rücken des Thieres hinübergeben
und unter seinem Bauche wieder hervorziehen (Haltrich-Wolff, Zur Volks-
kunde der Siebenbürger Sachsen. Wien ı885 S. 279).
In manchen magyarischen Gegenden Ungarns läuft die Hausfrau drei-
mal um das Vieh nackt herum, um es gegen die Bösen zu schützen
(Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 398).
Schlagen die Kühe beim Melken aus, so mufs sich die Magd mit
nacktem Hintern auf den Melkschemel setzen; die Kühe werden sofort
ruhig (Brandenburg, meine Zeitschr. 1,185).
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 43
Die Tolmescher im Siebenbürger Sachsenlande treiben an einem ge-
wissen Tage zu Mitternacht ihre Schweine unter Geschrei und Peitschen-
knall zum Dorfe hinaus auf einen bestimmten Platz. Dort wird die Herde
von dem nackten Gemeindehirten (früher von alten nackten Weibern) drei-
mal im Kreise umsprungen. Dadurch wird Krankheit und Schaden für das
ganze Jahr von den Schweinen nicht blofs, sondern auch von allen Theil-
nehmern am Speetakel abgewehrt.
In anderen sächsischen Dörfern kommt es vor, dafs der Hirt, wenn
er die Schweine zum ersten Mal im Jahre austreibt, nackt sein mufs. Als
ein Pfarrer das abschaffen wollte, fragte ihn der Ortsvorstand, ob er alle
Schweine, die dann verreekten, bezahlen wolle (Haltrieh-Wolff a.a.0. 279).
Nach althebräischer Meinung mufs eine nackte Jungfrau die Henne
zur Brut setzen, wenn die Küchlein besonders gedeihen sollen (H. Lewy,
in meiner Zeitschr. 3, 38).
Reichlicher Mileh- und Buttergewinn ist der Wunsch jeder Bäuerin.
Folgende südslavische Zauberhandlung ist wegen ihrer ausführlichen Be-
schreibung (Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven
S. 55) besonders lehrreich.
Am S. Georgsabend, d.i. am Vorabend, nach Sonnenuntergang ent-
kleidet sich die Bauersfrau und liest nackt im Walde eine Bürde Holz,
trägt sie um das Dorf und dann nach Hause. Früh vor Sonnenaufgang
löst sie die Bürde auf und legt die Theile des zerschnittenen Bürden-
strieks und die Holzstücke über den Weg, auf dem das Vieh ausgetrieben
wird. Aus dem Wege sticht sie dann ein Rasenstück, legt es um das
Butterfals, und bindet es mit einem Stricke fest. Sie ist dabei nackt.
Dann betet sie: »Leih, lieber Gott, deinen Beistand, und auch du, Mutter
Gottes! Früher stellt sich bei mir die Butter ein, als die heifse Sonne aufgeht.
Eher kommt zu mir die Butter, als ein Vogel über das Wasser fliegt.
Eher trabt die Butter zu mir herein, als ich mich umgürten kann. Eher
trollt sich die Butter her zu mir, ehe die ganze Welt frühstückt. Eher
zeigt sich die Butter, als ich aufathme«.
Darauf bläst sie dreimal in das Butterfafs, rührt die Milch und
spricht: »Nackt, barhäuptig rühre ich um; lauter nackte, barhäuptige
Butter möge ich ausrühren!« Dann fafst sie und schlägt sich an die
Hinterbacken und sagt: »Dem ganzen Dorfe einen Auswuchs! mir aber
sei dies nur ein Streich mit Bast«. Dann nimmt sie die fertige Butter
6
44 K. WEınnmoLp:
heraus und legt sie in Wasser, das sie später in einen Henkeltopf gielfst.
Am darauffolgenden Sonntag im Neumond giefst sie dieses Wasser auf die
Stelle, wo die Strick- und Holztheile am Georgsabend lagen und spricht:
»Dem ganzen Dorfe Spülich und Schwemmich, mir aber den Genufs und
die Butter«.
Auch nach deutscher Meinung müssen die Weiber beim Milchzauber
ganz nackt sein. Es ist das eine Bedingung für den Buttergewinn.' Auch
die Kräuter, die sie am Walpurgistage auf den Wiesen sammeln, von denen
die Kühe reichliche Milch bekommen, pflücken sie nackt. Wenn sie die-
selben heimgebracht, setzen sie ein Stühlchen auf den Herd,” besteigen es
nackt und beschwören jedes Kräutchen (Schönwerth, Aus der Oberpfalz
1, 379 f.). Wenn Weiber oder Dirnen in der Walpurgisnacht im Kuhstall
nackt wachen und früh Morgens Kräuter auf den Wiesen und Reiser auf
dem Düngerhaufen suchen, sind es sicher Hexen (Schönwerth, ı, 367).
Eine oberpfälzische Drud ging um das Rührfafs nackt herum und sprach
beim Rühren: »Rührl, dau di zam, Von Rengsburg bis af Ram (Rom),
Von jeda Kou a Lefferl voll, Nau wird man ganzs Röyarfols voll (Schön-
werth, I, 382).
Aus einer St. Florianer Handschrift (Oberösterreich) theilte J. Chmel
folgendes Mittel mit, wie die Hexen es am Sunwendtag machen, um den
Nachbarinnen die Milch ab- und sich zuzuwenden: An dem sunbenttag
do get eine ersling auf allen vieren mit plossem leib zu irer nachtparin
tor und mit den fuzzen steigt sy ersling an dem tor auf und mit ainer
hant halt sy sich und mit der andern sneyt sy drey span aus dem tor
und zu dem ersten span spricht sy: »ich sneyt den ersten span Nach
aller milich wan«, zu dem anderen auch also. zu dem dritten spricht sy:
»ich sneyt den dritten span Nach aller meiner nachpaurinnen wan«. und get
ersling auf allen viern herwider dan heim (J. Grimm, Mythol. 3%, 417).
Hier haben wir also Nacktheit, Rückwärtsgehen und Spanschneiden
verbunden. Der Span diente in Norwegen und auf Island zum »Losen«,
er hiefs blötspann, Opferspan (Maurer, Bekehrung 2, 132). In der Ober-
pfalz hebt das Mädchen in der Thomasnacht drei Späne auf und horcht
dann auf das Geräusch, das den künftigen Gatten anzeigt (Wuttke, $ 341).
! Wuttke, Aberglaube $ 217; Schönwerth, ı, 369 fl. 382 f.
® Erinnert an den nordischen Seidhjallr.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 45
Im Erzgebirge, Vogtland und Thüringen mufs aus dem Tragkorbe, mit
dem eine Fremde in die Kinderstube kommt, ein Span geschnitten und
in die Wiege gelegt werden, damit dem Kinde nicht die Ruhe mit dem
Korbe fortgetragen werde (Wuttke, $ 586).
Aus anderen auf Thiere bezüglichen Zauberbräuchen weils ich nur
von den Bienen etwas beizubringen: Wenn die Bienen schwärmen, wer-
den sie dadurch in den Stock zurückgebracht, dafs ihnen ein Weibsbild
nachläuft und ihnen das blofse Gesäfs zeigt (A. Höfer in Pfeiffer’s Ger-
mania 1, 109). Wir haben dieselbe Gebärde schon mehrfach angeführt;
es ist nichts Anderes herauszudeuten, als dafs sie ein bequemer Ersatz für
das volle Entkleiden ist. Ein Bienensegen wird ursprünglich dazu gehört
haben, dessen Wirkung die Entblöfsung nur verstärken sollte.
Denn die Nacktheit ist durch ihre magische Kraftbegleitung ritualer
Handlungen gewissermafsen etwas Geisterhaftes, das eine Steigerung der-
selben hervorbringt. So nur ist sie zu fassen bei den wenigen Fällen
des Bahrgerichts, in denen sie erwähnt wird. Sie gehören beide in
späte Zeit, in das 16. Jahrhundert, und fallen beide der Schweiz zu. Den
einen Fall erzählt P. Etterlin in seiner Chronik zum Jahre 1503.
Gegen Hans Spiefs von Willisau, der beschuldigt war, sein Weib er-
stiekt zu haben, »ward mit urteil erkant, dafs man die guoten frowen
usgraben solte, in bescheren‘ und nackent uber sie furen. — Do alle ding
also geordnet waren, stund der arm man nackent und blofs als fern von
der bar dafs er die eben sehen mocht und hatt im der Henker ein seil
an die bein gelegt glicher wise als eim schwin oder su —« (J. Baech-
told in den Romanischen Forschungen 5, 226 f.).
Nach dem Luzerner Formelbuche von 1542 von Beat Rippel wurde
die Bahre auf eine Ebene unter freiem Himmel gestellt, so dafs kein Un-
berufener darauf sehen konnte. Der Verdächtige ward am ganzen Leibe
beschoren, damit er keine Zauberei im Haar verborgen trüge. Nackt
bis auf ein neues Untergewand, ein geweihtes Licht in der Linken, in
Begleitung der Gerichtspersonen trat er auf die rechte Seite der Bahre,
kniete nieder und betete mit den Urkundpersonen fünf Paternoster, Ave
! Wie die Hexen und Zauberer beim Inquiriren.
46 K. WEınHou»:
Maria und den Glauben, auf dafs Gott ein Zeichen der Wahrheit zum Bei-
stand thun wolle. Darauf legte er die rechte Hand auf die Brust des
Todten, der um Wunde, Herz und Mund entblöfst war, und sprach das
Gebet, dafs Gott ein Zeichen seiner Schuld oder Unschuld gebe. Hierauf
beschauten sieben Männer die Leiche. Bluteten die Wunden, so war der
Thäter entdeckt (Segesser, Rechtsgeschichte der Schweiz 2, 702).
Bei der Beurtheilung des Bahrgerichts,' das bekanntlich am frühesten
aus dem ı2. Jahrhundert und aus Frankreich bezeugt ist, schliefse ich
mich Konr. Maurer an, der es als Inquisitionsmittel fafst und der zauber-
haften Erforschung des Thäters, wie durch Siebdrehen, vergleicht. Die
Nacktheit ist Verstärkung des Wunderbaren.
Als Verstärkung des Eides erscheint sodann die (gemilderte) Nackt-
heit, bei der dem skandinavischen Rasengange zu vergleichenden Procedur
bei Grenzstreitigkeiten, die aus dem polnischen Oberschlesien, aus Ungarn
und Siebenbürgen nachgewiesen ist. Die Zeugen schwören, in einer Grube
barfufs stehend oder kniend, im Hemd oder mit gelöstem Gürtel, ein Rasen-
stück auf dem Kopfe (Grimm, Rechtsalterth. 120; Zeitschr. d. Vereins f.
Volkskunde 3, 224. 4, 214).
Zum Schlufs stelle ich eine Reihe von Fällen zusammen, bei denen
die Nacktheit die Mittel verstärken soll, die auf Gewinn von besonderen
Kräften, von Glück, von Liebe zielen.
Ein nordindischer Glaube ist: wer eine Eule (das geheimnifsvolle
Zauberthier) in einen Raum sperrt, nackt zu ihr geht und bei verschlossener
Thür sie die ganze Nacht mit Fleisch füttert, erlangt Zauberkraft. So er-
zählt Mr. Crooke (Introduet. S. 175), der einen eingeborenen Schreiber hatte,
von dem es hiefs, er habe das gethan und der deshalb sehr gefürchtet war.
Wer in der Johannisnacht Farnkraut nackt holt, kann damit Alles
erreichen, das er wünscht (J. Chr. Männlingen, Albertäten S. 238).” Hier
ist allerdings der Farnsame, der in der Johannisnacht reif wird, das eigent-
lich Glück schaffende, der Wünschelsame (der wünschelsäme des varmen
' Vergl. darüber K. Lehmann, Das Bahrgericht, in den Germanist. Abhandlungen für
Konr. von Maurer. Göttingen 1893 S. 23—45.
2 Nach A. Schultz, Alltagsleben einer deutschen Frau des 18. Jahrhunderts S. 241.
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 47
j. Titur. 4221,2) aber die Nacktheit gehört dazu, den Farn zu finden, was
sonst sehr schwer ist (Grimm, Mythol. 1160; Wuttke, $ 123).
Wenn man am Johannistag vor Sonnenaufgang nackt die Kräuter
Eisenkraut und Aberraute sucht, dieselben in Essig kocht und den Gewehr-
lauf damit ausspült, so gewinnt man einen unfehlbaren Schufs (Aus
Böhmen, Wuttke, $ 714).
Wer ein Freischütz werden will (also stets Treffer schiefsen), mufs
sich ganz nackt ausziehen." Unter Gebeten und Beschwörungen weihen
ihn darauf der Altmeister und zwei Freischützen ein. Zeigt er dabei
Furcht, so wird er bis auf’s Blut gegeifselt und fortgejagt (U. Jahn, Volks-
sagen aus Pommern Nr. 413).
Einige griechische Beweise für die bei Zauberhandlungen erforderliche
Nacktheit mögen die modernen Beispiele gewissermafsen veredeln.
Als der grofse Dulder Odysseus, von Kalypso endlich freigegeben,
auf seinem Flofse dem Phäakenlande sich naht, zerbricht ihm der er-
grimmte Poseidon Mast und Steuer. Dem Verzweifelten erscheint Ino-
Leukothea und giebt ihm den Befehl, sich zu entkleiden und den gött-
lichen Schleier, den sie ihm reicht, um die Brust zu schlingen und getrost
in die Flut zu springen. Sei er dann am Lande, solle er den Schleier
mit abgewandtem Antlitz (also rückwärts) in das Meer werfen (Odyss. 5,
343350).
Um sich unverwundbar zu machen, reibt sich Iason auf Medea’s Rath,
nachdem er sich entkleidet (yvurwdeis) mit einer Salbe die Haut ein (Apoll.
Argon. 3,1042 f.).
Selbst die Göttinnen, was hier als Nachtrag zu den Hexenfahrten
(S.ı5 f.) gegeben sei, gewinnen die Fähigkeit zu raschen Reisen in die
Ferne und Höhe nur nach dem uns bekannten Ritual: Entkleidung, Sal-
bung, plötzliche Auffahrt. So Hera, als sie zur Liebesfeier mit Zeus auf
den Ida eilt (Iliad. 14,170 f.) und Aphrodite, da sie von Sehnsucht nach
Anchises erfüllt, von Paphos nach Troja fliegt (Hymn. in Aphrod. 45 ff.).
! Den Grund dafür fand jüngere (militairische) Deutung darin, er solle auf Fehler-
losigkeit untersucht werden,
48 K. WeEınmoud:
Beim Liebeszauber wird die Naektheit öfter gefordert.
Die älteste schriftliche Erwähnung aus Deutschland findet sich bei
Burchard von Worms. Darnach liefsen sich Frauen, welche ihre Männer ver-
liebter haben wollten, indem sie niederknieten, auf ihrem entblöfsten Ge-
säfse Brotteig kneten und gaben von diesem Brote ihrem Gatten zu essen
(Grimm, Mythol. 3', 409; Friedberg, Aus deutschen Bufsbüchern 97).
Wir können dazu einen samländischen Brauch vergleichen, wenn auch
nichts von Entblöfsung dabei gesagt ist (Grimm a.a. 0. 2*, 922): Beim
Brotkneten legt das Weib, das ihres Mannes Liebe erkalten fühlt, neun-
mal etwas vom Teige zurück und bäckt ihm daraus einen Fladen.
Verwandt ist ferner ein von K. von den Steinen aus Cujaba (Unter
den Naturvölkern in Gentral-Brasilien S. 558) berichteter Liebeszauber.
Will eine Frau die Liebe eines Mannes gewinnen, so setzt sie sich nackt
in eine grolse Bleehschüssel mit Wasser und zerbricht über ihren Schultern
ein Ei, das nun über ihren Rücken in die Schüssel hinabläuft. Sie nimmt
das Dotter mit der Hand aus dem Wasser und mischt es unter die Speise
des Mannes.
Bei den Liebestränken habe ich die Nacktheit der Bereitenden nicht
erwähnt gefunden, zweifellos war sie aber ursprünglich Forderung für ihre
Wirkung. Auch bei anderen Arten des Liebeszaubers, die von Plofs-
Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde 1°, 352-364, von
A. Wuttke, Deutscher Aberglaube, $$ 548-555 und von E. Sidney
Hartland, The Legend of Perseus I, 117-131 vorgeführt werden, ist
sie fast vergessen.
Mit Augen sehen wir sie auf einem schönen Gemälde aus der flan-
drischen Schule des ı5. Jahrhunderts im Leipziger Museum, worauf ein
nacktes Mädchen in reich ausgestattetem Zimmer dargestellt ist, das auf
ein (wächsernes) Herz, das in einer kleinen Truhe liegt, mit Stahl und
Feuerstein Funken schlägt. Die Thür öffnet sich, und ein junger Mann
tritt herein, der dadurch aus der Ferne herbeigezaubert ist.
Sicher war die Nacktheit gefordert bei dem Todtenbahrziehen in
Steiermark, wenn es zu Liebeszwecken vorgenommen wird, da, wie wir
früher bei anderen Zielen dieses Aberglaubens erwähnten, die Ausführung
durch nackte Personen vorgeschrieben ist. — Will ein Mädchen sich die
Treue ihres Liebhabers festbannen, so geht es Nachts auf den Freithof,
sammelt Todtenbeine in einem Korbe, setzt diesen auf die Todtenbahre
Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 49
und zieht, sieben Schädel aus dem Beinhause in der Schürze, die Bahre
siebenmal über die Gräber hin und her, indem es sagt: »Lieber Seppl,
bleib deinem Dierndl treu! sonst werden die Todten in deine Kammer
kommen und dich und das falsche Dierndl erwürgen«. (Aufzeichnung
von 1813.)
Erhalten ist die Nacktheit in einigen aufserdeutschen Belegen:
Wenn auf Lesbos ein junges Mädchen einen Mann ohne Erwiderung
liebt, so reitet die Mutter ganz nackt auf einem Stabe, mit einer Spindel
und einem Aschensack bewaffnet, dreimal um ein allein liegendes Haus
und ruft vor dessen Thür den Namen des spröden Liebhabers. Die Mutter
kann sich durch ein anderes Weib vertreten lassen (Georgeakis et Pineau,
Le Folk-lore de Lesbos. Paris 1894 S. 346).
Will eine Zigeunerin die Liebe eines Mannes erlangen, so zieht sie
sich ganz aus, spricht einen Spruch und stiehlt dem Manne im Schlafe
eine Locke, die sie zusammengebunden in einem Beutel oder an einem
Ringe bei sich trägt. Sie hat dann volle Gewalt über den Mann (Hart-
land, Legend of Perseus II, 121 nach Leland Gips. Sore. 134).
Auf den muhamedanischen Seranglao- und Gorong-Inseln setzt sich
die Frau oder der Mann, die Jemand in sich verliebt machen wollen,
nackt in’s Wasser, beschwören die Gestirne, blasen dann zweimal in die
Hände und benetzen sich dreimal den Kopf mit Wasser (Plofs-Bartels,
Das Weib ı?, 357 £.).
Die Liebe verkehrt sich oft in tödtlichen Hafs; dasselbe Weib, das
durch Zauber die Leidenschaft des Mannes wecken wollte, will ihn tödten.
In dem 19. Buche der Canones des Burchard vom Worms steht neben den
Beichtfragen über den Liebeszauber, auch die: ob das beichtende Weib
etwa nach Gewohnheit der Weiber gethan, ihren nackten Körper mit
Honig bestrichen und sich dann auf einem mit Weizenkörnern bestreuten
Leintuche gewälzt, dann die anklebenden Körner abgelesen, sie in die
Mühle geschiekt und in der rückwärts gegen die Sonne gestellten Mühle
habe mahlen lassen. Ob sie aus diesem Mehle ein Brot gebacken und
dem Manne davon zu essen gegeben habe, damit er hinschwinde und
sterbe (Grimm, Mythol. 3°, 410; Friedberg, Aus Bufsbüchern S. 100).
Philos. - histor. Abh. 1896. TI. 7
50 K. Weınnoun: Zur Geschichte des heidnischen Ritus.
Die uralte Bedeutung und die weite Verbreitung der Naektheit in
den gottesdienstlichen Riten und in dem Zauberwesen wird durch das
Vorgetragene genügend erwiesen sein. Die ethnologischen Parallelen waren
nöthig zur Beleuchtung der deutschen Gebräuche. Ohne diese Verglei-
chungen würde das Meiste unverständlich sein. Vom Boden der Gegen-
wart wäre es nur falsch zu beurtheilen. Aus einer untergegangenen Welt
kommt das Licht für das geheimnifsvolle Treiben, das sich vor der Sonne
des Tages verbirgt, und einst voll grofser Bedeutung auf das Leben des
Volkes gewesen ist.
Eins wird sich nebenbei auch wieder erwiesen haben, dafs das mytho-
logische Quellenmaterial nicht nach dem Alter der schriftlichen Aufzeich-
nung abzuschätzen ist. Was niemals aufgeschrieben war und nur in der
mündlichen Überlieferung sich erhalten hat, läfst sich oft (freilich nicht
in Bausch und Bogen) als Rest vorhistorischer, urältester Zeit beweisen.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.
Aus dem Papyrus 3024 der Königlichen Museen.
Von
H” ADOLF ERMAN.
Philos. - histor. Abh. 1896. II.
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577
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5 Gelesen in der Gesammtsitzung am 21. Mai 1896
1 [Sitzungsberiehte St. XXVI. S. 599].
Zum Druck eingereicht am 30. Juli, ausgegeben am 16. December 1896.
Einleitung.
Wer es versucht, die uns überkommenen Reste der weltlichen Litteratur
der Aegypter zu ordnen, gewinnt den Eindruck, als habe sie gegen den
Ausgang des dritten Jahrtausends, im sogenannten mittleren Reiche, in
besonderer Blüthe gestanden. Noch viele Jahrhunderte später werden
Schriften dieser Epoche den Schülern als Musterstücke vorgelegt, und die
eigenthümliche Phraseologie, die uns in den Texten des mittleren Reiches
begegnet, läfst sich noch bis in die späteste Zeit hinein verfolgen.
Auch eine andere Beobachtung spricht dafür, dafs jene alte Zeit ein
reges litterarisches Leben gesehen hat. Seit dem Anfange des mittleren
Reiches tritt in den meisten Inschriften eine gesuchte Poesie auf, die in
auffälligem Gegensatz zu dem schlichten Tone der Inschriften des alten
Reiches steht. Es ist die Zeit, wo sich ein hoher Offieier in seiner Grab-
schrift »das warme Zimmer des Frierenden« und »die Amme des Säug-
lings« nennen darf’, ohne lächerlich zu erscheinen, und wo ein Beamter
nicht die Leute im Zaum hält, sondern »seine Furcht in die Mitte der
Menge schleudert«®. Eine solche Unnatur würde schwerlich zur allge-
meinen Sitte geworden sein, wenn sie nicht von einer in Ansehen stehenden
und ebenso gearteten Litteratur getragen gewesen wäre. Und in der
That zeigen ja die erhaltenen Dichtungen des mittleren Reiches zumeist
einen Ähnlichen Charakter; auch sie gefallen sich in gesuchten Wendungen
und in unablässiger spielender Variirung desselben Gedankens.
Wir sind hier in Berlin in der glücklichen Lage, vier grofse Papyrus
litterarischen Inhalts zu besitzen, die noch im mittleren Reiche selbst (also
etwa um 2000 v. Chr.) geschrieben sind. Die eine Handschrift hat uns die
Geschichte des Sinuhe erhalten, zwei andere die Klagen des Bauern, die
! Louvre Cn.
ZUR UEI TA:
4 A. Erman:
vierte — P 3024 — harrt bis heute in ihrem Haupttheile' noch der Be-
arbeitung, trotzdem ihr Faesimile schon vor vier Jahrzehnten von Lepsius”
veröffentlicht worden ist — der Text steht in dem Rufe, so gut wie un-
verständlich zu sein.
Von den älteren Aegyptologen haben sich, soviel ich weils, nur
Uhabas und Goodwin mit ihm beschäftigt. Jener, der Entdecker des
Sinuhe und der Bauerngeschichte, schreibt ihm kurz »un sujet aneedotique«,
d. h. einen erzählenden Inhalt zu’, dieser führt 1873 gelegentlich eine
Stelle daraus an, aus der sich nichts über seine Auffassung des Ganzen
ergiebt'.
In neuerer Zeit hat sich Maspero über den Inhalt unseres Buches
geäufsert; er hatte schon 1879 (vergl. Etudes egyptiennes I p. 73) bemerkt,
dafs der Text ein Gespräch zwischen einem Aegypter und seiner Seele sei
und hat ihn jüngst genauer” bezeichnet als »la fin d’un dialogue philo-
sophique entre un Egyptien et son äme, oü celle-ei s’applique & demon-
trer que la mort n’a rien d’effrayant pour l’homme«. Diese Inhaltsangabe
ist in der That im Wesentlichen richtig, nur ist das Verhältnifs gerade
das umgekehrte, und nicht die Seele wünscht den Tod herbei, sondern
der Mensch‘.
Sonst haben sich, soweit mir bekannt, nur noch die HH. Ludw.
Borchardt und H. O. Lange ernstlich um diese Handschrift bemüht, und
ich verdanke insbesondere dem letzteren sehr wesentliche Beriehtigungen
meiner Lesung, für die ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank aus-
spreche”. Auch in der allgemeinen Auffassung des Inhalts stimme ich
mit Hrn. Lange überein.
Ich erwähnte schon oben, dafs das Buch in dem Rufe besonderer
Dunkelheit steht, und in der That kommt hier allerlei zusammen, was uns
' Der Papyrus ist Palimpsest, und ein nicht weggewaschenes Bruchstück des ur-
sprünglichen Textes (der Geschichte eines Hirten, der eine Göttin baden sah) ist von
Maspero, Etudes egyptiennes I, 73—80 übersetzt worden.
® LD. VI, ııı—ı12; dies Facsimile ist freilich an den undeutlicheren Stellen vielfach
milsrathen.
° Les papyrus hieratiques de Berlin (Chalon sur Saone 1863) p. 3.
« AZ. 1873, 16,
° Histoire egyptienne (Paris 1895) I p. 399.
° Ebenda giebt Maspero auch eine freie Übersetzung der Zeilen 130—140.
” Ich habe im Kommentar die Lesungen Lange's als solche gekennzeichnet.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 5
sein Verständnifs erschwert. Der Text ist voll von unbekannten Worten;
wir haben nur eine einzige Handschrift, die augenscheinlich sehr fehlerhaft
ist und der fehlt überdies der Anfang. Mit diesem Anfang aber ist uns
die ganze Erzählung verloren gegangen, an die sich das seltsame Gespräch
zwischen dem Menschen und der Seele knüpfte, und damit dann auch das
wichtigste Hülfsmittel, um dieses Gespräch zu verstehen.
Bei unseren heutigen Sprachkenntnissen müssen wir einem derartigen
Texte gegenüber natürlich auf eine zusammenhängende Übersetzung ver-
zichten; eine solche könnte heute nur als ein geistreiches Spiel gelten. Wir
müssen uns darauf beschränken, das, was sicher oder leidlich verständlich
ist, herauszuheben und es vorsichtig zu einem Gesammtbilde zu vereinigen;
das ist es, was ich in dem folgenden Abschnitt dieser Arbeit versucht
habe. Für die grofse Menge der unverständlichen Stellen aber beschränkt
sich unsere Aufgabe darauf, die vorliegenden Schwierigkeiten darzulegen;
es ist dies im Kommentare geschehen, den ich überhaupt für alle Einzel-
fragen zu vergleichen bitte.
Der Inhalt.
Während andere Schriften des mittleren Reiches rein erzählende Dich-
tungen sind oder rein lehrhafte Form haben, gehört das hier behandelte Buch,
ebenso wie die Geschichte des Bauern, formell einer besonderen Gattung an.
Eine kurze Erzählung dient in ihnen als Grundlage zu langen Gesprächen,
die eine bestimmte Tendenz zum Ausdruck bringen sollen. In der Bauern-
geschichte ist diese Tendenz vielleicht formulirt in jenem schönen Worte,
das Re selbst gesagt hat: Sprich die Wahrheit, thue die Wahrheit‘; was unser
Buch bezweckt, spricht es unzweideutig in den dreiunddreifsig Versen aus,
die seinen eigentlichen Beschlufs bilden: wer die Verderbtheit der Menschen
und den Lauf der Welt gesehen hat, für den hat der Tod keinen Schrecken
mehr: er ist ihm eine Heimkehr aus fremdem Lande, eine Genesung nach
schwerer Krankheit.
Wer der Unglückliche ist, den seine Schicksale zu einer so traurigen
Auffassung des Lebens geführt haben, ist aus dem erhaltenen Theile der
! Bauer, Rs. 62. In der Bauerngeschichte kommt noch hinzu, dals der Bauer sich
besonderer Wohlredenheit erfreut; man zwingt ilın daher, neun Mal eine Klagerede zu
halten und läfst diese Reden zuletzt aufschreiben. Aber der letzte Zweck des Buches ist
doch wohl der Inhalt der neun Reden und nicht ihre schöne äulsere Form.
6 A. Erman:
Schrift nieht mehr zu ersehen. Nur aus seinen Klagen und aus einzelnen
Andeutungen kann man noch ungefähr erschliefsen', was sein Loos gewesen
sein muls. Er war ein sanftmüthiger Mann und nicht einer der Frechen,
denen Alles glückt (XXXD’, aber als er ins Unglück gerieth und, wie es
scheint, von schwerer Krankheit befallen war (XXXV), da liefsen ihn Brüder
und Freunde schändlich im Stich (XXIX, XXXV, XXXVI. Niemand
hielt ihm die Treue (XLI, XLII), was er gestern gethan hatte, war ver-
gessen (XXXVI), man beraubte ihn (XXX, XXXIX), man verurtheilte ihn
ungerecht (VII), und aller Welt ward sein Name zum Abscheu (XXI-XX VI.
Diesem Unglücklichen steht nun in unserem Gedichte als Widerpart
seine eigene Seele” gegenüber; während er des Lebens müde ist und den
Tod als Erlöser begrüfst, will sie im Grunde noch nichts vom Sterben
wissen und räth ihm sogar, es mit dem Leichtsinn und dem Vergnügen
zu versuchen (XV).
Wenn dieser einfache, rein menschliche Widerstreit uns in der ersten
Hälfte des Buches (I-XIX) nicht so klar entgegentritt wie in der zweiten
(XX ff.), so liegt das an der seltsamen Fabel, die der Dichter für sein Buch
ersonnen hat und in die wir Modernen uns nur schwer hineindenken
können‘. Nicht nur, dafs er uns die Seele als ein selbständiges Wesen
schildert, das seinem Herrn auch bei Lebzeiten entrinnen kann, wenn es
will, sondern er hat auch den Konflikt zwischen dem Menschen und der
Seele auf einen besonderen Punkt zugespitzt, der nach unserem Gefühle
für einen Lebensmüden ein ziemlich gleichgültiger ist, auf die Frage seiner
! Ganz sicher sind diese Schlüsse freilich nicht, denn wenn man auch naturgemäls
seine Klagen über die Menschen auf seine eigenen Erlebnisse unter ihnen beziehen wird, so
ist es doch immerhin möglich, dals er in seiner Klage auch über die eigenen Leiden hin-
ausgeht.
2
? Die beigefügten Ziffern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Abschnitte des
Kommentars, denen der betreffende Zug entnommen ist.
® Gewohnheitsmälsig übertragen wir das Wort S ?hw, das hier steht, mit »Geist« und
5 | 2 3 { £
verwenden »Seele« zur Übersetzung von = b3. Ich bin von dieser, übrigens willkür-
lichen, Sitte hier abgewichen, da man bei Verwendung des männlichen Wortes »Geist« in der
Übersetzung oft nicht hätte erkennen können, ob sich ein »er« oder »sein« auf den Geist
oder auf den Menschen bezog.
* Auch die im Folgenden vorgetragene Auffassung dieser Fabel erhebt natürlich
keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit, wie denn überhaupt jeder Deutungsversuch der
Abschnitte I— XIX so lange problematisch bleiben wird, als uns der Anfang des Buches fehlt.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 7
Bestattung. Den Unglücklichen, der sich nach dem Tode sehnt, quält
die Sorge, ob denn seine Leiche auch die richtige Behandlung finden
werde. Um das recht zu verstehen, müssen wir uns der aegyptischen An-
schauungen über die Toten erinnern, auf deren Boden auch der Verfasser
unseres Buches steht': für das Wohlergehen eines Verstorbenen ist es
nöthig oder doch nützlich, dafs bestimmte Ceremonien und Opfer an seiner
Leiche vollzogen werden, der ta, der Ba und der NT müssen ihres
Amtes bei ihm walten oder es mufs doch wenigstens einer der Hinter-
bliebenen, ein »(noch) auf Erden befindlicher«, wie unser Text sagt, dem
Toten diesen letzten Dienst erweisen. Nun hat aber unser Unglücklicher
keinen Hinterbliebenen, keinen, »der an seinem Sarge stände«°, die Brüder
und Freunde haben ihn ja im Stich gelassen, und so fällt es ihm schwer
aufs Herz, wie es ihm wohl im Tode ergehen werde.
In dieser Noth scheint ihm nun die Seele zuerst gerathen zu haben’,
doch den Flammentod zu wählen, vielleicht weil ein zu Asche verbrannter
Leichnam keiner weiteren Fürsorge bedürfe. Aber es ist nicht zu diesem
Tode gekommen, denn als der Mensch den furchtbaren Rath ausführen
wollte, da befiel die Seele selbst ein Grauen, und sie entfloh ihrem
Herrn (II und V). So war ihm dieser Ausweg abgeschnitten.
Noch gab es aber für ihn einen anderen Weg, der ihn sicher zum
Totenreiche führen mufste. Wenn seine Seele sich entschlielsen wollte,
ihrerseits anstatt der treulosen Anverwandten einzutreten, wenn sie ihm
die Opfer und Gebräuche vollziehen wollte, die sonst ein Hinterbliebener
dem Toten vollzieht‘, so konnte er auf dieselbe Weise wie alle anderen
Mensehen glücklich den »Westen«, das Jenseits, erreichen’. Indessen als
er dies von seiner Seele forderte, als er sie bat, wieder zu ihm zurück-
zukehren und ihm diesen letzten Dienst zu erweisen, da wies sie seine
! Wenigstens äufserlich; bei der ketzerischen Rede, die er die Seele über diese Dinge
halten läfst, kann man freilich fragen, ob es ihm selbst denn auch ernst damit gewesen sei.
2 Dies läfst sich aus X und XII sicher schlielsen.
3 Dals es die Seele war, die ihn zum Verbrennen antrieb, ergiebt sich aus IV, falls
wir dies richtig verstehen. Aulser in IV wird auch in LV auf die Verbrennung angespielt.
* Dals die Seele dem Menschen die Totengebräuche vollziehen soll, erscheint uns so
wunderlich, dals man gern das Gedicht von einer solchen Seltsamkeit befreien würde. Aber
in XII ist diese Aufforderung an die Seele klar ausgesprochen und auch in V ist auf sie
angespielt.
> Vergl. X und XI.
8 A. Erman:
Aufforderung zurück; das Sterben war ihr überhaupt leid geworden, sie
wollte sich nicht im Totenreiche »niederlassen« neben ihrem Herrn.
Hier beginnt heute unser Buch, Seele und Mensch streiten mit ein-
ander und zwar in Gegenwart irgend welcher Zeugen'. Von einer ersten
Rede der Seele sind uns nur noch einige unverständliche Schlufsworte er-
halten (I). Der Mensch aber öffnete seinen Mund zu seiner Seele und beant-
wortete, was sie gesagt hatte (I). Er wirft ihr zunächst vor, dafs sie nicht
mit ihm rede, d.h. wohl, dafs sie ihm nicht Antwort stände, sondern
sich an andere wende. Sie sei fortgegangen und sei am Tage des Unglücks
geflohen (ID. Und nun wendet auch er sich an die Zeugen des Streites
und beschwert sich zuerst über die Seele: seht, meine Seele vergeht sich
gegen mich ..... 5 sie zieht mich zum Tode, indem (er) nicht zu ihm komme;
sie WÜrft (mich) aufs Feuer, um mich zu verbrennen (IV). Dann stellt er seine
Forderung an die Ungetreue: sie nahe mir am Tage des Unglücks, sie stehe
auf jener Seite da ... (V):; sie soll ihm eben den letzten Dienst erweisen.
Sie soll davon abstehen, einen Traurigen im Leben zurückzuhalten, sie
soll ihn lieber zum Tode führen und es ihm im Westen, dem Totenreiche,
wohlgehen lassen (VI). Denn der Westen ist ja nichts Schlimmes, es ist
der einzige Ort, wo auch ein Unglücklicher sein Recht findet: Thoth richtet
mich, der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt mich, der wahrhaftige Schreiber;
Re hört, wenn ich rede ....; Isdes vertheidigt mich... (VII) — die Götter
sind nicht so hartherzig wie die Menschen.
Was die Seele auf diese Rede des Menschen erwidert, sind nur wenige
ironisch klingende Worte, die ich nicht verstehe (VIII; vielleicht deutet
sie ihm darin an: wenn er denn so sehr sich nach dem Westen sehne,
so könne er ja doch wohl auch allein dorthin gehen und sie auf Erden
zurücklassen. Denn er scheint ihr energisch zu antworten, er werde nicht
ohne sie aus dem Leben gehen, sondern werde sie mitnehmen, wie jeder es
thue; das sei nun einmal ihr Los zu sterben und sich an dem Fortleben des
Namens genügen zu lassen. Der Westen sei die Stätte für sie, an der
sie sich bei ihm niederzulassen habe (IX). Sie habe dabei auch nichts zu
befürchten, denn er werde ihr trotz seiner traurigen Verlassenheit doch
! Dals das Gespräch vor anderen Personen geführt wird, zeigt I und IV. — Ich be-
zeichne in der Übersetzung, wie üblich, Unsicheres durch kleine Schrift. Was in eckigen
Klammern ergänzt ist, ist in der Handschrift ausgelassen oder zerstört; in runden Klammern
stehen einzelne Worte, die ich zur Erleichterung des Verständnisses beigefügt habe.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 3)
eine glückliche Existenz im Totenreiche schaffen, er werde sie den Westen
so erreichen lassen, wie einer, der in seiner Pyramide ruht und an dessen Sarge
ein Hinterbliebener gestanden hat (X). Sie soll es nicht so schlimm haben,
wie eine andere Seele, die müde ist oder eine andere Seele, der zu heifs ist oder
eine andere Seele, die Hunger hat (XD. Daher soll sie ihn auf diese Weise
zum Tode führen: Sei SO jreundich, meine Seele und Bruder, mein Bestatter zu wer-
den, der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird am Tage des Be-
gräbnisses, damit er mir das Bett des Friedhofes bereite (X). Aber die Seele,
der es nieht mehr um das Sterben zu thun ist, macht neue Ausflüchte;
sie bemerkt ihm, auch das beste Begräbnifs tauge doch nichts: Wenn du
des Begräbnisses gedenkst — das ist Trauer; das ist, was Thränen bringt und
den Menschen betrübt macht; das ist, was den Menschen aus seinem Hause reifst
und ihn auf den Hügel wirft. Nie wirst du wieder hinauf kommen, um die
Sonne zu sehen (XIV). Die da aus Granit bauten, die das .... als Pyramide
errichteten, die in dieser schönen Arbeit Schönes leisteten, .......- — ihre
Opfersteine sind ebenso leer‘ wie die der Müden, die auf dem Uferdamm sterben
ohne Hinterbliebenen, (con denen sich das Wasser sein Ende fortgenommen hat und
ebenso die Hitze, zu denen die Fische des Ufers reden (XV)’. Höre auf mich
— sieh, es ist dem Menschen gut, wenn er hört — folge dem Vergnügen,
vergi/s die Sorge (XV]).
Dieser letzten Aufforderung, das Leben zu geniefsen, fügt die Seele
noch zwei Beispiele an, die gewifs ihre Meinung belegen sollen, die uns
aber unverständlich bleiben. Das eine von dem geringen Mann, der sein
Grundstück pflügt, seine Ernte in das Schiff ladet und es, wenn ich recht
verstehe, selbst schleppen mufs. Frau und Kinder werden ihm, wie es
scheint, von Krokodilen zerrissen (XVII, er(?) aber spricht die räthsel-
haften Worte: »nicht weine ich wegen jener Dirne da; sie hat keinen Ausgang
aus dem Westen zu einer andern auf Erden. Ich habe Sorge wegen ihrer Kin-
der, die im Ei zerbrochen sind, die das Gesicht des Krokodiles sehen, die da nicht
leben werden« (XVID. Und ebenso wenig läfst sich errathen, was das
zweite Beispiel besagen soll von dem geringen Mann, der bettelt, und von
seinem Weibe (XIX).
! Gemeint ist, dafs die schlechten Hinterbliebenen es bald unterlassen, die Opfersteine
mit Speisen zu belegen.
2
® Das heilst: an deren Leiche die Fische nagen.
Philos. -histor. Abh. 1896. II.
[54
10 A. Erman:
Damit hat die Seele Alles erschöpft, was sie beibringen konnte, um
den Unglücklichen von seinem Entschlusse abzubringen; er aber öffnete
seinen Mund zu seiner Seele und beantwortete, was sie gesagt hatte (XX):
Sieh, mein Name wird verwünseht,
sieh, mehr als der (reruch von Vögeln
an Sommertagen, wenn der Himmel heifs ist. (XX1.)'
Sieh, mein Name wird verwünscht,
sieh, mehr als ein Kischempfünger ,
am Tage des Fanges, wenn der Himmel heifs ist. (XXI.)
Sieh, mein Name wird verwünscht y
sieh, mehr als der Geruch von Vögeln,
mehr als der Weidenhügel mit den Güänsen. (XXIIL.)
Sieh, mein N: AME wird verwünscht,
sieh, mehr als der Geruch der Fischer,
mehr als die .... der Sümpfe, nachdem sie gefischt haben. (XXIV.)
Sieh, mein Name wird verwünscht,
sieh, mehr als der Geruch der Krokodile,
mehr als zu sitzen unter den .... mit den Krokodien. (XXV.)
Sieh, mein Name wird verwünscht ,
sieh, mehr als ein Weib,
gegen das zu dem Manne Lüge gesagt wird. (NNXVI.)
Sieh, mein Name wird verwiünscht ,
sieh, mehr als ein starkes Kind,
gegen das .... gesagt wird ...... (XX VI.)
Sieh, mein Name wird verwünscht,
sieh, mehr als eine Stadt des ..... ;
die Empörung rede und deren Rücken man sieht. (XXVIl.)
' Zur sachlichen Erklärung dieser Verse bitte ich den Kommentar zu vergleichen.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 11
Zu wem spreche ich heute?
die Brüder sind schlecht,
die Freunde von heute .... nicht lieben. (XXIX.)
Zu wem spreche ich heute?
die Herzen sind. jreeh,
ein jeder nimmt die Habe seines Nächsten. (XXX.)
Zu wem spreche ich heute?
der Sanfte geht zu Grunde,
der Trotzige kommt zu allen Leuten hin. (XXXI.)
Zu wem spreche ich heute?
der mit ruhigem Gesicht ist elend,
vernachlässigt wird das Gute an allen Orten. (XXXI.)
Zu wem spreche ich heute?
wenn eMEr (dien, durch seine Schlechtigkeit wüthena macht,
so bringt er fäuren; sein böses Thun alle Leute zum Lachen. (XXXIl.)
Zu wem spreche ich heute?
man raubt,
ein jeder nimmt [die Habe) seines Nächsten. (KXXXIV.)
Zu wem spreche ich heute?
der Sieche USE treu »
der Bruder, der mit ihm ist, wird zum Feinde. (XXXV.)
Zu wem spreche ich heute?
man erinnert sich nicht an gestern,
man Unut nicht .... in dieser Stunde. (XXXVI.)
Zu wem spreche ich heute ?
die Brüder sind schlecht,
en ach Alain. (XXXVII.)
De
2
® .
12 A. Erman:
Zu wem spreche ich heute?
die Gesichter vergehen,
ein jeder hat ein Gesicht ..... als das seiner Brüder. (XXXVII.)
Zu wem spreche ich heute?
die Herzen sind jrech,
der Mann, auf den man sich st, hat kein Herz. (XXXIX.)
Zu wem spreche ich heute?
Es giebt keine Gerechten,
die Erde ist ein Beispiel von UÜbelthätern. (XL.)
Zu wem spreche ich heute?
Es fehlt an Trew,
. as Umwissenden zu dem, was er gelehrt hat. (XLI.)
Zu wem spreche ich heute?
Es giebt ner keinen Zufriedenen,
gehe mit ihm, so ist er nicht da. (XLI.)
Zu wem spreche ich heute?
ich bin mit Elend beladen,
ohne einen ren. (XLIM.)
Zu wem spreche ich heute?
das Böse schlägt das Land,
und es hat kein Ende. (XLIV.)
So beklagt er sein Los und den Jammer der Welt, um dann den
Tod als den Erlöser von aller Noth zu begrülsen:
Der Tod steht heute vor mir,
wie wenn ein Kranker gesund wird,
wie wenn man ausgeht nach der Krankheit. (KLV.)
Der Tod steht heute vor mir
wie der Geruch der Myrrhen,
wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt. (XLVI.)
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 13
Der Tod steht heute vor mir
wie der Geruch der Lotusblumen,
wie wenn man auf dem Ufer der Trunkenheit sitzt. (XLVI.)
Der Tod steht heute vor mir
wie ein Regentach,
wie wenn einer aus dem Kriegsschiff zu seinem Hause kommt. (XLVII.)
Der Tod steht heute vor mir
wie eine Himmelsenteöwung,
wie einer, den ih ... zu dem, was er nicht wufste. (XLIX.)
Der Tod steht heute vor mir,
wie jemand sein Haus wiederzusehen wünscht,
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat. (L.)
Denn wer dahingegangen ist, oder wie man aegyptisch sagt, wer
dort ist, der ist dem Sonnengotte nahe, dem Regierer der Welt, und kann
mit ihm das Gute fördern:
Wer dort ist, wird ja
. als ein lebender Gott
und start die Sünde an dem, der sie thut. (LI.)
Wer dort ist, wird ja
iM Sonnenschiff stehen
und verleiht das Erlesenste an die Tempel. (LI.)
Wer dort ist, wird ja
ein Gelehrter sein, dem man nicht gewehrt hat,
und bittet den Re, wann er redet. (LII.)
Was die Reden des Mannes nicht erreicht haben, erreichen diese
Verse, die Seele giebt ihren Widerstand auf. Lafs nur deine Klagen
unterwegs, erwidert sie etwa (LIV); wenn ich dir auch bisher den Westen
verweigert habe, so sollst du jetzt doch zu dem Westen gelangen, dein
Leib wird zur Erde kommen und ich lasse mich nieder, nachdem du ruhst.
Wir wollen zusammen eine Stätte haben (L\V.).
14 A. Erman:
So schliefst das Gedicht; die Seele hat sich in den Willen des Menschen
gefügt, und dieser wird nun mit ihrer Hülfe den Weg ins Totenreich ge-
funden haben, den er begehrte. Er ist also gestorben; wie es kommt,
dafs er uns trotzdem selbst seinen Streit in der ersten Person berichtet!',
darüber enthält man sich am besten jeder Vermuthung. Denn wir stehen
Ja (wie es das Obige wohl zur Genüge gezeigt hat) hier einem Dichter
gegenüber, der seiner Phantasie freies Spiel erlaubt: es ist daher nicht zu
ermessen, wie er sich das weitere Schicksal seines Helden gedacht hatte.
Und ich glaube, dafs wir überhaupt immer dieses poetischen Charakters
unseres Buches eingedenk sein müssen, wenn wir es richtig würdigen wollen
und wenn es uns nicht irre leiten soll; wer seine Angaben allzu nüchtern
und allzu wörtlich auffafste, der würde zu seltsamen Ergebnissen ge-
langen’.
Vergegenwärtigen wir uns schliefslich noch einmal, was unser Gedicht
enthält, wenn wir sein Beiwerk bei Seite lassen. Bis zum Gedanken des
Selbstmordes hat den Unglücklichen die Verzweiflung getrieben, aber als
er den letzten Schritt thun will, da sträubt sich »seine Seele« dagegen.
Sie schaudert vor dem Flammentode zurück (sie »entflieht«) und will auch
sonst nichts von dem Tode wissen oder zu ihm helfen; sie klammert sich
an das Leben, das ja immer noch Freuden zum Geniefsen biete. Aber
als der Unglückliche ihr noch einmal die Schrecken des Lebens vorführt,
da verstummen ihre Einreden und sie hält ihn nicht mehr vom Tode
zurück.
Was der Dichter uns schildert, ist also der furchtbare Widerstreit,
der die Brust jedes Verzweifelten erfüllt. Er ist entschlossen, in den Tod
zu gehen, und doch im letzten Augenblicke klammert er sich wieder an
das Leben, bis dann die Erinnerung an all das erlittene Elend und Un-
recht ihn endlich doch dem Tode zutreibt.
! Im Original steht ja auch in den Überschriften der Abschnitte stets die erste Per-
son: ich öffnete meinen Mund oder was er zu mir sagte u. s. w. (1. VII. IX. XIII. XX. LIV),
was sich in der vorstehenden Übersicht des Inhalts nicht nachahmen |iefs.
® Wir wollen also nicht etwa (um ein Beispiel anzuführen) aus unserem Buche
schliefsen, dals nach aegyptischer Vorstellung die Seele schon bei Lebzeiten aus dem Men-
schen habe entfliehen können; wer das aus ihm entnähme, der könnte ebenso gut auch aus
dem Faust folgern, dals Goethe die Existenz zweier Seelen in der Brust des Menschen an-
genommen habe. — Auch dem Gebrauche des Wortes O für die Seele kann ich keinen
tieferen Grund beimessen; vergl. das zu II Bemerkte.
’ be}
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 15
Freilich tritt in unserem Gedichte die Tragik dieses inneren Streites
wenig hervor. Der seltsame Gedanke, dafs die Seele ihrem Herrn den
letzten Dienst erweisen soll, um ihm so den Tod zu erleichtern, hat sich
in den Vordergrund gedrängt, und auch bei den Reden, die die beiden
Streitenden führen, kann man vielfach vergessen, um wie schreckliche
Dinge es sich handelt; besonders die Worte der Seele scheinen mehr
pointirt und geistreich als ernst zu sein.
Der Stoff ist also sehr anders behandelt, als es unserem heutigen
Empfinden entspricht. Gewifs aber hat das Buch dem Empfinden des
Publikums entsprochen, für das es einst vor 4000 Jahren geschrieben wor-
den ist, und in der That reiht es sich gut ein unter die anderen Erzeugnisse
jener alten Zeit. Denn nicht tiefe Gedanken in schliehten Worten weist
uns ja die Litteratur des mittleren Reiches auf, was sie kennzeichnet, sind
gesuchte Gedanken in geistreicher Form.
Kommentar.
Der Papyrus P. 3024 hat eine Länge von 3,50 m und ist heute in
7 Tafeln zerlegt; die Höhe beträgt wie bei allen diesen Papyrus des m. R.
ı6em. Er ist aus ıı Blättern von meist 44cm Länge zusammengeklebt',
deren jedes etwa 28 Zeilen enthält: da die erste Klebung jetzt bei Zeile 14
liegt, so dürfte die Länge des verlorenen Anfangs entweder 14, oder 42,
oder 70 u.s. w. Zeilen betragen.
Der Papyrus war schon einmal beschrieben und zwar von anderer Hand;
der neue Schreiber hat den alten Text nur so weit abgewaschen, als er Raum
für sein Buch nöthig hatte, und es sind uns daher 25 Zeilen von jenem übrig
geblieben, die Geschichte des Hirten, der eine Göttin sah”.
Der neue Text ist von einer geübten Hand geschrieben, die besonders
gegen das Ende auch kursive Schriftformen benutzt. An Schreibfehlern
! Neben fünf Blättern dieser gewöhnlichen Länge finden sich auch vier abnorme: das
dritte von 58 cm (zwischen Z.42 und 78), das siebente von 12 cm, das achte von 41 cm.
das neunte von ı2 cm, das zehnte von 40 cm; das letzte hat wieder 44 em. — Der Papyrus
war, wie das oft vorkommt, liniirt, und zwar mit 6 horizontalen Linien von 2,5—2,8 cm
Abstand. Doch hat schon der erste Schreiber dieselben als für senkrechte Zeilen unnütz
meist fortgewaschen.
2 Zwischen dem neuen Text und dem alten ist ein Zwischenraum von 24 cm; hinter
dem alten noch ein leerer, abgewaschener Raum von 13 cm.
16 A. Erman:
ist leider kein Mangel, und ich glaube noch etwa 30 Fehler in den 155 Zeilen
nachweisen zu können, obgleich wir sie doch nur an den uns verständ-
lichen Stellen zu erkennen vermögen'.
Die Abschnitte des Textes sind nicht durch Rubren bezeichnet; da-
gegen hat der Schreiber seine Schlufsformel so hervorgehoben.
Im Folgenden habe ich den Text der besseren Übersicht halber in
Abschnitte zerlegt; ob ich dabei an den unverständlichen Stellen immer
das Richtige getroffen habe, stehe dahin. Dem aegyptischen Text habe
ich Bemerkungen zur Lesung beigefügt, der Übersetzung Anmerkungen
grammatischer Natur, wobei zumeist Verweise auf die Paragraphen meiner
»Aegyptischen Grammatik« genügten.
Bei den lexikalischen Erörterungen ist mir wieder zum Bewulfstsein
gekommen, wie traurig es mit unserer Kenntnifs des Wortschatzes aussieht;
sobald wir einmal, wie in unserm Texte, aus den ausgetretenen Bahnen
herausgehen, stolsen wir überall auf mangelhaft oder gar nicht bekannte
Worte. Gerade in diesem Punkte dürfen wir aber von der Zeit eine Er-
weiterung unserer Kenntnisse und damit auch ein besseres Verständnifs
dieses Buches erwarten.
Gern hätte ich die Bearbeitung der Abschnitte I-XIX und LIV-LV
nur auf die einigermaflsen verständlichen Stellen beschränkt, denn es ist nicht
eben erfreulich, immer wieder mühsam das Eine festzustellen, dafs fast nichts
davon zu verstehen ist”. Aber da der inhaltlich so merkwürdige Text noch
manche Bearbeiter finden dürfte, so schien es mir doch angebracht, für
diese das lexikalische und grammatische Material zusammenzustellen: viel-
leicht sind sie in seiner Verwerthung glücklicher als ich. Und auch der
Hinweis auf die grammatischen Schwierigkeiten und auf die Schäden des
Textes wird seinen Nutzen haben, denn auch ein ruhiger und geschulter
Bearbeiter sieht ja bei einem aegyptischen Text nur zu leicht über solche
Hindernisse hinweg.
!' Die frei gelassene Stelle in XXXI deutet darauf, dals der Schreiber sehr gedankenlos
eine nicht gut lesbare Vorlage abschrieb. h
® Ich brauche wohl auch nicht zu betonen, dals die Übersetzung derartiger Stellen
durchaus nicht beansprucht, den richtigen Sinn zu geben; sie soll nur veranschaulichen,
wie diese sich uns bei unseren heutigen Sprachkenntnissen etwa darstellen. Wo die Über-
setzung nur zusammenhanglose oder widersinnige Worte ergiebt, liegt die Schuld gewils
häufiger an unseren mangelhaften Kenntnissen als an der Verderbnils des Textes.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 17
el —— Beeren
ER —— AR AT -
u
MIETE ON Sr: EN NMMNSN,...... dbsw, n nmen nssn.
ı. Man könnte u. a. IR] ». lesen oder | Be: Dahinter ein Zeichen,
das man für ©) (wie in Zeile 44) halten könnte. 2. Das —= (Lange) in etwas selt-
samer Form, wie auch sonst in dieser Handschrift.
ihr werdet sagen: ..... und! ihre Zunge .... nicht; ...... Ersatz
und' ihre Zunge .... nicht.
Es ist der Schluls einer Rede der Seele, die sich an mehrere Per-
sonen richtet, die Zeugen des Streites sein müssen (vergl. oben S. 8).
Db>w ebenso geschrieben auch Bauer, Rs. 62. Auch nm“ mit dem-
selben Determinativ findet sich ebenda (zweite Handschrift Z. 104), anschei-
nend als etwas Böses.
1.
RN Re = Av
ID ae a 0 2
tw wpni rt n Ühwt, wsbt ddtnf.
Ich öffnete” meinen Mund zu meiner Seele und” beantwortete, was sie ge-
sagt hatte‘.
Dieselbe Formel am Anfang der Abschnitte XII, XX. Das wp-r3 »Mund
öffnen« ist wie ein Verbum des Sagens mit n konstruirt; 8b mit Objekt
»etwas beantworten« findet sich auch in der Bauerngeschichte (Z. 151).
! Aegypt. Gramm. $198. Dafür, dals das n nicht zu ns gehört, spricht die Schreibung
Q Kahun, Hymnı,7; Eb.85,17. Das » von ns wird wohl nur ausgeschrieben, wenn
AWWAN
auch das s gesetzt ist ( =. Ne Bauer, zweite Hs. gr).
? Gramm. $ 222.
® Gramm, $174.
* Gramm. $ 291.
Philos. -histor. Abh. 1896. I1, 3
18 A. Erman:
Die Bezeichnung der Seele, die hier zum ersten Male vorkommt,
bedarf einer eingehenderen Erörterung.
Es handelt sich zunächst darum, wie das Wort, das die Handschrift
IR schreibt, zu lesen ist; man kann insbesondere zwischen > b3
und o> ihw schwanken. Ich gestehe, dafs ich zeitweise an der von den
HH. Lange und Borchardt gegebenen Lesung o> ihw gezweifelt habe, da
die Art, wie das 8 hier im Hieratischen ausgedrückt ist, anstöfsig erschien.
Indessen lälst sich zum Glück beweisen, dafs diese hieratische Gruppe wirk-
lich die mittlere Reich-Form für oo» darstellt; auf dem Grabstein C 14
des Louvre sind die o> mit >| wiedergegeben, und der Grabstein
6 3 derselben Sammlung schreibt für No> »verklären« sogar NE: Man
hat also damals aus dem 8 und dem Vogel gleichsam ein zusammengesetztes
Zeichen für ?hw gebildet.
Des weiteren könnte man sich fragen, ob das ‚„ das dem Worte
in unserem Text fast durchweg folgt, das Suffix ı sg. andeuten soll oder ob es
nur als Personendeterminativ steht. Die Frage wird durch die Stellen Z. 44.
47. 49 gelöst, wo von einer »anderen Seele« die Rede ist und wo das vn
nicht gesetzt ist. Das up ist daher, wo es steht, nicht bedeutungsloses Deter-
minativ und An muls mit »meine Seele« übersetzt werden!.
41%
Das andere Zeichen, das unserem Worte folgt, & ist das Determi-
nativ für »sterben« und bezeichnet demnach die Seele als die eines Verstor-
benen”. Das stimmt zu dem Gebrauche des Wortes ir in der alten Toten-
litteratur, wo es von der Seele des Verstorbenen gebraucht wird, die »im
Himmel den ?Aw (Glanz) empfangen hat«. Es ist der selige Geist des
Menschen, der in verklärter Gestalt als eine Art Gott unter den Göttern
am Himmel lebt. Dem entspricht dann weiter, dafs ?Aw von den spukenden
Geistern Verstorbener gebraucht wird, wie ja auch noch im Koptischen
ıS die unreinen Geister der Besessenen bezeichnet.
Wenn aber nun so der Zw der Geist eines Verstorbenen ist, wie
kann das zu unserem Texte passen, in dem doch der Eigenthümer dieser
Seele ohne Zweifel noch am Leben ist?
1
»Meine Seele« steht 4. 5. 7. IL. 17. 30. 39. 52. 55. 86; auch 148 wird so zu ver-
bessern sein.
® Auch Westcar 7,25 wird die Seele SA geschrieben.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 19
Nach dem was ich in der Einleitung (S.ı4) über den allgemeinen
Charakter unseres Buches bemerkt habe, kann ich diesen Widerspruch nur
für einen scheinbaren halten. Wir Modernen behandeln in der Diehtung
Worte, wie Seele, Geist, Herz, Sinn als gleichbedeutend, und ich sehe nicht
ein, warum die Litteratur irgend einer Epoche darin anders verfahren sein
soll. Gewils mögen die alten religiösen Texte Aegyptens mit dem b2, dem
ihw, dem A3 u.s. w. feste Vorstellungen verknüpft haben, aber dafs die
Aegypter auch aufserhalb dieses besonderen Gebietes diese feinen Unter-
schiede festgehalten hätten, wäre doch erst zu beweisen. Ich glaube viel-
mehr — und ich stehe mit dieser Ansicht nicht allein —, dafs die Vor-
stellungen über diese und ähnliche Dinge nur in ihrer Theologie genauer
ausgebildet gewesen sind; im Übrigen werden die Aegypter sich ebenso
mit unklaren Vorstellungen und Ausdrücken für die Seele, ihr Leben und
ihr Fortleben begnügt haben, wie andere Völker auch.
WPTESTUT-HIHAE TE
Nee Fran
=> een u [Deine N I:
N A TeR 3 One Ga ru
KSIHUIEISGRT
dw n3 wr ri m min, n mdw ihwi hnt, tw grt wr r eb<(?), dw mi wsf
8m Yoı, HR NUN, neun. dr ..S mm. mf...f m ht m $nw nwh,
nn hpr mcf, rwif hrw kSnt.
1. Auch in Z.ı5 ist das © ebenso kursiv wie hier gestaltet. 2. Die vorhandenen
Spuren widersprechen dieser Ergänzung nicht. 3. Die Lücke ist schmal für den zu er-
wartenden Vogel. 4. Man möchte | N vn lesen, doch sälse das m zu tief; die Reste
NANWWAN
führen eher auf | wo 0.ä. 5. Nicht sntw. 6. Die Ergänzung nach Z.15, sie
a
füllt genau die Lücken.
By
20 A. Erman:
Dies ist heut gröfser as ich, meine Seele redet nicht mit mir, es ist aber
gröfser as lügen, es ist wie ein Fauler ...... meine Seele geht fort; sie stehe
für mich ‚auf dns! RE Se... Micht ... ihr .. in meinem
Deibe als, 4 5 und Strick; indem ..... nicht durch sie entsteht; sie flieht am
Tage des Unglücks.
Wir haben zunächst drei mit Zw beginnende Sätze, deren einer das
neutrische 73" zum Subjekt hat, während die beiden anderen unpersönlich
sind”. Das Praedikat ist zweimal wr r, und da dieses das erste Mal doch
mit »grölser als« zu übersetzen sein wird, wird man es auch das zweite
Mal so fassen müssen. Diese drei Sätze werfen wohl der Seele vor, dafs sie
dem Menschen auf seine Rede nicht einmal antworte.
Von dem, was dann folgt°, ist zunächst verständlich, dafs die Seele den
Mann verlassen hat. Des weiteren beachte man das N “A =
chf nt hrs »sie stehe mir auf ihr«, eine Aufforderung an die Seele, die
noch zweimal ähnlich wiederkehrt. Zunächst in V als Dan
chf m pf 98 »sie stehe auf jener Seite«; sodann in XII, wo es heifst, die
. & Sn SEA en
Seele solle ihm ein Bestatter werden, an], EN ine
drptfi, htft hr h3t »der da opfert und der da steht auf der As! am Tage
des Begräbnisses«. Nimmt man dazu, dafs auch in X hervorgehoben wird,
ee
wie bei Be yaauı: der in der Pyramide regelrecht begraben ist, ’ n Be
— m? A N chen hri-b hr krsf »ein Hinterbliebener(?) bei seinem
Ind re
Besten gestanden hat«, so sieht man, dafs hier ein wesentlicher Punkt
des Streites berührt wird. Der Mann, den alle Freunde und Brüder im
Stich gelassen hatten (vergl. oben S. 6), hatte wohl seine Seele, die allein
ihn noch nicht verlassen hatte, gebeten, ihm den letzten Liebesdienst zu
erweisen, für ihn auf die en (die ja etwa die Totenbahre ist, vergl.
zu XI) zu treten, aber diese brieht ihm nun auch die Treue und entflieht.
Über min »heute« s. das zu XXIX Bemerkte.
In — )J-ı9) möchte man nach den von Brugsceh (Wb. Suppl. s.v.)
Besen rem nur einen ee Ausdruck für Lügen sehen.
2 ee Gramm. De ne a 94.
® Gramm. $168; dw m? »es ist wie« ist auch sonst häufig; zu ?w wr »es ist grols«
vergl. unten 2.123 iw $w ves ist leer« und Eb. 86,8 iw ?hw »es ist nützlich«.
3 Für die beiden Sätze mit "= sind nach Gramm. $ 366. 367. 369 drei Auffassungen
möglich: »nicht wird es entstehen«, „indem es nicht entsteht« und »es giebt kein Entstehen.«.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 21
In snıwe nwh ist uns nwh »Strick« (auch »binden« als Verbum) be-
kannt, und vielleicht hat das gleich determinirte smw eine ähnliche Bedeu-
tung. Ein ganz gleich geschriebenes Wort kommt in der Amosisinschrift
(LD. IH, 12d, 5) vor, wo der junge unverheirathete Mann auf einem EN a
A Q ee nr zu schlafen scheint. Vielleicht darf man auch an wue
»Netz« en für das Brugsch nur eine Stelle aus Denderah (28%)
beigebracht hat.
Die Verbindung Apr m“ kennen wir aus Eb. 20, 17: »Krankheiten
hprt m“ entstanden durch Würmer«, aus LD. II, 1225: »alle Frohnden
hr hpr m<l geschahen dureh mich«, aus Louvre Ö ı: Aprt Nies md
»das durch mich Geschehene«, sowie aus Eb. 69, 17: »ich habe (diese
Wirkung des Mittels) gesehen, Av hpr mei wrt es ist oft durch mich ge-
schehen«.
Da rw? im Sinn von »etwas entgehen« auch mit dem Objekt kon-
struirt wird, so könnte man auch übersetzen »sie entrinnt dem Tage des
Unglücks«.
Der »Unglückstag« führt in der Unterweisung des Amenemhet den-
selben Namen: »ein Mann hat keine Freunde [U Da az hrw n
ksnt am Tage des Unglücks« (Millingen 1r, Und ebenso heist es in
einer späten Stelle, die nach Griffith’s Vermuthung daraus abgeleitet ist,
»ich fand keinen Freund vun = n hrw ksn am Tage des Unglücks«
(Pianchi 73).
Be Fair gern TIIChITE
SE AIR N-DRRNE-
age N een 15
DT
min! ühw? hr thti, n Sdmnö nf; hr Sbst r mt, n ült?\nf; Ar hsc[??] Ar
BESEESmSIntI mnif.
ı. Sie, dieselbe seltsame Schreibung auch Z. 70. 2. 3. Es ist wohl beidemal sn
fa [a
ausgelassen. 4- N von Lange erkannt. 5. Man könnte gut lesen und }
—— ——
wie in 3I. 32 ergänzen. 6. Lange.
22 A. Ernman:
Seht', meine Seele vergeht sich gegen mich und ich höre nicht auf sie,
zieht mich zum Tode, indem fienz nicht zu ihm komme, wirft (min auf das
Feuer, um mich zu verbrennen .........-
Den Bau der Stelle kann man ohne Gewaltsamkeit nicht anders auf-
fassen, als dafs die drei Infinitive mit Ar als Praedikate zu dem gemein-
samen Subjekt Aw? »meine Seele« gehören; sie geben an, was die Seele
Unreehtes an dem Menschen gethan hat.
In dem IN vAh ‚ das dem ersten dieser Infinitive beigefügt
ist, wird man zunächst den bekannten Ausdruck der Nebenhandlung
(Gramm. $ 198) sehen; allenfalls könnte man auch erklären: »nachdem
ich nicht auf sie gehört hatte« (Gramm. $ 197).
Der zweite Zusatz n itnf lautet in der ähnlichen Stelle, Zeile 19,
[ae EOS 242 u R . * .
NT n it nf, und so wird auch hier zu lesen sein. Man hat
Au
dann »indem” ich nieht zu ihm komme«; die ungeänderte Stelle ergäbe
»indem er nicht gekommen war«.
[EN e= . =D . . .
bedeutet gewöhnlich »überschreiten« (die Grenze oder einen
MD 8
Befehl), doch kommt es, wenigstens im Neuaegyptischen, auch im Sinne
von »jemanden schädigen « vor. So rühmt sich Ramses III., dafs unter ihm
. N) .s . B za
eine Frau gehen könne, wohin sie wolle: N 2 ZEN
Fre
S 7 7 »andere thun ihr nichts unterwegs«° und ebendahin gehört
l D&D
es wohl auch, wenn das Wort im Abbott vom Erbreehen und Zerstören
der Gräber gebraucht wird‘. Danach wird man th auch hier? aufzufassen
haben.
Die Konstruktion As hr »auf etwas hinwerfen« findet sich auch in XIV
und Abbott 4, 3.
Dals snym »töten« hier »verbrennen« bedeuten soll, ist nur dureh
das Determinativ angedeutet; das Wort findet sich ebenso auch Totb. ed.
! Gramm. $ 243.
> . . . nen N
® Gramm. $ 283. 285. Ob die Negation in solchen Fällen „N oder zu lauten
hat, weils ich nicht.
Han 1273,10;
* Abb. 3,2; 4,6 und besonders 6,2.
Und eben so wohl in der Bauerngeschichte, Rs. 25.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 23
Nav. 17, 44, meist in Schreibungen wie — RAN: -—AN!:
von dem Sonnenauge, das die Feinde des Osiris verbrennt. Die gleiche
Art, durch ein in der Schrift zugefügtes il den Sinn auf Verbrennung zu
beschränken, findet sich auch bei MN (Mar aKam“rr,.9; Totbr 1.1:
als Variante) »[mit Verbrennen] bestrafen «.
Y,
LRELIMTTIZGRILTUZR
RAN TTÄTIRZ
thnf(?) imi hrw ksnt, Chef m pf gs mi ir nhpw; p3 is pw prr, inf sw rf.
ı. So liest Lange die nur in Spuren erhaltenen Zeichen, doch ist der Raum etwas
niedrig dafür. 2. Das % ist als Auslaut des n% gesichert; in der darauf folgenden Ligatur
MW
ist das » sicher, aber was davor steht lälst noch andere Deutungen zu: B: )
a
% sd: ey: Die angenommene Lesung od ergiebt wenigstens ein mögliches
Wort, doch kommt eine so kursive Form des Ü sonst in unserer Handschrift nicht vor.
Sie nahe mir am Tage des Unglücks, sie stehe auf jener” Seite da, wie der
“ hut”, das ist nämlich der Herausgehende, sie bringe sich zu ihm.
Uber den muthmafslichen Sinn der Stelle ist schon oben zu III ge-
sprochen; das Einzelne ist sehr fraglich.
oa .. . 7 2
Bei = könnte man an das bei Br., Wb. Suppl. belegte seltene —
E I
denken, das etwa »überschreiten« bedeuten mufls, aber wir brauchen wohl
nicht so weit zu gehen. Denn unser tk ist wohl nur ein Schreib-
! Die ungewohnte ee hat a meisten Handschriften das Wort nn
lassen, so dafs nur eine die übliche spätere Orthographie 5 Ban N ji hergestellt hat.
Daher auch die weitere Entstellung zu AN Totb. ed Leps. 17, 37.
® Gramm. $89 A; wie Kahun Med. 3,25 zeigt, kommt diese ausnahmsweise Stellung
des Demonstrativs auch aulserhalb der religiösen Texte bei besonderer Betonung vor.
® Nach Gramm. $190 sollte man erwarten
* Wohl nicht das hervorhebende rf (Gramm. $ 348. 349), das wohl vor dem I»
stehen würde,
24 A. Ernman:
fehler für das bekannte Verbum ikn, das unten Z. 71 richtig LEN ge-
schrieben ist. Sicher wäre diese Vermuthung, wenn wir der Lesung | N vr
gewils wären, denn kn wird ja mit » konstruirt.
Das Wort EGEES AM dessen Lesung freilich nicht sicher ist,
ist nicht bekannt; wir kennen nur ein nhp, das »Töpfe machen« bedeutet.
Unwillkürlich denkt man an weorte »klagen«, das gut passen würde und
dessen alte Form noch unbekannt ist; wenn man dem demotischen (23
trauen dürfte, so hätte freilich tegTte ein [LU gehabt und nicht ein % wie
unser Wort, doch beweist das Demotische in dieser Frage nur wenig'. —
Des weiteren bleibt die Auffassung des w zweifelhaft; ist es nur Personen-
determinativ (wozu ja die Endung w stimmen würde?)? oder ist es Possessiv-
suffix »mein nhpw«?
Der Ausdruck p% pw »dies ist ...«” ist einmal (Totb. 154,2 ed. Nav.
= 154, 3 ed. Leps.) zur Einführung einer erklärenden Glosse gebraucht:
»Atum, dessen Leib nicht vergeht EN LENT p pw sti-skf,
dies ist der Zerstörungslose«. Da nun in unserer Stelle dem p% pw noch
das ebenfalls erläuternde 2$ beigefügt ist, so kommt man auf den Gedanken,
ob p iS pw prr nieht etwa auch eine Erklärung von nApw darstellt: » wie
der nAhpw (das ist nämlich der Herausgehende) thut«. Gefördert wären wir
freilich damit auch nicht, denn wir wissen nicht, ob prr hier in seiner ur-
sprünglichen Bedeutung steht oder in irgend einer übertragenen".
v1
5 0 Se u EINE ELLI
BE-Ka-NEIN TV ZEN
' Wie demotische Texte A und 4 mit einander vertauschen, zeigen Beispiele wie
whr (neben wAr) »Hund«, „Am (für nAm) »erretten«, Ai (neben Ai) »Gatte«, rkh (für rkA)
»brennen« u. a. m.
?2 Gramm. $ 96, 2.
® Eigentlich mit Betonung des »dieser« (Gramm. $ 335), die aber in den mir vor-
liegenden Beispielen (z.B. Louvre C 30; Math. Hdb. 57; Bauer 19) nicht mehr stark sein kann,
‘ Aus Pianchi 30 und Prisse 10,7 ergiebt sich z. B. mit Wahrscheinlichkeit eine
Verwendung des Wortes für »zanken, poltern« o.ä.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 25
eu RER
ZN TFNRH- RT
ihwi, achs r sdh >h hr “nh, ihm wi r mt, n it nf; sndm ni imnt. in dw
ksnt pw? phrt pw “nh. dw htw hrsn, Imd rk hr isft, weh möir.
T% 4 ziemlich sicher. 2. Lange. 3. Das 5 ist ein Schreibfehler. 4. Lange.
Meine Seele‘, unterlasse «, einen Trauernden im Leben zu ....; führe mich zum
Tode, indem ich nicht zu ihm komme”. Mache mir den Westen angenehm.
Ist er etwas Schlimmes?? Eine Umlaufszeit ist das Leben’. Die Bäume (pflegen
zu) fallen’; schreite® über die Sünde hinweg; ....... der Unglückliche.
Dafs BeiA=- wh? »unwissend« bedeutet, ist bekannt und gut
belegt’, und so könnte man auch hier übersetzen »mein unwissender (thö-
richter) Geist«. Aber da das r sdh dann in der Luft hinge, ist mir wahr-
scheinlicher, dafs 4% hier ein Verbum ist, von dem r sdh abhängt, und
dafs wi? r sdh parallel zu dem folgenden ihm wi steht, etwa so:
»unterlasse es, den Leidenden im Leben zu ..
»führe mich zum Tode«.
Auch das Seitenstück zu wh} eo im »nicht wissen« findet sich
ähnlich SobanN
mm
ENGE en n hmnf stt nf mw »er unterliefs es nicht,
ihm (seinem Vater) Wasser zu sprengen« (Paheri 9, 52)".
Das Wort ig: sdh ist nicht bekannt. Brugsch, Wb. Suppl., hat
neben { E »öffnen« noch ein Eee x ‚ das Louvre © 26, ı ı vorkommt
Gramm. $ 342 Ende.
Vergl. oben zu IV.
Gramm. $ 357.
Gramm. $ 335.
Gramm. $ 227.
Gramm. $ 257.
wo.
ou» wo
? Ein gutes Beispiel auch Bauer, Rs. 31: »es giebt keinen & m: den du nicht
wissend gemacht hättest, und keinen »QÄA=> ‚ den du nicht erzogen hättest«.
je
s Vergl. auch N N hmf »ohne ihn« Pianchi 13. 69.
g IS) m hmf »ohne ihn ianchi 13. 69
Philos.-histor. Abh. 1896. II. 4
26 A. Erman:
(sdh rmn n k3-... »der den Arm des Hoch....igen ...... «), und ein
verdächtig aussehendes RN an (Düm., Temp.-Inschr. 79, 28). Wir
haben kein Recht, eines dieser Worte mit unserem sdh zu identifieiren.
Für N TI Se ist die Bedeutung »Traurigkeit« gut belegt; als Verbum
findet es sich Eb. 106,14, und Prisse 7,6 bietet An . »der Traurige«.
Für | Mm N al ihm steht 2.49 fi] | IN __ı him; ein him läfst sich über-
haupt sonst nicht nachweisen; ein /hm, mit ”&> determinirt, bedeutet etwas
wie »traurig«' und hat nichts mit unserem Worte zu thun. Ein Im Tr
das die Wörterbücher bieten, sieht verlockend aus, ist aber sehr unsicher,
denn es beruht nur auf Totb. ed. Leps. 64,18, während Totb. ed. Nav.
64. 35 dafür MONRS $ NE (var.: »o Yımti«) hat. — Dafs das Wort
!hm in unseren Stellen etwas wie »hinbringen nach« bedeuten mufs, ist
nach dem Zusammenhang wahrscheinlich; ein gewöhnliches Wort, wie
»führen«, wird es aber nicht sein, dagegen spricht schon das Determinativ.
Das sndm n? imnt »mache mir den Westen angenehm« erfährt viel-
leicht eine Erläuterung durch eine Stelle des Totenbuchs (ed. Nav. 64,10
= ed. Leps. 64,6): »mache mir deine Wege angenehm und mache mir
deine Pfade weit. damit ich die Erde durchwandere«. Danach könnte man
denken, dafs sndm ni ömnt bedeute: »mache mir den Westen gangbar«, d.h.
bringe mich dorthin.
Bemerkenswerth ist, dafs der Westen hier und im Folgenden noch
imnt heifst und noch nicht Zmntt »die westliche (Gegend)«.
Den Fragesatz »ist es etwas Schlimmes?« wird man zunächst auf den
»Westen« beziehen; doch ist es auch möglich, dafs er auf »das Leben«
geht, und dafs das folgende Sätzchen dazu gehört: »ist es (das Leben)
etwas Schlimmes?« (»nein« oder »ja«) »das Leben ist eine pArt«.
Für das seltene Wort phrt hat Brugsch zwei Beispiele beigebracht.
Sen »Herr der Zeit,
oO IES5<—>N110
gedeihend an pArit« (Mar. Abyd. I, 6, 36); in dem anderen heilst es, die
lange Regierungszeit eines Königs werde sein (fl ii: O = *
—INOEFZEN N Janet
»die phrüät der Ruhelosen (Sterne)«. Es ist also ein Wort für den ewigen
In dem einen heifst der Sonnengott =
Lauf der Gestirne; phr bedeutet ja auch »kreisen«. Aber was soll das
hier in unserer Stelle?
! Kahun, Vet. 44 steht es von der Gemüthsstimmung eines kranken Ochsen.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 27
Völlig räthselhaft ist das Folgende, das, wie die Verbalform zwf sdmf
* D . ” gr) ” ” ”
zeigt, ein allgemeiner Satz ist. Dafs 2 | ohne weitere Determinirung
zum
für einen Schreiber des m. R. »Bäume« heifst, wird dureh Sinuhe 83 belegt,
aber was sollen Leben und Bäume und Sünde zusammen?
Die Konstruktion von And mit hr (statt des gewöhnlich folgenden
Objekts) findet sich auch Bauer 2 und Kahun, Hymn 2,20 mit der Be-
deutung »über etwas hinwegschreiten «.
Das wyh msir gehört vielleicht zum Folgenden; das vieldeutige wh
erlaubt die verschiedensten Vermuthungen. Im Ganzen müssen die letzten
Sätze den Gedanken enthalten, dafs es im » Westen«, im Totenreiche, dem
Unglücklichen, dem myir, besser gehe als im Leben, ein Gedanke, den
dann der folgende Abschnitt näher ausführt.
vn.
POT FERRHT"N. tan ırRrZe
3
Ehe Fra RE
2 7 vwm
N ihre SONS 218 RT =}
IS II FAR IT TR
an
EIS 5
wd“ wi Dhwti, htp ntrw, hsf Hnsw hri, ss m mz<t, sdm RC, mdwi, sg
w3, hsf Isds Ari m et dsrt(?) .... Sri wdn..., nf ni ndm hsf ntr n
sb hti?).
ı. Lange. 2. In der von Griffith (ÄZ. 1891, 54) nachgewiesenen Ligatur.
3. Lange. 4. Das hier stehende hieratische Zeichen ist ınir so nicht bekannt. Der breite
Kopf erinnert an die Form von N wie sie z.B. Eb. 76,8 vorkommt, doch hat unsere
Handschrift dafür gleich nachher (Z. 29) die korrekte alte Form. Jedenfalls stellt unser
Zeichen einen sitzenden Mann dar, der etwas in der erhobenen Hand hält. 5. Das
Zeichen über dem Schiff könnte man an und für sich auch W lesen, ich vermuthe aber,
dafs das Ganze ein Sonnenschiff LOS darstellen soll, vergl. das zu 144 Bemerkte. 6. So
Lange, doch kann ich X/ im älteren Hieratisch sonst nicht nachweisen. 7. Lange,
4*
28 A. Erman:
“ * < _- . rg ” *
wohl richtig, 8, > und == noch ganz erhalten, von ] ein Theil; die Lesung
ANWAN | —
ergiebt sich aus 149. 9. Man möchte wie in Zu lesen, doch hat unser Schreiber
IZz
den glatten Strich nur für wwm.
Thoth richtet mich, der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt mich, ‚der
wahrhaftige Schreiber; Re hört, wenn ich rede, .... das sonnnschiff; "Isds ver-
theidigt mich im Hause ...... ‚ mein Unrecht»... und er trägt mir .. ange-
nehm .. die Götter wehren das Bohwlariga meines lieibes ab.
Vier Götter sind genannt, die sich des Toten annehmen werden.
Die beiden ersten sind die bekannten Mond- und Weisheitsgötter, die
Schreiber und Richter der Götter; der dritte ist der Sonnengott, der
himmlische Leiter der Welt. Der vierte ist eine obskure Gottheit, die
F — 1
uns aber schon, und zwar in derselben seltsamen Schreibung IN N 7
ee
aus Totenbuchtexten bekannt ist. Einmal (ed. Leps. 145, 39) wird auf
einen Vorgang aus der Göttersage angespielt, bei dem ’Isds »eintrat, um
den 'Set zu... er Al) in dem verborgenen Hause«; das andere Mal
(ed. Nav. 17, 41) werden »Set (var. Thoth) und '/sds, der Herr des Westens, «
als die »IHerren der Wahrheit« bezeichnet; an der dritten Stelle (ed.
Nav. 18,24) heifst es, der grofse Geriehtshof auf dem Wege der Toten
bestehe aus 'Thoth, Osiris, Anubis und 'I$ds. Das deutet auf eine ge-
rechte, riehtende Gottheit, wie sie auch unsere Stelle verlangt.
Dem Thoth und dem Chons sind Beiworte beigefügt, die sich freilich
nur erkennen lassen, weil sie auch sonst bekannt sind. Denn Thoth
R . Te neh 4 £
heifst Düm., Temp.-Inschr. XXI: Shlp ntmw »der die Götter be-
As 11 ı
(riedigt«, und Ohons heilst ebenda a H —)) Wo nb s$ ms<t »Herr der (P)
Schreiber der Wahrheit«. Demnach ist an unserer Stelle sicher ber;
zu verbessern und wohl auch das m vor my“ zu streichen.
Man darf danach vermuthen, dafs auch den anderen beiden Göttern
Beinamen zugefügt waren und dafs der des Re in den Worten sy 1b
steckt. Man würde auf »der das Sonnenschiff lenkt« oder Ähnliches ‚athen,
doeh ist ein Verbum, das diesem sy ähnlich sähe, nieht bekannt”,
‘ Das Determinativ ist hergenommen von 0 »Krugs.
Br BER . nn .n . Dr o
IA { W.492 scheint »begielsen« zu heilsen. An neunegyptisch EN \A
An, 1, 23,2 wird man nicht denken,
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 29
Was Thoth dem Toten erweisen soll, ist natürlich ein gerechtes Ge-
richt. Freilich fügt man in der Bedeutung »richten« dem m ns
N
wd°e sonst noch ein dw »Wort« bei, doch findet es sieh wohl auch nur
mit dem Objekt der Person, so Totb. ed Leps. 123, 1 (= 139,1) wd“ rhlnwt
vom Thoth, der den Streit zwischen Horus und Set schlichtet.
Ohons und ’ISds »wehren von ihm (die Widersacher) ab«; dafs Asf
e.c. hr dies bedeutet, läfst sich zum Glück dureh eine Stelle des » Amduat«
belegen (ed. Jequier p. ı01)'. Dagegen greift Re als höchster Gott nieht
selbst zum Heile des Toten ein; er erhört nur, wenn er ihn bittet. Auch
am Schlufs des Buches (LIII) wird es als ein Glück der Toten bezeichnet, dals
sie im Sonnenschiffe dem Re so nahe sind und zu ihm beten, wann sie reden.
Alles Folgende ist wieder unklar, hauptsächlich der Lücken wegen.
Das Wort NS AN %o findet sich als NERIR Fin der Bauern-
geschichte Z.69 (ähnlich 100. 135), wo der Bauer den Fürsten anfleht:
»thue Gerechtigkeit ... vertreibe das SÖr«; es wird also wohl das » Un-
recht« bezeichnen, das ihm zugefügt ist. Auch Totb. 64, 23 kommt das
Wort in einer unverständlichen Stelle vor. Ob das vn hier das Suff, ı sg
bezeiehnet oder ob es einen Personennamen (»Sünder«) andeutet, ist
nicht zu entscheiden.
Das Wort wdn »lasten« findet sich auch in LIV wieder. Zu über-
setzen »er bringt mir Angenehmes« geht schwerlich an, denn dann würde
es wohl ndmw heilsen”.
Liest man, wie es bei unserem Schreiber am nächsten liegt, ] ;
hat man Asf ntr n »Gott straft den ..«, wobei der einzelne „Gott«
etwas verdächtig ist. Liest man "| | | „50 erhält man »die Götter wehren
ab den ..«. — Bei $4-ht ist urledar die Auffassung des Yp fraglich; es
' Es heifst hier: Asf Gppt hr Re »den Apophis vom Re abwehren«., — Übrigens
kommt auch ein anderes As/ hr vor, das im Namen des Thürhüters Hsf- hr-83- rw »Schwätzer-
abwehrer« vorliegt (Totb. ed. Nav. 147, 26; ed, Leps. 147, 18).
-
l
® Das Determinativ ON nach IN —> zeigt an, dals man dies IN al — zu lesen
NS
hat; also DR A m3ir u.8.w. Es kommt dies wohl von einem Worte her, das sowohl als
RSPNF LD. Il 136%), DI) (Sinuhe 50) als auch als RE, (Louvre
"26) nachzuweisen ist.
’ Gramm, $$ 11, 15 131.
30 A. Erman:
kann Personendeterminativ sein (»der am Leib schwierige«) und Suff. ı sg.
(»der Schwierige meines Leibes«). Bei beiden Auffassungen bleibt das
Pluralzeichen hinter $%# unbequem; wäre der Plural von $t beabsichtigt, so
würde auch dessen Endung w ausgeschrieben sein, die Verwendung des
ı ı ı bei Singularen zur Verallgemeinerung des Determinativs ist aber, so-
viel ich sehen kann, in den Handschriften dieser Zeit nur bei ö } Bi
ie.N
u.ä., d.h. bei Stoffnamen und Kollektiven, gebräuchlich.
vn.
er Te Fe ee
SERIE
ddtn ni ihwi: n ntk iS s, twk tr... Cnht, tr kmk mhülk hr .... mi nb-Ch“.
ı. Lange. 2. Die Lesung ® wird durch die gleiche Konstruktion von mA Z. 78
gesichert.
Was meine Seele zu mir sagte: » Du bist nicht eine Persony bist du denn . . Lebens-
lande? vollendest au denn . . ...? du sorgst dich wegen ... wie einer, der Schätze hats.
Ebenso wie hier ist auch Z. 147 die Rede der Seele eingeführt; beide
Mal sind es kürzere Reden, während der langen Rede Z. 55 die vollstän-
dige Formel: »meine Seele öffnete mir ihren Mund u. s. w.« vorhergeht.
Das ddtn ni ühwi bedeutet »das, was meine Seele sagte«' und bildet wohl
eigentlich mit der folgenden direkten Rede einen Nominalsatz: » was meine
Seele sagte (war): du bist kein Mann«. Ein solcher Gebrauch von ddtn ..
findet sich auch Der Rifeh VII, 34, wo in der Erzählung eines Tempel-
baues die bewundernde Rede der Leute dureh be „ | IN Ap » was
=a\ vum j
die Jugend sagt« eingeleitet wird. Einem ähnlichen Gebrauch verdankt
auch kopt. nexacj aus p3-iddf seine Entstehung.
Der erste Satz findet seine Erklärung durch zwei Stellen der Pyra-
midentexte (P 582 und P315 =M623), in denen die Konstruktion x
my N $ l SEN ... bedeutet: »nieht X hört ... (son-
! Gramm. $ 291.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 31
dern) Y hört«. Dieselbe Konstruktion! ist es, wenn es Weste. 9, 5 heifst:
{nA N x »ich werde es dir nicht bringen«, worauf
um II wm III
BRERE : 5 1 Eee re wall :
der König sogleich fragt: m IR I ei) IS »wer wird es
mir (dann) bringen«, als habe Dedi bei seiner Rede die zweite Hälfte fort-
gelassen. Demnach ist sicher auch an unserer Stelle zu übersetzen » du
bist kein Mann«, mit Betonung des du; der dazu gehörige Gegensatz
scheint nicht ausgesprochen zu sein.
Was aber damit gemeint ist, ist nicht zu errathen; Sı ist das farblose
Wort, das man meist mit »(männliche) Person« oder mit »jemand« wieder-
geben kann.
Die Partikel ” j\ kennen wir aus Fragesätzen aller Art”, und so
—
möchte man auch hier zwei Fragesätze annehmen, die freilich sonst nicht
als solche gekennzeichnet wären. Die Schwierigkeit ist nur, dafs fr das
zweite Mal den Satz beginnen würde, während es doch sonst stets enkli-
tisch dem ersten Worte folgt.
Das »Lebensland« “nht ist die bekannte Bezeichnung des Westens,
in dem die Sonne versinkt und in dem die Toten wohnen.
Für N] ist die Bedeutung »(eine Zeit oder eine Zahl) vollmachen «
gut belegt, und ebenso auch die substantivische Verwendung für »Zeit«“.
Ebenso sicher steht die Bedeutung »sich sorgen« für mA und die Be-
deutung »Haufen, d.h. Reiehthum« für he*.
Da auch unten (XVI) die Seele dem Menschen räth, »die Sorge zu
vergessen«, so darf man annehmen, dafs der Unglückliche nicht nur gegen-
wärtige Leiden erduldete, sondern auch künftige befürchtete. Vielleicht
darf man weiter in den letzten Worten den Gedanken finden, dafs ein
armer Mann, wie er, die Sorgen den Reichen überlassen solle, die für
ihre Schätze fürchten müssen.
! Das Pronomen absolutum der jüngeren Form entspricht ja dem | sum mit Substantiv.
2 Gramm. $ 363. Vergl. auch P298 ff. Totb. ed. Leps. 58, ı; 64, 20. 24; 113, 3;
122,1; 125,47, sowie Bauer 114. 179. 200. Merkwürdig Math. Hdb. 67. Anscheinend
nicht im Fragesatz Sinuhe 114.
® Ein gutes Beispiel Louvre C 26, 22 (poetisch).
4 Vergl. z.B. Prisse 13, 6, wo der früher Arme reich geworden ist und nun cA@ be-
sitzt. Es ist das gewils ago »thesaurus«, eine Bildung wie co, 2pPo07 u. Ss. w.; der Plur.
A0WWwp ist mir freilich unverständlich,
32 A. Erman:
RX.
E-FRAETEI RT N Jle8
AN ZeleE TIPS I
BERBETTETRTLEKEITTT
4 5
u a SL 39 ©
U N Rz] | 13
ddi: n smi, tw nf r b, nlım nti(?) hr tfül, nn nwtk, hnri nb hr dd:
iwi r ittk, tw grtk mt, rnk “nh, st nfs x Imt, ..fd(?) nt ib, dmi pw ümnt,
Int ks... ar ().
NW MM
ı. Es wird ob oder IN zu lesen sein, wenn auch der kleine Strich weder dem
[a\
noch dem W gleicht. 2. Das @ kann natürlich auch S sein. 3. Der Strich n?
oder ein kA? Auch das d hat eine seltsame Form. 4. Neben ||! stand kein zweites
Zeichen, so dafs die Ergänzung ld nicht wahrscheinlich ist. 5. ® wahrscheinlich.
Ich sagte: ich gehe nicht fort, wenn jenes da auf Erden ist; .... wird,
wer da .... ohne für dich zu sorgen. Jeder ..... sagt: Ich werde dich fortführen,
dein [Los] ist ja zu sterben, indem dein Name lebt. Jenes ist der Ort des sich
Niederlassens, das ..... des Herzens, eine Stätte ist der Westen, . .. fahren
Da Z. 39 schon zu der Antwort des Mannes gehört, so kann diese
nur hier beginnen, wenn auch die Einleitung durch ein einfaches AIR
auffällig ist!.
Der Ausdruck r % im Sinne von »auf Erden« findet sich auch P 164,
wo es heifst: »Pepi fliegt fort von den Menschen, > —l%
nl 2
Im folgenden Sätzchen ist nam das aktivische oder passivische Ver-
er ist nicht auf Erden, er ist am Himmel«.
bum zu dem Subjekte nt? hr tfüt, denn so IRX%) wird zu verbessern sein.
es
Nhm bedeutet bekanntlich sowohl »rauben« als »erretten«. Für das, in
der älteren 2. bisher nicht belegte, /f& hat schon Chabas (voyage
! Es ist gebraucht, wie man sonst ddf verwendet, vergl. Gramm. $ 175.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 33
p-ı41) Stellen gesammelt; wiederholt steht es vom »Schlagen« des un-
ruhigen Herzens, in anderen Beispielen bleibt es unverständlich. Nach
dem Determinativ mag es etwa »hüpfen« bedeuten.
Ein ebenfalls mit © determinirtes Verbum nıw kenne ich aus Prisse
7,11 wo nuf ihtk etwa bedeutet: »er (dein Sohn) besorgt deine Sachen «°;
{a J s 2 . 432
es wird das dasselbe Wort sein, das d’Orb. 8, 3 zweimal als ER all
N 48 mit anscheinend gleicher Bedeutung vorkommt. Ob unser nwtk
der Infinitiv ist (dieh besorgen), die substantivirte Form (indem du be-
sorgst) oder das Passiv (du wirst besorgt), ist nicht zu ersehen°; der Ge-
brauch von >‘ würde zu der ersteren Auffassung: »ohne dich zu besor-
gen« passen.
Das Substantiv Anr? kommt als BE AM Anr auch in der Bauern-
re en.
geschichte 121 vor, wo es vielleicht parallel zu R ee »der Be-
sitzlose« steht: ebenda 122 scheint es ® led) Br geschrieben zu sein.
NW
Mit einem der anderen Worte Anr darf man es wohl nicht identifieiren,
da das Determinativ A zu keinem derselben palst.
BER A k : a {
Das unverständliche A) ist wohl nicht in N —— »dein An-
>) ———
theil« zu verbessern, sondern grt ist die bekannte Partikel’ und hinter ihr
hat der Schreiber das Substantiv ausgelassen, zu dem das Suffix —S gehört.
Also etwa »dein [Los] ist ja zu sterben«.
Das oft besprochene Wort S < wird von Vögeln und Insekten
gebraucht, die sich aus der Luft sufkehwas »niederlassen«®; es steht daher
auch von der vogelgestaltigen Seele N die auf dem Baume am Grabe
! Im Tellamarnahymnus (p. 39 ed. Breasted) steht es vom Springen der Fische,
falls die Lesung richtig ist.
®2 Aulserdem in einer mir unverständlichen Stelle Brugsch, Thesaur. S. ız01. Das
Determinativ ist von © nwt »Faden« (Benihasan II, 13) hergenommen.
ER
da
® Gramm. $$ 266. 280; 285. 286; 171.
* Gramm. $ 366.
° Gramm. $ 321.
% Besonders deutlich W 477, wo der in einen Käfer verwandelte Tote
: N Be »sich niederlälst auf einen leeren Throns, der im Sonnenschiff steht.
Philos. -histor, Abh. 1896. II,
34 A. Erman:
sitzt!'. Und so steht es auch gleich nachher in XII, sowie unten in LV;
an der letzteren Stelle heifst es etwa: wenn der Leib bestattet ist, so soll
sich die Seele bei ihm »niederlassen«; sie sollen »zusammen eine Stätte
—|| | machen«. Damit erklärt sich auch unsere Stelle: »der Westen
: A sun 5
ist die Stätte —|| jo in der Leib und Seele zusammen hausen sollen,
»der Ort«, wo sich die Seele »niederläfst«, die »Lieblingsstätte (?)« oder
I? m vum
> ® herzustellen ist.
= Se en Ya |
Ich habe —|| | allgemein mit »Stätte« wiedergegeben, während
wie sonst das verderbte
es sonst stets die »Stadt« bezeichnet. Aber es mufs in der That auch eine
allgemeinere Bedeutung haben, denn im Grabe des Paheri von el Kab? reeitirt
der Priester beim Begräbnifs, während ein Boot mit dem Bilde des Toten
(?in einer Kapelle) gezogen wird er br: | I N 1 am | u IN
zn NS - 5 "=
J en RR: ich kann das nicht ganz übersetzen, aber es
Eee sp
heifst doch gewils, dafs für die Mumie »eine Stätte, ein Wohnort o.ä.
gemacht ist« im Heiligthum des Anubis. — Auch Bauer ıoı kommt rt
dmt vor, doch ist die Stelle mir unverständlich.
Bei dem weiter noch erhaltenen Worte Ant »fahren« könnte man u.a.
an die Überfahrt bei dem Begräbnifs denken und könnte demnach das
folgende As zu Ärs ergänzen.
Ich möchte — natürlich unter allem Vorbehalt — für den Abschnitt
folgende Auffassung vorschlagen. In VII hat der Mensch seiner Seele
geschildert, wie gut es der Tote im Westen hat, und darauf könnte sie
ihn in VIII. gefragt haben, ob er denn nicht auch allein, auch ohne sie
dorthin gehen könne. Dagegen sträubt er sich nun: »ich gehe nicht fort,
wenn das da” (d. h. die ungehorsame Seele) auf der Erde bleibt«. Der
ist übel daran, der aus der Welt läuft, ohne sich um dich zu bekümmern.
Jeder .... sagt zu seiner Seele: »ich werde dich mit fortnehmen, du
mufst sterben und dir an dem Nachruhm genug sein lassen. Der Westen
ist der rechte Wohnort für dich«. Aber noch einmal, es ist ebenso gut
möglich, dafs ganz anderes in der Stelle steckt.
! Louvre C 55.
® Taf. 5 der Ausgabe des Egypt exploration fund.
® N wäre hier verächtlich gebraucht, wie p% es so oft ist; für den letzten Satz palst
diese Auffassung freilich nicht.
> 2 Du
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 35
X.
FT
RN ER TAN ANRA- TI
ine.
ir sdmni dwi,n .....: ‚ twt Übf hmet, Äwf r mer(?); rdii phf imnt mi
ntt m mrf, Chen hri-b hr krsf.
=
ı. Man könnte wohl auch IB lesen. 2. Unter „n. stand noch ein schmales
Zeichen, vielleicht wm. 3. Lange liest ZeD ,„ was möglich ist, wennschon
ZA
das D nicht ganz die richtige Form hat. Für a kann man auch —>, für N auch
NN
N lesen.
Wenn meine Seele auf mich hört, so wird nicht ..... Wer sein Herz
mit mir ...., wird glücklich sein; ich lasse ihn den Westen erreichen, so wie
einen, der in seiner Pyramide ist, und über dessen Sarge ein Hinterbliebener gestan-
den hat‘.
Für das Verbum #ot sind die Bedeutungen: ı. »versammeln«, 2. »ähnlich
sein« gut belegt; was es aber vom Herzen gebraucht heifst, ist nicht
bekannt.
Für St hat Goodwin (ÄZ. 1876, 103) eine Bedeutung
—
wie »glücklich« nachgewiesen; das Wort könnte wohl ein Derivat von rwd
»wachsen« sein (mrwd?) und »gedeihend« bedeuten. — Zu Zof r »er wird
etwas sein« vergl. Gramm. $ 253.
Der Ausdruck Ari-t »einer, der auf der Erde ist«, ist sonst nicht be-
kannt; da es sich hier und in XV augenscheinlich um eine Person handelt,
die dem Toten die letzte Ehre erweist, so ist die vorgeschlagene Bedeutung
wahrscheinlich.
Dafs man in Ars hier Zi den Sarg zu sehen hat und nicht
das Verbum, wird durch den Vergleich von Z. 53 wahrscheinlich; hier
wie dort ist die Stellung des Bestattenden durch CA“ Ar »stehen über ..«
bezeichnet.
! Gramın. $ 396.
5*+
36 A. Erman:
Wenn ich recht verstehe, verlangt der Mensch, seine Seele möge ihm
nur vertrauen; auch wenn er nicht glänzend bestattet werde, so werde er
ihr doch einen guten Eintritt in den Westen verschaffen. Der folgende
Abschnitt giebt dann wohl an, auf welche Weise er dies erreichen will.
XI.
PH TRA- MEI AIR
ISIS eh UP
ang TERN EIHEETN >
ISSUES TI —T|e>
Ama No A
Nor
wer rt nit... hitk, sddmk kit thw|nti?| m nnw; dwi vr ürt nist, ih
Imf hsw, sddmk kit ihw nt|i| Bw; swrä mw hr bsbst, til Sw.., sd[d|mk Kküt
thw nti hkr.
1. Das hieratische Zeiehen ist mir nicht bekannt. Man könnte an IN ‚an ®, an l
denken, doch stimmt es zu keinem genau, Ob es etwa 1 (das spätere ) ist? In nr
könnte das N auch wohl N sein, in 45 ist es undeutlich. 2. Es fehlt wohl
nichts. 3. So wird 17 zu lesen sein, vergl. die ähnliche Abkürzung von ID:
Y Sinuhe 22; in Z.72 hat unser Text die gewöhnliche Form. 4. N hinter n&
scheint ausgewischt. 5. &S kann natürlich auch —> sein. er N sicher,
wahrscheinlich, unter dem runden Zeichen noch ein verwischtes I I 1 0. ä. 7. Sie
Ich werde ein .... werdn ... deinem Leichnam; du ..... eine andere Seele,
als müde. Ich werde ein ..... werden, möge er nicht frieren, du ..... eine
andere Seele, welcher heifs ist. Ich trinke Wasser aus dem strome, ich erhebe .. .
en Au 22... eine andere Seele, welche Hunger hat.
Wenn das Zeichen hinter "3%? sicher ein I wäre, so dürften wir
. NWM R MM R R e ’
an das Wort EN nl, IE aa‘ n&w denken; was ein »Steinbock« hier
sollte, wäre freilich schwer zu ersehen. Sonst giebt es nur noch ein ähn-
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 37
liches Wort EN d den »Schnupfen«. Anstatt »ich werde ein ni? werden «,
kann man eben so gut auch übersetzen »ich werde ein n?? machen«.
Auch das andere für das Verständnifs der Stelle wesentliche Wort
sddm ist neu und unbekannt; auf die Existenz eines solehen Verbalstammes
deuteten schon das Wort IAU »Haufen« (?als Mafs) und der Stadt-
name er, (Brugsch, Dict. Geogr. p. 1006)".
Bei Ast denkt man hier zunächst an den »Leichnam« (d. h. also an
den zu der Seele gehörigen Körper): doch hat das Wort auch, wo es so
wie hier determinirt ist, eine allgemeinere Bedeutung, vergl. Eb. 8,13, wo
es Unrath im Leibe des Menschen bezeichnet.
Die genaue Bedeutung von Asw ergiebt sich aus Stellen wie Bauer 244,
wo der klare Himmel »alle NT wie Feuer erwärmt« und
Louvre Cı wo der RSST eines »warmen Zimmers« bedarf.
{=
Aus der b»b}t oder, wie man vollständiger sagt, der JJ1
AWMN
2a Wr »der bbt des Stromes« wünschen die Toten auch sonst zu trin-
wi
ken’; was die b»b3t eigentlich ist, weils ich nicht”.
Wir haben offenbar drei parallele Sätze von gleichem Bau
tw r ürt mist en Ale \ sddmk kit ihw m nnw
ich werde ein nö2 werden ... dein Leichnam \ du ... eine andere Seele als
| müde
tw r Ärt mist \ ih tmf hsw sddmk kit ihw nt! Bw
ich werde ein nö? werden möge er nicht frieren du ... eine andere Seele,
| | BR r
| ' welche heils ist
|
swr! mw hr babst | ln. \ sddmk kit ihw ntt hler
ich trinke Wasser aus dem | ich .... |du .... eine andere Seele,
PA | welche hungert.
Nach dem, was vorhergeht, zu urtheilen, müssen diese Sätze ausführen,
®2 2.B. Berlin 2074; die Formel stammt weder aus den Totenbuchtexten noch aus den
Pyramidentexten. — Swr? Ar heilst auch sonst »trinken aus«, vergl. Paheri 9,4.
® Die übliche Übersetzung »Strudel« beruht wohl auf der unbewiesenen Zusammen-
stellung mit dem Verbum heebe.
38 A. Erman:
nach, dafs ihr Schlufs bedeutet: du wirst herabsehen auf andere Seelen,
die müde, heifs und hungrig sind, so gut wirst du es haben. In dem An-
fang dieser Sätze mülste dann stehen, dafs die Seele munter, kühl und ge-
sättigt sein wird; bei dem dritten Satze ist dies in der That der Fall, ob
auch »ich werde ein nö« diese Gedanken ausdrücken kann, wird nur sagen
können, wer die Bedeutung dieses Wortes ermittelt.
Von dem mittleren Theil ist nur das »möge er nicht frieren«' ver-
ständlich: das könnte heifsen, dafs die Seele es auch nicht zu kalt haben wird.
ph Ne"
x ERBAINER N WAR TR,
Or TEA ters |
NENNT TE
ir himk wi r mt m p ki, nn sdmk(?) hntk Sa m imnt; wsh(?) ibk, ihre
snt, vr hpr „ne at, drptfi, chtfi hr h3t hrw krs, Süf Imkiit nt hrt-ntr.
ı. Die Lesung ziemlich sicher, him ist wohlaus ?hm (Z.19) verschrieben. 2. Die
Reste des Zeichens führen eher auf N als auf [- 3. Ergänzung durch die Ligatur gefor-
dert. 4. Von N noch Spuren. 5. Das zweite w klein, vielleicht hineinkorrigirt.
a 5 - E ® NN rn:
6. Das in einem Zug mit dem m Dann, durch die wechselnde Farbe der Tinte
a
gekennzeichnet, ein neues seltsames Zeichen; man könnte an Q denken (3n<c), doch hat
MAN a
dies Z.74 die korrekte Form; eben so wenig palst D (pre). Das & ist ungewöhnlich grols.
7. So zu lesen und nicht X 4, da die Handschrift statt {A noch __5 schreibt. Auch
a__n ist ausgeschlossen, da dies in Z.54 anders gestaltet ist. 8. Lange, gewils richtig;
eine ähnliche Gestalt hat ' auch Sinuhe 191. 9. Das 2 ist mit dem "] zusammengellossen.
Wenn du mich in dieser” Weise zum Tode yurs, so wirst” du nicht ....,
dar‘ du dich darauy im Westen niederläfst. Sei so freundiich, meine Seele und Bruder,
' Gramm. $$ 182. 376.
® Gramm. $ 90.
° Zu einer futurischen Übersetzung palst auch die Form der Negation, vergl.
Gramm. $ 366.
* Gramm. $ 284.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 39
mein Bestatter zu werden, der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird
am Tage des Begräbnisses, damit er mir das Bett des Friedhofes ......
Über him oder ihm ist schon zu VI gesprochen worden.
Dem Antk geht ein Verbum auf m vorher, das ohne Determinativ
geschrieben werden kann; es pafst dies sowohl auf wAm » wiederholen «,
als auf sdm »hören«. Die letztere Lesung, die palaeographisch wohl näher
liegt, ergäbe etwa »du wirst nicht hören, dafs du dich niederläfst«, die
erstere: »du wirst dich nicht aufs Neue niederlassen«. Und worauf be-
zieht sich dass ® N hrs »auf ihr, darauf«? etwa wie das in chf nd hrs
in IT auf die 197 »die Bahre«?
Dafs w>h 7b zu lesen ist, ist klar, und ebenso, dafs diese Redensart
hier optativisch steht und dafs r Apr von ihr abhängt!. Aber die genaue
Bedeutung von wh ib ist nach meinem Gefühl noch nicht festgestellt,
wenn ich auch glaube, dafs Brugsch’s Übertragung »mildthätig« der
Wahrheit nahe kommt.
Das Wort, das auf Apr folgt, muls den Bestattenden bezeichnen, ist
aber augenscheinlich verderbt. Auf die richtige Spur führt sein Schlufs ®,
der gewils die alte Bezeichnung der Totenpriester $ (so allein z.B. LD. II, 4)
ist; demnach werden die davorstehenden Zeichen aus dem BEN verderbt
sein, das gewöhnlich davor steht. Man gebraucht diesen Ausdruck ebenso
wie hier auch mit Possessivsuffixen, vergl. Tı69 =M 178 » 5
»dein Bestatter«. u =
Drp »opfern« ist gut belegt; über Ch Ahr »stehen bei« vergl. das zu X
Bemerkte.
Dafs das Ast eine Stätte bei den Bestattungsceremonien ist, zeigt zu-
nächst ein alter Priestertitel in Siut (I, 331): = N nr Im I N | m
an VEN Zee IN = N = I Ni) »Eingeweiht in das
BE Nm —— AAN
Geheimnifs des Osiris an seiner Stätte, der grofsen Ast, die ihren Herrn,
den Uennofre, besitzt(?)«. Ebenfalls mit Bezug auf das Begräbnifs steht es
in den von Brugsch (Wb. Suppl. S. 780) angeführten Stellen Leiden I,
344, 2.7; 7.5. Genauer ergiebt sich seine Bedeutung aus dem bei Brugsch,
Wb. S. 234 eitirten späten Sarge, auf dem es FR-R geschrieben ist
' Über die Stellung der Anrede »mein Geist mein Bruder« vergl. Gramm. $ 342.
40 A. Erman:
und ohne Zweifel von der Bahre gebraucht wird, auf der die Mumie für die
Totenklage und andere Ceremonien aufgestellt ist. Indefs ist vielleicht die
Bedeutung eigentlich doch eine etwas allgemeinere'.
Für Arw krs wird Ahrw n kr$ zu lesen sein, denn Infinitive werden
mit Arw im Genetiv mit n verbunden’.
Dals das SUf Imktit etwa »er bereite mir das Bett« bedeutet, ist klar,
aber ein mit | determinirtes $ findet sich nur einmal (Louvre Ö 174)°,
augenscheinlich mit ganz anderer Bedeutung.
XII.
era de FAN
iw wpn nt dot r3f, wsbf ddtnt.
Meine Seele öffnete ihren Mund zu mir und beantwortete, was ich gesagt hatte.
XIV.
II LE PRINT
FAN FSFE ER ARLIN IT
BRALnesettTerTe
ir shyk krs, h3t-ib pw; int-rmüt pw msind s; Sdt s pw m prf, IC hr
ka; nn prnk r hrw, my’k re (P).
1. Reste zweier schmaler Zeichen, das untere etwa ——D (oder ı I 1); das obere vier-
eckig, vielleicht für —! 2. Das N durch einen zufälligen Strich unklar.
! Sehr allgemein giebt der demotische Übersetzer der Rhindpapyrus das ENT
Fr PT 8 »das A. der thebanischen Nekropole« mit »die Halle (wsAt) der
er AM al
Nekropole« wieder. Vergl. Brugsch, H. Rhind's zwei bilingue Papyri 5, 3; ähnlich ib. 15, 9.
? So hrw n mnt »Tag des Sterbens« (Sinuhe 310; Siut I, 267; d’Orb. 19, 7), hrwn st tk3
»Tag des Lichtanzündens« (Siut I, 279) u. s. w.
* Dafür MERAN Louvre Ü 167, ra N Louvre U 170.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 41
Wenn du des Begrabens gedenkst, das ist Trauer, das ist was Thränen
bringt‘, wa den Menschen betrübt macht, das ist was den Menschen aus seinem
Hause fortnimmt' und auf die Höhe wirft. Nicht gehst du nach oben, dafs
du die Sonne sehest.
Der Abschnitt bietet ausnahmsweise keine lexikalischen Schwierig-
keiten. Dafs $h% nicht nur »sich erinnern« (an etwas früher Geschehenes)
bedeutet, sondern schlechtweg »an etwas denken«, ist vielfach zu belegen.
So »denkt« jemand schon bei seinen Lebzeiten an seinen Tod (Siut I, 267),
der Zerstreute »denkt an etwas Anderes« (Ebers 102, 16), der König »denkt«
an die fernen Goldländer (Kuban 8), und als der arme Bauer auf den
Fürsten Meruitensi hofft, wirft ihm sein Peiniger vor: ich bin es, der
mit dir redet, und an den Meruitensi »denkst du« (Bauer 21).
Für Ast »Traurigkeit« und ind »traurig« genügt es, auf die von Brugsch
beigebrachten Belege zu verweisen; 3d »fortnehmen «* und 43° »hinwerfen «°
sind gewöhnlich. X33 »Höhe« ist uns meist in späteren Schreibungen wie
FEN Ba bekannt: dieselbe Schreibung, die wir hier haben, findet sich
N
auch Totb. ed. Nav. 71, ı5 (Pb).
Der Satz enthält eine merkwürdige Ellipse; er mülste vollständig
lauten: »wenn du des Begrabens gedenkst (so gedenkst du an nichts Gutes),
es ist etwas Trauriges« u. s. w.
Den Sätzchen int pw »das ist das Bringen« und $dt pw »das ist das
Fortnehmen« folgt je ein sie ausführender Zusatz ohne pw. Der zweite
hs hr k3? wird einen Infinitiv enthalten, dessen Objekt »ihn« als selbst-
verständlich übergangen ist’: »das ist das Fortnehmen und das (ihn) auf
die Höhe werfen«. Auch den ersteren m $ind s möchte man ähnlich fassen:
»das ist das Thränenbringen und das den Menschen Betrüben«, aber dem
widerspricht das vor ind stehende m. Sieht man in diesem m die Prae-
position, so erhält man: »es ist das Thränenbringen, wenn es (oder da-
durch dafs es) den Menschen betrübt macht«, d. h. es macht traurig, wenn
es traurig macht — ein Widersinn. Ist daher der Text in Ordnung, so
! Eigentlich Infinitive: das ist Thränen bringen; das ist fortnehmen und werfen.
® Für $d m »fortnehmen aus« vergl. Eb. 23, 20.
® Eine gute Parallelstelle ist Abb. 4,3, wo die aus den Särgen gerissenen Mumien
ne, MAN > SE : i
j IN EIN »auf den Boden geworfen« sind.
N 1 ae a ne
* Gramm. $ 354.
Philos. -histor. Abh. 1896. II, 6
42 A. Erman:
wird man sind als ein Wort zu fassen haben, als eine Substantivbildung
mit dem Praefix m: msönd »der Betrüber«; freilich wäre diese Schreibung
des Praefixes sehr: alterthümlich.
Der letzte Satz enthält kleine Anstöfse. Die n-Form ist wegen der
nachdrücklichen Versicherung gebraucht', aber soviel ich weils, mufs in
solchem Fall die einfache Negation + stehen; die gleiche Absonderlich-
keit auch unten. Ebenso ist mir das Pluraldeterminativ hinter r° verdächtig.
Der Sinn der Stelle ist: das Begräbnifs, zu dem ich dir verhelfen
soll, ist wirklich nichts, was du dir wünschen solltest. Es ist traurig,
wenn der Mensch statt seines Hauses ein Grab auf dem Berge bewohnen
mufs” und die Sonne nie mehr sehen darf. — Die Seele hat also sehr
ketzerische Ansichten über das Begraben; im Folgenden führt sie weiter
aus, dafs auch das beste Grab dem Toten nichts nützt.
AV.
ISuriNe-h2L HTRTA
ISPERURITITSENTELERTL
ES SIRSESSTTER U ERE N
EN TE
SRRMUTI- BIT RR,
RAR
MM AM
kdw m inr n mit, hws ... m mr, nfrw m kst [tn nfrt, hpr skdw m
ntrw, <brw irt wsw mi nnw mt hr mrüt, n gw hri-b, ittn nwit phft,
m mitt irt, mdw nsn rmw spt n mw.
ı. Das Determinativ von skdw gleicht genau der hieratischen Form des (vergl. z.B.
Eb. 107, 10); das von kdie hat nur einen Arm. Indessen stehen beide gewils ungenau für
2 HH
andere Zeichen, das zweite für IN- 2. Lange. 3. An wm darf man wohl nicht
oz,
! Gramm. $ 196.
®2 Mehr soll wohl der verächtliche Ausdruck »auf die Höhe werfen« nicht besagen.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 43
EP 00 a ——e N sig . .
denken. Ob etwa | gemeint ist? 4. Statt lies, mit Streichung eines kleinen
ANMAN
Striches, - 5. Lange, das m ist dem Schreiber milsglückt. 6. Es ist gewils N
NM
gemeint, wie auch Lange annimmt, doch steht das Zeichen 5 7. Man darf wohl nicht
mm lesen.
Die da bauen aus rothem Granit, die das .... als Pyramide mauern,
die in dieser schönen Arbeit schönen, die ....... als Götter, ihre Opfersteine
sind leer" wie (die)” der Müden, die auf dem Damme sterben, ohne einen
Hinterbliebenen, nachdem” das Wasser sein Ende fortgenommen hat und die cum des-
gleichen, zu denen die Fische des Ufers reden.
Die interessante Stelle ist leider besonders verderbt. Dem Ad
\FN48 (denn so ist natürlich zu lesen) müfste ein pluralisches
hwsw entsprechen, es steht aber nur hws, und was darauf folgt, ist gewils
auch die Entstellung eines bekannten Wortes. Ebenso rathlos stehe ich
dem Apr skdw m ntrw gegenüber; da es dem nfrw m k3t tn nfrt entsprechen
wird, räth man, dafs sie sich Bauten »geschaffen« haben wie für »Götter«,
aber wenn man sich an den vorliegenden Text hält, so sprieht er nicht
von Bauten, sondern von irgend welchen Personen.
Anstatt os] DISS, »Scepter« ist ohne Zweifel BE LTEN
ER I-; »Opfersteine« zu lesen; “byw ir? »die Opfersteine davon« steht
natürlich für bywsn »ihre Opfersteine«.
> bedeutet Eb. 67, 3 das »Ausgehen« der Haare; es wird weiter
von zerstörten Stellen von Inschriften oder Handschriften gebraucht und
im Koptischen ist fovew der Ausdruck für »ohne« geworden.
Für n gw »ohne«, das auch in XLIV gebraucht ist, genügt es, auf
Brugsch, Wb. Suppl. S. 1287 und 1058 zu verweisen; über Ari-% vergl.
das zu X Bemerkte.
op ist ein allgemeines poetisches Wort, etwa wie unser
»Fluth«: dafs das ihm parallele Wort MR etwas wie »Gluth« oder »Dürre«
bezeichnet, läfst sich ja aus seiner Schreibung’ vermuthen, doch weils ich
nicht, wie diese Abkürzung hier zu lesen ist.
' Gramm. $ 244; wsw ist 3 pl. des Pseudoparticip, $ 212.
er35>
° 8 197.
* Das IN deutet auf eine göttlich gedachte Gluth.
6*
44 A. Erman:
Die Genetivkette rmw spt n mw »Fische des Wasserrandes« ist etwas
verdächtig; lies rmw 0: oder rmw -
Der Sehlufs der Stelle von ZH an läfst sich nieht wohl anders
übersetzen und ergiebt ja auch so einen Sinn: die Leiche liegt am Ufer,
halb im Wasser und halb im Trockenen; Fluth und Hitze haben sich in
sie getheilt und sieh jede »ihr Ende« davon genommen. Die Fische aber
kommen und nagen an ihr und stofsen mit ihren Köpfen an sie, als
wollten sie mit ihr sprechen.
Der Gedanke, dafs auch der Besitz des herrlichsten Grabes nur ein
eingebildeter Gewinn sei, da es doch bald genug vernachlässigt werde,
pafst scheinbar wenig zu den aegyptischen Anschauungen. Aber der ver-
nachlässigten Gräber, auf deren Opfersteine niemand mehr Speisen legte,
die verfallen und beraubt waren, waren ja zu allen Zeiten mehr als der
gepflegten; der sündhafte Gedanke, dafs eigentlich wenig darauf ankomme,
wie man begraben werde, mulste daher jedem Verständigen nahe liegen.
XV.
4 mm og 4 68 Eos |
IN ei NZIZIN nn z a ja | ——
No
Ar
sdm rk ni, mk nfr sdm n rmt, Sms hrw nfr, Smh mh.
1. Statt >> kann man natürlich auch & lesen.
Höre' auf mich — sieh, das Hören ist den Menschen gut” —, folge dem
frohen Tag, vergifs die Sorge.
Die Bemerkung über die Nützlichkeit des »Hörens» mag etwa ein
Sprichwort sein; sie erinnert an den entsprechenden Abschnitt im Papyrus
Prisse (16, 3 ff.), der ganz ähnlich beginnt: £n ° AT Sw ihw
—— |
sdm n s?> »das Hören ist dem Sohne nützlich« und der auch versichert
nfr sdm r ntt nbl »Hören ist besser als Alles«.
! Gramm. $ 257.
I.
? Gramm. | 33
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 45
Die Ermahnung zum Genusse des Lebens findet sich ganz ähnlich in
den Trinkliedern wieder, die ja auch davor warnen, vom Tode noch Freude
zu erhoffen: »feiere den frohen Tag, folge deinem Herzen, setze die Sorge
nieht in dein Herz« ist ihr 'Thema'.
XV.
BETRETEN RITET"-
le ENDE
ee wesen
As. ar? ,— BUNT ee iS a
Seh aa
iz
dw nds Sksf sdwf; iwf >|t|pf smwf r hmw dpt, stsf skdwt, hbf tkn, manf
prt wht nt mhüt, rs m dpt, rC hr ck, pr Im hmtf, mswf n 3ki tp S sn m
grh hr mrült.
ı. Am Schluls der Zeile ein zufälliger Fleck. 2. Sic. 3. Vergl. oben Z. ı2.
4. Lange.
Der geringe Mann pflügt” sein Grundstück; er ladet” seine Ernte in das
Innere des Schiffes, er schleppt die kart; sein Fest kommt heran; er sah das
Herauskommen in® der Nacht der Fun; er wachte im Schiffe auf, in der Abend-
dämmerungz; e ging heraus mit seiner Frau una seinen Kindern wegen des Zu-
grundegehens auf dem See, .... in der Nacht untr den Krokodilen.
! Eine Zusammenstellung dieser Lieder bei Maspero, Etudes egyptiennes p. 172 ff.;
über ihre Stellung in der aegyptischen Litteratur vergl. mein Aegypten und aegyptisches
Leben S. 516. Die oben angeführte Stelle ist einer besonders merkwürdigen Variante des alten
Liedes entnommen, die sich auf einem Grabstein vom Jahre 42 v. Chr. findet, wo sie als Rede
der verstorbenen jungen Gattin an ihren Wittwer, den Hohenpriester von Memphis benutzt
ist (vergl. Maspero 1.1. p.ı87; Brugsch, Thesaurus S. 926); dals ein so gottloser und so
poetischer Text, wie es diese Grabschrift ist, ein selbständiges Erzeugnils des ptolemäischen
Aegypterthums sei, möchte ich nicht glauben.
®? Gramm. $$ 225. 226.
Gramm. $ 117; aber gilt dies auch für wAt »Nacht«? Vielleicht gehört pre wht
zusammen,
3
46 A. Erman:
Das Wort sde bezeichnet nach den Beispielen Paheri 9, 15; Der
Rifeh VII, 23 nieht den Acker im Allgemeinen, sondern den Theil des-
selben, der jemandem gehört.
L es
en
No N- —n mit dem Objekt des verladenen Gegenstandes (»etwas
aufladen auf etwas«) findet sich auch Harr. I, 77,12; 78, 3; für gewöhn-
lich bedeutet es ja: »etwas beladen mit etwas«.
Den Ausdruck st $edwt kann ieh sonst nicht belegen; da s% das
Wort für das Ziehen (»'Treideln«) der Schiffe ist und da skd »(im Schiffe)
(uhren« bedeutet, so wird die Wendung wohl nur besagen, dals der Mann
das Schiff mit dem Korne selbst zu schleppen hat.
Der Nominalsatz Abf tkn »sein West kommt heran '(?)« ist vielleicht
eine Zeitbestimmung für die folgenden Sätze.
Das Wort mAlt ist so geschrieben, dafs man nicht weils, ob der
Schreiber die »Nacht des Nordwindes« meint oder die »Nacht der Fluth«.
In dem Ausdruck A Ahr <k »die Sonne tritt ein« liegt eine Zeit-
bestimmung vor, die auch sonst vorkommt. Sall. 2, 5,2 ist »das Ein-
treten der Sonnes die Tageszeit, wo der Arbeiter sich müde hinsetzt,
also «das Ende des "Tages. Wie der Ausdruck entstehen konnte, ergiebt
sich aus dem » Amdunt«buche, wo die erste Stunde der Nacht, d. h. die
Dämmerung, «damit beginnt, dafs »dieser Gott eintritt« in das Reich des
Westens.
Das Wort Q om kommt auch in der Bauerngeschichte (129) vor; in
MWM
nd ( ‘ n ey i y r
Il = wird man auf Grund von XXV einen Namen des Krokodils
. IR) IL |
sehen «dürfen.
Die subjektlosen Verba 78 und pr erklären sich vielleicht dureh die
Kllipse des Subjekts in lebhafter Erzählung”; man hätte sie also als Fort-
BL AN
setzungen des =. IN UN anzusehen.
Was hier auf die Aufforderung zum Lebensgenusse (XV) folgt, sind zwei
kleine Texte (AVI-AIX), die das Schicksal eines »geringen Mannes« nds be-
handeln und die keine Berührung mit dem sonstigen Inhalt unseres Buches
haben. Es müssen Beispiele sein, die die Seele zur Unterstützung ihrer
Meinung anführt und dazu scheint auch ihre Form zu passen. Ob auch
' Ich kann freilich nieht belegen, dals An von der Zeit gebraucht wird.
Gramm, 8 353:
Gespräch eines Lebensmüden mil seiner Seele. 47
ihr Inhalt dazu pafst, kann ich freilich nieht sagen; ich verstehe von
dem zweiten Beispiel (XIX) so gut wie gar nichts und von dem ersten
nur das, was aus dem Schlufs von XVIII wahrscheinlich ist, dafs dem
Bauern unterwegs Weib und Kind von Krokodilen gefressen werden. Aber
wenn er dann um die Kinder sorgt und um die Frau nicht weint —
was beweist das für die Behauptungen der Seele?
XVII.
Se N zehl$ita—-ehT'- _
ANA T erh Tr. Nast
Bl RT Doz Bremen
ec
drinf hms, pssf m hrw hr dd: n rmi n tf} mst, nn ns prt m imnt r
kt hr B, mhü hr msws sdw m swht, mw hr n Imti, n nhtsn.
h
ı. Hinter === hatte der Schreiber noch zwei senkrechte Zeichen geschrieben, hat sie
aber wieder ausgelöscht.
MAR er süzt, er eu .. Stimme, indem sie sagt: »nicht weine ich
wegen” jener Dirne da; sie hat keinen Ausgang aus dem Westen zu einer an-
deren auf Erden. Ich habe Sorge wegen” ihrer Kinder, die im Ei zerbrochen
sind’, die das Gesicht des Krokodiles sehen’, die da nicht leben werden‘ «.
Der Ausdruck drinf ist schon aus Weste. 6, ıı bekannt, wo drinf
mh 24 vielleicht heifst »(das Wasser) erreichte 24 Ellen«; hier scheint es
wie ein Hülfsverbum mit Am$ verbunden zu sein.
! Sollte das nur einfach die direkte Rede einführen (»mit den Worten«), so würde
wohl r dd stehen (Gramm. $ 276).
n »wegen« steht besonders gern nach Ausdrücken der Gemüthsbewegung.
® So ist mh auch oben VIII konstruirt.
* Gramm. $ 212. 218.
° Gramm. $ 258.
Gramm. $ 293. 294.
48 A. ErmaAn:
Was ps$ »theilen« mit m konstruirt bedeutet, ist mir nicht bekannt:
man könnte wegen des folgenden hrw hr dd vathen, dafs es etwas heilst,
wie: »er vernimmt eine Stimme, welche sagt«. Oder auch: »er hat (wie-
der) Gewalt über die Stimme und sagt«, d. h. sobald er seines Schmerzes
so weit Herr ist, um sprechen zu können.
Die Bezeichnung nst für die Frau kann ich nur noch einmal belegen,
und zwar in einem neuaegyptischen Lehrerbrief (An. 4. 12, 4), wo sie als
IJLIUR) die verächtliche Bezeichnung einer Dirne zu sein scheint. Dafs
das Wort auch hier eine solche verächtliche Bedeutung hat, wird durch
das davorstehende /f} wahrscheinlich.
Zu nn ns prt vergleiche neuaegyptisch m ee An nn mw wrd
mm © II—> €
»sie (die Schiffe) haben keine Ruhe« (Harr. ı, 5, ı; Ähnlich ib. 75, 3).
Bei kt ir & haben wir zu denken an »eine andere Frau, die noch
lebt« — vergl. oben X, XV Ari t muthmafslich für »Hinterbliebene« —
aber was soll das hier?
Das Wort Ant? als Name des Krokodils war uns schon, allerdings in
sehr verwahrloster Gestalt, aus Sall. 2, 8, 2 bekannt.
Das Verbum sd wird u.a. vom Zerbrechen eines Eies gebraucht (Totb. ed.
Nav. 85,13: ed. Leps. 85, 9; Tellamarnahymnus ed. Breasted p. 44), hier ist
es indefs nieht auf das Ei. sondern auf die Kinder zu beziehen, die »im Ei
zerstört« werden. Der Gebrauch von swht »Ei« für den Mutterleib ist ja
gewöhnlich, doch steht m swht auch nur als poetische Hyperbel für »in
früher Jugend«, so besonders klar Sinuhe 68, wo ein König »im Ei« schon
Eroberungen macht. Und so wird es auch hier zu fassen sein, denn die
Kinder sind ja vorher schon neben der Mutter als lebend erwähnt, ganz
abgesehen davon, dafs wir sonst die arme Frau wegen des Plurals msw
mindestens mit Drillingen schwanger gehen lassen mülsten.
Die Stelle ist gelegentlich des Wortes /nt? schon 1873 von Goodwin
angeführt worden; er übersetzt das m’w Ar n Intl, n nhtsn wit: »they see
the face of the Crocodilegod and they do not live« und bemerkt: »the
passage appears to refer to children who have died in the womb, owing
to their mother being terrified by a erocodile«'.
ı ÄZ.18738.16. Er glaubte hinter Ant in den ausgelöschten Zeichen ein Ki) zu sehen.
daher seine Übersetzung »Krokodilgott«; »they see« übersetzte er wohl, weil er an die
neuaegyptische 3 plur. des Verbums dachte,
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 49
XIX.
PSTI-NT-AzE"=r 0 PAONTIY
N FR ZA eh
ETF LT LENG,
a) a ESG }
tw nds dbhf msrwt; tw hmtf dds nf tw r msüt; dwf prf r Imtw r SS..
r st; nnf sw r prf, {wf mi kü, hmtf hr ss nf, n sdmnf ns s.nf, ws ib n
wpwtäw.
1.2. So Lange; über dem scheinbaren —> steht ein Pünktchen, wie es die Hand-
schrift bei I zuweilen hat (z. B. 84. ıı1), und auch das = scheint mir nicht ganz un-
bedenklich. 3. Sie. 4.5. Es liegt wohl an beiden Stellen dasselbe Wort vor:
N. .. &s; das fragliche Zeichen ist wohl nicht ——, auf das man zunächst räth.
Der geringe Mann bettelt' um Abendessen, sein Weib sagt! zu ihm: »....
bis zum Abendbrot«. Er geht‘ hinaus, um ..... zur Stunde. Wenn? er sich um-
wendet zu seinem Hause, so ist er wie ein anderer, indem sein Weib ihm ....,
TICHE ROTE ER auf, ER een en. den Boten.
Da dieser Abschnitt ebenso wie XVII mit schildernden Verbalformen
beginnt, so enthält er wohl ein zweites Beispiel, das freilich nicht ver-
ständlicher ist als das erste.
Wie z.B. aus Totb. 94 ersichtlich ist, wird »etwas von jemandem
erbitten« ausgedrückt durch dbh cc. obj. et m“; man möchte daher das N
—ı, das auf dbhf folgt, als die Praeposition fassen und übersetzen »er er-
bittet von den ....«, wobei freilich ein Objekt fehlen würde. Doch wird die
Lesung msrıwt » Abendessen «° richtig sein, da auch gleich nachher ein auf den
Abend bezügliches Wort nnd) TE vorkommt. Dafs dieses msöt auch
l
aulserhalb des Kultus eine abendliche Zeit bezeichnet, erhellt aus Sinuhe 12
! Gramm. $ 225. 226.
? Gramm. $ 188.
> Für m$rwt »Abendessen« vergl. W. 512 und 513, wo daneben noch eine Morgen-
und eine Nachtmahlzeit genannt sind.
Philos. - histor. Abh. 1896. II. 7
50 A. Erman:
und Millingen ı, ı1; da es als Speise determinirt ist, so wird es, wie
auch Griffith an der letzteren Stelle übersetzt, das Abendbrot bedeuten'.
Was das fo r vor msüöt ist, weils ich nicht, vielleicht ist das irgend
eine Redensart.
Dafs prt r hntw »ausgehen« (aus dem Hause) bedeutet, erhellt mit
Wahrscheinlichkeit aus XLV, wo es das Ausgehen des genesenden Kran-
ken bezeichnet.
Das Wort $% bedeutet mit m konstruirt »etwas wissen«; hier folgt
ihm n, was auf eine andere Bedeutung deutet.
Das unleserliche Wort, das die Stelle enthält, mufs das erste Mal
mit N beginnen; da man, falls man —| »zu ihr« lesen wollte, eine
unrichtige Wortstellung erhielte. Dagegen wird man das zweite Mal,
worauf auch die Stellung der Zeichen in der Zeile deutet, das erste $ zu
dem n ziehen dürfen. Das Wort läge also einmal als Kausativ und ein-
mal als Simplex vor.
WS-ib »herzensleer« ist unbekannt.
BER en
iw wpni rt n thnwi, wsbt ddinf.
Ich öffnete meinen Mund zu meiner Seele und beantwortete, was sie gesagt hatte.
Vergl. das zu II Bemerkte.
Die letzte Rede des Menschen, die hier beginnt, ist schon durch ihre
strenge poetische Form als der Haupttheil des Buches gekennzeichnet. Es
sind vier einzelne Gedichte, von 8, 16, 6 und 3 Versen; jeder Vers be-
steht aus zwei kurzen und einer dritten längeren Zeile. In jedem dieser
Gedichte beginnen alle Verse mit einer gleichen Zeile, im ersten mit »mein
Name wird verwünscht (?)«, im zweiten mit »zu wem rede ich heute«,
im dritten mit »der Tod steht heute vor mir«, im vierten mit »wer dahin-
gegangen ist, wird sein«. Auch mag es nicht zufällig sein, dafs von den
beiden ersten Gedichten, die das Elend des Lebens schüdern, das eine 8
I T 343 =P 222 steht dem a) ö ein je 0 Ö gegenüber, das das
Morgenbrot bedeuten wird und das auch Kahun, Med. 2,5 zur Bezeichnung der Tages-
zeit dient.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 51
und das andere 16, d.h. 2x 8 Verse hat; dagegen haben das dritte und
vierte Gedicht, die den Tod preisen, 6, d.h. 2x 3 Verse und 3 Verse.
Bei einer so durchgebildeten poetischen Form sucht man unwillkürlich
auch nach einem metrischen Bau, und mit einigem guten Willen könnte man
in der That auch eine gleiche Anzahl von Haupttonstellen für viele Verse
herausfinden, doch ist hier der Willkür des Untersuchenden Thor und Thür
geöffnet, da wir ja nicht wissen, in wie weit die Praeposition vor dem
Nomen, das Verb vor dem Subjekt, das erste Nomen im Genetiv seinen
Ton behalten hat.
XXI.
NEIHSITZERZSS RIP RA L
Inn CHEN!
mk beh rni, mk r st! 38w m hrw Smw, pt tt.
Sieh, mein Name wird verwänscht, — sieh, mehr als der Geruch von Vögeln
an Sommerlagen, wenn der Himmel heifs ist'.
Das Wort I} =g) ich, das in dem hier beginnenden Gedicht
jeden Vers eröffnet, ist unbekannt. Aus dem Determinative des Fisches
darf man nicht auf seine Bedeutung schliefsen, denn dieses ist nur von
einem Fischnamen Ö5<h hergenommen, der R—N gelautet haben
mufs’. Auch das Wort bCh »überschwemmen « ist ja diesem Fische zu Liebe
einmal so determinirt in der mehrfach eitirten Stelle ri un
\a.a0Dı ı,ı
ha N 7 ‚behf htpt dfyw »er sei überschwemmt mit Opfern und Speisen «*,
und ebenso kind Geister in Abydos, die den Toten speisen, einmal +»
> a ‚(Mar., Ab. II, 22) geschrieben. Da in allen Versen gesagt ist, der
Sn
Name sei noch mehr b’h (Passiv') als irgend etwas Stinkendes oder Wider-
wärtiges, und da das Wort das Determinativ des Sprechens hat, so dürfen
! Gramm. $ 245.
? Stern, ÄZ. 1874,91. Die angenommene Identität mit wAc scheint mir unbegründet.
® Louvre Ü3. Die eigenthümliche akkusativische Konstruktion von be% auch P 362:
»ssnnf Bw, behif mhwt »er atlımet Wind, er ist überfluthet mit Nordwind«.
* Dals ein endungsloses Passiv (Gramm. $ 206) vorliegt, wird durch die Wortstellung
walıscheinlich; wäre das Wort intransitiv, so würde man nach $ 243 erwarten mk rnit beh.
m.
52 A. Erman:
wir annehmen, dafs es »verwünscht sein, verhafst sein« oder etwas Ähn-
liches bedeutet.
Die eigenthümliche Wiederholung von mk »siehe« kenne ich sonst
nicht; sie ist wohl nur rhetorischer Natur.
Auch die INT 3w sind ein neues Wort; in 92 ist für 3pdw
» Vögel« Al X >pSw geschrieben, und man ist daher versucht, auch
unsere Stelle für eine Verlesung aus >pdw zu halten.
Die Beispiele üblen Geruches, die in diesem und den folgenden Versen
aufgeführt werden, sind zumeist vom Fisch- und Vogelfang hergenommen,
der ja im Leben des aegyptischen Volkes eine grofse Rolle spielte.
XXL.
Nr N-IZERZENG ALP?
mk beh rnit, mk [r| Ssp sbnw m hrw rsf, pt bt.
1. Sic.
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr [als] ein Fishempfänger
am Tage des Fanges, wenn der Himmel heifs ist.
Der Fischname sbnw ist neu; dafs nicht eine falsche Lesung VORUCRE
zeigt die Schreibung des Verbums lg on (Bauer 220) NY
(Br., Wb. 336), bei der die Konsonanten $bn mit dem Fisch een A
Das Wort rsf wird bald mit dem Fisch, bald mit dem Vogel, bald mit
beiden zugleich determinirt und bezeichnet den »Ertrag des Flusses« an
Fischen oder Vögeln; uns fehlt dieser Begriff und ein entsprechendes Wort.
Bei dem $sp sbmo »Fischempfänger« könnte man an einen Mann
denken, der den Fang sortirt und vertheilt, aber eben so gut auch an
einen Fischkorb oder ein anderes Geräth.
RS LT Me RR N
RATEN HN K
Gespräch eines Lebensmiden mit seiner Seele. 53
mk b<h rni, mk r sti 3psw (sie), r bwst nt tr! hr msül.
ı. Lange. 2. Lange.
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als der Geruch von Vögeln,
mehr als die Anhöhe der Weiden mit den Gänsen.
Für >psw ist wohl »pdw zu lesen. Dafs bwst, wie man annimmt, die
Anhöhe bedeutet, ist schon wegen bw} »hoch« (0. ä.) wahrscheinlich; auch
das JRUFE »hohe Anhöhe« als Name von Edfu spricht dafür.
Die Pflanze tr? wird im Berliner med. Pap. 6, 2 Al (JU bori und
in der Metternich-Stele (77) Bi 0 geschrieben. Auch »das grüne a
=. towr« (Eb. 55,16) könnte wohl damit identisch sein. Bei dem letzteren
denkt Stern im Glossar wegen des R an ein »genus arundinis«, und auch
die Worte des Berliner medieinischen Papyrus und der Metternichstele, die
dem unseren so ähnlich sind, haben ja ebenfalls dieses Determinativ, das
auf »Rohr« deutet. Trotzdem möchte ich an der üblichen Zusammenstellung
des Wortes mit rwpe » Weidenbaum« festhalten, da nach der angeführten
Stelle der Metternichstele der Phönix auf dem { | geboren ist, was
doch auf einen Baum deutet!, Eine höhere Stelle im Sumpf, die mit
Weiden bestanden ist und auf der wildes Geflügel nistet, wäre demnach
hier gemeint.
Die N N IE sind, wie aus den Vogellisten Pap. Harr. I hervorgeht,
eine Sorte elsbaren Geflügels, wohl irgend eine Gänseart.
XXI.
LM RZ STR
ATIETRRI-NT
mk bh rnit mk r st hamw, r sw nw ssw h’mnsn.
1. Sie. Es fehlt =. 2. Lange.
u]
Aegypten 368) zeigt in der T'hat den Phönix auf einem weidenähnlichen Baum über dem
Ösirissarge.
54 A. Ernman:
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als der Geruch der Fischer,
mehr als die .... der Sümpfe, nachdm' sie gefischt haben.
Ich übersetze Asm mit »fischen«, denn das ist die gewöhnliche Be-
deutung (z. B. Berscheh I, 20; el Kab, Grab des Paheri IV), doch kommt
auch dieses Wort vom Vogelfang vor (Berscheh I, 3).
Das Wort Ass, das nach dem Determinativ eine Ortsbezeiehnung sein
mufls, ist wohl identisch mit dem SS i3sw, das Dümichen, Hist.
Ins. II, 36db in einer unverständlichen Stelle vorkommt, und mit dem Orts-
namen 11$ x (Br., Diet. Geogr. 1014; 1295)”. Man hat vielleicht an
den Rand des Sumpfes zu denken, auf dem die Netze entleert werden und der
daher nach dem Fischzug mit allerlei schnell verwesendem Unrath bedeckt ist.
KEITEN Te
2512 ler
ZH IN Ne
mk bh rnt, mk r stt mshıw, r hmst hr... Ar mrüt.
Sieh, mein Name wird. verwünscht, sieh, mehr als der Geruch der Kro-
kodile, mehr als zu sitzen unter den ... mit den Kvokodien.
Die richtige Auffassung des hmst ergiebt sich aus XLVI und XLVII; wie
dort »das Sitzen« an einem erfreulichen Ort angeführt wird, so hier »das
Sitzen« an einem widerlichen. Was dieser letztere aber für ein Ort ist,
bleibt wieder unklar, denn das Maskulinum er ist mir so wenig be-
kannt als das Wort mrät, das schon oben (XVII) vorkam und das nach
dem Determinativ ja doch wohl ein Name der Krokodile sein wird. Ent-
sprechend dem bwst ... hr msiöt »der Anhöhe mit den Gänsen« in XXI
mufs man wohl auch hier übersetzen »der ...ort mit den Krokodilen«.
XXVL.
ee nn =
EISEN IE
! Gramm. $197. Oder relativisch?
?2 Das weibliche N ist wohl davon zu trennen.
u“
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 55
mk bh rni, mk r st-hmt, dd grg rs n Bü.
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als ein Weib, gegen das
zu dem Manne Lüge gesagt wird".
Gemeint ist wohl eine Ehefrau, die bei ihrem Gatten angeschwärzt
wird, doch setzt der Dichter nieht Amt und A3@, sondern die das Ge-
schlecht bezeichnenden Worte st-hmt und B&”.
XXVIL
SAGT ZERZ-EMLINTIE
Dan
mk b<h rnit, mk r hrd kn, dd rf, iwf n msdwf.
[N & P
1. Wohl nicht © 2. Irrig wiederholt.
Au
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als ein starkes Kind,
gegen das ... gesagt wird, indem es .....
Das dd rf wird man ebenso wie im vorigen Verse auffassen müssen,
das Subjekt scheint irrig ausgelassen zu sein. Bei fof n msdwf denkt man
an msd »hassen«, aber was sollte das für eine Form sein? Das »starke
Kind« könnte etwa eine bestimmte Altersstufe bezeichnen.
XV.
RZ ZA FH Z
IS NZ
mk beh rni, mk [r] dmi n ..., snn bstw, m33} Sf.
1. Sie. 2. Sic.
Sieh, mein Name wird. verwünscht, sieh, [mehr] als eine Stadt des .
die Empörung rede und deren Rücken gesehen wird.
..y
! Gramm. $ 206, das endungslose Passiv ist hier wohl relativisch gebraucht.
® Auch bei Petrie, Koptos XII, 2 ist der Gatte ebenso als Z@s »ihr Mann« bezeichnet.
56 A. Erman:
Die Richtigkeit des Textes ist sehr fraglich: das —_ sieht aus, als
sei es nur der Schlufs eines ausgefallenen Wortes. Ist etwa nach Bauer 129
dmi sn ( Q —) zu lesen?
NMWM
Bst (alt st) ist das Wort für Empörung. Da es nun ein Wort Q A)
MW
giebt, das etwa »aussprechen« bedeutet!, so möchte man übersetzen »eine
Stadt, die Empörung redet, deren Rücken (aber) gesehen wird«, d. h. deren
grolssprecherische Auflehnung mit der Flucht endet. Die grammatische
Konstruktion des 3 Sf wäre dieselbe, wie von dd grg; dafs es im endungs-
losen Passiv wirklich »n3% heilsen mülste, bestätigt mir Sethe. Aber auf-
fallend ist die Endung » in Öbsto, die auf eine Personenbezeichnung (Em-
pörer) deutet”.
XXX.
ae NAT ERFT
Zg
© <> N
ddi n m min? Snw bin, Ihnmsw nw min, n ment (?).
1. Das W ist auffallend verlängert, aber doch nieht wohl anders zu lesen.
Zu wem spreche ich heute? die Brüder sind schlecht, die Freunde
von heute .... nicht lieben.
In dem hier beginnenden zweiten Gedichte wird jeder Vers mit dem
Fragesatz’, dd! n m min eröffnet, der wohl besagen soll: mit welchen
Menschen habe ich in der Welt von heute zu thun? Es ist eine rhetorische
Frage, auf die nirgends eine direkte Antwort folgt.
Mit »die Brüder sind schlecht« beginnt auch XXXVI.
! Vergl. Sinuhe 74: Er Q N ee „rede keine Lästerung (?)
. n >
gegen seine Majestät«; dies ws ist das Wort, das wir jetzt in der Formel FE mm mm
AZ
„Fluch seinem Namen« aus dem Petrie’schen Antefdekret kennen. — Sodann als Q SA
AV
d’Orb. 5, 4.
® Gramm.
3
$ 96
$35
Gramm. es die Stellung des min vergl. $ 337-
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 57
Dafs min wirklich, wie Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) nachgewiesen hat,
»heute« bedeutet, zeigen aufser den dort angeführten Belegen auch die
Stellen Totb. ed. Nav. 84. 9 und Metternichstele 210, in denen das Wort
im Gegensatz zu Is o sf »gestern« steht. Auch in unserem Text würde
die früher angenommene Bedeutung »täglich« nicht passen’.
Dals A von mr »lieben« kommt, ist klar, aber die seltsame
—— N
Bildung auf ü ist verdächtig. Ist der Text richtig, so bietet sich nur
a Inoni, die Nebenform für mw »schlagen« (z. B. LD. IN, 65a: Mil-
lingen 2, 2: Sall. 4, 2.7), zum Vergleich. Höchstens könnte man noch
zwei ebenso fremdartige Verbalformen auf rn, die auf der bekannten Stele
614 des Louvre vorkommen, heranziehen. Der Künstler, dessen Grab-
stein diese war, erzählt uns von einer besonderen Kunst, die er verstand;
er verstand es, NN zu machen , ZDANN,, iht hyst-n
»fallende (??) Sachen«, ohne sie vom Feuer brennen zu lassen „N || __a
AWAMAN NM NWMN
mm mn Dan den n mw grt »und doch (??) nicht mit (?) Wasser
wm A num <>
abwaschbar (??)«. Danach könnte man denken, unsere Stelle besage: die
Freunde von heute sind nicht »liebenswerth«, oder etwas dem Ähnliches”
XXX.
Te
lee
ddt n m min? rwn ibw, s nb hr it iht Snmwft.
Zu wem spreche ich heute? die Herzen sind jrech, ein jeder nimmt
die Sachen seines Nächsten fort.
! Diese hat man dem Worte wohl auch nur des Mamnıe wegen zugeschrieben, das
ja aber auf N zurückgeht und nicht mit dem Maskulinum min identisch sein
IN um ©
kann. — Bei min möchte man an neuaeg. m’-n3 »hier«, kopt. Mııas denken; es könnte das-
selbe Wort sein, das von Zeit und Ort gebraucht wäre.
®2 Es giebt übrigens auch Formen auf -n, -ni, die von Substantiven abgeleitet sind.
vergl. en
un 3. bo
Philos. - histor, Abh. 1896, II, 8
58 A. Erman:
Was das Verbum “own an und für sich bedeutet, stehe dahin: die
verständlichste Stelle ist noch Bauer 230: N TE m SW
222 x-_, die doch gewils bedeutet: »bringe den Armen nicht um seine
Habe«'. Die hier vorkommende Verbindung wn-?tb scheint etwa »frech«
zu bedeuten, vergl. Bauer 116: »du bist stark und kräftig
ar: do __,, dein Arm ist gewaltthätig(?), dein Herz ist
er die Milde geht ar an dir vorbei, weh dem Armen, den du vernichtest«.
Diese Frechheit hat aber meist den Beigeschmack des Räuberischen. So
steht “wn-2b Totb. 125, 16 (ed. Leps.) zwischen 0 »rauben« und #
»stehlen«, und ebenso duldete Hapzefai keinen 03 »Räuber« in seinem Gau
und keinen “wn-ib in seinem Heer (Siut I, 231)”. Auch Prisse ı0, 5-6
ist “wn-{b eine Sünde, die man bei »Theilungen« »gegen seine Angehörigen «
begehen kann.
In XXXIX steht im ersten Versglied nicht “wn bw wie hier, sondern
!bw “won, und man würde auch hier diese Satzform erwarten, die ja für
alle Schilderungen die gewöhnliche ist”. Indessen kann ja auch ein “en dw
in Beschreibungen stehen ', so dafs es nicht nöthig ist, den Text zu ändern
Das grammatisch korrekte snmof?° steht auch in XXXIV; über die
Schreibung von snnw vergl. Gramm. $145 Anm. A.
XXXI.
|Sehlufs der Zeile leer gelassen] 7 » — A) Ng Sa s-är U N
Da JB
[dd n m min?] tw sf 3k, nht-hr yw n bw nb.
1, Der Schreiber hatte wohl eine Lücke in seiner Vorlage, die er nicht ausfüllen
mochte; freilich schreiben wir ihm mit dieser Erklärung eine besondere Gedankenlosigkeit
zu, denn was hier fehlte, war doch nicht zu bezweifeln. 2. Unter dw ein ausgelöschtes
Zeichen.
' Es einfach mit »rauben« oder baren zu DORSEAIRER. geht aber auch nice an,
denn Totb. ed. Leps. 93, 5 bezeichnet es irgend ein allgemeineres Unrecht.
® Dals es im neuen Reich auch eine Truppe gegeben hat, die sich cwnd-?d nannte
(Der Rifeh IV, 335 45), spricht nicht dagegen.
° Gramm. $ 243. 244.
’ Gramm. $ 176.
° Gramm. $ 78.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 59
[Zu wem spreche ich heute?] Der Sanfte geht zu Grunde, der mit
starkem Gesicht kommt zu allen Leuten hin.
Der Gegensatz zwischen dem No und dem szH » dem Star-
ken« auch Prisse 10, 7. Der hier stehende Ausdruck nht-Ahr »stark an
Gesicht« wird »frech« bedeuten und dem Atp-hr des folgenden Verses
gegenüber stehen; dazu scheint mir auch die andere Stelle, wo ich nAt-hr
belegen kann (Bauer 166), wohl zu passen.
H3 ist eigentlich ja »herabsteigen«, doch kommt es auch sonst ähn-
lich wie hier vor; vergl. Una 10 vom gestatteten Eintritt in den Harem,
und Benihasan Il, 7 vom Hintreten des Hirten vor den ihn kontrollirenden
Beamten.
XXX
Ad Se ss leN ZIP I, N
es
ddi n m min? htp-hr bin, rdi rf bw nfr r B m St nbt.
Zu wem spreche ich heute? der mit ruhigem Gesicht ist elend, ver-
nachlässigt wird' das Gute an allen Orten.
Dals bin hier nicht, wie in XXIX und XXXVII moralisch »schlecht«
bedeutet, sondern so wie Prisse 5, 2 »unglücklich«, ebinm, ist klar.
Der Ausdruck rd? r % »zu Boden legen«, der sonst vom Krlassen einer
Forderung (Siut I, 293; ib. V, ı1) und vom Begnadigen eines Verbrechers
(Benihasan II, 7 zweimal) gebraucht wird, wird hier im bösen Sinne ver-
wendet sein.
MR TTEITERENZIN" 8
rein prorr
ddi n m min? sher s m spf bin, ssbtf bw nb dTwf hw.
1. So wird zu lesen sein, doch kann ich für & diese Form x nicht belegen.
2. Eher & als x
! Gramm. $ 348.
8*
60 A. Erman:
Zu wem spreche ich heute? Macht ein Mensch wüthend durch seine Schlech-
tigkeit, so bringt er alle Leute fäuren; sein böses Schlechtes zum Lachen.
Falls Ar richtig gelesen ist, so ist dies das gut belegte Wort für
»wüthen«, das ich freilich nieht mit Al determinirt kenne. Dem » wüthend
machen« entspräche dann in der zweiten Hälfte gut das sb »lachen
machen«'. Spf bin hat man nach dem Sprachgebrauch eher mit »seine
schlechte Handlung«” zu übersetzen, als mit »sein schlechtes Wesen« und
iw ist ein Ausdruck für Böses, Sündhaftes, der Totb. 17,4: 64, 7. dem
” R 4) 5 rn
gewöhnlichen a = gleichsteht. Trotzdem also alle vorkommenden W orte
bekannt sind. bleibt der Vers doch unverständlich, vermuthlich weil der
Text verderbt ist. Man könnte das zweite Glied etwa so herstellen ssb[w]f
bw nb [m] &ef ne »er macht alle Leute lachen durch sein böses Schlechtes«
und könnte den Vers dann dahin auffassen: Wenn der Böse (uns) durch
sein Thun erzürnt, dem grofsen Haufen erscheinen seine Schlechtigkeiten
nur als etwas Belustigendes.
XXXIV.
ar TIPHT IRRE STAA 2
ll
N
dd n m min? dw hedstw, snb hr et |iht?]| Snmoft.
Zu wem spreche ich heute? Man raubt, ein jeder nimmt [die Sachen] seines
Nächsten fort.
Das seltene Wort hCd>, das schon von Maspero, Rec. II, 49 besprochen
ist, wird verständlich durch die jetzt in sicherer Lesung vorliegende Stelle
Siut IV, 33, wo es von der wohl beherrschten Stadt heifst: es giebt keinen
Zr
m »es
—— Aa
giebt keinen, der etwas aus dem Hause (?der Strafse?) raubt«. Und ebenso
heifst es ib. IV,ı2, man sei ausgezogen u | ING; r Bf
Do
hed3, »um den Räubern zu wehren«, womit wohl innere Feinde gemeint sind.
r 0 PR . . N N
Kampf, man schlägt die Leute nicht I
Nm % ———|
! Vergl. die Belege für sb »lachen« cwhe bei Brugsch, Wb. Suppl.
P3
® Z.B. Mar., Mon. div. 14; Amenemleb 23.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 61
Die Stelle liefse sich ja zur Noth auch in der vorliegenden Gestalt
übersetzen, ist aber wohl zweifach verderbt; hinter A’dstw wird ein Sub-
stantiv fehlen und das zweite Glied ist gewils nach 105 zu verbessern:
»ein jeder nimmt [die Sachen] seines Nächsten fort«.
XXRV.
In a u U RT 5 Na 2,0451 Sau BER
aerincH
dd? n m min? bittw (?) m Ck-ib, sn irr nf hpr m hf.
ı. So wird man wohl zu umschreiben haben; auch Kahun, Hymn 2,16 steht dies
hieratische Zeichen als Determinativ für Feinde.
Zu wem spreche ich heute? Der Sieche VSt treu, der Bruder, der mit
ihm ist‘, wird zum Feinde.
le » Wa ist uns aus den Stellen Eb. 41,15; Kahun, Med. Pap. II,15;
Prisse 10, 2 und aus der Metternich-Stele (AZ. 1879, 4) nur als eine all-
gemeine Bezeichnung verschiedener schwerer Krankheiten bekannt.
Der seltene Ausdruck an der auch in XLI und XLIII wiederkehrt.
steht in zwei von Br., Wb. Suppl. S. 288 angeführten Beispielen parallel
zu PP rm, wird also etwa »treu« bedeuten”.
<o> im Sinne von »sich befinden « ist oft belegt (z. B. Berscheh 14, 10;
Amenemheb 30: Una 34; Prisse 9, 10).
Der Sinn könnte sein: selbst der hülflose Kranke kann sich auf seinen
natürlichen Pfleger nicht verlassen und wird von ihm verrathen.
XXXVL- |
ae Rs NR - Tree
AR
dd? n m min? n sht Sf, n wen ir m te 3t.
! Gramm. $ 260; über die Schreibung von ir vergl. $ 259, 2.
2 Man darf dies ck-?b nieht zusammenwerfen mit dem häufigeren ck3-?b »mit richtigem
WA £ ; n ;
Herzen«, und auch das % En IR ” das die Rosettanea mit dpovrilov Umep übersetzt, braucht
nicht mit unserer Redensart zusammenzuhängen.
62 A. Ermas:
1. Vergl. die gleiche Schreibung Prisse 5,1 und Bauer 108; hier geht durch das © noch
ein, wohl zufälliger, Strich, der es unkenntlich macht. 2. Wohl 9, für <> wäre es klein.
Zu wem spreche ich heute? Man erinnert sich nicht an gestern; man
Unut nicht .... in dieser Stunde.
Der Sinn könnte sein: was ich gestern Gutes gethan habe, hat die
Welt heute vergessen.
- en n <I> <Uu> Aw
Zu dem räthselhaften DAN ER vergl. Bauer 108: ne ]l A)
N
FERN
[=\ eo <u> —>m .
= zn O> num —._hn : ich verstehe
ea, [=\ I Nee & oa neu °
das auch nicht, aber, wie man sieht, steht auch hier das ör n {rt einem
» gestern« gegenüber.
XXXVI.
aA NEITREEPNE,
— ) Ba
<—>NhN EN |
dd n m min? snw bin, inntw m drdrw r mtrt nt ib.
ı. Lange. 2. Für —>o kann man auch A 2 lesen.
Zu wem spreche ich heute? die Brüder sind schlecht; man bringt als
en, ZUT Richtigkeit des Herzens.
Der gleiche Versanfang in XXIX, während das zweite Glied dieses
Verses dem in XLI entspricht; dadurch ist die Richtigkeit des Textes
gewährleistet.
Den wenigen Stellen, in denen das Wort drdr sonst noch nachzu-
weisen ist!, ist nichts für seine Bedeutung zu entnehmen.
Was die »Richtigkeit des Herzens« ist, weils ich nieht; der Ausdruck
kommt auch Mar., Ab. II, 3ı vor, wo das Verhältnifs von Thutmosis I zu
Osiris so geschildert wird: »du bist ihm geboren’, er hat dich gemacht
(d. h. erzeugt) N CS Öl om mtl? nt ibf in der Richtigkeit seines
on N Sr
Herzens« (damit du Alles für ihn auf Erden thuest, seinen Tempel bauest
ULASSW.)L
' Sinuhe 202; Sall. 4, 3, 2; Maximes d’Anü 6, 7.
®” D.h. sein echter Sohn, vergl. LD. II, 136.
DER rn Fu SEHE. HER. REN e :
Zwischen und ) scheint früh eine Verwirrung eingetreten zu sein.
oaN\ a
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 6;
AXXVII.
Ran 1 5000 Sue WA An ©,5NE E EINE NE
N
ddt n m min? hrw htm, snb m hr m hrw r smwf.
Zu wem spreche ich heute? die Gesichter vergehen, ein jeder hat‘ ein
Gesicht üsfer als (das)” seiner Brüder.
Auch > e Nav. » 117/ Se freilich in einer mir unverständ-
lichen Stelle: Frage. »eure Gesichter sind unten« (?) und
es liegt en Be für die Richtigkeit unseres Textes.
Der Sinn wäre etwa: es giebt kein menschliches Antlitz mehr, einer sieht
immer schlimmer aus als der Andere.
Aber eben so gut kann m Ar auch die Praeposition » Angesichts von«
sein und mArw könnte wohl auch ein Wort sein. Ein solches mhrw ist
mehrfach zu belegen® als irgend ein Ortsausdruck (»Tiefe«?). Gegen diese
letztere Annahme spricht indessen das einfache N denn man erwartet
in unserer Handschrift schon die Schreibung IS für dieses Praefix.
IXXR.
Ss Se er GR TEE
———
ddi n m min? ibw wn, nn wn ib n s, rhntw hrf.
Zu wem spreche ich heute? Die Herzen sind jrech; der Mann, auf
den man sich sttze, hat kein‘ Herz.
! Gramm. $ 307, 3. Eigentlich »ein jeder ist mit einem Gesicht versehen«; ein
gutes Seitenstück P 173 ihw m r3sn pr »die Geister mit ihrem ausgestatteten Munde«, d.h.
die einen solchen Mund haben.
? Gramm. $ 352.
nl
® Als md MN ;n Zeile 157 unserer Handschrift, in der Geschichte von dem Hirten
und der Göttin; als EN n © „. Weste. 12, 24; als N N Louvre € 3.
* Gramm. $ 369. ze
64 A. Erman:
Klagte der vorige Vers über das Gesicht der heutigen Menschen, so
rügt dieser ihr Herz.
Über “wn-2b siehe das zu XXX Bemerkte. Der Gebrauch von ıwn mit n
im Sinne von »jemand hat etwas« ist auch sonst zu belegen (Siut I, 272;
Pianchi 13). Für rin Ar »sich stützen auf« vergl. Berscheh 1, 14, 5,
wo das Wort freilich anders determinirt ist'.
XL.
Im in us, (0) BL x [BN ze
Ihe So
dd! n m min? nn mytlw, bsp n irw isft.
a
1. Er hatte erst n geschrieben.
oO
Zu wem spreche ich heute? Es giebt keine’ Gerechten ; die Erde
ist ein Fall von Übelthätern.
N I a . \ Pr .
Man möchte lesen sp n isft »ein Fall des Sündethuns«, was eine
RR;
gewöhnliche Wendung ergäbe. Der Sinn ist in beiden Fällen: die ganze
Welt ist niehts als Sünde und Unrecht.
XLI.
ae hi
125 = NWM
AL —| Al
Sala.
dd! n m min? tw Sw m Ck-ib, inntw m hmm r srhlnf.
Zu wem spreche ich heute? Es fehlt an treuen, man bringt as Un-
wissenden zu dem, was er kennen lehrte‘.
' In rin Ar mw sauf Wasser ....« (Totb. ed. Nav. ı25 Conf. 36) palst allerdings diese
Bedeutung nicht.
” Gramm. $ 369.
" Gramm, $ 291,
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 65
Über den unpersönlichen Gebrauch von Zw siehe oben zu III Anm.
Über die muthmafsliche Bedeutung von k-ib siehe zu XXXV.
Die zweite Hälfte ist der in XXXVI gleich gebildet und ebenso
unverständlich wie diese.
XLI.
("126 ID % D Be) BBRNA A
Dit ei Br.
ae
ddt n m min? nn hr-ib pP, 3m Imf, nn $w wn.
Zu wem spreche ich heute? Es giebt hier keinen Zufriedenen ; gehe
mit ihm, (so) ist er nicht da.
” * jene . . . . ”
Die Verbindung Le »er ist nieht da« ist meines Wissens
” ” ” .. ” .. ” ” je Ep ”
neu, indefs nicht auffallend; wie man für das einfache »es giebt
ANMN
nicht« auch ”"* = ohne Anderung der Bedeutung sagt (Gramm. $ 369),
Aaman ana
so ist auch hier dem gewöhnlichen er > »er ist nicht da« noch ein
bedeutungsloses wn beigefügt. Ta
"Dafs pf? hier das Ortsadverb »hier« und nicht das Demonstrativ
»dieser« ist, schliefse ich aus der Unmöglichkeit, es grammatisch als De-
monstrativ hier unterzubringen. Das nn ... pf? »es giebt hier nicht«
entspricht wohl der häufigen Verbindung nn ... im »es giebt dort nicht«.
Ist die vorgeschlagene Auffassung des Verses richtig, so ist der Sinn:
auch der anscheinend Zufriedene zeigt sich bei näherer Bekanntschaft als
ein Unzufriedener.
XL. |
ae PERS FELD AT >
u
ddi n m min? wi 3lpkwi hr mzir n gw <k-ib.
T: Das | in seltsamer Form, die vielleicht durch Korrektur entstanden ist.
Zu wem spreche ich heute? ich bin mit Elend beladen, ohme einen Treuen.
Philos. -histor. Abh. 1896, LI. N)
66 A. Erman:
Vielleicht darf man »Armuth« anstatt »Klend« setzen, denn mir und
sein ständiger Gegensatz wsr »stark« scheinen auch, wie Brugsch hervor-
gehoben hat, für Arme und Reiche gebraucht zu werden.
Über n gw siehe zu XV, über %k-ib zu XXXV.
XLIV.
bu Deo Nu WR 73 1, 5 SERIE an BEN Sara
dd! n m min? nf hw %, nn wn plnofi.
MW
1. Nicht ken? er scheidet / und d deutlich. 2. Diese Umschreibung entspricht dem
hieratischen Zeichen, doch zweifele ich nicht, dals es, wo immer es für /no »schlagen« steht,
eigentlich anders umschrieben werden mülste; aber wie’ denn Hi hatschon einen anderen Ver-
sugar 5 .e 2 N
treter im Hlieratischen; vielleicht gab es einmal ein Zeichen Me 3. Sie, nicht S
Zu wem spreche ich heute? das Boss schlägt das Land; es hat kein Ende.
Will man das nf nieht in nd verbessern, so wird man für nf an das
späte Wort Tu a denken müssen, das man freilich bisher nieht ohne Wahr-
scheinlichkeit mit nf} »jene« identifieirt hat.
Grammatisch bietet der Satz eine scheinbare Schwierigkeit; man glaubt
einen Nominalsatz vor sich zu haben und erwartet nun, da Aw transitiv
ist (nach Gramm. $ 242): nf hr Awt %. Ähnliche Sätze finden sich aber
auch sonst in der Poesie (z. B. Kahun, Hymn. I, 7-8) und sind gewils
nichts als gewöhnliche Verbalsätze mit hervorgehobenem Subjekt, die nur
dureh die Niehtsetzung des sonst bei der Hervorhebung des Subjektes übli-
chen dr (Gramm. $ 350) abweichen. Der Sinn ist: das jetzige Elend der
Welt wird immer dauern.
XLV.
BRENNT TTRESN EIS NN
AN = 132 0
ı—T mmls So ar
tw mt m hri m (sie) min, [m?] snb mr, mi prt r Intw r 8 hit.
: e er
1. (w Korrektur. 2. Sic. 3. Oder a
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 67
Der Tod steht heute vor mir [wie] ein Kranker gesund wird, wie
das Ausgehen nach der Krankheit.
In dem hier beginnenden dritten Gedicht, das die Sehnsucht nach dem
Tode ausspricht, lautet der Anfang jedes Verses Zw mt m hri min mi »der
Tod ist heute vor mir wie«'. Zu m hr » Angesichts von« vergl. z. B. Mar.,
Ab. II, 31; Pianchi 82; Mar., Karn. 11, 13; Pj. T. 2, ı. Übrigens hat der
Schreiber hier, wo ihm diese Formel zum ersten Male vorkam, zwei Fehler
in ihr gemacht.
Der Ausdruck prt r /mtw eigentlich: »nach vorn gehen« kam schon
oben (XIX) vor und hat gewils die hier angenommene Bedeutung.
Das Wort hit ist so seltsam geschrieben (mit dem f zwischen den
Determinativen), dafs man einen Fehler annehmen möchte. Indessen kommt
m | | oO & hät Eh. 40, ı1; 14 wirklich als Name einer Magenkrankheit vor.
Maspero’s sehr freie Übersetzung der Stelle »tel le retour ä la sante
du malade qui sort pour aller A la cour apres son tourment« beruht wohl
auf einer Verwechselung von Antw mit Amw »Hof«.
XLVI.
BRERTESLNSTTR lee BSIEN
Trap}
tw mt m hri min, mi stt nttw, mi hmst hr hbw hrw Bw.
Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der Myrrhen, wie
unter dem Segel am windigen Tage zu sitzen.
Dafls Atzw das Segel des Schiffes ist, hat Brugsch (Wb. Suppl. s. v.)
nachgewiesen. Hier könnte man versucht sein, es von einem Vorhang oder
einer Matte zu verstehen, die man sich im Garten als Schutz gegen den
Wind aufstellt”, aber diese Bedeutung wülfste ich nicht zu belegen, und
! Maspero, der in seiner »Histoire ancienne« p. 399 die folgenden Verse übersetzt
hat, giebt dies frei wieder mit: »Je me dis chaque jour, tel .... telle Ja mort«. Das
»chaque jour« ist die herkömmliche unrichtige Übersetzung von min; vergl. das zu XXIX
Bemerkte.
®2 So wohl auch Maspero, der »rideau tendu« übersetzt.
gr
68 A. Erman:
ansprechender ist auch die einfache Deutung auf das Segel: Wenn der
kühle Nordwind, die höchste Freude des Aegypters, weht, so geniefst ihn
der am besten, der unter dem Segel sitzt. denn dort streicht er am frische-
sten durch. Der Gebrauch von Ar »unter« ist in beiden Fällen auffallend.
Hinter /rw erwartet man das genetivische n, das in dem Ausdrucke
»Tag des ...« zu stehen pflegt: die gleiche auffallende Verbindung auch
oben in XI. Maspero überträgt den »Tag des Windes« mit »ce jour
la«, er hat wohl das Ba‘ in od» verlesen.
XLVI.
REES UNSER UND ZUST
65
em
a S%
tw mt m hri min, mi st! sm, mi hmst hr mrüt nt tht.
Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der Lotusblumen, wie
auf dem Ufer der Trunkenheit zu sitzen.
Der »Uferdamm der Trunkenheit« (oder wenn man das Determinativ
nur auf {ht bezieht: »des Trunkenheitslandes«) ist ein für uns unklares
Bild. Der Ausdruck, der aussieht, als ob er aus einem Liede stamme,
spielt wohl an auf die Gelage, die man am See im Garten oder zwischen
den Papyrusbüschen und Lotusblumen der wilden Gewässer zu feiern liebt.
In Maspero’s freier Übersetzung: »comme respirer l’odeur d’un parterre
de fleurs, comme s’asseoir sur la berge du Pays d’ivresse, telle la mort«,
bringt das »parterre de fleurs«, das die Lotusblumen ersetzt, einen etwas
anderen Sinn hinein.
XLVIM.
ERTITN NENNEN =
DREI ElA$e
138
Nie 8]
tw mt m hri min mi wst Mnwüt, mi tw s m mse r prsn.
ı. Oder '% siehe zu XLIV. 2. Korrektur, dabei verwischt.
Der Tod steht heute vor mir wie ein Regenweg, wie jemand in dem
Kriegsschiff zu seinem Hause kommt.
“ Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 69
Der »Regenweg« ist wohl der nach dem Gewitterregen plötzlich in der
Wüste strömende Bach, der se/, dessen beglückendes Erscheinen uns Klun-
zinger' so schön geschildert hat. Maspero übersetzt »la route que par-
court un flot d’inondation«, doch wird Awiit (ebenso wie sein Derivat 9WEoT)
in der Regel vom Regen gebraucht; vergl. meine Bemerkungen zu Weste.
11, 12-18, wozu noch die guten Beispiele Pianchi 52 und Metternich-
stele 55 zuzufügen sind.
BI wird auch Berscheh ı8 von der Ankunft der heimkehrenden
Schiffer gebraucht.
Merkwürdig ist die kollektive Behandlung von ui »Person«; es steht
hier wörtlich »wie ein Mann zu ihrem (Plur.) Hause kommt« und ebenso
in XLIX »wie ein Mann ihr (Plur.) Haus zu sehen wünscht, nachdem er
Jahre verbracht hat«. Unsere Übersetzung kann dies nicht nachahmen.
>@< »Kriegsschiff« ist uns durch die »Una«-Inschrift (41. 42) und
durch Sinuhe 38 bekannt. Maspero’s Übersetzung »comme un homme
qui va en soldat a qui nul ne resiste« beruht wohl auf irrigen Lesungen.
Die fröhliche Heimkehr einer Schiffsmannschaft wird auch in der bil-
denden Kunst der Aegypter verschiedentlich dargestellt”; hier ist das
»Kriegsschiff« wohl gewählt, um auf eine besonders weite Reise über’s
Meer hinzudeuten.
XL
© N Um el 140 ER
PNENTE m “ıo.Nt# Im
Au
Zw mt m hri min mi kft pt, mi s sht im r hmtnf.
Der Tod steht heute vor mir wie eine Hinmelsenteötkung , wie jemand,
Re zu dem, was er nicht wu/ste.
Die Bedeutung »entblöfsen«, die Brugsch dem beilegt, dürfte
richtig sein; das Wort wird aber wohl auch vom Entwölken des Himmels
! Bilder aus Oberaegypten (2. Aufl.) S. 226.
® Im alten Reich im Grab des Pehenuka LD.II, 45a.b.; im neuen Reich in den
Gräbern des Paheri (Taf. III der Publikation des Exploration Fund), des Chaemhet LD. II,
76a und wohl noch oft.
70 A. Erman:
gebraucht: »er fuhr stromauf FE N kfnf pt und entwölkte(?) den
ee EEE
Himmel, das ganze Land war mit ihm u. s. w.« (Siut IV, ı1ı; von dem
siegreich vordringenden, das Land beglückenden König)‘. Freilich ist der
wolkenlose Himmel für den Aegypter nicht das, was er für uns Nord-
länder ist, und das macht diese Erklärung unserer Stelle, die Maspero
auch theilt’, doch etwas fraglich.
Die bekannten Bedeutungen des Verbums sht »weben, Vogel stellen,
Ziegel streichen« sind hier schwerlich am Platze, und auch das Determina-
tiv —o deutet auf etwas Abstraktes. Ein ganz ebenso geschriebenes Wort
sht (0.8) kommt in den unklaren Stellen Prisse 6,7 und 6,9 vor.
22
Maspero’s Übertragung »comme un homme parti pour chasser au
filet et qui se trouverait soudain dans un canton qu'il ignore« ist mir un-
verständlich; selbst wenn man dem sht trotz des > die Bedeutung » Vogel-
steller« gäbe, erhielte man höchstens »wie jemand ein Vogelsteller dort zu
dem was er nicht wulste« also zusammenhangslose Worte.
L.
BRAATSTN STERN TI
Tetieh the
tw mt m hri min mi sbb s ms} prsn, irnf rnpt St m ndrt.
ı. Dies irrig wiederholte Wort hat der Schreiber selbst ausgelöscht.
Der Tod steht heute vor mir, wie jemand sein Haus zu sehen wünscht®,
nachdem* er viele Jahre im Gefangenschaft verbracht hat.
Über die Behandlung des Mn als Colleetivum siehe oben zu XLVI.
Die gewöhnliche Bedeutung »schlagen« pafst hier nicht für ndr, und
man sucht in ndrt vielmehr einen Ausdruck für Gefangenschaft. Wenn ich
! Anders steht es mit dem Beispiele Pianchi 73 und dem von Brugsch aus einem
»Pap. Murray« angeführten, wo‘ die »Wolken« und die »Finsternils« das Objekt zu Af
bilden.
?2 Er übersetzt »un rasserenement du ciel«.
° Gramm. $ 190.
* Gramm. $ 197.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 71
nun auch diese Bedeutung selbst für das Wort nicht nachweisen kann, so
doch wenigstens nahverwandte:
So =) ndrt r shr irtt »Festhalten zum Melken« (LD. II, 66,
über dem Hirten, der die Kuh am Vorderbein festhält).
u a ? ndrt m3w »Fangen der Gazellen« (Benihasan I, 30, über
ende die Crrellen haschen).
AWVMN N
%
On 3
beitern, die den wüthenden Schlachtstier umzuwerfen suchen).
S So af ndr wns ghıs »der Wolf fängt die Gazelle« (Beni-
<> wm
hasan II, 13, über diesem Bilde; ebenso vom Löwen ib. II, 13; II, 4; vom
Hund, der die angeschossene Antilope packt, ib. II, 4).
7, Ndrt ng »Fangen des Stiers« (LD. IL, ı4, über den Ar-
LI.
SIITRNTANTT TER I
u
wnn ms nti im (it) m ntr nh, hr hsf tw n irr sw.
ı. Das Wort ist nachträglich zwischen den Zeilen 141 und 142 eingefügt und dürfte
in 142 einzuschieben sein, doch bleibt mir seine Stelle fraglich. Hinter dem IR steht ein
schräger Strich, der (falls er nicht nur der Rest eines weggewaschenen Zeichens ist) wohl
angeben könnte, dals hier das Wort einzufügen sei. 2. Durch Korrektur entstellt.
Wer dort ist, wird’ a =»... als lebender Gott, indem er die Sünde
san an dem, der sie thut”.
Jeder Vers dieses vierten Gedichtes beginnt mit der Zeile wnn ms nt! im
»wer dort ist, wird sein«, die zweite Zeile giebt darauf an, was er sein
wird, und die dritte fügt mit einem 2 hinzu, was er thun wird.
Der Euphemismus nt? im »wer dort ist« (d.h. wer im Totenreich ist),
ist bekannt. Die enklitische Partikel ms kennen wir bisher nur aus dem
Westecar’; sie kann nur eine sehr leichte Nuance ausdrücken; für zwei
! Futurisch, vergl. Gramm. $ 187.
°” 259,2
®? Vergl. meine Sprache des Westcar $ 188,
72 A. Erman:
der Stellen des Westear palst unser eingeschaltetes »ja«, das das Ge-
sagte als eine bekannte Wahrheit hinstellt.
Dafs der selige Tote ein »lebender Gott« ist, findet sich auch sonst,
so Totb. ed. Leps. ı, ı7. Falls das Eu A vor dem m nir “nl einzu-
en
schieben ist, muls es, wie das Ch“ des nächsten Verses, als Praedikat zu
wnn gehören. Setzt man es erst hinter das nir nh, so ist dieses das
Praedikat das dann, wie im dritten Vers, durch m eingeleitet ist. Was Eu
o&ö
»fortnehmen« hier überhaupt soll, sehe ich nicht.
Hsf iht n bedeutet sonst »jemanden bestrafen«; ich vermuthe, dafs hier
diese Redensart in ihrer vollständigen Form, »die Sünde an jemandem
strafen«, vorliegt; das ZAt »etwas« in ihrer gewöhnlichen Form stände also
für das Vergehen: »etwas an jemandem strafen «.
Über 5 vergl. das zu XXXII Bemerkte.
Der Sinn dieses Verses ist: der Tote ist wie ein Gott und straft die
Bösen.
LI.
EN EN NS END ee EN
—>-|IC7I]
—
u a EP |
wnn ms ni im che m wi, hr rdit dit Stpt im r r3w-prw.
1. Der Schreiber hat schon Z. 26 ein seltsames Determinativ bei 3 verwendet, das
sich als eine Kombination von © und = erklären läfst; was hier steht kann weder einem
© noch einem =@%&s entsprechen.
Wer dort ist, wird ja um Sonnenschiff stehen, indem er das Erlesenste
in die Tempel geben läfst.
Mag man das seltsame Zeichen bei wi lesen wie man will, dafs vom
Schiff der Sonne die Rede ist, in dem der Tote mitfahren darf als Ge-
nosse des höchsten Gottes, ist nieht wohl zu bezweifeln.
Während rdit »geben« allein genügen würde, steht rdit dit »geben
lassen«, wobei das dit natürlich kurze Schreibung für ditw ist!. Man ist
geneigt, das di zu streichen, doch findet sich diese kausative Wendung
! Gramm, $ı171. 180. 207.
Gespräch eines Lebensmiüden mit seiner Seele. 73
auch sonst, wo sie kaum nöthig ist. In der Bauerngeschichte heifst es
en Ze)
a Se, »du wirst ihm die Brote geben lassen,
NS DB N es: en
ohne dafs er erfährt, dafs de es bist, der sie ihm giebt ( )«: Und
noch merkwürdiger in dem Erlafs Thutmosis’ I. (ÄZ. 1891, 117): I
mr A) »mache, dafs man macht, dafs der Eid bleibt« für
a u) 2 S AL} ” ” ” ” ” ”
»mache, dafs der Eid bleibt«, wo die Richtigkeit der Lesung durch ein
neues von Borehardt in Nubien gefundenes Exemplar bestätigt wird',
Unter stpt hat man wohl, wie sonst, die Schenkel der Opferstiere zu
verstehen.
LIII
SETZEN METDI-
ar
wnn ms nti Im m rh-tht n hsfntf, hr Spr n rc, hft mdwf.
Wer dort ist, wird ja ein Gelehrter sein, dem nicht gewehrt worden ist,
indem er den Re bittet, wann er redet.
Der rh-iht »der etwas Wissende« steht Siut I, 223. 225 oder d’Orb.
11,4 parallel zu dem KW »Schreiber« und ist der Ausdruck für den
» Weisen«, den Gelehrten. Die Bemerkung, dafs der Tote »den Re bittet,
wann er redet«, geht wohl darauf, dafs er jetzt unmittelbar mit dem Sonnen-
gotte verkehrt; jedes Wort, das er spricht, wird auch von Re vernommen
und ist ein Gebet. Ein ähnlicher Gedanke ist ja auch in VII ausgesprochen.
Was soll aber der Zusatz »der nicht abgewehrt worden ist«? Unwillkürlich
kommt man auf den Gedanken, dafs auch in diesen Versen LI-LIII An-
spielungen auf besondere Schicksale unseres Mannes vorliegen, und dafs
Alles, was er hier als Recht des Toten bezeichnet, ihm selbst im Leben
versagt worden ist.
LIV.
2 AN T— eo FAIR >
a
dam ni ühw: imi rk ke nnot hr h33, ns pn, Sni.
ı Es hängt das zusammen mit dem allmählichen Verblassen der Kausativbede utung
von rdi, das sich auch sonst beobachten läfst. So z.B. Brugsch, Thes. 1153 rdit smntw
unnütz für smnt oder d’Orb. 5,5 dit dmtw unnütz für dm.
Philos. - histor. Abh. 1896. I. 10
74 A. Ermans:
Was der Geist zu mir sagte: Lege das Jammern auf das ...., du Ange-
höriger, mein Bruder.
Dafs hier nur Zno anstatt Zhrw »mein Geist« steht, ist wohl ein Schreib-
fehler, vergleiche das zu II Bemerkte.
MW
Das Wort N Da A nhwt findet sich ebenso geschrieben im Anfang
der Bauerngeschichte (Z. 29); der Beamte verbietet dem Bauern zu jam-
mern und dieser sagt darauf: »du raubst mir die n/not aus meinem Munde«;
er nennt also seine Klagen so.
MM
Es findet sich dann weiter als Sc A) in einem Texte des neuen Reiches:
\
) = HT. | =, me hr nfnwi nn n wr sndf
la
»die Asiaten ...... sich (dativisch) wegen der Gröfse der Furcht vor ihm«
(LD. III, 223€; parallel: »sie werden ohnmächtig wegen seines Namens,
jedes Mal, dafs sie an ihn denken«). Man vermuthet »jammern über sich «
oder ähnlich.
Dazu stimmt dann auch eine weitere Stelle der Bauerngeschichte, wo
der Bauer dem ungerechten Fürsten sagt: »du bist stark und trotzig ...,
die Milde geht an dir vorüber, EEE AN per 3 rl | =.
o weh des Armen, den du zu Grunde richtest« oder ähnlich!.
Endlich wird in der Metternichstele 47 das Jammern der Göttinnen als
DL: Al bezeichnet, parallel zu dem BI EN »dem lauten Klage-
geschrei« der Götter.
Zwei andere Stellen, in denen das Wort noch vorkommt, Sall. 2, 8, 9
a und Totb. 113 we ed. Nav., Zeileı2 = exd A
Leps., Zeile 8) sind mir nicht verständlich’.
Ein Wort A? mit > determinirt ist mir unbekannt; man darf wohl
vermuthen, dafs »lege die Klage auf” das A3%« eine Redewendung ist für
»höre auf zu klagen«. Der Sinn ist jedenfalls: du brauchst nieht noch
weiter zu jammern, ich werde dir deinen Willen thun.
‘ Bauer 116 und ebenda 203 wiederholt. — Vergl. über das Wort jetzt auch die
während des Druckes erschienenen Bemerkungen Spiegelberg’s, ÄZ. 1896, 16.
®2 Mit den Worten S Q A Leyden V,4 und S Benihasan I, 25,114 hat unser
nhwt nichts zu thun, denn diese sind unvollständige Schreibungen von nAnt und rAn.
® rdt hr ist der gewöhnliche Ausdruck für »etwas auf etwas legen«.
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 75
In Ze n-sw, das nach dem beigefügten pn ein Substantiv sein
mufs, liegt wohl ein Seitenstück vor zu dem Ausdruck II8S ü-sw »Ge-
nosse«. Wie jener bedeutet es eigentlich »der zu ihm Gehörige«', seinen
weiteren Gebrauch zeigt das Beispiel:
0. 1e No Ya! sk pw nsw, st k’k »er ist dein
Sohn, der Angehörige, den du” erzeugt hast« (Prisse 7, 11).
LV.
ezeeaaeaerrzleattyre
a
El TTV Run
154 | SS — I i
==] | 0D®
wdnk hr ch, dmik hr nh, mi ddk, mr wi 3 win nk imnt, mr hm phk
imnt, sh hk t, hnür 8 wrdk, ih irn dmi n sp.
ı. Ob das Zeichen wirklich so zu umschreiben ist, ist mir selbst zweifelhaft, da
RR auch in den Handschriften des mittleren Reiches (Sinuhe 127. 293; Kahun, Hymn 2, 13;
Kahun, Medic. Pap. 2,4) nie ganz so gestaltet ist. 2. Unter N noch ein, wohl zufälli-
ger, Strich.
Du taste auf dem Feuerbecken, du ..... auf dem Leben, wie du sagst.
Wenn ich dir auch biskr den Westen verweigert habe, » gelangst du doch zu
dem Westen, deine Glieder erreichen die Erde, ich lasse mich nieder, nachdem
du ruhst. Lafs uns zusammen eine Stätte machen.
Diese Schlufsworte des Geistes, die für das Verständniss des Buches
so HE sein würden, bleiben leider zum grofsen Theil unverständlich.
z Über &-, f-sw ver Be meine uben ÄZ. 1892, 80; über aa in nsw Fareene
Praefix n- vergl. Sethe, ÄZ. 1895, 73.
® Eigentlich »dein Ka«. Der Ausdruck ist interessant, weil er zeigt, wie bedeutungs-
los das Wort nn oft ist.
76 A. Erman:
Das Wort wdn kam schon in VII vor; ob es richtig ist, es hier wie sonst
mit »lasten« zu übersetzen, stehe dahin.
Das »Feuerbeeken« (denn nur in dieser substantivischen Bedeutung
ist <A aw zu belegen) erinnert an das »auf das Feuer werfen« und das
» Verbrennen«, von denen auch in IV die Rede war.
Ein Verb dmi mit dieser oder einer ähnlichen Schreibung ist mir
nicht bekannt; auch das gewöhnliche Verb dm?, das wohl riehtig zu
B. Ta, ToM »anheften« gestellt wird, ergäbe keinen Sinn.
Da sich die Sätze wdnk hr ch und dmik hr nl anscheinend ent-
sprechen, so kommt man auf den Gedanken, ob sie nicht einen Gegen-
satz ausdrücken sollen, etwa: »verbrennen kannst du nicht und leben
willst du nicht« o. ä.
Das mi ddk läfst sich jedenfalls so, wie angegeben, übersetzen” und an
das Vorhergehende anschliefsen; der Sinn ist dann: »das Feuer .... du
und das Leben [verabscheust?] du, wie du (selbst) sagst« — die Seele
hält dem Menschen seine Reden und Klagen vor. Nothwendig ist diese
Auffassung indessen nicht’.
In dem doppelt gesetzten A steckt wohl etwas Grammatisches;
<>
jedenfalls gehören die beiden so beginnenden Sätze zusammen und der
zweite steht, wie das Am" zeigt, in einem leichten Gegensatz zum ersten.
Ich vermuthe, dafs sie etwa besagen: »wenn ich dir auch bisher den
Westen verweigert habe, so kommst du (jetzt) doch zum Westen«. Dals
D „2 etwa »zurückweisen« bedeutet, ergiebt sich aus den Stellen
It cd N Pianchi il Die Partikel (?
otbz ed... Navy. 1545 2, Eianeniyys 1b>7A3r ie Partikel (?) NZZ
ist hier so räthselhaft wie an allen anderen Stellen und wird auch hier
nur eine sehr schwache Nuance bezeichnen’.
! Jedenfalls ist der Sinn nicht »du drückst schwer auf das Fenerbecken«, denn in
dieser Bedeutung wird wdn mit r konstruirt; vergl. Harr I, 79,1.
Ar Verelz.BHBrisse2,5-
3 Man könnte auch denken, das m? ddk leite eine direkte Rede ein und das Folgende
(mr w? @ u. s. w.) wären Worte des Menschen, die die Seele ihm anführte. Wahrscheinlich
ist das freilich nicht, denn dann blieben nur wenig Worte für die Seele übrig, die doch
ihr Schlufswort nicht zu kurz fassen darf.
* Vergl. meine »Sprache des Westear« $ 187, wozu noch das gute Beispiel P 303
kommt, das ich Sethe verdanke.
5 Vergl. Sethe, ÄZ. 1893, 107.
77
Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele.
Die grammatische Konstruktion erinnert an einen Satz mit hervor-
. SA Mm
gehobenem pronominalem Subjekt', wie es Ö Sl en nwk win
a num —I
nk »ich bin es, der dir verweigere« sein würde; da hier aber nicht das
für die Hervorhebung nöthige jüngere Pronomen absolutum, sondern das
alte (2?) steht, so kann es sich hier nicht um eine wirkliche Hervor-
hebung handeln. Vielleicht ist es das mr, das diese seltsame Konstruktion
bedingt.
Für den Ausdruck $%h B ist von Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) die Be-
deutung »landen« belegt worden, und da das gewöhnliche Wort für »lan-
den« mn? als Euphemismus für »sterben« gebraucht wird, so könnte man
denken, auch sh % solle hier den Tod bezeichnen. Nach dem Zusammen-
hang der Stelle ist es indessen wahrscheinlicher, dafs 3% % hier eine ge-
wählte Wendung für »begraben werden« — etwa: zur Erde kommen — ist.
Über An »sich niederlassen« und dm? »Stätte« ist zu IX ausführlich
gehandelt worden.
Der Sinn des Abschnittes ist jedenfalls der, dafs die Seele nachgiebt
und sich nicht mehr sträubt, ihrem Herrn in den Tod zu folgen.
LVI.
ch
twf pw, hetf r phfi, mi gmüt m ss.
Als Rubrum.
Es ist fertig, von Anfang bis zu Ende, wie das, was geschrieben vorgefun-
den ist.
Die übliche Schlufsformel der Handschriften, für die Griffith (ÄZ.
1896, 49) jetzt die Erklärung »this is its arrival« (at the end) vorschlägt.
Diese Erklärung läfst dem N jedenfalls seine gewöhnliche Bedeutung
»herbeikommen«, während die herkömmliche Deutung der Formel »es ist
dahingegangen« diesem Verbum eine Bedeutung zuschiebt, die es meines
Wissens niemals hat.
! Gramm. $ 350.
® Gramm. $ 80.
Philos. - histor. Abh. 1896. II. 11
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Phil.- hist. Abh.
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Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele,
Tafel 10 (Zeile 141-155).
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik.
Von
TRRCARL STUMPR.
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2... Philos. - histor. Abh. 1896. III.
7
I
nl a ld Enulueilsinteiin-obisDr Zn
=
Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 23. April 1896 \
[Sitzungsberichte St. XXI. S. 483]. h ä
d Zum Druck eingereicht am 17. März 1897, ausgegeben am 8. Mai 1897.
z u e 5
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I ist hier meine Absicht, den Inhalt der 19. Section der unter den Werken
des Aristoteles überlieferten Problemensammlung neu zu untersuchen und
ihn so darzustellen, dafs sich ein übersichtliches Bild der darin nieder-
gelegten Auffassungen vom Wesen und den Wirkungen der Musik ergiebt.
Von vornherein ist allerdings im Auge zu behalten, dafs nach bestimmten
Anzeichen (wir kommen auf die Autorfrage zuletzt) an dieser Section minde-
stens zwei Autoren betheiligt sind. Im Ganzen aber ergiebt sich aus den
fragmentarischen und regellos durcheinander gewürfelten Ausführungen eine
wol zusammenhängende Gesamtanschauung, und es offenbart sich darin
ein tieferer Blick in die letzten musikalischen Prinzipienfragen als in irgend
einer anderen Schrift des Altertums. Auf die enge Verwandtschaft mit den
Forschungen der Gegenwart hat v. Helmholtz bereits gelegentlich Bezug
genommen, aber sie reicht weiter als er dachte, ja sie ermöglicht es uns,
mehrere bisher ganz unverständliche Stellen zu interpretiren und anscheinend
unheilbare Textverderbnisse richtigzustellen. Aufser den gemeinsamen Grund-
lagen treten aber auch die unterscheidenden Eigentümlichkeiten der antiken
Musik deutlich hervor, und auch in dieser Hinsicht läfst sich das Material
noch besser ausnützen, als es bisher der Fall war.
Die 19. Seetion als die sachlich bedeutendste und zugleich schwierigste
und corrupteste der ganzen Sammlung ist mehrfach herausgegeben oder
übersetzt und commentirt worden: von Chabanon 1779', Bojesen 1836°,
! Memoires de l’Academie des Inseriptions T. 46 (herausgegeben 1793) p. 285.
® De Problematis Aristotelis. Diss. Kopenhagen 1836 (commentirt speciell nur die
19. Section).
les
4 C. Stumpr:
Ruelle ı891', d’Eichthal und Reinach 1892°, K. v. Jan ı895°. Bar-
thelemy Saint-Hilaire übersetzte und commentirte sie 1891 mit den
übrigen Problemen’. Eine neue Ausgabe mit Übersetzung, philologischem
und musikwissenschaftlichem Commentar wird von F. A. Gevaert in Ver-
bindung mit anderen Gelehrten vorbereitet’.
! Revue des Etudes grecques. IV p. 233: Problemes musicaux d’Aristote (Übersetzung
und kritische Durcharbeitung). Dazu in der Revue de Philologie XV (1891): Correetions
anciennes et nouvelles dans le texte des probl. mus. d’Aristote.
2 Revue des Etudes greeques. V p. 22: Notes sur les probl. mus. dits d’Aristote.
In dieser Arbeit sind die Musikprobleme zum ersten Male nach sachlichen Gesichts-
puneten in Gruppen geordnet. Ich habe sie aus zufälligen Ursachen erst vor wenigen Mo-
naten kennen gelernt, als meine Abhandlung, deren Grundzüge aus dem Jahre 1892 stammen,
bereits zum Drucke fertiggestellt war. Natürlich kann man solche Gruppirungen je nach
dem Standpunet der Betrachtung in verschiedener Weise vornehmen; es muls dem Leser
überlassen bleiben, welche ihm besser zusagt. So sind denn auch Probleme, die dort nur
kurz gestreift werden, hier sehr ausführlich behandelt und umgekehrt. Die Arbeit der bei-
den Gelehrten scheint übrigens seltsamer Weise auch v. Jan entgangen zu sein; wenigstens
führt er sie in dem Litteraturverzeichnis (p. 59 seiner sogleich zu erwähnenden Ausgabe)
nicht auf und nimmt nirgends Bezug darauf, wogegen er Ruelle’s »Corrections« in die
Revue des Etudes grecques 1892 verlegt.
Die beiden Autoren gehen nun allerdings in der Annahme von Entstellungen aller Art
bedenklich weit. Nicht blos Wiederholungen, Auslassungen, Itacismen, Rand- und Inter-
linearglossen werden in Fülle zu Hilfe genommen, sondern auch Umstellungen derart, dals
wiederholt die Lösung eines Problems mit der Fragestellung eines anderen verbunden wäre.
Es bleibt von dem ganzen Bau sozusagen kein Stein auf dem anderen; und oft genug wird,
wo all dies nicht hilft, einfach die Sinnlosigkeit (galimatias, ineptie) constatirt.
Aber die Meisterschaft in der philologischen Chirurgie verführt leieht dazu, mehr zu
schneiden als der Patient verträgt. Der Nichtphilologe hält sich vielleicht wieder zu ängst-
lich an den vorliegenden Text. Doch glaube ich nicht, dals dabei soviel Sinnlosigkeiten
stehen geblieben sind. Nur in einzelnen Fällen habe ich die Änderungen der beiden scharf-
sinnigen Gelehrten nützlich gefunden, in den meisten Fällen unnötig, und es schien mir in
diesen Fällen nach der positiven Erklärung meist auch nicht nötig, die Veränderungsvor-
schläge im Einzelnen zu besprechen.
® Musiei Seriptores Graeci. p. 39 (mit Einleitung und kurzen Anmerkungen).
* Les Problemes d’Aristote. II p. 36 (Übersetzung und Commentar). Diese Arbeit lälst
an Exactheit viel zu wünschen.
° Man findet bereits in Gevaert’s Histoire de la Musique de l’Antiquite 1875—1881
vielfach Erläuterungen zu einzelnen Problemen, teils von Gevaert selbst, teils von
A. Wagener herrührend. Auch Westphal hat verschiedene Probleme ausführlich be-
sprochen, da sie ihm als wesentlichste Stützen für seine Auffassung der griechischen Musik
erschienen. Endlich habe ich in meiner Tonpsychologie (1883 und 1890) die Probleme
öfters herangezogen und Erläuterungen dazu gegeben; s. das Register zum 11. Bd. unter »Ari-
stoteles«.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 5
Wir gehen nun also im Folgenden von der überlieferten Reihenfolge
vollständig ab und bilden nach sachlichen Gesichtspuneten Gruppen, inner-
halb deren wir bei den schwierigeren oder wichtigeren Puncten nach Be-
darf verweilen. Es ist vorausgesetzt, dafs der Leser den griechischen Text
stets zur Seite hat, wenn wir auch an einzelnen besonders schwierigen
Stellen zusammenhängende Sätze daraus einfügen. Die Übersetzungen sollen
zugleich als Interpretation vieler Ausdrücke und Wendungen des Textes
dienen, bei denen eine sonstige Erläuterung aufser der hierdurch schon
gegebenen nicht erforderlich scheint. Bei den Überschriften der einzelnen
Problemgruppen werden immer nur diejenigen Probleme als dazugehörig
angeführt, deren Fragestellung ausdrücklich auf den bezüglichen Gegen-
stand gerichtet ist. Die in der Darstellung selbst bei jeder Gruppe be-
sprochenen Probleme sind durch fetten Druck kenntlich gemacht. Eine
Tabelle am Schlufs der Abhandlung giebt eine Übersicht der Stellen, an
denen jedes einzelne Problem erwähnt ist.
I. Von den Eigentümlichkeiten des Oetavenintervalls.
Hierauf bezieht sich eine grofse Anzahl von Problemen von hervor-
ragendem Interesse für die Musiktheorie. Zum Verständnis ist es not-
wendig, sich die allgemeine Auffassung des Consonanzbegriffes zu vergegen-
wärtigen, wie sie sich den Problemen entnehmen und dureh Ausführungen
des Aristoteles erläutern läfst'.
Es werden, wie überhaupt in der altgriechischen Musik, nur drei Grund-
eonsonanzen angenommen, Octave, Quinte, Quarte. Dazu kommen die ab-
geleiteten, welche durch Hinzufügung der Octave zu einer von diesen dreien
entstehen. Das Wesen der Consonanz (ovußwvia) wird im Probl. 35 de-
finirt. Sie ist »die Verschmelzung entgegengesetzter, in einem (bestimmten)
! In einer Arbeit, die ich 1893 in der Juni-Sitzung der Münchener Akademie der
Wissenschaften vortrug, aber wegen äulserer Abhaltungen erst kürzlich in den Druck geben
konnte, habe ich auch den Consonanzbegriff der Probleme und die unten folgende Erklä-
rung des Probl. 14 bereits erwähnt. Aus dieser Abhandlung wird man den Zusammenhang
der bezüglichen Lehren mit denen der übrigen alten Schriftsteller noch deutlicher ersehen ;
wie sie auch in vielen anderen Puncten sich mit der gegenwärtigen ergänzt. (Geschichte
des Consonanzbegriffes. Erster Teil! Die Definition der Consonanz im Altertum. Abhand-
lungen der Münchener Akad. d. Wiss. I. Cl. Bd. XXI.)
6 0. Stumrr:
Zahlenverhältnis zu einander stehender Töne: kpaots &orı Adyov Eexovrov
evavriov mpos AAANAa,
Dals eonsonante Töne hier (wie auch im Pr. 39" am Schlufs) als ent-
gegengesetzt bezeichnet werden, mag uns wunderlieh vorkommen. Die Be-
zeichnung stammt aus der pythagoreisch-heraklitischen Zeit. Die Pytha-
goreer «efinirten nach Aristoteles (De anima p. 407, db, 30) die Harmonie
als xparıs al ovvderıs evavriov. Ähnlich Heraklit nach Plato (Symp.
187,6). In anderen sonst gleiehlautenden Definitionen des Altertums wird
statt des Gegensatzes nur eben die Verschiedenheit der 'Tonhöhe ver-
langt.
Von dem Adyos ist ebenfalls seit den Anfängen der pythagoreischen
Schule die Rede. Auch Aristoteles definirt mehrfach die Consonanz als
Aöryos, speeieller Aoyos apıduov. Welche Zahlenverhältnisse gemeint sind,
sagen andere Stellen der Probleme, wo sie entsprechend den Lehren der
Pythagoreer angegeben werden.
Auch im Probl.39" (nach Jan’s Bezeichnung) ist von dem Verhältnis
der eonsonirenden Töne die Rede; es wird hier als Verhältnis der Be-
wegung bezeiehnet: oi ev rn ovbwvia PHoyyoı Aoyov Eyovaı Kırnaews
nos aurovs,
Kerner findet sieh eine ausdrückliche Definition im Probl. 41, die an-
nähernd mit der ersten übereinstimmt: ovubwvia elAoyov eyovrwv bHoyyor
Dos AAANAovs &ori. Aber hier kann der Bekker’sche Text nieht ohne
Kimendation stehen bleiben, da er sonst überhaupt keinen Sinn giebt. Ich
vermute, «dass kpaoıs oder wugıs ausgefallen ist und das Ganze geschrieben
werden muls: ovuporta Kpaoıs eÜAOyws Eyovrov Hoyywv TpoSs AAANAovs
eori. Zu evAöyws vergl. Aristoteles De sensu p.439, b, 31: Ta uev Yap ev
dpıduoıs evAoyloros ypwonara, kadamep exe Tas avubwvias'.
' Man könnte allenfalls den Satz auch schreiben: omupwvla elAdyos &xavrov POöyyos
xt‘, und sich fir den Singular d0oyyos auf Arist, De An, p.426, a, 27 (vvupovia dov Tis
dorw) und auf Stephanus’ Commentar zur aristotelischen Rhetorik berufen, wo äpnovia als
POsyyos BE d&dos xald Papdos definirt, unter dpzovia aber eine melodische Aufeinanderfolge von
Tönen verstanden wird (Commentatorenausgabe d, Berl, Akad, Bd. 31 8.308, 25). Immerhin
ist diese Ausdrucksweise ungewöhnlich,
Pdsyyovw, das durch zwei Handschriften gestützt und von der Aldina minor, auch von
Bojesen aufgenommen ist, würde auch nieht gerade notwendig rpäeıs als regierendes Sub-
stantiv verlangen; man könnte verstehen: »Symphonie besteht zwischen ...«, und es lielsen
sieh Analogien fiir solehe Dietion aus Aristoteles anführen. Aber näher liegt doch die
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 7
/
Über die «pacıs oder, wie er lieber sagt, yi&ıs der consonanten Töne
handelt Aristoteles ausführlich in der Schrift De sensu e.7. Er sagt, dafs
Nete und Hypate, die Oetaventöne, einander gegenseitig verdecken (acbavi-
Tew aAANAovs pP. 447, a, 20), dafs eine gewisse Einheit daraus resultire (ev
rı ylyvera). Ausdrücklich hebt er noch hervor (449, a, 19), dals es sich
dabei um gleichzeitige Töne handle.
So ist nun auch gewils die kpaoıs in der Definition der Probleme
zu verstehen; wie sie denn von fast allen Musikschriftstellern des Alter-
tums in diesem Sinne behauptet wird. Diese Mischung oder Verschmel-
zung bei gleichzeitigem Erklingen ist nach ihnen etwas allen Consonanzen
Gemeinsames und ihr eonstitutives Merkmal in psychologischer Beziehung,
während das Zahlenverhältnis sie nach der physischen Seite charakterisirt.
Natürlich darf man nicht schlielsen, dafs die Probleme und die alte Musik-
theorie überhaupt nur bei gleichzeitigen Tönen Consonanz statuirten. Die-
selben Töne, die gleichzeitig erklingend verschmelzen, werden auch in der
Aufeinanderfolge als eonsonant (symphon) bezeichnet.
Dafs auch Gradunterschiede der Verschmelzung gemäls den Gradunter-
schieden der Consonanz stattfinden müssen, liegt in der Consequenz der
Definition, und man könnte wol sagen, dafs solche Unterschiede schon dem
Aristoteles vorschweben, wenn er einerseits die Octave stets als Bei-
spiel der Verschmelzung gebraucht und die gegenseitige Verdeekung der
Töne speziell von ihr behauptet, andererseits doch auch den übrigen
CGonsonanzen Verschmelzung im Allgemeinen zuschreibt. Bei der Octave
ist eben die Annäherung an das wirkliche Unisono am stärksten und auf-
fälligsten'.
Mit Hilfe dieser Lehren verstehen wir nun die grundlegenden Eigen-
tümlichkeiten der Oetave und die daraus abgeleiteten, wie sie den Gegen-
stand verschiedener Probleme bilden:
Analogie der vorher erwähnten und vieler anderen Definitionen, die «päaoıs zum Subject
haben.
Endlich lesen Bojesen und Andere Adyov statt e’Aoyov, wodurch die Übereinstimmung
mit Pr.38 noch vollständiger, die Definition selbst freilich unvollständiger würde.
! Über das Thatsächliche in Hinsicht der Verschmelzungserscheinungen vergl. meine
Tonpsychologie II (1890); über ihre Verwendung zur Consonanzdefinition die demnächst im
Druck folgende, am 25. Februar 1897 vorgetragene Abhandlung »Zur Theorie der Con-
sonanz.«
8 0. STumrr:
ı. Verschmelzung der Octaventöne. Probl. 14.
Die Frage des Probl.14 lautet im überlieferten Text: Ara Ti Aavdaveı
To dıa maorov Kal dokeı önobwvov eivan oiov Ev TO Powiriw Kal Ev TW
avÖporw; Wörtlich also: Warum verbirgt sich die Oetave und scheint
homophon zu sein, wie bei dem Phoenikion und dem Menschen?
Bojesen nennt dieses Problem »obscurum« und tröstet sich mit seinem
Vorgänger Chabanon, der völlig daran verzweifelte. Darin stimmen alle
Erklärer überein, dafs sie unter dem &owikıov ein phönizisches Instrument
verstehen, da ein Instrument von wenigstens ähnlichem Namen (Avpodoi-
vi£&, Avpodowwikiov) bei Athenaeus und Pollux im 2. Jahrhundert n. Chr.
erwähnt werde. Aber wie kann das Instrument durch »und« mit dem
Menschen verknüpft werden? Eine handschriftliche Randbemerkung schlägt
darum statt avdponw ATPOTW vor, womit ein anderes Instrument Namens
drpomos gemeint wäre, von dem aber in der ganzen Litteratur nichts
vorkommt!. Barthelemy St.-Hilaire will avdp@oro mit »voix humaine«
übersetzen. Aber »Mensch« zu sagen, wenn man die menschliche Stimme
meint, wäre doch eine starke Lieenz. Auch ist in den Problemen, in der
musikalischen wie in anderen Seetionen, oft genug von der menschlichen
Stimme und nie anders als mit dwvn, avdpwmov bwvn die Rede (vergl.
Pr.1ı0). Und schliefslich weils man noch immer nicht, was sowol das
Phoenikion als der Mensch oder seine Stimme mit der scheinbaren Homo-
phonie der Octave zu thun haben.
Eine schon vorhin teilweise benützte Stelle der aristotelischen Schrift
De sensu kommt uns hier zu Hilfe. Aristoteles setzt da die Farbenmischun-
gen mit denen der Töne in Parallele. »Diejenigen Farben, die in leicht-
fafsliehen Zahlenverhältnissen gemischt sind, werden, wie dort (bei den
Tönen) die Consonanzen, als die angenehmsten erscheinen, z. B. das aAovp-
yov und das owıkovv (das dunklere und hellere Purpur) und einige wenige
derartige; welswegen auch der Consonanzen nur wenige sind« (p- 439, db, 31).
Die beiden hier genannten Farben, die Aristoteles auch sonst öfters in
Verbindung miteinander nennt, besonders aber das dowıkovv, dienen ihm als
! Die alte Übersetzung des Th. Gaza (im III. Bande der Berliner Aristoteles- Ausgabe
abgedruckt) folgte dieser Lesart. Chabanon schlols sich ihr an und führte gelehrte Unter-
suchungen über die beiden geheimnisvollen Instrumente.
\
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. )
Lieblingsbeispiele für Mischfarben.' Hienach zweitle ich nicht, dafs in unserem
Problem zu lesen ist: olov ev T® boıwıro® kai ev TO aAovpY®. Wie Aristo-
teles dort die Farbenmischung durch die CGonsonanz der Töne erläutert, so
will der Verfasser dieses Problems die Verschmelzung der Octaventöne durch
den Hinweis auf die Mischfarben erläutern. Das Aavdavew der Oetaventöne
wird in der genannten aristotelischen Schrift (447, a, 20) als abaviZew aAAnAa
bezeichnet. In der pseudo-aristotelischen Schrift mept akovortov heilst es
(801,d, 20) ganz ähnlich: amorpunreoda üm aAAnAwr.
Hienach ist zu hoffen, dafs die beiden Instrumente &owvikiov und Arpomos
aus den Verzeichnissen der alten Musikinstrumente verschwinden werden.
Zur Bestätigung mag noch dienen, dafs auf die von uns benützte Stelle De
sensu auch Porphyrius in seinem Commentar zur ptolemaeischen Harmonik
einmal Bezug nimmt, um die Annehmlichkeit und die geringe Zahl der
Consonanzen zu erläutern (Wallis Op. math. III, 328). Zugleich sieht man
aber daran, dafs in einer solehen Berührung der Probleme mit ganz spe-
ziellen Äufserungen des Aristoteles noch kein Beweis liegt, dafs sie von
Aristoteles selbst herrühren.
Unser Autor fährt nun fort, indem er, wieder ganz in aristotelischer
Weise, zunächst einen Punet der Fragestellung durch einen Zusatz erläutert:
TA yap Ev ToLs ÖEeoıw Ovra oly Öuopwva AAA avadoyov aAANAoıs dıa raowv.
»Denn die Endpuncte der Oetave sind nicht etwa homophon sondern nur
einander analog.« Er meint: Hypate und Nete sind nieht der nämliche Ton,
wie man glauben könnte (und wie ja auch heute manche Psychologen be-
haupten, spricht man doch auch von Unisono, wenn in Oetaven gesungen wird),
sondern sie sind zwei verschiedene Töne: nur ihre Stellung in der Leiter
und ihre Bedeutung in der Melodie ist die nämliche, sie sind einander analog”.
Darum ist es eben ein Problem, warum sie bei gleichzeitigem Erklingen
doch wie Einer klingen.
! Man sehe im Index Aristotelicus unter gowırovs. Ein Teil der Stellen gehört aller-
dings der pseudo-aristotelischen Schrift über die Farben an; aber da diese sicher in der Schule
des Aristoteles entstanden ist, wie die Probleme, so sind die Stellen hier ebenso beweisend
wie die echt -aristotelischen.
® C£. Probl. 17: 7 ot oby 7 aurıy ı) ouubovos ri avıdovo Worep Ev TO da maowv' Ekeivn
yap Ev ro Paper avaxoyov, &s 1 o&eia ev rw öker. Näheres s. u. S. 12 f.
Zum Analogie-Begrifl' vergl. Aristoteles 1016, b, 32 (Ev kar’ ävaAoytav) IIZI,a, 31 (ava-
Aoyla — loorns Aöyav).
Philos.- histor. Abh. 1896. III, 2
10 G. Stumpr:
Dals dies der Sinn des Satzes, scheint mir unverkennbar; aber der
Text ist auch hier nieht sogleich vollkommen durchsichtig. Bei ra ev
roıs ö&eoıw denkt man natürlich zunächst an irgend eine den hohen Tönen
innewohnende Eigenschaft. Aber wozu soll der Autor nun von speziellen
Eigenschaften der hohen Töne reden, nachdem er doch vorher vom Zu-
sammenklang eines hohen mit einem tiefen Ton gesprochen, und was soll
es heilsen, dafs »das in den hohen Tönen« nieht homophon, sonderm nur
einander analog sei'? Es scheint mir, dafs unter ra ö&ea hier nicht die
hohen Töne, sondern die beiden Endpunete des Octavenintervalls zu ver-
stehen sind, von welchem ja in diesem Problem die Rede ist. Dadurch
erhält auch das am Schlufs des Satzes nachhinkende dıa racov, das hier
gar keinen Sinn hat, eine mögliche Erklärung: wahrscheinlich hat ein
früher Interpret, der ra ev roıs ö&eoıw ebenso auffalste wie wir, zur Er-
läuterung an den Rand geschrieben: (Tov) dıa racwv, und ist der Zusatz
später an dieser Stelle des Textes statt unmittelbar nach o&eow eingefügt
worden. Sonst gebrauchen die Probleme für die Endpuncte der Octave
ra akpa (Pr.43 u.ö.). Da aber der Terminus dı o&ewv für die Quinte
(dıa mevre) hier sehr gebräuchlich ist, unter o&ea also dabei die End-
punete der Quinte verstanden werden, so hat es nichts Befremdendes,
dafs auch bei der Oectave einmal o&ea im Sinne der beiden Grenztöne ge-
braucht wird; wie denn auch die nämliche Metapher »Spitzen« bei axpa
und bei ö&ea zu Grunde liegt.
Die Lösung des Problems knüpft nun an diesen Gedanken an und
ist unmittelbar verständlich: 97 6T1 w@otep 6 auros eivan Öokeı HoyYyos.
dia TO avaAoyov inorns Emi (wir lesen ioornra) dhoyywv, TO 6 Ioov Tou
evos. »Etwa weil der Ton gleichsam der nämliche zu sein scheint, indem
(las Analoge der Töne als Gleichheit, das Gleiche aber als Eines (zu Einem
gehörig) erscheinte«®.
Der letzte Satz des Problems endlich: »ralTo de ToVTo kal Ev Taıs
ovpıyEw eSamarovra«, scheint anfänglich die alte Lesart dowiriw (s. 0.) zu
begünstigen, indem er dem Phoenikion und dem Menschen noch die Syrinx
zur Seite stellt, bei der die gleiche Täuschung stattfinde. Er würde frei-
lich dann nieht an diese Stelle, sondern in die Problemstellung gehören,
! Jan ergänzt zu avaAoyov: rois Bapeoıw. Aber es steht ja ausdrücklich und ist auch
von ihm im Text beibehalten: aAAAoıs.
® Zu den letzten Worten vergl. Aristot, Met. p. 1054, b, 3: @AN &v rovras ı) igorns Evorns.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 11
etwa nach dıa mao@v'!. Man mülste also doch wol annehmen, dafs es
sich auch hier um eine Randbemerkung handle, die später an unrechter
Stelle eingefügt wurde, womit dann aber ihre Beweiskraft für dowiiw als
den ursprünglichen Wortlaut hinwegfällt; und die Entstehung dieser Be-
merkung selbst würde ich mir daraus erklären, dafs ihr Urheber das Be-
dürfnis fühlte, die Tonverschmelzung auch an einem bekannteren Instru-
mente als dem »Phoenikion«. von dem der ihm vorliegende verdorbene Text
sprach, zu erläutern.
Aber der Satz läflst sich auch anders, und zwar in unmittelbarem An-
schlufs an den vorausgehenden verstehen: »Dieselbe Täuschung — näm-
lich dafs das Analoge für gleich gehalten wird — findet auch bei den
Syringen Statt«. Man verwechselt in der That öfters die Oetaventöne mit
einander, und zwar ist es eine von der neueren Akustik wieder bemerkte
Thatsache, dafs besonders leicht bei Flötenpfeifen und ähnlichen relativ
einfachen Klängen ein Ton für seine tiefere Octave gehalten wird’. Der
Autor erläutert also nach dieser Auffassung hiermit nicht die Fragestel-
lung sondern die Prämisse, die ihm soeben zur Lösung der Frage ge-
dient hat, und zeigt sich dabei als Kenner akustischer Dinge.
2. Zahlenverhältnis ı:2. Probl. 23, 50.
Wie in der Definition der Consonanzen überhaupt, so spielt auch speziell
bei der Charakteristik der Octave das Zahlenverhältnis eine wesentliche
Rolle. Obschon das Verhältnis 1:2, wie überhaupt die Verhältnisse der
drei Grundeonsonanzen, längst feststand, wird seine Begründung doch zweimal
in den Problemen zum Gegenstand der Frage und Antwort gemacht. Es
wird hingewiesen auf die Saitenteilung und auf die Mafsverhältnisse bei den
Flöten und den offenen Gefäfsen, die zum Tönen gebracht werden’.
! Im Probl.23 werden die Syringen mit einer ähnlichen Wendung (önoiws de Exeı kal
em Tov ovpiyyav), zur Bestätigung herangezogen, nachdem vorher von Saiteninstrumenten
die Rede war, um das Verhältnis 1:2 für die Octave an beiderlei Instrumenten zu erweisen.
Aber hier ist die Heranziehung durch den Gedankengang vollkommen klar motivirt und an
rechter Stelle angebracht.
® Vergl. m. Tonpsychologie II 407—409, 562 unten (Gevaert).
® Vergl. die vier Berechnungsweisen. die Theo v. Smyrna (2. Jahrhundert n. Chr.) auf-
führt: aus Gewichten, aus (Saiten-) Längen, aus den Bewegungen und aus den Gefälsen.
Theonis Smyrn, Expositio, rec. Hiller p. 59.
12 C. STUMPrF:
Inhaltlich bedürfen die Probleme 23 und 50 nicht der Erläuterung.
Dafs im Probl. 23 in der Fragestellung nicht mit den Handschriften 7 vyrn
ns Umarns, sondern mit Wagener umgekehrt ns vurns n ümarn zu lesen,
ergiebt sich aus der Lösung des Problems, die sonst nicht dazu stimmen
würde. Auch im Probl. 12 heifst es, dafs zwei Netai auf eine Hypate gehen,
nämlich nach der Saitenteilung (rn duaAnyeı).
Im Probl. 35° (nach Jan’s Bezeichnung) wird allerdings die Nete das
Doppelte der Hypate genannt. Diese Auffassung bezieht sich statt auf die
Saitenlänge auf die Schnelligkeit der Saitenbewegungen und der dadurch be-
wirkten Luftstöfse. Es war den Alten nicht unbekannt und wird sowol
in früheren Schriften (bei Plato) als in den Problemen (39”) erwähnt, dafs die
Bewegungen bei der Nete doppelt so schnell sind'.
Die Zahlenverhältnisse 2:3 für die Quinte, 3:4 für die Quarte, 4:9 für
die Doppelquinte u.s. w. werden in anderen Problemen (vergl. 41) gelegent-
lieh erwähnt, bilden aber nicht selbst den Gegenstand eines Problems.
3. Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Probl. 19.
Wenden wir unsnun von den psychologisch und physikalisch grundlegen-
len Bestimmungen zu den (im Sinne der Probleme) abgeleiteten Eigentümlich-
keiten der Octave, so drängt sich zuerst die Ähnlichkeit der Oetaventöne auf.
Diese hat Probl. 19 zu seinem Gegenstand. Es schliefst seine Fragestellung un-
mittelbar an die Lösung des Probl. 18 an (auf welches wir, unserem synthe-
tischen Gange gemäls, erst später kommen). Dort war darauf hingewiesen,
dafs die antiphonen Töne, womit die der Oetave gemeint sind, einund-
denselben Ton geben, mögen sie zusammen oder allein angegeben werden:
jeder wird als Vertreter des anderen und des Ganzen aufgefafst. Warum
findet sich dies, fragt nun unser Problem, nur bei den Oetaventönen? Die
! Ruelle will mit Berufung auf Pr. 35% auch für Pr. 23 die Fragestellung der Hand-
schriften festhalten, und legt dieses Problem so aus, dals durch Aufsetzen des Fingers auf die
Mitte der Hypate (Teilung der H.) zwei Netai entstehen; wie dies ja auch in Pr.ı2 direet
so ausgesprochen ist. Aber in solchem Falle nennt man doch nicht die Nete das Doppelte der
Hypate sondern umgekehrt! Nur wenn wir den Autor einer recht nachlässigen Ausdrucks-
weise zeihen oder wenn wir etwa annehmen, dals er eine überlieferte Frage, die sich auf
Geschwindigkeitsverhältnisse bezog, irrtümlicherweise von den Saitenlängen verstand, könnte
man die alte Lesart in Pr. 23 festhalten. Aber wenn sie dann auch historisch erklärt wäre,
sachlich gerechtfertigt wäre sie keinesfalls, und ich würde sagen, wir müssen den Lapsus
nachträglich gut machen.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 13
Antwort ist: »weil diese allein gleichweit von der Mese abstehen. Diese
Mittellage (ueoorns, nämlich eben der Mese) bewirkt eine Art von Ähnlich-
keit der Töne, und das Gehör scheint (infolge dessen) zu sagen, dals es
derselbe Ton ist (die Hypate nämlich und die Nete) und dafs beides Grenz-
töne sind (im Verhältnis zur Mese)«.
Dieses Problem hat den Auslegern viele Schwierigkeit bereitet, weil
doch die Nete um 4, die Hypate nur um 3 Stufen von der Mese absteht
(e — a— e). Man hat ein oryeöov vor !oov einschieben wollen (Ruelle),
wodurch aber der Mangel der Beweisführung erst recht in’s Licht treten
würde. Denn genau gleichweit wie die Hypate steht doch, wenn wir schon
Stufen zählen, nur die Paranete von der Mese ab (d’ — a — e). Also
mülste die Paranete noch viel mehr wie einundderselbe Ton mit der Hypate
erscheinen, während sie umgekehrt unter allen Tönen der Leiter am verschie-
densten vom Grundton zu sein scheint, sowol im Zusammenklang, als in
der Aufeinanderfolge. Im Probl. 47, wo von der 7-tonigen Leiter ohne Nete
die Rede ist (d’ — e), heilst es denn auch ganz correct, die Mese sei so
genannt, weil sie zugleich das Ende des einen und den Anfang des anderen
Tetrachords bilde und gleiches Verhältnis (Lage, Abstand) zu den Endpuncten
habe. Aber in unserem Problem sind ja ausdrücklich die Octaventöne als
Endpuncte bezeichnet.
Die neuere Tonpsychologie ermöglicht. wie ich glaube, auch hier das
Verständnis, und zwar ohne jede Textänderung. Sie lehrt, dafs der Begriff
des Intervalls und der der Tondistanz (des Grades der Unähnlichkeit zweier
Töne) keineswegs zusammenfallen und dals man den Abstand zweier Töne
nicht durch das Intervall oder die Summe der zwischenliegenden Intervalle
messen kann. Wenn wir den Schritt von e zu « und den von @ zu dem
höheren e' für ungleich erklären, weil der eine ein Quarten-, der andere
ein Quintenintervall darstellt, so ist diese Betrachtungsweise von der Abzäh-
lung der musikalischen Leiterstufen hergenommen. Wenn wir aber ohne
Abzählung der Stufen und ohne Rücksicht auf die danach gebildeten Ausdrücke
uns fragen, wie sich die beiden Abstände bei direetem Übergang zwischen
den drei Tönen verhalten, so kann das Gehör in der That dazu kommen,
die Abstände e — a und @a — e' als gleiche und a als Mitte aufzufassen.
Wir haben in der neueren Musik, um unter vielen Beispielen eines heraus-
zugreifen, in den ersten Tacten der sog. Dudelsacksymphonie Haydn’s einen
solchen Fall: der Schritt von d’ nach a’ und der darauffolgende von d’
14 G. Stumpr:
nach a' erscheint in der momentanen musikalischen Auffassung gleich
grofs',
Dieser gleiche Abstand von der Mese nun, meint unser Problem, bewirkt
eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den äufseren Tönen. Diese »gewisse Ähn-
lichkeit« ist offenbar dasselbe, was wir in Probl. 14 als » Analogie« kennen
lernten, und was auch in Probl. 17 so bezeichnet wird (ekeivn yap ev T®
Bapei ävaAoyov, ws n ö&ela Ev T@ Ö&el: wonep oVv h aurn &otıv Ana Kal
aAAn). Es ist die Gleichheit des Verhältnisses und der musikalischen Be-
deutung. Als Ähnlichkeit wird sie auch im Probl. 42 bezeichnet und dadurch
erläutert, dafs man nach der Nete die Hypate leicht singen könne (s. u.).
Können wir so ein Verständnis für den Gedankengang des Problems
gewinnen, so ist nun freilich in sachlicher Hinsicht sehr die Frage, ob das
Gleiehheitsurteil für die beiden Tonabstände sich bestätigt, wenn wir aulser-
halb des musikalischen Zusammenhangs die drei Töne vergleichen und wenn
wir uns auch zugleich von jedem nachwirkenden Einflufs musikalischer Erfah-
rungen unabhängig zu machen suchen. Zunächst ist dieses sogenannte Distanz-
urteil doch wesentlich bestimmt durch die musikalische Bedeutung und Func-
tion der Töne. Im obigen Beispiel erscheint uns der Schritt von der Tonica
d’ nach der oberen Quinte @ und dann nach der unteren Quarte a‘ gleich
grofs, weil es sich in beiden Fällen um den Schritt zur Dominante handelt,
weil er gleiche Bedeutung für unsre augenblickliche Tonauffassung besitzt.
Fassen wir dagegen a’ und a’ als Tonica (und dies wird das nächstliegende
sein, wenn die Tonbewegung mit einem von beiden beginnt), so werden
wir nieht d’ sondern e” als Mitte fassen (also die Paramese), weil nun eben
e° Dominante und damit wichtigster Ton zwischen a’ und a° ist. Dies war
denn auch das Ergebnis ausgedehnter Versuchsreihen über Mitteschätzungen,
die vor einigen Jahren im Leipziger psychologischen Institut ausgeführt wurden.
Sie stimmen mit den Angaben unsres Problems insofern überein, als auch
hier eine Quarte und eine Quinte, die sich zur Octave ergänzten, einander
als gleich geschätzt wurden. Aber den Urteilenden erschien nicht ea = ae'
! Theoretische Ausführungen über diese Fragen finden wir im Altertum allerdings
nicht, sie sind uns als Fragen erst in der neuesten Zeit zum Bewulstsein gekommen. Aber
eine analoge Äulserung der unmittelbaren musikalischen Auffassung wie in den Problemen
finden wir in einer Stelle bei Eusebius von Emesa, von dessen Zeit die der Probleme viel-
leicht nicht zu fern liegt. Er sagt, dals die Mese mit der Hypate und der Nete »kara rnv
Yonyv dvrioraoıw« zusammenklinge (s. den Schluls der S. 5 erwähnten Abhandlung).
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 15
sondern eh=he'. Nach meinem Dafürhalten ist die eine wie die andere
Schätzung nicht unabhängig genug gegenüber den Nachwirkungen der prak-
tischen Musik, und ihr Auseinandergehen ist ein Zeichen dafür.
Daher würde man, wie ich glaube, bei genauer Verfolgung der Sache
im Probl. 19 einen Cirkel entdecken. Nicht darum erscheinen uns die Octaven-
töne als einundderselbe Ton, weil sie von der Mese gleich weit abstehen,
sondern umgekehrt: die scheinbare Gleichheit des Abstandes rührt davon
her, dafs uns die Oetaventöne ihrer musikalischen Bedeutung nach als identisch
gelten: und dies selbst bleibt noch zu erklären.
4. Resonanz. Probl. 24, 42.
Wie dem Merkmal der Verschmelzung, wodurch sich die Oetave für
unsere Wahrnehmung auszeichnet, das einfache Zahlenverhältnis als phy-
sisches Merkmal zur Seite steht. so entspricht der Ähnlichkeit der Octaven-
töne in der Darstellung der Probleme die physikalische Erscheinung der
Resonanz.
Probl.24 fragt, warum, wenn einer die Nete angiebt und dann die
Saite festhält, die Hypate allein zu resoniren scheint (doker avrnyew). Die
Lösung wird in der Verwandtschaft der Töne (Bewegungen) gefunden.
Hinsichtlich der Erscheinung selbst hat Jan bereits das Nötige zur
Erläuterung bemerkt. Es ist ganz richtig beobachtet, dafs bei den Saiten
die tiefere Octave durch die höhere zum Mitschwingen gebracht wird. Aber
sie schwingt dann nicht als Ganzes, sondern in zwei Abteilungen, deren
jede den höheren Ton giebt, so dafs der Ton der tieferen Saite selbst nicht
zu hören ist. Dies scheint dem Verfasser des Problems entgangen zu sein,
wenigstens erwähnt er es nicht; aber das Versehen wäre begreiflich und
ist noch neuerdings Hugo Riemann begegnet”.
Eine feine Beobachtung scheint in dem Ausdruck ovvav&aveodaı an-
gedeutet: das Mitschwingen erlangt in der That erst successive seine volle
Stärke. Ebenso wird physikalisch richtig beigefügt, dafs das Mitschwingen
der übrigen Saiten wegen der Geringfügigkeit unmerklich sei. Es erfolgt
! Vergl. meine Abhandlung »Über Vergleichung von Tondistanzen «, Zeitsehr. f. Psycho-
logie und Physiologie der Sinnesorgane ] (1890), besonders S. 419-427, S. 431(a), S. 459-462.
® Musikalische Syntaxis 1877. Hier eitirt Riemann S.ı23 auch das Zeugnis des
Probl.42. das wir sogleich besprechen (»$doyyov aurns akovovres«). Vergl. über die Frage
der »Untertöne« m. Tonpsych. II 264 f.
16 G. Stumer:
hier nur ein Anfang der Bewegung. Die Erklärung des Mitschwingens
aus der Verwandtschaft oder Ähnlichkeit der Tonbewegungen mufs uns
freilich zu vag erscheinen.
Probl. 42 giebt eine viel weitläufigere Erklärung derselben Erscheinung.
Es beruft sich darauf, dafs die Nete beim Nachlassen (Anyovoa kal uapaı-
vouevn) in die Hypate übergehe. Darunter ist hier offenbar nieht die Ände-
rung der gehörten Tonhöhe, sondern die Reduetion der Bewegung auf die
halbe Geschwindigkeit verstanden‘. »Da wir nun von der festgehaltenen
Nete wissen, dafs sie sich nicht mehr bewegt, die nicht festgehaltene Hy-
pate aber (bewegt) sehen und einen Ton von ihr hören, glauben wir, dafs
die Hypate (von Anfang und allein) ertöne.« Wie es denn solcher Sinnes-
täuschungen noch viele gebe. Ferner gerate durch die Schwingung der
am stärksten gespannten Nete der Steg und durch ihn alle Saiten in einige
Bewegung; während aber die übrigen der Nete fremd seien, sei die der
Hypate ihr verwandt, und so glaubten wir, wenn die (aus der Verlang-
samung der Nete-Bewegung entstehende) Eigenbewegung der Hypate noch
dazu kommt, nun ausschliefslich diese zu hören, während der geringfügige
Klang der anderen dagegen verschwinde.
Auch hier spricht ein scharfer Beobachter, wenn auch die theoreti-
schen Auseinandersetzungen viel zu wünschen übrig lassen.
5. Die Octave allein giebt durch Verdoppelung wieder
eine Consonanz. Probl. 34, 41.
Der Bekker'sche Text von 34 ist ganz unmöglich. Mit Recht schalten
alle Neueren vor den Worten dis di oö&ewv (in der Lösung) ein ov oder
noch besser oVde ein’. Zwischen rerrapov und &oriv lesen Ruelle und
' Wir finden diese physikalisch unhaltbare Vorstellung zuerst im platonischen Timaeus
e.37 p-Soa. Über die Vorgänge bei der Fortpflanzung des Schalles vergl. auch die XI. Sec-
tion der Probleme, Nr. 6 und 20, sowie die von Bussemaker herausgegebenen Probleme Sect. II,
92 (Aristoteles- Ausgabe bei Didot Bd. IV), wo eine scheinbare Erhöhung (ohne spe-
ziellen Bezug auf die Octave) zu erklären versucht wird. Endlich ist Probl. 35° unserer
Section zu vergleichen, welches aber gleichfalls nicht speziell von der Octave, sondern von
kleineren Erhöhungen und Vertiefungen des Tons handelt (s. unten Il, 8, d).
In den erläuternden Sätzen, die der Verfasser des obigen Problems beifügt, sind starke
Texteorruptionen, die mir auch durch alle Vorschläge nicht genügend beseitigt scheinen.
(Über eine Umstellung in dem Satz anuelov de s. u.) In dem Satz ri ev yap, den wir im
Text wörtlich übersetzen, liest Jan gewils richtig or ov statt ob.
® Letzteres ist, wie ich Ruelle entnehme, auch durch drei Handschriften gestützt.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 17
Jan emiuoptiov, eine strengere Gedankenverbindung wird aber hergestellt
durch Bojesen’s Vorschlag, statt &oriv zu lesen: Aoyov Eyeı. Als zulässiger
Aoyos für Consonanzen galten den Pythagoreern, deren Lehre hier mals-
gebend ist, nur der Aoyos moAAanAdeıos ( £ ) und Emiuopıos as Vergl.
Euelides Sect. can. in Jan’s Mus. script. p. 149. 23. Da Quarte und Quinte
verdoppelt keinen solehen Aoyos geben, geben sie nieht Consonanzen.
Im Probl. 41 wird das Nämliche weitläufiger ausgeführt. Hier heifst
es ausdrücklich: oi @akpoı mpos aAAnAovs oVdeva Aoyov E&ovaow' oVre Yap
Emiuopior oVTE MOAXanAdTı0ı EToVTat.
Bemerkenswert ist die ausschliefslich arithmetische Begründung, ohne
jede Bezugnahme auf die Aussagen des Gehörs.
6. Der tiefere Ton der Oetave beherrscht den höheren und ist
Träger des Melos. Probl. 8, ı2, (13,) 49.
Probl. 8: » Warum beherrscht (ioyveı) der tiefe den höheren Ton? —
Etwa weil das Tiefe gröfser ist; denn es gleicht dem stumpfen Winkel, jenes
aber dem spitzen. «
Das Problem schliefst sich wieder an das Lösungsprineip des ihm voran
stehenden (7) an, indem es dieses zum Gegenstand eines neuen Problems
macht, ebenso wie Probl.ı9 gegenüber 18. Im Probl. 7 aber war die Rede von
Hypate und Nete, und so dürfen wir annehmen, dafs auch hier diese beiden
Töne gemeint sind, oder besser gesagt Octaventöne, für welche Hypate
und Nete immer als Beispiel gebraucht werden. Die Erscheinung selbst, von
der der Verfasser spricht, ist allerdings eine allgemeinere, aber sie ist in
der That bei Oetaventönen am auffälligsten und am besten zu beobachten.
Wenn zwei Töne zusammenklingen, hat das Tongemisch als solches eigent-
lich keine Höhe, sondern jeder Ton die seinige. Wenn wir indessen beide Töne
nicht von einander unterscheiden, vielmehr den Klang als Einheit auffassen,
wie dies namentlich bei der Octave wegen ihrer starken Verschmelzung
leicht geschieht, so wird der Klang für unsre Auffassung auch eine gewisse
einheitliche Höhe besitzen, mögen wir sie übrigens in Worten angeben
können oder nicht. Und in solehem Fall neigen wir dazu, den höheren
Ton, wenn er nicht gerade an Stärke überwiegt, gewissermalsen zu ignoriren
und die Höhe des tieferen Tons zugleich als die Höhe des ganzen Klanges
zu nehmen. Aber selbst wenn beide Töne unterschieden werden, verrät
Philos. - histor. Abh. 1896. II]. 3
18 G. Stuner:
sieh in unsrer unmittelbaren sinnlichen Auffassung eine Neigung, dem Zu-
sammenklang als solehem auch eine Höhe zuzuschreiben, obschon wir uns
bei logischer Reflexion sagen mülsten, dafs jeder Bestandteil seine eigene
Höhe hat: und zwar erscheint wiederum auch hier die Höhe des tieferen
Tons zugleich als Höhe des ganzen Klanges. Am auffallendsten ist dies
auch hier bei der Oectave. Ich bitte jeden, dem es um das Verständnis der
Worte aus der Sache zu thun ist, zwei im Octavenverhältnis stehende Stimm-
gabeln auf Resonanzkästen oder zwei gedackte Pfeifen zugleich erklingen zu
lassen, hierauf’ einmal den höheren, ein andermal den tieferen Ton in Weg-
(all zu bringen: im ersten Fall verändert der Klang seine Höhe für die Auf-
fassung nicht, während er im zweiten Fall plötzlich in die höhere Octave
überspringt. Ich habe darüber in der Tonpsychologie Il, 382f. und 410 ver-
handelt und die Erscheinung gleichfalls auf die räumlichen Eigenschaften
unsrer Tonempfindungen zurückgeführt, mit welchen ja auch unsre Metaphern
»tief' und hoch« ebenso wie die griechischen Bapv und 6&V zusammenhängen.
Das Breite, Schwere, Tiefe wird als Grundlage und Träger des Ganzen
(Basis, Bass), das Spitze, Leichte, Hohe als Überbau gefalst. Über die Her-
kunft der räumlichen Vorstellungen selbst s. dort I, 207f., 221f., II, 56f.,
und bei Aristoteles De an. II, 8. p. 420, a, 29'.
Bei harmonisch begleiteten Melodien der gegenwärtigen Musik liegt
allerdings die Melodie meistens in der Höhe und wird auch vom Ohr ge-
wohnheitsmälsig da gesucht. Aber dies ist die Folge der historischen Ent-
wiekelung, der Ausbildung der Mehrstimmigkeit und der Harmonie, und
es läfst sich auch psychologisch unschwer zeigen, wie diese Umstände
dahin drängen mufsten. Gehen wir aber auf die elementaren Erscheinungen
zurück, namentlich auf isolirte Oetaven, so können auch wir den von den
Problemen betonten Zug der sinnlichen Auffassung nur bestätigen.
Der Sinn des Ausdruckes ioyve in unsrem Problem dürfte nach dieser
Beschreibung der Erscheinung selbst wol genügend deutlich sein, obschon
der Ausdruck nicht leicht zu übersetzen ist”. Ich würde sagen »übertönt«,
Jan eitirt Seript. p. 12 auch eine Stelle des Sextus Empiricus (Adv. mus. 40) über
die Metaphern ö&4 und ßapi, die mir entgangen war und zugleich einen interessanten Bei-
trag zur Klangfarbenlehre bei den Alten giebt (dov) uerava kal Neun).
2 Die Übersetzung »beherrscht« hat in der Ausdrucksweise Wundt's für derartige Ver-
hältnisse unsrer Empfindungsinhalte ihr Analogon (»So ist in einem Klang der tiefste Ton
das herrschende Element« Logik? 1, 14). Wundt hat dabei allerdings einen Grundton im Auge,
der zugleich stärker ist als die übrigen Teiltöne.
Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 19
wenn sieh dies nicht vorwiegend auf eine gröfsere Intensität bezöge, die
hier nicht gemeint ist. Der Verfasser selbst hat eine ungewöhnliche Wen-
dung gewählt, da ioyvew mit Acecusativ sonst wol kaum vorkommt".
Probl. 12: » Warum nimmt unter den Saiten die tiefere immer das
Melos?.... Etwa weil das Tiefe grofs, daher stärker ist, und weil das
Kleine im Grofsen eingeschlossen ist. Sind doch auch nach der (Saiten-)
Teilung zwei Netai in der Hypate eingeschlossen. «
Dieses bisher besonders dunkle Problem (s. Bojesen dazu) wird klar,
wenn wir annehmen, dafs darin im Wesentlichen dieselbe Erscheinung wie
im Probl. 8 besprochen wird, wie ja auch die Erklärung dieselbe ist; dafs
also weXos hier nicht zunächst Melodie sondern Tonhöhe bedeutet und
dals von der scheinbaren Tonhöhe bei einem Zusammenklang die Rede ist.
Allerdings bringt «die fragliche Erscheinung mit sich, dafs auch bei einer in
Zusammenklängen (seien es auch nur Oetaven) sich bewegenden Musik die
Melodie vorzugsweise als solehe der tieferen Stimmlage aufgefafst werden
wird, solange nicht etwa noch andere Motive mit- und entgegenwirken.
Und man mag immerhin annehmen, dafs der Verfasser bei Pr. 8 lediglich
den isolirten Zusammenklang als solehen, bei Pr. 12 dagegen den Zusammen-
klang als Glied einer (in Oetavenparallelen ausgeführten) Melodie im Auge
hat. Dadurch ergiebt sich eine Annäherung an die gewöhnliche Deutung
dieser Probleme (s. besonders Westphal, Griech. Harmonik’ 8.36, Aristo-
xenus- Ausgabe AXXIV £.).
Ich habe das Problem in obigem Sinne bereits in m. Tonpsychologie II
390f. ecommentirt und die fragliche Auslegung von ueAos = Tonhöhe dureh
andere Stellen erläutert”. Auch die daselbst erwähnte Formulirung eines
Problems bei Plutarch (Quaest. conv. 1. IX. qu. 8), dessen Lösung fehlt, ist ein
' Eichthal und Reinach vermuten, eben weil ioyvew sonst nur als Verbum neutrum
vorkomme, Z/oyxe. Der Sinn der Fragestellung wäre dann nur: warum ist der höhere Ton
im tieferen enthalten? (ef. Pr. 12.) Aber die Antwort auf diese ohnedies nicht sehr sinnvolle
Frage wäre vollkommen tautologisch: weil der tiefere grösser ist. In der That ein »jeu de
mots«, worin man Frage und Antwort ebensogut vertauschen könnte. Wenn aber ohne Text-
änderung ein besserer Sinn herauskommt, so scheint es mir doch richtiger, anzunehmen, dass
ioyver hier eben, um ein eigentümliches Verhältnis zu bezeichnen, in eigentümlicher Weise
gebraucht ist.
® Vergl. auch noch Alexander Aphrod. im Supplementum Aristotelieum unsrer Aka-
demie II, ı p. 26, 5: ev yüp moıa owvBeoeı neX@v re kal pvßuov 7 äppovia — WO üppovia, wie
auch sonst, Melodie, ueröv aber Töne nach ihren Höhenunterschieden bedeutet: »Die Melodie
besteht in einer gewissen Zusammenfügung von Tonhöhen und Rhythınen.«
20 C. Stumer:
Beweis unsrer Auffassung: dıa TI Tov avubwvwov Önov Kpovonevwv ToV Bapv-
Tepov Yivera TO ueXos. Denn offenbar ist hier von dem gleichzeitigen
Angeben zweier econsonanten Töne die Rede, wie denn auch das Kapitel,
worin dies Problem vorkam, betitelt war: Tis airia ovupwvnoews. Eine
weitere Parallele liefert Plutareh Conjug. praee. 11 (p. 1390): @orep Av
bHoyyoı dvo avupbwvor Anpdocı, Tov Bapvrepov yivera TO UEAOS, OVTW
maca mpagıs &v oikia Owbpovovon MPATTETU NEv Um AuboTepwv Öuovo-
oVvrwv, Emipbaiveı de THV TOV Avöpos Nyeuoviav kat Tpoatperıw — wo im Nach-
satz auch eine hübsche Illustration zu dem ueya und kparepov in der Lösung
unsres Problems gegeben ist. Hienach kann, glaube ich, kein Zweifel
mehr bestehen, dafs (dieses Problem sich inhaltlich mit dem 8. deckt.
Zugleich sieht man aus den beiden letzterwähnten Parallelen, dafs auch
in unsrem Problem gewils vorzugsweise die consonanten Intervalle gemeint
sind, obschon die Fragestellung allgemeiner gehalten ist; und der Schlufs des
Problems zeigt, dafs dem Verfasser in erster Linie die Oetave vorschwebt.
Das Problem hat aber in der überlieferten Fassung noch eine Ein-
schaltung', die der Form nach zur Erläuterung «der Fragestellung bestimmt
ist (av yäap . .), der Sache nach sie aber, wenigstens im vorliegenden Wortlaut,
verdunkelt. Es ist da vom Singen der Paramese zur gespielten Mese die
Rede, also vom Zusammenklang zweier nur um eine Stufe verschiedenen
Töne, in welchem Falle die fragliche Erscheinung kaum irgend deutlich
(aufser unter ganz besonderen Versuchsumständen) zu beobachten ist und
auch praktisch keine Rolle spielt. Wunderlich ist aufserdem, dafs die Er-
läuterung von Stimme und Saite, die Fragestellung aber nur von Saiten
redet. Ich versuchte a. a. OÖ. auch diese Einschaltung so gut es ging zu
commentiren, finde es aber jetzt wahrscheinlich, dafs sie von einem Späteren
herrührt, der das Problem nicht mehr recht verstand. Mögen wir sie indefs
beibehalten oder nieht: jedenfalls empfiehlt sich die Conjeetur Fetis’, die
auch Wagener, Gevaert und Ruelle gutheilsen: Taparırnv statt mapa-
weonv. Dann ist von dem Zusammenklang a — d', also von einer Quarte
die Rede und lautet die ganze Einschaltung: »Denn wenn man die Para-
nete zur gespielten Mese singen mufs, resultirt (für die Auffassung des
Hörenden) nichtsdestoweniger die Mese (TO uerov steht hier entschieden
für 7 ueon, wie Probl. S TO ßBapv kurz nach 7 Bapeta). Wenn aber beide
I äv yüp Öeyren dom Tv mapaneonv adv YıÄ) Ti Eon, Yiveraı To ueoov obbev Nrrov: Eüv de
N v ur „ N ar
Tv ueomv deov aubw, WıNla oV Yiveral,
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 21
(Spieler und Sänger — hier wol audbow für außo zu lesen) die Mese an-
geben sollen, entsteht nieht etwa Instrumentales«. Mit dem letzten Satz will
der Verfasser sagen: der instrumentale Ton überwiegt nicht als solcher:
nicht daran liegt es. dafs die Mese vom Instrument, die Paranete von der
Stimme angegeben wird, denn wenn sie beide denselben Ton geben, hört
man das Instrument nicht vorwiegend. Gleiche Stärke ist natürlich bei dem
Versuch vorausgesetzt'.
Auch die Lösung von Probl.13 ist hier noch anzuziehen, obschon die
Fragestellung uns erst nachher begegnen wird: »Am meisten ist (bei der
Oectave) das Melos beider Töne in beiden, wenn aber nicht, in dem tiefen;
denn er ist grölser.« Der Verfasser meint, wenn man nach der Tonhöhe
eines Zusammenklangs gefragt wird, mu/s man in erster Linie natürlich
sagen, dals er zwei Tonhöhen hat. Will man das aber nicht, so wird man
die Höhe des tieferen Tons angeben.
Endlich gehört hieher Probl. 49; allerdings unter der Voraussetzung,
dafs wir mit Bojesen zweimal uaAakwTrepos in ueAık@repos umändern, welche
Änderung aber ohnedies notwendig ist, wenn nieht das Ganze sich in den
sinnlosesten Tautologien herumdrehen soll. Durch das mehrmalige Vor-
kommen von uaAakov im Text war die Verwechselung dem Absehreiber
nahegelegt. Wir übersetzen also: »Warum liegt unter den die Consonanz be-
wirkenden Tönen in dem tieferen das Melodiemäfsigere (= mehr das Melos)? —
Etwa weil das Melos seiner Natur nach weich und ruhig ist und erst durch
Beimischung des Rhythmus rauh und aufregend wird. Da nun der tiefe
Ton ruhig ist, der hohe aufregend, so dürfte auch von den Tönen, die
das nämliche Melos haben, der tiefere es mehr haben, da ja das Melos
selbst weich ist. «
Wir finden hier die nämliche Erscheinung auf ein anderes Prinzip
zurückgeführt, nicht auf die räumlichen Eigenschaften, sondern auf die
Charakter- oder Klangfarbenunterschiede des hohen und tiefen Tons, denen
' Eichthal und Reinach schlagen wieder durchgreifende Änderung der kranken Stelle
vor; sie lesen: dv yüap rıjv mapaneonv ovayıAy (Ts) Ti) Eon, yivera To eNos olhev jrrov' Eüv
de Tv ueomv (Ti) mapaneon), ob yivera. Sie erwähnen selbst, dals ovuyarao sonst nicht vor-
kommt; dagegen ist wıAös öfters technischer Ausdruck für den Instrumentalton (s. Jan). ovu-
YılAn ist im Übrigen allerdings leicht möglich. Aber zuletzt reicht diese und die übrigen
Correeturen immer noch nicht hin, wie die Ein- und Ausschaltungen zeigen; ganze Wort-
complexe (deyra avaı, deov aupw wı€Xa) müssen als Randglossen hinausgeschafft werden.
22 6. Stumer:
zufolge der tiefe mehr Verwandtschaft hat mit dem tonalen Element der
Melodie, das hier von dem rhythmischen geschieden und speziell als Melos
bezeichnet wird'. Sachlich kann man die Lösung nicht eben besser finden
als die andere, aber sie ist nun vollkommen durchsichtig.
7. Oetaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer
Melodie gebraueht werden. Probl. 18, 39”.
»Warum — fragt Probl. 18 — wird die Oetaven-Consonanz allein
gesungen? Denn diese magadisirt man, keine andere.« Als Grund wird
die schon besprochene Eigentümlichkeit der Octaventöne angegeben, dafs
sie gewilsermassen einen und denselben Ton geben, mögen sie allein oder
zusammen gesungen oder auch einer gesungen und der andere gespielt
werden. »Darum wird die Oetave allein zur Melodie gebraucht (ueAwderraı),
weil die antiphonen Töne den Klang Einer Saite haben«.
Hier handelt es sich nun in der Fragestellung sicher nicht mehr um
einen einzelnen Zusammenklang, sondern um die Ausführung einer Melodie
in Oetavenparallelen, wie dies auch Bojesen bereits erkannt hat. Der Gebrauch
anderer Zusammenklänge war wol auch in der alten Musik nicht schlechthin
ausgeschlossen; eine Andeutung darüber werden wir auch in den Problemen
finden. Aber die Oetave allein durfte in Parallelen gebraucht werden, in-
sofern ganze Melodien damit ausgeführt wurden: wie dies ja ebenso für die
gegenwärtige Musik gilt. Den Grund findet «der Verfasser in der beson-
deren Klangeinheit der Octave.
In der Fragestellung bedarf der erläuternde Zusatz hinsichtlich des
Magadisirens nach Böckh’s Untersuchung über die Magadis (PindariOp.1,258f.)
kaum noch einer Bemerkung. Darunter war eine Lyra mit sehr zahlreichen
(bei Anakreon 20) Saiten verstanden, auf der man eine Melodie in Doppel-
griffen spielen konnte”. Eben dies nun: »die gleichzeitige Ausführung
einer Melodie auf zwei verschiedenen Tonhöhen« wird hier als
! Eine ähnliche Gegenüberstellung und Charakterisirung des rhythmischen und des
melodischen (rein tonalen) Elements in der Melodie finden wir auch bei Aristides Quinti-
lianus, Meib. 43, Jahn 28, ıı: Tıves de Tov maNaıwv Tov uev puhuov üppev dmekakovv, TO de ENos
OmAv. To ev yüap ueAos ävepynrov TE &orı Kal aeynuarıotov, .... 6 de pubuos mAdrrei Te abro Kal
Kıver TETayyuevoS , moıoVvrTos Aöyov Ereyov mpös To moioVuevov.
® Westphal glaubt nicht an Doppelgriffe, weil die Saiten nicht gezupft sondern mit
dem Plektrum geschlagen wurden. Doch scheint mir hierin kein mechanisches Hindernis
zu liegen.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 23
nayaditew bezeiehnet. Unser Satz weist also darauf hin, dafs in solchen
Fällen nur «die Oetave gebraucht wird'.
Als Probl. 39" bezeichne ich mit Jan den mit » uayadılover« beginnenden
Abschnitt des Probl. 39 (p.921,«, 12), welches bis dahin als 39° numerirt
wird. Bereits Gaza hat in seiner Übersetzung diesen Abschnitt als be-
sonderes Problem (40 nach seiner Numerirung) abgetrennt. Allerdings
fehlt nun die Fragestellung. Gaza verwandelte, um sie zu gewinnen,
nayadılovaı de in dıa Ti nayadıifovaı, und so mulste sie ja jedenfalls lauten.
Man könnte wol immerhin den Abschnitt nur als Erläuterung des voran-
gehenden fassen, worin von der Annehmlichkeit der Octave die Rede war.
Auch hier kommt der Verfasser ja zuletzt auf die Annehmlichkeit zu sprechen.
Andrerseits verhalten sich aber öfters, wie wir schon gesehen, zwei aufein-
anderfolgende Probleme so, dafs das folgende einen Punet des voran-
gehenden näher erläutert. Ich ziehe daher die Trennung vor.
Die Hauptsache ist, dafs wir den Inhalt des Abschnittes in sich ge-
nügend verstehen. Abgesehen von einigen corrupten aber weniger wesent-
lichen Stellen scheint mir dies nicht zu schwer:
Man magadisirt in der Oectave, weil die zahlenmälsig geregelten Be-
wegungen, die bei den Consonanzen ebenso wie bei den Rhythmen sich
finden, nur bei der Octave von der Art sind, dafs sie nach Ablauf einer
Periode (karaorpodn) des langsameren Tons zusammentreffen. Jeder ganze
Dals es auch eine Magadisflöte gab, wird von Graf (De Graeeorum veterum re musica,
Marburger Hab. Schrift 1889 S. 281.) bezweifelt. Jedenfalls existirten Doppelflöten von grolsem
Tonumfang, mit deren beiden Teilen man Octavengänge blasen konnte. Böckh eitirt die
Beschreibung von Pollux: &v yaund\ıo abAnnarı dvo auXol 7oav, ovupoviav uiav (so liest Böckh
für ev und bezieht jzuav auf die Octave) droreXovvres, neilwv de arepos, ori Jeilova pn Tov Avöpa
eivaı. Varro sagt (De re rust. ], 2,16, cf. Gevaert Hist. I, 364), die kleinere (linke) der beiden Teil-
tlöten, die die höhere Octave gab, vermähle sich mit der grölseren, indem sie zur Begleitung
diene: eine weitere Bestätigung, dals der tiefere Octaventon als Hauptträger der Tonhöhe,
also auch der ganzen Melodie, gefalst wurde. Das Ehe-Gleichnis hörten wir auch bereits
oben bei Plutarech (S. 20).
! Indem wir dem Ausdruck »Magadisiren« diese allgemeinere Bedeutung beilegen,
erklärt sich das yap in der Problemstellung. Bezieht man das Magadisiren nur auf die Instru-
mentalmusik selbst, so würde yap hier iminerhin etwas nachlässig stehen und etwa noch ein
kal einzuschalten sein. Dann wäre aber auch der Inhalt des Problems etwas eingeschränkter
zu verstehen: »Octavenparallelen sind allein zulässig sowol beim Singen als beim Spielen«.
Dagegen wäre eine Art »Örganum« damit noch nicht ausgeschlossen, bei welchem etwa der
Gesang in Octaven erfolgte, die Flöte oder Lyra aber in der dazwischenliegenden (uarte
(Quinte) spielte, mehr um die Klangfülle zu erhöhen.
24 6. Srumer:
Stofs der Hypate endigt gleichzeitig mit zwei ganzen der Nete (1:2), wäh-
vend bei anderen Consonanzen immer ganze mit halben Perioden zusammen-
treffen (131%, 1%: 2)".
Nun bringt der Verfasser eine Analogie, um zu erläutern, warum man
das Zusammentreffen von solehem, das eine Weile auseinandergegangen, liebt:
»Indem nun (bei den Oectaven) die zwei Bewegungen, nachdem sie
nicht dasselbe gethan haben, doeh in demselben Punet zusammentreffen,
thun sie eine gemeinschaftliche Arbeit, wie die, welche zum Gesang spielen”.
Denn auch diese erfreuen, wenn sie nach vorherigem Auseinandergehen
beider Stimmen zusammentreffen, dureh diesen Absehluls mehr, als sie
vorher dureh die Versehiedenheiten betrübten.«'
Endlich erfolgt die Anwendung dieser Praemissen auf den Fragepuncet,
von dem man ausgegangen war: »Das Magadisiren aber erfolgt aus (in)
entgegengesetzten Tönen. Daher magadisirt man in Octaven«.
» Entgegengesetzt« steht hier, wie schon oben, statt »ungleich an 'Ton-
höhe, niehthomophon«. Unter den niehthomophonen Tönen werden nur
die in Oetavenverhältnissen stehenden zur Ausführung von Melodien ver-
wandt, weil nur bei ihnen jenes Zusammentreffen nach zeitweiliger Trennung
stattfindet, Es ist hier nieht etwa gemeint, dafs beim Magadisiren ein
! Dies der Sinn bis zum Satz reAevrocas. Der Satz vobom de Avıroı, dıabopa (dtarbepovar ?
p p
r5 alodjom, xadamep Öv rols yopois dv TO karadverv jeilov AAAMv Pleyyonivos &arivs ist arg ver-
dorben, Wahrscheinlich soll darin gesagt sein, dals die Ungleichheit bei den Verhältnissen
1:14 und 14:2 sich für unsre Sinneswahrnehmung durch das schärfere Auseinandertreten
der Töne (geringere Verschmelzung) kundgebe, ähnlich wie wenn beim Chorgesang einer am
Sehluls stärker als die anderen singt. Der folgende Satz dagegen bedarf nur einer ganz
geringen Correetur, es muls offenbar statt Ari 68 heilsen: ri) 8.
® Über den Ausdruck bmo mv @onv kpodemw vergl. Gevaert I, 359, 365. Gevaert bezieht
mit Westphal den Ausdruck darauf, dafs die Instrumentalnoten unter die Singnoten kamen.
Dagegen Gral in der vorhin erwähnten Schrift S. 71-75; wo auf Proelus’ Bemerkung ver-
wiesen wird, dals bei den Alten dmo häufig soviel wie wera (zugleich mit) bedeute. Jeden-
falls sind aber die zum Gesang gespielten Töne bei dieser Vortragsweise von den Gesang-
tönen selbst verschieden; dies ergiebt sich aus dem Gegensatz zu dem mpsayopda kpovev
und aus der Vergleichung von Plato's Leg. VII p. 812. In den von Plutarch De mus. 6. 19
angeführten Beispielen liegen sie aber in der That über der Singstimme,
®* Das hier noch folgende ro ro dx dtapopav ro Kowav MNıorov er To dia marav Ylvehaı
ist wieder schwer in sieh zu reimen. Der Sinn scheint: »indem das aus dem Verschiedenen
vosultivende Gemeinschaftliche als angenehmstes empfunden wird«, Aber das &x rov did maov
befremdet, nachdem doch schon ex dapopov stelit, Vielleicht ein späterer Zusatz. Im Übrigen
ist das Sätzehen für den Zusammenhang entbehrlich.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 25
Auseinandergehen der Melodie für die höhere und tiefere Stimme statt-
finde, wie beim Kpovev Uno nv wönv. Dieses war nur als Analogie oder
Gleichnis herangezogen worden. Das Auseinandergehen und Zusammen-
treffen bezieht sieh vielmehr hier nur auf die Töne jedes einzelnen Zu-
sammenklangs während der ganzen Melodie, genauer auf die diesem Zu-
sammenklang zu Grunde liegenden Bewegungen.
Man sieht, dafs die Erklärung eine ziemlich gewundene und in letzter
Instanz statt auf Thatsachen der Sinneswahrnehmung nur auf arithmetische
Verhältnisse der äufseren Bewegungen gegründet ist (vergl. zu Probl. 41).
Das Zusammentreffen zweier Luftbewegungen soll uns besonderes Vergnügen
machen, obsehon wir nichts davon wahrnehmen, sondern nur durch die
Theorie davon wissen. Und sehliefslich trifft doch auch bei der Quinte
der je zweite mit dem dritten, bei der Quarte der je dritte mit dem vierten
Stols zusammen. Die herangezogenen Gleiehnisse — des gesprochenen oder
getanzten, also wahrgenommenen Rhythmus, des Stärkersingens beim Sehlufs
eines Chores, des Verhaltens zweier gleichzeitigen Melodien — hinken siämmt-
lich gerade an der entscheidenden Stelle.
8. Die Octave allein dient zur Antiphonie, Probl. 17, 13.
Diese Lehre gehört zu den bedeutsamsten der Probleme, ist aber noch
nirgends, soviel ich sehe, hinreichend gewürdigt oder auch nur richtig
erkannt worden.
Avrihwvov eivaı, avrıbovew heifst bei den Olassikern teils Wider-
sprechen, teils Antworten', wie ja auch heute die Bedeutungen »Gegen-
satz«, »Wechsel« und » Wiederholung« manchmal ineinander übergehen
und in »Erwiedern« verknüpft sind. Bei Plato bedeutet aber avrıbwveiv
' Vergl. die Lexikographen. Hesychius: dvribova = &vavrıodova, Suidas: dvrıbova vo =
f u IR 7 ENT ee , ; ; z
eyyvopnat oı (spondeo tibi). ompaiver de Kal avrı\eyo Fol. Stephanus: avrıboven contra SONO,
obloquor .„.. repeto (mit Belegstellen). ävripovos contrariam vocem edens.
Chappell sucht in seiner History of Musie (XXIVf., ırf.) den Beweis zu führen, dals
ävri im musikalischen Gebrauche überall soviel als »mit« »begleitend« bedeute, und glaubt in
der gegenteiligen Meinung eine Hauptquelle von irrtümlichen Auffassungen über griechische
Musik zu finden. Aber seine Beweise überzeugen nieht im Geringsten. Unter anderem führt
er die Stelle aus (Pseudo-) Demetrius Phalereus m. eppmveias ec. 71 an, wo es heilst, dals die
ägyptischen Priester die sieben Vocale der Reihe naclı singen, kal dvri auAoV kal ävri kıdapas rov
’ ‘ Li ’ ’ “ ” ’ ’ . * ” . * .
Ypannarov Tovrov 6 xos Akoverau vm ehcbovias. Aber die Stelle ist schwierig und hat eine
Menge von Auslegungen hervorgerufen. Ich fasse sie so auf: die gesungenen Vocale besitzen
Philos. - histor, Abh. 1896. III. 4
26 GC. Stumer:
stets Widersprechen, abwechselnd mit dtapdwvew. Avribwvos kommt nur
in den Leges vor und zwar einmal = entgegengesetzt (p.717,b), einmal
im speziell-musikalischen Sinne = dissonant, als Gegensatz zu ovubwvos
(p. 8ı2,d). Sonst gebraucht Plato dafür dudbwvos.' In den echten Schrif-
ten des Aristoteles findet sich das Wort nieht. Als technischer Ausdruck
erscheint es, abgesehen von den Problemen, erst im 1.—2. Jahrhundert nach
Chr. (s.u. 8. 31£.).
In den Problemen nun hat es offenbar eine völlig andere Bedeu-
tung als bei Plato, da ja gerade die stärkste Consonanz, die Octave, als
antiphon bezeichnet wird. Andrerseits würde man aber auch fehlgehen,
wollte man annehmen (wie dies doch allgemein der Fall zu sein scheint’),
dass »Oetavenintervall« und »antiphones Intervall« hier nur zwei Ausdrücke
für einen identischen Begriff, für einunddieselbe 'Thatsache wären. Denn
welchen Sinn hätte es in diesem Fall, mit Probl. ı7 zu fragen, warum man
in der Quinte nieht antiphon singe (also nach obiger Auffassung: warum
man in der Quinte nicht Octaven singe!), oder mit Probl.13, warum bei der
Oetave der tiefere Ton dem höheren antiphon sei, aber nicht umgekehrt?
Soll der tiefere die Oetave des höheren und gleichwol dieser nicht die
Octave des tieferen sein?
Wol wird öfters der Ausdruck » Antiphones (Intervall)« für den Aus-
(ruck Diapason gesetzt, z. B. Probl. 18 und 19 (s. o.). Aber dies kann auch
geschehen, wo es sich um ceonvertible Begriffe handelt, die darum nicht
identisch zu sein brauchen. Und so ist es hier. Antiphon zu sein, wird
als eine Eigentümlichkeit der Octave hingestellt (ftov in der Sprache der
aristotelischen Logik), als charakteristisches Folge-Merkmal ihres Begriffes,
das aber nicht als essentielles Merkmal darin eingeschlossen ist.
einen solchen Wollaut, dals sie selbst gegen die Flöte und gegen die Kithara gehört werden,
d.h. das Ohr mehr anziehen als diese gleichzeitig ertönenden Instrumente, Der Verfasser
sprieht nämlich ec. 68— 77 von der avyxpovas, d.h. der raschen Verbindung zweier Vocale
im Sprechen, z. B. 7«Xos statt 7Aros, und findet darin etwas besonders Musikalisches.
! Man hat dureh Hineintragung der in den Problemen und in der späteren Litteratur
vorliegenden Bedeutung von ävribovos in die platonische Stelle sich ganz unnötige Schwierig-
keiten bereitet. Vergl. zu der Stelle der Leges die S. 5 erwähnte Abhandlung, 8.18 f.
? Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet ein ungenannter Freund Bojesens, welchen
die unten zu besprechenden Pr. 16—18 auf eine ähnliche Vermutung brachten, wie sie sich
mir als unumgängliche Voraussetzung des Verständnisses aufdrängte (Bojesen |. ec. p. 86: anti-
phoniüs hoe quidem loco et probl. sequ. signifieari melodias a choris per diapason vieissim
Jdecantatas).
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 27
Welche Eigentümlichkeit also ist hier gemeint? Es scheint mir ein
Verständnis der einschlägigen Probleme nur möglich, wenn wir voraus-
setzen, dafs Antiphonie im Sinne ihres Sprachgebrauches bedeutet: die
Wiederholung einer Melodie auf einer anderen Tonhöhe!. Anti-
phon werden die Töne genannt, die bei einer solehen Wiederholung
den früheren Tönen entsprechen. Und es wird behauptet, dafs zu
soleher Wiederholung nur die Octave geeignet sei: ebenso wie sie allein
zu Parallelen bei gleichzeitigem Singen derselben Melodie und zum Maga-
disiren geeignet ist”.
Probl. 17: » Warum singt man die Quinte” nicht antiphon? Etwa weil
hier der eine econsonante Ton mit dem anderen" nicht identisch ist, wie
bei der Octave. Denn dort ist der tiefere Intervallton das Analoge, was
der höhere in der Höhe ist. Er ist so gewissermalsen zugleich derselbe
und ein anderer. Die Intervalltöne bei der Quinte und Quarte verhalten
sich nicht so: daher erscheint (se. wenn die Melodie in einem Quinten-
oder Quartenintervall wiederholt wird) nieht der Ton der antiphonen Stimme,
denn es ist nicht der nämliche. «
Das hier wörtlich übersetzte Problem bedarf nach dem Vorausge-
schiekten keiner weiteren Erläuterung mehr.
Eine Stelle des oben besprochenen Probl. 42 ist wol ebenfalls auf die
Antiphonie in dem hier definirten Sinne zu beziehen. Der Verfasser sagt,
die Nete versetze die Hypate in Mitschwingung, und erklärt es daraus, dafs
die Nete sich beim Nachlassen in die Hypate verwandle: wobei er die
physikalischen Bewegungen im Auge hat. Ein Zeichen dafür findet er
aber auch in der Sinnesempfindung selbst: onuetov de (onuetov im aristo-
telischen Sinne, nieht Beweis, sondern eine mit der Behauptung überein-
! ävrıdwvia und dvrıboveiv selbst, die Bezeichnungen für das Abstraetum des Antipho-
nirens, kommen allerdings nicht in den Problemen vor; wir müssen aber zuerst diesen Be-
griff definiren, um das Coneretum avridovos zu verstehen.
2 Über Probl. 39%, wo scheinbar das Antiphone geradezu durch die Octave definirt
wird (»das Antiphone ist ein Symphones in der Octave«) s. unter III, 5.
° Hier ist statt evre natürlich mindestens da mevre zu lesen, besser ev T@ dia mevre
(vergl. im folgenden Satz &v ro da raoov). In der Lösung wird aber auch die (Quarte er-
wähnt, und in der That gehört sie als dritte Consonanz auch in die Problemstellung. Des-
halb schlägt Bonitz (Index Arist. sub ävribovos) vor: ev TO dia reroapwov 7 dia mevre. Doch
mag immerhin der Verfasser in der Frage die Quinte als Vertreterin dieser beiden Conso-
nanzen allein genannt haben.
* Hier lese ich mit Jan 77 ovupovo statt 7 ovubovia.
4*
28 C. Stuner:
stimmende Folgeerscheinung) TO amo rns ümarns nv vearnv Övvaodaı ade‘
ws yüp ovons aurns WOns vearns nv Önowörnra Aaußavovaw am aurns.
Dafs es hier umgekehrt heifsen muls: dro Tns vearns Tyv Umarnv, er-
giebt sich erstlich aus der unmittelbar vorhergehenden Fragestellung. wo
angegeben ist, dafs die Hypate auf die Nete resonire, zweitens aus der
Begründung (0 Y&p...), wonach man von der Nete die Ähnlichkeit ab-
nimmt, d. h. die Hypate nach ihrer Ähnlichkeit mit der Nete intonirt.
Hiemit ist aber wol nicht das Anstimmen eines einzelnen Tons nach einem
einzelnen gemeint, sondern das Anstimmen einer Melodie nach dem Schlufs-
ton einer vorhergesungenen, in der Weise der Antiphonie. Es scheint hie-
bei vorausgesetzt zu sein. dafs eine Melodie zuerst in einer höheren, dann
in einer tieferen Octave gesungen wurde, ferner, dafs sie von der Hypate
ausging und zu ihr zurückkehrte. Die Hypate der oberen Octave, mit
welcher die Melodie endigte, war dann zugleich Nete der tieferen Oetave.
Nach ihr wurde leicht die Hypate der tieferen Oetave intonirt, mit wel-
cher dann die Melodie wieder anfıng. @s yYap oVons aurns (Tns) @öns
vedtys kann ich nur so verstehen: »da sie zugleich der letzte Ton des
Liedes ist«.
Die hier vorausgesetzte Melodiebewegung nach oben und wieder zu-
rück konnte selbstverständlich nicht als allgemeine Regel gelten: vielmehr
mögen manche Melodien sich auch sogleich von oben nach unten bewegt
haben (vgl. zu Pr. 33), in welchem Falle natürlich die Intonation noch leichter
war, da man den Schlufston selbst als Ausgangston der Wiederholung benutzen
konnte. Der Verfasser meint also nur: wo Melodien die obige Structur
haben, da finden wir in der Leichtigkeit der Intonation, infolge der Ähn-
lichkeit der Töne, ein Zeichen für die behauptete physikalische Ähnlich-
keit, durch welche die Nete die Hypate in Bewegung setzt (TN öuoworyTı
TNv Ümarnv 1 vorn Öokei Kıvew).
Probl. 13 spricht wieder ausdrücklich von der Antiphonie: » Warum
ist bei der Oectave der tiefere Ton antiphon dem höheren, aber nicht um-
gekehrt? — Etwa weil das Melos am meisten zwar in beiden Tönen zugleich
ist, wenn (sofern) aber nicht, im tieferen; denn er ist grölser«.
Aus der Lösung ersehen wir, dafs hier vorausgesetzt wird, die Melodie
werde zuerst zweistimmig in Octavenparallelen gesungen (s.o. S. 22). Wenn
dann eine antiphonirende Wiederholung stattfinden soll, so erfolgt sie nach
Angabe des Problems in der tieferen Octave allein. Denn beim Zusammen-
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 29
singen war die Tonhöhe zwar eigentlich sowol durch die höhere wie durch
die tiefere Stimme gegeben (und insofern findet in solchem Fall bei ein-
stimmiger Wiederholung doch Veränderung der Tonhöhe, also Antiphonie
Statt), aber sofern man von Einer Tonhöhe reden will, liegt sie in der
tieferen Stimme; gemäls den früheren Erörterungen (S. 17 f.). Wegen dieses
Vorwiegens wird, um den Eindruck der Wiederholung zu erzielen, die
tiefere der beiden Octaven dazu benützt.
Auch wenn in Probl. 7, um die Beibehaltung der Hypate in der
ztonigen Leiter zu rechtfertigen, gesagt wird, dafs sie beim Zusammen-
klang die Nete beherrscht und darum auch »mehr als diese das Antiphone
hergiebt« (uaAXov 7 Umarn ameöldov TO avripwvov 7 n vorn), so stimmt
dies genau mit dem eben Erörterten zusammen.
Wir ersehen hieraus also zugleich einen neuen Zug der griechischen
Musikpraxis. Auch andere Probleme, die sich auf die Gefühlswirkung des
Antiphonirens beziehen, werden uns auf Grund dieser Auslegungen ver-
ständlich und liefern dadurch weitere Bestätigungen, s. u. II. 5.
Abstraet gesprochen gab es ja von dem aufgestellten Begriff des Anti-
phonirens aus noch verschiedene Möglichkeiten: die Melodie konnte zuerst
in der höheren, dann in der tieferen Octave vorgetragen werden, oder um-
gekehrt, oder sie konnte zuerst in Octavenparallelen gesungen und dann
in der höheren oder in der tieferen der beiden Oetaven wiederholt werden
u.s.f. In Wirklichkeit scheint nach dem, was wir soeben hörten und noch
weiter hören werden, der erste und namentlich der letzte dieser Fälle vor-
zugsweise vorgekommen zu sein. Der letzte wird in den Problemen meistens
vorausgesetzt, wenn von Antiphonie die Rede ist. Und es erklärt sich dies
genugsam aus der uralten Sitte, dafs das Lied durch Instrumente (wie die
Magadis) vorher in Octavengängen gespielt und dann durch Männerstimmen
unisono in der tieferen der beiden Octaven gesungen wurde (s. sogleich
unten). Von da aus wird die Vortragsweise auch auf den Gesang selbst
übergegangen sein.
Ist der aufgestellte Begriff der Antiphonie durch den Wortlaut der
Probleme, wie ich hoffe, bereits hinreichend bestätigt, so wollen wir nun
auch auf die Zeugnisse hinweisen, die sich aus der Praxis und der Theorie
des Altertums sonst über diese musikalische Vortragsweise beibringen lassen.
Die älteste, aber leider zugleich fast die einzige Andeutung antiphoner
Vortragsweise aus der früheren Zeit liegt in zwei kurzen bei Athenaeus er-
30 C. STUMer:
haltenen Fragmenten Pindar’s'. Pindar bezeichnete die Magadis als WaAuoös
avripdoyyos, weil man darauf ebenso wie beim Zusammensingen der Männer
und Knaben (Frauen) gleichzeitig Octaven erzeugen könne”. Sodann sagen
einige Verse, dafs Terpander das Barbiton gefunden habe, indem er zuerst
bei den Gastmählern der Lyder den waAuos avribdoyyos der Pektis gehört
habe (welehe nach Athenaeus’ Ansicht mit der Magadis zusammenfällt)’.
Böckh übersetzt: pulsationem respondentem altae pectidis audiens. Und
es ist in der That kaum anders anzunehmen, als dafs es sich hiebei um
eine Abwechselung des zuerst allein in Octaven spielenden Instrumentes
mit dem einstimmigen (auch wol unisono begleiteten) Gesang der Tafelnden
handelte. Das Instrument mochte die Melodie, wie es auch bei unsren
Symposien geschieht, als Vor- und Zwischenspiel vortragen.
Anakreon sagt in der schönen Ode auf seine Leier: Kayo uev Idov
adrovs HparXeovs‘ Aupn de "Epwras avreboveı. Seinem inneren Ohr tönt
Heldengesang vor, aber die Leier tönt (wie ein verwandeltes Echo) Liebes-
gesang entgegen. Es ist hier entschieden das Verhältnis des » Gegengesangs«,
das dem Ausdruck zu Grunde liegt, nur natürlich nicht gerade in Octaven.
Die Entgegnung erfolgt nicht in anderer Tonhöhe sondern sozusagen in
anderer Klangfarbe. Immerhin ein Analogon.
Eine Hindeutung auf das Antiphoniren in älterer Zeit möchte ich auch
in der Bezeichnung der Oetaventöne als »entgegengesetzter« (Evavrioı) er-
blicken, die sich bei Heraklit und den Pythagoreern findet und in den
Problemen nachwirkt (vgl. o. S. 6). Denn der Ursprung dieser Bezeich-
nung kann wol nur in dem Umstande liegen, dafs die Octave zum Gegen-
singen eines Männer- und eines Knaben- oder Frauenchores benützt wurde,
wobei die nach Alter oder Geschlecht »entgegengesetzten« Chöre sieh na-
türlich auch räumlich gegenüberstanden. An sich sind die Töne der
Octave einander doch nichts weniger als entgegengesetzt.
! Böckh Pindari op. I, 2 S.617; dazu I, 2 S. 262. Christ's Pindarausgabe S. 222,
Die Stellen bei Athenaeus XIV p. 6355 und d.
Ser tu aeg 0 iR N a: N
TV nayaoıv ovonaTavTa Var uov avripdoyyov, dia To 6vo yevov apa Kal ota TaOwVv eyeiv
ryv ovvodiav avöpav te kal maldov (so Böckh statt ywvarov). Hier ist yevav, wie Böckh zweifel-
los richtig bemerkt, nicht auf die Tongeschlechter (diatonisches ete.) sondern auf die zwei
Gattungen der Töne, hohe und tiefe, zu deuten.
3 Tov pa Tepmavöpos moß’ ö Akopıos eipe mp@ros &v deimvorm Avcov waAuov avribdoyyov
5 = S
IvrnNas akovov TNKTidos.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 31
Sonst ist allerdings wol kaum eine Spur des Antiphonirens aus der
älteren griechischen Zeit in der Litteratur aufzutreiben. Aber die Geptlogen-
heiten des antiken Chorgesanges stimmen sehr wol mit dem, was wir den
Problemen entnehmen, überein. Wir wissen, dafs Männer und Knaben
(Pr. 39°) oder Jünglinge und Jungfrauen sich an den Chorgesängen beteiligten,
dafs auch zwei Chöre neben einander auftraten, dafs zwischen beiden Chören
sowie zwischen einem Chor und seinem Leiter Wechselgesänge stattfanden.
Solche Gelegenheiten bildeten neben der Instrumentalbegleitung die natür-
lichen Quellen antiphoner Wiederholungen.
Wie kommt es aber, dafs die Theoretiker bis zu den Problemen diese
Vortragsweise gänzlich ignoriren? — Ihr Stillschweigen ist nicht so un-
begreiflich. Dafs man wiederholte, und zwar in der Octave, mochte ihnen
selbstverständlich und nicht besonderer Erklärung bedürftig scheinen. Geht
es doch heute noch Vielen so; ebenso wie man auch den einheitlichen
Eindruck der Oetave beim Zusammenklang ohne besondere Verwunderung
hinnimmt. In den Problemen werden überhaupt zum ersten Male die
Eigentümlichkeiten der Oetave zum Gegenstand des Fragens und Erklärens
gemacht, und so erfahren wir denn auch hier zum erstenmal Bestimmtes
und Unzweideutiges über die praktische Übung des Antiphonirens: aber
selbst hier wird die Sache so sehr als bekannt vorausgesetzt, dals wir ihr
Dasein und Wesen erst durch Combination der Stellen erschliefsen können.
Abgesehen von den Problemen finden wir Angaben über diese Vor-
tragsweise und zugleich ein Zeugnis für die technisch-musikalische Ver-
wendung des Ausdrucks Antiphonie zuerst bei Philo Judaeus (1. Jahrh.
nach Chr.), wo er den Gesang der Therapeuten nach ihren gemeinschaft-
lichen Mahlzeiten beschreibt. Dabei wechselte ein Gesang, der von Männern
und Frauen in Oectavenparallelen vorgetragen wurde, mit der Absingung
derselben Melodie von Männern oder Frauen allein'. Philo deutet hier
! De vita contempl. $ ro—ıı (Leipziger Ausg. der Werke 1828 Bd. V S. 321, Frank-
furter Ausg. S. 901-902: rj uev avvnyoüvres, Ti) de Kal avrıdovois apjpoviaıs (appovia
hier wie sonst = Melodie) Emiyerpovoyovvres Kal Emopxovuevor ..... TouTw uaNıora dmeıkoviodeis
ö rov Öepamevrov kal Hepamevrpioov, jeNeow avrıjyoıs kaı avrıbovos mpos Bapvv 7xov Tov dvopmv
6 yuvarkav 6EVS avarpıyanevos (muls sicher heilsen avakıpvanevos), Evapuoviov avuboviav amoreNei Kal
novoıkyv Ovros. Zu avakıpvanevos vgl. Jamblichus In Nieomachi arithmeticam introd. ed.
Pistelli p.ı195 Chrysostomus Hom. in Ps.1ı50 (beide Stellen in meiner S. 5 erwähnten Ab-
handlung. Daselhbst am Schlusse über evapuovios ovubovia). — Die Beschreibung, die Philo
von dem ganzen Arrangement giebt, erinnert sehr an das altgriechische Chorwesen.
32 G. Stumer:
auf den Gesang von Moses und Mirjam mit dem Volke, und es ist wol
kein Zweifel, dafs wirklich in der althebräischen Musik das Antiphoniren |
in ähnlicher Weise im Gebrauch war. Die syrischen Christen werden es
sowol aus dieser wie aus der hellenischen Quelle übernommen haben: und
schliefslich gehen ja beide Quellen auf Eine, auf die orientalische Musik,
zurück, wie das Wort Pindar’s andeutet, dafs Terpander den waAuos avri-
phoyyos bei den Lydern vorgefunden habe.
Aus der griechischen Kirche, speziell aus Antiochia, kam der antiphone
Gesang durch Ambrosius in die lateinische'. Später wurde allerdings auch
die homophone Wiederholung beim Psalliren der Mönche und noch andere
Modifieationen mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet (Antiphon = einleiten-
der Vorgesang ohne melodische Identität mit dem Folgenden, darum auch
gelegentlich von Anteponere hergeleitet).
So dienen die Probleme, die dunklen Ursprünge des antiphonischen
Gesanges, der in der christlichen Musik eine so fundamentale Rolle spielen
sollte, besser als bisher aufzuhellen. Für die Aufnahme meiner Inter-
pretation ist es aber vielleicht nützlich, wenn ich hinzufüge, dafs sie nicht
etwa durch solche Rücksichten beeinflulst war. Sie ist mir vielmehr aus-
schliefslieh durch das Bedürfnis des Verständnisses der Probleme selbst
aufgedrängt worden, zu einer Zeit, als ich diese noch für echt aristotelisch
hielt und an mögliche Beziehungen zum christlichen Antiphonengesang
absolut nicht dachte.
Nun wird uns aber auch der Sprachgebrauch und die Lehre der grie-
chischen Theoretiker der späteren Jahrhunderte verständlich, namentlich
wenn wir die Entstehung der Problemensammlung selbst an den Anfang
unserer Zeitrechnung verlegen. Der Ausdruck avrißwvos erscheint nämlich
! S. Gevaert Les Origines du Chant liturgique de l’Eglise latine (1890). La Melopee
antique dans le Chant de l’Eglise latine (1895) p. 83 f.
Aus der Urzeit des Christentums koımmt noch die Stelle bei Plinius in Betracht, wo
er über die Christen an Trajan schreibt (Ep. 96 al. 97): »essent soliti ... carmen deo dicere
secum invicem«. Ferner eine Stelle in dem Bruchstück des Evangeliums und der Apokalypse
des Petrus (Harnack, Texte u. Untersuchungen zur altchristl. Litteraturgeschichte Bd. IX,
Heft 2 S.18), auf welche mich Hr. Harnack aufmerksam macht: »jua dovj Tov kupıov Heov
av(r)evbnnovv ebbpamwonevon Ev Ekeivo To Tomo«. Hier ist allerdings dvrevonnovv für avevbnjLovv
eine Conjeetur Preuschen’s, hat aber gewils viel für sich. Dals speciell die Octave bei diesen
Wechselgesängen eine Rolle spielte, liefse sich aus den beiden Stellen für sich allein freilich
nicht entnehmen.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 33
seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. öfters in technisch-musikalischer Verwen-
dung: und zwar wird das Antiphone ohne Weiteres als ein besonderer Fall
des Symphonen gefafst: die Consonanz der Oetave (und Doppeloctave) wird
damit bezeichnet. So beiläufig bei Plutarch' (wo wenigstens aller Wahr-
scheinliehkeit nach die Oetave gemeint, avribova aber zugleich noch deutlich
im Sinne der »Gegentöne« verstanden ist, die auf merkwürdige Weise beim
Zusammenklang ähnlich würden); und ganz ausdrücklich bei Theo v.Smyrna,
bez. dem von ihm ausgeschriebenen Thrasyll (Theo ed. Hiller p. 48).
Wir können wol verstehen, wie aus der Bedeutung des Wortes
in den Problemen sich dieser Sprachgebrauch entwickeln konnte; ist er
doch dort selbst schon an einzelnen Stellen vorgebildet. Der Name, der
zuerst eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit der Octave anzeigte, ist auf
die Octave selbst übergegangen; wie Ähnliches ja ‚so oft in der Sprach-
geschichte vorkommt. Auch bei Theo weist die Wendung ra kat avri-
Povov avubwva (P. 48. 21, vgl. 51, 14-15 Tyv auryv ... ovubwviav kat
avribovov) noch deutlich auf diesen Ursprung hin. Theo selbst freilich
begründet die Subsumtion des Antiphonen unter das Symphone durch eine
niehtssagende Tautologie”; aber wiederum sieht man aus seiner Äufserung,
dafs der Begriff des avrıreiuevov noch dem des avribovov anhaftet. Auch
Porphyrius überlegt sich die Motive für die Übertragung dieses Ausdrucks
auf die Octave und verweist auf Fälle wie avrieos für ivoeos’. Übrigens
gebraucht er (und ebenso Gaudentius) den Ausdruck nur ganz vorüber-
gehend. Bei den byzantinischen Musikschriftstellern tritt avribwvos in
dieser Verwendung mehr in den Vordergrund.
II. Von den Leitern und den Gesängen.
ı. Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge.
Er28%.22, 2820445 497%
Diese terminologischen Probleme finden am besten als Einleitung zu
Eyeı TO ovubovov, ÖEurnor kai Bapvrnow Adumoyenws ÖnoLdrnTos Eyyıvonevns.
- p- 48, 21: Ta Te Yap kart avridwvov vubova EoTIv, Eemeidav TO avrıkeinevov 7 oEurnm
Papos ovubovn.
3 Commentar zur ptolemaeischen Harmonik in Wallis’ Op. math. III, p.277.
Philos. -histor. Abh. 1896. III. 5
34 G, Srumer:
Probl, 28 untersucht den Ursprung des Ausdrucks vouos für bestimmte
Gesänge und führt ihn wunderlich genug auf den Umstand zurück, dafs
man vor der Kenntnis der Bucehstabenschrift die Gesetze gesungen habe,
um sie nieht zu vergessen.
Probl. 32 handelt vom Ursprung des Ausdrucks dia mao@v statt dl
ökto (Oetave), wie nach Analogie von dia mevre und dıa Terodpwv zu
erwarten wäre, Als Grund wird angegeben, dafs Terpander's Lyra, worin
die Trite fehlte, in 7 Tönen das Ganze der 'Tonreihe (einschliefslich der
Nete) darstellte.
Probl. 25 und 44 untersuchen die Herkunft des Ausdrucks ueon, «a
doch die Achtzahl (der Töne von der Nete bis zur Ilypate) keine Mitte
besitze. In beiden Problemen wird zunächst wörtlich «dieselbe Lösung
gegeben: dafs die alte Leiter eben nur 7 "Töne umfalste.
Pr. 44! fügt aber, mit dieser einfachen historischen Erklärung nicht
zufrieden, noch eine rationelle Erwägung bei, aus welcher das Reeht hervor-
gehen soll, aueh jetzt, in der 8-tonigen (7-stufigen) Leiter die sog. Mese
mit eben diesem Namen zu bezeiehnen. Die Erwägung läuft darauf hinaus,
dafs man Mese hier in einem weiteren und nicht blos mathematischen Sinn
verstehen mufs; ähnlieh wie auch wir z. B. von einem Verkehrseentrum
oder vom Gravitationsmittelpunet reden. Ks handelt sich in solchen Fällen
um einen innerhalb gewisser Grenzpunete liegenden Teil, der den übrigen
gegenüber in irgend einer Weise dynamisch, der Funetion nach ausge-
zeichnet ist, Er wird vielfach in der Nähe der geometrischen Mitte liegen
(wo überhaupt von einer solehen gesprochen werden kann), braucht aber
nicht genau damit zusammenzufällen. Diese Erwägung ist unnötigerweise
in eine schulmälfsig-syllogistische Form gekleidet und das Verständnis da-
dureh nur erschwert, doch wird es uns nun fast ohne Textänderungen
möglich sein”.
' In dessen Fragestellung man mit Bojesen rov zov emra streichen muls,
PER BERN! Mr An f nee ge v a 11 04
dr dmadı) rov ueraf) rov ünpeov TO eaov uovov Apyı) Tis damv (dom yap rov [eis] Aare-
pov rov Ädxpov vordvrov dv run danrjuarı dva ulrov Ov apyı)), root dara jeror, mel ö deryara
ee j \ s , , rer f re i \ Add le:
‚ev [statt ueoov| vonv apnovias vearı Kal vmarı, TOovrwv de ava ueaov ol Aoımoi pdoyyon, vn
don Kakovudn udn dpyı) dar Qardpov rerpaydpdov, Örxalos urn xaxeira. Tov Yap nerafı Tıvav
dxpov rd udoov v Apyı) advovw, Unter den zahlreichen Veränderungen des Bekker'schen Textes,
(die vorgeschlagen wurden, scheinen mir nur die beiden hier eingefügten notwendig (eis mit
Gaza und Bojesen einfügen, zaerov mit Jan durch zev ersetzen), alle übrigen vielmehr störend,
Zu äva iorov = uerafb s, Index Aristotelicus p. 457, @& 51,
Die psendo-aristotelischen Probleme über Musik. 35
Zunächst das Prineip: »Da unter dem, was zwischen zwei Endpuncten
liegt, das Mittlere allein eine Art apxyn ist (denn es giebt unter dem, was
in irgendeinem Zwischenraum nach den beiden Grenzpuneten hinstrebt,
ein gegen die Mitte hin liegendes, das apyn ist), so wird dieses (nämlich
die apyn) Mittelpunet sein«. Wenn man das uovov im Vordersatz beachtet,
wird man hierin zwar eine sehr umständliche Ausdrucksweise, aber nicht
eine Tautologie finden. Der Nachsatz ist in der That eine Folgerung aus
dem Vordersatz: Da die apxn immer gegen die Mitte hin liegt, so bezeichnet
man sie nicht mit Unrecht als ueoov. Es soll eben der weitere Sprach-
gebrauch bezüglich uerov gerechtfertigt werden. Freilich würde man statt
»immer« (uovov) richtiger sagen »meistens« oder nur »vielfach«; und dies
würde zur Erklärung des Sprachgebrauchs hinreichen. Ausdrücke wie
Verkehrscentrum sind in der That darum entstanden, weil das in irgend
einer Beziehung »Herrschende« doch eben vielfach gegen die Mitte des
Ganzen hin liegt.
Nun wird dieses allgemeine Prineip (das an sich auf mechanische,
aesthetische, moralische Verhältnisse u. s. f. ebensowol zutrifft), auf die Musik
angewandt. Es giebt auch eine musikalische Mitte, die aber wiederum
nicht mit der mathematischen zusammenzufallen braucht: »Da nun die
Endpuncte der Saitenstimmung (Leiter) Nete und Hypate sind, die übrigen
Töne aber gegen die Mitte dieser beiden hin liegen, und unter ihnen die
sogenannte Mese allein apyn für jedes Tetrachord (auch im »unverbundenen
System« und der 8-tonigen Leiter) ist, so wird sie mit Recht Mese genannt. «
Der Sehlufssatz bringt dann nur noch einmal den Ausgangspunet der Er-
wägung in Erinnerung und könnte wol eine Randglosse sein.
Wir sehen leicht, dafs dieser Erwägung der nämliche Gedanke zu
Grunde liegt, wie der oben besprochenen Behauptung (S.ı2), dafs die
Hypate und Nete von der Mese scheinbar gleiehweit abstehen. Ich habe
selbst seinerzeit aus dem Begriff der »musikalischen Mitte« die Ergebnisse
der oben erwähnten experimentellen »Mitteschätzungen« hergeleitet. Die
Quinte ist für uns die musikalische Mitte der Oetave, die grofse Terz die
musikalische Mitte der Quinte. Beides ist nur dynamisch, der musikalischen
Bedeutung nach, nieht mathematisch zu verstehen.
Dafs hier das unverbundene System e — e' gemeint ist, ist in dem
Problem nicht direet ausgesprochen, dürfte aber in der Fragestellung liegen,
wo von den 8 Tönen die Rede ist. An sich könnte die nämliche Erwä-
19)
36 GC. Stunmerr:
gung für das verbundene System und die alte Leiter e — d' platzgreifen.
Aber erst gegenüber der 8-tonigen entsteht überhaupt die Paradoxie, die
gelöst werden soll.
Am Schlusse des Pr. 47 ist von der Benennung Mese wiederum die
Rede. Sie wird daraus abgeleitet, dafs dieser Ton das Ende des oberen
und den Anfang des unteren Tetrachords bildete und (darum) ein mitt-
leres Verhältnis zu den Endpuneten hatte. Hier ist das verbundene System
vorausgesetzt, worin die Mese auch als avvabn bezeichnet wurde. Schon
in der Fragestellung wird ein Verfahren der apyaioı als Gegenstand des Pro-
blems bezeichnet (s. die sogleich folgende Besprechung dieses Problems),
während Pr. 44 in seinem zweiten Teil den gegenwärtigen Sprachgebrauch
vom gegenwärtigen Standpunct rechtfertigen will.
Diese Probleme sind von sachlichem Interesse insofern, als sie uns auf
die weiteren Betrachtungen über «ie musikalische Bedeutung der Mese vor-
bereiten.
2. Bildung der siebensaitigen Leitern. Pr.7, 47.
Diese beiden Probleme stellen gleichlautend die Frage, » warum die
Vorfahren, als sie die Leitern 7-saitig gestalteten, die Ilypate darin
lielsen, nicht aber die Nete?« Aber beidemale wird sogleich die in der
Frage vorausgesetzte Thatsache selbst bezweifelt oder corrigirt. Pr. 7: »Oder
blieben die beiden Töne und wurde die Trite weggenommen?« Pr.47: »Oder
haben sie nicht die Nete', sondern die jetzt sogenannte Paramese (Tnv vvv
mapaueonv kaXovuevnv) und die Ganztonstufe (zwischen ihr und der Mese)
weggenommen?«
Die älteste griechische Leiter (Saitenstimmung, Apuovia) war die der
verbundenen dorischen Tetrachorde: e fgabc'd'. Terpander fügte aber
als oberen Abschlufs die Nete #' hinzu und strieh dafür, der Siebenzahl
zu Liebe, die damalige Trite d (vgl. Pr. 32). Diese wurde später, als man
zur 8-tonigen Lyra e — e' überging, durch A ersetzt und als Paramese
bezeichnet. Es ist daher die Abweichung zwischen Pr.7 und 47 in Bezug
auf den gestrichenen Ton nur eine scheinbare”.
! Hier ist sicherlich mit Bojesen u. A., denen auch Jan folgt, vyryv statt vmarıv zu
lesen. Jan’s Einfügung von zsvov und za dagegen scheint mir wieder den Sinn zu alteriren.
® Siehe Wagener und Gevaert in des Letzteren Hist. II, 257 und 634.
ee Er A u
er Zi u
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musil. 37
Jan bemerkt (Ser. mus. p. 81), dafs in der Problemstellung selbst die
historische Ordnung umgekehrt werde, indem nicht zuerst 8, sondern von
vornherein nur 7 Saiten da waren. Immerhin wird, wenn auch die Saiten
der Lyra nieht über d hinausgingen, dem musikalischen Bewufstsein doch
die Nete als oberer Abschluls der Leiter schon ursprünglich nieht gefehlt
haben. Die Octave ist das Fundament aller Leiterbildung, aller Musik
im eigentlichen Sinne des Worts, und es ist psychologisch unmöglich,
dafs dies jemals anders gewesen wäre. Durch sie allein wird eine aus
festen Stufen bestehende Tonreihe in sich zu einem Ganzen zusammenge-
schlossen (vgl. Pr. 32 über dıa raowv). Insofern läfst sich sagen, dafs die
R 8-tonige (7-stufige) Leiter früher war als die 7-tonige (6-stufige). Viel-
leicht hat dies dem Verfasser des Problems bei der Fragestellung vorge-
schwebt.
Die Lösung knüpft nun in beiden Problemen doch wieder an die an-
fänglich gestellte Frage an. Pr.7 verweist auf das Übergewieht der Hy-
pate im Zusammenklang (s. 0. 17)', Pr. 47 hebt hervor, dafs man die Mese
als Anfang des einen und als Ende des anderen Tetrachords (im verbun-
denen System) nötig hatte. Wir müssen wol hiezu den Gedanken ergänzen,
dafs durch die Mese auch die Paramese bedingt war, wenn anders das obere
Tetrachord dem unteren analog sein sollte.
3. Grösserer Melodienreichtum der älteren Componisten. Pr. 31.
Pr. 31: »Warum waren die Zeitgenossen des Phrynichus produetiver
an Melodien? — Etwa weil damals die Gliederung der Versmafse in den
Tragödien manichfaltiger war«*.
Die Lösung wird gewöhnlich ganz anders aufgefafst: die ueAn seien
(damals moAAarAdoıa gewesen gegenüber den uerpa. Jan interpretirt: Varios
novosque modos .... illi ereaverunt, posteri satis habuerunt pari quodam
modo metra decantare. Aber dies wäre keine Erklärung, sondern eine
blofse Wiederholung der zu erklärenden Thatsache. Ruelle übersetzt: parce
que ... les chants tenaient plus de place que les metres (les vers declames).
' Die Schlufsphrase des Probl. 7: &wei rö ö&v.... klammert Jan mit Recht ein, sie ınuls
dureh ein Misverständnis dahin gekommen sein (aus Pr. 37).
® Aıa ri oi mepi Ppivıyov noav narkov peromoii; — "H dia ro moAAarkacıa eivan Tore ra
neAn Ev rals rpaymöiaıs rOv NETpwV.
38 GC. Stunmpr:
Ähnlich Eiehthal und Reinach. Dies wäre eine auffallend schlechte Er-
klärung, denn die zahlreicheren gesungenen Verse konnten auch auf wenigen
Melodien gesungen werden; man sieht nicht ein, warum der Melodienreieh-
tum selbst gröfser sein mulste, Zudem ist fraglich, ob man ueAn und
uerpa so deuten kann.
Dagegen scheint mir die obige Übersetzung sowol mit dem Wort-
laut verträglicher als auch eine bessere sachliche Lösung einzuschliefsen.
Die Vergleichung, die in moAAarAaora liegt, bezieht sich hienach nieht
auf die ueAn gegenüber den uerpa, sondern auf die ueAn (im Sinne von
Teilen, vielleicht aber auch uepn zu lesen) Tov UETPOV, wie sie damals
waren (Tore), gegenüber den gegenwärtigen; genau so wie auch in der
Fragestellung uaAAov neAomoioi gemeint ist gegenüber den gegenwärtigen.
Auch sachlich aber ist diese Lösung gut zu verstehen und von psycho-
logischer Wahrheit: durch die gröfsere rhythmische Manichfaltigkeit der
Texte wurden die Componisten auch zu reicherer Erfindung in tonaler Hin-
sieht angeregt.
4. Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33.
Pr. 33: » Warum ist es passender von der Höhe zur Tiefe zu gehen
als umgekehrt? Etwa weil dies heilst vom Anfang anfangen” (denn die
Mese ist zugleich Führerin und höchster Ton des Tetrachords), während
der umgekehrte Gang vom Ende anfinge? Oder weil das Tiefe nach dem
Hohen edler und wolklingender ist?«
Wir können hieraus entnehmen, dafs in den Melodien jener Zeit die
Bewegung von der Mese gegen die Hypate (a gegen e) besonders natur-
gemäls erschien”. Vielleicht bezieht sich die Bemerkung überhaupt nur auf
! Von der grölseren Manichfaltigkeit der Rlıythmen bei den »Alten« spricht auch
Plutarch De mus. e. 21 (ed. Westph. p. 15, 26f.). Aber er formulirt den Gegensatz so: ol ev
yüp vöv dıAdrovor, ol de rore diAöppvßuor. Phrynichus, der nach Suidas den Tetrameter in die
Tragödie einführte, wird in den Scholien zu Aristophanes zugleich neNomows und Ds ev
ueNeoı genannt (Bojesen).
2 mb rijs üpynjs Apyeoda, wo apyy) zugleich Anfang und Prinzip bedeutet, wie der Aus-
druck „yeuov im Schaltsatz zeigt.
® Vol, die Bemerkungen Gevaert's Hist. 1 378 zu diesem Problem. Die Pindarische
Melodie, die ein schönes Beispiel sein würde, möchte gegenwärtig auch Gevaert nicht mehr
belingungslos für echt halten (Melopee antique, 1895, p. 32); mindestens die Notation könne
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 39
Melodien kleinsten Umfangs, die zwischen diesen beiden Tönen lagen, wie
solehe in den einfachsten Gesängen bei allen Völkern gegeben sind. Betrifft
sie auch solehe Melodien, die die ganze Octave beanspruchten, so scheint
doch der Gang von der Mese aufwärts weniger definitive Befriedigung
gewährt zu haben als der abwärts, man empfand ihn nicht als ebenso ge-
eignet zum Abschlufs einer Melodie oder eines Melodieabschnittes.
Die Wendung »vom Anfang anfangen« darf‘ nicht wol auf den Anfang
der Melodie schlechthin bezogen werden, sondern nur auf relative An-
fänge: auf die Bewegung von der Mese gegen die Hypate hin, mochte
sie am Anfang oder im Verlauf oder am Schlufs der Melodie vorkommen.
Dies ergiebt sich sowol aus der Natur der Sache', als aus den erhaltenen
Melodien. Namentlich die gut erhaltenen gröfseren Melodien, der Hymnus
auf den Helios und der auf die Nemesis, bestätigen es: fast jeder Melodie-
absehnitt endigt mit einer solehen Abwärtsbewegung zur Hypate”. Hiebei
mag noch dahingestellt bleiben, ob die Hypate der Alten als Toniea auf-
zufassen ist. War die Mese Tonica, die Hypate Dominante, so haben wir
doch auch gegenwärtig Melodien, die in der Dominante schliefsen. Diese
Art des Schlusses findet sieh heute mehr in Moll- als in Durmelodien; und
die Haupttonart der Alten, das Dorische, würden wir ja von unsrem Stand-
punet ebenfalls als ein Moll bezeichnen. Immerhin würde das gegenwärtige
Musikbewulstsein noch mehr Fühlung mit dem alten haben, wenn wir die
Hypate in unsrem Problem, und nicht die Mese, als Tonica auf fassen dürfen.
Diese Erwägungen leiten nun sogleich auch zu den Mese- Problemen.
erst aus der alexandrinischen Zeit stammen, vielleicht aber auch die Melodie selbst. Immer-
hin würde sie uns auch als Document aus dem späteren Altertum wertvoll sein, und an
dieser Stelle umsomehr, wenn die Probleme aus der nämlichen Zeit stammen.
! Was Settala anführt (von Ruelle eitirt): »Inditur a natura omnibus hominibus, ut
quotidiana etiaın docet experientia, ut eum primum canere incipiunt ab acıto expediantır
et in grave descendant« — ist vollkommen richtig und in dem physiologischen Umstand
begründet, dals man mit vollem Athem beginnt. Aber dieser Umstand beeinflulst doch
wesentlich nur die kurzen Ruf-Wendungen (vgl. m. Bemerkungen über die absteigende kleine
Terz beim Rufen, Vierteljahrsschr. f. Musikwissenschaft I 1835, S. 284), nieht die eigent-
liehen Melodien, deren Bau von vielen anderen Umständen mitbedingt ist. Hier könnte
ınan eher, wenn überhaupt von einem vorherrschenden Typus gegenüber der ungeheuren
Fülle gesprochen werden kann, mit E. Naumann ein Aufsteigen und dann wieder Absteigen
als solehen hinstellen. „
2 S, die auch in anderen Beziehungen (Hervortreten der Dreiklangstöne bei den Partial-
schlüssen) höchst interessanten Analysen Gevaert's, Melopee antique p. 39 f.
40 0. STUMTT:
5. Funetion des Mitteltons. Pr. 20, 36.
Pr. 20 fragt, warum bei einer Verstimmung' der Mese in der Aus-
führung einer Melodie auch alle anderen Saiten verstimmt erscheinen, bei
der Verstimmung einer anderen Saite dagegen nur diese selbst. Der Ver-
(asser findet dies wolbegründet, da man die Mese in allen guten Melodien
häufig gebrauche und, wenn man sie verlassen habe, immer schnell wieder
zu ihr zurückkehre. Sie sei den Bindewörtern der Sprache vergleichbar,
ohne die kein Adyos 'EAAnvıros möglich sei.
Pr. 36 stellt etwas kürzer die nämliche Frage und betont, dafs von
der Mese alle anderen Saiten ihre Stimmung, "Tonlage (eye TWS TOOS TNV
ueonv), ihre Anordnung und ihren Zusammenhang empfangen’. Hier ist
noch tiefer auf den Grund der Sache eingegangen.
Zur Vergleiehung und Unterstützung kann die Stelle in Aristoteles’
Metaphysik p. 1018, db, 26 dienen, wo die Mese ebenfalls als apxn be-
zeichnet und ihre Stellung mit der des Chorführers (kopvpatos) verglichen
wird. Dafs auch Pol. I, 5 p.1254, «, 32, wo eine dpxn der Harmonie (Ton-
leiter) erwähnt wird, die Mese gemeint ist, scheint mir hienach unzweifel-
haft”. In einem ganz anderen Sinn wird zwar auch die Diösis gelegentlich als
äpyn bezeichnet, nämlich im Sinne der Mafseinheit (apxn kat uerpov P. 1053,
a, 12,8. u.); aber in der Politikstelle ist die Rede vom Unterschied des
äpyxov und des apxonevov, der sich in der belebten wie unbelebten Natur
finde, und in diesem Sinn, — Herrschendes, kann doch nicht wol die
Diösis gemeint sein.
xıvjon könnte an sich wol auch eine Umstimmung im Betrag einer oder mehrerer
Tonstufen bedeuten, aber der Ausdruck Avrrei, mit dem die Wirkung bezeichnet wird, sowie
das analoge PPepozeva im Probl. 36 lehren, dals es sich um eine blolse Verstimmung (Un-
veinheit) handelt. Auch würde ja dureh eine Umstimmung der Mese ihr Ton mit dem
einer anderen Saite zusammenfallen.
yaöv nach xıvjon ändert Reinach gewils richtig in wg. Am Schlusse des Problems
scheint mir Ruelle's Vermutung AAAov für xaaav die glücklichste.
? Starek's Änderung von Peyysneva in POepsueva (bei Helmholtz Tonempf.t 395)
ist sehr einleuchtend und von allen Neueren aulser Biehthal und Reinach angenommen. An
einigen anderen Stellen des Problems ist der Text auch nicht ganz in Ordnung, aber in-
haltlich gleichwol durchsichtig.
> Vol. Jan Ser. p.17. (In der Stelle der Metaphysik ist übrigens nicht zu ergänzen ev
äpxiis ydva &ori, sondern, wie aus dem Context vom Beginn des Kapitels an evident her-
, Naar) ’
vorgeht: mporepa kai vorspa Acyerat.)
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 41
Eine hiehergehörige Äufserung findet sich ferner bei Dio CUhrysosto-
mus. Er sagt!, dafs man bei der Lyra zuerst den mittleren Ton feststelle,
dann nach ihm die übrigen stimme (die ganze Lyra wurde ja auf die Ton-
art gestimmt). Ähnlich müsse man sich im Leben einen höchsten Zweck
setzen und alle Handlungen danach einrichten.
Helmholtz und Westphal haben gleichzeitig aus den obigen Pro-
blemen den Schlufs gezogen, dafs die Mese für die Alten die Bedeutung
und Funetion der Tonieca gehabt habe, des Haupttons jeder Leiter, der
allen übrigen Tönen erst ihren musikalischen Sinn giebt”.
Man kann fragen, ob die Beschreibung nieht auch auf unsre Domi-
nante passen würde. Die Ausdrücke yyeuov (in dem vorhin besprochenen
Pr. 33) und apyn (sowol Ausgangspunet als Prineip bedeutend, s. 8.34 zu
Pr. 44 und S. 38 Anm. 2) liefsen sich ebenfalls dureh »Dominante« erläutern.
Doch wäre es immerhin befremdlich, wenn der Begriff der Dominante (in
unsrem Sinn) so sehr in den Vordergrund gestellt und der ihm zu Grunde
liegende der Toniea, von der aus allein jener definirt werden kann, gar
nieht erwähnt würde.
Aber noch eine dritte Auffassung wäre zu erwägen: es könnte ein-
fach die Funetion gemeint sein, die bei uns dem Stimmton a' zukommt,
dem festen Ausgangspunet der Abstimmung, einerlei, was für Tonleitern
und Melodien wir gerade gebrauchen. Dann würde freilich hier nur über
einen ziemlich äufserlichen technischen Umstand berichtet sein, womit die
ganze Art der Beschreibung doch nieht gut zu vereinigen ist”.
! Or. 68 am Sehluls (ed. Dindorf II, 234): xpn de Bomep ev Avpa rov uerov BOdyyov kara-
orjoavres Emeıra mpds ToVTov apuorrovraı Tous ANNovs, ei ÖE jun, oldeniav oldemore üpjoviav dmodeı-
Eovow, ovrws ev to Bio K. T. N.
? Ptolemaeus unterschied eine thetische und eine dynamische Mese. Die dynamische
ist nach Westphal die obere Quarte des tiefsten T'ons (e) der dorischen Tonart, also a, und
dieser nämliche Ton wird dann auch bei den übrigen Tonarten, innerhalb deren er eine
sehr verschiedene Stellung einnimmt, als Mese bezeichnet (man könnte sie absolute Mese
nennen). Dagegen die thetische Mese ist in jeder Tonart die Quarte des tiefsten Tons (rela-
tive Mese). Auf sie bezieht Westphal die Mese der Probleme.
Dals der Neupythagoreer Nikomachus die Mese mit der Sonne im Planetensystem ver-
gleicht, kann man mit Helmloltz hier auch anführen; doch lag die nächste Veranlassung
dazu in der räumlichen Stellung, nieht in der hervorragenden Bedeutung, der Sonne.
® Eichthal und Reinach folgen sowol dieser als der ersten Auslegung (p. 41: »l’auteur
vent dire que la mese sert de base pour l’aceord des autres cordes; elle donne le la«
‚(es deux problemes ... attribuent a la mese un röle assez analogue a celui qui, dans la
Philos. - histor. Abh. 1896. Ill. 6
42 G, Stumrr:
Kine Anschauung endlich, die sich mit beiden zuletzt erwähnten be-
rührt, hat Gevaert, der früher der Westphal’schen zustimmte, sieh neuer-
dings gebildet!, Hienach würde es sieh in der That um einunddenselben
feststehenden "Ton handeln, um die dorische Mese a (die » dynamische Mese«
nach Westphal’s Ptolemaeus-Interpretation). Nur legt Gevaert nicht so sehr
Gewicht darauf, dafs nach diesem Ton gestimmt wurde, als darauf, dafs
dieser Ton, und nur dieser, in allen Melodien wiederkehrt und alle Ton-
arten (besonders auch bei Modulationen innerhalb einer Melodie) unter ein-
ander verbindet. Es existirte hienach, wenn ich so sagen soll, für die Alten
eine universelle Dominante. Wie die unsrige zwei Tonarten mit einander
verbindet, so verbindet die absolute dorische Mese sämmtliche Tonarten
der Alten; freilich nieht infolge von » Verwandtschaftsverhältnissen«, son-
dern nur infolge ihrer centralen Lage auf der Lyra und den sonstigen
Instrumenten. Immerhin kommt doch auch bei uns, wenn zwei Aceorde
aufeinanderfolgen, sehon der Umstand, dafs sie einen beliebigen "Ton ge-
meinschaftlich besitzen, mit in Betracht. Kin ähnliches Prinzip würde also,
melodisch gefafst, dem Wechsel der Tonarten bei den Alten und der Funetion
der dorischen Mese zu Grunde liegen.
Gevaert hat noch keine eingehendere Erläuterung und Begründung
seiner neuen Anschauung gegeben. Wenn er sich darauf beruft, dafs die
»thetische Onomasie« allen Schriftstellern vor Ptolemaeus unbekannt ge-
wesen sei, so würde dieser Grund für uns weniger Gewicht besitzen, wenn
wir (wie unten geschieht) die Probleme selbst nahe an die Zeit des Ptole-
maeus verlegen; vielmehr würde eher ein Gegengrund und ein Argument
für die »thetische (relative) Mese« daraus werden’. Aber Gevaert stützt sich,
wie er mir brieflich mitzuteilen die Güte hatte, hauptsächlich auf die Analyse
der vorhandenen Reste griechischer Melodien, in denen nicht die Mese, son-
dern die Ilypate als Hauptton erscheint", und von mehr als 1000 4iturgischen
Gesängen vor dem ı1. Jahrhundert, deren unmittelbaren Anschluls an die
antike Melodienbildung er in seinem Werk auseinandersetzt. Er habe unter
endence des melodies modernes, est joue par la toniques). Aber beide Auslegungen schlielsen
sich doch gegenseitig vollkommen aus.
' Melopee antique p. ı2 unter Il und Anın. q, ferner Appendix Il (1896) p. 467 Anın.
? Westphal selbst findet übrigens (Grieeh. Harm.? 170) Andeutungen der thetischen
Onomasie schon bei Aristoxenus.
°» 8, besonders Melopee ant. p: 39-40.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 43
diesen nieht Eine gefunden, worin der fragliche Ton fehlt, und es sei dieser
Ton zugleich der einzige, auf den solches zutrifft.
Ich kann mich vorläufig noch nicht zu dieser Auffassung entschliefsen.
Jener gemeinschaftliche Ton hätte trotz allem, was wir noch eben zur
psychologischen Erläuterung beizubringen versuchten, für die jeweilige
Melodie und das «die Töne einer Melodie unter einander verknüpfende
Bewulstsein doch eine verhältnismälfsig geringe Bedeutung, und man mülste
sagen, dafs Aristoteles, die Probleme und Dio Chrysostomus zu viel Wesens
daraus gemacht haben. Ich möchte daher über diese sehr wichtige Frage
hier keine definitive Meinung aussprechen und hoffe, dafs der ausgezeichnete
Musikhistoriker ihr in der bevorstehenden Ausgabe der Musik- Probleme
eine eingehende Behandlung widmen wird.
6. Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Nomoi. Probl. 15.
Pr. 15: » Warum sind die Nomoi nicht antistrophisch, während die
übrigen Gesänge, die des Chors, es sind'?«
Antwort, etwas gekürzt: Die Nomoi wurden von Bühnendarstellern
vorgetragen, die sich in lang ausladender Rede und entsprechend manich-
faltiger Melodie ergehen mulsten. Darum haben auch die Dithyramben,
seit sie mimisch wurden, ihre antistrophische Form verloren. Für die Chor-
sänger bedarf es schon wegen ihrer Menge, aber auch wegen des zu be-
wahrenden Ethos einfacherer Weisen, wie solche der antistrophische Bau
mit seinem gleichen Rhythmus bietet”.
7. Gebrauch der Tonarten in der Tragödie (Antistrophie und
Ethos der 'Tonarten.) Pr. 30, 48.
Pr. 30: »Warum findet weder die hypodorische noch die hypophry-
gische Tonart in der Tragödie als Chortonart Anwendung? — Etwa weil sie
" Modern gesagt etwa: Warum sind die Arien durcheomponirt, die Chorlieder aber
in Strophenform?’ Der Begriff des Nomos deckt sieh nicht ganz, doch wol annähernd mit
dem der Arie; zugleich deutet der Ausdruck auf die Existenz bestimmter » Weisen« hin, die
traditionell geworden waren.
2 Der Text des Problems ist nur an zwei weniger hervorragenden Stellen strittig, wo
inir die Lesungen &v zua äpnovia (Ohabanon und Ruelle) und eis p»Ouös yap (Ruelle) die besten
scheinen.
6*
44 G. Stumrr:
nicht Antistrophie (wörtlich: nicht Antistrophes) besitzen. Dagegen werden
sie von der Bühne aus gebraucht; denn sie ist handelnd.«'
Der äufserst kurze Text wird je nach den vorausgesetzten Subjeeten
u. s. w. verschieden übersetzt, scheint mir aber auf diese Art, die auch
sprachlich sieh wol am besten rechtfertigt, einen gut verständlichen Sinn
zu geben, wenn wir nur erst wissen, was Antistrophie in Bezug auf Ton-
arten bedeutet. Denn das Übrige, dafs die Bühnensänger wegen ihrer
mimisehen Funetionen nicht antistrophiren, darum also jene Tonarten ge-
brauchen können, ist uns aus dem Vorangehenden bekannt und verständlich.
Dals man avriorpopov nicht mit Reinach in avdpwrmıkov nach Pr. 48
ändern darf, geht aus eben dieser engen Beziehung des letzten Satzes zu
Pr.ı5 hervor. Auch ist der Ausdruck avdpwrırov dort von dem novxıov
ndos gewisser 'Tonarten gebraucht, nicht von den Tonarten selbst, und
würde darum hier doch allzu kühn stehen. Bojesen hilft sich einfach:
»hoc problema propter brevitatem minus perspieuum copiosius explieatur
probl. 48«, und interpretirt avriotpobov durch die dort stehende Wendung:
neXos NKıoTa Eeyovaı. Wie so? muls man fragen. Auch Andere verweisen
kurz auf Pr.48. In Wahrheit wird im Pr. 48, wie öfters in den Parallel-
problemen, eine total andere Lösung der Frage gegeben, es wird auf das
Ethos der Tonarten hingewiesen, von dem hier nicht mit einer Silbe die
Rede ist.
Vergleichen wir die beiden im Pr. 30 genannten Tonarten in Hinsicht
ihrer Strucetur mit den übrigen, so zeigt sich ein Unterschied, der hier sehr
wol gemeint sein kann. In jeder von beiden sind die zwei Tetrachorde, in
die sie zerlegt werden kann, hinsichtlich der Aufeinanderfolge der Stufen
ungleich, dagegen in der Iydischen, phrygischen, dorischen Tonart sind
sie gleich. Bezeiehnen wir die Ganztonstufen mit ı, die Halbtonstufen mit +,
so erhalten wir, von unten nach oben gehend, folgende Anordnungen:
Hypodorisch: 1,4, 1 — #, 1, ı. Hypophrygisch: ı, 1, 4 — 1,4, 1.
Lydisch: ı, 1, 4 — ı, ı,$. Phrygisch: 1,4, ı — 1,4, ı. Dorisch:
ED GE N U
Man könnte fragen, warum die hypolydische und die mixolydische
Tonart nieht neben der hypodoriscehen und hypophrygischen genannt seien,
da doch auch sie ungleiche Tetrachorde besitzen (Hypolydisch: ı, 1, ı
! Ara ri o0de brodmpıori obde broppvyıorı ouk Eorıv Ev Tpayadia yopıköv; — "H ori oux Eyxeı
ävriorpodov: AAN amo arms, man) yap, Zu zwunren vgl. das vorherbesprochene Problem.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 45
— 1, 1, 3, Mixolydisch: Z, 1, 1 — 1, ı, 1). Aber hier schliefst schon
der Umstand, dafs das eine der beiden 'Tetrachorde statt durch eine Quarte
dureh den Tritonus abgegrenzt ist (weshalb beide Tetrachorde von ein-
ander statt durch einen Ganzton nur durch einen Halbton getrennt sind),
die Melodienbildung innerhalb dieses Tetrachords von vornherein aus'. Um
viertonige Melodien aber, wie sie zu den einfachsten Chorgesängen gebraucht
werden (vgl. das vorher besprochene Pr. 15), scheint es sich hier zu handeln.
Darum hat der Verfasser es nicht für nötig gehalten, diese beiden Ton-
arten besonders zu erwähnen.
Nehmen wir nun an, dafs unter der Antistrophie der Tonarten
verstanden ist: die genaue Gleichheit der beiden Tetrachorde in
Hinsicht der Aufeinanderfolge ihrer Tonstufen, so erkennen wir sogleich
die nahe Beziehung zu der vorhin besprochenen Antistrophie der Ge-
sänge. Denn eben durch jene Eigenschaft war es möglich, eine Melodie,
die sich im Spielraum eines Tetrachords bewegte, bei der Antistrophe
in das andere Tetrachord zu übertragen. Auch wenn sie diesen
Spielraum nach oben oder unten gelegentlich überschritt, konnte dies meist
in gleicher Weise in der zweiten Hälfte ausgeführt werden. Tonarten
werden also hienach antistroph genannt, wenn und weil sie sich infolge
ihres Baues zu antistrophen Gesängen eignen, und diese selbst werden so
genannt, nicht blos weil sie den gleichen Rhythmus (Pr. 15), sondern
auch weil sie die gleichen Tonstufen in der Melodie aufweisen, zugleich
aber durch die 'Transposition in das zweite (obere) Tetrachord ein Gegen-
stück zur Strophe darbieten.
Dals die Chorgesänge sich in geringem Umfange bewegten, ist nach
der in Pr.ı5 betonten Einfachheit und nach den Äufserungen des Pr. 33,
wo die Mese nur in Verbindung mit dem unteren Tetrachord betrachtet
wird, wahrscheinlich. Von einer Transposition der Tonhöhe bei der Anti-
strophe ist uns zwar sonst nichts direet berichtet: aber eben unser Problem,
das bei aller Wortkargheit eine sehr bestimmte und praeeise Sprache führt,
an der sich kein Wort irgend plausibel ändern läfst, wülste ich in keiner
' S. die Forderung des Aristoxenus (Meib. p. 54, Marq. p. 78 mit 169), dals die beiden
Tetrachorde Ton für Ton mit einander consoniren müssen. Ebenso Nikomachus Enchir.
mus. c.7 (Jan Mus. Ser. p. 249). Vgl. bei Westphal, Musik des griech. Altertums S. 326:
»Die Töne b und e (der Tritonus) können nicht wesentliche Bestandteile eines und desselben
melodischen Abschnittes sein, aın wenigsten die Grenze eines solehen«.
46 GC. Stumer:
anderen Weise zu deuten; und man wird zugestehen müssen, dafs eine
Transposition aus dem einen in das andere Tetrachord das nächstliegende
und wirksamste Mittel war, um ohne CGomplieation doch Abwechslung in
den Gesang zu bringen.
Als ein Widerspruch gegen diese Auslegung erscheint zunächst nur
die Lehre, dafs die Octave allein zur Antiphonie diene (s. 0... Denn die
antistrophische Wiederholung der Melodie mit Erhöhung des Ganzen um
eine Quinte scheint ja zugleich unter den oben definirten Begriff der Anti-
phonie zu fallen; sie erscheint vergleichbar mit der Wiederholung eines
Thema’s auf der Dominante, was doch, wie wir hörten, in der alten
Musik ausgeschlossen war.
Dieser Widerspruch löst sich aber vollkommen dadurch, dass die 'Trans-
position in das obere Tetrachord eben nicht als eine Wiederholung der
Melodie empfunden wurde. Wir hörten ja, dafs nur Octaventöne jene Ähn-
lichkeit miteinander besitzen, derzufolge der eine als Stellvertreter des
anderen gelten kann. In der That erscheint auch nach unsrer Auffassung
die obere Hälfte der Octave, solange die Tonica die nämliche bleibt,
keineswegs als gleichbedeutend oder gleichwertig mit der unteren. Die
beiden Gänge bei ı. in A-moll gedacht
stellen zwar die gleiche Aufeinanderfolge von Stufen dar, aber der zweite
wird nicht als Wiederholung des ersten aufgefasst, wie es bei 2. der Fall
ist. Bei ı. hat jeder Ton der zweiten Hälfte eine andere Bedeutung und
Funetion gegenüber dem entsprechenden der ersten Hälfte, weil er eine
andere Stellung zur Tonica besitzt. Erst wenn wir die 'Toniea wechseln,
d. h. die zweite Hälfte in E-moll denken, werden beide Gänge einander
analog und kann der zweite als Wiederholung des ersten gelten. Dafs aber
ein Wechsel der Toniea, eine Modulation in die Dominante nach unsrer
Bezeichnung, zwischen Strophe und Antistrophe stattgefunden hätte, davon
ist nirgends eine Andeutung gegeben'.
! Aulserdem unterscheidet die Antistrophie von der Antiphonie noch der Umstand,
dals die antistrophe Wiederholung keine genaue zu sein braucht (s. sogleich im Text), ferner
dals bei der Antiphonie die Melodie, die dann in der tieferen Octave wiederholt wurde,
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 47
Ist so diese Schwierigkeit einfach zu heben, so entsteht aus der Lösung
selbst die neue, dafs im Tetrachord der Antistrophe die Mese gar nicht
vorkommt, während sie in einer guten Melodie sehr oft vorkommen soll
(Pr. 20).
Auch hierauf können wir, glaube ich, unschwer antworten. Die Melodie
bewegte sich eben nicht genau und streng innerhalb eines Tetrachords, son-
dern ging auch häufig eine Stufe tiefer; dazu diente der » Proslambanome-
nos«. Gevaert nimmt diesen Zug geradezu unter die Prinzipien der antiken
Melodiebildung auf: »Afin de donner. un peu plus de jeu aux termi-
naisons melodiques et un point d’appui au degre final, on permit ä& la me-
lodie de descendre un echelon de plus. Cette pratique etait deja sanction-
nee A l’epoque elassique«'. Er weist diesen Zug namentlich an der Hymne
auf «den Helios nach (p. 39-41). Analogien dazu lassen sich auch in Fülle
aus den Kirchengesängen, aus exotischen, aber auch aus modern-euro-
paeischen Melodien kleinsten Umfangs (Tetrachordmelodien) beibringen. Bei
der Transposition in das die Mese nicht enthaltende Tetrachord mufste
nun in solchem Falle die Mese auftauchen. Namentlich dürfte dies bei
Schlufswendungen vorgekommen sein. Lassen wir nach Anleitung des
Pr. 33 die Melodie der Strophe durch Absteigen nach der Hypate, mit
dem Proslambanomenos als Wechselnote, schlielsen, so erscheint bei der
Antistrophe als Wechselnote die Mese, etwa so:
Sr Antistr
Übrigens darf man sich die Übertragung der Tonstufen selbst gewils
nicht als eine sklavisch gebundene vorstellen, sie wird im Einzelnen schon
durch das Bedürfnis des Ausdrucks und durch die grammatische Fügung
des Textes, aber auch durch rein musikalische Bedürfnisse modifizirt worden
sein. Wurde z.B. das Tetrachord in der Strophe nach einer Richtung
hin überschritten, so mochte bei der entsprechenden Stelle der Antistrophe,
gerade um Ungleichheit der Tonstufen zu vermeiden und zugleich das
gewöhnlich zuerst in beiden ÖOctaven vorgetragen wurde, während bei der Antistrophie
nicht etwa entsprechende Quinten- oder Quartenparallelen vorausgingen.
' Melopee ant. p.ı3 (mit Bezugnahme auf den Commentator Plato’s, dem Aristides
Quintilianus folgt).
48 C. Stumer:
Tonieabewulstsein besser zu wahren, die Tonbewegung vorübergehend nach
der anderen Seite gelenkt werden; z. B. wenn die Strophe @a—h— a hatte
(mit Überschreitung des 'Tetrachords nach oben), so moehte die Antistrophe
e — d’— e' statt e' — f'-— e' setzen. Auch hiefür bietet die Musik aller
Zeiten auf Schritt und Tritt Analogien. So konnte man nun auch am
Schlufs, wenn es in der Strophe etwa wie vorhin hiefs e— d—e, in der
Antistrophe durch A—c'—a die Mese zu Gehör bringen und mit ihr
sogar schlielsen.
Endlich ist es möglich, dafs dem Tonica- (bez. Mese-) Bedürfnis auch
dureh die Instrumentalbegleitung Genüge geschah; wie dies Westphal für
(die ganze Classe der Melodien annimmt, die auf der IHypate (nach seiner
Auffassung = Dominante) endigten'. Gerade in den Problemen ist ja auch
die heterophone Krusis, die von den Gesangtönen abweichende Instrumental,
begleitung, vorausgesetzt (39”). Lag die Melodie im unteren Tetrachord,
so mochte die Nete, lag sie im oberen, die Mese (bez. ihre höhere Oe-
tave) besonders in der Begleitung berücksichtigt werden.
So konnte auf vielerlei Weise dafür gesorgt werden, dafs die Mese
bei der Antistrophe zu Gehör kam. Im Übrigen ist aber jene Forderung
des Pr. 20, dafs die Mese in allen guten Melodien vielfach vorkomme,
vielleicht nieht einmal so wörtlich zu nehmen: meinen doch auch bei uns
Manche fälschlich, dafs die Tonica in der Melodie vorkommen oder gar
dafs sie eine hervorragende Stellung einnehmen müsse. Nur für das Be-
wulstsein des Hörenden gilt diese Forderung, nicht für seine Ohren oder
für die geschriebenen Noten.
Hienach dürfte der vorgetragenen Auslegung nichts entgegenstehen
und sich damit ein gewisser Einblick in die Structur antiker Chormelodien
eröffnen, wenngleich sich bei der Kürze des Textes nur eine begrenzte
Wahrscheinlichkeit dafür gewinnen läfst. Es tritt dieses Ergehnis aber
auch in Verbindung mit den vielfältigen Untersuchungen über die orchesti-
schen Bewegungen und über die Teilung des Chors. Dafs bei der
Strophe und Antistrophe der gleiche Rhythmus der Verse auch durch
gleiche oder besser symmetrisch-entgegengesetzte Bewegungen ausgedrückt
wurde, ist kaum zu bezweifeln. Diesen symmetrischen Bewegungen ent-
sprach nun nach akustischer Seite die Transformation der Melodie dureh
' Vgl. seine Aristoxenus- Ausgabe LXXXIV und sonst.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 49
ihre Versetzung in das andere Tetrachord. Dafs ferner Strophe und Anti-
strophe durch verschiedene Abteilungen des Chors vorgetragen wurden,
ist für manche Fälle sicher, für andere strittig'. Wie nun in unsren Fugen
Dux und Comes, das ursprüngliche und das auf die Dominante versetzte
Thema, von verschiedenen Teilen des Chors vorgetragen werden (ohne dafs
wir übrigens die Vergleichung weiterführen wollen), so liegt auch in der me-
lodischen Antistrophie, auf die wir uns geführt sehen, ein Hinweis mehr
auf die Verteilung der Strophe und Antistrophe an verschiedene Halbehöre.
Natürlich konnten aber nicht blos Teile des Chors unter einander, sondern
auch Einzelne mit dem Chor oder mit Einzelnen in solcher Weise abwech-
seln, etwa die Chorführer (kopvpaioı) oder ihre Seitenmänner (rapaoraraı)
oder auch handelnde Personen. Dafs die Verteilung durch die melodische
Antistrophie notwendig bedingt wäre, läfst sich freilich nicht behaupten;
und der Zusammenhang des Textes scheint sie häufig zu verbieten.
Soviel über die Problemlösung im Pr. 30.
Auf die nämliche Frage nun, warum man im tragischen Chor jene bei-
den Tonarten nicht gebrauche, giebt Pr. 48 aus einem ganz anderen Gesichts-
punct eine redseligere Antwort, deren kurzer Sinn ist, dafs diese Tonarten
erstlich am wenigsten Melodie (ueXos) haben, zweitens aber — und dies
wird besonders in den Vordergrund gestellt — dafs sie ein praktisches
und grofsartiges Ethos haben, während für den Chor als wolwollenden Zu-
schauer mehr ein passives Ethos zieme, wie es den übrigen Tonarten eigne”.
Sachlich können wir dazu kaum etwas sagen, da wir über die Gründe
des Ethos der griechischen Tonarten in Ermangelung hinreiehender Musik-
beispiele zu wenig urteilen können. Durch den Inhalt der Begründung
gehört dies Problem zugleich zur III. Gruppe (über Gefühlswirkung).
' v. Christ, Teilung des Chors im attischen Drama, Abh. der bayrischen Akad. d.
Wiss. I. Cl. XIV, 2 S.159, bes. S.198 f. Muff, Chorische Technik des Sophokles (1877).
Wecklein, Fleckeisen’s Jahrbücher Suppl. XIII, S. 215 f. (nimmt für die Antistrophe bei
Aeschylus nur eine orchestische Bedeutung in Anspruch). R. Arnoldt's Schriften über die
ehorische Technik des Aristophanes und des Euripides. Zielinsky, Gliederung der alt-
attischen Komödie S. 249 f. (giebt die Teilung nur für die Komödie, nicht für die Tragödie
zu). Für die Alkmanischen Strophen s. Diels, Alkmans Partheneion, Hermes XXXI, 339.
® Unter allgemeiner Zustimmung verändert Bojesen p.922, b, 21 brodpvyıort in bpuyiori
und fügt die aus Gaza’s Übersetzung zu entnehmenden Worte ydära d& ij wuEoNvöor ein.
Den sanft-traurigen Charakter des Mixolydischen bezeugen auch Plato, Aristoxenus (s. Jan
p- 108) und Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, b, ı.
Philos. - histor, Abh. 1896. IIl. 7
50 G. Srtumpr:
85. Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe beim Singen.
Pr..225:45,135% 37.12 13486, Alla
Von «diesen auf die Ausführung von Gesangmelodien bezüglichen Pro-
blemen bieten nur die zwei letzten erheblichere Schwierigkeiten.
a) Ein grolser Chor hält den Rlııythmus besser ein als ein kleiner. Pr. 22, 45.
Pr. 22: » Warum halten viele Sänger leichter den Rhythmus als wenige?
— Etwa weil sie sich mehr nach Einem, dem Führer, richten und lang-
samer tanzen', so dals sie leichter das Nämliche treffen, denn im Schnellen
fehlt man eher. «
Pr. 45 fügt nach fast wörtlicher Wiederholung des Vorigen noch bei,
dafs bei geringer Zahl leichter die Versuchung, für sich zu glänzen, an
den Einzelnen herantrete.
b) Man detonirt am Beginn und Schlufs eines Tons(). Pr. 35®.
Wir bezeiehnen mit den Neueren als Pr. 35" den mit dıa mavros
(p- 920, a, 38) beginnenden Abschnitt des Pr. 35. Es fehlt hier aber, wie
bei 39”, die Problemstellung. Ich vermute, dafs die in unsrer Überschrift
bezeichnete Erscheinung «den Gegenstand bildete. Es wird nämlieh darauf
hingewiesen, dafs jede Bewegung langsamer anfängt und endigt, in der
Mitte aber am schnellsten ist”. Darum müsse auch die Stimme im mittleren
Abschnitt (des gesungenen Tons) am höchsten sein. Ganz hervorragende Sänger
dürfte allerdings das Problem, wenn dies sein Inhalt, nieht im Auge haben.
ec) Es ist anstrengender hoch zu singen als tief. Pr. 37.
Pr. 37 findet dies merkwürdig, da doch das Hohe dem Kleinen und
darum Schnellen, das Tiefe dem Grofsen und Langsamen entspreche. In
der Lösung wird die Thatsache nur für die zugegeben, die nicht von Natur,
aus Schwäche, eine hohe Stimme haben. Im Übrigen sei zum Hochsingen
Kraft nötig, um die schnelle Bewegung (der Luft) zu erzeugen.
! Der überlieferte Text lautet Bapvrepov äpyovra. Die Neueren lesen mit Gaza ein-
stimmig Apadvrepov. Aber auch Graf’s Änderung von äpxovra in 6pxovvraı (s. Jan) scheint
mir gerechtfertigt.
? Kara nerov im ersten Satz ist offenbar nicht (mit Jan) auf die Mitte der Saite zu
beziehen sondern auf die zeitliche Mitte der ganzen Bewegungs - (Ton -) Dauer.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 51
d) Falsehsingen wird bei den tiefen Stimmen leichter merklich als bei den
hohen; ebenso sind rhythmische Abweichungen leichter merklich bei lang-
samem als bei schnellem Rhythmus. Pr. zı.
Zwei Erklärungen werden in Pr. 21 versucht: entweder weil die grölsere
Zeit (wie sie der tiefere Ton erfordert) als Wahrnehmungs-Inhalt in sich
selbst merklieher ist, oder weil sich innerhalb der gröfseren Zeit auch die
Wahrnehmungs-Thätigkeit besser entfalten kann.
e) Man singt öfter zu hoch als zu tief. Pr.26, 46.
Pr.26 wörtlich: » Warum singen die Meisten nach der Höhe zu falsch
(emi TO 6&V amdöovaw)?« Mau mufs nicht übersetzen: »in der Höhe«.
Darum widerspricht das Problem nicht, wie man gemeint hat, den Pr. 2ı
und 37. Die zu hohe Intonation kann einen tiefen ebenso wie einen hohen
Ton betreffen; es wird hier nur überhaupt eine Neigung nach der Plus-
Seite behauptet. Die Erklärung ist wieder doppelt: entweder weil das
Hochsingen leichter ist als das Tiefsingen (was nun allerdings dem Pr. 21
widersprechen würde, wenn man nicht etwa »zu hoch« und »zu tief«
interpretiren will, wobei dann aber die Erklärung nahe an Tautologie
streift), oder weil die Erhöhung schlimmer ist, ein Fehlgriff aber in der
Ausübung des Schlechteren besteht. Hiemit meint der Verfasser offenbar,
dafs die Abweichung nach der Höhe nicht geradezu häufiger oder durch-
sehnittlich gröfser sei, sondern nur merklicher und unangenehmer.
Pr. 46 giebt auf die nämliche Frage nur die erste Lösung, mit dem
Zusatz: infolgedessen singt man mehr das Hohe und fehlt in dem, was
man singt (wozu man beim Singen neigt).
/) Die Parhypate ist schwer, die Hypate leicht zu treffen. Pr. 3,4.
Ich will sogleich vorausschicken, was mir als Inhalt dieser beiden
ziemlich schweren Probleme erscheint. Sie beziehen sich, so nehme ich
mit Bojesen an', auf die enharmonische Leiter. Deren drei tiefste Töne,
e (Hypate) # (Parhypate) f (Lichanos), waren durch je ein Viertelton-Inter-
' Die Begründung dafür liegt im Wortlaut des folgenden, mit dem gegenwärtigen in-
tegrirend verbundenen Problems, wo die Di@sis ausdrücklich erwähnt ist (s. u.). Aber auch
das gegenwärtige Problem, die Frage sowol als die Antwort, wird so bedeutend verständ-
licher als wenn die diatonische Leiter gemeint ist. Die sogleich im Text zu erwähnende
Parallele aus Aristoteles’ Metaphysik spricht ebenfalls von der Diesis, doch ist fraglich, ob
Aristoteles selbst hierunter nicht etwa eine Halbtonstufe verstand. Vergl. u. S. 54.
-.
‘
52 Ö.STUMPF:
vall, eine Diösis, getrennt; dann folgte mit einem Sprung von zwei Ganz-
x
tönen «a (Mese). Analog im oberen Tetrachord: A (Paramese), A (Trite), «
(Paranete), e (Nete).
Pr. 3 setzt nun voraus, dafs man von der Hypate aufwärts singt, und
fragt: » Warum reifst die Stimme so leicht ab, wenn man die Parhypate
singt, nieht weniger als wenn man die Nete und die hohen Töne singt,
wobei aber das Intervall gröfser ist?«'
Wir begreifen ohne weiteres, «dafs die Parhypate schwer zu treffen
und festzuhalten war. Diese Schwierigkeit wird verglichen mit der bei
der Intonation hoher Töne: Die Nete ist auch verhältnismälsig schwer zu
singen, wegen ihrer absoluten Höhe, obschon «as Intervall (zwischen ihr
und der Paranete ec) grölser ist.
Lösung: »Etwa weil man diese am schwersten singt und sie Prineip
ist. Das aber ist schwer wegen der Anspannung und Pressung der Stimme.
In diesem aber liegt Anstrengung. Was aber Anstrengung kostet, misglückt
leichter. «'
Unter ra'ryv kann hier, wenn irgend ein Sinn herauskommen soll,
* . . x
nicht die Parhypate oder die Nete verstanden werden, sondern TauTyv nv
dıaoracıv, das Intervall nämlich, worauf die Fragestellung sich bezog,
* CT . . . ” ’
(lie Diesis zwischen Hypate und Parhypate. Sie wird auch apyn genannt,
als das Element, die Mafseinheit der enharmonischen Leiter. So bezeichnet
. . ... “ ” x x
auch Aristoteles Met. p. 1053, a, 12 die Diösis als dpyn kat uerpov. In
. . n. * ’ 14 [4 . .
der Astronomie habe man eine Einheit als apyn und werpov in der gleich-
förmigen und schnellsten Bewegung der äufsersten Himmelssphäre, wodurch
alle anderen Bewegungen gemessen werden, und in der Musik die Diösis,
weil sie das Kleinste und das Element (Toıyeiov) für die Stimme sei”.
! Ad ri nv mapvmarıvy Adovres uaNıora amoppyyvuovra, oby jrrov ) Tv voTyv Kal Ta Ave,
nera 08 diawrdrews mAelovos; —"H örı yakerorara ravryv adovan, ka avrn px]. TO de yakemöv did
rıv ömraoıy kal mieoiw rs davıs' ev rovroıs de mövos‘ movovvra de HANNoV diapdeiperau.
Vel, noch andere die Diesis betreffende Äulserungen des Aristoteles in Jan’s Zu-
sammenstellung Mus. Ser, p. 15.
Aristoxenus polemisirt gegen solche Auffassung und Darstellung des Tonreiches von
Seiten der »Ilarmonikers (die die Musiktheorie auf Rechnung gründen). Wir können doch
unmöglich, sagt er (Meib. p. 28, Marquard’s Ausg. p. 38), achtundzwanzig aufeinanderfolgende
Diösen singen, wie dies vorausgesetzt wird, wenn man die Leiter aus solchen construirt;
wir können nieht einmal drei nacheinander treflen. Das Toonbereich, wie es unsrer Stimme
und unsrem Gehör gegeben ist, ist also nicht aus Diösen zusammengesetzt. Aristoxenus be-
ruft sich hier wie überall auf’ das Ohr und die wirkliche Musik.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 53
In ähnlichem Sinne bezeichnet auch Theo Smyrnaeus nach dem Peripa-
tetiker Adrast den Ganzton und das Limma als apyaı ovubwvias, weil
daraus die Uonsonanzen sich zusammensetzen (Theo ed. Hiller p. 75, 16).
Vielleicht schwebt aber unsrem Autor bei dem Ausdruck ap auch noch
der Gedanke vor, dafs die Diesis das Charakteristikum des enharmonischen
(Geschlechts bildet, ähnlich wie wir grofse und kleine Terz als »charak-
teristisches Intervall«, als Prinzip für Dur und Moll bezeichnen.
Dals nun die Di@sis unter den Intervallen am schwersten zu singen
ist, begreift sieh: auch kommt es, weil sie zugleich apyn ist, am meisten
auf ihre richtige Ausführung an und ist eine Abweichung, indem man
etwa sogleich den Lichanos intonirt, am empfindlichsten. Die gestellte
Frage ist also hiemit beantwortet. Der Verfasser geht aber noch auf die
zur Vergleichung herangezogene Intonation der Nete ein: To de, das aber,
nämlich das Treffen der Nete und der hohen Töne', ist schwer wegen
der Anspannung der Stimme. Ev Tovroıs, d.h. in diesen beiden Um-
ständen, das einemal in der Kleinheit des Intervalls, das anderemal in
der Höhe des Tons, liegt Anstrengung u.s.w. Es sind also zunächst zwei
verschiedene Erklärungsgründe für das häufige Misglücken der reinen In-
tonation in beiden Fällen; aber das Gemeinsame liegt in der Anstrengung,
zu der wir beim Intoniren genötigt sind.
Das folgende Pr. 4 (wieder ein Fall, wo zwei sachlich engverbundene
Probleme auch unmittelbar nebeneinander stehen) beziehe ich mit Bojesen
auf das Abwärts-Singen. Wenigstens ist auf keine andere Weise schon
die Fragestellung begreiflich: »Warum aber ist diese (die Parhypate)
schwer zu singen, die Hypate dagegen leicht, während doch eine Diäsis
von jeder der beiden (zur anderen führt)? «*
Wiederum wird man die Thatsache, so verstanden, nur richtig finden,
und bereits Helmholtz hat es als eine feine Beobachtung des Verfassers
gerühmt, dafs der Leitton (die »note sensible«) schwer und der Sehlufs-
ton leieht zu intoniren sei. Als Leitton aber sei die Parhıypate darum zu
fassen, weil die griechischen Gesänge nach Pr. 33 wahrscheinlich nach der
Hypate absteigend geschlossen hätten”. Nur bezieht Helmholtz die Äufse-
' Gaza und Bojesen beziehen ro de auf das Singen der Parhypate oder der Diesis,
wobei aber schon das d€ ungerechtfertigt wäre oder etwa stehen mülste: xaxemöv Ö£.
® Aa ri Ö& Tauryv yakeros, rıv de Imarnv padios, kaltoı dievis Ekarepas; —
3
Helmholtz, Lehre v. d. Toneinpf.+ S.396 und 463.
HA 0. Srunmer;
rung wol mit Unrecht auf die diatonische Seala. Der Ausdruck Diösis
wurde zwar in den Alteren Zeiten aueh für den Halbton gebraucht, seit
der Zeit des Aristoxenus aber kaum anders als für den enharmonischen
Viertelton!,
Die Lösung geht hier tief in’s Psychologische ein und ist wiederum
bereits von Helmholtz ihrem Sinne nach trefflich wiedergegeben’. Aber
(lie "Tiefe hat Texteorruptionen zur Folge gehabt, die nieht ganz sicher
zu heilen sind, Wir können mit einigen Conjeeturen übersetzen: »Etwa
weil die Hypate mit Nachlassen gesungen wird und das Nachgeben nach
der Anspannung leiehter ist. Daher vermutlich bezieht sich, was man
von der Gewalt sagt, auf diese oder die Paranete (Paramese?). Denn man
muls (um einen Von leieht und sicher zu treffen, ihn intoniren) mit Über-
legung (d.h. mit einer vorherigen genauen Vorstellung davon) und mit
einer dem Bewulstsein ganz vertrauten Verfassung in der Richtung des
Willens. «'
' In den aristotelischen Selhriften findet sieh eine Äufserung über die Diesis, die
in Ilinsieht unsres Problems nicht uninteressant ist, De sensu p.440, a, 1: 6 @v rn ddoreı
pOdyyon Aavddven, kalroı ovvoxovs Övros dose Ton Nous mavrös' To 00 didornua To ToV nerafı
npos rods Öeryarovs Aavßave, „Der Ton in dev Diösis wird nicht gesondert wahrgenommen,
obsehon man die snnze eontinmirliche Tonbewesung hört. Das Intervall des Zwischentons
zu den Äulseren entgeht uns. Ilier sprieht Aristoteles wahrscheinlich von dem stetigen
Übergang der Stimme von / nach @ (dureh Hinüberziehen, wie es auch unsre Sänger beim
beitton häufig verüben). Darin kam natürlich der Ton der enharmonischen Diösis (2)
vor, aber er wurde nieht für sieh wahrgenommen, weil die Stimme nicht darauf Halt
imnehte,
”» A:0.0,397: »In dem Leitton ist die Anstrengung fühlbar, welche mit seinem Über-
gang in den Grundton (Schlulston) aufhört.“ 463: »Die Hypate werde, sagt Aristoteles,
mit Nuchlals der Anstrengung gesungen, Und dann fügt er hinzu, dafs neben der Über-
logung, welche den Willen zur Wolge habe, auch noch die Art der Willensanstrengung dem
Geiste ganz heimisch und bequem sein müsse, wenn nämlich das Benbsichtigte leicht erreicht
werden solle, Die Anstrengung, welehe wir fühlen, wenn wir den Leitton singen, liegt
eben nieht im Kehlkople, sondern dnmin, dals es schwer ist, die Stimme durch den Willen
aul ihm festzustellen, während uns schon ein anderer Ton im Sinne liegt, auf den wir über-
schen wollen und dureh dessen Nähe wir den Leitton gefunden haben. Iirst in dem Schluls-
tone fühlen wir uns heimisch und beruhigt und singen «diesen deshalb ohne Willensan-
strongung.s
IH on ur dvdouos 1) Umary, al Ana era mv onvraeı (Ruelle statt avoranıy) eAa-
ppöv rd dvayakav (so ‚Jan statt des sinnlosen dvo PaAAuv); dia ralro de Koıe kai Tu mpös
Plav (so Bussemaker, Avist, op. Didot IV 2006 statt zdav) Awydneva mpös rabryv N) mapavılmıv
+ y N \ x ‚ \ f ‚ p 7) \ \ f )j
(mapanconv!), dei yap era owwvolas nal karaordaews olkeiorarns ro da mpos rıv Bovänaın, Die
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 55
Der erste Satz enthält das klare Prineip der Lösung. Die Hypate als
ein im Tonsystem ausgezeichneter Punet schwebt dem Bewulstsein schon
während des Singens der Parhypate vor, auf der man sieh darum sehwer
halten kann. Sie übt eine Art Anziehungskraft, und man hat, um sie zu
treffen, weiter nichts zu thun, als dieser Gewalt nachzugeben.
Der zweite Satz scheint nun auf eine uns des Näheren unbekannte
sprachliche Wendung Bezug zu nehmen, worin von dieser Bta die Rede ist.
Vielleicht war es ein in dem erwähnten Umstand begründeter Ausdruck
unter den praktischen Musikern (die ja auch heute ihre besonderen Hand-
werksausdrücke haben), dafs bestimmte Töne einen Druck oder Zug auf die
Stimme üben. Von der Paranete (c) des enharmonischen Systems konnte
Ähnliches gesagt werden bei dem aufsteigenden Gang h, h, c. Ebenso von
der Paramese (h) beim Absteigen. Da in unsrem Problem sonst absteigende
Riehtung vorausgesetzt ist und die Paramese dabei das genaue Analogon
der Hypate darstellt, hätte diese Änderung etwas für sich. Allenfalls lieflse
sich auch mpos vyrnv lesen, da die Nete von oben her auch eine Anziehung
übt, die freilich im enharmonischen System wegen der Lücke bei d stark in
die Ferne wirken muls.
Den letzten Satz endlich können wir uns «dureh die Einschaltungen
in der Übersetzung erläutern und unter der so umständlich verelausulirten
kardorarıs die Bedingung verstehen, dafs der Wille des Sängers dureh die
Gewohnheit eine Disposition erlangt haben mufs, den vorgestellten Ton aueh
in die entsprechende Muskelthätigkeit zu übersetzen. In der That gehören
diese zwei Bedingungen zur richtigen Intonation: genaue Vorstellung des Tons
und Gewöhnung des Willens an die riehtige Ausführung. Diese Willens-
verfassung ist uns aber am vertrautesten bei denjenigen Tönen, die den
Grundstock des musikalischen Systems bilden, die uns beim Singen und
Hören beständig als Orientirungspunete vorschweben. Nur scheinbar steht
diese BovAnoıs mit der ßta, von der vorher die Rede war, im Widerspruch:
denn die anziehende Gewalt der Hypate deekt sich mit der gewohnheits-
hierauf noch folgende Frage: row ö% dh pera avupovias rls 7 alria; setzt Jan mit Recht, wenn
sie so lautete, in eckige Klammern; sie erscheint als ein späterer Zusatz, der mit der
Sache gar nichts zu thun hat, bestenfalls als eine Aporie, die irgend ein Punet dieses
Problems noch bei seinem Verfasser oder einem darüber Nachgrübelnden zurückgelassen
hat. In dieser Hinsicht würde sich avwoias (aus dem Vorangehenden) statt evyupovias em-
pfehlen,
56 G. Stumer:
mälsigen Riehtung des Willens, sie ist in dieser Seelenverfassung mit ein-
geschlossen; sie wirkt ja nicht als Äufsere Gewalt, sondern als die unsrem
Bewulstsein gegenwärtige Tonvorstellung, die den Willen determinirt.
II. Gefühlswirkung der Musik.
I. Lust an der Musik überhaupt. Pr.ı.
Pr. 1: »Warum spielen sowol die Sorgenvollen als die Geniefsenden
die Flöte? — Etwa damit jene ihre Unlust vermindern, diese ihre erhöhen «.
Das Problem hat in dieser Form unleugbar etwas Triviales und wird gern
zum Beleg dafür verwendet, dafs Aristoteles nieht der Verfasser der Pro-
bleme sein kann. In die Frage selbst nun kommt die Trivialität für unsren
Geschmack eigentlich nur durch die Flöte, die man indessen hier als Ver-
treterin der Musik überhaupt verstehen mag. Bedenklich flach ist allerdings
die Antwort. Aber wir gedenken ja auch nicht die Echtheit der Pro-
bleme zu verfechten.
2. Freude an bekannten Melodien. Pr. 5, 40.
Dals uns bekannte Melodien lieber sind als unbekannte, erklärt Pr. 5
zunächst daraus, «dafs der Singende uns wie einer erscheint, der ein Ziel
trifft, und dafs wir das Treffen besser eontroliren können, wenn wir das
Gesungene kennen. Dies aber (das Treffen des Zieles) sei angenehm zu
beobachten'. Eine zweite Erklärung stützt sich darauf, dafs es (das Wieder-
Hören) angenehmer ist als das Lernen’, weil dieses ein Erlangen, jenes ein
Gebrauchen (der Kenntnis) und ein Wiedererkennen ist. Ferner sei auch
das Gewohnte angenehmer als das Ungewohnte.
Pr. 40 wiederholt die Frage und die erste Lösung fast wörtlich. Als
zweite fügt es bei: »weil der Hörer durch den, der Bekanntes singt, in
' Unter dem Ziel ist hier wol nieht nur die Tonhöhe, sondern der ganze Vortrag
gemeint. Das Sätzehen rovro ö ist nur dann nicht überflüssig, sondern ein Glied der Schlufs-
folgerung, wenn man das Subject wie oben im Text falst.
Der Text 7 örı ob ro navdaven ist, wie schon Bonitz bemerkte, unmöglich. Die kleinste
Anderung wäre jdtov rov jzuavdavenv, wobei das Subjeet aus der Fragestellung in obiger Weise
zu ergänzen ist.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 57
Mitleidenschaft gezogen wird'; er singt (innerlich) mit ihm. und Jeder singt
mit Vergnügen, wenn er nicht durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen
wird«e. Bei der letzteren Wendung dürfte der Verfasser nicht an Sänger
von Profession denken, sondern an den psychischen Vorgang, der dem
eben beschriebenen sympathischen Mitsingen entgegengesetzt ist. Wenn
wir eine neue Melodie innerlich mitzusingen suchen, unterliegen wir einer
ävaykn; beständig kommen unerwartete Töne, die uns in ihre Bahnen
zwingen. Bei den alten hingegen lenken unsre eigenen Vorstellungen,
wie sie sich eine nach der anderen gedächtnismäfsig einstellen, von selbst
unser Thun; dieses erfolgt, mit den Worten des Pr.4 zu sprechen, era
Fvvvolas Kal KATAOTAOEWS olkeiorarns To mdeı mpos nv BovAnoıv.
Die Sauberkeit der psychologischen Zergliederung ist in beiden Pro-
blemen bemerkenswert.
3. Freude an Rhythmus, Melos und Consonanz. Pr. 38.
» Warum — fragt Pr. 38 — freuen sich alle am Rhythmus, am Melos
und endlich’ an den Consonanzen? — Etwa weil wir uns über die natür-
lichen Bewegungen natürlicherweise freuen, wovon schon neugeborene Kinder
ein Beispiel geben. Durch Gewohnheit aber freuen wir uns an den Formen
der Melodien. Am Rhythmus aber freuen wir uns, weil er ein erkenn-
bares und geordnetes Zahlenverhältnis besitzt und uns geordnet bewegt;
denn verwandter ist uns von Natur die geordnete Bewegung als die un-
! Vgl. Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, a, 12: Erı de dkpompevo TOv wupmoeov ylyvovral
mävres ouumaßers (hier speziell vom Dramatischen gesagt).
®2 oAws steht hier wunderlich, da doch Consonanz nicht der Gattungsbegrifl der beiden
anderen ist und es auch Rhythmus ohne Consonanz giebt, wenngleich Melodien im eigent-
lichen Sinn nicht ohne consonante Intervalle möglich sind. Bussemaker übersetzt mit
Gaza »denique«, und ich glaube auch, dafs man das intendirte Verhältnis der drei Be-
griffe dadurch am besten wiedergiebt: in der Consonanz falst sich gewissermalsen Rhyth-
mus und Melodie zusammen, sie ist Rhythmus in Hinsicht der zu Grunde liegenden regel-
mälsigen Bewegungen, sie ist Melodie, sofern aus den Consonanzen die Intervalle sich er-
geben (dvvaneı).
® Der Ausdruck rporoı ueAov ist hier bezeichnend. Es liegt darin, dals gewisse melo-
dische Wendungen traditionell werden (man denke nur an die stereotypen Wendungen der
Reeitative, aber auch an Vieles in den Liedern) und dafs ihnen so auch allmälig eine Wirkung
zuwächst, die ihnen in sich selbst nieht oder nieht in demselben Malse zukäme. In rporos
liegt immer etwas von »hergebraecht« (vgl. die rporoı der Skeptiker u. A.).
Philos. -histor. Abh. 1896. III. 8
58 6. STUMPr:
geordnete, daher auch von Natur angenehmer'. (Ein Zeichen dessen ist,
dafs wir dureh geordnete Nahrung beim Arbeiten die physische Kraft er-
halten und mehren, durch ungeordnete sie zu Grunde richten; denn die
Krankheiten sind Veränderungen der natürlichen Ordnung des Körpers.)
An der Consonanz aber freuen wir uns, weil sie eine Mischung des Ent-
gegengesetzten ist, das ein (Zahlen-) Verhältnis zu einander besitzt. Das
Verhältnis ist eine Ordnung, die, wie gesagt, von Natur angenehm ist”.
Das Gemischte aber ist stets angenehmer als das Ungemischte (Einfache),
zumal wenn die beiden Elemente gleichmäfsig wahrnehmbar sind. «’
! Hier muls nach närAov notwendig stehen dv, oder j&ov statt naadov. Gleich darauf
beruft sich ja auch der Verfasser darauf, dafs er gesagt habe, das Geordnete sei von Natur
angenehm, was nur auf diese Stelle gehen kann. S. die folgende Anm.
2 5 gv duwer nöd. Das Imperfect steht hier nur als Rückweisung auf vorher Gesagtes.
S. Bojesen zu der Stelle.
® Aus dem Nachsatz: @AXos re küv aloOnrov Ov üyboiv rolv arpoıv GE Ivov nv Ölvayıv
Exoı ev ri oauubovia 6 Adyos habe ich in die Übersetzung nur das aufgenommen, was zweifel-
los seinen inhaltlichen Kern bildet. Die beiden Töne müssen, wenn ihr Verhältnis zur Gel-
tung kommen soll, gleichmälsig wahrnehmbar sein. Ist der eine z. B. viel stärker, so nehmen
wir eben den anderen und damit auch das Verhältnis zwischen beiden nicht wahr. Vgl. aus
Pr. 43: To nejuwypevov Tod dnirrov Moıdv korrıv, dav Ayo ya rıjv atoOnoiv rıs Aaußavn. Ferner s.
unten 8.67 die Erläuterung zu Pr. 16. Auch Aristoteles betont die gleichmälsige Stärke als
Bedingung für die wis, infolge deren zwei Eindrücke gleichzeitig erfalst werden können,
und wendet dies speziell auf die consonanten Töne an, De sensu €. 7 p. 447, a, 21l. Ferner
vgl. Theophrast in Porphyrius’ Commentar zur ptolemaeischen Harmonik Wall. p. 243 oben.
Im Übrigen ist allerdings dieser Nachsatz nieht eindentig, Man kann die einzelnen
Ausdrücke in verschiedener Weise aufeinander beziehen. Herr Vahlen war so gütig, mir
Folgendes als seine Ansicht mitzuteilen: »Vielleicht sind die Worte so zu verbinden: aAAws
re käv 6 Adyos Eyor rjv Quvazıy üpoiv Tolv ümpomw GE Ivov alodnrov öv ev ri) ovupovia = zumal
wenn das Verhältnis in der Consonanz die Qualität beider Endtöne gleichmälsig als ein
wahrnehmbar Seiendes hat (enthält, gewährt, &xor = mapexoı) oder freier: zumal das Ver-
hältnis ein solehes ist, welches die Qualität beider Endtöne gleichmälsig vernehmbar macht
in der Consonanzs,
Will man Conjeeturen versuchen, so lielse sich «aiodyrov övrov lesen und nun über-
setzen: »zumal wenn bei einer gleichmälsigen Wahrnehmbarkeit beider Grenztöne das Zahlen-
verhältnis im Zusammenklang zur Geltung kommts. Doch wäre rıv dwazuıv Exoı in diesem
Sinn immerhin ein etwas eigentümlicher Ausdruck.
Vom logischen Standpunet hat es etwas Störendes, dals der besondere Fall der Sym-
phonie erwähnt wird, wo es doch nur gilt, die allgemeinen Prinzipien anzugeben, auf
denen die vorher gegebene Erklärung für die Wirkung der Symphonie beruht. Man könnte
daher auch annehmen, dals die letzten Worte: ev rijv ouubovia 6 Adyos ähnlich wie die
Schlulsworte verschiedener Probleme nur eine später in den Text gekommene Glosse wären.
Dann würde man am besten alodyröv dv auf das vorhergehende xerpajıevov beziehen und so
1 5 pP
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 59
A
Das erste Erklärungsprineip, das der »naturgemälsen Bewegungen «,
soll für alle drei Seiten der Musik gemeinsam gelten. Bezüglich der Melodie
wird nur noch besonders hervorgehoben, dafs «die Bevorzugung bestimmter
melodischer Formen auf der Gewohnheit (musikalischen Erziehung) ruhe,
woran gewils auch viel Riehtiges ist. Bezüglich des Rhythmus wird das
intelleetuelle Moment erwähnt, die Wahrnehmung der regelmälsigen Ver-
hältnisse; hauptsächlich aber wird die direete physiologische Wirkung geord-
neter Bewegungen (des Sinnesorgans) betont, da diese unter den Begriff der
»naturgemälsen Bewegungen« fallen. Der Verfasser meint (um uns etwas
moderner auszudrücken), dafs rhythmische Einwirkungen auf die Sinnes-
nerven den Bedürfnissen des Organismus angepalst seien. ebenso wie die
rhythmischen Bewegungen der Glieder beim Tanz. Man mag hier Herbert
Spencer's Lehre vom Rhythmus vergleichen. Dafs sogar die geordnete (den
physiologischen Vorgängen angepalste) Nahrung zur Stütze der Erklärung
herbeigezogen wird, zeigt deutlich. dafs es sich um eine solche physiolo-
gische Auffassung der rhytbmisehen Wirkungen handelt.
Die Consonanz endlich wirkt durch die zwei in ihrer Definition ange-
gebenen Momente: durch die im Zahlenverhältnis gegebene Ordnung (der
Bewegungen) und durch die Verschmelzung (der Töne). Auch hier ist die
Wirksamkeit der geordneten Bewegungen, wie aus der Rückweisung er-
hellt, als eine physiologische aufzufassen, nicht etwa als vermittelt durch
eine, sei es auch unbewulste, Wahrnehmung und Erkenntnis der Zahlen-
verhältnisse von Seite des Hörenden (Leibniz und Euler)‘. Auch die Ver-
übersetzen: »zumal wenn es (das Gemischte als solches) wahrnehmbar ist und die Natur
der beiden Elemente gleichmälsig enthält».
! Man könnte vielleicht aus der Bemerkung, dafs die Mischung besonders dann an-
genehm sei, wenn beide Töne gleichmälsig darin wahrnehmbar sind, schlielsen wollen,
dals hiedurch doch ein intelleetuelles Moment in die Lust am Zusammenklang komme.
Aber erstlich würde dies nieht eine Freude an der Wahrnehmung von Bewegungen sein,
sondern von Tönen; zweitens aber ist nicht einmal diese aus der obigen Stelle zu er-
sehlielsen. Der Unterschied, auf welchen das aAAos re hindeutet, ist nicht der zwischen
Mischungen, deren Bestandteile nur empfunden (pereipirt) aber nicht wahrgenommen
werden, und Mischungen, deren Bestandteile auch wahrgenommen (appereipirt) werden,
sondern zwischen solchen, wo sie gleiehmälsig (speziell gleichstark), und solchen, wo
sie ungleichmäfsig in der Einpfindung vertreten sind. Für die Alten existirte der Unter-
schied zwischen »Empfindung» und »Wahrnehmung- überhaupt nicht (abgesehen von An-
deutungen). Man kann aiodäverda: bei Aristoteles und so auch in den Problemen ebensowol
mit dem einen wie dem anderen Ausdruck übersetzen.
8°
60 6. Stumpr:
schmelzung wirkt nicht, sofern sie Gegenstand einer Wahrnehmung ist,
durch das intelleetuelle Vergnügen, das etwa die Vergleichung der ver-
schiedenen Versehmelzungsstufen oder die daran geknüpften Ideenverbin-
dungen gewähren, sondern unmittelbar, durch ihr Dasein in der Sinnes-
empfindung. Es wird als ein allgemeines und letztes psychophysisches
Prineip hingestellt, dafs das Gemischte angenehmer sei als das Einfache.
Das Prineip findet sich ebenso wie das der geordneten und dem Organ
angepalsten Bewegungen auch bei Aristoteles öfters und speziell für die
Consonanz verwertet!.
Bemerken wir noch, dafs der Verfasser, indem er das Mischungs-
prineip heranzieht, offenbar die Wirkung der eonsonirenden Töne im
Zusammenklang erklären will, was ja im Grunde auch schon aus der
Trennung der Symphonie vom Melos hervorgeht, denn aufeinanderfolgende
Consonanzen wären in der Melodie schon eingeschlossen. Kein Zweifel
also, dafs den Alten auch Zusammenklänge unter Umständen als an-
genehm galten.
4. Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz hat
aber keines. P. 27,209.
Pr. 27: »Warum hat das Akustische allein unter den Sinnesempfin-
dungen Ethos? Auch ohne Worte hat ja die Melodie Ethos, während
weder Farben noch Gerüche noch Geschmäcke ein solches besitzen. — Etwa
weil das Akustische allein Bewegung hat, womit aber nicht die gemeint
ist, durch welche der Schall auf uns wirkt — denn solche findet sich
auch bei den übrigen Sinnen, wie bei den Farben —, sondern die einem
solehen (äufseren) Schall nachfolgende Bewegung, die wir empfinden’.
Diese aber hat Ähnlichkeit” (mit unsren willkürlichen Bewegungen) sowol
1
Vgl. De sensu c. 3, p. 439, d, 31. De an. Ill, 2, p. 426, a, 27f. Zu beiden Stellen
meine 0. S. 5 erwähnte Abhandlung. Zum Mischungsprineip Torstrik Arist. de anima p. 168.
Am allgemeinsten ist es De sensu p. 442, a, 12 ausgesprochen: Gormep de Ta xponara ex Nevkov
Kal HENavos nikeos Eeorıv, oltws ol yvuol Ek yAuvkeos kal mıkpoV. Kal kart Aödyov on TO HANAov Kal
jtrov Ekaorol eiouw, elite kar' üpıÖuovs Tıvas Tijs JuEewS kal kıvjaeıs, elite Kal dopiorws. ol de iv
ndovnv moıoUvres juryvönevoı, oDroı ev apıÖuois uovov.
® Ich habe hier in der Übersetzung die Anakoluthie beseitigt.
° Es ist gar kein Grund, hier mit Wagener (bei Gevaert I, 357) öuaAoryra statt öuowrnra
zu lesen, der ganze Zusammenhang würde vielmehr gestört; man muls nur die in unsrer
Übersetzung eingeklammerte Ergänzung dazudenken, welche sich aus dem letzten Satz
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 61
in den Rhythmen als in der Anordnung der Töne nach Höhe und Tiefe
-—— nieht aber in der Mischung, die Consonanz vielmehr hat kein Ethos —:
während bei den übrigen Sinnesempfindungen dies (die erwähnte Ähnlieh-
keit) nicht stattfindet. Diese Bewegungen sind aber handelnder Art (mpak-
rıkal), und die Handlungen sind ein Zeichen (onuacta) des Ethos.«
Pr. 29 wirft von vornherein die Frage nur für Rhythmus und Melos'
auf und antwortet kurz: »Etwa weil sie Bewegungen sind, ähnlich wie
die Handlungen (worep kaı ai mpd&eıs). Die Thätigkeit? ist aber etwas
Ethisches und bewirkt Ethos. Die übrigen Sinnesempfindungen wirken
nicht in gleicher Weise«.
Zu Pr.27 ist Manches zu erläutern. Vor allem: unter der dem Schall
nachfolgenden Bewegung sind nicht etwa die physiologischen Bewegungen
im Organismus verstanden”, sondern die empfundenen Veränderungen der
Intensität und Höhe der Töne, worin Melodie und Rhythmus selbst be-
stehen. Darum heifst es: klvnow Eyeı (TO akovoröv). Wol liegen nach
den Anschauungen der aristotelisechen Schule allen Empfindungen physio-
logische Bewegungen zu Grunde. Aber was der Verfasser hier im Auge
hat, ist nicht die physiologische, sondern die psychologische Seite der
Sache, die Modificationen der Gehörsempfindungen selbst, wie sie unsrem
Bewulstsein gegeben sind. Das Wort kivnoıs wird also hier weder im
physisch-räumlichen Sinne (wogegen der Verfasser selbst sich verwahrt),
noch im physiologischen, sondern in einem geistigen, übertragenen Sinne
gefalst; wie wir solchen Sprachgebrauch auch bei Plato und Aristoteles
öfters finden. Doch kann nicht jede Veränderung der Empfindung gemeint
sein, da auch bei anderen Sinnen Veränderungen nach Intensität und Qua-
lität vorkommen, sondern nur wieder geordnete Veränderungen. Nur bei
den akustischen Eindrücken lassen sich, meint der Verfasser, feste Abstu-
fungen sowol in zeitlicher Hinsicht (Rhythmus) wie in qualitativer (musika-
des Problems (ai de kıvıjoeıs avraı mparrıral eiow) ergiebt. Denn dieser Satz ist es, der den
Kettenschluls folgerichtig weiterführt.
! Der Zusatz dovy ovoa bedeutet wol: worin der Gesang besteht (Gaza: »qui voces
sunt«, Bussemaker: »qui ad vocem pertinent«).
? evepyeia verstehe ich hier nicht mit Jan im Sinne der aristotelischen Form (Wirklich-
keit) als Gegensatz zu den nur dwae: existirenden geschriebenen Gesängen, sondern einfach
und ohne Metaphysik als das Thätigsein,, &vepyeiv.
® wie sie z.B. Plato im Timaeus p. 67,5 und 80,«@ beschreibt und zur Erklärung von
Consonanz und Dissonanz verwendet.
62 6. Srumpr:
lische Intervalle) durehführen. Man mag vielleicht auch hierüber mit dem
Verfasser rechten und einen blos graduellen Unterschied gegenüber anderen
Sinnen finden wollen, aber es wird sich nicht leugnen lassen, dafs das
Gehör wenigstens durch die Feinheit und Vielgestaltigkeit der rhythmischen
und qualitativen Abstufungen weit über allen anderen Sinnen steht. Wir
können also seine Behauptung auch sachlich würdigen.
Diese im Zeitverlauf sich abspielenden Modificationen der akustischen
Sinnesempfindungen nun, die er kurz Bewegungen nennt, haben Ähnlichkeit
mit den Handlungen, den willkürlichen Bewegungen, den körperlichen Äufse-
rungen unsrer Willensthätigkeit (kıvyoeıs mpartıkal); und in den Handlungen
selbst wieder zeigt sich der Charakter der Menschen. Infolgedessen wirken
Rhythmus und Melos als Bilder des Ethos, des Charakters. Es haben sich,
würden wir sagen, durch die genannten Mittelglieder Vorstellungen des
Sittlichen damit assoeiirt.
Die Lehre findet sieh in ganz ähnlicher Weise bei Aristoteles, wo u. A.
in Pol. VIH, 5 p.1340, a, 28 auch der Gegensatz gegen die übrigen Sinnes-
empfindungen hervorgehoben wird; nur bei den Gesichtseindrücken komme
sporadisch etwas Verwandtes vor, doch seien auch sie dann nicht eigentlich
Öuomwuara, sondern nur onuera rev ndov'. Auch sonst ist die Anschauung
den alten Schriftstellern geläufig.
Ist nun alles insoweit verständlich und auch nach unsren Vorstellungen
schön gesagt, so mag die Parenthese über die Consonanz um so mehr Ver-
wunderung erregen. Dafs auch hier Consonanz im Zusammenklange der
Töne gemeint ist, ist unbestreitbar, ovupwvia wird ebenso wie in Pr.38 von
ueXos unterschieden. Aber dort hiefs es doch, dafs wir uns an der Sym-
phonie freuen. Jan findet denn auch einen Widerspruch zwischen beiden
Problemen. Namentlich könnte man darauf hinweisen, dafs im Pr. 38 das
Vergnügen an der Consonanz unter anderem auf die ra&ıs zurückgeführt
wird, worunter nach dem sonstigen Wortlaut des Problems nur die Ord-
nung der der Consonanz zu Grunde liegenden Bewegungen verstanden sein
kann. Wenn nun aber, nach Pr. 27, an geordnete Bewegungen eine ethische
! onuetov, Zeichen, ist der allgemeinere Begriff; auch das Ähnliche ist ein Zeichen für
das Ähnliche, aber nieht jedes Zeichen braucht dem Bezeichneten ähnlich zu sein; es muls
nur regelmälsig daran geknüpft sein; wofür Aristoteles an derselben Stelle als Beispiel die
körperlichen Bewegungen anführt, die an die Affeete geknüpft sind. So werden auch Pr.27
am Schluls die Handlungen 79ovs anuaria genannt.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 63
Wirkung geknüpft ist, sollte man eine solche auch von der Consonanz
erwarten.
Aber wir müssen hier wol unterscheiden. Es handelte sich im Pr. 38
um eine Entstehungsweise von Lustgefühlen, bei der die Vorstellungsassoeia-
tion keine Rolle spielt, um den sogenannten »direeten Factor«, mit Fechner
zu reden. Der Verfasser stützt sich dort einfach auf das Gesetz, dals an
gewisse physiologische Vorgänge, die er als »geordnete« oder »natürliche«
Bewegungen bezeichnet, weil sie mit den Lebensbedingungen des Organismus
übereinstimmen, eine instinetive Lust geknüpft ist. Hier hingegen sind
erstlich Bewegungen in ganz anderem Sinn gemeint. empfundene Verände-
rungen der Intensität und Qualität der Töne. zweitens wird auf die Ver-
knüpfung dieser Empfindungsmodificationen mit Handlungen und Charakter-
eigenschaften in unsrem Bewulstsein hingewiesen. Im Pr.38 ist mit keiner
Silbe davon die Rede, dafs jene Bewegungen als Bilder von etwas auf
unser Gemüt wirken sollen; dort war eben nicht die Frage nach dem
Ethos gestellt. Als eine Ergänzung zu 38 also müssen wir Pr. 27 be-
trachten, aber keineswegs als einen Gegensatz'.
Obgleich nun aber die hier entwickelte Anschauung von der Wirkung
der Consonanz in sich vollkommen verständlich und mit keiner anderen in
den Problemen in Widerspruch ist, so bleibt doch ein eclatanter Wider-
spruch gegen unser gegenwärtiges musikalisches Gefühl.
Diese wenigen Worte n ovubwvia ok Eexyeı nos — ent-
halten im Kern den ganzen Unterschied der alten und der
neuen Musik.
Für uns ist auch an die Consonanz und Dissonanz des Zusammen-
klangs ein Ethos geknüpft, und es ist so fein und manichfaltig durech-
gebildet wie das der Rhythmen und der melodischen Bewegung. Der Zu-
sammenklang der Octave hat einen anderen »Charakter« als der der Quinte
oder der Terz oder Septime. Wenn sich auch dieser Charakter (ebenso
wie der der Rhythmen und melodischen Wendungen) schwer in Worten
wiedergeben läfst und wenn er durch den musikalischen Zusammenhang
wesentlich mitbedingt ist, so braucht man doch nur die Beschreibungen
! Noch misverständlicher sagt Jan: »ww&s sonorum turbare et obseurare carminis ethos
Graeeis videbatur« und führt dafür die Stelle aus der Schrift r. akovorov an, wo es heilst,
dals die Töne bei der Consonanz sich gegenseitig verbergen. Damit ist überhanpt nicht eine
Gefühlswirkung gemeint, ebensowenig wie bei Aristot. De sensu e.7. S. oben S. 9.
64 C. Stuner:
musikalischer Wirkungen anzusehen, um sich zu überzeugen, dafs diese
Art und Seite der Gefühlswirkung für uns durchaus im Vordergrunde steht!'.
Vielleieht möchte einer doch nieht ohne Weiteres einen Unterschied
der musikalischen Empfindung selbst, sondern nur einen der Musiktheorie
aus unsrer Stelle ableiten. Der Verfasser dieses Problems habe eben kein
Verständnis für die ethische Wirkung des Zusammenklangs als solchen
besessen: mehr lasse sich zunächst nicht schliefsen. Gewils — wenn uns
sonst nichts über die alte Musik und über die spätere Musikentwieckelung
bekannt wäre. Aber alles, was wir hierüber wissen, stimmt vollkommen
mit der Aussage unsres Problems überein. Wir dürfen dieses als Austlufs
und als correeten Ausdruck des wirklichen Musikgefühls seiner Zeit an-
sehen.
Für die Alten existirte nur die sinnliche Annehmlichkeit der Zusammen-
klänge, und auch diese offenbar nur wenig differenzirt. Von ihr allein ist
im Pr. 38 und sonst die Rede, wenn Consonanz als solche angenehm ge-
nannt wird”.
Woher dieser Unterschied kommt, wie sich der Sinn für das Ethos der
Zusammenklänge entwickelt hat und wie hiemit die gesammte Umgestaltung
der Musik zusammenhängt, das mufs natürlich hier auf sich beruhen.
! Dazu gehört besonders auch alles was mit der sog. Auflösung der Dissonanzen, all-
gemeiner gesagt mit der Stimmführung zusammenhängt. Ich kann daher Westphal (Griech.
Harm. 3180) nicht zugeben, dafs in Pr. 39» (s.o. S. 24) genau die Eindrücke beschrieben
seien, welche wir bei Dissonanzen und bei den auflösenden Consonanzen des Abschlusses
empfinden. Bei der sg. Auflösung kommt es durchaus auf die richtige Stimmführung an,
nicht blos darauf, dals auf irgend eine Dissonanz irgend eine Consonanz der bezüglichen
Tonart oder gar eine Homophonie folgt, z.B. auf f—-g e—g oder blos c. Dals die Alten
etwas wie Stimmführung, dafs sie Polyphonie in diesem Sinne gehabt hätten, davon ist
nichts überliefert.
2 Plato allerdings unterscheidet einmal hinsichtlich der Consonanz, nachdem er aus-
drücklich von der Verschmelzung der hohen und tiefen Bewegung zu einem einheitlichen
Zustand, also von gleichzeitigen Eindrücken, gesprochen, eine sinnliche Lust, die sie den
Unverständigen gewähre, und ein Wolgefallen »durch Nachahmung der göttlichen Harmonie
in vergänglichen Bewegungen« bei den verständigen Hörern (Timaeus p. 80, bj). Es ist sehr
fraglich, ob Plato hier aus dem wirklich erlebten Gefühl heraus spricht und nicht vielmehr
seiner Metaphysik zu Gefallen, die alles in der Welt auf Nachahmung der Ideen gründet. Wäre
das erstere der Fall, so hätten wir hier die erste Vorahnung künftiger Entwickelungen.
Aristoteles erwähnt, wo er von der aesthetischen Wirkung der Musik sprieht, immer
nur Rhythmus und Melos (oder äpnovia, was ebendasselbe bedeutet), vgl. Pol. VIII, e. 5
p.1340,a, 13 (wozu Jan’s Correctur Mus. ser. p. 26, 12); P.1340, buTT75RC.7 pP. 1347, hg:
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 65
5. Vorrang der Octave vor den übrigen Symphonien und der
Antiphonie vor der Symphonie und Homophonie. Pr.35', 16, 39".
a) Pr. 35° (bis zu dia mavros, s.0. S. 50): »Warum ist die Octave
die schönste Consonanz?« — Die Antwort verweist zunächst auf arith-
metische Verhältnisse (dafs nur bei der Octave, wenn der tiefere Ton als
ı gesetzt wird, der höhere ohne Bruch ausgedrückt werden kann). Aufser-
dem sei die Oetave die vollkommenste Consonanz, da sie sich aus den
beiden anderen (Quinte und Quarte) zusammensetze. Endlich sei sie das
Mafs der Melodie; womit wahrscheinlich gemeint ist, dafs die Melodie sich
innerhalb dieser Grenze bewege.
Wir sehen aus der Fragestellung, dafs unter den Consonanzen, die nach
dem Vorangehenden (S.58) gegenüber dem einfachen Ton als angenehmer
gelten, auch noch Gradunterschiede der Annehmlichkeit' statuirt werden.
Nach unsrem Gefühl würden wir in dieser Hinsicht wol die Terz voran-
stellen, jedenfalls den unbedingten Vorrang der Octave nicht zugestehen, ob-
sehon wir sie natürlich nach wie vor als vollkommenste Consonanz, d.h. als
Zusammenklang von stärkster Verschmelzung erkennen. Auch diese Wand-
lung läfst sich historisch -psychologisch begreifen.
b) Pr.16: »Warum ist das Antiphone angenehmer als das Sym-
phone? — Etwa weil (dabei) das Symphoniren besser deutlich wird, als
wenn man zur Symphonie singt. Denn (es wäre sonst) notwendig, dals
die eine der Stimmen im Einklang sänge, sodals zwei gegen eine Stimme
D)
stehen und die andere (nämlich diese isolirte) unterdrücken «“.
Bojesen vermutet einen Fehler im Text der Fragestellung, da nirgends
sonst in den Problemen Antiphones und Symphones sich entgegen gesetzt,
vielmehr das erstere unter dem letzteren mitbegriffen werde. Er will mit
Rücksicht auf Pr. 39° (s. u.) in der Frage statt avubwvov ouobwvov lesen.
Dieselbe Änderung nahmen schon Burette und Chabanon, neuerdings wieder
Bussemaker und Barthelemy St.-Hilaire in ihren Übersetzungen vor. Aber
! xaAXiorn, das an sich vielleicht etwas mehr als 7diorn bedeuten könnte, ınöchte ich
mit Rücksicht auf das Vorangehende und auf Pr. 39%, wo das gegenwärtige offenbar eitirt
wird (s.u.), doch mit 7d&orn synonym fassen.
2 Aa Ti ndtov TO avribovov ToV ovubovov; — "H on naAAov OtaonAov yYiverat To ovuboveiv,
7 Orav mpos nv ovupwviav ao. avaykı yap Tv Erepav önopmveiv, GcTe dvo mpos ulav dovav Yırönevaı
abavilovoı Tv Erepav.
Philos.- histor. Abh. 1896. III. 9
66 G, Srumpr:
in der Lösung ist nur von der Symphonie die Rede; und was überhaupt
mit der Deutung des Ganzen anfangen?
Gevaert, Ruelle und Jan verstehen ohne 'Textänderung die Frage
dahin, warum die Oectave angenehmer sei als die Quinte und Quarte.
Aber dafs die Oectave, das Hauptbeispiel der Symphonie, der Quinte und
(Juarte als »dem Symphonen» gegenübergestellt würde, wäre ein Wider-
spruch zu dem sonstigen Sprachgebrauch der Probleme und des ganzen
Altertums, höchstens den Ptolemaeus ausgenommen, der in der That nur
(Juinte und Quarte als Symphonien, die Oetaven aber auch nieht als Anti-
phonien, sondern als Homophonien bezeichnet!. Und was soll uns wiederum
die Lösung, das mpos nv ovubwviav aön und der letzte Satz? Man
mufs in den Übersetzungen und Commentaren nachsehen, welehe Künst-
lichkeiten und Unmöglichkeiten der Auslegung dabei vorkommen.
Kiehthal und Reinach meinen, dafs die Lösung überhaupt keine Be-
ziehung zur Fragestellung habe, und ergänzen eine neue Fragestellung
dazu, nämlich: » Warum ist es angenehmer, einen Gesang mit Begleitung
einer einzigen, als zweier Instrumentalpartien zu hören?« Als Lösung
dieser seltsamen Frage erblieken sie in unsrem Problem den Gedanken,
dafs im zweiten Falle »de toute necessite« eine der beiden Instrumental-
stimmen mit dem Gesang unison sein müsse, sodals der so verdoppelte
Ton den anderen unterdrücke. Aber diese »toute necessite« ist nicht im
mindesten vorhanden. Von den beiden Instrumenten kann das eine in
einer höheren, das andere in einer tieferen Octave mitgehen, oder beide
in verschiedenen höheren Octaven; sie können auch an einzelnen Stellen
die Quarte und die Oetave zu dem gesungenen Ton angeben (solche Drei-
klänge sind uns mehrfach bezeugt). Und schliefslich, wenn wirklich der
Gesang dureh ein damit unisones Instrument verstärkt wird, kann man
ja das zweite Instrument, das den symphonen Ton giebt, auch noch dureh
ein drittes verstärken, dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt. Eben
darum nannten wir schon die vermutete Fragestellung seltsam. Endlich ist
im Wortlaut mit keiner Andeutung von Instrumentalbegleitung die Rede,
sondern wird immer nur vom Singen und von der Stimme gesprochen.
Auch dieses Problem wird nach seinem ganzen Wortlaut verständlich,
wenn wir die obigen Erläuterungen über den Antiphonie - Begriff der Probleme
! Bei Theo Smyrn. (bez. Thrasyll) ist das ovupovov kar! avrihovov eine besondere Art
des Symphonen, wird ihm also auch nicht gegenübergestellt.
“
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 67
zu Hilfe nehmen und uns den Vorgang, von dem hier die Rede ist, so denken:
Zwei Sänger bez. Chöre singen zuerst eine Melodie in Oetavengängen, dann
wiederholt ein dritter sie in der tieferen der beiden Octaven. Diese Aus-
führungsweise , meint der Verfasser, läfst das Symphoniren (der Octaven) besser
hervortreten, als wenn er, der dritte, zur Symphonie (zur Octave) mitsänge.
Denn dann mülste er, da nach Pr. 18 nur in Oetaven mehrstimmig gesungen
werden darf, im Einklang mit einem der beiden singen, wodurch der andere
zu sehr zurückgedrängt würde'. Wir wissen ja, dafs bei der Symphonie viel
auf die gleiche Stärke der beiden Töne ankommt (s. 0. S.58). Ist einer
zu stark vertreten, so hört man eben nur diesen, nicht eine Consonanz.
Bei der Argumentation ist vorausgesetzt, dafs drei Säuger oder Chor-
abteilungen gegeben sind und beschäftigt werden müssen. Nach dem, was
wir aus anderen Problemen und sonstigen Mitteilungen der Alten wissen,
sangen bei vielen Gelegenheiten ein Männer- und ein Knaben-(oder Frauen-)
Chor in Octaven. Der Männerchor übernahm nun die antiphone Wieder-
holung (die nach Pr. ı3 in der tieferen der beiden Oectaven stattfand). Er
wurde, so müssen wir wol annehmen, zu diesem Zweck verdoppelt, die
eine Hälfte (nuuyopıov) sang mit den Knaben in Oetaven, die andere nach-
her allein. Diese Anordnung scheint auch das sogleich zu besprechende
Probl. 39° im Auge zu haben, wonach Knaben, Jünglinge und Männer das
Antiphone herstellen. Indem nun der Verfasser die traditionell stärkere
Besetzung des Männerchors als eine gegebene Sache hinnimmt, kommt er
zu der Fragestellung, warum diese Verteilung der Kräfte besser wirkt, als
wenn die ganze Masse sogleich zusammensänge. Die Antwort ist nach
diesen Voraussetzungen einleuchtend.
c) Pr. 39°: » Warum ist das Antiphone (im Text: Symphone) ange-
nehmer als das Homophone? — Etwa weil das Antiphone aus einer Öc-
tavenconsonanz wird (im Text: eine Octavenconsonanz ist). Denn das Anti-
phone entsteht aus (dem Gesang von) Knaben, Jünglingen und Männern,
deren Stimmen sich wie die Nete zur Hypate verhalten. Jede Sym-
phonie ist aber angenehmer als der einfache Ton — warum, ist gesagt
’ Er könnte zwar an und für sich auch in der dritten Octave mitsingen, aber dies würde
zu Unbequemlichkeiten in Hinsicht der Stimmlage führen und den strengen Bedingungen, die
sich die Alten für die Grenze des Stimmgebrauchs setzten (nieht über 24 Octaven), wider-
sprechen,
9*
68 0. Stumer:
worden! —, und unter ihnen ist die der Oetave die angenehmste. Das
IHomophone aber enthält nur einfachen Ton. «*
In der Frage dieses Problems ist nun wirklich eine Änderung des
handsehriftlicehen Textes unvermeidlich, die ich auch, da sie seit Gaza fast
allgemein acceptirt ist, sogleich in die Übersetzung aufgenommen habe.
Die Handschriften haben ovubwvov statt avripwovov. Der strenge Zusam-
menhang der Lösung, worin dem Homophonen durchaus das Antiphone
gegenübergestellt und das Symphone nur als Hilfsbegriff der Beweisführung
gebraucht wird, verlangt avribovov auch für die Fragestellung”.
Wenn uns andere Probleme über Antiphonie nicht erhalten wären,
könnte man nach diesem wol zu der Meinung kommen, «dafs Antiphones
niehts weiter bedeute als eben Octaventöne. Es wäre dann gemeint, dafs
ein Gesang in Oetavenparallelen angenehmer sei als ein blofs einstimmiger.
Die Umständlichkeit der Beweisführung bliebe freilich zu verwundern: denn
der zweite Satz der Lösung wäre überflüssig. Um die gleiche Bedeutung
zweier Ausdrücke (avribovov und dıa Trao@v) zu rechtfertigen, braucht man
nicht eine Entstehungsgeschichte der Sache beizufügen, höchstens eine Er-
läuterung über die Entstehung der Ausdrücke. Ebenso bliebe der letzte
Satz seltsam: denn wenn Homophones nichts weiter bedeutet als einfacher
Ton, so kann man doch nieht gut sagen: das Homophone hat einfachen Ton.
Nun gehört aber zweifellos dieses Problem eng mit dem eben be-
sprochenen Pr. 16 zusammen; die Fragestellung ist ganz analog. Es ist des-
halb von vornherein kaum anzunehmen, dafs hier ein anderer Begriff von
Antiphonie zu Grunde läge, als wir ihn dort und auch in sonstigen Problemen
gefunden. In der That läfst sich dieser auch hier festhalten. Der Verfasser
meint: es ist angenehmer. wenn die Melodie zuerst in Octavengängen ge-
sungen und dann einstimmig in einer von beiden Tonhöhen (der tieferen)
wiederholt wird, als wenn Ausführung und Wiederholung auf der nämlichen
Tonhöhe stattfinden. Die antiphone Wiederholung ist angenehmer als die
! im Pr, 38. Dies ist die einzige Verweisung innerhalb der XIX, Section.
D - N \
? Ad mi ydıov dor TO Avriowvor (statt adbubovov) Tou önodovov; — "H örı (statt kat) To
x ’ ’ ’ ’ ’ x ’ [2 ’ Sı m ’ [AN x x [4 ei) hy m
ev Avribovov er avubovov eorı (Statt arupavov earı) da marov. Er maidov yap (Kal) veov Kal avdp@v
r Sr ar Een Wa a2 N... -
YıreTat TO avripwvor, ot ÖGETTAaOL TOIS TOVOIS WS vytn mpos VTaTrnv. ovubovia oe mawa Nolav anrAov
, in a m De Ca a: lo N Base. Ar
ddoyyov or ade, eipyraı ‚ka rovrov n ovea Taarwv yıortn' To ouohbmvov oe amAovv exe ddoyyov.
> Im Text der Lösung ist die Anderung von kat in or (Ruelle, Jan) einleuchtend,
a Ä & r Wr 5
Ruelle’s Einschaltung von xat vor veov wenigstens sehr plausibel (Parallele raldov kat veov bei
Philodem De mus.). Über ex avubovov sogleich nachher.
Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 69
homophone. Dafs der Leser unter dem »Gegengesang« eine Wiederholung
der Melodie verstehe, setzt der Verfasser voraus und hält es nur für nötig,
zu erinnern, worin das Unterscheidende der antiphonen und der homophonen
Wiederholung bestehe.
Die Antiphonie beruht auf dem Gebrauch der Symphonie, und zwar der
Octave. Sie entsteht durch das Zusammenwirken der Knaben-, Jünglings-
und Männerstimmen (indem sie bald zugleich, bald einzeln singen). Da nun
der symphone Klang und vorab die Oetave angenehmer ist als der Einzel-
klang, die homophone Vortragsweise (mit Wiederholung auf der gleichen
Tonhöhe) aber nur einfache Töne besitzt (in keinem ihrer beiden Teile
Symphonien enthält), so begreift sich, dafs die antiphone angeneh-
mer ist.
Diese Auslegung setzt noch die kleine Textänderung ek ovubovov eori
voraus. Wir sahen bereits, dafs im Text des Problems sich mehrere kleine
Fehler eingeschlichen haben, die nur aus dem Sinn heraus, auf diesem
Grunde aber mit grofser Sieherheit verbessert werden können. Das Nämliche
gilt hier. Mit dieser leichten Änderung wird alles durchsichtig. Es fällt
nun auch der Anschein hinweg, als wenn hier eine Definition der Antiphonie
gegeben wäre, die alle übrigen Probleme über Antiphonie in baaren Unsinn
verwandeln würde (vgl. 0.8.26); und es ist zugleich der denkbar engste
Anschlufs dieses Satzes an den folgenden, wo die Entstehung der Anti-
phonie näher erläutert wird, hergestellt'.
Zur Not könnte man allenfalls auch ohne die kleine Correetur aus-
kommen, wenn man den Satz nur dahin verstände, dafs im Begriff der
Antiphonie der der Octave enthalten sei (ohne sieh damit zu deeken), und
dann weiterhin die eben gegebene Auslegung beibehielte. Aber gezwungen
bliebe diese Auffassung des €eorı sicherlich und könnte zu einem Abend-
mahlstreit im Kleinen führen. Auch wäre der nächste Satz wieder weniger
gut motivirt.
ı Zu eva &£ im Sinne von ventstehen« vgl. u. A. Aristoteles Pol. II, 2 p.1261, a, 18:
r v . ‚ ER, ‚ TER Ihls , y
mAnbos yYap rı rjv dvow &oriv 7 moAıs, yıvouevy Te ja naNNov olkia ev Ex mONEOS, avdpwmos
Ö’ &E oiklas Eoraı (wenn der Staat noch mehr Eins würde — Aristoteles spricht hier von
den ecommunistischen Träumereien —., so würde aus dem Staat eine Familie und aus der
Familie ein Individuum).
70 C. Srumrr:
6. Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und
ihrer Verbindung.
a) Die Stimme und die Instrumente. Pr. ıo.
Pr. 10: » Warum, wenn die menschliche Stimme angenehmer ist, ist
sie es doch ohne Text nicht, wie z.B. wenn sie eine andere Klangquelle
nachahmt', sondern ist vielmehr die Flöte oder Lyra (selbst) angenehmer?
Oder ist auch dies” (die Instrumente), wenn es nachahmt, nicht in gleicher
Weise angenehm? — Doch nicht! sondern wegen der Leistung (Epyyov) selbst.
Die Menschenstimme ist zwar an sich angenehmer, aber zum Spielen sind
die Instrumente besser geeignet (kpovotika de uaAXov) als der Mund. Darum
ist es angenehmer zu spielen als mit dem Mund das Spielen nachzuahmen. «
Der zweite Teil der Frage »Oder...« ist zugleich eine problematische
Lösung, indem vermutet wird, dafs vielleicht jede Klangquelle, wenn sie zur
Nachahmung anderer benützt wird. weniger angenehm wirke. Diese Vermu-
tung wird dann aber nicht acceptirt. Der Grund liege vielmehr in der speziellen
Beschaffenheit des menschlichen Stimmwerkzeugs, dem es eben nicht hin-
reichend gelinge, das Eigentümliche der instrumentalen Tongebung wieder-
zugeben. Dieses Mislingen, diese Halbheit — so müssen wir ergänzen —
verursacht Unbefriedigung und verringert den Genufs.
b) Gesang mit Begleitung. Pr.9g, 43.
Pr. 9: »Warum hören wir einen Einzelgesang lieber, wenn einer zur
Flöte oder Lyra singt? Und doch spielt das Instrument im Einklang mit
der Stimme. Denn" wenn man an und für sich Freude daran hätte, dafs
Mehrere das Nämliche vortragen, so mülste es noch angenehmer sein,
wenn einer zu vielen Flöten sänge. — (Lösung:) Etwa weil einer, der
zur Flöte oder Lyra singt, deutlicher das Ziel trifft (besser intonirt). Der
Gesang zu vielen Flöten aber ist deswegen nicht angenehmer, weil sie die
Stimme unterdrücken. «
I Über reperilew s. Jan u. A.
? Statt exei lese ich mit Jan &xewvo, beziehe es aber nieht mit ihm auf die Stimme,
sondern auf die Instrumente. So verlangt es der Sinn, und sprachlich ist die Wendung
(der Singular) zwar nicht schön, aber immer noch weniger hart und nachlässig, als es exer
wäre. Übrigens könnte ich auch &xer, wenn man es beibehalten will, auf nichts anderes als
auf das Spiel der Instrumente beziehen.
° Seil.: »Hierin liegt eine Schwierigkeit; denn u. s. f.«.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 71
Bedarf‘ keines weiteren (ommentars'.
Das lange Pr. 43 wirft nun eine äufserlich gleichlautende, aber doch
(wie bereits Bojesen hervorhebt) wesentlich verschiedene Frage auf: » Warum
ist der Einzelgesang angenehmer, wenn man zur Flöte als wenn man zur
Lyra singt?« Es handelt sich also wieder um begleiteten Gesang, aber
nieht um begleiteten gegenüber dem unbegleiteten, sondern um den Unter-
schied zwischen Flöte und Lyra in der Begleitung”. Dies ergieht sich
evident aus der Lösung. Es hat den Anschein, als ob der Verfasser dieses
Problems das Pr. 9 vor sich gehabt, aber die Frage misverstanden hätte.
So ist in Wahrheit nicht blos eine neue Lösung, sondern ein neues Problem
entstanden.
Der Grund wird ı. darin gefunden, dafs die Flöte an sich angenehmer
ist als die Lyra, weshalb denn auch die Mischung der Stimme mit ihr
angenehmer ist; oder 2. darin, dafs die Mischung als solche gleiehmälsiger
ist; oder endlich 3. darin, dafs die Flöte durch ihren (dauernderen) Klang
und ihre (gröfsere) Ähnlichkeit (mit der Stimme) viele Misgriffe der Stimme
verdeckt, während die Lyraklänge, die sich mit der Stimme weniger mischen
und ihrerseits genau (abgestimmt) sind, das Fehlgreifen der Stimme wie
ein Malsstab offenbar machen. Wenn nun viele Misgriffe im Gesang vor-
kommen, mufs notwendig der Gesammteindruck (TO kowov €E audboiw)
schlechter ausfallen. «
Die erste und dritte Erklärung, die hier unverkürzt wiedergegeben
sind, bedürfen keiner Erläuterung. Die zweite haben wir vorläufig in nuce
' Es ist mir unbegreiflich, wie Ruelle dieses Problem so ganz. misverstehen konnte,
nachdem Reinach, den er anführt, es bereits klar gemacht hatte. Im Text ist der über-
lieferte Satz ei yap Erı naaAov TO auto, mAeov &deı mpos moAAoVs abAnras, kal Erı notov eivar (mil
dieser Interpunction bei Bekker) so nicht möglich. Jan’s Lesung: ei yap Erepme naAAov To
abro mAelovas Adeıv, Edeı mpos moAAo0s alAnras kat k.r.‘. giebt den Sinn am besten wieder.
Doch könnte man auch ohne die etwas kühne Änderung £repre mit örı statt Erı auskommen,
indem man dann zu wäaAAov ergänzt 70% (wie in Pr. 38 s. 0. 8.58). Das Übersehen von
ade lielse sich aus dem darauffolgenden Eder wol begreifen. Andrerseits ist aber adew
= Tongebung überhaupt (auch der Instrumente) ungebräuchlich, und es könnte das Verbum
schon ursprünglich (ebenso wie 7) im Satze gefehlt haben, dergleichen Elisionen kommen
in den Problemen wie schon bei Aristoteles selbst vor.
® Der Unterschied tritt hervor, wenn man in die Fragestellung bei diesem Problem
das dazu im Grunde notwendige pos einschaltet, das darum auch Jan einfügt: Ara ri’ dtov
Ts novodias Akovonev, Eav mpos abAov 7 (mpos) Avpav aon;
Die Wendung ev aö7 mit Auslassung des Subjectes ebenso in Pr.16 und 18,
12 0. Stumrr:
angegeben; der Verfasser kommt da einigermalsen vom Hundertsten in's
Tausendste. »Das Gemischte ist angenehmer als das Ungemischte, wenn
man beide (Elemente der Mischung) zugleich wahrnimmt.« Zunächst dieses
Prineip ist uns aus S. 58 bekannt. Um nun aber das Weitere zu verstehen,
mufls man in Gedanken den Satz einschalten: Unter dem Gemischten ist
wieder ein Unterschied. »Denn Wein ist angenehmer als Essighonig',
weil das von der Natur Gemischte sieh inniger mischt (durehdringt) als
das von uns Gemischte. Es ist nämlich auch der Wein gemischt aus
saurem und sülsem Geschmack, wie dies die weinigen Granatäpfel zeigen.
Die Stimme und der Flötenton nun mischen sieh durch Ähnlichkeit, da
beide durch «den Athem erzeugt werden’. Der Ton der Lyra dagegen,
da er nieht dureh den Athem erzeugt wird und" weniger wahrnehmbar
ist als der der Flöte’, vermischt sieh weniger mit der Stimme. Indem
er aber einen Unterschied für die Wahrnehmung hervorbringt’, wirkt er
weniger angenehm; wie solches bezüglich der Geschmäcke gesagt wurde. «
c) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6.
Pr. 6: » Warum wirkt die Parakataloge in den Oden tragisch? — Etwa
wegen der Ungleiehförmigkeit (dvopaAtav). Denn pathetisch ist das Un-
gleichförmige und in der Gröfse des Geschieks oder der Trauer Bestehende,
Das Gleichförmige ist weniger rührend (Yo@des). «
Unter der Parakataloge ist nach fast allgemeinem Dafürhalten® der melo-
(lramatische Vortrag, die Verbindung der gesprochenen Rede mit Instru-
' Hiezu vgl. die von Bussemaker herausgegebenen Probleme, Aristot. op. Didot IV,
328, Nr. 20, wo darüber verhandelt wird, warum Essig und Honig zusammenpassen, Ferner
vgl. Sextus Empirieus Bekk. p.757, 10 und den Neuplatoniker Aelianus bei Porphyrius in
seinem Commentar zu Ptolemaeus’ Harmonik, Wallis p.218, wo die Verschmelzung der Töne
bei der Consonanz mit der Mischung von Wein und Honig verglichen wird,
° Ihre Mischung ist insofern einer »natürlichen« Mischung zu vergleichen.
® Hier lese ich statt 7, das nach allgemeiner Ansicht keinen Sinn giebt, kat.
* Dies beziehe ich auf die Bedingung der gleichen Stärke für die Mischungselemente
(s. 0. 8.58 und 65 f,). Der dürftige Ton der Lyra ist neben der Stimme kein ebenbürtiges
Kllement.
5 mordv D0 diaopav ij aledyae. Darunter ist wahrscheinlich die ungleiche Dauer, das
rasche Verschwinden des Tons aus der Mischung mit der Stimme verstanden.
® Vol, Jan zu der Stelle. Ausführlich Christ, Abhandl. d. bayrischen Akad. d. Wiss.
1, Cl. Bd. XII (1875). Zielinsky, Gliederung der altattischen Komödie 5.313 falst die Para-
kataloge als »begleitetes Rezitativ«. Für die Auslegung unsres Problems würde dies keinen
wesentlichen Unterschied machen.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 13
mentalbegleitung, zu verstehen. Die Alten schrieben ihr hienach eine hervor-
ragend tragische, pathetische und rührende Wirkung zu, und wir können
dies vollkommen nachfühlen, wenn wir etwa an Schumann’s Manfred- oder
Beethoven’s Egmont-Musik denken. Die Erklärung freilich ist zu kurz,
um ganz verständlich oder gar überzeugend zu sein. Unter der avopakta
ist wol die Versehiedenheit zwischen dem Spreehen mit seinen nichtfixirten,
stetig veränderlichen Tönen und der Musik mit ihren festen Intervallen ver-
standen, weleher Unterschied von den Alten öfters hervorgehoben wird. Ge-
rade diese Ungleichheit der Elemente, die für den sinnlichen Eindruck einen
Nachteil ihrer Mischung bildet, erscheint dem Verfasser in höherer aesthe-
tischer Rücksicht, in Verbindung nämlich mit der Gröfse und Herbigkeit
des dargestellten Schicksals, als ein Vorzug. So wenigstens liefse sich
der Gedanke fassen und könnte leicht psychologisch weiter ausgeführt
werden, doch mag dies hier wieder auf sich beruhen.
Zur Lehre von der Gefühlswirkung der Musik gehört aus den Problemen
sonst noch: das auf S. 38 besprochene Pr. 33 über die anspreehenderen
Gänge nach der Tiefe, die Ausführungen des Pr. 48 über das Ethos der
Tonarten und die $. 24 und 64 erwähnte Stelle aus Pr. 39" über die poly-
phone Art der Begleitung, die von der Stimme abweichende Melodieführung
des Instruments. Vgl. auch das sogleich (S.74 Anm. ı) zu besprechende
Pr.9ı aus der Bussemaker’schen Sammlung.
IV. (Anhang.) Über physikalische Eigenschaften des Schalles. Pr. 2, ıı.
Diese beiden Probleme stehen fremdartig neben den übrigen der
19. Section, die sonst nur von spezifisch- musikalischen Dingen (»öova Trepi
äppoviav«) handelt!. Sie gehören zu dem Gedankenkreis der 11. Section
(öva mepi dwvns) sowie der fälschlich dem Alexander Aphrodisiensis zu-
! Die Lehre von den Zahlenverhältnissen bei den Consonanzen (Pr. 23, 50) betrachte
ich nieht als eine rein physikalische. Sie betrifft die Beziehung gewisser Empfindungsthat-
sachen zu physikalischen Vorgängen, also das, was wir heute psyehophysische Gesetze
nennen. Und diese Beziehung wird in den Probleinen als so wesentlich für die Beschreibung
der Empfindungsthatsachen selbst aufgefalst, dafs sie in die Definition der Consonanz mit
aufgenommen wird.
Das Mitschwingen der Hypate auf die Nete (Pr. 24, 42) ist allerdings an sich eine rein
physische Thatsache; aber wie sie hier behandelt wird, in engstem Zusammenhang mit Sinnes-
Philos.- histor. Abh. 1896. II. 10
74 GC. Stumer:
geschriebenen akustischen Probleme', die sich auf die Modifieationen der
Stimme durch allerlei äufsere oder organische Umstände sowie auf die physi-
kalischen Eigenschaften des Schalles beziehen. Sie seien darum hier nur
ganz kurz charakterisirt.
Pr. 2 erblickt eine Schwierigkeit darin, dafs man weiter gehört wird,
wenn man mit anderen singt oder ruft als wenn allein. Die Schwierigkeit
ergiebt sich auf Grund der alten Physik, die den Schall nieht als Wellen-
bewegung sondern als fortschreitende bez. mitgeteilte Bewegung gestofsener
Luftteile auffafste?.
Das 11. Problem bezieht sich auf die Erhöhung des Tones beim Echo, eine
Erscheinung, die auch von gegenwärtigen Physikern mehrfach besprochen ist”.
täuschungen und anderen psychischen Vorgängen, fällt sie noch in den Rahmen der psycho-
logischen Akustik.
Jedenfalls aber beziehen sich sowol Pr.23 und 50 wie 24 und 42 auf spezifisch-musi-
kalische Faeta, nicht auf Eigenschaften, die für jeden beliebigen Schall oder Ton oder
Tonverhältnis in gleicher Weise gelten. Darum gehören sie zu denen ep! äpuoviav.
! S. Bussemaker in Didot’s Ausgabe des Aristoteles IV 307—309 (Sect. II, Nr. 82—96).
Usener, Jahresbericht des Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859, S.19— 21.
Ein einziges aus dieser Gruppe ist musik-aesthetischen Inhalts und in dieser Richtung
nicht uninteressant: Nr. 91. »Warum erweckt die Syrinx und der hohe Ton an und für
sich gleichsam den Schein der Einsamkeit (amAös Gomep Epnyiav moıer daiverdaı)? — Etwa
weil der hohe Ton weit reicht und nicht in die Breite zerflielst (em moAv dtayeiraı), wie
die sonstigen Töne?« — arAös bedeutet hier wol: soweit nicht andere Umstände, die Situa-
tion, die Nebeneinflüsse, der Zusammenhang diese Wirkung aufheben. Dals die hohen
Töne weiter gehört werden als die tiefen, wird auch in anderen Problemen besprochen
(XI, 19, 47; vgl. zur Sache m. Tonpsych. 1 208, 426). Dals sie etwas Spitziges haben, ist
schon im Namen ö&) angedeutet, auch in unsren Problemen besprochen (o. S. 17 £.).
2 Vgl. Sect. XI, pr. 6 (gegen den Schluls: 6 Yrodos ap &orıv @hovuevos bmo depos).
Sect. XI pr. 52 ist das nämliche Problem wie XIX, 2 behandelt und zwar in gleichem
Sinne (man muls das »kara Aoyov« berücksichtigen). In beiden Problemen wird hervor-
gehoben, dals zwar eine Verstärkung stattfinde, aber nicht im Verhältnis zur Anzahl der
Stimmen, und wird dies daraus erklärt, dafs sich die Luftbewegungen in der Nähe der Schall-
quelle gegenseitig beeinflussen, weiter hinaus aber nicht.
Dass übrigens unter Umständen auch für uns hier noch ein Problem liegen kann,
möge man aus meiner Tonpsychologie II 430 ersehen.
® Die Erklärung finden wir allerdings nicht auf blos physikalischem Gebiete. Vgl.
auch dazu Tonpsych. I 242.
Die Erhöhung des Tons mit der Entfernung überhaupt wird auch Probl. XI, 6 und zo,
sowie in den von Bussemaker edirten II, 92 besprochen.
Gaza übersetzt in unsrem obigen Problem ä@rnyovoa mit vox desinens; auch Andere
fassen den Ausdruck so, und es kommt ja in der That 7x® für Klang im Allgemeinen vor
I
br!
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik.
Ursprung und Entstehungszeit der Musik -Probleme.
Wenn auch zu einer allseitigen und abschliefsenden Untersuchung
der hiehergehörigen schwierigen Fragen alle Sectionen der Problemen-
sammlung herangezogen werden müssen, so bietet doch unsre Section
auch schon für sieh allein so viele Indizien, dafs wir uns über das Wesent-
lichste, wie ich glaube, mit ziemlicher Bestimmtheit aussprechen dürfen'.
Die von jeher bemerkte Erscheinung, dafs die nämliche Frage mehr-
fach wiederkehrt und dabei öfters eine verschiedene Lösung erfährt, ist
nicht dieser Section eigentümlich, aber doch hier besonders auffällig.
Folgende Problem-Paare haben wörtlich oder nahezu wörtlich die nämliche
Fragestellung: 5 mit 40, 7 mit 47, 9 mit 43°, ı2 mit 49, (16 mit 39°),
ı8 mit 39°’, 20 mit 36, 22 mit 45, 24 mit 42, 25 mit 44, 27 mit 29°,
30 mit 48, 34 mit 41.
(Probl. XIX, 24, 25 u. ö.). Dennoch halte ich es aus sachlichen Rücksichten für wahrscheinlich,
dals der Verfasser hier speziell das Echo im Auge hat (XI, 5r sowie das Parallelproblem
bei Bussemaker II 93 behandeln ebenfalls eine das Echo speziell betreffende Frage). In der
Lösung wird dann allerdings die Schwächung des zurückkommenden Schalls als Grund der
Erhöhung angegeben, also die Erscheinung derjenigen bei der blofsen Entfernung eoordinirt.
Ebenso wird XI, 6 das Echo als besonderer Fall der allgemeinen Regel erklärt.
! Über die aristotelischen Probleme überhaupt vgl. Prantl, Abh. d. bayrischen Akad.
1. Cl. VI (1851). E. Richter, De Arist. probl. Bonner Dissert. 1885. Jan, Mus. ser. p. 39f.
Über die dem Alexander Aphrod. zugeschriebenen Probleme: Usener im Jahresbericht d.
Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859.
Richter nimmt hauptsächlich drei Autoren an, die in verschiedener Weise den Theo-
phrast benützten; aulserdem einen vierten, der jene vor sich hatte (z.B. für das Mese-
Problem 25), und einen mehr hypothetischen fünften (p. 25—26) für die Probleme, die man
keinem der viere mit genügenden Gründen zuschreiben könne. Über die Zurückführung
der Probleme auf 'T'heophrast vgl. Jan p.43f. In der Unterscheidung der Autoren scheint
mir Richter doch etwas spitzfindig zu werden.
Bojesen trat noch für die Autorschaft des Aristoteles ein, ebenso neuerdings Barthe-
lemy St.-Hilaire. Aber auch Westphal und Gevaert, in deren Darstellung der griechi-
schen Musik die Probleme eine grundlegende Rolle spielen, schreiben sie immer noch un-
bedenklich dem Aristoteles zu.
® Bei 9 und 43 ist die Fragestellung dem Wortlaut nach dieselbe, aber dem Sinne
nach verschieden (oben S.70f.). Die Pr. 16 und 39° sind nur in dem weiteren Sinn parallel,
dals die Fragen bei vollkommen analoger äulserer Structur nahe inhaltliche Verwandtschaft
besitzen. Das eine Mal wird die Antiphonie der Symphonie, das anderemal (wo die Hand-
schriften überdies statt Antiphonie Symphonie haben) wird sie der Homophonie gegenüber-
gestellt. Bei 18 und 3g® ist die Parallelität insofern hypothetisch, als wir zu 39® die Frage-
stellung ergänzen mulsten.
10*
76 C. Stunmer:
Aus dem Vorkommen von Parallelproblemen an und für sich würde
ich nun noch nicht auf eine Mehrheit von Verfassern schliefsen. Bei
solehen vorläufigen Erklärungen, wie sie in den Problemen versucht
werden, ist es wol denkbar, dafs einundderselbe Forscher auf die
nämliche 'Thatsache öfters und zwar auch von verschiedener Seite zu-
rückkommt. Man denke an Kant’s nachgelassene Reflexionen und Ähn-
liches.
Nun kommt aber hinzu, dafs es sich in unsrer Seetion immer nur
um Paare solcher Parallelprobleme handelt, dafs nicht auch gelegentlich drei-
oder viermal die nämliche Frage ventilirt wird'. Deutet schon dieser
Umstand darauf hin, dafs hauptsächlich zwei Verfasser an unsrer Section
gearbeitet haben, so wird diese Annahme durch gewisse Unterschiede in
methodischer und in sachlicher Hinsicht, die sich nicht blos bei Parallel-
problemen sondern auch sonst in der musikalischen Seetion finden, be-
stätigt.
Ein Teil der musikalischen Probleme zeichnet sich durch prägnante
Kürze aus, andere sind nicht blos ausführlicher (was durch die Sache be-
dingt sein könnte), sondern ziemlich weitschweifig, wobei zugleich meistens
starke Textverderbnisse auffallen; und zwar zeigt sich dieser Unterschied
häufig gerade bei solchen mit gleicher Fragestellung.
Ferner bedienen sich einige Probleme einer ausschliefslich mathema-
tischen Betrachtungsweise, indem sie sich begnügen, auf gewisse Analogien
der objeetiven Bewegungen oder ihrer Zahlenverhältnisse mit der zu er-
klärenden psychologischen Erscheinung hinzuweisen, während andere sich
durch eine eminent psychologische Tendenz auszeichnen, die das Mathe-
matische nur nebenbei heranzieht; und wiederum zeigt sich dieser Unter-
schied mehrfach bei Problemen mit gleicher Fragestellung.
In sachlicher Hinsicht wird da, wo mathematische Verhältnisse be-
sprochen sind, bald die Saitenlänge zu Grunde gelegt, bald die Geschwin-
digkeit der Bewegungen, wonach die Hypate einmal als das Doppelte,
D)
einmal als die Hälfte der Nete bezeichnet wird’. Ferner wird, ohne dafs
' Wenn auch Pr. 8 nach unsrer Auslegung wesentlich dieselbe Frage behandelt wie
die Parallelprobleme ı2 und 49, so ist die Frage doch sozusagen dort unter einen anderen
Begriff gefalst (ixvew), jedenfalls anders ausgedrückt.
® Vgl. über die beiden Berechnungsweisen im Altertum Jan, Mus. ser. zu Euclid’s Sectio
canonis.
Ba |
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 7
dies ausdrücklich bemerkt würde, bald die enharmonische, bald die dia-
tonische Leiter, und wieder bei der diatonischen Leiter bald die getrennten,
bald die verbundenen Tetrachorde vorausgesetzt (wobei die Mittelstellung
der Mese das einemal aus dem scheinbaren direeten Abstand, das andere-
mal aus der Stufenzahl hergeleitet wird). Bald endlich scheint sich ein
Problem auf Melodien innerhalb eines Tetrachords, bald auf solehe inner-
halb eines Octavenumfangs zu beziehen.
Als das Entscheidendste aber erscheint mir (mit Jan p. 57), dafs der
Verfasser des 43. Problems in der offenbaren Absicht, die im 9. Problem
gestellte Frage zu wiederholen, sie vollkommen misversteht, wie dies aus
seiner Antwort hervorgeht. Er kann darum auch die Antwort des Probl. 9,
wenn sie ihm vorlag, nicht verstanden haben. Natürlich könnte das Mis-
verständnis auch in umgekehrter Riehtung stattgefunden haben, doch dünkt
mich dies weniger wahrscheinlich.
Man kann nun aber nieht blos auf eine Mehrheit von Verfassern im
Allgemeinen schliefsen, sondern, wenn wir alle vorhin genannten Kriterien
zusammennehmen, mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dafs speziell
die Probleme vom 35. an einen anderen Verfasser haben als die
vorhergehenden. In dieser letzten Abteilung allein finden sich die relativ
weitschweifigen, mit weniger klarem und geordnetem Gedankengang und
mit längeren starken Texteorruptionen. Hier allein finden sich die auf
verbundene Tetrachorde bezüglichen Probleme (44. 47) und die Beziehung
der Zahlenverhältnisse auf die Bewegungsgescehwindigkeit (35*, vgl. auch
39”, 42). In der ersten Abteilung allein wiederum finden sich diejenigen
Probleme, die das enharmonische System voraussetzen (3, 4), und die, welche
sich auf Tetrachordmelodien zu beziehen scheinen (30, 33). Diese beiden
Kriterien sowie die Berechnung aus der Saitenlänge (23) könnten wol
auch den weiteren Schlufs nahe legen, dafs die erste Abteilung ganz oder
teilweise einem früheren Verfasser angehört. Aber dies möchte ich wieder
weniger zuversichtlich behaupten.
Öbscehon man ferner die Verschiedenheit der Erklärungen bei Parallel-
problemen an sich nicht notwendig auf eine Verschiedenheit der Verfasser
deuten mufs, wird doch in einzelnen Fällen der Schlufs durch die be-
sonderen Umstände zwingender, so namentlich bei Pr. 30 und 48, wo man
doch erwarten müfste, dafs die ausführliche Behandlung im Probl. 48 von
dem im Pr. 30 kurz angedeuteten Erklärungsgrund irgendwie Notiz nähme.
78 GC. STumpr:
Wahrscheinlich hat der Verfasser von Pr. 48 die Lösung im Pr. 30 wieder
gar nicht verstanden'.
Ziehen wir endlich in Betracht, dafs von den vielen Parallelproblemen
mit einer einzigen Ausnahme (27 mit 29)” durchgängig das eine unsrer
ersten, das andere unsrer zweiten Abteilung angehört, so gewinnt nun-
mehr allerdings auch dieser Umstand, die Existenz so zahlreicher Parallel-
probleme, eine entscheidendere Bedeutung, und wir dürfen darum nun
auch die wenigen Probleme innerhalb jeder Abteilung, bei denen man sonst
zweifelhaft sein könnte, nach diesem Gesichtspunet beurteilen. So könnte
das sehr knapp gehaltene Pr. 46 seinem Charakter nach ebensogut dem
Verfasser der ersten Gruppe angehören; aber da es mitten unter anderen
steht, auf welche die obigen Merkmale zutreffen und sein Parallelproblem
in der anderen Abteilung hat, so werden wir auch jenes dem Verfasser der
zweiten Abteilung zuschreiben.
Mit Rücksicht auf das Prinzip der Parallelprobleme ist es auch bereits
geschehen, dafs wir den Schnitt zwischen Pr. 34 und 35 und nicht etwa
zwischen 33 und 34 verlegten: denn 34 hat sein Parallelproblem in der
zweiten Abteilung (41). Man mufs in solchen Erwägungen natürlich alle
Kriterien zusammennehmen. —
In Bezug auf die Entstehungszeit endlich kann man den Anhängern
des aristotelischen Ursprungs ohne Weiteres zugeben (wie dies auch Jan
thut), dafs die musikalischen Probleme in Bezug auf den Geist der Unter-
suehung und den allgemeinen Charakter der Dietion mit wenigen Aus-
nahmen dem Aristoteles zugeschrieben werden könnten, und dafs kaum
! Auch bei Problemen wie 16 und 39%, die an sich recht wol von Einem Verfasser
stammen könnten, liegt, nachdem wir einmal zu zwei Gruppen geführt sind, die Auffassung
nahe, dafs hier einunddieselbe Frage von Verschiedenen in solcher Weise transformirt wurde.
Wie bei 9 und 43 unter Beibehaltung der wörtlich gleichen Fassung der Sinn der Frage
verändert ist, während in anderen Fällen ohne Alteration des Sinnes kleine sprachliche Ab-
weichungen stattfanden, so konnte auch eine Frage sowol dem Sinne als dem Wortlaute
nach in eine nahverwandte Frage übergeführt werden, und dies sowol absichtlich als un-
absichtlich.
2 Wegen dieses einzigen Falles einen dritten Autor anzunehmen, kann man zwar Nie-
mand verwehren, aber auch Niemand zumuten. Doch lielse sich allenfalls auch das Vor-
kommen des dritten Parallelproblems 8 zu 12 und 49 (0. S.76 Anm. r) auf den dritten Autor
deuten, zumal dort ebenso wie bei 27 und 29 die Fragestellung doch nicht so wörtlich
wie sonst unter Parallelproblemen übereinstimmt.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 79
irgendwo ein Widerspruch', dagegen in äufserst zahlreichen Fällen die engste
Berührung mit den aristotelischen Schriften stattfindet. Aufser den Üo-
ineidenzen, auf die Jan aufmerksam macht, haben sich uns noch verschie-
dene andere und besonders die bei Pr. 14 besprochene ergeben.
Aber alles dies beweist strenggenommen doch nur, dafs die Verfasser in
den Schriften des Aristoteles zu Hause waren und seine Anschauungen und
Denkweise sich zu eigen gemacht hatten. Eine gröfsere Anzahl dieser
Probleme, etwa die erste Abteilung, dem Aristoteles selbst zuzuschreiben,
trage ich schon darum einiges Bedenken, weil es mir fraglich scheint, ob
man dem grofsen Denker trotz seiner ungeheuren Sachkenntnis auf sehr
verschiedenen Gebieten eine so eingehende Kenntnis der technischen Einzel-
heiten der Musik zuschreiben darf, wie sie sich hier findet. In seinen
Schriften, auch in der ausführlichen Abhandlung im 8. Buch der Politik,
hält er sich doch nur an das, was jedem Gebildeten damals bekannt sein
mulste. Er zeigt keine selbständigen Anschauungen über intern -musika-
lische Fragen und keine Neigung, sich in solche zu vertiefen.
Es giebt aber eine Reihe speziellerer Erwägungen, die mich Schritt
für Schritt zu der Überzeugung gebracht haben, dafs diese Probleme ihrer
Hauptmasse nach einer viel späteren Zeit, frühestens dem ersten oder
zweiten Jahrhundert nach Christus, angehören.
Unmöglich ist die Autorschaft des Aristoteles, aber auch des Theo-
phrast oder anderer Schriftsteller jener frühen Zeit, zunächst für diejenigen
Probleme, die von der Antiphonie handeln, und für solche, die eng da-
' Vielleicht wäre in Bezug auf die Lehre der Probleme von der kpaoıs gegenüber der
Lehre von der jwi£&ıs bei Aristoteles De sensu ein gewisser Unterschied zu bemerken: Aristo-
teles will die beiden Töne eigentlich doch nur als Einen für die Empfindung gelten lassen,
während sie in den Problemen trotz der Verschmelzung als zwei unterschiedene Töne gelten.
Doch ist Aristoteles hierüber auch mit sich selbst kaum vollkommen einig, wenn man andere
Stellen seiner Werke vergleicht.
Ebenso liegt wol eine Abweichung darin, dafs die Symphonie bei Aristoteles immer
nur als Aoyos apıdu@v bezeichnet wird, hier dagegen auch als Aoyos kıyy eos, was mit
der späteren Berechnungsweise, aus den Geschwindigkeiten statt aus den Saitenlängen, zu-
sammenhängen mag.
Jan verweist auf den Widerspruch des Pr. 43, welches die Flöte als angenehmer gegen-
über der Lyra bezeichnet, mit den abfälligen Äufserungen des Aristoteles über die Flöte
Pol. VIII, 6. Aber hier liefse sich wieder sagen, dafs der Tadel des Aristoteles sich nicht
so sehr auf den sinnlichen Eindruck als auf den Mangel einer ethischen und bildenden Wir-
kung des Flötenspiels bezieht.
80 G. STUMPF:
mit zusammenhängen. Denn unmöglich können wir annehmen, dafs von
Plato und zwar von den platonischen Leges bis zu Aristoteles eine so
vollständige Umwandlung des Sprachgebrauchs in Bezug auf die technische
Bedeutung von avrißwvos sich vollzogen hätte. Wir dürfen darum den
Ursprung dieser Probleme (wovon die Mehrzahl unsrer ersten Abteilung
angehört) auch nicht einmal sehr nahe an Aristoteles heranrücken. Viel-
mehr fügen sie sich in den historischen Entwickelungsgang nur unter der
Bedingung, dafs wir sie der angegebenen Zeit zuweisen, da erst von da
an der Begriff der Antiphonie in den theoretischen Schriften zu Tage tritt
(S. 31-33). Wäre wirklich avribovos = Octaventon von Aristoteles oder
Theophrast als eine allgemein bekannte technische Bezeichnung gebraucht
worden, so wäre es ganz unbegreiflich, warum 300 Jahre lang, auch bei
Aristoxenus, bei Euklid, keine Spur von dieser Verwendung sich fände.
Aber nicht blos aus diesem grofsen Silentium argumentiren wir hier, son-
dern gerade auch aus dem Vorkommen des Ausdrucks bei Plato in einer
musikalisch-technischen, aber gänzlich anderen Bedeutung.
Ähnlich verhält es sich mit den Äufserungen über das Melos sym-
phonirender Töne. »Dafs das Melos in beiden zusammen liegt, primär
aber in dem tieferen« — von dergleichen ist vor Plutarch nie und nirgends
die Rede, bei Plutarch aber findet sich die genaue Parallele und zwar
auch in Problemform; und von da an wird dann wieder öfters von derselben
Sache in denselben Ausdrücken gesprochen, bei dem Platoniker Aelian, bei
Porphyrius, bei Aristides, Bacchius, Gaudentius — Schriftstellern, die
sämtlich den Jahrhunderten nach Christus angehören.
Das Nämliche gilt drittens von den Äufserungen über das Mit-
sehwingen. Meines Wissens existirt abgesehen von den Problemen kein
Zeugnis, dafs dieses Phänomen vor dem Anfang unsrer Zeitrechnung be-
kannt gewesen wäre. Dagegen findet es sich in den Schriften vom ı. und
2. Jahrhundert an immer wieder erwähnt: so bei dem Peripatetiker Adrast,
dem Dichter Agathias, dem Musiker Dionysius (Pseudo-Baechius), dem
Kirchenvater Synesius, in der pseudo-galenischen Schrift [Ipos [avpor,
bei Aristides Quintilianus, bei Macrobius!.
* Vgl. die Zusammenstellung in der S.5 erwähnten Arbeit unter Nr.ır. Auch die
Äufserungen über das Melos symphonirender Töne und die über die Ähnlichkeit sind dort
bei Erwähnung der einzelnen Schriftsteller besprochen.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 81
Auch die Ähnlichkeit zwischen den Tönen des Octavenintervalls
wird erst von dieser Zeit an hervorgehoben. So gelegentlich bei Plutarch
(De amiec. mult.), der sie als Folge des Zusammenklingens auffafst, dann
ausdrücklich bei Ptolemaeus, der die Ähnlichkeit zur Definition der Con-
sonanz überhaupt verwendet. Plato hatte wol (Tim. 80, a) die Ähnlichkeit
der Bewegungen der Nete und der Hypate, aber nicht die Ähnlichkeit
der Empfindungen behauptet. Vielmehr wurden Nete und Hypate seit
Heraklit mit Vorliebe als entgegengesetzte Töne bezeichnet'.
Hiezu kommen noch eine Reihe von Berührungspuneten mit Schriften
der ersten christlichen Jahrhunderte, die, ohne einzeln genommen be-
weisend zu sein, das Gewicht der bisherigen Gründe noch verstärken. Von
der Mese als apyn ist zwar schon bei Aristoteles die Rede, aber eine
genaue Parallele zu den Äufserungen der Probleme findet sich doch nur
bei Dio Chrysostomus (S. 40). Den scheinbar gleichen Abstand der Mese
von der Nete und der Hypate berührt Eusebius von Emesa (S. 14). Die
Gegenüberstellung von Melos und Rhythmus als dem weichen und dem
harten Element der Melodie (Pr. 49) hat ihre Parallele bei Aristides Quin-
tilianus (S. 22); der Vergleichung der hohen und tiefen Töne als harter
und weicher (Pr. 49) entspricht das Ehegleichnis bei Plutarch, Varro ung
Pollux (S.20, 23). Die aristotelische Stelle über das dAovpyov und Fa
wird, wie im Pr. 14, von Porphyrius zur Erläuterung der Consonanz heran-
gezogen (S. 9). Die Verwertung des Honiggleichnisses zur Erläuterung
der Klangmischungen finden wir, wenn auch das ö6&vneAt selbst bereits
dem Hippokrates bekannt ist, doch erst bei Aelian und bei Sextus Em-
pirieus (S. 72). Über die verschiedenen Methoden zur Bestimmung der
mathematischen Verhältnisse der Consonanzen, speziell die durch die offenen
Gefälse, berichtet uns erst Theo Smyrnaeus (S. 11)’. Die Erzählung von
! Eine Äufserung des Theophrast (bei Porphyrius Wall. 243 oben) bezieht sich nicht,
wie man gemeint hat, auf die qualitative Gleichheit der Octaventöne sondern auf die er-
forderliche Gleichheit ihrer Stärke, wenn anders Consonanz wahrnehmbar sein soll. S. da-
selbst unter Nr. 5.
® Dafs die Methoden selbst teilweise alten Ursprungs waren, verschlägt hiebei natür-
lich nichts, es kommt uns hier auf die Erwähnung in der Litteratur an.
Beim Pr. 4ı könnte es auffallen und schien mir zuerst ein Hinweis auf eine frühere
Entstehungszeit dieses Problems, dafs nur das moArarAdoiov und das &muopıov als Aoyoı be-
jetree
———) fallen würde,
zeichnet werden, während das, was unter den Begriff des &muepes
gar keinen Aöyos besitzen soll (oböeva Aoyov #£ovew). Da nun bereits der Mathematiker Euklid
Philos. - histor. Abh. 1896. III. 11
82 6. Stumpr:
den Veränderungen, welche die maAaıwi an der Leiter dureh Auslassung
der Trite vornahmen, hat ihre Parallele bei Plutarch De musica'!. Der
Hinweis auf die Musik und Musiklehre der raAaot ist überhaupt in jener
Zeit öfters zu finden, ‚vgl. Aristides ed. Jahn p. 43. Theo Smyrn. ed. Hiller
p: 66. Dazu kommen endlich noch einzelne Wendungen, wie die im Pr.42
(nachdem von gewissen Sinnestäuschungen die Rede war): » wie sich Solches
für uns oft ereignet, wo wir weder durch Sehlufsfolgerung noch durch
Sinneswahrnehmung das Genaue ermitteln können«. Dies kann meiner
Meinung nach Aristoteles nicht gesagt haben; es pafst dagegen genau in
die Zeit der Skeptiker und Eklektiker. Auch der Ausdruck akaraAnmTos
in demselben Problem scheint dahin zu weisen.
Je mehr man sich solchergestalt in die Einzelheiten vertieft, um so
mehr vervielfältigen sich die Berührungspuncte; und ich zweifle nicht,
dafs Andere, sobald sie den Gedanken an diese späte Entstehungszeit ein-
mal ernstlich in’s Auge gefalst haben, zu der gleichen Überzeugung kommen
werden.
Wol mochten bestimmte Fragestellungen seit langer Zeit traditionell
geworden sein und verschiedene Forscher ihren Witz daran versuchen, wie
wir denn auch für unsre Seetion mindestens zwei Verfasser vermuten.
Und so mag das eine oder andere Musikproblem, wenigstens die Fragestel-
lung, bis auf Theophrast, ja auf Aristoteles zurückgehen, der nach eigenen
Äufserungen Problemsammlungen angelegt hatte und mit dessen Methode
der » Aporien« diese ganze Untersuchungsweise zusammenhängt. Aber die
grofse Masse der Musikprobleme stammt sicherlich nicht aus dieser Zeit.
im 3. Jahrh. vor Chr. den Aoyos emyepys den beiden anderen Aöyoı coordinirt (Sect. can. bei
Jan p.149, 12), so könnte man denken, das Pr. 41 müsse noch vor Euklid’s Zeit entstanden
sein. Aber auch hiezu finden wir eine Erklärung und eine Parallele bei Theo. Er sagt
zuerst (ed. Hiller p. 74): oi ev (Aoyoı) moANamAanıoı, oi de Emuopior, oi de obderepo. Darauf
aber (p. 75): Aeyovra de rıves Ev Apıdunricn Adyoı dpıduov ob Jovov moANamAdoıoı Kal Empopror,
ENNa al emiuepeis. Hienach rechnete man in jener Zeit das Emepes bald noch unter die
Aöyoı (im engeren Sinn) bald nicht. Und so läfst sich aus der Ausdrucksweise des Pr. 41
in Verbindung mit Theo’'s Sätzen eher wieder eine Bestätigung der späten Datirung ableiten.
! Auch hier wolle man nicht einwenden, dals Plutarch seinen Bericht aus alten Quellen
(Aristoxenus) schöpfte, aus deren Zeit auch die Probleme stammen könnten. Gewils ist
diese Deutung an sich ebenfalls möglich. Aber zusammengenommen mit so vielen anderen
Parallelen macht doch auch diese mehr den Eindruck, dals sowol die Probleme als Plutarch
aus gemeinschaftlichen alten Quellen schöpften, nachdem man zu jener Zeit auf die historische
Bedeutung solcher Nachrichten aufmerksam geworden war.
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. s3
Genauere Bestimmungen als die obigen sind natürlich nur Sache der
Vermutung. Wenn ich etwa das Ende des ı. und den Anfang des 2. Jahr-
hunderts n. Chr. für die wahrscheinlichste Zeit ansehe, so geschieht es
hauptsächlich wegen der sehr auffälligen Berührungspunete mit Plutarch
und den bei ihm vorfindlichen Problemen, sowie im Hinblick auf den
Charakter der peripatetischen Schule jener Zeit. Sie war zu reger Thätig-
keit erwacht, die Werke des Meisters wurden geordnet, herausgegeben,
commentirt. Zugleich machten sich aber auch. Einflüsse anderer Schulen,
wie der pythagoreischen, geltend. Speziell im Gebiet der Musiktheorie
beobachten wir dies bei Adrast, und ebenso tritt es uns in den Problemen
entgegen.
Dennoch möchte ich hiemit nur einen Terminus a quo angeben. Für
denkbar, obwol weniger wahrscheinlich, mufs ich es halten, dafs die voll-
ständige Zusammenstellung der überlieferten Musikprobleme ein oder zwei
Jahrhunderte später vollzogen wäre; nur dafs sie früher entstand, scheint
mir in keinem Falle glaublich.
Wenn nun auch mehrere Hände an der Sammlung gearbeitet haben
und wenn sie zum gröfsten Teil ziemlich spät entstanden ist: sie erscheint
uns gleichwol, wie zum Schlufs wiederholt werden mag, im Grofsen und
Ganzen als ein aus echt aristotelischem Geist geflossenes und eben darum
auch als ein relativ einheitliches Werk. Gerade je weiter die Zeit ihrer
Entstehung von Aristoteles abliegt oder je gröfser die Zeiträume sind, auf
die sich ihre Entstehung verteilt, um so glänzender zeigt sich die Herr-
scherkraft des Fürsten der antiken Wissenschaft, der es vermocht hat, auf
Jahrhunderte hinaus die Seinigen auch auf so entlegenen Gebieten an eine
solehe Schärfe des logischen Denkens, ein so festes und sicheres Anfassen
der Schwierigkeiten, eine solche Feinheit der psychologischen Beobaehtung
und eine solche Praeeision des Ausdruckes zu binden.
84 6. Sruner:
Register.
(Die fetten Zahlen bedeuten die Seiten, auf denen ein Problem oder eine Stelle daraus er-
läutert wird, während es an den übrigen Orten nur kurz erwähnt ist.)
Seet. XIX. | Pr.34 S.16, 75, 78
Pr. ı S.56 „35% » 12, 65, 77: 78
2»7 | » 35 » 16, 50
» 3. »5l, 77 I 30) A075
4 »5l, 57, 77 » 37» 37, 50, 51
»5»56, 75 » 38 » 5, 57, 62, 68, 71
(a ». 30%, 5027.,31, 65, 67,07, 780758
son 7 3 ,»u17.520236,27,0 » 396 » 6, 12, 23, 48, 64, 75, 77
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ae led “Ar mırz, 0, TTS sl
‚ 10» 70 „42 5 r14,016,27,173)175, 777582
» II »73 >43 010,458, Dun
ET Ten Te » 44 » 34, 36, 75, 77
» 13 =.21, 26,.28,67 »45 »50, 75
» 14 »95,8, 14,79, 81 » 46 »5l, 78
15 »d43, 44, 45 „47 » 13, 36 (zweimal), 75, 77
16 .» 26, 58, 65, 68, 71, 75, 78 „48 44, 49, 73, 75 77
» 17.» 9, 14, 26, 27 "Ag 2752 76,078,081
RUTör 2012,022,020, 1074 715075 » 50 »12, 73
» I9 » 12, 26
» 20 »40, 47, 48, 75 Sect. XI.
» 2I »5l (zweimal) Pr. 6 S.16, 74 (zweimal), 75
» 22 »50, 75 » IQ, E74
230 0510, 12 0,77 » 20 » 16, 74
» 24 »15, 73, 75 AT ERERTE
» 25 » 34, 75 (zweimal) Sue
»26 »5l 2520,27
» 27» 60, 75, 78
ae a Sect. II der von Bussemaker herausgegebenen
ap Bolzen Probleme (Aristot. op. Didot. IV).
OA ET Pr.zo: S.7z
ee et Od
» 32 »34, 36, 37 » 92 „16, 74
» 33» 38, 41, 45, 47, 53 73, 77, 78 »93 »75
Einleitung
Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik.
Inhalt.
Il. Von den Eis nöimlichkeiten des Oekatänieer Säle
Definition der Consonanz in den Problemen. Pr. 38, 39»
A.
ED
Verschmelzung der Octaventöne. Pr. 14
Zahlenverhältnis 1:2. Pr.23, 50 Be
Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Pr.ı9
Resonanz. Pr. 24, 42 - a Er PR 008
Die Octave allein giebt dureh Vergöppelune wieder eine Omsöndne Er 34,41
Der tiefere Ton der Octave beherrscht den höheren und ist Träger des
Melos. Pr. 8,12, (13), 49 On u RR 56 ur
Octaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer Melodie ge-
braucht werden. Pr. 18, 39» : 5 . 5 E A:
Die Octave allein dient zur Antiphonie, und zwar ist der tiefere Ton anti-
phon dem höheren. Pr.17, (42), 13, (7)
ll. Von den Leitern und den Gesängen.
Fu EDER
Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge. Pr. 28, 32, 25,44.47
Bildung der siebensaitigen Leitern. Pr.7,47. u
Gröfserer Melodienreichtum der älteren Componisten. Pr. 31
Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33
Function des Mitteltons. Pr. 2o, 36
Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Normal: = 15
Gebrauch der Tonarten in der Tragödie. (Antistrophie und Ethos der
Tonarten.) Pr. 30,48 . : RSS
Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe bein Singen Press
37, 21, 26, 46, 3,4
Ill. Gefühlswirkung der Meee
I.
2
ge
4
Lust an der Musik überhaupt. Pr.ı
Freude an bekannten Melodien. Pr.5,490. . . ..
Freude an Rhythmus, Melos und Consonanz. Pr. 38 . RE
Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz jedoch hat keines.
Pr.27, 29 : B or . "FR:
Vorrang der Octave vor den übrigen Öonsenanzen und der Antipbonie vor
der Symphonie und Homophonie. Pr. 35%, 16, 39% net :
Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und ihrer V erbindimig:
a) Die Stimme und die Instrumente. Pr.1o
b) Gesang mit Begleitung. Pr. 9,43
ec) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6
IV. (Anhang). Über physikalische Eigenschaften des SERANS Pr.2, 01
Ursprung und Entstehungszeit der Musikprobleme
Register .
Philos. - histor. Abh. 1896. III. 12
22
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ANHANG ZU DEN
ABHANDLUNGEN
DER
KÖNIGLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
ABHANDLUNGEN NICHT ZUR AKADEMIE GEHÖRIGER GELEHRTER.
AUS DEM JAHRE
1596.
MIT 2 TAFELN.
BERLIN.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1896.
GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER.
aa 7 Bir 1 RG
2197. SIEH
EINER
LEHNTE YaRal W. sd AURICH
WÄR OR Nr u 5
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Heymons: Grundzüge der Entwiekelung und des Körperbaues von
Odonaten und Ephemeriden. (Mit 2 Tafeln.) . . » . ... Abh. 1. 5.1—66.
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Grundzüge der Entwickelung und des Körperbaues
von Odonaten und Ephemeriden.
Von
Dr. RICHARD HEYMONS,
e\ Privatdocent und Assistent am Zoologischen Institut in Berlin.
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1596. I, 1
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Vorgelegt in der Sitzung der phys.-math. Classe am 22. Oetober 1896 j
[Sitzungsberichte St. XL. S. 1032]. 5
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 186.
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Mr den amphibiotisch lebenden Inseeten sind es besonders die Libellen
und die Eintagstliegen, welche sowohl durch ihre auffallenden Körper-
formen wie durch ihre biologischen Eigenthümlichkeiten die Aufmerksam-
keit auf sich zu lenken pflegen.
Der anatomische Bau und die Morphologie dieser Thiere ist gleich-
wohl noch nicht zur Genüge bekannt. Hinsichtlich der Entwickelungs-
geschichte gilt diels in noch weit höherem Mafse, denn seit dem Er-
scheinen der Arbeiten von Brandt (69) und Packard (71), somit seit
nun 25 Jahren, hat die Embryologie der Libellen keinen Bearbeiter ge-
funden, während über Entwickelungsstadien von Ephemeriden bisher über-
haupt erst äufserst wenige Mittheilungen vorliegen.
Die Vernachlässigung der genannten Insectenabtheilungen im Gegen-
satze zu vielen anderen darf eigentlich kaum als berechtigt gelten. Hatten
doch gerade die interessanten Ergebnisse von Brandt über die Bildung
der Keimhüllen von Caloptery zu mannigfachen Speculationen und Theo-
rien Veranlassung gegeben, die gewifs schon längst eine erneute Prüfung
der Entwickelungsvorgänge bei nahe stehenden Inseeten als wünschens-
werth erscheinen lassen mulfsten.
Aufserdem haben wir in den Odonaten, ebenso wie in den ihnen ver-
hältnifsmäfsig nahe verwandten Ephemeriden, zweifellos noch relativ ein-
fach organisirte, niedrig stehende Inseetentypen vor Augen. Auch in geo-
logischer Hinsicht sind dieselben bekanntlich zu den ursprünglichsten
Formen zu zählen. indem ihre direeten Vorläufer bereits in der palaeozoi-
schen Erdepoche gelebt haben. Schon aus diesem Grunde dürften daher
die genannten »Amphibiotiea« ein besonderes Interesse beanspruchen.
1*
4 R. Hrymons:
In der vorliegenden Arbeit bringe ich einige Beobachtungen zur Kennt-
nils, welche hauptsächlich vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkte
aus gewisse Fragen bezüglich des Aufbaues und der Zusammensetzung des
Odonatenkörpers behandeln, wobei dann, soweit es thunlich, gleichzeitig
auch die Ephemeriden zum Vergleich herangezogen werden. Es soll nur
in grofsen Zügen ein Überblick gegeben werden, der aber vielleicht als
Grundlage für weitere Untersuchungen dienen mag.
Als Material haben mir für meine Studien aufser den Imagines ver-
schiedener Libellen und Ephemeriden zur Verfügung gestanden theils die
Larven, theils die Embryonalstadien von Zpitheca bimaculata Charp,. Li-
bellula quadrimaculata L., Sympetrum flaveolum L., Agrion (puella 1.2), Ephe-
mera vulgata L. und Caenis grisea P.
1. Über die Eier von Libellen und Ephemeriden.
Über die Art und Weise der Eiablage, sowie über die Form der Eier
selbst sei hier Folgendes bemerkt.
Epitheca bimaculata und Libellula quadrimaculata pilegen ihre Eier in
Gestalt umfangreicher Laichmassen abzulegen, voraussichtlich wird letzteres
wohl auch noch für audere Arten der genannten Gattungen zutreffen.
Bei den Odonaten ist dieser Modus der Eiablage aber ein immerhin
recht aufsergewöhnlicher und bisher nur in ganz wenigen Fällen bekannt
geworden. Für Zpitheca bimaculata liegen in dieser Hinsicht schon einige
kurze Angaben vor, die wir Weltner (89) zu verdanken haben.
Der Epitheca-Laich bildet einen Gallertstrang von beträchtlicher Länge,
den man mitunter frei im Wasser flottirend antrifft. der aber meistens
um Wasserpilanzen herumgeschlungen ist, wie diefs auch Fig. ı8 zeigt.
Der daselbst abgebildete Laich besafs im ausgestreekten Zustande eine Länge
von 32°" bei einer Breite von o°"S-ı"". In der anfänglich durchsichtigen,
später mehr trüben und weifslichen Gallertsubstanz liegen mehrere hundert
kleiner länglicher Eier von gelblichbrauner Färbung eingebettet. Die Farbe
derselben rührt ausschliefslich von der harten und sehr festen Eischale
her, während die von dieser umschlossene Dottersubstanz vollkommen farb-
los bleibt. Der Längsdurchmesser der frisch abgelegten Eier beträgt 0"'"75,
ihr Querdurchmesser 0""4. Fast sämmtliche Eier sind so angeordnet, dafs
ihr Längsdurchmesser parallel zur Längsachse (des Stranges gerichtet ist.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 5
Die Eier befinden sich in unregelmäfsigen Abständen von einander
und zwar liegen sie hauptsächlich in den peripheren Theilen der Gallerte.,
während die Achse des Stranges frei bleibt. Die Eier sind auch nicht
direet in die Gallertsubstanz eingebettet, sondern in kleinen länglichen,
kapselartigen Hohlräumen derselben eingeschlossen. Bei einer genaueren
Untersuchung ist noch ein eigenthümlicher chalazenartig gewundener Strang
zu bemerken, der von einem jeden Ei ausgeht und sich an die Wandung
des Hohlraumes anheftet, bez. in die Gallerte übergeht.
Die Deutung der einzelnen Theile ergibt sich meiner Auffassung nach
folgendermafsen. Die braungelbe harte Eischale entspricht dem Chorion
(Endochorion) anderer Inseeteneier. Dieses Chorion ist ganz (oder theil-
weise) von einer zarten hyalinen Schicht umhüllt, die in den erwähnten
Strang übergeht. Ein Vergleich mit den Eiern anderer Odonaten lehrt,
dafs wir in dem betreffenden Strang eine Art Micropyleaufsatz zu erblicken
haben, mithin einen Apparat, der dem Spermatozoon den Zugang zur
Micropyle ermöglicht. Die letztere befindet sich an dem vorderen Pol des
Eies und durchbohrt daselbst das Endochorion. Die gemeinsame Gallerte
endlich, durch welche die eigentliche Laichmasse selbst gebildet wird,
dürfte den stark vergröfserten und mit einander verschmolzenen Exochoria
der einzelnen Eier entsprechen.
Von Libellula quadrimaculata habe ich einen Laich zur Verfügung gehabt,
der in einem See in der Umgebung Berlins aufgefischt wurde. Die betreffende
Laichmasse bildete im Gegensatze zu der von Zpitheca keinen isolirten
Strang, sondern breitete sich in Form eines unregelmäfsigen Überzuges
über ein Convolut von Wasserpflanzen und Algen aus. Im Vergleich mit
Epitheca tvat auch (die gemeinsame Gallerte an Masse bedeutend zurück,
sie bildete nur eine dünne, die einzelnen Eier mit einander verklebende
oder verkittende Schicht. Im übrigen zeigt sich aber bei Zibellula ganz
ähnlich wie bei Epitheca eine grofse Zahl von gelblichen Eiern in der Gallerte
vertheilt. Der Längsdurchmesser der jungen, noch unentwickelten Eier
beträgt 0o""5.
Bei Sympetrum flaveolum kommt keine Laichbildung zu Stande. Das
Weibchen läfst die Eier einzeln oder zu mehreren nach und nach in das
Wasser fallen, in dem sie sich sogleich zerstreuen und zu Boden sinken'.
' Ich habe den Vorgang nur an eingefangenen Weibchen von Sympetrum beobachten
können,
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6 R. Hrvuons:
Ein jedes Ei besitzt auch hier aufser der eigentlichen Schale (Endochorion)
noch eine zarte farblose, membranöse Hülle (Exochorion). An dem einen
(hinteren), den Micropyleapparat tragenden, Eipol bemerkt man ferner einen
schornsteinartigen Aufsatz (Mieropyleaufsatz), welcher von einer farblosen,
hyalinen Substanz gebildet wird, die ohne Grenze in das Exochorion über-
geht. Deutlich ist in dem Micropyleaufsatz ein enger Kanal sichtbar, der
zu der am Grunde befindlichen Mieropyle hinführt.
Die Eier sind von rundlich ovoider Gestalt und besitzen einen Durch-
messer von etwa 0”"5. Das (Endo-)Chorion, welches Anfangs weilslich
ist, nimmt schon einige Stunden nach der Ablage eine tiefbraune Färbung
an, so dafs damit die Beobachtung der inneren Entwickelungsvorgänge
sehr wesentlich erschwert wird.
Die Agrioniden versenken ihre Eier wie die Calopterygiden mit Hülfe
eines Legestachels in das Parenchym von Pflanzen.
Über die Eiablage und die Gestalt der Eier von Ephemera vulgata habe
ich schon an anderer Stelle einige Mittheilungen gemacht (96°). Die läng-
lichen, weifslichen Eier von Ephemera sind ebenfalls von einer besonderen
Gallerthülle (Exochorion) umgeben, die eine klebrige Beschaffenheit besitzt,
so dafs die Eier gelegentlich an einander backen, in der Regel aber einzeln
an festen Körpern, Pflanzen oder dergl. hängen bleiben.
Bei Cgenis zeigt sich wiederum eine Art Laichbildung, jedoch in etwas
eigenthümlicher Weise. Von der Peripherie der einzelnen Eier, an deren
Oberfläche eine regelmäfsige durch sechsseitige Felderchen bedingte Seulptur
sichtbar ist, gehen bei Caenis zahlreiche feine Fädchen aus, die das Ei
umspinnen, sich mit den Fädchen benachbarter Eier mannigfach dureh-
kreuzen und durchflechten und schliefslich mit einer feinen knopfartigen
Verdickung frei endigen. Die von einem Weibehen abgelegten Eier bleiben
auf diese Weise alle mit einander in Zusammenhang: in einer geradezu un-
entwirrbaren Masse zahlloser weifslicher Fädehen, die eine ziemlich derbe
Consistenz besitzen, sind die kleinen dunkelbraunen Eier eingebettet.
Der Laich kommt also bei Caenis im Vergleich zu den oben besprochenen
Libellen in etwas anderer Weise zu Stande. An die Stelle der gemeinsamen
Gallerte treten die Fädehen. Diese letzteren wurden bereits früher bei den
Ovarialeiern mehrerer Ephemeridenarten von Leuckart(55), Grenacher (68)
und Palmen (84) beobachtet, und ihre Herkunft von Seiten der Follikel-
epithelzellen der Eiröhren festgestellt. Auch über die Bedeutung der
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 7
Fädehen hat sich Grenacher bereits in völlig zutreffender Weise dahin
ausgesprochen, dafs man sie wahrscheinlich als Ankerapparate aufzufassen
habe. Diese Deutung ist richtig. Nach Ablage der Eier wickeln sich
nämlich die Fädchen sehr leicht um Wasserpflanzen oder um andere feste
Gegenstände herum, die ganze Laichmasse wird dadurch festgehalten und
kann in Folge dessen von der Strömung nicht fortgetrieben werden.
Es zeigt sich hiermit, dafs bei den Ephemeriden und Odonaten die frei
ins Wasser abgelegten Eier nicht einfach zu bleiben pflegen, sondern dafs
bei ihnen das Chorion noch mit allerlei gallertigen oder fädigen Hüllen ver-
sehen ist. Derartige exochorionale Bildungen scheinen zum mindesten sehr
weit verbreitet zu sein. Sie verfolgen offenbar einen doppelten Zweck,
einmal dem Ei im Wasser einen besseren Schutz zu verleihen und aufser-
dem in vielen Fällen ihm gleichzeitig noch einen festen, vor Verschlammung
u. s. w. gesicherten Platz zu verschaffen.
Die einfachen Gallertscheiden von Sympetrum und Ephemera kenn-
zeichnen somit im wesentlichen nur eine niederere Entwiekelungsstufe als
die umfangreichen zur Laichbildung führenden Exochoria von Libellula und
Epitheca. Die gallertigen Umhüllungen aber entsprechen sich, indem sie
offenbar stets die gleiche physiologische Bedeutung besitzen.
Es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dafs die fädigen Bildungen
vieler Ephemerideneier nur als eine besondere Modification der genannten
gallertigen Hüllorgane zu betrachten sind. Die Fadenanhänge werden
bereits im Eierstocke ausgebildet, und die Absonderung der exochorionalen
Umhüllungen bei Odonateneiern von Seiten der Follikelepithelzellen der Ei-
röhren darf ebenfalls als sehr wahrscheinlich gelten.
2. Die Bildung und die Form des Keimstreifens.
Die ersten Entwiekelungsvorgänge sowie die Bildung des Embryonal-
körpers wurde von mir besonders bei Libelhula quadrimaculata studirt. Die
rundlich ovalen Eier dieses Inseets sind von einem harten gelblichen Cho-
rion (Endochorion) umgeben. Der vordere und hintere Eipol sind nahezu
übereinstimmend geformt, doch ist der erstere ein wenig spitzer, und es
zeigt sich an ihm eine sehr kleine kegelförmige Erhebung von bräunlicher
Färbung, an deren Spitze die Mieropyle sich befindet.
u
8 R. Heymons:
Die Furchungszellen vertheilen sich annähernd gleichmäfsig im Nah-
rungsdotter und gelangen dann ziemlich gleichzeitig an verschiedenen Punk-
ten zur Oberfläche des Eies. An letzterer ist ein selbständiges Keimhaut-
blastem ebenso wenig wie bei den Eiern der Orthopteren nachweisbar.
Die Dotterzellen gehen aus Furchungszellen hervor, die im Innern des
Eies zurückbleiben.
Am hinteren Eipol findet dann ventralwärts in üblicher Weise eine
etwas lebhaftere Theilung der Blastodermzellen statt, wodurch es daselbst
zur Anlage des Keimstreifens kommt. Eine derartige junge, noch in Bil-
dung begriffene Embryonalanlage gibt Fig. 20 wieder. Die vielfach in
Theilung begriffenen Zellen des Embryonalkörpers unterscheiden sich be-
reits durch ihre Kleinheit von den angrenzenden grolsen (späteren Serosa-)
Zellen. Die Embryonalanlage erstreckt sich noch bis über die Mitte der
Ventralfläche des Eies. Ihr Hinterende reieht bis zum hinteren Eipol.
Schon in diesem Stadium wird eine, allerdings nur undeutliche me-
diane Rinne bemerkbar, von deren Rändern aus Zellen in das Innere ein-
dringen. Die einwandernden Zellen liefern das Mesoderm. Am vorderen
Ende der Rinne befindet sich eine flache Grube, deren Boden von relativ
grofsen Zellen gebildet wird. Diese Grube entspricht der späteren Mund-
öffnung.
Der Procefs der Mesodermbildung läfst sich am besten natürlich an
Sehnittserien eontrolliren. Ich gebe einen solchen in Fig.28 wieder. Die
Rinne ist an dem betreffenden Schnitt nicht deutlich zu sehen, wohl aber
bemerkt man in der Medianlinie den sich einschiebenden Wulst von Me-
sodermzellen. Anscheinend kommen letztere aber nicht ausschliefslich in
der Medianlinie zur Absonderung, denn verschiedene Schnitte zeigen, dafs
auch in den lateralen Partien des Keimstreifens die regelmäfsige epitheliale
Anordnung der Zellen vielfach Störungen erleidet, wobei einzelne Zellen
von der Oberfläche abgedrängt werden. Offenbar wandern letztere eben-
falls in das Innere ein, um an der Bildung des Mesoderms auch noch An-
theil zu nehmen.
Die Mesodermbildung der Libellen, wenigstens bei der hier bespro-
chenen Gattung Libellula, schliefst sich somit ganz an diejenige der Grillen
und speciell an Gryllus domesticus an, bei denen ich diesen Vorgang frü-
her schon (95°) genauer beschrieben habe. An gewisse Entwickelungs-
vorgänge bei Gryllus erinnert endlich auch eine intensive Einwanderung
Be. IB
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 5)
von Zellen am hintersten Ende des Libellula- Keimstreifens. Obwohl sich
diese Zellen nicht merklich von anderen Körperzellen unterscheiden, so
glaube ich sie doch als spätere Genitalzellen deuten zu dürfen, besonders
im Hinblick auf die ganz übereinstimmende Bildungsweise derselben bei
den Orthopteren.
Wenn die Mesodermbildung annähernd ihren Abschlufs gefunden, prägt
sich die typische Form des Keimstreifens, dessen Vorderende nun durch
die beiden grofsen Scheitel- oder Kopflappen ausgezeichnet ist, deutlicher
aus. Bei dem jetzt eintretenden Längenwachsthum greift der Körper, den
hinteren Eipol umfassend, etwas auf die Dorsalseite über. Dort angelangt,
bohrt sich das Abdominalende sogleich in den Dotter ein. In diesem Augen-
blick erscheint die hintere Amnionfalte.
In Fig. ı4 ist ein derartiges Stadium im optischen Schnitt dargestellt.
Man bemerkt, dafs das Hinterende des Abdomens bereits eine Strecke in
den Dotter eingedrungen ist, und dafs mit der fortschreitenden Einstülpung
auch das Wachsthum der Amnionfalte noch Schritt gehalten hat. Der freie
Rand des hinteren Amnions reicht bis zu dem Punkte hin, an welchem der
Embryonalkörper in das Innere des Eies sich einsenkt.
Vordere Amnionfalten sind noch nicht vorhanden, sie entwickeln sich
erst später und treten dann am Rande der Kopflappen auf.
Es beginnt nunmehr eine Periode raschen Längenwachsthums.
Der Keimstreifen dehnt sich an der Dorsalfläche des Eies nach hinten
aus, wobei natürlich das in den Dotter versenkte Ahdominalende ebenfalls
immer weiter nach hinten geschoben werden mufs (Fig. 15). Ist das letz-
tere in die Nähe des vorderen Eipoles gelangt, so hat das Längenwachs-
thum des Körpers einstweilen einen Abschlufs gefunden. Die Körperregio-
nen treten hervor. Kopf, Thorax und Abdomen werden an den ihnen eigen-
thümlichen Anhängen erkennbar.
Der Keimstreifen ist jetzt im allgemeinen ein superficieller zu nennen,
insofern als Kopf, Thorax und das Abdomen bis zum 6. Segment der
Eioberfläche anliegen und als nur der hinterste Abdominaltheil noch in
das Innere verlagert ist.
An diesem hinteren Körperabschnitt ist inzwischen die von mir früher
als Caudalkrümmung beschriebene Umbiegung eingetreten, dergestalt, dafs
die letzten Segmente, vom neunten an, wieder in entgegengesetzter Richtung
verlaufen. Die Mündung des inzwischen entstandenen Enddarms ist daher
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 2
10 R. Heymonss:
gegen die Oberfläche des Eies gewendet. Fig. 16 wird diese Verhältnisse
klar legen, besser als es eine lange Beschreibung vermag.
Ich habe hier die Entwickelungsvorgänge eines Libellula-Eies so be-
schrieben, wie sie sich bei der Mehrzahl der von mir untersuchten Em-
bryonen beobachten lassen. Abweichungen von dem geschilderten Verhalten
sind aber gar nicht selten. Hier seien nur zwei der auffälligeren Modifi-
eationen genannt.
Bisweilen kommt es nämlich vor, dafs am Vorderende des Eies un-
gefähr in der Thorakalregion Dotter zwischen Amnion und Serosa eindringt.
Ein solcher Keimstreifen ist dann abwechselnd superfieiell und immers.
Der Kopf liegt oberflächlich, der Thorax ist von Dotter umhüllt. Die vor-
dere Partie des Abdomens liegt wieder oberflächlich, während die hintere
in den Dotter eingesenkt ist.
In sehr vielen anderen Fällen gelingt es aber der Abdominalspitze
überhaupt nicht, sich in die offenbar zähe Dottermasse einzubohren. Bohr-
versuche werden jedoch anscheinend immer gemacht, denn sehr häufig
dreht und krümmt sich bei diesen fruchtlosen Versuchen das Abdomen,
oder legt sich ganz auf eine Seite, so dafs diese dann dem Chorion, die
andere Lateralseite dem Dotter zugewendet ist.
Ist die Einsenkung in den Dotter gänzlich mifsglückt, so wächst der
Keimstreifen gleichwohl in typischer Weise aus und legt sich dann in Form
einer unvollkommenen Spiralwindung der Aufsenfläche des Dotters an. Wir
haben es im letzteren Falle daher mit einem rein superficiellen Keimstreifen
zu thun (Fig. 13).
Es könnte nahe liegen, die zuletzt beschriebenen Erscheinungen für
pathologische zu halten und sie auf die Entwickelung unter den anormalen
Lebensbedingungen (in den Aquarien) zurückzuführen. Ich bemerke hierzu,
dafs bis auf einen ganz verschwindend geringen Bruchtheil die Zibellula-
Eier zu normalen Larven sich entwickelt haben.
Bei Epitheca sind so weitgehende Variationen in der Form und Lage
des Keimstreifens nicht bemerkbar. Einen solchen zeigt Fig. 7. Es fällt
in erster Linie auch bei £pitheca eine eigenartige Krümmung der Embryonal-
anlage auf, welche etwa die Form eines S angenommen hat. Kopf und
Thorax liegen noch oberflächlich, das Abdomen geht mitten durch den
Dotter hindurch zur Ventralfläche des Eies hinüber, und der hintere Ab-
dominalabschnitt krümmt sich wieder zur Dorsalseite des Eies zurück.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 11
Diese letztere Einkrümmung des hinteren Abdominaltheiles ist als Caudal-
krümmung aufzufassen.
Es ist zu bemerken, dafs bei Epitheca während des Einwachsens des
Keimstreifens in den Dotter keine Unterschiede im Vergleich zu Libellula
sich zu erkennen geben. Auch die späteren Lagerungsverhältnisse sind
ganz ähnlich wie bei dem letztgenannten Inseet. Fig. 16 könnte beinahe
schon als Schema für Zpitheca angesehen werden, wenn man berücksichtigt,
dafs bei dieser Form in dem entsprechenden Stadium das ganze Abdomen
in den Dotter eingekrümmt ist, während bei Zibellula, wie die Figur zeigt.
die Einkrümmung erst bei dem 6. Abdominalsegmente stattfindet. Die
Epitheca-Keimstreifen schliefsen sich somit etwas mehr an den Typus
immerser Insecetenembryonen an.
Sympetrum stimmt fast vollkommen mit Libellula überein. Einen aus-
wachsenden Keimstreifen des ersteren Insects zeigt Fig. 12.
Es erübrigt jetzt noch, die Embryonen der Ephemeriden zu besprechen.
Bei diesen steht indessen sowohl die Bildung wie auch die spätere Lagerung
des Keimstreifens in so nahem Zusammenhang mit den soeben bei den
Odonaten besprochenen Verhältnissen, dass ich auf eine Schilderung im
einzelnen verzichte.
In Fig. 10 ist die Embryonalanlage von Ephemera vulgata wiedergegeben.
Mit Ausnahme der am Hinterende des Eies liegenden Scheitellappen und
der darauf folgenden vorderen Kopfpartie ist der Körper vollständig von
der Dottermasse eingehüllt. Da die Einsenkung in die letztere gleich hinter
dem Kopf beginnt, so erklärt es sich, dafs selbst in späteren Stadien bis
zur Umrollung auch der mittlere Abschnitt des Embryonalkörpers noch
vom Dotter bedeckt bleibt.
Ein mit dem dargestellten Ephemeridenei nahezu vollkommen über-
einstimmendes Bild ergibt sich bei einer Untersuchung der Embryonen
von Caenis. Bei den bereits mehr der Kugelform sich nähernden Eiern
des genannten Inseets ist, wie Fig. ıı zeigt, der Keimstreifen ebenfalls ein
immerser.
Die Embryonalanlagen der genannten Insecten bilden mit
ihren mannigfachen Krümmungen gewissermalsen Übergangs-
formen zwischen superficiellen und immersen Insectenkeim-
streifen. Regelmäfsig gelangt der ursprünglich stets ober-
flächlich liegende Embryonalkörper erst durch ein Auswachsen
)%*
12 R. Heymonss:
nach hinten in die Dottermasse hinein. Von letzterer wird je-
doch immer nur der hintere Abschnitt des Körpers umhüllt.
Bei Ephemera bleibt der Kopf, bei Epitheca Kopf und Thorax,
bei Sympetrum und Libellula aulserdem noch ein Theil des Ab-
domens dauernd an der Oberfläche zurück. Die Einkrümmung des
Körpers in den Dotter pflegt stets während der Anfangsstadien der Ent-
wickelung am besten ausgeprägt zu sein, später verliert sie an Deutlich-
keit, einmal weil die eingesenkte Abdominalpartie zum vorderen Eipol
geschoben wird, und dann, weil der inzwischen erfolgten Caudalkrümmung
wegen das hinterste Körperende sich wieder zur Oberfläche des Eies zu-
rück wendet.
Es liegt wohl nahe, die Frage aufzuwerfen, wie weit die hier mit-
getheilten Befunde mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen an Odo-
naten — für Ephemeriden sind ja bisher noch keine specielleren Angaben
gemacht worden — im Einklang stehen. In dieser Hinsieht ist zu be-
merken, dafs bei Calopteryx die Verhältnisse in der That zum Theil etwas
anders liegen.
Der Keimstreifen wird bei letzterem Inseet, nach den Mittheilungen
von Brandt (69), ungemein frühzeitig, schon während seiner Bildung in
das Innere des Eies eingesenkt. Er umwächst also nicht erst den hinteren
Eipol, so dafs wir die bei den oben genannten Insecten beschriebenen cha-
rakteristischen Krümmungen gänzlich vermissen. Völlig gerade gestreckt,
mit Ausnahme natürlich der eingebogenen hinteren Segmente, liegt viel-
mehr der Calopteryx-Keimstreifen inmitten der Dottermasse, ohne an irgend
einem Punkte die Oberfläche direct zu berühren.
Diplax und Perithemis stimmen, nach der allerdings nur sehr kurzen
Beschreibung von Packard (71) zu urtheilen, wohl im wesentlichen mit
Calopteryx überein.
Die Ergebnisse von Brandt an Calopteryx haben ein allgemeineres
Interesse erweckt. Schienen sie doch darauf hinzudeuten, dafs gerade die
Libellen in den Krümmungserscheinungen ihrer Keimstreifen den unmittel-
baren Anschlufs der Inseeten an die Myriopoden vermitteln sollten.
Ähnlich wie diefs oben für die Libellen beschrieben wurde, so sind
auch die Keimstreifen mancher Myriopoden und zwar speciell die der Di-
plopoden in den Nahrungsdotter des Eies eingesenkt. Im Hinblick hierauf
glaubte man den Schlufs ziehen zu können, dals die Invagination des
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 13
Keimstreifens, wie sie sich bei den Odonaten vollzieht, noch direet von
myriopodenartigen Vorfahren übernommen worden sei. Da ferner bei Calo-
ptery& die Embryonalhüllen in dem Zeitpunkt auftreten, in welchem sich
der Keimstreifen in das Innere einzusenken beginnt, so lag die weitere
Annahme nahe, dafs gerade die besprochene Einsenkung des Keimstreifens
zur Bildung der Amnionfalte die eigentliche Veranlassung gegeben habe.
Es sollte also mit anderen Worten nicht nur die Invagination des Keim-
streifens von den Myriopoden her sich vererbt haben, sondern diese leztere
sollte dann weiter bei den Inseeten gleichzeitig auch noch zum Ausgangs-
punkt für die Keimhüllenbildung geworden sein. Auf Grund dieser An-
schauungen hat- man dann überhaupt bei den Insecten die Form des inva-
ginirten Keimstreifens allgemein als die älteste und ursprünglichste erklärt.
Gegen diese mehrfach vertretene Annahme und den damit ausgespro-
chenen Vergleich zwischen Libellen und Myriopoden habe ich mich schon
an anderer Stelle gewendet (95°). Auch nach meinen jetzigen Beobach-
tungen kann ich die Ähnlichkeit zvischen einem invaginirten Libellen- und
Myriopodenkeimstreif nur für eine rein äufserliche halten.
Die Krümmungen vollziehen sich in beiden Fällen in verschiedener Weise.
Bei den Myriopoden wird durch eine in der Körpermitte auftretende ventrale
Knickung der Embryonalkörper in das Innere versenkt und verbleibt bis zum
Ausschlüpfen in dieser Lage. Bei den von mir untersuchten Libellen und
Ephemeriden handelt es sich dagegen um ein Einwachsen des Hinterleibes
in den Dotter, welches zu einer mehr oder minder vollständigen Inversion
(dorsalen Krümmung) des gesammten Embryo führt, der dann erst später
durch einen Umrollungsprocefs seine normale Lage wieder gewinnt. Das
Gleiche gilt auch für die von Brandt untersuchten Calopteryx-Embryonen, bei
denen die entsprechende Einsenkung sich schon etwas frühzeitiger vollzieht.
Von derartigen Wachsthums- und Umrollungsprocessen ist dagegen bei
den Myriopoden nichts zu bemerken. Die Diplopoden dürften überhaupt
wegen ihrer entfernten verwandtschaftlichen Beziehung zu den Insecten als
Vergleichsobjeete kaum geeignet sein. Eher könnten die Chilopoden in Frage
kommen, diese besitzen indessen im Stadium der dorsalen Krümmung rein
superficielle Keimstreifen.
Der invaginirte (dorsal gekrümmte) Keimstreif der Insecten
leitet sich demnach nicht von dem invaginirten Keimstreif der
Myriopoden ab, denn in beiden Fällen handelt es sich um ganz
14 R. Hevmons:
andersartige Vorgänge. Wir werden vielmehr zu der Annahme
geführt, dafs die bei den Inseeten sich zeigende frühzeitige In-
vagination des Keimstreifens selbständig (ohne Vererbung) zu
Stande gekommen ist.
Der ursprünglichste und einfachste Keimstreiftypus wird bei
den Inseceten wie bei den Chilopoden wohl zweifellos der superfi-
ciellegewesen sein'. DieserEntwiekelungsmodus kommtindessen
bei den Libellen und Ephemeriden nur noch unvollkommen oder
garnicht mehr zum Ausdruck. Es bilden demnach diese Inseeten
in der Form und Lagerung ihrer Keimstreifen keine Übergangs-
stufe zu den Myriopoden, sondern sie weisen in dieser Hinsicht
meiner Auffassung nach bereits abgeleitete Verhältnisse auf.
Unter diesen Umständen erscheint es mir nicht gerechtfertigt, eine so
charakteristische und wesentliche Einrichtung, wie es unstreitig die Bildung
von Embryonalhüllen für die Inseetenembryonen ist, von dem Einflufs einer
angeblich von den Vorfahren her vererbten Einsenkung des Körpers in den
Dotter abhängig zu machen.
Betrachtet man den Entwiekelungsprocefs der Hüllmembranen bei den
jetzigen Insecten, so liegt es nahe, die Bildungsursache des Amnions in
anderen Veranlassungen zu suchen, auf welche vielleicht nieht immer das
genügende Gewicht bisher gelegt worden ist.
Die erste Voraussetzung, die nothwendiger Weise erfüllt sein mulfs,
damit es überhaupt zur Bildung von Hüllen kommen kann, ist natürlich
das Vorhandensein einer selbständigen zelligen Haut an der Oberfläche
des Inseeteneies, des sogenannten Blastoderms, welches unabhängig von
den darunter befindlichen, im Dotter verbliebenen, zelligen Elementen ist.
Die Bildung einer solchen Haut ist als das Resultat der unvollkommenen,
d. h. nieht mehr totalen, Furchung anzusehen, welche bekanntlich bei
weitem die Mehrzahl aller Inseeteneier erleidet.
Eine zweite und sehr wichtige Vorbedingung beruht ferner in der
relativen Kleinheit, die ursprünglich die jungen Insecetenkeimstreifen im
Verhältnifs zur Gesammtgrölse des Eies besitzen. Die Insectenkeimstreifen
werden meist nicht sogleich in ihrer definitiven Länge angelegt, sondern
! Zu dieser schon früher von mir vertretenen Ansicht ist neuerdings auch Knower
durch Beobachtungen an Termiteneiern gelangt.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 15
sind gezwungen, sich nachträglich auszudehnen. Dieses Auswachsen geht
nun in der Richtung von vorn nach hinten vor sich, und es ist nicht
schwer zu beobachten, wie dabei die oben erwähnte zellige Haut ganz
naturgemäfs von dem hinteren Körperende in Form einer Falte aufge-
worfen wird. Damit ist der erste Anstofs zur Bildung der hinteren Am-
nionfalte ertheilt.
Bei dem Längenwachsthum des nach hinten sich ausdehnenden Körpers
findet aber beinahe stets eine geringe Rückwärtsbewegung auch des Kopf-
endes statt. Auf die mit diesem Abschnitt verbundene Blastodermpartie
mufs hierbei unbedingt eine Zugwirkung ausgeübt werden, und diese letz-
tere ist es wohl, durch welche der erste Antrieb zur Bildung der vorde-
ren Amnionfalten gegeben wird.
Die betreffenden Vorgänge lassen sich gerade sehr deutlich bei den-
jenigen Libellhula-Keimstreifen verfolgen, welche, wie oben gesagt, dauernd
superficiell bleiben. Ungeachtet der fehlenden Einstülpung findet hier die
Keimhüllenbildung ganz normal in der oben beschriebenen Weise statt.
Abgesehen von den Embryonen der in Rede stehenden Libelluliden
und Ephemeriden sind auch diejenigen der meisten Orthopteren, wenn
wir uns an eine frühere, von Graber (90) herrührende, Bezeichnung
halten wollen, brachyblastisch, kurzkeimig, d. h. sie bedecken Anfangs nur
einen ganz geringen Theil der Eioberfläche. Die oben erwähnten durch
das nachträgliche Auswachsen des Körpers bedingten Lageveränderungen
geben sich daher hier auch immer ganz besonders klar zu erkennen. Erst
in dem Moment, in welchem der Embryo auf den mit dem Blastoderm
bedeekten Ei sich zu bewegen beginnt, pflegen die Faltungen des Blasto-
derms (Amnionfalten) aufzutreten. Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob
der Embryo sich in den Dotter einsenkt oder nicht.
Bei der Bildung der Embryonalhüllen sowohl der Orthopteren, wie
der Odonaten, Ephemeriden und vieler anderer Inseeten beobachtet man,
dafs stets Amnion und Serosa von vornherein eine auffallende Ver-
schiedenheit besitzen. Die Serosa besteht aus grofsen flachen Zellen,
das Amnion dagegen aus kleinen rundlichen Elementen, die den Ektoderm-
zellen des Körpers vollständig gleichen und wie diese sich lebhaft kinetisch
theilen, was bei den Serosazellen niemals der Fall ist. Diefs deutet darauf
hin, dafs die durch den auswachsenden Körper aufgeworfene Blastoderm-
falte nur die Serosa selbst liefert. Das Amnion ist dagegen als ein Derivat
16 R. Heymons:
des eigentlichen Embryonalkörpers zu betrachten, der das Bestreben hat,
ınit dem Blastoderm in eontinuirlichem Zusammenhange zu bleiben. Die
unmittelbare Veranlassung zu den Theilungen der Amnionzellen ist in den
oben erwähnten Zugwirkungen zu suchen.
Die Lageveränderungen der Keimstreifen auf den mit einer
zelligen Blastodermschicht bekleideten Eiern sind es also, welche
bei vielen Inseeten den unmittelbaren Anstoss zur Entwickelung
der Embryonalhüllen geben. Selbstverständlich ist es, dafs stets
während der Umwachsung durch die Hüllen ein geringfügiges Einsinken
des Körpers unter das Oberflächenniveau stattfindet. Letzteres wird wohl
dadurch ermöglieht. dafs unmittelbar unter dem Körper der Dotter zuerst
verflüssigt wird. Findet die Resorption des Dotters in sehr intensivem
Mafse statt, so kann der Keimstreifen sogar bereits vor dem eintretenden
Längenwachsthum in den Dotter einsinken, wie sich beispielsweise bei
vielen Lepidopteren beobachten läfst.
Sucht man sich die phyletische Entwickelung von Hüllmembranen
bei den Inseeten anschaulich zu machen, so hat man demnach in letzter
Instanz die Bildungsursache in dem zunehmenden Reichthum an Dotter-
material zu erblicken, welches im Laufe der Zeit die Inseeteneier erlangt
haben.
Die erste Folge des reichlichen Nahrungsdotters mulste zweifellos die
Unmöglichkeit sein, denselben bei der Furchung sogleich in Zellen aufzu-
nehmen. Die Segmentation des Eies konnte nicht mehr total bleiben, und
das nur einzelne freie Zellen enthaltende Reservematerial wurde proviso-
risch mit einer zelligen Membran, der späteren Serosa, bekleidet. Bei den
auf diese Weise, gewissermalsen secundär durch Aufspeicherung von Nähr-
material, umfangreich gewordenen Insecteneiern besals der Embryo im
Verhältnifs zur Gröfse des Eies anfangs nur eine geringe Länge, und als
er sich dann im Laufe seiner ‚weiteren Entwickelung nachträglich aus-
zudehnen bestrebte, mufsten die oben geschilderten Falten bez. Hüllen-
bildungen der Serosa die natürliche Folge sein. Auch eine schnellere Re-
sorption der Dottersubstanz von Seiten des Keimstreifens wird in manchen
Fällen zu einem Einsinken des Körpers und darauf folgender Umwachsung
durch das Blastoderm (Serosa) geführt haben.
Zu Gunsten dieser Annahmen sprieht der Umstand, dafs gerade bei
den Eiern niederer Inseeten die Lageveränderungen der Keimstreifen stets
ee;
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 17
sehr deutlich hervorzutreten pflegen und für diese überhaupt als ganz
charakteristisch angesehen werden müssen. Selbst bei zahlreichen höheren
Inseeten sind sie noch nachweisbar (viele Coleopteren) oder wenigstens an-
deutungsweise vorhanden; hier dürfte dann die Bildung von Hüllorganen
sich wohl auch durch Vererbung schon genügend gefestigt haben.
Die Keimstreifen der Myriopoden erleiden, soweit wir wenigstens bis-
her wissen, keine entsprechenden Verschiebungen an der Eioberfläche und
sie entbehren bekanntlich auch vollständig der embryonalen Hüllmembranen.
Mit diesen Erklärungsversuchen trete ich in einen gewissen Gegen-
satz zu den bisherigen Theorien, welche die Bildung von Amnion und
Serosa bei den Insecten verständlich machen wollten. Vielfach glaubte
man, dafs der Hüllenbildung andere mechanische Ursachen zu Grunde
lägen, und man vermuthete, dafs die Embryonalhäute deswegen aufge-
treten seien, weil die Inseetenembryonen einen besonderen Schutz gegen
Druck oder gegen etwaige andere widrige Einflüsse nöthig gehabt hätten.
Als ausreichend ist diese Erklärung jedoch nicht anzusehen, denn es ist
bekannt, dafs viele andere, ähnlich gestaltete Arthropodenembryonen (My-
riopoden, Spinnen) durch die resistente Eischale allein schon hinlänglich
geschützt sind.
In anderen Fällen suchte man die Ursache zu dem Auftreten der Em-
bryonalhüllen in besonderen. nicht näher hestimmten, physikalischen oder
chemischen Einwirkungen. Vielfach wiederum hat man eine von den My-
riopoden übernommene Invagination des Körpers in den Eidotter verant-
wortlich zu machen versucht. Wie oben gesagt, fehlen aber gerade zu
einer derartigen Annahme zur Zeit noch alle Anhaltspunkte. Die bei den
Inseeten zur Hüllenbildung führenden Ursachen sind nicht so complieirter
Art, als dafs man zu weittragenden Theorien zu greifen brauchte.
3. Die Entwickelung der Körpergestalt.
Die Auflösung der Embryonalhüllen spielt sich bei den Odonaten und
Ephemeriden gerade so wie bei Orthopteren ab. Bei der Umwachsung des
Dotters geht das Amnion zu Grunde. Die Serosa zieht sich auf dem
Rücken zusammen und wird schliefslich in Form eines kleinen zelligen
Säckchens am Vorderende hinter dem Kopf in den Dotter eingestülpt,
wo sie ebenfalls der Rückbildung dann anheimfällt.
Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 3
18 R. Hermons:
Mit dem Einreifsen der Embryonalhäute ist eine Umrollung des Enı-
bryo verbunden, der gleichzeitig damit seine definitive Lagerung im Ei
gewinnt, d.h. mit dem Kopfende nunmehr am vorderen den Micropyle-
apparat tragenden Eipol sich befindet.
Eine interessante Ausnahme von diesem Verhalten, welches überhaupt
für die Inseeten im allgemeinen als Regel gelten kann, macht Sympetrum
flaveolum. Die reifen Embryonen dieses Thieres liegen mit dem Kopf an
dem dem Micropyleapparat gerade entgegengesetzten Eipole'.
Die hinteren Abdominalsegmente werden nach der Umrollung gegen
die Ventralseite hin umgeschlagen (Fig. 17), so dafs das hintere Körper-
ende nach vorn gerichtet ist, und die sich entwickelnden Schwanzstacheln
zwischen den Antennen zu liegen kommen.
Die Umbiegungsstelle im Abdominaltheil befindet sich sehr weit vorn.
Bei Epitheca und Libellula zwischen dem 4. und 5. Segment.
Bei Ephemera liegt die Kniekung sogar schon zwischen dem 2. und
3. Abdominalsegment. Die Einkrümmung geht hier schon von Statten,
ehe noch an der betreffenden Stelle die Umwachsung des Dotters vollendet
ist. Es wird also bei Ephemera das aus der Amnionhöhle herausgezogene
Abdomen wieder in die Dottermasse eingedrückt. so dafs dann später in
den eingekrümmten Abdominaltheil eine Partie des Nahrungsdotters mit
eingeschlossen wird.
Die Bildung der Körpergestalt folgt im allgemeinen dem auch bei
anderen Inseeten, insbesondere Orthopteren, üblichen Schema. Noch
während der Embryo sich inmitten der Dottermasse befand, waren bereits
am Kopf die Gliedmafsen aufgetreten.
Frühzeitig erscheinen die Antennen zu den Seiten der Mundöffnung
(Fig. 16 Ant). Sie sind nach hinten gewendet und neigen sich hinter
der Oberlippe mit ihren distalen Enden ein wenig gegen einander. Die
Mandibeln treten als zwei kleine rundliche Höckerchen hervor.
Bei der Entwickelung der Maxillen fällt es auf, dafs die Differenzirung
der Ladentheile sehr spät erst stattfindet. Während bei den Orthopteren
lobus internus und externus beinahe gleichzeitig mit dem Taster angelegt
werden, und die Laden an der medialen Seite des letzteren als selbständige
Höcker hervorknospen, so hat bei den Libellen die Maxille von vornherein
nur die Gestalt eines einfachen Höckers oder Zapfens.
! Über einen ähnlichen Fall bei Zutermes hat Knower (96) kürzlich berichtet.
Entwickeling und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 19
Erst später gliedert sich von der Aufsenseite der Maxille eine kleine
rundliche Erhebung ab, welche die Anlage des Tasters darstellt (Fig. 19
palp mx,), während das in der directen Fortsetzung des ursprünglichen
Maxillenzapfens liegende Endstück zur Lade (lobus) wird.
Berücksichtigt man die Gröfse der auf diese Weise zur Absonderung
gelangten Lade im Verhältnifs zum ganzen Maxillenstamm, so wird es klar,
dafs der bei den Libellen einfach bleibende Lobus den getrennten Laden
an den Maxillen anderer Inseeten entspricht, dafs er mithin den vereinigt
bleibenden lobus internus und externus repraesentirt. Bereits Gerstaecker
(73) hatte den Maxillen der Libellen diese Deutung gegeben, welche so-
mit auch durch die Entwickelungsgeschichte bestätigt wird.
Von Interesse ist ferner die Anlage des 2. Maxillenpaares. Die hin-
teren Maxillen sind Anfangs durchaus beinartig gestaltet, so dafs man
auf den ersten Blick geneigt sein könnte, sie für wirkliche Beinanlagen
zu halten (Fig. 16 M,).
Weiterhin macht sich dann eine undeutliche Gliederung in vier Abschnitte
an ihnen geltend, und sie legen sich "mit ihren Basalstücken an einander.
In diesem Stadium sind die bereits zur Unterlippe an einander gefügten
hinteren Maxillen in Fig. 24 abgebildet. Die Abbildung bezieht sich auf
einen Embryo von Zpitheca kurz nach vollzogener Umrollung. Nur die
Basalglieder des Labiums sind vorläufig vereinigt, die drei distalen Glieder
noch getrennt, abgesehen von dem Grunde des zweiten Gliedes, an dem
eine Verbindung sich bereits vollzogen hat. Das vierte oder Endglied ist
auffallend klein, aber deutlich von dem dritten abgesetzt.
Später ändert sich das beschriebene Verhalten, und noch während
der letzten Epoche des Embryonallebens kurz vor dem Ausschlüpfen bildet
sich das Labium zu der sogenannten Fangmaske um (Fig. 21). Die junge
Larve ist daher von vornherein in den Stand gesetzt, einer räuberischen
Lebensweise obzuliegen. An dem zweiten und dritten Gliede des Labiums
macht sich eine auffallende Verbreiterung geltend. Durch diese Verbrei-
terung hat eine vollkommene Verschmelzung der beiderseitigen zweiten
Glieder stattgefunden, die zu einer annähernd dreieckigen Platte sich ver-
einigen.
Die Spitze des Dreiecks stellt die Verbindung mit dem Basalgliede
des Labiums dar, die breite Basis ist distalwärts gewendet und trägt in
der Mitte zwei kleine Zähnchen, zu deren Seiten einige kurze Borsten
3%
20 R. Hzymons:
stehen. Auch der Innenrand des stark verbreiterten dritten Gliedes ist
mit acht gröfseren Zacken besetzt, die in späteren Stadien noch Borsten
tragen. Das vierte oder Endglied des Labiums ist auffallend klein ge-
blieben und macht bei flüchtiger Betrachtung nur den Eindruck einer
starken Borste. Die Täuschung ist um so leichter, als daneben eine sehr
kräftige Borste sich findet, die an Gröfse das Endglied sogar noch über-
trifft. Erst eine genauere Untersuchung lehrt, dafs es sich bei letzterem
thatsächlich um ein wirkliches Glied handelt, welches gegen das vorher-
gehende durch eine Gelenkverbindung deutlich abgesetzt ist. Fig. 21 ver-
anschaulicht das Labium einer jungen, eben ausgeschlüpften Zpitheca-Larve.
Die Verschiedenheit zwischen dem Labium der Libellenlarven und der
Unterlippe bei Orthopteren ist eine sehr auffällige. Indem man aber von
der Anschauung ausgieng, dafs die einzelnen Abschnitte der Fangmaske
bei den Libellenlarven den 'Theilen der Unterlippe bei kauenden Inseeten
homolog sein mülsten, hat man doch mehrfach schon Vergleiche zwischen
beiden angebahnt und das Libellenlabium von dem Orthopterenlabium ab-
zuleiten versucht.
Die Erklärungsversuche sind allerdings recht verschiedenartig ausge-
fallen. Da gesonderte Laden an dem Labium der Libellen nicht zu unter-
scheiden sind, so handelte sich die Frage hauptsächlich darum, ob, wie
bei den Maxillen, Aufsen- und Innenladen mit einander verschmolzen wären,
oder ob bei der Unterlippe der lobus externus sich mit dem palpus ver-
einigt habe.
Soweit entwickelungsgeschichtliche Ergebnisse hierbei in Betracht ge-
zogen werden können, scheint mir die Gerstaecker’sche Ansicht wohl
die einleuchtendste zu sein. Dieser zufolge wären nämlich an dem Labium
der Libellen die inneren Laden von den äufseren getrennt, während die
Aulsenladen ihrerseits mit dem Taster verwachsen seien.
Die Deutung Gerstaecker’s (73). welehe sich auf die Mundtheile der
Imagines bezog, kann im wesentlichen bereits bei den Larven eine Anwen-
dung finden. Freilich handelt es sich bei Aufsenlade und Taster wohl we-
niger um eine Verschmelzung, als vielmehr um eine unvollkommene bez. um
eine unterbliebene Trennung. Die Mundtheile der Libellen verharren eben
dauernd in einem Stadium der unvollständigen Differenzirung, womit auch
die oben hervorgehobene späte Differenzirung von Laden und Tastern bei
den Maxillen im Gegensatze zu vielen anderen Inseeten in Einklang steht.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 21
An dem Labium der Libellen kommen eigentliche lobi überhaupt nie-
mals zur vollständigen Absonderung. Die mit den lobi externi anderer
Inseeten zu vergleichenden Theile werden beim Embryo nur in Form einer
medianen Verbreiterung der dritten Glieder (Fig.24 Lab,) angelegt. Ent-
sprechende Verbreiterungen an den zweiten Gliedern stellen die lobi in-
terni dar. Noch während der Embryonalzeit legen sich diese in der Me-
dianlinie an einander und verschmelzen. Bei den Larven von Libellula,
Epitheca u. A. sind daher die lobi interni mit einander vereinigt (Fig. 21).
Die beim Embryo bereits sehr frühzeitig erfolgende Verbindung zwischen
den proximalen Abschnitten der zweiten Glieder (Fig. 24) liefert später
das als mentum bekannte Stück, während als Rudiment eines palpus wohl
ohne Zweifel das kleine vierte (oder End-) Glied des Labiums (Lab,) zu
betrachten ist.
Unter den drei Höckerpaaren, die auch bei Ephemera die erste Anlage
der Mundwerkzeuge darstellen, fallen die vordersten, die späteren Mandi-
beln, von vornherein durch bedeutendere Gröfse auf.
Das hinterste Höckerpaar legt sich schon frühzeitig zur Bildung des
Labiums zusammen, an dem ganz im Gegensatze zu den Odonaten bereits
zur Zeit der Umrollung getrennte lobi interni und externi, sowie kurze
palpi labiales zur Entwickelung gelangen.
Späterhin macht sich dann eine Art Abgliederung auch an den vorderen
Maxillen und an den Mandibeln geltend. Diese Verhältnisse lassen sich
aber am besten erst an den jungen, eben ausgeschlüpften Larven studiren
(Fig. 29).
Bei letzteren sind die Labialtaster noch kurz, ungegliedert und gehen
in eine starke Chitinborste aus.
An den Maxillen der jungen Ephemera-Larve fällt die Gröfse der Kau-
lade auf, die in einer Anzahl starker, wohl als Zähnchen fungirender Sta-
cheln endigt. An der Basis der Maxille befindet sich lateral ein unbedeu-
tender kleiner, höckerartiger Vorsprung: die erste Andeutung des palpus
maxillaris.
Die Mandibel besteht aus zwei Stücken, die von einer gemeinsamen
Basis entspringen. Ein breites mediales Stück funetionirt als Kaulade und
besitzt am distalen Ende einige starke kräftige Zähne. Lateral von der
Kaulade trifft man als zweites Stück einen hornartigen Fortsatz an. der an
seinem Ende in einige Chitinstacheln ausläuft (Fig.29 Mdp).
ID
[892
R. Heymons:
Die hornartigen Fortsätze der beiden Mandibeln convergiren und be-
rühren sich bei geschlossenen Mundtheilen beinahe in der Medianlinie. Diefs
gilt aber nur für die jungen Larven, während später ein anderes Verhalten
hervortritt.
Die hornartigen Mandibularfortsätze gehen bei älteren Larven beinahe
in rechtem Winkel von der Kaulade ab, sie sind nach vorn gewendet und
enden mit einer einfachen Spitze, wodurch sie ein tasterartiges Aussehen
gewinnen.
Der Hypopharynx entsteht bei Ephemera auf ähnliche Weise wie bei
den Orthopteren. Auch an ihm findet eine Art Gliederung statt, derge-
stalt, dafs von der eigentlichen Hauptmasse zwei laterale vordere Zapfen
abgetrennt werden, die mit kleinen Härchen bedeckt sind, während der
eigentliche Hypopharynx am Ende einen Besatz von feinen (Sinnes-) Bor-
sten trägt.
Vergleicht man die Entstehung der Zphemera-Mundtheile mit derje-
nigen der Orthopteren, so ist die übereinstimmende Bildung des Labiums
bei den beiden Gruppen nicht zu verkennen.
Auffallend ist an den Maxillen von Zphemera das späte Auftreten des
palpus, der nur als ein einfacher lateraler Auswuchs des Maxillenstammes
angelegt wird.
Der hornartige Fortsatz der Mandibeln kommt auch noch anderen
Ephemeridenlarven zu und ist bekanntlich nicht als eine besondere Eigen-
thümlichkeit der Gattung Ephemera zu betrachten. Bei den jungen Larven
von Caenis ist das entsprechende Gebilde vorhanden. Berücksichtigt man
die Entstehungsweise des Mandibularfortsatzes, so ist wohl nicht zu ver-
kennen, dafs er ähnlich wie ein Taster ursprünglich angelegt wird. Es
könnte der hornartige Fortsatz morphologisch also noch am ehesten mit
einem modifieirten palpus (mandibularis) verglichen werden.
Auf die Gliederung der Antennen, sowie auf diejenige der Thorax-
beine gehe ich hier nieht näher ein. Erwähnt seien nur noch zwei eigen-
artige kleine Hörnchen, die am Scheitel der jungen Epitheca-Larven zu
beobachten sind.
Diese hornartigen Zapfen sind ein besonderes Charakteristicum der
Gattung Epitheca, der sie auch ihren Namen gegeben haben. Sie entstehen
erst spät, am Schlusse der Embryonalzeit, und stellen einfache Haut-
ausstülpungen dar; irgend ein bestimmter morphologischer Werth kann
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 23
ihnen mithin nicht zugeschrieben werden. Im Innern sind die Kopfhörner
hohl, ihre Wand besteht aus grofsen Hypodermiszellen. Der gleiche Bau
kommt übrigens auch den kleinen Scheitelhörnern der Cordulia-Larven zu.
Bei jungen Larven von Epitheca sind die Hörner zweigliedrig (Fig. 2 Shh),
auf einem langen Basalabschnitt erhebt sich ein kurzes eiförmiges Endglied,
welches einige lange Borsten trägt. Dafs die Hörner bei den jungen
Larven die Bedeutung von Sinnesapparaten haben, ist wohl als wahr-
scheinlich anzunehmen.
Bei älteren Larven verschwindet das Endglied. Die Scheitelhörner
werden im weiteren Entwickelungsverlauf relativ kürzer und stellen schliefs-
lich abgerundete, wenig erhabene Fortsätze dar, die keine Borsten tragen.
Bei Libellula und Sympetrum fehlen besondere Fortsätze am Scheitel. Der
Kopf der jungen Larven ist nur mit einigen langen Chitinhaaren besetzt.
Während die Brustbeine schon am Embryo eine sehr beträchtliche
Länge erreichen, sind im Gegensatze zu den meisten Orthopteren die Ab-
dominalextremitäten sowohl der Odonaten wie der Ephemeriden nur küm-
merlich entwickelt. Sie haben die Form kleiner, wenig erhabener, rund-
licher Höcker, in denen anfangs die mesodermalen Gölomsäcke sich befinden.
Eine Differeneirung der Extremitäten des ı. Abdominalsegmentes zu
drüsigen Organen findet nicht Statt. Am ı1. Abdominalsegment wachsen
die Extremitäten zu den cerei aus, sie wenden sich nach hinten und er-
langen eine beträchtliche Länge. Auch im Umkreis des hinter dem ı 1. Ab-
dominalsegment befindlichen Afters erscheinen insbesondere bei den Odo-
naten eigenartige Fortsätze, die indessen erst im nächsten Abschnitte eine
eingehendere Berücksichtigung finden sollen.
Wenn der Embryo sonach allmählich in den Besitz der verschieden-
artigen Extremitäten und Körperanhänge gelangt ist, und wenn auch die
innere Organisation entsprechende Fortschritte gemacht hat, so bereitet
sich das junge Thierchen zum Ausschlüpfen vor.
Der Procefs des Ausschlüpfens ist in diesem Falle, d. h. besonders
bei Epitheca und Libellula, kein leichter. Gilt es doch aufser der harten
Eischale auch noch die darum gelagerte zähe Gallertmasse zu durch-
brechen, um ins Freie zu gelangen. Die Eischale ist übrigens insofern
verstärkt, als auch die Serosa eine farblose chitinöse Haut abgeschieden
hat, welche den Embryo rings umhüllt und unter dem braungelben Chorion
sich befindet.
24 R. Hrvmoss:
Um diese Hindernisse überwinden zu können, ist der Embryo im
Besitze eines eigenthümlichen Apparates, den ich im folgenden für Zpi-
theca beschreiben will.
Wenn die Umwachsung des Dotters sich vollzogen hat, und wenn
von der Körperhaut eine dünne Chitineutieula bereits produeirt ist, so
fällt am Kopfe des Embryo eine mediane über die ganze Stirn sich hin-
ziehende Leiste von gelblicher Farbe auf (Fig. 17 Chl). Diese Chitinleiste
beginnt unmittelbar hinter dem Clypeus und reicht bis zum Scheitel.
Während sie hinten flacher wird und dort allmählich in die Körpereuticula
übergeht, so endet sie vorn an einer verdickten, aber nicht mehr er-
habenen Chitinplatte Die Leiste ist nicht homogen, sondern von feinen
'adiär verlaufenden Porenkanälchen durchsetzt. Die zwischen den Kanäl-
chen befindlichen Strebepfeiler sind distalwärts durch eine solide Chitin-
lamelle verbunden, und zwar derartig. dafs über den Pfeilern die Lamelle
etwas erhaben, zwischen ihnen aber etwas eingesenkt ist. Der Aufsen-
kontur der Leiste zeigt daher einen fein welligen Verlauf.
Die physiologische Bedeutung dieser wie ein scharfer Kamm über den
Kopf sich hinziehenden Leiste wird ohne weiteres klar, wenn der Procefs des
Ausschlüpfens aus dem Ei sich vollzieht. Mehrfach habe ich Gelegenheit gehabt,
diesen Vorgang bei Epitheca direet beobachten zu können. Es öffnet sich
hierbei das zum Schlufs spröde und brüchig gewordene Chorion in Form
eines Längsrisses. Dieser Rifs wird, wie es scheint, ausschliefslich durch
den Druck veranlafst, den der im Innern befindliche Embryo allseitig auf
die Eischale ausübt.
Die Öffnung in dem Chorion zeigt sich zuerst ventralwärts am Vorder-
ende des Eies, verlängert sich aber bald in Form einer Längsspalte nach
hinten. Durch den so entstandenen Spalt kommt der Kopf des jungen
Thierehens hervorgequollen, der übrige Leib folgt langsam nach, lediglich in
Folge der Ausdehnung des bisher im Innern des Eies eingekrümmten und
zusammengeprefsten Körpers, denn irgend welche activen Bewegungen sind
an dem hervortretenden jungen Thiere noch nieht bemerkbar. Letzteres
kann auch noch nicht als Larve bezeichnet werden, es handelt sich vielmehr
um einen ausschlüpfenden Embryo, dessen Extremitäten noch mit einander
verklebt sind und dem Körper fest anliegen. In diesem Stadium hat nun
auch die oben beschriebene Leiste (Fig. 3. Chl) in Wirksamkeit zu treten, sie
dient dazu, um gewissermalsen wie ein Messer die vor dem Kopf des
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 25
Thieres befindliche Gallertmasse zu durchschneiden und somit freie Bahn
für den nachfolgenden Körper zu schaffen.
Diefs erscheint um so nothwendiger, als in sehr vielen Fällen die
Gallerte nicht ihre einfache homogene Beschaffenheit bewahrt hat, sondern
in Folge des langen Aufenthaltes im Wasser von allerlei Algenfäden, Dia-
tomeen u. s. w. durchwachsen ist. Die Leiste hat alle diese Hindernisse
bei Seite zu schieben. Ein scharfer spitzer Eizahn dagegen, wie er z. B.
bei Forficula und bei manchen Käfern vorkommt, würde hierzu gar nicht
im Stande sein, vielmehr den Kopf des Thieres unfehlbar in dem Algen-
gewirr verstricken'.
Der Austritt aus der Gallerte ist andererseits bei Epitheca deswegen
wieder etwas erleichtert. weil die meisten Eier sich bereits in den peri-
pheren Partien des Gallertstranges befinden. Sind übrigens die Hinder-
nisse beim Durchbrechen der Gallertschieht sehr grofse, so vollziehen sich
schliefslich auch schwache, durch Contraetionen der Längsmuskeln hervor-
gerufene nutirende Bewegungen des gesammten Körpers, wobei dann die
Leiste ähnlich wie ein Messer hin und her bewegt wird.
Sobald der Embryo sich hervorgearbeitet hat und an die Oberfläche
der Laichmasse gelangt ist, wird die Körpereutieula dorsalwärts am Thorax
gesprengt. Die junge Larve schlüpft heraus, sie kann ihre Gliedmafsen
nunmehr gebrauchen und sie läfst die leere Chitinhülle, an welcher auch
die Leiste sitzen bleibt, zurück.
Der für Zpitheca beschriebene Chitinapparat zum Durchbreehen der
Gallertsubstanz findet sich in gleicher Weise auch bei Libelhula ausgebildet.
Etwas anders verhält es sich dagegen bei Sympetrum, bei welchem Insect
die Eier nicht in Form eines zusammenhängenden, gallertartigen Laiches
abgelegt werden. Die Embryonen weisen ganz vorn an der Stirn eine
ebenfalls in der Medianlinie befindliche aber nur sehr kurze und schwache
Chitinerhebung auf. Obwohl es sich also im Prineip offenbar um die gleiche
Einriehtung wie bei Epitheca handelt, so ist doch bei Sympetrum in Zu-
! Der bei früherer Gelegenheit von mir (93) bei Forfieula beschriebene ceutieulare Ei-
zahn nimmt im übrigen aber eine ganz entsprechende Lage am Kopf des Thieres ein wie
die soeben geschilderte Leiste gewisser Odonaten.
Die genannten Cutienlargebilde sind also trotz ihrer abweichenden Gestalt und ihrer
etwas andersartigen Function einander als homolog zu betrachten.
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 4
26 R. Hrvmons:
sammenhang mit der Zartheit des das Ei umgebenden Exochorions auch
(lie Leiste nur sehr unvollkommen ausgebildet.
Ein Apparat zum Öffnen der Eischale fehlt den von mir untersuchten
Ephemeriden. Den Vorgang des Ausschlüpfens habe ich schon früher (96°)
für Ephemera geschildert.
4. Über die Hinterleibsanhänge.
a. Die Abdominalanhänge der Larven.
Die Gliederung des Abdomens bei den Libellen ist deswegen von
einem besonderen Interesse, weil sie im Vergleich zu anderen Inseeten
noch verhältnifsmäfsig einfache und ursprüngliche Verhältnisse zu erkennen
giebt. Letztere sind am klarsten und deutlichsten natürlich in frühen
Eintwiekelungsstadien ausgeprägt, und es ist daher am zweckmäfsigsten
von der Betrachtung der Larvenformen auszugehen.
In Fig. 2 gebe ich die Abbildung einer noch ganz jugendlichen Larve
von Epitheca bimaeulata, Schon bei flüchtiger Ansicht zeigen sich ı1 Ab-
dlominalsegmente, von denen ein jedes eine Rückenplatte, ein Tergit, und
eine Bauchplatte, ein Sternit, besitzt.
Die ersten drei Segmente sind ziemlich kurz, die hinteren werden
immer länger und breiter bis zu dem achten hin, welches das grölste ist.
Das 10. Segment des Abdomens ist bedeutend schmaler und kürzer als
dlas vorhergehende, und das elfte ist etwas abweichend gestaltet, so dals
es einer besonderen Besprechung bedarf.
Das Tergit des ı1. Abdominalsegmentes ist nämlich verlängert und
läuft hinten in einen umfangreichen mit einigen langen Borsten besetzten
Fortsatz aus. Das ı1. Sternit ist schr schmal und deutlich zweigetheilt
(Fig. 4 Stern...
Den Hälften der ı1. Bauchplatte sind zwei lange nach hinten ge-
wendete Fortsätze angeheftet, die ebenfalls dem ı1. Abdominalsegment
noch angehören. Es sind «die Oerei, auf deren Entwickelung beim Embryo
sehon oben hingewiesen wurde. Die Cerei (Fig. 2 app lat) sind unge-
gliedert, in ihrem Aussehen stimmen sie ganz mit dem Rückenfortsatz
des betreffenden Segmentes überein.
Der Körper der jungen Larve läuft auf diese Weise hinten in drei
lange Schwanzanhänge bez. Schwanzstacheln aus, von denen die beiden
Entwickehng und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 27
seitlichen den Cerei, der mittlere dorsale dem verlängerten ı1. Tergit
entspricht.
Hinter den drei genannten Fortsätzen, die ich appendices caudales
bezeiehnen will, treten aber noch weitere Anhänge hervor, die einem
ı2. Abdominal- oder Endsegment des Körpers zugerechnet werden müssen.
Wir können hier wiederum im wesentlichen drei Fortsätze unter-
scheiden, einen unpaaren, median gelegenen, dorsalen und zwei laterale.
Da zwischen diesen Fortsätzen die Afteröffnung sieh befindet, so bezeichne
ich sie insgesammt als laminae anales.
Die lateralen laminae (Fig. 2 /am sub) sind kräftig entwickelt, ziem-
lich breit und schalenförmig ausgehöhlt. Ihre concave Seite wenden sie
dabei nach innen, gegen den After, ihre convexe Seite nach aufsen. Sie
reichen bis zur Ventralseite hinab und stofsen dort in der Medianlinie an
einander, so dafs der After von unten (ventral) durch sie bedeckt wird.
Man kann die lateralen laminae anales deshalb auch als laminae subanales
bezeichnen.
Ihnen steht gegenüber die unpaare und dorsale lamina supraanalis.
Letztere (Fig. 2 /am sup) ist kürzer als die laminae subanales und wird ge-
wöhnlich von dem verlängerten ı1. Tergit vollständig bedeckt, so dafs sie
sich der Beobachtung leieht entzieht. Die lamina supraanalis stellt eine
einfache nur wenig gewölbte Platte dar, die am hinteren Rande abgestutzt
ist und dort einige Chitinhaare trägt.
Die gegebene Schilderung von der Zusammensetzung des Abdomens
bezieht sich zunächst auf Zpitheca, ich kann aber hinzufügen, dafs die Be-
sehaffenheit des Hinterleibes bei den jungen Libellula- und Sympetrum-Larven
eine ganz entsprechende ist. Auch hier folgt auf die zehn ersten überein-
stimmend gebauten Segmente ein 11. Segment mit den appendices eaudales
laterales (Cerei) und dem entsprechend gestalteten verlängerten ı 1. Tergit
(appendix eaudalis dorsalis). Das zweigetheilte ı 1. Sternit habe ich bei den
heiden genannten Inseeten nicht entwickelt gefunden, seine Bestandtheile
sind vollkommen mit den appendices laterales verschmolzen. Auch während
der späteren Larvenentwickelung von Zpitheca vollzieht sich eine Vereini-
gung zwischen dem ı1. Sternit und den beiden appendices laterales.
Die etwas eigenartige Gestaltung des Abdomens, welche voraussicht-
lich wohl für alle jungen Libellulidenlarven Gültigkeit haben wird, legte
es nahe, noch andere Odonaten zum Vergleich heranzuziehen. Ich wählte
4*
28 R. Hevmons:
hierfür Vertreter aus der Gruppe der Calopterygier, die man gegenwärtig
als eine besondere Unterordnung (Zygoptera) den Libelluliden und den da-
mit verwandten Formen (Anisoptera) gegenüberzustellen pflegt. Überdiefs
werden die Zygoptera, deren Larven durch den Besitz äufserer Tracheen-
kiemen ausgezeichnet sind, in der Regel als die ursprünglichsten Reprae-
sentanten der ganzen Ordnung der Odonaten angesehen.
Für meine Zwecke standen mir sämmtliche Larvenstadien von Agrion,
unmittelbar vom Verlassen des Eies an, zur Verfügung. Caloptery.v selbst
stimmt übrigens in allen wesentlichen Punkten vollkommen mit Agrion
überein.
An dem eylindrischen Abdomen von Agrion fällt die Gleichmäfsigkeit
der ersten zehn Segmente auf, die unter einander von beinahe gleicher
Gestalt und Grölse sind. Hinter dem 10. Segment folgen drei lange Schwanz-
fäden (Fig.9). Letztere sind bei den jugendlichen Larven drehrund, werden
aber im späteren Entwiekelungsverlauf blattförmig und stellen dann die
bekannten äufseren Tracheenkiemen der Larve dar.
Umgeben von den drei Kiemen treffen wir wiederum drei kleine Er-
hebungen an, die den After unmittelbar einschliefsen, wegen ihrer ver-
borgenen Lage aber leicht übersehen werden können. Die Deutung ergibt
sich ohne weiteres. Die beiden lateralen Tracheenkiemen (Fig. 9 app lat) sind
die Homologa der beiden seitlichen Schwanzanhänge (appendices caudales)
von Epitheca und Libellula und lassen sich wie diese auf Cerei zurückführen.
Die mittlere dorsale Kieme (app dors) wird bei Agrion, Calopteryx u. s. w.
von dem verlängerten Tergit des ı 1. Abdominalsegmentes dargestellt. Über-
reste eines I1. Sternites habe ich bei den genannten Calopterygiern nicht
nachweisen können.
Die drei laminae anales sind bei Agrion nicht sehr stark ausgebildet
und erinnern in ihrer Form an diejenige vieler Orthopteren. Die beiden
lateralen laminae sub- oder richtiger adanales befinden sich zu den Seiten
des Afters, reichen aber nicht so weit zur Ventralseite wie bei Zpitheca. Die
unpaare lamina supraanalis ist eine rundliche Platte, die unter der mittleren
Traeheenkieme liegt (Fig. 9).
Bei der ziemlich nahen Verwandtschaft zwischen den Odonaten und
speciell der Odonatengruppe der Zygopteren einerseits und den Ephemeriden
andererseits liefs es sich wohl von vornherein erwarten, «dafs auch bei
den letzteren ähnliche Verhältnisse obwalten würden. Hatte man doch
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 29
schon längst die äufseren Tracheenkiemen der Odonatenlarven mit den
Schwanzfäden der Ephemeriden verglichen.
Die entwiekelungsgeschichtlichen Untersuchungen, welche
ich an Ephemera vulgata angestellt habe, ergaben die Berechti-
gung dieser Auffassung. Bei den Ephemeriden und Odonaten
sind die in Rede stehenden Abdominalfortsätze einander ho-
molog. Die drei Schwanzfäden der Ephemeriden gehören eben-
falls dem elften Abdominalsegmente an. Die beiden lateralen
Scehwanzfäden sind auf die Cerei zurückzuführen, der dorsale
geht aus dem ıı. Tergit hervor.
Auch die laminae anales treffen wir an dem äufserlich zehngliedrigen
Abdomen der jungen Ephemeridenlarven an. Die lamina supraanalis ist
eine kleine halbmondförmige Platte, die unter dem dorsalen Schwanzfaden
verborgen liegt und die Afteröffnung von oben bedeckt (Fig. 5 /am sup).
Sie scheint bisher stets übersehen worden zu sein. Die laminae subanales
bleiben dagegen nicht selbständig wie bei den ÖOdonaten, sondern ver-
wachsen vorn mit dem 10. Sternite. Das ı1ı. Sternit geht bei Ephemera
und Caenis gerade wie bei Calopteryx und Agrion zu Grunde. Nur die hin-
teren Partien der laminae subanales bleiben auf diese Weise frei, sie erhe-
ben sich deutlich über das Niveau des ıo. Sternites und bilden die vor-
dere Begrenzung für den After (Fig. 5 /am sub).
Die Gliederung des Abdomens, welche soeben geschildert wurde, weicht
bei den Ephemeriden, besonders aber bei den Odonaten, in ungewöhnlicher
Weise von der Körpergliederung bei allen anderen bisher untersuchten In-
seetenlarven ab. Hauptsächlich sind es die eigenartigen am Hinterende
des Abdomens befindlichen Fortsätze, welche die Aufmerksamkeit auf sich
lenken. Auf sie möchte ich hier auch ganz besonders hinweisen, einmal,
weil die Abdominalanhänge bei den jungen Ödonatenlarven bisher über-
haupt noch niemals eingehend studirt worden sind, und zweitens, weil
gerade die hier zu Tage tretenden Verhältnisse ganz besonders geeignet
erscheinen, um Aufklärung in die vielumstrittene Frage nach der Zusam-
mensetzung des Insectenabdomens zu bringen.
Auf Grund vergleichend-embryologischer Untersuchungen war ich frü-
her für die primäre Zwölfgliedrigkeit des Hinterleibes der Inseeten einge-
treten. In einer Arbeit (95), welche speciell die Segmentirung behandelte,
sind von mir die Gründe, welche mich zu dieser Auffassung geführt haben,
30 | R. Heymons:
ausführlich dargelegt. Es genügt, hier zu recapituliren, dafs bei den Em-
bryonen der Orthopteren elf typische Abdominalsegmente angelegt werden,
von denen ein jedes die Anlage eines besonderen Sternites und eines ent-
sprechenden Tergites zu besitzen pflegt. Hinter dem ır. Abdominalseg-
ment folgt dann der After, der dem zuletzt genannten Segmente also
nicht mehr angehört, sondern sich im Bereiche eines häufig noch deutlich
entwickelten Analabschnittes befindet. Stets pflegen später im Umkreis der
Afteröffnung eigenartige Wucherungen aufzutreten, aus denen die bekannten
drei Afterklappen bez. laminae anales hervorgehen. Die Afterklappen re-
praesentiren somit dauernd die Bestandtheile eines 12. abdominalen End-
oder Analabschnittes.
Vergleicht man mit diesen besonders an Orthopteren gewonnenen Er-
gebnissen die Befunde bei den Odonaten- und Ephemeridenembryonen, so
ist der gemeinsame Plan, nach dem in übereinstimmender Weise in beiden
Fällen der Körper aufgebaut wird, gar nicht zu verkennen.
Zur Veranschaulichung der in Rede stehenden Verhältnisse weise ich
nochmals auf Fig.1ı6 hin. An dem Embryo von Zibellula erkennt man
ebenfalls elf deutliche Abdominalsegmente, an denen die paarigen Glied-
malsenanlagen hervortreten. Unter diesen zeichnen sich diejenigen des
ı1. Segmentes bereits durch einen etwas gröfseren Umfang aus, sie werden,
wie schon erwähnt, später zu den appendices laterales und lassen sich
also mit den Cerei der Orthopteren vergleichen.
Es fällt ferner an der genannten Figur der bereits ziemlich umfang-
reiche Enddarm auf, der von der Afteröffnung ausgehend in den Dotter ein-
gedrungen ist und sich an die eingebogenen drei letzten Körpersegmente
angelegt hat. Bei einer genaueren Untersuchung kann man sich leicht da-
von überzeugen, dafs die Afteröffnung sich deutlich hinter dem ı1. Ab-
dominalsternit befindet.
In späteren Stadien wird der Enddarm von den sich dorsalwärts schlie-
(senden drei letzten Segmenten überwachsen und damit in das Körperinnere
aufgenommen. Die hintersten Körpersegmente sind nunmehr fertiggestellt
und besitzen aufser den Bauchplatten auch vollkommene Rückenplatten oder
Tergite. Das Tergit des ı1. Abdominalsegmentes wächst zur appendix
dorsalis aus, welche die gleiche Form gewinnt wie die appendices laterales.
Der Körper geht sodann hinten in drei übereinstimmend gebaute Fortsätze
aus, die sieh fest an einander schliefsen. In diesem Stadium erscheinen in
ee
Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. >31
der unmittelbaren Umgebung des Anus die drei laminae anales, welche
gewissermafsen en miniature die Haupttheile des ı1. Segmentes wieder-
holen.
Man könnte an dieser Stelle vielleicht den Einwand erheben, dafs die
drei laminae anales kein besonderes Segment repraesentiren, sondern dafs
sie nur Anhänge oder Differenzirungsproducte des ıı. Segmentes darstellen.
Gegen die letztere Annahme mufs jedoch geltend gemacht werden,
dafs das ıı. Abdominalsegment bereits im Besitze aller charakteristischen
Bestandtheile eines Körpersegmentes ist. Es besitzt eine Rückenplatte,
eine Bauchplatte und zwei Extremitäten, weitere Anhänge pflegen über-
haupt keinem primären Körpersegmente eigen zu sein. Überdiefs fällt, wie
schon besonders betont wurde, die Darmöffnung gar nicht in das Bereich
des ıı1. Segmentes mehr hinein. Wenn sich nun später in der unmittel-
baren Umgebung des Afters die laminae entwickeln, so müssen diese so-
mit einem ı2. (End-) Segmente zugesprochen werden. Das Endsegment
als solches ist bei den Embryonen der hier betrachteten Inseeten wie auch
bei denen mancher Orthopteren allerdings sehr wenig entwickelt, in ande-
ren Fällen dagegen (Gryllotalpa) und besonders bei den Embryonen mancher
Käfer ist es deutlich und grofs, und an seiner Natur als selbständiger
Endabschnitt (Telson) des Körpers kann alsdann überhaupt gar kein Zwei-
fe] obwalten'. Das verhältnifsmäfsig späte Auftreten der laminae, welches
man bei den Odonaten und vielen Orthopteren beobachtet, findet damit
eine Erklärung, dafs die Körperdifferenzirung stets sich in der Richtung
von vorn nach hinten vollzieht. Es können daher die Bestandtheile des
Analsegmentes erst zuletzt von denjenigen des ı1. Abdominalsegmentes
abgetrennt werden.
Anhänge von einer derartigen Gröfse und Selbständigkeit, wie sie uns in
den laminae anales der Libellenlarven (Fig. 2) entgegentreten, sind den übri-
gen Körpersegmenten vollkommen fremd, und wenn man sagt, die lami-
nae wären lediglich Anhänge des ı 1. Segmentes, so würde man mit dem-
selben Rechte auch behaupten können, dafs das Oralsegment ein vorderer
Anhang des Antennensegmentes sei, oder dafs das ı1. Abdominalsegment ein
Anhängsel des zehnten, bez. dieses ein Fortsatz des neunten u. s. w. wäre.
! Bei den Inseeten herrscht im allgemeinen die Tendenz vor, das Endsegment rück-
zubilden und zu unterdrücken. Diese Tendenz macht sich auch in dem noch zu schildernden
weiteren Entwickelungsverlauf der Odonaten und Ephemeriden besonders geltend.
32 R. Heymons:
Der Discussion offen könnte allein die Frage bleiben, in wie weit
durch die laminae anales ein eigenes und besonderes 12. »Segment« des
Hinterleibes dargestellt wird. In dieser Hinsicht habe ich in meiner bereits
eitirten Arbeit schon die Gründe erörtert, wegen welcher weder der erste
noch der letzte Körperabschnitt (Oral- und Analsegment') den übrigen
Körpersegmenten der Insecten als gleichwerthig betrachtet werden dürfen.
Ich bin deshalb vollkommen damit einverstanden, wenn man sagt, dafs
das Inseetenabdomen nicht aus zwölf Segmenten besteht, sondern nur
aus elf und den darauf folgenden laminae anales zusammengesetzt ist.
Hierbei wird man sich natürlich vor Augen halten müssen, dafs die
laminae anales der Inseeten das Rudiment eines ehemals selbständigen Anal-
stückes oder Telsons darstellen, welches bei vielen anderen Arthropoden
dauernd noch als solches erhalten bleibt.
Die beschriebene Zusammensetzung des Körpers hat sich freilich bei den
Inseeten bisher immer nur während einer gewissen Epoche des Embryonal-
lebens nachweisen lassen, um nachher einem durch Verschmelzung verschie-
dener Abschnitte bedingten, sehr viel einfacheren Verhalten Platz zu machen.
Das Abdomen der jungen Orthopteren, wie auch dasjenige anderer Insecten-
larven weicht daher von dem ursprünglichen Zustande, in dem es anfäng-
lich angelegt wurde, mehr oder minder erheblich ab.
Hier bei den Odonatenlarven tritt uns aber eine Körper-
gliederung vor Augen, welche die primäre Segmentirung des
Inseetenabdomens noch in beinahe ganz reiner, unverfälschter
Weise zur Anschauung bringt. Die Zwölfgliedrigkeit des Ab-
domens, welche bisher nur bei jungen Embryonen beobachtet
werden konnte, ist in vielen Fällen bei Odonaten selbst noch
an der Larve deutlich erhalten.
Wenn man hierbei die einfache Körperorganisation der Odonaten im
allgemeinen berücksichtigt, und wenn man auch das muthmafslieh hohe
phylogenetische Alter dieser Thiere, auf welches schon am Eingange dieser
Arbeit hingewiesen wurde, in Betracht zieht, so dürfte damit wohl die
Ansicht an Boden gewinnen, dafs die Zwölfgliedrigkeit des Abdomens
! Die Bezeichnungen Oral- und Analsegment sind von mir nur des leichteren Ver-
ständnisses wegen statt der ursprünglich von mir gebrauchten Ausdrücke Oral- und Anal-
stück gewählt worden.
“ Posen DEREN
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 33
thatsächlich das primäre und ursprüngliche Verhalten für die Inseeten
darstellt.
Die bei den jungen Odonatenlarven noch zu Tage tretende Zusammen-
setzung des Hinterleibes ist bisher nicht erkannt worden, wie überhaupt
unsere Kenntnisse über den Körperbau dieser Thiere zur Zeit noch recht
dürftige genannt werden müssen.
Von den genannten Hinterleibsanhängen sind speeiell die drei lami-
nae anales, ihrer Kleinheit und verborgenen Lage wegen, von früheren
Beobachtern fast stets übersehen worden. Meines Wissens hat nur Öalvert
(93) die Beobachtung gemacht, dafs am Abdominalende junger Libellen-
larven noch »a pair of chitinous pieces« vorhanden wäre, womit offenbar
die laminae subanales gemeint sind.
Haase (89) sind die laminae anales ebenfalls entgangen. In seiner
Abhandlung über die Abdominalanhänge der Inseeten erwähnt er, gerade
wie diefs bei den meisten in systematischen Werken enthaltenen Beschrei-
bungen der Fall ist, nur fünf Fortsätze am Hinterleibsende der Libellen-
larven. Die appendices (caudales) laterales wurden von ihm als »untere
Afterklappen« angesehen.
Auch in der morphologischen Deutung der Schwanzfäden bez. der
Tracheenkiemen, weiche ich von der bis jetzt üblichen Auffassung ein wenig
ab. Bisher hatte man immer, sowohl bei den Eintagsfliegen und zumeist
wohl auch bei den Odonaten, die mittlere dorsale Schwanzborste oder
Kieme als die verlängerte lamina analis oder Afterdeceke angesehen. Das
ist nieht richtig. Die eigentliche Afterklappe oder lamina supraanalis zeigt
sich vielmehr, wie sehon gesagt wurde, in Form einer kleinen Platte ganz
deutlich erst unterhalb bez. hinter dem mittleren Sehwanzfaden, und dieses
Verhalten, wie auch vor allem die Entwickelung deutet darauf hin, dafs
die an der betreffenden Stelle befindliche Platte der lamina analis ent-
sprieht, während der dorsal gelegene Schwanzfaden als ein verlängertes
Tergit angesehen werden mulfs.
Wir haben gesehen, dafs dem ı1. Abdominalsegmente der Anisop-
teren, Zygopteren und Ephemeriden drei appendices caudales zukommen,
die bei den verschiedenen Gruppen bald die Form von Schwanzstacheln,
Tracheenkiemen oder von Scehwanzfäden annehmen. Von diesen drei ap-
pendices caudales, welche unter einander ganz übereinstimmend gebaut sind,
entsprechen stets die beiden lateralen den Cerci, während die mittlere dor-
Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 5
34 R. Hrrmons:
sale Appendix eine verlängerte Rückenplatte des 11. Abdominalsegmentes
repraesentirt.
Man könnte vielleicht eine gewisse Schwierigkeit darin erblicken, dafs
bei den hier erwähnten Inseeten ganz übereinstimmend gestaltete Anhänge
gleichwohl eine verschiedenartige morphologische Bedeutung besitzen sollen.
Ich glaube, dafs man in dieser Hinsicht die Plastieität und die Bildungs-
fähigkeit des Inseetenkörpers nicht unterschätzen darf. Gerade wie bei
allen anderen Arthropoden, so ist auch bei den Inseeten der Körper im
Stande, an, wie es scheint, wohl allen beliebigen Stellen Hautfortsätze zu
produeiren.
Diese Hautfortsätze,. die bald aus Extremitäten, bald dagegen nur aus
einfachen Segmentplatten oder dergleichen hervorgehen, pflegen dann trotz
ihres verschiedenartigen Ursprungs einander oft sehr ähnlich gestaltet zu
sein. In der Regel wird es sich hierbei wohl um einfache fadenförmige,
gegliederte oder ungegliederte Hypodermisausstülpungen handeln, die keine
oder nur ganz schwache Muskeln enthalten, nicht selten mit langen Borsten
und Haaren besetzt sind und dadurch in ihrem Habitus eine gewisse Ähn-
lichkeit mit Antennen bekommen können. Mit solchen sind sie auch häufig
genug schon verglichen worden'.
Es ist bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, dafs auch
die Antennen im wesentlichen nur Hautfortsätzen entsprechen. Der charak-
teristische funiculus oder Geifseltheil an den Antennen stellt wenigstens bei
vielen Inseeten nichts anderes als eine Hypodermisausstülpung dar, gerade
wie sie auch gelegentlich an anderen Körperstellen zur Entwickelung
gelangen kann. Erst der die kräftige Bewegungsmusculatur umschliefsende
Basalabschnitt der Antenne repraesentirt den eigentlichen Extremitäten-
stummel, von dem die Geifsel nur eine Ausstülpung bildet. Ähnlich
! In die Kategorie derartiger Hautfortsätze gehören beispielsweise auch die antennen-
artigen Organe, die als anormale Bildungen gelegentlich an den Beinen oder an anderen
Körpertheilen der Inseceten beobachtet sind. Einen hierhin gehörenden Fall bei Dilophus hat
Wheeler (96) vor kurzem mitgetheilt.
Selbst künstlich können derartige antennenähnliche Hautfortsätze hervorgerufen wer-
den. Durch die bekannten Experimente von Herbst (96) wissen wir, dafs nach Amputation
des Augentheiles podophthalmer Crustaceen ein antennenartiges Organ aus dem Augenstiel
hervorwuchern kann. Herbst selbst hat meiner Ansicht nach schon mit vollem Rechte gel-
tend gemacht, dals diese Erscheinung durchaus nicht auf die ehemalige Extremitätennatur
des Augenstieles hinzudeuten braucht.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 35
verhält es sich mit den Cerei und Styli, nur dafs hier der Basalabschnitt mit
dem Körper vereinigt und daher zu Grunde gegangen ist.
Man sieht, es wird in vielen Fällen gar nicht leicht sein, eine scharfe
Grenze zwischen Extremität und Hypodermisfortsatz zu ziehen. In der
That hat man ja auch vielfach daran gezweifelt, ob die Antennen, die
Öerei u.s. w. Gliedmalsen entsprächen oder nicht.
In derartigen Fällen ist es nun aber, wie ich schon früher betont
habe (96), mit Hülfe der Entwiekelungsgeschichte wohl fast immer mög-
lich, die Natur des fraglichen Anhanges klarzulegen. Gebilde, die vom
anatomischen Standpunkte betrachtet, lediglich nur noch Hautfortsätze sind,
verdanken häufig genug ihren Ursprung ehemaligen Gliedmafsen und geben
sich ontogenetisch auch noch ganz sicher als Überreste oder Umwand-
lungen von Extremitätenanlagen zu erkennen. Diefs trifft z. B. für die
Cerei der Orthopteren, für die seitlichen Tracheenkiemen der Sialis-
Larven u.s. w. zu. In vielen anderen Fällen ist dagegen, wie die Ent-
wickelungsgeschichte lehrt, eine solche Zurückführung auf Extremitäten
nicht statthaft. Hier handelt es sich dann nur um ähnliche Hypodermis-
wucherungen, die gelegentlich eine gewisse gliedmafsenähnliche Gestaltung
annehmen können (Gonapophysen der Insecten), die aber trotzdem mit
den segmentalen Extremitätenanlagen nichts zu thun haben.
Bei den genannten Hinterleibsfortsätzen der Odonaten und Epheme-
riden lassen sich die Verhältnisse ziemlich klar übersehen. Die seitlichen
Anhänge (appendices caudales laterales) lassen sich unzweifelhaft auf die
embryonalen Cerci zurückführen. Diese Cerci wachsen aber dann aufser-
ordentlich stark in die Länge und stellen anatomisch betrachtet eigentlich
nur noch Hautauswüchse dar. In dieser Beziehung sind sie dem mittleren
Schwanzanhang, oder appendix dorsalis, aequivalent, welche aus der gleich-
falls ausgewachsenen und verlängerten Rückenplatte hervorgeht.
Entwickelungsgeschichtlich sind also die beiden lateralen Schwanz-
anhänge von Extremitätenanlagen, der mittlere Schwanzanhang dagegen
von einem Tergit abzuleiten, und man wird wohl mit der Annahme nicht
fehlgehen, dafs auch die phyletische Entwickelung, die allmähliche Aus-
bildung dieser Fortsätze bei den Vorfahren der Eintagstliegen und Libellen
in entsprechender Weise sich vollzogen haben wird.
Dafs thatsächlich eine morphologische Differenz zwischen den beiden
lateralen und dem medialen Schwanzanhang (appendix) vorliegt, gibt sich
5*
36 R. Hrymonss:
auch in dem Verhalten mancher junger Ephemeridenlarven (z. B. Hepta-
genia, Chloöon) zu erkennen, bei denen, wie wir durch die Untersuchungen
von Vayssiere (82) und Lubbock (64) wissen, zwar die beiden lateralen
Schwanzborsten (Cerei) entwickelt sind, während die mittlere Schwanz-
borste fehlt und das ı1. Tergit somit noch keine entsprechende Ent-
faltung zeigt. Auch bei manchen Larven von Odonaten, z.B. bei denen
von Calopteryx bleibt die mittlere, auf das ı1. Tergit zurückzuführende
Kieme kleiner und kürzer als die beiden lateralen, von den Üerei abzu-
leitenden Tracheenkiemen.
Wenn die Abdominalanhänge der Libellenlarven bisher so unvoll-
ständig erkannt und überhaupt sehr wenig erst berücksichtigt worden sind,
so findet diefs zum Theil darin eine Begründung, dafs nur in frühen Larven-
stadien die Verhältnisse mit der geschilderten Deutlichkeit hervortreten.
Bei älteren Larven dagegen, die bisher hauptsächlich den Gegenstand der
spärlichen Untersuchungen gebildet haben, kommen weitere Complicationen
hinzu, die die richtige Auffassung wesentlich erschweren.
Zwei fernere Fortsätze erscheinen nämlich am Hinterrande des 10. Ab-
dominalsegmentes. Sie schieben sich zwischen die beiden appendices late-
rales und die mediane appendix dorsalis ein und bilden dann zwei konische
nach hinten gewendete Zapfen. Processus caudales will ich zum Unterschied
diese nachträglich gebildeten Anhänge nennen. Sie sind deutlich an dem
in Fig. S abgebildeten Hinterleibsende der Larve von Aeschna zu erkennen.
Derartige processus caudales kommen sowohl bei den Larven der
Anisopteren, wie bei denen der Zygopteren zur Entwickelung, sie finden
sich bei beiden Geschlechtern und sind stets kürzer als die oben be-
schriebenen drei appendices caudales. Im Gegensatze zu letzteren lassen
sie sich also auch nicht auf bestimmte embryonale Bildungen zurückführen,
sondern erscheinen erst bei älteren Larven nachträglich als Hautaus-
stülpungen.
Die ursprünglichen appendices caudales werden nun sehr viel gröfser,
sie gewinnen bei den Zygopteren die charakteristische blattförmige Gestalt
und übernehmen als äufsere Tracheenkiemen die Funetionen der Respi-
ration. Bei den Larven der Anisopteren werden die appendices caudales
zu den drei grofsen stachelartigen Klappen, die die Aufgabe haben, bei
Gefahr den Eingang in die das Athmungsorgan bergende Darmhöhle fest
zu versperren, aufserdem pflegt sich ihrer das Thier auch noch gelegent-
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 37
lich als Waffe zum Stechen zu bedienen, wie man leicht eonstatiren kann,
wenn man eine lebende grölsere Aeschnidenlarve in die Hand nimmt.
In Verbindung mit der stärkeren Ausbildung der appendices caudales
steht eine allmähliche Rückbildung der drei dem Endsegmente angehören-
den laminae anales.
Bei den Anisopteren werden die laminae in der Regel weichhäutig,
bleiben aber gleichwohl deutlich erkennbar. Sie sind es, die selbst bei
weit geöffneten und gespreizten Schwanzstacheln (appendices) das rhyth-
mische Öffnen und Schliefsen des Afters besorgen. Fig. 8, welche das
Abdomen einer Aeschna-Larve, von hinten gesehen, wiedergibt, läfst die
drei häutigen laminae anales erkennen.
Bei den Larven der Zygopteren erhalten sich besonders die laminae
sub- oder adanales längere Zeit hindurch stärker chitinisirt, ich finde sie
selbst noch bei älteren, schon mit langen Flügelansätzen, Legescheide u. s. w.
versehenen Larven von Agrion deutlich ausgeprägt.
Aufser den soeben besprochenen, am Hinterleibsende befindlichen Ab- .
dominalanhängen gelangen sowohl bei den Odonaten wie bei den Ephe-
meriden auch noch an anderen Abdominalsegmenten Fortsätze zur Ent-
wickelung. Diese letzteren dienen dann entweder zur Vermittelung des
Gasaustausches, oder sie sind dazu bestimmt, bei dem Fortpflanzungs-
geschäft (Copulation, Eiablage) gewisse Funetionen zu erfüllen.
Anhänge der ersteren Art stellen die seitlichen Tracheenkiemen der
Ephemeridenlarven dar. Ihre Entwiekelung habe ich an Ephemera vulgata
studirt und bereits an anderer Stelle (96°) darüber Mittheilung gemacht.
Die respiratorischen Anhänge gehen bei Ephemera aus sechs Paar
lateral gelegener Hypodermisverdiekungen hervor, in denen die letzten
Überreste der Extremitätenanlagen des 2. bis 7. Abdominalsegmentes zu
erblicken sind. Fig. 5 zeigt die genannten Verdickungen (Trk) einer jungen
Ephemera-Larve kurz nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei.
In dem darauf folgenden Larvenstadium gehen die Hautverdickungen
in einfache zipfelförmige Ausstülpungen über, die sich im weiteren Ent-
wiekelungsverlauf gabeln und seitliche Fiedern bekommen. Schliefslich
entsteht auch noch in den Seitentheilen des ersten Abdominalsegmentes
ein einfacher Kiemenfaden. :
Die an den hinteren Abdominalsegmenten der Odonaten zur Ent-
wickelung gelangenden Gonapophysen sollen ebenfalls hier keine speeiellere
TER VNA
38 R. Heymons:
Berücksichtigung finden. Erwähnt sei nur, dafs in völliger Übereinstim-
mung mit den Orthopteren auch bei den mit einer Legeröhre versehenen
weiblichen Odonaten (z. B. Agrion, Calopteryx, Aeschna) drei Paar Ge-
schlechtsanhänge zu unterscheiden sind.
Dieselben stellen auch hier einfache Hypodermiswucherungen dar.
Bei weiblichen Larven von Agrion sprolst zuerst am 9. Abdominalsegmente
ein Höckerpaar hervor, welches die Gestalt spitzer, nach hinten gerichteter
Zapfen annimmt. In fortgeschritteneren Larvenstadien entsteht zwischen
dem ı. Zapfenpaar ein 2., und ein 3. Paar wuchert endlich noch am
Hinterende des 8. Segmentes hervor.
Gerade wie bei den Orthopteren, so gehört also auch bei den Odo-
naten das eine Gonapophysenpaar dem 8., die beiden anderen Paare dem
9. Hinterleibssegmente an. Ihre Bildung erinnert sehr an die früher (96)
von mir bei @ryllus beschriebene Bildung der Legeapparate. Irgend eine
Beziehung der Geschleehtsanhänge zu den embryonalen Extremitätenan-
lagen ist nieht vorhanden. Die Gonapophysen entstehen ganz selbständig
und nehmen auch sehon bei ihrer ersten Anlage einen unverhältnifsmäfsig
grölseren Raum ein, als die ursprünglichen Gliedmalsenhöcker besalsen.
Ähnlich liegen die Verhältnisse im männlichen Geschlechte. Es ent-
stehen hier Hypodermisverdiekungen am 9. Hinterleibssegmente, aus denen
bei der Imago die zu den Seiten der männlichen Geschleehtsöffnung be-
findlichen Erhebungen und Fortsätze hervorgehen (Fig. ı gon).
T
b. Die Abdominalanhänge der Imagines.
Die Kenntniss der larvalen Hinterleibsanhänge ist natürlich von grolser
Wichtigkeit für die richtige Beurtheilung der abdominalen Anhänge bei den
Imagines. Die complieirten Anhangsgebilde, die man am Hinterleibsende
unserer ausgebildeten Libellen vorfindet, sind ja schon recht verschieden-
artigen Deutungen ausgesetzt gewesen und haben, was auch recht störend
und verwirrend ist, von den verschiedenen Autoren mannigfaltige Bezeich-
nungen bereits erhalten. Ich will zuerst meine eigenen Resultate folgen
lassen und dann erst zur Besprechung früherer Ergebnisse übergehen.
Bei den Libellen, sowohl den Zygopteren (Calopterygiden, Agrioniden),
wie Anisopteren (Libelluliden, Aeschniden u. s. w.) trifft man in beiden Ge-
schlechtern am Hinterleibsende zumeist zwei relativ lange, dorsal, d. h. ober-
halb des Afters gelegene, ungegliederte Fortsätze an. In denselben haben
Se u 0
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 39
wir die processus caudales zu erkennen, somit diejenigen Anhänge, welche
erst während des Larvenlebens am Hinterende des 10. Abdominalsegmentes
entstanden waren. In der Litteratur findet man die processus caudales in
der Regel als »obere appendices anales«, »superior terminal appendages«,
als » Afterraife« u. s. w. beschrieben.
Hinter diesen grolsen processus caudales folgt die Afteröffnung, die
im weiblichen Geschlechte häufig von drei Höckern oder Platten umgeben ist.
In dem dorsalen dieser Höcker liegt im wesentlichen die appendix dorsalis
oder das Tergit des ı 1. Abdominalsegmentes vor. Die beiden lateralen Höcker
oder lateralen Platten entsprechen den appendices caudales laterales, somit
bei den Zygopteren den Überresten der lateralen Kiemen, bei den Anisopteren
den Rudimenten der lateralen Schwanzklappen.
Die drei laminae anales, die schon bei den Nymphen theilweise rück-
gebildet waren, sind bei den Imagines meistens zu Grunde gegangen bez. fast
gänzlich mit den drei vorhin genannten Gebilden, den Resten der appendices
caudales, verschmolzen.
Im männlichen Geschlechte liegen die Verhältnisse etwas anders. Bei
den Anisopteren ist nämlich im Gegensatze zu den Weibchen die appendix
dorsalis kräftig ausgebildet und stellt den mittleren unpaaren Anhang dar,
der die Afteröffnung von oben bedeckt (untere appendix analis der Autoren).
Bei den männlichen Zygopteren ist die appendix dorsalis rückgebildet,
dagegen haben sich die beiden appendices laterales wohl entwickelt und
die Form zweier zu den Seiten der Afteröffnung befindlicher etwa griffel-
förmig gestalteter Anhänge angenommen, die als Hülfsapparate bei der
Copulation zu fungiren haben (vergl. Kolbe 81) und welche man als »untere
appendices anales« oder als »inferior terminal appendages« beschrieben findet.
Die geschilderten Verhältnisse veranschaulichen die Abbildungen Fig. ı
und 6. Als Vertreter der Zygopteren mag das Männchen von Calopterya
splendens Harr. dienen. Die processus eaudales sind die grofsen dorsalen,
schwarz chitinisirten Anhänge, die am distalen Ende verdiekt sind (Fig. 6
proc caud). Etwas oberhalb (dorsal) von ihnen liegt unter dem grünen,
metallisch glänzenden Tergit des 10. Segmentes der als appendix dorsalis
anzusehende Theil verborgen, soweit man überhaupt von einem solchen
noch reden kann. Er ist nämlich weiehhäutig geworden, und nur in der an
der betreffenden Stelle liegenden, noch ein wenig dunkler grau gefärbten Haut-
partie (Fig. 6 app dors) hat man den letzten Überrest der mittleren Tracheenkieme
40 R. Hrymons:
bez. des ı1. Tergites vor Augen. Die appendices laterales (Cerei bez. laterale
Tracheenkiemen) sind dagegen wohl entwickelt. Sie bilden das ventral gele-
gene Paar von Hinterleibsfortsätzen, endigen mit abgerundeter Spitze und sind
auf ihrer dorsalen Seite schwarz, auf der ventralen gelb gefärbt. Gesonderte
laminae anales sind beim Männchen von Calopterye nicht zu erkennen.
Ähnlich verhält es sich bei dem Weibchen. Die processus caudales sind
hier kürzer und enden zugespitzt. Das Rudiment des ı1. Tergites (appendix
dorsalis) ist deutlicher und zeigt sich in Form eines kleinen Zapfens. Die
appendices laterales haben die Gestalt einfacher, halbmondförmiger Platten
angenommen, welche die mediane Afterspalte zwischen sich fassen.
Einfachere und ursprünglichere Verhältnisse geben sich indessen noch
bei vielen Anisopteren zu erkennen. Als Beispiel gebe ich die Abbildung
eines Hinterleibsendes von Gomphus vulgatissimus (Fig. ı). Beim Männchen
fallen auch hier zunächst wieder als dorsale, am Ende etwas verdiekte
Anhänge die processus caudales ins Auge. Ventralwärts von ihnen bemerkt
man eine breite schwarze Chitinplatte, welche distal in zwei Hörner aus-
läuft. Es ist die stark entwickelte appendix dorsalis, deren Gabelung am
Ende als eine specielle Eigenthümlichkeit von Gomphus zu betrachten ist.
Die gleichfalls dem ı1. Abdominalsegmente angehörenden appendices
laterales sind vollkommen abgetlacht, dabei etwa halbmondförmig gestaltet
und schliefsen sich hinten an das 10. Sternit an. Ihr nach hinten gerichteter
dunkel gefärbter Rand ist mit schwarzen Chitinhaaren besetzt.
Auch die dem Endsegmente angehörenden laminae anales sind beim
Gomphus-Männchen noch erhalten (Fig. ı /am sup und sub). Es sind drei blafs
gefärbte und schwächer chitinisirte Platten, die zwischen den appendices
liegen und den After umrahmen.
Vergleicht man die Gestaltung des Hinterleibes ausgebildeter Libellen mit
derjenigen junger Larven, so fällt also in erster Linie eine mehr oder minder
weitgehende Rückbildung der in dem vorigen Abschnitt besprochenen Hinter-
leibsfortsätze auf. Die drei langen Kiemenanhänge der Zygopteren, die drei
grolsen Schwanzstacheln der Anisopteren sind verschwunden oder doch zu
kleinen, verhältnifsmäfsig unbedeutenden, meistens plattenförmig gestalteten
Gebilden verkümmert. Ihre Stelle wird bei den Imagines gewissermalsen
durch die um so stärker entfalteten beiden processus caudales eingenommen.
Die nach Verkümmerung der appendices laterales übrig gebliebenen
abgeflachten Platten sind als das zweigetheilte ıı1. Sternit zu betrachten.
Entwickelng und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden.
41
Gerade wie bei den Orthopteren die Cerei sich auf den Seitenhälften der
ı1. Bauchplatte erheben, so ist diefs auch bei den appendices laterales der
Odonatenlarven der Fall. Nach erfolgter Rückbil-
dung der appendices sind daher bei dem ausge-
bildeten Inseet die lateralen Theile der ı1. Bauch-
platte allein noch erhalten geblieben. Die beiste-
hende schematische Figur wird diefs verdeutlichen.
Einer noch weitergehenden Rückbildung sind
aber bei der Imago die Bestandtheile des Analseg-
mentes anheimgefallen. Die laminae anales, soweit
sie als solche sich überhaupt erhalten haben, stel-
len kleine zipfelförmige Gebilde dar, die oft in ihrer
ganzen Ausdehnung mit den Überresten der drei
Schema der hinteren Abdominalster-
nite einer anisopteren Libelle. Die bei
der Imago zu Grunde gegangenen Theile
sind punktirt, die laminae anales schraf-
firt.
ap = appendices laterales.
appendiees verschmolzen sind, bisweilen sich aber von diesen (Gomphus-
Männchen) auch noch deutlich getrennt erhalten können. Stets sind die la-
minae anales fast gänzlich weichhäutig geworden und haben demnach ihre
frühere Chitinisirung, die bei jungen Larven noch deutlich war, verloren.
Die Ausbildung der einzelnen Abdominalfortsätze bei den Imagines der
beiden grofsen Odonatengruppen mag folgende Übersicht veranschaulichen.
vorhanden
normal ent-
wickelt
(1. Tergit)
weigetheiltes
11. Sternit
vorhanden
stark entwickelt
und zu einem
plattenförmigen
Anhang gewor-
den (»untere ap-
pendix analis«)
zweigetheiltes
ı1. Sternit
| Zuygoptera 2 Zugoptera Anisoptera 9 Anisoptera
processus caudales vorhanden | vorhanden
(»obere appendices |
anales«) nebst Tergit
undSternit des 10. Seg- |
mentes |
appendix dorsalis fehlt fehlt |
(= Tergit des ı1. Seg- |
mentes)
appendices laterales zweigetheiltes | stark ausgebil- z
(Cerei) ır. Sternit | det und meist
| hakenförmig ge-
staltet (»untere |
appendices |
anales«) |
laminae anales fehlen | fehlen |
wenig ent-
wickelt oder
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1.
fehlen
|
|
|
|
wenig ent-
wickelt oder
fehlen
42 R. Hrymonss:
Ich bemerke hierzu, dafs die vorstehende Tabelle nur in grofsen Um-
rissen ein Bild von der Entwickelung gewähren soll, welche die betreffen-
den Theile genommen haben. Es ist mir bekannt, dafs Abweichungen vor-
kommen, dafs auch bei manchen Zygopterenmänncehen die appendices late-
rales klein und unscheinbar sind, oder dafs in anderen Fällen bei männ-
lichen Anisopteren die appendix dorsalis nicht plattenförmig ist, sondern
sich am Ende gabeln kann (Gomphus, Cordulia aenea).
Auf derartige specielle Eigenthümlichkeiten konnte hier keine Rück-
sicht genommen werden. Die Übersicht ergibt aber, dafs bei den Zygop-
teren im allgemeinen sich eine weitergehende Rückbildung der einzelnen
Abdominalabschnitte zu vollziehen pflegt, während bei den Anisopteren ur-
sprünglichere Verhältnisse in dieser Hinsicht bestehen bleiben. Bei den
Angehörigen der letzteren Gruppe wird man wenigstens in sehr vielen
Fällen (Gomphus, Sympetrum u.a.) aulser den ersten 10 typischen Abdo-
minalsegmenten noch die Bestandtheile des ı 1. Segmentes (Tergit, median
gespaltenes Sternit) sowie diejenigen des Endsegmentes (laminae anales)
erkennen können.
Letzteres Verhalten darf deswegen ein besonderes Inter-
esse beanspruchen, als damit sich Fälle zeigen, in denen bei
den Insecten selbst bis zur Imago hinauf noch deutliche An-
zeichen einer ursprünglichen Zusammensetzung des Abdomens
aus 12 Segmenten sich erhalten haben.
Die hier gegebene Beschreibung des Odonatenabdomens weicht von
der bisherigen Auffassung in mancher Beziehung ab. Besonders gilt diefs
in Hinblick auf die laminae anales. Die geringe Entwickelung dieser Theile
ist wohl die Veranlassung gewesen, weswegen sie bisher bei den Imagines
noch nicht beschrieben und von früheren Autoren überhaupt noch niemals
als solche erkannt worden sind. Da man aber natürlich schon längst nach
Afterklappen bei den Libellen gesucht hat, so wurden nicht selten die Reste
der appendices laterales (11. Sternit) als valvulae anales in Anspruch ge-
nommen.
Als Beispiel eitire ich in dieser Hinsicht Peytoureau (95). der mit
dieser Deutung in einen Irrthum verfallen, welcher freilich um so mehr
entschuldbar ist, als die betreffenden Hälften der ıı. Bauchplatte den lami-
nae anales anderer Inseeten, denen sie wohl auch zum Theil physiologisch
entsprechen, in der That sehr ähnlich gestaltet sind, und als vor allem
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 43
über die Entwickelung der genannten Theile seiner Zeit noch nichts be-
kannt gewesen war'.
Die Hinterleibsfortsätze der Libellen sind ferner in neuerer Zeit noch
von Calvert (93), dem besten Kenner der neuweltlichen Odonaten, studirt
worden. Der americanische Forscher hat das Verdienst, bereits darauf hin-
gewiesen zu haben, dafs die processus caudales (»superior terminal appen-
dages«) erst während des Larvenlebens angelegt werden.
Hinsichtlich der männlichen Odonaten machte Calvert darauf auf-
merksam, dafs eine Homologie zwischen den Hinterleibsanhängen nicht vor-
liege, indem die »inferior appendages« bei den beiden Gruppen (Zygoptera
und Anisoptera) sich nicht entsprächen. Es liegt wohl auf der Hand, dafs
hiermit zwei Gebilde mit einander verglichen und mit demselben Namen
belegt worden sind, welche nichts mit einander zu thun haben.
Als inferior appendage ist bei den Anisopteren ein Theil bezeichnet
worden, welcher die appendix dorsalis oder das ıı. Tergit darstellt. Die
inferior appendages der Zygopteren entsprechen dagegen den oben von mir
appendices laterales genannten Schwanzanhängen.
Wenn man daher berücksichtigt, dafs die Anhänge des ıı. Abdominal-
segmentes, die appendices caudales, sich bei Anisopteren und Zygopteren
verschieden stark entwickelt haben, wie diefs in der obigen Übersicht zum
Ausdruck gebracht wurde, so wird es nicht schwer fallen, eine zutreffende
Homologisirung zwischen den verschiedenen Bestandtheilen bei den beiden
Gruppen herauszufinden.
Noch in einem anderen Punkte haben meine Untersuchungen zu einem
abweichenden Ergebnifs geführt.
Die sehr weit verbreitete und gegenwärtig wohl ziemlich
allgemein eingebürgerte Ansicht, dafs die ausgebildeten Libellen
regelmälfsig im Besitze zweier Gerci oder Afterraifen seien, hat
! Peytoureau hat in seinem Werke (p.170) bereits in treffender Weise darauf auf-
ınerksam gemacht, dals das Abdomen der Libellen (Pseudo -Nevropteres) selbst im imaginalen
Zustande noch elf wohl entwickelte Segmente besitzt. Diese Angabe hat jedoch von Seiten
mancher Autoren nicht die gebührende Beachtung gefunden, denn man begegnet sogar gegen-
wärtig noch der Meinung, dals das Abdomen eines ausgebildeten Insectes nur aus zehn Segmenten
bestehen könne. Ein derartiger Standpunkt scheint besonders noch von Verhoeff (Zoolog. An-
zeiger Bd.ıg Nr.512) vertreten zu werden, der erst neuerdings an der Existenz eines rı. Ab-
dominalsegmentes bei den Insecten gezweifelt hat.
44 R. Hevmons:
Die als Raife betrachteten Anhänge (»obere appendices anales«) ent-
sprechen den von mir processus caudales genannten Gebilden, welche erst
während der Larvenzeit sich entwickelnde Hautwucherungen sind und, wie
auch schon Calvert richtig hervorhob, dem 10. Abdominalsegmente an-
gehören, während die Cerci der Orthopteren als die dem 11. Seginente zu-
kommenden Anhänge betrachtet werden müssen und sich auf embryonale
Extremitäten zurückführen lassen.
In der Gruppe der Odonaten sind bei den Imagines mit den Cerei
anderer Insecten allenfalls zu vergleichende Bildungen nur an männlichen
Zygopteren entwickelt und stellen bei letzteren die sogenannten »unteren
appendices anales«, von mir appendices laterales bezeichneten (Fig. 6 app lat)
Anhänge dar. Indessen dürfte es selbst hier sehr zweifelhaft sein, ob eine
wirkliche Homologie zwischen den genannten Anhängen und den Cerci vor-
liegt. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.
Auf eine genauere Beschreibung des Hinterleibsendes bei den Epheme-
riden glaube ich Verzicht leisten zu können. Die Bildung des Abdomens
läfst sich bei den Imagines ungezwungen auf diejenige der Larven beziehen,
welche bereits oben für Zphemera vulgata geschildert wurde.
Das 10. Abdominalsegment pflegt im imaginalen Zustande stets wohl
erhalten und mit Tergit und Sternit versehen zu sein. Das ı1. Sternit fehlt
vollkommen. Das ı1. Tergit erhält sich meistens in Form des mittleren
Schwanzfadens oder als Rudiment eines solchen. Die lateralen Schwanz-
fäden oder Cereci bleiben erhalten. Laminae anales sind bei Ephemera vulgata
nicht mehr nachzuweisen und auch bei anderen Ephemeriden sind sie in der
Regel sehr stark reduceirt.
Die sogenannten Haltezangen der männlichen Ephemeriden stellen Hypo-
dermisfortsätze dar, die am Hinterende des 9. Abdominalsegmentes zur Ent-
wickelung gelangen und sehr häufig eine Gliederung gewinnen.
5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme.
Trotzdem bei den Odonaten und Ephemeriden sich die Bildung der
inneren Organsysteme, des Nervensystems, der Musculatur u. s. w. ganz an
den bei den Orthopteren bekannt gewordenen Typus anschliefst, so zeigen
sich doch im einzelnen geringfügige Abweichungen. Nur einige Punkte mögen
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 45
noch eine Erwähnung finden, eine erschöpfende Behandlung des Gegenstandes
liegt hierbei jedoch nicht in meiner Absicht.
Das Mesoderm gliedert sich frühzeitig in die Ursegmente, welche gerade
wie bei den Orthopteren die Höhlen der Extremitäten auskleiden. Von
Interesse ist, dafs bei Zpitheca selbst noch im ıı. Abdominalsegmente ein
Paar von Coelomsäckchen sich vorfindet. Letzteres ist an Totopraeparaten
eigentlich noch deutlicher als an Schnitten zu erkennen.
Die ıı. abdominalen Ursegmente liegen etwas weiter medial als in
den vorhergehenden Segmenten und bestehen natürlich nur aus wenigen
Zellen. Die Ursegmenthöhle ist dementsprechend auch klein, gleichwohl
aber deutlich ausgeprägt. An Schnittserien gelingt der Nachweis deswegen
schwerer, weil wegen der Kleinheit des Objeetes und der in der Regel
asymmetrischen Krümmung des hinteren Abdominaltheiles sich die riehtige
Orientirung durchaus nicht leicht erzielen läfst. Immerhin habe ich mich
auch an Schnitten von der charakteristischen epithelialen Anordnung der
Mesodermzellen im ı1. Abdominalsegment mit Bestimmtheit überzeugen
können und zweifle nieht, dafs aufser bei Zpitheca auch bei anderen Libel-
luliden elf abdominale Coelomsäckehenpaare vorhanden sind.
Es ist diefs ein Verhalten, welches im allgemeinen bei den Inseeten
nur sehr selten sich findet und bisher überhaupt nur bei Phyllodromia ger-
manica bekannt geworden ist. Nachdem sich aber gezeigt hat, dafs die
Segmentirung des Abdomens bei den Odonaten noch recht ursprüngliche
Verhältnisse aufweist, kann es natürlich nicht überraschen, wenn das
ı1. Abdominalsegment, dessen Natur als typisches Körpersegment ich be-
reits bei früherer Gelegenheit betont hatte, auch noch mit den Attributen
eines solchen ausgestattet ist.
Die weitere Differenzirung der Ursegmente, die Bildung des Pericardial-
septums, des Herzens, der Muskeln u. s. w. schliefst sich nach meinen Be-
obachtungen sehr eng an diejenige der Orthopteren an. Auch die Entstehung
des Nervensystemes kann ich kurz erledigen. Gehirn und Bauchmark werden
frühzeitig angelegt, wobei wie bei anderen Insecten grofse Ganglienmutter-
zellen oder Neuroblasten in 'Thätigkeit treten. Selbst im ı1. Abdominal-
segment werden einzelne Ganglienzellen gebildet.
Eine Concentration der gesammten Bauchganglienkette geht nur in
geringem Mafse vor sich, doch verschmelzen die letzten Abdominalganglien
mit einander. Bei den Ephemeriden vereinigt sich auch während des
46 R. Heymonss:
Embryonallebens das erste Abdominalganglion mit dem dritten thorakalen,
während bei den Odonaten diefs nicht der Fall ist. Bei den jungen Larven
der letzteren enthält daher das Bauchmark aufser dem suboesophagealen
und den drei thorakalen Ganglien noch acht freie Abdominalganglien (Fig. 3
und 4), bei den Ephemeriden nur sieben.
Vom Vorderdarm aus wird das ganglion frontale angelegt, welches
besonders bei Ephemera und Agrion stark entwickelt ist. Es steht durch
den nervus recurrens mit einigen kleineren dem Vorderdarm aufgelagerten
Schlundganglien in Zusammenhang.
Die bei Coleopteren und Orthopteren von verschiedenen Beobachtern
nachgewiesenen Oenoeyten, die in segmentaler Anordnung aus der Hypo-
dermis sich loslösen und in das Innere einwandern, werden bei den hier
besprochenen Inseeten vermilst. Wenigstens kommen sie nicht während
des Embryonallebens zur Entwiekelung.
Nach Wheeler (92) sollen jedoch im Verlaufe des Larvenlebens einige
durch ihre Gröfse auffallende Hypodermiszellen in das Innere vorspringen
und den Oenocyten anderer Inseeten entsprechen. Ähnliche in der Hypo-
dermis liegende grofse Zellen habe auch ich beobachtet, doch ist nach meinen
Erfahrungen der Nachweis, ob solche Zellen später in das Innere einwandern
und ob sie den echten Oenocyten thatsächlich gleich zu setzen sind, wohl
recht schwer zu erbringen. Jedenfalls ist hervorzuheben, dafs bei den Odo-
natenlarven (Agrion, Epitheca, Aeschna u. a.) zu keiner Zeit irgend eine seg-
mentale Anordnung grolser Ektodermzellen sich bemerkbar macht, wie sie
bei der Bildung der typischen Oenoeyten anderer Inseeten charakteristisch
zu sein pilegt. Auch in dem Fettkörpergewebe treten entsprechende Zellen
nicht hervor.
Als Suboesophagealkörper deute ich zwei Zellenanhäufungen (Fig. 22 sök),
die man bei Embryonen und jungen Larven von Ephemera dem unteren
Schlundganglion aufgelagert zur Seite des Vorderdarmes antrifft. Sie bestehen
aus grolsen blassen Zellen, welche bekanntlich auch für das in Rede stehende
Organ bei Orthopteren charakteristisch zu sein pflegen. Bemerkenswerth ist,
dafs bei Ephemeriden der Suboesophagealkörper selbst noch bei der Larve
paarig ist, während er bei den Orthopteren schon während der Embryonal-
zeit durch Verschmelzung zu einem unpaaren Gebilde wird.
Bei den Odonaten habe ich den Suboesophagealkörper nicht aufgefunden.
Eine ähnliche Bedeutung haben aber möglicher Weise auffallend grolse kuge-
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 47
lige Zellen, die man bei älteren Embryonen von Epitheca in gröfserer Zahl
im Körper zerstreut und zwar hauptsächlich in der Kopfpartie antrifft. Ich
vermute, dafs sie mesodermaler Herkunft sind.
Die Mundeinstülpung kommt schon zum Vorschein, noch ehe der Keim-
streifen sich in den Dotter eingesenkt hat. Der After folgt erst etwas später
nach. Von Mund und After wachsen Stomo- bez. Proktodaeum als sack-
förmige Gebilde ins Innere. Zur Zeit der Umrollung entstehen bei den
von mir untersuchten Odonaten am blinden proximalen Ende des Prokto-
daeums einige kleine Divertikel, die zu den Malpighi’schen Gefäfsen werden.
Stets sind anfangs nur ein mittleres dorsales und zwei laterale vasa Mal-
pighi vorhanden, die unter einander alle von gleicher Länge sind. Fig. 25
zeigt ihre Einmündung in den Darm.
Bei den mannigfachen Übereinstimmungen, die sich zwischen Odonaten
und Ephemeriden vorfinden, hätte man vielleicht erwarten können, dafs
nun auch bei letzteren Insecten drei Malpighi’sche Gefälse sich zeigen
würden. Das ist aber nicht der Fall. Bei den Embryonen von Ephemera
gelangen ursprünglich nur zwei lateral gelegene vasa Malpighi zur Ent-
wiekelung, ohne für das erste überhaupt einen Zuwachs zu erhalten. Bei
den jungen Larven von Ephemera sind die Malpighi’schen Gefäfse noch
aulserordentlich kurz, nach vorn gewendet und bestehen aus grolsen blassen
Zellen, wodurch sie ziemlich leicht erkennbar werden.
Auch in dem nächstfolgenden Larvenstadium, wenn bereits seitliche
zipfelförmige, aber noch unverästelte, Tracheenkiemen entstanden sind,
dauert der beschriebene Zustand noch unverändert an.
Meine Vermuthung, dafs nun vielleicht in einer späteren Larvenepoche
das dritte unpaare Gefäfs der Odonaten noch nachträglich erscheinen würde,
hat sich — soweit ich die Entwickelung verfolgen konnte — nicht be-
stätigt. Bei älteren, mit gefiederten Tracheenkiemen versehenen Epheme-
ridenlarven sprofst vielmehr sogleich ein weiteres Paar von Gefäfsen an
der Vereinigungsstelle von Mittel- und Enddarm hervor. Diese neuen vasa
Malpighi treten etwas weiter dorsal als die zuerst entstandenen auf, so
dafs nunmehr im ganzen vier, symmetrisch angeordnete und lateral ge-
legene Gefäfse vorhanden sind, ein Verhalten, welches ganz demjenigen
der meisten jungen Orthopteren entspricht. Der in Fig. 26 dargestellte
Querschnitt zeigt die vier Malpighi’schen Gefäfse einer jungen Ephemera-
gs immer noch aus
?
Larve. Die neu hervorgesprolsten vasa pflegen anfan
48 R. Heymoss:
kleinen Zellen mit dunkleren Kernen zu bestehen, und diese Eigenthüm-
lichkeit ist, wie die Abbildung zeigt, auch noch an dem zuletzt gebil-
deten dorsalen Gefäfspaar zu erkennen. Die Zellen des ventralen Paares
dagegen stimmen in ihrem Habitus vollkommen mit den Zellen des
vorderen Abschnittes des Enddarms überein. An der linken Seite der
Figur ist die Einmündung eines ventralen Gefäfses in das Darmlumen
bemerkbar.
In späteren Stadien erst, wenn die Kiemen der Ephemera-Larve zwei-
ästig geworden, und wenn auch am 1. Abdominalsegment ein feiner Kie-
menfaden hervorgesprofst ist, kommt es zur Bildung eines unpaaren, me-
dianen vas Malpighi. Dieses letztere liegt aber nicht dorsal, wie bei den
Odonaten, sondern ventral.
Gleichzeitig damit beginnen auch die zuerst entstandenen vasa Mal-
pighi Seitenäste zu treiben, so dafs damit das Bild ein immer complieir-
teres wird. Das unpaare 5. vas Malpighi ist bei dem in Fig. 23 darge-
stellten Sehnitt getroffen worden. Durch die Kleinheit seiner Zellen unter-
scheidet es sich noch auf den ersten Blick von den vier paarigen Ge-
fäfsen.
Bei Caenis scheint die Entwickelung in ganz entsprechender Weise
vor sich zu gehen, denn anfangs kommen ebenfalls nur zwei laterale Ge-
fälse zur Anlage.
Bei den Odonaten bleibt die junge Larve ziemlich lange in dem Be-
sitz von nur drei Malpighi’schen Gefäfsen. Letztere wurden bereits von
Calvert bei Gomphus exilis und Libellula pulchella beobachtet und in einer
kurzen Mittheilung (95) über die Anatomie der jungen Larve beschrieben.
Bei den von mir untersuchten Formen ist das Verhalten ein derartiges,
dafs bei Agrion die drei vasa Malpighi in annähernd geradem Verlauf bis
ins 10. Abdominalsegment ziehen, während sie bei Zpitheca und Libellula
geschlängelt sind und nach kurzem Verlaufe nach hinten, sich wieder nach
vorn umbiegen. Diese Erscheinung hängt vielleicht mit der Darmathmung
bei den letztgenannten Formen zusammen, wegen welcher der Raum in
dem hinteren Abdominaltheil zunächst wohl ausschliefslich für den erwei-
terungsbedürftigen Enddarm reservirt bleiben mufs.
Die hier mitgetheilten Thatsachen genügen wohl, um zu
zeigen, dafs bei der Anlage der Malpighi’schen Gefäfse der
Inseeten ziemlich weit gehende Variationen eintreten können.
Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 49
Besonders der Umstand, dafs bei den Odonaten die vasa Malpighi ur-
sprünglich unpaar sind und in Dreizahl angelegt werden, ist bemerkens-
werth. Dieses Verhalten contrastirt nämlich mit allem, was über die Bil-
dung der Malpighi’schen Gefäfse bisher bekannt geworden ist. Letztere
pflegen im allgemeinen von Anbeginn paarig zu sein und werden, nach den
bisherigen Angaben zu urtheilen, wohl bei der Mehrzahl der Inseeten in
Vierzahl angelegt.
Die ursprüngliche Zahl von vier Malpighi schen Gefäfsen ist beispiels-
weise die typische für zahlreiche jugendliche Orthopteren, Dermapteren,
Coleopteren, Neuropteren, Hymenopteren, Dipteren u. s. w.
Auch den Ahnenformen der Insecten, dem hypothetischen Urinseet oder
Protentomon, hat man bereits ohne Bedenken den Besitz von vier Harn-
kanälchen zugesprochen. Von anderer Seite wiederum, z.B. von Wheeler
(93), wurde dagegen die Sechszahl der Malpighi’schen Gefälse als die
primäre für die Insecten betrachtet. Hauptsächlich hat man aber stets
ein besonderes Gewicht auf die Paarigkeit der vasa Malpighi gelegt und
aus diesem Grunde auch schon mehrfach Veranlassung genommen, sie mit
anderen paarigen Organen, z.B. Tracheeneinstülpungen, mit den segmentalen
Oenoeytenansammlungen, mit Nephridien u. dergl. in Beziehung zu setzen
bez. die Harnkanälchen von solchen abzuleiten.
Die Bildung der vasa Malpighi bei den Ephemeriden und Odonaten
zeigt aber wohl in überzeugender Weise, auf wie schwankendem Boden alle
derartigen weitgehenden Hypothesen beruhen.
Meiner Ansicht nach kann eine Zurückführung der Malpighi’schen
Röhren auf Segmentalorgane, Tracheen u. s. w. gar nicht in Frage kommen.
Niehts spricht dafür, dafs solche Organe, die doch frei an der Körper-
oberfläche ausmünden, einmal durch den After hindurch in das Innere des
Körpers verlagert und zu Harnkanälchen umgestaltet wären. Im Gegen-
theil, es zeigt sich, dafs bei niederen Insecten, z. B. Campodea, wo eigent-
liche Malpighi’sche Gefäfse noch fehlen, doch schon an der charakteri-
stischen Stelle, d.h. am proximalen Ende der Enddarmwandung, Drüsen-
zellen entwickelt sind. Bei höheren Formen kommt es dann daselbst zur
Ausstülpung der drüsigen Elemente und damit zur Bildung der Malpi-
ghi’schen Gefäfse selbst.
Diese letzteren sind also lediglich als locale Ausstülpungen der End-
darmwandung anzusehen. Ihrer so häufig zu beobachtenden Paarigkeit ist
Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 7
50 R. Hevymons:
sicherlich keine tiefer gehende Bedeutung beizumessen, sie steht eben nur
in Einklang mit der symmetrischen Gestaltung des Inseetenkörpers über-
haupt. Über die Zahl der Malpighi’schen Gefäfse bei den Vorfahren der
Inseeten fehlt uns vorläufig noch jeder Anhalt. Wir wissen nur, dafs ihre
Zahl bei den heutigen Insecetengruppen eine variabele ist, innerhalb einer
und derselben Gruppe aber anfänglich, d. h. bei jugendlichen Repraesen-
tanten immer annähernd constant zu sein scheint.
Wenn die jungen Larven das Ei verlassen haben, so steht, sowohl
bei den Ephemeriden wie bei den Odonaten, ihre innere Organisation noch
auf einer relativ niederen Stufe. Nur das Nervensystem und die Museulatur,
das Herz sowie Vorder- und Enddarm sind schon deutlich differenzirt.
Der Mitteldarm ist im Innern mit Dotter gefüllt, bis zu dessen Resorption,
die oft mehrere Stunden, ja selbst Tage in Anspruch nehmen kann, die
jungen Thiere noch keine Nahrung zu sich nehmen'.
Im Innern der Leibeshöhle zwischen Darm und Körperwand bemerkt
man im wesentlichen nur ein Gewirr von ziemlich gleichartigen Strängen
und Zellen, aus. denen sich erst allmählich der Fettkörper, die feineren
Tracheenverzweigungen sowie die Geschlechtsorgane differenziren.
Verglichen mit den jungen Larven der Orthopteren und Dermapteren
befinden sich daher diejenigen der Odonaten und Ephemeriden noch recht
weit in der Entwickelung zurück. Diese Erscheinung ist jedenfalls durch
die eigenartigen biologischen Verhältnisse bedingt worden, denen ja über-
haupt die gesammten Fortpflanzungsprocesse der » Amphibiotica« angepalst -
erscheinen. Die vielen Gefahren, denen die Larven der genannten Insecten
gerade bei ihrem Wasseraufenthalte ausgesetzt sind, indem sie durch zahl-
reiche Raubinseceten, durch ungünstige Wasser- und Strömungsverhältnisse
bedroht werden, bringen es wohl mit sich, dafs diese Thiere zur Erhal-
tung ihrer Art eine sehr beträchtliche Anzahl von Eiern produeiren müs-
sen. Die letzteren können daher natürlich nur klein sein und geben auch
Larven von sehr geringer Körpergröfse den Ursprung. Die Entwiekelung
innerhalb des Eies vermag somit nicht in allen Punkten so weit fortzu-
schreiten, wie diefs bei den grofsen Eiern der meisten Landinseeten der
Fall ist.
! Auf das eigenartige Verhalten die Dotterzellen, welche sich bei den Libellen an der
Bildung des Mitteldarmes betheiligen, beabsichtige ich, an einer anderen Stelle ausführlicher
einzugehen.
Entwickelmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. a
Im übrigen ist das Verhalten aber nicht so zu verstehen, als ob den
jungen Larven gewisse Organe noch gänzlich fehlten. Man hat angege-
ben, dafs die jüngsten Larvenstadien der Libellen noch keine Geschlechts-
organe, keine Tracheen, Speicheldrüsen und Blutgefäfssystem besitzen
sollten.
Das ist nieht richtig, und auch für die Ephemeriden habe ich ähnlich
lautende Angaben bereits zurückgewiesen (96°). Die angeführten Organe
sind simmtlich bereits vorhanden, nur ihrer Kleinheit und geringen Diffe-
renzirung wegen schwer zu erkennen.
Die Anlage der Speicheldrüsen geht bei den von mir untersuchten
Formen sicher schon während der Embryonalzeit vor sich, denn selbst bei
den jüngsten eben ausgeschlüpften Larven kann man die Drüsenanlagen
trotz ihrer Kleinheit an Schnittserien ganz gut erkennen. Ein besonders
hierzu geeignetes Objeet ist Agrion.
Die Speicheldrüsen bestehen anfangs nur aus wenigen grolsen blassen
Zellen, die vorn an der Basis der vorderen Maxillen mit der Hypodermis
in Verbindung stehen, an welcher Stelle sich, wie es scheint, auch später
eine Ausmündung befindet. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dafs ganz im
Anfange die kleinen Speicheldrüsen noch nicht funetioniren, erst bei älteren
Larven dürften sie in Thätigkeit treten und fallen dann auch sogleich durch
ihre charakteristischen grofsen Kerne ins Auge. Übrigens zeigt sich bei den
jungen Odonatenlarven noch insofern ein etwas primitives Verhalten, als ein
für die beiden Drüsen gemeinsamer unpaarer Endabschnitt des Ausführungs-
ganges noch fehlt. Einen solchen habe ich an Schnittserien niemals auf-
finden können. Er wird offenbar erst im weiteren Verlaufe der larvalen
Entwiekelung angelegt und mündet dann am Grunde des Labiums zwischen
diesem und dem Hypopharynx aus. Das Gleiche ist, wie bereits durch die
Untersuchungen von Poletaiew (81) festgestellt wurde, noch bei der Imago
der Fall.
Die Ausmündung der Speicheldrüsen an der bezeichneten Stelle durch
einen unpaaren Gang steht mit dem Verhalten der Speicheldrüsen bei den
Orthopteren in Übereinstimmung. Bei letzteren werden allerdings nicht
nur die Drüsen selbst, sondern auch ihr Ausführungsgang im Laufe des Em-
bryonallebens bereits vollkommen fertig gestellt. Diefs gilt z.B. für die
Blattiden und Grylliden. Bei letzteren Inseeten erstreckt sich der Speichel-
gang gleichfalls bis zur Basis des Labiums, ohne dafs, wie ich früher (95°)
7*
52 R. Hrymons:
an einer Stelle angegeben hatte, eine Communication mit dem Oesophagus
zu Stande kommt.
Das Tracheensystem der Odonaten wird ebenfalls bereits bei den Em-
bryonen angelegt, an welchen die typischen 10 Stigmenpaare zu beobachten
sind. Bei den jungen Larven sind freilich nur erst die gröfseren Tracheen-
stämme fertig gestellt, die ursprünglich noch keine Luft enthalten, und
deren Wandungen schwärzlich pigmentirt sind. Die kleineren Tracheenäste
bestehen anfänglich noch aus einfachen, spindelförmigen an einander ge-
reihten Zellen, die sich erst später differenziren.
Ein anscheinend speeifisch larvales Organ habe ich regelmälsig bei
Jugendlichen Odonatenlarven angetroffen. Es ist paarig und besteht aus
einer Anzahl farbloser, blasser Zellen, die mit grofsen Kernen versehen
sind und in Form eines Bandes oder eines Stranges in den hinteren Abdo-
minalsegmenten ventralwärts vom Darm liegen. Bei Epitheca-Larven findet
es sich im 9. und 10. Segmente vor und seine beiden Hälften (Fig. 27 /pA)
stehen hinten durch eine ventrale Querbrücke mit einander in Zusammen-
hang. Der histologischen Structur nach zu urtheilen, gehört das Gebilde
in die Reihe der lymphoiden Organe und ist vermuthlich den Periecardial-
zellen anderer Insecten, den paracardialen Lymphplättehen der Forfieuliden
u.s.w. homolog zu setzen.
Zum Schlufs noch einige Worte über die Genitalorgane. Dafs diesel-
ben bei den jungen Odonatenlarven sich noch in einem Stadium aufser-
ordentlich wenig fortgeschrittener Differenzirung befinden, wurde schon
oben hervorgehoben. Thatsächlich ist es mir bei den jüngsten eben aus-
geschlüpften Larven noch nicht möglich gewesen, die Geschlechtsorgane
mit Sicherheit aufzufinden. In der Leibeshöhle trifft man zwar zwischen
den Bindegewebs-, Fettkörperzellen und Tracheen Zellengruppen an, die
ihrer Lage nach den späteren Genitalzellen möglicher Weise entsprechen,
die sich aber doch noch nicht deutlich als solche zu erkennen geben.
Erst wenn die junge Larve selbständig Nahrung zu sich nimmt, und
wenn auch noch eine Häutung vorüber gegangen ist, kann man zu
den Seiten des Darmes die Genitalorgane mit Bestimmtheit ausfindig
machen. Es sind sehr kleine spindelförmige Gebilde, die nur aus we-
nigen Zellen zusammengesetzt sind, deren Kerne durch hellere Farbe
von den umliegenden Bindegewehs- und Fettkörperzellkernen sich unter-
scheiden.
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 53
An das hintere Ende jeder Genitalanlage schliefsen sich einige feine
langgestreckte Zellen an, die man nur mit vieler Mühe durch das in der
Leibeshöhle befindliche Convolut von Tracheen, Malpighi’schen Gefälsen
u.s.w. hindurch bis zur Hypodermis verfolgen kann. Sie stellen die An-
lage des Ausführungsganges dar.
In dem verschiedenartigen Verhalten der Ausführungsgänge tritt auch
bereits ein sexueller Unterschied zu Tage. Beim Männchen lassen sich näm-
lich die Geschlechtsgänge bis zur Hypodermis des 9. Abdominalsternites
verfolgen. Beim Weibchen reichen sie nur bis ins 7. Abdominalsegment,
um sich ungefähr in der Mitte desselben (Zpitheca, Cordulia) oder in der
hinteren Hälfte (Agrion) an die Hypodermis anzusetzen. Die für die Or-
thopteren so charakteristischen Anschwellungen am Ende der Geschlechts-
gänge, die sogenannten Ampullen, sind bei den Odonaten nicht entwickelt.
Die Zellen der Geschlechtsdrüsen selbst sehen in beiden Geschlechtern
bei den jungen Larven noch vollkommen gleichartig aus. Irgend ein Merk-
mal, ob eine männliche oder eine weibliche Keimdrüse aus ihnen hervor-
gehen wird, existirt noch nicht. Selbstverständlich ändert sich im weiteren
Entwiekelungsverlauf das geschilderte Verhalten. Die sexuelle Differenzi-
rung tritt später ein, und bei alten Larven lassen sich bei einiger Sorg-
falt die Geschlechtsgänge sogar makroskopisch praepariren.
Bei den eben ausgeschlüpften Larven von Ephemera vulgata sind die
Geschlechtsorgane zwei überaus kleine spindelförmige Gebilde, die man im
2. Abdominalsegmente dorsalwärts vom Darme antrifft. Ihre Ausführungs-
gänge sind anfangs noch nicht deutlich zu verfolgen. Sie heften sich in
späteren Stadien beim Männchen an das 9., beim Weibchen an das 7. Ab-
dominalsternit an.
In der Entwickelung der Genitalorgane tritt im wesentlichen eine Über-
einstimmung mit den Orthoptera genuina zu Tage. Freilich ist zu berück-
sichtigen, dafs bei den Odonaten und Ephemeriden die Differenzirung der
Geschlechtsdrüsen nicht beim Embryo, sondern erst bei der Larve sich ab-
spielt. Hierauf ist aber wohl kein sehr grofses Gewicht zu legen, denn
es hat sich gezeigt, dafs auch bei anderen Organen ähnliche Erscheinun-
gen sich geltend machen.
Es ist mir nicht möglich gewesen, bei den Odonaten und Epheme-
riden Spuren von doppelten Anlagen der Ausführungsgänge, der Oviduete
bez. vasa deferentia, nachzuweisen. Bei den Orthopteren kommen derartige
54 R. Hrymonss:
Bildungen bekanntlich recht häufig vor, und man trifft dann beim Männchen
im 7., beim Weibchen im 9. oder 10. Abdominalsegment gar nicht selten
Gabelungen der definitiven Geschlechtsgänge oder selbständige rudimentäre
Abschnitte des ausführenden Systemes an.
Bei den hier berücksichtigten Insecten habe ich niemals in anderen,
als in den oben angegebenen Segmenten Anlagen von Geschlechtsausfüh-
rungsgängen nachzuweisen vermocht. Die Untersuchung stöfst allerdings
auch auf ganz aufsergewöhnliche Schwierigkeiten. Die geringe Gröfse der
Embryonen, sowie der jungen Larven, vor allem aber der geringe Grad
der Differenzirung innerhalb der einzelnen Gewebe machen es vollständig
unmöglich, schon in so frühen Stadien wie bei den Orthopteren die Bil-
dung der Geschlechtsgänge zu verfolgen.
Wenn bei den jungen männlichen Larven der Odonaten und Ephe-
meriden die vasa deferentia bis ins 9. Abdominalsegment reichen, so ist
möglicher Weise hierin bereits ein etwas modifieirtes Verhalten zu erblicken.
Bei den männlichen Orthopterenembryonen reichen die Geschleehtsgänge
bis ins 10. Abdominalsegment und werden erst nachträglich ins 9. Segment
verlagert. Der Nachweis, dafs bei den Odonaten bez. Eintagsfliegen ähn-
liche Verhältnisse obwalten, läfst sich nicht erbringen. Eine nachträgliche
Verschiebung der Endstücke der vasa deferentia mufs im letzteren Falle
auch aus dem Grunde als etwas unwahrscheinlich angesehen werden, weil
bei den Orthopteren die erwähnte Verlagerung mit der stets mehr oder
minder weit gehenden Reduction des 10. Abdominalsternites Hand in Hand
geht, während bei den hier behandelten Insecten, wie wir gesehen, das
betreffende Sternit selbst nach dem Ausschlüpfen noch ganz intact bestehen
bleibt.
6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systematische
Stellung der Odonaten und Ephemeriden.
Mit den in den vorhergehenden Abschnitten dieser Arbeit mitgetheilten
Befunden hoffe ich, wenigstens in den Grundzügen ein Bild von dem Auf-
bau des Körpers bei Odonaten und Ephemeriden gegeben zu haben. Weiter
fortgeführte Beobachtungen an anderen Formen werden in dieser Hinsicht
sicherlich noch manche Ergänzungen liefern und zahlreiche interessante
Details zu Tage fördern können. Da aber nach den bisherigen Erfahrungen
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 35
der morphologische Aufbau des Körpers innerhalb einer und derselben
Inseetengruppe im wesentlichen immer constant zu bleiben pilegt, so ist
wohl nieht anzunehmen, dafs die hier erhaltenen allgemeineren Ergebnisse
durch weitere Untersuchungen eine wichtige Modification erleiden werden.
Es hat sich das Resultat gezeigt, dafs die bei den Ephemeriden und
Odonaten im Princip zwar völlig übereinstimmende Körperbildung in mancher
Beziehung auch Abweichungen zu erkennen gibt, und dafs nicht nur bezüglich
der äufseren Körperform, sondern theilweise auch hinsichtlich der Entwicke-
lung innerer Örgansysteme derartige Differenzen zu Tage treten. Zieht man die
zur Zeit in entwickelungsgeschichtlicher und morphologischer Hinsicht ver-
hältnifsmäfsig gut bearbeiteten Orthoptera genuina ebenfalls in den Kreis
der Betrachtung hinein, so wird sich fernerhin nicht verkennen lassen, dafs
bei diesen Thieren die Körperentwickelung wieder nach einem zum Theil
selbständigen und besonderen Typus vor sich geht.
Schon bei einer Betrachtung der Malpighi’'schen Gefälse dürfte das
Gesagte klar werden. Die Zahl der vasa Malpighi hat von jeher als ein
wichtiges Charakteristicum und Unterscheidungsmerkmal für die verschie-
denen Insectengruppen gegolten, obwohl es vielleicht nicht ausgeschlossen
ist, dafs man theilweise den Werth dieses Unterscheidungsmittels etwas
überschätzt hat.
Als ein gemeinsames Merkmal der Orthoptera (genuina), Odonata
und Zphemerida wird man nun stets hervorgehoben finden, dafs die Zahl
der Malpighi’schen Gefäfse bei ihnen eine »grofse« ist. Letzteres ist
auch vollkommen zutreffend, sofern man lediglich die ausgebildeten Inseeten
berücksichtigt. Richtet man dagegen auch die Aufmerksamkeit auf die
Jugendstadien, so treten jedoch gewisse unverkennbare Unterschiede hervor.
In dieser Hinsicht verdient besonders erwähnt zu werden, dafs bei den
Odonaten die Malpighi’schen Gefäfse ursprünglich stets in Dreizahl an-
gelegt werden.
Diese Zahl ist von Calvert bei den jungen Larven zweier Libelluliden-
arten, von mir bei einer Anzahl anderer verschiedener Formen sowohl im
embryonalen wie im larvalen Zustande beobachtet worden, und zwar scheinen
Anisopteren und Zygopteren in dieser Hinsicht sich ganz übereinstimmend
zu verhalten.
Bei Caenis und Ephemera, den einzigen bis jetzt genauer untersuchten
Ephemeridenembryonen, habe ich dagegen nur zwei Malpighi’sche Gefälse
56 R. Hreymonss:
constatirt und fernerhin feststellen können, dafs die weitere Vermehrung
derselben keine Möglichkeit bietet, um direete Vergleiche mit den Exere-
tionsgefälsen der Odonaten zuzulassen.
Auch bei den Orthopteren hat man noch in keinem Falle eine unpaare
Zahl Malpighi’scher Gefäfse bisher auftreten sehen. Letztere pflegen viel-
mehr fast ausnahmslos in Vierzahl angelegt zu werden, während in ver-
einzelten Fällen anfangs nur zwei Malpighi'sche Gefäfse entstehen, oder
von vornherein sogleich sechs derselben (bei den Acrididae) gebildet werden
sollen.
Die bei der Entwickelung von Orthopteren zur Ausbildung gelangenden
Rudimente segmentaler Geschlechtsgänge, sowie die bei Orthopteren meistens
ebenfalls stark hervortretenden Endampullen der vasa deferentia und Ovi-
ducte waren bei Ephemeriden und Odonaten nicht bemerkbar.
Wenn in der Ausbildung des Darmes, des Herzens, des Nerven-
systemes u. s. w. bei den drei genannten Gruppen im wesentlichen eine
Übereinstimmung herrscht, so darf diese zu gunsten etwaiger verwandt-
schaftlicher Beziehungen nicht überschätzt werden. Auch bei zahlreichen
anderen Inseetengruppen vollzieht sich die Anlage der betreffenden Theile
in ganz entsprechender Weise.
Eine sehr augenfällige Verschiedenheit zwischen Geradflüglern, Ein-
tagsfliegen und Libellen ergibt sich jedoch noch in der Zusammensetzung
der Mundwerkzeuge. War man zwar auch schon längst auf die in dieser
Hinsicht sich zeigenden Unterschiede bei den Imagines und Larven auf-
merksam geworden, so haben doch meine Untersuchungen noch insofern
eine Ergänzung liefern können, als sie zeigten, dafs die Differenz bereits
in sehr frühen Embryonalstadien sich vollzieht. Es ist also nieht etwa
eine Art von Orthopterenstadium vorhanden, welches die Ephemeriden und
Libellen durchlaufen, und in dem ihre Mundtheile nach dem Typus der-
jenigen der Orthopteren gebaut wären. Nur in der ersten primitiven An-
lage der Kieferpaare, welche in Form von sechs einfachen Höckern auf-
treten, stimmen die drei Gruppen überein. Eine solche Übereinstimmung
erstreckt sich aber auch noch auf andere Inseetengruppen, z. B. Rhynchoten,
und kann demnach wohl zweifelsohne überhaupt als ein Inseetencharakter
betrachtet werden.
Von einem besonderen Interesse für die Beurtheilung der verwandt-
schaftlichen Beziehung zwischen den drei in Rede stehenden Gruppen dürfte
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 57
ferner die Körpersegmentirung sein. Hauptsächlich mache ich hier auf
die divergirende Entwickelung aufmerksam, welche das Abdominalende ge-
nommen hat, zumal die in dieser Beziehung zu Tage tretenden Unterschiede
bisher noch nicht in ihrer Bedeutung erkannt worden sind.
Die erste Anlage des Abdomens vollzieht sich stets in übereinstim-
mender Weise. Es werden ursprünglich beim Embryo, sowohl demjenigen
der Ephemeriden wie dem der Odonaten und Orthopteren elf Abdominal-
segmente angelegt, hinter denen das kleine Analsegment in Form der
laminae anales zur Entwickelung gelangt.
Bei den genuinen ÖOrthopteren vollzieht sich nun ausnahmslos eine
beträchtliche Reduction der hinteren Abdominalsegmente. Sogar das 10. Ab-
dominalsegment wird hierbei in Mitleidenschaft gezogen. Sein Sternit
pflegt selbst beim Embryo wieder zu verschwinden. Stets geht auch das
ıı. Tergit, soweit es als distinete Platte überhaupt noch hervorgetreten
war, wieder zu Grunde. Es unterliegt dann endlich noch der mittlere
Theil des ı ı. Sternites einer Rückbildung, so dafs damit von diesem ganzen
Segment dann lediglich noch die Cerei erhalten bleiben. Diese persistiren
und sind somit bei der Imago als die einzigsten Überreste des ı1. Seg-
mentes anzusehen.
Im Gegensatz zu der weitgehenden Rückbildung des ıı. Abdominal-
segmentes pflegen bei den Orthopteren die laminae anales während des
ganzen Lebens in ihrer charakteristischen Gestalt und Ausbildung erhalten
zu bleiben.
Bei den Odonaten und Ephemeriden hat die Entwickelung vielfach
abweichende Bahnen eingeschlagen.
Zunächst bleibt im Gegensatz zu den Orthopteren das 10. Abdominal-
segment völlig intact bestehen. Im 11. Abdominalsegment erhalten sich,
wenigstens während der Larvenzeit, die Cerei bez. die diesen entsprechen-
den Bildungen (laterale Schwanzfäden, laterale Tracheenkiemen, appendices
laterales). Der mediane Theil des ıı. Sternites geht zwar wieder schon
beim Embryo zu Grunde, statt dessen findet sich aber bei Odonaten und
Ephemeriden ein ıı. Tergit vor. Letzteres gewinnt sogar eine bedeutende
Entfaltung, es wächst nach hinten aus und erinnert dadurch in seinem.
Habitus an die Cerei. Diese eingerechnet sind dann also am Hinterende
des Abdomens drei lange Fortsätze entstanden, die man wenigstens bei
der Larve fast regelmäfsig daselbst antreffen kann.
Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 3
58 R. Heymons:
Mit der starken Ausbildung, welche diese drei dem ı1. Segment an-
gehörenden Fortsätze gewinnen, scheint es in einem gewissen Zusammen-
hange zu stehen, dafs die drei laminae anales im Vergleich mit den Or-
thopteren nur eine sehr dürftige Entwickelung aufweisen. Macht es auch
keine Schwierigkeiten, die Afterklappen beim Embryo oder der jungen
Larve von Eintagsfliegen oder Libellen aufzufinden, so sind sie doch in
späteren Stadien nahezu oft vollkommen verschwunden.
Im Gegensatz zu den Orthopteren tritt uns also bei Odo-
naten und Ephemeriden die Tendenz entgegen, das Endsegment
allmählich rückzubilden oder ganz zu unterdrücken.
Ich habe bisher besonders die Übereinstimmungen zwischen Odonaten
und Ephemeriden hervorgehoben, und es läfst sich auch gar nieht verkennen,
dafs solehe in Jugendstadien thatsächlich vorhanden sind. Namentlich fällt
bei einer Betrachtung von Zygopterenlarven und Ephemeridenlarven die
Ähnlichkeit im äufseren Habitus sogleich ins Auge. Die drei hinteren
Sehwanzborsten und drei hinteren Tracheenkiemen, die dem Thiere das
charakteristische Aussehen verleihen, sind einander homolog.
Unterschiede machen sich hauptsächlich erst bei den Imagines gel-
tend. Bei den Ephemeriden bleiben die dem ı1. Abdominalsegmente zu-
gehörenden Anhangsgebilde (lateraler und meist auch mittlerer Schwanz-
faden) dauernd erhalten, bei den Odonaten verkümmern sie. Es ist bei
dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, dafs die appendices late-
rales der Odonaten sich in einer Hinsicht überhaupt etwas abweichend von
den lateralen Schwanzfäden der Ephemeriden verhalten. Letztere rücken
nämlich nach der Dorsalseite empor und werden schliefslieh annähernd
rückenständige Anhänge, gerade wie diefs bei den Cerei der Orthopteren
der Fall ist.
Die appendices laterales der Odonaten nehmen niemals eine rücken-
ständige Lage ein, ihre breite Basis bleibt dauernd an der Ventralfläche
des Körpers zurück. Wenn dann später bei den Imagines der Odonaten
eine Rückbildung der eigentlichen appendices erfolgt, schliefsen sich ihre
Basalabschnitte unmittelbar an das ıo. Sternit an, und man kann dann
ohne Bedenken die Rudimente der lateralen appendices, wie diefs bereits
oben S. 4ı ausgeführt ist, als Seitentheile eines ı1. Abdominalsternites
auffassen, dessen medianer Abschnitt schon beim Embryo verloren gieng.
Letzteres gilt auch für männliche Zygopteren, deren hakenförmige Anhänge
Entwiekelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 3.)
(»untere appendices anales« der Autoren) wohl kaum den Cerei anderer In-
secten ohne weiteres als homologe Gebilde gelten können, sondern höchst-
wahrscheinlich als plhyletisch später erworbene, speciell zur Copulation
dienende Einrichtungen zu betrachten sind.
Man kann deshalb sagen, dafs die Odonaten im entwickelten
Zustande von den Ephemeriden und Orthopteren sich durch das
Fehlen der Cereci unterscheiden.
Es liegt sehr nahe, auch die Abdominalgliederung der Perliden ver-
gleichsweise zu berücksichtigen, weil diese Thiere meistens als nahe Ver-
wandte der Odonaten und Ephemeriden betrachtet zu werden pflegen. Obwohl
es mir aus Mangel an Untersuchungsmaterial leider nicht möglich war, auch
die Entwickelung der Plecopteren eingehender zu verfolgen, so ist doch
andererseits die Segmentirung gerade bei diesen Insecten eine so einfache
und übersichtliche, dafs ein Vergleich keine Schwierigkeiten bereitet.
Bei den Larven von Perla bicaudata L. und von Chloroperla rivulorum
Piet. finde ich zehn abdominale Sternite (deren erstes allerdings zu Grunde
gegangen und mit dem Metasternum des Thorax vereinigt ist) und zehn
Tergite. Es sind ferner zwei Cerei und zwei kleine, ziemlich unscheinbare
mit Kiemenfäden besetzte laminae subanales vorhanden.
Ganz entsprechend ist die Segmentirung auch bei den Imagines. Das
ı0. abdominale Sternit ist hier zweigetheilt, die laminae subanales treten
sehr viel deutlicher hervor.
Ein wesentlieher Unterschied zwischen Plecopteren einer-
seits, Odonaten und Ephemeriden andererseits beruht also in
dem Fehlen des ı1. Tergites bei den ersteren bereits in ganz
frühen Stadien.
Durch diese Eigenthümlichkeit nähern sich die Plecopteren unver-
kennbar den Orthopteren, denen sie auch in vielen anderen Beziehungen,
z. B. in der Bildung der Mundtheile, offenbar sehr nahe stehen.
Zur Erleichterung des Verständnisses habe ich den Versuch gemacht,
in der folgenden Tabelle einen Überblick darüber zu geben, in welcher
Weise im grofsen und ganzen die Ausbildung der hinteren Abdominal-
segmente sich bei den verschiedenen Insectengruppen gestaltet hat. Die
Übersicht mag gleichzeitig darthun, in wie weit meiner Auffassung nach
eine wirkliche Homologie zwischen den einzelnen Bestandtheilen des Ab-
dominalendes angenommen werden darf.
60 R. Hrymons:
Mit Ausnahme der letzten Spalte beziehen sich die gemachten An-
gaben auf Imagines. Nur das im Allgmeinen als typisch anzusehende Ver-
halten sollte selbstverständlich zum Ausdruck gebracht werden. Ausnahmen,
wie z. B. die Rückbildung der Cerei hei mehreren Orthopteren und Pleco-
pteren u. a. m., mulsten hierbei naturgemäfs unberücksichtigt bleiben.
ro. Segment. | ır. Segment, Analsegment
I— In
| Sternum | Tergum Cerei Tergum laminae anales
M ]
Orthoptera genuina | fehlt vorhanden) vorhanden | fehlt vorhanden
Plecoptera (Perlarida) vorhanden |vorhanden| vorhanden | fehlt vorhanden
| (laminae sub-
| anales)
Ephemerida | vorhanden |vorhanden| vorhanden |meistentwickelt| fehlen oder
\ (mittlerer sehr wenig
| , Schwanzfaden) entwickelt
h | | 3 | 3
Odonata (Anisoptera) | vorhanden | vorhanden fehlen vorhanden | wenig ent-
(statt dessen | wickelt oder
| zweigetheiltes | | fehlen
|| rı. Sternum)
Odonata (Zygoptera) | vorhanden | vorhanden fehlen fehlt fehlen
| (statt dessen |
| | | zweigetheiltes
ii I =
| | || ır. Sternum) |
5 £ | |
Jugendliche Libellen- | vorhanden vorhanden vorhanden vorhanden vorhanden
larven (Anisoptera |
und Zygoptera) | |
Wiewohl es meine Absicht ist, erst bei einer späteren Gelegenheit,
die Segmentirung der Thysanuren zu besprechen, so will ich doch sehon
Jetzt darauf aufmerksam machen, dafs die Gliederung der Machiliden und
Lepismiden ohne weiteres einen direeten Vergleich namentlich mit der
Segmentirung junger Odonatenlarven zuläfst!.
Abgesehen von dem Umstande, dafs bei der Larve von Lepisma das 10. Ab-
dominalsternit gerade wie bei den Orthopterenlarven bereits rückgebildet
ist, so findet man sowohl die beiden CGerei (seitliche Sechwanzborsten) wie
auch das verlängerte ı 1. Tergit (mittlere Schwanzborste) wieder, welche zu-
sammen den drei appendices caudales der Larven von Odonaten und Ephe-
’ Auch hinsichtlich der Embryonalentwickelung vermitteln die Lepismiden den Über-
gang zu höheren Inseeten, wie das von mir nachgewiesene (96®) Vorhandensein der
Embryonalhüllen bei Lepisma zeigt.
2 8
Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 61
meriden homolog zu setzen sind. Endlich ist bei der Lepisma-Larve
auch noch das Endsegment in Form der drei laminae anales vorhanden.
Stellt man sich die Segmentirung von Lepismiden als das der Gliede-
rung höherer Inseeten zu Grunde liegende Schema vor, so kann man von
derselben Basis ausgehend zwei Hauptgruppen bei den hier in Rede stehenden
Inseeten unterscheiden. Die eine, dargestellt durch die Orthopteren und
Pleeopteren, ist charakterisirt durch die Rückbildung des ıı. Tergites und
Entwickelung der laminae anales. Die Mundwerkzeuge sind relativ einfach
gestaltet und ziemlich noch nach dem Typus von Thysanurenmundtheilen ge-
baut. Die andere Hauptgruppe wird repraesentirt durch Odonaten und Ephe-
meriden. Hier zeigt sich wenigstens zum grofsen Theile noch eine starke
Entfaltung des ıı1. Tergums, dafür tritt aber eine allmähliche Reduction
der laminae anales ein. Die Mundtheile sind fast durchweg stark specialisirt.
Eine Untersuchung der genannten niederen Insectenabtheilungen hat
den Beweis geliefert, dafs die Segmentirung des Abdomens während der
frühen ontogenetischen Stadien in allen Fällen eine nahezu vollkommen
übereinstimmende und identische ist. Erst weiterhin macht sich eine diver-
girende Entwickelung geltend und führt schliefslich zu den tiefgreifenden
Unterschieden, die man bei den ausgebildeten Inseetenformen antrifft. Zieht
man dagegen besonders die Jugendstadien in Betracht, so fällt es nicht
schwer, noch gemeinsame Beziehungen und Anknüpfungspunkte an die ent-
sprechende Körperbildung der Thysanuren herauszufinden.
Für die von Brauer (85) und von Grassi (88) vertretene Ansicht, dafs
der gemeinsame Ursprung der Odonaten, Ephemeriden, Plecopteren und Ortho-
pteren s. str. bei thysanurenartig gestalteten Formen zu suchen sei, dürfte durch
die mitgetheilten Ergebnisse somit eine weitere Bestätigung gewonnen sein.
Trotz dieser in letzer Hinsicht wohl unzweifelhaft einheitlichen Ab-
stammung wird man aber, wie diels auch von Brauer betont wurde, die
verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den vier Gruppen sich gegen-
wärtig nicht mehr als allzu nahe vorzustellen haben, denn die Trennung
in selbständige Zweige oder Stämme wird zweifelsohne schon in aufser-
ordentlich frühen Erdepochen, jedenfalls lange vor dem Auftreten meta-
bolischer Inseeten erfolgt sein.
Aus diesem Grunde wird man auch nicht umhin können, den Odonaten,
Ephemeriden, Örthopteren und Plecopteren den Rang von selbständigen
Inseetenordnungen zuzusprechen.
’ a - .
62 R. Herymonss:
Die Unterschiede, die in den Abweichungen der inneren Organisation,
in der verschiedenartigen Entwickelung der Mundtheile und des äufseren
Körperbaues bei den vier genannten Ordnungen hervortreten, sind unver-
kennbare und offenbar zu weitgehende, um es gerechtfertigt erscheinen
lassen zu können, die Odonata, Ephemerida und Plecoptera, wie man früher
zu thun pflegte, als » Amphibiotica« zusammenzufassen und sie als solche
dann in die Inseetenordnung der Orthopteren einzuschliefsen.
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Erklärung der Figuren.
| pendix dorsalis) sind ebenso wie diejenigen
ze , der lamina supraanalis der Deutlichkeit halber
Fig. ı. Hinterleibsende eines männlichen | fortgelassen. Die appendix dorsalis (Terg:;:)
Gomphus vulgatissimus L., Imago. Von der | ist künstlich bei Seite geschoben, wodurch
Ventralseite betrachtet. Vergr. 6. , sich die etwas asymmetrische Stellung des
Fig. 2. Junge Larve von Epitheca bimacu- | betr. Anfanges erklärt. Vergr. 50.
lata Charp., einige Stunden nach dem Aus- Fig. 3. Aus dem Ei geschlüpfter reifer
schlüpfen. Am Hinterende erkennt man die | Embryo von EZpitheca bimaculata Charp. Am
Kopf ist die zum Durchdringen der Gallerte
pendices laterales und Terg:r), sowie diejeni- | dienende Chitinleiste (Chl) sichtbar. Die Beine
gen des 12. Segmentes (laminae anales). Die | sind bei der Praeparation aus einander gezo-
Bestandtheile des rr. Abdominalsegmentes (ap-
Borsten an dem verlängerten ı1. Tergit (ap- | gen worden. Vergr. 62.
64
Fig. 4. Abdomen einer jugendlichen Larve
von Epitheca bimaculata Charp. Bemerkens-
werth ist das zweigetheilte rı. Sternit. Ver-
gr. 62.
Fig. 5. JungeLarve von Ephemera vulgatal..,
von der Ventralseite betrachtet. Am 2.—7.
Abdominalsegment sind die Anlagen der spä-
teren Tracheenkiemen in Gestalt kleiner in
der Hypodermis befindlicher Verdickungen
(Trk) zu erkennen (dieselben sind bei der
Reproduction der Zeichnung leider nieht mit
der gewünschten Klarheit zum Ausdruck ge-
kommen). Vergr. 68.
Fig. 6. Abdominalende von Caloptery.x splen-
dens Harr., Imago ‘ von hinten betrachtet.
Die processus caudales (»obere appendices
anales«) sind aus einander gebogen. Vergr.7.
Fig. 7. Ei von Epitheca bimaculata Charp.,
von der rechten Lateralseite betrachtet, um
die Lage des Keimstreifens im Ei zu zeigen.
V= Vorderende des Eies, dem erst in spä-
teren Stadien nach der Umrollung der Kopf
des Embryo anliegt. Die Ventraltläche des
Keimstreifens ist im Kopf und Thoraxab-
schnitt noch der Dorsalseite des BEies (Dors)
zugekehrt. Vergr. 48.
Fig. 8.
nen Larve von Aeschna spec.
Hinterleibsende einer ausgewachse-
Die Schwanz-
klappen (appendices caudales) sind stark aus
einander gebogen, um die Afteröffnung zu
zeigen. Im Umkreis der letzteren treten die
drei weichhäutigen laminae anales hervor.
Vergr. 4.
Fig.9. Hinterleibsende einer jungen Larve
von Agrion (puella L.?), von der Ventralseite
gesehen. Erkennbar sind aulser den drei
noch drehrunden äulseren Tracheenkiemen
(appendices), welche dem ı1. Abdominalseg-
mente angehören, noch drei das Analsegment
Vergr. 120.
Be-
inerkenswerth ist der S-förmig gekrümmte
vepraesentirende laminae anales.
Fig.ıo. Ei von Ephemera vulgata L.
Keimstreifen.
des Eies
Vergr.1ı20. Die Orientirung
ist hier wie bis zur Fig.ı5 so ge-
wählt wie bei dem in Fig.7 dargestellten Ei.
Fig.ıı. Ei von Oaenis griseaP. Vergr. 125.
R. Hermons:
Fig.ı2. Ei von Sympetrum flaveolum L.
Das Hinterende des Keimstreifens ist in den
Dotter eingewachsen. Vergr. 48.
Fig.13. Ei von Zibellula quadrimaculata L.
Der Keimstreifen ist anormaler Weise nicht
in den Dotter eingedrungen, sondern super-
ficiell geblieben. Vergr. 48.
Fig.14. Ei von Libellula quadrimaculata L.
Der Keimstreifen ist im Begriff‘, sieh mit dem
Hinterende in den Dotter einzusenken, die
hintere Amnionfalte (am) erscheint. Vergr. 48.
Fig.ı5. Ei von Libellula quadrimaculata L.
Weiter Entwickelungssta-
dium als in der vorigen Figur. Vergr. 48.
fortgeschrittenes
Tafel 11.
Fig.ı6. Ei von Zabellula quadrimaculata L.
Der Keimstreifen ist im Besitze sämmtlicher
öxtremitätenanlagen. Vergr. 145.
Fig.ı7. Ei von Zpitheca bimaculata Charp.
mit reifem Embryo, von der Ventralseite be-
trachtet. Vergr. 62.
Fig.ı8. Laich von Epitheca bimaculata
Charp. Natürliche Grölse.
Fig.19. Kopf eines Keimstreifens von
Epitheca bimaculata Charp. Die Mundtheile
sind angelegt. Als kleiner höckerartiger Vor-
sprung ist an den vorderen Maxillen die
Tasteranlage sichtbar. Vergr. 125.
Fig. 20. Ei von Zäbellula quadrimaculata L.,
An der Em-
bryonalanlage ist eine mediane Rinne (Meso-
dermbildung) bemerkbar. Am Vorderende
derselben die Einsenkung für das Stomodaeum
(0). Vergr. 116.
Fig. 21. Fangmaske (Labium) einer jun-
gen Larve von Epitheca bimaculata Charp.
Vergr. 120.
von der Ventralseite betrachtet.
Fig. 22. Schnitt durch die hintere Kopf-
partie einer jungen Larve von Ephemera.
Dem unteren Schlundganglion ist der paarige
Suboesophagealkörper aufgelagert. Verg.270.
Fig. 23. Querschnitt durch das Abdomen
einer bereits mit zweiästigen Tracheenkiemen
versehenen Larve von Zphemera. Es sind
fünf Malpighi’sche Gefälse vorhanden, bei
Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden.
drei derselben ist die Einmündung in den
Darm sichtbar. Die Mündung der beiden
dorsalen Gefälse zeigte sich an dem nächst-
folgenden Schnitt. Malp, = das zuletzt ent-
standene unpaare vas Malpighi. Vergr. 145.
Fig. 24. Fangmaske (Labium) eines Em-
bryo von Epitheca bimaculata. \Vergr. 160.
Fig. 25.
einer Epitheca - Larve.
Querschnitt durch das Abdomen |
Es ist die Anheftung
der drei vasa Malpighi an den Darm erkenn-
bar. Vergr. 50.
Fig. 26.
einer Ephemera-Larve mit vier Malpighi- |
Querschnitt durch das Abdomen |
65
schen Gefälsen. Die beiden zuletzt gebildeten
dorsalen zeichnen sich noch durch geringere
Grölse aus. Vergr. 270.
Fig. 27. Querschnitt durch das 9. Abdo-
minalsegment einer jungen Larve von Epi-
theca. Vergr. 195.
Fig. 28. Querschnitt durch die Embryonal-
, anlage von Libellula quadrimaculata im Stadium
\ der Mesodermbildung. Vergr. 270.
Fig. 29. Mundtheile einer jungen Larve
Der Deutlichkeit hal-
ber etwas schematisirt. Vergr. 195.
von Ephemera vulgata.
A = Anus
Abd = Abdomen
abx; = Extremitätenanlagen
des 1. Abdominalsegmentes
abz;, = Extremitätenanlagen
des ıı. Abdominalsegmentes
(Cerei = appendices latera- |
les)
am = Amnionfalte
Ant = Antenne |
Aor = Aorta
app dors = appendix (caudalis) |
dorsalis (= ı1. Tergit)
app lat = appendices (cauda-.
les) laterales (= Cerei)
C = Rückengefäls (Herz)
Chl = Chitinleiste
cl = Ülypeus
D = Dotter
Dors = Dorsalseite des Eies
Ed = Enddarm
F = Facettenauge
ggl = Ganglion
ggl term = hinterstes
marksganglion
gon = Gonapophysen |
Bauch-
Buchstabenerklärung.
H = Hinterende des Eies
Theil des
Hypl = lateraler Ir eier)
H, ee, Ilypo-
'ypm = medialeı Aerynz
\ Int = Mitteldarm
Lab = Labium (Fangmaske)
Lab,., = 1. (proximales) bis 4.
(distales oder End-) Glied
der Fangmaske
lam sub = laminae sub- seu ad-
anales
lam sup = lamina supraanalis
Iph = \ymphoides Organ der
Odonatenlarven
' Malp= Malpighi’sche Ge-
fälse
Md = Mandibel
Mdk = Kaulade der Mandibel
Mdp = hornartiger Mandibu-
larfortsatz
mes = Mesoderm
msk = Muskeln
Mx, = vordere Maxille
Mx, = hintere
bium)
O0 = Mundöfinung
Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör, Gelehrter. 1896. 1.
Maxille (La- |
Ob = Öberlippe
palp mx, = palpus maxillaris
palp. mx; palpus labialis
pers = Pericardialseptum
proc caud = processus eauda-
les
Sch = Kopflappen (Scheitel-
lappen
ser = Serosa
Shh = Scheitelhörner
sök = Suboesophagealkörper
Stern:-ı, = Abdominalsternit
(1. bis ır.)
Tergs-ı:
bis ır.)
Abdominaltergit (1.
Tergı: = Tergit des ı1. Abdo-
minalsegmentes (= appen-
dix dorsalis)
Thx;-;, = Thoraxextremität (1.
bis 3.)
Tr = Tracheen
Trk = Anlage der Tracheen-
kiemen
V = Vorderende des Eies
Vd = Vorderdarm
Vent = Ventralseite des Eies.
BERDT oe -
Alm) Y ö j
Inhaltsübersicht.
Einleitung
1. Über die Eier. von Tabellen nd Ephemeniden
2. Die Bildung und Form des Keimstreifens .
3. Die Entwickelung der Körpergestalt .
4. Die Hinterleibsanhänge . SE
a) Die Abdominalanhänge der Larven Eee. 340
b) Die Abdominalanhänge der Imagines. . 2 2222 nn m nn
5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme . . .. 2
6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systeinatische Stellung der 04
naten und Ephemeriden
vi Litteraturverzeichnils
Erklärung der Figuren .
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areas. £ Anhang z.d.Abh.1896. Phys-math.Cl.
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Heymons: Odonaten und Ephemeriden.
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Heymons: Odonaten und Ephemeriden.
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