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Full text of "Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin"

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ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICHEN 


AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 


ZU BERLIN. 


AUS DEM JAHRE 
1596. 


MIT 16 TAFELN. 


BERLIN. 
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. 


1896. 
IN COMMISSION BEI GEORG REIMER. 


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Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei. | 


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Inhalt. 


Ofentlicheg Sitzungen ee 
Verzeichnils der im Jahre 1396 gelesenen Abhandlungen . . . . 
Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1396 und neue 
Preisausschreibungen dar, I .e 
Verzeichnils der im Jahre 1896 erfolgten Geldbewilligungen aus aka- 
demischen Mitteln zur Ausführung wissenschaftlicher Unter- 
Veh a or re A Er 
Verzeichnils der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage oder mit 
Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder herausgegebenen 
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Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des Jahres 1896 
Verzeichnils der Mitglieder der Akademie am Schluls des Jahres 1896 


ScHmotLter: Gedächtnilsrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich 
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pu Boıs-Reymonp: Gedächtnilsrede auf Hermann von Helmholtz 


Abhandlungen. 


Physikalisch-mathematische Classe. 


Physikalische Abhandlungen. 
Enster: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver- 
hältnils zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.). 
Enster: Über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im 
Verhältnis zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.) . 


Philosophisch--historische Classe. 


WeınH#orp: Zur Geschichte des heidnischen Ritus . en res 

Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy- 
rus 3024 der Königlichen Museen lıerausgegeben. (Mit 10 Tafeln.) 

Srunmer: Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik . 


. VII— VII. 


. VIII— XVI. 


. KVII—-XX. 


. KX — XXIII, 


. XXIII —XXV, 
» KXV—-XXVI 
. XKXVIII—XXXV. 


Ged.Red.I. S.1—43. 


» 11. S.1—50. 


Abh. I. S. 1—28. 


Il. S. 1— 36. 


ll. S. 1—77. 
III. S. 1—85. 


Anh ang. 


Abhandlungen nicht zur Akademie 
2 Physikalische Abhandlungen. 


eos: Grundzüge der Entwickelung und des Körperl 
Odonaten und Ephemeriden. (Mit 2 Tafeln.). . . 


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Jahr 1896. 


Öffentliche Sitzungen. 


Sitzung am 23. Januar zum Gedächtnifs Friedrich’s Il. und 
zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers 
und Königs. 

Der an diesem Tage vorsitzende Secretar Hr. Diels eröffnete die 
Sitzung mit dem Glückwunsch der Akademie zum Geburtsfest Seiner 
Majestät des regierenden Kaisers und Königs und mit Worten der 
Erinnerung an Friedrich den Grofsen. Dann legte er in einem 
Rückblick auf die letzten 25 Jahre die Veränderungen dar, wie sie 
sich für die Wissenschaft innerhalb und aufserhalb der Akademie 
seit der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches entwickelt haben. 

Alsdann wurden die Berichte erstattet: über die »Politische 
Correspondenz Friedrich’s des Grofsen« —— über die »Acta Borussica« 
— über die »Sammlung der griechischen Inschriften« — über die 
»Sammlung der latemischen Inschriften«e — über die »Prosopo- 
graphie der römischen Kaiserzeit« — über das »Corpus nummorum « 
— über die » Aristoteles-Commentare« — über die »Ausgabe der 
griechischen Kirchenväter« — über den » Thesaurus linguae latinae« 
— über die »Humboldt«-, »Savigny«-, »Bopp «-, »Eduard Gerhard «- 
und »Hermann und Elise geb. Heckmann W entzel«- Stiftungen, 
ferner über das »Historische Institut in Rom« und über die »Kant- 
Ausgabe«. 


VIII 


Sitzung am 2. Juli zur Feier des Leibniz’schen Jahrestages. 

Hr. Waldeyer, als vorsitzender Secretar, eröffnete die Sitzung 
mit einer Ansprache, welche den Leibniz-Tag unter dem Gesichts- 
punkt der Erinnerungsfeiern des 250 jährigen Geburtstages Leib- 
nizens und der 25. Wiederkehr der grolsen Gedenktage von 1870 
und 1871 nach verschiedenen Richtungen beleuchtete. Dabei wurde 
der im Jahre 1596 begangenen Bisaecularfeier der Akademie der 
Künste gedacht und mit einer Kundgebung von Wünschen, welche 
die bevorstehende gleiche Feier der Akademie der Wissenschaften 
nahe legt, geschlossen. 

Die neu eingetretenen Mitglieder der physikalisch-mathemati- 
schen Classe, HH. Kohlrausch, Warburg und van't Hoff hielten 
ihre Antrittsreden,. welche von Hın. Auwers als Glassensecretar 
beantwortet wurden. 

Hr. Schmoller hielt eine Gedächtnifsrede auf die seit dem 
letzten Leibniz-Tage verstorbenen Mitglieder Heinrich von Sybel 
und Heinrich von Treitschke. 

Schliefslich erfolgten die Preiszuerkennungen aus der Charlotten- 
Stiftung, aus der Graf Loubat-Stiftung und aus der Diez-Stiftung, 
ferner wurde die Preisaufgabe der Cothenius-Stiftung und ein Be- 
schluss der Commission für die Eduard Gerhard-Stiftung mitgetheilt. 


Verzeichnils der im Jahre 1896 gelesenen Abhandlungen. 


Physikalisch -mathematische Olasse. 


Physik und Chemie. 
Biltz, Dr. H., über die Bestimmung der Moleculargröfse einiger an- 
organischen Substanzen. Vorgelegt von Fischer. (G.S. 9. Jan.; 
S.B. 30.Jan.) 


IX 


Fischer und W. Niebel, über das Verhalten der Polysaccharide 
gegen einige thierische Secrete und Organe. (G.S. 30. Jan.; 
S.B.) 

Planck, über elektrische Schwingungen, welche durch Resonanz er- 
regt und durch Strahlung gedämpft werden. (Cl. 20. Febr.; S. B.) 

Holborn, Dr. L., über den zeitlichen Verlauf der magnetischen In- 
duetion. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 27. Febr.; S. B.) 

Warburg, über die Wirkung des Lichts auf die Funkenentladung. 
(Cl. 5. März; S. B.) 

Fischer, Configuration der Weinsäure. (G.S. 12. März: S.B.) 

Duane, W., über eine dämpfende Wirkung des magnetischen Feldes 
auf rotirende Isolatoren. Vorgelegt von Warburg. (Cl. 23. April: 
S. B.) 

Brandes, Dr. G., über die Sichtbarkeit der Röntgenstrahlen. Vor- 
gelegt von Schulze. (Cl. 7.Mai; S. B.) 

Kayser, Prof. H., über die Spectren des Argon. Vorgelegt von 
Warburg. (Cl. 7.Mai; S. B.) 

Landolt, über das Verhalten cireularpolarisirender Krystalle im ge- 
pulverten Zustand. (G.S. 11. Juni; S. B. 9. Juli.) 

Goldstein, Prof. E., über Aufnahmen mit Röntgenstrahlen. Vor- 
gelegt von Möbius. (Cl. 18. Juni; S.B.) 

Holborn, Dr. L. und Dr. W. Wien, über die Messung tiefer Tem- 
peraturen. Vorgelegt von Kohlrausch. (Cl. 18. Juni; S.B.) 

Duane, W., über elektrolytische Thermoketten. Vorgelegt von 
van’t Hoff. (Cl. 23. Juli; S. B. 30. Juli.) 

König, Prof. A., über qualitative Bestimmungen an complemen- 
tären Spectralfarben. Vorgelegt von du Bois-Reymond. (G.S. 
30. Juli; S. BD.) 

Nichols, E. F., über das Verhalten des Quarzes gegen langwellige 
Strahlung, untersucht nach der radiometrischen Methode. 
Vorgelegt von Warburg. (Cl. 22.0ct.; S. B. 5. Nov.) 

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Kohlrausch, über elektrolytische Verschiebungen in Lösungen und 
Lösungs-Gemischen. (Cl. 19. Nov.; S. B.) 

Rubens, Prof. H. und E. F. Nichols, Beobachtung elektrischer Re- 
sonanz an Wärmestrahlen von grolser Wellenlänge. Vorge- 
legt von Planck. (Cl. 17. Dee.; S.B.) 


Mineralogie, Geologie und Palaeontologie. 


Wulff, Dr. L., zur Morphologie des Natronsalpeters. Zweite Mit- 
theilung. Vorgelegt von Klein. (G.S. 13. Febr.; S. B.) 
Wulff, Dr. L.. zur Morphologie des Natronsalpeters. Dritte Mit- 
theilung. (Cl. 23. Juli; S. B.) 

Klein, über Leucit und Analcım und ihre Beziehungen zu einander. 
(CE 22:.0e1.,85D. 1897) 

Frech, Prof. F., über den Gebirgsbau der Radstädter Tauern. Vor- 
gelegt von Dames. (Cl. 22.0ct.; S.B. 19. Nov.) 

Salomon, Dr.W., geologisch -petrographische Studien im Adamello- 
Gebiet. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.Oct.; S.B.) 

Moericke, Dr. W., geologisch-petrographische Studien in den chi- 
lenischen Anden. Vorgelegt von Klein. (Cl. 22.Oct.; S.B. 
5. Nov.) 


Dames, Beiträge zur Geotektonik Helgolands. (Cl. 5.Nov.; S. BD.) 


Botanik und Zoologie. 


Engler, über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver- 
hältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Cl. 16.Jan.: Abh.) 

Schaudinn, Dr. F., über den Zeugungskreis von Paramoeba eilhardi 
n. g.n. sp. Vorgelegt von Schulze. (Cl. 16.Jan.; S. BD.) 

Dahl, Prof. F., vergleichende Untersuchungen über die Lebensweise 
wirbelloser Aasfresser. Vorgelegt von Möbius. (Cl. 16.Jan.; 
S.B.) 


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Schaudinn, Dr. F., über die Copulation von Actinophrys sol Ehrbg. 
Vorgelegt von Schulze. (G.S. 30.Jan.; S. B.) 

Selenka,. Prof. E., die Rassen und der Zahnwechsel des Orang- 
Utan. Vorgelegt von Schulze. (Cl. 5. März; S.B. 19. März.) 

Schwendener, das Wassergewebe im Gelenkpolster der Maranta- 
ceen. (Cl. 7.Mai; S.B.) 

Dahl, Prof. F., die Verbreitung der Thiere auf hoher See. Vor- 
gelegt von Möbius. (G.S. 25. Juni; S. B.) 

Schulze, über diplodale Spongienkammern. (G.S. 30. Juli; S. B.) 

von Leyden, Prof. E. und Dr. F. Schaudinn, Leydena gemmipara 
Schaudinn, ein neuer in der Ascites-Flüssigkeit des lebenden 
Menschen gefundener amoebenähnlicher Rhizopode. (G.S. 
30. Juli; S..B:) 

Heymons, Dr. R., Grundzüge der Entwickelung und des Körper- 
baues von Odonaten und Ephemeriden. Vorgelegt von Schulze. 
(Cl. 22.Oct.; Abh.) 

Möbius, über die aesthetischen Eigenschaften der Foraminiferen, 
Radiolarien und Spongien. (G.S. 29. Oct.) 

Engler, über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im 
Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (G.S. 26.Nov.; 
Abh.) 

Heymons. Dr. R., ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der In- 
secta apterygota. (G.S. 10.Deec.; S. B.) 


Anatomie und Physiologie. 


Hertwig. über den Einflufs verschiedener Temperaturen auf die 
Entwickelung der Froscheier. (Cl. 6.Febr.; S. BD.) 

Kossel, Prof. A., über die basischen Stoffe des Zellkerns. Vor- 
gelegt von du Bois-Reymond. (Cl. 9.Apnil; S. B.) 

Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. (Cl. 4.Juni; S. B. 
5. Nov.) 


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XI 


Waldeyer, die Caudalanhänge des Menschen. (Cl. 18.Juni; S.B. 
9. Juli.) 

Cohnstein, Dr.W. und Dr. H. Michaelis, über die Veränderung 
der Öhylusfette im Blute. Vorgelegt von Munk. (Cl. 9. Juli; S.B.) 

Schulze, über die Verbindung der Epithelzellen unter einander. 
(G.S. 16. Juli; S. B. 30. Juli.) 

Gerota, Dr. D., über Lymphscheiden des Auerbach’schen Plexus 
myentericus der Darmwand. Vorgelegt von Waldeyer. (Cl. 
23.Juli; S. B.) 

Munk, über die Fühlsphaeren der Grofshirnrinde. Weitere Mit- 
theilung. (Cl. 5. Nov.; S.B.) 

Verworn, Prof. M., zellphysiologische Studien am Rothen Meer. 
Vorgelegt von Munk. (Cl. 19.Nov.; S. B.) 


Anthropologie. 
Fritsch, Prof. G., über die Ausbildung der Rassenmerkmale des 
menschlichen Haupthaars. Vorgelegt von du Bois-Reymond. 
(Cl. 19. März; S.B. 23. April.) 
Virchow, Anlage und Variation. (G.S. 30. April; S. B.) 


Astronomie und Geophysik. 

Vogel, über das Spectrum von Mira Ceti. (G.S. 26.März; S. B.) 

Helmert, Prof. F. R., Ergebnisse von Messungen der Intensität der 
Schwerkraft auf der Linie Colberg-Schneekoppe. Vorgelegt 
von Dames. (Cl. 9.April; S. B.) 

Auwers, über die mittleren Eigenbewegungen in den drei ersten 
Gröfsenclassen der teleskopischen Fixsterne. (Cl. 23. April.) 

von Bezold, über die Theorie des Erdmagnetismus. (Cl. 23.Juli; 
S.B. 1897.) 

üischenhagen, Prof. M., über die Aufzeichnung sehr kleiner Va- 
nationen des Erdmagnetismus. Vorgelegt von v. Bezold. (G.S. 
30.Juli; S. B.) 


XIII 


Vogel, die Lichtabsorption als mafsgebender Factor bei der Wahl 
der Dimension des Objectivs für den grolsen Refractor des 
Potsdamer Observatoriums. (Cl. 19.Nov.; S. B.) 

Richarz, Prof. F. und Krigar-Menzel, Dr. O., Gravitationsconstante 
und mittlere Dichtigkeit der Erde, bestimmt durch Wägun- 
gen. Vorgelegt von Kohlrausch. (G.S. 26.Nov.; S. B.) 


Mathematik. 


Frobenius, über die cogredienten Transformationen der bilinearen 
Formen. (Cl. 16.Jan.; S. B.) 

Mertens, Prof. F.. über die Gaussischen Summen. Vorgelegt von 
Schwarz. (G.S. 30.Jan.; S. B. 27.Febr.) 

Schwarz, über einen von Weierstrals herrührenden geometrischen 
Beweis des Fundamentalsatzes der projectivischen Geometrie. 
(Cl. 9. April.) 

Busse, Stud. math. F., über diejenige punktweise eindeutige Be- 
ziehung zweier Flächenstücke auf einander, bei welcher jeder 
geodaetischen Linie des einen eme Linie constanter geodaeti- 
scher Krümmung des andern entspricht. Vorgelegt vonSchwaız. 
(G.S. 30.April; S. B. 11. Juni.) 

Frobenius, über vertauschbare Matrizen. (G.S. 21.Mai: S. B.) 

Frobenius, über Beziehungen zwischen den Primidealen eines alge- 
braischen Körpers und den Substitutionen seiner Gruppe. 
(G.S. 25.Juni; 8. B.) 

Fuchs, über eine Classe linearer homogener Differentialgleichungen. 
(Cl. 9.Juli; S. 2.) 

Frobenius, über Gruppencharaktere. (G.S. 16.Juli; S. DB. 30. Juli.) 

Jahnke, Dr. E., über ein allgemeines aus Thetafunctionen von zwei 
Argumenten gebildetes Orthogonalsystem und seine Verwen- 
dung in der Mechanik. Vorgelegt von Fuchs. (G.S. 16.Julı; 
S.B. 30.Julı.) 


XIV 


Koenigsberger, über die Prineipien der Mechanik. (G.S. 30. Juli; 
S..B.) 

Koenigsberger, über die Prineipien der Mechanik. Nachtrag. (Cl. 
22.Oct.; S. B. 5.Nov.) 

Frobenius, über die Primfacetoren der Gruppendeterminante. (Cl. 
3.Dec.; 8. B.) 

Schwarz, zur Theorie der Minimalflächen, deren Begrenzung ein von 
ngeradlinigen Strecken gebildetes n-Seit ist. (Cl. 17.Deec.) 


Philosophisch-historische Ulasse. 


Philosophie. 


Dilthey, über Hermeneutik. (G.S. 25. Juni.) 


Geschichte. 

Harnack, das Zeugnils des Ignatius über das Ansehen der römischen 
Gemeinde. (Cl. 6.Febr.; S. 5.) 

Curtius, die Schatzhäuser von Olympia. (Cl. 5.Mäız; S.B.) 

Wattenbach, über Widukind von Corvey und die Erzbischöfe von 
Mainz. (G.S. 12.Mäız; S.B.) 

Köhler, über die /lorreia Aaredayoviov Kenophon’s. (Cl. 19. März; 
S.B.) 

Hirschfeld, Aquitanien im der Römerzeit. -(G.S. 16. April; S. B.) 

Harnack, die pseudojustinische »Rede an die Griechen«. (Cl. 4. Juni; 
S.B.) 

Hirschfeld, zu Tibullus I, 7, 11. (Ergänzung zum Vortrag über 
Aquitanien.) (G.S. 25.Juni: 8. B.) 

Schmidt, Dr. Karl. ein vorirenäisches gnostisches Originalwerk in 
koptischer Sprache. Vorgelegt von Harnack. (Cl. 9. Juli; S. B. 


16. Juli.) 


XV 


Köhler, zur Geschichte des athenischen Münzwesens. (Cl. 22.0ct.; 
S..B.) 

Schürer, der Kalender und die Aera von Gaza. (Cl. 22.0ct.; S. B.) 

Wattenbach, über die Legende von den heiligen Vier Gekrönten 
(O1 51Nov.;29:32..11 9.Nov.) 

Hirschfeld, über Clodius Albinus. (Cl. 17.Dec.) 


Staats- und Rechtswissenschaft. 


Brunner, über die uneheliche Vaterschaft in den älteren germani- 
schen Rechten. (G.S. 9.Jan.) 

Schmoller, über die historische Entwickelung der Verfassung und 
der Politik des Getreidehandels. (Cl. 20.Febr.) 

Liebermann, Prof. F., Kesselfang bei den Westsachsen im sieben- 
ten Jahrhundert. Vorgelegt von Brunner. (Cl. 18.Juni; 8. B. 
9. Juli.) 

Pernice, über wirthschaftliche Voraussetzungen römischer Rechts- 
sätze. (Cl. 19.Nov.) 

Brunner, der rechtliche Antheil des Todten am eigenen Nachlals 
in germanischen Rechten. (Cl. 3.Dee.) 


Allgemeine, deutsche und andere neuere Philologie. 
Weinhold, zur Geschichte des heidnischen Ritus. (Cl. 9. April: Abh.) 
Schmidt, E., Faust und Luther. (Cl. 7.Mai: 8. B.) 

Tobler, Etymologisches. (Cl. 23.Juli; S. B.) 


Classische Philologie. 
Diels, zum delphischen Paian des Philodamos. (G.S. 16. April: 
5: B.) 
Stumpf, über die musikalische Section der Aristotelischen Probleme. 
(Cl. 23. April; Abh.) 
Vahlen, über Ennius und Lucretius. (G.S. 25.Juni; S. B.) 


xXVI 


Vahlen, über einige Anspielungen in den Hymnen des Callimachus. 
Is (CE 993.2.) 

Diels, über die poetischen Vorbilder des Parmenides. (G.S. 12. Nov.) 

Förster, Prof. R., über einen Palimpsesten des Libanius in Jeru- 
salem. Vorgelegt von Diels. (Cl. 3.Dee.; S. BD.) 

Schmidt, J., über wa ia und über lateinische Nommative Singu- 
larıs auf -s aus -Zos. (G.S. 10.Dee.) 


Archaeologie. 
Borchardt, L., Bericht über den baulichen Zustand der 'Tempel- 
bauten auf Philae. Vorgelegt von Erman. (G.S. 30.April; 
S.B. 12.Nov.) 
Conze, über den Ursprung der bildenden Kunst. (G.S. 30.Julı.) 


OÖrientalische Philologie. 
Weber, Vedische Beiträge IV (Schlufs). (Cl. 16.Jan.; S. BD. 5.März) 
Sachau, über die Poesie in der Volkssprache der Nestorianer. (G.S. 
13.Febr.; S.B. 27.Febr.) 

Reisner, Dr. @., Altbabylonische Mafse und Gewichte. Vorgelegt 
von Erman und Sachau. (Cl. 19.März; S.B. 9. April.) 
Lyons, G.H. und L. Borchardt, eine trilingue Inschrift von Philae. 
Vorgelegt von Erman. (G.S. 26.Mäız; S.B. 16. April.) 
Spiegelberg, Dr.W., die erste Erwähnung Israels in einem aegyp- 

tischen Texte. Vorgelegt von Erman. (Cl. 7.Mai; S.B.) 
Erman, über die Reden eines Lebensmüden und seiner Seele (Be- 
arbeitung des Papyrus P.3024 der Königl. Sammlung). (G.S. 
21.Mai; Abh.) 
Weber, Vedische Beiträge V., ein indischer Zauberspruch. (Cl. 
IS. Juni; 8. B.) 
Weber, Nachtrag zu Vedische Beiträge V. (Cl. 23.Juli; 8. B.) 
Sachau, Aramäische Inschriften. (Cl. 22.0et.; S.B.) 


XVII 


Bericht über den Erfolg der Preisausschreibungen für 1896 
und neue Preisausschreibungen am Leibniz-Tage 1896. 


Ertheilung des Preises der Charlotten-Stiflung. 


Die Akademie hat im vorigen Jahre folgende Preisaufgabe der 
Charlotten-Stiftung für Philologie gestellt: 

»Cicero’s Timaeus soll auf Grund des veröffentlichten Materials 
in neuer textkritischer Bearbeitung vorgelegt und knapp gehaltene 
Prolegomena über die Recensio, die Authentie der Übersetzung und 
die Composition des beabsichtigten Dialogs vorausgeschickt werden. « 

Es sind rechtzeitig zwei Bewerbungsarbeiten der Akademie ein- 
geliefert worden, die eine mit dem Euripideischen Motto: öAßıos 
öoTis ns ioToplas U. Ss. W., die zweite mit dem Horazischen: Est 
quadam prodire tenus u. S. w. 

Beide Bearbeiter haben eigene Collationen angefertigt, was 
nicht verlangt werden konnte, und auch sonst dem Thema Sorgfalt 
und Fleifs angedeihen lassen. Leider haben sie beide die Recension 
nicht so sicher begründet als es möglich gewesen wäre, wenn die 
Hdss. auch durch die übrigen Schriften des Corpus genau verfolgt 
und die neuere Litteratur hierüber sorgfältiger benutzt worden wäre. 
Abgesehen von diesem Mangel, der beide Arbeiten ziemlich gleich- 
mälsig trifft, zeigt sich in ihrer ganzen Anlage und Methode em 
deutlicher Unterschied. Die erste Bearbeitung, welche das Euri- 
pideische Motto trägt, hat allen Anforderungen zu genügen gesucht 
und einzelne Abschnitte, wie den über die Authentie der Über- 
setzung, recht befriedigend behandelt. Auch verfügt ihr Verfasser 
über eine gute Kenntnils der neueren Litteratur sowohl nach der 
sprachlichen wie nach der realen Seite hin. Aber in der Haupt- 
sache, der kritischen und exegetischen Behandlung des Textes, 


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XV 


stellt sich seine Leistung doch gegen die zweite gehalten als min- 
derwerthig dar. 

/war hat der Verfasser dieser zweiten, mit dem Horazischen 
Spruche versehenen Arbeit das Thema (dureh Krankheit verhindert, 
wie er angiebt) nicht in seinem vollen Umfange behandelt, und 
seine ganze Richtung zeigt ihn mehr nach der grammatischen als 
nach der realen Seite hin mit dem Gegenstande vertraut. Aber 
seine Kenntnils des classischen Latems und seine Sicherheit ın 
kritisch-exegetischen Fragen verräth eine ausgesprochen philolo- 
gische Begabung. die ihn für die in Aussicht genommene weitere 
Aufgabe, eine Neuausgabe des philosophischen Corpus Cicero’s, in 
erster Linie geeignet erscheinen läfst. Die Akademie trägt daher 
kein Bedenken, dem Verfasser dieser zweiten Bewerbungsschrift den 
Preis, bestehend in einem Stipendium von jährlich 1200 Mark auf 
4 Jahre zu ertheilen, dagegen dem Verfasser der ersten, mit dem 
Euripideischen Motto bezeichneten Arbeit als Anerkennung einen 
Nebenpreis von 1000 Mark zuzuerkennen. A 

Die Eröffnung des versiegelten Umschlages mit dem Motto: 
Est quadam prodire tenus u. s. w ergab als Verfasser 

Hrn. Dr. Otto Plasberg zu Berlin, 


der also das Stipendium erhalten wird. 
Als Verfasser der mit dem Nebenpreis gekrönten Arbeit, welche 
das Kennwort OAßios dortıs Tns ioToplas u. Ss. w. trägt, ergab sich 
Hr. Dr. Karl Fries zu Berlin. 
Zugleich ergab sich aus den beiden Umschlägen beigefügten 
Nachweisen, dafs die in $3 des Stiftungsstatuts bestimmten Vor- 
aussetzungen bei den Bewerbern zutreffen. 


Ertheilung des Preises der Graf Loubat- Stiftung. 
Die Akademie hat auf Vorschlag der Commission für die Graf 
Loubat-Stiftung beschlossen, dem Dr. Eduard Seler, Privatdocen- 


XIX 


ten an der Universität und Direetorial- Assistenten am Museum für 
Völkerkunde in Berlin, für die von ihm eingereichte Arbeit »Die 
mexikanischen Bilderhandschriften Alexander von Humboldt’s ın 
der Königlichen Bibliothek zu Berlin«, Berlin 1893, den Preis von 
3000 Mark zuzuerkennen. 


- Ertheilung des Preises der Diez-Stiftung. 

Der Vorstand der Diez-Stiftung hat, gemäfs der in der Plenar- 
sitzung der Akademie am 11. Juni gemachten Mittheilung, be- 
schlossen, den aus der Stiftung ım Jahre 1596 zu vergebenden 
Preis im Betrage von 2000 Mark dem Dr. Wilhelm Meyer-Lübke, 
ordentlichen Professor der romanischen Sprachen an der Universität 
Wien, für seine »Romanische Formenlehre«, Leipzig 1894, zuzu- 
sprechen. 


Neue Preisaufgabe der Cothenius- Stiftung. 

Die Akademie schreibt für die Cothenius -Preisstiftung auf Vor- 
schlag der physikalisch-mathematischen Classe folgende Preisauf- 
gabe aus: »Die Königliche Akademie der Wissenschaften wünscht 
eine auf eigenen Versuchen und Beobachtungen beruhende Abhand- 
lung über die Entstehung und das Verhalten neuer Getreidevarietäten 
im Laufe der letzten 20 Jahre.« 

Bewerbungsschriften sind spätestens am 31. December 1898 
ım Büreau der Akademie, Berlin NW. Universitätsstrafse 8, einzu- 
reichen. Dieselben können in deutscher, lateinischer, französischer, 
englischer oder italiänischer Sprache abgefafst sein. 

Jede Bewerbungsschrift ist mit einem Spruchwort zu bezeich- 
nen, welches auf einem beizufügenden versiegelten, innerlich den 
Namen und die Adresse des Verfassers angebenden Zettel äufser- 
lich wiederholt ist. Schriften, welche den Namen des Verfassers 
nennen oder deutlich ergeben, werden von der Bewerbung ausge- 


c* 


XX 


schlossen. Ebenso können Schriften, welche in störender Weise 
unleserlich geschrieben sind, durch Beschlufs der Classe von der 
3ewerbung ausgeschlossen werden. 

Die Verkündung des Urtheils erfolgt in der Leibniz-Sitzung 
des Jahres 1899. 

Der ausgesetzte Preis beträgt Zweitausend Mark. Aufserdem 
übernimmt die Akademie, wenn der Preis ertheilt wird und der 
Verfasser die gekrönte Preisschrift in Druck zu geben beabsichtigt, 
die Drucklegung oder die Kosten derselben in der nach ihrem Er- 
messen geeigneten Form. 

Sämmtliche Bewerbungsschriften nebst den zugehörigen Zetteln 
werden ein Jahr lang vom Tage der Urtheilsverkündung ab für den 
Verfasser aufbewahrt, und einem jeden Verfasser, welcher sich als 
solcher nach dem Urtheil des vorsitzenden Secretars genügend legiti- 
mirt, die seinige gegen Empfangsbescheinigung ausgehändigt. Ist 
die Arbeit als preisfähig anerkannt, aber nicht prämirt, so kann der 
Verfasser innerhalb dieser Frist verlangen, dafs sein Name durch die 
Schriften der Akademie zur öffentlichen Kenntnils gebracht werde. 
Nach Ablauf der bezeichneten Frist steht es der Akademie frei die 
nicht abgeforderten Schriften und Zettel zu vernichten. 


Verzeichnils der im Jahre 1896 erfolgten Geldbewilligungen 
aus akademischen Mitteln zur Ausführung wissenschaftlicher 
Unternehmungen. 

Es wurden im Laufe des Jahres 1596 bewilligt: 
4000 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. Kirchhoff zur Fort- 
setzung der Arbeiten für Sammlung der griechischen 
Inschriften. 


XXI 


7200 Mark dem Mitgliede der Akademie Hrn. Diels zur Fortsetzung 


7000 


3900 


2000 


118 


100 


1000 


3000 


1500 


1200 


» 


der Arbeiten für die Herausgabe der griechischen Com- 
mentatoren des Aristoteles. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. Schmoller zur Fort- 
führung der Arbeiten für Herausgabe der politischen 
Correspondenz König Friedrich’s L. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. Dilthey zur Heraus- 
gabe der Werke Kant's. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. W eierstrafs zur Fort- 
setzung der Herausgabe seiner gesammelten Werke. 
75 Pf. dem Mitgliede der Akademie Hrn. Klein zu Re- 
paraturen an Apparaten zu krıystallographischen Unter- 
suchungen. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. Weber zur Herausgabe 
des 18. Bandes seiner »Indischen Studien«. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. Conze zum Zwecke 
einer erneuten Untersuchung der in Pergamon entdeck- 
ten Druck wasserleitung. 

dem Mitgliede der Akademie Hrn. Sachau zur Her- 
stellung einer Copie der altaramäischen Bauinschrift des 
Königs Panamü. 

dem correspondirenden Mitgliede Hrn. Imhoof-Blumer 
für die Fortführung seiner Bearbeitung der Sammlung 
der nordgriechischen Münzen. 

Hrn. Dr. OÖ. Bürger in Göttingen zur Ausführung emer 
zoologischen Forschungsreise in den Anden von Üo- 
lumbia. 

Hın. Dr. Ludwig Wulff zu Schwerin i. M. zur Fort- 
setzung seiner Versuche über Krystallzüchtung. 

Hrn. Dr. Paul Kuckuck auf Helgoland zur Fortsetzung 
seiner Untersuchung der dortigen Algenflora. 


XXI 


1000 Mark Hrn. Prof. K. Futterer in Karlsruhe zur Fortsetzung 


2000 


2500 


600 


1500 


>00 


1000 


900 


600 


1500 


1500 


600 


» 


seiner geologischen Studien m den Südost-Alpen. 
Hın. Prof. Dr. Wernicke m Breslau zur Herstellung 
eines photographischen Atlas von Schnitten durch das 
Gehirn. 

Hrn. Oberbibliothekar Dr. Valentin in Berlin zur Fort- 
setzung seiner Arbeiten für eme allgemeine mathematische 
Bibliographie. 

Hın. Dr. K.Verhoeff in Bonn zur Fortsetzung seiner 
Studien über Myriopoden, Isopoden und Opilioninen. 
Hrn. Dr. A. Tornquist m Stralsburg zu einer geologi- 
schen Erforschung der Gebirge von Recoaro und Rhio 
in der Provinz Vicenza. 

Hrn. Dr. A. Bethe in Heidelberg zu einer Reise nach 
Neapel behufs Fortsetzung seiner physiologischen Unter- 
suchung des Centralnervensystems von Careimus maenas. 
Hrn. Prof. Dr. Maximilian Curtze in Thorn zu Vorarbei- 
ten für eine Geschichte der Geometrie des Mittelalters. 
Hrn. Dr. Karl Kamillo Schneider zu Heidelberg zu 
Untersuchungen über Hydroidpolypen auf der zoologi- 
schen Station in Rovigno. 

Hrn. Prof. Dr. H. Ziegler in Freiburg ı. B. zur Fortsetzung 
seiner Untersuchungen über Ktenophoren- und Echino- 
dermen - Eier. 

Hrn. Prof. Dr. Arthur Milchhoefer in Kiel zu einer 
topographischen Untersuchung von Attika. 

Hrn. Dr. W. Judeich in Marburg zu emer archaeologi- 
schen Reise nach Kleinasien. 

Hrn. Dr. Hermann Schöne m Köln zur Herausgabe 
seiner Bearbeitung der Schrift des Apollonius von Kitium 


mept apdpwr. 


XXIII 


1200 Mark Hrn. Dr. Josef Paczkowskı ın Berlin zu agrarhistori- 


550 » 
600 » 
600 » 


2500» 


600» 
1IS0 » 
850 » 
600» 
25.0, 25 


schen Untersuchungen. 

Hrn. Geh. Reg.-Rath W. Schmitz m Köln zur Heraus- 
gabe eines in tironischen Noten geschriebenen Ab- 
schnittes des Cod. Vatıc. Christinae S46 saec. IX. 
Hrn. Dr. Georg Steinhausen in Jena zur Herausgabe 
von Privatbriefen des 14. und 15. Jahrhunderts. 

Hın. Dr. Bruno Gebhardt in Berlin zu archivalischen 
Studien behufs Fortführung seines Werkes über Wil- 
helm von Humboldt. 

Hrn. Dr. C. Pauli zur Herausgabe des Corpus inseriptio- 
num Etruscarum. 

Hrn. Dr. Paul Wendland in Charlottenburg zur Vollen- 
dung der von der Akademie angeregten Philoausgabe. 
der @. Reimer’schen Buchhandlung in Berlin zur Heraus- 
gabe von Gerhard »Etruskische Spiegel« Bd.V H. 14. 
dem Oberlehrer Hrn. Dr. Heinrich Winkler in Breslau 
zur Fortsetzung seiner altaischen Sprachstudien. 

Hrn. Prof. Dr. Erdmann in Halle zur Fortsetzung psycho- 
physischer Untersuchungen über den Vorgang des Lesens. 
Hrn. Geh. Sanitätsrath Dr. Laehr in Zehlendorf zur Her- 
ausgabe seines Werkes über die Litteratur der Psychiatrie, 
Neurologie und Psychologie im 16. und 17. Jahrhundert. 


Verzeichnils der im Jahre 1896 erschienenen im Auftrage 
oder mit Unterstützung der Akademie bearbeiteten oder 


herausgegebenen Werke. 


Acta Borussica. — Denkmäler der Preussischen Staatsverwaltung 


im 18. Jahrhundert. Herausgegeben von der K. Akademie 


der Wissenschaften. — Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. 


XIV 


Getreidehandelspolitik. Bd. 1. Die Getreidehandelspolitik der 
uropäischen Staaten vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. 
Darstellung von W. Naude. Berlin 1896. 

Politische Correspondenz Friedrich’s des Grofsen. Bd. 22.23. Berlin 
189571896. 

Commentaria in Arıstotelem Graeca edita consilio et auctoritate 
Academiae litterarum Reg. Borussicae. Vol. XXI. p.U.: Ano- 
nymi et Stephani in artem rhetoricam commentaria ed. Hugo 
Rabe. Berolini 1896. 

Corpus inseriptionum Etruscarum administrante Danielsson ed. 
Carolus Pauli. [Fasc.V. VI.] Lipsiae. (1896). 4. 
Etruskische Spiegel. Herausgegeben von Eduard Gerhard. Bd.V. Im 
Auftrage des Kais. Deutschen archaeologischen Instituts bearbei- 
tet von A. Klügmann und G@. Körte. Heft14. Berlin 1896. 4. 

Ergebnisse der Plankton-Expedition der Humboldt-Stiftung. — 
Bd. Il. E.b. Die Pyrosomen der Plankton-Expedition. Von 
Oswald Seeliger. — Bd.I. F.e. Die Acephalen der Plank- 
ton-Expedition. Von Heinrich Simroth. — Bd.II. H.£. 
Die Polycladen der Plankton-Expedition. Von Marianne 
Plehn. — Bd. Il. E.c. Die Appendicularien der Plankton- 
‘xpedition. Von H. Lohmann. Kiel und Leipzig 1895/96. 4. 

Altmann, Wilhelm, die Urkunden Kaiser Siegmunds (1410-1437). 
Lief. 1. Innsbruck 1896. 4. 

Apollonius von Kitium. Illustrierter Kommentar zu der Hippokra- 
teischen Schrift Tlepı ap@pwv. Herausgegeben von Hermann 
Schöne. Leipzig 1896. 4. 

Ascherson, Paul, Synopsis der mitteleuropäischen Flora. Bd. 1. 
Lief. 1. 2. Leipzig 1896. 

Buchenau, Franz, Flora der ostfriesischen Inseln. Leipzig 1896. 

Chun, Carl, Atlantis. Biologische Studien über pelagische Or- 


ganısmen. Bibliotheca zoologica. Origmal- Abhandlungen aus 


XV 


dem Gesammtgebiete der Zoologie. Herausgegeben von 
R. Leuckart und C. Chun. Heft 19. Stuttgart 1896. 4. 

Fausböll, V., the Jatakä together with its commentary, being 
tales of the anterior births of Gotama Buddha. Vol. Vl. 
London 1896. 

Finke, Heinrich, Acta concilı Constanciensis. Bd.I. Münster ı.W. 
1896. 

Gebhardt, Bruno, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann. Bd.1. 
Bis zum Ausgang des Prager Congresses. Stuttgart 1896. 

Grube, Wilhelm, die Sprache und Schrift der Jucen. Leipzig 1896. 

Schmitz, Wilhelm, Miscellanea Tironiana. Aus dem Codex Va- 
ticanus Latinus reginae Christinae 846 (Fol. 99-114) heraus- 
gegeben. Leipzig 1596. 4. 

Wernicke, Carl, Atlas des Gehirns. Abth. I. Breslau 1597. 4. 


Veränderungen im Personalstande der Akademie im Laufe des 


Jahres 1896. 


Zum Nachfolger des am 31. December 1895 von seinem Amte 
als Secretar zurückgetretenen Hrn. E. du Bois-Reymond wurde 
von der physikalisch-mathematischen Classe Hr. Waldeyer gewählt 
und bestätigt durch K. Cabmetsordre vom 20. Januar 1896. 


Zum ordentlichen Mitgliede der physikalisch- mathematischen 
Classe wurde gewählt: 
Hr. Jakob Heinrich van't Hoff am 30. Januar 1596, bestätigt 
durch K. Cabinetsordre vom 26. Februar 1596; 


zu ordentlichen Mitgliedern der philosophisch-historischen Classe: 
Hr. Reinhold Koser am 18. Juni 1896, bestätigt durch K. Cabinets- 
ordre vom 12. Juli 1596, 


XXVI 


Hr. Max Lenz am 26. November 1896, bestätigt durch K. Cabinets- 


ordre vom 14. December 1896. 


Zu correspondirenden Mitgliedern wurden gewählt: 
in der physikalisch - mathematischen Classe 

Hr. Ernst Abbe in Jena am 29. October 18596, 
» Rudolf Fittig in Stralsburg am 29. October 1596, 
» Karl Wilhelm von Kupffer in München am 30. April 1396, 
» Vietor Meyer in Heidelberg am 12. März 1896, 
» Georg Neumayer in Hamburg am 27. Februar 1896, 
» Max Noether in Erlangen am 30. Januar 1596, 
» Jules-Henri Poincare in Paris am 30. Januar 1596, 
» William Ramsay in London am 29. October 1896, 
Lord Rayleigh in London am 29. October 1596, 
Hr. Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg am 12. März 1596, 
» Heinrich Weber in Stralsburg am 30. Januar 1596, 
» Johannes Wislicenus in Leipzig am 29. October 1596; 


in der philosophisch--historischen Classe 
Hr. Johann Ludwig Heiberg in Kopenhagen am 12. März 1596, 
» Otto Ribbeck in Leipzig am 16. Juli 1896, 
» Heinrich Weil ın Paris am 12. März 1896. 


(estorben sind: 
die ordentlichen Mitglieder der physikalisch-mathematischen 
Classe: . 
Hr. Heinrich Ernst Beyrich am 9. Juli 1896, 
» Emil du Bois-Reymond am 26. December 1896; 


die ordentlichen Mitglieder der philosophiseh -historischen Classe: 
Hr. Heinrich von Treitschke am 28. April 1896, 
» Ernst Curtius am 11. Juli 1896; 


Hr. 


XXVIl 


das auswärtige Mitglied der physikalisch-mathematischen Classe: 


" August Kekul& von Stradonitz in Bonn am 13. Juli 1896; 


die correspondirenden Mitglieder der physikalisch -mathema- 
tischen Classe: 

Armand-Hippolyte-Louis Fizeau in Paris am 18. Septem- 
ber 1896, 

Benjamin Apthorp Gould in Cambridge, Mass., U.S. A., am 
26. November 1896, 

Adalbert Krueger in Kiel am 21. April 1896, 

Philipp Ludwig von Seidel m München am 13. August 1896; 


die correspondirenden Mitglieder der philosophisch -historischen 
Classe: 


. Giuseppe Fiorelli m Neapel am 30. Januar 1896, 


Adolf Merkel in Strafsburg am 30. März 1896, 
Eugene de Roziere in Paris am 26. Juni 1596, 
Louis Vivien de St. Martin in Paris am 26. December 1896. 


de 


Verzeichnils 


der 


Mitglieder der Akademie der Wissenschaften. 
Am Schlusse des Jahres 1896. 


I. Beständige Secretare. 


Gewählt von der Datum der Königl. 


Bestätigung 
Hr. Auwers Sn. Fphys.-math. Classes 2.727 7°°5218782Apnleli)! 
Ze Vahlen u. 2.22 2 rnhileihast: ee 
SD TRe Enns Ssphil.-ibist. Schu ıne  ASIHEN DZ 
- Waldyr - . » . ... phys.-math - 23 896 Tanz! 


I. Ordentliche Mitglieder 


der physikalisch -mathematischen Classe der philosophisch -historischen Classe DatumbdersK angehen 


Bestätigung 


Hr. Heinrich Kiepert . . . . 1853 Juli 25. 
Hr. Karl Friedr. Ramnelbarg . 220. nn nn nz Hl8barrNue 
=. - Karl ‚Weterstraß 0000 Fr E5eN ya 
- Albrecht Weber . . . . . 1857 Aug. 24. 
- Theodor Mommsen . . . 1858 April 27. 
- Adolf Kirchhof. . . . . 1860 März 7. 
- Arthur Auwers a0 elle Aug. 18. 
=. "Rudolf Verchow>. 02 u. ee re Sl) ee 
- Johannes Vahlen . . . . 1874 Dee. 16. 
- Eberhard Schade . . . 1875 Juni 14. 
- Alexander Conzee . . . . 1877 April 23. 
= ., Simon. ‚Schwendenen:: . m nu an. we er 1879 ll 
= „Hermann. Munle 2... 2 2 1550 Marzald 
- Adolf Tobler Se TEL. Aug. 15. 


Hı 


der physikalisch -mathematischen Classe 


m 


" Hans Landolt 


Wilhelm Waldeyer 


Lazarus Fuchs 


Franz Eilhard Schulze . 


Wilhelm von Bezold . 


Karl Klein 
Karl August Möbius 


Adolf Engler . 


Hermann Karl Vogel 
Wilhelm Dames 


Hermann Amandus Schwarz . 


Georg Frobenius 
Emil Fischer . 

Oscar Hertwig 

Max Planck 


Friedrich Kohlrausch 
Emil Warburg . . . . 
‚Jakob Heinrich van’t Hof 


der philosophisch-historischen Classe 


Hr. Wilhelm Wattenbach 
- Hermann Diels . 


- Alfred Pernice . 
- Heinrich Brunner . 
- Johannes Schmidt . 


- Otto Hirschfeld . 


- Eduard Sachau . 
- Gustav Schmoller 


- Wilhelm Dilthey 


- Ernst Dümmler 
- Ulrich Koehler . 
- Karl Weinhold . 


- Adolf Harnack . 


- Karl Stumpf 
- Erich Schmidt . 
- Adolf Erman 


- Reinhold Koser . 
- Max Lenz 


XXIX 


Datum der Königlichen 
Bestätigung 


1881 Aug. 15. 
1881 Aug. 15. 
1881 Aug. 15. 
1884 Febr. 18. 
1884 April 9. 
1884 April 9. 
1854 April 9. 
1884 April 9. 
1884 Juni 21. 
1885 März 9. 
1886 April 5. 
1887 Jan. 24. 
1887 Jan. 24. 
1887 Jan. 24. 
1587 April 6. 
15888 April 30. 
1888 Dee. 19. 
1888 Dec. 19. 
1889 Juli 25. 
1890 Jan. 29. 
1890 Febr. 10. 
1892 März 30. 
1892 März 30. 
1892 Dee. 19. 
1893 Jan. 14. 
1893 Febr. 6. 
15893 April 17. 
1894 Juni 11. 
1595 Febr. 18. 
1895 Febr. 18. 
1895 Febr. 18. 
1895 Aug. 13. 
1895 Aug. 13. 
1896 Febr. 26. 
1896 Juli 12. 
1896 Dee. 14. 


II. Auswärtige Mitglieder 


der physikalisch-mathematischen Classe 


| mm nn 

Hr. Robert Wilhelm Bunsen ın 
Heidelberg 5 

- Charles Hermite in Paris . 


- Albert von. Kölliker in Würz- 
burg 


der philosophisch -historischen Classe 


Hr. Otto von Boehtlingk in 


Leipzig . 


IV. Ehren-Mitglieder. 


Earl of Crawford and Balcarres in Dunecht, Aberdeen 


Hr. Max Lehmann in Göttingen . 
- Ludwig Boltzmann in Wien . 


- Eduard Zeller in Stuttgart 


. 


EE, ee 


1892 
1895 


Datum der Kö, 
B 
1883 Juli 
‘1887 Jan 
1885 Jun 


V. Correspondirende Mitglieder. 


Physikalisch-mathematische Ülasse. 


Ernst Abbe in Jena 


Alewander Agassiz in Ceahäidee, DR 
Adolf von Baeyer in München . 
Friedrich Beüstein in St. Petersburg . 
Eugenio Beltrami in Rom 

Eduard van Beneden ın Lüttich 
Francesco Brioschi in Mailand . 
Stanislao Cannizzaro in Rom 

Eleim Bruno Christoffel in Stralsburg 
Ferdinand Cohn ın Breslau . 

Alfonso Cossa in Turin 

Luigi Uremona in Rom . 
Richard Dedekind in Braunschweig 
Alfred- Louis- Olivier Des Cloizeauxw in BER 
Rudolf Fittig in Stralsburg . 

Walter Flemming in Kiel 

Edward Frankland ın London . 
Remigius Fresenius in Wiesbaden . 
Carl Gegenbaur in Heidelberg 

Archibald Geikie in London . 

Wolcott Gibbs in Newport, R. 1. 


David Gill, Königl. Sternwarte am Cap der Gricch Hoffming 


Karl Wilhelm von Gümbel in München 
Julius Hann in Wien . 

Franz von Hauer in Wien 

Rudolf Heidenhain in Breslau 

Wilhelm Ilis in Leipzig 

‚Johann Wilhelm Hittorf in Münster 


Sir Joseph Dalton Hooker in Kew . 
Hr. William Huggins in London. 
Lord Kelvin in Glasgow 


Hr. 


Leo age in else 

Carl Wilhelm von Kupfer in München 
Rudolf Leuckart in Leipzig . 

Franz von Leydig in Würzburg 

Rudolf Lipschitz in Bonn 

Moritz Loewy in Paris 5 : 
Eleuthere- Elie- Nicolas Mascart in Pane y 


XXXI 


Datum der Wahl 


1896 
1895 
1884 
1888 
1881 
1887 
1881 
1888 
1565 
1889 
1895 
1886 
1880 
1895 
1896 
1893 
1875 
1888 
1884 
1889 
1885 
1890 
1895 
1889 
1881 
1884 
1893 
1884 
1854 
1895 
1871 
1893 
1896 
1887 
1387 
1872 
1895 
1895 


Oct. 29. 
Juli 18. 
Jan.l7. 
Dee. 6. 
Jan. 6. 
Nov. 3. 
‚Jan. 6. 
Dee. 6. 
April 2 
Dee. 19. 
Juni 13. 
Juli 15. 
März 11. 
Juni 27. 
Oct. 29. 
Juni 1. 
Nov. 18. 
Dee. 6. 
Jan. 17. 
Febr. 21. 
Jan22). 
Juni 5. 
Juni 13. 
Febr. 21. 
März 3. 
JanıL7. 
Juni 1. 
Juli 31. 
Juni 1. 
Dee. 12. 
Juli 13. 
Mai 4. 
April 30. 
Jan. 20. 
Jan. 20. 
April 18. 
Dee. 12. 
Juli 18. 


XXXU 


Hr. Victor Meyer ın Heidelberg . 


Karl Neumann in Leipzig 
Georg Neumayer in Hamburg 
Simon Newcomb in Washington 
Max Noether in Erlangen 
Wilhelm Pfeffer in Leipzig 
Eduard Pflüger in Bonn . 
Henri Poincare ın Paris 

Georg Quincke in Heidelberg 
William Ramsay in London 


Lord Rayleigh in Witham, Essex 


Hr. 


Friedrich von Recklinghausen in Stralsburg . 
Gustav Retzius in Stockholm 

Ferdinand von Richthofen in Berlin 

Wilhelm Konrad Röntgen in Würzburg . 
Heinrich Rosenbusch ın Heidelberg 

(George Salmon in Dublin Kı ASEPFER 
Ernst Christian Julius Schering in Göttingen 
Giovanni Virginio Schiaparelli in Mailand 
Albrecht Schrauf in Wien. 


‚Japetus Steenstrup in Kopenhagen 


iv Gabriel Stokes in Cambridge 
'. Eduard Strasburger in Bonn 
- Otto von Struve in Karlsruhe 


‚James Joseph Sylvester in London 
August Töpler in Dresden 

(Gustav Tschermak in Wien 
Heinrich Weber in Stralsburg 
Gustav Wiedemann in Leipzig 


Heinrich Wild in Zürich . 


Alexander William Williamson ın EDER Pitfold, Be 


August Winnecke in Stralsburg . 
‚Johannes Wislicenus in Leipzig . 
Adolf Wüllner in Aachen. 
Ferdinand Zirkel in Leipzig . 

Karl Alfred von Zittel in München 


Philosophisch-historische Classe. 


-. Wilhelm Christian Ahlwardt in Greifswald 


Graziadio Isaia Ascoli in Mailand . 
Theodor Aufrecht in Heidelberg 


Datum der Wahl 


Er 
1896 März 12. 
1893 Mai 4. 
1896 Febr. 27. 
1883 Juni 7. 
1896 Jan. 30. 
1889 Dee. 19. 
1873 April 3. 
1896 Jan. 30. 
1879 März 13. 
1896 Oct. 29. 
1896 Oct. 29. 
1885 Febr. 26. 
1893 Juni 1. 
1881 März 3. 
1896 März 12. 
1887 Oct. 20. 
1873: Juni 12. 
1875 Juli 8. 
1879 Oct. 23. 
1895 Juni 13. 
1859 Juli 21. 
1859 April 7. 
1889 Dee. 19. 
1868 April 2. 
1566 Juli 26. 
1879 März 13. 
1881 März 3. 
1596 Jan. 30. 
1879 März 13. 
1881 Jan. 6. 
1875 Nov. 18. 
1879 Oet. 23. 
1896 Oct. 29. 
1889 März 7. 
1887 Oct. 20. 
1895 Juni 13. 
1888 Febr. 2. 
1857 März 10. 
1564 Febr. 11. 


XXXIIN 


Datum der Wahl 


ERellEa Benndorf inıWıen . 20. ern. .001893' Nov. 30: 
Emo eBüchelensn Bonner 882 Fum 5: 
eo EBühler me EEEIANTETEN: Aprul-LI. 
SE aamPBmessernn: ondont. Wurm rel Bit HDE1887. 7 Nov. 17. 
- Antonio Maria Ceriam in Maland . . . 2. .2.222.2...1869 Nov. 4. 
- Edward Byles Cowell in London . . . 2» 2.2 ..2.2..2...1893 April 20. 
Eu Teonsld- Veeior /Dehsle ın Panis.'. ......2°.,.. 7.7.1867 "April 11: 
Hl eanmıcha)enstenın komı a. NEIN Dee» LE: 
SE Wilhelm Ditienberger mn Halle. 2... m... ne u 1882 Juni 15: 
- Louis- Marie- Olivier Duchesne n Rom . . . . 2... 1893 Juli 20. 
ET RUSBTRCKerE DE nn EDrUCKEE er near TEI3r Tu 20: 
Be RunDWbaschersnwkleidelberen en ee 18857 Jan.429: 
Rau SRromsnsSHoucorenRans et en VE erale17. 
- Karl Immanuel Gerhardt in Graudenz . . . . . . .... 1861 Jan. 31. 
20 dona Kommerz Vene ee 893 Vetr19: 
Se VEREINE ae We EEEEITNOCENN: 
- Friedrich Wilhelm Karl Hegel in Erlangen . . . . . .. .. 1876 April 6. 
- ‚Johann Ludwig Heiberg m Kopenhagen . . . . ..... 1896 März 12. 
-  Antoine- Marie- Albert Heron de Villefosse in Paris . . 11771218937 Febr: 2. 
Se Hermann, von Holst in Chicago). 0... ger. % 2. 71889 Juli 25. 
- Jean- Theophile Homolle in Athen . . . . ». 2 2.2..2...1887 Nov. 17. 
- Friedrich Imhoof- Blumer in Wintertur. . . . » . .... 1879 Juni 19. 
SE Vratostaus.Jagse 1nOW 1oe Ih Ren a . LBE0NDee. ‘16. 
Kane lustnn® Bonn tee ish) kennt 1893, XNoY:.30. 
Se PanaffionsRabbodiasiopNthenwes a eat Nov. 17. 
Geo Bisabel, 10. StEalsbure wi... Matze eh ta SAL ‚Juni 4. 
ehranza Kaelhoras in Göblineen 2 18807 Dee. 16. 
Georg, Rriedrich Bnapp ın Stralsbure: - 22... 7718937 Dee. 14: 
- Sigismund Wilhelm Koelle in London. . . . 2. ..2..2..2...1855 Mai 10. 
-_ Stephanos Kumanudes in Athen . . 2. 2 2.2.2.2..2...1870 Nov. 3. 
= Basil Latyschew in St. Petersburg... .- „1.02% u... 189, \duni 4. 
GoEomDEInnmbr:050 Rom 2 1BTASENDW 2. 
Ronradı MauressnaVMDinchen nn 1889 Juli 25. 
do eMichaels inasStralsbursee ann 1888 Jung 21. 
eos Miller sinn OxTorde ee, Mana ln. 7781865 Jan. 12. 
Se iheoage Nöldeke ın Stralsbürg.. *. er mern Welle) „W187 Febr. 14. 
ulusa OppertunBarısıe er u elle a: BEA März 18: 
Gaston Fans m ‚kanns „wilkdhsinstnd. „Sonanlerrtt: 1188215 April' 20. 
Se eorgesllkerr one arnısu ee ker ER ne er ui, 17. 
SE WElReINERertscln 0 Gotha nn. .1888., Bebr. 2. 
= Wilhelm Radlof in St. Petersburg. . . -. - ». 2... 189 Jan. 10. 


XXXIV 


Datum der Wahl 


Eir= Fehr: Ravaisson ın Bars. 2.0 rat Teunmll: 
-,,).O#0, ‚Ribbech: in Leipzig. .. : 2 2. We, 0 ae leunesjuleplig: 
- Emil Schürer ın Göttingen ee ee a 20), 
Ir Theodor. won‘ Sickel mn Rom. 2.22 rE SO eNDEMO: 
- 1, Christoph‘ Stgwart in Tübingen. . . 2 REISE BBar an. 29. 
- Friedrich ‚Spiegel in München . . © 2 2 21.2.2... .. 1862 März 12. 
= (Wallicm. Stubbs 10 Oxford 2... SS2EENErZESUR 
- Edward Maunde Thompson in London . . . . 2 .......1895 Mai 2. 
= Hermann Üsener in Bonn een 
- Curl Wachsmuth in Leipzig... =. nalen a SON 
=. .Heinrich; Wei ın Paris 0.000.200 1S90 Marz 
- Ulrich von Wilamowitz- Möllendorff in Göttingen . . . . . 1891 Juni 4. 

- Ludwig Wimmer in Kopenhagen . . . . 2.2.2... .. 1891 Juni 4. 
- Ferdinand Wüstenfeld ın Götungen er 1879 Febr. 27. 
-ı Karl‘ Zangemeister n Heidelberg . . . . 2... 2.2... 0221887 Febr..10. 


Wohnungen der ordentlichen Mitglieder. 


Hr. Dr. Auwers, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lindenstr. 91. SW. 

-  - von Bezold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lützowstr. 72. W. 
- —- Brunner, Prof., Geh. Justiz-Rath, Lutherstr. 36. W. 

- - Conze, Professor, Charlottenburg, Fasanenstr. 14. 

-  - Dames, Professor, Joachimsthalerstr. 11. W. 

- = Diels, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Magdeburgerstr. 20. W. 
-  - Dilthey, Prof.. Geh. Regierungs-Rath, Burggrafenstr. 4. W. 
-  - Dümmler, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Königin Augusta-Str. 53. W. 
- = Engler, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Motzstr. 89. W. 

-  - Erman, Professor, Südende, Bahnstr. 21. 

-  - Fischer, Professor, Dorotheenstr. 10. NW. 

-  - Frobenius, Professor, Charlottenburg, Leibnizstr. 70. 

-  - Fuchs, Professor, Charlottenburg, Rankestr. 14. 

- - Harnack, Professor, Fasanenstr. 43. W. 

-  - Hertwig, Professor, Maalsenstr. 34. W. 

-  - Hirschfeld, Professor, Charlottenburg, Carmerstr. 3. 

-  - vamwt Hof, Professor, Charlottenburg, Uhlandstr. 2. 

-  - Kiepert, Professor, Lindenstr. 11. SW. 


AXXV 


Kirchhoff, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 23. W. 

Klein, Prof., Geh. Bergrath, Am Karlsbad 2. W. 

Koehler, Professor, Königin Augusta-Str. 42. W. 

Kohlrausch, Professor, Charlottenburg, Marchstr. 25”. 

Koser, Prof., Geh. Ober-Regierungs-Rath, Director der Königl. 
Staatsarchive und des Geheimen Staatsarchivs, Charlottenburg, 
Hardenbergstr. 20. 

Landolt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Albrechtstr. 14. NW. 

Lenz, Professor, Augsburgerstr. 52. W. 

Moöbius, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Sigismundstr. S. W. 

Mommsen, Professor, Charlottenburg, Marehstr. 8. 

Munk, Professor, Matthäikirchstr. 4. W. 

Pernice , Prof., Geh. Justiz-Rath, Genthinerstr. 13". W. 

Planck, Professor, Tauentzienstr. 18°. W. 

Rammelsberg, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Grofs-Lichterfelde, Belle- 
vuestr. 15. 

Sachau , Prof., Geh. Regierungs-Rath, Wormserstr. 12. W. 

Erich Schmidt, Professor, Matthäikirchstr. 8. W. 

Joh. Schmidt, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Lützower Ufer 24. W. 

Schmoller, Professor, Wormserstr. 13. W. 

Schrader, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Kronprinzen-Ufer 20. NW. 

Schulze, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Invalidenstr. 43. NW. 

Schwarz, Professor, Villen-Colonie Grunewald, Boothstr. 33. 

Schwendener, Prof.. Geh. Regierungs-Rath, Matthäikirchstr. 28. W. 

Stumpf, Professor, Nürnbergerstr. 14/15. W. 

Tobler, Professor, Kurfürstendamm 25. W. 

Vahlen , Prof., Geh. Regierungs-Rath, Genthinerstr. 22. W. 

Virchow, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Schellingstr. 10. W. 

Vogel, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Potsdam, Astrophysikalisches 
Observatorium. 

Waldeyer, Prof., Geh. Medieinal-Rath, Lutherstr. 35. W. 

Warburg, Professor, Neue Wilhelmstr. 16. NW. 

Wattenbach, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Corneliusstr. 5. W. 

Weber, Professor, Ritterstr. 56. SW. 

Weinhold, Prof., Geh. Regierungs-Rath, Hohenzollernstr. 10. W. 


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Gedächtnifsrede auf Heinrich von Sybel und 
Heinrich von Treitschke. 


- Von 


I" GUSTAV SCHMOLLER. 


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Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 2. Juli 1896 L} 
[Sitzungsberichte St. NXXII. S. 747]. 
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 10. Jı 


vi . r H 


. 


Ar: Leibniz-Tage sind für die Akademie Tage der Freude, sofern wir neue 
Genossen willkommen heifsen, Tage der Trauer, sofern wir dem Schmerze 
um Dahingeschiedene Ausdruck geben. Ich soll heute versuchen, uns 
nochmal klar zu machen, was uns, was der Nation und der Wissenschaft 
Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke waren. Jeder- 
mann weils, dafs unter allen lebenden Deutschen, welche der neueren 
Geschichte ihre Kraft widmeten, keiner diesen beiden Männern gleichkommt, 
dafs ebenbürtig neben ihnen unter allen deutschen Historikern nur noch 
zwei unserer ältesten Mitglieder genannt werden, um deren Erhaltung wir 
täglich das Geschick bitten. 

Nur schweren Herzens habe ich den Auftrag übernommen, über die 
zwei Dahingegangenen zu reden. Aber da die Akademie im Augenblick 
keine vollen Vertreter der neueren Geschichte hat, so mulfste ich eintreten, 
wenn auf die Akademie nicht der Makel fallen sollte, sie habe über zwei 
ihrer besten Glieder nichts zu sagen gewulst an dem Tage, welcher ihren 
grolsen Todten geweiht ist. Und ich kann wenigstens das für mich an- 
führen, dafs ich beiden in langjährigem Verkehr nahe stand und dafs 
‘manchmal unbefangener sieht und urtheilt, wer von einem nachbarlichen 
Gebiete aus beobachtet. 


IE 


Ich möchte mit einem Worte persönlicher Erinnerung an die Tage 
beginnen, da ich beide zum erstenmal im Kreise der gesammten Berliner 
Historiker sah und kennen lernte. 

Ich kam zu Anfang des Jahres 1864 zuerst hieher und habe dann in 
den folgenden 10-15 Jahren fast stets die Frühjahrsferien in Berlin zu- 

1" 


4 G. ScumoLteEr: 


gebracht, um in den hiesigen Bibliotheken und Archiven zu arbeiten. Ich 
traf da meinen alten Lehrer Max Duncker, der mich in Tübingen in die 
historischen Studien eingeführt hatte, der mir stets nach Charakter und poli- 
tischem Urtheil ein verehrungswürdiges Vorbild blieb, dann J. G. Droysen, 
dessen männliche charaktervolle Geschlossenheit ebenso auf mich wirkte, 
wie seine preufsischen Studien, die ich nach der Verwaltungsseite hin 
fortzuführen unternahm. Bald liefs auch Ranke mich einmal zu sich 
rufen und ich könnte heute noch den Eindruck schildern, den diese 
erste Begegnung, der Tiefsinn der hingeworfenen Worte des grofsen 
Mannes mir machte. Auch Wilhelm Nitzsch sah ich in jenen Jahren 
zuerst, er zog mich als der Begründer der älteren deutschen Wirthschafts- 
geschichte doppelt an; seine stets geistreichen, wenn auch oft gewagten 
Combinationen haben mir erst die ältere deutsche Geschichte verständlich 
gemacht, jedenfalls mehr als diefs die Urkundenforscher vermochten, als 
deren gröfster Vertreter ja dann Waitz nach Berlin kam, um neben Nitzsch 
hier in der Akademie zu sitzen. Wenn ich mich recht erinnere, war es 
in Gesellschaft von Waitz, Duncker und Droysen, dafs ich Heinrich 
von Sybel zum erstenmal sah. Er erschien damals vor Allem als der 
grolse vornehme Führer der Landtags-Opposition, als einer der wenigen, 
dem die ganze liberale Welt die Fähigkeit und die Kraft zu einem Minister- 
posten zutraute. Treitschke war in jenen Jahren meist zur selben Zeit 
wie ich in Berlin; wochenlang haben wir damals nach dem Archiv täglich 
im hintern Stübehen bei Lutter und Wegner zusammen gegessen; gar oft 
waren er, Baumgarten und ich das Kleeblatt, das sich zusammenfand; er 
war damals das Bild jugendlich männlicher Kraft und Lebendigkeit, un- 
erschöpflich im Discutiren und Erzählen; er war damals des Gehörs noch 
nicht ganz beraubt. 

Alle diese genannten Männer waren Zierden der deutschen Geschichts- 
wissenschaft, alle waren Mitglieder dieser Akademie; trotz aller Verschieden- 
heit und Gegensätze waren sie in gewissen Hauptpunkten der Methode und 
in einer idealen Weltanschauung einig; sie bilden zusammen mit wenigen 
anderen Historikern den Kreis der Männer, welche die deutsche Geschichts- 
wissenschaft des 19. Jahrhunderts auf ihre Höhe geführt haben. Ihre Geburts- 
Jahre fallen in die Epoche von 1795-1834, ihre Todesjahre in die kurze 
Spanne von 1880-1896. Sie alle deckt heute der grüne Rasen, fast alle lie- 
gen nachbarlich gebettet auf demselben Friedhof. Als wir von Sybel’s und 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 5 


Treitschke’s Begräbnifs heimkehrten, erfüllte mich vor Allem die Frage, 
haben wir hier nicht mehr, als zwei grofse Freunde, Genossen und Lehrer, 
haben wir hier nicht die grofse Blüthezeit deutscher Geschichtschreibung 
begraben? Ist sie mit ihnen wirklich dahin? sind wir in eine kleine Zeit 
der Epigonen eingetreten? Warum fassen wir die Zeit von Ranke bis 
Treitschke als den Höhepunkt deutscher Historie auf, was waren ihre 
Ursachen, wodurch unterscheiden sich die jüngeren und späteren Historiker 
von diesen Koryphäen? Haben wir das Wort Sybel’s auf sie und ihre 
Nachfolger anzuwenden: nur eine grolse Zeit kann grolse Historiker 
haben? 

Ich will noch nicht versuchen, darauf eine Antwort zu geben. Nur 
darin möchte ich mich gleich Sybel anschliefsen, dafs allerdings die 
grolsen Schicksale unseres Vaterlandes auch die letzte Ursache des wissen- 
schaftlichen Aufschwungs in den letzten hundert Jahren waren. Die Siege 
von Hohenfriedberg, Rofsbach und Leuthen, von Leipzig und Waterloo, 
von Königgrätz und Sedan waren die Vorbedingung für eine deutsche 
Geschiehtswissenschaft grofsen Stils, oder vielmehr sie gingen aus derselben 
geistigen Spannkraft hervor, welche zur Blüthe unseres geistigen Lebens 
führte. Wie nach und während der Freiheitskriege Niebuhr auftrat und 
der Freiherr vom Stein die Monumenta Germaniae gründete, so hat die 
Welt- und Geistesstimmung von 1815-1840 Ranke, die von 1840-1880 
die politischen Historiker erzeugt. Es war die allgemeine Lage der vater- 
ländischen Angelegenheiten, welche die besten und fähigsten Köpfe von 
ıSoo an in den Dienst der Geschiehtswissenschaft führte, sie zur Er- 
forschung der deutschen Vergangenheit, der grofsen Epochen unserer Ge- 
schichte, zur Untersuchung unserer Stellung im Zusammenhang der abend- 
ländischen Cultur trieb. Freilich kam Anderes hinzu. Lessing und Goethe 
hatten die deutsche Sprache auf die Höhe der westeuropäischen gehoben, 
das goldene Zeitalter der deutschen Poesie und der deutschen Philosophie 
hatte einen edlen Idealismus erzeugt, die Fortschritte des Naturerkennens 
und der Philologie hatten den Sinn für nüchterne Einzelforschung gestärkt. 
Das war der Moment, da Niebuhr und Ranke die deutsche Geschichts- 
forschung auf den Boden der kritischen Methode hinüberführen und der 
deutschen Geschichtschreibung zugleich jenen Adel idealen Geistesschwunges 
verleihen konnten, der erst weltbürgerlich und klassisch, dann national 
und politisch gefärbt die Resultate der Forschung zu unvergänglichen 


6 G. ScHMOLLER: 


Kunstwerken zu verwerthen und die Menschen, die historischen Verhält- 
nisse und Schicksale an den höchsten Mafsstäben des Werthes messend, 
diese Kunstwerke selbst zu grofsen Ereignissen und Ursachen der natio- 
nalen und geistigen Weiterentwickelung zu erheben vermochte. 

Denn das ist ja das Eigenthümliche: die beste empirische Methode 
der Forschung macht noch keine grofsen Historiker. Sie kann Einzel- 
forscher, Editoren, Urkundensammler, Kritiker erzeugen. Wer aber die 
Schicksale der Völker erzählen, aus ihrer stets trümmerhaften Überlieferung 
ein Ganzes machen, wer, wie Savigny sagt. aus dem Mannigfaltigen, 
welches die Geschichte darbietet, die höhere Einheit,. das Lebensprineip 
suchen will. woraus das Einzelne zu erklären ist, — der mufs einmal 
ein Menschenkenner ersten Ranges sein, und aufserdem mit divinatori- 
schem Geist, mit universaler Bildung die Höhen und die Niederungen alles 
menschlichen Lebens überblicken und mit Scharfsinn durchdringen können. 
Alle historische Kritik wird ihm nur Anlafs zu neuem besserem Aufbau. 
Er mufs als grofser Künstler das unerschöpfliche Meer der Einzelthatsachen 
gleichsam comprimiren, die grofse weite Welt wie in einem verkleinern- 
den Hohlspiegel zusammenfassen und sie doch ganz in der Art des Zu- 
sammenhanges und unter Aufdeckung der Causalität darstellen können, 
welche die Wirklichkeit beherrschte. Und bei diesem Geschäft, wie bei 
seinem Urtheil über die Menschen und Ereignisse leitet ihn neben dem 
genialen Blick zuletzt vor Allem seine Weltanschauung, d. h. diejenige 
Gruppe centraler Vorstellungen und Urtheile, in deren vollendeter Ein- 
heitlichkeit seine Individualität besteht, deren geschlossener Ring sein prak- 
tisches, wie sein theoretisches Handeln bestimmt. Alle grofsen Menschen, 
alle bedeutenden und eingreifenden Denker und Forscher müssen zu einer 
klaren Einheit, zur Herrschaft bestimmter Vorstellungen in ihrem Geiste 
kommen; sie müssen — das folgt aus dem unwiderstehliehen Einheitsdrang 
der menschlichen Vernunft — zu einer einheitlichen Weltanschauung sich 
durchringen, welche Zweifel im Einzelnen so wenig ausschliefst, als die 
Einsicht, dafs diese Weltanschauung nicht ganz auf der Erfahrung ruht. 
Jede Weltanschauung geht über die ganz gesicherte empirische Erkennt- 
nifs hinaus; denn sie giebt Antwort auf die letzten grofsen Fragen der 
Menschheit. Es hat nie einen grofsen Historiker gegeben, der nicht über 
das Verhältnifs der Gottheit zur Menschengeschichte, über Ursprung und 
Ziel der historischen Entwiekelung, über Fortschritt oder Rückschritt und 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. ® 


ihre Ursachen, über die grofsen Tendenzen in den inneren Veränderungen 
der Staaten, über ihre Wechselwirkung unter einander, über die letzten 
sittlichen und politischen Fragen eine feste Überzeugung gehabt hätte. 

Ohne einen solchen festen Punkt müsste sein Gerede in eklektischem 
werthlosem Hin- und Herreden verlaufen. Die Überzeugung kann enger 
begränzt, auf bestimmte Zeiträume und partielle Theile der Entwicke- 
lung beschränkt oder weiter greifend universal sein; sie kann in mehr 
empirischem oder mehr philosophisch konstruktivem Gewand auftreten. 
Immer wird sie in ihrem fest begründeten Theil auf dem vorhandenen 
Bestande des empirisch gesicherten Wissens ruhen, aber darüber hinaus 
Hypothesen, Ahnungen, Wahrscheinliehkeiten enthalten und so subjeetiv 
gefärbt sein. Sie wird um so werthvoller sein, je umfangreicher das Wissen 
ist, aus dem sie entstanden, und je höher der ganze Standpunkt des 
Historikers gegriffen ist. Aber sie wird nie ausschliessen, dafs spätere 
Zeiten, andere Richtungen zu einer anderen Weltanschauung und damit zu 
einer anderen Art der Betrachtung der Erscheinungen, zu einem anderen 
Urtheil über das Wesentliche der Ursachen und über den Werth der 
Menschen und der Einrichtungen kommen. 

Von diesem Werthurtheil, das bei keinem grofsen Historiker fehlt, 
hängt ein guter Theil seiner Wirksamkeit und Bedeutung ab. In diesem 
Werthurtheil zeigen sich die innersten Vorgänge seines Gemüthslebens wie 
die letzten Wurzeln seiner Bildung, seiner Begabung, seiner geistigen Grölse, 
zeigt sich die Art, wie sein Genius in seiner Zeit wurzelt, seine Zeit ver- 
steht und sie erhebt. 

Wir werden also auch Sybel und Treitschke nur verstehen können, 
wenn wir versuchen, sie nicht nur als Gelehrte und Forscher, sondern 
auch als Charaktere und Vertreter einer bestimmten Weltanschauung zu 
begreifen und wenn wir so zugleich den Punkt finden, um sie selbst in den 
Zusammenhang des deutschen Geisteslebens und der grofsen nationalen 
Ereignisse einzureihen. Das scheint am leichtesten, wenn wir ein Wort 
über Ranke vorausschicken, um die Beiden in ihrem Zusammenhang, 
wie in ihrem Gegensatz zu ihm zu begreifen. 

Ranke’s Weltanschauung wurzelte in der weltbürgerlichen Humanität, 
der romantiseh-philosophischen und aesthetischen Stimmung der Zeit, welcher 
Goethe und Hegel den Stempel aufgedrückt; seine stärkste Überzeugung 
war doch wohl die religiöse. Eusebianisch -augustinische Gedankengänge 


8 @. SCHMOLLER: 


verbinden sich in ihm mit dem lebendigsten lutherischen Protestantismus. 
In der deutschen Reformation sieht er, der sonst in solchen Äufserungen 
so vorsichtige, den Finger Gottes; hier glaubt er den Plänen der göttlichen 
Weltregung zu lauschen. Er beherrscht die ganze Philosophie seiner 
Zeit, die Litteratur der Alten und der Renaissance; und indem er dazu 
eine unglaubliche Menge neuer aus den Archiven geholter, auf ihren ächten 
Gehalt zurückgeführter Kenntnisse fügt, möchte er einerseits die Welt- 
geschiehte in ihrer Einheit, das Wechselspiel der romanischen und ger- 
manischen Völker vom 15.-18. Jahrhundert in seiner Totalität erkennen, 
— wie er als 33Jjähriger schreibt: die Entdeckung der unbekannten Welt- 
geschichte wäre mein gröfstes Glück, — und andererseits verurtheilt er 
jede Construction, findet jedes philosophische System unbefriedigend, be- 
tont er nüchtern stets wieder die engen Gränzen unseres Wissens, will 
über die grofsen Männer, denen er seine ganze Forschung gewidmet, nur 
schüchtern ein Urtheil wagen. Er verwirft jeden Strich der Zeichnung, 
den er nicht quellenmäfsig belegen kann. Ganz philosophisch angelegt, 
wird er doch zum Begründer der kritischen Methode, ist ganz realistisch, 
verfährt ganz empirisch. Er sagte einmal, er wolle zur Erfüllung seines 
universalhistorischen Zweckes gelangen durch den Weg, den Niebuhr ein- 
schlug, und zugleich durch die Tendenz, die Hegel vorschwebte. Nur 
ein so ganz aufserordentlicher Geist konnte so weit auseinander Liegendes 
in sich vereinigen, konnte auf der einen Seite so klar, voraussetzungslos 
und nüchtern die politischen Machtentwickelungen und Charaktere zeichnen, 
auf der anderen so kühn versuchen, die letzten Ursachen alles historischen 
Geschehens in grandiosen Ideenbildern, Ideenkämpfen wie Ideenevolutionen 
zusammenzufassen. Er erschien darum dem Einen als Mystiker, dem An- 
dern als sittlich und politisch indifferenter Realist. Es lag in seinem Wesen 
das höchste Mafs von historischer Objeetivität, aber aufgebaut auf einer 
religiös-philosophischen, von der Gegenwart abgewandten quietistischen 
Stimmung. Wie er an keinen geistig-sittlichen Fortschritt glaubte, so hat 
er den Einflufs der grofsen Männer später immer geringer geschätzt gegen- 
über den allgemeinen geistigen Tendenzen und von einer Geschichtschreibung 
der Gegenwart wenig wissen wollen, weil kein Mitlebender den Standpunkt 
hoch genug greifen könne. Vollends die Messung der historischen Er- 
scheinungen an den politischen Theorien der Gegenwart erschien ihm als 
schlechtweg verwerflicher Doectrinarismus. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. $) 


Das waren Anschauungen, die 1815-1840 entstehen konnten, ja mufsten, 
die aber in dem Geschlecht, das 1830-1860 heranreifte, nicht fortzudauern 
vermochten. An die Stelle der weltbürgerlichen Humanität trat deutscher 
Patriotismus, an die Stelle einer philosophisch-aesthetischen eine politisch- 
verfassungsgeschichtliche Atmosphaere, an die Stelle einer Empirie, die 
nur den Zusammenhang der Ereignisse und der Ideen untersucht, eine 
solche, welche Recht, Verfassung, Kunst, Litteratur, sociale Zustände und 
Verwaltungseinrichtungen ebenso ergreifen will. Nicht mehr Abwendung 
von der Gegenwart, sondern Leben in ihr und Wirken auf sie mufste die 
Losung der jüngeren Generation werden. Auch die, welche wie Duncker 
und Droysen noch ganz mit der Philosophie begannen, wendeten sich 
bald der realistischen Erfassung der historischen Thatsachen zu. Dahl- 
mann’s energischer patriotischer Charakter wurde das Vorbild für die 
besten Köpfe und die edelsten Gemüther. Deutschland mufste eine ganze 
Schule politisch-nationaler Historiker erhalten, die in Duncker, Droysen, 
Häusser, Sybel und Treitschke ihre Führer und Höhepunkte hatte. 


I. 


Heinrich von Sybel war 1817 geboren; er stammte aus gebildeter, 
wohlhabender Familie; väterlicherseits aus Soest, wo seine Ahnen nach- 
weisbar als Patrieier seit dem 15. Jahrhundert lebten, um später zum 
Pfarrerberuf überzugehen, während sein Vater ein angesehener Jurist von 
starkem Selbstgefühl war; mütterlicherseits aus Elberfelder Fabrikanten- 
und Kaufmannskreisen. Er kam 1834 nach Berlin, um Geschichte und 
Jura zu studiren, als eben das gebildete rheinische Bürgerthum in Hanse- 
mann’s Schrift »Frankreich und Preufsen 1833« die altväterische Berliner 
Bureaukratie belehrt hatte, dafs die rheinisch-constitutionellen Ideen Einflufs 
im Staate begehrten. Die Hansemann, von der Heydt, Kamphausen, 
Mevissen, die von nun an über ein Menschenalter die Spuren ihrer Wirk- 
samkeit dem preufsischen Staate aufdrückten, waren die Freunde seines 
Vaters auf den rheinischen Landtagen und wurden bald seine eigenen. 
Wenn man sagen kann, die Auseinandersetzung zwischen den rheinisch- 
liberalen Ideen und den altpreufsischen aristokratisch-feudalen habe die 
innere Geschichte des preufsischen Staates 1830-1870 beherrscht, so wird 
man auch behaupten dürfen, Heinrich von Sybel sei der wissenschaft- 

Gedächtnifsreden. 1896. 1. 2 


10 G. SCHMOLLER: 


liche Vorkämpfer dieses rheinischen mafsvollen, etwas kaufmännisch-aristo- 
kratisch gefärbten Constitutionalismus geworden. 

Zunächst ging er durch die Schule von Ranke und Savigny. Der 
Letztere gab ihm, wie er selbst sagt, »jenes volle Quantum juristischer 
Bildung, das die unerläfsliche Bedingung für die Erkenntnifs und Dar- 
stellung politischer Geschichte ist«; in den umfangreichen juristischen 
Studien vollendete sich seine rationelle Verständigkeit, seine logische Klar- 
heit und dialektische Gewandtheit. Noch gröfseren Einfluls aber gewann 
doch Ranke; von ihm übernahm er die streng kritische wissenschaftliche 
Methode, den Sinn für universale Bildung, die Abneigung gegen das 
historische Specialistenthum; wie Ranke hat er gleichmäfsig in antiker, 
mittelalterlicher und neuer Geschichte gearbeitet; er theilt mit ihm die 
idealistische Grundstimmung, die reinen sittlichen Empfindungen. Und 
doch stand der kunst- und scharfsinnige, bei aller Gemüthsweichheit schlag- 
fertige und kampflustige junge Rheinländer seinem thüringischen tiefsinnig 
contemplativen Lehrer von Anfang an als eine gänzlich andere Natur 
gegenüber. Niebuhr und Burke hatten als Charaktere und politische 
Köpfe doch eigentlich noch tiefern Eindruck auf ihn gemacht. Sybel hatte 
ein ganz anderes Bedürfnils, die Dinge realistisch zu fassen, den Mechanismus 
des Verfassungs- und Wirthschaftslebens zu verstehen. »Übel war es«, 
sagt er selbst von seiner Studienzeit, »dafs ich nicht gleichen Fleils wie auf 
die juristischen Studien auf die Philosophie verwandte;« er gesteht, dafs 
er Hegel nicht recht habe bewältigen können. Die letzten und grofsen 
Fragen der Philosophie sind ihm stets fern geblieben; ja er hatte eine 
förmliche Abneigung gegen alles Speculative, wie es doch in Ranke immer 
wieder durchbricht. Religiös nicht indifferent, war er neben Ranke doch 
das heitere lebensfreudige, in der sonnigen Helle rheinischer Kunst und 
Lebenslust erwachsene Weltkind, dem Pfaffengezänk, Glaubensdruck und 
weltliche Priesterherrschaft zeitlebens das Unerträglichste dünkte. 

Es will mir scheinen, man fasse sein geistiges Wesen am richtigsten 
so zusammen: eine erstaunliche Dosis gesunden Menschenverstandes, eine 
scharfe, durchdringende Menschenkenntnifs, ein förmlicher Spürsinn für alle 
Feinheit diplomatischer Verschlingungen und komplieirter politischer Vor- 
gänge, ein freier, klarer Blick für das Grofse und das Kleine der mensch- 
lichen Dinge, unbestechliche Wahrheitsliebe, kampflustige Schärfe und 
feine Ironie, vornehme Urbanität, Glück und Geschick in der eigenen 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 11 


Lebensführung, im Haus und auf dem Katheder, in den Geschäften und 
in der Politik: so war Heinrich von Sybel. Von Haus aus mehr gesetzt 
als lebhaft, ursprünglich kein geborener Redner, im Stil stets einfach, 
zurückhaltend, meist einer leidenschaftslosen Ruhe beflissen, ist er doch 
durch Fleifs und Selbstzucht, durch angeborenes feines Gefühl und künst- 
lerische Phantasie der feinste und klarste historische Erzähler, einer der 
glücklichsten akademischen Lehrer und politischen Redner geworden. Poli- 
tisches Interesse und Patriotismus haben ihn immer wieder der Wissen- 
schaft zu entführen gesucht: ein freundliches Geschick hat ihn immer 
wieder der schriftstellerisch-historischen Thätigkeit zurückgegeben. Nur 
hat er seine Aufgaben immer mehr der Gegenwart und ihren grofsen 
politischen Interessen angepalst. 

Es ist erstaunlich, zu sehen, wie er in seinen jungen Jahren, ja bis 
in die Tage des Gulturkampfes, jeden Moment bereit ist, in den öffent- 
lichen Kampf der Geister einzutreten, unbarmherzig alles, was ihm dunkel, 
mystisch, unklar dünkt, zu bekämpfen, in scharfer Polemik dem Gegner 
zu Leibe zu gehen. Klingen doch schon die Thesen, die er seiner Doctor- 
dissertation anhängt, halb wie kampflustige Ironie gegen seinen Meister. Er 
erklärt, man müsse Geschichte »cum ira et studio« schreiben; Personen, 
nicht Einrichtungen bestimmten die Geschicke der Völker. Seine erste grofse 
wissenschaftliche Schrift über den ersten Kreuzzug will den romantischen 
Nimbus, den die Sage und Legende um Peter von Amiens und Gottfried 
von Bouillon gewunden, zerstören. Eine »bissige« Kritik Schlosser’s. 
wie er sie selbst nennt, will den philisterhaften Moralisten treffen; da sie 
Eichhorn gefällt, verschafft sie ihm die aufserordentliche Professur. Mit 
der Schrift über den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen 
heiligen ungenähten Röcke (1844) will er der damaligen Agitation der 
Ultramontanen und der ganzen mittelalterlichen Weltanschauung entgegen- 
treten, wie bald darauf mit der Broschüre über die politischen Parteien 
im Rheinlande (1847). Und indem er nun in mehrjähriger Arbeit seine 
mittelalterlichen Verfassungsstudien in der Schrift über die Entstehung 
des deutschen Königthums zusammenfalst, so ist auch hier die Polemik 
nieht zu verkennen; sie ist gegen die romantische Deutschthümelei ge- 
richtet, die die alte germanische Verfassung statt aus der realen Erkennt- 
nils wirthschaftlicher und socialer Zustände aus einem bevorzugten ger- 
manischen Volksgeist ableiten, nieht anerkennen will, welch grofse Wir- 


I* 


12 G. SCHMOLLER: 


kungen das römische Staatswesen auf das spätere germanische Königthum 
geübt habe. 

Auch in Marburg und München bleibt er im Vordertreffen der poli- 
tischen Kämpfe und Aspirationen. Er sagt dem ihm so freundlich gesinnten 
König Maximilian, dafs die von ihm in’s Auge gefafste politische Triasidee 
ein Unsinn sei, und in fast unhistorischer Identifieirung der alten deutschen 
Kaiserzüge nach Italien mit den Tendenzen habsburgischer Hauspolitik 
erklärt er den für deutsches Kaiserthum schwärmenden Bajuwaren, dafs 
diese ritterlichen Züge nach Italien falsch, weil nicht national sondern 
auf Weltherrschaft gerichtet gewesen seien. Und nach Bonn zurückgekehrt 
theilt er viele Jahre hindurch seine Zeit zwischen Wissenschaft und Politik, 
nicht ohne zeitweise dem Parteipolitiker die Herrschaft über den wissen- 
schaftlichen Denker einzuräumen. Von seiner Oppositionsthätigkeit in den 
Jahren 1862-1364 hat er später selbst ähnlich gedacht, wie seine meisten 
wissenschaftlichen Freunde schon damals. Er sollte und wollte im Januar 
1864 für die Mehrheit des Abgeordnetenhauses dem Ministerium Bismarck 
die ı2 Millionen Thaler zum Krieg gegen Dänemark verweigern; daran 
hinderte ihn ein Diphtherieanfall. Er verzeichnet selbst später das Ereignils 
mit den Worten »der Himmel war so gnädig, mich an weiterer Blamage 
zu hindern«. Der Ausspruch ehrt ihn nur, denn er zeigt seine Wahrheits- 
liebe und seine Fähigkeit zur Selbstkritik. Im Ganzen aber dürfen wir auch 
von seiner politischen Thätigkeit sagen, dafs sie durch Takt, Lebensklug- 
heit, diplomatische Gewandtheit, wie durch grofsen Blick und weites histo- 
risches Urtheil sich auszeichnete. Es waren dieselben Eigenschaften, die 
ihn zum Archivleiter, Herausgeber der historischen Zeitschrift, zum Orga- 
nisator so vieler wissenschaftlicher Unternehmungen und Editionen grolsen 
Stils besonders befähigten. 

Aber so Vieles er so praktisch und politisch leistete, wir feiern ihn 
heute hier nicht wegen dieser Verdienste, sondern als Gelehrten. Für uns 
ist er in erster Linie der Verfasser der Geschichte des Revolutionszeitalters 
und der Begründung des Deutschen Reiches. In diesen Werken, besonders 
im ersteren, liegt seine eigentliche Lebensarbeit, seine Gröfse und sein 
wissenschaftliches Verdienst. 

Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm enthält 
die Geschiehte der preufsisch-deutschen auswärtigen Politik von 1858 bis 
zum Ausbruch des Krieges von 1870 in sieben Bänden; an der Fertig- 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 13 


stellung hat der Tod den Verfasser gehindert. Die deutsche Nation kann 
dem Verfasser nicht dankbar genug sein, dafs er ihr diese musterhafte Dar- 
stellung nach den preufsischen Acten geliefert hat; persönliche Erlebnisse 
und Eigenschaften, wie amtliche Stellung befähigten ihn, wie keinen anderen, 
zu dieser grolsen Leistung. Viele Theile des Werkes, wie die Schilderung 
des Feldzuges von 1866 und der Bismarck schen Staatskunst von ı863 bis 
1866 werden für alle Zeiten zu den Perlen der historischen Litteratur zählen. 
Wir werden ähnlich wie in Bezug auf Ranke’s Weltgeschichte immer 
wieder bewundernd ausrufen müssen, welche Kraft, die nach dem 70. Jahre 
Derartiges vollenden konnte. Aber die Bedeutung seines anderen Haupt- 
werkes kann das Buch doch nicht beanspruchen. Die innere Politik Deutsch- 
lands wird in demselben nur da und dort gestreift; das Ganze ist mehr 
nur eine äufsere Erzählung, als eine Herleitung aus den innersten bewe- 
genden Kräften; das Urtheil ist zurückhaltender, die Darstellung noch 
glatter als in seinen früheren Werken; sie muls über Vieles weggleiten, 
redet sie doch von den lebenden und regierenden Personen der Gegenwart 
und des eigenen Staates. Ohne Sybel’s Kunst und Discretion wäre das 
Buch gar nicht möglich gewesen. Aber unüberwindliche Schranken lagen 
hier auch für den freiesten Geist und den geschicktesten Historiker vor. 
Über Vieles wird erst die Zukunft und die Eröffnung der fremden Archive 
volle Aufklärung bringen. Auch das Urtheil über die handelnden Personen 
wird anders werden, selbst über Bismarck, den Sybel ja voll anerkennt 
und bewundert, über dessen Contliete mit dem König und dem Hof er 
aber nichts sagt. Selbst von befreundeter Seite äufserte man, in seiner 
Darstellung komme der Löwe nicht zum Ausdruck: von anderer Seite meinte 
man gar, er habe aus einer Tiger- eine zahme Hauskatze gemacht. Auch 
darin lag eine Schranke, dafs der 70jährige die Erreichung seiner poli- 
tischen Lebensideale erzählt; wer in dieser Lage ist, kann für die neuen 
gährenden Elemente der nachdrängenden Zukunft kein volles Verständnils 
haben. 

‚In weleh anderer Lage war da Sybel dem Revolutions-Zeitalter gegen- 
über. Die volle Kraft seiner besten Jahre hat er dieser Aufgabe gewidmet. 
Er stand diesem gröfsesten politischen Ereignifs der neueren europäischen 
Geschichte mit der vollen Theilnahme des Mannes gegenüber, der noch 
unter ihren Nachwirkungen lebt, aber andererseits hatte er die volle Un- 
befangenheit des Deutschen und des Forschers, der durch 60-70 Jahre 


14 G. SCHMOLLER: 


von dem abgelaufenen Zeitalter getrennt ist. Er war zu dem Ergreifen 
dieses Themas auch durch einen praktisch-politischen Anlafs gekommen; es 
waren 1848-1850 wieder communistische Ideen aufgetaucht. Sybel wollte 
das Fiasco derselben in der französischen Revolution den Zeitgenossen vor- 
führen. Aber seine Studien führten ihn weiter; er durchsuchte die euro- 
päischen Archive und die Zeitungen und Broschüren jener Tage: seine 
kritische Methode nöthigte ihn immer weiter in’s Einzelne einzudringen, 
den Gegenstand von allen Seiten zu fassen. So wurde aus der beabsich- 
tigten Broschüre ein grofses erst dreibändiges Werk, das die sechs Jahre 
1789-1795, später ein fünfbändiges, das ıı Jahre 1789-1800 behandelte. 
Fast 30 Jahre seines Lebens, 1850-1880, hat er dieser im ganzen so kurzen 
Epoche gewidmet. Immer wieder hat er neue Archivalien herangezogen, 
seine Darstellung revidirt, in Streitschriften mit den Gegnern verthei- 
digt. Aber was hat er auch damit erreicht! Die anerkannt erste ganz 
wahrheitsgetreue Berichterstattung über die Revolution, die Zerstörung 
aller der Legenden und politisch-tendenziösen Erzählungen, die haupt- 
sächlich in Frankreich bisher geherrscht hatten. Eine Darstellung, die nicht 
blofs auf Grund einiger Gesandtschaftsberiehte, wie es Ranke liebte, in 
wenigen grolsen Strichen ein neues Bild gab, sondern die Schritt für Schritt 
durch Einzeluntersuchung und Heranziehung eines fast unübersehbaren 
Materials die ganze innere und äufsere, die wirthschaftliche, sociale, ad- 
ministrative, finanzielle und Verfassungsgeschichte Frankreichs nebst allen Be- 
ziehungen zum Auslande und den kriegerischen Ereignissen giebt: aber 
er beschränkt sich als ächt Ranke’scher Schüler nieht blofs auf die diree- 
ten Beziehungen Frankreichs zu dem Ausland; er erkennt, dafs man die 
französische Revolution nicht blofßs aus sich, sondern ebenso aus den ge- 
sammten Beziehungen und Spannungen Frankreichs zum übrigen Europa 
verstehen lernen muls. Und so verknüpft er in äufserst geschiekter Grup- 
pirung des Stoffes die französische Geschichte mit der Schilderung der 
ganzen damaligen europäischen Staatenwelt. Er führt uns diese Staaten 
in grols gehaltenen Umrissen, ihre Fürsten und Staatsmänner, ihre poli- 
tischen Tendenzen vor. Wir sehen den Zusammenhang der französischen 
und der russischen Kriegsabsichten, wir begreifen so, wie der Untergang 
des französischen Feudalstaates und die Revolution mit der Auflösung des 
deutschen Reiches und der Zertheilung Polens zusammenhängt, wie es 


sich um einen grofsen einheitlichen europäischen Zersetzungsprocefs han- 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 15 


delt; es liegt in der Aufdeckung dieser Zusammenhänge die eigenartigste 
Leistung Sybel's. 

Und wenn die damaligen politischen Vorstellungen und Neigungen 
Sybel’s in das grofse monumentale Werk naturgemäls mit eindrangen, wenn 
wir seine socialen und volkswirthschaftlichen Urtheile heute nicht mehr ganz 
theilen, wenn wir heute fordern würden, dafs das Urtheil sich ebenso 
sehr auf einer Vergleichung von 1700 und 1790, wie auf einer solchen 
von 1790 und 1850 aufbaue, wenn die heutige Forschung bereits die 
Schuld der einzelnen mitwirkenden Personen und Parteien wieder etwas 
anders beurtheilt, so thut das doch der Gröfse des Werkes keinen Eintrag. 
Sybel’s Revolutionszeitalter bleibt ein epochemachendes Werk nach Form 
und Inhalt. Seit der erste Band erschienen ist, sind 41 Jahre verflossen. 
Kein anderes grofses deutsches Werk über neuere Geschichte hat es nach 
allen Seiten hin übertroffen; nur Treitschke’s deutsche Geschichte ist in 
der Darstellung glänzender, in der Wirkung bedeutungsvoller. Die ganze 
seitherige Forschung und Geschiehtschreibung über das Revolutionszeitalter 
ruht auf Sybel, knüpft an ihn an, auch in Frankreich. Taine’s berühmtes 
Buch über die Entstehung des neuen Frankreich läfst sich eigentlich mit 
Sybel nicht vergleichen; denn dieser will als Historiker den geschicht- 
lichen Verlauf erzählen, jener will eine politische und sociale Psychologie, 
eine sociologische Schilderung der Zustände und Einrichtungen jener Tage 
geben. Dabei bleibt Sybel stets ruhiger Berichterstatter, Taine schildert 
viel anschaulicher, bewegter, drastischer, mit französischer Beredsamkeit und 
mit französischem Geist. Im Grunde aber sind sie in den Ergebnissen eins 
und Taine ist der, welcher aus Sybel gelernt hat. Ja man könnte sagen, 
die Grundzüge seines politischen Urtheils habe er aus Sybel entnommen. 
Denn das ist ja doch auch bei Sybel der springende Punkt, der rothe 
Faden, der durch Alles hindurchgeht: er will zeigen, wohin der Radi- 
ealismus, die Volkssouveränetät, die Rousseau’schen und communistischen 
Staatstheorien praktisch führen; er will stets zugleich beweisen, dafs eine 
freie Staatsverfassung mit Erhaltung einer geordneten Staatsgewalt möglich 
sei. Und weil er nicht blofs Historiker, sondern zugleich Politiker, Finanz-, 
Verfassungstheoretiker und Jurist ist, wufste er die rechten Fragen zum 
ersten Male gegenüber diesem gröfsesten politischen Stoffe der neueren 
Zeit zu stellen und Antworten zu geben, die für seine Zeit einen aulser- 
ordentlichen Fortschritt bedeuteten. 


16 G. SCHMOLLER: 


Es ist das der Punkt, wo wir sehen, wie enge sein gröfstes Lebens- 
werk — freilich auch viele seiner kleinen schönen Aufsätze, auf die wir 
hier leider nieht eingehen können — mit seinen politischen Grundprin- 
eipien und seiner Weltanschauung und diese mit seiner Methode und seiner 
Persönlichkeit zusammenhingen. 

Mit seinem optimistischen Idealismus und seiner klaren Verständigkeit 
war sein fester Glaube an die kritische Methode und an jenen mafsvollen 
Liberalismus gegeben, der von starkem Staatsgefühl und Patriotismus ge- 
tragen ist. Mit der kritischen Quellenprüfung nach Niebuhr’s und 
Ranke’s Vorbild und mit seiner Kenntnifs der Politik glaubte er die 
vollen Gesetze des historischen Wissens zu besitzen, nicht blofs den 
Schlüssel, um deseriptiv die historischen Vorgänge wahrheitsgetreu zu 
schildern, sondern auch um ihren inneren Zusammenhang, ihre causale 
Verknüpfung ohne Rest zu verstehen. Sein politischer, kirchlicher, soeialer 
Standpunkt war ihm nur denkbar als Consequenz der rechten Methode; 
seine Urtheile von diesem Standpunkt aus schienen ihm so sicher, wie 
die unumstöfslichen Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung. Alle 
ältere Betrachtungsweise, selbst die Ranke’sche, verurtheilt er. Fast 
hart sprieht er 1856 von der vornehmen Neutralität, die ohne Rettung 
seelenlos oder affeetirt werde, die nie zu der Fülle, der Wärme und der 
Freiheit der wahren Natur sich zu erheben vermöge. Er jubelt, dafs es 
mit der weltbürgerlichen Ruhe, die einst Johannes von Müller zur 
Mode gemacht habe, nun in der deutschen Geschichtschreibung für immer 
vorbei sei und es nur noch religiöse und atheistische, protestantische und 
katholische, liberale und conservative, aber keine objeetiven unparteiischen, 
blut- und nervenlosen Historiker mehr gebe. Aber er fügt in dieser 
merkwürdigen Rede »über den Stand der neueren deutschen Geschicht- 
schreibung« gleich bei, dafs er diese verschiedenen Richtungen nicht für 
gleichwerthig halte. Nur die ist ihm die wahre, welche die grofsen politischen 
Gegensätze in sich ausgeglichen habe; die liberale, soweit sie die radicalen 
Elemente ausgestolsen, die conservative, soweit sie liberal geworden. Er 
ruft: die grofsen Historiker, Mommsen und Duncker, Waitz und 
Giesebrecht, Droysen und Häusser, gehören alle diesem Centrum an; 
was weiter rechts und weiter links steht, was die extremen Parteien daneben 
neuerlich geleistet haben, kommt »nach wissenschaftlichem Werth« gar 
nicht in Betracht. Und in ähnlicher Weise verkündet er in dem Vorwort 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. W 


zur historischen Zeitschrift 1859, sie solle die wahre Methode historischer 
Forschung vertreten, nieht antiquarisch und nicht politisch sein. Aber 
aus der geschichtlichen Betrachtung, aus der Erkenntnifs der sittlichen 
Gesetze und dem Wesen der Entwickelung der Staats- und Culturformen 
folgert er, dafs ihr politisches Urtheil bekämpfen müsse »den Feudalismus, 
weleher dem fortschreitenden Leben abgestorbene Formen aufnöthige, den 
Radiealismus, welcher die subjeetive Willkür an die Stelle des organischen 
Verlaufs setze, den Ultramontanismus, welcher die nationale und geistige 
Entwiekelung der Autorität einer äufseren Kirche unterwerfe«. 

Ich möchte mich methodologisch mit all diesen Sätzen keineswegs 
identifieiren. Sie scheinen mir die Gränzen zwischen gesichertem empiri- 
schen Wissen und dem aus einer bestimmten Weltanschauung folgenden 
Urtheil, den mit Hilfe einer solchen versuchten grofsen Conceptionen ganz 
zu verkennen. Aber ich gebe Sybel Recht, dafs 1840-1880 die von ihm 
und den genannten Historikern vertretene Weltanschauung die wissen- 
schaftlich und sittlich höchststehende und darum kräftigste, berechtigtste, 
siegreiche war. Und Sybel’s grofse Bedeutung liegt mit darin, dafs er 
von diesem Standpunkt aus Geschichte schrieb und Werthurtheile abgab, 
dass er damit den Schritt von der blofs deseriptiven Wissenschaft zur eausal 
erklärenden, zu der die grofsen Zusammenhänge aufhellenden in seiner Art 
vollzog. In dem Dienste des grofsen Problems, wie in dem modernen 
Grofsstaat die Befreiung des Individuums verträglich sei mit einer festen, 
starken, nationalen Regierung, hat Sybel gleichsam stets gestanden; er 
wollte es durch empirische zuverlässige Untersuchung fördern, von dieser 
Einzeluntersuchung aus zu allgemeinen Wahrheiten kommen. Nicht darauf, 
ob er dabei in jedem einzelnen Punkte mit seinen Generalisirungen das 
Richtige getroffen, kommt es an, sondern darauf, dafs Sybel nach seiner 
Natur und seiner Zeit sich als Historiker keine gröfsere Aufgabe stellen 
konnte und dafs er bei der Beantwortung des grofsen Problems auf das 
rechte Ziel gerichtet war. Nicht umsonst sagte Ranke von ihm, wohl 
im Gegensatz zu anderen seiner Schüler, er sei stets auf dem rechten Wege, 
auf dem Boden der richtigen Methode geblieben. 

Er würde das wohl von Treitschke nicht behauptet haben, wiewohl 
er seine Grölse noch erlebte und mit wachsendem Beifall doch seine deutsche 
Geschichte in sich aufnahm. 

Gedächtnifsreden. 1896. 1. 3 


18 G. SEHMOLLER: 


I. 


Heinrich von Treitschke ist in dem Jahre geboren, in welchem 
Sybel die Universität bezog. Als Kind einer sächsischen adeligen Offiziers- 
familie, die einst um ihres Glaubens willen hatte Böhmen verlassen müssen, 
ist er in Dresden aufgewachsen. Seine patriotisch gesinnte Mutter und 
die Ereignisse von 1840-1855 bestimmten sein erstes politisches Denken; 
der kernhafte ritterliche Vater war ein ausgezeichneter Offiecier und der 
Sohn würde, wie er oft erzählte, dieser Laufbahn gefolgt sein, wenn ihn 
nicht ein frühes Gehörleiden daran gehindert hätte.. Er war nach körper- 
lichen und geistigen Eigenschaften zu einem Leben der That, der Ent- 
schlossenheit, des Handelns geboren; freilich hatte ihm eine gütige Fee 
zugleich die Gaben des Dichters in die Wiege gelegt, eine kräftige lebendige 
Phantasie, ein wunderbares Form- und Sprachgefühl, einen enthusiastischen 
Schwung der Seele, eine himmelstürmende Leidenschaft für grofse Ideale. 
Er hat noch lange in seiner Studienzeit zwischen dem Beruf des Gelehrten 
und des Dichters geschwankt, Simrock immer wieder seine poetischen 
Produete vorgelegt. Zunächst hatte er in der trefflichen Kreuzschule in 
Dresden das Gymnasium durchlaufen und dann in Bonn begonnen Staats- 
wissenschaften und Geschichte zu studiren, doch so, dafs während seiner 
ganzen akademischen Laufbahn in Bonn, Leipzig, Tübingen, Heidelberg 
und Göttingen die nationaloekonomische und staatswissenschaftliche Thätig- 
keit vorwog. Immerhin hatte Dahlmann den grölsesten Eindruck auf 
ihn geübt und nachdem er sich in Leipzig als Docent mit einer staats- 
wissenschaftlichen Abhandlung über die Gesellschaftswissenschaft (1859), 
die gegen Robert von Mohl gerichtet war, habilitirt hatte, drängten ihn 
doch bald das politische Interesse und der Erfolg seiner Vorlesungen über 
neuere Geschichte vollends ganz zur Historie hinüber. Aber daneben be- 
hielt er stets die Verfassungsfragen in erster Linie im Auge; die Geschichte 
der politischen Theorien und die Politik blieben seine Lieblingsvorlesungen. 
Treitschke ist so noch mehr als Sybel staatswissenschaftlich - politischer 
Historiker. Aber von den staatswissenschaftlichen Fragen traten doch nur 
die über die politische Freiheit, über die eonstitutionelle Verfassung, über 
das Königthum und die nationalen Einheitsstaaten in das innerste Centrum 
seines Denkens und Strebens. 

Sie wurden für ihn das grofse Thema seines Lebens; sie suchte er 
als publieistischer Schriftsteller, als Staatstheoretiker, als Docent, als Ge- 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 19 


schichtschreiber, als Abgeordneter des Parlaments zu fördern, auszuge- 
stalten, zu vertiefen, immer zugleich praktisch und theoretisch wirkend, 
immer zugleich als Künstler gestaltend, als Patriot mahnend und handelnd, 
als Lehrer die Jugend begeisternd, als Historiker seine Nation belehrend 
und erziehend. Es wird erst eine eingehende Biographie uns schildern 
können, wie die gährenden und theilweise widersprechenden Elemente in 
ihm sich ausgleichen und zu jener grolsen Wirkung kommen konnten, die 
theils schon bei seinen Lebzeiten und noch mehr in der Zukunft den Eindruck 
des Genialen und Titanenhaften gemacht haben und machen werden. 

Sehon äufserlich mufste er Jedem, der ihn zum ersten Male mit seinen 
breiten Schultern, seiner grofsen kühnen Stirn und Nase sah, den Ein- 
druck des gewaltigen Kämpen machen. Aber wer in diese treuen tiefen 
Augen sah, der empfand sofort, dafs zugleich ein Mann von seltener 
Herzensgüte, von vornehmstem Edelmuth, von sinnigem, tief bewegtem 
Gemüthsleben vor ihm stand. Kein Falsch war in seiner Seele; ohne 
Egoismus und Ehrgeiz ging er durch’s Leben, so stark sein Selbstgefühl 
auch war; er setzte von allen Menschen das Beste voraus; selbst die 
Taubheit hat ihn nie zu dem natürlichen Fehler der Tauben, zum Mils- 
trauen gegen andere gebracht. Aber wo er auf Widerspruch, auf Ge- 
meinheit, auf Lehren stiefs, die er für falsch und verderblich hielt, da 
konnte er in wildester, fast berserkerartiger Leidenschaft losbrechen, un- 
barmherzig mit Keulen dreinschlagen. Er liebte und hafste mit elemen- 
tarer, fast vulkanischer Gewalt; und das hielt er für sein gutes Recht; 
er konnte sich keinen rechten Mann denken ohne solchen Hafs und ohne 
solehe Liebe. »So gewils der Mensch nur versteht, was er liebt«, mit 
diesen Worten hat er uns den 5. Band der deutschen Geschichte übergeben, 
»ebenso gewifs kann nur ein starkes Herz, das die Geschicke des Vater- 
landes wie selbsterlebtes Leid und Glück empfindet, der historischen Er- 
zählung die innere Wahrheit geben«. In dieser Macht des Gemüthes, 
fügt er bei, liegt die Gröfse der Geschichtschreiber des Alterthums. Früher 
schon hatte er sich mal auf die Frage, »Wen zählen alle Völker mit Vor- 
liebe unter ihre grofsen Redner und Schriftsteller?« die Antwort gegeben 
»doch gewifs jene streitbaren Naturen, die etwas vom Helden in sich 
tragen und deren Worte klingen wie Trompetengeschmetter«. 

Und in dieser seiner Eigenart hat ihn nun notlıwendig sein Schick- 
sal gesteigert. Zunächst die erzwungene Einsamkeit, zu der ihn seine 


3* 


20 G. SCHMOLLER: 


Taubheit verurtheilte. Er konnte nicht mehr in lebendiger Rede und 
Gegenrede seine Urtheile abschleifen und modifieiren; auf sich selbst eon- 
centrirt, lebte er ein doppelt innerliches Leben, die Glut seines Herzens 
immer nachhaltiger sammelnd, auf grofse Ziele hinrichtend. Er wulste 
durch kluges reiches Beobachten um so mehr in sich aufzunehmen, er 
wulste aus einem Worte ganze Zusammenhänge zu errathen, er las, er 
sammelte um so mehr, je weniger er mehr hörte; aber all das hob die That- 
sache nicht auf, dafs er wie kaum ein Anderer seinen Schwerpunkt allein in 
sich selber fand. Wenn sein Inneres sich öffnete zu einem jener Mono- 
loge, die wir alle so gern, oft mit Beifall, oft mit Kopfschütteln hörten, 
so empfand Jeder, welche ungewöhnliche lang gesammelte und zurückge- 
haltene Kraft hier gährte. 

Die schwersten Kämpfe mit Vaterhaus und Heimat wurden ihm, 
dem glühenden Preufsenverehrer, nicht erspart. Auch sonst hat sein 
warmes Herz viel Schweres erdulden müssen. Er hat sich in Demuth 
vor dem Schicksal gebeugt, ist nie dadurch auf die Dauer verbittert ge- 
worden, er blieb stets des Lebens froh, des Vertrauens auf seinen Gott 
voll — bis zuletzt; das schwerste Schicksal hat ihm nur den kühnen 
Muth gestärkt, auf sich selbst stehend sich ganz auszuleben, eigenartig 
und kraftvoll durch die Welt zu schreiten. Die »That« war ihm nun ein- 
mal das Lebensideal. 

Er war sich wohl bewufst, dafs dies eigentlich in Widerspruch stehe 
mit kühler Untersuchung, mit abwägender Gelehrsamkeit. »Es ist«, sagt 
er einmal, »der Mehrheit der Menschen nicht gegeben, sich selber und ihr 
eigenes Thun nur als historisch bedingte Erscheinungen zu begreifen«. Aber 
er fand doch immer wieder den Weg, das Ideal des handelnden und des 


forschenden Menschen zur Harmonie zu verbinden. »Es ist« — ruft er 
aus — »eine höchste Blüthe feiner und dennoch kräftiger Bildung möglich, 


welche mit dem raschen Muthe der That die überlegene Milde des Histo- 
rikers verbindet. Es ist möglich, fest zu stehen und um sich zu schla- 
gen in dem schweren Kampf der Männer und dennoch das Geschehende 
wie ein Geschehenes zu betrachten, jede Erscheinung der Zeit in ihrer 
Nothwendigkeit zu begreifen und mit liebevollem Blicke auch unter der 
wunderlichsten Hülle der Thorheit das liebe traute Menschenangesicht auf- 
zusuchen. Diese zugleich thätige und betrachtende Stimmung des Geistes, 
welche in jedem Augenblicke reif und bereit ist, abzuschliefsen mit 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 21 


dem Leben, soll einem geistreichen Volke immer als ein Ideal vor Augen 
schweben. « 

So hat er zeitlebens in sich gerungen; immer reiner hat ein edler 
sittlicher Idealismus das unbändige Temperament in ihm beherrscht, immer 


sehöner hat die Muse der Geschichte und der Genius des Künstlers in 


ihm die Leidenschaft gedämpft. Aber er war und blieb — und darauf 
beruhte vor Allem seine grofse Wirkung auf die Jugend — ein stürmischer 


Redner; auch wo er an den Verstand sieh wenden wollte. appellirte er 
zuletzt an die Gefühle. Auch sein geschriebenes Wort war im Sinne der 
Rede und der Überredung gehalten. Alles, was er schrieb, hatte etwas 
Rhetorisches; aber jedes Wort war aus seinem Innern entsprungen, wahr- 
haftig erlebt. Immer in vollen Akkorden erging sich sein Stil, vorwärts 
drängend, wie seine Gedanken, immer farbenreich und pointirt, dem älteren 
Leser oft zu unruhig, zu wenig zu schlichter Erzählung, zu objectiver 
verstandesmälsiger Auseinandersetzung gelangend. Da Alles in ihm lebendig 
widerklang, so konnte er nur schwer anders als impulsiv reden; die Ein- 
drücke des Tages, seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen kann man 
oft zwischen den Zeilen lesen. Ich möchte sagen, die starken Bewe- 
gungen seiner Künstlerseele kamen nur dadurch zur Ruhe, dafs er sie zu 
Mahnworten und Reden, zu Gestalten und Bildern umformte, dals er das 
Empfundene und Durchdachte zu geist- und lebensvoller Darstellung brachte. 
Auch wo er mehr theoretisch verfährt, ist der intuitive Blick, der rasch, 
springend zu scharf ausgeprägten Resultaten kommt, das Wesentliche. 
Wo er schildert, weils er mit schlagenden Metaphern, mit glücklichen 
Vergleichen, mit einer Häufung anschaulicher Beiworte das Vergangene 
vor die Augen zu zaubern, als ob wir dabei wären. Er gibt als Historiker 
meist mehr Farbe, als Zeichnung; helle Lichter und dunkle Schatten stehen 
neben einander, die Mitteltöne fehlen. Die Urtheile lauten gern absolut, 
eine Generalisirung wird ausgesprochen, um damit die Behauptung zu dem 
Range einer höheren eindringlicheren Wahrheit zu erheben, auch wo nur 
ein oder ein paar Beispiele dem Redner als Beweis vorschweben. Meist ist 
es schwer, aus seinen Schriften Auszüge zu geben, weil das Gerippe ohne 
die Sprache und Farbe des Autors nicht mehr als sein Gedanke erscheint. 

Doch müssen wir, wenn wir ihn nun als Schriftsteller ganz verstehen 
wollen, scheiden zwischen seinen kleinen Schriften einerseits, seiner deutschen 
Geschichte andererseits. 


[80) 
DD 


G. SCHMOLLER: 


Treitschke’s kleinere Sehriften, die uns in den drei Bänden histo- 
rischer und politischer Aufsätze, in den »zehn Jahren deutscher Kämpfe« 
und in zahlreichen Aufsätzen der preufsischen Jahrbücher und anderer 
Zeitschriften, sowie in selbständigen Broschüren vorliegen, zerfallen in 
drei Gruppen. 

Die erste enthält Reden und Aufsätze über einzelne Persönlichkeiten, 
Fürsten, Staatsmänner, Politiker, Dichter und Schriftsteller. Auf biogra- 
phischer Grundlage werden farbenreiche hinreifsende Portraits der Be- 
treffenden uns vorgeführt, die mit seltener Kraft auf den Hörer und Leser 
wirken. Vielleicht gehören diese Bilder zum Formvollendetsten und Le- 
bendigsten, was er geschaffen: Seine Reden über Luther und Gustav 
Adolph, seine Aufsätze über Pufendorf und Milton sind Meisterstücke 
lapidarer grofser Personenschilderung. Und seine Aufsätze über deutsche 
Dichter, über Lessing und Kleist, über Uhland und Hebbel gehören 
für mich zu dem Besten und Packendsten, was die deutsche Litteratur- 
geschichte geschaffen. Man spürt, dafs ein Berichterstatter redet, der 
alle Geheimnisse der Dichter- und Künstlerseele kennt. Auch hier freilich 
gelingt ihm das am besten, was ihm ganz congenial ist, wie die Schilderung 
der Poesie des politischen Hasses bei Kleist. Er lehrt uns verstehen, 
wie der gewaltige Dichter mit Mordgedanken gegen Napoleon umgehen 
konnte und wie er die Germania jene furchtbaren Worte an ihre Kinder 
richten lälst: 


»Schlagt ihn todt, das Weltgericht 
Fragt Euch nach den Gründen nicht«. 


Die zweite Gruppe hat er selbst einmal bezeichnet als Studien ver- 
gleichender Staatswissenschaft, wobei ihm die Art vorschwebte, wie Dahl- 
mann in seinen Vorlesungen über Politik Durchschnittsbilder des venetiani- 
schen oder anderweiten Verfassungslebens gab. Er ist sich wohl bewulst, dafs 
sie nicht unter den Begriff der untersuchenden und erzählenden Geschichte 
fallen; sie wollen bestimmten Zuständen und Formen des Staatslebens 
ihre Stelle im Zusammenhange der Geschichte anweisen, die Berechtigung 
dieser Formen, die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalls 
ergründen. Solche Studien gehen, sagt er, von einem Durchschnitt des 
Geschehenen aus; aber, fügt er bei, sie lüften dafür zuweilen den Vorhang, 
welcher die unabänderlichen Naturgesetze des Völkerlebens dem Auge des 
Forschers verbirgt. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 23 


Hauptsächlich die Arbeiten über Cavour (1869), über die Republik der 
vereinigten Niederlande (1869), über Frankreichs Staatsleben und den Bona- 
partismus (1869), welch letzteres fast ein selbständiges Buch bildet, gehören 
hieher, aber auch die über das deutsche Ordensland Preufsen (1862) und 
manches Andere. In gewissem Sinne fallen auch erhebliche Theile seiner 
publieistischen Schriften in dieses Bereich, sofern in dieselben Schilde- 
rungen der schweizerischen oder amerikanischen Bundesverfassung und 
Ähnliches einverleibt und zu vergleichenden Betrachtungen benutzt sind. 

Die Politik des Aristoteles, die Staatslehren von Macchiavell, 
Bodinus, Pufendorf, die ganze neuere politisch-theoretische Litteratur, 
hauptsächlich Dahlmann, Gneist, da und dort auch Lorenz von Stein, 
gaben ihm die Kategorien, nach denen er den Stoff ordnete, vielfach auch 
den Mafsstab, nach dem er urtheilte. Das Wesentliche aber sind die leben- 
digen Anschauungen, die er in das Gerüste dieser Kategorien einordnet. 
Da er sehr deutliche, immer lebensvolle, klare Vorstellungen über Land und 
Leute, wirthschaftliche und sociale Verhältnisse, geistige und kirchliche 
Zustände der verschiedenen Staaten in Vergangenheit und Gegenwart hatte, 
so gelangte er vielfach zu richtigeren Schlüssen, zu schlagenderen Verglei- 
chen als andere Gelehrte, die im Übrigen ihm vielleicht überlegen waren, 
aber in das Getriebe ihrer Überlegungen keinen so anschaulichen Stoff, keine 
so lebensvolle Erfassung der Realitäten hineingeben konnten. Die wesent- 
lichsten Resultate dieser Studien sind ähnliche wie bei der dritten Gruppe 
seiner kleinen Schriften, welehe der deutschen Tagespolitik dienten. 

Hier erhebt er sich zu seiner ganzen Gröfse. Er ist der erste, vor- 
nehmste deutsche Publieist in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. 
Hier lebt er sein Naturell voll aus, hier zeigt er ganz die Fähigkeit, sein 
sittliches Pathos und seine historischen und staatswissenschaftlichen Kennt- 
nisse in den Dienst der grofsen politischen Action zu stellen; hier ent- 
hüllt er den Blick des denkenden, scharfsichtigen Politikers, der sah, wo 
die Macht und die gesunde Staatsbildung lag, durch welche Mittel die Zu- 
kunft Deutschlands zu retten sei. 

Gewils trug er die Fahne der klein-deutschen Politik nicht allein. 
Seit den Tagen Gustav Pfizer’s, dann hauptsächlich in der Frank- 
furter Paulskirche waren bei Gagern, Dahlmann, Beseler, Duncker, 
Droysen die Gedanken gereift, denen damals die preufsische Staatsleitung 
wie Bismarek noch feindlich gegenüberstand. In der schweren Zeit von 


24 G. ScHMOLLER: 


ıS5o an, seit der Schmach von Olmütz, hatte die Sehnsucht. nach der Ein- 
heit Deutschlands dann alle Patrioten ergriffen. Aber Niemand wulste das 
erlösende Wort zu sprechen. Zweifelnd stand die Nation vor der neuen 
Ära und dem Bismarck’schen Regiment. Treitschke gehörte nicht zu 
denen, welche sofort diesem Staatsmann zustimmten; er hatte sich deshalb 
Juli 1863 von den preufsischen Jahrbüchern losgesagt. Aber schon 1864 
sah er die Berechtigung der preufsischen Politik gegen Dänemark ein. In 
diesem Jahre erschien das glänzendste Produet seiner publicistischen Feder, 
die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat; 1866 die Broschüre über 
die Zukunft der Mittelstaaten; 1869-1871 die Arbeit über das constitutio- 
nelle Königthum in Deutschland. In dem Bande Zehn Jahre deutscher 
Kämpfe sind 50 Aufsätze vereinigt, die sich auf die Tagespolitik von 1865 
bis 1S79 beziehen. Die Jahre 1863-1870 hat er überwiegend dieser Thätig- 
keit gewidmet. In dieser Zeit hat er, ein zweiter Pufendorf, sein ausge- 
reiftes politisches Glaubensbekenntnifs mit solcher Kraft verkündet, so 
unerbittlich die schiefen radiealen und föderalistischen Gedanken bekämpft, 
so durchschlagend die Mission der preufsischen Monarchie vertheidigt, daß 
man ihn mit Recht den Propheten des neuen deutschen Reiches genannt 
hat. Vor allem die Schrift über Bundesstaat und Einheitsstaat von 1864 
ist die Vollendung der Träume von 1848, ist der Höhepunkt der ganzen 
publieistischen und historisch-politischen Schule, ohne deren Hilfe das 
deutsche Reich nicht zu Stande gekommen wäre. Sie ist ein Muster von 
Wahrheit und Unerschrockenheit, hinreifsender historischer und staatsrecht- 
licher Beweisführung. Nie ist schöner auf wenigen Seiten die preufsische 
Geschichte erzählt und gedeutet worden. Ich kenne keine glänzenderen 
historischen Parallelen, als die hier zwischen Preufsen und Italien, Deutsch- 
land und der Schweiz durchgeführten. Sie wird immer ein Ruhmestitel 
deutscher Publieistik bleiben, wird immer wieder gelesen werden, obwohl 
Treitschke den deutschen Einheitsstaat verlangte, während dann 1866 und 
ıS70 nur der Bundesstaat zu Stande kam. 

Die politischen Gedanken, für welche Treitschke in diesen, wie 
in seinen staatsvergleichenden Schriften auftrat, lassen sich in wenigen 
Sätzen zusammenfassen. Er ging ursprünglich wie Sybel von einem etwas 
optimistischen Liberalismus aus. In dem Essay über die Freiheit (1861) 
konnte er schreiben: »Alles Neue, was das ıg. Jahrhundert geschaffen, 
ist nur ein Werk des Liberalismus«. Ja er fügt die Worte der amerika- 


a 


SER. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 25 


nischen Bundesverfassung bei: »Die gerechten Gewalten der Regierung 
kommen her von der Zustimmung der Regierten«. Aber schon damals 
pries er die politische Freiheit nicht, wie J. St. Mill oder Laboulaye, 
um ihrer selbst willen, sondern weil sie die beste Staatsgesinnung erzeuge. 
Schon damals beschäftigte ihn, wie die anderen politischen Historiker vor 
Allem das Räthsel, wie die Volksfreiheit sich versöhnen lasse mit der 
Staatsmacht. Schon damals schien ihm jede Freiheit werthlos, die nicht 
im national geeinten Staate die Richtung auf die grofsen Ziele des ein- 
heitlichen Nationalstaates erhalte. Schon damals verachtet er tief die man- 
chesterlich-liberale Auffassung, die im Staate nur ein Mittel für die egoistisch- 
wirthschaftlichen Zwecke der Einzelnen oder gar der Reichen sieht. Ganz 
wie Sybel bekämpft er die Lehre von der Volkssouveränität und der Ge- 
waltentheilung, er weils, dass der deutsche Staat durch Königthum, Heer 
und Beamtenthum geschaffen sei, dafs die wahre politische Freiheit mehr 
auf einer gesunden Selbstverwaltung und auf einem ausgebildeten, gericht- 
lich geschützten Verwaltungsrecht, als auf der Macht des Parlaments be- 
ruhe. Immer denkt er noch 1866 so hoch von den Rechten des Abge- 
ordnetenhauses, dass er ein Anerbieten Bismarcek’s, in Berlin als Professor 
in seinem Sinne zu wirken, ablehnt, weil er über den Verfassungsbruch 
noch denkt, wie die Liberalen. Aber den Gedanken betont er stets: der 
Staat muls Macht sein, eine kraftvolle selbständige Spitze haben; sie bleibt 
freilieh nur im Recht, wenn sie sittliche Macht bleibt, über den socialen 
Classeninteressen steht. Und das ist von der deutschen Monarchie sicherer 
zu erwarten, als von einer englischen Adels-, einer französischen Bourgeois- 
herrschaft oder einer Herrschaft der unteren Classen, sei sie direet oder 
durch eine Tyrannis ausgeübt. 

In der Frage der deutschen Bundesverfassung war sein Axiom, ein 
wirklicher Bundesstaat setze kleine, gleichgrofse, demokratische Gemein- 
wesen voraus, die sich gegenseitig respectiren; die ganze deutsche Ge- 
schichte sei monarchisch und sei in einer Stufenreihe von Annexionen 
verlaufen, wie sie in der Schweiz und den Vereinigten Staaten niemals 
vorgekommen. Das letzte Ziel sei daher der monarchische Einheitsstaat 
oder, wie er sich nach 1870 ausdrückte, die nationale Monarchie mit 
bündischen Formen: die kleinen deutschen Staaten haben für ihn keine 
Souveränität mehr, da ihnen die Kriegsherrlichkeit sowie die Vertretung 
nach Aufsen genommen sei und sie einer Ausdehnung der Bundeskompetenz, 

Gedächtnifsreden. 1896. 1. 4 


26 G. SCHMOLLER: 


trotz der für Einzelne formal bestehenden Reservatrechte, sich nieht wider- 
setzen könnten. 

Überall beherrscht ihn der stolze Gedanke, wer die deutsche und 
preufsische Geschichte kenne, müsse sich losreifsen von den abstraeten 
politischen Phrasen Westeuropas, müsse. verstehen, welch eigenartiges poli- 
tisches Geschick uns zu Theil geworden, welch eigenthümliche Verfassung 
das Deutsche Reich durch Preufsen, dureh die Hohenzollern, durch Bis- 
marck erhalten habe. Der Stolz auf die Macht und die Gröfse des Vater- 
landes hat ihn von der ersten Zeile an, die er schrieb, bis zur letzten 
erfüllt. Die bewundernde Verehrung für den grofsen Staatsmann, der das 
Deutsche Reich geschaffen, blieb in seinen späteren Jahren die Axe seines 
politischen Glaubensbekenntnisses. 

Wenn er im Einzelnen seiner politischen und sonstigen Überzeugungen 
oft geschwankt hat, im Ganzen immer conservativer und religiöser wurde, 
jedenfalls später die Betonung der liberalen Seite seiner Gedanken immer 
mehr fallen liefs, so ist er im innersten Kern seiner sittlichen und poli- 
tischen Prineipien doch immer derselbe geblieben. Auch in Bezug auf 
seine religiöse Seite gilt dies. Wenn er in seiner Jugend jede Orthodoxie 
und jede Dogmatik schroff bekämpfte, und später seinen Trost in dem 
hingebendsten Glauben an eine persönliche Gottesregierung fand, so ist 
er doch stets ein frommes Gemüth gewesen; er fand nur früher die wahre 
Frömmigkeit ausschliefslich bei den Männern humaner Bildung, bei den 
»Weltlichen« und sehr wenig bei denen, die sich gern und laut zum 
Dogma bekennen. Und eine freie Geistesrichtung in religiösen Dingen hat 
er sich bis in’s Grab bewahrt. Er gehörte zu jener grofsen Gemeinde 
ächt religiöser, aber über den Confessionen und Dogmen stehender Männer, 
die seit den Tagen der Reformation die gröfsten Geister Westeuropas um- 
falst hat. Was seinen Wechsel in den politischen Aussprüchen betrifft, so 
dürfen wir nur nicht vergessen, dafs es zum Wesen des Politikers und 
noch mehr des Publieisten gehört, unter dem Eindruck der Tagesereig- 
nisse und Tagesstimmungen die grofsen Ziele und die einzelnen kleinen 
Mittel zu scheiden, in den ersteren fest, in den letzteren belehrbar und 
anpassungsfähig zu sein. Wer auf die öffentliche Meinung wirken will, 
wie ein Publieist, mufs heute mehr die liberale, morgen mehr die eon- 
servative Richtung seiner Gedanken betonen. Und so weit Treitschke’s 
Stimmung thatsächlich später nach rechts rückte, war es eine Verschiebung, 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 27 


die nicht blofs bei den meisten politisch Denkenden mit dem Alter sich 
vollzieht, sondern die gerade auch durch die deutsche Geschichte von 
1860-1890 ähnlich bei Millionen sich vollzog. Nur Eins bleibt für ihn 
eigenthümlich: der Eintlufs seines impulsiven Gemüthslebens, seiner grossen 
Empfänglichkeit und die unvermittelte Umsetzung seiner Gemüthserregungen 
in Urtheile und Schlüsse. Mit dieser Eigenschaft kam er in den Schriften 
zur Tagespolitik immer wieder zu schärferen Accenten, als er sie später 
selbst für richtig fand; er mufste immer wieder das, was ihm jetzt die Haupt- 
sache schien, absoluter formuliren, als es der Historiker in ihm eigentlich 
gestattete. Aber es ist deshalb doch falsch, ihm grofse Vorwürfe daraus 
zu. machen, dafs er 1864 die Waitz’sche Bundesstaatstheorie billigte und 
1874 verwarf, dafs er erst den Culturkampf mitmachte, später ihn ver- 
urtheilte, dafs er einmal die deutschen Universitäten einer deutschen Cen- 
tralgewalt unterordnen wollte und später für diesen Punkt doch die Fort- 
existenz der deutschen Einzelstaaten richtig fand. 

Ich füge ein Wort über seine wirthschaftlichen und socialen Ansichten 
und deren Wechsel bei. Sie beruhten auf einem nicht ganz in ihm aus- 
geglichenen Gegensatz zwischen den praktischen Idealen der Gewerbe- und 
Handelsfreiheit einerseits, die er in den fünfziger Jahren rückhaltlos in sich 
aufnahm und nie später durch Specialstudien modifieirte, die er deshalb auch 
nieht so voll und ganz in ihrer begränzten Bedingtheit verstehen lernte, 
und der Verachtung andererseits, die ihm seine ideale Staatsauffassung 
für die theoretischen Grundlagen des Manchesterthums einflöfste, ohne 
dafs ihm dabei doch ganz klar wurde, wie diese zugleich das Fundament 
der politisch-volkswirthschaftlichen Ideale des älteren Liberalismus bildeten. 
So kam er dazu, die liberalen wirthschaftlichen Gesetze Hardenberg’s 
und den Segen und die Gerechtigkeit der liberalen deutschen Bundesgesetze 
von 1867-1875 zu überschätzen. So konnte er noch 1874 zornig den 
staatlichen Arbeiterversicherungszwang und das Staatseisenbahnsystem ab- 
weisen. Aber die Lehre von der Interessenharmonie hat er stets als einen 
falschen Aberglauben verurtheilt, wie er mit souveräner Verachtung von 
der ganzen mammonistischen Richtung unserer besitzenden Classen und von 
Buckle’s banausischem Worte sprach, dass aller Fortschritt auf der Liebe 
zum Gelde beruhe. Er hat stets einer energischen Fabrikgesetzgebung 
das Wort geredet und warnende Worte gegen den Geiz der Fabrikanten 
und die Verkennung der einfachsten socialen Pflichten durch zahlreiche 


4* 


28 G. SCHMOLLER: 


Rittergutsbesitzer niemals zurückgehalten. Er hat die heutige Bewegung 
der unteren Classen nie recht und voll verstanden, weil er sie nie genauer 
kennen gelernt hat. Darum war sein Urtheil über die Socialdemokratie 
übertrieben und einseitig, obwohl er andererseits ein warmes Herz für die 
Leiden der kleinen Leute und ein tiefblickendes Verständnifs für die 
tüchtigen Eigenschaften des Gemüths, des natürlichen Verstandes, der 
körperlichen Rüstigkeit hatte, wie sie die unteren Classen auszeichnen; 
er nennt sie mit Recht den Jungbrunnen der Gesellschaft. Aber er hält 
schroff an dem Gedanken fest, dafs jede Gesellschaftsgliederung eine aristo- 
kratische sein müsse. Als 1872 der Verein für Socialpolitik gegründet 
wurde, drückte er mir mit Begeisterung seine Zustimmung aus. Als aber 
nach dem Katzenjammer der Gründerperiode die deutsche Arbeiterbewegung 
ihre häfslichsten Seiten einseitig hervorkehrte, entstanden wohl mit auf 
das Drängen einiger wirthschaftlich lIinksliberaler Freunde, die ihm weis 
gemacht hatten, auf allen Kathedern ertöne der Ruf nach einem vier- bis 
sechsstündigen Arbeitstag, jene Aufsätze über den Socialismus und seine 
Gönner, die gegen mich und meine socialpolitischen Gesinnungsgenossen 
gerichtet waren, obwohl Treitschke auch damals uns viel näher stand, 
als Männern wie Bamberger und Herr von Eynern, die er in Schutz 
nahm. Er glaubte nur, uns könne ein kalter Wasserstrahl nicht schaden, 
und es mülste gesagt werden, dafs die Verrohung der unteren Classen 
die ganze deutsche Gesittung bedrohe. Er hat diese Aufsätze selbst später 
als das bezeichnet, was sie in ihren Spitzen sind: als einen momentanen 
Stimmungsausdruck, an dem er so wenig festhielt', wie an seiner damali- 
gen Verurtheilung des Versicherungszwangs oder an seiner absolut frei- 
händlerischen Stimmung. Zu den politischen Grundgedanken freilich dieser 
Aufsätze hat er sich stets bekannt. Und man wird auch nicht leugnen 
können, dafs sie, sofern man die dort ausgesprochenen absoluten Sätze 
mehr in den Flufs der historischen Entwickelung -versetzt, grofse social- 
politische Wahrheiten aussprechen und zwar in der glänzendsten Form. 
Ich habe nie verkannt, dafs sie zu den bedeutsamsten staatswissenschaft- 
lichen Leistungen der Gegenwart gehören, und dafs wir damals wie 


später in Bezug auf die Forderungen einer energischen monarchischen 


' Er meinte wohl scherzend, ich würde wohl so wenig als er an jedem damaligen 


Worte festhalten, die Wahrheit werde zwischen uns in der Mitte liegen. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 29 


Soecialreform auf demselben prineipiellen Boden standen. Er hat es, wie 
ich sicher weils, in den letzten Jahren tief beklagt, dafs Fürst Bismarck, 
der einst unter dem verantwortlichen Gefühl der Ministerstellung und dem 
persönlichen Eintlufs des Geh. Rathıs Hermann Wagener Socialpolitik 
grolsen Stils getrieben hatte, nun aus dem Amte geschieden, seinem Organe 
gestattete, sich in die Reihen jener Vertreter einseitig egoistischer agrarischer 
und grofsindustrieller Interessen zu stellen, welche jede weitere Socialreform 
verdammen und hindern, die Leidenschaften der höheren Classen gegen die 
Arbeiter entflammen, die Staatsgewalt zu einer einseitigen und schroffen 
Stellungnahme gegen die Arbeiter bringen wollen. Treitschke sah in 
diesen Tendenzen immer überwiegend die erwerbssüchtige Herzenshärte, 
welche in Zeiten, wie die unserige leider ist, so leicht einen Theil der be- 
sitzenden Classen ergreift. 

Alle die Gedanken und Erörterungen, die in Treitschke's staats- 
wissenschaftlichen und publieistischen Aufsätzen zerstreut zu Tage treten, 
hat er in seiner Vorlesung über Politik einheitlich und systematisch zu- 
sammenzufassen gesucht. Es war sein Lieblingsgedanke, nach Vollendung 
seiner deutschen Geschichte an ein erneutes Studium dieser Dinge heran- 
zutreten, alles was seit den letzten 25 Jahren auf diesem Gebiete erschienen 
sei, durchzuarbeiten und so mit der zu publieirenden Politik zu vollenden, 
was einst Dahlmann und Waitz versucht hatten; er traute sich zu, die 
Gedanken des Aristoteles im Sinne unserer heutigen Staatserkenntnils 
nicht blols zu vertiefen, sondern umzubilden und zu einer neuen Wissen- 
schaft zu gestalten; er meinte wohl, das sei seine eigenste wissenschaftliche 
Bedeutung.. Ich konnte ein sehr gutes Heft seiner Vorlesung aus den 
achtziger Jahren durchsehen. Die Vergleichung, Beurtheilung und Be- 
sprechung der Verfassungsformen ist ihr Höhepunkt. Sie ist voll geist- 
reicher Bemerkungen und lehrreicher Schlufsfolgerungen, bespricht alle 
politischen Tagesfragen mit Glück und Nachdruck. Was aus ihr geworden 
wäre, wenn Treitschke’s Hoffnungen auf eine Vollendung sich erfüllt 
hätten, ist schwer zu sagen. Offenbar ist auch aus dem besten nach- 
geschriebenen Heft mit seinen kurzen Notizen nur ein matter Abglanz dessen 
zu verspüren, was sein zündendes Wort bedeutet hatte. Im Ganzen aber 
habe ich doch den Eindruck, dafs die Grundgedanken dieselben sind, wie in 
seinen Aufsätzen, und dafs sie dort in der Treitschke’s Wesen entprechen- 
deren Form auftreten. In den Reden und Aufsätzen schadet die aphori- 


30 G. SCHMOLLER: 


stische Form so wenig, als die scharfe Zuspitzung zu praktischen Zwecken; 
hier sind wir nieht enttäuscht, wenn mehr eine Fülle von Gedanken- 
blitzen, als erschöpfende Untersuchungen uns entgegentreten. Hier ge- 
statten wir dem handelnden Politiker viel mehr als in einem theoretischen 
Werke die Tendenz, neue Gedanken, um sie zum Siege zu führen, als ab- 
solute Wahrheiten hinzustellen, sie zu überschätzen, wie er das selbst als 
die Kehrseite jedes praktisch wirkenden Staatstheoretikers bezeichnet hat. 
Am angezeigtesten erschiene mir daher der Versuch, einzelne der besten 
Capitel seiner Politik nach stenographischen Niederschriften zu redigiren 
und sie, soweit sie sich nicht mit den Aufsätzen decken, der Sammlung 
derselben einzuverleiben. 

‘ Aber nicht blofs für seine Politik, auch für sein grofses Lebenswerk, 
seine deutsche Geschichte, waren die sämmtlichen kleineren Schriften eigent- 
lich nur Vorarbeiten. Und dieses Ziel hat Treitschke wenigstens zu 
einem grolsen Theile erreicht. Fünf umfangreiche Bände derselben sind 
1879-1894 erschienen. Von Anfang der siebziger Jahre an hat Treitschke 
fast ausschliefslich an diesem Werke gearbeitet. Es ist das eigentliche 
Vermächtnifs des Historikers an sein Volk. Voll ausgereift und abgeklärt 
kam er an die Aufgabe. Fehlte ihm zum Staatstheoretiker doch etwas 
die leidenschaftlose Ruhe des abstracten juristischen und staatswissen- 
schaftlichen Denkers, brachen bei seiner Publieistik immer wieder die Ein- 
drücke des Tages mit ihren Erregungen durch: um dem deutschen Volke 
die Geschichte seiner Entwickelung im 19. Jahrhundert zu erzählen und 
zwar im Stile des nationalen Stolzes und der nationalen Erziehung zugleich, 
dazu hatte ein gütiges Geschick alle Erfordernisse mit verschwenderischer 
Hand auf ihn gehäuft. 

Als der erste Max Duncker gewidmete Band 1879 erschien, der 
einen Überblick der deutschen und preufsischen Geschichte bis 1815 gibt, 
wirkte er doch gleich wie ein grofses Ereignils. Nicht blofs ebenbürtig, 
sondern sie weit überragend trat das Buch neben Häusser’s deutsche Ge- 
schichte jener Zeit, indem Treitschke die innere Entwickelung des preufsi- 
schen Staates und die grofsen Wandlungen des geistigen Lebens in den 
Vordergrund rückte. Auch die Widerstrebenden beugten sich nun vor dieser 
unvergleichlichen Kraft. Ranke gehörte selbst zu ihnen; er war noch halb 
erstaunt und halb abwehrend gegenüber dieser Art der Geschichtsbehand- 
lung, aber er fügte doch schon bei »ja es muls auch solche Werke geben«. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 31 


Jeder weitere Band wurde von der ganzen Nation mit Spannung er- 
wartet und sofort in einer Weise verschlungen, gelesen, besprochen und 
angegriffen, wie es keinem anderen deutschen Geschichtswerke je begegnete. 
Und doch erzählten diese weiteren vier Bände nicht grofse Kriegsthaten 
und Staatsveränderungen, sondern die lange stille Friedenszeit von 18135 
bis 1848; die Epoche, welche die ältere Generation noch miterlebt hatte 
und darum zu kennen glaubte, über welche die jüngere Generation längst 
vom Standpunkt vorangeschrittener Theorien und Ideale glaubte den Stab 
definitiv haben‘ brechen zu dürfen. Diesem scheinbar spröden und un- 
dankbaren Stoff wulste Treitschke ein Leben einzuhauchen, wie es nur 
den gröfsesten Historikern aller Zeiten mit den gröfsesten Stoffen gelungen 
war; und dies Wunder gelang ihm dadurch, dafs er, der stürmisch-leiden- 
schaftliche, sich die für ihn doppelt harte, entsagungsreiche, sein Augenlicht 
fast mit Vernichtung bedrohende Arbeit auferlegte, 25 Jahre seines Lebens 
den Staub der Archive zu schlucken, den empirisch-kritischen Weg voll 
und ganz zu betreten, den uns Ranke gelehrt hatte, und dafs er nun 
zur Ausgestaltung des so erworbenen Stoffes seine reiche politische Er- 
fahrung, seine tiefgreifenden staatswissenschaftlichen Studien, seine histo- 
rische sittliche Weltanschauung und eine Künstlerseele, eine Phantasie mit 
heranbrachte, wie sie in dieser Kraft, mit dieser Anschaulichkeit entfernt 
keiner der anderen deutschen Historiker, auch Ranke nicht besessen hatte. 

Es lag in der Natur des Stoffes, der geschilderten Zeit, dafs Treitschke, 
welcher so gern davon redete, dafs die wahre Geschichte nur die Geschichte 
der Staats- und Machtbildung, der grofsen Staatsmänner und Generale sei, 
doch uns eigentlich eine Culturgeschichte bietet. Die ganze Geschichte des 
geistigen und kirchlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Littera- 
tur, der gewerblichen und Handelsverhältnisse wird uns neben der poli- 
tischen vorgeführt. Und das ist nicht zufällig. Einen der Grundgedanken 
des ganzen Werkes könnte man so fassen: Treitschke will zeigen, dafs 
die Neubildung Deutschlands im 19. Jahrhundert aus zwei Wurzeln und 
ihrer Vereinigung erwachsen sei: aus der gesunden staatlichen Organisation 
Preufsens und aus dem geistigen und wissenschaftlichen Leben, das zuerst 
wesentlich aufserhalb Preufsens entstanden, erst nach 1806 von diesem 
anerkannt und aufgenommen worden sei. Die Versöhnung des preufsischen 
Staates mit der Freiheit deutscher Bildung, das, sagt er, ist die grolse 
Wendung, welche den Gang unserer Geschichte bestimmt hat. Und es 


32 G. SCHMOLLER: 


ist deshalb kein Zufall, wenn er stets neben einander die Helden des 
Schwertes und die der Feder auftreten läfst, in demselben Capitel Stein, 
Hardenberg und Scharnhorst, Schleiermacher, Fichte, Goethe 
und Kleist schildert, wenn er neben die Wiederherstellung des preulsi- 
schen Staates 1815-1830 und die damaligen süddeutschen Verfassungs- 
kämpfe die Romantiker jener Tage und die burschenschaftlichen Bewe- 
gungen stellt. 

Sybel pilegte im Scherze öfters zu sagen: er weils zu viel, er weils 
zu viel. Ich möchte sagen, ohne diese seltene Vielseitigkeit, hauptsächlich 
ohne die eingefügte Geistesgeschichte würde es nicht möglich gewesen 
sein, den Stoff so zu beleben. Und eine vollendete Einheitlichkeit bleibt 
dadurch gewahrt, dafs der Verfasser doch Alles auf einen Punkt bezieht 
und dem entsprechend ordnet, auf die Frage, wie haben alle einzelnen 
Elemente und Vorgänge dazu mitgewirkt, aus Deutschland wieder eine 
grolse einheitliche Nation und einen grofsen Staat zu machen. Eben des- 
halb stellt er auch die politische und verfassungsrechtliche, die innere 
und geistige Geschichte Preufsens und die der Mittel- und Kleinstaaten 
stets neben einander. Ihre Wechselwirkung, ihre Kämpfe mufste er in 
erster Linie schildern; ihre Versöhnung im Jahre 1866 und 1870 darzu- 
legen, war ihm leider so wenig mehr vergönnt, als die Geschichte Preufsens 
von 1548-1866 zu schreiben, die wir neben Sybel’s Erzählung so gern 
von ihm erhalten hätten. Aber das wenigstens hat er erreicht: die Zeit 
1815-1840 erscheint uns jetzt nicht mehr als eine traurige träge Zeit 
verlorener Hoffnungen, sondern als eine Zeit der Sammlung, der Vor- 
bereitung, der Ausbildung grofser geistiger und sittlicher Kräfte; und die 
Jahre 1840-1848, die man auch früher schon öfter als die bewegteste 
Zeit unserer neueren deutschen Geschichte bezeiehnet, mit den Tagen vor 
der Reformation verglichen hat, jetzt erst verstehen wir sie voll und ganz 
in ihrer grundlegenden Bedeutung; jetzt erst sehen wir, wie alle die 
grolsen Männer, die uns bis 1890 regiert haben, damals ihre Lehrjahre 
durchgemacht, ihren Stempel erhalten haben. Es ist ein unersetzlicher 
Verlust, dafs Treitschke diese Erzählung nicht wenigstens bis 1857 
vollenden konnte. 

Der Zusammenhang der deutschen mit der europäischen Politik wird 
von Treitschke ebenso berücksichtigt, wie die innerdeutsche Politik. Auf 
beiden Gebieten bringt er uns eine Fülle neuer Aufklärungen, bringt er 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 35) 


die Wahrheit auf Grund der ächten Quellen, der authentischen Überliefe- 
rung und auf weite Strecken als der Erste zu Tage. Aber es liegt ebenso 
im Wesen der nieht durch Kriege und grofse diplomatische Actionen be- 
wegten Zeit, als in dem des Autors, dafs nicht sowohl die fortlaufende 
Erzählung der Ereignisse als die Schilderung der Menschen, der Zustände, 
der Einrichtungen im Vordergrunde steht. Und dabei kommt, da stets nur 
summarische Endergebnisse, Durehschnitte gegeben werden können, eben- 
so viel oder noch mehr auf die Kunst des Historikers an, als auf seine 
Quellenforschung. 

Die Schilderung, die Treitschke von allen wichtigeren deutschen 
Landschaften, von dem Volkscharakter ihrer Bewohner, von einzelnen 
Städten, von den Verfassungs- und Verwaltungszuständen zu geben weils, 
ist unübertrefflich, und man könnte fast sagen, er male die Rhein- und 
Neckarlande, Weimar und das Regiment Karl August’s, seine sächsische 
Heimat mit noch mehr Vorliebe, mit stimmungsvollerem Pinsel und mehr 
innerer Wärme aus, als Preufsen und Berlin. Und doch ist das der Punkt, 
der ihm so viele Feinde gemacht hat. Der partieularistische Territorial- 
und Localpatriotismus war nirgends ganz zufrieden mit dem, was er sagte. 

Freilich meist deshalb, weil er rückhaltlos die Wahrheit verkündigte. 
Ich möchte behaupten, die politischen Stimmungs- und Verwaltungsbilder 
aus den deutschen Mittel- und Kleinstaaten gehörten zum Besten des ganzen 
Werkes. Gerade auch die kurze Geschichte Sachsens im dritten Bande ist 
ein historisches Meisterwerk ersten Ranges; ebenso sind die Schilderungen 
der bayrischen und württembergischen Zustände im Ganzen ebenso an- 
ziehend, als wahr. Treitschke war der erste, der es erklärte, warum 
Preufsen von 1815-1848 mit dem aufgeklärt rationalen und büreaukratisch- 
eonstitutionellen Regiment dieser Südstaaten sich so viel besser als mit 
den in ständischer Reaction verharrenden norddeutschen Staaten, Sachsen 
und Hannover, verständigen konnte. 

Aber eins bleibt dabei wahr. Der politische Standpunkt des Ver- 
fassers lälst ihn in der Farbengebung und im Urtheil oft etwas zu weit 
gehen, und theilweise konnte er auch nieht über alle Menschen und Vor- 
gänge, besonders die in den kleinen deutschen Staaten, gleichmälsig gut 
unterrichtet sein. 

Bei einem Werk, wie das von Treitschke, das den Gesammtgang 
der deutschen Geschichte einheitlich vorführen will, ist es ganz ausge- 

Gedächtnifsreden. 1896. I. 5 


34 G. SCHMOLLER: 


schlossen, dafs der Geschichtschreiber alle Archivalien voll erschöpft haben 
sollte. Er hätte für jedes Jahr, das er schildert, und jede Specialfrage 
ein ganzes Leben archivalischen Forschens einsetzen müssen, wenn er 
vorher alle Acten lesen wollte. Aufserdem waren ihm bestimmte Archive 
überhaupt verschlossen. Er mufste also seine archivalische Forschung auf 
gewisse Hauptpunkte und erreichbare Positionen einschränken, im Übrigen 
versuchen, aus der sonstigen besten Überlieferung zu schöpfen. Dafs er 
deshalb in manchen Neben- und Aufsenpunkten bald berichtigt werden 
würde, war nicht zu vermeiden. Es ist deshalb aber auch kein Vorwurf 
für ihn, wenn z.B. ein agrarischer Specialist wie F. G. Knapp die grofsen 
Agrargesetze von 1807 und 1811 anders und wahrheitsgetreuer dargestellt 
hat, wenn Süddeutsche auf Grund archivalischer Studien ihn da und dort 
eorrigiren. 

Der Vorwurf Hermann Baumgarten’s gegen ihn, er hätte da, wo 
er auf einseitig preufsische Acten sich stützt, vorsichtiger urtheilen sollen, 
bezieht sich zugleich auf die Art seiner Schilderung, auf die Werthurtheile, 
die er abgibt. Er kann nicht anders schildern, als durch starke, plastische 
Beiworte und Vergleiche; da mufs mancher subjective Zug mit unterlaufen; 
und er kann nicht anders urtheilen als unter Anlegung moralischer Mafsstäbe 
und politischer Ideale. Seine schroff abgegebenen Urtheile heben den Einen 
auf Kosten des Andern empor, verdunkeln auch oft die Causalzusammen- 
hänge etwas, legen oft in frühere Zeiten Forderungen des Patriotismus und 
Nationalgefühls hinein, die nicht ganz gerecht sind. Die unitarische Politik 
wird zu oft als einziges Kriterium verwerthet, wie er z.B. in einer seiner 
kleinen Schriften dem beustischen und augustenburgischen Partieularismus 
sogar die sächsische und holstein’sche Socialdemokratie in die Schuhe schieben 
will. Die Schilderung König Friedrich’s von Württemberg hat von einem 
durchaus preufsisch gesinnten Gelehrten G. Rümelin' auf Grund der Acten 
mit Recht Widerspruch erfahren; es wird gezeigt, dals Treitschke hier 
einfach dem Zerrbild Häusser's ohne selbständige Nachprüfung folgte. 
Die Regierung dieses Königs wird von Treitschke als ein Sündenregiment 
bezeichnet, wie es der deutsche Boden noch nie gesehen, er selbst als der 
geistvollste aber auch ruchloseste der Satrapen Napoleons. Und doch war 
der aufgeklärte Despotismus dieses in Preulsen grofs gewordenen Fürsten 


‘ Reden und Aufsätze, dritte Folge, 1894, S.39. 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 35 


wesentlich nur eine Nachahmung der Fridericianischen Regierungsweise. 
Seine rücksichtslose Unifieirung der verschiedenen Landestheile war ein 
Stück in dem sonst von Treitschke stets gebilligten Kampf gegen die 
politische Krähwinkelei; er gibt auch zu, dafs es eine »nothwendige Re- 
volution« gewesen sei. Wesentlich Vorwürfe aus seinem Privatleben dienen 
Treitschke zur Begründung des harten Urtheils. Im Übrigen gibt er 
zu, dafs dieser König der einzige der Rheinbundfürsten war, der Napoleon 
Achtung abnöthigte; sagte der Korse doch von ihm, wenn er 100000 Mann 
hätte, so mülste ich einen Krieg mit ihm führen. 

Hier, wie an anderen ähnlichen Stellen ist nicht sowohl die Schil- 
derung an sich falsch, sondern der Künstler in Treitschke hat nur, um 
die Gegensätze lebendiger zu machen, die Liehter und die Schatten schärfer 
vertheilt, als billig war. Man sieht das besonders in Bezug auf Erschei- 
nungen, die er mehrmals berührt. Seine Dresdener Mitbürger beehrt er 
häufig mit dem Beiwort der Bedientenhaftigkeit, aber an anderer Stelle 
redet er so wahr und so schön auch von den guten Seiten des Dresdener 
Lebens, dafs man sieht, es sei nicht so schlimm gemeint. Durch charakte- 
ristische Anekdoten seine Gegner zu ironisiren, kann er sich nicht ver- 
sagen, wie er z. B. den Leipziger Anatomen für ewig dem Gelächter preis- 
gegeben hat, der bei Napoleon’s Einzug sogar die »Todten« ein durch 
Illumination hervorgebrachtes Vivat rufen liels. Und doch ist er so häufig 
stolz auf die Leipziger Gelehrten, vor Allem auf jene Reihe streitbarer 
sächsischer Geister, denen es, wie Pufendorf und Thomasius, Lessing 
und Fiehte, Moritz Haupt und Richard Wagner in Leipzig und in 
Sachsen, wie ihm selbst, zu enge wurde. In behaglicher Stunde beim Glase 
Wein konnte er sogar seine Liebe zur Heimat in stärkster Betonung der 
sächsischen Stammesvorzüge äufsern und eitirte dann mit Vorliebe das 
Verslein: 


» Womit salzte man das deutsche Land, 
Wenn der Herr uns Sachsen nicht erfand !« 


Wenn man so von einzelnen scharfen Worten, Anekdoten und Ur- 
theilen absieht und die Erzählung Treitschke’s im Ganzen ansieht und 
nachprüft, so hat man sie stets in allen Hauptpunkten streng wahrheits- 
getreu gefunden. Sybel hat bei Gelegenheit der Verleihung des Verdun- 
preises die wichtigsten Treitschke gemachten Vorwürfe im Einzelnen 
genau untersucht und war in seinem ausführlichen Gutachten darüber er- 


5* 


36 G. SCHMOLLER: 


füllt von der Umsicht und Vorsicht, der Zuverlässigkeit und Praeeision 
der Forschung. Und andere neuere Untersuchungen, z. B. die von Stern, 
scheinen auch in allem Wesentlichen trotz des verschiedenen politischen 
Standpunktes die Ergebnisse Treitschke's zu bestätigen. 

Freilich wird man nicht erwarten dürfen, dafs spätere Forscher die 
Dinge und die Menschen immer wieder genau ebenso beurtheilen. Wenn 
Treitschke Friedrich Wilhelm III. günstiger auffafste, als z. B. Max Leh- 
mann oder Hans Delbrück, so liegt die Ursache hievon nicht darin, 
dafs die Forschung verschieden weit ginge, verschieden zuverlässig wäre, 
sondern darin, dafs das psychologische und politische Werthurtheil über 
Fürsten immer je nach der Weltanschauung, nach den angelegten ver- 
schiedenen Mafsstäben, nach der psychologischen Fähigkeit, fremde Men- 
schen zu erfassen und zu verstehen, ein verschiedenes sein wird. An Furcht- 
losigkeit, auch die Hohenzollern wahr und ohne Schminke zu zeichnen, 
hat es jedenfalls Treitschke nicht gefehlt. Das tragische, so überaus 
gelungene Bild Friedrich Wilhelms IV. im letzten Bande zeigt den vollen 
edlen Freimuth des seines Richteramtes sich bewulsten Historikers. 

Aber das Richteramt, das er für sich in Anspruch nimmt, ist aller- 
dings ein anderes, als es Ranke und andere Historiker verstanden haben. 
Es kann eben jeder Historiker nur urtheilen vom Standpunkt seiner höch- 
sten Ideale, seiner Weltanschauung. Ranke ging von gewissen Vorstellun- 
gen über die Entwickelung der Religionen und Ideen in der Weltgeschichte 
und über die persönlichen Kräfte, die in den Dienst der Ideen treten, aus; 
unseren politischen Historikern gaben gewisse verfassungsgeschichtliche und 
patriotische Ideale ihren Standpunkt; speeiell für Treitschke trat Alles 
zurück gegenüber der Einheit des Vaterlandes und den politischen Ge- 
danken und Formen, die er für die unerläfsliche Bedingung dieser Einheit 
und der Gröfse Deutschlands hielt. Sein Patriotismus war seine Weltan- 
schauung. Und diesen Patriotismus hatte er zugleich erfüllt mit dem Glau- 
ben an das Walten der sittlichen Mächte, an den Sieg der grofsen Ideale, 
wie sie von den Tagen der Reformation bis zur Gegenwart Deutschland 
emporgeführt hatten. 

Sein Idealismus, seine Weltanschauung, sein frommer kindlicher Glaube 
an Gottes Walten in der Geschichte, an den Sieg der Vernunft über die 
Unvernunft in ihr war nicht der eines kritischen Philosophen oder eines 


entwiekelungsgeschichtlichen Theoretikers; es war mehr die Weltanschauung 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 37 


eines tiefen Gemüthsmenschen und einer Künstlerseele. Aber jedenfalls 
war es der Standpunkt eines grossen vollen Menschen, eines tapferen 
Charakters, eines klaren politischen Denkers und eines Historikers ersten 
Ranges. 

Unserer Akademie hat er nur ganz kurz angehört. Seine Taubheit 
und manche anderen zufälligen Umstände wirkten mit, dafs er später als 
viele andere gewählt wurde; man hat wohl auch gemeint, sein ganzes 
Wesen passe nicht in den Rahmen der Akademie. Und gewils, einige der 
gewöhnlichen Gelehrteneigenschaften hatte er nicht, aber um so mehr jene 
grolsen Eigenschaften des Geistes und des Gemüthes, des Charakters und 
des Intelleets, die ihn weit über das durchsehnittliche Niveau des Ge- 
lehrten hinausheben, die ihn zu einem der grofsen Männer des 19. Jahr- 
hunderts machen. 


IV. 

Darf ich zum Schlufs nochmal auf die Fragen zurückkommen, mit 
denen ich begann, und damit versuchen, zusammenfassend Sybel und 
Treitschke ihre Stellung in der Entwickelung des deutschen Geisteslebens 
und der deutschen Geschichtswissenschaft anzuweisen, so kann ich das 
freilich nur von meinem methodologischen und allgemein wissenschaftlichen 
Standpunkt aus. Mir scheint die Sache so zu liegen: 

Die Zeit von 1815-1840 war politisch für Deutschland eine Epoche 
der Ruhe und Sammlung, wissenschaftlich eine solche tiefer Studien, ern- 
ster Anläufe, allgemeinster Bildung, aber zugleich der Romantik und der 
Schwärmerei. Von 1840-1870 steigerten sich die politischen und socialen 
Kämpfe; es war eine Zeit der höchsten Anspannung und der gröfsten Er- 
folge. Wissenschaftlich eine Epoche, in welcher die Nebel sanken, der 
vornehmste Idealismus sich mit nüchterner Klarheit verband, die einzelnen 
Wissenschaften ihre gröfsten 'Triumphe feierten. Ich glaube, man wird 
nieht zuviel behaupten, wenn man sagt, Deutschland habe ein so geistes- 
starkes Geschlecht von Männern der That und der Wissenschaft seit Jahr- 
hunderten nicht gehabt. Es war natürlich, dafs nun, nach Erreichung so 
grolser Resultate, von 1370-1890 an eine gewisse Erschlaffung eintrat, die 
Spannung der Geister nachliefs. Stets macht nach grofsen Zeiten die ge- 
meine Natur des Menschen sich geltend; man will nun eine Zeit lang leben 
und leben lassen; die fähigsten Köpfe traten nicht mehr wie bisher in den 


38 G. SCHMOLLER: 


Dienst des Vaterlandes und der Wissenschaft, sondern in den des Erwerbs- 
lebens. 

In der wissenschaftlichen Bewegung, wenigstens in der der Geistes- 
wissenschaften, mufste die von 1815 bis zur Gegenwart sich vollziehende 
Hinwendung von grofsen Idealen und allgemeiner Bildung zur Arbeits- 
theilung und empirischen Einzelforschung in verschiedenen . Stadien ver- 
laufen, verschiedene Combinationen erzeugen. Es wird keinen gesicherten 
Fortschritt in der Wissenschaft geben können, ohne den siegreichen Fort- 
schritt der Empirie und ohne die Speeialisirung. Aber es ist auch klar, dafs 
der Specialist und Detailforscher, indem er am Einzelnen kleben bleibt, gar 
leicht den Überbliek verliert und sich so um die Möglichkeit bringt, die 
grofsen Zusammenhänge zu verstehen, an ihrer Lösung mitzuwirken. Es 
ist die Tragik des Gelehrtenlebens, das sich opfert, im Detail untergeht, 
um späteren Generationen, die die Früchte der Detailforschung ohne deren 
Schattenseiten genielsen, wieder das Aufsteigen zu einem höheren Stand- 
punkt zu gestatten. 

In der deutschen Geschichtswissenschaft wufste Ranke noch die volle 
Universalität einer philosophischen Epoche zu verbinden mit dem Beginn 
einer kritischen Detailforschung. Seine nächsten Nachfolger gehörten einer 
Zeit noch an, die gleich kühn, gleich geistesmuthig nach den höchsten 
Zielen griff, zwar seine universale Bildung nur theilweise bewahren, dafür 
aber den politischen Theil der Geschichte viel kräftiger und congenialer 
erfassen konnte; die Forscher setzten mit ihren Studien breiter und tiefer 
an den Stellen ein, auf die sie sich concentrirten. Wenn die heutigen 
Rankeschwärmer oft die ganze Generation der politischen Historiker, vor 
Allem auch Sybel und Treitschke, als einen Rückschritt bezeichnen, 
so verkennen sie ebenso die Gesetze des Wandels der geistigen Richtungen, 
wie den Werth der wissenschaftlichen Kräfteconcentration. Wenn Sybel, 
Treitschke und die anderen politischen und rechtsgeschichtlichen Historiker 
auf der einen Seite unter Ranke stehen, so stehen sie auf der anderen 
über ihm. Ihre Thätigkeit war so nothwendig und so heilsam als die 
Ranke's; sie ergänzte seine Ideengeschichte und seine Geschichte einzelner 
Personen und Ereignisse durch eine empirische Geschichte der Institutionen 
und Zustände, die er wohl auch berührt, aber nicht erschöpft, ja kaum 
ernstlich in Angriff genommen hatte. Die Forschung wurde durch sie 


langsamer, umständlicher, aber auch sicherer. Wo Ranke Andeutungen 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 39 


und Ahnungen gibt, gewähren sie Sicherheit. Wenn Ranke alle paar 
Jahre ein neues grolses Werk erscheinen lassen konnte, so blieben sie 
ein halbes Menschenleben an einem begränzten Stoffe, den sie nicht ein- 
mal von allen Seiten fassen wollten. Aber indem Mommsen die römische 
Geschichte, Waitz die deutsche Verfassungsgeschichte vom Standpunkt 
des Rechtshistorikers schrieb, indem Nitzsceh von dem des Wirthschafts- 
historikers das deutsche Mittelalter, Burckhardt von dem des Cultur- 
historikers die italienische Renaissance beschrieb, indem Droysen die 
grolsen spätgriechischen Reiche, Duncker das griechische Alterthum, 
Sybel, Droysen, Häusser, Treitschke die neuere Geschichte vom 
Standpunkt des Politikers abfafsten, so erledigten sie historische Fragen 
ersten Ranges, die Ranke offen gelassen, gewannen sie ganze Provinzen 
der historischen Herrschaft. Sie kehrten in gewissem Sinne damit zu 
einer Betrachtung zurück, die schon Niebuhr erstrebt hatte. Denn er 
hatte als Staatsmann mit juristischen und staatswirthschaftlichen Kennt- 
nissen seine römische Geschichte geschrieben, während Ranke als Theo- 
loge und Philologe, als Freund von Fürsten und Staatsmännern, als 
Bücherleser und Archivarbeiter zwar sich die universalste Bildung, aber 
doch nicht alle die Kenntnisse gleichmäfsig erworben hatte, die für den 
Historiker wichtig sind. Gewils besafsen nun Sybel und Treitschke 
dafür einzelne grofse Vorzüge, über die Ranke verfügte, nicht. Aber 
anders als durch Einseitigkeit ist uns sterblichen Menschen kein Fort- 
schritt möglich. 

Jeder Mensch hat die Fehler seiner Tugenden. Ranke’s religiös ge- 
färbte Weltanschauung war für seine Tage so berechtigt und so hoch- 
stehend, wie Sybel’s rationalistisch-politische und Treitschke’s sittlich- 
nationale für die ihrigen. Keine enthielt allein und für sich den Schlüssel 
zur vollen Wahrheit, jede war ein Versuch, zu einem geschlossenen ein- 
heitlichen Standpunkt zu kommen, die Einzelerkenntnifs einzuordnen in 
ein Gedankensystem, das zugleich einen Werthmafsstab gebe. Wie konnten 
die besten Geister 1840-1870 sich der Wahrnehmung entziehen, dafs ınan 
Geschichte nur verstehen könne, wenn man sie als Verfassungsgeschichte 
politisch behandele. Der so eingenommene Standpunkt war ein eben- 
so fruchtbarer, als er daneben in seiner Überspannung auf Irrwege führen, 
falsche Werthurtheile erzeugen konnte. Sybel’s Glaube, die Verbindung 
von Geschichte und Politik ergebe die letzte zu absolut gesicherten Wahr- 


40 G. SCHMOLLER: 


heiten führende Vollendung der Geschichte, war sicher eine Überschätzung. 
Noch weniger konnte die ausschliefsliche Anlegung des Mafsstabes patrio- 
tisch-nationaler Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu gewissen Parteilehren 
die einzig richtigen historischen Werthurtheile geben. Solcher Einseitigkeit 
gegenüber hatte Ranke mit seinen kritischen Zweifeln gegenüber dem 
Urtheil nach den politischen Doctrinen des Tages ganz Recht. Aber anderer- 
seits sind Patriotismus und richtige politische Einsicht, noch mehr die 
Fähigkeit politisch richtig zu handeln, seinem Staate die rechte Verfassung 
zu geben, gewils Eigenschaften, die man rühmen, zeitweise als die höchsten 
Tugenden preisen kann. Und wer also in gerechter Weise diesen Mafsstab 
neben anderen seinem Werthurtheil zu Grunde legt, braucht deswegen nicht 
zu irren. Und jedenfalls war die genauere Erforschung der politischen 
Einrichtungen und Verfassungen eine Erweiterung des empirischen Wissens- 
gebietes und sie war aulserdem, soweit wir die Anfänge einer Politik als 
Wissenschaft seit Aristoteles haben, die Benutzung dieser Wissenschaft zur 
besseren Causalerklärung der Geschichte. Natürlich sind Verfassung, Ver- 
waltung und politische Parteikämpfe weder die einzigen Gegenstände und 
Formen des historischen Lebens, noch sind die hier wirksamen Kräfte die 
einzigen Ursachen des geschichtlichen Lebens. Aber es handelt sich doch 
um einen der wichtigsten Theile desselben, der durch die ganze Schule, 
hauptsächlich durch die Lebensarbeit Sybel’s und Treitschke’s in helleres 
Licht gerückt wurde. 

Die Schule hatte das Verdienst, zunächst an einem Punkte die Wissen- 
schaft der Geschichte in die rechte Verbindung mit den anderen benachbarten 
Wissenschaften zu bringen, die, halb aus ihr, halb aus anderen Erkennt- 
nifsquellen entsprungen, den Versuch machen, den Stoff, den die Geschichte 
erzählend vorführt, nach theoretischen Gesichtspunkten und nach Causal- 
zusammenhängen zu einem selbständigen System von Wahrheiten zu ord- 
nen. Die Wissenschaften der Sprache, der Religion, der Sitte und des 
Rechts, der Politik und der Volkswirthschaft müssen, je weiter sie sich 
ausbilden, desto mehr vom Historiker gekannt, berücksichtigt, verwerthet 
werden. Es wird damit nichts Fremdes in die Geschichte hineingetragen, 
sondern nur ein Bestand gesicherten Wissens zur Erklärung verwerthet; 
darauf verzichten heifst sich die Augen zubinden, heifst Rückschritte 
machen, ganz ebenso, wie wenn man auf die kritische Prüfung der Quellen 
verzichten wollte. 


Gedächtni/srede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. Al 


Ob man nun bei solcher Auffassung der Dinge Ranke oder Sybel 
oder Treitschke höher stellen wolle, bleibt zuletzt Sache subjectiver 
Empfindung. Wenn auch ich geneigt bin, Ranke als Forscher und För- 
derer der historischen Wissenschaft die erste Stelle zu lassen, zuzugeben, 
dafs er, begünstigt durch ein langes Leben, durch die Concentration auf 
reine Gelehrtenthätigkeit, durch die erste Eröffnung der Archive und durch 
eine Genialität ohne Gleichen, doch noch mehr für die Geschichte that 
als diese, so stehen sie ihm doch jedenfalls ebenbürtig und ergänzend 
zur Seite und haben ihn in der Wirksamkeit vielleicht noch überholt. 
Treitschke’s Werke haben auf Tausende gewirkt, wo Ranke auf Hun- 
derte Einflufs gewann. Sybel und Treitschke haben zugleich der Gegen- 
wart in einer Weise politisch die Wege gewiesen, wie es Ranke nicht 
vermochte. Sie gehören zusammen und werden darum mit Ranke an 
erster Stelle genannt, wenn von dem goldenen Zeitalter der deutschen 
Geschichtschreibung die Rede ist. Noch neuerdings hat der erste Ranke- 
kenner A. Dove Niebuhr als den Lessing, Ranke als den Goethe, 
Treitschke als den Schiller der deutschen Historie bezeichnet. 

Und brauchen wir Nachlebende den Muth sinken zu lassen, weil 
dieses Zeitalter nun zur Rüste geht? Sollen wir den etwas pessimistisch- 
elegischen Ton anschlagen, den Sybel und Treitschke selbst in den 
letzten Jahren gern hervorkehrten? Sie haben beide trübe in die Zukunft 
ihrer Wissenschaft gesehen, manche Wendungen beklagt, die heute sich 
geltend machen: sie fürchteten beide das historische Speeialistenthum, das 
die Geschichte zu einer zünftigen Fachwissenschaft machen wolle; sie ver- 
hielten sich kritisch und zweifelnd gegen die zunehmende Bedeutung der 
wirthschafts- und socialgeschichtlichen Studien, gegen die Zurückdrängung 
des persönlichen Heldenthums in der Geschichtserklärung; sie verhielten 
sich ablehnend gegen das Eindringen entwickelungs- und urgeschichtlicher, 
anthropologischer, darwinistischer, materialistischer Betrachtungsweisen. 

Sie haben vielleicht im Urtheil über einzelne Bücher und Autoren 
halb oder ganz Recht gehabt. Vielleicht ist ihnen Manches ungünstiger 
erschienen, weil sie es nicht genauer mehr kennen lernten, weil sie nach 
ihrer Weltanschauung dem jüngeren Geschlecht nicht mehr ganz gerecht 
werden konnten. Jede wissenschaftliche Richtung mufs, wenn ihre Ver- 
treter älter werden, doch an ihrem Standpunkt festhalten; das Bündnifs 
zwischen Politik und Geschichte, die Verknüpfung des praktisch -politi- 

Gedächtnifsreden. 1896. 1. 6 


42 G. SCHMOLLER: 


schen Lebens mit der Historie mufste Beiden in zu idealem Lichte er- 
scheinen. 

Recht hatten sie darin, dafs unter ihren Nachfolgern die Zahl der 
grofsen und erheblichen Geister eine sparsame ist; ein früher Tod hat 
uns die Besten vor der Zeit hinweggerafft. An ganz grofse Aufgaben 
wagte man sich nieht mehr so leicht wie früher. Die Speeialforschung, 
die blofse Kritik nahm auf Kosten der Darstellung grofser historischer 
Stoffe zu. Und wo ganz neue Richtungen eingeschlagen wurden, da ist 
von Musterwerken, wie Ranke und die politischen Historiker welche ge- 
schaffen, doch noch nieht voll die Rede. 

Aber der Ruf ist deshalb nicht berechtigt, zum Alten, sei es zu 
Ranke's, sei es zu Sybel’s Standpunkt zurückzukehren. Die neuen 
Richtungen sind nicht unberechtigt; ebenso wenig die weitere Speeialisirung 
der Forschung und die Wendung zu einer noch realistischeren Behandlung 
der Geschichte in Darstellung und Causalerklärung. Von den neueren Rich- 
tungen will ich nur noch ein Wort über die wirthschaftsgeschichtliche 
sagen; in gewissem Sinne haben Sybel und Treitschke sie mitbegründen 
helfen, und wenn sie ihr später halb kopfschüttelnd gegenübertraten, so 
übersahen sie, dafs hier ganz Ähnliches für unsere Zeit erstrebt wird, wie 
sie es selbst vor 40 Jahren mit der Politik und Verfassungsgeschichte ver- 
suchten. Gewifs kann damit die Aufmerksamkeit einseitig auf gewisse Er- 
scheinungsreihen gelenkt werden; aber anders vollzieht sich kein Fortschritt; 
wenn nur damit bisher dunkle Gebiete und Zusammenhänge aufgehellt 
werden, das Gleichgewicht wird sich nachher schon wieder einstellen. Und 
was die Speeialisirung und Arbeitstheilung betrifft, so kann sie natürlich 
auch Folge einer gewissen Enge des Horizonts und einer philisterhaften Ein- 
spinnung in byzantinischem Kleinkram sein. Aber sie kann ebenso gut Folge 
Jener gewissenhaften Akribie sein, ohne die der historische Fortschritt nicht 
möglich ist, und sich verbinden mit weitem Blick, mit der Arbeit auf mehre- 
ren, besonders benachbarten Gebieten und kann so Grofses schaffen. Und wer 
wollte leugnen, dafs auch die lebende Generation Namen verzeichnet, die 
gerade in dieser Richtung das Bedeutendste geleistet haben, uns geschichtliche 
Werke schenkten, die in ihrer Art der Dahingegangenen würdig sind, ja in 
gewissem Sinne sie ebenso überholten, wie sie einst die Schriften Ranke’s. 

Wir sind noch kein mattes Zeitalter der Epigonen. Natürlich wechseln 
auch in der Geschichte jeder Wissenschaft Berg und Thal. Und wenn wir 


Gedächtnifsrede auf Heinrich v. Sybel und Heinrich v. Treitschke. 43 


heute in der That im Thal angekommen sein sollten, die Kräfte, wieder zu 
Berge zu fahren, sind da. Und wenn wir mit Sybel wiederholen wollen, 
dafs nur eine grolse Zeit grolse Historiker habe, so erklären wir stolz, 
auch die grolsen Tage werden für Deutschland wiederkommen. Die Gröfse 
Ranke’s, Sybel’s und Treitschke’s legt uns nicht blofs unendliche 
Verpflichtungen für die Zukunft auf, sie wird uns auch den neuen Auf- 
stieg erleichtern, uns die Bewältigung noch schwierigerer Aufgaben ge- 
lingen lassen. Wir werden sicher wieder grofse Historiker erhalten und 
sie werden dann in der Methode die ächten Schüler Ranke’s und Sybel’s, 
in der Weltanschauung und in dem Gebiete ihres Forschens ächte Söhne 
ihrer Zeit sein, die Gedankenwelt und die Erkenntnisse ihrer Zeit in sich zu- 
sammenfassen. Denn dabei wird es bleiben: die grofsen Historiker werden 
immer nicht blofs grofse Forscher und Gelehrte, sondern mehr als das, 
grolse Charaktere, grofse ihre Zeit beherrschende Denker, die Lehrer und 
Propheten, die Richter und Pfadfinder ihres Zeitalters sein müssen. 

Das ist bedingt durch die centrale Stellung, welche die Geschichte 
neben der Philosophie im System der Geisteswissenschaften einnimmt, 
welche sie im System der geistigen Ursachen des praktischen Lebens zu 
erfüllen hat. 


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Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 


Von 


EMIL DU BOIS-REYMOND. 


Gedächtnifsreden. 1896. II. 


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Gehalten in der öffentlichen Sitzung am 4. Juli 1895 z 
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E- ist nicht mehr! Wo immer auf Erden die Wissenschaft eine noch so 
bescheidene Stätte sich bereitete; wohin immer das elektrische Nervensystem 
der Culturmenschheit ihr Allgegenwart verlieh; wo dann an jenem ver- 
hängnifsvollen Septemberabend zwei Männer sich begegneten, die noch so 
entfernt in irgend einer Beziehung zu irgend einem Punkt der Naturlehre 
standen: »Wissen Sie es schon?« war ihr bekümmerter Ausruf: » Wissen 
»Sie es schon? Er ist nicht mehr!« 

Wer war es, von dessen vorzeitigem Hingange die Welt dergestalt 
schmerzlich ergriffen war? War es ein auf der Menschheit’Höhen gekrönt 
einherschreitender Sterblicher? Ein gewaltiger Staatsmann, dessen Genie 
und Charakter das Werk unserer Tage ruhmvoll aufreeht erhalten, ja fort- 
führen zu können schien? Ein neuer Schlachtendenker, der an der Spitze 
von Hunderttausenden das Vaterland nöthigenfalls zu beschirmen, und ihm 
weithin hier Furcht, dort bewundernde Achtung zu sichern vermocht hätte? 
War es ein Künstler, dem unerhörte neue Schöpfungen im bildnerisch 
Schönen gelangen, oder ein Dichter, dessen Gestaltungen und Laute alle 
Gemüther erschütternd packten? Oder endlich ein Erfinder, der durch 
sinnreiche Anwendung der Naturkräfte die Macht und die Genüsse unseres 
Geschlechtes in's Unbegrenzte zu steigern versprach ? 

Oh nein, das Alles war es nicht. Herrmann von HermnoLtz, denn 
von ihm ist die Rede, war einfach ein Forscher und Lehrer, und unserer 
Genossen Einer. Eine Wirkung nach aufsen üben zu wollen, lag ihm 
ganz fern, und wenn das Geschick sie ihm in die Hand gab, wie in dem 
Falle des Augenspiegels, so geschah es nach dem FontEseLre’schen Prineipe, 
dafs grofse praktische Funde nicht absichtlich als solche gemacht werden. 
sondern meist als Folge idealer Bestrebungen nebenher sich ergeben. Was 
aber abgesehen von dieser rein theoretischen Natur seiner Arbeiten die 

1* 


4 E. nu Boıs-Revymonp: 


Höhe seines Ruhmes und die allgemeine Theilnahme an seinem frühen Hin- 
scheiden noch bedeutsamer erscheinen läfst, das ist die Richtung seiner 
wissenschaftlichen Thätigkeit. HeLmHortz ist der vollkommenste und höchste 
Typus des theoretischen Naturforschers.. Nun können wir uns aber nicht 
verhehlen, dafs wenigstens in Deutschland das Interesse der weitaus über- 
wiegenden Mehrheit trotz dem unermefslichen Einflusse, den die Natur- 
forschung nach allen Seiten auf das menschliche Leben übt, den geschicht- 
lichen, litterarischen , künstlerischen Dingen fast ausschliefslich zugewendet 
ist und bleibt. Man frage sich nur, wie viele Gebildete, die sich nicht ver- 
zeihen würden, von einem Clavier- oder Geigen-Virtuosen nicht alles Er- 
denkliche zu wissen, keine Ahnung haben von der Gröfse eines Gauss, eines 
Farapar. Zum Theil erklärt sich die beispiellose Anerkennung, deren HeLn- 
HOLTZ genols, aus der gleich beispiellosen, den ganzen Kreis der theoretischen 
Naturforschung, von der physiologischen Anatomie bis zur Psychophysik 
umfassenden Mannigfaltigkeit seiner Leistungen, da denn unter den theore- 
tischen Naturforschern von Fach selber kaum Einer war, dessen Arbeit 
nicht in irgend einer Art mit den seinigen zusammentraf. Allein was 
neben dieser erstaunlichen Vielseitigkeit ihm eine Überlegenheit sonder- 
gleichen verlieh, das war das unübertroffene Geschick, diejenigen Fragen 
auszufinden und siegreich zu beantworten, die an jedem Punkte gerade 
die wichtigsten waren und deren Behandlung den besten Erfolg versprach. 

Der hervorragendste Zug in HernHorız’ wissenschaftlicher Gestalt ist 
indefs neben so vielen anderen Gaben sein transscendentes mathematisches 
Talent. Dies Talent hat mit dem musikalischen Talent, mit welchem es 
oft und auch bei ihm vereint gefunden wird, das gemein, dafs es schon 
in früher Jugend sich verräth, wovon auf der einen Seite Braıse PascAL, 
auf der anderen Mozart bekannte Beispiele sind. Von HermsoLrz wissen 
wir durch ihn selber, dafs er als Schüler im Gymnasium zu Potsdam — 
wo er am 31. August 1821 geboren war —, manches Mal, wenn die Classe 
Cicero oder Virgil las, welche beide ihn höchlichst langweilten, unter dem 
Tische den Gang der Strahlenbündel durch Teleskope berechnete und dabei 
schon einige optische Sätze fand, von denen in den Lehrbüchern nichts 
zu stehen pflegte, die ihm aber nachher bei der Construction des Augen- 
spiegels nützlich wurden. 

Von erblicher Herkunft des mathematischen Talentes ist bei ihm nicht 
füglich die Rede. Hermnorrz’ Vater war Professor an demselben Gymna- 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 5 


sium, von Fach Philologe und Philosoph, ein hoch intellectueller, freidenken- 
der und gebildeter Mann, dessen Einflufs auf seinen Sohn aber vielmehr 
dahin ging, ihn zum Sprachstudium, zur Philosophie etwa im Sinne Kanr's 
und Ficnte’s, allenfalls zur Pflege der schönen Litteratur anzuhalten. Diesem 
Einflufs ist es wohl eher zuzuschreiben, dafs Hermnortz noch als Student 
die Fabeln des LoxmAn in der Ursprache lesen konnte. Ebensowenig ist 
natürlich daran zu denken, dafs jenes Talent ihm durch seine Mutter 
zugeflossen sei, von der wir nur wissen, dafs sie, eine geborene PEnnr, 
in männlicher Linie von dem bekannten amerikanischen Bürger Wiıruıam 
Pens, in weiblicher aus einer zum Refuge gehörigen Familie Sauvasr ab- 
stammte, so dals, wie die Brüder von HumsoLpr, HreLmnortz zum Theil 
französischen Ursprunges war. 

Wenn nun aber dergestalt sein mächtiges Talent gleichsam durch 
Urzeugung entstand, so ist nicht weniger auffallend, dafs es sieh auch 
ganz selbständig weiter entwickelte, ohne dafs ein bedeutender Lehrer 
ihm zu Hülfe kam und die Bahn wies. In der That ist nicht einmal etwas 
von einer mathematischen Vorlesung bekannt, die er gehört hätte. So in 
der Stille vollzog sich diese Entwickelung, dafs Brücke und ich, seine 
nächsten Freunde, während wir uns in die dem preuflsischen Gymnasiasten 
heute bekanntlich höheren Ortes untersagte analytische Geometrie auf eigene 
Hand hineinarbeiteten, nichts von der ungeheuren Stärke ahnten, welche 
damals noch, wohl ihm selber halb unbewufst, in ihm schlummerte, sondern 
in ihm nur einen besonders gescheidten Medieiner erbliekten. 


{o) 
Die Vermögensverhältnisse seiner Familie erlaubten nämlich unserem 


Hermann nieht — aufser ihm waren noch ein Bruder und zwei Schwestern zu 
versorgen —— seinen geistigen Neigungen frei zu folgen. Es war ein merk- 
würdiges Schicksal, dafs er, anstatt, wie es etwa jetzt der Fall sein würde, 
dureh ein Stipendium dazu in Stand gesetzt zu werden, in das Königliche 
medieinisch -ehirurgische Friedrich-Wilhelms-Institut Aufnahme fand, eine 
Anstalt, deren Zöglinge, zu Militär- Ärzten bestimmt, übrigens an der Uni- 
versität gleich den Medieinstudirenden vom Civil die beste eben verfügbare 
Bildung erhalten, und dann im Charite-Krankenhause eine Zeit lang lehr- 
reiche praktische Dienste thun; die Anstalt. aus welcher von bekannteren 
Forschern neuerlich Meves und Rrıcurrr hervorgingen, und zur selben Zeit 
wie Hrrunorrz noch eine glänzende Zierde des gelehrten Berlins, unser Vır- 
cnow. Ich sage, es war ein merkwürdiges Schicksal, welches HernnoLtz 


6 E. ou Boıs-Reymonn: 


diesen Weg führte, indem er so die Riehtung und die natürliche Grundlage zu 
physiologischen Arbeiten erhielt, da er sonst wohl unzweifelhaft ein mathe- 
matischer Physiker ersten Ranges geworden wäre, aber schwerlich zugleich 
der tiefste Erforscher der Muskeln, Nerven und Sinnesorgane, ein Lehrer 
der Anatomie, der Physiologie und der Allgemeinen Pathologie, und neben- 
her sogar ein tüchtiger praktischer Arzt. Er selber wufste wohl, was er 
diesem Bildungsgange verdankte, und auch auf dem Gipfel wissenschaft- 
licher Höhe, zu dem er sich emporschwang, hörte er nicht auf, sich als 
Mediciner zu fühlen. »Ich betrachte das medieinische Studium«, sagte er 
in der von ihm am 2. August 1877 zur Feier des Stiftungstages der militär- 
ärztlichen Bildungsanstalten gehaltenen Rede über ‘das Denken in der Me- 
diein‘, »als diejenige Schule, welche mir eindringlieher und überzeugender, 
»als es irgend eine andere hätte thun können, die ewigen Grundsätze aller 
»wissenschaftlichen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze, so einfach und doch 
»immer wieder vergessen, so klar und doch immer wieder mit täuschen- 
»dem Schleier verhängt. ..... Die Mediein ist doch nun einmal das geistige 
»Heimathsland, in dem ich herangewachsen bin, und auch der Auswanderer 
»versteht und findet sich verstanden am besten in der Heimatlı«. Immer- 
hin befand er sich als Elöve der Pepiniere in einer wundersam zwiespaltigen 
Lage: wenn er auf der einen Seite in der Bibliothek des Institutes p’ALEm- 
BERT'S Traite de Dynamique entdeckt und mit geistigem Heifshunger ver- 
schlingt, auf der anderen sich dem hinreifsenden Zauber von Jonanses 
Mürrer’s anatomisch -physiologischen Lehrvorträgen gefangen giebt, welcher 
naturgemäls für lange Zeit die Oberhand gewinnt. 

So kommt es denn, dafs seine erste, in seiner medieinischen Inaugural- 
Dissertation vom 2. November 1842 niedergelegte Arbeit — De Fabrica 
Systematis nervosi Evertebratorum — ihn uns als mikroskopisch-anatomischen 
Beobachter vorführt, indem er am Nervensystem von wirbellosen Thieren, 
vom Blutegel, Krebs u. a., den lange vergeblich gesuchten Zusammenhang 
der Nervenfasern mit den von EurENBERG 1833 entdeckten Ganglienkugeln 
nachwies; ein von Jonannes MÜLLER, dem die Dissertation gewidmet ist, 
als theoretisch nothwendig gefordertes Verhalten, welches seit Kurzem in 
neuer Gestalt die Histiologen wieder lebhaft in Anspruch nimmt. Es ist 
rührend zu vernehmen, wie HermnorLrz zu dem Mikroskope kam, mit 
welchem er diese denkwürdige Leistung vollbrachte. Im Charite-Kranken- 
hause am Typhus daniederliegend, und als Eleve unentgeltlich verpflegt, 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 7 


sah er sich als Reconvalescent im Besitze seiner aufgesparten kleinen Ein- 
künfte. Mit diesen erwarb er das Mikroskop. Das Instrument war nicht 
sehön; um so mehr gereicht ihm zum Ruhme, was ihm damit gelang. 

Hier beginnt die unermefsliche, diehtgedrängte, bis zu seinem Tode 
ununterbrochene Reihe seiner Arbeiten. Da diese oft kurz nach einander, 
ja zu gleicher Zeit ganz verschiedene Gegenstände betreffen, so ist es 
unausführbar, davon eine völlig folgerichtige Darstellung zu geben, vollends 
diese mit der Erzählung seiner Lebensereignisse Schritt halten zu lassen. 
Es bleibt nichts übrig, als die Arbeiten ohne bestimmte Regel, ohne 
allzu strenge Rücksicht auf ihren Inhalt, auf Zeit und Ort ihrer Entstehung, 
sonst so zweckmäfsig wie möglich an einander zu reihen. 

Wir machen den Anfang mit denen, zu welchen HErmHoLtz einiger- 
mafsen den Ansto[s erhielt durch den Kreis von Mürrer’s Jüngern, in 
welchen er jetzt gerieth und mit dem ihn natürliche Sympathie verband, 
insofern diese jungen Leute, gleich ihm, wenn auch mit geringerer Be- 
fähigung, neben der Physiologie der Physik oblagen. In dem Colloquium 
bei ihrem Lehrer Gustav Macsus hatten sie sich mit anderen jungen Natur- 
forschern, Physikern und Chemikern, zusammengefunden, hatten mit diesen 
die Physikalische Gesellschaft gegründet, und waren glücklich, ihr in 
HELnHoLtz offenbar einen aufgehenden Stern erster Grölse zuführen zu 
können, der sich denn auch über ein Jahrzehnd lang an der Bericht- 
erstattung in den 'Fortschritten der Physik’ für Thierische Wärme und für, 
Akustik betheiligte. Die Physikalische Gesellschaft, sowohl als Ganzes, 
wie durch ihre einzelnen Mitglieder, hat für HermnorLzz’ Entwickelung 
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gehabt, zum Beweise wofür es 
wohl genügt neben den eigentlichen Stiftern der Gesellschaft, neben Gustav 
Karsten, Berrz, Brücke, Hertz, KnogLaucn und dem Redner, an die 
Namen Crausıus, Kırcnuorr, QUINCKE, WERNER SIEMENS, TYNDALL, WIEDE- 
MANN u. A. zu erinnern. Ich kann nicht umhin, hier wiederholt zu be- 
tonen, dafs es ein Fehler ist, der fortwährend begangen wird, und in den 
seltsamer Weise HrrLnnorLtz selber verfällt, zu diesem Kreise von MÜLLERr’s 
Schülern auch Lupwıe zu zählen, der in Marburg lebte, nie bei MÜLLER 
hörte, und gerade das Verdienst hat, in dieser Vereinsamung selbständig 
das Befreiungswerk aus dem Vitalismus unternommen zu haben. 

Es war die Zeit, da Liesıs gegen die von ScHwann und ÜA6NIARD- 
Latour entdeckte belebte Natur der Hefe und deren Rolle bei der weinigen 


fo) E. vu Boıs-Reymonp: 


Gährung zu Gunsten der rein chemischen Theorie von Gährung und Fäulnifs, 
wie sie Gay-Lussac’s Versuchen entnommen wurde, einen erbitterten Krieg 
führte. In Maenus’ Privatlaboratorium wurde es HeımHoLrz vergönnt, den 
Beweis zu liefern, dafs unter Bedingungen, welche eine chemische Wirkung 
nicht, wohl aber eine solehe dureh geformte Fermente ausschliefsen, Gährung 
und Fäulnifs ausbleiben, woraus die belebte Natur der Fermente auf’s Neue 
sich ergab. Während hier der Vitalismus scheinbar einen Sieg davontrug, 
bereitete sich von einer anderen Seite her, unter wesentlicher Beihülfe von 
HeErmnoLtz, eine Wendung vor, welche sein nahes Ende verkündete. Eine 
täglich sich mehrende Summe von Thatsachen und Einsichten hatte die 
Naturforschung gezwungen, die so lange gehegte Vorstellung von der 
Wärme als einem unwägbaren Stoff, zu deren Prüfung einst VoLTAIRE 
riesenhafte Versuche angestellt hatte, aufzugeben, und in der Wärme nur 
noch eine Art von innerer Bewegung der Materie zu erblieken. Auch 
ohne Flamme erschien neben Druck, Stofs und Reibung der Chemismus 
überall als Kraft- und Wärmequell. In diesem Sinne sehen wir HeLmHoLTz 
nun zunächst bemüht, bei der Muskelaction Stoffverbrauch wie auch Wärme- 
entwiekelung nachzuweisen. Bei dem ersten Unternehmen ist er wohl minder 
glücklich gewesen, als wir ihn sonst zu finden gewohnt sind. Die Säurung 
der Muskeln beim Absterben und durch Tetanus entging ihm, doch hat 
er das Verdienst durch Experimentiren am Frosch die am Warmblüter 
aus dem Blutumlauf und dem schnellen Absterben entspringenden Schwierig- 
keiten, und durch Reizung der Muskeln mittels elektrischer Entladungs- 
schläge etwaige elektrolytische Täuschungen vermieden zu haben. In der 
Untersuchung über Wärmeentwickelung bei der Muskelaction entfaltet er 
alsbald sein aufserordentliches technisches Vermögen. Wieder wendet er 
sich an »die alten Märtyrer der Wissenschaft, die Frösche«. Er lehrt 
mit deren Gliedmaaflsen in mit Wassergas gesättigten Räumen experimen- 
tiren, um Erkältung und Trocknifs zu verhüten. Einen Thermomultipli- 
cator von noch kaum dagewesener Empfindlichkeit verwandelte er durch 
empirische Graduation in ein Thermometer für tausendstel Grade. Indem 
er dann eine dreigliederige Eisen-Neusilber-Säule in die Muskeln beider 
Oberschenkel so versenkte, dafs sich je drei zusammengehörige Löthstellen 
in Jedem Oberschenkel befanden, erhielt er beim Tetanisiren des einen 
Oberschenkels vom Rückenmark aus mittels eines Nerr’schen Magnetelektro- 
motors Anzeichen einer Temperaturerhöhung, welche zwar äufserst gering 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 9 


war, jedoch sicher von nichts herrühren konnte, als von Molecularpro- 
cessen in den Muskeln selber. An den Nerven war die entsprechende 
Wirkung, wenn überhaupt vorhanden, gegen die in den Muskeln ver- 
schwindend klein. In dieselbe Reihe von Arbeiten gehört auch der freilich 
nur theoretische, jedoch höchst gedankenreiche, Begriffe klärende und er- 
weiternde Aufsatz über Thierische Wärme im Berliner "Encyklopaedischen 
Wörterbuch der medieinischen Wissenschaften‘. 

Der diesen Arbeiten zu Grunde liegende Gedanke wurde, wie gesagt, 
damals vielfach gehegt, und war unter verschiedener Gestalt schon an’s 
Licht getreten. Sapı CARNOT, ÜLAPEYRON, JuLius ROBERT MAYER, HoLTzmann, 
Franz Ernst NEUMANN, JoULE, Corpıne hatten ihn schon in einzelnen Fällen 
mit befriedigender Schärfe, sonst im Allgemeinen auf die blofse Anschauung 
hin gefafst und verfolgt, und zwischen den Naturvorgängen des Ver- 
schwindens und des Auftretens von Kraft eine Aequivalenz mit mehr oder 
weniger Wahrscheinlichkeit behauptet, wovon das kühnste Beispiel wohl 
(GEORGE STEPHENSON’S, des Erfinders des Eisenbahn-Dampfwagens, genialer 
Ausspruch ist, »die Kraft seiner Locomotive sei vor Millionen Jahren 
»in den Steinkohlen auf Flaschen gezogenes Sonnenlicht«. 

Hier nun ist es, wo Hermnortz mit einer That einsetzte, welche zu- 
erst die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, und im Laufe der 
Zeit weltberühmt wurde. Am 23. Juli 1847 trug er in der Physikalischen 
Gesellschaft seine Abhandlung “über die Erhaltung der Kraft‘ vor, in welcher 
er sich zu unserem Erstaunen mit Einem Schlage als einen jeder Aufgabe 
gewachsenen Physieo-Mathematiker offenbarte. Unter Erhaltung der Kraft 
als Bewegungsursache verstand er deren Constanz in der Physik in der- 
selben Art, wie Constanz der Materie von Lavoisıer als Fundamentalprineip 
der Chemie erkannt worden war. Er unternahm und vollbrachte es, durch 
das ganze Feld der hinreichend bekannten Naturerscheinungen die Er- 
haltung der Kraft mathematisch in der Form darzuthun, dafs die Summe 
der lebendigen und der von ihm sogenannten Spannkräfte constant sei. 
Er fand, dafs die Richtigkeit dieses Gesetzes den höchsten Grad von Wahr- 
scheinlichkeit für sich hat, insofern es »keiner der bisher bekannten That- 
»sachen der Naturwissenschaften widerspricht, von einer grofsen Zahl der- 
»selben aber in einer auffallenden Weise bestätigt wird«. 

Eine unmittelbare Folge davon ist die Unmöglichkeit eines Perpetuum 
mobile. Die sichere Begründung dieser Einsicht ist natürlich an und für 

Gedächtnifsreden. 1896. IT. % 


10 E. ou Boıs-Reymonp: 


sich eine Leistung vom höchsten Werth, allein an dieser Stelle hat sie für 
uns noch eine andere Bedeutung. HermHortz hatte nämlich schon als Knabe 
aus Gesprächen seines Vaters mit einem mathematischen Collegen von der 
Frage gehört, ob ein Perpetuum mobile möglich sei, und von den vielen ver- 
geblichen Versuchen ein solches herzustellen. Als er später Sraur's Theorie 
der Lebenskraft kennen lernte, fand er, dafs diese Theorie jedem lebenden 
Körper die Natur eines Perpetuum mobile beilegte. 

Es wäre ein Wunder gewesen, wenn eine Aufstellung von so unermels- 
licher Tragweite, durch welche die materielle Welt zu einem verständlichen 
Mechanismus wird, ohne Gegenrede geblieben wäre. Die älteren Berliner 
Physiker, Macnus, Dove, Rıess, wollten nichts davon wissen, selbst Mathe- 
matiker wie LEJEUNE-DiricHhLeT und Eisexstein schüttelten dazu den Kopf, 
nur Jacogı erwies sich einsichtiger. Po66ENDORFF verweigerte die Aufnahme 
der Hermnorrz’schen Schrift in seine Annalen aus dem Grunde, dafs ihr 
rein theoretischer Inhalt nicht in deren Rahmen passe. Ich ging aber mit 
dem Manuseripte zu dem grolssinnigen Verleger meiner damals im Drucke be- 
findlichen "Untersuchungen über thierische Elektrieität’, Grore Ernst REımEr, 
und verbürgte mich bei ihm für den Werth der "Erhaltung der Kraft‘. 
Sofort wanderte sie in die berühmte Reimer’sche Druckerei, und HELmHoLTz 
erhielt sogar einen buchhändlerisch angemessenen Ehrensold. Was ihm 
aber vielleicht noch mehr Vergnügen machte, war, dafs ihm von hoher 
militärischer Seite die wärmsten Lobsprüche gespendet wurden für die 
wichtige praktische Richtung, die er seinen Studien zu geben gewulst 
habe. Sein Gönner hatte nämlich geglaubt, dafs es sich um die Erhaltung 
einer ganz anderen und für den Laien allerdings interessanteren Kraft 
handele, als der von Hrınnorrz gemeinten. 

Von noch anderer Seite wurde nun zwar Richtigkeit und Wichtigkeit 
der Lehre zugegeben, jedoch, wie es zu gehen pflegt, HrımnoLrz das Ver- 
dienst abgesprochen, sie gefunden zu haben. Er sollte sie dem Heilbronner 
Arzte Juuıvs Rogßert MAvEr entlehnt haben, welcher fünf Jahre früher eine 
populäre Darstellung in ähnlichem Sinne gegeben, auch schon ein mecha- 
nisches Wärmeaequivalent herausgerechnet hatte. Diese Anklage hat sich, 
wie der Ruhm der Hrrmsorrz’schen Abhandlung, bis auf den heutigen Tag 
erhalten, und wird von denen. die es lieben, das Strahlende zu schwärzen, 
gern geglaubt. Die Tadler bemerken nicht, dafs sie dabei sich selber eine 
gröbliche Blöfse geben. Man kann bedauern, dafs HrımnorLrz in seiner 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 11 


Schrift es versäumt hat, seine Vorgänger in diesem Gebiete zu erwähnen. 
welche er übrigens versichert. nicht gekannt zu haben, und denen er 
später bemüht gewesen ist. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allein 
die Lehre von der Erhaltung der Kraft gehört Junıus ROBERT MAYER gerade 
so wenig wie ihm. Sie ist, mathematisch ganz richtig formulirt, schon im 
Jahre 1686 von Leısnız ausgesprochen worden, sie findet sich sogar im 
Anschlusse an Leissız 1742 von der Marquise Du ÜHÄTELET in ihren Institu- 
tions physiques adressees a Mr. son fils so klar und bündig auseinander- 
gesetzt, dafs von dem, was sie sagt, nichts zu streichen. und dazu nichts. 
was sie damals hätte sagen können, hinzuzufügen ist. Es wäre hier nicht 
der Ort zu untersuchen. wie es hat kommen können, dafs eine so grofse 
Erkenntnifs, wie die Erhaltung der Kraft, nachdem sie während der ersten 
Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Gemeingut der Gelehrtenwelt gewesen 
war, dann so verloren ging, dafs sie erst in unserer Zeit wiedergefunden 
wurde, und schliefslich von Hermnortz bis auf die ja wohl von RankınE 
herrührenden Namen der Potential- und der kinetischen Energie ihren end- 
gültigen Ausdruck erhielt. 

Hermnorrz selber hat, während seines Aufenthaltes in Königsberg, in 
einem Vortrage über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf 
bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik‘, eine gemeinfafsliche Dar- 
stellung seiner Lehre gegeben, welche unter einer Fülle geistreicher 
Bemerkungen in unscheinbarer Form einen seiner grofsartigsten Funde 
birgt. Eines der gröfsten Räthsel war nämlich bis zu ihm der Ur- 
sprung der Sonnenwärme, welche hienieden die beiden Kreisläufe unter- 
hält, von deren einem, abgesehen vom Vulcanismus und von Ebbe und 
Fluth, alle unorganische Bewegung, von dem anderen alles Leben stammt, 
den Kreislauf des Wassers durch Wolkenbildung, Niederschläge und Ströme, 
und den Kreislauf des Lebens durch den Stoffwechsel der Pflanzen und 
Thiere. Einen gröfseren Gegenstand giebt es nicht. Man wufste genau ge- 
nug, wie heifs die Sonne sei und wieviel Wärmeeinheiten sie seit ungezählten 
Jahrtausenden unaufhörlich allerwärts entsende, aber keine irgend stichhaltige 
Vermuthung über deren Quell liefs sich ausdenken. Bekanntlich hatten Kanr 
und nach ihm Larracr ein anderes Problem gleicher Erhabenheit glücklich 
gelöst. Indem sie annalımen, dafs die jetzt in der Sonne und den Planeten 
nebst ihren Trabanten vertheilte Materie vor unvordenklicher Zeit in Gestalt 
eines kreisenden Nebelballes den Raum erfüllte, von dessen Umfang die Bahn 


y* 
2 


12 E. pu Boıs-Reymonp: 


des äufsersten Planeten noch weit entfernt bleibt. und dafs diese Materie 
durch Gravitation allmählich den Mittelpunkten der heutigen Sonne und der 
Planeten sich näherte, hatten sie die Entstehung unseres Planetensystemes 
begreifen gelehrt, dessen Glieder fast sämmtlich in dem Sinne, wie einst jener 
Nebelball, um sich selber und um die Sonne sich drehen. An der Hand 
der mechanischen Wärmetheorie ergänzte jetzt HrrLnuoLrTz diese astro- 
nomische Conception, von der einer seiner populären Vorträge eine vor- 
treffliche Darstellung giebt, zu einer physikalischen, indem er die Wärme 
berechnete, welche durch das Zusammenstürzen der Materie entstehen 
mufste, sofern die durch die Potentiale aller Himmelskörper auf sich 
selber beim Anlangen in den Mittelpunkten der Sonne und der Planeten 
geleistete Verdichtungsarbeit in Wärme verwandelt wurde. Für die Sonne 
ergab sich so, auch wenn man ihr die gröfste bekannte Wärmecapaeität, 
die des Wassers, zuschrieb, die unvorstellbare Temperatur von 28611000 
hunderttheiligen Graden, was für alle ihre Leistungen eine genügende Er- 
klärung gab, freilich mit dem wenig tröstlichen Ausblick auf eine Zeit, 
wo jene ursprüngliche Wärmemitgift der Sonne erschöpft sein wird, und 
der Menschheit das jüngste Gericht einer ewigen Eiszeit droht. Hinaus- 
gerückt wird dies dureh Lord Kervın, damals Wırzıam Tuonmsox, schon 
vorhergesehene Verhängnifs, wie Hrımuorsz bemerkte, dadurch, dafs die 
Sonne bei ihrer Zusammenziehung in Folge der Abkühlung stets wieder 
einen gewissen Wärmezuschuls erhält. Beiläufig gesagt kein viel besserer 
Trost, als der, den hinzuzufügen er für nöthig hält: »Wie der Einzelne 
»den Gedanken seines Todes ertragen muls, mufs es auch das Geschlecht: 
»aber es hat vor anderen untergegangenen Lebensformen höhere sittliche 
»Aufgaben voraus, deren Träger es ist, und mit deren Vollendung es 
»seine Bestimmung erfüllt. « 

Die Lehre von der Erhaltung der Kraft, oder, wie wir jetzt zu sagen 
vorziehen, der Energie, wurde aber auch in der Biologie von bahn- 
brechender Bedeutung. Sie erklärte den Stoffwechsel im Thierkörper, 
der dem Vitalismus stets eine unüberwindliche Schwierigkeit geboten hatte, 
und ertheilte dem Truggebilde einer Lebenskraft den letzten Stofls. Die 
Gruppe von MüLzer’s Jüngern, zu der Hermnortz sich hielt, war es, welche, 
obschon zu den Füfsen des Meisters sitzend, sich doch von seinen vita- 
listischen Träumereien losgesagt hatte und jenes Truggebilde nach allen 
Richtungen zu erschüttern sich bemühte. Ohne gerade polemisch aufzutreten, 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 13 


was seiner Natur fern lag, leistete HeıLmnoLtz diesen Bestrebungen den 
mächtigsten Vorschub, indem in der Lehre von der Erhaltung der Energie 
den Bekämpfern der Lebenskraft eine unschätzbare Bundesgenossin erwuchs. 


Es kam Herınnorrz sehr zu statten, dafs damals den physikalischen 
Versuchsweisen durch die Einführung elektrischer Mechanismen eine 
bisher ungeahnte Bereicherung und Verfeinerung zu Theil ward. Pouvier 
hatte, ursprünglich zu artilleristischen Zwecken, eine Art angegeben 
die kürzesten Zeiträume mit vollendeter Genauigkeit durch den Aus- 
schlag zu messen, welchen ein elektrischer Stromstofs einer Galvano- 
meternadel ertheilt, unter der Voraussetzung, dafs dessen Dauer gegen 
die Schwingungsdauer der Nadel verschwindet, und dafs man Anfang und 
Ende des Zeitraumes mit denen des Stromstofses zusammenfallen lassen 
kann. Hier nun gab es wiederum ein Problem von höchstem Interesse zu 
lösen. Zwischen dem Augenblicke der Reizung eines Nerven und dem der 
Zuckung des zugehörigen Muskels, ja der durch Reflex übertragenen Zuekung. 
kann die gespannteste Aufmerksamkeit keinen Unterschied wahrnehmen. 
Doch mufs ein soleher vorhanden sein, und es fehlte auch in früherer Zeit 
nicht ganz an Versuchen, dessen Dauer, oder, was auf dasselbe hinaus- 
läuft, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung im Nerven zu schätzen. 
Die Iatromathematiker von Montpellier glaubten, dafs diese Geschwindigkeit 
zu der des Blutes in der Aorta sich so verhalten müsse, wie der Quer- 
schnitt der Aorta zu dem einer Nervenfaser, wonach sie über sechshundert- 
mal gröfser sein sollte als die des Lichtes. Harzer legte die Anzahl der 
Schwingungen der Zunge beim Aussprechen des Buchstaben AR zu Grunde, 
und gelangte durch eine Reihe von Schlüssen, deren jeder ein handgreif- 
licher Fehlschlufs war, merkwürdigerweise zu einem Ergebnifls, welches 
der Wirklichkeit, wie wir sie jetzt kennen, ziemlich nahe steht. JonanNnes 
Mürzer durehschaute natürlich die kindische Unvollkommenheit dieser Be- 
mühungen, er schrieb aber wegen der Unmöglichheit, mit blofsem Auge einen 
Zeitunterschied zwischen Reizung und Zuckung wahrzunehmen, dem Nerven- 
prineip wieder eine Geschwindigkeit von gleicher Ordnung mit der des 
Liehtes oder der Elektrieität zu, und hielt daher, wegen der Kürze der 
Nervenbahnen in einem Thiere, deren experimentelle Bestimmung für un- 
ausführbar. Das war die Lage der Dinge, als Hrrmnorsz sich ihrer mit 
jener unbegreiflichen Biegsamkeit des Talentes bemächtigte, vermöge welcher 


14 E. ou Boıs-Revymonp: 


er sich an einem winzigen Froschpraeparat, wo es sich um Tausendstel von 
Seeunden handelt. so vollkommen zu Hause fand, wie in den Welt- und 
Zeiträumen des Planetensystemes. Vor allen Dingen vervollkommnete er 
Povizrer’s Methode, indem er an Stelle der empirischen Graduation der 
chronometrischen Bussole, womit jener sich begnügt hatte, ein theoretisch 
streng begründetes Verfahren setzte. Sein Versuchsplan war nun der, dafs 
in demselben Augenblicke, wo ein Öffnungsinduetionsstrom von verschwin- 
dender Dauer ein Nervmuskelpraeparat reizte, der zeitmessende Strom 
geschlossen werden sollte, um nach der zu bestimmenden Zeit durch die 
Zuckung selber wieder geöffnet zu werden. In bewunderungswürdig sinn- 
reicher und einfacher Art brachte HrrnnorLtz Beides zu Stande. Dann 
traf er solche Einrichtung, dafs er die Reizung des Muskels bald an ihm 
selber, bald an einem ihm möglichst nahen, bald an einem möglichst weit 
von ihm entfernten Punkte des Nerven vornehmen konnte. Es zeigte sich, 
dafs auch bei Reizung des Muskels selber die Zuckung nicht unmittelbar 
eintrat, sondern erst nach einem kleinen, aber doch merklichen Bruch- 
theil einer Secunde. Das war das bei dieser Gelegenheit entdeckte Latenz- 
stadium der Reizung, womit der von Epuarp WEBER aufgestellte Unter- 
schied zwischen organischer und animalischer Bewegung hinfällig ward. Die 
Verzögerung des Reizerfolges wuchs aber. wenn die Reizung am Nerven 
selber stattfand, und um so mehr, je entfernter vom Muskel er gereizt 
wurde. Die Länge der Nervenstrecke zwischen den beiden Reizungs- 
punkten, dividirt durch den Unterschied der beiden letzteren Zeiträume, 
ist die gesuchte Geschwindigkeit des Nervenprineipes, und zwar wurde sie 
über zehnmal kleiner gefunden als die Schallgeschwindigkeit in der Luft, 
so dals zunächst jede Verwandtschaft zwischen Nervenprineip und Elek- 
trieität abgeschnitten zu sein schien. Bei niederer Temperatur fiel die 
Geschwindigkeit noch kleiner aus. 

Dabei blieb aber Hermuorrz nicht stehen. Der Begriff der durch eine 
Curve darstellbaren Funetion war seit Kurzem in seiner Umgebung rein 
theoretisch in die Biologie eingeführt worden, und schon hatte ihn auch 
Lupwiıs durch die von James Warr und Tnomas Youne erfundene auto- 
graphische Methode mittels seines Kymographions für unsere Wissenschaft 
so fruchtbar gemacht, dafs selbst deren äufsere Gestalt, wie ein Blick in 
eine physiologische Abhandlung oder ein Handbuch vor und nach jener 
Zeit lehrt, eine ganz andere ward. Lupwıc liefs so den Blutdruck in den 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 15 


Gefälsen eines lebenden Thieres seine Schwankungen oder Wellen ver- 
zeichnen, daher der Name seines Apparates. HELMHOLTZ seinerseits con- 
struirte ein Myographion, an welchem ein Muskel seine Verkürzung mit 
solcher Treue aufschrieb, dafs man nicht allein zum ersten Mal ein Bild 
von deren Gesetz erhielt, sondern dafs auch durch die Verschiebung der 
vom Muskel selber, und von zwei Punkten des Nerven aus gezeichneten 
Curven gegen einander die dabei in Betracht kommenden Zeitverhältnisse 
mit aller Sicherheit wahrgenommen wurden. 

Der Muskel zeichnete diese Curven mittels einer Stahlspitze auf einem 
berufsten Glasceylinder über einem weifsen Grunde. Den dem Augenblick 
der Reizung entsprechenden Punkt auf dem Umfang des Cylinders erfuhr 
man, indem man den Muskel bei so langsam aus der Hand gedrehtem 
Cylinder reizte, dafs der auf- und der absteigende Schenkel der Zuckungs- 
eurve mit einander zu einer senkrechten Geraden verschmolzen. Ein ein- 
ziger Versuch, dessen Ergebnifs Hrımnortz überdies noch leicht und sicher 
beliebig lange aufbewahren lehrte, liefs so mit Einem Blick alles das er- 
kennen, wozu es bei dem Povirer'schen Verfahren einer ganzen Versuchs- 
reihe bedurft hätte, und eine Fülle von Fragen drängte sich jetzt zur Be- 
antwortung, an welche früher nicht einmal hatte gedacht werden können. 
So stellte Hrrmnortz fest, dafs die, eine secundäre Zuckung erzeugende 
negative Schwankung des Muskelstromes früher eintritt als die Zusammen- 
ziehung des Muskels: dafs der Elektrotonus der Nerven dagegen nicht 
später eintritt als der ihn erregende elektrische Strom. Er untersuchte 
was bei einer doppelten Reizung, d. h. bei zwei einander so dicht fol- 
genden Reizungen sich begiebt, dafs ihre Wirkungen sich summiren; endlich 
wann die reflectirten Zuckungen eintreten, von denen man früher meinte, 
dafs sie von der Reizung durch gar keinen merklichen Zeitraum getrennt 
seien. Im geraden Widerspruch damit zeigte sich, dafs bei den scheinbar 
blitzschnell eintretenden Stryehninreflexen die Übertragung der Reizung im 
Rückenmarke eine mehr als zwölfmal so grofse Zeit beansprucht als die Lei- 
tung in den zu- und abführenden Nerven. 

Dies Alles geschah noch am Frosch. Nun aber wandte sich Hrın- 
HoLrz auch an Muskeln und Nerven des lebenden Menschen, zuerst in 
der Weise, dafs der Experimentirende auf eine augenblickliche elektrische 
Reizung einer mehr oder weniger vom Gehirne entfernten Hautstelle mit 
einer bestimmten Handlung zu antworten hatte, welche um so später ein- 


16 E. ou Boıs-Revymonp: 


trat, je länger die sensible Bahn zum Gehirne gewählt war. In später mit 
Hrn. N. Baxr aus Petersburg angestellten Versuchen wurde aber an einer 
motorischen Nervenbahn und den zugehörigen Muskeln ganz wie am Frosch 
verfahren, wobei sich, in vollkommener Übereinstimmung mit dem dort 
Wahrgenommenen, ergab, dafs die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Rei- 
zung in den Nerven bei höherer Temperatur, beispielsweise des Armes, 
über doppelt so grofs ausfiel, als bei niederer. Noch später wurde 
wiederum mit Hrn. Baxr die Zeit bestimmt, welche für das Bewulstwerden- 
eines mehr oder minder zusammengesetzten Gesichtsbildes nöthig ist. 
Diese Versuche sind der Ausgangspunkt gewesen für die wichtigen Er- 
mittelungen besonders von Donpers über die Zeit, welche verschiedene 
Vorgänge im Gehirne für ihren Ablauf beanspruchen. Aus dieser Art von 
Bestimmungen und dem WEBER-Feonner'schen Grundgesetze besteht zur Zeit 
das empirische Material der sogenannten Psyehophysik. Übrigens hat 
Hernnorrz das Ganze der von ihm hier erfundenen und meisterhaft an- 
gewandten Methoden der Messung kleinster Zeittheile und ihrer Anwen- 
dung für physiologische Zwecke zum Gegenstande eines gemeinfafslichen 
Vortrages gemacht. 


Mittlerweile hatte Brücke die Anatomie des Auges in einem monumen- 
talen. Werke zu hoher Vollkommenheit gebracht. Zwei Entdeckungen 
waren es vorzüglich. durch die er dabei der physiologischen Optik neue 
Wege eröffnete, und einen mächtigen Fortschritt. wenn auch nicht selber 
vollendete, doch ermöglichte und anbahnte. Die erste dieser Entdeckungen 
war die Erkenntnifs, dafs der bis dahin als Corpus eiliare beschriebene 
Körper zwischen dem Scnwemn’schen Kanal und der Zonula Zinni ein 
Muskel von völlig gleicher Beschaffenheit mit der Iris sei. Mit mehr 
Emphase als man sonst bei ihm gewohnt ist, sagt Brücke: »der Muskel 
»ist sehr leicht zu finden, denn er ist nichts anderes als der hellgraue 
»Ring, welehen man auf der äufseren Fläche des vorderen Theiles der 
»Chorioidea nach Ablösung der Sklerotika findet und der bis jetzt in der 
» Anatomie unter dem Namen Ligamentum ciliare, Orbicuhus ciliaris, Oirculus 
»ciliaris, Plexus eiliaris, Ganglion eiliare u. s. w. eine so traurige Rolle ge- 
»spielt hat«. Wir nennen ihn nach seiner Function Tensor Chorioideae 
oder mit Donvers seinem Entdecker zu Ehren Muscuhts Brückianus; seine 
physiologische Bedeutung hat Hrımnortz aufgeklärt. Denn auch hier 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 17 


gab es ein fundamentales Problem zu lösen, welches seit langer Zeit 
den Bemühungen der ausgezeichnetsten Forscher getrotzt hatte, das Pro- 
blem der Accommodation des Auges für das Sehen in verschiedene Ent- 
fernungen. Alle nur denkbaren Gestaltveränderungen, Verschiebungen, 
sogar substantiellen Wandlungen des Augapfels, bez. seiner Theile, waren 
seit KEPLER und ScHEINER zur Erklärung der Accommodation ersonnen und 
herangezogen worden. Einiges Richtige fand sich darunter, nichts hatte 
seiner Zeit völlig befriedigt, geschweige sich dauernd bewährt. Nur 
zweierlei stand fest. Durch einen elassischen Versuch hatte, Tnuomas Youns 
bewiesen, dafs keine Veränderung der Cornea die Accommodation begleite. 
Andererseits wulste man längst, dafs bei der Accommodation für die Nähe 
die Pupille sieh verengere, doch liefs sich damit zur Erklärung des deut- 
lichen Sehens in die Nähe nichts Rechtes anfangen. Dagegen hatten 
Max LAsGEnBEcK und der Holländer A. Cramer in Groningen einen Weg 
betreten, der sie, namentlich den letzteren, über kurz oder lang wohl 
zum Ziele geführt hätte, wäre nicht Heımnorrz auf eben demselben Wege 
ihnen erfolgreich zuvorgekommen. Dieser Weg bestand darin, anstatt Ge- 
staltveränderung oder Verschiebung der optischen Medien des Auges bei 
der Accommodation unmittelbar zu beobachten, vielmehr die von deren 
Flächen entworfenen drei Spiegelbilder, welche fälschlich statt nach Purkıne, 
nach dem englischen Augenarzte Sanson genannt werden, zum Gegenstande der 
Untersuchung zu machen. Üramer hatte dazu ein Ophthalmoskop angegeben, 
Herunorrz aber schuf‘ mit siegreicher Überlegenheit sein Ophthalmometer, 
ein Instrument von astronomischer Feinheit, mit welchem er jene Bildchen 
so genau zu messen vermochte, dafs sie ihm von der veränderlichen Krüm- 
mung der Augenmedien und ihrer Lage im Augapfel sichere Kunde brachten. 
Es ergab sich, dafs die Linse im Zustande der Ruhe des Auges, wo es in 
die Ferne deutlich sieht, merkwürdigerweise nicht ihre natürliche Gestalt 
hat, sondern durch benachbarte Gebilde plattgedrückt gehalten wird, dafs 
ihr aber durch den Zug des Brücke'schen Muskels gestattet wird, vermöge 
ihrer Elastieität ihre stärker gekrümmte natürliche Gestalt und gröfsere 
Dieke anzunehmen, und so das Auge für das Sehen in die Nähe zu be- 
fähigen. Die aus den Messungen berechnete optische Wirkung genügte 
zur Erklärung der Accommodation, und die ausgeschnittenen Krystalllinsen 
von Leichen zeigten dieselben Mafse wie die Linsen von Lebenden im 
accommodirten Auge. 
Gedächtnifsreden. 1896. II. 3 


185 E. vu Boıs-Reymonp: 


Brücke's zweite Entdeckung betraf das sogenannte Leuchten der Augen. 
Es war natürlich jederzeit bekannt, dafs die Augen gewisser Thiere, ins- 
besondere der nächtlichen Räuber, wie Katzen und Eulen, im Dunkeln 
leuchten, und noch 1811 hatte unser Pırras davon die Erklärung gegeben: 
vielleicht sehe man dabei die nackte Elektrieität der Nervenhaut — forte 
nudum electrum retinae nervosae. Aber schon Jonannes MÜLLER hatte über- 
zeugend die Richtigkeit der Lehre Hassesstein’s dargethan, dafs die so- 
genannten leuchtenden Augen nicht wirklich leuchten, sondern nur Licht 
reflectiren, so dals sie in einem wahrhaft dunkeln Raume nicht leuchten, 
und es fand sich auch, dafs die Nervenhaut der stärker leuchtenden Augen 
in einem sogenannten Tapetum einen hellen, zur Zurückwerfung des Lichtes 
besonders geeigneten Hintergrund habe. Brücke stellte nun zuvörderst die 
Art fest, wie man am besten die Augen leuchten sieht, nämlich indem man in 
einem sonst dunklen Raume eine Blendlaterne auf das zu beobachtende Auge 
richtet, und an ihr vorbei in das Auge blickt. So weit gekommen, begab er 
sich Nachts mit seiner Laterne in die Ställe des Zoologischen Gartens, und 
fand, dafs er bei passender Stellung die Augen aller Thiere zum Leuchten 
bringen konnte. Diese Thatsache und gewisse Erinnerungen erweekten 
in ihm die Vermuthung. dafs auch die Augen des Menschen leuchten 
möchten. Aus dem Hause seiner Pflegeeltern in Stralsund war ein Dienst- 
mädchen entfernt worden, weil man dessen Augen hatte leuchten sehen, 
wodurch es ihnen unheimlich wurde. So liefs er mich denn eines Abends 
ihm in passender Weise meine Augen darbieten, die auch wirklich die 
ersten menschlichen Augen waren, welche ein wissenschaftlicher Beobachter 
zweckbewulst leuchten sah. Denn nun fand es sich, dafs schon einer 
unserer Studiengenossen, Hr. Dr. Carı von Erracn aus Bern, welcher ge- 
legentlich eine Hohlbrille trug, bei gewissen Stellungen ihrer Gläser die 
Augen von Menschen hatte leuchten sehen, was auch seitdem bei gehöriger 
Anleitung jedem Brillenträger gelang. 

Damit begnügten wir uns; der weiter bliekende und tiefer überlegende 
HeımnoLtz aber sagte sich, dafs das von der Nervenhaut diffus refleetirte 
Lieht mittels passender. optischer Medien dazu gebracht werden könne, ein 
deutliches Bild zu entwerfen, und daraus ward. zunächst nach Analogie 
des Gauiter schen Fernrohres, der Augenspiegel, der neben der Lehre von 
der Erhaltung der Kraft wohl am meisten dazu beigetragen hat, den Ruhm 
seines Erfinders zu begründen und zu verbreiten. 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 19 


Noch nie hatte sich wie bei Hrımnortz die vollendetste Kenntnifs der 
physikalisch-mathematischen Optik mit eben so genauer und lebendiger 
Anschauung der anatomischen Bedingungen des Sehens verbunden. In 
jener bewährte er sich nebenher als vollkommener Meister, indem er in 
der Theorie des Mikroskopes mit Hrn. Asse in Jena wetteiferte, und die 
theoretische Grenze für die Leistungsfähigkeit der Mikroskope zog, wie 
auch, indem er durch eine tiefgehende Untersuchung die erst unlängst von 
ÜUHristıansen in Öopenhagen entdeckte, von Aususr Kunpr weiter verfolgte 
paradoxe Erscheinung der anomalen Dispersion auf Grund der SELLMEYER- 
sehen Annahme verständlich machte, dafs in den Aether ponderable, des 
Mitschwingens fähige Molekeln eingelagert sind. Von Hermnorrz' späteren, 
das Verhältnifs zwischen Licht und Elektrieität betreffenden optischen Ar- 
beiten kann hier noch nicht die Rede sein. Interessant ist seine Äufserung, 
dafs das Auge, trotz seiner bewundernswürdigen Leistungen, als optisches 
Werkzeug so voll arger Fehler sei, dafs er einem Künstler, der ihm ein 
solches Instrument brächte, die Thüre weisen würde. Nachdem er aber 
einmal, wie wir sahen, in der physiologischen Optik Fufs gefafst hatte, 
hörte er sobald nieht wieder auf, sich mit hervorragenden Punkten dieser 
ihn offenbar besonders fesselnden Diseiplin zu beschäftigen. Sofort finden 
wir ihn bei dem Gegenstande thätig, der ihn lange auf das Lebhafteste 
beanspruchen sollte, bei der Zusammensetzung der Farben, besonders der 
Spectralfarben. Er klärte die Begriffe von der Farbenmischung auf, indem 
er zeigte, dafs nicht, wie die Maler jederzeit glaubten. und wie jeder 
Schulknabe nach Aussage seines Tuschkastens beschwören würde, Gelb 
und Blau Grün geben, sondern Weifs. Er widerlegte BREwSTERs neue 
Analyse des Sonnenlichtes. Er machte das ultraviolette Licht sichtbar. 
Er berichtigte die Erklärung des Glanzes. Er studirte auf seine Weise 
Nachbilder und Farbenblindheit. Er zerstreute das Trugbild der Irradiation. 
Er entdeckte die Fluorescenz der Hornhaut, Linse und Netzhaut. Er be- 
wältigte die schwierige Aufgabe der Augenbewegungen und ihrer Be- 
ziehungen zum binocularen Sehen, mit Inbegriff der sogenannten Rad- 
drehung des Auges. Auch sie ist dem Willen unterworfen, sobald sie 
nöthig ist, »um der einzig möglichen Willensintention zu dienen. welche 
»für die Augenbewegungen gebildet werden kann, nämlich die: einfach 
»und deutlich zu sehen«. Er erfand das Telestereoskop. Er löste voll- 
ständig das altberühmte Problem des Horopters, von dessen hyperboloi- 


3* 


20 E. vu Boıs-Reymonp: 


daler Fläche einst Vıern und JoHAnNes MÜLLER einen einzelnen Kreis er- 
kannt hatten. Er wiederbelebte endlich Tuomas Youne’s Lehre von den 
drei Urfarben, als welehe er Roth, Grün und Violet bestimmte. 

Doch es ist unmöglich, ihm weiter in die unzähligen Einzelheiten zu 
folgen, mit welchen er die physiologische Optik bereicherte. Aber hier 
lernen wir mit Einem Male HermnoLzz von einer neuen Seite kennen. 
In einem umfangreichen, einheitlichen, doch auf das Feinste gegliederten 
Werke, seinem 'Handbuche der physiologischen Optik’ stellte er diesen Zweig 
der Physiologie systematisch und litterar-geschichtlieh in gröfster Voll- 
ständigkeit dar, von den mathematischen Anfangsgründen der geometrischen 
Optik bis zu den letzten erkenntnilstheoretischen und aesthetischen Gesichts- 
punkten. Man kann ohne Übertreibung sagen, dafs keine wissenschaftliche 
Litteratur irgend einer Nation ein Buch besitzt, welches diesem an die 
Seite gestellt werden kann, von welchem Hr. Prof. Arrnur Könıs die noch 
von HernnoLtz begonnene zweite Auflage vollenden wird; nur ein zweites 
Werk von Hernnortz selber kann daneben genannt werden; nur er selber 
kam ihm selber gleich. 

Man erräth, dafs von seiner "Lehre von den Tonempfindungen als 
physiologischer Grundlage für die Theorie der Musik’ die Rede sein soll. 
Während er gänzlich in die physiologische Optik versenkt erschien, zeitigte 
er zugleich dies noch merkwürdigere Werk, merkwürdiger, weil es dem 
erfahrungsmäfsigen wie dem theoretischen Inhalt nach neuer und ori- 
gineller erscheint, als das optische Seitenstück. Auch hier traten ihm 
zunächst gewisse physiologische Fragen entgegen, deren Interesse nicht 
wenig erhöht wurde theils durch das ehrwürdige Alter, welches sie un- 
gelöst erreicht hatten, theils durch ihre Bedeutung für Musik und Sprach- 
wissenschaft. Vor allen Dingen indefs stellt er sich wieder als eben solcher 
Meister in der physikalischen Akustik dar, wie vorher in der physikalischen 
Optik. In einer umfangreichen Untersuchung von grenzenloser Tiefe giebt 
er eine Theorie der Luftschwingungen in Röhren mit offenen Enden, welche 
mit Berücksichtigung des von seinen Vorgängern vernachlässigten Überganges 
der Schwingungen in den freien Raum, wie auch der Reibung in der Luft 
und an den Wänden, besser als deren Bestimmungen mit der Erfahrung 
palst. Zu den von SoreeE früh entdeckten Combinationstönen, die er als 
Differenztöne unterscheidet, fügt er eine zweite Olasse, die der Summations- 


töne, deren Schwingungszahl gleich ist der Summe der primären Töne. 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 21 


Er findet, dafs man es in den akustischen Untersuchungen mit Funetionen 
zu thun hat, die unter gewissen Voraussetzungen in die Formen der elek- 
trischen Potentialfunetionen übergehen und mit diesen eine ganze Reihe 
von interessanten Eigenschaften gemein haben. 

Was nun jene in erster Linie sich zudrängenden physiologischen Fragen 
betrifft, so steht obenan die nach dem Wesen der fälschlich sogenannten 
Klangfarbe, deren Namen er jedoch beibehalten hat. Wenn die Stärke des 
Klanges von der Amplitude der Schwingungen, seine Höhe und Tiefe von 
deren Anzahl in der Zeiteinheit herrührt, so schien nichts näher zu liegen, 
als die Klangfarbe abhängig zu machen von der scheinbar letzten noch 
übrigen Variablen, der Gestalt der die Schwingungen darstellenden perio- 
dischen Curve. Hermnortz fand eine andere schon von Wiırrıs vorbereitete 
und von GEoR6e Simon Oum weiter entwickelte Auskunft, indem er die Zu- 
sammensetzung der gewöhnlichen Klänge aus einem Grundton und einer 
in der Norm harmonischen Reihe von Öbertönen darthat, welche durch 
einfach pendelartige oder sinusoide Schwingungen der Lufttheilchen zu 
Stande kommen, und durch ihre verschiedene Anzahl und relative Stärke 
die Klangfarbe bedingen. Als Typus von Klängen verschiedener Farbe 
erscheinen namentlich die durch dasselbe musikalische Instrument, den 
menschlichen Kehlkopf, erzeugten Vocale. Sie sind durch gewisse Eigen- 
töne charakterisirt, welche zum Theil von der Gestaltung der Mundhöhle 
als des Ansatzrohres eines membranösen Zungenwerkes herrühren. Die 
doppelte Art, wie Hermnortz dies bewies, nämlich synthetisch dureh den 
ihm vom Könige Maxmızıan von Bayern geschenkten Stimmgabelapparat, 
und analytisch mittels seiner Resonatoren, ist so allgemein bekannt, dafs 
es genügt, hier daran zu erinnern. Bei der synthetischen Darstellung 
gesungener Vocale mittels der elektromagnetisch erregten Stimmgabeln 
konnte er die Phasen der Schwingungen der Obertöne ohne Einfluls auf 
die Klangfarbe gegen einander verschieben, eine wichtige Thatsache, 
woraus die Unrichtigkeit der Erklärung der Klangfarbe aus der Gestalt 
der Schwingungseurve sich besonders deutlich ergiebt, und auf welcher, 
wie Redner gezeigt hat, die Möglichkeit des Telephonirens beruht. 

Von nicht leicht vorauszusehender Bedeutung und bezeichnend für 
Heımnorzz’ stets allumfassende Forschung ist nun aber seine Erläuterung 
der Function der Schnecke und der Akustieusfasern beim Hören überhaupt 
und insbesondere bei dem der Klangfarben. Seine Vorstellung knüpft an 


[59] 


2 E. ou Boıs-Revmonp: 


JOHANNES MÜLLER s berühmte Lehre von der speeifischen Energie der Ner- 
ven an, welche so durch Hrımnortz endgültig aus den gesammten Nerven 
in die einzelnen Fasern und weiter in das Üentralorgan verlegt wurde. 
Er denkt sich zunächst, dafs jedes Element des Corrrschen Organes oder, 
wie man jetzt annimmt, jede Falte der Membrana basilaris nur durch eine 
bestimmte sinusoide Schwingung in Mitschwingung versetzt wird. Die mit 
dem Element oder der Falte verbundene Akusticusfaser wird dadurch erregt 
und überträgt ihre Erregung auf eine zur Empfindung einer gewissen Ton- 
höhe vorgerichtete diminutive Provinz der seitdem durch Hrn. Hermann 
Musk ermittelten Hörsphaere des Öentralorganes. Der Vorgang in jeder 
Nervenfaser ist dabei qualitativ ganz und stets der nämliche, nur nach 
den Umständen quantitativ verschieden, entsprechend der Thatsache, dafs 
alle Nervenfasern mikroskopisch, chemisch und physikalisch sich ganz gleich 
verhalten. Durch die Erregung jener bestimmten Provinz der Hörsphaere 
gelangt eben nur die bestimmte Sinusoide mit der entsprechenden In- 
tensität zur Wahrnehmung. Bei Erregung mehrerer Elemente des CorTI- 
schen Organes oder mehrerer Basilarfalten werden gleichzeitig, obschon 
völlig von einander getrennt, die zugehörigen Akustieusfasern und weiterhin 
die entsprechenden Provinzen der Hörsphaere erregt, und so die betreffenden 
Sinusoiden, beispielsweise die Sinusoiden der charakteristischen Obertöne 
eines gegebenen Vocales, zur Wahrnehmung gebracht. Der ganze Mecha- 
nismus des Hörens wird dergestalt auf das Prineip des Mitschwingens 
zurückgeführt. Es war ein glückliches Zusammentreffen, dafs zur selben 
Zeit wo Hermnortz diese Dinge enträthselte, Hr. Victor Hessen in Kiel 
bei seinen Studien über das Gehörorgan der Dekapoden das von Hern- 
HOLTZ mit geistigem Auge (resehene mit leiblichem Auge zu sehen bekam. 
Er sah, wie von den Hörhärchen am Schwanze von Mysis gewisse Töne 
eines Klapphornes einzelne in starke Vibration versetzten, andere Töne 
andere Härchen. Durch die Beachtung der Obertöne berichtigte auch 
Hernnorrz die Grenze der Hörbarkeit tiefer Töne, indem er zeigte, wie 
sich durch. die Obertöne der an sich unhörbaren Schwingungen die Beob- 
achter, unter ihnen Savarr, hatten täuschen lassen. 

Ein zweites fundamentales Problem, welches sich hier HrLmaortz darbot, 
ist die Deutung der bekanntlich sehon von PryruAscoras gemachten Ent- 
deckung, dafs Schwingungen von einfachem Zahlenverhältnifs, wie Oetave, 
Quint, Duodeeime, grolse Terz, einen angenehmen Eindruck hervorbringen, 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 23 


daher die Reihe der in solchem Verhältnifs einander folgenden Obertöne 
harmonisch genannt wird, während die Töne von mehr verwickeltem 
Verhältnifs der Schwingungszahl, wie die Septime, dissonant sind. Man 
pflegte davon die Erklärung zu geben, dafs die Seele an dem einfachen 
Verhältnifs der Schwingungen Vergnügen empfinde. Erst nach mehr als 
zweitausend Jahren hat Hrımsorız an die Stelle dieser, um das Geringste zu 
sagen, höchst unbefriedigenden Erklärung eine andere gesetzt. Er hat be- 
obachtet, dafs die Obertöne der eonsonirenden Töne mit denen des Grund- 
tones entweder noch zusammenfallen oder mit ihnen harmonisch erklingen, 
dagegen die Obertöne der dissonirenden Grundtöne Schwebungen erzeu- 
gen, welche dem Ohr einen widrigen Eindruck machen, wie dem Auge 
das unerträgliche Flackern eines Lichtes. Unläugbar ist so ein wichtiger 
Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz aufgedeckt. Doch verdient 
zweierlei bemerkt zu werden, erstens dafs man den himmlischen Wohl- 
klang eines Könıe’schen Stimmgabel-Accordes noch vernimmt und im 
Wesentlichen ungestört geniefst, wenn auch dicht daneben gefeilt, gesägt 
oder gehämmert wird, zweitens dafs auch zugegeben, dafs die Schwebungen 
der Grund der Dissonanz seien, dadurch doch nur erklärt würde, weshalb 
dissonirende Töne unangenehm, nicht aber, weshalb consonirende angenehm 
seien, so dafs unmusikalischerseits gespöttelt werden konnte, HELMHOLTZ 
habe ja wohl jetzt erklärt, weshalb nicht alle Musik unangenehm sei. 
Wie dem auch sei, auf seiner erschöpfenden Kenntnifs der bis zu 
ihm nur unvollständig beobachteten Partial- oder Obertöne führte nun 
HernnorLrz ein System der Akustik in physikalisch - mathematischer, 
physiologischer und aesthetischer Hinsicht auf, von welchem hier eine 
einigermalsen zutreffende Darstellung zu geben auch dann kaum möglich 
sein würde, wenn der Gegenstand dem Redner so vertraut wäre, wie er 
ihm leider, wenigstens in der letzten Richtung, fremd geblieben ist. Wie 
in der Optik kann hier nur erinnert werden an einige der hervorragendsten 
Leistungen, durch die auch auf diesem Gebiete Hrımnorrz’ Name der Ge- 
schichte der Wissenschaft unauslöschlich eingeprägt ist. Der Physiko- 
Mathematiker Hrrmmortrz, welcher in den Beilagen zu dem in Rede 
stehenden Werke sich in den höchsten rechnerischen Regionen ergeht, 
legt zunächst,. durch seine medieinische Schulung befähigt, selber Hand 
an die überaus schwierige feinere Anatomie des inneren Ohres, und er- 
läutert mittels der von ihm beschriebenen und verstandenen Einrichtungen 


24 E. pu Boıs-Revmonp: 


den Mechanismus der Schwingungen des Trommelfelles und der Gehör- 
knöchelehen. Das Gelenk zwischen Ambofs und Hammer vergleicht er 
den Gelenken der mit Sperrzähnen versehenen Uhrschlüssel, welche in 
einer Richtung frei drehbar, in der anderen, wenn sich ihre Sperrzähne 
auf einander stemmen, nicht die kleinste Drehung erlauben. Die Folge 
davon ist, dafs, wenn der Hammer mit seinem Stiel nach innen gezogen 
wird, er den Ambols fest packt und mitnimmt. Wird er nach aufsen 
getrieben, so braucht der Ambofs nicht mitzugehen. Dies hat den sehr 
grofsen Vortheil, dafs der Steigbügel nicht aus dem ovalen Fenster ge- 
rissen werden kann, wenn die Luft im Gehörgang erheblich verdünnt 
wird. Eintreibung des Hammers durch Verdichtung der Luft im Gehör- 
gange ist ebenfalls ohne Gefahr, da sie durch die Spannung des trichter- 
förmig eingezogenen Trommelfelles selber kräftig gehemmt wird. Nicht 
minder tief und fein hat HrrnmorLrz die Bewegungsart des Trommelfelles 
ergründet, wovon sich aber ohne Abbildungen keine Vorstellung geben läfst. 

Die Musik betreffend führt HrımmorLtz in die Lehre von der Melodie 
den Begriff der Klangverwandtschaft ein, welche darin besteht, dafs zwei 
Klänge gleiche Partialtöne haben. Doch vermifst man ungern die Er- 
örterung der Rolle, welche der Rhythmus oder Takt in der Melodie spielt. 
Nach einem von Lissasous gemachten Anfang construirt er ein Vibrations- 
mikroskop, mittels dessen er die merkwürdige Schwingungsform der 
Violinsaiten festzustellen vermag. Er lehrt einfache Töne herstellen und 
ein Harmonium in natürlicher reiner Stimmung bauen. Er entwickelt die 
schon von Dovr vervollkommnete Sirene CAGntarD-LAaTour's zu seiner mehr- 
stimmigen Sirene. Dabei beherrscht er vollständig die Geschichte der Musik 
in ihrer Erscheinung zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern. 
Die Lehre von den Tonleitern und den 'Tonarten, die Gesetze der Stimm- 
führung, allgemeine Betrachtungen über das Wesen des musikalischen Ge- 
nusses beschliefsen das Werk. Von seiner Thätigkeit während dieser seiner 
Arbeitsperiode giebt es ein Bild, dafs er gelegentlich des Telephones mir 
schrieb, »die Sache sei ihm so selbstverständlich erschienen, dafs er es nicht 
»für nöthig gehalten habe, eine Theorie davon zu geben; aber freilich, er 
»sei Jahre lang mit Fourıer’schen Reihen im Kopfe zu Bett gegangen und 
» wieder aufgestanden, und dürfe in diesem Falle keinen Schlufs von sich 
»auf Andere machen«. Von welchen Abenden jedoch wohl die auszu- 
nehmen sind, an denen er auf dem von den HH. Sremway in New York 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 25 


in begeisterter Anerkennung seiner Verdienste um die Musik ihm verehrten 
Flügel durch Bacr’sche Fugen seinen rastlos arbeitenden Verstand zur Ruhe 
gewiegt hatte, oder wo er den köstlichen Versuch anstellte, eine geübte 
Sängerin in den Flügel bei gehobenem Dämpfer auf irgend einen Saiten- 
ton die Reihe der Vocale kräftig singen zu lassen, die dann der Flügel 
wieder aus sich heraus singt. 

Zu Hermnorrz’ physiologisch-akustischen Studien gehören noch seine 
Versuche über das sehon von dem alten GrmALDI, später von WOLLASTON 
und Pau Erman beobachtete, die Muskelzusammenziehung begleitende 
Geräusch. Trotz seiner Bedeutung für die Lehre von den Herztönen 
wurde es erst von HrrnmmorLrz genauer untersucht, welcher zunächst zeigte, 
dafs der willkürlich tetanisirte Muskel 18-20 Stöfse in der Seeunde giebt, 
so dafs nur seine Obertöne hörbar sind. Dann aber den elektrisch teta- 
nisirten Muskel behorehend vernahm er den Ton des in einem durch zwei 
geschlossene Thüren getrennten Zimmer befindlichen, 240 Schwingungen 
vollziehenden Induetoriums. So wurde Epvarp Weger's auch schon durch 
den seceundären Tetanus untergrabene Auffassung des Tetanus als eines 
zweiten Gleiehgewichtszustandes der Muskelsubstanz vollends unmöglich 
gemacht, und die innere Arbeit des tetanisirten Muskels auf's Neue er- 
wiesen. 

Es wird hier der beste Ort sein, um von einigen kleineren physio- 
logischen Arbeiten Hermnorrz’ Nachricht zu geben. So sei denn angeführt, 
wie er in einem Anfall von Heufieber, woran er zu leiden pflegte, patho- 
gene Algen auf seiner eigenen Nasenschleimhaut nachwies, und mit Chinin 
erfolgreich bekämpfte, zu einer Zeit, wo von Antisepsis noch kaum die 
Rede war; wie er die Temperaturerhöhung seines eigenen Körpers durch 
das Besteigen des Königsstuhles von Heidelberg aus durch die höhere 
Temperatur des auf dem Gipfel gelassenen Harnes mafs; wie er sich mit 
Lord Kervıw in dem Vorschlage begegnete, die Schwierigkeit der Urzeu- 
gung auf Erden durch das Herüberfliegen von Keimen in Meteoriten aus 
schon belebten Welten zu beseitigen; endlich wie er in die seit HAMmBERGER 
und Harzer schwebende Controverse über die Funetion der Zwischenrippen- 
muskeln eingriff, und die Wirkungen der Muskeln der oberen Extremität einer 
genauen Musterung unterwarf, unter Anderem auf die bisher nieht beachtete 
Rotation der ersten Phalangen um ihre eigene Axe aufmerksam machte, 
welche bei gebogener Stellung durch die M. interossei zu Stande kommt. 

Gedächtnifsreden. 1896. 11. 4 


26 E. pu Boıs-Reymonp: 


Wenn. wir nun zu elektrischen Untersuchungen unseres Forschers 
übergehen, so ist zunächst wieder zu bemerken, dafs auch in diesem Felde 
physiologische Fragen anfänglich seinen Gang bestimmten. Er war Zeuge 
und Theilnehmer meiner Versuche über thierische Elektrieität gewesen, 
und hatte sich sogar bemüht, aus Silber in Silbersalzlösung unpolarisir- 
bare Elektroden herzustellen, was nicht gelang. Die einzigen seitdem 
entdeckten unpolarisirbaren Elektroden aus verquicktem Zink in Zinklösung 
sind theoretisch unverständlich, konnten folglich auch nicht theoretisch 
vorhergesehen, sondern nur durch glücklichen Zufall gefunden werden. 
Heımsorrz hat die Ergebnisse meiner Versuche in einem eigenen gemein- 
fafsliech gehaltenen Aufsatze zusammengestellt. Ich stiefs bei diesen Unter- 
suchungen fortwährend und überall auf die Aufgabe, in unregelmäfsig ge- 
stalteten Leitern, in denen elektromotorische Kräfte thätig gedacht werden, 
die daraus entspringende Stromvertheilung zu erschliefsen. Die Gesetze 
der Stromvertheilung in nicht prismatischen Leitern waren zwar schon 
durch KırcHanorr für zwei, durch WiırLem SmAAsEn für drei Dimensionen 
ermittelt worden, doch reichte dies nicht hin, um sich in so verwickelten 
Verhältnissen, wie die der thierischen Erreger, zurechtzufinden. Es handelte 
sich darum, aus der anderweitig gerechtfertigten Annahme den Muskel 
erfüllender peripolar-elektromotorischer Molekeln die an seiner Oberfläche 
hervortretenden Potentialunterschiede abzuleiten. Dies gelang wohl für die 
Ströme zwischen Längs- und Querschnitt, nicht aber für die sogenannten 
schwachen Ströme zwischen Punkten des Längsschnittes oder des Quer- 
schnittes allein. Diesem Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung stand 
ich um so rathloser gegenüber, als die scheinbar gesetzwidrigen Ströme 
auch an meinen elektromotorischen Muskelmodellen aus Kupfer, Zink und 
verdünnter Schwefelsäure sich kundgaben. 

Hier nun kam mir Hernnorrz’ überlegene Zergliederung zu Hülfe. 
Durch Weiterentwickelung der Lehre von der Stromvertheilung in nicht 
prismatischen Leitern gelangte er zu mehreren Sätzen, von denen an dieser 
Stelle nur das Princip der elektromotorischen Oberfläche und das Theorem 
von der gleichen gegenseitigen Wirkung zweier elektromotorischer Flächen- 
elemente erwähnt werden können, mittels welcher die früher unüberwind- 
lichen Aufgaben fast zu elementaren wurden. An ihrer Hand zeigte er, 
dafs bei meiner Annahme die ganze Muskelmasse durchsetzender überall gleich 
starker peripolar-elektromotorischer Molekeln in der That keine schwachen 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 27 


Ströme am Längsschnitt und am Querschnitt zu Stande kommen dürften, 
und dafs auch nicht, wie ich gefunden hatte, der Potentialunterschied 
zwischen Längs- und Querschnitt mit den Dimensionen des Muskels wachsen 
würde. Er deutete aber zugleich an, dafs diese Abweichungen zwischen 
den Thatsachen und meiner Vermuthung über den elektromotorischen Bau 
des Muskels einfach daher rühren könnten, dafs »die oberflächlichen Theile 
»der thierischen Gebilde, welche der Eintrocknung, der Berührung der 
»Luft und fremdartiger Flüssigkeiten ausgesetzt sind, ihre elektromotorischen 
»Kräfte nicht ungesehwächt erhalten«, und dafs diese Kräfte vielleicht, 
sicher aber die der Muskelmodelle, dureh Polarisation inconstant seien, 
wodurch gleichfalls jene Abweichungen erklärt würden. Durch meine Ver- 
suche über die innere Polarisirbarkeit der Muskeln und ihre von Hr. 
Lupmar Hermann festgestellte Oberflächenzehrung ist somit die früher hier 
waltende Schwierigkeit gehoben. 

Es ist mir, beiläufig gesagt, unverständlich, wie der verstorbene 
Dospers in einer HeLmnorrz gewidmeten Festrede ihm als ein ganz besonders 
bewundernswerthes Verdienst habe anrechnen können, dafs er schon in der 
Art, wie später ein bekannter Physiologe, die Praeexistenz der elektrischen 
Kräfte des Muskels geläugnet habe. Hermnortz giebt allerdings an, dafs 
am unverletzten Muskel zwischen Längsschnitt und natürlichem Querschnitt 
kein Strom nachweisbar sei, übersieht aber dabei. wie er mir mündlich 
bedauernd zugestand, dafs dies auf einem Mifsverständnifs beruhe, und nur 
ein seltener Ausnahmefall sei; dafs man vielmehr den unversehrten natür- 
lichen Querschnitt bald schwach negativ. bald unwirksam, bald sogar 
schwächer positiv gegen den Längsschnitt finde. So wenig dachte aber 
Hernnortz daran, die Praeexistenz der elektrischen Muskelkräfte zu läugnen, 
dafs er im Gegentheil in dem hier in Rede stehenden Aufsatze meine Hypo- 
these peripolar-elektromotorischer Molekeln als Ursache des Muskelstromes 
vollständig gelten läfst, emphatisch billigt, und sogar unumwunden es 
ausspricht: »dafs.... die elektrischen Kräfte der stromumtlossenen Molekeln 
»in einer Theorie ihrer Bewegungen mit in Betracht gezogen werden müssen, 
»versteht sich von selbst«. Ja noch mehr. Hrernnortz hat offenbar aus- 
drücklich darüber nachgedacht, wie dies wohl am Besten geschehen könne, 
und hat auch wirklich eine seiner ganz würdige, ungemein sinnreiche und 
ansprechende Vermuthung über die Theilnahme der elektromotorischen 
Kräfte der Molekeln an der Zusammenziehung, mit Berücksiehtigung der 

4* 


28 E. vu Boıs-Reymonp: 


negativen Schwankung, zu Stande gebracht, welche er mir gleichsam zum 
Geschenk machte und zur Publication überliefs, da ich sie denn bei nächster 
Gelegenheit veröffentlichen werde. 

HELMHoLTz war es, der, um meine thierisch -elektrischen Versuche 
seinen Königsberger Zuhörern vorzuführen, zuerst das so schöne und so 
nützlich gewordene Verfahren anwandte, einen mit dem astatischen Systeme 
verbundenen Spiegel einen Lichtstrahl auf eine an der Wand befindliche 
weithin siehtbare Theilung zurückwerfen zu lassen. Ihm gelang es auch, 
an dem bekannten Schlitteninductorium eine wesentliche Verbesserung anzu- 
bringen, nämlich die physiologischen Wirkungen des Schliefsungs- und des 
Öffnungs-Induetionsstromes nach Bedürfnifs einander dadurch gleich zu 
machen, dafs der Wasner'sche Hammer nicht durch Schliefsen und Öffnen 
des primären Stromes, sondern durch Öffnen und Schliefsen einer Neben- 
leitung zu diesem Strom in Gang erhalten wird, so dafs der durch das Ver- 
schwinden des primären Stromes indueirte Extraeurrent das Sinken des Stromes 
ebenso verzögert, wie der durch das Entstehen indueirte sein Ansteigen. 

Eine elektrische Arbeit unseres Forschers sodann, welche ihn immer 
noch in naher Beziehung zur Physiologie zeigt, ist seine Theorie der 
Dauer und des Verlaufes der so vielfach physiologisch und therapeutisch 
angewandten Induetionsströme. Er berichtigt dabei einen Fehler, in welchen 
Marranını und ich selber in Folge mangelhafter Isolation an unseren In- 
duetorien verfallen waren, indem wir fanden, dafs in der secundären Rolle 
noch ein Strom entsteht, auch wenn sie erst eine gewisse Zeit nach dem 
Öffnen der primären Rolle geschlossen wird. In Hinblick auf die Um- 
gestaltung des Wacner’schen Hammers habe ich übrigens die HeLnHorrz- 
sche Theorie auf den Fall ausgedehnt, dafs die Induetion durch Öffnen 
und Schliefsen einer Nebenleitung zu Stande kommt. Hier knüpfen sich 
Untersuchungen an über die physiologische Wirkung kurz dauernder elek- 
trischer Schläge im Inneren von ausgedehnten leitenden Massen, über elek- 
trische Oseillationen und über die Gesetze der inconstanten elektrischen 
Ströme in körperlich ausgedehnten Leitern. HeımmoLzz wurde dazu ge- 
führt theils durch die Ergebnisse an Froschpraeparaten, theils durch die 
Erfahrungen der Elektrotherapeuten, und wohl auch durch gewisse Ver- 
suche von Brücke am Menschen. Hierher gehört nebenher ein Unter- 
nehmen, welches er nicht zu Ende brachte, weil ihm Kırcmnorr darin 
zuvorkam, nämlich die numerische Bestimmung der in den Formeln von 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 29 


F. E. Neumann und von W. WEBER vorkommenden Constanten eg, von welcher 
die Intensität indueirter elektrischer Ströme abhängt. Ich erwähne dies, 
weil bei dieser Gelegenheit sich uns wieder die erstaunliche Vielseitigkeit 
und Beweglichkeit seines wissenschaftlichen Interesses offenbarte. Von den 
zu jener Bestimmung nöthigen Rechnungen und Versuchen erholte er sich 
von Zeit zu Zeit, indem er mit dem Fernrohr aus dem Fenster seines in 
einem Thürmehen an der Dorotheen- und Sommerstrafsen-Ecke gelegenen 
Laboratoriums die Bewegungen der durch das Brandenburger Thor aus- 
und eingehenden Personen beobachtete und sie mit den Darstellungen in 
dem elassischen Weger’schen Werke über die menschlichen Gehwerkzeuge 
verglich. Er entdeckte in der Art, wie die Weser’schen Figuren den Fufs 
aufsetzen, einen Fehler von einiger praktischen Bedeutung, sofern darauf hin 
Tausende von Reeruten zu unnatürlicher Haltung ihrer Füfse beim Parade- 
marsch gezwungen werden, und seine Bemerkung wurde lange nachher 
durch die Augenblicksphotographie bestätigt. 

Es folgen nun elektrische Arbeiten, welche sich mehr auf die Ent- 
stehung von Strömen und auf deren Wirkungen im Kreise selber beziehen: 
über galvanische Polarisation in gasfreien Flüssigkeiten, über die Elektro- 
lyse des Wassers, über galvanische Ströme verursacht durch Concentrations- 
unterschiede, mit Folgerungen aus der mechanischen Wärmetheorie; über 
elektrische Grenzschiehten, über Bewegungsströme am polarisirten Platin, 
über galvanische Polarisation des Quecksilbers und darauf bezügliche neue 
Versuche des Prof. Arrnur Könıs, wobei das Lirpmann sche Capillar- 
elektrometer zur Sprache kommt. Hier tritt naturgemäfs die matlema- 
tische Behandlung etwas zurück gegen die inductorisch -experimentelle, 
da wir denn Hrımnorrz auch in solcher Forschung als Meister bewundern 
lernen. Der Grundgedanke, der in diesen Arbeiten immer wieder durch- 
bliekt, ist die Erhaltung der Energie auch unter oft sehr dunklen und 
verwickelten Bedingungen. Eine neue elektrische Versuchsweise schuf 
Hermnortz, indem er aus der Wärmelehre in die Elektrieitätslehre den 
Begriff der Conveetion übertrug, worunter er hier dem dortigen Gebrauch 
entsprechend die Fortführung der Elektrieität durch Bewegung ihrer pon- 
derablen Träger versteht. Sie wurde in seinem Laboratorium dureh 
Hrn. Henry A. Rowrann in’s Werk gesetzt; ihre Bedeutung besteht unter 
Anderem darin, dafs die so gewonnenen Convectionsströme gleichsam ein 
Surrogat liefern für die Elektrieitätsbewegung in ungeschlossenen Leitern, 


30 E. ou Boıs-Reymonp: 


und dadurch zur Entscheidung wichtiger theoretischer Fragen die Möglich- 
keit eröffnen, hinsichtlich deren, wie Hrrmnorrz sagt, noch die üppigste 
Flora von Hypothesen wuchert. Eine andere Gattung von Üonveetions- 
strömen sind die elektrolytischen, bei welchen in der elektrolytischen 
Flüssigkeit gelöste Gase eine Rolle spielen, worauf hier nicht näher ein- 
gegangen werden kann. 

Ein weiteres neues Moment in Hermnorrz Polarisationsarbeiten wurde 
ihm durch die von Tuomas Gramam entdeckte Ocelusion der Gase in Me- 
tallen, besonders des Wasserstoffes in Platin und Palladium, geboten. Am 
schönsten und einfachsten springt dieser wunderbare Erfolg in die Augen 
in dem von Hrımnortz dem Dr. Erınu Root aus Boston an die Hand ge- 
gebenen Versuche, ob der durch Elektrolyse gegen die eine Seite einer 
dünnen Platinplatte geführte Wasserstoff nach einiger Zeit sich auch an 
der entgegengesetzten Seite dadurch bemerkbar machen würde, dafs er 
auch dort galvanische Polarisation hervorbringe, d.h. das Platin positiver 
erscheinen lasse: wie sich das in der That herausstellte. 

Hier schliefst sich eine längere Reihe von mathematisch -physikalischen 
Abhandlungen über die Theorie der Elektrodynamik an. Es handelt sich 
darin vorwiegend um die Vergleichung der verschiedenen für die elektro- 
dynamischen Kräfte aufgestellten Gesetze. des Amp£re’schen und des Nev- 
Mann schen, sowie des auf einer bisher in der Physik unbekannten Vor- 
stellungsweise beruhenden WeEBER'schen Gesetzes, welches nämlich die 
Fernkräfte der Elektrieität aufser von deren Entfernung und Menge von 
ihrer Geschwindigkeit und ihrer relativen Beschleunigung abhängen läfst. 
In wiederholten Auseinandersetzungen zeigt Hrrmnorız, dafs dies letztere 
Gesetz unhaltbar ist, indem es, im Widerspruch mit der Erhaltung der 
Energie, das Gleichgewicht der ruhenden Elektrieität zu einem labilen macht, 
und weiterhin zu unendlicher Geschwindigkeit und zu noch anderen Un- 
möglichkeiten führt. Er spricht sich, unter gewissen Vorbehalten, für das 
Neumann’sche Potentialgesetz aus, und übt gelegentlich an einigen Gegnern 
eine sonst nicht in seinen Gewohnheiten liegende Kritik. Die Theorie 
der ungeschlossenen Ströme und der sogenannten Gleitstellen wird erörtert, 
und der Begriff der ponderomotorischen Kräfte im Gegensatz zu solchen, 
welche nur zwischen elektrischen Theilchen thätig sind, wird eingeführt. In 
diese Gruppe von Arbeiten gehört auch noch eine Studie über absolute Maafs- 


systeme für elektrische und magnetische Gröfsen und deren Dimensionen. 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 31 


So weit etwa reicht bei ihm und überwiegt offenbar noch die alte 
Lehre von der Elektrieität, wie sie durch CouLomg im Anschlufs an die 
Newron’sche Gravitation, und unter dem Anschein entstanden war, dafs 
die elektrischen Fernkräfte sich gleich der Schwere durch den leeren 
Raum fortpflanzen, und dafs ihre Leistung mit dem Produet der auf einander 
wirkenden Elektrieitätsmengen wächst, mit der Entfernung in dem Mals ab- 
nimmt, wie deren Quadrat zunimmt. Mittlerweile hatte jenes aufserordent- 
liche experimentelle Genie, welches angeblich zwar kein Binom zu quadriren 
verstand, aber des tiefsten Einblieks in die Naturgeheimnisse theilhaftig war, 
Faravay hatte sich, auf Newron selber sich berufend, über die seit einem 
Jahrhundert herrschende Gravitationslehre abfällig geäufsert, und an Stelle 
der nach deren Vorbild aufgestellten Lehre von der Elektrieität und dem 
Magnetismus polarisirte Kraftlinien gesetzt und nachgewiesen. Ein Mathe- 
matiker ersten Ranges, in diesem Felde HrrmuorLrz wohl ebenbürtig zu 
nennen, James CLerk Maxweır, hatte diese Theorie, die sich kurz als die 
der dielektrischen Polarisation beschreiben läfst, in eine mathematische 
Form gegossen, und zu der Theorie des Lichtes in der Art in Beziehung 
gebracht, dafs beide, Lieht und Elektrieität, fortan auf Aetherschwingungen 
als auf den nämlichen letzten Grund zurückgeführt, und als wesentlich 
einerlei erkannt waren. Noch fehlte für diese Synthese der handgreif- 
liche, experimentelle Beweis. Wenn er nicht von Hrımnortz selber ge- 
liefert wurde, so geschah es doch durch denjenigen seiner Schüler, der 
ihm in diesem Gebiete nach Richtung und vielleicht nach Begabung am 
nächsten stand, durch den leider kurz nach dem hier von ihm erfochtenen 
Siege verstorbenen Heinrich Hertz. Dieser zeigte, dals von elektrischen 
Funken ausgehende Strahlungen ganz wie die Aetherschwingungen des Lichtes 
interferiren, refleetirt, gebrochen und polarisirt werden; sie pflanzen sich 
mit einer der des Lichtes vergleichbaren, wenn nicht gleichen Geschwin- 
digkeit fort; genug, sie sind transversale Aethersehwingungen gleich denen 
des Lichtes, nur ungleich länger. Hermnorrz hat sich denn auch in seinen 
späteren Arbeiten der Faranpay-Maxweır'schen Theorie rückhaltlos ange- 
schlossen, ja er hat die elektrische Theorie des Lichtes in einem wichtigen 
Punkte vervollständigt, indem er die elektromagnetische Theorie der Farben- 
zerstreuung entwickelte, wobei er die zur Erklärung der anomalen Dis- 
persion schon früher von ihm angenommene Srırmeyer’sche Hypothese von 
ponderablen, des Mitschwingens fähigen Molekeln im Aether zu Grunde legt. 


32 E. ou Boıs-Reymonp: 


Er hat auch in einem vor der Chemical Society gehaltenen Vortrage Faranay's 
neue Auffassung der Elektrieität dargestellt, und zugleich die elektrische 
Theorie der chemischen Verbindungen und die Theorie der Elektrolyse in 
ihrer neuen Gestalt abgeleitet, wobei er als Grundvoraussetzungen das 
Gesetz von der Constanz der Energie und die strenge Gültigkeit von 
Farapay's elektrolytischem Gesetze festhielt. Letzterem entsprechend kann 
Elektrieität aus der Flüssigkeit an die Elektroden nur unter aequivalenter 
chemischer Zersetzung übergehen, was aber nur dann möglich ist, wenn 
die Zerlegung der chemischen Verbindungen durch die vorhandenen elek- 
trischen Kräfte geleistet werden kann. Dafs diese hierzu ausreichen, er- 
giebt sich aus der von HeımnorLtz berechneten überraschenden Gröfse der 
bei diesen Processen ausgetauschten elektrischen Aequivalente. 

Hermnortz hat später, als das sogenannte Prineip der kleinsten Action 
seine Aufmerksamkeit fesselte, die Theorie der Elektrodynamik auch aus 
diesem abgeleitet. Er hat auch in seinen Folgerungen aus Maxweır's 
Theorie über die Bewegungen des reinen Aethers’ unter der Voraus- 
setzung, dals der reine Aether eine reibungslose, incompressible Flüssig- 
keit ohne Beharrungsvermögen sei, gefunden, dafs die von MAxwELL 
aufgestellten, von Hrrrz vervollständigten Gesetze in der That ge- 
eignet seien, Aufschlufs über die im Aether auftretenden Bewegungen 
zu geben. 

Wenn wir endlich noch hinzufügen, dafs HrıLmsorrz eine den Schwan- 
kungen des Erdmagnetismus entzogene elektrodynamische Wage construirte, 
zu der hin und von der fort in sinnreicher Weise Streifen von Rauschgold 
die Ströme leiteten, so dürfte das Vorige bei aller Unvollkommenheit wohl 
für ein ziemlich vollständiges Bild von Heımnorrz’ elektrischen Arbeiten 
gelten. Dabei konnte dieser aber nicht stehen bleiben. Es liegt in der 
Natur der Dinge, dafs, wie er die Rolle der Elektrieität in den chemischen 
Vorgängen aufgeklärt hatte, er ebenso, und noch viel unmittelbarer, die 
der Wärme in den Kreis seiner Betrachtungen ziehen mufste. Die von 
Crausıus vervollständigte mechanische Wärmetheorie führt er in die Theorie 
der chemischen Vorgänge ein. Er lehrt dabei die in’s Spiel kommende 
gesammte innere Energie eines körperlichen Systemes in zwei Theile 
trennen, in die freie und die gebundene Energie, von denen die erste 
freier Verwandlung in reversible Arbeitsformen fähig ist, die zweite als 


zum Theil irreversible Wärme zu Tage treten mufs. Seine Bestimmungen 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 33 


entsprechen im Allgemeinen den von Crausıus aufgestellten Begriffen der 
Energie und der Entropie, und Crausıvs’ Ergal heifst bei HeLmmortz die 
Quantität der Spannkräfte. Doch es ist unmöglich, bei dieser Gelegenheit 
tiefer in diese äufserst schwierigen und verwickelten Dinge einzugehen. 
Es genüge, daran zu erinnern, dafs diese unscheinbaren Ermittelungen es 
sind, welche schliefslich zu der schon oben angedeuteten tragischen Einsicht 
führen, dafs die Welt, wenn auch erst nach unendlicher Zeit, als ein Eis- 
klumpen von einer nur unendlich wenig über dem absoluten Nullpunkt 
erhabenen Temperatur enden werde. 


Von hier ab fehlt es noch mehr als bisher an einem die HELMHoLTZ- 
schen Arbeiten stetig verknüpfenden Faden, und wir gehen ohne wei- 
teres zu einigen seiner Leistungen im Gebiete der allgemeinen Physik 
über. An ihrer Spitze steht die berühmte Abhandlung über Integrale der 
den Wirbelbewegungen entsprechenden hydrodynamischen Gleichungen, 
durch welehe er unstreitig einen der ersten Plätze unter den Physico- 
Mathematikern aller Zeiten einnahm, und eine Fülle wunderbarer 'That- 
sachen an’s Lieht zog, die dadurch noch bedeutsamer erscheinen, dals 
zwischen den Wirbelbewegungen des Wassers und den elektromagneti- 
schen Wirkungen elektrischer Ströme eine auffallende Analogie stattfindet. 
Wirbellinien nennt er Linien, welche durch die Flüssigkeitsmasse so ge- 
zogen sind, dafs ihre Richtung überall mit der Richtung der augenblick- 
lichen Rotationsaxe der in ihnen liegenden Wassertheilchen zusammentrifft. 
Wirbelfäden nennt er dann Theile der Wassermasse, welche man dadurch 
aus ihr herausschneidet, dafs man durch alle Punkte des Umfanges eines 
unendlich kleinen Flächenelementes die entsprechenden Wirbellinien con- 
struirt. Die Wirbelfäden müssen innerhalb der Flüssigkeit in sich zurück- 
laufen, endigen können sie nur an deren Grenzen. Geschieht das erstere, 
so entstehen in reibungsloser Flüssigkeit Wirbelringe, in welchen die 
lebendige Kraft der Zeit nach constant ist. Haben zwei Wirbelringe 
gleiche Axe und Rotationsrichtung, so schreiten sie beide in gleichem 
Sinne fort; es wird der vorangehende sich erweitern. dann langsamer 
fortschreiten, der nachfolgende sich verengern, dann schneller fortschrei- 
ten, schliefslich bei nieht zu verschiedener Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
den anderen einholen, ja durch ihn hindurchgehen. Dann wird sich das- 
selbe Spiel mit dem anderen wiederholen, so dafs die Ringe abwechselnd 

Gedächtnifsreden. 1896. II. 5 


34 E. ou Boıs-Reyuonp: 


der eine durch den anderen hindurchgehen. Haben die Wirbelringe gleiche 
Radien, gleiche und entgegengesetzte Rotationsgeschwindigkeit, so werden 
sie sich einander nähern und sich gegenseitig erweitern, so dafs schliefs- 
lich ihre Bewegung gegen einander immer schwächer wird, die Erweite- 
rung dagegen mit wachsender Geschwindigkeit geschieht. 

Wegen einiger Punkte in dieser Darlegung wurde HELMHoLTz von dem 
Pariser Akademiker Hrn. BErTrRAnn mehrfach angegriffen, es ward ihm aber 
leicht, nachzuweisen, dafs dessen Kritik nur auf Mifsverständnissen beruhe. 
Besser erging es seinen Ergebnissen in England. Lord Kervın gründete 
nämlich auf die von Hernmortz eingeführte Vorstellung der Wirbelringe eine 
eigene Theorie der Constitution der Materie. Er stellte sich vor, dafs die Atome 
kleinste, von Ewigkeit her und in Ewigkeit fort sich drehende Wirbel- 
ringe seien, und dafs die chemische Verschiedenheit der Atome darin be- 
stehe, dafs wir es in ihnen mit verschiedentlich geknoteten Wirbelringen zu 
thun haben. Wir werden später sehen, wie merkwürdig Hrrnnorzz selber 
Lord Kervın's Auffassung auszugestalten versuchte. 

In einer besonderen Abhandlung über discontinuirliche Flüssigkeits- 
bewegungen geht Hrrmmorrz aus von der oben erwähnten Übereinstim- 
mung zwischen den hydrodynamischen Gleichungen und den für stationäre 
Ströme von Elektrieität oder Wärme bestehenden, und sucht die trotz 
dieser scheinbaren Analogie doch vorhandenen, in vielen Fällen leicht 
erkennbaren und sehr eingreifenden Unterschiede auf, welche sich nament- 
lieh auffallend zeigen, wenn die Strömung durch eine Öffnung mit scharfen 
Rändern in einen weiteren Raum eintritt. 

Eine andere für die hydrodynamischen Theorien grundlegende Forde- 
rung war die genauere Bestimmung der Reibung tropfbarer Flüssigkeiten. 
Hern#ortz unternahm diese in zwei Arbeiten, deren eine sich die Ver- 
vollkommnung der Theorie der stationären Ströme in reibenden Flüssig- 
keiten vorsetzt, die andere, bei welcher Dr. G. von Pıorrowskı ihm experi- 
mentell zur Seite stand, die Frage nach den Vorgängen an der Grenze 
der Flüssigkeit und der sie umschliefsenden Wandungen näher in’s Auge 
falst. Diese Untersuchung geschah, indem eine mit verschiedenen Flüssig- 
keiten gefüllte, innen polirte und vergoldete Kugel mittels eines besonderen 
Apparates in reine Schwingungen um ihre senkrechte Aufhängungsaxe 
versetzt, und die durch die Flüssigkeit bewirkte Verzögerung der mit 


Spiegel und Fernrohr beobachteten Schwingungen gemessen wurde. Leider 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 35 


zeigte der Erfolg, dafs die gewöhnliche, durch Poiszvirze's Versuche an 
sehr langen und dünnen Röhren scheinbar bestätigte Annahme, wonach 
die oberflächlichste Schieht der Flüssigkeit den Wänden des Gefälses fest 
anhaftet, für die wässerigen Flüssigkeiten in polirten und vergoldeten 
Metallgefäfsen nicht zutrifft. während dies für Alkohol und Aether aller- 
dings nahehin der Fall ist. 

Zu den Überraschungen, welche man beim Durchmustern der HELNHoLTZ- 
schen Arbeiten erfährt, gehört es wohl, dafs man den Mathematiker und 
Experimentator. den wir bisher in ihm kennen gelernt haben, plötzlich 
der geographischen Physik und der Meteorologie mit gleicher Liebe und 
Meisterschaft sich zuwenden sieht. Seine erste Leistung in diesem Sinne 
betrifft das Eis und die Gletscher, und sie verdankt ihre Entstehung sicht- 
lich zweierlei Umständen, erstens den von HeLmHoLtrz unternommenen 
Gletscherwanderungen, zweitens den gerade damals aufgestellten Gletscher- 
theorien. und den daran sich knüpfenden Erörterungen über die Eisbildung. 
Faravay hatte entdeckt, dafs zwei an einander geprelste Eisstücke von Null 
Grad zusammenfrieren und sich fest vereinigen, und James Tnuonsox hatte 
dies durch die Erniedrigung des Gefrierpunktes erklärt, welche nach ihm 
den Druck begleitet. Es entstand aber die Schwierigkeit. dafs Faranay die 
Regelation auch bei sehr kleinem Drucke, freilich erst im Laufe einiger 
Stunden, eintreten sah. Diese Thatsachen waren von hohem Interesse, in- 
dem dadurch die von Renxpv. Forses, Tysvarı erkannte Ähnlichkeit der 
Bewegung der Gletscher mit einem Strome zähflüssiger Substanz ihre Er- 
klärung zu finden schien. Durch eine Reihe von zweckmäfsig ersonnenen 
Versuchen, in welchen gefrorenes Wasser in allen erdenklichen Zuständen 
verschiedenem Druck ausgesetzt wurde, gelang es Hermnorzz, das Entstehen 
des charakteristischen Gletschereises aus dem Firn mit überzeugender Treue 
nachzuahmen. 

Die Abhandlung "über ein Theorem, geometrisch ähnliche Bewegungen 
flüssiger Körper betreffend, nebst Anwendung auf das Problem, Luftballons 
zu lenken‘, knüpft noch an die Hydrodynamik an, indem sie lehrt, an 
einer Flüssigkeit und an Apparaten von gewisser Grölse und Geschwindigkeit 
gewonnene Beobachtungsresultate zu übertragen auf eine geometrisch ähn- 
liche Masse einer anderen Flüssigkeit und Apparate von anderer Gröfse 
und anderer Bewegungsgeschwindigkeit, beispielsweise aus den Bewegungen 
eines Schiffes auf die eines Luftballons zu schliefsen. Vögel anlangend, 


58% 


36 E. vu Boıs-Revymonp: 


erscheint es wahrscheinlich, dafs im Modell der grofsen Geier die Natur 
schon die Grenze erreicht habe, welche mit Muskeln, als arbeitleistenden 
Organen, und bei möglichst günstigen Bedingungen der Ernährung, für 
die Gröfse eines Geschöpfes erreicht werden kann, das sich dureh Flügel 
selber heben und längere Zeit in der Höhe erhalten soll. Unter diesen Um- 
ständen ist es nach HrrmnorLtz kaum als wahrscheinlich zu betrachten, dals 
der Mensch auch durch den allergeschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, 
den er durch seine eigene Muskelkraft zu bewegen hätte, in den Stand ge- 
setzt werden würde, sein eigenes Gewicht in die Höhe zu heben und dort 
zu erhalten. Neuere Versuche von Hrn. S. P. Lanerey und Hrn. O. Liumex- 
rHuAL über den Luftwiderstand wenig geneigter ebener Flächen bei starker 
horizontaler Bewegung lassen jedoch diesen Sehlufs vorläufig noch als nicht 
ganz unbedenklich erscheinen. 

Die Reihe von Hrrmnortz’ meteorologischen Arbeiten beginnt mit 
einem gemeinfafslichen Vortrage über "Wirbelsturm und Gewitter‘, der aber 
zur Erläuterung des Vorgangs der Bildung von Wirbelstürmen einen merk- 
würdigen schematischen Versuch enthält, in welehem durch eine kreisende 
Wassermasse eine senkrechte mit Luft gefüllte Röhre sich bildet. genau 
von der Form, in der man die Wasserhosen darzustellen pflegt. Dem- 
nächst hat es den Anschein, als hätte eine zufällig vom Gipfel des Rigi 
aus Hermnortz sich darbietende Wolken- und Gewitterbildung seine Auf- 
merksamkeit diesen Naturerscheinungen zugelenkt. Zwei gewaltige Ab- 
handlungen “über atmosphaerische Bewegungen’ und eine dritte über die 
Energie der Wogen und des Windes’ enthalten in meist streng mathema- 
tischer Form die Ergebnisse. zu denen Hernnorrz gelangte. und welche 
hier nieht näher dargelegt werden können. Der Grundgedanke ist indessen 
der, dafs eine ebene Wasserfläche, über die ein gleichmäfsiger Wind hin- 
streicht, sich in einem Zustande labilen Gleichgewichtes befindet, und dafs 
die Entstehung von Wasserwogen wesentlich diesem Umstande zuzuschreiben 
ist. Der gleiche Vorgang mulfs sich auch an der Grenze verschieden schwerer 
und an einander entlang gleitender Luftsehiehten wiederholen, hier aber 
viel gröfsere Dimensionen annehmen. Da wir bei den am Erdboden vor- 
kommenden mälsigen Windstärken oft genug Wellen von einem Meter Länge 
haben, so würden dieselben Wellen in die Luftschichten von 10° Tempe- 
raturdifferenz übersetzt. 2 bis 5"" Länge erhalten. Gröfseren Meereswellen 
von 5 bis 10” würden Luftwellen von ı5 bis 30*" entsprechen, die schon 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 37 


das ganze Firmament des Beschauers bedecken könnten. An den Grenz- 
flächen verschieden schwerer Luftschichten müssen dergleichen Wellen- 
systeme aufserordentlich häufig vorkommen, wenn sie uns auch in den 
meisten Fällen unsichtbar bleiben. Der Vorgang wird gelegentlich nur 
sichtbar durch die gestreiften Cirruswolken, welche sich zeigen, wenn an 
der Grenze der beiden Schichten Nebel niedergeschlagen werden. Unter 
solehen Bedingungen, wo wir Wasserwellen branden und Schaumköpfe 
bilden sehen, werden zwischen den Luftschichten sich ausgiebige Mischun- 
gen herstellen müssen. Um uns Hermnorrz wissenschaftliche Gestalt voll- 
ständig zu vergegenwärtigen, darf übrigens nicht unerwähnt bleiben, dafs 
er die Meteorologie keinesweges so zu sagen am Schreibtische trieb, son- 
dern beispielsweise es nicht verschmähte, auf dem Cap d’Antibes mit einem 
kleinen tragbaren Anemometer selber Beobachtungen über Windstärke und 
Wellengang anzustellen, und seine Formeln mit der Wirklichkeit zu ver- 
gleichen. 

Diese Arbeiten von Heımnorrz sind die letzten, welche im engeren 
Sinne als naturwissenschaftlich bezeichnet werden können, insofern darin 
von Darstellung, Beobachtung und Deutung von Naturerscheinungen die 
Rede ist. Es folgen nun zunächst fünf Studien zur Statik monoeyklischer 
Systeme, welche lediglich analytisch- mechanischen Inhaltes sind. Mono- 
eyklische Systeme sind solche, in deren Innerem eine oder mehrere 
stationäre, in sich zurücklaufende Bewegungen vorkommen, die aber, wenn 
deren mehrere sind, nur von Einem Parameter abhängen. Das Haupt- 
interesse solcher Untersuchungen liegt darin, dafs auch die Wärmebewegung, 
wenigstens in ihren nach aufsen beobachtbaren Wirkungen, die wesent- 
lichen Eigenthümlichkeiten eines monoeyklischen Systemes zeigt, und dafs 
namentlich die beschränkte Verwandlungsfähigkeit der in die Form von 
Wärme übergegangenen Arbeitsaequivalente unter gewissen Bedingungen 
auch für die Arbeit der monocyklischen Systeme gilt. 

Denselben analytisch- mechanischen Charakter haben die Aufsätze "über 
die physikalische Bedeutung’ und "zur Geschichte des Prineips der kleinsten 
Action‘. Dies von Maurrrrurs aufgestellte Prineip besagt, dals das von 
Leisnız Action genannte Produet aus der Zeit in die lebendige Kraft stets 
ein Minimum sei, so dafs man aus der Bedingung für das Minimum Bahn 
und Geschwindigkeit der bewegten Masse eindeutig erhalte. Maurertuis 
legte indefs seinem Prineipe eine ungemeine Wichtigkeit ganz anderer Art 


38 E. ou Boıs-Revmonp: 


bei, indem er darin den sichersten und unwiderleglichsten Beweis für das 
Dasein Gottes erblickte. Er vermochte aber nicht einmal einen mathe- 
matisch stichhaltigen Beweis für das Prineip zu geben, welches somit, 
wie seiner Zeit das Prineip der Erhaltung der Energie, lange unter dem 
Vorurtheile litt, dafs es nur eine halb metaphysische Fietion sei. Zwar 
hatte eine Reihe von Mathematikern ersten Ranges, von Eurer bis zu 
Jacogı, sich schon bemüht, es correct zu gestalten. Es ist aber ein eigenes 
Zusammentreffen, dafs es Hrımnorzz, der schon dem Prineipe der Erhaltung 
der Energie solchen Dienst leistete, vorbehalten war, nun auch noch dem 
Prineipe der kleinsten Action die höchste Weihe zu ertheilen. 

Was uns jetzt noch von HermHoLzz’ Arbeiten zu betrachten bleibt. 
führt uns wieder in ein ganz neues, diesmal sogar dem gewöhnlichen 
Naturforscher einigermaalsen fremdes Gebiet, in welchem aber jener sich 
mit gleichem Vermögen und gleichem Behagen bewegt, wie vorhin in der 
Mechanik. der Physik, der Physiologie: in das Gebiet der Erkenntnifs- 
theorie. Auf dreifachem Wege kam er dazu, sich damit zu beschäftigen. 
Einmal, indem er den Ursprung der richtigen Deutung unserer Sinnes- 
eindrücke als blofser Zeichen, nicht etwa Abbilder, der äufseren Gegenstände 
klarzulegen suchte. Dann, indem er die der Geometrie zu Grunde liegen- 
den Thatsachen auf die Richtigkeit der ihnen als Axiome zugeschriebenen 
Bedeutung prüfte. Endlich, indem er in dem Aufsatze über "Zählen und 
Messen erkenntnilstheoretisch betrachtet‘ das Nämliche mit den Axiomen 
der Arithmetik vornahm. Wie in dem Vorigen das Princip der Erhaltung 
der Energie uns stets als sicherer Leitfaden durch HrınnorLız’ Gedanken- 
wege diente. so fehlt es auch in diesem Abschnitt nicht an einem ähn- 
lichen Führer. Der diese Untersuchungen beherrschende Gedanke ist die 
empiristische Weltanschauung, weicher Heınnorrz huldigt, im Gegensatze 
zu der von ihm verworfenen nativistischen. Es ist dies derselbe Gegen- 
satz, der schon im siebzehnten Jahrhundert zwischen der Leıssız’schen 
praestabilirten Harmonie und dem Locke’schen Sensualismus bestand, dem 
aber dann Kant eine entschiedene Wendung zu Gunsten der ersteren Lehr- 
meinungen gab. Der Königsberger Weltweise behauptete bekanntlich, dafs 
seine zwölf Kategorien des Verstandes, insbesondere das Causalgesetz, dafs 
die Anschauung der Zeit, des Raumes mit seinen drei Dimensionen, und die 
geometrischen Axiome, transscendentalen Ursprunges, dafs sie uns a priori 


vertraute, eingeborene Einsichten seien. Gegen diesen von ihm sogenann- 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 39 


ten Nativismus erhob sich Hrıunorrz sichtlich aus dem Grunde, dals er 
einen supernaturalistischen Ursprung voraussetze, und somit gegen jenes 
erste, in der "Erhaltung der Kraft‘ von ihm an die Spitze gestellte Prineip 
verstolse, »dafs die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu be- 
»greifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse«. 
Er zieht also vor, sich zu denken, dafs das neugeborene Thier, dafs der 
Säugling durch die zunächst ganz zufälligen und zwecklosen Bewegungen 
seiner Gliedmaalsen und Sinnesorgane und die dadurch bewirkten Verän- 
derungen von Sinneseindrücken zur Vorstellung der Aufsenwelt gelange. 
Übrigens bemerkt er. dafs der einzige Einwurf, der gegen die empiristische 
Erklärung »vorgebracht werden könnte, die Sicherheit der Bewegung vieler 
»neugeborener oder eben aus dem Ei gekrochener Thiere ist. Je weniger 
»geistig begabt dieselben sind, desto schneller lernen sie das, was sie über- 
»haupt lernen können ...... Das neugeborene menschliche Kind dagegen 
»ist im Sehen äufserst ungeschickt, es braucht mehrere Tage, ehe es lernt, 
»nach dem Gesichtsbilde die Richtung zu beurtheilen, nach der es den 
»Kopf wenden mufs, um die Brust der Mutter zu erreichen. Junge Thiere 
»sind allerdings von individueller Erfahrung viel unabhängiger. Was aber 
» dieser Instinet ist, der sie leitet, ob direete Vererbung von Vorstellungs- 
»kreisen der Eltern möglich ist, .... darüber wissen wir Bestimmtes noch 
»so gut wie nichts«. 

Eine hierher gehörige Betrachtung scheint aber HrrLmnoLrz entgangen 
zu sein. Vielleicht hat in unserer Übersicht seiner Arbeiten der Eine oder 
Andere mit Befremden eine Äufserung über das gröfste in diesem Zeitraum 
die Biologie bewegende Ereienils vermifst: über Darwın’s Theorie des 
Ursprunges der Arten. Nun, wo immer dazu Gelegenheit war, hat Hrrın- 
HOLTZ nicht versäumt, sogar eifriger als es sonst seine Art ist, sein Ein- 
verständnifs mit der neuen Lehre und seine Bewunderung der Grofsthat 
des Britischen Forschers und Denkers an den Tag zu legen. Hier jedoch, 
in der Streitfrage zwischen Nativismus und Empirismus, dürfte er die 
durch den Darwinismus herbeigeführte Veränderung der Sachlage über- 
sehen oder doch nicht gebührend gewürdigt haben. Denn so bedenklich 
der Nativismus klingt, wenn er so verstanden wird, dafs eine Generation 
auf die nächstfolgende unmittelbar der Wirklichkeit entsprechende Vor- 
stellungen vererbe, so annehmbar gestaltet er sich, wenn man eine all- 
mähliche Entwickelung durch eine beliebig ausgedehnte Reihe von Ge- 


40 E. vu Boıs-Reymonp: 


schlechtern zu Hülfe nimmt. Dies ist die von Hrn. HerBERT SPENCER und 
dem Redner unabhängig von einander vorgeschlagene Versöhnung zwischen 
Nativismus und Empirismus, welche mindestens ebenso berechtigt erscheint. 
wie nach Darwinistischen Prineipien die Entstehung eines Auges oder 
Ohres. Von supernaturalistischer Einmischung ist dabei keine Rede mehr. 
Viel schwieriger als solch nativistisches Werden einer Thierseele ist es 
jedenfalls sich empiristisch vorzustellen, wie ein eben erst der Larve ent- 
schlüpfter Schmetterling in der kurzen Frist seines neubewulsten Daseins 
den Raum mit seinen drei Dimensionen. die Gravitation, den Luftwider- 
stand, das Aussehen der ihm vortheilhafte Gelegenheiten darbietenden 
Blumen erfahrungsmäfsig erkennen solle. Seine Erlebnisse als Raupe 
werden ihm dabei kaum von Nutzen sein. Und da Heımnorrz selber ge- 
neigt scheint, in dieser Art von Thatsachen eine Schwierigkeit für den 
Empirismus anzuerkennen, so wird es vielleicht am Platze sein, weiter 
zu fragen, wie das Menschenkind während der ersten drei Lebensmonate, 
von denen es, wohl bemerkt. etwa elf Zwölftel schlafend verbringt, — 
des dummen Vierteljahres, wie unsere Wärterinnen es nennen —, den 
Gebrauch seiner Augen und Hände durch Tastversuche sieh aneignen 
könne, die, um es zu belehren, eigentlich die Vorstellungen sehon vor- 
aussetzen, welche sie nach der empiristischen Theorie erst erwecken 
sollen. Womit nicht gesagt sein soll, dafs es nicht Fälle gebe, in denen 
der empiristischen Auffassung der Vorzug mit vollem Rechte gebühre. 
Es wird ja wohl hier, wie an so vielen Stellen, das Vorsichtigste und 
Richtigste sein, wenn man beide Vorstellungsweisen im Auge behält 
und nach den Umständen bald der einen, bald der anderen den Vorzug 
schenkt. 

Der besondere Gesichtspunkt nunmehr. aus welchem Hermnorrz die 
beiden Weltanschauungen einander vergleichend gegenüberstellt, und auf 
ihre Berechtigung prüft, ist die oben schon erwähnte Kanr’sche Auffassung 
des Raumes und der geometrischen Axiome. Zunächst führt er an die 
Stelle der üblichen geometrischen Betrachtungsweise, welche mancherlei 
Täuschungen ausgesetzt ist, die analytische Behandlung ein, aus der sich 
eine neuere rechnende Geometrie ergiebt. Sodann wird gezeigt, dafs aus 
Thatsachen wie die Selbstverständlichkeit der Axiome und die Unmöglich- 
keit, uns eine vierte Dimension vorzustellen, keineswegs auf den transscen- 


dentalen, aprioristischen Ursprung unserer Anschauungen zu schliefsen sei. 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 41 


Man kann sieh nämlich verstandbegabte Wesen denken. welche. anstatt 
in einem dreidimensionalen Raume, auf‘ der Oberfläche irgend eines unserer 
festen Körper lebten und nicht die Fähigkeit hätten, irgend etwas aulser- 
halb dieser Oberfläche wahrzunehmen, wohl aber vermöchten, den unserigen 
ähnliche Wahrnehmungen innerhalb der Ausdehnung der Fläche zu machen, 
in der sie sich bewegen. Wenn sich solche Wesen ihre Geometrie aus- 
bildeten, so würden sie ihrem Raume natürlich nur zwei Dimensionen zu- 
schreiben. Sie würden in diesem Raume, den wir uns im einfachsten Falle 
als eine unendliche Ebene denken können, gewisse Axiome unseres Raumes 
auffinden und für angeborene Einsichten halten, wie dafs zwischen zwei 
Punkten nur eine Gerade, durch einen dritten Punkt nur eine Parallele 
mit jener möglich sei, u. s. w. Aber sie würden von einem weiteren räum- 
lichen Gebilde, was entstände, wenn eine Fläche sich aus ihrem tlächen- 
haften Raume herausbewegte, sich ebensowenig eine Vorstellung machen 
können, als wir es können von einem Gebilde, das durch Herausbewegung 
aus dem uns bekannten Raume entstände. Man kann dergestalt neben 
unserer Geometrie, welche als die Eukuipische zu bezeichnen ist, mehrere 
andere Geometrien entwickeln, welche die auf die Oberfläche bestimmter 
räumlichen Gebilde beschränkten intelligenten Wesen sich construiren wür- 
den: aufser jener der unendlichen Ebene entsprechenden, welche mit un- 
serer Planimetrie zusammenfiele, eine sphaerische Geometrie, welche die 
gedachten Wesen auf einer Kugeltläche, eine pseudosphaerische Geometrie. 
welche sie auf einer sattelförmigen Fläche ersinnen würden u. d. m. Solche 
Nicht-Evkuiische Geometrien sind schon vor längerer Zeit von LOBATSCHEWSKIJ 
in Kasan, später von Hrn. Berrramı in Bologna ausgearbeitet worden, 
während von Gauss selber und dem früh verstorbenen Rırmann der Grund 
zu den metamathematischen Untersuchungen gelegt wurde, in welchen neben 
unserem Raume von gekrümmten Räumen die Rede ist. Dieser Ideenkreis 
höchster mathematischer und erkenntnifstheoretischer Speculation ist es, 
aus welchem HermHoLtz zu dem Schlusse gelangt, dafs Kant's Annahme 
einer Kenntnifs der Axiome aus transscendentaler Anschauung erstens eine 
unerwiesene, zweitens eine unnöthige, drittens eine für die Erklärung un- 
serer Kenntnifs der wirklichen Welt gänzlich unbrauchbare Hypothese ist. 
Der Raum kann übrigens transscendental sein, ohne dafs es die Axiome 
sind, und das Causalgesetz ist wirklich ein a priori gegebenes transscenden- 
tales Gesetz, worin also HerLmnoLtTz von JoHannes MÜLLER abweicht, der 
Gedächtnifsreden. 1896. II. 6 


42 E. vu Boıs-Reymonp: 


gerade umgekehrt an dem Begriff der Causalität seine eigene empiristische 
Auffassung der Verstandeskategorien entwickelt. 

Wir haben nunmehr einen zwar äufserst flüchtigen, übrigens ziem- 
lich vollständigen Überblick über Hrımnourz’ wissenschaftliches Lebenswerk 
erlangt. ausreichend um das Eingangs Gesagte zu begründen, dafs dies 
Werk von der physiologischen Anatomie bis zur Erkenntnifstheorie alles 
theoretisch Zugängliche umfasse, und haben dabei überall neben der feinsten 
Technik in Beobachtung und Versuch den Gipfel mathematischer und meta- 
physischer Befähigung zu bewundern gefunden. Um ein Beispiel solcher 
unerhörten Allseitigkeit im Wissen und Können anzutreffen, mu[s man um 
zwei Jahrhunderte, bis zu den Riesengestalten eines Leısnız, eines DESCARTES 
zurückgehen, wobei aber zu bemerken ist, wie unvergleichlich reicher und 
bunter, und also schwieriger zu bewältigen seit deren Tagen der Inhalt 
der Wissenschaft ward. Von denen. die es vergeblich unternahmen. die 
unermelsliche Reihe von HeLnnorzz’ Schöpfungen in den drei Bänden seiner 
gesammelten wissenschaftlichen Abhandlungen sich anzueignen, wird viel- 
leicht mancher Diperor's Empfindung theilen, der von Leissiz sagt: »Wenn 
»man auf sich zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen 
»eines Leısnız vergleicht, wird man versucht. die Bücher von sich zu 
»werfen und in irgend einem versteckten Weltwinkel ruhig sterben zu 
»gehen.« Und doch geben diese streng wissenschaftlichen Aufsätze, von 
deren Seiten Differentialgleichungen und Integrale einer grofsen Mehrzahl 
von Lesern abschreckend entgegenstarren, von HELnHoLTz' geistiger Pro- 
duetionskraft noch keine entsprechende Vorstellung. Denn nebenher läuft 
damit vielfach eng zusammenhängend eine Reihe gemeinfafslicher Vorträge 
und Reden, welche bei verschiedenen Gelegenheiten bald hier, bald dort 
gehalten, in willkommener Weise die Ergebnisse jener schwierigen Dar- 
legungen vor Augen führen. Von einigen unter ihnen ist im Obigen schon 
die Rede gewesen: von anderen, wie "über die Natur der menschlichen 
Sinnesempfindungen', "über das Sehen des Menschen‘, “über das Verhältnis 
der Naturwissenschaften zur Gesammtheit der Wissenschaften‘, “über die 
Axiome der Geometrie‘, “über die Thatsachen in der Wahrnehmung’, 'Opti- 
sches über Malerei‘, können hier nur die Titel angeführt werden. Noch 
andere, wie die Rede "zum Gedächtnifs an Gustav Masnus', die Rectorats- 
rede über die akademische Freiheit der deutschen Universitäten‘, die Rede 
beim Empfang der Grarre-Medaille, die "bei der hundertjährigen Gedenk- 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 43 


feier von Joserun FRAUNHOFER's Geburt, die Rede "über GoETHE’s natur- 
wissenschaftliche Arbeiten” vom Jahre 1853, die "über Gorrne's Vor- 
ahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen’ vom Jahre 1892, — 
stehen mehr selbständig da. Darunter werden naturgemäls die beiden 
letztgenannten am meisten anziehen, mit um so gröfserem Rechte, als sie, 
von verschiedenen Gesichtspunkten aus, über den Dichter als Naturforscher 
zu weit aus einander gehenden Urtheilen gelangen. Denn während in der 
ersten Rede Hrımnortz mit dem Verfasser der Farbenlehre und fanatischen 
Gegner Newron’s in's Gericht geht, preist er in der zweiten ebenso rück- 
haltlos den prophetischen Scharfbliek, mit welchem GorrnE die grofsen 
Grundgedanken der vergleichenden Anatomie erfafste und ihre Folgerungen 
voraussah. In allen diesen Aufsätzen, welche zwei ansehnliehe Bände füllen, 
erfreuen nicht minder die durch tiefste Sachkenntnifs ermöglichten sinn- 
reichen Gedankenwendungen, wodurch die schwierigsten Combinationen 
leicht verständlich werden, als der stets völlig natürliche, gelenkige und 
doch klangvolle Stil. 

Wer nun vox Heımmortz nur als Gelehrtem wülste, tröstete sich viel- 
leicht. um den allzu peinlichen Eindruck einer so überwältigenden Über- 
legenheit einigermaalsen zu mildern, mit der Vorstellung, jener habe, um 
Kraft und Mulfse für eine solche Fülle vollendeter Leistungen zu erübrigen, 
so zu sagen nichts Anderes zu thun gehabt, mit anderen Worten er habe 
stets ruhig bei der Stange bleiben können, wie man sich dies von manchem 
deutschen Universitätslehrer. im Auslande etwa von einem Üuvier, BER- 
zEeuIus, Farapay zu denken geneigt ist. Allein dies wäre ein vollkommener 
Irrthum. wie sich alsbald ergiebt, wenn man, wozu es jetzt an der Zeit 


ist. Hrımnortz’ äufsere Lebensschicksale in Augenschein nimmt. 


Wir verliefsen den Dr. Hermann Hernnorzz, als so eben promovirten 
Zögling des medieinisch-ehirurgischen Friedrich Wilhelms-Institutes, und 
müssen ihm zunächst, als Charite-Chirurgus in das bekannte grofse Kranken- 
haus, das Jahr darauf, im Oetober 1843, als Escadron-Chirurgus in die 
Öaserne des Königlichen Leib-Garde-Husaren-Regimentes in Potsdam folgen. 
Hier führte er 1845 seine Versuche über den Stoffverbrauch bei der Muskel- 
action aus, wozu ich ihm eine von Hatske mit eigner Hand für mich zu 
einer unterbliebenen Malapterurus-Reise gebaute tragbare Wage hinüber- 
brachte. Am 1. Juni 1847 wurde er in das Königliche Regiment der Gardes- 

6* 


44 E.,pu Boıs-Reynmonp: 


du-Corps. gleichfalls in Potsdam, versetzt. In dieser Stellung hielt er im 
Juli desselben Jahres in der Physikalischen Gesellschaft den epochemachenden 
Vortrag über Erhaltung der Kraft. Ein Jahr später, am 30. September 1848. 
hatte er so volle sechs Jahre als Militärarzt gedient und es bis zum Ober- 
arzt gebracht. Inzwischen hatte das Revolutionsjahr eine glückliche Ver- 
änderung in seiner Lage herbeigeführt, wenn auch nicht durch seine po- 
litische Bewegung. Doch giebt es einen Begriff’ von den damaligen Stim- 
mungen, dafs nach dem 18. März unser Freund von Potsdam herüberkam. 
um nach Brücke und mir zu sehen, und durch Kufs und Händedruck seine 
tiefe Erregung verrieth. 

Brücke, welcher Lehrer der Anatomie bei der Akademie der Künste 
und Assistent an der anatomisch-zootomischen Sammlung war. erhielt nun 
aber einen Ruf als Burnpacn's Nachfolger für die Professur der Physiologie 
und Allgemeinen Pathologie in Königsberg. Da mein Vater die Güte hatte, 
trotz seinen beschränkten Vermögensverhältnissen, mich. ohne auf prakti- 
sche Ziele zu drängen, in meinen thierisch -elektrischen Untersuchungen 
gewähren zu lassen. und ich somit für den Augenblick genügend versorgt 
schien. so wurde unter uns verabredet. dafs Hrrmnorrz Brücke's Stellen 
erhalten sollte. Es kostete wenig Mühe. um mit Hülfe des damals über 
die Berliner wissenschaftlichen Geschicke waltenden guten Genius ALEXAN- 
DER'S von HunsorLpr. HerLunorrz von seinen noch übrigen drei pflichtmälsigen 
Dienstjahren zu befreien und ihn an Brücke's Stelle bei der Kunstakademie 
und der anatomisch-zootomischen Sammlung unterzubringen. Die Akademie 
und Jonanses MÜLLER waren es zufrieden; allein der Zustand wurde nicht 
von Dauer, denn schon ein Jahr später erhielt Brücke den für seine ganze 
Laufbahn entscheidenden Ruf als Professor der Physiologie nach Wien, 
Hernnorrz folgte ihm 1849 auch in seiner Königsberger Stellung. und ich 
selber nahm nun seine hiesigen Stellungen ein. In Königsberg hatte Hrın- 
noLtz also als Burnacn's und Brücke's Nachfolger Physiologie und Allge- 
meine Pathologie zu doeiren. Dort war es, wo er mehrere seiner bedeu- 
tendsten Jugendarbeiten ausführte, die Geschwindigkeit des Nervenprineipes 
maals, die Muskelzuekung sich aufschreiben liefs, den Augenspiegel erfand. 
Sieben Jahre später, 1856, als Aus. Franz Jos. Kart Mayer in Bonn die 
Professur der Physiologie und Anatomie niederlegte, ward Hernnorrz dessen 
Nachfolger. In dieser Stellung entstanden seine anthropotomischen Arbeiten 
über die Muskeln des Brustkastens und die Wirkungen der Muskeln des 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 45 


Armes. Aber schon das Jahr darauf, 1857. wurde er nach Heidelberg be- 
rufen, um die dort neubegründete Professur der Physiologie und die Leitung 
des physiologischen Institutes zu übernehmen. Sein dortiges Zusammen- 
wirken mit Hrste als Anatomen, Kırcnnorr als Physiker, Bunsen als 
Chemiker war für die süddeutsche Universität eine Zeit des Glanzes, 
wie sie selten für irgend eine da war und nicht leicht wiederkehren 
wird. Aus Heidelberg sind die Vorreden zu den ersten Ausgaben des 
Handbuches der physiologischen Optik und der Lehre von den 'Tonempfin- 
dungen gezeichnet. 

In Heidelberg war endlich Heınnorrz eine rein physiologische Lehr- 
thätigkeit, ohne anatomische, geschweige pathologische Beimischung zu 
Theil geworden, doch hatte er noch lange nicht die ihm durch das Geschick 
zugedachte Höhe erreicht. Im April 1870 starb Gustav Massus, und die 
Professur der Physik an der Berliner Universität wurde frei. Als damaliger 
Rector der Universität erhielt ich von dem Minister von Münter den ehren- 
vollen Auftrag mich nach Heidelberg zu begeben, und nach dem Beschlufs 
der hiesigen philosophischen Faeultät in erster Linie Kırcnnorr, oder wenn 
dieser nicht zu haben wäre. HermHorız für uns zu gewinnen. KırcHHorF 
wurde von der Grofsherzoglich Badischen Regierung festgehalten, dagegen 
Hernnortz, dessen Wünschen der Minister mit dankenswerther Freigebigkeit 
entgegenkam,. der unserige ward. So geschah das Unerhörte, dafs ein Me- 
dieiner und Professor der Physiologie den vornehmsten physikalischen Lehr- 
stuhl in Deutschland erhielt, und so gelangte Hrrmnorzz, der sich selber 
einen geborenen Physiker nannte, endlich in eine, seinem specifischen Ta- 
lente und seinen Neigungen zusagende Stellung. da er damals, wie er mir 
schrieb, gegen die Physiologie gleichgültig geworden war und eigentliches 
Interesse nur noch für die mathematische Physik hatte. Es versteht sich, 
dafs er nach seiner Übersiedelung hierher aus einem auswärtigen Mit- 
gliede der Akademie, was er seit dem ı. Juni 1870 war. statutenmälsig am 
1. April 1871 unser ordentliches Mitglied wurde. 


Doch sollte noch einmal, und noch viel wesentlicher als bisher, seine 
Lage sich ändern. Es kam die Zeit, wo unser grolser Freund, WERNER 
vox SIEMENS, zum Theil mit eigenen, nur ihm möglichen riesigen Geld- 
opfern, die Gründung einer Physikalisch-Teehnischen Reichsanstalt in Char- 
lottenburg zuwege brachte. Nun war uns nicht unbekannt. dafs Sırmens 


46 E. pu Boıs-Reymonp: 


immer mit Bedauern sah, wie Hrrmnoutz einen grolsen Theil seiner Zeit 
und Kraft, anstatt der Fortführung seiner unvergleichlichen Arbeiten, seinem 
Lehramte widmen mufste; und so blieb uns auch nicht verborgen, dafs er 
Hermsorrz die Stelle eines Praesidenten jener Anstalt zugedacht hatte, als 
eine solche, welche ihn von jeder anderen, als einer wissenschaftlichen 
Thätigkeit befreien würde, eine Lage, wie nur ein reiner Akademiker sie 
sich als Ideal träumen könnte. Seine gute Absicht wurde aber nur unvoll- 
kommen erreicht. Da Heınnorrz aus gewissen Gründen Universitätsprofessor 
bleiben mufste, so mufste er nothwendig auch noch Vorlesungen halten, 
wenn auch zwei Stunden wöchentlich genügten, um seine Verpflichtungen 
zu erfüllen. So las er bis zu seinem Tode kleinere Speeialcollegia, wie 
über die mathematische Theorie der oseillatorischen Bewegungen, über die 
Theorie der Elektrodynamik, über mathematische Optik, über die mathe- 
matische Wärmetheorie u. d. m., welche stenographirt eine höchst werth- 
volle Ergänzung zu seinen systematischen Schriften bilden. Dann aber 
liegt es in der Natur der Dinge, dafs der Praesident eines so umfang- 
reichen, vielfach gegliederten. zum Theil den Charakter einer Unterrichts- 
anstalt, zum Theil den einer Fabrik tragenden Institutes mit einem Per- 
sonal von fünfzig Beamten, eine gewaltige Menge von täglich sich erneuern- 
den Verwaltungsgeschäften zu erledigen hat, welehe weit entfernt Heın- 
Horzz im Vergleich zu seinen bisherigen Beschäftigungen eine Erleich- 
terung zu gewähren. durch ihre Neuheit und Fremdartigkeit ihn vielmehr 
erst recht belasteten. Dieser Übergang von Hrımnorsz zu dem ihm von 
SIEMENS geschaffenen Wirkungskreise fand im October 1887 statt. Drei 
Jahre später, den 13. December 1890. gab er eine 'Denkschrift über die 
bisherige Thätigkeit der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt' heraus, 
die, zur Kenntnifsnahme durch den Reichstag bestimmt, Zeugnifs davon 
ablegt, mit welchem Eifer und welcher Thatkraft er auch in dieser Stel- 
lung allen Anforderungen zu genügen vermochte. Diese Denkschrift, zwei- 
undzwanzig enggedruckte Seiten stark, zerfällt, wie die Reichsanstalt selber, 
in zwei Abtheilungen. Die erste, physikalische, umfafst Thermometrische 
Fundamentalarbeiten. und handelt unter dieser Aufschrift vom Normal- 
Quecksilberthermometer, der Auswahl der Röhren, der Herstellung der 
Theilung, der Abweichung der Capillare von der idealen Cylindergestalt, 
den Verbesserungen für den Fundamentalabstand und wegen des inneren 


und äufseren Druckes; dann von Barometrischen Untersuchungen, Ausdeh- 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 47 


nungsbestimmungen, Normalgewichten, Elektrischen Fundamentalarbeiten. 
Die zweite, technische Abtheilung beschäftigt sich unter der Aufschrift 
”Thermometrische Arbeiten mit der Prüfung ärztlicher Thermometer, deren 
nahezu 25000 in den drei Jahren des Bestehens der Reichsanstalt von 
dieser geprüft und gestempelt worden waren; dann der Thermometer für 
wissenschaftliche und soleher für chemische Zwecke, der Alkoholthermometer 
für niedere Temperaturen. Es folgt die Prüfung von Quecksilberbarometern 
und Aneroiden. von Manometern und Petroleumprobern und von Schmelz- 
ringen. von elektrischen Mefsgeräthen, worüber eine besondere Bekannt- 
machung in der ‘Zeitschrift für Instrumentenkunde’ Auskunft giebt. Dann 
kommen auf Herstellung einer unveränderlichen Lichteinheit gerichtete 
photometrische Arbeiten, ebenso zur Erzeugung von Normal-Stimmgabeln 
geeignete Versuche, endlich auf Einführung einheitlicher Schraubengewinde 
abzielende Studien, die Anlauffarben der Metalle, Störungen der Libellen. 
Diese sehr unvollständige Aufzählung genügt wohl schon, um einen Begriff 
von der Art von Untersuchungen zu geben, welche Hermnotsz zur Ab- 
wechselung von seinen erkenntnifstheoretischen Speculationen jetzt gleich- 
sam zur Pflicht gemacht wurden. 

Bedarf es mehr, um das Irrthümliche der Meinung in’s Licht zu 
stellen, dafs er durch die ruhige und gleichmäfsige Natur seiner Berufs- 
arbeiten in seiner produetiven 'Thätigkeit begünstigt gewesen sei? Sieht 
man nicht, dafs er im Gegentheil ungleich öfter als die meisten Universitäts- 
lehrer in die kraft- und zeitraubende Lage gekommen ist, nicht blofs Ort 
und Umgebung, sondern sogar Lehrauftrag und Natur seines Unterrichtes 
von Grund aus zu ändern? Das Geheimnifs seiner dennoch auch in der Fülle 
der Erzeugnisse beispiellosen Produetivität lag denn auch vielmehr, wie 
kaum gesagt zu werden braucht, in seinem unermüdlichen Fleifse und 
seiner Fähigkeit, eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Thatsachen und 
Gedanken sich stets gegenwärtig und gleichsam zum Zugreifen und zum 
Verwerthen bereit zu halten. 

Dafs die letztere Eigenschaft, verbunden mit einer wissenschaftlichen 
Erfahrung und einem geistigen Überblick ohne.Gleichen, ihn auch zu einem 
der wirksamsten Lehrer machte, versteht sich von sich selber. Auf dem 
Katheder wie im Laboratorium gab er in eindringlicher Weise das Beste, 
was er hatte, aber freilich mehr an die Minderzahl sich wendend, welche 
im Stande war, es zu empfangen und zu würdigen. Nie liefs er, wozu 


48 E. ou Boıs-ReEeymonp: 


es ihm doch an Gelegenheit nicht fehlte, Andere seine Überlegenheit pein- 
lich fühlen, und es war nur deren eigene richtige Empfindung, wenn sie 
ihnen doch zum Bewulstsein kam. 


Nichts wäre aber irriger, als sich nun vorzustellen, dafs Heımnorrtz 
durch seine wissenschaftliche Thätigkeit völlig in Anspruch genommen 
gewesen sei. Neben dem Allen war er ein ganzer Mensch. Er hatte sich 
früh, 1849. in Potsdam mit Fräulein OL«A von VELTEN verheirathet, die 
er aber kurz nach seiner Niederlassung in Heidelberg verlor. Von den 
beiden Kindern aus dieser Ehe starb die Tochter als Gattin des Professors 
der Geologie Hrn. Branco. der Sohn lebt in München als angesehener 
Techniker. 1861 schlofs HermsorLrz in Heidelberg eine neue Ehe mit 
Fräulein Anna von Monr, aus der berühmten Württembergischen Gelehrten- 
Familie. welche nicht allein sein Leben fortan wieder verschönte, sondern 
auch durch ihre hervorragende Persönlichkeit sein Haus zu einem Mittel- 
punkte bedeutender Geselligkeit machte. Von den aus dieser Verbindung 
entsprossenen Kindern wurde ihm der ältere Sohn leider durch den Tod 
entrissen, als er eben anfing, als Physiker sich seines Namens würdig zu 
zeigen; durch eine Tochter ist seine enge Beziehung zu WERNER VON 
Sırmens ein verwandtschaftliches Verhältnifs geworden. 

Hermnorrz’ Äufseres zu schildern, würde in diesem Kreise, dem er 
so lange angehörte, überflüssig sein. Der Mit- und Nachwelt wird es in 
Bildnifs und Büste durch die besten Deutschen Künstler vergegenwärtigt 
und aufbewahrt. Für die, denen es fremd geblieben sein sollte, sei hier 
gesagt, dals es ganz seiner inneren Gröfse entsprach. Ein fast über- 
mächtiger Schädel, aber von reinster Form, barg das wundervolle Denk- 
organ, ein Paar herrlicher Augen liefs nicht erkennen, welches gefähr- 
liche Maafs von Anstrengung in subjectiven Versuchen es ohne Schaden 
ertragen hatte, während die untere Hälfte des bräunlichen Antlitzes durch 
die Kleinheit und Zierlichkeit die Feinheit seiner geistigen Neigungen 
spiegelte. 

Er war von mehr als mittlerer Gröfse, kräftigem Wuchs und edler 
Haltung, ein rüstiger Bergsteiger, und als Sohn der Havel ein tüchtiger 
Schwimmer. Weite Spaziergänge, an welche er in Potsdams schöner Um- 
gebung durch seinen Vater früh gewöhnt worden war, hatten, wie er be- 
richtet, für ihn noch eine andere als hygienische Bedeutung erlangt. Es 


Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 49 


war beim gemächlichen Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter, 
dafs ihm über die ihn gerade beschäftigenden Probleme Aufschlüsse kamen, 
die ihm mit der Feder in der Hand am Schreibtische versagt blieben. 
Dureh Reisen, welche sich gelegentlich bis über die Meerenge von Gibraltar 
und über den Atlantischen Ocean erstreckten, erhielt er sich frisch und 
seinen erstaunlichen Leistungen gewachsen. Wie die Natur, war auch die 
Kunst für ihn ein Element der Abspannung und des heiteren Genusses. 
Von seinem Sinn für Musik war schon oben die Rede, und zwar gehörte 
er zu Rıcuarn Wasner’s Bewunderern. In der Malerei hatte er seine Freude 
an Böckrin’s phantastischen Fischgestalten. 

Von den unzähligen Auszeichnungen aller Art, welche ihm im In- und 
im Auslande von allen Seiten zu Theil wurden, seien schliefslich hier nur 
zwei erwähnt. 

Des Kaisers und Königs Majestät verliehen HerLmnortz durch Erhebung 
in den Adelstand und durch Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rathe 
die höchsten bürgerlichen Ehren und geruhten die Errichtung seines Stand- 
bildes auf öffentlichem Platze zu befehlen. 

Die andere Ehrung, welche Hermnortz in ihrer Art als die stolzeste 
erschien, die ihm erwiesen werden konnte, war die Gründung der inter- 
nationalen Stiftung, welche bei der Königlichen Akademie der Wissen- 
schaften seinen Namen trägt, und aus der in gemessenen Zeiträumen eine 
mit seinem Bilde und Namen bezeichnete Medaille einem hervorragenden 
Gelehrten und Forscher in einem seiner zahlreichen Arbeitsgebiete als Preis 
verliehen wird. Die jedesmalige Wahl des Preisträgers ist bis auf Weiteres 
Hermnorrz vorbehalten. Ich selber hatte so das unschätzbare Glück, aus 
Hermnorrz’ eigener Hand das erste von ihm verliehene Exemplar seiner 
Medaille entgegennehmen zu dürfen. 

Sein früher Tod, der am 8. September 1894 durch Hirnblutung ihn 
aus voller Schaffenskraft hinwegraffte, ist nicht blofs, wie Eingangs geschil- 
dert, als ein für die Wissenschaft unsagbarer Verlust, sondern sogar als 
nationales Unglück empfunden worden. Wir aber, die Königlich Preufsische 
Akademie der Wissenschaften, sind es, welche dieser Verlust am schmerz- 
lichsten trifft. Wir wissen am besten, was wir an ihm besafsen und was 
wir von ihm noch erhoffen durften. Der Glanz seines Namens bestrahlte 
unsere Körperschaft, der Ruhm alles dessen, was er vollbracht hatte, kam 
uns in ihm zu Gute. Nichts verhindert uns zu träumen, dafs, nachdem 

Gedächtni/sreden. 1896. Il. 7 


® 
50 E. nu Boıs-Revmonn: Gedächtnifsrede auf Hermann von Helmholtz. 


mit seiner Hülfe Lieht und Elektrieität als einerlei erkannt worden waren, 
es ihm auch noch glücken würde, das seit Newron scheinbar ewig dunkle 
Wesen der Gravitation in Etwas zu enthüllen. 

Er ist nieht mehr. Nichts bleibt uns, als jener zweifelhafte Trost 
des Dichters: Er war unser. Wir werden nimmer seinesgleichen sehen; 
ja es ist die Frage, ob eine Gestalt, wie die seinige, je wieder zum Vor- 
schein kommen kann. 


PHYSIKALISCHE 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICHEN 


AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 
ZU BERLIN. 


AUS DEM JAHRE 
1896. 


MIT 4 TAFELN. 


BERLIN. 
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. 
1896. 


GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI,. 


IN COMMISSION BEI GEORG REIMER. 


"In yeruzaberıl 


Va ad | 


ANTDEENAON 


N 


/HPETN SEI FE 
NARHKEBEN | 


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rap 1m BIRD AAR. % IH KH ui art ir ur 
B f \ D 


Anal 


KA KUImETEAI IE as Mr VDE 


Kam HIT ara er 


Inhalt. 


ENGLER: Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im Ver- 
hältnils zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 3 Tafeln.).. . Abh. I. S.1—28. 
Derselbe: Über die geographische Verbreitung der Zygophyllaceen im 


Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. (Mit 1 Tafel.) .. » 11. S.1—36. 


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ut namallss N. a hie u Tb DTT2E ee‘ sellany ( 
R N f manlımi ELBE Tag 220 vi i Tkliubıe 2 v 


Über die geographische Verbreitung der Rutaceen im 
Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. 


Von 


H” ADOLF ENGLER. 


Phys. Abh. 1896. 1. 


IR 
| ni goes Nah yardiolkaV Brlseike ro ir en 
| aiumbaite umbeisuualang Harn Is BERNER 


Gelesen in der Sitzung der phys.-math. Classe am 16. Januar 1896 Pr 
[Sitzungsberichte St. II. S. 5]. j 
Zum Druck eingereicht am 9. April, ausgegeben am 2. Juni 1896. 


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Systematisch botanische Studien gewinnen erheblich an allgemeiner Be- 
deutung, wenn bei einem zweifellos natürlichen Formenkreis nach Er- 
mittelung der phylogenetischen Stufenfolge die Gruppirung der Gattungen 
der letzteren möglichst angepalst und zugleich die geographische Ver- 
breitung der einzelnen Gruppen sorgfältig beachtet wird. Es ergeben 
sich dann oft so auffallende Correlationen zwischen der geographischen 
Verbreitung und der systematischen Gruppirung, dafs wenigstens einzelne 
Momente aus der Entwickelungsgeschichte der untersuchten Formenkreise 
deutlich hervortreten. Allerdings sind dies nur einzelne, vielfach nur die 
hauptsächlichsten Grundzüge in der Entwickelung, während über den zahl- 
reichen Einzelvorgängen, welche die Formenentwickelung und die Formen- 
verbreitung bewirkt haben, ein Schleier liegt, den wir nur selten in be- 
friedigender Weise werden lüften können. Aber jeder Monograph einer 
Familie oder gröfseren Gattung macht die Erfahrung, dafs die scheinbar 
so trockenen Herbarstudien durch die Aufdeckung der Verwandtschafts- 
verhältnisse und das Eingehen auf die Verbreitung der einander nahe 
stehenden Verwandtschaftskreise erheblich an Reiz gewinnen. Leider sind 
aber immer noch wenig systematische Botaniker geneigt, diesen Fragen 
eine grölsere Beachtung zu schenken und sie mit demselben Interesse zu 
behandeln, das sie den Nomenclaturfragen entgegenbringen. 

Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte ich mich mit der über 
einen grofsen Theil der Erde verbreiteten und etwa 750 Arten zählenden 
Familie der Rutaceen und den ihr zunächst stehenden Familien beschäftigt, 
und in den letzten Jahren hatte ich diese Familie für die Bearbeitung in 
den von mir herausgegebenen »Pfilanzenfamilien« noch genauer studirt. 

1% 


4 A. ENGLER: 


Die Familie ist bekanntlich, wie ich vor 2ı Jahren gezeigt habe, in ihren 
Blüthenmerkmalen nicht scharf geschieden von den nahestehenden Familien 
der Geraniaceen, Zygophyllaceen, Simarubaceen, Burseraceen und Melia- 
ceen; sie ist jedoch sehr scharf charakterisirt durch die in den Stengeln 
und Zweigen oder Laubblättern, oft auch in den Blüthenphyllomen vor- 
kommenden Iysigenen Öldrüsen, welche bei den Dictyolomeae durch mehr- 
zellige Öldrüsen mit nicht resorbirten Wänden vertreten sind. In den 
Blüthen ist bekanntlich als constantes, aber auch anderen Geraniales zu- 
kommendes Merkmal die Stellung der Samenanlagen mit ventraler Raphe 
und nach oben gekehrter Mikrophyle zu beachten; diese Stellung ist in- 
sofern constant, als bei Vorhandensein einer einzigen Samenanlage dieselbe 
stets und bei Vorhandensein von zwei oder mehreren Samenanlagen in einem 
Carpell wenigstens eine oder einige in der angegebenen Weise orientirt sind. 

Sehen wir zunächst von dem vielfach mit den klimatischen Verhält- 
nissen im vollsten Einklang stehenden, bei der weiten Verbreitung in allen 
tropischen und subtropischen Gebieten aber sehr verschiedenen Habitus der 
Rutaceen ab, so treten als rein morphologische und theilweise auch bio- 
logische, aber vom Klima unabhängige Merkmale in den Vordergrund: die 
öntwickelung der Blüthenhüllen, die Zahl der Samenanlagen in den Car- 
pellen, der Vereinigung der Carpelle, die Entwickelung der Frucht zu einer 
in meist aufspringende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp zerfal- 
lenden oder zu einer Steinfrucht oder Flügelfrucht oder zu einer Beere, 
die Erhaltung des Nährgewebes in den Samen bis zur Keimung oder die 
vollständige Aufzehrung desselben durch den Keimling. Auf den in diesen 
Verhältnissen sich darbietenden morphologischen Fortschritten basirt die 
von mir in den Pflanzenfamilien (II. 4 S.ıı0, ııı) gegebene Gliederung 
der Familie; ich mufs jedoch erklären, dafs ich die 3 bei der Familie 
auftretenden Hauptformen der Fruchtbildung für vollkommen gleichwerthig 
ansehe, dafs ich unter den jetzt lebenden Rutaceen nicht die beerenfrüch- 
tigen oder die steinfrüchtigen oder die kapselfrüchtigen als die weiter vor- 
geschrittenen anzusehen vermag; jede dieser 3 Fruchtformen ist für die 
Verbreitung der Samen geeignet und somit auch zur Erhaltung befähigt 
gewesen, und in jeder der 3 durch ihre Fruchtbildung charakterisirten 
Sippen finden sich Gattungen mit auf niederer Stufe stehenden Blüthen 
und solche mit vorgeschrittenerem Blüthenbau. Es ist ferner zwar sehr 
wohl denkbar und der Differenzirung der Gewebe entsprechend, dais die 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 5 


Früchte zunächst mit fleischigem Pericarp versehen waren, dafs dann bei 
einem Theil der Rutaceen das Pericarp sich in ein fleischiges Mesocarp 
und ein hartes Endocarp sonderte und dafs schliefslich das pergamentartig 
gewordene Endocarp die Fähigkeit, sich elastisch abzulösen und die Samen 
herauszuschleudern, erlangte: aber es fehlt an Anhaltspunkten dafür, dafs 
irgendwelche Gattungen mit verschiedenartiger Frucht unter einander in 
näherer verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als die Gattungen mit gleich- 
artiger Fruchtentwickelung. Sodann fällt aber noch ein anderer Umstand 
bei den Erwägungen über einen etwaigen Fortschritt in der Fruchtbildung 
erheblich in’s Gewicht. Die kapselfrüchtigen Rutaceen stehen zwar in der 
Entwickelung des Pericarpes höher als die steinfrüchtigen und beeren- 
früchtigen; aber sie nehmen eine niedere, d.h. dem urspünglichen Verhalten 
näher stehende Stufe ein hinsichtlich der Vereinigung der Carpelle. Diese 
ist bei den mit aufspringenden Kapselfrüchten versehenen Rutaceen eine 
oft sehr geringe, in sehr vielen Fällen nur vor der Befruchtung durch die 
Vereinigung der Griffel bewirkte, während bei den steinfrüchtigen und 
beerenfrüchtigen Rutaceen die Carpelle entweder gänzlich oder mit ihren 
Övarien unter einander vereint sind, also gerade mit dem Theil, welcher 
bei den kapselfrüchtigen entweder von Anfang an frei ist oder bei der 
Fruchtreife frei wird. Man kann also die Hauptmasse der Rutaceen auf 
3 Unterfamilien vertheilen: ı. Rutoideae mit bei der Reife getrennten Car- 
pellen und vorzugsweise aufspringenden Früchten, 2. Toddalioideae mit 
syncarpem Gynäceum und Steinfrüchten, 3. Aurantioidese mit syncarpem 
Gynäceum und Beerenfrüchten. Es bleiben dann noch einige Gattungen 
übrig, welche theils sich einer dieser 3 Unterfamilien, theils aber auch 
einer der mit den Rutaceen verwandten Familien nähern. Die nur 2 Arten 
zählende Gattung Dictyoloma DC. besitzt das Gynäceum der Rutoideae; aber 
die in den Blättern vorhandenen Öldrüsen sind nicht lysigen, die Blätter 
doppelt gefiedert, die Staubblätter am Grunde mit Schüppchen versehen, 
wie bei vielen Simarubaceen und Zygophyllaceen und vor Allem fehlt dieser 
im tropischen Amerika vorkommenden Gattung irgend welcher Anschlufs 
an eine andere jetzt lebende, sie ist aulserdem durch mehreiige Carpelle 
charakterisirt, welche bei den zunächst stehenden Rutoideae verhältnifsmäfsig 
selten und bei keiner der amerikanischen Rutaceen vorkommen; diese 
Gattung muls also im Rutaceenstamm von Anfang an eine selbständige 
Stellung eingenommen haben und stellt daher eine eigene Unterfamilie 


6 A. EnGLER: 


Dictyolomoideae dar. Ähnlich ist es mit den Flindersioideae, Flindersia R.Br. 
und Chloroxylon DC., die man früher zu den Meliaceen gestellt hatte;' sie 
haben die lysigenen Drüsen der Rutaceen, vor der Befruchtung vollständig 
vereinte Carpelle, eine fachspaltig oder scheidewandspaltig aufspringende 
Kapsel mit bleibendem Endocarp und mehrere Samen in den Fächern. 
Sie sind also eine Art Bindeglied zwischen den Rutaceen und Meliaceen, 
wegen ihrer lysigenen Drüsen aber entschieden der ersteren zuzurechnen. 
Endlich findet sich auf den Inseln West-Indiens eine Gattung Spathelia L., 
die im Habitus mit einzelnen Fagara, aber auch mit gewissen Bursera und 
Bosiwellia übereinstimmt, mit lysigenen Drüsen nur an den Blatträndern 
versehen ist, ein Gynäceum wie die Toddalioideae besitzt, bei der Frucht- 
reife aber durch eine geflügelte Steinfrucht mit einem 3-fächerigen Stein- 
kern ausgezeichnet ist. Zudem kommen auch hier am Grunde der Staub- 
blätter bisweilen schuppenförmige Bildungen vor, wegen deren man auch 
die Gattung zu den Simarubaceen stellen wollte” Endlich ist auch noch 
als anatomische Eigenthümlichkeit constatirt worden, dafs in der Rinde 
und dem Mark ölführende Secretzellen zerstreut vorkommen. Alles dies 
rechtfertigt die Absonderung der Gattung Spathelia von den übrigen Ruta- 
ceen als Vertreter einer Unterfamilie Spathelioideae. 


Butoideae- Xanthozsyleae. 


Wenden wir uns nun der Hauptmasse der übrigen Rutaceen zu, so 
finden wir unter den Rutoideae zunächst 2 Gruppen dadurch ausgezeichnet, 
dafs bei ihnen noch Gattungen auftreten, die in ihren Carpellen mehr als 
2 Samenanlagen besitzen, während bei allen übrigen Rutoideen und nament- 
lich bei allen, die gewisse morphologische Fortschritte in der 
Blüthe aufzuweisen haben, die Zahl der Samenanlagen nicht über 2 
hinausgeht. Diese beiden Gruppen sind die Xanthoxyleae und Ruteae. 
Wir fassen zunächst die Xanthoxyleae in's Auge, I. weil zu ihnen eine 
Gattung, Xanthoxylum L. selbst, gehört, die nur eine einfache Blüthen- 
hülle besitzt, mit welcher die darauf folgenden Staubblätter alterniren, 
2. weil diese gattungsreiche Gruppe eine grofse Zahl von Gattungen mit 


! Bentham et Hooker, Gen. pl. 1. 340. 
?2 Bentham et Hooker, Gen. pl. 1. 315. 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 7 


nur schwach corollinischer Ausbildung der Blüthenhüllen enthält. Xantho- 
azylım, durch die einfache Blüthenhülle auf niederer Stufe stehend, ist 
aber wegen ihrer stets 2-eiigen Carpelle weiter vorgeschritten als 3 andere 
Gattungen, Pagetia F. Muell., Bouchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell. 
mit mehreiigen Carpellen. Die Sonderstellung von Xanthoxylum kommt 
auch in ihrer geographischen Verbreitung zum Ausdruck. Zwar finden 
sich einige ihrer Arten im subtropischen Amerika und subtropischen Asien; 
aber die übrigen gehören dem temperirten Ost-Asien und dem atlantischen 
Nord-Amerika an, es convergiren diese Verbreitungsgebiete erst im Polar- 
gebiet, wie es bei so vielen Gattungen der Fall ist, welche sicher in der 
Tertiärperiode existirten und von den Polarländern aus einerseits das nord- 
östliche Asien, andererseits das atlantische Nord-Amerika oder auch das 
paecifische Nord-Amerika besiedelten. Die 3 bereits genannten Xanthoxyleen- 
gattungen Pagetia F. Muell., Bouchardatia Baill. und Bosistoa F. Muell., 
welche durch mehreiige Carpelle vor allen anderen ausgezeichnet sind, bei 
der Reife aber nur 2 (Douchardatia) oder ı Samen in denselben enthalten, 
welche ferner alle gegenständige Blätter besitzen, sind auf die Uferwälder 
Ost-Australiens in dem kleinen Küstenstrich 234°—-30° s. Br. beschränkt. In 
diesem selben Gebiet kommt auch die ebenfalls mit gegenständigen, aber 
einfachen Blättern versehene Gattung Pleiococca F. Muell. vor, die sich 
dadurch auszeichnet, dafs die Zahl der Carpelle die der Kelehblätter über- 
steigt. Die Zahl der Samenanlagen beträgt hier aber schon nur 2, wie 
bei allen folgenden Gattungen der Xanthoxyleae- Evodiinae. Von diesen be- 
sitzen Melicope Forst., Sarcomelicope Engl., Pentaceras Hook. f. und Pelea 
A. Gray ebenfalls 2 Staubblattkreise, wie die 4 genannten ost-australischen 
Gattungen, hingegen Fagara L., Geijera Schott, Evodia Forst., Boninia Planch., 
Orica Thunb. nur einen Staubblattkreis; innerhalb der Gattung Melicope 
treten aber auch Arten mit 4 Staminodien an Stelle der epipetalen Staub- 
blätter auf, und es ist kaum zweifelhaft, dafs die haplostemonen Gattungen 
sich aus obdiplostemonen Formen entwickelt haben. Dafs bei einzelnen 
Gattungen die Blätter gegenständig, bei anderen die Blätter wechselständig 
sind, ist nicht von Belang, da diese Verschiedenheit bei unserer Familie 
auch innerhalb derselben Gattung angetroffen wird. In dem Verbreitungs- 
gebiet der 4 zuerst besprochenen Gattungen kommen auch noch Pentaceras 
Hook. f. und einige Arten von Geijera vor, doch ist letztere noch weiter ver- 
breitet, südwärts bis Vietoria und von da nach Süd- und West-Australien. 


fe) A. En6eLER: 


und endlich kommt eine Art @. cauliflora H. Baill. in Neu-Kaledonien vor, das 
zugleich aus der Gruppe der Xanthowyleae-Evodinae eine endemische Gattung 
Sarcomelicope besitzt, welche durch ein sehr diekes Mesocarp ausgezeichnet ist. 
Weiter ab von Australien werden wir geführt, wenn wir der Verbreitung der 
Gattungen Melicope, Evodia, Boninia, Orixa, Pelea und Fagara nachgehen. 
Im subtropischen Ost-Australien stofsen wir noch auf 4 Arten von Melicope, 
von denen 3 zwei Staubblattkreise besitzen, ı einen Staubblattkreis und einen 
Staminodialkreis; sodann kennen wir 2 Arten in Neu-Seeland, ı auf den 
Philippinen, ı auf Borneo und 2 auf Malakka. Von Meliope nur sehr 
wenig durch klappige Knospenlage der Blüthenblätter verschieden ist die 
artenreiche Gattung Pelea, von der 3 Arten in Neu-Kaledonien, ı auf 
Madagaskar und ı8 auf den Sandwich -Inseln wachsen, wobei noch zu 
bemerken ist, dafs die Arten jeder Inselgruppe für sich eine durch wenige 
Merkmale charakterisirte Section bilden. Der grofse Artenreichthum von 
Pelea auf den Sandwich-Inseln findet seine Analogie in dem Verhalten vieler 
anderer daselbst vorkommender Gattungen. Die Melicope ebenfalls nahe- 
stehende Gattung Evodia Forst. besitzt etwa 45 Arten in 2 Seetionen. Zu 
der durch einfache oder gedreite Blätter und nur wenig vereinte Carpelle aus- 
gezeichneten Section Lepta (Lour.) gehören 6 ebenfalls in Ost-Australien vor- 
kommende Arten, ı auf der Lord Howes-Insel, 3 in Neu-Kaledonien, 
9 in Hinter-Indien, darunter Z. triphylia DC. auf den Philippinen, in China 
und Süd-Japan, E. glabra Blume auch auf Java, E. Roxburghiana Benth. auch 
in Cochinchina, auf‘ Java und den Fidschi-Inseln, ferner 2 nur auf Sumatra, 
ı nur auf Java, ı nur auf Borneo. 3 Arten, wie die vorigen mit gedreiten 
Blättern, kommen in Kaiser Wilhelms-Land auf Neu-Guinea vor und £. hor- 
tensis Forst. ist auf den Fidschi-Inseln, den Wallis-Inseln, den Neuen He- 
briden und auf Neu-Guinea constatirt worden. Zu diesen, wie wir sehen, 
auf den Inseln des indischen Archipel verbreiteten Arten kommen aber 
andere, mit einfachen Blättern versehene, welche von dem Centrum der 
gedreitblättrigen noch weiter entfernt sind, nämlich 3 Arten auf Mada- 
gaskar und 2 auf den Maskarenen, endlich 7 auf den sonst an endemischen 
Arten so armen Gesellschafts-Inseln. Die zweite Section von Evodia, Te- 
tradium (Lour.) umfafst 4 Arten mit gefiederten Blättern und stärker ver- 
einten Carpellen, welche im Himalaya, im mittleren China und Cochin- 
china, theilweise auch im südlichen Japan nachgewiesen wurden. Die 
bemerkenswertheste Thatsache der Verbreitung von Evodia ist das Vor- 


Wr 


Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 9 


kommen auf den Gesellschafts-Inseln, den Maskarenen und Madagaskar, 
das Fehlen an der afrikanischen Küste und in Vorder-Indien. 

Nur wenig von Evodia verschieden ist die auf den Bonin-Inseln mit 
2 Arten vertretene Gattung Boninia Planch. und die vorzugsweise durch 
eingeschlechtliche Blüthen, sowie durch eineiige Carpelle charakterisirte 
Gattung Orivca Thunb., deren einzige Art vom mittleren China bis in das 
mittlere Japan vorkommt. Die artenreichste Gattung der Rutaceen ist 
Fagara L., die lange Zeit mit Unrecht zu Xanthoxyhım L. gerechnet wurde 
und, wie aus der Verbreitungskarte ersichtlich, in fast allen tropischen 
Ländern verbreitet ist. Es dürften etwa 140-150 Arten bekannt sein, 
von denen die meisten auf die Section Macqueria mit 5- oder 4-theiligen 
Blüthen und mit sich ablösendem Endocarp entfallen; dieselben sind so- 
wohl im tropischen Asien wie im tropischen Afrika und Amerika zahl- 
reich, und zwar herrschen im Allgemeinen in der alten Welt Arten mit 
4-gliedrigen Blüthen, in der neuen Welt solche mit 5-gliedrigen Blüthen 
vor; ein durchgreifender Unterschied ist jedoch nieht vorhanden; beachtens- 
werth ist aber, dafs die kleine 9 Arten zählende Gruppe Pterota (P. Browne), 
welche 4-theilige Blüthen und geflügelte Blattstiele besitzt, sich von Para- 
guay und Argentinien, sowie von den angrenzenden südlichen Provinzen 
Brasiliens durch die Anden nach West-Indien und Üentral-Amerika, sowie 
bis nach Florida erstreckt, dagegen im mittleren und nördlichen Brasilien, 
sowie in Guiana fehlt. Neben Macqueria sind als kleinere, aber gut 
charakterisirte Sectionen zu nennen: Mayu Engl. mit ı Art auf Juan Fer- 
nandez, Tobinia Desv. mit etwa 13 Arten, die durch 3-theilige Blüthen 
ausgezeichnet sind, auf den west-indischen Inseln und in Columbien; ferner 
in der alten Welt Blackburnia Forst., ausgezeichnet durch nur theilweise 
sich ablösendes Endocarp, mit 6 Arten in Nord-Ost-Australien, von denen 
eine auch auf der Lord Howes Insel vorkommt, und mit 6 sehr variablen 
Arten auf den Sandwich-Inseln. Diese Arten sind auch dadurch inter- 
essant, dafs nicht selten die gefiederten Blätter in gefingerte übergehen 
und von den 4 Blüthenblättern bisweilen je 2 mit einander verwachsen. 
So sehen wir also an der Peripherie des ausgedehnten Areals von Fagara 
eigenartige Gruppen dieser Gattung auftreten. 

Dieser Überblick über die Xanthoxyleae- Evodünae zeigt uns deutlich, 
dafs diese Gruppe vorzugsweise auf den Inseln und dem westlichen Küsten- 
gelände des stillen Oceans entwickelt ist, und dafs nur einzelne Gattungen 

Phys. Abh. 1896. 1. 2 


10 A. En6eLeEr: 


weiter nach Westen und Osten vorgedrungen sind, das continentale Afrika 
und Amerika haben nur Vertreter der Gattung Fagara, letzteres auch noch 
solche der Gattung Aanthowylum aufzuweisen. Bei der grofsen Verbreitung 
einzelner Arten und Gattungen auf entfernten Inseln und Inselgebieten ist 
es wichtig, die Verbreitungsmittel dieser Gruppen kennen zu lernen. Die 
Früchte besitzen nur äulserst selten ein fleischiges Mesocarp, das Vögel zum 
Genufs verlocken könnte, es fehlt gänzlich an Haftapparaten, welche ein 
Verschleppen der Früchte bewirken könnten, und die Samen sind, wie 
bei allen Rutaceen, so schwer, dafs eine Verbreitung durch den Wind über 
grolse Meeresstrecken hinweg gänzlich ausgeschlossen ist. Aber die Früchte 
springen auf, und die stets glatten kugeligen, sehr oft durch starken Metall- 
glanz und stahlblaue Färbung ausgezeichneten Samen, welche bei der 
Reichblüthigkeit der Blüthenstände in grofser Zahl produeirt werden, liegen 
offen da in den aufgesprungenen Früchten, festgehalten durch den Funi- 
eulus und oft auch an diesem heraushängend. Die meist recht dicke 
Samenschale gewährt sicheren Schutz dem reichlichen Nährgewebe und 
dem in demselben eingeschlossenen Embryo. Leider fehlt es gänzlich an 
Nachrichten darüber, ob diese Samen von Vögeln aufgesucht, verschluckt 
und dann in noch keimfähigem Zustande wieder herausgegeben werden; 
es ist aber kaum anders möglich, dafs dem so ist, denn nur auf diese 
Weise ist es denkbar, dafs die Verbreitung dieser Pflanzen auf den vul- 
kanischen Inseln des stillen und indischen Oceans eine so ausgedehnte 
werden konnte. Wäre die Verbreitung der Xanthoxyleen-Gattungen nicht 
auf diesem Wege erfolgt, dann bleibt nur die Annahme übrig, dafs alle 
vulkanischen Inseln des stillen und indischen Oceans einst einem ver- 
sunkenen Continente angehört haben. Es wäre leichtfertig, diese Annahme 
auf die geographische Verbreitung der Pflanzen allein zu gründen, bevor 
man nicht genau über die Verbreitungsmittel der die Inseln bewohnenden 
Pflanzen unterrichtet ist. Nach meiner Ansicht spricht aber auch noch ein 
anderer Umstand für die erste Annahme, das ist der, dafs vorzugsweise 
andere Arten auf den oceanischen Inseln wachsen, als auf den Continenten 
und auf den jetzt insularen, ehemals continentalen Gebieten des indischen 
Archipels, desgleichen auch die Thatsache, dafs auf einzelnen Inselgebieten, 
wie den Sandwich-Inseln und den Gesellschafts- Inseln einzelne Gattungen 
zu einem grolsen Formenreichthum gelangt sind. Daraus ergiebt sich, dafs 
die Besiedelung der vulkanischen Inseln mit den Inlandformen, welche in 


Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer sıyst. Gliederung. 11 


len südlichen Randländern des stillen Oceans ihren Ursprung hatten, sich 
nicht so oft wiederholt hat wie bei den Arten der Strandformationen, 
deren Samen und Früchte immer wieder vom Meer herangespült werden. 
Aus der grolsen Anzahl von nahestehenden Arten einer Insel oder eines 
Inselgebietes auf ein sehr hohes Alter der Einwanderung zu schliefsen, 
halte ich nicht für gerechtfertigt; denn wir sehen nicht selten in Gultur 
genommene Arten unter neuen Verhältnissen sich in eine grofse Zahl neuer 
Formen spalten, und es ist auf Inselgebieten mit verhältnifsmälsig geringer 
Zahl von eoneurrirenden Formen für eine Art, welche dort geeignete Existenz- 
bedingungen findet, die Möglichkeit gegeben, sich in einer gröfseren Zahl 
von Varietäten zu erhalten. Wenn also auch die oceanischen Inseln erst 
in der Tertiärperiode emporgestiegen sein sollten, so würde die seit der- 
selben verflossene Zeit sehr wohl zur Entwickelung der auf diesen Inseln 
vorkommenden endemischen Arten ausreichend gewesen sein. In der Tertiär- 
periode waren aber sicher auch im südlichen Australien, auf den südlichen 
oceanischen Inseln und in den Süd-Polarländern die Bedingungen für eine 
subtropische Vegetation gegeben, so dals Arten der in Ost-Asien und 
Australien entstandenen Gattungen auch nach Süd-Amerika gelangen konn- 
ten, sofern ihre Samen nur von Insel zu Insel verbreitet werden konnten. 

An die Xanthowyleae- Evodiünae schliefsen sich an die ZLunasünae, die 
Decatropidinae, die Choisyinae und Pitavünae, die ersteren mit sehr kleinen 
Blüthen in kleinen kopfförmigen Knäueln und auf die Sunda-Inseln be- 
schränkt, habituell durch ihre abwechselnden, langgestielten, dünnkrautigen, 
lanzettlichen und am Rande welligen Blätter mehr an Euphorbiaceen als 
an die übrigen Rutaceen erinnernd, und die 3 letzteren in den Blättern 
mit den Zvodinae übereinstimmend, aber mit weilsen Blüthen, sowie die 
meisten Evodiünae mit Nährgewebe im Samen und mit flachen Keimblättern. 
Die Decatropidinae und Choisyinae haben wie alle anderen Xanthoxyleae auf- 
springende Theilfrüchte mit sich ablösendem Endocarp; die Pitavünae da- 
gegen unterscheiden sich von allen anderen Xanthoxyleae durch steinfrüchtige 
Theilfrüchte; sodann sind die Choisyinae durch abfallende Kelchblätter und 
ziemlich grolse weilse Blumenblätter charakterisirt. Nur die letztere Gruppe 
ist durch die Gattungen Medicosma Hook. f. und Dutaillyea Baill. noch im 
australischen Gebiet vertreten; erstere findet sich auch in Ost- Australien, 
letztere auf Neu-Kaledonien. Dutaillyea Baill. weicht von den übrigen 
Choisyinae dadurch ab, dafs nur ein Staubblattkreis vorhanden ist, stimmt 


9x 


12 A. ENGLER: 


aber darin mit mehreren Evodinae überein. Die verwandtschaftlichen Be- 
ziehungen Ost- Australiens zu den Sandwich-Inseln, welche sehon bei Fagara 
Seott, Blackburnia und Pelea hervortraten, zeigen sich auch in der Gruppe 
der Choisyinae darin, dafs auf den Sandwich-Inseln eine Gattung Platydesma 
Mann vorkommt, welche Medicosma Hook. f. nahesteht; sie ist hauptsäch- 
lich durch verwachsene Staubblätter charakterisirt. Von den 3 noch übrigen 
Gattungen der Choisyinae finden sich Peltostigma Walp. und Choisya Kunth 
ziemlich unter denselben Breiten wie Platydesma, Choisya in Mexiko, Pelto- 
stigma auf Jamaika, während die mit Choisya sehr nahe verwandte Gattung 
Astrophyllum Torr. et Gray in Arizona vorkommt. Auf Central- Amerika 
sind auch die 3 von Hooker fil. aufgestellten Gattungen der Decatropi- 
dinae, Decatropis, Polyaster und Megastigma beschränkt, während die durch 
steinfrüchtige Theilfrüchte charakterisirte Gattung Pitavia Molina nur im 
mittleren Chile vorkommt. Die meisten dieser Gattungen sind mono- 
typisch; es würde zu überflüssigen Hypothesen führen, wenn wir versuchen 
wollten, für dieselben irgend einen bestimmten Anschlufs bei den Evodünae 
zu ermitteln; wir begnügen uns mit der feststehenden Thatsache, dafs sie 
denselben näher stehen als anderen Rutaceen, und wie ihre Verbreitung zeigt, 
aus dem alten Xanthoxyleenstamm hervorgegangen sind, welcher zur reich- 
sten Entwiekelung von Gattungen an den Gestaden des stillen Oeeans und 
ursprünglich wohl an den dem Südpol zunächst gelegenen gelangt ist. 


Rutoideae- Ruteae. 


Die Ruteae sind mit Ausnahme des im Damara-Land vorkommenden 
Thamnosma africanum Engl. alle der nördlich gemäfsigten Zone eigenthüm- 
lich; die Areale der Gattungen convergiren nach den nördlichen Gestaden 
des stillen Oceans, obwohl gegenwärtig der gröfste Artenreichthum der 
Gruppe im Mittelmeergebiet anzutreffen ist. Von den Rutinae ist Boenning- 
hausenia Rehb. von den Grenzen Afghanistans bis nach Japan verbreitet, die 
nahestehende Gattung Psilopeganum Hemsley findet sich in der Mitte der 
Areale von Boenninghausenia in Hupeh im mittleren China. In den Blüthen- 
merkmalen ist von Psilopeganum Hemsley die ebenfalls bicarpelläre Gattung 
Thamnosma Torr. kaum verschieden, und die 4 Arten dieser Gattung haben 
die eigenartigste Verbreitung in der ganzen Familie: TA. montanum Torr. 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 13 


findet sich im südlichen Kalifornien, in Utah und Nord-Amerika, eine 
zweite Art Th. texanum (Gray) Torr. in Texas, eine dritte Th. socotranum 
Balf. f. auf Socotra und eine vierte Th. africanum Engl. im Damara-Land; 
dabei stimmt die letztere Art mit der socotraner zwar in der Beschaffen- 
heit der Samen, im Habitus aber mehr mit den amerikanischen Arten 
überein. Ein diphyletischer Ursprung ist wahrscheinlich die Ursache dieser 
eigenartigen Verbreitung der heutigen Gattung Thamnosma Torr. Die nord- 
amerikanischen Arten, welche wir als Untergattung Zuthamnosma Engl. 
bezeichnen können, dürften wie Psilopeganum von einer mit Boeninnghausenia 
verwandten Rutacee abstammen, Th. socotranum Balf. f. und Th. africanum 
Engl., welche die Untergattung Palaeothamnosma Engl. ausmachen, dürften 
aus Ruta oder den nächsten Vorfahren von Ruta hervorgegangen sein. Das 
isolirte Vorkommen der süd-afrikanischen Art Th. africanum Engl. zeigt, wie 
weit entfernt vom Entwickelungscentrum einer Gruppe einzelne Arten der- 
selben noch auftreten können, wenn solche erst wieder die eigenartigen 
Existenzbedingungen wiederfinden, welche in dem ersteren dargeboten 
wurden. Die artenreichste Gattung der Gruppe, Ruta L., ist von Dahurien 
bis nach den kanarischen Inseln verbreitet, sie ist bekanntlich im Mittel- 
meergebiet überall anzutreffen und in den Steppengebieten desselben mit 
der sehr formenreichen Section Haplophyllum vertreten, welche auch noch 
ganz besonders dadurch interessant ist, dafs bei ihr eine Reduction in 
der Zahl der Samenanlagen von 6 auf 2 und auch geschlossene Theil- 
früchte an Stelle der aufspringenden vorkommen. Entsprechend den kli- 
matischen Verhältnissen finden wir bei Ruta alle Übergänge von der Staude 
zum Halbstrauch und auf den kanarischen Inseln sogar eine Art Ruta 
pinnata L. f., die wie so viele kanarische Arten mediterraner Gattungen 
unter dem Einflufs des gleichmäfsigen Klimas sich zu einem Strauch ent- 
wickelt hat. Endlich ist noch den Rutinae die durch ı Carpell, gegen- 
ständige Blätter und strauchigen Wuchs ausgezeichnete Gattung Cneoridium 
Hook. f. zuzurechnen, welche auf das südliche Kalifornien beschränkt ist. 
Wir sehen also die Mehrzahl der Gattungen der Rutinae auf der nörd- 
lichen Hemisphaere in den Ländern zu beiden Seiten des stillen Oceans. 
Die auf dem Höhepunkt der Entwickelung stehende Gattung Ruta ist aller- 
dings in Ost-Asien nicht durch Arten vertreten, welche so wie die medi- 
terranen echten Ruta den Ausgangspunkt für die in dieser Gattung auf- 
getretenen Umgestaltungen bilden konnten, und es ist daher nicht unwahr- 


14 A. En6tLERr: 


scheinlich, dafs Ruta von einer ost-asiatischen Stammform abstammt, aus 
der anderseits Boenninghausenia hervorgegangen ist. Die Dictamninae ent- 
halten nur ı Art Dietamnus albus L., von der allerdings verschiedene Varietäten 
unterschieden werden können; aber es ist nicht möglich, dieselben schärfer 
zu begrenzen. Wie aus dem Verbreitungskärtchen zu ersehen ist, ist das 
Areal von Dictamnus etwas weiter nach Norden vorgeschoben, als das- 
jenige von Ruta und reicht auch noch etwas weiter nach Osten. Die- 
tamnus ist keineswegs sehr nahe mit den Auteae verwandt, der Habitus 
ist ein anderer als bei diesen und die wenn auch schwache Zygomorphie 
der ansehnlichen Blüthen ist ein hervorragendes Merkmal; durch das sich 
ablösende Endocarp nähern sich die Dietamninae mehr den Xanthosxyleae 
als die Rutinae, und es ist ganz zweifellos, dafs Dietamnus neben den Rutinae 
selbständig entstanden ist und nicht dem Zweig der vorher besprochenen 


Gattungen angehört. 


Rutoideae- Boronieae. 


Unter den übrigen Gruppen der Rutoideae sind zunächst die Boronieae 
zu betrachten, meist Halbsträucher und Sträucher mit gegenständigen oder 
wechselständigen, bisweilen gedreiten oder gefiederten Blättern und mit 
ziemlich ansehnlichen, eorollinisch gefärbten Blüthen. Die zahlreichen (17) 
Gattungen, welche zusammen etwa 145 Arten umfassen, gehören zu den 
charakteristischen Bestandtheilen der Gesträuchflora in den Küstenländern 
von Ost-, Süd- und West-Australien, namentlich auch der gebirgigen 
Gegenden. Da sie alle in ihren Samen Nährgewebe besitzen und ab- 
gesehen von den corollinischen Blüthen sich von den Xanthoxyleae- Evo- 
diüinae vorzugsweise durch den stielrunden Embryo mit schmalen Keim- 
blättern unterscheiden, so ist ganz sicher, dafs die Boronieae nichts weiter, 
als etwas vorgeschrittene Xanthoxwyleae-(Evodinae) sind, welche sich in 
Australien und auch nach dem benachbarten ehemals wohl mit Australien 
verbundenen Neu-Kaledonien ausgebreitet haben, im Übrigen nur noch mit 
einer Art in Neu-Seeland vertreten sind. Die Blüthenverhältnisse com- 
plieiren sich in dieser durchweg auf Inseetenbestäubung angepalsten Gruppe 
erheblich; die Staubblätter sind bald in 2 Kreisen fertil, bald nur in dem 
einen, bald auf einen einzigen Kreis beschränkt. Innerhalb der beiden 


Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 15 


grössten Untergruppen, der Boronünae mit gegenständigen Blättern und 
der Eriostemoninae mit wechselständigen Blättern stehen sich die Gattungen 
aufserordentlich nahe, so dafs dieselben auch verschieden begrenzt werden. 
In Süd- und West-Australien treten die Boronieae sparsamer auf als in Ost- 
Australien, und hier sind auch Gattungen mit weiter vorgeschrittenen Blüthen 
und Blüthenständen entstanden, die als Vertreter eigener Untergruppen zu 
gelten haben. Bei Correa, die auf das südliche Australien beschränkt ist, 
finden wir vollständige Sympetalie der Blumenkrone, dasselbe auch bei Nema- 
tolepis Turez. im südlichen West- Australien, doch kommt hier noch hinzu, 
dafs die Staubblätter mit Ligularbildungen versehen sind wie bei der Gattung 
Chorilaena Endl., welche auch nur auf einen kleinen Theil West-Australiens 
beschränkt ist. Bei den ebenfalls nur in West-Australien entwickelten 
Diplolaeninae, welche ebenso wie die Nematolepidinae sich mehr an die Erio- 
stemoninae und am meisten an die Gattungen Phebalium A. Juss. anschliefsen, 
sind die Blüthen der einzelnen Blüthenstände dicht köpfchenförmig zusam- 
mengedrängt, die Tragblätter der Inflorescenz zu einem dreireihigen In- 
voluerum vereinigt und die inneren Blätter corollinisch: in Correlation mit 
dieser Vergrölserung der Tragblätter steht die gänzliche Verkümmerung der 
Kelchblätter und eine erhebliche Verkleinerung der Blumenblätter, während 
die Staubblätter und Griffel sehr stark verlängert sind. Auf diese Weise hat 
der Blüthenstand grofse Ähnlichkeit mit einer Einzelblüthe bekommen. Ein 
Blick auf die Darstellung der Verbreitung der Boronieae zeigt, dals die- 
selben mit Ausnahme von Boronia Smith und PAilotheca Rudge auch in 
Nord-Australien fehlen; sie gedeihen am besten in den extratropischen 
Gebieten Australiens. Dafs sie auch auf Neu-Kaledonien mit mehreren 
Arten und theilweise endemischen Gattungen vertreten sind, dürfte auf 
den auch durch andere Verbreitungserscheinungen höchst wahrscheinlich 
gemachten einstigen Zusammenhang dieser Insel mit dem australischen Fest- 
land zurückzuführen sein. Die einzige neuseeländische Boroniee Phebalium nu- 
dum Hook f. steht dem ost-australischen Ph. elatius F. Müll. sehr nahe; es ist 
daher nicht ganz unwahrscheinlich, dafs diese Art aus Ost-Australien in Neu- 
Seeland eingewandert ist. Im Allgemeinen liegen bei den Boronieae die 
Verhältnisse für die Verbreitung der Samen durch Vögel nicht so günstig 
wie bei den Xanthowyleae, da die Samen nach dem Aufspringen der Früchte 
bald ausfallen, während sie bei den Xanthoxyleae meist lange Zeit von dem 
Funiculus festgehalten werden. 


16 A. ENGLER: 


Die ungemein formenreiche Entwickelung der Boronieae auf Australien 
mit sparsamerer Vertretung auf Neu-Kaledonien hat bekanntlich ihr Ana- 
logon bei zahlreichen anderen Familien oder Unterfamilien, von denen 
einzelne auch auf Australien beschränkt sind, ich erinnere nur an die 
Asphodeloideae- Johnsonieae, Dasypogoneae, Lomandreae, Calectasieae; an die 
Casuarinaceae, am die Proteaceae - Persoonioideae- Persoonieae, Franklandieae 
und Conospermeae, Grevilleoideae-Grevilleeae und Banksieae,; an die Euphor- 
biaceae - Stenolobeae, an die Sterculiaceae - Lasiopetaleae,; an die Dilleniaceae- 
Hibbertieae,; an die Myrtaceae- Leptospermeae und Chamaelaucieae, an die La- 
biatae- Prostantheroideae. Es ist aber auch darauf aufmerksam zu machen, 
dafs in ähnlicher Weise wie die Boronieae Australiens sich morpholo- 
gisch an die weiter verbreiteten Xanthoxyleae anschliefsen, auch mehrere 
der genannten Pflanzengruppen mit anderen weiter verbreiteten Gruppen 
derselben Familien nahe verwandt sind, und ferner ist hervorzuheben, 
dafs in ähnlicher Weise wie bei den Boronieae- Nematolepidinae und Di- 
plolaeninae auch bei mehreren der anderen Pflanzengruppen sehr gedrängte 
Blüthenstände, theilweise mit redueirten Blüthen auftreten. So finden 
wir bei den Johnsonieae, Dasypogoneae und Lomandreae gedrängte ähren- 
förmige oder köpfehenförmige Blüthenstände, bei welchen die Blüthen 
mehr oder weniger von Hochblättern bedeckt und mit häutigen oder hoch- 
blattartigen Blüthenhüllen versehen sind. Unter den australischen Protea- 
ceae sind die Banksicae durch sehr gedrängte, zusammengesetzte, ähren- 
förmige oder kopfförmige Blüthenstände ausgezeichnet, während die ihnen 
nahestehenden und weiter verbreiteten (rrevilleeae vielfach noch weniger 
gedrängte Blüthenstände aufzuweisen haben. Die Lasiopetaleae sind nach 
Schumann (in Engler-Prantl, Pflanzenfam. IV.6 S. 90) mit den weit 
verbreiteten Büttnerieae nahe verwandt und speciell mit der nicht blofs 
in Australien, sondern auch auf Madagascar vorkommenden Gattung Au- 
lingia, ihre Blumenblätter sind klein und schuppenförmig oder fehlen ganz; 
hier sind die Blüthen redueirt, während der Blüthenstand bei den meisten 
noch ein lockerer ist. Bei den australischen Dilleniaceae- Hibbertieae finden 
sich häufig unterhalb der einzeln stehenden Blüthen mehrere Vorblätter, 
welche darauf schliefsen lassen, dafs ursprünglich dichasiale Blüthenstände 
vorhanden waren, von denen nur die Endblüthe zur Entwickelung gelangt 
ist. Die in Australien so ungemein reich entwickelten Myrtaceae- Lepto- 
spermoideae sind mit wenigen Arten auch im indisch-malayischen Gebiet 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 17 


Y 


und im Kapland vertreten; aber die Gruppe der Chamaelaucieae ist auf 
Australien beschränkt; sie ist zugleich diejenige, bei welcher die Familie 
der Myrtaceae die weitestgehende Reduction erreicht hat, indem das Gynä- 
ceum auf ein Carpell redueirt ist, das meist nur wenige Samenanlagen 
und bei der Reife nur einen Samen enthält; bei der zu dieser Gruppe 
gehörigen Gattung Darwinia sehen wir die Kelehblätter und Blumenblätter 
in der mannigfachsten Weise entwickelt, bisweilen ganz redueirt und 
schliefslieh bei Darwinia maerostegia (Turez.) Benth. und einigen anderen 
Arten einen köpfehenförmigen Blüthenstand mit hochentwickelten corolli- 
nischen Involueralblättern. Endlich ist auch noch darauf hinzuweisen, dafs 
bei allen genannten Gruppen mit gedrängten Blüthenständen oder redueirten 
Blüthen die meisten Arten in West- und Süd-Australien anzutreffen sind, 
wo eben auch die gedrängtblüthigen Doronieae vorkommen. Es hängt dies 
wohl damit zusammen, dafs in Süd- und West-Australien auf die Zeit der 
Winterregen ein langer regenloser Sommer erfolgt, der der Entwickelung 
geschlossener Blüthenstände mit sitzenden Blüthen besonders günstig ist. 
Dafs auch unter anderen klimatischen Verhältnissen und in anderen Erd- 
theilen Pflanzen mit verkürzten Blüthenständen häufig genug vorkommen, 
ist ja bekannt; hier handelt es sich blofs darum, zu zeigen, dafs bei einem 
Theil der Australien eigenthümlichen Gruppen eine bestimmte Entwicke- 
lungsriehtung in West-Australien häufiger ist als in Ost- Australien. 


Rutoideae- Diosmeae. 


Wir kommen nun zu den Diosmeae, die mit nahezu 180 Arten in 
Süd-Afrika auf einen viel kleineren Raum eingeschränkt sind als die Bo- 
ronieae in Australien. Die Frucht zeigt äufserlich dieselbe Beschaffenheit 
wie bei den Xanthoxyleae und Boronieae, aber das Nährgewebe wird hier 
frühzeitig vom Embryo aufgenommen, und die reifen Samen enthalten nur 
den letzteren mit dicken fleischigen Keimblättern; es sind somit die Dios- 
meae in ihrer Samenentwickelung weiter vorgeschritten als die Boronieae 
und die meisten Xanthoxyleae, auch im Andröceum ist meistens der Fort- 
schritt eingetreten, dass die vor den Blumenblättern stehenden Staubblätter 
staminodial geworden oder ganz abortirt sind. Es sind 3 Untergruppen 
zu unterscheiden, die Calodendrinae mit der monotypischen Gattung Calo- 

Phys. Abh. 1896. 1. 3 


18 A. Enerer: 


dendron 'Thunb., ein schöner Baum mit grofsen, schwach zygomorphen 
Blüthen und theilweise anhaftendem Endocarp in den Früchten, vom öst- 
lichen Theil der Kapkolonie bis Natal verbreitet und auch im Hochland 
von Leikipia, die sehr zahlreichen Diosminae, meist kleine Sträucher mit 
einfachen Blättern, oft von heidekrautartigem Habitus, meist mit zahlreichen 
bunten für Inseetenbefruchtung eingerichteten Blüthen, und die Eimpleurinae, 
eine sehr kleine Gruppe mit eingeschlechtlichen Blüthen, die bei Empleu- 
rum Soland. blumenblattlos geworden sind und, wenn sie weiblich sind, 
nur ein einziges fertiles Carpell entwickeln. Diese Diosmeae stehen den 
Nanthoxyleae- Evodiinae nicht so nahe wie die Boronieae, aber sie kommen 
doch dieser Untergruppe der Xanthowyleae näher als jeder anderen, zumal 
gerade einzelne Gattungen der Evodinae auch nährgewebslose Samen be- 
sitzen; irgend welche engere Verbindung mit einer der jetzt lebenden Gat- 
tungen der Evodünae ist aber nicht zu constatiren; sie müssen sich daher 
von ihnen sehr frühzeitig abgezweigt haben. Noch mehr als bei den 
Boronieae tritt bei den Diosmeae im Gegensatz zu den Evodünae die con- 
tinentale Verbreitung hervor, welche darauf beruht, dafs, wie bei den Bo- 
ronieae, die Samen aus den sich öffnenden Früchten bald herausfallen und 
nicht, wie bei den Zvodiünae, lange Zeit den Vögeln zugänglich sind, dem- 
nach auch nicht über das Meer hinweg transportirt werden können. 


Rutoideae- Cusparieae. 


Eine dritte von den Xanthosxyleae abzuleitende Gruppe ist die der 
Cusparieae im tropischen Amerika. Bei den Pilocarpinae mit den Gattungen 
Pilocarpus Vahl, Esenbeckia H. B. Kunth und Metrodorea St. Hil. finden wir 
noch Blüthen mit schwach corollinischer Ausbildung, wie sie etwa bei 
Fagara L. und Evodia Forst. vorkommen. Ein engerer Anschlufs dieser 
Gattungen an die im tropischen Süd-Amerika so reich entwickelte Gattung 
Fagara L. ist nieht vorhanden; dagegen dürften diese Cusparieae von dem 
Xanthoxyleen-Stamm herzuleiten sein, aus dem die hauptsächlich in Central- 
Amerika und West-Indien heimischen Choisyinae entstanden sind, sicher 
aber nicht direet von den Choisyinae; denn in der Ausbildung der Blumen- 
krone stehen die Ousparieae- Pilocarpinae auf niederer Stufe als die Choisyinae, 
durch die Entwickelung nährgewebsloser Samen stehen sie auf höherer 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 19 


Stufe als diese. Von den 3 Gattungen der Pilocarpinae nimmt wieder 
Pilocarpus Vahl, welche nur wenig über das continentale Süd- Amerika 
hinaus verbreitet ist, durch die traubige Anordnung der Blüthen und die 
bei der Reife weitergehende Trennung der Carpelle eine Sonderstellung 
gegenüber den beiden Gattungen Esenbeckia H. B. Kunth und Metrodorea 
St. Hil. ein, welehe unter einander näher verwandt sind. Metrodorea St. 
Hil. ist auf einen kleinen Bezirk im süd-östlichen Brasilien beschränkt, 
Esenbeckia H. B. Kunth dagegen ist über Süd-Amerika hinaus bis nach 
West-Indien und Mexiko verbreitet. Bei Pilocarpus Vahl finden wir fiede- 
rige Blätter, gedreite und einfache, während bei den beiden anderen Gat- 
tungen ausschliefslich gedreite Blätter vorkommen, welche auch bei den 
meisten amerikanischen Toddalieae angetroffen werden; da nun diese auch 
ziemlich kleine, grünliche oder grünlich weifse Blüthen besitzen, so sind 
dieselben im blühenden Zustande oft den Esenbeckien sehr ähnlich, und 
es ist bei Fehlen von Früchten Unsicherheit bezüglich der systematischen 
Stellung vorhanden. 

Die zweite Untergruppe der Cusparieae, die Cusparünae, umfalst aufser 
der einzigen einjährigen Gattung der Familie, aufser Monnieria L. zahlreiche 
Gattungen kleiner Bäumehen und Sträucher, welche entsprechend ihrem 
ausschliefslichen Vorkommen in den feuchten Tropenwäldern Amerikas 
grolsentheils sehr ansehnliche gefingerte oder gedreite oder auch auf ein 
Blättehen redueirte Blätter besitzen. Während die Fruchtbildung ganz mit 
der der Pilocarpinae übereinstimmt, der Embryo auch wie dort stark ge- 
krümmt ist, tritt in den Blüthen der Cusparieae eine so weitgehende fort- 
schreitende Entwickelung hervor, wie bei keiner anderen Gruppe der Familie. 
Die Blütenaxe stellt nicht selten einen concaven Becher oder einen hohlen 
Cylinder dar, welcher den unteren Theil des Fruchtknotens umschliefst 
und bisweilen mit den Staubblättern abwechselnde Effigurationen besitzt; 
bei der stark zygomorphen Blüthe von Monnieria L. wird der Discus ein- 
seitig. Die Kelchblätter zeigen bei Erythrochiton sehr weitgehende Ver- 
wachsung und corollinische Färbung, während bei Ravenia Vell. und Mon- 
nieria L. die frei bleibenden äufseren Kelchblätter sich auffallend vergröfsern. 
Die Blumenblätter sind bei allen lineal-lanzettlich oder länglich und auf- 
gerichtet; bei Leptothyyrsa Hook. f., Almeidea St. Hil. und Spiranthera St. Hil. 
sind sie noch frei; aber bei den zahlreichen übrigen Gattungen hat die 
aufrechte Stellung der seitlich an einander liegenden Blumenblätter zu 

3) 


"HU 


20 A. Ene6LEr: 


vollständiger Sympetalie geführt, wie bei Correa. Die Blüthen waren nach 
dieser Gestaltung vorzugsweise zur Bestäubung durch Inseeten mit Rüssel 
geeignet. Es ist nun durchaus wahrscheinlich, dafs mit dem Fortschritt 
der Insecetenbefruchtung in dieser Gruppe die Zygomorphie weiter vorge- 
schritten ist und sich namentlich auch auf das Andröceum erstreckt hat. 
Vielfach finden wir 2 hinten stehende Staubblätter, das mediane und ein 
seitliches kräftiger entwickelt als die übrigen 3, oder sie sind allein fertil, 
und die 3 vorderen Staubblätter in Staminodien umgewandelt. Auch bei 


dieser Gruppe fallen die reifen, ziemlich grofsen Samen bald aus: es ist 
somit auch hier mehr die eontinentale Verbreitung begünstigt. Die Gattungen 
Erythrochiton Nees et Mart., Raputia Aubl. und Ravenia Vell. sind am weitesten 
verbreitet, wenn auch arm an Arten; alle übrigen Gattungen überschreiten 
nicht die Landenge von Panama; am artenreichsten und verbreitetsten ist 
unter diesen Ousparia, während die meisten anderen Gattungen nur kleine 
Bezirke einnehmen. Die ganze geographische Verbreitung der Cusparünae 
und ihre eigenartige morphologische Entwickelung zeigt, dafs ihre Ver- 
breitung von Süd-Amerika ausgegangen ist; sie müssen sich frühzeitig 
von dem Stamm der Xanthoxyleae, aus dem die Pilocarpinae hervorgegangen 
sind, abgezweigt haben. Für ein sehr hohes Alter der Ousparünae spricht 
auch der Umstand, dafs die Areale der gröfseren Gattungen sehr unter- 


Zur 


brochen sind. 


Toddalioideae. 


Es bleiben uns nun von den gröfseren Gruppen der Rutaceen noch 
die Toddalioideae und Aurantioideae übrig, beide mit weitergehender Ver- 
einigung der Carpelle als die Rutoideae; die ersteren steinfrüchtig mit nur 
theilweise saftigem Pericarp oder mit trockenen Flügelfrüchten, die letzteren 
mit ganz fleischigem Pericarp, somit beide zur Verbreitung durch Vögel 
geeignet. Bei den steinfrüchtigen Toddalioideae ist der Same im Magen 
des Vogels durch das steinige oder krustige Endocarp mehr geschützt als 
bei den Aurantioideae, doch ist bei letzteren die Samenschale meist dieker 
als bei den ersteren. Die Toddalioideae sondern sich in die pluricarpellären 
Toddaliinae und Pteleinae und in die unicarpellären Amyridinae. Die Tod- 
dalünae sind in fast allen tropischen und subtropischen Ländern, wenn 
auch nirgends in grofser Zahl anzutreffen. 


Über die geogr.Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 21 


Im nördlichen extratropischen Küstengelände des stillen Oceans haben 
wir zunächst die Gattung Phellodendron Rupr. im Amurland und auf Japan, 
vom Habitus der in Ost-Asien vorkommenden Fagara-Arten und dadurch 
von den übrigen Toddalieae abweichend; im tropischen Küstengelände des 
stillen Oceans finden wir im Westen und zum Theil weit nach Indien und 
China verbreitet die Gattung Acronychia Forst. mit etwa 17 Arten, und an 
sie schliefsen sich die ebenfalls mit einfachen Blättern versehenen Gattungen 
Skimmia Thunb. und Halfordia F. Muell. an, die erstere von der Grenze 
Afghanistans an durch den Himalaya bis Hupeh verbreitet und dann auch 
in Japan und auf Sachalin, die letztere im tropischen Ost-Australien und 
auf Neu-Kaledonien zusammen mit Acronychia. Sodann erreicht ebenfalls 
die Küsten des stillen Oceans die kletternde Toddalia aculeata Lam., welche 
auch im Himalaya, in den Gebirgen Vorder-Indiens, auf den Mascarenen, 
auf Madagascar und in den Gebirgen Ost-Afrikas nicht selten ist; das 
zerstreute Vorkommen dieser Art in von einander entfernten tropischen 
Gebirgsländern ist auf keinen Fall anders zu erklären als durch den von 
Vögeln bewirkten Transport. Mit Toddalia verwandt sind Toddaliopsis Engl. 
und Vepris Comm., von denen die erstere nur an der Ostküste Afrikas, 
die andere in Ost-Afrika, auf Madagascar, den Mascarenen und im west- 
lichen Vorder-Indien mit 6 Arten vertreten ist. Aufser diesen 3 unter 
einander ziemlich nahe verwandten, in Afrika vorkommenden Gattungen ist 
im westlichen tropischen Afrika noch eine neue Gattung Araliopsis Engl. 
endemisch, die durch 2-samige Steinkerne charakterisirt ist, ein Verhalten, 
welches auch bei der süd-amerikanischen Gattung Hortia Vandelli vor- 
kommt, doch hat diese mit Araliopsis sonst nichts gemein. Mit den alt- 
weltlichen Gattungen der Toddalinae stimmen auch die einander ziemlich 
nahe stehenden Gattungen Sargentia Wats. und Casimiroa Llav. et Lex. 
nur in den allgemeinen Blüthenverhältnissen überein, dagegen weichen sie 
von den altweltlichen Gattungen hauptsächlich durch ihr sehr fleischiges 
Sareocarp ab, und Casimiroa, deren Samen wir kennen, ist ganz besonders 
durch die grofsen Früchte mit nährgewebslosen Samen und dieken Kotyle- 
donen charakterisirt. Man wollte Casimiroa aus diesem Grunde auch zu 
den Aurantioideae stellen; aber die Früchte von Casimiroa besitzen krustige 
Steinkerne, wie sie bei den Aurantioideae nie vorkommen; die Beschaffen- 
heit der Samen ist bei den Toddalioideae ebenso wie bei den Xanthowyleae 
eine ungleiche. Jedenfalls stehen die amerikanischen Toddalünae in keiner 


22 A. EneLeEr: 


nahen Verwandtschaft zu denen der alten Welt; es ist daher sehr wahr- 
scheinlich, dafs sie sowohl in der alten wie in der neuen Welt gleich- 
zeitig entstanden sind. Die Gruppe der Pfeleinae dagegen, welche durch 
geflügelte Trockenfrüchte charakterisirt ist, fehlt in der alten Welt gänz- 
lieh; die beiden Gattungen Balfourodendron Hook. f. und Helietta Tul. sind 
auf das tropische Amerika, Ptelea L. auf das extratropische Nord- Amerika 
beschränkt. Irgend welcher Übergang zwischen dieser Untergruppe und 
der der Toddalünae in der Fruchtbildung existirt nicht. Den Toddalieae 
sind auch die Amyridinae anzureihen, welche sich von den nährgewebs- 
losen Toddalinae nur dadurch unterscheiden, dafs das Gynäceum ein einziges 
Carpell enthält; im tropischen und extratropischen Afrika haben wir nur 
die 6 Arten zählende Gattung Teelea Delile, welche von Abyssinien bis 
Natal, auf Madagascar und den Comoren verbreitet ist, in West-Indien 
und Central-Amerika, sowie in den angrenzenden Gebieten die Gattung 
Amyris (P. Br.) L. mit etwa 14 Arten. Ein Übergang von den unicarpel- 
lären Amyridinae zu den pluricarpellären Toddaliinae ist nicht vorhanden; 
mir scheint es wahrscheinlich, dafs diese Gruppe diphyletisch ist, denn 
die afrikanischen Teelea haben habituell mit den amerikanischen Amyris 
wenig Merkmale gemein und anderseits sind die Teclea, abgesehen von der 
Entwickelung nur eines Carpelles, den Gattungen Vepris und Toddaliopsis 
recht nahestehend. 


Aurantioideae. 


Die Aurantioideae sind, wie die Verbreitungskärtchen angeben, aus- 
schliefslich in der alten Welt und zwar vorzugsweise im indisch-malayischen 
Gebiet heimisch, namentlich auch in dem hierzu gehörigen tropischen Austra- 
lien. Die Aurantieae können wir in 2 Untergruppen spalten, in die Li- 
monünae und Citrinae, erstere nur mit je 2 Samenanlagen in jedem Fach 
des Fruchtknotens, letztere mit mehreren Samenanlagen. Unter den Li- 
moninae haben die Gattungen Micromelum Bl., Clausena Burm., (Glycosmis 
Correa, Luvunga Ham. den Habitus der Xanthowyleae- Evodiüinae und nur 
kleine Beerenfrüchte; besonderes Interesse gewährt von diesen Gattungen 
hinsichtlich der Verbreitung nur Clausena Burm., die über Vorder-Indien 
hinaus im tropischen und südlichen Afrika ausgedehnte Verbreitung ge- 


ne a 


EBENE 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 23 


funden hat. Für die Gattung Triphasia Lour., die durch 3-gliedrige mittel- 
grolse, weilse Blüthen ausgezeichnet ist, habe ich kein Verbreitungskärtchen 
entworfen, da über die Heimat dieser in Vorder-Indien häufigen, im 
tropischen Asien und auch in West-Indien eultivirten Pflanze noch Zweifel 
bestehen. Anschaulichere Blüthen kommen bei Murraya L. und Limonia 
Burm. vor, von welcher Gattung ich auch 4 Arten im tropischen Afrika 
nachweisen konnte. Bei Atalantia Correa und Paramignya Wight, welche 
nur einfache Blattspreiten besitzen wie die meisten Citrus, auch wie diese 
nicht selten auffallende Verdorrung der ersten Blätter ihrer Knospen zeigen, 
treten ebenfalls gröfsere Blüthen mit weifsen Blumenblättern auf; Atalantia 
Correa kommt auch den Citrinae noch dadurch näher, dafs die Staubfäden 
wie bei Citrus stark verbreitert sind und bisweilen mit einander verwachsen. 
Trotzdem möchte ich aber nicht annehmen, dafs die Citrinae von den Li- 
monünae abzuleiten seien, vielmehr halte ich es für das Wahrscheinlichere, 
dafs die älteren Aurantioideae sich in solche mit vieleiigen und zweieiigen 
Carpellen gesondert haben. Dazu kommt noch, dafs die Citrinae die Nei- 
gung besitzen, eine gröfsere Anzahl von Carpellen zu entwickeln, als 
Blumenblätter vorhanden sind, und dafs auch bei Citrus bisweilen Neigung 
zur Apocarpie beobachtet wird; es zeigen also die Citrinae in ihrem Gynä- 
ceum sehr ursprüngliche Verhältnisse. Unter den Citrinae nimmt dann 
wieder eine sehr eigenartige Stellung die in Vorder-Indien verbreitete Fe- 
ronia Elephantum Correa ein, da die Carpellränder nicht vollständig zu- 
sammenschliefsen, und die parietalen Placenten mit zahlreichen an den 
Flächen stehenden Samenanlagen besetzt sind. Bei Aegle Correa und Citrus L. 
stehen die Samenanlagen in 2 Reihen; aber auch diese beiden Gattungen 
sind nicht sehr nahe verwandt, denn Aegle hat die höchst auffallende 
Eigenschaft, dafs die Samen behaart sind, und die Polyandrie des Andrö- 
ceums scheint nicht auf Spaltung von Primordien zu beruhen, wie sie bei 
Citrus beobachtet wird. Eine ziemlich auffallende Verbreitungserscheinung 
ist die, dafs aufser der in Ost-Indien verbreiteten Aegle Marmelos (L.) Correa 
noch eine zweite Art A. Barteri Hook. f. im Nigergebiet des tropischen 
Afrika vorkommt. Über die Heimat der eultivirten Citrus- Arten herrscht 
noch grofse Ungewilsheit, da sie in den wärmeren Ländern, wo sie ein- 
mal cultivirt werden, auch verwildern; auf unserem Kärtehen sind nur 
diejenigen Gebiete eingezeichnet, in denen das Vorkommen von (itrus ein 
sicher oder höchst wahrscheinlich spontanes ist. (Vergl. hierüber Citrus 


24 A. ENGLER: 


in Engler-Prantl, Die natürlichen Pflanzenfamilien II 4, S. 196-200, 
sowie auch für die übrigen Gattungen die dort gemachten Verbreitungs- 
angaben.) 


Wenn wir die Verbreitungserscheinungen innerhalb der Familie der 
Rutaceen und die Entwickelung der einzelnen Gruppen noch einmal über- 
blicken, so treten uns als Ergebnisse von allgemeinerer Bedeutung folgende 
entgegen: 

1. Einige Gruppen zeigen einen grofsen Reichthum nahe ver- 
wandter Formen auf beschränktem Gebiet. Dies ist im höchsten 
Grade der Fall bei den Rutoideae- Diosmeae und Rutoideae- Boronieae. Ihre 
Gattungen und in diesen die Arten stehen einander so nahe, dafs wir 
diese Gruppen als auf dem Höhepunkt der Entwickelung befindlich an- 
sehen können. Nichtsdestoweniger bleiben sie auf engere Gebiete be- 
schränkt wegen ihrer Organisation. Beide Gruppen enthalten subtropische 
dauerblättrige Sträucher und Halbsträucher, welche einerseits von den aus- 
gesprochenen Xerophytengebieten, anderseits von den Gebieten der Hydro- 
megathermen ausgeschlossen sind. Der Ursprung dieser Gruppen mulfs in 
den südlichen extratropischen Gebieten gewesen sein; sie haben sich nicht 
weiter nach dem Aequator hin verbreiten können, weil einerseits ein Klima 
mit länger andauernder Feuchtigkeit und Wärme, anderseits ein Klima 
mit sehr langer Trockenperiode ihrer Verbreitung entgegentrat; da sie ferner 
ihre Samen bald auswerfen, und dieselben wohl nur selten im keimfähigen 
Zustande über das Meer gelangen, so sind sie auf enge Gebiete beschränkt 
geblieben. Bei diesem Verhalten der Diosmeae und Boronieae ist sowohl 
die Existenz von Calodendron in den Gebirgen von Leikipia wie das Vor- 
kommen einiger eigenthümlicher Gattungen der Doronieae in Neu-Kaledonien 
sehr beachtenswerth. (Calodendron ist, wie mehrere andere kapländische 
Arten und Gattungen, in Ost-Afrika nur auf den Gebirgen anzutreffen, 
welche einstmals unter einander und mit denen Süd-Afrikas in grölserem 
Zusammenhang standen als jetzt. Somit ist das disjunete Vorkommen von 
Calodendron dadurch zu erklären, dafs in dem ehemals mehr zusammen- 
hängenden Areal Lücken entstanden sind. Dafs von den Boronieae einige 
eigenthümliche Gattungen in Neu-Kaledonien vorkommen, trotzdem die 
Boronieae sich im Allgemeinen nicht über das Meer hinweg verbreiten, 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 25 


spricht dafür, dafs einst ein indireeter Zusammenhang zwischen Australien 
und Neu-Kaledonien bestand. Es wird von Suefs (Antlitz der Erde Il. 203) 
darauf aufmerksam gemacht, dafs nach Clarke die östliche Fortsetzung 
des australischen Festlandes durch eine jüngere Senkung abgeschnitten sei, 
da die die Südküste Australiens begleitenden Meeresablagerungen der ganzen 
Ostküste fehlen, und dafs auf Lord Howes-Insel sich Reste riesiger Land- 
thiere, von Eidechsen, gefunden haben, welche daselbst in noch sehr junger 
Zeit lebten. Die grofse Verwandtschaft der neu-kaledonischen Flora mit 
der von Australien macht es durchaus wahrscheinlich, dafs über die Lord 
Howes-Insel hinweg eine Verbindung Australiens mit Neu-Kaledonien be- 
standen hat. — Wir finden ferner in einzelnen Gebieten eine ganz besonders 
reiche Entwickelung einer Gattung oder einer Gattungssection; solche zeigt 
Fagara Sect. Tobinia in West-Indien und Columbien, welches oreographisch 
durch den Inselbogen der Antillen und nicht durch die Landenge von Pa- 
nama mit Mexiko verbunden ist, Fagara Sect. Blackburnia mit einem sehr 
eigenartigen und Neubildungen zeigenden Formenschwarm auf den Sand- 
wich-Inseln, Platydesma mit 4 Arten und Pelea Sect. Eupelea ebenda, Ruta 
Untergattung Haplophyllum mit etwa 50 Arten vorzugsweise im östlichen 
Mittelmeergebiet und Central- Asien und zwar mit Arten, welche so ver- 
schiedenartige Carpell- und Fruchtbildung aufweisen, dafs, wenn einstmals 
die Bindeglieder verschwunden sein sollten, mit Leichtigkeit mehrere Gat- 
tungen daraus gemacht werden könnten, Metrodorea im südlichen Brasilien, 
ein Theil der Cusparieae (Cusparia, Galipea, Ticorea) in Süd- Amerika, Amyris 
mit etwa 13 Arten auf dem schon oben erwähnten Bogen, der von Mexiko 
über die Antillen nach Columbien führt, Teelea im tropischen Afrika, G/ly- 
cosmis im indisch-malayischen Gebiet. Diese Thatsachen sind für die Ent- 
wickelung der Arten ganz besonders lehrreich, weil sie zeigen, wie in 
einem Gebiet, welches einem Typus besonders zusagende Bedingungen ge- 
währt, derselbe sich in ähnlicher Mannigfaltigkeit ausgestalten kann, wie 
bisweilen eine Culturpflanze, von welcher auf einem ihr zusagenden Terrain 
durch künstliche Fernhaltung der Coneurrenten zahlreiche Varietäten er- 
halten werden. 

2. Einige Gruppen zeigen auf beschränktem Gebiet eine 
ziemlich grol(se Zahl entfernt stehender Formen oder Gattungen, 
so die Xanthoxwyleae- Evodünae (6 Gattungen) in Ost-Australien, die Xan- 
thowyleae- Decatropidinae (3 meist monotypische Gattungen) in Mexiko und 

Phys. Abh. 1896. 1. 4 


26 A. ENGLER: 


West-Indien, die Choisyinae (3 Gattungen) in Mexiko und West-Indien, die 
XNanthoxyleae- Lunasünae und die Aurantieae im indisch -malayischen Gebiet. 
Diese Gruppen stehen gerade im Gegensatz zu denen der vorigen Kategorie; 
es sind Gruppen, welche ein hohes Alter besitzen müssen, da die Binde- 
glieder zwischen den jetzt noch existirenden Gattungen fehlen. 

3. Einige Gruppen und Gattungen besitzen + zahlreiche 
Formen in von einander entfernten Gebieten, so Xanthoxylum in 
der nördlichen Hemisphaere, Fagara in der nördlichen und südlichen Hemi- 
sphaere, Evodia mit Boninia und Oriva auf der östlichen Halbkugel, Olausena 
und Toddalia im palaeotropischen Gebiet. Dies sind entweder Gattungen, 
deren Samen oder Früchte zur transoceanischen Verbreitung durch Vögel 
geeignet sind, oder es sind sehr alte Gattungen, welehe früher mehr pol- 
wärts existirt haben müssen und, gegen den Aequator hin gewandert, nun- 
mehr durch gröfsere Zwischenräume von einander getrennt sind. Das erste 
trifft für die meisten Xanthoxyleae- Evodünae zu, das zweite auflserdem für 
die Gattung Xanthoxylum. 

4. Einzelne Gruppen und Gattungen enthalten nur wenige 
Formen, die in weit von einander entfernten Gebieten vorkommen. 
Hier sei erinnert an die Choisyinae, zu denen ich aufser 2 central-ameri- 
kanischen Gattungen und einer west-indischen auch noch einige pacifische 
rechne; ferner an das disjunete Vorkommen der Arten von Thamnosma, 
Raputia, Erythrochiton, Ravenia, an die getrennten Areale der 3 Gattungen 
der Pteleinae und der zahlreicheren Toddaliinae. Man ist oft geneigt, in 
solehen Fällen anzunehmen, dafs man Reste von früher weiter verbreiteten 
und formenreicheren Gruppen oder Gattungen vor sich habe; es ist dies 
aber bei den genannten Rutaceen schwerlich durchweg der Fall; viel mehr 
hat bei einigen Gattungen die Annahme für sich, dafs ältere ausgestorbene 
Gattungen einer weiter verbreiteten Gruppe an entfernten Stellen der Erde 
zu ähnlichen Bildungen gelangt sind. So ist es unwahrscheinlich, dafs 
die flügelfrüchtigen Pieleinae alle direet von einer gemeinsamen Stammform 
der Toddaliewe abstammen; es kann die Flügelbildung sehr wohl dreimal, 
in Nord- Amerika (Pielea), in Central- Amerika (Helietta) und in Süd-Amerika 
(Balfourodendron), eingetreten sein. Namentlich aber bei Thamnosma ist 
es höchst unwahrscheinlich, dafs die 4 bekannten Arten die Reste einer 
einst in der alten und neuen Welt mit zahlreichen Arten vertretenen Gat- 
tung seien. Die beiden altweltlichen Arten, welche habituell recht ver- 


Zaun Zinn ©. 


Über die geogr. Verbreit. d. Rutaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 27 


schieden sind, haben beide stachelige, die beiden neuweltlichen dagegen 
haben glatte Samen. Nun sind aber diese neuweltlichen Arten auch noch 
dadurch ausgezeichnet, dafs ihr Fruchtknoten deutlich gestielt ist; der 
Grund, weshalb alle 4 Arten zu einer Gattung gerechnet werden, liegt 
darin, dafs bei ihnen allein unter den Rutinae der Fruchtknoten bicarpellär 
ist. Es ist aber sehr wohl denkbar, dafs die Verminderung der Glieder 
im Gynäceum bei 2 verschiedenen älteren Gattungen der Rutinae einge- 
treten ist, und dafs der Unterschied in der Samenschale auch wichtig genug 
ist, um 2 Gattungen Thamnosma und Palaeothamnosma zu unterscheiden, 
von denen die erstere sich mehr an Boenninghausenia und Psilopeganum, 
die letztere mehr an Ruta anschliefsen dürfte. Hingegen sind die anderen 
oben erwähnten Gattungen Erythrochiton, Ravenia und Raputia in allen 
ihren Arten von anderen Gattungen der Cusparieae so verschieden, dafs 
man jede als eine natürliche Gattung ansehen kann, die jetzt nur noch 
in einer geringen Zahl von Arten in weit von einander entfernten Gebieten 
erhalten ist. 

5. Endlich rechnen wir zu den Rutaceen noch einige morpholo- 
gisch innerhalb der Familie ganz isolirte und formenarme Gat- 
tungen wie Spathelia, Chloroxylon, Dietyoloma, von denen man annehmen 
mulfs, dafs sie nicht aus einer der gröfseren und weiter verbreiteten Gruppen 
hervorgegangen, sondern vielmehr neben diesen entstanden und nicht zu 
weiterer Entwickelung gelangt sind. 


Erklärung der 3 Tafeln. 


Die Verbreitung der einzelnen Gattungen ist durch grüne oder rothe Färbung ihrer 


Areale angedeutet, und zwar wurde bei den Gattungen mit grünlichen oder grünlich-weilse 
Blumenblättern grün, bei den Gattungen mit lebhafter gefärbten Blüthen roth verwendet. 
der Gruppe der Rutinae jedoch wurde für Ruta ebenfalls grün gewählt, um das Areal dies 


Gattung neben dem der übrigen besser hervortreten zu lassen. 


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Geogr-Uh. Anst u.Steindr:v. Cl.Keller, Berlin 5. 


Engler: Geographische Verbreitu ng der Rutaceen. 
ul, Verbreitung der Rutoideae-Xanthoxyleae. 


K-Preuss. Akad.d.Wissensch. Phys. Abh. 1896. 


Ruteae-Rutinae. 


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® Geleznovia Turcz (1) 


Boron-Nematolepidinae. Boron-Diplolaeinae. 


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Diosmeae- Calodendrinae. Diosmeae -Diosminae u.Empleurinae. 


Euchaetis Bartl. et Wendt (4) 
‚Macrostylis Bartl. eı Wenda.(2) 
_Adenandra Willd (20) 
Empleuridüum. Sond (V 
Empleurum Soland. (1) 


Raputia Aubl. (5) 
® Decagonocarpus Enge) EI 


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En Engler: Geographische Verbreitung der Rutaceen. 
Taf.Il. Verbreitung der Rutoideae-Ruteae, Boronieae, Diosmeae, Cusparieae. 


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Phys Abh. 1896. 


K-Preuss. Akad.d.Wissensch. 


Toddalieae "Toddaliinae. 


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 Araliopsis Engl (1) 
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Amyris (EBrJL. (10) 

Idea. Deule (6) 

 Stauranthus Liebm. (1) 


A.Engler del. Geogr- Lich. Anst.u.Steindr. v. C]-Keller-Berlin 5. 


Engler: Se Verbreitung der Er 
Taf. IT. Verbreitung der Toddalieae und Aurantieae 


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Über die geographische Verbreitung der Zveophvyllaceen 
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im Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung. 


Von 


H" ADOLF ENGLER. 


Phys. Abh. 1896. 11. 1 


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Gelesen in der Gesammtsitzung am 26. November 1896 
[Sitzungsberichte St. XLVII. S. 1303]. 


Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 1896. 


ERNENEZE 7ER 


ı® meiner Abhandlung über die geographische Verbreitung der Rutaceen 
im Verhältnifs zu ihrer systematischen Gliederung (Abh. d. K. Preufs. Akad. 
d. Wiss. 1896) handelte es sich um eine grofse, in allen wärmeren Gebieten 
der Erde und auch noch in den gemälsigten Zonen vertretene Familie, 
deren Unterfamilien und Gruppen grolfsentheils auf ein gröfseres Mals von 
Wärme und Feuchtigkeit angewiesene Pflanzen, anderseits aber auch mehrere 
Xerophyten umfassen, welche zu den übrigen Rutaceen in so naher ver- 
wandtschaftlicher Beziehung stehen, dafs mehrfach eine Ableitung der 
hydromesothermen Typen von hydromegathermen und xerophytischer von 
hydromesothermen möglich ist. Die Zygophyllaceen dagegen, bekanntlich 
den Rutaceen so nahe stehend, dafs früher vor der Werthschätzung ana- 
tomischer Merkmale für die Systematik einzelne ihrer Gattungen bei jenen 
untergebracht wurden, sind eine Familie von 24 Gattungen, welche alle 
mehr oder weniger xerophytische oder auch haloxerophytische Arten ent- 
halten. Es gewährt daher ein ganz besonderes Interesse, die Verwandt- 
schaftsverhältnisse dieser in allen wärmeren Theilen der Erde zerstreuten 
Gattungen festzustellen und die Entwickelungscentren der durch ihre Merk- 
male abgegrenzten Gattungsgruppen zu ermitteln. Vielfach neigt man zu 
der theilweise auch wohlbegründeten Ansicht, die von den Xerophyten 
und namentlich den Haloxerophyten bewohnten Gebiete als verhältnils- 
mälsig junge Landbildungen anzusehen. Wäre diefs richtig, dann mülsten 
alle Bewohner der Steppen und Wüsten sich verwandtschaftlich eng an 
Pilanzen der auf länger anhaltende Feuchtigkeit angewiesenen Formationen 
anschlielsen. Es ist daher wichtig. den verwandtschaftlichen Beziehungen 
ı* 


4 A. EneLEeEr: 


einer so ausgesprochen xerophytischen Pflanzengruppe, wie die Zygophyl- 
laceen sind, genau nachzugehen. 

Da die Zygophyllaceae seit langer Zeit (1814) als selbständige Familie 
angesehen wurden, so ist schon von vorn herein ziemlich wahrscheinlich, 
dafs dieselben nieht von einer anderen Familie abgeleitet werden können 
und ein hohes Alter besitzen; jedoch soll diese Frage noch eingehender 
erörtert werden. Die zweite Frage wird die sein, wie sich die zu unserer 
Familie gestellten Gattungen morphologisch und geographisch zu einander 
verhalten. Scharfe Abgrenzung von Gattungsgruppen und isolirte Stellung 
einzelner Gattungen würde mit Sicherheit auf hohes Alter hinweisen. Eine 
dritte Frage ist die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver- 
breitung; diese Frage hat aber bei unserer Familie ein ganz besonderes 
Interesse deshalb, weil die Zygophyllaceen alle Bewohner von Wüsten und 
Steppen (im weitesten Sinne) sind, diese Formationen aber gegenwärtig in 
den verschiedenen Erdtheilen theilweise von einander sehr entfernt auf- 
treten. Es wird sich daher vor Allem auch um eine Untersuchung der 
Verbreitungsmittel handeln, um zu entscheiden, ob die Beschaffenheit der- 
selben die gegenwärtige Vertheilung der Arten ermöglichen konnte; es wird 
aber auch ferner die frühere Configuration der Erdtheile in Betracht zu 
ziehen sein, um zu entscheiden, ob diese eine Wanderung einzelner Arten 
in höherem Grade als die heutige gestattete. 

Die Zygophyllaceae (Zygophylleae) wurden zuerst von R. Brown im 
Jahre 1814 (Flinders Voy. I, App. 3, 545; Verm. bot. Schrift. I, 34) als 
selbständige Familie hingestellt; bis dahin war diese Pflanzengruppe, ent- 
sprechend der Anschauung A. L. de Jussieu’s, mit den Rutaceen vereinigt 
worden; ja bei diesem Autor umfafste die Familie der Rutaceen sogar we- 
niger echte Rutaceengattungen (4), als Zygophyllaceengattungen (5). Auch, 
nachdem de CGandolle (Mem. Mus. IX (1822), 139 und Prodr. I, 703) die 
Zygophyllaceen als selbständige Familie anerkannt hatte, wurden dieselben 
wieder von A. Jussieu (Mem. Mus. XII (1825), 394. 450) als Unterfamilie 
der Rutaceen behandelt, und in neuerer Zeit hat sogar noch Baillon (Hist. 
des plantes IV (1873), 415 ff.) dasselbe gethan, zugleich aber auch die Cneo- 
raceen und Simarubaceen in dieselbe Familie eingeschlossen. Diese An- 
schauungen basirten auf einer Überschätzung der in den Blüthenverhält- 
nissen dieser Pflanzen bestehenden Übereinstimmung. Ein ganz wesentlicher 
Fortschritt wurde erreicht, als Bentham und Hooker, den hohen syste- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 5 


matischen Werth der Stellung der Samenanlagen erkennend, eine der un- 
natürlichsten Pflanzengruppen, die Terebinthinae, beseitigten und in ihrer 
Reihe der Geraniales die Zygophyllaceae, Rutaceae, Simarubaceae, Burseraceae 
neben einander stellten, die Anacardiaceae aber in eine Parallelreihe, die- 
jenige der Sapindales, verwiesen. Ein zweiter wesentlicher Fortschritt wurde 
durch dieselben Autoren eingeleitet, indem sie die Aurantieae mit den Ru- 
taceae vereinigten. Hierdurch war auf einmal der hohe Werth eines ana- 
tomischen Merkmales, der lysigenen Drüsen, in’s helle Licht gesetzt, und 
es bedurfte nur noch einer eonsequenteren Berücksichtigung dieses Merk- 
males, um die Familie der Rutaceen natürlich zu umgrenzen. Die Probe 
auf die Richtigkeit dieses Verfahrens ergab sich dann aber auch dadurch, 
dafs nun die Nachbarfamilien der Simarubaceae und Zygophyllaceae bei Be- 
rücksichtigung der anatomischen Verhältnisse sich einheitlicher gestalteten. 
Aber selbst dann, wenn man auf die Iysigenen Drüsen der Rutaceen nicht 
so grolsen Werth legen wollte, würde man keine Zygophyllacee in irgend 
welche nähere Verbindung mit einer Rutaceengattung bringen können; auch 
die Gattungen Peganum und Tetradielis, welche Bentham und Hooker 
noch bei den Rutaceen führten und welche ich zu den Zygophyllaceen ver- 
weise, bieten keinerlei Anhaltspunkte zu irgend welcher Verknüpfung mit 
einer Rutacee. Auch von den isolirt stehenden Gruppen der Rutaceen, den 
Spathelioideae, Dictyolomoideae und Flindersioideae, welche von der Haupt- 
masse dieser Familie erheblich abweichen, steht keine den Zygophyllaceen 
nahe. Wie steht es nun mit Anknüpfungspunkten zwischen Zygophyllaceae 
und Simarubaceae? Ein durchgreifendes anatomisches Merkmal kommt der 
letzteren Familie nicht zu (vergl. meine Bearbeitung in den Nat. Pflanzen- 
familien II. 4, S.203), und ebenso wenig ist dies bei den Zygophyllaceen 
der Fall; ferner gehört zu den Simarubaceen eine Gruppe Simaruboideae - Sima- 
rubeae, bei welcher am Grunde der Staubfäden Ligularschuppen vorkom- 
men, wie bei sehr vielen Zygophyllaceen. Dazu sind die Simarubaceen 
keineswegs völlig einheitlich, sondern ich mufste hier 4 Unterfamilien unter- 
scheiden, von denen ich (a. a.0. S.206) erklärte, es könnten dieselben auch 
als eigene Familien angesehen werden. Man könnte also erwarten, hier 
vielleicht bei einer oder der anderen dieser Unterfamilien nähere Bezie- 
hungen zu den Zygophyllaceen zu finden; bei letzteren aber wird man 
von den dahin gestellten Gattungen hauptsächlich diejenigen zum Vergleich 
heranziehen, welche nieht die für die echten Zygophyllaceen so charakte- 


6 A. En6LEr: 


ristischen paarig- gefiederten Blätter besitzen. Dies ist der Fall bei den 
Chitonioideae, Peganoideae, Nitrarioideae und den Zygophylloideae - Fagonünae 
(vergl. Nat. Pflanzenfamilien II. 4, S.78. 354). Die Zygophylloideae - Fagoniinae 
und die Peganoideae umfassen krautartige Pflanzen, und solche finden sich 
unter den Simarubaceen gar nicht; ferner haben die Fagonünae in ihren 
Carpellen an einem dünnen Funieulus hängende Samenanlagen und auf- 
springende Carpelle, was beides bei den Simarubaceen nicht vorkommt. 
Die Peganoideae aber haben in ihren später aufspringenden Carpellen zahl- 
reiche Samenanlagen und können deshalb mit keiner Simarubacee in Verbin- 
dung gebracht werden. Auch für die Nitrarioideae sieht man sich vergeblich 
nach Anknüpfung an irgend eine Simarubacee um; denn die einzigen Gat- 
tungen der letzteren, welche einfache Blätter besitzen, die Suriana, Cadellia, 
Castela, Holacantha, haben lange freie Griffel, während bei Nitraria, wie bei 
allen anderen Zygophyllaceen, die Griffel vereint sind und aufserdem die 
Narben mit denjenigen der Zygophylloideae - Tribuleae übereinstimmen. So 
bleiben noch die Chitonioideae übrig. Chitonia Moc. et Sesse besitzt un- 
paarig-gefiederte (oder gedreite) Blätter, wie sie bei den Simarubaceen so 
häufig sind, sodann aber vollständig verwachsene Carpelle mit mehreren 
Samenanlagen; letzteres kommt bei keiner Simarubacee vor. Ebenso ist 
bei Viseainoa Greene und bei Sericodes A. Gray das Gynäceum vollkom- 
men syncarp; ein solches besitzen unter den Simarubaceen nur Pieramnia 
und Alvaradoa; bei beiden sind jedoch noch die Griffel frei; zudem hängen 
bei Pieramnia die Samenanlagen vom Scheitel des Faches herunter und bei 
Alvaradoa sind sie sogar grundständig, ihre Mikropyle nach unten kehrend, 
während bei Viscainoa und Sericodes die Samenanlagen, wie bei anderen 
Zygophyllaceen, ziemlich in der Mitte des Faches ansitzen. Aus alledem 
ergiebt sich, dafs auch bei den Simarubaceen ebenso wenig wie bei den 
Rutaceen ein engerer Anschlufs für die Zygophyllaceen gefunden werden 
kann, d.h.: die Zygophyllaceen sind eine alte Familie von Xero- 
phyten und Haloxerophyten. 

Was nun die zweite und dritte der oben gestellten Fragen betrifft, 
die nach dem morphologischen und geographischen Verhalten der Gattungen 
zu einander sowie die nach dem Zustandekommen der gegenwärtigen Ver- 
breitung, so bilden diese den Hauptgegenstand dieser Abhandlung. Indem 
ich mich auf meine in den Pilanzenfamilien gegebene Beschreibung der 


Zygophyllaceen beziehe, werde ich hier hauptsächlich die ptlanzengeogra- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 7 


phischen und phylogenetischen Verhältnisse der einzelnen Unterfamilien und 
Gruppen behandeln und zugleich auch noch einige Verbesserungen der phylo- 
genetisch-systematischen Eintheilung der Zygophyllaceen rechtfertigen. 


Zygophylloideae - Zygophylleae. 


Die Gruppe der Zygophylleae kann, weil sie die Mehrzahl der Gat- 
tungen umfafst, als die typische der Familie gelten, ohne dafs sie darum 
als die älteste angesehen wird. Charakteristisch für diese Gruppe ist, dafs 
bei ihr im Gegensatz zu den Tribuleae die Samen mit Nährgewebe versehen 
sind, welches allerdings bei Seetzenia nur sehr dünn ist: ein wichtiges Mo- 
ment für die Samenverbreitung, weil das Nährgewebe um den Keimling 
herum einerseits eine Schutzhülle gewährt, anderseits demselben bei der 
ersten Entwickelung die nothwendigsten Nährstoffe darbietet. 

Von den übrigen Zygophylleae sondern sich leicht ab wegen ihrer ge- 
dreiten Blätter, die bisweilen auf das Mittelblättehen redueirt sein können, 
die Fagoniinae mit den beiden Gattungen Fagonia Tourn. und Seetzenia R. Br. 
Bei beiden Gattungen sind die Samen! im feuchten Zustande schleimig und 
klebrig. Bei Fagonia liegt der Keimling in einem 2-3-schichtigen hornigen 
Nährgewebe mit sehr stark verdickten, von Tüpfelkanälen durchzogenen 
Wänden, deren Durchmesser das Lumen der Zellen häufig übertrifft, und 
die Samenschale besteht meist aus 2 Zelllagen, einer inneren mit kleinen 
rechteckigen, braunwandigen, rhombische Einzelkrystalle führenden Zellen 
und einer äufseren mit im Wasser sehr stark aufquellenden, farblosen, völlig 
durchsichtigen Zellen, welche die Zellen der inneren Schicht 6-10mal an 
Gröfse übertreffen; an den Ecken dieser im groben Umrifs rechteckigen 
Zellen finden sich in den Grübehen zwischen den nach aufsen gewölbten 
Aufsenwänden concentrisch strahlige, rundliche Körper, die von einem 
dünnen Häutchen überzogen sind; ebenso finden sich solche bisweilen an 
der Oberfläche der Aufsenwände. Nach Behandlung mit Salzsäure bleiben 
an Stelle der kugeligen Körper helle, aber feinkörnige Massen zurück. Bei 


! Eine vollständige vergleichende Untersuchung der Zygopbyllaceen-Samen, insbeson- 
dere ihrer Samenschalen, lag jetzt nicht in meiner Absicht, sondern ich wollte mich mit 
Rücksicht auf die pflanzengeographischen Fragen nur insoweit unterrichten, als es nöthig 
war, um die Möglichkeit der Samenverbreitung festzustellen. Die nöthigen Praeparate wurden 
unter meiner Aufsicht von meinem derzeitigen Assistenten Hrn. Dr. Diels angefertigt. 


fe) A. EnsLer: x 


Seetzenia dagegen ist ein Äufserst dünnes Nährgewebe vorhanden; die innere 
Schicht der Samenschale besteht aus braunwandigen rechteckigen, nicht 
eubischen, in radialer Richtung etwas mehr gestreckten, ebenfalls Einzel- 
krystalle führenden Zellen; hierauf folgt eine ebenso dicke, den ganzen 
Samen überziehende feinkörnige Schleimschicht und hierauf eine Lage von 
in radialer Richtung bedeutend gestreckten, 3-5 mal so langen als breiten, 
stark nach aufsen gewölbten, vollkommen durchscheinenden Zellen, die im 
trockenen Zustande eine zähe, feste, fast lederige Schicht bilden. Die beim 
Aufquellen der Aufsenschieht entstehende Schleimhülle bietet zunächst wie 
bei vielen anderen Samen den Vortheil, dafs das aufgenommene Wasser für 
längere Zeit festgehalten wird und bei der Keimung von Vortheil ist; so- 
dann aber ist auch klar, dafs die kleberige Beschaffenheit der Samen leicht 
einen Transport derselben durch Vögel begünstigt, an deren Füfsen die 
Samen haften bleiben. Auch ist wahrscheinlich, dafs die Samen beider 
Gattungen von Vögeln verzehrt werden und der Samenkern unversehrt durch 
ihren Darmkanal hindurchgeht. Hierzu kommen noch folgende Momente: 
ı. Alle Fagonia- Arten und auch Seetzenia orientalis Deene. wachsen auf 
sterilem Wüsten- und Steppenterrain in grofsen Mengen gesellig. 2. Alle 
diese Arten blühen sehr reichlich und erzeugen eine grofse Anzahl von 
Früchten. 3. Bei beiden Gattungen lassen die reifen Theilfrüchte ihre 
Samen bald heraustreten, indem sie sich an der Bauchseite öffnen, und 
bei Fagonia wird die Entleerung der Theilfrüchte noch dadurch begünstigt, 
dafs das Endocarp sich von dem Exocarp zuerst theilweise, dann gänzlich 
ablöst und sich zusammenrollend dazu beiträgt, den Samen herauszustofsen. 
Durch diese Verbreitungsmittel erklärt sich leicht die Verbreitung der Gat- 
tung Fagonia auf der östlichen Hemisphaere, auf welcher die Arten dieser 
Gattung sicher einen noch gröfseren Raum einnehmen, als durch die auf 
unserem Kärtchen angegebenen, bis jetzt bekannten Fundstellen angedeutet 
ist. Es werden gegenwärtig 19 Arten unterschieden, die gröfstentheils ein- 
ander sehr nahe stehen, so nahe, dafs man ebenso gut durch Zusammen- 
ziehen einzelner in Boissier’s Flora orientalis unterschiedener Arten die 
genannte Zahl vermindern, wie anderseits auch durch die Erhebung man- 
cher Varietäten zu Arten vermehren könnte. Die gröfsere Hälfte der Arten 
(10) findet sich in Aegypten, namentlich in Unteraegypten, einige davon 
werden auch in den benachbarten Gebieten Arabien (4), Syrien, Palaestina 
und Persien (3), in Algier (3) angetroffen; andere sind bis Nubien und Abes- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 


sinien (2) verbreitet, ı (F. arabiea 1.) auch bis Socotra und Ostindien. Auch 
in mehreren der genannten Länder treten aufser den verbreiteteren Arten 
endemische auf, so F. socotrana (Balf. f.) Engl. auf Socotra, F. fruticans 
Coss. in Algier, F. myriacantha Boiss. und F. tenuifolia Hochst. et Steud. in 
Arabien, F. acerosa Boiss. in Persien, F. grandiflora Boiss. in Persien und 
Syrien, F. subinermis Boiss. in Südpersien und an der Somaliküste. Die wei- 
teste Verbreitung hat F. eretica L. im Mittelmeergebiet erreicht; sie ist die 
einzige Art, welche aufser in Nordafrika (Aegypten, Tunis, Algier, Marokko, 
Canaren), auch weiter nördlich auf Oypern und Creta, in Spanien und dem 
südlichen Portugal, ja sogar im Mündungsgebiet der Wolga bei Astrachan 
und auch im Somaliland in dem Gebiet von Ogaden angetroffen wird. Von 
ganz besonderem Interesse ist aber, dafs einige Formen, die ich nur als 
Varietäten der Fagonia eretica L. ansehen kann, in Nord- und Südamerika 
vorkommen, nämlich var. californica (Benth.) Engl. mit kleineren Früchten, 
schmaleren Blättehen und von kurzen, sehr zerstreuten Borsten und etwas 
rauhem Stengel im südlichen Californien (San Diego, Los Angeles Bay) und 
Nordmexiko (Val de las Palmas), var. chilensis (Hook. et Arn.) Engl. mit 
kleineren Früchten und kahlem Stengel im nördlichen Chile (Coquimbo, 
Tarapaca, Atacama u. s. w.), var. aspera (Gay) Engl. mit kleineren Früchten, 
breiten Blättern und rauhem Stengel, ebenda (Quebrada de Gaihuano). Diese 
Pflanzen kann ich nur als Abkommen der mediterranen F. cretica L. an- 
sehen, deren Samen mit Waarenballen u. dergl. auf Schiffen von Spanien 
und Portugal sowohl nach Californien und Nordmexiko, wie nach Chile 
gelangt sind. Dafs dorthin die Verbreitung durch Vögel erfolgt sei, ist 
durch die Lage ausgeschlossen. Ebenso halte ich es für unwahrscheinlich, 
dafs das Vorkommen der F. cretica L. var. californica in Californien aus vor- 
historischer Zeit datire und etwa so zu erklären sei, wie das Auftreten 
von Pistacia in Mexiko, d. h. aus einer ehemaligen weiteren Verbreitung 
der Gattung durch Asien. Dagegen spricht das absolute Fehlen von Fagonia 
in den centralasiatischen Steppen, in deren südlichen Theilen Fagonia-Arten 
doch recht gut gedeihen könnten. Auch die im Hereroland vorkommende 
F. minutistipula Engl. schliefst sich ziemlich eng an F. cretica L. an. 
Besonders reich an Gattungen ist die Gruppe der Zygophylleae- Zygo- 
phyllinae, bei denen wir vorherrschend paarig-gefiederte Blätter mit einem 
bis mehreren Blattpaaren finden, während seltener einfache, ungetheilte 
Blätter auftreten. 
Phys. Abh. 1896. Il. 


02 


10 A. En6LEeEr: 


Die sehr artenreiche Gattung Zygophyllıum L. gliedert sich in einige 
theils scharf, theils schwächer begrenzte Seetionen, welche auf engere Ge- 
biete beschränkt sind. Die Areale einiger Sectionen treffen in Vorderasien 
zusammen. 

Auf die Steppen- und Wüstengebiete des westlichen und centralen 
Asiens beschränkt, nur mit Z. Fabago L. auch nach den nördlichen Ge- 
staden des Schwarzen Meeres und nach Tunis reichend, finden wir die 
durch fachspaltige Kapseln ausgezeichnete Section Fabago, deren Verbrei- 
tungsgebiet auf dem Kärtchen durch zusammenhängende rothe Flecke be- 
zeichnet ist, während ı9 andere in verschiedenen Theilen der central- 
asiatischen Steppen zerstreute Arten sich in den durch ein rothes + 
bezeichneten Gebieten finden. Die meisten der hierher gehörigen Arten be- 
sitzen ein kräftiges ausdauerndes Rhizom von fleischiger Beschaffenheit, aus 
dem alljährlich Sprosse mit ziemlich dieken fleischigen oder lederartigen 
Blättern hervortreten; die letzteren sind stets paarig-gefiedert und theils 
4—-3-paarig (Z. macropterum G. A. Mey., Z. mueronatum Maxim., Z. subtri- 
Jugum C. A. Mey.), theils 2-paarig (Z. turcomanieum Fisch., Z. Potaninü 
Maxim., Z. pterocarpum Bunge, Z. Karelinü Fisch. et Mey., Z. miniatum 
Cham. et Schlecht., Z. Melongena Bunge), meistens ı-paarig (Z. Fabago L., 
Z. furcatum C. A. Mey., Z. brachypterum Kar. et Kir., Z. Rosowiü Bunge, 
Z. latifolium Schrenk, Z. gobieum Maxim., Z. ovigerum Fisch. et Mey., 
Z. Eichwaldü GC. A. Mey., Z. stenopterum Schrenk). Die meisten Arten ent- 
halten in ihren Fruchtfächern 3 Samen, Z. Melongena Bunge und Z. ste- 
nopterum C. A. Mey. nur ı Samen. Die Verbreitung derselben ist wie bei 
Fagonia durch eine Schicht grofser (hier eylindrischer) verschleimender 
Zellen begünstigt, unter denen eine Schicht kleiner, rhombische Einzel- 
krystalle enthaltender Zellen sich befindet. Die verschleimenden Zellen er- 
scheinen innen mit einem eigenartigen Netzfasersystem versehen, in welchem 
man bisweilen 2 von einander getrennte Spiralen erkennen kann, zwischen 
denen mehrfach gleich dieke und dünnere Verbindungsfasern auftreten. In 
jungen Zellen dieser Quellungsschicht sind die Fasern einander mehr ge- 
nähert, in älteren sind sie mehr von einander entfernt; es ist kein Zweifel, 
dafs diese Fasern, ebenso wie die weiter unten bei der Seetion Capensia 
und Zoeperia zu besprechenden Spiralfasern, durch einen eigenthümlichen 
Spaltungsprocefs der Innenlamelle entstanden sind, der von Nägeli (Sitzungs- 
berichte der Königl. Bayr. Akad. der Wissensch. 1864, 9.Juli, Botanische 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 11 


Mittheilungen, II. Bd. Nr. ı7) für die Epidermiszellen der Fruchtwandung 
von Salvia Aethiopis L., S. Horminum L., für die Epidermiszellen der Samen 
von Collomia-Arten und für Samenhaare von Dipteracanthus ciliatus Nees 
nachgewiesen wurde. — Trotz der Befähigung zur Verbreitung sind, aufser 
dem weit verbreiteten Z. Fabago, die meisten Arten auf kleinere Gebiete 
beschränkt; so kommen ı Art (Z. pterocarpum Bunge) nur am Altai, 8 in 
der Songarei, 3 in der Wüste Gobi, ı in Kansu, 6 nur in der Turkmenen- 
steppe vor, darunter 3 einander sehr nahe stehende Arten (Z. ovigerum, 
Z. furcatum und Z. Eichwaldiü) mit schmal linealischen Fiederblättehen. Im 
Anschlufs an die Seetion Fabago sei hier auch gleich die Gattung Mil- 
tianthus Bunge genannt, welche habituell und durch ihre langen Früchte 
den Zygophyllen der Seetion Fabago sehr nahe steht, sich aber durch das 
tleischige Pericarp der letzteren und den Abort der Blumenblätter auszeich- 
net: es ist wohl kaum zu bezweifeln, dafs die auf die Wüste zwischen 
Buchara und Komnine beschränkte Pflanze Miltianthus portulacoides (Cham. 
et Schlecht.) Bunge sich aus einer Art von Zygophyllum Section Fabago 
entwickelt hat. Innerhalb des Areals der genannten Section liegt auch 
dasjenige der Section Sarcozygium (Bunge), mit der einzigen Art Z. wantho- 
wylum (Bunge) Engl.: es ist das ein kahler Strauch mit holzigen Zweigen 
und kleinen kurzen Dornästen, welche ı-paarige Blätter mit schmalen linea- 
lischen Blättehen tragen. Zwar enthalten die Fruchtknoten in ihren Car- 
pellen mehrere Samenanlagen. aber bei der Reife sind sie ı-samig, breit 
geflügelt und nicht aufspringend; die Samenschale ist ganz ähnlich be- 
schaffen wie bei der vorigen Section. Wir haben also hier zunächst eine 
für die Verbreitung vortheilhafte Anpassung, welche bei der ersten Seetion 
fehlte, nämlich Flügelfruchtbildung, die bei Steppenpflanzen so häufig vor- 
kommt und zur Erweiterung ihres Areales beiträgt, aufserldem aber auch 
die vortheilhafte Einrichtung der vorigen Section, welche bei der Verbrei- 
tung der frei gewordenen Samen und bei deren Keimung sich von Vortheil 
erweist. Z. wanthowylum (Bunge) Engl. ist ein Salzsteppenstrauch, der 
bis jetzt aus dem westlichen Theil der Wüste Gobi bekannt, aber vielleicht 
auch noch weiter verbreitet ist. 

Ebenfalls monotypisch ist die Section Halimiphyllum (Engl.) mit Z. atri- 
plieoides Fisch. et Mey., einer strauchigen Art von ZLyeium-artigem Habitus, 
mit ebenfalls weifslichen Zweigen wie bei Z. wanthowylum und mit läng- 
lichen oder verkehrt-eiförmigen grauen Blättern, sowie mit breit geflü- 


DE, 


12 A. En6vwEr: 


gelten Früchten mit ı -samigen aufspringenden Fächern. Abgesehen von dem 
eigenartigen Habitus (Langtriebe mit gegenständigen, von verkehrt-eiför- 
migen Blättern bedeekten Kurztrieben) ist kein hervorragender Unter- 
schied gegenüber Fabago vorhanden, da auch zu dieser Section einzelne 
Arten mit ı-samigen Fächern gehören. Auch die Samenschale zeigt die- 
selbe Beschaffenheit wie bei den Seetionen Fabago und Sarcozygium. Diese 
auffallende Art ist von Persien und Kurdistan bis Beludschistan und Afgha- 
nistan verbreitet. 

Wir kommen nun zu der artenreichen, in Afrika, Arabien und dem 
nordwestlichen Vorderindien verbreiteten Section Agrophyllum Neck., bei 
welcher im Gegensatz zu den fachspaltigen Früchten von Fabago die Kap- 
seln scheidewandspaltig sind. Vielleicht wird es später nothwendig werden, 
diese Seetion noch mehr zu spalten; denn die dahin gehörigen Arten sind 
habituell ziemlich verschieden. Nur eine der zu Agrophyllum gestellten 
Arten, das einjährige Z. simplex L., hat eine weite Verbreitung erlangt; es 
ist sehr häufig zu beiden Seiten des Nil von Suez bis Kordofan, bis zum 
Somaliland und auf Socotra, in Arabien und den Wüstengebieten des nord- 
westlichen Vorderindiens, auf den Cap Verden und Comoren, im Küstenland 
von Benguella, im Hereroland, Namaland und Busehmannland etwas süd- 
lieh vom Oranjeflufs. Auffallend ist das Fehlen dieser Art in Algier. Die 
Theilfrüchte und erst recht die kleinen Samen sind so leicht, «dafs sie sicher 
von heftigen Wüstenwinden auf gröfsere Strecken fortgetrieben werden, 
während anderseits auch hier die kleberige aufquellende Aufsenschicht des 
Samens das Anheften der feuchten Samen an den Füfsen der Vögel ge- 
stattet. Eine Spaltung der inneren Membranschicht der Epidermiszellen 
in Spiral- oder Netzfasern ist bei dieser Art nicht zu beobachten; aber 
auch hier liegt unter der verschleimenden Zellschicht eine krystallführende. 
Mehr oder weniger prismatische oder verkehrt-pyramidale Früchte und 
einfache Blätter besitzen auch noch einige andere Arten, welche in dem 
trockenen Küstenland von Mossamedes bis zur Saldanha-Bay vorkommen, 
Z. orbiculatum Welw. (Mossamedes), Z. Pfeilü Engl. (Deutsch - Südwestafrika, 
Port Nolloth-Oakup), Z. cordifolium L. £. (Olifant-River bis Saldanha-Bay), 
Arten mit grolsen rundlichen sitzenden Blättern, ferner Z. paradowum 
Schinz (Angra Pequena) und Z. prismatocarpum E. Mey. (südlich vom Oranje- 
{lufs), mit verkehrt-eiförmigen bis spatelförmigen Blättern. Ähnliche Früchte, 


wie die vorigen, aber ı-paarige Blätter haben 7 andere Arten, darunter 5 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 13 


einander sehr nahe stehende mit stielrundlichen Blättern, die auf Nord- 
afrika, Arabien und Seindh beschränkt sind. Alle diese Arten wachsen 
namentlich in den Salzwüsten in gewaltigen Mengen gesellig, blühen und 
fruchten ungemein reichlich, so dafs ihre Verbreitung sehr begünstigt wird. 
Z. coceineum L. finden wir in Aegypten, Arabien und Seindh, Z. album L. 
in Cypern, Aegypten, Arabien und auf Socotra, die sehr nahe stehenden 
Z. cornutum Coss. und Z. Geslinii Coss. in Algier, Z. Webbianum Coss. in 
Marokko und auf den Canaren. Flache Blättehen haben dagegen das 
aegyptische Z. decumbens Delile und Z. cinereum Schinz in Angra Pequena. 
Sodann stelle ich vorläufig zu Agrophyllum auch noch eine Anzahl Arten 
mit breit geflügelten Fruchtfächern und ı-paarigen Blättern. Die eine 
dieser Arten, Z. dumosum Boiss., welche in Syrien und Palaestina nicht 
selten vorkommt, schliefst sich in der Ausbildung der Blättehen an die 
Artengruppe des Z. coceineum an, während 4 andere Arten, Z. Morgsana L., 
Z. Stapfii Schinz, Z. latialatum Engl. und Z. mierocarpum Lichtenst., flache 
rundliche bis lanzettliche Blättehen besitzen. 

Von den zahlreichen Arten dieser Gruppe wurden 2 nordafrikanische, 
Z. coceineum und Z. album, sowie 2 südwestafrikanische, Z. latialatum und 
Z. mierocarpum, auf ihre Samenschale hin untersucht. Bei allen 4 Arten 
ergab sich, dafs in den Zellen der äufseren Quellschicht die innere Mem- 
bran in steil aufsteigende, hier und da netzförmig verbundene Fasern zer- 
fällt; nur in einigen Fällen und zwar an noch ziemlich jungen Samen- 
schalen, bildeten die verschleimenden Zellen eine Schicht, in der man jedoch 
neben einzelnen Faserzellen auch andere ohne Fasern bemerkt. An etwas 
älteren Samenschalen sieht man von den faserlosen Zellen nichts, dagegen 
haben die Anfangs eylindrischen Zellen eine abgestutzt kreiselförmige Ge- 
stalt, nicht selten mit ringsum übergebogenem Rand angenommen, und die 
Längsfasern sind häufig am Ende umgebogen. Nicht selten ist auch die 
verschleimende Zelle am Scheitel ‚eingesenkt, so dafs sie beinahe die Form 
einer mit einem Fufs versehenen tiefen Schale erlangt. 

Eine neue Seetion von Zygophyllum, die ich Melocarpum nenne, um- 
falst bis jetzt 2 Arten des Somalilandes, Z. Robeechü Engl. und Z. Hilde- 
brandtiü Engl.; es sind dies holzige Sträucher mit einfachen flachen und 
lederartigen rundlichen oder verkehrt-eiförmigen graugrünen Blättern und 
mit kurz-eiförmigen, stumpf gelappten, melonenförmigen, wahrscheinlich 
septieiden Früchten; aufserdem weichen diese Arten von den übrigen Zygo- 


14 A. EnsLer: 


phyllen durch das Fehlen von Ligularschuppen am Grunde der Staubblätter 
ab. Reife Samen standen leider nicht zur Verfügung. 

Dieser Section entspricht im Karroogebiet des Caplandes, südlich vom 
Oranjeflufs, die Seetion Capensia Engl. mit etwa 20 halbstrauchigen, ein- 
ander meist sehr nahe stehenden, ziemlich grofsblumigen Arten, deren Staub- 
blätter am Grunde mit Ligularschuppen versehen sind. Merkwürdiger Weise 
besitzen die zahlreichen in unseren Herbarien befindlichen Exemplare dieser 
Arten nur äufserst selten Früchte; vollkommen reife fand ich nur von Z. sessili- 
Jolium L. und Z. flexuosum E. Mey.; sie sind eiförmig und 5-lappig, in jedem 
Fach mit je einem ziemlich dieken eiförmigen Samen, dessen Samenschale zu 
äufserst mit einer Schieht dicht an einander schliefsender eylindrischer und 
zuletzt verschleimender Zellen versehen ist, in denen die innerste Membran- 
schicht sich in ı oder 2 einander anliegende Spiralen spaltet, deren Windungen 
einander Anfangs genähert sind, später von einander abstehen. Interessant 
ist bei dieser Section die in so vielen Gattungen des Caplandes hervortre- 
tende weitgehende Artenbildung auf verhältnifsmäfsig kleinem Raum, welche 
durch die zahlreichen Gebirge des Landes begünstigt wird. 

Es bleiben nun noch 7 australische Arten übrig, von denen die in 
älterer Zeit bekannten von A. Jussieu zu einer besonderen Gattung Roepera 
vereinigt wurden. Es sind jedoch diese Arten in ihrer Fruchtbildung 
ziemlich heterogen, so dafs ich dieselben auf 2 Sectionen der Gattung 
Zygophyllum vertheilen zu müssen glaube. Z. fruticulosum DC. (Roepera 
‚fabagifolia A. Juss.) ist ein niedriger, sparrig verzweigter Strauch mit ein- 
paarigen Blättern und schief längliehen oder lanzettlichen Blättehen, mit 
4-theiligen Blüthen, mit Staubblättern ohne Ligula und mit nieht auf- 
springenden, breit geflügelten Früchten mit ı-samigen Fächern. Leider 
konnten reife Samen dieser Art nicht untersucht werden. Die 6 anderen 
Arten Australiens sind meist Kräuter, nur Z. apiculatum F. Muell. ist ein 
Halbstrauch; sie haben meist 4-theilige, aber auch 5-theilige Blüthen, 
theils mit Ligula versehene, theils derselben entbehrende Staubblätter, 
immer aber nicht geflügelte, loeulieid aufspringende Kapseln mit sich ab- 
lösendem Endocarp. Die Fächer enthalten meist einen, bei Z. glaucescens 
F. Muell. jedoch 2-3, manchmal auch 4-5 Samen. Höchst auffallend ist 
an vollkommen reifen Samen die Beschaffenheit der Samenschale, deren 
Oberfläche mit zahlreichen Spiralfasern von der Länge des Samendurch- 


messers besetzt ist. Diese Spiralfasern entsprechen denen des eapensi- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 15 
ge0g 90 Y g 


schen Zygophyllum sessilifolium L.., haben aber das Charakteristische, dafs sie 
nach Verschleimung der primären Membran erhalten bleiben und sich lang 
aufrollen. Zu dieser Artengruppe gehört auch Z. Billardierü DC., welches 
von A. Jussieu als Aoepera (Mem. Mus. Par. XII, 454) bezeichnet wurde 
und demnach als erste Art der Section Roepera oder richtiger Roeperia 
angesehen werden kann. 

Interessant ist bei dem Verhalten der einzelnen Sectionen zu einander, 
dafs die 3 asiatischen, Fabago, Sarcozygium und Halimiphyllum, in der Be- 
schaffenheit der Samenschale am meisten übereinstimmen, dafs die Seetion 
Agrophyllum, welehe in Nord- und Südafrika vertreten ist, Arten enthält, 
bei denen die innere Membranschicht der Samenepidermiszellen auch netz- 
faserig, aber doch wieder in anderer Art als bei den 3 erstgenannten Sectio- 
nen zerfällt, dafs dagegen die Secetionen Capensia und Roeperia in der spirali- 
gen Faserung ihrer Samenepidermiszellen übereinstimmen. Es ist zweifellos 
das Verhalten der inneren Membranschicht der Samenepidermiszellen von 
gröfster Bedeutung für die phylogenetisch -systematische Gruppirung der 
Arten von Zygophyllum, und ich bin überzeugt, dafs ich, wenn mir erst 
von mehr Arten Samen zur Untersuchung vorliegen werden, zu weiteren 
werthvollen Ergebnissen bezüglich der Gruppirung der Zygophyllum- Arten 
gelangen werde. 

An die Zygophyllinae schliefse ich jetzt auch die Gattung Augea Thunb. 
an. In den »Pflanzenfamilien« hatte ich dieselbe als Repraesentant einer selb- 
ständigen Unterfamilie angesehen, die ich Augeoideae nannte; ich that dies 
einerseits mit Rücksicht auf das aus 10 Carpellen gebildete Gynäceum und 
den eigenthümlichen Zerfall der dünnwandigen, zugleich scheidewand- und 
fachspaltigen, das Endocarp abwerfenden Frucht, anderseits, und zwar vor- 
zugsweise mit Rücksicht auf das Nährgewebe, das nach Bentham und 
Hooker’s und anderer Angabe fehlen sollte. Nachdem aber nun reife 
Früchte im Berliner Herbarium sich gefunden haben, habe ich mich davon 
überzeugt, dafs Augea eine ähnliche Beschaffenheit der Samen wie Zygo- 
phyllum, Seetion Capensia und Roeperia, besitzt. Es ist ein ziemlich dickes 
Nährgewebe vorhanden, dessen Zellmembran ebenso wie bei Zygophylhum 
sehr dick und mit Tüpfelkanälen versehen ist. Die krystallführende Zell- 
schicht der Samenschale verhält sich wie bei Zygophyllum, und von den 
Epidermiszellen bleiben nach Verschleimung der äufseren Membranschicht 
sehr dicke Spiralfasern zurück, die sich so wie bei der Section Roeperia 


16 A. EnGLER: 


aufrollen. Es findet also in dieser Beziehung ein Anschluls an («lie Section 
Capensia statt, obwohl habituell Augea etwas mehr einzelnen Arten der 
Seetion Agrophyllum ähnlich ist. 

Wenden wir uns nun nach Amerika, so finden wir dort eine gröfsere 
Anzahl strauchiger und baumartiger Gattungen der Zygophylleae, die zwar 
recht gut charakterisirt sind, aber doch unter einander in ziemlich naher 
verwandtschaftlicher Beziehung stehen, so dafs ich sie als Guajacinae zu- 
sammenfassen wollte. Ich wollte dies namentlich deshalb thun, weil einige 
der hierher gehörigen Gattungen aufserhalb der krystallführenden Zellschicht 
der Samen einige oder mehrere Schichten von im trockenen Zustande col- 
labirenden, angefeuchtet rasch aufquellenden Zellen besitzen. Von einem 
derartigen Verhalten konnte ich mich bei den Samen der Gattungen Gua- 
jacum, Porlieria, Larrea überzeugen; weitere Untersuchungen aber ergaben 
die auffallende Thatsache, dafs bei Bulnesia (untersucht wurden B. Retama 
(Gill. et Hook.) Griseb., B. Schickendantzü Hieron., B. Sarmienti Lorentz) nur 
eine einschichtige Lage von aufquellenden Zellen vorhanden ist und dafs 
die langgestreckten Zellen dieser Schicht eine ganz ausgezeichnet netz- 
faserige Structur ihrer inneren Membran aufweisen, dafs also hier ein ganz 
ähnliches Verhalten auftritt, wie bei den altweltlichen Zygophyllum- Arten. 
Am längsten bekannt sind die beiden blau blühenden Gattungen Guajacum L. 
und Porlieria L., die sich von einander nur sehr wenig durch das Ver- 
halten der Staubblätter unterscheiden, welche bei Porlieria mit Ligular- 
schuppe versehen sind, bei Guajacum derselben entbehren. Guajacum um- 
falst jetzt nur 4 Arten, welche in Centralamerika, auf der Südspitze von 
Florida, in Westindien und Venezuela zumeist an trockenen Küstenstrichen, 
aber auch im Gebirge vorkommen. Ausser den beiden bekannten, das offiei- 
nelle Guajakholz liefernden @. offieinale L. und @. sanctum L. giebt es auch 
noch 2 Arten, @. parvifolium Planch. und @. Coulteri Gray in Mexiko. Schon 
in Mexiko und Texas tritt eine Porlieria, P. angustifolia (Engelm.) A. Gray, 
auf, welche als Übergangsglied zwischen Guajacum und Porlieria angesehen 
werden kann, da die- Staubblätter nur kurze Anhängsel besitzen. Sodann 
kommt im südlichen Peru und nördlichen Chile die bekannte Porlieria hygro- 
metrica Ruiz et Pav. vor, während in den Steppen Argentiniens von den 
Anden bis Cordoba P. Lorentzü Engl. sehr häufig ist, welche sich von der 
P. hygrometrica hauptsächlich durch kleinere Früchte auszeichnet: es sind 


also die Areale der 3 Arten von Porlieria durch grolse Zwischenräume von 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer sıyst. Gliederung. 17 


einander getrennt. Sowohl bei Guajacum wie bei Porlieria besitzen die 
Früchte ein dünnes fleischiges Exocarp, das Vögel zum Genufs wohl an- 
locken und somit die weite Verbreitung beider Gattungen in Amerika be- 
wirkt haben kann. 

Diesen beiden mit blauen Blüthen versehenen Gattungen stehen mehrere 
andere fast gänzlich auf Südamerika beschränkte gelb blühende gegenüber, 
welche sich vorzugsweise durch die Früchte von einander unterscheiden. Die 
in der Provinz Atacama des nördlichen Chile vorkommende Pintoa chilensis 
(Gay zeigt in der Fruchtentwickelung ein ursprünglicheres Verhalten als die 
übrigen Gattungen, insofern nämlich die längliche Frucht dünnwandig und 
scheidewandspaltig ist; auch sind in den einzelnen Fächern einige kantige 
Samen enthalten, während bei den übrigen Gattungen dieses Verwandtschafts- 
kreises die Fächer oder Theilfrüchte einsamig sind. Leider habe ich solche 
Früchte nicht selbst untersuchen können. 

Bulnesia Gay hat breit geflügelte ı-samige Theilfrüchte, zeigt also 
Anpassung an Windverbreitung in offenen Terrains, in Steppen. Wir kennen 
7 Arten, darunter 6 in den Steppengebieten Argentiniens verbreitete, wäh- 
rend ı Art, B. arborea (Jaeq.) Engl., in den Savannen Columbiens und Vene- 
zuelas vorkommt. Dafs die Flügelfrüchte chilenischer oder argentinischer 
Bulnesien über die südamerikanischen Waldgebiete hinweg nach Columbien 
und Venezuela gelangt seien, ist nicht wahrscheinlich, vielmehr dürften die 
venezuelisch-columbische und die argentinisch-chilenischen sich gesondert 
aus einem ehemals weiter verbreiteten Typus entwickelt haben. Bei den 
argentinischen Arten macht sich eine ziemlich grofse Verschiedenheit in der 
Ausbildung der Blätter bemerkbar; besonders auffallend ist B. Retama (Gill. 
et Hook.) Griseb., da ihre 2-3-paarigen Blätter frühzeitig abfallen und 
die nun spartiumähnliche Pflanze allein mit ihren langen Stengelinternodien 
assimilirt. 

Bei den 3 Gattungen Larrea Cav., Metharme Phil. und Pleetrocarpa Gillies 
sind die Früchte ziemlich klein und mit langen diekwandigen Haaren besetzt, 
sie zerfallen bei den beiden ersten Gattungen schliefslich in 5 einsamige, nicht 
aufspringende Theilfrüchte. Dafs dieselben durch ihre Behaarung leicht an- 
haften, kann man nicht behaupten. Nun haben wir aber bei Zarrea die eigen- 
thümliche Verbreitungserscheinung, dafs L. mexicana Morie. vom Colorado- 
gebiet Californiens bis zum westlichen Texas und im trockeneren Mexiko 
verbreitet ist, während 3 andere Arten in den Sandsteppen und Salzwüsten 

Phys. Abh. 1896. Il. 3 


18 A. Ene6LeEr: 


Argentiniens von den Anden bis Cordoba in ausgedehnten Beständen auf- 
treten. Diese Arten sind sowohl von einander, wie auch von der mexikani- 
schen sehr verschieden, so dafs die Entstehung derselben sehr alten Datums 
sein und eine gröfsere Anzahl von ausgestorbenen Formen angenommen 
werden mufs, welehe sowohl morphologisch wie räumlich die jetzt lebenden 
Larrea- Arten mehr verknüpften. Metharme lanata Phil. und auch die durch 
einstachelige Theilfrüchte ausgezeichnete Plectrocarpa tetracantha Gill. stehen 
Larrea so nahe, dafs sie als frühzeitige Abzweigungen des Larrea-Typus an- 
gesehen werden können. Vergleichen wir das Auftreten der Zygophyllinae in 
der alten und in der neuen Welt, so verdient hervorgehoben zu werden, dafs 
in der alten Welt bei der Gattung Zygophyllum sich eine weitgehende Formen- 
entwickelung bemerkbar macht, die mit der dort jetzt bestehenden Ausdeh- 
nung der Steppen- und Wüstengebiete im Zusammenhang steht, dafs dagegen 
in der neuen Welt eine gröfsere Anzahl von Gattungen mit wenigen, meist 
scharf geschiedenen Arten vorkommt, welche als Reste einer ehemaligen for- 
menreicheren Entwiekelung anzusehen sind; nur Bulnesia zeigt eine gröfsere 
Reihe nahestehender Arten. 

Versuchen wir auf Grund der angeführten Thatsachen, uns eine Vor- 
stellung von der Entwiekelung der ganzen Gruppe der Zygophylleae zu machen, 
so stolsen wir zunächst auf eine grolse Schwierigkeit bezüglich ihrer Ver- 
theilung auf der östlichen und westlichen Hemisphaere. Zwar findet sich Fa- 
gonia auf beiden Hemisphaeren, jedoch sind die amerikanischen Vorkommnisse 
höchstwahrscheinlich nur Folgen von Einschleppung. Sodann bleiben uns in 
Amerika 7 Gattungen, auf der östlichen Hemisphaere 3, von denen Zygophyllum 
offenbar mit der amerikanischen Gattung Bulnesia sehr nahe verwandt ist. 
Irgend welche sichere Anhaltspunkte dafür, dafs in der während der Tertiär- 
periode den nördlichen pacifischen Ocean umgebenden ostasiatischen und west- 
amerikanischen Landmasse der Ausgangspunkt für die neuweltlichen und alt- 
weltlichen Gattungsgruppen zu suchen sei, sind nicht vorhanden. In Nord- 
amerika finden sich nur wenige Repraesentanten von 3 in Südamerika stärker 
vertretenen Gattungen, im pacifischen Ostasien fehlen die Zygophylleen ganz 
und erst in der Wüste Gobi finden wir von Osten kommend die ersten 
Vertreter von Zygophyllum. Wollte man anderseits annehmen, dafs das alt- 
weltliche Areal der Zygophylleae mit dem amerikanischen durch Afrika in Ver- 
bindung gestanden habe, so müfste man auf die Juraperiode zurückgehen, 
während welcher nach der Ansicht mehrerer Geologen der brasilianisch- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 19 


aethiopische Continent existirte. Könnte eine solche Landverbindung noch 
für die Kreideperiode angenommen werden, dann würde sehr wohl die Ent- 
wickelung der Zygophylleae in den brasilianisch -aethiopischen Continent ver- 
legt werden können. Die morphologischen und geographischen Verhältnisse 
unserer Familie sind einer solehen Annahme durchaus günstig; denn Bulnesia 
ist wegen der oben erwähnten Beschaffenheit ihrer Samenschale offenbar 
nächstverwandt mit Zygophyllum. Es ist diese eben angeführte pilanzen- 
geographische Thatsache um so beachtenswerther, weil auch bei den Sima- 
rubaceen und Burseraceen, die ich in späteren Abhandlungen zu besprechen 
gedenke, ebenfalls sehr nahe verwandte Gattungen und derselben Gattung 
angehörige Arten in Afrika und Südamerika vertreten sind. 

Jedenfalls weisen diese Übereinstimmung einer südamerikanischen Gat- 
tung mit einer altweltlichen und die scharfe Begrenzung mehrerer ameri- 
kanischen Gattungen der Zygophylleae auf ein recht hohes Alter dieser Gruppe 
hin. Befriedigender gestalten sich unsere Anschauungen von der Entwicke- 
lung der Gattungen Fagonia, Seetzenia und Zygophyllum. Die Verbreitungs- 
areale der Fagonünae convergiren in Mittelaegypten, diejenigen der Zygophyl- 
linae in Aegypten und dem westlichen Vorderasien, also in Gebieten, welche 
zwar selbst während der Kreideperiode und der Tertiärperiode grofsentheils 
vom Meer bedeckt waren, sich aber in nächster Nachbarschaft derjenigen 
Theile von Afrika und Arabien befinden, welche nie unterseeisch waren und 
im Inneren auch schon frühzeitig Steppentlora beherbergen mulfsten. 

Wie wir oben gesehen haben, stehen Miltianthus und von Zygophyllum 
die Seetionen Fabago, Sarcozygium und Halimiphyllum in nächster verwandt- 
schaftlicher Beziehung; fast das ganze Areal von Zygophyllum Fabago liegt 
auf Neuland, welches am Ende der Tertiärperiode oder nach derselben ge- 
bildet wurde, und auch die meisten anderen Arten kommen in Steppen 
vor, welche erst am Ende der 'Tertiärperiode entstanden sind, während 
vordem in denselben Gebieten insulares Klima herrschte. Dafs dieser Typus 
ehemals weiter südlich eine reichere Entwickelung gehabt hätte, ist keines- 
falls anzunehmen, da die klimatischen Verhältnisse daselbst erheblich von 
denjenigen verschieden sind, unter denen jetzt die erwähnten Zygophyllen 
gedeihen, welche gröfstentheils während des Winters Schneedeekung ver- 
langen. Das grolse Areal der Section Agrophyllum, auf unserem Kärtchen 
von einer gewellten grünen Linie umrandet, enthält die meisten Arten in 
Nordafrika und Südwestafrika, theilweise auf Terrain, welches nie vom 

3+ 


20 ASENGTLER!: 


Meer bedeckt war, theilweise auf solchem, welches seit der Kreidezeit oder 
seit der Tertiärperiode vom Meer entblöfst ist. Im nördlichen Arabien 
dürfte sich das ursprüngliche Areal dieser Section mit demjenigen der 
Section Fabago berührt haben; die klebrige Beschaffenheit angefeuchteter 
Samen ermöglichte die Verbreitung derselben über den Aequator hinweg 
nach Südafrika, und während im Norden neben Agrophyllum die Section 
Melocarpum (im Somaliland) sich abzweigte, entwickelte sich im Süden auch 
noch die Seetion Capensia. Recht schwer verständlich ist das Auftreten en- 
demischer Zygophyllum-Arten in Australien. Wie wir gesehen haben, be- 
sitzen die australischen Arten der Section Roeperia, ebenso wie die zwei 
Arten aus der Section Capensia, deren Samenschale ich bis jetzt untersuchen 
konnte, spiralfaserige Struetur der Innenwand, allerdings noch mit der 
Steigerung, dafs die Spiralfaser sich abrollt und ganz aus der Schleimhülle 
heraustritt. Es ist daher nieht unwahrscheinlich, dafs die Section Roeperia 
und wahrscheinlich auch Roeperiopsis von der Section Capensia abstammt 
oder mit dieser gleichen Ursprung hat. Die Reconstruetionen der Conti- 
nente, welche uns bis jetzt die Geologen bei ihren Darstellungen der Ver- 
breitung von Wasser und Land in der Kreide- und Tertiärperiode gegeben 
haben, lassen nicht erkennen, dafs einstmals eine Landverbindung zwischen 
Südafrika und Australien bestanden habe. Es ist aber sehr fraglich, ob 
alle die ziemlich starken verwandtschaftlichen Beziehungen, welche zwischen 
der Flora des südlichen Afrikas und derjenigen Australiens bestehen, sich 
durch transoceanische Verbreitung von Samen und Früchten erklären lassen 
werden. Im vorliegenden Fall jedoch ist die Möglichkeit gegeben, dafs 
von Südafrika aus einmal schleimige Samen eines Zygophyllum nach Austra- 
lien gelangt sind und dafs sich dann dort eine neue Gruppe mit einigen 
Arten entwickelt hat. Es hat diese Hypothese um so mehr Wahrschein- 
lichkeit, als sich in Australien auch 2 Arten von Pelargonium finden, einer 
Gattung, die bekanntlich in Südafrika ganz aufserordentlich formenreich, 
in Ostafrika mit einer geringeren Zahl von Arten auftritt. P. australe Willd. 
ist in Australien von Neu-Süd-Wales über Victoria, Tasmanien und Süd- 
Australien bis West-Australien verbreitet und steht sehr nahe dem ca- 
pensischen P. anceps Ait., welches auch für eine Varietät des daselbst 
vorkommenden P. grossularioides Ait. angesehen wird. Eine Varietät, ero- 
dioides (Hook.) Benth., die von Neu-Süd-Wales bis Tasmanien und auch in 
Neu-Seeland vorkommt, und eine auf Tristan d’Acunha wachsende Pflanze 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 21 


(P. acugnaticum 'Thouars) sind nach Bentham (Flora Austral. I. 299) von 
dem oben genannten P. anceps Ait. nicht zu trennen, so dafs also kaum 
daran zu zweifeln ist, dafs das Auftreten von Pelargonium in Australien 
auf transoceanischen Transport von Samen aus Südafrika zurückzuführen 
ist. Die zweite australische Art, P. Rodneyanum Lindl., steht einer andern 
capensischen Art, dem P. reniforme Curt., nahe; es würde also auch dieser 
Fall für transoceanischen Transport und im neuen Land erfolgte Umwand- 
lung sprechen. 


Zygophylloideae - Tribuleae. 


Die Tribuleae sind, wie aus dem Verbreitungskärtchen ersichtlich, die- 
jenige Gruppe der Familie, welche die weiteste Verbreitung erlangt hat. 
Allgemein bekannt ist die einjährige krautige Pilanze T. terrester L., welche 
namentlich in den wärmeren Ländern der östlichen Hemisphaere zwischen 
48° n.Br. und 40° s.Br. vorzugsweise auf trockenen und sandigen Plätzen, 
vielfach auch auf brachliegendem Culturland häufig beobachtet wird und 
diese weite Verbreitung den reich bestachelten, sowohl im Gefieder der 
Vögel, wie auch im Pelz der Vierfüfsler und in den Umhüllungen der 
Waarenballen leicht anhaftenden Früchten verdankt, deren zähe holzige 
Fruchtwandung um die nährgewebslosen und dünnschaligen Samen eine 
ausreichende Schutzhülle bildet. Ein wochenlanger Transport durch Vögel, 
Landthiere und Schiffe kann der Keimfähigkeit der geschützten Samen 
keinen Eintrag thun. T. terrester L. gehört zu den veränderlichsten Pflanzen 
hinsichtlich der Behaarung, der Zahl und Gröfse der Blättehen, der Grölse 
der Blumenblätter, der Bestachelung der Früchte, sowie der Zahl der Samen 
in den Theilfrüchten. Es sind demzufolge von mehreren Autoren eine grolse 
Anzahl unhaltbarer Arten aufgestellt worden, welche höchstens als Varietäten 
und Subvarietäten unterschieden werden können. Im Allgemeinen wird 
T. terrester L. in wärmeren Ländern und namentlich in den trockeneren Ge- 
bieten der Tropen grofsblumiger: diese grofsblumige Pflanze mit Blumen- 
blättern, welche 2-3 -mal so grofs sind als die Kelchblätter, ist von Linne als 
T. cistoides beschrieben, von FE. von Mueller und Oliver zuerst als Varietät 
der T. terrester hingestellt worden. . Demnach kann man zunächst unter- 
scheiden T. terrester L. var. parviflorus, die gewöhnliche Pflanze des Medi- 
terrangebietes und überhaupt der gemälsigten Zonen, welche übrigens auch 


22 A. Ensoter: 


noch mehrfach in den Tropen vorkommt, und T. terrester L. var. eistoides (1..) 
Oliv. Zu var. paroiflorus Engl. sind als Subvarietäten zu rechnen: T. bimu- 
eronatus Viv., ausgezeichnet durch am Rücken mehr abgerundete und häufig 
nur zweidornige Theilfrüchte, von Aegypten bis Afghanistan, T. orientalis 
Kerner mit 1-3-samigen, in der Mitte am Rücken fast gekielten Theil- 
früchten, in Ungarn bei Budapest, T. /anuginosus 1. mit mehr oder weniger 
diehter Behaarung der Blätter und der am Rücken etwas abgerundeten, 
stumpf’höckerigen, meist nur 2-stacheligen 'Theilfrüchte, in Beludsehistan 
und Vorderindien, bisweilen dureh etwas gröfsere Blumenblätter und Fieder- 
blättehen auch an die var. eistoides (L.) Oliv. erinnernd. Innerhalb der var. 
eistoides (1..) Oliv. sind hauptsächlich folgende Subvarietäten zu unterschei- 
den: subvar, medius Engl., abstehend behaart und mit verkehrt-eiförmigen 
Blumenblättern, die 2-2%-mal so lang sind als die Kelehblätter, von 
Somaliland bis Deutseh-Ostafrika und auf Sansibar; subvar. Zeyheri (Sond.) 
Sehinz, abstehend behaart und mit sehr grolsen verkehrt-eiförmigen Blumen- 
blättern von der dreifachen Länge der Kelehblätter, in Südwestafrika und 
Südafrika; subvar. oblongipetalus Engl., ziemlich kahl oder angedrückt be- 
haart, mit grolsen länglich- verkehrt-eiförmigen Blumenblättern, besonders 
häufig im tropischen Amerika, aber auch auf Madagascar, im tropischen 
Asien und auf den Sandwieh-Inseln. Eng schliefst sieh dureh seine grofsen 
Blätter an T. terrester L. var. Zeyheri (Sond.) Schinz T. Pechuelit OÖ. Ktze. aus 
dem Hereroland an, bei dem nur noch bisweilen an den jungen 'Theil- 
früchten Stacheln beobachtet werden, während in den meisten Fällen die 
'Theilfrüchte weder Stacheln noch starke Höcker besitzen, sondern nur 
schwach grubig sind; die früher von mir (Bot. Jahrb. X. 32) untersehie- 
denen Arten T, inermis und ereetus gehen auch in T. Peehuelii auf. Ganz 
besonders charakteristisch und wiehtig für diese Art sind aber die auf- 
rechten und auch verholzenden Stengel. Dureh diese Eigenschaft wird 
einigermalsen zu den beiden nachher zu bespreehenden in Afrika ende- 
mischen Zygophylleen- Gattungen, Aelleronia und Sisyndite, bezüglich des 
Wachsthums ein Übergang vermittelt. T. Pechuelüi O. Ktze. ist entsprechend 
der Niehtentwiekelung von Stacheln, die als llaftorgane dienen könnten, 
in seiner Verbreitung auf das Hereroland beschränkt. Eine ganz andere 
Kruchtentwiekelung als bei den bisher betrachteten Arten von Tribulus 
finden wir bei T. alatus Delile, T. pterophorus Presl., T. maeropterus Boiss. 


und 7. pterocarpus Ehrenb., deren 'Theilfrüchte jederseits mit 2 Flügeln ver- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 23 


sehen sind, die eine leichtere Verwehung derselben durch den Wind er- 
möglichen. Sowohl bei dem in Aegypten, Arabien und Seinde verbreiteten 
T. alatus Delile, wie bei dem im nordwestlichen Capland vorkommenden 
T. pterophorus Presl. (inel. T. eristatus Presl.) sehen wir an den Theilfrüchten 
jederseits an Stelle der pfriemenförmigen Stacheln breite, steife, deutlich- 
gezähnte Flügel, die nieht blofs für die Windverbreitung von Bedeutung 
sind, sondern auch mitunter das Anhängen am Pelz von Vierfüfslern oder 
im Gefieder von Vögeln gestatten. Bei T. macropterus Boiss. hingegen sind 
die Theilfrüchte fast noch breiter als bei T. alatus Del. geflügelt und mit 
mehreren Zähnen versehen; diese Art hat sich von Oberaegypten durch 
Arabien bis nach Persien verbreitet. Bei T. pterocarpus Ehrenb. endlich, 
welche in Nubien von Dongola ostwärts bis gegen Suakin vorkommt, finden 
wir breite, dünne, fast halbkreisförmige Flügel, die am Rande nur schwach 
gezähnt oder gewellt sind. Alle diese Arten besitzen auch diehte graue Be- 
haarung, die sie als Bewohner des trockenen Wüstenbodens kennzeichnet. 

Die jungen Fruchtknoten von Tribulus sind mit steifen, aufwärts ge- 
richteten Haaren besetzt, welche bei vielen Arten später ganz abfallen; 
bei 3 anderen afrikanischen Gattungen der Tribuleae, bei Kelleronia Sehinz, 
‚Neotlüderitzia Schinz und Sisyndite E. Mey. machen sich diese Fruchtknoten- 
haare ganz besonders bemerkbar. 

Bei Kelleronia Sehinz (in Bull. Herb. Boissier III. 400, t. IX) sind zu 
der Zeit, wo die Antheren noch nicht ausgestäubt haben, die Fruchtknoten- 
haare noch ziemlich kurz, nur 4-4 so lang wie die Staubfäden; wenn 
aber die Antheren sich öffnen, dann haben diese Haare die Länge der 
Staubfäden und ein Theil des entleerten Pollens liegt den Spitzen der 
Haare auf. Während bei Tribulus während der Fruchtreife die die Haare 
tragenden Hlöckerchen des Pericarps sich vergröfsern, bleiben bei Aelleronia 
diese im Wachsthum mehr zurück, die von ihnen getragenen Haare ver- 
längern sich aber dafür um so mehr. Bei der vollständigen Reife werden 


jedoch die Haare ganz abgestolsen und die nunmehr 9-10"" im Durch- 
messer haltende 5-lappige Frucht besteht aus 5 Theilfrüchten, die ebenso 
wie die gewöhnlichen Formen des Tribulus terrester mit 2-4 einsamigen 
Querfächern versehen sind. Die nahe Verwandtschaft mit Tribuhıs ist nun 
recht in die Augen springend; aber auch sonst ist dieselbe nicht zu ver- 
kennen, obwohl X. splendens Schinz ein ansehnlicher, über ı" hoher, mit 
aufrechter, in der Jugend längsfurehiger, im Alter mit mehrschichtiger 


24 A. EnGLER: 


subepidermal entstehender Korklage versehener Strauch ist, und die 3-4- 
paarigen, mit 1-2 angen und 6-12""” breiten Blättehen versehenen 
Blätter meist abwechselnd stehen. Hier und da sind die Blätter auch 


em 1 nm 


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gegenständig, wie bei Tribulus, und die Blüthen mit etwa 3°" langen hell- 
gelben Blumenblättern erinnern stark an die grofsen Blüthen von Tribulus 
Pechuelüi ©. Ktze. Kelleronia splendens wächst im inneren Somalilande an 
krautreichen Plätzen der inneren Plateaulandschaften, bei Abdallah (C. Keller), 
am Gananeflufs bei Malkao und Nogal: sie ist offenbar auch ein Xerophyt, 
aber ein Xerophyt offener Buschgehölze und die einzige strauchige Zygo- 
phyllacee der alten Welt, welche in der Gröfse ihrer Blättehen an die mit 
gröfseren Blattflächen versehenen Formen der neuen Welt, an die Bulnesia- 
Arten und beinahe auch an Guajacum sanctum herankommt. 

Während Xelleronia durch ihre quergefächerten Carpelle der Gattung 
Tribulus noch sehr nahe steht, weichen Neoluederitzia Schinz (in Bull. Herb. 
Boiss. II. 191, t. I) und Sisyndite E. Mey., die im Namaland endemisch sind, 
durch ihre einfächerigen einsamigen, bei der Reife an der Bauchnaht auf- 
springenden Carpelle von den bisher genannten Gattungen der Tribuleae 
und auch von Kallstroemia Scop. ab. Man kann die anderen Gattungen 
als Tribulinae und diese beiden als Neohuederitziinae bezeichnen. Sehinz hält 
es bei dem dürftigen und unvollkommenen Material, welches jetzt von 
Neoluederitzia vorliegt, für schwierig, derselben eine Stellung im System an- 
zuweisen und glaubt, dafs einzelne Verhältnisse auf die Chitonioideae- Seri- 
codeae hinweisen; es besteht aber jetzt für mich auch nicht der geringste 
Zweifel daran, dafs die Pflanze die nächste Verwandte von Sisyndite und 
eine Tribulee ist. Neohuederitzia ist ein über mannshoher Strauch vom Fisch- 
flufs in Grofs-Namaland und besitzt wie XKelleronia eine gelbe Korkschicht 
und abwechselnd stehende, 3-4-paarige Fiederblätter; aber dieselben sind 
hier meist noch mit einem unpaarigen Endblättchen versehen, wie es bei 
den centralamerikanischen Chitonieae die Regel ist; jedoch darf darauf für 
die systematische Stellung nicht allzuviel Werth gelegt werden, da es wahr- 
scheinlich ist, dafs das ursprüngliche Zygophyllaceenblatt unpaarig gefiedert 
gewesen ist. Wichtig ist die Haarbekleidung des heranwachsenden Frucht- 
knotens, welche sich genau so verhält wie bei Kelleronia. Was aber die 
vor den Kelehblättern stehenden 3”” langen zungenförmigen, am Grunde 
zusammenhängenden Schuppen betrifft, so können diese einerseits den 5 
birnförmigen Discuseffigurationen bei Kelleronia und den 5 vor den Kelch- 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 25 


blättern stehenden 3-spaltigen Schüppchen von Sisyndite entsprechen, oder 
aber Ligularschuppen verkümmerter Staubblätter sein. Beide Deutungen, 
von denen jetzt keine mit absoluter Sicherheit gegeben werden kann, 
sprechen nicht gegen die Zugehörigkeit von Neoluederitzia zu den Tri- 
buleae. 

Was nun die Gattung Sisyndite E. Mey. betrifft, so gewährt diese inner- 
halb der Familie durch ihren spartiumartigen Habitus, wegen dessen die ein- 
zige bekannte Species 8. spartea E. Mey. genannt wurde, einen recht fremd- 
artigen Anblick, und die Verwandtschaft mit Tribuluıs scheint zunächst nicht 
einleuchtend. Die graugrünen Zweige streben unter spitzem Winkel nach 
oben, und erst bei genauer Betrachtung erkennt man, dafs nicht kleine, auf 
ein geringes Mafs redueirte, sondern sogar ziemlich hoch entwickelte Blätter 
vorhanden sind. Es sind Fiederblätter da wie bei Tribuhıs, und zwar haben 
dieselben eine bedeutende Länge, bis zu 1""; aber von dem Blatt ist vorzugs- 
weise die stielrunde stengelähnliche Rhachis entwickelt, an welcher Paare 
sehr kleiner Blättehen in grofser Entfernung von einander stehen. Die Blü- 
then erinnern an die von Äelleronia, und zur Zeit der Fruchtentwiekelung ist 
der Fruchtknoten von langen Haaren dicht bedeckt, wie bei Neolaederitzia; 
die Frucht besteht wie bei dieser Gattung aus 5 an ihrer Bauchnaht sich öff- 
nenden einsamigen Theilfrüchten. Es sei hier darauf hingewiesen, dafs auf 
der westlichen Hemisphaere in den trockenen Gebieten Argentiniens eine 
Zygophyllacee von etwas ähnlichem Habitus wie Sisyndite spartea zur Ent- 
wickelung gekommen ist; es ist dies Bulnesia Retama (Gill. et Hook) Griseh. 

Es bleibt nun noch die Gattung Kallstroemia Scop. übrig, welche der 
Gattung Tribulus näher steht, als alle anderen bisher angeführten und auch 
von vielen Autoren mit der letzteren vereinigt wird. Da aber hier, soweit 
ich eonstatiren konnte', die Theilfrüchte, wenn sie reif abfallen, ein Mittel- 
säulchen mit dem ganzen Griffel zurücklassen, so halte ich es für zweck- 
mälsig, die Trennung beider Gattungen aufrecht zu erhalten. Da ich nicht 
alle australischen Arten und namentlich nicht im Fruchtzustande gesehen 
habe, da ferner die vorhandenen Beschreibungen der australischen Arten 
recht kümmerliche sind, namentlich nicht das für die Gattung entscheidende 
Verhalten des Griffels bei der Fruchtreife berücksichtigen, so vermag ich 
vorläufig nicht zu entscheiden, ob aufser dem Tribulus terrester auch noch 


‘ Von den australischen Arten der Gattung habe ich leider nur 3 zu sehen bekommen. 


Phys. Abh. 1896. II, 4 


26 A. EnsteEr: 


andere der bisher als Tribrelus angesehenen Zygophyllaceen Australiens dahin 
oder zu Aallstroemia gehören. T. ranuneuliflorus F. Muell., T. hystrix R. Br., 
T, maerocarpus F. Muell., T, astrocarpus F. Muell. dürften vielleicht noch echte 
Tribulus sein, zumal die erste Art, bei weleher auch noch 2-samige gefächerte 
rüchte vorkommen. Auch bei den beiden strauehigen Arten T. platypterus 
Benth. und T. Airsutus Benth., welehe ich in meiner Bearbeitung der Zygophyl- 
Jaceae in eine Seetion von Kallstroemia, Thamnozygium vereinigt habe, konnte 
ich über das Verhalten bei der Fruchtreife keinen Aufschlufs erhalten. Da- 
gegen stimmen T. pentandrus Benth., T. bieolor F. Muell., T. Solandri F. Muell., 
T. minutus Leiehhardt mit den amerikanischen Kallstroemia bezüglich des 
(riffels überein, und es sind daher diese Arten ganz sicher als Kallstroemia 
zu bezeichnen. Es ist wahrscheinlich, dafs in Australien die Abzweigung 
der Kallstroemia von Tribulus aufgetreten ist, da T. rammeuliflorus F. Muell. 
oder Kallstroemia ranumeuliflora (F. Muell.) mitunter noch quergefächerte Theil- 
früchte erzeugt, bei den amerikanischen Arten aber solche nie beobachtet 
werden. Von den beiden amerikanischen Kallstroemia, welche meistens ein 
10-carpelläres Gynäceum besitzen, ist A. triübwloides (Mart.) Wight et Arn. 
auf das andine Argentinien und Brasilien beschränkt, während die andere, 
(dureh kleinere Blüthen ausgezeichnete A. maxima (1..) Torr. et Gray von den 
bolivianischen Anden nordwärts durch Centralamerika und Westindien bis 
in die südlichen vereinigten Staaten verbreitet ist. Da die Theilfrüchte von 
Kallstroemia sieh ziemlich ähnlich, wie die Theilfrüchte einer Malva verhalten, 
so ist wahrscheinlich, dafs ihre Verbreitung in ähnlicher Weise leicht erfolgt 
wie die von Malva rotundifolia I. und ihren Verwandten. Bei der ausge- 
(lehnten Verbreitung der Tribuleae mufs man über ihr Entstehungsgebiet auch 
im Zweifel sein; aber es giebt doch einige Anhaltspunkte dafür, die es uns 
wahrscheinlich erscheinen lassen, «dals dasselbe in Afrika gelegen sei. In 
ganz Kuropa und Asien, wo Tröbulus terrester sich in allen wärmeren Steppen- 
gebieten verbreitet hat, ist keine ausgesprochen endemische Form vorhanden, 
(dagegen finden wir in Nordafrika den gewöhnlichen T. terrester L. und die 
ihm zunächst stehenden Varietäten Zeyheri und eistoides, welche letztere in 
den wärmeren Ländern, auch in Australien und Amerika, sich Terrain erobert 
hat, dank der für die Verbreitung vortheilhaften Stachelentwickelung an den 
Früchten; wir finden dann ferner sowohl im Nilgebiet und seinen Nachbar- 
gebieten, wie in Südwestafrika, andere ausgezeichnete Arten von Tribulus, 
sodann im Somaliland die endemische Gattung Xelleronia, in Südostafrika 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 27 


die Gattungen Sisyndite und Neoluederitzia, die letzteren beiden mit so anderer 
Fruchtentwickelung als bei Tribulus und Kelleronia, dals für sie eine schon 
frühzeitige Absonderung vom Tribulus-Typus angenommen werden mufs. Was 
nun das Vorkommen von Tribulus in Australien betrifft, so liegt darin nichts 
Auffälliges, da die Verbreitung dorthin sowohl von Asien her, wie von Afrika 
aus, erfolgen konnte. Wie schon oben angedeutet wurde, ist dann wahr- 
scheinlich in Nordaustralien die Gattung KAallstroemia entstanden, welche 
nieht blofs in Australien sich weiter ausbreitete, sondern auch nach Süd- 
amerika gelangte, wo 2 Arten sich ein weites Gebiet eroberten. 

Es bleiben nun noch einige von den Zygophylloideae mehr oder weniger 
erheblich abweichende Unterfamilien übrig, die zum Theil monotypisch sind. 


Chitonioideae. 


Die Chitonioideae mit den Gattungen Chitonia Moe. et Sesse., Viscainoa 
Greene und Sericodes A.Gray weichen von dem gewöhnlichen Zygophyllaceen- 
Typus dadurch ab, dafs die Blätter abwechselnd und entweder länglich un- 
getheilt (Viscainoa, Sericodes) oder unpaarig gefiedert (Chitonia) sind. An die 
Zygophyllaceae werden wir aber durch die scheidewandspaltigen Kapseln 
aller 3 Arten und dadurch erinnert. dafs bei Sericodes die Kelchstaubblätter 
mit tief 2-spaltigem Anhängsel versehen sind. Bei allen 3 Gattungen be- 
sitzen die Samen Nährgewebe: es nähert sich diese Unterfamilie dadureh 
den Zygophylloideae- Zygophylleae; aber jedenfalls stellt sie einen ganz selb- 
ständigen centralamerikanischen Zweig der Familie dar, wie etwa bei den 


Rutaceen die tropisch amerikanischen Dietyolomoideae und Spathelioideae. 


Peganoideae. 


Die bekannte Gattung Peganum L. weicht von den echten Zygophylloi- 
deae sehr erheblich ab, so dafs viele Autoren sie zu den Rutaceen neben 
Ruta gestellt haben. Jedoch ist auch zu keiner Gattung dieser Familie 
eine engere Verwandtschaft nachzuweisen, selbst dann nicht, wenn man 
auf das bei den Rutaceen nun allgemein als wesentlich anerkannte Merkmal 
(ler Iysigenen Drüsen, die eben bei Peganum fehlen, weniger Werth legen 
wollte. Die unregelmäfsig zerschlitzten Blätter besitzen am Grunde kleine 

4* 


28 A. EngLer: 


borstenähnliche Stipem und zeigen nur dadurch eine kleine Übereinstim- 
mung mit den Blättern der Zygophylloideae. Dafls die Staubblätter keine 
Anhängsel besitzen, ist nicht so wichtig, da solche auch mehrfach bei 
Zygophyllum fehlen; auffallender ist, dafs nicht selten 15 Staubblätter an- 
statt 10 vorkommen, jedoch begegnet uns dieses Verhalten auch wieder 
bei Nitraria. Ganz besonders abweichend von dem Verhalten der übrigen 
Zuygophyllaceae ist aber der Umstand, dafs in dem Fruchtknoten an den 
Placenten zahlreiche Samenanlagen mit sehr kurzem Funiculus ansitzen und 
radienförmig ausstrahlen, während sonst die Samenanlagen an längerem Funi- 
culus von der centralwinkelständigen Placenta herunterhängen. Dagegen 
erinnern die langen, am Griffel herunterlaufenden Narbenleisten entfernt an 
die Narben der Tribuleae. Aus alledem geht hervor, dafs Peganum inner- 
halb der Zygophyllaceen eine isolirte Stellung einnimmt und in derselben 
nur als Repraesentant einer eigenen Unterfamilie, der Peganoideae, geführt 
werden kann. Von den 4 Arten der Gattung besitzt die weiteste Verbrei- 
tung das bekannte Peganum Harmala L., von Marokko bis nach dem nord- 
westlichen Indien und der Songarei, nordwärts bis Budapest und Sarepta, 
wobei jedoch zu beachten ist, dafs erst von den östlichen Theilen der 
Balkanhalbinsel bis nach der Songarei ein geschlosseneres Areal vorhanden 
ist, während weiter westlich die Pflanze nur an sehr entfernten Localitäten 
vorkommt, im südöstlichen Steppengebiet Spaniens, in Unteritalien bei Po- 
tenza und bei Budapest. Im östlichen Asien, in der östlichen und süd- 
lichen Mongolei tritt dann das mit P. Harmala L. sehr nahe verwandte 
P. Nigellastrum Bunge auf und im nördlichen Mexiko das mit der chine- 
sisch-mongolischen Art sehr nahe verwandte P. mewicanum A.Gray. Diese 
disjunete Verbreitung dreier einander nahe stehenden Arten entspricht der 
Verbreitung von Pistacia und von Cereis und ist wahrscheinlich darauf zurück- 
zuführen, dafs in früheren Perioden die Gattung Peganum weiter nördlich 
verbreitet war und bei der Wanderung nach Süden sich in den drei ge- 
nannten Steppengebieten erhielt. P. erithmifolium Eichwald, vorzugsweise 
ausgezeichnet durch 2-fächerige Beerenfrüchte, ist eine auf das östliche 
Gestade des Kaspischen Meeres beschränkte Art, die Fischer und Meyer 
zur Aufstellung der Gattung Malacocarpus Veranlassung gab, aber natur- 
gemäls nur eine Seetion bilden kann; sie ist offenbar unter dem Eintluls 
eines sehr salzreichen Bodens und wahrscheinlich erst in jüngerer Zeit 


entstanden. 


Die geogr. Verbreit. d. Zygoplnyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 2% 


Tetradiclidoideae. 


Eine andere, von Bentham und Hooker (Genera pl. I. 288) zu den 
Rutaceen, aber schon von Ehrenberg (Linnaea IV. 403) mit Recht zu 
den Zygophyllaceen, später von Bunge (Linnaea XIV. 177) zu den Crassu- 
laceen gestellte Gattung ist Tetradielis Stev., ein höchst eigenartiges ein- 
jähriges, suceulentes Pflänzchen, unten mit gegenständigen, weiter oben 
mit abwechselnden Stengelblättern, von denen die unteren fiedersehnittig, 
die oberen fiederschnittig oder zerschlitzt sind, und mit sehr zahlreichen, 
kleinen, in Wiekeln stehenden haplostemonen, vollkommen isomeren Blüthen, 
deren tief gelapptes Gynäceum sich bei der Fruchtreife in höchst eigen- 
artiger Weise verhält, anderseits aber doch auch an andere Zygophyllaceen 
erinnert. Der centrale Griffel entspringt am Grunde der Carpelle, wie es 
bei Simarubaceen häufiger vorkommt, und besitzt am Ende 3-4 linealische 
herunterlaufende Narben, wie bei den Tribuleae. Die Samenanlagen sind 
länglich und mit langem Funieulus versehen, sind aber in jedem Carpell 
an eine frei aufsteigende Placenta befestigt; zu dieser Eigenthümlichkeit 
kommt noch die andere, dafs jedes Carpell durch Ausbuchtung der Seiten- 
wände in 3 communieirende Kammern getheilt wird und dafs die mittlere 
Kammer die frei aufsteigende Placenta mit 4 Samenanlagen, jede seitliche 
Kammer nur ı Samenanlage einschliefst. So complieirt dieses Verhalten 
ist, so erinnert es doch an die bei Tribulus und Kelleronia vorkommende 
Querfächerung der Carpelle.. Bei der Reife springt jedes Carpell nach 
innen fachspaltig auf, und zugleich löst sich das Epicarp von den Scheide- 
wänden ab, welche sich erst später spalten. So werden nun die beiden 
Epicarptheile jedes Carpells, welche je einen Samen einschliefsen, frei und 
herausgeworfen, während die 4 (durch Abort bisweilen weniger) Samen 
des Mittelfaches zunächst an der aufsteigenden Placenta hängen bleiben, 
dann aber von derselben abfallen. Die Samen der Seitenkammern sind 
nun jeder von einer Endocarphälfte eines Faches eingeschlossen, der auf der 
convexen Seite noch Reste des Mesocarpes anhängen, sie sind demzufolge 
mit einer Hülle versehen, die dem Wind eine genügende Angriffsfläche 
darbietet und die Verbreitung eines Theiles der produeirten Samen durch 
den Wind ermöglicht, während die im Mittelfach entwickelten und dann 
herausfallenden Samen meist am Platze der Mutterpflanze bleiben. Das 


interessante Pflänzchen wächst herdenweise auf im Frühjahr feuchtem 


30 A. EneLEr: 


Bittersalzboden der Wüsten und Steppen Unteraegyptens, Vorderasiens und 
Centralasiens; wie aus unserem Kärtchen zu ersehen, sind die jetzt be- 
kannten Fundstätten ziemlich getrennt; aber die Pflanze, welche in einem 
Monat ihre ganze Entwickelung von der Keimung bis zur Samenreife be- 
endet, dürfte auch noch an mancher anderen Stelle zwischen den bekannten 
Fundstätten existiren. Eine Ähnlichkeit mit den Zygophylloideae tritt na- 
mentlich bei den mit langem Funieulus versehenen Samenanlagen und bei 
der Keimung hervor, wo die ersten Blätter noch gegenständig sind. Durch 
den complieirten Bau des Gynäceums erscheint Tetradielis morphologisch 
mehr vorgeschritten gegenüber Zygophyllum; an eine direete Abstammung 
vom Zygophyllum-Typus, wie etwa bei Augea, ist aber nicht zu denken, 
denn einmal ist die Haplostemonie der Blüthe sehr auffällig und dann be- 
sitzt die Samenschale keine krystallführende Zellschicht, wie sie bei den 
altweltlichen Zygophylleae vegelmäfsig vorkommt; auch ist die Samenepi- 
dermis anders beschaffen, als bei Fagonia und Zygophyllum, indem dieselbe 
hier aus papillenartigen, bienenkorbähnlichen, in eine kurze Spitze endenden 
und nur wenig verschleimenden Zellen gebildet ist, so dafs nicht an 
eine direete Abstammung von Zygophyllum, sondern an eine solche von 
einem älteren ausgestorbenen Zygophylleen-Typus zu denken ist, bei welchem 
auch in den Carpellen mehrere Samenanlagen eingeschlossen waren. Dals 
Tetradielis auch im Süden des tertiären Mittelmeeres entstanden ist, ist wolıl 
kaum zu bezweifeln. 


Nitrarioideae. 


Während bei den bisher besprochenen Gruppen das Gynäceum und 
die Frucht mehr oder weniger gelappt ist, finden wir bei den beiden letzten 
monotypischen Gruppen, den Nitrarioideae und Balanitoideae ein vollkom- 
men syncarpes ungelapptes Gynäceum und Steinfrüchte. Bei den Nitrari- 
oideae mit der Gattung Nitraria L. treten die augenfälligen habituellen Zygo- 
phyllaceenmerkmale nur sehr schwach hervor. Die dünnen holzigen Zweige 
erinnern durch ihre dünne graue Rinde an die Zweige von Zygophyllum Seect. 
Sarcozygium und Halimiphyllum; aber die Blätter stehen in Kurztrieben, 
welche auf theils verdornenden, theils in einen Blüthenstand endigenden 
Langtrieben spiralig angeordnet sind; an den Kurztrieben stehen 2-3 keil- 
förmige ungestielte Blätter in einem Büschel, und jedes der Blätter ist mit 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 31 


2 kleinen Nebenblättern versehen: es erinnern also die einzelnen Blätter 
etwas an die Blätter des Zygophyllum atriplieoides Fisch. et Mey. In den 
Blüthen ist, wie schon oben bei Peganum hervorgehoben wurde, das Andrö- 
ceum häufig aus einem 10- und einem 5-gliedrigen Kreise gebildet. Der 
synearpe längliche Fruchtknoten geht allmählich in einen kegelförmigen 
Griffel über, der mit 3 herunterlaufenden Narben versehen ist, wie wir sie 
bei den Tribuleae fanden. Auch die sehr längliche und an fadenförmigem 
Funieulus hängende Samenanlage ist denen der meisten Zygophyllaceen nicht 
unähnlich. Während wir aber bei allen anderen Zygophyllaceen eine gleich- 
mälsige Samenentwickelung in allen Fächern eines Gynäceums wahrnahmen, 
kommt in jeder Frucht von Nitraria nur ein einziger Same zur Reife. Die 
Fruchtwandung sondert sich in ein steinhartes, unten grubiges Endocarp, 
ein dünnfleischiges Mesocarp und ein dünnes gelbes oder rothes Epicarp. 
Nach den Angaben von Maximowiez (Enumeratio plantarum hucusque in 
Mongolia nee non adjacente parte Turkestaniae sinensis leetarum, Fase. 1. 
(1889) p.ı22) sind bei der asiatischen N. Schoberi L. Gröfse, Gestalt und 
Farbe der Frucht sehr veränderlich; im Allgemeinen hat die in den kas- 
pischen Steppen vorkommende Pflanze (var. caspia Pall.) länger zugespitzte 
Früchte, die songarische und westmongolische weniger zugespitzte, die bai- 
kalische und ostmongolische (var. sibirica Pall.) kleinere eiförmige schwarze 
oder bläuliche und wenig zugespitzte Früchte; auch soll die kleinfrüchtige 
ostmongolische Pflanze nur 1-2 Fufs hoch, die grofsfrüchtige westliche 
bis 5 Fufs, die südliche bis S Fufs hoch werden; doch kann die klein- 
früchtige Pflanze je nach dem Boden auch kräftiger werden. Auch hat 
Maximowicz von Ordos am Hoang-ho eine grofse Anzahl verschiedener 
Früchte von Nitraria Schoberi erhalten, unter denen er 3 Formen zu unter- 
scheiden vermochte, eine zur var. caspia gehörige lange mit reichlichem 
Fruchtfleisch, und 7 kleinfrüchtige schwarze, zur var. sibirica gehörige, davon 
die eine mit wenig, die andere mit reichlichem Fruchtfleisch. Von den 
Chinesen sollen jedoch, wahrscheinlich nach dem Geschmack der Früchte, 
noch mehr Varietäten unterschieden werden. Aus alledem geht hervor, dafs 
N. Schoberi sich im Stadium einer reichen Formenbildung befindet. Auch 
kommen nach Maximowiez (Flora tangutica p. 102) Formen mit Blüthen 
vor, welche zur Eingeschlechtlichkeit neigen. Bei der geringen Anzahl 
saftiger Früchte in den Wüsten- und Steppengebieten Centralasiens ist es 
nicht zu verwundern, dafs Menschen, Quadrupeden und Vögel den salzig- 


32 A. EnGLER: 


süfslich, bisweilen auch angenehm süfs schmeekenden Früchten der N. Schoberi 
nachstellen; nach den Angaben von Przewalski (in Maximowiez, Flora 
tangutica p.102) sollen sogar alljährlich im Herbst die Bären von Tibet 
nach Tsaidam kommen und sich an Nitraria-Früchten deleetiren. Alles dies 
erklärt leicht die grofse Verbreitung der Nitraria Schoberi in den Steppen 
und Wüsten Asiens. Da aber centralasiatische Zugvögel im Winter bis nach 
Australien vordringen und der in dem Endocarp eingeschlossene Same hin- 
länglich geschützt ist, so erklärt sich die eigenthümliche Thatsache, dafs 
N. Schoberi L. auch im südlichen und westlichen Australien vorkommt; es 
wurde diese australische Pflanze, welche ebenfalls mit gelben, rothen und 
dunkelbraunrothen Früchten varürt, früher als eigene Species N. Labillardieri 
DC. angesehen; aber gegenwärtig kann die australische Pflanze nicht einmal 
als Varietät von der asiatischen abgetrennt werden. Hingegen hat Maxi- 
mowiez (Enum. plant. hucusque in Mongolia ete. p.ı22) eine im südlichen 
Theil der Wüste Gobi und südlich von Hami vorkommende Pflanze N. sphae- 
rocarpa Maxim. der N. Schoberi L. als Species gegenübergestellt, weil die 
Steinfrüchte kugelig sind und einen mit tiefen Löchern versehenen Steinkern 
besitzen. Den beiden genannten und nahe verwandten Arten steht eine 
dritte, N. retusa (Forsk.) Aschers. gegenüber, welche in den Salzwüsten Palae- 
stinas, Nordarabiens, Algiers und Senegambiens bis 2" hohe, dichte Büsche 
bildet. Es ist diese Art von N. Schoberi L. durchaus verschieden durch die 
breiteren, keilförmigen, bisweilen gestielten Blätter und die häufig abfallen- 
den Nebenblätter; ihre Früchte werden ebenso wie die der centralasiatischen 
Art gewonnen, und das zerstreute Vorkommen der Pflanze in den Wüsten 
des eisaequatorialen Afrikas weist auch auf eine Verbreitung durch Vögel 
und andere Thiere hin; offenbar besitzt aber diese Art ein gröfseres Wärme- 
bedürfnifs als N. Schoberi ‚ da sie sich nicht weiter nach Asien verbreitet hat. 
Da N. retusa von Senegambien bis Syrien verbreitet ist und sehr bald östlich - 
von diesem Areal das Gebiet der N. Schoberi anschliefst, letztere auch vor- 
zugsweise auf jungem Land vorkommt, das in der Tertiärperiode vom Meer 
bedeckt war, so ist auch für die Gattung Nitraria mit ziemlicher Wahr- 
scheinliehkeit anzunehmen, dafs sie im nordöstlichen Afrika entstanden ist. 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 33 


Balanitoideae. 


Die Gattung Balanites Delile, welche auf Ximenia aegyptiaca L. gegründet 
wurde und nur eine von Afrika bis Ostindien und Burma verbreitete Art, 
B. aegyptiaca (L.) Delile, umfafst, wurde von de Candolle 1324 im ersten 
Bande des Prodromus (p.708) ganz richtig zu den Zygophyllaceen gestellt, 
von Endlicher (Gen. pl. 1043 n. 5498) als eine den Olacaceen nahe ste- 
hende Gattung bezeichnet, von Planchon (Ann. sc. nat. 4. ser. II. 249) 
zu den Meliaceen gestellt, von Bentham und Hooker (Gen. I. 315) zu 
den Simarubaceen gebracht. Letztere Autoren geben an: »Folia bijuga, 
epunctata, stigmata simplieia et flores hermaphroditi Zygophylleis accedunt, 
a quibus Balanites differt foliis alternis, staminibus esquamatis, ovulis soli- 
tariis fructuque drupaceo«. Nun kommen aber abwechselnde Blätter, wie 
wir sehen, mehrfach bei den Zygophyllaceen vor, bei einzelnen Tribuleae, 
bei den Chitonioideae, Peganoideae und Nitrarioideae; ferner sind Staubblätter 
ohne Anhängsel auch nicht selten, selbst innerhalb der Gattung Zygophyllum, 
endlich kommen einzelne Samenanlagen in den Fächern der Frucht mehr- 
fach vor, bei mehreren Zygophyllum, bei Kallstroemia, Sisyndite, Neoluederitzia, 
Sericodes, Nitraria. Dafs von den ursprünglich vorhandenen Samenanlagen 
nur eine zu Samen wird, ist ebenfalls bei Nitraria der Fall. Also können 
diese Merkmale von Balanites keinen Grund bieten, die Gattung von den 
Zygophyllaceen auszuschliefsen; auffallend könnte nur der dicke, ringförmige, 
die Basis des Fruchtknotens umgebende Discus sein. Endlich ist auch noch 
zu berücksichtigen, dafs an jungen Zweigen zu beiden Seiten der Blattstiele 
kleine, sehr bald abfallende Nebenblätter vorhanden sind. Es ist also Bala- 
nites zweifellos eine Zygophyllacee, aber ebenso wie Nitraria ohne engeren 
Anschlufs an irgend eine andere Gattung. Die Fruchtentwickelung findet 
in ähnlicher Weise wie bei Nitraria statt; aber es kommt hier zur Aus- 
bildung einer recht grofsen (3-4°" langen) gelblichen Steinfrucht mit flei- 
schigem, öligem Sarcocarp und sehr dickem, schwach 5-kantigem, knochen- 
hartem, ı-fächerigem Steinkern. Wie bei Nitraria, ist auch hier der Same 
ohne Nährgewebe. Die Verbreitung der Früchte erfolgt wohl weniger durch 
Vögel als durch Vierfüfsler und Menschen; letztere genielsen in Afrika 
vielfach die süfsen Früchte, auch wird aus ihnen von den Negern Liqueur 
bereitet. Auf unserem Verbreitungskärtchen erscheinen die bekannten Fund- 
orte von einander sehr entfernt, aber es ist wohl anzunehmen, dafs Bala- 

Phys. Abh. 1896. II. 5 


34 A. Enster: 


nites in Nordafrika noch häufiger vorkommt und ebenso in Arabien. Die 
ostindische Pflanze, welche sich durch behaarte Blumenblätter auszeichnet, 
hat Planchon als eigene Art B. Roxburghiü beschrieben; aber sie kann 
wegen dieses geringfügigen Merkmals doch nur als Varietät angesehen werden. 
Auch für Balanites ist ebenso wie für Nitraria das nordöstliche Afrika als 
Heimat anzunehmen. 


Unter Berücksichtigung der in dieser Abhandlung hervorgehobenen 
morphologischen und geographischen Thatsachen dürfte das phylogenetisch- 


systematische System am besten folgendermafsen zum Ausdruck kommen. 


A. Frucht fach- oder scheidewandspaltige, oder zugleich fach- und scheidewandspaltig sich 
öffnende Kapsel, oder in 1—mehrsamige geschlossene Theilfrüchte (Coccen) zerfallend, 
selten beerenartig. 

a, Blätter alle abwechselnd, vielspaltig. Frucht kugelig, mit mehrsamigen Fächern, fach- 
spaltige Kapsel oder beerenartig . » » » cv... | Peganoideae 
ı,. Peganum 1. 


b. Blätter alle abwechselnd, einfach oder unpaarig gefiedert 11. OAdtonioideae 
a, Blätter entlernt stehend. Frucht eine scheidewand- 
spaltige Kapsel”. und 1. Chitonieae 


2. Chitonia Mog. et Sesse, 3. Sericodes A.Gray. 


ß. Blätter in Kurztrieben. Frucht in einsamige 'Theil- 
tniichte, zeriallende. nn 2. Sericodeae 
4. Sericodes A. Gray. 


e. Die untersten Blätter gegenständig, die oberen wechselstän- 
dig. Blüthen haplostemon. Jedes Fach des tief 3—4-lap- 
pigen Fruchtknotens durch Ausbuchtung der Seitenwände 
mit 3 kleinen communieirenden Kammern, mit einer keulen- 
förmigen, in der mittleren Kammer aufsteigenden Placenta, 
von welcher je 4 Samenanlagen in die mittlere Kammer, 
je ı in die seitliche Kammer herabhängen. Nährgewebe 
ziemlich dünnwandig. » 2 2 2 2 2220202. . 1. Teiradiclidoideae 
5. Tetradiclis Stev. 
d. Blätter alle gegenständig oder bisweilen oberwärts am 
Stengel wechselständig, einfach oder gedreit oder (meist 
paarig) gefiedert nn... 1V. Zygophylloideae 
a. Samen mit Nährgewebe, dasselbe diekwandig, nur 
bei Seetzenia schwach entwickelt . : x x 2 0. 1. Zygophylleae 
l. Kräuter oder niedrige Sträucher mit gedreiten, 
oder in Folge von Verkümmerung der Seiten- 
blättchen nur ein Blättchen tragenden Blättern . ra Fayoniinae 
6. Fagonia lourn., 7. Seetzenia R. Br. 


Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen im Verh. zu ihrer syst. Gliederung. 35 


II. Kräuter oder Sträucher mit ungetheilten oder 

paarig gefiederten Blättern Reh, ıb Zygophyllinae 
8. Zygophyllum L., 9. Miltianthus Bunge, 
10. Augea Vhunb., ı 1. Guajacum L., ı2. Por- 
lieria Ruiz et Pav., 13. Pintoa Gay, 14. Bul- 
nesia Gay, 15. Plectrocarpa Gillies, 16. Larrea 
Cav., 17. Metharme Phil. 


ß. Samen ohne Nährgewebe, Blätter bisweilen wechsel- 


n 


nen u nd . Tribuleae 


I. 5 Theilfrüchte, vom Mittelsäulchen sich ablösend, 
ı-samig, an der Bauchnaht aufspringend . . 2a Neoluederitziinae 
18. Neoluederitzia Schinz, 19. Sisyndite E. Mey. 


Il. 5 oder ro’T'heilfrüchte, 1-mehrsamig, geschlossen 2b Tribulinae 
20. Kelleronia Schinz, 21. Tribulus Tourn., 
22. Kallstroemia Scop. 


B. Frucht steinfruchtartig, mit harten einsamigen Steinkernen. 
Blätter abwechselnd. Sträucher. 
a. Blätter ı-paarig . . 


ie oh V., Balanitoideae 
23. Balanites Delile. 


b.- Blätter ungetheilt . . . 2 2 2.2. 20202020202. VI Nötrarioideae 
24. Nitraria L. 


Ihrer Stellung nach noch durchaus zweifelhaft: Tetraena Maxim. 


Durch diese Art der Anordnung werden die von den typischen Zygo- 
phyllaceen am meisten abstehenden Gruppen an den Anfang gestellt; die 
typischen Gruppen kommen in die Mitte, und am Ende haben die beiden 
Gruppen ihren Platz gefunden, welche zwar unzweifelhaft auch den Zygo- 
phyllaceen zugehören, aber innerhalb der Familie etwas isolirt stehen. 

Die genaue Verfolgung der Verbreitung der einzelnen Gruppen der 
Zygophyllaceen hat also im Wesentlichen zu dem Resultat geführt, dals für 
die altweltlichen Zygophylloideae (Zygophylleae- Fagoniinae und Zygophyllinae 
zum Theil), für die Tribwleae und Augeeae, desgleichen für die Tetradiclidoi- 
deae, Nitrarioideae und Balanitoideae das erste Entwickelungsgebiet im nord- 
östlichen Afrika und Arabien zu suchen ist und dafs von da aus die weitere 
Verbreitung einzelner Typen nach Norden hin erst nach der Bildung der 
west- und centralasiatischen Steppen erfolgte, dafs auch die Besiedelung 
australischer Steppen durch Zygophyllaceen von dem afrikanischen Üonti- 


nent ausging. Trotzdem diese Zygophyllaceen zum Theil nach ihren morpho- 


36 A. Eneuer: Die geogr. Verbreit. d. Zygophyllaceen u. s. w. 


logischen Merkmalen, namentlich hinsichtlich ihrer Fruchtbildung sehr aus 
einander gehen, so kann doch über ihre Zusammengehörigkeit zu einer 
Kamilie kein Zweifel bestehen; ebenso sicher ist, dafs die genannten Gruppen 
schon existirten, bevor die Gattung Zygophyllum ihre heutige Formenent- 
wiekelung in Asien erlangte, also wahrscheinlich in der Tertiärperiode. 
Da nun die genannten altweltlichen Gruppen der Zygophyllaceen alle in 
Afrika entstanden sein müssen, so ist es wahrscheinlich, dafs die ameri- 
kanischen Zygophyllinae einstmals, als noch das heutige Südamerika und 
Afrika zusammenhingen, mit den afrikanischen Zygophylleae in engerer Be- 
ziehung gestanden haben. Ganz besonders spricht hierfür das Verhalten 
der Samenepidermis von BDulnesia. Die Peganoideae und Chitonioideae stehen 
nur in entfernter verwandtschaftlicher Beziehung zu den übrigen Zygophyl- 
loideae und dürften schon neben diesen existirt haben, als die eigentlichen 


Zygophylloideae sich weiter spalteten. 


K.Preuss, Akad, d.Wissensch. 


Zygophylloideae 
| N 


Tribuleae-Tribulinae 


N 


= © 
© Kallstroemia Soop 
Ject. 273 
Spee. 2 amerisanar 
marima (Jh) Torw et Gra 


tribuloidos (Mare) Mh ‚N 


10) Gugjacum L.(+) 
X Porlieria RP (3) 
© Pintoa Gay (v 


Pindha „fr 


Porlieria N 


W Buinenia Gay (” 
X Metharme Pkit.(v 
0 Plectrocarpa cu) 


Larrea Car (w 
Chitonioideae 


Sertcodes A. 67 (nv > ers 
Viscainoa Greene (pi oe 
Chitonia Moc-ct Scss 


#pterophorus Presl 


a mucropterus Boiss. s. ptero 


Iygophyl lleae - ae 


Asimplex Z | va 
alvae species (17) Rn 4, 
Sect. Capensia Engl. [a \ 


1a ‚Ayropkrllum ech 


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ABl Fa Gonlinne 


* Fagonia Tourn. 
" Seetzenia R.Br 


? ds m Bge : 


Piys Abh. 1896. 


vw Kelleronia Scunz (1) 


Kal VER slip 
Spec. australasieae (11) 


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Sl 0 Iiltianthus Bge (N 
> Zeyoploylum. Z. 
= Seot.Fabago Tourn.f0) 
\ Sect, Sarconyylum 
(Bge)fV 
"ect. Halimi- 
plhyllum Engl. (vV 


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® ‚lirrarıa Schobert 2. 
Pe 97; 
retusa (For u 


Ledgritth, Anse.u.Stundnv EI Kilo Berlın 3 


an Geographische efhraitun der Zygophyllaceen. 


* 
” 


Es £ 


PHILOSOPHISCHE UND HISTORISCHE 


ABHANDLUNGEN 


DER 


KÖNIGLICHEN 


AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 
ZU BERLIN. 


AUS DEM JAHRE 
1596. 


MIT 10 TAFELN. 


BERLIN. 
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. 
1896. 


GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI. 


IN COMMISSION BEI GEORG REIMER. 


FHMIHOTFN rn 
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Inhalt. 


Weınsorp: Zur Geschichte des heidnischen Ritus . I 

Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. Aus dem Papy- 
rus 3024 der Königlichen Museen herausgegeben. (Mit 10 Tafeln.) 

Srumrr: Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik . 


1} 


Abh. I. S.1—50. 


» 1. S. 1—77. 
» 11. S.1—85. 


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Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 


Von 


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Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 9. April 1896 
[Sitzungsberichte St. XIX. S. 415]. 
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 30. April 1896. 


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J: mehr die Bedeutung des Cultus und der mit ihm zusammenhängenden 
Riten für die Religionsgeschichte erkannt wird, um so mehr lockt es zur 
allein förderlichen Einzeluntersuchung den Spaten in den Boden zu stolsen, 
der sich über den alten Trümmern aufgehäuft hat. Man wird hier sehr 
bald auf verschiedene Zeitschichten gerathen und überrascht sein, dafs 
sich in den mysteriösen Gebräuchen auch der cultivirtesten Völker des 
Alterthums und der Gegenwart starke Reste einer praehistorischen wilden 
Periode erhalten haben, die ihr Entsprechendes in den Anschauungen und 
Riten der sogenannten Naturvölker noch jetzt finden. Man wird dann 
erkennen, dafs diese zur beleuchtenden Vergleichung herbeigezogen werden 
müssen und dafs die Beschränkung der Untersuchung auf ein einzelnes 
Volk unmöglich ist, wenn die Gebräuche eines solchen auch mit Vortheil 
in den Vordergrund gestellt werden. 

Wer in den deutschen Aberglauben auch nur leieht hineingräbt, wird 
sehr bald darauf stofsen, dafs die Personen, welche gewisse geheimnils- 
volle Handlungen vornehmen, nackt sein müssen; und wer sich dann bei 
anderen Völkern und in anderen Zeiten umschaut, wird derselben Forde- 
rung häufig begegnen. Hier haben wir denn sogleich einen Überrest aus 
uralter Vergangenheit, in welcher die Nacktheit eine völlig andere Be- 
deutung hatte als später, nichts Anstöfsiges war, sondern, um es kurz zu 
sagen, etwas Geheiligtes, das aus diesem Grunde in den Culthandlungen 
verschiedenster Art auftritt. 

Merkwürdiger Weise hat man sie von diesem Gesichtspunkt aus wenig 
beachtet. Meine hier vorgelegte Untersuchung soll für Deutschland das 
Versäumte nachholen und für andere Länder wenigstens Beiträge liefern. 

1* 


4 K. Weınnmoup: 


Allerdings haben einige Forscher nach dem Grunde jener Nacktheit 
gefragt. G. L. Gomme hat sie in seiner Ethnology in Folk-lore bei Er- 
wägung der Godiva-Legende (S. 39. 177) als a survival of a rude pre- 
historie eult erkannt. Adolf Wuttke in seinem Buche: Der deutsche 
Volksaberglaube der Gegenwart (Berlin 1869) $249 sagt: »der Grund der 
Nacktheit bei Zauber und Weissagung ist ein ähnlicher wie bei Bevor- 
zugung der Dämmerung; der Mensch mufs das Alltägliche, dem natürlich- 
bürgerlichen Leben Angehörige, und gewissermafsen seine Einzelheit ab- 
streifen und in einem gewissen Sinne opfern, um unbehindert in den 
allgemeinen Zusammenhang des All-Lebens einzutreten; mufs das für ge- 
wöhnlich Verborgene offenbar machen, um das verborgene Walten des 
Schicksals und der Natur offenbar zu machen; mit dem Abstreifen der 
leiblichen Hüllen fallen auch die Hüllen des Geistes, des Schicksals und 
des geheimnifsvollen All-Lebens; es liegt eine thatsächliche Poesie darin 
und hat in mancher Beziehung eine ähnliche Bedeutung wie das Preis- 
geben der Jungfrauschaft in manchen heidnischen Religionen«. 

Richard Heim (Incantamenta magica graeca-latina: Supplemen- 
tum XIX. Annal. philolog. p. 507. Lips. 1892) und W. Crooke (An intro- 
duetion to the popular religion and folk-lore of Northern India. Allahabad 
1894. p.40) finden den Grund der ritualen Nacktheit in ihrem obscoenen 
oder indecenten Element, welches magische Wirkung auf die bösen Geister 
übe, eine ganz einseitige und, wie ich zu erweisen hoffe, falsche Auf- 
fassung. 

Man mufs zunächst die Handlungen, bei denen die rituale 
Nacektheit gefordert wird, als das beurtheilen, was sie ursprünglich 
waren, als gottesdienstliche Acte, durch welche die Gnade der Gott- 
heit, ihr Segen für das Leben in Menschen, 'Thieren und Gewächsen, ihr 
Schutz gegen feindliche Kräfte und Wesen erwirkt werden sollte. Zu 
solchen Zweeken mufste sich der bittende und opfernde Mensch in mög- 
lichster Ablösung von dem unreinen gewöhnlichen Leben nahen. Wie 
in dem römischen Cultus nach Numa’s Ordnung die castitas, die innere 
und äulsere Reinheit, von dem Beter und ÖOpferer gefordert ward, so 
überhaupt in den ältesten Religionen. Der naive Ausdruck davon ist die 
Abstreifung der Gewänder und der Schuhe. Hierauf gründet sich die 
Barfüfsigkeit der israelitischen Priester, die Exodus 3, 5, Josua 5,15 ge- 
fordert wird; das Ablegen der Sandalen bei den Muhamedanern, wenn sie 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 5 


feierlich beten oder die Moschee betreten; die Reinigung des Heiligthums 
der Athene im nachhomerischen Troja durch barfüfsige Jungfrauen;' die 
römischen Nudipedalia, die Barfüfserprozession bei anhaltender Trockenheit ;? 
die Barfüfsigkeit kappadokischer Weiber beim Feldzauber (Plin. h.n. 28, 23) 
und der kimbrischen Priesterinnen beim Menschenopfer (Strabo VII. 2, 3). 
Eine anglicanische Secte, die society of S. Osmund, schreibt in ihrem 
Ritual für die Charwoche vor, dafs die »cleres« bei der Verehrung des 
heiligen Kreuzes unbeschuht (with feet unshod) sein müssen (Folk-lore VII, 50). 

Wenn hier nur die Nacktheit der Füfse, die den geweihten Boden 
betreten, vorgeschrieben ist, so ist das eine Beschränkung der Entblöfsung 
des ganzen Leibes auf einen Theil, der wir auch an einem anderen Gliede 
später begegnen werden. Eigentlich mufste der ganze Mensch sich der 
vom Verkehr mit dem Irdischen befleckten Hüllen vor dem Göttlichen ent- 
ledigen. Der nackte Mensch versetzt sich in den Zustand des noch nicht 
bekleideten, von dem Leben noch nicht befleckten Kindes. Er nähert 
sich aber andererseits den göttlichen Wesen, besonders der unteren Stufe, 
welche eine Vermittelung zwischen Erde und Himmel bilden und mit den 
vom Leibe getrennten Seelen zusammenhängen. Die altindischen Apsaras, die 
den germanischen Wasser- und Wolkenmädchen entsprechen (den Schwan- 
jungfrauen und Walküren), sind in ihrer eigensten Erscheinung nackt, 
ebenso die deutschen Wassergeister und jene elementaren Dämonen, die 
noch in unserem Aberglauben als Alpe und Druden leben. Nicht minder 
stellt sich die Bevölkerung von Bengalen die bösartigen Baumgeister, die 
Bhutas, welche nächtlich die Felder umirren, nackt vor (Örooke Folk-lore 
of Northern India 152), ganz wie der Hellene und der Italer die mannig- 
fachen Baum- und Wald-, Berg- und Bach-Dämonen. Ja selbst die höchste 
künstlerische Erfassung der grofsen Gottheiten weils keine vollendetere 
Bildung zu finden, als die des unverhüllten Menschenleibes. Wer also 
eine über menschliche Kraft reichende Handlung vollziehen will, den 
Göttern gleich wirken möchte, versetzt sich in ihre Erscheinungsform, wird 
nackt. So heifst denn der indische Gott Qiva, der Gott des Zauberwesens, 
Nagna, der nackte, auch digambara, digvastra, digvasas, der splitternackte.” 


! Roscher, Lexik. d. Mythol. 1, 138. 

® Hierzu gehört Petron. cena Trimalch. 44 von dem Bittgang der stolatae nudis pedibus 
in elivum passis capillis. 

® Gütige Mittheilung von Prof. R. Pischel. 


6 K. Weınmoup: 


Daraus erklärt sich nun auch, dafs die, die vom göttlichen Geist 
ergriffen werden, sich entkleiden. So König Saul, als er zu Samuel 
kommt, dem Vorsteher des Chors der Propheten. Da kommt über ihn, wie 
vorher über seine Boten, der Geist Gottes, und er zieht seine Kleider aus, 
weissagt und liegt den ganzen Tag und die ganze Nacht nackt (1. Samuelis 
19,24). Die Nacktheit der Kassandra in der troischen Schreekensnacht, 
die durch viele antike Bildwerke bezeugt ist, darf wohl (wie Ferd. Dümm- 
ler, Philol. LII, 208 vermuthet) mit ihrer Prophetie in Verbindung gebracht 
werden. Von göttlichem Wahnsinn ergriffen (uawouevaı) durch der Kypris 
Zorn liefen die Proitostöchter nach Aelian (var. hist. III, 42) nackt umher. 
Eine unscheinbare süddeutsche Sage dürfen wir diesen antiken Beispielen 
anreihen: In der Westenvorstadt in Eichstätt sind zwei Felshöhlen, das 
Hohloch und das Hexenloch. Im Hexenloch sitzt am Morgen des Johannis- 
tages (24. Juni) das Drudenweibel nackt auf einem Baumast (oder einer 
Stange), singt ein Gesänglein und wiegt den Tag ab." Dieses Druden- 
weibel ist eine halbgöttliche Prophetin. 

Bei einem grolsen Givafeste der Malabaren in Indien sah A. Bastian 
1865 ungefähr siebzig junge Frauen nackt bis auf das Hüfttuch und mit 
aufgelösten Haaren vor dem Tempel. Nachdem sie mit Asche bestreut 
waren, geriethen manche bei rauschender Musik in ekstatische Verzückungen 
und gebärdeten sich wie Besessene. Das war das Zeichen besonderer Gnade 
des Gottes. Die nicht besessen wurden, hatten dem Civa durch Fasten 
und Opfer nieht genügt (Bastian, Die Welt in ihren Spiegelungen. $. 59. 
Berlin 1887). 

Hier knüpfen sich auch die deutschen volksthümlichen Bräuche an, 
die auf einen Einblick in die Zukunft und die Erkenntnifs 
geheimnifsvoller Erscheinungen zielen, und bei denen die Nacktheit 
Forderung ist, 

In der heiligen Zeit der Wintersonnenwende suchen die Mädchen durch 
ganz Deutschland ihren künftigen Gatten im Sehattenbilde zu schauen. Die 
eigentliche heilige Zeit ist dafür nach vor- und rückwärts allmählich aus- 
gedehnt worden: sie beginnt mit dem Andreasabend und reicht über 
Thomas-, Christ- und Sylvesterabend hier und da bis Pauli Bekehrung 
(25. Januar) und Mathiastag (25. Februar). Die Gebräuche im Einzelnen, 


' Fr. Panzer, Bayrische Sagen und Bräuche 2, 201. München 1855. 


Ba a 5 a 2 0, 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 7 


durch welche das Bild des Ersehnten herbeigelockt werden soll, sind ver- 
schieden, wesentlich aber ist die Nacktheit des Mädchens, die bis in die Ge- 
genwart hinein noch häufig vorkommt. Ich verweise dafür auf A. Wuttke, 
Aberglaube $$ 348. 352. 358. 360-365; ferner auf Grimm, D. Mythol. 107 1; 
U. Jahn, Opfergebräuche 255; Hexenglaube 159 f.; Wolf, Niederländ. Sa- 
gen Nr. 273; Kuhn, Westfäl. Sagen 2,123; Mülhause, Urreligion 96. 98; 
Witzschel, Sagen aus Thüringen 1,155. 180; Chemnitzer Rockenphilosophie 
170ff.; Schroller, Schlesien 3, 394; Schönwerth, Aus der Oberpfalz 
1,141.143; K. Stieler, Kulturbilder aus Bayern 104; Wolf-Mannhardt, 
Zeitschr. f. deutsche Mythol. 4, 48; E. Meier, Sagen aus Schwaben 455; 
Birlinger, Aus Schwaben ı, 381; Birlinger, Volksthümliches aus Schwa- 
ben I, 343. 

Ich will nur zwei der Litteratur angehörige Zeugnisse ausheben. 
Abraham a.S. Clara erzählt im Judas, dem Erzschelm 2, 233: »Am Abend 
des h. Thomas hat im Algäu eine Magd sich ganz allein in ihre Kammer 
gesperrt, dieselbige ganz ohne Kleydung doch zuruckwerts ausgekehrt 
und den einstigen Gatten erblickt«. Und Daniel Stoppe aus Hirsch- 
berg in Schlesien reimt in seinem Parnass im Sättler (S. 338): »Jocaste 
kniet mit gleichem Sinn Ganz nackend vor ihr Bette hin, Um Sanet An- 
drefsen zu bewegen, Ihr ihres Bräutigams Gestalt Durch seine träumende 
Gewalt In ihre Phantasie zu legen. Hier zehlt man Holz, dort schifft die 
Nufs, Man deckt den Tisch, man schüttelt Zäume, Und schweigt der Hund, 
so fällt der Schlufs, Man bleibe noch diefs Jahr daheime«. 

Bemerkt mag werden, dafs in den Aufzeichnungen unserer Sitten- 
und Sagensammler die Nacktheit bei diesen Zukunftsforschungen — die 
übrigens immer ohne Zeugen vorgenommen werden — häufig aus einem 
falschen Anstandsgefühl verschwiegen wird. Sie ist zuweilen auch nicht 
mehr vollständig: so im norwegischen Lister- und Mandals- Amt, wo sich 
die am Weihnachtabend nach der künftigen Ehehälfte neugierig um- 
schauenden Personen beiderlei Geschlechts in weilsen Laken auf den Weih- 
nachtstuhl setzen. Zuweilen setzt sich die Mannsperson ohne Laken (wohl 
ganz nackt?) auf eine vollständige Frauenkleidung, das neugierige Mädchen 
auf eine vollständige Männerkleidung (Liebrecht, Zur Volkskunde 325). 

Auch Beschränkung der Entblöfsung auf die Füfse kommt vor: In 
einem thüringischen Dorfe drehte sich vor einigen Jahren ein Mann am 
Andreasabend mit dem nackten rechten Fufse auf einem Thaler, der auf 


8 K. WEIınHoLD: 


die Thürschwelle gelegt war, dreimal von links nach rechts unter Her- 
sagung eines Verses herum. Dann legte er sich in den Raum hinter dem 
Stubenofen (in der Hölle) schlafen. Um Mitternacht sprang er plötzlich 
mit einem Schrei auf und lief barfufs nach Hause. Er hat später erzählt, 
dafs ihm ein Mädchen erschienen sei, ihn an der rechten grofsen Zehe 
gepackt und mit sich fortgezogen habe. Dieses Mädchen hat er später 
geheirathet (M. Lehmann-Filhes in der Zeitschrift des Vereins für Volks- 
kunde V, 97). 

Wenn nach sehwäbischem Glauben die Mädehen, die in der Christ- 
nacht in den Ofentopf (den Höllhafen) sehen, den künftigen Gatten nackt 
darin erblicken (Zeitschr. für deutsche Mythologie 4, 48), so erinnert dies 
daran, dafs der aus der Ferne herbeigezauberte Liebste nackt erscheint 
(Aus Prätorius Weihnachtfratzen bei Grimm, Deutsche Sagen Nr. 116). 

Einer der tollsten abergläubischen Gebräuche ist das Barziehen im 
bajuvarischen Gebiete." Es soll dadurch der Einblick in verborgene Ge- 
heimnisse gewonnen werden, die sehr verschieden sein können. Die Nackt- 
heit der Theilnehmenden ist dabei bezeugt. 

K. von Leoprechting erzählt in seinem Buche »Aus dem Lechrain« 
(München 1855) S. 45, dafs sich um das Jahr 1345 fünf Männer aus Utting 
am Ammersee zusammenthaten, um die Glücksnummern im Lotto zu er- 
fahren. Sie betraten faselnackt mit dem Glockenschlag der Mitternacht den 
Freithof, gruben das Grab einer im ersten Kindbett mit dem Kind ver- 
storbenen Wöchnerin” auf, huben den Sarg heraus und legten einen von 
sich, nackt wie er war, in das Grab. Dann trugen die andern vier in 
höchstem Stillschweigen den Sarg dreimal um den Freithof und beschworen 
die abgeleibte Seele, die fünf Nummern anzuzeigen, die in der drittnächsten 
Lottoziehung gezogen werden würden. Darum hatten sie dem im Grabe 
liegenden alle 9o Nummern der Lotterie, deutlich auf einen Zettel ge- 
schrieben, in den Mund gelegt, in der Meinung, dafs die fünf Glücksnum- 
mern erlöschen würden. Alles geschah ohne Widergang. Fünf Nummern 
waren wirklich erloschen und wurden hoch besetzt. In der betreffenden 
Ziehung kamen sie auch wirklich mit sehr hohen Gewinnen heraus. Aber 


! von Wlislocki, Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner, S. 141 f. berichtet 
es auch von den siebenbürgischen Zigeunern. 

2 Einer solchen steht der Himmel offen; das Kind wird ihr in den Arm gegeben, 
Jungfrauen tragen sie zu Grabe und ein Jungfernkrönlein wird auf ihr Grab gestellt. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 9 


die Sache war ruchbar geworden. Die fünf Beschwörer wurden gefänglich 
eingezogen und ihr Einsatz für ungiltig erklärt. 

Bei dem Todtenbahrziehen im steirischen Ennsthal und um Eisenerz, 
bei dem es ebenfalls gilt, viel Geld zu gewinnen (meine Weihnachtspiele 
S. 28f.) habe ich die Nacktheit nicht erwähnt gefunden; ebenso sagt J. 
Zingerle (Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Volkes, Nr. 312. 880) 
nichts davon, wo er von dem Herumtragen eines Sarges oder der Todten- 
bahre um die Kirche zu Mitternacht oder in einer heiligen Nacht spricht, 
das auch einen Schatz verschaffen soll. 

Zur Schatzhebung ist überhaupt die Nacktheit ein nachweisliches Mittel. 
So wird aus Nieder-Österreich berichtet, dafs auf dem Wendelgupf bei Lilien- 
feld ein goldener Wagen versunken ist. Nur in der Christnacht während 
der Mette ragt die Deichsel heraus. Wer nun zu dieser Zeit nackt, ohne 
von Jemand gesehen zu werden, auf den Berg gelangt, wird den Wagen 
leicht an der Deichsel herausziehen können (Leeb, Sagen aus Nieder -Öster- 
reich Nr. 78). 

Mit dem Grabe einer Wöchnerin, das als besonders geheiligt und 
wirkungsvoll gilt, wird auch abergläubischer Unfug getrieben, um einen 
Zauberspiegel zu gewinnen. Im westlichen Thüringen meint man (Wucke, 
Sagen von der mittleren Werra, 2. A. Nr. 577): um einen Erdspiegel zu 
erhalten, mufs man ohne zu feilschen einen kleinen Schiebespiegel kaufen, 
dann Nachts ıı Uhr ganz nackt über die Kirchhofmauer springen und ein 
Loch in das Grab einer am Charfreitag begrabenen Wöchnerin machen. In 
dieses Loch steckt man den Spiegel, das Glas nach unten, und entfernt sich 
dann im Namen Gottes, rückwärts gehend, die Augen auf das Grab ge- 
richtet. Solches thut man drei Nächte hintereinander. In der dritten Nacht 
zieht man den Spiegel in drei Teufels Namen heraus, drückt ihn fest an 
den Leib und geht rückwärts ab, ohne sich durch die Mifshandlungen des 
Teufels irren zu lassen, und springt wieder über die Kirchhofmauer. In dem 
Spiegel kann man nun verborgene Schätze, Diebe, Hexen u. s. w. erkennen. 

Andere Weisen, an dem Grabe einer Wöchnerin (auch eines Selbst- 
mörders) einen Erdspiegel zu bekommen, aber ohne Erwähnung der Nackt- 
heit, berichtet Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2, 218. Jedenfalls ge- 
hörte auch hier die Nacktheit zu der Handlung. 

Der Erdspiegel verhilft, wie eben gesagt, auch zur Entdeckung 
der Hexen. Man braucht ihn aber dazu gar nicht, wenn man sich nur 

Philos. - histor. Abh. 1896. I. 2 


10 K. Weınnoud: 


nackt im 'Thau wälzt. So thaten ein Paar junge Knechte im Schleswig- 
schen. Sie gingen in der Johannisnacht auf eine Wiese, zogen sich aus 
und wälzten sich im Thau. Sonntags darauf gingen sie in die Hüttener 
Kirche und sahen manehe Weiber mit einer Milchbütte auf dem Kopf. Das 
waren die Hexen (Müllenhoff, Schlesw.-holst.-lauenb. Sagen Nr. 290).' 

Bei den Südslaven geschieht es so: wer wissen will, welche Frauen 
Hexen seien, geht in der Georgsnacht vor Sonnenaufgang auf eine Wiese, 
entkleidet sieh ganz, wendet die Kleider um und zieht sie so an. Dann 
schneidet man ein grünes Rasenstück aus und legt es sich auf den Kopf, 
oder man duckt sieh mit dem Rasen bedeckt hinter die Stallthür. Dann 
sieht man die Hexen, diese aber können den lauschenden nicht sehen 
(Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven. Münster 
1890 $.120).” 

Wenn man den Teufel in seinem Thun beobachten will, soll man 
nach Mecklenburger Recept Folgendes machen: man met sik ganz nackt 
uttreeken un dörch de Bein kiken. Denn kann man seihn wo de Düvel 
towt, ob he 'n Wiw oder ’n Kirl to faten het (Zeitschr. d. Vereins f. Volks- 
kunde 5, 443). 

Ist in diesen abergläubischen Handlungen die Nacktheit eine Bedingung, 
um den Einblick in die Dimonenwelt zu gewinnen, so erscheint sie anderer- 
seits als ein Sehutzmittel gegen dieselbe. Die Geister und Gespen- 
ster scheuen den nackten Menschen. 

Kein Gespenst wagt nach isländischem Glauben einen ganz nackten 
Mann anzugreifen. Daher empfiehlt sich, wenn man ein Gespenst erwartet, 
sieh völlig zu entkleiden (nach Jön Arnarson, Islenzk. 'Thiodsögur 1.; 
Liebreeht, zur Volksk. 370). Im Erzgebirge glaubt man sogar, dafs Ringe, 
die ein Schmied nackt aus Sargnägeln schmiedet, die in der Charfreitag- 
nacht vom Kirchhof geholt sind, gegen Geister schützen (Wuttke $ 186). 

Leute, die oft von bösen Träumen heimgesucht werden, können sich 
dagegen wehren, wenn sie beim Schlafengehen sich in der Mitte der Stube 


! Über Mittel, die Hexen zu erkennen, A. Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 28f. Wuttke, 
Aberglauben $ 373 fl. 

?2 Hier ist die Nacktheit verdrängt durch einen naiven Versuch, sich durch Umdrehen 
der Kleider unkenntlich zu machen. Verstümmelt, nur auf die Umdrehung der Kleider be- 
schränkt, wird dieses Mittel aus Ostpreulsen berichtet; auf das Rasenstück beschränkt aus 
Schlesien und Brandenburg, Wuttke $ 376. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 11 


ganz entkleiden und rückwärts zu Bett gehen (Bartsch, Sagen aus Mecklen- 
burg 2, 314). 

An Stelle der völligen Nacktheit kommt nun auch die beschränkte vor. 

Der Schlofsgeist von Ober-Gösgen in Solothurn hinderte einmal die 
Flöfserknaben, das Treibholz aus der Aare zu fischen. Da vertrieb ihr 
Vater, der alte Flöfser, den Geist, indem er ihm den blofsen Hintern 
zeigte (Rochholz, Naturmythen 65). 

Wenn Einer den rothglühenden Drachen niedrig ziehen sieht, muls 
er sich unter ein Dach! stellen und ihm das nackte Gesäls zukehren. Da 
platzt der Drache und seine Ladung fällt herab. Thut man das aber im 
freien Felde, so bewirft Einen der Kobold mit Unrath, und den Gestank 
wird man sein Leben lang nicht mehr los. (Müllenhoff, Sehlesw.- 
holst.-lauenb. Sagen Nr. 280; Kuhn-Schwartz, Nordd. Sagen Nr. 5. 421; 
Wuttke 49). 

Durch diese Wirkung menschlicher Nacktheit auf überirdische Wesen 
fällt nun auch Licht auf eine entscheidende Stelle in der indischen Ge- 
schiehte von Purüravas und Urvacı. Im Gatapatha-Brahmana 11,5, 1. 
wird sie so erzählt:” Urvacı war eine Apsaras und hatte sich in den Puru- 
ravas, den Sohn der Ida, verliebt. Unter den Bedingungen, die sie bei 
ihrer Vereinigung stellte, war: »auch will ich dieh nieht nackt sehen, 
das ist so Mode bei uns«. Sie lebte lange mit ihm. Da sprachen die 
Gandharven zu einander: »Zu lange fürwahr hat diese Urvacı bei den 
Menschen gelebt; man sollte auf etwas sinnen, dafs sie wieder zurück- 
kehre«.. — An ihrem Bett hatte sie ein Schaf mit zwei Lämmern an- 
gebunden. Die Gandharven raubten ein Lämmchen, Urvacı merkte es 
und rief: »Man stiehlt mir mein Kind, als gäbe es hier zu Lande keine 
Männer«. — Dann raubten die Gandharven das zweite. Sie rief wieder 
also. Da dachte Pururavas: »Wie sollte es dort keine Männer geben, wo 
ich bin?« und nackt wie er war, sprang er aus dem Bett und nach, denn 
es däuchte ihn zu lange, sein Kleid anzulegen. Da erzeugten die Gan- 
dharven einen Blitzstrahl und Urvacı erblickte den Pururavas nackt, so 
deutlich wie am hellen Tage, und da verschwand sie. 


! Unter der Dachtraufe ist man nach allgemeinem Glauben gegen den Teufel und 
alle bösen Geister geschützt. Wuttke $8 107. 494. Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 
446; Zeitschr. f. Ethnol. 26, 568. 

2 A. Weber, Indische Streifen 1, 16; Geldner in den Vedischen Studien ı, 244. 


DE 


12 K. Weınnmoup: 


Die Umkehr der Wirkung der Nacktheit, dafs nämlich der Mensch 
die Unsterblichen nicht in ihrer eigensten Gestalt sehen darf, und dafs sie 
ihm, wenn es geschieht, enttiliehen, ist bekannter, am bekanntesten durch 
das Märchen von Amor und Psyche. Hierher gehört die Melusinensage, 
eine schlesische Nixensage' und alle jene über die ganze Welt verbreiteten 
Geschichten von der Verbindung eines Menschen mit einem geisterhaften 
oder verzauberten Wesen, das er in seiner eigensten Gestalt nicht sehen 
darf”. 

Ich schliefse hier am besten die Verwandlungen an, die nach ur- 
altem Glauben der Mensch, gleich den Göttern, an sich zu vollziehen ver- 
mag, und bei denen die Nacktheit als natürliche Voraussetzung erscheint. 
Die Verwandlungsfähigkeit beruht auf dem im Totemismus der Natur- 
völker zum Dogma ausgebildeten Glauben, dafs Alles in der Welt lebendig 
sei und dafs alles Lebendige seine Gestalt wechseln, also sich verwandeln 
könne. Der Mensch kann demnach auf einige Zeit zum Thier werden, wie 
die Götter sich in Menschen oder Thiere wandeln; das Lebendige kann 
auch zum Stein oder Baum werden, scheinbar starr und leblos erscheinen, 
aber dennoch seine lebendige Menschheit im innersten der unbeweglichen 
Masse bewahren. Die Märchen und die mythischen Sagen der kultivirte- 
sten Völker bezeugen diesen Totemismus aller Orten. Der Mensch kann sich 
durch eigene Kunst selbst verwandeln, er kann aber auch durch einen 
Zauberer in eine beliebige Gestalt verwünscht werden. Festgehalten ist aber 
immer, dafs, wenn er wieder zum Menschen wird, er nackt erscheint, und 
dafs er vor der Verwandlung ganz unbekleidet sein muls. 

In dem altnordischen Heidenthum war der Glaube an die Verwandlungs- 
fähigkeit (at skipta homum, at hamaz) sehr verbreitet.‘ Gewöhnlich wird 
der Gestaltenwechsel in naiv sinnlicher Art gedacht als das Hineinschlüpfen 
in eine andere Hülle. Wie die Walküren in eine Schwanen- oder Krähen- 
haut, Freyja in eine Falkenhülle schlüpfen und damit zu Schwänen, Krähen, 
Falken werden, so die Menschen, die nicht eingestaltig (einhamir) sind, in 
ein Wolfs-, Bären-, Hundefell, oder sie legen wenigstens einen Gürtel aus 
Woltfsfell an und werden zu diesen Thieren mit deren wilden Eigenschaften. 


!° Meine Abhandlung: Beitrag zur Nixenkunde, in der Zeitsch. d. Vereins f. Volks- 
kunde 5, 126. ar 
J. Kohler, Der Ursprung der Melusinensage. Leipzig 1895. 


®° K. Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes 2, 101-118. 


Zur Geschichte ‚des Jieidnischen Ritus. 13 


Es sind nicht blofs Heroengeschlechtern angehörige. Menschen, ‘gleich den 
Wolsungen, sondern auch aus gewöhnlichen Sippen entsprossene. Die Ver- 
wandlung dauerte gewöhnlich neun Tage, die mythische alte Zeitfrist; am 
zehnten bekam der Verzauberte seine eigene Gestalt wieder. Und dafs er 
dann nackt dastund oder dalag, hat wenigstens das jüngere Hyndlamärchen 
treu bewahrt, das K. Maurer in seinen Isländischen Volkssagen der Gegen- 
wart (Leipzig 1860 S. 315 f.) erzählt hat. Die von ihrer hexenartigen Stief- 
mutter in einen Hund verzauberte Königstochter Signy durfte jede neunte 
Nacht des Hundefells ledig werden; dann lag sie nackt auf freiem Felde, 
das Fell neben ihr. 

So steht denn auch der entzauberte Lukios des griechischen Romans 
vom Eselmenschen nackt vor aller Augen, und in den späteren und heute 
noch lebenden Fortsetzungen dieses Märchens ist die. Nacktheit nach der 
Rückkehr in die Menschengestalt nicht vergessen." Der Werwolf, dieses 
uralte Geschöpf westarischer totemistischer Phantasie, wird noch nach deut- 
schen Volkssagen durch Berührung mit Eisen oder Stahl oder Lösung 
des Gürtels in seine nackte Menschennatur zurückgewandelt.” Er wird 
auch wieder zum nackten Menschen, wenn man ihn dreimal bei seinem 
Taufnamen ruft. } ? 

Ganz dasselbe glaubt man von dem Alp oder der Drud, die sich in 
allerlei Gestalten wandeln können, in Strohhalme, Federn ‚Schuhe, und die 
festgehalten, eingeklemmt, angenagelt oder zerdrückt, dann in wahrer Ge- 
‘stalt meist als nacktes Weibsbild erscheinen. In Bamberg warf der von 
der Drud geplagte Schustergesell den Strohhalm, den er ergreift und zer- 
reilst, zum Fenster hinaus. Am andern Morgen lag ein nacktes Weib mit 
gebrochenem Halse auf der Strafse (Panzer, Bayrische Sagen 2,165). — 
Im Brandenburgischen hat ein Knecht die Marte, die ihn immer drückte, 
gefangen, nachdem er alle Löcher in der Stube bis auf eins verstopft hatte. 
Als Licht gemacht war, sah er ein junges nacktes Mädchen vor sich, das 
hat er geheirathet und Kinder mit ihm gehabt. Einmal zeigte er ihr das 
Astloch in der Stubenwand, durch das sie hereingekommen war und zog 
den Pflock heraus. Da ist sie sofort verschwunden gewesen. Aber sie 
kam noch eine Zeit lang Sonntags wieder, unsichtbar, und besorgte die 


! Meine Abhandlung in den Sitzungsberichten unserer Akademie 1893. 8. 475—488. 
® W. Hertz, Der Werwolf, Beitrag zur Sagengeschichte. Stuttgart 1862 S; 79. 35. 
91.97; Wuttke 8 405. 


14 K. Weınmorp: 


Kinder, bis er dem Prediger Alles erzählte. Sie war aus England, wie sie 
aussagte.' 

An diesen beiden Alpgeschichten mag es genügen. Ganz dasselbe gilt 
aber auch von den Hexen. Wird der Zauber durch irgend Etwas gelöst, 
so steht die Hexe splitternackt vor Einem oder stürzt aus den Wetterwolken 
nackt herunter. Stahl oder Eisen, Brotkugeln, Rufen des Namens, Glocken- 
geläut, Werfen oder Schiefsen mit geweihten Dingen berauben die Hexen 
ihrer Macht und entzaubern sie. Nur einige Beispiele. 

Nach einer badischen Sage schofs einmal bei einem sehr lange stehenden 
Gewitter ein Jäger mit einer geweihten Kugel in die schwärzeste Wolke. Da 
stürzte ein nacktes Weib todt herunter, und das Wetter zog sogleich fort 
(Mone, Anzeiger f. Kunde deutscher Vorzeit 4, 309). Bei einem fürchter- 
lichen Gewitter in Neumarkt in der Oberpfalz schofs ein Kapuziner in die 
Wetterwolke, und herunter stürzte ein mutternacktes Weibsbild; das war die 
Hexe, die immer im Wetter drin ist (Schönwerth, Aus der Oberpfalz 2, 
126). In Feldkirch in Vorarlberg verspätete sich eine Hexe auf ihrem Ritte 
und, als sie gerade über dem Kapuzinerkloster war, begann das Glöcklein 
das Aveläuten. Sie stürzte herab und lag splitternackt und todt im Kloster- 
garten (Zingerle, Sagen aus Tirol 2. A. S. 674). In Forchheim in Ober- 
franken hielten die Franziskaner bei einem furchtbaren Donnerwetter einen 
Umgang im Klostergarten. Beim ersten Segen mit der Monstranz stürzte 
eine nackte Frau aus den Wolken herab (Panzer, Bayrische Sagen 2,167). 
Wenn man in einen Staubwirbel einen Rosenkranz oder sonst was Geweihtes 
wirft, sieht man die Hexe splitternackt vor sich stehen (Stöber, Alsatia. 
1856/7 S.133). In Westfalen nennt man das: die Hexe blank maken (Kuhn, 
Westfäl. Sagen 2, 31). 

Zur Vergleichung sei nur aus finnischer Mythologie beigebracht, wie 
das Goldmädcehen (Alten Arga) den Werbungen des Alten Aira in einem 
Federgewand (d.i. als Vogel) entflieht. Er schlägt mit der Peitsche nach ihr, 
und das Federhemd platzt.” Da stürzt sie nackt herunter (Castreen, Ethnol. 
Forschungen S. 187. Petersb. 1837). 

Aber nicht blofs bei der Aufhebung der Verwandlung, auch bei dem 
Beginn der magischen Handlung ist die Nacktheit Bedingung. Das be- 


! Diese merkwürdig erhaltene Sage von einer Elbin, die sich einem Manne vermählte, 
bei Kuhn-Schwartz, Norddeutsche Sagen Nr. 102 mit Anm. 
® Wie bei dem Werwolf das Fell oder der Wolfsgürtel platzt. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 15 


richtet Petron (cena Trimalch. 62) von dem Soldaten, der sich in einen Wolf 
wandelt. In der Normandie herrscht der Glaube, dafs lebende Frauen als 
Irrlichter (fourolles) umgehen können, wenn sie sich auf dem Felde in 
der Nacht nackt ausziehen und auf die Erde legen. Die Seele wird 
dann auf einige Zeit zum Irrlicht. (Am. Bosquet, La Normandie ro- 
manesque 247.) 

Das Hexenfest ist eine orgiastische Opferfeier, auf Bergeshöhen gehalten, 
wohin die verzückten Weiber, nachdem sie in Nacktheit zu Thieren sich ver- 
wandelten, durch die Lüfte sich erhoben. Wilder Tanz, Menschenopfer und 
Genuls von Menschenfleisch sind Acte des Festes, die aus dem deutschen 
Hexenglauben sich deutlich ergeben. 

Ganz wie die thrakischen Weiber, deren geheimes Treiben Apulejus 
(Metam. 3, 21) schildert, salben sich die deutschen Unholden den nackten 
Körper und fahren dann entweder in Weibesgestalt' oder in Vögel (Gänse, 
Enten, Elstern, Eulen) oder rasche Vierfüfsler (Hasen, Katzen, Geilse, 
Wölfe, Pferde) verwandelt, durch die Lüfte nach dem bestimmten Fest- 
platz, der in den verschiedenen Ländern ganz verschieden ist, gleich der 
Zeit, für welche allerdings Walpurgis, also eine Frühlingsnacht, am meisten 
genannt wird. Der zum Opferfest gehörige Reigen, der Hexentanz, ist in 
allen volksthümlichen Schilderungen der Hexennacht festgehalten; ebenso 
die Opfermahlzeit. Dafs es ein Menschenopfer war, und die Hexen Men- 
schenfleisch und namentlich die Herzen verzehrten, überliefern allerdings 
nur ältere Zeugnisse, so das Salische Recht (l. Sal. 64, 3, Cod. 5. 6. 10 
emend.); das langobardische (ed. Roth 376) und das Karl’sche Capitulare 
für Sachsen (e. 5), beide als sträflichen Aberglauben; ebenso namentlich 
vom Herzessen der Indieulus superstit. et paganiarum von 743 und der 
Correetor des Burchard von Worms (Friedberg S.97). Mit ihm fast 
gleichzeitig weils auch Notker Teutonicus, dafs hier zu Lande die Hexen 
(hazessa) wie die Menschenfresser (manezon) thun sollen.” Genügend ist also 
für die deutschen Feste orgiastischer Natur das Menschenopfer bezeugt. 


! In Centralindien ist der Glaube an die Hexen noch jetzt ganz fest. Den 14., 15. und 
29. jeden Monats sind die Hexennächte; dann fahren die Hexenweiber, nachdem sie sich 
entkleidet, auf Tigern oder anderen wilden Thieren, wohin sie wollen; haben sie zu einer 
Wasserfahrt Lust, bieten sich ihnen die Alligators dar. Am Morgen kehren sie nach Hause 
zurück. Crooke, Introduetion to the popular religion and folklore of Northern India 353 f. 
® Anderes bei J. Grimm, D. Mythol. 1034 f. 


16 K. WEınHoLp: 


In dem indischen Kathä Sarit Sagara I. e. 20' finden. wir nun die 
Erzählung, dafs König Adityaprabha, von der Jagd heimkehrend, die 
Wächter des Harems über seine Ankunft bestürzt findet, in das Innere 
eindringt und die Königin Kuvalayävali in Verehrung der Götter findet, 
ganz nackt, mit aufgelöstem Haar, die Augen halb geschlossen, mit einem 
grolsen rothen Fleck auf der Stirn, ihre zitternden Lippen murmeln 
Zauberformeln. Sie stand mitten in einem Kreise, der mit bunten Pul- 
vern bestreut war, und sie hatte ein Opfer von Blut und Menschen- 
fleisch gebracht. Als der König eintrat, ergriff sie ihre Gewänder, 
und nachdem sie ihn um Verzeihung gebeten für das, was er gesehen, 
sprach sie: »Ich habe diese Ceremonien vollzogen in der Absicht, Euch 
Glück zu erwirken, und ich will Euch, mein Gebieter, erzählen, wie 
ich diese Gebräuche erlernt und das Geheimnifs meiner Zauberkunst er- 
worben«. Und sie erzählte, dafs sie durch ihre Freundinnen, als sie 
noch im Vaterhause war, gehört, dafs Mädehen durch die Verehrung 
des Ganesa (des Gottes des Glücks) einen passenden Gatten bekommen 
könnten, und weiter, dafs sie später gesehen, wie ihre Freundinnen 
sich plötzlich aus eigener Kraft in die Lüfte erhoben und sich darin 
belustigten. Diese Freundinnen sagten ihr, dafs man diesen Hexen- 
zauber durch den Genufs von Menschenfleisch erlange, ihre Lehrerin sei 
eine Brahmanin, Kälavätri genannt. Die Königin erzählt dann weiter, 
dafs dieses Scheusal sie in der Zauberkunst unterrichtete. Nachdem sie 
gebadet und den Ganesa verehrt, mufste sie sich ganz entkleiden und, 
in einen Kreis gestellt, eine fürchterliche Ceremonie zu Ehren des Siva 
in seiner schreekhaften Gestalt verrichten. Darauf ward sie mit Wasser 
besprengt, Kälavätri lehrte sie verschiedene Zauberformeln und dann 
mufste sie als Opfer Menschenfleisch verzehren. Unmittelbar darnach 
flog sie, nackt wie. sie war, in den Himmel empor, und nachdem sie 
sich mit ihren Freundinnen erlustigt, kam sie wieder zu ihrem Vater- 
hause herunter. »So ward ich in meinen Mädchenjahren eine Genossin 
der Hexen, und bei unseren Zusammenkünften haben wir die Körper 
vieler Männer verzehrt. « 

Diese indische Geschichte ist von grofser Wichtigkeit für die Beur- 
theilung der Hexenfeste als in der Volkserinnerung festgehaltener heid- 


n7 


! Übersetzung von C. G. Tawney in der Bibliotheca Indica I, 154 fl. Caleutta 1880. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 7 


nischer Opferfeste germanischer Weiber, die ihr Entsprechendes in den 
Culten der verschiedensten Völker und Zeiten finden. Vorzüglich wird 
man an die arkadischen Opferfeste des Zeus Lykaios denken, blutige Sühn- 
feste auf dem Grenzberge zwischen Arkadien und Messenien, bei denen 
Menschen und Thiere als Opfer fielen und Verwandlungen der Opfernden 
in Wölfe nach dem Glauben geschahen, nachdem sie von dem Opferfleische 
genossen hatten. 


Eng verwandt mit diesen Opferfesten sind die thrakischen orgiastischen 
Feste auf Bergen! gewesen, bei denen zwar meines Wissens nicht die Nackt- 
heit der Theilnehmenden, wohl aber die Umhüllungen mit Thierfellen (Nach- 
ahmung der Thierverwandlung) erwähnt werden. Auch an die dionysischen 
Feiern mag man sich erinnern, bei denen die Weiber ganzer Gegenden 
von ekstatischer Tanzwuth ergriffen wurden (Rohde a.a. 0. 328-333), 
was wieder an den epidemischen Tanzwahnsinn erinnert, den wir in Deutsch- 
land im 14. und 15. Jahrhundert auftreten sehen. 

Örgiastischer Natur war auch in ältester Zeit die Bestattungsfeier 
in den vornehmen attischen Geschlechtern. Das weibliche Trauergefolge, 
aus freien Frauen der Familie gebildet, ging unbekleidet, laut wehklagend 
hinter der Leiche. Es ist dies aber schon vor Solon abgekommen.” 

Im alten Israel gingen die Trauernden nackt, wie aus Jesaia 32, 11; 
Micha ı, 8 sich deutlich ergiebt,’ und dazu stimmt, dafs auch für die 
Araber der vorislamischen Zeit die Nacktheit in der Trauer erwiesen ist.' 

In Dörfern von Nordindien ist es noch jetzt Brauch, dafs am Ende 
des Jahres, in dem ein Familienglied gestorben ist, der nächste männ- 
liche Verwandte nackt mit einem blofsen Schwerte in der Hand einen 
ganzen Tag und eine Nacht zum Trommelschlage tanzt. Den zweiten Tag 
wird ein Büffel geopfert, indem er mit indischem Hanf und Schnaps be- 
täubt und dann mit Knüppeln todt geschlagen wird (Crooker, Introduet. 
to the popular religion of Northern India ı11). 


! E. Rohde, Psyche 301—14. 

2 F. Dümmler im Philologus LIII, 212; Brückner, Athen. Mittheil. XVIII, 102 ff. 

® Fr. Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten 
Israel. Gielsen 1892 S. ır, 

* Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten III, 107. 


Philos. -histor. Abh. 1896. TI. 3 


18 K. WEınHoup: 


Gewils wird sich Entsprechendes mehr aus den Trauergebräuchen er- 
geben. Aus Deutschland wüfste ich keine Spur der Zerreifsung der Ge- 
wänder und theilweiser oder ganzer Nacktheit in dem Begräbnifsritus auf- 
zuweisen. 


Der altattische Leichenzug, in dem nackte Frauen freien Standes ein- 
herschreiten, leitet zu gottesdienstlichen Aufzügen über, bei denen 
die Nacktheit gerade der Weiber bezeugt ist. Plinius berichtet h.n. 22, 2, 
dafs die verheiratheten Frauen (conjuges nurusque) der Britten bei gewissen 
gottesdienstlichen Festen ganz entkleidet, nur mit dunkeln Farben den 
Körper bemalt, einherschreiten. Dazu stimmt merkwürdig eine Procession 
der Frauen an der Goldküste in Afrika, die sie noch jetzt halten, wenn 
die Männer im Kriege sind. Täglich ziehen sie ganz nackt, die schwarzen 
Leiber über und über mit weilser Farbe bestrichen, und mit Perlen und 
Amuletten behängt, durch das Dorf. Sie führen dabei Kriegsspiele auf. 
Kein Mann darf während des Aufzuges im Orte sein.’ Es scheint ein 
Bittgang für das Leben ihrer Männer und den glücklichen Ausgang des 
Krieges. Die Bemalung dieser Negerinnen ist gleich der der alten Brittinnen 
nicht als Verdeckung der Nacktheit zu deuten, sondern sie entspricht der 
in antiken und wilden Mysterien der Gegenwart nachzuweisenden Be- 
streichung mit Lehm als Symbol der Unreinheit oder Befleckung, die nach 
der rituellen Handlung entfernt wird; der von Sünde befleckte Mensch ist 
dadurch rein geworden, entsühnt”. 

Wir haben eine weitere Parallele in einem südindischen, hauptsäch- 
lich von Schafhirten und Parias begangenen ländlichen Feste der Göttin 
Pötrai. Am dritten und vierten Tage, die den persönlichen Opfern, die 
in Rindern und Schafen gebracht werden, und dem Wohl der einzelnen 
Familien und dem Feldsegen gelten, ziehen manche Frauen zur Erfüllung 
ihrer Gelübde nackt, mit grünen Zweigen bedeckt und von ihren weib- 
lichen Verwandten umringt, zu dem Tempel.’ 


' Hartland, The Science of Fairy Tales. London 1891 p. 86. 


® Andr. Lang, Mythes, Cultes et Religion; traduit par L. Marillier. Paris 1896 
p- 263 fl. 
3 


Nach W. Elliot, Journal Ethnological Soc. NS. I, 97—ı00; mitgetheilt von Gomme, 
Ethnology in Folk-lore 22 f. 39. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 19 


Die Nacktheit ist hier Erfüllung eines Gelübdes, und dies hat den 
bekannten englischen Forscher Edw. Sidn. Hartland an die Legende von 
der Lady Godiva erinnert,' die er durch jene indische Procession er- 
läutert sieht. 

Die Geschichte vom nackten Ritt der Lady wird zuerst von dem 
englischen Chronisten Roger von Wendover (Anfang des 13. Jahrhunderts) 
in seinen Flores historiae zum Jahre 1057 erzählt. Godiva oder eigentlich 
Godgifu, die Gattin des Earl Leöfrie von Mereia, hatte denselben wiederholt 
gebeten, den Einwohnern von Coventry einen lästigen Zoll zu erlassen. 
Um ihrer Bitten ledig zu werden, erklärte er schliefslich, er wolle thun 
was sie wünsche, wenn sie nackt vor allem Volke von einem Ende der 
Stadt zum andern reiten werde. Zum Erstaunen des Earl that es seine 
Frau, nur von ihrem langen aufgelösten Haar verhüllt, so dafs man von 
ihrem Körper nur die schönen Beine sah. Earl Leöfrie hielt sein Ver- 
sprechen. 

Hartland hat das Ungeschichtliche dieser Geschichte nachgewiesen, 
obschon Lady Godiva selbst eine historische Persönlichkeit bleibt. In Co- 
ventry ward die Erinnerung an die Wohlthäterin des Ortes durch eine 
jährliche Procession, great Fair genannt, die am Tage nach Frohnleichnam 
statthatte, erhalten, wobei ein Mädchen im ungefähren Costüm der Lady 
Godiva dieselbe vorstellte. Das älteste Zeugnifs für die wirkliche Aus- 
führung dieses Aufzuges stammt erst von 1678. Damals vertrat übrigens ein 
Knabe oder Jüngling (Ja. Swinnertons son) die Lady (Hartland a. a. 0.75). 

Auch im Dorfe Southam bei Coventry ist diese Procession gehalten 
worden, und hier ritten zwei Godivas, eine weifse und eine schwarze, in 
dem Zuge.” 

Endlich haftete eine verwandte Sage, nach Rudders History of 
Gloucestershire (1779), an dem Orte St. Briavels in Gloucestershire. Hier 
soll die Gemahlin des Earl of Hereford unter denselben Bedingungen wie die 
des Earl von Mereia von ihrem Gatten für die Bewohner von St. Briavels 
die Freiheit erlangt haben, in dem Forest of Dean holzen zu dürfen. Die 
Hauswirthe des Dorfes mufsten aber noch eine kleine Steuer dafür zahlen, 


! Über diese Legende hat Mr. Hartland in seiner Science of Fairy Tales p. 71-92 
sehr gut gehandelt. 
2 Genaueres ist nicht bekannt, Hartland 35. 


3* 


20 K. WEınHouıD: 


von der eine Vertheilung von Brod und Käse am Weifsensonntag in der 
Kirche geschah.' 

Mit Recht hat E. S. Hartland in der historischen Legende die 
Erinnerung eines heidnischen Festes zu Ehren einer germanischen Göttin 
erkannt, von dem die Männer ausgeschlossen waren (a. a.0. S.92). Ich 
will näher darauf eingehen. 

Die great Fair von Coventry und St. Briavels fällt um Pfingsten, war 
also Theil eines Sommerfestes. Die Pfingstumzüge mit Umführung eines 
nackten, laubumhüllten Menschenkindes geben aus deutschen und slavischen 
Landschaften eine Menge von Vergleichungen. Ich meine nicht den fest- 
lichen Eintritt der Vertreter der Sommergottheiten, sondern jene Bitt- und 
Opferfeste, welche die Erweckung des für das Gedeihen von 
Feld und Weide nöthigen Frühlingsregens zum Ziele hatten: der 
süd- und mitteldeutsche Umzug des Wasservogels und der deutsche und 
slavische des Regenmädchens. 

Die Einkleidung eines Jünglings oder Knaben in Laub, Schilf 
und Blumen, die Umführung desselben im Dorfe, schliefslich seine Be- 
gielsung oder sein Sprung oder Sturz in das Wasser sind die Acte des 
gewöhnlich zu Pfingsten stattfindenden Brauchs.” In Bayern heifst die 
Hauptperson desselben gewöhnlich der Wasservogel.” Im angrenzenden 
Schwaben kommt dieser Name nur in den Orten vor, die mit altbayri- 
schen in nahem Verkehr stehen; der Brauch selbst ist, obschon mit anderen 
Pfingstbräuchen gemengt, lebendig (Panzer, 2,83-90; Birlinger, Aus 
Schwaben 2,109. 112; Schmid, Schwäb. Wörterb. 518), ebenso in Öster- 
reich, wo der Pfingstkönig, der Vertreter des alten Frühlingsgottes, in das 
Wasser geworfen wird (J. Grimm, D. Mythol. 562). In niederbayrischen 
Orten (Niederaltaich, Niederpöring, auch in Wehring im bayrischen Kreise 
Schwaben, Panzer, 1, 235f. 2,83) heifst der laubumhüllte Knabe der Pfingstl, 
in der Pfalz der Pfingstquak (Panzer, ı, 238). In Niederpöring wird der 
Pfingstl, der, nach dem Bericht zu schliefsen, ganz nackt, nur mit Laub 


' Whitsunday heifst in England der Pfingstsonntag (Hampson, Calendarium II, 392), 
während in Deutschland der Sonntag Invocavit darunter verstanden wird. 

” Sofern ein stattlicher Umritt dabei gehalten wird, sind Theile des Sommereinzugs 
eingemischt. 

> Über ihn hat Fr. Panzer, Bayerische Sagen u. Bräuche 1,226 ff. 2, 81 ff. 444 ff. 
ausführlich gehandelt. 


Zur Geschichte des  heidnischen Ritus. 21 


und Wasserpflanzen bekränzt, einherschritt und dabei fortwährend begossen 
ward, schliefslich in den Bach geführt und von einem seiner Begleiter 
(Weiser) mit einem Schwerte scheinbar geköpft (Panzer, 1, 236). 

Auch in Thüringen hat sich der uralte Brauch bis in neue Zeit er- 
halten. Hier heifst der laubumhüllte und mit Bändern geschmückte Bursche, 
der während des Pfingstumzuges mit Wasser begossen und am Ende in’s 
Wasser gestürzt ward, das Laubmännchen. In Dörfern um Mühlhausen 
ward der dem österreichischen Pfingstkönig entsprechende Schofsmeier, 
der mit Blumen und Laub geschmückt einreitet, auch in's Wasser geworfen, 
also auch hier Mischung zweier verschiedener Scenen des Sommerfestes. 
Die Bedeutung der Handlung für den Feldsegen erweist sich auch dadurch, 
dafs in Grofsvargula die Hauptperson der Graskönig heifst, und die Zweige 
der Pappelpyramide, unter der er einreitet, um die Flachsfelder gesteckt 
werden, damit der Lein hoch wachse (Witzschel, Sagen, Sitten und Ge- 
bräuche aus Thüringen 2, 203. Wien 1878). Im Usingischen in Nassau 
heifst der umkränzte Knabe die Laubpuppe (Kehrein, Volkssprache und 
Volkssitte in Nassau 2, 156). 

Bei den Winden in Kärnten und Krain wird am Georgstage (24. April) 
ein Frühlingsfest gefeiert, das sich diesen deutschen vergleicht. Die Haupt- 
person des Aufzuges der männlichen und weiblichen Dorfjugend ist ein über 
und über in grünes Birkenlaub gehüllter junger Bursche, der grüne Georg 
(zelene Jury) nach dem Tagespatron genannt. Er ward in’s Wasser zum 
Schlufs geworfen; jetzt geschieht es nicht mehr mit dem Menschen selbst, 
sondern mit einer rasch untergeschobenen Puppe. Doch wird mancher Orten 
noch der Bursche selbst in dem Flusse oder Teiche gebadet, und der Glaube 
herrscht im Volke, dafs dadurch im Sommer genügender Regen für die Felder 
erwirkt werde.' 

Für die Laubeinkleidung eines Mädchens und das Bad desselben 
im Flusse, um Regen zu gewinnen, haben wir für Deutschland das älteste 
Zeugnifs im 19. Buche der Canonessammlung Bischofs Burchard von Worms 
(F 1024), welches auf mittelrheinischem Volksbrauche beruht. Der Beichtiger 
fragt, ob die Beichtende Theil nehme an dem Brauche,” bei Regenmangel 
sich zusammen zu thun und ein kleines Mädchen zu erwählen, es nackt aus- 


! Mannhardt, Wald- und Feldeulte r, 312f. Über einen entsprechenden russischen 
Brauch am Georgstage I, 317. 
®2 Friedberg, Aus deutschen Bulsbüchern S. or. 


22 K. WEINHoLD: 


zuziehen und zu einer Stelle aufser dem Dorfe zu führen, wo Bilsenkraut 
wächst. Dort mufs das nackte Kind eine Bilsenpflanze mit dem kleinen 
Finger der rechten Hand entwurzeln, die darauf an die kleine Zehe des 
rechten Fufses gebunden wird. Zweige in den Händen, führen sie dann die 
Kleine in den nächsten Bach, besprengen sie mit den in’s Wasser getauchten 
Zweigen, indem sie dazu ein Zauberlied singen, und führen darauf rückwärts 
gehend' das nackte Mädchen in das Dorf zurück. Sie hoffen dadurch Regen 
zu bekommen. 

Man beachte, dafs in diesem ältesten Bericht über das Regenmädchen 
keiner Laubverhüllung gedacht wird; die älteste Weise des Regenopfers ist 
hier deutlich zu erkennen. Das Mädchen wird ganz nackt, nachdem es ein 
Zauberkraut nach ritueller Vorschrift ausgegraben hat und ihm dasselbe an 
dem entblöfsten Leibe befestigt ist,” mit weihendem Wasser besprengt und 
dann in das Wasser unter liedartigem Gebet untergetaucht, d.h. wie wir 
zeigen werden, ursprünglich getödtet als Opfer des Regengottes. 

Längst ist hierzu von Jac. Grimm in seiner Mythologie 561 der 
serbische Brauch der Dodola verglichen worden. Ein Mädchen, Dödola ge- 
nannt, (wie es scheint, nach dem Refrain des dabei gesungenen Liedehens: 
oj dödo oj dödo le), wird ganz entkleidet und mit Gras, Kräutern und 
Blumen umwunden. Unter Tanz” und Liedern führen Jungfrauen die Dodola 
durch den Ort, und die Hausfrauen begiefsen sie. 

Dem serbischen Brauche entspricht ganz der bulgarische, der bei Dürre 
geübt wird. Das Regenmädchen heifst hier Djuldjul oder Peperuga; ferner 
der walachische um Mediasch in Siebenbürgen, wo das Mädchen Papaluga 
genannt wird (Grimm 560; Mannhardt ı, 329), und der neugriechische der 
Pyperuna, den Grimm ebenfalls schon nach Th. Kinds Tpayodıa rns veas 
ErAaöos S. 13 erzählt hat (a. a. O. 561). Wenn längere Zeit Dürre herrscht, 
wird ein kleines Mädchen, meist ein armes Waisenkind, ganz entkleidet, 
von Kopf bis Fufs mit Kräutern und Feldblumen umhüllt, im Dorf umher- 
geführt und von den Hausmüttern mit Wasser begossen. 


' Das Rückwärtsgehen war bei Zauberhandlungen Brauch, auch im Norden, Maurer, 
Bekehrung 2,137; Grimm, D. Mythol. 3,417; Wuttke, Aberglauben $ 250. 

® An eine Zehe des linken Fulses hat der nackte Bilweils die Sichel gebunden, womit 
er das Getreide fremder Felder für sich schneidet. 

® Das von Tanz begleitete Lied heilst prporysche, der ganze Umzug prpatz, nach Vuks 
Serb. Wörterb, neue Ausg.: Grimm, Mythol. III*, 169. 


Zur Geschichte des heidnischen Rilus. 23 


Aus der Bukowina, bei Rumänen wie bei Ruthenen, ist der Brauch 
vom Ende des 18. Jahrhunderts bezeugt, bei anhaltender Dürre nackte 
Weiber in das Wasser zu werfen, um den Regen zu erzwingen. Im Gou- 
vernement Chersson badeten am Johannistage 1884 Weiber bekleidet im 
Flusse und begossen dabei eine aus Zweigen und Kräutern gemachte Puppe, 
um Regen zu schaffen. In Podolien ist zum selben Zweck ein Pope im 
ÖOrnat auf die Erde geworfen und mit Wasser beschüttet worden (Zeitschr. 
d. Vereins f. Volkskunde 3,85). 

Prüfen wir nun diese alten weit verbreiteten Gebräuche, deren Ab- 
sicht ist, in dürrer Zeit den ersehnten Regen zu erwecken, so finden wir 
die Anschauung darin, durch Besprengen oder Begiefsen eines Menschen 
oder eines Gegenstandes könne das himmlische Wasser aus den ver- 
schlossenen Wolken befreit werden. Alle sogenannten Zauberhandlungen 
versuchen durch menschliche Nachahmung eines Naturvorganges die über- 
oder unterirdischen Mächte zu veranlassen, denselben in der Natur zu voll- 
ziehen. Es ist der homöopathische Grundsatz similia similibus, der im ent- 
gegen gesetzten Falle bei Regenüberflufs dazu führt, das Wasser oder ein 
Wasserthier zu vergraben. In Nordindien sammelt man, um den Regen zu 
stillen, Wasser aus sieben Häusern in einem irdenen Topf und vergräbt es. 
Oder eine Jungfrau bedeckt eine Stelle mit Kuhdünger und vergräbt einen 
Frosch darin (Folk-lore VII, 95). 

Als ein einfaches Mittel, den Regen hervorzurufen, dient die Berührung 
einer Quelle mit einem Zweige oder Stabe. 

Beim Regenmangel im Peloponnes ging der Priester des Zeus Lykaios 
auf dem lykaiischen Berge nach einem Gebete zu einer heiligen Quelle des 
Berges und berührte das Wasser mit einem Eichenzweige, worauf das 
Wasser in Aufruhr kam und ein Nebel daraus aufstieg, der Wolken bil- 
dete und den Regen brachte. Ganz wie dieser Zeuspriester verfahren die 
deutschen Wettermacher. Sie schlagen so lange in Bäche oder Teiche mit 
Gerten, bis Nebel aufsteigen und Wolken sich bilden, auf denen dann die 
Hexen hinfahren, wenn sie den Feldern schaden wollen (Grimm, Mythol. 
1041 nach Hexenacten des 16. und 17. Jahrhunderts). Eine hessische Hexe 
bekennt 1596, mit einem weilsen Stecken im Bach gerührt zu haben, darauf 
es gedonnert und ein Wetter worden (Wolf, Zeitschr. f. deutsche Mythol. 
2,76). In dem Marburger Hexenprocefs von 1546 bekennt ein windisches 
Weib, sie habe einmal auf einer Wegscheide eine Wasserlacke mit einer 


24 K. WEınmorp: 


Ruthe geschlagen und angesprochen, darauf Schauer und Regen über die 
Weingärten gegangen sei (Mittheil. des histor. Vereins für Steiermark 
XXVI, ı25). Das Pemmererweiblein rifs einen Tannenzweig ab, rührte 
in einer Lacke, und im Nu stiegen die Wetterwolken auf (Zingerle, Sagen 
aus Tirol, Nr. 786, 2. A.). Ein Knabe, der von einer Magd Wettermachen ge- 
lernt, zeigte seinem Vater, wie er das mache. Er holte ein Schaff mit 
Wasser, schnitt einen Stecken vom Baum, zog einen Kreis um das Schaff 
und rührte darin. Bald war das Wasser verschwunden, es bildete sich 
eine Wolke und hagelte über den Kreis herunter (Zingerle, Nr. 778). 
Bei Sterzing in Tirol zeigte ein Zigeunerbube, den der Kurat zu sich 
genommen hatte, demselben, wie man ein Hagelwetter mache. Er ging 
in ein Wasser, streekte die Hände aus, sprach allerlei, und das Wetter 
kam (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 1, 69). In Westfalen herrscht jetzt 
noch der Glaube, in der Heuernte dürfen die Mäher keinen Rechen in 
das Wasser tauchen, sonst komme Regen (Wuttke, $ 663). 

Eine andere Weise, Regen (und Hagel) zu erzeugen, ist Wasser auf 
Steine zu giefsen oder Steine in ein Wasser zu werfen. Durch Chrestiens 
von Troies und Hartmanns von Aue Iwein ist der Brunnen von Berenton 
im Walde Breceliande bekannt. 

Gols man aus diesem Brunnen Wasser auf die Steine, so erhob sich 
sofort Regen und Unwetter. Der Glaube daran dauert noch heute dort 
fort. Bei anhaltender Dürre wird eine kirchliche Procession zu dem Brun- 
nen gehalten und es genügt, dafs der Maire seine Fülse kreuzweise in die 
Quelle tauche, um Regen zu bekommen (Grimm, Mythol. 562). 

Bei dem vorhin erwähnten Hexenprocefs zu Marburg an der Drau von 
1546 sagen die windischen Weiber aus, wenn sie ein Wetter machen wollten, 
hätten sie bei einem Wasser neun Steine wohl geputzt; nach welcher Rich- 
tung sie dieselben in’s Wasser geworfen, dahin sei zur Stund der Schauer 
gegangen (Mittheil. d. hist. Vereins f. Steiermark XXVI, 124). 

Bekannt ist der im Alterthum wie im Mittelalter und noch jetzt ver- 
breitete Glaube, dafs in gewisse Seen und Teiche kein Stein geworfen 
werden dürfe, es entstünde sonst sofort Regen und Unwetter." 

Die Nacktheit der Wettermacher ist in den angeführten Beispielen 
nicht besonders erwähnt. Dass sie aber wie bei allem Zauber uranfänglich 


' Plinius, Hist. nat. II, 44; Pompon. Mela I,3; Grimm, D. Mythol. 564; Liebrecht, 
Gervas. 146; Zingerle, Sagen aus Tirol, 2. A. Nr.165. 250 mit Anm, 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 25 


Bedingung war, bezeugt noch Manches. Zunächst erinnere ich daran, dafs 
wenn der von Hexen erregte Wetterzauber zerstört wird, die Hexen nackt 
aus den Wolken herunterstürzen. Dann an den Holzschnitt vor der Pre- 
digt von den .Unholden und Hexen in Geiler’s Emeis (Strafsburg 1517 
fol. 37°). Drei Hexen sind beim Wettersieden dargestellt: die linke und 
mittlere sind ganz nackt bis auf das Haarnetz, die rechte ist bekleidet, 
Dämpfe steigen aus dem Topf, den die linke in der Hand trägt. Ein 
rothes Tuch schwebt über ihnen. 

In Bernau in der Mark Brandenburg machte ein nacktes Weib Ge- 
witter (Märkische Forschungen 1,256). 

In der Oberpfalz wird erzählt, dafs einmal ein wandernder Hand- 
werksbursch (die nach der Volksmeinung mehr wissen als andere Leute) 
einem Bauer zeigte, wie man beim heitersten Himmel ein Unwetter machen 
könne. Er ging in eine Wiese, wo ein Brunnflufs war und stiefs dreimal 
mit dem nackten Hintern in das Wasser. Sogleich stieg Rauch auf, der 
sich zu einer schwarzen Wolke verdichtete, und ein schreckliches Wetter 
brach los. Der Handwerksbursche aber war verschwunden (Schönwerth, 
Aus der Oberpfalz 3,184). 

Wie die Wettermacher so ist auch der die Ernte schädigende Bilmis- 
schnitter bei seinem Werke nackt, wenn er durch das reifende Kornfeld, 
mit der Sichel am Fufs und Zaubersprüche murmelnd, schreitet (J. Grimm, 
D. Mythol. 444; Schönwerth, Aus der Oberpfalz 1,427). 

Die Erregung des Wassers zur Nebel- und Wolkenbildung und dadurch 
zur Erzeugung des Regens geschah zwar mit Gebet und bestimmtem Brauch, 
aber die zuletzt angeführten Nachweise sprechen (abgesehen von der neueren 
kirchlich umgestalteten Procession von Berendon) nur von einzelnen Wetter- 
machern. Feierlicher und allgemeiner wird die Handlung, wenn sie von 
der ganzen Dorfgemeinde vollzogen wird mit festlichem Auf- und 
Umzug, Gesang und Tanz und mit Opfer, wie das in den Pfingstbräuchen 
und der weiblichen Procession mit dem Regenmädchen entwickelt ist. 

Diese Aufzüge sind die Reste theils eines grofsen Frühlingsfestes, 
welches die Gunst der Gottheit für fruchtbares Wetter zum Sommer durch 
das Höchste, ein Menschenopfer, erwirken sollte, theils einer durch Dürre 
bedingten Nothprocession. Aus mythischer Überlieferung wissen wir, dafs 
die Schweden bei mehrjährigem Mifswachs und dadurch entstandener Hun- 
gersnoth, in der viel Volk verdarb, den ersten Herbst Rinder opferten, 

Philos. -histor. Abh. 1896. I. 4 


26 K. WEINHoLD: 


den zweiten Menschen, den dritten den König (Heimskr. Yngl. S. e. 18). 
Bei den Kaffern wird, wenn kein Viehopfer zum Regen verholfen hat, von 
den Zauberern ein (gewöhnlich reicher) Mann als Verhinderer des Regens 
bezeichnet (er habe sich auf den Kopf gestellt und dem Himmel seinen 
Hintern gezeigt). Derselbe wird geopfert und seine Herden weggenommen 
(von Andrian, Wetterzauberei S. 54). W. Mannhardt (Wald- und Feld- 
eulte I, 356. 360 ff.) hat aus Mexiko, ferner von Indianern und Afrikanern 
Menschenopfer bei Frühlings- und Erntefesten nachgewiesen und dabei, 
trotzdem ihm sein Vegetationsdämon sehr unbequem wird, dem Schlusse 
nicht ausweichen können, dafs der »Laubmann« in den deutschen Pfingst- 
bräuchen eigentlich ein Menschenopfer bedeute. Dafs der Pfingstl, Pfingst- 
könig, Schofsmeier oder wie der laubumhüllte Bursche heifse, gewaltsam 
in den Bach oder Teich geworfen wird, dafs in Niederpöring in Baiern 
der Pfingstl dabei noch geköpft wird (Panzer, ı, 236) macht diese Auf- 
fassung ganz unabweislich. Thieropfer für Regen sind aus Westfalen und 
Böhmen als noch bestehend nachgewiesen: wenn man Regen bedarf, wird 
in Westfalen ein Frosch (ein Regenthier und Prophet) getödtet (Kuhn, 
Westf. Sagen 2, 80, Nr. 244), in Böhmen eine Schlange (Wuttke, Aber- 
glauben $ 153). Die Ersetzung des Menschen durch ein Menschenbild, 
eine Puppe, wie bei dem grünen Georg der Slovenen, und wie bei dem 
Todaustreiben in Mitteldeutschland und angrenzenden slavischen Land- 
schaften, ist von Griechen und Römern und von heutigen Naturvölkern, 
sowie aus fortdauernden europäischen Volksgebräuchen bekannt.' 

Die Umhüllung des ursprünglich nackten Knaben oder Jünglings oder 
des nackten Regenmädchens mit Laub und Kräutern hatte ursprünglich 
nicht die schamhafte Verdeckung der Nacktheit zum Grunde, sondern ist 
die Bekränzung des Opfers. Nach Burchard von Worms ging das mittel- 
rheinische Regenmädchen ganz nackt in dem Aufzuge der begleitenden 
Jungfrauen. Dafs die zum Opfer bestimmten Menschen ganz entkleidet 
wurden, kann das klassische Beispiel der Polyxena in Euripides Hekuba 555 
beweisen. 


! Marquardt, Alterth. 3, 186; K. Fr. Herrmann, Antiqu. 2, 159 ff.; Andr. Lang, 
Mythes, Cultes et Religion (trad. par L. Marillier) p. 246 ff. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 27 


Es liegt mir nicht ob, überhaupt über den segnenden und fruchtbaren 
Wassergufs zu handeln. Ich habe ihn nur berühren müssen, weil die dabei 
nachweisbare Nacktheit darauf führte. Diese Nacktheit erscheint nun 
auch bei anderen Gebräuchen, die Segen oder Schaden von Feld 
und Weide bezwecken. 

Wir wollen das Pflugziehen' voranstellen, weil es sich auch mit 
dem Wassergufs und dem Waten in einem Flufs verbunden zeigt. Es ist 
eine uralte weitverbreitete Sitte der Feldbauer, die von der Wintersonnen- 
wende an bis zur Feldbestellung nachzuweisen ist und durch eine Gult- 
handlung die Befruchtung des Ackers erwirken will. 

Thomas Kirehmair (Naogeorgus 1511-1587) schildert in seinem 
Regnum papistieum (Ed. 1559 S.144) auch die Fastnachtgebräuche und 
erzählt unter dem Aschermittwoch Folgendes: 


Mutuo se capiunt alii ac in flumina portant 
contis impositos, ut festi quiequid inhaesit 
stulti, tollatur mersum fluvialibus undis. — 
est ubi se sociant juvenes tibieine sumpto 

et famulas rapiunt ex zdibus et ad aratrum 
jungunt, quas scutica pellitque ae dirigit unus. 
unus item stivam tenet, at tibicen aratri 
considet in medio ridendasque oceinit odas. 
unus item sequitur sator, is vel spargit arenam 
vel fatuo cinerem gestu vultuque severo. 
postquam luserunt ita per fora perque plateas, 
per rivum tandem ancillas et dueit aratrum 
rector et ad coenam madidas vocat atque choreas. 


Für denselben Brauch in Oberschwaben am Aschermittwoch zeugt 
der Verfasser der Zimmern’schen Chronik: medlin und megt, auch die 
jungen gesellen zogen zu Scheer einst eine egge durch die Donau (Barack’s 
Ausg. v. 1869 II, 117). Andere Zeugnisse für das Pflugumziehen im Vor- 
frühling, wobei besonders die ledig gebliebenen Mädchen vorgespannt wur- 
den, geben: Das Fastnachtspiel die Egen (Keller, Nr. 30), Hans Sachs, 
Die Hausmaide im Pflug (Keller’s Ausg. V,179) und Sebast. Franck 
(nach Joannes Boemus) im Weltbuch. Der alte zum Fastnachtscherz ge- 
wordene Frühlingsritus hat sich mit natürlichen Änderungen in Tirol, Fran- 
ken, Schlesien, in den windischen Gegenden von Kärnten und Krain, in 
Dänemark und England erhalten. 


‘ Mannhardt, Wald- und Feldeulte ı, 553 fl. 
4* 


28 K. Weınnoup: 


Die Nacktheit der vorgespannten Frauenzimmer mufs im 15. und 16. 
Jahrhundert schon aufgegeben worden sein, jedenfalls weil sich nicht mehr 
blofs weibliche Festgenossen an dem Brauche betheiligten. Aber sie wird 
als nothwendig zu diesem Zauberritus anderswoher bezeugt. In Böhmen 
war es nach Krolmus Staroteske povesti Brauch, dafs die Bauern in der 
Zeit der Frühlingssaat in grofsem Aufzuge zur Nachtzeit einen Pflug, vor 
dem ein nacktes Mädehen und ein schwarzer Kater gingen, auf das Feld 
zogen, wo sie den Kater lebendig vergruben. In anderen Dörfern waren 
drei nackte Weiber vor den Pflug gespannt (Mannhardt, 1,561). 

Bei Zeiten der Dürre und dadurch entstandener Hungersnoth findet 
noch jetzt in Indien ein ganz entsprechender Umzug durch Weiber statt, 
der auch für die deutschen Bräuche den Zweck, Regen für das Frucht- 
Jahr zu erwirken, beweist. — Bei der grofsen Hungersnoth in Gorakhpur 
von 1873/74 zogen, um Regen zu schaffen, die Frauen ganz nackt bei Nacht 
einen Pflug kreuz und quer über die Felder. Kein Mann durfte ihnen 
begegnen, sonst war nicht blofs die Ceremonie fruchtlos, sondern auch 
Unglück über das Dorf gebracht (aus Panjab Notes and Queries II, 41. 
115 bei Hartland, Science of Fairy Tales S.84). — Während der grofsen 
Dürre, die im Sommer 1892 im Distriet Mirzapur in Nordindien herrschte, 
ward in der Nacht des 24. Juli in Chunär folgende Ceremonie vollzogen. 
Zwischen 9-10 Uhr Abends ging das Weib des Bartscherers von Haus zu 
Haus und forderte die Frauen zum Pflügen auf. Dieselben sammelten sich 
auf einem Felde, das kein Mann betreten durfte. Drei Weiber aus einer 
Bauernfamilie entkleideten sich, zwei spannten sich gleich Ochsen vor einen 
Pflug und das dritte lenkte sie. Sie thaten als ob sie pflügten. Die Pilug- 
führerin rief dann aus: »O Mutter Erde, bringe geröstetes Korn, Wasser 
und Spreu. Unsere Magen zerbrechen vor Hunger und Durst!« — Dann 
näherte sich der Gutsbesitzer und der Verwalter und legten etwas Korn, 
Wasser und Spreu auf das Feld. Die drei Frauen kleideten sich wieder 
an und gingen heim. Unmittelbar hierauf änderte sich das Wetter und 
es fiel reichlich Regen (aus North Indian Notes and Queries I. 210 bei 
Crooke, Folk-lore of N. India43). In Madras tanzt bei Dürre ein häfs- 
liches altes Weib, zuweilen nackt, mit einem brennenden Holzscheit und 
sieht gegen die Wolken, um den Sonnengott durch ihren Anblick zum 
Rückzuge zu zwingen (Crooke, 46). Von Wasserguls oder Besprengung 
ist weder bei diesem indischen noch dem vorangehend erwähnten ezechi- 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 29 


schen Pflugumziehen etwas gesagt, aber ich glaube mit Mr. Frazer (Gol- 
den Bough ı, 17), dafs der Zauber unvollständig ist, ohne das Eintauchen 
oder Besprengen des Pfluges oder der Pflugzieherinnen. Dafür spricht 
auch Folgendes. In Westfalen war es noch um 1830 hier und da Sitte, 
dafs die Weibsbilder die Ackerleute, wenn sie zum ersten Male im Jahre 
mit dem Pfluge vom Felde heimkamen, mit Wasser begossen (Kuhn, 
Westfäl. Sagen 2,153) und ganz dasselbe ist aus Brandenburg (Engelien 
und Lahn, Der Volksmund in der Mark Brandenburg S.270), vom Eichs- 
felde (Waldmann, Eichsfeldische Gebräuche und Sagen. Heiligenstadt 
1864 S.ı1) und aus dem Hennebergischen (Zeitschr. f. Deutsches Alterth. 
3,361) bekannt. Auf dem Eichsfeld werden auch die Mädchen begossen, 
wenn sie das erste Mal im Frühjahr mit einer Tracht Gras heimkommen. 


Ich wende mich nun zu den magischen Handlungen, ohne Wasser- 
gufs und Pflug, bei denen Frauen in Nacktheit auftreten, seltener Männer, 
und welche sich auf den Feldbau beziehend, theils den Gedeih der Saat 
oder Pflanzung, theils die Abwehr schädigender Einflüsse zur Absicht haben. 
Sie bestehen noch heute in Deutschland oder sind erst vor Kurzem ver- 
schwunden. Gleiches aus anderen Völkern wird beigebracht. 

In Ostpreufsen säen manche Bauern in der Nacht nackt den Samen 
in den Acker (Wuttke, $ 653). Im Saalfeldischen umtanzten nach dem 
Journal von und für Deutschland von 1790 (Mannhardt, Wald- und Feld- 
eulte 1, 484) nackte Mädchen die Flachsfelder, damit er hoch wachse, und 
wälzten sich im Flachs. In Schlesien ist es noch jetzt verbreitete Sitte, dafs 
die Bauersfrau oder auch die Mädchen des Hauses zu Fastnachtabend vom 
Tische springen; so hoch sie springen, so hoch wird der Flachs werden. Die 
Nacktheit der Mädehen (ledige Frövelker) bezeugt Schroller (Schlesien 
3, 291. 403) aus der Goldberger und der Striegauer Gegend. Dasselbe ist 
für das Voigtland verbürgt (Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 368), 
wo in manchen Orten die Hausfrau zu jenem Zweck zu Fastnacht um 
Mitternacht oder vor Sonnenaufgang nackt vom Tische springt. Aus Öst- 
preufsen wird die Nacktheit nicht erwähnt, die Sprünge geschehen beim 
Tanze der Hausmutter mit dem Hausvater oder der Töchter, wobei die 
Tänzer dieselben möglichst hoch zum Sprunge zu heben suchen. Auch in 


30 K. Weınnmorp: 


Böhmen ist der Sprung beim Tanze üblich (Wuttke, Abergl. $ 657). In 
dem von Grimm, Mythol. 1189 aus Lasiez eitirten samogitischen Brauch 
ist noch Gebet, Speise- und Trankopfer als zu dem Flachssprung gehörig 
erhalten. Durch die Betheiligung von Männern ist die Nacktheit natürlich 
ausgeschlossen worden, denn im Allgemeinen war sie nur bei den Riten 
zulässig (wie durch Beispiele genug im Vorangehenden belegt ist), welche 
die Frauen allein vollziehen. 

Das Ganze war ursprünglich eine Opferhandlung der Frauen zum Ge- 
deihen des Flachses, der ihnen besonders werthen Feldfrucht. Der sym- 
bolische Sprung erhielt sich daraus am längsten. 

In Chatapur in Nordindien legen, wenn Regen fällt, die Hausfrau 
und ihre Schwägerin alle Kleider ab und werfen sieben Kuhfladen in ein 
schlammiges Wasserbecken, damit das Getreide wachse (for storing grain). 
Gewöhnlich geschieht es Sonntags oder Mittwochs. Der Mann und sein 
Mutterbruder könne diese symbolische Düngung des Ackers auch vorneh- 
men; aber meist geschieht es durch jene Frauen (Crooke, Introd. to Folk- 
lore of N. India 41). Um die Fruchtbarkeit des Feldes zu fördern, streuen 
die Manghs nackt Stücke von Weihfleisch (holy meat) auf den Acker 
(Crooke, ebd. 40). 

Wir kommen nun zu Gebräuchen ganz orgiastischer Natur, die Frauen 
und Männer gemeinsam begehen und die natürlich nieht von dem Stand- 
punkt feinerer Cultur zu beurtheilen sind, sondern nur als Reste sehr ur- 
sprünglicher Zustände. 

In dem Zeitpunkte der höchsten Blüthe des Naturlebens, zu Mitt- 
sommer, sind Feste gefeiert worden, bei denen an die Tänze nackter 
Weiber sich geschlechtliche Vereinigung ungescheut anschloßs. Noch im 
vorigen Jahrhundert tanzten in Esthland am Johannisabend um ein Feuer, 
in das Opfergaben geworfen wurden, unfruchtbare ganz entblöfste Weiber, 
während die andere Gesellschaft den Opferschmaus hielt und schliefslich 
Unzucht trieb.' 

Aus Polen ergiebt sich dureh Synodalbeschlüsse unter Bischof Laskari, 
dafs gegen wilde Tänze mit geschlechtlichen Ausschweifungen eingeschritten 


' Nach Böcler der Esthen abergläubische Gebräuche (1854) bei Wuttke, $ 429. 
Von einem etwas “gemilderten Johannisbrauche auf der esthnischen Insel Moon spricht 
Mannhardt. Wald- und Feldeulte 1, 469 nach den Verhandl. d. esthn. Gesellschaft Dorpat, 
1872 VII, 63 1. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 31 


werden mufste, die am Johannis- und am Peterpaulsabend Brauch waren. 
In der Ukraine, Wolhynien und Podolien kommt es noch vor, dafs sich 
zu Johannis Paare auf den Getreidefeldern wälzen, um eine gute Ernte 
zu erwirken, und dasselbe wird von Paaren wie von Einzelnen auch aus 
Thüringen und Hessen, sowie aus England berichtet (Mannhardt, Wald- 
und Feldeulte ı, 480-88). Das sind eben nur Abschwächungen jenes 
ritualen Actes alter Wildheit, der durch indische Zeugnisse weiter ver- 
bürgt wird. Im alten Indien wurden am Mahävratatage (Sonnenwendtag) 
die Frauen mehr als sonst zu den Öpferhandlungen herangezogen, Sie 
trugen Wassereimer um das Feuer und schlugen die Laute. Dann ward 
ein Paar ausgewählt aus einer bestimmten Kaste, das südlich von dem 
grolsen Feuer sich gefehlechtlich vereinigte (A. Hillebrandt, Die Sonnen- 
wendfeste in Alt-Indien: Romanische Forschungen V, 336). Ganz verwandt 
ist der Vorgang bei dem südafrikanischen Volke der Kimbunde: an dem 
Erntefeste derselben tanzen nackte Frauen um die brennenden Holzstöfse 
und geschlechtliche Orgien schliefsen sich an (Mittheilung A. Bastians 
nach Magyar). 

Auf denselben Grundgedanken geht ein javanischer Brauch zurück. 
Zur Erzielung reicher Reisernte laufen nächtlich Männer und Frauen die 
Felder entlang und opfern linga und yoni (d. i. begatten sich). Selbst bei 
den christlichen Amboinesen geschieht es noch, dafs bei Anzeichen magerer 
Öbsternte der Besitzer des Baumgartens Nachts in denselben geht, sich 
entkleidet und an einem Baume stehend, die Gebärde des Coitus macht, 
damit der Baum fruchtbar werde (Wilken, Vergl. Volkenkunde van Nederl. 
Indie. Leiden 1893 S. 550). 

Zu vergleichen ist dazu, dafs in Bijapur in Nordindien unfruchtbare 
Weiber, um empfänglich zu werden, eine nackte weibliche Figur verehren 
(Crooke, Introd. to Folk-lore of N. India 40), und dafs in Bombay unfrucht- 
bare Frauen früh Morgens in den Tempel des nichtarischen Gottes Haneman 
gehen, sich entkleiden und das Götzenbild umarmen (Crooke, ebd. 46). 


Wir gehen von den positiven zu den negativen Riten über, denen, 
welche Schaden verhüten sollen, der über den Acker und seine Früchte 
kommen könnte. Die Nacktheit der Weiber zeigt sich auch hier als alte 


32 K. WeınHhoup: 


Forderung, zuweilen auch, dafs die Handlung während der Menstruation 
geschehe.' 

Zur Abwehr der Dürre kommt bei den Szeklern in Siebenbürgen vor, 
dafs der Bauer ein Weib, gewöhnlich eine Zigeunerin, dazu gewinnt, dafs 
es sich nackt am Johannismorgen auf den Acker legt und der Sonne zu- 
ruft: Junger Sonnenherr, thu mir und dem, was um mich ist, keinen 
Schaden (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 403). 

Gegen Ungeziefer strebte man vor Allem die Feldfrüchte zu schützen. 
Plinius berichtet (Hist. nat. 28, 23),” dafs ein Mittel gegen saatenschädliche 
Würmer und Käfer die Umschreitung der Feldgränzen durch nackte Weiber 
sei. Nach Metrodorus Scephius geschehe das in Kappadokien gegen die 
zahlreichen Kanthariden und zwar, indem die Weiber die Kleider über das 
Gesäfs heraufheben und so die Saaten durchschreiten. Anderwärts seien 
sie zwar bekleidet, aber mit abgethanem Gürtel, gelösten Haaren und bar- 
fufs. Die Ersetzung der Nacktheit, von der wir wiederholt sprachen, ist 
hier recht deutlich. 

Belege aus neuerer Zeit schliefsen sich an. 

Nach dem um Belluno in Venezien herrschenden Aberglauben müssen 
sich zur Vertreibung der Raupen ein nacktes Mädchen und ein Priester 
früh Morgens in dem vom Frafs heimgesuchten Felde begegnen (Bastanzi, 
Superstizioni religiose nelle provincie di Treviso e di Belluno. Firenze 
1887). 

Im Meininger Oberlande läuft am ersten Markttage nach Bartholomae 
ein Weib vor Sonnenaufgang nackt dreimal um den vom Raupenfrafs heim- 
gesuchten Krautacker; dadurch werden die Raupen von der Ecke aus, in 
der der Lauf begann, von dem Kohl weg nach dem Markte vertrieben 
(Witzschel, Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen 2, 217). 

In der Mark ist die Nacktheit vergessen, aber die dreimalige Um- 
schreitung des Raupenfeldes vor Sonnenaufgang durch die Hausfrau (auch 
den Hausvater) bewahrt. Der Bannspruch: »Rupen, packt ju, de Män geit 
weg, de Sunn kümt!« zeigt, wie das Ungeziefer als etwas Geisterhaftes ge- 
fafst ist (Kuhn, Märkische Sagen S. 382). 


! Über die magische Wirkung des Menstruationsblutes Plols-Bartels, Das Weib. 
13, 275—285; Lammert, Volksmediein in Bayern S.ı46f.; G. Pitre, Medicina popolare 
sieiliana (Torino 1896) p. 132. 

®2 Vergl. hierzu R. Heim, Incantamenta magica p. 508. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 33 


Bei dem Indianerstamm der Algonkin geht die Hausfrau Nachts bei 
wolkigem Himmel nackt um das Feld, um es gegen Insecten, Eichhörnchen 
und Mehlthau zu schützen (Mannhardt, Wald- und Feldeulte ı, 560 Anm., 
ergänzt durch eine Mittheilung A. Bastian’s). 

Bei den masurischen Polen herrscht der Glaube, dafs zum. Schutze 
des Erbsenfeldes vor Mehlthau ein nacktes Frauenzimmer vor der Saat das 
Feld umgehen mufs, oder es mufs wenigstens sein Hemd' darum getragen 
werden (M. Toeppen, Aberglaube aus Masuren, 2. A. S. 93. Danzig 1867). 

Namentlich gegen Vogelfrafs ist unser Mittel bewährt. In der Johannis- 
nacht geht man in Mecklenburg nackt in das Kornfeld und mäht an jeder 
Ecke einige Halme ab: es ist das ein Opfer für die Vögel, die das Feld 
dann schonen, so wie in Masuren beim Säen eine Handvoll Körner für 
die Vögel ausgeworfen wird (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 161). 

Wer das Saatfeld gegen Vogelfrafs schützen will, so meint der Sieben- 
bürger Sachse, gehe Morgens ganz früh auf den Acker, ziehe sich nackt 
aus, gehe dreimal ohne rückwärts zu sehen und ohne zu sprechen um 
das Getreide, bete das Vaterunser, dann ziehe er sich wieder an, mache 
etwas Schwefeldampf, nehme eine Kornähre in den Mund und gehe, ohne 
mit Jemand zu reden, nach Hause. In Martinsberg geschieht es, wenn 
das Getreide körnert, in Halwelagen in der Johannisnacht ıı-ı2 Uhr. In 
anderen Dörfern umschreitet die Bäuerin vor Sonnenaufgang nackt den 
Acker (in Jaad bei Bistritz trägt sie dabei ein Licht in der Hand) und 
streut von Zeit zu Zeit dabei Erde mit Asche über das Feld. In manchen 
Orten wird Erde von drei oder sieben oder neun Kirchhofsgräbern” dazu 
genommen, was auch von den siebenbürgischen Rumänen geschieht (G. 
Ad. Heinrich, Agrarische Sitten und Gebräuche unter den Sachsen Sieben- 
bürgens. Hermannstadt 13850 S. 14 und Haltrich-Wolff, Zur Volkskunde 
der Siebenbürger Sachsen S. 280). In magyarischen Gegenden umschreitet 
der Bauer in der Laurentiusnacht nackt das Hirsefeld zum Schutz gegen 
die Sperlinge. Im Torda-Aranyoser Bezirk holt der Bauer in der Georgs- 
nacht nackt von einem frischen Grabe Erde und streut dieselbe gegen Vogel- 
frafs über den Acker (Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 398. 405). 


' Bei den Siebenbürger Sachsen dieselbe Vertretung der Nacktheit bei Besprechung 
der Feuersbrunst, vergl. S. 35. 
2 Über die abwehrende Kraft der Graberde meine Bemerkungen in meiner Zeitschrift 
5,422 f. 
Philos. -histor. Abh. 1896. 1. 5 


34 K. Weınmorp: 


Gegen Brand im Getreide schützt nach siebenbürgisch-sächsischer Mei- 
nung, wenn die Hausfrau in der nächsten Vollmondnacht nach der Aussaat 
von dem Hause bis zum Acker nur in ein Leintuch gehüllt geht, am Acker 
das Tuch abwirft und nun ganz nackt ihn umschreitet (Heinrich, Agrar. 
Sitten 8. 15). 

Auch gegen Ungeziefer im Hause hilft eine von nacktem Weibsbild 
ausgeführte magische Handlung. In vielen Orten des sächsischen und 
bayrischen Voigtlands kehrt die Frau oder die Magd zur Fastnacht vor 
Sonnenaufgang nackend die Stube und den Hausflur aus und schüttet das 
Kehricht vor eine fremde Hausthür. Dadurch werden z. B. alle Flöhe auf 
das andere Haus übertragen (E. Köhler, Volksbrauch im Voigtlande S. 369). 

Um die Wanzen zu vertreiben, geht »man« in Thüringen am Char- 
freitag vor Sonnenaufgang ganz nackt an drei Wänden der Stube herum 
und spricht: Wanz in der Wand, Wanz in der Wand, die Ostern sind vor 
der Hand (Witzschel, 2, 195). 

In Ostpreufsen gehen in der Osternacht vier nackte Mädehen an die 
vier Ecken des Hauses, klopfen an die Wand und sprechen: Ratz, Ratz 
aus der Wand! Östern ist im Land! (E. Lemke, Volksthümliches in Ost- 
preufsen. Mohrungen 1884 1,14). 

Gefährlicher als Raupen- und Würmerfrafs wird den Feldern Sturm 
und Hagelschlag und Gewitter. Schon Plinius, Hist. nat. 28, 23 erwähnt, 
dals die elementaren Gefahren durch ein nacktes Weib, wenn es in seiner 
Zeit ist, abgewendet werden können; Unwetter zur See auch aufser dieser 
Periode. 

Zum Schutze gegen Gewitter wird in Oberungarn zu Johannis ein 
nacktes Mädchen in einen Brunnen hinabgelassen, worein es Stahl und 
Feuerstein wirft (meine Zeitschr. 4, 402). 

In Südungarn läuft in der Georgsnacht die Bäuerin nackt um die 
Äcker, um sie für den Sommer gegen Hagel zu schützen. Urinirt dabei 
der Mann auf den vier Ecken der Felder, so hat er keine Überschwem- 
mung dies Jahr zu fürchten (meine Zeitschr. 4, 398). 

Bei den Huzulen in Ostgalizien beschwört der Wetterbeschwörer den 
Hagel für das ganze Jahr, indem er in der Weihnacht nackt auf dem 
Felde seinen Zauber treibt. Auch Weiber besprechen so den Jahreshagel, 
indem sie die Schürzen über den Kopf schwenken und den Hagel zu einer 
folgenden Mahlzeit einladen. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 35 


Bei heraufziehendem Hagel stellen sich nackte Huzulinnen auf das Feld; 
in einer Hand halten sie geweihte Weidenpalmen, einen Besen, Schürhaken 
oder Ofenschaufel, in der anderen ein mit der Schneide aufwärts gekehrtes 
Beil. Wenn gar nichts hilft, bücken sich die Zauberinnen und zeigen dem 
Hagel den blofsen Hintern (Kaindl, Die Ruthenen 2, 90). 

Unter den Siebenbürger Sachsen ist Folgendes als Mittel gegen Blitz- 
feuer, wie auch gegen andere Feuersbrunst noch 13887 von abergläubischen 
Weibern vollzogen worden. Eine Mutter übertrug ihre Kunst auf die 
Tochter also: die Tochter legte sich in der Laurentiusnacht (10. August)! ganz 
nackt in freiem Felde rücklings nieder und die Mutter zog mit glühenden 
Kohlen einen Kreis um sie, überschritt sie drei Mal und tropfte ihr drei 
Blutstropfen in die linke offene Hand. Dadurch erlangte die Tochter die 
Macht, eine Feuersbrunst sofort zu löschen, ob sie auch vom Blitz er- 
zeugt wäre, wenn sie die Brandstätte drei Mal nackt umlief. Es genügte 
aber auch, dafs ein Kleidungsstück von ihr um das Feuer getragen wurde 
(Wlislocki, Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen S. 81). 
Wahrscheinlich ist das Hemde gemeint, als das dem nackten Körper nächste 
Gewand, wie in Masuren beim Schutz gegen Mehlthau (oben S. 33). 


Auch bei den magischen Handlungen, welche ı. Krankheit ab- 
wehren, oder 2. die Gesundheit sichern und stärken sollen, ist die 
Nacktheit zu erweisen. 

ı. Plinius giebt hist. nat. 26, 60 als ein kräftiges Mittel gegen Gesch wulst 
nach vieler Leute Erfahrung an, dafs eine nackte Jungfrau nüchtern dem 
nüchternen Kranken das Pflaster auflegt, ihn mit dem Handrücken” berührt 
und dann nach Umkehr der Hand sprieht: » Apollo verbietet der Krankheit 
(pestis), bei demjenigen zu wachsen, dem eine nackte Jungfrau sie erstickt«. 
Hierauf mufs sie und der Kranke ausspucken. 

Verwandt ist ein Recept gegen elbische Besessenheit in einer Mün- 
chener Handschrift des ı5. Jahrhunderts (Analeeta Graecensia, Gräz 1893 
S. 43 Nr. 28). Wenn der Besessene einen Vater oder eine Mutter hat (auch 


! Der h. Laurentius, als auf dem Rost gebraten, schützt gegen Feuersbrünste. 

2 Mit umgekehrter Hand, d.h. mit dem Handrücken streicht die oberösterreichische 
Bäuerin den Frühlingsthau über die Kühe, um ihnen reichlich Milch zu verschaffen: Aın. 
Baumgarten, Aus d. volksth. Überlieferung der Heimat 1, 29. 


5* 


36 "K. WEINHoLD: 


können es sich Gatten gegenseitig thun), so soll der Kranke nackt auf dem 
nackten Beine des Heilenden eine gute Weile sitzen, und der Gesunde soll 
mit seiner Zunge dem Kranken über die Nase fahren. Schmeckt die Nase 
gesalzen, so rührt die Krankheit von den Elben her. Ein ander Zeichen 
dafür ist, wenn die Augen und Adern des Leidenden zwinkern (zwiddern). 

Auch gegen Thierkrankheiten ist bei Anwendung der Mittel des Arztes 
Nacktheit heilsam, wie nordindische Bräuche zeigen. Wird ein Thier krank, 
so zieht sich der Heilende in Jalandhar nackt aus und geht mit einem 
brennenden Strohwisch oder Rohrfasern um das Thier herum (Crooke, 42). 
Wenn in Sirsa ein Rofs erkrankt, tödtet man einen Vogel oder eine Geils 
und läfst das warme Blut in das Maul des Pferdes rinnen. Ist das nicht 
gut zu machen, so genügt, dafs sich ein Mann ganz entkleidet und mit 
seinem Schuh sieben Mal auf die Stirn des Rosses schlägt (Crooke, 41). 
In beiden Fällen Austreiben der Krankheitgeister unter Anwendung von 
Nacktheit. 

Um sich von einem unheilbaren Leiden zu befreien, mufs der Kranke 
nach jütischem Glauben, während der Priester auf der Kanzel steht, ganz 
nackt in die Kirche treten, dreimal auf die Altarstufen laufen und dreimal 
den Namen der Krankheit, an der er leidet, laut sagen (Kr. Nyrop, Navns- 
magt S. 68 f. 97). 

Als französischer Aberglaube wird aus dem 17. Jahrhundert berichtet, 
dafs Frauen und Mädchen, um vom Fieber geheilt zu werden, sich ganz 
nackt der aufgehenden Sonne zeigten und eine gewisse Zahl von Vater- 
unser und Ave Maria beteten (Liebrecht, Gervas. otia imper. S: 254 aus 
J.B. Thiers, Traite des superstitions. Par. 1697). 

Gegen die Nesselsucht ist ein probates Mittel in Pommern, in einen 
frisch ausgeschütteten Mehlsack nackt rückwärts zu kriechen (U. Jahn, 
Hexenwesen 154). 

Wenn man sich am Maitag vor Sonnenaufgang nackt im Thau wälzt,' 
wird man von jeder Krankheit, namentlich von Krätze und Läusen befreit 
(Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 266). 

Wer am Schwindel leidet, laufe nach Sonnenuntergang nackt dreimal 
um ein Flachsfeld, dann wird der Schwindel (Brand) auf den Flachs über- 
tragen (Kuhn, Märkische Sagen S. 386). 


! Über die Wirkungen des Maithaues S. go f. 


Zur Geschichte. des: heidnischen Ritus. 37 


Ein Kind mit englischen Gliedern lege man am Johannismorgen nackt 
in den Rasen und säe Leinsamen darüber. Wenn die Saat zu laufen (auf- 
gehen) beginnt, fängt auch das Kind zu laufen an (aus Oldenburg, Wuttke 
$ 543). 

Ein uraltes, weit verbreitetes Mittel zur Heilung eines Leidens war und 
ist das Durchkrieehen durch ein Loch oder eine Öffnung in der Erde, in 
Felsen oder Bäumen, oder durch eine künstlich gebildete Höhlung. Es ist 
eine rituale Handlung, die wohl nicht das Abstreifen der Krankheit und 
die Übertragung auf den Stein oder den Baum u. s. w. bezweckt, wie manche 
angenommen haben,' sondern welche die symbolische Wiedergeburt als 
gesunder Mensch bedeutet. Dafs dabei zugleich an eine sittliche Reinigung 
gedacht sei, wie Kr. Nyrop (Dania ı,21.23.29) meint, scheint mir zu 
weit gegangen. 

Dafs die Handlung als Opferritus zu nehmen ist, beweisen die von den 
Durchgekrochenen oder Durchgezogenen gebrachten Opfer an Kleidungs- 
stücken oder Kleiderfetzen, die sich neben den Spaltbäumen noch jetzt 
oft aufgehängt finden. Der Brauch ist aus Indien, Syrien, Kamtschatka, 
aus Afrika, aus Frankreich (schon durch eine Predigt des h. Eligius aus 
dem 7. Jahrhundert), Belgien, Deutschland, England, den skandinavischen 
Ländern bezeugt” und. wird noch heute geübt. In Frankreich findet das 
Durchkriechen nicht selten unter den Altären kirchlicher Heiligen statt, und 
dasselbe ist aus katholischen Landschaften in Bayern erwiesen: zur Heilung 
von Rückenschmerzen werden Höhlungen durchkrochen am Grabe des 
h. Otto in Banz, des h. Kilian in Würzburg, des h. Nonnosus in Freising 
(Lammert, Volksmediein in Bayern. Würzburg 1869 S. 269). 

Mir kommt es hier besonders darauf an nachzuweisen, dals die ur- 
sprünglich allgemein bei diesem Ritus vorauszusetzende Nacktheit sich noch 
jetzt erhalten hat. 

In einem Walde bei Fakse auf Seeland steht eine grofse Eiche mit 
einem Loche, weit genug, dafs ein Mensch durchkrieche. Es wird gegen 


' U.a. J. Grimm, D. Mythol. 2°, 1119; Gaidoz, Un vieux rite medicale. Paris 1892 
‚8.78 f. 

?2 Grimm, Mythol. 1118; Gaidoz (vergl. oben); Nyrop, Daniaı,ı-31; Th.A.Müller, 
Dania III, 139f.; Hammarstedt, Om smögning og därmed befryndade bruk. Stockh. 1893; 
A. Hock, Croyance et remedes popul. Liege 1888 S. 30.5715 Wuttke, $ 121. 503; Zeitschr. 
d. Vereins f. Volkskunde I, roı. I, 81. III, 36; Panzer, Bayrische Sagen 2, 201. 301. 428; 
Schmidtkonz, Der Deichbaum (Mittheil. zur bayrischen Volkskunde. 1895 Nr. 2). 


38 K. Weınmoup: 


Gicht und Halsdrüsen noch jetzt benutzt; der Kranke mufs ganz nackt 
dabei sein. Es werden Späne in gewisser Zahl aus dem Baume geschnitten, ' 
die zusammen mit einem Kleidungsstück oder wenigstens einem Lappen 
am Fufs der Eiche niedergelegt werden. Alles muls schweigend nach 
Sonnenuntergang geschehen (Nyrop, Dania I, 9-15). ? 

In Mecklenburg ist das Durchkriechen oder Durchziehen durch enge 
Löcher, namentlich die von einem Doppelbaum gebildete Öffnung? gegen 
Lähmungen, Rheumatismen, Brüche sehr üblich gewesen und auch heute 
noch in Anwendung. Manche Bäume (gewöhnlich sind es Eichen) sollen 
nur wirken, wenn der Kranke nackt durchkriecht; andere wirken auch 
durch die Kleider durch (Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 321 f.). 

Bei den Südslaven findet sich eine hierher zu stellende Entzauberung bei 
Krankheiten. Nach vorausgegangenen Sprüchen und Handlungen legt die 
Zauberin zwei Rasenstücke auf den Boden, so dafs Raum bleibt, zwischen- 
durch zu schreiten; auf einer Seite legt sie vier, auf der anderen fünf Huf- 
eisen zu dem Rasen, stellt je ein Glas Wasser und ein Stückchen von einer 
Weihnachtkerze hinzu, und legt zwei trockene Stäbchen, hier von Kornel- 
kirsche, dort von Elsenholz (Faulbaum) hinzu. Dann schreitet der Kranke 
nackt dreimal zwischen den Rasenstücken hindurch, während das Zauber- 
weib eine Beschwörung der Geister spricht (Fr. Kraufs, Volksglaube der 
Südslaven 52). 

Aus Dänemark ist berichtet, dafs ein Mädchen sich für die Zukunft 
leichtes Gebären sichern kann, wenn es um Mitternacht nackt durch 
die ausgespannte Geburtshaut eines Füllen hindurchkriecht. Aber die 
Geister verlangen dafür ein Opfer: die Knaben werden Werwölfe und die 
Mädchen Maren (Alpe): Thiele, Danmarks Folkesagn II, 279. III, 186. 
Dieses Durchkriechen kann aber auch höheres Wissen verleihen. So wurden 
jüngst im Dorfe Kleinsölk in Obersteiermark zwei Bauern belauscht, als sie 


! Bei dem Milchzauber schneidet die nackte Hexe drei Späne aus dem Thore der 
Nachbarin, Grimm, Mythol. 3*, 417. 

2 Abbildung eines Zwieselbaumes (Doppelbuche) aus Eldena in Pommern, von E. Friedel, 
in meiner Zeitschrift II, 81. 

3 Anmerken will ich hier einen steirischen Brauch, bei dem zwar das Durchkriechen 
nicht vorkommt, der sich aber auf kommenden Kindersegen bezieht. Die Nacht vor der 
Trauung soll das Mädchen in einen Wasserbottich steigen und darin niedertauchen. So oft 
sie es thut, so viel Kinder wird sie kriegen (Schlossar, in der Germania 36, 404). 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 39 


nackt durch eine gespaltene Buche krochen, in der Meinung, darnach hexen 
zu können (Meine Zeitschrift 5, 410). 

Alle aufgeführten Fälle betrafen die Krankheit einzelner Personen. 
Wichtiger noch sind die Versuche, grofse Seuchen abzuwehren. 

Nach dem Glauben der polabischen Wenden schützte gegen die Pest, 
wenn ein nackter Mann bei Sonnenaufgang mit dem Kesselhaken seines 
Herdes um seinen Hof — oder auch um das ganze Dorf — lief, und 
dann den Haken unter seiner Thürschwelle — oder unter der Brücke, die 
zum Dorfe führt — vergrub. Dadurch ward der Pestgeist von dem Dorfe 
— oder dem Hause — ausgeschlossen. So erzählte der wendische Bauer 
Johann Parum aus Süten im Lüneburgischen um die Mitte des 17. Jahr- 
hunderts in seiner Chronik (J. Grimm, Mythol. 1138 f.). Der Kesselhaken 
ist wohl Vertreter des heiligen Herdfeuers, aulserdem schützt Eisen über- 
haupt gegen böse Geister. ' 

Die Umfurchung eines Orts mit dem Pflug als Abwehr gegen Seuchen 
erweisen russische Bräuche, bei denen auch die Nacktheit der vor den 
Pflug gespannten Weiber nicht überall verschwunden ist. Da die Geist- 
lichkeit den alten Heidenritus in manchen Orten in eine kirchliche Pro- 
cession umwandelt, ist die Nacktheit theils ganz beseitigt, theils durch 
Einhüllung in weifse Hemden ersetzt (Mannhardt, Wald- und Feldeulte 
1, 561£.). 

In ihren Wanderings of a pilgrim in search of the Pieturesques er- 
zählt Mrs. Fanny Parkes Folgendes von einer Geremonie der Hindufrauen 
zum Schutz gegen die Cholera. Am Abend um 7 Uhr ungefähr versam- 
meln sich zuweilen einige Hundert Weiber, jede mit einem Gefäfs, worin 
Wasser, Zucker und Gewürze sind. Daraus bereiten sie ein Getränk. Dann 
führen sie, indem sie ihr leichtes Gewand möglichst hoch um die Hüften 
heben, einen wilden Tanz auf, während in ihrem Kreise fünf oder sechs 
ganz nackte tanzen und die Hände bald über dem Kopf, bald am Rücken 
zusammenschlagen. Das Geschrei der Frauen, die Musik der Männer, die 
sich in einiger Ferne halten, machen einen wahnsinnigen Lärm, der mit 
allem übrigem den Choleradämon verscheuchen soll (Crooke, Folk-lore 
of Northern India 41 f... Dafs auch die Umpflügung in Nordindien ge- 


! Über allerlei Talismane zur Absperrung der Seuchen von Ortschaften bei den Natur- 
völkern M. Bartels, Die Medicin der Naturvölker S. 250 ff. 


40 K. WeınHorp: 


schieht, erhellt aus dem jüngst aus Berar berichteten Gebrauch. dafs man, 
wenn die Cholera in einem Dorfe ist, dasselbe rings umfurcht, aber eine 
Lücke läfst, durch die der Cholerageist entschlüpfen soll. Dort wird ein 
Vogel und eine Geifs geopfert und vergraben, der Pflugbaum und das 
Joch werden in die Erde eingegraben und verehrt. (Aus North Indian 
Notes and Queries vol. IV, in Folk-lore VII, 93. 1896.) 

2. Alles das waren abwehrende Mittel gegen Krankheiten und leib- 
liche Schäden, bei denen die‘ Nacktheit gefordert ward. Sie läfst sich 
aber auch nachweisen, wenn sich der gesunde Mensch die Gesundheit 
und damit noch verbundene Schönheit sichern wollte. 

Die Kraft des Wassers, dieses reinen und reinigenden Urelements, das 
nichts Unreines und Böses duldet, kannte und benutzte die Menschheit 
von Anfang an. Vorzüglich aber mufste das sanfte Nafs des Himmels, 
der die Pflanzenwelt erquiekende und befruchtende Thau, auch Menschen 
und Thieren heilsam erscheinen. 

In Oberösterreich (unteres Mühlviertel) war es noch in den ersten Jahr- 
zehnten des 19. Jahrhunderts Brauch, am Morgen des Georgitags (23. April) 
thaufangen oder thaufischen gehen. Das Weibsbild, das es that, ging vor 
Sonnenaufgang nackt auf Wiese oder Feld und streifte »das« Thau in einen 
Krug. Zu Hause fuhr sie mit der thaunassen umgekehrten Hand den 
Kühen über den Rücken, die dadurch erstaunlich viel Milch gaben. Thau 
in das Futter gegeben schützte gegen Verhexung des Viehs. Aber auch 
die Hexen gingen thaufangen, weil sie den Thau zur Hexensalbe brauchten. 
(Am. Baumgarten, Aus der Heimat 1, 29.) Das beweist die magische Kraft 
des Frühlingsthaus. 

Auch nach holsteinischem und oberpfälzischem Glauben kann man 
dureh Maithau reichlich Butter gewinnen (Wuttke, $ 88). 

Durch das Abstreifen des Thaues werden nach der Meinung in 
Thüringen und an der Rhön die Hände heilkräftig. Man soll es in der 
Östernacht Schlag ı2 Uhr thun und dabei sagen: »Was ich anfasse, ge- 
deihe! was ich berühre, verschwinde!« (Witzschel, Sagen, Sitten und 
Gebräuche aus Thüringen 2, 198). 

Die Nacktheit wird hier nicht erwähnt. Bestreichen der Hände oder 
Waschen tritt an die Stelle des Thaubades. So in Woldegk in Mecklen- 
burg, wo die Mägde am Österabend Linnen im Garten ausbreiten und 
sich mit dem darauf gefallenen Thau, Regen oder Schnee am Morgen 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 41 


waschen. Das bewahrt das ganze Jahr vor Krankheit (Kuhn-Schwartz, 
Norddeutsche Sagen 374). 

Weit verbreitet ist in ganz Deutschland und auch sonst die Meinung, 
dafs Abreibung des Gesichts mit Maithau gegen alle Hautunreinheiten, 
Blattern, Sommersprossen schütze (Wuttke, $ ıı3; Lammert, Volks- 
mediein in Bayern 179. Questionnaire de Folk-lore. Liege 30). Auch wenn 
man im Thau barfufs geht, zieht es alle Unreinheit aus dem Körper 
(Sehönwerth, Aus der Oberpfalz 2,133). Maithau giebt Gesundheit 
und schützt gegen böse Geister nach dem Glauben der Bewohner der ur- 
sprünglich irischen Insel Man (Moore, The Folk-lore of the Isle of Man. 
London 1891 S. ıır). 

Aber auch die alte Nacktheit bei dem Thaubade läfst sieh noch aus 
vielen deutschen Ländern nachweisen. Die Folge ist Schutz gegen Haut- 
krankheiten, Ungeziefer, überhaupt Gesundheit und schöne Haut (Wuttke, 
S$ 88.113; Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 266). Sogar die verlorene Jung- 
frauschaft soll das Mittel wiederbringen (Schönwerth, Aus der Ober- 
pfalz 2,133). 

In Böhmen legt man sich Nachts gegen das Fieber nackt unter einen 
Kirschbaum und schüttelt den Thau auf den Rücken (Wuttke, $ 529). 
In Schlesien (Striegau, Freiburg, Schweidnitz) gehen die Mädehen vor 
Sonnenaufgang in die bethauten Weizenfelder und wälzen sich nackt darin, 
weil das schön weifs macht (Schroller, Schlesien 3,331). Ganz ebenso 
wälzen sich in Poitou die Mädchen entkleidet im Mai im thaunassen Grase, 
um schönen Teint zu bekommen (L. Pineau, Le Folk-lore de Poitou 498). 
Auf Island gilt der Thau der Johannisnacht für so heilsam, dafs Jeder, 
der sich nackt darin wälzt, von jeder Krankheit, welche es auch sei, 
genese (Isländische Volkssagen aus der Sammlung von Jön Arnason, 
übersetzt von M. Lehmann-Filhes 2, 264). 

Abseits dieser Heilmittel mit Frühlingsthau liegt ein sympathetisches 
Mittel, das beim Zahnen der Kinder in Thüringen, Schlesien, der Altmark 
und Östpreufsen angewandt wird. Wenn eine Mutter ihr Kind entwöhnt und 
ihm steinharte Zähne sichern will, so mufs sie sich unter dem Einläuten zum 
Gottesdienst mit blofsem Gesäfs auf einen Stein (am Besten auf einen Grenz- 
stein) setzen. Soll das Kind leicht zahnen, so soll sie sielı nach Wetterauer 
Meinung ebenso setzen, aber dem Kinde einen Stofs geben, so dafs es auf 
dazu hingelegtes weiches und weilses Brot falle (Wuttke, $ 601). 

Philos. - histor. Abh. 1896. I. 6 


42 K. WeEınnmou: 


Bei den weitverbreiteten, aus der antiken Welt hauptsächlich durch 
die Luperealien und das Fest der Fauna oder Bona Dea bekannten Bräuchen, 
dafs zu gewissen Zeiten (Jahresbeginn, Frühlingsanfang) durch Herum- 
schwärmende die Begegnenden mit Ruthen, Peitschen, Riemen geschlagen 
werden, um ihnen Gesundheit und Fruchtbarkeit durch Austreibung hin- 
dernder Dämonen zu verleihen, ist mir die Forderung der Nacktheit, ab- 
gesehen von den römischen Luperei, nicht bekannt; denn die muthwilligen 
oder rohen Entblöfsungen, die dabei mitunter vorkamen, gehören nicht 
hierher. Die Prügelweihe des Bräutigams und das Schlagen der Braut, 
das landschaftlich bei den Hochzeiten vorkommt, geschieht in der oben 
bezeichneten Absicht. 

Über diese Bräuche hat W. Mannhardt ausführlich gehandelt in den 
Mythologischen Forschungen S.72-152 und in den Wald- und Feldeulten 
I, 252-303. 


Dies Schlagen mit der Lebensrute, wie Mannhardt es nannte, wird 
beim ersten Austrieb der Herden im Frühjahr ebenfalls vollzogen. Auch 
hier kann ich nicht die Nacktheit des Hirten nachweisen, wohl aber bei 
anderen Bräuchen, die sich auf den Gedeih des Viehes und den Nutzen 
von demselben beziehen. 

In Mecklenburg setzte man ein nacktes neugeborenes Kind männlichen 
Geschlechts auf ein Pferd und führte es auf demselben auf dem Hofe herum. 
Dadurch werden alle Rosse, die ein soleher Knabe besteigen wird, den 
besten Dägen (Gedeih) haben, und selbst kranke 'Thiere, die er besteigen 
wird, sollen alsbald heil werden (Ackermann, Mecklenb. Monatschr. 1792 
S. 345; bei Bartsch, Mecklenb. Sagen 2, 41). 

Soll eine Kuh zum ersten Male kalben, so mufs eine nackte Frau 
um sie herumgehen, ihr Hemd über den Rücken des Thieres hinübergeben 
und unter seinem Bauche wieder hervorziehen (Haltrich-Wolff, Zur Volks- 
kunde der Siebenbürger Sachsen. Wien ı885 S. 279). 

In manchen magyarischen Gegenden Ungarns läuft die Hausfrau drei- 
mal um das Vieh nackt herum, um es gegen die Bösen zu schützen 
(Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde 4, 398). 

Schlagen die Kühe beim Melken aus, so mufs sich die Magd mit 
nacktem Hintern auf den Melkschemel setzen; die Kühe werden sofort 
ruhig (Brandenburg, meine Zeitschr. 1,185). 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 43 


Die Tolmescher im Siebenbürger Sachsenlande treiben an einem ge- 
wissen Tage zu Mitternacht ihre Schweine unter Geschrei und Peitschen- 
knall zum Dorfe hinaus auf einen bestimmten Platz. Dort wird die Herde 
von dem nackten Gemeindehirten (früher von alten nackten Weibern) drei- 
mal im Kreise umsprungen. Dadurch wird Krankheit und Schaden für das 
ganze Jahr von den Schweinen nicht blofs, sondern auch von allen Theil- 
nehmern am Speetakel abgewehrt. 

In anderen sächsischen Dörfern kommt es vor, dafs der Hirt, wenn 
er die Schweine zum ersten Mal im Jahre austreibt, nackt sein mufs. Als 
ein Pfarrer das abschaffen wollte, fragte ihn der Ortsvorstand, ob er alle 
Schweine, die dann verreekten, bezahlen wolle (Haltrieh-Wolff a.a.0. 279). 

Nach althebräischer Meinung mufs eine nackte Jungfrau die Henne 
zur Brut setzen, wenn die Küchlein besonders gedeihen sollen (H. Lewy, 
in meiner Zeitschr. 3, 38). 

Reichlicher Mileh- und Buttergewinn ist der Wunsch jeder Bäuerin. 
Folgende südslavische Zauberhandlung ist wegen ihrer ausführlichen Be- 
schreibung (Fr. Kraufs, Volksglaube und religiöser Brauch der Südslaven 
S. 55) besonders lehrreich. 

Am S. Georgsabend, d.i. am Vorabend, nach Sonnenuntergang ent- 
kleidet sich die Bauersfrau und liest nackt im Walde eine Bürde Holz, 
trägt sie um das Dorf und dann nach Hause. Früh vor Sonnenaufgang 
löst sie die Bürde auf und legt die Theile des zerschnittenen Bürden- 
strieks und die Holzstücke über den Weg, auf dem das Vieh ausgetrieben 
wird. Aus dem Wege sticht sie dann ein Rasenstück, legt es um das 
Butterfals, und bindet es mit einem Stricke fest. Sie ist dabei nackt. 
Dann betet sie: »Leih, lieber Gott, deinen Beistand, und auch du, Mutter 
Gottes! Früher stellt sich bei mir die Butter ein, als die heifse Sonne aufgeht. 
Eher kommt zu mir die Butter, als ein Vogel über das Wasser fliegt. 
Eher trabt die Butter zu mir herein, als ich mich umgürten kann. Eher 
trollt sich die Butter her zu mir, ehe die ganze Welt frühstückt. Eher 
zeigt sich die Butter, als ich aufathme«. 

Darauf bläst sie dreimal in das Butterfafs, rührt die Milch und 
spricht: »Nackt, barhäuptig rühre ich um; lauter nackte, barhäuptige 
Butter möge ich ausrühren!« Dann fafst sie und schlägt sich an die 
Hinterbacken und sagt: »Dem ganzen Dorfe einen Auswuchs! mir aber 
sei dies nur ein Streich mit Bast«. Dann nimmt sie die fertige Butter 

6 


44 K. WEınnmoLp: 


heraus und legt sie in Wasser, das sie später in einen Henkeltopf gielfst. 
Am darauffolgenden Sonntag im Neumond giefst sie dieses Wasser auf die 
Stelle, wo die Strick- und Holztheile am Georgsabend lagen und spricht: 
»Dem ganzen Dorfe Spülich und Schwemmich, mir aber den Genufs und 
die Butter«. 

Auch nach deutscher Meinung müssen die Weiber beim Milchzauber 
ganz nackt sein. Es ist das eine Bedingung für den Buttergewinn.' Auch 
die Kräuter, die sie am Walpurgistage auf den Wiesen sammeln, von denen 
die Kühe reichliche Milch bekommen, pflücken sie nackt. Wenn sie die- 
selben heimgebracht, setzen sie ein Stühlchen auf den Herd,” besteigen es 
nackt und beschwören jedes Kräutchen (Schönwerth, Aus der Oberpfalz 
1, 379 f.). Wenn Weiber oder Dirnen in der Walpurgisnacht im Kuhstall 
nackt wachen und früh Morgens Kräuter auf den Wiesen und Reiser auf 
dem Düngerhaufen suchen, sind es sicher Hexen (Schönwerth, ı, 367). 
Eine oberpfälzische Drud ging um das Rührfafs nackt herum und sprach 
beim Rühren: »Rührl, dau di zam, Von Rengsburg bis af Ram (Rom), 
Von jeda Kou a Lefferl voll, Nau wird man ganzs Röyarfols voll (Schön- 
werth, I, 382). 

Aus einer St. Florianer Handschrift (Oberösterreich) theilte J. Chmel 
folgendes Mittel mit, wie die Hexen es am Sunwendtag machen, um den 
Nachbarinnen die Milch ab- und sich zuzuwenden: An dem sunbenttag 
do get eine ersling auf allen vieren mit plossem leib zu irer nachtparin 
tor und mit den fuzzen steigt sy ersling an dem tor auf und mit ainer 
hant halt sy sich und mit der andern sneyt sy drey span aus dem tor 
und zu dem ersten span spricht sy: »ich sneyt den ersten span Nach 
aller milich wan«, zu dem anderen auch also. zu dem dritten spricht sy: 
»ich sneyt den dritten span Nach aller meiner nachpaurinnen wan«. und get 
ersling auf allen viern herwider dan heim (J. Grimm, Mythol. 3%, 417). 

Hier haben wir also Nacktheit, Rückwärtsgehen und Spanschneiden 
verbunden. Der Span diente in Norwegen und auf Island zum »Losen«, 
er hiefs blötspann, Opferspan (Maurer, Bekehrung 2, 132). In der Ober- 
pfalz hebt das Mädchen in der Thomasnacht drei Späne auf und horcht 
dann auf das Geräusch, das den künftigen Gatten anzeigt (Wuttke, $ 341). 


! Wuttke, Aberglaube $ 217; Schönwerth, ı, 369 fl. 382 f. 
® Erinnert an den nordischen Seidhjallr. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 45 


Im Erzgebirge, Vogtland und Thüringen mufs aus dem Tragkorbe, mit 
dem eine Fremde in die Kinderstube kommt, ein Span geschnitten und 
in die Wiege gelegt werden, damit dem Kinde nicht die Ruhe mit dem 
Korbe fortgetragen werde (Wuttke, $ 586). 


Aus anderen auf Thiere bezüglichen Zauberbräuchen weils ich nur 
von den Bienen etwas beizubringen: Wenn die Bienen schwärmen, wer- 
den sie dadurch in den Stock zurückgebracht, dafs ihnen ein Weibsbild 
nachläuft und ihnen das blofse Gesäfs zeigt (A. Höfer in Pfeiffer’s Ger- 
mania 1, 109). Wir haben dieselbe Gebärde schon mehrfach angeführt; 
es ist nichts Anderes herauszudeuten, als dafs sie ein bequemer Ersatz für 
das volle Entkleiden ist. Ein Bienensegen wird ursprünglich dazu gehört 
haben, dessen Wirkung die Entblöfsung nur verstärken sollte. 

Denn die Nacktheit ist durch ihre magische Kraftbegleitung ritualer 
Handlungen gewissermafsen etwas Geisterhaftes, das eine Steigerung der- 
selben hervorbringt. So nur ist sie zu fassen bei den wenigen Fällen 
des Bahrgerichts, in denen sie erwähnt wird. Sie gehören beide in 
späte Zeit, in das 16. Jahrhundert, und fallen beide der Schweiz zu. Den 
einen Fall erzählt P. Etterlin in seiner Chronik zum Jahre 1503. 

Gegen Hans Spiefs von Willisau, der beschuldigt war, sein Weib er- 
stiekt zu haben, »ward mit urteil erkant, dafs man die guoten frowen 
usgraben solte, in bescheren‘ und nackent uber sie furen. — Do alle ding 
also geordnet waren, stund der arm man nackent und blofs als fern von 
der bar dafs er die eben sehen mocht und hatt im der Henker ein seil 
an die bein gelegt glicher wise als eim schwin oder su —« (J. Baech- 
told in den Romanischen Forschungen 5, 226 f.). 

Nach dem Luzerner Formelbuche von 1542 von Beat Rippel wurde 
die Bahre auf eine Ebene unter freiem Himmel gestellt, so dafs kein Un- 
berufener darauf sehen konnte. Der Verdächtige ward am ganzen Leibe 
beschoren, damit er keine Zauberei im Haar verborgen trüge. Nackt 
bis auf ein neues Untergewand, ein geweihtes Licht in der Linken, in 
Begleitung der Gerichtspersonen trat er auf die rechte Seite der Bahre, 
kniete nieder und betete mit den Urkundpersonen fünf Paternoster, Ave 


! Wie die Hexen und Zauberer beim Inquiriren. 


46 K. WEınHou»: 


Maria und den Glauben, auf dafs Gott ein Zeichen der Wahrheit zum Bei- 
stand thun wolle. Darauf legte er die rechte Hand auf die Brust des 
Todten, der um Wunde, Herz und Mund entblöfst war, und sprach das 
Gebet, dafs Gott ein Zeichen seiner Schuld oder Unschuld gebe. Hierauf 
beschauten sieben Männer die Leiche. Bluteten die Wunden, so war der 
Thäter entdeckt (Segesser, Rechtsgeschichte der Schweiz 2, 702). 

Bei der Beurtheilung des Bahrgerichts,' das bekanntlich am frühesten 
aus dem ı2. Jahrhundert und aus Frankreich bezeugt ist, schliefse ich 
mich Konr. Maurer an, der es als Inquisitionsmittel fafst und der zauber- 
haften Erforschung des Thäters, wie durch Siebdrehen, vergleicht. Die 
Nacktheit ist Verstärkung des Wunderbaren. 

Als Verstärkung des Eides erscheint sodann die (gemilderte) Nackt- 
heit, bei der dem skandinavischen Rasengange zu vergleichenden Procedur 
bei Grenzstreitigkeiten, die aus dem polnischen Oberschlesien, aus Ungarn 
und Siebenbürgen nachgewiesen ist. Die Zeugen schwören, in einer Grube 
barfufs stehend oder kniend, im Hemd oder mit gelöstem Gürtel, ein Rasen- 
stück auf dem Kopfe (Grimm, Rechtsalterth. 120; Zeitschr. d. Vereins f. 
Volkskunde 3, 224. 4, 214). 


Zum Schlufs stelle ich eine Reihe von Fällen zusammen, bei denen 
die Nacktheit die Mittel verstärken soll, die auf Gewinn von besonderen 
Kräften, von Glück, von Liebe zielen. 

Ein nordindischer Glaube ist: wer eine Eule (das geheimnifsvolle 
Zauberthier) in einen Raum sperrt, nackt zu ihr geht und bei verschlossener 
Thür sie die ganze Nacht mit Fleisch füttert, erlangt Zauberkraft. So er- 
zählt Mr. Crooke (Introduet. S. 175), der einen eingeborenen Schreiber hatte, 
von dem es hiefs, er habe das gethan und der deshalb sehr gefürchtet war. 

Wer in der Johannisnacht Farnkraut nackt holt, kann damit Alles 
erreichen, das er wünscht (J. Chr. Männlingen, Albertäten S. 238).” Hier 
ist allerdings der Farnsame, der in der Johannisnacht reif wird, das eigent- 
lich Glück schaffende, der Wünschelsame (der wünschelsäme des varmen 


' Vergl. darüber K. Lehmann, Das Bahrgericht, in den Germanist. Abhandlungen für 
Konr. von Maurer. Göttingen 1893 S. 23—45. 
2 Nach A. Schultz, Alltagsleben einer deutschen Frau des 18. Jahrhunderts S. 241. 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 47 


j. Titur. 4221,2) aber die Nacktheit gehört dazu, den Farn zu finden, was 
sonst sehr schwer ist (Grimm, Mythol. 1160; Wuttke, $ 123). 

Wenn man am Johannistag vor Sonnenaufgang nackt die Kräuter 
Eisenkraut und Aberraute sucht, dieselben in Essig kocht und den Gewehr- 
lauf damit ausspült, so gewinnt man einen unfehlbaren Schufs (Aus 
Böhmen, Wuttke, $ 714). 

Wer ein Freischütz werden will (also stets Treffer schiefsen), mufs 
sich ganz nackt ausziehen." Unter Gebeten und Beschwörungen weihen 
ihn darauf der Altmeister und zwei Freischützen ein. Zeigt er dabei 
Furcht, so wird er bis auf’s Blut gegeifselt und fortgejagt (U. Jahn, Volks- 
sagen aus Pommern Nr. 413). 

Einige griechische Beweise für die bei Zauberhandlungen erforderliche 
Nacktheit mögen die modernen Beispiele gewissermafsen veredeln. 

Als der grofse Dulder Odysseus, von Kalypso endlich freigegeben, 
auf seinem Flofse dem Phäakenlande sich naht, zerbricht ihm der er- 
grimmte Poseidon Mast und Steuer. Dem Verzweifelten erscheint Ino- 
Leukothea und giebt ihm den Befehl, sich zu entkleiden und den gött- 
lichen Schleier, den sie ihm reicht, um die Brust zu schlingen und getrost 
in die Flut zu springen. Sei er dann am Lande, solle er den Schleier 
mit abgewandtem Antlitz (also rückwärts) in das Meer werfen (Odyss. 5, 
343350). 

Um sich unverwundbar zu machen, reibt sich Iason auf Medea’s Rath, 
nachdem er sich entkleidet (yvurwdeis) mit einer Salbe die Haut ein (Apoll. 
Argon. 3,1042 f.). 

Selbst die Göttinnen, was hier als Nachtrag zu den Hexenfahrten 
(S.ı5 f.) gegeben sei, gewinnen die Fähigkeit zu raschen Reisen in die 
Ferne und Höhe nur nach dem uns bekannten Ritual: Entkleidung, Sal- 
bung, plötzliche Auffahrt. So Hera, als sie zur Liebesfeier mit Zeus auf 
den Ida eilt (Iliad. 14,170 f.) und Aphrodite, da sie von Sehnsucht nach 
Anchises erfüllt, von Paphos nach Troja fliegt (Hymn. in Aphrod. 45 ff.). 


! Den Grund dafür fand jüngere (militairische) Deutung darin, er solle auf Fehler- 
losigkeit untersucht werden, 


48 K. WeEınmoud: 


Beim Liebeszauber wird die Naektheit öfter gefordert. 

Die älteste schriftliche Erwähnung aus Deutschland findet sich bei 
Burchard von Worms. Darnach liefsen sich Frauen, welche ihre Männer ver- 
liebter haben wollten, indem sie niederknieten, auf ihrem entblöfsten Ge- 
säfse Brotteig kneten und gaben von diesem Brote ihrem Gatten zu essen 
(Grimm, Mythol. 3', 409; Friedberg, Aus deutschen Bufsbüchern 97). 
Wir können dazu einen samländischen Brauch vergleichen, wenn auch 
nichts von Entblöfsung dabei gesagt ist (Grimm a.a. 0. 2*, 922): Beim 
Brotkneten legt das Weib, das ihres Mannes Liebe erkalten fühlt, neun- 
mal etwas vom Teige zurück und bäckt ihm daraus einen Fladen. 

Verwandt ist ferner ein von K. von den Steinen aus Cujaba (Unter 
den Naturvölkern in Gentral-Brasilien S. 558) berichteter Liebeszauber. 
Will eine Frau die Liebe eines Mannes gewinnen, so setzt sie sich nackt 
in eine grolse Bleehschüssel mit Wasser und zerbricht über ihren Schultern 
ein Ei, das nun über ihren Rücken in die Schüssel hinabläuft. Sie nimmt 
das Dotter mit der Hand aus dem Wasser und mischt es unter die Speise 
des Mannes. 

Bei den Liebestränken habe ich die Nacktheit der Bereitenden nicht 
erwähnt gefunden, zweifellos war sie aber ursprünglich Forderung für ihre 
Wirkung. Auch bei anderen Arten des Liebeszaubers, die von Plofs- 
Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde 1°, 352-364, von 
A. Wuttke, Deutscher Aberglaube, $$ 548-555 und von E. Sidney 
Hartland, The Legend of Perseus I, 117-131 vorgeführt werden, ist 
sie fast vergessen. 

Mit Augen sehen wir sie auf einem schönen Gemälde aus der flan- 
drischen Schule des ı5. Jahrhunderts im Leipziger Museum, worauf ein 
nacktes Mädchen in reich ausgestattetem Zimmer dargestellt ist, das auf 
ein (wächsernes) Herz, das in einer kleinen Truhe liegt, mit Stahl und 
Feuerstein Funken schlägt. Die Thür öffnet sich, und ein junger Mann 
tritt herein, der dadurch aus der Ferne herbeigezaubert ist. 

Sicher war die Nacktheit gefordert bei dem Todtenbahrziehen in 
Steiermark, wenn es zu Liebeszwecken vorgenommen wird, da, wie wir 
früher bei anderen Zielen dieses Aberglaubens erwähnten, die Ausführung 
durch nackte Personen vorgeschrieben ist. — Will ein Mädchen sich die 
Treue ihres Liebhabers festbannen, so geht es Nachts auf den Freithof, 
sammelt Todtenbeine in einem Korbe, setzt diesen auf die Todtenbahre 


Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 49 


und zieht, sieben Schädel aus dem Beinhause in der Schürze, die Bahre 
siebenmal über die Gräber hin und her, indem es sagt: »Lieber Seppl, 
bleib deinem Dierndl treu! sonst werden die Todten in deine Kammer 
kommen und dich und das falsche Dierndl erwürgen«. (Aufzeichnung 
von 1813.) 

Erhalten ist die Nacktheit in einigen aufserdeutschen Belegen: 

Wenn auf Lesbos ein junges Mädchen einen Mann ohne Erwiderung 
liebt, so reitet die Mutter ganz nackt auf einem Stabe, mit einer Spindel 
und einem Aschensack bewaffnet, dreimal um ein allein liegendes Haus 
und ruft vor dessen Thür den Namen des spröden Liebhabers. Die Mutter 
kann sich durch ein anderes Weib vertreten lassen (Georgeakis et Pineau, 
Le Folk-lore de Lesbos. Paris 1894 S. 346). 

Will eine Zigeunerin die Liebe eines Mannes erlangen, so zieht sie 
sich ganz aus, spricht einen Spruch und stiehlt dem Manne im Schlafe 
eine Locke, die sie zusammengebunden in einem Beutel oder an einem 
Ringe bei sich trägt. Sie hat dann volle Gewalt über den Mann (Hart- 
land, Legend of Perseus II, 121 nach Leland Gips. Sore. 134). 

Auf den muhamedanischen Seranglao- und Gorong-Inseln setzt sich 
die Frau oder der Mann, die Jemand in sich verliebt machen wollen, 
nackt in’s Wasser, beschwören die Gestirne, blasen dann zweimal in die 
Hände und benetzen sich dreimal den Kopf mit Wasser (Plofs-Bartels, 
Das Weib ı?, 357 £.). 

Die Liebe verkehrt sich oft in tödtlichen Hafs; dasselbe Weib, das 
durch Zauber die Leidenschaft des Mannes wecken wollte, will ihn tödten. 
In dem 19. Buche der Canones des Burchard vom Worms steht neben den 
Beichtfragen über den Liebeszauber, auch die: ob das beichtende Weib 
etwa nach Gewohnheit der Weiber gethan, ihren nackten Körper mit 
Honig bestrichen und sich dann auf einem mit Weizenkörnern bestreuten 
Leintuche gewälzt, dann die anklebenden Körner abgelesen, sie in die 
Mühle geschiekt und in der rückwärts gegen die Sonne gestellten Mühle 
habe mahlen lassen. Ob sie aus diesem Mehle ein Brot gebacken und 
dem Manne davon zu essen gegeben habe, damit er hinschwinde und 
sterbe (Grimm, Mythol. 3°, 410; Friedberg, Aus Bufsbüchern S. 100). 


Philos. - histor. Abh. 1896. TI. 7 


50 K. Weınnoun: Zur Geschichte des heidnischen Ritus. 


Die uralte Bedeutung und die weite Verbreitung der Naektheit in 
den gottesdienstlichen Riten und in dem Zauberwesen wird durch das 
Vorgetragene genügend erwiesen sein. Die ethnologischen Parallelen waren 
nöthig zur Beleuchtung der deutschen Gebräuche. Ohne diese Verglei- 
chungen würde das Meiste unverständlich sein. Vom Boden der Gegen- 
wart wäre es nur falsch zu beurtheilen. Aus einer untergegangenen Welt 
kommt das Licht für das geheimnifsvolle Treiben, das sich vor der Sonne 
des Tages verbirgt, und einst voll grofser Bedeutung auf das Leben des 
Volkes gewesen ist. 

Eins wird sich nebenbei auch wieder erwiesen haben, dafs das mytho- 
logische Quellenmaterial nicht nach dem Alter der schriftlichen Aufzeich- 
nung abzuschätzen ist. Was niemals aufgeschrieben war und nur in der 
mündlichen Überlieferung sich erhalten hat, läfst sich oft (freilich nicht 
in Bausch und Bogen) als Rest vorhistorischer, urältester Zeit beweisen. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Aus dem Papyrus 3024 der Königlichen Museen. 
Von 


H” ADOLF ERMAN. 


Philos. - histor. Abh. 1896. II. 


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5 ‚HASEITT MIIBINOM PFEN HEHE RINYEmE Lan Hall 
5 Gelesen in der Gesammtsitzung am 21. Mai 1896 
1 [Sitzungsberiehte St. XXVI. S. 599]. 


Zum Druck eingereicht am 30. Juli, ausgegeben am 16. December 1896. 


Einleitung. 


Wer es versucht, die uns überkommenen Reste der weltlichen Litteratur 
der Aegypter zu ordnen, gewinnt den Eindruck, als habe sie gegen den 
Ausgang des dritten Jahrtausends, im sogenannten mittleren Reiche, in 
besonderer Blüthe gestanden. Noch viele Jahrhunderte später werden 
Schriften dieser Epoche den Schülern als Musterstücke vorgelegt, und die 
eigenthümliche Phraseologie, die uns in den Texten des mittleren Reiches 
begegnet, läfst sich noch bis in die späteste Zeit hinein verfolgen. 

Auch eine andere Beobachtung spricht dafür, dafs jene alte Zeit ein 
reges litterarisches Leben gesehen hat. Seit dem Anfange des mittleren 
Reiches tritt in den meisten Inschriften eine gesuchte Poesie auf, die in 
auffälligem Gegensatz zu dem schlichten Tone der Inschriften des alten 
Reiches steht. Es ist die Zeit, wo sich ein hoher Offieier in seiner Grab- 
schrift »das warme Zimmer des Frierenden« und »die Amme des Säug- 
lings« nennen darf’, ohne lächerlich zu erscheinen, und wo ein Beamter 
nicht die Leute im Zaum hält, sondern »seine Furcht in die Mitte der 
Menge schleudert«®. Eine solche Unnatur würde schwerlich zur allge- 
meinen Sitte geworden sein, wenn sie nicht von einer in Ansehen stehenden 
und ebenso gearteten Litteratur getragen gewesen wäre. Und in der 
That zeigen ja die erhaltenen Dichtungen des mittleren Reiches zumeist 
einen Ähnlichen Charakter; auch sie gefallen sich in gesuchten Wendungen 
und in unablässiger spielender Variirung desselben Gedankens. 

Wir sind hier in Berlin in der glücklichen Lage, vier grofse Papyrus 
litterarischen Inhalts zu besitzen, die noch im mittleren Reiche selbst (also 
etwa um 2000 v. Chr.) geschrieben sind. Die eine Handschrift hat uns die 
Geschichte des Sinuhe erhalten, zwei andere die Klagen des Bauern, die 


! Louvre Cn. 
ZUR UEI TA: 


4 A. Erman: 


vierte — P 3024 — harrt bis heute in ihrem Haupttheile' noch der Be- 
arbeitung, trotzdem ihr Faesimile schon vor vier Jahrzehnten von Lepsius” 
veröffentlicht worden ist — der Text steht in dem Rufe, so gut wie un- 
verständlich zu sein. 

Von den älteren Aegyptologen haben sich, soviel ich weils, nur 
Uhabas und Goodwin mit ihm beschäftigt. Jener, der Entdecker des 
Sinuhe und der Bauerngeschichte, schreibt ihm kurz »un sujet aneedotique«, 
d. h. einen erzählenden Inhalt zu’, dieser führt 1873 gelegentlich eine 
Stelle daraus an, aus der sich nichts über seine Auffassung des Ganzen 
ergiebt'. 

In neuerer Zeit hat sich Maspero über den Inhalt unseres Buches 
geäufsert; er hatte schon 1879 (vergl. Etudes egyptiennes I p. 73) bemerkt, 
dafs der Text ein Gespräch zwischen einem Aegypter und seiner Seele sei 
und hat ihn jüngst genauer” bezeichnet als »la fin d’un dialogue philo- 
sophique entre un Egyptien et son äme, oü celle-ei s’applique & demon- 
trer que la mort n’a rien d’effrayant pour l’homme«. Diese Inhaltsangabe 
ist in der That im Wesentlichen richtig, nur ist das Verhältnifs gerade 
das umgekehrte, und nicht die Seele wünscht den Tod herbei, sondern 
der Mensch‘. 

Sonst haben sich, soweit mir bekannt, nur noch die HH. Ludw. 
Borchardt und H. O. Lange ernstlich um diese Handschrift bemüht, und 
ich verdanke insbesondere dem letzteren sehr wesentliche Beriehtigungen 
meiner Lesung, für die ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank aus- 
spreche”. Auch in der allgemeinen Auffassung des Inhalts stimme ich 
mit Hrn. Lange überein. 

Ich erwähnte schon oben, dafs das Buch in dem Rufe besonderer 
Dunkelheit steht, und in der That kommt hier allerlei zusammen, was uns 


' Der Papyrus ist Palimpsest, und ein nicht weggewaschenes Bruchstück des ur- 
sprünglichen Textes (der Geschichte eines Hirten, der eine Göttin baden sah) ist von 
Maspero, Etudes egyptiennes I, 73—80 übersetzt worden. 
® LD. VI, ııı—ı12; dies Facsimile ist freilich an den undeutlicheren Stellen vielfach 
milsrathen. 

° Les papyrus hieratiques de Berlin (Chalon sur Saone 1863) p. 3. 

« AZ. 1873, 16, 

° Histoire egyptienne (Paris 1895) I p. 399. 

° Ebenda giebt Maspero auch eine freie Übersetzung der Zeilen 130—140. 

” Ich habe im Kommentar die Lesungen Lange's als solche gekennzeichnet. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 5 


sein Verständnifs erschwert. Der Text ist voll von unbekannten Worten; 
wir haben nur eine einzige Handschrift, die augenscheinlich sehr fehlerhaft 
ist und der fehlt überdies der Anfang. Mit diesem Anfang aber ist uns 
die ganze Erzählung verloren gegangen, an die sich das seltsame Gespräch 
zwischen dem Menschen und der Seele knüpfte, und damit dann auch das 
wichtigste Hülfsmittel, um dieses Gespräch zu verstehen. 

Bei unseren heutigen Sprachkenntnissen müssen wir einem derartigen 
Texte gegenüber natürlich auf eine zusammenhängende Übersetzung ver- 
zichten; eine solche könnte heute nur als ein geistreiches Spiel gelten. Wir 
müssen uns darauf beschränken, das, was sicher oder leidlich verständlich 
ist, herauszuheben und es vorsichtig zu einem Gesammtbilde zu vereinigen; 
das ist es, was ich in dem folgenden Abschnitt dieser Arbeit versucht 
habe. Für die grofse Menge der unverständlichen Stellen aber beschränkt 
sich unsere Aufgabe darauf, die vorliegenden Schwierigkeiten darzulegen; 
es ist dies im Kommentare geschehen, den ich überhaupt für alle Einzel- 
fragen zu vergleichen bitte. 


Der Inhalt. 


Während andere Schriften des mittleren Reiches rein erzählende Dich- 
tungen sind oder rein lehrhafte Form haben, gehört das hier behandelte Buch, 
ebenso wie die Geschichte des Bauern, formell einer besonderen Gattung an. 
Eine kurze Erzählung dient in ihnen als Grundlage zu langen Gesprächen, 
die eine bestimmte Tendenz zum Ausdruck bringen sollen. In der Bauern- 
geschichte ist diese Tendenz vielleicht formulirt in jenem schönen Worte, 
das Re selbst gesagt hat: Sprich die Wahrheit, thue die Wahrheit‘; was unser 
Buch bezweckt, spricht es unzweideutig in den dreiunddreifsig Versen aus, 
die seinen eigentlichen Beschlufs bilden: wer die Verderbtheit der Menschen 
und den Lauf der Welt gesehen hat, für den hat der Tod keinen Schrecken 
mehr: er ist ihm eine Heimkehr aus fremdem Lande, eine Genesung nach 
schwerer Krankheit. 

Wer der Unglückliche ist, den seine Schicksale zu einer so traurigen 
Auffassung des Lebens geführt haben, ist aus dem erhaltenen Theile der 


! Bauer, Rs. 62. In der Bauerngeschichte kommt noch hinzu, dals der Bauer sich 
besonderer Wohlredenheit erfreut; man zwingt ilın daher, neun Mal eine Klagerede zu 
halten und läfst diese Reden zuletzt aufschreiben. Aber der letzte Zweck des Buches ist 
doch wohl der Inhalt der neun Reden und nicht ihre schöne äulsere Form. 


6 A. Erman: 


Schrift nieht mehr zu ersehen. Nur aus seinen Klagen und aus einzelnen 
Andeutungen kann man noch ungefähr erschliefsen', was sein Loos gewesen 
sein muls. Er war ein sanftmüthiger Mann und nicht einer der Frechen, 
denen Alles glückt (XXXD’, aber als er ins Unglück gerieth und, wie es 
scheint, von schwerer Krankheit befallen war (XXXV), da liefsen ihn Brüder 
und Freunde schändlich im Stich (XXIX, XXXV, XXXVI. Niemand 
hielt ihm die Treue (XLI, XLII), was er gestern gethan hatte, war ver- 
gessen (XXXVI), man beraubte ihn (XXX, XXXIX), man verurtheilte ihn 
ungerecht (VII), und aller Welt ward sein Name zum Abscheu (XXI-XX VI. 

Diesem Unglücklichen steht nun in unserem Gedichte als Widerpart 
seine eigene Seele” gegenüber; während er des Lebens müde ist und den 
Tod als Erlöser begrüfst, will sie im Grunde noch nichts vom Sterben 
wissen und räth ihm sogar, es mit dem Leichtsinn und dem Vergnügen 
zu versuchen (XV). 

Wenn dieser einfache, rein menschliche Widerstreit uns in der ersten 
Hälfte des Buches (I-XIX) nicht so klar entgegentritt wie in der zweiten 
(XX ff.), so liegt das an der seltsamen Fabel, die der Dichter für sein Buch 
ersonnen hat und in die wir Modernen uns nur schwer hineindenken 
können‘. Nicht nur, dafs er uns die Seele als ein selbständiges Wesen 
schildert, das seinem Herrn auch bei Lebzeiten entrinnen kann, wenn es 
will, sondern er hat auch den Konflikt zwischen dem Menschen und der 
Seele auf einen besonderen Punkt zugespitzt, der nach unserem Gefühle 
für einen Lebensmüden ein ziemlich gleichgültiger ist, auf die Frage seiner 


! Ganz sicher sind diese Schlüsse freilich nicht, denn wenn man auch naturgemäls 
seine Klagen über die Menschen auf seine eigenen Erlebnisse unter ihnen beziehen wird, so 
ist es doch immerhin möglich, dals er in seiner Klage auch über die eigenen Leiden hin- 
ausgeht. 

2 


? Die beigefügten Ziffern beziehen sich hier und im Folgenden auf die Abschnitte des 
Kommentars, denen der betreffende Zug entnommen ist. 


® Gewohnheitsmälsig übertragen wir das Wort S ?hw, das hier steht, mit »Geist« und 
5 | 2 3 { £ 
verwenden »Seele« zur Übersetzung von = b3. Ich bin von dieser, übrigens willkür- 


lichen, Sitte hier abgewichen, da man bei Verwendung des männlichen Wortes »Geist« in der 
Übersetzung oft nicht hätte erkennen können, ob sich ein »er« oder »sein« auf den Geist 
oder auf den Menschen bezog. 

* Auch die im Folgenden vorgetragene Auffassung dieser Fabel erhebt natürlich 
keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit, wie denn überhaupt jeder Deutungsversuch der 
Abschnitte I— XIX so lange problematisch bleiben wird, als uns der Anfang des Buches fehlt. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 7 


Bestattung. Den Unglücklichen, der sich nach dem Tode sehnt, quält 
die Sorge, ob denn seine Leiche auch die richtige Behandlung finden 
werde. Um das recht zu verstehen, müssen wir uns der aegyptischen An- 
schauungen über die Toten erinnern, auf deren Boden auch der Verfasser 
unseres Buches steht': für das Wohlergehen eines Verstorbenen ist es 
nöthig oder doch nützlich, dafs bestimmte Ceremonien und Opfer an seiner 


Leiche vollzogen werden, der ta, der Ba und der NT müssen ihres 


Amtes bei ihm walten oder es mufs doch wenigstens einer der Hinter- 
bliebenen, ein »(noch) auf Erden befindlicher«, wie unser Text sagt, dem 
Toten diesen letzten Dienst erweisen. Nun hat aber unser Unglücklicher 
keinen Hinterbliebenen, keinen, »der an seinem Sarge stände«°, die Brüder 
und Freunde haben ihn ja im Stich gelassen, und so fällt es ihm schwer 
aufs Herz, wie es ihm wohl im Tode ergehen werde. 

In dieser Noth scheint ihm nun die Seele zuerst gerathen zu haben’, 
doch den Flammentod zu wählen, vielleicht weil ein zu Asche verbrannter 
Leichnam keiner weiteren Fürsorge bedürfe. Aber es ist nicht zu diesem 
Tode gekommen, denn als der Mensch den furchtbaren Rath ausführen 
wollte, da befiel die Seele selbst ein Grauen, und sie entfloh ihrem 
Herrn (II und V). So war ihm dieser Ausweg abgeschnitten. 

Noch gab es aber für ihn einen anderen Weg, der ihn sicher zum 
Totenreiche führen mufste. Wenn seine Seele sich entschlielsen wollte, 
ihrerseits anstatt der treulosen Anverwandten einzutreten, wenn sie ihm 
die Opfer und Gebräuche vollziehen wollte, die sonst ein Hinterbliebener 
dem Toten vollzieht‘, so konnte er auf dieselbe Weise wie alle anderen 
Mensehen glücklich den »Westen«, das Jenseits, erreichen’. Indessen als 
er dies von seiner Seele forderte, als er sie bat, wieder zu ihm zurück- 
zukehren und ihm diesen letzten Dienst zu erweisen, da wies sie seine 


! Wenigstens äufserlich; bei der ketzerischen Rede, die er die Seele über diese Dinge 
halten läfst, kann man freilich fragen, ob es ihm selbst denn auch ernst damit gewesen sei. 
2 Dies läfst sich aus X und XII sicher schlielsen. 
3 Dals es die Seele war, die ihn zum Verbrennen antrieb, ergiebt sich aus IV, falls 
wir dies richtig verstehen. Aulser in IV wird auch in LV auf die Verbrennung angespielt. 
* Dals die Seele dem Menschen die Totengebräuche vollziehen soll, erscheint uns so 
wunderlich, dals man gern das Gedicht von einer solchen Seltsamkeit befreien würde. Aber 
in XII ist diese Aufforderung an die Seele klar ausgesprochen und auch in V ist auf sie 
angespielt. 
> Vergl. X und XI. 


8 A. Erman: 


Aufforderung zurück; das Sterben war ihr überhaupt leid geworden, sie 
wollte sich nicht im Totenreiche »niederlassen« neben ihrem Herrn. 

Hier beginnt heute unser Buch, Seele und Mensch streiten mit ein- 
ander und zwar in Gegenwart irgend welcher Zeugen'. Von einer ersten 
Rede der Seele sind uns nur noch einige unverständliche Schlufsworte er- 
halten (I). Der Mensch aber öffnete seinen Mund zu seiner Seele und beant- 
wortete, was sie gesagt hatte (I). Er wirft ihr zunächst vor, dafs sie nicht 
mit ihm rede, d.h. wohl, dafs sie ihm nicht Antwort stände, sondern 
sich an andere wende. Sie sei fortgegangen und sei am Tage des Unglücks 
geflohen (ID. Und nun wendet auch er sich an die Zeugen des Streites 
und beschwert sich zuerst über die Seele: seht, meine Seele vergeht sich 
gegen mich ..... 5 sie zieht mich zum Tode, indem (er) nicht zu ihm komme; 
sie WÜrft (mich) aufs Feuer, um mich zu verbrennen (IV). Dann stellt er seine 
Forderung an die Ungetreue: sie nahe mir am Tage des Unglücks, sie stehe 
auf jener Seite da ... (V):; sie soll ihm eben den letzten Dienst erweisen. 
Sie soll davon abstehen, einen Traurigen im Leben zurückzuhalten, sie 
soll ihn lieber zum Tode führen und es ihm im Westen, dem Totenreiche, 
wohlgehen lassen (VI). Denn der Westen ist ja nichts Schlimmes, es ist 
der einzige Ort, wo auch ein Unglücklicher sein Recht findet: Thoth richtet 
mich, der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt mich, der wahrhaftige Schreiber; 
Re hört, wenn ich rede ....; Isdes vertheidigt mich... (VII) — die Götter 
sind nicht so hartherzig wie die Menschen. 

Was die Seele auf diese Rede des Menschen erwidert, sind nur wenige 
ironisch klingende Worte, die ich nicht verstehe (VIII; vielleicht deutet 
sie ihm darin an: wenn er denn so sehr sich nach dem Westen sehne, 
so könne er ja doch wohl auch allein dorthin gehen und sie auf Erden 
zurücklassen. Denn er scheint ihr energisch zu antworten, er werde nicht 
ohne sie aus dem Leben gehen, sondern werde sie mitnehmen, wie jeder es 
thue; das sei nun einmal ihr Los zu sterben und sich an dem Fortleben des 
Namens genügen zu lassen. Der Westen sei die Stätte für sie, an der 
sie sich bei ihm niederzulassen habe (IX). Sie habe dabei auch nichts zu 
befürchten, denn er werde ihr trotz seiner traurigen Verlassenheit doch 


! Dals das Gespräch vor anderen Personen geführt wird, zeigt I und IV. — Ich be- 
zeichne in der Übersetzung, wie üblich, Unsicheres durch kleine Schrift. Was in eckigen 
Klammern ergänzt ist, ist in der Handschrift ausgelassen oder zerstört; in runden Klammern 
stehen einzelne Worte, die ich zur Erleichterung des Verständnisses beigefügt habe. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 3) 


eine glückliche Existenz im Totenreiche schaffen, er werde sie den Westen 
so erreichen lassen, wie einer, der in seiner Pyramide ruht und an dessen Sarge 
ein Hinterbliebener gestanden hat (X). Sie soll es nicht so schlimm haben, 
wie eine andere Seele, die müde ist oder eine andere Seele, der zu heifs ist oder 
eine andere Seele, die Hunger hat (XD. Daher soll sie ihn auf diese Weise 
zum Tode führen: Sei SO jreundich, meine Seele und Bruder, mein Bestatter zu wer- 
den, der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird am Tage des Be- 
gräbnisses, damit er mir das Bett des Friedhofes bereite (X). Aber die Seele, 
der es nieht mehr um das Sterben zu thun ist, macht neue Ausflüchte; 
sie bemerkt ihm, auch das beste Begräbnifs tauge doch nichts: Wenn du 
des Begräbnisses gedenkst — das ist Trauer; das ist, was Thränen bringt und 
den Menschen betrübt macht; das ist, was den Menschen aus seinem Hause reifst 
und ihn auf den Hügel wirft. Nie wirst du wieder hinauf kommen, um die 
Sonne zu sehen (XIV). Die da aus Granit bauten, die das .... als Pyramide 
errichteten, die in dieser schönen Arbeit Schönes leisteten, .......- — ihre 
Opfersteine sind ebenso leer‘ wie die der Müden, die auf dem Uferdamm sterben 
ohne Hinterbliebenen, (con denen sich das Wasser sein Ende fortgenommen hat und 
ebenso die Hitze, zu denen die Fische des Ufers reden (XV)’. Höre auf mich 
— sieh, es ist dem Menschen gut, wenn er hört — folge dem Vergnügen, 
vergi/s die Sorge (XV]). 

Dieser letzten Aufforderung, das Leben zu geniefsen, fügt die Seele 
noch zwei Beispiele an, die gewifs ihre Meinung belegen sollen, die uns 
aber unverständlich bleiben. Das eine von dem geringen Mann, der sein 
Grundstück pflügt, seine Ernte in das Schiff ladet und es, wenn ich recht 
verstehe, selbst schleppen mufs. Frau und Kinder werden ihm, wie es 
scheint, von Krokodilen zerrissen (XVII, er(?) aber spricht die räthsel- 
haften Worte: »nicht weine ich wegen jener Dirne da; sie hat keinen Ausgang 
aus dem Westen zu einer andern auf Erden. Ich habe Sorge wegen ihrer Kin- 
der, die im Ei zerbrochen sind, die das Gesicht des Krokodiles sehen, die da nicht 
leben werden« (XVID. Und ebenso wenig läfst sich errathen, was das 
zweite Beispiel besagen soll von dem geringen Mann, der bettelt, und von 
seinem Weibe (XIX). 


! Gemeint ist, dafs die schlechten Hinterbliebenen es bald unterlassen, die Opfersteine 
mit Speisen zu belegen. 


2 


® Das heilst: an deren Leiche die Fische nagen. 


Philos. -histor. Abh. 1896. II. 


[54 


10 A. Erman: 


Damit hat die Seele Alles erschöpft, was sie beibringen konnte, um 
den Unglücklichen von seinem Entschlusse abzubringen; er aber öffnete 
seinen Mund zu seiner Seele und beantwortete, was sie gesagt hatte (XX): 


Sieh, mein Name wird verwünseht, 
sieh, mehr als der (reruch von Vögeln 
an Sommertagen, wenn der Himmel heifs ist. (XX1.)' 


Sieh, mein Name wird verwünscht, 
sieh, mehr als ein Kischempfünger , 
am Tage des Fanges, wenn der Himmel heifs ist. (XXI.) 


Sieh, mein Name wird verwünscht y 
sieh, mehr als der Geruch von Vögeln, 


mehr als der Weidenhügel mit den Güänsen. (XXIIL.) 


Sieh, mein N: AME wird verwünscht, 
sieh, mehr als der Geruch der Fischer, 
mehr als die .... der Sümpfe, nachdem sie gefischt haben. (XXIV.) 


Sieh, mein Name wird verwünscht, 
sieh, mehr als der Geruch der Krokodile, 
mehr als zu sitzen unter den .... mit den Krokodien. (XXV.) 


Sieh, mein Name wird verwünscht , 
sieh, mehr als ein Weib, 
gegen das zu dem Manne Lüge gesagt wird. (NNXVI.) 


Sieh, mein Name wird verwiünscht , 
sieh, mehr als ein starkes Kind, 
gegen das .... gesagt wird ...... (XX VI.) 


Sieh, mein Name wird verwünscht, 
sieh, mehr als eine Stadt des ..... ; 


die Empörung rede und deren Rücken man sieht. (XXVIl.) 


' Zur sachlichen Erklärung dieser Verse bitte ich den Kommentar zu vergleichen. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 11 


Zu wem spreche ich heute? 
die Brüder sind schlecht, 
die Freunde von heute .... nicht lieben. (XXIX.) 


Zu wem spreche ich heute? 
die Herzen sind. jreeh, 
ein jeder nimmt die Habe seines Nächsten. (XXX.) 


Zu wem spreche ich heute? 
der Sanfte geht zu Grunde, 
der Trotzige kommt zu allen Leuten hin. (XXXI.) 


Zu wem spreche ich heute? 
der mit ruhigem Gesicht ist elend, 
vernachlässigt wird das Gute an allen Orten. (XXXI.) 


Zu wem spreche ich heute? 
wenn eMEr (dien, durch seine Schlechtigkeit wüthena macht, 
so bringt er fäuren; sein böses Thun alle Leute zum Lachen. (XXXIl.) 


Zu wem spreche ich heute? 
man raubt, 
ein jeder nimmt [die Habe) seines Nächsten. (KXXXIV.) 


Zu wem spreche ich heute? 
der Sieche USE treu » 
der Bruder, der mit ihm ist, wird zum Feinde. (XXXV.) 


Zu wem spreche ich heute? 
man erinnert sich nicht an gestern, 
man Unut nicht .... in dieser Stunde. (XXXVI.) 


Zu wem spreche ich heute ? 
die Brüder sind schlecht, 
en ach Alain. (XXXVII.) 
De 


2 


® . 
12 A. Erman: 
Zu wem spreche ich heute? 
die Gesichter vergehen, 
ein jeder hat ein Gesicht ..... als das seiner Brüder. (XXXVII.) 


Zu wem spreche ich heute? 
die Herzen sind jrech, 
der Mann, auf den man sich st, hat kein Herz. (XXXIX.) 


Zu wem spreche ich heute? 
Es giebt keine Gerechten, 
die Erde ist ein Beispiel von UÜbelthätern. (XL.) 


Zu wem spreche ich heute? 
Es fehlt an Trew, 
. as Umwissenden zu dem, was er gelehrt hat. (XLI.) 


Zu wem spreche ich heute? 
Es giebt ner keinen Zufriedenen, 
gehe mit ihm, so ist er nicht da. (XLI.) 


Zu wem spreche ich heute? 
ich bin mit Elend beladen, 
ohne einen ren. (XLIM.) 


Zu wem spreche ich heute? 
das Böse schlägt das Land, 
und es hat kein Ende. (XLIV.) 


So beklagt er sein Los und den Jammer der Welt, um dann den 
Tod als den Erlöser von aller Noth zu begrülsen: 


Der Tod steht heute vor mir, 
wie wenn ein Kranker gesund wird, 
wie wenn man ausgeht nach der Krankheit. (KLV.) 


Der Tod steht heute vor mir 
wie der Geruch der Myrrhen, 
wie wenn man am windigen Tage unter dem Segel sitzt. (XLVI.) 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 13 


Der Tod steht heute vor mir 
wie der Geruch der Lotusblumen, 
wie wenn man auf dem Ufer der Trunkenheit sitzt. (XLVI.) 


Der Tod steht heute vor mir 
wie ein Regentach, 
wie wenn einer aus dem Kriegsschiff zu seinem Hause kommt. (XLVII.) 


Der Tod steht heute vor mir 
wie eine Himmelsenteöwung, 
wie einer, den ih ... zu dem, was er nicht wufste. (XLIX.) 


Der Tod steht heute vor mir, 
wie jemand sein Haus wiederzusehen wünscht, 
nachdem er viele Jahre in Gefangenschaft verbracht hat. (L.) 


Denn wer dahingegangen ist, oder wie man aegyptisch sagt, wer 
dort ist, der ist dem Sonnengotte nahe, dem Regierer der Welt, und kann 
mit ihm das Gute fördern: 


Wer dort ist, wird ja 
. als ein lebender Gott 
und start die Sünde an dem, der sie thut. (LI.) 


Wer dort ist, wird ja 
iM Sonnenschiff stehen 
und verleiht das Erlesenste an die Tempel. (LI.) 


Wer dort ist, wird ja 
ein Gelehrter sein, dem man nicht gewehrt hat, 
und bittet den Re, wann er redet. (LII.) 


Was die Reden des Mannes nicht erreicht haben, erreichen diese 
Verse, die Seele giebt ihren Widerstand auf. Lafs nur deine Klagen 
unterwegs, erwidert sie etwa (LIV); wenn ich dir auch bisher den Westen 
verweigert habe, so sollst du jetzt doch zu dem Westen gelangen, dein 
Leib wird zur Erde kommen und ich lasse mich nieder, nachdem du ruhst. 
Wir wollen zusammen eine Stätte haben (L\V.). 


14 A. Erman: 


So schliefst das Gedicht; die Seele hat sich in den Willen des Menschen 
gefügt, und dieser wird nun mit ihrer Hülfe den Weg ins Totenreich ge- 
funden haben, den er begehrte. Er ist also gestorben; wie es kommt, 
dafs er uns trotzdem selbst seinen Streit in der ersten Person berichtet!', 
darüber enthält man sich am besten jeder Vermuthung. Denn wir stehen 
Ja (wie es das Obige wohl zur Genüge gezeigt hat) hier einem Dichter 
gegenüber, der seiner Phantasie freies Spiel erlaubt: es ist daher nicht zu 
ermessen, wie er sich das weitere Schicksal seines Helden gedacht hatte. 

Und ich glaube, dafs wir überhaupt immer dieses poetischen Charakters 
unseres Buches eingedenk sein müssen, wenn wir es richtig würdigen wollen 
und wenn es uns nicht irre leiten soll; wer seine Angaben allzu nüchtern 
und allzu wörtlich auffafste, der würde zu seltsamen Ergebnissen ge- 
langen’. 

Vergegenwärtigen wir uns schliefslich noch einmal, was unser Gedicht 
enthält, wenn wir sein Beiwerk bei Seite lassen. Bis zum Gedanken des 
Selbstmordes hat den Unglücklichen die Verzweiflung getrieben, aber als 
er den letzten Schritt thun will, da sträubt sich »seine Seele« dagegen. 
Sie schaudert vor dem Flammentode zurück (sie »entflieht«) und will auch 
sonst nichts von dem Tode wissen oder zu ihm helfen; sie klammert sich 
an das Leben, das ja immer noch Freuden zum Geniefsen biete. Aber 
als der Unglückliche ihr noch einmal die Schrecken des Lebens vorführt, 
da verstummen ihre Einreden und sie hält ihn nicht mehr vom Tode 
zurück. 

Was der Dichter uns schildert, ist also der furchtbare Widerstreit, 
der die Brust jedes Verzweifelten erfüllt. Er ist entschlossen, in den Tod 
zu gehen, und doch im letzten Augenblicke klammert er sich wieder an 
das Leben, bis dann die Erinnerung an all das erlittene Elend und Un- 
recht ihn endlich doch dem Tode zutreibt. 


! Im Original steht ja auch in den Überschriften der Abschnitte stets die erste Per- 


son: ich öffnete meinen Mund oder was er zu mir sagte u. s. w. (1. VII. IX. XIII. XX. LIV), 
was sich in der vorstehenden Übersicht des Inhalts nicht nachahmen |iefs. 

® Wir wollen also nicht etwa (um ein Beispiel anzuführen) aus unserem Buche 
schliefsen, dals nach aegyptischer Vorstellung die Seele schon bei Lebzeiten aus dem Men- 
schen habe entfliehen können; wer das aus ihm entnähme, der könnte ebenso gut auch aus 
dem Faust folgern, dals Goethe die Existenz zweier Seelen in der Brust des Menschen an- 
genommen habe. — Auch dem Gebrauche des Wortes O für die Seele kann ich keinen 


tieferen Grund beimessen; vergl. das zu II Bemerkte. 
’ be} 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 15 


Freilich tritt in unserem Gedichte die Tragik dieses inneren Streites 
wenig hervor. Der seltsame Gedanke, dafs die Seele ihrem Herrn den 
letzten Dienst erweisen soll, um ihm so den Tod zu erleichtern, hat sich 
in den Vordergrund gedrängt, und auch bei den Reden, die die beiden 
Streitenden führen, kann man vielfach vergessen, um wie schreckliche 
Dinge es sich handelt; besonders die Worte der Seele scheinen mehr 
pointirt und geistreich als ernst zu sein. 

Der Stoff ist also sehr anders behandelt, als es unserem heutigen 
Empfinden entspricht. Gewifs aber hat das Buch dem Empfinden des 
Publikums entsprochen, für das es einst vor 4000 Jahren geschrieben wor- 
den ist, und in der That reiht es sich gut ein unter die anderen Erzeugnisse 
jener alten Zeit. Denn nicht tiefe Gedanken in schliehten Worten weist 
uns ja die Litteratur des mittleren Reiches auf, was sie kennzeichnet, sind 
gesuchte Gedanken in geistreicher Form. 


Kommentar. 


Der Papyrus P. 3024 hat eine Länge von 3,50 m und ist heute in 
7 Tafeln zerlegt; die Höhe beträgt wie bei allen diesen Papyrus des m. R. 
ı6em. Er ist aus ıı Blättern von meist 44cm Länge zusammengeklebt', 
deren jedes etwa 28 Zeilen enthält: da die erste Klebung jetzt bei Zeile 14 
liegt, so dürfte die Länge des verlorenen Anfangs entweder 14, oder 42, 
oder 70 u.s. w. Zeilen betragen. 

Der Papyrus war schon einmal beschrieben und zwar von anderer Hand; 
der neue Schreiber hat den alten Text nur so weit abgewaschen, als er Raum 
für sein Buch nöthig hatte, und es sind uns daher 25 Zeilen von jenem übrig 
geblieben, die Geschichte des Hirten, der eine Göttin sah”. 

Der neue Text ist von einer geübten Hand geschrieben, die besonders 
gegen das Ende auch kursive Schriftformen benutzt. An Schreibfehlern 


! Neben fünf Blättern dieser gewöhnlichen Länge finden sich auch vier abnorme: das 
dritte von 58 cm (zwischen Z.42 und 78), das siebente von 12 cm, das achte von 41 cm. 
das neunte von ı2 cm, das zehnte von 40 cm; das letzte hat wieder 44 em. — Der Papyrus 
war, wie das oft vorkommt, liniirt, und zwar mit 6 horizontalen Linien von 2,5—2,8 cm 
Abstand. Doch hat schon der erste Schreiber dieselben als für senkrechte Zeilen unnütz 
meist fortgewaschen. 

2 Zwischen dem neuen Text und dem alten ist ein Zwischenraum von 24 cm; hinter 
dem alten noch ein leerer, abgewaschener Raum von 13 cm. 


16 A. Erman: 


ist leider kein Mangel, und ich glaube noch etwa 30 Fehler in den 155 Zeilen 
nachweisen zu können, obgleich wir sie doch nur an den uns verständ- 
lichen Stellen zu erkennen vermögen'. 

Die Abschnitte des Textes sind nicht durch Rubren bezeichnet; da- 
gegen hat der Schreiber seine Schlufsformel so hervorgehoben. 

Im Folgenden habe ich den Text der besseren Übersicht halber in 
Abschnitte zerlegt; ob ich dabei an den unverständlichen Stellen immer 
das Richtige getroffen habe, stehe dahin. Dem aegyptischen Text habe 
ich Bemerkungen zur Lesung beigefügt, der Übersetzung Anmerkungen 
grammatischer Natur, wobei zumeist Verweise auf die Paragraphen meiner 
»Aegyptischen Grammatik« genügten. 

Bei den lexikalischen Erörterungen ist mir wieder zum Bewulfstsein 
gekommen, wie traurig es mit unserer Kenntnifs des Wortschatzes aussieht; 
sobald wir einmal, wie in unserm Texte, aus den ausgetretenen Bahnen 
herausgehen, stolsen wir überall auf mangelhaft oder gar nicht bekannte 
Worte. Gerade in diesem Punkte dürfen wir aber von der Zeit eine Er- 
weiterung unserer Kenntnisse und damit auch ein besseres Verständnifs 
dieses Buches erwarten. 

Gern hätte ich die Bearbeitung der Abschnitte I-XIX und LIV-LV 
nur auf die einigermaflsen verständlichen Stellen beschränkt, denn es ist nicht 
eben erfreulich, immer wieder mühsam das Eine festzustellen, dafs fast nichts 
davon zu verstehen ist”. Aber da der inhaltlich so merkwürdige Text noch 
manche Bearbeiter finden dürfte, so schien es mir doch angebracht, für 
diese das lexikalische und grammatische Material zusammenzustellen: viel- 
leicht sind sie in seiner Verwerthung glücklicher als ich. Und auch der 
Hinweis auf die grammatischen Schwierigkeiten und auf die Schäden des 
Textes wird seinen Nutzen haben, denn auch ein ruhiger und geschulter 
Bearbeiter sieht ja bei einem aegyptischen Text nur zu leicht über solche 
Hindernisse hinweg. 

!' Die frei gelassene Stelle in XXXI deutet darauf, dals der Schreiber sehr gedankenlos 
eine nicht gut lesbare Vorlage abschrieb. h 

® Ich brauche wohl auch nicht zu betonen, dals die Übersetzung derartiger Stellen 
durchaus nicht beansprucht, den richtigen Sinn zu geben; sie soll nur veranschaulichen, 
wie diese sich uns bei unseren heutigen Sprachkenntnissen etwa darstellen. Wo die Über- 
setzung nur zusammenhanglose oder widersinnige Worte ergiebt, liegt die Schuld gewils 
häufiger an unseren mangelhaften Kenntnissen als an der Verderbnils des Textes. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 17 


el —— Beeren 
ER —— AR AT - 
u 


MIETE ON Sr: EN NMMNSN,...... dbsw, n nmen nssn. 

ı. Man könnte u. a. IR] ». lesen oder | Be: Dahinter ein Zeichen, 
das man für ©) (wie in Zeile 44) halten könnte. 2. Das —= (Lange) in etwas selt- 
samer Form, wie auch sonst in dieser Handschrift. 

ihr werdet sagen: ..... und! ihre Zunge .... nicht; ...... Ersatz 
und' ihre Zunge .... nicht. 


Es ist der Schluls einer Rede der Seele, die sich an mehrere Per- 
sonen richtet, die Zeugen des Streites sein müssen (vergl. oben S. 8). 

Db>w ebenso geschrieben auch Bauer, Rs. 62. Auch nm“ mit dem- 
selben Determinativ findet sich ebenda (zweite Handschrift Z. 104), anschei- 
nend als etwas Böses. 


1. 


RN Re = Av 
ID ae a 0 2 

tw wpni rt n Ühwt, wsbt ddtnf. 

Ich öffnete” meinen Mund zu meiner Seele und” beantwortete, was sie ge- 
sagt hatte‘. 

Dieselbe Formel am Anfang der Abschnitte XII, XX. Das wp-r3 »Mund 
öffnen« ist wie ein Verbum des Sagens mit n konstruirt; 8b mit Objekt 
»etwas beantworten« findet sich auch in der Bauerngeschichte (Z. 151). 


! Aegypt. Gramm. $198. Dafür, dals das n nicht zu ns gehört, spricht die Schreibung 


Q Kahun, Hymnı,7; Eb.85,17. Das » von ns wird wohl nur ausgeschrieben, wenn 


AWWAN 
auch das s gesetzt ist ( =. Ne Bauer, zweite Hs. gr). 
? Gramm. $ 222. 
® Gramm, $174. 
* Gramm. $ 291. 
Philos. -histor. Abh. 1896. I1, 3 


18 A. Erman: 


Die Bezeichnung der Seele, die hier zum ersten Male vorkommt, 
bedarf einer eingehenderen Erörterung. 
Es handelt sich zunächst darum, wie das Wort, das die Handschrift 


IR schreibt, zu lesen ist; man kann insbesondere zwischen > b3 


und o> ihw schwanken. Ich gestehe, dafs ich zeitweise an der von den 
HH. Lange und Borchardt gegebenen Lesung o> ihw gezweifelt habe, da 
die Art, wie das 8 hier im Hieratischen ausgedrückt ist, anstöfsig erschien. 
Indessen lälst sich zum Glück beweisen, dafs diese hieratische Gruppe wirk- 
lich die mittlere Reich-Form für oo» darstellt; auf dem Grabstein C 14 
des Louvre sind die o> mit >| wiedergegeben, und der Grabstein 


6 3 derselben Sammlung schreibt für No> »verklären« sogar NE: Man 
hat also damals aus dem 8 und dem Vogel gleichsam ein zusammengesetztes 
Zeichen für ?hw gebildet. 

Des weiteren könnte man sich fragen, ob das ‚„ das dem Worte 
in unserem Text fast durchweg folgt, das Suffix ı sg. andeuten soll oder ob es 
nur als Personendeterminativ steht. Die Frage wird durch die Stellen Z. 44. 
47. 49 gelöst, wo von einer »anderen Seele« die Rede ist und wo das vn 


nicht gesetzt ist. Das up ist daher, wo es steht, nicht bedeutungsloses Deter- 
minativ und An muls mit »meine Seele« übersetzt werden!. 
41% 


Das andere Zeichen, das unserem Worte folgt, & ist das Determi- 
nativ für »sterben« und bezeichnet demnach die Seele als die eines Verstor- 
benen”. Das stimmt zu dem Gebrauche des Wortes ir in der alten Toten- 
litteratur, wo es von der Seele des Verstorbenen gebraucht wird, die »im 
Himmel den ?Aw (Glanz) empfangen hat«. Es ist der selige Geist des 
Menschen, der in verklärter Gestalt als eine Art Gott unter den Göttern 
am Himmel lebt. Dem entspricht dann weiter, dafs ?Aw von den spukenden 
Geistern Verstorbener gebraucht wird, wie ja auch noch im Koptischen 
ıS die unreinen Geister der Besessenen bezeichnet. 

Wenn aber nun so der Zw der Geist eines Verstorbenen ist, wie 
kann das zu unserem Texte passen, in dem doch der Eigenthümer dieser 
Seele ohne Zweifel noch am Leben ist? 


1 


»Meine Seele« steht 4. 5. 7. IL. 17. 30. 39. 52. 55. 86; auch 148 wird so zu ver- 
bessern sein. 


® Auch Westcar 7,25 wird die Seele SA geschrieben. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 19 


Nach dem was ich in der Einleitung (S.ı4) über den allgemeinen 
Charakter unseres Buches bemerkt habe, kann ich diesen Widerspruch nur 
für einen scheinbaren halten. Wir Modernen behandeln in der Diehtung 
Worte, wie Seele, Geist, Herz, Sinn als gleichbedeutend, und ich sehe nicht 
ein, warum die Litteratur irgend einer Epoche darin anders verfahren sein 
soll. Gewils mögen die alten religiösen Texte Aegyptens mit dem b2, dem 
ihw, dem A3 u.s. w. feste Vorstellungen verknüpft haben, aber dafs die 
Aegypter auch aufserhalb dieses besonderen Gebietes diese feinen Unter- 
schiede festgehalten hätten, wäre doch erst zu beweisen. Ich glaube viel- 
mehr — und ich stehe mit dieser Ansicht nicht allein —, dafs die Vor- 
stellungen über diese und ähnliche Dinge nur in ihrer Theologie genauer 
ausgebildet gewesen sind; im Übrigen werden die Aegypter sich ebenso 
mit unklaren Vorstellungen und Ausdrücken für die Seele, ihr Leben und 
ihr Fortleben begnügt haben, wie andere Völker auch. 


WPTESTUT-HIHAE TE 
Nee Fran 
=> een u [Deine N I: 
N A TeR 3 One Ga ru 
KSIHUIEISGRT 


dw n3 wr ri m min, n mdw ihwi hnt, tw grt wr r eb<(?), dw mi wsf 
8m Yoı, HR NUN, neun. dr ..S mm. mf...f m ht m $nw nwh, 
nn hpr mcf, rwif hrw kSnt. 


1. Auch in Z.ı5 ist das © ebenso kursiv wie hier gestaltet. 2. Die vorhandenen 
Spuren widersprechen dieser Ergänzung nicht. 3. Die Lücke ist schmal für den zu er- 


wartenden Vogel. 4. Man möchte | N vn lesen, doch sälse das m zu tief; die Reste 


NANWWAN 

führen eher auf | wo 0.ä. 5. Nicht sntw. 6. Die Ergänzung nach Z.15, sie 
a 

füllt genau die Lücken. 


By 


20 A. Erman: 


Dies ist heut gröfser as ich, meine Seele redet nicht mit mir, es ist aber 


gröfser as lügen, es ist wie ein Fauler ...... meine Seele geht fort; sie stehe 
für mich ‚auf dns! RE Se... Micht ... ihr .. in meinem 
Deibe als, 4 5 und Strick; indem ..... nicht durch sie entsteht; sie flieht am 


Tage des Unglücks. 


Wir haben zunächst drei mit Zw beginnende Sätze, deren einer das 
neutrische 73" zum Subjekt hat, während die beiden anderen unpersönlich 
sind”. Das Praedikat ist zweimal wr r, und da dieses das erste Mal doch 
mit »grölser als« zu übersetzen sein wird, wird man es auch das zweite 
Mal so fassen müssen. Diese drei Sätze werfen wohl der Seele vor, dafs sie 
dem Menschen auf seine Rede nicht einmal antworte. 

Von dem, was dann folgt°, ist zunächst verständlich, dafs die Seele den 
Mann verlassen hat. Des weiteren beachte man das N “A = 
chf nt hrs »sie stehe mir auf ihr«, eine Aufforderung an die Seele, die 
noch zweimal ähnlich wiederkehrt. Zunächst in V als Dan 
chf m pf 98 »sie stehe auf jener Seite«; sodann in XII, wo es heifst, die 

. & Sn SEA en 
Seele solle ihm ein Bestatter werden, an], EN ine 
drptfi, htft hr h3t »der da opfert und der da steht auf der As! am Tage 
des Begräbnisses«. Nimmt man dazu, dafs auch in X hervorgehoben wird, 


ee 


wie bei Be yaauı: der in der Pyramide regelrecht begraben ist, ’ n Be 
— m? A N chen hri-b hr krsf »ein Hinterbliebener(?) bei seinem 
Ind re 
Besten gestanden hat«, so sieht man, dafs hier ein wesentlicher Punkt 
des Streites berührt wird. Der Mann, den alle Freunde und Brüder im 
Stich gelassen hatten (vergl. oben S. 6), hatte wohl seine Seele, die allein 
ihn noch nicht verlassen hatte, gebeten, ihm den letzten Liebesdienst zu 
erweisen, für ihn auf die en (die ja etwa die Totenbahre ist, vergl. 
zu XI) zu treten, aber diese brieht ihm nun auch die Treue und entflieht. 
Über min »heute« s. das zu XXIX Bemerkte. 
In — )J-ı9) möchte man nach den von Brugsceh (Wb. Suppl. s.v.) 


Besen rem nur einen ee Ausdruck für Lügen sehen. 


2 ee Gramm. De ne a 94. 

® Gramm. $168; dw m? »es ist wie« ist auch sonst häufig; zu ?w wr »es ist grols« 
vergl. unten 2.123 iw $w ves ist leer« und Eb. 86,8 iw ?hw »es ist nützlich«. 

3 Für die beiden Sätze mit "= sind nach Gramm. $ 366. 367. 369 drei Auffassungen 
möglich: »nicht wird es entstehen«, „indem es nicht entsteht« und »es giebt kein Entstehen.«. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 21 


In snıwe nwh ist uns nwh »Strick« (auch »binden« als Verbum) be- 
kannt, und vielleicht hat das gleich determinirte smw eine ähnliche Bedeu- 
tung. Ein ganz gleich geschriebenes Wort kommt in der Amosisinschrift 
(LD. IH, 12d, 5) vor, wo der junge unverheirathete Mann auf einem EN a 


A Q ee nr zu schlafen scheint. Vielleicht darf man auch an wue 


»Netz« en für das Brugsch nur eine Stelle aus Denderah (28%) 
beigebracht hat. 

Die Verbindung Apr m“ kennen wir aus Eb. 20, 17: »Krankheiten 
hprt m“ entstanden durch Würmer«, aus LD. II, 1225: »alle Frohnden 
hr hpr m<l geschahen dureh mich«, aus Louvre Ö ı: Aprt Nies md 
»das durch mich Geschehene«, sowie aus Eb. 69, 17: »ich habe (diese 
Wirkung des Mittels) gesehen, Av hpr mei wrt es ist oft durch mich ge- 
schehen«. 

Da rw? im Sinn von »etwas entgehen« auch mit dem Objekt kon- 
struirt wird, so könnte man auch übersetzen »sie entrinnt dem Tage des 
Unglücks«. 

Der »Unglückstag« führt in der Unterweisung des Amenemhet den- 
selben Namen: »ein Mann hat keine Freunde [U Da az hrw n 
ksnt am Tage des Unglücks« (Millingen 1r, Und ebenso heist es in 
einer späten Stelle, die nach Griffith’s Vermuthung daraus abgeleitet ist, 
»ich fand keinen Freund vun = n hrw ksn am Tage des Unglücks« 
(Pianchi 73). 


Be Fair gern TIIChITE 
SE AIR N-DRRNE- 


age N een 15 
DT 


min! ühw? hr thti, n Sdmnö nf; hr Sbst r mt, n ült?\nf; Ar hsc[??] Ar 
BESEESmSIntI mnif. 
ı. Sie, dieselbe seltsame Schreibung auch Z. 70. 2. 3. Es ist wohl beidemal sn 


fa [a 
ausgelassen. 4- N von Lange erkannt. 5. Man könnte gut lesen und } 
—— —— 


wie in 3I. 32 ergänzen. 6. Lange. 


22 A. Ernman: 


Seht', meine Seele vergeht sich gegen mich und ich höre nicht auf sie, 


zieht mich zum Tode, indem fienz nicht zu ihm komme, wirft (min auf das 


Feuer, um mich zu verbrennen .........- 


Den Bau der Stelle kann man ohne Gewaltsamkeit nicht anders auf- 
fassen, als dafs die drei Infinitive mit Ar als Praedikate zu dem gemein- 
samen Subjekt Aw? »meine Seele« gehören; sie geben an, was die Seele 
Unreehtes an dem Menschen gethan hat. 


In dem IN vAh ‚ das dem ersten dieser Infinitive beigefügt 


ist, wird man zunächst den bekannten Ausdruck der Nebenhandlung 
(Gramm. $ 198) sehen; allenfalls könnte man auch erklären: »nachdem 
ich nicht auf sie gehört hatte« (Gramm. $ 197). 

Der zweite Zusatz n itnf lautet in der ähnlichen Stelle, Zeile 19, 


[ae EOS 242 u R . * . 
NT n it nf, und so wird auch hier zu lesen sein. Man hat 
Au 


dann »indem” ich nieht zu ihm komme«; die ungeänderte Stelle ergäbe 
»indem er nicht gekommen war«. 


[EN e= . =D . . . 
bedeutet gewöhnlich »überschreiten« (die Grenze oder einen 
MD 8 


Befehl), doch kommt es, wenigstens im Neuaegyptischen, auch im Sinne 
von »jemanden schädigen « vor. So rühmt sich Ramses III., dafs unter ihm 


. N) .s . B za 
eine Frau gehen könne, wohin sie wolle: N 2 ZEN 
Fre 


S 7 7 »andere thun ihr nichts unterwegs«° und ebendahin gehört 
l D&D 


es wohl auch, wenn das Wort im Abbott vom Erbreehen und Zerstören 
der Gräber gebraucht wird‘. Danach wird man th auch hier? aufzufassen 
haben. 

Die Konstruktion As hr »auf etwas hinwerfen« findet sich auch in XIV 
und Abbott 4, 3. 

Dals snym »töten« hier »verbrennen« bedeuten soll, ist nur dureh 
das Determinativ angedeutet; das Wort findet sich ebenso auch Totb. ed. 


! Gramm. $ 243. 
> . . . nen N 
® Gramm. $ 283. 285. Ob die Negation in solchen Fällen „N oder zu lauten 


hat, weils ich nicht. 


Han 1273,10; 
* Abb. 3,2; 4,6 und besonders 6,2. 
Und eben so wohl in der Bauerngeschichte, Rs. 25. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 23 


Nav. 17, 44, meist in Schreibungen wie — RAN: -—AN!: 


von dem Sonnenauge, das die Feinde des Osiris verbrennt. Die gleiche 


Art, durch ein in der Schrift zugefügtes il den Sinn auf Verbrennung zu 


beschränken, findet sich auch bei MN (Mar aKam“rr,.9; Totbr 1.1: 


als Variante) »[mit Verbrennen] bestrafen «. 


Y, 
LRELIMTTIZGRILTUZR 
RAN TTÄTIRZ 


thnf(?) imi hrw ksnt, Chef m pf gs mi ir nhpw; p3 is pw prr, inf sw rf. 


ı. So liest Lange die nur in Spuren erhaltenen Zeichen, doch ist der Raum etwas 
niedrig dafür. 2. Das % ist als Auslaut des n% gesichert; in der darauf folgenden Ligatur 


MW 
ist das » sicher, aber was davor steht lälst noch andere Deutungen zu: B: ) 
a 
% sd: ey: Die angenommene Lesung od ergiebt wenigstens ein mögliches 
Wort, doch kommt eine so kursive Form des Ü sonst in unserer Handschrift nicht vor. 
Sie nahe mir am Tage des Unglücks, sie stehe auf jener” Seite da, wie der 
“ hut”, das ist nämlich der Herausgehende, sie bringe sich zu ihm. 
Uber den muthmafslichen Sinn der Stelle ist schon oben zu III ge- 
sprochen; das Einzelne ist sehr fraglich. 
oa .. . 7 2 
Bei = könnte man an das bei Br., Wb. Suppl. belegte seltene — 
E I 


denken, das etwa »überschreiten« bedeuten mufls, aber wir brauchen wohl 
nicht so weit zu gehen. Denn unser tk ist wohl nur ein Schreib- 


! Die ungewohnte ee hat a meisten Handschriften das Wort nn 
lassen, so dafs nur eine die übliche spätere Orthographie 5 Ban N ji hergestellt hat. 


Daher auch die weitere Entstellung zu AN Totb. ed Leps. 17, 37. 


® Gramm. $89 A; wie Kahun Med. 3,25 zeigt, kommt diese ausnahmsweise Stellung 
des Demonstrativs auch aulserhalb der religiösen Texte bei besonderer Betonung vor. 


® Nach Gramm. $190 sollte man erwarten 


* Wohl nicht das hervorhebende rf (Gramm. $ 348. 349), das wohl vor dem I» 


stehen würde, 


24 A. Ernman: 


fehler für das bekannte Verbum ikn, das unten Z. 71 richtig LEN ge- 


schrieben ist. Sicher wäre diese Vermuthung, wenn wir der Lesung | N vr 
gewils wären, denn kn wird ja mit » konstruirt. 

Das Wort EGEES AM dessen Lesung freilich nicht sicher ist, 
ist nicht bekannt; wir kennen nur ein nhp, das »Töpfe machen« bedeutet. 
Unwillkürlich denkt man an weorte »klagen«, das gut passen würde und 
dessen alte Form noch unbekannt ist; wenn man dem demotischen (23 


trauen dürfte, so hätte freilich tegTte ein [LU gehabt und nicht ein % wie 
unser Wort, doch beweist das Demotische in dieser Frage nur wenig'. — 
Des weiteren bleibt die Auffassung des w zweifelhaft; ist es nur Personen- 
determinativ (wozu ja die Endung w stimmen würde?)? oder ist es Possessiv- 
suffix »mein nhpw«? 

Der Ausdruck p% pw »dies ist ...«” ist einmal (Totb. 154,2 ed. Nav. 
= 154, 3 ed. Leps.) zur Einführung einer erklärenden Glosse gebraucht: 
»Atum, dessen Leib nicht vergeht EN LENT p pw sti-skf, 
dies ist der Zerstörungslose«. Da nun in unserer Stelle dem p% pw noch 
das ebenfalls erläuternde 2$ beigefügt ist, so kommt man auf den Gedanken, 
ob p iS pw prr nieht etwa auch eine Erklärung von nApw darstellt: » wie 
der nAhpw (das ist nämlich der Herausgehende) thut«. Gefördert wären wir 
freilich damit auch nicht, denn wir wissen nicht, ob prr hier in seiner ur- 
sprünglichen Bedeutung steht oder in irgend einer übertragenen". 


v1 
5 0 Se u EINE ELLI 
BE-Ka-NEIN TV ZEN 


' Wie demotische Texte A und 4 mit einander vertauschen, zeigen Beispiele wie 


whr (neben wAr) »Hund«, „Am (für nAm) »erretten«, Ai (neben Ai) »Gatte«, rkh (für rkA) 
»brennen« u. a. m. 

?2 Gramm. $ 96, 2. 

® Eigentlich mit Betonung des »dieser« (Gramm. $ 335), die aber in den mir vor- 
liegenden Beispielen (z.B. Louvre C 30; Math. Hdb. 57; Bauer 19) nicht mehr stark sein kann, 

‘ Aus Pianchi 30 und Prisse 10,7 ergiebt sich z. B. mit Wahrscheinlichkeit eine 
Verwendung des Wortes für »zanken, poltern« o.ä. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 25 


eu RER 


ZN TFNRH- RT 


ihwi, achs r sdh >h hr “nh, ihm wi r mt, n it nf; sndm ni imnt. in dw 
ksnt pw? phrt pw “nh. dw htw hrsn, Imd rk hr isft, weh möir. 


T% 4 ziemlich sicher. 2. Lange. 3. Das 5 ist ein Schreibfehler. 4. Lange. 


Meine Seele‘, unterlasse «, einen Trauernden im Leben zu ....; führe mich zum 
Tode, indem ich nicht zu ihm komme”. Mache mir den Westen angenehm. 
Ist er etwas Schlimmes?? Eine Umlaufszeit ist das Leben’. Die Bäume (pflegen 
zu) fallen’; schreite® über die Sünde hinweg; ....... der Unglückliche. 


Dafs BeiA=- wh? »unwissend« bedeutet, ist bekannt und gut 
belegt’, und so könnte man auch hier übersetzen »mein unwissender (thö- 
richter) Geist«. Aber da das r sdh dann in der Luft hinge, ist mir wahr- 
scheinlicher, dafs 4% hier ein Verbum ist, von dem r sdh abhängt, und 
dafs wi? r sdh parallel zu dem folgenden ihm wi steht, etwa so: 

»unterlasse es, den Leidenden im Leben zu .. 
»führe mich zum Tode«. 

Auch das Seitenstück zu wh} eo im »nicht wissen« findet sich 

ähnlich SobanN 
mm 

ENGE en n hmnf stt nf mw »er unterliefs es nicht, 
ihm (seinem Vater) Wasser zu sprengen« (Paheri 9, 52)". 

Das Wort ig: sdh ist nicht bekannt. Brugsch, Wb. Suppl., hat 


neben { E »öffnen« noch ein Eee x ‚ das Louvre © 26, ı ı vorkommt 


Gramm. $ 342 Ende. 
Vergl. oben zu IV. 
Gramm. $ 357. 
Gramm. $ 335. 
Gramm. $ 227. 
Gramm. $ 257. 


wo. 


ou» wo 


? Ein gutes Beispiel auch Bauer, Rs. 31: »es giebt keinen & m: den du nicht 


wissend gemacht hättest, und keinen »QÄA=> ‚ den du nicht erzogen hättest«. 


je 
s Vergl. auch N N hmf »ohne ihn« Pianchi 13. 69. 
g IS) m hmf »ohne ihn ianchi 13. 69 
Philos.-histor. Abh. 1896. II. 4 


26 A. Erman: 


(sdh rmn n k3-... »der den Arm des Hoch....igen ...... «), und ein 

verdächtig aussehendes RN an (Düm., Temp.-Inschr. 79, 28). Wir 

haben kein Recht, eines dieser Worte mit unserem sdh zu identifieiren. 
Für N TI Se ist die Bedeutung »Traurigkeit« gut belegt; als Verbum 


findet es sich Eb. 106,14, und Prisse 7,6 bietet An . »der Traurige«. 
Für | Mm N al ihm steht 2.49 fi] | IN __ı him; ein him läfst sich über- 


haupt sonst nicht nachweisen; ein /hm, mit ”&> determinirt, bedeutet etwas 
wie »traurig«' und hat nichts mit unserem Worte zu thun. Ein Im Tr 
das die Wörterbücher bieten, sieht verlockend aus, ist aber sehr unsicher, 
denn es beruht nur auf Totb. ed. Leps. 64,18, während Totb. ed. Nav. 
64. 35 dafür MONRS $ NE (var.: »o Yımti«) hat. — Dafs das Wort 
!hm in unseren Stellen etwas wie »hinbringen nach« bedeuten mufs, ist 
nach dem Zusammenhang wahrscheinlich; ein gewöhnliches Wort, wie 
»führen«, wird es aber nicht sein, dagegen spricht schon das Determinativ. 

Das sndm n? imnt »mache mir den Westen angenehm« erfährt viel- 
leicht eine Erläuterung durch eine Stelle des Totenbuchs (ed. Nav. 64,10 
= ed. Leps. 64,6): »mache mir deine Wege angenehm und mache mir 
deine Pfade weit. damit ich die Erde durchwandere«. Danach könnte man 
denken, dafs sndm ni ömnt bedeute: »mache mir den Westen gangbar«, d.h. 
bringe mich dorthin. 

Bemerkenswerth ist, dafs der Westen hier und im Folgenden noch 
imnt heifst und noch nicht Zmntt »die westliche (Gegend)«. 

Den Fragesatz »ist es etwas Schlimmes?« wird man zunächst auf den 
»Westen« beziehen; doch ist es auch möglich, dafs er auf »das Leben« 
geht, und dafs das folgende Sätzchen dazu gehört: »ist es (das Leben) 
etwas Schlimmes?« (»nein« oder »ja«) »das Leben ist eine pArt«. 

Für das seltene Wort phrt hat Brugsch zwei Beispiele beigebracht. 
Sen »Herr der Zeit, 
oO IES5<—>N110 
gedeihend an pArit« (Mar. Abyd. I, 6, 36); in dem anderen heilst es, die 


lange Regierungszeit eines Königs werde sein (fl ii: O = * 
—INOEFZEN N Janet 


»die phrüät der Ruhelosen (Sterne)«. Es ist also ein Wort für den ewigen 


In dem einen heifst der Sonnengott = 


Lauf der Gestirne; phr bedeutet ja auch »kreisen«. Aber was soll das 
hier in unserer Stelle? 


! Kahun, Vet. 44 steht es von der Gemüthsstimmung eines kranken Ochsen. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 27 


Völlig räthselhaft ist das Folgende, das, wie die Verbalform zwf sdmf 


* D . ” gr) ” ” ” 
zeigt, ein allgemeiner Satz ist. Dafs 2 | ohne weitere Determinirung 
zum 


für einen Schreiber des m. R. »Bäume« heifst, wird dureh Sinuhe 83 belegt, 
aber was sollen Leben und Bäume und Sünde zusammen? 

Die Konstruktion von And mit hr (statt des gewöhnlich folgenden 
Objekts) findet sich auch Bauer 2 und Kahun, Hymn 2,20 mit der Be- 
deutung »über etwas hinwegschreiten «. 

Das wyh msir gehört vielleicht zum Folgenden; das vieldeutige wh 
erlaubt die verschiedensten Vermuthungen. Im Ganzen müssen die letzten 
Sätze den Gedanken enthalten, dafs es im » Westen«, im Totenreiche, dem 
Unglücklichen, dem myir, besser gehe als im Leben, ein Gedanke, den 
dann der folgende Abschnitt näher ausführt. 


vn. 

POT FERRHT"N. tan ırRrZe 

3 
Ehe Fra RE 

2 7 vwm 

N ihre SONS 218 RT =} 
IS II FAR IT TR 
an 
EIS 5 

wd“ wi Dhwti, htp ntrw, hsf Hnsw hri, ss m mz<t, sdm RC, mdwi, sg 

w3, hsf Isds Ari m et dsrt(?) .... Sri wdn..., nf ni ndm hsf ntr n 


sb hti?). 


ı. Lange. 2. In der von Griffith (ÄZ. 1891, 54) nachgewiesenen Ligatur. 
3. Lange. 4. Das hier stehende hieratische Zeichen ist ınir so nicht bekannt. Der breite 


Kopf erinnert an die Form von N wie sie z.B. Eb. 76,8 vorkommt, doch hat unsere 


Handschrift dafür gleich nachher (Z. 29) die korrekte alte Form. Jedenfalls stellt unser 
Zeichen einen sitzenden Mann dar, der etwas in der erhobenen Hand hält. 5. Das 
Zeichen über dem Schiff könnte man an und für sich auch W lesen, ich vermuthe aber, 


dafs das Ganze ein Sonnenschiff LOS darstellen soll, vergl. das zu 144 Bemerkte. 6. So 
Lange, doch kann ich X/ im älteren Hieratisch sonst nicht nachweisen. 7. Lange, 


4* 


28 A. Erman: 


“ * < _- . rg ” * 
wohl richtig, 8, > und == noch ganz erhalten, von ] ein Theil; die Lesung 
ANWAN | — 
ergiebt sich aus 149. 9. Man möchte wie in Zu lesen, doch hat unser Schreiber 
IZz 


den glatten Strich nur für wwm. 


Thoth richtet mich, der die Götter befriedigt; Chons vertheidigt mich, ‚der 


wahrhaftige Schreiber; Re hört, wenn ich rede, .... das sonnnschiff; "Isds ver- 
theidigt mich im Hause ...... ‚ mein Unrecht»... und er trägt mir .. ange- 


nehm .. die Götter wehren das Bohwlariga meines lieibes ab. 


Vier Götter sind genannt, die sich des Toten annehmen werden. 
Die beiden ersten sind die bekannten Mond- und Weisheitsgötter, die 
Schreiber und Richter der Götter; der dritte ist der Sonnengott, der 
himmlische Leiter der Welt. Der vierte ist eine obskure Gottheit, die 


F — 1 
uns aber schon, und zwar in derselben seltsamen Schreibung IN N 7 
ee 


aus Totenbuchtexten bekannt ist. Einmal (ed. Leps. 145, 39) wird auf 


einen Vorgang aus der Göttersage angespielt, bei dem ’Isds »eintrat, um 
den 'Set zu... er Al) in dem verborgenen Hause«; das andere Mal 
(ed. Nav. 17, 41) werden »Set (var. Thoth) und '/sds, der Herr des Westens, « 
als die »IHerren der Wahrheit« bezeichnet; an der dritten Stelle (ed. 
Nav. 18,24) heifst es, der grofse Geriehtshof auf dem Wege der Toten 
bestehe aus 'Thoth, Osiris, Anubis und 'I$ds. Das deutet auf eine ge- 
rechte, riehtende Gottheit, wie sie auch unsere Stelle verlangt. 

Dem Thoth und dem Chons sind Beiworte beigefügt, die sich freilich 
nur erkennen lassen, weil sie auch sonst bekannt sind. Denn Thoth 


R . Te neh 4 £ 
heifst Düm., Temp.-Inschr. XXI: Shlp ntmw »der die Götter be- 
As 11 ı 


(riedigt«, und Ohons heilst ebenda a H —)) Wo nb s$ ms<t »Herr der (P) 


Schreiber der Wahrheit«. Demnach ist an unserer Stelle sicher ber; 
zu verbessern und wohl auch das m vor my“ zu streichen. 

Man darf danach vermuthen, dafs auch den anderen beiden Göttern 
Beinamen zugefügt waren und dafs der des Re in den Worten sy 1b 
steckt. Man würde auf »der das Sonnenschiff lenkt« oder Ähnliches ‚athen, 


doeh ist ein Verbum, das diesem sy ähnlich sähe, nieht bekannt”, 


‘ Das Determinativ ist hergenommen von 0 »Krugs. 


Br BER . nn .n . Dr o 
IA { W.492 scheint »begielsen« zu heilsen. An neunegyptisch EN \A 


An, 1, 23,2 wird man nicht denken, 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 29 


Was Thoth dem Toten erweisen soll, ist natürlich ein gerechtes Ge- 
richt. Freilich fügt man in der Bedeutung »richten« dem m ns 
N 


wd°e sonst noch ein dw »Wort« bei, doch findet es sieh wohl auch nur 
mit dem Objekt der Person, so Totb. ed Leps. 123, 1 (= 139,1) wd“ rhlnwt 
vom Thoth, der den Streit zwischen Horus und Set schlichtet. 

Ohons und ’ISds »wehren von ihm (die Widersacher) ab«; dafs Asf 
e.c. hr dies bedeutet, läfst sich zum Glück dureh eine Stelle des » Amduat« 
belegen (ed. Jequier p. ı01)'. Dagegen greift Re als höchster Gott nieht 
selbst zum Heile des Toten ein; er erhört nur, wenn er ihn bittet. Auch 
am Schlufs des Buches (LIII) wird es als ein Glück der Toten bezeichnet, dals 
sie im Sonnenschiffe dem Re so nahe sind und zu ihm beten, wann sie reden. 

Alles Folgende ist wieder unklar, hauptsächlich der Lücken wegen. 
Das Wort NS AN %o findet sich als NERIR Fin der Bauern- 
geschichte Z.69 (ähnlich 100. 135), wo der Bauer den Fürsten anfleht: 
»thue Gerechtigkeit ... vertreibe das SÖr«; es wird also wohl das » Un- 
recht« bezeichnen, das ihm zugefügt ist. Auch Totb. 64, 23 kommt das 
Wort in einer unverständlichen Stelle vor. Ob das vn hier das Suff, ı sg 
bezeiehnet oder ob es einen Personennamen (»Sünder«) andeutet, ist 
nicht zu entscheiden. 

Das Wort wdn »lasten« findet sich auch in LIV wieder. Zu über- 
setzen »er bringt mir Angenehmes« geht schwerlich an, denn dann würde 
es wohl ndmw heilsen”. 

Liest man, wie es bei unserem Schreiber am nächsten liegt, ] ; 

hat man Asf ntr n »Gott straft den ..«, wobei der einzelne „Gott« 
etwas verdächtig ist. Liest man "| | | „50 erhält man »die Götter wehren 


ab den ..«. — Bei $4-ht ist urledar die Auffassung des Yp fraglich; es 

' Es heifst hier: Asf Gppt hr Re »den Apophis vom Re abwehren«., — Übrigens 
kommt auch ein anderes As/ hr vor, das im Namen des Thürhüters Hsf- hr-83- rw »Schwätzer- 
abwehrer« vorliegt (Totb. ed. Nav. 147, 26; ed, Leps. 147, 18). 


- 


l 
® Das Determinativ ON nach IN —> zeigt an, dals man dies IN al — zu lesen 
NS 


hat; also DR A m3ir u.8.w. Es kommt dies wohl von einem Worte her, das sowohl als 
RSPNF LD. Il 136%), DI) (Sinuhe 50) als auch als RE, (Louvre 


"26) nachzuweisen ist. 


’ Gramm, $$ 11, 15 131. 


30 A. Erman: 


kann Personendeterminativ sein (»der am Leib schwierige«) und Suff. ı sg. 
(»der Schwierige meines Leibes«). Bei beiden Auffassungen bleibt das 
Pluralzeichen hinter $%# unbequem; wäre der Plural von $t beabsichtigt, so 
würde auch dessen Endung w ausgeschrieben sein, die Verwendung des 
ı ı ı bei Singularen zur Verallgemeinerung des Determinativs ist aber, so- 


viel ich sehen kann, in den Handschriften dieser Zeit nur bei ö } Bi 
ie.N 


u.ä., d.h. bei Stoffnamen und Kollektiven, gebräuchlich. 


vn. 
er Te Fe ee 
SERIE 


ddtn ni ihwi: n ntk iS s, twk tr... Cnht, tr kmk mhülk hr .... mi nb-Ch“. 
ı. Lange. 2. Die Lesung ® wird durch die gleiche Konstruktion von mA Z. 78 
gesichert. 


Was meine Seele zu mir sagte: » Du bist nicht eine Persony bist du denn . . Lebens- 
lande? vollendest au denn . . ...? du sorgst dich wegen ... wie einer, der Schätze hats. 


Ebenso wie hier ist auch Z. 147 die Rede der Seele eingeführt; beide 
Mal sind es kürzere Reden, während der langen Rede Z. 55 die vollstän- 
dige Formel: »meine Seele öffnete mir ihren Mund u. s. w.« vorhergeht. 
Das ddtn ni ühwi bedeutet »das, was meine Seele sagte«' und bildet wohl 
eigentlich mit der folgenden direkten Rede einen Nominalsatz: » was meine 
Seele sagte (war): du bist kein Mann«. Ein solcher Gebrauch von ddtn .. 
findet sich auch Der Rifeh VII, 34, wo in der Erzählung eines Tempel- 


baues die bewundernde Rede der Leute dureh be „ | IN Ap » was 
=a\ vum j 


die Jugend sagt« eingeleitet wird. Einem ähnlichen Gebrauch verdankt 
auch kopt. nexacj aus p3-iddf seine Entstehung. 

Der erste Satz findet seine Erklärung durch zwei Stellen der Pyra- 
midentexte (P 582 und P315 =M623), in denen die Konstruktion x 


my N $ l SEN ... bedeutet: »nieht X hört ... (son- 


! Gramm. $ 291. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 31 


dern) Y hört«. Dieselbe Konstruktion! ist es, wenn es Weste. 9, 5 heifst: 


{nA N x »ich werde es dir nicht bringen«, worauf 
um II wm III 


BRERE : 5 1 Eee re wall : 
der König sogleich fragt: m IR I ei) IS »wer wird es 
mir (dann) bringen«, als habe Dedi bei seiner Rede die zweite Hälfte fort- 
gelassen. Demnach ist sicher auch an unserer Stelle zu übersetzen » du 
bist kein Mann«, mit Betonung des du; der dazu gehörige Gegensatz 
scheint nicht ausgesprochen zu sein. 

Was aber damit gemeint ist, ist nicht zu errathen; Sı ist das farblose 
Wort, das man meist mit »(männliche) Person« oder mit »jemand« wieder- 
geben kann. 


Die Partikel ” j\ kennen wir aus Fragesätzen aller Art”, und so 
— 


möchte man auch hier zwei Fragesätze annehmen, die freilich sonst nicht 
als solche gekennzeichnet wären. Die Schwierigkeit ist nur, dafs fr das 
zweite Mal den Satz beginnen würde, während es doch sonst stets enkli- 
tisch dem ersten Worte folgt. 

Das »Lebensland« “nht ist die bekannte Bezeichnung des Westens, 
in dem die Sonne versinkt und in dem die Toten wohnen. 


Für N] ist die Bedeutung »(eine Zeit oder eine Zahl) vollmachen « 


gut belegt, und ebenso auch die substantivische Verwendung für »Zeit«“. 

Ebenso sicher steht die Bedeutung »sich sorgen« für mA und die Be- 
deutung »Haufen, d.h. Reiehthum« für he*. 

Da auch unten (XVI) die Seele dem Menschen räth, »die Sorge zu 
vergessen«, so darf man annehmen, dafs der Unglückliche nicht nur gegen- 
wärtige Leiden erduldete, sondern auch künftige befürchtete. Vielleicht 
darf man weiter in den letzten Worten den Gedanken finden, dafs ein 
armer Mann, wie er, die Sorgen den Reichen überlassen solle, die für 
ihre Schätze fürchten müssen. 


! Das Pronomen absolutum der jüngeren Form entspricht ja dem | sum mit Substantiv. 


2 Gramm. $ 363. Vergl. auch P298 ff. Totb. ed. Leps. 58, ı; 64, 20. 24; 113, 3; 
122,1; 125,47, sowie Bauer 114. 179. 200. Merkwürdig Math. Hdb. 67. Anscheinend 
nicht im Fragesatz Sinuhe 114. 

® Ein gutes Beispiel Louvre C 26, 22 (poetisch). 

4 Vergl. z.B. Prisse 13, 6, wo der früher Arme reich geworden ist und nun cA@ be- 
sitzt. Es ist das gewils ago »thesaurus«, eine Bildung wie co, 2pPo07 u. Ss. w.; der Plur. 
A0WWwp ist mir freilich unverständlich, 


32 A. Erman: 


RX. 
E-FRAETEI RT N Jle8 
AN ZeleE TIPS I 
BERBETTETRTLEKEITTT 


4 5 
u a SL 39 © 
U N Rz] | 13 
ddi: n smi, tw nf r b, nlım nti(?) hr tfül, nn nwtk, hnri nb hr dd: 
iwi r ittk, tw grtk mt, rnk “nh, st nfs x Imt, ..fd(?) nt ib, dmi pw ümnt, 
Int ks... ar (). 


NW MM 
ı. Es wird ob oder IN zu lesen sein, wenn auch der kleine Strich weder dem 
[a\ 


noch dem W gleicht. 2. Das @ kann natürlich auch S sein. 3. Der Strich n? 


oder ein kA? Auch das d hat eine seltsame Form. 4. Neben ||! stand kein zweites 


Zeichen, so dafs die Ergänzung ld nicht wahrscheinlich ist. 5. ® wahrscheinlich. 


Ich sagte: ich gehe nicht fort, wenn jenes da auf Erden ist; .... wird, 
wer da .... ohne für dich zu sorgen. Jeder ..... sagt: Ich werde dich fortführen, 
dein [Los] ist ja zu sterben, indem dein Name lebt. Jenes ist der Ort des sich 
Niederlassens, das ..... des Herzens, eine Stätte ist der Westen, . .. fahren 


Da Z. 39 schon zu der Antwort des Mannes gehört, so kann diese 
nur hier beginnen, wenn auch die Einleitung durch ein einfaches AIR 
auffällig ist!. 

Der Ausdruck r % im Sinne von »auf Erden« findet sich auch P 164, 
wo es heifst: »Pepi fliegt fort von den Menschen, > —l% 


nl 2 


Im folgenden Sätzchen ist nam das aktivische oder passivische Ver- 


er ist nicht auf Erden, er ist am Himmel«. 


bum zu dem Subjekte nt? hr tfüt, denn so IRX%) wird zu verbessern sein. 
es 


Nhm bedeutet bekanntlich sowohl »rauben« als »erretten«. Für das, in 
der älteren 2. bisher nicht belegte, /f& hat schon Chabas (voyage 


! Es ist gebraucht, wie man sonst ddf verwendet, vergl. Gramm. $ 175. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 33 
p-ı41) Stellen gesammelt; wiederholt steht es vom »Schlagen« des un- 
ruhigen Herzens, in anderen Beispielen bleibt es unverständlich. Nach 
dem Determinativ mag es etwa »hüpfen« bedeuten. 

Ein ebenfalls mit © determinirtes Verbum nıw kenne ich aus Prisse 
7,11 wo nuf ihtk etwa bedeutet: »er (dein Sohn) besorgt deine Sachen «°; 


{a J s 2 . 432 
es wird das dasselbe Wort sein, das d’Orb. 8, 3 zweimal als ER all 


N 48 mit anscheinend gleicher Bedeutung vorkommt. Ob unser nwtk 
der Infinitiv ist (dieh besorgen), die substantivirte Form (indem du be- 
sorgst) oder das Passiv (du wirst besorgt), ist nicht zu ersehen°; der Ge- 
brauch von >‘ würde zu der ersteren Auffassung: »ohne dich zu besor- 
gen« passen. 

Das Substantiv Anr? kommt als BE AM Anr auch in der Bauern- 


re en. 
geschichte 121 vor, wo es vielleicht parallel zu R ee »der Be- 


sitzlose« steht: ebenda 122 scheint es ® led) Br geschrieben zu sein. 
NW 
Mit einem der anderen Worte Anr darf man es wohl nicht identifieiren, 


da das Determinativ A zu keinem derselben palst. 


BER A k : a { 
Das unverständliche A) ist wohl nicht in N —— »dein An- 
>) ——— 


theil« zu verbessern, sondern grt ist die bekannte Partikel’ und hinter ihr 
hat der Schreiber das Substantiv ausgelassen, zu dem das Suffix —S gehört. 
Also etwa »dein [Los] ist ja zu sterben«. 

Das oft besprochene Wort S < wird von Vögeln und Insekten 
gebraucht, die sich aus der Luft sufkehwas »niederlassen«®; es steht daher 


auch von der vogelgestaltigen Seele N die auf dem Baume am Grabe 


! Im Tellamarnahymnus (p. 39 ed. Breasted) steht es vom Springen der Fische, 
falls die Lesung richtig ist. 
®2 Aulserdem in einer mir unverständlichen Stelle Brugsch, Thesaur. S. ız01. Das 


Determinativ ist von © nwt »Faden« (Benihasan II, 13) hergenommen. 


ER 
da 
® Gramm. $$ 266. 280; 285. 286; 171. 
* Gramm. $ 366. 
° Gramm. $ 321. 


% Besonders deutlich W 477, wo der in einen Käfer verwandelte Tote 


: N Be »sich niederlälst auf einen leeren Throns, der im Sonnenschiff steht. 


Philos. -histor, Abh. 1896. II, 


34 A. Erman: 


sitzt!'. Und so steht es auch gleich nachher in XII, sowie unten in LV; 
an der letzteren Stelle heifst es etwa: wenn der Leib bestattet ist, so soll 
sich die Seele bei ihm »niederlassen«; sie sollen »zusammen eine Stätte 


—|| | machen«. Damit erklärt sich auch unsere Stelle: »der Westen 
: A sun 5 
ist die Stätte —|| jo in der Leib und Seele zusammen hausen sollen, 


»der Ort«, wo sich die Seele »niederläfst«, die »Lieblingsstätte (?)« oder 
I? m vum 

> ® herzustellen ist. 

= Se en Ya | 

Ich habe —|| | allgemein mit »Stätte« wiedergegeben, während 


wie sonst das verderbte 


es sonst stets die »Stadt« bezeichnet. Aber es mufs in der That auch eine 
allgemeinere Bedeutung haben, denn im Grabe des Paheri von el Kab? reeitirt 
der Priester beim Begräbnifs, während ein Boot mit dem Bilde des Toten 


(?in einer Kapelle) gezogen wird er br: | I N 1 am | u IN 


zn NS - 5 "= 
J en RR: ich kann das nicht ganz übersetzen, aber es 
Eee sp 


heifst doch gewils, dafs für die Mumie »eine Stätte, ein Wohnort o.ä. 
gemacht ist« im Heiligthum des Anubis. — Auch Bauer ıoı kommt rt 
dmt vor, doch ist die Stelle mir unverständlich. 

Bei dem weiter noch erhaltenen Worte Ant »fahren« könnte man u.a. 
an die Überfahrt bei dem Begräbnifs denken und könnte demnach das 
folgende As zu Ärs ergänzen. 

Ich möchte — natürlich unter allem Vorbehalt — für den Abschnitt 
folgende Auffassung vorschlagen. In VII hat der Mensch seiner Seele 
geschildert, wie gut es der Tote im Westen hat, und darauf könnte sie 
ihn in VIII. gefragt haben, ob er denn nicht auch allein, auch ohne sie 
dorthin gehen könne. Dagegen sträubt er sich nun: »ich gehe nicht fort, 
wenn das da” (d. h. die ungehorsame Seele) auf der Erde bleibt«. Der 
ist übel daran, der aus der Welt läuft, ohne sich um dich zu bekümmern. 
Jeder .... sagt zu seiner Seele: »ich werde dich mit fortnehmen, du 
mufst sterben und dir an dem Nachruhm genug sein lassen. Der Westen 
ist der rechte Wohnort für dich«. Aber noch einmal, es ist ebenso gut 
möglich, dafs ganz anderes in der Stelle steckt. 


! Louvre C 55. 
® Taf. 5 der Ausgabe des Egypt exploration fund. 
® N wäre hier verächtlich gebraucht, wie p% es so oft ist; für den letzten Satz palst 
diese Auffassung freilich nicht. 


> 2 Du 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 35 


X. 
FT 
RN ER TAN  ANRA- TI 

ine. 
ir sdmni dwi,n .....: ‚ twt Übf hmet, Äwf r mer(?); rdii phf imnt mi 
ntt m mrf, Chen hri-b hr krsf. 


= 


ı. Man könnte wohl auch IB lesen. 2. Unter „n. stand noch ein schmales 
Zeichen, vielleicht wm. 3. Lange liest ZeD ,„ was möglich ist, wennschon 
ZA 


das D nicht ganz die richtige Form hat. Für a kann man auch —>, für N auch 
NN 


N lesen. 


Wenn meine Seele auf mich hört, so wird nicht ..... Wer sein Herz 
mit mir ...., wird glücklich sein; ich lasse ihn den Westen erreichen, so wie 
einen, der in seiner Pyramide ist, und über dessen Sarge ein Hinterbliebener gestan- 
den hat‘. 


Für das Verbum #ot sind die Bedeutungen: ı. »versammeln«, 2. »ähnlich 
sein« gut belegt; was es aber vom Herzen gebraucht heifst, ist nicht 
bekannt. 

Für St hat Goodwin (ÄZ. 1876, 103) eine Bedeutung 
— 


wie »glücklich« nachgewiesen; das Wort könnte wohl ein Derivat von rwd 
»wachsen« sein (mrwd?) und »gedeihend« bedeuten. — Zu Zof r »er wird 
etwas sein« vergl. Gramm. $ 253. 

Der Ausdruck Ari-t »einer, der auf der Erde ist«, ist sonst nicht be- 
kannt; da es sich hier und in XV augenscheinlich um eine Person handelt, 
die dem Toten die letzte Ehre erweist, so ist die vorgeschlagene Bedeutung 
wahrscheinlich. 

Dafs man in Ars hier Zi den Sarg zu sehen hat und nicht 


das Verbum, wird durch den Vergleich von Z. 53 wahrscheinlich; hier 
wie dort ist die Stellung des Bestattenden durch CA“ Ar »stehen über ..« 
bezeichnet. 


! Gramın. $ 396. 
5*+ 


36 A. Erman: 


Wenn ich recht verstehe, verlangt der Mensch, seine Seele möge ihm 
nur vertrauen; auch wenn er nicht glänzend bestattet werde, so werde er 
ihr doch einen guten Eintritt in den Westen verschaffen. Der folgende 
Abschnitt giebt dann wohl an, auf welche Weise er dies erreichen will. 


XI. 
PH TRA- MEI AIR 
ISIS eh UP 
ang TERN EIHEETN > 
ISSUES TI —T|e> 


Ama No A 
Nor 
wer rt nit... hitk, sddmk kit thw|nti?| m nnw; dwi vr ürt nist, ih 
Imf hsw, sddmk kit ihw nt|i| Bw; swrä mw hr bsbst, til Sw.., sd[d|mk Kküt 
thw nti hkr. 
1. Das hieratische Zeiehen ist mir nicht bekannt. Man könnte an IN ‚an ®, an l 


denken, doch stimmt es zu keinem genau, Ob es etwa 1 (das spätere ) ist? In nr 
könnte das N auch wohl N sein, in 45 ist es undeutlich. 2. Es fehlt wohl 
nichts. 3. So wird 17 zu lesen sein, vergl. die ähnliche Abkürzung von ID: 
Y Sinuhe 22; in Z.72 hat unser Text die gewöhnliche Form. 4. N hinter n& 


scheint ausgewischt. 5. &S kann natürlich auch —> sein. er N sicher, 
wahrscheinlich, unter dem runden Zeichen noch ein verwischtes I I 1 0. ä. 7. Sie 
Ich werde ein .... werdn ... deinem Leichnam; du ..... eine andere Seele, 
als müde. Ich werde ein ..... werden, möge er nicht frieren, du ..... eine 
andere Seele, welcher heifs ist. Ich trinke Wasser aus dem strome, ich erhebe .. . 
en Au 22... eine andere Seele, welche Hunger hat. 
Wenn das Zeichen hinter "3%? sicher ein I wäre, so dürften wir 


. NWM R MM R R e ’ 
an das Wort EN nl, IE aa‘ n&w denken; was ein »Steinbock« hier 


sollte, wäre freilich schwer zu ersehen. Sonst giebt es nur noch ein ähn- 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 37 


liches Wort EN d den »Schnupfen«. Anstatt »ich werde ein ni? werden «, 


kann man eben so gut auch übersetzen »ich werde ein n?? machen«. 

Auch das andere für das Verständnifs der Stelle wesentliche Wort 
sddm ist neu und unbekannt; auf die Existenz eines solehen Verbalstammes 
deuteten schon das Wort IAU »Haufen« (?als Mafs) und der Stadt- 
name er, (Brugsch, Dict. Geogr. p. 1006)". 

Bei Ast denkt man hier zunächst an den »Leichnam« (d. h. also an 
den zu der Seele gehörigen Körper): doch hat das Wort auch, wo es so 
wie hier determinirt ist, eine allgemeinere Bedeutung, vergl. Eb. 8,13, wo 
es Unrath im Leibe des Menschen bezeichnet. 

Die genaue Bedeutung von Asw ergiebt sich aus Stellen wie Bauer 244, 


wo der klare Himmel »alle NT wie Feuer erwärmt« und 


Louvre Cı wo der RSST eines »warmen Zimmers« bedarf. 
{= 


Aus der b»b}t oder, wie man vollständiger sagt, der JJ1 


AWMN 

2a Wr »der bbt des Stromes« wünschen die Toten auch sonst zu trin- 
wi 

ken’; was die b»b3t eigentlich ist, weils ich nicht”. 
Wir haben offenbar drei parallele Sätze von gleichem Bau 


tw r ürt mist en Ale \ sddmk kit ihw m nnw 

ich werde ein nö2 werden ... dein Leichnam \ du ... eine andere Seele als 
| müde 

tw r Ärt mist \ ih tmf hsw  sddmk kit ihw nt! Bw 

ich werde ein nö? werden möge er nicht frieren du ... eine andere Seele, 


| | BR r 
| ' welche heils ist 


| 
swr! mw hr babst | ln. \ sddmk kit ihw ntt hler 
ich trinke Wasser aus dem | ich .... |du .... eine andere Seele, 
PA | welche hungert. 


Nach dem, was vorhergeht, zu urtheilen, müssen diese Sätze ausführen, 


®2 2.B. Berlin 2074; die Formel stammt weder aus den Totenbuchtexten noch aus den 
Pyramidentexten. — Swr? Ar heilst auch sonst »trinken aus«, vergl. Paheri 9,4. 

® Die übliche Übersetzung »Strudel« beruht wohl auf der unbewiesenen Zusammen- 
stellung mit dem Verbum heebe. 


38 A. Erman: 


nach, dafs ihr Schlufs bedeutet: du wirst herabsehen auf andere Seelen, 
die müde, heifs und hungrig sind, so gut wirst du es haben. In dem An- 
fang dieser Sätze mülste dann stehen, dafs die Seele munter, kühl und ge- 
sättigt sein wird; bei dem dritten Satze ist dies in der That der Fall, ob 
auch »ich werde ein nö« diese Gedanken ausdrücken kann, wird nur sagen 
können, wer die Bedeutung dieses Wortes ermittelt. 

Von dem mittleren Theil ist nur das »möge er nicht frieren«' ver- 
ständlich: das könnte heifsen, dafs die Seele es auch nicht zu kalt haben wird. 


ph Ne" 
x ERBAINER N WAR TR, 
Or TEA ters | 


NENNT TE 


ir himk wi r mt m p ki, nn sdmk(?) hntk Sa m imnt; wsh(?) ibk, ihre 
snt, vr hpr „ne at, drptfi, chtfi hr h3t hrw krs, Süf Imkiit nt hrt-ntr. 


ı. Die Lesung ziemlich sicher, him ist wohlaus ?hm (Z.19) verschrieben. 2. Die 
Reste des Zeichens führen eher auf N als auf [- 3. Ergänzung durch die Ligatur gefor- 
dert. 4. Von N noch Spuren. 5. Das zweite w klein, vielleicht hineinkorrigirt. 


a 5 - E ® NN rn: 
6. Das in einem Zug mit dem m Dann, durch die wechselnde Farbe der Tinte 
a 


gekennzeichnet, ein neues seltsames Zeichen; man könnte an Q denken (3n<c), doch hat 
MAN a 

dies Z.74 die korrekte Form; eben so wenig palst D (pre). Das & ist ungewöhnlich grols. 

7. So zu lesen und nicht X 4, da die Handschrift statt {A noch __5 schreibt. Auch 


a__n ist ausgeschlossen, da dies in Z.54 anders gestaltet ist. 8. Lange, gewils richtig; 
eine ähnliche Gestalt hat ' auch Sinuhe 191. 9. Das 2 ist mit dem "] zusammengellossen. 


Wenn du mich in dieser” Weise zum Tode yurs, so wirst” du nicht ...., 
dar‘ du dich darauy im Westen niederläfst. Sei so freundiich, meine Seele und Bruder, 


' Gramm. $$ 182. 376. 
® Gramm. $ 90. 

° Zu einer futurischen Übersetzung palst auch die Form der Negation, vergl. 
Gramm. $ 366. 


* Gramm. $ 284. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 39 


mein Bestatter zu werden, der da opfern wird und der an der Bahre stehen wird 
am Tage des Begräbnisses, damit er mir das Bett des Friedhofes ...... 


Über him oder ihm ist schon zu VI gesprochen worden. 

Dem Antk geht ein Verbum auf m vorher, das ohne Determinativ 
geschrieben werden kann; es pafst dies sowohl auf wAm » wiederholen «, 
als auf sdm »hören«. Die letztere Lesung, die palaeographisch wohl näher 
liegt, ergäbe etwa »du wirst nicht hören, dafs du dich niederläfst«, die 
erstere: »du wirst dich nicht aufs Neue niederlassen«. Und worauf be- 
zieht sich dass ® N hrs »auf ihr, darauf«? etwa wie das in chf nd hrs 
in IT auf die 197 »die Bahre«? 

Dafs w>h 7b zu lesen ist, ist klar, und ebenso, dafs diese Redensart 
hier optativisch steht und dafs r Apr von ihr abhängt!. Aber die genaue 
Bedeutung von wh ib ist nach meinem Gefühl noch nicht festgestellt, 
wenn ich auch glaube, dafs Brugsch’s Übertragung »mildthätig« der 
Wahrheit nahe kommt. 

Das Wort, das auf Apr folgt, muls den Bestattenden bezeichnen, ist 
aber augenscheinlich verderbt. Auf die richtige Spur führt sein Schlufs ®, 


der gewils die alte Bezeichnung der Totenpriester $ (so allein z.B. LD. II, 4) 
ist; demnach werden die davorstehenden Zeichen aus dem BEN verderbt 
sein, das gewöhnlich davor steht. Man gebraucht diesen Ausdruck ebenso 


wie hier auch mit Possessivsuffixen, vergl. Tı69 =M 178 » 5 
»dein Bestatter«. u = 
Drp »opfern« ist gut belegt; über Ch Ahr »stehen bei« vergl. das zu X 
Bemerkte. 
Dafs das Ast eine Stätte bei den Bestattungsceremonien ist, zeigt zu- 


nächst ein alter Priestertitel in Siut (I, 331): = N nr Im I N | m 


an VEN Zee IN = N = I Ni) »Eingeweiht in das 
BE Nm —— AAN 

Geheimnifs des Osiris an seiner Stätte, der grofsen Ast, die ihren Herrn, 

den Uennofre, besitzt(?)«. Ebenfalls mit Bezug auf das Begräbnifs steht es 

in den von Brugsch (Wb. Suppl. S. 780) angeführten Stellen Leiden I, 

344, 2.7; 7.5. Genauer ergiebt sich seine Bedeutung aus dem bei Brugsch, 

Wb. S. 234 eitirten späten Sarge, auf dem es FR-R geschrieben ist 


' Über die Stellung der Anrede »mein Geist mein Bruder« vergl. Gramm. $ 342. 


40 A. Erman: 


und ohne Zweifel von der Bahre gebraucht wird, auf der die Mumie für die 
Totenklage und andere Ceremonien aufgestellt ist. Indefs ist vielleicht die 
Bedeutung eigentlich doch eine etwas allgemeinere'. 

Für Arw krs wird Ahrw n kr$ zu lesen sein, denn Infinitive werden 
mit Arw im Genetiv mit n verbunden’. 

Dals das SUf Imktit etwa »er bereite mir das Bett« bedeutet, ist klar, 
aber ein mit | determinirtes $ findet sich nur einmal (Louvre Ö 174)°, 


augenscheinlich mit ganz anderer Bedeutung. 


XII. 


era de FAN 
iw wpn nt dot r3f, wsbf ddtnt. 


Meine Seele öffnete ihren Mund zu mir und beantwortete, was ich gesagt hatte. 


XIV. 
II LE PRINT 
FAN FSFE ER ARLIN IT 
BRALnesettTerTe 


ir shyk krs, h3t-ib pw; int-rmüt pw msind s; Sdt s pw m prf, IC hr 
ka; nn prnk r hrw, my’k re (P). 
1. Reste zweier schmaler Zeichen, das untere etwa ——D (oder ı I 1); das obere vier- 


eckig, vielleicht für —! 2. Das N durch einen zufälligen Strich unklar. 


! Sehr allgemein giebt der demotische Übersetzer der Rhindpapyrus das ENT 


Fr PT 8 »das A. der thebanischen Nekropole« mit »die Halle (wsAt) der 
er AM al 


Nekropole« wieder. Vergl. Brugsch, H. Rhind's zwei bilingue Papyri 5, 3; ähnlich ib. 15, 9. 
? So hrw n mnt »Tag des Sterbens« (Sinuhe 310; Siut I, 267; d’Orb. 19, 7), hrwn st tk3 
»Tag des Lichtanzündens« (Siut I, 279) u. s. w. 


* Dafür MERAN Louvre Ü 167, ra N Louvre U 170. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 41 


Wenn du des Begrabens gedenkst, das ist Trauer, das ist was Thränen 
bringt‘, wa den Menschen betrübt macht, das ist was den Menschen aus seinem 
Hause fortnimmt' und auf die Höhe wirft. Nicht gehst du nach oben, dafs 
du die Sonne sehest. 


Der Abschnitt bietet ausnahmsweise keine lexikalischen Schwierig- 
keiten. Dafs $h% nicht nur »sich erinnern« (an etwas früher Geschehenes) 
bedeutet, sondern schlechtweg »an etwas denken«, ist vielfach zu belegen. 
So »denkt« jemand schon bei seinen Lebzeiten an seinen Tod (Siut I, 267), 
der Zerstreute »denkt an etwas Anderes« (Ebers 102, 16), der König »denkt« 
an die fernen Goldländer (Kuban 8), und als der arme Bauer auf den 
Fürsten Meruitensi hofft, wirft ihm sein Peiniger vor: ich bin es, der 
mit dir redet, und an den Meruitensi »denkst du« (Bauer 21). 

Für Ast »Traurigkeit« und ind »traurig« genügt es, auf die von Brugsch 
beigebrachten Belege zu verweisen; 3d »fortnehmen «* und 43° »hinwerfen «° 


sind gewöhnlich. X33 »Höhe« ist uns meist in späteren Schreibungen wie 
FEN Ba bekannt: dieselbe Schreibung, die wir hier haben, findet sich 
N 


auch Totb. ed. Nav. 71, ı5 (Pb). 

Der Satz enthält eine merkwürdige Ellipse; er mülste vollständig 
lauten: »wenn du des Begrabens gedenkst (so gedenkst du an nichts Gutes), 
es ist etwas Trauriges« u. s. w. 

Den Sätzchen int pw »das ist das Bringen« und $dt pw »das ist das 
Fortnehmen« folgt je ein sie ausführender Zusatz ohne pw. Der zweite 
hs hr k3? wird einen Infinitiv enthalten, dessen Objekt »ihn« als selbst- 
verständlich übergangen ist’: »das ist das Fortnehmen und das (ihn) auf 
die Höhe werfen«. Auch den ersteren m $ind s möchte man ähnlich fassen: 
»das ist das Thränenbringen und das den Menschen Betrüben«, aber dem 
widerspricht das vor ind stehende m. Sieht man in diesem m die Prae- 
position, so erhält man: »es ist das Thränenbringen, wenn es (oder da- 
durch dafs es) den Menschen betrübt macht«, d. h. es macht traurig, wenn 
es traurig macht — ein Widersinn. Ist daher der Text in Ordnung, so 


! Eigentlich Infinitive: das ist Thränen bringen; das ist fortnehmen und werfen. 
® Für $d m »fortnehmen aus« vergl. Eb. 23, 20. 
® Eine gute Parallelstelle ist Abb. 4,3, wo die aus den Särgen gerissenen Mumien 


ne, MAN > SE : i 
j IN EIN »auf den Boden geworfen« sind. 
N 1 ae a ne 


* Gramm. $ 354. 
Philos. -histor. Abh. 1896. II, 6 


42 A. Erman: 


wird man sind als ein Wort zu fassen haben, als eine Substantivbildung 
mit dem Praefix m: msönd »der Betrüber«; freilich wäre diese Schreibung 
des Praefixes sehr: alterthümlich. 

Der letzte Satz enthält kleine Anstöfse. Die n-Form ist wegen der 
nachdrücklichen Versicherung gebraucht', aber soviel ich weils, mufs in 
solchem Fall die einfache Negation + stehen; die gleiche Absonderlich- 
keit auch unten. Ebenso ist mir das Pluraldeterminativ hinter r° verdächtig. 

Der Sinn der Stelle ist: das Begräbnifs, zu dem ich dir verhelfen 
soll, ist wirklich nichts, was du dir wünschen solltest. Es ist traurig, 
wenn der Mensch statt seines Hauses ein Grab auf dem Berge bewohnen 
mufs” und die Sonne nie mehr sehen darf. — Die Seele hat also sehr 
ketzerische Ansichten über das Begraben; im Folgenden führt sie weiter 
aus, dafs auch das beste Grab dem Toten nichts nützt. 


AV. 
ISuriNe-h2L HTRTA 
ISPERURITITSENTELERTL 
ES SIRSESSTTER U ERE N 
EN TE 

SRRMUTI- BIT RR, 


RAR 
MM AM 


kdw m inr n mit, hws ... m mr, nfrw m kst [tn nfrt, hpr skdw m 
ntrw, <brw irt wsw mi nnw mt hr mrüt, n gw hri-b, ittn nwit phft, 
m mitt irt, mdw nsn rmw spt n mw. 

ı. Das Determinativ von skdw gleicht genau der hieratischen Form des (vergl. z.B. 
Eb. 107, 10); das von kdie hat nur einen Arm. Indessen stehen beide gewils ungenau für 


2 HH 
andere Zeichen, das zweite für IN- 2. Lange. 3. An wm darf man wohl nicht 
oz, 


! Gramm. $ 196. 


®2 Mehr soll wohl der verächtliche Ausdruck »auf die Höhe werfen« nicht besagen. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 43 


EP 00 a ——e N sig . . 
denken. Ob etwa | gemeint ist? 4. Statt lies, mit Streichung eines kleinen 
ANMAN 
Striches, - 5. Lange, das m ist dem Schreiber milsglückt. 6. Es ist gewils N 
NM 

gemeint, wie auch Lange annimmt, doch steht das Zeichen 5 7. Man darf wohl nicht 
mm lesen. 

Die da bauen aus rothem Granit, die das .... als Pyramide mauern, 
die in dieser schönen Arbeit schönen, die ....... als Götter, ihre Opfersteine 


sind leer" wie (die)” der Müden, die auf dem Damme sterben, ohne einen 
Hinterbliebenen, nachdem” das Wasser sein Ende fortgenommen hat und die cum des- 
gleichen, zu denen die Fische des Ufers reden. 


Die interessante Stelle ist leider besonders verderbt. Dem Ad 
\FN48 (denn so ist natürlich zu lesen) müfste ein pluralisches 
hwsw entsprechen, es steht aber nur hws, und was darauf folgt, ist gewils 
auch die Entstellung eines bekannten Wortes. Ebenso rathlos stehe ich 
dem Apr skdw m ntrw gegenüber; da es dem nfrw m k3t tn nfrt entsprechen 
wird, räth man, dafs sie sich Bauten »geschaffen« haben wie für »Götter«, 
aber wenn man sich an den vorliegenden Text hält, so sprieht er nicht 
von Bauten, sondern von irgend welchen Personen. 


Anstatt os] DISS, »Scepter« ist ohne Zweifel BE LTEN 


ER I-; »Opfersteine« zu lesen; “byw ir? »die Opfersteine davon« steht 
natürlich für bywsn »ihre Opfersteine«. 

> bedeutet Eb. 67, 3 das »Ausgehen« der Haare; es wird weiter 
von zerstörten Stellen von Inschriften oder Handschriften gebraucht und 
im Koptischen ist fovew der Ausdruck für »ohne« geworden. 

Für n gw »ohne«, das auch in XLIV gebraucht ist, genügt es, auf 
Brugsch, Wb. Suppl. S. 1287 und 1058 zu verweisen; über Ari-% vergl. 
das zu X Bemerkte. 

op ist ein allgemeines poetisches Wort, etwa wie unser 
»Fluth«: dafs das ihm parallele Wort MR etwas wie »Gluth« oder »Dürre« 
bezeichnet, läfst sich ja aus seiner Schreibung’ vermuthen, doch weils ich 
nicht, wie diese Abkürzung hier zu lesen ist. 


' Gramm. $ 244; wsw ist 3 pl. des Pseudoparticip, $ 212. 
er35> 
° 8 197. 


* Das IN deutet auf eine göttlich gedachte Gluth. 


6* 


44 A. Erman: 


Die Genetivkette rmw spt n mw »Fische des Wasserrandes« ist etwas 


verdächtig; lies rmw 0: oder rmw - 


Der Sehlufs der Stelle von ZH an läfst sich nieht wohl anders 


übersetzen und ergiebt ja auch so einen Sinn: die Leiche liegt am Ufer, 
halb im Wasser und halb im Trockenen; Fluth und Hitze haben sich in 
sie getheilt und sieh jede »ihr Ende« davon genommen. Die Fische aber 
kommen und nagen an ihr und stofsen mit ihren Köpfen an sie, als 
wollten sie mit ihr sprechen. 

Der Gedanke, dafs auch der Besitz des herrlichsten Grabes nur ein 
eingebildeter Gewinn sei, da es doch bald genug vernachlässigt werde, 
pafst scheinbar wenig zu den aegyptischen Anschauungen. Aber der ver- 
nachlässigten Gräber, auf deren Opfersteine niemand mehr Speisen legte, 
die verfallen und beraubt waren, waren ja zu allen Zeiten mehr als der 
gepflegten; der sündhafte Gedanke, dafs eigentlich wenig darauf ankomme, 
wie man begraben werde, mulste daher jedem Verständigen nahe liegen. 


XV. 

4 mm og 4 68 Eos | 
IN ei NZIZIN nn z a ja | —— 
No 

Ar 

sdm rk ni, mk nfr sdm n rmt, Sms hrw nfr, Smh mh. 

1. Statt >> kann man natürlich auch & lesen. 

Höre' auf mich — sieh, das Hören ist den Menschen gut” —, folge dem 

frohen Tag, vergifs die Sorge. 


Die Bemerkung über die Nützlichkeit des »Hörens» mag etwa ein 
Sprichwort sein; sie erinnert an den entsprechenden Abschnitt im Papyrus 


Prisse (16, 3 ff.), der ganz ähnlich beginnt: £n ° AT Sw ihw 
—— | 


sdm n s?> »das Hören ist dem Sohne nützlich« und der auch versichert 
nfr sdm r ntt nbl »Hören ist besser als Alles«. 


! Gramm. $ 257. 
I. 


? Gramm. | 33 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 45 


Die Ermahnung zum Genusse des Lebens findet sich ganz ähnlich in 
den Trinkliedern wieder, die ja auch davor warnen, vom Tode noch Freude 
zu erhoffen: »feiere den frohen Tag, folge deinem Herzen, setze die Sorge 
nieht in dein Herz« ist ihr 'Thema'. 


XV. 
BETRETEN RITET"- 
le ENDE 
ee wesen 
As. ar? ,— BUNT ee iS a 
Seh aa 


iz 
dw nds Sksf sdwf; iwf >|t|pf smwf r hmw dpt, stsf skdwt, hbf tkn, manf 
prt wht nt mhüt, rs m dpt, rC hr ck, pr Im hmtf, mswf n 3ki tp S sn m 
grh hr mrült. 


ı. Am Schluls der Zeile ein zufälliger Fleck. 2. Sic. 3. Vergl. oben Z. ı2. 
4. Lange. 
Der geringe Mann pflügt” sein Grundstück; er ladet” seine Ernte in das 


Innere des Schiffes, er schleppt die kart; sein Fest kommt heran; er sah das 
Herauskommen in® der Nacht der Fun; er wachte im Schiffe auf, in der Abend- 
dämmerungz; e ging heraus mit seiner Frau una seinen Kindern wegen des Zu- 
grundegehens auf dem See, .... in der Nacht untr den Krokodilen. 


! Eine Zusammenstellung dieser Lieder bei Maspero, Etudes egyptiennes p. 172 ff.; 
über ihre Stellung in der aegyptischen Litteratur vergl. mein Aegypten und aegyptisches 
Leben S. 516. Die oben angeführte Stelle ist einer besonders merkwürdigen Variante des alten 
Liedes entnommen, die sich auf einem Grabstein vom Jahre 42 v. Chr. findet, wo sie als Rede 
der verstorbenen jungen Gattin an ihren Wittwer, den Hohenpriester von Memphis benutzt 
ist (vergl. Maspero 1.1. p.ı87; Brugsch, Thesaurus S. 926); dals ein so gottloser und so 
poetischer Text, wie es diese Grabschrift ist, ein selbständiges Erzeugnils des ptolemäischen 
Aegypterthums sei, möchte ich nicht glauben. 

®? Gramm. $$ 225. 226. 

Gramm. $ 117; aber gilt dies auch für wAt »Nacht«? Vielleicht gehört pre wht 
zusammen, 


3 


46 A. Erman: 


Das Wort sde bezeichnet nach den Beispielen Paheri 9, 15; Der 
Rifeh VII, 23 nieht den Acker im Allgemeinen, sondern den Theil des- 
selben, der jemandem gehört. 


L es 
en 


No N- —n mit dem Objekt des verladenen Gegenstandes (»etwas 
aufladen auf etwas«) findet sich auch Harr. I, 77,12; 78, 3; für gewöhn- 
lich bedeutet es ja: »etwas beladen mit etwas«. 

Den Ausdruck st $edwt kann ieh sonst nicht belegen; da s% das 
Wort für das Ziehen (»'Treideln«) der Schiffe ist und da skd »(im Schiffe) 
(uhren« bedeutet, so wird die Wendung wohl nur besagen, dals der Mann 
das Schiff mit dem Korne selbst zu schleppen hat. 

Der Nominalsatz Abf tkn »sein West kommt heran '(?)« ist vielleicht 
eine Zeitbestimmung für die folgenden Sätze. 

Das Wort mAlt ist so geschrieben, dafs man nicht weils, ob der 
Schreiber die »Nacht des Nordwindes« meint oder die »Nacht der Fluth«. 

In dem Ausdruck A Ahr <k »die Sonne tritt ein« liegt eine Zeit- 
bestimmung vor, die auch sonst vorkommt. Sall. 2, 5,2 ist »das Ein- 
treten der Sonnes die Tageszeit, wo der Arbeiter sich müde hinsetzt, 
also «das Ende des "Tages. Wie der Ausdruck entstehen konnte, ergiebt 
sich aus dem » Amdunt«buche, wo die erste Stunde der Nacht, d. h. die 
Dämmerung, «damit beginnt, dafs »dieser Gott eintritt« in das Reich des 
Westens. 


Das Wort Q om kommt auch in der Bauerngeschichte (129) vor; in 


MWM 


nd ( ‘ n ey i y r 
Il = wird man auf Grund von XXV einen Namen des Krokodils 
. IR) IL | 


sehen «dürfen. 


Die subjektlosen Verba 78 und pr erklären sich vielleicht dureh die 

Kllipse des Subjekts in lebhafter Erzählung”; man hätte sie also als Fort- 
BL AN 
setzungen des =. IN UN anzusehen. 

Was hier auf die Aufforderung zum Lebensgenusse (XV) folgt, sind zwei 
kleine Texte (AVI-AIX), die das Schicksal eines »geringen Mannes« nds be- 
handeln und die keine Berührung mit dem sonstigen Inhalt unseres Buches 
haben. Es müssen Beispiele sein, die die Seele zur Unterstützung ihrer 


Meinung anführt und dazu scheint auch ihre Form zu passen. Ob auch 


' Ich kann freilich nieht belegen, dals An von der Zeit gebraucht wird. 


Gramm, 8 353: 


Gespräch eines Lebensmüden mil seiner Seele. 47 


ihr Inhalt dazu pafst, kann ich freilich nieht sagen; ich verstehe von 
dem zweiten Beispiel (XIX) so gut wie gar nichts und von dem ersten 
nur das, was aus dem Schlufs von XVIII wahrscheinlich ist, dafs dem 
Bauern unterwegs Weib und Kind von Krokodilen gefressen werden. Aber 
wenn er dann um die Kinder sorgt und um die Frau nicht weint — 
was beweist das für die Behauptungen der Seele? 


XVII. 
Se N zehl$ita—-ehT'- _ 
ANA T erh Tr. Nast 
Bl RT Doz Bremen 
ec 


drinf hms, pssf m hrw hr dd: n rmi n tf} mst, nn ns prt m imnt r 
kt hr B, mhü hr msws sdw m swht, mw hr n Imti, n nhtsn. 


h 


ı. Hinter === hatte der Schreiber noch zwei senkrechte Zeichen geschrieben, hat sie 
aber wieder ausgelöscht. 


MAR er süzt, er eu .. Stimme, indem sie sagt: »nicht weine ich 
wegen” jener Dirne da; sie hat keinen Ausgang aus dem Westen zu einer an- 
deren auf Erden. Ich habe Sorge wegen” ihrer Kinder, die im Ei zerbrochen 
sind’, die das Gesicht des Krokodiles sehen’, die da nicht leben werden‘ «. 


Der Ausdruck drinf ist schon aus Weste. 6, ıı bekannt, wo drinf 
mh 24 vielleicht heifst »(das Wasser) erreichte 24 Ellen«; hier scheint es 
wie ein Hülfsverbum mit Am$ verbunden zu sein. 


! Sollte das nur einfach die direkte Rede einführen (»mit den Worten«), so würde 
wohl r dd stehen (Gramm. $ 276). 
n »wegen« steht besonders gern nach Ausdrücken der Gemüthsbewegung. 
® So ist mh auch oben VIII konstruirt. 
* Gramm. $ 212. 218. 
° Gramm. $ 258. 
Gramm. $ 293. 294. 


48 A. ErmaAn: 


Was ps$ »theilen« mit m konstruirt bedeutet, ist mir nicht bekannt: 
man könnte wegen des folgenden hrw hr dd vathen, dafs es etwas heilst, 
wie: »er vernimmt eine Stimme, welche sagt«. Oder auch: »er hat (wie- 
der) Gewalt über die Stimme und sagt«, d. h. sobald er seines Schmerzes 
so weit Herr ist, um sprechen zu können. 

Die Bezeichnung nst für die Frau kann ich nur noch einmal belegen, 
und zwar in einem neuaegyptischen Lehrerbrief (An. 4. 12, 4), wo sie als 
IJLIUR) die verächtliche Bezeichnung einer Dirne zu sein scheint. Dafs 


das Wort auch hier eine solche verächtliche Bedeutung hat, wird durch 
das davorstehende /f} wahrscheinlich. 

Zu nn ns prt vergleiche neuaegyptisch m ee An nn mw wrd 

mm © II—> € 
»sie (die Schiffe) haben keine Ruhe« (Harr. ı, 5, ı; Ähnlich ib. 75, 3). 

Bei kt ir & haben wir zu denken an »eine andere Frau, die noch 
lebt« — vergl. oben X, XV Ari t muthmafslich für »Hinterbliebene« — 
aber was soll das hier? 

Das Wort Ant? als Name des Krokodils war uns schon, allerdings in 
sehr verwahrloster Gestalt, aus Sall. 2, 8, 2 bekannt. 

Das Verbum sd wird u.a. vom Zerbrechen eines Eies gebraucht (Totb. ed. 
Nav. 85,13: ed. Leps. 85, 9; Tellamarnahymnus ed. Breasted p. 44), hier ist 
es indefs nieht auf das Ei. sondern auf die Kinder zu beziehen, die »im Ei 
zerstört« werden. Der Gebrauch von swht »Ei« für den Mutterleib ist ja 
gewöhnlich, doch steht m swht auch nur als poetische Hyperbel für »in 
früher Jugend«, so besonders klar Sinuhe 68, wo ein König »im Ei« schon 
Eroberungen macht. Und so wird es auch hier zu fassen sein, denn die 
Kinder sind ja vorher schon neben der Mutter als lebend erwähnt, ganz 
abgesehen davon, dafs wir sonst die arme Frau wegen des Plurals msw 
mindestens mit Drillingen schwanger gehen lassen mülsten. 

Die Stelle ist gelegentlich des Wortes /nt? schon 1873 von Goodwin 
angeführt worden; er übersetzt das m’w Ar n Intl, n nhtsn wit: »they see 
the face of the Crocodilegod and they do not live« und bemerkt: »the 
passage appears to refer to children who have died in the womb, owing 
to their mother being terrified by a erocodile«'. 


ı ÄZ.18738.16. Er glaubte hinter Ant in den ausgelöschten Zeichen ein Ki) zu sehen. 


daher seine Übersetzung »Krokodilgott«; »they see« übersetzte er wohl, weil er an die 
neuaegyptische 3 plur. des Verbums dachte, 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 49 


XIX. 
PSTI-NT-AzE"=r 0 PAONTIY 
N FR ZA eh 
ETF LT LENG, 
a) a ESG } 


tw nds dbhf msrwt; tw hmtf dds nf tw r msüt; dwf prf r Imtw r SS.. 
r st; nnf sw r prf, {wf mi kü, hmtf hr ss nf, n sdmnf ns s.nf, ws ib n 
wpwtäw. 

1.2. So Lange; über dem scheinbaren —> steht ein Pünktchen, wie es die Hand- 


schrift bei I zuweilen hat (z. B. 84. ıı1), und auch das = scheint mir nicht ganz un- 
bedenklich. 3. Sie. 4.5. Es liegt wohl an beiden Stellen dasselbe Wort vor: 


N. .. &s; das fragliche Zeichen ist wohl nicht ——, auf das man zunächst räth. 


Der geringe Mann bettelt' um Abendessen, sein Weib sagt! zu ihm: ».... 


bis zum Abendbrot«. Er geht‘ hinaus, um ..... zur Stunde. Wenn? er sich um- 
wendet zu seinem Hause, so ist er wie ein anderer, indem sein Weib ihm ...., 
TICHE ROTE ER auf, ER een en. den Boten. 


Da dieser Abschnitt ebenso wie XVII mit schildernden Verbalformen 
beginnt, so enthält er wohl ein zweites Beispiel, das freilich nicht ver- 
ständlicher ist als das erste. 

Wie z.B. aus Totb. 94 ersichtlich ist, wird »etwas von jemandem 


erbitten« ausgedrückt durch dbh cc. obj. et m“; man möchte daher das N 


—ı, das auf dbhf folgt, als die Praeposition fassen und übersetzen »er er- 
bittet von den ....«, wobei freilich ein Objekt fehlen würde. Doch wird die 


Lesung msrıwt » Abendessen «° richtig sein, da auch gleich nachher ein auf den 

Abend bezügliches Wort nnd) TE vorkommt. Dafs dieses msöt auch 
l 

aulserhalb des Kultus eine abendliche Zeit bezeichnet, erhellt aus Sinuhe 12 


! Gramm. $ 225. 226. 

? Gramm. $ 188. 

> Für m$rwt »Abendessen« vergl. W. 512 und 513, wo daneben noch eine Morgen- 
und eine Nachtmahlzeit genannt sind. 


Philos. - histor. Abh. 1896. II. 7 


50 A. Erman: 


und Millingen ı, ı1; da es als Speise determinirt ist, so wird es, wie 
auch Griffith an der letzteren Stelle übersetzt, das Abendbrot bedeuten'. 

Was das fo r vor msüöt ist, weils ich nicht, vielleicht ist das irgend 
eine Redensart. 

Dafs prt r hntw »ausgehen« (aus dem Hause) bedeutet, erhellt mit 
Wahrscheinlichkeit aus XLV, wo es das Ausgehen des genesenden Kran- 
ken bezeichnet. 

Das Wort $% bedeutet mit m konstruirt »etwas wissen«; hier folgt 
ihm n, was auf eine andere Bedeutung deutet. 

Das unleserliche Wort, das die Stelle enthält, mufs das erste Mal 
mit N beginnen; da man, falls man —| »zu ihr« lesen wollte, eine 
unrichtige Wortstellung erhielte. Dagegen wird man das zweite Mal, 
worauf auch die Stellung der Zeichen in der Zeile deutet, das erste $ zu 
dem n ziehen dürfen. Das Wort läge also einmal als Kausativ und ein- 
mal als Simplex vor. 

WS-ib »herzensleer« ist unbekannt. 


BER en 


iw wpni rt n thnwi, wsbt ddinf. 
Ich öffnete meinen Mund zu meiner Seele und beantwortete, was sie gesagt hatte. 
Vergl. das zu II Bemerkte. 


Die letzte Rede des Menschen, die hier beginnt, ist schon durch ihre 
strenge poetische Form als der Haupttheil des Buches gekennzeichnet. Es 
sind vier einzelne Gedichte, von 8, 16, 6 und 3 Versen; jeder Vers be- 
steht aus zwei kurzen und einer dritten längeren Zeile. In jedem dieser 
Gedichte beginnen alle Verse mit einer gleichen Zeile, im ersten mit »mein 
Name wird verwünscht (?)«, im zweiten mit »zu wem rede ich heute«, 
im dritten mit »der Tod steht heute vor mir«, im vierten mit »wer dahin- 
gegangen ist, wird sein«. Auch mag es nicht zufällig sein, dafs von den 
beiden ersten Gedichten, die das Elend des Lebens schüdern, das eine 8 


I T 343 =P 222 steht dem a) ö ein je 0 Ö gegenüber, das das 
Morgenbrot bedeuten wird und das auch Kahun, Med. 2,5 zur Bezeichnung der Tages- 


zeit dient. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 51 


und das andere 16, d.h. 2x 8 Verse hat; dagegen haben das dritte und 
vierte Gedicht, die den Tod preisen, 6, d.h. 2x 3 Verse und 3 Verse. 

Bei einer so durchgebildeten poetischen Form sucht man unwillkürlich 
auch nach einem metrischen Bau, und mit einigem guten Willen könnte man 
in der That auch eine gleiche Anzahl von Haupttonstellen für viele Verse 
herausfinden, doch ist hier der Willkür des Untersuchenden Thor und Thür 
geöffnet, da wir ja nicht wissen, in wie weit die Praeposition vor dem 
Nomen, das Verb vor dem Subjekt, das erste Nomen im Genetiv seinen 
Ton behalten hat. 


XXI. 
NEIHSITZERZSS RIP RA L 
Inn CHEN! 

mk beh rni, mk r st! 38w m hrw Smw, pt tt. 


Sieh, mein Name wird verwänscht, — sieh, mehr als der Geruch von Vögeln 
an Sommerlagen, wenn der Himmel heifs ist'. 


Das Wort I} =g) ich, das in dem hier beginnenden Gedicht 
jeden Vers eröffnet, ist unbekannt. Aus dem Determinative des Fisches 
darf man nicht auf seine Bedeutung schliefsen, denn dieses ist nur von 
einem Fischnamen Ö5<h hergenommen, der R—N gelautet haben 
mufs’. Auch das Wort bCh »überschwemmen « ist ja diesem Fische zu Liebe 
einmal so determinirt in der mehrfach eitirten Stelle ri un 

\a.a0Dı ı,ı 
ha N 7 ‚behf htpt dfyw »er sei überschwemmt mit Opfern und Speisen «*, 
und ebenso kind Geister in Abydos, die den Toten speisen, einmal +» 


> a ‚(Mar., Ab. II, 22) geschrieben. Da in allen Versen gesagt ist, der 
Sn 


Name sei noch mehr b’h (Passiv') als irgend etwas Stinkendes oder Wider- 
wärtiges, und da das Wort das Determinativ des Sprechens hat, so dürfen 


! Gramm. $ 245. 

? Stern, ÄZ. 1874,91. Die angenommene Identität mit wAc scheint mir unbegründet. 

® Louvre Ü3. Die eigenthümliche akkusativische Konstruktion von be% auch P 362: 
»ssnnf Bw, behif mhwt »er atlımet Wind, er ist überfluthet mit Nordwind«. 

* Dals ein endungsloses Passiv (Gramm. $ 206) vorliegt, wird durch die Wortstellung 
walıscheinlich; wäre das Wort intransitiv, so würde man nach $ 243 erwarten mk rnit beh. 


m. 


52 A. Erman: 


wir annehmen, dafs es »verwünscht sein, verhafst sein« oder etwas Ähn- 
liches bedeutet. 

Die eigenthümliche Wiederholung von mk »siehe« kenne ich sonst 
nicht; sie ist wohl nur rhetorischer Natur. 

Auch die INT 3w sind ein neues Wort; in 92 ist für 3pdw 


» Vögel« Al X >pSw geschrieben, und man ist daher versucht, auch 
unsere Stelle für eine Verlesung aus >pdw zu halten. 

Die Beispiele üblen Geruches, die in diesem und den folgenden Versen 
aufgeführt werden, sind zumeist vom Fisch- und Vogelfang hergenommen, 
der ja im Leben des aegyptischen Volkes eine grofse Rolle spielte. 


XXL. 


Nr N-IZERZENG ALP? 


mk beh rnit, mk [r| Ssp sbnw m hrw rsf, pt bt. 

1. Sic. 

Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr [als] ein Fishempfänger 
am Tage des Fanges, wenn der Himmel heifs ist. 

Der Fischname sbnw ist neu; dafs nicht eine falsche Lesung VORUCRE 
zeigt die Schreibung des Verbums lg on (Bauer 220) NY 
(Br., Wb. 336), bei der die Konsonanten $bn mit dem Fisch een A 
Das Wort rsf wird bald mit dem Fisch, bald mit dem Vogel, bald mit 
beiden zugleich determinirt und bezeichnet den »Ertrag des Flusses« an 
Fischen oder Vögeln; uns fehlt dieser Begriff und ein entsprechendes Wort. 

Bei dem $sp sbmo »Fischempfänger« könnte man an einen Mann 
denken, der den Fang sortirt und vertheilt, aber eben so gut auch an 
einen Fischkorb oder ein anderes Geräth. 


RS LT Me RR N 
RATEN HN K 


Gespräch eines Lebensmiden mit seiner Seele. 53 


mk b<h rni, mk r sti 3psw (sie), r bwst nt tr! hr msül. 

ı. Lange. 2. Lange. 

Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als der Geruch von Vögeln, 
mehr als die Anhöhe der Weiden mit den Gänsen. 

Für >psw ist wohl »pdw zu lesen. Dafs bwst, wie man annimmt, die 


Anhöhe bedeutet, ist schon wegen bw} »hoch« (0. ä.) wahrscheinlich; auch 


das JRUFE »hohe Anhöhe« als Name von Edfu spricht dafür. 

Die Pflanze tr? wird im Berliner med. Pap. 6, 2 Al (JU bori und 
in der Metternich-Stele (77) Bi 0 geschrieben. Auch »das grüne a 
=. towr« (Eb. 55,16) könnte wohl damit identisch sein. Bei dem letzteren 


denkt Stern im Glossar wegen des R an ein »genus arundinis«, und auch 
die Worte des Berliner medieinischen Papyrus und der Metternichstele, die 
dem unseren so ähnlich sind, haben ja ebenfalls dieses Determinativ, das 
auf »Rohr« deutet. Trotzdem möchte ich an der üblichen Zusammenstellung 
des Wortes mit rwpe » Weidenbaum« festhalten, da nach der angeführten 
Stelle der Metternichstele der Phönix auf dem { | geboren ist, was 
doch auf einen Baum deutet!, Eine höhere Stelle im Sumpf, die mit 
Weiden bestanden ist und auf der wildes Geflügel nistet, wäre demnach 
hier gemeint. 

Die N N IE sind, wie aus den Vogellisten Pap. Harr. I hervorgeht, 


eine Sorte elsbaren Geflügels, wohl irgend eine Gänseart. 


XXI. 
LM RZ STR 
ATIETRRI-NT 


mk bh rnit mk r st hamw, r sw nw ssw h’mnsn. 


1. Sie. Es fehlt =. 2. Lange. 
u] 


Aegypten 368) zeigt in der T'hat den Phönix auf einem weidenähnlichen Baum über dem 
Ösirissarge. 


54 A. Ernman: 


Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als der Geruch der Fischer, 
mehr als die .... der Sümpfe, nachdm' sie gefischt haben. 

Ich übersetze Asm mit »fischen«, denn das ist die gewöhnliche Be- 
deutung (z. B. Berscheh I, 20; el Kab, Grab des Paheri IV), doch kommt 
auch dieses Wort vom Vogelfang vor (Berscheh I, 3). 

Das Wort Ass, das nach dem Determinativ eine Ortsbezeiehnung sein 
mufls, ist wohl identisch mit dem SS i3sw, das Dümichen, Hist. 
Ins. II, 36db in einer unverständlichen Stelle vorkommt, und mit dem Orts- 
namen 11$ x (Br., Diet. Geogr. 1014; 1295)”. Man hat vielleicht an 
den Rand des Sumpfes zu denken, auf dem die Netze entleert werden und der 
daher nach dem Fischzug mit allerlei schnell verwesendem Unrath bedeckt ist. 


KEITEN Te 
2512 ler 


ZH IN Ne 


mk bh rnt, mk r stt mshıw, r hmst hr... Ar mrüt. 
Sieh, mein Name wird. verwünscht, sieh, mehr als der Geruch der Kro- 
kodile, mehr als zu sitzen unter den ... mit den Kvokodien. 


Die richtige Auffassung des hmst ergiebt sich aus XLVI und XLVII; wie 
dort »das Sitzen« an einem erfreulichen Ort angeführt wird, so hier »das 
Sitzen« an einem widerlichen. Was dieser letztere aber für ein Ort ist, 
bleibt wieder unklar, denn das Maskulinum er ist mir so wenig be- 
kannt als das Wort mrät, das schon oben (XVII) vorkam und das nach 
dem Determinativ ja doch wohl ein Name der Krokodile sein wird. Ent- 
sprechend dem bwst ... hr msiöt »der Anhöhe mit den Gänsen« in XXI 
mufs man wohl auch hier übersetzen »der ...ort mit den Krokodilen«. 


XXVL. 


ee nn = 
EISEN IE 


! Gramm. $197. Oder relativisch? 


?2 Das weibliche N ist wohl davon zu trennen. 
u“ 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 55 


mk bh rni, mk r st-hmt, dd grg rs n Bü. 


Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als ein Weib, gegen das 
zu dem Manne Lüge gesagt wird". 


Gemeint ist wohl eine Ehefrau, die bei ihrem Gatten angeschwärzt 
wird, doch setzt der Dichter nieht Amt und A3@, sondern die das Ge- 
schlecht bezeichnenden Worte st-hmt und B&”. 


XXVIL 


SAGT ZERZ-EMLINTIE 


Dan 


mk b<h rnit, mk r hrd kn, dd rf, iwf n msdwf. 


[N & P 
1. Wohl nicht © 2. Irrig wiederholt. 
Au 
Sieh, mein Name wird verwünscht, sieh, mehr als ein starkes Kind, 
gegen das ... gesagt wird, indem es ..... 


Das dd rf wird man ebenso wie im vorigen Verse auffassen müssen, 
das Subjekt scheint irrig ausgelassen zu sein. Bei fof n msdwf denkt man 
an msd »hassen«, aber was sollte das für eine Form sein? Das »starke 
Kind« könnte etwa eine bestimmte Altersstufe bezeichnen. 


XV. 
RZ ZA FH Z 
IS NZ 
mk beh rni, mk [r] dmi n ..., snn bstw, m33} Sf. 
1. Sie. 2. Sic. 


Sieh, mein Name wird. verwünscht, sieh, [mehr] als eine Stadt des . 
die Empörung rede und deren Rücken gesehen wird. 


..y 


! Gramm. $ 206, das endungslose Passiv ist hier wohl relativisch gebraucht. 
® Auch bei Petrie, Koptos XII, 2 ist der Gatte ebenso als Z@s »ihr Mann« bezeichnet. 


56 A. Erman: 


Die Richtigkeit des Textes ist sehr fraglich: das —_ sieht aus, als 


sei es nur der Schlufs eines ausgefallenen Wortes. Ist etwa nach Bauer 129 
dmi sn ( Q —) zu lesen? 
NMWM 
Bst (alt st) ist das Wort für Empörung. Da es nun ein Wort Q A) 
MW 

giebt, das etwa »aussprechen« bedeutet!, so möchte man übersetzen »eine 
Stadt, die Empörung redet, deren Rücken (aber) gesehen wird«, d. h. deren 
grolssprecherische Auflehnung mit der Flucht endet. Die grammatische 
Konstruktion des 3 Sf wäre dieselbe, wie von dd grg; dafs es im endungs- 
losen Passiv wirklich »n3% heilsen mülste, bestätigt mir Sethe. Aber auf- 
fallend ist die Endung » in Öbsto, die auf eine Personenbezeichnung (Em- 


pörer) deutet”. 


XXX. 


ae NAT ERFT 


Zg 
© <> N 
ddi n m min? Snw bin, Ihnmsw nw min, n ment (?). 


1. Das W ist auffallend verlängert, aber doch nieht wohl anders zu lesen. 


Zu wem spreche ich heute? die Brüder sind schlecht, die Freunde 
von heute .... nicht lieben. 


In dem hier beginnenden zweiten Gedichte wird jeder Vers mit dem 
Fragesatz’, dd! n m min eröffnet, der wohl besagen soll: mit welchen 
Menschen habe ich in der Welt von heute zu thun? Es ist eine rhetorische 
Frage, auf die nirgends eine direkte Antwort folgt. 

Mit »die Brüder sind schlecht« beginnt auch XXXVI. 


! Vergl. Sinuhe 74: Er Q N ee „rede keine Lästerung (?) 


. n > 
gegen seine Majestät«; dies ws ist das Wort, das wir jetzt in der Formel FE mm mm 
AZ 


„Fluch seinem Namen« aus dem Petrie’schen Antefdekret kennen. — Sodann als Q SA 
AV 


d’Orb. 5, 4. 


® Gramm. 
3 


$ 96 
$35 


Gramm. es die Stellung des min vergl. $ 337- 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 57 


Dafs min wirklich, wie Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) nachgewiesen hat, 
»heute« bedeutet, zeigen aufser den dort angeführten Belegen auch die 
Stellen Totb. ed. Nav. 84. 9 und Metternichstele 210, in denen das Wort 
im Gegensatz zu Is o sf »gestern« steht. Auch in unserem Text würde 
die früher angenommene Bedeutung »täglich« nicht passen’. 


Dals A von mr »lieben« kommt, ist klar, aber die seltsame 
—— N 


Bildung auf ü ist verdächtig. Ist der Text richtig, so bietet sich nur 
a Inoni, die Nebenform für mw »schlagen« (z. B. LD. IN, 65a: Mil- 
lingen 2, 2: Sall. 4, 2.7), zum Vergleich. Höchstens könnte man noch 
zwei ebenso fremdartige Verbalformen auf rn, die auf der bekannten Stele 


614 des Louvre vorkommen, heranziehen. Der Künstler, dessen Grab- 
stein diese war, erzählt uns von einer besonderen Kunst, die er verstand; 


er verstand es, NN zu machen , ZDANN,, iht hyst-n 


»fallende (??) Sachen«, ohne sie vom Feuer brennen zu lassen „N || __a 


AWAMAN NM NWMN 
mm mn Dan den n mw grt »und doch (??) nicht mit (?) Wasser 
wm A num <> 


abwaschbar (??)«. Danach könnte man denken, unsere Stelle besage: die 
Freunde von heute sind nicht »liebenswerth«, oder etwas dem Ähnliches” 


XXX. 
Te 
lee 


ddt n m min? rwn ibw, s nb hr it iht Snmwft. 
Zu wem spreche ich heute? die Herzen sind jrech, ein jeder nimmt 


die Sachen seines Nächsten fort. 


! Diese hat man dem Worte wohl auch nur des Mamnıe wegen zugeschrieben, das 
ja aber auf N zurückgeht und nicht mit dem Maskulinum min identisch sein 
IN um © 


kann. — Bei min möchte man an neuaeg. m’-n3 »hier«, kopt. Mııas denken; es könnte das- 
selbe Wort sein, das von Zeit und Ort gebraucht wäre. 
®2 Es giebt übrigens auch Formen auf -n, -ni, die von Substantiven abgeleitet sind. 


vergl. en 
un 3. bo 


Philos. - histor, Abh. 1896, II, 8 


58 A. Erman: 


Was das Verbum “own an und für sich bedeutet, stehe dahin: die 
verständlichste Stelle ist noch Bauer 230: N TE m SW 


222 x-_, die doch gewils bedeutet: »bringe den Armen nicht um seine 
Habe«'. Die hier vorkommende Verbindung wn-?tb scheint etwa »frech« 
zu bedeuten, vergl. Bauer 116: »du bist stark und kräftig 
ar: do __,, dein Arm ist gewaltthätig(?), dein Herz ist 
er die Milde geht ar an dir vorbei, weh dem Armen, den du vernichtest«. 
Diese Frechheit hat aber meist den Beigeschmack des Räuberischen. So 
steht “wn-2b Totb. 125, 16 (ed. Leps.) zwischen 0 »rauben« und # 
»stehlen«, und ebenso duldete Hapzefai keinen 03 »Räuber« in seinem Gau 
und keinen “wn-ib in seinem Heer (Siut I, 231)”. Auch Prisse ı0, 5-6 
ist “wn-{b eine Sünde, die man bei »Theilungen« »gegen seine Angehörigen « 
begehen kann. 

In XXXIX steht im ersten Versglied nicht “wn bw wie hier, sondern 
!bw “won, und man würde auch hier diese Satzform erwarten, die ja für 
alle Schilderungen die gewöhnliche ist”. Indessen kann ja auch ein “en dw 
in Beschreibungen stehen ', so dafs es nicht nöthig ist, den Text zu ändern 

Das grammatisch korrekte snmof?° steht auch in XXXIV; über die 
Schreibung von snnw vergl. Gramm. $145 Anm. A. 


XXXI. 
|Sehlufs der Zeile leer gelassen] 7 » — A) Ng Sa s-är U N 
Da JB 


[dd n m min?] tw sf 3k, nht-hr yw n bw nb. 


1, Der Schreiber hatte wohl eine Lücke in seiner Vorlage, die er nicht ausfüllen 
mochte; freilich schreiben wir ihm mit dieser Erklärung eine besondere Gedankenlosigkeit 


zu, denn was hier fehlte, war doch nicht zu bezweifeln. 2. Unter dw ein ausgelöschtes 
Zeichen. 


' Es einfach mit »rauben« oder baren zu DORSEAIRER. geht aber auch nice an, 
denn Totb. ed. Leps. 93, 5 bezeichnet es irgend ein allgemeineres Unrecht. 

® Dals es im neuen Reich auch eine Truppe gegeben hat, die sich cwnd-?d nannte 
(Der Rifeh IV, 335 45), spricht nicht dagegen. 

° Gramm. $ 243. 244. 
’ Gramm. $ 176. 


° Gramm. $ 78. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 59 


[Zu wem spreche ich heute?] Der Sanfte geht zu Grunde, der mit 
starkem Gesicht kommt zu allen Leuten hin. 


Der Gegensatz zwischen dem No und dem szH » dem Star- 
ken« auch Prisse 10, 7. Der hier stehende Ausdruck nht-Ahr »stark an 
Gesicht« wird »frech« bedeuten und dem Atp-hr des folgenden Verses 
gegenüber stehen; dazu scheint mir auch die andere Stelle, wo ich nAt-hr 
belegen kann (Bauer 166), wohl zu passen. 

H3 ist eigentlich ja »herabsteigen«, doch kommt es auch sonst ähn- 
lich wie hier vor; vergl. Una 10 vom gestatteten Eintritt in den Harem, 
und Benihasan Il, 7 vom Hintreten des Hirten vor den ihn kontrollirenden 


Beamten. 
XXX 


Ad Se ss leN ZIP I, N 


es 
ddi n m min? htp-hr bin, rdi rf bw nfr r B m St nbt. 
Zu wem spreche ich heute? der mit ruhigem Gesicht ist elend, ver- 


nachlässigt wird' das Gute an allen Orten. 

Dals bin hier nicht, wie in XXIX und XXXVII moralisch »schlecht« 
bedeutet, sondern so wie Prisse 5, 2 »unglücklich«, ebinm, ist klar. 
Der Ausdruck rd? r % »zu Boden legen«, der sonst vom Krlassen einer 
Forderung (Siut I, 293; ib. V, ı1) und vom Begnadigen eines Verbrechers 
(Benihasan II, 7 zweimal) gebraucht wird, wird hier im bösen Sinne ver- 


wendet sein. 


MR TTEITERENZIN" 8 
rein prorr 


ddi n m min? sher s m spf bin, ssbtf bw nb dTwf hw. 


1. So wird zu lesen sein, doch kann ich für & diese Form x nicht belegen. 


2. Eher & als x 


! Gramm. $ 348. 
8* 


60 A. Erman: 


Zu wem spreche ich heute? Macht ein Mensch wüthend durch seine Schlech- 
tigkeit, so bringt er alle Leute fäuren; sein böses Schlechtes zum Lachen. 


Falls Ar richtig gelesen ist, so ist dies das gut belegte Wort für 
»wüthen«, das ich freilich nieht mit Al determinirt kenne. Dem » wüthend 
machen« entspräche dann in der zweiten Hälfte gut das sb »lachen 
machen«'. Spf bin hat man nach dem Sprachgebrauch eher mit »seine 
schlechte Handlung«” zu übersetzen, als mit »sein schlechtes Wesen« und 
iw ist ein Ausdruck für Böses, Sündhaftes, der Totb. 17,4: 64, 7. dem 

” R 4) 5 rn 
gewöhnlichen a = gleichsteht. Trotzdem also alle vorkommenden W orte 
bekannt sind. bleibt der Vers doch unverständlich, vermuthlich weil der 
Text verderbt ist. Man könnte das zweite Glied etwa so herstellen ssb[w]f 
bw nb [m] &ef ne »er macht alle Leute lachen durch sein böses Schlechtes« 
und könnte den Vers dann dahin auffassen: Wenn der Böse (uns) durch 
sein Thun erzürnt, dem grofsen Haufen erscheinen seine Schlechtigkeiten 


nur als etwas Belustigendes. 


XXXIV. 
ar TIPHT IRRE STAA 2 


ll 
N 


dd n m min? dw hedstw, snb hr et |iht?]| Snmoft. 
Zu wem spreche ich heute? Man raubt, ein jeder nimmt [die Sachen] seines 


Nächsten fort. 


Das seltene Wort hCd>, das schon von Maspero, Rec. II, 49 besprochen 
ist, wird verständlich durch die jetzt in sicherer Lesung vorliegende Stelle 
Siut IV, 33, wo es von der wohl beherrschten Stadt heifst: es giebt keinen 
Zr 

m »es 
—— Aa 
giebt keinen, der etwas aus dem Hause (?der Strafse?) raubt«. Und ebenso 


heifst es ib. IV,ı2, man sei ausgezogen u | ING; r Bf 
Do 


hed3, »um den Räubern zu wehren«, womit wohl innere Feinde gemeint sind. 


r 0 PR . . N N 
Kampf, man schlägt die Leute nicht I 
Nm % ———| 


! Vergl. die Belege für sb »lachen« cwhe bei Brugsch, Wb. Suppl. 


P3 


® Z.B. Mar., Mon. div. 14; Amenemleb 23. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 61 


Die Stelle liefse sich ja zur Noth auch in der vorliegenden Gestalt 
übersetzen, ist aber wohl zweifach verderbt; hinter A’dstw wird ein Sub- 
stantiv fehlen und das zweite Glied ist gewils nach 105 zu verbessern: 
»ein jeder nimmt [die Sachen] seines Nächsten fort«. 


XXRV. 


In a u U RT 5 Na 2,0451 Sau BER 
aerincH 
dd? n m min? bittw (?) m Ck-ib, sn irr nf hpr m hf. 


ı. So wird man wohl zu umschreiben haben; auch Kahun, Hymn 2,16 steht dies 
hieratische Zeichen als Determinativ für Feinde. 


Zu wem spreche ich heute? Der Sieche VSt treu, der Bruder, der mit 
ihm ist‘, wird zum Feinde. 


le » Wa ist uns aus den Stellen Eb. 41,15; Kahun, Med. Pap. II,15; 
Prisse 10, 2 und aus der Metternich-Stele (AZ. 1879, 4) nur als eine all- 
gemeine Bezeichnung verschiedener schwerer Krankheiten bekannt. 

Der seltene Ausdruck an der auch in XLI und XLIII wiederkehrt. 
steht in zwei von Br., Wb. Suppl. S. 288 angeführten Beispielen parallel 
zu PP rm, wird also etwa »treu« bedeuten”. 

<o> im Sinne von »sich befinden « ist oft belegt (z. B. Berscheh 14, 10; 
Amenemheb 30: Una 34; Prisse 9, 10). 

Der Sinn könnte sein: selbst der hülflose Kranke kann sich auf seinen 
natürlichen Pfleger nicht verlassen und wird von ihm verrathen. 


XXXVL- | 
ae Rs NR - Tree 
AR 


dd? n m min? n sht Sf, n wen ir m te 3t. 


! Gramm. $ 260; über die Schreibung von ir vergl. $ 259, 2. 

2 Man darf dies ck-?b nieht zusammenwerfen mit dem häufigeren ck3-?b »mit richtigem 
WA £ ; n ; 

Herzen«, und auch das % En IR ” das die Rosettanea mit dpovrilov Umep übersetzt, braucht 


nicht mit unserer Redensart zusammenzuhängen. 


62 A. Ermas: 
1. Vergl. die gleiche Schreibung Prisse 5,1 und Bauer 108; hier geht durch das © noch 
ein, wohl zufälliger, Strich, der es unkenntlich macht. 2. Wohl 9, für <> wäre es klein. 


Zu wem spreche ich heute? Man erinnert sich nicht an gestern; man 
Unut nicht .... in dieser Stunde. 


Der Sinn könnte sein: was ich gestern Gutes gethan habe, hat die 
Welt heute vergessen. 
- en n <I> <Uu> Aw 
Zu dem räthselhaften DAN ER vergl. Bauer 108: ne ]l A) 
N 


FERN 


[=\ eo <u> —>m . 

= zn O> num —._hn : ich verstehe 
ea, [=\ I Nee & oa neu ° 

das auch nicht, aber, wie man sieht, steht auch hier das ör n {rt einem 


» gestern« gegenüber. 


XXXVI. 


aA NEITREEPNE, 


— ) Ba 
<—>NhN EN | 
dd n m min? snw bin, inntw m drdrw r mtrt nt ib. 
ı. Lange. 2. Für —>o kann man auch A 2 lesen. 
Zu wem spreche ich heute? die Brüder sind schlecht; man bringt als 


en, ZUT Richtigkeit des Herzens. 


Der gleiche Versanfang in XXIX, während das zweite Glied dieses 
Verses dem in XLI entspricht; dadurch ist die Richtigkeit des Textes 
gewährleistet. 

Den wenigen Stellen, in denen das Wort drdr sonst noch nachzu- 
weisen ist!, ist nichts für seine Bedeutung zu entnehmen. 

Was die »Richtigkeit des Herzens« ist, weils ich nieht; der Ausdruck 
kommt auch Mar., Ab. II, 3ı vor, wo das Verhältnifs von Thutmosis I zu 
Osiris so geschildert wird: »du bist ihm geboren’, er hat dich gemacht 


(d. h. erzeugt) N CS Öl om mtl? nt ibf in der Richtigkeit seines 
on N Sr 


Herzens« (damit du Alles für ihn auf Erden thuest, seinen Tempel bauest 


ULASSW.)L 


' Sinuhe 202; Sall. 4, 3, 2; Maximes d’Anü 6, 7. 


®” D.h. sein echter Sohn, vergl. LD. II, 136. 


DER rn Fu SEHE. HER. REN e : 
Zwischen und ) scheint früh eine Verwirrung eingetreten zu sein. 
oaN\ a 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 6; 


AXXVII. 


Ran 1 5000 Sue WA An ©,5NE E EINE NE 
N 


ddt n m min? hrw htm, snb m hr m hrw r smwf. 


Zu wem spreche ich heute? die Gesichter vergehen, ein jeder hat‘ ein 
Gesicht üsfer als (das)” seiner Brüder. 


Auch > e Nav. » 117/ Se freilich in einer mir unverständ- 
lichen Stelle: Frage. »eure Gesichter sind unten« (?) und 
es liegt en Be für die Richtigkeit unseres Textes. 
Der Sinn wäre etwa: es giebt kein menschliches Antlitz mehr, einer sieht 
immer schlimmer aus als der Andere. 

Aber eben so gut kann m Ar auch die Praeposition » Angesichts von« 
sein und mArw könnte wohl auch ein Wort sein. Ein solches mhrw ist 
mehrfach zu belegen® als irgend ein Ortsausdruck (»Tiefe«?). Gegen diese 


letztere Annahme spricht indessen das einfache N denn man erwartet 


in unserer Handschrift schon die Schreibung IS für dieses Praefix. 


IXXR. 


Ss Se er GR TEE 


——— 
ddi n m min? ibw wn, nn wn ib n s, rhntw hrf. 
Zu wem spreche ich heute? Die Herzen sind jrech; der Mann, auf 


den man sich sttze, hat kein‘ Herz. 


! Gramm. $ 307, 3. Eigentlich »ein jeder ist mit einem Gesicht versehen«; ein 
gutes Seitenstück P 173 ihw m r3sn pr »die Geister mit ihrem ausgestatteten Munde«, d.h. 
die einen solchen Mund haben. 

? Gramm. $ 352. 


nl 
® Als md MN ;n Zeile 157 unserer Handschrift, in der Geschichte von dem Hirten 


und der Göttin; als EN n © „. Weste. 12, 24; als N N Louvre € 3. 
* Gramm. $ 369. ze 


64 A. Erman: 


Klagte der vorige Vers über das Gesicht der heutigen Menschen, so 
rügt dieser ihr Herz. 

Über “wn-2b siehe das zu XXX Bemerkte. Der Gebrauch von ıwn mit n 
im Sinne von »jemand hat etwas« ist auch sonst zu belegen (Siut I, 272; 
Pianchi 13). Für rin Ar »sich stützen auf« vergl. Berscheh 1, 14, 5, 
wo das Wort freilich anders determinirt ist'. 


XL. 
Im in us, (0) BL x [BN ze 


Ihe So 


dd! n m min? nn mytlw, bsp n irw isft. 
a 
1. Er hatte erst n geschrieben. 
oO 
Zu wem spreche ich heute? Es giebt keine’ Gerechten ; die Erde 


ist ein Fall von Übelthätern. 


N I a . \ Pr . 
Man möchte lesen sp n isft »ein Fall des Sündethuns«, was eine 
RR; 
gewöhnliche Wendung ergäbe. Der Sinn ist in beiden Fällen: die ganze 
Welt ist niehts als Sünde und Unrecht. 


XLI. 


ae hi 


125 = NWM 
AL —| Al 
Sala. 
dd! n m min? tw Sw m Ck-ib, inntw m hmm r srhlnf. 
Zu wem spreche ich heute? Es fehlt an treuen, man bringt as Un- 


wissenden zu dem, was er kennen lehrte‘. 

' In rin Ar mw sauf Wasser ....« (Totb. ed. Nav. ı25 Conf. 36) palst allerdings diese 
Bedeutung nicht. 

” Gramm. $ 369. 


" Gramm, $ 291, 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 65 


Über den unpersönlichen Gebrauch von Zw siehe oben zu III Anm. 
Über die muthmafsliche Bedeutung von k-ib siehe zu XXXV. 
Die zweite Hälfte ist der in XXXVI gleich gebildet und ebenso 


unverständlich wie diese. 


XLI. 

("126 ID % D Be) BBRNA A 
Dit ei Br. 
ae 

ddt n m min? nn hr-ib pP, 3m Imf, nn $w wn. 
Zu wem spreche ich heute? Es giebt hier keinen Zufriedenen ; gehe 


mit ihm, (so) ist er nicht da. 
” * jene . . . . ” 
Die Verbindung Le »er ist nieht da« ist meines Wissens 


” ” ” .. ” .. ” ” je Ep ” 
neu, indefs nicht auffallend; wie man für das einfache »es giebt 
ANMN 


nicht« auch ”"* = ohne Anderung der Bedeutung sagt (Gramm. $ 369), 


Aaman ana 
so ist auch hier dem gewöhnlichen er > »er ist nicht da« noch ein 
bedeutungsloses wn beigefügt. Ta 

"Dafs pf? hier das Ortsadverb »hier« und nicht das Demonstrativ 
»dieser« ist, schliefse ich aus der Unmöglichkeit, es grammatisch als De- 
monstrativ hier unterzubringen. Das nn ... pf? »es giebt hier nicht« 
entspricht wohl der häufigen Verbindung nn ... im »es giebt dort nicht«. 

Ist die vorgeschlagene Auffassung des Verses richtig, so ist der Sinn: 
auch der anscheinend Zufriedene zeigt sich bei näherer Bekanntschaft als 
ein Unzufriedener. 


XL. | 
ae PERS FELD AT > 
u 


ddi n m min? wi 3lpkwi hr mzir n gw <k-ib. 


T: Das | in seltsamer Form, die vielleicht durch Korrektur entstanden ist. 


Zu wem spreche ich heute? ich bin mit Elend beladen, ohme einen Treuen. 
Philos. -histor. Abh. 1896, LI. N) 


66 A. Erman: 


Vielleicht darf man »Armuth« anstatt »Klend« setzen, denn mir und 
sein ständiger Gegensatz wsr »stark« scheinen auch, wie Brugsch hervor- 
gehoben hat, für Arme und Reiche gebraucht zu werden. 

Über n gw siehe zu XV, über %k-ib zu XXXV. 


XLIV. 


bu Deo Nu WR 73 1, 5 SERIE an BEN Sara 


dd! n m min? nf hw %, nn wn plnofi. 
MW 
1. Nicht ken? er scheidet / und d deutlich. 2. Diese Umschreibung entspricht dem 


hieratischen Zeichen, doch zweifele ich nicht, dals es, wo immer es für /no »schlagen« steht, 


eigentlich anders umschrieben werden mülste; aber wie’ denn Hi hatschon einen anderen Ver- 


sugar 5 .e 2 N 
treter im Hlieratischen; vielleicht gab es einmal ein Zeichen Me 3. Sie, nicht S 
Zu wem spreche ich heute? das Boss schlägt das Land; es hat kein Ende. 


Will man das nf nieht in nd verbessern, so wird man für nf an das 
späte Wort Tu a denken müssen, das man freilich bisher nieht ohne Wahr- 
scheinlichkeit mit nf} »jene« identifieirt hat. 

Grammatisch bietet der Satz eine scheinbare Schwierigkeit; man glaubt 
einen Nominalsatz vor sich zu haben und erwartet nun, da Aw transitiv 
ist (nach Gramm. $ 242): nf hr Awt %. Ähnliche Sätze finden sich aber 
auch sonst in der Poesie (z. B. Kahun, Hymn. I, 7-8) und sind gewils 
nichts als gewöhnliche Verbalsätze mit hervorgehobenem Subjekt, die nur 
dureh die Niehtsetzung des sonst bei der Hervorhebung des Subjektes übli- 
chen dr (Gramm. $ 350) abweichen. Der Sinn ist: das jetzige Elend der 
Welt wird immer dauern. 


XLV. 
BRENNT TTRESN EIS NN 
AN = 132 0 
ı—T mmls So ar 
tw mt m hri m (sie) min, [m?] snb mr, mi prt r Intw r 8 hit. 


: e er 
1. (w Korrektur. 2. Sic. 3. Oder a 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 67 


Der Tod steht heute vor mir [wie] ein Kranker gesund wird, wie 
das Ausgehen nach der Krankheit. 


In dem hier beginnenden dritten Gedicht, das die Sehnsucht nach dem 
Tode ausspricht, lautet der Anfang jedes Verses Zw mt m hri min mi »der 
Tod ist heute vor mir wie«'. Zu m hr » Angesichts von« vergl. z. B. Mar., 
Ab. II, 31; Pianchi 82; Mar., Karn. 11, 13; Pj. T. 2, ı. Übrigens hat der 
Schreiber hier, wo ihm diese Formel zum ersten Male vorkam, zwei Fehler 
in ihr gemacht. 

Der Ausdruck prt r /mtw eigentlich: »nach vorn gehen« kam schon 
oben (XIX) vor und hat gewils die hier angenommene Bedeutung. 

Das Wort hit ist so seltsam geschrieben (mit dem f zwischen den 
Determinativen), dafs man einen Fehler annehmen möchte. Indessen kommt 


m | | oO & hät Eh. 40, ı1; 14 wirklich als Name einer Magenkrankheit vor. 

Maspero’s sehr freie Übersetzung der Stelle »tel le retour ä la sante 
du malade qui sort pour aller A la cour apres son tourment« beruht wohl 
auf einer Verwechselung von Antw mit Amw »Hof«. 


XLVI. 
BRERTESLNSTTR lee BSIEN 
Trap} 


tw mt m hri min, mi stt nttw, mi hmst hr hbw hrw Bw. 


Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der Myrrhen, wie 
unter dem Segel am windigen Tage zu sitzen. 


Dafls Atzw das Segel des Schiffes ist, hat Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) 
nachgewiesen. Hier könnte man versucht sein, es von einem Vorhang oder 
einer Matte zu verstehen, die man sich im Garten als Schutz gegen den 
Wind aufstellt”, aber diese Bedeutung wülfste ich nicht zu belegen, und 


! Maspero, der in seiner »Histoire ancienne« p. 399 die folgenden Verse übersetzt 
hat, giebt dies frei wieder mit: »Je me dis chaque jour, tel .... telle Ja mort«. Das 
»chaque jour« ist die herkömmliche unrichtige Übersetzung von min; vergl. das zu XXIX 
Bemerkte. 

®2 So wohl auch Maspero, der »rideau tendu« übersetzt. 

gr 


68 A. Erman: 


ansprechender ist auch die einfache Deutung auf das Segel: Wenn der 
kühle Nordwind, die höchste Freude des Aegypters, weht, so geniefst ihn 
der am besten, der unter dem Segel sitzt. denn dort streicht er am frische- 
sten durch. Der Gebrauch von Ar »unter« ist in beiden Fällen auffallend. 

Hinter /rw erwartet man das genetivische n, das in dem Ausdrucke 
»Tag des ...« zu stehen pflegt: die gleiche auffallende Verbindung auch 
oben in XI. Maspero überträgt den »Tag des Windes« mit »ce jour 


la«, er hat wohl das Ba‘ in od» verlesen. 
XLVI. 


REES UNSER UND ZUST 


65 


em 
a S% 
tw mt m hri min, mi st! sm, mi hmst hr mrüt nt tht. 
Der Tod steht heute vor mir wie der Geruch der Lotusblumen, wie 


auf dem Ufer der Trunkenheit zu sitzen. 


Der »Uferdamm der Trunkenheit« (oder wenn man das Determinativ 
nur auf {ht bezieht: »des Trunkenheitslandes«) ist ein für uns unklares 
Bild. Der Ausdruck, der aussieht, als ob er aus einem Liede stamme, 
spielt wohl an auf die Gelage, die man am See im Garten oder zwischen 
den Papyrusbüschen und Lotusblumen der wilden Gewässer zu feiern liebt. 
In Maspero’s freier Übersetzung: »comme respirer l’odeur d’un parterre 
de fleurs, comme s’asseoir sur la berge du Pays d’ivresse, telle la mort«, 
bringt das »parterre de fleurs«, das die Lotusblumen ersetzt, einen etwas 
anderen Sinn hinein. 


XLVIM. 


ERTITN NENNEN = 
DREI ElA$e 
138 

Nie 8] 

tw mt m hri min mi wst Mnwüt, mi tw s m mse r prsn. 

ı. Oder '% siehe zu XLIV. 2. Korrektur, dabei verwischt. 

Der Tod steht heute vor mir wie ein Regenweg, wie jemand in dem 
Kriegsschiff zu seinem Hause kommt. 


“ Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 69 

Der »Regenweg« ist wohl der nach dem Gewitterregen plötzlich in der 
Wüste strömende Bach, der se/, dessen beglückendes Erscheinen uns Klun- 
zinger' so schön geschildert hat. Maspero übersetzt »la route que par- 
court un flot d’inondation«, doch wird Awiit (ebenso wie sein Derivat 9WEoT) 
in der Regel vom Regen gebraucht; vergl. meine Bemerkungen zu Weste. 
11, 12-18, wozu noch die guten Beispiele Pianchi 52 und Metternich- 
stele 55 zuzufügen sind. 

BI wird auch Berscheh ı8 von der Ankunft der heimkehrenden 
Schiffer gebraucht. 

Merkwürdig ist die kollektive Behandlung von ui »Person«; es steht 


hier wörtlich »wie ein Mann zu ihrem (Plur.) Hause kommt« und ebenso 
in XLIX »wie ein Mann ihr (Plur.) Haus zu sehen wünscht, nachdem er 
Jahre verbracht hat«. Unsere Übersetzung kann dies nicht nachahmen. 
>@< »Kriegsschiff« ist uns durch die »Una«-Inschrift (41. 42) und 
durch Sinuhe 38 bekannt. Maspero’s Übersetzung »comme un homme 
qui va en soldat a qui nul ne resiste« beruht wohl auf irrigen Lesungen. 
Die fröhliche Heimkehr einer Schiffsmannschaft wird auch in der bil- 
denden Kunst der Aegypter verschiedentlich dargestellt”; hier ist das 
»Kriegsschiff« wohl gewählt, um auf eine besonders weite Reise über’s 
Meer hinzudeuten. 


XL 
© N Um el 140 ER 
PNENTE m “ıo.Nt# Im 
Au 
Zw mt m hri min mi kft pt, mi s sht im r hmtnf. 
Der Tod steht heute vor mir wie eine Hinmelsenteötkung , wie jemand, 
Re zu dem, was er nicht wu/ste. 


Die Bedeutung »entblöfsen«, die Brugsch dem beilegt, dürfte 
richtig sein; das Wort wird aber wohl auch vom Entwölken des Himmels 


! Bilder aus Oberaegypten (2. Aufl.) S. 226. 

® Im alten Reich im Grab des Pehenuka LD.II, 45a.b.; im neuen Reich in den 
Gräbern des Paheri (Taf. III der Publikation des Exploration Fund), des Chaemhet LD. II, 
76a und wohl noch oft. 


70 A. Erman: 


gebraucht: »er fuhr stromauf FE N kfnf pt und entwölkte(?) den 
ee EEE 

Himmel, das ganze Land war mit ihm u. s. w.« (Siut IV, ı1ı; von dem 

siegreich vordringenden, das Land beglückenden König)‘. Freilich ist der 

wolkenlose Himmel für den Aegypter nicht das, was er für uns Nord- 

länder ist, und das macht diese Erklärung unserer Stelle, die Maspero 

auch theilt’, doch etwas fraglich. 

Die bekannten Bedeutungen des Verbums sht »weben, Vogel stellen, 
Ziegel streichen« sind hier schwerlich am Platze, und auch das Determina- 
tiv —o deutet auf etwas Abstraktes. Ein ganz ebenso geschriebenes Wort 
sht (0.8) kommt in den unklaren Stellen Prisse 6,7 und 6,9 vor. 


22 
Maspero’s Übertragung »comme un homme parti pour chasser au 


filet et qui se trouverait soudain dans un canton qu'il ignore« ist mir un- 
verständlich; selbst wenn man dem sht trotz des > die Bedeutung » Vogel- 
steller« gäbe, erhielte man höchstens »wie jemand ein Vogelsteller dort zu 


dem was er nicht wulste« also zusammenhangslose Worte. 


L. 


BRAATSTN STERN TI 
Tetieh the 


tw mt m hri min mi sbb s ms} prsn, irnf rnpt St m ndrt. 
ı. Dies irrig wiederholte Wort hat der Schreiber selbst ausgelöscht. 


Der Tod steht heute vor mir, wie jemand sein Haus zu sehen wünscht®, 
nachdem* er viele Jahre im Gefangenschaft verbracht hat. 


Über die Behandlung des Mn als Colleetivum siehe oben zu XLVI. 
Die gewöhnliche Bedeutung »schlagen« pafst hier nicht für ndr, und 
man sucht in ndrt vielmehr einen Ausdruck für Gefangenschaft. Wenn ich 


! Anders steht es mit dem Beispiele Pianchi 73 und dem von Brugsch aus einem 
»Pap. Murray« angeführten, wo‘ die »Wolken« und die »Finsternils« das Objekt zu Af 
bilden. 

?2 Er übersetzt »un rasserenement du ciel«. 

° Gramm. $ 190. 

* Gramm. $ 197. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 71 


nun auch diese Bedeutung selbst für das Wort nicht nachweisen kann, so 
doch wenigstens nahverwandte: 


So =) ndrt r shr irtt »Festhalten zum Melken« (LD. II, 66, 
über dem Hirten, der die Kuh am Vorderbein festhält). 


u a ? ndrt m3w »Fangen der Gazellen« (Benihasan I, 30, über 
ende die Crrellen haschen). 
AWVMN N 
% 


On 3 
beitern, die den wüthenden Schlachtstier umzuwerfen suchen). 


S So af ndr wns ghıs »der Wolf fängt die Gazelle« (Beni- 


<> wm 
hasan II, 13, über diesem Bilde; ebenso vom Löwen ib. II, 13; II, 4; vom 


Hund, der die angeschossene Antilope packt, ib. II, 4). 


7, Ndrt ng »Fangen des Stiers« (LD. IL, ı4, über den Ar- 


LI. 


SIITRNTANTT TER I 
u 


wnn ms nti im (it) m ntr nh, hr hsf tw n irr sw. 
ı. Das Wort ist nachträglich zwischen den Zeilen 141 und 142 eingefügt und dürfte 


in 142 einzuschieben sein, doch bleibt mir seine Stelle fraglich. Hinter dem IR steht ein 


schräger Strich, der (falls er nicht nur der Rest eines weggewaschenen Zeichens ist) wohl 
angeben könnte, dals hier das Wort einzufügen sei. 2. Durch Korrektur entstellt. 


Wer dort ist, wird’ a =»... als lebender Gott, indem er die Sünde 
san an dem, der sie thut”. 

Jeder Vers dieses vierten Gedichtes beginnt mit der Zeile wnn ms nt! im 
»wer dort ist, wird sein«, die zweite Zeile giebt darauf an, was er sein 
wird, und die dritte fügt mit einem 2 hinzu, was er thun wird. 

Der Euphemismus nt? im »wer dort ist« (d.h. wer im Totenreich ist), 
ist bekannt. Die enklitische Partikel ms kennen wir bisher nur aus dem 
Westecar’; sie kann nur eine sehr leichte Nuance ausdrücken; für zwei 


! Futurisch, vergl. Gramm. $ 187. 


°” 259,2 
®? Vergl. meine Sprache des Westcar $ 188, 


72 A. Erman: 


der Stellen des Westear palst unser eingeschaltetes »ja«, das das Ge- 
sagte als eine bekannte Wahrheit hinstellt. 

Dafs der selige Tote ein »lebender Gott« ist, findet sich auch sonst, 
so Totb. ed. Leps. ı, ı7. Falls das Eu A vor dem m nir “nl einzu- 

en 
schieben ist, muls es, wie das Ch“ des nächsten Verses, als Praedikat zu 
wnn gehören. Setzt man es erst hinter das nir nh, so ist dieses das 
Praedikat das dann, wie im dritten Vers, durch m eingeleitet ist. Was Eu 
o&ö 
»fortnehmen« hier überhaupt soll, sehe ich nicht. 

Hsf iht n bedeutet sonst »jemanden bestrafen«; ich vermuthe, dafs hier 
diese Redensart in ihrer vollständigen Form, »die Sünde an jemandem 
strafen«, vorliegt; das ZAt »etwas« in ihrer gewöhnlichen Form stände also 
für das Vergehen: »etwas an jemandem strafen «. 


Über 5 vergl. das zu XXXII Bemerkte. 
Der Sinn dieses Verses ist: der Tote ist wie ein Gott und straft die 
Bösen. 


LI. 
EN EN NS END ee EN 


—>-|IC7I] 
— 
u a EP | 
wnn ms ni im che m wi, hr rdit dit Stpt im r r3w-prw. 


1. Der Schreiber hat schon Z. 26 ein seltsames Determinativ bei 3 verwendet, das 
sich als eine Kombination von © und = erklären läfst; was hier steht kann weder einem 
© noch einem =@%&s entsprechen. 

Wer dort ist, wird ja um Sonnenschiff stehen, indem er das Erlesenste 
in die Tempel geben läfst. 


Mag man das seltsame Zeichen bei wi lesen wie man will, dafs vom 
Schiff der Sonne die Rede ist, in dem der Tote mitfahren darf als Ge- 
nosse des höchsten Gottes, ist nieht wohl zu bezweifeln. 

Während rdit »geben« allein genügen würde, steht rdit dit »geben 
lassen«, wobei das dit natürlich kurze Schreibung für ditw ist!. Man ist 
geneigt, das di zu streichen, doch findet sich diese kausative Wendung 


! Gramm, $ı171. 180. 207. 


Gespräch eines Lebensmiüden mit seiner Seele. 73 


auch sonst, wo sie kaum nöthig ist. In der Bauerngeschichte heifst es 
en Ze) 
a Se, »du wirst ihm die Brote geben lassen, 


NS DB N es: en 
ohne dafs er erfährt, dafs de es bist, der sie ihm giebt ( )«: Und 


noch merkwürdiger in dem Erlafs Thutmosis’ I. (ÄZ. 1891, 117): I 
mr A) »mache, dafs man macht, dafs der Eid bleibt« für 
a u) 2 S AL} ” ” ” ” ” ” 
»mache, dafs der Eid bleibt«, wo die Richtigkeit der Lesung durch ein 
neues von Borehardt in Nubien gefundenes Exemplar bestätigt wird', 
Unter stpt hat man wohl, wie sonst, die Schenkel der Opferstiere zu 
verstehen. 


LIII 
SETZEN METDI- 
ar 


wnn ms nti Im m rh-tht n hsfntf, hr Spr n rc, hft mdwf. 

Wer dort ist, wird ja ein Gelehrter sein, dem nicht gewehrt worden ist, 
indem er den Re bittet, wann er redet. 

Der rh-iht »der etwas Wissende« steht Siut I, 223. 225 oder d’Orb. 
11,4 parallel zu dem KW »Schreiber« und ist der Ausdruck für den 
» Weisen«, den Gelehrten. Die Bemerkung, dafs der Tote »den Re bittet, 
wann er redet«, geht wohl darauf, dafs er jetzt unmittelbar mit dem Sonnen- 
gotte verkehrt; jedes Wort, das er spricht, wird auch von Re vernommen 
und ist ein Gebet. Ein ähnlicher Gedanke ist ja auch in VII ausgesprochen. 
Was soll aber der Zusatz »der nicht abgewehrt worden ist«? Unwillkürlich 
kommt man auf den Gedanken, dafs auch in diesen Versen LI-LIII An- 
spielungen auf besondere Schicksale unseres Mannes vorliegen, und dafs 
Alles, was er hier als Recht des Toten bezeichnet, ihm selbst im Leben 


versagt worden ist. 


LIV. 
2 AN T— eo FAIR > 
a 


dam ni ühw: imi rk ke nnot hr h33, ns pn, Sni. 

ı Es hängt das zusammen mit dem allmählichen Verblassen der Kausativbede utung 
von rdi, das sich auch sonst beobachten läfst. So z.B. Brugsch, Thes. 1153 rdit smntw 
unnütz für smnt oder d’Orb. 5,5 dit dmtw unnütz für dm. 

Philos. - histor. Abh. 1896. I. 10 


74 A. Ermans: 


Was der Geist zu mir sagte: Lege das Jammern auf das ...., du Ange- 
höriger, mein Bruder. 


Dafs hier nur Zno anstatt Zhrw »mein Geist« steht, ist wohl ein Schreib- 
fehler, vergleiche das zu II Bemerkte. 


MW 
Das Wort N Da A nhwt findet sich ebenso geschrieben im Anfang 
der Bauerngeschichte (Z. 29); der Beamte verbietet dem Bauern zu jam- 
mern und dieser sagt darauf: »du raubst mir die n/not aus meinem Munde«; 
er nennt also seine Klagen so. 
MM 
Es findet sich dann weiter als Sc A) in einem Texte des neuen Reiches: 
\ 


) = HT. | =, me hr nfnwi nn n wr sndf 


la 
»die Asiaten ...... sich (dativisch) wegen der Gröfse der Furcht vor ihm« 


(LD. III, 223€; parallel: »sie werden ohnmächtig wegen seines Namens, 
jedes Mal, dafs sie an ihn denken«). Man vermuthet »jammern über sich « 
oder ähnlich. 

Dazu stimmt dann auch eine weitere Stelle der Bauerngeschichte, wo 
der Bauer dem ungerechten Fürsten sagt: »du bist stark und trotzig ..., 


die Milde geht an dir vorüber, EEE AN per 3 rl | =. 


o weh des Armen, den du zu Grunde richtest« oder ähnlich!. 
Endlich wird in der Metternichstele 47 das Jammern der Göttinnen als 


DL: Al bezeichnet, parallel zu dem BI EN »dem lauten Klage- 


geschrei« der Götter. 
Zwei andere Stellen, in denen das Wort noch vorkommt, Sall. 2, 8, 9 


a und Totb. 113 we ed. Nav., Zeileı2 = exd A 


Leps., Zeile 8) sind mir nicht verständlich’. 

Ein Wort A? mit > determinirt ist mir unbekannt; man darf wohl 
vermuthen, dafs »lege die Klage auf” das A3%« eine Redewendung ist für 
»höre auf zu klagen«. Der Sinn ist jedenfalls: du brauchst nieht noch 
weiter zu jammern, ich werde dir deinen Willen thun. 


‘ Bauer 116 und ebenda 203 wiederholt. — Vergl. über das Wort jetzt auch die 
während des Druckes erschienenen Bemerkungen Spiegelberg’s, ÄZ. 1896, 16. 


®2 Mit den Worten S Q A Leyden V,4 und S Benihasan I, 25,114 hat unser 


nhwt nichts zu thun, denn diese sind unvollständige Schreibungen von nAnt und rAn. 
® rdt hr ist der gewöhnliche Ausdruck für »etwas auf etwas legen«. 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 75 


In Ze n-sw, das nach dem beigefügten pn ein Substantiv sein 
mufs, liegt wohl ein Seitenstück vor zu dem Ausdruck II8S ü-sw »Ge- 


nosse«. Wie jener bedeutet es eigentlich »der zu ihm Gehörige«', seinen 
weiteren Gebrauch zeigt das Beispiel: 


0. 1e No Ya! sk pw nsw, st k’k »er ist dein 
Sohn, der Angehörige, den du” erzeugt hast« (Prisse 7, 11). 


LV. 
ezeeaaeaerrzleattyre 
a 
El TTV Run 


154 | SS — I i 
==] | 0D® 

wdnk hr ch, dmik hr nh, mi ddk, mr wi 3 win nk imnt, mr hm phk 
imnt, sh hk t, hnür 8 wrdk, ih irn dmi n sp. 

ı. Ob das Zeichen wirklich so zu umschreiben ist, ist mir selbst zweifelhaft, da 
RR auch in den Handschriften des mittleren Reiches (Sinuhe 127. 293; Kahun, Hymn 2, 13; 
Kahun, Medic. Pap. 2,4) nie ganz so gestaltet ist. 2. Unter N noch ein, wohl zufälli- 
ger, Strich. 

Du taste auf dem Feuerbecken, du ..... auf dem Leben, wie du sagst. 
Wenn ich dir auch biskr den Westen verweigert habe, » gelangst du doch zu 
dem Westen, deine Glieder erreichen die Erde, ich lasse mich nieder, nachdem 
du ruhst. Lafs uns zusammen eine Stätte machen. 


Diese Schlufsworte des Geistes, die für das Verständniss des Buches 
so HE sein würden, bleiben leider zum grofsen Theil unverständlich. 


z Über &-, f-sw ver Be meine uben ÄZ. 1892, 80; über aa in nsw Fareene 
Praefix n- vergl. Sethe, ÄZ. 1895, 73. 
® Eigentlich »dein Ka«. Der Ausdruck ist interessant, weil er zeigt, wie bedeutungs- 


los das Wort nn oft ist. 


76 A. Erman: 


Das Wort wdn kam schon in VII vor; ob es richtig ist, es hier wie sonst 
mit »lasten« zu übersetzen, stehe dahin. 

Das »Feuerbeeken« (denn nur in dieser substantivischen Bedeutung 
ist <A aw zu belegen) erinnert an das »auf das Feuer werfen« und das 
» Verbrennen«, von denen auch in IV die Rede war. 

Ein Verb dmi mit dieser oder einer ähnlichen Schreibung ist mir 
nicht bekannt; auch das gewöhnliche Verb dm?, das wohl riehtig zu 
B. Ta, ToM »anheften« gestellt wird, ergäbe keinen Sinn. 

Da sich die Sätze wdnk hr ch und dmik hr nl anscheinend ent- 
sprechen, so kommt man auf den Gedanken, ob sie nicht einen Gegen- 
satz ausdrücken sollen, etwa: »verbrennen kannst du nicht und leben 
willst du nicht« o. ä. 

Das mi ddk läfst sich jedenfalls so, wie angegeben, übersetzen” und an 
das Vorhergehende anschliefsen; der Sinn ist dann: »das Feuer .... du 
und das Leben [verabscheust?] du, wie du (selbst) sagst« — die Seele 
hält dem Menschen seine Reden und Klagen vor. Nothwendig ist diese 
Auffassung indessen nicht’. 


In dem doppelt gesetzten A steckt wohl etwas Grammatisches; 
<> 


jedenfalls gehören die beiden so beginnenden Sätze zusammen und der 
zweite steht, wie das Am" zeigt, in einem leichten Gegensatz zum ersten. 
Ich vermuthe, dafs sie etwa besagen: »wenn ich dir auch bisher den 
Westen verweigert habe, so kommst du (jetzt) doch zum Westen«. Dals 


D „2 etwa »zurückweisen« bedeutet, ergiebt sich aus den Stellen 


It cd N Pianchi il Die Partikel (? 

otbz ed... Navy. 1545 2, Eianeniyys 1b>7A3r ie Partikel (?) NZZ 
ist hier so räthselhaft wie an allen anderen Stellen und wird auch hier 
nur eine sehr schwache Nuance bezeichnen’. 


! Jedenfalls ist der Sinn nicht »du drückst schwer auf das Fenerbecken«, denn in 
dieser Bedeutung wird wdn mit r konstruirt; vergl. Harr I, 79,1. 

Ar Verelz.BHBrisse2,5- 

3 Man könnte auch denken, das m? ddk leite eine direkte Rede ein und das Folgende 
(mr w? @ u. s. w.) wären Worte des Menschen, die die Seele ihm anführte. Wahrscheinlich 
ist das freilich nicht, denn dann blieben nur wenig Worte für die Seele übrig, die doch 
ihr Schlufswort nicht zu kurz fassen darf. 

* Vergl. meine »Sprache des Westear« $ 187, wozu noch das gute Beispiel P 303 
kommt, das ich Sethe verdanke. 

5 Vergl. Sethe, ÄZ. 1893, 107. 


77 


Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Die grammatische Konstruktion erinnert an einen Satz mit hervor- 
. SA Mm 
gehobenem pronominalem Subjekt', wie es Ö Sl en nwk win 
a num —I 
nk »ich bin es, der dir verweigere« sein würde; da hier aber nicht das 
für die Hervorhebung nöthige jüngere Pronomen absolutum, sondern das 
alte (2?) steht, so kann es sich hier nicht um eine wirkliche Hervor- 
hebung handeln. Vielleicht ist es das mr, das diese seltsame Konstruktion 
bedingt. 

Für den Ausdruck $%h B ist von Brugsch (Wb. Suppl. s. v.) die Be- 
deutung »landen« belegt worden, und da das gewöhnliche Wort für »lan- 
den« mn? als Euphemismus für »sterben« gebraucht wird, so könnte man 
denken, auch sh % solle hier den Tod bezeichnen. Nach dem Zusammen- 
hang der Stelle ist es indessen wahrscheinlicher, dafs 3% % hier eine ge- 
wählte Wendung für »begraben werden« — etwa: zur Erde kommen — ist. 

Über An »sich niederlassen« und dm? »Stätte« ist zu IX ausführlich 
gehandelt worden. 

Der Sinn des Abschnittes ist jedenfalls der, dafs die Seele nachgiebt 


und sich nicht mehr sträubt, ihrem Herrn in den Tod zu folgen. 


LVI. 


ch 


twf pw, hetf r phfi, mi gmüt m ss. 

Als Rubrum. 

Es ist fertig, von Anfang bis zu Ende, wie das, was geschrieben vorgefun- 
den ist. 

Die übliche Schlufsformel der Handschriften, für die Griffith (ÄZ. 
1896, 49) jetzt die Erklärung »this is its arrival« (at the end) vorschlägt. 
Diese Erklärung läfst dem N jedenfalls seine gewöhnliche Bedeutung 
»herbeikommen«, während die herkömmliche Deutung der Formel »es ist 
dahingegangen« diesem Verbum eine Bedeutung zuschiebt, die es meines 
Wissens niemals hat. 


! Gramm. $ 350. 
® Gramm. $ 80. 


Philos. - histor. Abh. 1896. II. 11 


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Phil.- hist. Abh. 1896. 


K. Preujs. Akad. d. Wissensch. 


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Lebensmüden mit se 


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-16). 


Tafel (Zeile 1 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. Phil.-hist, Abh. 1896. 


Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Tafel 2 (Zeile 17-32). 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. Phil.-hist. Abh. 1896. 


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Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Tafel 3 (Zeile 33-47). 


1896, 


Phil.- hist, Abh. 


K. Preufs. Akad. d, Wissensch. 


Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Tafel A (Zeile 48-63). 


1896. 


Phil.- hist. Abh. 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. 


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Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 
Tafel 5 (Zeile 64-78). 


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Phil.- hist. Abh. 1896. 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. 


Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele, 


79-94). 


Tafel 6 (Zeile 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. Phil.- hist. Abh. 1896. 


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Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


Tafel 7 (Zeile 95-110). 


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1896. 


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Akad. d. Wissensch. 


K. Preujs. 


Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele. 


(Zeile 111-125) 


Tafel 8 


K. Preufs. Akad. d. Wissensch. Phil.- hist. Abh. 1896. 


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K. Preufs. Akad. d. Wissensch. Phil.-hist. Abh. 1896. 


Erman: Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele, 


Tafel 10 (Zeile 141-155). 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 


Von 


TRRCARL STUMPR. 


r Ben 


2... Philos. - histor. Abh. 1896. III. 
7 


I 


nl a ld Enulueilsinteiin-obisDr Zn 


= 
Gelesen in der Sitzung der phil.-hist. Classe am 23. April 1896 \ 
[Sitzungsberichte St. XXI. S. 483]. h ä 
d Zum Druck eingereicht am 17. März 1897, ausgegeben am 8. Mai 1897. 
z u e 5 
u 
j 


I ist hier meine Absicht, den Inhalt der 19. Section der unter den Werken 
des Aristoteles überlieferten Problemensammlung neu zu untersuchen und 
ihn so darzustellen, dafs sich ein übersichtliches Bild der darin nieder- 
gelegten Auffassungen vom Wesen und den Wirkungen der Musik ergiebt. 
Von vornherein ist allerdings im Auge zu behalten, dafs nach bestimmten 
Anzeichen (wir kommen auf die Autorfrage zuletzt) an dieser Section minde- 
stens zwei Autoren betheiligt sind. Im Ganzen aber ergiebt sich aus den 
fragmentarischen und regellos durcheinander gewürfelten Ausführungen eine 
wol zusammenhängende Gesamtanschauung, und es offenbart sich darin 
ein tieferer Blick in die letzten musikalischen Prinzipienfragen als in irgend 
einer anderen Schrift des Altertums. Auf die enge Verwandtschaft mit den 
Forschungen der Gegenwart hat v. Helmholtz bereits gelegentlich Bezug 
genommen, aber sie reicht weiter als er dachte, ja sie ermöglicht es uns, 
mehrere bisher ganz unverständliche Stellen zu interpretiren und anscheinend 
unheilbare Textverderbnisse richtigzustellen. Aufser den gemeinsamen Grund- 
lagen treten aber auch die unterscheidenden Eigentümlichkeiten der antiken 
Musik deutlich hervor, und auch in dieser Hinsicht läfst sich das Material 
noch besser ausnützen, als es bisher der Fall war. 

Die 19. Seetion als die sachlich bedeutendste und zugleich schwierigste 
und corrupteste der ganzen Sammlung ist mehrfach herausgegeben oder 
übersetzt und commentirt worden: von Chabanon 1779', Bojesen 1836°, 


! Memoires de l’Academie des Inseriptions T. 46 (herausgegeben 1793) p. 285. 
® De Problematis Aristotelis. Diss. Kopenhagen 1836 (commentirt speciell nur die 
19. Section). 


les 


4 C. Stumpr: 


Ruelle ı891', d’Eichthal und Reinach 1892°, K. v. Jan ı895°. Bar- 
thelemy Saint-Hilaire übersetzte und commentirte sie 1891 mit den 
übrigen Problemen’. Eine neue Ausgabe mit Übersetzung, philologischem 
und musikwissenschaftlichem Commentar wird von F. A. Gevaert in Ver- 
bindung mit anderen Gelehrten vorbereitet’. 


! Revue des Etudes grecques. IV p. 233: Problemes musicaux d’Aristote (Übersetzung 


und kritische Durcharbeitung). Dazu in der Revue de Philologie XV (1891): Correetions 
anciennes et nouvelles dans le texte des probl. mus. d’Aristote. 

2 Revue des Etudes greeques. V p. 22: Notes sur les probl. mus. dits d’Aristote. 

In dieser Arbeit sind die Musikprobleme zum ersten Male nach sachlichen Gesichts- 
puneten in Gruppen geordnet. Ich habe sie aus zufälligen Ursachen erst vor wenigen Mo- 
naten kennen gelernt, als meine Abhandlung, deren Grundzüge aus dem Jahre 1892 stammen, 
bereits zum Drucke fertiggestellt war. Natürlich kann man solche Gruppirungen je nach 
dem Standpunet der Betrachtung in verschiedener Weise vornehmen; es muls dem Leser 
überlassen bleiben, welche ihm besser zusagt. So sind denn auch Probleme, die dort nur 
kurz gestreift werden, hier sehr ausführlich behandelt und umgekehrt. Die Arbeit der bei- 
den Gelehrten scheint übrigens seltsamer Weise auch v. Jan entgangen zu sein; wenigstens 
führt er sie in dem Litteraturverzeichnis (p. 59 seiner sogleich zu erwähnenden Ausgabe) 
nicht auf und nimmt nirgends Bezug darauf, wogegen er Ruelle’s »Corrections« in die 
Revue des Etudes grecques 1892 verlegt. 

Die beiden Autoren gehen nun allerdings in der Annahme von Entstellungen aller Art 
bedenklich weit. Nicht blos Wiederholungen, Auslassungen, Itacismen, Rand- und Inter- 
linearglossen werden in Fülle zu Hilfe genommen, sondern auch Umstellungen derart, dals 
wiederholt die Lösung eines Problems mit der Fragestellung eines anderen verbunden wäre. 
Es bleibt von dem ganzen Bau sozusagen kein Stein auf dem anderen; und oft genug wird, 
wo all dies nicht hilft, einfach die Sinnlosigkeit (galimatias, ineptie) constatirt. 

Aber die Meisterschaft in der philologischen Chirurgie verführt leieht dazu, mehr zu 
schneiden als der Patient verträgt. Der Nichtphilologe hält sich vielleicht wieder zu ängst- 
lich an den vorliegenden Text. Doch glaube ich nicht, dals dabei soviel Sinnlosigkeiten 
stehen geblieben sind. Nur in einzelnen Fällen habe ich die Änderungen der beiden scharf- 
sinnigen Gelehrten nützlich gefunden, in den meisten Fällen unnötig, und es schien mir in 
diesen Fällen nach der positiven Erklärung meist auch nicht nötig, die Veränderungsvor- 
schläge im Einzelnen zu besprechen. 

® Musiei Seriptores Graeci. p. 39 (mit Einleitung und kurzen Anmerkungen). 

* Les Problemes d’Aristote. II p. 36 (Übersetzung und Commentar). Diese Arbeit lälst 
an Exactheit viel zu wünschen. 

° Man findet bereits in Gevaert’s Histoire de la Musique de l’Antiquite 1875—1881 
vielfach Erläuterungen zu einzelnen Problemen, teils von Gevaert selbst, teils von 
A. Wagener herrührend. Auch Westphal hat verschiedene Probleme ausführlich be- 
sprochen, da sie ihm als wesentlichste Stützen für seine Auffassung der griechischen Musik 
erschienen. Endlich habe ich in meiner Tonpsychologie (1883 und 1890) die Probleme 
öfters herangezogen und Erläuterungen dazu gegeben; s. das Register zum 11. Bd. unter »Ari- 
stoteles«. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 5 


Wir gehen nun also im Folgenden von der überlieferten Reihenfolge 
vollständig ab und bilden nach sachlichen Gesichtspuneten Gruppen, inner- 
halb deren wir bei den schwierigeren oder wichtigeren Puncten nach Be- 
darf verweilen. Es ist vorausgesetzt, dafs der Leser den griechischen Text 
stets zur Seite hat, wenn wir auch an einzelnen besonders schwierigen 
Stellen zusammenhängende Sätze daraus einfügen. Die Übersetzungen sollen 
zugleich als Interpretation vieler Ausdrücke und Wendungen des Textes 
dienen, bei denen eine sonstige Erläuterung aufser der hierdurch schon 
gegebenen nicht erforderlich scheint. Bei den Überschriften der einzelnen 
Problemgruppen werden immer nur diejenigen Probleme als dazugehörig 
angeführt, deren Fragestellung ausdrücklich auf den bezüglichen Gegen- 
stand gerichtet ist. Die in der Darstellung selbst bei jeder Gruppe be- 
sprochenen Probleme sind durch fetten Druck kenntlich gemacht. Eine 
Tabelle am Schlufs der Abhandlung giebt eine Übersicht der Stellen, an 
denen jedes einzelne Problem erwähnt ist. 


I. Von den Eigentümlichkeiten des Oetavenintervalls. 


Hierauf bezieht sich eine grofse Anzahl von Problemen von hervor- 
ragendem Interesse für die Musiktheorie. Zum Verständnis ist es not- 
wendig, sich die allgemeine Auffassung des Consonanzbegriffes zu vergegen- 
wärtigen, wie sie sich den Problemen entnehmen und dureh Ausführungen 
des Aristoteles erläutern läfst'. 

Es werden, wie überhaupt in der altgriechischen Musik, nur drei Grund- 
eonsonanzen angenommen, Octave, Quinte, Quarte. Dazu kommen die ab- 
geleiteten, welche durch Hinzufügung der Octave zu einer von diesen dreien 
entstehen. Das Wesen der Consonanz (ovußwvia) wird im Probl. 35 de- 
finirt. Sie ist »die Verschmelzung entgegengesetzter, in einem (bestimmten) 


! In einer Arbeit, die ich 1893 in der Juni-Sitzung der Münchener Akademie der 
Wissenschaften vortrug, aber wegen äulserer Abhaltungen erst kürzlich in den Druck geben 
konnte, habe ich auch den Consonanzbegriff der Probleme und die unten folgende Erklä- 
rung des Probl. 14 bereits erwähnt. Aus dieser Abhandlung wird man den Zusammenhang 
der bezüglichen Lehren mit denen der übrigen alten Schriftsteller noch deutlicher ersehen ; 
wie sie auch in vielen anderen Puncten sich mit der gegenwärtigen ergänzt. (Geschichte 
des Consonanzbegriffes. Erster Teil! Die Definition der Consonanz im Altertum. Abhand- 
lungen der Münchener Akad. d. Wiss. I. Cl. Bd. XXI.) 


6 0. Stumrr: 


Zahlenverhältnis zu einander stehender Töne: kpaots &orı Adyov Eexovrov 
evavriov mpos AAANAa, 

Dals eonsonante Töne hier (wie auch im Pr. 39" am Schlufs) als ent- 
gegengesetzt bezeichnet werden, mag uns wunderlieh vorkommen. Die Be- 
zeichnung stammt aus der pythagoreisch-heraklitischen Zeit. Die Pytha- 
goreer «efinirten nach Aristoteles (De anima p. 407, db, 30) die Harmonie 
als xparıs al ovvderıs evavriov. Ähnlich Heraklit nach Plato (Symp. 
187,6). In anderen sonst gleiehlautenden Definitionen des Altertums wird 
statt des Gegensatzes nur eben die Verschiedenheit der 'Tonhöhe ver- 
langt. 

Von dem Adyos ist ebenfalls seit den Anfängen der pythagoreischen 
Schule die Rede. Auch Aristoteles definirt mehrfach die Consonanz als 
Aöryos, speeieller Aoyos apıduov. Welche Zahlenverhältnisse gemeint sind, 
sagen andere Stellen der Probleme, wo sie entsprechend den Lehren der 
Pythagoreer angegeben werden. 

Auch im Probl.39" (nach Jan’s Bezeichnung) ist von dem Verhältnis 
der eonsonirenden Töne die Rede; es wird hier als Verhältnis der Be- 
wegung bezeiehnet: oi ev rn ovbwvia PHoyyoı Aoyov Eyovaı Kırnaews 
nos aurovs, 

Kerner findet sieh eine ausdrückliche Definition im Probl. 41, die an- 
nähernd mit der ersten übereinstimmt: ovubwvia elAoyov eyovrwv bHoyyor 
Dos AAANAovs &ori. Aber hier kann der Bekker’sche Text nieht ohne 
Kimendation stehen bleiben, da er sonst überhaupt keinen Sinn giebt. Ich 
vermute, «dass kpaoıs oder wugıs ausgefallen ist und das Ganze geschrieben 
werden muls: ovuporta Kpaoıs eÜAOyws Eyovrov Hoyywv TpoSs AAANAovs 
eori. Zu evAöyws vergl. Aristoteles De sensu p.439, b, 31: Ta uev Yap ev 
dpıduoıs evAoyloros ypwonara, kadamep exe Tas avubwvias'. 


' Man könnte allenfalls den Satz auch schreiben: omupwvla elAdyos &xavrov POöyyos 
xt‘, und sich fir den Singular d0oyyos auf Arist, De An, p.426, a, 27 (vvupovia dov Tis 
dorw) und auf Stephanus’ Commentar zur aristotelischen Rhetorik berufen, wo äpnovia als 
POsyyos BE d&dos xald Papdos definirt, unter dpzovia aber eine melodische Aufeinanderfolge von 
Tönen verstanden wird (Commentatorenausgabe d, Berl, Akad, Bd. 31 8.308, 25). Immerhin 
ist diese Ausdrucksweise ungewöhnlich, 

Pdsyyovw, das durch zwei Handschriften gestützt und von der Aldina minor, auch von 
Bojesen aufgenommen ist, würde auch nieht gerade notwendig rpäeıs als regierendes Sub- 
stantiv verlangen; man könnte verstehen: »Symphonie besteht zwischen ...«, und es lielsen 


sieh Analogien fiir solehe Dietion aus Aristoteles anführen. Aber näher liegt doch die 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 7 
/ 


Über die «pacıs oder, wie er lieber sagt, yi&ıs der consonanten Töne 
handelt Aristoteles ausführlich in der Schrift De sensu e.7. Er sagt, dafs 
Nete und Hypate, die Oetaventöne, einander gegenseitig verdecken (acbavi- 
Tew aAANAovs pP. 447, a, 20), dafs eine gewisse Einheit daraus resultire (ev 
rı ylyvera). Ausdrücklich hebt er noch hervor (449, a, 19), dals es sich 
dabei um gleichzeitige Töne handle. 

So ist nun auch gewils die kpaoıs in der Definition der Probleme 
zu verstehen; wie sie denn von fast allen Musikschriftstellern des Alter- 
tums in diesem Sinne behauptet wird. Diese Mischung oder Verschmel- 
zung bei gleichzeitigem Erklingen ist nach ihnen etwas allen Consonanzen 
Gemeinsames und ihr eonstitutives Merkmal in psychologischer Beziehung, 
während das Zahlenverhältnis sie nach der physischen Seite charakterisirt. 
Natürlich darf man nicht schlielsen, dafs die Probleme und die alte Musik- 
theorie überhaupt nur bei gleichzeitigen Tönen Consonanz statuirten.  Die- 
selben Töne, die gleichzeitig erklingend verschmelzen, werden auch in der 
Aufeinanderfolge als eonsonant (symphon) bezeichnet. 

Dafs auch Gradunterschiede der Verschmelzung gemäls den Gradunter- 
schieden der Consonanz stattfinden müssen, liegt in der Consequenz der 
Definition, und man könnte wol sagen, dafs solche Unterschiede schon dem 
Aristoteles vorschweben, wenn er einerseits die Octave stets als Bei- 
spiel der Verschmelzung gebraucht und die gegenseitige Verdeekung der 
Töne speziell von ihr behauptet, andererseits doch auch den übrigen 
CGonsonanzen Verschmelzung im Allgemeinen zuschreibt. Bei der Octave 
ist eben die Annäherung an das wirkliche Unisono am stärksten und auf- 
fälligsten'. 

Mit Hilfe dieser Lehren verstehen wir nun die grundlegenden Eigen- 
tümlichkeiten der Oetave und die daraus abgeleiteten, wie sie den Gegen- 
stand verschiedener Probleme bilden: 


Analogie der vorher erwähnten und vieler anderen Definitionen, die «päaoıs zum Subject 
haben. 

Endlich lesen Bojesen und Andere Adyov statt e’Aoyov, wodurch die Übereinstimmung 
mit Pr.38 noch vollständiger, die Definition selbst freilich unvollständiger würde. 

! Über das Thatsächliche in Hinsicht der Verschmelzungserscheinungen vergl. meine 
Tonpsychologie II (1890); über ihre Verwendung zur Consonanzdefinition die demnächst im 
Druck folgende, am 25. Februar 1897 vorgetragene Abhandlung »Zur Theorie der Con- 


sonanz.« 


8 0. STumrr: 


ı. Verschmelzung der Octaventöne. Probl. 14. 


Die Frage des Probl.14 lautet im überlieferten Text: Ara Ti Aavdaveı 
To dıa maorov Kal dokeı önobwvov eivan oiov Ev TO Powiriw Kal Ev TW 
avÖporw; Wörtlich also: Warum verbirgt sich die Oetave und scheint 
homophon zu sein, wie bei dem Phoenikion und dem Menschen? 

Bojesen nennt dieses Problem »obscurum« und tröstet sich mit seinem 
Vorgänger Chabanon, der völlig daran verzweifelte. Darin stimmen alle 
Erklärer überein, dafs sie unter dem &owikıov ein phönizisches Instrument 
verstehen, da ein Instrument von wenigstens ähnlichem Namen (Avpodoi- 
vi£&, Avpodowwikiov) bei Athenaeus und Pollux im 2. Jahrhundert n. Chr. 
erwähnt werde. Aber wie kann das Instrument durch »und« mit dem 
Menschen verknüpft werden? Eine handschriftliche Randbemerkung schlägt 
darum statt avdponw ATPOTW vor, womit ein anderes Instrument Namens 
drpomos gemeint wäre, von dem aber in der ganzen Litteratur nichts 
vorkommt!. Barthelemy St.-Hilaire will avdp@oro mit »voix humaine« 
übersetzen. Aber »Mensch« zu sagen, wenn man die menschliche Stimme 
meint, wäre doch eine starke Lieenz. Auch ist in den Problemen, in der 
musikalischen wie in anderen Seetionen, oft genug von der menschlichen 
Stimme und nie anders als mit dwvn, avdpwmov bwvn die Rede (vergl. 
Pr.1ı0). Und schliefslich weils man noch immer nicht, was sowol das 
Phoenikion als der Mensch oder seine Stimme mit der scheinbaren Homo- 
phonie der Octave zu thun haben. 

Eine schon vorhin teilweise benützte Stelle der aristotelischen Schrift 
De sensu kommt uns hier zu Hilfe. Aristoteles setzt da die Farbenmischun- 
gen mit denen der Töne in Parallele. »Diejenigen Farben, die in leicht- 
fafsliehen Zahlenverhältnissen gemischt sind, werden, wie dort (bei den 
Tönen) die Consonanzen, als die angenehmsten erscheinen, z. B. das aAovp- 
yov und das owıkovv (das dunklere und hellere Purpur) und einige wenige 
derartige; welswegen auch der Consonanzen nur wenige sind« (p- 439, db, 31). 

Die beiden hier genannten Farben, die Aristoteles auch sonst öfters in 
Verbindung miteinander nennt, besonders aber das dowıkovv, dienen ihm als 


! Die alte Übersetzung des Th. Gaza (im III. Bande der Berliner Aristoteles- Ausgabe 
abgedruckt) folgte dieser Lesart. Chabanon schlols sich ihr an und führte gelehrte Unter- 
suchungen über die beiden geheimnisvollen Instrumente. 


\ 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. ) 


Lieblingsbeispiele für Mischfarben.' Hienach zweitle ich nicht, dafs in unserem 
Problem zu lesen ist: olov ev T® boıwıro® kai ev TO aAovpY®. Wie Aristo- 
teles dort die Farbenmischung durch die CGonsonanz der Töne erläutert, so 
will der Verfasser dieses Problems die Verschmelzung der Octaventöne durch 
den Hinweis auf die Mischfarben erläutern. Das Aavdavew der Oetaventöne 
wird in der genannten aristotelischen Schrift (447, a, 20) als abaviZew aAAnAa 
bezeichnet. In der pseudo-aristotelischen Schrift mept akovortov heilst es 
(801,d, 20) ganz ähnlich: amorpunreoda üm aAAnAwr. 

Hienach ist zu hoffen, dafs die beiden Instrumente &owvikiov und Arpomos 
aus den Verzeichnissen der alten Musikinstrumente verschwinden werden. 
Zur Bestätigung mag noch dienen, dafs auf die von uns benützte Stelle De 
sensu auch Porphyrius in seinem Commentar zur ptolemaeischen Harmonik 
einmal Bezug nimmt, um die Annehmlichkeit und die geringe Zahl der 
Consonanzen zu erläutern (Wallis Op. math. III, 328). Zugleich sieht man 
aber daran, dafs in einer solehen Berührung der Probleme mit ganz spe- 
ziellen Äufserungen des Aristoteles noch kein Beweis liegt, dafs sie von 
Aristoteles selbst herrühren. 

Unser Autor fährt nun fort, indem er, wieder ganz in aristotelischer 
Weise, zunächst einen Punet der Fragestellung durch einen Zusatz erläutert: 
TA yap Ev ToLs ÖEeoıw Ovra oly Öuopwva AAA avadoyov aAANAoıs dıa raowv. 
»Denn die Endpuncte der Oetave sind nicht etwa homophon sondern nur 
einander analog.« Er meint: Hypate und Nete sind nieht der nämliche Ton, 
wie man glauben könnte (und wie ja auch heute manche Psychologen be- 
haupten, spricht man doch auch von Unisono, wenn in Oetaven gesungen wird), 
sondern sie sind zwei verschiedene Töne: nur ihre Stellung in der Leiter 
und ihre Bedeutung in der Melodie ist die nämliche, sie sind einander analog”. 
Darum ist es eben ein Problem, warum sie bei gleichzeitigem Erklingen 


doch wie Einer klingen. 


! Man sehe im Index Aristotelicus unter gowırovs. Ein Teil der Stellen gehört aller- 
dings der pseudo-aristotelischen Schrift über die Farben an; aber da diese sicher in der Schule 
des Aristoteles entstanden ist, wie die Probleme, so sind die Stellen hier ebenso beweisend 
wie die echt -aristotelischen. 
® C£. Probl. 17: 7 ot oby 7 aurıy ı) ouubovos ri avıdovo Worep Ev TO da maowv' Ekeivn 
yap Ev ro Paper avaxoyov, &s 1 o&eia ev rw öker. Näheres s. u. S. 12 f. 

Zum Analogie-Begrifl' vergl. Aristoteles 1016, b, 32 (Ev kar’ ävaAoytav) IIZI,a, 31 (ava- 
Aoyla — loorns Aöyav). 

Philos.- histor. Abh. 1896. III, 2 


10 G. Stumpr: 


Dals dies der Sinn des Satzes, scheint mir unverkennbar; aber der 
Text ist auch hier nieht sogleich vollkommen durchsichtig. Bei ra ev 
roıs ö&eoıw denkt man natürlich zunächst an irgend eine den hohen Tönen 
innewohnende Eigenschaft. Aber wozu soll der Autor nun von speziellen 
Eigenschaften der hohen Töne reden, nachdem er doch vorher vom Zu- 
sammenklang eines hohen mit einem tiefen Ton gesprochen, und was soll 
es heilsen, dafs »das in den hohen Tönen« nieht homophon, sonderm nur 
einander analog sei'? Es scheint mir, dafs unter ra ö&ea hier nicht die 
hohen Töne, sondern die beiden Endpunete des Octavenintervalls zu ver- 
stehen sind, von welchem ja in diesem Problem die Rede ist. Dadurch 
erhält auch das am Schlufs des Satzes nachhinkende dıa racov, das hier 
gar keinen Sinn hat, eine mögliche Erklärung: wahrscheinlich hat ein 
früher Interpret, der ra ev roıs ö&eoıw ebenso auffalste wie wir, zur Er- 
läuterung an den Rand geschrieben: (Tov) dıa racwv, und ist der Zusatz 
später an dieser Stelle des Textes statt unmittelbar nach o&eow eingefügt 
worden. Sonst gebrauchen die Probleme für die Endpuncte der Octave 
ra akpa (Pr.43 u.ö.). Da aber der Terminus dı o&ewv für die Quinte 
(dıa mevre) hier sehr gebräuchlich ist, unter o&ea also dabei die End- 
punete der Quinte verstanden werden, so hat es nichts Befremdendes, 
dafs auch bei der Oectave einmal o&ea im Sinne der beiden Grenztöne ge- 
braucht wird; wie denn auch die nämliche Metapher »Spitzen« bei axpa 
und bei ö&ea zu Grunde liegt. 

Die Lösung des Problems knüpft nun an diesen Gedanken an und 
ist unmittelbar verständlich: 97 6T1 w@otep 6 auros eivan Öokeı HoyYyos. 
dia TO avaAoyov inorns Emi (wir lesen ioornra) dhoyywv, TO 6 Ioov Tou 
evos. »Etwa weil der Ton gleichsam der nämliche zu sein scheint, indem 
(las Analoge der Töne als Gleichheit, das Gleiche aber als Eines (zu Einem 
gehörig) erscheinte«®. 

Der letzte Satz des Problems endlich: »ralTo de ToVTo kal Ev Taıs 
ovpıyEw eSamarovra«, scheint anfänglich die alte Lesart dowiriw (s. 0.) zu 
begünstigen, indem er dem Phoenikion und dem Menschen noch die Syrinx 
zur Seite stellt, bei der die gleiche Täuschung stattfinde. Er würde frei- 


lich dann nieht an diese Stelle, sondern in die Problemstellung gehören, 


! Jan ergänzt zu avaAoyov: rois Bapeoıw. Aber es steht ja ausdrücklich und ist auch 
von ihm im Text beibehalten: aAAAoıs. 


® Zu den letzten Worten vergl. Aristot, Met. p. 1054, b, 3: @AN &v rovras ı) igorns Evorns. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 11 


etwa nach dıa mao@v'!. Man mülste also doch wol annehmen, dafs es 
sich auch hier um eine Randbemerkung handle, die später an unrechter 
Stelle eingefügt wurde, womit dann aber ihre Beweiskraft für dowiiw als 
den ursprünglichen Wortlaut hinwegfällt; und die Entstehung dieser Be- 
merkung selbst würde ich mir daraus erklären, dafs ihr Urheber das Be- 
dürfnis fühlte, die Tonverschmelzung auch an einem bekannteren Instru- 
mente als dem »Phoenikion«. von dem der ihm vorliegende verdorbene Text 
sprach, zu erläutern. 

Aber der Satz läflst sich auch anders, und zwar in unmittelbarem An- 


schlufs an den vorausgehenden verstehen: »Dieselbe Täuschung — näm- 
lich dafs das Analoge für gleich gehalten wird — findet auch bei den 


Syringen Statt«. Man verwechselt in der That öfters die Oetaventöne mit 
einander, und zwar ist es eine von der neueren Akustik wieder bemerkte 
Thatsache, dafs besonders leicht bei Flötenpfeifen und ähnlichen relativ 
einfachen Klängen ein Ton für seine tiefere Octave gehalten wird’. Der 
Autor erläutert also nach dieser Auffassung hiermit nicht die Fragestel- 
lung sondern die Prämisse, die ihm soeben zur Lösung der Frage ge- 
dient hat, und zeigt sich dabei als Kenner akustischer Dinge. 


2. Zahlenverhältnis ı:2. Probl. 23, 50. 


Wie in der Definition der Consonanzen überhaupt, so spielt auch speziell 
bei der Charakteristik der Octave das Zahlenverhältnis eine wesentliche 
Rolle. Obschon das Verhältnis 1:2, wie überhaupt die Verhältnisse der 
drei Grundeonsonanzen, längst feststand, wird seine Begründung doch zweimal 
in den Problemen zum Gegenstand der Frage und Antwort gemacht. Es 
wird hingewiesen auf die Saitenteilung und auf die Mafsverhältnisse bei den 
Flöten und den offenen Gefäfsen, die zum Tönen gebracht werden’. 


! Im Probl.23 werden die Syringen mit einer ähnlichen Wendung (önoiws de Exeı kal 


em Tov ovpiyyav), zur Bestätigung herangezogen, nachdem vorher von Saiteninstrumenten 
die Rede war, um das Verhältnis 1:2 für die Octave an beiderlei Instrumenten zu erweisen. 
Aber hier ist die Heranziehung durch den Gedankengang vollkommen klar motivirt und an 
rechter Stelle angebracht. 

® Vergl. m. Tonpsychologie II 407—409, 562 unten (Gevaert). 

® Vergl. die vier Berechnungsweisen. die Theo v. Smyrna (2. Jahrhundert n. Chr.) auf- 
führt: aus Gewichten, aus (Saiten-) Längen, aus den Bewegungen und aus den Gefälsen. 
Theonis Smyrn, Expositio, rec. Hiller p. 59. 


12 C. STUMPrF: 


Inhaltlich bedürfen die Probleme 23 und 50 nicht der Erläuterung. 
Dafs im Probl. 23 in der Fragestellung nicht mit den Handschriften 7 vyrn 
ns Umarns, sondern mit Wagener umgekehrt ns vurns n ümarn zu lesen, 
ergiebt sich aus der Lösung des Problems, die sonst nicht dazu stimmen 
würde. Auch im Probl. 12 heifst es, dafs zwei Netai auf eine Hypate gehen, 
nämlich nach der Saitenteilung (rn duaAnyeı). 

Im Probl. 35° (nach Jan’s Bezeichnung) wird allerdings die Nete das 
Doppelte der Hypate genannt. Diese Auffassung bezieht sich statt auf die 
Saitenlänge auf die Schnelligkeit der Saitenbewegungen und der dadurch be- 
wirkten Luftstöfse. Es war den Alten nicht unbekannt und wird sowol 
in früheren Schriften (bei Plato) als in den Problemen (39”) erwähnt, dafs die 
Bewegungen bei der Nete doppelt so schnell sind'. 

Die Zahlenverhältnisse 2:3 für die Quinte, 3:4 für die Quarte, 4:9 für 
die Doppelquinte u.s. w. werden in anderen Problemen (vergl. 41) gelegent- 
lieh erwähnt, bilden aber nicht selbst den Gegenstand eines Problems. 


3. Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Probl. 19. 


Wenden wir unsnun von den psychologisch und physikalisch grundlegen- 
len Bestimmungen zu den (im Sinne der Probleme) abgeleiteten Eigentümlich- 
keiten der Octave, so drängt sich zuerst die Ähnlichkeit der Oetaventöne auf. 
Diese hat Probl. 19 zu seinem Gegenstand. Es schliefst seine Fragestellung un- 
mittelbar an die Lösung des Probl. 18 an (auf welches wir, unserem synthe- 
tischen Gange gemäls, erst später kommen). Dort war darauf hingewiesen, 
dafs die antiphonen Töne, womit die der Oetave gemeint sind, einund- 
denselben Ton geben, mögen sie zusammen oder allein angegeben werden: 
jeder wird als Vertreter des anderen und des Ganzen aufgefafst. Warum 


findet sich dies, fragt nun unser Problem, nur bei den Oetaventönen? Die 


! Ruelle will mit Berufung auf Pr. 35% auch für Pr. 23 die Fragestellung der Hand- 
schriften festhalten, und legt dieses Problem so aus, dals durch Aufsetzen des Fingers auf die 
Mitte der Hypate (Teilung der H.) zwei Netai entstehen; wie dies ja auch in Pr.ı2 direet 
so ausgesprochen ist. Aber in solchem Falle nennt man doch nicht die Nete das Doppelte der 
Hypate sondern umgekehrt! Nur wenn wir den Autor einer recht nachlässigen Ausdrucks- 
weise zeihen oder wenn wir etwa annehmen, dals er eine überlieferte Frage, die sich auf 
Geschwindigkeitsverhältnisse bezog, irrtümlicherweise von den Saitenlängen verstand, könnte 
man die alte Lesart in Pr. 23 festhalten. Aber wenn sie dann auch historisch erklärt wäre, 
sachlich gerechtfertigt wäre sie keinesfalls, und ich würde sagen, wir müssen den Lapsus 
nachträglich gut machen. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 13 


Antwort ist: »weil diese allein gleichweit von der Mese abstehen. Diese 
Mittellage (ueoorns, nämlich eben der Mese) bewirkt eine Art von Ähnlich- 
keit der Töne, und das Gehör scheint (infolge dessen) zu sagen, dals es 
derselbe Ton ist (die Hypate nämlich und die Nete) und dafs beides Grenz- 
töne sind (im Verhältnis zur Mese)«. 

Dieses Problem hat den Auslegern viele Schwierigkeit bereitet, weil 
doch die Nete um 4, die Hypate nur um 3 Stufen von der Mese absteht 
(e — a— e). Man hat ein oryeöov vor !oov einschieben wollen (Ruelle), 
wodurch aber der Mangel der Beweisführung erst recht in’s Licht treten 
würde. Denn genau gleichweit wie die Hypate steht doch, wenn wir schon 
Stufen zählen, nur die Paranete von der Mese ab (d’ — a — e). Also 
mülste die Paranete noch viel mehr wie einundderselbe Ton mit der Hypate 
erscheinen, während sie umgekehrt unter allen Tönen der Leiter am verschie- 
densten vom Grundton zu sein scheint, sowol im Zusammenklang, als in 
der Aufeinanderfolge. Im Probl. 47, wo von der 7-tonigen Leiter ohne Nete 
die Rede ist (d’ — e), heilst es denn auch ganz correct, die Mese sei so 
genannt, weil sie zugleich das Ende des einen und den Anfang des anderen 
Tetrachords bilde und gleiches Verhältnis (Lage, Abstand) zu den Endpuncten 
habe. Aber in unserem Problem sind ja ausdrücklich die Octaventöne als 
Endpuncte bezeichnet. 

Die neuere Tonpsychologie ermöglicht. wie ich glaube, auch hier das 
Verständnis, und zwar ohne jede Textänderung. Sie lehrt, dafs der Begriff 
des Intervalls und der der Tondistanz (des Grades der Unähnlichkeit zweier 
Töne) keineswegs zusammenfallen und dals man den Abstand zweier Töne 
nicht durch das Intervall oder die Summe der zwischenliegenden Intervalle 
messen kann. Wenn wir den Schritt von e zu « und den von @ zu dem 
höheren e' für ungleich erklären, weil der eine ein Quarten-, der andere 
ein Quintenintervall darstellt, so ist diese Betrachtungsweise von der Abzäh- 
lung der musikalischen Leiterstufen hergenommen. Wenn wir aber ohne 
Abzählung der Stufen und ohne Rücksicht auf die danach gebildeten Ausdrücke 
uns fragen, wie sich die beiden Abstände bei direetem Übergang zwischen 
den drei Tönen verhalten, so kann das Gehör in der That dazu kommen, 
die Abstände e — a und @a — e' als gleiche und a als Mitte aufzufassen. 
Wir haben in der neueren Musik, um unter vielen Beispielen eines heraus- 
zugreifen, in den ersten Tacten der sog. Dudelsacksymphonie Haydn’s einen 
solchen Fall: der Schritt von d’ nach a’ und der darauffolgende von d’ 


14 G. Stumpr: 


nach a' erscheint in der momentanen musikalischen Auffassung gleich 
grofs', 

Dieser gleiche Abstand von der Mese nun, meint unser Problem, bewirkt 
eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den äufseren Tönen. Diese »gewisse Ähn- 
lichkeit« ist offenbar dasselbe, was wir in Probl. 14 als » Analogie« kennen 
lernten, und was auch in Probl. 17 so bezeichnet wird (ekeivn yap ev T® 
Bapei ävaAoyov, ws n ö&ela Ev T@ Ö&el: wonep oVv h aurn &otıv Ana Kal 
aAAn). Es ist die Gleichheit des Verhältnisses und der musikalischen Be- 
deutung. Als Ähnlichkeit wird sie auch im Probl. 42 bezeichnet und dadurch 
erläutert, dafs man nach der Nete die Hypate leicht singen könne (s. u.). 

Können wir so ein Verständnis für den Gedankengang des Problems 
gewinnen, so ist nun freilich in sachlicher Hinsicht sehr die Frage, ob das 
Gleiehheitsurteil für die beiden Tonabstände sich bestätigt, wenn wir aulser- 
halb des musikalischen Zusammenhangs die drei Töne vergleichen und wenn 
wir uns auch zugleich von jedem nachwirkenden Einflufs musikalischer Erfah- 
rungen unabhängig zu machen suchen. Zunächst ist dieses sogenannte Distanz- 
urteil doch wesentlich bestimmt durch die musikalische Bedeutung und Func- 
tion der Töne. Im obigen Beispiel erscheint uns der Schritt von der Tonica 
d’ nach der oberen Quinte @ und dann nach der unteren Quarte a‘ gleich 
grofs, weil es sich in beiden Fällen um den Schritt zur Dominante handelt, 
weil er gleiche Bedeutung für unsre augenblickliche Tonauffassung besitzt. 
Fassen wir dagegen a’ und a’ als Tonica (und dies wird das nächstliegende 
sein, wenn die Tonbewegung mit einem von beiden beginnt), so werden 
wir nieht d’ sondern e” als Mitte fassen (also die Paramese), weil nun eben 
e° Dominante und damit wichtigster Ton zwischen a’ und a° ist. Dies war 
denn auch das Ergebnis ausgedehnter Versuchsreihen über Mitteschätzungen, 
die vor einigen Jahren im Leipziger psychologischen Institut ausgeführt wurden. 
Sie stimmen mit den Angaben unsres Problems insofern überein, als auch 
hier eine Quarte und eine Quinte, die sich zur Octave ergänzten, einander 
als gleich geschätzt wurden. Aber den Urteilenden erschien nicht ea = ae' 


! Theoretische Ausführungen über diese Fragen finden wir im Altertum allerdings 


nicht, sie sind uns als Fragen erst in der neuesten Zeit zum Bewulstsein gekommen. Aber 
eine analoge Äulserung der unmittelbaren musikalischen Auffassung wie in den Problemen 
finden wir in einer Stelle bei Eusebius von Emesa, von dessen Zeit die der Probleme viel- 
leicht nicht zu fern liegt. Er sagt, dals die Mese mit der Hypate und der Nete »kara rnv 


Yonyv dvrioraoıw« zusammenklinge (s. den Schluls der S. 5 erwähnten Abhandlung). 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 15 


sondern eh=he'. Nach meinem Dafürhalten ist die eine wie die andere 
Schätzung nicht unabhängig genug gegenüber den Nachwirkungen der prak- 
tischen Musik, und ihr Auseinandergehen ist ein Zeichen dafür. 

Daher würde man, wie ich glaube, bei genauer Verfolgung der Sache 
im Probl. 19 einen Cirkel entdecken. Nicht darum erscheinen uns die Octaven- 
töne als einundderselbe Ton, weil sie von der Mese gleich weit abstehen, 
sondern umgekehrt: die scheinbare Gleichheit des Abstandes rührt davon 
her, dafs uns die Oetaventöne ihrer musikalischen Bedeutung nach als identisch 
gelten: und dies selbst bleibt noch zu erklären. 


4. Resonanz. Probl. 24, 42. 


Wie dem Merkmal der Verschmelzung, wodurch sich die Oetave für 
unsere Wahrnehmung auszeichnet, das einfache Zahlenverhältnis als phy- 
sisches Merkmal zur Seite steht. so entspricht der Ähnlichkeit der Octaven- 
töne in der Darstellung der Probleme die physikalische Erscheinung der 
Resonanz. 

Probl.24 fragt, warum, wenn einer die Nete angiebt und dann die 
Saite festhält, die Hypate allein zu resoniren scheint (doker avrnyew). Die 
Lösung wird in der Verwandtschaft der Töne (Bewegungen) gefunden. 

Hinsichtlich der Erscheinung selbst hat Jan bereits das Nötige zur 
Erläuterung bemerkt. Es ist ganz richtig beobachtet, dafs bei den Saiten 
die tiefere Octave durch die höhere zum Mitschwingen gebracht wird. Aber 
sie schwingt dann nicht als Ganzes, sondern in zwei Abteilungen, deren 
jede den höheren Ton giebt, so dafs der Ton der tieferen Saite selbst nicht 
zu hören ist. Dies scheint dem Verfasser des Problems entgangen zu sein, 
wenigstens erwähnt er es nicht; aber das Versehen wäre begreiflich und 
ist noch neuerdings Hugo Riemann begegnet”. 

Eine feine Beobachtung scheint in dem Ausdruck ovvav&aveodaı an- 
gedeutet: das Mitschwingen erlangt in der That erst successive seine volle 
Stärke. Ebenso wird physikalisch richtig beigefügt, dafs das Mitschwingen 
der übrigen Saiten wegen der Geringfügigkeit unmerklich sei. Es erfolgt 


! Vergl. meine Abhandlung »Über Vergleichung von Tondistanzen «, Zeitsehr. f. Psycho- 
logie und Physiologie der Sinnesorgane ] (1890), besonders S. 419-427, S. 431(a), S. 459-462. 

® Musikalische Syntaxis 1877. Hier eitirt Riemann S.ı23 auch das Zeugnis des 
Probl.42. das wir sogleich besprechen (»$doyyov aurns akovovres«). Vergl. über die Frage 
der »Untertöne« m. Tonpsych. II 264 f. 


16 G. Stumer: 


hier nur ein Anfang der Bewegung. Die Erklärung des Mitschwingens 
aus der Verwandtschaft oder Ähnlichkeit der Tonbewegungen mufs uns 
freilich zu vag erscheinen. 

Probl. 42 giebt eine viel weitläufigere Erklärung derselben Erscheinung. 
Es beruft sich darauf, dafs die Nete beim Nachlassen (Anyovoa kal uapaı- 
vouevn) in die Hypate übergehe. Darunter ist hier offenbar nieht die Ände- 
rung der gehörten Tonhöhe, sondern die Reduetion der Bewegung auf die 
halbe Geschwindigkeit verstanden‘. »Da wir nun von der festgehaltenen 
Nete wissen, dafs sie sich nicht mehr bewegt, die nicht festgehaltene Hy- 
pate aber (bewegt) sehen und einen Ton von ihr hören, glauben wir, dafs 
die Hypate (von Anfang und allein) ertöne.« Wie es denn solcher Sinnes- 
täuschungen noch viele gebe. Ferner gerate durch die Schwingung der 
am stärksten gespannten Nete der Steg und durch ihn alle Saiten in einige 
Bewegung; während aber die übrigen der Nete fremd seien, sei die der 
Hypate ihr verwandt, und so glaubten wir, wenn die (aus der Verlang- 
samung der Nete-Bewegung entstehende) Eigenbewegung der Hypate noch 
dazu kommt, nun ausschliefslich diese zu hören, während der geringfügige 
Klang der anderen dagegen verschwinde. 

Auch hier spricht ein scharfer Beobachter, wenn auch die theoreti- 


schen Auseinandersetzungen viel zu wünschen übrig lassen. 


5. Die Octave allein giebt durch Verdoppelung wieder 
eine Consonanz. Probl. 34, 41. 
Der Bekker'sche Text von 34 ist ganz unmöglich. Mit Recht schalten 
alle Neueren vor den Worten dis di oö&ewv (in der Lösung) ein ov oder 
noch besser oVde ein’. Zwischen rerrapov und &oriv lesen Ruelle und 


' Wir finden diese physikalisch unhaltbare Vorstellung zuerst im platonischen Timaeus 


e.37 p-Soa. Über die Vorgänge bei der Fortpflanzung des Schalles vergl. auch die XI. Sec- 
tion der Probleme, Nr. 6 und 20, sowie die von Bussemaker herausgegebenen Probleme Sect. II, 
92 (Aristoteles- Ausgabe bei Didot Bd. IV), wo eine scheinbare Erhöhung (ohne spe- 
ziellen Bezug auf die Octave) zu erklären versucht wird. Endlich ist Probl. 35° unserer 
Section zu vergleichen, welches aber gleichfalls nicht speziell von der Octave, sondern von 
kleineren Erhöhungen und Vertiefungen des Tons handelt (s. unten Il, 8, d). 

In den erläuternden Sätzen, die der Verfasser des obigen Problems beifügt, sind starke 
Texteorruptionen, die mir auch durch alle Vorschläge nicht genügend beseitigt scheinen. 
(Über eine Umstellung in dem Satz anuelov de s. u.) In dem Satz ri ev yap, den wir im 
Text wörtlich übersetzen, liest Jan gewils richtig or ov statt ob. 


® Letzteres ist, wie ich Ruelle entnehme, auch durch drei Handschriften gestützt. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 17 


Jan emiuoptiov, eine strengere Gedankenverbindung wird aber hergestellt 
durch Bojesen’s Vorschlag, statt &oriv zu lesen: Aoyov Eyeı. Als zulässiger 
Aoyos für Consonanzen galten den Pythagoreern, deren Lehre hier mals- 
gebend ist, nur der Aoyos moAAanAdeıos ( £ ) und Emiuopıos as Vergl. 
Euelides Sect. can. in Jan’s Mus. script. p. 149. 23. Da Quarte und Quinte 
verdoppelt keinen solehen Aoyos geben, geben sie nieht Consonanzen. 

Im Probl. 41 wird das Nämliche weitläufiger ausgeführt. Hier heifst 
es ausdrücklich: oi @akpoı mpos aAAnAovs oVdeva Aoyov E&ovaow' oVre Yap 
Emiuopior oVTE MOAXanAdTı0ı EToVTat. 

Bemerkenswert ist die ausschliefslich arithmetische Begründung, ohne 
jede Bezugnahme auf die Aussagen des Gehörs. 


6. Der tiefere Ton der Oetave beherrscht den höheren und ist 


Träger des Melos. Probl. 8, ı2, (13,) 49. 


Probl. 8: » Warum beherrscht (ioyveı) der tiefe den höheren Ton? — 
Etwa weil das Tiefe gröfser ist; denn es gleicht dem stumpfen Winkel, jenes 
aber dem spitzen. « 

Das Problem schliefst sich wieder an das Lösungsprineip des ihm voran 
stehenden (7) an, indem es dieses zum Gegenstand eines neuen Problems 
macht, ebenso wie Probl.ı9 gegenüber 18. Im Probl. 7 aber war die Rede von 
Hypate und Nete, und so dürfen wir annehmen, dafs auch hier diese beiden 
Töne gemeint sind, oder besser gesagt Octaventöne, für welche Hypate 
und Nete immer als Beispiel gebraucht werden. Die Erscheinung selbst, von 
der der Verfasser spricht, ist allerdings eine allgemeinere, aber sie ist in 
der That bei Oetaventönen am auffälligsten und am besten zu beobachten. 

Wenn zwei Töne zusammenklingen, hat das Tongemisch als solches eigent- 
lich keine Höhe, sondern jeder Ton die seinige. Wenn wir indessen beide Töne 
nicht von einander unterscheiden, vielmehr den Klang als Einheit auffassen, 
wie dies namentlich bei der Octave wegen ihrer starken Verschmelzung 
leicht geschieht, so wird der Klang für unsre Auffassung auch eine gewisse 
einheitliche Höhe besitzen, mögen wir sie übrigens in Worten angeben 
können oder nicht. Und in solehem Fall neigen wir dazu, den höheren 
Ton, wenn er nicht gerade an Stärke überwiegt, gewissermalsen zu ignoriren 
und die Höhe des tieferen Tons zugleich als die Höhe des ganzen Klanges 
zu nehmen. Aber selbst wenn beide Töne unterschieden werden, verrät 

Philos. - histor. Abh. 1896. II]. 3 


18 G. Stuner: 


sieh in unsrer unmittelbaren sinnlichen Auffassung eine Neigung, dem Zu- 
sammenklang als solehem auch eine Höhe zuzuschreiben, obschon wir uns 
bei logischer Reflexion sagen mülsten, dafs jeder Bestandteil seine eigene 
Höhe hat: und zwar erscheint wiederum auch hier die Höhe des tieferen 
Tons zugleich als Höhe des ganzen Klanges. Am auffallendsten ist dies 
auch hier bei der Oectave. Ich bitte jeden, dem es um das Verständnis der 
Worte aus der Sache zu thun ist, zwei im Octavenverhältnis stehende Stimm- 
gabeln auf Resonanzkästen oder zwei gedackte Pfeifen zugleich erklingen zu 
lassen, hierauf’ einmal den höheren, ein andermal den tieferen Ton in Weg- 
(all zu bringen: im ersten Fall verändert der Klang seine Höhe für die Auf- 
fassung nicht, während er im zweiten Fall plötzlich in die höhere Octave 
überspringt. Ich habe darüber in der Tonpsychologie Il, 382f. und 410 ver- 
handelt und die Erscheinung gleichfalls auf die räumlichen Eigenschaften 
unsrer Tonempfindungen zurückgeführt, mit welchen ja auch unsre Metaphern 
»tief' und hoch« ebenso wie die griechischen Bapv und 6&V zusammenhängen. 
Das Breite, Schwere, Tiefe wird als Grundlage und Träger des Ganzen 
(Basis, Bass), das Spitze, Leichte, Hohe als Überbau gefalst. Über die Her- 
kunft der räumlichen Vorstellungen selbst s. dort I, 207f., 221f., II, 56f., 
und bei Aristoteles De an. II, 8. p. 420, a, 29'. 

Bei harmonisch begleiteten Melodien der gegenwärtigen Musik liegt 
allerdings die Melodie meistens in der Höhe und wird auch vom Ohr ge- 
wohnheitsmälsig da gesucht. Aber dies ist die Folge der historischen Ent- 
wiekelung, der Ausbildung der Mehrstimmigkeit und der Harmonie, und 
es läfst sich auch psychologisch unschwer zeigen, wie diese Umstände 
dahin drängen mufsten. Gehen wir aber auf die elementaren Erscheinungen 
zurück, namentlich auf isolirte Oetaven, so können auch wir den von den 
Problemen betonten Zug der sinnlichen Auffassung nur bestätigen. 

Der Sinn des Ausdruckes ioyve in unsrem Problem dürfte nach dieser 
Beschreibung der Erscheinung selbst wol genügend deutlich sein, obschon 
der Ausdruck nicht leicht zu übersetzen ist”. Ich würde sagen »übertönt«, 

Jan eitirt Seript. p. 12 auch eine Stelle des Sextus Empiricus (Adv. mus. 40) über 


die Metaphern ö&4 und ßapi, die mir entgangen war und zugleich einen interessanten Bei- 
trag zur Klangfarbenlehre bei den Alten giebt (dov) uerava kal Neun). 

2 Die Übersetzung »beherrscht« hat in der Ausdrucksweise Wundt's für derartige Ver- 
hältnisse unsrer Empfindungsinhalte ihr Analogon (»So ist in einem Klang der tiefste Ton 
das herrschende Element« Logik? 1, 14). Wundt hat dabei allerdings einen Grundton im Auge, 


der zugleich stärker ist als die übrigen Teiltöne. 


Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 19 


wenn sieh dies nicht vorwiegend auf eine gröfsere Intensität bezöge, die 
hier nicht gemeint ist. Der Verfasser selbst hat eine ungewöhnliche Wen- 
dung gewählt, da ioyvew mit Acecusativ sonst wol kaum vorkommt". 

Probl. 12: » Warum nimmt unter den Saiten die tiefere immer das 
Melos?.... Etwa weil das Tiefe grofs, daher stärker ist, und weil das 
Kleine im Grofsen eingeschlossen ist. Sind doch auch nach der (Saiten-) 
Teilung zwei Netai in der Hypate eingeschlossen. « 

Dieses bisher besonders dunkle Problem (s. Bojesen dazu) wird klar, 
wenn wir annehmen, dafs darin im Wesentlichen dieselbe Erscheinung wie 
im Probl. 8 besprochen wird, wie ja auch die Erklärung dieselbe ist; dafs 
also weXos hier nicht zunächst Melodie sondern Tonhöhe bedeutet und 
dals von der scheinbaren Tonhöhe bei einem Zusammenklang die Rede ist. 
Allerdings bringt «die fragliche Erscheinung mit sich, dafs auch bei einer in 
Zusammenklängen (seien es auch nur Oetaven) sich bewegenden Musik die 
Melodie vorzugsweise als solehe der tieferen Stimmlage aufgefafst werden 
wird, solange nicht etwa noch andere Motive mit- und entgegenwirken. 
Und man mag immerhin annehmen, dafs der Verfasser bei Pr. 8 lediglich 
den isolirten Zusammenklang als solehen, bei Pr. 12 dagegen den Zusammen- 
klang als Glied einer (in Oetavenparallelen ausgeführten) Melodie im Auge 
hat. Dadurch ergiebt sich eine Annäherung an die gewöhnliche Deutung 
dieser Probleme (s. besonders Westphal, Griech. Harmonik’ 8.36, Aristo- 
xenus- Ausgabe AXXIV £.). 

Ich habe das Problem in obigem Sinne bereits in m. Tonpsychologie II 
390f. ecommentirt und die fragliche Auslegung von ueAos = Tonhöhe dureh 
andere Stellen erläutert”. Auch die daselbst erwähnte Formulirung eines 
Problems bei Plutarch (Quaest. conv. 1. IX. qu. 8), dessen Lösung fehlt, ist ein 


' Eichthal und Reinach vermuten, eben weil ioyvew sonst nur als Verbum neutrum 
vorkomme, Z/oyxe. Der Sinn der Fragestellung wäre dann nur: warum ist der höhere Ton 
im tieferen enthalten? (ef. Pr. 12.) Aber die Antwort auf diese ohnedies nicht sehr sinnvolle 
Frage wäre vollkommen tautologisch: weil der tiefere grösser ist. In der That ein »jeu de 
mots«, worin man Frage und Antwort ebensogut vertauschen könnte. Wenn aber ohne Text- 
änderung ein besserer Sinn herauskommt, so scheint es mir doch richtiger, anzunehmen, dass 
ioyver hier eben, um ein eigentümliches Verhältnis zu bezeichnen, in eigentümlicher Weise 
gebraucht ist. 

® Vergl. auch noch Alexander Aphrod. im Supplementum Aristotelieum unsrer Aka- 
demie II, ı p. 26, 5: ev yüp moıa owvBeoeı neX@v re kal pvßuov 7 äppovia — WO üppovia, wie 
auch sonst, Melodie, ueröv aber Töne nach ihren Höhenunterschieden bedeutet: »Die Melodie 


besteht in einer gewissen Zusammenfügung von Tonhöhen und Rhythınen.« 


20 C. Stumer: 


Beweis unsrer Auffassung: dıa TI Tov avubwvwov Önov Kpovonevwv ToV Bapv- 
Tepov Yivera TO ueXos. Denn offenbar ist hier von dem gleichzeitigen 
Angeben zweier econsonanten Töne die Rede, wie denn auch das Kapitel, 
worin dies Problem vorkam, betitelt war: Tis airia ovupwvnoews. Eine 
weitere Parallele liefert Plutareh Conjug. praee. 11 (p. 1390): @orep Av 
bHoyyoı dvo avupbwvor Anpdocı, Tov Bapvrepov yivera TO UEAOS, OVTW 
maca mpagıs &v oikia Owbpovovon MPATTETU NEv Um AuboTepwv Öuovo- 
oVvrwv, Emipbaiveı de THV TOV Avöpos Nyeuoviav kat Tpoatperıw — wo im Nach- 
satz auch eine hübsche Illustration zu dem ueya und kparepov in der Lösung 
unsres Problems gegeben ist. Hienach kann, glaube ich, kein Zweifel 
mehr bestehen, dafs (dieses Problem sich inhaltlich mit dem 8. deckt. 

Zugleich sieht man aus den beiden letzterwähnten Parallelen, dafs auch 
in unsrem Problem gewils vorzugsweise die consonanten Intervalle gemeint 
sind, obschon die Fragestellung allgemeiner gehalten ist; und der Schlufs des 
Problems zeigt, dafs dem Verfasser in erster Linie die Oetave vorschwebt. 

Das Problem hat aber in der überlieferten Fassung noch eine Ein- 
schaltung', die der Form nach zur Erläuterung «der Fragestellung bestimmt 
ist (av yäap . .), der Sache nach sie aber, wenigstens im vorliegenden Wortlaut, 
verdunkelt. Es ist da vom Singen der Paramese zur gespielten Mese die 
Rede, also vom Zusammenklang zweier nur um eine Stufe verschiedenen 
Töne, in welchem Falle die fragliche Erscheinung kaum irgend deutlich 
(aufser unter ganz besonderen Versuchsumständen) zu beobachten ist und 
auch praktisch keine Rolle spielt. Wunderlich ist aufserdem, dafs die Er- 
läuterung von Stimme und Saite, die Fragestellung aber nur von Saiten 
redet. Ich versuchte a. a. OÖ. auch diese Einschaltung so gut es ging zu 
commentiren, finde es aber jetzt wahrscheinlich, dafs sie von einem Späteren 
herrührt, der das Problem nicht mehr recht verstand. Mögen wir sie indefs 
beibehalten oder nieht: jedenfalls empfiehlt sich die Conjeetur Fetis’, die 
auch Wagener, Gevaert und Ruelle gutheilsen: Taparırnv statt mapa- 
weonv. Dann ist von dem Zusammenklang a — d', also von einer Quarte 
die Rede und lautet die ganze Einschaltung: »Denn wenn man die Para- 
nete zur gespielten Mese singen mufs, resultirt (für die Auffassung des 
Hörenden) nichtsdestoweniger die Mese (TO uerov steht hier entschieden 
für 7 ueon, wie Probl. S TO ßBapv kurz nach 7 Bapeta). Wenn aber beide 

I äv yüp Öeyren dom Tv mapaneonv adv YıÄ) Ti Eon, Yiveraı To ueoov obbev Nrrov: Eüv de 


N v ur „ N ar 
Tv ueomv deov aubw, WıNla oV Yiveral, 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 21 


(Spieler und Sänger — hier wol audbow für außo zu lesen) die Mese an- 
geben sollen, entsteht nieht etwa Instrumentales«. Mit dem letzten Satz will 
der Verfasser sagen: der instrumentale Ton überwiegt nicht als solcher: 
nicht daran liegt es. dafs die Mese vom Instrument, die Paranete von der 
Stimme angegeben wird, denn wenn sie beide denselben Ton geben, hört 
man das Instrument nicht vorwiegend. Gleiche Stärke ist natürlich bei dem 
Versuch vorausgesetzt'. 

Auch die Lösung von Probl.13 ist hier noch anzuziehen, obschon die 
Fragestellung uns erst nachher begegnen wird: »Am meisten ist (bei der 
Oectave) das Melos beider Töne in beiden, wenn aber nicht, in dem tiefen; 
denn er ist grölser.« Der Verfasser meint, wenn man nach der Tonhöhe 
eines Zusammenklangs gefragt wird, mu/s man in erster Linie natürlich 
sagen, dals er zwei Tonhöhen hat. Will man das aber nicht, so wird man 
die Höhe des tieferen Tons angeben. 

Endlich gehört hieher Probl. 49; allerdings unter der Voraussetzung, 
dafs wir mit Bojesen zweimal uaAakwTrepos in ueAık@repos umändern, welche 
Änderung aber ohnedies notwendig ist, wenn nieht das Ganze sich in den 
sinnlosesten Tautologien herumdrehen soll. Durch das mehrmalige Vor- 
kommen von uaAakov im Text war die Verwechselung dem Absehreiber 
nahegelegt. Wir übersetzen also: »Warum liegt unter den die Consonanz be- 
wirkenden Tönen in dem tieferen das Melodiemäfsigere (= mehr das Melos)? — 
Etwa weil das Melos seiner Natur nach weich und ruhig ist und erst durch 
Beimischung des Rhythmus rauh und aufregend wird. Da nun der tiefe 
Ton ruhig ist, der hohe aufregend, so dürfte auch von den Tönen, die 
das nämliche Melos haben, der tiefere es mehr haben, da ja das Melos 
selbst weich ist. « 

Wir finden hier die nämliche Erscheinung auf ein anderes Prinzip 
zurückgeführt, nicht auf die räumlichen Eigenschaften, sondern auf die 
Charakter- oder Klangfarbenunterschiede des hohen und tiefen Tons, denen 


' Eichthal und Reinach schlagen wieder durchgreifende Änderung der kranken Stelle 


vor; sie lesen: dv yüap rıjv mapaneonv ovayıAy (Ts) Ti) Eon, yivera To eNos olhev jrrov' Eüv 
de Tv ueomv (Ti) mapaneon), ob yivera. Sie erwähnen selbst, dals ovuyarao sonst nicht vor- 
kommt; dagegen ist wıAös öfters technischer Ausdruck für den Instrumentalton (s. Jan). ovu- 
YılAn ist im Übrigen allerdings leicht möglich. Aber zuletzt reicht diese und die übrigen 
Correeturen immer noch nicht hin, wie die Ein- und Ausschaltungen zeigen; ganze Wort- 


complexe (deyra avaı, deov aupw wı€Xa) müssen als Randglossen hinausgeschafft werden. 


22 6. Stumer: 


zufolge der tiefe mehr Verwandtschaft hat mit dem tonalen Element der 
Melodie, das hier von dem rhythmischen geschieden und speziell als Melos 
bezeichnet wird'. Sachlich kann man die Lösung nicht eben besser finden 


als die andere, aber sie ist nun vollkommen durchsichtig. 


7. Oetaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer 
Melodie gebraueht werden. Probl. 18, 39”. 

»Warum — fragt Probl. 18 — wird die Oetaven-Consonanz allein 
gesungen? Denn diese magadisirt man, keine andere.« Als Grund wird 
die schon besprochene Eigentümlichkeit der Octaventöne angegeben, dafs 
sie gewilsermassen einen und denselben Ton geben, mögen sie allein oder 
zusammen gesungen oder auch einer gesungen und der andere gespielt 
werden. »Darum wird die Oetave allein zur Melodie gebraucht (ueAwderraı), 
weil die antiphonen Töne den Klang Einer Saite haben«. 

Hier handelt es sich nun in der Fragestellung sicher nicht mehr um 
einen einzelnen Zusammenklang, sondern um die Ausführung einer Melodie 
in Oetavenparallelen, wie dies auch Bojesen bereits erkannt hat. Der Gebrauch 
anderer Zusammenklänge war wol auch in der alten Musik nicht schlechthin 
ausgeschlossen; eine Andeutung darüber werden wir auch in den Problemen 
finden. Aber die Oetave allein durfte in Parallelen gebraucht werden, in- 
sofern ganze Melodien damit ausgeführt wurden: wie dies ja ebenso für die 
gegenwärtige Musik gilt. Den Grund findet «der Verfasser in der beson- 
deren Klangeinheit der Octave. 

In der Fragestellung bedarf der erläuternde Zusatz hinsichtlich des 
Magadisirens nach Böckh’s Untersuchung über die Magadis (PindariOp.1,258f.) 
kaum noch einer Bemerkung. Darunter war eine Lyra mit sehr zahlreichen 
(bei Anakreon 20) Saiten verstanden, auf der man eine Melodie in Doppel- 
griffen spielen konnte”. Eben dies nun: »die gleichzeitige Ausführung 


einer Melodie auf zwei verschiedenen Tonhöhen« wird hier als 
! Eine ähnliche Gegenüberstellung und Charakterisirung des rhythmischen und des 
melodischen (rein tonalen) Elements in der Melodie finden wir auch bei Aristides Quinti- 
lianus, Meib. 43, Jahn 28, ıı: Tıves de Tov maNaıwv Tov uev puhuov üppev dmekakovv, TO de ENos 
OmAv. To ev yüap ueAos ävepynrov TE &orı Kal aeynuarıotov, .... 6 de pubuos mAdrrei Te abro Kal 
Kıver TETayyuevoS , moıoVvrTos Aöyov Ereyov mpös To moioVuevov. 
® Westphal glaubt nicht an Doppelgriffe, weil die Saiten nicht gezupft sondern mit 
dem Plektrum geschlagen wurden. Doch scheint mir hierin kein mechanisches Hindernis 
zu liegen. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 23 


nayaditew bezeiehnet. Unser Satz weist also darauf hin, dafs in solchen 
Fällen nur «die Oetave gebraucht wird'. 

Als Probl. 39" bezeichne ich mit Jan den mit » uayadılover« beginnenden 
Abschnitt des Probl. 39 (p.921,«, 12), welches bis dahin als 39° numerirt 
wird. Bereits Gaza hat in seiner Übersetzung diesen Abschnitt als be- 
sonderes Problem (40 nach seiner Numerirung) abgetrennt. Allerdings 
fehlt nun die Fragestellung. Gaza verwandelte, um sie zu gewinnen, 
nayadılovaı de in dıa Ti nayadıifovaı, und so mulste sie ja jedenfalls lauten. 
Man könnte wol immerhin den Abschnitt nur als Erläuterung des voran- 
gehenden fassen, worin von der Annehmlichkeit der Octave die Rede war. 
Auch hier kommt der Verfasser ja zuletzt auf die Annehmlichkeit zu sprechen. 
Andrerseits verhalten sich aber öfters, wie wir schon gesehen, zwei aufein- 
anderfolgende Probleme so, dafs das folgende einen Punet des voran- 
gehenden näher erläutert. Ich ziehe daher die Trennung vor. 

Die Hauptsache ist, dafs wir den Inhalt des Abschnittes in sich ge- 
nügend verstehen. Abgesehen von einigen corrupten aber weniger wesent- 
lichen Stellen scheint mir dies nicht zu schwer: 

Man magadisirt in der Oectave, weil die zahlenmälsig geregelten Be- 
wegungen, die bei den Consonanzen ebenso wie bei den Rhythmen sich 
finden, nur bei der Octave von der Art sind, dafs sie nach Ablauf einer 
Periode (karaorpodn) des langsameren Tons zusammentreffen. Jeder ganze 

Dals es auch eine Magadisflöte gab, wird von Graf (De Graeeorum veterum re musica, 
Marburger Hab. Schrift 1889 S. 281.) bezweifelt. Jedenfalls existirten Doppelflöten von grolsem 
Tonumfang, mit deren beiden Teilen man Octavengänge blasen konnte. Böckh eitirt die 
Beschreibung von Pollux: &v yaund\ıo abAnnarı dvo auXol 7oav, ovupoviav uiav (so liest Böckh 
für ev und bezieht jzuav auf die Octave) droreXovvres, neilwv de arepos, ori Jeilova pn Tov Avöpa 
eivaı. Varro sagt (De re rust. ], 2,16, cf. Gevaert Hist. I, 364), die kleinere (linke) der beiden Teil- 
tlöten, die die höhere Octave gab, vermähle sich mit der grölseren, indem sie zur Begleitung 
diene: eine weitere Bestätigung, dals der tiefere Octaventon als Hauptträger der Tonhöhe, 
also auch der ganzen Melodie, gefalst wurde. Das Ehe-Gleichnis hörten wir auch bereits 
oben bei Plutarech (S. 20). 

! Indem wir dem Ausdruck »Magadisiren« diese allgemeinere Bedeutung beilegen, 
erklärt sich das yap in der Problemstellung. Bezieht man das Magadisiren nur auf die Instru- 
mentalmusik selbst, so würde yap hier iminerhin etwas nachlässig stehen und etwa noch ein 
kal einzuschalten sein. Dann wäre aber auch der Inhalt des Problems etwas eingeschränkter 
zu verstehen: »Octavenparallelen sind allein zulässig sowol beim Singen als beim Spielen«. 
Dagegen wäre eine Art »Örganum« damit noch nicht ausgeschlossen, bei welchem etwa der 
Gesang in Octaven erfolgte, die Flöte oder Lyra aber in der dazwischenliegenden (uarte 
(Quinte) spielte, mehr um die Klangfülle zu erhöhen. 


24 6. Srumer: 


Stofs der Hypate endigt gleichzeitig mit zwei ganzen der Nete (1:2), wäh- 
vend bei anderen Consonanzen immer ganze mit halben Perioden zusammen- 
treffen (131%, 1%: 2)". 

Nun bringt der Verfasser eine Analogie, um zu erläutern, warum man 
das Zusammentreffen von solehem, das eine Weile auseinandergegangen, liebt: 

»Indem nun (bei den Oectaven) die zwei Bewegungen, nachdem sie 
nicht dasselbe gethan haben, doeh in demselben Punet zusammentreffen, 
thun sie eine gemeinschaftliche Arbeit, wie die, welche zum Gesang spielen”. 
Denn auch diese erfreuen, wenn sie nach vorherigem Auseinandergehen 
beider Stimmen zusammentreffen, dureh diesen Absehluls mehr, als sie 
vorher dureh die Versehiedenheiten betrübten.«' 

Endlich erfolgt die Anwendung dieser Praemissen auf den Fragepuncet, 
von dem man ausgegangen war: »Das Magadisiren aber erfolgt aus (in) 
entgegengesetzten Tönen. Daher magadisirt man in Octaven«. 

» Entgegengesetzt« steht hier, wie schon oben, statt »ungleich an 'Ton- 
höhe, niehthomophon«. Unter den niehthomophonen Tönen werden nur 
die in Oetavenverhältnissen stehenden zur Ausführung von Melodien ver- 
wandt, weil nur bei ihnen jenes Zusammentreffen nach zeitweiliger Trennung 


stattfindet, Es ist hier nieht etwa gemeint, dafs beim Magadisiren ein 


! Dies der Sinn bis zum Satz reAevrocas. Der Satz vobom de Avıroı, dıabopa (dtarbepovar ? 
p p 


r5 alodjom, xadamep Öv rols yopois dv TO karadverv jeilov AAAMv Pleyyonivos &arivs ist arg ver- 
dorben, Wahrscheinlich soll darin gesagt sein, dals die Ungleichheit bei den Verhältnissen 
1:14 und 14:2 sich für unsre Sinneswahrnehmung durch das schärfere Auseinandertreten 
der Töne (geringere Verschmelzung) kundgebe, ähnlich wie wenn beim Chorgesang einer am 
Sehluls stärker als die anderen singt. Der folgende Satz dagegen bedarf nur einer ganz 
geringen Correetur, es muls offenbar statt Ari 68 heilsen: ri) 8. 

® Über den Ausdruck bmo mv @onv kpodemw vergl. Gevaert I, 359, 365. Gevaert bezieht 
mit Westphal den Ausdruck darauf, dafs die Instrumentalnoten unter die Singnoten kamen. 
Dagegen Gral in der vorhin erwähnten Schrift S. 71-75; wo auf Proelus’ Bemerkung ver- 
wiesen wird, dals bei den Alten dmo häufig soviel wie wera (zugleich mit) bedeute. Jeden- 
falls sind aber die zum Gesang gespielten Töne bei dieser Vortragsweise von den Gesang- 
tönen selbst verschieden; dies ergiebt sich aus dem Gegensatz zu dem mpsayopda kpovev 
und aus der Vergleichung von Plato's Leg. VII p. 812. In den von Plutarch De mus. 6. 19 
angeführten Beispielen liegen sie aber in der That über der Singstimme, 

®* Das hier noch folgende ro ro dx dtapopav ro Kowav MNıorov er To dia marav Ylvehaı 
ist wieder schwer in sieh zu reimen. Der Sinn scheint: »indem das aus dem Verschiedenen 
vosultivende Gemeinschaftliche als angenehmstes empfunden wird«, Aber das &x rov did maov 
befremdet, nachdem doch schon ex dapopov stelit, Vielleicht ein späterer Zusatz. Im Übrigen 


ist das Sätzehen für den Zusammenhang entbehrlich. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 25 


Auseinandergehen der Melodie für die höhere und tiefere Stimme statt- 
finde, wie beim Kpovev Uno nv wönv. Dieses war nur als Analogie oder 
Gleichnis herangezogen worden. Das Auseinandergehen und Zusammen- 
treffen bezieht sieh vielmehr hier nur auf die Töne jedes einzelnen Zu- 
sammenklangs während der ganzen Melodie, genauer auf die diesem Zu- 
sammenklang zu Grunde liegenden Bewegungen. 

Man sieht, dafs die Erklärung eine ziemlich gewundene und in letzter 
Instanz statt auf Thatsachen der Sinneswahrnehmung nur auf arithmetische 
Verhältnisse der äufseren Bewegungen gegründet ist (vergl. zu Probl. 41). 
Das Zusammentreffen zweier Luftbewegungen soll uns besonderes Vergnügen 
machen, obsehon wir nichts davon wahrnehmen, sondern nur durch die 
Theorie davon wissen. Und sehliefslich trifft doch auch bei der Quinte 
der je zweite mit dem dritten, bei der Quarte der je dritte mit dem vierten 
Stols zusammen. Die herangezogenen Gleiehnisse — des gesprochenen oder 
getanzten, also wahrgenommenen Rhythmus, des Stärkersingens beim Sehlufs 
eines Chores, des Verhaltens zweier gleichzeitigen Melodien — hinken siämmt- 
lich gerade an der entscheidenden Stelle. 


8. Die Octave allein dient zur Antiphonie, Probl. 17, 13. 


Diese Lehre gehört zu den bedeutsamsten der Probleme, ist aber noch 
nirgends, soviel ich sehe, hinreichend gewürdigt oder auch nur richtig 
erkannt worden. 

Avrihwvov eivaı, avrıbovew heifst bei den Olassikern teils Wider- 
sprechen, teils Antworten', wie ja auch heute die Bedeutungen »Gegen- 
satz«, »Wechsel« und » Wiederholung« manchmal ineinander übergehen 


und in »Erwiedern« verknüpft sind. Bei Plato bedeutet aber avrıbwveiv 


' Vergl. die Lexikographen. Hesychius: dvribova = &vavrıodova, Suidas: dvrıbova vo = 


f u IR 7 ENT ee , ; ; z 
eyyvopnat oı (spondeo tibi). ompaiver de Kal avrı\eyo Fol. Stephanus: avrıboven contra SONO, 
obloquor .„.. repeto (mit Belegstellen). ävripovos contrariam vocem edens. 

Chappell sucht in seiner History of Musie (XXIVf., ırf.) den Beweis zu führen, dals 
ävri im musikalischen Gebrauche überall soviel als »mit« »begleitend« bedeute, und glaubt in 
der gegenteiligen Meinung eine Hauptquelle von irrtümlichen Auffassungen über griechische 
Musik zu finden. Aber seine Beweise überzeugen nieht im Geringsten. Unter anderem führt 
er die Stelle aus (Pseudo-) Demetrius Phalereus m. eppmveias ec. 71 an, wo es heilst, dals die 
ägyptischen Priester die sieben Vocale der Reihe naclı singen, kal dvri auAoV kal ävri kıdapas rov 

’ ‘ Li ’ ’ “ ” ’ ’ . * ” . * . 
Ypannarov Tovrov 6 xos Akoverau vm ehcbovias. Aber die Stelle ist schwierig und hat eine 
Menge von Auslegungen hervorgerufen. Ich fasse sie so auf: die gesungenen Vocale besitzen 


Philos. - histor, Abh. 1896. III. 4 


26 GC. Stumer: 


stets Widersprechen, abwechselnd mit dtapdwvew. Avribwvos kommt nur 
in den Leges vor und zwar einmal = entgegengesetzt (p.717,b), einmal 
im speziell-musikalischen Sinne = dissonant, als Gegensatz zu ovubwvos 
(p. 8ı2,d). Sonst gebraucht Plato dafür dudbwvos.' In den echten Schrif- 
ten des Aristoteles findet sich das Wort nieht. Als technischer Ausdruck 
erscheint es, abgesehen von den Problemen, erst im 1.—2. Jahrhundert nach 
Chr. (s.u. 8. 31£.). 

In den Problemen nun hat es offenbar eine völlig andere Bedeu- 
tung als bei Plato, da ja gerade die stärkste Consonanz, die Octave, als 
antiphon bezeichnet wird. Andrerseits würde man aber auch fehlgehen, 
wollte man annehmen (wie dies doch allgemein der Fall zu sein scheint’), 
dass »Oetavenintervall« und »antiphones Intervall« hier nur zwei Ausdrücke 
für einen identischen Begriff, für einunddieselbe 'Thatsache wären. Denn 
welchen Sinn hätte es in diesem Fall, mit Probl. ı7 zu fragen, warum man 
in der Quinte nieht antiphon singe (also nach obiger Auffassung: warum 
man in der Quinte nicht Octaven singe!), oder mit Probl.13, warum bei der 
Oetave der tiefere Ton dem höheren antiphon sei, aber nicht umgekehrt? 
Soll der tiefere die Oetave des höheren und gleichwol dieser nicht die 
Octave des tieferen sein? 

Wol wird öfters der Ausdruck » Antiphones (Intervall)« für den Aus- 
(ruck Diapason gesetzt, z. B. Probl. 18 und 19 (s. o.). Aber dies kann auch 
geschehen, wo es sich um ceonvertible Begriffe handelt, die darum nicht 
identisch zu sein brauchen. Und so ist es hier. Antiphon zu sein, wird 
als eine Eigentümlichkeit der Octave hingestellt (ftov in der Sprache der 
aristotelischen Logik), als charakteristisches Folge-Merkmal ihres Begriffes, 
das aber nicht als essentielles Merkmal darin eingeschlossen ist. 
einen solchen Wollaut, dals sie selbst gegen die Flöte und gegen die Kithara gehört werden, 
d.h. das Ohr mehr anziehen als diese gleichzeitig ertönenden Instrumente, Der Verfasser 
sprieht nämlich ec. 68— 77 von der avyxpovas, d.h. der raschen Verbindung zweier Vocale 
im Sprechen, z. B. 7«Xos statt 7Aros, und findet darin etwas besonders Musikalisches. 

! Man hat dureh Hineintragung der in den Problemen und in der späteren Litteratur 
vorliegenden Bedeutung von ävribovos in die platonische Stelle sich ganz unnötige Schwierig- 
keiten bereitet. Vergl. zu der Stelle der Leges die S. 5 erwähnte Abhandlung, 8.18 f. 

? Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet ein ungenannter Freund Bojesens, welchen 
die unten zu besprechenden Pr. 16—18 auf eine ähnliche Vermutung brachten, wie sie sich 
mir als unumgängliche Voraussetzung des Verständnisses aufdrängte (Bojesen |. ec. p. 86: anti- 
phoniüs hoe quidem loco et probl. sequ. signifieari melodias a choris per diapason vieissim 


Jdecantatas). 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 27 


Welche Eigentümlichkeit also ist hier gemeint? Es scheint mir ein 
Verständnis der einschlägigen Probleme nur möglich, wenn wir voraus- 
setzen, dafs Antiphonie im Sinne ihres Sprachgebrauches bedeutet: die 
Wiederholung einer Melodie auf einer anderen Tonhöhe!. Anti- 
phon werden die Töne genannt, die bei einer solehen Wiederholung 
den früheren Tönen entsprechen. Und es wird behauptet, dafs zu 
soleher Wiederholung nur die Octave geeignet sei: ebenso wie sie allein 
zu Parallelen bei gleichzeitigem Singen derselben Melodie und zum Maga- 
disiren geeignet ist”. 

Probl. 17: » Warum singt man die Quinte” nicht antiphon? Etwa weil 
hier der eine econsonante Ton mit dem anderen" nicht identisch ist, wie 
bei der Octave. Denn dort ist der tiefere Intervallton das Analoge, was 
der höhere in der Höhe ist. Er ist so gewissermalsen zugleich derselbe 
und ein anderer. Die Intervalltöne bei der Quinte und Quarte verhalten 
sich nicht so: daher erscheint (se. wenn die Melodie in einem Quinten- 
oder Quartenintervall wiederholt wird) nieht der Ton der antiphonen Stimme, 
denn es ist nicht der nämliche. « 

Das hier wörtlich übersetzte Problem bedarf nach dem Vorausge- 
schiekten keiner weiteren Erläuterung mehr. 

Eine Stelle des oben besprochenen Probl. 42 ist wol ebenfalls auf die 
Antiphonie in dem hier definirten Sinne zu beziehen. Der Verfasser sagt, 
die Nete versetze die Hypate in Mitschwingung, und erklärt es daraus, dafs 
die Nete sich beim Nachlassen in die Hypate verwandle: wobei er die 
physikalischen Bewegungen im Auge hat. Ein Zeichen dafür findet er 
aber auch in der Sinnesempfindung selbst: onuetov de (onuetov im aristo- 
telischen Sinne, nieht Beweis, sondern eine mit der Behauptung überein- 


! ävrıdwvia und dvrıboveiv selbst, die Bezeichnungen für das Abstraetum des Antipho- 
nirens, kommen allerdings nicht in den Problemen vor; wir müssen aber zuerst diesen Be- 
griff definiren, um das Coneretum avridovos zu verstehen. 

2 Über Probl. 39%, wo scheinbar das Antiphone geradezu durch die Octave definirt 
wird (»das Antiphone ist ein Symphones in der Octave«) s. unter III, 5. 

° Hier ist statt evre natürlich mindestens da mevre zu lesen, besser ev T@ dia mevre 
(vergl. im folgenden Satz &v ro da raoov). In der Lösung wird aber auch die (Quarte er- 
wähnt, und in der That gehört sie als dritte Consonanz auch in die Problemstellung. Des- 
halb schlägt Bonitz (Index Arist. sub ävribovos) vor: ev TO dia reroapwov 7 dia mevre. Doch 
mag immerhin der Verfasser in der Frage die Quinte als Vertreterin dieser beiden Conso- 
nanzen allein genannt haben. 

* Hier lese ich mit Jan 77 ovupovo statt 7 ovubovia. 


4* 


28 C. Stuner: 


stimmende Folgeerscheinung) TO amo rns ümarns nv vearnv Övvaodaı ade‘ 
ws yüp ovons aurns WOns vearns nv Önowörnra Aaußavovaw am aurns. 
Dafs es hier umgekehrt heifsen muls: dro Tns vearns Tyv Umarnv, er- 
giebt sich erstlich aus der unmittelbar vorhergehenden Fragestellung. wo 
angegeben ist, dafs die Hypate auf die Nete resonire, zweitens aus der 
Begründung (0 Y&p...), wonach man von der Nete die Ähnlichkeit ab- 
nimmt, d. h. die Hypate nach ihrer Ähnlichkeit mit der Nete intonirt. 
Hiemit ist aber wol nicht das Anstimmen eines einzelnen Tons nach einem 
einzelnen gemeint, sondern das Anstimmen einer Melodie nach dem Schlufs- 
ton einer vorhergesungenen, in der Weise der Antiphonie. Es scheint hie- 
bei vorausgesetzt zu sein. dafs eine Melodie zuerst in einer höheren, dann 
in einer tieferen Octave gesungen wurde, ferner, dafs sie von der Hypate 
ausging und zu ihr zurückkehrte. Die Hypate der oberen Octave, mit 
welcher die Melodie endigte, war dann zugleich Nete der tieferen Oetave. 
Nach ihr wurde leicht die Hypate der tieferen Oetave intonirt, mit wel- 
cher dann die Melodie wieder anfıng. @s yYap oVons aurns (Tns) @öns 
vedtys kann ich nur so verstehen: »da sie zugleich der letzte Ton des 
Liedes ist«. 

Die hier vorausgesetzte Melodiebewegung nach oben und wieder zu- 
rück konnte selbstverständlich nicht als allgemeine Regel gelten: vielmehr 
mögen manche Melodien sich auch sogleich von oben nach unten bewegt 
haben (vgl. zu Pr. 33), in welchem Falle natürlich die Intonation noch leichter 
war, da man den Schlufston selbst als Ausgangston der Wiederholung benutzen 
konnte. Der Verfasser meint also nur: wo Melodien die obige Structur 
haben, da finden wir in der Leichtigkeit der Intonation, infolge der Ähn- 
lichkeit der Töne, ein Zeichen für die behauptete physikalische Ähnlich- 
keit, durch welche die Nete die Hypate in Bewegung setzt (TN öuoworyTı 
TNv Ümarnv 1 vorn Öokei Kıvew). 

Probl. 13 spricht wieder ausdrücklich von der Antiphonie: » Warum 
ist bei der Oectave der tiefere Ton antiphon dem höheren, aber nicht um- 
gekehrt? — Etwa weil das Melos am meisten zwar in beiden Tönen zugleich 
ist, wenn (sofern) aber nicht, im tieferen; denn er ist grölser«. 

Aus der Lösung ersehen wir, dafs hier vorausgesetzt wird, die Melodie 
werde zuerst zweistimmig in Octavenparallelen gesungen (s.o. S. 22). Wenn 
dann eine antiphonirende Wiederholung stattfinden soll, so erfolgt sie nach 


Angabe des Problems in der tieferen Octave allein. Denn beim Zusammen- 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 29 


singen war die Tonhöhe zwar eigentlich sowol durch die höhere wie durch 
die tiefere Stimme gegeben (und insofern findet in solchem Fall bei ein- 
stimmiger Wiederholung doch Veränderung der Tonhöhe, also Antiphonie 
Statt), aber sofern man von Einer Tonhöhe reden will, liegt sie in der 
tieferen Stimme; gemäls den früheren Erörterungen (S. 17 f.). Wegen dieses 
Vorwiegens wird, um den Eindruck der Wiederholung zu erzielen, die 
tiefere der beiden Octaven dazu benützt. 

Auch wenn in Probl. 7, um die Beibehaltung der Hypate in der 
ztonigen Leiter zu rechtfertigen, gesagt wird, dafs sie beim Zusammen- 
klang die Nete beherrscht und darum auch »mehr als diese das Antiphone 
hergiebt« (uaAXov 7 Umarn ameöldov TO avripwvov 7 n vorn), so stimmt 
dies genau mit dem eben Erörterten zusammen. 

Wir ersehen hieraus also zugleich einen neuen Zug der griechischen 
Musikpraxis. Auch andere Probleme, die sich auf die Gefühlswirkung des 
Antiphonirens beziehen, werden uns auf Grund dieser Auslegungen ver- 
ständlich und liefern dadurch weitere Bestätigungen, s. u. II. 5. 

Abstraet gesprochen gab es ja von dem aufgestellten Begriff des Anti- 
phonirens aus noch verschiedene Möglichkeiten: die Melodie konnte zuerst 
in der höheren, dann in der tieferen Octave vorgetragen werden, oder um- 
gekehrt, oder sie konnte zuerst in Octavenparallelen gesungen und dann 
in der höheren oder in der tieferen der beiden Oetaven wiederholt werden 
u.s.f. In Wirklichkeit scheint nach dem, was wir soeben hörten und noch 
weiter hören werden, der erste und namentlich der letzte dieser Fälle vor- 
zugsweise vorgekommen zu sein. Der letzte wird in den Problemen meistens 
vorausgesetzt, wenn von Antiphonie die Rede ist. Und es erklärt sich dies 
genugsam aus der uralten Sitte, dafs das Lied durch Instrumente (wie die 
Magadis) vorher in Octavengängen gespielt und dann durch Männerstimmen 
unisono in der tieferen der beiden Octaven gesungen wurde (s. sogleich 
unten). Von da aus wird die Vortragsweise auch auf den Gesang selbst 
übergegangen sein. 

Ist der aufgestellte Begriff der Antiphonie durch den Wortlaut der 
Probleme, wie ich hoffe, bereits hinreichend bestätigt, so wollen wir nun 
auch auf die Zeugnisse hinweisen, die sich aus der Praxis und der Theorie 
des Altertums sonst über diese musikalische Vortragsweise beibringen lassen. 

Die älteste, aber leider zugleich fast die einzige Andeutung antiphoner 
Vortragsweise aus der früheren Zeit liegt in zwei kurzen bei Athenaeus er- 


30 C. STUMer: 


haltenen Fragmenten Pindar’s'. Pindar bezeichnete die Magadis als WaAuoös 
avripdoyyos, weil man darauf ebenso wie beim Zusammensingen der Männer 
und Knaben (Frauen) gleichzeitig Octaven erzeugen könne”. Sodann sagen 
einige Verse, dafs Terpander das Barbiton gefunden habe, indem er zuerst 
bei den Gastmählern der Lyder den waAuos avribdoyyos der Pektis gehört 
habe (welehe nach Athenaeus’ Ansicht mit der Magadis zusammenfällt)’. 
Böckh übersetzt: pulsationem respondentem altae pectidis audiens. Und 
es ist in der That kaum anders anzunehmen, als dafs es sich hiebei um 
eine Abwechselung des zuerst allein in Octaven spielenden Instrumentes 
mit dem einstimmigen (auch wol unisono begleiteten) Gesang der Tafelnden 
handelte. Das Instrument mochte die Melodie, wie es auch bei unsren 
Symposien geschieht, als Vor- und Zwischenspiel vortragen. 

Anakreon sagt in der schönen Ode auf seine Leier: Kayo uev Idov 
adrovs HparXeovs‘ Aupn de "Epwras avreboveı. Seinem inneren Ohr tönt 
Heldengesang vor, aber die Leier tönt (wie ein verwandeltes Echo) Liebes- 
gesang entgegen. Es ist hier entschieden das Verhältnis des » Gegengesangs«, 
das dem Ausdruck zu Grunde liegt, nur natürlich nicht gerade in Octaven. 
Die Entgegnung erfolgt nicht in anderer Tonhöhe sondern sozusagen in 
anderer Klangfarbe. Immerhin ein Analogon. 

Eine Hindeutung auf das Antiphoniren in älterer Zeit möchte ich auch 
in der Bezeichnung der Oetaventöne als »entgegengesetzter« (Evavrioı) er- 
blicken, die sich bei Heraklit und den Pythagoreern findet und in den 
Problemen nachwirkt (vgl. o. S. 6). Denn der Ursprung dieser Bezeich- 
nung kann wol nur in dem Umstande liegen, dafs die Octave zum Gegen- 
singen eines Männer- und eines Knaben- oder Frauenchores benützt wurde, 
wobei die nach Alter oder Geschlecht »entgegengesetzten« Chöre sieh na- 
türlich auch räumlich gegenüberstanden. An sich sind die Töne der 


Octave einander doch nichts weniger als entgegengesetzt. 


! Böckh Pindari op. I, 2 S.617; dazu I, 2 S. 262. Christ's Pindarausgabe S. 222, 
Die Stellen bei Athenaeus XIV p. 6355 und d. 

Ser tu aeg 0 iR N a: N 

TV nayaoıv ovonaTavTa Var uov avripdoyyov, dia To 6vo yevov apa Kal ota TaOwVv eyeiv 
ryv ovvodiav avöpav te kal maldov (so Böckh statt ywvarov). Hier ist yevav, wie Böckh zweifel- 
los richtig bemerkt, nicht auf die Tongeschlechter (diatonisches ete.) sondern auf die zwei 
Gattungen der Töne, hohe und tiefe, zu deuten. 

3 Tov pa Tepmavöpos moß’ ö Akopıos eipe mp@ros &v deimvorm Avcov waAuov avribdoyyov 


5 = S 
IvrnNas akovov TNKTidos. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 31 


Sonst ist allerdings wol kaum eine Spur des Antiphonirens aus der 
älteren griechischen Zeit in der Litteratur aufzutreiben. Aber die Geptlogen- 
heiten des antiken Chorgesanges stimmen sehr wol mit dem, was wir den 
Problemen entnehmen, überein. Wir wissen, dafs Männer und Knaben 
(Pr. 39°) oder Jünglinge und Jungfrauen sich an den Chorgesängen beteiligten, 
dafs auch zwei Chöre neben einander auftraten, dafs zwischen beiden Chören 
sowie zwischen einem Chor und seinem Leiter Wechselgesänge stattfanden. 
Solche Gelegenheiten bildeten neben der Instrumentalbegleitung die natür- 
lichen Quellen antiphoner Wiederholungen. 

Wie kommt es aber, dafs die Theoretiker bis zu den Problemen diese 
Vortragsweise gänzlich ignoriren? — Ihr Stillschweigen ist nicht so un- 
begreiflich. Dafs man wiederholte, und zwar in der Octave, mochte ihnen 
selbstverständlich und nicht besonderer Erklärung bedürftig scheinen. Geht 
es doch heute noch Vielen so; ebenso wie man auch den einheitlichen 
Eindruck der Oetave beim Zusammenklang ohne besondere Verwunderung 
hinnimmt. In den Problemen werden überhaupt zum ersten Male die 
Eigentümlichkeiten der Oetave zum Gegenstand des Fragens und Erklärens 
gemacht, und so erfahren wir denn auch hier zum erstenmal Bestimmtes 
und Unzweideutiges über die praktische Übung des Antiphonirens: aber 
selbst hier wird die Sache so sehr als bekannt vorausgesetzt, dals wir ihr 
Dasein und Wesen erst durch Combination der Stellen erschliefsen können. 

Abgesehen von den Problemen finden wir Angaben über diese Vor- 
tragsweise und zugleich ein Zeugnis für die technisch-musikalische Ver- 
wendung des Ausdrucks Antiphonie zuerst bei Philo Judaeus (1. Jahrh. 
nach Chr.), wo er den Gesang der Therapeuten nach ihren gemeinschaft- 
lichen Mahlzeiten beschreibt. Dabei wechselte ein Gesang, der von Männern 
und Frauen in Oectavenparallelen vorgetragen wurde, mit der Absingung 
derselben Melodie von Männern oder Frauen allein'. Philo deutet hier 


! De vita contempl. $ ro—ıı (Leipziger Ausg. der Werke 1828 Bd. V S. 321, Frank- 
furter Ausg. S. 901-902: rj uev avvnyoüvres, Ti) de Kal avrıdovois apjpoviaıs (appovia 
hier wie sonst = Melodie) Emiyerpovoyovvres Kal Emopxovuevor ..... TouTw uaNıora dmeıkoviodeis 
ö rov Öepamevrov kal Hepamevrpioov, jeNeow avrıjyoıs kaı avrıbovos mpos Bapvv 7xov Tov dvopmv 
6 yuvarkav 6EVS avarpıyanevos (muls sicher heilsen avakıpvanevos), Evapuoviov avuboviav amoreNei Kal 
novoıkyv Ovros. Zu avakıpvanevos vgl. Jamblichus In Nieomachi arithmeticam introd. ed. 
Pistelli p.ı195 Chrysostomus Hom. in Ps.1ı50 (beide Stellen in meiner S. 5 erwähnten Ab- 
handlung. Daselhbst am Schlusse über evapuovios ovubovia). — Die Beschreibung, die Philo 


von dem ganzen Arrangement giebt, erinnert sehr an das altgriechische Chorwesen. 


32 G. Stumer: 


auf den Gesang von Moses und Mirjam mit dem Volke, und es ist wol 
kein Zweifel, dafs wirklich in der althebräischen Musik das Antiphoniren | 
in ähnlicher Weise im Gebrauch war. Die syrischen Christen werden es 
sowol aus dieser wie aus der hellenischen Quelle übernommen haben: und 
schliefslich gehen ja beide Quellen auf Eine, auf die orientalische Musik, 
zurück, wie das Wort Pindar’s andeutet, dafs Terpander den waAuos avri- 
phoyyos bei den Lydern vorgefunden habe. 

Aus der griechischen Kirche, speziell aus Antiochia, kam der antiphone 
Gesang durch Ambrosius in die lateinische'. Später wurde allerdings auch 
die homophone Wiederholung beim Psalliren der Mönche und noch andere 
Modifieationen mit dem gleichen Ausdruck bezeichnet (Antiphon = einleiten- 
der Vorgesang ohne melodische Identität mit dem Folgenden, darum auch 
gelegentlich von Anteponere hergeleitet). 

So dienen die Probleme, die dunklen Ursprünge des antiphonischen 
Gesanges, der in der christlichen Musik eine so fundamentale Rolle spielen 
sollte, besser als bisher aufzuhellen. Für die Aufnahme meiner Inter- 
pretation ist es aber vielleicht nützlich, wenn ich hinzufüge, dafs sie nicht 
etwa durch solche Rücksichten beeinflulst war. Sie ist mir vielmehr aus- 
schliefslieh durch das Bedürfnis des Verständnisses der Probleme selbst 
aufgedrängt worden, zu einer Zeit, als ich diese noch für echt aristotelisch 
hielt und an mögliche Beziehungen zum christlichen Antiphonengesang 
absolut nicht dachte. 

Nun wird uns aber auch der Sprachgebrauch und die Lehre der grie- 
chischen Theoretiker der späteren Jahrhunderte verständlich, namentlich 
wenn wir die Entstehung der Problemensammlung selbst an den Anfang 
unserer Zeitrechnung verlegen. Der Ausdruck avrißwvos erscheint nämlich 


! S. Gevaert Les Origines du Chant liturgique de l’Eglise latine (1890). La Melopee 
antique dans le Chant de l’Eglise latine (1895) p. 83 f. 

Aus der Urzeit des Christentums koımmt noch die Stelle bei Plinius in Betracht, wo 
er über die Christen an Trajan schreibt (Ep. 96 al. 97): »essent soliti ... carmen deo dicere 
secum invicem«. Ferner eine Stelle in dem Bruchstück des Evangeliums und der Apokalypse 
des Petrus (Harnack, Texte u. Untersuchungen zur altchristl. Litteraturgeschichte Bd. IX, 
Heft 2 S.18), auf welche mich Hr. Harnack aufmerksam macht: »jua dovj Tov kupıov Heov 
av(r)evbnnovv ebbpamwonevon Ev Ekeivo To Tomo«. Hier ist allerdings dvrevonnovv für avevbnjLovv 
eine Conjeetur Preuschen’s, hat aber gewils viel für sich. Dals speciell die Octave bei diesen 
Wechselgesängen eine Rolle spielte, liefse sich aus den beiden Stellen für sich allein freilich 
nicht entnehmen. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 33 


seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. öfters in technisch-musikalischer Verwen- 
dung: und zwar wird das Antiphone ohne Weiteres als ein besonderer Fall 
des Symphonen gefafst: die Consonanz der Oetave (und Doppeloctave) wird 
damit bezeichnet. So beiläufig bei Plutarch' (wo wenigstens aller Wahr- 
scheinliehkeit nach die Oetave gemeint, avribova aber zugleich noch deutlich 
im Sinne der »Gegentöne« verstanden ist, die auf merkwürdige Weise beim 
Zusammenklang ähnlich würden); und ganz ausdrücklich bei Theo v.Smyrna, 
bez. dem von ihm ausgeschriebenen Thrasyll (Theo ed. Hiller p. 48). 

Wir können wol verstehen, wie aus der Bedeutung des Wortes 
in den Problemen sich dieser Sprachgebrauch entwickeln konnte; ist er 
doch dort selbst schon an einzelnen Stellen vorgebildet. Der Name, der 
zuerst eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit der Octave anzeigte, ist auf 
die Octave selbst übergegangen; wie Ähnliches ja ‚so oft in der Sprach- 
geschichte vorkommt. Auch bei Theo weist die Wendung ra kat avri- 
Povov avubwva (P. 48. 21, vgl. 51, 14-15 Tyv auryv ... ovubwviav kat 
avribovov) noch deutlich auf diesen Ursprung hin. Theo selbst freilich 
begründet die Subsumtion des Antiphonen unter das Symphone durch eine 
niehtssagende Tautologie”; aber wiederum sieht man aus seiner Äufserung, 
dafs der Begriff des avrıreiuevov noch dem des avribovov anhaftet. Auch 
Porphyrius überlegt sich die Motive für die Übertragung dieses Ausdrucks 
auf die Octave und verweist auf Fälle wie avrieos für ivoeos’. Übrigens 
gebraucht er (und ebenso Gaudentius) den Ausdruck nur ganz vorüber- 
gehend. Bei den byzantinischen Musikschriftstellern tritt avribwvos in 
dieser Verwendung mehr in den Vordergrund. 


II. Von den Leitern und den Gesängen. 
ı. Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge. 
Er28%.22, 2820445 497% 


Diese terminologischen Probleme finden am besten als Einleitung zu 


Eyeı TO ovubovov, ÖEurnor kai Bapvrnow Adumoyenws ÖnoLdrnTos Eyyıvonevns. 
- p- 48, 21: Ta Te Yap kart avridwvov vubova EoTIv, Eemeidav TO avrıkeinevov 7 oEurnm 
Papos ovubovn. 
3 Commentar zur ptolemaeischen Harmonik in Wallis’ Op. math. III, p.277. 
Philos. -histor. Abh. 1896. III. 5 


34 G, Srumer: 


Probl, 28 untersucht den Ursprung des Ausdrucks vouos für bestimmte 
Gesänge und führt ihn wunderlich genug auf den Umstand zurück, dafs 
man vor der Kenntnis der Bucehstabenschrift die Gesetze gesungen habe, 
um sie nieht zu vergessen. 

Probl. 32 handelt vom Ursprung des Ausdrucks dia mao@v statt dl 
ökto (Oetave), wie nach Analogie von dia mevre und dıa Terodpwv zu 
erwarten wäre, Als Grund wird angegeben, dafs Terpander's Lyra, worin 
die Trite fehlte, in 7 Tönen das Ganze der 'Tonreihe (einschliefslich der 
Nete) darstellte. 

Probl. 25 und 44 untersuchen die Herkunft des Ausdrucks ueon, «a 
doch die Achtzahl (der Töne von der Nete bis zur Ilypate) keine Mitte 
besitze. In beiden Problemen wird zunächst wörtlich «dieselbe Lösung 
gegeben: dafs die alte Leiter eben nur 7 "Töne umfalste. 

Pr. 44! fügt aber, mit dieser einfachen historischen Erklärung nicht 
zufrieden, noch eine rationelle Erwägung bei, aus welcher das Reeht hervor- 
gehen soll, aueh jetzt, in der 8-tonigen (7-stufigen) Leiter die sog. Mese 
mit eben diesem Namen zu bezeiehnen. Die Erwägung läuft darauf hinaus, 
dafs man Mese hier in einem weiteren und nicht blos mathematischen Sinn 
verstehen mufs; ähnlieh wie auch wir z. B. von einem Verkehrseentrum 
oder vom Gravitationsmittelpunet reden. Ks handelt sich in solchen Fällen 
um einen innerhalb gewisser Grenzpunete liegenden Teil, der den übrigen 
gegenüber in irgend einer Weise dynamisch, der Funetion nach ausge- 
zeichnet ist, Er wird vielfach in der Nähe der geometrischen Mitte liegen 
(wo überhaupt von einer solehen gesprochen werden kann), braucht aber 
nicht genau damit zusammenzufällen. Diese Erwägung ist unnötigerweise 
in eine schulmälfsig-syllogistische Form gekleidet und das Verständnis da- 
dureh nur erschwert, doch wird es uns nun fast ohne Textänderungen 
möglich sein”. 


' In dessen Fragestellung man mit Bojesen rov zov emra streichen muls, 


PER BERN! Mr An f nee ge v a 11 04 
dr dmadı) rov ueraf) rov ünpeov TO eaov uovov Apyı) Tis damv (dom yap rov [eis] Aare- 

pov rov Ädxpov vordvrov dv run danrjuarı dva ulrov Ov apyı)), root dara jeror, mel ö deryara 
ee j \ s , , rer f re i \ Add le: 
‚ev [statt ueoov| vonv apnovias vearı Kal vmarı, TOovrwv de ava ueaov ol Aoımoi pdoyyon, vn 
don Kakovudn udn dpyı) dar Qardpov rerpaydpdov, Örxalos urn xaxeira. Tov Yap nerafı Tıvav 
dxpov rd udoov v Apyı) advovw, Unter den zahlreichen Veränderungen des Bekker'schen Textes, 
(die vorgeschlagen wurden, scheinen mir nur die beiden hier eingefügten notwendig (eis mit 
Gaza und Bojesen einfügen, zaerov mit Jan durch zev ersetzen), alle übrigen vielmehr störend, 


Zu äva iorov = uerafb s, Index Aristotelicus p. 457, @& 51, 


Die psendo-aristotelischen Probleme über Musik. 35 


Zunächst das Prineip: »Da unter dem, was zwischen zwei Endpuncten 
liegt, das Mittlere allein eine Art apxyn ist (denn es giebt unter dem, was 
in irgendeinem Zwischenraum nach den beiden Grenzpuneten hinstrebt, 
ein gegen die Mitte hin liegendes, das apyn ist), so wird dieses (nämlich 
die apyn) Mittelpunet sein«. Wenn man das uovov im Vordersatz beachtet, 
wird man hierin zwar eine sehr umständliche Ausdrucksweise, aber nicht 
eine Tautologie finden. Der Nachsatz ist in der That eine Folgerung aus 
dem Vordersatz: Da die apxn immer gegen die Mitte hin liegt, so bezeichnet 
man sie nicht mit Unrecht als ueoov. Es soll eben der weitere Sprach- 
gebrauch bezüglich uerov gerechtfertigt werden. Freilich würde man statt 
»immer« (uovov) richtiger sagen »meistens« oder nur »vielfach«; und dies 
würde zur Erklärung des Sprachgebrauchs hinreichen. Ausdrücke wie 
Verkehrscentrum sind in der That darum entstanden, weil das in irgend 
einer Beziehung »Herrschende« doch eben vielfach gegen die Mitte des 
Ganzen hin liegt. 

Nun wird dieses allgemeine Prineip (das an sich auf mechanische, 
aesthetische, moralische Verhältnisse u. s. f. ebensowol zutrifft), auf die Musik 
angewandt. Es giebt auch eine musikalische Mitte, die aber wiederum 
nicht mit der mathematischen zusammenzufallen braucht: »Da nun die 
Endpuncte der Saitenstimmung (Leiter) Nete und Hypate sind, die übrigen 
Töne aber gegen die Mitte dieser beiden hin liegen, und unter ihnen die 
sogenannte Mese allein apyn für jedes Tetrachord (auch im »unverbundenen 
System« und der 8-tonigen Leiter) ist, so wird sie mit Recht Mese genannt. « 
Der Sehlufssatz bringt dann nur noch einmal den Ausgangspunet der Er- 
wägung in Erinnerung und könnte wol eine Randglosse sein. 

Wir sehen leicht, dafs dieser Erwägung der nämliche Gedanke zu 
Grunde liegt, wie der oben besprochenen Behauptung (S.ı2), dafs die 
Hypate und Nete von der Mese scheinbar gleiehweit abstehen. Ich habe 
selbst seinerzeit aus dem Begriff der »musikalischen Mitte« die Ergebnisse 
der oben erwähnten experimentellen »Mitteschätzungen« hergeleitet. Die 
Quinte ist für uns die musikalische Mitte der Oetave, die grofse Terz die 
musikalische Mitte der Quinte. Beides ist nur dynamisch, der musikalischen 
Bedeutung nach, nieht mathematisch zu verstehen. 

Dafs hier das unverbundene System e — e' gemeint ist, ist in dem 
Problem nicht direet ausgesprochen, dürfte aber in der Fragestellung liegen, 
wo von den 8 Tönen die Rede ist. An sich könnte die nämliche Erwä- 


19) 


36 GC. Stunmerr: 


gung für das verbundene System und die alte Leiter e — d' platzgreifen. 
Aber erst gegenüber der 8-tonigen entsteht überhaupt die Paradoxie, die 
gelöst werden soll. 

Am Schlusse des Pr. 47 ist von der Benennung Mese wiederum die 
Rede. Sie wird daraus abgeleitet, dafs dieser Ton das Ende des oberen 
und den Anfang des unteren Tetrachords bildete und (darum) ein mitt- 
leres Verhältnis zu den Endpuneten hatte. Hier ist das verbundene System 
vorausgesetzt, worin die Mese auch als avvabn bezeichnet wurde. Schon 
in der Fragestellung wird ein Verfahren der apyaioı als Gegenstand des Pro- 
blems bezeichnet (s. die sogleich folgende Besprechung dieses Problems), 
während Pr. 44 in seinem zweiten Teil den gegenwärtigen Sprachgebrauch 
vom gegenwärtigen Standpunct rechtfertigen will. 

Diese Probleme sind von sachlichem Interesse insofern, als sie uns auf 
die weiteren Betrachtungen über «ie musikalische Bedeutung der Mese vor- 


bereiten. 


2. Bildung der siebensaitigen Leitern. Pr.7, 47. 


Diese beiden Probleme stellen gleichlautend die Frage, » warum die 
Vorfahren, als sie die Leitern 7-saitig gestalteten, die Ilypate darin 
lielsen, nicht aber die Nete?« Aber beidemale wird sogleich die in der 
Frage vorausgesetzte Thatsache selbst bezweifelt oder corrigirt. Pr. 7: »Oder 
blieben die beiden Töne und wurde die Trite weggenommen?« Pr.47: »Oder 
haben sie nicht die Nete', sondern die jetzt sogenannte Paramese (Tnv vvv 
mapaueonv kaXovuevnv) und die Ganztonstufe (zwischen ihr und der Mese) 
weggenommen?« 

Die älteste griechische Leiter (Saitenstimmung, Apuovia) war die der 
verbundenen dorischen Tetrachorde: e fgabc'd'. Terpander fügte aber 
als oberen Abschlufs die Nete #' hinzu und strieh dafür, der Siebenzahl 
zu Liebe, die damalige Trite d (vgl. Pr. 32). Diese wurde später, als man 
zur 8-tonigen Lyra e — e' überging, durch A ersetzt und als Paramese 
bezeichnet. Es ist daher die Abweichung zwischen Pr.7 und 47 in Bezug 


auf den gestrichenen Ton nur eine scheinbare”. 


! Hier ist sicherlich mit Bojesen u. A., denen auch Jan folgt, vyryv statt vmarıv zu 
lesen. Jan’s Einfügung von zsvov und za dagegen scheint mir wieder den Sinn zu alteriren. 
® Siehe Wagener und Gevaert in des Letzteren Hist. II, 257 und 634. 


ee Er A u 
er Zi u 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musil. 37 


Jan bemerkt (Ser. mus. p. 81), dafs in der Problemstellung selbst die 
historische Ordnung umgekehrt werde, indem nicht zuerst 8, sondern von 
vornherein nur 7 Saiten da waren. Immerhin wird, wenn auch die Saiten 
der Lyra nieht über d hinausgingen, dem musikalischen Bewufstsein doch 
die Nete als oberer Abschluls der Leiter schon ursprünglich nieht gefehlt 
haben. Die Octave ist das Fundament aller Leiterbildung, aller Musik 
im eigentlichen Sinne des Worts, und es ist psychologisch unmöglich, 
dafs dies jemals anders gewesen wäre. Durch sie allein wird eine aus 
festen Stufen bestehende Tonreihe in sich zu einem Ganzen zusammenge- 
schlossen (vgl. Pr. 32 über dıa raowv). Insofern läfst sich sagen, dafs die 

R 8-tonige (7-stufige) Leiter früher war als die 7-tonige (6-stufige). Viel- 
leicht hat dies dem Verfasser des Problems bei der Fragestellung vorge- 
schwebt. 

Die Lösung knüpft nun in beiden Problemen doch wieder an die an- 
fänglich gestellte Frage an. Pr.7 verweist auf das Übergewieht der Hy- 
pate im Zusammenklang (s. 0. 17)', Pr. 47 hebt hervor, dafs man die Mese 
als Anfang des einen und als Ende des anderen Tetrachords (im verbun- 
denen System) nötig hatte. Wir müssen wol hiezu den Gedanken ergänzen, 
dafs durch die Mese auch die Paramese bedingt war, wenn anders das obere 
Tetrachord dem unteren analog sein sollte. 


3. Grösserer Melodienreichtum der älteren Componisten. Pr. 31. 


Pr. 31: »Warum waren die Zeitgenossen des Phrynichus produetiver 
an Melodien? — Etwa weil damals die Gliederung der Versmafse in den 
Tragödien manichfaltiger war«*. 

Die Lösung wird gewöhnlich ganz anders aufgefafst: die ueAn seien 
(damals moAAarAdoıa gewesen gegenüber den uerpa. Jan interpretirt: Varios 
novosque modos .... illi ereaverunt, posteri satis habuerunt pari quodam 
modo metra decantare. Aber dies wäre keine Erklärung, sondern eine 
blofse Wiederholung der zu erklärenden Thatsache. Ruelle übersetzt: parce 


que ... les chants tenaient plus de place que les metres (les vers declames). 
' Die Schlufsphrase des Probl. 7: &wei rö ö&v.... klammert Jan mit Recht ein, sie ınuls 


dureh ein Misverständnis dahin gekommen sein (aus Pr. 37). 
® Aıa ri oi mepi Ppivıyov noav narkov peromoii; — "H dia ro moAAarkacıa eivan Tore ra 


neAn Ev rals rpaymöiaıs rOv NETpwV. 


38 GC. Stunmpr: 


Ähnlich Eiehthal und Reinach. Dies wäre eine auffallend schlechte Er- 
klärung, denn die zahlreicheren gesungenen Verse konnten auch auf wenigen 
Melodien gesungen werden; man sieht nicht ein, warum der Melodienreieh- 
tum selbst gröfser sein mulste, Zudem ist fraglich, ob man ueAn und 
uerpa so deuten kann. 

Dagegen scheint mir die obige Übersetzung sowol mit dem Wort- 
laut verträglicher als auch eine bessere sachliche Lösung einzuschliefsen. 
Die Vergleichung, die in moAAarAaora liegt, bezieht sich hienach nieht 
auf die ueAn gegenüber den uerpa, sondern auf die ueAn (im Sinne von 
Teilen, vielleicht aber auch uepn zu lesen) Tov UETPOV, wie sie damals 
waren (Tore), gegenüber den gegenwärtigen; genau so wie auch in der 
Fragestellung uaAAov neAomoioi gemeint ist gegenüber den gegenwärtigen. 
Auch sachlich aber ist diese Lösung gut zu verstehen und von psycho- 
logischer Wahrheit: durch die gröfsere rhythmische Manichfaltigkeit der 
Texte wurden die Componisten auch zu reicherer Erfindung in tonaler Hin- 


sieht angeregt. 


4. Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33. 


Pr. 33: » Warum ist es passender von der Höhe zur Tiefe zu gehen 
als umgekehrt? Etwa weil dies heilst vom Anfang anfangen” (denn die 
Mese ist zugleich Führerin und höchster Ton des Tetrachords), während 
der umgekehrte Gang vom Ende anfinge? Oder weil das Tiefe nach dem 
Hohen edler und wolklingender ist?« 

Wir können hieraus entnehmen, dafs in den Melodien jener Zeit die 
Bewegung von der Mese gegen die Hypate (a gegen e) besonders natur- 
gemäls erschien”. Vielleicht bezieht sich die Bemerkung überhaupt nur auf 


! Von der grölseren Manichfaltigkeit der Rlıythmen bei den »Alten« spricht auch 
Plutarch De mus. e. 21 (ed. Westph. p. 15, 26f.). Aber er formulirt den Gegensatz so: ol ev 
yüp vöv dıAdrovor, ol de rore diAöppvßuor. Phrynichus, der nach Suidas den Tetrameter in die 
Tragödie einführte, wird in den Scholien zu Aristophanes zugleich neNomows und Ds ev 
ueNeoı genannt (Bojesen). 

2 mb rijs üpynjs Apyeoda, wo apyy) zugleich Anfang und Prinzip bedeutet, wie der Aus- 
druck „yeuov im Schaltsatz zeigt. 

® Vol, die Bemerkungen Gevaert's Hist. 1 378 zu diesem Problem. Die Pindarische 
Melodie, die ein schönes Beispiel sein würde, möchte gegenwärtig auch Gevaert nicht mehr 


belingungslos für echt halten (Melopee antique, 1895, p. 32); mindestens die Notation könne 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 39 


Melodien kleinsten Umfangs, die zwischen diesen beiden Tönen lagen, wie 
solehe in den einfachsten Gesängen bei allen Völkern gegeben sind. Betrifft 
sie auch solehe Melodien, die die ganze Octave beanspruchten, so scheint 
doch der Gang von der Mese aufwärts weniger definitive Befriedigung 
gewährt zu haben als der abwärts, man empfand ihn nicht als ebenso ge- 
eignet zum Abschlufs einer Melodie oder eines Melodieabschnittes. 

Die Wendung »vom Anfang anfangen« darf‘ nicht wol auf den Anfang 
der Melodie schlechthin bezogen werden, sondern nur auf relative An- 
fänge: auf die Bewegung von der Mese gegen die Hypate hin, mochte 
sie am Anfang oder im Verlauf oder am Schlufs der Melodie vorkommen. 
Dies ergiebt sich sowol aus der Natur der Sache', als aus den erhaltenen 
Melodien. Namentlich die gut erhaltenen gröfseren Melodien, der Hymnus 
auf den Helios und der auf die Nemesis, bestätigen es: fast jeder Melodie- 
absehnitt endigt mit einer solehen Abwärtsbewegung zur Hypate”. Hiebei 
mag noch dahingestellt bleiben, ob die Hypate der Alten als Toniea auf- 
zufassen ist. War die Mese Tonica, die Hypate Dominante, so haben wir 
doch auch gegenwärtig Melodien, die in der Dominante schliefsen. Diese 
Art des Schlusses findet sieh heute mehr in Moll- als in Durmelodien; und 
die Haupttonart der Alten, das Dorische, würden wir ja von unsrem Stand- 
punet ebenfalls als ein Moll bezeichnen. Immerhin würde das gegenwärtige 
Musikbewulstsein noch mehr Fühlung mit dem alten haben, wenn wir die 
Hypate in unsrem Problem, und nicht die Mese, als Tonica auf fassen dürfen. 


Diese Erwägungen leiten nun sogleich auch zu den Mese- Problemen. 


erst aus der alexandrinischen Zeit stammen, vielleicht aber auch die Melodie selbst. Immer- 
hin würde sie uns auch als Document aus dem späteren Altertum wertvoll sein, und an 
dieser Stelle umsomehr, wenn die Probleme aus der nämlichen Zeit stammen. 

! Was Settala anführt (von Ruelle eitirt): »Inditur a natura omnibus hominibus, ut 
quotidiana etiaın docet experientia, ut eum primum canere incipiunt ab acıto expediantır 
et in grave descendant« — ist vollkommen richtig und in dem physiologischen Umstand 
begründet, dals man mit vollem Athem beginnt. Aber dieser Umstand beeinflulst doch 
wesentlich nur die kurzen Ruf-Wendungen (vgl. m. Bemerkungen über die absteigende kleine 
Terz beim Rufen, Vierteljahrsschr. f. Musikwissenschaft I 1835, S. 284), nieht die eigent- 
liehen Melodien, deren Bau von vielen anderen Umständen mitbedingt ist. Hier könnte 
ınan eher, wenn überhaupt von einem vorherrschenden Typus gegenüber der ungeheuren 
Fülle gesprochen werden kann, mit E. Naumann ein Aufsteigen und dann wieder Absteigen 
als solehen hinstellen. „ 

2 S, die auch in anderen Beziehungen (Hervortreten der Dreiklangstöne bei den Partial- 
schlüssen) höchst interessanten Analysen Gevaert's, Melopee antique p. 39 f. 


40 0. STUMTT: 


5. Funetion des Mitteltons. Pr. 20, 36. 

Pr. 20 fragt, warum bei einer Verstimmung' der Mese in der Aus- 
führung einer Melodie auch alle anderen Saiten verstimmt erscheinen, bei 
der Verstimmung einer anderen Saite dagegen nur diese selbst. Der Ver- 
(asser findet dies wolbegründet, da man die Mese in allen guten Melodien 
häufig gebrauche und, wenn man sie verlassen habe, immer schnell wieder 
zu ihr zurückkehre. Sie sei den Bindewörtern der Sprache vergleichbar, 
ohne die kein Adyos 'EAAnvıros möglich sei. 

Pr. 36 stellt etwas kürzer die nämliche Frage und betont, dafs von 
der Mese alle anderen Saiten ihre Stimmung, "Tonlage (eye TWS TOOS TNV 
ueonv), ihre Anordnung und ihren Zusammenhang empfangen’. Hier ist 
noch tiefer auf den Grund der Sache eingegangen. 

Zur Vergleiehung und Unterstützung kann die Stelle in Aristoteles’ 
Metaphysik p. 1018, db, 26 dienen, wo die Mese ebenfalls als apxn be- 
zeichnet und ihre Stellung mit der des Chorführers (kopvpatos) verglichen 
wird. Dafs auch Pol. I, 5 p.1254, «, 32, wo eine dpxn der Harmonie (Ton- 
leiter) erwähnt wird, die Mese gemeint ist, scheint mir hienach unzweifel- 
haft”. In einem ganz anderen Sinn wird zwar auch die Diösis gelegentlich als 
äpyn bezeichnet, nämlich im Sinne der Mafseinheit (apxn kat uerpov P. 1053, 
a, 12,8. u.); aber in der Politikstelle ist die Rede vom Unterschied des 
äpyxov und des apxonevov, der sich in der belebten wie unbelebten Natur 
finde, und in diesem Sinn, — Herrschendes, kann doch nicht wol die 


Diösis gemeint sein. 


xıvjon könnte an sich wol auch eine Umstimmung im Betrag einer oder mehrerer 
Tonstufen bedeuten, aber der Ausdruck Avrrei, mit dem die Wirkung bezeichnet wird, sowie 
das analoge PPepozeva im Probl. 36 lehren, dals es sich um eine blolse Verstimmung (Un- 
veinheit) handelt. Auch würde ja dureh eine Umstimmung der Mese ihr Ton mit dem 
einer anderen Saite zusammenfallen. 

yaöv nach xıvjon ändert Reinach gewils richtig in wg. Am Schlusse des Problems 
scheint mir Ruelle's Vermutung AAAov für xaaav die glücklichste. 

? Starek's Änderung von Peyysneva in POepsueva (bei Helmholtz Tonempf.t 395) 
ist sehr einleuchtend und von allen Neueren aulser Biehthal und Reinach angenommen. An 
einigen anderen Stellen des Problems ist der Text auch nicht ganz in Ordnung, aber in- 
haltlich gleichwol durchsichtig. 

> Vol. Jan Ser. p.17. (In der Stelle der Metaphysik ist übrigens nicht zu ergänzen ev 
äpxiis ydva &ori, sondern, wie aus dem Context vom Beginn des Kapitels an evident her- 


, Naar) ’ 
vorgeht: mporepa kai vorspa Acyerat.) 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 41 


Eine hiehergehörige Äufserung findet sich ferner bei Dio CUhrysosto- 
mus. Er sagt!, dafs man bei der Lyra zuerst den mittleren Ton feststelle, 
dann nach ihm die übrigen stimme (die ganze Lyra wurde ja auf die Ton- 
art gestimmt). Ähnlich müsse man sich im Leben einen höchsten Zweck 
setzen und alle Handlungen danach einrichten. 

Helmholtz und Westphal haben gleichzeitig aus den obigen Pro- 
blemen den Schlufs gezogen, dafs die Mese für die Alten die Bedeutung 
und Funetion der Tonieca gehabt habe, des Haupttons jeder Leiter, der 
allen übrigen Tönen erst ihren musikalischen Sinn giebt”. 

Man kann fragen, ob die Beschreibung nieht auch auf unsre Domi- 
nante passen würde. Die Ausdrücke yyeuov (in dem vorhin besprochenen 
Pr. 33) und apyn (sowol Ausgangspunet als Prineip bedeutend, s. 8.34 zu 
Pr. 44 und S. 38 Anm. 2) liefsen sich ebenfalls dureh »Dominante« erläutern. 
Doch wäre es immerhin befremdlich, wenn der Begriff der Dominante (in 
unsrem Sinn) so sehr in den Vordergrund gestellt und der ihm zu Grunde 
liegende der Toniea, von der aus allein jener definirt werden kann, gar 
nieht erwähnt würde. 

Aber noch eine dritte Auffassung wäre zu erwägen: es könnte ein- 
fach die Funetion gemeint sein, die bei uns dem Stimmton a' zukommt, 
dem festen Ausgangspunet der Abstimmung, einerlei, was für Tonleitern 
und Melodien wir gerade gebrauchen. Dann würde freilich hier nur über 
einen ziemlich äufserlichen technischen Umstand berichtet sein, womit die 
ganze Art der Beschreibung doch nieht gut zu vereinigen ist”. 


! Or. 68 am Sehluls (ed. Dindorf II, 234): xpn de Bomep ev Avpa rov uerov BOdyyov kara- 
orjoavres Emeıra mpds ToVTov apuorrovraı Tous ANNovs, ei ÖE jun, oldeniav oldemore üpjoviav dmodeı- 
Eovow, ovrws ev to Bio K. T. N. 

? Ptolemaeus unterschied eine thetische und eine dynamische Mese. Die dynamische 
ist nach Westphal die obere Quarte des tiefsten T'ons (e) der dorischen Tonart, also a, und 
dieser nämliche Ton wird dann auch bei den übrigen Tonarten, innerhalb deren er eine 
sehr verschiedene Stellung einnimmt, als Mese bezeichnet (man könnte sie absolute Mese 
nennen). Dagegen die thetische Mese ist in jeder Tonart die Quarte des tiefsten Tons (rela- 
tive Mese). Auf sie bezieht Westphal die Mese der Probleme. 

Dals der Neupythagoreer Nikomachus die Mese mit der Sonne im Planetensystem ver- 
gleicht, kann man mit Helmloltz hier auch anführen; doch lag die nächste Veranlassung 
dazu in der räumlichen Stellung, nieht in der hervorragenden Bedeutung, der Sonne. 

® Eichthal und Reinach folgen sowol dieser als der ersten Auslegung (p. 41: »l’auteur 
vent dire que la mese sert de base pour l’aceord des autres cordes; elle donne le la« 

‚(es deux problemes ... attribuent a la mese un röle assez analogue a celui qui, dans la 


Philos. - histor. Abh. 1896. Ill. 6 


42 G, Stumrr: 


Kine Anschauung endlich, die sich mit beiden zuletzt erwähnten be- 
rührt, hat Gevaert, der früher der Westphal’schen zustimmte, sieh neuer- 
dings gebildet!, Hienach würde es sieh in der That um einunddenselben 
feststehenden "Ton handeln, um die dorische Mese a (die » dynamische Mese« 
nach Westphal’s Ptolemaeus-Interpretation). Nur legt Gevaert nicht so sehr 
Gewicht darauf, dafs nach diesem Ton gestimmt wurde, als darauf, dafs 
dieser Ton, und nur dieser, in allen Melodien wiederkehrt und alle Ton- 
arten (besonders auch bei Modulationen innerhalb einer Melodie) unter ein- 
ander verbindet. Es existirte hienach, wenn ich so sagen soll, für die Alten 
eine universelle Dominante. Wie die unsrige zwei Tonarten mit einander 
verbindet, so verbindet die absolute dorische Mese sämmtliche Tonarten 
der Alten; freilich nieht infolge von » Verwandtschaftsverhältnissen«, son- 
dern nur infolge ihrer centralen Lage auf der Lyra und den sonstigen 
Instrumenten. Immerhin kommt doch auch bei uns, wenn zwei Aceorde 
aufeinanderfolgen, sehon der Umstand, dafs sie einen beliebigen "Ton ge- 
meinschaftlich besitzen, mit in Betracht. Kin ähnliches Prinzip würde also, 
melodisch gefafst, dem Wechsel der Tonarten bei den Alten und der Funetion 
der dorischen Mese zu Grunde liegen. 

Gevaert hat noch keine eingehendere Erläuterung und Begründung 
seiner neuen Anschauung gegeben. Wenn er sich darauf beruft, dafs die 
»thetische Onomasie« allen Schriftstellern vor Ptolemaeus unbekannt ge- 
wesen sei, so würde dieser Grund für uns weniger Gewicht besitzen, wenn 
wir (wie unten geschieht) die Probleme selbst nahe an die Zeit des Ptole- 
maeus verlegen; vielmehr würde eher ein Gegengrund und ein Argument 
für die »thetische (relative) Mese« daraus werden’. Aber Gevaert stützt sich, 
wie er mir brieflich mitzuteilen die Güte hatte, hauptsächlich auf die Analyse 
der vorhandenen Reste griechischer Melodien, in denen nicht die Mese, son- 
dern die Ilypate als Hauptton erscheint", und von mehr als 1000 4iturgischen 
Gesängen vor dem ı1. Jahrhundert, deren unmittelbaren Anschluls an die 
antike Melodienbildung er in seinem Werk auseinandersetzt. Er habe unter 


endence des melodies modernes, est joue par la toniques). Aber beide Auslegungen schlielsen 


sich doch gegenseitig vollkommen aus. 
' Melopee antique p. ı2 unter Il und Anın. q, ferner Appendix Il (1896) p. 467 Anın. 
? Westphal selbst findet übrigens (Grieeh. Harm.? 170) Andeutungen der thetischen 
Onomasie schon bei Aristoxenus. 


°» 8, besonders Melopee ant. p: 39-40. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 43 


diesen nieht Eine gefunden, worin der fragliche Ton fehlt, und es sei dieser 
Ton zugleich der einzige, auf den solches zutrifft. 

Ich kann mich vorläufig noch nicht zu dieser Auffassung entschliefsen. 
Jener gemeinschaftliche Ton hätte trotz allem, was wir noch eben zur 
psychologischen Erläuterung beizubringen versuchten, für die jeweilige 
Melodie und das «die Töne einer Melodie unter einander verknüpfende 
Bewulstsein doch eine verhältnismälfsig geringe Bedeutung, und man mülste 
sagen, dafs Aristoteles, die Probleme und Dio Chrysostomus zu viel Wesens 
daraus gemacht haben. Ich möchte daher über diese sehr wichtige Frage 
hier keine definitive Meinung aussprechen und hoffe, dafs der ausgezeichnete 
Musikhistoriker ihr in der bevorstehenden Ausgabe der Musik- Probleme 
eine eingehende Behandlung widmen wird. 


6. Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Nomoi. Probl. 15. 


Pr. 15: » Warum sind die Nomoi nicht antistrophisch, während die 
übrigen Gesänge, die des Chors, es sind'?« 

Antwort, etwas gekürzt: Die Nomoi wurden von Bühnendarstellern 
vorgetragen, die sich in lang ausladender Rede und entsprechend manich- 
faltiger Melodie ergehen mulsten. Darum haben auch die Dithyramben, 
seit sie mimisch wurden, ihre antistrophische Form verloren. Für die Chor- 
sänger bedarf es schon wegen ihrer Menge, aber auch wegen des zu be- 
wahrenden Ethos einfacherer Weisen, wie solche der antistrophische Bau 
mit seinem gleichen Rhythmus bietet”. 


7. Gebrauch der Tonarten in der Tragödie (Antistrophie und 


Ethos der 'Tonarten.) Pr. 30, 48. 


Pr. 30: »Warum findet weder die hypodorische noch die hypophry- 
gische Tonart in der Tragödie als Chortonart Anwendung? — Etwa weil sie 


" Modern gesagt etwa: Warum sind die Arien durcheomponirt, die Chorlieder aber 


in Strophenform?’ Der Begriff des Nomos deckt sieh nicht ganz, doch wol annähernd mit 
dem der Arie; zugleich deutet der Ausdruck auf die Existenz bestimmter » Weisen« hin, die 
traditionell geworden waren. 

2 Der Text des Problems ist nur an zwei weniger hervorragenden Stellen strittig, wo 
inir die Lesungen &v zua äpnovia (Ohabanon und Ruelle) und eis p»Ouös yap (Ruelle) die besten 
scheinen. 


6* 


44 G. Stumrr: 


nicht Antistrophie (wörtlich: nicht Antistrophes) besitzen. Dagegen werden 
sie von der Bühne aus gebraucht; denn sie ist handelnd.«' 

Der äufserst kurze Text wird je nach den vorausgesetzten Subjeeten 
u. s. w. verschieden übersetzt, scheint mir aber auf diese Art, die auch 
sprachlich sieh wol am besten rechtfertigt, einen gut verständlichen Sinn 
zu geben, wenn wir nur erst wissen, was Antistrophie in Bezug auf Ton- 
arten bedeutet. Denn das Übrige, dafs die Bühnensänger wegen ihrer 
mimisehen Funetionen nicht antistrophiren, darum also jene Tonarten ge- 
brauchen können, ist uns aus dem Vorangehenden bekannt und verständlich. 

Dals man avriorpopov nicht mit Reinach in avdpwrmıkov nach Pr. 48 
ändern darf, geht aus eben dieser engen Beziehung des letzten Satzes zu 
Pr.ı5 hervor. Auch ist der Ausdruck avdpwrırov dort von dem novxıov 
ndos gewisser 'Tonarten gebraucht, nicht von den Tonarten selbst, und 
würde darum hier doch allzu kühn stehen. Bojesen hilft sich einfach: 
»hoc problema propter brevitatem minus perspieuum copiosius explieatur 
probl. 48«, und interpretirt avriotpobov durch die dort stehende Wendung: 
neXos NKıoTa Eeyovaı. Wie so? muls man fragen. Auch Andere verweisen 
kurz auf Pr.48. In Wahrheit wird im Pr. 48, wie öfters in den Parallel- 
problemen, eine total andere Lösung der Frage gegeben, es wird auf das 
Ethos der Tonarten hingewiesen, von dem hier nicht mit einer Silbe die 
Rede ist. 

Vergleichen wir die beiden im Pr. 30 genannten Tonarten in Hinsicht 
ihrer Strucetur mit den übrigen, so zeigt sich ein Unterschied, der hier sehr 
wol gemeint sein kann. In jeder von beiden sind die zwei Tetrachorde, in 
die sie zerlegt werden kann, hinsichtlich der Aufeinanderfolge der Stufen 
ungleich, dagegen in der Iydischen, phrygischen, dorischen Tonart sind 
sie gleich. Bezeiehnen wir die Ganztonstufen mit ı, die Halbtonstufen mit +, 


so erhalten wir, von unten nach oben gehend, folgende Anordnungen: 


Hypodorisch: 1,4, 1 — #, 1, ı. Hypophrygisch: ı, 1, 4 — 1,4, 1. 
Lydisch: ı, 1, 4 — ı, ı,$. Phrygisch: 1,4, ı — 1,4, ı. Dorisch: 
ED GE N U 


Man könnte fragen, warum die hypolydische und die mixolydische 
Tonart nieht neben der hypodoriscehen und hypophrygischen genannt seien, 
da doch auch sie ungleiche Tetrachorde besitzen (Hypolydisch: ı, 1, ı 

! Ara ri o0de brodmpıori obde broppvyıorı ouk Eorıv Ev Tpayadia yopıköv; — "H ori oux Eyxeı 


ävriorpodov: AAN amo arms, man) yap, Zu zwunren vgl. das vorherbesprochene Problem. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 45 


— 1, 1, 3, Mixolydisch: Z, 1, 1 — 1, ı, 1). Aber hier schliefst schon 
der Umstand, dafs das eine der beiden 'Tetrachorde statt durch eine Quarte 
dureh den Tritonus abgegrenzt ist (weshalb beide Tetrachorde von ein- 
ander statt durch einen Ganzton nur durch einen Halbton getrennt sind), 
die Melodienbildung innerhalb dieses Tetrachords von vornherein aus'. Um 
viertonige Melodien aber, wie sie zu den einfachsten Chorgesängen gebraucht 
werden (vgl. das vorher besprochene Pr. 15), scheint es sich hier zu handeln. 
Darum hat der Verfasser es nicht für nötig gehalten, diese beiden Ton- 
arten besonders zu erwähnen. 

Nehmen wir nun an, dafs unter der Antistrophie der Tonarten 
verstanden ist: die genaue Gleichheit der beiden Tetrachorde in 
Hinsicht der Aufeinanderfolge ihrer Tonstufen, so erkennen wir sogleich 
die nahe Beziehung zu der vorhin besprochenen Antistrophie der Ge- 
sänge. Denn eben durch jene Eigenschaft war es möglich, eine Melodie, 
die sich im Spielraum eines Tetrachords bewegte, bei der Antistrophe 
in das andere Tetrachord zu übertragen. Auch wenn sie diesen 
Spielraum nach oben oder unten gelegentlich überschritt, konnte dies meist 
in gleicher Weise in der zweiten Hälfte ausgeführt werden. Tonarten 
werden also hienach antistroph genannt, wenn und weil sie sich infolge 
ihres Baues zu antistrophen Gesängen eignen, und diese selbst werden so 
genannt, nicht blos weil sie den gleichen Rhythmus (Pr. 15), sondern 
auch weil sie die gleichen Tonstufen in der Melodie aufweisen, zugleich 
aber durch die 'Transposition in das zweite (obere) Tetrachord ein Gegen- 
stück zur Strophe darbieten. 

Dals die Chorgesänge sich in geringem Umfange bewegten, ist nach 
der in Pr.ı5 betonten Einfachheit und nach den Äufserungen des Pr. 33, 
wo die Mese nur in Verbindung mit dem unteren Tetrachord betrachtet 
wird, wahrscheinlich. Von einer Transposition der Tonhöhe bei der Anti- 
strophe ist uns zwar sonst nichts direet berichtet: aber eben unser Problem, 
das bei aller Wortkargheit eine sehr bestimmte und praeeise Sprache führt, 
an der sich kein Wort irgend plausibel ändern läfst, wülste ich in keiner 


' S. die Forderung des Aristoxenus (Meib. p. 54, Marq. p. 78 mit 169), dals die beiden 


Tetrachorde Ton für Ton mit einander consoniren müssen. Ebenso Nikomachus Enchir. 
mus. c.7 (Jan Mus. Ser. p. 249). Vgl. bei Westphal, Musik des griech. Altertums S. 326: 
»Die Töne b und e (der Tritonus) können nicht wesentliche Bestandteile eines und desselben 
melodischen Abschnittes sein, aın wenigsten die Grenze eines solehen«. 


46 GC. Stumer: 


anderen Weise zu deuten; und man wird zugestehen müssen, dafs eine 
Transposition aus dem einen in das andere Tetrachord das nächstliegende 
und wirksamste Mittel war, um ohne CGomplieation doch Abwechslung in 
den Gesang zu bringen. 

Als ein Widerspruch gegen diese Auslegung erscheint zunächst nur 
die Lehre, dafs die Octave allein zur Antiphonie diene (s. 0... Denn die 
antistrophische Wiederholung der Melodie mit Erhöhung des Ganzen um 
eine Quinte scheint ja zugleich unter den oben definirten Begriff der Anti- 
phonie zu fallen; sie erscheint vergleichbar mit der Wiederholung eines 
Thema’s auf der Dominante, was doch, wie wir hörten, in der alten 
Musik ausgeschlossen war. 

Dieser Widerspruch löst sich aber vollkommen dadurch, dass die 'Trans- 
position in das obere Tetrachord eben nicht als eine Wiederholung der 
Melodie empfunden wurde. Wir hörten ja, dafs nur Octaventöne jene Ähn- 
lichkeit miteinander besitzen, derzufolge der eine als Stellvertreter des 
anderen gelten kann. In der That erscheint auch nach unsrer Auffassung 
die obere Hälfte der Octave, solange die Tonica die nämliche bleibt, 
keineswegs als gleichbedeutend oder gleichwertig mit der unteren. Die 
beiden Gänge bei ı. in A-moll gedacht 


stellen zwar die gleiche Aufeinanderfolge von Stufen dar, aber der zweite 


wird nicht als Wiederholung des ersten aufgefasst, wie es bei 2. der Fall 
ist. Bei ı. hat jeder Ton der zweiten Hälfte eine andere Bedeutung und 
Funetion gegenüber dem entsprechenden der ersten Hälfte, weil er eine 
andere Stellung zur Tonica besitzt. Erst wenn wir die 'Toniea wechseln, 
d. h. die zweite Hälfte in E-moll denken, werden beide Gänge einander 
analog und kann der zweite als Wiederholung des ersten gelten. Dafs aber 
ein Wechsel der Toniea, eine Modulation in die Dominante nach unsrer 
Bezeichnung, zwischen Strophe und Antistrophe stattgefunden hätte, davon 
ist nirgends eine Andeutung gegeben'. 


! Aulserdem unterscheidet die Antistrophie von der Antiphonie noch der Umstand, 
dals die antistrophe Wiederholung keine genaue zu sein braucht (s. sogleich im Text), ferner 
dals bei der Antiphonie die Melodie, die dann in der tieferen Octave wiederholt wurde, 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 47 


Ist so diese Schwierigkeit einfach zu heben, so entsteht aus der Lösung 
selbst die neue, dafs im Tetrachord der Antistrophe die Mese gar nicht 
vorkommt, während sie in einer guten Melodie sehr oft vorkommen soll 
(Pr. 20). 

Auch hierauf können wir, glaube ich, unschwer antworten. Die Melodie 
bewegte sich eben nicht genau und streng innerhalb eines Tetrachords, son- 
dern ging auch häufig eine Stufe tiefer; dazu diente der » Proslambanome- 
nos«. Gevaert nimmt diesen Zug geradezu unter die Prinzipien der antiken 
Melodiebildung auf: »Afin de donner. un peu plus de jeu aux termi- 
naisons melodiques et un point d’appui au degre final, on permit ä& la me- 
lodie de descendre un echelon de plus. Cette pratique etait deja sanction- 
nee A l’epoque elassique«'. Er weist diesen Zug namentlich an der Hymne 
auf «den Helios nach (p. 39-41). Analogien dazu lassen sich auch in Fülle 
aus den Kirchengesängen, aus exotischen, aber auch aus modern-euro- 
paeischen Melodien kleinsten Umfangs (Tetrachordmelodien) beibringen. Bei 
der Transposition in das die Mese nicht enthaltende Tetrachord mufste 
nun in solchem Falle die Mese auftauchen. Namentlich dürfte dies bei 
Schlufswendungen vorgekommen sein. Lassen wir nach Anleitung des 
Pr. 33 die Melodie der Strophe durch Absteigen nach der Hypate, mit 
dem Proslambanomenos als Wechselnote, schlielsen, so erscheint bei der 
Antistrophe als Wechselnote die Mese, etwa so: 


Sr Antistr 


Übrigens darf man sich die Übertragung der Tonstufen selbst gewils 
nicht als eine sklavisch gebundene vorstellen, sie wird im Einzelnen schon 
durch das Bedürfnis des Ausdrucks und durch die grammatische Fügung 
des Textes, aber auch durch rein musikalische Bedürfnisse modifizirt worden 
sein. Wurde z.B. das Tetrachord in der Strophe nach einer Richtung 
hin überschritten, so mochte bei der entsprechenden Stelle der Antistrophe, 
gerade um Ungleichheit der Tonstufen zu vermeiden und zugleich das 


gewöhnlich zuerst in beiden ÖOctaven vorgetragen wurde, während bei der Antistrophie 
nicht etwa entsprechende Quinten- oder Quartenparallelen vorausgingen. 
' Melopee ant. p.ı3 (mit Bezugnahme auf den Commentator Plato’s, dem Aristides 


Quintilianus folgt). 


48 C. Stumer: 


Tonieabewulstsein besser zu wahren, die Tonbewegung vorübergehend nach 
der anderen Seite gelenkt werden; z. B. wenn die Strophe @a—h— a hatte 
(mit Überschreitung des 'Tetrachords nach oben), so moehte die Antistrophe 
e — d’— e' statt e' — f'-— e' setzen. Auch hiefür bietet die Musik aller 
Zeiten auf Schritt und Tritt Analogien. So konnte man nun auch am 
Schlufs, wenn es in der Strophe etwa wie vorhin hiefs e— d—e, in der 
Antistrophe durch A—c'—a die Mese zu Gehör bringen und mit ihr 
sogar schlielsen. 

Endlich ist es möglich, dafs dem Tonica- (bez. Mese-) Bedürfnis auch 
dureh die Instrumentalbegleitung Genüge geschah; wie dies Westphal für 
(die ganze Classe der Melodien annimmt, die auf der IHypate (nach seiner 
Auffassung = Dominante) endigten'. Gerade in den Problemen ist ja auch 
die heterophone Krusis, die von den Gesangtönen abweichende Instrumental, 
begleitung, vorausgesetzt (39”). Lag die Melodie im unteren Tetrachord, 
so mochte die Nete, lag sie im oberen, die Mese (bez. ihre höhere Oe- 
tave) besonders in der Begleitung berücksichtigt werden. 

So konnte auf vielerlei Weise dafür gesorgt werden, dafs die Mese 
bei der Antistrophe zu Gehör kam. Im Übrigen ist aber jene Forderung 
des Pr. 20, dafs die Mese in allen guten Melodien vielfach vorkomme, 
vielleicht nieht einmal so wörtlich zu nehmen: meinen doch auch bei uns 
Manche fälschlich, dafs die Tonica in der Melodie vorkommen oder gar 
dafs sie eine hervorragende Stellung einnehmen müsse. Nur für das Be- 
wulstsein des Hörenden gilt diese Forderung, nicht für seine Ohren oder 
für die geschriebenen Noten. 

Hienach dürfte der vorgetragenen Auslegung nichts entgegenstehen 
und sich damit ein gewisser Einblick in die Structur antiker Chormelodien 
eröffnen, wenngleich sich bei der Kürze des Textes nur eine begrenzte 
Wahrscheinlichkeit dafür gewinnen läfst. Es tritt dieses Ergehnis aber 
auch in Verbindung mit den vielfältigen Untersuchungen über die orchesti- 
schen Bewegungen und über die Teilung des Chors. Dafs bei der 
Strophe und Antistrophe der gleiche Rhythmus der Verse auch durch 
gleiche oder besser symmetrisch-entgegengesetzte Bewegungen ausgedrückt 
wurde, ist kaum zu bezweifeln. Diesen symmetrischen Bewegungen ent- 
sprach nun nach akustischer Seite die Transformation der Melodie dureh 


' Vgl. seine Aristoxenus- Ausgabe LXXXIV und sonst. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 49 


ihre Versetzung in das andere Tetrachord. Dafs ferner Strophe und Anti- 
strophe durch verschiedene Abteilungen des Chors vorgetragen wurden, 
ist für manche Fälle sicher, für andere strittig'. Wie nun in unsren Fugen 
Dux und Comes, das ursprüngliche und das auf die Dominante versetzte 
Thema, von verschiedenen Teilen des Chors vorgetragen werden (ohne dafs 
wir übrigens die Vergleichung weiterführen wollen), so liegt auch in der me- 
lodischen Antistrophie, auf die wir uns geführt sehen, ein Hinweis mehr 
auf die Verteilung der Strophe und Antistrophe an verschiedene Halbehöre. 
Natürlich konnten aber nicht blos Teile des Chors unter einander, sondern 
auch Einzelne mit dem Chor oder mit Einzelnen in solcher Weise abwech- 
seln, etwa die Chorführer (kopvpaioı) oder ihre Seitenmänner (rapaoraraı) 
oder auch handelnde Personen. Dafs die Verteilung durch die melodische 
Antistrophie notwendig bedingt wäre, läfst sich freilich nicht behaupten; 
und der Zusammenhang des Textes scheint sie häufig zu verbieten. 

Soviel über die Problemlösung im Pr. 30. 

Auf die nämliche Frage nun, warum man im tragischen Chor jene bei- 
den Tonarten nicht gebrauche, giebt Pr. 48 aus einem ganz anderen Gesichts- 
punct eine redseligere Antwort, deren kurzer Sinn ist, dafs diese Tonarten 
erstlich am wenigsten Melodie (ueXos) haben, zweitens aber — und dies 
wird besonders in den Vordergrund gestellt — dafs sie ein praktisches 
und grofsartiges Ethos haben, während für den Chor als wolwollenden Zu- 
schauer mehr ein passives Ethos zieme, wie es den übrigen Tonarten eigne”. 

Sachlich können wir dazu kaum etwas sagen, da wir über die Gründe 
des Ethos der griechischen Tonarten in Ermangelung hinreiehender Musik- 
beispiele zu wenig urteilen können. Durch den Inhalt der Begründung 
gehört dies Problem zugleich zur III. Gruppe (über Gefühlswirkung). 


' v. Christ, Teilung des Chors im attischen Drama, Abh. der bayrischen Akad. d. 
Wiss. I. Cl. XIV, 2 S.159, bes. S.198 f. Muff, Chorische Technik des Sophokles (1877). 
Wecklein, Fleckeisen’s Jahrbücher Suppl. XIII, S. 215 f. (nimmt für die Antistrophe bei 
Aeschylus nur eine orchestische Bedeutung in Anspruch). R. Arnoldt's Schriften über die 
ehorische Technik des Aristophanes und des Euripides. Zielinsky, Gliederung der alt- 
attischen Komödie S. 249 f. (giebt die Teilung nur für die Komödie, nicht für die Tragödie 
zu). Für die Alkmanischen Strophen s. Diels, Alkmans Partheneion, Hermes XXXI, 339. 

® Unter allgemeiner Zustimmung verändert Bojesen p.922, b, 21 brodpvyıort in bpuyiori 
und fügt die aus Gaza’s Übersetzung zu entnehmenden Worte ydära d& ij wuEoNvöor ein. 
Den sanft-traurigen Charakter des Mixolydischen bezeugen auch Plato, Aristoxenus (s. Jan 
p- 108) und Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, b, ı. 


Philos. - histor, Abh. 1896. IIl. 7 


50 G. Srtumpr: 


85. Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe beim Singen. 
Pr..225:45,135% 37.12 13486, Alla 
Von «diesen auf die Ausführung von Gesangmelodien bezüglichen Pro- 
blemen bieten nur die zwei letzten erheblichere Schwierigkeiten. 


a) Ein grolser Chor hält den Rlııythmus besser ein als ein kleiner. Pr. 22, 45. 

Pr. 22: » Warum halten viele Sänger leichter den Rhythmus als wenige? 
— Etwa weil sie sich mehr nach Einem, dem Führer, richten und lang- 
samer tanzen', so dals sie leichter das Nämliche treffen, denn im Schnellen 
fehlt man eher. « 

Pr. 45 fügt nach fast wörtlicher Wiederholung des Vorigen noch bei, 
dafs bei geringer Zahl leichter die Versuchung, für sich zu glänzen, an 
den Einzelnen herantrete. 


b) Man detonirt am Beginn und Schlufs eines Tons(). Pr. 35®. 

Wir bezeiehnen mit den Neueren als Pr. 35" den mit dıa mavros 
(p- 920, a, 38) beginnenden Abschnitt des Pr. 35. Es fehlt hier aber, wie 
bei 39”, die Problemstellung. Ich vermute, dafs die in unsrer Überschrift 
bezeichnete Erscheinung «den Gegenstand bildete. Es wird nämlieh darauf 
hingewiesen, dafs jede Bewegung langsamer anfängt und endigt, in der 
Mitte aber am schnellsten ist”. Darum müsse auch die Stimme im mittleren 
Abschnitt (des gesungenen Tons) am höchsten sein. Ganz hervorragende Sänger 
dürfte allerdings das Problem, wenn dies sein Inhalt, nieht im Auge haben. 


ec) Es ist anstrengender hoch zu singen als tief. Pr. 37. 

Pr. 37 findet dies merkwürdig, da doch das Hohe dem Kleinen und 
darum Schnellen, das Tiefe dem Grofsen und Langsamen entspreche. In 
der Lösung wird die Thatsache nur für die zugegeben, die nicht von Natur, 
aus Schwäche, eine hohe Stimme haben. Im Übrigen sei zum Hochsingen 


Kraft nötig, um die schnelle Bewegung (der Luft) zu erzeugen. 


! Der überlieferte Text lautet Bapvrepov äpyovra. Die Neueren lesen mit Gaza ein- 


stimmig Apadvrepov. Aber auch Graf’s Änderung von äpxovra in 6pxovvraı (s. Jan) scheint 
mir gerechtfertigt. 

? Kara nerov im ersten Satz ist offenbar nicht (mit Jan) auf die Mitte der Saite zu 
beziehen sondern auf die zeitliche Mitte der ganzen Bewegungs - (Ton -) Dauer. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 51 


d) Falsehsingen wird bei den tiefen Stimmen leichter merklich als bei den 
hohen; ebenso sind rhythmische Abweichungen leichter merklich bei lang- 
samem als bei schnellem Rhythmus. Pr. zı. 


Zwei Erklärungen werden in Pr. 21 versucht: entweder weil die grölsere 
Zeit (wie sie der tiefere Ton erfordert) als Wahrnehmungs-Inhalt in sich 
selbst merklieher ist, oder weil sich innerhalb der gröfseren Zeit auch die 
Wahrnehmungs-Thätigkeit besser entfalten kann. 


e) Man singt öfter zu hoch als zu tief. Pr.26, 46. 

Pr.26 wörtlich: » Warum singen die Meisten nach der Höhe zu falsch 
(emi TO 6&V amdöovaw)?« Mau mufs nicht übersetzen: »in der Höhe«. 
Darum widerspricht das Problem nicht, wie man gemeint hat, den Pr. 2ı 
und 37. Die zu hohe Intonation kann einen tiefen ebenso wie einen hohen 
Ton betreffen; es wird hier nur überhaupt eine Neigung nach der Plus- 
Seite behauptet. Die Erklärung ist wieder doppelt: entweder weil das 
Hochsingen leichter ist als das Tiefsingen (was nun allerdings dem Pr. 21 
widersprechen würde, wenn man nicht etwa »zu hoch« und »zu tief« 
interpretiren will, wobei dann aber die Erklärung nahe an Tautologie 
streift), oder weil die Erhöhung schlimmer ist, ein Fehlgriff aber in der 
Ausübung des Schlechteren besteht. Hiemit meint der Verfasser offenbar, 
dafs die Abweichung nach der Höhe nicht geradezu häufiger oder durch- 
sehnittlich gröfser sei, sondern nur merklicher und unangenehmer. 

Pr. 46 giebt auf die nämliche Frage nur die erste Lösung, mit dem 
Zusatz: infolgedessen singt man mehr das Hohe und fehlt in dem, was 
man singt (wozu man beim Singen neigt). 


/) Die Parhypate ist schwer, die Hypate leicht zu treffen. Pr. 3,4. 

Ich will sogleich vorausschicken, was mir als Inhalt dieser beiden 
ziemlich schweren Probleme erscheint. Sie beziehen sich, so nehme ich 
mit Bojesen an', auf die enharmonische Leiter. Deren drei tiefste Töne, 
e (Hypate) # (Parhypate) f (Lichanos), waren durch je ein Viertelton-Inter- 


' Die Begründung dafür liegt im Wortlaut des folgenden, mit dem gegenwärtigen in- 
tegrirend verbundenen Problems, wo die Di@sis ausdrücklich erwähnt ist (s. u.). Aber auch 
das gegenwärtige Problem, die Frage sowol als die Antwort, wird so bedeutend verständ- 
licher als wenn die diatonische Leiter gemeint ist. Die sogleich im Text zu erwähnende 
Parallele aus Aristoteles’ Metaphysik spricht ebenfalls von der Diesis, doch ist fraglich, ob 
Aristoteles selbst hierunter nicht etwa eine Halbtonstufe verstand. Vergl. u. S. 54. 


-. 


‘ 


52 Ö.STUMPF: 


vall, eine Diösis, getrennt; dann folgte mit einem Sprung von zwei Ganz- 
x 

tönen «a (Mese). Analog im oberen Tetrachord: A (Paramese), A (Trite), « 

(Paranete), e (Nete). 

Pr. 3 setzt nun voraus, dafs man von der Hypate aufwärts singt, und 
fragt: » Warum reifst die Stimme so leicht ab, wenn man die Parhypate 
singt, nieht weniger als wenn man die Nete und die hohen Töne singt, 
wobei aber das Intervall gröfser ist?«' 

Wir begreifen ohne weiteres, «dafs die Parhypate schwer zu treffen 
und festzuhalten war. Diese Schwierigkeit wird verglichen mit der bei 
der Intonation hoher Töne: Die Nete ist auch verhältnismälsig schwer zu 
singen, wegen ihrer absoluten Höhe, obschon «as Intervall (zwischen ihr 
und der Paranete ec) grölser ist. 

Lösung: »Etwa weil man diese am schwersten singt und sie Prineip 
ist. Das aber ist schwer wegen der Anspannung und Pressung der Stimme. 
In diesem aber liegt Anstrengung. Was aber Anstrengung kostet, misglückt 
leichter. «' 

Unter ra'ryv kann hier, wenn irgend ein Sinn herauskommen soll, 
* . . x 
nicht die Parhypate oder die Nete verstanden werden, sondern TauTyv nv 
dıaoracıv, das Intervall nämlich, worauf die Fragestellung sich bezog, 
* CT . . . ” ’ 

(lie Diesis zwischen Hypate und Parhypate. Sie wird auch apyn genannt, 
als das Element, die Mafseinheit der enharmonischen Leiter. So bezeichnet 
. . ... “ ” x x 
auch Aristoteles Met. p. 1053, a, 12 die Diösis als dpyn kat uerpov. In 
. . n. * ’ 14 [4 . . 
der Astronomie habe man eine Einheit als apyn und werpov in der gleich- 
förmigen und schnellsten Bewegung der äufsersten Himmelssphäre, wodurch 
alle anderen Bewegungen gemessen werden, und in der Musik die Diösis, 
weil sie das Kleinste und das Element (Toıyeiov) für die Stimme sei”. 

! Ad ri nv mapvmarıvy Adovres uaNıora amoppyyvuovra, oby jrrov ) Tv voTyv Kal Ta Ave, 
nera 08 diawrdrews mAelovos; —"H örı yakerorara ravryv adovan, ka avrn px]. TO de yakemöv did 
rıv ömraoıy kal mieoiw rs davıs' ev rovroıs de mövos‘ movovvra de HANNoV diapdeiperau. 

Vel, noch andere die Diesis betreffende Äulserungen des Aristoteles in Jan’s Zu- 
sammenstellung Mus. Ser, p. 15. 

Aristoxenus polemisirt gegen solche Auffassung und Darstellung des Tonreiches von 
Seiten der »Ilarmonikers (die die Musiktheorie auf Rechnung gründen). Wir können doch 
unmöglich, sagt er (Meib. p. 28, Marquard’s Ausg. p. 38), achtundzwanzig aufeinanderfolgende 
Diösen singen, wie dies vorausgesetzt wird, wenn man die Leiter aus solchen construirt; 
wir können nieht einmal drei nacheinander treflen. Das Toonbereich, wie es unsrer Stimme 
und unsrem Gehör gegeben ist, ist also nicht aus Diösen zusammengesetzt. Aristoxenus be- 


ruft sich hier wie überall auf’ das Ohr und die wirkliche Musik. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 53 


In ähnlichem Sinne bezeichnet auch Theo Smyrnaeus nach dem Peripa- 
tetiker Adrast den Ganzton und das Limma als apyaı ovubwvias, weil 
daraus die Uonsonanzen sich zusammensetzen (Theo ed. Hiller p. 75, 16). 
Vielleicht schwebt aber unsrem Autor bei dem Ausdruck ap auch noch 
der Gedanke vor, dafs die Diesis das Charakteristikum des enharmonischen 
(Geschlechts bildet, ähnlich wie wir grofse und kleine Terz als »charak- 
teristisches Intervall«, als Prinzip für Dur und Moll bezeichnen. 

Dals nun die Di@sis unter den Intervallen am schwersten zu singen 
ist, begreift sieh: auch kommt es, weil sie zugleich apyn ist, am meisten 
auf ihre richtige Ausführung an und ist eine Abweichung, indem man 
etwa sogleich den Lichanos intonirt, am empfindlichsten. Die gestellte 
Frage ist also hiemit beantwortet. Der Verfasser geht aber noch auf die 
zur Vergleichung herangezogene Intonation der Nete ein: To de, das aber, 
nämlich das Treffen der Nete und der hohen Töne', ist schwer wegen 
der Anspannung der Stimme. Ev Tovroıs, d.h. in diesen beiden Um- 
ständen, das einemal in der Kleinheit des Intervalls, das anderemal in 
der Höhe des Tons, liegt Anstrengung u.s.w. Es sind also zunächst zwei 
verschiedene Erklärungsgründe für das häufige Misglücken der reinen In- 
tonation in beiden Fällen; aber das Gemeinsame liegt in der Anstrengung, 
zu der wir beim Intoniren genötigt sind. 

Das folgende Pr. 4 (wieder ein Fall, wo zwei sachlich engverbundene 
Probleme auch unmittelbar nebeneinander stehen) beziehe ich mit Bojesen 
auf das Abwärts-Singen. Wenigstens ist auf keine andere Weise schon 
die Fragestellung begreiflich: »Warum aber ist diese (die Parhypate) 
schwer zu singen, die Hypate dagegen leicht, während doch eine Diäsis 
von jeder der beiden (zur anderen führt)? «* 

Wiederum wird man die Thatsache, so verstanden, nur richtig finden, 
und bereits Helmholtz hat es als eine feine Beobachtung des Verfassers 
gerühmt, dafs der Leitton (die »note sensible«) schwer und der Sehlufs- 
ton leieht zu intoniren sei. Als Leitton aber sei die Parhıypate darum zu 
fassen, weil die griechischen Gesänge nach Pr. 33 wahrscheinlich nach der 
Hypate absteigend geschlossen hätten”. Nur bezieht Helmholtz die Äufse- 


' Gaza und Bojesen beziehen ro de auf das Singen der Parhypate oder der Diesis, 


wobei aber schon das d€ ungerechtfertigt wäre oder etwa stehen mülste: xaxemöv Ö£. 
® Aa ri Ö& Tauryv yakeros, rıv de Imarnv padios, kaltoı dievis Ekarepas; — 
3 


Helmholtz, Lehre v. d. Toneinpf.+ S.396 und 463. 


HA 0. Srunmer; 


rung wol mit Unrecht auf die diatonische Seala. Der Ausdruck Diösis 
wurde zwar in den Alteren Zeiten aueh für den Halbton gebraucht, seit 
der Zeit des Aristoxenus aber kaum anders als für den enharmonischen 
Viertelton!, 

Die Lösung geht hier tief in’s Psychologische ein und ist wiederum 
bereits von Helmholtz ihrem Sinne nach trefflich wiedergegeben’. Aber 
(lie "Tiefe hat Texteorruptionen zur Folge gehabt, die nieht ganz sicher 
zu heilen sind, Wir können mit einigen Conjeeturen übersetzen: »Etwa 
weil die Hypate mit Nachlassen gesungen wird und das Nachgeben nach 
der Anspannung leiehter ist. Daher vermutlich bezieht sich, was man 
von der Gewalt sagt, auf diese oder die Paranete (Paramese?). Denn man 
muls (um einen Von leieht und sicher zu treffen, ihn intoniren) mit Über- 
legung (d.h. mit einer vorherigen genauen Vorstellung davon) und mit 
einer dem Bewulstsein ganz vertrauten Verfassung in der Richtung des 


Willens. «' 


' In den aristotelischen Selhriften findet sieh eine Äufserung über die Diesis, die 


in Ilinsieht unsres Problems nicht uninteressant ist, De sensu p.440, a, 1: 6 @v rn ddoreı 
pOdyyon Aavddven, kalroı ovvoxovs Övros dose Ton Nous mavrös' To 00 didornua To ToV nerafı 
npos rods Öeryarovs Aavßave, „Der Ton in dev Diösis wird nicht gesondert wahrgenommen, 
obsehon man die snnze eontinmirliche Tonbewesung hört. Das Intervall des Zwischentons 
zu den Äulseren entgeht uns.  Ilier sprieht Aristoteles wahrscheinlich von dem stetigen 
Übergang der Stimme von / nach @ (dureh Hinüberziehen, wie es auch unsre Sänger beim 
beitton häufig verüben). Darin kam natürlich der Ton der enharmonischen Diösis (2) 
vor, aber er wurde nieht für sieh wahrgenommen, weil die Stimme nicht darauf Halt 
imnehte, 

”» A:0.0,397: »In dem Leitton ist die Anstrengung fühlbar, welche mit seinem Über- 
gang in den Grundton (Schlulston) aufhört.“ 463: »Die Hypate werde, sagt Aristoteles, 
mit Nuchlals der Anstrengung gesungen, Und dann fügt er hinzu, dafs neben der Über- 
logung, welche den Willen zur Wolge habe, auch noch die Art der Willensanstrengung dem 
Geiste ganz heimisch und bequem sein müsse, wenn nämlich das Benbsichtigte leicht erreicht 
werden solle, Die Anstrengung, welehe wir fühlen, wenn wir den Leitton singen, liegt 
eben nieht im Kehlkople, sondern dnmin, dals es schwer ist, die Stimme durch den Willen 
aul ihm festzustellen, während uns schon ein anderer Ton im Sinne liegt, auf den wir über- 
schen wollen und dureh dessen Nähe wir den Leitton gefunden haben. Iirst in dem Schluls- 
tone fühlen wir uns heimisch und beruhigt und singen «diesen deshalb ohne Willensan- 
strongung.s 

IH on ur dvdouos 1) Umary, al Ana era mv onvraeı (Ruelle statt avoranıy) eAa- 
ppöv rd dvayakav (so ‚Jan statt des sinnlosen dvo PaAAuv); dia ralro de Koıe kai Tu mpös 
Plav (so Bussemaker, Avist, op. Didot IV 2006 statt zdav) Awydneva mpös rabryv N) mapavılmıv 


+ y N \ x ‚ \ f ‚ p 7) \ \ f )j 
(mapanconv!), dei yap era owwvolas nal karaordaews olkeiorarns ro da mpos rıv Bovänaın, Die 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 55 


Der erste Satz enthält das klare Prineip der Lösung. Die Hypate als 
ein im Tonsystem ausgezeichneter Punet schwebt dem Bewulstsein schon 
während des Singens der Parhypate vor, auf der man sieh darum sehwer 
halten kann. Sie übt eine Art Anziehungskraft, und man hat, um sie zu 
treffen, weiter nichts zu thun, als dieser Gewalt nachzugeben. 

Der zweite Satz scheint nun auf eine uns des Näheren unbekannte 
sprachliche Wendung Bezug zu nehmen, worin von dieser Bta die Rede ist. 
Vielleicht war es ein in dem erwähnten Umstand begründeter Ausdruck 
unter den praktischen Musikern (die ja auch heute ihre besonderen Hand- 
werksausdrücke haben), dafs bestimmte Töne einen Druck oder Zug auf die 
Stimme üben. Von der Paranete (c) des enharmonischen Systems konnte 
Ähnliches gesagt werden bei dem aufsteigenden Gang h, h, c. Ebenso von 
der Paramese (h) beim Absteigen. Da in unsrem Problem sonst absteigende 
Riehtung vorausgesetzt ist und die Paramese dabei das genaue Analogon 
der Hypate darstellt, hätte diese Änderung etwas für sich. Allenfalls lieflse 
sich auch mpos vyrnv lesen, da die Nete von oben her auch eine Anziehung 
übt, die freilich im enharmonischen System wegen der Lücke bei d stark in 
die Ferne wirken muls. 

Den letzten Satz endlich können wir uns «dureh die Einschaltungen 
in der Übersetzung erläutern und unter der so umständlich verelausulirten 
kardorarıs die Bedingung verstehen, dafs der Wille des Sängers dureh die 
Gewohnheit eine Disposition erlangt haben mufs, den vorgestellten Ton aueh 
in die entsprechende Muskelthätigkeit zu übersetzen. In der That gehören 
diese zwei Bedingungen zur richtigen Intonation: genaue Vorstellung des Tons 
und Gewöhnung des Willens an die riehtige Ausführung. Diese Willens- 
verfassung ist uns aber am vertrautesten bei denjenigen Tönen, die den 
Grundstock des musikalischen Systems bilden, die uns beim Singen und 
Hören beständig als Orientirungspunete vorschweben. Nur scheinbar steht 
diese BovAnoıs mit der ßta, von der vorher die Rede war, im Widerspruch: 


denn die anziehende Gewalt der Hypate deekt sich mit der gewohnheits- 


hierauf noch folgende Frage: row ö% dh pera avupovias rls 7 alria; setzt Jan mit Recht, wenn 
sie so lautete, in eckige Klammern; sie erscheint als ein späterer Zusatz, der mit der 
Sache gar nichts zu thun hat, bestenfalls als eine Aporie, die irgend ein Punet dieses 
Problems noch bei seinem Verfasser oder einem darüber Nachgrübelnden zurückgelassen 
hat. In dieser Hinsicht würde sich avwoias (aus dem Vorangehenden) statt evyupovias em- 
pfehlen, 


56 G. Stumer: 


mälsigen Riehtung des Willens, sie ist in dieser Seelenverfassung mit ein- 
geschlossen; sie wirkt ja nicht als Äufsere Gewalt, sondern als die unsrem 


Bewulstsein gegenwärtige Tonvorstellung, die den Willen determinirt. 


II. Gefühlswirkung der Musik. 


I. Lust an der Musik überhaupt. Pr.ı. 


Pr. 1: »Warum spielen sowol die Sorgenvollen als die Geniefsenden 
die Flöte? — Etwa damit jene ihre Unlust vermindern, diese ihre erhöhen «. 
Das Problem hat in dieser Form unleugbar etwas Triviales und wird gern 
zum Beleg dafür verwendet, dafs Aristoteles nieht der Verfasser der Pro- 
bleme sein kann. In die Frage selbst nun kommt die Trivialität für unsren 
Geschmack eigentlich nur durch die Flöte, die man indessen hier als Ver- 
treterin der Musik überhaupt verstehen mag. Bedenklich flach ist allerdings 
die Antwort. Aber wir gedenken ja auch nicht die Echtheit der Pro- 
bleme zu verfechten. 


2. Freude an bekannten Melodien. Pr. 5, 40. 


Dals uns bekannte Melodien lieber sind als unbekannte, erklärt Pr. 5 
zunächst daraus, «dafs der Singende uns wie einer erscheint, der ein Ziel 
trifft, und dafs wir das Treffen besser eontroliren können, wenn wir das 
Gesungene kennen. Dies aber (das Treffen des Zieles) sei angenehm zu 
beobachten'. Eine zweite Erklärung stützt sich darauf, dafs es (das Wieder- 
Hören) angenehmer ist als das Lernen’, weil dieses ein Erlangen, jenes ein 
Gebrauchen (der Kenntnis) und ein Wiedererkennen ist. Ferner sei auch 
das Gewohnte angenehmer als das Ungewohnte. 

Pr. 40 wiederholt die Frage und die erste Lösung fast wörtlich. Als 
zweite fügt es bei: »weil der Hörer durch den, der Bekanntes singt, in 


' Unter dem Ziel ist hier wol nieht nur die Tonhöhe, sondern der ganze Vortrag 


gemeint. Das Sätzehen rovro ö ist nur dann nicht überflüssig, sondern ein Glied der Schlufs- 


folgerung, wenn man das Subject wie oben im Text falst. 


Der Text 7 örı ob ro navdaven ist, wie schon Bonitz bemerkte, unmöglich. Die kleinste 
Anderung wäre jdtov rov jzuavdavenv, wobei das Subjeet aus der Fragestellung in obiger Weise 


zu ergänzen ist. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 57 


Mitleidenschaft gezogen wird'; er singt (innerlich) mit ihm. und Jeder singt 
mit Vergnügen, wenn er nicht durch eine Notwendigkeit dazu gezwungen 
wird«e. Bei der letzteren Wendung dürfte der Verfasser nicht an Sänger 
von Profession denken, sondern an den psychischen Vorgang, der dem 
eben beschriebenen sympathischen Mitsingen entgegengesetzt ist. Wenn 
wir eine neue Melodie innerlich mitzusingen suchen, unterliegen wir einer 
ävaykn; beständig kommen unerwartete Töne, die uns in ihre Bahnen 
zwingen. Bei den alten hingegen lenken unsre eigenen Vorstellungen, 
wie sie sich eine nach der anderen gedächtnismäfsig einstellen, von selbst 
unser Thun; dieses erfolgt, mit den Worten des Pr.4 zu sprechen, era 
Fvvvolas Kal KATAOTAOEWS olkeiorarns To mdeı mpos nv BovAnoıv. 

Die Sauberkeit der psychologischen Zergliederung ist in beiden Pro- 
blemen bemerkenswert. 


3. Freude an Rhythmus, Melos und Consonanz. Pr. 38. 


» Warum — fragt Pr. 38 — freuen sich alle am Rhythmus, am Melos 
und endlich’ an den Consonanzen? — Etwa weil wir uns über die natür- 


lichen Bewegungen natürlicherweise freuen, wovon schon neugeborene Kinder 
ein Beispiel geben. Durch Gewohnheit aber freuen wir uns an den Formen 
der Melodien. Am Rhythmus aber freuen wir uns, weil er ein erkenn- 
bares und geordnetes Zahlenverhältnis besitzt und uns geordnet bewegt; 
denn verwandter ist uns von Natur die geordnete Bewegung als die un- 


! Vgl. Aristoteles Pol. VIII, 5 p. 1340, a, 12: Erı de dkpompevo TOv wupmoeov ylyvovral 
mävres ouumaßers (hier speziell vom Dramatischen gesagt). 
®2 oAws steht hier wunderlich, da doch Consonanz nicht der Gattungsbegrifl der beiden 
anderen ist und es auch Rhythmus ohne Consonanz giebt, wenngleich Melodien im eigent- 
lichen Sinn nicht ohne consonante Intervalle möglich sind. Bussemaker übersetzt mit 
Gaza »denique«, und ich glaube auch, dafs man das intendirte Verhältnis der drei Be- 
griffe dadurch am besten wiedergiebt: in der Consonanz falst sich gewissermalsen Rhyth- 
mus und Melodie zusammen, sie ist Rhythmus in Hinsicht der zu Grunde liegenden regel- 
mälsigen Bewegungen, sie ist Melodie, sofern aus den Consonanzen die Intervalle sich er- 
geben (dvvaneı). 

® Der Ausdruck rporoı ueAov ist hier bezeichnend. Es liegt darin, dals gewisse melo- 
dische Wendungen traditionell werden (man denke nur an die stereotypen Wendungen der 
Reeitative, aber auch an Vieles in den Liedern) und dafs ihnen so auch allmälig eine Wirkung 
zuwächst, die ihnen in sich selbst nieht oder nieht in demselben Malse zukäme. In rporos 
liegt immer etwas von »hergebraecht« (vgl. die rporoı der Skeptiker u. A.). 


Philos. -histor. Abh. 1896. III. 8 


58 6. STUMPr: 


geordnete, daher auch von Natur angenehmer'. (Ein Zeichen dessen ist, 
dafs wir dureh geordnete Nahrung beim Arbeiten die physische Kraft er- 
halten und mehren, durch ungeordnete sie zu Grunde richten; denn die 
Krankheiten sind Veränderungen der natürlichen Ordnung des Körpers.) 
An der Consonanz aber freuen wir uns, weil sie eine Mischung des Ent- 
gegengesetzten ist, das ein (Zahlen-) Verhältnis zu einander besitzt. Das 
Verhältnis ist eine Ordnung, die, wie gesagt, von Natur angenehm ist”. 
Das Gemischte aber ist stets angenehmer als das Ungemischte (Einfache), 
zumal wenn die beiden Elemente gleichmäfsig wahrnehmbar sind. «’ 


! Hier muls nach närAov notwendig stehen dv, oder j&ov statt naadov. Gleich darauf 
beruft sich ja auch der Verfasser darauf, dafs er gesagt habe, das Geordnete sei von Natur 
angenehm, was nur auf diese Stelle gehen kann. S. die folgende Anm. 

2 5 gv duwer nöd. Das Imperfect steht hier nur als Rückweisung auf vorher Gesagtes. 
S. Bojesen zu der Stelle. 

® Aus dem Nachsatz: @AXos re küv aloOnrov Ov üyboiv rolv arpoıv GE Ivov nv Ölvayıv 
Exoı ev ri oauubovia 6 Adyos habe ich in die Übersetzung nur das aufgenommen, was zweifel- 
los seinen inhaltlichen Kern bildet. Die beiden Töne müssen, wenn ihr Verhältnis zur Gel- 
tung kommen soll, gleichmälsig wahrnehmbar sein. Ist der eine z. B. viel stärker, so nehmen 
wir eben den anderen und damit auch das Verhältnis zwischen beiden nicht wahr. Vgl. aus 
Pr. 43: To nejuwypevov Tod dnirrov Moıdv korrıv, dav Ayo ya rıjv atoOnoiv rıs Aaußavn. Ferner s. 
unten 8.67 die Erläuterung zu Pr. 16. Auch Aristoteles betont die gleichmälsige Stärke als 
Bedingung für die wis, infolge deren zwei Eindrücke gleichzeitig erfalst werden können, 
und wendet dies speziell auf die consonanten Töne an, De sensu €. 7 p. 447, a, 21l. Ferner 
vgl. Theophrast in Porphyrius’ Commentar zur ptolemaeischen Harmonik Wall. p. 243 oben. 

Im Übrigen ist allerdings dieser Nachsatz nieht eindentig, Man kann die einzelnen 
Ausdrücke in verschiedener Weise aufeinander beziehen. Herr Vahlen war so gütig, mir 
Folgendes als seine Ansicht mitzuteilen: »Vielleicht sind die Worte so zu verbinden: aAAws 
re käv 6 Adyos Eyor rjv Quvazıy üpoiv Tolv ümpomw GE Ivov alodnrov öv ev ri) ovupovia = zumal 
wenn das Verhältnis in der Consonanz die Qualität beider Endtöne gleichmälsig als ein 
wahrnehmbar Seiendes hat (enthält, gewährt, &xor = mapexoı) oder freier: zumal das Ver- 
hältnis ein solehes ist, welches die Qualität beider Endtöne gleichmälsig vernehmbar macht 
in der Consonanzs, 

Will man Conjeeturen versuchen, so lielse sich «aiodyrov övrov lesen und nun über- 
setzen: »zumal wenn bei einer gleichmälsigen Wahrnehmbarkeit beider Grenztöne das Zahlen- 
verhältnis im Zusammenklang zur Geltung kommts. Doch wäre rıv dwazuıv Exoı in diesem 
Sinn immerhin ein etwas eigentümlicher Ausdruck. 

Vom logischen Standpunet hat es etwas Störendes, dals der besondere Fall der Sym- 
phonie erwähnt wird, wo es doch nur gilt, die allgemeinen Prinzipien anzugeben, auf 
denen die vorher gegebene Erklärung für die Wirkung der Symphonie beruht. Man könnte 
daher auch annehmen, dals die letzten Worte: ev rijv ouubovia 6 Adyos ähnlich wie die 
Schlulsworte verschiedener Probleme nur eine später in den Text gekommene Glosse wären. 


Dann würde man am besten alodyröv dv auf das vorhergehende xerpajıevov beziehen und so 
1 5 pP 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 59 


A 


Das erste Erklärungsprineip, das der »naturgemälsen Bewegungen «, 
soll für alle drei Seiten der Musik gemeinsam gelten. Bezüglich der Melodie 
wird nur noch besonders hervorgehoben, dafs «die Bevorzugung bestimmter 
melodischer Formen auf der Gewohnheit (musikalischen Erziehung) ruhe, 
woran gewils auch viel Riehtiges ist. Bezüglich des Rhythmus wird das 
intelleetuelle Moment erwähnt, die Wahrnehmung der regelmälsigen Ver- 
hältnisse; hauptsächlich aber wird die direete physiologische Wirkung geord- 
neter Bewegungen (des Sinnesorgans) betont, da diese unter den Begriff der 
»naturgemälsen Bewegungen« fallen. Der Verfasser meint (um uns etwas 
moderner auszudrücken), dafs rhythmische Einwirkungen auf die Sinnes- 
nerven den Bedürfnissen des Organismus angepalst seien. ebenso wie die 
rhythmischen Bewegungen der Glieder beim Tanz. Man mag hier Herbert 
Spencer's Lehre vom Rhythmus vergleichen. Dafs sogar die geordnete (den 
physiologischen Vorgängen angepalste) Nahrung zur Stütze der Erklärung 
herbeigezogen wird, zeigt deutlich. dafs es sich um eine solche physiolo- 
gische Auffassung der rhytbmisehen Wirkungen handelt. 

Die Consonanz endlich wirkt durch die zwei in ihrer Definition ange- 
gebenen Momente: durch die im Zahlenverhältnis gegebene Ordnung (der 
Bewegungen) und durch die Verschmelzung (der Töne). Auch hier ist die 
Wirksamkeit der geordneten Bewegungen, wie aus der Rückweisung er- 
hellt, als eine physiologische aufzufassen, nicht etwa als vermittelt durch 
eine, sei es auch unbewulste, Wahrnehmung und Erkenntnis der Zahlen- 


verhältnisse von Seite des Hörenden (Leibniz und Euler)‘. Auch die Ver- 


übersetzen: »zumal wenn es (das Gemischte als solches) wahrnehmbar ist und die Natur 
der beiden Elemente gleichmälsig enthält». 

! Man könnte vielleicht aus der Bemerkung, dafs die Mischung besonders dann an- 
genehm sei, wenn beide Töne gleichmälsig darin wahrnehmbar sind, schlielsen wollen, 
dals hiedurch doch ein intelleetuelles Moment in die Lust am Zusammenklang komme. 
Aber erstlich würde dies nieht eine Freude an der Wahrnehmung von Bewegungen sein, 
sondern von Tönen; zweitens aber ist nicht einmal diese aus der obigen Stelle zu er- 
sehlielsen. Der Unterschied, auf welchen das aAAos re hindeutet, ist nicht der zwischen 
Mischungen, deren Bestandteile nur empfunden (pereipirt) aber nicht wahrgenommen 
werden, und Mischungen, deren Bestandteile auch wahrgenommen (appereipirt) werden, 
sondern zwischen solchen, wo sie gleiehmälsig (speziell gleichstark), und solchen, wo 
sie ungleichmäfsig in der Einpfindung vertreten sind. Für die Alten existirte der Unter- 
schied zwischen »Empfindung» und »Wahrnehmung- überhaupt nicht (abgesehen von An- 
deutungen). Man kann aiodäverda: bei Aristoteles und so auch in den Problemen ebensowol 
mit dem einen wie dem anderen Ausdruck übersetzen. 


8° 


60 6. Stumpr: 


schmelzung wirkt nicht, sofern sie Gegenstand einer Wahrnehmung ist, 
durch das intelleetuelle Vergnügen, das etwa die Vergleichung der ver- 
schiedenen Versehmelzungsstufen oder die daran geknüpften Ideenverbin- 
dungen gewähren, sondern unmittelbar, durch ihr Dasein in der Sinnes- 
empfindung. Es wird als ein allgemeines und letztes psychophysisches 
Prineip hingestellt, dafs das Gemischte angenehmer sei als das Einfache. 
Das Prineip findet sich ebenso wie das der geordneten und dem Organ 
angepalsten Bewegungen auch bei Aristoteles öfters und speziell für die 
Consonanz verwertet!. 

Bemerken wir noch, dafs der Verfasser, indem er das Mischungs- 
prineip heranzieht, offenbar die Wirkung der eonsonirenden Töne im 
Zusammenklang erklären will, was ja im Grunde auch schon aus der 
Trennung der Symphonie vom Melos hervorgeht, denn aufeinanderfolgende 
Consonanzen wären in der Melodie schon eingeschlossen. Kein Zweifel 
also, dafs den Alten auch Zusammenklänge unter Umständen als an- 


genehm galten. 


4. Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz hat 
aber keines. P. 27,209. 

Pr. 27: »Warum hat das Akustische allein unter den Sinnesempfin- 
dungen Ethos? Auch ohne Worte hat ja die Melodie Ethos, während 
weder Farben noch Gerüche noch Geschmäcke ein solches besitzen. — Etwa 
weil das Akustische allein Bewegung hat, womit aber nicht die gemeint 
ist, durch welche der Schall auf uns wirkt — denn solche findet sich 
auch bei den übrigen Sinnen, wie bei den Farben —, sondern die einem 
solehen (äufseren) Schall nachfolgende Bewegung, die wir empfinden’. 
Diese aber hat Ähnlichkeit” (mit unsren willkürlichen Bewegungen) sowol 


1 


Vgl. De sensu c. 3, p. 439, d, 31. De an. Ill, 2, p. 426, a, 27f. Zu beiden Stellen 
meine 0. S. 5 erwähnte Abhandlung. Zum Mischungsprineip Torstrik Arist. de anima p. 168. 
Am allgemeinsten ist es De sensu p. 442, a, 12 ausgesprochen: Gormep de Ta xponara ex Nevkov 
Kal HENavos nikeos Eeorıv, oltws ol yvuol Ek yAuvkeos kal mıkpoV. Kal kart Aödyov on TO HANAov Kal 
jtrov Ekaorol eiouw, elite kar' üpıÖuovs Tıvas Tijs JuEewS kal kıvjaeıs, elite Kal dopiorws. ol de iv 
ndovnv moıoUvres juryvönevoı, oDroı ev apıÖuois uovov. 

® Ich habe hier in der Übersetzung die Anakoluthie beseitigt. 

° Es ist gar kein Grund, hier mit Wagener (bei Gevaert I, 357) öuaAoryra statt öuowrnra 
zu lesen, der ganze Zusammenhang würde vielmehr gestört; man muls nur die in unsrer 


Übersetzung eingeklammerte Ergänzung dazudenken, welche sich aus dem letzten Satz 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 61 


in den Rhythmen als in der Anordnung der Töne nach Höhe und Tiefe 
-—— nieht aber in der Mischung, die Consonanz vielmehr hat kein Ethos —: 
während bei den übrigen Sinnesempfindungen dies (die erwähnte Ähnlieh- 
keit) nicht stattfindet. Diese Bewegungen sind aber handelnder Art (mpak- 
rıkal), und die Handlungen sind ein Zeichen (onuacta) des Ethos.« 

Pr. 29 wirft von vornherein die Frage nur für Rhythmus und Melos' 
auf und antwortet kurz: »Etwa weil sie Bewegungen sind, ähnlich wie 
die Handlungen (worep kaı ai mpd&eıs). Die Thätigkeit? ist aber etwas 
Ethisches und bewirkt Ethos. Die übrigen Sinnesempfindungen wirken 
nicht in gleicher Weise«. 

Zu Pr.27 ist Manches zu erläutern. Vor allem: unter der dem Schall 
nachfolgenden Bewegung sind nicht etwa die physiologischen Bewegungen 
im Organismus verstanden”, sondern die empfundenen Veränderungen der 
Intensität und Höhe der Töne, worin Melodie und Rhythmus selbst be- 
stehen. Darum heifst es: klvnow Eyeı (TO akovoröv). Wol liegen nach 
den Anschauungen der aristotelisechen Schule allen Empfindungen physio- 
logische Bewegungen zu Grunde. Aber was der Verfasser hier im Auge 
hat, ist nicht die physiologische, sondern die psychologische Seite der 
Sache, die Modificationen der Gehörsempfindungen selbst, wie sie unsrem 
Bewulstsein gegeben sind. Das Wort kivnoıs wird also hier weder im 
physisch-räumlichen Sinne (wogegen der Verfasser selbst sich verwahrt), 
noch im physiologischen, sondern in einem geistigen, übertragenen Sinne 
gefalst; wie wir solchen Sprachgebrauch auch bei Plato und Aristoteles 
öfters finden. Doch kann nicht jede Veränderung der Empfindung gemeint 
sein, da auch bei anderen Sinnen Veränderungen nach Intensität und Qua- 
lität vorkommen, sondern nur wieder geordnete Veränderungen. Nur bei 
den akustischen Eindrücken lassen sich, meint der Verfasser, feste Abstu- 
fungen sowol in zeitlicher Hinsicht (Rhythmus) wie in qualitativer (musika- 


des Problems (ai de kıvıjoeıs avraı mparrıral eiow) ergiebt. Denn dieser Satz ist es, der den 
Kettenschluls folgerichtig weiterführt. 

! Der Zusatz dovy ovoa bedeutet wol: worin der Gesang besteht (Gaza: »qui voces 
sunt«, Bussemaker: »qui ad vocem pertinent«). 

? evepyeia verstehe ich hier nicht mit Jan im Sinne der aristotelischen Form (Wirklich- 
keit) als Gegensatz zu den nur dwae: existirenden geschriebenen Gesängen, sondern einfach 
und ohne Metaphysik als das Thätigsein,, &vepyeiv. 

® wie sie z.B. Plato im Timaeus p. 67,5 und 80,«@ beschreibt und zur Erklärung von 


Consonanz und Dissonanz verwendet. 


62 6. Srumpr: 


lische Intervalle) durehführen. Man mag vielleicht auch hierüber mit dem 
Verfasser rechten und einen blos graduellen Unterschied gegenüber anderen 
Sinnen finden wollen, aber es wird sich nicht leugnen lassen, dafs das 
Gehör wenigstens durch die Feinheit und Vielgestaltigkeit der rhythmischen 
und qualitativen Abstufungen weit über allen anderen Sinnen steht. Wir 
können also seine Behauptung auch sachlich würdigen. 

Diese im Zeitverlauf sich abspielenden Modificationen der akustischen 
Sinnesempfindungen nun, die er kurz Bewegungen nennt, haben Ähnlichkeit 
mit den Handlungen, den willkürlichen Bewegungen, den körperlichen Äufse- 
rungen unsrer Willensthätigkeit (kıvyoeıs mpartıkal); und in den Handlungen 
selbst wieder zeigt sich der Charakter der Menschen. Infolgedessen wirken 
Rhythmus und Melos als Bilder des Ethos, des Charakters. Es haben sich, 
würden wir sagen, durch die genannten Mittelglieder Vorstellungen des 
Sittlichen damit assoeiirt. 

Die Lehre findet sieh in ganz ähnlicher Weise bei Aristoteles, wo u. A. 
in Pol. VIH, 5 p.1340, a, 28 auch der Gegensatz gegen die übrigen Sinnes- 
empfindungen hervorgehoben wird; nur bei den Gesichtseindrücken komme 
sporadisch etwas Verwandtes vor, doch seien auch sie dann nicht eigentlich 
Öuomwuara, sondern nur onuera rev ndov'. Auch sonst ist die Anschauung 
den alten Schriftstellern geläufig. 

Ist nun alles insoweit verständlich und auch nach unsren Vorstellungen 
schön gesagt, so mag die Parenthese über die Consonanz um so mehr Ver- 
wunderung erregen. Dafs auch hier Consonanz im Zusammenklange der 
Töne gemeint ist, ist unbestreitbar, ovupwvia wird ebenso wie in Pr.38 von 
ueXos unterschieden. Aber dort hiefs es doch, dafs wir uns an der Sym- 
phonie freuen. Jan findet denn auch einen Widerspruch zwischen beiden 
Problemen. Namentlich könnte man darauf hinweisen, dafs im Pr. 38 das 
Vergnügen an der Consonanz unter anderem auf die ra&ıs zurückgeführt 
wird, worunter nach dem sonstigen Wortlaut des Problems nur die Ord- 
nung der der Consonanz zu Grunde liegenden Bewegungen verstanden sein 
kann. Wenn nun aber, nach Pr. 27, an geordnete Bewegungen eine ethische 


! onuetov, Zeichen, ist der allgemeinere Begriff; auch das Ähnliche ist ein Zeichen für 
das Ähnliche, aber nieht jedes Zeichen braucht dem Bezeichneten ähnlich zu sein; es muls 
nur regelmälsig daran geknüpft sein; wofür Aristoteles an derselben Stelle als Beispiel die 
körperlichen Bewegungen anführt, die an die Affeete geknüpft sind. So werden auch Pr.27 


am Schluls die Handlungen 79ovs anuaria genannt. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 63 


Wirkung geknüpft ist, sollte man eine solche auch von der Consonanz 
erwarten. 

Aber wir müssen hier wol unterscheiden. Es handelte sich im Pr. 38 
um eine Entstehungsweise von Lustgefühlen, bei der die Vorstellungsassoeia- 
tion keine Rolle spielt, um den sogenannten »direeten Factor«, mit Fechner 
zu reden. Der Verfasser stützt sich dort einfach auf das Gesetz, dals an 
gewisse physiologische Vorgänge, die er als »geordnete« oder »natürliche« 
Bewegungen bezeichnet, weil sie mit den Lebensbedingungen des Organismus 
übereinstimmen, eine instinetive Lust geknüpft ist. Hier hingegen sind 
erstlich Bewegungen in ganz anderem Sinn gemeint. empfundene Verände- 
rungen der Intensität und Qualität der Töne. zweitens wird auf die Ver- 
knüpfung dieser Empfindungsmodificationen mit Handlungen und Charakter- 
eigenschaften in unsrem Bewulstsein hingewiesen. Im Pr.38 ist mit keiner 
Silbe davon die Rede, dafs jene Bewegungen als Bilder von etwas auf 
unser Gemüt wirken sollen; dort war eben nicht die Frage nach dem 
Ethos gestellt. Als eine Ergänzung zu 38 also müssen wir Pr. 27 be- 
trachten, aber keineswegs als einen Gegensatz'. 

Obgleich nun aber die hier entwickelte Anschauung von der Wirkung 
der Consonanz in sich vollkommen verständlich und mit keiner anderen in 
den Problemen in Widerspruch ist, so bleibt doch ein eclatanter Wider- 
spruch gegen unser gegenwärtiges musikalisches Gefühl. 


Diese wenigen Worte n ovubwvia ok Eexyeı nos — ent- 
halten im Kern den ganzen Unterschied der alten und der 
neuen Musik. 

Für uns ist auch an die Consonanz und Dissonanz des Zusammen- 
klangs ein Ethos geknüpft, und es ist so fein und manichfaltig durech- 
gebildet wie das der Rhythmen und der melodischen Bewegung. Der Zu- 
sammenklang der Octave hat einen anderen »Charakter« als der der Quinte 
oder der Terz oder Septime. Wenn sich auch dieser Charakter (ebenso 
wie der der Rhythmen und melodischen Wendungen) schwer in Worten 
wiedergeben läfst und wenn er durch den musikalischen Zusammenhang 


wesentlich mitbedingt ist, so braucht man doch nur die Beschreibungen 


! Noch misverständlicher sagt Jan: »ww&s sonorum turbare et obseurare carminis ethos 
Graeeis videbatur« und führt dafür die Stelle aus der Schrift r. akovorov an, wo es heilst, 
dals die Töne bei der Consonanz sich gegenseitig verbergen. Damit ist überhanpt nicht eine 
Gefühlswirkung gemeint, ebensowenig wie bei Aristot. De sensu e.7. S. oben S. 9. 


64 C. Stuner: 


musikalischer Wirkungen anzusehen, um sich zu überzeugen, dafs diese 
Art und Seite der Gefühlswirkung für uns durchaus im Vordergrunde steht!'. 

Vielleieht möchte einer doch nieht ohne Weiteres einen Unterschied 
der musikalischen Empfindung selbst, sondern nur einen der Musiktheorie 
aus unsrer Stelle ableiten. Der Verfasser dieses Problems habe eben kein 
Verständnis für die ethische Wirkung des Zusammenklangs als solchen 
besessen: mehr lasse sich zunächst nicht schliefsen. Gewils — wenn uns 
sonst nichts über die alte Musik und über die spätere Musikentwieckelung 
bekannt wäre. Aber alles, was wir hierüber wissen, stimmt vollkommen 
mit der Aussage unsres Problems überein. Wir dürfen dieses als Austlufs 
und als correeten Ausdruck des wirklichen Musikgefühls seiner Zeit an- 
sehen. 

Für die Alten existirte nur die sinnliche Annehmlichkeit der Zusammen- 
klänge, und auch diese offenbar nur wenig differenzirt. Von ihr allein ist 
im Pr. 38 und sonst die Rede, wenn Consonanz als solche angenehm ge- 
nannt wird”. 

Woher dieser Unterschied kommt, wie sich der Sinn für das Ethos der 
Zusammenklänge entwickelt hat und wie hiemit die gesammte Umgestaltung 
der Musik zusammenhängt, das mufs natürlich hier auf sich beruhen. 


! Dazu gehört besonders auch alles was mit der sog. Auflösung der Dissonanzen, all- 
gemeiner gesagt mit der Stimmführung zusammenhängt. Ich kann daher Westphal (Griech. 
Harm. 3180) nicht zugeben, dafs in Pr. 39» (s.o. S. 24) genau die Eindrücke beschrieben 
seien, welche wir bei Dissonanzen und bei den auflösenden Consonanzen des Abschlusses 
empfinden. Bei der sg. Auflösung kommt es durchaus auf die richtige Stimmführung an, 
nicht blos darauf, dals auf irgend eine Dissonanz irgend eine Consonanz der bezüglichen 
Tonart oder gar eine Homophonie folgt, z.B. auf f—-g e—g oder blos c. Dals die Alten 
etwas wie Stimmführung, dafs sie Polyphonie in diesem Sinne gehabt hätten, davon ist 
nichts überliefert. 

2 Plato allerdings unterscheidet einmal hinsichtlich der Consonanz, nachdem er aus- 
drücklich von der Verschmelzung der hohen und tiefen Bewegung zu einem einheitlichen 
Zustand, also von gleichzeitigen Eindrücken, gesprochen, eine sinnliche Lust, die sie den 
Unverständigen gewähre, und ein Wolgefallen »durch Nachahmung der göttlichen Harmonie 
in vergänglichen Bewegungen« bei den verständigen Hörern (Timaeus p. 80, bj). Es ist sehr 
fraglich, ob Plato hier aus dem wirklich erlebten Gefühl heraus spricht und nicht vielmehr 
seiner Metaphysik zu Gefallen, die alles in der Welt auf Nachahmung der Ideen gründet. Wäre 
das erstere der Fall, so hätten wir hier die erste Vorahnung künftiger Entwickelungen. 

Aristoteles erwähnt, wo er von der aesthetischen Wirkung der Musik sprieht, immer 
nur Rhythmus und Melos (oder äpnovia, was ebendasselbe bedeutet), vgl. Pol. VIII, e. 5 
p.1340,a, 13 (wozu Jan’s Correctur Mus. ser. p. 26, 12); P.1340, buTT75RC.7 pP. 1347, hg: 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 65 


5. Vorrang der Octave vor den übrigen Symphonien und der 
Antiphonie vor der Symphonie und Homophonie. Pr.35', 16, 39". 


a) Pr. 35° (bis zu dia mavros, s.0. S. 50): »Warum ist die Octave 
die schönste Consonanz?« — Die Antwort verweist zunächst auf arith- 
metische Verhältnisse (dafs nur bei der Octave, wenn der tiefere Ton als 
ı gesetzt wird, der höhere ohne Bruch ausgedrückt werden kann). Aufser- 
dem sei die Oetave die vollkommenste Consonanz, da sie sich aus den 
beiden anderen (Quinte und Quarte) zusammensetze. Endlich sei sie das 
Mafs der Melodie; womit wahrscheinlich gemeint ist, dafs die Melodie sich 
innerhalb dieser Grenze bewege. 

Wir sehen aus der Fragestellung, dafs unter den Consonanzen, die nach 
dem Vorangehenden (S.58) gegenüber dem einfachen Ton als angenehmer 
gelten, auch noch Gradunterschiede der Annehmlichkeit' statuirt werden. 
Nach unsrem Gefühl würden wir in dieser Hinsicht wol die Terz voran- 
stellen, jedenfalls den unbedingten Vorrang der Octave nicht zugestehen, ob- 
sehon wir sie natürlich nach wie vor als vollkommenste Consonanz, d.h. als 
Zusammenklang von stärkster Verschmelzung erkennen. Auch diese Wand- 
lung läfst sich historisch -psychologisch begreifen. 


b) Pr.16: »Warum ist das Antiphone angenehmer als das Sym- 
phone? — Etwa weil (dabei) das Symphoniren besser deutlich wird, als 
wenn man zur Symphonie singt. Denn (es wäre sonst) notwendig, dals 
die eine der Stimmen im Einklang sänge, sodals zwei gegen eine Stimme 


D) 


stehen und die andere (nämlich diese isolirte) unterdrücken «“. 

Bojesen vermutet einen Fehler im Text der Fragestellung, da nirgends 
sonst in den Problemen Antiphones und Symphones sich entgegen gesetzt, 
vielmehr das erstere unter dem letzteren mitbegriffen werde. Er will mit 
Rücksicht auf Pr. 39° (s. u.) in der Frage statt avubwvov ouobwvov lesen. 
Dieselbe Änderung nahmen schon Burette und Chabanon, neuerdings wieder 
Bussemaker und Barthelemy St.-Hilaire in ihren Übersetzungen vor. Aber 


! xaAXiorn, das an sich vielleicht etwas mehr als 7diorn bedeuten könnte, ınöchte ich 
mit Rücksicht auf das Vorangehende und auf Pr. 39%, wo das gegenwärtige offenbar eitirt 
wird (s.u.), doch mit 7d&orn synonym fassen. 

2 Aa Ti ndtov TO avribovov ToV ovubovov; — "H on naAAov OtaonAov yYiverat To ovuboveiv, 
7 Orav mpos nv ovupwviav ao. avaykı yap Tv Erepav önopmveiv, GcTe dvo mpos ulav dovav Yırönevaı 
abavilovoı Tv Erepav. 

Philos.- histor. Abh. 1896. III. 9 


66 G, Srumpr: 


in der Lösung ist nur von der Symphonie die Rede; und was überhaupt 
mit der Deutung des Ganzen anfangen? 

Gevaert, Ruelle und Jan verstehen ohne 'Textänderung die Frage 
dahin, warum die Oectave angenehmer sei als die Quinte und Quarte. 
Aber dafs die Oectave, das Hauptbeispiel der Symphonie, der Quinte und 
(Juarte als »dem Symphonen» gegenübergestellt würde, wäre ein Wider- 
spruch zu dem sonstigen Sprachgebrauch der Probleme und des ganzen 
Altertums, höchstens den Ptolemaeus ausgenommen, der in der That nur 
(Juinte und Quarte als Symphonien, die Oetaven aber auch nieht als Anti- 
phonien, sondern als Homophonien bezeichnet!. Und was soll uns wiederum 
die Lösung, das mpos nv ovubwviav aön und der letzte Satz? Man 
mufs in den Übersetzungen und Commentaren nachsehen, welehe Künst- 
lichkeiten und Unmöglichkeiten der Auslegung dabei vorkommen. 

Kiehthal und Reinach meinen, dafs die Lösung überhaupt keine Be- 
ziehung zur Fragestellung habe, und ergänzen eine neue Fragestellung 
dazu, nämlich: » Warum ist es angenehmer, einen Gesang mit Begleitung 
einer einzigen, als zweier Instrumentalpartien zu hören?« Als Lösung 
dieser seltsamen Frage erblieken sie in unsrem Problem den Gedanken, 
dafs im zweiten Falle »de toute necessite« eine der beiden Instrumental- 
stimmen mit dem Gesang unison sein müsse, sodals der so verdoppelte 
Ton den anderen unterdrücke. Aber diese »toute necessite« ist nicht im 
mindesten vorhanden. Von den beiden Instrumenten kann das eine in 
einer höheren, das andere in einer tieferen Octave mitgehen, oder beide 
in verschiedenen höheren Octaven; sie können auch an einzelnen Stellen 
die Quarte und die Oetave zu dem gesungenen Ton angeben (solche Drei- 
klänge sind uns mehrfach bezeugt). Und schliefslich, wenn wirklich der 
Gesang dureh ein damit unisones Instrument verstärkt wird, kann man 
ja das zweite Instrument, das den symphonen Ton giebt, auch noch dureh 
ein drittes verstärken, dann ist das Gleichgewicht wiederhergestellt. Eben 
darum nannten wir schon die vermutete Fragestellung seltsam. Endlich ist 
im Wortlaut mit keiner Andeutung von Instrumentalbegleitung die Rede, 
sondern wird immer nur vom Singen und von der Stimme gesprochen. 

Auch dieses Problem wird nach seinem ganzen Wortlaut verständlich, 
wenn wir die obigen Erläuterungen über den Antiphonie - Begriff der Probleme 


! Bei Theo Smyrn. (bez. Thrasyll) ist das ovupovov kar! avrihovov eine besondere Art 


des Symphonen, wird ihm also auch nicht gegenübergestellt. 


“ 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 67 


zu Hilfe nehmen und uns den Vorgang, von dem hier die Rede ist, so denken: 
Zwei Sänger bez. Chöre singen zuerst eine Melodie in Oetavengängen, dann 
wiederholt ein dritter sie in der tieferen der beiden Octaven. Diese Aus- 
führungsweise , meint der Verfasser, läfst das Symphoniren (der Octaven) besser 
hervortreten, als wenn er, der dritte, zur Symphonie (zur Octave) mitsänge. 
Denn dann mülste er, da nach Pr. 18 nur in Oetaven mehrstimmig gesungen 
werden darf, im Einklang mit einem der beiden singen, wodurch der andere 
zu sehr zurückgedrängt würde'. Wir wissen ja, dafs bei der Symphonie viel 
auf die gleiche Stärke der beiden Töne ankommt (s. 0. S.58). Ist einer 
zu stark vertreten, so hört man eben nur diesen, nicht eine Consonanz. 

Bei der Argumentation ist vorausgesetzt, dafs drei Säuger oder Chor- 
abteilungen gegeben sind und beschäftigt werden müssen. Nach dem, was 
wir aus anderen Problemen und sonstigen Mitteilungen der Alten wissen, 
sangen bei vielen Gelegenheiten ein Männer- und ein Knaben-(oder Frauen-) 
Chor in Octaven. Der Männerchor übernahm nun die antiphone Wieder- 
holung (die nach Pr. ı3 in der tieferen der beiden Oectaven stattfand). Er 
wurde, so müssen wir wol annehmen, zu diesem Zweck verdoppelt, die 
eine Hälfte (nuuyopıov) sang mit den Knaben in Oetaven, die andere nach- 
her allein. Diese Anordnung scheint auch das sogleich zu besprechende 
Probl. 39° im Auge zu haben, wonach Knaben, Jünglinge und Männer das 
Antiphone herstellen. Indem nun der Verfasser die traditionell stärkere 
Besetzung des Männerchors als eine gegebene Sache hinnimmt, kommt er 
zu der Fragestellung, warum diese Verteilung der Kräfte besser wirkt, als 
wenn die ganze Masse sogleich zusammensänge. Die Antwort ist nach 
diesen Voraussetzungen einleuchtend. 


c) Pr. 39°: » Warum ist das Antiphone (im Text: Symphone) ange- 
nehmer als das Homophone? — Etwa weil das Antiphone aus einer Öc- 
tavenconsonanz wird (im Text: eine Octavenconsonanz ist). Denn das Anti- 
phone entsteht aus (dem Gesang von) Knaben, Jünglingen und Männern, 
deren Stimmen sich wie die Nete zur Hypate verhalten. Jede Sym- 
phonie ist aber angenehmer als der einfache Ton — warum, ist gesagt 

’ Er könnte zwar an und für sich auch in der dritten Octave mitsingen, aber dies würde 
zu Unbequemlichkeiten in Hinsicht der Stimmlage führen und den strengen Bedingungen, die 
sich die Alten für die Grenze des Stimmgebrauchs setzten (nieht über 24 Octaven), wider- 
sprechen, 


9* 


68 0. Stumer: 


worden! —, und unter ihnen ist die der Oetave die angenehmste. Das 
IHomophone aber enthält nur einfachen Ton. «* 

In der Frage dieses Problems ist nun wirklich eine Änderung des 
handsehriftlicehen Textes unvermeidlich, die ich auch, da sie seit Gaza fast 
allgemein acceptirt ist, sogleich in die Übersetzung aufgenommen habe. 
Die Handschriften haben ovubwvov statt avripwovov. Der strenge Zusam- 
menhang der Lösung, worin dem Homophonen durchaus das Antiphone 
gegenübergestellt und das Symphone nur als Hilfsbegriff der Beweisführung 
gebraucht wird, verlangt avribovov auch für die Fragestellung”. 

Wenn uns andere Probleme über Antiphonie nicht erhalten wären, 
könnte man nach diesem wol zu der Meinung kommen, «dafs Antiphones 
niehts weiter bedeute als eben Octaventöne. Es wäre dann gemeint, dafs 
ein Gesang in Oetavenparallelen angenehmer sei als ein blofs einstimmiger. 
Die Umständlichkeit der Beweisführung bliebe freilich zu verwundern: denn 
der zweite Satz der Lösung wäre überflüssig. Um die gleiche Bedeutung 
zweier Ausdrücke (avribovov und dıa Trao@v) zu rechtfertigen, braucht man 
nicht eine Entstehungsgeschichte der Sache beizufügen, höchstens eine Er- 
läuterung über die Entstehung der Ausdrücke. Ebenso bliebe der letzte 
Satz seltsam: denn wenn Homophones nichts weiter bedeutet als einfacher 
Ton, so kann man doch nieht gut sagen: das Homophone hat einfachen Ton. 

Nun gehört aber zweifellos dieses Problem eng mit dem eben be- 
sprochenen Pr. 16 zusammen; die Fragestellung ist ganz analog. Es ist des- 
halb von vornherein kaum anzunehmen, dafs hier ein anderer Begriff von 
Antiphonie zu Grunde läge, als wir ihn dort und auch in sonstigen Problemen 
gefunden. In der That läfst sich dieser auch hier festhalten. Der Verfasser 
meint: es ist angenehmer. wenn die Melodie zuerst in Octavengängen ge- 
sungen und dann einstimmig in einer von beiden Tonhöhen (der tieferen) 
wiederholt wird, als wenn Ausführung und Wiederholung auf der nämlichen 
Tonhöhe stattfinden. Die antiphone Wiederholung ist angenehmer als die 


! im Pr, 38. Dies ist die einzige Verweisung innerhalb der XIX, Section. 
D - N \ 
? Ad mi ydıov dor TO Avriowvor (statt adbubovov) Tou önodovov; — "H örı (statt kat) To 
x ’ ’ ’ ’ ’ x ’ [2 ’ Sı m ’ [AN x x [4 ei) hy m 
ev Avribovov er avubovov eorı (Statt arupavov earı) da marov. Er maidov yap (Kal) veov Kal avdp@v 
r Sr ar Een Wa a2 N... - 
YıreTat TO avripwvor, ot ÖGETTAaOL TOIS TOVOIS WS vytn mpos VTaTrnv. ovubovia oe mawa Nolav anrAov 

, in a m De Ca a: lo N Base. Ar 

ddoyyov or ade, eipyraı ‚ka rovrov n ovea Taarwv yıortn' To ouohbmvov oe amAovv exe ddoyyov. 
> Im Text der Lösung ist die Anderung von kat in or (Ruelle, Jan) einleuchtend, 
a Ä & r Wr 5 
Ruelle’s Einschaltung von xat vor veov wenigstens sehr plausibel (Parallele raldov kat veov bei 


Philodem De mus.). Über ex avubovov sogleich nachher. 


Die pseudo- aristotelischen Probleme über Musik. 69 


homophone. Dafs der Leser unter dem »Gegengesang« eine Wiederholung 
der Melodie verstehe, setzt der Verfasser voraus und hält es nur für nötig, 
zu erinnern, worin das Unterscheidende der antiphonen und der homophonen 
Wiederholung bestehe. 

Die Antiphonie beruht auf dem Gebrauch der Symphonie, und zwar der 
Octave. Sie entsteht durch das Zusammenwirken der Knaben-, Jünglings- 
und Männerstimmen (indem sie bald zugleich, bald einzeln singen). Da nun 
der symphone Klang und vorab die Oetave angenehmer ist als der Einzel- 
klang, die homophone Vortragsweise (mit Wiederholung auf der gleichen 
Tonhöhe) aber nur einfache Töne besitzt (in keinem ihrer beiden Teile 
Symphonien enthält), so begreift sich, dafs die antiphone angeneh- 
mer ist. 

Diese Auslegung setzt noch die kleine Textänderung ek ovubovov eori 
voraus. Wir sahen bereits, dafs im Text des Problems sich mehrere kleine 
Fehler eingeschlichen haben, die nur aus dem Sinn heraus, auf diesem 
Grunde aber mit grofser Sieherheit verbessert werden können. Das Nämliche 
gilt hier. Mit dieser leichten Änderung wird alles durchsichtig. Es fällt 
nun auch der Anschein hinweg, als wenn hier eine Definition der Antiphonie 
gegeben wäre, die alle übrigen Probleme über Antiphonie in baaren Unsinn 
verwandeln würde (vgl. 0.8.26); und es ist zugleich der denkbar engste 
Anschlufs dieses Satzes an den folgenden, wo die Entstehung der Anti- 
phonie näher erläutert wird, hergestellt'. 

Zur Not könnte man allenfalls auch ohne die kleine Correetur aus- 
kommen, wenn man den Satz nur dahin verstände, dafs im Begriff der 
Antiphonie der der Octave enthalten sei (ohne sieh damit zu deeken), und 
dann weiterhin die eben gegebene Auslegung beibehielte. Aber gezwungen 
bliebe diese Auffassung des €eorı sicherlich und könnte zu einem Abend- 
mahlstreit im Kleinen führen. Auch wäre der nächste Satz wieder weniger 


gut motivirt. 


ı Zu eva &£ im Sinne von ventstehen« vgl. u. A. Aristoteles Pol. II, 2 p.1261, a, 18: 


r v . ‚ ER, ‚ TER Ihls , y 
mAnbos yYap rı rjv dvow &oriv 7 moAıs, yıvouevy Te ja naNNov olkia ev Ex mONEOS, avdpwmos 


Ö’ &E oiklas Eoraı (wenn der Staat noch mehr Eins würde — Aristoteles spricht hier von 
den ecommunistischen Träumereien —., so würde aus dem Staat eine Familie und aus der 


Familie ein Individuum). 


70 C. Srumrr: 


6. Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und 
ihrer Verbindung. 
a) Die Stimme und die Instrumente. Pr. ıo. 

Pr. 10: » Warum, wenn die menschliche Stimme angenehmer ist, ist 
sie es doch ohne Text nicht, wie z.B. wenn sie eine andere Klangquelle 
nachahmt', sondern ist vielmehr die Flöte oder Lyra (selbst) angenehmer? 
Oder ist auch dies” (die Instrumente), wenn es nachahmt, nicht in gleicher 
Weise angenehm? — Doch nicht! sondern wegen der Leistung (Epyyov) selbst. 
Die Menschenstimme ist zwar an sich angenehmer, aber zum Spielen sind 
die Instrumente besser geeignet (kpovotika de uaAXov) als der Mund. Darum 
ist es angenehmer zu spielen als mit dem Mund das Spielen nachzuahmen. « 

Der zweite Teil der Frage »Oder...« ist zugleich eine problematische 
Lösung, indem vermutet wird, dafs vielleicht jede Klangquelle, wenn sie zur 
Nachahmung anderer benützt wird. weniger angenehm wirke. Diese Vermu- 
tung wird dann aber nicht acceptirt. Der Grund liege vielmehr in der speziellen 
Beschaffenheit des menschlichen Stimmwerkzeugs, dem es eben nicht hin- 
reichend gelinge, das Eigentümliche der instrumentalen Tongebung wieder- 
zugeben. Dieses Mislingen, diese Halbheit — so müssen wir ergänzen — 


verursacht Unbefriedigung und verringert den Genufs. 


b) Gesang mit Begleitung. Pr.9g, 43. 

Pr. 9: »Warum hören wir einen Einzelgesang lieber, wenn einer zur 
Flöte oder Lyra singt? Und doch spielt das Instrument im Einklang mit 
der Stimme. Denn" wenn man an und für sich Freude daran hätte, dafs 
Mehrere das Nämliche vortragen, so mülste es noch angenehmer sein, 
wenn einer zu vielen Flöten sänge. — (Lösung:) Etwa weil einer, der 
zur Flöte oder Lyra singt, deutlicher das Ziel trifft (besser intonirt). Der 
Gesang zu vielen Flöten aber ist deswegen nicht angenehmer, weil sie die 


Stimme unterdrücken. « 


I Über reperilew s. Jan u. A. 

? Statt exei lese ich mit Jan &xewvo, beziehe es aber nieht mit ihm auf die Stimme, 
sondern auf die Instrumente. So verlangt es der Sinn, und sprachlich ist die Wendung 
(der Singular) zwar nicht schön, aber immer noch weniger hart und nachlässig, als es exer 
wäre. Übrigens könnte ich auch &xer, wenn man es beibehalten will, auf nichts anderes als 
auf das Spiel der Instrumente beziehen. 


° Seil.: »Hierin liegt eine Schwierigkeit; denn u. s. f.«. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 71 


Bedarf‘ keines weiteren (ommentars'. 

Das lange Pr. 43 wirft nun eine äufserlich gleichlautende, aber doch 
(wie bereits Bojesen hervorhebt) wesentlich verschiedene Frage auf: » Warum 
ist der Einzelgesang angenehmer, wenn man zur Flöte als wenn man zur 
Lyra singt?« Es handelt sich also wieder um begleiteten Gesang, aber 
nieht um begleiteten gegenüber dem unbegleiteten, sondern um den Unter- 
schied zwischen Flöte und Lyra in der Begleitung”. Dies ergieht sich 
evident aus der Lösung. Es hat den Anschein, als ob der Verfasser dieses 
Problems das Pr. 9 vor sich gehabt, aber die Frage misverstanden hätte. 
So ist in Wahrheit nicht blos eine neue Lösung, sondern ein neues Problem 
entstanden. 

Der Grund wird ı. darin gefunden, dafs die Flöte an sich angenehmer 
ist als die Lyra, weshalb denn auch die Mischung der Stimme mit ihr 
angenehmer ist; oder 2. darin, dafs die Mischung als solche gleiehmälsiger 
ist; oder endlich 3. darin, dafs die Flöte durch ihren (dauernderen) Klang 
und ihre (gröfsere) Ähnlichkeit (mit der Stimme) viele Misgriffe der Stimme 
verdeckt, während die Lyraklänge, die sich mit der Stimme weniger mischen 
und ihrerseits genau (abgestimmt) sind, das Fehlgreifen der Stimme wie 
ein Malsstab offenbar machen. Wenn nun viele Misgriffe im Gesang vor- 
kommen, mufs notwendig der Gesammteindruck (TO kowov €E audboiw) 
schlechter ausfallen. « 

Die erste und dritte Erklärung, die hier unverkürzt wiedergegeben 


sind, bedürfen keiner Erläuterung. Die zweite haben wir vorläufig in nuce 


' Es ist mir unbegreiflich, wie Ruelle dieses Problem so ganz. misverstehen konnte, 
nachdem Reinach, den er anführt, es bereits klar gemacht hatte. Im Text ist der über- 
lieferte Satz ei yap Erı naaAov TO auto, mAeov &deı mpos moAAoVs abAnras, kal Erı notov eivar (mil 
dieser Interpunction bei Bekker) so nicht möglich. Jan’s Lesung: ei yap Erepme naAAov To 
abro mAelovas Adeıv, Edeı mpos moAAo0s alAnras kat k.r.‘. giebt den Sinn am besten wieder. 
Doch könnte man auch ohne die etwas kühne Änderung £repre mit örı statt Erı auskommen, 
indem man dann zu wäaAAov ergänzt 70% (wie in Pr. 38 s. 0. 8.58). Das Übersehen von 
ade lielse sich aus dem darauffolgenden Eder wol begreifen. Andrerseits ist aber adew 
= Tongebung überhaupt (auch der Instrumente) ungebräuchlich, und es könnte das Verbum 
schon ursprünglich (ebenso wie 7) im Satze gefehlt haben, dergleichen Elisionen kommen 
in den Problemen wie schon bei Aristoteles selbst vor. 

® Der Unterschied tritt hervor, wenn man in die Fragestellung bei diesem Problem 
das dazu im Grunde notwendige pos einschaltet, das darum auch Jan einfügt: Ara ri’ dtov 
Ts novodias Akovonev, Eav mpos abAov 7 (mpos) Avpav aon; 


Die Wendung ev aö7 mit Auslassung des Subjectes ebenso in Pr.16 und 18, 


12 0. Stumrr: 


angegeben; der Verfasser kommt da einigermalsen vom Hundertsten in's 
Tausendste. »Das Gemischte ist angenehmer als das Ungemischte, wenn 
man beide (Elemente der Mischung) zugleich wahrnimmt.« Zunächst dieses 
Prineip ist uns aus S. 58 bekannt. Um nun aber das Weitere zu verstehen, 
mufls man in Gedanken den Satz einschalten: Unter dem Gemischten ist 
wieder ein Unterschied. »Denn Wein ist angenehmer als Essighonig', 
weil das von der Natur Gemischte sieh inniger mischt (durehdringt) als 
das von uns Gemischte. Es ist nämlich auch der Wein gemischt aus 
saurem und sülsem Geschmack, wie dies die weinigen Granatäpfel zeigen. 
Die Stimme und der Flötenton nun mischen sieh durch Ähnlichkeit, da 
beide durch «den Athem erzeugt werden’. Der Ton der Lyra dagegen, 
da er nieht dureh den Athem erzeugt wird und" weniger wahrnehmbar 
ist als der der Flöte’, vermischt sieh weniger mit der Stimme. Indem 
er aber einen Unterschied für die Wahrnehmung hervorbringt’, wirkt er 


weniger angenehm; wie solches bezüglich der Geschmäcke gesagt wurde. « 


c) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6. 

Pr. 6: » Warum wirkt die Parakataloge in den Oden tragisch? — Etwa 
wegen der Ungleiehförmigkeit (dvopaAtav). Denn pathetisch ist das Un- 
gleichförmige und in der Gröfse des Geschieks oder der Trauer Bestehende, 
Das Gleichförmige ist weniger rührend (Yo@des). « 

Unter der Parakataloge ist nach fast allgemeinem Dafürhalten® der melo- 


(lramatische Vortrag, die Verbindung der gesprochenen Rede mit Instru- 


' Hiezu vgl. die von Bussemaker herausgegebenen Probleme, Aristot. op. Didot IV, 
328, Nr. 20, wo darüber verhandelt wird, warum Essig und Honig zusammenpassen, Ferner 
vgl. Sextus Empirieus Bekk. p.757, 10 und den Neuplatoniker Aelianus bei Porphyrius in 
seinem Commentar zu Ptolemaeus’ Harmonik, Wallis p.218, wo die Verschmelzung der Töne 
bei der Consonanz mit der Mischung von Wein und Honig verglichen wird, 

° Ihre Mischung ist insofern einer »natürlichen« Mischung zu vergleichen. 

® Hier lese ich statt 7, das nach allgemeiner Ansicht keinen Sinn giebt, kat. 

* Dies beziehe ich auf die Bedingung der gleichen Stärke für die Mischungselemente 
(s. 0. 8.58 und 65 f,). Der dürftige Ton der Lyra ist neben der Stimme kein ebenbürtiges 
Kllement. 

5 mordv D0 diaopav ij aledyae. Darunter ist wahrscheinlich die ungleiche Dauer, das 
rasche Verschwinden des Tons aus der Mischung mit der Stimme verstanden. 

® Vol, Jan zu der Stelle. Ausführlich Christ, Abhandl. d. bayrischen Akad. d. Wiss. 
1, Cl. Bd. XII (1875). Zielinsky, Gliederung der altattischen Komödie 5.313 falst die Para- 
kataloge als »begleitetes Rezitativ«. Für die Auslegung unsres Problems würde dies keinen 


wesentlichen Unterschied machen. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 13 
mentalbegleitung, zu verstehen. Die Alten schrieben ihr hienach eine hervor- 
ragend tragische, pathetische und rührende Wirkung zu, und wir können 
dies vollkommen nachfühlen, wenn wir etwa an Schumann’s Manfred- oder 
Beethoven’s Egmont-Musik denken. Die Erklärung freilich ist zu kurz, 
um ganz verständlich oder gar überzeugend zu sein. Unter der avopakta 
ist wol die Versehiedenheit zwischen dem Spreehen mit seinen nichtfixirten, 
stetig veränderlichen Tönen und der Musik mit ihren festen Intervallen ver- 
standen, weleher Unterschied von den Alten öfters hervorgehoben wird. Ge- 
rade diese Ungleichheit der Elemente, die für den sinnlichen Eindruck einen 
Nachteil ihrer Mischung bildet, erscheint dem Verfasser in höherer aesthe- 
tischer Rücksicht, in Verbindung nämlich mit der Gröfse und Herbigkeit 
des dargestellten Schicksals, als ein Vorzug. So wenigstens liefse sich 
der Gedanke fassen und könnte leicht psychologisch weiter ausgeführt 
werden, doch mag dies hier wieder auf sich beruhen. 


Zur Lehre von der Gefühlswirkung der Musik gehört aus den Problemen 
sonst noch: das auf S. 38 besprochene Pr. 33 über die anspreehenderen 
Gänge nach der Tiefe, die Ausführungen des Pr. 48 über das Ethos der 
Tonarten und die $. 24 und 64 erwähnte Stelle aus Pr. 39" über die poly- 
phone Art der Begleitung, die von der Stimme abweichende Melodieführung 
des Instruments. Vgl. auch das sogleich (S.74 Anm. ı) zu besprechende 
Pr.9ı aus der Bussemaker’schen Sammlung. 


IV. (Anhang.) Über physikalische Eigenschaften des Schalles. Pr. 2, ıı. 


Diese beiden Probleme stehen fremdartig neben den übrigen der 
19. Section, die sonst nur von spezifisch- musikalischen Dingen (»öova Trepi 
äppoviav«) handelt!. Sie gehören zu dem Gedankenkreis der 11. Section 
(öva mepi dwvns) sowie der fälschlich dem Alexander Aphrodisiensis zu- 


! Die Lehre von den Zahlenverhältnissen bei den Consonanzen (Pr. 23, 50) betrachte 
ich nieht als eine rein physikalische. Sie betrifft die Beziehung gewisser Empfindungsthat- 
sachen zu physikalischen Vorgängen, also das, was wir heute psyehophysische Gesetze 
nennen. Und diese Beziehung wird in den Probleinen als so wesentlich für die Beschreibung 
der Empfindungsthatsachen selbst aufgefalst, dafs sie in die Definition der Consonanz mit 
aufgenommen wird. 

Das Mitschwingen der Hypate auf die Nete (Pr. 24, 42) ist allerdings an sich eine rein 
physische Thatsache; aber wie sie hier behandelt wird, in engstem Zusammenhang mit Sinnes- 

Philos.- histor. Abh. 1896. II. 10 


74 GC. Stumer: 


geschriebenen akustischen Probleme', die sich auf die Modifieationen der 
Stimme durch allerlei äufsere oder organische Umstände sowie auf die physi- 
kalischen Eigenschaften des Schalles beziehen. Sie seien darum hier nur 
ganz kurz charakterisirt. 

Pr. 2 erblickt eine Schwierigkeit darin, dafs man weiter gehört wird, 
wenn man mit anderen singt oder ruft als wenn allein. Die Schwierigkeit 
ergiebt sich auf Grund der alten Physik, die den Schall nieht als Wellen- 
bewegung sondern als fortschreitende bez. mitgeteilte Bewegung gestofsener 
Luftteile auffafste?. 

Das 11. Problem bezieht sich auf die Erhöhung des Tones beim Echo, eine 
Erscheinung, die auch von gegenwärtigen Physikern mehrfach besprochen ist”. 


täuschungen und anderen psychischen Vorgängen, fällt sie noch in den Rahmen der psycho- 
logischen Akustik. 

Jedenfalls aber beziehen sich sowol Pr.23 und 50 wie 24 und 42 auf spezifisch-musi- 
kalische Faeta, nicht auf Eigenschaften, die für jeden beliebigen Schall oder Ton oder 
Tonverhältnis in gleicher Weise gelten. Darum gehören sie zu denen ep! äpuoviav. 

! S. Bussemaker in Didot’s Ausgabe des Aristoteles IV 307—309 (Sect. II, Nr. 82—96). 
Usener, Jahresbericht des Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859, S.19— 21. 

Ein einziges aus dieser Gruppe ist musik-aesthetischen Inhalts und in dieser Richtung 
nicht uninteressant: Nr. 91. »Warum erweckt die Syrinx und der hohe Ton an und für 
sich gleichsam den Schein der Einsamkeit (amAös Gomep Epnyiav moıer daiverdaı)? — Etwa 
weil der hohe Ton weit reicht und nicht in die Breite zerflielst (em moAv dtayeiraı), wie 
die sonstigen Töne?« — arAös bedeutet hier wol: soweit nicht andere Umstände, die Situa- 
tion, die Nebeneinflüsse, der Zusammenhang diese Wirkung aufheben. Dals die hohen 
Töne weiter gehört werden als die tiefen, wird auch in anderen Problemen besprochen 
(XI, 19, 47; vgl. zur Sache m. Tonpsych. 1 208, 426). Dals sie etwas Spitziges haben, ist 
schon im Namen ö&) angedeutet, auch in unsren Problemen besprochen (o. S. 17 £.). 

2 Vgl. Sect. XI, pr. 6 (gegen den Schluls: 6 Yrodos ap &orıv @hovuevos bmo depos). 

Sect. XI pr. 52 ist das nämliche Problem wie XIX, 2 behandelt und zwar in gleichem 
Sinne (man muls das »kara Aoyov« berücksichtigen). In beiden Problemen wird hervor- 
gehoben, dals zwar eine Verstärkung stattfinde, aber nicht im Verhältnis zur Anzahl der 
Stimmen, und wird dies daraus erklärt, dafs sich die Luftbewegungen in der Nähe der Schall- 
quelle gegenseitig beeinflussen, weiter hinaus aber nicht. 

Dass übrigens unter Umständen auch für uns hier noch ein Problem liegen kann, 
möge man aus meiner Tonpsychologie II 430 ersehen. 

® Die Erklärung finden wir allerdings nicht auf blos physikalischem Gebiete. Vgl. 
auch dazu Tonpsych. I 242. 

Die Erhöhung des Tons mit der Entfernung überhaupt wird auch Probl. XI, 6 und zo, 
sowie in den von Bussemaker edirten II, 92 besprochen. 

Gaza übersetzt in unsrem obigen Problem ä@rnyovoa mit vox desinens; auch Andere 
fassen den Ausdruck so, und es kommt ja in der That 7x® für Klang im Allgemeinen vor 


I 


br! 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 


Ursprung und Entstehungszeit der Musik -Probleme. 


Wenn auch zu einer allseitigen und abschliefsenden Untersuchung 
der hiehergehörigen schwierigen Fragen alle Sectionen der Problemen- 
sammlung herangezogen werden müssen, so bietet doch unsre Section 
auch schon für sieh allein so viele Indizien, dafs wir uns über das Wesent- 
lichste, wie ich glaube, mit ziemlicher Bestimmtheit aussprechen dürfen'. 

Die von jeher bemerkte Erscheinung, dafs die nämliche Frage mehr- 
fach wiederkehrt und dabei öfters eine verschiedene Lösung erfährt, ist 
nicht dieser Section eigentümlich, aber doch hier besonders auffällig. 
Folgende Problem-Paare haben wörtlich oder nahezu wörtlich die nämliche 
Fragestellung: 5 mit 40, 7 mit 47, 9 mit 43°, ı2 mit 49, (16 mit 39°), 
ı8 mit 39°’, 20 mit 36, 22 mit 45, 24 mit 42, 25 mit 44, 27 mit 29°, 
30 mit 48, 34 mit 41. 


(Probl. XIX, 24, 25 u. ö.). Dennoch halte ich es aus sachlichen Rücksichten für wahrscheinlich, 
dals der Verfasser hier speziell das Echo im Auge hat (XI, 5r sowie das Parallelproblem 
bei Bussemaker II 93 behandeln ebenfalls eine das Echo speziell betreffende Frage). In der 
Lösung wird dann allerdings die Schwächung des zurückkommenden Schalls als Grund der 
Erhöhung angegeben, also die Erscheinung derjenigen bei der blofsen Entfernung eoordinirt. 
Ebenso wird XI, 6 das Echo als besonderer Fall der allgemeinen Regel erklärt. 

! Über die aristotelischen Probleme überhaupt vgl. Prantl, Abh. d. bayrischen Akad. 
1. Cl. VI (1851). E. Richter, De Arist. probl. Bonner Dissert. 1885. Jan, Mus. ser. p. 39f. 
Über die dem Alexander Aphrod. zugeschriebenen Probleme: Usener im Jahresbericht d. 
Joachimsthalschen Gymnasiums, Berlin 1859. 

Richter nimmt hauptsächlich drei Autoren an, die in verschiedener Weise den Theo- 
phrast benützten; aulserdem einen vierten, der jene vor sich hatte (z.B. für das Mese- 
Problem 25), und einen mehr hypothetischen fünften (p. 25—26) für die Probleme, die man 
keinem der viere mit genügenden Gründen zuschreiben könne. Über die Zurückführung 
der Probleme auf 'T'heophrast vgl. Jan p.43f. In der Unterscheidung der Autoren scheint 
mir Richter doch etwas spitzfindig zu werden. 

Bojesen trat noch für die Autorschaft des Aristoteles ein, ebenso neuerdings Barthe- 
lemy St.-Hilaire. Aber auch Westphal und Gevaert, in deren Darstellung der griechi- 
schen Musik die Probleme eine grundlegende Rolle spielen, schreiben sie immer noch un- 
bedenklich dem Aristoteles zu. 

® Bei 9 und 43 ist die Fragestellung dem Wortlaut nach dieselbe, aber dem Sinne 
nach verschieden (oben S.70f.). Die Pr. 16 und 39° sind nur in dem weiteren Sinn parallel, 
dals die Fragen bei vollkommen analoger äulserer Structur nahe inhaltliche Verwandtschaft 
besitzen. Das eine Mal wird die Antiphonie der Symphonie, das anderemal (wo die Hand- 
schriften überdies statt Antiphonie Symphonie haben) wird sie der Homophonie gegenüber- 
gestellt. Bei 18 und 3g® ist die Parallelität insofern hypothetisch, als wir zu 39® die Frage- 
stellung ergänzen mulsten. 


10* 


76 C. Stunmer: 


Aus dem Vorkommen von Parallelproblemen an und für sich würde 
ich nun noch nicht auf eine Mehrheit von Verfassern schliefsen. Bei 
solehen vorläufigen Erklärungen, wie sie in den Problemen versucht 
werden, ist es wol denkbar, dafs einundderselbe Forscher auf die 
nämliche 'Thatsache öfters und zwar auch von verschiedener Seite zu- 
rückkommt. Man denke an Kant’s nachgelassene Reflexionen und Ähn- 
liches. 

Nun kommt aber hinzu, dafs es sich in unsrer Seetion immer nur 
um Paare solcher Parallelprobleme handelt, dafs nicht auch gelegentlich drei- 
oder viermal die nämliche Frage ventilirt wird'. Deutet schon dieser 
Umstand darauf hin, dafs hauptsächlich zwei Verfasser an unsrer Section 
gearbeitet haben, so wird diese Annahme durch gewisse Unterschiede in 
methodischer und in sachlicher Hinsicht, die sich nicht blos bei Parallel- 
problemen sondern auch sonst in der musikalischen Seetion finden, be- 
stätigt. 

Ein Teil der musikalischen Probleme zeichnet sich durch prägnante 
Kürze aus, andere sind nicht blos ausführlicher (was durch die Sache be- 
dingt sein könnte), sondern ziemlich weitschweifig, wobei zugleich meistens 
starke Textverderbnisse auffallen; und zwar zeigt sich dieser Unterschied 
häufig gerade bei solchen mit gleicher Fragestellung. 

Ferner bedienen sich einige Probleme einer ausschliefslich mathema- 
tischen Betrachtungsweise, indem sie sich begnügen, auf gewisse Analogien 
der objeetiven Bewegungen oder ihrer Zahlenverhältnisse mit der zu er- 
klärenden psychologischen Erscheinung hinzuweisen, während andere sich 
durch eine eminent psychologische Tendenz auszeichnen, die das Mathe- 
matische nur nebenbei heranzieht; und wiederum zeigt sich dieser Unter- 
schied mehrfach bei Problemen mit gleicher Fragestellung. 

In sachlicher Hinsicht wird da, wo mathematische Verhältnisse be- 
sprochen sind, bald die Saitenlänge zu Grunde gelegt, bald die Geschwin- 
digkeit der Bewegungen, wonach die Hypate einmal als das Doppelte, 


D) 


einmal als die Hälfte der Nete bezeichnet wird’. Ferner wird, ohne dafs 


' Wenn auch Pr. 8 nach unsrer Auslegung wesentlich dieselbe Frage behandelt wie 


die Parallelprobleme ı2 und 49, so ist die Frage doch sozusagen dort unter einen anderen 
Begriff gefalst (ixvew), jedenfalls anders ausgedrückt. 

® Vgl. über die beiden Berechnungsweisen im Altertum Jan, Mus. ser. zu Euclid’s Sectio 
canonis. 


Ba | 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 7 


dies ausdrücklich bemerkt würde, bald die enharmonische, bald die dia- 
tonische Leiter, und wieder bei der diatonischen Leiter bald die getrennten, 
bald die verbundenen Tetrachorde vorausgesetzt (wobei die Mittelstellung 
der Mese das einemal aus dem scheinbaren direeten Abstand, das andere- 
mal aus der Stufenzahl hergeleitet wird). Bald endlich scheint sich ein 
Problem auf Melodien innerhalb eines Tetrachords, bald auf solehe inner- 
halb eines Octavenumfangs zu beziehen. 

Als das Entscheidendste aber erscheint mir (mit Jan p. 57), dafs der 
Verfasser des 43. Problems in der offenbaren Absicht, die im 9. Problem 
gestellte Frage zu wiederholen, sie vollkommen misversteht, wie dies aus 
seiner Antwort hervorgeht. Er kann darum auch die Antwort des Probl. 9, 
wenn sie ihm vorlag, nicht verstanden haben. Natürlich könnte das Mis- 
verständnis auch in umgekehrter Riehtung stattgefunden haben, doch dünkt 
mich dies weniger wahrscheinlich. 

Man kann nun aber nieht blos auf eine Mehrheit von Verfassern im 
Allgemeinen schliefsen, sondern, wenn wir alle vorhin genannten Kriterien 
zusammennehmen, mit hoher Wahrscheinlichkeit behaupten, dafs speziell 
die Probleme vom 35. an einen anderen Verfasser haben als die 
vorhergehenden. In dieser letzten Abteilung allein finden sich die relativ 
weitschweifigen, mit weniger klarem und geordnetem Gedankengang und 
mit längeren starken Texteorruptionen. Hier allein finden sich die auf 
verbundene Tetrachorde bezüglichen Probleme (44. 47) und die Beziehung 
der Zahlenverhältnisse auf die Bewegungsgescehwindigkeit (35*, vgl. auch 
39”, 42). In der ersten Abteilung allein wiederum finden sich diejenigen 
Probleme, die das enharmonische System voraussetzen (3, 4), und die, welche 
sich auf Tetrachordmelodien zu beziehen scheinen (30, 33). Diese beiden 
Kriterien sowie die Berechnung aus der Saitenlänge (23) könnten wol 
auch den weiteren Schlufs nahe legen, dafs die erste Abteilung ganz oder 
teilweise einem früheren Verfasser angehört. Aber dies möchte ich wieder 
weniger zuversichtlich behaupten. 

Öbscehon man ferner die Verschiedenheit der Erklärungen bei Parallel- 
problemen an sich nicht notwendig auf eine Verschiedenheit der Verfasser 
deuten mufs, wird doch in einzelnen Fällen der Schlufs durch die be- 
sonderen Umstände zwingender, so namentlich bei Pr. 30 und 48, wo man 
doch erwarten müfste, dafs die ausführliche Behandlung im Probl. 48 von 
dem im Pr. 30 kurz angedeuteten Erklärungsgrund irgendwie Notiz nähme. 


78 GC. STumpr: 


Wahrscheinlich hat der Verfasser von Pr. 48 die Lösung im Pr. 30 wieder 
gar nicht verstanden'. 

Ziehen wir endlich in Betracht, dafs von den vielen Parallelproblemen 
mit einer einzigen Ausnahme (27 mit 29)” durchgängig das eine unsrer 
ersten, das andere unsrer zweiten Abteilung angehört, so gewinnt nun- 
mehr allerdings auch dieser Umstand, die Existenz so zahlreicher Parallel- 
probleme, eine entscheidendere Bedeutung, und wir dürfen darum nun 
auch die wenigen Probleme innerhalb jeder Abteilung, bei denen man sonst 
zweifelhaft sein könnte, nach diesem Gesichtspunet beurteilen. So könnte 
das sehr knapp gehaltene Pr. 46 seinem Charakter nach ebensogut dem 
Verfasser der ersten Gruppe angehören; aber da es mitten unter anderen 
steht, auf welche die obigen Merkmale zutreffen und sein Parallelproblem 
in der anderen Abteilung hat, so werden wir auch jenes dem Verfasser der 
zweiten Abteilung zuschreiben. 

Mit Rücksicht auf das Prinzip der Parallelprobleme ist es auch bereits 
geschehen, dafs wir den Schnitt zwischen Pr. 34 und 35 und nicht etwa 
zwischen 33 und 34 verlegten: denn 34 hat sein Parallelproblem in der 
zweiten Abteilung (41). Man mufs in solchen Erwägungen natürlich alle 
Kriterien zusammennehmen. — 

In Bezug auf die Entstehungszeit endlich kann man den Anhängern 
des aristotelischen Ursprungs ohne Weiteres zugeben (wie dies auch Jan 
thut), dafs die musikalischen Probleme in Bezug auf den Geist der Unter- 
suehung und den allgemeinen Charakter der Dietion mit wenigen Aus- 


nahmen dem Aristoteles zugeschrieben werden könnten, und dafs kaum 


! Auch bei Problemen wie 16 und 39%, die an sich recht wol von Einem Verfasser 
stammen könnten, liegt, nachdem wir einmal zu zwei Gruppen geführt sind, die Auffassung 
nahe, dafs hier einunddieselbe Frage von Verschiedenen in solcher Weise transformirt wurde. 
Wie bei 9 und 43 unter Beibehaltung der wörtlich gleichen Fassung der Sinn der Frage 
verändert ist, während in anderen Fällen ohne Alteration des Sinnes kleine sprachliche Ab- 
weichungen stattfanden, so konnte auch eine Frage sowol dem Sinne als dem Wortlaute 
nach in eine nahverwandte Frage übergeführt werden, und dies sowol absichtlich als un- 
absichtlich. 

2 Wegen dieses einzigen Falles einen dritten Autor anzunehmen, kann man zwar Nie- 
mand verwehren, aber auch Niemand zumuten. Doch lielse sich allenfalls auch das Vor- 
kommen des dritten Parallelproblems 8 zu 12 und 49 (0. S.76 Anm. r) auf den dritten Autor 
deuten, zumal dort ebenso wie bei 27 und 29 die Fragestellung doch nicht so wörtlich 
wie sonst unter Parallelproblemen übereinstimmt. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 79 


irgendwo ein Widerspruch', dagegen in äufserst zahlreichen Fällen die engste 
Berührung mit den aristotelischen Schriften stattfindet. Aufser den Üo- 
ineidenzen, auf die Jan aufmerksam macht, haben sich uns noch verschie- 
dene andere und besonders die bei Pr. 14 besprochene ergeben. 

Aber alles dies beweist strenggenommen doch nur, dafs die Verfasser in 
den Schriften des Aristoteles zu Hause waren und seine Anschauungen und 
Denkweise sich zu eigen gemacht hatten. Eine gröfsere Anzahl dieser 
Probleme, etwa die erste Abteilung, dem Aristoteles selbst zuzuschreiben, 
trage ich schon darum einiges Bedenken, weil es mir fraglich scheint, ob 
man dem grofsen Denker trotz seiner ungeheuren Sachkenntnis auf sehr 
verschiedenen Gebieten eine so eingehende Kenntnis der technischen Einzel- 
heiten der Musik zuschreiben darf, wie sie sich hier findet. In seinen 
Schriften, auch in der ausführlichen Abhandlung im 8. Buch der Politik, 
hält er sich doch nur an das, was jedem Gebildeten damals bekannt sein 
mulste. Er zeigt keine selbständigen Anschauungen über intern -musika- 
lische Fragen und keine Neigung, sich in solche zu vertiefen. 

Es giebt aber eine Reihe speziellerer Erwägungen, die mich Schritt 
für Schritt zu der Überzeugung gebracht haben, dafs diese Probleme ihrer 
Hauptmasse nach einer viel späteren Zeit, frühestens dem ersten oder 
zweiten Jahrhundert nach Christus, angehören. 

Unmöglich ist die Autorschaft des Aristoteles, aber auch des Theo- 
phrast oder anderer Schriftsteller jener frühen Zeit, zunächst für diejenigen 
Probleme, die von der Antiphonie handeln, und für solche, die eng da- 


' Vielleicht wäre in Bezug auf die Lehre der Probleme von der kpaoıs gegenüber der 
Lehre von der jwi£&ıs bei Aristoteles De sensu ein gewisser Unterschied zu bemerken: Aristo- 
teles will die beiden Töne eigentlich doch nur als Einen für die Empfindung gelten lassen, 
während sie in den Problemen trotz der Verschmelzung als zwei unterschiedene Töne gelten. 
Doch ist Aristoteles hierüber auch mit sich selbst kaum vollkommen einig, wenn man andere 
Stellen seiner Werke vergleicht. 

Ebenso liegt wol eine Abweichung darin, dafs die Symphonie bei Aristoteles immer 
nur als Aoyos apıdu@v bezeichnet wird, hier dagegen auch als Aoyos kıyy eos, was mit 
der späteren Berechnungsweise, aus den Geschwindigkeiten statt aus den Saitenlängen, zu- 
sammenhängen mag. 

Jan verweist auf den Widerspruch des Pr. 43, welches die Flöte als angenehmer gegen- 
über der Lyra bezeichnet, mit den abfälligen Äufserungen des Aristoteles über die Flöte 
Pol. VIII, 6. Aber hier liefse sich wieder sagen, dafs der Tadel des Aristoteles sich nicht 
so sehr auf den sinnlichen Eindruck als auf den Mangel einer ethischen und bildenden Wir- 
kung des Flötenspiels bezieht. 


80 G. STUMPF: 


mit zusammenhängen. Denn unmöglich können wir annehmen, dafs von 
Plato und zwar von den platonischen Leges bis zu Aristoteles eine so 
vollständige Umwandlung des Sprachgebrauchs in Bezug auf die technische 
Bedeutung von avrißwvos sich vollzogen hätte. Wir dürfen darum den 
Ursprung dieser Probleme (wovon die Mehrzahl unsrer ersten Abteilung 
angehört) auch nicht einmal sehr nahe an Aristoteles heranrücken. Viel- 
mehr fügen sie sich in den historischen Entwickelungsgang nur unter der 
Bedingung, dafs wir sie der angegebenen Zeit zuweisen, da erst von da 
an der Begriff der Antiphonie in den theoretischen Schriften zu Tage tritt 
(S. 31-33). Wäre wirklich avribovos = Octaventon von Aristoteles oder 
Theophrast als eine allgemein bekannte technische Bezeichnung gebraucht 
worden, so wäre es ganz unbegreiflich, warum 300 Jahre lang, auch bei 
Aristoxenus, bei Euklid, keine Spur von dieser Verwendung sich fände. 
Aber nicht blos aus diesem grofsen Silentium argumentiren wir hier, son- 
dern gerade auch aus dem Vorkommen des Ausdrucks bei Plato in einer 
musikalisch-technischen, aber gänzlich anderen Bedeutung. 

Ähnlich verhält es sich mit den Äufserungen über das Melos sym- 
phonirender Töne. »Dafs das Melos in beiden zusammen liegt, primär 
aber in dem tieferen« — von dergleichen ist vor Plutarch nie und nirgends 
die Rede, bei Plutarch aber findet sich die genaue Parallele und zwar 
auch in Problemform; und von da an wird dann wieder öfters von derselben 
Sache in denselben Ausdrücken gesprochen, bei dem Platoniker Aelian, bei 
Porphyrius, bei Aristides, Bacchius, Gaudentius — Schriftstellern, die 
sämtlich den Jahrhunderten nach Christus angehören. 

Das Nämliche gilt drittens von den Äufserungen über das Mit- 
sehwingen. Meines Wissens existirt abgesehen von den Problemen kein 
Zeugnis, dafs dieses Phänomen vor dem Anfang unsrer Zeitrechnung be- 
kannt gewesen wäre. Dagegen findet es sich in den Schriften vom ı. und 
2. Jahrhundert an immer wieder erwähnt: so bei dem Peripatetiker Adrast, 
dem Dichter Agathias, dem Musiker Dionysius (Pseudo-Baechius), dem 
Kirchenvater Synesius, in der pseudo-galenischen Schrift [Ipos [avpor, 
bei Aristides Quintilianus, bei Macrobius!. 


* Vgl. die Zusammenstellung in der S.5 erwähnten Arbeit unter Nr.ır. Auch die 
Äufserungen über das Melos symphonirender Töne und die über die Ähnlichkeit sind dort 
bei Erwähnung der einzelnen Schriftsteller besprochen. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 81 


Auch die Ähnlichkeit zwischen den Tönen des Octavenintervalls 
wird erst von dieser Zeit an hervorgehoben. So gelegentlich bei Plutarch 
(De amiec. mult.), der sie als Folge des Zusammenklingens auffafst, dann 
ausdrücklich bei Ptolemaeus, der die Ähnlichkeit zur Definition der Con- 
sonanz überhaupt verwendet. Plato hatte wol (Tim. 80, a) die Ähnlichkeit 
der Bewegungen der Nete und der Hypate, aber nicht die Ähnlichkeit 
der Empfindungen behauptet. Vielmehr wurden Nete und Hypate seit 
Heraklit mit Vorliebe als entgegengesetzte Töne bezeichnet'. 

Hiezu kommen noch eine Reihe von Berührungspuneten mit Schriften 
der ersten christlichen Jahrhunderte, die, ohne einzeln genommen  be- 
weisend zu sein, das Gewicht der bisherigen Gründe noch verstärken. Von 
der Mese als apyn ist zwar schon bei Aristoteles die Rede, aber eine 
genaue Parallele zu den Äufserungen der Probleme findet sich doch nur 
bei Dio Chrysostomus (S. 40). Den scheinbar gleichen Abstand der Mese 
von der Nete und der Hypate berührt Eusebius von Emesa (S. 14). Die 
Gegenüberstellung von Melos und Rhythmus als dem weichen und dem 
harten Element der Melodie (Pr. 49) hat ihre Parallele bei Aristides Quin- 
tilianus (S. 22); der Vergleichung der hohen und tiefen Töne als harter 
und weicher (Pr. 49) entspricht das Ehegleichnis bei Plutarch, Varro ung 
Pollux (S.20, 23). Die aristotelische Stelle über das dAovpyov und Fa 
wird, wie im Pr. 14, von Porphyrius zur Erläuterung der Consonanz heran- 
gezogen (S. 9). Die Verwertung des Honiggleichnisses zur Erläuterung 
der Klangmischungen finden wir, wenn auch das ö6&vneAt selbst bereits 
dem Hippokrates bekannt ist, doch erst bei Aelian und bei Sextus Em- 
pirieus (S. 72). Über die verschiedenen Methoden zur Bestimmung der 
mathematischen Verhältnisse der Consonanzen, speziell die durch die offenen 
Gefälse, berichtet uns erst Theo Smyrnaeus (S. 11)’. Die Erzählung von 


! Eine Äufserung des Theophrast (bei Porphyrius Wall. 243 oben) bezieht sich nicht, 
wie man gemeint hat, auf die qualitative Gleichheit der Octaventöne sondern auf die er- 
forderliche Gleichheit ihrer Stärke, wenn anders Consonanz wahrnehmbar sein soll. S. da- 
selbst unter Nr. 5. 

® Dafs die Methoden selbst teilweise alten Ursprungs waren, verschlägt hiebei natür- 
lich nichts, es kommt uns hier auf die Erwähnung in der Litteratur an. 

Beim Pr. 4ı könnte es auffallen und schien mir zuerst ein Hinweis auf eine frühere 


Entstehungszeit dieses Problems, dafs nur das moArarAdoiov und das &muopıov als Aoyoı be- 
jetree 


———) fallen würde, 


zeichnet werden, während das, was unter den Begriff des &muepes 
gar keinen Aöyos besitzen soll (oböeva Aoyov #£ovew). Da nun bereits der Mathematiker Euklid 


Philos. - histor. Abh. 1896. III. 11 


82 6. Stumpr: 


den Veränderungen, welche die maAaıwi an der Leiter dureh Auslassung 
der Trite vornahmen, hat ihre Parallele bei Plutarch De musica'!. Der 
Hinweis auf die Musik und Musiklehre der raAaot ist überhaupt in jener 
Zeit öfters zu finden, ‚vgl. Aristides ed. Jahn p. 43. Theo Smyrn. ed. Hiller 
p: 66. Dazu kommen endlich noch einzelne Wendungen, wie die im Pr.42 
(nachdem von gewissen Sinnestäuschungen die Rede war): » wie sich Solches 
für uns oft ereignet, wo wir weder durch Sehlufsfolgerung noch durch 
Sinneswahrnehmung das Genaue ermitteln können«. Dies kann meiner 
Meinung nach Aristoteles nicht gesagt haben; es pafst dagegen genau in 
die Zeit der Skeptiker und Eklektiker. Auch der Ausdruck akaraAnmTos 
in demselben Problem scheint dahin zu weisen. 

Je mehr man sich solchergestalt in die Einzelheiten vertieft, um so 
mehr vervielfältigen sich die Berührungspuncte; und ich zweifle nicht, 
dafs Andere, sobald sie den Gedanken an diese späte Entstehungszeit ein- 
mal ernstlich in’s Auge gefalst haben, zu der gleichen Überzeugung kommen 
werden. 

Wol mochten bestimmte Fragestellungen seit langer Zeit traditionell 
geworden sein und verschiedene Forscher ihren Witz daran versuchen, wie 
wir denn auch für unsre Seetion mindestens zwei Verfasser vermuten. 
Und so mag das eine oder andere Musikproblem, wenigstens die Fragestel- 
lung, bis auf Theophrast, ja auf Aristoteles zurückgehen, der nach eigenen 
Äufserungen Problemsammlungen angelegt hatte und mit dessen Methode 
der » Aporien« diese ganze Untersuchungsweise zusammenhängt. Aber die 
grofse Masse der Musikprobleme stammt sicherlich nicht aus dieser Zeit. 


im 3. Jahrh. vor Chr. den Aoyos emyepys den beiden anderen Aöyoı coordinirt (Sect. can. bei 
Jan p.149, 12), so könnte man denken, das Pr. 41 müsse noch vor Euklid’s Zeit entstanden 
sein. Aber auch hiezu finden wir eine Erklärung und eine Parallele bei Theo. Er sagt 
zuerst (ed. Hiller p. 74): oi ev (Aoyoı) moANamAanıoı, oi de Emuopior, oi de obderepo. Darauf 
aber (p. 75): Aeyovra de rıves Ev Apıdunricn Adyoı dpıduov ob Jovov moANamAdoıoı Kal Empopror, 
ENNa al emiuepeis. Hienach rechnete man in jener Zeit das Emepes bald noch unter die 
Aöyoı (im engeren Sinn) bald nicht. Und so läfst sich aus der Ausdrucksweise des Pr. 41 
in Verbindung mit Theo’'s Sätzen eher wieder eine Bestätigung der späten Datirung ableiten. 

! Auch hier wolle man nicht einwenden, dals Plutarch seinen Bericht aus alten Quellen 
(Aristoxenus) schöpfte, aus deren Zeit auch die Probleme stammen könnten. Gewils ist 
diese Deutung an sich ebenfalls möglich. Aber zusammengenommen mit so vielen anderen 
Parallelen macht doch auch diese mehr den Eindruck, dals sowol die Probleme als Plutarch 
aus gemeinschaftlichen alten Quellen schöpften, nachdem man zu jener Zeit auf die historische 
Bedeutung solcher Nachrichten aufmerksam geworden war. 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. s3 


Genauere Bestimmungen als die obigen sind natürlich nur Sache der 
Vermutung. Wenn ich etwa das Ende des ı. und den Anfang des 2. Jahr- 
hunderts n. Chr. für die wahrscheinlichste Zeit ansehe, so geschieht es 
hauptsächlich wegen der sehr auffälligen Berührungspunete mit Plutarch 
und den bei ihm vorfindlichen Problemen, sowie im Hinblick auf den 
Charakter der peripatetischen Schule jener Zeit. Sie war zu reger Thätig- 
keit erwacht, die Werke des Meisters wurden geordnet, herausgegeben, 
commentirt. Zugleich machten sich aber auch. Einflüsse anderer Schulen, 
wie der pythagoreischen, geltend. Speziell im Gebiet der Musiktheorie 
beobachten wir dies bei Adrast, und ebenso tritt es uns in den Problemen 
entgegen. 

Dennoch möchte ich hiemit nur einen Terminus a quo angeben. Für 
denkbar, obwol weniger wahrscheinlich, mufs ich es halten, dafs die voll- 
ständige Zusammenstellung der überlieferten Musikprobleme ein oder zwei 
Jahrhunderte später vollzogen wäre; nur dafs sie früher entstand, scheint 
mir in keinem Falle glaublich. 

Wenn nun auch mehrere Hände an der Sammlung gearbeitet haben 
und wenn sie zum gröfsten Teil ziemlich spät entstanden ist: sie erscheint 
uns gleichwol, wie zum Schlufs wiederholt werden mag, im Grofsen und 
Ganzen als ein aus echt aristotelischem Geist geflossenes und eben darum 
auch als ein relativ einheitliches Werk. Gerade je weiter die Zeit ihrer 
Entstehung von Aristoteles abliegt oder je gröfser die Zeiträume sind, auf 
die sich ihre Entstehung verteilt, um so glänzender zeigt sich die Herr- 
scherkraft des Fürsten der antiken Wissenschaft, der es vermocht hat, auf 
Jahrhunderte hinaus die Seinigen auch auf so entlegenen Gebieten an eine 
solehe Schärfe des logischen Denkens, ein so festes und sicheres Anfassen 
der Schwierigkeiten, eine solche Feinheit der psychologischen Beobaehtung 
und eine solche Praeeision des Ausdruckes zu binden. 


84 6. Sruner: 
Register. 


(Die fetten Zahlen bedeuten die Seiten, auf denen ein Problem oder eine Stelle daraus er- 
läutert wird, während es an den übrigen Orten nur kurz erwähnt ist.) 


Seet. XIX. | Pr.34 S.16, 75, 78 
Pr. ı S.56 „35% » 12, 65, 77: 78 
2»7 | » 35 » 16, 50 
» 3. »5l, 77 I 30) A075 
4 »5l, 57, 77 » 37» 37, 50, 51 
»5»56, 75 » 38  » 5, 57, 62, 68, 71 
(a ». 30%, 5027.,31, 65, 67,07, 780758 
son 7 3 ,»u17.520236,27,0 » 396 » 6, 12, 23, 48, 64, 75, 77 
8 »17,19,.76,.78 eo 
ae led “Ar mırz, 0, TTS sl 
‚ 10» 70 „42 5 r14,016,27,173)175, 777582 
» II »73 >43 010,458, Dun 
ET Ten Te » 44 » 34, 36, 75, 77 
» 13 =.21, 26,.28,67 »45  »50, 75 
» 14 »95,8, 14,79, 81 » 46 »5l, 78 
15 »d43, 44, 45 „47  » 13, 36 (zweimal), 75, 77 
16 .» 26, 58, 65, 68, 71, 75, 78 „48 44, 49, 73, 75 77 
» 17.» 9, 14, 26, 27 "Ag 2752 76,078,081 
RUTör 2012,022,020, 1074 715075 » 50 »12, 73 
» I9  » 12, 26 
» 20 »40, 47, 48, 75 Sect. XI. 
» 2I »5l (zweimal) Pr. 6 S.16, 74 (zweimal), 75 
» 22 »50, 75 » IQ, E74 
230 0510, 12 0,77 » 20 » 16, 74 
» 24  »15, 73, 75 AT ERERTE 
» 25  » 34, 75 (zweimal) Sue 
»26 »5l 2520,27 
» 27» 60, 75, 78 
ae a Sect. II der von Bussemaker herausgegebenen 
ap Bolzen Probleme (Aristot. op. Didot. IV). 
OA ET Pr.zo: S.7z 
ee et Od 
» 32 »34, 36, 37 » 92 „16, 74 
» 33» 38, 41, 45, 47, 53 73, 77, 78 »93 »75 


Einleitung 


Die pseudo-aristotelischen Probleme über Musik. 


Inhalt. 


Il. Von den Eis nöimlichkeiten des Oekatänieer Säle 
Definition der Consonanz in den Problemen. Pr. 38, 39» 


A. 


ED 


Verschmelzung der Octaventöne. Pr. 14 

Zahlenverhältnis 1:2. Pr.23, 50 Be 

Ähnlichkeit (Analogie) der Octaventöne. Pr.ı9 

Resonanz. Pr. 24, 42 - a Er PR 008 
Die Octave allein giebt dureh Vergöppelune wieder eine Omsöndne Er 34,41 
Der tiefere Ton der Octave beherrscht den höheren und ist Träger des 
Melos. Pr. 8,12, (13), 49 On u RR 56 ur 
Octaventöne allein können in Parallelen zur Ausführung einer Melodie ge- 
braucht werden. Pr. 18, 39» : 5 . 5 E A: 
Die Octave allein dient zur Antiphonie, und zwar ist der tiefere Ton anti- 
phon dem höheren. Pr.17, (42), 13, (7) 


ll. Von den Leitern und den Gesängen. 


Fu EDER 


Sprachliche Bezeichnung der Leitertöne und der Gesänge. Pr. 28, 32, 25,44.47 
Bildung der siebensaitigen Leitern. Pr.7,47. u 

Gröfserer Melodienreichtum der älteren Componisten. Pr. 31 
Melodiebewegung von oben nach unten. Pr. 33 

Function des Mitteltons. Pr. 2o, 36 

Antistrophie der Chorgesänge gegenüber den Normal: = 15 


Gebrauch der Tonarten in der Tragödie. (Antistrophie und Ethos der 


Tonarten.) Pr. 30,48 . : RSS 
Einhaltung des Rhythmus und der Tonhöhe bein Singen Press 


37, 21, 26, 46, 3,4 


Ill. Gefühlswirkung der Meee 


I. 


2 
ge 
4 


Lust an der Musik überhaupt. Pr.ı 
Freude an bekannten Melodien. Pr.5,490. . . .. 
Freude an Rhythmus, Melos und Consonanz. Pr. 38 . RE 
Nur Gehörseindrücke haben ein Ethos. Die Consonanz jedoch hat keines. 
Pr.27, 29 : B or . "FR: 
Vorrang der Octave vor den übrigen Öonsenanzen und der Antipbonie vor 
der Symphonie und Homophonie. Pr. 35%, 16, 39% net : 
Annehmlichkeit der verschiedenen Klangquellen und ihrer V erbindimig: 

a) Die Stimme und die Instrumente. Pr.1o 

b) Gesang mit Begleitung. Pr. 9,43 

ec) Gefühlswirkung des Melodramas. Pr. 6 


IV. (Anhang). Über physikalische Eigenschaften des SERANS Pr.2, 01 


Ursprung und Entstehungszeit der Musikprobleme 


Register . 


Philos. - histor. Abh. 1896. III. 12 


22 


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ANHANG ZU DEN 


ABHANDLUNGEN 


DER 
KÖNIGLICHEN 


AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 
ZU BERLIN. 


ABHANDLUNGEN NICHT ZUR AKADEMIE GEHÖRIGER GELEHRTER. 


AUS DEM JAHRE 
1596. 


MIT 2 TAFELN. 


BERLIN. 
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN. 
1896. 


GEDRUCKT IN DER REICHSDRUCKEREI 


IN COMMISSION BEI GEORG REIMER. 


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 Heymons: Grundzüge der Entwiekelung und des Körperbaues von 
Odonaten und Ephemeriden. (Mit 2 Tafeln.) . . » . ... Abh. 1. 5.1—66. 


sw. 


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Grundzüge der Entwickelung und des Körperbaues 
von Odonaten und Ephemeriden. 
Von 


Dr. RICHARD HEYMONS, 
e\ Privatdocent und Assistent am Zoologischen Institut in Berlin. 


Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1596. I, 1 


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Vorgelegt in der Sitzung der phys.-math. Classe am 22. Oetober 1896 j 
[Sitzungsberichte St. XL. S. 1032]. 5 
Zum Druck eingereicht am gleichen Tage, ausgegeben am 21. December 186. 


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Mr den amphibiotisch lebenden Inseeten sind es besonders die Libellen 
und die Eintagstliegen, welche sowohl durch ihre auffallenden Körper- 
formen wie durch ihre biologischen Eigenthümlichkeiten die Aufmerksam- 
keit auf sich zu lenken pflegen. 

Der anatomische Bau und die Morphologie dieser Thiere ist gleich- 
wohl noch nicht zur Genüge bekannt. Hinsichtlich der Entwickelungs- 
geschichte gilt diels in noch weit höherem Mafse, denn seit dem Er- 
scheinen der Arbeiten von Brandt (69) und Packard (71), somit seit 
nun 25 Jahren, hat die Embryologie der Libellen keinen Bearbeiter ge- 
funden, während über Entwickelungsstadien von Ephemeriden bisher über- 
haupt erst äufserst wenige Mittheilungen vorliegen. 

Die Vernachlässigung der genannten Insectenabtheilungen im Gegen- 
satze zu vielen anderen darf eigentlich kaum als berechtigt gelten. Hatten 
doch gerade die interessanten Ergebnisse von Brandt über die Bildung 
der Keimhüllen von Caloptery zu mannigfachen Speculationen und Theo- 
rien Veranlassung gegeben, die gewifs schon längst eine erneute Prüfung 
der Entwickelungsvorgänge bei nahe stehenden Inseeten als wünschens- 
werth erscheinen lassen mulfsten. 

Aufserdem haben wir in den Odonaten, ebenso wie in den ihnen ver- 
hältnifsmäfsig nahe verwandten Ephemeriden, zweifellos noch relativ ein- 
fach organisirte, niedrig stehende Inseetentypen vor Augen. Auch in geo- 
logischer Hinsicht sind dieselben bekanntlich zu den ursprünglichsten 
Formen zu zählen. indem ihre direeten Vorläufer bereits in der palaeozoi- 
schen Erdepoche gelebt haben. Schon aus diesem Grunde dürften daher 
die genannten »Amphibiotiea« ein besonderes Interesse beanspruchen. 

1* 


4 R. Hrymons: 


In der vorliegenden Arbeit bringe ich einige Beobachtungen zur Kennt- 
nils, welche hauptsächlich vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkte 
aus gewisse Fragen bezüglich des Aufbaues und der Zusammensetzung des 
Odonatenkörpers behandeln, wobei dann, soweit es thunlich, gleichzeitig 
auch die Ephemeriden zum Vergleich herangezogen werden. Es soll nur 
in grofsen Zügen ein Überblick gegeben werden, der aber vielleicht als 
Grundlage für weitere Untersuchungen dienen mag. 

Als Material haben mir für meine Studien aufser den Imagines ver- 
schiedener Libellen und Ephemeriden zur Verfügung gestanden theils die 
Larven, theils die Embryonalstadien von Zpitheca bimaculata Charp,. Li- 
bellula quadrimaculata L., Sympetrum flaveolum L., Agrion (puella 1.2), Ephe- 
mera vulgata L. und Caenis grisea P. 


1. Über die Eier von Libellen und Ephemeriden. 


Über die Art und Weise der Eiablage, sowie über die Form der Eier 
selbst sei hier Folgendes bemerkt. 

Epitheca bimaculata und Libellula quadrimaculata pilegen ihre Eier in 
Gestalt umfangreicher Laichmassen abzulegen, voraussichtlich wird letzteres 
wohl auch noch für audere Arten der genannten Gattungen zutreffen. 

Bei den Odonaten ist dieser Modus der Eiablage aber ein immerhin 
recht aufsergewöhnlicher und bisher nur in ganz wenigen Fällen bekannt 
geworden. Für Zpitheca bimaculata liegen in dieser Hinsicht schon einige 
kurze Angaben vor, die wir Weltner (89) zu verdanken haben. 

Der Epitheca-Laich bildet einen Gallertstrang von beträchtlicher Länge, 
den man mitunter frei im Wasser flottirend antrifft. der aber meistens 
um Wasserpilanzen herumgeschlungen ist, wie diefs auch Fig. ı8 zeigt. 
Der daselbst abgebildete Laich besafs im ausgestreekten Zustande eine Länge 
von 32°" bei einer Breite von o°"S-ı"". In der anfänglich durchsichtigen, 
später mehr trüben und weifslichen Gallertsubstanz liegen mehrere hundert 
kleiner länglicher Eier von gelblichbrauner Färbung eingebettet. Die Farbe 
derselben rührt ausschliefslich von der harten und sehr festen Eischale 
her, während die von dieser umschlossene Dottersubstanz vollkommen farb- 
los bleibt. Der Längsdurchmesser der frisch abgelegten Eier beträgt 0"'"75, 
ihr Querdurchmesser 0""4. Fast sämmtliche Eier sind so angeordnet, dafs 
ihr Längsdurchmesser parallel zur Längsachse (des Stranges gerichtet ist. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 5 


Die Eier befinden sich in unregelmäfsigen Abständen von einander 
und zwar liegen sie hauptsächlich in den peripheren Theilen der Gallerte., 
während die Achse des Stranges frei bleibt. Die Eier sind auch nicht 
direet in die Gallertsubstanz eingebettet, sondern in kleinen länglichen, 
kapselartigen Hohlräumen derselben eingeschlossen. Bei einer genaueren 
Untersuchung ist noch ein eigenthümlicher chalazenartig gewundener Strang 
zu bemerken, der von einem jeden Ei ausgeht und sich an die Wandung 
des Hohlraumes anheftet, bez. in die Gallerte übergeht. 

Die Deutung der einzelnen Theile ergibt sich meiner Auffassung nach 
folgendermafsen. Die braungelbe harte Eischale entspricht dem Chorion 
(Endochorion) anderer Inseeteneier. Dieses Chorion ist ganz (oder theil- 
weise) von einer zarten hyalinen Schicht umhüllt, die in den erwähnten 
Strang übergeht. Ein Vergleich mit den Eiern anderer Odonaten lehrt, 
dafs wir in dem betreffenden Strang eine Art Micropyleaufsatz zu erblicken 
haben, mithin einen Apparat, der dem Spermatozoon den Zugang zur 
Micropyle ermöglicht. Die letztere befindet sich an dem vorderen Pol des 
Eies und durchbohrt daselbst das Endochorion. Die gemeinsame Gallerte 
endlich, durch welche die eigentliche Laichmasse selbst gebildet wird, 
dürfte den stark vergröfserten und mit einander verschmolzenen Exochoria 
der einzelnen Eier entsprechen. 

Von Libellula quadrimaculata habe ich einen Laich zur Verfügung gehabt, 
der in einem See in der Umgebung Berlins aufgefischt wurde. Die betreffende 
Laichmasse bildete im Gegensatze zu der von Zpitheca keinen isolirten 
Strang, sondern breitete sich in Form eines unregelmäfsigen Überzuges 
über ein Convolut von Wasserpflanzen und Algen aus. Im Vergleich mit 
Epitheca tvat auch (die gemeinsame Gallerte an Masse bedeutend zurück, 
sie bildete nur eine dünne, die einzelnen Eier mit einander verklebende 
oder verkittende Schicht. Im übrigen zeigt sich aber bei Zibellula ganz 
ähnlich wie bei Epitheca eine grofse Zahl von gelblichen Eiern in der Gallerte 
vertheilt. Der Längsdurchmesser der jungen, noch unentwickelten Eier 
beträgt 0o""5. 

Bei Sympetrum flaveolum kommt keine Laichbildung zu Stande. Das 
Weibchen läfst die Eier einzeln oder zu mehreren nach und nach in das 


Wasser fallen, in dem sie sich sogleich zerstreuen und zu Boden sinken'. 


' Ich habe den Vorgang nur an eingefangenen Weibchen von Sympetrum beobachten 


können, 


a u, 


6 R. Hrvuons: 


Ein jedes Ei besitzt auch hier aufser der eigentlichen Schale (Endochorion) 
noch eine zarte farblose, membranöse Hülle (Exochorion). An dem einen 
(hinteren), den Micropyleapparat tragenden, Eipol bemerkt man ferner einen 
schornsteinartigen Aufsatz (Mieropyleaufsatz), welcher von einer farblosen, 
hyalinen Substanz gebildet wird, die ohne Grenze in das Exochorion über- 
geht. Deutlich ist in dem Micropyleaufsatz ein enger Kanal sichtbar, der 
zu der am Grunde befindlichen Mieropyle hinführt. 

Die Eier sind von rundlich ovoider Gestalt und besitzen einen Durch- 
messer von etwa 0”"5. Das (Endo-)Chorion, welches Anfangs weilslich 
ist, nimmt schon einige Stunden nach der Ablage eine tiefbraune Färbung 
an, so dafs damit die Beobachtung der inneren Entwickelungsvorgänge 
sehr wesentlich erschwert wird. 

Die Agrioniden versenken ihre Eier wie die Calopterygiden mit Hülfe 

eines Legestachels in das Parenchym von Pflanzen. 
Über die Eiablage und die Gestalt der Eier von Ephemera vulgata habe 
ich schon an anderer Stelle einige Mittheilungen gemacht (96°). Die läng- 
lichen, weifslichen Eier von Ephemera sind ebenfalls von einer besonderen 
Gallerthülle (Exochorion) umgeben, die eine klebrige Beschaffenheit besitzt, 
so dafs die Eier gelegentlich an einander backen, in der Regel aber einzeln 
an festen Körpern, Pflanzen oder dergl. hängen bleiben. 

Bei Cgenis zeigt sich wiederum eine Art Laichbildung, jedoch in etwas 
eigenthümlicher Weise. Von der Peripherie der einzelnen Eier, an deren 
Oberfläche eine regelmäfsige durch sechsseitige Felderchen bedingte Seulptur 
sichtbar ist, gehen bei Caenis zahlreiche feine Fädchen aus, die das Ei 
umspinnen, sich mit den Fädchen benachbarter Eier mannigfach dureh- 
kreuzen und durchflechten und schliefslich mit einer feinen knopfartigen 
Verdickung frei endigen. Die von einem Weibehen abgelegten Eier bleiben 
auf diese Weise alle mit einander in Zusammenhang: in einer geradezu un- 
entwirrbaren Masse zahlloser weifslicher Fädehen, die eine ziemlich derbe 
Consistenz besitzen, sind die kleinen dunkelbraunen Eier eingebettet. 

Der Laich kommt also bei Caenis im Vergleich zu den oben besprochenen 
Libellen in etwas anderer Weise zu Stande. An die Stelle der gemeinsamen 
Gallerte treten die Fädehen. Diese letzteren wurden bereits früher bei den 
Ovarialeiern mehrerer Ephemeridenarten von Leuckart(55), Grenacher (68) 
und Palmen (84) beobachtet, und ihre Herkunft von Seiten der Follikel- 


epithelzellen der Eiröhren festgestellt. Auch über die Bedeutung der 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 7 


Fädehen hat sich Grenacher bereits in völlig zutreffender Weise dahin 
ausgesprochen, dafs man sie wahrscheinlich als Ankerapparate aufzufassen 
habe. Diese Deutung ist richtig. Nach Ablage der Eier wickeln sich 
nämlich die Fädchen sehr leicht um Wasserpflanzen oder um andere feste 
Gegenstände herum, die ganze Laichmasse wird dadurch festgehalten und 
kann in Folge dessen von der Strömung nicht fortgetrieben werden. 

Es zeigt sich hiermit, dafs bei den Ephemeriden und Odonaten die frei 
ins Wasser abgelegten Eier nicht einfach zu bleiben pflegen, sondern dafs 
bei ihnen das Chorion noch mit allerlei gallertigen oder fädigen Hüllen ver- 
sehen ist. Derartige exochorionale Bildungen scheinen zum mindesten sehr 
weit verbreitet zu sein. Sie verfolgen offenbar einen doppelten Zweck, 
einmal dem Ei im Wasser einen besseren Schutz zu verleihen und aufser- 
dem in vielen Fällen ihm gleichzeitig noch einen festen, vor Verschlammung 
u. s. w. gesicherten Platz zu verschaffen. 

Die einfachen Gallertscheiden von Sympetrum und Ephemera kenn- 
zeichnen somit im wesentlichen nur eine niederere Entwiekelungsstufe als 
die umfangreichen zur Laichbildung führenden Exochoria von Libellula und 
Epitheca. Die gallertigen Umhüllungen aber entsprechen sich, indem sie 
offenbar stets die gleiche physiologische Bedeutung besitzen. 

Es ist vielleicht nicht ausgeschlossen, dafs die fädigen Bildungen 
vieler Ephemerideneier nur als eine besondere Modification der genannten 
gallertigen Hüllorgane zu betrachten sind. Die Fadenanhänge werden 
bereits im Eierstocke ausgebildet, und die Absonderung der exochorionalen 
Umhüllungen bei Odonateneiern von Seiten der Follikelepithelzellen der Ei- 
röhren darf ebenfalls als sehr wahrscheinlich gelten. 


2. Die Bildung und die Form des Keimstreifens. 


Die ersten Entwiekelungsvorgänge sowie die Bildung des Embryonal- 
körpers wurde von mir besonders bei Libelhula quadrimaculata studirt. Die 
rundlich ovalen Eier dieses Inseets sind von einem harten gelblichen Cho- 
rion (Endochorion) umgeben. Der vordere und hintere Eipol sind nahezu 
übereinstimmend geformt, doch ist der erstere ein wenig spitzer, und es 
zeigt sich an ihm eine sehr kleine kegelförmige Erhebung von bräunlicher 
Färbung, an deren Spitze die Mieropyle sich befindet. 


u 


8 R. Heymons: 


Die Furchungszellen vertheilen sich annähernd gleichmäfsig im Nah- 
rungsdotter und gelangen dann ziemlich gleichzeitig an verschiedenen Punk- 
ten zur Oberfläche des Eies. An letzterer ist ein selbständiges Keimhaut- 
blastem ebenso wenig wie bei den Eiern der Orthopteren nachweisbar. 

Die Dotterzellen gehen aus Furchungszellen hervor, die im Innern des 
Eies zurückbleiben. 

Am hinteren Eipol findet dann ventralwärts in üblicher Weise eine 
etwas lebhaftere Theilung der Blastodermzellen statt, wodurch es daselbst 
zur Anlage des Keimstreifens kommt. Eine derartige junge, noch in Bil- 
dung begriffene Embryonalanlage gibt Fig. 20 wieder. Die vielfach in 
Theilung begriffenen Zellen des Embryonalkörpers unterscheiden sich be- 
reits durch ihre Kleinheit von den angrenzenden grolsen (späteren Serosa-) 
Zellen. Die Embryonalanlage erstreckt sich noch bis über die Mitte der 
Ventralfläche des Eies. Ihr Hinterende reieht bis zum hinteren Eipol. 

Schon in diesem Stadium wird eine, allerdings nur undeutliche me- 
diane Rinne bemerkbar, von deren Rändern aus Zellen in das Innere ein- 
dringen. Die einwandernden Zellen liefern das Mesoderm. Am vorderen 
Ende der Rinne befindet sich eine flache Grube, deren Boden von relativ 
grofsen Zellen gebildet wird. Diese Grube entspricht der späteren Mund- 
öffnung. 

Der Procefs der Mesodermbildung läfst sich am besten natürlich an 
Sehnittserien eontrolliren. Ich gebe einen solchen in Fig.28 wieder. Die 
Rinne ist an dem betreffenden Schnitt nicht deutlich zu sehen, wohl aber 
bemerkt man in der Medianlinie den sich einschiebenden Wulst von Me- 
sodermzellen. Anscheinend kommen letztere aber nicht ausschliefslich in 
der Medianlinie zur Absonderung, denn verschiedene Schnitte zeigen, dafs 
auch in den lateralen Partien des Keimstreifens die regelmäfsige epitheliale 
Anordnung der Zellen vielfach Störungen erleidet, wobei einzelne Zellen 
von der Oberfläche abgedrängt werden. Offenbar wandern letztere eben- 
falls in das Innere ein, um an der Bildung des Mesoderms auch noch An- 
theil zu nehmen. 

Die Mesodermbildung der Libellen, wenigstens bei der hier bespro- 
chenen Gattung Libellula, schliefst sich somit ganz an diejenige der Grillen 
und speciell an Gryllus domesticus an, bei denen ich diesen Vorgang frü- 
her schon (95°) genauer beschrieben habe. An gewisse Entwickelungs- 
vorgänge bei Gryllus erinnert endlich auch eine intensive Einwanderung 


Be. IB 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 5) 


von Zellen am hintersten Ende des Libellula- Keimstreifens. Obwohl sich 
diese Zellen nicht merklich von anderen Körperzellen unterscheiden, so 
glaube ich sie doch als spätere Genitalzellen deuten zu dürfen, besonders 
im Hinblick auf die ganz übereinstimmende Bildungsweise derselben bei 
den Orthopteren. 

Wenn die Mesodermbildung annähernd ihren Abschlufs gefunden, prägt 
sich die typische Form des Keimstreifens, dessen Vorderende nun durch 
die beiden grofsen Scheitel- oder Kopflappen ausgezeichnet ist, deutlicher 
aus. Bei dem jetzt eintretenden Längenwachsthum greift der Körper, den 
hinteren Eipol umfassend, etwas auf die Dorsalseite über. Dort angelangt, 
bohrt sich das Abdominalende sogleich in den Dotter ein. In diesem Augen- 
blick erscheint die hintere Amnionfalte. 

In Fig. ı4 ist ein derartiges Stadium im optischen Schnitt dargestellt. 
Man bemerkt, dafs das Hinterende des Abdomens bereits eine Strecke in 
den Dotter eingedrungen ist, und dafs mit der fortschreitenden Einstülpung 
auch das Wachsthum der Amnionfalte noch Schritt gehalten hat. Der freie 
Rand des hinteren Amnions reicht bis zu dem Punkte hin, an welchem der 
Embryonalkörper in das Innere des Eies sich einsenkt. 

Vordere Amnionfalten sind noch nicht vorhanden, sie entwickeln sich 
erst später und treten dann am Rande der Kopflappen auf. 

Es beginnt nunmehr eine Periode raschen Längenwachsthums. 

Der Keimstreifen dehnt sich an der Dorsalfläche des Eies nach hinten 
aus, wobei natürlich das in den Dotter versenkte Ahdominalende ebenfalls 
immer weiter nach hinten geschoben werden mufs (Fig. 15). Ist das letz- 
tere in die Nähe des vorderen Eipoles gelangt, so hat das Längenwachs- 
thum des Körpers einstweilen einen Abschlufs gefunden. Die Körperregio- 
nen treten hervor. Kopf, Thorax und Abdomen werden an den ihnen eigen- 
thümlichen Anhängen erkennbar. 

Der Keimstreifen ist jetzt im allgemeinen ein superficieller zu nennen, 
insofern als Kopf, Thorax und das Abdomen bis zum 6. Segment der 
Eioberfläche anliegen und als nur der hinterste Abdominaltheil noch in 
das Innere verlagert ist. 

An diesem hinteren Körperabschnitt ist inzwischen die von mir früher 
als Caudalkrümmung beschriebene Umbiegung eingetreten, dergestalt, dafs 
die letzten Segmente, vom neunten an, wieder in entgegengesetzter Richtung 
verlaufen. Die Mündung des inzwischen entstandenen Enddarms ist daher 

Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 2 


10 R. Heymonss: 


gegen die Oberfläche des Eies gewendet. Fig. 16 wird diese Verhältnisse 
klar legen, besser als es eine lange Beschreibung vermag. 

Ich habe hier die Entwickelungsvorgänge eines Libellula-Eies so be- 
schrieben, wie sie sich bei der Mehrzahl der von mir untersuchten Em- 
bryonen beobachten lassen. Abweichungen von dem geschilderten Verhalten 
sind aber gar nicht selten. Hier seien nur zwei der auffälligeren Modifi- 
eationen genannt. 

Bisweilen kommt es nämlich vor, dafs am Vorderende des Eies un- 
gefähr in der Thorakalregion Dotter zwischen Amnion und Serosa eindringt. 
Ein solcher Keimstreifen ist dann abwechselnd superfieiell und immers. 
Der Kopf liegt oberflächlich, der Thorax ist von Dotter umhüllt. Die vor- 
dere Partie des Abdomens liegt wieder oberflächlich, während die hintere 
in den Dotter eingesenkt ist. 

In sehr vielen anderen Fällen gelingt es aber der Abdominalspitze 
überhaupt nicht, sich in die offenbar zähe Dottermasse einzubohren. Bohr- 
versuche werden jedoch anscheinend immer gemacht, denn sehr häufig 
dreht und krümmt sich bei diesen fruchtlosen Versuchen das Abdomen, 
oder legt sich ganz auf eine Seite, so dafs diese dann dem Chorion, die 
andere Lateralseite dem Dotter zugewendet ist. 

Ist die Einsenkung in den Dotter gänzlich mifsglückt, so wächst der 
Keimstreifen gleichwohl in typischer Weise aus und legt sich dann in Form 
einer unvollkommenen Spiralwindung der Aufsenfläche des Dotters an. Wir 
haben es im letzteren Falle daher mit einem rein superficiellen Keimstreifen 
zu thun (Fig. 13). 

Es könnte nahe liegen, die zuletzt beschriebenen Erscheinungen für 
pathologische zu halten und sie auf die Entwickelung unter den anormalen 
Lebensbedingungen (in den Aquarien) zurückzuführen. Ich bemerke hierzu, 
dafs bis auf einen ganz verschwindend geringen Bruchtheil die Zibellula- 
Eier zu normalen Larven sich entwickelt haben. 

Bei Epitheca sind so weitgehende Variationen in der Form und Lage 
des Keimstreifens nicht bemerkbar. Einen solchen zeigt Fig. 7. Es fällt 
in erster Linie auch bei £pitheca eine eigenartige Krümmung der Embryonal- 
anlage auf, welche etwa die Form eines S angenommen hat. Kopf und 
Thorax liegen noch oberflächlich, das Abdomen geht mitten durch den 
Dotter hindurch zur Ventralfläche des Eies hinüber, und der hintere Ab- 
dominalabschnitt krümmt sich wieder zur Dorsalseite des Eies zurück. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 11 


Diese letztere Einkrümmung des hinteren Abdominaltheiles ist als Caudal- 
krümmung aufzufassen. 

Es ist zu bemerken, dafs bei Epitheca während des Einwachsens des 
Keimstreifens in den Dotter keine Unterschiede im Vergleich zu Libellula 
sich zu erkennen geben. Auch die späteren Lagerungsverhältnisse sind 
ganz ähnlich wie bei dem letztgenannten Inseet. Fig. 16 könnte beinahe 
schon als Schema für Zpitheca angesehen werden, wenn man berücksichtigt, 
dafs bei dieser Form in dem entsprechenden Stadium das ganze Abdomen 
in den Dotter eingekrümmt ist, während bei Zibellula, wie die Figur zeigt. 
die Einkrümmung erst bei dem 6. Abdominalsegmente stattfindet. Die 
Epitheca-Keimstreifen schliefsen sich somit etwas mehr an den Typus 
immerser Insecetenembryonen an. 

Sympetrum stimmt fast vollkommen mit Libellula überein. Einen aus- 
wachsenden Keimstreifen des ersteren Insects zeigt Fig. 12. 

Es erübrigt jetzt noch, die Embryonen der Ephemeriden zu besprechen. 
Bei diesen steht indessen sowohl die Bildung wie auch die spätere Lagerung 
des Keimstreifens in so nahem Zusammenhang mit den soeben bei den 
Odonaten besprochenen Verhältnissen, dass ich auf eine Schilderung im 
einzelnen verzichte. 

In Fig. 10 ist die Embryonalanlage von Ephemera vulgata wiedergegeben. 
Mit Ausnahme der am Hinterende des Eies liegenden Scheitellappen und 
der darauf folgenden vorderen Kopfpartie ist der Körper vollständig von 
der Dottermasse eingehüllt. Da die Einsenkung in die letztere gleich hinter 
dem Kopf beginnt, so erklärt es sich, dafs selbst in späteren Stadien bis 
zur Umrollung auch der mittlere Abschnitt des Embryonalkörpers noch 
vom Dotter bedeckt bleibt. 

Ein mit dem dargestellten Ephemeridenei nahezu vollkommen über- 
einstimmendes Bild ergibt sich bei einer Untersuchung der Embryonen 
von Caenis. Bei den bereits mehr der Kugelform sich nähernden Eiern 
des genannten Inseets ist, wie Fig. ıı zeigt, der Keimstreifen ebenfalls ein 
immerser. 

Die Embryonalanlagen der genannten Insecten bilden mit 
ihren mannigfachen Krümmungen gewissermalsen Übergangs- 
formen zwischen superficiellen und immersen Insectenkeim- 
streifen. Regelmäfsig gelangt der ursprünglich stets ober- 
flächlich liegende Embryonalkörper erst durch ein Auswachsen 


)%* 


12 R. Heymonss: 


nach hinten in die Dottermasse hinein. Von letzterer wird je- 
doch immer nur der hintere Abschnitt des Körpers umhüllt. 
Bei Ephemera bleibt der Kopf, bei Epitheca Kopf und Thorax, 
bei Sympetrum und Libellula aulserdem noch ein Theil des Ab- 
domens dauernd an der Oberfläche zurück. Die Einkrümmung des 
Körpers in den Dotter pflegt stets während der Anfangsstadien der Ent- 
wickelung am besten ausgeprägt zu sein, später verliert sie an Deutlich- 
keit, einmal weil die eingesenkte Abdominalpartie zum vorderen Eipol 
geschoben wird, und dann, weil der inzwischen erfolgten Caudalkrümmung 
wegen das hinterste Körperende sich wieder zur Oberfläche des Eies zu- 
rück wendet. 

Es liegt wohl nahe, die Frage aufzuwerfen, wie weit die hier mit- 
getheilten Befunde mit den Ergebnissen früherer Untersuchungen an Odo- 
naten — für Ephemeriden sind ja bisher noch keine specielleren Angaben 
gemacht worden — im Einklang stehen. In dieser Hinsieht ist zu be- 
merken, dafs bei Calopteryx die Verhältnisse in der That zum Theil etwas 
anders liegen. 

Der Keimstreifen wird bei letzterem Inseet, nach den Mittheilungen 
von Brandt (69), ungemein frühzeitig, schon während seiner Bildung in 
das Innere des Eies eingesenkt. Er umwächst also nicht erst den hinteren 
Eipol, so dafs wir die bei den oben genannten Insecten beschriebenen cha- 
rakteristischen Krümmungen gänzlich vermissen. Völlig gerade gestreckt, 
mit Ausnahme natürlich der eingebogenen hinteren Segmente, liegt viel- 
mehr der Calopteryx-Keimstreifen inmitten der Dottermasse, ohne an irgend 
einem Punkte die Oberfläche direct zu berühren. 

Diplax und Perithemis stimmen, nach der allerdings nur sehr kurzen 
Beschreibung von Packard (71) zu urtheilen, wohl im wesentlichen mit 
Calopteryx überein. 

Die Ergebnisse von Brandt an Calopteryx haben ein allgemeineres 
Interesse erweckt. Schienen sie doch darauf hinzudeuten, dafs gerade die 
Libellen in den Krümmungserscheinungen ihrer Keimstreifen den unmittel- 
baren Anschlufs der Inseeten an die Myriopoden vermitteln sollten. 

Ähnlich wie diefs oben für die Libellen beschrieben wurde, so sind 
auch die Keimstreifen mancher Myriopoden und zwar speciell die der Di- 
plopoden in den Nahrungsdotter des Eies eingesenkt. Im Hinblick hierauf 
glaubte man den Schlufs ziehen zu können, dals die Invagination des 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 13 


Keimstreifens, wie sie sich bei den Odonaten vollzieht, noch direet von 
myriopodenartigen Vorfahren übernommen worden sei. Da ferner bei Calo- 
ptery& die Embryonalhüllen in dem Zeitpunkt auftreten, in welchem sich 
der Keimstreifen in das Innere einzusenken beginnt, so lag die weitere 
Annahme nahe, dafs gerade die besprochene Einsenkung des Keimstreifens 
zur Bildung der Amnionfalte die eigentliche Veranlassung gegeben habe. 
Es sollte also mit anderen Worten nicht nur die Invagination des Keim- 
streifens von den Myriopoden her sich vererbt haben, sondern diese leztere 
sollte dann weiter bei den Inseeten gleichzeitig auch noch zum Ausgangs- 
punkt für die Keimhüllenbildung geworden sein. Auf Grund dieser An- 
schauungen hat- man dann überhaupt bei den Insecten die Form des inva- 
ginirten Keimstreifens allgemein als die älteste und ursprünglichste erklärt. 

Gegen diese mehrfach vertretene Annahme und den damit ausgespro- 
chenen Vergleich zwischen Libellen und Myriopoden habe ich mich schon 
an anderer Stelle gewendet (95°). Auch nach meinen jetzigen Beobach- 
tungen kann ich die Ähnlichkeit zvischen einem invaginirten Libellen- und 
Myriopodenkeimstreif nur für eine rein äufserliche halten. 

Die Krümmungen vollziehen sich in beiden Fällen in verschiedener Weise. 
Bei den Myriopoden wird durch eine in der Körpermitte auftretende ventrale 
Knickung der Embryonalkörper in das Innere versenkt und verbleibt bis zum 
Ausschlüpfen in dieser Lage. Bei den von mir untersuchten Libellen und 
Ephemeriden handelt es sich dagegen um ein Einwachsen des Hinterleibes 
in den Dotter, welches zu einer mehr oder minder vollständigen Inversion 
(dorsalen Krümmung) des gesammten Embryo führt, der dann erst später 
durch einen Umrollungsprocefs seine normale Lage wieder gewinnt. Das 
Gleiche gilt auch für die von Brandt untersuchten Calopteryx-Embryonen, bei 
denen die entsprechende Einsenkung sich schon etwas frühzeitiger vollzieht. 

Von derartigen Wachsthums- und Umrollungsprocessen ist dagegen bei 
den Myriopoden nichts zu bemerken. Die Diplopoden dürften überhaupt 
wegen ihrer entfernten verwandtschaftlichen Beziehung zu den Insecten als 
Vergleichsobjeete kaum geeignet sein. Eher könnten die Chilopoden in Frage 
kommen, diese besitzen indessen im Stadium der dorsalen Krümmung rein 
superficielle Keimstreifen. 

Der invaginirte (dorsal gekrümmte) Keimstreif der Insecten 
leitet sich demnach nicht von dem invaginirten Keimstreif der 
Myriopoden ab, denn in beiden Fällen handelt es sich um ganz 


14 R. Hevmons: 


andersartige Vorgänge. Wir werden vielmehr zu der Annahme 
geführt, dafs die bei den Inseeten sich zeigende frühzeitige In- 
vagination des Keimstreifens selbständig (ohne Vererbung) zu 
Stande gekommen ist. 

Der ursprünglichste und einfachste Keimstreiftypus wird bei 
den Inseceten wie bei den Chilopoden wohl zweifellos der superfi- 
ciellegewesen sein'. DieserEntwiekelungsmodus kommtindessen 
bei den Libellen und Ephemeriden nur noch unvollkommen oder 
garnicht mehr zum Ausdruck. Es bilden demnach diese Inseeten 
in der Form und Lagerung ihrer Keimstreifen keine Übergangs- 
stufe zu den Myriopoden, sondern sie weisen in dieser Hinsicht 
meiner Auffassung nach bereits abgeleitete Verhältnisse auf. 

Unter diesen Umständen erscheint es mir nicht gerechtfertigt, eine so 
charakteristische und wesentliche Einrichtung, wie es unstreitig die Bildung 
von Embryonalhüllen für die Inseetenembryonen ist, von dem Einflufs einer 
angeblich von den Vorfahren her vererbten Einsenkung des Körpers in den 
Dotter abhängig zu machen. 

Betrachtet man den Entwiekelungsprocefs der Hüllmembranen bei den 
jetzigen Insecten, so liegt es nahe, die Bildungsursache des Amnions in 
anderen Veranlassungen zu suchen, auf welche vielleicht nieht immer das 
genügende Gewicht bisher gelegt worden ist. 

Die erste Voraussetzung, die nothwendiger Weise erfüllt sein mulfs, 
damit es überhaupt zur Bildung von Hüllen kommen kann, ist natürlich 
das Vorhandensein einer selbständigen zelligen Haut an der Oberfläche 
des Inseeteneies, des sogenannten Blastoderms, welches unabhängig von 
den darunter befindlichen, im Dotter verbliebenen, zelligen Elementen ist. 
Die Bildung einer solchen Haut ist als das Resultat der unvollkommenen, 
d. h. nieht mehr totalen, Furchung anzusehen, welche bekanntlich bei 
weitem die Mehrzahl aller Inseeteneier erleidet. 

Eine zweite und sehr wichtige Vorbedingung beruht ferner in der 
relativen Kleinheit, die ursprünglich die jungen Insecetenkeimstreifen im 
Verhältnifs zur Gesammtgrölse des Eies besitzen. Die Insectenkeimstreifen 
werden meist nicht sogleich in ihrer definitiven Länge angelegt, sondern 


! Zu dieser schon früher von mir vertretenen Ansicht ist neuerdings auch Knower 
durch Beobachtungen an Termiteneiern gelangt. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 15 


sind gezwungen, sich nachträglich auszudehnen. Dieses Auswachsen geht 
nun in der Richtung von vorn nach hinten vor sich, und es ist nicht 
schwer zu beobachten, wie dabei die oben erwähnte zellige Haut ganz 
naturgemäfs von dem hinteren Körperende in Form einer Falte aufge- 
worfen wird. Damit ist der erste Anstofs zur Bildung der hinteren Am- 
nionfalte ertheilt. 

Bei dem Längenwachsthum des nach hinten sich ausdehnenden Körpers 
findet aber beinahe stets eine geringe Rückwärtsbewegung auch des Kopf- 
endes statt. Auf die mit diesem Abschnitt verbundene Blastodermpartie 
mufs hierbei unbedingt eine Zugwirkung ausgeübt werden, und diese letz- 
tere ist es wohl, durch welche der erste Antrieb zur Bildung der vorde- 
ren Amnionfalten gegeben wird. 

Die betreffenden Vorgänge lassen sich gerade sehr deutlich bei den- 
jenigen Libellhula-Keimstreifen verfolgen, welche, wie oben gesagt, dauernd 
superficiell bleiben. Ungeachtet der fehlenden Einstülpung findet hier die 
Keimhüllenbildung ganz normal in der oben beschriebenen Weise statt. 

Abgesehen von den Embryonen der in Rede stehenden Libelluliden 
und Ephemeriden sind auch diejenigen der meisten Orthopteren, wenn 
wir uns an eine frühere, von Graber (90) herrührende, Bezeichnung 
halten wollen, brachyblastisch, kurzkeimig, d. h. sie bedecken Anfangs nur 
einen ganz geringen Theil der Eioberfläche. Die oben erwähnten durch 
das nachträgliche Auswachsen des Körpers bedingten Lageveränderungen 
geben sich daher hier auch immer ganz besonders klar zu erkennen. Erst 
in dem Moment, in welchem der Embryo auf den mit dem Blastoderm 
bedeekten Ei sich zu bewegen beginnt, pflegen die Faltungen des Blasto- 
derms (Amnionfalten) aufzutreten. Hierbei ist es zunächst gleichgültig, ob 
der Embryo sich in den Dotter einsenkt oder nicht. 

Bei der Bildung der Embryonalhüllen sowohl der Orthopteren, wie 
der Odonaten, Ephemeriden und vieler anderer Inseeten beobachtet man, 
dafs stets Amnion und Serosa von vornherein eine auffallende Ver- 
schiedenheit besitzen. Die Serosa besteht aus grofsen flachen Zellen, 
das Amnion dagegen aus kleinen rundlichen Elementen, die den Ektoderm- 
zellen des Körpers vollständig gleichen und wie diese sich lebhaft kinetisch 
theilen, was bei den Serosazellen niemals der Fall ist. Diefs deutet darauf 
hin, dafs die durch den auswachsenden Körper aufgeworfene Blastoderm- 
falte nur die Serosa selbst liefert. Das Amnion ist dagegen als ein Derivat 


16 R. Heymons: 


des eigentlichen Embryonalkörpers zu betrachten, der das Bestreben hat, 
ınit dem Blastoderm in eontinuirlichem Zusammenhange zu bleiben. Die 
unmittelbare Veranlassung zu den Theilungen der Amnionzellen ist in den 
oben erwähnten Zugwirkungen zu suchen. 

Die Lageveränderungen der Keimstreifen auf den mit einer 
zelligen Blastodermschicht bekleideten Eiern sind es also, welche 
bei vielen Inseeten den unmittelbaren Anstoss zur Entwickelung 
der Embryonalhüllen geben. Selbstverständlich ist es, dafs stets 
während der Umwachsung durch die Hüllen ein geringfügiges Einsinken 
des Körpers unter das Oberflächenniveau stattfindet. Letzteres wird wohl 
dadurch ermöglieht. dafs unmittelbar unter dem Körper der Dotter zuerst 
verflüssigt wird. Findet die Resorption des Dotters in sehr intensivem 
Mafse statt, so kann der Keimstreifen sogar bereits vor dem eintretenden 
Längenwachsthum in den Dotter einsinken, wie sich beispielsweise bei 
vielen Lepidopteren beobachten läfst. 

Sucht man sich die phyletische Entwickelung von Hüllmembranen 
bei den Inseeten anschaulich zu machen, so hat man demnach in letzter 
Instanz die Bildungsursache in dem zunehmenden Reichthum an Dotter- 
material zu erblicken, welches im Laufe der Zeit die Inseeteneier erlangt 
haben. 

Die erste Folge des reichlichen Nahrungsdotters mulste zweifellos die 
Unmöglichkeit sein, denselben bei der Furchung sogleich in Zellen aufzu- 
nehmen. Die Segmentation des Eies konnte nicht mehr total bleiben, und 
das nur einzelne freie Zellen enthaltende Reservematerial wurde proviso- 
risch mit einer zelligen Membran, der späteren Serosa, bekleidet. Bei den 
auf diese Weise, gewissermalsen secundär durch Aufspeicherung von Nähr- 
material, umfangreich gewordenen Insecteneiern besals der Embryo im 
Verhältnifs zur Gröfse des Eies anfangs nur eine geringe Länge, und als 
er sich dann im Laufe seiner ‚weiteren Entwickelung nachträglich aus- 
zudehnen bestrebte, mufsten die oben geschilderten Falten bez. Hüllen- 
bildungen der Serosa die natürliche Folge sein. Auch eine schnellere Re- 
sorption der Dottersubstanz von Seiten des Keimstreifens wird in manchen 
Fällen zu einem Einsinken des Körpers und darauf folgender Umwachsung 
durch das Blastoderm (Serosa) geführt haben. 

Zu Gunsten dieser Annahmen sprieht der Umstand, dafs gerade bei 
den Eiern niederer Inseeten die Lageveränderungen der Keimstreifen stets 


ee; 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 17 


sehr deutlich hervorzutreten pflegen und für diese überhaupt als ganz 
charakteristisch angesehen werden müssen. Selbst bei zahlreichen höheren 
Inseeten sind sie noch nachweisbar (viele Coleopteren) oder wenigstens an- 
deutungsweise vorhanden; hier dürfte dann die Bildung von Hüllorganen 
sich wohl auch durch Vererbung schon genügend gefestigt haben. 

Die Keimstreifen der Myriopoden erleiden, soweit wir wenigstens bis- 
her wissen, keine entsprechenden Verschiebungen an der Eioberfläche und 
sie entbehren bekanntlich auch vollständig der embryonalen Hüllmembranen. 

Mit diesen Erklärungsversuchen trete ich in einen gewissen Gegen- 
satz zu den bisherigen Theorien, welche die Bildung von Amnion und 
Serosa bei den Insecten verständlich machen wollten. Vielfach glaubte 
man, dafs der Hüllenbildung andere mechanische Ursachen zu Grunde 
lägen, und man vermuthete, dafs die Embryonalhäute deswegen aufge- 
treten seien, weil die Inseetenembryonen einen besonderen Schutz gegen 
Druck oder gegen etwaige andere widrige Einflüsse nöthig gehabt hätten. 
Als ausreichend ist diese Erklärung jedoch nicht anzusehen, denn es ist 
bekannt, dafs viele andere, ähnlich gestaltete Arthropodenembryonen (My- 
riopoden, Spinnen) durch die resistente Eischale allein schon hinlänglich 
geschützt sind. 

In anderen Fällen suchte man die Ursache zu dem Auftreten der Em- 
bryonalhüllen in besonderen. nicht näher hestimmten, physikalischen oder 
chemischen Einwirkungen. Vielfach wiederum hat man eine von den My- 
riopoden übernommene Invagination des Körpers in den Eidotter verant- 
wortlich zu machen versucht. Wie oben gesagt, fehlen aber gerade zu 
einer derartigen Annahme zur Zeit noch alle Anhaltspunkte. Die bei den 
Inseeten zur Hüllenbildung führenden Ursachen sind nicht so complieirter 
Art, als dafs man zu weittragenden Theorien zu greifen brauchte. 


3. Die Entwickelung der Körpergestalt. 


Die Auflösung der Embryonalhüllen spielt sich bei den Odonaten und 
Ephemeriden gerade so wie bei Orthopteren ab. Bei der Umwachsung des 
Dotters geht das Amnion zu Grunde. Die Serosa zieht sich auf dem 
Rücken zusammen und wird schliefslich in Form eines kleinen zelligen 
Säckchens am Vorderende hinter dem Kopf in den Dotter eingestülpt, 
wo sie ebenfalls der Rückbildung dann anheimfällt. 

Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 3 


18 R. Hermons: 


Mit dem Einreifsen der Embryonalhäute ist eine Umrollung des Enı- 
bryo verbunden, der gleichzeitig damit seine definitive Lagerung im Ei 
gewinnt, d.h. mit dem Kopfende nunmehr am vorderen den Micropyle- 
apparat tragenden Eipol sich befindet. 

Eine interessante Ausnahme von diesem Verhalten, welches überhaupt 
für die Inseeten im allgemeinen als Regel gelten kann, macht Sympetrum 
flaveolum. Die reifen Embryonen dieses Thieres liegen mit dem Kopf an 
dem dem Micropyleapparat gerade entgegengesetzten Eipole'. 

Die hinteren Abdominalsegmente werden nach der Umrollung gegen 
die Ventralseite hin umgeschlagen (Fig. 17), so dafs das hintere Körper- 
ende nach vorn gerichtet ist, und die sich entwickelnden Schwanzstacheln 
zwischen den Antennen zu liegen kommen. 

Die Umbiegungsstelle im Abdominaltheil befindet sich sehr weit vorn. 
Bei Epitheca und Libellula zwischen dem 4. und 5. Segment. 

Bei Ephemera liegt die Kniekung sogar schon zwischen dem 2. und 
3. Abdominalsegment. Die Einkrümmung geht hier schon von Statten, 
ehe noch an der betreffenden Stelle die Umwachsung des Dotters vollendet 
ist. Es wird also bei Ephemera das aus der Amnionhöhle herausgezogene 
Abdomen wieder in die Dottermasse eingedrückt. so dafs dann später in 
den eingekrümmten Abdominaltheil eine Partie des Nahrungsdotters mit 
eingeschlossen wird. 

Die Bildung der Körpergestalt folgt im allgemeinen dem auch bei 
anderen Inseeten, insbesondere Orthopteren, üblichen Schema. Noch 
während der Embryo sich inmitten der Dottermasse befand, waren bereits 
am Kopf die Gliedmafsen aufgetreten. 

Frühzeitig erscheinen die Antennen zu den Seiten der Mundöffnung 
(Fig. 16 Ant). Sie sind nach hinten gewendet und neigen sich hinter 
der Oberlippe mit ihren distalen Enden ein wenig gegen einander. Die 
Mandibeln treten als zwei kleine rundliche Höckerchen hervor. 

Bei der Entwickelung der Maxillen fällt es auf, dafs die Differenzirung 
der Ladentheile sehr spät erst stattfindet. Während bei den Orthopteren 
lobus internus und externus beinahe gleichzeitig mit dem Taster angelegt 
werden, und die Laden an der medialen Seite des letzteren als selbständige 
Höcker hervorknospen, so hat bei den Libellen die Maxille von vornherein 
nur die Gestalt eines einfachen Höckers oder Zapfens. 


! Über einen ähnlichen Fall bei Zutermes hat Knower (96) kürzlich berichtet. 


Entwickeling und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 19 


Erst später gliedert sich von der Aufsenseite der Maxille eine kleine 
rundliche Erhebung ab, welche die Anlage des Tasters darstellt (Fig. 19 
palp mx,), während das in der directen Fortsetzung des ursprünglichen 
Maxillenzapfens liegende Endstück zur Lade (lobus) wird. 

Berücksichtigt man die Gröfse der auf diese Weise zur Absonderung 
gelangten Lade im Verhältnifs zum ganzen Maxillenstamm, so wird es klar, 
dafs der bei den Libellen einfach bleibende Lobus den getrennten Laden 
an den Maxillen anderer Inseeten entspricht, dafs er mithin den vereinigt 
bleibenden lobus internus und externus repraesentirt. Bereits Gerstaecker 
(73) hatte den Maxillen der Libellen diese Deutung gegeben, welche so- 
mit auch durch die Entwickelungsgeschichte bestätigt wird. 

Von Interesse ist ferner die Anlage des 2. Maxillenpaares. Die hin- 
teren Maxillen sind Anfangs durchaus beinartig gestaltet, so dafs man 
auf den ersten Blick geneigt sein könnte, sie für wirkliche Beinanlagen 
zu halten (Fig. 16 M,). 

Weiterhin macht sich dann eine undeutliche Gliederung in vier Abschnitte 
an ihnen geltend, und sie legen sich "mit ihren Basalstücken an einander. 
In diesem Stadium sind die bereits zur Unterlippe an einander gefügten 
hinteren Maxillen in Fig. 24 abgebildet. Die Abbildung bezieht sich auf 
einen Embryo von Zpitheca kurz nach vollzogener Umrollung. Nur die 
Basalglieder des Labiums sind vorläufig vereinigt, die drei distalen Glieder 
noch getrennt, abgesehen von dem Grunde des zweiten Gliedes, an dem 
eine Verbindung sich bereits vollzogen hat. Das vierte oder Endglied ist 
auffallend klein, aber deutlich von dem dritten abgesetzt. 

Später ändert sich das beschriebene Verhalten, und noch während 
der letzten Epoche des Embryonallebens kurz vor dem Ausschlüpfen bildet 
sich das Labium zu der sogenannten Fangmaske um (Fig. 21). Die junge 
Larve ist daher von vornherein in den Stand gesetzt, einer räuberischen 
Lebensweise obzuliegen. An dem zweiten und dritten Gliede des Labiums 
macht sich eine auffallende Verbreiterung geltend. Durch diese Verbrei- 
terung hat eine vollkommene Verschmelzung der beiderseitigen zweiten 
Glieder stattgefunden, die zu einer annähernd dreieckigen Platte sich ver- 
einigen. 

Die Spitze des Dreiecks stellt die Verbindung mit dem Basalgliede 
des Labiums dar, die breite Basis ist distalwärts gewendet und trägt in 
der Mitte zwei kleine Zähnchen, zu deren Seiten einige kurze Borsten 

3% 


20 R. Hzymons: 


stehen. Auch der Innenrand des stark verbreiterten dritten Gliedes ist 
mit acht gröfseren Zacken besetzt, die in späteren Stadien noch Borsten 
tragen. Das vierte oder Endglied des Labiums ist auffallend klein ge- 
blieben und macht bei flüchtiger Betrachtung nur den Eindruck einer 
starken Borste. Die Täuschung ist um so leichter, als daneben eine sehr 
kräftige Borste sich findet, die an Gröfse das Endglied sogar noch über- 
trifft. Erst eine genauere Untersuchung lehrt, dafs es sich bei letzterem 
thatsächlich um ein wirkliches Glied handelt, welches gegen das vorher- 
gehende durch eine Gelenkverbindung deutlich abgesetzt ist. Fig. 21 ver- 
anschaulicht das Labium einer jungen, eben ausgeschlüpften Zpitheca-Larve. 

Die Verschiedenheit zwischen dem Labium der Libellenlarven und der 
Unterlippe bei Orthopteren ist eine sehr auffällige. Indem man aber von 
der Anschauung ausgieng, dafs die einzelnen Abschnitte der Fangmaske 
bei den Libellenlarven den 'Theilen der Unterlippe bei kauenden Inseeten 
homolog sein mülsten, hat man doch mehrfach schon Vergleiche zwischen 
beiden angebahnt und das Libellenlabium von dem Orthopterenlabium ab- 
zuleiten versucht. 

Die Erklärungsversuche sind allerdings recht verschiedenartig ausge- 
fallen. Da gesonderte Laden an dem Labium der Libellen nicht zu unter- 
scheiden sind, so handelte sich die Frage hauptsächlich darum, ob, wie 
bei den Maxillen, Aufsen- und Innenladen mit einander verschmolzen wären, 
oder ob bei der Unterlippe der lobus externus sich mit dem palpus ver- 
einigt habe. 

Soweit entwickelungsgeschichtliche Ergebnisse hierbei in Betracht ge- 
zogen werden können, scheint mir die Gerstaecker’sche Ansicht wohl 
die einleuchtendste zu sein. Dieser zufolge wären nämlich an dem Labium 
der Libellen die inneren Laden von den äufseren getrennt, während die 
Aulsenladen ihrerseits mit dem Taster verwachsen seien. 

Die Deutung Gerstaecker’s (73). welehe sich auf die Mundtheile der 
Imagines bezog, kann im wesentlichen bereits bei den Larven eine Anwen- 
dung finden. Freilich handelt es sich bei Aufsenlade und Taster wohl we- 
niger um eine Verschmelzung, als vielmehr um eine unvollkommene bez. um 
eine unterbliebene Trennung. Die Mundtheile der Libellen verharren eben 
dauernd in einem Stadium der unvollständigen Differenzirung, womit auch 
die oben hervorgehobene späte Differenzirung von Laden und Tastern bei 


den Maxillen im Gegensatze zu vielen anderen Inseeten in Einklang steht. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 21 


An dem Labium der Libellen kommen eigentliche lobi überhaupt nie- 
mals zur vollständigen Absonderung. Die mit den lobi externi anderer 
Inseeten zu vergleichenden Theile werden beim Embryo nur in Form einer 
medianen Verbreiterung der dritten Glieder (Fig.24 Lab,) angelegt. Ent- 
sprechende Verbreiterungen an den zweiten Gliedern stellen die lobi in- 
terni dar. Noch während der Embryonalzeit legen sich diese in der Me- 
dianlinie an einander und verschmelzen. Bei den Larven von Libellula, 
Epitheca u. A. sind daher die lobi interni mit einander vereinigt (Fig. 21). 
Die beim Embryo bereits sehr frühzeitig erfolgende Verbindung zwischen 
den proximalen Abschnitten der zweiten Glieder (Fig. 24) liefert später 
das als mentum bekannte Stück, während als Rudiment eines palpus wohl 
ohne Zweifel das kleine vierte (oder End-) Glied des Labiums (Lab,) zu 
betrachten ist. 

Unter den drei Höckerpaaren, die auch bei Ephemera die erste Anlage 
der Mundwerkzeuge darstellen, fallen die vordersten, die späteren Mandi- 
beln, von vornherein durch bedeutendere Gröfse auf. 

Das hinterste Höckerpaar legt sich schon frühzeitig zur Bildung des 
Labiums zusammen, an dem ganz im Gegensatze zu den Odonaten bereits 
zur Zeit der Umrollung getrennte lobi interni und externi, sowie kurze 
palpi labiales zur Entwickelung gelangen. 

Späterhin macht sich dann eine Art Abgliederung auch an den vorderen 
Maxillen und an den Mandibeln geltend. Diese Verhältnisse lassen sich 
aber am besten erst an den jungen, eben ausgeschlüpften Larven studiren 
(Fig. 29). 

Bei letzteren sind die Labialtaster noch kurz, ungegliedert und gehen 
in eine starke Chitinborste aus. 

An den Maxillen der jungen Ephemera-Larve fällt die Gröfse der Kau- 
lade auf, die in einer Anzahl starker, wohl als Zähnchen fungirender Sta- 
cheln endigt. An der Basis der Maxille befindet sich lateral ein unbedeu- 
tender kleiner, höckerartiger Vorsprung: die erste Andeutung des palpus 
maxillaris. 

Die Mandibel besteht aus zwei Stücken, die von einer gemeinsamen 
Basis entspringen. Ein breites mediales Stück funetionirt als Kaulade und 
besitzt am distalen Ende einige starke kräftige Zähne. Lateral von der 
Kaulade trifft man als zweites Stück einen hornartigen Fortsatz an. der an 


seinem Ende in einige Chitinstacheln ausläuft (Fig.29 Mdp). 


ID 
[892 


R. Heymons: 


Die hornartigen Fortsätze der beiden Mandibeln convergiren und be- 
rühren sich bei geschlossenen Mundtheilen beinahe in der Medianlinie. Diefs 
gilt aber nur für die jungen Larven, während später ein anderes Verhalten 
hervortritt. 

Die hornartigen Mandibularfortsätze gehen bei älteren Larven beinahe 
in rechtem Winkel von der Kaulade ab, sie sind nach vorn gewendet und 
enden mit einer einfachen Spitze, wodurch sie ein tasterartiges Aussehen 
gewinnen. 

Der Hypopharynx entsteht bei Ephemera auf ähnliche Weise wie bei 
den Orthopteren. Auch an ihm findet eine Art Gliederung statt, derge- 
stalt, dafs von der eigentlichen Hauptmasse zwei laterale vordere Zapfen 
abgetrennt werden, die mit kleinen Härchen bedeckt sind, während der 
eigentliche Hypopharynx am Ende einen Besatz von feinen (Sinnes-) Bor- 
sten trägt. 

Vergleicht man die Entstehung der Zphemera-Mundtheile mit derje- 
nigen der Orthopteren, so ist die übereinstimmende Bildung des Labiums 
bei den beiden Gruppen nicht zu verkennen. 

Auffallend ist an den Maxillen von Zphemera das späte Auftreten des 
palpus, der nur als ein einfacher lateraler Auswuchs des Maxillenstammes 
angelegt wird. 

Der hornartige Fortsatz der Mandibeln kommt auch noch anderen 
Ephemeridenlarven zu und ist bekanntlich nicht als eine besondere Eigen- 
thümlichkeit der Gattung Ephemera zu betrachten. Bei den jungen Larven 
von Caenis ist das entsprechende Gebilde vorhanden. Berücksichtigt man 
die Entstehungsweise des Mandibularfortsatzes, so ist wohl nicht zu ver- 
kennen, dafs er ähnlich wie ein Taster ursprünglich angelegt wird. Es 
könnte der hornartige Fortsatz morphologisch also noch am ehesten mit 
einem modifieirten palpus (mandibularis) verglichen werden. 

Auf die Gliederung der Antennen, sowie auf diejenige der Thorax- 
beine gehe ich hier nieht näher ein. Erwähnt seien nur noch zwei eigen- 
artige kleine Hörnchen, die am Scheitel der jungen Epitheca-Larven zu 
beobachten sind. 

Diese hornartigen Zapfen sind ein besonderes Charakteristicum der 
Gattung Epitheca, der sie auch ihren Namen gegeben haben. Sie entstehen 
erst spät, am Schlusse der Embryonalzeit, und stellen einfache Haut- 


ausstülpungen dar; irgend ein bestimmter morphologischer Werth kann 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 23 


ihnen mithin nicht zugeschrieben werden. Im Innern sind die Kopfhörner 
hohl, ihre Wand besteht aus grofsen Hypodermiszellen. Der gleiche Bau 
kommt übrigens auch den kleinen Scheitelhörnern der Cordulia-Larven zu. 
Bei jungen Larven von Epitheca sind die Hörner zweigliedrig (Fig. 2 Shh), 
auf einem langen Basalabschnitt erhebt sich ein kurzes eiförmiges Endglied, 
welches einige lange Borsten trägt. Dafs die Hörner bei den jungen 
Larven die Bedeutung von Sinnesapparaten haben, ist wohl als wahr- 
scheinlich anzunehmen. 

Bei älteren Larven verschwindet das Endglied. Die Scheitelhörner 
werden im weiteren Entwickelungsverlauf relativ kürzer und stellen schliefs- 
lich abgerundete, wenig erhabene Fortsätze dar, die keine Borsten tragen. 
Bei Libellula und Sympetrum fehlen besondere Fortsätze am Scheitel. Der 
Kopf der jungen Larven ist nur mit einigen langen Chitinhaaren besetzt. 

Während die Brustbeine schon am Embryo eine sehr beträchtliche 
Länge erreichen, sind im Gegensatze zu den meisten Orthopteren die Ab- 
dominalextremitäten sowohl der Odonaten wie der Ephemeriden nur küm- 
merlich entwickelt. Sie haben die Form kleiner, wenig erhabener, rund- 
licher Höcker, in denen anfangs die mesodermalen Gölomsäcke sich befinden. 

Eine Differeneirung der Extremitäten des ı. Abdominalsegmentes zu 
drüsigen Organen findet nicht Statt. Am ı1. Abdominalsegment wachsen 
die Extremitäten zu den cerei aus, sie wenden sich nach hinten und er- 
langen eine beträchtliche Länge. Auch im Umkreis des hinter dem ı 1. Ab- 
dominalsegment befindlichen Afters erscheinen insbesondere bei den Odo- 
naten eigenartige Fortsätze, die indessen erst im nächsten Abschnitte eine 
eingehendere Berücksichtigung finden sollen. 

Wenn der Embryo sonach allmählich in den Besitz der verschieden- 
artigen Extremitäten und Körperanhänge gelangt ist, und wenn auch die 
innere Organisation entsprechende Fortschritte gemacht hat, so bereitet 
sich das junge Thierchen zum Ausschlüpfen vor. 

Der Procefs des Ausschlüpfens ist in diesem Falle, d. h. besonders 
bei Epitheca und Libellula, kein leichter. Gilt es doch aufser der harten 
Eischale auch noch die darum gelagerte zähe Gallertmasse zu durch- 
brechen, um ins Freie zu gelangen. Die Eischale ist übrigens insofern 
verstärkt, als auch die Serosa eine farblose chitinöse Haut abgeschieden 
hat, welche den Embryo rings umhüllt und unter dem braungelben Chorion 
sich befindet. 


24 R. Hrvmoss: 


Um diese Hindernisse überwinden zu können, ist der Embryo im 
Besitze eines eigenthümlichen Apparates, den ich im folgenden für Zpi- 
theca beschreiben will. 

Wenn die Umwachsung des Dotters sich vollzogen hat, und wenn 
von der Körperhaut eine dünne Chitineutieula bereits produeirt ist, so 
fällt am Kopfe des Embryo eine mediane über die ganze Stirn sich hin- 
ziehende Leiste von gelblicher Farbe auf (Fig. 17 Chl). Diese Chitinleiste 
beginnt unmittelbar hinter dem Clypeus und reicht bis zum Scheitel. 
Während sie hinten flacher wird und dort allmählich in die Körpereuticula 
übergeht, so endet sie vorn an einer verdickten, aber nicht mehr er- 
habenen Chitinplatte Die Leiste ist nicht homogen, sondern von feinen 
'adiär verlaufenden Porenkanälchen durchsetzt. Die zwischen den Kanäl- 
chen befindlichen Strebepfeiler sind distalwärts durch eine solide Chitin- 
lamelle verbunden, und zwar derartig. dafs über den Pfeilern die Lamelle 
etwas erhaben, zwischen ihnen aber etwas eingesenkt ist. Der Aufsen- 
kontur der Leiste zeigt daher einen fein welligen Verlauf. 

Die physiologische Bedeutung dieser wie ein scharfer Kamm über den 
Kopf sich hinziehenden Leiste wird ohne weiteres klar, wenn der Procefs des 
Ausschlüpfens aus dem Ei sich vollzieht. Mehrfach habe ich Gelegenheit gehabt, 
diesen Vorgang bei Epitheca direet beobachten zu können. Es öffnet sich 
hierbei das zum Schlufs spröde und brüchig gewordene Chorion in Form 
eines Längsrisses. Dieser Rifs wird, wie es scheint, ausschliefslich durch 
den Druck veranlafst, den der im Innern befindliche Embryo allseitig auf 
die Eischale ausübt. 

Die Öffnung in dem Chorion zeigt sich zuerst ventralwärts am Vorder- 
ende des Eies, verlängert sich aber bald in Form einer Längsspalte nach 
hinten. Durch den so entstandenen Spalt kommt der Kopf des jungen 
Thierehens hervorgequollen, der übrige Leib folgt langsam nach, lediglich in 
Folge der Ausdehnung des bisher im Innern des Eies eingekrümmten und 
zusammengeprefsten Körpers, denn irgend welche activen Bewegungen sind 
an dem hervortretenden jungen Thiere noch nieht bemerkbar. Letzteres 
kann auch noch nicht als Larve bezeichnet werden, es handelt sich vielmehr 
um einen ausschlüpfenden Embryo, dessen Extremitäten noch mit einander 
verklebt sind und dem Körper fest anliegen. In diesem Stadium hat nun 
auch die oben beschriebene Leiste (Fig. 3. Chl) in Wirksamkeit zu treten, sie 


dient dazu, um gewissermalsen wie ein Messer die vor dem Kopf des 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 25 
Thieres befindliche Gallertmasse zu durchschneiden und somit freie Bahn 
für den nachfolgenden Körper zu schaffen. 

Diefs erscheint um so nothwendiger, als in sehr vielen Fällen die 
Gallerte nicht ihre einfache homogene Beschaffenheit bewahrt hat, sondern 
in Folge des langen Aufenthaltes im Wasser von allerlei Algenfäden, Dia- 
tomeen u. s. w. durchwachsen ist. Die Leiste hat alle diese Hindernisse 
bei Seite zu schieben. Ein scharfer spitzer Eizahn dagegen, wie er z. B. 
bei Forficula und bei manchen Käfern vorkommt, würde hierzu gar nicht 
im Stande sein, vielmehr den Kopf des Thieres unfehlbar in dem Algen- 
gewirr verstricken'. 

Der Austritt aus der Gallerte ist andererseits bei Epitheca deswegen 
wieder etwas erleichtert. weil die meisten Eier sich bereits in den peri- 
pheren Partien des Gallertstranges befinden. Sind übrigens die Hinder- 
nisse beim Durchbrechen der Gallertschieht sehr grofse, so vollziehen sich 
schliefslich auch schwache, durch Contraetionen der Längsmuskeln hervor- 
gerufene nutirende Bewegungen des gesammten Körpers, wobei dann die 
Leiste ähnlich wie ein Messer hin und her bewegt wird. 

Sobald der Embryo sich hervorgearbeitet hat und an die Oberfläche 
der Laichmasse gelangt ist, wird die Körpereutieula dorsalwärts am Thorax 
gesprengt. Die junge Larve schlüpft heraus, sie kann ihre Gliedmafsen 
nunmehr gebrauchen und sie läfst die leere Chitinhülle, an welcher auch 
die Leiste sitzen bleibt, zurück. 

Der für Zpitheca beschriebene Chitinapparat zum Durchbreehen der 
Gallertsubstanz findet sich in gleicher Weise auch bei Libelhula ausgebildet. 
Etwas anders verhält es sich dagegen bei Sympetrum, bei welchem Insect 
die Eier nicht in Form eines zusammenhängenden, gallertartigen Laiches 
abgelegt werden. Die Embryonen weisen ganz vorn an der Stirn eine 
ebenfalls in der Medianlinie befindliche aber nur sehr kurze und schwache 
Chitinerhebung auf. Obwohl es sich also im Prineip offenbar um die gleiche 
Einriehtung wie bei Epitheca handelt, so ist doch bei Sympetrum in Zu- 


! Der bei früherer Gelegenheit von mir (93) bei Forfieula beschriebene ceutieulare Ei- 
zahn nimmt im übrigen aber eine ganz entsprechende Lage am Kopf des Thieres ein wie 
die soeben geschilderte Leiste gewisser Odonaten. 

Die genannten Cutienlargebilde sind also trotz ihrer abweichenden Gestalt und ihrer 
etwas andersartigen Function einander als homolog zu betrachten. 


Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 4 


26 R. Hrvmons: 


sammenhang mit der Zartheit des das Ei umgebenden Exochorions auch 
(lie Leiste nur sehr unvollkommen ausgebildet. 

Ein Apparat zum Öffnen der Eischale fehlt den von mir untersuchten 
Ephemeriden. Den Vorgang des Ausschlüpfens habe ich schon früher (96°) 


für Ephemera geschildert. 


4. Über die Hinterleibsanhänge. 
a. Die Abdominalanhänge der Larven. 


Die Gliederung des Abdomens bei den Libellen ist deswegen von 
einem besonderen Interesse, weil sie im Vergleich zu anderen Inseeten 
noch verhältnifsmäfsig einfache und ursprüngliche Verhältnisse zu erkennen 
giebt. Letztere sind am klarsten und deutlichsten natürlich in frühen 
Eintwiekelungsstadien ausgeprägt, und es ist daher am zweckmäfsigsten 
von der Betrachtung der Larvenformen auszugehen. 

In Fig. 2 gebe ich die Abbildung einer noch ganz jugendlichen Larve 
von Epitheca bimaeulata, Schon bei flüchtiger Ansicht zeigen sich ı1 Ab- 
dlominalsegmente, von denen ein jedes eine Rückenplatte, ein Tergit, und 
eine Bauchplatte, ein Sternit, besitzt. 

Die ersten drei Segmente sind ziemlich kurz, die hinteren werden 
immer länger und breiter bis zu dem achten hin, welches das grölste ist. 
Das 10. Segment des Abdomens ist bedeutend schmaler und kürzer als 
dlas vorhergehende, und das elfte ist etwas abweichend gestaltet, so dals 
es einer besonderen Besprechung bedarf. 

Das Tergit des ı1. Abdominalsegmentes ist nämlich verlängert und 
läuft hinten in einen umfangreichen mit einigen langen Borsten besetzten 
Fortsatz aus. Das ı1. Sternit ist schr schmal und deutlich zweigetheilt 
(Fig. 4 Stern... 

Den Hälften der ı1. Bauchplatte sind zwei lange nach hinten ge- 
wendete Fortsätze angeheftet, die ebenfalls dem ı1. Abdominalsegment 
noch angehören. Es sind «die Oerei, auf deren Entwickelung beim Embryo 
sehon oben hingewiesen wurde. Die Cerei (Fig. 2 app lat) sind unge- 
gliedert, in ihrem Aussehen stimmen sie ganz mit dem Rückenfortsatz 
des betreffenden Segmentes überein. 

Der Körper der jungen Larve läuft auf diese Weise hinten in drei 


lange Schwanzanhänge bez. Schwanzstacheln aus, von denen die beiden 


Entwickehng und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 27 


seitlichen den Cerei, der mittlere dorsale dem verlängerten ı1. Tergit 
entspricht. 

Hinter den drei genannten Fortsätzen, die ich appendices caudales 
bezeiehnen will, treten aber noch weitere Anhänge hervor, die einem 
ı2. Abdominal- oder Endsegment des Körpers zugerechnet werden müssen. 

Wir können hier wiederum im wesentlichen drei Fortsätze unter- 
scheiden, einen unpaaren, median gelegenen, dorsalen und zwei laterale. 
Da zwischen diesen Fortsätzen die Afteröffnung sieh befindet, so bezeichne 
ich sie insgesammt als laminae anales. 

Die lateralen laminae (Fig. 2 /am sub) sind kräftig entwickelt, ziem- 
lich breit und schalenförmig ausgehöhlt. Ihre concave Seite wenden sie 
dabei nach innen, gegen den After, ihre convexe Seite nach aufsen. Sie 
reichen bis zur Ventralseite hinab und stofsen dort in der Medianlinie an 
einander, so dafs der After von unten (ventral) durch sie bedeckt wird. 
Man kann die lateralen laminae anales deshalb auch als laminae subanales 
bezeichnen. 

Ihnen steht gegenüber die unpaare und dorsale lamina supraanalis. 
Letztere (Fig. 2 /am sup) ist kürzer als die laminae subanales und wird ge- 
wöhnlich von dem verlängerten ı1. Tergit vollständig bedeckt, so dafs sie 
sich der Beobachtung leieht entzieht. Die lamina supraanalis stellt eine 
einfache nur wenig gewölbte Platte dar, die am hinteren Rande abgestutzt 
ist und dort einige Chitinhaare trägt. 

Die gegebene Schilderung von der Zusammensetzung des Abdomens 
bezieht sich zunächst auf Zpitheca, ich kann aber hinzufügen, dafs die Be- 
sehaffenheit des Hinterleibes bei den jungen Libellula- und Sympetrum-Larven 
eine ganz entsprechende ist. Auch hier folgt auf die zehn ersten überein- 
stimmend gebauten Segmente ein 11. Segment mit den appendices eaudales 
laterales (Cerei) und dem entsprechend gestalteten verlängerten ı 1. Tergit 
(appendix eaudalis dorsalis). Das zweigetheilte ı 1. Sternit habe ich bei den 
heiden genannten Inseeten nicht entwickelt gefunden, seine Bestandtheile 
sind vollkommen mit den appendices laterales verschmolzen. Auch während 
der späteren Larvenentwickelung von Zpitheca vollzieht sich eine Vereini- 
gung zwischen dem ı1. Sternit und den beiden appendices laterales. 

Die etwas eigenartige Gestaltung des Abdomens, welche voraussicht- 
lich wohl für alle jungen Libellulidenlarven Gültigkeit haben wird, legte 
es nahe, noch andere Odonaten zum Vergleich heranzuziehen. Ich wählte 

4* 


28 R. Hevmons: 


hierfür Vertreter aus der Gruppe der Calopterygier, die man gegenwärtig 
als eine besondere Unterordnung (Zygoptera) den Libelluliden und den da- 
mit verwandten Formen (Anisoptera) gegenüberzustellen pflegt. Überdiefs 
werden die Zygoptera, deren Larven durch den Besitz äufserer Tracheen- 
kiemen ausgezeichnet sind, in der Regel als die ursprünglichsten Reprae- 
sentanten der ganzen Ordnung der Odonaten angesehen. 

Für meine Zwecke standen mir sämmtliche Larvenstadien von Agrion, 
unmittelbar vom Verlassen des Eies an, zur Verfügung. Caloptery.v selbst 
stimmt übrigens in allen wesentlichen Punkten vollkommen mit Agrion 
überein. 

An dem eylindrischen Abdomen von Agrion fällt die Gleichmäfsigkeit 
der ersten zehn Segmente auf, die unter einander von beinahe gleicher 
Gestalt und Grölse sind. Hinter dem 10. Segment folgen drei lange Schwanz- 
fäden (Fig.9). Letztere sind bei den jugendlichen Larven drehrund, werden 
aber im späteren Entwiekelungsverlauf blattförmig und stellen dann die 
bekannten äufseren Tracheenkiemen der Larve dar. 

Umgeben von den drei Kiemen treffen wir wiederum drei kleine Er- 
hebungen an, die den After unmittelbar einschliefsen, wegen ihrer ver- 
borgenen Lage aber leicht übersehen werden können. Die Deutung ergibt 
sich ohne weiteres. Die beiden lateralen Tracheenkiemen (Fig. 9 app lat) sind 
die Homologa der beiden seitlichen Schwanzanhänge (appendices caudales) 
von Epitheca und Libellula und lassen sich wie diese auf Cerei zurückführen. 
Die mittlere dorsale Kieme (app dors) wird bei Agrion, Calopteryx u. s. w. 
von dem verlängerten Tergit des ı 1. Abdominalsegmentes dargestellt. Über- 
reste eines I1. Sternites habe ich bei den genannten Calopterygiern nicht 
nachweisen können. 

Die drei laminae anales sind bei Agrion nicht sehr stark ausgebildet 
und erinnern in ihrer Form an diejenige vieler Orthopteren. Die beiden 
lateralen laminae sub- oder richtiger adanales befinden sich zu den Seiten 
des Afters, reichen aber nicht so weit zur Ventralseite wie bei Zpitheca. Die 
unpaare lamina supraanalis ist eine rundliche Platte, die unter der mittleren 
Traeheenkieme liegt (Fig. 9). 

Bei der ziemlich nahen Verwandtschaft zwischen den Odonaten und 
speciell der Odonatengruppe der Zygopteren einerseits und den Ephemeriden 
andererseits liefs es sich wohl von vornherein erwarten, «dafs auch bei 
den letzteren ähnliche Verhältnisse obwalten würden. Hatte man doch 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 29 


schon längst die äufseren Tracheenkiemen der Odonatenlarven mit den 
Schwanzfäden der Ephemeriden verglichen. 

Die entwiekelungsgeschichtlichen Untersuchungen, welche 
ich an Ephemera vulgata angestellt habe, ergaben die Berechti- 
gung dieser Auffassung. Bei den Ephemeriden und Odonaten 
sind die in Rede stehenden Abdominalfortsätze einander ho- 
molog. Die drei Schwanzfäden der Ephemeriden gehören eben- 
falls dem elften Abdominalsegmente an. Die beiden lateralen 
Scehwanzfäden sind auf die Cerei zurückzuführen, der dorsale 
geht aus dem ıı. Tergit hervor. 

Auch die laminae anales treffen wir an dem äufserlich zehngliedrigen 
Abdomen der jungen Ephemeridenlarven an. Die lamina supraanalis ist 
eine kleine halbmondförmige Platte, die unter dem dorsalen Schwanzfaden 
verborgen liegt und die Afteröffnung von oben bedeckt (Fig. 5 /am sup). 
Sie scheint bisher stets übersehen worden zu sein. Die laminae subanales 
bleiben dagegen nicht selbständig wie bei den ÖOdonaten, sondern ver- 
wachsen vorn mit dem 10. Sternite. Das ı1ı. Sternit geht bei Ephemera 
und Caenis gerade wie bei Calopteryx und Agrion zu Grunde. Nur die hin- 
teren Partien der laminae subanales bleiben auf diese Weise frei, sie erhe- 
ben sich deutlich über das Niveau des ıo. Sternites und bilden die vor- 
dere Begrenzung für den After (Fig. 5 /am sub). 

Die Gliederung des Abdomens, welche soeben geschildert wurde, weicht 
bei den Ephemeriden, besonders aber bei den Odonaten, in ungewöhnlicher 
Weise von der Körpergliederung bei allen anderen bisher untersuchten In- 
seetenlarven ab. Hauptsächlich sind es die eigenartigen am Hinterende 
des Abdomens befindlichen Fortsätze, welche die Aufmerksamkeit auf sich 
lenken. Auf sie möchte ich hier auch ganz besonders hinweisen, einmal, 
weil die Abdominalanhänge bei den jungen Ödonatenlarven bisher über- 
haupt noch niemals eingehend studirt worden sind, und zweitens, weil 
gerade die hier zu Tage tretenden Verhältnisse ganz besonders geeignet 
erscheinen, um Aufklärung in die vielumstrittene Frage nach der Zusam- 
mensetzung des Insectenabdomens zu bringen. 

Auf Grund vergleichend-embryologischer Untersuchungen war ich frü- 
her für die primäre Zwölfgliedrigkeit des Hinterleibes der Inseeten einge- 
treten. In einer Arbeit (95), welche speciell die Segmentirung behandelte, 
sind von mir die Gründe, welche mich zu dieser Auffassung geführt haben, 


30 | R. Heymons: 


ausführlich dargelegt. Es genügt, hier zu recapituliren, dafs bei den Em- 
bryonen der Orthopteren elf typische Abdominalsegmente angelegt werden, 
von denen ein jedes die Anlage eines besonderen Sternites und eines ent- 
sprechenden Tergites zu besitzen pflegt. Hinter dem ır. Abdominalseg- 
ment folgt dann der After, der dem zuletzt genannten Segmente also 
nicht mehr angehört, sondern sich im Bereiche eines häufig noch deutlich 
entwickelten Analabschnittes befindet. Stets pflegen später im Umkreis der 
Afteröffnung eigenartige Wucherungen aufzutreten, aus denen die bekannten 
drei Afterklappen bez. laminae anales hervorgehen. Die Afterklappen re- 
praesentiren somit dauernd die Bestandtheile eines 12. abdominalen End- 
oder Analabschnittes. 

Vergleicht man mit diesen besonders an Orthopteren gewonnenen Er- 
gebnissen die Befunde bei den Odonaten- und Ephemeridenembryonen, so 
ist der gemeinsame Plan, nach dem in übereinstimmender Weise in beiden 
Fällen der Körper aufgebaut wird, gar nicht zu verkennen. 

Zur Veranschaulichung der in Rede stehenden Verhältnisse weise ich 
nochmals auf Fig.1ı6 hin. An dem Embryo von Zibellula erkennt man 
ebenfalls elf deutliche Abdominalsegmente, an denen die paarigen Glied- 
malsenanlagen hervortreten. Unter diesen zeichnen sich diejenigen des 
ı1. Segmentes bereits durch einen etwas gröfseren Umfang aus, sie werden, 
wie schon erwähnt, später zu den appendices laterales und lassen sich 
also mit den Cerei der Orthopteren vergleichen. 

Es fällt ferner an der genannten Figur der bereits ziemlich umfang- 
reiche Enddarm auf, der von der Afteröffnung ausgehend in den Dotter ein- 
gedrungen ist und sich an die eingebogenen drei letzten Körpersegmente 
angelegt hat. Bei einer genaueren Untersuchung kann man sich leicht da- 
von überzeugen, dafs die Afteröffnung sich deutlich hinter dem ı1. Ab- 
dominalsternit befindet. 

In späteren Stadien wird der Enddarm von den sich dorsalwärts schlie- 
(senden drei letzten Segmenten überwachsen und damit in das Körperinnere 
aufgenommen. Die hintersten Körpersegmente sind nunmehr fertiggestellt 
und besitzen aufser den Bauchplatten auch vollkommene Rückenplatten oder 
Tergite. Das Tergit des ı1. Abdominalsegmentes wächst zur appendix 
dorsalis aus, welche die gleiche Form gewinnt wie die appendices laterales. 
Der Körper geht sodann hinten in drei übereinstimmend gebaute Fortsätze 
aus, die sieh fest an einander schliefsen. In diesem Stadium erscheinen in 


ee 


Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. >31 


der unmittelbaren Umgebung des Anus die drei laminae anales, welche 
gewissermafsen en miniature die Haupttheile des ı1. Segmentes wieder- 
holen. 

Man könnte an dieser Stelle vielleicht den Einwand erheben, dafs die 
drei laminae anales kein besonderes Segment repraesentiren, sondern dafs 
sie nur Anhänge oder Differenzirungsproducte des ıı. Segmentes darstellen. 

Gegen die letztere Annahme mufs jedoch geltend gemacht werden, 
dafs das ıı. Abdominalsegment bereits im Besitze aller charakteristischen 
Bestandtheile eines Körpersegmentes ist. Es besitzt eine Rückenplatte, 
eine Bauchplatte und zwei Extremitäten, weitere Anhänge pflegen über- 
haupt keinem primären Körpersegmente eigen zu sein. Überdiefs fällt, wie 
schon besonders betont wurde, die Darmöffnung gar nicht in das Bereich 
des ıı1. Segmentes mehr hinein. Wenn sich nun später in der unmittel- 
baren Umgebung des Afters die laminae entwickeln, so müssen diese so- 
mit einem ı2. (End-) Segmente zugesprochen werden. Das Endsegment 
als solches ist bei den Embryonen der hier betrachteten Inseeten wie auch 
bei denen mancher Orthopteren allerdings sehr wenig entwickelt, in ande- 
ren Fällen dagegen (Gryllotalpa) und besonders bei den Embryonen mancher 
Käfer ist es deutlich und grofs, und an seiner Natur als selbständiger 
Endabschnitt (Telson) des Körpers kann alsdann überhaupt gar kein Zwei- 
fe] obwalten'. Das verhältnifsmäfsig späte Auftreten der laminae, welches 
man bei den Odonaten und vielen Orthopteren beobachtet, findet damit 
eine Erklärung, dafs die Körperdifferenzirung stets sich in der Richtung 
von vorn nach hinten vollzieht. Es können daher die Bestandtheile des 
Analsegmentes erst zuletzt von denjenigen des ı1. Abdominalsegmentes 
abgetrennt werden. 

Anhänge von einer derartigen Gröfse und Selbständigkeit, wie sie uns in 
den laminae anales der Libellenlarven (Fig. 2) entgegentreten, sind den übri- 
gen Körpersegmenten vollkommen fremd, und wenn man sagt, die lami- 
nae wären lediglich Anhänge des ı 1. Segmentes, so würde man mit dem- 
selben Rechte auch behaupten können, dafs das Oralsegment ein vorderer 
Anhang des Antennensegmentes sei, oder dafs das ı1. Abdominalsegment ein 


Anhängsel des zehnten, bez. dieses ein Fortsatz des neunten u. s. w. wäre. 


! Bei den Inseeten herrscht im allgemeinen die Tendenz vor, das Endsegment rück- 
zubilden und zu unterdrücken. Diese Tendenz macht sich auch in dem noch zu schildernden 
weiteren Entwickelungsverlauf der Odonaten und Ephemeriden besonders geltend. 


32 R. Heymons: 


Der Discussion offen könnte allein die Frage bleiben, in wie weit 
durch die laminae anales ein eigenes und besonderes 12. »Segment« des 
Hinterleibes dargestellt wird. In dieser Hinsicht habe ich in meiner bereits 
eitirten Arbeit schon die Gründe erörtert, wegen welcher weder der erste 
noch der letzte Körperabschnitt (Oral- und Analsegment') den übrigen 
Körpersegmenten der Insecten als gleichwerthig betrachtet werden dürfen. 
Ich bin deshalb vollkommen damit einverstanden, wenn man sagt, dafs 
das Inseetenabdomen nicht aus zwölf Segmenten besteht, sondern nur 
aus elf und den darauf folgenden laminae anales zusammengesetzt ist. 

Hierbei wird man sich natürlich vor Augen halten müssen, dafs die 
laminae anales der Inseeten das Rudiment eines ehemals selbständigen Anal- 
stückes oder Telsons darstellen, welches bei vielen anderen Arthropoden 
dauernd noch als solches erhalten bleibt. 

Die beschriebene Zusammensetzung des Körpers hat sich freilich bei den 
Inseeten bisher immer nur während einer gewissen Epoche des Embryonal- 
lebens nachweisen lassen, um nachher einem durch Verschmelzung verschie- 
dener Abschnitte bedingten, sehr viel einfacheren Verhalten Platz zu machen. 
Das Abdomen der jungen Orthopteren, wie auch dasjenige anderer Insecten- 
larven weicht daher von dem ursprünglichen Zustande, in dem es anfäng- 
lich angelegt wurde, mehr oder minder erheblich ab. 

Hier bei den Odonatenlarven tritt uns aber eine Körper- 
gliederung vor Augen, welche die primäre Segmentirung des 
Inseetenabdomens noch in beinahe ganz reiner, unverfälschter 
Weise zur Anschauung bringt. Die Zwölfgliedrigkeit des Ab- 
domens, welche bisher nur bei jungen Embryonen beobachtet 
werden konnte, ist in vielen Fällen bei Odonaten selbst noch 
an der Larve deutlich erhalten. 

Wenn man hierbei die einfache Körperorganisation der Odonaten im 
allgemeinen berücksichtigt, und wenn man auch das muthmafslieh hohe 
phylogenetische Alter dieser Thiere, auf welches schon am Eingange dieser 
Arbeit hingewiesen wurde, in Betracht zieht, so dürfte damit wohl die 
Ansicht an Boden gewinnen, dafs die Zwölfgliedrigkeit des Abdomens 


! Die Bezeichnungen Oral- und Analsegment sind von mir nur des leichteren Ver- 
ständnisses wegen statt der ursprünglich von mir gebrauchten Ausdrücke Oral- und Anal- 


stück gewählt worden. 


“ Posen DEREN 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 33 


thatsächlich das primäre und ursprüngliche Verhalten für die Inseeten 
darstellt. 

Die bei den jungen Odonatenlarven noch zu Tage tretende Zusammen- 
setzung des Hinterleibes ist bisher nicht erkannt worden, wie überhaupt 
unsere Kenntnisse über den Körperbau dieser Thiere zur Zeit noch recht 
dürftige genannt werden müssen. 

Von den genannten Hinterleibsanhängen sind speeiell die drei lami- 
nae anales, ihrer Kleinheit und verborgenen Lage wegen, von früheren 
Beobachtern fast stets übersehen worden. Meines Wissens hat nur Öalvert 
(93) die Beobachtung gemacht, dafs am Abdominalende junger Libellen- 
larven noch »a pair of chitinous pieces« vorhanden wäre, womit offenbar 
die laminae subanales gemeint sind. 

Haase (89) sind die laminae anales ebenfalls entgangen. In seiner 
Abhandlung über die Abdominalanhänge der Inseeten erwähnt er, gerade 
wie diefs bei den meisten in systematischen Werken enthaltenen Beschrei- 
bungen der Fall ist, nur fünf Fortsätze am Hinterleibsende der Libellen- 
larven. Die appendices (caudales) laterales wurden von ihm als »untere 
Afterklappen« angesehen. 

Auch in der morphologischen Deutung der Schwanzfäden bez. der 
Tracheenkiemen, weiche ich von der bis jetzt üblichen Auffassung ein wenig 
ab. Bisher hatte man immer, sowohl bei den Eintagsfliegen und zumeist 
wohl auch bei den Odonaten, die mittlere dorsale Schwanzborste oder 
Kieme als die verlängerte lamina analis oder Afterdeceke angesehen. Das 
ist nieht richtig. Die eigentliche Afterklappe oder lamina supraanalis zeigt 
sich vielmehr, wie sehon gesagt wurde, in Form einer kleinen Platte ganz 
deutlich erst unterhalb bez. hinter dem mittleren Sehwanzfaden, und dieses 
Verhalten, wie auch vor allem die Entwickelung deutet darauf hin, dafs 
die an der betreffenden Stelle befindliche Platte der lamina analis ent- 
sprieht, während der dorsal gelegene Schwanzfaden als ein verlängertes 
Tergit angesehen werden mulfs. 

Wir haben gesehen, dafs dem ı1. Abdominalsegmente der Anisop- 
teren, Zygopteren und Ephemeriden drei appendices caudales zukommen, 
die bei den verschiedenen Gruppen bald die Form von Schwanzstacheln, 
Tracheenkiemen oder von Scehwanzfäden annehmen. Von diesen drei ap- 
pendices caudales, welche unter einander ganz übereinstimmend gebaut sind, 
entsprechen stets die beiden lateralen den Cerci, während die mittlere dor- 

Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 5 


34 R. Hrrmons: 


sale Appendix eine verlängerte Rückenplatte des 11. Abdominalsegmentes 
repraesentirt. 

Man könnte vielleicht eine gewisse Schwierigkeit darin erblicken, dafs 
bei den hier erwähnten Inseeten ganz übereinstimmend gestaltete Anhänge 
gleichwohl eine verschiedenartige morphologische Bedeutung besitzen sollen. 
Ich glaube, dafs man in dieser Hinsicht die Plastieität und die Bildungs- 
fähigkeit des Inseetenkörpers nicht unterschätzen darf. Gerade wie bei 
allen anderen Arthropoden, so ist auch bei den Inseeten der Körper im 
Stande, an, wie es scheint, wohl allen beliebigen Stellen Hautfortsätze zu 
produeiren. 

Diese Hautfortsätze,. die bald aus Extremitäten, bald dagegen nur aus 
einfachen Segmentplatten oder dergleichen hervorgehen, pflegen dann trotz 
ihres verschiedenartigen Ursprungs einander oft sehr ähnlich gestaltet zu 
sein. In der Regel wird es sich hierbei wohl um einfache fadenförmige, 
gegliederte oder ungegliederte Hypodermisausstülpungen handeln, die keine 
oder nur ganz schwache Muskeln enthalten, nicht selten mit langen Borsten 
und Haaren besetzt sind und dadurch in ihrem Habitus eine gewisse Ähn- 
lichkeit mit Antennen bekommen können. Mit solchen sind sie auch häufig 
genug schon verglichen worden'. 

Es ist bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, dafs auch 
die Antennen im wesentlichen nur Hautfortsätzen entsprechen. Der charak- 
teristische funiculus oder Geifseltheil an den Antennen stellt wenigstens bei 
vielen Inseeten nichts anderes als eine Hypodermisausstülpung dar, gerade 
wie sie auch gelegentlich an anderen Körperstellen zur Entwickelung 
gelangen kann. Erst der die kräftige Bewegungsmusculatur umschliefsende 
Basalabschnitt der Antenne repraesentirt den eigentlichen Extremitäten- 
stummel, von dem die Geifsel nur eine Ausstülpung bildet. Ähnlich 


! In die Kategorie derartiger Hautfortsätze gehören beispielsweise auch die antennen- 
artigen Organe, die als anormale Bildungen gelegentlich an den Beinen oder an anderen 
Körpertheilen der Inseceten beobachtet sind. Einen hierhin gehörenden Fall bei Dilophus hat 
Wheeler (96) vor kurzem mitgetheilt. 

Selbst künstlich können derartige antennenähnliche Hautfortsätze hervorgerufen wer- 
den. Durch die bekannten Experimente von Herbst (96) wissen wir, dafs nach Amputation 
des Augentheiles podophthalmer Crustaceen ein antennenartiges Organ aus dem Augenstiel 
hervorwuchern kann. Herbst selbst hat meiner Ansicht nach schon mit vollem Rechte gel- 
tend gemacht, dals diese Erscheinung durchaus nicht auf die ehemalige Extremitätennatur 
des Augenstieles hinzudeuten braucht. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 35 


verhält es sich mit den Cerei und Styli, nur dafs hier der Basalabschnitt mit 
dem Körper vereinigt und daher zu Grunde gegangen ist. 

Man sieht, es wird in vielen Fällen gar nicht leicht sein, eine scharfe 
Grenze zwischen Extremität und Hypodermisfortsatz zu ziehen. In der 
That hat man ja auch vielfach daran gezweifelt, ob die Antennen, die 
Öerei u.s. w. Gliedmalsen entsprächen oder nicht. 

In derartigen Fällen ist es nun aber, wie ich schon früher betont 
habe (96), mit Hülfe der Entwiekelungsgeschichte wohl fast immer mög- 
lich, die Natur des fraglichen Anhanges klarzulegen. Gebilde, die vom 
anatomischen Standpunkte betrachtet, lediglich nur noch Hautfortsätze sind, 
verdanken häufig genug ihren Ursprung ehemaligen Gliedmafsen und geben 
sich ontogenetisch auch noch ganz sicher als Überreste oder Umwand- 
lungen von Extremitätenanlagen zu erkennen. Diefs trifft z. B. für die 
Cerei der Orthopteren, für die seitlichen Tracheenkiemen der Sialis- 
Larven u.s. w. zu. In vielen anderen Fällen ist dagegen, wie die Ent- 
wickelungsgeschichte lehrt, eine solche Zurückführung auf Extremitäten 
nicht statthaft. Hier handelt es sich dann nur um ähnliche Hypodermis- 
wucherungen, die gelegentlich eine gewisse gliedmafsenähnliche Gestaltung 
annehmen können (Gonapophysen der Insecten), die aber trotzdem mit 
den segmentalen Extremitätenanlagen nichts zu thun haben. 

Bei den genannten Hinterleibsfortsätzen der Odonaten und Epheme- 
riden lassen sich die Verhältnisse ziemlich klar übersehen. Die seitlichen 
Anhänge (appendices caudales laterales) lassen sich unzweifelhaft auf die 
embryonalen Cerci zurückführen. Diese Cerci wachsen aber dann aufser- 
ordentlich stark in die Länge und stellen anatomisch betrachtet eigentlich 
nur noch Hautauswüchse dar. In dieser Beziehung sind sie dem mittleren 
Schwanzanhang, oder appendix dorsalis, aequivalent, welche aus der gleich- 
falls ausgewachsenen und verlängerten Rückenplatte hervorgeht. 

Entwickelungsgeschichtlich sind also die beiden lateralen Schwanz- 
anhänge von Extremitätenanlagen, der mittlere Schwanzanhang dagegen 
von einem Tergit abzuleiten, und man wird wohl mit der Annahme nicht 
fehlgehen, dafs auch die phyletische Entwickelung, die allmähliche Aus- 
bildung dieser Fortsätze bei den Vorfahren der Eintagstliegen und Libellen 
in entsprechender Weise sich vollzogen haben wird. 

Dafs thatsächlich eine morphologische Differenz zwischen den beiden 
lateralen und dem medialen Schwanzanhang (appendix) vorliegt, gibt sich 

5* 


36 R. Hrymonss: 


auch in dem Verhalten mancher junger Ephemeridenlarven (z. B. Hepta- 
genia, Chloöon) zu erkennen, bei denen, wie wir durch die Untersuchungen 
von Vayssiere (82) und Lubbock (64) wissen, zwar die beiden lateralen 
Schwanzborsten (Cerei) entwickelt sind, während die mittlere Schwanz- 
borste fehlt und das ı1. Tergit somit noch keine entsprechende Ent- 
faltung zeigt. Auch bei manchen Larven von Odonaten, z.B. bei denen 
von Calopteryx bleibt die mittlere, auf das ı1. Tergit zurückzuführende 
Kieme kleiner und kürzer als die beiden lateralen, von den Üerei abzu- 
leitenden Tracheenkiemen. 

Wenn die Abdominalanhänge der Libellenlarven bisher so unvoll- 
ständig erkannt und überhaupt sehr wenig erst berücksichtigt worden sind, 
so findet diefs zum Theil darin eine Begründung, dafs nur in frühen Larven- 
stadien die Verhältnisse mit der geschilderten Deutlichkeit hervortreten. 
Bei älteren Larven dagegen, die bisher hauptsächlich den Gegenstand der 
spärlichen Untersuchungen gebildet haben, kommen weitere Complicationen 
hinzu, die die richtige Auffassung wesentlich erschweren. 

Zwei fernere Fortsätze erscheinen nämlich am Hinterrande des 10. Ab- 
dominalsegmentes. Sie schieben sich zwischen die beiden appendices late- 
rales und die mediane appendix dorsalis ein und bilden dann zwei konische 
nach hinten gewendete Zapfen. Processus caudales will ich zum Unterschied 
diese nachträglich gebildeten Anhänge nennen. Sie sind deutlich an dem 
in Fig. S abgebildeten Hinterleibsende der Larve von Aeschna zu erkennen. 

Derartige processus caudales kommen sowohl bei den Larven der 
Anisopteren, wie bei denen der Zygopteren zur Entwickelung, sie finden 
sich bei beiden Geschlechtern und sind stets kürzer als die oben be- 
schriebenen drei appendices caudales. Im Gegensatze zu letzteren lassen 
sie sich also auch nicht auf bestimmte embryonale Bildungen zurückführen, 
sondern erscheinen erst bei älteren Larven nachträglich als Hautaus- 
stülpungen. 

Die ursprünglichen appendices caudales werden nun sehr viel gröfser, 
sie gewinnen bei den Zygopteren die charakteristische blattförmige Gestalt 
und übernehmen als äufsere Tracheenkiemen die Funetionen der Respi- 
ration. Bei den Larven der Anisopteren werden die appendices caudales 
zu den drei grofsen stachelartigen Klappen, die die Aufgabe haben, bei 
Gefahr den Eingang in die das Athmungsorgan bergende Darmhöhle fest 


zu versperren, aufserdem pflegt sich ihrer das Thier auch noch gelegent- 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 37 


lich als Waffe zum Stechen zu bedienen, wie man leicht eonstatiren kann, 
wenn man eine lebende grölsere Aeschnidenlarve in die Hand nimmt. 

In Verbindung mit der stärkeren Ausbildung der appendices caudales 
steht eine allmähliche Rückbildung der drei dem Endsegmente angehören- 
den laminae anales. 

Bei den Anisopteren werden die laminae in der Regel weichhäutig, 
bleiben aber gleichwohl deutlich erkennbar. Sie sind es, die selbst bei 
weit geöffneten und gespreizten Schwanzstacheln (appendices) das rhyth- 
mische Öffnen und Schliefsen des Afters besorgen. Fig. 8, welche das 
Abdomen einer Aeschna-Larve, von hinten gesehen, wiedergibt, läfst die 
drei häutigen laminae anales erkennen. 

Bei den Larven der Zygopteren erhalten sich besonders die laminae 
sub- oder adanales längere Zeit hindurch stärker chitinisirt, ich finde sie 
selbst noch bei älteren, schon mit langen Flügelansätzen, Legescheide u. s. w. 
versehenen Larven von Agrion deutlich ausgeprägt. 

Aufser den soeben besprochenen, am Hinterleibsende befindlichen Ab- . 
dominalanhängen gelangen sowohl bei den Odonaten wie bei den Ephe- 
meriden auch noch an anderen Abdominalsegmenten Fortsätze zur Ent- 
wickelung. Diese letzteren dienen dann entweder zur Vermittelung des 
Gasaustausches, oder sie sind dazu bestimmt, bei dem Fortpflanzungs- 
geschäft (Copulation, Eiablage) gewisse Funetionen zu erfüllen. 

Anhänge der ersteren Art stellen die seitlichen Tracheenkiemen der 
Ephemeridenlarven dar. Ihre Entwiekelung habe ich an Ephemera vulgata 
studirt und bereits an anderer Stelle (96°) darüber Mittheilung gemacht. 

Die respiratorischen Anhänge gehen bei Ephemera aus sechs Paar 
lateral gelegener Hypodermisverdiekungen hervor, in denen die letzten 
Überreste der Extremitätenanlagen des 2. bis 7. Abdominalsegmentes zu 
erblicken sind. Fig. 5 zeigt die genannten Verdickungen (Trk) einer jungen 
Ephemera-Larve kurz nach dem Ausschlüpfen aus dem Ei. 

In dem darauf folgenden Larvenstadium gehen die Hautverdickungen 
in einfache zipfelförmige Ausstülpungen über, die sich im weiteren Ent- 
wiekelungsverlauf gabeln und seitliche Fiedern bekommen. Schliefslich 
entsteht auch noch in den Seitentheilen des ersten Abdominalsegmentes 
ein einfacher Kiemenfaden. : 

Die an den hinteren Abdominalsegmenten der Odonaten zur Ent- 
wickelung gelangenden Gonapophysen sollen ebenfalls hier keine speeiellere 


TER VNA 


38 R. Heymons: 


Berücksichtigung finden. Erwähnt sei nur, dafs in völliger Übereinstim- 
mung mit den Orthopteren auch bei den mit einer Legeröhre versehenen 
weiblichen Odonaten (z. B. Agrion, Calopteryx, Aeschna) drei Paar Ge- 
schlechtsanhänge zu unterscheiden sind. 

Dieselben stellen auch hier einfache Hypodermiswucherungen dar. 
Bei weiblichen Larven von Agrion sprolst zuerst am 9. Abdominalsegmente 
ein Höckerpaar hervor, welches die Gestalt spitzer, nach hinten gerichteter 
Zapfen annimmt. In fortgeschritteneren Larvenstadien entsteht zwischen 
dem ı. Zapfenpaar ein 2., und ein 3. Paar wuchert endlich noch am 
Hinterende des 8. Segmentes hervor. 

Gerade wie bei den Orthopteren, so gehört also auch bei den Odo- 
naten das eine Gonapophysenpaar dem 8., die beiden anderen Paare dem 
9. Hinterleibssegmente an. Ihre Bildung erinnert sehr an die früher (96) 
von mir bei @ryllus beschriebene Bildung der Legeapparate. Irgend eine 
Beziehung der Geschleehtsanhänge zu den embryonalen Extremitätenan- 
lagen ist nieht vorhanden. Die Gonapophysen entstehen ganz selbständig 
und nehmen auch sehon bei ihrer ersten Anlage einen unverhältnifsmäfsig 
grölseren Raum ein, als die ursprünglichen Gliedmalsenhöcker besalsen. 

Ähnlich liegen die Verhältnisse im männlichen Geschlechte. Es ent- 
stehen hier Hypodermisverdiekungen am 9. Hinterleibssegmente, aus denen 
bei der Imago die zu den Seiten der männlichen Geschleehtsöffnung be- 
findlichen Erhebungen und Fortsätze hervorgehen (Fig. ı gon). 


T 


b. Die Abdominalanhänge der Imagines. 

Die Kenntniss der larvalen Hinterleibsanhänge ist natürlich von grolser 
Wichtigkeit für die richtige Beurtheilung der abdominalen Anhänge bei den 
Imagines. Die complieirten Anhangsgebilde, die man am Hinterleibsende 
unserer ausgebildeten Libellen vorfindet, sind ja schon recht verschieden- 
artigen Deutungen ausgesetzt gewesen und haben, was auch recht störend 
und verwirrend ist, von den verschiedenen Autoren mannigfaltige Bezeich- 
nungen bereits erhalten. Ich will zuerst meine eigenen Resultate folgen 
lassen und dann erst zur Besprechung früherer Ergebnisse übergehen. 

Bei den Libellen, sowohl den Zygopteren (Calopterygiden, Agrioniden), 
wie Anisopteren (Libelluliden, Aeschniden u. s. w.) trifft man in beiden Ge- 
schlechtern am Hinterleibsende zumeist zwei relativ lange, dorsal, d. h. ober- 
halb des Afters gelegene, ungegliederte Fortsätze an. In denselben haben 


Se u 0 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 39 


wir die processus caudales zu erkennen, somit diejenigen Anhänge, welche 
erst während des Larvenlebens am Hinterende des 10. Abdominalsegmentes 
entstanden waren. In der Litteratur findet man die processus caudales in 
der Regel als »obere appendices anales«, »superior terminal appendages«, 
als » Afterraife« u. s. w. beschrieben. 

Hinter diesen grolsen processus caudales folgt die Afteröffnung, die 
im weiblichen Geschlechte häufig von drei Höckern oder Platten umgeben ist. 
In dem dorsalen dieser Höcker liegt im wesentlichen die appendix dorsalis 
oder das Tergit des ı 1. Abdominalsegmentes vor. Die beiden lateralen Höcker 
oder lateralen Platten entsprechen den appendices caudales laterales, somit 
bei den Zygopteren den Überresten der lateralen Kiemen, bei den Anisopteren 
den Rudimenten der lateralen Schwanzklappen. 

Die drei laminae anales, die schon bei den Nymphen theilweise rück- 
gebildet waren, sind bei den Imagines meistens zu Grunde gegangen bez. fast 
gänzlich mit den drei vorhin genannten Gebilden, den Resten der appendices 
caudales, verschmolzen. 

Im männlichen Geschlechte liegen die Verhältnisse etwas anders. Bei 
den Anisopteren ist nämlich im Gegensatze zu den Weibchen die appendix 
dorsalis kräftig ausgebildet und stellt den mittleren unpaaren Anhang dar, 
der die Afteröffnung von oben bedeckt (untere appendix analis der Autoren). 
Bei den männlichen Zygopteren ist die appendix dorsalis rückgebildet, 
dagegen haben sich die beiden appendices laterales wohl entwickelt und 
die Form zweier zu den Seiten der Afteröffnung befindlicher etwa griffel- 
förmig gestalteter Anhänge angenommen, die als Hülfsapparate bei der 
Copulation zu fungiren haben (vergl. Kolbe 81) und welche man als »untere 
appendices anales« oder als »inferior terminal appendages« beschrieben findet. 

Die geschilderten Verhältnisse veranschaulichen die Abbildungen Fig. ı 
und 6. Als Vertreter der Zygopteren mag das Männchen von Calopterya 
splendens Harr. dienen. Die processus eaudales sind die grofsen dorsalen, 
schwarz chitinisirten Anhänge, die am distalen Ende verdiekt sind (Fig. 6 
proc caud). Etwas oberhalb (dorsal) von ihnen liegt unter dem grünen, 
metallisch glänzenden Tergit des 10. Segmentes der als appendix dorsalis 
anzusehende Theil verborgen, soweit man überhaupt von einem solchen 
noch reden kann. Er ist nämlich weiehhäutig geworden, und nur in der an 
der betreffenden Stelle liegenden, noch ein wenig dunkler grau gefärbten Haut- 
partie (Fig. 6 app dors) hat man den letzten Überrest der mittleren Tracheenkieme 


40 R. Hrymons: 


bez. des ı1. Tergites vor Augen. Die appendices laterales (Cerei bez. laterale 
Tracheenkiemen) sind dagegen wohl entwickelt. Sie bilden das ventral gele- 
gene Paar von Hinterleibsfortsätzen, endigen mit abgerundeter Spitze und sind 
auf ihrer dorsalen Seite schwarz, auf der ventralen gelb gefärbt. Gesonderte 
laminae anales sind beim Männchen von Calopterye nicht zu erkennen. 

Ähnlich verhält es sich bei dem Weibchen. Die processus caudales sind 
hier kürzer und enden zugespitzt. Das Rudiment des ı1. Tergites (appendix 
dorsalis) ist deutlicher und zeigt sich in Form eines kleinen Zapfens. Die 
appendices laterales haben die Gestalt einfacher, halbmondförmiger Platten 
angenommen, welche die mediane Afterspalte zwischen sich fassen. 

Einfachere und ursprünglichere Verhältnisse geben sich indessen noch 
bei vielen Anisopteren zu erkennen. Als Beispiel gebe ich die Abbildung 
eines Hinterleibsendes von Gomphus vulgatissimus (Fig. ı). Beim Männchen 
fallen auch hier zunächst wieder als dorsale, am Ende etwas verdiekte 
Anhänge die processus caudales ins Auge. Ventralwärts von ihnen bemerkt 
man eine breite schwarze Chitinplatte, welche distal in zwei Hörner aus- 
läuft. Es ist die stark entwickelte appendix dorsalis, deren Gabelung am 
Ende als eine specielle Eigenthümlichkeit von Gomphus zu betrachten ist. 

Die gleichfalls dem ı1. Abdominalsegmente angehörenden appendices 
laterales sind vollkommen abgetlacht, dabei etwa halbmondförmig gestaltet 
und schliefsen sich hinten an das 10. Sternit an. Ihr nach hinten gerichteter 
dunkel gefärbter Rand ist mit schwarzen Chitinhaaren besetzt. 

Auch die dem Endsegmente angehörenden laminae anales sind beim 
Gomphus-Männchen noch erhalten (Fig. ı /am sup und sub). Es sind drei blafs 
gefärbte und schwächer chitinisirte Platten, die zwischen den appendices 
liegen und den After umrahmen. 

Vergleicht man die Gestaltung des Hinterleibes ausgebildeter Libellen mit 
derjenigen junger Larven, so fällt also in erster Linie eine mehr oder minder 
weitgehende Rückbildung der in dem vorigen Abschnitt besprochenen Hinter- 
leibsfortsätze auf. Die drei langen Kiemenanhänge der Zygopteren, die drei 
grolsen Schwanzstacheln der Anisopteren sind verschwunden oder doch zu 
kleinen, verhältnifsmäfsig unbedeutenden, meistens plattenförmig gestalteten 
Gebilden verkümmert. Ihre Stelle wird bei den Imagines gewissermalsen 
durch die um so stärker entfalteten beiden processus caudales eingenommen. 

Die nach Verkümmerung der appendices laterales übrig gebliebenen 
abgeflachten Platten sind als das zweigetheilte ıı1. Sternit zu betrachten. 


Entwickelng und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 


41 


Gerade wie bei den Orthopteren die Cerei sich auf den Seitenhälften der 


ı1. Bauchplatte erheben, so ist diefs auch bei den appendices laterales der 


Odonatenlarven der Fall. Nach erfolgter Rückbil- 
dung der appendices sind daher bei dem ausge- 
bildeten Inseet die lateralen Theile der ı1. Bauch- 
platte allein noch erhalten geblieben. Die beiste- 
hende schematische Figur wird diefs verdeutlichen. 

Einer noch weitergehenden Rückbildung sind 
aber bei der Imago die Bestandtheile des Analseg- 
mentes anheimgefallen. Die laminae anales, soweit 
sie als solche sich überhaupt erhalten haben, stel- 
len kleine zipfelförmige Gebilde dar, die oft in ihrer 
ganzen Ausdehnung mit den Überresten der drei 


Schema der hinteren Abdominalster- 
nite einer anisopteren Libelle. Die bei 
der Imago zu Grunde gegangenen Theile 
sind punktirt, die laminae anales schraf- 


firt. 


ap = appendices laterales. 


appendiees verschmolzen sind, bisweilen sich aber von diesen (Gomphus- 


Männchen) auch noch deutlich getrennt erhalten können. Stets sind die la- 


minae anales fast gänzlich weichhäutig geworden und haben demnach ihre 


frühere Chitinisirung, die bei jungen Larven noch deutlich war, verloren. 


Die Ausbildung der einzelnen Abdominalfortsätze bei den Imagines der 


beiden grofsen Odonatengruppen mag folgende Übersicht veranschaulichen. 


vorhanden 


normal ent- 


wickelt 
(1. Tergit) 


weigetheiltes 
11. Sternit 


vorhanden 


stark entwickelt 


und zu einem 
plattenförmigen 
Anhang gewor- 
den (»untere ap- 


pendix analis«) 


zweigetheiltes 
ı1. Sternit 


| Zuygoptera 2 Zugoptera Anisoptera 9 Anisoptera 
processus caudales vorhanden | vorhanden 
(»obere appendices | 
anales«) nebst Tergit 
undSternit des 10. Seg- | 
mentes | 
appendix dorsalis fehlt fehlt | 
(= Tergit des ı1. Seg- | 
mentes) 
appendices laterales zweigetheiltes | stark ausgebil- z 
(Cerei) ır. Sternit | det und meist 
| hakenförmig ge- 
staltet (»untere | 
appendices | 
anales«) | 
laminae anales fehlen | fehlen | 


wenig ent- 


wickelt oder 


Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 


fehlen 


| 
| 
| 
| 


wenig ent- 
wickelt oder 
fehlen 


42 R. Hrymonss: 


Ich bemerke hierzu, dafs die vorstehende Tabelle nur in grofsen Um- 
rissen ein Bild von der Entwickelung gewähren soll, welche die betreffen- 
den Theile genommen haben. Es ist mir bekannt, dafs Abweichungen vor- 
kommen, dafs auch bei manchen Zygopterenmänncehen die appendices late- 
rales klein und unscheinbar sind, oder dafs in anderen Fällen bei männ- 
lichen Anisopteren die appendix dorsalis nicht plattenförmig ist, sondern 
sich am Ende gabeln kann (Gomphus, Cordulia aenea). 

Auf derartige specielle Eigenthümlichkeiten konnte hier keine Rück- 
sicht genommen werden. Die Übersicht ergibt aber, dafs bei den Zygop- 
teren im allgemeinen sich eine weitergehende Rückbildung der einzelnen 
Abdominalabschnitte zu vollziehen pflegt, während bei den Anisopteren ur- 
sprünglichere Verhältnisse in dieser Hinsicht bestehen bleiben. Bei den 
Angehörigen der letzteren Gruppe wird man wenigstens in sehr vielen 
Fällen (Gomphus, Sympetrum u.a.) aulser den ersten 10 typischen Abdo- 
minalsegmenten noch die Bestandtheile des ı 1. Segmentes (Tergit, median 
gespaltenes Sternit) sowie diejenigen des Endsegmentes (laminae anales) 
erkennen können. 

Letzteres Verhalten darf deswegen ein besonderes Inter- 
esse beanspruchen, als damit sich Fälle zeigen, in denen bei 
den Insecten selbst bis zur Imago hinauf noch deutliche An- 
zeichen einer ursprünglichen Zusammensetzung des Abdomens 
aus 12 Segmenten sich erhalten haben. 

Die hier gegebene Beschreibung des Odonatenabdomens weicht von 
der bisherigen Auffassung in mancher Beziehung ab. Besonders gilt diefs 
in Hinblick auf die laminae anales. Die geringe Entwickelung dieser Theile 
ist wohl die Veranlassung gewesen, weswegen sie bisher bei den Imagines 
noch nicht beschrieben und von früheren Autoren überhaupt noch niemals 
als solche erkannt worden sind. Da man aber natürlich schon längst nach 
Afterklappen bei den Libellen gesucht hat, so wurden nicht selten die Reste 
der appendices laterales (11. Sternit) als valvulae anales in Anspruch ge- 
nommen. 

Als Beispiel eitire ich in dieser Hinsicht Peytoureau (95). der mit 
dieser Deutung in einen Irrthum verfallen, welcher freilich um so mehr 
entschuldbar ist, als die betreffenden Hälften der ıı. Bauchplatte den lami- 
nae anales anderer Inseeten, denen sie wohl auch zum Theil physiologisch 
entsprechen, in der That sehr ähnlich gestaltet sind, und als vor allem 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 43 


über die Entwickelung der genannten Theile seiner Zeit noch nichts be- 
kannt gewesen war'. 

Die Hinterleibsfortsätze der Libellen sind ferner in neuerer Zeit noch 
von Calvert (93), dem besten Kenner der neuweltlichen Odonaten, studirt 
worden. Der americanische Forscher hat das Verdienst, bereits darauf hin- 
gewiesen zu haben, dafs die processus caudales (»superior terminal appen- 
dages«) erst während des Larvenlebens angelegt werden. 

Hinsichtlich der männlichen Odonaten machte Calvert darauf auf- 
merksam, dafs eine Homologie zwischen den Hinterleibsanhängen nicht vor- 
liege, indem die »inferior appendages« bei den beiden Gruppen (Zygoptera 
und Anisoptera) sich nicht entsprächen. Es liegt wohl auf der Hand, dafs 
hiermit zwei Gebilde mit einander verglichen und mit demselben Namen 
belegt worden sind, welche nichts mit einander zu thun haben. 

Als inferior appendage ist bei den Anisopteren ein Theil bezeichnet 
worden, welcher die appendix dorsalis oder das ıı. Tergit darstellt. Die 
inferior appendages der Zygopteren entsprechen dagegen den oben von mir 
appendices laterales genannten Schwanzanhängen. 

Wenn man daher berücksichtigt, dafs die Anhänge des ıı. Abdominal- 
segmentes, die appendices caudales, sich bei Anisopteren und Zygopteren 
verschieden stark entwickelt haben, wie diefs in der obigen Übersicht zum 
Ausdruck gebracht wurde, so wird es nicht schwer fallen, eine zutreffende 
Homologisirung zwischen den verschiedenen Bestandtheilen bei den beiden 
Gruppen herauszufinden. 

Noch in einem anderen Punkte haben meine Untersuchungen zu einem 
abweichenden Ergebnifs geführt. 

Die sehr weit verbreitete und gegenwärtig wohl ziemlich 
allgemein eingebürgerte Ansicht, dafs die ausgebildeten Libellen 
regelmälfsig im Besitze zweier Gerci oder Afterraifen seien, hat 


! Peytoureau hat in seinem Werke (p.170) bereits in treffender Weise darauf auf- 


ınerksam gemacht, dals das Abdomen der Libellen (Pseudo -Nevropteres) selbst im imaginalen 
Zustande noch elf wohl entwickelte Segmente besitzt. Diese Angabe hat jedoch von Seiten 
mancher Autoren nicht die gebührende Beachtung gefunden, denn man begegnet sogar gegen- 
wärtig noch der Meinung, dals das Abdomen eines ausgebildeten Insectes nur aus zehn Segmenten 
bestehen könne. Ein derartiger Standpunkt scheint besonders noch von Verhoeff (Zoolog. An- 
zeiger Bd.ıg Nr.512) vertreten zu werden, der erst neuerdings an der Existenz eines rı. Ab- 
dominalsegmentes bei den Insecten gezweifelt hat. 


44 R. Hevmons: 


Die als Raife betrachteten Anhänge (»obere appendices anales«) ent- 
sprechen den von mir processus caudales genannten Gebilden, welche erst 
während der Larvenzeit sich entwickelnde Hautwucherungen sind und, wie 
auch schon Calvert richtig hervorhob, dem 10. Abdominalsegmente an- 
gehören, während die Cerci der Orthopteren als die dem 11. Seginente zu- 
kommenden Anhänge betrachtet werden müssen und sich auf embryonale 
Extremitäten zurückführen lassen. 

In der Gruppe der Odonaten sind bei den Imagines mit den Cerei 
anderer Insecten allenfalls zu vergleichende Bildungen nur an männlichen 
Zygopteren entwickelt und stellen bei letzteren die sogenannten »unteren 
appendices anales«, von mir appendices laterales bezeichneten (Fig. 6 app lat) 
Anhänge dar. Indessen dürfte es selbst hier sehr zweifelhaft sein, ob eine 
wirkliche Homologie zwischen den genannten Anhängen und den Cerci vor- 
liegt. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen. 

Auf eine genauere Beschreibung des Hinterleibsendes bei den Epheme- 
riden glaube ich Verzicht leisten zu können. Die Bildung des Abdomens 
läfst sich bei den Imagines ungezwungen auf diejenige der Larven beziehen, 
welche bereits oben für Zphemera vulgata geschildert wurde. 

Das 10. Abdominalsegment pflegt im imaginalen Zustande stets wohl 
erhalten und mit Tergit und Sternit versehen zu sein. Das ı1. Sternit fehlt 
vollkommen. Das ı1. Tergit erhält sich meistens in Form des mittleren 
Schwanzfadens oder als Rudiment eines solchen. Die lateralen Schwanz- 
fäden oder Cereci bleiben erhalten. Laminae anales sind bei Ephemera vulgata 
nicht mehr nachzuweisen und auch bei anderen Ephemeriden sind sie in der 
Regel sehr stark reduceirt. 

Die sogenannten Haltezangen der männlichen Ephemeriden stellen Hypo- 
dermisfortsätze dar, die am Hinterende des 9. Abdominalsegmentes zur Ent- 
wickelung gelangen und sehr häufig eine Gliederung gewinnen. 


5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme. 


Trotzdem bei den Odonaten und Ephemeriden sich die Bildung der 
inneren Organsysteme, des Nervensystems, der Musculatur u. s. w. ganz an 
den bei den Orthopteren bekannt gewordenen Typus anschliefst, so zeigen 


sich doch im einzelnen geringfügige Abweichungen. Nur einige Punkte mögen 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 45 


noch eine Erwähnung finden, eine erschöpfende Behandlung des Gegenstandes 
liegt hierbei jedoch nicht in meiner Absicht. 

Das Mesoderm gliedert sich frühzeitig in die Ursegmente, welche gerade 
wie bei den Orthopteren die Höhlen der Extremitäten auskleiden. Von 
Interesse ist, dafs bei Zpitheca selbst noch im ıı. Abdominalsegmente ein 
Paar von Coelomsäckchen sich vorfindet. Letzteres ist an Totopraeparaten 
eigentlich noch deutlicher als an Schnitten zu erkennen. 

Die ıı. abdominalen Ursegmente liegen etwas weiter medial als in 
den vorhergehenden Segmenten und bestehen natürlich nur aus wenigen 
Zellen. Die Ursegmenthöhle ist dementsprechend auch klein, gleichwohl 
aber deutlich ausgeprägt. An Schnittserien gelingt der Nachweis deswegen 
schwerer, weil wegen der Kleinheit des Objeetes und der in der Regel 
asymmetrischen Krümmung des hinteren Abdominaltheiles sich die riehtige 
Orientirung durchaus nicht leicht erzielen läfst. Immerhin habe ich mich 
auch an Schnitten von der charakteristischen epithelialen Anordnung der 
Mesodermzellen im ı1. Abdominalsegment mit Bestimmtheit überzeugen 
können und zweifle nieht, dafs aufser bei Zpitheca auch bei anderen Libel- 
luliden elf abdominale Coelomsäckehenpaare vorhanden sind. 

Es ist diefs ein Verhalten, welches im allgemeinen bei den Inseeten 
nur sehr selten sich findet und bisher überhaupt nur bei Phyllodromia ger- 
manica bekannt geworden ist. Nachdem sich aber gezeigt hat, dafs die 
Segmentirung des Abdomens bei den Odonaten noch recht ursprüngliche 
Verhältnisse aufweist, kann es natürlich nicht überraschen, wenn das 
ı1. Abdominalsegment, dessen Natur als typisches Körpersegment ich be- 
reits bei früherer Gelegenheit betont hatte, auch noch mit den Attributen 
eines solchen ausgestattet ist. 

Die weitere Differenzirung der Ursegmente, die Bildung des Pericardial- 
septums, des Herzens, der Muskeln u. s. w. schliefst sich nach meinen Be- 
obachtungen sehr eng an diejenige der Orthopteren an. Auch die Entstehung 
des Nervensystemes kann ich kurz erledigen. Gehirn und Bauchmark werden 
frühzeitig angelegt, wobei wie bei anderen Insecten grofse Ganglienmutter- 
zellen oder Neuroblasten in 'Thätigkeit treten. Selbst im ı1. Abdominal- 
segment werden einzelne Ganglienzellen gebildet. 

Eine Concentration der gesammten Bauchganglienkette geht nur in 
geringem Mafse vor sich, doch verschmelzen die letzten Abdominalganglien 
mit einander. Bei den Ephemeriden vereinigt sich auch während des 


46 R. Heymonss: 


Embryonallebens das erste Abdominalganglion mit dem dritten thorakalen, 
während bei den Odonaten diefs nicht der Fall ist. Bei den jungen Larven 
der letzteren enthält daher das Bauchmark aufser dem suboesophagealen 
und den drei thorakalen Ganglien noch acht freie Abdominalganglien (Fig. 3 
und 4), bei den Ephemeriden nur sieben. 

Vom Vorderdarm aus wird das ganglion frontale angelegt, welches 
besonders bei Ephemera und Agrion stark entwickelt ist. Es steht durch 
den nervus recurrens mit einigen kleineren dem Vorderdarm aufgelagerten 
Schlundganglien in Zusammenhang. 

Die bei Coleopteren und Orthopteren von verschiedenen Beobachtern 
nachgewiesenen Oenoeyten, die in segmentaler Anordnung aus der Hypo- 
dermis sich loslösen und in das Innere einwandern, werden bei den hier 
besprochenen Inseeten vermilst. Wenigstens kommen sie nicht während 
des Embryonallebens zur Entwiekelung. 

Nach Wheeler (92) sollen jedoch im Verlaufe des Larvenlebens einige 
durch ihre Gröfse auffallende Hypodermiszellen in das Innere vorspringen 
und den Oenocyten anderer Inseeten entsprechen. Ähnliche in der Hypo- 
dermis liegende grofse Zellen habe auch ich beobachtet, doch ist nach meinen 
Erfahrungen der Nachweis, ob solche Zellen später in das Innere einwandern 
und ob sie den echten Oenocyten thatsächlich gleich zu setzen sind, wohl 
recht schwer zu erbringen. Jedenfalls ist hervorzuheben, dafs bei den Odo- 
natenlarven (Agrion, Epitheca, Aeschna u. a.) zu keiner Zeit irgend eine seg- 
mentale Anordnung grolser Ektodermzellen sich bemerkbar macht, wie sie 
bei der Bildung der typischen Oenoeyten anderer Inseeten charakteristisch 
zu sein pilegt. Auch in dem Fettkörpergewebe treten entsprechende Zellen 
nicht hervor. 

Als Suboesophagealkörper deute ich zwei Zellenanhäufungen (Fig. 22 sök), 
die man bei Embryonen und jungen Larven von Ephemera dem unteren 
Schlundganglion aufgelagert zur Seite des Vorderdarmes antrifft. Sie bestehen 
aus grolsen blassen Zellen, welche bekanntlich auch für das in Rede stehende 
Organ bei Orthopteren charakteristisch zu sein pflegen. Bemerkenswerth ist, 
dafs bei Ephemeriden der Suboesophagealkörper selbst noch bei der Larve 
paarig ist, während er bei den Orthopteren schon während der Embryonal- 
zeit durch Verschmelzung zu einem unpaaren Gebilde wird. 

Bei den Odonaten habe ich den Suboesophagealkörper nicht aufgefunden. 
Eine ähnliche Bedeutung haben aber möglicher Weise auffallend grolse kuge- 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 47 


lige Zellen, die man bei älteren Embryonen von Epitheca in gröfserer Zahl 
im Körper zerstreut und zwar hauptsächlich in der Kopfpartie antrifft. Ich 
vermute, dafs sie mesodermaler Herkunft sind. 

Die Mundeinstülpung kommt schon zum Vorschein, noch ehe der Keim- 
streifen sich in den Dotter eingesenkt hat. Der After folgt erst etwas später 
nach. Von Mund und After wachsen Stomo- bez. Proktodaeum als sack- 
förmige Gebilde ins Innere. Zur Zeit der Umrollung entstehen bei den 
von mir untersuchten Odonaten am blinden proximalen Ende des Prokto- 
daeums einige kleine Divertikel, die zu den Malpighi’schen Gefäfsen werden. 
Stets sind anfangs nur ein mittleres dorsales und zwei laterale vasa Mal- 
pighi vorhanden, die unter einander alle von gleicher Länge sind. Fig. 25 
zeigt ihre Einmündung in den Darm. 

Bei den mannigfachen Übereinstimmungen, die sich zwischen Odonaten 
und Ephemeriden vorfinden, hätte man vielleicht erwarten können, dafs 
nun auch bei letzteren Insecten drei Malpighi’sche Gefälse sich zeigen 
würden. Das ist aber nicht der Fall. Bei den Embryonen von Ephemera 
gelangen ursprünglich nur zwei lateral gelegene vasa Malpighi zur Ent- 
wiekelung, ohne für das erste überhaupt einen Zuwachs zu erhalten. Bei 
den jungen Larven von Ephemera sind die Malpighi’schen Gefäfse noch 
aulserordentlich kurz, nach vorn gewendet und bestehen aus grolsen blassen 
Zellen, wodurch sie ziemlich leicht erkennbar werden. 

Auch in dem nächstfolgenden Larvenstadium, wenn bereits seitliche 
zipfelförmige, aber noch unverästelte, Tracheenkiemen entstanden sind, 
dauert der beschriebene Zustand noch unverändert an. 

Meine Vermuthung, dafs nun vielleicht in einer späteren Larvenepoche 
das dritte unpaare Gefäfs der Odonaten noch nachträglich erscheinen würde, 
hat sich — soweit ich die Entwickelung verfolgen konnte — nicht be- 
stätigt. Bei älteren, mit gefiederten Tracheenkiemen versehenen Epheme- 
ridenlarven sprofst vielmehr sogleich ein weiteres Paar von Gefäfsen an 
der Vereinigungsstelle von Mittel- und Enddarm hervor. Diese neuen vasa 
Malpighi treten etwas weiter dorsal als die zuerst entstandenen auf, so 
dafs nunmehr im ganzen vier, symmetrisch angeordnete und lateral ge- 
legene Gefäfse vorhanden sind, ein Verhalten, welches ganz demjenigen 
der meisten jungen Orthopteren entspricht. Der in Fig. 26 dargestellte 
Querschnitt zeigt die vier Malpighi’schen Gefäfse einer jungen Ephemera- 
gs immer noch aus 


? 


Larve. Die neu hervorgesprolsten vasa pflegen anfan 


48 R. Heymoss: 


kleinen Zellen mit dunkleren Kernen zu bestehen, und diese Eigenthüm- 
lichkeit ist, wie die Abbildung zeigt, auch noch an dem zuletzt gebil- 
deten dorsalen Gefäfspaar zu erkennen. Die Zellen des ventralen Paares 
dagegen stimmen in ihrem Habitus vollkommen mit den Zellen des 
vorderen Abschnittes des Enddarms überein. An der linken Seite der 
Figur ist die Einmündung eines ventralen Gefäfses in das Darmlumen 
bemerkbar. 

In späteren Stadien erst, wenn die Kiemen der Ephemera-Larve zwei- 
ästig geworden, und wenn auch am 1. Abdominalsegment ein feiner Kie- 
menfaden hervorgesprofst ist, kommt es zur Bildung eines unpaaren, me- 
dianen vas Malpighi. Dieses letztere liegt aber nicht dorsal, wie bei den 
Odonaten, sondern ventral. 

Gleichzeitig damit beginnen auch die zuerst entstandenen vasa Mal- 
pighi Seitenäste zu treiben, so dafs damit das Bild ein immer complieir- 
teres wird. Das unpaare 5. vas Malpighi ist bei dem in Fig. 23 darge- 
stellten Sehnitt getroffen worden. Durch die Kleinheit seiner Zellen unter- 
scheidet es sich noch auf den ersten Blick von den vier paarigen Ge- 
fäfsen. 

Bei Caenis scheint die Entwickelung in ganz entsprechender Weise 
vor sich zu gehen, denn anfangs kommen ebenfalls nur zwei laterale Ge- 
fälse zur Anlage. 

Bei den Odonaten bleibt die junge Larve ziemlich lange in dem Be- 
sitz von nur drei Malpighi’schen Gefäfsen. Letztere wurden bereits von 
Calvert bei Gomphus exilis und Libellula pulchella beobachtet und in einer 
kurzen Mittheilung (95) über die Anatomie der jungen Larve beschrieben. 
Bei den von mir untersuchten Formen ist das Verhalten ein derartiges, 
dafs bei Agrion die drei vasa Malpighi in annähernd geradem Verlauf bis 
ins 10. Abdominalsegment ziehen, während sie bei Zpitheca und Libellula 
geschlängelt sind und nach kurzem Verlaufe nach hinten, sich wieder nach 
vorn umbiegen. Diese Erscheinung hängt vielleicht mit der Darmathmung 
bei den letztgenannten Formen zusammen, wegen welcher der Raum in 
dem hinteren Abdominaltheil zunächst wohl ausschliefslich für den erwei- 
terungsbedürftigen Enddarm reservirt bleiben mufs. 

Die hier mitgetheilten Thatsachen genügen wohl, um zu 
zeigen, dafs bei der Anlage der Malpighi’schen Gefäfse der 
Inseeten ziemlich weit gehende Variationen eintreten können. 


Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 49 


Besonders der Umstand, dafs bei den Odonaten die vasa Malpighi ur- 
sprünglich unpaar sind und in Dreizahl angelegt werden, ist bemerkens- 
werth. Dieses Verhalten contrastirt nämlich mit allem, was über die Bil- 
dung der Malpighi’schen Gefäfse bisher bekannt geworden ist. Letztere 
pflegen im allgemeinen von Anbeginn paarig zu sein und werden, nach den 
bisherigen Angaben zu urtheilen, wohl bei der Mehrzahl der Inseeten in 
Vierzahl angelegt. 

Die ursprüngliche Zahl von vier Malpighi schen Gefäfsen ist beispiels- 
weise die typische für zahlreiche jugendliche Orthopteren, Dermapteren, 
Coleopteren, Neuropteren, Hymenopteren, Dipteren u. s. w. 

Auch den Ahnenformen der Insecten, dem hypothetischen Urinseet oder 
Protentomon, hat man bereits ohne Bedenken den Besitz von vier Harn- 
kanälchen zugesprochen. Von anderer Seite wiederum, z.B. von Wheeler 
(93), wurde dagegen die Sechszahl der Malpighi’schen Gefälse als die 
primäre für die Insecten betrachtet. Hauptsächlich hat man aber stets 
ein besonderes Gewicht auf die Paarigkeit der vasa Malpighi gelegt und 
aus diesem Grunde auch schon mehrfach Veranlassung genommen, sie mit 
anderen paarigen Organen, z.B. Tracheeneinstülpungen, mit den segmentalen 
Oenoeytenansammlungen, mit Nephridien u. dergl. in Beziehung zu setzen 
bez. die Harnkanälchen von solchen abzuleiten. 

Die Bildung der vasa Malpighi bei den Ephemeriden und Odonaten 
zeigt aber wohl in überzeugender Weise, auf wie schwankendem Boden alle 
derartigen weitgehenden Hypothesen beruhen. 

Meiner Ansicht nach kann eine Zurückführung der Malpighi’schen 
Röhren auf Segmentalorgane, Tracheen u. s. w. gar nicht in Frage kommen. 
Niehts spricht dafür, dafs solche Organe, die doch frei an der Körper- 
oberfläche ausmünden, einmal durch den After hindurch in das Innere des 
Körpers verlagert und zu Harnkanälchen umgestaltet wären. Im Gegen- 
theil, es zeigt sich, dafs bei niederen Insecten, z. B. Campodea, wo eigent- 
liche Malpighi’sche Gefäfse noch fehlen, doch schon an der charakteri- 
stischen Stelle, d.h. am proximalen Ende der Enddarmwandung, Drüsen- 
zellen entwickelt sind. Bei höheren Formen kommt es dann daselbst zur 
Ausstülpung der drüsigen Elemente und damit zur Bildung der Malpi- 
ghi’schen Gefäfse selbst. 

Diese letzteren sind also lediglich als locale Ausstülpungen der End- 
darmwandung anzusehen. Ihrer so häufig zu beobachtenden Paarigkeit ist 

Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 7 


50 R. Hevymons: 


sicherlich keine tiefer gehende Bedeutung beizumessen, sie steht eben nur 
in Einklang mit der symmetrischen Gestaltung des Inseetenkörpers über- 
haupt. Über die Zahl der Malpighi’schen Gefäfse bei den Vorfahren der 
Inseeten fehlt uns vorläufig noch jeder Anhalt. Wir wissen nur, dafs ihre 
Zahl bei den heutigen Insecetengruppen eine variabele ist, innerhalb einer 
und derselben Gruppe aber anfänglich, d. h. bei jugendlichen Repraesen- 
tanten immer annähernd constant zu sein scheint. 

Wenn die jungen Larven das Ei verlassen haben, so steht, sowohl 
bei den Ephemeriden wie bei den Odonaten, ihre innere Organisation noch 
auf einer relativ niederen Stufe. Nur das Nervensystem und die Museulatur, 
das Herz sowie Vorder- und Enddarm sind schon deutlich differenzirt. 
Der Mitteldarm ist im Innern mit Dotter gefüllt, bis zu dessen Resorption, 
die oft mehrere Stunden, ja selbst Tage in Anspruch nehmen kann, die 
jungen Thiere noch keine Nahrung zu sich nehmen'. 

Im Innern der Leibeshöhle zwischen Darm und Körperwand bemerkt 
man im wesentlichen nur ein Gewirr von ziemlich gleichartigen Strängen 
und Zellen, aus. denen sich erst allmählich der Fettkörper, die feineren 
Tracheenverzweigungen sowie die Geschlechtsorgane differenziren. 

Verglichen mit den jungen Larven der Orthopteren und Dermapteren 
befinden sich daher diejenigen der Odonaten und Ephemeriden noch recht 
weit in der Entwickelung zurück. Diese Erscheinung ist jedenfalls durch 
die eigenartigen biologischen Verhältnisse bedingt worden, denen ja über- 
haupt die gesammten Fortpflanzungsprocesse der » Amphibiotica« angepalst - 
erscheinen. Die vielen Gefahren, denen die Larven der genannten Insecten 
gerade bei ihrem Wasseraufenthalte ausgesetzt sind, indem sie durch zahl- 
reiche Raubinseceten, durch ungünstige Wasser- und Strömungsverhältnisse 
bedroht werden, bringen es wohl mit sich, dafs diese Thiere zur Erhal- 
tung ihrer Art eine sehr beträchtliche Anzahl von Eiern produeiren müs- 
sen. Die letzteren können daher natürlich nur klein sein und geben auch 
Larven von sehr geringer Körpergröfse den Ursprung. Die Entwiekelung 
innerhalb des Eies vermag somit nicht in allen Punkten so weit fortzu- 
schreiten, wie diefs bei den grofsen Eiern der meisten Landinseeten der 
Fall ist. 


! Auf das eigenartige Verhalten die Dotterzellen, welche sich bei den Libellen an der 
Bildung des Mitteldarmes betheiligen, beabsichtige ich, an einer anderen Stelle ausführlicher 
einzugehen. 


Entwickelmg und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. a 


Im übrigen ist das Verhalten aber nicht so zu verstehen, als ob den 
jungen Larven gewisse Organe noch gänzlich fehlten. Man hat angege- 
ben, dafs die jüngsten Larvenstadien der Libellen noch keine Geschlechts- 
organe, keine Tracheen, Speicheldrüsen und Blutgefäfssystem besitzen 
sollten. 

Das ist nieht richtig, und auch für die Ephemeriden habe ich ähnlich 
lautende Angaben bereits zurückgewiesen (96°). Die angeführten Organe 
sind simmtlich bereits vorhanden, nur ihrer Kleinheit und geringen Diffe- 
renzirung wegen schwer zu erkennen. 

Die Anlage der Speicheldrüsen geht bei den von mir untersuchten 
Formen sicher schon während der Embryonalzeit vor sich, denn selbst bei 
den jüngsten eben ausgeschlüpften Larven kann man die Drüsenanlagen 
trotz ihrer Kleinheit an Schnittserien ganz gut erkennen. Ein besonders 
hierzu geeignetes Objeet ist Agrion. 

Die Speicheldrüsen bestehen anfangs nur aus wenigen grolsen blassen 
Zellen, die vorn an der Basis der vorderen Maxillen mit der Hypodermis 
in Verbindung stehen, an welcher Stelle sich, wie es scheint, auch später 
eine Ausmündung befindet. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dafs ganz im 
Anfange die kleinen Speicheldrüsen noch nicht funetioniren, erst bei älteren 
Larven dürften sie in Thätigkeit treten und fallen dann auch sogleich durch 
ihre charakteristischen grofsen Kerne ins Auge. Übrigens zeigt sich bei den 
jungen Odonatenlarven noch insofern ein etwas primitives Verhalten, als ein 
für die beiden Drüsen gemeinsamer unpaarer Endabschnitt des Ausführungs- 
ganges noch fehlt. Einen solchen habe ich an Schnittserien niemals auf- 
finden können. Er wird offenbar erst im weiteren Verlaufe der larvalen 
Entwiekelung angelegt und mündet dann am Grunde des Labiums zwischen 
diesem und dem Hypopharynx aus. Das Gleiche ist, wie bereits durch die 
Untersuchungen von Poletaiew (81) festgestellt wurde, noch bei der Imago 
der Fall. 

Die Ausmündung der Speicheldrüsen an der bezeichneten Stelle durch 
einen unpaaren Gang steht mit dem Verhalten der Speicheldrüsen bei den 
Orthopteren in Übereinstimmung. Bei letzteren werden allerdings nicht 
nur die Drüsen selbst, sondern auch ihr Ausführungsgang im Laufe des Em- 
bryonallebens bereits vollkommen fertig gestellt. Diefs gilt z.B. für die 
Blattiden und Grylliden. Bei letzteren Inseeten erstreckt sich der Speichel- 
gang gleichfalls bis zur Basis des Labiums, ohne dafs, wie ich früher (95°) 


7* 


52 R. Hrymons: 


an einer Stelle angegeben hatte, eine Communication mit dem Oesophagus 
zu Stande kommt. 

Das Tracheensystem der Odonaten wird ebenfalls bereits bei den Em- 
bryonen angelegt, an welchen die typischen 10 Stigmenpaare zu beobachten 
sind. Bei den jungen Larven sind freilich nur erst die gröfseren Tracheen- 
stämme fertig gestellt, die ursprünglich noch keine Luft enthalten, und 
deren Wandungen schwärzlich pigmentirt sind. Die kleineren Tracheenäste 
bestehen anfänglich noch aus einfachen, spindelförmigen an einander ge- 
reihten Zellen, die sich erst später differenziren. 

Ein anscheinend speeifisch larvales Organ habe ich regelmälsig bei 
Jugendlichen Odonatenlarven angetroffen. Es ist paarig und besteht aus 
einer Anzahl farbloser, blasser Zellen, die mit grofsen Kernen versehen 
sind und in Form eines Bandes oder eines Stranges in den hinteren Abdo- 
minalsegmenten ventralwärts vom Darm liegen. Bei Epitheca-Larven findet 
es sich im 9. und 10. Segmente vor und seine beiden Hälften (Fig. 27 /pA) 
stehen hinten durch eine ventrale Querbrücke mit einander in Zusammen- 
hang. Der histologischen Structur nach zu urtheilen, gehört das Gebilde 
in die Reihe der lymphoiden Organe und ist vermuthlich den Periecardial- 
zellen anderer Insecten, den paracardialen Lymphplättehen der Forfieuliden 
u.s.w. homolog zu setzen. 

Zum Schlufs noch einige Worte über die Genitalorgane. Dafs diesel- 
ben bei den jungen Odonatenlarven sich noch in einem Stadium aufser- 
ordentlich wenig fortgeschrittener Differenzirung befinden, wurde schon 
oben hervorgehoben. Thatsächlich ist es mir bei den jüngsten eben aus- 
geschlüpften Larven noch nicht möglich gewesen, die Geschlechtsorgane 
mit Sicherheit aufzufinden. In der Leibeshöhle trifft man zwar zwischen 
den Bindegewebs-, Fettkörperzellen und Tracheen Zellengruppen an, die 
ihrer Lage nach den späteren Genitalzellen möglicher Weise entsprechen, 
die sich aber doch noch nicht deutlich als solche zu erkennen geben. 

Erst wenn die junge Larve selbständig Nahrung zu sich nimmt, und 
wenn auch noch eine Häutung vorüber gegangen ist, kann man zu 
den Seiten des Darmes die Genitalorgane mit Bestimmtheit ausfindig 
machen. Es sind sehr kleine spindelförmige Gebilde, die nur aus we- 
nigen Zellen zusammengesetzt sind, deren Kerne durch hellere Farbe 
von den umliegenden Bindegewehs- und Fettkörperzellkernen sich unter- 


scheiden. 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 53 


An das hintere Ende jeder Genitalanlage schliefsen sich einige feine 
langgestreckte Zellen an, die man nur mit vieler Mühe durch das in der 
Leibeshöhle befindliche Convolut von Tracheen, Malpighi’schen Gefälsen 
u.s.w. hindurch bis zur Hypodermis verfolgen kann. Sie stellen die An- 
lage des Ausführungsganges dar. 

In dem verschiedenartigen Verhalten der Ausführungsgänge tritt auch 
bereits ein sexueller Unterschied zu Tage. Beim Männchen lassen sich näm- 
lich die Geschlechtsgänge bis zur Hypodermis des 9. Abdominalsternites 
verfolgen. Beim Weibchen reichen sie nur bis ins 7. Abdominalsegment, 
um sich ungefähr in der Mitte desselben (Zpitheca, Cordulia) oder in der 
hinteren Hälfte (Agrion) an die Hypodermis anzusetzen. Die für die Or- 
thopteren so charakteristischen Anschwellungen am Ende der Geschlechts- 
gänge, die sogenannten Ampullen, sind bei den Odonaten nicht entwickelt. 

Die Zellen der Geschlechtsdrüsen selbst sehen in beiden Geschlechtern 
bei den jungen Larven noch vollkommen gleichartig aus. Irgend ein Merk- 
mal, ob eine männliche oder eine weibliche Keimdrüse aus ihnen hervor- 
gehen wird, existirt noch nicht. Selbstverständlich ändert sich im weiteren 
Entwiekelungsverlauf das geschilderte Verhalten. Die sexuelle Differenzi- 
rung tritt später ein, und bei alten Larven lassen sich bei einiger Sorg- 
falt die Geschlechtsgänge sogar makroskopisch praepariren. 

Bei den eben ausgeschlüpften Larven von Ephemera vulgata sind die 
Geschlechtsorgane zwei überaus kleine spindelförmige Gebilde, die man im 
2. Abdominalsegmente dorsalwärts vom Darme antrifft. Ihre Ausführungs- 
gänge sind anfangs noch nicht deutlich zu verfolgen. Sie heften sich in 
späteren Stadien beim Männchen an das 9., beim Weibchen an das 7. Ab- 
dominalsternit an. 

In der Entwickelung der Genitalorgane tritt im wesentlichen eine Über- 
einstimmung mit den Orthoptera genuina zu Tage. Freilich ist zu berück- 
sichtigen, dafs bei den Odonaten und Ephemeriden die Differenzirung der 
Geschlechtsdrüsen nicht beim Embryo, sondern erst bei der Larve sich ab- 
spielt. Hierauf ist aber wohl kein sehr grofses Gewicht zu legen, denn 
es hat sich gezeigt, dafs auch bei anderen Organen ähnliche Erscheinun- 
gen sich geltend machen. 

Es ist mir nicht möglich gewesen, bei den Odonaten und Epheme- 
riden Spuren von doppelten Anlagen der Ausführungsgänge, der Oviduete 
bez. vasa deferentia, nachzuweisen. Bei den Orthopteren kommen derartige 


54 R. Hrymonss: 

Bildungen bekanntlich recht häufig vor, und man trifft dann beim Männchen 
im 7., beim Weibchen im 9. oder 10. Abdominalsegment gar nicht selten 
Gabelungen der definitiven Geschlechtsgänge oder selbständige rudimentäre 
Abschnitte des ausführenden Systemes an. 

Bei den hier berücksichtigten Insecten habe ich niemals in anderen, 
als in den oben angegebenen Segmenten Anlagen von Geschlechtsausfüh- 
rungsgängen nachzuweisen vermocht. Die Untersuchung stöfst allerdings 
auch auf ganz aufsergewöhnliche Schwierigkeiten. Die geringe Gröfse der 
Embryonen, sowie der jungen Larven, vor allem aber der geringe Grad 
der Differenzirung innerhalb der einzelnen Gewebe machen es vollständig 
unmöglich, schon in so frühen Stadien wie bei den Orthopteren die Bil- 
dung der Geschlechtsgänge zu verfolgen. 

Wenn bei den jungen männlichen Larven der Odonaten und Ephe- 
meriden die vasa deferentia bis ins 9. Abdominalsegment reichen, so ist 
möglicher Weise hierin bereits ein etwas modifieirtes Verhalten zu erblicken. 
Bei den männlichen Orthopterenembryonen reichen die Geschleehtsgänge 
bis ins 10. Abdominalsegment und werden erst nachträglich ins 9. Segment 
verlagert. Der Nachweis, dafs bei den Odonaten bez. Eintagsfliegen ähn- 
liche Verhältnisse obwalten, läfst sich nicht erbringen. Eine nachträgliche 
Verschiebung der Endstücke der vasa deferentia mufs im letzteren Falle 
auch aus dem Grunde als etwas unwahrscheinlich angesehen werden, weil 
bei den Orthopteren die erwähnte Verlagerung mit der stets mehr oder 
minder weit gehenden Reduction des 10. Abdominalsternites Hand in Hand 
geht, während bei den hier behandelten Insecten, wie wir gesehen, das 
betreffende Sternit selbst nach dem Ausschlüpfen noch ganz intact bestehen 
bleibt. 


6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systematische 
Stellung der Odonaten und Ephemeriden. 


Mit den in den vorhergehenden Abschnitten dieser Arbeit mitgetheilten 
Befunden hoffe ich, wenigstens in den Grundzügen ein Bild von dem Auf- 
bau des Körpers bei Odonaten und Ephemeriden gegeben zu haben. Weiter 
fortgeführte Beobachtungen an anderen Formen werden in dieser Hinsicht 
sicherlich noch manche Ergänzungen liefern und zahlreiche interessante 


Details zu Tage fördern können. Da aber nach den bisherigen Erfahrungen 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 35 


der morphologische Aufbau des Körpers innerhalb einer und derselben 
Inseetengruppe im wesentlichen immer constant zu bleiben pilegt, so ist 
wohl nieht anzunehmen, dafs die hier erhaltenen allgemeineren Ergebnisse 
durch weitere Untersuchungen eine wichtige Modification erleiden werden. 

Es hat sich das Resultat gezeigt, dafs die bei den Ephemeriden und 
Odonaten im Princip zwar völlig übereinstimmende Körperbildung in mancher 
Beziehung auch Abweichungen zu erkennen gibt, und dafs nicht nur bezüglich 
der äufseren Körperform, sondern theilweise auch hinsichtlich der Entwicke- 
lung innerer Örgansysteme derartige Differenzen zu Tage treten. Zieht man die 
zur Zeit in entwickelungsgeschichtlicher und morphologischer Hinsicht ver- 
hältnifsmäfsig gut bearbeiteten Orthoptera genuina ebenfalls in den Kreis 
der Betrachtung hinein, so wird sich fernerhin nicht verkennen lassen, dafs 
bei diesen Thieren die Körperentwickelung wieder nach einem zum Theil 
selbständigen und besonderen Typus vor sich geht. 

Schon bei einer Betrachtung der Malpighi’'schen Gefälse dürfte das 
Gesagte klar werden. Die Zahl der vasa Malpighi hat von jeher als ein 
wichtiges Charakteristicum und Unterscheidungsmerkmal für die verschie- 
denen Insectengruppen gegolten, obwohl es vielleicht nicht ausgeschlossen 
ist, dafs man theilweise den Werth dieses Unterscheidungsmittels etwas 
überschätzt hat. 

Als ein gemeinsames Merkmal der Orthoptera (genuina), Odonata 
und Zphemerida wird man nun stets hervorgehoben finden, dafs die Zahl 
der Malpighi’schen Gefäfse bei ihnen eine »grofse« ist. Letzteres ist 
auch vollkommen zutreffend, sofern man lediglich die ausgebildeten Inseeten 
berücksichtigt. Richtet man dagegen auch die Aufmerksamkeit auf die 
Jugendstadien, so treten jedoch gewisse unverkennbare Unterschiede hervor. 
In dieser Hinsicht verdient besonders erwähnt zu werden, dafs bei den 
Odonaten die Malpighi’schen Gefäfse ursprünglich stets in Dreizahl an- 
gelegt werden. 

Diese Zahl ist von Calvert bei den jungen Larven zweier Libelluliden- 
arten, von mir bei einer Anzahl anderer verschiedener Formen sowohl im 
embryonalen wie im larvalen Zustande beobachtet worden, und zwar scheinen 
Anisopteren und Zygopteren in dieser Hinsicht sich ganz übereinstimmend 
zu verhalten. 

Bei Caenis und Ephemera, den einzigen bis jetzt genauer untersuchten 
Ephemeridenembryonen, habe ich dagegen nur zwei Malpighi’sche Gefälse 


56 R. Hreymonss: 


constatirt und fernerhin feststellen können, dafs die weitere Vermehrung 
derselben keine Möglichkeit bietet, um direete Vergleiche mit den Exere- 
tionsgefälsen der Odonaten zuzulassen. 

Auch bei den Orthopteren hat man noch in keinem Falle eine unpaare 
Zahl Malpighi’scher Gefäfse bisher auftreten sehen. Letztere pflegen viel- 
mehr fast ausnahmslos in Vierzahl angelegt zu werden, während in ver- 
einzelten Fällen anfangs nur zwei Malpighi'sche Gefäfse entstehen, oder 
von vornherein sogleich sechs derselben (bei den Acrididae) gebildet werden 
sollen. 

Die bei der Entwickelung von Orthopteren zur Ausbildung gelangenden 
Rudimente segmentaler Geschlechtsgänge, sowie die bei Orthopteren meistens 
ebenfalls stark hervortretenden Endampullen der vasa deferentia und Ovi- 
ducte waren bei Ephemeriden und Odonaten nicht bemerkbar. 

Wenn in der Ausbildung des Darmes, des Herzens, des Nerven- 
systemes u. s. w. bei den drei genannten Gruppen im wesentlichen eine 
Übereinstimmung herrscht, so darf diese zu gunsten etwaiger verwandt- 
schaftlicher Beziehungen nicht überschätzt werden. Auch bei zahlreichen 
anderen Inseetengruppen vollzieht sich die Anlage der betreffenden Theile 
in ganz entsprechender Weise. 

Eine sehr augenfällige Verschiedenheit zwischen Geradflüglern, Ein- 
tagsfliegen und Libellen ergibt sich jedoch noch in der Zusammensetzung 
der Mundwerkzeuge. War man zwar auch schon längst auf die in dieser 
Hinsicht sich zeigenden Unterschiede bei den Imagines und Larven auf- 
merksam geworden, so haben doch meine Untersuchungen noch insofern 
eine Ergänzung liefern können, als sie zeigten, dafs die Differenz bereits 
in sehr frühen Embryonalstadien sich vollzieht. Es ist also nieht etwa 
eine Art von Orthopterenstadium vorhanden, welches die Ephemeriden und 
Libellen durchlaufen, und in dem ihre Mundtheile nach dem Typus der- 
jenigen der Orthopteren gebaut wären. Nur in der ersten primitiven An- 
lage der Kieferpaare, welche in Form von sechs einfachen Höckern auf- 
treten, stimmen die drei Gruppen überein. Eine solche Übereinstimmung 
erstreckt sich aber auch noch auf andere Inseetengruppen, z. B. Rhynchoten, 
und kann demnach wohl zweifelsohne überhaupt als ein Inseetencharakter 
betrachtet werden. 

Von einem besonderen Interesse für die Beurtheilung der verwandt- 
schaftlichen Beziehung zwischen den drei in Rede stehenden Gruppen dürfte 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 57 


ferner die Körpersegmentirung sein. Hauptsächlich mache ich hier auf 
die divergirende Entwickelung aufmerksam, welche das Abdominalende ge- 
nommen hat, zumal die in dieser Beziehung zu Tage tretenden Unterschiede 
bisher noch nicht in ihrer Bedeutung erkannt worden sind. 

Die erste Anlage des Abdomens vollzieht sich stets in übereinstim- 
mender Weise. Es werden ursprünglich beim Embryo, sowohl demjenigen 
der Ephemeriden wie dem der Odonaten und Orthopteren elf Abdominal- 
segmente angelegt, hinter denen das kleine Analsegment in Form der 
laminae anales zur Entwickelung gelangt. 

Bei den genuinen ÖOrthopteren vollzieht sich nun ausnahmslos eine 
beträchtliche Reduction der hinteren Abdominalsegmente. Sogar das 10. Ab- 
dominalsegment wird hierbei in Mitleidenschaft gezogen. Sein Sternit 
pflegt selbst beim Embryo wieder zu verschwinden. Stets geht auch das 
ıı. Tergit, soweit es als distinete Platte überhaupt noch hervorgetreten 
war, wieder zu Grunde. Es unterliegt dann endlich noch der mittlere 
Theil des ı ı. Sternites einer Rückbildung, so dafs damit von diesem ganzen 
Segment dann lediglich noch die Cerei erhalten bleiben. Diese persistiren 
und sind somit bei der Imago als die einzigsten Überreste des ı1. Seg- 
mentes anzusehen. 

Im Gegensatz zu der weitgehenden Rückbildung des ıı. Abdominal- 
segmentes pflegen bei den Orthopteren die laminae anales während des 
ganzen Lebens in ihrer charakteristischen Gestalt und Ausbildung erhalten 
zu bleiben. 

Bei den Odonaten und Ephemeriden hat die Entwickelung vielfach 
abweichende Bahnen eingeschlagen. 

Zunächst bleibt im Gegensatz zu den Orthopteren das 10. Abdominal- 
segment völlig intact bestehen. Im 11. Abdominalsegment erhalten sich, 
wenigstens während der Larvenzeit, die Cerei bez. die diesen entsprechen- 
den Bildungen (laterale Schwanzfäden, laterale Tracheenkiemen, appendices 
laterales). Der mediane Theil des ıı. Sternites geht zwar wieder schon 
beim Embryo zu Grunde, statt dessen findet sich aber bei Odonaten und 
Ephemeriden ein ıı. Tergit vor. Letzteres gewinnt sogar eine bedeutende 
Entfaltung, es wächst nach hinten aus und erinnert dadurch in seinem. 
Habitus an die Cerei. Diese eingerechnet sind dann also am Hinterende 
des Abdomens drei lange Fortsätze entstanden, die man wenigstens bei 
der Larve fast regelmäfsig daselbst antreffen kann. 

Phys. Abh. nicht zur Akad. gehör. Gelehrter. 1896. 1. 3 


58 R. Heymons: 


Mit der starken Ausbildung, welche diese drei dem ı1. Segment an- 
gehörenden Fortsätze gewinnen, scheint es in einem gewissen Zusammen- 
hange zu stehen, dafs die drei laminae anales im Vergleich mit den Or- 
thopteren nur eine sehr dürftige Entwickelung aufweisen. Macht es auch 
keine Schwierigkeiten, die Afterklappen beim Embryo oder der jungen 
Larve von Eintagsfliegen oder Libellen aufzufinden, so sind sie doch in 
späteren Stadien nahezu oft vollkommen verschwunden. 

Im Gegensatz zu den Orthopteren tritt uns also bei Odo- 
naten und Ephemeriden die Tendenz entgegen, das Endsegment 
allmählich rückzubilden oder ganz zu unterdrücken. 

Ich habe bisher besonders die Übereinstimmungen zwischen Odonaten 
und Ephemeriden hervorgehoben, und es läfst sich auch gar nieht verkennen, 
dafs solehe in Jugendstadien thatsächlich vorhanden sind. Namentlich fällt 
bei einer Betrachtung von Zygopterenlarven und Ephemeridenlarven die 
Ähnlichkeit im äufseren Habitus sogleich ins Auge. Die drei hinteren 
Sehwanzborsten und drei hinteren Tracheenkiemen, die dem Thiere das 
charakteristische Aussehen verleihen, sind einander homolog. 

Unterschiede machen sich hauptsächlich erst bei den Imagines gel- 
tend. Bei den Ephemeriden bleiben die dem ı1. Abdominalsegmente zu- 
gehörenden Anhangsgebilde (lateraler und meist auch mittlerer Schwanz- 
faden) dauernd erhalten, bei den Odonaten verkümmern sie. Es ist bei 
dieser Gelegenheit darauf aufmerksam zu machen, dafs die appendices late- 
rales der Odonaten sich in einer Hinsicht überhaupt etwas abweichend von 
den lateralen Schwanzfäden der Ephemeriden verhalten. Letztere rücken 
nämlich nach der Dorsalseite empor und werden schliefslieh annähernd 
rückenständige Anhänge, gerade wie diefs bei den Cerei der Orthopteren 
der Fall ist. 

Die appendices laterales der Odonaten nehmen niemals eine rücken- 
ständige Lage ein, ihre breite Basis bleibt dauernd an der Ventralfläche 
des Körpers zurück. Wenn dann später bei den Imagines der Odonaten 
eine Rückbildung der eigentlichen appendices erfolgt, schliefsen sich ihre 
Basalabschnitte unmittelbar an das ıo. Sternit an, und man kann dann 
ohne Bedenken die Rudimente der lateralen appendices, wie diefs bereits 
oben S. 4ı ausgeführt ist, als Seitentheile eines ı1. Abdominalsternites 
auffassen, dessen medianer Abschnitt schon beim Embryo verloren gieng. 
Letzteres gilt auch für männliche Zygopteren, deren hakenförmige Anhänge 


Entwiekelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 3.) 


(»untere appendices anales« der Autoren) wohl kaum den Cerei anderer In- 
secten ohne weiteres als homologe Gebilde gelten können, sondern höchst- 
wahrscheinlich als plhyletisch später erworbene, speciell zur Copulation 
dienende Einrichtungen zu betrachten sind. 

Man kann deshalb sagen, dafs die Odonaten im entwickelten 
Zustande von den Ephemeriden und Orthopteren sich durch das 
Fehlen der Cereci unterscheiden. 

Es liegt sehr nahe, auch die Abdominalgliederung der Perliden ver- 
gleichsweise zu berücksichtigen, weil diese Thiere meistens als nahe Ver- 
wandte der Odonaten und Ephemeriden betrachtet zu werden pflegen. Obwohl 
es mir aus Mangel an Untersuchungsmaterial leider nicht möglich war, auch 
die Entwickelung der Plecopteren eingehender zu verfolgen, so ist doch 
andererseits die Segmentirung gerade bei diesen Insecten eine so einfache 
und übersichtliche, dafs ein Vergleich keine Schwierigkeiten bereitet. 

Bei den Larven von Perla bicaudata L. und von Chloroperla rivulorum 
Piet. finde ich zehn abdominale Sternite (deren erstes allerdings zu Grunde 
gegangen und mit dem Metasternum des Thorax vereinigt ist) und zehn 
Tergite. Es sind ferner zwei Cerei und zwei kleine, ziemlich unscheinbare 
mit Kiemenfäden besetzte laminae subanales vorhanden. 

Ganz entsprechend ist die Segmentirung auch bei den Imagines. Das 
ı0. abdominale Sternit ist hier zweigetheilt, die laminae subanales treten 
sehr viel deutlicher hervor. 

Ein wesentlieher Unterschied zwischen Plecopteren einer- 
seits, Odonaten und Ephemeriden andererseits beruht also in 
dem Fehlen des ı1. Tergites bei den ersteren bereits in ganz 
frühen Stadien. 

Durch diese Eigenthümlichkeit nähern sich die Plecopteren unver- 
kennbar den Orthopteren, denen sie auch in vielen anderen Beziehungen, 
z. B. in der Bildung der Mundtheile, offenbar sehr nahe stehen. 

Zur Erleichterung des Verständnisses habe ich den Versuch gemacht, 
in der folgenden Tabelle einen Überblick darüber zu geben, in welcher 
Weise im grofsen und ganzen die Ausbildung der hinteren Abdominal- 
segmente sich bei den verschiedenen Insectengruppen gestaltet hat. Die 
Übersicht mag gleichzeitig darthun, in wie weit meiner Auffassung nach 
eine wirkliche Homologie zwischen den einzelnen Bestandtheilen des Ab- 
dominalendes angenommen werden darf. 


60 R. Hrymons: 


Mit Ausnahme der letzten Spalte beziehen sich die gemachten An- 
gaben auf Imagines. Nur das im Allgmeinen als typisch anzusehende Ver- 
halten sollte selbstverständlich zum Ausdruck gebracht werden. Ausnahmen, 
wie z. B. die Rückbildung der Cerei hei mehreren Orthopteren und Pleco- 
pteren u. a. m., mulsten hierbei naturgemäfs unberücksichtigt bleiben. 


ro. Segment. | ır. Segment, Analsegment 


I— In 
| Sternum | Tergum Cerei Tergum laminae anales 
M ] 
Orthoptera genuina | fehlt vorhanden) vorhanden | fehlt vorhanden 
Plecoptera (Perlarida) vorhanden |vorhanden| vorhanden | fehlt vorhanden 
| (laminae sub- 
| anales) 
Ephemerida | vorhanden |vorhanden| vorhanden |meistentwickelt| fehlen oder 
\ (mittlerer sehr wenig 
| , Schwanzfaden) entwickelt 
h | | 3 | 3 
Odonata (Anisoptera) | vorhanden | vorhanden fehlen vorhanden | wenig ent- 
(statt dessen | wickelt oder 
| zweigetheiltes | | fehlen 
|| rı. Sternum) 
Odonata (Zygoptera) | vorhanden | vorhanden fehlen fehlt fehlen 
| (statt dessen | 
| | | zweigetheiltes 


ii I = 
| | || ır. Sternum) | 


5 £ | | 
Jugendliche Libellen- | vorhanden vorhanden vorhanden vorhanden vorhanden 


larven (Anisoptera | 
und Zygoptera) | | 


Wiewohl es meine Absicht ist, erst bei einer späteren Gelegenheit, 
die Segmentirung der Thysanuren zu besprechen, so will ich doch sehon 
Jetzt darauf aufmerksam machen, dafs die Gliederung der Machiliden und 
Lepismiden ohne weiteres einen direeten Vergleich namentlich mit der 
Segmentirung junger Odonatenlarven zuläfst!. 

Abgesehen von dem Umstande, dafs bei der Larve von Lepisma das 10. Ab- 
dominalsternit gerade wie bei den Orthopterenlarven bereits rückgebildet 
ist, so findet man sowohl die beiden CGerei (seitliche Sechwanzborsten) wie 
auch das verlängerte ı 1. Tergit (mittlere Schwanzborste) wieder, welche zu- 
sammen den drei appendices caudales der Larven von Odonaten und Ephe- 


’ Auch hinsichtlich der Embryonalentwickelung vermitteln die Lepismiden den Über- 


gang zu höheren Inseeten, wie das von mir nachgewiesene (96®) Vorhandensein der 
Embryonalhüllen bei Lepisma zeigt. 
2 8 


Entwickelung und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 61 


meriden homolog zu setzen sind. Endlich ist bei der Lepisma-Larve 
auch noch das Endsegment in Form der drei laminae anales vorhanden. 

Stellt man sich die Segmentirung von Lepismiden als das der Gliede- 
rung höherer Inseeten zu Grunde liegende Schema vor, so kann man von 
derselben Basis ausgehend zwei Hauptgruppen bei den hier in Rede stehenden 
Inseeten unterscheiden. Die eine, dargestellt durch die Orthopteren und 
Pleeopteren, ist charakterisirt durch die Rückbildung des ıı. Tergites und 
Entwickelung der laminae anales. Die Mundwerkzeuge sind relativ einfach 
gestaltet und ziemlich noch nach dem Typus von Thysanurenmundtheilen ge- 
baut. Die andere Hauptgruppe wird repraesentirt durch Odonaten und Ephe- 
meriden. Hier zeigt sich wenigstens zum grofsen Theile noch eine starke 
Entfaltung des ıı1. Tergums, dafür tritt aber eine allmähliche Reduction 
der laminae anales ein. Die Mundtheile sind fast durchweg stark specialisirt. 

Eine Untersuchung der genannten niederen Insectenabtheilungen hat 
den Beweis geliefert, dafs die Segmentirung des Abdomens während der 
frühen ontogenetischen Stadien in allen Fällen eine nahezu vollkommen 
übereinstimmende und identische ist. Erst weiterhin macht sich eine diver- 
girende Entwickelung geltend und führt schliefslich zu den tiefgreifenden 
Unterschieden, die man bei den ausgebildeten Inseetenformen antrifft. Zieht 
man dagegen besonders die Jugendstadien in Betracht, so fällt es nicht 
schwer, noch gemeinsame Beziehungen und Anknüpfungspunkte an die ent- 
sprechende Körperbildung der Thysanuren herauszufinden. 

Für die von Brauer (85) und von Grassi (88) vertretene Ansicht, dafs 
der gemeinsame Ursprung der Odonaten, Ephemeriden, Plecopteren und Ortho- 
pteren s. str. bei thysanurenartig gestalteten Formen zu suchen sei, dürfte durch 
die mitgetheilten Ergebnisse somit eine weitere Bestätigung gewonnen sein. 

Trotz dieser in letzer Hinsicht wohl unzweifelhaft einheitlichen Ab- 
stammung wird man aber, wie diels auch von Brauer betont wurde, die 
verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den vier Gruppen sich gegen- 
wärtig nicht mehr als allzu nahe vorzustellen haben, denn die Trennung 
in selbständige Zweige oder Stämme wird zweifelsohne schon in aufser- 
ordentlich frühen Erdepochen, jedenfalls lange vor dem Auftreten meta- 
bolischer Inseeten erfolgt sein. 

Aus diesem Grunde wird man auch nicht umhin können, den Odonaten, 
Ephemeriden, Örthopteren und Plecopteren den Rang von selbständigen 


Inseetenordnungen zuzusprechen. 


’ a  - . 


62 R. Herymonss: 


Die Unterschiede, die in den Abweichungen der inneren Organisation, 
in der verschiedenartigen Entwickelung der Mundtheile und des äufseren 
Körperbaues bei den vier genannten Ordnungen hervortreten, sind unver- 
kennbare und offenbar zu weitgehende, um es gerechtfertigt erscheinen 
lassen zu können, die Odonata, Ephemerida und Plecoptera, wie man früher 
zu thun pflegte, als » Amphibiotica« zusammenzufassen und sie als solche 
dann in die Inseetenordnung der Orthopteren einzuschliefsen. 


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Erklärung der Figuren. 


| pendix dorsalis) sind ebenso wie diejenigen 


ze , der lamina supraanalis der Deutlichkeit halber 


Fig. ı. Hinterleibsende eines männlichen | fortgelassen. Die appendix dorsalis (Terg:;:) 
Gomphus vulgatissimus L., Imago. Von der | ist künstlich bei Seite geschoben, wodurch 


Ventralseite betrachtet. Vergr. 6. , sich die etwas asymmetrische Stellung des 
Fig. 2. Junge Larve von Epitheca bimacu- | betr. Anfanges erklärt. Vergr. 50. 
lata Charp., einige Stunden nach dem Aus- Fig. 3. Aus dem Ei geschlüpfter reifer 


schlüpfen. Am Hinterende erkennt man die | Embryo von EZpitheca bimaculata Charp. Am 
Kopf ist die zum Durchdringen der Gallerte 
pendices laterales und Terg:r), sowie diejeni- | dienende Chitinleiste (Chl) sichtbar. Die Beine 
gen des 12. Segmentes (laminae anales). Die | sind bei der Praeparation aus einander gezo- 


Bestandtheile des rr. Abdominalsegmentes (ap- 


Borsten an dem verlängerten ı1. Tergit (ap- | gen worden. Vergr. 62. 


64 


Fig. 4. Abdomen einer jugendlichen Larve 
von Epitheca bimaculata Charp. Bemerkens- 
werth ist das zweigetheilte rı. Sternit. Ver- 
gr. 62. 

Fig. 5. JungeLarve von Ephemera vulgatal.., 
von der Ventralseite betrachtet. Am 2.—7. 
Abdominalsegment sind die Anlagen der spä- 
teren Tracheenkiemen in Gestalt kleiner in 
der Hypodermis befindlicher Verdickungen 
(Trk) zu erkennen (dieselben sind bei der 
Reproduction der Zeichnung leider nieht mit 
der gewünschten Klarheit zum Ausdruck ge- 
kommen). Vergr. 68. 

Fig. 6. Abdominalende von Caloptery.x splen- 
dens Harr., Imago ‘ von hinten betrachtet. 
Die processus caudales (»obere appendices 
anales«) sind aus einander gebogen. Vergr.7. 

Fig. 7. Ei von Epitheca bimaculata Charp., 
von der rechten Lateralseite betrachtet, um 
die Lage des Keimstreifens im Ei zu zeigen. 


V= Vorderende des Eies, dem erst in spä- 


teren Stadien nach der Umrollung der Kopf 


des Embryo anliegt. Die Ventraltläche des 
Keimstreifens ist im Kopf und Thoraxab- 
schnitt noch der Dorsalseite des BEies (Dors) 
zugekehrt. Vergr. 48. 

Fig. 8. 
nen Larve von Aeschna spec. 


Hinterleibsende einer ausgewachse- 
Die Schwanz- 
klappen (appendices caudales) sind stark aus 
einander gebogen, um die Afteröffnung zu 
zeigen. Im Umkreis der letzteren treten die 


drei weichhäutigen laminae anales hervor. 
Vergr. 4. 
Fig.9. Hinterleibsende einer jungen Larve 


von Agrion (puella L.?), von der Ventralseite 


gesehen. Erkennbar sind aulser den drei 
noch drehrunden äulseren Tracheenkiemen 


(appendices), welche dem ı1. Abdominalseg- 
mente angehören, noch drei das Analsegment 
Vergr. 120. 
Be- 


inerkenswerth ist der S-förmig gekrümmte 


vepraesentirende laminae anales. 

Fig.ıo. Ei von Ephemera vulgata L. 
Keimstreifen. 
des Eies 


Vergr.1ı20. Die Orientirung 


ist hier wie bis zur Fig.ı5 so ge- 
wählt wie bei dem in Fig.7 dargestellten Ei. 


Fig.ıı. Ei von Oaenis griseaP. Vergr. 125. 


R. Hermons: 


Fig.ı2. Ei von Sympetrum flaveolum L. 
Das Hinterende des Keimstreifens ist in den 
Dotter eingewachsen. Vergr. 48. 

Fig.13. Ei von Zibellula quadrimaculata L. 
Der Keimstreifen ist anormaler Weise nicht 
in den Dotter eingedrungen, sondern super- 
ficiell geblieben. Vergr. 48. 

Fig.14. Ei von Libellula quadrimaculata L. 
Der Keimstreifen ist im Begriff‘, sieh mit dem 
Hinterende in den Dotter einzusenken, die 
hintere Amnionfalte (am) erscheint. Vergr. 48. 

Fig.ı5. Ei von Libellula quadrimaculata L. 
Weiter Entwickelungssta- 
dium als in der vorigen Figur. Vergr. 48. 


fortgeschrittenes 


Tafel 11. 

Fig.ı6. Ei von Zabellula quadrimaculata L. 
Der Keimstreifen ist im Besitze sämmtlicher 
öxtremitätenanlagen. Vergr. 145. 

Fig.ı7. Ei von Zpitheca bimaculata Charp. 
mit reifem Embryo, von der Ventralseite be- 
trachtet. Vergr. 62. 

Fig.ı8. Laich von Epitheca bimaculata 
Charp. Natürliche Grölse. 

Fig.19. Kopf eines Keimstreifens von 
Epitheca bimaculata Charp. Die Mundtheile 
sind angelegt. Als kleiner höckerartiger Vor- 


sprung ist an den vorderen Maxillen die 
Tasteranlage sichtbar. Vergr. 125. 

Fig. 20. Ei von Zäbellula quadrimaculata L., 
An der Em- 
bryonalanlage ist eine mediane Rinne (Meso- 
dermbildung) bemerkbar. Am Vorderende 
derselben die Einsenkung für das Stomodaeum 
(0). Vergr. 116. 

Fig. 21. Fangmaske (Labium) einer jun- 
gen Larve von Epitheca bimaculata Charp. 


Vergr. 120. 


von der Ventralseite betrachtet. 


Fig. 22. Schnitt durch die hintere Kopf- 
partie einer jungen Larve von Ephemera. 
Dem unteren Schlundganglion ist der paarige 
Suboesophagealkörper aufgelagert. Verg.270. 

Fig. 23. Querschnitt durch das Abdomen 
einer bereits mit zweiästigen Tracheenkiemen 
versehenen Larve von Zphemera. Es sind 
fünf Malpighi’sche Gefälse vorhanden, bei 


Entwickehing und Körperbau von Odonaten und Ephemeriden. 


drei derselben ist die Einmündung in den 
Darm sichtbar. Die Mündung der beiden 
dorsalen Gefälse zeigte sich an dem nächst- 
folgenden Schnitt. Malp, = das zuletzt ent- 
standene unpaare vas Malpighi. Vergr. 145. 
Fig. 24. Fangmaske (Labium) eines Em- 
bryo von Epitheca bimaculata. \Vergr. 160. 
Fig. 25. 
einer Epitheca - Larve. 


Querschnitt durch das Abdomen | 


Es ist die Anheftung 
der drei vasa Malpighi an den Darm erkenn- 
bar. Vergr. 50. 

Fig. 26. 
einer Ephemera-Larve mit vier Malpighi- | 


Querschnitt durch das Abdomen | 


65 
schen Gefälsen. Die beiden zuletzt gebildeten 
dorsalen zeichnen sich noch durch geringere 


Grölse aus. Vergr. 270. 


Fig. 27. Querschnitt durch das 9. Abdo- 
minalsegment einer jungen Larve von Epi- 


theca. Vergr. 195. 


Fig. 28. Querschnitt durch die Embryonal- 


, anlage von Libellula quadrimaculata im Stadium 
\ der Mesodermbildung. Vergr. 270. 


Fig. 29. Mundtheile einer jungen Larve 
Der Deutlichkeit hal- 


ber etwas schematisirt. Vergr. 195. 


von Ephemera vulgata. 


A = Anus 
Abd = Abdomen 
abx; = Extremitätenanlagen 


des 1. Abdominalsegmentes 
abz;, = Extremitätenanlagen 
des ıı. Abdominalsegmentes 
(Cerei = appendices latera- | 
les) 
am = Amnionfalte 
Ant = Antenne | 
Aor = Aorta 


app dors = appendix (caudalis) | 
dorsalis (= ı1. Tergit) 

app lat = appendices (cauda-. 
les) laterales (= Cerei) 

C = Rückengefäls (Herz) 

Chl = Chitinleiste 

cl = Ülypeus 

D = Dotter 

Dors = Dorsalseite des Eies 

Ed = Enddarm 

F = Facettenauge 


ggl = Ganglion 

ggl term = hinterstes 
marksganglion 

gon = Gonapophysen | 


Bauch- 


Buchstabenerklärung. 


H = Hinterende des Eies 


Theil des 
Hypl = lateraler Ir eier) 
H, ee, Ilypo- 
'ypm = medialeı Aerynz 


\ Int = Mitteldarm 


Lab = Labium (Fangmaske) 

Lab,., = 1. (proximales) bis 4. 
(distales oder End-) Glied 
der Fangmaske 

lam sub = laminae sub- seu ad- 
anales 

lam sup = lamina supraanalis 

Iph = \ymphoides Organ der 
Odonatenlarven 


' Malp= Malpighi’sche Ge- 


fälse 

Md = Mandibel 

Mdk = Kaulade der Mandibel 

Mdp = hornartiger Mandibu- 
larfortsatz 

mes = Mesoderm 

msk = Muskeln 

Mx, = vordere Maxille 

Mx, = hintere 
bium) 

O0 = Mundöfinung 


Phys. Abh, nicht zur Akad. gehör, Gelehrter. 1896. 1. 


Maxille (La- | 


Ob = Öberlippe 
palp mx, = palpus maxillaris 


palp. mx; palpus labialis 

pers = Pericardialseptum 

proc caud = processus eauda- 
les 

Sch = Kopflappen (Scheitel- 
lappen 

ser = Serosa 

Shh = Scheitelhörner 

sök = Suboesophagealkörper 

Stern:-ı, = Abdominalsternit 
(1. bis ır.) 

Tergs-ı: 
bis ır.) 


Abdominaltergit (1. 

Tergı: = Tergit des ı1. Abdo- 
minalsegmentes (= appen- 
dix dorsalis) 

Thx;-;, = Thoraxextremität (1. 
bis 3.) 

Tr = Tracheen 

Trk = Anlage der Tracheen- 
kiemen 

V = Vorderende des Eies 

Vd = Vorderdarm 


Vent = Ventralseite des Eies. 


BERDT oe - 
Alm) Y ö j 


Inhaltsübersicht. 


Einleitung 
1. Über die Eier. von Tabellen nd Ephemeniden 
2. Die Bildung und Form des Keimstreifens . 
3. Die Entwickelung der Körpergestalt . 
4. Die Hinterleibsanhänge . SE 
a) Die Abdominalanhänge der Larven Eee. 340 
b) Die Abdominalanhänge der Imagines. . 2 2222 nn m nn 
5. Über die Ausbildung der inneren Organsysteme . . .. 2 
6. Die verwandtschaftlichen Beziehungen und die systeinatische Stellung der 04 
naten und Ephemeriden 
vi Litteraturverzeichnils 
Erklärung der Figuren . 


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au: „ 9 


areas. £ Anhang z.d.Abh.1896. Phys-math.Cl. 


Fig. 


Ser nz 
Tumı.sub- fh 


applat. 


Heymons: Odonaten und Ephemeriden. 
Taf. 1. j 


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| nm y j Anhang z.d.Abh.1896. Phys-math.Cl. 


Heymons: Odonaten und Ephemeriden. 
Tar.d. 


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