Fibrarn of the Museum
OF
COMPARATIVE ZOÖLOGY,
AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS.
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ABHANDLUNGEN
DER
NATURFORSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU HALLE
ORIGINALAUFSÄTZE
AUS DEM GEBIETE DER GESAMMTEN NATURWISSENSCHAFTEN
XVI. BAND
HATER
MAX NIEMEYER
"1892
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INHALT
Grenacher, H., Abhandlungen zur vergleichenden Anatomie des Auges. II. Das Auge der Heteropoden,
geschildert an Pterotrachea coronata Forsk. Mit 2 Tafeln
Kraus, Gregor, Beiträge zur Kenntniss fossiler Hölzer III u. IV. Mit 3 Tafeln
Zopf, W., Ueber einige niedere Algenpilze (Phycomyceten) und eine neue Methode ihre Keime aus dem
Wasser zu isoliren. Mit 2 Tafeln
Leicher, D., Ueber den Einfluss des Durchströmungswinkels auf die elektrische Reizung der Muskelfaser
Bernstein, J., Neue Theorie der Erregungsvorgänge und elektrischen Erscheinungen an der Nerven- und
Muskelfaser. Mit S Holzschnitten
Derselbe, Ueber die Sauerstoffzehrung der Gewebe .
Brauns, J., Kritische Bemerkungen über die Verwerthung der Temperaturbeobachtungen in Tiefbohrlöchern
zu empirischen Formeln
Volhard, J., Ueber die Synthese der Vulpinsäure und die Constitution der y-Ketonsäuren .
Eisler, P., Der Plexus lumbosacralis des Menschen. Mit 3 Tafeln und 1 Figur im Text.
Taschenberg, E. O., Historische Entwicklung der Lehre von der Parthenogenesis.
Haswell, W.A., On the Systematic Position and Relationsships of the Temnocephaleae
Creutzburg, N., Ueler metaphysische Probleme in der Zoologie. Eine Kritik der Darwin’schen Theorie
Seite
109
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Abhandlungen
zur
vergleichenden Anatomie des Auges.
I.
Das Auge der Heteropoden,
geschildert an Pterotrachea eoronata Forsk.
Von
Dr. H. Grenacher,
Prof. d, Zoologie a. d. Univ. Halle a. S.
Mit 2 Tafeln.
Abhandl. d. naturf, Ges. zu Halle. Bd. XVII. 1
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Trotzdem unsere Kenntnisse in der vergleichenden Anatomie des Sehorgans
der Thierwelt, namentlich der sog. niedern, in der letzten Zeit manchen Zuwachs
erfahren haben, giebt es noch immer Gebiete genug, wo die Forschung einzusetzen
hat, um unsere Erfahrungen abzurunden, zu klären, und vor Allem zu vertiefen.
Dass nieht alle Augenformen auf die Untersucher mit gleicher Anziehungskraft ein-
gewirkt haben, könnte man, wüsste man es nicht anders, schon aus der Zahl der
über sie handelnden Publicationen schliessen. Dass auch das Heteropodenauge, dem
diese Arbeit gewidmet ist, in dieser Hinsicht eine untergeordnete Rolle spielt, zeigt
uns schon ein Blick auf die Literatur des Cephalopoden- und Gasteropodenauges; ob
lediglich geringeres Interesse die Ursache des grossen Contrastes ist, kann höchstens
Gegenstand der Muthmassung sein. Ich möchte aber nach Abschluss meiner eigenen
Untersuchungen doch noch auf ein anderes Moment hinweisen, welches wohl nicht
minder zur Erklärung der Spärlichkeit der Literatur darüber herangezogen werden
dürfte, und dessen Gewicht ich während der Untersuchung selbst zur Genüge em-
pfunden habe: ich meine damit die ungewöhnlichen Schwierigkeiten in der Erforschung
gerade dieses Auges, Schwierigkeiten, die ich bei den früher von mir bearbeiteten
Formen auch nieht entfernt in gleichem Grade zu überwinden hatte, und zu deren
Bewältigung grosse Geduld und Interesse an der Sache nicht minder vorausgesetzt
wird, als auch reichliches und gut conservirtes Material.
Dass ich dabei nicht die technischen Schwierigkeiten ausschliesslich oder in
erster Linie im Sinne habe, mag gleich von vornherein hervorgehoben werden; so
bedeutend sie sich mir auch anfangs in den Weg stellten, so wenig mögen sie Andere
vielleicht aufhalten — das ist. ja lediglich Sache des Geschiekes und der Routine.
Ich meine mehr die Hindernisse, welche sich bei der Interpretation des Gesehenen,
der Zurückführung der neuen, fremdartigen Formen auf schon bekannte ergeben, von
deren Gelingen es ja allein abhängt, ob eine Erklärung des zu erforschenden Ob-
jeetes, ein Verständniss desselben im Sinne unserer Morphologie, gewonnen, oder ob
bloss unverstandene Thatsachen als kaum verwendbares Rohmaterial aufgestapelt
1*
wird. Ich habe das Problem im ersteren Sinne zu lösen mir redliche Mühe gegeben;
wenn ich trotzdem eine Reihe von Punkten späteren Forschern zur Aufklärung noch
überlassen muss, so bitte ich zu bedenken, wie selten eine wissenschaftliche Unter-
suchung restlos aufgegangen ist.
Wenn ich übrigens von Heteropodenaugen rede, so meine ich damit fast aus-
schliesslich das Auge von /ferotrachea coronata, das mir Modell dazu stehen musste.
So gerne ich auch noch andere Gattungen der Gruppe eingehender geprüft hätte, um
die Variationen, welche der so ganz eigenthümliche Typus des Sehorgans bei ihnen
erfahren mag, näher festzustellen, so wenig erwies sich dies als für mich durch-
führbar. Ich habe wohl eine Anzahl von Präparaten von mässig erhaltenen Augen
der viel kleineren /%. mutica angefertigt und untersucht, ich habe aber bei dieser
keine Abweichungen gefunden, die mich hätten ermuthigen können, die viel schwierigere
technische Bewältigung des Objectes besonders anzustreben. Anders steht es mit
Carinarıa, von deren grossen Augen mir von der Zoologischen Station, der ich mich
für die Zusendung des grössten T'heiles des benutzten Materiales überhaupt zu Danke
verpflichtet fühle, eine ziemliche Anzahl von Exemplaren zugestellt wurden. Hier
habe ich wenigstens einsehen können, dass die bei /%. coronata gefundenen Verhält-
nisse dafür nicht als maassgebend zu betrachten sind; bei dem trotz aller auf die
Conservirung verwandten Sorgfalt doch recht unbefriedigenden Zustand meines Mate-
riales, an welchem namentlich die Augenblase in fast unentwirrbarer Weise geschrumpft
und gefaltet war, ist das Alles, was ich vorläufig darüber zu sagen wage. Trotz
dieser Einschränkung auf eine einzelne Form, von der es nicht möglich ist zu be-
haupten, dass sie für die in Betracht kommenden Verhältnisse als unbedingt typisch
anzusehen sei, glaube ich doch die Resultate zur Publication hinlänglich reif; ich
halte es noch immer für besser, einen einzelnen Repräsentanten für derartige Fragen
mit leidlicher Gründlichkeit, als eine ganze Reihe nur oberflächlich zu kennen.
Die eigentlichen dioptrischen Theile des Auges (Cornea, Linse ete.) und ihre
unmittelbare Umgebung finden in diesem Aufsatze keine eingehendere Besprechung;
eine allerdings nicht eingehender durchgeführte Prüfung derselben hat nichts ergeben,
was in nennenswerther Weise über das schon durch meine Vorgänger (besonders
Hensen) bekannt gewordene hinausgerührt hätte. Das bedarf demnach keiner be-
sonderen Rechtfertigung. Eher, dass ich hier auch die Beziehungen des Auges in
toto zu seiner Umgebung ignorire. Hier scheinen mir in der That noch einige nicht
als relativ gleichgültig zu betrachtende Fragen der definitiven Lösung zu harren, be-
sonders hinsichtlich der Muskeln des Auges. Ich konnte mich aber um so weniger
entschliessen, solehe Fragen an conservirtem, d. h. getrübtem, geschrumpftem und
fest gewordenem Material in Angriff zu nehmen, als an frischen Augen vorgenommene
Studien wahrscheinlicherweise fast mit einem Blicke mehr, und vor Allem sicherere
Resultate liefern müssen, als die zeitraubende und mühsame Präparation in unserm
Falle, wo allen möglichen Fehlern und Irrthümern Thür und Thor geöffnet wäre.
Hinsichtlich der Conservirung meines Untersuchungsmateriales habe ich allein
von der Kleinenberg’schen Pikrin-Schwefelsäure-Mischung zufriedenstellende Erfolge
zu verzeichnen. Lange habe ich mich vergeblich abgequält an Augen, die in dem
Gemenge von Pikrin-Schwefelsäure mit Sublimat gehärtet waren, das sich mir bei
der Untersuchung der Cephalopodenretina so nützlich erwiesen hatte, hier aber mich
im Stiche liess. Dass ich es nicht eher auf erstere Weise versuchte, dürfte wohl
auf einen s. Z. von mir in Neapel begangenen Fehler in der Anwendung zurückzu-
führen sein, der zu einem völligen Fiasco geführt hatte. Aber auch die Anwendung
dieses Erhärtungsmittels mit nachfolgender Extraction durch Alkohol führt einige
Ineonvenienzen nach sich, die je nach dem Grade der Einwirkung zu verschieden
aussehenden Resultaten führen. Die dadurch verursachten Gerinnungsvorgänge in
(len Einzelbestandtheilen des Auges ziehen Schrumpfungen und dadurch Volumsver-
ringerungen nach sich, welche die einzelnen Theile in ungleichem Maasse betreffen.
Die nothwendige Folge davon sind Störungen grössern oder geringern Umfangs
in der relativen Lagerung der einzelnen Theile gegen einander, gelegentlich auch
Trennungen der Oontinuität; beide als solche künstliche, in frischem Zustande nicht
vorhandene Alterationen zu erkennen, und damit ihren Einfluss auf das Urtheil zu
eliminiren, dazu ist ein Ueberblick über eine grosse Reihe von Einzelfällen mit ihren
mannigfaltigen Abstufungen erforderlich.
Das Pigment, über dessen eigenthümliche Vertheilung im Auge nachher kurz
berichtet werden soll, ist im Ganzen weniger störend als in den meisten anderen
Augen, da es hier nirgends in besonders massiger Weise aufgehäuft ist; namentlich
nicht da, wo die Eigenartigkeit des Heteropodenauges am meisten ihren Ausdruck
findet. Seine nichtsdestoweniger wünschenswerthe Entfernung, resp. Zerstörung (dureh
Auslaugen mit Mineralsäuren) stüsst aber hier auf mehr Schwierigkeiten als bei den
Cephalopoden, wo sie, nach der von mir früher angegebenen Methode, äusserst leicht
gelingt, ohne die Struetur der Gewebe und die relativen Beziehungen derselben zu
einander irgendwie zu gefährden. Man muss hier die Salzsäure, die ich noch immer
mit besonderer Vorliebe hiefür verwende, in stärkerem Maasse, und vor Allem auch
länger als dort zur Anwendung bringen, um eine nennenswerthe Lichtung des Pig-
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mentes zu erhalten, hat sich dabei aber natürlich sehr zu hüten, dass die Einwirkung
derselben auf die zelligen Elemente des Auges den Vortheil der Pigmentzerstörung
nieht durch einen schwerer wiegenden Nachtheil auf einer andern Seite mehr als
compensire. — Für zweierlei bestimmte Zwecke empfiehlt sich aber gerade eine
relativ starke Einwirkung der Entfärbungstlüssigkeit; nämlich einmal zur Isolirung
der Membrana limitans, und zweitens zur deutlicheren Erkennung der Art und Weise
der Verbindung der Nervenfaser mit der Retinazelle. Legt man nämlich mit über-
schüssiger Säure entfärbte Augen in schwachen Alkohol (von ca. 50°), um behufs
nachheriger Durehfärbung die Säure auszuwaschen, so tritt nach kurzer Zeit (m um
so kürzerer, je intensiver die Säure eingewirkt hat), oft schon nach 20—30 Minuten,
eine ganz eigenthümliche Quellung sowohl des Glaskörpers wie der Linse ein. Die-
selben treten nämlich unter fortdauernder Volumsvergrösserung immer mehr und mehr
aus dem Auge heraus, das (bei mir wenigstens) bei der Freilegung immer seine
Cornea eingebüsst hatte, und die freien Ränder des Augenbechers rollen sich mehr
oder weniger nach aussen und hinten um. Ist die Quellung intensiv genug gewesen,
so gelingt es meist ohne besondere Schwierigkeit, den Augeninhalt aus dem Becher
in toto herauszuziehen, und an ihm bleibt häufig die an der Quellung selbst sich
nicht betheiligende Membrana limitans hängen, so dass sie — mit einigem Geschick
und Glück — fast unversehrt abgetrennt und für sich auf den Objektträger über-
geführt werden kann, was auf dem Wege der gewöhnlichen Präparation aus dem
Auge heraus ein wohl schwer zu leistendes Kunststück sein möchte.
Aber auch die zelligen Bestandtheile des Auges haben eine Einwirkung durch
diese Behandlungsweise erfahren, die sich freilich nieht durch eigentliche Quellung
und Volumszunahme äussert. Die Zellen selbst werden nämlich viel klarer und
durehsichtiger, ohne dabei hinsichtlich der Schärfe ihren Conturen, die im Gegentheil
um so prägnanter hervortreten, etwas einzubüssen. Sie sehen, nachdem die Proce-
duren der Färbung, Einbettung und des Schneidens mit ihnen vorgenommen, und sie,
wie ich meistens thue, in Rieinusöl eingelegt sind, fast wie Harzpräparate aus, so
transparent werden sie, aber in der Schärfe der Umrisse sind sie jenen weit über-
legen. An solchen habe ich Dinge gesehen, die ich an anders behandelten lange
und vergeblich suchte. Auch die Stäbchen, beiläufig bemerkt, treten ungewöhnlich
plastisch und kräftig hervor, da sie augenscheinlich der Säure gegenüber relativ sehr
resistent sind.
Dies dürfte genügen, um dem Nachuntersucher in technischer Beziehung
wenigstens die ersten Wege zu ebnen. |
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Ich darf wohl hier eine kurze, von einigen kritischen Randglossen begleitete
Uebersicht der bisherigen Literatur über das Auge der Heteropoden, soweit sie mir
wenigstens bekannt und zugänglich gewesen ist, folgen lassen; in der systematischen
Literatur enthaltene Notizen. die nicht auf die innere Structur des Sehorgans Bezug
haben, werden hier nicht zu berücksichtigen sein.
Ueber die bekannte allenthalben eitirte Notiz von A. Krohn*) kann ich hier
rasch hinweggehen, da sie nur die äussere Form des Auges, der brechenden Medien
und die Vertheilung des Pigmentes behandelt. Später ‘*) lieferte er noch einen Nach-
trag dazu, indem er vom Hinterrande des Auges ausgehende Fasern erwähnt, welche
der „äussern Retinaschicht“ entsprechen; die innere Schicht derselben besteht nach
ihm aus „dicht neben einander und aufrecht gegen den Glaskörper gestellten Fasern“.
Krohn dürfte wohl unzweifelhaft hier die Retinazellen in ihren beiden Hauptab-
schnitten, von denen wir später zu sprechen haben werden, erkannt haben.
Auch bei der für die Morphologie der Weichthiere so bedeutungsvollen Arbeit
*x%*
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von Huxley “*), die man häufig gelegentlich unseres Objeetes eitirt findet, brauchen
wir hier nicht länger zu verweilen, da auch sie sich ausschliesslich mit der äussern
Augenform beschäftigt, und daneben nur noch der Musculatur desselben einige
Beachtung schenkt.
Weit eingehender als diese beiden Autoren hat sich dann R. Leuckart+) mit
den Augen einer Anzahl von Heteropoden befasst; sehr ausführlich beschreibt er ihre
äussere Form und Lage, ihre Museulatur und ihre Structur. Durch Abbildungen,
die freilich nur nach geringen Vergrösserungen entworfen sind, werden die Formen
der Augen erläutert, leider aber nicht ihr innerer Bau, was ich um so mehr bedaure,
als mir der Text allein nicht immer genüsgende Anhaltspunkte für eine sichere Ver-
sleichung seiner Resultate mit den späteren, auch den meinigen, bietet.
Auch hier wollen wir dem Autor in die Darstellung, die er von der Lage und
Form des Auges, seiner Befestigung durch Muskeln etc. giebt, nicht folgen. Nur hin-
sichtlich der Grösse des Sehorgans (l.c. pag. 29), namentlich von der auch meinen Unter-
suchungen zu Grunde liegenden /%. coronata möchte ich bemerken, dass ich, trotz
*) A. Krohn, Fernerer Beitrag zur Kenntniss des Schneekenauges in: Müller’s Arch. £.
Anat. u. Physiol. 1839 p. 332 Taf. X Fig. 6—8.
**) Nachtrag zur Notiz über die Augen einer fälschlich für eine Phyllodocee gehaltenen, zur
Gattung Alciope gehörenden Annelide, in: Froriep’s Neue Notizen ete. XXV 1843 pag. 41.
*”*) Th. H. Huxley, On the Morphology of the Ceplialous Mollusca ete., in: Phil. Trans.
Vol. 143 Pt.1 1853 p. 29—65 Taf. I—IV.
7) R. Leuckart, Zoologische Untersuchungen. III. Giessen 1354 pag. 27—34.
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meines nicht geringen Materiales, doch kein einziges Auge von der nach Leuckart
bis zu 2!“ betragenden Länge zu Gesicht bekommen habe. — Leuckart unter-
scheidet eine vorn deutlich, nach hinten aber immer weniger deutlich aus Zellen sich
zusammensetzende Sclerotica, welche sich nach vorn in die Cornea fortsetzt; von ihr
wird umschlossen die Linse, die in frischem Zustande structurlos ist, in gehärtetem
aber leicht in kleine unregelmässige Häufehen zerbröckelt, welche dann mitunter
ein kernartiges Gebilde zu umschliessen scheinen (pag. 31); eine Hülle oder Kapsel
fehlt ihr. — Des schon von Krohn erwähnten meniscusartig geformten, zwischen
Cornea und Linse gelegenen, im Gegensatz zum structurlosen Glaskörper aus einer
Anhäufung von Zellen bestehenden „Sammelkörpers“, welchen Leuckart bei Z7ro-
Zoides als besonders entwiekelt und consistent beschreibt, gedenke ich hier nur bei-
läufig, um die Aufmerksamkeit späterer Forscher darauf zu lenken; ein Attribut des
Heteropodenauges im Allgemeinen ist er nicht, denn er fehlt bei Z%erotrachea.
Die auf die Selerotica nach innen folgenden Pigmentzellen sollen nach Leuckart
eine doppelte Lage bilden, von denen der äussern eine grössere Ausdehnung zu-
komme. Dass diese von hellen Lücken unterbrochene Pigmentregion als Chorioidea
bezeichnet wird, ist dem Sprachgebrauch jener Zeit gemäss.
Die Leuckart’sche Darstellung des Baues der Retina bietet dem Verständniss
die meisten Schwierigkeiten. Sie besteht aus dem mit dem Nervus opticus in eontinuir-
licher Verbindung stehenden, schon als intraoeular zu bezeichnenden Ganglion optieum
von leistenförmiger Gestalt (l. ec. pag. 33), dessen Faserzüge in der Querachse des
Auges liegen, aber auf der vordern Ganglionfläche fast rechtwinkelig umbiegen, um
untermischt mit einer feinkörnigen Substanz im Augengrunde eine Schicht senkrecht
stehender faseriger Elemente zu bilden. Dieser äussern Faserschicht, deren Elemente
dünn und blass sein sollen, fügt sieh noch eine zweite innere an, deren Bestand-
theile dieker und schärfer eonturirt auftreten, so dass sie Leuckart nur mit den
Stäbehen in den Augen höherer Thiere vergleichen kann. „Dass diese Stäbchen
nach innen auf der Faserschicht aufsitzen, darüber kann kein Zweifel sein. Auch
davon glaube ich mich mit Bestimmtheit überzeugt zu haben, dass ihre peripherischen
Enden mit den blassen Sehnervenfasern zusammenhängen. Die letzteren erweitern
sich ein wenig, und gehen dann unmittelbar, mit einer Art Quergliederung, in die
Stäbehen über. Die Stäbehen stehen senkrecht wie die Fasern der Retina, sind aber
durch eingelagerte braune Pigmentzellen von einander geschieden. Ihre freien Enden
sind dem Glaskörper zugekehrt. Die Stäbehen, die in die optische Achse des Auges
fallen, sind die kürzesten. Sie messen etwa "/s‘. Mit der Annäherung an die
Ränder des Augengrundes wächst die Länge der Stäbchen, und an den Seiten des-
sa
selben sehe ich faserförmige Stäbchen von '/s, die eine Strecke weit parallel der
Wandung emporsteigen und sodann nach innen in den Glaskörper sich hinein-
krümmen ete.“ (l. ec. pag. 33).
Ich habe die wichtigsten Stellen über den Bau der Retina hier wörtlich wieder-
gegeben, um dem Leser die Möglichkeit zu verschaffen, sie mit meiner eigenen
späteren Darstellung zu vergleichen. Ich gestehe, dass ich nicht im Stande bin, die
Leuekart'schen Angaben auf meine eigenen zurückzuführen; sicher scheint mir nur
zu sein, dass das, was er als „Stäbchen“ bezeichnet, mit den weiter unten be-
schriebenen nichts zu thun hat: ganz abgesehen von allen übrigen Differenzen würde
schon der Umstand, dass sie in der Augenaxe am kürzesten, in der Peripherie aber
um ca. das sechsfache länger sein sollen, bei dem gerade umgekehrten Sachverhalt
nach meinen eigenen Untersuchungen dem widersprechen.
Kaum minder eingehend als Leuckart hat sich Gegenbaur) die Erforschung
des Auges der Heteropoden angelegen sein lassen, und er beschreibt die äussere
Form desselben, seine Lagenverhältnisse, Museulatur ete. ebenso detaillirt, wie seinen
inneren Bau. Für unsern vorliegenden Zweck ist es überflüssig, hier auf den Bau
des Auges von Alanta und Carinarıa einzugehen, die unserer eigenen Darstellung
fern bleiben müssen; es mag nur darauf hingewiesen werden, dass Gegenbaur bei
der erstgenannten Gattung eine Retina vermisst, dafür aber ein Aequivalent in der
sog. Nervenhaut (der Kielleiste) gefunden haben will, wobei freilich die Lagerung
der letzteren hinter dem Pigment ihm Schwierigkeiten bereitet. Diese Schwierig-
keiten sucht er durch Annahme einer Oeffnung in der Pigmenthaut, durch welehe
das Licht Zutritt zu den lichtempfindenden Elementen finden sollte, zu umgehen.
Ueber die noch complieirtere Verhältnisse voraussetzenden Angaben bezüglich des Auges
von Carinaria muss ich aber auf das Original selbst hinweisen. — Bei den Ptero-
tracheen, deren Darstellung uns hier am meisten interessirt, hat Gegenbaur ebenfalls
wie Krohn und Leuckart einen vor der Linse gelegenen festeren Körper von
Meniscus-Form gefunden, aber nur bei /%. /uppocampus und Zrroloides,; nähere Angaben
über seinen Bau fehlen indessen. Bei /%. coronata, scutata und Fridericı soll die Linse
mit ihrem vorderen Abschnitt die von der Cornea auf ihrer Innenseite gebildete
Concavität direet ausfüllen. Für die erste der genannten Arten steht diese Darstellung
*) C. Gegenbaur, Untersuchungen über Pteropoden und Heteropoden. Leipzig 1855. pag. 108
(Atlanta), 137 (Carindria), 163 (Pterotrachea), 199 (Resume).
Abhandl. d. naurf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. p)
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im Widerspruch mit meinen eigenen Befunden, wonach zwischen Linse und Cornea
noch ein beträchtlicher, im frischen Zustande wahrscheinlich mit wässeriger Flüssig-
keit erfüllter Raum existirt. — Die sog. Sclerotica sowohl wie die in sie continuirlich
übergehende Cornea findet Gegenbaur im Gegensatz zu Leuekart ohne Andeutung
einer zelligen Zusammensetzung, als eine derbe glashelle Membran, die vom Cornea-
Rande ab nach hinten sich gestreift, selbst deutlich gefasert zeigt. Ueber die Linse,
das Pigmentepithel mit uen grossen Lücken darin, sowie über den Glaskörper liegen
keine besonders erwähnenswerthen Angaben vor.
Dagegen hat Gegenbaur über den nervösen Apparat eingehendere Studien
gemacht, die wir hier nieht übergehen dürfen. Nach der Erwähnung des leisten-
förmigen Ganglions, in welches der Nervus optieus einmündet, und welches „die
Pigmenthaut umfasst“ (l. ec. pag. 166), führt er innerhalb der Pigmenthülle gelegene
„stäbchenähnliche Gebilde“ auf, „deren Achse stets senkrecht auf das dahinter
liegende Ganglion steht. — — Ihre Hülle ist hell und zart und umschliesst einen
hellen homogenen Inhalt, der mit dem Nerveninhalte bei höhern Thieren mehr als eine
Eigenschaft gemein zu haben scheint. Kerngebilde wurden nicht an ihnen wahr-
genommen. — — In bestimmterer Weise lässt sich eine andere Art von Stäbchen
studiren, die mit den Pigmentzellen der sog. Chorioidea in einem innigen Zusammen-
hange stehen. Am deutlichsten finden sie sich gleichfalls am hintern Augen-
rande und vor der vorerwähnten Stäbchenschichte, die sie auf diese Weise von
der Pigmentschichte abscheiden. — — Sie stellen so gerade, oft auch leicht ge-
krümmte, dicht neben einander gereihte Oylinder vor, die sich genau senkrecht auf
die Pigmentschicht richten. Kerne sind mir nicht deutlich geworden, dagegen kommen
an (diesen Cylindern 3—4 dunkle, in die dünne Hülle eingelagerte Körner vor, die
vielleicht als Reste von Kernen anzusehen sind. Das Auffallendste dieser Schichte
ist ihr Verhalten zur Pigmentschichte. Sobald man nämlich einzelne Stücke dieser
Schichte lospräparirt, so — — sieht man, wie genau an dem Ende eines jeden der
Stäbchen ein Pigmenthäufchen sitzt, und wenn man gerade eine Gruppe — — zur
Anschauung bekommt, so wiederholt sich bei der Ansicht von der einen Fläche genau
das Bild der mosaikartig an einander gelagerten Pigmentzellen. Dass das Pigment
nicht in zufällig den Stäbchen ansitzenden Zellen sich findet, sondern dass die frag-
lichen Stäbchen selbst das Pigment bergen, wenn auch nur an einer sehr beschränkten
Stelle, dieses wird nach wenigen Beobachtungen leicht zur Genüge festgestellt. Nach
vorn zu werden diese Pigmentstäbchen allmählig kürzer, und in der Nähe der Pigment-
zellen sind es wieder platte Zellen, in denen das Pigment eingeschlossen ist.“
— gen
Ueberblieken wir die hier wörtlich, mit nur ganz unwesentlichen Auslassungen
wiedergegebenen Ansichten Gegenbaur’s über die Struetur der empfindenden Region,
so scheint mir soviel daraus hervorzugehen, dass auch ihm die eigentlichen Stäbchen
unbekannt geblieben sind. Ob er mit der ersten von ihm als Stäbchen bezeichneten
Form die kerntragenden Abschnitte der Retinazellen gesehen hat, wage ich weder
zu bejahen noch zu verneinen; seine Schilderung selbst sprieht eher dagegen, seine
Abbildung (l. ec. Taf. VII, Fig. 5) sicher nicht dafür. In der zweiten Stäbehenform
hingegen glaube ich das wiederzuerkennen, was ich als Sockel der Stäbchen zu be-
zeichnen haben werde.
Auch W. Keferstein‘) hat sich gelegentlich mit dem Heteropodenauge be-
schäftigt, doch sind seine Beiträge zur Kenntniss desselben ziemlich geringfügig. Im
(ranzen ‘verhält er sich mehr als Referent über die Arbeiten seiner Vorgänger, wie
es für den Character des Werkes, in welchem er seine Untersuchungen niederlegte,
begreiflich ist, und scheint nur flüchtig (an Z7ro/ordes hauptsächlich) ihre Angaben
einer Prüfung unterzogen zu haben, und auch das nur, soweit es ohne Zerlegung
des Auges, bei Betrachtung desselben in toto, möglich war. Ich halte eine ein-
gehendere Besprechung deshalb hier nieht für nöthig. Nur die eine Bemerkung am
Schlusse seiner Beschreibung möchte ich hier erwähnen, nämlich dass alle wesent-
lichen Theile des Wirbelthierauges im Heteropodenauge sich finden sollen (1. ec. pag. 326),
eine Ansicht, die schon damals schwerlich gutgeheissen werden konnte.
Von den bisher erwähnten Autoren haben, mit einziger Ausnahme von
A. Krohn, alle des Auges der Heteropoden nur insofern gedacht, als ihnen dasselbe
bei der Untersuchung der Gesammtorganisation dieser Thiere als integrirender Be-
standtheil des Thhierkörpers sich darbot. So hoch wir im Allgemeinen die Arbeiten
jener Forscher für die Kenntniss der Organisation der Kielfüsser auch anzuschlagen
haben, so dürfen wir doch wohl der Ansicht Ausdruck geben, dass das Sehorgan in
solchen allgemeinen Darstellungen nur selten zu seinem Rechte kommt, weil bei
der Ueberfülle zu lösender Fragen derartige ganz specielle leicht in den Hintergrund
gedrängt werden.
Anders sieht es mit dem nächsten Autor aus, mit V. Hensen**), dessen Unter-
suchung des Heteropodenauges weitaus die eingehendste und beste ist, über die wir
z. Z. verfügen. Sie erstreckt sich ebensowohl auf die allgemeinen Verhältnisse der
*) Bronn’s Classen und Ordnungen des Thierreichs. III. 2. 1862—66 p.824 Taf. LXIX Fig. 3.
**, V. Hensen, Ueber das Auge einiger Cephalopoden in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XV. 1865
pag. 155 (Heteropoden: pag. 211—217, Taf. XX, XXI Fig. 85—92).
2*
12
Form, der Musculatur, der Lage ete., wie auf die speciellsten Einzelheiten des innern
jaues [seiner Componenten und Regionen. Eine eingehende Analyse, wie ich sie
von den frühern Autoren wenigstens für die hier am meisten in Betracht kommenden
Abschnitte ihrer Schilderungen des Baues gegeben habe, soll hier noch nicht erfolgen:
ich bin ohnehin genöthigt, auf Hensen Schritt für Schritt wieder im Einzelnen zurück-
zukommen, wenn ich meine eigenen Resultate vorlege, und darf deshalb schon hier
im Voraus auf jene Gegenüberstellung hinweisen. — Ich bin zwar auch in dieser
Arbeit in der Lage, gegen eine Reihe von Angaben Hensen’s Widerspruch erheben
zu müssen, da sein wohl nur mittelmässig erhaltenes Untersuchungsmaterial eine
Reihe von Structureigenthümlichkeiten nicht gewahren liess, welche unsere jetzigen
Hülfsmittel uns mit voller Sicherheit zu demonstriren erlauben. So hat z. B. — um
nur Eines hervorzuheben — auch Hensen die wahren Stäbchen, die voraussichtlich
in seinen Objecten zerstört oder doch unkenntlich geworden waren, nicht gesehen;
was er dafür hält, gehört, ebenso wie es wohl bei Leuckart und Gegenbaur der
Fall war, zu einem ganz andern Abschnitt der Retinazellen. Doch behalte ich mir.
wie gesagt, ein näheres Eingehen auf alle die Einzelheiten sowohl meiner Zustimmung
wie meines Einspruchs auf die speciellen Fälle vor; es wird sich dort am besten
herausstellen, wie eindringend Hensen ein relativ sprödes und undankbares Material
auszunutzen verstand, und wie hoch seine Arbeit über die seiner Vorgänger hervorragt.
In dem eitirten Aufsatze Hensen’s treten die- vergleichenden Momente hin-
sichtlieh der Beziehungen des Heteropodenauges zu denen der Cephalopoden und der
Gasteropoden i. e. S. vor der eigentlich anatomischen Darstellung etwas in den Hinter-
grund, ohne indessen völlig zu fehlen. In einem späteren, der Schilderung eines
höher entwickelten Typus des Gasteropodenauges gewidmeten Artikel*) führt er seine
Ansiehten über die zwischen jenen Augenformen bestehenden Homologieen aus-
führlich vor.
Die letzte hier zu erwähnende Arbeit über unseren Gegenstand ist der be-
kannte Aufsatz von M. Schultze*), mit dem ich mich schon in der ersten dieser
Abhandlungen eingehender zu beschäftigen hatte. Das ganze Auge, oder auch nur
die Retina im Ganzen zu behandeln, lag wohl ausserhalb der Absichten des Verfassers;
seine Untersuchungen beschränken sich fast ausschliesslich auf die Stäbchen und
ihre nächsten Annexe. Das Verdienst der Untersuchung, um es kurz auszudrücken,
*, V. Hensen, Ueber den Bau des Schneekenauges und über die Entwickelung der Augen-
theile in der Thierreihe in: M. Schulze’s Arch. f. mikr. Anat. Vol. II 1866 pag. 399—429.
**) M. Schultze, Die Stäbehen in der Retina der Cephalopoden und Heteropoden in: Arch. f.
mikr. Anat. Vol. V 1869 pag. 1 (für die Heteropoden pag. 18—22 Taf. Il).
besteht einfach darin, dass M. Schultze der Erste ist, welcher wirklich die Stäbehen
unzweifelhaft gesehen hat; und zwar ist er der Erste, ohne es zu wissen oder zu
ahnen. Ferner hat er die Plättchenstructur der Stäbchen, ebenso wie bei den Cepha-
lopoden, im Einzelnen beschrieben. Das ist aber auch Alles, denn was er sonst über
das speciellere Verhalten der Stäbehen, wie der „Stäbchenfasern“ zu ihnen mittheilt,
beweist nur, wie ihn die so überschwänglich gepriesene Methode der Beschränkung
der Untersuchung auf frisches Material im Stiche gelassen und in ein wahres Ge-
webe irriger Ansichten verflochten hat. Auch darauf wird erst später ausführlicher
eingegangen werden können.
Damit habe ich die Uebersicht der früheren selbständigen Untersuchungen
über das Heteropodenauge, wenigstens soweit ich von ihnen Kunde erhalten habe.
erschöpft. Auf den angeführten Arbeiten fussen auch die zusammenfassenden Dar-
stellungen in Sammelwerken, von denen ich hier nur auf das von Graefe und
Sämisch herausgegebene „Handbuch der gesammten Augenheilkunde“, in welchem
R. Leuekart‘) die Organologie des Auges bearbeitet hat; auf H. Milne-Edwards
„Lecons sur la physiologie et l’anatomie comparde ete.“**), auf J. Chatin „Organes
des Sens dans la serie anijmale“ **); endlich auf das kürzlich erschienene Werk von
J. Carriere, „Die Sehorgane der T'hiere“}) hinweisen möchte In allen den ge-
nannten Werken fällt der unverhältnissmässig geringe Raum auf, welcher dem Hetero-
podenauge im Verhältniss zu anderen Augen zugetheilt ist; am eclatantesten ist dies
bei Carriere, wo dem Gasteropodenauge mehr Seiten (21) als dem Heteropodenauge
Zeilen (15) gewidmet sind. Chatin erklärt unser Auge für „infiniment plus simple
que celui des Gasteropodes“ — gewiss hat er nicht nur keine selbständige Bekannt-
schaft mit dem Organ gemacht, sondern er scheint auch der Literatur darüber fremd
geblieben zu sein — obgleich er reichlich eitirt, sogar Autoren, die nieht darüber
geschrieben haben.
In der nun folgenden Darlegung meiner eigenen Untersuchungsergebnisse
werde ich nun den Nachweis zu führen haben, «dass das Heteropodenauge als eines
der seltsamsten und eigenartigsten Organe seiner Categorie in der ganzen 'T'hierreihe
(dasteht, und durch seine in mehr als einer Hinsicht ganz exceptionelle Stellung eine
solche aphoristische Behandlungsweise nicht verdient.
*) 1. e. Bd. II Cap. VII, pag. 145—301 (Heteropoden pag. 288).
**) ]. ec. Vol. XII 1876—77 pag. 231.
"e*) Paris 1880 pag. 637—39.
j) München und Leipzig 1885 pag. 21.
1. Allgemeine Uebersicht des Baues.
Die Form- und Grössenverhältnisse des Heteropodenauges, speciell desjenigen
der Pferotrachea coronata, können wir mit wenigen Worten behandeln. Unter den
verschieden, immer aber eigenthümlich gestalteten Augen der bekannten Heteropoden
nehmen die der genannten Form in sofern eine vermittelnde Stellung ein, als die
Abweichungen von der typischen Augengestalt, der Kugel oder dem Sphäroid, hier
nicht jenen extremen Grad erreichen, wie bei vielen andern. Will man seine Gestalt
als eine im Ganzen eylindrische bezeichnen, so wäre hinzuzufügen, dass diese Be-
zeiehnung nur im sofern Berechtigung hat, als sie den Antheil der mittleren, den
Glaskörper umschliessenden Region an der Gesammtform, der hier sich mehr geltend
macht, als bei den Verwandten, mehr in den Vordergrund treten lässt. Diesem
übrigens nach hinten keilförmig comprimirten Cylinder sitzt nach vorn ein durch die
Cornea (Co, Fig. 1, Taf. I) gebildetes, den Cylinder selbst an Durchmesser über-
treffendes und ellipsoidisch gestaltetes; nach hinten aber ein etwa mit einem ver-
bogenen Kahn, der einen stark hervortretenden Kiel (Ca, Fig. 1—3) trägt, vergleich-
bares Stück an; des letzteren wichtigster Bestandtheil ist die Retina. Am Kiele
inserirt sich der Nervus optieus (N. op. Fig. 1—3).
Den von mir in den Fig. 1—3 gegebenen Abbildungen liegen linke Augen
zu Grunde. Dieselben konnten nicht in völlig unverletztem Zustande wiedergegeben
werden, da bei der Präparation immer die Cornea einriss; in Fig. 1 ist der Umfang
derselben, wie er sich vor der Isolation aus der umschliessenden Gallerte etwa er-
kennen lässt, durch die Umrisslinie (Co) angedeutet; die nach der Freilegung noch
erhaltenen zipfelförmigen Ueberreste derselben sind mit Co‘ bezeiehnet. — Wenn
ich die Fig. 1 als Dorsal-, Fig. 2 als Ventral- und Fig 3 als (äussere) Lateral-Ansicht
bezeichne, so darf ich das wohl für das isolirte Auge; für das Organ in situ würden
jene Bezeichnungen in sofern nicht völlig zutreffen, als die Axe desselben nicht ganz
parallel mit der Körperaxe verläuft und ebensowenig die Ebene, in welehe der Kiel
etwa fällt, mit der horizontalen Schnittebene des T'hieres zusammentrifft. Doch ist
dies für uns Nebensache; jene Bezeichnungsweise erklärt völlig verständlich, was
damit gemeint ist, und das mag zu ihrer Rechtfertigung genügen.
Diese Abbildungen sind nur nach schwachen Vergrösserungen, sowie nach
Exemplaren mittlerer Grösse gezeichnet; die Länge der Augen, exclusive Üornea,
15 —
betrug bei dem Durchschnitt meines Untersuchungsmateriales ca. 2—2,5 mm, selten
(darüber, blieb also um ein Namhaftes hinter den von Leuckart (s. ob.) dafür an-
gegebenen Dimensionen zurück. Auf eine specielle Beschreibung derselben einzu-
sehen, halte ich, da die frühern Darstellungen eingehend genug sind, hier für über-
flüssig: nur über die eigenthümliche Pigmentvertheilung dürften einige Bemerkungen
am Platze sein, obschen auch diese, namentlich durch Hensen, schon ausführlich
beschrieben wurde. Dieselbe hilft nämlich nicht unwesentlich zur Erleichterung der
Örientirung am Auge, wie eine Vergleichung der Fig. 4 (Taf. I) mit den ersten drei
Zeichnungen zur Genüge darthut. Bei dieser Abbildung, welche einem Schnitt in
der Ebene des Papiers durch Fig. 3 entsprechen würde, ist fast der gesammte Glas-
körper (@. Ä.), sowie der hintere Rand der Linse (Z.) nebst ihrer unmittelbaren Um-
gebung noch dargestellt, so dass die wesentlichen Theile alle ausser der Cornea
noch in ihren topographischen Verhältnissen übersehen werden können. Die in der
Fig. 4 am rechten, mit /) bezeichneten Rande vom Schnitte getroffenen Theile ent-
sprechen der Ansicht in Fig. 1, sind also dorsal; umgekehrt die des linken Randes
(F) der Fig. 2, der Ansicht von der Unterseite. Die Buchstaben a—c correspondiren
in allen vier Figuren in der Art, dass sie immer dieselben Dinge bezeichnen; die
dorsal auftretenden sind aber durch einen Index (a'-—c‘) von den ventral auftretenden
(@—.c) unterschieden.
Für die erste Orientirung über die Lage eines isolirten Auges war mir häufig
ein Muskel nützlich, der einzige, der mit einer gewissen Regelmässigkeit mit seiner
Insertionshälfte am Auge selbst sich zu erhalten pflegte. Es ist ein kleiner dorsaler
Retractor (2. retr. Fig. 1, 3, 4), dessen Lage aus den Abbildungen ersehen werden mag.
Der mittlere Abschnitt des Auges, der Theil, welcher hauptsächlich vom Glas-
körper erfüllt wird, ist es besonders, welcher durch die seltsame Abwechselung pig-
mentirter und pigmentfreier Stellen auffällt. Von der scharf markirten Ringlinie an,
welche die Abgrenzung der Cornea von der früher als Selerotica bezeichneten um-
hüllenden Membran des Auges bildet, nach hinten ist die Augenwandung auf ihrer
Innenseite mit bald dichter bald sparsamer angehäuftem Pigment imprägnirt; nur in
einem nicht völlig geschlossenen Ring von sehr wechselnder Breite an verschiedenen
Stellen, dem sog. „Fenster“, fehlt es vollständig. Dieses Fenster beginnt (Fig. 1) auf
der Dorsalseite des Augenmantels ungefähr da, wo der Schnabel des Kiels sich schräg
gegen diesen Mantel zurückkrümmt; seine vordere Begrenzung bildet gleich einen
mächtigen Bogen nach vorn (a, «‘), so dass sie in der Mittellinie der dorsalen Augen-
tläche fast an die Cornea-Einschnürung heranreicht; in ihrem weitern Verlauf gegen
16
der lateralen Rand zu geht sie wieder weit zurück (Fig. 3), um sich, auf der Unter-
seite des Auges angekommen, noch einmal bogenförmig, aber nicht so weit wie auf
der dorsalen Seite, nach vorn auszubuchten (Fig. 2), bevor sie sich wieder zum
Schnabel des Kiels hinwendet. — Einfacher ist die hintere Begrenzung des Fensters
(c, ce Fig. 1-3); sie folgt im Allgemeinen den etwas unregelmässigen Umrissen des
kahnförmigen Augengrundes.
Die dorsale Seite des Fensters ist durch eine dunkle, schmale, intensiv pig-
mentirte Linie, die Sirra opaca (Hensen) (6, 6‘) ausgezeichnet. Sie entspringt in dem
Winkel des Fensters unweit des Kielschnabels, läuft in einem mässig nach vorn ge-
schwungenen Bogen gegen den lateralen Rand hin, über den sie noch ein wenig
hinüberzugreifen pfleet, um dann frei zu endigen. Dicht hinter ihr, etwa in ihrer
Mitte, inserirt sich der oben erwähnte Retraetor. — Die Stria bildet an conservirtem
Material meist einen etwas leistenartig vorspringenden Rand (Fig. 3, 4, 6’); es ist aber
nicht unmöglich, dass derselbe lediglich als das Resultat eines Schrumpfungsprocesses
des Augeninhalts, dem die Hülle an nachsgiebigeren Stellen folgt, aufzufassen ist,
dessen Veranlassung in den Härtungsproceduren zu suchen wäre. Ob auch die dureh
etwas stärkere Pigmentirung ausgezeichneten, von der Vereinigungsstelle des Kiel-
schnabels mit der Mantelfläche des Auges ausgehenden, ziemlich radiär über den
Mantel ausstrahlenden Falten (Fig. 1, 2) demselben Umstand ihre Entstehung ver-
danken, wage ich nicht zu entscheiden. Auch über ein nur auf der ventralen Seite
beobachtetes Gebilde, eime Art brückenartiger Verbindung von wechselnder Gestalt
zwischen dem Schnabel des Kiels und dem Körper des Auges (Fig. 2, bei *) bin ich
nicht im Stande zu sagen, ob es als ein natürliches oder als ein Kunstprodukt auf-
zufassen sei. — Im Uebrigen kommen, bei aller Constanz in der Anordnung im
Ganzen, bei den verschiedenen Fiıxemplaren mancherlei kleine Abweichungen hin-
sichtlich der Configuration und Ausdehnung des Fensters ete. vor. auf die aber ein-
zugehen nicht der Mühe lohnt.
Wie schon Hensen bemerkte, ist die Wandung des Auges an den auch
äusserlich sich so verschieden präsentirenden Stellen auch von verschiedener Be-
schaffenheit. Fig. 4 giebt uns (bei schwacher Vergrösserung) einen Begriff davon,
wenigstens soweit es für unsere unmittelbaren Zwecke erforderlich ist. Oberhalb «
(am linken, ventralen Schnittrand) und a’ (am rechten dorsalen), also vor dem Fenster,
besteht die Augenkapsel aus einer derbfaserigen Membran, auf welcher innen die
ganz niedrigen schwarz pigmentirten Fpithelzellen aufliegen. Diese fibröse Membran,
für die nach ihrem Bau also der Ausdruck „Selerotica* eine gewisse Berechtigung
hätte, wenn seine Anwendung sich nicht aus allgemeinen Gründen verböte, setzt sich
in die Cornea fort, wie das Epithel gleichzeitig auf die Innenseite der letzteren, natürlich
unter Verlust des Pigmentes. Von a und a’ ab nach hinten besteht die Augenkapsel
aus einer structurlosen Cuticula von mässiger Dicke (C der Figuren), auf welcher
sparsamere oder gehäufte Kerne äusserlich wahrgenommen werden. Ueber die Be-
ziehungen dieser Cuticula zu der fibrösen Membran, zwischen deren Fasern übrigens
Kerne eingestreut liegen, kann ich leider keine Auskunft geben. Die Cuticula selbst
umhüllt den Rest des Auges allenthalben gleichmässig, zieht auch über den Kiel (die
Carina, Ca.) hinweg, und lässt sich noch auf den Opticus verfolgen. Die Epithel-
zellen, die sie inwendig trägt, sind eine Fortsetzung des erwähnten pigmentirten
Plasterepithels aus der Umgebung der Linse, aber sie wandeln ihren Charakter in-
sofern um, als aus ihnen theils pigmentfreie, theils pigmentirte Cylinderepithelien von
verschiedener Länge des Zellkörpers werden, von andern Modificationen vorläufig ganz
abgesehen. Am vordern Rande des Fensters (bei a, a‘) beginnen niedrige, nach hinten
rasch wachsende Epithelzellen ohne Pigment; auf der Dorsalseite zeigt die Stria eine
schmale, aber nach innen relativ stark vorspringende Verdiekung (Fig. 4, 6), aus
pigmentirten Zellen gebildet, hinter welcher (zwischen 2° und c‘) wieder viel dünnere
und pigmentfreie Partieen gelegen sind.
In Fig. 4 sind mit c und c‘ diejenigen Punkte bezeichnet, über welche nach
vorn hinaus meine eingehendere Schilderung sich nicht erstreeken wird. Die nach
hinten darauf folgende, beim ersten Anblick ihrem Wesen nach nicht von den vorderen
epithelialen Partieen abweichende Region ist pigmentirt, und zwar vorn stärker als
mehr gegen die Retina zu; Hensen hat sie als Costae unterschieden, und trennt eine
Costa superior von einer inferior jederseits, wozu mir eigentlich kein genügender
Grund vorhanden zu sein scheint. In dieser Region liegen, ausser den langgestreckten
Pigmentzellen, noch andere sehr merkwürdige zellige Elemente (Z, Z°) eingelagert,
mit denen wir uns später eingehender zu beschäftigen haben werden; hier sei nur
vorläufig bemerkt, dass sie auf der Dorsalseite weit weniger entwickelt sind, als auf
der ventralen. — Ueber diese Costalregion hinaus nach hinten verdiekt sich die
Augenwand ganz bedeutend, plötzlich auf der Dorsalseite, mehr allmählig auf der
ventralen (Fig. 4, 5); die Costalzellen der ventralen Seite wachsen nämlich nach
hinten gegen die Retina zu nach und nach um etwa das 1';fache ihrer Länge,
während umgekehrt die bei c’ ansehnlich langen dorsalen Costalzellen nach hinten
zu sich etwa auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge verkürzen, wodurch der
Uebergang in die Retina ein viel plötzlicherer wird. — Auch dies ist Hensen nicht
Abhancl. d. naturf. Ges. zu Halle, Bd. XVII. B3
|
N
[0 6)
entgangen, obgleich seine Zeichnung (l. e. Taf. XXI, Fig. 90) die Uebergänge nament-
lieh der dorsalen Seite weniger scharf ind ausgeprägt darstellt, als ich sie immer
finde. Der hintere Costalrand bildet auch zugleich die Grenze für den Glaskörper.
In direetem Anschluss an die Costalregion folgt die Retina (%, Fig. 4) mit
ihrem Zubehör verschiedener Art; auf sie passt vorzugsweise oder fast allein der
Vergleich mit einem Kahn, dessen Kiel (Ca) freilich nicht in der Mittelebene
liegt, sondern gegen die Dorsalseite hin verbogen erscheint (Fig. 4, 5). Die Höhlung
dieses Kahnes ist aber angefüllt bis zu den Rändern hinauf; theils sind es bestimmte
Abschnitte der Retinazellen, die wir, nach Analogie, oder, besser gesagt, Homologie
mit der Retina der Cephalopoden als Sockel (ScA.) bezeichnen wollen, theils sind
es die von diesen gebildeten Stäbehen (S2). Ueberdeckt wird die ganze Uavität
nebst ihrer Ausfüllung von einem membranösen Gebilde, der Membrana limitans
(Zin.), die zu Elementen, welche zwischen den Retinazellen eingestreut liegen, in
genetischer Beziehung steht. Um, oder correeter zwischen den äussern Enden der
Retinazellen ziehen sich die Fasern des Optieus (/. /.) nach oben, sogar über die
Retina hinaus bis zum Rande (c, c‘) der Oostalregion.
Gedenke ich hier noch der unweit der Insertion des Kiels nesterweise ein-
gestreuten Haufen von Ganglienzellen (Gazg.), so habe ich die wesentlichsten
Bestandtheile des Augenhintergrundes aufgeführt; einige mehr untergeordnete, an dem
gesammten Aufbau nur in geringfügiger Weise betheiligte können wiı füglich noch
zurücktreten lassen.
2. Die Retina.
Hinsichtlich der Auffassung der Heteropoden-Retina als Ganzes darf ich wohl
die Bemerkung vorausschicken, dass für ihre Beurtheilung für mich die gleichen
Gesichtspunkte maassgebend geblieben sind, wie ich ‚sie bisher immer, namentlich
auch in der ersten dieser Abhandlungen für die Retina der Cephalopoden vertreten
habe. Ich lege also besonderen Nachdruck auf ihren Charakter als Sinnes-Epithel,
und scheide das nicht im strengsten Sinne unter diese Rubrik zu bringende von ihr aus.
Im Allgemeinen finden wir die Retinae in Augen mit Bildprojeetion — Camera-
obseura- Augen, wie Carriere sie neuerdings genannt hat — in Gestalt grösserer
oder kleinerer Abschnitte von Kugelflächen, auf welche durch die brechenden Medien
das Bild wie auf einem Schirm entworfen wird. Legen wir nun durch den Mittel-
punkt einer solehen Retina, und senkrecht auf sie, Ebenen, so enthalten diese die
optische Hauptaxe; solche Ebenen, in beliebigen Winkeln um die optische Hauptaxe
19 =
gedreht, schneiden dann die Fläche der Retina in Kreisabschnitten, deren Krümmung
man als die gleiche ansehen kann. Dies gilt natürlich nur für das ideale Schema,
dem die Wirklichkeit schwerlich irgendwo völlig entsprechen dürfte.
Sehr auffallend weicht in dieser Beziehung die Retina der Heteropoden, d.h.
der Gattung /erotrachea, vom Schema ab, obschon hier kein Zweifel hinsichtlich der
Natur ihrer Augen als Uamera-obseura-Augen Platz greifen kann. Zunächst über-
wiegt bei ihr die eine Dimension ihrer Flächenentwickelung die andere in ganz er-
heblichem Maasse — wie sehr, kann uns ein Blick auf Fig. 6 (Taf. I) lehren,
welche die Limitans, die in ihrer ganzen Fläche der Retinaoberfläche conforme
Deckplatte derselben, vorstellt. Dieses Uebergewicht der Länge, gemessen in der
Richtung des Kiels, über die Breite ist aber bloss eine Seite, und zwar die unter-
geordnetere; mehr ins Gewicht fallen die fast ebensogrossen Differenzen in den
Krümmungen der beiden Dimensionen. Die Krümmung der Retina ihrer Länge
nach ist es allein, die man als durch die Bedingungen der Bildprojeetion auf einen
empfindenden Hintergrund veranlasst betrachten darf; diejenige in der Richtung senk-
recht auf die Länge, also der Quere nach, steht sicherlich damit in keinem Zu-
sammenhang, da sie für die Aequidistanz der Netzhautelemente vom optischen Mittel-
punkte des dioptrischen Systems nicht in Betracht kommt. Von der auffallenden
Ungleichheit der Krümmungen der Retina in diesen beiden Richtungen geben die
Figuren 1 und 2, verglichen mit Fig.5 oder 8 einen ungefähren Begriff; in den
ersteren ist zwar die Netzhaut nicht als solche angegeben, aber wenn man weiss,
dass sie zwischen dem Kiel und der Pigmentzone c, c‘, beiden nahezu parallel, gelegen
ist, so ergiebt sich eine Lage des zu diesem Bogen gehörigen Centrums in einer weit
vor der Retina selbst gelegenen Gegend, etwa in der Nähe der hinteren Grenzfläche
der Linse. Messen wir aber die Krümmung der Retina auf den Querschnitten der
Fig. 4,5 oder 8, am zweckmässigsten nach der Pigmentzone, so liegt der Krümmungs-
mittelpunkt etwa in der Ebene der Membrana limitans (Zz.). Einer oberflächlichen
Schätzung nach (genauere Messungen darüber habe ich nicht angestellt) verhalten
sich die beiden Krümmungsradien zu einander etwa wie 1:8—10, es ergiebt sich
also ein Missverhältniss ganz auffallender Art. Die Retina ist demnach, was ihre
Biegung anbelangt, füglich mit einer Rinne zu vergleichen, was in der Thierwelt,
soviel mir wenigstens bekannt, kaum ein Analogon finden dürfte. — Diese Krümmungs-
verhältnisse berühren indessen die Projeetion von Bildern ausserhalb des Auges
gelegener Objecte auf die Retina nicht entfernt so, wie man wohl vermuthen
könnte; der Einfluss der Rinnenform ist sogut wie vollständig eompensirt durch
gr
den Umstand, dass die Rinne selbst die pereipirenden Elemente enthält, deren Niveau
mit den Rändern der Rinne ziemlich eben abschneidet (vgl. die Querschnitte
Fig. 4, 5, 8).
Gehen wir nun zur Besprechung des Baues der Retina im Einzelnen über,
so wäre die Bemerkung vorauszuschicken, dass meine Abbildungen nur zwei von
den drei möglichen Schnittrichtungen darstellen. Die Figuren 5, 8 und 9 stellen die
Retina dar auf Längsschnitten durch das Auge, und zwar senkrecht auf der Ebene
des Kieles. Längsschnitte parallel der Ebene des Kieles habe ich zwar ebenfalls
hergestellt, sie aber zur bildlichen- Wiedergabe nicht instruetiv genug gefunden. Die
ersterwähnten laufen annähernd sagittal; ich werde sie künftig einfach als Quer-
schnitte (sc. durch die Retina) bezeichnen. Nicht minder instructiv als diese sind
die Querschnitte durch das Auge im Niveau der Retina; sie laufen im Allgemeinen
dem Kiel parallel, und demnach annähernd frontal. Sie werden im Folgenden als
Flächenschnitte durch die Retina besprochen werden.
Querschnitte durch die Retina (Fig. 5, 8, 9 Taf. I) zeigen uns, dass dieselbe,
und zwar in ihrer ganzen Länge, in zwei durch eine Spalte (A. 5?.) getrennte Hälften
zerfällt, eine etwas grössere ventrale und eine kleinere dorsale. Die Retinaspalte
setzt sich durch die ganze Tiefe der Retina, von der Limitans bis beinahe zur Lage
der Optieusfasern, fort; sie theilt also auch die Stäbchen in zwei Gruppen, welche
sich verschieden verhalten (Taf. I Fig. 5, 57). Die Stäbchen sind nämlich in Reihen
gestellt, und es finden sich bei den Pterotracheen sechs solcher Reihen, von denen vier
(1-4 Fig. 5, 8) zur ventralen, zwei (5, 6) zur dorsalen Hälfte gehören. Die dorsalen
und ventralen Stäbchen unterscheiden sich aber abgesehen von diesen numerischen Ver-
hältnissen auch dadurch von einander, dass sie ihre freien Ränder einander entgegen-
kehren. So hat diese Retinaspalte also eine gewisse Bedeutung. Ob sie im lebenden
Auge freilich als wirkliche Spalte von Dimensionen wie in meinem conservirten
Material auftritt, ist eine Frage, die ich wegen einer Reihe von Befunden, wie Fig. S
bei den Stäbehenreihen 4 und 5, die bis zur Berührung mit ihren freien Rändern
einander angenähert sind (so fand ich es auch immer bei /%. mutica) eher verneinen
als bejahen möchte. — Die hier beschriebene Halbirung der Retina erinnert mich
unwillkürlich an die schon vor Jahren von mir geschilderte Theilung der Retina im
grossen Stemma der Larve von Acılus swlcatus*); selbstverständlich handelt es sich
hier nur um eine recht oberflächliche Analogie.
*) Untersuchungen üb. d. Sehorgan der Artlıropoden. Göttingen 1879. pag. 32 Taf. I Fig. 4.
Die Retina selbst besteht aus einer einfachen Lage von Retinazellen (A. Z.
der Figuren) sensorischer Function, zwischen welchen allerdings noch andere Ele-
mente, denen eine derartige Funetion nicht zugeschrieben werden kann, eingestreut
sind. Jene ersteren sind hinsichtlich .der Complieation des Baues den letzteren weit
überlegen; diese Complication aber entspricht im Wesentlichen völlig derjenigen,
welche ich für die Elemente der Cephalopodenretina beschrieben habe. Alle hetina-
zellen zeichnen sich durch eine zu der Längsaxe der Netzhaut radiäre Stellung aus
(vgl. bes. Fig. 5); während die den Grund der Retina bildenden, der Spalte genähert
liegenden einen im Ganzen ziemlich geradlinig nach vorn gerichteten Verlauf zeigen,
krümmen sich die nach den Seitenrändern hin auf sie folgenden, je weiter nach vorn
um so mehr, bis endlich die an die costale Pigmentregion anstossenden einen S-förmig
gekrümmten Doppelbogen beschreiben. Immer aber ist der vorderste (oder innerste),
der Liehtwirkung ausgesetzte, also auch an der Stäbehenbildung betheiligte Abschnitt
im Ganzen nach vorn gerichtet, wie am besten aus den Zeichnungen ersichtlich ist.
Wie bei den Cephalopoden zerfallen auch hier die Retinazellen im engern
Sinne in Regionen von verschiedenem Habitus, welche Verschiedenheit so weit geht,
dass man bei weniger genauer Betrachtung leicht ebensoviele selbständige, von ein-
ander morphologisch völlig unabhängige Schichten zu unterscheiden versucht sein
könnte. Ich bezeichne sie im Anschluss an meine erste Abhandlung als a) kern-
führende Region der Retinazellen (A. Z); b) Region der Stäbchensockel (Sr%.),
und c) Stäbehenregion (S2.).
Von diesen ist die erstgenannte die am meisten nach aussen liegende; sie bildet
die eigentliche eompacte Masse der Retina und bedingt deren Rinnenform. Sie ist
anscheinend scharf von der Sockelregion abgegrenzt; diese Abgrenzung wird hier
ebenso wie bei den Cephalopoden durch eine besondere Bildung markirt, die Grenz-
membran (Gr. Fig. 9), wozu sich noch eine Anhäufung von Pigment gesellt, welches,
wenn unzerstört, jene Membran fast völlig verdeckt. Auch bei den Heteropoden ist
die Grenzmembran nur auf Querschnitten- als eine Linie von nicht mehr messbarer
Dicke wahrnehmbar, und von relativ grossen und vor Allem äusserst dicht gedrängt
stehenden Oeffnungen durchbohrt, dureh welche die kernführende Region mit derjenigen
der Sockel in Verbindung steht. Auf Schnitten parallel ihrem Verlauf ist es mir
hier ebensowenig wie bei den Cephalopoden gelungen, etwas von ihr zu Gesicht zu
bekommen; dazu ist sie zu zart und durchsichtig. Nur da, wo sie die Retinaspalte
quer durchsetzt (Fig. 9), zeigt sie sich einigermaassen deutlich als Membran; zwischen
den Retinazellen selbst tritt sie uns höchstens in Gestalt von zarten Pünktchen ent-
gegen — den Querschnitten der winzigen, in der gleichen Ebene liegenden Bälkchen,
aus denen sie hier lediglich besteht.
a) Die kernführende Region der Retinazellen (AR. Z. der Figuren).
Der kernführende Theil der Retinazellen besitzt eine langkonische Gestalt,
seine Basis ist nach aussen gegen die Cutieula hin gerichtet, und dieht über ihr findet
sich der grosse kugelige oder etwas ovale Kern. Die fast durchweg gleichmässige
Form dieses Abschnittes erleidet gewöhnlich nur in der unmittelbaren Umgebung der
Retinaspalte gewisse Modifieationen: die Retinazellen sind da meist kürzer als an
andern Stellen, dafür aber — besonders in der Höhe des Kernes — erheblich dicker,
so dass sie fast die Gestalt eines bauchigen Kruges annehmen können (Fig. 9).
Am innern, der Grenzmembran anliegenden Ende besitzen sie eine räumlich
geringe, aber nieht scharf umschriebene Anhäufung von körnigem tiefbraunem Pigment,
das nur an wenigen Stellen in zerstreuten Körnerzügen durch die Löcher der Grenz-
membran hindurch bis in die Sockelregion hineinzuziehen pflegt (Fig. 5).
Zu den in erster Linie bemerkenswerthen Eigenthümlichkeiten dieser Zellregion
dürfte das äussere Ende der Zellen selbst gehören, deren Darstellung die Figuren 16
und 17 (Taf. II), sowie die schematisch gehaltene Figur 18 (ibid.) gewidmet sind.
Auf den ersten Anblick treten sie sowohl an Quer- wie an Flächenschnitten durch
die Retina sehr befremdlich auf, und es ist nicht leicht, die Ansichten, welche die
beiden Sehnittrichtungen ergeben, zu einer zutreffenden Vorstellung mit einander zu
combiniren. Betrachten wir zunächst das einem Flächenschnitt wie Fig. 11% ent-
nommene Bild in Fig. 17 (Taf. II) als das leichter verständliche, so sehen wir die
grössere Mehrzahl der Retinazellen gegen ihr äusseres Ende hin sich gabelig theilen,
wobei die beiden Schenkel Bündel von Nervenfasern (/V. /.) zwischen sich fassen.
Dass diese Gabelung Regel ist, ergiebt die unmittelbare Beobachtung; dass sie aus-
nahmslos vorkomme, möchte ich aber nicht behaupten. Einzelne der Zellen scheinen
vielmehr nur den einen der beiden Schenkel entwickelt zu haben, und dann mit einer
zweiten analog gebildeten gemeinsam ein Bündel Nervenfasern zu umspannen. — Dass
auch von den gewöhnlichen gabelig getheilten auf der Innenseite der Schenkel seeun-
däre Lamellen sich abzweigen, um die grössern Nervenfaseikel in kleinere zu theilen,
habe ich in der Figur angedeutet.
Ganz anders sehen die Schnitte senkrecht auf die Ebene der vorigen aus,
also Querschnitte durch die Retina (Fig. 16 Taf. II). Hier sieht man von dieser
3 ——
Theilung des Zellenendes wenig oder gar nichts; stellt man so ein, dass man das
scheinbare Ende mit voller Deutlichkeit erkennen kann, so zeigt sich dieses, wie in
jener Figur angegeben, als mit leichter Wölbung quer abgeschnitten. Nun treten aber,
besonders beim Heben und Senken des Tubus, Streifen auf, welche augenscheinlich zu
den Zellen gehören, und als ziemlich parallele Büschel durch die nach aussen liegende
Nervenfaserlage (/V. /.) durchtreten, ja die man sogar ohne besondere Schwierigkeit
noch in die äusserste, der Cutieula (C.) dicht anliegende Schicht (Aeze.), von der später
noch die Rede sein wird, verfolgen kann. Diese Streifen, welche ich als Radiculae,
Würzelehen, bezeichnen möchte (Aad. der Figg.), lassen sich beim Heben und Senken
des Tubus an manchen Stellen ganz gut in ihrem Zusammenhang mit dem Zellenleib
nachweisen. und man sieht dann auch, was an der mittleren der fünf in Fig. 16 dar-
gestellten Zellen in etwas gewagter Weise wiederzugeben versucht wurde (wegen der
Projeetion zweier Niveaux in eine Ebene, meine ich), dass zu jedem Streifen eines
der scheinbaren Körnchen gehört, welche bei centraler Einstellung der gewölbten
Innenseite der Membran an der vermeintlichen Endfläche aufliegen. Daraus aber ergiebt
sich, dass diese Körnchen nur die optischen @Querschnitte jener Streifen auf einer
jiegungsstelle sind.
Die Vorstellung, die ich mir demnach von der Natur dieser Enden machen
musste, findet am besten ihren Ausdruck in dem Schema Fig. 18 (Taf. II), das ich
perspectivisch zu halten versucht habe. Dass die beiden Schenkel der Zelle, welche
gleichsam auf dem Nervenbündel reitet, unmittelbar nach ihrem Divergiren noch
eigentliche Lamellen, nicht aber abgeplattete Büschel nebeneinander verlaufender
Fasern sind, möchte ich aus Bildern wie Fig. 17 schliessen; weiter nach aussen aber
machen sie durchaus den Eindruck, als ob sie in einzelne Fasern zerfielen, die sich
noch mehrfach theilen, um sich schliesslich wie Wurzeln mit ihren Enden an die ,
Cutieula, sozusagen als specielle Fixationsorgane, festzusetzen.
Ein zweites Characteristicum von ebenso grosser Bedeutung für diesen Abschnitt
der Retinazelle ist die sehr ausgeprägte Längsstreifung, \lie sich schon bei verhältniss-
mässig geringen Vergrösserungen bemerklich macht. Sie sehen genau aus wie Bündel
relativ grober Fasern, umschlossen von einer ebenfalls ziemlich starken Hülle (der
Zellmembran). Ich habe mich bemüht, die Ursache und den Sitz dieser Erscheinung
näher zu bestimmen, habe aber bei meinem Materiale nicht diejenige Sicherheit er-
halten können, die ich erstrebte. Was ich aber fand, mag in Folgendem auseinander-
gesetzt werden, um wenigstens für spätere Untersucher durch die Möglichkeit einer
' bestimmteren Fragestellung die Wege etwas zu ebnen.
In Ansichten wie Fig. 16 macht die Streifung in der Höhe des Kerns den
Eindruck, als wäre sie eine lediglich auf die Wandschicht der Zelle beschränkte.
Stellt man so ein, dass die Umrisse des Kernes mit voller Schärfe erscheinen, so
verschwindet sie völlig; der Kern selbst erscheint dann umgeben von einer ziemlich
grob granulirten Plasmamasse, die sich nach oben, gegen die Grenzmembran, allmählig
verjüngt, an der Streifung aber nicht partieipirt. @uerschnitte durch die Zelle in
dieser Höhe (Fig. 12 Taf. II) zeigen diese centrale Masse durch klare Zwischenräume
abgetrennt vom Wandbeleg, mit dem sie aber durch eine Anzahl radiärer Stränge
noch in Verbindung steht. In einer gewissen Höhe darüber bieten die Quersehnitte
ein anderes Bild (Fig. 13 Taf. ID; das axiale Plasma ist verschwunden und durch
einen Hohlraum ersetzt; die wandständige Lage dagegen ist bedeutend stärker geworden.
In der Fläche gesehen erkennt man an dieser Gegend schon, dass die Streifung nicht
mehr auf die Mantelfläche der Zelle allein beschränkt ist, sondern sich mehr in das
Innere ausdehnt. — Noch weiter nach oben hat sich die Höhlung völlig geschlossen,
die Zelle ist solide geworden wie Fig. 20 Taf. II zeigt, und erscheint nun von der
Fläche betrachtet durch und durch gestreift. — Nach aussen zu, unterhalb des Kernes,
macht die Streifung noch mehr den Eindruck einer blos oberflächlichen, und ich
möchte hier nochmals auf die Fig. 16 mit ihren optischen Querschnitten der Streifen
in der Einbuchtung der Zelle hinweisen. Diese Streifen aber sind die Radiculae,
resp. lassen sich in diese verfolgen, und so ist es natürlich, dass ich die Streifung
überhaupt mit der Bildung dieser Radieulae in Zusammenhang zu bringen geneigt
bin. Ich denke, ich habe oben schon zur Genüge angedeutet, dass ich die Fasern,
in welehe die Retinazellen terminal zerfallen, nicht wie einige Forscher in solchen
Fällen gethan haben, als Nervenfasern betrachte; die Consequenz ist, dass ich auch
. die fibrilläre Zerklüftung der Retinazelle nicht als eine Andeutung ihres Zerfalls in,
resp. ihrer Zusammensetzung aus feinsten Nervenfibrillen ansehen kann, und also
ganz besonders M. Schultze entgegentreten muss, der diese Interpretation mit be-
sonderem Nachdruck vertrat, obwohl dafür weder ein. logisch zwingendes Moment
noch eine genügende Beweisführung auf der Basis der Thatsachen geltend gemacht
werden konnte. — Ueber meine eigenen Resultate hinsichtlich der Innervation soll
weiter unten gehandelt werden.
b) Die Region der Stäbcehensockel (Sc. der Figuren).
Die Ausfüllung des rinnenförmigen, einerseits von der Grenzmembran, anderer-
seits von der Limitans umschlossenen Hohlraums kommt grösstentheils auf Rechnung
der Stäbcehensockel.e. Wenn ich hier die Bezeichnung „Sockel“ beibehalte, trotzdem
weder ihre Form noch ihre unmittelbare Beziehung zu den Stäbchen die Anwendung
gerade dieses Ausdruckes nahe legt, so geschieht dies nur aus dem Grunde, weil ich
sie als die Homologa der gleichnamigen Gebilde im Uephalopodenauge betrachten muss.
Verglichen mit den kernführenden Abschnitten der Retinazellen sind die Sockel
relativ einfach hinsichtlich ihres Baues. Sie stellen (Fig. 5, 9 [Längsansichten], 14
[Querschnitte bei Sc/.]) längere und kürzere, meist prismatisch comprimirte Körper
dar, die-von der Grenzmembran sich erhebend gegen die Höhlung des Bulbus hin
unter einer mehr oder weniger ausgesprochenen Biegung leicht convergiren. Ihre
Hülle ist viel zarter als die der kernführenden Abschnitte; wie diese letzteren, zeigen
auch sie eine deutliche Längsstreifung, die sich aber auch weit schwächer und feiner
ausprägt, als die an jenen beobachtete. Dass sie direkt aus dem kernführenden "Theil
hervorgehen, nicht etwa selbständige Zellindividuen sind, lässt sich mit voller Sicherheit
nachweisen: einmal sind sie kernlos, und dann lässt sich mit starken Vergrösserungen
an dünnen Schnitten der unmittelbare Uebergang in einander durch die Lücken der
Grenzmembran in unverkennbarer Weise demonstriren.
Etwas complieirter und schwieriger zu interpretiren ist das andere Ende des
Sockels, das an die Stäbchen angrenzende.
Dass die Stäbchen in Längsreihen angeordnet sind, ist schon oben bemerkt
worden. Die Stäbehenreihen theilen nun (auf Querschnitten durch die Retina) die
Sockel in ebensoviele Gruppen, als Reihen vorhanden sind, also ebenfalls sechs.
Zu je einem Stäbehen des Querschnittes gehören sämmtliche hinter ihm
liegende Sockel, die in demselben Querschnitte liegen; in den Figg. 5 und 9
ist die Art ihrer Zusammengehörigkeit besonders deutlich zum Ausdruck gebracht.
Die in der Fig. 5 mit den Ziffern —4 bezeichneten Stäbchen liegen auf der ven-
tralen Seite der Ketinaspalte; sie kehren ihre freien Ränder nach der Dorsalseite,
mit ihren ventralen Rändern sind sie mit den zu ihnen gehörenden Sockelenden ver-
bunden; bei den dorsalen Stäbchen 5 und 6 ist es gerade umgekehrt. Nun laufen
aber Sockel und Stäbchen, wie die Figuren zeigen, nicht mit einander parallel, sondern
sie bilden einen spitzen, nach aussen offenen Winkel mit einander, und so kommt es,
dass die schräg zu den Stäbchen ansteigenden Sockel mit ihren Enden sich über-
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 4
26
einanderlegen; so kommt es ferner, dass die einzelnen Sockel jeder Gruppe in dem-
selben Verhältniss an Länge zunehmen, als sie von der Retinaspalte entfernter liegen.
Ein Blick auf die Figuren, bes. Fig. 9, wird dies deutlicher machen, als die aus-
führlichste Beschreibung es Könnte.
Ob die zwischen den Stäbchenreihen befindlichen Sockel regelmässige und
eonstante Zahlenverhältnisse aufweisen, habe ich nicht constatiren können. Im All-
gemeinen scheinen je etwa 6—8 Sockel mit je einem Stäbehen in Connex zu stehen.
Wie schon oben erwähnt, tritt das Pigment auch aus der kernführenden
Region der Retinazellen heraus, um sich in die Sockel zu verbreiten. Dies geschieht
aber im Ganzen nur in spärlicher Weise, in lockeren Körnchenzügen, die sich be-
sonders am Sockelrande der Stäbchen bemerklich machen, und auch nach der Pigment-
zerstörung dort eine leichte Granulation hinterlassen (Fig. 9). Ob diese Pigment-
vertheilung auf eine Wanderung der Körnchen intra vitam, je nach dem physiolo-
gischen Zustande der pereipirenden Endorgane des Optieus, nach Analogie mit andern
Thieren bezogen werden muss, können natürlich nur Untersuchungen am lebenden
Thiere feststellen.
Zu den Querschnitten durch eine Anzahl Sockel in Fig. 14 habe ich nur zu
bemerken, dass die etwas zu kräftig ausgefallene Punktirung auf die fibrilläre Zer-
klüftung des Inhaltes derselben mit Sicherheit zurückgeführt werden konnte.
c) Die Stäbchen (S7 der Figuren).
Unter den Eigenthümlichkeiten des Heteropodenauges nehmen die Stäbchen
sowohl hinsichtlich ihrer Anordnung wie auch ihres Baues eine besonders hervor-
ragende Stellung ein, und es ist kaum zu viel behauptet, wenn man sie — besonders
in letzterer Beziehung — als die seltsamsten ihrer Art, und in der ganzen T'hierreihe
bis jetzt wenigstens als völlig alleinstehend bezeichnen will.
Die schon mehrfach erwähnte Anordnung der Stäbchen in sechs die ganze
Retina ihrer Länge nach durchsetzenden Reihen findet nicht nur auf Querschnitten
durch dieselbe, sondern womöglich noch prägnanter auf Flächenschnitten ihren Aus-
druck. In Fig. 11% (Taf. II) habe ich ein Stück eines solchen, und zwar von einem
relativ kleinen Auge bei mässiger Vergrösserung abgebildet; wieviel vom ganzen
Schnitte wiedergegeben ist, erkennt man aus einer Vergleichung mit Fig. 11, die
den ganzen Schnitt bei schwacher Vergrösserung wenigstens in den Umrissen und
mit Eintragung der Stäbehenreihen als einfache Linien zeigt. Der Schnitt stammt
aus einem Niveau der Retina, das etwa der halben Stäbehenhöhe entsprechen mag;
27
von den mit den Ziffern 7—6 bezeichneten Stäbehenreihen der Fig. 5 sind nur die
Reihen 2—6 durch den ganzen Schnitt, die mit / bezeichnete dagegen nur an zwei
kürzeren Stellen getroffen worden. Während durch den grössten Theil des Schnittes
hindurch die Reihen annähernd parallel streichen, zeigt sich im obern Theile der
Figur, welcher dem äussern Augenrande entspricht, eine auffallende sozusagen
gegen einen Punkt hin gerichtete Einschnürung derselben, welche sich besonders
stark an den vier ventralen ausspricht. Was die Ursache dieser localen Convergenz
sein mag, ist mir unbekannt geblieben; ieh möchte aber schon hier darauf hinweisen,
dass sie sich auch an der Stäbchenseite der Membrana limitans (Fig. 6, bei **) aus-
prägt. — Ferner zeigen uns derartige Schnitte auch die fast bis zur Berührung
dichte Annäherung der Stäbchen der gleichen Reihen an einander, wodurch jede
Reihe fast das Aussehen der Claviatur eines Pianos erhält: weit grösser sind — mit
Ausnahme der Reihen 7 und 5 — die Distanzen zwischen den Stäbchen verschiedener
Reihen.
In Längsansichten wie auf Querschnitten zeigen die Stäbchen ein starkes
Liehtbreehungsvermögen; die leicht gelbliche Farbe derselben in meinem Materiale
mag Folge der Öonservirungsproceduren sein. Am Limitans-Ende schneiden sie in
allen Reihen so ziemlich im gleichen Niveau ab, während ihre Entwiekelung nach
aussen hin durch den Verlauf der Grenzmembran bestimmt wird. So erhalten die
mittleren Reihen (3—5) gegenüber den mehr randständigen (7, 2, 6) ein Uebergewicht
in der Längsentwickelung, das durch die ganze Retina anhält. Im Ganzen sind die
einzelnen Stäbchen ziemlich geradlinig; eine leichte, bald covexe, bald concave,
Schweifung ihres freien Randes mag zwar im Leben vorhanden sein, scheint mir
aber ebensowohl auf eine leichte Schrumpfung der Weichtheile, namentlich der
Sockel, sich zurückführen zu lassen.
Die Breite der Stäbchen variirt vielfach, im Allgemeinen aber nimmt sie von
der Grenzmembran an, in deren Nähe sie abgerundet endigen, gegen die Limitans
hin stetig zu. Eine plötzliche ganz auffallende Verbreiterung in der Nähe der Limitans
habe ich öfters an den Stäbchen der 7. und der 6. Reihe bemerkt.
Ebenso unterliegt die Dicke der Stäbchen mancherlei Schwankungen an ver-
schiedenen Stellen, durchschnittlich ist sie aber um ein beträchtliches geringer als
die Breite. Ich verweise hierüber auf die Figuren 11%, 14, 15 A—C, wo eine Aus-
wahl verschiedener beobachteter Formen geboten ist.
Die auf Quersehnitten durch die Retina bemerkbare radiäre Convergenz der
Stäbchen der verschiedenen Reihen gegen die brechenden Medien zu dürfte wohl
4*
u 28 e —
mit der Richtung der Lichtstrahlen, von denen sie nach Maassgabe der Brechungs-
indiees und Krümmungen jener Medien durchsetzt werden, in Zusammenhang zu
bringen sein. Eine ähnliche Convergenz zeigen auch Schnitte in der Ebene der
Stäbehenreihen an den beiden Enden.
Sehr stark war bei meinem gesammten Material die Querstreifung oder
Plättchenstructur ausgeprägt, so wie ich sie noch nie bei eonservirten T’hieraugen
zu sehen Gelegenheit hatte. Sie ist schon bei relativ geringen Vergrösserungen
deutlich zu erkennen; aber auch die Anwendung selbst der kräftigsten Objeetive
hat mich nicht wesentlieh über das schon mit Hülfe schwächerer gewonnene hinaus-
geführt, so dass ich der Raumersparniss wegen in Fig. 9 Taf. I eine Wiedergabe
nach einer nur mässigen Vergrösserung wählen konnte. Die Stäbchen bilden dem-
nach eine Säule, aufgebaut aus einer grossen Anzahl von äusserst dünnen Plättchen
von annähernd rechteckiger Gestalt und verschiedener Grösse in den verschiedenen
Höhen der Stäbehen. An den freien Rändern derselben sind sie ganz genau auf-
einandergepasst, und selbst bei conservirtem Material so innig mit einander verlöthet,
dass die Grenzen zwischen ihnen kaum zur Wahrnehmung gelangen. An den Sockel-
rändern aber findet eine bedeutende Lockerung des Zusammenhangs der Plättchen
unter sich statt, die bis zu einer Art Aufblätterung, wie zwischen den Seiten einer
stark zerlesenen Broschüre, zu führen pflegt; ferner wechseln mehr vortretende mit
weniger hervorspringenden Plättehen unregelmässig ab, kurz, der Sockelrand erhält
dadurch ein ganz anderes Aussehen als der freie. Dazu kommt noch gewöhnlich
eine merkliche Verdiekung der hervortretenden Enden der Plättchen, so dass sie bei
der starken Lichtbrechung einen besonders charakteristischen Habitus erhalten. Im
Leben mögen die einzelnen zarten Lamellen wohl weit regelmässiger über einander
geschichtet sein als ich sie hier beschrieben habe.
Für die morphologische Deutung der Stäbchen sind ihre Beziehungen zu den
Soekeln, und damit zu den Retinazellen überhaupt, unbedingt maassgebend. Diese
Beziehungen sind hier derart, dass sie uns die Anerkennung eines Novum, für das
wir meines Wissens wenigstens in den bisher bekannten Augen der Thierwelt kein
Analogon finden, geradezu aufzwingen. Wir kennen, soweit überhaupt nur Stäbchen
im Thierauge vorkommen, die Abhängigkeit derselben von ihren Bildungselementen,
den Retinazellen, als eine allgemeine Erscheinung; wir kennen nicht minder die als
Rhabdome bezeichneten Stäbeheneomplexe, zurückführbar auf eine Anzahl von ein-
fachen, aber ihrer Länge nach innig mit einander vereinigten Einzelstäbehen, zu
denen soviel Retinazellen gehören, als Stäbehen in ihre Bildung eingegangen sind.
Nun machen hier zwar die Stäbchen, abgesehen von ihrer Plättehenstructur, einen
durchaus einheitlichen Eindruck; nirgends verräth uns eine besonders markirte
Trennungslinie eine Zusammensetzung aus mehreren Stücken. Und trotzdem müssen
wir sie als zusammengesetzt betrachten, und zwar als zusammengesetzt aus ebensoviel
Stücken, als Sockelenden mit ihnen in Verbindung treten; die Stücke sind aber in
der Richtung der Stäbchenaxe auf einander geschichtet, und nicht, wie bei den
Rhabdomen, um eine gemeinsame Axe gruppirt. Zeigen letztere, wenn ich so sagen
darf, eine antimerische Anordnung ihrer Componenten, so besitzen die Heteropoden-
stäbehen eine metamerische. Zu den einfachen Stäbehen gewöhnlichen Schlages
aber verhalten sie sich wie eine aus Trommelstücken gebildete zu einer monoli-
thischen Säule.
Diese Deutung mag beanstanden, wer mit den in Bezug auf diese Verhältnisse
angestellten Untersuchungen über die vergleichende Anatomie des Sehorganes nur
eine relativ geringe Vertrautheit besitzt; ihm mag das Fehlen des Nachweises der
Trennungsflächen zwischen den einzelnen Stäbehenstücken von grösserer Bedeutung
scheinen, als mir. Für mich sind aber die Verhältnisse der Sockelenden zu den
Stäbchen von einzig entscheidender Bedeutung.
Ich kenne in der 'T'hierwelt nur ein einziges Beispiel, welches eine gewisse,
aber sehr entfernte, Aehnlichkeit mit den hier geschilderten Verhältnissen aufzuweisen
hat, nämlich das Rhabdom in dem Auge eines Myriapoden, der Seutigera (Cermatia)
araneoides, das ich früher *) ausführlich beschrieben habe. Dort ist nämlich das
Rbabdom der Einzelaugen oben trichterartig und hohl, unten aber solid; die Triehter-
höhlung wird von einer grössern Anzahl Einzelstäbchen ausgekleidet, an welche sich
unten nur wenige anschliessen. Zwischen beiden ist aber eine scharfe Trennungs-
linie nachweisbar, so dass das Rhabdom sich sozusagen aus zwei Etagen aufbaut.
Indem ich wegen des Näheren auf jene Arbeit selbst verweise, glaube ich nicht
nöthig zu haben, die bedeutenden Differenzen zwischen den beiden Fällen erst aus-
führlich ecommentiren zu müssen.
Meine in vorstehenden Zeilen niedergelesten Ansichten über den Bau der
Retina im engern Sinne stehen, wie schon in der historischen Uebersicht bemerkt,
in vielen Punkten mit denen meiner Vorgänger, Hensen und M. Scehultze, in Wider-
spruch — einige nähere Ausführungen mögen zeigen, wie weit dieser geht.
*) H. Grenacher, Ueber die Augen einiger Myriapoden; in Arch. m. mikr. Anatomie. Vol. XVII.
1880. pag. 415—467. Taf. XX—XXI. Vgl. bes. pag. 449 u. ff., Taf. XXI Fig. 15—19.
——
Hensen (l. e. pag. 215) sieht auch die Heteropodenretina für eine geschichtete
an, und er zählt fünf solcher Schichten auf, von denen aber nur zwei mit den Bil-
dungen zusammenfallen, die vorhin ausführlich geschildert wurden. Diese sind: die
Oylinderzellen und die Stäbchen, während seine Sternzellenschicht, Faser-
schicht und die Stäbehenzellen zu besprechen hier noch nicht die Zeit gekommen ist.
Hensen’s Oylinderzellen fallen zusammen mit meinen kernführenden Ab-
schnitten der Retinazellen. Es ist ihm weder die Streifung derselben („sie sehen so
gestrichelt aus, als wenn sie aus lauter parallel nach den Stäbchen zu laufenden
Nervenfibrillen beständen“) entgangen, noch die Bildung der Ausläufer (Radieulae),
die er als feine, zwischen den Nervenbündeln hindurch gegen die Hüllhaut ver-
laufende Fasern beschreibt — freilich ohne sich ganz vergewissern zu können, ob
sie zu den Cylinderzellen gehören oder blos zwischen ihnen liegen. Ihres Aus-
sehens halber hält er sie auch für Nerven (l. e. pag. 216).
Dass seine „homogenen, rundlichen, langgestreekten“ Stäbchen nicht mit meinen
Stäbchen, sondern mit den als Sockel bezeichneten Abschnitten der Retinazellen
identisch sind, ergiebt sieh zur Evidenz aus seinen Figuren 90, 91, 92.2 (Taf. XXD;
seine Bemerkung im Text, dass in der Regel an den Präparaten die meisten der-
selben zerstört waren, namentlich an den äussern Enden, die Fig. 90 also nicht wirk-
lichen Präparaten entspreche, kann mich Angesichts meiner eigenen Befunde an un-
genügend conservirtem Material (vgl. Fig. 8 Taf. I) in dieser Auffassung nur be-
stärken. Wären die wirklichen Stäbehen in Querschnitten, wie Hensen einen ab-
bildet, noch erhalten gewesen, so wären sie ihm sicherlich nicht entgangen, und ihre
eigenthümliche Vertheilung ebensowenig.
Dass M. Schultze zuerst und unzweifelhaft die wahren Stäbehen beobachtet
hat, und zwar ohne zu wissen, dass er der erste sei, wurde schon früher betont.
Ich kann mir dies nur aus der Mangelhaftigkeit seiner eigenen Untersuchungen erklären,
an der sein mit Vorliebe betriebenes Studium nur frischen Materiales wohl stark
betheiligt sein dürfte. Grestützt auf dieses, hat er für die Stäbchen gerade die wich-
tigsten Dinge übersehen oder irrig gedeutet; wäre seine Untersuchung eine glück-
lichere zu nennen, so hätte ihm unmöglich entgehen können, dass dasjenige, was die
Autoren vor ihm als „Stäbchen“ bezeichnen, von den seinigen weit verschieden ist.
— Sonst ist seine Beschreibung der „Stäbchenfaser“, wie er unsern kernführenden
Abschnitt der Retinazelle nennt, relativ die einwandfreiste; sie entspricht im Ganzen
der unserigen, nur glaubt er den Nachweis erbracht zu haben, dass ihr äusseres
Ende in der Nervenfaserlage selbst aufhöre, und dass das Bündel feinster Nerven-
34
fibrillen, aus welchen die „Stäbchenfaser“ bestehen soll, mit den Stäbehen in direeter
Verbindung stehe (l. e. pag. 22). — Den eigentlich wunden Punkt der Darstellung
von M. Schultze bilden aber hauptsächlich die Beziehungen der „Stäbehenfaser“
zum Stäbchen, sowie dieses selbst. Da er das gleiche Material wie ich selbst benutzt
hat, so kann ich mit voller Sicherheit behaupten, dass das Stäbehen nicht, wie er
will, zu einer, sondern zu einer ganzen Auzahl von „Stäbehenfasern“ in dem Ver-
hältniss der genetischen Abhängigkeit steht; ferner, dass seine Ansicht über den
Bau des Stäbchens, welches nicht aus Lamellen sich aufbauen, sondern nur einen
aus eigenthümlich gebogenen dünnen “uerfasern gebildeten Mantel, eine Art von
Hohlkehle, um eine fibrilläre Axe bilden soll, irrig ist. Diese Axe möchte ich auf
die Sockel zurückführen; wenigstens weiss ich seine „aus isolirbaren Fibrillen be- .
stehenden Gebilde, welche entweder kurz abgerissen gefunden wurden, oder in Form
von langen Faserbündeln in die Stäbehenschicht eindringen“ (l. e. pag. 20) allenfalls
nur mit diesen in Einklang zu bringen.
3. Die Innervation der Retina.
Zwischen den Nervus opticus und die Lage von Nervenfasern, welche unterhalb
und zwischen den Basen der Retinazellen verläuft, schiebt sich noch die kielförmige,
uns schon als Carina bekannte Nervenmasse ein; aus ihr erst erheben sich jene
Faserbündel, die als becherförmige Hülle nicht nur die Retinazellen überziehen,
sondern sich auch theilweise über diese hinaus in die beiderseitigen Costalregionen
fortsetzen (/V. /.), bei deren Besprechung wir ihnen wieder begegnen werden.
Zwischen der Faserlage der Retina, aber nur in ihrer dorsalen Hälfte, unweit
des untern Endes der Retinaspalte, begegnen wir einer Anhäufung von kleinen
Ganglienzellen (Gang. Fig. 5, 10) mit nach verschiedenen Seiten hin gerichteten
Ausläufern. Nach aussen gegen die cuticulare Augenhülle hin werden die Nerven-
bündel der Retina begrenzt von einer netzartig granulirten Masse, dem Retieulum
(Kette. Fig. 5, 10, 11%, 16, 17), das ich, obschon ich ihm keine andern als topo-
graphische Beziehungen zu den Nervenfasern zuschreiben kann, doch bei dieser Ge-
legenheit besprechen werde.
Ueber die Carina (Ca) habe ich nur sehr wenig zu bemerken; ich habe
darauf verzichtet, sie in den speeiellen Kreis meiner Untersuchungen hineinzuziehen,
da es mir ein aussichtsloses Unternehmen schien, dem Verlauf ihrer Faserzüge nach-
spüren zu wollen. Ich kann fast nur das wiederholen, was Hensen früher von ihr
aussagte; dass sie nämlich ihrer ganzen Länge nach von unregelmässig geformten
Spalträumen durchzogen wird (Blutsinussen), deren Lumen von zarten, ebenfalls un-
regelmässigen Bälkchen durchsetzt ist, zwischen denen sich gelegentlich amöboid
geformte Zellen (Blutkörperchen) zu finden pflegen.
Aus der Verwaächsungsfläche der Carina mit der eigentlichen Retina erheben
sich die Nervenfasern, welche die Elemente der letzteren zu versorgen in erster
Linie bestimmt sind, in Bündelform nach oben aufsteigend. Da diese Verhältnisse
besonders auch hinsichtlich der Betheiligung der basalen Ausläufer der, Retina-
zellen an der Bildung dieser Bündel schon früher besprochen worden sind, so kann
ich mich mit dem Hinweis auf das Gesagte begnügen. Nur zur Orientiruug über
einige specielle Punkte möchte ich noch zu Fig. 17 (Taf. II) bemerken, dass die
kleinsten Felder der Nervenquerschnitte (/V. /) nicht solche der einzelnen Fasern
darstellen, da diese, an der sonst günstigen Stelle, durch etwas schrägen Faserverlauf
weniger deutlich hervortraten; zu dem Schema Fig. 18 (Taf. II) aber, dass hierbei
von der Darstellung der Bildung secundärer ete. Fascikel abgesehen werde.
Als eine Frage von sozusagen principieller Bedeutung stellt sich die nach
der Art der Verbindung zwischen Nervenfaser und Retinazelle heraus. Gerade hier
war es besonders wichtig zu wissen, ob wirklich, wie von Forschern wie Hensen
und M. Schultze behauptet worden ist, jede Retinazelle sich mit einer Mehrzahl
von Nervenfasern in Verbindung setze? Für mich persönlich hatte diese Frage
noch insofern ein specielles Interesse, als ich bei meinen frühern Untersuchungen,
wo überhaupt eine Verbindung constatirt werden konnte, immer nur den Uebergang
einer einzigen Nervenfaser in eine Retinazelle nachzuweisen in der Lage war —
ein Resultat, das, abgesehen selbst von seiner empirischen Begründung durch die
Beobachtung, weit eher mit der functionellen Deutung des Retinaelementes als phy-
siologischer Einheit für die Perception in Einklang zu bringen ist, als ein Uebergang
in mehrere, resp. zahlreiche Fasern.
Auch in unserm Falle ist mir dieser Nachweis gelungen, und zwar, wie ich
glaube, in unanfechtbarer Weise. An in gewöhnlicher Weise conservirtem Material
wäre es mir freilich schwerlich geglückt, aber auf die oben angegebene Weise, bei
Längsschnitten (parallel dem Faserverlauf) durch Augen, die durch stärkere Ein-
wirkung von verdünnter Salzsäure stark aufgehellt sind, ist es eine nicht allzuschwere
Aufgabe. Verfolgt man die aufsteigenden Bündel von Nervenfasern an solchen
Schnitten, wie Fig. 16 (Taf. ID) einen darstellt, mit besonderer Beachtung des innern
Randes derselben, so sieht man bald hier, bald dort eine einzelne Faser sich von
dem Verbande mit den übrigen loslösen, und unter leichter Erweiterung in die Basis
33
einer Retinazelle eintreten (MV. /‘). Die Eintrittsstelle ist immer eine constante, sie.
liegt gerade in der Einbuchtung zwischen den beiden Schenkeln der Zelle, wie es
in Schema Fig. 18 bei N. /.‘ dargestellt ist. Das Auffinden der Stelle hängt, ab-
gesehen von der Natur des Präparates, grossentheils auch von der Genauigkeit der
Focuseinstellung ab; sieht man die Radiculae im Zusammenhang mit der Zelle, so
fällt die Eintrittsstelle der Nervenfaser ausserhalb des Focus, und umgekehrt. —
Dass man auf Schnitten wie Fig. 17, wo die Nervenfasern quer getroffen sind, diese
Vereinigung zu sehen nicht erwarten darf, ergiebt sich von selber.
Nach meinen früher mitgetheilten Erfahrungen über die Forsetzung der Nerven-
faser durch die Retinazelle hindurch bei Uephalopoden, bei denen sie bis zwischen
die Rhabdome hinein sich erstrecken, glaubte ich auch hier die Möglichkeit, ja bis
zu einem gewissen Grade die Wahrscheinlichkeit eines analogen Verhaltens offen
halten zu müssen, und ich habe demgemäss meine Aufmerksamkeit ganz besonders
daraufhin gerichtet. Es ist mir aber nicht gelungen etwas zu beobachten, was ich
in diesem Sinne hätte auffassen müssen. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass
die Beschaffenheit der Retinazellen, besonders hinsichtlich ihrer Querschnitte sowohl
in der kernführenden wie in der Sockelregion, einer solchen Aufgabe gegenüber die
denkbar ungünstigste ist: das Auffinden einer einzelnen Nervenfaser in dem Durch-
einander so vieler andern Fasern ist so gut wie unmöglich, wenn sie sich nicht durch
besondere Kennzeichen, wie besonders auffallende optische Eigenschaften, oder grössere
Dimensionen von den übrigen abhebt. Fine definitive Feststellung muss also späteren
Forschungen überlassen bleiben.
Die hinter der dorsalen Retinahälfte in die Faserzüge des Opticus eingelagerten
Ganglienzellen (Fig. 5, 10, Gang.) gehören zu den kleineren ihrer Categorie. Auf
Querschnittserien durch das Auge finden sie sich in jedem Präparat, wenn auch in
wechselnder Anzahl; nur selten rückt eine oder mehrere hinter der Retinaspalte etwas in
die ventrale Retinahälfte hinüber (Fig. 5). In Fig. 10, wo der linke Rand der Zeichnung
der Dorsalseite entspricht, habe ich mit möglichster Genauigkeit die fraglichen Zellen
mit ihrer bald rundlichen, bald birnförmigen Gestalt, mit ihren bald nur einfach, bald
doppelt vorhandenen (oder besser, sichtbaren) Fortsätzen dargestellt. Gleichzeitig zeigt
die Zeichnung auch, dass die Zellen sich nicht allein auf das Gebiet der Optieusfasern
beschränken, sondern sich auch tief in das nach aussen von diesen gelegene Reticulum
einsenken können. — Das ist Alles, was ich von ihnen weiss; ihre Natur als Ganglien-
zellen, trotz ihrer dureh die Localisirung an eine bestimmte Stelle noch besonders
dunkeln Function, zu beanstanden, scheint keine Veranlassung vorzuliegen.
Abhandl. d. naturf, Ges, zu Halle. Bd. XVII. 5
Mit dem Namen Retieulum (XAe. Fig. 5, 10 Taf. I; Fig. 11% 16, 17 Taf. I)
bezeichne ich eine besondere, zwischen CUuticula und Nervenfasern sich einschaltende
Lage, deren Erstreckung nach vorn so weit wie die Retina selbst reicht, die sich
nach innen auch noch auf die Carina fortsetz. Den Namen wählte ich wegen des
sehr engmaschigen, wenig deutlichen feinen Netzwerkes von Fasern, aus dem sie
besteht, und welches von feineren und gröberen Körnchen durchsetzt ist. (Die
Maschenbildung tritt, beiläufig bemerkt, sowohl in den Präparaten wie in meinen
Originalzeiehnungen deutlicher hervor, als auf den nach letzteren angefertigten
Tafeln; der Lithograph hat den Habitus nicht prägnant genug wiedergegeben.) In
ihr eingelagert finden sich sparsame Kerne. Mit den Radieulis der Retinazellen, von
denen sie der Dieke nach durchsetzt wird, bildet sie sozusagen ein Ganzes, ein com-
binirtes, nicht leicht zu elassifieirendes Gewebe von filzartiger Textur. Dasselbe zur
Nervensubstanz morphologisch oder funetionell in Beziehung zu bringen, scheint mir
kein Grund vorzuliegen; schon deshalb widerstrebt es mir, weil, wie wir nachher
sehen werden, ein grosser Theil der Nervenfasern sich über die Retina hinaus, in
die Costalregionen beider Flächen, fortsetzt, ohne von dem Retieulum selbst soweit
begleitet zu werden, was man doch bei der Annahme von Beziehungen engerer Art
in diesem oder in jenem Sinne wohl erwarten müsste. Am meisten bin ich geneigt,
in ihm eine Art von Bindesubstanz zu sehen, vergleichbar dem auch schon mit diesem
Namen bezeichneten Gewebe in der Retina der Cephalopoden, wo dasselbe ebenfalls
in analoger Beziehung zu den Innervationsenden der Retinazellen sich findet, wenn
auch nicht so scharf räumlich abgegrenzt und so compact (vgl. Abhdlg. I Fig. 9).
Ueber die Art, wie Hensen und M. Schultze sich den Modus der Innervation
der Retina vorstellen, habe ich mich schon oben ausgesprochen. — Im Uebrigen
beschreibt Hensen die Lage der Nervenfasern und ihren Verlauf parallel der Cuti-
cula (Hüllhaut) genau so wie ich es gethan. Anders aber als bei mir lautet seine
Beschreibung des Reticulum; dasselbe ist identisch mit seiner „Sternzellenschicht“
(l. ce. pag. 217, Taf. XXI Fig. 91, c), welche nach ihm aus „kleinen rundlichen Zellen“
bestehen soll, deren ziemlich dieke Ausläufer in die Nervenlage verfolgt werden
konnten; zwischen den Zellen erwähnt er noch eine körnige, als Querschnitte von
Nervenfasern gedeutete Masse. Dass ich diese Darstellung mit meinen eigenen Re-
sultaten nicht vereinbaren kann, liegt auf der Hand: ich möchte fast annehmen,
Hensen habe die an einer Stelle wahrgenommenen Ganglienzellen, deren er sonst
als solcher keine Erwähnung thut, für ein wesentliches Attribut dieser Lage, statt für
eine blos locale Einlagerung derselben gehalten, und darnach ihren Charakter bestimmt.
4. Die Membrana limitans und ihre Bildungselemente.
Die Limitans (Membrana homogenea) im Heteropodenauge wurde von
Hensen entdeckt, und im Wesentlichen so correet beschrieben, dass ich, soweit es
sie selbst angeht, nur wenige Nachträge dazu liefern kann. Dagegen dürften die
Beiträge zur Erläuterung ihrer Genese vielleicht ein besseres Verständniss ihrer mor-
phologischen Beziehungen, namentlich auch zur gleichnamigen Membran im Cephalo-
podenauge, anzubahnen im Stande sein.
Die Limitans liegt, wie besonders Querschnitte durch die Retina (vgl. Fig. 4,
5,8 Taf. I, Zn.) deutlich zeigen, den Enden der Stäbehen und Sockel durch die
ganze Retina hindurch innig auf, und trennt sie so vom Glaskörper (G. A). Wenn
sie in den mit Reagentien behandelten Augen weder die ganze Fläche der letzteren
bedeckt, noch sich derselben dicht anschmiegt, sondern stellenweise einfach gewölbt
oder in Falten erhoben sich darüber hinzieht, so sind dies sicher lediglich durch die
technischen Proceduren verursachte Veränderungen.
Die Form der Limitans als Ganzes zeigt uns Fig. 6 (Taf. I). Die Abbildung
ist mit schwacher Vergrösserung nach einem Präparat entworfen, das seine Ent-
stehung der oben geschilderten Procedur (durch starke Säureeinwirkung verursachtes
Herausquellen des Glaskörpers) verdankt. Nur am schmalen Ende ist ein kleiner
*
Rest des letzteren haften geblieben; bei * zeigt sie eine kleine Verletzung. Das
obere Ende entspricht dem äussern, das untere dem innern Ende der Retina; von
aussen nach innen nimmt ihr Querdurchmesser beträchtlich und stetig ab, während
ihr distales Ende mehr zungenförmig zugerundet erscheint. Aus den Querschnitten
ergiebt sich, dass sie an den Rändern relativ diek angeschwollen, in der Mittellinie
dagegen membranartig verdünnt ist. Sie ist von starker Liehtbrechung, structurlos,
nur unter dem Einfluss der Conservirungsmittel in wechselnder Stärke körnig getrübt.
Die Limitans weist auf ihrer retinalen Seite eine eigenthümliche, aus Längs-
linien bestehende Zeichnung auf; zwischen jenen kommt noch eine aus ungleich feineren
Linien gebildete Querstreifung, deren Ausprägung an verschiedenen Stellen ungleich
zu sein pflegt, zur Ansicht. Die etwa an der Grenze des ersten und zweiten Achtels
der Länge (vom distalen Ende an gerechnet) zu beobachtende eigenthümliche Ein
schnürung der Längslinien erklärt sich, wenn man den entsprechenden Verlauf der
Stäbchenreihen kennt, auf den ersten Blick als abhängig von diesen letzteren. Aus
den Querschnitten erkennt man, dass die Längslinien von Leisten von stärkerer und
schwächerer Entwickelung herrühren, die den Stäbchenreihen in der Art entsprechen,
A E
[9]
dass je eine Leiste vor dem Stäbchenrande sich ein wenig einsenkt. Die mit den
gleichen Ziffern bezeichneten Leisten der Fig. 6 entsprechen demnach den einzelnen
Stäbchenreihen der Fig. 5, 8 und 9; die am stärksten ausgebildete von ihnen (4‘+5‘)
allein gehört den gleichbezeichneten Stäbchenreihen zugleich an. — Die Querstreifung
rührt von den Abdrücken der Enden der Stäbchen wie der Sockel her.
Die Frage nach der Entstehung der Limitans, nach den Elementen, durch
deren T'hätigkeit jene gebildet wird, gehört zu den am schwierigsten zu beantwortenden
bei der ganzen Untersuchung des Heteropodenauges. Ist mir auch Einiges noch
nicht völlig Klar geworden, so bin ich, wie ich glaube, doch in der Lage, durch
eine Reihe von sicher constatirten Thhatsachen Anhaltspunkte für spätere, an besser
erhaltenem Material anzustellende Untersuchungen zu bieten; für's Erste mag das
Folgende wenigstens ausreichen, uns ein allgemeines Bild ihrer Genese, sowie eine
nicht unwillkommene Bestätigung meiner früher am Öephalopodenauge gewonnenen
Befunde, neuerdings gegen dieselben erhobenen Einwendungen gegenüber, zu liefern.
Auf Querschnitten durch die Retina wie Fig. 5, 8, 9, kommen zwischen den
kernführenden Abschnitten der Retinazellen eingelagerte, in geringer Entfernung von
der Pigmentzone gelegene Kerne zum Vorschein (Zorn. Z. der Figg.), die an hinreichend
dünnen Schnitten als nicht zu den Retinazellen, sondern zu zwischen ihnen gelegenen
selbständigen Zellen von viel geringerer Entwickelung gehörig erkannt werden.
Gebildet sind diese Zellen von einer schlank spindelförmig gestalteten granulirten
Plasmamasse, an der es mir nicht geglückt ist eine Membran mit Sicherheit zu er-
kennen. Diese Zellen nenne ich auch hier Limitanszellen, weil mit der grössten
Wahrscheinlichkeit in ihnen die Bildungselemente jener Membran zu suchen sind,
wie das Weitere zeigen wird. — Zunächst fällt auf die Verschiedenheit in der Ver-
theilung dieser Zellen in den beiden Retinahälften; in der dorsalen bilden sie eine
ununterbrochene Reihe von der Retinaspalte bis zum Pigmentepithel — abgesehen
von zufälligen Unregelmässigkeiten —, in der ventralen dagegen löst sich die Reihe
in kleine Gruppen von ganz constanter Lage auf. Sie liegen nämlich immer in
der Verlängerung der Stäbchen, oder genauer gesagt, des freien Randes derselben.
(In Fig. 5 hat der Lithograph versehentlich die Lage der Kerne gegen die Original-
zeichnung etwas verschoben, namentlich stark die zu Stäbchenreihe 3 gehörigen.
Ich führe dies mir bei der Correetur leider entgangene Versehen hier an, um zu
verhüten, dass man meine eigenen Zeichnungen als Zeugen gegen meine Worte aufruft.)
Diese Zellen mit der Limitans in Beziehung zu bringen, scheint auf den
ersten Anblick, wegen des grossen räumlichen Abstandes beider von einander, etwas
3 —
gewagt. Kehren wir aber zur Limitans selbst zurück, so finden wir auf Querschnitten
derselben zuweilen feine Fasern (Zzm. /. der Figg.), welche, von ihrer untern Seite
ausgehend, sich zwischen die Elemente der Retina einsenken, und zwar jeweils in
die Zwischenräume zwischen den Stäbchen der einen und den Sockeln der nächsten
heihe. Diese Fasern in situ zu sehen, etwa wie sie in Fig. 5 angegeben sind, ist
übrigens ein ganz besonderer Glücksfall; sie reissen bei ihrer grossen Zartheit durch
das Schrumpfen und Biegen der Limitans augenscheinlich mit grosser Leichtigkeit
an ihrer Insertionsstelle an der Membran ab, und sind dann, selbst wenn man ihre
Existenz und den Ort wo sie zu suchen sind, schon kennt, kaum mehr auffindbar.
Ausnahmsweise reissen sie auch mehr in der Tiefe der Retina ab, und dann können
sie, wenn die Limitans sich stark nach vorn wirft, ganz oder zum grössten Theil
aus ihrer früheren Umgebung hervorgezogen und dadurch sehr deutlich werden. Dies
habe ich bei einer Reihe von Augen, die mit Pikrin-Schwefelsäure-Sublimatlösung
behandelt waren, beobachtet, und ein Präparat deshalb in Fig. S abgebildet. Bei
allen so behandelten Augen ohne Ausnahme waren die Sockel in der dargestellten
Weise entstellt; die den Stäbehen näherliegenden Abschnitte derselben waren in ihrer
Structur völlig zerstört — man halte Fig. 9 daneben! — so dass in einer körnigen
Grundmasse kugelige coagulirte Tropfen eingelagert erschienen, die man, wären sie
tinktionsfähig gewesen, unbedenklich für grosse Zellkerne hätte halten können. Die
Limitans aber bildet ein glückliches Pendant zu der Fig. 2 meiner Arbeit über die
Cephalopodenretina; die dorsale Hälfte derselben hat im Ganzen so ziemlich ihre
Lage zu den Stäbchen beibehalten, die ventrale hingegen hat sich stark von ihnen
abgehoben und in die Höhe gebogen. Die Limitansfasern dieser Seite folgten der
Membran, und flottiren nun theilweise frei in dem künstliehen Hohlraum zwischen
ihr und der Retina. Dass sie an diesem (übrigens relativ dieken) Schnitte in büschel-
förmiger Anordnung auftreten, erklärt sich leicht aus Folgendem. Sie stehen nämlich
in ziemlich geringem Abstande auf den Leisten der Limitans, also reihenweise an-
geordnet, wie eine Art von Frangenbesatz derselben, wie uns auch Fig. 7 belehrt,
die eine Stelle der in Fig. 6 gezeichneten Limitans bei stärkerer Vergrösserung dar-
stell. Die linke Leiste der Figur, von der zwei Reihen von Limitansfasern ent-
springen, ist die in Fig. 6 mit +5‘, die rechte die daselbst mit 3° bezeichnete, und
es wurde eine Stelle gewählt, wo letztere selbst in Gestalt eines lamellösen Saumes
hervortritt.
Weiter als etwa bis zu den untern Stäbchenenden diese Fasern zu verfolgen
ist mir zu meinem Bedauern, ungeachtet aller aufgewandten Mühe im Interesse der
— 38
absoluten Sicherheit des Beweises nicht geglückt. Aber ich darf wohl hier auf meine
frühere Mittheilung über die gleichen Elemente in der Cephalopodenretina mich be-
rufen, die gerade darin «die Ergänzung liefern, die hier nöthig ist, indem bei jenen
gerade der Uebergang der Limitansfasern in die Zellen mit besonderer Sicherheit
durch die Beobachtung nachgewiesen werden konnte.
Anders sieht es auf der dorsalen Hälfte der Retina aus, wo die Limitanszellen
nieht so evident wie auf der ventralen in Längsreihen, welche den Faserreihen topo-
graphisch so genau entsprechen, angeordnet sind. Wie bei ihrer gleichmässigen
Ausbreitung zwischen den Retinazellen hier die Verbindung zwischen ihnen und den
Fasern sich macht, ist mir zur Zeit noch unbekannt geblieben. Wohl habe ich mich
oft genug überzeugen können, dass auch zwischen die Stäbchenreihen 5 und 6 (Fig. 5
und 8) Fasern sich einsenken, aber auf welchem Wege sie sich mit den über eine so
weite Fläche vertheilten Zellen in Verbindung setzen, ist für mich ein Räthsel geblieben.
Ich habe übrigens die Limitansfasern auch auf Flächenschnitten durch die
Retina aufgesucht, um mich von ihren Beziehungen möglichst zu informiren, und es
ist mir auch geglückt, sie aufzufinden. Die Figuren 14 und 15 (Taf. II) zeigen
einige Stellen, wo die Fasern (Zzm. f.) ganz deutlich zwischen den freien Rändern
der Stäbehen erkannt werden können; im Fig. 15, +1, 3 sind sie, durch Abreissen in
ihrem Verlauf gelockert, als Schlingen erkennbar. Es ist übrigens mit besonderen
Schwierigkeiten verknüpft, sie gerade an derartigen Schnitten aufzufinden, besonders
zwischen den mehr seitlichen Reihen, deren Stäbehen und Sockel mehr oder weniger
schräg getroffen werden, wodurch ihre Querschnittsbilder sich mehr in einander
schieben, und Objeete von soleher Winzigkeit, wie die Faserquerschnitte sind, dadurch
leicht für das suchende Auge völlig verdecken.
Hinsichtlich derjenigen Limitansfasern, welche zwischen den Stäbehenreihen
4 und 5 herunterziehen, bin ich nicht sicher geworden, ob’ sie mit Zellen zusammen-
hängen, welche in der Retinaspalte sich erkennen lassen (vgl. bes. Fig. 9), oder mit
solehen, welche zwischen den Retinazellen eingestreut liegen. Ich halte das erstere
für wahrscheinlicher, und es mag deshalb hier der Ort sein, über die fragliche Spalte
und ihre Contenta noch einige Bemerkungen anzuknüpfen.
Die Retinaspalte zeigt auf Querschnitten (Fig. 8, 9 Taf. I) einen granulirten
Inhalt, in welehem Kerne von verschiedener Grösse eingestreut liegen. Diese Kerne
sind von einem Zellenleib von ebenfalls wechselnder, immer aber geringer Mächtigkeit
umhüllt, welcher sich meist in radial nach oben und unten auslaufende Fasern fortsetzt.
Wegen ihres welligen Verlaufes lassen sich diese aber nicht weit verfolgen. Die
granulirte Ausfüllungsmasse besteht nur in der Nähe der Grenzmembran aus wirk-
lichen Körnchen, dem hier ziemlich stark angehäuften Pigment, das sie nach der
Iintfärbung hinterlässt; die dahinter liegenden sind nur dem Anschein nach Körnchen,
in Wahrheit aber @Querschnitte sehr zarter Fasern, welche, wie Fig. 20 (Taf. II), ein
Flächensehnitt in diesem Niveau, zeigt, hier die Spalte der Länge nach durchziehen
und sie ausfüllen. In dieser Figur sind die kleinen zwischen den Fasern und den
Kernen regellos vertheilten Punkte die Querschnitte der nach eben gegen die Grenz-
membran hin strebenden Fasern, und wahrscheinlicherweise identisch mit den
Limitansfasern in Fig. 14 zwischen den Reihen 4 und 5. Was aber die horizontal
(lurch die Retinaspalte streichenden Fibrillen der Fig. 20 anbelangt, so scheinen sie
mir auch nur eine secundäre, jedenfalls nicht mit der Sinnesfunction der Retina in
Zusammerhang zu bringende Rolle zu spielen. Sie scheinen mir nämlich zusammen-
zuhängen mit einem Fasergeflecht, welches die Retinazellen in einem mit ihrer Quer-
krümmung concentrischen Bogen durchzieht, und von dem bisher noch nicht die
Rede war. Ich will sie Cireulärfasern nennen, und habe sie in den Figuren 5,
8 und 9 unter €. Z angedeutet. Sie treten da als äusserst zarte, fast nur schatten-
hafte Züge feinster Fibrillen auf, welche etwa in der Höhe der Limitanszellen in
einem dem Pigmentgürtel parallelen Bogen die kernführenden Abschnitte der Retina-
zellen geflechtartig durehsetzen. Auf Flächenschnitten nach Art der Fig. 11% (Taf. ID)
kann man sie bei starker Vergrösserung in ihren als Punktreihen auftretenden Quer-
schnitten ohne besondere Schwierigkeit auffinden; in der Abbildung selbst habe ich
sie des zu geringen Maassstabes wegen nicht angeben künnen. Ich glaube, dass
dieses Cireulärfasergeflecht zusammenhängt mit dem die Retinaspalte der Länge nach
(lurchziehenden Faserzug; abgesehen von der gleichen Feinheit der Fasern an beiden
Orten spricht besonders der Umstand dafür, dass ich an Präparaten wie Fig. 20
vielfach Fasern sich seitlich von der gemeinsamen Riehtungsbahn loslösend beobachten
kann, die dann zwischen die Retinazellen, welche die Spalte beiderseits einralımen,
sich einlenken, um dort freilich bald zu verschwinden. — Ich kann die Fasern kaum
wo anders als in die Reihe der Bindesubstanzen einfügen, da sie schwerlich andere
als lediglich mechanische Zwecke zu erfüllen haben dürften. —
Hensen, der Entdecker der Limitans, hat, wie schon bemerkt, eine Darstellung
derselben geliefert, die meiner eigenen bis auf einige ganz untergeordnete Punkte
völlig entspricht. Seine Abbildung (l. c. Taf. XXI Fig. 88 C) stellt nur etwa die
obere Hälfte derselben dar, verglichen mit meiner Skizze; er zeichnet auch deutlich
40 =
die Einsehnürung der Leisten, von der die Rede war. Die Zeiehnung der Fläche
selbst, die ich auf Leisten zurückführe, deutet er auf eine concentrische Schiehtung
der Substanz, worin ich ihm nicht zustimmen kann; auf ihrer Fläche sonst noch
beobachtete Fädehen und Figuren führt er zum Theil auf zerstörte, der Membran
anhaftende Stäbehen zurück. In den Fädchen wenigstens möchte ich die Limitans-
faser-Enden erkennen.
Auch die Limitanszellen sind Hensen nicht entgangen, aber die ihnen von
ihm zugeschriebene Rolle ist, wie schon der für sie gewählte Name „Stäbchen-
zellen“ beweist, eine wesentlich andere, als diejenige, welche ich ihnen zuweise.
Ihre Kernreihe ist in seiner Figur 90, welche gerade so wie meine Figg. 4, 5 und 8
orientirt ist, nämlich mit dem dorsalen Schnittrande nach rechts, correct angegeben;
ja es ist darin sogar die ungleichmässige Vertheilung derselben in der dorsalen und
ventralen Hälfte der Retina wenigstens angedeutet. Die Retinaspalte scheint ihm
freilich entgangen zu sein. In der Fig. 91, welche, wie der Uebergang von der
Retina zum Pigmentepithel der Costalregion beweist, dem dorsalen Schnittrande ent-
sprieht, sind die Beziehungen der Limitans- (seinen Stäbchen-) Zellen zu den Retina-
zellen nieht richtig ausgedrückt, in sofern er die Kerne der ersteren den vordern
Abschnitten der letzteren eingelagert, statt zwischen ihnen vertheilt, darstellt; auch
die Bemerkung des Textes, dass der Inhalt der Zellen fein längsstreifig gewesen sei,
lässt auf eine ähnliche Auffassung schliessen. Ausserdem bemerkt er, dass es ihm
zuweilen vorgekommen wäre, als ob diese Zellenschicht sich von der folgenden (den
Cylinderzellen, d. h. unsern kernführenden Abschnitten der Retinazellen) scharf ab-
grenze, während in andern Fällen davon nichts zu bemerken gewesen wäre. Eine
Pigmentirung der Zellen, wie Hensen sie beschreibt, namentlich um die Kerne
herum habe ich nicht beobachtet. Der haarförmige Fortsatz, den er nach der Los-
lösung der „Stäbehen“ an ihnen sah, dürfte möglicherweise ein Stückchen Limitans-
faser sein (l. e. pag. 216). Dass ich im Uebrigen seiner Meinung von der Homologie
der Limitans des Heteropodenauges mit der des Cephalopodenauges völlig beistimme,
ist wohl kaum hervorzuheben nothwendig.
Auch M. Schultze gedenkt, freilich nur sehr beiläufig, der Limitans; er sagt,
nur (l.c. pag. 21): „Die Stäbchen sitzen in Reihen auf der homogenen Membran auf
welche sie wie bei den Cephalopoden vom Glaskörper trennt, und auf welcher sich
im abgelösten Zustande Spuren der Stäbchenreihen erkennen lassen“ — was er aber
zeichnet, könnte man höchstens als Spuren der Limitansfasern gelten lassen; für die
reihenartige Vertheilung der Stäbchen, wenigstens wie ich sie beschrieben, bietet
seine Skizze keinen Anhaltspunkt.
5. Die Costalregionen.
Auch die Costalregionen des Auges, denen wir zum Schlusse noch einige
Worte widmen wollen, bieten einige Eigenthümlichkeiten in ihrer Zusammensetzung,
die das Gesammtbild des Heteropodenauges um einige nicht unwesentliche Züge ver-
mehren helfen.
Die Costalregionen, in eine ventrale und dorsale zu scheiden, reichen (vgl.
Fig. 4 'Taf. I) von der Retina an nach vorn bis zu den mit den Buchstaben c und c’
bezeichneten Punkten. Nur bis dahin können wir auch die hier zu beschreibenden
Eigenthümlichkeiten verfolgen; noch weiter nach vorn nimmt die Augenwandung
einen einfach epithelialen Charakter an, dem wir kein besonderes Interesse mehr
abgewinnen können.
Der Uebergang von der Retina nach den beiderseitigen Costalregionen ist ein
merklich verschiedener, wie Fig. 4 und 5, sowie die Abbildung bei Hensen (l. e.
Taf. XXI Fig. 90) zeigt; während nämlich auf der ventralen Seite die Pigmentzone
der Retina ohne besondere Krümmung in die der Costa übergeht, beschreibt sie auf
der dorsalen einen ziemlich tief einspringenden Bogen, der zur Orientirung über die
Lage eines Schnittes ebensowohl benutzt werden kann, wie z. B. die Retinaspalte.
Die Costalregionen setzen sich, abgesehen von der eutieularen Hüllhaut, zu-
sammen aus dem Pigmentepithel, dann aus Nervenfasern, welche aus der Nerven-
faserhülle um die Retina hervorgehen, und endlich aus eigenthümlichen grösseren
und kleineren Zellen, die zwischen dem Pigmentepithel eingestreut sind, und mit
den Nervenfasern wenigstens zum Theil in direetem Zusammenhang stehen.
a) Das Pigmentepithel (Pie. ZP. Pie. Ep. Fig. 5, 8, 19) besteht aus lang-
gezogenen Zellen, deren Inhalt im oberen, gegen den Grlaskörper gerichteten Drittel
etwa reichlich körniges, tief schwarzbraunes Pigment enthält. In nächster Nachbar-
schaft von der Retina sind sie in beiden Costalregionen stark in die Länge gezogen,
so dass die untern zwei Drittel des Zellenkörpers sich fauenartig verdinnen. In
der ventralen Costa behalten sie, wenn auch unter allmähliger Reduction ihrer Ge-
sammtlänge, diese Schlankheit, soweit die Costalregion überhaupt reicht; die der dor-
salen hingegen finden bald den Uebergang zur gewöhnlichen Prismenform des benach-
barten Epithels (Fig. 5). Für dieses Pigmentepithel besonders charakteristisch ist
aber die Configuration ihrer basalen Anheftungsstelle an die Cutieula. Ihre Basis
zerfällt nämlich, ganz wie die der Retinazellen, in eine grössere Anzahl von faden-
förmigen Ausläufern, Radieulae, die sich divergirend wie Wurzeln der Cutieula in-
Abhandl. d. naurf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 6
seriren (Rad. Fig. 19); freilich haben sie nicht erst ein Retieulum zu durchsetzen.
Dies gilt besonders von der ventralen Costa, in der dorsalen scheinen die Verhältnisse
ähnlieh zu liegen, doch sind sie da weit weniger entwickelt. Dies Verhalten scheint
mir von besonderer Bedeutung zu sein, denn es thut dar, dass nicht jede Zelle, selbst
wenn sie eine Retinazelle ist, nothwendig mit vielen Nervenfasern in Verbindung
gedacht werden muss, wenn ihr Basaltheil in viele Ausläufer sich theilt. — Die
tolle des Pigmentepithels beruht natürlich mit in erster Linie auf seinem Pigment-
gehalt, daneben aber auch auf einer Betheiligung an der Ausscheidung des Glas-
körpers, der ‘genau soweit nach unten reicht wie es selbst, und noch nach der Ge-
rinnung durch Reagentien in charakteristischer Weise, die eine andere Deutung fast
unmöglich macht, mit demselben in Zusammenhang bleibt (vgl. Fig. 5, 8, bei Pig. ZP.).
b) Die Nervenfasern (N. /.“ Fig. 5, 19) liegen in Bündeln beisammen, die
sich mit Leichtigkeit bei ihrem Austritt aus der Nervenhülle der Retina verfolgen
lassen. Sie sind nur schon beträchtlich dünner geworden, als namentlich im tiefern
Theile der Retina, lassen aber sonst (optisch) keinen Unterschied gegenüber jenen
erkennen. Zwischen den einzelnen Faserbündeln treten, gruppenweise vereinigt, die
basalen Enden der Pigmentepithelzellen hindurch gegen die Uuticula.
c) Die oben erwähnten eigenthümlichen Zellen verdienen eigentlich einen
besondern Namen, ich habe aber wegen Mangels an Anhaltspunkten dafür diese
Taufe unterlassen. In beiden Costalregionen unterscheiden sie sich sehr wesentlich
von einander; die der ventralen (Fig. 5, 19, Z) sind viel grösser als die in der dor-
salen (Fig. 5, Z‘), auch gestreckt kolbenförmig (viele erinnern hinsichtlich ihrer Form
an Zpistylis-Arten), während die der dorsalen eine mehr rundliche Gestalt besitzen.
Ich habe nur die ventralen näher untersucht, von den dorsalen ein befriedigendes
Bild zu erhalten ist mir leider trotz aller Sorgfalt nieht gelungen.
Jene. ersteren bestehen aus einem granulirten, pigmentfreien Protoplasma mit
grossem Kern; regelmässig ist darin, und zwar am freien Ende, eine grössere, (selten
mehrere kleinere) rundliche, tropfenartige, homogene Sekretmasse von leicht gelblicher
Farbe (an conservirtem Material) eingeschlossen. Die Zellen selbst erreichen mit
ihren freien Enden das Niveau des Pigmentepithels nicht völlig, letzteres schlägt
sozusagen über ihnen zusammen. Das Seltsame an ihnen ist aber ihre von mir in
ganz unzweifelhafter Weise constatirte Verbindung mit Nervenfasern (Fig. 19), welche
anzuerkennen ich mich so lange sträubte, bis schliesslich keine Wahl blieb, als das
Paradoxe als solches hinzunehmen. Mehr als die Abbildung bietet, kann ich mit
Worten auch nicht sagen: man sieht eben von den costalen Nervenstämmen bald da
Ar
bald dort eine Faser abbiegen, und sich ohne Grenze mit dem verjüngten Ende einer
solchen kolbenförmigen Zelle vereinigen.
Wenn irgend eine von den in dieser Abhandlung mitgetheilten Angaben, so
wird gerade diese sich darauf gefasst machen müssen, mit skeptischem Auge ange-
sehen zu werden. Ich kann aber mit Dutzenden von Stellen in meinen Präparaten
als Belegen für meine Behauptung dienen; ich möchte aber doch noch auf einen
speciellen Punkt hinweisen. Nichts ist leichter zu constatiren, als der Uebergang
von Nerven aus der retinalen Faserlage in die Costalregionen; ebenso, dass diese
Nerven sich nicht weiter erstrecken, als diese Regionen selbst; drittens endlich, dass
nur soweit die Nerven reichen, diese Zellen sich finden; und zuletzt noch, dass für
eine Verbindung der Nerven mit andern Elementen nirgends die leiseste Andeutung
sich fand, dagegen eben für diese Verbindung um so zahlreichere. Das dürfte von
meiner Seite wohl genügen.
Für die dorsalen Zellen kann ich nicht gleich bestimmtes mittheilen. Es trifft
nur auch für sie das Nebeneinandervorkommen der Zellen und Nerven, die Be-
schränkung beider auf den gleichen Bezirk zu; also gelten dort wahrscheinlich auch
ähnliche Beziehungen zwischen ihnen wie hier. Gegenüber der starken Entwiekelung
der ventralen Zellen machen die dorsalen fast den Eindruck der Rückbildung, doch
ist es natürlich schwer, eine solche Ansicht begründen zu wollen.
Die nächste Frage ist selbstverständlich die nach der Rolle, welche diese
Zellen im Auge zu spielen haben; sie aber zu beantworten bin ich ausser Stande.
Betrachten wir die Zellen für sich, ohne Rücksicht auf ihre Verbindung mit Nerven,
so liegt keine Deutung näher, als die, sie für Drüsenzellen zu erklären, und ihr con-
stanter Inhalt, der Sekrettropfen, scheint ein schwerwiegendes Argument für diese
“Auffassung zu sein. Frägt man aber, wozu ihre Sekretion bestimmt sein möge, so
liegt es nahe, sowohl an den Glaskörper wie an die Linse zu denken. Von der
Linse liegen indessen diese Zellen räumlich so weit entfernt, dass ich diese Auffassung
aus diesem Grunde schon für eine wenig wahrscheinliche halten kann; dies würde
aber nicht gegen ihre Betheiligung an der Abscheidung des Glaskörpers sprechen.
Nun weisen aber alle Umstände darauf hin, dass diese Aufgabe auch zu denen des
Pigmentepithels gehört; sollte etwa der Glaskörper aus zweierlei Substanzen ver-
schiedener Herkunft gemischt sein? Alle diese Annahmen hätten eine grössere
Wahrscheinlichkeit für sich, wenn nur die Nervenfasern nicht wären. Diese stammen
augenscheinlich aus dem Optieus, was freilich noch nicht beweist, dass sie deshalb
auch nothwendig Sinnesnerven sein müssten; es könnten ja dem Optieus selbst noch
6*
— 4 —
immer trophische oder sonstige Nervenfasern beigemischt sein, die sich erst jenseits
der Retina ungemengt fortsetzten. Den Fasern selbst aber eine sensorielle Bedeutung
unterzulegen, würde immer schwierig zu rechtfertigen sein; mit der Liehtperception
würde man wohl nieht weit kommen, da ja die Zellen selbst vom Pigmentepithel so
gut wie völlig verdeckt sind; auch eine etwa supponirte Lichtentwickelung würde,
beiläufig bemerkt, gegenüber diesem Umstande einen schweren Stand haben.
Betrachtet man bei obwaltender Sachlage, bei der Unwahrscheinlichkeit einer
sensoriellen, bei der durch den Augenschein zwar nahegelegten, aber doch nur be-
dingten Wahrscheinlichkeit einer sekretorischen Funetion der fraglichen Zellen, die
in sie eintretenden Nervenfasern als solche, welche die Sekretion anzuregen oder zu
reguliren hätten, so haben wir unstreitig unser Vorstellungsvermögen unter den Zwang
einer thatsächlichen Beobachtung gestellt, ohne als Aequivalent für diese Art von
Sacrifieium intelleetus eine Erklärung gewonnen zu haben, die uns zu befriedigen
geeignet ist. In der Mehrzahl der Fälle, wo wir die Sekretionen sei es unter dem
erregenden, sei es unter dem regulirenden Einfluss der Nerven stehen sehen, können
wir uns ein, wenn auch oft nur rohes Bild machen von den Zwecken, welche durch
diesen auf dem Wege des Reflexes agirenden Zusammenhang erreicht werden sollen,
und fühlen damit unser Causalitätsbedürfniss wenigstens für’s Erste befriedigt. Hier
aber weiss wenigstens ich keinen Ausweg, einen solchen zu suchen mag deshalb
Andern überlassen werden.
Diese Zellen selbst scheinen bisher noch von Niemanden wahrgenommen
worden zu sein. Hensen beschreibt die Costae ziemlich genau, ohne sie zu er-
wähnen; dagegen aber macht er die Bemerkung (l. c. pag. 216), dass die Nerven
selbst sich noch über die Retina hinaus und unter die Costae zu erstrecken schienen,
eine Beobachtung, die in Vorstehendem ihre Bestätigung und Ergänzung gefunden hat. — °
Glaskörper und Linse liegen zwar nicht innerhalb des Eingangs entworfenen
Programms meiner Arbeit; einige nachträgliche Bemerkungen zu demselben mögen
aber hier noch ein Plätzchen finden. Beide sind auch hier im morphologischen Sinne
völlig strueturlos, denn die bei ersterem mehr oder weniger deutlich coneentrische
und etwa der Limitans parallele Schichtung wird man nicht als Struetur in diesem
Sinne deuten wollen. An der Linse sah ich davon nichts. — Während die Genese
des Glaskörpers keinem Zweifel unterliegen kann, bleibt die der in allen Haupteigen-
schaften ihrer Substanz so nahe damit verwandten Linse noch immer ein der Lösung
bedürftiges Räthsel: wir wissen noch nicht anzugeben, wie ein durch seine geome-
= CA
metrische Form, sowie durch seinen höheren Brechungsindex so präeis von ihm unter-
schiedenes, ziemlich vollständig von ihm umschlossenes Gebilde, das nur in einer
relativ schmalen aequatorialen Zone der zelligen Augenwand genähert ist, in eben
diesen charakteristischen Eigenschaften sich ausbilden kann.
Damit wäre ich mit meiner Schilderung des /ferotrachea-Auges zu Ende ge-
kommen. Ich möchte nur noch, wie in der ersten dieser Abhandlungen, in kurzer
Weise recapitulirend das Wichtigste meiner Resultate übersichtlich zusammenfassen,
um eine Verwerthung derselben zur Vergleichung mit andern Augenformen zu er-
leichtern.
1. Bei den Heteropoden ist die Retina i. e. S. ebensowenig wie bei den Cephalo-
poder als eine aus histologisch differenten Schichten gebildete aufzufassen; sie
besteht auch hier nur aus einer einzigen Zellenlage, deren einzelne Elemente
aber in kernführende Abschnitte, in Stäbchensockel und in Stäbchen gegliedert
sind. Die erstgenannten liegen ausserhalb, die beiden anderen innerhalb einer
dünnen Grenzmembran.
2: Den gestreiften oder auch fibrillär zerklüfteten Inhalt des” kernführenden Ab-
schnittes der Retinazelle auf ein Zerfallen desselben in Nervenfasern zurückzu-
führen, liegt kein zureichender Grund vor; eher lässt sich die Streifung in Zu-
sammenhang bringen mit der Bildung der sog. Radieulae, welche als wurzel-
artige Ausläufer die Retinazelle an der Cuticula zu fixiren bestimmt scheinen.
3. Die ebenfalls feinstreifigen Stäbchensockel sind Abschnitte von wechselnder
Länge; diese Länge wird bestimmt durch die Höhe der Insertionsstelle derselben
an den Stäbchen über der Grenzmembran.
4. Die Stäbehen sind, weil je eine Anzahl von Sockeln sich mit einem derselben
in Verbindung setzen, wie die Rhabdome der Arthropoden und der Cephalopoden
als zusammengesetzte Bildungen aufzufassen, und zwar in dem Sinne, dass jedes
Einzelstäbchen seine Entstehung einer Anzahl von Retinazellen verdankt.
Während aber die Componenten eines Rhabdoms neben einander gelagert sind,
sind sie hier übereinander gereiht, und mit einem Längsrande frei, mit dem
andern mit den zugehörigen Sockelenden verwachsen. Ihre Querstreifung lässt
sich, im Gegensatz zu M. Schultze’s Darstellung, auf eine relativ einfache
blättrige Textur zurückführen.
5. Die Stäbchen sind in Längsreihen angeordnet (deren es bei Pferotrachea sechs sind),
welche über die ganze Retina sich in annähernd parallelem Verlaufe erstrecken.
6.
3%
A ——
Die Retina ist ihrer ganzen Tiefe nach von einer Spalte durchsetzt, welche sie
der Länge nach und den Stäbchenreihen parallel durchzieht, und sie in eine
dorsale und ventrale Hälfte theilt. Auf die dorsale Hälfte kommen zwei, auf
(die ventrale vier Stäbehenreihen, von denen die ersteren den freien Rand ventral-
wärts, die letzteren dorsalwärts gerichtet haben.
. Die Innervation der Retina erfolgt von. einer Lage von Nervenfasern, welche
zwischen, resp. unter den basalen Enden der Retinazellen verlaufen, und von
denen je eine zu einer solchen Zelle, und zwar gerade an der Stelle, wo sie
sich in die Radieulae zu spalten beginnt. tritt, um sich mit ihr zu vereinigen.
Für eine mögliche Fortsetzung der Nervenfaser durch das Innere der Retinazelle
nach Analogie des Verhaltens bei den Cephalopoden konnten vorläufig noch
keine Anhaltspunkte gewonnen werden. — Ausser den Nervenfasern wurden
noch in der dorsalen Retinahälfte gelegene kleine Ganglienzellen nachgewiesen.
Die structurlose, langgestreckte Membrana limitans, welche sich zwischen die
vordern freien Stäbchenenden und den Glaskörper einschiebt, läuft an ihrer
Stäbchenseite in Reihen feiner Fasern aus, welche sich zwischen den Stäbchen-
reihen in die Retina einsenken. Sie stehen mit höchster Wahrscheinlichkeit im
Connex mit zelligen Elementen, die zwischen den kernführenden Abschnitten der
Retinazellen eingelagert sind, und deren Vertheilung wenigstens in der ventralen
Hälfte der Retina genau derjenigen der Fasern entspricht. Jene Zellen wären
demnach wie bei den Cephalopoden als Bildungsherde für jene Fasern und damit
auch für die Limitans selbst zu betrachten. — Ein weiteres die Retinazellen
der Quere nach durchflechtendes Netz der Cireulärfasern verdankt seinen Ursprung
wahrscheinlich zelligen Elementen, welche in die Retinaspalte eingelagert sind.
Die Nervenlage der Retina zieht noch über diese hinaus in das Pigmentepithel
der sog. Costalregionen, wo sie bis zu bestimmten, durch Epithelvorsprünge
charakterisirten Grenzen unter stetiger Abnahme verfolgt werden können. Auf
der ventralen Seite des Auges wenigstens wurde ein Uebergang ihrer Fasern
in grosse vom Pigmentepithel umschlossene Zellen nachgewiesen, was für ein
analoges Verhalten auf der dorsalen Seite, wo jene Zellen nur viel kleiner vor-
kommen, spricht, wo aber der Nachweis nicht geführt werden konnte. Ob jenen
Zellen die mögliche secretorische Bedeutung zugesprochen werden kann, ist vor-
läufig noch als undiseutirbar zu betrachten.
47
Es mag nun noch der Versuch gestattet sein, aus der beschriebenen An-
ordnung der pereipirenden Elemente einen Rückschluss auf die Art und Weise der
Wahrnehmung der Objecte zu machen, soweit eben lediglich anatomische Befunde zu
solehen Schlüssen Berechtigung verleihen können. Dabei haben wir mit zweierlei
Factoren zu rechnen: in erster Linie mit der Vertheilung der Pereeptionselemente
auf der Retina, und dann mit den Beziehungen der Stäbehen zu ihren Bildungszellen,
mit denen sich die leitenden Nervenfasern in Verbindung setzen.
Während auf einer Netzhaut mit gleichmässig vertheilten, also auch in gleichen
Abständen von einander sich haltenden Perceptionselementen es gleichgültig ist, in
welcher Lage das Bild eines ausserhalb des Auges befindlichen ruhenden Objectes
sich darauf projieirt, oder in welcher Richtung das Bild eines sich bewegenden Ob-
Jeetes über sie hingleitet, ergiebt ein Blick auf die Heteropodenretina, dass sowohl ihre
Form wie die Vertheilung ihrer Stäbchen eine solche einfache Annahme nicht zulässig
erscheinen lassen. Das unverhältnissmässige Uebergewicht ihrer Länge gegenüber
der Breite, an sich, d. h. bei gleichmässiger Vertheilung auf die Gesammtfläche,
weniger von Bedeutung, erhält eine recht grosse durch den Umstand, dass der Länge
nach Hunderte von Stäbchen dieht nebeneinander gereiht stehen, der Quere nach aber
nur sechs, und noch in relativ ansehnlichen Abständen von einander, sich finden.
Ein linear geformtes Objekt, dessen Bild auf eine der Längsreihen projieirt wird,
wird deshalb, wegen der fast continuirlichen Reihe Empfindung vermittelnder Einheiten,
in seiner Totalität zur Wahrnehmung gelangen können; ein sich bewegender Körper,
dessen Bahn auf einer solche Reihe der Länge nach zur Projeetion kommt, wird ebenfalls
eine deutliche Spur derselben hinterlassen. Ganz anders bei einer Projection, resp.
Bewegung senkrecht darauf, also der Breite der Retina nach. Hier wird der ruhende
wie der bewegte Körper ungleich weniger empfindende Einheiten zu erregen ver-
mögen, also wird auch eine ganz unverhältnissmässig geringere Bestimmtheit der
Wahrnehmung die Folge davon sein.
Man wird unwillkürlich versucht, nach einem Zusammenhang dieser Anordnung
der Perceptionselemente mit den Verhältnissen, unter denen unsere 'Thiere leben, sich
umzusehen. Bekanntlich schwimmen die Heteropoden mit der Bauchseite nach oben
in der Nähe des Meeresspiegels, an welchem sich in ruhigen Zeiten der „Auftrieb“,
von dem sie leben, anzuhäufen pflegt. Bei der annähernden Parallelstellung ihres
Augenhintergrundes mit der Niveaulinie der Meeresoberfläche liesse sich nun ohne
besonderen Zwang annehmen, dass an der Oberfläche der See sich hin- und her-
bewegende Objecte sich gerade in der Richtung der Stäbchenreihen auf die Retina
Ho Z—
projieiren, also in der günstigsten Richtung für die Pterotracheen, die ihre Beute er-
spähen. Thiere hingegen, die von unten nach oben zum Meeresspiegel aufsteigen,
oder von demselben zur Tiefe zurückkehren, werden auf ihrer Bahn, wenn diese
innerhalb des Sehfeldes eines Heteropoden fällt, weit weniger bestimmt wahrgenommen
werden als jene, sind also auch weniger gefährdet. Ob die hier geäusserte Ver-
muthung, welche einen Zusammenhang zwischen dem Bau der Sehorgane und der
Lebensweise der 'T'hiere durch Anpassung der ersteren an die letztere aufzustellen
sucht, sich als haltbar erweist, mag die Zukunft lehren; wer Gelegenheit hat, diese
T'hiere im Leben näher zu beobachten, wird vielleicht im Stande sein, darüber ent-
scheidendes Material zu sammeln.
Als zweites der Erörterung bedürftiges Moment ist noch der Einfluss zu be-
sprechen, welchen der Zusammenhang eines einzelnen Stäbehens mit einer Mehrzahl
von Retinazellen und dadurch mit einer Mehrzahl von Nervenfasern auf den Vorgang
der Pereeption auszuüben im Stande ist. Dass ein Heteropodenstäbehen trotz seiner
Zusammensetzung doch in funetioneller Hinsicht nur als eine Einheit aufzufassen ist,
bedarf hier noch weniger eines Beweises, als es dessen für die Rhabdome bedurfte;
hier ist es unter den gegenwärtig herrschenden Annahmen geradezu selbstverständlich,
dass ein Lichtstrahl von qualitatv wie quantitativ bestimmtem Charakter, welcher ein
solches Stäbchen seiner Länge nach durchsetzt, ‘in jedem seiner Componenten die
gleichen moleeulären Veränderungen auslösen muss. Diese Veränderungen aber
werden die zu jedem Abschnitte des Stäbchens gehörigen Retinazellen, und damit
auch die in letzteren endigenden Nervenfasern wieder in gleicher Weise erregen,
so dass also ein einziges Stäbehen in einer grössern Anzahl von Nervenfasern
gleichartige Reize auslöst. Ob diese Reize für sich zu den eentralen Nervencentren
geleitet werden, oder vorher erst in eine gemeinsame Bahn zusammenströmen, ist
für uns ein verschlossenes Gebiet, das ich gar nicht zu betreten wagte, wenn es
mir nicht schiene, als ob eine Deutung der Ganglienzellen hinter der Retina vielleicht
in diesem Sinne, sozusagen als Sammelstellen für centralwärts zu leitende gleichartige
Reize, ein gewisses Recht auf eine Prüfung beanspruchen dürfte:
49 —
Zur Morphologie des Cephalophorenauges.
Versuchen wir nun, nachdem wir in Vorstehendem den Bau des Heteropoden-
auges kennen gelernt haben, die Beziehungen desselben zu den Sehorganen der
übrigen Cephalophoren näher zu präcisiren, so ergeben sich trotz seiner Eigenthüm-
lichkeiten eine Reihe von Anknüpfungspunkten nach zwei Richtungen hin. In erster
Linie fällt seine Uebereinstimmung in seiner Gesammtarchiteetur mit dem Gastero-
podenauge in's Gewicht, und diese ist vor Allem bedingt durch die relative Einfacheit
der Struetur der lichtbrechenden Medien, namentlich der Linse. In der That ist der
Bulbus eines Heteropoden, trotz seiner sowohl absoluten wie relativen Ueberlegenheit
der Masse nach über das Schneckenauge, als Ganzes mit Leichtigkeit auf das letztere
zurückzuführen, worüber wohl schwerlich eine Verschiedenheit der Ansichten existiren
dürfte. — Betonen wir aber den Bau der Augenblase und ihrer Contenta im Ein-
zelnen, so verschieben sich die Anknüpfungspunkte merklich nach einer andern
Richtung hin; wir finden eine Reihe von Uebereinstimmungen, vor Allem in der
Struetur der Retina und ihrer Annexe, mit dem Auge der Cephalopoden, und so
bietet uns das Heteropodenauge eine Art von Mittelform zwischen diesen beiden so
weit von einander abliegenden, hinsichtlich der absoluten Höhe der Ausbildung so
fast ganz und gar nicht vergleichbaren Formen des Sehorgans, was gewiss unser
Interesse daran nicht verringern dürfte. Sagen wir demnach, dass das Heteropoden-
auge, ganz allgemein gesprochen, betrachtet werden kann als ein Schneckenauge,
das hinsichtlich seiner Perceptionsfläche (der Retina) und deren Umgebung sozusagen
bei den Oephalopoden eine Anleihe gemacht habe, so wird unsere nächste Aufgabe
sein müssen, durch den Hinweis auf das beiden Gemeinsame unsere Aussage auch
näher zu begründen.
An das Auge der Cephalopoden erinnert vor Allem das Vorkommen einer
Membrana limitans, die als Decke über die Retina diese vom Glaskörper abtrennt.
Aber nicht nur das Vorhandensein dieser Limitans ist zu betonen, sondern auch ihre
Genese; wie bei den Uephalopoden verdankt sie ihren Ursprung besonderen, zwischen
die Retinazellen vertheilten Zellen, welche, ebenfalls wie bei den Cephalopoden, ihren
Leib in feine Fasern verlängern, oder, wenn man lieber will, feine Fasern aus-
scheiden, aus deren Zusammenfliessen eben jene Limitans hervorgeht.
Zweitens findet sich auch bei den Heteropoden eine Grenzmembran, welche,
wie bei den Cephalopoden, die kernführende Region der Retinazellen scharf abtrennt
von dem Theil, welcher den Stäbchen unmittelbar den Ursprung giebt. Grenz-
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 7
membran und Limitanszellen verhalten sich aber bei den beiden hier verglichenen
Augenformen in sofern umgekehrt zu einander, als die letzteren bei den Cephalopoden
auf der Stäbehenseite der Grenzmembran, bei den Heteropoden dagegen auf der
Seite der kernführenden Abschnitte der Retinazellen gelegen sind.
Endlich wird gerade auch der Gliederung der Retinazellen in Zellkörper,
Sockel und Stäbchen, trotz einer Reihe von Verschiedenheiten gegenüber den gleich-
namigen Theilen der Cephalopoden-Retina, als einem Momente der Uebereinstimmung
eine hervorragende Bedeutung zugeschrieben werden müssen.
lch habe bei dieser Parallelisirung die Retina der Cephalopoden so aufgefasst,
wie ich sie in der ersten dieser Abhandlungen dargestellt habe. Nun sind aber seit
der Herausgabe derselben einige Arbeiten erschienen, die sich auf den gleichen Gegen-
stand beziehen, direct oder indirect Ansichten vertreten, die ich nicht theilen, und
über die mich auszusprechen ich hier nicht umgehen kann.
Zunächst habe ich es hier mit Bütschli*) zu thun, der eine nur kurze Nach-
schrift einer Arbeit eines seiner Schüler (Hilger), welcher das Gasteropodenauge
sehr eingehend studirt hat, folgen liess, in der auch meine Auffassung der Cephalo-
podenretina, z. Th. wenigstens, zur Sprache kömmt. Bütschli geht, und mit vollem
Recht, von der Ansicht aus, dass die Retinae der Cephalopoden und Gasteropoden
unter sich vergleichbar wären, und das Punctum saliens sieht er gleichfalls sehr
richtig in der Zusammensetzung beider aus zweierlei Zellenformen. Freilich deuten
wir diese Zellenformen sehr verschieden: während ich nur der einen sensorische
Function, der andern aber die Aufgabe der Limitansbildung zuweise, glaubt Bütschli
durch Hilger’s Untersuchungen den Nachweis von der Natur als Sinnesepithel für
beide Zellenformen der Schneckenretina geführt.
Prüfen wir diese Beweisführung aber etwas näher, so werden uns ihre Mängel
nicht lange verborgen bleiben. Das Wichtigste daraus führt Bütschli in prägnanter
Weise (l. ec. pag. 373) vor; es gipfelt darin, „dass beide Zellsorten mit den Opticus-
fasern in Verbindung treten und dies sowohl wie der hervorgehobene Mangel einer
Limitans nöthigt uns, die beiden Zellsorten hier für lichtempfindlich zu halten, oder
doch wenigstens den pigmentfreien Stäbchenzellen die Lichtempfindlichkeit nicht ab-
zusprechen“ etc. Aus diesen und einigen mehr untergeordneten Gründen (worunter
die Ansicht, dass die lichtempfindlichen Zellen, so weit unsere Erfahrungen reichen,
doch gewöhnlich kein intensiv gefärbtes dunkles Pigment führen sollen, sicher recht
*) Morphologisches Jahrbuch. X 1885. pag. 372—375.
unglücklich und nur auf einen lapsus memoriae zurückzuführen ist) erscheint ihn
meine Deutung der Limitanszellen als „noch ein wenig unsicher“ und er glaubt, „dass
die Vergleichbarkeit der Retinabildung der beiden Abtheilungen eine viel innigere
würde, wenn weitere Untersuchungen ergäben, dass die sog. Limitanszellen in die
Categorie der Sinneszellen gehörten“.
Das ist gewiss richtig, aber erst muss eben dieser Nachweis geführt sein, und
den Versuch darf ich wohl in Ruhe abwarten. Sollte es aber nicht möglich sein,
die morphologische Uebereinstimmung auch noch auf einem andern Wege herzustellen,
nämlich durch den Nachweis, dass auch in der Retina der Gasteropoden nur eine
Form von Sinneszellen vorkommt, die andere Form aber in die Categorie der Limitans-
zellen sich einreihen lässt? An diese Möglichkeit, die ja auch ein befriedigendes
Resultat in Aussicht stellt, scheint Bütsehli gar nicht gedacht zu haben: liegt sie
denn so weit ab? Woher stammt denn im Gasteropodenauge der sog. Glaskörper,
die Linse, deren Genese weder Hilger noch Bütschli mit einem Worte gedenken?
Offenbar hat die (von mir nicht im geringsten beanstandete) Beobachtung der Auf-
lösung der Basen in eine Anzahl feiner Fasern in beiden Zellformen, die ohne weitere
Prüfung als ein genügender Beweis für den Zusammenhang derselben mit den Opticus-
fasern angesehen wurde, so sehr den Ausschlag gegeben, dass eine andere Möglichkeit
gar nicht ins Auge gefasst wurde. Wie ich diese Interpretation betrachten muss,
ergiebt sich aus den in der vorliegenden Arbeit gegebenen Mittheilungen fast von
selber: ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass jene zahlreichen Zellenausläufer
eben auch nur Radieulae sind, wie im Heteropodenauge, und dass der wahre Zu-
sammenhang zwischen Optieusfaser und der einen der beiden Zellenformen als aus-
schliesslicher Sinneszelle erst noch gefunden werden soll.
Legt man diesem Einwande vielleicht der noch ausstehenden vollen Begründung
wegen auch weniger Gewicht bei, so kommt uns aber noch ein sehr positives Argu-
ment zu Hülfe, das die zweite der fraglichen Zellenformen ihres Charakters als
Sinneszellen zu entkleiden und sie den Limitanszellen anzunähern im Stande ist.
Dieses Argument entnehme ich der Untersuchungsreihe eines unparteiischen Dritten,
der nicht pro domo zu reden in den Verdacht kommen kann, nämlich der Arbeit von
J. Carriere über die Sehorgane der Thiere, der wir Eingangs schon gedacht haben.
Seine Darstellung des Gasteropodenauges, mit der er das Buch eröffnet, geht zwar
nieht so tief wie die von Hilger in die Verhältnisse des äussern Endes der Retina-
zellen, resp. die Innervation derselben, ein, scheint mir aber nach meinen eigenen
Erfahrungen sonst in allen wesentlichen Punkten das Richtige getroffen zu haben.
nr
Namentlich hat er die Verschiedenheit der beiderlei Zellformen richtig erkannt, und
führt sie auf ihren letzten Ursprung, auf das Körperepithel, zurück, wo sie schon
ausgeprägt ist. Seine Stäbehenzellen sind mit Hilger’s Pigmentzellen identisch,
und sie spricht er mit Recht als alleinige Träger der Sinnesfunetion an, während er
die Sekretzellen (Hilger’s Stäbehenzellen) mit der Ausscheidung des Augen-
inhaltes, sei dieser nun Glaskörper mit oder ohne Linse (Carriere fasst beide unter
der Bezeichnung „Gallertkörper“ zusammen) betraut. Durch den Nachweis der Ueber-
einstimmung in der Anordnung pigmentirter um unpigmentirte Zellen im Integument,
von denen die letzteren Drüsenzellen sind, und ebenso im Innern des Auges, wo die
Sinneszellen kranzförmig die Sekretzellen umgeben, gewinnen wir hier ein so ein-
faches, übersichtliches und nach allen Richtungen hin befriedigendes Bild von dem
Werden eines Sinnesorganes aus seinem Mutterboden, von dem es nur eine zu
specieller Leistung bestimmte, bald blos grubig eingestülpte, bald blasenartig abge-
sehnürte Parcelle ist, wie wir es sonst in der Thierreihe so bald nicht wiederfinden
dürften. Dass ich einer solchen Darstellung weitaus den Vorzug geben muss vor
der Hilger-Bütschli’schen, die ich durch jene als widerlegt betrachte, liegt auf der
Hand; sie vermittelt uns in völlig ungezwungener Weise den innigen Anschluss der
Retinae der Cephalopoden und Gasteropoden aneinander, den Bütschli auf dem
falschen Wege suchte. Doch sind zu dieser Vermittelung noch einige allgemeinere
Betrachtungen nöthig, zu denen ich gleich gelangen werde.
Zunächst habe ich noch der Darstellung, welche J. Carriere in seinem Buche
nach eigenen Untersuchungen von der Retina der Cephalopoden entwirft (l.e. pag. 36 u.f.),
mit einigen Worten zu gedenken. Mit dieser ist er entschieden nicht so glücklich
gewesen, wie mit derjenigen der Gasteropoden. Erst nach Abschluss der seinigen
sind ihm meine Untersuchungen darüber bekannt geworden, und er hat, wie er sagt,
die letzteren nur deshalb nieht einfach an die Stelle der seinigen gesetzt, weil sie
sich in einem Punkte nicht mit den Anschauungen deckten, zu welchen er durch die
Untersuchung der von mir nicht berücksichtigten Genera Zo42o und Sepzola gelangt
war. Ich selbst finde freilich in fast allen Punkten, nicht nur in einem, unversöhn-
liche Dissonanzen zwischen seinen und meinen Ansichten; ich kann sie aber nicht
allein auf den Umstand zurückführen, dass er und ich verschiedene Genera studirt
haben. Mir sind jene Bilder wie sie Carriere auf pag. 38 giebt, sehr wohl bekannt;
ich weiss aber auch, dass sie lediglich an schlecht eonservirtem Materiale zu erhalten
sind, und das war ja auch der Hauptgrund, warum meine eigenen Untersuchungen
sich auf so wenige Formen beschränken mussten, wo mir das Material wirklich Aus-
+
sicht auf Erfolg versprach. Jedenfalls wird mir Carriere zugestehen müssen,
wenn er meine Resultate einer unbefangenen Prüfung unterwirft, dass sie sich weit
besser mit seinen an den Gasteropoden gewonnenen Ansichten in Einklang bringen
lassen, als es ihm bei seiner Auffassung der Cephalopodenretina gelingen dürfte;
namentlich wenn man die Limitanszellen nur als etwas modifieirte „Sekretzellen“
betrachtet.
Die hiermit abgeschlossene Digression führt uns trotz ihres theilweise persön-
lichen Inhalts schon merklich in den Gedankengang ein, den der nachfolgende Ver-
such einer morphologischen Verknüpfung der verschiedenen Augenformen der cepha-
lophoren Weichthiere ausführen soll. Auf den ersten Anblick scheint ein solcher
Versuch wenig Aussichten zu bieten: von einer einfachen grubenförmigen, mit Pigment
versehenen Einziehung der Oberhaut, wie sie z. B. eine Pafella als Auge zeigt, bis
zu dem mit dem Wirbelthierauge an Complication rivalisirenden Sehorgan eines
dibranchiaten Cephalopoden ist anscheinend ein unermesslicher Sprung. Aber die
Entwickelungsgeschichte und eine richtige Interpretation der anatomischen T'hatsachen
überbrücken die Kluft dennoch. Einzelne Lücken in der ersteren, wie sie z. Z. noch
für das Heteropodenauge existiren, dürfen uns deshalb nicht von dem Versuche zurück-
schreeken; wir kennen nunmehr seinen Bau wenigstens leidlich genug, um ihm keinen
Weg für seine Genese zutrauen zu müssen, der in irgend einer nennenswerthen
Weise abseits führte von dem, welchen wir für unsern Zweck reichlich genügend
für die nächsten Verwandten, die Gasteropoden und Cephalopoden, vorliegen sehen.
Diese Entwickelungsvorgänge, die von der einfachen Einstülpung ausgehende, und
nach complieirten Vorgängen mit dem Cephalopodenauge endigende Reihe unter sich
vergleichbarer Processe darf ich wohl auch bei dem mit dem Gegenstande nicht ganz
speciell Vertrauten als bekannt voraussetzen; sie demonstriren zur Evidenz die Iden-
tität der Grundlage, die typische Uebereinstimmung des Oephalophorenauges. Wer
sich davon überzeugen will, wie weit diese geht, werfe nur einen Blick auf ein
normal entwickeltes Schneckenauge und auf ein eben geschlossenes, mit der ersten
Anlage der Linse (die zum innern Segment der fertigen Linse wird) ausgerüstetes
Auge eines dibranchiaten Cephalopodenembryo.
Aber neben dieser Uebereinstimmung in den grossen Grundzügen der Organi-
sation laufen eine Anzahl von Differenzen im Einzelnen her, die jene wieder aufzu-
heben scheinen. Ich möchte in der That den bisherigen, gewiss unbefriedigenden
Zustand der morphologischen Auffassung des Cephalophorenauges, wie er in den
gebräuchlichen Lehrbüchern der Zoologie und vergleichenden Anatomie seinen Ausdruck
z = 54 ES,
findet, lediglich darauf zurückführen, dass man vor lauter einzelnen Divergenzen das
Gemeinsame übersah, und sich in dem Detail verlor, dem man eine Bedeutung zu-
schrieb, die es, wie ich nun zu zeigen versuchen werde, nicht beanspruchen kann.
Bei der später zum Auge sich ausbildenden Einstülpung der Haut eines
Cephalophoren gehen zweierlei Elemente in die Bildung derselben ein, die anfänglich
für unsere optischen Hülfsmittel sieh nieht auseinanderhalten lassen, später aber so-
wohl morphologisch wie funetionell sich scharf von einander sondern. Die erste der
Formen ist dazu bestimmt, den physiologisch bedeutsamsten Theil des Auges zu
bilden, die Retina, deren Elemente wohl in den verschiedenen Sehorganen mannig-
faltige Modificationen erleiden können, über deren morphologische Gleiehwerthigkeit
indessen sich trotzdem schwerlich eine Verschiedenheit der Ansicht geltend machen
lässt. Anders sieht es mit der zweiten Categorie aus, deren Funetionen sich nicht
als so einheitliche darstellen, und deren Habitus in Folge davon auch ein äusserst
variabler ist. Einen bedeutsamen Fortschritt in der richtigen Würdigung ihrer
funetionellen wie morphologischen Stellung sehe ich in der oben schon besprochenen
Auffassung, welche J. Carriere für sie vertritt, doch ist er meines Erachtens auf
halbem Wege stehen geblieben. Seine „Sekretzellen“ des Gasteropodenauges,
denn um diese handelt es sich hier, gehören nicht nur den Gasteropoden unter den
cephalophoren Mollusken an, sondern sie finden sich aueh bei den Heteropoden und
Cephalopoden wieder, bei letzteren aber in einer Reihe von eigenartigen Modifieationen.
Während J. Carriere ihre sichtbaren Leistungen im Gasteropodenauge noch mit
einem einzigen Ausdruck („Gallertkörper“) zusammenzufassen wagen durfte, obschon
häufig genug auch bei diesem schon eine Differenzirung in zwei verschiedene Theile
vorkommt, die man herkömmlicher Weise als „Glaskörper“ und „Linse“ auseinander
zu halten pflegt, decken sich namentlich bei den Öephalopoden ihre Funetion und
ihr Produkt nicht mehr so innig mit jenen Namen, dass ich sie auch dafür noch für
verwerthbar halten könnte. Ich möchte deshalb für diese Zellen den Namen Emplem-
Zellen, und für ihr Produkt den Namen Emplema oder Emplem*), in Vorschlag
bringen, die sich beide mit meinen Vorstellungen von ihnen besser in Einklang
bringen lassen.
Unter Emplemzellen im Auge der Cephalophoren verstehe ich alle
irgend epithelialen Zellen, welche nicht notorisch als Sinnesepithel anzu-
*) Abgeleitet von zurisAnue (anfüllen, To nAnoue, aAnue, die Ausfüllungsmasse, das was
anfüllt ete.).
sehen sind; ich schliesse also nur die eigentlichen Retinazellen, soweit sie als
stäbchenbildende Perceptionseinheiten fungiren, von ihnen aus. Unter Emplem
verstehe ich in Consequenz davon alle von den Emplemzellen gelieferten
Producte, welche im Innern des Auges auftreten, und ohne Rücksicht
darauf, ob diese Producte flüssig, gallertartig oder fest, ob sie geformt
oder ungeformt sich darstellen.
Die hier vorgeschlagene Benennung verfolgt in erster Linie den Zweck, das
allen Formen des Emplems Gemeinsame in den Vordergrund treten zu lassen gegen-
über den Verschiedenheiten, die in den einzelnen Augenformen sowohl, als in den
verschiedenen Regionen eines und desselben Auges auftreten können, und diese so
als nur secundäre, mehr untergeordnete Phänomene zu bezeichnen. Auf eine Be-
seitigung der andern üblichen Termini hommt es dabei keineswegs an, ebensowenig
wie die Aufstellung eines besonderen Classennamens im System die Namen der Ord-
nungen, Familien etc. überflüssig machen will.
Wie ich mir die Sache denke, werden folgende Ausführungen näher klar
machen.
In den Augen der Gasteropoden ist das Emplem sehr einfach und wenig
differenzirt, vor Allem ohne geformte Elemente. Bald erfüllt es die Augenblase nur
als eine structurlose, überall gleichartige gallertige Masse („Glas- oder Gallert-
körper“), bald scheidet sich in dieser noch eine ebenfalls strueturlose, aber von der
Grundmasse mehr oder weniger sich abgrenzende sphäroidale, auch dureh ihre stärkere
Consistenz wie durch höheren Brechungsindex auffallende Linse aus. — Dem ent-
sprechend sind auch die Emplemzellen nur wenig differenzirt; als solche dürfen wir
wohl das sog. innere Corneaepithel, und dann die zwischen den Retinaelementen ein-
gestreuten „Sekretzellen“ (J. Carriere) oder „Stäbchenzellen“ (Hilger-Bütschli)
in Anspruch nehmen.
Etwas höher complieirt erscheint das Emplem des Heteropodenauges. Auch
hier wird zwar die Hauptmasse desselben gebildet von einer gallertartigen Substanz,
dem structurlosen „Glaskörper“, aber eine bedeutende Entwickelung erreicht in, oder
besser gesagt, vor diesem die Linse, die ebenfalls noch, wie bei den Gasteropoden,
structurlos ist, d. h. nieht aus geformten Elementen besteht. Zu den genannten unter
den Begriff des Emplema fallenden Bestandtheilen kommt nun aber noch ein neuer,
den Gasteropoden soviel wir wenigstens wissen noch fehlender hinzu: die Limitans,
entstanden aus Fasern, welche zwar in der fertigen Limitans selbst als solche nicht
mehr nachweisbar sind, die aber wohl als Fäden von den zwischen den Retinazellen
eingestreuten Emplemzellen (Limitanszellen) zur Limitans hin verfolgt werden können.
Im Uebrigen verhält sich die Limitans zum amorphen Glaskörper etwa wie die
Linse: sie besitzt wie letztere eine bestimmt abgegrenzte selbständige Form und
einen besonderen Brechungsindex. Mit dem Auftreten dieses neuen Differenzirungs-
produktes des Emplems treten auch weitere Differenzirungen der Emplemzellen auf;
ausser dem Cornea- und dem Pigmentepithel kommen die sehr wesentlich in ihrem
Habitus abweichenden Limitanszellen zur Geltung, die hier allein sich in die Retina
hinein erstrecken; eine weitere Form würden noch die oben beschriebenen räthsel-
haften Zellen darstellen, wenn es gelänge, ihre Function als Sekretzellen über jeden
Zweifel hinaus sicher zu stellen.
Die grösste Differenzirung zeigt das Emplem aber. wenn wir von Mautilus
absehen, bei den Cephalopoden. Hier finden wir neben dem gallertigen oder fast
wasserflüssigen Glaskörper, welchen das Cephalopodenauge mit dem der Gasteropoden
und Heteropoden, sowie neben der aus Fasern entstehenden Limitans, welche es blos
mit dem letzteren gemeinsam hat, auch eine Linse, welche nicht nur aus Fasern ent-
steht wie die Limitans, sondern auch diese Entstehung aus geformten Elementen
zeitlebens erkennen lässt. Ich betrachte demnach auch die Zellen des Corpus
epitheliale, denen die Ausscheidung der Linsenfasern obliegt, nur als Emplemzellen,
morphologisch und (wenigstens generell) physiologisch gleichwerthig einerseits den
Zellen des Pigmentepithels (zwischen Linsenrand und Retina), welche den Glaskörper,
andrerseits den Limitanszellen, welche die Limitans liefern — aber ebenso auch
gleichwerthig mit den „Seeretzellen“ im Auge der Gasteropoden, welche nur einen
„Gallertkörper“, eventuell auch eine linsenartige Coneretion in diesem zu liefern
bestimmt sind.
Nun besteht aber die Linse des Cephalopodenauges aus zwei Segmenten, von
denen nur das innere innerhalb der dem Gasteropodenauge in toto vergleichbaren
(primären) Augenblase seinen Ursprung hat, das äussere aber eine Neubildung sui
generis, eine Art von accessorischer Auflagerung darstellt. Als Emplem in des
Wortes engster Bedeutung können wir demnach, streng genommen, dieses äussere,
resp. vordere Linsensegment füglich nicht mehr bezeichnen, trotzdem der Bildungs-
modus mit dem des innern Segmentes in allen Einzelheiten sonst absolut identisch
ist. Bei rigoroser Auffassung würde es also gestattet sein, das äussere Segment als
etwas von dem innern Verschiedenes durch eine besondere Bezeichnung, etwa Epiplem,
besonders abzutrennen, obgleich ich, offen gestanden, Zweifel an der Nothwendigkeit
einer solchen speciellen Bezeichnung als durchaus berechtigte gerne anerkenne.
Dass bei Nazti/us das Emplem eine sehr geringfügige Rolle spielt, mag hier
noch flüchtig erwähnt werden. Ob im Leben das Thier eine Art von Glaskörper in
seiner mit der Aussenwelt commmunieirenden Augenkammer hat, ist m. W. noch nicht
constatirt. Wenn meine in der frühern Abhandlung versuchte Deutung auf Richtigkeit
Anspruch machen kann, was zu entscheiden die Aufgabe späterer Untersuchungen
sein dürfte, so würde sich vielleicht das ganze Emplem bei Vaxzi/us auf die Limitans
beschränken.
Wenn meine hier dargelegte Ansicht von der Natur des Augeninhaltes, also
wesentlich des dioptrischen Apparates des Auges der Cephalophoren, Zweifeln oder
Bedenken begegnen sollte, so dürften diese wohl weniger aus der Natur der so ver-
schiedenartig constituirten Sekrete, die ich als Emplem zusammenfasse, ihre Nahrung
ziehen, sondern wohl eher aus dem an verschiedenen Stellen recht verschiedenen
Habitus der Emplemzellen. Diese bieten in der 'T'hat bei den hier in Betracht
kommenden Thierclassen ebenso bedeutsame Formverschiedenheiten dar, wenn man
z. B. die an correspondirenden Stellen verschiedener Augen vorkommenden, also am
ehesten zur Vergleichung unter sich auffordernden Elemente zusammenstellt, als
wenn man die Emplemzellen von verschiedenen Stellen eines und desselben höher
differenzirten Auges mit einander vergleicht. Aber mag die Vergleichung in dieser
oder in jener Riehtung geschehen, die Gemeinsamkeit der Funetion ist ebensowohl
vorhanden, wie die Gemeinsamkeit des Ausgangspunktes der verschiedenen Zellen-
formen. Die von den einzelnen Zellcategorien gelieferten Sekrete werden unter sich
wohl gewisse chemische Verschiedenheiten aufweisen, wie sie sich auch physikalisch
hinsichtlich ihrer Consistenz von einander unterscheiden; von letzterer hängt es ja ab,
ob das Produkt der einzelnen Zelle eine gewisse dauernde Selbständigkeit behält
(wie bei den Fäden der Zellen des Corpus epitheliale der Cephalopoden, die als
Linsenfasern persistiren), oder ob es mit dem der Nachbarzellen sich vermischt oder
verschmilzt (z. B. zum gallertigen Glaskörper), — diese Unterschiede sind aber, wie
ich wenigstens glaube, nicht wesentlichere, als der zwischen dem flüssigen Urin der
Säugethiere und dem breiigen der Vögel. Aber auch hinsichtlich der Differenzen
der Form- und Grössenverhältnisse der Emplemzellen dürften nur aus diesen selbst
hergeleitete Einwendungen, wie ich glaube, kaum allzuschwer in’s Gewicht fallen,
namentlich dann nicht, wenn man noch zugiebt, dass deren Form und Inhalt nicht
nur durch ihre sekretorische Hauptfunktion, sondern auch noch durch accessorische
Nebenfunktionen (z. B. Abblendung des seitlich einfallenden Lichtes und dgl.) mit
bestimmt wird. So sind z. B. die Zellen der Augenblase der Gasteropoden, welche
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 8
die Einstülpungsöffnung verschliessen (das sog. innere Corneaepithel), völlig klar und
durchsichtig; ob und wieviel sie zu der Absonderung des Emplems beitragen, lässt
sich freilich z. Z. noch kaum bestimmen; ebenso scheinen die zwischen die Retina-
elemente eingestreuten Emplemzellen allgemein pigmentfrei zu sein. Aber bei den
Heteropoden sind die seitlich hinter dem Cornearand folgenden Mantelflächen des
Augenkörpers von Epithelien von verschiedener Form und Grösse, die theils pig-
mentirt, theils pigmentfrei sind, der Hauptsache nach gebildet, ohne dass wir nach
unseren anatomischen Untersuchungen daraus eine Verschiedenheit in ihrer Betheiligung
an der Ausscheidung des Glaskörpers herzuleiten im Stande wären. Auch die
Limitanszellen dieser Thiere treten wieder ganz anders auf mit ihrem auf's Aeusserste
verschmächtigten Körper, und jedenfalls führen sie, wenn überhaupt, doch sicher in
der Umgebung der Kerne keinen Farbstoff. — Am weitesten aber gehen die Emplem-
zellen hinsichtlich ihrer Formverhältnisse auseinander bei den Cephalopoden; die zur
Bildung der Linse bestimmten haben eine überraschende Aehnlichkeit mit Ganglien-
zellen, wofür sie ja auch vor noch gar nicht so langer Zeit einmal ausgegeben
wurden; auf diese folgt nach innen bis zum Retinarand als recht grosser Gegensatz
dazu eine ringförmige Zone, bedeckt mit einem ganz normal gestalteten Pigment-
epithel, welches den Glaskörper auszuscheiden hat, und zwischen den Retinazellen
eingestreut liegen, wieder abweichend genug gebaut, die minimalen Limitanszellen,
für die das bei Gelegenheit der Heteropoden Gesagte im Wesentlichen ebenfalls
Geltung behält. Aber, ich wiederhole es, trotz all dieser grossen Verschiedenheit
in ihrer Erscheinungsweise und der geringfügigeren hinsichtlich ihrer Hauptfunktion
halte ich diese sämmtlichen Elemente nur für specielle Modificationen einer einzigen
Urform, einer einzelligen Drüse.
Für die eigentlich sensorischen Zellen der Retina wird, trotzdem ihre Form-
verschiedenheit in den Augen der drei Classen ebenfalls eine nicht unbeträchtliche
ist, durch das Einheitliche ihrer Funetion wohl von vornherein ein jeder Zweifel
auch an ihrer morphologischen Vergleichbarkeit unter sich als ausgeschlossen be-
trachtet werden dürfen. Ob wir in der weiten Reihe der fraglichen Augenformen
diejenige Substanz, in deren moleeuläre Veränderung unter dem Einflusse des Lichtes
wir die erste Etappe für das Zustandekommen der subjeetiven Liehtempfindung ver-
legen, vom Zellenleib in Gestalt eines Stäbehens gesondert erblicken, oder nicht; ob
dieses Stäbehen durch einen differenzirten Abschnitt des Zellenkörpers (Sockel) ge-
tragen wird, oder ihm ohne eine solche Vermittelung aufsitzt; ob die Stäbehen für
sich isolirt bleiben, oder in Form von Rhabdomen sich seitlich an einander, oder aber
59
wie bei den Heteropoden sich über einander zusammenfügen; ob endlich ihre Substanz
mehr homogen, oder in Plättchen zerfallen ist — das Alles übt auf unser Urtheil
in diesem Sinne keinen Einfluss. Diese Verhältnisse mögen von grösster Bedeutung
für das Quantum und den Modus der Leistung sein, für das Quale derselben sprechen
sie ebensowenig mit, wie sie für die morphologische Deutung als Derivate von einer
einzigen Urform in Betracht kommen. Wenn wir hier für die physiologisch in erster
Reihe stehenden Bausteine des Sehorgans eine Homotypie als selbstverständliche
Coneession an die morphologische Auffassung voraussetzen, warum sollte eine gleich-
artige Homotypie der Elemente zweiten Ranges, wie sie oben ausführlich motivirt wurde,
nicht ebensogut unsern morphologischen Anschauungen einverleibt werden können ?
Von besonderem Interesse ist es übrigens noch, dass der Begriff der Emplem-
zellen auch noch ausserhalb des Typus der Weichthiere der Verwendung fähig
ist. Ich denke hierbei an das von Carriere nachgewiesene Vorkommen derselben
in den Augen der Chaetopoden, wo sowohl ihre Anordnung, wie ihr Verhalten
zu Glaskörper und Linse (Emplem) ganz dasselbe zu sein scheint, wie bei den
Cephalophoren. Ich darf hier wohl die Bemerkung einfügen, dass ich sie auch
im Auge der Aleiopiden beobachtet habe, wo sie sowohl Carriere, als seinen
Vorgängern (Greef, V. Graber) entgangen waren. Sie sind übrigens nicht allzu-
reichlich in ihnen enthalten. Indessen dürfte es vorläufig doch wohl noch gerathen
sein, die Homologie zwischen ihnen und denen der Cephalophoren nicht allzu nach-
drücklich zu betonen.
Auch an die Darstellung vom Baue der Seitenaugen der Scorpione, wie sie
E. Ray Lankester und Bourne‘) gegeben haben, wird man unwillkürlich erinnert.
Während bei den centralen Hauptaugen dieser Thiere die Zellen des Glaskörpers,
welche die Cornealinse als Cutieularbildung ausscheiden, bekanntlich zwischen Linse
und Retina für sich ein abgeschlossenes Stratum bilden, sind in den Seitenaugen die
Zellen des Glaskörpers und die Retinaelemente, ganz wie die Emplem- und Retina-
zellen der Gasteropoden und Chaetopoden, unter einander gemischt, und bilden zu-
sammen eine einzige Zellenlage. Aber die ununterbrochene Continuität der Outieular-
linse mit der allgemeinen Leibescutieula bei den Scorpionen bildet ein Moment, das
eine scharfe Auseinanderhaltung erforderlich macht.
*) E. Ray Lankester and A.G. Bourne, The Minute Structure of the Lateral and the
Central Eyes of Scorpio and of Limulus; in: Quarterly Journ. of Mikr. Se. Vol. XXIII. New. Ser. 1883.
pag. 177 u.fi. Taf. XXI.
8*
— 60 —
Da ich gerade die Scorpione berührt habe, so möge mir noch eine Schluss-
bemerkung verstattet sein, welche das Verhältniss des Arthropodenstemma zum
Facettenauge angeht. Auch Bütschli hat in seiner schon eitirten Nachschrift zu
Hilger’s Aufsatz (l. ec. p. 374— 375) seine Zustimmung zu der Ansicht von -Ray
Lankester und Bourne ausgesprochen, wonach das Facettenauge nicht durch Aggre-
gation von zahlreichen Einzelaugen, sondern umgekehrt durch Segregation einer an-
fänglich gleichförmig beschaffenen Retina in Einzelaugen hervorgegangen zu denken
wäre. Er beruft sich dabei auf die Phyllopoden, deren Augen allein in der Retina
eine Zusammensetzung aufweisen, an welcher die Cornea nicht partieipirt, und betont
dabei das (palaeontologische) Alter derselben; auch werden die Gruppenbildungen der
Retina-Elemente des Schneekenauges herbeigezogen, um die Möglichkeit einer solchen
Segregation zu versinnlichen. Dass diese Argumente soviel Gewicht haben sollen,
wie Bütschli anzunehmen scheint, möchte ich vor Allem aus dem Grunde bestreiten,
weil keines derselben die eigentliche Hauptschwierigkeit auch nur streift, geschweige
denn beseitigt. Eine Umwandlung eines einfachen Auges mit concaver Retina und
convexer Cornealinse setzt doch schon das Vorhandensein beider Bestandtheile voraus,
und nicht minder das Vorhandensein selbst auch wieder das Funetioniren derselben
in ganz bestimmter Weise (durch Bildprojeetion nach dem Prineip der Camera obscura).
Eine Zerfällung eines solchen einheitlichen Sehorgans in eine grössere Anzahl von
subordinirten Einzelaugen lässt sich zwar ganz leicht hypothetisch aussprechen, so
lange man vergisst, dass das daraus resultirende Gesammtauge in ganz anderer
Weise (nach dem Prineip der Isolation) zu functioniren bestimmt ist; sie lässt sich
aber um so schwerer in ihrem Hergang vorstellen, wenn man sich die ganz natur-
gemässe und deshalb nicht abzuweisende Bedingung gefallen lassen muss, dass das
Organ während seines Umbaues seine Leistungsfähigkeit nicht grösstentheils oder
ganz einbüssen soll. So lange daher nicht ein Modus angegeben wird, nach welchem
ein solcher Umformungsprocess vereinbar ist mit der ungeschwächten Leistungs-
fähigkeit eines schon recht entwiekelten Organes, kann meiner Ansicht nach jene
Annahme, zu der nun auch Bütschli sich bekennt, nicht Anspruch darauf erheben,
als eine natürlichere Lösung betrachtet zu werden, denn sie fügt zu den schon vor-
handenen Schwierigkeiten nur noch eine neue, und, wie ich fast glauben möchte,
eine unüberwindliche hinzu.
Da die Gruppirung der Retina-Elemente der Gasteropoden ihren zureichenden
Grund in der entsprechenden Vertheilung der analogen Zellen der Epidermis dieser
— 61
'Thiere hat, werden wir ihr hoffentlich nicht wieder als Argument für «die Zusammen-
hänge der Stemmata und Facettenaugen der Arthropoden begegnen.
Ein von Carriere (l. c. pag. 188, 189) herrührender, auf unstreitig rationellerer
Basis (den embryologischen Vorgängen) stehender Versuch, die Controverse zu
lösen, dürfte bei genügender Vermehrung des thatsächlichen Materiales wohl mehr
Aussicht haben, zur Klärung beizutragen; doch ist hier nicht der Ort, näher darauf
einzugehen.
Erklärung der Abbildungen auf Taf. I und I.
A. Erklärung einiger öfters wiederkehrenden Bezeichnungen.
Be): — Ventrale, dorsale Seite des Auges.
CEBRE Glaskörper desselben.
Pig. E., Pig. E. = Pigmentepithel der ventralen und dorsalen Seite.
|
Lim. — Membrana limitans s. homogenea.
Lim. f. — Limitansfasern.
Lim. Z. — Limitanszellen.
I 2% — Kernführender Abschnitt der Retinazellen.
Sck. — Stäbehensockel.
St. — Stäbehen, deren Reihen durch die Ziffern 7—6 bezeichnet sind.
R. Sp. — Retinaspalte.
Gr. —= Grenzmembran.
GE. — (ireulärfasern.
Ca. — (Carina des Auges.
©. — (utieuläre Hüllhaut desselben.
M. retr. — Dorsaler musculus retractor.
Ver: — Nervenfaserlage der Retina.
A — Einzelne Fasern derselben bei ihrem Eintritt in die Retinazelle.
N — Fortsetzung der Nervenbündel in die Costalregionen.
Retic. — Reticulum.
Rad. — Radieulae der Retinazellen.
Rad.‘ — Radiculae des (ventralen) Pigmentepithels.
Gang. — Ganglienzellen der Retina.
By LE — Zellen unbekannter Bedeutung in der ventralen und dorsalen Costalregion.
N. op. — Nervus optieus.
Co., Co. — (ornea, resp. deren Fragmente.
B. Erklärung der Figuren.
Male
Fig. 1—3. Ansichten eines linken Auges von Pleroirachea coronata bei ganz schwacher Vergrösserung.
Fig. 1. Ansicht von der Dorsalseite. Fig. 2. Ansicht von der Ventralseite. Fig. 3. Ansicht vom
äussern Rande. — In Fig. 1 ist die Cornea nach ihrer ungefähren Erstreckung und Form in
unverletztem Zustande durch die Linie Co. angedeutet; Z.—= Linse. Nie Buchstaben a&—c
Fig. 4.
Fig. 5.
Fig. 6.
Fig. 7.
Fig. 8.
Fig. 9.
Fig. 10.
————— 63 —
und a—c‘ bedeuten die gleichen stärker pigmentirten Streifen in ihrem Auftreten auf den
verschiedenen Seiten des Auges, worüber der Text zu vergleichen ist. Bei * eigenthümliche
Falte vom Schnabel der Carina zur Mantelfläche des Auges.
Längsschnitt durch die hintere Augenpartie; senkrecht auf die Ebene der Carina, zeigt also
die Retina (%.) und Limitans im Querschnitt (Zeiss, Obj. AA. Oe. 2 52/,),. a—c und a'—.c‘
wie in Fig. 1—3. Zur allgemeinen Orientirung über das Auge bestimmt.
Querschnitt der Retina und der nächsten Umgebung, um die Pigmentvertheilung und die all-
gemeinen Beziehungen der Augenbestandtheile in der Retinaregion des Auges zu zeigen. Die
Carina (Ca.) ist bloss angedeutet (DD. 2 *"/,).
Membrana limitans, isolirt, von der retinalen Seite gesehen. An dem einen Ende hängt noch
ein Restehen Glaskörper (@. X.). .Die Zahlen /—6° bezeichnen die Leisten, welehe den
gleichbezeichneten (ohne Index) Stäbehenreihen der Retina in Fig. 5 entsprechen. — Bei *
eine kleine Verletzung, bei ** Convergenz der Leisten, entsprechend der Convergenz der
Stäbehenreihen in Fig. 11° (Taf. II) (AA. 2. ’?/,).
Ein _ kleines Stück der gleichen Membrana limitans, um den Ursprung der Limitansfasern zu
zeigen (H. Imm., 2; 130/,). h
Querschnitt durch die Retina, deren Sockel theilweise zerstört sind (vgl. den Text); besonders
um die auf der linken Seite der Abbildung zwischen den Stäbehen herausgezogenen Limitans-
fasern (Zim. f.) in ihrem Zusammenhang mit der Membran zu zeigen (H. Imm., 2; 430/,) (von
einem kleineren Auge).
Theil eines Quersehnittes durch die Retina, aus dem die Limitans entfernt ist; Pigment zer-
stört; zeigt besonders das Verhalten der kernführenden Abschnitte der Retina zu den Sockeln,
und dieser zu den Stäbchen; ausserdem die Streifung, resp. Plättehenstruetur dieser letztern
(H. Imm., 2; #30/,). (Von einem grössern Auge.)
Ganglienzellen der Retina, sowie die basalen Enden der Retinazellen (R. Z), um die Ein-
lagerung und Vertheilung der ersteren zwischen den Nervenfasern und in das Retieulum zu
zeigen. — Der linke Rand der Zeiehnung entspricht der dorsalen Seite des Auges (!/j,”
Homog. Imm., 2; 5%/,).
Par.
Fig. 11°, 11®. Flächenschnitt durch die Retina eines kleinen Auges, um die reihenartige Anordnung
der Stäbchen zu zeigen. Die Sockel sind wegen des zu kleinen Massstabes nur im Allge-
meinen angedeutet. Von den Stäbehenreihen sind blos die mit 2—6 bezeichneten ihrer ganzen
Länge nach getroffen, die erste nur auf zwei kürzeren, nicht zusammenhängenden Strecken (rechts
in der Figur 11?). — Fig. 11? ist mit CC, 2 ('#5/,) wiedergegeben, 11”, lediglich um als Ueber-
blick zu dienen, nach nur 30facher Vergr.
Fig. 12.13. Querschnitte durch die Retinazellen, erstere in der Gegend des Kernes, letztere eine
Fig. 14.
Strecke darüber. — In der Kerngegend findet sich eine axial gelegene nicht gestreifte Proto-
plasma-Anhäufung, aber nur ein geringer gestreifter Wandbeleg; weiter nach oben ist erstere
verschwunden, dafür ist der Wandbeleg entsprechend verstärkt (!/‚s“ Homog. Imm., 2; °!0/,).
Aus einem Flächenschnitte der Retina; Querschnitte durch eine Anzahl von Stäbehen der
Reihen £ und 5, sowie der zugehörigen Sockel darstellend. (Die Granulirung der letzteren
ist etwas zu grob ausgefallen.) Zwischen den Stäbchen sind die feinen Querschnitte von
Limitansfasern zu bemerken (Zim. f.) (!/ıs“ Homog. Imm., 2; °1%/,).
Fig. 15.
Fig. 16.
Fig. 17.
Fig. 18.
Fig. 19.
Fig. 20.
Camera
4—( Querschnitte der Stäbchen an andern Stellen, auch mit Limitansfasern (Gl. Vergröss.).
Ein Stück eines Quersehnittes, Randpartie, um das Verhältniss der Nervenfasern zu den Retina-
zellen, ferner das der letzteren zu den Radiculae zu zeigen. Im Innern der Retinazellen
sieht man um den Kern die axiale granulirte Protoplasmamasse, über welche der gestreifte
Wandbeleg sich hinzieht. (Dieselbe Vergr.).
Aus einem Flächenschnitt der Retina, Randpartie, um die Theilung der Retinazellen in die
Radieulae zu zeigen. (Gleiche Vergr.).
Schema, um die Verhältnisse, welche in Fig. 16 und 17 nach Präparaten gezeichnet sind, per-
spectivisch zu verdeutlichen.
Stück aus einem Längsschnitt durch das Auge, aus der ventralen Costalregion, um die in das
Pigmentepithel (Pig. Zp.) eingelagerten Zellen (Z.) räthselhafter Bedeutung, sowie deren Zu-
sammenhang mit Fasern der Nervenstränge (N. /.“), endlich die Radieulae des Pigmentepithels
(Rad) zu zeigen. (!/ı»“ Homog. Imm. 2; 505/,).
Aus einem Flächenschnitt dureh die Retina, in dem Niveau der Retinaspalte, unweit der
Grenzmembran, um die Vertheilung der Zellen in ihr, sowie die horizontalen, vermuthlich mit
den Cireulärfasern zusammenhängenden, sie ausfüllenden Fasern zu zeigen. — Die kleinen,
zwischen den Zellkernen zerstreuten Punkte sind Querschnitte von Fasern. welche zur Grenz-
membran aufsteigen (vgl. Fig. 9, 2. Sp.) (H. Imm., 2; 23%/,).
(Mit Ausnahme der Fig. 1—3 und Fig. 18 sind alle Abbildungen mit Hülfe der Abbe&’schen
lucida entworfen.)
beiträge
zur
Kenntniss fossiler Hölzer
von
Gregor Kraus.
III. Die Göppert'sche Protopitys Bucheana. Mit 2 Tafeln.
IV. Kritik fossiler Taxaceenhölzer. Mit 1 Tafel.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 9
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Ill. Die Göppert'sche Protopitys.
|! )as im Vorstehenden genannte, merkwürdig gebaute Holz wurde zuerst‘) im
Jahre 1544 von Göppert in seiner Bearbeitung der Fossilien für Wimmer’s schle-
sische Flora (II, 218) unter dem Namen Araucarites Buchianus aus dem Uebergangs-
kalk von Schlesisch-Falkenberg erwähnt; aber erst 3 Jahre später gab Unger in
der Chloris protogaea (p. 31), wohl nach Göppert’schen Präparaten oder Daten, eine
Beschreibung des Baues, in welcher die merkwürdigen „por! compressi umiseriales
contıgw“ als das unterscheidende gegenüber andern Arten hervorgehoben; im übrigen
darin kein Grund gefunden wurde, das Holz von Hölzern mit Porz contigw d. h. der
Gattung Pinites Witham (Araucaroxy/on) zu trennen. Den Unger’schen Namen Pinites
Göpperti änderte Endlicher in der Synopsis Coniferarum (p. 300) in Dadoxylon Bu-
‚chianum, ohne im Uebrigen etwas Neues zu bringen.
Erst in der ausführlichen Beschreibung des Holzes, welche 1850 Göppert in
der „Monographie der fossilen Coniferen“; (hier ist auch auf Taf. 37 Fig. 4—7 und
Taf. 38 Fig. 1—2 die erste Abbildung des Holzes gegeben) veröffentlichte, hebt
dieser mit Recht hervor, dass die Treppenporen eine Trennung von allen andern
Hölzern verlangen: „Diese eigenthümliche Form, die wir als eine Mittelform zwischen
porösen und Treppengefässen betrachten, entfernt die vorliegende Art auffallend
von allen Coniferen, während sie sonst ihnen ähnlich, und wie dies fossilen Pflanzen
und Thieren älterer Formationen wohl eigen ist, Kennzeichen mehrerer Gruppen in
sich vereinigt, wie die zonenlose Beschaffenheit des Holzes von Araucarzıtes und die
einfachen Harzgänge der Cupressineen. Aus diesen Gründen konnte unsere Art un-
*) Dass die schon früher von Witham (7he internal structure of fossil vegetables 1833 8. 40 ft.
und Taf. VIH Fig. 7—12 beschriebene Anabathra pulcherrima mit unserm Holze identisch sei, möchte
ich, bei aller Wahrscheinlichkeit, doch nicht mit Bestimmtheit behaupten.
9*
— 68 —
möglich bei der Gattung Araucarites bleiben, sondern nur zu einer eigenen neuen
Gattung erhoben werden, für die wir einen Namen wählen, der zugleich die geologische
Epoche andeutet, in welcher sie erst vegetirte.“
Die von Göppert gegebene Beschreibung und Abbildung lässt nach den heutigen
Anforderungen an solche mancherlei zu wünschen übrig; ein gut Theil des Mangel-
haften darf wohl auf Rechnung des schlechten Erhaltungszustandes seines Holzes
gesetzt werden. Denn das Stück war verkalkt. Es handelt sich aber um ein Holz,
das eine eingehendere Prüfung vollauf verdient, ein Holz, das zwar in den Mark-
strahlen und nach dem Bau aus blossen Tracheiden mit den Coniferen übereinkommt,
von ihnen aber durch treppenartigen Wandbau weit abweicht. Gerade dieser Treppen-
bau der Tracheidenwände ist auf der Göppert’schen Figur nur im Rohen wieder-
gegeben.
Es war daher ausserordentlich willkommen, dass Göppert vor mehreren Jahren
in dem „Arboretum fossile“ unter N. 16—18 Originalschliffe seines Holzes zugänglich
machte. Es liess sich an diesen Schliffen zunächst die Richtigkeit von Göppert’s
Angaben constatiren, zugleich aber auch weitere Studien anstellen.
Mir selbst waren die Göppert’schen Originalschliffe auch aus dem Grunde
besonders werthvoll, weil ich mit denselben die Identität eines weit besser erhaltenen,
verkieselten kleinen Fragmentes feststellen konnte, das ich der Güte des Herrn Prof.
Sandberger in Würzburg verdanke und das angeblich aus der Lettenkohle („Neue
Welt“ bei Basel) stammt.
Dieses und der Göppert’sche Originalschliff, sind es, auf welche ich die fol-
senden Betrachtungen gründe. —
Betrachtet man den Querschliff, so ist an demselben, sowohl an dem Göppert
schen Original, wie am Baseler Fragment, auf den ersten Blick keine Spur einer
Jahrringbildung zu sehen; Göppert nennt ausdrücklich sein Holz „Zgnum ezonatum ‘,
bei näherer Betrachtung will es mir aber scheinen, als ob eine deutliche Jahrring-
differenz vorhanden sei. Einmal zeigt das Göppert'sche Holz, das beim Fossilifieiren
Druck ausgesetzt war, sehr schön schiefgedrückte Zonen des Gewebes, ganz so, wie
die dünnwandige Jahrringpartie in zahllosen Braunkohlenhölzern, andrerseits sind an
einigen Stellen deutlich scharfe Absätze quadratischer gegen rechteckige Zellen. Das
deutliche Merkmal der Jahrringe freilich, der scharfe Absatz diek- und dünnwandiger
Elemente ist bei der meist hochgradigen Zerstörung der Wand bis auf die Intercellular-
substanz nicht zu constatiren. Durch das (Taf. I Fig. 1) regelmässige 4—6 eckige
Maschwerk der Tracheiden ziehen 1—2reihige Markstrahlen, deren Zellen von an-
6
sehnlicher Länge mit spärlichen grossen Poren besetzt und hie und da einer Art
harzähnlicher Körner versehen sind. Die Dimensionen der Tracheiden sind bei beiden
Hölzern etwas verschieden:
Tangent. Breite. Radiale Breite.
Falkenberg 54,4 u 68,5 u
Basel 40,0 u 52,5 u.
also beim Baseler Holz geringer.
Die Markstrahlzellen sind im ersteren Holz 154 «, beim letzteren 198-200 «
lang; hier herrscht also das umgekehrte Verhalten.
Im Tangentenschliff werden wir nur über die Markstrahlhöhe orientirt. Denn
Tangentialtüpfel besitzen die 'Tracheiden nicht. Die Markstrahlen zeigen sich am
Baseler Exemplar (Taf. I. Fig. 2) meist — aber nicht ausnahmslos — einreihig, und
aus 3—40 Zellen hoch; auf 1 OD) Millimeter kommen ca. 35 Markstrahlen. Die eirund-
liche Zellform erhellt aus Taf. I. Fig. 3. Die Höhe der Zellen schwankt zwischen
40—47, die Breite zwischen 27—34 u.
Der interessanteste Theil ist der Radialschnitt. Betrachtet man denselben mit
schwacher Vergrösserung, so erscheinen die Tracheiden zumeist wie Treppenfaser-
zellen (Taf. II. Fig. 1), nur an einzelnen Stellen gewahrt man Tüpfelformen. Stär-
kere Vergrösserung gut erhaltener Stellen zeigt, dass man es in der That mit 1—2-
reihigen, etwa zwei Drittel der Zellbreite einnehmenden, querbreiteren Hoftüpfeln zu
thun hat, deren spaltenförmige Innenpori sich kreuzen. Die kleineren Tüpfelhöfe (die
rundlichen) fand ich 8,5—11 4, die querbreiteren Tüpfelhöfe 15,4—17,6 ja bis 22,5 «
lang (bei einer Wandbreite von 35,2). Die Spaltenporen haben gleichfalls verschie-
dene Länge und etwa 3,5 —4,5 « Breite. Wie meine Zusammenstellungen von
Tüpfelhofgrössen (Beiträge zur Kenntniss fossiler Hölzer 1882, S. 24—26) beweisen,
harmoniren diese Maasse, wenigstens der kleinen Tüpfel, ganz besonders mit denen
der Araucarien (9,2—12,8).
Die Markstrahlzellen zeichnen sich radialwärts durch gewöhnlich mehrere (2—3)
oft auch mehr, selbst 9 schiefovale relativ grosse Poren aus. Länge 8,8—11, Breite
6,6— 7,7 4.
Parenchymatische Elemente sind mir weder auf dem Radial- noch auf einem
andern Schnitte aufgestossen.
— 70 oe
Fassen wir die im Vorstehenden gegebene nähere Charakteristik zusammen,
so erhalten wir allerdings im Wesentlichen die Merkmale des Coniferenholzes —
nach Gleichartigkeit der Tracheiden und Markstrahlbildung, — in der Tüpfelbildung
zugleich aber eine totale Abweichung. Göppert nahm aus diesen Quertüpfeln nur
den Anlass, ein neues Coniferen-Genus: Profopztys, zu gründen. Nach unseren heutigen
Kenntnissen dürfte aber zunächst die Frage entstehen, ob das Holz überhaupt einer
Conifere angehört.
Es muss vor Allem beachtet werden, dass das Holz in einer Formation vorkommt,
in weleher nieht bloss Coniferen, sondern ebenso häufig tiefer stehende Gewächse mit
Holzstämmen vorhanden sind. nämlich Cycadeen und Zycopodineen.
Vergleicht man nun aber z. B. die Bauübersicht, welche Renault (Cours de
botanique fossile. I. anne 1881. p. 43) gibt, so werden wir auf die SzezlWarieen ver-
wiesen: deren Holz besteht ausschliesslich aus Treppentracheiden.
Das Holz der SzezW/arıa spinulosa beschreibt Renault (p. 139) folgendermaassen:
„Les tracheides qui composent le eylindre ligneux sont allongees et raydes, disposdes
en series rayonnantes separdes par de minces rayons medullaires. Ceux-ci sont assez
etendus longitudinalement, ils renferment 10 & 12 cellules en hauteur et 1a 2 en
epaisseur.“ Diese Beschreibung würde sich auf unser Holz völlig anwenden lassen ;
freilich ist sie allgemein genug, und fehlen ihr die feineren Details zu einem genauern
Vergleich.
Das Sigmarien-Holz, soweit es bekannt ist (Renault 1. ce. p. 156 u. s. w.) ist
in ganz ähnlicher Weise gebildet.
Wie nun — wenn unsere Protopitys nichts anderes als ein Szez//aria- oder
Stigmaria-Holzfragment wäre? —
Ich möchte es fast behaupten. Göppert gibt als Fundort seines Originals
an: „In caleareo transitionis ad pagum Falkenberg Silesiae cum Stigmaria ficoide!“
Der Vergleich unzweifelhaften Szer/aria- oder Siemariaholzes wird darüber
(Gewissheit bringen.
IV, Kritik fossiler Taxaceenhölzer.
Während die neueren Untersuchungen über fossile Hölzer sehr zahlreiche Re-
präsentanten aus den Sammelgattungen Cupressoxylon, Cedroxylon, Pityoxylon und Arau-
caroxylon zu Tage gefördert haben, ist es eine auffallende Erscheinung, dass von
Niemand mehr ein fossiles 7axaceenholz entdeckt worden ist. Diese Thatsache gilt
nicht bloss von den seltenen Gattungen Spzrropztys und Physematopitys, die seiner Zeit
Göppert entdeckte, sie gilt auch von dem angeblich viel häufigeren Taxoxylon.
Man darf sich darüber um so mehr wundern, als die Diagnostik der Hölzer gegen
früher sich entschieden verfeinert und der Eifer in der Untersuchung fossilen Holz-
materials keineswegs nachgelassen hat.
Unter diesen Verhältnissen hat sich natürlich auch keine Gelegenheit mehr
geboten, die verschiedenen Gattungen und Arten dieser Familie einer erneuten Prüfung
zu unterziehen. Meines Wissens bin ich selbst im Jahre 1864 der letzte gewesen,
der fossile Taxaceenhölzer unterschied: ich habe eine Anzahl Hölzer aus der Braun-
kohle vom Bauersberg und Kaltennordheim auf der Rhön, und von Wackersdorf in
Bayern mit dem Göppert'schen alten Taxites Aykü identifieirt (Würzburger natur-
wissenschaftl. Zeitschr. Bd. V S. 197). Als ich vor nunmehr 20 Jahren für Schimpers
Traite de pal&ontologie vegetale II p. 363 ss. die „bois fossiles“ bearbeitete, hatte ich
meine vor Jahren angefertigten Präparate dieser Hölzer einer Revision unterzogen
und war dabei zur Ueberzeugung gekommen, dass die von mir als Spiralfasern der
Holzzellen angesprochenen Bildungen nichts anderes als auffallend ausgebildete Spiral-
streifungen seien. Ich hatte darauf hin Veranlassung genommen, mich über den
problematischen Werth der Zzxoxy/a überhaupt zu äussern; leider aber hat Schimper
seiner Zeit meine Daten nur frei benutzt und zu meinem grössten Bedauern gerade die
hieher bezügliche Stelle weggelassen ; nur aus der Synonymie der „Species“ ist gelegentlich
ersichtlich, dass ich an den 7axoxy/a Anderer Kritik geübt. — Im Laufe der Zeit ist mir
nun allerlei Materiale zu weiterer kritischer Behandlung in die Hände gerathen (vgl.
Sitzb. Naturf. Ges. zu Halle 25. Nov. 1882) und nachdem ich jüngsthin durch Geheim-
rath Römer’s Güte die in dem breslauer Mineralogischen Museum befindlichen Originale
Göppert's, soweit sie sich auf Taxaceen beziehen, zur Einsicht bekam, darf ich wohl
nicht länger anstehen, die gewonnenen Ansichten über diese Hölzer niederzulegen:
Z—— > ———
denn durch dieselben werden unsere bisherigen Kenntnisse nicht unwesentlich ein-
geschränkt.
1. Taxoxylon Ung.
Bekanntlich wurde zuerst im Jahre 1840 von Göppert ein fossiles Holz,
dem die Structur unsres Taxusholzes zukommen soll, entdeckt (Karsten u. v. Dechen's,
Arch. 1840 Bd. XIV S. 188 Anm.) und dann als Taxites Aykii beschrieben und ab-
gebildet (ebenda 1841 Bd. XV S. 727—730 und Taf. XVII Fig. 11—13). Unger hat
für das Holz alsbald den von Göppert niemals anerkannten richtigen Namen Taxoxylon
eingeführt (Endlicher, Gen. plant. Suppl. II 1842 p. 28 — Chloris protog. 1847 p. 33
— Endl. Synops. Corif. 1847 p. 308). — Im Laufe von ein paar Jahren wurden als-
bald mehrere „Arten“ unterschieden; in der „Monographie der fossilen Coniferen“ 1850
(S. 243—45) z. B. führt Göppert bereits 5 verschiedene „Species“ dieses Holzes auf,
die alle von ihm selbst aufgestellt sind. Später wurde von Unger noch ein Zaxoxylon
cretaceum unterschieden (Sitzb. Wien. Acad. 1858 8. 299 Fig. 12—14). Es ist mir
nicht bekannt, dass man noch weitere Zaxoxy/a-Arten aufgestellt habe. Dass es mit
diesen „Species“ keine andere Bewandtniss habe, als mit den „Arten“ anderer Gattungen
fossiler Hölzer, wird nach den Beweisführungen, die ich zuerst in Würzb. Naturw.
Zeitschrift Bd. V gab, von Niemand mehr in Zweifel gezogen werden.
In neuerer Zeit haben sich mir aber auch die Zweifel an der Existenzberech-
tigung der „Gattung“ Zaxoxylon gemehrt.
Schon in der oben erwähnten Urschrift zu den fossilen Hölzern in Schimper’s
Paleontologie im Jahre 1868 hatte ich wörtlich folgende Zweifel geäussert:
„Das Kennzeichen der ‚Gattung‘ Taxoxy/on liegt in den mit gewöhnlich links-
läufigen Spiralfasern besetzten getüpfelten Holzzellen, bei dem Mangel aller Harzzellen
und -Gänge. — Trotz dieses scheinbar offenkundigen Charaktermerkmals ist die
Unterscheidung hieher gehöriger fossiler Hölzer nicht immer leicht, da bei einiger
Zerstörung des Holzes die Fasern leicht übersehen oder mit spiraliger Zellhautstreifung
verwechselt werden können. Das letztere scheint mir vielleicht häufiger als sich bis
jetzt nachweisen lässt, geschehen zu sein; mit Sicherheit habe ich eine solche Ver-
wechslung, bei dem oben unter Cedroxylon aufgeführten Zaxoxylon cretaceum Unger's
nachweisen können; auch meinen eignen Taxztes Aykı (Würzb. Nat. Zeitschr. V S. 197)
muss ich hier zurücknehmen, da ich nachträglich an den Jahrelang in Glycerin auf-
bewahrten Präparaten die angeblichen Spiralfasern theils verschwunden, theils als un-
zweifelhafte Zellhautstreifungen sehe. Da mir die Schwierigkeiten bei der Unter-
Bere 13 ein
suchung bereits bekaunt waren (a. a. O. 8.186), so empfiehlt es sich doppelt. mit der
Unterscheidung von Taxiten auf der Hut zu sein.“ —
Auf diese Erfahrungen hin habe ich zunächst darnach getrachtet, feste Merk-
male für spiralige „Fasern“ und „Streifung“ aufzufinden.
1. Dass sich beiderlei Wandbildungen gewöhnlich durch ihre verschiedene
Lichtbreehung, die Fasern dureh stärker® Liehtbrechung und gelbliche, die Streifungen
dureh röthliche Färbung und schwächere Liehtbrechung ziemlich leicht unterscheiden
lassen, ist bekannt. Es darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass z. B. bei
verrotteten Braunkohlenhölzern, dass bei verkieselten Hölzern diese Merkmale auch
trügerisch zu werden vermögen.
2. Nach meinen Erfahrungen sind beide Bildungen durch den Grad der Steil-
heit gewöhnlich sehr verschieden. Alle Fasern bei Taxus, Cephalotaxus, Torreya, die
ich gesehen, erscheinen fast ringfaserartig senkrecht oder wenig geneigt gegen die
Zellaxe gerichtet, so wie es auf Taf. III Fig. 4 dargestellt ist. Die spiraligen Streif-
ungen fand ich stets unter mehr spitzem Winkel gegen die Axe der Zellen geneigt.
Man vgl. dazu Taf. III Fig. 2.
3. Die Richtung der Spiralen, ob rechts- oder linkswendig, ist, soweit meine
Kenntnisse reichen, bei den Taxaceenfasern nicht, eher noch bei den Streifungen con-
stant. Bei Zaxus daccata fand ich, bei Stamm- und Astpräparaten, in zahlreichen
Feststellungen das Verhältniss der lLinks- zur Rechtsläufigkeit ziemlich constant,
zwischen 1:2,55 und 1:3,1, liegen. — Unter den zahlreichen spiraligen Streifungen,
die ich bei Pinus Zaricio, sylvestris, Strobus, Larıx gesehen, war keine einzige rechts-,
alle linkswendig. — Tritt man mit diesen Daten an die Kritik zunächst der in der
Literatur vorkommenden Taxoxyla heran, so hält z. B. das bereits oben erwähnte
Taxoxylon cretaceum nicht Stieh; die Zeiehnung (a. a. O.) wenigstens gibt absolut
Spiralstreifung nach der Steilheit der Richtung wieder; auch die Abbildung des Taxites
ponderosus von Göppert, Monogr. foss. Conif. Taf. 51 Fig. 2 u. 3 gibt nichts anderes
als Spiralstreifung. Dagegen ist die Abbildung von Göppert’s älterem 7. scaları-
/ormis (Dechen’s Arch. XV. Taf. XV Fig. 6, 7 u. 13) nur auf wirkliche Taxxsfasern
zu beziehen.
Ich würde es nicht wagen, auf die blossen Bilder hin über diese Hölzer ein
absprechendes Urtheil auszusprechen, wenn mir nicht auch andere, und striktere Be-
weise zu Gebote ständen; nämlich die Nachuntersuchung einzelner Göppert’scher
Originale.
Schon früher hatte ich darauf aufmerksam gemacht (Sitzb. Hall. Naturf. Ges.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVI. 10
14 —
25. Nov. 1882), dass ein im hiesigen mineral. Cabinet befindlicher, wahrscheinlich
von Göppert bestimmter Zaxzies ponderosus nur Spiralstreifung zeigt und kein Taxoxy-
/on ist; ferner, dass ich aus dem benachbarten Nietleben, das Göppert als häufigen
Fundort von Taxites Aykı angibt, nur spiralstreifige Cupressoxyla kenne.
Den vollgültigsten Beweis aber dafür, dass Göppert Spiralfasern und -Streifen
verwechselt hat, liefert ein mir vorliegendes, eigenhändig von ihm signirtes Original
des Zaxztes ponderosus von Pützberg bei Bonn, das der Breslauer Göppert-Sammlung
angehört. Dasselbe besitzt nicht eine Spur ächter Zaxzsstructur, aber die schönsten
Spiralstreifungen, die man sehen kann, und zum Ueberfluss zahlreiche Harzzellen.
Es darf gewiss auch als verdächtiges Zeichen hervorgehoben werden, dass in der
Diagnose Göppert’scher Zaxoxyla z. B. in der von Aykı und ponderosum ductus
resimferi sımplices, bei letzterer Art sogar als /reguentes erwähnt werden, während bei
Taxus selbst regelmässiges Holzparenchym ganz fehlt.
Alles in Allem genommen, sieht es mit der Existenz wirklicher Taxaceenhölzer
ziemlich unsicher aus; soll dieselbe auch nicht geradezu geläugnet werden, Nach-
weis eines über allen Zweifel sicheren Holzes aus der Familie der Zzöen wäre doch
erst noch zu bringen.
2. Spiropitys Göpp.
Diese höchst merkwürdige Gattung gründete Göppert in der Monogr. foss.
Conif. 1850 (8. 246—47) auf das Vorkommen spiralig verdickter Markstrahlzellen; auch
auf das horizontaler Harzgänge in den Markstrahlen. Es wäre vom grössten Interesse
gewesen, diese sonst ganz beispiellose Parenchymzellbildung zu verificiren. Leider ist,
wie mir Herr Geheimrath Römer mittheilt, ein Original in Göppert’s eigener Samm-
lung nicht vorhanden; ob sonst irgendwo — muss dahinstehen.
Unter diesen Verhältnissen bleibt nur übrig, an der von Göppert gegebenen
Beschreibung und Abbildung Kritik zu üben. Darnach scheint mir aber folgendes
sicher:
1. Die in den Fig. 5 und 6 (Taf. 51) gezeichneten Spiralen sehen ganz wie
„Streifungen“ aus; Göppert selbst bezeichnet sie auch als „Spiralstreifen“ „sirzae ‘,
während er sich bei ZTaxoxylon (z. B. S. 243) des Ausdrucks „/örae“ bedient. Man
hat also hier gar keine Spiralfasern vor sich, demnach auch kein Recht, an ein
Taxaceenholz zu denken.
2. Dies um so weniger, als auch das Vorkommen von Harzzellen — horizon-
taler wie vertiecaler — keineswegs für Taxaceenstruetur spricht.
—]
ot
3. Würde sich herausstellen, dass auch die Markstrahlzellen keine „Aörae“
(wie sie Göppert hier allerdings bestimmt bezeichnet) haben, und ich halte dies Vor-
kommen für äusserst problematisch — dann bleibt statt der seltsamen Sprropitys Zo-
beliana wohl kaum ein anderes übrig, als ein gemeines Cupressoxylon.
3. Physematopitys Göpp.
Eines der von Göppert in der Monogr. p. 242 und Taf. 49 Fig. 1—3 für Be-
schreibung und Abbildung dieser Gattung zu Grunde gelegten Holzfragmente ist glück-
licher Weise in der Breslauer Sammlung erhalten und es zeigte sich, dass Göppert das
Holz in den Formen recht naturgetreu beschrieben. Die eigenthümlich „aufgeblasene“
Rundung der Markstrahlzellen im Tangentenschnitt, die grossen und zahlreichen Poren
auf den Tangentialwänden derselben, u. s. w. treten gut hervor. — Was ich aber an
seinen Bildern vermisse ist 1. Andeutung einer fast faserartigen Ringelung der Holzzell-
membranen, einer Ringelung, die aber nicht allen Zellen zukommt. 2. Die Zeichnung
von Holzparenchym, denn solches ist zweifellos und durchaus nicht selten vorhanden.
Durch letztere T'hatsache wird aber die systematische Stellung, die Göppert dem
Holze gegeben, in hohem Grade zweifelhaft; Salsduria besitzt kein Holzparenchym.
Ich möchte das Holz für kaum etwas Anderes, als ein Cxpressoxy/on und zwar
für ein Wurzelholz halten.
10*
Fig.
Fig.
Fig. 3
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Erklärung der Tafeln I. II und II.
Dat L
Protopitys Bucheana Göpp.
Querschnitt, nur das Intercellularnetz erhalten. 1—2reihige Markstrahlen, in diesen Poren und
feste harzähnliche Körner. — Vergröss. Seibert IH.
Tangentenschnitt (Seib. I) mit 1—2reihigen Markstrahlen.'
Ein Theil des vorigen vergrössert.
Taf. II.
Protopitys Bucheana.
Radialschnitt bei schwächerer Vergrösserung (Seib. I), die Markstrahlen mit ihren grossen
Poren, besonders aber die Wandbildung der Tracheiden zeigend; diese letztere ist theils poren-
artig, theils scheinbar treppenförmig.
Markstrahlzellen mit ihren Poren in verschiedener Zalıl.
rar TE
Protopitys und Taxoxylon.
Theil einer Tracheide der Protopitys (Seib. V), die Treppentüpfel und ihre sich kreuzenden
Innenporen zeigend.
„Tasites ponderosus‘‘ Göpp. Original desselben aus der Breslauer Sammlung. Von Pützberg
bei Bonn stammend. — Die spiraligen Streifungen und die Harzzellen zeigend.
Ein verkieseltes Holz aus Chemnitz. Von Möller in Wedel als Taxoxylon Göpperti ausgegeben.
Die scheinbaren Spiralfasern sind nichts anderes als die Grenzen krystallischer Kieselaus-
scheidungen, wie stellenweise völlig klar hervortritt.
Die Spiralfasertracheiden von Taxus baccata. Aus einer lebenden Wurzel genommen.
Ueber
einige niedere Algenpilze (Phycomyceten)
und eine neue Methode
ihre Keime aus dem Wasser zu isoliren.
Von
W. Zopf.
Mit zwei Tafeln.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. al
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Einleitung.
IV ratonsuhatter wie Practiker haben vielfach die Aufgabe, zu prüfen, ob ein
bestimmtes Wasser irgendwelche niedersten Organismen enthalte, ob es ganz bestimmte
Formen derselben beherberge, ob dieselben in einem bestimmten Wasser in geringerer
oder grösserer Anzahl vorhanden seien, ob sie gewisse Gewässer bevorzugen oder
überall vorkommen und Anderes mehr — Fragen, die sich sowohl der Botaniker, als
der Zoologe und der Hygieniker etc. gelegentlich zu stellen haben.
Wenn die in Rede stehenden Organismen in grösseren oder doch charaete-
ristischen Formen auftreten, ist die Lösung solcher Fragen nicht mit besonderen
Schwierigkeiten verknüpft, da man durch unmittelbare mikroscopische Unter-
suchung die morphologischen Charactere und damit die systematische Stellung der
betreffenden Lebewesen meist genügend feststellen kann. Ich erinnere nur an Infu-
sorien, Englenen, Beggiatoen, Wasserschimmel, blaugrüne Algen ete.
Allein in vielen Fällen liegen die Verhältnisse minder günstig, dann nämlich,
wenn die Formen nicht besondere Characteristica zeigen und sehr vereinzelt
auftreten, oder gar wenn es sich darum handelt, die winzigsten Keime niederster
Organismen zu isoliren und nachzuweisen, die dem Beobachter unter dem Mikroscop
entweder völlig entgehen können oder doch keinen Schluss auf die zugehörige Species
gestatten.
In solchen Fällen werden besondere Methoden nöthig, die es ermöglichen,
die Keime sicher aufzufangen, festzuhalten und zu solcher Entwickelung
zu bringen, dass der Character der Species festgestellt werden kann. Für
manche Spaltpilze ist eine solche Methode bereits mit Erfolg in Anwendung ge-
bracht: die Gelatinemethode. Nun giebt es aber eine sehr grosse Reihe anderer
Keime in den Gewässern, die theils ebenfalls den Spaltpilzen, und zwar gerade den
typischen Wasserspaltpilzen, theils anderen Gruppen: wie Monadinen, Flagellaten,
11*
niederen Algenpilzen (z. B. Chytridiaceen, niederen Saprolegniaceen), den
ächten Pilzen und anderen zugehören.
Hier giebt die Gelatinemethode kein Resultat, und eine andere passende Me-
thode fehlte bisher.
Mehrfache Bemühungen meinerseits, diese Lücke auszufüllen, haben nun zwar
nicht den ganzen Erfolg gehabt, den ich ihnen wünschen mochte, doch führten sie
wenigstens zur Ermittelung einer einfachen Methode, durch welche es ge-
lang, die Keime einiger Chytridiaceen, Saprolegnieen und Monadinen aus
©)
verschiedenen Gewässern zu isoliren und bis zur vollen Entwickelung,
d.h. zur Fructification zu bringen.
Diese Methode besteht darin, dass man. die Keime vermittelst isolirter
Pflanzenzellen, wie Pollenkörner, Farnsporen, Pilzsporen ete,, die man ein-
fach dem betreffenden Wasser aufsät, einfängt und sich dieselben weiter
entwickeln lässt bis zur Fructifieation.
Während eine Bestimmung einzeln im Wasser suspendirter Keime (Schwärm-
sporen, Amoebenzustände) gerade solcher Organismen, wie jeder Kundige zugeben
muss, zu den Unmöglichkeiten gehört, lassen sich die durch derartige Züchtung er-
haltenen fertigen Zustände nach ihrer systematischen Stellung mit Sicherheit be-
urtheilen.
Auf dem genannten Wege ist es mir z. B. gelungen, aus dem die Kloaken
Halle’s aufnehmenden Saalearm, der nach meinen Erfahrungen ziemlich reich an
niedereren Organismen ist, und ebenso aus beliebigen stehenden oder fliessenden Ge-
wässern der Umgegend von Halle und Hettstedt eine Reihe von niederen Phycomy-
ceten und Monadinen zu isoliren; so z. B. ein neues Zagenidium, zwei Ahızophidien
(darunter ein neues), einige Oldidien, eine Vampyreilee und mehrere andere, wie es
scheint ebenfalls Monadinen-artige Organismen.
Als Fangmaterialien lassen sich Pollenkörner sowohl von Angiospermen
(Monocotylen und Dieotylen) als auch ganz speciell von Coniferen verwerthen,
am Besten (und für einige Objeete wie es scheint ausschliesslich) im lebenden Zu-
stande.*) Auch Farnsporen und Pilzsporen*“) können als Fangapparate dienen.
Sehr geeignet sind besonders die Blüthenstäubchen der Coniferen, einmal, weil sie
sich leicht in grossen Massen gewinnen lassen, andrerseits, weil man sie unbeschadet
*), In todten Pollenkörnern von Pinus hat Braun zuerst Chytridien beobachtet.
**) Z.B. von Cephalothecium roseum.
ihrer Lebensfähigkeit lange Zeit aufbewahren kann, was übrigens auch für viele
Angiospermen-Pollen gilt. Dass die Keime der eingefangenen niederen Organismen
wirklich aus dem Wasser stammen und nicht etwa, wie einer oder der andere Leser
vermuthen könnte, den Fangzellen ursprünglich anhafteten, kann man leicht dadurch
beweisen, dass sich in den letzteren, wenn sie auf sterilisirtes, destillirtes Wasser
gesät werden, nichts von jenen Organismen entwickelt (es müssten denn Spaltpilze
sein, für welche die Methode ohnehin nicht in Anwendung gebracht werden soll).
Da, wie ich auf Grund dreijähriger Erfahrung behaupten darf, einige der ge-
nannten Organismen, wie Zagenidium pygmaeum, Rhuizophidium pollinis (A. Braun), O/-
Pidium luxurians Tomaschek, auf dem erwähnten Wege (speciell mittelst der Pollen-
methode) mit ich möchte sagen unfehlbarer Sicherheit isolirt werden können, so ist
zugleich die Möglichkeit gegeben zu einer genaueren Feststellung der geo-
graphischen Verbreitung solcher Objecte.
Bei der Anstellung der Isolirungsversuche ist es angezeigt, nicht zu kleine
Quantitäten des zu untersuchenden Wassers zu entnehmen (am Besten 1 Liter und
mehr; doch geben häufig schon geringe Mengen schöne Resultate), dasselbe wo-
möglich nicht im geschlossenen Gefäss zu transportiren, damit nicht etwa Keime
durch Luftmangel sterben, und möglichst bald nach der Entnahme in flache sterili-
sirte Krystallisirschalen zu füllen. Hierauf besäet man die Oberfläche des Wassers
mit den Fangzellen und schliesst das Culturgefäss durch einen Deckel.
Bei einigen der im Wasser vorkommenden niederen Organismen (Phycomyceten)
zeigen die Keime (Zoosporen) die Eigenthümlichkeit, dass sie sofort oder doch
bald nach der Aufsaat von Pollenzellen nach diesen hinwandern, sich an die
Membran derselben ansetzen, abrunden und nun in das Innere eindringen. Diese
Thatsache, die durch directe Beobachtung leicht festgestellt werden kann, beruht
wahrscheinlich darauf, dass in den Pollenzellen Stoffe vorhanden sind, welche auf
die im Wasser suspendirten Keime solcher niederen Phycomyceten einen anlockenden
Reiz ausüben, der sie veranlasst, auf die Pollenkörner zuzusteuern und sich an
ihnen festzusetzen. Dass chemische Reize in der That auf die Bewegungen mobiler
Zellen einen richtenden Einfluss ausüben können. ist ja neuerdings durch Pfeffer’s
wichtige Untersuchungen *) hinlänglich begründet worden.
Unter günstigen Verhältnissen (beispielsweise im warmen Hochsommer) erlangt
man oft schon 15—30 Stunden nach der Pollen-Aufsaat entwickelte (Sporangien-
*) Loeomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize. Untersuchungen aus dem botan.
Institut Tübingen. Bd. I Heft 3. 1884.
tragende) Pflänzchen, und auch hieraus geht das schnelle Befallenwerden der Pollen
hervor.
Die Pollenmethode dürfte sich endlich auch empfehlen, wenn es darauf an-
kommt, sich Chvirzdiaceen, speciell das wohl überall in Gewässern vorkommende
Rinzopmidium pollinis (A. Braun) zu Zwecken der Demonstration im Colleg oder in
den mikroscopischen Kursen zu gewünschter Zeit zu verschaffen, zumal man sonst oft
nur durch Zufall in den Besitz solcher Pilze gelangt. Ich selbst habe mir in den
letzten drei Jahren ZA. pollinis und Lagenidium pygmaeum aus der Saale zu beliebiger
Zeit zum Studium oder zur Demonstration heranzüchten können.
Im Folgenden gebe ich nun eine Darlegung der Entwickelungsgeschichte
einiger der Organismen, welche mittelst der besprochenen Methode erzogen wurden,
und zwar einer Zagenidiee (Lagenidium pygmaeum nov. spec.) und zweier Ahızıdiaceen
(KRhizophrdium pollinis A. Braun und /h. Sphaerofheca nov. spec.) und schliesse daran
eine kurze Characteristik zweier anderer Ahrzzdiaceen, des Rhizophidium Cyclotellae nov.
spec. und Ahızophyton Sciadi’ nov. spec. Das Ganze stellt eine kleine Fortsetzung
meiner früheren Arbeit*) dar, der noch eine zweite und schliesslich die versprochene
„Vergleichende Morphologie und Biologie der Chytridiaceen“ folgen werden.
1. Rhizophidium pollinis (A. Braun).
Hierzu Taf. I. Fig. 120.
Von dem Begründer der Gruppe der Chyzridien-artigen Gewächse, A. Braun,
ist angenommen worden, dass gewisse Repräsentanten derselben, wie z. B. sein Chy-
tridium pollinis Pini, Ch. globosum, apticulatum u. A. zu ihren Wirthen in rein epiphy-
tischen Beziehungen ständen ), indem sie, anstatt mittelst besonderer Organe ins
Innere einzudringen, denselben nur äusserlich aufsässen, aber trotzdem von ihnen
ernährt würden.
*) Zur Kenntniss der Phycomyceten. I. Zur Morphologie und Biologie der Ancylisteen und
Chytridiaceen. Nova Acta Leop. Bd. 47. Halle 1884.
**) Ueber Chytridium, eine Gattung einzelliger Schmarotzergewächse. Abhandlungen der Ber-
liner Akademie 1855.
Ein solcher reiner Epiphytismus wäre nun zwar von vornherein nicht un-
denkbar, denn ich selbst habe vor 12 Jahren in einer Sitzung des Botanischen
Vereins der Provinz Brandenburg (1874) im physiologischen Institut zu Berlin aus-
geführte Untersuchungen und Zeichnungen von einer Melanospora (Didymariae m.*)
vorgelegt, aus welchen hervorgeht, dass deren Hyphen epiphytisch auf den Paraphysen
einer /Zumaria leben, und in allerjüngster Zeit ist seitens Kihlmann’s**) Aehnliches
für eine andere Melanospora festgestellt worden (2. parasitica), allein bei solchen
Chytridiaceen stösst eine Deutung, wie die obige, doch auf gewisse Schwierigkeiten,
da man nicht einsieht, wie eine parasitische Zelle, die in Folge ihrer Form die Wirths-
zelle nur an einem einzigen Punkte berühren kann, sonst aber keinerlei Haftorgan
besitzt und auch nicht mit ihr verwächst, ihre Nahrung aus einem mit relativ dicker,
oft stark euticularisirter Wandung versehenen Wirthe entnehmen soll.
Von dieser Erwägung ausgehend wird man Untersuchungen über das nähere
Verhalten solcher „Epiphyten“ als wünschenswerth bezeichnen müssen.
Ich habe bereits früher Untersuchungen in diesem Sinne vorgenommen und
bin dabei zu dem Resultate gekommen, dass einige Chytridiaceen, die man bei ober-
flächlicher Prüfung für ächte Epiphyten halten könnte, resp. thatsächlich gehalten
hat, bei Anwendung besonderer Präparationsmethoden und eingehenderer entwickelungs-
geschichtlicher Beobachtung deutlich-endophytische Beziehungen zu ihren Ernährern
erkennen lassen.
Dahin gehören unter anderen das Chykridium apicuwlatum und das Chytridium
globosum A. Braun’s, welche nach meinen Darlegungen als endomyceliale (Azzz-
dium- artige) Chytridiaceen aufzufassen sind.)
Es war hiernach zu vermuthen, dass auch Chyiridium pollinis Pini A. Br.
ausser seiner extramatikalen Zelle noch eine zweite, intramatikale Zelle in Form
eines Mycels bilden möchte, und ich habe diesen Gesichtspunkt bei der Untersuchung
besonders im Auge behalten. Die entwickelungsgeschichtlichen Untersuchungen wurden
zumeist gemacht an Material, das ich mittelst lebender Pollen von Pinus-Arten (P.
stlvestris, Laricio, austriaca, Pinaster und Pallasiana) einfing.
Zu Anfang gelangen in den Culturen stets nur die bisher allein bekannten
Zoosporangien-Pflänzchen (Fig. 1) zur Entwiekelung; zunächst findet man an
*) Vergl. Winter, G. Die Pilze (in Rabenhorst's Kryptogamenflora) Abth. II. p. 95.
**) Zur Entwickelungsgeschichte der Aseomyceten (Acta. Soc. Seient. Fenniae. tom. XIII 1883.
Helsingfors).
Zen T.xce.
Se
jeder Pollenzelle nur einige wenige (etwa 1—4), später eine grössere Anzahl, bis
zu 12 und selbst (in selteneren Fällen) noch mehr.
Die Sporangien zeigen in den grösseren Formen exact-kugelige, bisweilen
auch stumpfeckig-kugelige, in den kleineren schwach apieulirte oder kurz-eiförmige
Gestalt (Fig. 1—3. 9. 15. 16.). Sie stehen bald in Gruppen beisammen (Fig. 11. 15.)
bald finden sie sieh in ziemlich gleichmässiger Weise über die ganze Oberfläche des
Pollenkorns vertheilt, oft in so dichter Stellung, dass sie das Letztere förmlich
verdeeken. Wie bei anderen Chyiridiaceen schwanken die Grössenverhältnisse nicht
unbeträchtlich. Denn während die stattliehsten Exemplare einen Durchmesser ‘von
etwa 36 mikr. oder noch etwas darüber erlangen, sinkt dieser bei den kleinsten Be-
hältern bis auf etwa 8 mikr., unter Umständen auch noch tiefer herab.
Die in den Sporangien entstehenden Schwärmer gehören zu den kleineren
Chytridiaceen-Sechwärmern (Durchmesser 4—6 mikr*). Von kugeliger Form, sind sie
ausgestattet mit einem stark lichtbrechenden rundlichen Körperehen (dem fettreichen
Kern), einem daneben liegenden schwächer lichtbrechenden Plasmaklümpcehen und
einer relativ langen Cilie (Fig. 2. 7). Eine Zwischensubstanz, wie sie bei anderen
Chytridiaceen eonstatirt wurde, ist nicht vorhanden, da das gesammte Plasma des
Sporangiums für die Sporenbildung aufgebraucht wird.
Während in den stattlichsten Sporangien-Exemplaren nach ohngefährer Schätzung
an 100—150 Zoosporen erzeugt werden, redueirt sich in sehr kleinen Behältern die
Zahl auf etwa ein Dutzend.
Für die Entleerung sind an der relativ dieken, übrigens deutliche Cellulose-
Reaetion zeigenden Haut der Sporangien besondere Einrichtungen vorhanden, die von
Braun übersehen wurden. Es entstehen nämlich in der Sporangienmembran engum-
schriebene kreisförmige Tüpfel von etwa 4—7 mikr. im Durchmesser. An den
kleinsten der Behälter sind sie in der Einzahl und in terminaler Stellung vorhanden, an
den mittelgrossen zu 2—3, an den grössten Formen zu 3—4 (Fig. 2. 3. 9. 16). In letz-
teren Fällen stehen sie in meist gleichweiten Abständen von einander. Zur Zeit der
Reife nun stülpt sich die Membran des Tüpfels etwas nach aussen und quillt dergestalt
*) Schröter in: Kryptogamenflora von Schlesien, Abtheilung Pilze giebt an, dass die Zoosporen
von Rh. pollinis Pini (unter Phlyetidium pollinis Pini A. Braun) nur 2,5 mikr. Durchmesser haben. Ist
diese Messung richtig, so muss ich behaupten, dass S. eine andere Species vor sich gehabt hat, vielleicht
mein Rhizophidium Sphaerotheca, das dem Ah. pollinis täuschend ähnlich ist, aber nur 2,5 —3 mikr.
messende Schwärmer besitzt, während die von Ah. pollinis ohngefähr das Doppelte dieser Grösse er-
reichen.
5 —
auf, dass sie einen knopfförmigen oder kurz-säulehenartigen Gallertpfropf darstellt
(Fig. 1. 4.). Durch schliessliches vollständiges Verquellen desselben im Wasser ent-
steht je ein 5—S mikr. weites Loch, durch welches die Zoosporen sofort ausschwärmen.
So lange das Sporangium noch von Inhalt erfüllt ist, kann man die Tüpfel
und Gallertpapillen leicht übersehen (und hieraus erklärt sich die Angabe Braun’s
und Sehröter’s, nach welcher nur eine Mündung vorhanden sein soll); nach der
Entleerung aber oder nach Behandlung mit färbenden Reagentien (Jod, Anilin-
farben) lassen sich die in Rede stehenden Verhältnisse leicht beurtheilen.
Frei geworden, jagen die Schwärmer mit rapider Schnelligkeit im Wasser
umher, wobei sie die Cilie nachschleppen. Genauer beobachtet äussert sich die
Schwärmthätigkeit in der Weise, dass sie erst eine kurze Strecke in mehr oder
minder gerader Richtung vorwärts schiessen, um plötzlich Halt zu machen, dann eine
kurze Strecke nach einer anderen Richtung hinjagen, um wiederum plötzlich anzu-
halten u. s.f. Die Schwärmbahn beschreibt demnach eine Ziekzaeklinie mit meist
spitzen Winkeln. Doch können die Schwärmer auch ziemlich weite Streeken in mehr
oder minder gerader Richtung durchmessen, ohne irgendwo Station zu machen. In
Fig. 8 habe ich die Schwärmbahn einer Zoospore von A in der Richtung des Pfeiles
bis zu Z gehend) graphisch dargestellt und zwar möglichst im Anschluss an eine
bestimmte Beobachtung. Die Punkte bezeichnen die Haltestellen.
Vor einigen Jahren theilte Fisch die interessante Thhatsache mit*), dass bei
einer Ahizidiaceenartigen Chytridiee, welche eine Nesocarpus-Art bewohnt, Schwärmer
gebildet werden, welche „sich zu zwei mit den eilientragenden Polen nähern und nach
kurzer Zeit völlig mit einander verschmelzen.“
Dureh diese Beobachtung Fisch’s angeregt, habe ich mieh nun bemüht, an
dem mir so reich zu Gebote stehenden Material von Ahtzophidium Pollinis Pin etwas
Aehnliches zu beobachten; das Resultat fiel indessen, sowohl bei in Rede stehender
Species, als bei den nachher zu beschreibenden Arten völlig negativ aus. Die Schwärmer
drangen immer in die Wirthszellen ein, ohne vorher eopulirt zu haben. Wahrscheinlich
kommt jene Erscheinung nur vereinzelt bei den Ahzzrdiaceen vor. Gegen Sauer-
stoffabschluss zeigen sich die Zoosporen so empfindlich, dass sie alsbald zur Ruhe
kommen und vollständig zerfliessen.
Betrachtet man die Schwärmer bei starker Vergrösserung näher, so bemerkt
*) Sitzungsberichte der phys. med. Societät zu Erlangen, Juni 1884: Ueber zwei neue Chy-
tridiaceen.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 12
)
man in ihrem Hyaloplasma zwei grössere Körper. Der eine ist sphärisch, von excen-
trischer Lage, stark lichtbrechend und fettreich; er stellt wohl einen fettreichen Kern
dar; der andere, diesem zur Seite liegend, bildet ein nicht so stark lichtbrechendes
Plasmaklümpcehen, das sich mit Färbungsreagentien (z. B. Gentianaviolett) deutlich
färben lässt (Fig. 7). Mir schien es, als ob von diesen Plasmaklümpchen die Cilie
ihren Ursprung nimmt.
In welcher Weise die Schwärmer die Pollenzellen befallen, lässt sich
sicher feststellen, wenn man in einen hängenden Tropfen, der reife Sporangien ent-
hält, frische Pinuspollen einsät. Die Schwärmer Jagen erst längere Zeit umher, setzen
sich aber nach ein oder wenigen Stunden an die Membran der Pollenzellen (fast nie-
mals an die sogenannten Luftsäcke) an und dringen nun (nachdem sie die Cilie ein-
gezogen) mittelst eines sehr feinen Keimschlauchs durch dieselbe in den Inhalt des
Pollenkorns hinein. Schon nach etwa 10 Stunden sieht man an diesem Keimschlauch
die ersten Seitenzweige in monopodialer Folge entwickelt (Fig. 10. 11), die sich dann
noch vermehren und ihrerseits verästeln, um schliesslich ein reich gegliedertes,
sehr feinfädiges Mycelsystem zu bilden (Fig. 1—3. 9. 12. 14. 18).
Die von dem Mycel aus dem Wirthszellinhalt aufgenommene Nahrung wird
der ehemaligen, ausserhalb der Pollenhaut befindlichen Schwärmsporenzelle zugeführt,
und diese wächst infolgedessen zu einem grossen, rundlichen Körper, dem bereits
betrachteten Sporangium heran (Fig. 11— 14. 15. 1.) Von näheren hierbei statt-
findenden Vorgängen ist hervorzuheben, dass der als fettreicher Kern der ursprüng-
lichen Schwärmspore bezeichnete T'heil etwas an Volumen zunimmt und dass dann
neben ihm andere, ebenfalls runde, stark lichtbrechende Körper auftreten (Fig. 11),
deren Zahl sich beständig vermehrt, bis schliesslich nur die dem freien Pole ent-
sprechende Inhaltspartie des jungen Sporangiums frei von ihnen ist (Fig. 12. 14.).
Endlich erscheint der ganze Behälter gleichmässig von stark lichtbrechenden Körnchen
erfüllt, um die sich dann das übrige Plasma zur Schwärmsporenbildung ansammelt.
Braun’s Darstellung der Entwickelungsgeschichte weicht von der meinigen
in 2 wesentlichen Punkten ab. Einerseits hat er die Existenz eines Mycels über-
sehen, andererseits sind die Zustände, die er als Jugendformen des Sporangiums
ansieht, in den Entwickelungsgang der weiter unten zu characterisirenden Dauersporen-
pflänzchen gehörig, wie sich auch aus seinen Figuren und der zugehörigen Erklärung
ergiebt.
Anfangs gewann auch ich den Eindruck, als ob der Pilz nur eine extramatri-
kale Zelle, nicht aber ein intramatrikales Organ bilde In dem durch dichte
37 —
Lagerung seiner Körnchen getrübten, von den anliegenden Luftsäcken beschatteten
und von der relativ dieken, überdies durch aufgelagerte Körnchen gebräunten Membran
umgebenen Inhalt der Pollenzelle liess sich nämlich auf blossem optischen Wege
nichts von einem solchen Organ nachweisen: nur an vereinzelten, minder undurch-
sichtigen Pollenzellen schien eine Andeutung eines rudimentären Mycels vorhanden
zu sein; doch konnte keine volle Sicherheit gewonnen werden. Ich nahm daher
darauf Bedacht, Inhalt und Membran der befallenen Pollenzelle möglichst durch-
sichtig zu machen und Färbungsmethoden anzuwenden. Schwaches Aufkochen
in verdünntem Glycerin und darauf folgende Färbung mit Bismarkbraun in verdünntem
Glycerin gelöst, führte zu gutem Ergebniss. Man konnte mit voller Klarheit sehen,
wie von der Basis des extramatrikalen Sporangiums aus ein die Pollenhaut durch-
setzender Mycelfaden ausging, der sich im Innern nach dem monopodialen Yypus
mehrfach verzweigte und verästelte. Dicht unterhalb des Sporangiums erschien er
am dieksten, um weiter nach dem Innern der Pollenzelle zu feiner und zarter zu
werden. Später habe ich mich einfacherer Verfahren bedient. Wenn man näm-
lich nach etwa 1 stündiger Behandlung mit Aetzkali oder nach kurzer Behandlung
mit etwa 6° Chromsäure durch flüchtigen starken Druck auf das Deckglas eine
Quetschung der Pollenkörner bewirkt, so wird die eutieularisirte Aussenhaut derselben
gesprengt und die farblose Cellulose-Innenhaut sammt den Mycelien ganz heraus-
gedrängt. Man kann jetzt die mycelialen Systeme in ihrer ganzen Ausdehnung ver-
folgen, die feinsten Endästchen zur Anschauung bringen (Fig. 9) und sich überdies
von der relativ sehr reichen und dichten, fast strauchartig zn nennenden Verästelung
des mycelialen Organs überzeugen. Schliesslich habe ich mich, die Reagentien ganz
beiseite lassend, mit gutem Erfolg bloss der Quetschung bedient, um die Mycelsysteme
deutlich zu machen. Dass bei diesem Verfahren die Sporangien häufig vom Mycel
abgetrennt werden, ist selbstverständlich. Es bleiben aber Objeete genug, an denen
die Continuität beider Organe zu sehen ist. Somit steht fest, dass das Chyzridium
pollinis Pin! weder ein ächter Epiphyt ist, noch auch, wie Schröter (l. e.) neuerdings
angiebt, Phlvckdiumartigen Character, also ein nur einfach-fädiges Haustorium
besitzt.*)
Es lassen sich von dem Pilze Reineulturen herstellen in folgender Weise:
Mittelst einer flachen Nadel bringt man einige befallene Stäubehen in einen hängenden
*) Schröter sagt übrigens in der Diagnose: „Haustorium nieht oder nur undeutlich wahrnehm-
bar.“ Wahrscheinlich hat er, wie ich bereits oben hervorhob, eine ganz andere Species vor sich gehabt.
19%
Tropfen des Deckglases, mustert ein jedes derselben in Rücksicht darauf, ob es wirk-
lieh nur den in Rede stehenden Parasiten besitzt (was mit völliger Sicherheit möglich
ist), lässt, wenn jenes der Fall war, ein reifes Sporangium seine Schwärmer entleeren
und bringt nun mittelst einer flachen Nadel einen Theil des Tröpfehens und damit
zahlreiche Schwärmer des Pilzes in ein sterilisirtes Schälchen mit ausgekochtem,
destillirten Wasser, auf das man frische Pollenkörner sät.
In einer solehen Cultur erhält man zunächst wieder Sporangienpflänzchen.
Nach etwa S—14 Tagen aber. bisweilen schon früher, treten dann auch Dauer-
sporen bildende Individuen auf, deren Zahl in wen nächsten Wochen allmählich
grösser wird, ohne dass die Sporangien bildenden Individuen gänzlich zurücktreten.
Die Entwiekelung der Dauersporenpflänzchen stimmt mit der der Spo-
rangien bildenden Pflänzchen zunächst vollkommen überein. Denn dort wie hier sendet
die Schwärmspore einen feinen Keimschlauch durch die Membran ins Innere der
Pollenzelle hinein, der sich alsbald zum feinen, reich verästelten Mycel verzweigt.
Dort wie hier entwickelt sich die Schwärmzelle unmittelbar zum extramatrikalen
fructificativen Organ.
Das Myeel der Dauersporenpflänzchen kann in den meisten Fällen ebenfalls
nur mittelst besonderer Präparation (s. oben) nachgewiesen werden.
Die aus der Schwärmzelle sich entwiekelnde Dauerspore stellt im fertigen
Zustande eine vollkommen oder etwas niedergedrückt-kugelige Zelle dar, welche mit
einer relativ dieken, zweischichtigen, sculptur- und farblosen, dabei Cellulosereaetion
zeigenden Membran und einer grossen, das Lumen fast ausfüllenden kugeligen Masse
von stark lichtbrechendem (den Kern verdeekenden), durch Osmiumsäure braun
werdenden, also fettreichen Reserveplasma versehen ist. (Fig. 17. 18).
Im Allgemeinen erreichen die Dauersporen im Vergleich zu ‘den Sporangien
geringere Grösse, denn sie halten im Diameter nur etwa 9—20 mikr. (während die
Sporangien einen Durchmesser von 36 mikr. erlangen können). 4
Die Dauersporenpflänzchen waren bisher unbekannt. Braun hat sie zwar,
wie ich nach seinen Abbildungen und Figurenerklärungen behaupten darf, sicher
gesehen, aber nieht ihrem wahren, morphologischen Werthe nach erkannt: er hielt
sie, wie bereits erwähnt, für blosse Entwickelungsstadien der Sporangien.
Was nun die Biologie des Pilzes betrifft, so verhält er sich frischen, lebenden
Pollenkörnern der Pinusarten gegenüber entschieden als Parasit und ist in dieser
Beziehung mit seinen Verwandten in Parallele zu stellen. Seine parasitische Wirkung
macht sieh darin geltend, dass zunächst der Primordialschlauch der Pollenzelle eon-
N —
trahirt und dann der plasmatische Inhalt, einschliesslich des Kerns sowie auch der
Stärkekörner, allmählich aufgezehrt wird. Der Pilz bildet aber nicht nur ein diasta-
tisches, die Stärke lösendes, sondern auch, da er mit Leichtigkeit die eutieularisirte
Aussenhaut, sowie die innere Cellulosehaut des Pollenkorns durehbohrt, ein Cutin und
Cellulose lösendes Ferment.
Andererseits aber besitzt er die Fähigkeit zu saprophytischer Lebensweise.
Es geht dies sowohl daraus hervor, dass Pollenzellen, welche bereits von ein oder
mehreren Individuen des Schmarotzers befallen und ihres Inhalts zum grossen Theil
beraubt sind, nachträglich noch von anderen Individuen oceupirt werden, als auch
aus der Thatsache, dass todte Pollenkörner, wenn ich sie in Saalewasser warf, nach
einiger Zeit ebenfalls mit dieser Chyirrdiacee besetzt waren.
Die Keime des Pilzes müssen nach dem Gesagten im Wasser vorhanden sein.
Aber nicht bloss in fliessenden, sondern auch in stehenden Gewässern. Denn
als ich aus Teeichen bei Halle und bei Hettstedt (Prov. Sachsen) entnommenes Wasser
mit Pollenkörnern von Prnus silvestris besäete, fand sich der Pilz nach drei Tagen
ebenfalls in denselben vor. Schon Braun giebt an, dass todte Pinuspollen aus den
Grunewald-Seen bei Berlin das Chyzridium pollinis Pin! enthielten, was ich selbst be-
stätigen kann. Schenk fand ins Wasser gefallene Pinuspollen bei Würzburg gleich-
falls mit dem Pilze besetzt‘) In Scandinavien hat ihn Lagerheim gefunden.
Die Keime müssen ferner im Wasser relativ zahlreich vorhanden sein. Denn
schon durch so geringe Quantitäten, wie ich sie gewöhlich zu den Culturen verwen-
dete (ca. 50— 100 Gramm), wurden stets unfehlbar eine ganze Anzahl von Pollen-
körnern inficirt, mochte das Wasser nun einem Flusse oder Teiche, See oder Sumpfe
entnommen sein.
Die Keime sind endlich zu verschiedenen Jahreszeiten, nämlich nach
meinen Experimenten vom Frühjahr bis in den Herbst hinein im Wasser enthalten,
also nicht etwa bloss zur Zeit der Pirus-Blüthe.
Sie sind ferner in Gewässern zu finden, in deren Umgebung gar keine Kiefern
zu finden sind.
Hiernach wird man das eigentliche, gewöhnliche Substrat des Pilzes nicht in
den Pinuspollen zu suchen haben, sondern in anderen pflanzlichen, vielleicht
selbst thierischen Zellen, welche im Wasser vorhanden sind. (Dass er frei im
*) Die Sehröter’sche Angabe I. c., dass der Pilz in Schlesien vorkomme, muss ich auf Grund
obiger Angaben für unsicher halten.
= IN) ee
Wasser lebe, ist wohl kaum denkbar.) Die so nahe liegende Frage, ob nicht viel-
leicht beliebige, ins Wasser geworfene lebende Pflanzenzellen von dem
Pilze infieirt werden möchten, habe ich zunächst in der Weise geprüft, dass ich
frische Pollenzellen von Pflanzen aus den verschiedensten Angiospermen-Familien
zur Einsaat verwandte.
Am 1. Sept. 1886 zahlreiche Pollenkörner von PAxox eingesäet in eine mit
dem Pilze reich versehene Pollenkultur. Schon nach 20 Stunden sämmtliche Pollen
infieirt, meistens durch mehrere Individuen, welche theils Sporangien tragen, theils
Dauersporen zu bilden im Begriff sind. Die Sporangien sind bereits vollständig aus-
gebildet, zum grossen Theil bereits entleert. (Die üppige und schnelle Entwickelung
innerhalb der genannten kurzen Frist hing wohl mit der hohen Temperatur zusammen,
die an dem Culturtage herrschte.)
Am 27. August 1886 zahlreiche Pollenkörner von Zropaeodun majus in die
Pinuseulturen eingesät. Nach 3 Tagen untersucht. Sämmtliche Pollen reich behaftet
mit dem Parasiten, der theils in reifen oder bereits entleerten Sporangien, theils
in bereits anscheinend reife Dauersporen tragenden Individuen vorhanden ist.
Am 3. Sept. 1856 mit Pollenkörnern von Zedanthus annuus angestellte Cultur
(ebenfalls in Pinuseulturen eingesäet).. Nach 4 Tagen untersucht. Der Parasit ist
in vielen Körnern vorhanden, die meisten Sporangien schon entleert.
Ein ebenso leichtes Eindringen, gefolgt von schneller Entwickelung findet in
Pollen von Populus nigra, den man sich leicht durch Sammeln der abgefallenen
Kätzchen in grösseren Mengen verschaffen kann, ferner von Imaryllis formosissima
und zahlreichen andern Dieotylen und Monocotylen statt.
Versuche ähnlicher Art habe ich mit lebenden Sporen eines Mycetozoums
(Trichia) und todtem Semen Zycopodi angestellt, indessen mit negativem Erfolg.
Die Entwiekelung von der Zoospore aus bis wieder zur Zoospore geht relativ
schnell vor sich. In Pollen von /ixxs und Angiospermen findet man, wie schon
gesagt. im Sommer schon 20 Stunden nach der Einsaat den Parasiten mit reifen
z. Th. sogar bereits entleerten Sporangien vor!
Der Pilz hat offenbar ein gewisses Sauerstoffbedürfniss, denn er kommt
nur dann zu üppiger Entwiekelung, wenn die Blüthenstäubehen auf der Oberfläche
des Wassers schwimmen.
91
2. Rhizophyton Sciadii nov. spec.
Taf. 11. Fig. 23—32.
Sciadium arbuscula A. Braun*) scheint eine in der Flora von Halle nicht
seltene Erscheinung zu sein. Ich habe das zierliche Pfänzchen wiederholt in Süss-
wasserbecken der Umgegend angetroffen und auch in einer Salzlache am salzigen
See bei Röblingen aufgefunden.
Sowohl in den Süsswasser- als in den Salzwassereulturen fand sich ein win-
ziger Parasit ein, der die Alge in dem Maasse befiel, dass im Laufe von mehreren
Monaten die meisten Individuen abgetödtet wurden. Er stellt gleichfalls eine bisher
unbekannte Ahzzidiacee dar. Bau und Entwickelung der Schwärmsporen bildenden
Greeneration bieten indessen im Vergleich zu den früher (l. e.) von mir beschriebenen
Rhizidiaceen, keine besonderen Eigenthümlichkeiten, sodass eine ganz kurze Charac-
teristik ausreicht. Die relativ kleinen, nur 2,3—4 mikr. im grössten Durchmesser
haltenden, mit einem relativ grossen, 1—1,33 mikr. messenden, stark lichtbrechenden
Kern und feiner Cilie versehenen Zoosporen (Taf. II, Fig. 30) setzen sich an beliebiger
Stelle der Sciadiumschläuche, mögen diese nun isolirt auftreten (Fig. 24—28), oder
in doldenartiger Anordnung an der Mündung eines entleerten Mutterschlauches an-
geheftet sein (Fig. 23), an, ziehen ihre Cilie ein und dringen, meist nachdem sie sich
an der Wirthsmembran etwas abgeplattet, mittelst eines feinen Keimschlauches durch
diese ein. Hierauf entwickelt sich der Keimschlauch in dem grünen Inhalt zu einem
verzweigten Mycel, das sich auf geringere oder grössere Länge ausdehnt. Von diesem
ernährt, schwillt die ursprüngliche Schwärmzelle zum jungen Sporangium auf, das
entweder kugelige oder an der Basis etwas abgeplattete Form annimmt (Fig. 24—26).
Der von Anfang vorhandene fettreiche Kern wird dabei grösser, und neben ihm treten
sehr bald kleinere fettartige (?) Tröpfehen auf (Fig. 24. 26), die in dem Maasse, als
das junge Sgorangium sich vergrössert, an Zahl und Volumen zunehmen (Fig. 25. 27).
Schliesslich vertheilen sich die fettartigen Massen zu kleinen Körnchen (Fig. 28).
Unterdess hat das Sporangium einen deutlichen, meist breiten und stumpfen Apieulus
erhalten und erscheint jetzt birnförmig (Fig. 27. 28). Beobachtet man ein solches
Stadium eontinuirlich, so findet man dasselbe nach Verlauf von etwa 1—2 Stunden
mit zahlreichen grösseren glänzenden Körperchen durchsetzt, welche Kerne darstellen,
um die sich dann die Zoosporen bilden (Fig. 29). Dieselben werden frei, indem die
terminale, dem Apiculus entsprechende, unverdiekte Stelle infolge von Vergallertung
*) Algarum unicellularium genera nova vel minus cognita. Lipsiae 1854. p. 49.
sich öffnet. Beim Ausschlüpfen wie beim Schwärmen schleppen die kugeligen oder
ellipsoidischen Zoosporen ihre sehr feine Cilie nach. Die Schwärmerzahl beläuft
sich in den grössten, 20 mikr. in der Höhe, 17 in der Dicke messenden Sporangien
auf etwa S0—100; in den kleinsten sind nur wenige Zoosporen enthalten.
Während die Ausbildung des Sporangiums stattfindet, werden Plasma und Kerne
der Sezadium-Schläuche aufgezehrt, die Chromatophoren zerstört und in gelbbraune
bis schmutzig -rothbraune Klümpchen oder Körner umgewandelt (Fig. 23. 28. 31).
Wenn man diese entfärbt, was mittelst verdünnter Chromsäure geschieht, und dann
ein starkes System (am besten homogene Immersion) verwendet, so lässt sich das
überaus feine Mycel, von dem man vorher nichts oder nur geringe Fragmente wahr-
nimmt, in seiner ganzen Ausdehnung und mit allen, auch den feinsten Verzweigungen
nachweisen, besonders nach vorausgegangener Tinction mit Anilinfarben. In Fig. 32
habe ich ein solches vollständiges System, was den Schlauch auf eine ziemlich weite
Strecke durchzieht, dargestellt. Grössere Scezadiuwn-Schläuche zeigten sich nicht selten
von 5—S, kleinere meist nur von 1—2 Parasiten befallen. Von den an der Spitze eines
entleerten Mutterschlauches meist doldenartig vereinigten Sezadıum-Individuen wird
nicht selten ein erheblicher Procentsatz befallen. So sieht man in Fig. 23 von den
12 Pflänzchen der Colonie 6 durch den Parasiten vernichtet. Trotz halbjähriger
Cultur sind Dauersporenpflänzchen nicht erzielt worden. Ich stelle den Pilz mit
anderen bisher unter Rhizidium stehenden Pilzen in die Gattung Azzophyton, die
sich durch extramatrieale Sporangien mit nur einer einzigen terminalen Mündung und
ein deutlich verzweigtes Mycel auszeichnet.
3. Rhizophidium Sphaerotheca nov. spec.
Tatf..Il, Big. 33 ZAT.
In einer Massen-Aufsammlung von Mikrosporen zweier Zsoezes-Arten (Z /acustris
und echrnospora), die mit Wasser aus der Saale übergossen war, entwickelte sich
massenhaft eine kleine Arhrzzdiacee, welche mir anfangs mit Ahrzophidium pollinis (A.
>raun) identisch zu sein schien, später aber sich als speeifisch selbständig erwies.
Sie tödtete die lebenden Mikrosporen in grössester Anzahl ab, indem sie den
Inhalt dieser Sporen, der bekanntlich sehr reich an grobkörnigen Reservestoffen ist
Fig. 33), in eigenthümlieher Weise umwandelte,. und zwar in „fettige Degeneration“
versetzte. Hierbei werden die körmigen Inhaltstheile in Fett verwandelt, welches
alsbald zu grösseren, stark lichtbrechenden, meist T'ropfenform annehmenden Massen
93 —
zusammenfliesst (Fig. 35. 36) und dem Pilze zur Nahrung dient. Meist betheiligen
sich mehrere (Fig. 34) bis ein Dutzend Individuen an diesem Zerstörungswerk, das
in gleicher Extensität und Intensität wahrscheinlich auch draussen in der Natur vor-
kommen wird und dann nothwendigerweise die Spermatozoidenproducetion der
Isoeten einschränken muss. Fünf Monate lang wurden in meinen Culturen immer
nur Sporangien-tragende Individuen erzeugt.
Die Sporangien zeigen exacte oder etwas niedergedrückte Kugelform (Fig.
37—40). Im Vergleich zu den Mikrosporen von Zsoefes erscheinen sie manchmal
ziemlich gross (Fig. 38. 39), dürften aber nur selten einen über 22 mikr. hinausgehenden
Durchmesser erlangen, während sie auf der andern Seite auch nur 4—5 mikr. messen
können. Zwischen diesen Extremen liegen natürlich alle möglichen Uebergänge. Der
Entwiekelungsgang der Sporangien stimmt mit dem von Akı2. podlinis vollkommen
überein. In den grössten Sporangien werden etwa 150 — 300 Zoosporen erzeugt,
in den kleinsten nur eine geringe Anzahl. An Grösse stehen die Schwärmer denen
der vorgenannten Art etwa um die Hälfte nach, da sie nur 2,5—3 mikr messen, also
ziemlich klein ausfallen. Ihre Cilie ist fein, ihr Kern ziemlich gross, etwa 0,9—1,2
mikr. messend, sehr stark lichtbrechend (Fig. 41). Daneben sieht man häufig noch
ein wenig glänzendes Plasmaklümpchen. Beim Schwärmen nimmt der Schwärmer
Kugel- oder Ellipsoidform an, in der Ruhe zeigt er auffällige Metabolie (wie bei
Rh. intestinum Schenk). Die Sporangienhaut erhält mehrere (?—5) Mündungen
(Fig. 4U) (nur an den kleinsten Individuen ist eine einzige vorhanden). Sie entstehen
dadurch, dass kleine kreisförmig umschriebene Partieen der Wandung ziemlich stark
vergallerten, eine Zeit lang als kuppelartig vorspringende Gallertmassen erhalten
bleiben (Fig. 35) und schliesslich im Wasser verquellen, worauf die Schwärmer
ausschlüpfen. Das Mycel (Fig. 37. 39) trägt im Wesentlichen denselben Character,
wie bei AR. pollinis. Ist der Inhalt der Wirthszellen aufgezehrt, so lässt es sich
meistens schon ohne Reagentien nachweisen (Fig. 37), wird aber sonst erst durch
färbende Mittel in seinen feinsten Auszweigungen zur Anschauung gebracht.)
Während 5 monatlicher Cultur gelang es mir nicht, Dauersporenpflänzchen
zu erziehen. Später musste ich die Culturen aufgeben.
Mittelst der Mikrosporen von Zsoefes Zacustris und Z echinospora habe ich auch
einen Organismus gefangen, der den Monadinen nahe zu stehen scheint. Sein Plasma-
*) Auch schwache (etwa 6°/,) Chromsäure leistet zur Aufhellung, namentlich der eutieularisirten
Aussenhaut der Mikrosporen gute Dienste.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 13
94
körper zehrt den gesammten Inhalt der Wirthszellen auf und geht dann in den
Dauerzustand über, in welchem er eine grosse mit mächtigem Oeltropfen und derber
Haut versehene Dauerspore bildet. Mitunter sind 2—4 solcher Dauersporen in einer
Microspore vorhanden. Ausserordentlich häufig wird ein und dieselbe Mierospore
sowohl von dem in Rede stehenden Schmarotzer, als von Individuen des Akzzophidium
Sphaerotheca befallen. Anfänglich glaubte ich, dass beiderlei Bildungen in genetischem
Zusammenhang ständen, so zwar, dass jene endophyten Dauersporen den Dauerzustand
des Ahrzophidium vepräsentirten, allein die nähere Untersuchung ergab, dass von einem
solchen Zusammenhange durchaus keine Rede sein kann, sondern dass hier ein beson-
derer, wahrscheinlich Monadinen-artiger Organismus vorliegt, den ich an anderer
Stelle characterisiren werde.*)
4. Rhizophidium Cyclotellae nov. spec.
Tat. II Fig. 13 — 22.
Als Beispiel dafür, dass sich, wie übrigens von vornherein zu erwarten war,
nicht jede beliebige Ahzzidiacee durch Pollenkörner fangen lässt, möge vorstehend
bezeichneter Pilz angeführt werden. Wenigstens gelangen mir mit Pinuspollen die
Fangversuche nicht; auch Farnsporen (Zycopodion) wurden vergebens in die Culturen
eingesät.
Ich erhielt dieses Object in einer Cultur von Diatomeen und zwar von einer
Cyclotella-Art, die aus der sogenannten „Stinksaale“ bei Halle stammte. Bei fort-
gesetzter Züchtung wurde die grosse Mehrzahl der Cyelotellen von dem Schmarotzer
vernichtet.
Den geringen Dimensionen dieser Wirthszellen entsprechend, erlangen seine
Pflänzchen nur geringe Grösse.
Die Entwickelung der Sporangien tragenden Individuen wurde von der Zoo-
spore aus in mehreren continuirlichen Entwiekelungsreihen verfolgt, von denen ich
zwei in Fig. 13 und 14 dargestellt habe. (Man vergleiche die Figurenerklärung.)
Im Zustande lebhaftester Bewegung zeigen die zu den kleinsten Rhizidiaceen-
Schwärmern gehörigen, nur etwa 1,85—2,5 mikr. im Durchmesser haltenden Zoosporen
sr
Kugelform (Fig. 17a), im Zustande der Ruhe und des Kriechens deutliche Metabolie
*) Kürzlich habe ich in Schenk’s Arbeit: Ueber das Vorkommen contraetiler Zellen im Pflanzen-
reiche, in einer Anm. auf p. 8 die Notiz gefunden, dass in einer Cultur die Sporen eines andern Farnes
und zwar eines Aspidium (4. violascens) von Chytridium subangulosum A. Braun befallen wurden.
era
No
ou
(Fig. 17b). Sie sind mit einem relativ grossen, glänzenden Kern und sehr feiner
Cilie ausgerüstet, die bei der Bewegung, welche, wie z. B. bei A%12. pollinis, in Ziekzack-
bahnen erfolgt, nachgeschleppt wird (Fig. 15. 17). Während die Zoosporen anderer
Rhnizidiaceen au ganz beliebigen Stellen der Membran ihrer Wirthszellen (Algen,
Pollenkörner, Farnsporen ete.) einzudringen vermögen, erfolgt im vorliegenden Falle die
Infeetion immer nur an ganz bestimmten Stellen der Cye/oze//a-Haut, nämlich an den
ringförmigen Grenzlinien zwischen den Schalen und den Gürtelbändern (Fig. 13—16,
20. 23). Es beruht dieses eigenthümliche Verhalten offenbar auf dem Umstande,
dass der Keimschlauch der Schwärmer die Kieselsäure der bekanntlich stark ver-
kieselten Membran nicht zu lösen vermag. Eingedrungen entwickelt sich der Keim-
schlauch durch Verästelung zu einem Mycel, das gleichzeitig auffällige destructive
Veränderungen im Inhalt der Cye/ozel/a hervorruft. Am meisten in die Augen springen
die Veränderungen am Chromotophoren-Apparat, dessen kleine Platten von der
Wandung abgezogen, zu rundlichen Klümpchen eontrahirt und schliesslich ins schmutzig
Bräunliche verfärbt werden. Gleichzeitig mit diesen Veränderungen erfolgt eine Con-
tract/on des Primordialschlauches, sowie Zerstörung des Kernes, der sammt dem übrigen
Plasma schliesslich ganz aufgezehrt wird, sodass von dem Inhalt der Zelle nur noch
die braunen Chromatophorenreste übrig bleiben. (Vergl. die Entwiekelungsreihen in
Fig. 13 und 14.) In dem Maasse als die Aufzehrung des Inhaltes und die Contraction
der Chromatophorenreste vorschreitet, wird das winzige Mycel, das bei seiner grossen
Feinheit leicht zu übersehen und in seiner ganzen Ausdehnung nur bei günstigster
Beleuchtung wahrzunehmen ist, vielfach selbst erst durch Färbemittel (Pikrinsäure,
Anilinfarben) ganz deutlich hervortritt, frei gelegt. (Fig. 13. D, 20—22).
Von dem Mycel ernährt, bildet sich die extramatricale aus dem ursprünglichen
Schwärmer gebildete Zelle sehr bald zum Sporangium aus (Entwiekelungsreihen in
Fig. 13 u. 14), und zwar in der für andere Azzzdieen bekannten Weise. Das fertige
Sporangium (Fig. 15) ist, von der Seite gesehen, kurz birnförmig, niemals genau ku-
gelig, relativ sehr klein, wohl nieht über 12 mikr. messend, vielfach um '/s kleiner,
mit dünner, je nach Grösse 1—3 Mündungen erhaltender Membran versehen, die nach
der Entleerung schnell collabirt und bald unkenntlich wird.
Die Cyelotellen werden oft von mehreren (Fig. 19) bis 8 Parasiten befallen
die dann meistens klein bleihen. Auf Melosiren geht AR. Cyelotellae auch bei monate-
langer Zusammenzüchtung nicht über. Diese Thatsache im Verein mit den morpho-
logischen Unterschieden weist darauf hin, dass der Cyelotellen-Schmarotzer mit dem
von Braun auf den so nahe verwandten Melosiren gefundenen Chytridium globosum
la
—a De
nichts zu thun hat. Auch auf andere Drafomeen (Synedren, Navieulen) habe ich A.
Cyelotellae nicht überzuzüchten vermocht.
5. Lagenidium pygmaeum spec. nov.
Taf. I Fig. 29—31 u. Taf. U Fig. 112.
Wie bereits einleitungsweise angedeutet, hatte ich seit dem Jahre 1853 all-
jährlich das Glück, in lebenden Pollenkörnern von Prnus siwestris, austriaca, Larıcio
und Pallasiana, welche auf Saalewasser ausgesäet worden waren, eine neue, mit
Sexualität begabte Zagenidee einzufangen, die ich näher studirte. Die folgende Mit-
theilung hierüber mag als Ergänzung meiner früheren monographischen Arbeit über
die Zagenidieen dienen.
Es ist von vornherein zu bemerken, dass die engen Raumverhältnisse der
Pollenzellen, innerhalb deren sich die ganze Entwickelung abspielt, relativ grosse
Einfachheit im Bau und in der Entwickelung des Pilzes bedingen.
1. Die ungeschlechtlichen Pflänzchen.
Das myceliale Stadium der ungeschlechtlichen Pflänzehen stellt einen
Schlauch dar, der bei den verschiedenen Individuen in Bezug auf Gestaltungsweise
und Grösse nieht unbeträchtlich variürt. In vielen Fällen ist er von gestreckter
Form. aber dabei meist gekrümmt und mit Aussackungen versehen, welche zu wenigen
in unregelmässiger Anordnung auftreten und bald schlauchförmige (Taf. I Fig. 26),
bald blasenförmige (Fig. 25) Zweige bilden, mitunter auch nur papillenartig erscheinen
(Taf. I Fig. 28). In vielen andern Fällen vermisst man am Mycel den Schlauch-
character; es stellt dann eine einfache rundliche Blase dar, welche Kugelform, Ei-
form, Ellipsoidform, Nierenform etc. besitzen kann und den Raum des Pollenkorns
oft zu einem grossen Theile ausfüllt (Taf. I Fig. 33. 37. 39). Zwischen dieser ein-
fachen Blasenform und der Form des mit Ausstülpungen versehenen Schlauches zeigen
sich vielfach Uebergänge.
Gewöhnlich findet sich in der Pollenzelle nur ein einziger Mycelkörper; doch
kann man auch 2—4 beobachten (Fig. 37. 38), die, wenn sie voluminös sind, den
ganzen Raum der Pollenzelle ausfüllen und sich durch gegenseitigen Druck abplatten
können (Taf. I Fig. 37).
Bezüglich dieser Formverhältnisse wird man an die Lagenidien, speciell an
Lagenidium Rabenhorstii Zopf erinnert, das, wie ich zeigte, ebenfalls seine beiden
Mycelformen (gestreckte Sehlauchform und Blasenform) mit allen Uebergängen
produeitt.
Der Inhalt der Mycelschläuche bietet nichts besonders Characteristisches; in
dem Plasma finden sich stark lichtbrechende, z. Th. grobe Körnchen und in gewissem
Alter Vacuolen vertheilt.
Der Mycelkörper bleibt auch zu der Zeit, wo das Pflänzchen sich zur Sporangien-
bildung anschiekt, vollkommen einzellig: er wird in seiner ganzen Ausdehnung zu
einem einzigen Sporangium; eine Differenzirung in einen vegetativ bleibenden und
in einen fruetificativ werdenden Theil wird also vermisst, und dies entspricht wieder-
um dem Character der Zagenidieen (Lagenidium und Myzocytum).
Die beginnende Umwandlung des Mycelschlauches in ein Sporangium macht
sich schon äusserlich bemerkbar, indem derselbe eine Ausstülpung gegen die Wandung
der Wirthszelle hintreibt. An der Berührungsstelle wird nun die Pollenwandung auf-
gelöst, sodann verlängert sich die Ausstülpung und tritt durch die gebildete Oeffuung
sich hindurehzwängend und hier meistens eine Einschnürung erleidend, ins umgebende
Wasser (Taf. I Fig. 27. 28. 33. 39). Die Bildung eines solchen Perforations-
schlauches finden wir auch bei deu bereits bekannten Zagenzidieen. Nur habe ich
bei diesen niemals beobachtet, dass die in Rede stehenden Schläuche sich verzweigen
können, was bei dem vorliegenden Pilze gar nicht so selten vorkommt (Taf. I Fig. 38.
39). Die Zweige entstehen stets am Grunde des Perforationsschlauches, d. h. unmittel-
bar über der Durchbruchsstelle durch die Pollenmembran. Ihre Zahl beträgt 2—3
(Fig. 38. 39). In einigen meiner Wasserculturen vom Jahre 1884 war sogar die Zahl
der mit verzweigtem Perforationsschlauche versehenen Individuen die überwiegende.
Die Zweige sind meist ebenso plump wie der Hauptschlauch, erreichen aueh hin und
wieder die Länge desselben.
Wie sich äusserlich der Beginn der Fructification durch Bildung des Perforations-
schlauches kenntlich macht, so documentirt er sich im Innern des Parasiten durch
Auftreten grösserer Vacuolen (Taf. I Fig. 39. 27), die allmählich zusammentliessen,
in bauchigen Exemplaren eine grosse centrale Vacuole bildend, welche das Plasma
an die Wandung drängt (Fig. 31). Durch simultane Zerklüftung dieses Wandbelegs
Fig. 31. 32) entstehen die Zoosporen. Sobald sie deutlich gegen einander abgegrenzt
erscheinen, öffnet sich die Aussenmembran (des Perforationsschlauchs an der Spitze
und seine Innenmembran tritt bruchsackförmig heraus, um die Schwärmer aufzunehmen
(Fig. 29. 34). Man sieht letztere gesondert in die „Schwärmblase“ einwandern.
Erst unmittelbar nach der Einwanderung scheinen die Schwärmer ihre Cilien zu er-
—8 —
halten, wenigstens nehmen sie erst jetzt allmählich deutliche Bewegung an. Dieselbe
wird von Moment zu Moment lebhafter, endlich zerfliesst die Membran der Schwärm-
blase und die Schwärmer jagen nunmehr im Wasser dahin. Sie zeigen dabei etwa
die Form einer kurzen, ca. 16—18 mikr. langen Spindel (Fig. 30). Im Momenten der
tuhe nehmen sie schwach amoeboide Bewegungen an. Die Cilien sind, wie bei
anderen Zagenzdieen, in der Zweizahl vorhanden, am Plasmakörper seitlich inserirt
und schon ohne Abtödtungsmittel deutlich wahrzunehmen (Fig. 30. 35).
Die Infeetion neuer Pollenmassen durch die Schwärmer scheint sehr schnell
zu erfolgen, wie folgendes, im Juni gemachtes Experiment lehrt: Ich nahm eine flache
Krystallisirschale von 1 Decimeter Durchmesser, füllte sie mit Wasser und besäete
die Oberfläche mit frischen Stäubehen der Pinus Pallasiana so dicht, dass eine zarte,
fast continuirliche, schwefelgelbe Haut auf dem Wasser entstand, die nach meiner
Schätzung tausende von Stäubehen enthalten musste. In diese Cultur brachte ich ein
kleines Stück von der auf einer andern Cultur befindlichen, sehr pilzreichen Pollen-
haut, das nur 1 Centim. in der Länge und ca. 2 millim. in der Breite mass. Schon
nach 23 Stunden war unter tausenden von Stäubchen der erstgenannten Aussaat kaum
eines zu finden, was nieht schon entwickelte Sporangien gezeigt hätte, ja z. Th. waren
dieselben schon entleert.
Das genauere Verhalten der entleerten Schwärmer mit Bezug auf die Infection
wurde in der Weise studirt, dass ich in den Tropfen des Objectträgers, der zahlreiche,
mit reifen, z. Th. eben entleerten Sporangien behaftete Pollenkörnchen von Pinus
austriaca enthielt, Pollen von Pinus Pallasiana einsäete. Die massenhaft entleerten
Schwärmer setzen sich nun nicht unmittelbar an die eingesäeten Stäubehen an, sondern
jagen längere Zeit umher. Erst nachdem ihre Bewegungen träger geworden, lassen
sie sich auf der Haut der Pollenzellen einzeln oder zu mehreren nieder (Fig. 21a).
Dann nimmt der Plasmakörper Kugelform an (Fig. 21b). Hierauf werden die Cilien,
gewöhnlich erst die eine, dann die andere, eingezogen (Fig. 21 b. e) und nun umgiebt
sich der Plasmakörper mit Membran und wird, indem er sich nach der Pollenzelle zu
verschmälert, birnförmig. häufig aber auch länglich-ellipsoidisch (Taf. I Fig. 23): Jetzt
wird ein feiner Keimschlaueh durch die Pollenzellmembran getrieben und zwar relativ
schnell (in den von mir beobachteten Fällen in 7—12 Minuten). Ist derselbe gebildet,
so wandert ein Theil des Plasmas in denselben hinein und es entsteht an der Spitze
desselben eine kenlige Anschwellung, die allmählich sich vergrössernd, Kugel- oder
Birngestalt annimmt, während im Inhalt der ursprünglichen Schwärmzelle eine grösser
und grösser werdende Vacuole auftritt, zum Zeichen, dass mehr und mehr Plasma
994 ——
in den Keimschlauch übertritt. (Siehe die Entwickelungsreihe in Fig. 21a—f.) End-
lich ist die Schwärmerhaut gänzlich entleert (Fig. 22 d) und wird durch Vergallertung
allmählich unkenntlich; nach 1—2 Tagen ist sie meistens gänzlich aufgelöst. In
Taf. I Fig. 22 findet man diese Vorgänge in einer continuirlichen Entwickelungsreihe
dargestellt. Genau derselbe Infeetionsmodus findet bei Algenzellen seitens der früher
von mir beschriebenen Zagemzdieen statt.
In sporangienreichen Culturen sieht man frisch eingesäete Pollenkörner sich
oft mit Dutzenden von Schwärmsporen bedecken. Doch geht die Mehrzahl derselben
zu Grunde.
Ist der Inhalt der Pollenzellen stark körnig, trüb und dunkel, so wird die
Feststellung des Infectionsmodus meistens schwierig. Wählt man aber für die con-
tinuirliche Beobachtung Zellen aus, welche jenen Uebelstand nicht zeigen, so lässt
sich der Infecetionsprozess leicht und klar verfolgen.
Hin und wieder kommt es vor, dass die Schwärmer sich nicht unmittelbar
auf der Pollenhaut, sondern in deren Nähe festsetzen, um nun einen an Länge oft
das 10—20 fache ihres Durchmessers betragenden dünnen und meist stark gekrümmten
Keimschlauch auf das Pollenkorn hinzutreiben, der bei Berührung mit der Pollenhaut
kugelig aufschwillt und nun erst eindringt.
Der junge Parasit wächst nun, vom Plasma der Pollenzelle sich nährend,
alsbald zu dem bereits früher charakterisirten einfachen Mycelkörper aus (Fig. 24.
26). Die Eindringstelle ist an der Form des Schlauches (Fig. 24 bei i, 25 bei a,
26 bei a) meist noch einige Zeit zu erkennen.
2. Die geschlechtlichen Pflanzen.
Nach längerer oder kürzerer Zeit traten in jeder meiner Culturen sexuelle
Pflänzchen auf.
Das myceeliale Entwickelungsstadium derselben entsteht aus den Schwärmern
in der nämlichen Weise, wie bei den neutralen Individuen und trägt auch sonst den
nämlichen Character, nur wird der Mycelschlauch im Allgemeinen noch dicker und
plumper. Er gliedert sich endlich durch eine Scheidewand in zwei Zellen, von denen
die eine zum Oogon, die andere zum Antheridium wird (Taf. 2 Fig. 2). Gemischt
fructificative Pflänzchen scheinen sehr selten zu sein, wenigstens habe ich unter
Hunderten von Pflänzchen nur ein einziges mal ein dreizelliges gesehen, welches
ausser Oogon und Antheridium noch ein Sporangium besass (Taf. 2 Fig. 10).
—— AU), Sr
Mehr als dreizellige Sexualpflänzchen dürften imanbetracht der geringen Raum-
verhältnisse in der Pollenzelle überhaupt nicht vorkommen.
Hin und wieder trifft man Fälle von Diöcie*) (Taf. 2 Fig. 12). Ich wiess
solche früher bereits für mein Zagenidium Rabenhorstii nach.
Die oogoniale Zelle macht sich schon in der Jugend leicht als solche kennt-
lich durch ihre starke Ausbauchung sowohl als durch ihre Aussackungen, die dem
Antheridium entweder ganz fehlen, oder doch minder ausgesprochen erscheinen
(Taf. 1. Fig. 1,0. 2,0. 3,0. 4,0 und O%). Letzteres treibt einen relativ kräftigen Be-
fruchtungsschlauch in das Oogonium hinein (Fig. 5) und lässt seinen Inhalt vollständig
in dasselbe übertreten, sodass es schliesslich ganz entleert ist.) (Fig. 5. 6. 9 A.)
Wie bei den Lagenidien und Myzocytien erfolgt die Bildung der Oosphaere erst
nach dem Uebertritt des Antheridiuminhalts (Fig. 5). Dieselbe umgiebt sich dann
mit dieker Haut und wird so zur Oospore, welche mit dem Befruchtungsschlauche,
der nach vollzogener Befruchtung sehr deutlich hervortritt (Taf. 6 Fig. 9. 12), fest
verbunden bleibt.
Die vorstehenden Verhältnisse lassen sich häufig nur unter Zuhilfenahme von
Mitteln studiren, welche Membran und Inhalt des Pollenkorns aufzuhellen vermögen.
Aetzkali und Chromsäure leisten hierbei gute Dienste. Durch vorsichtigen Druck
auf mit solehen Stoffen behandelte Pollenkörner werden die Parasiten meist intact
herausgepresst und lassen nun ihre Form genau erkennen (Fig. 9). Die reife Oospore
ist von exact kugeliger Form (Taf. 2 Fig. 6. S—12), seltener an der dem Befruchtungs-
schlauche entsprechenden Stelle etwas birnförmig vorgezogen (Taf. 2 Fig. 7). Sie
besitzt eine relativ dicke, hyaline, sculpturlose Haut, die in ein Exosporium und ein
minder diekes Endosporium diffenzirt ist. Mit Chlorzinkjod behandelt zeigt sie keine
Gellulose-Reaetion. Im Innern der Spore sielt man eine grosse, kugelige Masse von
stark lichtbrechendem Reserveplasma, das fast das ganze Lumen der Zelle ausfüllt
und sich bei Behandlung mit Osmiumsäure als fettreich erweist (Fig. 6. 7. 10). Die
grössten Sporen, die ich erzielte, maassen 29 mikr., die kleinsten etwa 18 mikr.
Sie werden schliesslich. durch Vergallertung der oogonialen Haut, ganz frei. Die
Bildung sexueller Pflanzen tritt mitunter erst nach einer kleineren oder grösseren
teihe von ungeschlechtlichen Generationen, also erst nach mehrwöchentlicher Cultur
auf; mitunter aber auch sofort, sodass man am fünften Tage der Cultur bereits reife
Oosporen erntet.
*) Wenigstens schien mir Form und Lage der Sexualzellen auf eine solehe hinzudeuten.
=) Den Befruchtungsprozess habe ieh bereits für Lagenidium Rabenhorstii 1. ec. näher verfolgt.
101
In ein und derselben Pollenzelle kommen nicht selten 2—3 sexuelle Pflänz-
chen vor (Fig. 85). Häufig wird ein und dasselbe Pollenkorn von Individuen des
KRhizophidium pollinis und solchen des Zagenidium befallen, entweder gleichzeitig oder
successive. Wer die Entwickelungsgeschichte des Auzophadium pollinis nicht kennt,
kann dann wohl zu der Vermuthung geleitet werden, die im Innern der Pollenzelle
liegenden Sporen seien Producte dieses Pilzes.
Seinem ganzen Entwickelungsgange nach schliesst sich der besprochene Pilz
an die Zagenzdieen, hinsichtlich der Form seiner vegetativen und fruetificativen Zu-
stände speciell an die Gattung Zagenidium an. Es empfiehlt sich daher, ihn hierselbst
unterzubringen. Offenbar ist er gegenüber den übrigen: von mir beschriebenen Arten
durch Einfachheit im Bau und durch geringe Grössenverhältnisse ausgezeichnet,
weshalb ich ihn als Z. Aygrnaewwn bezeichnen möchte.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 14
Erklärung der Abbildungen.
Taf. ov %
Rhizophidium pollinis (A. Braun).
Figur 1— 20.
.1. 50/, Reifes Sporangientragendes Pflänzchen unmittelbar vor der Entleerung. Von den mit
Gallertpfropf versehenen Mündungen des Sporangiums sind zwei sichtbar. Das im Innern
des Pollenkorns ausgebreitete Mycelsystem ist erst nach späterer Aufhellung durch Rea-
gentien gezeichnet.
Fig. 2. 350/, Dasselbe Sporangium während des’ Austrittes der Schwärmer dargestellt.
Fig. 3. 50/, Völlig entleertes Sporangienpflänzchen. Es sind 3 deutliche Mündungen vorhanden.
Fig. 690/, Stück der Haut eines reifen Sporangiums mit einer mit Gallertpfropf versehenen Mündung.
8
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
3
4
5. #90/, Stück der Haut eines entleerten Sporangiums mit einer offenen Mündung.
6. 690%, Ein Sporangium mit 2 Mündungen (in Jodjodkalium).
7
!000/, Zwei mit Cilien versehene Schwärmer. Zur Seite des excentrischen stark lichtbrechenden
fettreichen Kernes liegt eine kleine Plasmamasse, an die sich die Cilie anzusetzen scheint.
.8. 1%/, Graphische Darstellung eines Stückes der Schwärmbahn einer Zoospore, wobei ich mich
möglichst genau an die Natur gehalten hahe. A. bezeichnet den Anfang, Z. das Ende
des Weges. Es herrschen in der Bahn spitze Winkel vor.
9. #90/, Innenhaut J eines zuvor mit Aetzkali behandelten Pinuspollenkorns, durch vorsichtigen
Druck aus dem Korn isolirt, mit 2 myeeltragenden Sporangienpflänzchen. Von dem
einen ist das Sporangium bei der Präparation abgelöst. Die Mycelsysteme sind sehr
reich verzweigt.
10. 350, Pollenkorn mit einem noch sehr jungen Parasiten.
11. 350/, Pollenkorn mit drei etwas älteren Sporangienpflänzchen.
12—14 ®50/, Weitere Entwickelungsstadien sporangientragender Pflänzchen. Die jungen Sporangien
sind vor, die Mycelien nach der Behandlung mit aufhellenden Reagentien gezeichnet.
15. >°0/, Pollenkorn mit 3 fast reifen Sporangien besetzt.
16. 200/, Pollenkorn mit 3 Sporangienpflänzchen besetzt. Das Sporangium des einen ist bereits
entleert, das des anderen sehr klein, das des dritten gross und mit 3 Mündungen versehen.
17. #0/, Pollenkorn mit 12 Dauersporenpflänzchen besetzt. Die Dauersporen erst halbreif. Von
den Mycelien ist wegen Undurchsichtigkeit der Pollenhaut und des Inhalts nichts zu sehen.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
18. 350/,
19. 690),
20. 690),
21. 50),
22. 540],
30. 549],
—_— 19.
Pollenkorn mit 4 Sporangienpflänzchen und zwei Dauersporen tragenden. Zwei Sporan-
gien sind bereits entleert.
Pollenkorn von Tropaeolum majus, halb von der Seite gesehen, durch Rhiz. pollinis
künstlich infieirt, mit 7 Sporangien tragenden Individuen besetzt, von denen 5 ihre Spo-
rangien bereits entleert haben. Mycelien nicht gezeichnet, weil nicht deutlich.
Pollenkorn von Phlox, 20 Stunden nach der Infeetion mit Zhiz. pollinis. Man sieht
3 Parasiten, von dem 2 ihre Sporangien bereits entleert haben. Das Mycel ist verdeckt.
Lagenidium pygmaeum n. sp.
Fig. 21—39.
Entwickelungsreihe, das Verhalten ein und desselben Schwärmers bei der Infection zeigend.
a) Pinuspollen mit einem Schwärmer, der sich eben auf der Pollenhaut festgesetzt hat
6 Uhr 30 Min.; b) derselbe 6 Uhr 31 Min. Er hat sich abgerundet und die eine Cilie
- eingezogen. c) 6 Uhr 33 Min.; auch die andere Cilie ist eingezogen. d) 6 Uhr 45 Min.
Der Schwärmer beginnt den Infeetionsschlauch zu treiben. e) 7 Uhr. Der Infeetions-
schlauch ist länger geworden. f) 7 Uhr 11 Min. Die Spitze des Infeetionsschlauches ist
kugelig angeschwollen.
Continuirliche Entwickelungsreihe, das Verhalten ein und desselben Schwärmers beim Ein-
dringen zeigend. a) Der Schwärmer hat sich abgerundet und seine Cilien eingezogen
6 Uhr 15 Min. b) Derselbe, birnförmig geworden mit beginnender Bildung des Infections-
schlauches 6 Uhr 22 Min.; e) derselbe, nachdem der Infeetionsschlauch sich verlängert
und eine keulige Anschwellung erhalten hat, in die das Plasma eingetreten 6 U. 35 Min.
d) derselbe 6 U. 55 Min. Schwärmerhaut und Infeetionsschlauch sind entleert, ihr Plasma
ist völlig in die kugelige Anschwellung übergetreten und die Infeetion somit beendet.
Ein auf der Pollenhaut sitzender, stark gestreckter Schwärmer unmittelbar vor dem
Eindringen.
Junges Pflänzehen kurze Zeit nach der Infeetion; bei i der Infectionsschlauch. Die Haut
des Schwärmers bereits aufgelöst.
Mit mehrfachen Aussackungen versehener Mycelschlauch eines Sporangienpflänzehens, bei
a die Infectionsstelle.
Unregelmässig verzweigter Mycelschlauch eines Sporangienpflänzchens.
Halbreifes Sporangium, bei e Entleerungsschlauch, in Bildung begriffen.
Pollenzelle mit 2 Sporangienpflänzchen.
Pollenzelle mit 2 Sporangienpflänzchen, von denen das eine soeben seine zahlreichen
Schwärmer durch den Entleerungsschlauch e entlassen hat. Die Schwärmer sind noch
von der zarten Innenhaut des Schlauches (Schwärmblase) umhüllt und bewegen sich inner-
halb derselben lebhaft. Von dem zweiten entleerten Sporangium sieht man den Ent-
leerungsschlauch bei e‘.
Scehwärmer mit seinen 2 Cilien.
31—33. 45%/, Sporangien in Flaschenform, deren Inhalt bereits in Zoosporen zerklüftet ist. Fig. 12
etwa im optischen Durchschnitt (r. Rest vom Plasma der Pollenzelle) Fig. 13 in der
Ansicht von der Seite. In Fig. 14 ist die Anordnung des Inhalts minder klar, das Plasma
grobkörniger, der Mündungshals dicker.
14*
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
—— ZA
34. #0/), Dasselbe Sporangium, wie in Fig. 13, 15 Minuten später. Der Mündungsschlauch ist
bereits geöffnet, und in die Schwärmblase hinein wandern soeben die letzten Schwärmer.
35. #°0/, Schwärmsporen des vorigen Sporangiums, zwei noch mit Cilien, eine bereits zur Ruhe
gekommen.
36. *5%/, Pinuspollenkorn mit 2 Sporangien-Individuen des Lagenidium, die sich gegenseitig etwas
drängen; der Entleerungsschlauch des einen ist dem Beschauer abgewandt.
37. 45%/, Pollenkorn mit 3 Individuen (Sporangien) des Pilzes, die sich gegenseitig bis zur Ab-
plattung drängen und den Raum der Wirthszellen fast ganz ausfüllen. Die Entleerungs-
schläuche sind dem Beschauer abgewandt.
38—39. #°0/, Sporangium mit verzweigtem Mündungshalse. Bei 38 im Inhalt bereits die Zer-
klüftuug in Schwärmer angedeutet.
Tafel II.
Lagenidium pygmaeum nov. spec.
Figur 1—12.
1—2. 51%/), Zwei noch junge sexuelle Pflänzchen. O Oogon, A Antheridium.
3. 50/, Noch unreifes Pflänzehen. O wahrscheinlich das junge Oogon, A das Antheridium.
4. 450/, Die aus Cellulose bestehende Innenhaut (I) eines Pinus-Pollenskorns (nach Behandlung
mit Aetzkali aus Letzterem herausgedrückt) mit 2 sexuellen jungen Individuen des Pilzes.
© Oogon, A Antheridium des einen, O’ Oogon, A’ Antheridium des andern.
5. #50/), Pollenkorn von Pinus mit einem sexuellen Pflänzchen. A Antheridium. O Öogon mit
der halbreifen Oospore.
6—7. >540/, Pollenkörner mit je einem sexuellen Pflänzchen. Bezeichnung wie oben. In Fig. 7
ist die birnförmig vorgezogene Stelle der Oospore mit dem Antheridialschlauche ver-
wachsen.
8. 350/, Pollenkorn von Pinus silvestris mit 2 sexuellen Pflänzchen.
9. +50), Zwei durch Druck aus einem Pollenkorn isolirte sexuelle Pflänzehen. Bezeichnung wie
früher.
10. >4%/, Ein aus Oogon O, Antheridium A und Sporangium Sp. bestehendes, also dreizelliges In-
dividuum. Sporangium bereits entleert; e Entleerungsschlauch.
11. 54%/, Sexuelles Pflänzehen bestehend aus dem stark bauchigen Oogon. Oog. mit der Oospore
Sp. und dem Antheridium A. Der Befruchtungsschlauch ist wegen ungünstiger Lage
nicht deutlich.
12. 350/, Pollenzelle von Pinus mit 2 einzelligen Individuen des Pilzes, von denen das eine zum
oogonialen (O), das andere zum antheridialen Pflänzchen (A) ausgebildet ist.
Rhizophidium Cyclotellae nov. spec.
Fig. 13—22.
Alle Figuren 690 fach vergrössert.
. 13. Continuirliche Beobachtungsreihe, die Entwickelung dreier Sporangienpflänzchen aus der
Zoospore in 4 Stadien darstellend.
Fig. 15.
Fig. 16.
Fig. 17.
Fig. 18.
Fig. 19.
Fig. 20.
mb: ———
A. Am 7. Nov. Abends 7 Uhr. Cyelotellazelle in der Schalenansicht mit 3 im Ein-
dringen begriffenen Zoosporen. Der Inhalt der Wirthszelle zeigt noch keine besonderen Ver-
änderungen, denn die Chromatophoren liegen noch der Wandung dicht an und sind auch in
Bezug auf Form und Färbung noch normal. Auch an dem im Centrum sichtbaren Kern
scheinen besondere Veränderungen noch nicht vor sich gegangen zu sein.
B. Am 8. November 9 Uhr Morgens. Jene drei Schwärmer sind schon erheblich heran-
gewachsen; der ursprünglich vorhandene glänzende Inhaltskörper derselben hat relativ be-
deutende Vergrösserung erfahren, neben ihm sind kleinere, ebenfalls stark lichtbrechende
Körnchen entstanden. Zwei der Parasiten zeigen ein deutlich entwickeltes Mycel. Auffällig
erscheint jetzt die Wirkung auf die Wirthszelle, insofern die Chromatophoren von der Wan-
dung abgezogen und in mehr rundliche, schmutzig gelbbraune Klümpchen verwandelt. Vom
Kern ist nichts mehr zu sehen.
C. Am 9. Nov. Morgens 9 Uhr. Die 3 Sporangien nähern sich schon ihrer Ausbildung.
Der stark liehtbreehende Tropfen ist in den beiden grössten Exemplaren bereits kleiner ge-
worden, und auf seine Kosten sind neben ihm zahlreichere glänzende Körnchen aufgetreten.
Inhalt der Cyelotella im Wesentlichen wie bei B, ebenso das Myecel.
D. Am 9. Nov. Abends 6 Uhr. Die beiden grössten Sporangien präsentiren sich bereits
im Reifestadium, das dritte steht unmittelbar davor.
Eine zweite continuirliche Beobachtungsreihe, gleichfalls die Entwickelung dreier Sporangien-
pflänzchen von der Zoospore aus darstellend.
A. Am 7. Nov. Abends 8 Uhr. Cyelotella vom Gürtelband aus gesehen, Chromatophoren
noch in normaler Lage und Form.
B. Am 8. Nov. Nachm. 3 Uhr. Ebenso. Der stark lichtbrechende Körper in den
ehemaligen Zoosporen hat an Grösse zugenommen. Die Chromatophoren sind von der Wan-
dung abgezogen. Mycel nicht deutlich.
C. Am 9. Nov. Morgens 9 Uhr. Das Objeet hat sich gedreht, sodass es jetzt die
Schalenansicht zeigt. Neben dem stark liehtbrechenden Körper in den bereits grösser ge-
wordenen jungen Sporangien werden kleinere glänzende Körperchen sichtbar. Mycelschlauch
bei dem grösseren Exemplar angedeutet. ;
D. Am 10. Nov. Vorm. 10 Uhr. Schalenansicht. An Stelle des grossen stark licht-
brechenden Körpers im Sporangium treten kleinere.
Cyelotella-Zelle in der Gürtelbandansicht mit einem Sporangienpflänzchen. Inhalt der Wirths-
zelle bis auf die missfarbigen Chromatophoren-Klümpchen aufgezehrt. Zwischen letzteren sieht
man das Mycel. Das Sporangium entlässt eben seine Schwärmer an zwei lochartigen Stellen,
Dasselbe Objeet kurze Zeit später. Es treten eben die letzten Schwärmer aus. Man sieht
die beiden ÖOefinungen am Sporangium und die verdiekte untere Partie der Sporangien-
membran.
Eine Zoospore, bei a schwärmend, bei b mit metabolischen Veränderungen ihres Plasmakörpers.
Cyelotella-Zelle von der Schalenseite aus gesehen, mit 2 noch sehr jungen Parasiten. Sie
haben noch keine auffälligen Wirkungen auf den Inhalt der Wirthszelle geäussert, da die
Chromatophoren, die man theils im Profil, theils von der Fläche sieht, noch nicht von der
Wandung zurückgezogen und in Bezug auf Form und Farbe augenscheinlich noch intaet sind.
Kleines Cyelotella-Exemplar in der Schalenansicht, mit 7 theils noch sehr jungen, theils halb-
oder ganz reifen Sporangienpflänzchen besetzt, deren Mycelien nicht wahrzunehmen sind.
Ziemlich grosse Cyelotella schräg liegend, mit concentrirter Pierinsäure-Lösung behandelt,
Fig. 21.
Fig. 22.
Fig. 22a.
Fig. 23.
Fig. 24.
Fig. 25.
Fig. 26.
Fig. 27.
Fig. 28.
Fig. 29.
Fig. 30.
Fig. 31.
Fig. 32.
Fig. 33.
an To
wodurch das relativ grosse Mycel des Parasiten mit seinen Verzweigungen deutlicher hervor-
getreten ist.
Cyelotella von der Schalenseite mit einem reifen Parasiten, dessen Mycel sich wenigstens
streeckenweise verfolgen lässt,
Cyelotella von der Schalenseite mit 2 Parasiten, deren Mycel sich in seinen Verzweigungen
deutlicher verfolgen lässt.
Cyelotella von der Gürtelbandseite. Auf der Grenze von Schale und Gürtelband sitzt ein
halbentwickeltes Sporangium, dessen Mycel undeutlich.
Rhizophyton Sciadii nov. spec.
Fig. 23—32.
150/, Eine Colonie von 12 Seiadium-Individuen, welche in doldenartiger Anordnung an der
Mündung des entleerten Mutterindividuums A sitzen. Die 5 schön grünen Exemplare
sind von dem Parasiten verschont geblieben, 6 Individuen dagegen 'von je 1—2 Pflänz-
chen des Schmarotzers befallen und bereits abgetödtet. Ihr ehemals schön grüner Inhalt
ist jetzt in rothbraune Klümpehen umgewandelt. Von den Parasiten sind nur die ent-
leerten Sporangien deutlich, die Mycelien bei dieser Vergrösserung nicht sichtbar.
690/, Kleineres Sejadium-Pflänzchen mit 2 jungen Parasiten.
690/, Dasselbe Object 24 Stunden später; die Chromatophoren sind contrahirt.
690/, Kleineres Seiadium-Individuum mit 2 dieht unterhalb der Spitze eingedrungenen, noch
jungen Schmarotzern.
690/, Grosses Seiadium-Exemplar, von 3 Parasiten besetzt. Der eine ist noch sehr jung, die
beiden andern zeigen bereits grössere Sporangien. Der Inhalt der Wirthsschläuche er-
scheint abgetödtet, die Chromatophoren sind contrahirt und in Verfärbung begriffen.
690,, Seiadiumschlauch mit einem Parasiten, dessen ziemlich grosses Sporangium unmittelbar
vor der Schwärmerbildung steht. Das Chlorophyll des Sciadiums ist in Klümpchen von
bräunlieher Färbung umgewandelt, zwischen denen das undeutliche Mycel verläuft.
690/, Dasselbe Sporangium 1 Stunde später, fast reif, zahlreiche Schwärmer mit ihren stark
lichtbrechenden Kernen enthaltend.
690/, Einzelne Schwärmer, einer im Schwärmen begriffen, die beiden andern bereits zur Ruhe
gekommen.
690/1 Grosses Seiadium-Exemplar mit 7 Parasiten besetzt. Bei a b ce entleerte, beidefg in
der Entwickelung begriffene Sporangien.
1000/1 Stück eines Seiadium-Schlauches mit einem jungen Parasiten. Das Mycel ist nach Ent:
färben des Schlauchinhalts mit Chromsäure und Färbung mit Gentianaviolett mit allen
seinen Verzweigungen klar zu verfolgen.
Rhizophidium Sphaerotheca.
Fig. 33—41.
Vergrösserung 690 fach.
Mikrospore von Zsoetes lacustris im normalen Zustande. Im Inhalt reiches Reservematerial
in Körnerform; in der Mitte eine Vacuole.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
8
34.
35.
36.
37.
38.
39.
. 40.
41.
0a 2
Mikrospore mit 6 erst in der Entwiekelung begriffenen, z. Th. noch sehr jungen Sporangien-
pflänzchen. Membran und Inhaltsbeschaffenheit der Mikrospore verhindern die Erkennung der
feinen Mycelschläuche.
Mikrospore mit 3 etwas weiter entwickelten Sporangienpflänzchen. Auch hier sind die My-
celien, die den Inhalt der Wirthszelle z. Th. in grosse zur Seite liegende, z. Th. schon auf-
gezehrte Fettmassen umwandelten, nicht zu erkennen.
Mikrospore mit einem noch etwas weiter entwickelten Sporangienpflänzehen. Ihr Inhalt ist
durch die Einwirkung des zum grossen Theil verdeckten Mycels in reiche Fettmassen um-
gewandelt.
Grösseres noch unreifes Sporangiumpflänzchen mit vielfach verzweigtem Mycel, das bereits
den gesammten Inhalt der Mikrospore aufgezehrt hat und deshalb mit allen seinen Ver-
zweigungen klar darliegt.
Grösseres fast völlig reifes Sporangienpflänzchen, in welchem die Schwärmerbildung bereits
im Beginn ist. An der Sporangienhaut bemerkt man bei dieser Lage 2 Gallertwarzen, welche
zwei späteren Mündungsstellen entsprechen. Der Inhalt der vom Pole aus gesehenen Mikro-
spore ist bis auf einige körnige Reste und geringe Fetttropfenzahl, welche die feineren Aeste
des Mycels theilweise verdecken, aufgezehrt.
Mikrospore mit 3 Parasiten besetzt. Davon sind zwei noch sehr jung, der dritte besitzt
dagegen ein grosses, völlig reifes Sporangium mit zahlreichen Zoosporen, deren Kerne als
glänzende, rundliche Körper erscheinen. Der Inhalt der Mikrospore von den nur theilweise
verfolgbaren Mycelien erst partiell aufgebraucht.
Dasselbe Sporangium 16 Stunden später; die fast völlig entleerte Haut zeigt 3 Löcher.
Einzelne Schwärmer.
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Ueber den
Einfluss des Durchströmungswinkels auf die
elektrische Reizung der Muskelfaser
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Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII.
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15*
Seit Galvani sind zahlreiche Untersuchungen über die Frage angestellt wor-
den, wie verhält sich die erregende Wirkung des elektrischen Stromes auf den Ner-
ven, wenn dieser unter einer von der longitudinalen Axe verschiedenen Richtung
d. i. unter einem beliebigen Winkel durchflossen wird. Das übereinstimmende Resultat
fast aller dieser Beobachtungen sagt: Die erregende Wirkung des elektrischen Stromes
auf den Nerven, nimmt mit der Zunahme des Winkels, unter welehem der Nerv
durehflossen wird, ab, derart, dass sie bei einer genau queren Durchströmung, unter
einem Winkel von 90 Grad, gleich Null ist.
Je zahlreicher derartige Beobachtungen an dem Nerven angestellt worden
sind, um so weniger analoge Untersuchungen haben wir von dem Muskel gerade in
betreff dieser Frage zu verzeichnen. Man begnügte sich damit, das für den Nerven
gefundene Gesetz auch auf den Muskel zu übertragen. Die wenigen Forscher, welche
Beobachtungen in dieser Beziehung an dem Muskel anstellten, haben jedoch keines-
wegs für ihn die unbeschränkte Gültigkeit des für den Nerven gefundenen Gesetzes
bestätigen Können.
Bernheim, welcher neben der Erregung des Nerven bei querer Durch-
strömung als der Erste auch die des Muskels in gleichen Verhältnissen unter-
suchte, fand, dass dieselbe ebenso wie die des Nerven mit Zunahme des
Durchströmungswinkels sich verringere, jedoch bei genau querer Durchströmung
nicht gleich Null wurde, sondern nur ein bestimmtes Minimum erreichte. Bern-
heim’s Versuchsverfahren steht im Prineip der später allgemein angewendeten
Trogmethode sehr nahe und unterscheidet sich von ihr nur dadurch, dass statt eines
Flüssigkeitsprismas ein solehes von Thon von parallelen Stromfäden durchflossen
wurde. In seiner Arbeit erwähnt Bernheim nichts von einer Ausschaltung der
intramuskulären Nervenendigungen. Seine Resultate lassen jedoch vermuten, dass
eine Curarisierung der benutzten Tiere stattgefunden hatte, und nur die Erwähnung
dieses Umstandes vergessen wurde. Da Bernheim stets den ganzen unversehrten
Sartorius der Einwirkung des elektrischen Stromes aussetzte, wurde bei beabsichtigter
— 13 —
querer Durchströmung durch die unregelmässigen Muskelenden das Auftreten von
Längscomponenten des Stromes im Muskel befördert, so dass hierdurch das Resultat
der Versuche beeinflusst werden konnte.
Eingehender beschäftigte sich Sachs mit der Untersuchung der Erregung
des unter einem Winkel von 90 Grad vom elektrischen Strome durchflossenen Mus-
kels. Dieser Forscher kam durch seine Versuche zu einem Resultat, welches dem
von Bernheim gefundenen geradezu entgegensteht. Er beobachtete nämlich, dass
der Muskel gleiche Erregbarkeit für quere wie für longitudinale Durchströmung
besitze. Die von Sachs angewandte Unteisuchungsmethode bietet jedoch berechtigte
Zweifel, ob ein rein quer den Muskel durchfliessender elektrischer Strom wirksam
gewesen ist. Zwei Nadelspitzen dienten in diesen Versuchen als Eleetroden und
wurden so. mit dem Muskel in Berührung gebracht, dass ihre Verbindungslinie in
genau querer Richtung die Muskelfasern schnitt, also auch ein durch dieses Nadelpaar
gehender Strom in einer im wesentlichen queren Richtung die Muskelfasser durch-
fliessen musste. Sachs war nunmehr der Ansicht, dass die Stromstärke, welche
eine minimale Erregung des Muskels bei querer Durchströmung hervorrufe, allein
durch den elektrischen Verbindungsfaden der beiden Electrodenspitzen wirke. Es
würde das aber nur dann zutreffend sein, wenn die Erregung nicht an den beiden
Polen lokalisiert wäre, sondern etwa in der Mitte der Stromfäden stattfände, denn
hier besitzt der direkte elektrische Verbindungsfaden der beiden Pole eine grössere
Intensität, als die weiter entfernteren Stromescurven an der entsprechenden Stelle. Da
aber die Erregung stets im Bereich der Kathode und Anode stattfindet, unmittelbar
an den Polen aber die Längscomponenten des Stromes dieselbe Intensität besitzen wie
die Quereomponenten, so können die zur Beobachtung gelangten Erregungen ebenso
sehr als Einwirkung der Längscomponenten des Stromes wie der @Quercomponenten
angesehen werden. Hierzu kommt noch der Umstand, dass bei dem eingeschlagenen
Versuchsfahren eine ungenügende Spannung der Muskelfasern und damit eine leichtere
Einwirkung der Längseomponenten auf den natürlichen Längsschnitt der Fasern nicht
vermieden werden konnte.
Durch eine vielleicht zu peinliche Berücksichtigung des von Hermann ge-
fundenen Widerstandsunterschiedes des von dem electrischen Strome longitudinal
durchflossenen Muskels gegenüber dem querdurchströmten fand später Tschirjew
ein ähnliches Resultat wie Sachs. Aus den direkten Beobachtungen Tschirjews
ersieht man zwar, dass zur Erregung des Muskels bei querer Durchströmung eine
grössere Stromstärke nötig war, als bei longitudinaler; jedoch wurde dies Verhältnis
— 14 —
durch Einführung des veränderten Widerstandes nach der Hermann’schen Zahl in
das gefundene Resultat aufgehoben und dureh Berechnung bewiesen, dass der Muskel
für quere Durchströmung sogar noch erregbarer sei als für longitudinale Zu den
Versuchen dieses Forschers wurde die sog. Trogmethode in Anwendung gebracht.
An die beiden Enden des ausgeschnittenen Muskels wurden Seidenfäden gebunden
und der so mit einem Zuckungstelegraphen verbundene Muskel in einen mit koch-
salzlösung gefüllten Trog getaucht, welcher von parallelen Stromfäden durchzogen
wurde. Es ist klar, dass durch das Anbinden der Seidenfäden an die Enden des
Muskels ein bedeutender Eingriff in die Struetur der Faserenden geschah und da-
dureh die Erregbarkeit in longitudinaler Richtung geschädigt wurde. Tschirjew
musste daher viel zu grosse Stromstärken bei longitudinaler Durchströmung in An-
wendung bringen, um eine minimale Erregung des Muskels zu bekommen. Das Er-
regbarkeitsverhältniss musste sich folglich zu Gunsten der Querdurehströmung ändern.
Bei den Controllversuchen, zu welchen kleine quadratisch ausgeschnittene Muskel-
stiickchen zwischen breite Electroden gelegt wurden, war, da der Strom in einen künst-
lichen Querschnitt eintrat, die Längserregbarkeit herabgesetzt, bei querer Durchströmung
aber in folge der ungenügenden Spannung der Fasern das Entstehen von Längs-
componenten erleichtert. Sodann ist nachdrücklich hervorzuheben, dass bei querer
Durehströmung des unversehrten Muskels die parallelen Stromfäden die Muskelfasern
nie in ihrer ganzen Ausdehnung vollständig quer treffen können, weil diese an beiden
Enden des Muskels mehr oder weniger convergieren.
Nach Tsehirjew stellte Giuffre unter Leitung von L. Hermann weitere
Untersuchungen in der Frage der Quererregbarkeit des Muskels an und fand ein
gleiches Ergebniss wie Bernheim, nämlich eine Verminderung der Erregbarkeit bei
genau querer Durehströmung. Giuffr& versuchte die Schwierigkeiten, welche die
unregelmässigen Enden des Muskels mit sich bringen, dadurch zu beseitigen, dass er
ei
nur den parallelfaserigen Teil des Sartorius in den Reiztrog eintauchte. Durch dieses
Verfahren musste er jedoch, wie er selbst zugiebt, neue Uebelstände hervorrufen, da
an den Stellen, wo der Muskel in die Flüssigkeit eintauchte, Unregelmässigkeiten der
Stromeurven an der Oberfläche der Flüssigkeit entstanden. Zu denjenigen Versuchen,
bei welchen Giuffr& ausgeschnittene Muskelstückchen in einen Kreis schaltete, sind
dieselben Bemerkungen zu machen, wie zu den Tschirjew’schen Controllversuchen.
Den Einfluss des Widerstandsunterschiedes suchte Giuffre durch Einschaltung von
zwei Muskeln in den Stromkreis aufzuheben, welche hinter einander, der eine quer,
der andere longitudinal, vom eleetrischen Strome durchflossen wurden. Giuffre ge-
— 115 —
lang es nicht, die von ihm gesuchte „transversale Unerregbarkeit“ des Muskels
nachzuweisen; jedoch spricht auch er die wohlberechtigte Vermuthung aus, dass die
bei querer Durchströmung zur Beobachtung gekommenen Zuckungen die Folge
entstehender Längscomponenten des electrischen Stromes sein könnten.
Eigene Versuche.
Wie wir aus dieser Betrachtung sehen, haben die bis jetzt angestellten Unter-
suchungen über die Erregbarkeit des Muskels bei einer electrischen Durchströmung unter
verschiedenen Winkeln ein vollständig befriedigendes Resultat noch nicht ergeben ; des-
halb dürfte eine erneute Behandlung dieses Gegenstandes erwünscht sein und manches
zur Aufklärung in dieser Sache beitragen. Ich stellte daher unter Leitung des Herrn
Prof. Bernstein eine Reihe von Versuchen an, in welchen die Erregung des Muskels
bei einer eleetrischen Durchströmung unter gewissen Winkeln, insbesondere von
0°, 45° und 90° geprüft wurde. Die Art der Stromzuleitung, sowie die Zurichtung
des Muskels, war je nach Bedürfniss eine wechselnde.
Zu allen Versuchen wurde das Sartoriuspräparat vollkommen curarisierter
Frösche verwendet. Bei der Präparation vermied ich sorgfältig jede Verletzung des
Muskels und liess die beiden Enden desselben mit Knochenstückehen in Verbindung,
so dass sie zur Befestigung des Präparates dienen konnten. Die Untersuchungen er-
öffneten eine Reihe von Versuchen über die Längserregbarkeit des Muskels oder die
Durchströmung des Muskels unter einem Winkel von 0°.
I. Versuchsreihe.
1. Abtheilung.
Zu den ersten Versuchen dieser Reihe wurde der eonstante Strom verschiedener
Daniell’scher Elemente als Reizmittel benutzt. Geschlossen und geöffnet wurde der
Strom durch einen in den Kreis eingeschalteten Quecksilberschlüssel, während eine
ebenfalls in den Stromkreis eingefügte Pohl’sche Wippe die Veränderung der Stromes-
richtung im Muskel ermöglichte. Die auf- und absteigende Richtung bezieht sich
auf die anatomische Lage des Muskels, erstere ist dem Beekenende und letztere dem
tibialen Ende des Muskels zugewendet. Der electrische Strom wurde dem Muskel vor-
läufig durch einfache Dratelectroden zugeleitet, welche mit den Knochenstückchen in
— Hl’ —
geeigneter Weise in Verbindung gebracht waren. Der Muskel selbst, in ein Myographion
eingespannt, zeichnete seine Zuckungen auf eine beliebig mit der Hand fortbewegbare
berusste "Trommel auf. Das Myographion bestand aus einem Fick’schen Hebel von
etwa 130mm Länge, an dessen Axe sich ein Röllchen von 8 mm Radius befand.
Der Muskel zog an dem Hebel in einer Entfernung von etwa 50 mm von der Axe,
während das Röllchen meist mit einem Gewicht von 25 Gramm belastet war. Die
direete Belastung des Muskels betrug also ungefähr 4 Gramm, welche gerade dazu
ausreichten, um die Muskelfasern zu strecken. Die Vergrösserung der Zuckung durch
den Zeichenhebel war etwa eine 2,6 fache.
Bevor ich jedesmal das Resultat der Versuche mit Worten ausspreche, will
ich das Ergebnis ein oder mehrerer als Beispiel dienender Versuche in Tabellen
wiedergeben, in welchen die vergrösserten Zuckungen nach Millimetern angegeben
werden.
Beispiel 1.
Oeffnungs-
Tlemente | mn | ee Tea
Daniell. Muskel. mm mm mm
3 absteigend 13 2 Ir
3 aufsteigend 6 1 —
3 abst. 10 1 —
3 aufst. 5 1 =
4 aufst. 8 2 =
4 abst. 21 3 =
Beispiel 2.
, | Rie SCHERER v .g-
Blomente: |Stomesim | zuckung Temmus | Cekung
Daniell. Muskel. | mm mm mm
2 ab- u. aufst. = —_ =
3 aufst. 13 4 —
3 abst. 14 5 —
3 aufst. 13 4 m
3 abst. 13 4 —
4 aufst. 18 6 34
4 abst. | 44 7 —
4 aufst. | 13 6 28,5
4 abst. | 42 7 ——
4 aufat. #715 MER) 29
4 abst. | 41 7 10
aa. =
Wie wir aus den angeführten Beispielen sehen, lautet das Ergebnis dieser Ver-
suche folgendermaassen: Wird der unversehrte curasirte Muse. Sartorius vom con-
stanten Strom durchflossen, so beobachtet man, dass die Schliessungszuckung des
im Muskel absteigenden Stromes grösser ist als die Schliessungszuckung des auf-
steigenden Stromes. Oeffnungszuckungen treten erst bei stärkeren Strömen und dann
früher bei aufsteigender als absteigender Stromesrichtung auf.
Bei anderer Gelegenheit beobachtete ich ein analoges Resultat bei Anwendung
des Inductionsstromes. Ich schalte ein Beispiel dieser Versuche hier ein. Der Muskel
wurde durch den Schliessungsinduetionsstrom und durch den Oeffnungsinductionsstrom
gereizt. Als Stromquelle diente 1 Daniell für die primäre Spirale.
Beispiel 3.
Bollen- | durch den | Schllessnnen:|d.Demnuäge-| Oertungs
Entierunng- Schliessungs- A Ins an
mm schlag. mm | im Muskel. | mm | im Muskel.
170 | — abst. | 3,9 | aufst.
INOSen| — aufst. | 5 | abst.
150 | — | abst. 1295 \ aufst.
150.0 auft. | 1 abst.
130 1,5 abst. | | aufst
130 — autst. | Zn ch al ahst:
100 | 6 abst. | 4 | aufıt.
100 | = | aufst. 7 abst
80 | 3,9 abst. 4 |. aufst
80 | 2 | aulst. 5,5 | abst
60 | 4 abst. 3 aufst.
60 | 2 aufst. 5 abst
40 | 4 abst. 3 aufst
re ee aufst. 4 abst.
Der absteigende Oeffnungsschlag hat fast durchweg eine stärkere Wirkung als
der im Muskel aufsteigende. Erregung durch schwächere Schliessungsschläge stellt
sich nur bei absteigender Richtung derselben ein. Erfolgen Erregungen durch den
Schliessungs- und Oeffnungsschlag bei derselben Rollenentfernung, so kann sogar eine
grössere Erregung durch den Schliessungsschlag stattfinden, wenn ersterer eine im
Muskel aufsteigende, dieser aber absteigende Richtung besitzt.
Diese uns bei den angeführten Versuchen entgegentretende Erscheinung er-
klärt sich offenbar aus der eigentümlichen Gestalt des Muskels. Nur die Unregel-
Abbhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 16
—aU
mässigkeiten der Muskelenden verursachen die verschiedene Wirkung des Stromes, je
nachdem er eine im Muskel auf- oder absteigende Richtung besitzt. Dass eine jede
Erregung, welche an dem schmalen tibialen Muskelende stattfindet, (durch die
Schliessung des abwärts und die Oeffnung des aufwärts gerichteten eonstanten Stromes,
ferner durch den abwärts gerichteten Inductionsstrom) eine stärkere ist als die an dem
breiten Beekenende ausgelöste Erregung (durch die Schliessung des aufwärts und die
Oeffnung des abwärts gerichteten constanten Stromes, ferner durch den aufwärts ge-
richteten Inductionsstrom) beruht auf dem Umstande, dass der geringere Querschnitt,
welchen das schmale tibiale Ende des Muskels besitzt. eine grössere Dichtigkeit des
Stromes an dieser Stelle zur Folge hat, während an dem breiten Beckenende die Stromes-
dichtigkeit notwendigerweise geringer sein muss. Ausserdem dürfte jedenfalls der con-
vergirenden Anordnung der Muskelfasern einige Bedeutung für die verschiedene Wirkung
des elektrischen Stromes je nach seiner Richtung in dem Muskel zugemessen werden;
denn der elektrische Strom tritt an dem tibialen Muskelende nieht nur in den natür-
lichen Querschnitt, sondern auch theilweise in den natürlichen Längsschnitt ein.
An dem Beckenende dagegen findet eine Einwirkung auf den natürlichen Längsschnitt
des Muskels wahrscheinlich weit weniger statt. Auch dieser Umstand kann, wie aus
nachfolgenden Resultaten hervorgeht, zu einer Begünstigung der Erregungen an dem
schwächeren tibialen Sehnenende führen.
Diese Erscheinung ist für die folgenden Untersuchungen von Wichtigkeit, da
bei allen das gleiche Muskelpräparat, der Sartorius des Frosches verwendet wurde.
2. Abtheilung.
Wenn wir bei der longitudinalen elektrischen Durchströmung des Muskels schon
den störenden Einfluss der unregelmässigen Muskelenden empfanden, so würden die-
selben noch weit grössere Schwierigkeiten bei der Durchströmung des Muskels unter
einem Winkel verursacht haben. Es muss daher vor allem daran gedacht werden,
die Einwirkung des elektrischen Stromes auf die unregelmässigen Faserenden zu ver-
hindern. Dieser Zweck wurde dadurch erreicht, dass vermittelst eines heissen Drates
die beiden Muskelenden wärmestarr gemacht wurden, sodass nur noch der mittlere
parallelfaserige 'Theil des Sartorius lebend verblieb, Dieses Abtöten der Faserenden
des Muskels zog natürlicherweise eine Veränderung der Erregbarkeit des longitudinal
durchströmten Muskels nach sich. Um eine annähernde Vergleichung des Ergebnisses
herbeizuführen, wenn der Muskel einmal von der toten, das andere mal von der
lebenden Substanz aus vom elektrischen Strome durchflossen wurde, mussten bei diesen
119
Versuchen die Eleetroden, welche aus Schlingen von feinen Kupferfäden bestanden,
durch Verschieben abwechselnd an die tote und die lebende Substanz angelegt werden.
Bei Anlegung der Eleetroden an die tote Substanz trat der elektrische Strom an den
künstlichen Querschnitten, bei Anlegung an die lebende Substanz an den natürlichen
Längsschnitten des Muskels ein und aus.
Beispiel 1a. 3eispiel 1 b.
Strom =4D. Anlegung der Eleetroden
an die lebende Substanz.
Strom =4D. Anlegung der Electroden
an die tote Substanz.
RS Beer a
Muskel. mm | mm mm Muskel. | mm mm mm
aufst. 4 2 —_ aufst. 24 3 7
abst. 5 1 = abst. 26 1 —
aufst. 3 2 —_ aufst. 7 4 {)
abst. 4 1 — abst. 25 | 1 =
aufst. | 10 | 8.5 13
abst. 24 5 4,5
Beispiel 2 a.
Strom = 4D. Anlegung der Eleetroden
an die tote Substanz.
Beispiel 2 b.
Strom =4D. Anlegung der Electroden
an die lebende Substanz.
Richtung d. | Schliessungs- | Oefinungs- Richtung d. | Schliessungs- Oeffnungs-
Stromes im zuckung. Tetanus. zuckung. Stromes im zuckung. Tetanus. zuckung.
Muskel. En | mm m Muskel. En an nm
aufst — — — aufst. 6,5 4 7
abst = — — abst. | 14 % =
aufst == — == aufst. 8 5 6,5
abst. — > — abst. 14 3 4
Tritt der elektrische Strom von der toten Substanz aus an den künstlichen
Querschnitten des Muskels ein und aus, so zeigt sich keine oder doch nur eine ge-
ringe Erregung, während dieselbe Stromstärke bei Ein- und Austritt in die noch
lebende Muskelsubstanz, den natürlichen Längsschnitt, Schliessungszuckungen, Tetanus
und Oeffnungszuckungen hervorruft. Die geringen Erregungen, welche, wenn auch
selten, bei Reizung von der toten Substanz aus zur Beobachtung kommen, scheinen
entweder eine Folge der Einwirkung des elektrischen Stromes auf noch nicht zer-
störte Faserenden des Muskels zu sein oder sie rühren von unregelmässiger nicht
16*
120 ——
parallel fasriger Gestaltung des Muskels her; denn es lässt sich bei diesen Zuckungen
regelmässig ein Unterschied in ihrer Grösse bemerken, je nachdem sie der absteigende
oder aufsteigende Strom veranlasste. Diese Zuckungen bei Ein- und Austritt des
Stromes in die künstlichen Querschnitte zeigen sich gewöhnlich nur in dem ersten
Versuche nach der Abtötung; bei Wiederholung des Versuches an demselben Präpa-
rate blieben sie dagegen aus. Es könnte sich diese Erscheinung daraus erklären,
dass inzwischen von den abgetöteten Enden der Absterbungsprocess weiter vorge-
schritten ist und die etwaigen vorher noch unversehrten Faserenden zerstört hat.
Dass der Ein- und Austritt des elektrischen Stromes in die künstliehen Quer-
schnitte des Muskels weit weniger wirksam ist, als seine Einwirkung auf die natür-
lichen Längsschnitte ist zuerst von Biedermann nachgewiessen worden. Es wird
dieses wichtige Factum durch nachfolgende Versuche bestätigt und mannigfach er-
weitert werden.
Die Biedermann’schen Versuche habe ich mehrfach wiederholt und voll-
kommen bestätigt gefunden. Dieselben bestehen bekanntlich darin, dass man die eine
Electrode an das abgetötete Sehnenende, dle andere an den lebenden Längsschnitt
des Muskels bringt. Während nun beim unversehrten Muskel die Schliessung des
nach dem Sehnenende hingerichteten und die Oeffnung des von dem Sehnenende ab-
gewendeten Stromes starke Erregungen hervorruft, sind dieselben nach Abtötung dieses
Endes entweder ganz aufgehoben oder doch wesentlich geschwächt. Die zuletzt an-
geführten und noch nachfolgenden Versuche unterscheiden sich aber von denen
Biedermanns dadurch, dass der Strom nicht dem Querschnitt und Längsschnitt,
sondern von zwei Querschnittten aus- zu und abgeleitet wurde. Die letztere Auord-
nung ist deshalb gewählt worden, damit sich nieht der Muskelstrom zu dem erregenden
addirt oder von ihm subtrahirt. Bei schwachen Strömen kommt dieser Umstand
wesentlich in Betracht, wie dies schon Hering angegeben hat.
3. Abtheilung.
Die bisherigen Versuche konnten nur als vorläufige betrachtet werden, da in
ihnen auf mehrere Fehlerquellen keine Rücksicht genommen war. Erstens war bei
der Anlegung der Eleetroden an lebende und tote Stellen des Muskels der Wider-
stand im Kreise ein verschiedener und sogar zu Ungunsten der Reizung von den ab-
getöteten Enden aus wegen der grösseren intrapolaren Strecke ein grösserer. Zweitens
waren der Bequemlichkeit halber Metallelectroden beibehalten worden, 'deren Polare-
sation störend wirken konnte.
— BI —
In den folgenden Versuchen wurde nun, um die Stromstärke im Muskelkreise
constant zu erhalten, ein kleiner Multiplieator und ein Siemens’scher Wider-
standskasten in den Stromkreis eingeschaltet. Den eonstanten Strom lieferten zu
diesen Versuchen kleine Grove’sche Elemente, welche schon an und für sich einen
bedeutenden Widerstand besitzen. Die Zuführung des Stromes zum Muskel geschah
durch unpolarisirbare Fadeneleetroden. Ein amalgamirter Zinkstreifen war von einem
Wollfaden umwickelt, welcher mit cone. Zinksulfatlösung getränkt wurde. Ein zweiter,
mit Kochsalzlösung befeuchteter Faden wurde um das umwickelte Zinkstäbehen ge-
schlungen und leitete den Strom von da zum Muskel.
Die Widerstandsveränderung, welche uns der Ausschlag der Multiplicatornadel
anzeigte, war derart, dass zur Herstellung gleicher Stromstärken für beide Versuchs-
arten bei Reizung der lebenden Substanz etwa 4000—4900 Siemens’sche Widerstands-
einheiten eingeschaltet werden mussten.
Beispiel 1.
| Anlegung d.| „.. | Ablenk.der | „„. r rat
5 Emmen | Meet 2 |olrrider. Mlpiat- | Aeer | Tetanıs, | Omungs- | Binder
= Grove. | Substanz. stände. Grad. mm mm mm
Z 7 tot 4900 12 27 | 14 _ 38
= 3 tt | 4900 6 15 2 — 38
Fi 2 leb. 4900 1 15 5 ann 18
£ 2 bt 0 1 — = —_— | 38
z 2 leb. 4900 1 14 | 4 TER 9
z 2 tot I 1 ur a _— ı 37
= 2 leb. 4900 1 ea = an 21g
= 2 leb. —_ 4 7 NORROER. _ 6
= 2 leb. | 4900 2 7 4 = 6
2 ton 4 0 1 0 UR. u) 40
Beispiel 2 a.
Strom = 2 Grove. Stromesrichtung im Muskel absteigend.
Anlegungd. | 1: ., Ablenk. der | „|
EC SA sem Wider- tel | zuckung, | Teanus. | Oelnuner renden
Substanz. i Grad. mm | mm mm
tot | — 3 — —— = 44
leb. | 4900 1,5 1 3 De. — BB 8° 0
tot = 5 —— | —— — 37
leb. 4000 3 11,5 4,5 = 14
tot IF) 4 Ru) 3 _ _ _ 39
leb. 4000 3,9 12 5 == 14
tot 2 NE = Io = 44
leb RAT OE 4 9 | 5 — 8
— 11 —
Beispiel 2 b.
Strom = 2 Grove. Stromesrichtung im Muskel aufsteigend.
Anlegung d. | Ablenk. der
Eleeit. ad. Siem Wider- | "naleke | zuckung. | Tetanus. | Oefiunge- Freinnder
Substanz. | DE Grad. mm | mm | mm
tot _ | 2 Nr == _ — 41
leb. 4000 3 8 3 —— 10
tot = 2 | = _ = 44
leb. 4000 2,5 4 3,9 = | 10
tot — | 2 >= —— — 44
leb. 4000 3 = 3,9 — | 9
In den beiden nachfolgenden Versuchen, welche später von Herrn Prof. Bern-
stein angestellt worden sind, war die Beobachtungsmethode eine mehrfach verbesserte.
Statt des nicht sehr empfindlichen kleinen Multiplicators wurde der du Bois’sche
Multiplieator in einen passenden Nebenkreis der erregenden Kette eingeschaltet und
bei jeder Schliessung der erste Ausschlag der Nadel abgelesen. Die beiden Hälften
der Windungen waren nebeneinander angeordnet und bildeten zu einem im Haupt-
kreise befindlichen Widerstand von 20 Siemens eine Nebenschliessung. Durch einen
Stromwender zum Multiplicator wurde auch dafür gesorgt, dass die Ablenkung bei
jeder Stromesrichtung im Muskel nach derselben Seite erfolgte.
Statt des Fick’schen Myographen und der Zeichentrommel wurde das Pflüger-
sche Myographion in etwas abgeänderter Gestalt gebraucht. Eine über dem Hebel
in einiger Entfernung aufgestellte grössere feuchte Kammer verhütete die in den
vorigen Versuchen sehr lästige Austrocknung der zuleitenden Faden, durch die sich der
Widerstand im Kreise beständig änderte. Der Strom wurde durch du Bois’sche
unpolarisirbare Eleetroden, welche auf dem Boden der feuchten Kammer standen, und
von den Thhonspitzen derselben aus durch passend umschlungene feuchte Baumwollen-
fäden dem Muskel zugeführt. Die Belastung betrug nach Aequilibrirung des Hebels
5 Gramm. Der Hebel zeichnete mit seinem Stift auf berusstem Glanzpapier in zwei-
facher Vergrösserung.
Die Schliessung des Stromes wurde durch einen Pflüger’schen Fallapparat
(in verkleinerter Form) besorgt, die Oeffnung durch Hebung des Hammers mit der
Hand. In dem Hauptkreise befanden sich, wie vorher, ein Siemens’scher Widerstands-
kasten zur Ausgleichung des Muskelwiderstandes, daneben die oben erwähnten 20
Siemens zur Ableitung nach dem Multiplicator.
Anlegung d.
123 —
Beispiel 3.
Lebende intrapolare Strecke = 10 mm, Länge des Muskels = 40 mm.
Strom und | Schliessungs- |
Oefinungs-
Nr. er Ei Richtung. zuckung. Tetanus. | zuckung. ein lie REES,
Substanz. Daniell. mm | mm Grad.
1 | 6 abst. — Mae... I. — 28 —_
2 Pe | 6 abst. all ones ur 28 e
3 6 abst. 3 0,5 2,5 32 5000
4 6 abst. 1 = 2,5 28 9000
5 6 aufst. 6 1 — 36 9000
6 | 4 aufst. 1 B= — 25 9000
7 1 | 4 abst. | _ _ — 20 9000
8 4 abst. | — — — 22 5000
9 6 abst. 0,5 — 1 30 5000
10 6 aufst. 5,6 1 31 5000
11 6 aufst. 6) 1 = 30 7000
12 6 auft. | 45 0,5 _ 28 9000
13 tot | 6 aufst. = = = 36 —
14 lb. |. 6 aufst. | 2 0,3 _ 32 9000
Beispiel 4.
Lebende intrapolare Strecke = 10 mm, Länge des Muskels = 45 mm.
a ee ana ei RE ‚Samgseoste
‘ Kl. Grove. mm mm Grad.
1 6 aufst 3 _— — 52 —
9 | | 3 aufst — | — —_— 30 —_
3 tot - 4 aufst — | —_ — 37 —
400) | 5 aufst — — — 45 —
5 5 abst. — ui — 46 —
a 2 abst. a Tee = 23 Ei
ia 2 aufst 1 = 23 =
8 3 abst. öl ou = 33 =
9, 3 abst 1,2 0,5 — 32 1000
10 ER | 3 aufst 2,8 0,8 — 32 2000
len 3raulst- 1 0,5 — 29 5000
12 | 4 aufst. 1,2 0,5 | u 37 5000
13 | | Aabst. | 3,2 1,8 | —_ 37 5000
14 | | 5 abst. 3,5 0,5 _ 44 5000
15 | 5 aufat. 3 0,5 _ 45 5000
16 | 5 aufst. - _ _ 38 _
17 | tat) | Pokanei — = = 45 —_
18 | | 6 abst. == | ST: 48 ——
19 leb. I 5 aufst. 1,2 0,7 - 42 5000
20 | \ 5 abst | 0,5 — 44 5000
— 14 —
Es fand sich in diesen Versuchen, dass bei Durchströmung des Muskels von
der toten Substanz aus, also bei Ein- und Austritt des Stromes in die künstlichen
@Querschnitte, eine Stromstärke, welche von den natürlichen Längsschnitten aus
Schliessungszuckung und Tetanus hervorrief, keine Erregung des Muskels verursachte,
Nur ein Strom von grosser Intensität veranlasste auch in diesem Falle Zuekungen.
Indessen erschienen diese Zuckungen auch hier nur während der ersten Versuche
nach der Abtötung, später blieben sie aus. Deshalb könnte man wieder an den Ein-
fluss noch nicht vollkommen abgetöteter Faserenden des Muskels denken. Wahr-
scheinlicher ist es aber, dass starke Ströme wegen ihres unregelmässigen Verlaufes
mehrfache kathodische und anodische Stellen an den lebenden Längsschnitten der
Fasern bilden.
4. Abtheilung.
Dieser Theil der Versuche unterscheidet sich von der vorhergehenden Ab-
theilung nur dadurch, dass in ihm der Inductionsstrom als Reizmittel benutzt wurde;
im übrigen blieb die Tendenz der Versuche dieselbe. Ein Daniell lieferte den Strom
für die primäre Spirale. In dem primären Stromkreis war wiederum ein Quecksilber-
schlüssel zum öffnen und schliessen des Stromes, im secundären Stromkreis die Pohl’
sche Wippe zur Veränderung der Stromesrichtung im Muskel, ferner der Siemens’sche
Widerstandskasten und ein du Bois’scher Schlüssel eingeschaltet. Die sonstige An-
ordnung des Muskels im Stromkreis blieb unverändert wie in der ersten Versuchs-
reihe. Abwechselnd wurde der Strom von den abgetöteten Enden aus in den Muskel
geschickt, abwechselnd direct in die lebende Substanz. Die Zuleitung vermittelten
wieder die oben beschriebenen unpolarisirbaren Fadeneleetroden.
Bei Reizung der lebenden Substanz wurde zur Ausgleichung der Widerstands-
verhältnisse, die bei den letzten Versuchen gefundene Anzahl Siemens’scher Wider-
standseinheiten — 4900 eingeschaltet. Später führte ich jedoch einen zweiten, an
beiden Enden abgetöteten, auf einem Korkplättchen ausgespannten Sartorius mittelst
unpolarisirbarer Thoneleetroden als integrierenden Bestandtheil in den secundären
Stromkreis ein, Es geschah dies in der Weise, dass bei Reizung der lebenden Sub-
stanz der ganze zweite Muskel einschliesslich der abgetöteten Enden sich im Strom-
kreis befand, bei Reizung von der toten Substanz aus jedoch nur der mittlere lebende,
parallelfaserige Theil des zweiten Muskels. Es wurde darauf geachtet, dass die ein-
geschalteten Muskellängen immer abwechselnd dieselben waren. Beide Methoden der
Widerstandsausgleiehung können freilich keinen Anspruch auf Genauigkeit machen,
da die Stromstärken nicht direct gemessen wurden; doch reichten sie bei richtig ge-
wählten intrapolaren Strecken des Muskels jedenfalls aus, um das für den eonstanten
Strom erhaltene Resultat auch für den indueirten Strom zu bestätigen. Eine Messung
der Ablenkungen des letzteren mit einem Galvanometer hätte den Versuch in diesem
Falle unnütz complicirt.
Beispiel 1.
Strom der primären Spirale = 1 Daniell.
Anleeung e See oe Rollen- | Einschalt. | Entf.d. Eleet.
TEnNoeREeN| schlag. schlag. entfernung. | Siem. Wider- v. einander.
Substanz. | mm mm mm | stände. | mm
tot = — 170 = 40
jebı Wal 3/5556 8,5 170, 4900 15
tt | — 2 | 170 — 40
leb. 4,5 8 770° ea 9
mleheni) 7 6,5 | 170 | 4900 9
tot —_ ride 40
tt | — — ' 150 = 38
eh. | — 11 | 150 4900| 2
tot —_ _ a Wa en:
leb. 8 10 aD, le,
tot m _ 150 | _ | 38
leb. _ 4,5 | 150 | 4900 | 15
tot = = Imitaorf 1" na) = 37
leb. 1 4 150, ,15,,.29007 ı 18
*ssleb; 9 _ 130 4900 | 18
tot —_ —_ Frauen _ | 37
leb. 2 6 | 120 4900 17
tot _ _ 120 _ 38
E leb. - 5 | 120 4900 | 17
tot — = 120 u 32
* Wechsel der Stromesrichtung.
Beispiel 2.
Merten a Schlescunge-|d. Oefnungs-| „Rollen | Monkect.a
leb. od. tote | Schlag. schlag. | entfernung. | 4, Widerst.-
Substanz. | mm mm mm muskel.
tot | _— — 146 | leb.
1Eb-guent. - Mrs 11 das Tina "tet
tot | —— — 107 | leb.
leb. — 5 10T | — tot
tot | = — 84 leb.
ba ala 4 | 84 tot
Wie man aus den angeführten Beispielen ersieht, verändert sich das Resultat
bei Anwendung des Induktionsstromes durchaus nicht. Der Induktionsstrom lässt den
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 7
— Je ——
Muskel bei longitudinaler Durchströmung unerregt, wenn er von der toten Substanz
aus an den künstlichen Querschnitten des Muskels ein- und austritt. Der gleich-
starke Induktionsstrom ruft dagegen, wenn er unmittelbar in die lebende Substanz
den natürlichen Längsschnitt des Muskels eintritt, Zuckungen hervor. Bei allen Ver-
Versuchen dieser Reihe war die Erregbarkeit durch die Abtötung der Muskelenden
für den in den Querschnitt eintretenden Strom so sehr herabgesetzt, dass bei dieser
Reizmethode die angewendeten Stromstärken nie eine Erregung veranlassten. Man
dürfte hieraus wiederum schliessen, dass die Erregbarkeit für diesen Fall, wenn nicht
total aufgehoben, so doch ausserordentlich herabgesetzt ist.
ll. Yersuchsreihe.
In den nunmehr folgenden Versuchen wurde der Muskel unter drei verschie-
denen Winkeln, von 0°, 45° und 90°, von parallelen elektrischen Stromfäden durch-
flossen. Es kam hierbei die bekannte Trogmethode zur Anwendung. (Siehe Figur auf
beifolgender Tafel.) Ein gefirnisstes parallelepipedisches Holzkästchen, welches 222 mm
lang, 106 mm breit und 30 mm hoch war, diente als Reiztrog. Die zwei kleineren
gegenüberstehenden Wände waren mit zwei gleich grossen amalgamirten Zinkplatten
bekleidet, welche den Strom zuleiteten. In einiger Entfernung parallel mit ihnen
durchzogen zwei Gypswände den Trog und schieden so zwei kleinere parallele Räume
von dem eigentlichen Troginnern ab. Diese Nebenräume wurden mit concentrirter
Zinksulfatlösung gefüllt, zuvor aber die ihnen zugekehrte Seite der Gypswände mit
Modellirthon sorgfältig bestrichen, da die Zinklösung leicht durch den Gyps diffundirte.
In der Mitte des Troges befand sich auf dem Boden eine Kreistheilung, nach welcher
die Richtung des Muskels zu den parallelen Stromfäden bestimmt wurde. Der grössere
innere Raum des Kästchens war mit physiologischer Kochsalzlösung gefüllt; in diese
wurde der in einen passenden Halter durch Fäden horizontal eingespannte Muskel
getaucht. Die Veränderung des Winkels, unter welchem der Muskel vom elektrischen
Strom getroffen werden sollte, wurde durch Drehen des Troges herbeigeführt. Der
Muskel zog über eine kleine am Halter befestigte Rolle mittelst eines Fadens an einer
Marey’schen Trommel und übertrug auf diese Weise seine Zuckungen auf eine
Zeichentrommel. Zuerst wurde er unversehrt in den Apparat eingespannt, in die
Flüssigkeit getaucht und in den drei Richtungen von 0°, 45° und 90° von parallelen
elektrischen Stromfäden durchströmt. Hiernach wurden regelmässig die beiden
Muskelenden abgetötet und der Muskel von neuem in diesen drei Riehtungen der
Wirkung des elektrischen Stromes ausgesetzt. Die in die Flüssigkeit eintauchenden
Kar —
Enden des Halters nebst dem Röllchen waren von dem Muskel weit genug entfernt,
um in diesem keine Ablenkung der Stromeseurven zu verursachen.
In den von früheren Beobachtern angestellten Versuchen wurde der Muskel
in verschiedenen Winkeln dem Einflusse des elektrischen Stromes ausgesetzt und die
Erregbarkeit desselben nach der angewendeten eine minimale Erregung hervorrufenden
Stromstärke gemessen; uns schien es jedoch zweckmässiger, um schneller zum Ziele
zu kommen, den Muskel unter den drei bestimmten Winkeln von 0°, 45° und 90°
von einem Strome von gewisser Stärke durchströmen zu lassen und die Grösse der
Zuckungen zu betrachten. Die Anwendung anderer Winkel schien uns überflüssig,
da das gefundene Resultat einen Schluss auf den Erfolg bei der Einstellung der da-
zwischen liegenden Winkel gestattet, andererseits beabsichtigten wir nicht, das Ver-
hältniss der Erregung zur Grösse des Winkels zu bestimmen. Auch die Beobachtung
der minimalen Erregung erschien uns unthunlich, da die Aufzeichnung der Zuckungs-
grösse bei einer angenommenen Stromstärke leichter und auch zuverlässiger ist,
als jene.
Anwendung des constanten Stromes.
Beispiel 1a. Beispiel 1b.
Strom = 9 Daniell. Reizung des Strom = 9 Daniell. Reizung des
unversehrten Muskels.
an den Enden abgetöteten Muskels.
ie Schliess.- | etanus. | Oefinungs- ee | Sehliess.- Tetanus. | Oeffnungs-
Stromes. zuckung. zuckung. Stromes. zuckung. zuckung.
Grad. mm | mm mm Grad. mm mm mm
0) 5 1 —_ 0 — — —
0 7 1 — ) E — —
45 6 1 = 45 E— En —
* 45 6 1 —= * 45 = — =
90 = — — 90 n— = En
* 90 — — — * 90 = = =
* Wechsel der Stromesriehtung.
NE. a 6
Beispiel 2a. Strom = 9 Daniell. Bo aus anizll
Reizung des unversehrten Muskels.
Reizung des an den Enden durch Ab-
quetschen abgetöteten Muskels.
Eintritts- Eintritts-
ET ee Schliess.- Ailskäe Oeffnungs- RE] ie Schliess.- ZeranS Oeffnungs-
Stromes. zuckung. j zuckung. Stromes. zuckung. ‘ zuckung.
Grad. mm mm mm mm mm | mm mm
0 8 1 = 0 —— | _ | _
u, 7,5 1 = ev == | = | =
45 8 1 = 45 1,5 | — E
* 45 7 1 = 1; 3 1 | =
90 - — _ 90 25 | ı -
so —— = = 290 4 | 1 >=
* Wechsel der Stromesrichtung.
Beispiel 3a.
Strom = 9 Daniell.
Reizung des unversehrten Muskels.
a Tetanus. | Oeffnungs-
Stromes. zuckung. zuckung. lingsdurch-
Grad. mm mm mm strömten MI.
0 5 1 _ aufst.
0 12 1 = abst.
45 5 1 E= aufst.
45 9 1 — abst.
90 1 — — Wechsel d.
90 25 — — Str.-Richt.
Strom = 9 Daniell.
Beispiel 3 b.
Reizung des an den Enden
abgetöteten Muskels.
ac | Schliess.- Tetanus. Oeffnungs- en u
Stromes. zuckung. zuckung. längsdurch-
Grad. mm mm mm strömten MI.
0 et — — aufst.
) en — .— abst.
45 — — — aufst.
45 > — — abst.
90 _ — — Wechsel d.
90 = — — Str.-Richt.
Die Resultate der angeführten Versuche sind folgende:
a) Reizung des unversehrten Muskels:
Wird der unversehrte Sartorius der Länge nach, unter einem Winkel von
0° von parallelen Fäden des constanten Stromes durchflossen, so sieht man stets
Schliessungszuekungen und Tetanus auftreten. Oeffnungszuckungen wurden bei den
angewendeten Stromstärken niemals beobachtet. Die absteigende Stromesrichtung
zeigt sich in ihrer Wirkung überlegen. Diese Erscheinung hat wieder ihre Ursache
in den unregelmässigen Muskelenden; an dem tibialen Muskelende treten die Strom-
fäden in grösserer Ausdehnung aus dem natürlichen Längsschnitt des Muskels aus, als
dem Beckenende. Unterschiede der Dichtigkeit sind bei der Trogmethode an
beiden Muskelenden nicht anzunehmen, abgesehen etwa von dem Einfluss der spe-
eifischen Widerstände der Muskelsubstanz und Flüssigkeit.
an
Treffen die parallelen
Stromfäden den Muskel unter einem Winkel von 45°, so zeigen sich ebenfalls
Schliessungszuckungen und Tetanus. Die Grösse dieser Erregungen ist etwas ge-
ringer als die bei longitudinaler Durchströmung. Die absteigende Stromesrichtung
— 129 ——
giebt sich auch hier als die begünstigte kund. Lässt man endlich den Strom genau
quer, unter einem Winkel von 90° den Muskel durchfliessen, so bleibt er in der
Regel in Ruhe. Selten findet bei querer Durchströmung eine schwache Erregung
statt, die trotz ihrer geringen Grösse einen Unterschied bemerken lässt, sobald die
Stromesrichtung verändert wird.
b) Reizung des an den Enden abgetöteten Muskels.
Sind die beiden Muskelenden durch einen heissen Drat wärmestarr gemacht
und wird jetzt der Muskel in dem Trog von parallelen Stromfäden durchzogen, so
ändert sich das Resultät total. Es bleibt jetzt der Muskel sowohl bei longitudi-
naler Durehströmung, als auch bei der Durchströmung unter einem Winkel
von 45° und 90°, folglich unter einem jeden beliebigen Winkel, in Ruhe.
Nach einer unvollkommenen Abtötung der Muskelenden z. B. dureh Abquetschen
war in einem Falle die Erregbarkeit des Muskels für die drei angeführten Durch-
strömungsarten noch nicht ganz erloschen. Die hier auftretenden Zuekungen sind
daher die Folge einer Erregung der in ihrer Struetur noch unversehrt gebliebenen
Faserenden.
Dass der Muskel nach der Abtötung an den Enden während der Anstellung
der Versuche in seinem mittleren lebenden Theil noch erregbar war für Ströme von
derselben Intensität und Diehtigkeit, von denen er in der Flüssigkeit durchflossen
wird, wurde bei allen Versuchen dieser Reihe durch Reizung der mittleren Muskel-
partie ausserhalb der Flüssigkeit und zwar durch einen Stromzweig derselben nach-
gewiesen. Es wurden zu diesem Zwecke auf dem Boden des Troges zwei kleine
Thonspitzen aufgesetzt, welche aus der Flüssigkeit herausragten. Der aus dem Troge
herausgenommene Muskel wurde nun mit seinem lebenden Mittelstück den Spitzen
angelegt und in dieser Weise mit den durch den Trog geleiteten, vorher angewen-
deten Strömen gereizt. Bei diesem Verfahren fliesst ein Zweigstrom der Flüssigkeit
durch den Muskel, welcher annähernd dieselbe Intensität besitzt, wie die Summe der
in der Flüssigkeit durch den Muskel ziehenden Stromfäden. Hierbei zeigten sich
regelmässig Zuckungen von 5—4 mm Höhe und überzeugten uns so von der noch
bestehenden Erregbarkeit des mittleren parallelfaserigen Muskeltheiles für die in Be-
tracht kommenden Muskelstücken. Obgleich die angewendete Kette eine ziemlich
kräftige war, so waren die erregenden Stromstärken immerhin nur mittlere in Folge
der Vertheilung des Stromes auf den Querschnitt des Troges. Dieses ergiebt sich
auch daraus, dass bei den Versuchen wohl Schliessungstetanus aber keine Oeffnungs-
— 130 —
zuckung beachtet wurde. Um diese herbeizuführen, bedarf es so starker Ströme, dass
eine Einwirkung unregelmässiger Strömungen nicht mehr ausgeschlossen werden
könnte.
Anwendung des Inductionsstromes.
Beispiel 1.
Strom der primären Spirale = 5 Bunsen.
2. b.
Unversehrter Muskel. Muskelenden abgetötet.
Eintritts- | Zuck.d.d. _. Zuck. d. e Zuck.d.d. 5 Zuck. d. :
winkeld. | Schliess.- Richtung | d. Oeffn.- | Riehtung | Sehliess.- | Richtung | 4, Oeffn.- | Richtung | Rollen-
Stromes. | schlag. ‚desselb. | schlag. ‚desselb. | schlag. „desselb. schlag. ‚desselb. | entfern.
Cr. mel i. Muskel. En i. Muskel. ee i. Muskel. mn i. Muskel. nn
0 9,5 abst. 2 aufst. — | abt. | — aufst. 120
0 || — aufst. 3,5 abst. —_ aufst. Kai abst. 120
45. | D— abst. _ aufst. — abat.7® 2, 0 Zanlse 120
45 — aufst. 1 abst. == aufst. — | abst. 120
90 | —— — = | | — |. 120
0 | — ö _ < En ea ee y 120
90 y * > * or, | * BI * 90
90 == = —uy = 90
A| 1 abst. 2 aufst. ss. |— aufst. 90
45 — aufst. 3 abst. — aufst. — abst. 90
0) 10 abst. 8,5 aufst. — abst. —_ aufst. 90
0 8 aufst. 11 abst. — aufst. —_ abst. 90
* Wechsel der Stromesrichtung.
Beispiel 2.
Strom der primären Spirale = 8 Bunsen.
a. b.
Unversehrter Muskel. Muskelenden abgetötet.
Eintritts- | Zuck.d.d. R | Zuck.d. ? Zuck.d.d. E | Zuck.d. {
winkel d. | Schliess.. | Richtung | d. Oeffn.- | Richtung | Schliess.- Richtung | d.Oeffn.- | Richtung | Rollen-
Stromes. | schlag. | ‚desselb. schlag. ‚desselb. schlag- | ‚desselb. | schlag. ‚desselb. | entfern.
Grad mm i. Muskel. m i. Muskel. mm | 1. Muskel. am i. Muskel. m
0 | — — —_— | _ | 60
90 22 * geht * [iu 0 * ie * 60
45 — aufst. 8 abst. — aufst. — abst. 60
45 5,8 abst. — aufst. — abst. == aufst. 60
(0) 3 aufst. 8 abst. — aufst. — abst. 60
0 | u abst. 5 aufst. u ae aufst. 60
Er | 114) aufst. 9 abst. _ aufst. 0 — abst. 0
0 | 8 abst. | 5 aufst. = | aufst (0)
AD u aufst. 4 abst. — aniste abst. 0)
45 | 2 abst. — aufst. — abst. | — | aufst. 0
90 — — = _ 0
90 a * Pet ” Fr | * | Se * 0
* Wechsel der Stromesrichtung.
—— Aal ZZ
Beispiel 3.
Strom der primären Spirale = 8 Bunsen.
a. b.
Unversehrter Muskel. Muskelenden abgetötet.
Eintritts- Zuck. d.d. Riel Zuck. d. ” Zuck. drdale ar Zuck. d. | e
winkel d. | Schliess.- | Richtung | d. Oefin.- | Richtung | Schliess.- | Richtung | d. Oeffn.- | Richtung Rollen-
Stromes. | strom. |,desselb. schlag. | ‚desselb. schlag. | ‚desselb. schlag. | ‚desselb. entfern
nl m | i. Muskel. N i. Muskel. Am i. Muskel. En 1. Muskel. an
0 3,5 abst. 0,5 aufst. — abst. — aufs. a=110,b=50
0 — | auf | 065 abst. — as N abet| =
45 1 abs OD antst: 05 abt.e | — aufst. „
45 En aufst. 2,5 abst. — aufst. 0,5 abst. ss
90% | 1 2 17 E
90 — \ 4 i 0,5 i 3 ü f
0 5 abt. | 15 aufst. = abt. | — | aufst. | a=50,b=0
0 i aufst. 6 | abst. — aufst.e — | abst. =
45 _ abst.e. | — aufst. 1 en | aulst. | a
45 —— aufst. been absiz _ aufst. 1 abst. | a
90 en —_ 1,5 1 B
gl i = ; 0,5 i 2 x :
* Wechsel der Stromesrichtung.
a) Reizung des unversehrten Muskels.
Lässt man parallele Stromfäden des Induetionsstromes den Muskel longitudinal
durchfliessen, so zeigen sich bei einer gewissen Stromstärke sowohl Erregungen durch
den Schliessungs- wie auch durch den Oeffnungsschlag. Die Stromesrichtung macht
sich wieder dureh die zu Gunsten des absteigenden Stromes ausfallende Wirkung be-
merkbar. Trifft der Strom den Muskel unter einem Winkel von 45°, so sind
die zur Beobachtung kommenden Zuckungen kleiner. Zuerst bleibt nach Vermin-
derung der Stromstärke die Erregung durch den aufwärts steigenden Schliessungs-
schlag, sodann die durch den aufwärts steigenden Oeffnungsschlag, weiterhin die dnrch
den abwärts steigenden Schliessungsschlag und zuletzt die Erregung durch den abwärts
steigenden Oeffnungsschlag aus. Ist der Durchströmungswinkel gleich 90°, so
bleibt der Muskel in der Regel ohne jede Erregung.
b) Reizung des an den Enden abgetöteten Muskels.
Nach der Abtötung der Enden zeigt die Reizung des Muskels mittelst paralleler
Stromfäden des Induetionsstroms keine erregende Wirkung, mag der Durchströmungs-
winkel gleich 0°, 45° oder 90° sein.
Nur in einem Falle traten Zuckungen bei dem Durchströmungswinkel von
45° und 90° auf.
und nicht genügenden Spannung des Muskels her, welche eine Schlängelung der
Fasern zur Folge hatte, sodass Längseomponenten des Stromes auf den natürlichen
Wahrscheinlich rührte dies von eimer schlechten Lagerung
Längsschnitt des Muskels wirkten.
Anwendung des tetanisirenden Inductionsstroms.
Beispiel 1.
Strom der primären Spirale — 8 Bunsen.
a. b.
Unversehrter Muskel. Muskelenden abgetötet.
Eintritts- | | Rollen Eintritts- Roll
inkel d. Metz vollen- winkel d. ollen-
omas | ESTER. | entfernung. Stromes. ern Eee) entfernung.
Grad. mm mm Grad. | mm | mm
(0) 11 | 0 0 = | 0
|
45 2,5 0 45 — | 0
90 2 0 90 | = 0)
Beispiel 2.
Strom der primären Spirale = 8 Bunsen.
a. b.
Unversehrter Muskel. Muskelenden abgetötet.
BDiE: m Rollen- Einale | r Rollen-
Skromes’ alarm entfernung. ye | Tetanus. entfernung.
Grad. mm mm mm mm mm
0 21 50 0 - 30
45 20 50 45 | e 30
90 _ 50 90 | _ 30
Durchströmt der tetanisirende Induetionsstrom den unversehrten Muskel in der
Längsrichtung, so stellt sich ein starker Tetanus ein. Ist der Durchströmungswinkel
gleich 45°, so ist der auftretende Tetanus schwächer. Bei 90° jedoch riefen die an-
gewendeten Stromstärken meist keine Erregung des Muskels hervor.
Nach Abtötung der Enden antwortet der Muskel bei jedem der verschiedenen
7 133
Durehströmungswinkel nicht mehr auf den Reiz des tetanisirenden Stromes, ‚sondern
bleibt vollständig in Ruhe, selbst bis zu verhältnissmässig starken Strömen.
Fassen wir kurz das Resultat der vorhergehenden Versuche zusammen, so er-
giebt sich folgendes.
Die Erregung des Muskels ist am grössten, wenn er in longitudinaler Richtung
von dem elektrischen Strome durchflossen wird, und dieser an den unverletzten Sehnen-
enden oder dem Längsschnitt der Muskelfasern ein- oder austritt. Sind die Muskel-
enden im Absterben begriffen, so sinkt die Erregbarkeit für den längsdurchfliessenden
Strom, denn er tritt zum Theil in den künstlichen Querschnitt des Muskels ein. Der
elektrische Strom, welcher allein auf den künstlichen Querschnitt des Muskels wirkt,
ruft keine Erregung hervor. Stellen sich nach begonnenem Absterben der Enden
doch noch Erregungen bei longitudinaler elektrischer Durchströmung ein, so rühren
sie höchstwahrscheinlich immer von einer Einwirkung des Stromes auf den natür-
lichen Längsschnitt an dem zugespitzten Faserende her. Erst nach vollständiger
Abtötung der unregelmässig gestalteten Muskelenden ist eine solche Einwirkung in
der Regel ausgeschlossen, und es bleibt bis zu einer gewissen Stromstärke bei der
Längsdurehströmung des Muskels jede Erregung aus. Nur starke Ströme erregen
auch in diesem Falle trotz des Eintritts in den verletzten Querschnitt den Muskel
zu Zuckungen, jedoch muss man annehmen, dass wegen des nicht absolut parallelen
Verlaufs der Ströme und Muskelfasern sich kathodische und anodische Stellen im
Muskel bilden, und die Erregungen daher von einer Einwirkung des Stromes auf den
unversehrten Längsschnitt der Fasern herrühren.
Die Erregung des unversehrten Muskels, wenn er von parallelen elektrischen
Stromfäden unter einem Winkel von 45° durchflossen wird, ist geringer als die
bei longitudinaler Durchströmung. Nach der vollkommenen Abtötung der Muskel-
enden erregt der elektrische Strom bei diesem Eintrittswinkel den Muskel nicht mehr.
Da in diesem Falle ebenso wie bei dem unversehrten Muskel die Stromfäden in den
natürlichen Längsschnitt des Muskels ein- und austreten, so können bei dem unver-
sehrten Muskel die Erregungen nur an den beiden Enden stattfinden, denn nach
Abtötung derselben bleibt die Erregung aus.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 18
— 134 —
Während bei einer Durchströmung des unversehrten Muskels unter einem Win-
kel von 45° die Erregbarkeit nur vermindert erschien, führte eine Durchströmung
des Muskels unter einem Winkel von 90° in der Regel gar keine Erregung
herbei. Die sehr selten zur Beobachtung gekommenen Zuckungen bei diesem Durch-
strömungswinkel, fielen sofort aus nach einer vollkommenen Abtötung der Enden.
Eine Einwirkung des elektrischen Stromes, welcher gegen den mittleren Theil des
Muskels senkrecht fliesst, auf die Faserenden, kann daher von entstehenden Längs-
componenten hergeleitet werden, da an den Enden keine genau quere Durchströmung
herbeigeführt werden kann. Eine genau quere Durchströmung der Muskelfaser, wie
sie nach Abtötung der Enden stattfindet, ruft keine Erregung des Muskels hervor.
Die Unerregbarkeit des Muskels für quer gerichtete Ströme ist hierdurch
nachgewiesen.
Neue Theorie
der
Erregungsvorgänge und elektrischen Erscheinungen
an der Nerven- und Muskelfaser
3. Bernstein.
Mit sieben Holzschnitten.
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Ss 1. Die electrische Durchströmung der Nerven- und Muskelfaser in verschiedener
Richtung zur Axe.
Die vorangehende Untersuchung über die Einwirkung des elektrischen Stromes
auf die Muskelfaser, deren Axe einen verschiedenen Winkel mit der Stromesrichtung
bildet, ist nicht nur eine Bestätigung des schon von Andern erhaltenen Resultates,
dass die Muskel- wie die Nervenfaser in der Querrichtung elektrisch unerregbar ist,
sondern sie lässt auch noch weitere Schlüsse in Bezug auf die Ursache dieses Ver-
haltens zu.
Das allgemeine Ergebniss der Untersuchung lässt sich folgendermaassen for-
muliren.
Eine von zwei künstlichen Querschnitten begrenzte Muskelfaser,
welche in ihrer ganzen Ausdehnung von parallelen Stromfäden gleicher
Dichtigkeit in beliebiger Richtung durchflossen wird, wird durch dieselben
nicht erregt.
EI: Figur 1.
Es sei in nebenstehender
Figur 1. die Muskelfaser @ , mit
künstlichen Querschnitten versehen,
in eine Flüssigkeitsmasse getaucht,
und werde darin von parallelen gleich
diehten Stromfäden x y durchflossen,
so können wir der Faser jede be- | |
liebige Richtung zu diesen Strom- 1
fäden geben, ohne dass bei Schliessung und Oeffinung oder während der Dauer des
Stromes eine Erregung derselben eintritt. Dies ist nicht nur der Fall, wenn wir sie
in der Ebene des Papiers, sondern auch in einer dazu senkrechten gedreht denken, kurz-
um, wenn wir ihr in der Flüssigkeitsmasse eine ganz beliebige Stellung im Raum geben.
— u MON ee
Ganz anders dagegen verhält sich die unversehrte, mit natürlichem Ende be-
gabte Muskelfaser. Sie wird am stärksten erregt durch Ströme, welche der Axe
parallel sind, und die Erregung sinkt mit wachsendem Durehströmungswinkel bis zu
90° zu einem Minimum herab. Es ist daher klar, dass in diesem Falle die Erregung
nur an den natürlichen Enden stattfindet, dass dagegen an den dazwischen gelegenen
Längsschnittspunkten der Faser eine Erregung ebensowenig eintritt, wie an der mit
künstlichen Querschnitten versehenen.
Um zu einer Erklärung dieser Erscheinungen zu gelangen, gehen wir von
dem hinreichend sicher festgestellten Gesetze aus, dass bei der Schliessung des Stromes
die Erregung an der Kathode, bei der Oeffnung desselben an der Anode eintritt.
Es geschieht also diese Reizung in jeder Muskelfaser an den anodischen und katho-
dischen Stellen derselben. Wir gehen ferner von der durch obige Versuche vielfach
bestätigten T'hatsache aus, dass die Muskelfaser nicht erregt wird, wenn die künst-
lichen Querschnitte Anode oder Kathode bilden, dass demnach Erregung nur dann
erfolgen kann, wenn sich die anodischen oder kathodischen Stellen an dem lebenden
Längsschnitt oder den Sehnenenden der Fasern befinden.
Für die von zwei künstlichen Querschnitten begrenzte Muskelfaser können wir
zunächst folgenden Satz hinstellen, welcher die Vorgänge unter einem gemeinsamen
Gesichtspunkte zusammenfasst: „In einem Querschnittselement der Muskelfaser tritt
keine Erregung ein, wenn die Dichtigkeit des Stromes auf der Anoden- und Kathoden-
seite des Längsschnittes eine gleiche ist.“
Dieser Fall findet ohne Zweifel statt, wenn wir die Muskelfaser in der Flüssig-
keit senkrecht zu den Stromfäden lagern. Die in jedem Querschnitt einander gegen-
überliegenden anodischen und kathodischen Stellen besitzen absolut gleiche Dichtig-
keit. Aber dies letztere ist offenbar auch der Fall, wenn wir jeden beliebigen andern
Durehströmungswinkel wählen. Betrachten wir in Fig. 1 das Element c d der Faser
ac, so hat der Stromfaden, welcher bei c in den Längsschnitt eintritt, genau dieselbe
Diehtigkeit wie der, welcher bei 7 austritt, und der Unterschied dieses Falles gegen
die senkrechte Lage besteht nur darin, dass es nicht derselbe Stromfaden ist, welche
Anode oder Kathode bildet. Dieser Unterschied kann aber, wie wir noch näher be-
gründen werden, keine Aenderung in der Wirkung des Stromes bedingen. Die gleiche
Betrachtung gilt für alle Querschnittselemente bis an den künstlichen Querschnitt.
Wir wollen hieraus zunächst den Satz ableiten, dass anodische und kathodische
Stellen gleicher Dichtigkeit sich in jedem Querschnittselement gleichsam gegenseitig
in ihrer Wirkung aufheben. Ganz anders ist das Verhalten von Muskelfasern mit
=. 4189 =
natürlichen Enden oder natürlichem Querschnitt. Es sei a’ ö#‘ eine solche, welche
den Winkel Null mit den Stromfäden bildet. Den letzten Querschnitt bei 6° wollen
wir uns der Eimfachheit halber auch am Ende senkrecht zur Axe begrenzt denken.*)
Der natürliche Querschnitt 6° verhält sich dem Strom gegenüber ebenso wie der Längs-
schnitt der Faser, und da sich hier eine Kathode befindet, deren Wirkung in diesem
Element durch eine Anode nicht aufgehoben wird, so tritt in demselben beim Schliessen
eine Erregung ein. Ebenso bei z beim Oeffnen des Stromes. Die Erregung muss
ferner schwächer werden, wenn der Durehströmungswinkel wächst, und wird bei 90°
nahezu Null. Die Beziehung zwischen Durchströmungswinkel und Erregung würde
genau der Cosinus-Funktion entsprechen, wenn man annähme, dass die Erregung der
Zahl von Stromfäden (Querschnitt) proportional sei, welche den natürlichen Querschnitt
durchfliessen.“) Auf diese Weise wird eine theoretische Ableitung für das zuerst von
mir und Bernheim **) aufgestellte Gesetz der Erregung für verschiedene Durch-
strömungswinkel gegeben sein. Doch bezieht sich das eben gesagte zunächst nur auf
die Muskelfaser, welche mit natürlichen Querschnitten begabt ist. Bei der Nerven-
faser dagegen, welche der natürlichen Enden entbehrt, ist das Verhältniss ein com-
plicirteres, worauf wir vor der Hand noch nieht eingehen wollen.
$ 2. Zusammenhang der Erscheinungen mit der inneren Polarisation.
Diejenige Frage welche uns nun vor allen Dingen entgegentritt, ist folgende
Wie kommt es, dass die anodische und kathodische Veränderung, welche an den
gegenüberliegenden Längsseiteneiner Muskelfaser durch den Strom erzeugt werden, sich
einander aufheben? Um diese Frage zu behandeln, ist es doch wohl nothwendig,
sich eine bestimmtere Vorstellung von den Veränderungen an der Anode und Kathode
zu machen. Wir sind berechtigt, bei diesen Ueberlegungen von der Gesammtheit
aller derjenigen Erscheinungen auszugehen, welche man bisher unter dem Namen
*) Wenn auch die Fasern spitz enden Figur 2.
sollten, so hat dies, wie man leicht einsieht, doch ji
keinen Einfluss auf unsre Betrachtungsweise. nr
**) In Fig. 2 ist @ b der natürliche Quer- ae
schnitt der Faser bei O°, und @ b beim Winkel «. ri il
Die Zahl der Stromfäden für u’ b ist proportional
mitceb=ab cos. ©.
*@#) Pfliigers Archiv für Phys. Bd. VIII,
1874. 8. 60. — $. du Bois’ Archiv für Phys.
1882. S. 338.
2.2 ee
„Electrotonus“ zusammengefasst hat. Sowohl die Veränderungen der Erregbarkeit,
als auch die im Nerven nachgewiesenen extrapolaren elektrotonischen Ströme, durch
welche sich der Electrotonus kundgiebt, weisen darauf hin, dass wir es mit Polari-
sationsvorgängen zu thun haben, welche unter eigenthümlichen Bedingungen in der
lebenden Substanz entstehen. Es ist ferner durch die von du Bois-Reymond
gefundene innere Polarisation der Muskeln und Nerven dargethan, dass sich polarisir-
bare Elemente in diesen Organen befinden, und dass sich demnach an diesen innere
Jonen abscheiden müssen, welche nach der Oeffnung des Stromes durch Depolarisation
einen negativen Polarisationsstrom erzeugen. Nachdem Hermann gezeigt hat, dass
diese innere Polarisation zum überwiegenden Maasse der lebenden Substanz zukommt,
und dass sie in der Querrichtung der Fasern bedeutend stärker ist, als in der Längs-
richtung, stimme ich durchaus seiner Ansicht zu, dass auch der sogen. Electrotonus
auf diese innere Polarisation zurückgeführt werden muss. Die Begründung dieser
Ansicht von meinem Standpunkte aus muss ich an einer späteren Stelle ausführlicher
geben. Dagegen will ich gleich bemerken, dass ich in meinen Folgerungen über
den Ort der Polarisation noch einen Schritt weiter gehen muss, als Hermann dies
gethan hat.
Gehen wir nun von der zunächst liegenden — von Hermann gemachten —
Annahme aus, dass die Polarisation an der Oberfläche der Fasern stattfinde, wo der
Strom aus der Hülle in die lebende Substanz eintritt (Hülle und Kern nach Hermann),
so würden bei verschiedener Art der Stromzuleitung die Vorgänge sich folgender-
maassen gestalten. Legen wir Eleetroden an die Längsschnitte oder natürlichen Enden
des Muskels an, so findet die Erregung entweder an den anodischen oder kathodischen
Stellen der Fasern statt, und da diese auf verschiedene Querschnittselemente in der
Länge der Fasern vertheilt sind, so lassen sich alle Erregungserscheinungen zur Ge-
nüge ableiten. Die Abscheidung der negativen Jonen in der Gegend der Kathode
und das Verschwinden der positiven Jonen in der Gegend der Anode an der Ober-
fläche der lebenden Substanz würde mit einem Erregungsprocess verknüpft sein.
Betrachten wir dagegen den Fall, dass der Muskel in der Flüssigkeit unter
einem Winkel von 90° von Stromfäden durehflossen sei, so stellt sich eine erhebliche
Schwierigkeit der Deutung des Vorganges entgegen. Der Muskel wird nicht erregt,
trotzdem sich an der einen Seite des Längsschnittes der Fasern positive, an der an-
dern Seite negative Jonen abscheiden müssen. Mindestens müsste sich doch, sollte
man meinen, beim Schliessen die kathodische und beim Oeffnen die anodische Hälfte
der Faser zusammenziehen und der Erfolg müsste ein ähnlicher sein, wie bei dem
—— u
Engelmann’schen Versuch, bei welchem der Muskel sich abwechselnd auf der
Kathoden- und Anodenseite krümmt. Dieser Versuch gelingt aber bekanntlich nur
dann, wenn man zwei Eleetroden einander gegenüber an den Muskel anlegt, weil nun
Längscomponenten des Stromes sich ausbreiten, während der quergerichtete Strom-
faden wahrscheinlich auch hier gar nicht erregt.‘) Warum, müssen wir «demnach
fragen, heben sich anodische und kathodische Polarisation einer Faser vollständig auf,
wenn sie an den gegenüberliegenden Seiten derselben mit gleicher Stärke auftreten ?
Man könnte sich die Sache nun so vorstellen, dass die Abscheidung der
negativen Jonen sowohl einen Reiz auf die Faser ausübe, als auch ihre Erregbarkeit
steigere, dass dagegen die Abscheidung der positiven Jonen den Erregungsvorgang
hemme und die Erregbarkeit demnach herabsetze, um eine Uebereinstimmung mit dem
Zuckungsgesetz und dem Elektrotonus herbeizuführen. Diese Vorgänge müssten
aber auf den beiden Längsseiten einer querdurchströmten Faser auch auftreten. und
demnach Zuckung bewirken. Wollte man annehmen, dass die positiven Jonen auf
der einen Seite die Wirkung der negativen Jonen auf der andern Seite hemmten, so
müsste man geradezu eine Fernwirkung durch die Dieke der Nerven- oder Muskel-
fasern statuiren, oder einen unendlich schnellen Diffussionsaustausch der Jonen, was
beides nicht vorauszusetzen ist. Das letztere schon deshalb nicht, weil eine starke
Depolarisation bei der Oeffnung erfolgt, was nicht möglich wäre, wenn die Jonen
sich neutralisirt hätten. Wir sehen mithin, dass die Vorstellung, nach welcher die
anodische und kathodische Polarisation nur an der Oberfläche der Fasern stattfinde,
eine unzureichende ist. Wenn überhaupt das Entstehen der negativen Jonen und das
Verschwinden der positiven Jonen die Ursache der Erregung sein soll, so ist es nicht
wahrscheinlich, dass die Reizung nur an der Oberfläche der lebenden Substanz statt-
finde, sondern viel wahrscheinlicher, dass dieser Vorgang auch im Innern der lebenden
Substanz vorhanden ist. Wir werden daher nothwendiger Weise dazu gedrängt, uns
die Nerven- und Muskelfasern ihrer Länge nach im Elemente zerlegt zu denken, an
deren Oberfläche eine Polarisation hervorgebracht werde, und da liegt es nahe, zu-
nächst an die Fibrillen derselben zu denken, die man ja allgemein als praeformirt
betrachtet. Indessen auch die Zurückführung der Vorgänge auf die Fibrille genügt
keineswegs, um zu einer befriedigenden Theorie zu gelangen. Denn was von der
ganzen Faser gilt, das gilt auch für jede unter dem Mikroskop noch sichtbare Längs-
*) In Folge der Ausbreitung der Ströme ist an der Kathoden-Seite des Muskels die katho-
dische, an der Anoden-Seite die anodische Polarisation stärker
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 19
iu>
fibrille von endlichem Durchmesser. Je kleiner wir uns aber den Durchmesser solcher
Längsfibrillen denken, desto eher ist es vorstellbar, dass kathodische und anodische
Polarisation einander in ihrer Wirkung auf die lebende Substanz neutralisiren, da
sich die Jonen einander immer mehr nähern.
$ 3. Folgerung einer Molekulartheorie.
Wir gelangen auf dem betretenen Wege zu einer „Molekulartheorie“ der
lebenden Substanz in der Muskel- und Nervenfaser, welche mit unsern anderweitigen
Kenntnissen über die physikalischen und chemischen Eigenschaften und die Struktur
derselben wohl in Uebereinstimmung steht. Es geht aus vielfachen Ueberlegungen
mit Ueberzeugung hervor, dass ebenso wie die sichtbare Struktur auch der moleku-
läre Bau der Fasern in der Längs- und Querrichtung ein verschiedenartiger sein muss.
Hingegen ist es eine durchaus unbefriedigende Vorstellung, wenn man sich die lebende
Substanz, das Protoplasma und die ihm gleichartigen Bestandtheile, als ein homogenes
Gemenge gewisser chemischer Substanzen in mehr oder weniger vollkommener Lösung
denkt.‘) Wir werden daher der Wahrheit am nächsten kommen, wenn wir annehmen,
dass der lebende Faserinhalt aus Längsreihen von Molekülen zusammengesetzt ist,
welche sich zu Fibrillen von endlichem Durchmesser aggregiren und welche in einer
ihnen adäquaten Flüssigkeit liegen, die gleichsam ihre Nährflüssigkeit ist (Para-
plasma). Diese Anschauung schliesst sich einerseits an diejenige an, aus welcher die
du Bois-Reymond'sche Hypothese der elektromotorischen Molekeln, die sich eben-
falls in Längsreihen ordnen, hervorgegangen ist, andererseits an die neueren Hypothesen
von Pflüger, nach welcher die Moleküle des Protoplasma sich vermöge chemischer
Affinität aneinander ketten, und auf diese Weise zu sichtbaren Gebilden, Zellen und
Fasern, heranwachsen. n
Es bleibe für uns zunächst unerörtert, vermöge welcher Kräfte die Moleküle
sich aneinander reihen, und welche chemische und physikalische Constitution ihnen
im Allgemeinen zukomme. Nur eine Eigenschaft setzen wir zur Erklärung der elek-
trischen Reizbarkeit bei ihnen voraus, dass sie nämlich in der Flüssigkeit, in welcher
sie sich befinden, polarisirbar seien. Diese Polarisation soll aber nur an der freien
Oberfläche einer solchen Molekülreihe stattfinden, nicht dagegen zwischen den Mole-
külen, weil sie hier so nahe mit einander verbunden sind, sei es durch physikalische
*) Ich habe dıesen Gegenstand in einer Abhandlung „Ueber die Kräfte der lebenden Materie“
(Halle 1870. Preisverkündigungsprogramm der Universität) ausführlich behandelt. Siehe 8. 12 ff.
13
oder chemische Attraktion, dass sie gleichsam ein Continuum bilden und daher keine
Ablagerung von Jonen zwischen sich gestatten.
Figur 3.
Es sei in Figur 3.
eine solche Molekülreihe
bildlich dargestellt, indem
wir den Molekülen die
Gestalt kleiner länglicher
Körperchen ertheilen, wel-
che in der Längsrichtung
aneinander gelagert sind.
Diese Darstellung soll
nichts über ihre wirkliche
Beschaffenheit aussagen, sondern nur bedeuten, dass ihre Anordnung eben in der
Längsrichtung der Fasern erfolgt. Im übrigen liegt es nahe, sie nicht als einfache
chemische Moleküle, sondern als Molekülaggregate anzusehen, ähnlich den von Nägeli
als „Micelle“ bezeichneten Elementen der organisirten Substanz.
Es verhält sich demnach eine solche Molekülreihe, wie ein continuirlicher Faden
von Substanz, welcher gegen die umgebende Flüssigkeit polarisirbar ist. Ich stimme
daher in der Ableitung der elektrotonischen Ströme und der innern Polarisation mit
Hermann darin überein, dass ich eine Ablagerung von Jonen auf dem Längsschnitt
dieser Faden annehme, sobald Ströme in diese ein- und austreten. Legen wir Anode
und Kathode an zwei Punkte des Längsschnittes 4 und X an (Fig. 3.), so wird die
Dichtigkeit der Jonen an den Punkten 4 und A’ ein Maximum sein und nach dem
Bilde der Curve e z 2, e, nach den extrapolaren und der intrapolaren Strecke hin
abnehmen. Eine extrapolar angelegter Bogen giebt daher eine Spannungsdifferenz
an, indem sich die der Anode oder Kathode näheren Punkte stärker positiv oder ne-
gativ verhalten als die entfernteren. Die positive Polarisation an der Anode muss
durch einen Indifferenzpunkt in die negative an der Kathode übergehen. So lassen
sich die elektrotonischen Ströme zur Genüge erklären.
Nach dieser Molekulartheorie findet also die Reizung beim Schliessen und
Oeffnen durch das Entstehen der negativen Jonen und das Verschwinden der positiven
Jonen nicht nur von der Oberfläche der Fasern, sondern an allen Molekülen der
lebenden Substanz im Bereiche der Elektroden statt. Auch die Veränderung der
Erregbarkeit während der Polarisation ist nun darauf zurückzuführen, dass das mit
19*
144
negativen Jonen beladene Molekül leichter, das mit positiven Jonen beladene
dagegen schwerer spaltbar ist als das unveränderte. Alle diese Vorgänge
würden sich nicht befriedigend erklären lassen, wollte man dabei stehen bleiben, dass
die Ablagerung der Jonen nur an der Oberfläche der Fasern stattfinde.
Während nun bei der Anlegung der Elektroden an zwei verschiedene Punkte
des Längsschnittes immer eine Reizung stattfindet, tritt keine Reizung ein, sobald die
Stromfäden senkrecht gegen die Längsaxe der Molekülreihe gerichtet sind. In diesem
Falle setzen sich äquivalente Mengen von Jonen auf den gegenüberliegenden Längsseiten
desselben Moleküls ab, und da wir annehmen, dass die Wirkung der Jonen auf die er-
regbaren Moleküle eine einander entgegen gerichtete ist, so muss die Erregung ausbleiben.
Dasselbe ist aber auch, wie der Versuch lehrt, der Fall, wenn parallele und gleich
dichte Stromfäden in jedem beliebigen Winkel die von zwei künstlichen Querschnitten
begrenzte Muskelfaser durchfliessen, denn, wie wir es schon für die ganze Faser ab-
geleitet haben, lagern sich nun auf den beiden Längsseiten desselben Moleküls eben-
falls äquivalente Mengen von positiven und negativen Jonen ab.
Es ist, wie schon oben angedeutet, bei diesem Vorgange ganz gleichgültig, ob
die einander gegenüberliegenden Jonen demselben Stromfaden angehören oder ver-
schiedenen. Sobald dieselben einander äquivalent sind, heben sie sich in ihrer Wir-
kung auf das lebende Molekül auf.
Wenn bei der queren oder schrägen Durchleitung die Stromfäden einander
nicht ganz parallel und nicht gleich dieht sind, so treten jedesmal Erregungen auf.
Dies ist, wie einige Versuche lehrten, unvermeidlich, wenn man z. B. Staniolstreifen
als Elektroden an die beiden Längsflächen eines Sartorius in ganzer Ausdehnung an-
lest. Denn diese Anlegung kann nie so genau sein, dass an allen Faserstellen die
Dichte der Jonen einander äquivalent ist.
s 4. Die Unerregbarkeit des künstlichen Querschnitts.
Bevor wir die Consequenzen unsrer Molekulartheorie weiter verfolgen, müssen
wir vom Standpunkte derselben aus die T’hatsache deuten, dass eine Erregung der
Faser nicht stattfindet, wenn der Strom in die künstlichen Querschnitte ein- und
austritt.
Man ist bisher von der Anschauung ausgegangen, dass die Erregung da auf-
trete, wo der Strom in die lebende Substanz der Faser ein- und aus derselben aus-
ströme, und diese Annahme trifft auch für den Längsschnitt und natürlichen Quer-
145
schnitt vollständig zu. Für den künstlichen Querschnitt dagegen lässt diese Annahme
uns im Stich, denn setzen wir an demselben eine abgestorbene Schicht voraus, so
muss doch irgendwo der Strom in die lebende Substanz gelangen, und hier Erregung
hervorbringen, was aber nicht geschieht. Dieser Wiederspruch bleibt auch bestehen,
wenn wir nach Hermann uns denken, dass der Uebergang von todtem zu lebendem
Faserinhalt ein allmählicher sei. In diesem Falle müsste die Erregung in demselben
nur allmählich anwachsen in dem Maasse, als der Strom sich der lebenden Substanz nähert.
Wegen dieses Widerspruches hat man gesagt, dass die Faser am künstlichen
Querschnitt zwar nicht ganz unerregbar für den Strom sei, aber doch weniger erregbar
als am lebenden Längsschnitt, weil sich hier die Faser im Absterben befinde (Bieder-
mann).‘) Indessen reicht diese Erklärung in der gegebenen Form nieht aus, denn
irgendwo erreichen die Stromfäden doch denjenigen Faserinhalt, welcher vom Längsschnitt
aus (durchströmt, stark gereizt wird, vom Querschnitt aus dagegen reactionslos bleibt.
Eine andere Deutung für die geringe Erregbarkeit des künstlichen Querschnitts
könnte man darin suchen, dass der Muskelstrom am künstlichen Querschnitt Anelee-
trotonus erzeuge, da er hier in die Muskelsubstanz eintrete, und daher die Erregbar-
keit derselben herabsetze. Da der Strom dureh die Hüllen und die umgebende Flüssig-
keit zu einem Kreise geschlossen wird, so müssten sich hingegen die angrenzenden
Längsschnitte der Fasern, an denen die Stromfäden austreten im Zustande des Kat-
eleetrotonus befinden. Hierdurch sucht Hermann auch die Erhöhung der Erregbar-
keit zu erklären, welche man beim Nerven in der Nähe eines künstlichen Querschnitts
in den ersten Momenten vorfindet. Es würde aber offenbar ein gewisser Widerspruch
in der Annahme liegen, dass das erste lebende Querschnittselement am freien Quer-
schnitt sich im Aneleetrotonus, dagegen am Längsschnitt sich im Katelectrotonus be-
finde, sodass sich beide Einflüsse auf die Erregbarkeit gegenseitig aufheben würden.
Eine andere Ueberlegung zeigt ausserdem, dass es sich am Querschnitt nicht um die
Wirkung eines Anelecetrotonus handeln könne. Leiten wir einen stärkeren Strom in
terminaler Richtung gegen den künstlichen Querschnitt durch den Muskel, so ist an-
zunehmen, dass der in den Fasern eireulirende Zweig des abterminal gerichteten
Muskelstroms wenigstens theilweise eompensirt wird.) Es müsste also hier doch
*) Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysiologie. IV. Mittheilung. Sitz.-Ber. d. Wien.
Akad. 1879. (p. 39 Sep.-Abdr.)
**) Ueber die Stärke der innern Ruheströme haben wir allerdings kein Urtheil. Ob sie so stark
sein sollten, dass man sie durch äussere Ströme nicht compensiren könnte, wie Hermann meint, scheint
mir aber doch fraglich zu sein. Hermann hat mir mehrfach die Ansicht untergeschoben, dass man
_ ne
schliesslich eine Reizung durch das Verschwinden oder die Verminderung des An-
eleetrotonus stattfinden. Leiten wir den Strom in abterminaler Richtung hindurch, so
müsste der Anelectrotonus am Querschnitt hierdurch in dem Maasse verstärkt werden,
dass beim Oeffnen eine Reaktion vorhanden sein sollte. Alles dies ist aber selbst
bei stärkeren Strömen nicht der Fall, für welche der Unterschied der Zuckungen
im An- und Katelectrotonus höchst gering ausfallen würde.
Abgesehen hiervon ist überhaupt zu vermuthen, dass am künstlichen Quer-
schnittsende der Zustand des Kat- und Anelectrotonus gar nicht entsteht. Dies test-
zustellen, soll der Gegenstand einer besonderen Untersuchung sein.
Es steht uns nunmehr nichts im Wege, auf Grundlage unserer Molekulartheorie
nach einer Deutung für die Unerregbarkeit des künstlichen Querschnitts zu suchen.
Am künstliehen Querschnitt ist nach unsrer Vorstellung die Molekülreihe zer-
rissen. Die Endmoleküle wenden ihr freies Querschnittsende der todten Muskelsubstanz
zu. Wenn wir nun von der Ansicht ausgehen, dass das Entstehen und Verschwinden
der Jonen an den Molekülen die Ursache der Erregung ist, so werden wir uns zu-
nächst die Frage vorlegen müssen, ob an dem künstlichen Querschnitt überhaupt
eine Polarisation stattfindet. Nach den Versuchen von du Bois-Reymond*) erhält
man einen negativen Polarisationsstrom, wenn man ein Muskelstück mit seinen beiden
Querschnitten in den Kreis eines polarisirenden Stromes gebracht hat, und nach dem
Oeffnen desselben den Muskel ableitet. Hermann'*) bemerkte, dass der Polarisations-
strom, den man nach der Länesdurchströmung an Muskeln beobachtet, viel schwächer
ist als derjenige, welchen man unter gleicher Bedingung nach der Querdurchströmung
vorfindet. Nach diesen Versuchen aber bleibt es unentschieden, ob es überhaupt eine
Längspolarisation giebt, da die Fasern in den erwähnten Versuehen nicht gestreckt
lagen und, wie Hering schon hervorgehoben, dem Strome viele Ein- und Austrittsstellen
am Längsschnitte darboten. Ich habe daher solche Versuche an gestreckten Sartorien
angestellt, welche an beiden Enden abgetödtet waren, die zugleich die Zu- und
Ableitungsstellen für die Eleetroden bildeten. Unter dieser Bedingung beobachtet man
durch Compensation des abgeleiteten Ruhestroms auch die inneren Ströme compensire. Es ist mir
niemals in den Sinn gekommen, dies zu behaupten. Als ich seiner Eleetrotonustheorie gegenüber
hervorhob, dass hiernach der compensirte Ruhestrom keine negative Schwenkung geben könnte, war
ich in dem Glauben, dass er diesen abgeleiteten Strom als polarisirenden betrachtete. In der That würde
nach jener Theorie eine Schwankung nicht stattfinden, wenn eine Faser gar keine indifferente Hülle
hätte und der abgeleitete Ruhestrom eompensirt würde.
*) Untersuchungen I. 376. II. 2. 377.
**) Arch. f. Physiol. V. 240.
147
an nun ebenfalls einen deutlichen negativen Nachstrom, der nur von einer Polarisation
abhängig sein kann. (Granz ebenso verhält es sich am Nerven.‘)
Nun haben wir weiter zu entscheiden, an welchen Stellen in der Faser diese
Polarisation ihren Sitz hat. Nach neueren Versuchen von E. Hering**) findet über-
haupt eine innere Polarisation der Faser nicht statt, wenn die Ströme parallel ihrer
Axe darin verlaufen. Dies haben wir auch schon in Uebereinstimmung mit unsrer
Theorie angenommen, indem wir eine Polarisation zwischen den Molekülen einer
Längsreihe nicht voraussetzen. Ebenso wenig ist nach der Hermann’schen An-
schauung eine Polarisation im Innern der Faser zu erwarten, da sie den ganzen Kern
derselben als einen homogenen Leiter betrachtet. .
In der That lässt sich der Hering’sche Versuch leicht bestätigen. Man erhält
keine oder nur unbedeutende negative Nachströme, wenn man den Enden des aus-
gespannten Sartorius den polarisirenden Strom zuführt, und von der Mitte des Muskels
eine kleine Strecke ableitet. Noch besser ist es, auch die Enden des Sartorius ab-
zutödten, weil die Stromfäden dann in die künstlichen Querschnitte eintreten, keine
Zuckungen verursachen, und voraussichtlich auch paralleler in dem lebenden Stück
verlaufen.
Wir werden also hieraus schon entnehmen, dass die Polarisation bei der Längs-
durchströmung nur zwischen todter oder lebender Substanz der Faser stattfindet.
Dies lässt sich aber ganz direct in folgender Weise demonstriren. Hat man den eben
beschriebenen Hering’schen Versuch angestellt, und sich von der Abwesenheit jeder
Polarisation in einer mittleren Strecke des Muskels überzeugt, so zerquetsche man
mit einer schmalen Pincette den Muskel zwischen den ableitenden Eleetroden. Ist
die abgeleitete Stelle vorher stromlos gewesen, oder hat man einen schwachen Strom
derselben compensirt, so bleibt auch jetzt die Stelle ungeändert, denn die Muskel-
ströme der beiden Hälften heben sich vollständig auf. Leitet man aber nun den
polarisirenden Strom zu, so sieht man nach dessen Oeffnung eine beträchtliche negative
Polarisation auftreten. Der Versuch ist ein so einfacher, dass es wohl unnöthig ist,
besondere Daten aus meinen Beobachtungen hierfür anzugeben.
Das Resultat lässt keine andre Deutung zu. Die Polarisation geschieht in
diesem Falle einzig und allein an der Grenze der todten und lebenden Substanz.
*) Ob unter diesen Versuchsbedingungen neben der negativen Polarisation auch eine positive
vorhanden ist, bedarf einer besondern Untersuchung. Ich habe sie nach Strömen von mässiger Strecke
nicht vorgefunden.
**) Beitr. z, allg. Nerv.- u. Muskel-Physiol. XII. Wien. Sitz.-Ber. 8. Nov. 1883. Bd. LXXXVIII.
8
Es findet also auch eine Abscheidung von Jonen an dem künstlichen Quer-
schnitt statt, und trotzdem tritt keine Erregung hierselbst weder beim Schliessen noch
beim Oeffnen des Stromes ein. Wäre es richtig, dass die Muskelfaser aus einer nach
allen Riehtungen homogenen und sich gleichartig verhaltenden lebenden Materie be-
stünde, so müsste es auch ganz gleichgültig sein, ob ihr der Strom durch den natür-
lichen Längsschnitt oder den künstlichen Querschnitt zugeführt würde. Die Ab-
scheidung der Jonen und ihr Verschwinden müsste in beiden Fällen gleich stark
erregend einwirken. Zu einer befriedigenden Erklärung der Unerregbarkeit der
Muskelsubstanz am künstlichen Querschnitt für den electrischen Strom werden wir
nur gelangen können, wenn wir voraussetzen, dass dieselbe eine Molekularstruktur
besitzt, vermöge deren ihre Moleküle in gewisser Weise angeordnet sind und nach
der Längsschnittriehtung hin sich anders verhalten als nach der Richtung des Quer-
schnittes. Wir nehmen daher an, dass die Moleküle nach der Richtung des freien Quer-
schnittes hin zwar auch polarisirbar sind, dass aber die Ablagerung der Jonen an
dieser Grenze einen mit Erregung verbundenen Zerfall der Moleküle nicht herbei-
zuführen vermag.
Wir werden hiernach im Sinne unsrer Molekulartheorie den Satz aussprechen
können: Eine Erregung tritt nur dann ein, wenn die Molekülreihen sich an ihren
Längsschnitten mit Jonen laden oder sich entladen, nicht aber, wenn dies an freien
@Querschnitten geschieht.
Dass übrigens die freien Querschnitte andern Reizen als dem electrischen
Strome zugänglich sind, geht namentlich aus den bekannten Versuchen Kühne's
über chemische Reizung hervor. Tauchen wir den frischen Querschnitt in verdünnte
Säure ein, so zuckt der Muskel momentan, weil die Säure schnell zum lebenden
Faserinhalt dringt. Dies geschieht mit einer solchen Schnelligkeit, dass der lebende
Inhalt nicht weit vom Schnittende entfernt sein kann. Warten wir dagegen einige Zeit
bis zum Eintauchen, so bleibt die Reaction meist aus, wenn nicht eine Reizung durch
den Muskelstrom herbeigeführt wird. Dagegen wirken die chemischen Reize nach Hering
auch momentan auf den Querschnitt, wenn man die Schliessung des Muskelstroms durch
eine isolirende Hülle ausgeschlossen hat. Man wird also unsren Betrachtungen gegen-
über nicht den Einwand aufrecht erhalten können, dass der Faserinhalt am freien Quer-
sehnitt nieht reizbar genug sei. Denn wenn die chemischen Reize so schnell hier
auf die lebende Substanz wirken, so würden die sich abscheidenden Jonen dies doch
ebenso schnell vollbringen können.
Es ist schliesslich gegen unsre Deduetion noch ein Einwand zu beseitigen,
ee
den man aus einigen Versuchen von Biedermann‘) herleiten kann. Derselbe giebt
an, dass man die Unerregbarkeit des künstlichen Querschnitts dureh Behandlung des
Muskels mit '»—1" Na» CO; lösung beseitigen oder ihn wenigstens dadurch erreg-
barer machen könne. Dies geschehe nicht blos, wenn man die Sehnenenden dureh
Kalisalze nur geschädigt, sondern auch, wenn man sie wärmestarr gemacht habe.
Wenn das letztere unbedingt richtig wäre, so würde dies freilich einen erheblichen
Einwand gegen unsere Anschauung ausmachen, man müsste dann annehmen, dass
dureh die Einwirkung des Na» CO; die Molekulreihen wieder zum Schluss gebracht
würden. Dagegen ist es sehr wohl mit unsrer Anschauung vereinbar, dass, wenn
die Erregbarkeit der Sehnenenden durch chemische Agentien gelitten hat, sie dann
durch Behandlung mit Na» CO; wieder hergestellt werden, denn es handelt sich dabei
nur um eine Veränderung der Endmoleküle, nicht um eine völlige Zerstörung derselben.
Ich habe daher mit Herrn Leieher mehrere Versuche am curarisirten Sartorius
angestellt, an welchem das untere Sehnenende in einiger Ausdehnung abgetödtet war,
sodass ein absteigender Strom von 2—4 Daniell keine Schliessungszuckung mehr
gab. Wir haben nicht beobachten können, dass nach der Behandlung mit der ver-
dünnten Lösung von Na; CO; die Zuckungen wieder erschienen wären. Sollten in
einigen solehen Fällen sich wieder Zuekungen einstellen, so würde immer noch der
Verdacht vorliegen, dass durch anhängende Reste von Flüssigkeit die Stromfäden
einen unregelmässigen Verlauf erhalten hätten.
$ 5. Das Verhalten der natürlichen Enden der Muskelfasern gegen den Strom.
Der unversehrte Muskel reagirt am lebhaftesten auf die Zuleitung von Strömen,
wenn dieselben parallel zu seiner Axe zugeführt werden. In diesem Falle bilden
die natürlichen Faserenden vornehmlich die anodischen und katholischen Stellen des-
selben. Der natürliche Querschnitt verhält sich daher bei der elektrischen Reizung
ganz ebenso wie der Längsschnitt und ganz verschieden gegen den künstlichen Quer-
schnitt. Wir können uns als Grund für dieses Verhalten nun nicht mehr mit der
Bemerkung begnügen, dass an diesen Stellen die Ströme in die lebende Substanz
ein- und austreten, denn dies ist auch am künstlichen Querschnitt der Fall, sondern
müssen eine andere Auslegung für diese Erscheinung heranziehen.
Der Unterschied zwischen dem künstlichen und dem natürlichen Querschnitt besteht
nach unserer Molekulartheorie. in Folgendem. Am künstlichen Querschnitt ist die
*) Beiträge zur allgem. Nerven- und Muskelphysiologie. IV. Mittli. 1879. Sitz.-Ber. d. Wien. Akad.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 30
.
— 10 —
Molekilreihe zerrissen, und die im fortschreitenden Absterben befindlichen Moleküle
wenden ihre, mit freien Affinitäten begabten Enden dem künstlichen Querschnitt zu.
Am natürlichen Querschnitt dagegen sind die letzten Moleküle einer Reihe offenbar
in der Weise gebunden, dass keine freien Affinitäten vorhanden sind, und unter nor-
malen Ernährungsverhältnissen befinden sie sich hier nicht im Absterben. Wir können
uns daher vorstellen, dass am Ende der Faser die Moleküle in ganz derselben Weise
an einander gekettet sind wie am Längsschnitt. Die Muskelfaser ist ja ihrer Ent-
stehung nach überhaupt als eine in Länge gewachsene Zelle zu betrachten. Es liegt
daher gar kein Grund zu der Annahme vor, dass die Endmoleküle sich in einer andern
Verknüpfung mit einander befinden sollten, als die Moleküle in anderen Abschnitten
der Faser. Denken wir in einer ursprünglichen rundlichen Muskelzelle das contraktile
Protoplasma aus netzförmig mit einander verbundenen Molekulreihen bestehend, die
in der unregelmässigsten Weise gelagert sein mögen, so werden bei dem Längen-
wachsthum der Zellen sich diese Molekulreihen zwar in der Riehtung der Längsaxe
parallel anordnen, aber auch an den Faserenden werden sie in derselben Weise ge-
schlossen bleiben, wie sie es in ihrem ganzen Verlaufe sind. Wir sind daher, wie
mir scheint, berechtigt, uns vorzustellen, dass an den Sehnenenden der Faser je zwei
Molekulreihen continuirlich mit einander verbunden sind, wie es etwa die Fig.4 bei a
bildlich darstellt. Es soll damit natürlich über die wirkliche Form dieser Enden
nichts ausgesagt sein, wir setzen
Figur 4.
nur voraus, dass auch hier die
ae = IR, FE Molekulreihe nicht plötzlich eine
== en Unterbrechung erfährt, sondern ein
| N
Continuum bildet, indem sie sich
in eine benachbarte Molekulreihe
fortsetzt.
Es ist nun einleuchtend, dass diejenigen Stromfäden, welche von der
Sehne aus eintreten und in der Molekulreihe verbleiben, anodische und wenn sie
am andern Sehnenende austreten. kathodische Polarisation daselbst erzeugen. Es
muss also in diesem Falle der Strom erregend auf die natürlichen Enden ein-
wirken. Die Zahl der Stromfäden, welche durch die Molekulreihen geleitet werden,
wird cet. par. annähernd ebenso zahlreich sein, wie bei Anlegung der Electroden an
den lebenden Längsschnitt, da die stattfindende Polarisation dem Wiederaustritt gleich-
sam einen Widerstand bietet. Einige Stromfäden, z. B. die, welche die Endmolekule
senkrecht treffen, wie in Figur 4, würden allerdings nicht in ganzer Stärke in der
151 —
Reihe verbleiben, sondern sich je nach den Verhältnissen des Widerstandes auf Flüssig-
keit und Moleküle vertheilen. Es wird aber ein um so grösserer Antheil des Stromes
in den Molekülreihen verbleiben, je grösser der durch die Polarisation bedingte
Uebergangswiderstand ist.
In noch stärkerem Grade würde eine solche Vertheilung der Stromfäden in
einem Hermann’schen Kernleitermodell von entsprechender Gestalt stattfinden, da in
diesem das bessere Leitungsvermögen des Kernes noch hinzutritt. Aber auch ohne
letzteres würde das Verhalten eines ähnlichen Modells, wie Hermann gezeigt hat,
im Princip dasselbe bleiben.
Nach unsrer Vorstellung hat also die der Sehne zugewendete Endfläche der
Muskelfaser ganz dieselbe Beschaffenheit wie der Längsschnitt und reagirt daher gegen
den Strom-ebenso wie dieser.
Man könnte dieser Vorstellung die Ansicht entgegenhalten, dass am Sehnen-
ende der Faser ein directer oder allmähliger Uebergang deu Muskelsubstanz in die
Sehnensubstanz stattfände. Wenn dies der Fall wäre, müssten wir die Molekulreihen
hier frei endigen oder sie allmählig in anders beschaffene Moleküle übergehen lassen.
Die histologischen Beobachtungen sprechen aber entschieden gegen eine solche Art
der Endigung. Man kann vielmehr an allen Sehnenenden ein scharfes Absetzen der
Muskelfaser gegen das Sehnengewebe nachweisen.*)
$ 6. Der Widerstand und die Polarisation der Faser in der Längs- und Querrichtung.
Wir haben schliesslich noch einen Punkt zu besprechen, nämlich den Einfluss,
welchen Widerstand und Polarisation des Muskels in der Querrichtung auf das Er-
gebniss der Reizung ausüben. Man hat den Unterschied in der Erregbarkeit des
Muskels in beiderlei Richtungen aus dem grösseren Widerstande desselben in der
Querrichtung abzuleiten gesucht, und Tschirjew glaubte sogar berechnen zu können,
dass der Muskel in der Querriehtung erregbarer sei als in der Längsrichtung. Es
ist nun schon von Hermann nachgewiesen worden, dass diese Berechnung eine un-
zuverlässige ist. Es ist ferner von ihm durch das Experiment gezeigt, dass, wenn
zwei Muskeln in einem Stromkreise in Längs- und Querriehtung durchflossen werden,
der längsdurchströmte stärker reagirt, vorausgesetzt, dass die Ströme in den lebenden
*) Siehe: Frey, Handbuch der Histologie 1876. S. 316. — Weissmann, Henle u. Pfeuffer
3. R. Bd. 12. S. 126. — Du Bois-Reymond, Berichte der Berl. Akad. 1872. S. 791.
20*
— >
Längsschnitt desselben eintreten. Doch ist die Bedingung gleicher Dichtigkeiten in
diesem Versuche schwer herzustellen.
In den Trogversuchen hat nun allerdings sowohl Widerstand als auch Polari-
sation grossen Einfluss auf die Intensität der durch die Muskeln gehenden Stromfäden,
denn je grösser diese Factoren sind, um so mehr wird der Strom in denselben ge-
schwächt werden. Es hängt aber der grössere Widerstand in der Querriehtung haupt-
sächlich von der stärkeren Polarisation ab, zum kleinsten Theil von einem grösseren
specifisehen Widerstande, und dieser Umstaud ist von der grössten Bedeutung für die
Beurtheilung des Vorgangs.
Wenn wir nämlich in den Trogversuchen den quergerichteten Strom schliessen,
so wird dieser zwar durch die Polarisation erheblich geschwächt, und man könnte
daraus folgern wollen, dass die Schliessungszuckung deshalb ausfällt oder stark ver-
ringert wird. Hingegen dürfte die Polarisation bei der Oeffnung keinen Einfluss aus-
üben, denn nun tritt zu dem verschwindenden Strome der Polarisationsstrom in entgegen-
gesetzter Richtung hinzu, der sich durch Muskel und Flüssigkeit abgleicht. Die
Oeffnung müsste also kräftig erregend wirken, zumal da die Umkehr eines Stromes
bekanntlich noch stärker reizt als die blosse Oeffnung. Dies ist aber, wie wir sehen,
keineswegs der Fall. Der Muskel verhält sich in der Querrichtung bei der Oeffnung
gerade so wie bei der Schliessung.
Vollends kann der Polarisationswiderstand bei Anwendung von Inductions-
strömen gar keinen Einfluss auf die erregenden Stromstärken haben. Denn einem
jeden Inductionsstosse folgt unmittelbar der entsprechende Polarisationsstrom, der
gerade so stark ist wie das Deficit, welches jener erlitten hat. Die Höhe der Strom-
schwankung in der Faser ist also gerade so gross, als sie sein würde, wenn keine
Polarisation stattfände, und ebenso verhält es sich auch mit der hindurchfliessenden
Elektrizitätsmenge. Wendet man Wechselströme an, so addiren sich die Polarisationen
eines Schlages zu jedem nachfolgenden Schlag. Nichtsdestoweniger giebt diese Art
der Reizung dieselben Resultate, welche man bei Schliessung constanter Ströme
wahrnimmt.
Nach unserer Molekulartheorie erscheint nun auch das Verhalten des Muskels
bei der Querdurchströmung in einem ganz anderen Lichte, als wenn man nur die
Stärke der durehfliessenden Stromfäden an sich berücksichtigt. Nach unserer An-
nahme ist ja die Polarisation der Moleküle gerade die Ursache der Erregung, und
kann daher keineswegs eine Herabsetzung der Erregung zur Folge haben, selbst
wenn dadurch der erregende Strom stark geschwächt wird. ‘Die Erregung müsste im
153
Gegentheil um so stärker sein, je grösser die Polarisation ist. Dass aber trotz der
starken Querpolarisation keine Erregung der Faser zu Stande kommt, lässt sich nach
unseren obigen Auseinandersetzungen nur aus der Annahme einer Molekularstruktur
begreifen.
I.
$ 1. Die Oeffnungszuckung in ihrem Verhältniss zur Depolarisation. — Chemische
Theorieen der elektrischen Reizung. — Versuche über die Natur der inneren Jonen.
Wir haben in dem ersten Abschnitt die Anschauung begründet, dass die
Schliessungszuckung auf das Abscheiden der negativen Jonen an der Kathode des
Stromes zurückzuführen sei, ebenso die Oeffnungszuckung auf das Verschwinden der
positiven Jonen an der Anode desselben.) Indessen haben wir damit keineswegs
schon eine genügende Erklärung für die erregende Eigenschaft des Stromes gewonnen,
sondern nur einen Ausgangspunkt erreicht, von welchem aus wir weiter schreiten
können.
Bevor wir dies thun, müssen wir einer Ansicht gedenken, welche in letzter Zeit
über die Ursache der Oeffnungszuckung fast gleichzeitig von Grützner") und Tiger-
stedt*'*) ausgesprochen worden ist. Nach derselben wird die Oeffnungszuckung durch
das Auftreten des innern Polarisationsstromes erzeugt, indem sich die Anode des
polarisirenden Stromes gleichsam in die Kathde des Polarisationsstromes verwandelt.
Die Oeffnunngszuckung ist hiernach nichts anderes als die Schliessungszuckung des
innern Polarisationsstromes.
Diese Anschauung hat in der 'T'hat eine gewisse Berechtigung, doch ist sie,
wie wir gleich zeigen werden, nicht geeignet, uns zu weiteren Folgerungen zu führen.
Nach den Betrachtungen Pflüger’s (Ritter) ertheilt sich der Nerv (Muskel) beim
Oeffnen der Kette gleichsam selbst den Schlag, der ihn erregt, indem er aus
*) Iclhı bleibe im Folgenden bei der Bezeichnung: „positive (+) und negative (—) Jonen“,
um Verwechslungen zu vermeiden. An der Anode des Stromes lagern sich in der Faser elektropositive
Jonen (analog den H und Basen) ab, an der Kathode dagegen elektronegative Jonen (wie OÖ und Säuren).
Erstere würden Kationen, letztere Anionen heissen.
**) Breslauer ärztliche Zeitschrift 1882. Nr. 23.
***) Mittheilungen aus dem physiologischen Laboratorium ete. in Stockholm, 2. Heft, 2. Abhdlg. 1882.
154
dem veränderten in den gewöhnlichen Zustand zurückkehrt. Mit diesem Vorgange ist
ohne Zweifel die im Nerven stattfindende Depolarisation auf das engste verknüpft.
Dafür sprechen auch entschieden die Versuche von Tigerstedt, nach welchen die
Oeffnungszuckung mit der Dauer und Wiederholung der Polarisation des Nerven wächst.
Meines Erachtens wird es aber zu keiner weiteren Aufklärung führen, wenn
wir sagen: „Die Oeffnungszuckung entsteht durch die Schliessung des innern Polari-
sationsstromes.“ Nur dadurch scheint dieser Satz einen Gewinn zu bringen, dass er
die Ursachen zweier gleichartiger Erscheinungen auf eine zurückführt, nämlich auf
die Erregung, welche beim Schliessen an der Kathode stattfindet. Indessen das letztere
ist es ja, was wir eigentlich zu erklären haben.
Ich stimme daher mit Hermann’) überein, dass es rationeller ist, die Ursache
der Oeffnungserregung auf das Verschwinden der anodischen Polarisation zu beziehen.
Dieser Vorgang ist ja freilich mit der Depolarisation gleichbedeutend, aber der innere
Polarisationsstrom braucht nicht erst die erregende Ursache zu sein, sondern er tritt
in Begleitung des Erregungsprocesses auf, der an der Anode stattfindet. Auf die
innige Beziehung beider Vorgänge müssen wir indess weiter unten vom Standpunkte
unsrer Molekulartheorie nochmals zurückkommen.
Wir wollen jetzt zunächst überlegen, in wie weit es möglich ist, die elek-
trische Erregung durch eine chemische Reizung von Seiten der Jonen zu erklären.
Eine solche Erklärung müsste von der Annahme ausgehen, dass die negativen
Jonen als chemische Reize auf die Faser einwirken, die positiven Jonen dagegen
nicht, da die Erregung beim Schliessen nur an der Kathode eintritt. Dagegen erhebt
sich aber sofort der Einwand, weshalb die Erregung während der Schliessung für
gewöhnlich nicht andauert, wenn beständig negative Jonen an der Kathode sich ab-
scheiden. Nehmen wir an, dass die erregenden negativen Jonen Säuren wären, während
sich Alkali an der Anode ablagere, so müsste in allen Fällen die Säure einen Dauer-
tetanus verursachen‘, statt einer Schliessungszuckung, wenn sie sich während der
Stromesdauer anhäufte, Dies ist aber in Nerven selbst bei stärkeren Strömen (ab-
steigend III. Stromstärke des Pflüger’schen Zuckungsgesetzes) meistens nicht der
Fall. Wohl aber tritt zuweilen ein Schliessungstetanus auf, der von dem Zustande
des Nerven abzuhängen scheint. Im Muskel hingegen ist bei stärkeren Strömen ein
Dauertetanus unverkennbar an der Kathode vorhanden, der mit der Stärke des Stromes
beständig zunimmt.
*) Pflüger’s Archiv f. Physiol. XXXI. 8. 99. 1883.
155
Es würde also die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, die Erregung an der
Kathode beim Schliessen und während der Stromesdauer auf eine Reizung durch die
sich entwickelnden negativen Jonen, namentlich Säuren, zu beziehen, wenn wir im
Stande wären, daraus abzuleiten, dass die Reizung im Momente der Schliessung am
stärksten ist, und während der Stromesdauer an Stärke erheblich absinkt, so dass
sie oft ganz unmerklich wird.
Man könnte nun daran denken, dass die polarisirbaren Molekülreihen*) sich
in einer Ernährungsflüssigkeit befinden. durch welche die negativen Jonen mit einer
gewissen Schnelligkeit wieder fortgenommen werden. Bestehen z. B. die nega-
tiven Jonen aus Säuren, und ist, wie wir voraussetzen können, in der Ernährungs-
tlüssigkeit freies Alkali vorhanden, so wird mit der Stromesdauer eine beständige
Sättigung der Säuren durch das Alkali einhergehen, und nur im ersten Momente der
Schliessung würde die Säure kräftig wirken können, weil bis zu ihrer Sättigung eine
gewisse Zeit vergeht. Es würden sich vielleicht mancherlei Erscheinungen auf diese
Weise ableiten lassen. Man könnte sagen, dass schwache Ströme keinen Dauertetanus
erzeugen, so lange die Sättigungsgeschwindigkeit mit der Geschwindigkeit der Säure-
abscheidung gleichen Schritt hält, dass dagegen stärkere Ströme wenigstens den
Muskel an der Kathode immer sichtbar erregen, weil die letztere Geschwindigkeit
überhand nimmt. Noch ein andrer Umstand muss hierbei in Betracht gezogen werden.
Das Polarisationsmaximum der polarisirbaren Eleraente im Muskel und Nerven scheint
nach den Versuchen von Hermann“) ein sehr beträchtliches zu sein. Es ist daher
anzunehmen, dass bei Anwendung schwacher und mittelstarker Ströme die Polarisation
den Strom in den polarisirbaren Leitern (Molekülreihen, Kernen) nahezu aufhebt.
Es findet also während der Stromesdauer keine beständige Säureentwickelung statt,
und daher auch keine beständige Erregung. Stellen wir uns nun vor, dass die Säure
durch freies Alkali neutralisirt wird, so könnte der Strom durch das Anwachsen der
anodischen Polarisation allein in den polarisirbaren Leitern so erheblich herabgesetzt
werden, dass an der Kathode keine merkliche Säureentwiekelung mehr vorhanden
sein würde.) Sehr starke Ströme dagegen erregen in der T’hat dauernd.
Ich bin auf diese Betrachtungen näher eingegangen, weil. wie mir schien, in
*) Man kann dieselbe Betrachtung ja auch auf die Hermann’schen Kerne anwenden, doch
bleibe ich der Consequenz halber bei unsrer Vorstellung.
*=*), Pflüger’s Archiv, 1871. Bd. V. S. 257.
***) Aehnlich wie in einem Zink-Kupferbogen in SO, Ha».
156
ihnen einiges Richtige und Zutreffende enthalten ist und weil vielleicht Manche
einer rein chemischen Theorie der elektrischen Reizung geneigt sein möchten. Aber
diese T'heorie lässt uns gänzlich im Stich, sobald es sich um die Erklärung der Oeffnungs-
zuckung handelt. Denn wie ist es denkbar, dass das Verschwinden der positiven
Jonen an der Anode als chemischer Reiz einwirke?
Die positiven Jonen an der Anode verschwinden dadurch, dass sie sich in
Folge der Depolarisation mit negativen Jonen des indifferenten Leiters oder Elektro-
lyten (Ernährungsflüssigkeit) verbinden. Die letzteren können daher in diesem Falle
nicht als Erreger verwerthet werden, da sie überhaupt nicht als solche an die erreg-
bare Substanz der Fasern herantreten, sondern ausschliesslich zur Sättigung der
positiven Jonen dienen. Es würde weit hergeholt sein, wollte man etwa das aus den
Jonen sich bildende Produet als chemischen Reiz ansehen, da dieses Produet ja als
solches schon in dem indifferenten Leiter vorhanden war, ohne dass es als Reiz
diente. Ferner müsste sich dasselbe Produet auch an der Kathode‘ beim Oeffnen
erzeugen, an der trotzdem keine Erregung erscheint, man müsste denn wiederum
voraussetzen, dass die an der Kathode abgeschiedene Säure durch vorhandenes Al-
kali neutralisirt worden war. In diesem Falle würde sich beim Oeffnen nur im Be-
reich der Anode von der erregbaren Substanz eine Schicht von Salzlösung anlagern,
welche man als chemischen Reiz betrachten könnte. Aber es dürfte schwer halten,
zu beweisen, dass die Concentration dieser Schicht daselbst eine grössere wäre, als
sie vor der Elektrolyse gewesen ist.
Man sieht ein, dass eine Theorie, welche die inneren Jonen oder ihre Produete
als chemische Reize für die Faser betrachtet, der Deutung der Thatsachen grosse
Schwierigkeiten bereitet. Setzen wir besten Falls die Säure-Alkali-Theorie als gegeben
voraus, welche sich unter gewissen Annahmen noch am besten unsern Forderungen
fügt, so steht sie doch in einem schwer lösbaren Widerspruch mit den Erregbarkeits-
änderungen, welche während der Stromesdauer vorhanden sind. Die Säurebildung im
Bereiche der Kathode kann weder die Erregbarkeit daselbst erhöhen, noch kann die
Ansammlung von Alkali an der Anode die Erregbarkeit vermindern, sondern es
müsste sich nach allem, was wir über die Wirkung verdünnter Säure und Alkali-
lösung auf die erregbaren Organe wissen, gerade umgekehrt verhalten.
Von der Idee ausgehend, dass es vielleieht gelingen möchte, über die Natur
der inneren Jonen dureh das Experiment einiges zu erfahren, habe ich folgenden
Versuch angestellt. Es wurde durch einen frischen, ausgespannten Sartorius längere
Zeit ein starker Strom hindurehgeleitet. Die beiden unpolarisirbaren Elektroden lagen
— — 167
dem mittleren Abschnitt des Muskels in einiger Entfernung von einander mit grösserer
Fläche an, damit die anodischen und kathodischen Stellen eine möglichst grosse Aus-
dehnung annehmen. Als Kette wurde in einigen Versuchen eine solche von 20 kleinen
Zinksilberelementen (Pincus’sche Kette, Kraft etwa — 10 Daniell) benutzt, in andern
eine Kette von 12 kleinen Grove. Ich dachte nun, dass, wenn man den Strom
stundenlang bis zum Verschwinden der Erregbarkeit durchleiten würde, die innern
Jonen im Bereich der Elektroden festgehalten werden müssten. und dass, wenn sie
aus Säure und Alkali beständen, sich diese durch die Reaktion müssten nachweisen
lassen. Nach etwa vierstündiger Einwirkung der schwächeren Kette habe ich einen
Unterschied der Reaktion gegen Lakmuspapier an dem der Anode und Kathode auf-
liegenden Muskelstückchen nicht konstatiren können. Die abgeschnittenen Stücke
wurden mit einem Porzellanstempel zuerst auf violettem Papier zerquetscht, auf welchem
sie einen bläulichen Fleck hervorbrachten. Hinterher auf blauem Papier zerdrückt,
gaben sie röthliche Flecke. Die stärkere Kette hingegen verursachte einen deutlichen
Unterschied der Reaktion an beiden Elektroden, aber gerade im entgegengesetzten
Sinne als vorausgesetzt. Das Anodenstück gab eine deutlich saure, das Kathoden-
stück eine deutlich alkalische Reaktion. Zugleich fiel in diesen Versuchen auf, dass
das Kathodenstück trocken und geschrumpft aussah, das Anodenstück dagegen feucht und
gequollen. Dies war um so auftallender, weil nach den Versuchen von du Bois-Rey-
mond*) an geronnenen Eiweissstücken der Strom eine Abschnürung und Vertrocknung an
der Anode hervorruft und dadurch einen äussern sekundären Widerstand erzeugt. Der
Strom sank während des Versuches in Folge dieses Widerstandes sehr erheblich herab.
An einem kleinen eingeschalteten T’hermomultiplicator mit wenig Windungen las ich
in einem Beispiel bei Beginn des Versuches eine Ablenkung der Nadel von 36°,
nach einer halben Stunde von 18° und nach 1 h. 15‘ auf 7’ ab. Die Fortführung
von Flüssigkeit geschieht also unter den genannten Bedingungen im Muskel in der
dem Strom entgegengesetzten Richtung. Die Abscheidung der Säure an der Anode
und des Alkali an der Kathode ist in diesem Falle wohl am einfachsten als eine
äussere Polarisation an den Elektroden aufzufassen. Für so starke Ströme verhalten
sich dieselben eben nicht mehr unpolarisirbar. Die Flüssigkeitsschicht, welche an
dem Anodenstück des Muskels haftete, zeigte auch bereits eine deutlich saure Reaktion.
Aus den angeführten Versuchen lässt sich daher schliessen, dass bei der innern
Polarisation eine durch Lakmus nachweisbare Entwickelung von Säure an der Kathode
*) Gesammelte Abhandl. I. S. 104 u. fl.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle, Bd. XVII. 1
oder von Alkali an der Anode nicht stattfindet. Eher könnte das umgekehrte der
Fall sein, doch erklären sich die beobachteten Unterschiede sehr wohl durch
äussere Polarisation. Mit dieser Annahme stimmt auch überein, dass der wärmestarre
Muskel ganz dieselbe Reaktion an der Anode und Kathode zeigte.
$ 2. Annahme einer Abscheidung von aktivem Sauerstoff an der Kathode und von
oxydablen Atomgruppen an der Anode.
Nachdem wir die chemische Reiztheorie der elektrischen Erregung als un-
genügend befunden haben, dürfen wir uns nach andern Annahmen umsehen, vermöge
deren wir zu befriedigenden Erklärungen gelangen. Und doch waren die Ueber-
legungen, welche wir bei der Erörterung jener Theorie gemacht haben, nicht ohne
Gewinn, denn es scheint, dass in derselben gewissermaassen ein richtiger Kern ent-
halten ist. Ich gehe nun bei den weiteren Ueberlegungen von folgenden Voraus-
setzungen aus.
1. Das negative Jon an der Kathode ist die Ursache der Erregung beim
Schliessen.
2. Dasselbe wird durch einen chemischen Process daselbst beständig verzehrt.
entsprechend der Menge, in welcher es sich entwickelt.
3. Das positive Jon an der Anode ruft keine Erregung hervor. Es wird da-
selbst nicht verzehrt, sondern angesammelt.
4. Durch die innere Polarisation, insbesondere an der Anode, wird der Strom
in dem erregbaren polarisirbaren Leiter bis auf einen entsprechenden Rest aufgehoben,
so lange das Polarisationsmaximum nicht erreicht ist.
Es ist klar, dass unter den gemachten Annahmen die Erregung an der Kathode
vornehmlich im Momente der Schliessung eintreten wird, so lange der Strom unterhalb
einer gewissen Stärke bleibt. Die durch den Strom daselbst entwiekelte Menge von
negativen Jonen führt eine Erregung herbei, während sie zugleich verzehrt wird.
Die sofort entstehende innere Polarisation an der Anode sistirt eine weitere Entwiekelung
von negativen Jonen an der Kathode, oder setzt dieselbe wenigstens in dem Grade
herab, dass eine beständige Erregung während der Stromesdauer nicht eintritt oder
wenigstens äusserlich nicht merkbar ist. Es ist aber keineswegs anzunehmen, dass
der Strom in dem polarisirbaren Leiter vollständig compensirt wird, vielmehr wird,
wie die Erfahrung bei der Polarisation von Metallen in Flüssigkeiten lehrt, ein Strom-
LE —
rest zurückbleiben, der um so grösser ist, je stärker der polarisirende Strom ist.
Bleibt dieser aber unterhalb einer gewissen Grenze, so ist die in der Zeiteinheit ent-
wickelte Menge von negativen Jonen nicht gross genug, um einen wahrnehmbaren
Erregungszustand während der Stromesdauer herbeizuführen. Wohl aber können
hierdurch anderweitige Veränderungen verursacht werden, die uns als elektrotonische
bekannt sind, auf deren Erläuterung wir weiter unten näher eingehen wollen. Ist
aber schliesslich der polarisirende Strom so stark, dass sich die innere Polarisation
dem Maximum ihrer Kraft nähert oder dasselbe erreicht, so wird eine beständige Ab-
scheidung von negativen Jonen in derjenigen Menge stattfinden können, dass sie eine
Dauererregung zur Folge hat. Dies ist beim Muskel in der That bei allen stärkeren
Strömen der Fall, beim Nerven dagegen nicht immer oder erst bei sehr starken
Strömen, und dies würde damit im Zusammenhang stehen, dass nach den Versuchen
von Hermann das Polarisationsmaximum des Nerven ein sehr viel höheres ist als
das des Muskels.
Nach unsern Vorstellungen über die Constitution der lebenden Faser, welche
wir in dem ersten Abschnitt gewonnen haben, erhält unsre Annahme von der Ein-
wirkung des negativen Jon eine tiefere Begründung, indem wir uns denken, dass die
Jonen sich direkt an den polarisirbaren Molekülreihen abscheiden, mithin auf jedes
erregbare Molekül der Faser, an welchem kathodische Polarisation stattfindet, unmittel-
bar und mit grosser Schnelligkeit einwirken können. Es drängt sich nun aber auch
die Frage auf, welcher Natur das negative Jon ist, in welchem die Ursache der Er-
regung liegt, und auf welche Weise er die Erregung hervorruft. Wir haben in dem
vorigen Paragraphen die Möglichkeit behandelt, dass eine Entwickelung von Säure
und Alkali in der Faser vor sich gehen könnte, und in der That liessen sich einige
Erscheinungen aus dieser Annahme allenfalls erklären. Indessen aus den oben an-
geführten Gründen mussten wir dieselbe wieder fallen lassen. Eine andere Möglich-
keit aber, die sich hier darbietet, besteht darin, dass an der Kathode*) eine innere
Abscheidung von elektrolytischem also aktivem O stattfindet, oder eines solchen negativen
Jons, welches vermöge seines O-Gehaltes oxydirende Eigenschaften besitzt. Eine
solehe Annahme scheint mir in der That grosse Vortheile zu bieten. Der sich 'ab-
scheidende OÖ würde sofort oxydable Atomgruppen der Moleküle angreifen und somit
*) Man hat immer zu beachten, dass dem Bereich der Kathode des polarisirenden Stromes die
innere Anode in der Faser entspricht, wenn wir die lebende Substanz resp. die Molekulreihen als die
polarisirbaren Leiter betrachten.
21z
160
selbst verzehrt werden, und durch diesen Process eine Spaltung im Molekül einleiten,
welche mit dem Erregungsvorgange identisch ist.
Der chemische Vorgang der Erregung, wie überhaupt des thermopositiven Stoft-
wechsels im Protoplasma, besteht nach unsern jetzigen Vorstellungen, welche wir
namentlich aus den Darlegungen von Pflüger gewonnen haben, darin, dass der intra-
molekulare O, welcher dureh die innere Athmung der Gewebe fortdauernd assimilirt
wird, die Spaltung des eomplieirten Moleküls herbeiführt und die oxydablen Atom-
gruppen desselben verbrennt. Das Molekül besitzt aber die Eigenschaft, sieh schnell
wieder zu restituiren, indem es aus der umgebenden Ernährungsflüssigkeit sowohl O
als oxydable Atomgruppen assimilirt. Man dürfte vielleicht dieser Anschauung noch
die Annahme hinzufügen, dass der bei der Erregung in Aktion tretende O ein aktiver
ist, ein im statu naseenti befindlicher, während er vor der Assimilirung in der
Ernährungsflüssigkeit sich in gewöhnlichem Zustande befindet und daher keine dem
Stoffwechsel ähnliche Oxydationsprocesse hervorrufen kann.
Wenn wir uns also denken, dass sich an der Kathode aktiver OÖ an dem
erregbaren Molekül ablagert, so würde daraus folgen, dass dieser durch seine oxy-
dirende Wirkung den labilen Gleichgewichtszustand desselben stört, d. h. eine Spaltung
des Moleküls einleitet, bei welcher auch der intramolekulare O in Aktion tritt, mithin
eine Erregung daselbst herbeiführt. Die letztere wird um so stärker sein, je schneller
sich der OÖ durch den Strom entwickelt.
Man könnte die hiernach durch den O veranlasste Erregung auch in gewissem
Sinne als eine einfache chemische Reizung auffassen, ähnlich wie die, welche durch
Abscheidung von Säure hervorgerufen werden würde. Indessen es unterscheidet sich
nach unsrer Darstellung die O-Reizung von der Säure-Reizung wesentlich dadurch,
dass der abgeschiedene O selbst als oxydirender Körper in den Erregungsprocess
mit eingeht, und auf diese Weise mit dem freigemachten intramolekularen O zugleich
verzehrt wird. Von der Säure dagegen mussten wir annehmen, dass sie durch vor-
handenes Alkali der Ernährungsflüssigkeit neutralisirt werde, damit nach der Schliessung
des Stromes die Erregung aufhöre.
Der Zustand des Katelektrotonus, d. h. der erhöhten Erregbarkeit im Bereich der
Kathode würde nun einer sehr einfachen Erklärung zugänglich sein. Es findet während
der Stromesdauer eine zwar langsame aber beständige O-Entwickelung in der ka-
thodischen Strecke der Faser statt, und ebenso eine beständige Verzehrung desselben
dureh die oxydablen Atomgruppen des erregbaren Moleküls. Bei schwächeren Strömen
ist dieser Vorgang nicht intensiv genug, um auch den intramolekularen O in erheb-
161
licher Menge freizumachen und sich als Erregung weithin fortzupflanzen. Aber er
ist im Prineip gleichbedeutend mit Erregung, da beständig vorhandene Spannkräfte
ausgelöst werden. Das Molekül wird aber hierdurch in einen Zustand labileren
Gleichgewichtes versetzt, da der sich abscheidende O dessen Bestand in hohem Grade
lockert, d.h. die Erregbarkeit desselben steigt; der intramolekulare OÖ kann in diesem
Zustande durch jeden Reiz leichter frei gemacht werden.
Wir befinden uns, wie man sieht, mit dieser Ableitung in vollkommener Ueber-
einstimmung mit der Pflüger’schen Auffassung des Katelektrotonus. Dieselbe nimmt
an, dass in diesem Zustande eine molekulare. Hemmung herabgesetzt wird, welche
der Aulösung von Spannkraft entgegenwirkt. Sie nimmt ferner an, dass an der Ka-
thode auch während der Stromesdauer eine beständige Abgleichung von Spannkraft
stattfindet aber langsamer als im Moment der Schliessung. Diese Wirkungen würden
nach unsrer Deutung durch den sich abscheidenden O in der That hervorgebracht
werden.
Wir haben nunmehr zu überlegen, wie wir nach unsren Theorie den Vorgang
an der Anode aufzufassen haben. Das positive Jon, welches sich daselbst an den
Molekülreihen ablagert, hat naturgemäss entgegengesetzte chemische Eigenschaften als
der an der Kathode auftretende aktive OÖ. Dass demnach beim Schliessen des Stromes
daselbst eine Erregung nicht eintritt, erscheint sehr plausibel. Wir wissen dagegen,
dass hier ein der Erregung entgegengesetzter Zustand eintritt, ein Zustand der herab-
gesetzten Frregbarkeit, der mit Beruhigung verknüpft ist. Im Sinne der Pflüger
schen Theorie sagen wir, die Molekularhemmung wird daselbst verstärkt, die Moleküle
gerathen in einen Zustand stabileren Gleichgewichtes.
Wir werden nach unsrer Theorie daher folgern müssen, dass das positive Jon
in eine molekulare Beziehung zu dem erregbaren Molekül der Faser tritt, und dass
durch seinen Einfluss der Bestand des Moleküls ein festerer wird. Es liegt sehr nahe,
sich zu denken, dass das positive Jon sich als oxydabler Bestandtheil an die Atom-
gruppen des erregbaren Molekül derartig anlagert. dass der intramolekulare O, als
elektronegativer Bestandtheil, darin fester gebunden wird.
Wir denken uns also im Prineip das Verhalten der polarisirbaren Substanz
zwar ähnlich dem von Metallen in einer zersetzbaren Flüssigkeit, aber da wir es in
ihr mit einem sehr complieirten organischen Molekül zu thun haben, welches ausser-
ordentlich leicht veränderlich ist, so ist es wohl gerechtfertigt, anzunehmen, dass nicht
nur das negative Jon, sondern auch das positive Jon zugleich eine chemische oder
wenigstens molekulare Einwirkung auf die erregkare Substanz ausübe, und diese
Einwirkung besteht nach unsrer Vorstellung eben darin, dass das Molekül derselben
den intramolekularen O fester bindet, sodass er weniger leicht auf die oxydablen Atom-
gruppen übertragen werden kann.
Wenn wir demnach den Anelektrotonus als einen Zustand deuten, in welchem
der intramolekulare O schwerer abspaltbar ist und die herabgesetzie Erregbarkeit
darauf zurückführen, so werden wir hieraus noch zu einer andern Consequenz gelangen,
welche uns den Vorgang bei der Oeffnung zu erklären vermag.
Nach der Pflüger'schen Theorie ist der Anelektrotonus ein Zustand, in welchem
entsprechend der verstärkten Molekularhemmung eine Ansamnımlung von Spannkraft
stattfindet. Diese Ansammlung können wir jetzt dahin deuten, dass nieht nur eine
festere Bindung des intramolekularen O eintritt, sondern dass auch eine grössere Menge
desselben von dem Molekül assimilirt werden kann. Der Anelektrotonus ist somit
mit einem Vorgange beständiger Assimilirung verbunden, während im Katelektrotonus
der entgegengesetzte Process Platz greift. Nun ist es klar, dass bei der Oeffnung
des Stromes eine Erregung nur an der Anode auftreten kann. Es findet eine Depo-
larisation statt, bei welchem das positive Jon an der Anode verschwindet. Die festere
Bindung des intramolekularen O hört plötzlich daselbst auf und da das Molekül
während der Stromesdauer einen Ueberschuss desselben angesammelt hat, den es nun
nicht zu binden vermag, so wird dieser Antheil frei und verursacht eine Spaltung des
Moleküls, welche gleichbedeutend mit Erregung ist.
Man erkennt, dass unsre 'T'heorie eine specielle Deutung der Pflüger’schen
enthält. Der Oeffnungstetanus, welcher nach längerem Kettenschluss erscheint, ist
hiernach auf eine stärkere Ansammlung von intramolekularen O zu beziehen, dessen
Freiwerden eine längere Zeit andauert. Ganz schwache Ströme geben noch keine
Oeffnungszuckung, weil die geringe Menge des assimilirten O auch nach der Oeffnung
vom Molekül genügend fest gebunden werden kann. Ebenso sind die Modificationen
der Erregbarkeit nach der Oeffnung leicht zu deuten. An der Kathode ist während
der Stromesdauer eine gewisse Menge von intramolekularen O verzehrt worden. Bei
der Oeffnung des Stromes wird der Rest des noch vorhandenen negativen Jons durch
Depolarisation neutralisirt, ohne dass damit ein Erregungsvorgang verbunden ist. Nach
der Oeffnung bleibt daher ein Mangel an intramolekularen O zurück, und die Erreg-
barkeit des Moleküls sinkt, um sich erst allmählich durch Assimilation wieder zu
heben. An der Anode dagegen finden wir nach der Oeffnung eine evidente Erhöhung
der Erregbarkeit vor, weil das Molekül einen Ueberschuss an O besitzt, welcher
163 —-
durch Reize leichter abspaltbar ist. Erst wenn dieser Ueberschuss eine gewisse
Grösse überschreitet, macht er sich durch den Oeffnungstetanus bemerklich. Unter-
halb dieser Grenze wird er durch den Ruhestoffwechsel langsam verzehrt.
Kommen wir nun noch einmal auf die Querdurchströmung der Faser zurück,
so werden wir jetzt diesen Vorgang in speciellerem Sinne zu deuten haben, indem
wir den Angriffspunkt der Jonen an die Molekülreihen verlegen. Der elektronegative
O wird in diesem Falle keine Wirkung ausüben können, weil er durch das positive
Jon daran verhindert wird. Dies geschieht nieht etwa durch eine chemische Bindung,
denn sonst würde auch die Polarisation aufgehoben werden, die im Gegentheil in der
Querrichtung‘) eine stärkere als in der Längsrichtung ist, sondern dadurch, dass das
positive Jon das erregbare Molekül in demselben Maasse festigt als das negative Jon
es zu lockern strebt. Das abgeschiedene negative Jon wird daher auch die oxydablen
Atomgruppen des Moleküls nicht angreifen können und dasselbe bleibt im Ruhestande
bestehen.
Ueber die Natur des positiven Jons können wir eine bestimmte Hypothese
nicht aussprechen. Wir haben auch dem negativen Jon nur die naheliegende Eigen-
schaft zugeschrieben, dass es oxydirende Eigenschaften besitzt, und hypothetisch an-
genommen, dass wir es mit freiem OÖ zu thun haben. Da in diesem Falle der polarisir-
bare Leiter eine organische Substanz ist, so scheint es mir sogar wahrscheinlich, dass
die Elektrolyten, um die es sich hier handelt, auch organische Substanzen sind. Es
liegt daher die Möglichkeit nahe, dass das positive Jon auch in eine chemische Be-
ziehung zu dem erregbaren Molekül tritt. Bei der Polarisation der Metalle in Flüssig-
keiten ist schon die Bindung der Jonen eine derartige, dass man sie nicht als eine
blosse Adhäsion betrachten kann, sondern eine solche, welche der chemischen Bindung
mindestens sehr verwandt ist. Dafür spricht wenigstens der Umstand, dass die Jonen
so hartnäckig festgehalten werden, und dass die elektrolytische Polarisation eine höhere
elektromotorische Kraft zeigt als eine solche, welche nur durch Kontrakt der Jonen
mit den Metallen hervorgerufen wird. In noch höherem Grade scheint mir eine
solche Beziehung zwischen polarisirbarem Leiter und den Jonen in der organischen
Substanz des Muskels und Nerven denkbar. Man könnte sich daher wohl vorstellen,
dass während das negative Jon die oxydablen Atomgruppen des erregbaren Moleküls
angreift und zersetzt, dagegen das positive Jon sich an diese Atomgruppen ankettet
”) Hermann, Arch. f. d. ges. Physiol. V. S. 240.
und sie durch festere Bindung vor Oxydation schützt. Findet nun die Oeffnung des
Stromes statt, so verbrennt nicht allein das angesammelte positive Jon an der Anode,
sondern es werden nun auch die freigelassenen oxydablen Atomgruppen mit in den
Verbrennungsprocess hineingerissen, zu welchem das Molekül seinen eigenen auf-
gespeicherten O hergiebt.
II.
$ 1. Bemerkungen über die Praeexistenz- und Alterationstheorie.
Wir haben es bisher unerörtert gelassen, in welcher Beziehung unsre Theorie
zu den elektromotorischen Eigenschaften der Muskeln und Nerven steht. Man könnte
auch allenfalls diese Frage gänzlich offen lassen. Unsre Theorie würde in jedem
Falle bestehen bleiben, gleichgültig, ob wir eine Praeexistenz der elektrischen Gegen-
sätze annehmen oder nicht. Nur eine Bedingung setzt dieselbe voraus, nämlich eine
Molekularstruktur der Faser, in Folge deren der Zusammenhang der Moleküle in der
Längsrichtung ein anderer ist als in der Querrichtung. Dieselbe Bedingung liegt
auch der du Bois’schen Molekulartheorie zu Grunde, während die Hermann’sche
Alterationstheorie bisher eine solche nicht erfordert, sondern den Faserinhalt als einen
in Bezug auf die Erregungsvorgänge nach allen Richtungen hin homogenen betrachtet.
Indessen kann eine Alterationstheorie auch ebenso gut festgehalten werden, wenn
man eine Molekularstruktur in unserm Sinne annimmt. Denn nichts hindert sich zu
denken, dass die abgestorbenen Moleküle einer Reihe am Querschnitt sich durch Con-
takt negativ gegen die lebenden verhalten.
Ich muss zunächst auseinandersetzen, weshalb ich die Hermann’schen Ver-
suche *) gegen die Praeexistenztheorie nicht für beweiskräftig halte. In der einen Reihe
derselben wird der Sartorius von zwei gleichartigen Längsschnittpunkten abgeleitet und
durch ein Fallrheotom an einer dieser beiden Stellen zerquetscht. Das Rheotom lässt
erkennen, dass der Muskelstrom momentan beginnt und in sehr kurzer Zeit (soo) zu
einem Maximum aufsteigt. Dies ist aber auch nach der Praeexistenztheorie nicht anders zu
erwarten; denn der Stoss tödtet eben die Muskelsubstanz nicht momentan, d.h. ihre Mole-
küle verlieren ihre elektromotorische Wirksamkeit nicht sofort, also kann auch die Kraft
*) Archiv f. d. gesammte Physiologie von Pflüger. XV. 1877. S. 191.
— 16
der lebenden Stelle nicht momentan zum Maximum anwachsen, weil die Kräfte beider
Stellen in der Ruhe sich einander das Gleichgewicht halten. Wäre die getroffene
Stelle momentan todt, so müsste ja gerade nach der Hermann’schen Theorie der
Strom gleich in voller Stärke vorhanden sein, sobald wir als Ursache desselben einen
Contakt zwischen lebender und todter Substanz voraussetzen. Der Hermann’sche
Versuch misst also nicht die Entwiekelungszeit des Muskelstroms, sondern vielmehr die
Zeit seines Verschwindens oder was dasselbe sein würde, die Zeit des Absterbens
nach einem momentanen Insult und ist aus diesem Grunde von nicht geringerem Werthe.
Eine andere Reihe von Versuchen ist am M. gastroenemius angestellt, dessen
Sehnenspiegel durch das Fallrheotom zerrissen wurde. Indessen hielt Hermann selbst
diese Methode nicht für ganz einwurfsfrei. Die Sache complizirt sich in diesem Falle
dadurch, dass ein Neigungsstrom sich entwickelt, der mit fortschreitendem Absterben
der Fasern stärken werden kann, abgesehen davon, dass auch die sofort eintretende
negative Schwankung dieses Neigungsstromes sich hinzugesellt.
Dass die Zeit, welche der Hermann’sche Versuch ergiebt, mit der Dauer der
negativen Schwankung ungefähr übereinstimmt, ist geradezu ein Postulat der Prae-
existenztheorie, denn ist dies diejenige Zeit, in welcher sich die elektrischen Gegen-
sätze der Moleküle abgleichen ohne sich wieder zu ersetzen, während sie bei der
negativen Schwankung sich vermindern um wieder anzusteigen. Nach der Alterations-
theorie hätte man dies dagegen nieht zu erwarten brauchen. Es hatte auch die Möglich-
keit vorgelegen, dass die Absterbezeit resp. die Entwiekelungszeit des Längsquersehnitts-
stromes eine von der negativen Schwankung ganz unabhängige Grösse sei, und wäre
diese Zeit erheblich grösser gewesen als die von Hermann gefundene, dann hätte
darin ein Beweis für die Alterationstheorie gelegen. Die einzige einwurfsfreie Methode,
die Entwickelungszeit des Längsquerschnittsstromes zu bestimmen, besteht demnach
darin, einen reinen senkrechten Querschnitt mit scharfem Instrumente anzulegen
und diesem in kurzen Zeitintervallen abzuleiten. Die grossen Schwierigkeiten der
Ausführung eines solchen Experiments springen in die Augen. Doch vorausgesetzt,
dieselben wären überwunden, so würde man hieraus erfahren, wie schnell nach An-
legung des Querschnitts der abgeleitete Strom zu seinem Maximum ansteigt.
Es liegen nun hier folgende Möglichkeiten vor:
1. Nach der „Alterationstheorie“ ist eine Entwiekelungszeit zu erwarten, welche
mit der Absterbezeit identisch ist, denn die Ursache des Stromes ist nach dieser
Theorie das Absterben der blossgelegten Schicht. Es wäre in dieser Beziehung gleich-
gültig, ob man nach Hermann den Faserinhalt, der hierbei in Betracht kommt, als
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 22
z
I
homogen ansieht, oder ihm nach unsrer Ansicht eine Molekularstruktur zuschreibt.
Im ersteren Falle ist es überhaut schwer, einen ausreichenden Grund für das Absterben
anzugeben, es sei denn die blosse Berührung mit dem sogenannten Fremdkörper oder
der Luft. Im zweiten Falle dagegen ist die Ursache des Absterbens das Zerreissen
der Molekülkette und die damit verbundene chemische Veränderung. Nach der
Hermann’schen Theorie müsste eine Spaltung der Faser oder Fibrille in der Längs-
richtung, wenn dies ausführbar wäre, auch einen negativen Längsschnitt blosslegen.
Nach Annahme einer Molekularstruktur in der wirksamen Substanz wäre dies dagegen
nicht vorauszusetzen.
2. Die „Praeexistenztheorie im strengsten Sinne des Wortes“ würde verlangen,
dass der Strom momentan vorhanden sei, abgesehen von einer etwaigen Entstehungs-
zeit der hydroelektrischen Ströme im nicht metallischen Bogen. Es könnte aber
ausserdem noch in Betracht kommen eine sekundäre Aenderung der elektromotorischen
Kraft und des innern Widerstandes, wodurch sich der Strom schnell verstärken könnte.
Aenderungen des äusseren Widerstandes zwischen Muskel und Elektroden könnte
man allenfalls durch Anwendung eines Elektrometers statt des Galvanometers un-
schädlich machen. .
3. Es ist indessen noch eine dritte Theorie denkbar, nach welcher zwar elektrische
Gegensätze in der Struktur des lebenden Moleküls schon enthalten sein könnten, aber
erst nach der Trennung von dem benachbarten Molekül nach aussen hin wahrnehmbar
werden. Denken wir uns in der Längsrichtung der Faser gelegene Molekülreihen,
und nehmen wir an. dass jedes Molekül elektronegative Atomgruppen dem Querschnitt
zuwende, so werden wir nach unsern obigen Anschauungen auch voraussetzen müssen,
dass diese Atomgruppen es sind, welche durch chemische Bindung die Moleküle an-
einander ketten. So lange die Affinitäten gesättigt sind, kann daher elektrische
Spannung nicht auftreten. Wird aber die Molekülreihe unterbrochen, so treten
chemische Differenzen auf, welche dem Querschnitt negative, dem Längsschnitt positive
Spannung verleihen. Diese Zustandsänderung kann sehr wohl einer gewissen Ent-
wickelungszeit bedürfen. Ich will diese Theorie, die wir ausführlicher darzulegen
haben, die „elektrochemische Molekulartheorie“ nennen.
167
Ss 2. Natur des lebenden Protoplasma. — Eine elektrochemische Molekulartheorie der
lebenden Substanz. — Ladung der Molekule am Querschnitt mit elektronegativem Jon (0)
und an dem Längsschnitt mit elektropositivem Jon (oxydablen Atomgruppen).
Ueber die Natur des lebenden Protoplasmas lassen sich nach unsern bisherigen
Kenntnissen gewisse Anschauungen begründen. Wir müssen vor allen Dingen voraus-
setzen, das in seinen kleinsten Theilchen das Molekül des Eiweisses in einer eigen-
thümlichen Gestalt enthalten ist, die Pflüger‘) das „lebendige Eiweiss“ genannt
genannt hat, welches beim Absterben in das „todte Eiweiss“ übergeht. Worin in
chemischer Beziehung der Unterschied zwischen dem todten und lebenden Eiweiss
bestehe, ist eine für die Physiologie im höchsten Grade wichtige Frage, die aber
für das Folgende zunächst unerörtert bleibt. Wir dürfen dagegen annehmen, dass
das lebende Eiweiss die ganz exorbitante Eigenschaft besitzt, Sauerstoffatome zu
assimiliren, um dieselbe bei dem Processe der Dissimilirung auf oxydable Atomgruppen
zu übertragen. Nach den Untersuchungen und Auseinandersetzungen von Pflüger
haben wir den Process des Stoffwechsels in dem lebenden Protoplasma keineswegs
als einen blossen Spaltungsprocess der aufgenommenen C-Verbindungen zu betrachten,
sondern vielmehr als einen in demselben stattfindenden Oxydationsprocess, bei welehem
der assimilirte O gleichsam in statu nascenti auf oxydable Atomgruppen einwirkt.
Wenn wir daher die kleinsten Theilehen des Protoplasma als chemische Moleküle
auffassen, so können wir uns vorstellen, dass dieselben aus einem Molekül-Kern
bestehen, (Leistungskern, Ehrlich‘), welcher im wesentlichen das lebendige oder
lebensfähige Eiweissmolekül darstellt und sich nur aus Albuminen bilden kann, und
dass dieser Kern mit vielen freien Affinitäten begabt ist, durch welche er einerseits
O-Atome, andererseits oxydable Atomgruppen der verschiedensten C-Verbindungen,
insbesondere der Kohlehydrate, Fette, Albuminoide u. s. w. bindet. Der chemische
Process des Lebens würde während der Ruhe des Protoplasmas vornehmlich in einer
Assimilation des O und der oxydabeln Atomgruppen bestehen, während der Thätigkeit
desselben in einer Dissimilirung, bei welcher der Molekülkern mehr oder weniger
oxydable Atomgruppen durch seinen O verbrennt, ohne selbst wesentlich dadurch
verändert zu werden. Zu einer solehen Annahme berechtigen uns unsere Kenntnisse
über den chemischen Process im Muskel während seiner Thätigkeit, denn wir wissen,
*) Ueber die physiologische Verbrennung in den lebenden Organismen, Pflügers Arch. X. 8.251.
**) Das Sauerstoffbedürfniss des Organismus. Berlin 1885, 8. 7—13.
22*
dass in ihm kein Mehrverbrauch von Nhaltiger Substanz bei der Kontraktion statt-
findet. Wir können daher voraussetzen, dass im Sinne der Hypothese die Moleküle
der Muskelsubstanz nur N-lose Seitenketten als oxydable Atomgruppen enthalten *)
Es entsteht nun weiter die Frage, wie diese Moleküle in der lebenden Materie
zu einander gelagert sind. Pflüger stellt sich vor, dass dieselben sich durch freie
Affinäten an einander binden und dass das O-Atom die Ursache dieser Bindung sei.
Er nimmt an, dass das lebende Molekül durch Polymerisirung wachse und vergleicht
es z. B. mit einem zusammengesetzten Aether, in welchem das O-Atom das Bindeglied
der Atomgruppen bildet (loe. eit. S. 306).
Es liegt mir fern, im Speciellen auf die Hypothesen über die chemische Con-
stitution des lebenden Moleküls einzugehen. Diese bleiben vielmehr durch die nach-
folgenden Speculationen gänzlich unberührt. Nur insofern weiche ich von der Pflüger-
schen Hypothese ab, als ich es nicht für plausibel halten möchte, die lebende Substanz
als ein einziges Riesenmolekül anzusehen, sondern es für ausreichend halte, eine
Aneinanderlagerung begrenzter Moleküle durch Bindungen gewisser Art anzunehmen.
Wenn wir daher nach dieser allgemeineren Betrachtung über die Constitution
der lebenden Substanz wieder zu unsrer speciellen Frage zurückkehren, so scheint
es mir ausserordentlich nahe zu liegen, auch die elektromotorischen Eigenschaften
dieser Substanz mit ihrem molekularen Bau in einen causalen Zusammenhang zu
bringen. Ich möchte daher, an die Pflüger’sche Hypothese anknüpfend, mir ebenfalls
vorstellen, dass das assimilirte O-Atom das Bindeglied der lebenden Molekule bildet und
gelange somit zur folgenden elektromotorischen Hypothese, welche, wie mir scheint,
viele Thatsachen befriedigend zu erklären vermag.
Der Leistungskern des lebenden Moleküls sei in Figur 5 als ein kleines, pris-
matisches Körperchen M
Figur 5.
dargesteilt, dessen Längs-
(C) ©) (0) (0) © ©) i
a | ei axe dem Längsschnitt der
9 7 7 2 0 0 a u TETE Faser parallel gestellt sein
Te, | ae En 2
(©) (0) (C) (€) (6) (©) mag. Die dem Querschnitt
zugewendete Seite des
Kernes sei nun diejenige, welche die O-Atome an sich kettet, und diese seien
es wiederum, welche zwei benachbarte Moleküle durch Bindung mit einander ver-
*) Eine ähnliche Vorstellung ist früher von L. Hermann entwickelt worden, welcher das
hypothetische, ceomplieirten Molekül des Muskels „Imogen“ nannte und sich dachte, dass es bei der
Thätigkeit sich in Myosin, Säure von CO, spalte. Diese Hypothese lässt aber die wichtige Rolle des
assimilirten O ausser Betracht.
169
einigen. In der Figur 5 befindet sich daher zwischen je zwei Kernen M das
Zeichen ©, unter welchem man sich hier eine beliebige Zahl von O-Atomen vorstellen
möge, und dieses Zeichen ist durch einen Bindestrich — mit dem Kern verbunden,
welcher zunächst nur eine der chemisch ähnlichen Bindung bedeuten möge. An den
Längsschnittseiten des Kernes M seien ferner die oxydablen Atomgruppen des Molekuls
angelagert, und da in ihnen der Kohlenstoff das wichtigste Brennmaterial bildet, so
mögen dieselben unter der, Formel (CÜ) zusammengefasst sein. Während der Kern M
beim Muskel als N-haltig gedacht werden muss, so nehmen wir die Atomgruppen (C),
die oxydablen Seitenketten, als N-lose an. In der Ruhe findet ein beständiger Stoff-
wechsel in dem Kern sowohl als auch in den Seitenketten des Moleküls statt. Bei
der T'hätigkeit dagegen tritt ein Mehrverbrauch nur in den Seitenketten ein. Der
Erregungsprocess besteht sonach darin, dass O-Atome aus den Molekülen frei werden
und dass diese in statu nascenti die oxydabien Seitenketten angreifen. Je stärker der
xeiz ist, welcher auf das Molekül einwirkt, um so grösser ist die freigemachte
O-Menge, um so stärker der mit der Erregung verbundene Effekt derselben. Die
Erregung kann im Muskel bekanntlich nur bis zu einem gewissen Maximum wachsen,
d. h. es wird dabei entweder der ganze O-Vorrath erschöpft, was nicht wahrscheinlich
ist, oder die letzten O-Atome sind fester gebunden als die zuerst freigemachten, so
dass es einen tödtenden Reizes bedarf, um sie aus der Bindung zu lösen. Man kann
sich daher denken, dass die Bindung des O immer lockerer wird, je mehr davon
assimilirt ist. Schwache Reize machen nur die am lockersten gebundenen O-Atome
frei, werden die Reize stärker, so wächst zwar die freigemachte O-Menge, aber nicht
in demselben Maasse als die Reize, weil die O-Atome eine immer festere Bindung
erleiden, je weniger von ihnen assimilirt ist. Man könnte, um ein Bild für dieses
Verhalten zu gewinnen, auch annehmen, dass sich der O schichtweise zwischen die
Moleküle einschiebe (Fig. 6). Die dem Molekülkern nächsten Schichten 1 u. 1 werden
am festesten gebunden, am lockersten die entfernteste Schicht n. Die letztere wird
schon durch den Minimalreiz frei gemacht werden und je stärker die Reize sind, um
so mehr Schichten folgen in ihrem Freiwerden zum Zwecke der Oxydation. Mit diesem
Bilde vom Verhalten des assimilirten O könnte einerseits die Vorstellung verbunden
werden, dass die Schichten von O-Atomen sich nur durch gegenseitige Bindung fest-
hielten, oder es könnte auch angenommen werden, dass die Molekülkerne selbst ihre
Attraktion auf alle Schiehten ausdehnen, aber mit abnehmender Kraft bei zunehmender
Entfernung derselben. Die zwischen den O-Atomen in Figur 6 gezeichneten Binde-
striche können daher, je nach Anschauung, beide Arten von Affinitäten bedeuten.
——
Gehen wir also von der Voraussetzung aus, dass die Querschnittsseiten der
Molekülkerne mit O-Atomen besetzt sind, oder wenigstens mit solehen Atomgruppen,
in denen der leicht abspaltbare O das wesentlichste Element bildet, so liegt es sehr
nahe, auf diese Konstitution der lebenden Substanz auch ihre elektromotorischen
Eigenschaften zu beziehen.
Wir können die negative Spannung an dem künstlichen Querschnitt hieraus
in folgender Weise ableiten.
Eine jede Trennung der Molekülreihe legt am Querschnitt gleichsam freie
O-Atome bloss, welche den Molekülen daselbst anhaften. Es ist daher anzunehmen,
Figur 6.
e) © 0 (©)
.- 0-0 — 0 — I
Pe (0) == 0) — I —— 2
n 2 7 se INN
dass diese ungesättigten aktiven O-Atome sich zu den Molekülreihen ähnlich ver-
halten, wie die durch einen Strom abgelagerten Jonen, und da wir aus dem Voran-
gegangenen geschlossen haben, dass die Moleküle polarisirbar sind, so würden sie
sich demnach an ihren Querschnittsseiten ähnlich wie mit OÖ geladenes Metall (Platin)
in einer Flüssigkeit verhalten. Es würde somit am Querschnitt eine negative, am
Längsschnitt der Moleküle eine positive Spannung entstehen, welche den Längs-
querschnittsstrom zur Genüge erklären würde. Man sieht ein, dass nach dieser
Theorie der Hermann-du Bois’sche Streit über die Praeexistenz der elektrischen
Gegensätze seine Bedeutung gänzlich verliert. Man kann unsre Theorie insofern eine
Praeexistenztheorie nennen, als sie annimmt, dass in den Molekülen eine prae-
existirende Anordnung soleher Atomgruppen vorhanden ist, dass nach Blosslegung
des künstlichen Querschnitts der Molekülreihen elektrische Spannungen auftreten, die
vorher in gebundenem Zustande schon existirten. Man kann aber diese Theorie
auch insofern als Alterationstheorie auffassen, als sie die elektrische Spannung
aus einer Trennung sich bindender Atomgruppen entstehen lässt. Er hätte daher
hiernach gar keinen Sinn, sich darüber streiten zu wollen, ob die elektrischen Gegen-
sätze in den Molekülen vor der Trennung schon als solche existiren, oder durch
die Trennung erst entstehen. Die Bedingung zu ihrer Entstehung muss mindestens
schon vorher vorhanden sein, und daher rechtfertigt sich die Anschauung, dass sie
78
schon vorher in gebundenem Zustande existiren. Ein Streit hierüber würde ebenso
unnütz sein, wie etwa darüber, ob bei der Polarisation zweier Platinplatten in Wasser
die H- und O-Atome schon vorher mit ihren Elektrizitäten geladen waren oder ob
sie diese erst bei der Zersetzung annehmen. Es sagt aber offenbar unsrer Vorstellungs-
weise zu, vorauszusetzen, dass «die H-Atome mit positiver, die O-Atome mit negativer
Elektrizität in dem Wassermolekül geladen seien, ohne dass wir diese Ladungen
nachzuweisen vermögen, weil wir uns hieraus erklären, dass der H sich der Kathode,
der O der Anode zuwendet. Diese vorausgesetzten elektrischen Ladungen der Atome
im Molekül sind ja doch mit ihren chemischen Affinitäten höchst wahrscheinlich
identisch.
Aus unsrer Theorie liesse sich auch eine Entwickelungszeit des Längs-
querschnittstromes ableiten, wenn eine solche, wie oben bemerkt, sich aus dem Ver-
suche ergäbe. Es würde diese Zeit in Anspruch genommen werden durch die Um-
wandlung der chemischen oder molekularen Bindung des O in elektrische Ladung.
Doch dürfte, wie eben auseinandergesetzt, nur ein solcher Versuch maassgebend sein,
bei welchem ein reiner, freier Querschnitt angelegt wird.
Nach diesen Betrachtungen steht nichts im Wege, die einzelne Moleküle der
Reihe als peripolare im Sinne der du Bois’schen Theorie anzusehen, nur mit dem
Unterschiede, dass wir sie uns nicht von Molekularströmen umflossen denken, weil
ihre elektrischen Spannungen nach allen Seiten gänzlich neutralisirt sind. Denken
wir uns aber ein einzelnes Molekül in der. Ernährungsflüssigkeit liegend, so würde
es allerdings beständig von solchen Molekularströmen umflossen sein, wie sie du Bois
an seinen Molekülen voraussetzte.
Die O-Bindung an und zwischen den Molekülen besitzt nach unsrer Vorstellung
einerseits den Charakter einer mehr oder weniger locker chemischen, so dass sie
durch eine auslösende Kraft leicht gesprengt werden kann, andrerseits den Charakter
einer polarisatorischen Ladung. Es liegt daher der Gedanke nahe, dass die oxydablen
Seitenketten des Moleküls, welche wir uns an der Längsschnittseite angelagert denken,
eine ähnliche Rolle spielen. Ertheilen wir ihnen den Charakter von elektropositiven
Jonen, vergleichbar dem am negativen Platinpol gebundenen H einer Zersetzungszelle,
so entsteht zu der negativen Spannung des Querschnitts noch eine positive des Längs-
schnitts, oder vielmehr es addiren sich die elektromotorischen Kräfte beider Ladungen
ru der Kraft des Längsquerschnittstroms. Hiermit sind wir zu einer T'heorie der
elektromotorischen Eigenschaften der Nerven- und Muskelfaser gelangt, welche, wie
ich glaube, eine grosse Reihe von bis jetzt bekannten Vorgängen in diesen Organen
172
zu erklären vermag, d. h. im Stande ist, sie auf die von uns gemachten Annahmen
über die Constitution und Aneinanderlagerung der Moleküle in der lebenden Substanz
zurückzuführen. Im Nachfolgenden wird es sich erweisen, in wie weit diese 'T’'heorie
das Versprochene zu halten vermag.
$ 3. Schema der elektromotorischen Elemente in der Faser. — Modell derselben aus
prismatischen Körperchen von Platin, welche an ihren Längsseiten mit H, an ihren Quer-
seiten mit O beladen sind. — Ruhestrom. — Parelektronomie.
Bevor wir zu einer Ableitung der elektromotorischen Erschemungen aus unsrer
'T'heorie schreiten, dürfte es nützlich sein, ein einfaches Schema zu construiren, um
an diesem jene Erscheinungen nachzuahmen. Während du Bois-Reymond zur Ver-
sinnlichung seiner Molekeltheorie ein Modell aus zwei Metallen (Kupfer, Zink) in
einer leitenden Flüssigkeit wählte, werden wir, wie schon oben angedeutet, für unsre
Theorie ein in bestimmter Riehtung mit Jonen beladenes Metall, am besten Platin, in
einer Flüssigkeit dazu benutzen können. Denken wir uns dementsprechend die ein-
fachste Combination dieser Art, welche den Ruhestrom liefern würde, so genügte es,
jede Molekülreihe der Faser mit einem Platindraht zu vergleichen, welcher an seiner
ganzen Oberfläche dem Längsschnitt gleichmässig mit elektropositivem Jon z. B. mit
H beladen wäre und in einer leitenden Flüssigkeit läge. Der Einfachheit halber
wollen wir annehmen, dass er an seinen Enden, die wir die natürlichen nennen wollen,
auch mit H von derselben Dichtigkeit besetzt sei. oder wir können uns aus unsrer obigen
Vorstellung von dem Verhalten der Molekülreihen an den Sehnenenden entsprechend
auch vorstellen, dass der Draht an beiden Enden mit einem zweiten ringförmig ge-
schlossen sei.
Es ist klar, dass unter diesen Umständen ein Strom von irgend welchen Punkten
des Modells nicht ableitbar sein wird, entsprechend dem Verhalten des vollkommen
parelektronomischen Muskels. Dagegen muss ein Strom auftreten, sobald ein @Quer-
schnitt angelegt wird, da letzterer ungeladen ist, und zwar im Sinne des ruhenden
Muskel- und Nervenstromes. Dieser Strom würde in diesem Falle so lange anhalten, bis
ein Ausgleich der Diehtigkeiten des H am Längs- und Querschnitt eingetreten sein würde.
Dieses allmähliche Verschwinden des Stromes dureh Depolarisation könnte man allen-
falls dem Aufhören des Muskel- und Nervenstromes beim Absterben resp. nach An-
legung des Querschnitts analog setzen. Indessen sind wir zu einer solehen Deutung
noch nicht bereehtigt. Wir missen vielmehr erst überlegen, ob dieses einfache Schema
schon ohne weiteres allen Anforderungen genügt. Dies ist offenbar nicht der Fall.
Denn die lebende Molekülreihe unterscheidet sich von dem mit H beladenen Platin-
draht prineipiell dadurch, dass sie zwei verschiedenartige chemische Componenten
enthält, die oxydablen Atomgruppen und den assimilirten OÖ, welche zusammen eine
gewisse Quantität Spannkraft repräsentiren, während der H des Platindrahtes nur dem
ersten dieser beiden Componenten analog zu setzen ist. Zwar ist auch hierin schon
eine Summe von Spannkraft enthalten, wovon ein Theil zur Auslösung kommt, wenn
wir einen Querschnitt freilegen würden. Dies könnte man etwa mit der durch Schnitt
erfolgenden Auslösung einer Erregung vergleichen. Indessen könnte im übrigen eine
Reizung nur dadurch herbeigeführt werden, dass O, der zur Verbrennung des H
diente, aus der leitenden Flüssigkeit entwickelt würde, da er als soleher in dem
Platindraht nicht vorräthig ist. Aber abgesehen davon, würde das Schema schon bis
zu einer gewissen Grenze dem Zuckungsgesetz für den constanten Strom folgen.
Denn ein zugeleiteter Strom würde an der Kathode O entwickeln, welches sich mit
H des Drahtes verbinden würde, während an der Anode sich der H vermehren würde,
Diese Vorgänge würden Erregung an der Kathode beim Schliessen und während der
Stromesdauer bedeuten, an der Anode dagegen Ruhe. Umgekehrt beim Oeffnen.
Durch Depolarisation würde nun Oxydation = Erregung an der Anode stattfinden, wo
der überschüssige H verschwinden, während an der Kathode sich wieder H ansammeln
würde, also Ruhe vorhanden wäre. Wir sehen also, dass dieses einfache Schema
unsern Anforderungen schon ein wenig nahe kommt. Sehr viel ausgiebiger wird aber
die Analogie mit dem Verhalten der Molekülreihe, wenn wir dem Schema auch die
molekulare Form ertheilen. Als Moleküle denken wir uns analog dem Leistungskern
des lebenden Moleküls kleine prismatische Körperchen aus Platin, welche in einer
Längsreihe angeordnet sind, und welche an ihren Längsseiten mit H beladen sind,
an ihren einander zugewendeten Querschnittsseiten dagegen mit OÖ. Ein solches Modell
würde gleichsam ein Aggregat von kleinen Polarisationselementen darstellen, die aber
so angeordnet sind, dass eine spontane Abgleichung ohne Störung des vorhandenen
Gleichgewichtes nicht stattfindet.
Die Ströme zweier benachbarten Elemente als Molekularströme betrachtet, heben
sich gegenseitig auf, so dass sich ihre Ladungen dadurch intakt bleiben. Man kann
daher annehmen, dass man es hier nur mit einander entgegengerichteten Spannungen
zu thun hat. Aber wenn man den kleinen Elementen eine endliche Grösse ertheilt,
so könnte man auch zwischen ihnen eine Differenz dieser Molekularströme voraus-
setzen, welche mit einem Verbrauch von Jonen verknüpft sein würde, und diese be-
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd.XVII. 23
ständige, verhältnissmässig geringe Verzehrung von ‚Jonen könnte man dem Oxydations-
stoffwechsel der Organe in der Ruhe analog setzen.
Wir haben nun mit Hülfe dieses Modelles eine strengere Herleitung der Ruhe-
ströme und ihrer elektromotorischen Kraft zu geben. Wenn wir nach Anlegung eines
Querschnittes einen Längsquerschnittstrom ableiten, so haben wir es mit der Summe
der positiven Ladung am Längsschnitt und der negativen Ladung am Querschnitt zu
thun. Wir müssen jedoch noch die Frage entscheiden, wo wir uns den Sitz dieser
negativen Ladung denken, wenn wir einen bestimmten Längsschnittpunkt mit dem
Querschnitt verbinden, ob in dem freigelegten Querschnitt oder in der gedachten
Querschnitt derjenigen Moleküle, deren Längsschnitt wir ableiten. Es sei also in
Figur 5 das zweite Molekül vom Querschnitt abgeleitet, so ist klar, dass die Kraft
des abgeleiteten Stromes nicht von der Kraft der negativen Ladung am freien Quer-
schnitt abhängt. Denn die O-Ladung des Moleküls am Querschnitt kann nach beiden
Seiten hin als gleich und entgegengesetzt angenommen werden. Es bleibt mithin als
Kraft der negativen Ladung die des zweiten Moleküls übrig, folglich wird die Kraft
des Längsquerschnittstromes immer nur von der Ladung der am Längsschnitt ab-
geleiteten Moleküle abhängen.
Denken wir uns ein Querschnittselement d/’ einer Faser (Fig. 7) am Längs-
schnitt verbunden mit einem beliebigen Querschnitt ©, so können wir als Kraft des
Figur 7. Stromes die Kraft des Querschnittselements
dF betrachten. wenn es isolirt abgeleitet wäre.
Nun müssen wir aber noch eine andre
Modification unsres Schemas in Betracht
ziehen, die auch im Stande ist, die elektro-
motorischen Erscheinungen zur Genüge zu
erklären. Wir können nämlich auch an-
nehmen, dass in den Molekülreihen weder negative Ladungen an den Querschnitten
der Moleküle präexistiren noch nach Anlegung des Querschnittes entstehen, sondern
dass nur an den Längsschnitten der Moleküle positive Ladungen vorhanden seien.
Es wäre demnach die Molekülreihe wiederum dem mit H beladenen Platindraht ver-
gleichbar. Aber diese Vorstellung würde nicht ausreichen, sondern da wir den Mole-
külen die Fähigkeit der O-Assimilirung zuertheilen, so müssen wir diesen innerhalb
der Moleküle voraussetzen, und zwar in einem leicht abspaltbaren Zustande, doch so,
dass er keine Ladungen erzeugt. Legen wir einen Querschnitt an, so würden wir
auch einen Längsquerschnittstrom erhalten, welcher nur von der Kraft der positiven
175 —
Ladung herrühren würde, und zwar immer von derjenigen, welche dem abgeleiteten
Längsschnittspunkte zugehört. Diese Modification des Schemas würde also auch im
Stande sein, die Ruheströme zu erklären, und wir werden zu überlegen haben, ob
sie auch die übrigen Vorgänge befriedigend zur Anschauung bringen kann.
Auf das Gesetz des Muskelstromes uud die schwachen Ströme des Längs-
schnittes brauche ich hier nicht weiter einzugehen, da sich dieses Alles in bekannter
Weise von selbst ergiebt, sobald ein Längsquerschnittsstrom überhaupt vorhanden ist.
Doch will ich besonders hervorheben, dass bei Ableitung zweier Längsschnittspunkte
der Strom immer gleichsam als Differenz zweier entgegengesetzter Ströme zu be-
trachten ist, welche den abgeleiteten Elementen der Faser angehören, wie ich dies
schon in meinen Untersuchungen *) erläutert habe. Die schwachen Ströme des Längs-
schnittes lassen sich am besten auf das vom Querschnitt aus fortschreitende Absterben
zurückführen. Die Kraft der Moleküle, d. h. ihre Ladungen, nehmen mit der Zeit
stetig ab, haben daher sehr bald ein Maximum im Aequator, ein Minimum am Quer-
schnitt selbst. Es nimmt daher die positive Spannung nach dem Aequator hin
stetig zu.
Das Verhalten der natürlichen Enden des Muskels oder seine sog. Parelektro-
nomie bedarf einer besonderen Besprechung im Sinne unsrer Theorie. Wir haben
aus gewissen Gründen den Schluss gezogen, dass die Kette der lebenden Moleküle
an den Sehnenenden eine geschlossene ist, dass freier Querschnitt der Molekülreihe
hier nicht vorhanden sei. Es geht daraus hervor, dass am natürlichen Querschnitt
negative Spannung nicht auftreten kann, so lange derselbe unverletzt ist. Wohl aber
ist es denkbar, dass schwache Ströme von unbeständiger Stärke in gewöhnlicher
Richtung sich bei der Ableitung zeigen, wenn die Endmoleküle der Reihe eine ge-
ringere Ladung besitzen als am reinen Längsschnitt des Muskels. Letzteres kann
allerdings nicht nur am eben ausgeschnittenen Muskel, sondern auch schon im lebenden
Körper der Fall sein, Das erklärt sich nach unsrer Auffassung dahin, dass die
Stärke der Ladungen vom Ernährungszustande abhängig ist, der keineswegs an allen
Stellen des Muskels derselbe ist. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, dass
der Ernährungszustand des Muskels in seinem Hilus, wo er am reichlichsten mit
Gefässen versorgt ist, ein bessrer ist, als an den sehnigen Enden. Daraus würde
sich auch erklären, dass der isolirte Muskel am schnellsten von diesen aus abstirbt,
und dass sich daher sein Strom so ausserordentlich leicht entwickelt.
*) Seite 65:
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Die Parelektronomie des Muskels lässt noch eine andere Auffassung zu. Nehmen
wir mal an, die Molekülreihe endige an der Sehne mit freiem Querschnitt und negativer
Ladung, so würde ein beständiger Strom in den Enden der Easern kreisen. Dieser
müsste aber, wenn er anhielte, ohne dass ein Absterben hinzukäme, mit der Zeit eine
so starke innere Polarisation erzeugen, dass er sich selbst compensiren würde. Die
negative Ladung des Endmoleküls würde hierdurch aufgezehrt werden, d.h. es würde
dieses Molekül, wie es du Bois-Reymond annahm, seine positive Seite nach aussen
kehren und in dem gesetzmässigen Strome entgegen wirken. Es versteht sich von
selbst, dass auf diese Weise die Parelektronomie nicht etwa entstanden zu denken ist,
denn der entwickelte Strom ist eben während des Muskelwachsthums niemals vor-
handen gewesen, vielmehr konnte sich ein freies Endmolekül mit negativer Spannung
am Querschnitt überhaupt zu keiner Zeit von selbst bilden. Wir sehen aber daraus,
dass die Parelektronomie jederzeit entstehen müsste, sobald in einer Muskelwunde
freier Querschnitt blossliegt, wenn durch den Ernährungsprocess eine Heilung eim-
geleitet wird. Die Versuche von Engelmann zeigen, dass der verletzte Muskel in
diesem Falle seinen Strom verliert, der künstliche Querschnitt sich in einen natür-
lichen verwandelt. Wir sehen also, dass unsre T'heorie in mannigfacher Weise zur
Erklärung der Vorgänge ausreicht. Im Uebrigen ziehe ich es doch vor, an der oben
begründeten Anschauung von der Continuität der Molekülreihen auch für die Par-
elektronomie Anwendung zu machen, und das Verschwinden des Stromes bei der
Heilung einer Muskelwunde dadurch zu erklären, dass bei diesem Processe die zer-
rissenen Molekülreihen sich wieder vollkommen schliessen.
Ss 4. Reizung und negative Schwankung. — Elektrische Reizung und Zuckungsgesetz. —
Elektrotonus.
Wir gehen nun daran, diejenigen Vorgänge zu besprechen, welche während
der 'Thätigkeit der Organe stattfinden. Eine jede Reizung derselben hat zur Folge,
dass an der erregten Stelle eine Spaltung in dem Molekül eintritt, bei welcher
ein Theil der Ladungen sich mit einander vereinigt. Dieser Vorgang ist die
negative Schwankung. Der einwirkende Reiz stört das labile Gleichgewicht der
mit einander verbundenen Moleküle derartig, dass sich dieser Vorgang durch die ganze
Molekülreihe fortpflanzt, in Form einer Reiz- oder Erregungswelle Es wird darauf
ankommen, zu begründen, auf welche Weise die verschiedenen und bekannten Reize
diesen Erfolg herbeizuführen vermögen.
Nehmen wir an, dass durch einen beliebigen Reiz eine Abnahme der Ladungen
in den Molekülen erzeugt ist, so ist klar, dass in Folge dessen eine jede erregte Stelle
sich negativ gegenüber einer ruhenden verhalten muss. Ein abgeleiteter Längs- und
Querschnittsstrom wird eine rein negative Schwankung erleiden, die um so stärker
sein muss, je mehr die Moleküle des abgeleiteten Längsschnittpunktes an Kraft ver-
lieren. Pflanzt sich die Reizwelle zum Querschnitt hin fort, so nehmen auch bis zu
diesem die Ladungen der Moleküle ab, aber ist die Welle zum Querschnitt gelangt,
so kann sie nicht einen Strom in umgekehrter Richtung erzeugen, etwa eine zweite
positive Phase der Schwankung, weil die Ladungen der Moleküle nach ihren (uerschnitts-
seiten hin immer die gleichen sind. Befindet sich in Figur 7 das Endmolekül in nega-
tiver Schwankung, so entsteht dadurch keine Aenderung des durch den angelegten
Bogen abgeleiteten Stromes, denn dasselbe wendet ja nach beiden Riehtungen hin
seine negativen Seiten, deren Spannungen auch während der Schwankung immer
gleichartig bleiben müssen. Wie das Endmolekül verhalten sich aber auch alle
Moleküle, welche zwisehen Längsschnittspunkt und Querschnitt liegen, so dass das
Fortschreiten der Reizwelle zum Querschnitt eine zweite Phase der Schwankung
nieht hervorrufen kann. Dieser Punkt ist für die Beurtheilung unsrer "Theorie von
Wichtigkeit, namentlich gegenüber der Hermann’schen Contakttheorie. Nach letzterer
ist schwer einzusehen, weshalb der Längsquerschittstrom nicht eine zweite Phase der
Schwankung besitzt, denn man sollte meinen, dass die am Querschnitt anlangende
Reizwelle diesen noch stärker negativ gegen die lebende Substanz machen müsste.
Man kann nach Hermann sich diesem Einwande nur dadurch entziehen, dass man
die Reizwelle bis zum Querschnitt allmählig zu Null abnehmen lässt.
Bei Ableitung zweier Längsschnittspunkte hingegen, haben wir es mit zweien
Phasen der Schwankung zu thun, von denen jede sich durch die negative Schwankung
in den Molekülen derjenigen Stelle erklärt, welche sich im Erregungszustande be-
findet, während sich die Reizwelle über die Faser ausbreitet. Ganz ebenso wird es
sich bei der Ableitung des parelektronomischen Muskels verhalten, denn das natür-
liche Ende der Faser reagirt ja ganz ebenso wie der Längsschnitt und die Gesammt-
schwankung des Muskels ist daher von dem zeitlichen Ablauf der Reizwelle an den
abgeleiteten Stellen abhängig.
Die Molekülreihen sind nach unsren früheren Voraussetzungen als polarisirbare
Leiter anzusehen, welche in einer elektrolytischen Ernährungsflüssigkeit liegen, ver-
gleichbar dem Metalldraht des Hermann’schen Kernleitermodells. Jetzt aber haben
wir ihnen noch eine andre wichtige Eigenthümlichkeit zuertheilt. Sie sind nicht nur
äusserlich polarisirbar, sondern sie sind in ihrem normalen Bestande bereits mit ge-
wissen Jonen beladen, gleichsam als ob sie durch einen von aussen zugeführten Strom
polarisirt worden wären. Ein solcher ist aber nicht die Ursache der Ladung, sondern
diese ist in der chemischen Constitution des Moleküls begründet, welche eine beständige
Aggregirung gewisser Atomgruppen herbeiführt. Dieser Vorgang bildet einen wesent-
lichen Faktor des Ernährungsprocesses und der nach der Thätigkeit stattfindenden
Restitution. Wenn in Folge einer Erregung die Ladung der Moleküle um eine ge-
wisse Grösse abgenommen hat, so wird sofort eine Wiederansammlung der Jonen
entsprechend dem Verlust und dem Vorrath an Ernährungsmaterial vor sich gehen,
vermöge der dem Molekülkern eigenthümlichen chemischen und physikalischen Attrak-
tionen. Daher folgt auf den absteigenden Theil der negativen Schwankung des
Ruhestromes mit grössrer oder geringerer Geschwindigkeit und bis zu einer grösseren
oder geringeren Höhe das Wiederansteigen des Stromes. Ich betrachte daher den
ersten absteigenden 'T'heil der negativen Schwankung, resp. den aufsteigenden Theil
der Reizwelle, als die „Entladung“ der Moleküle, den wiederansteigenden Theil der
Schwankung oder den absteigenden Theil der heizwelle als die „Wiederladung“
der Moleküle.
Nach einem jeden einzelnen momentanen Reize entsteht. wie wir wissen. eine
Einzelschwankung, welche einem dem Organe und seinem Zustande zukommenden
Verlauf hat, und uns ein Bild des ablaufenden Erregungsprocesses giebt. Es ist hier
nicht der Ort, auf das Verhalten der Schwankung gegenüber der:Dauer und Art des
Reizes einzugehen. Wir wollen hier nur bemerken, dass, wenn die Wiederherstellung
des Ruhestromes das Zeichen für die Restitution des Moleküle durch Beladung mit
neuen Atomgruppen aus der Ernährungsflüssigkeit ist, Dauer und Verlauf der nega-
tiven Schwankung resp. Reizwelle wesentlich von dem Ernährungs- und Ermüdungs-
zustande des Organes abhängig sein würde. Geht die Assimilirung in Folge mangelnden
Ernährungsmateriales oder durch in Folge von Anhäufung chemischer Zersetzungs-
produkte, wie dies im Zustande der Ermüdung eintritt, langsam vor sich, so wird die
Dauer der Schwankung sich nicht allein ausdehnen, sondern es wird auch der Ruhe-
strom seine vorige Höhe nicht wieder erreichen, das Ende der Schwankung wird in
die sogenannte Nachwirkung continuirlich übergehen.
Es wird nun wohl am zweekmässigsten sein, zuerst zu erörtern, in welcher
Weise der elektrische Strom zugleich mit der Erregung die bekannten elektromotorischen
Veränderungen herbeiführt. Es wird sich hierbei ergeben, ob es uns gelingt, mit
— 119) —
Hilfe unsrer Theorie diejenigen Voraussetzungen über die Stromeswirkung zu be-
gründen, welche wir im vorigen Abschnitt als solche angenommen haben.
Der elektrische Strom erregt die lebende Faser nur unter der Bedingung, dass
er in die unverletzten Molekülreihen, sei es am Längsschnitt oder am natürlichen
Ende, ein- oder austritt. An diesen Ein- und Austrittsstellen finden Polarisationen
statt, welche offenbar die Ursache der durch den Strom herbeigeführten Zustände sind.
Da wir nun aber die Moleküle selbst als mit Jonen beladene Körperchen ansehen,
so ergiebt sich daraus die Folgerung, dass die durch den Strom abgelagerten Jonen
auf die Moleküle und ihre Ladungen in eigenthümlicher Weise einwirken. Hierauf
ist die elektrische Erregbarkeit der lebenden Faser zurückzuführen.
Bedenken wir zuerst, wie sich der Vorgang an den kathodischen Stellen der
Faser beim Schliessen des Stromes gestalten muss. Die Stromfäden treten hier aus
den Längsschnitten der Molekülreihen in die elektrolytische Ernährungsflüssigkeit ein
und scheiden daselbst ein negatives Jon ab, welches nach unsrer obigen Hypothese
wahrscheinlich O ist. Da aber an den Längsseiten die Moleküle mit positivem Jon
beladen sind, so müssen diese sofort der Oxydation anheimfallen, und darin besteht
der Anstoss zu dem hier auftretenden Erregungsprocesse. Wir betrachten die Mole-
küle zugleich als chemische Individuen, deren Bestand erschüttert wird, sobald jene
oxydablen Seitenketten, welche wir als elektropositive angenommen haben, angegriffen
werden. Ein Antheil des intramolekularen O, welchen wir als den elektronegativen
Bestandtheil des Moleküls betrachten, wird in Folge dessen frei, und so tritt eine
Spaltung des Moleküls ein. welche mit einer Oxydation gewisser Atomgruppen einher-
geht. Diesen innern chemischen Process deuten wir als Erregung. Er giebt sich
zugleich als negative Schwankung des Moleküls zu erkennen.
Es wird hierdurch auch verständlich, dass die Erregung mit der Zunahme des
erregenden Stromes in einem gewissen Maasse wachsen muss. Von der Menge des
abgeschiedenen O und der Menge der hierdurch angegriffenen oxydablen Atomgruppen
wird es abhängig sein, wie viel von dem Vorrath des intramolekularen O freigemacht
werden wird. Wir müssen uns denken, dass in dem ruhenden Molekül der O und
die oxydablen Atomketten in einem gewissen Mengenverhältnisse zu einander stehen.
Enthält das Molekül viele oxydablen Atomgruppen, so kann es auch eine entsprechend
grosse O-Menge binden, welche gerade zur inneren Oxydation ausreichen wurde.
Werden dem ‘Molekül aber oxydable Atomgruppen entzogen, so lockert sich auch die
Bindung des intramolekularen O, und es wird um so mehr von letzterem frei gegeben,
je mehr von den ersteren vom Molekülkern abgelöst worden sind. Wenn also der
— 1180
elektrolytische O eine wenn auch nur geringe Menge der oxydablen Atomgruppen
angegriffen hat, so ist der Gleichgewichtszustand im Molekül gestört, und es wird
um so mehr intramolekularer O freigelassen werden, je grösser die Menge des ab-
geschiedenen O gewesen ist. Dieser Vorgang der Spaltung und Oxydation wird sich
so lange fortsetzen, bis ihm durch diejenigen Kräfte, welehe dureh Bindung neuer
Atomgruppen die Restitution des Moleküls bewirken, Einhalt geboten wird. So wird
nach einer gewiss sehr complieirten Funktion die Erregung mit der Stärke des zu-
geleiteten Stromes resp. mit der Zunahme der Polarisation an den Molekülen bis zu
einem gewissen Maximum anwachsen.
An der Anode kann hingegen bei der Schliessung eine Erregung nicht vor-
handen sein, denn es werden hier am Längsschnitt nur positive Jonen aus der
Ernährungsflüssigkeit abgeschieden, welche einen Oxydations- und Spaltungsprocess
nieht verursachen können, die sich vielmehr zu den bereits hier gebundenen positiven
Jonen hinzugesellen.
Auf welche Weise sich nun während der Stromesdauer die Erregbarkeit an
der Anode und Kathode ändert, haben wir schon in dem Abschnitt I auseinander
gesetzt. Es findet an der Kathode eine beständige Ablagerung von negativem ‚Jon
(aktiven ©) wenn auch langsamer als im ersten Momente der Schliessung, ein be-
ständiges Verzehren von positiven Jonen und mithin eine Lockerung des Moleküls
statt, welehe in einer erhöhten Reizbarkeit ihren Ausdruck findet (Katelektrotonus).
Auch haben wir auf denselben Process die Dauererregung an der Kathode zurück-
geführt, die im Nerven häufig zum Vorschein kommt, und im Muskel constant zu
beobachten ist. Dass sie sich im motorischen Nerven nicht beständig zeigt, kommt
daher, dass durch die innere Polarisation der Strom in den Molekülreihen sehr schnell
bis auf einen verhältnissmässig kleinen Rest herabsinkt und die Entwiekelung des
negativen Jon an der Kathode daher nur langsam erfolgt. An der Anode entwickelt
sich namentlich eine sehr starke Polarisation, weil sich das positive Jon hier anhäuft.
An der Kathode dagegen befindet sich die Elektrolyse in einem beständigen Kampfe
mit der elektrochemischen Constitution des Moleküls, indem das negative Jon die
elektropositiven Seitenketten des Moleküls verzehrt. Bei schwächeren Strömen ist
dieser Vorgang aber ein so langsamer, dass der motorische Nerv den Muskel hier-
durch nicht zu erregen vermag. Der sensible Nerv dagegen giebt die Dauererregung
an der Kathode wegen der höheren Empfindlichkeit der sensiblen Centra sehr deut-
lich kund.
Die Deutung der Oeffnungserregung ergiebt sich nun mit Leichtigkeit aus den
181 ——
gegebenen Praemissen. An der Kathode hört beim Oeffnen des Stromes die Verzehrung
der positiven Molekülbestandtheile auf und es beginnt im Gegentheil eine Wieder-
ansammlung dieser Bestandtheile vermöge einer chemischen Restitution des Moleküls.
Unterstützt aber wird dieser Vorgang dadurch, dass vermöge der Depolarisation sich
nun positive Jonen an der Kathode ansetzen, welche dem Molekül sehr schnell seine
normale elektromotorische Eigenschaft wieder verleihen. Nun haben wir es schon
ausgesprochen, dass es ausserordentlich nahe liegt, anzunehmen, dass diejenigen innern
Jonen, welche der Strom aus der Ernährungsflüssigkeit abscheidet, in ihrer chemischen
Zusammensetzung mit den elektrochemischen Seitenketten übereinstimmen, mit denen
die Moleküle geladen sind. Die Depolarisation an der Kathode nach der Oeffnung
des Stromes ist also zugleich ein Theil des hier stattfindenden Restitutionsprocesses,
der in einer Assimilirung oxydabler Atomgruppen besteht. Verbunden hiermit oder
eine Folge hiervon, muss es denn sein, dass das Molekül vermöge seiner chemischen
Attraktionen auch neuen intramolekularen O ansammelt, so weit derselbe aus der
Ernährungsflüssigkeit bezogen werden kann. Dieser letztere Process mag mehr oder
weniger schnell dem ersteren folgen, und daraus erklärt sich das Stadium der gesunkenen
Erregbarkeit, welches dem Katelektrotonus unmittelbar folgt und erst allmählig in
den normalen Zustand übergeht.
Der Vorgang an der Anode während der Stromesdauer erhält nach der eben
gemachten Annahme eine weitergehende Bedeutung. Die Ablagerung der positiven
Jonen hierselbst ist als eine Assimilirung oxydabler Atomgruppen zu betrachten,
welche dem Molekülkern gegenüber sich ähnlich verhalten, wie die im normalen
Zustande gebundenen Atomgruppen. Sie können aber von diesem nur so lange fest-
gehalten werden, als die Polarisation besteht. Dass nun während des Anelektrotonus
ein Zustand verminderter Erregbarkeit existirt, werden wir jetzt noch plausibler dedu-
eiren können. Ein sogenannter schwacher Reiz, z. B. ein schwacher Strom wird zur
Folge haben, dass an seiner Kathode sich die Menge des positiven Jon etwas ver-
mindert, aber es wird hierbei noch kein intramolekularer O freigemacht werden, da
das Molekül auch mit weniger positiven Jonen in seinem Bestande erhalten bleibt.
Es werden also die Moleküle durch die Beladung mit positiven Jonen vor der Spaltung
gleichsam geschützt, d. h. unerregbar gemacht. Eine Erregung beginnt erst dann,
wenn an der Kathode des erregenden Stromes soviel positive Jonen fortgenommen
werden, dass das Molekül auch nicht mehr im Stande ist, den intramolekularen O
festzuhalten. Wir gelangen zu der Vorstellung, dass die Festigkeit des Moleküls,
d. h. seine Widerstandsfähigkeit gegen Reize, von dem Verhältniss seiner positiven
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 24
— 112 —
und negativen Atomgruppen zu einander abhängig ist. Ueberwiegen die positiven
gegen die negativen, so wird das Molekül fester, überwiegen aber die negativen gegen
die positiven, so wird das Molekül in seinem Bestande lockerer, es lässt den über-
schüssigen negativen O leichter los. Das erstere ist der Fall im Zustande des An-
elektrotonus, das letztere in dem des Katelektrotonus, in welchem die positiven Atom-
gruppen durch das negative Jon beständig vermindert werden.
Beim Oeffnen des Stromes kann die Erregung nur an der Anode vor sich
gehen. Die Depolarisation leitet hier die Verbrennung der angesammelten positiven
Jonen ein, und reisst die positiven Atomgruppen des Moleküls mit in diesen Process
hinein. Während der Stromdauer hat sich intramolekularer O angesammelt, welcher
nicht zur Verzehrung gekommen ist, denn je mehr positive Atomgruppen das Molekül
enthält, desto mehr O kann auch von demselben festgehalten werden. Bei der Oeff-
nung aber entladet sich zugleich mit der Depolarisation des Moleküls der überschüssige
O und verursacht einen starken Erregungsprocess.
Die Erklärung der elektrotonischen Ströme stimmt, wie wir schon oben aus-
geführt haben, mit der von Hermann gegebenen im Prineip überein, nur mit dem
Unterschiede, dass wir die Polarisation und ihre Ausbreitung an den Molekülreihen
stattfinden lassen. Die positiven und negativen Spannungen werden also bezüglich
von der Anode und Kathode sieh in die extrapolaren Strecken hinein ausdehnen, und
so die gesetzmässige Richtung der abgeleiteten elektrotonischen Ströme verursachen.
Von der Anode geht eine Zone positiver Polarisation aus, bestehend in einer mit der
Entfernung vom Pol abnehmenden Ladung der Molekülreihen mit positiven Jonen,
von der Kathode eine solche negativer Polarisation. Eim jeder der Anode nähere
Punkt des Längsschnitts muss sich positiv gegen den entfernteren verhalten, und jeder
der Kathode nähere negativ gegen den entfernteren. Die Ausbreitung der positiven
und negativen Polarisation fällt zusammen mit den Veränderungen der Erregbarkeit
in den extrapolaren ‚Strecken.
Die Weite der Ausbreitung elektrotonischer Ströme wird cet. par. von gewissen
Verhältnissen abhängig sein. Im Muskel ist eine solche kaum wahrnehmbar, ebenso
wenig nach den Versuchen von Bezold eine extrapolare Aenderung der Erregbarkeit.
Hermann erklärt dies daraus, dass der Nerv eine verhältnissmässig grössere Masse
indifferenten Leiters enthält als der Muskel. Dieser Umstand müsste allerdings eine
grössere Ausbreitung der anodischen und kathodischen Strecke herbeiführen. In
Uebereinstimmung hiermit würde es auch sein, dass nach Hering und Biedermann
die marklosen Fasern des Olfaetorius bei Fischen keinen merkliehen Elektrotonus in
den extrapolaren Strecken besitzen, wenn wir auch das Nervenmark zu dem indifferenten
Leiter rechnen, und nur den Axencylinder als polarisirbaren Leiter, resp. Bündel
polarisirharer Molekülreihen betrachten.
Da die anelektrotonischen Ströme cet. par. immer stärker sind als die kat-
eektrotonischen, könnten wir annehmen, dass die anodische Polarisation die kathodische
überwiegt. Ein Analogon hierzu wäre die T’hatsache, dass die H-Polarisation am
Platin grösser ist als die I- und Br.-Polarisation an demselben. Wir müssen aber
ferner nach unsrer Theorie noch den Umstand hervorheben, dass ja an der Kathode
das negative Jon beständig verzehrt wird durch die positiven Atomgruppen der Mole-
küle, während an der Anode das positive Jon sich ansammelt. Durch die Polarisation
wird aber eine weitere Ansammlung von negativem Jon während der Stromesdauer
in hohem -Grade herabgesetzt. Es muss also die kathodische Polarisation immer
geringer erscheinen als die anodische. -
Die Fortpflanzung der elektrotonischen Ströme ist von mir untersucht worden *)
und die Geschwindigkeit derselben kleiner gefunden worden als die der Erregung.
Dass die Ausbreitung der Polarisation an den Molekülreihen eine gewisse Zeit in
Anspruch nehmen wird, lässt sich leicht begreifen. Die Entstehung der Polarisation
an Metallplatten ist keine momentane, sondern, wie ich durch Versuche gezeigt habe,
eine solche, dass sie in einer messbaren Zeit zuerst schnell, dann mit abnehmender
Geschwindigkeit zu einem Maximum ansteigt.) Wie schnell dies nun im Nerven
und Muskel unmittelbar an den Elektroden geschieht, muss noch durch Versuche er-
mittelt werden, aber das Ansteigen der elektrotonischen Ströme in den extrapolaren
Strecken zeigt uns bereits, dass die Polarisation hier an jeder Stelle erst nach einer
messbaren Zeit ihr Maximum erreicht. So lange aber an einer dem Pole näher ge-
legenen Stelle das Maximum noch nicht erreicht ist, kann auch an den entfernteren
Stellen der Vorgang noch nicht zur Ruhe gekommen sein und muss eine weitere
Ausbreitung der Polarisation verursachen. Also erreichen die extrapolaren Stellen
un so später ihr Maximum der Polarisation, je weiter sie von den Polen entfernt
sind, und ebenso nimmt dieses Maximum in einer uns bekannten Weise mit der Ent-
fernung stetig ab.
*) Archiv für Anatomie und Physiologie. 1886. 8. 197.
”*) Naturwissenschaftliche Rundschau. 1887. S. 9
— da —
$ 5. Manifeste und latente Kraft des Nervenstroms. — Negative Schwankung bei
latenter Kraft. — Absolute Grösse der negativen Schwankung. — Beziehung der nega-
tiven Schwankung zum Katelektrotonus. — Katelektrotonus und wirkliche latente Kraft
des Nervenmoleküls.
Es ist von Engelmann‘) die sehr wichtige Thatsache gefunden worden, dass
die Kraft des Nervenstromes nach Anlegung des Querschnitts stetig bis fast auf Null
absinkt, ohne dass unter günstigen Bedingungen der Nerv in dieser Zeit abstirbt.
Der Nerv besitzt in diesem Zustande noch latente Kraft, denn eine Anfrischung des
Querschnitts ruft die manifeste Kraft wieder hervor. Man kann sich von der Richtigkeit
dieser Thhatsache leicht überzeugen. Engelmann glaubt dieselbe dahin erklären zu
können, dass das Absterben zunächst nur die verletzten Ranvier'schen Faserzellen
ergreift und an der Grenze des nächstgelegenen Schnürringes Halt macht. Alsdann
wäre nach der Hermann schen Theorie dem Querschnitt lebende Substanz zugewendet,
während die abgestorbenen Zellen nur als indifferente Leiter dienten.
Mir erscheint dieser letztere Schluss nicht ganz gerechtfertigt. Der Zusammen-
hang der Ranvier’schen Stücke, auch wenn wir sie als Zelle betrachten, ist doch
jedenfalls ein so inniger, dass der Erregungsprocess durch die Grenzflächen hindurch
geleitet wird, folglich müsste nach der Hermann’schen Theorie dieser hier vorhandene
Contakt von lebender und todter Substanz erst recht einen Strom erzeugen, wenn ein
solcher überhaupt die Ursache desselben ist.)
Nach unsrer Theorie ist die Erklärung eine andre und wie mir scheint, viel
befriedigendere. Ich habe zu diesem Zwecke untersucht, wie sich ein solcher Nerv
mit latenter Kraft gegenüber der negativen Schwankung verhält. Wenn, nachdem
der Längsquerschnittstrom geschwunden, eine Reizung des Nerven stattfindet, so
müsste nach der Engelmann-Hermann’schen Theorie keine negative Schwankung
zu erkennen sein, weil in diesem Falle die bis an den lebenden Querschnitt sich fort-
pflanzende Reizwelle eine gleich grosse positive Schwankung erzeugen müsste. Oder
bei stark gesunkenem Nervenstrome müsste die negative Schwankung in demselben
Verhältnisse abgenommen haben. Die folgenden Versuche werden ergeben, wie es
sich damit verhält. Die Nerven wurden in den meisten. Versuchen isolirt an Fäden
*) Pflügers Archiv XV. S. 138.
**) Die Erklärung von Gad (du Bois’ Arch. 1873. $. 615), nach welcher die abgestorbenen
Faserenden den Strom schwächen, weil sie eine Nebenschliessung zu demselben bilden, scheint mir
nicht ausreichend und stimmt auch nicht zu den nachfolgenden Versuchsresultaten.
horizontal ausgespannt. An einem Ende, meist peripher, wurde durch einen Knoten
aus feuchtem Baumwollenfaden ein Querschnitt angebracht und von diesem und dem
Längsschnitt abgeleitet. Centralwärts wurde mit Inductionsströmen gereizt und das
Maximum der Schwankung abgelesen. Oft blieben die Nerven in der feuchten Kammer
24 Stunden bis zu fast völligem Verschwinden der manifesten Kraft liegen. Dann
fand wiederum eine Reizung mit derselben Rollenentfernung statt.
In allen Fällen sieht man auch bei fast ganz verschwundenem Nerven-
strome eine erhebliche negative Schwankung eintreten.
Die Grösse dieser Schwankung kann man nun nicht unmittelbar mit der am
frischen Nerven vergleichen, weil sich innerhalb der Zeit sowohl die totale Erregbar-
keit des Nerven als auch die Widerstände desselben und der Elektroden, sowie die
erregende Stromstärke geändert haben könnte. Alles dieses musste eine absolute
Verminderung der Schwankung schon an sich herbeiführen und dass war auch in
der That der Fall. Um nun aber einen Maassstab zur Vergleichung zu gewinnen,
wurde in einigen Versuchen durch einen zweiten feuchten Knoten*) ein neuer Quer-
schnitt zwischen den ableitenden Elektroden angelegt, während diese an ihrer Stelle
blieben. Hierdurch wurde es vermieden, dass durch Ableitung von einem frischen
Querschnitt sich der Widerstand der abgeleiteten Strecke ändert; es könnte höchstens
die Anlegung des feuchten Knoten diesen Widerstand ein wenig vermindern und
so die Schwankung etwas vergrössern. Meistentheils ändert sich zunächst durch
diesen Eingriff die Ablenkung am Galvanometer gar nicht, während der Nerv in Ruhe
ist, weil die beiden Ströme diesseits und jenseits des zweiten Knotens sich entgegen-
wirken. Sobald aber die Reizung stattfindet, sieht man eine negative Schwankung
nur von der gereizten Seite her auftreten.
Folgende Versuche mögen als Beispiel dienen:
Versuchsreihe 1.
Versuch 1. 31. Mai 1850. Strom /y; = 220 Comp. 5h. N.
Beide Nn. isehiad. Längsschnitt /, Querschnitt 3 EN De. 2 E1656,,9Ih 23V.
durch Knoten 4,, /,, =11mm. 1. Juni. N.S. (Neg. Schw.) = — 16 Se., Rollen
Strom /q, = 272 Compensator, 12 h. 37° V. 60 mm, 1 D., ohne Eisenkerne, mit Neben-
5 ar, 139 5 4h. 50° N. schliessung zur prim. Spir. r/ = 24 mm.
Neuer Knoten %, /g =8 mm. Neuer Knoten /y;, =5 mm.
*) Statt des feuchten Knoten lässt sich auch mit Vortheil die Quetschung des Nerven anwenden.
Strom /y; = 157 Comp. = + 3445e, N.S. =
— 45,9.
In diesem Falle sind die Schwankungen
nicht vergleichbar, da von q; abgeleitet wurde.
Doch beträgt bei /g, = + 16 Se., die N.S. 100 %/,
des Ruhestromes, bei /g; nur 13,3 %/,.
Versuch 2. Friseher Nerv.
1. Juni 80. /y, = 13mm, /r = 31 mm.
Stıom /yı = + 158 Se. = 160 Cp., R. 30, 4 D.
Kurze Nebenschliessung. N.S. = — 15,5, (Pol-
wechsel) — 13.
2. Juni 80.
Strom /gq, = + 10Se. = 15Cp., N.S.—= — 6,5.
rn 305er 220Cp, Nyr— 3.
4ı dag = 3 mm.
Versuch 3.
4. Juni S0. Frischer Nerv. /g, = 22 mm,
ir = 17mm.
Strom /y, = 420 Cp., N.S.—=— 9,5, 11 h. 55° V.
Str. 14 =90Cp.N.S.—=—14,5 (16,2/,)5h.20N.
Ah. 20° N. Knoten 9. 9 %&=6b mm.
Strom !y, = 370 Cp. N.S. = —28 (7,6 %/,).
Versuch 4.
7. Juni 80. Frischer Nery. 4, = 20, Ir = 16.
Strom /q, = 220 Cp., N.S.—= — 12. 1b. 15V.
8. Juni, 10h. 40° V.
2» rn» 2%0,0 —650p9,N.8. = —4,
Knoten 45, dı 92 = Il mm.
Strom /y, = —65 Cp, N.S.= — 2,5.
„ Igg = + 250 Cp, N.S.—=—8,5. 111,10
Versuch 5.
21. Juni 12h.
Nerv mit Knoten 4, in feuchter Kammer.
222m KON V ee — 2leIn—2:
Strom ; = +58Se. = 120 Cp. nach 5—10
Minuten 0 Cp.! NS. = —A (7%?)
Knoten 9, 9ı 9 = 9 mm.
*) Rollen 80 mm. Helm holtz’sche Einrichtung. 1 Daniell.
Ablenkungen ziemlich eonstant, da r/ immer gross genug ist.
Str. 4, = +97 Se. = + 260 Cp.? N.S.—— 10.
(10,3%)
Strom /g, = 178 Se. = 330 Cp., N.S. = — 10.
(5,6 %)
Versuch 6.
24 Juni 12h.
Ausgeschnittener Nerv mit Knoten y,
C1l.Na.-Lösung gelest.
RAR 2 ll,
Str. yı = +46 Se. = 140 Cp, N.S.—= — 16.
(34,8 0)
4» Knoten, 4, 9 = 12mm.
Str. /g, = 150 Cp, N.S. = — 25,5 (55 %/,)
Str. /g = 269 Se. = 590 Cp., N.S. = — 40.
(15%)
Versuch 7.
28. Dezember 86.
Ein frischer Nerv, Querschnitt 4, am Knieende
durch Quetschung angelegt. /g, = 20, /r = 15.
in 0,6%,
rr=5mm.
12h. Str. (4, = + 92 Se. = 440 Cp. (1 D), N.S.
— 8”) (8,79,)
12 h. 15’ N. Str. 74, = 330 Cp.
12.5.7302 Br NE, IE Sour
120.2457 ar. RD,
he A
lie NY a a2 DE ENESS
4h. N. 200. NS
9h.N. > Sn 90 De
N.S.= —5. (3 %,)
29. Dezember.
$h. 20° V. Str. 7g, = + 37 Se. = 470 Cp. (neuer
Daniell), N.S.—= —5. (13,5 %/,)
Befeuchtung des Nerven mit 0,6 °/, Cl.Na.-Lös.
S h. 50° Str. 2g, = 370 Cp. = + 140 Se, N.S.
—= —5. (3,8 %/,)
Auch bei Polwechsel bleiben die
12h. 30° Str. 74, = 900 Cp. = + 248 Se., N. S.
— —8..8,2%)
30. Dezember.
94.V. Str. =, NS. = —5.
Befeuchtung des Nerven mit 0,6 %/, Cl.Na.-Lös.
St22777 — 220)Sc7 — 195.0p, Nas: = |
(25 %/0)
Quetschung 4,, Befeuchtung.
St. g, „NS = —6.
Str. /gg = + 148 Se. = 265 Cp., N.S.—= — 8.
(5,8%).
Versuch 8.
29. Dezember 86. Ein Nerv im enthäuteten
Schenkel am Knie abgequetscht, und dieser in |
feuchter Kammer aufbewahrt.
30. Dezember.
Nerv herauspräpanrirt.
11h. V. Str. 4, = +708e = 400 Cp. = |
0,0099 D,, N.S.— — 8. (11,4 9/,)
Str. /g, = + 64Se. = 430 Cp.
DONSENEE StR 7 ET 1DEScH-— 100, CH Z—
0,0025 D, N.S.— —11. (91,7 %,)
Quetschung 9, 9ı 92 — 10.
Str. 7, = + 448e. = 635 Cp, N.S = —12.
(27,3%) |
Str. 145 = +66$e, = 614 Cp, N.S.— — 16.
Versuch 9.
1. Januar 87. 9h. V.
Nerven a) und b) am Knie abgequetscht, in
0,6°/, Cl.Na.-Lösung gelegt,
a) 2. Januar. 10h. 15.
Strom /g;, = +31Se. = 75 Cp. (0,0033 D.),
N.S.—= —14. (45 /,)
42 Quetschung (5 mm lang).
Str. 7g, = + 39 Se. = 160 Cp, (0,007 D.), N. S.
gg
Str. 7g, = + 76Se. — 245 Cp. (0,0269 D.), N.S.
ENTER)
id = 20, a 5, n— 10, sr =5 mm.
Ha el, ar 8
Feuchter Knoten zwischen / und g, lose um-
geschlungen.
Str. 4, = + 13Se. = 48 Cp. (0,0019 D.), N. S.
— — 12.
Knoten zugezogen 45, Verschiebungen wieder
eorrigirt. ya = 10.
Str. g, = + 42 Se. — 132 Cp. (0,0035 D.), N.S.
— —123.
Str. 1% = + 89 Se. = 225 Cp. (0,009 D.), N.S.
— — 16.
In den letzten drei Fällen steigt die Kraft
nach Anlegung von ga mehr oder weniger.
Dies erklärt sich wohl am besten daraus, dass
das Absterben in den verschiedenen Fasern
mehr oder weniger weit bis zu / vorgeschritten
war, so dass die Quetschung künstliche Quer-
schnitte zur Wirkung brachte.
Aus diesen Versuchen ersieht man also, dass die negative Schwankung
nicht nur nicht schwindet in dem Verhältniss als der Nervenstrom mit der
Zeit abnimmt, sondern dass sie sogar beim Strome Null oder fast Null noch in
beträchtlichem Grade auftritt, solange der Nerv überhaupt noch reizbar ist. Bei
gesunkenem Strome ist daher der procentische Werth der Schwankung in Bezug auf
die Stärke des ruhenden Stromes viel grösser als beim Strome des frischen Nerven.*)
*) Hierdurch ist zugleich die Erklärung von Gad als im höchsten Grade unwahrscheinlich
erwiesen, denn nach dieser müsste die negative Schwankung in demselben Maasse abnehmen, wie die
Kraft des Nervenstromes, da für Schwankung und Ruhestrom die fragliche Nebenleitung durch ab-
gestorbene Masse in demselben Grade schwächend wirkt.
Obgleich in den ersten Stunden der Beobachtung die Kraft des Nervenstromes sehr
erheblich sinkt, so nimmt doch die negative Schwankung nur sehr wenig in dieser
Zeit ab. Diese Wahrnehmung habe ich schon in meinen älteren Versuchen über den
zeitlichen Verlauf der Schwankurg gemacht. Durch jene Versuche wurde aber auch
zugleich mit Hilfe des Rheotoms festgestellt, dass innerhalb der Versuchszeit (mehrere
Stunden) eine der negativen nachfolgende positive Schwankung nicht zu beobachten
ist. Daraus erklärt es sich denn, dass auch bei dauerndem Schluss des Nervenkreises
der totale. Werth der negativen Schwankung nicht wesentlich mit der Zeit abnimmt,
solange wenigstens die Erregbarkeit des Nerven nicht erheblich leidet.
Hat nun der Nerv solange gelegen, oft '„— 2 Tage, bis der Strom ganz oder
bis auf einen geringen Rest verschwunden ist so ist der absolute Werth der negativen
Schwankung meist ein kleinerer geworden als der anfängliche. Das erklärt sich
einerseits aus der Abnahme der Gesammterregbarkeit des Nerven; ferner kann der
Grund in der Austrocknung des Nerven und der Elektroden trotz feuchter Kammer
gelegen sein. Wenn wir nun aber einen zweiten künstlichen Querschnitt durch Ligatur
oder Quetschung in der abgeleitetene Strecke anbringen, so sehen wir hei unverrückten
ülektroden meistentheils kein merkliches Wachsen der Schwankung eintreten.
Diese Beobachtung ist offenbar ein Beweis dafür, dass die Substanz am Quer-
schnitt nieht in dem Sinne an der Schwankung Theil nimmt, wie die am Längsschnitt.
Pflanzt sich die Reizwelle bis zum Querschnitt hin fort, so erzeugt sie dort keine
nach Aussen hin wahrnehmbare Spannungen. Denn wäre dies der Fall, so müsste
beim Strome Null auch die Schwankung Null sein, da bei dauerndem Schluss des
Kreises die entgegengesetzten Schwankungen sich aufheben müssten. So müsste es
sich aber verhalten, wenn nach Engelmann-Hermann am Querschnitt eine Demar-
kation zwischen todter und lebender Substanz innerhalb der Beobachtungszeit statt-
gefunden hätte.
Der Vorgang, welcher am Querschnitt stattfindet, ist meiner Meinung nach am
besten durch die Annahme zu erklären, dass hier eine neue Kraft auftritt, welche den
vorhandenen Nervenstrom allmählig compensirt, und welche bei der Reizung an der
negativen Schwankung keinen merklichen Antheil nimmt. Welche Kraft kann dies
nun sein? Es liegt, wie mir scheint, am nächsten, diese Kraft für die innere
Polarisation zu halten, welche sich der Nervenstrom selbst erzeugt. Daher sieht
man in der ersten Zeit der Beobachtung die Kraft mit grosser, und im weiteren Ver-
lauf mit immer langsamer werdender Geschwindigkeit sinken, ganz wie es einem
Polarisationsvorgange entspricht. Durch das Querschnittsende kreisen nun die innern
= 189 ——
Ströme vermöge des geringen Widerstandes auf dem kurzen Wege mit solcher Stärke,
dass eine hierdurch erzeugte Polarisation angenommen werden muss.‘) Die Beobachtung
ergiebt ferner, dass das Absterben vom Querschnittsende keineswegs so schnell vor-
schreitet, als man bisher geglaubt, wenigstens nicht unter günstigen Bedingungen.
Denn die Anlegung eines frischen Schnittes neben dem ersten erzeugt wieder einen
starken Strom, und die negative Schwankung pflanzt sich bis an diesen hin fort.
Daher findet im Nerven die Polarisation Zeit, sich bis zu ihrem Maximum zu ent-
wickeln und den Ruhestrom fast ganz zu compensiren. Im Muskel dagegen ist dies
anders, in diesem schreitet vom Querschnitt aus das Absterben der Substanz so schnell
fort, dass die in jedem Moment beginnende Polarisation wieder vernichtet wird, denn
mit dem Absterben verliert die Substanz ihre Polarisirbarkeit.
Dass im Nerven dem Absterben vor dem Erlöschen des Lebens nochmals Halt
geboten wird, mag nun in der That in den Strukturbedingungen der Ranvier’schen
Faserzellen liegen. Doch auch ohne diese kann man dies davon ableiten, dass im
Nerven die Stoffwechselprocesse sehr viel langsamer verlaufen als im Muskel. Es
sind mir übrigens auch Fälle (Winterfrösche) vorgekommen, in welchen nach anfäng-
lichen Sinken des Nervenstromes ein Wiederansteigen desselben bis zu 24 Stunden
hin eintrat, um dann einem allmähligen Absinken Platz zu machen. Dies ist wohl
so zu verstehen, dass in solchen Fällen das Absterben periodenweise fortschreitet und
zeitweise Halt macht. — Nun aber haben wir weiter zu fragen: Wie verhält sich der
Vorgang am künstlichen Querschnitt, wenn innerhalb des lebenden Körpers daselbst
in der That eine Demareation durch Wachsthumsprocesse bei der Heilung stattfindet?
Engelmann hat nachgewiesen, dass an einem so verletzten Muskel, wie nicht anders
zu erwarten, auch der Strom mit der Heilung verschwindet. Dasselbe ist sicherlich
auch an einem centralen Nervenstumpfe vorauszusetzen. Nach unsrer Theorie heisst
dies aber, wie wir schon oben dargelegt haben, dass bei diesen Vorgängen durch
Wachsthum ein vollständiger Schluss der Molekülreihen an ihren Enden eingetreten
ist, so dass sich das Ende nun wie Längsschnitt verhält.‘*)
Ich habe einige Versuche in dieser Richtung am Nervenstumpfe des lebenden
'Thieres angestellt, und auch die negative Schwankung in diesem Falle untersucht.
*) Auch von Hermann ist eine solche Polarisation zur Erklärung gewisser Erscheinungen an-
genommen worden.
=") Welcher Art die Wachsthumsprocesse sind, die zu dem Endresultat der Heilung führen,
kommt hier nicht weiter in Frage, und ist Sache der histologischen Untersuchung.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 25
190
Versuchsreihe II, am iebenden Thier.
Versuch 1.
2. Juni 1880. 9h. V.
Die Nn. ischiad werden auf beiden Seiten über
dem Knie durchsehnitten. Wunde zugenäht.
3. Juni. 12h. 30“N.
Rechter Nerv. Peripheres Ende abgeleitet.
lg, = 12mm, r!=13mm.
|
Str. 9, = 80 Se. = 150 Cp., N.S.—= 10, |
— ll, (12,5 Yo) 43 Sehnitt.
Str. 9= + 235Se.—= 600 Cp., N.S. — — 44,5
— 41. (17/,)
Versuch 2.
8. Juni 1880. 12h.
Frosch, rechter Nerv am Knie durehschnitten.
10, Nnmik ul, N%
Ma
|
|
Linker Nerv. Str. 74 = + 134 Se. = 180 Cp., |
N.S. = —14. (10,4°/,) 4=10, Ir = 23 mm.
Rechter Nerv. Str. /q, +7 — 0/Cp,, N.S.=
— 7. (100 %/,) gi = 10, r = 24 mm.
4, =neben y, angelegt. /y5 < 10, /r = 23mm.
Str. ga = 244 Se. = 250 Cp., N.S. = — 26.
(10,7 %/,)
Versuch 3.
8. Juni 1880. 12h.
Froseh, rechter Nerv am Knie unterbunden, y;.
N, Jans UI N
Linker Nerv, 4,, Knoten am Knie. /y, = 16,
rl — 2|'mm.
Str. /g, = + 130 Se. = 150 Cp., N.S. = — 27.
Knoten 4, angelegt, 4%, 42 = $mm.
Str. /g, = 155 Cp, N.S.— — 20.
Rechter Nerv. /g, = 20, /r = 23mm.
Str. g, = +59 Se. = WCp., N.S.—= —15,
Knoten 45. 4, Ya = 13 mm.
Str. 24, = 0 Cp.*), N.S. = — 14,5.
|
Str. ig; = 267 Se. = 275 Cp., N.S. = — 19,
— 205 Se. = — 240 Cp.
Str. 41 93
Versuch 4.
11. Juni 1880. Vorm.
Sehr grosser Frosch, ein Nerv am Knie unter-
bunden.
12. Juni. 10h. V.
a) Normaler Nerv.
Str. 7y = + 99,5 Se. = 270 Cp., N.S.= — 7,5.
(7,5%) a=20) 7 — 25mm:
b) Unterbnndener Nerv. /y,=18, r—=23mm.
Str. 74, = + 758e. = 130 Cp., N.S. = — 14,5.
(18,6 9/,).
Knoten 45, 4ı 43 = 11mm.
Str. /g, = 115 Cp., N.S.—= — 13,5.
Str. 193 = + 197 Se. = 270 Cp., N.S. = — 22.
(l 1,2 0/0)
Versuch 5.
14. Juni 1880. 12h.
Frosch, ein Nerv unterbunden.
15. Juni. 10—11h. V.
a) Normaler Nerv.
Str. 74 = + 69 Se. = 245 Cp., N.S. = — 75.
(10,8 %/,) /4y = 2%, Ir = 2% mm.
b) Unterbundener Nerv. /g, = 175, rl = 2.
Str. 79, = 60 Se. = 155 Cp., N.S. = — 135.
(20,5 %,)
Knoten 45, 4ı % = 9mm.
St. =0Cp! NS. = —11,.
Str. 45 = + 126 Se, N.S. = — 15,5. (12%/,)
Versuch 6. 15. Juni. 12—1h. N.
Froseh, ein Nerv durehsehnitten.
17. Juni. 11—12h. \.
a) Normaler Nerv.
*) Es kam mehrere Male vor, dass der gesunkene Nervenstrom nach kurzer Dauer der
Compensation plötzlich auf Null fiel. (0 Cp.!)
191
St. g= +111 Se. = 150 Cp, NS = —5. |
(4,5%) Zg= 18, Ir = 22mm. g Schnitt.
b) Durchschnittener Nerv.
Str. 7g, = + 156 Se. = 200Cp., N.S. = — 24.
(15,49%) ig = 15, Ir = W.
45 Sehnitt und Enden aneinandergelegt.
Str. 9, = 120'Cp, N. S. — 26. (> 15,4%)
Str. /g5 = 494 Se. = 430 Cp., N.S. = — 2%.
(9 d/,) lq3 — 10, a 21.
Auffallend ist hier die bedeutende manifeste
a) Normaler Nerv.
IM SW IR 22%
Str. 4= + 99Se.—=280 Cp., N.S.=—6. (6%/,)
b) Unterbundener Nerv.
Str. 4, = +65 Se. = 100 Cp, N.S. = — 11.
(16,8 °/,)
Knoten 9. 4ı 1% = 82.
Str. 4, = 70Cp., N.S.—= — 11,5. (16,8 %/,)
Str. 74, = +183Se. = 245 Cp, N.S.= — 16.
(8,7°/) Sehnitt in g».
| Str Zgg —= 245 Se.
Kraft des centralen, operirten Nervenstumpfes | Versuch 8.
gegenüber der des normalen. Der periphere ' 28. Juni. Ein Nerv durchsehnitten.
Stumpf zeigte nur 185 Cp. 29. Juni.
Anm. Die Compensatorgrade geben zwar | a) Durchsehnittener Nerv. /y,—11, /r—= 14mm.
keine absoluten Werthe, aber sind doch für eine Str. /g, = 166 Se. — 270 Cp, N.S.— 27.
Beobachtungsdauer vergleichbar.
4 Sehn.‚Quersehn. aneinandergelegt, 4, 99a —=4mm.
Versuch 7. 14. Juni. 12h.
Frosch, ein Nerv unterbunden.
We)umi.
St. 4, =60.! NS. = —23.
Str. 7g5 = 203Se. — 360:Cp., N.S.= —20.
b) Normaler Nerv. Str. 4 = 580 Cp.
Aus diesen Versuchen ersieht man, dass in allen Fällen, in welchen nach
1— 2 Tagen die manifeste Kraft des Nervenstroms sich stark vermindert hatte oder
sogar auf Null herabgegangen war, immer eine negative Schwankung von ansehn-
licher Grösse fortbestand. Dieselbe war in diesem Falle meist stärker als in den
vorigen Versuchen, weil der Nerv innerhalb des lebenden Körpers nichts von seiner
Erregbarkeit verloren hatte. Es geht aber daraus hervor, dass eine vollständige
Demarkation der lebenden Substanz am Querschnitt innerhalb der angegebenen Zeit
noch nicht zu Stande gekommen war.
Um nun zu entscheiden, ob die an dem Querschnitt anlangende Reizwelle eine
zweite positive Schwankung von merklicher Grösse erzeugt, wurde in vielen Ver-
suchen durch Unterbindung oder Quetschung in der abgeleiteten Strecke ein frischer
Querschnitt angebracht, während alle Elektroden an ihrer Stelle blieben. Da hierdurch
die negative Schwankung nicht vergrössert wurde, so folgt hieraus, dass sie auch
vorher eine rein negative war und nicht aus einer Differenz zweier entgegengesetzter
Phasen bestand. Kleine Unterschiede in der Grösse der Schwankung kamen sowohl
nach der einen wie nach der andern Richtung hin vor. Indessen wäre es immerhin
möglich, dass in einigen solchen Fällen an dem stromlosen Nerven schon eine geringe
232
192 ——
positive Schwankung vorhanden gewesen wäre, aber zu klein, um nachweisbar zu
sein. Die Untersuchung derselben mit dem Rheotom würde auch nicht viel Aussicht
bieten, da sie schon am Längsschnitt nicht leicht zu beobachten ist. In zwei Ver-
suchen aber schien eine deutliche positive Schwankung erkennbar zu sein. Die nächst-
liegende Aufgabe würde die sein, die vollständige Heilusg des Nervenstumpfes abzu-
warten, ohne dass derselbe durch Regeneration gestört würde. Man würde daher am
besten verfahren, wenn man einen Amputionsstumpf herstellte, doch dürfte hierbei sich
die Schwierigkeit einstellen, dass der Nervenstumpf mit den umliegenden Geweben
in schwer trennbarer Weise verwächst. Ich habe bis jetzt noch keine Gelegenheit
gehabt, solche Versuche anzustellen.
Unsre Auffassung des Vorgangs besteht nun in Folgendem. Das Schwäecher-
werden oder Verschwinden des Stromes in der ersten Zeit nach Anlegung des Quer-
schnitts ist die Folge einer innern Polarisation. Daher bleibt in dieser Zeit die
Schwankung eine ausschliesslich negative, eine zweite positive Phase tritt nicht auf.
Unter günstigen Bedingungen schreitet das Absterben des Nerven nur langsam vor-
wärts und die Polarisation hat daher Zeit, sich am Querschnitt stärker auszubilden.
Dieselbe spielt die Rolle eines Compensators, und nimmt also an der Schwankung
nicht Theil. Wohl aber kann während jeder Einzelschwankung die Kraft der Pola-
risation um eine geringe Grösse vermindert werden, die aber beim Ansteigen des
Stromes sehr schnell wieder ersetzt wird.
Innerhalb des lebenden Körpers geht dieser Zustand durch Wachsthumsprocesse
in den der Demarkation über. Es ist mir daher sehr wahrscheinlich, dass diese Um-
wandlung am Querschnitt nicht plötzlich, sondern allmählig und continuirlich geschieht,
und dass die Polarisation bei der Ausbildung der Demarkation eine sehr wichtige
Rolle spielt. Vielleicht liegt in ihr jene räthselhafte Kraft verborgen, vermöge deren
die lebende Substanz die Fähigkeit besitzt, sich unter günstiger Ernährungsbedingung
von der todten abzusondern. Vermöge der innnern Polarisation scheiden sich im
Sinne unsrer T'heorie an dem blossgelegten Querschnitt der Moleküle positive Jonen
aus der Ernährungsflüssigkeit ab, welche die negativen Ladungen daselbst neutralisiren.
Der Molekülkern kann hierbei seinen Bestand bewahren, das Absterben schreitet nicht
weiter vor, und es hören auch die mit der Verletzung verknüpften Erregungsprocesse
hierdurch auf.
Dureh die gemachten Erfahrungen erscheint nun die absolut negative Schwankung,
welche wir mit Hilfe des Rheotoms am Nervenstrom beobachten, in einem andern
Lichte als bisher. Im Gegensatze zum Muskel zeigt der Nerv, dass jede Einzel-
- 4193
schwankung unter die Abecisse des Ruhestromes herabgehen kann. Wenn nun aber
der Ruhestrom schon in den ersten Momenten der Ableitung durch die innere Polari-
sation theilweise eompensirt ist. so wird es hiermit fraglich, ob die absolute Negativität
der Schwankung nicht eine scheinbare ist. Ich möchte annehmen, dass es sich wirklich
so verhält, dass der Nervenstrom im ersten Momente des Schnittes sehr viel stärker
ist als zur Zeit, wo die Beobachtung beginnt, weil die Polarisation Anfangs am
schnellsten wächst. Es wäre vielleicht möglich, hierüber durch einen ähnlichen Ver-
such Gewissheit zu erlangen, wie ihn Hermann am Muskel angestellt hat, um die
Entwickelungszeit seines Stroms zu ermitteln. Vermuthlich ist eine etwaige Ent-
wiekelungszeit des Nervenstroms so ausserordentlich kurz, dass sie der Beobachtung
kaum zugänglich sein dürfte, ebenso würde es sich mit der Absterbezeit verhalten,
wenn man sich der Durchquetschung des Nerven hedienen würde. Man würde daher
in diesem Falle vielleicht das Umgekehrte sehen, als Hermann am Muskel beobach-
tete, nämlich dass in dem ersten Momente der Strom in unmessbarer Zeit zu einem
Maximum aufsteigt, von welchem er anfangs sehr schnell absinkt. Nach dieser An-
schauung würde daher das Maximum der negativen Schwankung, welches man durch
maximale Reizung herbeiführen könnte, zugleich die wirkliche Stärke des Nerven-
stromes angeben. Um zu. diesem Werthe zu gelangen, muss man das Rheotom auf
das Maximum der Schwankung einstellen und den erfolgenden Ausschlag mit dem-
jenigen vergleichen, welcher ohne Reizung durch den vorhandenen Nervenstrom erfolgt.
Kennt man .dann die Kraft des letzteren, so liesse sich daraus die maximale Kraft
der Schwankung, und demzufolge annähernd die wirkliche Kraft des Nervenstromes
berechnen. Einige solche Beobachtungen sind bereits in meinen älteren Versuchen
enthalten, in welchen ich nachwies, dass die Schwankung absolut negativ zum ab-
geleiteten Ruhestrom werden kann.*) In diesen Versuchen betrugen die Ablenkungen
durch den Ruhestrom 0,5 —0,2— 1 und die entsprechenden negativen Schwankungen
in maximo: 22 — 1,755 —1,5.
Der Vergleich ergiebt, dass die Schwankung 4,4 — 8,7 —1,5mal stärker war
als der ruhende Strom.
Wenn man daher annimmt, dass zur Zeit der Beobachtung der ruhende Strom
noch eine Kraft von etwa 0,002 Daniell gehabt hat, so würde daraus folgen, dass
die wirklirhe latente Kraft des Nervenstroms in maximo 8mal grösser gleich 0,016 D.
sein kann.
*) S. Untersuchungen u. s. w. $. 43.
ee
Es ist möglich, dass durch stärkere Reizung als in diesen Versuchen statt-
gefunden hat, der Werth für die Kraft noch grösser ausfallen würde. Es bleibt auch
noch die Frage zu entscheiden übrig, ob die fortgepflanzte Reizwelle der direkt er-
zeugten an Grösse gleich kommt; denn obgleich eine merkliche Abnahme derselben
im frischen Nerven bei der Fortpflanzung nicht eintritt, so könnte sie doch an der
direkt gereizten Stelle einen höheren Werth haben. Die Beobachtung würde aber durch
Einmischung der Induktionsströme sehr gestört werden. Wenn unsre Ansicht richtig
ist, so würde demnach ein prineipieller Unterschied zwischen Nerv- und Muskelfaser
in ihrem Verhalten bei der negativen Schwankung nicht existieren. Nach unsrer
Theorie kann in beiden die Erregung in maximo so weit steigen, dass die Moleküle
ihre Ladungen gänzlieh verlieren, ihre Spannung also gleich Null wird. Dieser Zu-
stand bleibt freilich nur sehr kurze Zeit bestehen und geht durch Assimilirung neuer
Ladungen mehr oder weniger in den Ruhezustand über. Ist aber der Eingriff ein
so starker gewesen, dass auch der Molekülkern in seinem Bestand erschüttert würde,
so vermag er sich nieht wieder zu laden, und geht in den todten Zustand über. Die
Absterbezeit hängt also hiernach zusammen mit dem zeitlichen Verlauf der negativen
Sehwankung, aber sie müsste gleich zu setzen sein dem aufsteigenden Theil der Reiz-
welle bis zum Maximum der Schwankung, nicht etwa der ganzen Dauer der Schwankung.
Diese Zeit ist für den Muskel erheblich kürzer als "/ioo See, welche Hermann aus
seinen Versuchen am Muskel erhalten hat und die er auch aus andern Gründen für
zu gross hält. Für den Nerven würde die Absterbezeit auf kaum !ıioooo Nee. zu
schätzen sein, da die Schwankungskurve ausserordentlich steil anhebt.
Wir kommen nun zu einem andern Punkte, nämlich zu der Beziehung, in
welcher negative Schwankung und Katelektrotonus im Sinne unsrer 'T'heorie zu ein-
ander stehen. Beide Vorgänge entstehen zu gleicher Zeit beim Schliessen des Stromes
an der Kathode. Nach unsrer Theorie fallen sie nieht nur zeitlich, sondern auch
ursächlich mit einander zusammen. Die Ursache beider ist die Verzehrung der posi-
tiven Ladungen am Längsschnitt der Molekülreihe durch das abgeschiedene negative
Jon. Hierzu gesellt sich die Abspaltung des intramolekularen Sauerstoffs, welcher
die negativen Ladungen an den Querschnitten der Moleküle bildet, und so entsteht
durch die Abgleichung der Ladungen an der Kathode die starke kathodische Schliessungs-
welle. Dieselbe pflanzt sich nun als Reizwelle über den Nerven hin fort, indem sie
sich von dem stationär gewordenen Katelektrotonus gleichsam ablöst. Mit der Ent-
fernung von der Kathode nimmt die Abscheidung des negativen Jon schnell ab, da-
gegen pflanzt sich die Abspaltung des intramolekularen O über das Bereich des
195
Katelektrotonus weiter fort, indem die Zersetzung von Molekül auf Molekül übergeht.
Wie wir nns diese Fortpflanzung zu denken haben, werden wir noch besonders aus-
einandersetzen.
Der Katelektrotonus ist nach dieser "Theorie einer stehenden Schwankungs-
welle zu vergleichen, da beständig positive Ladungen der Moleküle durch negatives
Jon verzehrt und intramolekularer O freigemacht wird. Nun ist es ja bekannt, dass
der katelektrotonische Strom viel stärker werden kann als der ruhende Nervenstrom,
wenn wir den Nerven stark polarisiren und in der Nähe der Kathode ableiten. Nach
den Versuchen von du Bois-Reymond*‘) kann bei 4—5 Grove im erregenden Kreise,
15 mm langer abgeleiteter und 2 mm ableitender Strecke eine Kraft von 0,05 D. für
den Katelektrotonusstrom beobachtet werden. Doch ist dies, wie angegeben, nur die
untere Grenzkraft, da der Strom sehr schnell von seiner Höhe absinkt; immerhin ist
sie 2'/ mal grösser als die des Nervenstromes. Um bei diesem Versuche keine Zeit
mit dem Compensiren zu verlieren, habe ich denselben in folgender Weise angestellt.
Es wurde der erste Ausschlag und die Kraft des Nervenstromes gemessen. Während
nun der Nervenstrom durch die Bussole kreiste, wurde der polarisirende Strom ge-
schlossen und der erste Ausschlag gemessen, welchen der katelektrotonische Strom
hervorbrachte. Nehmen wir nun an, dass in beiden Fällen der Widerstand in der
abgeleiteten Strecke derselben war, so werden die elektromotorischen Kräfte des
Nervenstroms und des Katelektrotonus sich zu einander wie jene Ausschläge verhalten.
Wenn nun nach unsrer Theorie an der Kathode die Menge des negativen Jon
eine so grosse wird, dass die positive Ladung des Moleküls dadurch vollständig ver-
zehrt wird, so würde hierdurch das Maximum des Katelektrotonus erreicht sein. Es
ist nicht anzunehmen, dass die Polarisation über diesen Punkt noch hinausgehen
könne und dem Längsschnitt der Moleküle eine negative Ladung ertheile. Denn ist
jener Zustand erreicht, in welchem alle positiven Ladungen verzehrt sind, so tritt
auch schon eine Alteration des Molekülkerns selbst ein, wobei er die Eigenschaft
der Polarisirbarkeit verliert, d. h. abstirbt. Da bei diesem Vorgange das Molekül
auch seine negative Ladung, den intramolekularen OÖ, verliert, so muss nach unsrer
Theorie die maximale kathodische Polarisation das Molekül seiner Kraft gänzlich
berauben, d. h. der maximale Katelektrotonus muss an Kraft gleich der
latenten wirklichen Kraft des ruhenden Moleküls resp. des Nerven-
stromes sein.
*) Gesammelte Abhandl. II. S. 260.
Ein in der angegebenen Weise ausgeführter Versuch hatte folgendes Ergebniss.
Die polarisırte Strecke war 12, die ableitende 2—3, die abgeleitete 15 mm gross.
Die Ablenkung durch den Nervenstrom betrug 49 Sc., seine Kraft war gleich 270 Comp.
Graden— 0,0134 D. Die Ablenkung durch den Katelektrotonus beim Schluss einer
Kette von 6 Grove betrug 388 Se. Die elektrotonische Kraft des Katelektrotonus
hatte daher den Werth von 0,11 D.
Die wirkliche latente Kraft des Nervenstromes würde hiernach mindestens auf
'/io Daniell zu schätzen sein. Bedenken wir aber, dass wir immer nur die Kraft
derjenigen Stromzweige messen, welche nach aussen abgeleitet werden können, so
werden wir dem Nervenmolekül eine ausserordentlich hohe Kraft zuertheilen müssen,
für die wir freilich einen bestimmten Werth nicht angeben können. Für den An-
elektrotonus, welcher nach der Schliessung einige Zeit im Ansteigen verharrt, hat
du Bois-Reymond einen Werth von 0,5 D. erhalten. Nach unsrer Theorie bedeutet
dies, dass in diesem Zustande die Ladung der Moleküle einen sehr bedeutenden Grad
annehmen kann.
$ 6. Die Fortpflanzung der Erregung. — Der mechanische, chemische und thermische
Reiz. — Einwirkung der Temperatur auf die Erregbarkeit und elektromotorische Kraft.
Die Fortpflanzung des Erregungsprocesses muss nach unsrer Theorie ebenfalls
auf die elektrochemischen Eigenschaften der Nerven- und Muskelmoleküle zurück-
geführt werden. Denken wir uns, dass durch irgend eine Reizung ein Molekül in
den Zustand der Erregung versetzt ist, so besteht derselbe darin, dass der intra-
molekulare O desselben, d. h. seine negative Ladung sich mit den oxydablen Seiten-
ketten, den positiven Ladungen, verbindet. Wir haben nun angenommen, dass die
Atome des intramolekularen O die benachbarte Moleküle durch ihre chemischen
Affinitäten verbinden nach Art des in Figur 5 und 6 gegebenen Bildes. Findet daher
eine Lösung der O-Atome zwischen zwei Molekülkernen statt, so wird die Oxydation
der positiven Seitenketten in beiden vor sich gehen. Die Reizung eines Moleküls
hat daher immer die Miterregung der beiden benachbarten Moleküle zur Folge. Wenn
nun aber diese letzteren auf ihrer einen Querschnittsseite O-Atome freigeben, so muss
auch die andre Querschnittsseite an diesem Vorgange Theil nehmen. Als Ursachen
hierzu kann man folgende aufführen. Erstens: der Oxydationsprocess entwickelt
Wärme, welche wie bei den explosiven Verbindungen, die Spaltung der benachbarten
Moleküle herbeiführt. Der erwärmte Molekülkern bindet die O-Atome mit geringer
Kraft und giebt daher eine Quantität derselben frei. Zweitens: Es entsteht durch
die Depolarisation eines Moleküls ein Molekularstrom, welcher sich durch die be-
nachbarten Moleküle ergiesst. Ist a (Fig. 8) das direkt gereizte Molekül, so verliert
sein Längsschnitt an positiver Ladung. Die benachbarten Moleküle 5 und c besitzen
nun eine stärkere positive Ladung, und es muss daher ein Strom in der Riehtung
der Pfeile durch die Moleküle « und 2, oder a und c fliessen. Dieser Strom erzeugt
aber in 5 und c eine neue Polarisation, wodurch in ö und c negative Jonen abgeschieden
werden, welche daselbst Erregung herbeiführen. In 5 und c hat dieser Strom seine
Kathode, in a seine Anode. Die Erregung in 5 und c wirkt in derselben Weise auf
die benachbarten Moleküle ein.
Diese Vorstellung fällt nahezu mit einer schon von Hermann ausgesprochenen
Idee zusammen, nach welcher die negative Schwankung an einem Punkte der Faser
(resp. Aktionsstrom) die Ursache der Fortpflanzung sei, da eine jede Reizwelle in
ihrem Bereiche eine Anode, in ihrer Nachbarschaft eine Kathode erzeuge. Unsre
eben gegebene Ableitung scheint mir aber deshalb begründeter, weil sie nicht die
schwachen Ströme ausserhalb der Faser in Anspruch nimmt, sondern Molekularströme,
Figur 8.
4 VARNDR FEN 4 A -E
—
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& 2
welche von bedeutender Stärke sein können, und weil sie in eonsequenter Weise auf
die von uns abgeleitete Wirkung der Kathode und Anode beruht.
So wird also, wenn Entladung in irgend einem Molekül durch einen äusseren
Reiz herbeigeführt ist, dieser Vorgang auch den benachbarten Molekülen mitgetheilt
werden. Die Erregung muss sich mit einer gewissen Geschwindigkeit nach beiden
Seiten in der Molekülreihe fortpflanzen.
Es bleibt uns daher noch übrig, auseinanderzusetzen, auf welche Weise die
verschiedenartigen Reize die Entladung der Moleküle herbeiführen. Für den elek-
trischen Reiz haben wir dies schon ausführlich abgeleitet. Dieser ist insofern als
ein adäquater Reiz für das Nerven- und Muskelmolekül zu betrachten, als er aus der
Ernährungsflüssigkeit diejenigen Jonen entwickelt, mit denen die Moleküle selbst be-
laden sind. Er greift daher den Bestand des Molekülkernes verhältnissmässig am
wenigsten an, wenn er unterhalb einer gewissen Stärke bleibt, denn er wirkt nur
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 236
=> MS ZZ
durch das Auftreten jener auch im Ruhezustand schon vorhandenen Atomgruppen.
Anders dagegen die übrigen Reize. Betrachten wir zunächst den mechanischen Reiz.
Derselbe erschüttert bei geringerer Stärke das angegriffene Molekül, sodass es seine
normale Lage innerhalb der Reihe verlässt oder vernichtet es bei grösserer Intensität
in seinem Bestande gänzlich. Man hat die Wirkung des mechanischen Reizes sehr
gut mit der dureh Stoss und Erschütterung herbeigeführten Explosion einer explosiven
Substanz verglichen. An diesem Vergleich können wir im Allgemeinen immerhin
festhalten. Wir stellen uns aber in diesem speciellen Falle vor, dass der mechanische
Eingriff das Nerven- und Muskelmolekül seiner Ladungen beraubt, also eine De-
polarisation desselben herbeiführt, welche gleichbedeutend mit Erregung ist. Ist die
Erschütterung keine so starke, dass der Molekülkern darunter leidet, so bleibt das
Molekül erregbar, und kann sich wieder mehr oder weniger von neuem laden. Ist
dieser aber zu stark alterirt, oder die Molekülreihe, wie durch Schnitt, gänzlich getrennt,
so verfällt das Molekül dem Tode.
Es liegt auch hier nahe, den nach Schnitt oder Quetschung auftretenden Längs-
querschnittstrom mit dem Vorgange der Erregung in einen Zusammenhang zu bringen.
Man könnte sagen, das Entstehen dieses Stromes in dem benachbarten Stücke der
Faser errege dieselbe, und somit sei eine jede mechanische Reizung im Grunde
genommen eine elektrische. Doch will es mir scheinen, dass diese Anschauung sich
nicht hinreichend begründen lässt. Nach unsrer Theorie ist die durch den mechanischen
Reiz eingeleitete Depolarisation des Moleküls gleichbedeutend mit Erregung. Also
nicht der entstehende Strom in der verletzten Faser, sondern der Verlust der elektro-
motorischen Kraft in den direkt gereizten Molekülen fällt hiernach zeitlich und ur-
sächlich mit dem Erregungsvorgange zusammen.
Durch den chemischen Reiz wird das lebende Molekül in seiner chemischen
Constitution direkt verändert. Man kann sich entweder vorstellen, dass die angewendete
Substanz sich mit den Ladungen des Moleküls direkt verbinde und dadurch eine
Sprengung desselben herbeiführe, oder man könnte annehmen, dass sie den Molekül-
kern so alterire, dass er die gebundenen Ladungen freigiebt. Mag das eine oder das
andere der Fall sein, so wird auch bei der mildesten Form der chemischen Reizung
immer eine chemische Alteration des Moleküls zurückbleiben, so lange die erregende
Substanz nicht vollständig beseitigt ist. Jede künstliche Reizung durch chemische
Agentien ist aber meist so grober Art, dass durch den Eingriff das erregbare Molekül
mehr oder weniger abstirbt, und kaum der Erholung fähig bleibt. Dagegen giebt es
chemische Reizung physiologischer Natur für die Nervenendigungen der Geschmacks-
— 19 —
und Geruchsnerven, welche derart sind, dass die erregbaren Moleküle dieser Organe
für gewöhnlich im normalen Zustande verbleiben. Es ist daher nicht ausgeschlossen,
dass im lebenden Körper auch noch andre natürliche Erregungen dureh den chemischen
Reiz zu Stande kommen. Eine solche ist vielleicht die Reizung der Stäbchen und
Zapfen in der Retina durch die Produkte der photochemischen Zersetzung.
Eine besondere Betrachtung müssen wir auch dem thermischen Reize vom
Gesichtspunkte unsrer Theorie aus widmen. Dass eine plötzliche Erhöhung der
Temperatur eine Lockerung der chemischen oder elektrochemischen Bindungen im
Molekül verursacht, erscheint wohl einleuchtend. Indessen ist es nicht allein die
schnelle 'Temperaturzunahme, welche Erregung herbeiführt, sondern auch die Ein-
wirkung einer constanten höheren Temperatur bringt wenigstens im Nerven zwischen
35 — 50° C. eine andauernde Erregung hervor; beim Muskel geht die Erregung beim
Erwärmen meist sofort in Starre über. Es ist ausserordentlich leicht, sich nach
unsrer Theorie von den Vorgängen im lebenden Molekül ein Bild zu machen. Eine
Temperatur von gewisser Höhe versetzt den Molekülkern in einen Zustand, in welchem
er die gebundenen Atomgruppen mit geringerer Kraft festhält, denn die Wärme besitzt
ja im Allgemeinen die Fähigkeit, chemische Moleküle zu lockern, und dies ist für
die leicht zersetzliche Moleküle der lebenden Substanz in erhöhtem Grade der Fall.
Es ist daher verständlich, dass innerhalb gewisser Temperaturgrenzen eine Erregung
der Muskel- und Nervensubstanz eintritt. Während der Muskel bei dieser Grenze
sehr bald abstirbt, zeigt der Nerv die Eigenthümlichkeit, dass bei weiterer Steigerung
der Temperatnr die Erregungen aufhören und die Erregbarkeit bei einer "Temperatur
von etwa 65° ©. ganz allmählig erlischt.
Gleichzeitig beobachtet man an Nerven bei steigender Temperatur bis zu
40°C. etwa. eine Erhöhung der Erregbarkeit, die aber bei weiterem Erwärmen sehr
sehr bald in Abnahme und Tod übergeht.*)
Die Steigung der Erregbarkeit beim Erwärmen geht gewöhnlich der thermischen
Erregung voraus und würde sich ebenso wie diese daraus erklären lassen, dass der
Molekülkern die oxydablen Atomgruppen und den intramolekularen O in der Wärme
weniger fest bindet, so dass ein geringerer Reiz schon im Stande ist, diese aktiven
Seitenketten desselben frei zu machen. Es scheint aber, als ob die Erwärmung bis
zu einer gewissen Grenze, bei welcher sie noch nicht erregend und schädigend wirkt,
*) Rosenthalu. Afanasieff, Archiv f. Anat. u. Physiol. 1865. — Bernstein, Pflügers Arch.
Bd. XV. 1877. S. 310.
26*
—— 200 —
noch einen andern Einfluss auf den Zustand der Moleküle ausübt. Es giebt offenbar
für die Organe ein Optimum der T’emperatur, bei welcher die Ernährungsprocesse am
lebhaftesten vor sich gehen und die Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit zu einem
Maximum anwächst. Diese Temperatur liegt für die Muskeln und Nerven des Frosches
wahrscheinlich zwischen 15 — 25°C. Denkt man sich, dass bei dieser Temperatur
die Assimilirung von oxydablen Atomgruppen und von intramolekularem O eine sehr
lebhafte ist, dass aber die Kraft, mit welcher der Molekülkern dieselben bindet, noch
keine Verminderung erleidet, so werden wir in diesem Zustande eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit wahrnehmen, insofern die Spannkräfte der Moleküle erhöht sind
und ein Reiz von constanter Stärke daher eine grosse Menge derselben auslösen wird.
Steigt nun die Temperatur über diese Grenze hinaus, und verringert sich in Folge
dessen die Bindekraft des Molekülkerns, so werden deshalb Erregungen eintreten,
weil die vorher angesammelten Atomgruppen nicht mehr festgehalten werden können
und der Oxydation unterliegen. Beim Uebergang in diesen Zustand wird auch noch
eine erhöhte Erregbarkeit bemerkbar sein.
Im Zusammenhang mit diesen Einwirkungen der "Temperatur auf Muskel und
Nerven haben wir auch die elektrischen Veränderungen zu betrachten, welche hierbei
auftreten. Es ist von Hermann*) gefunden worden, dass die Kraft des Muskelstromes
mit der Temperatur bis zu einer gewissen Grenze steigt, und mit sinkenaer Temperatur
beträchtlich abnimmt. Er konstatirte ferner, dass wärmere Stellen des Muskels sich
positiv gegen kältere verhalten. Steiner“) bestätigte dies Verhalten des Muskelstroms
beim Erwärmen und Abkühlen, und giebt an, dass ein Maximum seiner Kraft bei
35 — 40°C. eintritt. Für den Nervenstrom, welcher sich ähnlich verhält, fand er ein
Maximum zwischen 14— 25°C.
Unsre Theorie vermag in folgender Weise von diesen Erscheinungen Rechen-
schaft zu geben. Wenn mit steigender Temperatur zunächst eine stärkere Assimilirung
in den Molekülen vor sich geht, so muss daraus eine Verstärkung des Eigenstromes
erfolgen. Dies kann aber nur bis zu einer gewissen Tiemperaturgrenze hin geschehen,
denn darüber hinaus erzeugt die Wärme Spaltungen des Moleküls, welche Erregung
und Tod zur Folge haben. So erklärt sich das Tremperatur-Optimum, welches dem
Muskel- und Nervenstrom zukommt. Steiner hat auch beobachtet, dass beim Nerven
ein Wiederanwachsen der Stromkraft eintritt, wenn er wieder auf das Optimum herab
abgekühlt wird, nachdem er darüber hinaus erwärmt war. Dies wird freilich nur
*) Pflügers Archiv IV. 1871. S. 163.
**) Archiv f. Anat. u. Phys. von du Bois-Reymond. 1876. 3.403.
201 ——
unter günstigen Bedingungen eintreten, weil die Molekülkerne durch die höhere
Temperatur selbst angegriffen werden. Beim Muskel tritt oberhalb des Optimums zu
schnell Zersetzung und Tod ein, um dasselbe beobachten zu lassen.
Nach unsrer Vorstellung müsste nun bei einer Abkühlung der Organe unter
das Optimum die Ladung der Moleküle der Temperatur entsprechend abnehmen, d.h.
wir schreiben den Molekülkernen die Eigenschaft zu, je nach der herrschenden Tem-
peratur die Ladungen schwächer oder stärker zu assimiliren und zu binden. Das
Maximum der Assimilirung und Bindung findet in den Grenzen des Temperatur-
optimums statt. Eine jede Abkühlung unter dieselbe kann daher mit einem Verlust
an Ladungen, also auch mit Erregungen verbunden sein, und diese Wirkung tritt um
so deutlicher auf, je schneller die Temperaturschwankung ist. In der That haben ja
einige Beobachter wenigstens am Nerven bei einer schnellen Abkühlung gegen 0°
und darunter Zuckungen auftreten sehen. Geht aber, wie es gewöhnlich der Fall ist,
die Abkühlung langsam vor sich, so pflegen keine merklichen Erregungen aufzutreten,
weil die Menge der freiwerdenden Ladungen in der Zeiteinheit zu gering ist. Die
Abnahme des Eigenstromes in der Abkühlung ist daher einer einmaligen negativen
Schwankung analog zu setzen, welche bei constanter niederer Temperatur stationär
bleibt. Dieselbe kann aber auch bei einer niederen Tremperaturgrenze in gänzlichen
Verlust der Ladungen und Tod übergehen, namentlich wenn die niedere "Temperatur
lange einwirkt (Hermann |. e.).
Es ist von Hermann ferner beobachtet worden (l. e.), dass warme Längsschnitts-
punkte des Muskels sich positiv gegen kältere verhalten. Nach unsrer Auffassung
ist dies dadurch zu erklären, dass in dem wärmeren Abschnitte der Faser eine stärkere
Ladung der Moleküle sich herstellt als in den kälteren. Der Strom entsteht daher
durch die Differenz der Spannungen an beiden Längsschnitten. Der wärmere Längs-
schnitt erhält eine stärkere positive Spannung als der kältere. Die negativen
Ladungen der Moleküle kommen dagegen nicht zur Wirkung, da sie nach beiden
Seiten hin gerichtet sind.
Diese Ableitung setzt demnach voraus, dass die Kraft der Moleküle mit der
Temperatur bis zu einem gewissen Punkte wächst und sucht zugleich einen Grund
für diese Veränderung in dem Einfluss, den die Temperatur auf den chemischen Pro-
cess des Stoffwechsels ausübt.
Die Hermann’sche Contakttheorie lässt dagegen eine weitere Deutung der
Vorgänge nieht zu. Sie nimmt an, dass erstens wärmere lebende Substanz sich durch
den Contakt positiv gegen kältere lebende verhalte, und dass zweitens die Kraft
zwischen lebender und abgestorbener Substanz mit der Temperatur wachse, ohne für
beide Erscheinungen einen gemeinsamen Grund angeben zu können. Es muss nach
dieser Theorie ferner angenommen werden, dass die Muskelsubstanzen in den ver-
schiedensten Zuständen der Ernährung und des Absterbens und von verschiedenen
Temperaturgraden beim Contakt mit einander Spannungsreihen bilden, in derselben
Weise, wie es die Metalle thun.
$ 7. Ueber die Beziehung der negativen Schwankung zur Latenz der Muskelzuckung.
In neuerer Zeit sind mehrfache Versuche über die Bestimmung der Latenzdauer
für die Muskelzuckung angestellt worden, welche zu sehr viel kleineren Werthen
geführt haben, als die älteren Versuche von Helmholtz und Anderen. Ich nenne
von diesen nur diejenigen von Gad*), welcher für den direkt gereizten M. Gastroen.
eine Latenz von etwa 0,004" fand, und die später erschienene sehr umfangreiche
Untersuchung von Tigerstedt**) über denselben Gegenstand, welcher für den direkt
gereizten und wenig belasteten curarisirten oder uncurarisirten Muskel unter Anwendung
von stärkeren Oeffnungsinduktionsschlägen ungefähr denselben oder einen etwas
grösseren Werth findet.
Abgesehen davon, dass die Art und Stärke der Reizung, ferner Temperatur
und Zustände des Muskels einen unverkennbaren Einfluss auf diesen Werth ausüben,
unterliegt es wohl nach den bisherigen Ergebnissen namentlich der letztgenannten
Arbeit keinem Zweifel, dass die grösseren oder geringeren Werthe für die Muskel-
latenz von der Belastung und Trägheit der zu bewegenden Massen abhängig sind.
Es wird daher nieht Wunder nehmen, dass die älteren Versuche mit Belastung schwerer
Myographienhebel von beträchtlichem Trägheitsmomente grössere Werthe ergeben haben,
als die neueren, in denen möglichst leichte Hebel angewendet wurden.) Dazu
kommt noch, dass die Methode des elektromagnetischen Signals, dessen sich auch
Tigerstedt bedient hat, viel empfindlicher ist, als die meist angewendete rap
und den Moment der Erhebung früher angiebt als letztere.
Tigerstedt zieht aus seinen Versuchen den Schluss, dass, wenn unter den
*) Du Bois’ Archiv, 1879. 8. 250.
*) Du Bois’ Archiv, 1885. Suppl.-Bd. $. 111 — 265.
**) In den Versuchen von Tigerstedt erscheint die Latenz nach Anbringung von Schwung-
massen in der Nähe der Axe nur wenig vergrössert, doch würde dies wohl in stärkerem Grade der
Fall sein, wenn man dieselbe etwas weiter von der Axe entfernt anbringt.
=— al
genannten Bedingungen die Latenz des Gesammtmuskels sich als eine so geringe
erweist, die Latenz eines Muskelelementes in Wirklichkeit noch viel kleiner sein
müsse, weil eine merkliche Verkürzung erst eintreten könne, wenn die Contraetion
eine Anzahl von Muskelelementen ergriffen habe. Er geht hierbei von der Voraus-
setzung aus, dass die Reizung nach den Versuchen von Hering und Biedermann
nur an den kathodischen Stellen der Fasern stattfindet, wenn der Muskel total durch-
strömt wird. Wenn sich daher die Contraktion in einem Zeitraum von 0,004” etwa
über 12 mm ausgebreitet habe, so fange sie an, mechanisch merkbar zu werden.
Diese Voraussetzung geht von der Vorstellung aus, dass die kathodischen
Stellen der Fasern nahezu nur ein oder wenige Muskelelemente enthalten. Es wird
zwar zugegeben, dass bei dem unregelmässig gebauten M. Gastroen. diese Stellen eine
gewisse Ausdehnung besitzen müssen, dagegen soll dies am M. Sartorius, welcher
unter gleichen Bedingungen der Reizung dieselbe Latenz zeigt. nicht der Fall sein.
Mir scheint nun, dass auch am M. Sartorius die anodischen nnd kathodischen Stellen
der Fasern sich keineswegs auf die Polstellen oder bei totaler Durchströmung auf
die Faserenden beschränken, sondern dass die ganze intrapolare Strecke in eine ano-
dische und kathodische Hälfte zerfallen muss, die durch einen Indifferenzpunkt in
einander übergehen. Die kathodischen Stellen der Fasern werden also immer eine
gewisse Ausdehnung besitzen, und dies wird um so mehr in Betracht kommen, je
stärker die angewendeten Ströme sind. In den Tigerstedt’schen Versuchen sind
diese aber von einer so enormen Stärke (Oeffnungsinduktionsschläge bei übereinander-
geschobenen Rollen), wie man sie sonst nicht anzuwenden pflegt, dass die Wirksam-
keit der Kathode sich sehr wohl beinahe über den halben Muskel ausdehnen kann.
Man tödte, um sich davon zu überzeugen, ein Muskelende thermisch ab und sende
einen Schlag von solcher Stärke in terminaler Riehtung hindurch und man wird eine
heftige Zuckung eintreten sehen. Dieser Umstand beweist zur Genüge, dass in den
Tigerstedt’schen Versuchen sich die Reizung nicht auf die Faserenden beschränkte,
sondern dass sie in einem grossen Theile der kathodischen Hälfte stattfand. Schwächere
Induktionsströme dieser Richtung sind freilich ebenso wie Schliessungen terminaler,
constanter Ströme von mässiger Stärke aus bekannten Gründen unwirksam. Wenn
also in den Tigerstedt’schen Versuchen die gefundene Latenz von 0,004“ nicht aus
einer Fortpflanzung der beginnenden Contraktion erklärt werden kann. so erscheint
es mir gänzlich unbegründet, dem Muskelelement eine noch kleinere Latenz zu vin-
dieiren. Tigerstedt geht aber in seiner Schlussfolgerung noch weiter, indem er sagt:
„Nach Allem, was ich hier bemerkt habe, kann ich keinen andern Schluss aus dem
— 104 —
vorliegenden Beobachtungsmaterial ziehen, als diesen, dass die mechanische Latenz-
dauer des Muskelelementes eine Grösse derselben Ordnung wie die Latenzdauer der
negativen Schwankung oder des Actionsstromes darstellt. Wenn die negative Schwankung
überhaupt eine Latenzdauer hat, ist sie, wie die Untersuchungen von v. Bezolds,
Bernsteins und Hermanns nachgewiesen haben, nicht länger als 0,001“. Eine
Grösse derselben Ordnung ist nun auch die mechanische Latenzdauer des Muskel-
elementes.“
Was nun eine etwaige Latenz der negativen Schwankung anbetrifft, so ist wohl
aus den Bezold’schen Versuchen, in denen die sekundäre Zuekung mit der primären
verglichen wurde, über ihr V orhandensein nichts zu folgern, da hier noch die damals
unbekannte Erregungszeit der Nervenenden in Betracht kommt und die Berechnung
wegen der Nervenlänge eine unsichere ist. Dagegen führten meine Versuche über
den zeitlichen Verlauf der Schwankung allerdings zu der Folgerung, dass eine Latenz
derselben, ebenso wie beim Nerven, nicht nachweisbar sei.‘) Einen direkten Beweis
hierfür werde ich in der nächsten Zeit durch neue Versuche beibringen. Hermann
konnte am direkt gereizten Muskel die Beobachtungszeit nur bis 0,001 dem Reiz-
momente nähern und in diesem Falle noch starke Schwankung wahrnehmen.
Wenn daher die negative Schwankung keine mit unsern Mitteln nachweisbare
Latenz besitzt, die Zuekung dagegen für unsre Wahrnehmung in den ersten Momenten
der Erregung noch latent ist, so ist man meiner Ansicht nach nicht berechtigt, den
Beginn beider Vorgänge der Zeit nach als eoordinirt zu betrachten. Vielleicht dürfte
es gelingen, durch eine noch empfindlichere Methode, als die bisherigen es waren,
die Latenz noch um einige Zehntausendstel Sekunden zu verkürzen, so wird doch
immer die prineipiell wichtige Differenz bestehen bleiben, dass die negative Schwankung
nach der Reizung mit einer enormen Geschwindigkeit zu ihrem Maximum anwächst,
während die Contraktion in diesem Zeitraume sich jeder Wahrnehmung gänzlich ent-
zieht, und, wenn überhaupt schon im Entstehen, mit einer unendlich kleinen Ge-
schwindigkeit anhebt. Ich bin daher der Meinung, dass die Latenzen beider Vor-
gänge Grössen von sehr verschiedener Ordnung sein müssen. Es ist freilich
richtig, dass die Latenz der Zuckung keineswegs als eine scharf begrenzte Grösse
zu betrachten ist, sondern dass sie unmerklich in das Stadium der Contraktion über-
geht. Aber wenn wir unter Latenz eben jenen Zustand des Muskels verstehen, in
welchem der Contraktionsvorgang sich in einer unmerklichen Entwickelung befindet,
*) Untersuch. u. s. w. S. 58.
205
so muss man doch derselben eine endliche Grösse zuschreiben. Diese Auffassung
gilt nicht nur für den Gesammtmuskel, sondern auch für das Muskelelement. Denn in
dem kurzen Zeitraume der Latenz kann sich auch ein direkt gereiztes Element nur
ausserordentlich wenig contrahirt haben, da das Maximum seiner Contraktion in einen
sehr viel späteren Zeitraum fällt. Es ist daher auch für das Muskelelement nicht zu
bestreiten, dass die Geschwindigkeit, mit welcher die negative Schwankung einsetzt,
eine sehr viel grössere als diejenige ist, mit welcher die Contraktion sich entwickelt.*)
Ich hatte in meinen „Untersuchungen“ **) dieses zeitliche Verhalten der nega-
tiven Schwankung zur Contraktionswelle als ein prineipiell wichtiges hingestellt und
darauf hin theoretische Betrachtungen gegründet, auf die ich jetzt zurückkommen muss.
Der von mir ausgesprochene Satz lautete: „Jedes Element der Muskelfaser vollzieht
erst den Process der negativen Schwankung, bevor es in den Zustand der Con-
traktion eintritt.“ Diese etwas dogmatisch klingende Formulirung trifft meiner Ueber-
zeugung nach auch dann noch im Prineip das richtige, wenn die Latenz der Zuckung
dem Ablauf der Schwankung nicht mehr hinreichenden Raum gewähren sollte.
Nach den von mir angestellten Messungen über die Dauer der negativen
Schwankung gelangte ich für dieselbe zu einem Werthe von etwa 0,004". Wenn
nun die experimentell jetzt festgestellte Zuckungslatenz etwa dieselbe Grösse zeigt, so
würde die negative Schwankung noch allenfalls darin Platz finden. Es ist jedoch
wohl darauf zu achten, dass ich bei meiner Art der Beobachtung das langsam ab-
laufende Ende der Schwankung von der Messung ausgeschlossen hatte.) Dieses
Ende der Schwankung, welches sich bei periodischer Reizung zu einer länger dauernden
Nachwirkung summirt, wird dagegen mitgemessen, wenn man, wie es Hermann?)
gethan hat, die Dauer einer Schwankung bei einmaliger Reizung beobachtet. Er hat
daher in einigen Fällen grössere Werthe, als ich sogar bis zu 0,01“ gefunden.
Im Prineip müsste man nun freilich dieses langsam ablaufende Ende der
Schwankung, auch wenn man es als eine Nachwirkung auffasst, mit zu dem ganzen
Vorgange rechnen. Aber ganz abgesehen davon, dass sich vielleicht in dem unver-
sehrten und normal ernährten Muskel der Vorgang schneller gestaltet als im aus-
*) Ich glaube, dass mit dieser Ueberlegung auch jene Bedenken beseitigt sind, welche Gad
(du Bois’ Archiv 1879. S. 251) gegen die Uebertragung des Verhaltens von Schwankung und Zuckung
vom Gesammtmuskel auf das Muskelelement mir gegenüber hervorhebt.
**) A.a.0. 8. 58 — 60.
"rk 5,55 2.2.0.
7) Pflügers Archiv. 1877. XV. S. 233.
Abbhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd.XVII. 97
206 ——
geschnittenen verletzten, Kommt es auf eine feste Grenze der ablaufenden Schwankung
im Wesentlichen nicht an, sondern der Kernpunkt der Sache liegt vielmehr darin,
dass in jedem Muskelelement der Process der Schwankung längst eine ansehnliche
Grösse erreicht hat, bevor die Entwickelung der Contraktion eine merkliche geworden.
Keineswegs aber ist es nach obigem Satze erforderlich, dass der elektrische Zustand
der Muskelsubstanz nach jedem Reize derselbe geworden sei, wie vor demselben, damit
eine Contraktion zu Stande komme.
Wenn mithin der Satz bestehen bleibt, dass die Reizwelle der Contraktionswelle
voraneilt, so scheint mir bei einem so gesetzmässigen Verhalten die Schlussfolgerung
berechtigt, dass zwischen beiden nicht ein aceidenteller, sondern ein causaler Zusammen-
hang existirt, und dass die erstere ein causa efficiens der letzteren ist. Es hat sich
bei mir im Anschluss an die vorangeschickte "Theorie die Vorstellung befestigt, dass
der ansteigende Theil der Reizwelle das Zeichen für das Freiwerden der chemischen
Spannkräfte in der lebenden Faser darstellt, der absteigende Theil derselben dagegen
das Zeichen für die Wiederherstellung der Spannkräfte; oder mit anderm Ausdruck,
der ansteigende Theil bedeutet die Dissimilirung. der absteigende die Assimilirung der
Muskel- und Nervensubstanz.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird es einleuchtend, dass der anhebende Theil
der Reizwelle oder negativen Schwankung den Zeitraum begreift, in welchem die-
jenigen Spannkräfte ausgelöst werden, welche sich in der Muskelfaser in die Con-
traktion umsetzen, und dass sonach eine zeitliche Differenz in der Entwickelung beider
Vorgänge bestehen muss, dass dagegen der ablaufende Theil der Reizwelle sehr wohl
noch mit dem Beginn der Zuckung zusammenfallen kann. Bei der Unvollkommenheit
unsrer Vorstellungen über den Molekularmechanismus der contraetilen Substanz, wird
es gestattet sein, diese Anschauung durch einen Vergleich zu erläutern. Am plau-
sibelsten erscheint es mir, wie es schon oft geschehen ist, die Contractionsprocesse den
explosiven Erscheinungen analog zu setzen. Beim Abschiessen eines Gewehres werden
durch die Entzündung der Patrone chemische Spannkräfte freigemacht, die vermöge
der sich entwickelnden Gase in Bewegung umgesetzt werden. Der chemische Process
der Explosion muss dem mechanischen Vorgange als causa efficiens vorangehen und
ist bei einer zwecekmässig eingerichteten Schusswaffe im Wesentlichen vollendet, bevor
die Kugel den Lauf verlassen hat. Vom theoretischen Standpunkte aus wird man
auch in diesem Falle eine Latenz der Bewegung annehmen können, die bis zu dem
Momente reicht, in welchem der Druck der Gase den Widerstand der Kugel über-
wunden hat.
207
Vergleichen wir nun den Process der negativen Schwankung dem chemischen
Process der Explosion, die Zuckung dagegen der Bewegung der Kugel, so stimmen
sie beide darin überein, dass die ersteren Vorgänge im Wesentlichen schon vollendet
sind in einem Stadium, in welchem die letzteren erst anfangen sich merklich zu ent-
wickeln. Es ist immerhin denkbar, dass ebenso wie im Gewehrlaufe der Uebergang
der Molekularbewegung in die Massenbewegung schon seinen Anfang nimmt, bevor
alle Spannkräfte zur Auslösung gelangt sind, dies auch im Muskel der Fall ist.
Indessen gehen im Muskel die Erscheinungen so sehr viel langsamer als dort vor
sich, dass der merkliche Beginn der Bewegung erst dann einzutreten scheint, nachdem
eine gewisse Summe von Spannkraft freigemacht ist. Welcher Art im Muskel diese
Umwandlung freiwerdender Spannkraft in Bewegung ist, wissen wir ja bis jetzt
noch nicht.
Wenn wir den Vergleich noch weiter ausdehnen wollten, so hätten wir den
absteigenden Theil der Reizwelle einer neuen Ladung der Schusswaffe analog zu
setzen.‘) Diese frische Ladung der Muskelmolekile geschieht aber beim quergestreiften
Muskel unter günstigen Bedingungen vermöge der Emährung gewöhnlich so schnell,
dass sie meist schon stattgefunden hat, bevor die Zueckung aus ihrem Anfangsstadium
herausgetreten ist. Aber es kann auch der Fall sein, dass die Ladung eine mehr
oder weniger träge ist, und dann wird das Ende der Reizwelle mehr oder weniger
in den Anfang der Zuckung hineinreichen. Am ausgeschnittnen Herzmuskel scheint
dies in beträchtlichem Grade der Fall zu sein, denn nach Versuchen von R. Mar-
ehand*) dauert die Einzelschwankung 0,5 bis über 1“, während die Latenzen der
Contraktionen im Mittel etwa 0,2“ zeigen. Das Maximum der Schwankung hingegen
liegt etwa 0,13“ hinter dem Beginn derselben, und daher meist vor dem merklichen
Anfange der Contraktion.
Man wird der ausgesprochenen Anschauung die Frage entgegenhalten, weshalb
nur das Stadium der entstehenden Reizwelle und nicht vielmehr das der ganzen Welle
der Spannkraftauslösung entsprechen solle, denn man könnte sieh auch vorstellen,
dass der chemische Process der Dissimilirung mit dem Maximum der Reizwelle sein
Maximum erreiche und im absteigenden Theile allmählig absänke. Gegen die letztere
Auffassung spricht aber die Nachwirkung der negativen Schwankung, die um so
stärker wächst, je länger der Muskel tetanisirt wird. Da diese aber nichts anderes
bedeutet, als eine Verlängerung des abnehmenden Theils der Reizwelle, so ist anzu-
*) Zu diesem Vorgange gesellt sich auch die Entfernung der Zersetzungsproducte.
**) Pflügers Archiv. XV. S. 532.
2
208
nehmen, dass die inneren Vorgänge im Muskel während der Abnahme der Reizwelle
und im Stadium der Nachwirkung auch ihrem Wesen nach dieselben sind, demnach
nicht einer Auslösung von Spannkräften entsprechen, sondern mit den Vorgängen der
Erholung, d.h. der Ansammlung von Spannkräften zusammenfallen.
Es ist für die gegebene Anschauung gleichgültig, ob man von einer Molekular-
theorie oder einer Alterationstheorie des Muskelstromes ausgeht. Während aber die
letztere die negative Schwankung nur als eine Begleiterscheinung des Erregungs-
processes auffasst, insofern sie behauptet, dass erregte Substanz durch den Contakt
gegen ruhende, negative Spannung annimmt, gestattet eine Molekulartheorie, einen
ursächlichen Zusammenhang zwischen den elektrischen und Erregungsvorgängen
aufzufinden. Im Sinne einer solehen Theorie kann man sich vorstellen, dass die
elektromotorische Kraft des Muskelstromes, d. h. der Moleküle des Muskels, ein Maass
für die Menge der vorhandenen Spannkräfte sei, denn es stimmt mit dieser Annahme
die Beobachtung überein, dass alle Einflüsse, welche die Leistungsfähigkeit des Muskels
herabsetzen, auch den Strom schwächen und vice versa.
Wenn wir demnach die von uns aufgestellte elektrochemische Molekulartheorie
als Ausgangspunkt der Betrachtung wählen, so leuchtet es ein, dass der elektro-
chemische Process die Vorbedingung der Contraktion sein muss. Die Auslösung des
Processes durch den Reiz oder die zugeleitete Nervenerregung besteht demnach in der
Entwiekelung des elektronegativen O, welcher die elektropositiven Jonen an den
Längsschnitten der Molekülreihe verzehrt. In diesem Zeitraume beobachten wir die
negative Schwankung; die Contraktion kann aber erst eine Folge dieses Processes
sein, insofern die chemische Veränderung des Moleküls die Ursache einer physikalischen
Aenderung desselben und der ganzen Molekülreihe wird. Um sich eine Vorstellung
davon zu machen, könnte man annehmen, dass die an den Längsschnitten der Moleküle
sich anhäufenden Zersetzungsprodukte (H: O, CO: und Milchsäuremoleküle u. s. w.)
den Querschnitt derselben vergrössern und so eine Verdiekung und Verkürzung der
Molekülreihe bewirken. Die sieh an den Längsschnitten der Molekülkerne anlagernden
Moleküle der Zersetzungsprodukte gehen vielleicht mit dem Kern eine molekulare
Bindung ein oder haften durch molekulare Attraktion, bis sie sich durch weitere
chemische und physikalische Einflüsse der Ernährungsflüssigkeit wieder ablösen. Die
Anlagerung der Wassermoleküle daselbst kann sehr wohl als ein Quellungsvorgang
eigenthümlicher Art aufgefasst werden, der sich von der gewöhnlichen Quellung eben
dadurch unterscheidet, dass er nur in der Querrichtung der Faser erfolgt und dadurch
eine Verkürzung derselben in der Längsrichtung veranlasst. Dieser mechanische Vor-
> 209
gang kann sich daher nur in dem Maasse entwickeln, als der chemische Process
hierzu das Material liefert, und läuft seiner Natur nach viel langsamer ab als letzterer.
Man hat seit den Weber’schen Untersuchungen die Contraktion meist einer elastischen
Zusammenziehung eines gedehnten Körpers verglichen, und in der That passt dieser
Vergleich auch zu dem Sinne unsrer Theorie recht gut, wenn wir annehmen, dass
nach Anlagerung der Zersetzungsmoleküle an den Längsschnitten insbesondere durch
die H>O Imbibition, das elastische Gleichgewicht der Kerne derart verändert wird,
dass sie sich zu verkürzen streben. Die Verkürzung kann aber deshalb einer elastischen
an Form nicht gleich sein, weil die physikalische Aenderung der Moleküle eine ge-
wisse Zeit in Anspruch nimmt. Daher hebt die Contraktion mit sehr geringer Ge-
schwindigkeit an, und der elastische Gleichgewichtszustand der Moleküle ändert sich
beständig während der Contraktion.
Es ist richtig, dass es auch nach unsrer 'T'heorie in Wirklichkeit eine ab-
gegrenzte Latenz der Muskelzuckung nicht giebt. Denn sobald nur der chemische
Process an den Molekülen begonnen hat, kann schon, während er noch wächst, die
Contraktion in den minimalsten Anfängen sich entwickeln. Aber sie wird für unsre
Wahrnehmung erst merklich, wenn der chemische Process bis zu einer gewissen
Höhe angestiegen ist. Die Beobachtung der negativen Schwankung lehrt uns, dass
der chemische Process sein Maximum zu einem Zeitpunkte erreicht, in welchem es
mit unsern Hilfsmitteln nicht gelingt, eine Spur der Zusammenziehung nachzuweisen.
Ich halte daher den Satz*) aufrecht, dass die negative Schwankung die
nothwendige Vorbedingung für die Contraktion ist. Dagegen ist dies nicht so
zu verstehen, dass jedes Element der Muskelfaser den Process der negativen Schwankung
vollendet haben müsse, bevor es in den Zustand der Contraktion eintritt. Es ist
durchaus nicht erforderlich, dass der Muskelstrom wieder zu seiner frühern Höhe
angestiegen sei, damit die Zuckung beginne, denn das Wiederansteigen des Stromes
bedeutet nicht mehr Auslösung, sondern vielmehr Wiederansammlung von Spann-
kräften. Es ist aber auch nicht erforderlich, dass die negative Schwankung ihr
Maximum erreicht habe, damit es zu einer Zuckung komme, sondern diese kann
schon während der Auslösung der Spannkräfte beginnen. In Wirklichkeit aber
verhält es sich so, dass ein grosser Theil der negativen Schwankung vollendet ist,
bevor die Zuckung anhebt.
*) S. Untersuchungen $. 92.
$ 8. Schlussbemerkung.
Zum Schluss ist es wohl am Platze, gewisse prineipielle Bedenken zu erörtern,
welche man der aufgestellten Theorie entgegen setzen wird.
Man wird erstens sagen, dass keine Berechtigung vorliege, Moleküle von solcher
Beschaffenheit in der lebenden Substanz anzunehmen, wie sie die 'T'heorie verlangt
und dagegen ähnliche Einwendungen erheben, wie dies gegen die du Bois’sche
Molekulartheorie geschehen ist. Dieselben betrafen aber hauptsächlich die Annahme
peripolarer Molekeln von gewisser Form, die Fähigkeit derselben in bipolare zu
zerfallen und sich um gewisse Gleichgewichtslagen zu bewegen und zu drehen.
Derartige Einwendungen fallen bei unsrer Theorie fort, da sie den Molekülen eine
bestimmte körperliche Gestalt nicht zuertheilt, sondern nur voraussetzt, dass sie zu
Längsreihen aggregirt sind und auch Bewegungen und Drehungen derselben nicht zu
Hilfe nimmt.
Es muss zugestanden werden, dass die du Bois’sche Molekulartheorie einen
weiteren Ausbau in mechanischer und elektrischer Richtung nicht gestattete, ohne zu
sehr einseitigen Anschauungen über die Constitution der lebenden Materie zu gelangen.
Unsre Theorie dagegen versucht es nach chemischer Richtung hin, den Ausbau fort-
zuführen und gründet ihn auf die bekannten Beziehungen, welche zwischen Elek-
trizität und Chemismus herrschen. i
Man wird nun freilich auch vom chemischen Standpunkte aus einwenden, dass
die Chemie bisher Moleküle von solchen Eigenschaften, wie sie unsre Theorie verlangt,
noch nicht kennt, und dass dieselben demnach nicht als chemische Moleküle gelten
können. Es ist nun freilich richtig, dass zwischen dem Begriff des chemischen Moleküls
und dem des Moleküls der lebenden Substanz nach unsrer Theorie eine Kluft existirt,
welche wir noch nicht ausfüllen können, Aber es steht diese T'heorie keineswegs in
irgend welchem Widerspruch mit den chemischen Vorstellungen von der Constitution
ddes lebenden Eiweiss. Sie betrachtet vielmehr den Molekülkern als das Molekül des
lebenden Eiweisses, und kann ihm jedwede Constitution zuschreiben, soweit sie die
Chemie zu ermitteln vermag. Es ist ferner eine wohlbegründete Annahme, dass das
lebende Molekül O zu assimiliren vermag, ja sogar in grösserer Menge aufspeichern
kann, ohne dass er sofort zur Oxydation verwendet wird. Andrerseits ist es sehr
wahrscheinlich, dass Kohlehydrate und Fette, welche nicht zum Aufbau des lebenden
Eiweisses dienen, sondern der Verbrennung anheimfallen, nieht in dem Säftestrom,
ebensowenig wie das eireulirende Eiweiss, verzehrt werden, sondern nur innerhalb der
211
lebenden Substanz. Es muss also eine Anlagerung derselben irgend welcher Art
an das Eiweissmolekül stattfinden. Welcher Art diese Bindung ist, ob eine Atom-
verkettung oder eine sogenannte molekulare chemische Bindung oder eine Bindung
andrer Natur, kann die physiologische Chemie nicht entscheiden. Es sprechen aber
einige allgemeine Ueberlegungen dafür, dass es sich hier nicht um die gewöhnliche
Atomverkettung handelt, wie in chemischen Verbindungen, sondern um eine Bindung
eigenthümlicher Art. Bekanntlich hat man in jüngster Zeit das Verhalten des lebenden
Eiweisses zu den oxydablen Körpern dem eines Fermentes verglichen, insofern es die
Oxydation derselben veranlasst. Es unterscheidet sich nur insofern von den Fermenten,
als es selbst beständig gespalten und oxydirt wird. Die Wirkung der uns bekannten
ungeformten Fermente erscheint mir aber schon nicht mehr als eine rein chemische
im gewöhnlichen Sinne aufgefasst werden zu können, gleicht vielmehr in hohem Grade
den Contakterscheinungen. Wenn Platinschwamm, in Knallgas getaucht, die Ver-
bindung der Gase herbeiführt, so nehmen wir nicht an, dass das Platin, wenn auch
nur vorübergehend, mit den Gasen eine chemische Bindung eingehe, sondern leiten
den Vorgang aus der Verdichtung der Gase ab. Unstreitig hängt mit dieser Eigen-
schaft des Platins aber auch das Vermögen zusammen, sich mit Gasen zu beladen
und sich zu polarisiren. Bei. den Fermenten liegt es freilich näher, an eine chemische
Attraktion gegenüber den spaltbaren Körpern zu denken, doch ist es bis jetzt nicht
gelungen, dadurch allein den Vorgang hinreichend zu erklären, es ist vielmehr an-
zunehmen, dass zwischen den chemischen Affinitäten und den Attraktionen andrer Art,
welche hier ins Spiel treten, eine uns noch unbekannte Beziehung herrscht.
Wir sind daher noch nieht im Stande, unsre T'heorie über die Constitution des
lebenden Moleküls in chemischer und physikalischer Riehtung erschöpfend zu begründen,
und sind genöthigt, der Erfahrung durch die Hypothese vorzugreifen. Es kann dies aber
ein wesentlicher Einwand gegen dieselbe nicht sein, denn sobald Hypothesen im Stande
sind, eine grosse Reihe von 'Thhatsachen aus einem gemeinsamen Prineipe abzuleiten,
muss in ihnen ein "Theil der Wahrheit enthalten sein.
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Der Sauerstoffverbrauch des Gesammtorganimus ist schon vielfach zum Gegen-
stand der Untersuchung gewählt und unter mancherlei Bedingungen der Messung
unterworfen worden. Aber nur sehr wenige Beobachtungen existiren über den
Sauerstoffverbrauch in den Geweben der verschiedenen Organe, weil sich einer Messung
derselben grosse Schwierigkeiten entgegenstellen. Um eme solche auszuführen, müsste
man erstens wissen, wie viel Blut in der Zeiteinheit durch ein bestimmtes Organ
hindurchfliesst, zweitens müsste man die Differenz im Sauerstoffgehalt des ein- und
ausfliessenden Blutes genau messen, und würde dann berechnen können, wieviel Sauer-
stoff von der Grewichtseinheit des Organes in der Zeiteinheit verzehrt wird. Die Be-
stimmung der durch ein Organ strömenden Blutmenge ist aber bekanntlich mit grossen
Fehlern behaftet, ohne erhebliche vivisektorische Eingriffe nicht auszuführen, wodurch
wiederum die Cireulation nicht unerheblich gestört wird, und oft ist auch in Folge
der Communication verschiedener Gefässgebiete mit einander der Blutstrom eines
Organes nicht mit Sicherheit abzugrenzen. Ferner ist vorauszusehen, dass die
Sauerstoffbestimmung im venösen Blut — der O-Gehalt des arteriellen als gleich
angenommen — für verschiedene Organe nur sehr geringe Differenzen ergeben wird,
welche ott innerhalb der Beobachtungsfehler liegen werden. Die gemachten Fehler
multipliziren sich aber, wenn wir aus den gewonnenen Daten die in einer gewissen
Zeit verzehrte O-Menge berechnen wollten. In neuerer Zeit hat Chauveau’) zwar
den Gasgehalt des durch den Masseter und die Parotis strömenden Blutes gemessen und
konstatirt, dass der procentische Gehalt desselben an O im Muskel viel bedeutender
abnimmt als in der Drüse. Da wir aber die in der Zeiteinheit durehfliessenden Blut-
*) Comptes rendus. CI. Nr. 21.
28*
—— 336
mengen nicht kennen, höchstens schätzen können, so lässt sich auch der O-Verbrauch
beider Organe nicht direkt vergleichen. Dazu kommt noch, dass die Strom-
geschwindigkeit je nach dem Zustand der Gefässe mannigfachen Schwankungen
unterliegt. Dass im Muskel der O-Verbraueh während der Thätigkeit erheblieh
wächst, weiss man, da trotz der Strombeschleunigung der O-Gehalt des Venenblutes
beträchtlich sinkt. Auch für die Parotis berechnet Chauveau während der Sekretion
einen stärkeren O-Verbrauch als in der Ruhe, obgleich das hellere Venenblut im
ersteren Falle einen höheren O-Gehalt zeigt, weil die erhebliche Strombeschleunigung
während der T'hätigkeit in Betracht gezogen werden muss.
Auf diese vor der Hand sehr schwierige und wenig versprechende Methode
verzichtend, könnte man nun ferner daran denken, nach dem Vorgange von Vierordt
den Blutstrom in den Organen zeitweise zu unterbrechen und spektroskopisch diejenigen
Zeit zu messen, innerhalb welcher aus dem zurückgebliebenen Blutrest der O ver-
schwunden ist. ‚Je lebhafter der O-Verbrauch ist, um so schneller wird dies cet. par.
geschehen. Der Versuch lässt sich aber nur an wenigen Körpertheilen oder Organen
ausführen. und ist von Vierordt selbst nur am menschlichen Finger durch Um-
schnürung desselben erprobt worden. Zwar ist dieser schon aus verschiedenartigem
Gewebe zusammengesetzt, Haut, Knochen, Sehne u. s. w., doch kommt in diesem Falle
wohl hauptsächlich der O-Wechsel der Haut in Betracht. Grosse Schwierigkeiten
aber dürfte es haben, den Versuch auch auf andere Körpertheile, namentlich innere
Organe, auszudehnen. Es wäre hierzu erforderlich, erstens die Blutzufuhr absolut
abzuschneiden, was in vielen Fällen durch Zuklemmung der grösseren Gefässe nieht
vollständig zu erreichen sein wird, sondern nur durch Absehnürung des ganzen
Organes, um alle kleineren Zuflüsse, wie bei der Niere durch die Kapsel, bei der
Leber durch Ligamenta u. s. w. zu schliessen Die spektroskopische Beobachtung
dürfte an der mangelhaften Durchleuchtung dieser Organe scheitern, und ausserdem
wäre ein vollkommener Luftabschluss derselben geboten, damit kein OÖ von aussen
eindringt. Abgesehen davon, wissen wir niemals genau, wieviel Blut in den Organen
zurückgeblieben ist, können daher nicht berechnen, wieviel OÖ die Gewichtseinheit
derselben in der Zeiteinheit verzehrt hat.
Aus allen diesen Gründen habe ich geglaubt, dass die Untersuchung vor der
Hand befriedigender ausfallen würde, wenn sich dieselbe auf die überlebenden Organe
eben getödteter Thhiere beschränkte. Dieselben befinden sich zwar mehr oder weniger
im Zustande des Absterbens, dass sie aber noch eine Gewebsathmung besitzen, wissen
wir aus mehrfachen Beobachtungen. Der Muskel scheidet nicht nur CO; an die um-
217
gebende Luft ab, sondern nimmt, wenn auch nur in sehr geringem Maasse, O aus
derselben auf. Hermann’) betrachtet diese O-Aufnahme zwar nicht mehr als einen
physiologischen Akt, weil sie auch am starren Muskel zu konstatiren ist. Ueberhaupt
ist sie wegen der langsamen Diffusion von der Oberfläche aus so gering, dass sie,
selbst als physiologisch betrachtet, nicht als Maass für das O-Bedürfniss der Gewebe
benutzt werden kann. Grösser ist sie, wenn man den Muskel zerschneidet, sei es,
dass die Querschnitte mehr Affinitäten dem © darbieten, sei es durch Vergrösserung
der Oberfläche.
xrr
Grützner"”) und Gscheidlen**) haben sich bemüht, nachzuweisen, dass der
thätige Muskel ein stärkeres Reductionsvermögen besitze als der ruhende. Grützner
hatte unter Anwendung von Pyrogallussäure und Eisenchlorid keine ganz entscheidende
Resultate erhalten. Gscheidlen beobachtete, dass der thätige Muskel Natronnitrat
schneller in Nitrit umwandle als der ruhende, ferner dass Indigolösung in verschliess-
baren Fläschehen von ihm schneller entfärbt wird.
Die genannten Reagentien scheinen mir nun aber keineswegs geeignet, um das
Reductionsvermögen der Gewebe mit einander zu vergleichen. Es liegt vielmehr am
nächsten, hierzu die den lebenden Organen am meisten adäquate Flüssigkeit, nämlich
die Lösung von Oxyhämoglobin zu verwenden.
Es war mir im höchsten Grade überraschend, dass folgender, höchst einfacher
und instruktiver Versuch, welcher unsren weiteren Beobachtungen zu Grunde liegt,
noch nirgends beschrieben worden ist. Man stelle sich eine verdünnte Frosehblut-
lösung von 2—4 Um. Blut auf 100 H20 her, und füge 0,6 gr. ClNa. hinzu, zer-
schneide einen halben bis ganzen frischen Gastroen. möglichst fein mit der Scheere,
bringe die Masse in ein Fläschchen von etwa 5 Cem. Inhalt, füge 2— 3 Cem. Blut-
lösung hinzu und fülle den übrigen Raum mit 0,6 Cl1Na.-Lösung ‚aus, so wird man
nach luftdiehtem Verschluss des Fläschehens und mehrfachem Umschütteln desselben
nach etwa 10 — 20 Minuten eine vollständige Reduetion der Blutlösung vorfinden.})
*) Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln, 1867.
**) Ueber einige chemische Reaktionen des thätigen und unthätigen Muskels. Pflügers Arch.
VII S. 254.
”**) Ueber das Reduktionsvermögen des thätigen Muskels. Ebendaselbst 8. S. 506.
7) Einen dem eben beschriebenen ähnlichen Versuch habe ich nach Vollendung dieser Arbeit
in einer Abhandlung von Rumpf, „Untersuchungen über die Wärmeregulation in der Narkose und im
Schlafe* (Pflügers Arch. Bd. XXXII. S. 585) vorgefunden. In diesen Versuchen sollte geprüft werden,
ob Morphium, Chloral und Chloroform einen direkten Einfluss auf die Reduktion des Blutes in den
—— 218
Der Moment der beendeten Reduktion lässt sich spektroskopisch*) auf die Minute
ziemlich genau angeben. Die gleiche Blutlösung allein bleibt dagegen oft 24 Stunden
O-haltig.
Man ist, wie mir scheint, wohl berechtigt, anzunehmen, dass diese ziemlich
schnelle O-Zehrung des zerkleinerten frischen Muskelgewebes eine physiologische ist,
vielleicht nieht ganz gleiehbedeutend aber gewiss sehr nahestehend derjenigen, welche
im lebenden Organismus stattfindet. Reste von Lebenseigenschaften bleiben in dieser
Gewebsmasse jedenfalls noch ziemlich lange erhalten. Wie dem aber sein mag,
sicherlich haben wir es hier mit einer sehr bemerkenswerthen Reaktion des ab-
sterbenden Gewebes zu thun, welche immerhin einen Schluss auf das Verhalten des
lebenden Organes gestattet, und aus diesem Grunde schien es mir der Mühe werth,
weitere Versuche nach dieser Methode anzustellen. Von einer Einmischung von
Fäulnissprocessen kann bei der Kürze der Versuchsdauer nicht die Rede sein.
A. Versuche am Frosch.
Die Organe der Kaltblüter, welche am längsten im überlebenden Zustande
erhalten bleiben, werden vermuthlich auch nach der Zerkleinerung in ihren Trümmern
einen grösseren Rest von Lebenseigenschaften bewahren, als die der Warmblüter.
Es wurden daher Anfangs vornehmlich Versuche an den Organen von Fröschen vor-
genommen, und im Allgemeinen in folgender Weise verfahren. Das blossgelegte Herz
eines Frosches wurde angeschnitten und das ausfliessende Blut in einem Uhrschälchen
mit einem Stäbchen defibrinirt. Dann wurden, wie schon oben angegeben, 2—4 Ücm.
Blut in 100 Cem. destillirten Wassers gelöst und nach der Lösung 0,6 gr. ClNa zu-
gesetzt. Die Flüssigkeit wurde filtrirt und in eine in Zehntel Cem. getheilte Pipette
Geweben ausübe. Es wurden frische zerkleinerte Muskelmassen mit einer Quantität Blut und 0,75 °/,
Koehsalzlösung in grossen Spitzgläsern vermengt, und bei auffallendem Lichte die eintretende Dunkelung
des Blutes beobachtet, nachdem einer von zwei Portionen eine gewisse Menge der genannten Mittel
zugefügt war. Für Morphium und Chloral ergaben sich keine Unterschiede. Es ist nicht angegeben,
ob die Gläser verschlossen waren.
*) Ich bediene mich hierzu des Handspektroskops aus der Werkstatt von Schmidt & Hänsch
(Berlin).
mit Quetschhahn gefüllt. Nach vollständiger Verblutung der Thiere können viele
Organe ohne weiteres zum Versuche benutzt werden, da sie nur sehr geringe Blut-
reste enthalten. Andere dagegen, namentlich Leber, können erst nach vollkommener
Ausspülung der Gefässe mit 0,6 Proc. ClNa-Lösung verwendet werden. Es wurde
daher diese Ausspülung mehrfach vorgenommen.
Meistens wurde 1 gr. Organsubstanz in einem Uhrschälchen abgewogen, mit
der Scheere möglichst fein zerschnitten und in ein Fläschehen von 5 Cem. Inhalt mit
eingeriebenem Stöpsel möglichst vollständig hineingebracht. War nicht soviel Sub-
stanz vorhanden, so wurde dieselbe genau abgewogen, und von den andern damit zu
vergleichenden Organen ebensoviel. Es kamen also immer in einem Versuche gleiche
Gewiehtsmengen verschiedener Organe oder derselben Organe in verschiedenen Zu-
ständen zur _Vergleichung. Dann wurden aus der Pipette meist 2 Cem. Blutlösung
in die Fläschchen hineingelassen, der übrige Raum mit 0,6 Proc. ClNa-Lösung aus-
gefüllt, und durch Umrühren mit einem Stahlstäbehen alle Luft entfernt. Damit beim
Verschliessen mit dem Stopfen keine Flüssigkeit verdrängt werde, wurde dieselbe nur
bis an den Hals eingegossen, der Hals aber mit einigen Tropfen Mandelöl gefüllt
und dann der Stopfen aufgesetzt, sodass dabei nur Oel ausfloss.
Zwei oder mehrere mit einander zu vergleichende Fläschehen werden nun alle
paar Minuten in gleicher Weise geschüttelt oder besser rotirt und mit dem Spektro-
skop untersucht. Ich habe mich davon überzeugt, dass geringe Unterschiede in der
Häufigkeit oder Stärke des Schüttelns keinen sehr merklichen Einfluss auf den Ein-
tritt der Endreaktion besitzt, dass dagegen das Bewegen der Flüssigkeit überhaupt
denselben wesentlich beschleunigt. Die Differenzen, um die es sich im Folgenden
handelt, sind meistens so gross, dass ein merklicher Fehler sich aus diesen Umständen
nicht einmengt.
Ebenso habe ich mich davon überzeugt, dass kleine, für das Auge eben noch
merkliche Unterschiede in der Zerkleinerung der Gewebe keine wesentlichen Zeit-
differenzen bis zum Eintritt der Endreaktion verursacht. Ganze Organstücke oder
grobe Theile derselben brauchen natürlich bis zur Aufzehrung des O längere Zeit.
Füllt man aber z. B. zwei Fläschchen mit je 1 gr. M. Gastroen. beider Seiten und
mit derselben Blutlösung, so sieht man cet. par. in beiden die Endreaktion fast auf
die Minute zu gleicher Zeit eintreten.
220
1. Muskel.
Es lag nun nahe, zuerst den lebenden und todtenstarren Muskel zum Versuch
auszuwählen. Nach den oben genannten Vorbereitungen wurde 1 gr. Muskel zer-
schnitten in ein Fläschchen gebracht und dasselbe gut verschlossen in einem Wasser-
bade auf 45 — 50° C. 10 Minuten erwärmt. Auf diese Weise konnte beim Erwärmen
weder ein Verlust von Wasser noch von flüchtigen Substanzen eintreten. Nach der
Abkühlung wurde das Fläschchen zugleich mit einem zweiten, welches 1 gr. frische
Muskelsubstanz enthielt, in oben beschriebener Weise mit der Blutlösung gefüllt.
Folgender Versuch giebt ein Beispiel hierfür.
Leb. Musk. Warmestarr. Musk. (Gastroen.)
Zeit bis zum Verschwinden des O 12° 1 St. 53° "T'hier entbl., 3 Cem. Blutlös.
Der Zeitunterschied ist beständig ein solcher, dass an einen Fehler aus obigen
Gründen gar nicht zu denken ist.
Das Reduktionsvermögen der lebenden oder wohl genauer der frischen Muskel-
substanz ist also, in vorliegender Weise geprüft, ein äusserst in die Augen springendes.
Wir finden aber, dass der wärmestarre Muskel dieses Vermögens nicht gänzlich ent-
behrt, denn die Selbstzehrung im Blute braucht sehr viel längere Zeit bis zu ihrer
Vollendung. Im übrigen sind die Zeiten bis zur Reduktion beim starren Muskel
nicht immer gleich im Verhältniss zum frischen, und dies erklärt sich vermuthlich
daraus, dass das Absterben keineswegs bei einer bestimmten Temperatur eintritt,
sondern mit der Zunahme der Wärme allmählig vorschreitet. Man kann also sagen,
dass auch der starre Muskel noch geringe Reste von Lebenseigenschaften zurück-
behält, die sich durch ein geringes Reduktionsvermögen kundgeben. Nun war es
von hohem Interesse, mit dem frischen und wärmestarren Muskel den durch Siedehitze
gänzlich abgetödteten Muskel zu vergleichen, wie folgende Beispiele zeigen:
Muskel (Gastroen.)
Lebend 100° GC,
Zeit 20' 5 3 Cem. Lösung.
(M. Graeilis.)
Wärmestarr 1000 0,
Zeit 1057932, 4.8t. 57° 2 Cem. Lösung.
|
Wir finden also, dass der auf 100° erhitzte Muskel ein selbständiges, merk-
liches Reduktionsvermögen kaum noch besitzt. Die Reduktion des Oxyhämoglobins
dauerte meist ebenso lange wie im reinen Blute allein. Doch wollte es scheinen, dass in
manchen Fällen die Reduktion durch den gekochten Muskel nicht ganz so lange
dauerte wie im Blute, was bei der Länge der Versuchsdauer nicht immer bestimmt
festzustellen war. Bei andern Organen werden wir auf diese Frage nochmals zurück-
kommen.
Um noch genauer zu konstatiren, in wie weit die Zerkleinerung des Gewebes
von Einfluss auf die Dauer des Vorganges ist, wurde in einigen Fällen der zer_
schnittene Muskel mit Glaspulver verrieben und diese Masse mit der auf gewöhnliche
Art fein zerschnittenen Muskelsubstanz verglichen. Es ergab sich, wie folgendes
Beispiel zeigt, mehrere Male sehr deutlich, dass die Reduktionszeit der zerriebenen
Muskelsubstanz sogar etwas grösser war als die der zerschnittenen.
Muskel
Zerschnitten Zerrieben
Zeit IE 13: 2 Cem. Lösung. 3 Procent.
Ich glaube dieses Resultat daraus erklären zu können. dass der vollständig
zerriebene Muskel eben bei weitem mehr abgestorben ist als der zerschnittene, und
sich im Verhalten dem starren Muskel nähert. Es ergiebt sich aber auch zugleich
hieraus wiederum, dass die zufälligen Verschiedenheiten in der Zerkleinerung der
Gewebe keinen grossen Einfluss ausüben können, und dass es nicht rathsam ist, eine
vollkommene Zerreibung derselben vorzunehmen. Es war ferner noch nöthig, fest-
zustellen, in welcher Weise die Reduktionszeit von der Menge der angewendeten
Substanz abhängig ist. Wenn die Reduktion durch das noch lebende Protoplasma
oder durch gewisse reducirende Substanzen bewirkt wird, so ist es einleuchtend, dass
die Schnelligkeit der Reduktion mit der Menge Substanz det. par. sich in gleichem
Sinne ändern wird. Dies ist auch in der 'T'hat der Fall, doch ist keineswegs zu
erwarten, dass etwa die Reduktionszeit der Menge der Substanzen umgekehrt pro-
portional sei, vielmehr muss sie langsamer abnehmen, als diese zunimmt. Folgendes
Beispiel ist überzeugend:
Gastroen.
IZerR 0,5 gr.
Zeit ko, 25. 3 Cem. Lösung. 3 Procent.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 29
Es schien nun gerathen, andre Organe in jedem Versuche mit dem quer-
gestreiften Muskel zu vergleichen, letzteren gleichsam als Maassstab für die Stärke
der O-Zehrung zu benutzen. Die Versuche erstreckten sich beim Frosch auf folgende
Organe.
2. Glatte Muskulatur.
Die Museularis des Magens ist beim Frosch das geeignetste Objekt, um grössere
Massen glatter Muskelfasern zu untersuchen. Die Schleimhaut lässt sich am besten
abpräpariren, wenn man den Magen umstülpt und über einen horizontal befestigten
Glasstab schiebt. Es lässt sich von einem Frosche etwa '„—1 gr. Substanz ge-
winnen. In einigen Versuchen erhielt ich folgende Resultate:
Gastrocn. Magenmuskulatur Bemerkungen
Zei md: >19t. 42' !s gr. 1 Cem. Lösung.
Era 3l! 2 Cem. Lös. 3 Proc., 0,8 gr.
2 ? >
In allen Versuchen dauerte die Reduktion dureh die glatte Muskulatur deutlich
länger als durch die quergestreifte. Es bestätigt sich hierin, was wir aus ander-
weitigen Unterschieden beider Muskelarten schliessen, dass entsprechend ihrer Aktion
auch der Stoffwechsel der glatten Faser ein trägerer ist als der der quergestreiften.
In einigen Versuchen waren die Unterschiede in der Reduktionszeit nicht so gross
wie in den obigen. Es fiel mir dabei auf, dass bei diesen 'Thieren, die frisch
gefangen waren, der Magen angefüllt war. Es hatte also den Anschein, als ob die
erhöhte T'hätigkeit des Organes auch von einer stärkern Reduktionsfähigkeit seiner
Gewebe begleitet war.
Man könnte im allgemeinen gegen die Methode einwenden, dass das Gewebe
der Museularis derber und fester sei, und sich nicht so leicht in Bündel und Fasern
zertheile als das des Skelettmuskels. Es wurde aber in den Versuchen die Museularis
möglichst fein zerschnitten; ausserdem bietet sie als platte Haut schon an sich
der Flüssigkeit viel Oberfläche dar. So grosse Unterschiede in der Reduktionsdauer
wie in obigen Fällen konnten jedenfalls durch derartige Umstände nicht herbeigeführt
werden.
3. Drüsengewebe.
Um auch Drüsengewebe zu untersuchen, wurde in einigen Fällen die ab-
präparirte Magenschieimhaut benutzt. Sie zeigte meist eine viel längere Reduktions-
. 62}
223
zeit als der Skelettmuskel und auch eine merklich längere als die Museularis des
Magens. Folgendes Beispiel möge hier folgen.
Magen
Gastroen. Museularis Schleimhaut
Zeitionl7‘ 3 34° 2 Cem. Lösung, 3 Proe. 0,8 gr.
Ob in diesem Falle die saure Reaktion der Drüsen in Betracht kommt, habe
ich nieht weiter untersucht.
Die Versuche wurden ferner auf die Leber des Frosches ausgedehnt. In
einigen derselben war die Reduktionszeit der Leber eine grössere als die des Muskels.
Doch könnte dies daher rühren, dass in der Leber ziemlich viel Blutreste zurück-
bleiben, welche die Menge des Oxyhämoglobins in der Flüssigkeit vermehren können.
Im übrigen habe ich gefunden, dass geringe Blutreste von keinem merklichen Einfluss
sind, weil die Blutkörperchen sich in der Kochsalzlösung nicht auflösen und in den
Geweben haften bleiben. Bei Thieren, in welchen das Blut durch CINa-Lösung
ausgespült war, zeigte das Lebergewebe in einigen Fällen etwa dieselbe Schnelligkeit
der Reduktion wie der Muskel, z. B.
Gastroen. Leber
Beit 23: 23° 1,02 grm., 2 Cem, Lösung. 1,8 Procent. Ausspilung des
Blutes mit 0,6 Proe. C1Na-Lösung von der Aorta aus.
Hiernach besitzen die Leberzellen im frischen Zustande in manchen Fällen ein
fast ebenso lebhaftes Reduktionsvermögen wie die frische Muskelsubstanz. In andern
dagegen war die Reduktion eine langsamere, und dies war insbesondere auffallend bei
einem starken Fettgehalt der Leber. Das gelbgefärbte Fettgewebe schwamm in solchen
Fällen in dem Fläschchen oben, während sich die Leberzellen am Boden hielten.
Es kann nicht daran gedacht werden, dass etwa der in der Leber enthaltene
Zucker bei der Reduktion eine Rolle spiele, da dieser an sich dem Hämoglobin den
O nicht entziehen kann. Ich habe, um dies festzustelles, einen Versuch mit Trauben-
zucker ausgeführt. Die zuckerhaltige Blutlösung war ebenso wie die zuckerfreie
nach 3—4 Stunden noch nicht redueirt. Das schnelle Reduktionsvermögen der Leber
kommt also entschieden dem Protoplasma der Zellen zu.
Haut:
Ein gutes Untersuchungsobjekt beim Frosch ist schliesslich noch die Haut, die
allerdings aus verschiedenartigem Gewebe zusammengesetzt ist. Ihre Hauptmasse ist
29*
Bindegewebe, aber sie enthält neben anderem Gewebe ja auch noch ziemlich viel Drüsen.
Ein ganz eindeutiges Resultat ist daher nieht zu erwarten. Sie besitzt eine deutlich
längere Reduktionszeit als der Muskel, in einigen Fällen kam sie aber der des letzteren
ziemlich nahe. Eine langsamere Reduktion ist wohl dem Bindegewebe, eine schnellere
den Drüsen zuzuschreiben. Einen mittleren Werth zeigte folgender Versuch:
Gastroen. Haut
Zeit 10‘ 15% 2 Cem. Lösung. 3,2 Procent.
Es könnte auch sein, dass verschiedene Hautstellen sich nicht ganz gleich verhielten,
worauf ich bis jetzt noch nicht geachtet habe.
Andre Organe vom Frosch habe ich nur gelegentlich untersucht. Gehirn,
Niere und Hoden bieten zu wenig Material dar, um einen zuverlässigen Versuch aus-
zuführen.
Aus einer Anzahl von Versuchen an Organen des Frosches habe ich nun
folgende Tabelle zusammengestellt:
Versuchsreihe I, Frosch.
Tabelle 1.
|
Wärme- Magen- 3
\ Lebender Muskel 2 Magen- >
Nr. | 2% starrer |, ı Leber. Haut. : schleim- | Darm. Bemerkungen.
| Muskel. Muskel. | v; 100° C. museul. Hart
1. | 12‘ Semim. | 36‘ _ 23 122: — — —
u. Gracilis. | | |
2. 10’Gastroen. = | —-— | | \2—1,8 Cem. Blut in
| 100 Cem. Lösung.
| | 1 Cem. Lösung.
| |
3. | 10” Triceps | > 40) —_— — — — TRENNT N n
4..197%Sem.Grae.| —— — — —a, || = la re on r
5. | 6" Gastroen. | — [181.212] 2 ale ah | 3
6.220227 = >58t. ei = a | For » (2%)
7 SHD — — 21.5’ == N » nieht
| | | entblutet.
SD 30E: — —_ Da) —_ —_ —_— | — 3 Cem. Lös. (1,8 ',)
| entbl., 1,02 gım.
Substanz.
Nr. | Lahend arrer u | Leber. Hant. ne sclei. Darm. Bemerkungen
9. 12’ Gastroen. 181.53 | — —_ —_ — —_ — . |3 Cem. Lös. (1,8 °/,)
10. — _ . |181.32')486.57| — = _ _ EI ;
Graeilis | Graeilis | |
11. 10‘ = _ — 15‘ — —_ — N en
12.9 — = — _ oe u a
13. | 8 — — —_ g‘ — —_ en ee u
15. | 9° = _ — —_ 10° 15% — (EA),
ı (Magen gefüllt),
TR grm. Substanz.
15 | RE —— Z— 15° |2 Cem. Lösung.
lo |. ae IE 31' 34 | — ,2Cem. Lösung (3 %/,)
ı 0,8 grm.
182 12)57 — —_ _ = 15' 20° — [2Cem. Lösung (3!/,)
' 0,95 grm.
19a. 14 — _ 30 = 2 Cem. Lösung (3 /,)
| | hellgelb | 1grm.
19b. | 11,5‘ _ — fettreich 31,5‘ _ — — Nicht entblutet.
20a. 12 AT r 8‘ 7 — — 2 Cem. Lös. (2,8 %/,)
1 grm. entblutet.
20.5.1115: 24,5’ = er = ‚IE t
21a.| 15 = 7= 21‘ —_ = oh 2 Cem. Lösung (2%/,)
| braungb | | 1grm. entblutet.
21b.|12,5‘ = — — 22,5 = = =
In dieser Tabelle finden wir verschiedenartige Werthe sowohl für den lebenden
Muskel, als auch für die andern Organe vor. Dies rührt von der Menge der angewendeten
Substanz, der Menge, Concentration und dem O-Gehalt der Blutlösung, ferner von den
Zuständen der Organe und wohl auch von der Temperatur ab. Um daher die er-
haltenen Werthe mit einander vergleichen zu können, ist es nothwendig, sie auf eine
bestimmte Einheit zu redueciren.
Dies geschieht am besten, wenn wir in einem jeden
Versuche die Reduktionszeit des frischen Muskels gleich 1 setzen. Die folgende
Tabelle II enthält die entsprechenden Werthe der geprüften Organe in dieser Weise
berechnet:
Tabelle I.
Nr nz Star 106, Leber Haut. nn schein. Darm. Bemerkungen.
| 1 3 — (192) | 183 | — — on
2. | ” m; | >= —. = |
3. | a =} — = —. |, — —
4. 5 > — | — — — —_— | —
5. . | — 138: | = _ —_ —a
6. P — >15 — — _ — —
7: 3 _ _ 1 = _— = Ss0N
8. h u = 1 | | — | Entblutet.
9. I ea — Ne _ ne
10. | 2 | 205 Ba = —
1 A | | a _ en
N - - |- |- | m | -
Eu ä | | 1,13 — — =
14. | — — — —
15. x 1,11 1,66 —
16. x 2,14
17. | z — —. |, — — 1,82 BORN
18. e a | | 1,2 1,642 | ==
19. p _ 1182.18) 1207 Nieht entbl., Leber
| | | fettreich, hellgelb.
20. | = En — | 1,5 2,1 E= — — Entbl., Leb. graugelb.
21%) 5 — _ 1,4 18 — —_ — _ Entbl.,Leb.braunglb.
Zeiten 1 602° U am. | 1,005 1 10so/Ra9e eie7o on
Gschwdgkt. 100 16,2 | 5,64 | 8197 | 5405 | 724 | 37 = |
Wenn man aus den erhaltenen Werthen die Mittelzahlen nimmt, so erhält man
die „Reduktionszeiten“ oder die „Zeiten der O-Zehrung“ für die untersuchten Gewebe.
Man kann hieraus ferner die „Geschwindigkeiten der O-Zehrung“ berechnen, indem
man diese umgekehrt proportional den Zeiten setzt und dieselbe für den Muskel z. B.
gleich 100 annimmt.
Die letzte Reihe der Tabelle, welche diese Geschwindigkeiten wiedergiebt, zeigt
folgende Stufenleiter der verschiedenen Organe von der schnelleren zur langsameren
0 - Zehrung.
Lebende Organe.
Quergestreifter Muskel
Leber !
Glatter Muskel
100
81,97
12,4
|
19
-1
Märensehleimhantbos. say, 1allunalı.ılnn8
1,05
Aeussere) Hautw ınanla,) ariı tw „aungıl) 54,05
Todte Organe.
Wärmestarrer Muskel . . . ...-.162
Muskel von 100° © RR Ditt, 5,64.
Da der wärmestarre Muskel, wenn auch sehr langsam, aber immer noch
schneller redueirt als der durch Siedehöhe ganz abgetödtete, so muss man seiner
Substanz noch ein besonderes Reduktionsvermögen zuschreiben.
B. Versuche an warmblütigen Thieren.
Nach den an den Organen des Frosches gemachten Erfahrungen lag in hohem
Grade Veranlassung vor, auch die Organe der Warmblüter in derselben Weise zu
prüfen. Allerdings wissen wir, dass diese nach Unterbrechung der Blutzufuhr noch
viel schneller dem Absterbevorgang unterliegen als die des Kaltblüters, aber doch durfte
man erwarten, an den frischen Geweben noch kräftiges Reduktionsvermögen vorzu-
finden. Es war jedenfalls von Interesse, das Verhalten mit dem des Kaltblüters zu
vergleichen, und ausserdem noch eine Reihe von Organen in das Bereieh der Unter-
suchungen einzuschliessen, die sich beim Warmblüter in grösserer Masse darbieten als
beim Kaltblüter. - Die gewonnenen Resultate haben in mancher Beziehung den Er-
wartungen entsprochen, aber auch Unerwartetes ergeben.
Die Organe der Thiere kamen in vielen Fällen unmittelbar nach der Verblutung
so schnell als möglich zur Untersuchung. Doch vergeht immerhin einige Zeit, bis
alle Vorbereitungen beendet sind. Nach der Verblutung muss das Blut defibrinirt
werden, es muss die Blutlösung mit der schon vorher abgewogenen Menge von 0,6 gım.
C1lNa hergestellt, filtrirt und in die Pipette eingefüllt werden. Dann kommt die
Herausnahme des Organes, Abwägung eines Stückes und Zerkleinerung desselben in
der früher beschriebenen Weise. Immerhin vergehen auch bei ausreichender Hilfe
10— 15 Minuten bis zum Verschluss der Fläschehen.
Es wurden aber auch die Organe öfter zu verschiedenen Zeiten nach dem
Tode untersucht. In solchen Fällen wurde das vorher entnommene Blut desselben
Thieres benutzt oder auch das Blut eines andern später getödteten Thieres. Zur
Untersuchung blutreieher Organe, wie der Leber, wurde auch einige Male eine Aus-
spülung der Gefässe mit 0,6 procent. CINa-Lösung vorgenommen. In solchem Falle
musste freilich der Absterbeprocess der Organe schon beträchtlich weiter vorge-
schritten sein.
Die Versuche erstreckten sich auf Kaninchen, Hund und Taube. Es war
natürlich nieht immer möglich, an einem T'hiere viele Organe zu benutzen, da jede
Beobachtung gewisse Zeit in Anspruch nahm, ebensowenig konnten alle verwendeten
Organe in gleich frischem Zustande entnommen werden. Dieser Umstand ist in den
Versuchsprotokollen aus der Reihenfolge der Beobachtungen ersichtlich. Eine bessere
Ausnutzung des Materials wäre nur möglich, wenn mehrere Beobachter zugleich an
einem Versuche theilnehmen würden.
1. Quergestreifte Muskeln.
Der Skelettmuskel diente wiederum als dasjenige Organ, von welchem die
Versuche ihren Ausgang nahmen. Es wurden meistens der M. Gastroen. oder andre
Muskeln der untern Extremität hierzu gewählt. Folgende Versuche geben einen Ver-
gleich des frischen Muskels mit dem gebrühten, und mit dem abgestorbenen und starren
Muskel.
Muskel
frisch 100°C. Blut Bemerkungen
Zeit, 11,5‘ BS]R >5St. Hund, 1 grm. 2 Cem. Lösung. (3 Proc.)
Muskel
frisch tot n. 24 St. Bemerkungen.
Zeit 17 21° Kaninchen, 1 grm. 1 Cem. Lös. (2 Proe.)
tot n. 48 St.
h: 11° 41,5° ebenso.
So sehen wir also, dass das frische Muskelgewebe recht schnell redueirt, der
durch 100° vollkommen abgetödtete Muskel gar nieht mehr oder nur sehr un-
merklich, dass aber auch dem zeitstarren Muskel noch ein schwächeres Reduktions-
vermögen zukommt, das mit der Dauer nach dem "Tode immer geringer wird. Bei
längerer Dauer könnte aber auch die Fäulniss das Resultat beeinträchtigen. Ferner‘
lässt sich aus einigen Versuchen entnehmen, dass das Reduktionsvermögen des Muskels
ziemlich schnell nach dem Tode sinkt. Von demselben T’hiere wurden in Zwischen-
229
räumen von etwa einer halben Stunde Proben entnommen und geprüft. So fanden
sich z. B. hintereinander folgende Werthe:
Muskel
Ir Zr 3 4,
Aeit WIRD, 25° 27 41‘ 1 grm. 2Cem. Lösung (2 Proe.) Hund.
Da nun in solchem Falle dieselbe Blutlösung genommen würde, so sollte man
meinen, dass in der späteren Probe derselben der O sich verringert habe oder lockerer
gebunden sei. Nichtsdestoweniger wachsen die Reduktionszeiten in sehr beträcht-
lichem Grade. Man wird in der Tabelle S. 236 mehrere solche Beispiele vorfinden.
Es wäre nun wohl am Platze, über die Art des Vorganges eine Betrachtung
einzuschieben, nachdem wir das am Froschmuskel gefundene auch am Säugethier-
muskel bestätigt haben. Die O-Aufnahme aus dem Blute in die Gewebe des lebenden
Körpers ist nicht unmittelbar als Oxydationsprocess anzusehen, sondern es geht diesem
offenbar eine Aufspeicherung des O im lebenden Protoplasma durch Assimilirung
voran, d. h. eine Bindung mehr oder weniger lockerer Art. Der zweite Akt erst ist
die mit Spaltung einhergehende Oxydation, welche festere O-Verbindungen liefert.
Ausserdem aber können sich im lebenden und absterbenden Gewebe oxydable Sub-
stanzen bilden, welche ausserhalb des Protoplasmas O an sich reissen, was ja durch
die Versuche von Al. Schmidt über die Ansammlung oxydabler Substanzen im Blute
bei Erstickung und 'Tetanus nachgewiesen ist. Setzen wir nun diese beiden Vorgänge
voraus, so dürfen wir annehmen, dass in dem ganz frischen Gewebe noch die Eigen-
schaft der Assimilirung des O in gewissem Grade fortbesteht, welche eine schnelle
Reduktion des Oxyhämoglobins zur Folge hat. Die Spaltung und Oxydation wird
(daher bis zum völligen Absterben noch in gewisser Stärke fortdauern. In dem zeit-
und wärmestarren Muskel dagegen findet nun zwar die Assimilirung des O nicht mehr
statt, aber es haben sich unter O-Mangel oxydable Substanzen gebildet von mehr
oder weniger labiler Zusammensetzung, welche analog dem lebenden Protoplasma 0
an sich ziehen. Daher finden wir in diesem Muskel noch ein schwaches Reduktions-
vermögen vor. Dasselbe wird aber immer geringer, je länger die Zeitstarre dauert,
oder je höher die einwirkende Temperatur gewesen. Endlich bei einer Temperatur
von 100° C. verschwindet jedes Reduktionsvermögen im Muskel fast gänzlich. Wir
werden daraus folgern, dass die oxydablen Substanzen des Muskels durch höhere
Temperatur in immer festere Verbindungen verwandelt werden, also ihre Reduktions-
fähigkeit allmählig verlieren.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd.X VI. 30
230
Ich möchte aber noch besonders betonen, dass in chemischer Hinsicht eine
scharfe Grenze zwischen der Reduktion im lebenden Gewebe und im mehr oder
weniger abgestorbenen vielleicht gar nicht zu ziehen ist. Wir beurtheilen den Eintritt
des Todes in einem Organ nur nach dem Verschwinden äusserer Effekte, insbesondere
der Contraktions- und Leitungsvorgänge und ähnlicher Processe. _ Der Uebergang aus
dem lebenden in den todten Zustand in dem chemischen Molekül des Protoplasma
scheint aber in Wirklichkeit mehr oder weniger ein allmähliger und continuirlicher
sein. Wir können uns daher denken, dass das Molekül beim Absterben nach und
nach in Spaltungsprodukte zerfällt, welche ihm in ihren chemischen Eigenschaften
immer unähnlicher werden, in der ersten Periode des Zerfalls ihnen aber noch sehr
ähnlich sind.
2. Glatte Muskulatur.
Einige Versuche an der Muscularis des Magens bestätigten im Ganzen das
Resultat, welches wir beim Frosch erhalten hatten. Besonders geeignet hierzu ist
der Muskelmagen der Vögel.
Gastroen. Magenmuskel
Zeit 29' 59° Kaninchen, 2 Cem. Lösung (3 Proe.).
Brustmuskel Magenmuskel
Zeit . 11,55 25,0. Taube, 1 grm. 2Cem. Lösung (2 Proe.).
Die absolute Verschiedenseit des Kaninchen- und Taubenmuskels ist in diesem
Falle nieht maassgebend. weil nicht dasselbe Blut in beiden Versuchen angewendet
war. Auch kommen absolute Unterschiede bei derselben Thiergattung vor. Dagegen
ist die O-Zehrung in der glatten Muskulatur beide Male noch einmal so langsam als
in der quergestreiften.
3. Drüsen.
An den grösseren 'T'hieren boten sich eine Anzahl von Drüsen sehr bequem
zur Untersuchung dar. Es wurden Magenschleimhaut, Leber, Submaxillaris, Pankreas
und Niere hierzu ausgewählt.
a) Magenschleimhaut.
Skelettmuskel Magenschleimhaut
Zeit - 29 54 Kaninchen, 2 Cem. Lösung (3 Proe.).
Die Magenschleimhaut redueirte also in diesem Falle etwa nur halb so stark
als der Skelettmuskel.
231
b) Leber.
Da die Leber sehr blutreich beim Warmblüter ist, so wurde meistens eine
Ausspritzung der Gefässe mit 0,6 Procent ClNa-Lösung vorausgeschickt.
Ich erhielt z. B.:
Muskel Leber
Zei 32° 27‘ Kaninehen, 1 grm. Entblutung, 2 Cem. Lösung (2 Proe.).
3 23° 30‘ 2 Entblutung 1 grm., 2 Cem. Lösung (2 Proe.).
e 21° 26‘ e 1 grm. ohne Entblutung.
Man sieht hieraus, dass das Reduktionsvermögen der Leber beim Warmblüter
in geringen Grenzen einmal grösser einmal kleiner erscheint als das des Muskels,
dass dasselbe also bei beiden Organen ungefähr ein gleiches ist, übereinstimmend
mit dem am Frosch erhaltenen Resultat. Das Unterlassen der Ausspritzung verur-
sachte trotz der Blutreste in der Leber keinen sehr grossen Fehler in der Bestimmung
der Reduktionszeit. Siedehitze hebt das Reduktionsvermögen der Leber fast voll-
ständig auf.
ec) Speicheldrüse und Pankreas.
Ganz anders verhielt sich die Speicheldrüse (Gl. submaxillar). Beim Kaninchen
sowohl wie beim Hunde zeigte sie eine verhältnissmässig sehr langsame Reduktion.
Muskel Gl]. submax.
Zeit 17,5' 66,5° Kaninchen, 0,66 grm. 1,3 Cem. Lösung (2 Procent).
4 Az] ır c 5
> 19 DIT 1 DO Ben DE ” (2 A
$ 27 33‘ Hund, 1 grm. 2 Cem. Lösung (2 Procent).
Die geringe O-Zehrung der Speicheldrüse lässt sich wohl befriedigend erklären
aus dem grossen heichthum an Mucinzellen und dem geringen Gehalt an Eiweiss-
zellen. Dagegen reagirt das Pankreas als ein an protoplasmatischen Zellen reiches
Organ sehr viel schneller gegen die Blutlösung, fast ebenso schnell wie der Muskel.
Muskel Pankreas
Zeit 25 28‘ Hund, 1 grm. 2 Cem. Lösung (2 Procent).
d)e Nieze.
An die Untersuchung der Niere ging ich mit keiner besonderen Erwartung, da
man ihr als einem wesentlich excretorischen Organe keinen sehr lebhaften specifischen
Stoffwechsel zutrauen sollte. Zu meiner Ueberraschung nahm ich indess wahr, dass
30*
ihre Reduktion meist eine schnellere ist als die des Muskels. Das ist ganz besonders
auffallend, wenn man ausschliesslich die Nierenrinde zum Versuch anwendet. Z.B.:
Muskel Nierenrinde
Zeit as: 13° Kaninchen, i grm. 2 Cem. Lösung (2 Proe.).
n IE g' " R “ 5, ’
5 17,53 15,5‘ Hund, 1 grm. 2 Cem. Lösung (2 Proc.)
Hingegen zeigt die Marksubstanz eine deutlich langsamere Reduktion als die
Rindensubstanz. Z. B.:
Nierenrinde Nierenmark
Zeit 22: Hl. Kaninchen, mit ClNa-Lösung entblutet.
Dieser Umstand ist erklärlich, wenn man bedenkt, dass in der Marksubstanz
sehr viel mehr Bindegewebe enthalten ist, als in der Rinde. Das sekretorische Gewebe,
die Epithelien der Harnkanälchen, ist es also vornehmlich, dem das starke Reduktions-
vermögen zukommt.
Sehr merkwürdig erschien es mir nun, dass die Niere selbst 24Stunden
nach dem Tode von ihrer Fähigkeit, zu reduciren, Nichts eingebüsst hatte.
Selbst 48 Stunden nach dem Tode hatte die Reduktionszeit nur um ein Drittel zu-
genommen, und war beinahe so gross wie die des frischen Muskels, während der
Muskel in dieser Zeit ausserordentlich viel von dieser Eigenschaft verloren hatte.
Nierenrinde Muskel
frisch n. 248t. n. 45 St. frisch n. 45 St.
Zeit 125% ea; -- = Kaninchen, 1 grm. 2 Cem. Lös.
a 9‘ = 12% 151% 47.9- (2 Procent).
Man wird sich diese T’hhatsache, dass das Nierengewebe sein Reduktionsvermögen
nur sehr langsam nach dem Tode aufgiebt, entweder daraus erklären, dass das Proto-
plasma der Nierenzelle nur sehr allmählig abstirbt, oder daraus, dass neben dem
lebenden Protoplasma in der Zelle grössere Mengen besonderer redueirender Substanzen
vorhanden sind. Durch Siedehitze verliert aber das Gewebe seine redueirende Wir-
kung fast vollständig, also thun dies auch die etwaigen redueirenden Substanzen.
Niere frisch 100° C.
Aeit, 165; 3 St. 51 Kaninchen, 1 grm. 2 Cem. Lösung (2 Procent).
Es sind daher redueirende Substanzen, welche dureh höhere Temperatur nicht
zerstört würden, in der Niere nicht nachweisbar. Die starke O-Verzehrung in der
Nierenzelle weist darauf hin, dass die exeretorische 'T'hätigkeit derselben von einem
eigenen lebhaften Stoffwechsel begleitet sein dürfte. Wir wissen freilich hierüber dureh
direkte Versuche an der Niere des lebenden Thieres nichts sicheres. Nur aus den
Versuchen von Al. Schmidt über künstliche Durchblutung der Niere, wissen wir,
dass auch das Blut schnell venös wird, und dass sich darin oxydable Substanz an-
sammeln.
4. Gehirn.
Mit ganz besonderem Interesse ging ich an die Untersuchung der Gehirn-
substanz. An einem schon vorher benutzten Kaninchen erhielt ich 3—4 Stunden
nach dem Tode eine allerdings 3mal längere Reduktionszeit des Gehirns als vom
Muskel, bei einem Hunde eine halbe Stunde nach dem Tode gelegentlich eine dem
Muskel etwa gleiche Reduktionszeit. Als ich aber bei einem jungen Hunde möglichst
schnell nach der Entblutung die Vermischung der Gehirnsubstanz mit der Blutlösung
vornahm, sah ich eine fast augenblickliehe Entfärbung der Lösung eintreten.
In der gelben Flüssigkeit waren keine Absorptionsstreifen spektroskopisch erkennbar,
und auch bei Berührung mit Luft kehrten die O-Streifen nicht wieder. Diese Beob-
achtung ist mir leider nicht wieder gelungen, so schnell ich auch nach der Entblutung
(die Operation vornahm. Auch wenn ich den Schädel vor der Tödtung eröffnet hatte,
um damit keine Zeit zu verlieren, wollte es nicht gelingen. Diese Methode hatte
sogar den Nachtheil, dass es schwer war. die Hirnmasse ganz vom Blute frei zu halten.
Ich muss es daher ganz dahingestellt sein lassen, ob wir es hier wirklich mit einer
eigenthümliehen Reaktion der Gehirnsubstanz zu thun haben, die darin bestehen könnte,
dass auch das Hämoglobin als solches in ihr einer Assimilirung unterliegt, oder ob
diese einmalige Beobachtung durch einen zufälligen Umstand herbeigeführt war.
Vielleicht glückt es Andern, hierüber zu entscheiden. Als in dem eben beschriebenen
Versuche eine zweite Portion nach etwa 5—10 Minuten geprüft wurde, erhielt ich nur
eine Reduktion gewöhnlicher Art nach 25 Minuten.
In allen Versuchen wurde möglichst reine Rindensubstanz gewählt. in der
Voraussetzung, dass vorzüglich der grauen Substanz besondere Eigenthümlichkeiten zu-
kommen möchten. Der Vergleich des frischen Gehirns mit dem frischen Muskel ergab- in
günstigen Fällen etwa gleiche Grössen für die Reduktionszeit. Oft aber war dieselbe
eine merklich längere, und das ist wohl dahin zu verstehen, dass das Absterben im
Gehirngewebe mit sehr viel grösserer Schnelligkeit erfolgt als im Muskel. Nichts-
destoweniger bleibt auch nach längerer Zeit ein kräftiges Reduktionsvermögen der
Hirnsubstanz zurück. Eine ganz besonders bemerkenswerthe Thatsache besteht
— 2134 —
nun darin, dass selbst nach Einwirkung der Siedehitze die Hirnsubstanz ein
mässig starkes Reduktionsvermögen zurückbehält, was bei keinem andern
Organe der Fall ist, und dass eine Erwärmung auf 45—50°C. das Reduktions-
vermögen nur in geringem Grade herabsetzt. Folgende Versuche überzeugen
hiervon:
Gehirnrinde
Muskel frisch 10000. 45—50°C.
Zeit - — 0 20° — Hund, 1grm. 2 Cem. Lösung (3 Procent).
Entfärbung
” 6‘ 6 163,5. _ " 1: In,n% > ?
2 340 — — Kaninchen, 1 grm. 2 Cem. Lös. (2 Procent).
a 18:55 435 19° Hund, 1 grm. 2 Cem. Lös. (2 Proc.), Blut > 12 $t.
2: la ar — Kaninchen, ebenso.
Wer. 14 — — Hund, 1,19 grm. 2 Cem. Lösung (3 Procent).
Es frägt sich nun, wie wir diese dem Gehirn eigenthümlichen Erscheinungen
aufzufassen haben. Es scheint mir aus ihnen hervorzugehen, dass der Gehirn-
substanz im lebenden Zustande ein ganz ausserordentlich starkes Reduktionsver-
mögen zukommt. Da sie aber bei der Tödtung fast momentan abstirbt, so kommen
eben nur geringe Reste dieses Vermögens zur Beobachtung, die in günstigen Fällen
noch denselben Werth besitzen als die des frischen Muskels. Hierbei entstehen
aus der Hirnsubstanz durch Spaltung Körper, welche noch eine erhebliche Reduktions-
kraft besitzen, von dieser bei 45—50°C. nur wenig einbüssen und sogar eine gewisse
Menge solcher Produkte, welche diese Eigenschaft auch in der Siedehitze nicht
verlieren.
Es wäre daher denkbar, die letztere Art von Substanzen aus der Gehirnmasse
chemisch darzustellen. Versuchshalber habe ich käufliches Leeithin (aus einer Sittel-
schen Sammlung) zu einer Reaktion verwendet. Es wurde '/; grm. mit 2 Cem. Blut-
lösung vermischt und wie gewöhnlich in Fläschchen behandelt. Die pulverige, sich
nicht lösende Masse entfärbte zwar die Flüssigkeit nach etwa 15 Minuten, aber liess
liess bei starkem Sonnenlichte an sich selbst die O-Streifen noch stundenlang gut
erkennen, dann schien sich ein schwacher Methämoglobinstreifen zu bilden. Dass die
Flüssigkeit sich so schnell entfärbte, frappirte mich anfangs wegen der Aehnlichkeit
mit dem obigen Versuche am frischen Hirn, doch überzeugte ich mich, dass dies
nichts anderes als eine Absorption des Farbstoffes durch das Pulver war, und dass
235
Kohlepulver auch nach kurzer Zeit in ähnlichem Grade die Flüssigkeit stark enttärbte.
Ausserdem konstatirte ich, dass Eigelb, welches ja auch Leeithin haltig ist, keine Re-
duktion der Blutlösung hervorbringt. Es wäre somit Sache einer besonderen Unter-
suchung die reducirende Substanz aus dem Gehirn darzustellen.
Andere Organe und thätiger Muskel.
Gelegentlich wurden noch einige Beobechtungen an anderen Organen gemacht.
Die Haut des Kaninchen zeigte gegenüber dem Muskel ein geringes Reduktions-
vermögen, ebenso auch Fettgewebe aus dem Mesenterium. Dieses Ergebniss wird
nicht Wunder nehmen, wenn wir bedenken, dass alle Bindegewebs- und noch mehr
Fettzellen einen sehr langsamen Stoffwechsel besitzen. Auch Lymphdrüsen verhielten
sich bei der Reduktion der Blutlösung sehr träge. An der Milz konnte der Versuch
nicht ausgeführt werden, weil es nicht gelingen wollte, dieselbe genügend blutfrei zu
erhalten. Das Auswaschen der Milz dauerte ausserordentlich lange, und nur dureh
Kneten konnte man aus einigen Partieen das Blut entfernen. Dabei presst man aber
wahrscheinlich auch Pulpamasse mit heraus.
Einen Versuch habe ich auch an einem mit Strychnin vergifteten Kaninchen
angestellt, an welchem ein N. ischiad. durchschnitten war. Der Vergleich des tetani-
sirten mit dem ruhenden Muskel ergab in diesem Falle, dass der tetanisirte sehr
viel langsamer redueirte. Dies war mir um so auffallender, da Grützner und
(Gscheidlen angaben, dass der tetanisirte Muskel in ihren Versuchen in stärkerem
Grade reducirte als der ruhende. Doch müssen zum Zwecke der Entscheidung eine
grössere Anzahl von Versuchen hierüber angestellt werden. Mir schien das erhaltene
Resultat deshalb plausibel, weil der tetanisirte Muskel schon fast starr aussah, also
nach obigen Erfahrungen auch langsamer reduciren sollte als der ruhende. Man
sollte doch auch meinen, dass bei der Thätigkeit mehr redueirende Substanz verbraucht
werde als in der Ruhe, mithin der tetanisirte Muskel ärmer an solcher sein musste.
Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass der Muskel nach der 'T'hätigkeit in stärkerem
Grade O assimilirt als in der Ruhe, und dies dürfte im lebenden Körper vielleicht
zu konstatiren sein. Indessen diese Differenz in der Assimilirung nach "Thätigkeit
und Ruhe dürfte wohl beim zerkleinerten, absterbenden Muskelgewebe nieht mehr zur
Geltung kommen.
236
In mehreren Versuchen an Froschmuskeln, von denen die einen einem lang-
dauernden Strychnintetanus oder auch der elektrischen Reizung unterworfen waren,
habe ich einen Unterschied in der Reduktionszeit gegen die ruhenden nicht konstatiren
können. Ich erkläre mir dieses Resultat daraus, dass es sich vornehmlich um eine
Zehrung des O durch das noch lebende Protoplasmamolekül handelt, welche in»
beiden Fällen schnell vor sich geht. Der Froschmuskel erleidet aber auch nach starker
Ermüdung keine so starke Alteration als der Säugethiermuskel, und lässt daher einen
Unterschied in der Reduktionszeit in diesem Falle nicht erkennen. Die Reduktion durch
etwa entstandene redueirende Substanzen kann hier nicht mehr zur Geltung kommen,
denn diese ist eine viel langsamere als durch die lebende Substanz. Grützner und
Gscheidlen prüften auch meist die wässerigen Extrakte der Muskeln, hatten es also
mit den extrahirbaren redueirenden Substanzen zu thun. Versuche dieser Art an den
verschiedenen Geweben habe ich noch nicht angestellt.
Vergleichung der Resultate.
Um eine Uebersicht über die Ergebnisse zu gewinnen, lasse ich die Versuche
zunächst der Reihe nach folgen. Es lassen sich hieraus schon einige Vergleichungen
entnehmen, und es stellen sich auch noch manche neue Erseheinungen dabei heraus.
In vielen Versuchen folgen mehrere Beobachtungen der Zeit nach hinter einander,
was daselbst durch a, b, e u. s. w. angegeben ist. Wir können hieraus mehrere Male
ersehen, welchen Einfluss die Zeit nach dem Tode auf das Reduktionsvermögen ausübt.
Versuchsreihe II. Versuche am Kaninchen, Hund und Taube.
Tabelle I.
| | |
| re Io: Magen- | sr: , Gehirn- | Gehirn-
Nr. | Muskel. Rücken- | Magen- schleim- Gehim- | rinde. rinde. Blut. Bemerkungen.
k kel rinde
mark, | muskel. | naut. | Mnde Ia5-500C.| 100°C. |
1 | | Zi ' Kaninchen, 1 grm., 5 '/o
| | | 2 Cem. Lös. 5Std. nach
| | | | dem Tode.
2a 29 — | 59 54‘ — | — | — | ,-— |Kaninchen, frisch. 3%
| | 2 Cem. Lösung.
—— 237
m
| |
“1 SR, Magen- Tre Gehirn- | Gehirmn-
Nr. | Muskel. ug ne schleim- er rinde. | rinde. | Blut. Bemerkungen.
| ac: Ulak Zıunle 45500] 1000. |
Bub) | 19% | — | — .— 270 | ' Dasselbe Kaninchen.
| 3—4St.n.d. Td. 1grm.
Sa ala 14‘ - - | ‚ Hund, !/, Std. n. d. Tode.
| | 1,19 grm. 2 Cem. Lös.
3.0:
b. == = — = 16‘ 16‘ — >6St. |1—1!/,Std. n. d. Tode.
q. — — — — 19' _- 14° _ 1!/, Std. nach d. Tode.
(fein zer-
Ka ST theilt.)
Muskel.
10090.
4.| 11,5° | >58t. > — —_ — — >5St. |Hund. 1 grm., 2 Cem.
Lösung 3 Po.
Hin. — | — = —— 0‘ > 20' — Hund, 1gım. 2 Cem. Lös.
Enttärb.? 3%.
b. — == — — 25‘ ı Naclı 5— 10".
= = Leber.
aiz
En 2 a Be — ze P= — -— a.b. Kaninchen, Gehirn
b. il am leb. Thier bloss-
& >4 St gelegt. Masse zu blutig.
20° | | 1—2grm., 2 Cem. Lös.
| 3 %o-
| | e. Kleines Stückchen.
d. 32° ne As 27 | ' — Nach 2—3 Std., 1 grm.
Thier durch ClNa (0,6)
entblutet, 2 Cem. Lös.
7. er = u — 18° = — — Kaninchen, 1grm.,2 (em.
Lösung 2 %.
8a. —_— |) — — | — — 9.5 Hund, 1grm. 2 Cem. Lös.,
b. 6‘ —— —_ ln al) 6 —..0 3 = 1 Cem Lösung.
9a. 23; — 771 — — 34 — —— Zi Kaninchen, 1 grın. 2 Cem.
| | | | Lösung, 2 /o.
b. =. N, — — — 30 = Entblutet.
10a. 62° — |_ | — 62° — = — Hund, 24 Std. nach dem
| | Tode. 1 grm., 2 Cem.
Lösung.
Da 3 St. — — | = — >3!/ySt. 2 Cem. Methämoglobin.
Fett. :
11. — — |_|Il—-| — Nee) 19! 45° >12S8t.) Hund, eb.getödtet. 1 grm.,
| | | | 2 Cem. Lös. 2°/,.
12,5] 15; = 42' —n Kaninchen, eben getödt.
b.| 17,5‘ ee Je 13,5" Ei le uf an nn 2 Cem. Lös.
Eee = a £
|
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 31
Nieren- Gland.
Nr. Muskel. finde: . | Submexe Leber. |
|
13a IKT 9‘ — =
in | alka: — 66,5' —
C. DITE — — 26‘
Muskel. Niere. Leber.
1000 GC, 1090 G. 1000 0,
14a. 13,5’ hl, = =
b. 19' — 57 — = —
GC: - — = SE la —
d. >55: = 3.352
Pankreas. Gl. subm. Lymphdr.
We Alılay. 5,5; — — —
b. 35° 23° — ——
c. 2406 — — 83' =
d. 41’ uns
Ruhend. | Tetanis. Milch-
' Muskel. | Muskel. | drüse.
16a. 19' 48‘
b. | 14,5’ 16,5' _
[0 57. — 62°
& Nieren- | Nieren-
Leber. rinde. mark.
d. 235 22° Ds
Muskel Nierenrinde
lebend. |zeitstarr. lebend. tot.
10T zu 21. I2HD; 11.5‘
lebend. | tot.
18. ne 47,5" g' 11%
\ Muskel. | Gehirn. Muskelmagen.
19a 9.5‘ 9,5 =
bauen, — 25,5,
Bemerkungen.
Kaninchen, eben getödtet. 1grm.
2 Cem. Lösung.
0,66 grm. 1,3 Cem. Lösung.
1 grım. 2 Cem. Lösung.
Kaninchen, eben getödtet.
2 Cem. Lösung, 2 °/y.
0,65 grm. 2 Cem. Lösung.
1 grım.
Hund, 1gr. 2Cem. Lösung, 2 ®/,.
3 Cem. Lösung.
‚Kaninchen, recht. Ischiad dureh-
schnitten. Strychninvergiftung.
2 Cem. Lös. 2 %,. 1grm.
Mit ClNa 0,6 ausgespritzt. Nach
4—5 Std.
Kaninchen, starr. 24 Stunden tot.
2 Cem. Lös. 2 %/,. 1 grm.
Kaninchen, 48 Std. tot. 2 Cem.
Lös. 2 Oo» 1 grm.
m; es \ r 0
Taube, 1 grm. 2 Cem. Lösung 2 %/g.
Betrachten wir in dieser Tabelle zuerst (die Reduktionszeiten für die quer-
gestreiften Muskeln, so finden wir zwar unter den verschiedenen Bedingungen grosse
Abweichungen vor.
Fassen wir aber diejenigen Versuche zusammen, in denen die
Thiere möglichst schnell nach dem Tode zur Behandlung kamen, so schwankten die
a
Zeiten nur innerhalb verhältnissmässig kleiner Grenzen. Dazu kommt noch, dass
nicht in allen Versuchen gleiche Quantitäten Blut zur Lösung verwendet, und gleiche
Mengen Lösung hinzugesetzt wurden. Ferner können Unterschiede zwischen den
'T'hierarten in dieser Beziehung vorhanden sein.
Nehmen wir einige Beispiele am Kaninchen heraus, in denen immer 1 grm.
Muskel mit 2 Cem. einer 2 procent. (Volum) Blutlösung vermischt wurde, so erhalten
wir folgende Zahlen:
Nr. Zeit.
12a. 1255 grm. K.M.
13a. 46
1+a. 13.55
152. Te 2 Cem. Lös. (2 Proc.)
N: 17
Man ersieht hieraus immerhin, dass die Zeiten nicht sehr erheblich schwanken,
und dass sieh unter gleichen Bedingungen ein ungefährer Mittelwerth (14,3%) angeben
lässt. Für den frischen Hundemuskel erhält man die Werthe:
Nr. Zeit.
3a. 14‘ erm. H. M.
2% 15- 2 a (3 Proe.).
Im Allgemeinen scheint also die Reduktion beim Hunde eine schnellere zu
sein als beim Kaninchen, zumal eine 3 procent. Blutlösung genommen wurde, und das
Blut des ersteren sicherlich reicher an Hämoglobin ist.
Der einmalige Versuch an einer Taube ist zwar nicht maassgebend, doch deutet
die kleine Reduktionszeit des frischen Muskels auf eine starke O-Zehrung .hin.
Wollte man vergleichende Versuche zwischen verschiedenen "Thiergattungen
anstellen, so müsste man zu jeder Beobachtung dieselbe Blutart benutzen, da der
Hämoglobingehalt bei diesen offenbar beträchtlich difterirt.
Ist längere Zeit nach dem Tode verstrichen, so wird die Reduktion im All-
gemeinen eine viel langsamere, und die Unterschiede zwischen den einzelnen Organen
gleichen sich hiermit meist vollständig aus, (z. B. Versuch 1, 10). In allen diesen
Fällen ist aber noch daran zu denken, dass das zurückgebliebene Reduktionsvermögen
auch durch die Fäulniss, d. h. dureh Entwickelung von Mikroorganismen, zum "Theil
bedingt sein kann.
>32
240
Wie an den Muskeln, kann man auch an den andern Organen (die Bemerkung
machen, dass unter möglichst gleichen Bedingungen die Reduktion in gewisse Zeit-
grenzen hineinfällt. Indessen scheint es mir nicht von Belang, hierfür Beispiele
herauszusuchen, um für einen gegebenen Fall einen Mittelwerth zu berechnen. Dahin-
gegen wird es von Bedeutung sein, das Reduktionsvermögen der Organe einander
gegenüber zu stellen... Zu diesem Zweeke setzen wir die Reduktionszeit des Skelett-
muskels wiederum gleich Eins, und berechnen in einer jeden Beobachtung den ent-
sprechenden Werth für die mit ihm verglichenen Organe. Es muss aber hervor-
Tabelle II zu
en
Quergestreifter Drüsen
Muskel er TER Fr
Nr. a ”z, Leber | Nierenrinde
= Zeitstarr Glatte Magen- | Cland:
= | er | and it a kn | Lebend. , 100° , submax. Ben Lebend | 100° | Tot.
a TG GG |
22.|1. u En 2,03 1,86 I = =
basis == = | | _-
Bramııle — I — — _
297 — — — | —
le, 0,84 ale,
8.11. = = = —
9a... = = —— — — — = —
9b. — — — — _ 1,3 | —
12a.|1.| 15,12
DIR - = — —— = — 0,77 — >;
CaEIR = — — =
lea ale z - - 0,82 — —
base — _- — 3,8 |
es: — - — — 096 = — Ya
14 a.|1. 23 - : a7 = = 0,85 17 ==
bat: - _— — - 3,0
1155 ll 3,07 1,12 0,89 _ =
zenle — 1,23 _ = _ ne, | Tr 0,70
18.1. - 4,32 — 0,32 725,03
19% — — 2,22 = — |
Mittel 1.] ST Ban rss an za
241
gehoben werden, dass hierzu nur diejenigen Versuche ausgewählt werden können, in
denen die Organe entweder gleich nach dem Tode oder möglichst bald darauf zur
Beobachtung kamen. In einigen Fällen, in denen es angegeben ist, ist diese Zeit
auch auf einige Stunden ausgedehnt.
Die nachfolgende Tabelle zeigt uns nun, in welchem Verhältniss die Reduktions-
zeiten einer Anzahl von Organen zu einander stehen, ebenso auch, wie sie sieh in
gewissen Zuständen in «dieser Beziehung ändern.
Versuchsreihe II.
nn
Gehirn
|
| t
Fett- | Lymph- |(Lebend.) no ft m > Zeit nach dem | EN
gewebe. | drüsen. | Frisch. | 100° C. Tot. | Haut. Blut. Tode. Bemerkungen.
| |
en — — == — — 0*) Kaninchen.
— | —_ — — 3 —_ — 3—4 St. Kaninchen.
_ | — - — 1 —_ u 1/, St. Hund.
| >27 (0) ‚ Hund.
— = = — 93 St. Kaninchen, enbtlutet.
= — 1 10,6 — ) — -- 0) Hund.
— — 1.48 == — 3835 — | 0 Kaninchen, entblutet.
2 — — 771 | ” ”
— — 12 3,36 — — — 0 ı Kaninchen.
1,82 — = = = = >14 —
— = == == = = — (0) Kaninchen.
— >23 0 Kaninchen.
— 1,73 .— — 0) Hund.
Ta > — — = = — O und 24 St. Kaninchen.
= — = — 0 u.48St. | Kaninchen.
= == 1 — = = — — Taube.
1,82 1,73 lg 6,98
[0
N
©
oO
V
1597
-
*) 0 bedeutet möglichst schnell nach dem Tode.
242
Trotzdem in den einzelnen Versuchen die absoluten Werthe erhebliche Differenzen
zeigen, so finden wir doch für jedes Organ ziemlich übereinstimmende relative Werthe
vor. Es ist daher gestattet, für diejenigen Organe, von denen mehrfache Beobachtungen
vorliegen, eine mittlere relative Reduktionszeit zu berechnen, so namentlich für Leber,
Speicheldrüse, Niere und Gehirn. Auch für einige andere Gewebe, die nur einzeln
oder in wenigen Fällen untersucht sind, ist ein muthmaasslicher Werth angeführt, der
noch der Bestätigung bedarf. Doch dürfte die Abweichung vermuthlich keine grosse
sein. Wenn wir hiernach eine Reihenfolge der Organe aufstellen, nach welcher die
Reduktionszeiten wachsen, so lässt sich diese in folgender Weise aus den Mittel-
werthen entnehmen.
Geschwindigkeit der
Zeit O-Zehrung.
Nierenrinde‘ 2 u (BO
Quergestreitter Muskel 7 7. 251,007 77 Re
eher: u. tn ee Is ARNO SL, SAUER N EEE ZT
Pankreas. ne a en
Gehirn en en pe Ale en Be
Eympkdrise. „age sem laser es
Fettsewebei. . U u. Erz. 82E er er ee
Magenschleimhaut ©. .... = Plhabı 2. Eee nen
GlattesMuskel © 2 un DaDH FI
Gländul.'submasılE . 2... 0% 3207 Sa
Haut... #004, aan, a EE
Neben der Zeit ist ferner die „Geschwindigkeit der O-Zehrung“ angegeben,
wenn wir die des quergestreiften Muskels gleich 100 setzen.
Was das Gehirn anbetrifft, so kommt demselben nach unsern obigen Beob-
achtungen und Ueberlegungen wahrscheinlich eine ganz andre Stellung zu als die
angegebene. Es ist sogar zu vermuthen, dass ihm die erste Stelle gebührt, und dass
es nur deshalb erst hinter Leber und Pankreas erscheint, weil es von allen Organen
am schnellsten abstirbt. Man müsste also auch bei allen Organen den Grad des
Absterbens berücksichtigen, zu der Zeit, in welcher sie zur Untersuchung kommen.
Ausser dem Gehirn dürfte dieser Umstand für die andern Organe nur wenig ins
Gewicht fallen, da der Verlauf des Absterbens bei ihnen wohl annähernd ein gleicher
sein dürfte.
Vergleichen wir diese Resultate
sich Folgendes:
245
mit den beim Frosche beobachteten, so zeigt
Frosch Säiugethier
Schnelligkeiten ;
Quergestreifter Muskel 100 Alamalr 291008100
Leber 81,97 97
Glatte Muskel . . . . ToAageasut Mei.
Magenschleimhaut 57 Yals. EA 538
Haut 0,0 IT DER 29,9.
Man entnimmt hieraus, dass beim Frosch der glatte Muskel dem quergestreiften
näher steht als beim Säugethier, dass die Leber des Säugethiers verhältnissmässig
kräftiger redueirt als beim Frosch, dass dagegen die Haut des Frosches im Verhält-
niss ein stärkeres Sauerstoff-Bedürfniss zeigt als diejenige des Warmblüters. Vermuthlich
steht dies damit im Zusammenhang, dass der Haut des Frosches eine viel ausgiebigere
Athmungsfunktion zukommt als der des Säugethieres.
Schliesslich glückte es auch, einige Versuche mit dem Lungengewebe des
Es handelte
Kaninchen anzustellen. Der Versuch bot besondere Schwierigkeiten dar.
sich bei diesem Organe nicht nur darum, dasselbe blutfrei, sondern auch es luftfrei
zu machen. Zu diesem Ende konnte ich die von Hermann angegebene Methode,
die Lunge mit CO, zu füllen und in Wasser zu legen, nicht verwenden, wegen der
langen Dauer und schädlichen Wirkung des CO». Ich bediente mich daher eines
Verfahrens, welches mein Assistent, Herr cand. med. Morgen, in mehreren Versuchen
mit Erfolg ausgeführt hat. Es besteht darin, die Lunge in einer Flasche aufzuhängen
und aus dieser die Luft mit einer Hg. Luftpumpe auszupumpen. Die Lunge bläht sich
stark auf, die Luft entweicht durch die Bronchien und vermöge der Diffusion vollständig,
und hat man nahezu das Vacuum hergestellt, so fällt beim Einlassen von Luft in
die Flasche die Lunge zu einem dichten Gewebe zusammen. Es
die beste Methode, die Lunge künstlich atelektatisch zu machen.
Die Thiere wurden dureh Chloroform bis zum Stillstand der Athmung betäubt,
seheint mir dies
dann vom Blut entleert und alsdann wurde die Lunge von der Art. pulm. aus durch
0,6 procent. ClNa-Lösung vom Blut befreit. Die blutfreie Lunge wurde nun in der
angegebenen Weise atelektatisch gemacht.
Muskel Lunge
1. Zeit 14‘ 79' 1 grm. Substanz. 2 Cem. Blutlös. (2 Proc.)
2. 16 39‘ Dasselbe. ’
Did ——
-
Es geht aus diesen Versuchen soviel hervor, dass das Reduktionsvermögen des
Lungengewebes dem des Muskels weit nachsteht. Einen Zahlenwerth aus ihnen ab-
zuleiten ist wegen der grossen Abweichung der Werthe nicht zulässig. Da die Lunge
vorzugsweise elastisches Gewebe und Bindegewebe enthält, so nimmt die Langsamkeit
der Reduktion in ihr wohl nicht Wunder, Lebhafter dürften dagegen die Epithelzellen
der Schleimhaut an dem Vorgange betheiligt sein, und da diese in verschiedenen
Zuständen des Absterbens sich befinden mögen, so ist darauf wohl die Abweichung
der Werthe zurückzuführen.
Mit wenigen Worten möchte ich zum Schluss noch die Beziehung der er-
haltenen Resultate zu denen berühren, welche Ehrlich‘) aus seiner interessanten
Versuchsmethode gewonnen hat. Da er insbesondere die Reduktion von eingeführten
Farbstoffen intra vitam in den Geweben beobachtet hat, so kam es in diesen Ver-
suchen nieht nur auf das Reduktionsvermögen derselben an, sondern auch auf die
Menge des durch das Blut zugeführten Sauerstoffs. Diese Vorgänge sind daher viel
komplieirter und bei weitem nicht so eindeutig als die von mir beobachteten. Der
auffallendste Widerspruch zwischen meinen Ergebnissen und den seinigen scheint
unter anderen der, dass er der Lunge und dem Fettgewebe”) eine eminente Reduktions-
kraft zuschreibt, da sie aus dem Alizarinblau intra vitam Alizarinweiss bilden,
während sie nach unseren Versuchen das Oxyhämoglobin sehr langsam redueiren.
Aus obigem Grunde glaube ich indess, dass dieser Widerspruch nur ein schein-
barer ist, weil man aus den Resultaten von Ehrlich eben nicht direkt auf die
Schnelligkeit der O-Zehrung in den verschiedenen Geweben schliessen Kann.
*) Das Sauerstoffbedürfniss des Organismus. Berlin 1885.
=") Seite 119.
Kritische Bemerkungen
über die Verwerthung
der 'Temperaturbeobachtungen in Tiefbohrlöchern
zu empirischen Formeln.
Dr. Brauns.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 323
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Ara
1
Bekanntlich ist der Widerspruch gegen die Annahme eines noch bestehenden
„feuerflüssigen Erdkerns“ oder überhaupt einer im Innern der Erde herrschenden
grossen, die Schmelzpunkte der vulkanischen Laven übersteigenden Hitze schon bei
weitem älter, als die 'Tiefbohrungen, um welche es sich bei den nachfolgenden Mit-
theilungen handelt. Die älteren Temperaturmessungen unter der Erdoberfläche waren
weder sehr zahlreich, noch erstreckten sie sich in eine erhebliche Tiefe, und das einzige
Bohrloch, bei welchem es während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts möglich
erschienen war, ein Gesetz für den Grad der Temperaturzunahme in den verschiedenen
Niveaus aus den Beobachtungen abzuleiten, war das bekannte Bohrloch von Grenelle
bei Paris. Gleichwohl gab es unter denen, welche die Gluthhitze des Erdinnern an-
zweifelten — zunächst unter den Anhängern G. Bischofs in Bonn, des Verfassers
der in erster Auflage von 1851 an erschienenen „physikalischen und chemischen
Geologie“ — Stimmen, welche die auf die Greneller Befunde von Arago aufgestellte
Formel in ihrem Sinne verwertheten. Auch war es immerhin schon von einiger Be-
deutung, dass der einzige Versuch, eine mathematische Formel für die Temperatur-
zunahme im Erdinnern aufzustellen, so ausgefallen war, dass eine permanente, gleich-
fürmige Zunahme daraus nicht gefolgert werden konnte. Die Arago’sche Formel
stand mit den Annahmen der Anhänger eines gluthflüssigen Erdinnern in direktem
Widerspruch, und man konnte diese Annahmen nur dadurch retten, dass man die
ganze heihe von Beobachtungen für werthlos erklärte, dass man sagte, es herrsche
in dem Bohrloche ein beträchtlicher Zustrom von kalter Flüssigkeit aus oberen Gestein-
schichten in die Tiefe, sodass das rasch nach unten dringende Wasser nicht Zeit
gefunden habe, die wahre Tremperatur der tiefern Gesteinschichten anzunehmen. Man
stand auch nicht an, dasselbe für andere Oertlichkeiten ohne weitere Prüfung zu be-
haupten. So misslich eine solehe Ausrede im Grunde genannt werden darf, beruhigte
man sich doch im allgemeinen dabei, und man darf daher wohl sagen, dass die
Bischof’sche Schule ziemlich unabbängig von den Temperaturbeobachtungen in den
322
u
Tiefen der Erde vorging, wenn sie der damals herrschenden, sogenannten „plutonischen“
Schule entgegentrat. Es war in Folge davon sehr erklärlich, dass schon das erste
derjenigen Bohrlöcher, bei denen eine überdies viel sorgfältigere und mit bedeutenden
Vorsiehtsmassregeln ausgeführte Reihe von Temperaturbeobachtungen bis in eine un-
gleich erheblichere Tiefe ausgedehnt wurde, ein grosses Aufsehen erregte, als sich
bei der Verrechnung eine der Arago’'schen ganz analoge Formel ergab.
Es muss betont werden, dass sowohl diese beiden, als auch alle übrigen im
folgenden zu erörternden Formeln nur „empirische“ sind. Sie sind nichts als Versuche,
die Beobachtungsreihen einheitlich zusammenzufassen, und lassen nur eine beschränkte
Ausdehnung über die Grenzen der Beobachtung selbst zu; sie dürfen namentlich nicht
über irgend einen kritischen Punkt, an welchem ein Minimum oder Maximum für die
Gleiehung sich herausstellt, ausgedehnt werden. Eine Vernachlässigung dieser
Forderung, welche durchaus in der Natur der Sache begründet ist, hat erfahrungs-
mässig stets zu völlig verfehlten Schlüssen geführt.
Der allgemeine Charakter der empirischen Formeln, um welche es sich hier
handelt, lässt sich durch die Zeichen
IR ea
wiedergeben, in welcher Gleichung 7° die (in Graden einer beliebigen Skala aus-
gedrückte) Temperatur für eine gewisse, in irgend welchem Maasse (jetzt meist in
Metern) ausgedrückte Tiefe s herrschende Temperatur, 7 die bei einer Tiefe von
0 Metern herrschende Anfangstemperatur bedeutet. x und y aber durch algebraische
Berechnungen gefundene und durch die Methode der kleinsten Fehlerquadrate kon-
trolirte Coöffizienten darstellen, mit welchen zunächst s, dann s? zu multiplieiren sind,
um den durch Beobachtung gefundenen Werthen (durchschnittlich) möglichst nahe zu
kommen. Diese Auffassung ist eine so einfache, dass man sich in der That wundern
muss, wie gegen dieselbe (z. B. im „neuen Jahrbuche für Mineralogie“ u. s. w., 1888,
I, Corr. S. 180 von Henrich) überhaupt gefehlt werden konnte. Die Beifügung des
letzten Gliedes ist für alle die Fälle nothwendig, in welchen sich keine einfach mit
der Tiefenzunahme proportionale Steigerung der Temperatur vorfindet, sondern die
letztere entweder hinter der einfachen oder linearen Zunahme zurückbleibt oder ihr
voraneilt. Eine im nämlichen Verhältnisse mit der Tiefe wachsende Wärme würde
bedingen, dass das letzte Glied gleich Null wird.
Es hat sich nun für alle die Fälle, in welchen nicht ein nachweislicher Fehler
in der Aufstellung der Formel vorhanden ist, stets gezeigt, dass die Rschnung für
das letzte Glied einen negativen Werth ergab, dass also die Temperaturzunahme
— 249 —
nicht linear fortschritt, sondern mehr oder weniger, und zwar mit der Tiefenzunahme
in steigendem Verhältnisse, hinter dem Maasse der linearen Zunahme zurückblieb.
In Uebereinstimmung damit lautet die Formel Aragos für Grenelle — dessen totale
Tiefe = 548 Meter —
7 = 10,6°+0,042 . s-0,00002046 s?,
und zwar für Grade des hunderttheiligen Thermometers und für Meter. Die ungleich
wichtigere Formel, welche Geheimrath Dunker-Halle für das am 9. November 1870
begonnene und bis zu 1271,1m abgeteufte Bohrloch zu Sperenberg in der Mittelmark
ermittelte, lautet auf Celsius-Grade und Meter umgerechnet:
7 = 8,98 + 0,05136 . s—0,0000158623 s”.
Wie bereits mehrfach auseinandergesetzt, ist die Litteratur grade über dies
Sperenberger Bohrloch bald zu einem kaum übersehbaren Umfange angewachsen.
Die Hauptursache davon war unbedingt die, dass die Mehrzahl der damaligen Geologen,
unter denen sich auch der verdienstvolle Autor letztgenannter Formel selbst befand,
eine unüberwindliche Abneigung dagegen empfanden, die Schlüsse gutzuheissen, zu
welchen die thatsächlichen Beobachtungen führten, und sieh die erdenklichste Mühe
gaben, andere Formeln aufzustellen oder doch durch allerhand Schlussfolgerungen die
Bedeutung der obigen abzuschwächen.
Der hauptsächlichste Fehler, welcher dabei gemacht wurde, ist nun meines
Erachtens ohne alle Frage die willkürliche Abänderung des ersten Gliedes der rechten
Seite der Gleichung, welche natürlich das ganze Resultat fälschen muss. Nach dem,
was darüber oben gesagt ist, kann es gar keiner Frage unterworfen sein, dass man
die Temperatur für eine Tiefe von 0 direkt in gar keiner anderen Weise finden kann,
als durch Ermittlung der Durchschnittstemperatur der Lokalität, an welcher das Bohr-
loch angesetzt ist. Eine beliebige, noch so genaue Temperaturmessung an der oberen
Ausmündung des Loches genügt offenbar nicht; jede Tages- und Jahresschwankung
der Wärme würde sich fühlbar machen. Es bleibt daher nichts übrig, als entweder
die vorhandenen Daten über die mittlere Wärme der Gegend zu benutzen, wie Dunker
z. B. für Sperenberg die mittlere Temperatur Berlins und wie ich für das in ziemlicher
Nähe von Halle belegene Bohrloch von Schladebach einfach die allgemein zu 9°C.
angesetzte mittlere T’emperatur Halle’s nahm, oder man muss irgend eine nicht allzufern
von der Erdoberfläche, aber doch schon von den Jahresschwankungen nicht mehr
beeinträchtigte Stelle im Bohrloche wählen und aus dieser durch Rechnung die Anfangs-
temperatur ableiten. Natürlich muss hierbei grosse Vorsicht geübt werden, da, wie
sich leicht ermitteln lässt, schon eine nicht sehr erhebliche Aenderung des konstanten
Anfangspunktes einen sehr merkbaren Einfluss auf die Grösse der zu ermittelnden
Coöffizienten hat und folglich ein geringer Fehler in der Bestimmung der Konstanten
im Stande ist, das ganze Resultat zu fälschen.
Diesen Verhältnissen gegenüber, deren Wichtigkeit und Unumstösslichkeit gewiss
Niemand in Abrede stellen dürfte, wird das Verfahren nun geradezu unbegreiflich,
welches — um die von mir aus dem dritten hier in Betracht kommenden und soeben
erwähnten, 1884 begonnenen Bohrloche von Schladebach gezogenen Schlüsse zu
entkräften — Henrich an angegebener Stelle im „neuen Jahrbuche“ eingeschlagen
hat. Von der Idee ausgehend, dass meine Voraussetzung irrig sei, nach welcher
für s gleich 0 die Temperatur von 9°C. beobachtet worden (vgl. a. a. O. 8.182 und
185), variirt er die Konstante in einer wahrhaft erstaunlichen Weise, und erlangt
dadurch allerdings linear auch sogar dem linearen Verhalten voranschreitend —
zunehmende Temperaturformeln. In seiner ersten Formel (S. 183) ist
T = 21,342°C. + 0,020575 . s + 0,000000051457 5?
oder auch 7 = 21,139 + 0,0207995 s.
Danach würde also Halle, das doch nicht viel kälter sein kann als Schladebach,
eine Temperatur etwa wie Alexandria oder Neu-Orleans besitzen; und nahezu dasselbe
Resultat giebt (8. 184) seine fünfte Gleichung
T = 20,8185 + 0,021027 . s,
während seine dritte Gleichung (S. 184)
7 = 24,018 + 0,01908 . s
uns gar mit Yucatan, den kapverdischen Inseln und Manila auf eine Wärmstufe stellt.
Von der 4. und 6. Gleichung, welche beide die Konstante auf 44 resp. 103,9 Grade
erhöhen, schweige ich ganz, schon weil sie zu der Ungereimtheit führen, dass der
Coöffizient des zweiten Gliedes, also x, in unserer Formel negativ wird. Es ist in
der That der Mühe werth, festzustellen, dass Henrich allen Ernstes der Meinung
ist, auf diesem Wege die Ansichten seiner Gegner zu widerlegen, und ferner, dass
er wirklich — was man ohne Nachrechnen nicht glauben sollte — die Werthe für s,
ganz unbekümmert um seine Erhöhung der Konstante, von der Erdoberfläche an
misst! Es darf gewiss als ein bedauerlicher Einfluss doktrinärer Standpunkte be-
zeichnet werden, dass das „neue Jahrbuch“ einen Artikel dieses Inhalts nicht allein
aufgenommen hat, sondern ihn auch noch kürzlich zu vertreten unternahm, indem es
eine von mir ihm zugesandte Korrektur des Henrich’schen Irrthums zurück wies. —
Erschwerend möchte dabei noch der Umstand zu nennen sein, dass Henrich bereits
im Jahre 1876 in der nämlichen Zeitschrift einen ähnlichen Irrthum beging, der nicht
ungerügt blieb; nur verstieg er sich damals allerdings nicht zu so ungeheuren Ziffern,
da die von ihm verlangte Erhöhung der Anfangstemperatur für Sperenberg sich etwa
auf 4'/° R. belief — immer eine Wärmeerhöhung, welche Berlin mit Norditalien in
eine Kategorie bringen würde.
Indem ich mir vorbehalte, auf kleinere, aber in Uebereinstimmung mit dem
oben Gesagten doch nicht einflusslose Abänderungen der Anfangstemperatur zurück-
zukommen, welche auch bei andern, im Gegensatze zu Henrich logischer gehaltenen
Rechnungen sich zeigen, wende ich mich zu einem zweiten Fehler, nämlich zu einer
willkürlichen Veränderung der thatsächlich am jeweiligen Ende eines Bohrloches, also
vor Ort, gefundenen Temperatur. Ich mache in dieser Beziehung darauf aufmerksam,
dass ein hinsichtlich der Endresultate keineswegs mit mir im Einverständnisse be-
findlicher namhafter Autor auf unserem Gebiete, Herr Oberberghauptmann Huyssen,
jetzt in Berlin, doch darin mit mir vollkommen einer Meinung war, dass gerade die
beiden Daten, die Anfangstemperatur bei 0 Tiefe und die Temperatur vor Ort, stets
das wesentlichste seien. Wird in einem Bohrloche nieht von Anfang an die Tem-
peratur beobachtet, und lässt man die Bohrung viel weiter in die Tiefe schreiten,
bevor man eine Messung vornimmt, so ist man stets in Gefahr, ein ungenaues Resultat
zu erzielen. Es liegt dies auf der Hand; wird in einem Bohrloche weiter nach oben
— sagen wir in der Mitte — ein noch so gut abgeschlossenes T'hermometer angebracht,
so wird bei ungleichem Zuströmen von Quell- und Sickerwasser auf den beiden
Seiten des Thermometers — oben und unten — möglicher Weise die obere oder die
untere Seite einen zu grossen Einfluss erlangen, also das Instrument nicht die wahre
Gesteinstemperatur an der betreffenden Stelle zeigen. Strömt das Bohrloch unten
rasch voll Wasser, ohne dass von oben ein Gleiches stattfindet — ein Fall, der sich
unbedingt sehr leicht ereignen kann — so muss nothwendiger Weise dureh das
Emporsteigen des wärmeren Wassers von unten eine zu hohe Temperatur angezeigt
werden. Umgekehrt könnte, wenn die Zufuhr kalten Wassers von oben ungewöhnlich
stark wäre und die des wärmeren Wassers von unten mangelte, eine zu niedrige
Temperatur resultiren; nur wird dies selten der Fall sein, und man wird meistens
mit einem ungefähr richtigen oder einem erhöhten Wärmegrade zu thun haben, und zwar
ohne einen festen Anhaltspunkt dafür zu besitzen, ob der eine oder der andere Fall
vorliegt. In dem bei Sperenberg in Frage kommenden, vorwiegend trockenen Gesteine,
nämlich Steinsalz, ist indessen der Fall, dass in Folge eines Aufsteigeus von
warmem Wasser unter die Hülse des Thermometers eine zu hohe Temperatur gelesen
wird, mindestens weit wahrscheinlicher. Der Fehler wird in solchen Fällen um so
— 252 —
grösser, je höher das "Thermometer über der Maximaltiefe sich befindet, und so wird
es vollkommen begreiflich, wie gerade im Sperenberger Bohrloche bei den nach-
träglichen Tremperaturbeobachtungen, welche man nach der Vollendung der Bohrung
in verschiedenen Tiefen anstellte, sich gegen die ersten Beobachtungen Differenzen
bis zu 3° R. zeigten. Es möchte aus obigem mit Nothwendigkeit zweierlei folgern;
einmal, dass trotz des Mangels eines guten Abschlusses des 'T’hermometers die
anfänglichen Beobachtungen, doch ungleich werthvoller waren — ein Satz, der
auch durch das Schladebacher Bohrloch insofern volle Bestätigung findet, als dort
vor Ort die zweierlei Beobachtungen ohne und mit Abschluss uns nur Differenzen
von Bruchtheilen eines Grades zeigten, höchstes von 0,4’ R. oder ';’ C. —; zweitens
aber, dass es ganz unstatthaft genannt werden muss, wenn man die Temperaturen
der grössten Tiefen, nämlich 38,5°R. oder 48,13°C. für Sperenberg bei 1286,6m und
45,3’ R. oder 56,63°C. für Schladebach bei 1716 m Tiefe, hinaufschrauben will. Es
mag immerhin für die Gegner einer Gluthhitze im Erdinnern eine gewisse Genug-
thuung darin liegen, wenn für Sperenberg jene Erhöhung der Temperatur „vor Ort“
auf 42° R. oder 52,5°C. noch immer nicht genügt, eine gleichmässige oder lineare
Tremperatursteigerung zu folgern, vielmehr eine noch erklecklich höhere Steigerung
zur Erzielung letzteren Ergebnisses erforderlich sein würde, allein die Zulässigkeit
solcher Erhöhung darf man darum auf keinen Fall zugeben. Dies muss man um so
strenger festhalten, als für Schladebach leider nur eine relativ kurze Reihe von
Temperaturbeobachtungen vorliegt. Sie wurde begonnen bei 1266 m und von 30 zu
30 Metern, aber mit einigen Lücken, wiederholt, sodass ausser der Oberflächenwärme
im ganzen nur 10 Beobachtungen vorliegen, welche noch dazu theilweise mit
etwas grossem Abstande des 'Thermometers von der jeweiligen Bohrlochtiefe gemacht
wurden; dies gilt besonders von den beiden ersten Wärmemessungen. Indessen ist
der Abstand doch nicht so gross, dass wir darum die Messungen überhaupt zu ver-
nachlässigen brauchten. Anders ist es jedoch mit den auch hier nachträglich ver-
anstalteten Messungen, welche neuerdings (im „neuen Jahrbuche“ 1889, I, S. 35) von
Dunker veröffentlicht sind. Obgleich hier die Verhältnisse etwas anders liegen als
bei Sperenberg, und augenscheinlich keine so grossen Missverhältnisse zwischen den
neuen und alten Messungen obwalten, so zeigen sie sich doch immerhin und lassen
sich schon daraus erkennen, dass bei nur 6m Tiefe sich gerade nach Anbringen des
Verschlusses 8,3°R., also 10,48° C. zeigten, was um mehr als einen Grad zu hoch ist.
Selbst die Formel, welche Dunker auf Grund aller ihm vorliegenden Beobachtungen
aufgestellt, erreicht die Höhe der Anfangstemperatur nicht, welche sich aus der auf
a
dem angegebenen Wege angestellten T'emperaturmessung ergab. Gleichwohl ist auch
sie noch zu hoch, denn die Dunker’sche Gleichung lautet für Reaumur-Grade
7 = 8,4204914 + 0,0224276 (s—36 m),
bei der die für 36 m Tiefe aus der Gesammtheit der Messungen berechnete 'Tem-
peratur ganz richtig mit der nämlichen Tiefe kombinirt wird, die Werthe für s also
nicht, wie es bei Henrich geschieht, ohne weiteres trotz der Einführung einer erst in
grösserer Tiefe möglichen konstanten Wärme von der Oberfläche an gerechnet werden ;
die Umrechnung dieser Gleichung auf den Anfangspunkt=0 aber ergibt, da die Auf-
lösung der letzten Klammer einen negativen Zusatz zur Konstante im Betrage von
0,8073936 liefert, die Gleichung
ZT = 1,6130978 + 0,0224276 . s,
und für Celsiusgrade umgerechnet
T = 9,5164 + 0,0280345 . s.
Schon wegen dieses zu hohen Betrages der Konstante ist auf diese Gleichung
kein Werth zu legen, wie dies auch aus einer Vergleichung mit den letzten beiden
Gleichungen von Henrich (8.187 £.) hervorgeht, auf die ieh noch unten zurückkommen
werde. Die eine setzt 7'’= 9,385 + 0,028205 .s und erhält eine nicht viel grössere
Fehlerquadratsumme als die andere,
7 = 8,9487 + 0,0320405 . s—0,0000022798 . s?,
sodass also eine Erhöhung der Konstante um nur 0,44 Grad schon eine wesentliche
Aenderung der Gleichung ergibt. Da nun diese Erhöhungen der Anfangstemperatur
durch nichts gerechtfertigt sind, so dürfen wir auch die sie enthaltenden Gleichungen
nicht für richtig halten.
Nehmen wir aber hinzu, dass die Dunkersche Formel obendrein die Tem-
peratur der grössten Tiefe um etwa 0,8° R. oder einen Grad Celsius zu hoch gibt,
nämlich =46,099° R. statt 45,3°, und ferner, dass in der Hauptreihe der Beobachtungen
von 1266 bis 1716 Meter sämmtliche Werthe in den grössten Tiefen von 1656 m
an nach abwärts nach der Formel zu hoch ausfallen, die mittleren, bis 1566 m
hinauf, keine beträchtlichen Differenzen zeigen, die oberen dagegen bei der Rechnung
nach der Formel sich sämmtlich zu niedrig stellen, so möchten daraus noch fernere
Bedenken gegen die Dunker’sche Formel erwachsen, welche den aus ihr gezogenen
Schluss, nämlich die Annahme einer linearen Wärmezunahme unter der Erdoberfläche,
umstossen.
Fragen wir nun nach einer Formel, welche aus den Schladebach’schen Beob-
achtungen abzuleiten wäre, so ergibt sich zunächst, wenn man die sämmtlichen 10
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 33
—
ursprünglichen Beobachtungen mit der für O-Tiefe anzunehmenden Temperatur von
9°C, kombinirt, eine ziemlich einfache und zugleich eine nur sehr geringe Fehler-
quadratsumme aufweisende Formel von der Form
7 = 9° + 0,032 . s—0,0000025 . s?.
Diese Formel, obwohl auf viel weniger Deeimalstellen berechnet, möchte von der obigen
letzten Henrich’sehen Formel, deren Fehlerquadratsumme nebenbei nicht wesentlich
geringer ist (sie beträgt bei Henrich 2,15, hier 2,8), insofern den Vorzug verdienen,
als sie die Anfangstemperatur überhaupt nicht willkürlich ändert und zugleieh über-
sichtlicher ist. Indessen ist es ziemlich gleichgültig, auch hinsichtlich der aus beiden
Formeln etwa zu ziehenden Sehlüsse, welche von beiden man benutzen will, und
Henrich hätte seine hierauf verwandte Mühe durchaus nicht als auf eine „undankbare
Aufgabe“ verwandt beklagen sollen; diese Formel ist in der That das einzig brauch-
bare in seiner ganzen Auseinandersetzung.
Zum Schlusse möchte ieh mir noch ein paar Worte über die Folgerungen er-
lauben, zu welchen diejenigen empirischen Formeln, welche im Vorstehenden als
zulässig erkannt sind, uns berechtigen. Unbedingt gelangen wir durch sie zu dem
Schlusse, dass bei einem Hinuntersteigen unter die Erdoberfläche zwar bis jetzt
sich noch immer, absolut genommen, eine T’emperaturzunahme gezeigt hat, dass aber
der Grad dieser Steigerung um so mehr nachlässt, je tiefer wir gelangen. Dagegen
ist in Wahrheit nichts einzuwenden; denn wenn wir uns (wie z. B. Herr Oberberg-
hauptmann Huyssen) hinter die Unregelmässigkeiten der 'Temperaturzunahme
flüchten wollten, welche häufig (z. B. in ziemlich hohem Grade bei dem Bohrloche in
Sennewitz, nördlich von Halle) vorkommen, so überschätzen wir dieselben offenbar
und verkennen, dass sich doch jene empirischen Formeln aufstellen liessen und nur
geringe Fehlerquadratsummen ergaben. Wollten wir jedoch an Stelle der Gleichungen
andere setzen, die jene Schlüsse nicht zuliessen, so würden wir einfach das Gebiet
der thatsächlichen Beobachtung verlassen.
Ausserdem stellt sich in den beiden Bohrlöchern von Sperenberg und Schlade-
bach die zuletzt beobachtete Wärmezunahme als sehr gering heraus; in Schladebach
betrug sie sogar auf die letzten 30 Meter nur 0,1°R., also im Grunde nieht mehr,
als die Grenze möglicher Beobachtungsfehler betragen dürfte. Dies schon lässt es
uns als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass sich die Tiefe dieser Bohrlöcher schon
einer Grenze nähert, von welcher aus keine Steigerung der Wärme mehr stattfindet,
wo also eine konstante Durchschnittstemperatur des Erdkörpers erreicht wird. Von
da an wieder eine Abnahme zu folgern, wie es die Anhänger des glühendheissen
u
Erdkerns ihren Gegnern gern andichten, ist aus den Eingangs bemerkten Gründen
durchaus unstatthaft. Anders gestaltet sich aber die Frage nach der Tiefe und Tem-
peratur, bei welcher jener konstante Werth der letzteren erreicht wird; in dieser Hinsicht
dürfte sich mit Hülfe der Berechnung der Maxima und Minima wenigstens ein an-
näherndes Resultat erzielen lassen. Freilich sind der Beobachtungsstellen noch sehr
wenige, und da Grenelle für etwa 1020 m, Sperenberg für 1650 m, Schladebach für
die Formel 7’= 9" + 0,032 . s- 0,0000025 s? aber erst für 6400m Tiefe das Ende der
\Wärmezunahme verheisst, so würde namentlich in letzter Zahl eine grosse Schwierig-
keit liegen, wenn nicht eben die so sehr geringe Wärmesteigerung, welche gegen Ende
der Bohrung im letztgenannten Orte thatsächlich ermittelt ist, grade diese Ziffer als
zu hoch erscheinen liesse. Aus diesem Grunde habe ich auch schon früher aus den
letzten, tiefsten Beobachtungen eine andere empirische Formel berechnet, nämlich
7 = 9° +0,045 . s— 0,00001 . s?,
welche allerdings nur approximativ ist, meiner Ansicht nach jedoch mit 2250 m den
Punkt, an welchem eine konstante Erdtemperatur erreicht sein würde, eher zu tief
als zu hoch angibt. Dass diese Formel sich nicht durch Rückrechnungen kontroliren
und für die ganze Reihe der Beobachtungen verwerthen lässt, liegt eben darin, dass
die Wärmezunahme nach ihr nothwendig geringer sein muss als weiter oben, dass
also umgekehrt auch die Abnahme nach oben hin zu klein ausfallen muss — ein
Umstand, der bei der Prüfung nicht zu übersehen sein möchte.
Die Temperaturen, welche sich in diesem konstant-warmen Erdinnern erwarten
lassen, waren etwa 60°C. bei Schladebach (während die für die ersterwähnte Formel
resultirenden 111° C. unberücksichtigt bleiben können), 51°C. bei Sperenberg und 33° C.
bei Grenelle. Sie gehen zwar noch ziemlich weit auseinander; da man aber doch
nicht in allen Fällen eine ganz gleiche Wärme des inneren Erdkörpers zu finden
braucht, und da Grenelle bei seiner verhältnissmässig geringen Tiefe weniger in
Betracht kommen dürfte, so ist doch in dieser Beziehung das Endergebniss kein
ganz unbefriedigendes, sofern man eben nicht von plutonistischen Prämissen ausgeht
und dem Thatbestande entgegen auf ihnen beharren will.
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die Synthese der Vulpinsäure und die
Constitution der y-Ketonsäuren.
J. Volhard.
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Die Vulpinsäure ist eine der vielen intensiv gelben Säuren, die man in den
Flechten vorfindet. Sie ist benannt nach der Flechte, aus der sie gewonnen wird, dem
Lichen vulpinus L., jetzt Zvernia vulpina, auch Cetraria, Chlorea, Usnea, Parmelia,
Cornieuwlaria genannt, je mit dem Beiwort vw/pina. Die Flechte ist sehr verbreitet
in Schweden und Norwegen, findet sich aber auch in den Hochthälern Tirols und
der Schweiz auf Fichten und Arven ziemlich häufig. Im Norden soll sie zum
Vergiften der Wölfe benutzt werden. Nach Versuchen, die Herr Prof. v. Mering
anzustellen die Güte hatte, ist sie allerdings so giftig, dass "ag ein Kaninchen
in einigen Stunden tödtet. Die Säure wurde zuerst mit dem Farbstoff der Parmelia
partetina, der Chrysophansäure, verwechselt; ihre Eigenthümlichkeit wurde dann von
Möller und Streeker*) dargethan, die auch ihre Zusammensetzung C4H1O; fest-
stellten. Eine weitere eingehende Untersuchung der Vulpinsäure von Spiegel”) er-
schien 1883 und an diese schliesst sich jetzt die meinige an.
Spiegel fand, dass die Vulpinsäure mit Essigsäureanhydrid ein Acetoxylaeton
liefert, und er war meines Wissens der erste, der die Bildung eines nicht sauren und
gegen Wasser beständigen Acetylderivates aus einer Säure durch die Annahme eines
alkoholischen Hydroxyls in der Säure zu erklären versuchte. Spiegel gibt der Vulpin-
säure die Structurformel
OH
|
C
a
GH,—C=C C—-CH,,
1.34 Jonjhl
CH; 0—C0O 0—C0O
*), Liebig’s Annalen 113, 56. are leh al
34*
200°
nach der sie selbst als ein Laeton erscheint. Die Bildung des acetylirten Lactons
wäre demnach einfach ein Austausch des Hydroxylwasserstoffs gegen Acetyl.
Ihre Säurenatur soll sie dem tertiären Hydroxyl verdanken. Diesem schreibt
Spiegel „nur deshalb an saure gränzende, phenolartige Eigenschaften und
dem Erlenmeyer'schen Satz gegenüber Beständigkeit zu, weil es an einem
durch die Lactonbindung dargestellten ringförmigen Atomcomplex sitzt.“
Phenolartiger Charakter würde sich so allenfalls erklären lassen, aber die
Vulpinsäure zersetzt kohlensaures Kali und kohlensauren Baryt; es handelt sich
also nicht um ein Phenol, sondern um eine ausgesprochene Säure, und zur Er-
klärung der Säurenatur kann jenes Hydroxyl um so weniger in Anspruch genommen
werden, als sein Träger mit dem säurebildenden Radical -COO- nicht einmal in direeter
Verbindung steht. Sind denn die Ester der Aepfelsäure, die verhältnissmässig doppelt
soviel säurebildendes Radical enthalten, sauer oder auch nur phenolartigen Charakters ?
Allerdings fehlt da die Ringschliessung, der ein wesentliches Moment für
die Versäuerung des fraglichen Hydroxyls zugeschrieben wird.*)
Aber man vermisst jede Erklärung, warum durch Ringschliessung ein Körper
zur Säure werde. Mindestens mit demselben Rechte könnte man einen Einfluss im
entgegengesetzten Sinne erwarten, denn im Acetylen sind die Wasserstoffatome durch
Metall ersetzbar, im Benzol dagegen nicht. Es ist jedoch überhaupt nicht abzu-
sehen. wieso und warum Ringschliessung den eleetrochemischen Charakter der Radicale
beeinflussen sollte. Neuerdings sind von Fittig und seinen Schülern“) Oxylactone
dargestellt worden, die unzweifelhaft Hydroxyl und einen durch Laetonbindung ge-
schlossenen Ring enthalten, wie das Phenyl- und Benzyloxybutyrolaeton,
OH OH
|
CH CH
Pa: en
C,H, —CH CH; (,H;,-CH,— CH CH3;,
| | |
Ver) des
Phenyloxybutyrolaeton Benzyloxybutyrolaeton oder
Phenyloxyvalerolacton
mit deren Constitution also die der Vulpinsäure nach Spiegels Auffassung eine ganz
unverkennbare Aehnlichkeit hätte; aber diese Hydroxylactone zeigen keine Spur von
*) Vgl. auch Bredt, Liebig’s Annalen 256, 318. ’*) ibid. 268, 35, 40, 45, 51.
2b ——e
sauren Eigenschaften; sie werden durch kohlensaures Alkali aus (der wässerigen
Lösung abgeschieden, und Aether entzieht sie der alkalischen Lösung.
Auch für das Phenol, das etwa als Beleg herangezogen werden könnte, ist es
durchaus nicht bewiesen, dass das säureähnliche Verhalten durch die Ringschliessung
bedingt werde; es ist viel wahrscheinlicher, dass dieser Charakter von der verhältniss-
mässig geringen Anzahl der Wasserstoffatome abhängt, die der an sich etwas electro-
negativen Natur des Kohlenstoffs gestattet, sich an dem Hydroxyl geltend zu machen.
Spiegel's Vorstellung von der Constitution der Vulpinsäure ist also mit dem
chemischen Charakter dieser Säure durchaus unvereinbar.
Gleichwohl hat diese Hypothese vielfachen Anklang gefunden und für die
Structurformeln der Ketonsäuren, die sich gegen Essigsäureanhydrid ähnlich verhalten,
so auch für_die Bredtsche*) Vorstellung von der Constitution der Lävulinsäure das
Vorbild abgegeben. Wenn Bredt die Arbeit Spiegels als in vieler Beziehung frucht-
bringend bezeichnet, so bezieht sich dieses Lob augenscheinlich mehr auf eben jene
Hypothese als auf die sonstigen Vorzüge der durch Sorgfalt und Geschicklichkeit
der experimentellen Ausführung ausgezeichneten Arbeit, deren Gründlichkeit um so
mehr anerkannt und hervorgehoben zu werden verdient, je mehr jetzt bei den che-
mischen Arbeiten die Tendenz zu Tage kommt, das Ei ungelest an den Markt zu
bringen.
Um aber wieder auf die Bildung der Acetoxylactone zurückzukommen, die
früher dazu nöthigte, wohl charakterisirte Säuren als Hydroxylactone anzusehen, so
ist das Verständniss dieser Reaction ein nicht unwichtiges Ergebniss meiner Unter-
suchung über die Hydrochelidonsäure, über welche ich der naturforschenden Gesell-
schaft vor einem halben Jahre vorzutragen die Ehre hatte.
Ich habe damals den Nachweis geliefert, dass die Hydrochelidonsäure un-
zweifelhaft ein Derivat des Acetons ist, nämlich symmetrische Acetondiessigsäure:
CH; CH,— CH, — COOH
| |
co co
| |
CH, CH, — CH, — COOH
Aceton Acetondiessigsäure od. Hydrochelidonsäure
ferner dass diese Säure beim Erhitzen für sieh oder mit Wasser entziehenden Mitteln
Wasser verliert und in ein gleichfalls symmetrisch constituirtes Dilaeton übergeht.
*) Liebig’s Annalen 236, 225.
2
Diese Abspaltung von Wasser aus der Acetondiearbonsäure beweist, dass das
die Ketonsäuren, Ketone, Aldehyde charakterisirende Radical Carbonyl, CO, mit dem
Hydroxyl eines zu ihm in y-Stellung befindlichen Radicales unter geeigneten Um-
ständen in Wechselwirkung tritt.
Man kann sich eine solche Wechselwirkung nur in einer Art vorstellen, nämlich
derart dass der Wasserstoff des Hydroxyls an den Sauerstoff des Carbonyls tritt und
diesen im Hydroxyl verwandelt, während der Kohlenstoff des Carbonyls durch Ver-
mittlung von Sauerstoff sich mit dem in y-Stellung befindlichen Radical verbindet,
d.h. in Lactonbindung eintritt; das so an den Carbonylkohlenstoff gewanderte Hydro-
xyl wirkt dann auf ein zweites zu ihm in 7-Beziehung stehendes Hydroxyl ein, um
Wasser und eine zweite Laetonbindung zu bilden, entsprechend der Gleichung
CH,—C0 CHE 00° 5; CH,— CO
CH. ÖH CH, 0 da, ö
co — eZon = u a +BH;0.
da, OH ca, OH cm 0
Cn,.-do dm. co din_co
Was Spiegel, Bredt, Roser und andere als den Ausdruck der Constitution der
Säure auffassen, das Hydroxylacton, erscheint hiernach nicht als Structur einer wirklich
existirenden Verbindung, sondern nur als das erste Stadium einer Umsetzung, das
nothwendig von einem weiteren Stadium, nämlich einer Wasserabscheidung oder dem Aus-
tritt einer sonstigen Hydroxylverbindung gefolgt oder begleitet sein muss.
Das erste Stadium der auf Wasserabspaltung hinwirkenden Reactionen scheint
bei allen Ketonsäuren das gleiche, Wanderung des Wasserstoffs von dem Carboxyl an
den Carbonylsauerstoff, das zweite Stadium, die eigentliche Wasserabspaltung, kann
dagegen, je nach der Natur der Substanz, in verschiedener Weise verlaufen.
Für die zweibasischen Y-Ketonsäuren ist die Reaction oben an dem Beispiel
der Acetondiessigsäure erörtert; in gleicher Weise gehen Benzophenondicarbonsäure *),
#-Benzoylpropion-o-carbonsäure ”) in Dilactone über; ganz analog vollzieht sich
die Bildung von Dimethyloxeton aus Dibromvalerolacton.**)
Die Bildung von Dilactonen aus Diketonsäuren mit benachbarten Carbonylen
wie z. b. aus Diphtalylsäure +) erfolgt höchst wahrscheinlich in etwas anderer Weise.
*) Graebe und Juillard, Liebig’s Annalen 242, 246.
**) Roser, Ber. d. d. chem. Ges. 17, 1770; 18, 802. ”**#) Volhard, Liebig’s Annalen
7) Graebe und Juillard, Liebig’s Annalen 242, 229.
—— 263
Hier gehen die beiden Carbonyle in C(OH) über und die zwei Hydroxyle wirken
dann gegeneinander unter Abscheidung von Wasser und Hinterlassung eines Sauerstoff-
atomes, das wie im Aethylenoxyd oder in den Glyeidsäuren die beiden Kohlenstoffatome
verbindet:
ee C,H, — CO 0,H,— CO
co OH HO—C — 0 —-O0O
| ng | = 0<| + H,0.
co OH HO—C — 0 0 — 0
| | | | | |
(,H,— CO 0,H,— CO 0,H,— 00
Diphtalylsäure intermediär Dilacton
Wieder anders verläuft die Reaction bei den einbasischen Ketonsäuren; da
tritt das Hydroxyl mit dem Wasserstoff eines benachbarten Methylens oder Methenyls
als Wasser aus unter Erzeugung eines ungesättigten Lactons:
CH, CH; CH;
co UHE— Ho_d — 0 = c — 0 +H0
el len
cin, do din, 00 dit, do
Lävulinsäure intermediär Angelicalaeton
In dieser Weise lässt sich die Bildung der Acetoxylactone aus den Keton-
säuren ohne Voraussetzung eines alkoholischen Hydroxyls in der Säure sehr einfach
erklären. Es wird weiterhin an der Lävulinsäure, der zumeist untersuchten 7-Keton-
säure, dargethan werden, dass auch ihr gesammtes chemisches Verhalten sich einfacher
und ungezwungener erklärt, wenn man sie als Ketonsäure auffasst, als unter der An-
nahme sie sei ein Hydroxylaeton.
Vorerst aber scheint es nothwendig, die Constitution derjenigen Säure zu er-
örtern, die, wo immer man die Ketonsäuren als Hydroxylactone darstellt, als ein Bei-
spiel eitirt zu werden pflegt, für welches die Hydroxylactoneonst itution unwiderleglich
dargethan sei, nämlich die der Vulpinsäure.
Die Vulpinsäure ist, wie Spiegel*) gezeigt hat, Methylester der Pulvinsäure;
ihre Constitution also von der der letzteren abhängig. Für die Constitution der Pulvin-
säure ist ganz besonders ihr Verhalten gegen Alkalien in Betracht zu ziehen; sie
geht durch -Alkalien unter gewissen Umständen in Oxatolylsäure‘) über, die von
Spiegel als Dibenzylglycolsäure
*) Liebig’s Annalen 219, 1. **) Möller und Strecker, Liebig’s Annalen 113, 69.
HO
|
C,H; —- CH, —0-—- CH, C,H,
|
COOH
gekennzeichnet wurde. Die Entstehung der Dibenzylglycolsäure setzt, wie Spiegel *)
erörtert, voraus, dass sich die Pulvinsäure zuerst in die Diketonsäure
C;H, —CH—C0-—-C0-—CH-—-G;H,
| |
COOH CO00H
verwandle, deren Uebergang in Dibenzylglycolsäure sodann, abgesehen von der Ab-
spaltung der Kohlensäure, ganz der Umwandlung von Benzil in Benzilsäure analog
wäre, sonach als eine für solche Diketone gewöhnliche Reaction erscheinen würde.
Wenn man andrerseits die Spiegel’sche Auffassung der Pulvinsäure, die durch
die Formel en
C
GHEEe9, ce zer
| (el
co—-0 CooH
ausgedrückt wird, derart umgestaltet dass sie einer richtigen zweibasischen Säure
entspricht, also zweimal das Radical Carboxyl enthält, so bekommt man den Ausdruck
(0)
N
ne
b00R COOH
wonach die Pulvinsäure eine ungesättigte zweibasische Glyeidsäure wäre, ein An-
hydrid der oben formulirten Diketonsäure, gebildet durch Wechselwirkung der beiden
Carbonyle untereinander und mit dem Wasserstoff der benachbarten Methenyle, gemäss
der Gleichung:
C,H, COOH C,H; COOH C,H, COOH
V V V
CH C C
| | |
co C (OH) C
co C(OB) (6
| | I
CH 6; &
A N N
C,H, COOH C,H; COOH C,H, COOH
Diketonsäure intermediär Pulvinsäure
5) A220. 18.744:
— 265
Dass ein solches Anhydrid durch Wasseraufnahme leicht in jene Diketonsäure
übergehen kann, ist selbstverständlich. Ebenso harmonirt die hier entwickelte Auf-
fassung mit dem gesammten chemischen Verhalten der Pulvinsäure und ihrer Derivate.
Vor allem findet damit der entschiedene Säurecharakter der Vulpinsäure, für
die wir den Ausdruck )
RT EN
COOCH, COOH
erhalten, eine befriedigende Erklärung, indem er auf die gewöhnlichste landläufige
Ursache der Säurenatur, auf einen Carboxylgehalt zurückgeführt wird, während der
Pulvinsäure als einer richtigen zweibasischen Säure zwei Carboxyle zugetheilt sind.
Durch Erhitzen mit Wasser entziehenden Mitteln geht die Pulvinsäure in ein An-
hydrid über; nach obigen Erörterungen über das Verhalten der Ketonsäuren würde diese
Umsetzung gemäss der Gleichung
&H- 0 -C00H C,H; —C— COOH aa
| |
C DEG 0 —€E
|>0 — | | = | Bel E>50
© mwle-i0H vorigen
| | | | |
HOCO—C—C,H, C0O—C—C,H, C0—0—C,H,
zu einem Dilacton führen und als solches ist das Anhydrid von Spiegel auch auf-
gefasst worden.
Die Vulpinsäure dagegen gibt mit Essigsäureanhydrid ein neutrales Acetoxy-
lacton; auch diese Verschiedenheit des Verhaltens wird aus obiger Formel ver-
ständlich. Die Einwirkung des Carboxyls drängt von dem zu ihm in 7-Stellung
befindlichen Kohlenstoffatom den Sauerstoff ab unter Herstellung einer Lactonbindung
Er 0.0008, 1, GE,=C_ 00
u
|>0 = MH.
Ü C—0O
CC -C00CH, GEL —COOCH,
Das so entstandene Hydroxyl kann aber an seinem neuen Platze weder mit einem
zweiten Hydroxyl, noch mit dem Wasserstoff eines benachbarten Radicals in Wechsel-
wirkung treten, weil der Wasserstoff des Carboxyls durch Methyl ersetzt und ausser-
halb des Phenyls kein weiterer Wasserstoff vorhanden ist, es unterliegt daher der
direeten Einwirkung des Essigsäureanhydrids, indem es seinen Wasserstoff gegen Acetyl
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 35
— 216 —
austauscht; die letzte Phase dieser Reaction würde also ganz so verlaufen, wie sich
Spiegel die Bildung des Acetylderivates vorstellt. Diese Auffassung der Pulvinsäure
und ihrer Derivate stimmt sohin mit dem chemischen Verhalten derselben aufs beste
überein.
Alle diese Körper leiten sich demnach ab von der Diketonsäure
C,H,—CH—C0—C0O—CH—C;H,.
dooH doon
Denkt man sich in dieser Diketonsäure die zwei Phenyle durch zwei Wasserstoffatome
ersetzt, so hat man die Zusammensetzung der Oxalyldiessigsäure oder Ketipinsäure
H0C0O— CH, — CO— 00 — CH, — COOH;
die Diketonsäure wäre also zu bezeichnen als symmetrische Diphenylketipinsäure.
Die Ketipinsäure ist bis dahin nur synthetisch erhalten worden. Fittig und
Daimler*) haben sie aus Monochloressigester mit Oxalester und Zink dargestellt,
W. Wislicenus**,) aus Essigäther und Oxaläther mittelst Natrium oder Natrium-
aethylat. Es drängt sich sofort der Gedanke auf, dass die nämlichen Reactionen,
wenn statt Essigsäure- oder Chloressigsäureester die entsprechenden Derivate der
Phenylessigsäure angewendet werden, Diphenylketipinsäure liefern müssten.
So lässt der Versuch, jene Diketonsäure zu benennen, ohne weiteres Beziehungen
zu bekannten Verbindungen zu Tage treten, zugleich weist er auf mehrere schon
begangene Wege hin, die zu einer Synthese der Diketonsäure zu führen versprechen
und damit die Möglichkeit eröffnen, die oben entwickelte Constitution der Pulvin-
säure der experimentellen Prüfung zu unterziehen. a
Von weitem scheinen diese Wege so eben und fahrbar, dass man glaubt, man
habe nur einzusteigen, um bei der Station Diphenylketipinsäure abzuspringen. In
Wirklichkeit ging es nicht so glatt; es waren immerhin einige Joche zu übersteigen;
auch kam man unversehens vom Wege ab in Seitenthäler, deren anmuthende Scenerie
zur Verfolgung des Abweges lockte und es bedurfte angestrengter Märsche, um den
richtigen Weg zu gewinnen. Bei diesen Wanderungen wurde ich durch einen un-
ermiüdlichen Begleiter unterstützt, meinen Assistenten Dr. Fr. Henke, dessen Sorgfalt
und Ausdauer die Erreichung des Zieles wesentlich erleichterte.
Nach W. Wislicenus**) verbindet sich Oxalsäureaethylester bei Einwirkung
von Natrium oder Natriumaethylat mit einem Molekül Phenylessigester unter Ab-
scheidung von einem Mol. Alkohol gemäss der Gleichung
*) Liebig’s Annalen 249, 184. **) jbid. 246, 328. ***) Liebig’s Annalen 246, 340.
—— DW
C,H, —CHH GH;0—C0 C,H; —CH—C0 C;H;OH
gg + RE E 60oc,H,
zu Phenyloxalessigester. Würde sich ein zweites Molekül Phenylessigester in gleicher
Weise mit dem Produkt jener ersten Reaction combiniren lassen, so müsste der
Diaethylester der Diphenylketipinsäure entstehen:
GH,0—C0 C;H,0—CO
GH. 6HH C,H,0— CO HOG,H, C,H, en 69
C,H, —CHH a CH,0_Co -H06C,H, GEH._CH_60
CH,0_60 C,H,O_00
Diese Reaction zu verwirklichen ist mir jedoch bis jetzt noch nicht gelungen;
aus Phenylessigäther und Oxaläther entstehen mehrere und je nach den Umständen
verschiedene Produkte, mit deren Untersuchung ich noch beschäftigt bin. Die Re-
action verläuft so wenig glatt, dass die Hoffnung, durch sie das Ziel zu erreichen,
bald aufgegeben wurde.
Leichter als im Phenylessigester sind die Methylen-Wasserstoffatome des Benzyl-
cyanürs in Reaetion zu ziehen, wie die zahlreichen von V. Meyer*) und seinen
Schülern mit Benzyleyanür ausgeführten Synthesen beweisen. Da nun die Cyanüre
in der Regel leicht in Carbonsäuren übergeführt werden können, so wurde versucht
vom Benzyleyanür aus zu der gesuchten Diphenylketipinsäure zu gelangen. Auch
mit Oxalsäureaethylester ist, was ich anfänglich übersehen hatte, das Benzyleyanür
schon combinirt worden, und zwar von E, Erlenmeyer jr.‘*), der aus diesen Compo-
nenten den Oyanphenylbrenztraubensäureester
GH, =CH=00— 00
CN UCH,
dargestellt hat. Ich wendete 2 Molgew. Benzyleyanür auf 1 Molgew. Oxalester an
und gleich der erste Versuch ergab ein Produkt, dessen prächtige hochgelbe Farbe
auf eine Beziehung zu dem gesuchten gelben Farbstoff hinwies, daher als Marke des
richtigen Weges gelten durfte.
Man löst 23g Natrium in 250 g absolutem Alkohol, gibt nach dem Erkalten
73 & Oxalsäureaethylester zu und lässt dann langsam 120 g Benzyleyanür eintropfen,
wobei die Flüssigkeit sich erwärmt, eine gelbe Farbe annimmt und trübe wird. Nach-
*) Ber. d. deutsch. chem. Ges. 20, 534, 2944. 21, 1291 u. ff. Liebig’s Annalen 250, 118 ft.
**), Ber. d. chem. Ges. 22, 1483.
55%
— 18 —
dem alles Benzyleyanür eingetragen ist, wird eine halbe Stunde lang auf dem
Wasserbade am Rückflusskühler erhitzt; die Flüssigkeit wird dabei dunkler und
scheidet ein Natronsalz als gelben Niederschlag ab; beim Erkalten vermehrt sich der
Niederschlag derart, dass die Masse zu einem steifen Brei gesteht, während er zu-
gleich krystallinische Beschaffenheit annimmt. Auf Zusatz von Wasser geht das
Natronsalz fast ganz in Lösung. Man setzt jetzt etwas mehr Essigsäure zu als zur
Absättigung des angewendeten Natriums nöthig ist und verdünnt reichlich mit Wasser.
Der sehr copiöse, hochgelbe, flockige Niederschlag wird abfiltrirt, mit Wasser aus-
gewaschen, bis eine Probe ohne Rückstand verbrennt, und auf der Pumpe möglichst
abgesaugt; um unverändertes Benzyleyanür und ein wenig entstandener Oyanphenyl-
brenztraubensäure zu entfernen, reibt man die gelbe Masse mit Weingeist an und
wäscht mit wenig Weingeist nach.
Der gelbe Körper ist das Dinitril der Diphenylketipinsäure. Die Aus-
beute ist ziemlich gut, aus 73 g Oxaläther wurden 87,25 g Dinitril erhalten statt
berechnet 144 g, das ist 60,6 Proc. der berechneten Ausbeute.
In Wasser und den leichtflüchtigen Lösungsmitteln ist das Dinitril nur sehr wenig
löslich; etwas mehr in Amylalkohol oder Eisessig; sehr leicht wird es in der Wärme
von Nitrobenzol oder Anilin aufgenommen. Aus Amylalkohol krystallisirt der Körper
in olivengrünglänzenden Sehüppchen, die unter dem Mikroskop deutliche Krystall-
formen nicht erkennen lassen: wurmartig gekrümmte, sägeförmig gezackte Formen.
Sehr gut lässt sich das Dinitril aus Nitrobenzol oder einem Gemisch gleicher Volume
Eisessig und Nitrobenzol umkrystallisiren; man erhält so ein gelbbraunes, glänzendes
Pulver, jedoch auch ohne deutliche Krystallformen.
Das reine Dinitril fängt bei 250° an, sich dunkler zu färben und wird bei
270° unter Gasentwicklung und Schwärzung flüssig.
0,2287 g gaben 0,6299 CO, entspr. 0,17179C und 0,0879 H,O entspr. 0,0098 H
0,1966 g gaben 16,8 ebem feuchtes Stickgas bei 15° und 748mm Druck entspr. 0,019346g N
Ber. für Gefunden
C,sH120;,N;
C 75.00 75.11
H 417 4.27
N 9.72 9.89
Von wässerigen Flüssigkeiten wird das Dieyanür sehr schwer benetzt; nach dem
Befeuchten mit etwas Weingeist löst es sich leicht in Natronlauge, Ammoniak, Baryt-
wasser, kohlensaurem Natron. Diese Lösungen reagiren auch bei Ueberschuss von
— 269 —
Dieyanür alkalisch; aus denselben wird das Dieyanür durch alle Säuren abgeschieden,
selbst Kohlensäure schlägt es zum grössten Theile nieder. Der hochgelbe, anscheinend
amorphe Niederschlag lässt sich gut abfiltriren. Mit den Schwermetallsalzen geben
die alkalischen Lösungen Niederschläge, die jedoch, wie es scheint, nur Gemenge
von Basis und Dieyanür sind.
Durch Kochen mit Kalilauge wird das Dieyanür nicht zersetzt; erst beim
Schmelzen mit Kali entwickelt es Ammoniak. Auch durch concentrirte Salzsäure
wird es nur bei tagelangem Kochen unvollständig verseift. Rascher erfolgt die
Verseifung durch concentrirte Salzsäure im zugeschmolzenen Rohre bei 130°.
Nach zwei Stunden ist die Umsetzung beendet; nach dem Abkühlen durch Eis-
wasser öffnet sich das Rohr fast ohne Druck. Der Inhalt besteht aus einer
klaren, schwach gelben Flüssigkeit und einer braungelben bis braunen gesinterten
Masse. Aus dem auf dem Wasserbade zur Trockne gebrachten Reactionsprodukte
nimmt Wasser den gebildeten Salmiak auf, dessen Menge der für vollständige Um-
setzung des Dieyanürs berechneten sehr nahe kommt, z. b. statt 1,75 wurde erhalten
1,52 Salmiak.
Der in Wasser unlösliche Rückstand wiegt nach dem Trocknen eine Kleinig-
keit mehr als das angewendete Dieyanür. Er besteht zum grösseren Theile aus einem
gelben, neutralen Körper, der alle Eigenschaften des von Spiegel‘) beschriebenen
Pulvinsäuredilactons hat; dieses Dilacton bleibt mit sehr wenig unverseiftem Dieyanür
gemengt zurück, wenn das von Salmiak befreite Reactionsprodukt in Aether auf-
genommen wird (17,3 Dieyanür gaben 11,9 & Dilacton).
Die ätherische Lösung hinterlässt beim Eindunsten einen braunen von Krystall-
körnern durchsetzten Rückstand; dieser besteht der Hauptmasse nach aus Pulvin-
säurehydrat, das, auch aus der Flechte dargestellt, in Aether keineswegs so schwer
löslich ist, wie Spiegel angibt; ausserdem enthält er ein wenig unzersetztes Dieyanür
und in geringen Mengen das Lacton einer Dibenzyloxalmonocarbonsäure, sowie gelbe
krystallinische Körper, deren Trennung noch nicht gelungen ist, endlich ein dunkles,
sprödes Harz. Mit einer Lösung von kohlensaurem Natron angerieben, geht der frag-
liche Rückstand grösstentheils in Lösung; aus der alkalischen Lösung scheidet Essig-
säure die erwähnten Stofte unbekannter Natur in gelben Flocken ab; durch Umkrystalli-
siren aus Alkohol erhält man daraus grössere durchsichtige Tafeln, die mit undurch-
sichtigen Körnern besetzt sind. Die essigsaure Lösung lässt auf Zusatz von Salzsäure
*) Liebig’s Annalen 219, 9.
einen reichliehen tlockigen Niederschlag von Pulvinsäure fallen, die man durch
Krystallisiren aus Alkohol reinigt. Von 24,5 g Rückstand waren 4,6 g in Soda un-
löslich; der Niederschlag durch Essigsäure betrug 3,0 g.
Handelt es sich hauptsächlich um die Darstellung von Pulvinsäuredilaeton, so
lässt man den Rückstand vom Verdunsten der ätherischen Lösung einige Zeit am Rück-
flusskühler mit Acetylchlorid kochen, verdampft das überschüssige Chlorid und nimmt
in Aether auf; das Dilacton bleibt zurück; aus 32,7 Aetherextract wurden so noch
20 g Dilacton erhalten. Die hierbei erhaltene ätherische Lösung lieferte das oben er-
wähnte Lacton der Dibenzyloxalylmonoearbonsäure.
Das Dilactonder Pulvinsäure, seiesdurch Verseifung des Dieyanürs unmittelbar
oder durch nachfolgende Behandlung mit Acetylchlorid gewonnen, löst sieh nicht in
Wasser oder wässerigen Alkalien, wenig in kochendem Benzol, aus dem es beim Erkalten
in sehr feinen Nädelehen krystallisirt; etwas reichlicher wird es von kochendem Toluol
oder Chloroform aufgenommen; am besten krystallisirt man es aus Eisessig um, der es
bei langsamem Erkalten in glänzenden, durchsichtigen, gelben Nadeln abscheidet.
Sein Schmelzpunkt wurde völlig übereinstimmend mit Spiegel's Angabe bei 220— 221°
gefunden. Zur Analyse war das Dilacton nacheinander aus Toluol, Chloroform, Eis-
essig umkrystallisirt worden.
1. 0,1899 g gaben 0,5148 CO, entspr. 0,1404 C und 0,0595 H,O entspr. 0,00661 H
2. 0,1688g gaben 0,4607 CO, „ 0,1256C und 0,0534H;0 „0,0059 H
Berechnet für Gefunden
0,sH100; 1. 2.
C 7448 73,93 74,43
H 3,45 3,48 3,51
Eine Lösung von Kali in Methylalkohol nimmt das Dilaeton reichlich auf.
Die mit Wasser verdünnte Lösung lässt auf Zusatz von Säuren einen ge-
quollenen Niederschlag von hellgelben Flocken fallen. Derselbe wurde abfiltrirt
und aus Weingeist umkrystallisirt, von dem er selbst beim Koehen nicht reichlich
aufgenommen wird. Beim Erkalten schiessen glänzende Blättehen und Nadeln an,
von schön gelber Farbe, unter dem Mikroskop anscheinend quadratische Tafeln. In
igenschaften und Zusammensetzung stimmt die Substanz mit der Vulpinsäure aus
Everma vulpina überein. Ihr Schmelzpunkt liegt bei 146—148", Spiegel gibt 148°
an; ein von Schuchardt in Görlitz bezogenes Muster der Flechtensäure fing bei 145°
an zu sintern und schmolz bei 147—148°.
1. 0,1910 g gaben 0,4935 CO, entspr. 0,1346 C und 0,0749 H,O entspr. 0,00832 H
2. 0,2365 g gaben 0,6073C0, „ 0,1656C und 0,0930H,0 „ 0,0103H
Berechnet Gefunden
Ci; 228 70,81 70,46 70,03
H, 14 455 4,35 4,37
0, 80 24,84 En
100,00
Mit Essigsäureanhydrid wurde aus der synthetischen Vulpinsäure das von Spiegel
beschriebene Acetylderivat erhalten, welches nach einmaligem Umkrystallisiren aus
Weingeist fast farblose, glänzende Nadeln bildete und bei 153—155° schmolz. Spiegel
gibt den Schmelzpunkt zu 156° an. 1% Vulpinsäure liefert 0,95 g umkrystallisirte
Acetylverbindung statt berechnet 1,13 g.
Mit alkoholischem Kali wurde das Dilacton in den sauren Aethylester der
Pulvinsäure übergeführt: canariengelbe, glänzende Schuppen, unter dem Mikroskop
durchsichtige, sechsseitige Blättchen und Prismen; nach einmaligem Umkrystallisiren
schmolz die Substanz bei 125—127°. Spiegel gibt den Schmelzpunkt der Aethyl-
pulvinsäure zu 127—128° an.
Das Dilacton wurde durch eine Mischung von Aceton und Kalilauge, die aus
ersterem erhaltene Vulpinsäure durch Kochen mit Kalkmilch verseift; aus den so be-
reiteten Salzlösungen fällt auf Zusatz von Salzsäure die Pulvinsäure in gelben Flocken
aus, die beim Erwärmen ölig zusammenschmelzen, um beim Kochen nach kurzer Zeit
zu festen krystallinischen, orangegelben Bröckehen zu erstarren. Sehr ekarakteristisch
für die Pulvinsäure ist ihr Verhalten gegen Alkohol. Mit wenig Alkohol angerieben
geht sie leicht in Lösung; nach emigen Augenblicken scheidet diese Lösung die
Säure in Verbindung mit Alkohol als gelbes Krystallpulver wieder ab. Von heissem
Alkohol wird die Säure in grosser Menge aufgenommen; beim Stehen über Nacht
krystallisirt sie zum weitaus grössten Theil wieder aus in glänzenden, durchsichtigen
Prismen, sehr ähnlich dem Natriumplatinchlorid, nur etwas heller in der Farbe. Die
Krystalle enthalten, wie Spiegel angibt, Krystallalkohol:
0,318g verloren bei 100° unter Blindwerden 0,0417 g entspr. 13,11 Proc. Alkohol, berechnet
für CisH1a0,+C;H,0 13,00 Proc.
Die getrocknete Pulvinsäure schmilzt bei 215— 216" unter Gasentwicklung,
Spiegel gibt 214—215° an.
Pulvinsaures Silber, C4sH10; Ag: + H,O. — Sehr charakteristisch ist nach
Spiegel die Zusammensetzung des pulvinsauren Silbers, das ganz gegen die Ge-
pflogenheit der Silbersalze ein Mol. Krystallwasser enthält. Das Salz wurde nach
den Angaben Spiegels dargestellt nur unter Zusatz von etwas Alkohol, um die
Löslichkeit der Pulvinsäure zu erhöhen.
1. 0,2090 g gaben 0,0844 Silber;
3.,0,15634-n gr 0615. 1
Berechnet für Gefunden
C,sH,00;Ag3H,0 ıl 2.
Ag 40,00 40,38 40,05.
Höchst wahrscheinlich ist dieses Salz ein Salz der Diphenylketipinsäure von der Zu-
sammensetzung
G,H;—CH—C0—CO—CH—C;H,
|
COOAg COO Ag.
Dibenzyloxalylmonocarbonsäurelacton.
Unter den Producten der Verseifung des Dinitrils der Diphenylketipinsäure
ist oben das Lacton einer Dibenzyloxalylmonocarbonsäure erwähnt. Nachdem das
Pulvinsäurehydrat durch Erhitzen mit Acetylehlorid in Dilacton übergeführt war,
wurde das Produet mit Aether ausgezogen. Die ätherische Lösung hinterlässt ein
schwarzes, weiches Harz, das durch wiederholtes Auskochen mit kohlensaurem Natron
unter Hinterlassung einer schwarzen, spröden, amorphen Masse theilweise in Lösung
geht. Säuren fällen aus diesen Lösungen einen gelben, krystallinischen Körper, der
mehrfach aus Methylalkohol und aus Eisessig umkrystallisirt werden muss, bis er
homogen aussieht: Kleine, undurchsichtige, kugelig vereinigte Nadeln von schwach-
gelber Farbe. Der Körper schmilzt bei 231—233'. Von Sodalösung wird er kalt
nicht, wohl aber beim Kochen aufgenommen ; mit Zinkoxyd und Wasser gekocht, führt
er kein Zink in Lösung. Zu eingehender Untersuchung war die Menge nicht aus-
reichend; die Analysen führen zu der Formel CH Os. Nach Entstehungsweise und
Verhalten kann der Körper kaum etwas anderes sein als das oben bezeichnete Laeton.
ee sen
bla
1. 0,1432 g gaben 0,4044 CO, entspr. 0,11029 C und 0,0594 H>O entspr. 0,00660 H
2. 013835 „ 0390400, „ 0,10647C „ 0,05755H,0 „ 0,00639H
Berechnet Gefunden
C,-H,,0; = 263,37 1. 3
C 77,26 77,02 76,99
H 4,56 4,61 4,62
Das Pulvinsäuredilaeton (theilweise auch das Dinitril) liefert mit Salpetersäure,
Piperidin, Anilin, Phenylhydrazin, Hydroxylamin schön krystallisirende Derivate; das
Hydrat gibt mit Brom eine sehr beständige krystallinische Verbindung; diese Derivate
sind noch in Untersuchung.
An der Identität der wie vorstehend beschrieben synthetisch erhaltenen Vulpin-
säure mit der Säure aus Cefraria vulpina kann nach der durchgehenden Ueberein-
stimmung von Eigenschaften und Verhalten nicht gezweifelt werden. Durch diese
Synthese dürfte die eingangs entwickelte Constitution jener Säure und ihrer Derivate
genügend bewiesen sein.
Es erübrigt mir nunmehr. noch den Nachweis zu bringen, dass auch das Ver-
halten der Lävulinsäure in keiner Weise dazu nöthigt, die gewöhnliche Auffassung dieser
Säure als Y-Ketonsäure
CH,—CO—CH,—CH,—CO0H
aufzugeben und ihr die Hydroxylaetonformel
CH,—C(OH)— CH; —CH,
| |
0 —— (0
zuzuschreiben, in der ihre Säurenatur keine Erklärung findet.
Zur Constitution der Lävulinsäure.
Die Lävulinsäure wurde, nachdem Conrad*) ihre Identität mit der durch Ab-
spaltung von Kohlensäure aus der Acetbernsteinsäure entstehenden Acetopropionsäure
nachgewiesen hatte, ganz allgemein als eine wahre 7-Ketonsäure angesehen, bis Bredt**)
dieselbe durch Essigsäureanhydrid in eine gegen Wasser ziemlich beständige und
nicht saure Acetylverbindung überführte. Um die Bildung dieser Verbindung zu er-
klären, fasst Bredt in Analogie mit Spiegels Vorstellung von der Constitution der
Vulpinsäure die Lävulinsäure als ein Y-Hydroxylacton auf, entsprechend der Formel
CH; OH
*) Liebig’s Annalen 188, 217. **) jbid. 236, 225.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 36
Alles was eingangs gegen die Spiegel’sche Hypothese aufgeführt wurde, spricht
ebenso gegen die Bredt’'sche Auffassung der Lävulinsäure.
Ob überhaupt derartige Y-Hydroxylactone existiren können, ist fraglich; min-
destens ist die Existenz eines solchen noch in keinem einzigen Falle mit zwingenden
Gründen .dargethan worden.
Es kann zwar angesichts der neueren Versuche Bredt's*) nicht mehr bezweifelt
werden, dass das Acetylderivat der Lävulinsäure eine analoge Constitution hat, wie
das Product der Vereinigung von Chlorwasserstoff mit Angelicalaeton **) und wie die
sogenannte Cyanlävulinsäure “*), dass es sohin als ein substituirtes Valerolaeton auf-
zufassen ist. Die Constitution dieser Derivate kann aber nicht ohne weiteres massgebend
sein für die Säure selbst, da diese sich denn doch in vieler Beziehung unzweifelhaft wie
eine wahre Ketonsäure verhält, auch, wie nachstehend gezeigt werden soll, Bildung und
Verhalten jener Derivate aus der gebräuchlichen Ketonsäureformel theils ebensogut,
theils besser erklärt wird als aus der Bredt’schen Formel.
Von den schon früher für die Lactonnatur aufgeführten Gründen hat Bredt in
seiner letzten Mittheilung+) über diesen Gegenstand die folgenden Reactionen als
Hauptbeweise nochmals ganz besonders hervorgehoben, nämlich:
1. Die Entstehung der Lävulinsäure aus «-Angelicalacton unter Aufnahme von
Wasser;
2. Die Bildung der Lävulinsäure aus 7-Methylglutolaetonsäure mittelst con-
centrirter Schwefelsäure.
3. Die Umwandlung in ein beständiges und nicht saures Acetylderivat mittelst
Essigsäureanhydrid.
Dazu macht Bredt als bestätigendes Ergebniss seiner neuesten Versuche
4. die Uebereinstimmung im Verhalten gegen Phenylhydrazin zwischen Acetyl-
lävulinsäure und Aldehyddiacetaten geltend.
Den letzten Punkt habe ich in einer Notiz über die Phenylhydrazinderivate
der Lävulinsäure 7) besonders besprochen; ich habe dort gezeigt, dass aus Bildung,
Zusammensetzung und Verhalten dieser Derivate ein Grund gegen die gebräuchliche
Ketonsäureformel der Lävulinsäure nicht abgeleitet werden kann. Es bleiben mir
hier also noch die drei erst erwähnten Reactionen zu erörtern.
*) Liebig’s Annalen 256, 314. **) Wolft, Liebig’s Annalen 229, 271. ***) Block, Kreckeler
und Tollens, ibid. 238, 298. +) ibid. 258, 314. ir) ibid. 267, 106.
1. Den Uebergang des Angelicalactons in Lävulinsäure stellt sich Bredt der-
art vor, dass die Elemente des Wassers von dem ungesättigten Kohlenwasserstoff-
radical der Angelicasäure aufgenommen würden, während die Laetonbindung erhalten
bliebe, entsprechend der Gleichung :
CH, — C Ö0—H CH, —COH
R | N
a2) ET
00—CH;, C0—CH;
Diese Vorstellung nimmt einen ganz ungewöhnlichen chemischen Vorgang
an, für den kaum eine Analogie beizubringen sein dürfte. Die Verbindungen mit un-
gesättigten Kohlenwasserstoffradicalen pflegen zwar Halogene, Halogenwasserstoftf,
wohl auch andere Säuren zu addiren, dass sie aber bei gewöhnlicher Temperatur
und ohne Mitwirkung irgend eines andern Agens Wasser, blosses Wasser aufnehmen,
dürfte ohne Beispiel sein.
Es wird daher sehr viel wahrscheinlicher, dass die Bildung von Lävulinsäure
aus Angelicalacton, worauf auch schon von anderer Seite hingewiesen wurde ‘), nichts
anderes ist als der Uebergang von Laeton in Oxysäure; die so entstehende Y-Hydroxy-
säure lagert sich dann nach der so vielfach bewährten Erlenmeyer’schen Regel in die
Ketonsäure um:
CH,—C OH CH, —C-—-0H CH,—CO
N /
One une Arne on CH, OH.
| | | | | |
CH,— CO CH, — CO CH,—CO
Die Bildung von Lävulinsäure aus Angelicalaeton kann also keinen Grund
abgeben, die Lävulinsäure als ein Hydroxylacton anzusehen.
2. Für die Bildung der Lävulinsäure aus Methylglutolactonsäure stellt Bredt **)
die Gleichung auf
CH; C--CH,--CH, CH,--6-—CH,—CH,
A | = N IW 25:60)
H0CO 0 — co H00. —,c0
wonach das Carboxyl der Säure einfach Kohlenoxyd abspalten und das Hydroxyl
zurücklassen würde. Das wäre aber wiederum eine sehr ungewöhnliche Reaction.
Wenn Michael hierzu bemerkt ""*), dass das vom Carbonyl getrennte Hydroxyl
*) Wolff L. A. 229, 280: Michael, J. f. pr. Ch. (2) 44. 124. *) A.a.0. 314.
**) Z. f. pr. Ch. (2) 44, 124.
36*
im Entstehungszustande wie Wasser auf das Laeton einwirken und so Lävulinsäure
erzeugen könne, entsprechend der Gleichung
u le cm, 200m. CH
N | — N |
HO + 0 — CO HO 0 — CO,
so mag die Möglichkeit eines solchen Vorganges dahingestellt bleiben, denn die Haupt-
sache scheint mir zu erklären, warum die Methylglutolaetonsäure jene Zersetzung er-
leidet. Es ist denn doch nichts weniger als gewöhnlich. dass Carbonsäuren oder
Lactonsäuren bei Einwirkung von Schwefelsäure einfach Kohlenoxyd verlieren. So
verhalten sich nur die «-Hydroxysäuren; für diese ist es allerdings eine charakteristische
Reaction, dass sie beim Erwärmen mit Schwefelsäure Ameisensäure oder deren Zer-
setzungsproducte Kohlenoxyd und Wasser abspalten, während ihr mit Hydroxyl ver-
bundenes «-Kohlenstoffatom in Carbonyl übergeht.
Da nun die Methylglutolaetonsäure das Anhydrid einer «-Hydroxysäure ist,
und jene Spaltung ganz der Umsetzung entspricht, welche die «-Hydroxysäuren unter
gleichen Umständen zu erfahren pflegen, so darf man als höchst wahrscheinlich,
ja als sicher voraussetzen, dass die Lactonsäure gar nicht als solche, sondern hy-
dratisirt, d. h. als Methylhydroxyglutarsäure in die Hauptreaction eintritt und dabei,
wie andere «-Hydroxysäuren, eine Carbonylverbindung, in unserem Falle also eine
Ketonsäurn liefert, entsprechend der Gleichung
CH, — C— COOH CH, —C=0 + HCOOHB
N
CH; OH — CH,
| |
CH, — COOH CH, — COOH.
Damit in bester Uebereinstimmung steht die Bildung des Uyanvalerolaetons
aus Lävulinsäure und Cyanwasserstoff; dieselbe erscheint zwar nicht ausschliesslich
als Addition, da auch Wasser abgespalten wird, es kann jedoch keinem Zweifel
unterliegen, dass der Wasserabspaltung die Addition von Cyanwasserstoff voraufgeht:
CH, — CO CN CH, —C—CN CH, —C—0ON
% A N
| | | | |
CH,— COOH CH,— COOH CH;—CO HH
Von einer Addition der Blausäure an Lactone oder Hydroxylactone weiss man
aber nichts; dagegen ist diese Reaction charakteristisch für das Carbonyl der Alde-
hyde, Ketone, Ketonsäuren; es ist denn auch Bredt*) selbst nicht entgangen, dass
diese Blausäureaddition mit seiner Auffassung der Lävulinsäure in Widerspruch steht.
In Summa die Ueberführung von Lävulinsäure in Methylglutolaetonsäure und
ihre Wiederabspaltung aus dieser erklären sich aus der Ketonsäurenatur der Lävulin-
säure vollkommen ungezwungen, während sie als ungewöhnliche und seltsame Vor-
gänge erscheinen würden, wenn die Lävulinsäure ein Hydroxylacton wäre.
3. Veranlassung und Hauptstütze der Bredt'schen Hydroxylactonformel ist
die Bildung einer beständigen Acetylverbindung aus Lävulinsäure und Essigsäure-
anhydrid, welchen Vorgang Bredt als einfachen Austausch des Hydroxylwasserstoffs
gegen Acetyl auffasst:
CH,—C—OH COCH, H CH, — C—-0C0CH,
A | | A
CHR* 00 — Ö nn CH, 0
| | | | | |
CH,—CO GOCH, GOCH, CH, —00
Dass der Vorgang in dieser einfachen Weise verlaufe, wird höchst unwahr-
scheinlich, wenn man damit das Verhalten der Lävulinsäure gegen Acetylehlorid zu-
sammenhält. Der Austausch des Hydroxylwasserstoffs gegen Acetyl sollte hier noch
leichter erfolgen, man erhält aber, wie Bredt selbst nachgewiesen und ausdrücklich
hervorgehoben hat“), kein Acetoxyvalerolacton, sondern Chlorvalerolacton.
Michael”) will diese Reactionen dahin erklären, dass hier in erster Linie
additionelle Verbindungen entständen, Analoga, der aus Aldehyden mit Säureanhydri-
den oder -chloriden entstehenden Alkylidendiacetate oder -chloracetate, die weiterhin
durch Abspaltung von Essigsäure in Acetoxy- bezw. Chlorvalerolaeton übergehen
würden.
Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit der supponirten Additionen, auf die
schon Bredt;) aufmerksam gemacht hat, scheint mir auch die Umsetzung, der Michael
die Bildung des Chlorvalerolactons zuschreiben will, ganz undenkbar. Denn da in
dem von Michael vorausgesetzten Product der Vereinigung von Chloracetyl und
Lävulinsäure
CH, —C—Cl
N
CH, OCOCH;
|
CH,— COOH
*) Liebig’s Annalen 236, 227. *#) ibid. 256, 335. *#*) Journ. f. pr. Ch. (2) 37,480. 44, 127.
+) A. a. 0. 256, 336.
2 ee
das Chlor und das Acetoxyl in vollkommen gleichheitlicher 7-Beziehung zu dem
Uarboxyl stehen, so ist durchaus nicht einzusehen, warum das Chlor trotz seiner un-
zweifelhaft grösseren Anziehung den Wasserstoff des Carboxyls dem Acetoxyl über-
lassen sollte, statt nach seiner sonstigen Gepflogenheit mit dem Wasserstoff abzu-
fahren und das Acetoxyl zurückzulassen.
Die Erklärung dieser Vorgänge wird, wie mir scheint, sehr einfach, wenn man
(dieselbe, absehend von allen aussergewöhnlichen und ad roc erdachten Reactionen,
lediglieh aus dem gewöhnlichen Verhalten der in Betracht kommenden Körper und |
aus feststehenden Thatsachen ableitet.
Die Lävulinsäure spaltet leicht Wasser ab, um in ein ungesättigtes Laeton
überzugehen. Unter der Einwirkung wasserentziehender Substanzen wie Essigsäure-
anhydrid oder -chlorid wird sie sich also in Angelicalacton verwandeln, während das
Anhydrid in Säurehydrat, das Chlorid in Chlorwasserstoff und Essigsäure übergeht.
Angelicalacton verbindet sich aber mit Chlorwasserstoff nach Wolff*) zu Chlorvalero-
lacton und mit Essigsäure, wie Bredt“*) gezeigt hat, zu der sogenannten Acetyl-
lävulinsäure. Dass ein Körper mit ungesättigtem Kohlenwasserstoffradical Chlor-
wasserstoff aufnimmt, bedarf keiner weiteren Erklärung. Ob die Addition der Essig-
säure mit der Anlagerung von Chlorwasserstoff in eine Kategorie gehört, mag dahin-
gestellt bleiben ; sie könnte auch analog der Eimwirkung des Wassers, die schon oben
besprochen wurde, verlaufen. Jedenfalls steht die T’hatsache ausser Zweifel und so
wird nieht nur der Uebergang der Ketonsäure in substituirte Lactone, sondern auch
die Verschiedenheit der Einwirkung von Acetylchlorid und Essigsäureanhydrid ohne
jegliche hypothetische Voraussetzung in einfacher Weise erklärt.
Ich glaube damit dargethan zn haben, dass das chemische Verhalten der Lävulin-
säure das einer wahren Ketonsäure ist und keinen Grund bietet, diese Säure als ein
Hydroxylacton aufzufassen.
*) Liebig’s Annalen 229, 249. 2+ A.3,02256322:
|Aus dem anatomischen Institut zu Halle.]
Der Plexus lumbosacralis des Menschen.
Von
Dr. P. Eisler.
Mit Taf. IIT—V und einer Zinkographie
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Kann sich oft der Fortschritt in der Wissenschaft nur durch einen Umsturz
bestehender Anschauungen vollziehen, so gibt sich doch vielleicht ebenso oft die
Gelegenheit zu friedlicherer Lösung schwebender Fragen. Unter Umständen hilft
die Gunst des Zufalls, auf einem alten, verlassenen Pfade doch noch einen lohnenden
Ausblick zu entdecken, der die vorher gesehenen Einzelbilder zu einem zusammen-
hängenden Ganzen vereinigt. So danke ich zum Theil dem glücklichen Zufail die
Gewinnung eines Standpunktes, der mir ermöglicht, unter sich abweichende Angaben
einer ganzen Reihe gewissenhafter Forscher über dasselbe Objekt mit einander in
Einklang zu bringen.
Der Bau des Plexus lumbosacralis gehört zu den Kapiteln in der menschlichen
Anatomie, die im allgemeinen als abgeschlossen betrachtet wurden trotz mancher Un-
klarheit im einzelnen, bis in den letzten Jahren die Arbeiten von Paterson”), Potocki”)
und Asp“) theils neue Gesichtspunkte für die Betrachtung lieferten, theils altes
richtig zu stellen suchten, hin und wieder freilich nur, um die bereits bestehenden
Widersprüche noch zu verschärfen. Besonderen Werth für mich gewannen nur die
Beobachtungen des erstgenannten ; sie gaben überhaupt die Veranlassung, auch meiner-
seits noch einmal an die Untersuchung dieses Gegenstandes heranzutreten. Denn
nach der Präparation des viel einfacher gebauten Plexus lumbosacralis eines Gorilla
musste ich die Resultate Patersons in mancher Hinsicht anzweifeln. Potocki soll
*) Paterson, Morphology of the sacral plexus in man, und: The limb plexuses of mammals,
Journ. of anat. and physiol. XXI. Ferner: The position of the mammalian limb ete. Ibid. XXII.,
”*) Potocki, Der Plex. lumbosacral. und seine Beziehungen zu den Nerven der unteren
Extrem. ete. Petersburg 1887, Diss. Russisch.
=) Asp, Studier ofver plexus sacralis. Commentat. variae in mem, aector. CCL annor. edidit
Univ. Helsingfors. 1890. — Ich habe davon nur das Referat Fürsts, Jahr.-Ber. f. Anat. ete. von Her-
mann-Schwalbe 1891, S. 312 verwendet.
Abhandl. d. naturf. Ges zu Halle. Bd. XVII. 37
nach dem nur allgemein gehaltenen Referat Hoyers (Hermann-Schwalbes Jahr.-
Ber. der Anat. ete. 1888) viel neues beibringen, konnte aber, da seine Dissertation
nur russisch veröffentlicht ist, nicht berücksichtigt werden, und nur wenig mehr ver-
mochte ich die (dänische) Abhandlung von Asp zu benutzen.
Das Ziel, das ich mir anfangs gesteckt hatte, die Patersonschen Angaben
zu kontroliren, verschob sich aber mit der wachsenden Menge des gesammelten
Materials, und nachdem im Laufe eines Jahres im ganzen 127 Plexus durch meine
Hände gegangen, glaube ich jetzt die thatsächlichen Ergebnisse meiner Präparationen
nicht nur als einen Nachtrag zu allen bisher vorhandenen Bearbeitungen unseres
Themas ansehen zu dürfen, sondern auch die Berechtigung erlangt zu haben zu
einem Versuche, zwischen den bestehenden Widersprüchen zu vermitteln. Wie bei
jeder Vermittlung so wird natürlich auch hier die eine oder andere der Parteien sich
gelegentlichen kleinen Einschränkungen unterziehen müssen.
Aber auch für die Schlüsse, die ich aus den Thatsachen ziehe, hoffe ich ge-
nügendes Beweismaterial beizubringen. Mit der Masse der Bilder vergrössert sich
zwar die Mannigfaltigkeit in Einzelheiten. andrerseits jedoch nimmt die Wahrschein-
lichkeit zu, das leitende Prinzip in der Konstruktion des ganzen herauszufinden.
Für eine statistische Verwertung ist die Zahl immer noch recht klein, aber
doch schon verwendbar. — Periphere Verhältnisse wurden, da es sich vor allem um
die Anatomie des Plexus handelte, nur soweit als nöthig berücksichtigt.
Meine Literatur habe ich auf die jetzt gebräuchlichen Lehr- und Handbücher
beschränkt, die ja zum Theil die älteren Autoren eitiren, also: Luschka, Anatomie
des Menschen II, 2, 1864, Henle, Handbuch der Anatomie III, 1871, Krause, Hand-
buch der menschl. Anatomie 1879, Krause, Anatomische Varietäten etc. 1880,
Schwalbe, Lehrbuch der Anatomie II, 2, 1881, Hyrtl, Lehrbuch der Anat. 1882,
Pansch, Grundriss d Anat. des Menschen 1886, Gegenbaur, Lehrbuch der Anat. d.
Menschen 1890, Langer-Toldt, Lehrbuch 1890, Henle-Merckel, Anatomischer Atlas.
Die beiden kurzen frühern Mittheilungen über meine Resultate”) erfahren bei
dieser Gelegenheit noch manche Erweiterungen, aber auch Verbesserungen, wie sie
eben durch die grössere Anzahl von Objekten möglich und nöthig wurden.
Hinsichtlich des Materials ist zu bemerken, dass, wo immer es ausgeführt
werden konnte, beide Seiten einer Leiche untersucht wurden. Nur bei den ersten
*) Anatom. Anzeiger 1891, No. I u. 10. — Verhandlungen der 64. Versamml. deutscher Natur-
forse er und Aerzte 1891, Il, 9. Abt eilung.
283 —
Präparaten, durchgetheilten Spiritusleichen, gelang es manchmal nicht mehr, die zu-
gehörige andere Hälfte zu finden. Die Mehrzahl der Plexus wurde nach einfacher
Bloslegung und Markirung der einzelnen Nerven aus der Leiche herausgenommen
und entweder gleich in dünnem Spiritus bis zur Präparation aufgehoben oder erst
noch über einige Tage oberflächlich mazerirt. Die Bearbeitung wurde in allen diesen
Fällen mit dem Messer ausgeführt und zwar stets unter Wasser, denn nur so ist es
möglich, die Nervenstränge aufzufasern und auch die feinsten Füdchen von der Binde-
gewebshülle zu befreien. Zum Schluss fertigte ich eine Skizze sowohl von Vorder-
wie Hinterfläche des mehr oder weniger aufgelösten Plexus in natürlicher Grösse an,
wenn nicht einfache Wiederholungen früherer Bilder vorlagen. Die beigefügten Figuren
sind nach den Originalzeichnungen photographisch verkleinert.
T
Ehe wir in die Betrachtung dez einzelnen Plexusnerven eintreten, bedürfen
einige für die Auffassung des Plexus im allgemeinen wichtige Punkte der Erörterung.
Vor allem ist noch ein Wort über die Theilbarkeit der Wurzeln des Plexus lumbo-
sacralis zu sagen. Dass die Nervi tibialis und peroneus bis an den Plexus ischiadieus
von einander getrennt werden können, und dass dafür Fälle, im denen ein Theil des
Plexus durch den M. pyriformis geht, besonders günstig sind, ist ja eine schon früher
gemachte Beobachtung. Das Verdienst Patersons besteht darin, dass er, ausgehend
von solchen natürlich gespaltenen Plexus, auch die Theilbarkeit der Wurzeln des
Plexus ischiadieus und damit die Möglichkeit nachwies, die Nerven der distalen Ex-
tremität wie die der proximalen auf eine dorsale bezw. ventrale Schicht des Plexus
zurückzuführen. Danach ist also der 'Tibialis der Hauptnerv der ventralen, der Pero-
neus derjenige der dorsalen Plexusabtheilung. Patersons Entdeckung beschränkt
sich zunächst auf den Plexus ischiadieus und die Wahrheit seiner Angaben lässt sich
ohne besondere Mühe in der grossen Mehrzahl der Fälle sowohl bei natürlicher als
künstlicher Spaltung des Plexus kontroliren. Das Messer des Präparators dringt
ohne Schwierigkeit an normalen Plexus bis mindestens zum Ende des distalen Drittels
in die Zuschussportion aus dem 4. Lendennerven, in den 5. Lenden- und 1. Sakral-
nerven vor, in der zweiten noch etwas weiter, während am 3. Sakralnerven die Dar-
stellung eines dorsalen und ventralen Trunceus meist nicht mehr möglich ist oder doch
der dorsale Truncus auf ein geringes Bündel reduzirt erscheint. Noch weiter distal
hört solche Trennbarkeit überhaupt auf. Obwohl nun aber die Theilbarkeit des
Plexus ischiadieus als feststehende Thatsache zu betrachten und dementsprechend
37*
fürderhin zu berücksichtigen ist, wird man sie doch nicht immer leicht demonstriren
können: denn es gibt auch Fälle, in denen sich schon zwischen den Anfängen des
geschlossenen Peroneo-Tibialis Bündel hinüber und herüber durcheinander flechten,
sodass eine Trennung ohne Gewalt nicht zu erreichen ist. Wie weit solche kleine
Unregelmässigkeiten in Zusammenhang mit Verschiebungen in der Abgabe peripherer
Aeste stehen, vermag ich für die distale Extremität noch nicht auszusagen, vermute
es aber, da mir analoge secundäre Verbindungen zwischen ventralem und dorsalem
Plexusabschnitt im Plexus brachialis vorgekommen sind, wo ich dann peripher scheinbar
abnorme Muskelinnervation fand.
An Plexus, deren Ischiadieus z. B. bei Operationsübungen kurz unterhalb des
Foramen ischiadieum mai. abgeschnitten worden, hat mir hin und wieder eine kleine
Arterie (A. comes superior) vasch den Weg zwischen die beiden Hauptnerven und
damit zwischen die Plexushälften gezeigt. Sie stammt entweder aus der A. pudenda
communis bei geringer Entwicklung der A. glutaea inferior, oder aus dieser letztern
und bohrt sich dorsal etwa in die Spitze des grossen Plexusdreiecks, begleitet von
zwei kleinen Venen, ein. An Präparaten mit langem Ischiadieus ist selbstverständlich
diese Hilfe entbehrlich.
Wir können nun das Hauptresultat Patersons für den sakralen Theil des
Beinnervengeflechts recht wohl annehmen, ohne zu gleichem gegenüber seiner Ansicht
bezüglich des Jumbaren Theils verpflichtet zu sein. Denn hier hat sich der englische
Autor durch die bekannte, bequem darzustellende Abspaltung des N. obturatorius vom
Cruralis bestimmen lassen, den N. obturatorius als ventrale, den N. eruralis mit den
verschiedenen Haut- und Muskelästen als dorsale Abtheilung des Plexus lumbaris zu
betrachten. So würde also für den ganzen Plexus lumbosacralis die ventrale Schicht
in der Hauptsache aus Obturatorius und Tibialis, die dorsale aus Cruralis und Pero-
neus bestehen, wie das Gegenbaur auch in sein Lehrbuch aufgenommen hat. Da-
gegen ist aber zu bemerken, dass der N. obturatorius keineswegs der einzige ventrale
Nerv des Plexus lumbaris ist. Vielmehr verlaufen im sog. Cruralis noch eine Anzahl
ventraler Nerven, die sich als solche durch ihr Verbreitungsgebiet schon genügend
charakterisiren. Das sind: ein Theil des N. genitoeruralis, der N. cutaneus femoris in-
ternus (medialis), der Nerv für den M. peetineus, der N. saphenus magnus und der oft
vorhandene N. obturatorius accessorius. Zur Motivirung folgendes.
Von Payer und W. Krause ist nach Untersuchungen an der proximalen Ex-
tremität der Satz aufgestellt worden, dass die Muskeln im allgemeinen ihre Nerven-
fasern aus denselben Spinalnerven erhalten, wie die über ihnen und ihren Sehnen
gelegenen Hautstellen. Schwalbe macht hierzu die im ganzen berechtigte Anmerkung,
im speziellen seien mannigfache Ausnahmen dieser Regel hervorzuheben, anerkennt
aber bestimmte Wechselbeziehungen zwischen den motorischen und sensibelen Inner-
vationsgebieten, indem er die Regel selbst bestehen lässt. Für diese Beziehungen
gilt noch ein andres, etwas weiter gefasstes Gesetz, welches noch vor das Payer-
Krause’sche zu stellen und etwa so zu formuliren wäre: „An den Extremitäten ge-
hört die Haut über Muskelgruppen, die von dorsalen Plexusderivaten innervirt werden,
ebenfalls dem dorsalen Innervationsgebiet an und wzce versa Haut über ventralen
Muskeln ventralen Nerven.“ Ich weiss nicht, ob ein derartiges Grundgesetz schon
früher ausgesprochen ist; in den Schlüssen, die Paterson aus seinen vergleichenden
Untersuchungen über den Plexus lumbosaecralis zieht, kann man es wohl zwischen den
Zeilen lesen, aber er wendet es weder im Plexus lumbaris noch im Plexus ischiadieus
an. Scheinbare Ausnahmen bestehen einmal an den Grenzen zwischen dorsalem und
ventralem Innervationsgebiet, bezw. ursprünglich dorsaler und ventraler Fläche, ferner
an den distalen Enden der Extremitäten. Längs der Grenzlinien kommt es vielfach
zu Anastomosen zwischen ventralen und dorsalen Hautnerven, an den Enden der Ex-
tremitäten greifen die ventralen Nerven mehr oder weniger in das dorsale Gebiet
hinüber. Zu dem letztern Punkt mag vorläufig nur bemerkt sein, weil eine ein-
gehendere Behandlung dieser Abweichung uns auf ein ganz andres Thema führen
würde, dass meiner Ueberzeugung nach die Veranlassung zu derartigen Uebergriffen
in den eigenthümlichen Formungsprocessen, die an den distalen Enden der Extremi-
täten vor sich gegangen sind, zu suchen ist. Für die proximalen Abschnitte der
Extremitäten ist das Gesetz jedenfalls zu beweisen. Die Grenze zwischen ventralen
und dorsalen Muskeln an der Vorderfläche des menschlichen Oberschenkels lässt sich
durch eine Linie, die man etwa längs dem Sartorius zum Meldialrand der Patella zieht,
ausdrücken; was an Haut lateral davon liegt, wird von dorsalen, was meldial liegt,
von ventralen Derivaten des Plexus lumbaris versorgt. Ich werde bei den einzelnen
Nerven noch einmal auf ihre Zugehörigkeit zur einen oder andern Gruppe zurück-
kommen. Hier möchte ieh nur noch hervorheben, dass der N. obturatorius nur
ein Theil der-Ventralportion des Plexus lumbaris ist, dass aber eine Trennung
der dorsalen und ventralen Plexushälfte wie im Beekenabschnitt selbst unter günstigsten
Umständen nur unvollkommen durchgeführt werden kann.
Auf einen zweiten Punkt, der für die Resultate dieser Arbeit die grösste Be-
deutung gewinnen sollte, wurde meine Aufmerksamkeit gleich im Beginn der Unter-
suchung hingelenkt. Es traten mir nämlich am Uebergange des Plexus lumbaris in
den Plexus sacralis — von einer Grenze zwischen diesen zwei Abtheilungen des
Plexus lumbosaeralis kann man füglich nicht sprechen — eigenthümliche Abweichungen
von dem normalen Verhalten der hier gelegenen Nerven entgegen, welche ich in der
menschlich-anatomischen Literatur nirgends verzeichnet fand. Allerdings gedenkt
Henle in einer kleinen und versteckten Anmerkung (S. 525) eines Präparates der
Göttinger Sammlung, in welchem der Verbindungsstrang zwischen viertem und fünften
Lendennerven fehlt, also Plexus lumbaris und sacralis vollständig von einander ge-
schieden sind. Aber dies Präparat stammt nicht von Henle selbst, sonst würde es
nieht so aussehen; wir können vielmehr mit aller Bestimmtheit behaupten, dass
diese Trennung ein Kunstprodukt, hergestellt von einem unvorsichtigen Präparator,
und als solches gänzlich wertlos ist. Denn ich stehe, wenigstens zum Theil, auf
dem Standpunkte Rosenbergs und Fürbringers’), die die Plexusbildung als Folge
der aktiven Wanderung des Extremitätengürtels auffassen. Und danach ist es einfach
unmöglich, dass zwischen den Nerven einer Extremität, die nach dem Verlassen der
Wirbelsäule immer und überall sich durch die gerade für sie charakteristische Ansa-
bildung unter einander verbinden, plötzlich einmal ein Spalt auftreten sollte.
Ganz abgesehen aber zunächst von wirklichen Anomalien an dieser Stelle
werden ‚Jedem, der die einzelnen Angaben über das Verbindungsbündel zwischen
viertem und fünften Lendennerven an normalen Plexus zusammenstellt, Widersprüche
nicht nur zwischen den verschiedenen Autoren, sondern auch in einem und demselben
Werke auffallen. So lässt Luschka „in Uebereinstimmung mit der Abbildung
J. L. Fischers“ °s, 8. 177 jedoch nur die Hälfte, Sappey (Hirschfeld und Le-
veille) etwa '/;, Henle Fig. 256 (nach Schmidt) und Fig. 290 weniger, Fig. 287
jedoch bedeutend mehr als die Hälfte, Hyrtl den grössten, Gegenbaur den kleinern
Theil, Pansch die Hälfte, Schwalbe S. 945 den grössern, 8. 960 den kleinern Theil
des 4. Lendennerven zur Bildung des sog. Truneus lumbosacralis beitragen. Merk-
würdigerweise sind diese Differenzen noch Niemandem aufgefallen, oder man hat
wenigstens noch nicht versucht, eine Erklärung dafür zu finden. Beobachtungsfehler
können diesen schwankenden und unbestimmten Angaben nicht wohl zu Grunde liegen.
Und in der That verfüge ich über eine Serie normaler Plexus, in denen die Zuschuss-
portion von '/ der Stärke des Vorderastes des 4. Lumbarnerven allmählich um kleine
Bruchtheile bis auf °/ı. ansteigt. Durch dieses Faktum werden alle Differenzen, die
in Folge von zu kurzen Beobachtungsreihen entstehen mussten, beseitigt.
*) Morphol. Jahrb. I, Zur vergl. Anat. der Schultermuskeln.
— UN
Da auch das absteigende Bündel vom 4. Lendennerv sich am distalen Ende
in dorsale und ventrale Portion aufspalten lässt, wie die übrigen Wurzeln des Plexus
ischiadieus, wurden Vergleiche hinsichtlich der Stärke der beiden Portionen angestellt.
Sie ergaben jedoch insofern ein negatives Resultat, als bald die dorsale, bald die
ventrale Portion mehr Fasern enthielt. — Nicht selten kommt es gar nicht zur
Bildung eines typischen Truncus lumbosaeralis, sondern der Zuschuss aus dem Plexus
lumbaris trifft erst am Plexus ischiadieus mit dem 5. Lendennerven zusammen.
Neben diesen nur in der Stärke der Verbindungsportion verschiedenen, im
Ganzen jedoch noch dem bisher allein bekannten Normaltypus des Plexus lumbo-
sacralis einzuordnenden Formen treffen wir aber auch noch solche, die ganz augen-
fällig von der Norm abweichen. Durch v. Jhering*) ist die Bezeichnung „N. fur-
calis“ für denjenigen Spinalnerven eingeführt worden, der je einen Ast an den
N. obturatorius, Cruralis und Ischiadieus schickt. Er findet diesen Nerven bei allen
Wirbeltieren wieder — beim Menschen ist es der 4. Lumbarnerv — und hält ihn für
eine so konstante Bildung, dass er ihn als Ausgangspunkt für seine Untersuchung
über die Wirbelsäule *) nimmt. Alle proximal zum N. furealis gelegenen Spinalnerven
werden als präfurkale, die distal darauf folgenden als postfurkale unterschieden. In
seiner ganzen Untersuchung von Vertretern der Primaten stösst ihm nur einmal, und
zwar bei einem Gorilla, ein Befund auf, der „in scheinbarem Widerspruch mit seiner Be-
stimmung des N. lumbalis IV als N. furcalis steht“ (l.e. pag. 205). Vom ersten postfurkalen
Nerven, derals solcher die erste ganze Wurzel des N. ischiadieus bilden soll, geht eine Ana-
stomose an den N. obturatorius, während der 4. Lumbarnerv regulär ein Bündel in den
Plexus sacralis schickt. V. Jhering hält nun „diese Anastomose für eine Abnormität,
welche bei dem Menschen und den übrigen anthropoiden Affen, soweit bekannt, nicht
angetroffen wird, und für welche die bei den Amphibien bestehenden Verhältnisse
uns den Schlüssel liefern. Dort wird nämlich die Anastomose ganz allgemein an-
getroffen, oder sie fehlt wenigstens nur selten. Bei den Säugethieren fehlt sie oder
tritt doch nur in seltenen Fällen noch auf als atavistischer Rückschlag.“ Ver-
nachlässigen wir vorläufig diese Deutung, so giebt uns eine solche „Abnormität“
zunächst jedenfalls ein Beispiel dafür, dass der N. fureulis doch wohl nicht allen
Anforderungen, die man nach v. Jhering an ihn stellen muss, gerecht zu werden
vermag. Und weitere derartige Beispiele liefert mein Untersuchungsmaterial vom
Menschen nicht weniger als 22, also etwas über 18 Prozent.
*) Ueber den Begriff der Segmente bei Wirbelthieren ete, Centralbl. f. d. mediz, Wissensch,
1878. Nr. 9.
**) Das peripherische Nervensystem der Wirbelthiere ete. Leipzig. 1878.
1. Bei dreien dieser abnormen Plexus ist nicht der 4., sondern der 5. Lumbar-
nerv der N. furcalis, denn er spaltet sich in eine stärkste Portion, die herab in den
Plexus sacralis verläuft, während der Rest, etwa ein Sechstel, zum grösseren Theil
sich in den Cruralis, zum kleineren in den Obturatorius begiebt (Taf. III, Fig. 10).
2. In zwei weiteren Fällen bleibt das Bild im grossen Ganzen das Gleiche,
nur springt von dem 4. Lendennerven zu der Wurzel des Cruralis aus dem fünften
eine dünne, lateralwärts konvexe Schlinge herüber, die allem Anscheine nach Fasern
in die erste Wurzel des N. ischiadieus führt (Fig. 12, 24). Die Spezialuntersuchung
gestattet, diese Plexus der vorhergeschilderten Form anzuschliessen, wenigstens für
die Beschreibung der Plexusderivate, wie ich es im folgenden durchgängig gethan
habe. Ihre morphologische Bedeutung jedoch beruht darauf, dass sie überleiten zu
3. einer Reihe von 14 Plexus, die in verschiedenen Varianten, wie sie durch
die Fig. 16, 21—23, 27—30, 33, 34. 38 veranschaulicht werden, dass ausser-
ordentlich charakteristische Bild eines doppelten N. furcalis zeigen, indem sowohl vom
vierten als vom fünften Lumbarnerven sich Bündel an Cruralis, Obturatorius und
Plexus ischiadieus verteilen.
Ganz gegen Schluss der Untersuchung fielen mir dann noch drei Plexus in
die Hände, deren einer
4. aus dem normalen N. furcalis (N. lumb. IV) nur etwa ein Zehntel an den
Cruralis sendet, während aus dem dritten Lendennerven eine zarte rückläufige Schlinge
ganz in der Art wie sie unter 2. erwähnt ist, Fasern nach dem vierten Lumbarnerven
und wahrscheinlich durch dessen starke absteigende Portion in den Ischiadieus bringt
(Ra
5. Die zwei andern bieten wiederum einen doppelten N. furcalis, ähnlich dem
unter 3., nur dass hier sowohl aus dem vierten als dem dritten Lumbarnerven Bündel
je an Cruralis, (Obturatorius) und Ischiadieus hervorgehen. Der eine dieser beiden
Plexus stammte aus derselben Leiche wie 4. (Taf. IV, Fig. 18 u. 19).
Zwischen 3. und 4. würde sich die ganze Serie der „normalen“ Plexus einfügen.
Im Besonderen ist über die erstgeschilderte Form kaum etwas zu bemerken,
denn der Zerfall des fünften Lendennerven in die typischen 3 Stränge geht ganz in
derselben Weise vor sich, wie wir es etwa in einem normalen Plexus sehen, wenn
vom N. lumb. IV der grösste Theil der Fasern zur Bildung des Truncus lumbo-
sacralis entsendet wird. Das ganze erscheint nur um einen Wirbel weiter distal
gerückt.
Bei doppeltem N. furcalis dagegen überkreuzen sich die auf- und absteigenden
289 ——
Bündel in mehr oder minder komplizirter Weise, doch so, dass stets die aufsteigende,
aus dem fünften bezw. dem vierten Lendennerven stammende Portion dorsal zu der
aus dem N. lumb. IV bezw. III absteigenden orientirt ist. Der Zweig aus dem fünften
Lumbarnerven an den N. obturatorius ist nicht immer vorhanden, andererseits aber
kann sich auch noch ein Fädchen aus dem N. lumb. V an einen N. obturatorius
accessorius begeben. Stets sind die sich überkreuzenden Bündel dünn, die ganze
Verbindung von wechselnder Länge, die Ueberkreuzung bald weit auseinandergezogen,
bald sehr spitzwinklig. In diesem letztern Falle schnürt das Bindegewebe die Bündel
in die Gestalt eines schwachen Stranges zusammen, sodass die eigenthümliche Anomalie
leicht übersehen werden kann, in jenem genügt schon eine geringe Unvorsichtigkeit
bei der Präparation, um die zarten Fäden zu zerreissen oder durchzuschneiden. So
dürfte auch wohl die Trennung der beiden Plexushälften in Göttingen entstanden sein.
Die dieser Arbeit beigefügten Bilder lassen erkennen, dass die absteigende
Portion sich bei den Ueberkreuzungsformen wie sonst der normale Zuschuss an’ den
Truncus lumbosaeralis in einen ventralen und dorsalen Faden spaltet, deren jeder sich
dem entsprechenden Truncus des fünften Lendennerven anschliesst. Es sind aber
auch Fälle darunter, wo scheinbar nur ein ventrales Bündel herabsteigt (Fig. 27);
für einige derselben vermute ich, dass die dorsalen Fasern in der Bahn des auf-
steigenden Bündels verlaufen, ähnlich wie Fig. 23 es wenigstens für einen kleinen
Theil zeigt; in andern ist mit Sicherheit der Uebergang dorsaler Fasern in den Plexus
sacralis auszuschliessen, es besteht wie bei Fig. 18 und 27 nur ein schwacher ab-
steigender Faden, der ganz in die ventrale Hälfte des 'Truncus lumbosacralis eingeht.
— Die aufsteigende Portion zerfällt in ventrales und dorsales Bündel nur, wenn
Fasern an den N. obturatorius und ev. an den N. obturatorius accessorius gelangen.
Sonst zieht die Portion einfach geschlossen in den Distalrand des N. eruralis. Doch
ist es mir auch hierbei wahrscheinlich, dass ventrale Elemente in den Cruralis über-
geführt werden, nur wird ihre Darstellbarkeit verhindert durch die schon oben er-
wähnte Schwierigkeit bezw. Unmöglichkeit, den Cruralis rein in Dorsal- und Ventral-
abschnitt zu zerlegen.
Es bedarf nur geringer Geschicklichkeit, um die spinalen Wurzeln des Plexus
nach der Abgabe ihrer Rami dorsales in gewöhnlich 2 grobe Bündel zu zerspalten,
die aber noch nicht identisch sind mit den dorsalen und ventralen sekundären Trunei;
letztere entstehen vielmehr erst, nachdem die ersteren sich wiederum mehr oder
weniger untereinander verflochten haben. Von Interesse ist diese T'heilung für uns
nur an dem N. furcalis. Gleichgiltig, welche Gestalt der lumbosakrale Uebergang
Abbandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 38
— 290 —
zeigt, immer lässt sich aus dem als N. furcalis fungirenden Spinalnerven ein Bündel
isoliren, an welchem noch speziell die charakteristische Dreiteilung zu erkennen ist,
während sich das oder die danebenliegenden Bündel einfach entweder in den N. curalis
oder in den Truncus lumbosacralis begeben. Die Lage dieses dreistrahligen Bündels
bleibt nicht überall die gleiche und mag durch die obenstehenden Figuren erläutert
werden.‘) Ist nämlich N. lumb. V der N. furcalis, so finden wir das Gabelbündel an
seinem Proximalrand, bildet aber N. lumb. IV den N. furcalis mit nur geringem Zu-
schuss an den Plexus ischiadicus, so liegt das Bündel am Distalrand dieser Wurzel.
Zwischen beiden Stadien vermitteln die Fälle mit doppeltem N. furcalis aus dem 4.
und 5. Lendennerven, in denen diesen beiden je ein Gabelbündel zukommt. Nimmt
der lumbosacrale Zuschuss aus dem normalen N. furcalis an Stärke zu, so rückt das
Gabelbündel in die Mitte der 4. Jumbaren Wurzel und erscheint da eingeschlossen
von zwei einfachen Nervenbündeln, deren proximales in den Cruralis, deren distales
dagegen in den Plexus ischiadieus geht. Zuletzt treffen wir es dann wieder am
Proximalrand des 4. Lumbarnerven, bis neuerdings das Auftreten zweier Nn. furcales
aus dem N. lumb. II u. IV das gleiche Bild wie die vorhergenannte Ueberkreuzung
darbietet. — Die Verschiebung unsres Gabelbündels giebt also gewissermassen das
Detail für das Proximalrücken des ganzen N. furcalis. Die Ueberkreuzungen doppelter
Nn. furcales sind die Bindeglieder für diesen Vorgang und gewinnen dadurch noch er-
höhten Wert, dass ich auch bei der Aufspaltung des normalen N. furcalis hin und
wieder Bilder erhielt, die innerhalb dieser einen Wurzel die Ueberkreuzung zweier
Gabelbündel illustriren. Es handelte sich dabei gewöhnlich um einen lJumbosakraleu
Zuschuss, der etwa die Hälfte vom vierten Lumbarnerven betrug.
Für die Ansicht, dass die Ueberkreuzung zweier Nn. furcales als Mittelform
*) Ich bemerke ausdrücklich, dass die Figuren keine willkürlichen Konstruktionen sind, sondern
nur vereinfachte Skizzen wirklicher Präparate,
29 ——
zwischen Plexus mit normaler und solcher mit abnormer Lage des N. furealis, dar-
stellen, spricht einmal das gleiehzeitige Vorkommen dieser Form der Plexusverbindung
mit einem normalen N. furcalis aus N. lumb. IV, aber sehr dünnen lumbosaeralen
Zuschussbündel in derselben Leiche, in noch höherem Masse ein doppelter N. furealis
neben einer der unter 2. und 4. erwähnten Formen. Ausserdem aber wird uns die
Betrachtung der einzelnen Plexusderivate noch Beweismaterial genug an die Hand
geben, welches wir dann am Schlusse dieser Arbeit auf seinen Wert prüfen wollen. —
Der Einfachheit und Uebersichtlichkeit halber habe ich nun im folgenden fast
durchweg zur Bezeichnung der Spinalnerven nur die auch sonst gebräuchlichen Chiffern
D, L, S und © für dorsale, lumbare, sacrale und caudale Nerven gewählt. Zur Ver-
meidung von doppelten und dreifachen Bezeichnungen für bestimmte Nerven, wie sie
nothwendig. werden würden, wollte man bei 13 dorsalen und 5 lumbaren Wirbeln die
Spinalnerven anders zählen als z. B. bei 12 dorsalen und 6 lumbaren, und zur Er-
leichterung der Vergleichung ist stets der 13. Dorsolumbar- (21. Spinal-) nerv mit L,
und ebenso der 18. Dorsolumbar- (26. Spinal-) nerv mit S, signirt. Um die Ursprungs-
gebiete der einzelnen Plexusnerven auszudrücken, sind die Chiffern in Formeln zu-
sammengestellt derart, dass die Ursprünge der Stärke nach in absteigender Reihe
einander folgen; es bedeutet also z. B. N. glutaeus inferior aus S, L, S;: der N. glut.
inf. bezieht die meisten Fasern aus S,, die wenigsten aus S;. — Endlich ist der Aus-
druck „N. furcalis“ der Kürze halber beibehalten, jedoch ohne die tiefere Bedeutung,
die v. Jhering ihm beilegt; als normaler N. furcalis gilt dabei der 4. Lendennerv.
Die oben geschilderte Mittelform mit überkreuzten auf- und absteigenden Verbindungs-
bündeln soll dann den kurzen Namen „Ueberkreuzung“ mit der Spezialisirung „aus
L, und L,“ oder „aus L, und L,“ erhalten.
Wir werden diese Kürzungen wiederholt gebrauchen müssen, denn im Laufe
der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Form der Verbindung zwischen lum-
barem und sacralem Theile des Plexus einen ganz bestimmten Anhalt bietet nicht
nur für den Ursprung der einzelnen Plexusderivate, sondern auch für die Ausdehnung
des Geflechts im allgemeinen sowohl, wie im speziellen des Geflechts für die untere
Extremität proximal und distalwärts. Als letzten Spinalnerven, der noch an der
Bilduug des Plexus ischiadicus theilnimmt, lassen die meisten jüngern Autoren S,
gelten, die älteren dagegen S,;, nach Langer- Toldt betheiligt sich sogar S, noch
und der letzte Beobachter Asp lässt gewöhnlich S; noch in Tibialis und N. eutaneus
fem. posticus eingehen. Den N. cutaneus fem. post. können wir doch wohl nicht von
dem Plexus ischiadieus abrechnen, wie es Paterson in seiner vergleichenden Unter-
38*
suchung ausdrücklich, v. Jhering nach seinen Ausführungen auf pag. 212 augen-
scheinlich thut, denn die Beziehungen dieses Nerven zur Extremität sind doch ebenso
innig und so wenig zweifelhaft als z. B. die des N. cutan. fem. lateralis, den Paterson
allerdings auch ausschalten möchte.
Die Widersprüche in den Angaben über die distale Grenze des Plexus sucht
v. Jhering dadurch zu erklären, dass sich S,; zwar in der Regel, aber nicht aus-
nahmslos an der Innervation des Beines betheilige. Aber warum? Das ist doch nur
eine Feststellung der Thatsache, Ursache und Veranlassung für solche Schwankungen
bleiben unerörtert. Die 'T’hatsache lässt sich nicht wegleugnen, denn unter meinen
Präparaten finde ich sowohl solche, in denen aus S, sicher keine Fasern mehr in
den Plexus ischiadieus gelangen, als andere, in denen ein Bündel aus S, den N. tibialis
bilden hilft. Es gilt also auch hier zu vermitteln. S, ist stets von der T'heilnahme
ausgeschlossen bei normalem N. furcalis und bei Ueberkreuzung aus L, und L,, da-
gegen wird S, letzter Plexusnerv in fast allen Fällen, wo mehr als zwei Drittel der
Fasern von L, zur Bildung des Truncus lumbosacralis verwandt sind. Da nun die
Mehrzahl der Plexus mit normalem N. furcalis, weniger als zwei Drittel aus L, in
den Plexus sacralis übergehen lässt, werden wir gewöhnlich als letzte Wurzel des
Plexus ischiadieus S, treffen.
Es muss also ein kausaler Zusammenhang zwischen der Form der Verbindung
des lumbaren mit dem sacralen Plexusabschnitte und der distalen Verlängerung oder
Verkürzung des ganzen Extremitätenplexus vorhanden sein. Doch wollen wir weitere
Bemerkungen zu diesem Punkte für die Schlussbetrachtung zurückstellen. Dort soll
auch versucht werden, die Frage zu beantworten, weshalb das proximale Ende des
Plexus lumbosacralis scheinbar viel weniger Veränderungen unterworfen ist als das
distale. Denn abgesehen von einem Falle, in dem L, sich nicht durch eine Ansa
mit L, verband, war meist L, der erste Plexusnerv; D,, schiekte verschiedentlich,
aber ohne erkennbare Regelmässigkeit eine Anastomose zum N. ileohypogastricus,
Nur sobald L, mehr als drei Viertel an den Plexus ischiadieus verliert, kann D,,
wirklich in den Plexus für die Unterextremität eintreten und D,, ein Verstärkungs-
bündel an den Ileohypogastricus geben.
Bei fast allen Plexus wurde die stärkste Wurzel bestimmt. Nach Krause,
Sehwalbe, Vierordt (Anatomische etc. Tabellen 1588) ist dies der fünfte Lumbar-
nerv, Gegenbaur giebt dagegen S, an. Diese Notizen basiren auf Breitenmessungen
in Millimetern, stehen aber schon gegenüber einer einfachen Abschätzung des Quer-
schnitts an Wert weit zurück, wovon ich mich bald überzeugen musste. Dadurch,
dass L, über den Seitentheil des ersten Kreuzbeinwirbels, dem Knochen fest angepresst,
herabsteigt, wird er meist stark abgeplattet, und diese Abflachung macht sich auch
gegen das Intervertebralloch noch geltend. Nimmt man den Querschnitt der Wurzel,
so übersieht man die Nervenbündel in ihrer Zahl und in ihrem Volum, ganz unab-
hängig von der wechselnden Menge des Peri- und Epineuriums und von einer mehr
rundliehen oder flachen Anordnung. In den 5 Plexus, welche L, als N. furcalis zeigten,
war viermal S,, einmal S, stärkste Wurzel; in den 14 Plexus mit Ueberkreuzung
zwischen L, und L, zwölfmal S,, einmal S;—-S, und einmal L,. S, dominirt auch
in den normalen Plexus, solange aus L, weniger als die Hälfte in den Plexus sacralis
übergeht, ganz entschieden, erst von da ab gewinnt L, ein gewisses Uebergewicht.
Wollte man das Mittel aus sämmtlichen untersuchten Plexus ziehen. so ergäbe sich
eine grosse Mehrheit für den ersten Saecralnerven; aber selbst, wenn man nur die normalen
Plexus berücksichtigt, fällt das Urteil zu Gunsten dieser Wurzel aus, da nur etwa
in einem Drittel der Fälle die Uebergangsportion an den T'runcus lumbosacralis mehr
als die Hälfte der Fasern von L, enthält.
Für sämmtliche Wurzeln des Plexus lumbosacralis kann im allgemeinen gelten,
dass sie bis S, an Stärke zu, dann aber von S, an Stärke rasch abnehmen. Doch
variren in den verschiedenen Fällen die gleichnamigen Wurzeln in ihrer Masse recht
beträchtlich, allerdings stets in Abhängigkeit von der Gestaltung des lumbosacralen
Uebergangs bezw. von der Ausdehnung des eigentlichen Extremitätengeflechts. Reicht
z. B. der Plexus ischiadieus bis S,, so ist S, sehr kräftig, L, dagegen schwach; ander-
seits findet man einen starken L,, aber einen schwachen S,, wenn dieser der letzte
ist, der noch Fasern an die Extremität schiekt. Es lässt sich danach direkt be-
haupten, dass mit der distalen Verkürzung des Extremitätenplexus die proximalen
Wurzeln an Volum zunehmen. Individuelle Abweichungen von dieser Regel werden
sich natürlich immer finden.
I.
A. Plexus lumbaris.
Wir sind bisher der alten Einteilung des Plexus lumbosacralis gefolgt und
würden danach in den proximalen Abschnitt, den Plexus lumbaris, die Nerven bis
einschliesslich N. eruralis und N. obturatorius einzuordnen haben, Die bequeme Zu-
gänglichkeit dieser Partie erleichtert die Bearbeitung, aber die Plexusderivate zeigen
mannigfache Variationen in ihrem Verlaufe, sodass das allgemein angenommene
Schmidt'sche Schema für ihre Einteilung sich oft nur mit Mühe verwenden lässt.
— 1 —
Für derartige Fälle bewähren sich einige Sätze aus Chr. A. Voigts „Beiträgen zur
Dermatoneurologie etc.“ (Denkschr. d. Kais. Akad. d. Wiss. Wien. XXII. 1864), wo
es (pag. 9) heisst: „Jede sensitive Nervenfaser versorgt mit ihren peripherischen
Endigungen eine bestimmte grössere oder kleinere Hautstelle des menschlichen
Körpers, und die dieselben umlagernden Endigungsgebiete gehören einer ganz be-
stimmten und konstanten Anzahl Nachbarfasern an. Es ist somit das Mosaikbild der
Lagerung und Anordnung der grössern und kleinern Hautstellen und der in denselben
enthaltenen peripheren Endigungen der sensitiven Nerven kein willkürliches, sondern
ein ganz bestimmtes. — Anomalien kommen mithin nur im Verlaufe der Nerven vom
Zentrum zur Peripherie vor. — Die Anzahl der in einem bestimmten Nervenbündel
enthaltenen Nervenfasern, welches einen besondern Namen erhalten hat, ist somit
nicht stets dieselbe.“ Diese Sätze werden dureh die Ergebnisse unserer Schluss-
betrachtungen gar nicht alterirt, wie ich bereits hier bemerken will.
Zur weitern Einteilung der Aeste dieses Plexus verdient vor allen andern das
Prinzip den Vorzug, welches die Verbreitung berücksichtigt, also Bauchnerven und
Schenkelnerven unterscheidet. Erst nach diesem würde eiue Ordnung in kurze und
lange Aeste im Sinne Schwalbe’s zu vertreten sein, wobei jedoch die weitere
Sonderung der langen Nerven in vordere und hintere Aeste, wie wir bald sehen
werden, leicht zu Missverständnissen Anlass geben könnte, demnach weniger zu
empfehlen ist.
1. Nerven für den IN. quadratus lumborum.
Ueber die Innervation des Quadratus lumborum macht Schwalbe die be-
stimmteste Angabe, indem er vom Anfang des peripheren Astes des 1. Lendennerven
(Ileohypogastrieus) einen Zweig ausgehen lässt, der unter Durehbohrung der obersten
Zacke des Psoas maior zum Quadratus gelangt. Auch sonst ist dem Muskel nur
ein Nerv aus L, zuerkannt. Ich finde daneben nicht selten einen Zweig aus dem
N. subeostalis (D,,), der den Psoas nieht durehbohrt, und ebenso schickt gelegentlich
L, einen Nerven durch den Psoas an den Muskel. In einem Falle wurde die Inner-
vation auf der einen Seite von D,., L,, L,, auf der andern von L,, L,, L, besorgt.
Hier handelte es sich um eine Wirbelsäule mit 13 dorsalen und 5 lumbaren Wirbeln.
Eine Verschiebung des N. furcalis auf L, scheint, wie zu erwarten, keinen Einfluss
auf die Versorgung des Quadratus zu haben.
— 2195 —
2. MN. deohypogastricus et Weoinguinalis.
Inwieweit es erwünscht sein kann, dem ersten Lumbarnerven wegen der oft
zu beobachtenden Anastomose mit dem N. subeostalis (D,,) den Namen „N. dorsolumbalis“
(Hyrtl) oder wegen des häufig gemeinschaftlichen Verlaufes der beiden Theilstücke „N.
lumbodorsalis“ (Schwalbe) beizulegen, mag dahingestellt bleiben. Die ziemlich voll-
kommene Homologie mit einem Interkostalnerven wird jedenfalls von Niemandem an-
gefochten. Als solcher besitzt L, einen Ramus perforans lateralis, der nach Schwalbe
stets vom N. ileohypogastrieus, nach Pansch vom N. ileoinguinalis abgegeben wird,
während Henle dem Ileohypogastrieus einen Ram. lateralis zur Haut der Hüfte, dem
Ileoinguinalis einen Ram. lateralis über der Spin. ant. sup. ilei in die Haut über Tensor
fasciae und Ursprung des Sartorius zuschreibt. Den letztern erklärt W. Krause
(Varietäten) als „jedenfalls ausnahmsweise Varietät“ — „vielleicht auf Verwechslung“
beruhend.
Der Ram. lateralis ist nun allerdings zumeist ein Ast des lleohypogastrieus,
stammt niemals (nach meinen Beobachtungen) rein vom lleoinguinalis, aber gar nicht
selten kommt von beiden zugleich ein Ram. perforans, entweder mit oder ohne vor-
gängigen gegenseitigen Faseraustausch. Der Ram. lateralis des Ileohypogastricus ist
dabei der stärkere und entspricht dem dorsalen, der des Ileoinguinalis dagegen dem
ventralen Zweige eines typischen Ram. lateralis.. Dieser letztere läuft dann wohl
noch eine kurze Strecke in der Bauchwand weiter nach vorn und bricht erst über der
Spina ant. sup. durch den Obliquus externus, mit seinen spärlichen Zweigen theils
in die Bauchhaut lateral oberhalb des Lig. Pouparti, theils über dasselbe herab. in die
Haut über dem Ursprung des Sartorius ausstrahlend. Henle hat sich also keineswegs
getäuscht, wenngleich man diesen Ram. lateralis des Ileoinguinalis nicht als konstant
ansehen darf, sondern ihn gewöhnlich in dem Ram. lateralis des Ileohypogastrius zu
suchen haben wird. Auch das Verbreitungsgebiet ist in Henles Fig. 296 pag. 543
ganz gut angegeben, denn unterhalb der Spina ant. sup. ilei durchbrechen weder der
Ram. lateralis des N. lumboinguinalis (Ram. posterior des N. cutaneus fem. lat.), noch
der N. cutaneus fem. lateralis gleich die Faszie, sondern laufen zunächst noch unter
ihr. In Schwalbes Fig. 498 würde daher ebenso wie in Gegenbaurs Fig. 601
dies Feld noch nachzutragen sein.
Der Ursprung des lleohypogastrieus + Ileoinguinalis scheint. wie ich schon
vorher erwähnte, unabhängig von der Lage des N. furcalis zu sein. Die Beziehung
der beiden Nerven zur Extremität ist ja auch nicht inniger als etwa die der N. supra-
elaviculares zum Arm, d. h. sie gehören überhaupt nicht zur Extremität bezw. deren
— 129%
Plexus. So versteht man auch, dass gelegentlich L, mit dem Plexus lumbaris gar
nicht durch die bekannte kurz gespannte Ansa verbunden ist. Ich verfüge nur über
einen derartigen Fall, aber es ist gerade ein Plexus, in welehem der N. furcalis auf
L, verschoben ist. Die gleiche Absetzung des ersten Lumbarnerven vom Plexus ver-
zeichnet Kohlbrügge für Hylobates syndactylus und agilis.*) Eine weiter peripher
gelegene Anastomose des L, und L, ist deshalb noch nieht ausgeschlossen. — Bei
den übrigen abnormen Plexus und ebenso bei den normalen, solange L, weniger als
zwei Drittel an den Plexus lumbosaeralis giebt, überwiegt der einfache Ursprung
aus L. Kommt ein Zuschuss aus D,, hinzu, so beschränkt er sich auf Verstärkung
des Ileohypogastrieus. Der N. ileoinguinalis bezieht ebenfalls Fasern aus D, zu
denen aus L,, aber erst, wenn der Tleohypogastricus vollständig durch D,, dargestellt
wird oder sogar noch von D,, eine Anastomose enthält. In einem der extremsten
Fälle, die ich besitze (Fig. 5) — L, nimmt dabei nur noch zu einem Siebentel am
Plexus lumbaris theil — wird nicht nur der Ileohypogastricus im lateralen und
vorderen Aste aus D,, verstärkt, sondern der Ileoinguinalis, der immer noch zum
grössten Theil aus L, stammt, empfängt auch aus D, und D,, noch kleine Zuschüsse;
in einem andern Plexus mit Ueberkreuzung aus L, und L, kamen lleohypogastrieus
und lleoinguinalis aus D, (Fig. 19).
Nach solchen Bildern lässt es sich nicht leugnen, dass eine Verschiebung der
beiden Nerven stattfindet, aber sie ist so zögernd, so wenig charakteristisch gegenüber
der Verschiebung der eigentlichen Extremitätennerven, dass wir erst nach deren
Betrachtung einen Erklärungsversuch für solche Unbestimmtheit wagen werden.
3. N. gemtocruralis.
Ob der N. genitocruralis normaler Weise geschlossen vom Plexus entspringt
oder häufiger gleich in einen N. spermatieus externus und N. lumboinguinalis ge-
spalten ist, darüber können Difterenzeu nicht wohl bestehen, da in den weitaus meisten
Fällen auch ein geschlossener Genitocruralis sich in seine beiden Komponenten zer-
legen lässt. Das vermittelt aber das Verständniss dieses Nerven noch nicht, wenigstens
nicht hinsichtlich der Zurüekführung auf den Typus eines Interkostalnerven. Denn
es dürfte immer einige Schwierigkeiten bereiten, für die Ansicht von Bardeleben
(Anleitung z. Präparieren 1888) und Langer-Toldt, wonach an L, der Spermaticus
*) Kohlbrügge, Versuch einer Anatomie des Genus Hylobates. Zoolog. Ergebnisse einer Reise
in Niederländisch-Ostindien, herausgeg. v. M. Weber. Leiden. 1890.
EA E S
ext. und lumboinguinalis den Ram. perforans anterior, der N. eutaneus fem. lateralis
den Ram. perfor. lateralis darstellen soll, den Beweis zu erbringen. Klarheit kann
man nur gewinnen aus solchen Plexus, in denen der laterale Ast des Lumboinguinalis
vorhanden ist. Dieser Ast vertritt bekanntlich den Ram. posterior des Cutaneus fem.
lateralis (selten nach Henle), und ist besonders bei abnormem N. furealis und Ueber-
kreuzung, aber auch bei normalem N. furealis mit geringem Zuschuss zum Plexus
ischiadieus anzutreffen. Präparirt man dann die Ursprungsstelle des Genitocruralis
genau, so sieht man, dass der Spermatieus ext. und der Theil des Lumboinguinalis,
der neben und in der Fossa ovalis des Schenkels erscheint, sich deutlich ventral, der
Lateralast des Lumboinguinalis dagegen ausgesprochen dorsal vom Plexus entwickeln.
Mit andern Worten: Der N. genitocruralis ist der erste Nerv des Plexus lumbosaeralis,
der sich in-eine dorsale und ventrale Portion zerlegen lässt. Dies Resultat ist von
Bedeutung und wird später noch zu verwerten sein.
In vielen, vielleicht den meisten Fällen wird allerdings der laterale Lumbo-
inguinalis dem Cutaneus fem. lateralis angeschlossen und bekundet dadurch ein ge-
wissermassen verwandtschaftliches Verhältniss zu diesem ebenso wie der meiliale
Lumboinguinalis und der Spermaticus ext. zum lleoinguinalis, mit dem sie entweder
in oder vor der Bauchwand oder schon innerhalb des Beckens Anastomosen eingehen
können, theilweise auch schon vom Plexus an verbunden sind. Nur unter sich gleich-
wertige Nerven vermögen einander zu substituiren.
Wie die Nn. ileohypogastrieus und ileoinguinalis eigenthümlich zähe an ihrem
Ursprunge aus L, festhalten und ihn erst aufgeben, wenn der normale N. furcalis dem
Cruralis nur noch wenig zutheilt, so bleibt auch die Hauptwurzel des Genitoeruralis
auf L, stehen, bis die erwähnte Eventualität eintritt. Für den Spermatieus externus
finden wir aber schon bei abnormer Lage des N. furealis einen dünnen Zuschuss aus
L,, während der Lumboinguinalis in solchem Falle und bei Ueberkreuzung aus L,
und L, gelegentlich noch eine Wurzel aus L, zeigt. Hierbei muss jedoch bemerkt
werden, dass der Lumboinguinalis dann auch ziemlich weit auf den Schenkel abwärts
grift, demnach in das Gebiet des Cutaneus femoris medialis gelangte, sodass höchst
wahrscheinlich Fasern des letztgenannten in seiner Bahn verliefen. Denn auch zu
diesem Nerven steht die mediale (ventrale) Portion des Lumboinguinalis in inniger
Wechselbeziehung. — Rein aus L, oder sogar noch mit einem Zuschuss aus D, sah
ich den Genitoeruralis nur bei Ueberkreuzung aus L, u. L, kommen.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 39
4. N. cutaneus femoris lateralıs.
Während der Genitocruralis immer noch Beziehungen zu Theilen ausserhalb
der Extremität aufweist, haben wir im Cutaneus fem. lateralis den ersten reinen Ex-
tremitätennerven. Henle lässt ihn hinter den Ursprüngen der oberflächlichen Aeste
des Plexus eruralis entspringen und charakterisirt ihn damit als dorsales Plexus-
derivat, als welches er auch durchaus aufzufassen ist. Im ganzen Plexus lumbaris
ist nur noch der N. obturatorius ohne weiteres in derselben Weise eindeutig zu
orientiren, wenn nicht der Cruralis, worauf wir bei diesem noch zurückkommen, in
einzelne Bündel aufgelöst erscheint. Diesem Verhalten ist in Schwalbe’s Schema
des Plexus lumbosacralis Rechnung getragen, das Gegenbaur'sche Schema dagegen
würde dahin zu berichtigen sein, dass die distale Wurzel des Nerven hinter der sie
kreuzenden CUruraliswurzel zu verlaufen hätte.
Der N. cutaneus fem. lateralis stammt nun nach einem Theil der Angaben aus
L, und L,, nach einem anderen lediglich aus L,. Beides ist richtig, da der Nerv in
seinem Ursprung wie die anderen Extremitätennerven von der Lage der N. furealis
abhängt. Bei L, als N. furealis und bei Ueberkreuzung aus L, und L, liefert stets
L, die Hauptwurzel, aus L, kommt eine schwächere hinzu, vorausgesetzt, dass nicht
der oben besprochene laterale Ast des Lumboinguinalis dem Cutaneus fem. lateralis
angeschlossen ist. Mit dem Uebergange zur normalen Plexusform rückt die Haupt-
wurzel auf L,, allmählich bezieht der Nerv seine Fasern nur aus L,, bis zuletzt, bei
sehr starkem Zuschuss aus L, an den Truneus lumbosacralis und bei Ueberkreuzung
aus L,
3
u. L, auch aus L, noch ein Bündel hinzutritt. — Die Regelmässigkeit dieses
Aufrückens wird einigermassen gestört durch die schon erwähnte häufige Aufnahme
des lateralen Astes vom N. lumboinguinalis, der dann als Ram. posterior des Cutaneus
fem. lateralis erscheint, und anderseits durch gelegentliche Anlagerung eines Bündels
des N. cutaneus fem. anterior. In beiden Fällen giebt die Präparation der peripheren
Verbreitung genügenden Aufschluss. In dieser Anlagerung ist aber auch ein Zeichen
der Gleichwerthigkeit der drei Nerven zu erkennen, wogegen Krause’s Angabe
(Varietäten ete.), der Cutan. fem. lateralis anastomosire zuweilen mit dem N. ileoin-
guinalis oder mit dem N. spermatieus externus, mit Vorsicht aufzunehmen sind. Ich
habe derartige Verbindungen nicht gesehen und halte sie überhaupt nicht für möglich.
Gar nicht selten ist der N. eutaneus fem. lateralis dem Cruralis locker ange-
schlossen und trennt sich von ihm erst unter dem Poupartschen Bande, auch wenn
er vom Plexus an zunächst noch eine Strecke frei hinter oder in dem Psoas verlief.
Die Zahl, welche Schmidt für diese Form des Verlaufes ansetzt (6°/,), ist entschieden
— sehn
viel zu niedrig gegriffen und mindestens auf das Dreifache zu erhöhen. Man wird
bei solcher Gelegenheit eine Beziehung zwischen dem Cutaneus fem. lateralis und dem
Cutaneus fem. medialis, wenigstens dem Theil desselben beobachten können, der am
Oberschenkel sich medial vom Sartorius in die Haut verzweigt. Dieser Nerv löst
sich manchmal zugleich mit dem Cutaneus fem. lateralis vom Plexus, und zwar ent-
springen seine Wurzeln dann ventral von den Plexusschlingen, die des Cutaneus f.
lat. dorsal, die zum Cruralis absteigenden Fasern verlaufen zwischen beiden hindurch.
Damit gewinnt das Bild grosse Aehnlichkeit mit dem Ursprunge des lateralen und
medialen Astes vom Lumboinguinalis, und die Zusammengehörigkeit des Cutaneus fem.
lateralis mit einer Portion des Cutaneus fem. medialis ist mir viel wahrscheinlicher
als die Annahme, der Cutan. fem. lat. bilde den Ram. lateralis zu dem N. genito-
eruralis.
5. M. odturatorius.
Die Angaben über den Ursprung dieses Nerven lassen sich kurz dahin zu-
sammenfassen, dass die Mehrzahl der Autoren drei Wurzeln aus L, bis L, beschreibt.
Paterson bemerkt, dass in manchen Fällen die Wurzel aus L, fehlt, während Henle
den Obturatorius aus den vier ersten Lendennerven kommen lässt. Henle bezeichnet
auch als stärksten Zuschuss die Wurzel aus L,. Dasselbe vermag ich für alle Fälle
festzustellen, in den L, N. furcalis ist. Zumeist folgt dann in der Stärke die Wurzel
aus L, und darauf die aus L,, die ich nur einmal vermisste. Sie ist jedoch oft, be-
sonders wenn von L, nur ein geringer Theil an den Plexus ischiadieus abgezweigt
wird, so zart, dass sie leicht beim Herausnehmen des Plexus zerrissen werden kann,
um so leichter, als sie oft der Ansa zwischen L, und L, nicht völlig anliegt, sondern
in deren distalem Abschnitte sich als feines Fädchen frei herüber spannt (Fig. 32, 10).
Dagegen sehe ich in den Plexus, welche aus L, mehr als ein Sechstel dem Kreuz-
beingeflecht zutheilen, häufig einen Zuschuss aus L, zu den drei übrigen Wurzeln
hinzutreten. Zuletzt bleibt auch nicht mehr die Wurzel aus L, in der Stärke die
zweite, sondern tritt hinter der aus L, zurück. Jedenfalls also kommen bei normalem
Bau des Plexus lumbosacralis konstant drei, gelegentlich auch vier Wurzeln des
N. obturatorius zur Beobachtung. Vier Wurzeln erhält der Nerv auch, wenn L, N.
furcalis ist, denn dann betheiligt sich auch L, noch an seiner Bildung. Der Stärke
nach ordnen sich hierbei die Ursprünge L, L, L, L,, die letzte ist ganz minimal.
Bei Ueberkreuzung aus L, und L, giebt L, ebenfalls gewöhnlich die stärkste, L, die
schwächste Wurzel an den Nerven, und falls L, dabei noch in Frage kommt —
39*
3001 2—
unter 14 Fällen 5 mal — so überwiegt die Masse dieses übrigens stets sehr dünnen
Zuschusses über den aus L..
Der Effekt der Plexusverschiebung auf den Obturatoriusursprung wird am
besten illustrirt durch eine Nebeneinanderstellung der Ursprungsformeln der einzelnen
Stadien. Man erhält in aufsteigender Reihe: L, L, L, L; Lob ib
(L)sb EL sb SEE ig,
Dass gelegentlich ein Theil der Fasern, welche sich in dem Truneus lumbo-
sacralis begeben, dem N. obturatorius noch auf eine Strecke angeschlossen ist, oder
dass umgekehrt einmal eine Portion des Ursprungs aus L, noch ein Stück in jenem
Faserbündel verläuft, ist gar nicht selten, aber meiner Ansicht nach völlig irrelevant
Kie:131,,35,525).:
Ueber den peripheren Verlauf des N. obturatorius ausserhalb des Beckens ist
Neues nicht beizubringen. Innerhalb des Beckens jedoch beobachtete ich in vielen
Fällen einen höchst feinen Nervenfaden, der sich vom Obturatoriusstamm ablöste und
nach kurzem freien Verlaufe spitzwinklig der A. obturatoria anlegtee Es ist
seiner, so viel ich gefunden, bisher nirgend Erwähnung gethan. Vielleicht ist er
konstant, doch habe ich mich eingehender mit ihm nicht beschäftigt; ebensowenig
mit einem zweiten, ebenso minimalem Fädchen, welches ich etliche Male um weniges
weiter distal vom Obturatorius kommen und sich an der Hinterfläche des proximalen
Schambeinastes im Periost verlieren sah. Dieser feine Nerv wäre bei oberflächlicher
Präparation vielleicht als ein Zweig an den M. obturator internus anzusprechen, doch
vermag ich nicht zu entscheiden, ob Krause (Handbuch), der einzige Autor in der
menschlichen Anotomie, der auch dem M. obturator int. Nerven aus dem Obturatorius
zukommen lässt, ihn im Sinne gehabt hat. Ich habe niemals während der ganzen
Untersuchung eine derartige Innervation dieses Muskels beobachtet, doch halte ieh
sie bei der nahen Verwandtschaft des N. obturatorius mit den Nerven der Rotatoren
des Schenkels, von der später die Rede sein soll, nieht für unmöglich, zumal die
vergleichende Anatomie Beispiele dafür aufweist. So beschreibt Deniker (Arch. de
zoologie exp. et gen. Ser. II, T. 3, 1585) einen dünnen Zweig an den Obturator
int. beim Gibbonfoetus uud Kohlbrügge (l.c.) sah ihn bei Hylobates agilis und
syndaetylus.
5a. N. obturatorius accessorius.
Auf den in fast allen neueren Lehrbüchern erwähnten N. obturatorius accessorius
verwandte ich besondere Aufmerksamkeit, zumal mir der Nerv unter 120 Fällen
301
35 mal begegnete, auffallend häufig gegenüber den meisten Angaben. Denn I. A.
Schmidt fand ihn an 70 Extremitäten nur 8S—9 mal, Pokorny (eit. nach Henle)
unter 40 3 mal, Krause (Varietäten) rechnet ebenfalls nur 10%; Schwalbe freilich
nennt ihn eine ziemlich häufige, Cruveilhier eine häufige Varietät, was zu unsern
Befunden (29 %,) stimmen würde. Das reichliche Vorkommen bot die beste Gelegenheit,
Ursprung, Verlauf und Verbreitungsgebiet genauer zu untersuchen. Er findet sich
bald nur auf einer, bald auf beiden Seiten. Da jedoch nieht immer beide Hälften
einer Leiche untersucht werden konnten, lässt sich über das prozentuale Verhältniss
nichts bestimmtes angeben. 7 mal unter 56 Leichen war er doppelseitig, 16 mal nur
einseitig vorhanden. In der Häufigkeit des Vorkommens zeigen normal gebaute und
abnorme Plexus annähernd die gleichen Verhältnisse (Fig. 2, 15, 19, 20, 25, 27,
28,:32,.,38).
Die Stärke des Nerven schwankt innerhalb ziemlich weiter Grenzen und da-
mit auch sein Innervationsgebiet. In letzterer Hinsicht war einerseits die Anastomose
mit dem N. obturatorius unmittelbar nach dessen Austritt aus dem Canalis obturatorius
konstant, andererseits wurden die Zweige an das Hüftgelenk (2 bis 3) nie vermisst.
Der Nerv entspringt nach den meisten Autoren aus L, und L,, nach Gegenbaur
auch bloss von einem dieser Nerven, nach Hyrtl aus dem Anfangsstück des eigent-
lichen Obturatorius, nach Schwalbe’s Text aus L, und L,, nach dem Schema des
Plexus lumbosacralis dagegen aus L, bis L,..
Hierzu habe ich zu bemerken, dass bei normaler Plexusbildung gewöhnlich
zwei Wurzeln aus L, und L, bald die eine, bald die andere die stärkere, vorhanden
sind, daneben aber auch ein einfacher Ursprung aus L,, und wiederum, wenn der
Plexus lumbaris nur wenig Fasern aus L, erhält, dagegen proximal noch aus D,
verstärkt wird, ein Doppelursprung aus L, und L, zur Beobachtung kommen können.
Ist L, der N. furealis, oder stehen die beiden Plexushälften kreuzweise in Verbindung,
so tritt die Wurzel aus L, mehr in den Vordergrund, die aus L, ist schwächer, kann
auch ganz fehlen, oder (einmal) es schickt auch L, noch ein Fädehen zum Obtura-
torius accessorius (Fig. 27).
Die Lage der Wurzeln zu denen des N. obturatorius und des Cruralis verdient
erwähnt zu werden, da hierüber aus den von mir benutzten Werken kein Aufschluss
zu erhalten war. Schwalbe bildet den N. obturatorius accessorius dreimal verschieden
ab. Auf Fig. 483 (l. ec. pg. 946) hat er 3 Wurzeln, deren erste von der Dorsalfläche
der ersten Obturatoriuswurzel, deren zweite von der ventralen Fläche der vereinigten
ersten und zweiten Obturatoriuswurzel, deren dritte von der Ventralfläche des 4. Lenden-
32
nerven (ventral zum N. obturatorius verlaufend) kommen. So liegt der Ursprung nie-
mals, sondern man verfolgt bei sauberer Präparation die Wurzeln stets auf die ven-
trale Fläche der Wurzeln des Cruralis, aber zwischen diese und die des Obturatorius,
jedenfalls dorsal zu dem letztern. So giebt es auch die Abbildung nach Hirschfeld
und Leveille Fig. 485 (pg. 949) wieder, nur ist der Nerv da nicht weiter bezeichnet
und mit dem distalen Psoasast des Cruralis in Verbindung gelassen. Fig. 486 nach
Schmidt) ist nieht genügend klar im Druck, um genaues erkennen zu lassen.
Der fertige Nerv ist zunächst gewöhnlich nur durch ganz lockeres Bindege-
webe dem Anfange des eigentlichen Obturatorius angeschlossen, doch nur bis zum
Abgange des letztern in das kleine Becken, bleibt von da an dieht am Rande des
Psoas maior und an der Linea terminalis, gedeckt von der Fascia iliaca und der
Sehne des Psoas minor, bohrt sich am Peeten pubis unter die Fascia ileopectinea,
giebt unmittelbar danach die Hüftgelenkzweige ab und schiebt sich unter den lateralen
Rand des M. pectineus, nun mit dem N. obturatorius zu anastomosiren. Ist er nur
schwach, so lassen sich nach der Anastomose seine Fasern nicht weiter verfolgen;
bei einigermassen kräftiger Bildung jedoch schiekt er gewöhnlich vor der Anastomose
einen Zweig in die Unterfläche des Pectineus. Nach der Anastomose, die mehr einer
Verflechtung mit den Obturatoriusfaseın gleicht, werden je nach der Stärke des
Nerven entweder nur Adductor longus oder auch noch Gracilis und Adduetor brevis
von ihm mitversorgt.
Abweichungen von dem beschriebenen Verlaufe des N. obturatorius accessorius
sind einige in der Literatur verzeichnet, die ich zum Theil durch eigne Befunde be-
stätigen kann. Henle eitirt eine Beobachtung von G. H. Meyer, wo auf der einen
Seite ein regulärer Obturatorius accessorius vorhanden war, während auf der andern
der Nerv vor dem Peeten ein Bündel abspaltete, das in zwei Zweige zerfiel, wovon
einer unter den Peetineus an den Adductor brevis trat, der andre sich mit dem hoch
oben vom Cruralis abgegangnen N. pectineus vereinigte. Nach Pokorny soll sich
der Nerv zweimal aus dem Pectineus weiter zu dem Mm. adduet. longus und brevis
begeben und mittelst seines stärksten Astes mit dem N. genitocruralis in einer Schlinge
verbunden haben. — In einigen meinen Fälle kommt der Obturatorius accessorius
vom N. obturatorius und zwar von der Wurzel aus L, nimmt an dem Pecten ein
Faserbündel des N. eutaneus fem. medialis auf, nachdem er diesem kurz vorher einen
Zweig zugesandt hat, und versorgt dann auf seinem Wege Pectineus, Adduetor longus
und Gracilis (Fig. 15). Die wechselnde Lagebeziehung zur Faseia iliaca hat Henle
ebenfalls schon erwähnt. Der Nerv kann dem Obturatorius auf längere Strecke an-
geschlossen sein und liegt dann ausserhalb der Fascia iliaca, auch über (medial von)
der Sehne des Psoas minor.
Ein Umstand, der gewiss in vielen Fällen das Vorhandensein eines N. obtura-
torius accessorius übersehen lässt, ist sein gelegentlicher Verlauf, gleich vom Ursprung
an, durch das Fleisch des Psoas, aus dem er meist erst ziemlich kurz vor dem Peeten
austritt. Manchmal ist er in zwei Portionen gespalten, deren eine (proximale) durch
den Psoas geht, während die andre den regulären Weg nimmt. — Zu Verwechslungen
mit einem N. obturatorius accessorius können bei oberflächlicher Untersuchung ent-
weder ein dünner Lumboinguinalis, der hin und wieder unter der Faseia iliaca medial
vom Psoas maior zur Fossa ovalis femoris herabsteigt, oder ein langer Muskelzweig
in den distalen Teil des Psoas Veranlassung geben, zumal letzterer wirklich manch-
mal auf eine Strecke dem Obturatorius accessorius oder dem eigentlichen Obtura-
torius angelagert ist.
Hinsichtlich des morphologischen Wertes des in Rede stehenden Nerven ist
meines Wissens bisher noch keine Ansicht geäussert. Ich glaube sein Homologon
bei den Urodelen gefunden zu haben. Dort spaltet sich nämlich von dem ersten
Nerven des (aus drei Spinalnerven zusammengesetzten) Plexus lumbosaeralis ein Ast
ab, der seinem Innervationsgebiet nach als N. obturatorius bezeichnet werden kann
und wieder in drei Zweige zerfällt. Der erste geht mit dem zweiten durch die
Bauchwand über den Lateralrand des Pubicum proximal bezw. medial auf die Dorsal-
fläche des Schenkels, wo jener in der Haut, dieser in drei als Adduetoren wirkenden
Muskeln endet; der dritte schwache Zweig dagegen gelangt als echter Obturatorius
durch das kleine Foramen obturatorium des Pubicum an einen tief gelegenen Addu-
etor. Obschon ich nun eine Anastomose zwischen dem zweiten und dritten Zweige
nicht gesehen habe, scheint mir doch die ganze Anordnung dafür zu sprechen, dass
der zweite Zweig als Homologon unsres N. obturatorius accessorius (mit Einschluss des
N. pectineus) aufzufassen ist, der nur relativ mehr Fasern in sich vereinigt, als beim
Menschen, indes der eigentliche Obturatorius weniger enthält. Doch sehen wir ja
auch beim Menschen den Obturatorius accessorius gelegentlich so stark, dass er alle
Adduetoren ausser den M. obturatorius externus und Adduetor magnus versorgt.
N. eruralıs.
Bei der Säuberung des geschlossenen N. eruralis fällt sofort der deutlich
spiralige Verlauf der Faserbündel in die Augen und zw. ist die Spirale der rechten
Seite links, die der linken rechts gedreht. Die distale Extremität führt bekanntlich
a
zum Uebergang aus der ursprünglichen, embryonalen Stellung in die definitive ganz
die gleiche Drehung aus, so dass man wohl an eine Abhängigkeit der Torsion des
Nerven von der der Extremität denken kann. Die beiden andern grossen Nervenstämme
des Plexus lumbosacralis, Tibialis und Peroneus, zeigen übrigens die gleiche Er-
scheinung. — Die Torsion des Cruralis beträgt vom Plexus bis zum Arcus cruralis
etwa 90°, sodass also die Fasern, welche am Plexus den Nerven proximal begrenzen,
am Areus ventral und etwas medial liegen. Ich halte diese Eigenthümlichkeit der
Erwähnung wert, weil eine Gruppirung der Endäste des Cruralis nach morpho-
logischen Gesichtspunkten, wie wir finden werden, nur unter Berücksichtigung der-
selben möglich wird.
Die Frage, ob L, konstant Fasern in den CUruralis gibt oder nicht, erledigt
sich von selbst durch die T'hatsache, dass der Cruralis in gleichem Masse wie der
Obturatorius in seinem Ursprunge eine unmittelbare Abhängigkeit von der Gestaltung
des lumbosakralen Ueberganges dokumentirt. Ist L, N. furcalis, so ordnen sich die
Wurzeln L, L, L, L,, aus L, kann ein dünnes Fädchen hinzutreten, aber einmal fehlte
die Ansa lumb. I ganz, in andern Fällen diente sie nur der Zuführung von Fasern
in den Genitoeruralis. Bei Ueberkreuzung aus L, u. L, wird zunächst die Wurzel
aus L, stärker als die aus L,, die aus L, fehlt etliche Male, wir erhalten also die
Formel L, L, L, L, (L,). Bei normalem N. furcalis entspringt der Cruralis aus L,
L, L, L, wenn das lumbosakrale Uebergangsbündel weniger als ein Viertel von L,
beträgt, darüber hinaus bis zu drei Vierteln aus L,; L, L, L,, von da ‘an aus L,L,L,
L, (D,,) — auch bei Ueberkreuzung aus L, und L. Es kann also bei normalem
Bau des Plexus sowohl L, als L, die stärkste Wurzel liefern, je nachdem viel oder
wenig aus L, an denPlexus ischiadieus abgegeben wird.
Es liegt nun nahe bei einem derartig zusammengesetzten Nerven wie dem
Cruralis eine Auflösung in seine Komponenten zu versuchen, zumal dureh die ge-
legentliche natürliche Aufspaltung des Nerven in mehre Bündel innerhalb des Psoas
der Weg geebnet scheint. Das Resultat entspricht den Bemühungen insofern nicht,
als es mir nie gelungen ist, eine Trennung der Einzelnerven bis in die Plexuswurzeln
hinein auszuführen. Deshalb ist aber der Erfolg noch nicht vollständig negativ.
Dreht man nämlich den Cruralis soweit zurück, dass seine Faserbündel vom
Plexus an parallel verlaufen, so liegen an dem aufgespaltenen Stamme zwei Schichten
hintereinander, deren ventrale lateral den Cutaneus fem. medialis mit dem Nerven für
den Peetineus, medial den Saphenus enthält, während die dorsale aus dem Uutaneus
fem. anterior mit den Nerven für den Sartorius lateral und den Muskelästen für den
DOIL Fe:
Quadriceps medial besteht. Diese beiden Schichten oder Hauptbündel entsprechen
also nicht den beiden Rami terminales anterior und posterior, in welche die syste-
matische Beschreibung den Cruralis einteilt, und die nach dem Gesagten je einen
Theil der ventralen wie dorsalen Portion in sich begreifen. Ich stehe nicht an, trotz
der mangelhaften Trennung die beiden Schichten als Ausdruck der Sonderung dor-
saler und ventraler Elemente wie bei der wirklich ausführbaren Spaltung im Plexus
ischiadieus anzusprechen, vornehmlich auch in Berücksichtigung des Umstandes, dass
der auf Seite 285 aufgestellte Satz über die Beziehungen zwischen Muskel und Haut-
innervation seitens dorsaler bezw. ventraler Plexusderivate hier uneingeschränkt An-
wendung findet. An genannter Stelle habe ich die Grenzlinie des dorsalen und ven-
tralen Innervationsgebietes an der Vorderfläche des Schenkels angegeben. Sie ist
erst gewonnen durch die Auffaserung des Cruralis, wenigstens für ihre distalen zwei
Drittel, während für das proximale die Betrachtungen, die bei den vorher besprochenen
Nerven angestellt sind, massgebend wurden. Für ein Schema genügt schon eine
Linie, die man von der Spin. ant. sup. ilei schräg herab zum Medialrande der Patella
zieht, wenn dabei auch der dem dorsalen Innervationsgebiet zuzurechnende M. sartorius
zum Theil medial von dieser Grenze verläuft. Lateral haben wir der Reihe nach
an Hautnerven: die dorsale Hälfte des Ram. iliacus vom Ileohypogastrieus, den late-
ralen Ast des Lumboinguinalis, den Cutaneus fem. lateralis und endlich den Cutaneus
fem. anterior, alle über dem dorsal innervirten Tensor faseiae und Quadriceps. Im
medialen ventralen Innervationsgebiet treffen wir nach einander den ventralen Theil
des Ram. iliacus vom Jleohypogastricus (+ lleoinguinalis), den medialen Ast des
Lumboinguinalis, den Cutaneus fem. medialis und zuletzt noch am Unterschenkel
medial herablaufend, den Saphenus; der auf den Schenkel herabsteigende Theil des
Dleoinguinalis (Ram. ant.) und des Cutaneus n. obturatorii gehören selbstverständlich
hierher.
Alle diese Hautnerven — abgesehen vom ersten, der auch für die Extremität
nieht weiter in Betracht kommt, liegen über ventral innervirten Muskeln, den Addu-
etoren. Von diesem Standpunkte betrachtet bietet die Abgrenzung der Hautäste in
einen Cutaneus femoris anterior und medialis, deren Unsicherheit Henle hervorhebt,
keine Schwierigkeiten, selbst wenn sich auf dem Schenkel Anastomosen zwischen
beiden finden. Das ist eben eine spezielle Eigenthümlichkeit der Grenzgebiete.
Der M. sartorius erhält seinen Nerven stets vom'!M. cutaneus fem. anterior, der
Nerv für den M. pectineus dagegen kommt von den ventralen Theilen des Cruralis
und zwar selten isolirt, allermeist mit einem Theile des Cutaneus fem. medialis, so-
Abhandl. d. naturf. Ges zu Halle. Bd. XVII. 40
306:
dass man seinen Anschluss an diesen Hautnerven geradezu typisch nennen kann.
Sehr selten übernimmt der N. obturatorius allein die Versorgung und auch beim Be-
stehen eines Pectineuszweiges aus einem N. obturatorius accessorius fehlt der Haupt-
nerv aus dem Cutaneus fem. medialis gewöhnlich nicht.
Von den übrigen Aesten des Cruralis möchte ich hier nur einen hervorheben,
der mir zuerst beim Gorilla auffiel und dort von mir als Ramus collateralis
fibularis des Cruralis bezeichnet ist.‘) Der Nerv ist beim Emporheben des Medial-
randes des Vastus lateralis als langer dünner Zweig des Vastusastes in Begleitung
einer kleinen Arterie ständig zu finden. Er verläuft unter dem Vastusrande, bohrt
sich distal durch die Verwachsung der Reetus- und Vastussehne und gelangt an das
Kniegelenk in der Nähe des Patellarandes.
B. Plexus sacralis und coceygeus.
Der Plexus sacralis zerfällt nach der bisher üblichen Benennung in den Plexus
ischiadieus und pudendalis. Für die Betrachtung des erstern dieser beiden ergiebt
sich die Disposition von selbst durch die eingangs genauer geschilderte Spaltbarkeit
der Plexuswurzeln in sekundäre ventrale bezw. dorsale Trunei, aus denen wiederum
die Nerven für die ursprünglich ventrale bezw. dorsale Muskulatur und Haut der
Extremität "hervorgehen. Zu den ventralen Derivaten sind 1. die Nerven für die
Mm. rotatores, 2. der N. tibialis, 3. die Nerven für die Flexores eruris (ausgenommen
das Caput breve bieipitis) zu zählen, während der dorsalen Hälfte 1. der N. glutaeus
superior, 2. der Nerv für den M. pyriformis, 3. der N. glutaeus inferior, 4. der N.
peroneus angehören. Der N. cutaneus femoris postieus schliesst sich weder der einen
noch der andern Gruppe vollständig an, und mit ihm mag aus später näher zu be-
zeichnenden Gründen auch der N. cutaneus clunium inferior medialis (N. perforans
ligamenti sacrotuberosi Schwalbe) behandelt werden.
Die hie und da ventilirte Frage, ob man den einen oder andern der genannten
kleinern Nerven als selbständigen Zweig des Plexus oder als Ast des N. ischiadieus
aufzufassen habe, findet ihre Erledigung in der nachfolgenden Beschreibung von selbst.
Eine natürliche Trennung des Plexus ischiadicus durch eine Portion des M.
pyriformis begegnete mir im Ganzen 23 mal; davon entfallen auf die (19) Plexus
mit abnormem N. furcalis aus L, und mit Ueberkreuzung aus L, und L, zehn, auf
die (105) normalen Plexus nur zwölf u. s. w. nur auf solche, in denen der Zuschuss
*) Das Gefäss- und periphere Nervensystem des Gorilla. Halle a. S. 1890.
307
aus L, an den Truneus lumbosacralis gering (Yo "/s '/ Ya 2/5) war; auf die 3 Plexus
mit Ueberkreuzung aus L, und L, kam ein getheilter. Die beiden Hälften des gleichen
Kadavers verhalten sich dabei oft verschieden. Eine bestimmte, gesetzmässige Be-
ziehung zwischen Plexusaufbau und Theilung des Pyriformis habe ich bis jetzt nicht
- feststellen können, obwohl immerhin die relativ hohe Zahl gespaltener Plexus bei
abnormem Plexusaufbau auffällig erscheint.
1. Die Nerven für die Mm. rotatores femoris (Fig. 2, 10, 12, 15, 16, 19, 25, 37).
Der Nerven für die Mm. obturatorius internus, gemellus sup. und inf., quadratus
femoris wird zwar überall Erwähnung gethan, jedoch selbst in neuesten Auflagen
noch derart unbestimmt, dass ich hier kurz eine Reihe älterer und neuerer Angaben
zusammenstelle, um zu zeigen, wie gering die Wahrscheinlichkeit nieht nur für den
Studirenden, sondern auch für den Anatomen von Fach sein muss, sich von den in
Rede stehenden Nerven und deren Ursprung eine der Wirklichkeit entsprechende
Vorstellung machen zu können. Wo es nicht besonders vermerkt ist, hat der be-
treffende Autor den peripheren Verlauf der Nerven richtig beschrieben.
Nach Luschka (l. e. pag. 177) geht sehr häufig aus dem N. glutaeus inferior
ein Ast für die Auswärtsroller hervor, der aber vielleicht ebenso oft aus dem Plexus
ischiadieus entspringt. Ein Zweig versorgt den M. obturator internus, ein zweiter die
beiden Gemelli und den Quadratus. Sappey lässt den Nerven für den Obturator
internus von der Vorderfläche der Spitze des Plexus sacralis kommen, der Nerv für
Gemellus superior entspringt von der Ventraltläche des N. ischiadicus an dessen
Austrittsstelle aus dem Becken; der Nerv für Gemellus inferior und Quadratus liegt
neben dem vorigen und kreuzt wie dieser die Spina ischii. Krause (Lehrbuch pag.
909) äussert sich kurz: „Der N. ischiadieus geht — hinter den Mm. gemelli, obturator
int. und quadratus fem. herab, ihnen Aeste gebend.*“ Henle sagt ausführlicher
(pag. 528): „Der N. glutaeus inf. giebt dem M. obturator internus einen Ast, der aber
öfter auch selbständig aus dem Plexus sacralis oder aus dem Stamm des N. ischia-
dicus oder aus dem N. pudendohaemorrhoidalis entsteht.“ Weiter (pag. 532): „Aus dem
Anfang des Stammes (des N. ischiadieus) entspringen zuweilen die Nerven zu den
beiden Köpfen des M. obturator int. und zum Quadratus fem. Ferner giebt der
Ischiadieus von der Incisura ischiadica aus oder noch oberhalb derselben Fäden zum
Hüftgelenk.“ Und so im Schluss zusammenfassend (pag. 544): „Der M. obturator int.
direkt vom Plexus ischiadieus oder vom N. glutaeus inf. oder vom N. pudendo-
haemorrhoidalis oder vom Stamm des N. ischiadieus. Den Quadratus fem. — versieht
40*
—— 308 ——
der N. ischiadieus.“ In der Figur 290 (pag..525) entspringt von der Ventralfläche
der Schlinge aus L, + L, und S, ein Nerv, der im Foramen ischiad. mai. verschwindet.
Die Bezeichnung fehlt, aber der Lage nach ist es der Anfang des Nerven für den
Quadratus femoris. In Fig. 291 (pag. 528) ist ebenfalls ohne Benennung ein Nerv
gezeichnet, der vom Stamm des N. ischiadieus entspringt und auf die Dorsalfläche
des Quadratus fem. herabläuft. Soll dies der Nerv für diesen Muskel sein, wie es
dem Text nach scheinen könnte? Merkel hat in der neuen Auflage des Henleschen
Atlas weder den Text noch die Zeichnungen geändert. Schwalbe ordnet (pag. 963)
die fraglichen Nerven dem N. ischiadieus unter; sie können bald schon aus dem
Plexus, bald mehr peripher aus dem N. ischiadieus sich ablösen. Im besondern
kommt der Nerv für Obturator internus von der vorderen Fläche des Ischiadieus beim
Austritt desselben aus dem Foramen ischiad. mai., ebenso zweigt sich der Nerv für
Gemelli und Quadratus fem. schon beim Austritt des Ischiadieus aus dem Becken
vom Ischiadieus ab. Paterson verlegt im Text den Ursprung der Nerven für Ge-
melli und Quadratus fem. auf den Tibialis nach dessen völliger Bildung, in seinem
Schema mehr auf die letzte Wurzel des Tibialis aus S,, während der Nerv für Ob-
turator internus, der stärkste der direkt vom Plexus entspringenden Muskelnerven,
mit 2 unabhängigen Wurzeln vom Ursprung des 2. und 3. Sacralnerven kommen
soll. Diese Wurzeln verlaufen in der Zeichnung zwischen denen des Cutaneus fem.
posticus und denen des Pudendus dorsal zur letzten Tibialiswnrzel herab. Barde-
leben lässt vom obersten Theil des Ischiadieus oder direkt vom Plexus (von der
vorderen Fläche des Ischiadicus) zwei feine Aeste entstehen, einen zum Obturator
int.. den andern zu den Gemelli und dem Quadratus femoris. Nach Langer-Toldt
(pag. 572) giebt der N. glutaeus inf. Zweige an den Glutaeus maximus, Quadratus
fem. und Öbturator int. Ebenso werden nach Pansch die Rotatoren öfters vom
N. glutaeus inf. versorgt, während im Anhang (pag. 537) dem Obturator int. mit den
Gemelli Zweige aus dem Plexus ischiadieus, dem Quadratus aus dem N. ischiadieus
zugetheilt werden. Gegenbaur endlich bemerkt: „Ganz oben“ — vom Plexus inner-
halb der Beekenhöhle — „schon löst sich ein Nerv für den Obturator internus, dann
einer für die Mm. gemelli und für den Quadratus fem. ab. Sie verlaufen unter diesen
Muskeln und scheinen zuweilen direet vom N. ischiadicus entsendet zu werden. Der
Nerv für den M. obturator int. kommt aus einer Schlinge des 2. und 3. Sacralnerven.
Er hat sich mit dem einwärts gewanderten Muskelbauche von dem Nerven für die
Mm. gemelli und quadrat. fem. getrennt.“ Auf der schematischen Figur des Plexus
3) De
lumbosaeralis ist dagegen nur ein Nerv für Quadratus und Gemelli aus dem Anfange
des Tibialisstammes gezeichnet.
Von einer Diskussion dieser verschiedentlich unter einander abweichenden An-
gaben glaube ich absehen zu können, wenn ich gleich hier feststelle, dass eine Ver-
sorgung der Rotatoren aus dem N. glutaeus inferior ebenso wie aus dem Pudendus
niemals vorkommt, und dass die Patersonsche Zeichnung (der Ursprünge des Nerven
für den Obturator int. direkt falsch ist. So wird auch der M. quadratus fem. niemals
von seiner dorsalen, sondern stets von der ventralen Fläche aus innervirt. Diese
Nerven sind überhaupt ventral zu allen übrigen Plexusbestandtheilen gelegen, des-
halb ist auch die Zeichnung der beiden proximalen Wurzeln des Pudendus in
Schwalbe’s Schema des Plexus lumbosaeralis ungenau.
Die-Ursprünge der Nerven in der Leiche zu finden, hat nicht geringe Schwierig-
keiten, jedoch lässt sich schon bei einigermassen sorgfältiger Säuberung der Ventral-
fläche des Plexus ein mehr oder weniger komplizirtes plattes Geflecht von Fasern,
welche in spitzen Winkeln die des Tibialis überkreuzen und steiler als diese abwärts
laufen, kurz vor dem Austritt des Ischiadieus aus dem kleinen Becken erkennen. An
herausgeschnittenen Präparaten gelingt es dann, dieses Geflecht in seine einzlen Theile
aufzulösen und von der Ventralfläche des Tibialis abzuheben. Die zum Theil sehr
teinen Wurzelfäden sind leicht auf die Wurzeln des Tibialis zu verfolgen. Aus dem
Geflecht entstehen ungefähr in der Höhe des Proximalrandes der Spina ischii 2 kräftige
Nervenstämmchen, deren proximales bezw. laterales die Fasern für Quadratus fem.
und Gemellus inferior führt, deren distales (mediales) den Obturator internus und
Gemellus superior innervirt. Die unmittelbare Nachbarschaft des letztgenannten Nerven
zum N. pudendus erklärt wohl am besten die Angaben von einer Versorgung des
Obturator int. aus dem Pudendus. Ich möchte hier ausdrücklich bemerken, dass der
Nerv für den Gemellus superior allermeist dem für Obturator int. angeschlossen ist,
der Nerv für Gemellus inf. aber mit dem Nerven für Quadratus femoris verläuft.
Beide Hauptnerven sind gewöhnlich völlig getrennt, nur in wenigen Fällen bildet
sich zwischen ihnen. noch über dem Plexus ischiadieus, eine sekundäre Verflechtung
dünnerer Fäden aus, von der sich dann die Nerven für die beiden Gemelli entwickeln.
Seltener noch ist ein einfacher Uebergang des Nerven für Gemellus sup. in die Bahn
des Nerven für Quadratus und Gemellus inferior. Im besonderen formen die |jproximal
gelegenen Fasern des lateralen Nerven (für Quadratus) einen oder zwei Zweige für
das Hüftgelenk, die distalen gehen in Gemellus inf. und Quadratus; dagegen innervirt
die Hauptmenge der proximalen Fasern des medialen Nervenstiämmehens den M. ob-
—_ a0
turator int. Die mehr distalen Fasern bleiben dem Gemellus superior. Dies Resultat
ist auffallend genug, denn es zeigt uns proximal an der Extremität gelegene Muskeln
von distalen, distal gelegene dagegen von mehr proximalen Nerven versorgt. Ich
theile hier nur die Thhatsache mit; wir werden im Schlusskapitel mit ihr zu rechnen
haben. Von dem Nerven für den Obturator int. sah ich ein paar mal einen kleinen
Zweig abgespalten, welcher in die ausserhalb des Beckens gelegene Masse des
Muskels eintrat; ausserdem finden sich an diesem Nerven regelmässig einige feine
Fädchen für den Periost der Spina ischii.
Die Ursprünge der Rotatorennerven bekunden nun eine deutliche Abhängig-
keit von der Lage des N. furcalis, und da die Anordnung der Wurzelfäden immer
auf eine typische Grundform (etwa die eines W) zurückgeführt werden kann, vermag
man bei der allmähligen Verschiebung des N. furcalis von L, gegen L, auch eine
fortschreitende Verschiebung dieser Figur über die und auf den Plexuswurzeln zu
konstatiren. Ist L; der N. furealis, so kommt der Nerv für Quadratus fem. aus S,
L;, der für Obturator int. aus 8, S, S;; bei Ueberkreuzung rückt der Nerv für Quad-
ratus etwas höher auf L, S,, der für Obturat. int. auf S, S; 8, resp. auf S, S, L, S;;
bei normalem.N. furcalis, aber nur geringem Zuschuss aus L, an den Plexus ischia-
dieus stammt der Nerv für Quadratus aus L, L, S,, für Obturat. int. aus S, S; L; (8;);
sobald mehr als ein Viertel der Fasern aus L, für den Plexus sacralis abgespalten
wird, erhält man für den Quadratus fem. L, L, (S,), für Obturat. int. L, S, SL, als
ziemlich konstante Zahlen. Bei sehr kräftigem lumbosakralem Uebergangsbündel und
bei Ueberkreuzung aus L, und L, bezieht der Quadratus seine Fasern nur von L, L,,
der Obturator int. von S, L, L, S;. Immer ist dabei die Hauptwurzel des N. für Ob-
turator int. um einen Spinalnerven weiter distal gelegen als die des Nerven für Quad-
ratus fem.
Sine Eigenthümlichkeit im Ursprung des Qadratusnerven sei hierbei erwähnt.
Seine Wurzeln aus dem Truneus lumbosacralis — L,+ L, bei normalem, S, +L;, bei
verschobenem N. furealis — sind gewöhnlich in drei Bündel zerlegt. Davon ent-
springt das mittle aus dem proximalen, das laterale und mediale aus dem distalen
Komponenten des Truneus, sodass also diese letztern den proximalen Komponenten
umgreifen. Diese sonderbare Lage des Ursprungs wird am deutlichsten, wenn man
den Truneus lumbosacralis weit herab in den Plexus sacralis aufspaltet, oder auch
in den Fällen, in welchen nur eine dürftige Portion aus dem letzten Nerven des
Lendenplexus ins Becken geschickt wird. Diese giebt nämlich dann dem Quadratus-
nerven noch keine Fasern ab, sondern läuft einfach zwischen dem lateralen und medialen
3il —
Wurzelbündel hindurch. — Ueber Beziehungen des Nerven für Obturator int. zum
N. pudendus s. bei diesem. —
Der periphere Verlauf der Rotatorennerven ist im Ganzen von Schwalbe gut
dargestellt. Der N. für Obturator int. geht dicht lateral zum Pudendohaemorrhoidalis
aus dem Becken auf die Dorsalfläche der Spina ischii, giebt hier Periostzweige und
den Nerven für Gemellus sup. in dessen Proximalrand ab und wendet sich dann
durch das Foramen ischiadieum minus über den proximalen Rand seines Muskels auf
dessen Beckenfläche, wo er mit Zweigen der A. pudenda interna unmittelbar unter der
Faszie sich verteilt. Der Quadratusnerv tritt lateral zu dem vorigen aus dem Becken
und gelangt zwischen Gemellus sup. und Sehne des Obturator int. einerseits, Hüft-
gelenk anderseits zu seinen Muskeln, die er von der Ventralfläche aus innervirt.
2. MN. Lblalıs.
An diesem kräftigsten Nerven des Plexus zeigt die erste Wurzel d. h. das
Bündel aus dem 4. Lendennerven bei normalem Plexusübergang eine eigentümliche
Lage, sobald der Zuschuss an den Plexus ischiadicus überhaupt nur gering ist.
Statt nämlich einfach den proximalen Rand des Tibialis zu bilden, laufen die Fasern
des dünnen Stranges spitzwinklig über die der nächsten Wurzel hinweg in die ven-
trale Fläche des Tibialis und zum Teil direkt in die Wurzelfasern der Nerven für
die Flexores eruris hinein. Dadurch wird im Verein mit dem Verlauf der übrigen
Nervenbündel das Bild einer Torsion des Tibialisanfangs geschaffen u. zw. in gleichem
Sinne wie die früher erwähnte des Cruralis,
Mehr noch als bei den kleinen Rotatorennerven wird am Tibialis eine Ab-
hängigkeit des Ursprungs von dem normalen oder abnormen Bau des Plexus nach-
zuweisen sein. In der That stammt bei Verschiebung des N. furealis auf L, der
Tibialis aus S, S, L, S; (S,), bei Ueberkreuzung zwischen L, und L, aus S, 8, L, S;, L;;
bei normaler Lage des N. furcalis verändert sich die Reihenfolge der Wurzelstärken
mit der zunehmenden Mächtigkeit des Zuschusses aus L, an den Plexus sacralis in
(lem Sinne, dass die distal gelegenen Ursprünge schwächer werden oder ganz schwinden,
indes die proximalen ihr Volum vergrössern. So erhält man allmählig folgende
Formeln: SSL, LS, — 8 L,S,L,S,— Sı, L,L, S,. Zu dieser letzten Formel
tritt auch noch L, hinzu, wenn eine Ueberkreuzung zweier N. furcales aus L, u. L,
vorliegt.
Wenn also Paterson und Asp den Tibialis aus dem Truneus lumbosacralis,
den ersten beiden Sakralnerven und gewöhnlich auch noch aus dem dritten entstehen
312 —
lassen, so haben sie hauptsächlich nur Fälle vor Augen gehabt, in denen weniger
als %/; der Fasern von L, in den Truncus lumbosacralis eingegangen; denn darüber
hinaus ergiebt eine sorgsame Präparation stets, dass von 8, keine Fasern mehr in
den Tibialis gelangen, sondern nur noch der N. pudendus beschickt wird.
3. Nerven für die Mm. flexores cruris. (Fig. 12 u. 16.)
Ebensowenig wie für die Nerven der Rotatoren ist es bisher für die der
Flexores eruris (mit Ausschluss des Caput breve bieipitis) versucht worden oder ge-
lungen, sie bis auf den Plexus zu verfolgen. Auch Paterson spricht nur davon,
dass sie entweder als einfacher Stamm oder in einzlen Bündeln vom bereits ge-
geschlossenen Tibialis kommen. Es ist eine verhältnissmässig leichte Aufgabe, die
hierzu gehörigen Stränge, die nur ganz locker dem Tibialis anliegen, bis an die
Spitze des Plexus oder speeiell des Tibialisdreiecks zu verfolgen. Erst da beginnen
die Schwierigkeiten. Man muss den geflechtartigen Ursprung der Rotatorennerven
je nach seiner Breitenentwiekelung mehr oder weniger zurücklegen, um die Ur-
sprünge der Flexorennerven finden zu können. Sie sind zunächst als ganz flacher
Plexus fest auf die, jetzt schon zu zwei starken sekundären Bündeln vereinigten
Wurzelstränge des Tibialis aufgeheftet. Ihre Fasern kreuzen die des Tibialis spitz-
winklig, jedoch weniger steil als die der Rotatoreunerven. Am bequemsten lässt sich
der Nerv für das Caput longum bieipitis ablösen. Er nimmt stets den distalen (medi-
alen) Rand des Tibialis ein. Den Hauptteil seiner Fasern bezieht er aus S, und S,,
weniger aus S, (einmal auch ein Minimum aus S,) bei abnormem Verhalten des N.
furcalis, während bei normalen S, die Hauptwurzel bildet, aber auch noch aus L, ein
geringer Zuschuss hinzutritt. Manchmal ist dem Nerven für den Biceps long. der für
die proximale Hälfte des Semitendinosus angelagert; gewöhnlich aber schliesst sich
dieser dem Bündel der übrigen Flexorennerven an, die lateral - proximalwärts ge-
rechnet folgendermassen nebeneinander geordnet sind: Semitendinosus proximal, Semiten-
dinosus distal, Semimembranosus, Adduetor magnus. Die beiden letztgenannten sind
gewöhnlich wieder in einen Strang vereinigt. Bei diesen 4 Nerven gelingt die Lösung
von den Tibialiswuzeln ungleich schwerer. Man ist fast immer genötigt, den Tibialis
selbst etwas mehr auseinander zu nehmen. um die vielfach verflochtenen flachen
Ursprünge der genannten Nerven abheben zu können. Dann aber erkennt man, dass
bei abnormem N. furcalis der Semitendinosus besonders aus S,, weniger aus S,, der Se-
mimembranosus und Adduetor magnus aus L, und S, versorgt werden; bei normaler
Lage des N. furcalis nehmen die Nerven dann noch Elemente der nächsthöhern Plexus-
wurzeln auf.
= lat ——
Es darf hierbei aber nicht unerwähnt bleiben, dass sehr oft speciell die Ab-
lösung der proximalen Nervengruppen nur unvollständig gelingt, weil aus dem Ur-
sprungsgeflecht sich lateralwärts noch Zweige in den distalen Teil des Tibialis be-
geben. Ich habe aus Mangel an geeignetem Material Versuche, den ganzen Tibialis
aufzufasern, etwa wie W. Krause es mit dem Medianus gethan, bisher nur einige
anstellen können, aber diese haben mir doch ein überraschendes Resultat hinsichtlich
des Verbleibs der genannten Seitenzweige der Flexorennerven ergeben. Spaltet man
nämlich den N. communicans tibialis vom Tibialis, so lässt er sich ohne besondre
Schwierigkeiten bis in den Plexus ischiadieus hinein verfolgen. Er bildet da den
Distalrand des Tibialis, im besondern die mediale Hälfte des distalen sekundären
Truneus, der aus den beiden letzten Wurzeln entsteht. Die lateralen Zweige der
Flexorennerven gehen nun alle in den Communicans. Ich werde die Versuche, den
ganzen Tibialis aufzutrennen, bei Gelegenheit noch fortsetzen, vorläufig aber möchte
ich zu diesem Befunde nur bemerken, dass keine besondere Phantasie dazu gehört,
in dieser engen Verbindung der Flexorennerven mit dem N. communicans tibialis —
der Bicepsnerv geht zum grössten Teil direkt aus dem Communicans hervor — eine
ganz ähnliche und meiner Ansicht nach auch völlig homologe Bildung zu erkennen,
wie sie der N. museuloeutaneus brachii aufweist, wenn er in der Bahn des Medi-
anus verläuft. —
4. N. glutaeus superior.
Der N. glutaeus superior erhält seine Fasern von der Dorsalfläche der Peroneus-
wurzeln und zwar
Be aalsaN Ss ureahsnaus en N ee SS, lenmal SS
bei Ueberkreuzung (zwischen L, und L,) aus. . . .. LS: 8,
bei normalem N. furealis, aber geringem lumbosakralem
ANSchusss aus Abs una Hrssarh Tag DE SEES);
bei normalem N. furcalis mit mehr als '/, L, an den Plexus
Beladans.44 east: £ la 5 SEND. 5,
auch bei Ueberkreuzung zwischen L, und L..
Das Vorwärtsrücken des Nerven ist also sehr deutlich in den einzlen Stadien
ausgeprägt konform der proximalwärtsgehenden Verschiebung des ganzen Plexus.
Neben ganz einfachen Ursprüngen begegnet man sehr komplizirten Verhältnissen, in
denen der Nerv sich aus einem vielfach verflochtenen Plexus entwickelt. Stets er-
giebt die Auflösung der Vereinigungsstelle der verschiedenen Wurzeln ebenfalls eine
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 41
— 314 —
Durcheinanderflechtung der Fasern. Die distale Wurzel verläuft nicht selten isolirt
durch den M. pyriformis (s. d.), um erst ausserhalb des Beckens sich dem Haupt-
stamme anzuschliessen. Das Vorkommen von Zweigen an den Pyriformis ist bei
der Innervation dieses Muskels beschrieben. Einen Ast an den M. glutaeus maximus,
wie ihn Krause (Varietäten) als in der Norm vorhanden angiebt, habe ich bisher
nicht finden können. Auch für die von Weber-Hildebrandt (eitirt bei Henle) be-
obachtete Verbindung durch einen tiefern Zweig mit dem N. ischiadicus oder dem
N. eutaneus fem. posticus oder mit beiden zugleich, ist mir kein Beispiel vor Augen
gekommen. Versuche, die Nerven der einzlen Muskeln in dem N. glutaeus sup. zu
isoliren und auf den Plexus zu verfolgen, scheiterten an dem geflechtartigen Bau
des Nerven.
5. MN. glutaeus inferior.
Der N. glutaeus inferior entspringt wie der vorige von den dorsalen Trunei
der Plexuswurzeln in typischer Form. Seine Fasern anastomosiren vielfach unter
einander und bilden so ein plattes Geflecht, welches dem Peroneusanfang eng an-
liegt und dessen Bündel spitzwinklig kreuzt. Die proximalen Ursprungsbündel sind
von hinten her durch die distalen Ursprünge des N. glutaeus superior überdeckt.
Die Hauptwurzel des Glutaeus inf. liegt stets um einen Spinalnerven weiter distal als
die des glutaeus superior, und da der Nerv sich in derselben Weise wie der Letzt-
genannte mit der Verschiebung des N. furcalis proximalwärts bewegt, lassen sich
seine Ursprünge leicht aus denen des N. glutaeus superior ableiten. Ist L, der N.
furcalis, so kommt der Glutaeus inf. aus S, S, L, (nur einmal auch noch aus S,), ebenso
bei Ueberkreuzung aus L, und L;; bei normalem N. furcalis, aber geringem Zuschuss aus
ihm an den Truneus lumbosaeralis aus S, L, S,, endlich aus L, S, L, bei stärkerem Zuschuss
und bei Ueberkreuzung zwischen L, und L,. Es lässt sich zugleich nachweisen, dass die
distal gelegenen Theile des M. glutaeus maximus von weiter rückwärts entspringenden
Nervenfasern versorgt werden, die proximalen dagegen auch von mehr proximalen.
Mit dem N. glutaeus inferior bezw. dessen distalem Ursprung ist oft ein Theil
des N. eutaneus femoris postieus in Verbindung, doch allermeist so, dass er ohne
Schwierigkeit isoliert werden kann. Wir werden das Nähere bei Besprechung des
N. eutaneus fem. posticus auszuführen haben. — Alle Angaben über Innervation der
kotatorengruppe aus dem N. glutaeus inf. beruhen anf ungenauer Beobachtung, wie
bei der Erörterung der Rotatorennerven gezeigt ist; denn niemals kann ein so aus-
gesprochen dorsales Plexusderivat wie der Glutaeus inf. einen Muskel der ventralen
Gruppe versorgen.
315 ——
6. Die Nerven für den M. pyriformis.
Die Innervation des M. pyriformis genau festzustellen, während Muskel und
Plexus an Ort und Stelle belassen werden, ist selbst für einen geschiekten Präparator
schwierig und unter Umständen unmöglich, wie ich mich überzeugt habe. Deshalb ge-
brauchte ich, wo irgend es nicht etwa schon zu spät war, die Vorsicht, nach Durch-
schneidung der Plexuswurzeln den ganzen Muskel an Ursprung und Ansatz abzulösen und
mit dem Plexus zugleich aus der Leiche zu entfernen. Dabei erhielt ich mit Sicherheit
selbst die feinsten Nervenfäden, auch in allen Fällen, wo der M. pyriformis den Plexus
theilte, denn der Muskel wurde erst bei der Präparation unter Wasser behutsam
vom Plexus abgehoben. So konnten mich auch die zahlreichen kleinen Blutgefässe
dieser Gegend niemals irre führen, die oftmals erst aus der Plexusplatte heraus an
den Muskel treten.
Beim Vergleichen der vorhandenen Angaben mit meinen Befunden stellt sich
heraus, dass dem Pyriformis durchweg zu wenig Nerven zugetheilt worden sind, ausser
bei älteren Autoren (Weber-Hildebrand), welche mehrere Fäden aus S, S,; und S;
die Innervation besorgen lassen. Henle erwähnt nur einen Nerven von der Hinter-
fläche des $;, Schwalbe einen aus S, und daneben zuweilen einen accessorischen
Faden aus dem von S, abzuleitenden Theile des N. glutaeus superior. Sonst findet
sich häufig nur der Zweig aus dem N. glutaeus sup. genannt. Neuerdings hat dann
Paterson den Nerven aus dem Ende des dorsalen Truncus von S, vor der Ver-
einigung mit dem Peroneus beschrieben und gezeichnet (und nach ihm Gegenbaur
in seinem Schema).
In der Hauptsache liefern die dorsalen Trunei von S, und S, die Nerven für
unsern Muskel. Ein Einfluss der Lage des N. furcalis auf den Ursprung dieser
Nerven ist hier viel weniger deutlich zu bemerken als sonst. Denn obgleich in den
abnorm gebauten Plexus S, die grössere Fasermenge zubringt, handelt es sich doch
dabei zumeist auch um Wirbelsäulen mit 18 Dorsolumbarwirbeln. Da kann der
Muskel sogar ganz von S, versorgt werden. S, wird auch in dem normalen Plexus
erst zum Hauptnerven für den Pyriformis, wenn L, mehr als ein Viertel seiner Masse
an den Plexus ischiadieus schickt, und übernimmt dann ebenfalls oft allein die Inner-
vation. Hier, aber auch schon vorher, leistet L, gelegentlich einen geringen Zuschuss,
sehr viel seltner dagegen kommt ein minimales Fädchen aus S, zur Beobachtung.
Oft entspringen die Nerven direkt aus den dorsalen T'runeis entweder als ein
oder zwei stärkere Stämmchen oder als ein Büschel feiner Fäden. Sie bilden häufig
innerhalb des Muskels noch mehrfach untereinander anastomosirende Schlingen. Ein
41*
—— a6 ———
Theil der Fäden kann, besonders wenn aus S, und L, noch Fasern bezogen werden,
der letzten Wurzel des N. glutaeus superior anf eine Strecke verbunden sein. Selten
geht ein kleiner Zweig erst vom Anfang des N. glutaeus inf. ab. Mehrere Male wurde
ich durch einen kräftigen Nerven überrascht, der die Muskelmasse des Pyriformis
durchsetzte, auf diesem Wege ein Anzahl Pyriformisnervchen abgab und zuletzt sich
dem N. glutaeus superior anschloss. Eine solche ziemlich kurze und versteckt ver-
laufende Schlinge veranlasst bei oberflächlicher Präparation leicht zu der falschen
Annahme, dass es sich hier lediglich um einen starken Pyriformisnerven handle (Fig.
3, 8, 30, 34). — Auch im Falle der Pyriformis vom N. peroneus in 2 Portionen
zerlegt wird, erscheinen die Nerven meist an der gewöhnlichen Stelle als am weitesten
dorsal gelegene Plexusderivate. Etliche Male jedoch erhielt die ventrale Portion des
Muskels ihren Nerven von der ventralen Fläche der dorsalen Trunei; der Nerv lag
also zwischen Peroneus- nnd Tibialisursprung. Einmal auch ging bei gespaltenem
Pyriformis der regulär entspringende Nerv vor der Ursprungspartie der ventralen
Portion steil herab und gelangte erst um deren Distalrand zur dorsalen Muskelhälfte.
7. MN. peroneus.
Der Ursprung des N. peroneus wird von Paterson vom 4. Lumbar- bis 2.
Sacralnerven gerechnet, während Asp S, nur selten betheiligt gefunden hat. Der
Letztere untersuchte augenscheinlich mehr Plexus, in denen sich über die Hälfte des
4. Lendennerven an den Plexus sacralis begab. Für solche Fälle notire ich den Ur-
sprung der Wurzelstärke nach aus L, L, S.. Bei Ueberkreuzung aus L, und L,
nimmt diese Formel noch L, an letzter Stelle auf. Bei Verringerung des lumbo-
sacralen Zuschusses aus dem normalen N. furcalis dagegen ist eine Wurzel aus S,
konstant vorhanden, allerdings zunächst noch von grosser Zartheit und mit der letzten
Wurzel des N. glutaeus inferior vereinigt, unter dem sie dann den Distalrand des
Peroneus als feines Fädchen erreicht, sodass also der Peroneus in solchem Falle
aus L, S, L, S, oder aus L, S, S, L, stammen kann. Bei Ueberkreuzung aus L,
und L, rückt der Ursprung auf S, L, S,; (L,) und bei Verschiebung des N, furealis
auf L, betheiligt sich S, gelegentlich stärker als L,, einmal kam sogar noch ein
Fädchen aus S, hinzu, sodass die Wurzeln sich S, 8, L; (S;) folgen. — Bei der Be-
stimmung der Stärke der Peroneusursprünge hat man natürlich die dem Peroneus
dieht aufliegenden und etwas umständlich davon zu isolirenden Wurzeln des N. glu-
taeus inferior abzuziehen.
Vergleicht man Peroneus und Tibialis in den entsprechenden Stadien, so sieht
man immer die Hauptwurzel des Peroneus um einen Spinalnerven weiter proximal
gelegen als die des Tibialis in demselben Plexus.
Dem Peroneus war in einigen wenigen Fällen auf eine Strecke eine dünne
Portion des N. eutaneus femoris postieus u. zw. ein N. elunium inferior angeschlossen,
liess sich aber stets ohne Mühe rückwärts auf den Plexus verfolgen. Dagegen habe
ich den Nerven für den kurzen Bicepskopf stets vergeblich abzuspalten gesucht; es
ist unmöglich, ihn weiter als bis in die Höhe des 'Tuber ischii frei zu legen.
8. NM. ceutaneus femoris posticus (Fig. 7, 8, 9, 11, 27).
Der N. eutaneus fem. posticus verlangt eine gesonderte Behandlung, da er sich
nicht einfach unter die ventralen oder dorsalen Plexusderivate unterbringen lässt,
sondern Fasern aus beiden Schichten in sich vereinigt. Ich habe deshalb schon in
meiner vorläufigen Mittheilung vorgeschlagen, den von Luschka diesem Nerven bei-
gelegten Namen „N. cutaneus femoris posticus communis“ wieder aufzunehmen, da
mir eine Zusatzbenennung nothwendig erscheint, um auf die Eigenthümlichkeit seiner
Konstitution hinzuweisen.
Vor dem Bekanntwerden der Spaltbarkeit des Plexus in Dorsal- und Ventral-
hälfte hatte man sich darauf beschränkt, einfach durch Säuberung der gröblich frei-
liegenden Nervenbündel den Ursprung des Nerven von der hintern Fläche des Plexus
festzustellen. Dass der Ursprung geflechtartig gestaltet sei (Henle, Merkel) und
distal vom N. glutaeus inferior liege (Schwalbe), war dabei auch ohne Mühe zu er-
kennen. Diese Angaben sind wohl für die einfache deskriptive Anatomie ausreichend,
können aber bei Betrachtung des morphologischen Wertes und bei vergleichend ana-
tomischer Untersuchung der Plexusderivate nicht bestehen bleiben. Sobald man einen
Plexus sacralis aufspaltet oder einen durch den M. pyriformis getheilten Plexus be-
arbeitet, wie es Paterson und Asp gethan, muss ohne Weiteres die Verschiedenheit
der Wurzeln des N. cutaneus fem. posticus auffallen, denn in dem letztgenannten Falle
bleibt die ventrale Wurzel des Nerven immer ventral zum vorderen Bauch des Pyri-
formis orientirt, während nur die dorsale Wurzel mit dem Peroneus durch den Pyri-
formis hindurchgeht. So finde ich es wenigstens in 23 natürlich gespaltenen Plexus.
Anderseits macht sich, sobald man in Erwägung über die Verbreitungsbezirke der
dorsalen und ventralen Plexusderivate eintritt, wie Paterson, doch die Ueberlegung
geltend, dass die Haut über Muskelgruppen, die von dorsalen Nerven versorgt werden,
nothwendig auch dem dorsalen Innervationsgebiet angehören muss und vice versa.
Die Gruppe der Gesässmuskeln bezieht ihre Nerven aus der dorsalen Plexushälfte,
die Nn. elunium inferiores sind, wie wir gleich sehen werden, ebenfalls dorsale Plexus-
derivate: der M. vastus lateralis und der kurze Kopf des Biceps werden von dorsalen
Nerven versorgt, die darüber gelegene Haut ebenfalls. Dahingegen gehören die
langen Flexores eruris ebenso wie die Adduetores femoris dem ventralen Innervations-
gebiet an, die entsprechende Hautpartie erhält ebenfalls nur ventrale Nerven. Die
Grenze der beiden Gebiete ist durch eine Linie angegeben, welche vom Tuber ischii
entlang dem distalen Rande des M. glutaeus maximus bis zur Insertion und von da
abwärts medial am Capitulum fibulae vorüber auf den Unterschenkel läuft. — Paterson
korrigirt sich übrigens in seiner Arbeit über die Lage der Extremitäten insofern, als er
da den N. cutaneus fem. postieus nieht mehr für rein dorsal erklärt, sondern wenigstens
für den Menschen als eine Komposition dorsaler (an die Gesässhaut) und ventraler Ele-
mente (an den Schenkel). Diese Verbesserung ist aber noch keine durchgreifende,
denn auch die Schenkelhaut erhält dorsale Zweige. Es scheint mir übrigens un-
statthaft, beim Menschen den Cutaneus fem. postieus zu dem Plexus pudendalis zu
rechnen, wie Paterson es thut. Zu einer solchen Ansicht können wir auch durch
vergleichend anatomische Betrachtungen nicht genöthigt werden.
Die Abhängigkeit des Ursprungs unsres Nerven von der Lage des N. furealis
bedarf kaum der Erwähnung. Der Nerv schliesst sich darin den übrigen Extremi-
tätennerven vollständig an. Daher erklären sich auch die Differenzen in den vor-
handenen Angaben. So bezeichnet Luschka die zwei oberen, Krause selten auch
den dritten. Schwalbe und Paterson den 2. und 3., Henle und Gegenbaur den
3. Sakralnerven und einen Ast des N. glutaeus inferior. Asp endlich den 1., 2. und
oft den 3. Sakralnerven als Ursprungsgebiet. Das Gegenbaur’sche Schema würde
dahin zu verändern sein, dass die distale Wurzel aus S, dorsal zu dem N. pudendus
gelegt wird. Denn die, wie oben bemerkt, überall verzeichnete Beobachtung, dass
der Cutaneus fem. post. sieh von der dorsalen Fläche des Plexus entwiekle, ist zu-
nächst als sicher zu betrachten.
Die dorsale Portion fällt am ersten ins Auge. Ihre Fasern sind zumeist auf
grössere oder kleinere Strecke der letzten Wurzel des Peroneus oder des N. glutaeus
inf. angeschlossen, wenigstens bei normalem N. furcalis. Sie können aber auch ganz
unabhängig vom Anfang des betreffenden Spinalnerven entspringen und, besonders
bei Verschiebungen des N. furcalis, auch noch aus der nächsten distalen Plexus-
wurzel verstärkt werden. Dies letztere geschieht immer, wenn ein isolirter N. perfo-
rans ligamenti sacrotuberosi (s. d.) nicht vorhanden ist. Nimmt man dazu den Um-
stand, dass ein Teil dieser Portion gelegentlich eine längere Strecke dem Peroneus
319 ——
angelagert bleibt, auch noch Fasern aus ihm bezieht, dass ferner nur diese Portion
bei natürlich gespaltenem Plexus mit dem Peroneus durch den Pyriformis geht, sie
somit auch bei künstlicher Aufspaltung mit den dorsalen Trunci zusammenhangt, und
dass endlich von ihr ausschliesslich Hautpartien über Muskeln, die von der dorsalen
Plexushälfte versorgt sind, innervirt werden, so kann über die morphologische Digni-
tät dieses Teiles des Cutaneus fem. post. meiner Ansicht nach kaum ein Zweifel be-
stehen. Im einzlen ordnen sich die Wurzelbündel der Stärke nach bei Verschiebung
des N. furealis auf L,;: S; S,, bei Ueberkreuzung zwischen L, und L,: S, S,, aber
auch sehon S, S, (S,), wie bei normalem N. furcalis mit ganz dünnem lumbosakralen
Zusehuss, während mit wachsender Stärke dieses Zuschusses die Formel von 8; S,
auf S, S, und zuletzt auf S, S, L, übergeht; bei Ueberkreuzung zwischen L, und L,
endlich rückt der Ursprung auf S, L; S;.
Stellt man neben diese Reihe die entsprechenden Ursprünge der ventralen
Portion des Cutaneus fem. post., so folgen aufeinander: 88,8 — 8,8 — 88;
(S) — 8 8: (S:) — 8, 8. Wie man sieht, reichen die Wurzelbündel der ventralen
Portion gewöhnlich (abgesehen von den letzten Stadien) um einen Spinalnerven
weiter distal als die der dorsalen Portion. — Der Cutaneus fem. posticus communis
als Ganzes betrachtet, ohne Berücksichtigung der Theilbarkeit in die beiden Portionen,
zeigt uns in derselben Reihenfolge wie vorher die Formeln: S, 8, 5, — 8; 8, 5, —
5,88 = 8% — SS — SS — S; SL, sodass wir unschwer die oben
aufgeführten Angaben der verschiedenen Autoren unterbringen können.
Doch kehren wir zunächst zu der ventralen Portion zurück. Ihr Ursprung
wird an einem nur oberflächlich gesäuberten Plexus abgesehen vom Epineurium
häufig noch durch die dorsale Portion vollständig bedeckt. Sie entwickelt sich an
der Hinterfläche der ventralen Plexushälfte gerade da, wo einerseits die letzte Wurzel
des Tibialis in den Plexus tritt, anderseits die proximalen Wurzeln des Pudendus
aus ihm absteigen. Meist sind mehrere kleine Stämmchen aneinander geheftet, die
sich dann nach kurzem Verlaufe der dorsalen Portion anschliessen. Nur bei voll-
ständiger Entfernung des Epineurium sind die Quellen für diese Fasern zu be-
stimmen. Recht charakteristisch für ihre Zugehörigkeit zum Tibialisgebiet ist es, dass
manchmal ein Bündel noch eine Strecke weit dem Distalrand des Tibialis angelagert
bleibt oder daraus entspringt. Hin und wieder findet man auch eine dünne Wurzel,
die von der Ventralfläche des Tibialis kommt. Doch erscheinen mir diese Varianten
nicht so bedeutsam wie der Nachweis, dass die ganze ventrale Portion sich zu-
sammen mit dem N. communicans tibialis aus dem Tibialis herauslösen lässt. Da-
—— Bl
durch erhält man zugleich eine Erklärung für die gelegentliche Erweiterung des In-
nervationsgebietes des Cutaneus fem. post. bis herab in das untre Drittel der Wade. —
Im übrigen verteilt sich die ventrale Portion des Cutaneus fem. post. noch an die
mediale hintre Partie des Oberschenkels und an das Perineum, u. zw. gelangen an
Perineum und proximale Theile des Schenkels die distal entspringenden Fasern. In
ähnlicher Weise gehen von der dorsalen Portion an die distalen Partien des Schenkels
bezw. Gesässes hauptsächlich proximale Fasern und vice versa.
So sicher und klar nun aber die (dorsalen) Nervi cutanei elunium inferiores
von dem (ventralen) N. cutaneus perinei zu trennen sind, so darf doch nicht über-
gangen werden, dass an zwei Stellen dorsale und ventrale Fasern sich durch Ana-
stomosen unlösbar verflechten. Das ist einmal in geringerm Grade der Fall zwischen
dem lateralen und medialen Stamm des eigentlichen Cutaneus femoris posticus. Man
findet zwar nicht selten diese beiden in ganzer Länge isolirbar, meist aber tauschen
sie nicht weit vom Plexus ein paar dünne Fasern aus. Viel komplizirter sind die
verhältnissmässig zarten Nerven, welche die Haut in der Gegend des Tuber ischü
versorgen, unter einander verbunden, ebenfalls schon dieht am Plexus. Können nun
diese T'hatsachen einen Zweifel in der Annahme eines dorsalen und ventralen Ab-
schnittes des Cutaneus fem. post. begründen? Ich glaube nicht. Denn wir sehen
ja an der Oberextremität, wo die Verhältnisse klarer liegen, in gleicher Weise Ana-
stomosenbildung an den Grenzen der Innervationsgebiete nicht nur zwischen gleich-
wertigen, also rein ventralen oder rein dorsalen Nerven, sondern ‚auch zwischen dorsalen
und ventralen auftreten, wie z. B. zwischen dem N. radialis und Cutaneus lateralis
oder zwischen Radialis und Ulnaris. Auch in unsern Fällen handelt es sich um
Nerven zu den Grenzen zwischen dorsalem und ventralem Innervationsgebiet.
Ueber den peripheren Verlauf der Aeste des N. eutaneus fem. post. comm. sei:
nur noch einer Eigenthümlichkeit des N. eutaneus perinei Erwähnung gethan. Bei
seinem typischen Wege über das Tuber ischii medialwärts geschieht es nicht selten,
dass er auf eine Strecke das Lig. sacrotuberosum in der Nähe von dessen Tuber-
insertion durchbohrt.
Die Benennung der Hautnerven des untern lateralen Gesässgebietes, der Nn.
eut. elunium inferiores, würde zweckmässig dahin zu vervollständigen sein, dass man
in Rücksicht auf den Nerven an die mediale Gesässhaut, den gleich zu bespreehenden
sog. N. perforans lig. sacrotuberosi, ein spezifizirendes „laterales“ anhängt. Auch die
Nerven der Schenkelhaut zerfallen gemäss ihrer Spaltbarkeit in einen N. eutan. fem.
post. lateralis und medialis; von dem Anfange des letztern wendet sich der N. eut.
perinei lateralis medialwärts gegen den Damm.
— 5
9. MN. perforans ligamenti sacrotuberosi (Schwalbe.)
Der N. perforans lig. sacrotuberosi gehört zu den wenig bekannten Hautästen
des Plexus sacralis trotz seines häufigen Vorkommens und seines gut umgrenzten
Verbreitungsgebietes. Schwalbe gebührt das Verdienst, wieder auf ihn aufmerksam
gemacht zu haben, nachdem er, wenn auch unter anderm Namen von Voigt 1864
zuerst beschrieben worden war. Schwalbe weist darauf hin, dass die von ihm
reproduzirte Figur der Dammnerven aus Hirschfeld und Leveille& die peripheren
Aeste des Nerven ohne Bezeichnung enthält, und behandelt den N. perforans als
Theil des N. pudendohaemorrhoidalis. Danach entsteht er aus dem letztern entweder
schon innerhalb der Beckenhöhle oder beim Austritt des Pudendus aus dem Foramen
ischiadieum maius, und ist auf Fasern aus S, und S, zurückzuführen. Er geht durch
die Mitte des Ligamentum sacrotuberosum schräg von innen nach aussen. Barde-
leben, der Schwalbe’s Angaben folgt. lässt den Perforans ganz zu Anfang aus
dem N. pudendus entspringen und sich an die mittlere mediale Gegend des Gesässes
verbreiten. Voigt hatte den Nerven als grössten aus der Gruppe der Nn. cutanei
perforantes, welche den vorderen Aesten der 3.—5. Sacral- und der beiden Steiss-
nerven entstammen, herausgehoben, seinen Ursprung aus S;, mehr noch aus S, fest-
gestellt und ihm den Namen „N. cutaneus clunium internus superior“ verliehen. Er
sollte gewöhnlich den verschmolzenen Theil der Ligg. sacrotuberosum und sacro-
spinosum durchbohren, den untern Rand des M. glutaeus max. umschlingen und mit
seinen Aesten anf- und abwärts verlaufen, um in einer „fügelartigen“ Hautpartie
medial über dem Gesäss zu enden. Voigt trennt den Nerven ausdrücklich von den
übrigen Nn. perforantes, die sich in der Haut der Gesässrinne um das Steissbein herum
vertheilen (s. Plex. eoceygeus), rechnet ihn aber mit diesen zum unteren Verästelungs-
gebiet des Beckens. Setzen wir diese letzte Behauptung vorläufig bei Seite, so ist
das thatsächliche Verbreitungsgebiet unseres Nerven von Voigt recht gut angegeben.
Es fragt sich nur, ob der N. perforans der beiden Autoren Voigt und Schwalbe der
gleiche ist, ferner, welchen von beiden angegebenen Wegen der Nerv nimmt, um an
die Gesässhaut zu gelangen; drittens, ob die mit Bestimmtheit umgrenzte Hautpartie
auch stets von dem in Rede stehenden Nerven versorgt wird. — Die erste Frage
würde wohl insofern zu bejahen sein, als beide Autoren den Ursprung des Nerven
auf S, und S, verlegen; doch ist es mir sehr zweifelhaft, wird wenigstens aus der
Beschreibung nicht klar, ob Voigt den Nerven auch vom N. pudendus abgehen sah,
Bezüglich des Weges haben Beide Recht, denn der Nerv kann nach meinen Be-
obachtungen sowohl durch das Lig. sacrotuberosum als zwischen diesem und dem
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 42
Lig. sacrospinosum verlaufen, ausserdem aber finde ich ihn auch noch einfach dorsal
zum Lig. sacrotuberosum, sodass er also nicht das Ligament, sondern die von dem-
selben entspringende Portion des M. glutaeus maximus durchbohrt. — Zur Beant-
wortung der dritten Frage können wir die beim Lendengeflecht eitirten Auslassungen
Voigt’s heranziehen, nach denen die Nervenendbezirke immer dieselben bleiben, die
dahin gelangenden Nervenfasern aber verschiedene Wege einschlagen können. An
der „fHügelartigen“ Hautpartie des Gesässes lässt sich dies recht gut demonstriren,
denn abgesehen davon, dass der Nerv dieses Gebietes keineswegs immer ein Perforans
ist, laufen seine Fasern bald ganz oder theilweise in der Bahn des N. eutaneus fem.
post. d.h. mit den Nn. elunium inferiores, bald erscheinen sie zu einem Theile in
einem isolirten N. perforans coceygeus maior, bald entsteht der Nerv ganz oder zum
Theil aus dem Anfange des N. pudendus.
Bei solcher Veränderlichkeit müssen wir wohl die einzelnen Fälle etwas näher
ins Auge fassen. — Was zuerst die Bezeichnung „N. perforans lig. sacrotuberosi“
anbetrifft, so passt sie nur, wenn der Nerv wirklich das Ligament durchbohrt. Das
kommt nun ziemlich häufig zur Beobachtung, und der Nerv läuft dann gewöhnlich
neben einem Aste des A. pudenda durch einen (bis 15 mm) breiten, glattwandigen
Kanal*) ungefähr 2 em lateral vom Steissbeinrand im Lig. sacrotuberosum, meist
durch dessen ganze Breite, um sich am Distalrand aufwärts zu wenden. Der Nerv
bricht aber vielleicht ebenso oft zwischen den Ligg. sacrotuberosum und sacrospinosum
nach aussen durch, entweder allem oder mit einem Bündel des N. pudendus für die
Haut des Perineum oder mit dem N. haemorrhoidalis. Er verdient dann seinen Namen
ebensowenig, wie wenn er dorsal zu dem Lig. sacrotuberosum durch den Ursprung
des M. glutaeus maximus verläuft. Ausserdem aber giebt es noch andere Nerven,
welche gelegentlich das Lig. sacrotuberosum durchsetzen, so z. B. der Ram. perinealis
des Cutaneus fem. postieus nahe am Tuberansatz des Bandes, oder die in einem
gemeinsamen Stamm zusammengefassten Nn. sacrales posteriores nahe am Sakrum.
Aus diesem Grunde und zugleich wegen seiner engen Beziehungen zu den Nn. eu-
tanei elunium inferiores, wie wir gleich sehen werden, halte ich es für richtiger, den
Nerven nach seinem Endgebiet als „N. cutaneus elunium inferior medialis zu bezeichnen,
ein Name, der über den Verlauf nichts präjudizirt. Für die weitere Beschreibung
hier mag vorläufig der Name ‚„perforans“ beibehalten werden.
Unter 34 speciell daraufhin bearbeiteten Plexus fanden sich nun 22 selbständige
*) Der Kanal kann auch für die Arterie allein vorhanden sein, ohne dass ein Nerv sie begleitet.
Nn. perforantes verschiedenen Durchgangs, wie eben beschrieben, aber ziemlich gleich-
werthig im Verbreitungsgebiet. Zur Feststellung der Identität dieser Perforantes mit
den in Frage kommenden Nerven Voigt's und Schwalbe's kann ich mich natürlich
nur genau an die gegebenen Beschreibungen halten, und danach würde Schwalbe'’s
Perforans unter dieser Zahl nur dreimal vertreten sein, Voigt’s Nerv aber zu einer
ganz anderen Gruppe, den Nn. perforantes coceygei, gerechnet werden müssen, die
unter die 22 nicht mit einbegriffen sind. In den Fällen, wo der Nerv in Ueberein-
stimmung mit Schwalbe zu dem N. pudendus gehört, entspringt er zweimal von
dessen Anfang, und zwar dorsal, einmal löst er sich von einem Aste des Pudendus,
während dieser das proximale Ende des Lig. sacrotuberosum durchbohrt (Fig. 3, 11).
Bei allen dreien bezieht er seine Fasern aus S, und S,, nicht aus S,. Sämtliche
übrige Fälle lassen den Perforans bis auf die Plexuswurzeln weit proximalwärts ver-
folgen und leicht von der Nachbarschaft isoliren. Der Nerv läuft stets dorsal zum
Plexus und zeigt im Ursprung deutlich die Abhängigkeit von der Verschiebung des
N. furealis, indem seine Fasern bei abnormem N. furcalis (L,) hauptsächlich aus S;
abzuleiten sind, ebenso bei normalem Plexusübergang mit geringem lumbosacralem
Bündel des L,. Je stärker dann das letztere wird, um so bestimmter rückt der Ur-
sprung des Perforans auf S,. Ein einfacher Ursprung aus S; bezw. S, scheint ebenso
häufig vorzukommen, als ein doppelter aus S; S; bezw. S, S,. Nur einmal trat auch
ein minimales Faserbündel aus S, hinzu (Fig. 8). Sonst beobachtete ich noch an
dem Nerven mehrere Male eine Abspaltung kleiner seitlicher Zweige innerhalb des
Beckens, die lateral vom Hauptnerven das Ligam. sacrotuberosum durchsetzten (Fig. 13).
— Einmal sah ich ausserhalb des Beckens eine Anastomose zwischen einem Zweige
des Perforans und dem Ramus perinealis pudendi.
Die Stärke des Nerven variirt ein wenig, aber innerhalb mässiger Grenzen.
— Der typische Perforans meiner Beobachtung passt also nicht auf den Perforans
Schwalbe’s: doch bedeutet meiner Ansicht nach die Variante im Austritt aus dem
Plexus keinen tiefern Unterschied, sondern es verlaufen in Schwalbe’s Fällen ein-
fach die Fasern noch bis zum Anfange des Pudendus in der letzten Plexuswurzel, in
welcher ventrale und dorsale Elemente nur höchst unvollkommen getrennt werden können.
Wie weit dabei noch ein innerer Zusammenhang zwischen Pudendus und Perforans
ins Gewicht fällt, werden wir am Schlusse dieser Arbeit bei der Erörterung der
Homologien zwischen Plexus- und Interkostalnerven erfahren. Zu den dorsalen Ele-
menten müssen wir den Nerven, abgesehen von seinem Endgebiet, schon deshalb
rechnen, weil er öfter innerhalb des Beckens der letzten Wurzel der dorsalen Portion
42*
Ba —
des N. cutaneus fem. posticus — speziell dem N. eutaneus elunium, der die Haut
über der Mitte des Glutaeus maximus versorgt — angeschlossen ist oder auch noch
vor dem Austritt eine Anastomose an dieselbe sendet (Fig. 27, 9). Ganz direkt
werden wir aber auf eine derartige Zusammengehörigkeit durch Befunde hingewiesen,
wo auf der einen Seite ein typischer Perforans ausgebildet ist, auf der andern Seite
derselben Leiche dagegen erst ausserhalb des Beckens sich vom N. cutaneus fem. post.
ein Ast abspaltet, der dorsal vom Tuber oder vom Tuberansatz des Lig. sacrotubero-
sum unter dem Glutaeus maximus wegzieht, um die gleiche Hautpartie wie der ander-
seitige Perforans zu versorgen. Es ist dann nieht schwer bei Auflösung des N. eu-
taneus fem. posticus die Identität der beiderseitigen Nerven auch im Ursprung festzustellen.
Nach diesen Auseinandersetzungen könnte es vielleicht scheinen, als ob Voigt
irrthümliche Angaben über den Nerven seines „Hügelartigen“ Hautbezirkes gemacht
hätte. Wir würden unserm Vorsatze untreu werden, wollten wir nicht versuchen zu
vermitteln. Und die Einigung ist leicht zu Stande zu bringen, wenn beide Theile
ein wenig nachgeben. Voigt’s flügelartige Erweiterung seines sog. unteren Ver-
ästelungsgebietes des Beckens ist nämlich von geringerem Umfange als das Gebiet
des Schwalbe’schen und unsres typischen Perforans. Den N. eutan. elunium internus
superior Voigt’s, „den grössten der hauptsächlich an die Haut der Gesässrinne in
der Umgebung des Steissbeins gehenden Nn. eutanei perforantes, findet man in Plexus
mit normalem N. furcalis, starkem Zuschuss aus L, an den Plexus sacralis und
mangelndem typischem Perforans am schönsten ausgebildet, besonders auch betreffs des
Verbreitungsbezirkes (Fig. 6, 7). Mit starker Wurzel aus S,, schwächerer aus S, und
gelegentlicher kleiner Zugabe auch noch aus S, stammend, bohrt sich dieser Nerv
nach kürzerem oder längerem Verlauf über dem M. coceygeus durch diesen Muskel
und durch das Lig. sacrospinosum, geht zwischen diesem und dem Lig. sacrotuberosum
hindurch und steigt dann medial vom Tuber ischii um den Distalrand des M. glu-
taeus maximus herum schräg lateral aufwärts. Er versorgt den proximalen Theil
der Gesässrinne durch kürzere Zweige, reicht aber lateralwärts nicht so weit auf das
Gesäss, wie unser typischer Perforans, sondern wird da noch supplirt durch einen
am Tuber aufsteigenden Zweig der Nn. eutan. elunium inf. Der Nerv ist schwach
und greift nur wenig über die Gesässrinne hinaus, sobald ein kräftiger typischer
Perforans vorhanden ist, auch rückt er bei abnormer Lage des N. furcalis mit seinem
Ursprung mehr distalwärts, sodass die Fasern aus S, schwinden, dagegen aus S, neue
hinzutreten. Das Verhalten zu den beiden Ligamenten ist kein konstantes; der Nerv
kann z. B. nur den Distalrand des Lig. sacrospinosum durehbohren oder auch einfach
distal um diesen Rand nach aussen gelangen.
Der ganzen Lage nach gehört der Nerv zusammen mit den Derivaten des Plexus
coceygeus, den Nn. perforantes coceygei, und ist, gleichviel ob er sich mehr oder
weniger weit in die Gesässhaut lateral erstreckt, stets als der erste, kräftigste dieser
Nerven zu erkennen. Ich möchte ihn daher als N. perforans eoceygeus maior be-
zeichnen (s. auch bei Plex. coceygeus).
Vergleiche ich den von mir beim Gorilla beschriebenen Perforans mit den
hier geschilderten Formen, so entspricht er am meisten dem Voigt’schen Nerven,
denn er ist dort beiderseits zum Plexus eoceygeus zu rechnen. Bei der geringen
Entwicklung des Gesässes des Gorilla deckt sich das Verbreitungsgebiet allerdings
nicht ohne weiteres mit dem unsres typischen Perforans, auch habe ich damals an dem
abgehäuteten T'hiere die Grenzen dieses Gebietes nicht genauer feststellen können. |
10. Plexus pudendalis.
So leicht sich das Verbreitungsgebiet der dem Plexus pudendalis entstammenden
Nerven von dem des Plexus ischiadieus abgrenzen lässt, so schwierig wird es die
Ursprünge der beiden Geflechte von einander zu trennen. Wohl aus diesem Grunde
hat Henle einfach einen N. pudendohaemorrhoidalis als Theil des Plexus sacralis an-
genommen, die Plexusbildung nur nebenbei berücksichtigend, während Andere, z. B.
Schwalbe und Gegenbaur, bestimmt den Plexus sacralis in einen Plexus ischia-
dieus und pudendalis zerlegen. Im Hinblick auf die Verbreitungsbezirke wird man
letzterer Ansicht beipflichten müssen; lösen wir aber das Geflecht am Ursprung nach
Möglichkeit in seine Bestandtheile auf. so erscheint uns der Plexus pudendalis nicht
einfach als unterer Anhang des Plexus ischiadieus (Hyrtl), sondern er ist in diesen
ein Stück hineingeschoben. Nach Schwalbe besteht der Plexus pudendalis besonders
aus S, und S,, die durch eine Schlinge mit S, verbunden sind, seltner kommt noch
ein Zuschuss aus S, hinzu. Gegenbaur rechnet S,, S,, C und Bestandtheile von
S, und S,, auch Henle giebt als proximale Grenze S, an und Asp, der eine Grenze
zwischen Plexus ischiadieus und pudendalis in Abrede stellt, lässt den N. pudendus
aus S, und S,, bisweilen auch aus S, entstehen. Der Hauptnerv des Geflechts ist
der N. pudendohaemorrhoidalis, dessen drei Aeste von der Peripherie her meist leicht
auseinander gelegt werden können. Dabei finde ich aber durchweg einen engeren
Zusammenschluss des N. penis mit dem N. perinei, während der N. haemorrhoidalis
sich, wie auch vielfach beschrieben, häufig schon im Becken von den beiden andern
—
trennt. Ich habe deshalb im Folgenden einfach einen N. pudendus von einem N.
haemorrhoidalis unterschieden. Der N. penis ist mit seinen Ursprüngen ventral zu
denen des N. perinei, und dieser wiederum ventral zu den Wurzeln des N. haemorrhoi-
dalis orientirt. Zugleich begreift der N. penis die am weitesten proximal, der N. hae-
morrhoidalis die am weitesten distal entspringenden Fasern in sich; der N. perinei,
der stärkste von den dreien, wird meist aus allen in Frage kommenden Plexuswurzeln
gespeist. Die Hauptwurzel stammt, wenn wir von dem ganzen N. pudendohaemorrhoi-
dalis ausgehen, fast durchweg aus S,, ohne dass damit die Abhängigkeit des Ursprungs
von der Lage des N. furcalis bezw. der Verschiebung des Plexus lumbosaeralis in
Abrede gestellt würde. Denn wir sehen bei sehr starkem lumbosaeralem Zuschuss
aus dem normalen N. furealis und bei Ueberkreuzung zwischen L, und L, die Haupt-
wurzel des Pudendohaemorrhoidalis auf S, rücken. Dazu kommen dann noch Bei-
träge aus 8, S;, S,, seltener noch aus L,, niemals aus S,. Im Einzelnen entspringt
der N. pudendus bei abnormem N. furcalis (L,) aus S, S, 8; S,, bei Ueberkreuzung
zwischen L, und L, und bei geringem Zuschuss des normalen N. furcalis an den
Plexus sacralis aus S, S; S, S,, weiter mit wachsender Zuschussportion aus S, 8;
Ss 8, — 8 88: L — 8 8, S, L;, letzteres auch bei Ueberkreuzung: zwischen
L, und L.. In gleicher Weise rückt der N. haemorrhoidalis von S, S, auf 8, 5; 8;
— 8,88 — 8, S S} — 8, 8. Das Vorwärtsrücken des N. pudendohaemorrhoi-
dalis in Abhängigkeit von der Verschiebung des ganzen Plexus lumbosacralis ist danach
ebensowenig zweifelhaft, wie die konstante Betheiligung des 1. und 2. Sacralnerven
an seiner Bildung. Die Wurzel aus S, ist immer leicht nachzuweisen, die aus S,
allerdings in weit distal gerückten Plexus ebenso wie die aus L, nur bei sauberer
Ablösung der Ursprünge der Nerven für Obturator internns und Gemellus superior,
denn sie steckt entweder zwischen diesen und den Tibialiswurzeln, oder ist direkt
einem der ersteren oder auch einem Wurzelfaden des Nerven für den langen Biceps-
kopf angeschlossen und oft ausserordentlich zart. Diese erste Wurzel des Pudendus
gelangt typisch in den N. penis. Die proximalen Ursprünge des Pudendus liegen
stets ventral zur letzten Tibialiswurzel und nieht dorsal, wie Paterson und nach
ihm Gegenbaur es zeichnen. Dadurch charakterisirt sich der Nerv als ventrales
Plexusderivat, auch wenn S, nicht mehr so deutlich wie die vorhergehenden Sacral-
nerven in dorsalen und ventralen Truncus zerlegbar ist.
Aus dem Vorstehenden erhellt, dass v. Jhering’s N. bigeminus, „der erste
Nerv des Plexus sacralis, der sowohl in den N. ischiadieus einen Ast sendet als in
den N. bezw. Plexus pudendus“, beim Menschen keineswegs S, ist, und damit schwindet
zugleich die hohe morphologische Bedeutung, die v. Jhering ihm zuerkennt.
>)
Ueber den peripheren Verlauf des N. pudendohaemorrhoidalis vermag ich nichts
Besondres beizubringen, zumal häufig von einer peinlichen Verfolgung der Zweige
abgesehen wurde, da es für meine Zwecke nur darauf ankam die Hauptäste als solche
festzustellen. Dass gelegentlich ein Zweig des oberflächlichen Perinealastes des
Pudendus oder der N. haemorrhoidalis auf eine Strecke das Lig. saerotuberosum durch-
setzt, kann bei der unmittelbaren Nachbarschaft der Theile nicht auffallen. Ebenso
oft durchbohrt der N. haemorrhoidalis das Lig. sacrospinosum, wenn er, schon am
Ursprung vom Pudendus isolirt, nicht mit diesem zugleich aus dem Becken austritt,
sondern zunächst ventral vom Lig. sacrospinosum bleibt. —
Die- übrigen zum Plexus pudendalis gerechneten Nerven gehen teils an die
Muskeln des Beckenbodens, teils an die Beckeneingeweide direkt oder durch Ver-
mittlung des Plexus haemorrhoidalis inferior. Von den Muskeln ist der M. ceurvator
coceygis beim Menschen meist bis auf ein paar vom 4. und 5. Sacralwirbel zur Vorder-
fläche des Steissbeins herabziehende sehnige Streifen geschwunden; der M. coceygeus
kann mehr oder weniger sehnig umgewandelt und dem Lig. saerospinosum assimilirt
sein. Ganz entsprechend der vorhandenen Muskelmasse verhalten sich die Nerven.
Man wird also immer erwarten dürfen den Nerven für den M. levator ani zu finden,
wie er parallel den Nn. vesicales inferiores auf der Innenseite seines Muskels weit
ventralwärts zieht. Seltener bohrt er sich bald nach seinem Austritt aus dem Plexus
in die Muskelmasse em und verläuft in ihr nach vorn. Nach den Angaben der
Lehrbücher entspringt der Nerv aus S, nach Krause (Handbuch) und Luschka
auch aus S,. Die Wurzel aus S, ist fast immer vorhanden und zugleich bei weit
distal gerücktem Plexus lumbosacralis die stärkere; dazu tritt noch eine zweite
schwächere aus S,. Trotz einigem Hin- und Herschwanken lässt sich doch erkennen,
dass mit dem Vorrücken des ganzen Plexus auch der Ursprung des Levatornerven
proximal geschoben wird. Es betheiligt sich allmählig auch S;; dann bildet S; die
Hauptwurzel, und zuletzt, wenn der normale N. furcalis die bei weitem grösste Masse
seiner Fasern dem Plexus sacralis zuschickt, schwindet die Wurzel aus S, ganz, der
Nerv stammt nur noch aus S, S,. Aus S, sah ich nur wenige Male ein Fädchen an
den Levatornerven herantreten u. zw. durch Vermittlung der zwischen S, und S, vor-
handenen kurz gespannten Ansa. — Eine andere Beobachtung, die ich leider erst
ganz am Schluss meiner Untersuchung machte, sodass ich mich noch nicht specieller
damit befassen konnte, füge ich hier noch ein. Bei der Demonstration eines N. perfo-
Se
rans coceygeus maior (s. Plexus coceygeus), der einen Teil der Fasern für den
M. eoeeygeus mitführte, dann aber diesen Muskel flach durchsetzte, um in die Fossa
ischio-reetalis zu gelangen, vermochte ich ein paar feine-Nervchen in die Aussen-
fläche des M. levator ani, und zwar an die zum Rectum ziehende Portion, zu verfolgen.
Wird dieser Befund durch weitere Beobachtungen gestützt, so würde sich durch eine
solche doppelte Innervation ein Unterschied in der morphologischen Bedeutung der
Abschnitte des Levator ani ergeben.
Der _M. eoceygeus erhält meist mehrere Fäden, die vom distalen Rande des
Plexus pudendalis abgehend gewöhnlich sofort oder nach kurzem Verlaufe in die
Beckenfläche des Muskels eindringen. -Verfolgt man jedoch die Nervchen nicht bis
an ihr Ende, um sich zu überzeugen, dass sie wirklich dem Muskel angehören, so
läuft man Gefahr, in wechselnder Anzahl vorhandene zarte Fäden, die das Lig. sacro-
spinosum und den M. coceygeus schräg durchsetzen und in der Haut der Gesässrinne
nächst dem Steissbein endigen, dem M. coceygeus zuzutheilen. Bei der sehr variablen
Ausbildung des Muskels wechselt auch die Stärke und der Ursprung seiner Nerven-
fasern nicht unbeträchtlich, und ich vermag deshalb nicht mit gleicher Sicherheit wie
bei dem Levatornerven die proximal gerichtete Verschiebung der Ursprünge zu kon-
statiren. Dazu würde jedenfalls ein viel grösseres und speziell mit Rücksicht auf
die Muskelmasse bearbeitetes Material nothwendig werden. Nur soviel scheint mir
festzustehen, dass bei dem gewöhnlichen Ursprung aus S, und S, annähernd gleich
häufig S, wie S, die kräftigere Wurzel sein kann, und dass erst bei sehr starkem
Zuschuss aus L, an den Plexus sacralis Fasern aus S, hinzukommen, indes die Portion
aus S, verloren geht. Dagegen sind bei weit distal geschobenem Plexus auch Fasern
aus S, sicher betheiligt. Im aufgefaserten Plexus liegen die Wurzeln des Nerven
für den Levator ani ventral zu denen des Coccygeusnerven.
Das Vorkommen eines M. eurvator coceygis prozentisch festzustellen, habe
ich unterlassen. In den beobachteten Fällen, wo er entwickelt war (etwa 15), wurde
er aus S,, gelegentlich unter geringer Mitwirkung von S;, innervirt. Sein Nerv ist
häufig einem der Nn. perforantes eoceygei angeschlossen und senkt sich in die ventrale
Fläche des Muskels.
Den Nn. viscerales konnte ich schon wegen der Verwendung des Leichen-
materials nicht genügende Sorgfalt zuwenden. Im Ganzen bestätigen meine Befunde
die vorhandenen Angaben. Die Hauptmasse dieser Nerven stammt aus S,, dazu
kommt etwas weniger aus S,, selten — nur bei weit distal geschobenem Plexus —
— 339
auch noch aus S,. Der 2. Sakralnerv betheiligt sich häufig, manchmal sogar recht
kräftig. Die Ursprünge dieser Nerven liegen noch ventral zu denen des Levatornerven.
11. FPlexus coccygeus.
Die Beschränkung des Plexus caudalis s. coceygeus auf den ersten Steiss-
nerven und den Zuschuss aus den beiden letzten Sacralnerven, wie es meist geschieht,
lässt sich nicht für alle Fälle aufrecht erhalten, da dies Geflecht zwar nicht in gleicher
Weise innig mit dem proximal davon gelegenen Plexus pudendalis verbunden ist, wie
der letztere mit dem Plexus ischiadieus, aber bei einer Verschiebung des ganzen
Lumbosacralplexus mitbetheiligt zu sein scheint. Auch hier ist die Abgrenzung eines
besonderen Plexus coceygeus nur nach dem Verbreitungsgebiet der aus ihm ent-
stehenden Nerven zu bewerkstelligen. Dies Gebiet umfasst jederseits nur ein kleines
Kreissegment der Haut lateral von und über dem Steissbein. Voigt nennt die dabei
in Frage kommenden Nerven „Nn. eutanei perforantes“. Er allein von allen Autoren
rechnet ihre Ursprünge proximal bis S,, sonst wird allgemein mehr oder weniger be-
stimmt nur ein Zuschuss aus S, erwähnt und die Bezeichnung „Nn. anoeoceygei“
verwandt. Diesen Namen tragen aber bei den verschiedenen Autoren nicht immer
die gleichen Nerven, denn in dem einen Falle sind nur Hautnerven (wie bei Voigt)
darunter verstanden. in dem andern sollen die Nn. anococcygei auch noch die Mm.
eoceygeus und levator ani versorgen (Krause, Luschka, Hyrtl, Langer). Solche
Differenzen erklären sich ohne Weiteres aus einer gewissen Ineinanderschiebung des
Plexus pudendalis und coceygeus. Der letztere reicht proximal gelegentlich bis auf
S,, wenn nämlich aus einem normalen N. furcalis mehr als drei Viertel der Fasern
in den Plexus sacralis übergehen. Da in solchem Falle S; auch die Hauptwurzel
für den Plexus pudendalis bildet, aus S, und S, aber noch Nerven an die Muskulatur
des Beckenbodens gelangen, die wir in das Gebiet des Plexus pudendalis gerechnet
haben, so entstehen derartig komplizirte Verhältnisse dureh die Absonderung eimes
Plexus eoceygeus, dass man Asp’s Verlangen, den Plexus sacralis einheitlich auf-
zufassen, wohl versteht. Aber auch hier wie beim Plexus pudendalis empfiehlt es
sich doch vielleicht mehr, sich an das Verbreitungs- und nicht an das Ursprungs-
gebiet zu halten.
Gehen wir vorläufig noch nach der gebräuchlichen Einteilung, so bleiben uns
als Derivate des Plexus caudalis nur Hautnerven übrig, die Nn. eutanei perforantes
(Voigt) oder, wie ich sie nennen möchte, Nn. perforantes cocceygei. Es sind deren
3 bis 5 vorhanden. je nachdem der Plexus weit distal oder weit proximal verschoben
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 43
u
ist und je nach der stärkeren oder geringeren Rückbildung des kaudalen Körper-
abschnittes. Immer ist der erste der Nerven der stärkste, er entspricht augenschein-
lich dem N. anococeygeus Schwalbe’s, dem N. cutan. elunium internus superior
Voigt's. Greifen wir als Paradigma zunächst einen Plexus mit normalem N. fur-
calis, der weniger als die Hälfte in den Plexus sacralis schickt, heraus, so sehen
wir S, mit S,, S, mit ©, und diesen wieder mit C, durch kurz gespannte Schlingen
verbunden. Von der ersten dieser Ansae entspringt ein ganz ansehnlicher Nerv, der
seine Fasern hauptsächlich aus S,, weniger oder gar nicht aus S, bezieht. Er läuft
schräg lateral und distal über den Ursprung des M. coecygeus am Kreuzbein, führt
gelegentlich noch Fasern für den M. eoceygeus und eurvator coceygis mit sich und
verlässt das Beeken entweder, indem er den M. coceygeus schräg durchbohrt, oder
zwischen diesem und dem Hinterrand des M. levator ani. Er kann dann einfach um
den Distalrand des Lig. sacrospinosum herum zur Haut treten, durchbohrt aber nicht
selten auch dieses Band und läuft ein Stück zwischen ihm und dem Lig. sacro-
tuberosum, dessen Rand er manchmal noch ebenso wie die distalen Ursprünge des
M. glutaeus maximus durchsetzt. Seine Verbreitung in der Haut der Gesässrinne und
der benachbarten Gesässpartie ist am Schlusse der Besprechung des N. perforans lig.
sacrotuberosi bereits gedacht.
Gegen diesen N. perforans eoceygeus maior sind die übrigen Nn. perff. coceygei
minores recht zart. Sie entstehen aus der Ansa zwischen S, und S, bezw. S, und
C, und liegen anfangs dicht neben einander. Sie verlaufen rein distalwärts, höchstens
der erste noch mit leichter lateraler Ablenkung, und biegen der Reihe nach dorsal-
wärts um, u. zw. regelmässig im Niveau der Symphyse oder Synostose zwischen je
zwei Wirbelrudimenten, sodass also der erste lateral von der Symphysis sacrococey-
sea, der letzte an der Synostose des 3. und 4. Steisswirbels zu finden ist. Sie zeigen
also eine ausgesprochene segmentale Anordnung, wie es bei allen Wirbelthieren mit
langer Schwanzwirbelsäule der Fall ist. Alle geben eine Anzahl feiner Periostzweige
an das Steissbein, bevor sie die Haut der Gesässrinne (die letzten nur die Haut über
der Steissbeinspitze) erreichen. Sowohl der N. perforans coceygeus maior wie der
erste der Perff. minores ist gewöhnlich begleitet von einem Zweige der A. sacralis
lateralis. — Von diesem Beispiel ausgehend verstehen wir die Abweichungen, wie
sie bei Ueberkreuzung und Verlegung des N. furcalis auf L, einerseits, bei sehr
starkem Faserübergang aus dem normalen N. furcalis in den Plexus sacralis andrer-
seits uns entgegentreten. Im ersten Falle (Fig. 8) ist der N. perforans coceygeus maior
auf S, verlegt, im letztern (Fig. 6, 7) dagegen bezieht er noch Fasern aus S, und
S,, nicht mehr aus S,; dann erscheint auch der erste der Nn. perforr. minores kräftiger
und, von den andern schärfer abgesetzt, durchbohrt er meist den M. eoceygeus und
einen Theil des Lig. sacrospinosum auf seinem Wege nach der Haut. —
12. KRami posteriores.
Ueber die Rami posteriores der Lendennerven habe ich zu den bekannten
Thatsachen nichts hinzuzufügen. Die Schlingenbildung zwischen den drei oberen,
aus der die Nn. eutanei elunium superiores hervorgehen, ist ebenso charakteristisch
wie das Geflecht auf der dorsalen Fläche des Kreuzbeins, welches von Voigt (l. e.
pag. 23) gut beschrieben ist, speziell auch was den Verlauf der einzelnen Zweige
angeht. Da finde ich auch eine häufige Eigenthümlichkeit dieses Plexus sacralis
posterior verzeichnet, die ich sonst vermisse. Statt dass nämlich mehrere einzelne
Nerven aus dem Geflecht direet nach hinten zur Haut gelangen, sammeln sie sich in
einem kräftigen Stamm, der unter dem Ursprung des Glutaeus maximus in einem
straff bindegewebigen Kanal abwärts verläuft, um entweder zwischen den distalen
Faserbündeln dieses Muskels oder durch den distalen Rand des Lig. sacrotuberosum
(dieht am Sacrum) und um den Glutaeus max. herum auf- und lateralwärts, etwa in
der Richtung des Kreuzbeinrandes sich in seine Endäste aufzulösen. Im letzten Falle
hätten wir also noch einen N. perforans lig. sacrotuberosi, der mit den vorher behandelten
Perforantes nichts gemein hat, sich auch im Verbreitungsbezirk scharf sowohl von
dem N. cutan. clunium inferior medialis (unserm typischen Perforans) als von dem
N. perforans coceygeus maior abgrenzt.
IIE,
„Das Nervensystem“, sagt Fürbringer, „ist das konservativste, den geringsten
Veränderungen (Anpassungen) unterworfene System“, eitirt v. Jhering (pag. 15) und
fährt fort: „Und gerade dieses konservativste System sollte eine Variabilität zeigen,
wie wir sie von keinem andern Organsystem kennen? Welche riesigen Umwandlungen
müssten die Plexus erleiden an der Halswirbelsäule der Vögel und am Rumpfe der
Saurier, wenn die in die Zusammensetzung der Plexus eingehenden Nerven nicht als
homologe Theile angesehen werden dürften! Und von all diesen Umwandlungen
sollten wir nichts merken! Immer die gleiche Zusammensetzung der Plexus und die
gleichen Beziehungen der aus ihnen entspringenden Nerven zu denselben Muskeln
und doch keine Homologie ?!“
Ich setze diese Worte an die Spitze meiner Schlussbetrachtungen, weil ich
43*
332 ——
nicht zum wenigsten durch sie veranlasst worden bin, die gewonnenen Thhatsachen
auch noch auf allgemeinere Gesichtspunkte hin zu verarbeiten. Schon Meckel hat
die grosse Beständigkeit des Nervensystems hervorgehoben, und sie wird ausser von
den oben genannten jetzt wieder mannigfach verteidigt, freilich auch von anderer
Seite, z. B. von Cunningham, stark angefochten. Soweit hierbei Beständigkeit
gleichbedeutend mit Unveränderlichkeit in Anordnung und Verlauf sein soll, muss
ich sie allerdings nach meinen Untersuchungsergebnissen ebenfalls in Abrede stellen,
während ich auf der anderen Seite eine grosse, aber nicht auf den ersten Blick zu
Tage liegende Beständigkeit in den Beziehungen der Nerven zu ihrem Versorgungs-
gebiete überall ausgesprochen finde. Ich meine damit die unveränderlichen Beziehungen
zwischen ventralen bezw. dorsalen Nerven zu ventralen bezw. dorsalen Versorgungs-
bezirken. Im übrigen sehe ich in den Nerven gerade dasjenige Organsystem,
welches empfindlicher und darum deutlicher als alle andern schon die
geringsten Veränderungen im Aufbau des Organismus wiederspiegelt.
Wer den bisherigen Auseinandersetzungen gefolgt ist, wird, glaube ich mit
Sicherheit annehmen zu können, den Eindruck erhalten haben, dass Umwandlungen
doch recht gut zu bemerken sind, die Zusammensetzung der Plexus durchaus nicht
immer die gleiche ist, und dass der Plexus lumbosacralis des Menschen gegenüber
den Verhältnissen des Plexus brachialis in seinem Aufbau noch eine grosse Labilität
zeigt. Denn trotz kleiner Schwankungen weist das Armnervengeflecht doch niemals
derartige Differenzen in den Ursprüngen der abgehenden Nervenstämme auf, wie sie
die folgende Zusammenstellung erkennen lässt.
Verhalten des N. furealis | Cruralis | Obturatorius | Tibialis | Peroneus
N. furcalis aus L;
Doppelter N. furealis aus Ls und L, NER, La L, L, Di: Lz; (=) L» L, S, L; L, Sa L; | L, L; S, L;
Ich greife absichtlich die beiden Extreme aus meinen Beobachtungen heraus,
um den Gegensatz recht drastisch zu machen; die zwischen beiden liegenden Stadien
sind ja eingehend geschildert. Und wenn ich im Eingang dieser Abhandlung zu-
nächst nur von einer Verschiebung des N. furcalis sprach, so ist es jetzt, nach der
Erörterung der einzelnen Nerven doch wohl kaum mehr zweifelhaft, dass mit einer
solchen Verschiebung in allen Fällen eine gleichsinnige Aenderung im Ursprung der
Plexusderivate einhergeht. Mussten wir sehon dort dem N. furealis die gewichtige
Bedeutung eines unter allen Umständen stabilen Plexusbestandtheils, der durch die
ganze Wirbelthierreihe hindurch als homolog zu betrachten ist, aberkennen, so werden
wir jetzt erst recht dazu genöthigt sein, diese Bezeichnung lediglich als Namen für
eine charakteristische Form zu gebrauchen. Den Beweis also, dass der N. furcalis
unbeständig in seiner Lage ist. haben die vorstehenden Untersuchungen erbracht, und
damit fällt das Gebäude, welches v. Jhering auf diesem unsichern Fundament er-
richtet hat, zusammen. — Auch im Einzelnen erweist sich v. Jhering’s Voraus-
setzung, dass der N. furcalis von den Amphibien bis zum Menschen gleichbedeutend
sei, als ungenau, denn die Verhältnisse bei den urodelen Amphibien sind, ganz ab-
gesehen von der Anzahl der in den Plexus lumbosacralis eingehenden Spinalnerven
wesentlich von dem der höhern Wirbelthiere verschieden. Da ist der N. obturatorius
keineswegs sofort mit dem der Säuger zu homologisiren, sondern nur mit einem
kleinen Bruchtheil desselben, während die Hauptmasse der Fasern proximal über den
Beekenrand zum Schenkel zieht. Wir haben im N. obturatorius accessorius des
Menschen noch einen Rückschlag auf diese Spaltung des Nerven für die Adduetores
femoris kennen gelernt. Der N. ceruralis der Urodelen dagegen verläuft in der Haupt-
sache um den distalen Beckenrand.*) Doch erscheint dieser Punkt mehr neben-
sächlich gegenüber anderen, die v. Jhering als Argumente für die Stabilität des
Plexusbaues und der Plexuslage gegen die vorhandenen Hypothesen, betreffend Plexus-
verschiebungen, sammelt. Ganz besonders wendet er sich gegen die Annahme einer
Umformung der Plexus durch Eintreten distaler, bei gleichzeitigem Austreten proxi-
maler Spinalnerven, wodurch Solger (Morphol. Jahrb. I) die Differenzen in der Lage
des Plexus brachialis bei Bradypus und Choloepus zu erklären sucht. Irgend welchen
Beweis für seine Hypothese hat Solger allerdings nicht erbracht, und wenn v. Jhe-
ring meint, es müsse besonders schwer verständlich sein, „sich vorzustellen, dass
die Umbildung der Wirbelsäule zugleich eine Umwandlung des Plexus brachialis zur
Folge gehabt haben sollte, denn die Umänderung des Charakters eines Wirbels be-
einflusst das Verhalten der Spinalnerven in keiner Weise“, so kann man dem recht
gut zustimmen, freilich im Widerspruch zu Gegenbaur. Wenigstens ist dessen An-
merkung auf pag. 481 (Anatomie des Menschen): „Die Verschiedenheiten in der
*) v. Jhering kann sich hier allerdings auf Gegenbaur berufen, der in seinem Grundriss der
vergleich. Anatomie (1878 pag. 539) sagt: „Die für die Hinterextremitäten bestimmten Nerven gehen bei
den Amphibien aus einem meist durch 3 Nerven gebildeten Geflechte hervor. Ein daraus entstehender
vorderer Nerv bildet den N. eruralis, ein stärkerer, aus fast allen in den Plexus eingehenden Ramis sich
zusammensetzender Nerv stellt den Ischiadieus vor, welcher auch bei den höheren Wirbelthieren den
Hauptnerv der Extremität bildet.
— 334 ——
Konstitution des Sacrum finden auch in dem Nerven einen treuen Ausdruck“, nicht
anders zu verstehen, als dass den Umbildungen der Wirbelsäule ein Einfluss auf das
Verhalten der Nerven eingeräumt wird. Eher wäre wohl das Umgekehrte möglich,
dass nämlich die Umänderung des Charakters eines Spinalnerven mit seiner zu-
gehörigen Weichtheilgruppe bestimmend für die Konfiguration der Wirbelsäule wird.
Denn so wenig mir in den Sinn kommen kann, den Werth der Resultate der ver-
gleichenden Osteologie zu unterschätzen, will es mir doch scheinen, dass die Ver-
gleichung des Stützgerüstes allein nie die Bedeutung beanspruchen kann, wie eine
Vergleichung des Skeletes in engstem Zusammenhang mit Muskulatur und Nerven.
Die gegenseitige Abhängigkeit dieser drei Organsysteme ist immer wieder zu betonen,
im Besonderen auch die Abhängigkeit der Skeletformen von der Muskulatur, die
wiederum ohne ihre Nerven nicht gedacht werden kann. Auch wird nicht ausser
Acht gelassen werden dürfen, dass das Skeletsystem sowohl phylo- als ontogenetisch
jünger als die beiden andern Systeme ist.
„Verschiebungen der Plexus durch Umbildung im Sinne Solger’s kommen
nicht vor“, behauptet ferner v. Jhering. Für den Plexus brachialis zwar vermag
ich jetzt diese Ansicht nieht zu widerlegen, aber es genügt doch auch eine Ordnung
meines Materials vom Plexus lumbosacralis, um die schönste Serie herzustellen, die
man sich für einen Gegenbeweis wünschen kann. Besässe ich nur Präparate, in
denen das eine Mal L,, das andre Mal L, N. furealis wäre, so würde man mir ein-
fach entgegenhalten können, dass im ersteren Falle — übereinstimmend mit v. Jhe-
rings Hypothese — ein praefurcales Segment eingeschaltet sei. Wir verfolgen aber
Schritt für Schritt von dem einen Ende meiner Reihe, an dem L, den N. furcalis
darstellt, die Verschiebung der Plexuselemente zunächst am Uebergange des lum-
baren Theiles in den sacralen über die eigenthümliche Bildung eines doppelten N.
furcalis aus L, und L, auf die sog. Normalform, die aber aus L, anfangs wenig,
allmählig immer mehr Fasern in den Trunceus lumbosacralis schickt, bis wir am
andern Ende der Reihe zum zweitenmale das Bild eines doppelten N. furcalis finden,
diesmal aus L, und L, stammend. Die Plexuselemente wandern geradezu unter
unsern Augen um mehr als ein ganzes Segment proximalwärts, nicht nur im N. fur-
calis, auch am Ende des Plexus ischiadieus ohne weiteres erkennbar, dessen letzte
Wurzel in dem einen Falle in einer geringen Portion des S,, in dem andern aus
einer nur wenig stärkern des S, besteht. — v. Jhering berichtet selbst von Un-
regelmässigkeiten im Plexusbau, nicht nur in den verschiedenen Wirbelthierklassen,
sondern auch bei Individuen derselben Art, und hat speziell auch das Bild des
335
doppelten N. furealis des öftern gesehen. Seine Schilderung der Plexusverhältnisse
bei den Fledermäusen lässt mit Sicherheit vermuthen, dass er leicht eine ganz ähn-
liche fortlaufende Serie von Plexus hätte zusammenstellen können, wie wir es hier
beim Menschen gethan. Aber lediglich bestrebt sein System zur Geltung zu bringen,
übersieht er diese Möglichkeit.*)
An dem so vorwärts rückenden Plexus behalten die Ursprünge der einzelnen
Derivate im grossen Ganzen ihre charakteristische Lage zu den Plexuswurzeln bei,
die von ihnen innervirten Muskeln bleiben auch die gleichen — Schwierigkeiten
könnte also nur noch die Wirbelsäule in ihrem Verhalten zum Stützgerüst der Ex-
tremität ‚bereiten, da diese Beziehungen (durch den directen Anschluss des Becken-
gürtels an die Wirbelsäule verhältnissmässig genau zu kontroliren sind. Nach
v. Jhering und Paterson wechselt allerdings die Lage der „echten“ Saeralwirbel
zu den Plexuswurzeln sogar innerhalb derselben Ordnung der Vertebraten derart,
dass hin und wieder der ganze Plexus der distalen Extremität proximal zum Sacrum
orientirt ist. Aber diese Eigenthümlichkeit erscheint dann doch als regelmässige
Bildung für die betreffende Gattung oder Art gerade so, wie wir beim Menschen als
normales Verhalten das Vorhandensein wenigstens zweier sacraler Wurzeln oder eines
freien Lumbarwirbels hinter dem N. furcalis anzunehmen haben. Und ausgehend von
dieser Norm lässt sich die Frage stellen: „Findet mit der Verschiebung des Plexus
lumbosaeralis auch eine gleichsinnige Ortsveränderung des Beckengürtels statt?“ Sie
muss sich nachweisen lassen, soll die eben ausgesprochene Ansicht über das Ab-
hängigkeitsverhältniss des Skelets von Nerv und Muskel nicht hinfällig werden. Auf
der andern Seite werden wir, da diese Abhängigkeit zugleich als der Ausdruck einer
untergeordneten Stellung aufzufassen ist, ausserdem auch die viel ungefügeren Skelet-
massen für die verschiedenen feinen Zwischenstadien in der Verschiebung der Plexus-
elemente unmöglich stets eine entsprechende Ummodelung darbieten können, nieht
verlangen, dass mit jedem abnormen Plexus eine Vermehrung oder Verminderung
der präsacralen Wirbel verbunden sei. Nur die Hauptforderung muss jedenfalls fest-
gehalten werden, dass bei stark proximalwärts verschobenem Plexus ein weit distal
stehendes Becken nicht vorkommen darf und vice versa.‘*)
*) Unregelmässigkeiten im lumbosacralen Uebergang (doppelten N. furcalis) verzeichnet v. Jhe-
ring z. B. unter den Reptilien bei den Varaniden, Lacertiden, Iguaniden, unter den Vögeln bei Pieus,
Astur palumbarius, unter den Säugern bei Dasypus novemeinetus , Sus, Moschus moschiferus, Da-
syprocta aguti.
**) Meine im vergangenen Jahr abgegebene Erklärung, dass eine ausgesprochene Wechsel-
beziehung zwischen dem Bau des Plexus bezw. der Lage des N. furealis und der Konfiguration der
Von den 22 Plexus, in denen der N. furcalis verlagert oder verdoppelt ist, fallen
nun 16 (fast 73°.) mit Anomalien der Wirbelsäule zusammen*), indes für die sämtlichen
105 Plexus mit normalem lumbosacralem Uebergang die Wirbelsäule nur 9 mal (nicht
ganz 8,6°/) Abweichungen vom typischen Bau aufweist. Die abnormen Wirbelsäulen
ordnen sich folgendermassen :
1. Drei besitzen 13D, 5L, 58, 4C.
2. Drei E: 13: DSL, 5834;
3. Drei a 13D, 5L 58, 3C — die 13. Rippe war sehr kurz; dann
tolgen
4. Eine mit 12D16 E95:SI4,
DENN 12D, 6L, 558, 4C, an welcher der Processus transversus des
6. Lendenwirbels links mit der Pars lateralis des 1. Sacral-
wirbels artikulirt;
Gt ER: 12D, 6L, 58, 306, — der 6. Lendenwirbel ist an das Saerum
angeschmolzen, nimmt aber nur links an der Bildung der
Facies aurieularis Theil;
as ae 12D, 6L, 58, 40, — der 6. Lendenwirbel ist ganz mit dem
Saecrum verschmolzen und beiderseits an der Facies auri-
cularis betheiligt;
SPEER WI FA 12D, 5L, 58, 40, deren 5. Lendenwirbel jederseits am Quer-
fortsatz breit durch Gelenk mit den Seitentheilen des Sacrum
verbunden ist;
Eee 7 12D, 5L, 58, 3C, — der 5. Lendenwirbel ist beiderseits
als soleher — durch das Promontorium — leicht zu erkennen,
aber vollständig mit dem Saerum verschmolzen und nimmt
sehr ausgiebig an der Bildung. der Facies aurieularis Theil,
die dadurch in ihrem obern Schenkel abnorm verlängert
erscheint.
Von diesen Fällen wurde der Plexus einmal nur einseitig und zwar an einer
der unter 1. genannten Wirbelsäulen untersucht, da die andere Seite schon verar-
Wirbelsäule nieht zu bestehen scheine, begründete sieh auf die verhältnissmässig kleine Reihe abnorm
gebauter Plexus, über welche ich damals verfügte.
*) Bei den übrigen war es leider nicht möglich, genaue Notizen über die Wirbelsäule aufzu-
nehmen. Zwar fanden sich 5 freie Lumbarwirbel in den Präparaten, aber es liess sich, da die Ober-
hälften fehlten, nicht mehr feststellen, ob die letzte Rippe eine i3. oder 12. gewesen war.
337
beitet war, sonst überall doppelseitig, Unter den Plexus zu 1. findet sich einer mit
L, als N. furcalis und S,*) als stärkstem Plexusnerven, einmal ist beiderseits ein
doppelter N. furcalis aus L, und L, vorhanden und einmal giebt der normale N. fur-
calis (L,) rechts '/ıo, links !/,; seiner Fasern in den Plexus sacralis, — Bei 2. besteht
in einem Falle jederseits Ueberkreuzung aus L, und L,, in den beiden andern ist nur
rechts ein doppelter Furcalis aus L, und L,, links schickt der normale N. furcalis '/%
bezw. '/, seiner Fasermasse in den Plexus ischiadieus. — Ueberkreuzung aus L, und L,
ist ferner beiderseits zu vermerken bei 3., 4., 5. und 6., während bei 7. beiderseits vom
normalen N. furcalis '/s, bei 8. aber ?/; der Fasern in den Trunceus lumbosaecralis über-
gehen. — Bei 9. besteht linkerseits Ueberkreuzung aus L, und L, rechts giebt L,
ungefähr "/. an den Plexus sacralis ab.
Zwischen die Wirbelsäulen unter 1. bis 7. und die unter 8. und 9. ist die
normalgebaute Wirbelsäule mit 17 freien Dorsolumbarwirbeln einzuschalten. Die
Wirbelsäule 7. ist eigentlich schon normal, was die Wirbelzahl überhaupt anlangt,
denn der 18. Dorsolumbarwirbel erscheint nur durch etwas freiere Processus transversi
und durch das Vorhandensein eines doppelten Promontorium noch als Lendenwirbel.
Die beginnende (bei 8.) oder totale Assimilation des 17. Dorsolumbarwirbels (bei 9.)
an das Sacrum bedeutet also ein Vorrücken des Beckens über die jetzt normale
Stellung hinaus in die „Zukunftsstellung“, wie es auch Rosenberg auffasst, während
alle die Fälle mit 13D 5L oder 12D 6L als Vorstufen der jetzigen Norm oder
ursprünglichere Formen angesehen werden müssen.
Betrachten wir zunächst diese letzteren — unter Auswerfung von 7., so be-
obachten wir, dass in der grossen Mehrzahl das Verhalten der Wirbelsäule mit
dem des Plexus übereinstimmt, d. h. das bei weit distal geschobenem Plexus auch
ein überzähliger präsakraler Wirbel vorhanden ist. Von den 19 hier in Frage
kommenden Plexus sind 15, also fast 79°/,, abnorm, 14 davon besitzen einen doppelten
N. furealis aus L, und L;, einer L, als N. furealis. Nur 4 weisen normalen lumbo-
sakralen Uebergang auf, und diese nähern sich mit ihrer dünnen Zuschussportion
aus L, an den Plexus saeralis (/o, "io, '/%, Y/,) den vorhergehenden so sehr, dass
auch bei ihnen das oben aufgestellte Postulat erfüllt erscheint, zumal zwei von ihnen
mit Ueberkreuzung aus L, und L, auf der andern Körperseite zusammentreffen. —
Die unter 8. aufgeführte Wirbelsäule mit beginnender Assimilation des 5. Lumbar-
wirbels an das Sacrum scheint unsere Erwartungen insofern nicht zu rechtfertigen,
*) Also nach der auf pg. 291 gegebenen Vorbemerkung der ersten im eigentlichen Sacrum ge-
legenen Wurzel.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 44
als der Plexus eine starke Verschiebung proximalwärtsnicht erfahren hat. Doch ist hier
zu berücksichtigen, dass der Beckengürtel in Wahrheit noch nieht proximalwärts gerückt
ist, d.h. der 5. Lumbarwirbel noch nicht zur Bildung der Facies aurieularis beiträgt.
Bei 9., wo dies der Fall ist, finden wir auch den Plexus entsprechend verschoben,
den N. furcalis auf der einen Seite doppelt aus L, und L, auf der andern Seite zwar
normal aus L, aber doch nur noch mit einem Minimum an der Bildung des Cruralis
und Obturatorius betheiligt. Der zweite Fall von überkreuzten Nn. fureales aus L,
und L, stammte zwar aus einer Leiche mit 17 freien Dorsolumbarwirbeln, aber die
beiden Darmbeinschaufeln standen sehr auffällig hoch und nahe an der Lendenwirbel-
säule, wodurch eine ganz abnorm starke Aufwärtsbiegung nicht nur des 5., sondern
auch des 4. Lendenquerfortsatzes verursacht wurde. Das spricht, glaube ich, eher für
als gegen die Deutung unserer Befunde, in denen ich den Beweis für die Solger-
Fürbringer’sche Theorie von der aktiven Wanderung der Extremitäten entlang der
Wirbelsäule sehe. Eine solehe Wanderung geht nicht sprungweise. sondern allmälig
vor sich, wie sich das vor Allem an den Plexuselementen zu erkennen giebt, und die
Verschiebung der Nerven, Muskeln und Skeletelemente erfolgt annähernd gleichzeitig.
Andre Untersuchungen zur Vergrösserung und zur Vervollständigung meiner
Reihe konnte ich nicht heranziehen. Denn wenn auch die von Struthers“*) be-
obachteten, bei v. Jhering eitirten 4 Wirbelsäulen mit 13D, 5L, 55, 4 © und 12
D, 6L, 48, 4 © normale Plexus besessen haben, so ist doch über die Stärke des
lumbosakralen Uebergangsbündels — den für unsere Betrachtungen wiehtigsten Punkt
— keine Angabe gemacht. v. Jhering’s bei dieser Gelegenheit geäusserte Be-
merkung: „Vermuthlieh werden, sobald erst einmal die Aufmerksamkeit allgemein
darauf gerichtet wird, auch Fälle zur Beobachtung gelangen, in welchen bei 13
Dorsalwirbeln die 5 Lendenwirbel ganz die gewöhnlichen Beziehungen zum Plexus
lumbosacralis darbieten“, zeigt sich in unserm zuerst erwähnten Falle ganz, in den
nächstfolgenden ziemlich ganz erfüllt, nur dass ich diesen Befunden eine andere
Deutung beilege, als v. Jhering wünscht, nämlich sie nieht als dureh Einschaltung
eines präfurealen Dorsolumbarwirbels, sondern als atavistischen Rückschlag auf eine
Form ansehe, bei der die distale Extremität noch nicht ihre jetzt allgemeine „normale“
Stellung zur Wirbelsäule eingenommen hat. Die Uebergänge aus der einen in die
andere Form sind da. Und die Schwankungen in den Beziehungen zwischen Plexus-
lage und Zahl der präsacralen Wirbel erscheinen verständlicher bei der Annahme
*) Journ. of Anatomy and Physiology IX, 1875.
El
eines einfachen Prozesses, wie des Vorrückens der distalen Extremität samt ihren
Nerven, als durch die Menge von Vorgängen, die v. Jhering braucht, um die Ver-
schiedenheit in seinen Befunden „ungezwungen“ zn erklären. Bald ist ein Wirbel
(einfaches Skleromyomer), bald ein Spinalnerv (einfaches Neuromer), bald wieder ein
ganzes Segment (Skleromyoneuromer) aus- oder eingeschaltet, daneben giebt es Ver-
schiebungen sowohl des Plexus unabhängig von der Wirbelsäule als des Beckens
unabhängig von der Anlage der Wirbelsäule und des Spinalnervensystems nach vor-
und rückwärts: hier sind Wurzeln einzelner Nerven verkümmert, dort Nervenver-
bindungen, die in das System nicht hineinpassen wollen, als bedeutungslose Anasto-
mosen charakterisirt — kann man da wirklich noch von „ungezwungenen“ Erklärungen
sprechen? Paterson (The position ete.) ist ebenfalls nicht einverstanden mit der
Interkalatienstheorie. Seine vergleichenden Studien führen ihn dazu, die Tendenz der
distalen Extremität, sich in kranialer Riehtung zu verschieben, nur für den Menschen,
Esel und Cuseus gelten zu lassen, während sonst bei den Säugern die Verschiebung
distalwärts erfolge, wie es auch bei Vögeln und Reptilien der Fall sei. Ich habe
über das letztere kein Urtheil, da ieh die speziellen Verhältnisse nicht genügend
kenne, hoffe aber für eine Prüfung derartiger Angaben im Folgenden noch einige
Gesichtspunkte anführen zu können. — Paterson ist ein entschiedener Anhänger
der Verschiebungstheorie, aber er fasst den Modus der Verschiebung in anderem Sinne
als wir und schliesst sich darin wieder v. Jhering an. Denn indem er an die Spitze
seiner „Conelusions“ den Satz stellt: The segmental spinal nerves, which enter and
supply the limbs, afford the most trustworthy evidence regarding its original position“,
so heisst das nichts anderes als: die Extremität kann sich verschieben, aber die Nerven
bleiben an ihrem Platze. Deutlicher noch sagt Paterson einige Seiten vorher
(pag. 294), um das Zustandekommen der Differenzen in der Lage der letzten Plexus-
wurzel zum Sacrum zu erklären: in Fällen, wo der letzte Lumbarnerv den Plexus
schliesse, müsse man annehmen, „dass während der Entwicklung, jedoch nach An-
lage der Extremitätenknospe und nach Eintritt der Nerven in dieselbe, die Ex-
tremität sich distalwärts verschoben habe — entweder gedrängt durch das Wachs-
thum der Bauchwand oder die Entwicklung der Baucheingeweide oder um für die
Zwecke der Fortbewegung einen geeigneteren festen Punkt zu gewinnen. In Folge
davon ist die Extremität, die in einer früheren Periode den Segmenten, von denen sie
und ihre Nerven abzuleiten sind, gegenüber liegt, in spätern Stadien an weiter rück-
wärts gelegene Segmente befestigt und ihre Nerven nehmen einen schräg absteigenden
Verlauf, um zu ihr zu gelangen.“ Das Umgekehrte geht vor sich, wenn der 1. oder
44*
— 30
2. Sacralnerv das distale Ende des Plexus bildet. — Paterson anerkennt also nur
eine rein mechanische Verschiebung. Aber die Stichhaltigkeit der 3 Momente, die er
dafür verantwortlich machen will, dürfte recht schwer nachzuweisen sein. Schon
Fürbringer hat diese 'T'heorie der passiven Riückwärtsstellung der Extremitäten
als unbrauchbar ausgeschieden, denn sie stimmt einfach nicht mit den Thatsachen
überein. —
Gegenüber der grossen Regelmässigkeit, mit der sich die zur Extremität selbst
verlaufenden Nerven im Plexus lumbosacralis verschieben, fiel gelegentlich der Einzel-
besprechung der Nn. ileohypogastrieus und ileoinguinalis ebenso wie des Genitocruralis
auf, dass diese Nerven sich nur gleichsam zögernd an dem allgemeinen Vorwärts-
rücken betheiligen. Der Grund dafür ist, glaube ich, einzig und allein darin zu
suchen, dass sie eben überhaupt nicht zur Extremität gehören, sondern lediglich ab-
dominale Nerven darstellen, die ihre Hautzweige noch eine kurze Strecke auf den
Ansatz der Extremität übergreifen lassen analog den Nn. supraclaviculares und dem
xam. perforans lateralis des 3. Interkostalnerven am Arm. Das Vorhandensein einer
Ansa zwischen L, und L, oder zwischen D,, und L, spricht nicht dagegen und be-
deutet häufig keineswegs eine Ueberführung von Fasern aus L, in den Cruralis oder einen
andern Extremitätennerven, sondern nur in den Genitoeruralis. Wirkliche Beziehungen
zu dem Extremitätengeflecht erhält L, erst, wenn von ihm Fasern in den Cruralis,
Cutaneus femoris lateralis oder Obturatorius gelangen, wie es konstant der Fall ist
bei normalem Plexus (N. furcalis — L,). Bei Ueberkreuzung aus L, und L, hingegen
und bei Verschiebung des N. furcalis auf L, vermissen wir den Zuschuss aus L,
häufig. Beträchtlicheres Volum gewinnt er, wenn mehr als '/; aus L, an den
Truncus lumbosaecralis abgegeben wird, der Plexus also schon ziemlich weit proximal
gerückt ist.
Gehören nun aber diese Nerven nicht der Extremität, sondern nur dem un-
mittelbar vor derselben gelegenen Rumpfabschnitt an, so liegt für sie keine Noth-
wendigkeit vor, die Wanderung der Extremität mitzumachen, und es kann sich die
Frage nur darum handeln, was dabei mit ihnen geschieht. Werden ihre Elemente
einfach in den proximalwärts rückenden Plexus der Extremität aufgenommen, assi-
milirt, oder schiebt sie der Plexus nur vor sich her? Das letztere dürften wir ohne
weiteres ausschliessen, wenn wir einen Beweis dafür besässen, dass bei der Ver-
schiebung der Extremitäten die unmittelbar benachbarten Körpersegmente ganz all-
mälig der Extremität einverleibt würden, aber tiefer greifende Veränderungen nicht
zu erleiden hätten. Denn das reguläre Segment besitzt schon seine Nerven, hat also
Et!
für anderwärts verdrängte keine Verwendung. So glatt erledigt sich jedoch die An-
gelegenheit nicht. Vielmehr treten gerade die Veränderungen in den der Extremität
zunächst gelegenen Segmenten so stark in den Vordergrund, dass sie gar nicht
übersehen werden können, und die Frage nach ihrer Bedeutung sich nieht unter-
drücken lässt.
Zur Lösung dieser Frage müssen wir etwas weiter ausholen, denn sie steht
in engster Beziehung zu der Frage nach der Herkunft der Extremitäten überhaupt.
Von den verschiedenen Hypothesen über dies T'hema stammt die erste von Gegen-
baur, die letzte von Paterson. Gegenbaur leitet vordere und hintere Extremität
von radientragenden Kiemenbogen ab, die eine von den übrigen Kiemenbogen ab-
weichende Differenzirungsrichtung einschlugen und vom Kiemenapparat sich lösten,
um nach längerer oder kürzerer Wanderung über den Körper hin ihre definitive Lage
einzunehmen. Im Speziellen soll der Extremitätengürtel dem Kiemenbogen, die Ex-
tremität selbst den Radien dieses Bogens entsprechen. Bekanntlich fusst auf dieser
Voraussetzung Gegenbaur’s Archipterygiumtheorie. Paterson dagegen sieht in den
Extremitäten Auswüchse des ventralen und lateralen Umfanges des Körpers, deren
Material einen genetischen Zusammenhang weder mit dem Kiemengerüste, noch mit
den Bestandtheilen der typischen Somiten nachweisen lässt. Denn eine Segmentirung
ist selbst in den frühesten Stadien der Extremitätenknospe nicht zu erkennen. Nur
die in die Anlage einstrahlenden Nerven geben an, dass das Material von den be-
treffenden Segmenten abstammt. Paterson hat nachgewiesen, worauf wir später
noch einmal näher eingehen wollen, dass die Plexusnerven den ganzen ventralen
Rami typischer Interkostalnerven homolog zu setzen sind. Wird also ein ganzer
Spinalnerv in die Extremität aufgenommen, so ist das ganze zugehörige Segment,
tritt nur ein Theil eines Spinalnerven ein, so ist auch nur ein 'T'heil des betr. Seg-
mentes zum Aufbau der Extremität verbraucht. — Soweit ist die Hypothese gut ver-
ständlich. Eine weitere Aeusserung Paterson’s erscheint mir jedoch als Inkonse-
quenz. Aus dem Umstand nämlich, dass der grössere 'T'heil des ersten Dorsalnerven
den Plexus brachialis abschliesst, folgert der Autor, dass das erste Dorsalsegment
partiell für die Extremität verwendet, und dass das von den Extremitäten - bildenden
Somiten herzuleitende Material „ein Etwas ist, welches an den gewöhnlichen extre-
mitätenlosen Somiten entweder verloren gegangen oder nie zur Entwicklung gekommen
ist. Denn wir finden hier ein kompletes Knochen-Muskel-Segment und doch ist es
gleichzeitig in die Extremitätenbildung einbezogen.“ Das klingt doch ganz anders
als das vorhergesagte. Das erste Dorsalsegment ist aber gar nicht komplet, denn
342
ihm fehlt normaler Weise der Ramus perforans lateralis und der Ram. anterior. Wie
weit Knochen und Muskeln für vollständig zu halten sind, kann erst in zweiter Linie
in Frage kommen. Niemals findet sich im Bereiche einer Extremität d.h. in
der Breite des eigentlichen Extremitätenplexus ein vollwerthiges typisches
Segment erhalten.
Ich theile Patersons erste Ansicht betreffs der Herkunft des Materials für
die Extremität, denn die Nerven sind mir wie ihm die sichersten Zeugen für die seg-
mentale Anlage. Wenn die mesoblastische Zellmasse der Extremitätenknospe keine
Segmentirung mehr erkennen lässt, so dürfen wir im Hinblick auf die Thatsache
der ontogenetischen Verkürzung in einzelnen Entwicklungsvorgängen annehmen, dass
in einem (phylogenetisch) sehr frühen Stadium die Grenzen zwischen den einzelnen
Segmenten sich verwischt haben, das Material der Segmente aber dadurch Gelegen-
heit erhalten hat zusammenzufliessen. Aus dieser eingeschmolzenen Masse entwickelten
sich dann, wie wir es noch beobachten, die jetzigen komplizirten Organgruppen.
Diese Fusion des Muskel- und Skeletbildenden Materials ist um so sicherer voraus-
zusetzen, als der „Plexus“ der Extremität uns noch das treue Bild davon bewahrt
hat. Die Plexusbildung ist zunächst lediglich die Folge bezw. Begleiter-
scheinung der Verschmelzung einer Anzahlursprünglich getrennter Somiten.
Erst an zweiter Stelle ist die Gegenbaur- Fürbringer’sche Erklärung der Plexus-
bildung durch die Verschiebung der Extremitäten längs der Wirbelsäule aufzuführen.
— Es werden nur die lateralen und ventralen Partien der Somiten für die Ex-
tremität verbraucht, nicht die dorsalen, denn wir finden wie im typisch seg-
mentiıten T'heile des Körpers, so auch im Bereich der Extremitäten stets den
Ramus dorsalis der Spinalnerven mit seinem Verbreitungsgebiet voll entwickelt.
In dies Gebiet fallen noch all die rudimentären Rippenanlagen, die wir z. B. bei den
Mammalien in Gestalt der vorderen Spange der Halswirbelquerfortsätze, bei den
Krokodiliern in den freien Halsrippen erhalten sehen. Sie stellen den dorsalen Ab-
schnitt der betreffenden Rippen dar und entwickeln sich auch nicht über ihr Gebiet
hinaus, ausser wenn die zu diesen Segmenten gehörige Extremität ihre Lage ver-
ändert. Der Einschmelzung entzieht sich auch die Haut, die später zur Bedeckung
der Extremität dient, denn auch über den typisch segmentirten Körperabschnitten
ist das Integument zwar segmental innervirt, aber nicht selbst segmentirt. Wir werden
also in der Innervation der Haut einen direkten Anhalt für den segmentalen Ursprung
der Extremität erwarten können, und in der That verbreiten sich die Hautnerven in
der Reihenfolge, wie sie aus den Plexuswurzeln austreten, auf die Fxtremität derart,
dass der (phylo- und ontogenetisch) proximale Rand von proximalen Nerven, der
distale von distalen versorgt wird. Das gilt für vordere wie hintere Extremität,
lässt sich aber an letzterer besonders klar demonstriren, da man hier die Hautnerven
zum grössten Teil auf bestimmte Spinalnerven zurückzuführen vermag. Selbstver-
ständlich, wenn auch weniger klar, tritt das gleiche Prinzip der Nervenvertheilung
ebenso bei den Muskelgruppen hervor. Ich stimme darin nicht mit Bardeleben
(Anleitung z. Praepariren pag. 143) überein, der bei Besprechung der Innervation
der proximalen Extremität meint, es genüge sieh deren (phylo- und ontogenetisch)
primitive Stellung, besonders der Hand bei den Wirbelthieren zu vergegenwärtigen,
um zu begreifen, dass der N. radialis von den kranialen, der Medianus von den
mittlern, der Ulnaris von den kaudalen Nerven des Plexus stammen müssen. Für
die distale Extremität würde sich eine derartige Behauptung gar nicht halten lassen.
Nicht der N. radialis, sondern die Nerven des Radialrandes der vordern Extremität
beziehen ihre Fasern aus dem kranialen Theile des Plexus.
Ist die Extremität aus einem Konflux mehrerer Segmente entstanden, so muss
deren Anzahl auch aus den im zugehörigen Plexus vorhandenen Spinalnerven direkt
ablesbar sein. Paterson ist im Grunde der gleichen Ansicht, kommt aber mit Hilfe
etlicher Willkürlichkeiten, wie Weglassen der Nn. cutanei femoris lateralis und
posticus als nebensächlich, zu dem Schlusse, dass entsprechend der Behauptung
Goodsir’s die Extremitäten aus 5 Somatomen sich aufbauen. Wir können zwar hier
das Thema über penta- oder heptadaktyle Urform der Extremitätenenden nicht auch
noch in das Bereich unserer Betrachtungen ziehen — zumal es erst noch sehr des
bBeweises bedarf, dass die Anzahl der für die Extremität verbrauchten Somiten irgend-
wie bestimmend für die Anzahl der Finger ist — aber die Frage lässt sich doch
nicht unterdrücken: „Wie verträgt sich die Annahme einer Entstehung der Extremität
aus 5 Somiten mit dem Vorhandensein von 7 (oder 8) zugehörigen Plexuswurzeln X
Die Antwort wird lanten müssen: Ebensowenig wie mit Gegenbaur’s Hypothese,
dass die Extremität einem Kiemenbogen entstamme. Ein Segment des Kiemen-
apparates enthält nur einen einzigen Nerven, mag es mit langen oder kurzen Radien
besetzt sein. Man müsste sich bequemen, allmählich mehr und mehr Nerven an dies
Derivat eines einzigen Segmentes aus Nachbarsegmenten herantreten zu lassen.
Aber wenn man eine solche Möglichkeit zugeben will, braucht man sich auch nicht
zu scheuen, eine Inter- oder Exkalation eines Wirbels oder eines ganzen Segmentes
für möglich zu halten.*)
*), Paterson (On the fate of the musele-plate ete, Quarterly journ. of microscop. seience XXVIII)
leugnet das Eindringen der Myotome in die Extremitätenanlage, wogegen Kollmann in seiner — mir
Besässen nun die Extremitäten eine unveränderliche Lage zum Rumpfe, so
würde man gemäss ihrer oben geschilderten Herkunft erwarten dürfen, dass die der
Extremität benachbarten Rumpfsegmente ihren typischen Bau aufwiesen, ausser wenn
das direkt anstossende etwa zu einem Theile in die Extremitätenbildung mit ein-
begriffen wäre. Unsre distale Extremität steht aber nicht fest, sondern rückt proximal-
wärts, und die proximal von ihr gelegenen Segmente haben ihre klare Charakterisirung
nicht behalten, sondern zeigen ganz augenfällig einen totalen oder partiellen Schwund
ihrer Grenzen. Wir finden im 13. und 12. (ev. auch im 11.) Lumbodorsalsegment
eine starke Reduktion der Rippen, die Ligamenta intermuscularia treten kaum noch
in Spuren auf, die ursprünglich segmentalen Muskeln fliessen in breite Massen zu-
sammen: alles Veränderungen, die deutlich in den zugehörigen Nerven ausgedrückt
sind, denn sie zeigen uns in mehr oder weniger stark entwickelter Ansabildung eine
ganz ähnliche Erscheinung wie der eigentliche FExtremitätenplexus. Bei weit distal
stehender Extremität reicht die Ansabildung gelegentlich bis D,,, bei stark proximal
verschobenem Extremitätenplexus sehen wir auch D,, noch eine Schlinge an D,, herüber-
schieken. Ein Zusammenhang zwischen beiden Zuständen ist also unverkennbar, und
ich fasse diese Verschmelzungserscheinungen in den unmittelbar vor der distalen Ex-
tremität gelegenen Segmenten als eine Art präparatorischer Fusion auf, die nicht vor-
handen sein würde, wenn die Extremität entweder überhaupt keine Verschiebung er-
führe oder ihre definitive Stellung bereits erreicht hätte. Eine derartige Uebergangs-
oder Grenzzone müsste sich danach immer in der Richtung, die die wandernde
Extremität einhält, vorfinden, also proximal von der distalen, distal von der proximalen
Extremität, denn beide Extremitäten verschieben sich gegeneinander. Die proximale
Extremität hat nach dem Zeugniss der Plexusverhältnisse ihre definitive Stellung
jedenfalls annähernd erreicht, die Uebergangszone ist dementsprechend schmäler und
stabiler und wird gewöhnlich durch D, abgeschlossen. Ich habe umfassendere Unter-
suchungen darüber, wie weit das 1. Dorsalsegment als eingeschmolzen bezw. schon
für die Extremität verbraucht anzusehen ist, noch nicht anstellen können; ganz be-
sonders fehlen mir Beobachtungen über das Verhalten der Nerven bei langer (wahrer)
leider erst nach Fertigstellung dieser Arbeit zu Gesicht gekommenen — Untersuchung über „die Rumpf-
segmente menschlicher Embryonen von 13 bis 35 Urwirbeln“ (Arch. f. Anat. u. Entwicklgsgesch. 1891, I)
- ausdrücklich hervorhebt, dass die laterale Lamelle des Myotomes (Urwirbels) in die Extremitätenleiste ein-
und um sie herum in die ventrale Rumpfwand wächst. Das ist also ein direkter Beweis für die seg-
mentale Abstammung des Haut- und Muskelmaterials der Extremität, und da zu jedem Myotom ein
Neurotom gehört, wie Kollmann betont, so sehe ich in diesem embryologischen Befunde eine sehr er-
wünschte Unterstützung für unsere oben ausgesprochene Ansicht.
san
7. Halsrippe. Doch vermag ich schon jetzt bestimmt auszusprechen: Sobald das erste
Dorsalsegment annähernd komplet erscheint, ist der Plexus brachialis noch nicht in
die als normal geltende Stellung eingerückt, sondern steht noch weiter proximal als
gewöhnlich. Wenn nämlich die Ram perforantes lateralis und anterior des 1. Dorsal-
nerven beim Menschen vorhanden waren — wofür mir Beispiele bisher fast in jedem
Wintersemester entgegengetreten sind — vermisste ich niemals eine kräftige Wurzel
aus C, an den Plexus brachialis, die sieh in einen dorsalen und ventralen sekundären
Truneus spalten liess. Das gleiche Bild erhielt ich am Plexus brachialis des Gorilla.
Die letzte Wurzel des Plexus aus D, war hier wie dort auffallend dünn. Das Auf-
treten einer Sternalrippe am 7. Halswirbel würde als weiteres Rückwärtsschwanken
gegen eine noch frühere Form zu gelten haben, und es ist mir sehr wahrscheinlich,
dass in solchem Falle der Plexus brachialis entweder gar nichts oder nur ein Minimum
aus dem D, bezieht, das erste Dorsalsegment also möglicherweise dabei ganz komplet
erscheint. — Im Allgemeinen aber glaube ich an meiner Ansicht, dass das erste
Dorsalsegment noch partiell zum Aufbau der proximalen Extremität verwandt wird,
mit dem zweiten Dorsalsegment aber die Uebergangszone schon abschliesst, festhalten
zu können. Denn D, ist in der Mehrzahl der Fälle (Herringham, eit. nach Pater-
son) noch dureh eine intrathorakale Schlinge mit D, in Verbindung. Paterson hat
die Bedeutung der Uebergangszone zwischen Extremität und typisch segmentirtem
kumpf nieht erkannt, damit auch nicht die Bedeutung der Ansabildung zwischen
den dahingehörigen Nerven am Anfang und Ende des Thorax. Die Verschiebung
beider Extremitäten erfolgt eben auf Kosten des Thorax, d. h. auf Kosten typischer
Somiten.
Sind aber erst in der Uebergangszone Verbindungen benachbarter Spinalnerven
vorhanden, so erscheint es nicht unmöglich, dass in ihr nach dem gleichen Modus
wie im eigentlichen Extremitätengeflecht eine Ueberwanderung von Elementen distaler
Spinalnerven in proximale stattfindet. Dann wäre also ein N. ileohypogastrieus, der
bei weit distal stehendem Extremitätenplexus rein aus L, stammt, vollständig homolog
einem solchen, der bei vorwärts verschobenem Plexus nur aus D,, seine Fasern be-
zieht. Um konsequent zu. sein, müsste man dem so verdrängten Nerven sein Ver-
breitungsgebiet erhalten denken und sähe sich zuletzt zu der Annahme gezwungen,
dass mit dem Vorwärtsrücken der Extremität die anstossende Grenzzone immer reicher
an Nerven, immer stärker an Muskelmasse wird. Das ist aber nicht nur un-
wahrscheinlich, sondern thatsächlich nicht der Fall. Es handelt sich sowohl im
Plexus für die Extremität als in dem für die Grenzzone um eine Assimilation
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 45
— 346 ——
proximal voraufgehender Elemente in den Plexus mit gleichzeitigem Austritt distaler;
die Spinalnerven der Grenzzone werden allmählich dem Extremitätenplexus einverleibt,
wie ihre sonstigen Bestandtheile der vorrückenden Extremität, und die beiden Nn. ileo-
hypogastrici unseres Beispiels sind nicht rein homologe, sondern — um eine Be-
zeichnung Fürbringer’s anzuwenden — nur parhomologe oder homodyname Nerven.
Durch die Zusammenstellung thatsächlicher Untersuchungsergebnisse und die
sich unmittelbar daran schliessenden Betrachtungen sind wir zu dem gleichen Resultat
gekommen wie Fürbringer, nachdem er die verschiedenen Hypothesen über die Ex-
tremitätenverschiebung gegeneinander abgewogen. Die meiste Wahrscheinlichkeit zeigt
ihm die Annahme einer metamerischen Umbildung der Nerven und der von ihnen
versorgten Haut- und Muskeltheile durch Neubildung ohne Ueberwanderung. „Fehlt
auch dieser Hypothese die kausale Begründung“, fügt er hinzu, „und ist auch der
betreffende Prozess im Detail nicht leicht zu konstruiren, so hat sie jedenfalls das
für sich, dass ihr keine bekannte Thatsache widerspricht und dass sogar manches
Ergebniss der Untersuchung mit ihr übereinstimmt. Dies gilt namentlich für die
häufig beobachteten Fälle, wo derselbe Muskel von Nerven versorgt wird, welche
bei den verschiedenen Individuen derselben Thierart von verschiedenen Spinalnerven
abstammen. In diesen Fällen haben wir bei den einzelnen Individuen verschiedene
Stufen der Entwieklung repräsentirt, welche die einzelnen Stadien des phylogenetischen
Entwicklungsvorgangs in deutlichster Weise rekapituliren resp. ihnen vorauseilen.“
Ob und wann es gelingen wird, die Ursache der Extremitätenverschiebung aufzufinden,
wie weit speziell die Anpassung mit ins Spiel kommt, wollen wir hier dahingestellt
sein lassen. An Details für die Konstruktion des Prozesses aber, glaube ich, besitzen
wir jetzt reichliches Material, sauber konservirt, in den Nerven selbst.
Ueber die Art und Weise, wie sich die Verschiebung der Plexuselemente an
dem N. furcalis zeigt, ist schon im ersten Theil dieser Arbeit berichtet und dabei
auch unter den Ueberkreuzungsformen darauf hingewiesen worden, dass in einigen
von ihnen das aus dem höher gelegenen Spinalnerven absteigende Bündel sieh nicht
in eine ventrale und dorsale Portion aufspalten lässt, sondern ganz in den ventralen
Trunceus der nächsten Plexuswurzel übergeht. Es scheint mir dies mehr als eine
blose Zufälligkeit zu bedeuten und dafür zu sprechen, dass bei dem Vorrücken des
Plexus zuerst ventrale Fasern aus der proximal gelegenen Wurzel in die nächst-
folgende assimilirt werden. Das geschieht zunächst, solange die übertretende Portion
nur sehr gering ist, noch unter Benutzung vorhandener Bahnen, z. B. in den auf
pag. 288 unter 2. und 4. aufgezählten Fällen (Taf. IV, Fig. 17, 24, V, 36), wo die
3a ——
Fasern der zarten Schlinge im Winkel zwischen L, und L, bezw. L, und L, sich
noch auf eine Strecke der letzten Wurzel des Cruralis ventral anschliessen. Erst
mit zunehmender Stärke gewinnt die absteigende Portion einen selbständigen Verlauf.
Das Hinzukommen dorsaler Fasern erfolgt dann in derselben Weise, aber augen-
scheinlich etwas später, wie man aus den verschiedenen komplizirten Bildern der
Ueberkreuzungen ersehen kann. — Uebertragen wir diese Vorgänge an den Plexus-
nerven auf das ganze zugehörige — ursprünglich segmentale Bildungsmaterial
der Extremität, so müssen wir annehmen, dass die Assimilation neuen Materials aus
voraufgehenden Segmenten zuerst ventral erfolgt. Sollte damit nicht die deutlich
früher eintretende Einschmelzung der ventralen Segmentalabschnitte in der Ueber-
gangszone in Zusammenhang zu bringen sein? *)
Wir brauchen also, um die Variationen zwischen Plexuslage und Bau der
Wirbelsäule innerhalb eines Spezies verständlich zu machen, nicht zu dem etwas
kühnen Mittel v. Jhering’s zu greifen, der in dem Segmente der Vertebraten nur
eine mehr oder minder lockere Kombination eines Skeletsegments (Sklero -myomer)
und eines Nervensegments (Neuromer) sieht. Wenn der Nerv so locker mit den
übrigen Bestandtheilen des Segmentes in Verbindung wäre, wie sollten denn dann
Homologien überhaupt möglich sein? Denn dass in der Regel ein bestimmtes Neu-
romer mit einem bestimmten Skleromer zusammentreffen soll, beseitigt doch keines-
wegs die Gefahr einer unberechenbar willkürlichen Vertheilung der Nerven. Hin-
sichtlich des behaupteten Gegensatzes zwischen Neuromer und Sklero-myomer. dass
ersteres ektodermalen, letzteres mesodermalen Ursprungs sei, dürfte erst noch die
Entscheidung über den Ursprung des Mesoderms überhaupt abzuwarten sein. —
Wir haben bis jetzt die distal vom Plexus ischiadieus gelegenen, Genitalien,
Perineum und das kaudale Rumpfende versorgenden Nerven vernachlässigt, obschon
ihr Verhalten gegenüber dem Vorrücken der Extremitätennerven unser Interesse
beanspruchen muss. Die Derivate des Plexus pudendalis gelangen nicht zur Extremität
*) Es wäre mir sehr erwünscht gewesen, meine Untersuchungen auch auf die Ursprünge der
Plexuswurzeln aus dem Rückenmarke ausdehnen zu können; aber an alten Spirituspräparaten und unsern
spärlichen sog. frischen Leichen ist es schlechterdings unmöglich, den Austritt der Nervenwurzeln aus
dem Rückenmarke zu studiren, wie es R. Hilbert (Zur Kenntnis d. Spinalnerven. Diss. Königsberg 1878)
gethan hat. Er fand dabei, besonders häufig und mannigfaltig beim Menschen, Asymmetrien der Ur-
sprünge in Gestalt aufsteigender oder absteigender Anschlüsse an benachbarte Ursprungsgebiete. Da er
sein Material aber peripher nur bis an die Spinalganglien berücksichtigte, so bleibt noch festzustellen, ob
solehe Irregularitäten zwischen benachbarten Nerven dieht am Rückenmark nicht vielleicht ebenfalls zum
tiefern Verständniss der Plexusverschiebung beitragen können.
45*
— li
und verändern doch ihren Ursprung zugleich mit dem der eigentlichen Extremitäten-
nerven. Wir entdecken hier nichts, was einer distalen Uebergangszone ent-
spräche. Die Mündung des Urogenitaltraktus und das Ende des Darmes mit ihren
muskulösen Apparaten stehen augenscheinlich in direkter Abhängigkeit vom Beeken-
gürtel, sodass sie einer Lageveränderung desselben gegen die Wirbelsäule stets zu
folgen gezwungen sind. Auch hier bilden die Nerven die sichersten Zeugen, denn
ihre eng nachbarlichen Beziehungen zu dem Plexus der Extremität bleiben stets die
gleichen, mag nun L, den N. furcalis darstellen oder L, schon im Begriff sein, die
Funktionen eines solchen ganz zu übernehmen. Auch über die Herkunft des Materials,
aus dem sich die Pudendalregion aufbaut, geben die Nerven genügende Auskunft,
indem sie erkennen lassen, dass nicht nur mindestens ein kaudal zur Extremität ge-
legenes Segment, sondern auch noch Theile aus den letzten drei, die Extremität
herstellenden Segmenten zur Verwendung gelangen. Das erklärt uns dann auch,
weshalb die Plexus ischiadieus und pudendalis sich nie von einander entfernen können.
Viel äusserlicher ist das Verhältniss zwischen Plexus pudendalis und caudalis.
rückt der erstere zusammen mit dem Extremitätengeflecht vorwärts, so werden, wie
wir sahen, distale Elemente aus ihm ausgeschieden. Diese zurückgelassenen Nerven,
die wir eben als Plexus caudalis bezeichnen, müssten also mit dem Vorrücken der
Extremität an Zahl zunehmen, wenn der kaudale Körperabschnitt sich beim Menschen
nicht gleichzeitig verkürzte, wie Rosenberg nachgewiesen. Und diese Verkürzung
besteht selbstverständlich nicht nur in einer Reduktion der Knochen und Muskeln,
sondern auch der Nerven. Wir werden aus diesem Grunde meist annähernd die
gleiche Anzahl von Spinalnerven im Plexus caudalis vorfinden und dadurch leicht
den Eindruck erhalten, als ob der Plexus zugleich mit den voraufgehenden Geflechten
verschoben würde.
Die Kaudalregion gewinnt für uns an Bedeutung, wenn wir die distale Ex-
tremität nicht durch Auswerfung einer grössern oder geringern Zahl präsakraler
Wirbel bezw. Segmente in ihre jetzige Stellung gerückt denken, sondern durch all-
mälige Assimilation proximaler, Ausscheidung distaler Körpersegmente. Denn daraus
folgt, dass der Beckengürtel mit seiner Extremität sich einst über die jetzige kaudale
Wirbelsäule herübergeschoben haben muss. Ein soleher Prozess kann nicht ablaufen
ohne Spuren zu hinterlassen, und ich meine, sie sind deutlich genug, diese Spuren,
die uns den Weg zeigen, den die Extremitäten bei ihrer Verschiebung genommen
haben. Es ist doch höchst auffallend, dass abgesehen vom Kopfe sich nur zwischen
den Extremitätenparen vollwertige Körpersegmente finden, in der Cervikal- und Kau-
— 349 —
dalregion dagegen ganz augenscheinlich nur Rudimente ehemals kompleter Segmente
vorhanden sind. Die Nerven dieser Regionen sind durch Schlingen unter sich ver-
bunden, die zugehörigen Segmente sind also konfluirt, ähnlich wie in den Ueber-
gangszonen zwischen Extremitäten und Rumpf, aber doch verschieden davon; denn
die Uebergangszonen lassen zwar eine Einschmelzung, aber nicht einen Schwund
des segmentalen Materials erkennen, in Hals- und Schwanzregion dagegen, vornehm-
lich in letzterer, tritt eine Rückbildung unter Verlust ventralen und lateralen Materials
auf. Das sind die Wegspuren der Extremitäten. An der proximalen Extremität, für
die alle Beobachter übereinstimmend eine kaudal gerichtete Bewegung annehmen,
liegen die Verhältnisse vielleicht etwas klarer als an der distalen. Je weiter distal
der Plexus brachialis rückt, desto länger wird der aus rudimentären Segmenten zu-
sammengesetzte Hals. Da wir zunächst zwar nur für den Menschen, aber für diesen
sicher, ein Proximalwärtsrücken der distalen Extremität nachgewiesen haben, können
wir auch behaupten, je weiter die Beckengliedmasse sich vorwärts bewegt, desto
länger wird der kaudale Körperabschnitt — wenn er nicht gleichzeitig so stark
reduzirt würde. Wir dürfen aber, glaube ich, die für den Menschen festgestellten
Thatsachen auch für die übrigen Wirbelthiere gelten lassen und annehmen, dass bei
allen die distale Extremität sich proximalwärts verschiebt, nicht, wie Paterson meint,
nur bei Asinus und Cuseus. Denn nie lässt sich kaudal zur distalen Extremität
ein auch nur annähernd kompletes Segment auffinden. Ich muss bei dieser Auf-
fassung selbstverständlich die Ansicht, die distale Extremität befinde sich in einem
„sekundären“ Vorrücken, nachdem sie vom Kiemenskelett, ihrem Ausgangspunkte,
primär über den Körper kaudalwärts gewandert sei, als gänzlich unhaltbar betrachten.
Die distale Extremität hat sich immer nur in kranialer Richtung bewegt. Wäre sie
schon einmal über den Rumpf kaudalwärts verschoben worden, so besässe der Rumpf
seine Segmentirung nicht mehr.
Hiermit ist auch meine Stellung zur Frage der Regionenbildung der Wirbelsäule
praezisirt. Wo keine Extremitäten vorhanden sind, fehlen auch die Regionen, in die
man die Wirbelsäule nach dem Vorhandensein rippenloser und rippentragender
Wirbel einzutheilen pflegt, und es geht vom Kopf bis zum Schwanz eine gleich-
mässige Segmentirung durch, Bei dem Auftreten von Extremitäten bleiben am
proximalen und distalen Ende des Körpers eine Anzahl Segmente nur noch in
ihren dorsalen Abschnitten kenntlich, die lateralen un ventralen gehen in die Ex-
tremität auf. Mit der Verschiebung der Extremität bleiben an deren vorherigem
Standort die dorsalen Abschnitte der Segmente unverändert erhalten, die ventralen
—
und lateralen Abschnitte jedoch werden nicht ad integrum restituirt, sondern bleiben
rudimentär. Sollte vielleicht der Ausdruck „rudimentär“ speciell für die Cervikal-
region anstössig erscheinen, so könnte man ihn dahin mildern, dass man sagt: Die
von der weiterrückenden Extremität wieder ausgeschiedenen Segmente
haben das Vermögen verloren ihre Elemente wiederum segmental zu dis-
soziiren, sie bleiben verschmolzen. Für die Kaudalregion dagegen tritt noch eine
quantitative Verminderung des konfluirten Materials hinzu. Der Morphologe wird
also nicht mehr einfach nach dem Skelett den rippenlosen oder nur mit Rippenrudi-
menten versehene Abschnitt der Wirbelsäule zwischen Kopf und Thorax als Hals-
region bezeichnen dürfen, sondern unter Berücksichtigung der jeweiligen Nerven-
verhältnisse eine längere oder kürzere cervikale (praebrachiale) von einer brachialen
Region zu unterscheiden haben. An die brachiale schliesst sich die dorsale oder
thorakale an; proximale wie distale Uebergangszone sind ihr noch zuzurechnen. Da-
rauf folgt eine crurale und eine kaudale Region. Die crurale umfasst die bisher so-
genannte Jumbare und — je nach der Ausdehnung des Plexus eruralis — den
proximalen Abschnitt der sacralen Region, deren distaler Theil schon in die Kaudal-
region fällt. Beim Menschen reicht normaler Weise die Cervikalregion vom 1. bis
zum 3., die brachiale vom 4. bis 7., die thorakale vom 8. bis 20., die erurale vom
21. bis 27., die kaudale vom 28. bis 33. (34.) Wirbel. Die Abgrenzung einer lum-
baren und sacralen Region, wie sie die systematische Anatomie kennt, basirt lediglich
auf den groben Unterschieden in der durch funktionelle Anpassung erworbenen Form
der Skelettelemente. Nennen wir aber die Region, die ihre Nerven sämtlich zur
distalen Extremität schickt, regio eruralis, so wird es uns gleichgiltig sein, ob am
20. Wirbel noch eine freie Rippe sich entwickelt oder gelegentlich der 24. Wirbel
mehr oder weniger dem Sacrum einverleibt ist. Derartige Varianten haben nur in-
sofern eine tiefere morphologische Bedeutung, als eine lang entwickelte 13. Rippe
uns auf einen weit distal stehenden Plexus hinweist ebenso wie umgekehrt die völlige
Assimilation des 24. Wirbels an das Sacrum uns auf eine abnorme Vorwärtsver-
schiebung des Plexus d.h. der Extremität schliessen lässt — aber diese Bedeutung
ist uns hier wiederum erst durch das Verhalten der Nerven klar geworden.
Es bedarf nach Allem kaum der Erwähnung, dass ich jeden Versuch, die Wirbel
verschiedener Vertebraten anders als der einfachen Reihenzahl nach zu homologisiren,
als jeglicher Begründung nicht nur, sondern auch jeglicher Wahrscheinlichkeit ent-
behrend ansehen muss. Der 10. Wirbel des einen Thieres ist homolog dem 10. des
andern, — es braucht deshalb noch keine Homodynamie zwischen beiden zu bestehen ;
—— 551
denn es kann z. B. der 25. Wirbel des einen Individuums frei, der des andern Träger
des Beckengürtels sein.
Lässt man für die Extremitäten einerseits eine Entstehung aus einer bestimmten
Anzahl von Körpersegmenten, andrerseits die Möglichkeit einer Verschiebung auf
Kosten von Nachbarsegmenten gelten, so muss man auch die Plexusnerven auf die
den Typus segmentaler Nerven repräsentirenden Interkostalnerven beziehen können.
Das Verhalten der Spinalnerven in den Uebergangs- oder Grenzzonen lest ja den
Gedanken an eine Parallelisirung sehr nahe. Da sind durch die grössere oder
geringere Fusion der Segmente die zugehörigen Nerven zwar auch schon verändert,
haben aber doch die Hauptcharaktere der echten Interkostalnerven, die Rami per-
forantes lateralis und anterior, noch beibehalten, wenn auch nicht ganz rein. — Das
gewöhnliche Beispiel dafür liefert der erste Lumbarnerv, der, wie Pansch sich vor-
sichtig und richtig ausdrückt, den Interkostalnerven „ähnelt“; denn er hat einen
doppelten Ram. perf. ant. und, wie wir früher gesehen haben, nicht selten auch einen
doppelten Ram. perf. lateralis, sowohl vom Ileohypogastrieus als vom lleoinguinalis.
Bei dem zweiten Lendennerven wird es noch viel schwerer und unsicherer, die
Parallelisirung mit den Interkostalnerven auszuführen. Ist er doch schon zum Theil
oder ganz und gar dem FExtremitätenplexus einverleibt. Und in dem letztern für
jeden daran Theil nehmenden Spinalnerven die segmentalen Charakteristica be-
stimmen zu wollen, könnte man nur dann mit einiger Aussicht auf Erfolg wagen,
wenn es keine Verschiebungen der Extremitäten bezw. der Plexuselemente gäbe.
Nur eims ist hier zu erreichen möglich, nämlich festzustellen, welche Plexusderivate
man etwa dem Ram. perfor. lateralis, welche dem Ram. perfor. anterior zu homologi-
siren hat. Paterson, der dieser Frage mehrfach näher tritt, geht noch nicht soweit
ins einzelne, sondern will nur beweisen, dass die Plexuswurzeln überhaupt den Inter-
kostalnerven homolog sind. Vor ihm waren Goodsir und Herringham zu der An-
sicht gelangt, dass mit den Wurzeln des Plexus brachialis nur die Rami perforantes
laterales der Interkostalnerven in Parallele gestellt werden dürften. Paterson trägt
embryologische und vergleichend anatomische T'hatsachen zusammen, um darzulegen,
dass man die Plexuswurzeln den ganzen Interkostalnerven gleichsetzen müsse, und
das ist auch: zweifellos das Riehtige. Denn wo sollen die Aequivalente der Rami
anteriores geblieben sein? Durch die Ausbildung der Extremitäten erleidet doch der
Körper ventral keinen Defekt, erfährt vielmehr da noch eine besondere Kräftigung.
So gut gewählt aber Paterson’s Beweismaterial ist, kann ich doch seinen Folgerungen
nieht zustimmen. Denn er sieht die Theilung der Plexuswurzeln in sekundäre dorsale
— 352° —
und ventrale Trunei an, wie die Theilung des Interkostalnerven in Ram. perfor. lateralis
und anterior. Nun ist aber der sekundäre dorsale Truncus des Plexusnerven rein
dorsaler Natur, der Ram. perforans lateralis des Interkostalnerven dagegen spaltet
sich stets wieder in einen dorsolateralen und ventrolateralen Zweig, deren letzterer
rein ventraler Natur ist. So komme ich zu dem Schlusse, dass den sekundären
dorsalen Trunei der Plexusnerven nur der dorsolaterale Zweig eines Ram. perfor. late-
ralis homolog sein kann, den sekundären ventralen Trunei dagegen der ventrolaterale
Zweig des Ram. lateralis und der Ram. perf. anterior, natürlich immer einschliesslich
der zugehörigen Muskeläste. Dann decken sich die Begriffe dorsal und ventral, wie
wir sie für die Orientirung am Rumpfe gebrauchen, mit den gleichen Begriffen an
den Extremitäten, letztere in ihrer phylogenetisch und ontogenetisch primitiven Stellung
betrachtet. Die seitliche Mittellinie giebt am Rumpfe die Grenze der beiden Bezirke
an. Die Extremitätenknospe erscheint zunächst jederseits als Falte im Bereiche des
lateralen und ventralen Drittels des embryonalen Körpers, begreift also eine durch
die seitliche Mittellinie abgesetzte kleinere dorsale, eine grössere ventrale Masse von
Bildungsmaterial in sich. Ich verweise hierbei auf Patersons sinnreiche Schemata,
die diese Verhältnisse vorzüglich illustriren.
Rami dorsolaterales | Rami ventrolaterales Rami anteriores
Ram. perf. lat. des lleohypo- Ram, perf. lat. des Ileohypo-| Rami antt. von Ileohypogastri-
gastricus (dorsolateral und gastrieus (ventrolateral, oft| cus und lleoinguinalis
absteigend) ganz vom lleoinguinalis)
Ram. lateralis des Lumboingui- Ram. medialis des Lumboingui-| Spermaticus externus
nalis nalis
Cutaneus fem. lateralis
Cutaneus fem, anterior + Sar- | Cutan. fem. medialis + Peeti- | Obturatorius (+ Ram. cutan.)
torius neus
Cruralis (für 4 ceps) Saphenus magnus
Peroneus Tibialis
Cutan, fem. postieus (lateral) Cutan. fem. postieus medial. Nn. für Quadrat. fem., Obtur,
int. und Gemelli
Cutan. elunium inf. lateral. Cutan. perinei (vom Cutan. fem.
post.)
Cutaneus elunium inf. medial. | Ram. perinealis Pudendi N. dorsalis penis.
(Perforans)
Perforans coceygeus maior N. haemorrhoidalis ext.
Aus der Einzelbesprechung der Plexusderivate im zweiten Abschnitte dieser
Arbeit geht schon hervor, welche Nerven ich zu der dorsalen Hälfte der Plexus
rechne, welehe zur ventralen. Wenn ich sie hier noch einmal nebeneinander ordne,
um dadurch eine rasche Uebersicht zu ermöglichen. so brauche ich wohl nicht zu
betonen, dass es mir nicht in den Sinn kommt, die aufgezählten Nerven etwa im
Einzelnen als segmentale Homologe aufzufassen, denn das geht in Folge der Plexus-
verschiebung nicht mehr an und zumeist entspringen sie ja auch aus mehreren Wurzeln.
Vielmehr sollen die Reihen nur ausdrücken, welche Nerven meiner Ansicht nach aus
einer Verschmelzung der homologen dorsolateralen, ventrolateralen und vordern Aeste
der als ursprünglich rein segmental zu denkenden Plexuswurzeln entstanden sind.
Die Uebergangszone ist mit berücksichtigt.
Zu dieser Tabelle ist zu bemerken, dass der Genitoeruralis in der angegebenen
Weise auf den Typus eines Segmentalnerven am besten in Plexus mit L, als N. furcalis
zurückzuführen ist. Allerdings muss man dabei annehmen, dass die Muskelzweige
des Lumboinguinalis bereits in den Oruralis übergegangen sind. Am distalen Ende
des Plexus sind der N. pudendus und der Cutaneus clun. inf. medialis (Perforans) neben-
einandergestellt. Die Zusammengehörigkeit der beiden scheint mir am besten durch
die Fälle erläutert zu werden, in denen der sog. Perforans von dem Ursprung des
Pudendus abzweigt. Aber auch bei dem viel häufigeren Vorkommen eines selbständig
entspringenden Perforaus bezieht er seine Hauptwurzel konstant aus dem gleichen
Spinalnerven wie’der Pudendus. — Von den übrigen Nerven der Tabelle kann man
wohl wegen des öfter beobachteten gemeinsamen Ursprungs den Cutaneus fem. lateralis
und einen Theil des Cutaneus fem. medialis als die beiden Hautzweige eines Ram.
perforans lateralis des 3. Lendennerven ansehen, die zugehörigen Muskelnerven sind
in den Cruralis aufgegangen. Der Ramus anterior dieser Wurzel wäre dann in einem
Theil des Obturatorius und des Uutaneus obturatorii zu suchen.
Es mag auffallen, dass ich den N. obturatorius mit seinem Hautast, die Nerven für
die Mm. rotatores femoris und den N. penis den Rami anteriores der ersten beiden Lenden-
nerven anreihe und sie dadurch auch als unter sich gleichwertig darstelle. Der letztere
Punkt ist zum Theil schon bei Besprechung der Rotatorennerven berührt, und ich
habe früher für sie und den Obturatorius den gemeinsamen Namen „Nn. lumbosacrales
anteriores“ vorgeschlagen. Bedürfte es noch eines besondern Beweises für die mor-
phologische Zusammengehörigkeit der Adduktoren- und Rotatorengruppe, so findet er
sich in der Beobachtung Wilsons‘), wo der ungewöhnlich starke Nerv des Quadratus
*) Abnormal distribution of the nerve to the quadratus fem. in man. Journ. of Anatomy and
physiology XXIII, pg. 354 ft.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 46
3a —
femoris nach Abgabe seiner gewöhnlichen Zweige an Gemellus inf, Hüftgelenk und
@Quadratus zwischen Obturator externus und Proximalrand des Adduetor magnus auf
des letztern Ventralfläche trat und ihn 2 Zoll breit innervirte. Der distale Theil
des Muskels wurde regulär vom N. obturatorius versorgt. Leider sagt der Autor
nichts über die Verhältnisse im Plexus, die doch höchst wahrscheinlich einen Finger-
zeig hätten geben können, wie die sonst im Obturatorius verlaufenden Fasern in die
Bahn des Quadratusnerven gelangt sind. Zu konstruiren ist ja der Process unschwer.
Denn wir haben bei der Besprechung der Rotatorennerven gesehen, dass der Nerv
für Quadratus fem. seine Fasern aus der ersten Wurzel des Plexus ischiadieus er-
hält. Derselbe Spinalnerv giebt aber gleichzeitig die letzte Wurzel für den N. obtu-
ratorius ab, sodass eine Abspaltung der Fasern zu dem genannten Adduetorabschnitt
recht wohl verständlich würde, wenn man nachweisen könnte, dass sie für gewöhnlich
in der letzten Obturatoriuswurzel verliefen. Bei den Marsupialien scheint übrigens
die Ausdehnung des Quadratusnerven auf den ganzen Adductor magnus typisch zu
sein, soweit Cunninghams*) und Wilsons Beobachtungen reichen. Aber gegen die
Unveränderlichkeit der Beziehungen zwischen Nervenversorgung und Muskelhomologie
spricht das keineswegs, wie der Erstere will. Man muss nur die Grenzen. in denen
eine gewisse Variation hinsichtlich des Nervenverlaufs stattfinden kann, nicht zu eng
ziehen, wie Cunningham es thut. Dann braucht man auch noch lange nicht die
Entstehung der Variante ins Rückenmark oder ins Gehirn zu verlegen, sondern wird
meist schon im Plexus eine Aufklärung erhalten.
Den N. penis den Nn. lumbosacrales anteriores beizugesellen, fühle ich mich
berechtigt durch die typische Lage seiner ersten Wurzel, die sich konstant von einer
Wurzel des Nerven für den Obturator internus abzweigt. Dadurch werden die Lage-
beziehungen dieses Nerven zum Plexus die gleichen wie bei den vorgenannten.
Diese Nervenserie als (einen Konflux mehrerer) Rami anteriores aufzufassen,
darin werde ich durch zwei Thatsachen bestärkt. Erstens werden von ihr Muskeln
und Haut in unmittelbarer Nähe der ventralen Mittellinie des Körpers versorgt wie
von den Rami anteriores typischer Interkostalnerven. Das Bild gestaltet sich nur
etwas ungewöhnlich infolge der starken Verkürzung, die der Körper gerade an dieser
Stelle im Bereich der Mittellinie erfahren hat, wodurch das äussere Genitale weit
proximalwärts zwischen die Pubiea hineingeschoben erscheint, während es ursprüng-
*) Report on some points in the anatomy of the Thylacine ete. Zoolog. Challenger Exped.
Part. XVI, 1881.
lich distal vom Ischium sich befand. Dadurch kommt es denn, dass Nerven aus dem
Ende des Plexus lumbosacralis Theile versorgen, die scheinbar weiter proximal ge-
legen sind als die Verbreitungsgebiete von Nerven aus dem Anfange des Plexus. —
Bei den Nn. thoraciei anteriores, die ich in den früheren Mittheilungen vorläufig als
den Nn. lumbosacrales anteriores analog bezeichnete, aber ausserdem als deren
zweifellose Homologa betrachte, wird der Versuch einer Reduktion auf Rami anteriores
typischer Interkostalnerven erleichtert durch die Beziehungen dieser Nerven zu
dem M. sternalis. Letzterer wird bekanntlich nicht nur von den Rami anteriores
mehrerer Interkostalnerven (des 3.—5.), sondern auch noch durch einen Zweig der
Nn. thoraciei antt., der den Peetoralis maior durchbricht, innervirt. Eine Doppel-
versorgung eines nicht zusammengesetzten Muskels aber kann nur aus gleichartigen
Nerven erfolgen.
Die zweite Thatsache ist der Abgang der in Rede stehenden Nerven aus dem
Plexus und der von ihnen eingeschlagene Weg nach ihren Endgebieten. Hier werden
uns wieder die Befunde in den Uebergangszonen bedeutungsvoll. Wir sehen am 12.
Dorsalnerven den Ramus anterior oft nicht mit dem Ram. lateralis verlaufen, sondern
gleich nach dem Austritt aus dem Foramen intervertebrale abgespalten. Er hält sich
dabei aber immer noch an der lateralen Bauchwand. Bei L, ist das sehr häufig
schon nicht mehr der Fall; der Ileoinguinalis, sofern er den reinen Ramus anterior
darstellt. zieht vom Austritt aus dem Psoas sofort nach dem lateralen Rande seines
Innervationsgebietes, schräg durch die Fossa iliaca in die Bauchwand. Der Ram.
anterior aus L,' (Spermaticus ext.) verfolgt einen noch direkteren Weg, indem er gleich
auf dem Psoas mit nur geringer lateraler Abweichung die Bauchwand erreicht. Dies
Verhalten ist mehr als eine blosse Zufälligkeit, es liegt etwas gesetzmässiges
in einer solchen Emanzipation, das sich vielleicht am besten so formulieren lässt:
„Die Rami anteriores der Spinalnerven zeigen in den Uebergangszonen je näher der
Extremität, um so mehr das Bestreben, auf dem kürzesten Wege ihr Endgebiet zu
gewinnen.“ An der proximalen Extremität ist zwar die Uebergangszone viel schmaler,
aber auch da lässt sich die Wahrheit dieses Satzes erweisen. Ich fand beim Gorilla
beiderseits und verschiedene Male beim Menschen den Ram. anterior des 1. Dorsal-
nerven gleich vom Austritt aus der Wirbelsäule frei und seitlich über die Pleura-
kuppel hinweg nach dem ventralen Ende des Interkostalraumes bezw. gegen das
Austrittsloch verlaufend. — Im Plexus selbst erscheint das Bestreben, den Weg ab-
zukürzen, noch mehr ausgesprochen; die aus Homologis der Rami anteriores ent-
standenen Nerven heben sich unmittelbar von der Vorderfläche des Plexus und wenden
46*
— 36 —
sich direkt ventral gegen ihr Versorgungsgebiet. So sehen wir es im Plexus
brachialis an den Nn. thoraeiei antt., im Plexus lumbosacralis an den Nn. lumbo-
sacrales antt.
Voigt hat in seinen „Beiträgen zur Dermatoneurologie“ ein System von
Linien auf dem menschlichen Körper konstruirt, welche die Haut des Rumpfes in
ein vorderes, der Vertheilung der Rami perf. anteriores entsprechendes, ein seitliches,
den Rami perf. laterales angehöriges, und ein hinteres, von den Rami perff. posteriores
versorgtes Verästelungsgebiet eintheilen. Das seitliche Gebiet lässt er in das hintere
der proximalen, in das vordere der distalen Extremität übergehen. Aber da ergiebt
sich eine Reihe von Willkürlichkeiten und Unzuträglichkeiten, dorsale Nerven sind
in einem Gebiete mit ventralen bunt zusammengelegt, sodass die Eintheilung völlig
unbrauchbar wird. Hätte Voigt in sein seitliches Verästelungsgebiet noch eme
Linie, gewonnen durch Verbindung der Austrittsstellen der Rami perforantes laterales,
eingetragen, ,so würde er ein besseres Eintheilungsprineip gefunden haben. Denn
dadurch wird die ventrale Hälfte des Rumpfes von der dorsalen abgegrenzt, und in
der erstern besteht ein rein ventrales neben einem ventrolateralen, in der letztern ein
rein dorsales neben einem dorsolateralen Verästelungsgebiete. Wenden wir dann für
die Extremitäten unsere im Vorstehenden begründete Auffassung der Plexusnerven
an, so lässt sich von der Austrittstelle des Ram. lateralis des Ileohypogastrieus aus
die laterale Mittellinie des Rumpfes nach dem Medialrand der Patella, von da entlang
der Crista tibiae zum Medialrand des Fusses und rückläufig vom Lateralrand des
Fusses und der Ferse, entlang der Achillessehne, medial am Köpfchen der Fibula
vorüber gegen das Tuber ischii verfolgen, von wo sie mit distaler Konkavität gegen
das Steissbein hin ausläuft.‘) Dass diese Linie die einzig praktikable für die distale
Extremität ist, wird man schon daraus entnehmen, dass durch sie das Gebiet der
dorsalen Hautnerven vollständig von dem der ventralen geschieden wird. Und projizirt
man (die Linie auf die tiefen Theile, so werden in der Muskulatur dorsale und ven-
trale Gruppen ziemlich rein abgesetzt. Man ersieht auch ohne Weiteres den Grad
der Einwärtsrotation, durch welche die Extremität aus der phylo- und ontogenetisch
primitiven Stellung in die definitive Lage zum Körper gekommen ist.
Abduzirt man den Schenkel in der Frontalebene und rotirt ihm etwas aus-
wärts, so erhält man die primitive Stellung annähernd wieder, und es fällt die Seiten
*) Für die proximale Extremität ist die Verlängerung der Seitenlinie gleichermassen einfach ZU-
konstruiren, wenn man dorsale und ventrale Plexusderivate streng auseinander hält.
linie des Rumpfes in die gleiche Ebene mit der dorsoventralen Grenzlinie der Ex-
tremität, wobei letztere zugleich den proximalen und distalen Rand der Extremität
markirt. Entlang dem proximalen Rande entfalten sich in die Schenkelhaut an dorsalen
Nerven nacheinander 1. der Dorsolateralzweig des Ram, perf. lateralis vom Ileohypo-
gastrieus, 2. der Lateralzweig des Lumboinguinalis, 3. der Cutaneus fem. lateralis, 4. der
Cutaneus fem. anterior. Entlang dem distalen Rande folgen sich 1. der Cutaneus elun.
inf. medialis (Perforans), 2. der Cutaneus elun. inf. lateralis, 3. der Cutaneus femoris
posticus lateralis. Vergleicht man diese Reihenfolge mit dem Ursprung der betreffenden
Nerven aus dem Plexus, so ergiebt sich, dass an dem proximalen (praeaxialen) Rande
die der Körperaxe näher gelegenen Hautpartien von Nerven versorgt werden, die weiter
proximal im Plexus entspringen als die Nerven zu den der Körperaxe ferner liegenden
Stellen, dass dagegen in dem distalen (postaxialen) Gebiete es sich gerade umgekehrt
verhält. Es bedarf keiner speziellen Ausführung, dass bei der Innervation der ven-
tralen Partien das Gleiche der Fall ist. Dies Ergebniss stimmt völlig mit einem
der allgemeinen Sätze überein, die Herringham aus einer eingehenden Untersuchung
der”Innervationsverhältnisse der proximalen Extremität gewonnen hat. Ich eitire nach
Paterson. der diese Sätze in vollem Umfange für die Extremitäten überhaupt an-
gewandt wissen will, und lasse sie hier ihrer Wichtigkeit wegen wörtlich folgen: 1.
Von 2 Muskeln oder 2 Theilen eines Muskels ist der dem proximalen Ende des
Körpers nähere von einem proximalen, der dem distalen Ende nähere von einem
distalen Nerven versorgt; — 2. Von 2 Muskeln ist der der Längsaxe des Körpers
näher gelegene von einem mehr proximalen Nerven versorgt als der weiter gegen
die Peripherie gelegene; — 3. Von 2 Muskeln ist der oberflächlichere von mehr
proximalen Nerven versorgt als der tiefere; — 4. Von 2 Hautstellen ist die näher
dem präaxialen Rande der Extremität gelegene von einem mehr proximalen Nerven
versorgt; — 5. Von 2 Hautstellen im präaxialen Gebiet wird die distale von einem
mehr distalen Nerven versorgt; von 2 Stellen im postaxialen Gebiete aber wird die
distale von einen mehr proximalen Nerven beschickt.
Hinsichtlich der Hautnerven berechtigen unsre Befunde uns ohne weiteres den
Ansichten Herringhams beizutreten. Die Muskelinnervation der distalen Extremität
scheint sich mir aber nicht in gleich einfacher Weise abhandeln zu lassen. Nehmen
wir als Beispiel zunächst die Gruppe der Mm. flexores eruris, so passt das unter 1.
Gesagte ganz gut, da der Bicepsnerv weiter distal im Plexus entspringt als der
Nerv des Semimembranosus. Dagegen wird der zweite Satz schon durch den Se-
mitendinosus widerlegt; denn dessen proximaler Bauch erhält einen Nerven, dessen
— BT
Fasern distal zu denen für den distalen Bauch aus dem Plexus kommen. Ausserdem
vergleiche man auch die Innervation der Rotatoren, um das Gegentheil zu sehen. —
Der dritte Satz steht ebenfalls im Widerspruch mit der T’hatsache, dass die Nerven
des Semitendinosus weiter distal entspringen als die für den Semimembranosus, oder,
was noch leichter zu erkennen, dass der M. glutaeus maximus seine Nerven aus
weiter distal gelegenen Wurzeln bezieht als die von ihm gedeekten Mm.. glutaei
medius und minimus. Ich habe das Verhalten der Armmuskelinnervation noch nicht
näher studiren können, muss also einstweilen dahingestellt sein lassen, ob Herring-
hams Sätze dort zu Recht bestehen. —
Zum Schlusse komme ich noch einmal auf die in meinen frühern Mittheilungen
gemachten Vorschläge hinsichtlich einer Regelung der Nomenklatur für das hier
behandelte Gebiet zurück. Lässt man die Gesamtbezeichnung „Plexus lumbosacralis“
bestehen, so dürfte es sich doch aus morphologischen wie praktischen Gründen
empfehlen, die Nerven, welche direkte Beziehungen zur distalen Extremität gewinnen,
nicht wie bisher in einen Plexus lumbaris und ischiadieus auseinanderzureissen, zumal
der erstere gar nieht alle Lendennerven in sich begreift, der Name des letzteren aber
ganz unpraktisch erscheint, da er noch nicht einmal wie jener das Ursprungsgebiet
der zugehörigen Nervenmasse bezeichnet. Ein einfacher „Plexus eruralis“ giebt so-
fort das Verbreitungsgebiet der Nerven an, wie die Nerven der Oberextremität in
einen „Plexus brachialis“ zusammengefasst sind. Aus der proximalen Hälfte eines
solchen Plexus eruralis entwickelt sich ein „N. femoralis anterior“, der bisherige Uru-
ralis, aus der distalen Hälfte ein „N. femoralis posterior“, der bisherige Ischiadieus,
der früher oder später in seine beiden Hauptkomponenten, 'Tibialis nnd Peroneus,
zerfällt, Distal ist, zwar ohne direkte Beziehungen zur Extremität, untrennbar mit
dem Plexus eruralis der Plexus pudendohaemorrhoidalis oder perinealis verbunden.
Die darüber hinaus gelegenen kaudalen, rudimentären Spinalnerven behalten ihren
Namen „Plexus caudalis“, dessen genaue Abgrenzung gegen den vorhergehenden aber
erst noch aus vergleichend-anatomischen Untersuchungen gewonnen werden muss.
Am proximalen Ende des Plexus lumbosacralis aber würden die rein abdominalen
Nerven der Uebergangszone aus den Beschreibungen der Extremitätennerven aus-
zuscheiden, eventuell als dorsolumbare Uebergangsnerven zu charakterisiren und zu-
sammen mit den reinen Dorsalnerven zu behandeln sein.
In den vorliegenden Blättern glaube ich nieht nur den Nachweis geleistet zu
haben, dass in der makroskopischen Anatomie des Menschen noch manches klar-
— 359 —
gestellt werden kann, sondern auch der Rolle eines Vermittlers zwischen den aus-
einandergehenden Ansichten über den Bau des Plexus lumbosaeralis einigermassen
gerecht geworden zu sein. Wenn sich in den Betrachtungen des letzten T'heiles
meine Folgerungen gelegentlich über den Menschen hinaus auf die Wirbelthiere im
Allgemeinen erstrecken, kann man mir vielleicht den Vorwurf machen, dass ich die
Berechtigung dazu erst durch eine entsprechende Bearbeitung vergleichend-anatomischen
Materials hätte erlangen müssen. Dazu fehlt es mir aber einmal an Zeit und Material,
andrerseits habe ich weder bei v. Jhering und Paterson noch sonstwo vergleichende
Angaben gefunden, die meiner Auffassung von Plexus- und Extremitäten-Bildung und
Verschiebung widersprächen, sodass ich die Ueberzeugung hege, jede Nachunter-
suchung einer genügend grossen Anzahl Individuen einer beliebigen Wirbelthier-
spezies werde ganz den meinigen gleiche Resultate zu Tage fördern. Durch meine
Auslegung der Thatsachen wird man auch nicht mehr gezwungen sein, in dem Masse
wie bisher für jeden nicht unmittelbar klarliegenden Befund die dereinstige Ent-
scheidung der Embryologie zuzuschieben. Die Embryologie wird auch später nicht
auf jede Frage eine Antwort geben.
Zu den Tafeln II —V.
Die Figuren sind nach den Öriginalzeichnungen verkleinert. Durchgängig sind die spinalen
Plexuswurzeln so bezeichnet, dass mit Z, der 21. Spinal- (13. Dorsolumbar-) nerv, mit 8; der 26. Spinal-
(18. Dorsolumbar-) nerv benannt ist. i
Für alle Figuren giltige Bezeichnungen:
Di, » = N. dorsalis XI, XI.
Lı s = N. lumbaris I—_\.
Sıs = N.sacralis IV.
CO —=N. coceygeus.
a —= N. perforans eoceygeus maior.
b, b = Nn. perforantes coeeygei minores.
bib = N. für das Caput breve bieipitis.
Dil — 0 Mama
cfa = N. eutaneus fem. anterior.
Win 5 „ medialis.
de; e „ lateralis.
CHE a „ posticus communis.
coece—=N. für den M. coceygeus.
MM — 5 mn m, eurvator coccygis.
Or =N. eruralis.
fle@e — Nn. für die Mm. flexores cruris.
ge = N. genitocruralis.
gi = N. für den M. gemellus inferior.
gli = N. glutaeus inferior.
Be; 5 superior.
gs = N. für den M. gemellus superior.
hae = N. haemorrhoidalis externus.
a —= N. ileoinguinalis.
ih = N. ileohypogastrieus.
id =N. für den M. iliacus.
Ü— ee EOpEGaR:
Fig. 7.
361
lev = N. für den M, levator ani.
li = N. lumboinguinalis.
ob = N. obturatorius.
oba — N. obturatorius accessorius.
ot —= N. für den M, obturator internus und (wenn nicht besonders angegeben) für den M. ge-
mellus superior.
p = Ramus perinealis des N. cutan. fem. post. comm,
Pe = N. peroneus,
pe = N. pectineus.
pen — Ram. dorsalis penis N. pudendi.
per = Ram. perinealis N. pudendi.
pf = N. eutaneus elunium inf. medialis (perforans lig. saerotuberosi aut.).
pud — N. pudendus.
py = N. pyriformis.
qu —=N. für den M. quadratus fem. und (wenn nicht besonders angegeben) für den M. ge-
mellus inf.
Re — Ramus iliacus des N. ileohypogastrieus.
sa —= N. saphenus magnus.
sm — N. für M. semimembranosus und adductor magnus.
spe — N. spermaticus externas.
st—=N. für M. semitendinosus.
Ti = N. tibialis.
Tafel II.
Normaler Plexus, dorsale Ansicht. Z, giebt ?2/;, an den Plex. sacralis. c/l war dem Ur an-
geschlossen.
Normaler Plexus, ventrale Ansicht (dorsale s. Fig. 5). ZL, schiekt #/- an den Plex. sacralis,
Ursprung der Nn. lumbosacrales anteriores und des N. obturatorius accessorius.
Normaler Plexus, dorsal. 2, gibt !/, an den Plex. sacralis. Pe und 7%, nicht künstlich getrennt,
fassen eine kleine A. comes superior (ac) zwischen sich. Ein N. cutan. elun. inf. lateralis ent-
springt erst aus dem Pe. Der N. eutan. elun. inf. medialis (pf) kommt von der Wurzel des
Pudendus. gls‘durchbrach den M. pyriformis und ging in den M. glut. medius.
Normaler Plexus dorsal. Von Z, geht !/, an den Plexus sacralis. mm an Quadriceps femoris.
Normaler Plexus, dorsale Ansicht des Plexus in Fig.2. Sehr komplizirte Verhältnisse im Lenden-
theil. mm = Muskeläste; & — Anastomose an cfa.
Normaler Plexus dorsal; rechte Seite zu dem vorigen. ZL, gibt 3/, an den Plexus sacralis. Sehr
komplizirter Lendentheil: sc = N. subeostalis; gl = Nn. für Quadratus Jumborum; für Bauch-
muskeln und Ram. lateralis des N. ileoinguinalis; @@° für Haut des Mons pubis und Scerotum;
x an den Funieulus spermaticus; y durch Fovea ovalis an die Schenkelhaut medial proximal;
2 an Serotum lateral und Femur medial; 6,7 über Tensor fasciae latae lateral dorsal und ab-
wärts; $ an Femur vorn über dem Ileopsoasdreieck; 9, /0 über Sartorius abwärts bis zur Schenkel-
mitte; 7/3 von lateral her an die Haut über der Fovea ovalis; cfa@‘ über Sartorius herab bis zum
Knie; sa enthält einen N. cut. fem. medialis; mm an Quadriceps femoris; ip in den Ileopsoas
distal; sart an M. sartorius.
Normaler Plexus dorsal. ZL, entsendet ®/- an den Plex. sacralis. Komplizirter Ursprung des gls.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 47
Fig.
Fig.
8.
ie. 9.
10.
ja:
. 13.
le
Sl
. 16.
— 30
Der N. eut. fem. post comm. ist aufgelöst: cl! = Nn. cut. elun. inff. laterales; cfpl an Femurhaut
lateral; c/pm an Femurhaut medial distal, efpm‘ medial proximal; c/m medial, clm‘ lateral an
Tuber ischii aufwärts in die Gesässhaut (N. eut. elun. inf. medialis); x an Haut dicht distal vom
Tuber, p an Perineum und Femur medial proximal.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus Z, und L;, dorsal (ventral s. Fig. 16). Die Wirbel-
säule enthält 13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 4 Kaudalwirbel. Der Plex. sacralis war natür-
lieh getheilt durch den M. pyriformis.
gls‘ geht durch den M. pyriformis in den M. glut. medius. Der N. eut. fem. post. com-
munis ist in seine Komponenten zerlegt: cfpm an mediale, cfpl an laterale Hälfte des Femur
bezw. Crus; 5, 7,6 = Nn. cut. elun. inff. laterales; 7 — indifferenter Hautnerv an der Grenze
zwischen dorsalem und ventralem Versorgungsgebiet, etwa über der Mitte des Distalrandes des
M. glut. max.; 2,4,5 an Haut über und medial von dem Tuber ischii; 3 und p an Haut distal
vom Tuber und an Perineum; 9 an Femur proximal medial bis zur Mitte herab. — pud = tiefer,
pud‘ — oberflächlicher Theil des Ram. perinealis pudendi.
Normaler Plexus dorsal. L, gibt ?2/; an den Plex. sacralis.
ell = N. elun. inft. laterales; cfp — laterale und mediale distale Portion des N. cut.
fem. post. comm. für die Schenkelhaut; efpm an Schenkelhaut medial proximal; elm an Gesäss-
haut medial von cl!, aber noch lateral von pf (n. cut. elun. inf. medialis); © an Schenkelhaut
dieht distal vom Glutaeus max., über dem Austritt des cfp (indifferenter Hautnerv auf der Grenze
des dorsalen und ventralen Innervationsgebietes).
Abnormer Plexus ventral. L; = N. furealis, Ls ist nicht mit Z, in Zusammenhang. Von einer
Wirbelsäule mit 13 Dorsal- und 5 Lumbarwirbeln. Plexus saeralis war durch den Pyriformis
natürlich getheilt. ps an M. psoas; mm an Quadriceps femoris. Die Nn. lumbosacrales ante-
riores sind dunkler gehalten.
Normaler Plexus, dorsal. Aus einer Leiche mit 12 Dorsal- und 5 Lumbarwirbeln, deren letzter
beiderseits durch Gelenkflächen am Proc. lateralis mit den Seitentheilen des Sacrum artikulirte.
L, gibt ?/, an den Plex. sacralis. Der N. cut. elun. inf medialis (pf) kommt von der Wurzel
des Pudendus.
. Abnormer Plexus, ventral (dorsal s. Fig. 24). ZL; ist N. furcalis, von L, geht aber bereits ein
schwaches Bündel (2) an L;. Der Plex. sacralis war durch den M. pyriformis natürlich getheilt.
Ursprünge der Rotatorennerven: © an das Hüftgelenk, g« an M. gemellus inf, und
quadrat. fem., gs an M. gemellus sup., 0% an dem M. obturat. int. innerhalb, o:‘ an denselben
ausserhalb des Beckens.
Normaler Plexus dorsal. ZL, gibt die Hälfte an den Plex. sacralis.
Normaler Plexus dorsal. Von ZL, geht !/, an den Plex. sacralis.
Normaler Plexus ventral (zu Fig. 35). Anastomose des oba mit einem Teile des cf. Die Nn.
lumbosacrales anteriores sind dunkler gehalten. — sy — Zweig an den Grenzstrang des Sym-
pathieus.
Tafel IV.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L, und L;, ventral. Aus einer Leiche mit 13 Dorsal-,
5 Lumbar-, 5 Sakral-, 4 Kaudalwirbeln (dorsale Fläche dazu s. Fig. 8). Plexus sacralis durch
Pyriformis natürlich getheilt.
Ursprung der Nn. für die flexores eruris vom 7% abgelöst. — per = tiefer, per! =
oberflächlicher Ast des Ram. perinealis pudendi. — comm = N. eommunicans tibialis.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Fig.
Alk
18:
1):
20.
Sal:
. 22.
.. 26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
—— 363
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L; und Ly, dorsal.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus Z; und Z,, dorsal. Linke Seite zu dem Plexus in Fig. 17.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L; und L,;, ventral. — Von einer Wirbelsäule mit
12 Dorsal-, 5 Lumbar-, 6 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln, wobei der letzte Lendenwirbel ganz dem
Sakrum assimilirtt war und an der Bildung der Facies aurieularis beiderseits theilnahm. Der
Plex. sacralis wurde durch den Pyriformis natürlich getheilt.
‘ti enthält hier nur Hautzweige, die Muskelzweige führt h mit; % ist nur die mediale
Portion des N. lumboinguinalis, die laterale ist in cfl eingegangen.
Normaler Plexus ventral. ZL, gibt !/,,; an den Plexus sacralis. — Ursprung des oba.
Abnormer Plexus mit Ueherkreuzung aus Z, und Z;, dorsal. Linke Seite zu dem Plexus der
Fig. 34. Aus einer Leiche mit 13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln. Plexus
sacralis durch Pyriformis natürlich getheilt.
Abnormer Plexus mit komplizirter Ueberkreuzung aus L, und Z;, dorsal. Rechte Seite zu
Fig. 30. Aus einer Leiche mit 12 Dorsal-, 6 Lumbar-, 5 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln, wobei der
6. Lendenwirbel ganz an das Sakrum assimilirt war und an der Bildung der Faecies aurieularis
theilnahm. Der Plex. sacralis war durch den Pyriformis natürlich getheilt.
3. Plexus mit Ueberkreuzung aus Z,; und Z;, dorsal. Linke Seite zu dem Plexus Fig. 28.
. Abnormer Plexus dorsal; L; —=N. furealis; durch z ist aber bereits die Form der überkreuzten
Nn. fureales aus Z, und ZL, angedeutet (zu Fig. 12).
Bei x ist die dorsale Ursprungsportion des cfp abgeschnitten und herabgezogen.
. Normaler Plexus ventral. Die lumbosakrale Uebergangsportion beträgt nur !/,, von Lz,. Aus
einer Leiche mit 13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln.
Normaler Plexus ventral, mit einem lumbosakralen Uebergange, der leicht eine Ueberkreuzung
vortäuschen könnte. L, gibt etwa !/, an den Plexus sacralis. Von einer Wirbelsäule mit
13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakralwirbeln. (Zusammengehörig mit dem Plexus in Fig. 29.)
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus Z, und ZL;, dorsal. Von einer Wirbelsäule mit
13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 4 Kaudalwirbeln. Linke Seite zu dem Plexus in Figg. 16
bezw. 8. Der Plex. sacralis war durch den Pyriformis natürlich getheilt.
Zweige des N. glut. superior: glım an Glutaeus minimus, ln‘ an die Scansoriusportion
desselben, fe an Tensor faseiae latae, yls an Glutaeus medius. — Zweige des N. cut. fem. post.
comm.: cl = Nn. elun. inff. laterales, cfp — vereinigte dorsale und ventrale Fasern für Femur
distal und Crus proximal; = an Femur lateral proximal; y an Femur medial proximal; 2 an die
Haut der Tubergegend.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus Z, und L;, dorsal. Aus einer Leiche mit 12 Dorsal-,
6 Lumbar-, 5 Sakral-, 4 Kaudalwirbeln, wobei der letzte Lumbarwirbel links durch den Quer-
fortsatz mit dem Sakrum artikulirend verbunden war.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L; und L;, dorsal. Rechte Seite zu dem Plexus der
Fig. 26.
Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L, und L,, dorsal. Linke Seite zu Fig. 22. Natür-
liche Theilung des Plexus sacralis durch den Pyriformis.
Normaler Plexus dorsal. Aus einer Leiche mit 13 Dorsal- und 5 Lumbarwirbeln. Z4 gibt !/;
an den Plex. sacralis.
Lendentheil eines normalen Plexus ventral. Von ZL, gehen ®/, in den Plex. sacralis über.
iv — ventraler (medialer) Theil des N. lumboinguinalis, während der dorsale dem efl
angeschlossen ist. = ging theils in das Periost der Peetengegend, theils über Pecten weiter, war
aber da abgeschnitten.
— 364 —
Tafel V.
Fig. 33. Plexus mit Ueberkreuzung aus L, und ZL;, dorsal. Von einer Wirbelsäule mit 13 Dorsal-,
4 Lumbar-, 5 Sakral-, 4 Kaudalwirbeln.
Fig. 34. Plexus mit Ueberkreuzung aus Z, und L,;, dorsal. Rechte Seite zu dem Plexus der Fig. 33.
gls’ an den M. pyriformis und durch ihn an Glutaeus medius.
Fig. 35. Normaler Plexus dorsal (ventral s. Fig. 15). Aus einer Leiche mit 13 Dorsal- und 5 Lumbar-
wirbeln. Zy gibt !/, an den Plexus sacralis. Letzterer war durch den M. pyriformis natürlich
getheilt.
Fig. 36. Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus L,; und ZL,, dorsal. Von einer Wirbelsäule mit
13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln, — Natürliche Theilung des Plexus sacralis
durch den M. pyriformis.
Fig. 37. Normaler Plexus ventral. Z, schickt ?/, an den Plexus sacralis.
Fig. 38. Abnormer Plexus mit Ueberkreuzung aus Z; und Z;, ventral. Von einer Wirbelsäule mit
13 Dorsal-, 5 Lumbar-, 5 Sakral-, 3 Kaudalwirbeln.
Fig. 39. Normaler Plexus dorsal; von Zy, spalten sich 5/, an Plexus sacralis ab.
Historische Entwiekelunge
der
Lehre von der Parthenogenesis.
Dr. ©. Taschenberg,
Professor in Halle.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 48
Al
" |
2,
FA IK, ottae
7
Das Material, welches der nachfolgenden Darstellung zu Grunde liegt, war zum grösseren Theile schon
vor etwa zehn Jahren gesammelt und sollte Verwendung finden in einer umfassenden Darstellung der
gesammten Lehre von der Zeugung der Thiere, wie auch meine historische Skizze über die Urzeugung
der gleichen Veranlassung ihre Entstehung verdankt. Das beabsichtigte Buch über die Zeugung wird
wohl niemals von mir geschrieben werden; das vorliegende Kapitel aber schien mir nicht ungeeignet,
einer Festschrift einverleibt zu werden, die einem Manne dargebracht wird, welcher manchen Grundpfeiler
zu der Lehre von der Parthenogenesis gelegt hat. Indem ich ihm, meinem hochverehrten Lehrer, hier-
durch meinen herzlichsten Glückwunsch darbringe, möchte ich ihm gleichzeitig einen Zeitraum aus dem
Entwicklungsgange seiner Forschungen in das Gedächtniss zurückrufen, welcher zeigt, wie die Fortschritte,
die er auf seinem arbeits- und segensreichen Wege gemacht hat, zugleich bedeutungsvolle Marksteine für
unsere gesammte zoologische Wissenschaft bedeuten.
Der Ausdruck Parthenogenesis wurde zuerst von Owen!) für die beim
Generationswechsel auftretende ungeschlechtliche Fortpflanzung gebraucht und erst
später (1856) von Siebold in einem etwas anderen Sinne auf diejenige Art von
Zeugung übertragen, bei welcher aus unbefruchteten, von wirklichen Weibchen
gebildeten Eiern junge Brut entsteht. Hierdurch wurde Siebold der Begründer einer
neuen Lehre, welche den früher als Gesetz ausgesprochenen Erfahrungsatz „lucina
sine coneubitu nulla* umstiess. Nicht. dass es vorher an Beobachtungen über un-
befruchtete und doch entwicklungsfähige Eier gefehlt hätte; dieselben wurden aber
von den Beobachtern selbst in einer anderen Weise — in der Regel durch die An-
nahme eines Hermaphroditismus — zu deuten gesucht, oder entbehrten der nöthigen
Genauigkeit, um sich allgemeinere Anerkennung zu verschaffen.
!) Owen, Rich., On parthenogenesis: a discourse introduetory to the Hunterian Lectures on
generation and development for 1849. London 1849. 8. (76p.) — In dem gleichen Sinne wird die
Bezeichnung angewandt von Prosch, V., Om Parthenogenesis og Generationsvexel, et Bidrag til Gene-
rationstaeren. Kjobenhavn, Trykt hos J. C. Scharling, 1851. 8.
48*
—— Sb
Wenn wir zunächst davon absehen, dass schon Aristoteles eine Vorahnung
von den eigenthümlichen Erscheinungen der Fortpflanzungsgeschichte der Bienen hatte,
so dürfte die älteste hierher gehörige Beobachtung aus dem Jahre 1667 herrühren,
wo Goedart ein Weibchen von Orgyza gonostioma, welches er aus der Raupe gezogen
hatte, unbefruchtete und doch fruchtbare Eier legen sah. Eine zweite Mittheilung,
welche gleichfalls auf das 17. Jahrhundert zurückreicht, bezieht sich auf eine
Spinne, von welcher ein gewisser Blancard an Hannemann schreibt: „Habeo ara-
neam, quae quattuor annos peperit ova, ex quibus iterum araneae sunt productae,
atque hoc possum affirmare, qud nullus maseulus adfuit et semper procreatae araneae.
Num sit hermaphroditae vestrum erit iudicare.* Ueber Spinnen ist nur noch zwei-
mal in dem gleichen Sinne berichtet worden (Dumeril 1861') und neuerdings Camp-
bell 1882), während die Beobachtungen an Schmetterlingen — es handelt sich dabei
fast immer um Spinner oder Schwärmer — von den verschiedensten Seiten bereichert
wurden. Wenn nun auch die meisten derartigen Mittheilungen’) weit entfernt waren,
1) Blanchard (Compt. Rend. T. 44. 1857. p. 741) gibt eine Aufklärung über solche Befunde. Er
beobachtete, dass überwinternde Spinnen, von Männchen isolirt, mehrere Jahre hindurch fruchtbare Eier legen
können. Aber von Parthenogenesis ist dabei keine Rede, sondern die zwei grossen receptacula seminis
bewahren das Sperma für mehrere Bruten. — Campbell hielt eine weibliche Hausspinne elf Monate in
Gefangenschaft, während welcher Zeit sie sich zweimal häutete und zuletzt Eier ablegte, aus denen einige
junge Spinnen auskrochen. Auch hier hätte durch anatomische Untersuchung festgestellt werden müssen,
ob die receptacula seminis Sperma enthielten oder nicht, um vorhergegangene Befruchtung oder jung-
fräuliche Zeugung festzustellen.
2) Ich lasse hier die in der Litteratur verzeichneten Fälle folgen, wobei die Gewährsleute mit
der Jahreszahl ihrer Publikation (nach welcher das Nähere im Litteraturverzeichnisse am Schlusse dieser
Abhandlung nachzusehen ist) in Parenthese beigefügt sind:
Acherontia atropos (Massa 1888 — einige Räupchen, die dann starben.)
Sphinz ligustri (Treviranus 1804; Nix 1869.)
Smerinthus populi (Nordmann [Burmeister] 1832; Brown 1835; Kipp 1853; Newnham
[Lubbock] 1857; della Torre 1877.)
Smerinthus ocellatus (Johnston 1848.)
Arctia caja (Brown 1835; Lecoq 1856; Robinson [Lubbock] 1857; Barthelemy 1859;
Schlapp [Keferstein] 1861.)
Arctia hololeuca (Popoff [Mannerheim] 1849.)
Arctia villica (Stowell [Lubbock] 1857; Ghiliani [Curö] 1870.)
Spilosoma menthastri (Vängel 1887.)
Saturnia polyphemus (Curtis [Filippi] 1851.)
Saturnia (Attacus) Cynthia (Girard 1863, 1872.)
Saturnia pyri (Vängel 1887.)
Bombyx (Sericaria) mori (Castellet 1795; Herold 1838; Boursier [Dumeril] 1847; Mög-
ling 1847; Cornalia 1856; Schmidt u. Siebold 1856; Gasparin 1857; Barthelemy 1859;
Jourdan 1861; Verson 1873; Siebold 1874; Tichomiroff 1886, 88, 89.)
—— 869 ——
jeden Zweifel an deren Richtigkeit auszuschliessen, und eben darum auch von Siebold
sämmtlich mit vielleicht allzu skeptischem Auge angesehen wurden, so liegen uns doch
auch schon aus früherer Zeit Beobachtungen über verschiedene Krebschen vor, durch
welche die parthenogenetische Fortpflanzung derselben auf das unzweideutigste be-
wiesen wird. Dieses Verdienst gebührt dem ehrwürdigen Pastor Schäffer zu Regens-
burg, welcher seine Untersuchungen an Wasserflöhen 1755 und an Aus ein Jahr
später der Oeffentlichkeit übergab. Uebrigens waren noch früher durch Leeuwen-
hoek (1695) und durch Bonnet (1745) ganz ähnliche Erfahrungen an Blattläusen
gemacht worden, welche ebenso wie die übrigen Mittheilungen jener Zeit über jung-
fräuliche Zeugung in der Folge durchaus bestätigt, wenn auch zunächst noch viel-
fach anders gedeutet wurden, als wir es heutzutage zu thun pflegen.
Der Anstoss zur wissenschaftlichen Begründung unserer Lehre ging jedoch
von keiner der bisher erwähnten 'T'hierformen, sondern von der Honigbiene aus,
welche, wie bereits angedeutet, schon für Aristoteles Veranlassung zu ähnlichen
Betrachtungen gewesen war. Dieser grosse Forscher des Alterthums spricht in seinem
Buche „Von der Zeugung und Entwicklung der Thiere“ die Sätze aus: 1. „Die Drohnen
Dombyx quercus (Plieninger 1849/ Westwood 1857.)
Bombyx rubi (Vängel 1887.)
Lasiocampa quereifolia (Basler [Bernouilli] 1772.)
Lasiocampa pini (Scopoli 1777; Suckow 1828; Lacordaire 1838; Goossens 1876.)
Lasiocampa potatoria (Burmeister 1832; Wejenbergh 1870.)
Psyche apiformis (Rossi [Ochsenheimer] 1810.)
Psyche Ecksteinii (Vängel 1887.)
Psyche Zelleri (Vängel 1887.)
Oiketicus Kirbyi (Berg 1874.)
Dasychira pudibunda (Witzel u. Werneburg [Keferstein] 1861.)
Liparis dispar (Carlier [Lacordaire] 1838; Tardy [Westwood] 1857; Weijenbergh 1870;
Pearce 1879; v. Bock 1887; Platner 1888.)
Leucoma salieis (Popoff [Keferstein] 1861.)
Leucoma ochropoda (Popoff [Keferstein] 1861.)
Örgyia gonostigma (Goedart 1667.)
Orgyia antiqua (Westwood 1857; Passavant 1870.)
Orgyia ericae (Maassen 1870.)
Diloba coeruleocephala (Bernouilli 1772. — Bernouilli nennt den Schmetterling Phalaena
pacta L., nach Keferstein (1861) ist es die genannte Art.)
Aglia tau (Weismann 1891. p. 104 — nur eine Ranpe.)
Aphomia colonella (Hofter 1885 — Raupen.)
Ocnogyna parasita (Vängel 1887.)
entstehen auch in einem königinlosen oder weisellosen Stocke“, und 2. „Die Bienen
erzeugen ohne Begattung Drohnen“.
Es ist bekanntlich das unsterbliche Verdienst des katholischen Pfarrers Dzierzon
zu Karlsmarkt in Schlesien, in unseren Tagen von neuem die Aufmerksamkeit auf
die eigenthümlichen Fortpflanzungserscheinungen der Bienen gelenkt, und gestützt auf
seine umfassenden Erfahrungen, die hier regelmässig auftretende Parthenogenesis
durchaus richtig geschlossen und zuerst 1845 öffentlich ausgesprochen zu haben.
Die Anatomen und Physiologen hatten sich damals so gut wie gar nicht mit der
Honigbiene und ihrem interessanten Haushalte beschäftigt und waren mithin nicht in
der Lage, die Dzierzon’schen Behauptungen aus eigenen Erfahrungen zu stützen
oder zu widerlegen. Dieselben blieben daher zunächst mehr oder weniger unbeachtet
und veranlassten nur unter den Imkern ein Hin und Her von Widersprüchen oder
Anerkennungen. Die Thatsache, dass Arbeitsbienen, welehe nach ihrem ganzen ana-
tomischen Bau nicht befruchtet werden können, zuweilen dennoch entwickelungs-
fähige Eier legen, hatte Siebold (1851) zu der Ansicht geführt, dass es sich hier
um einen Generationswechsel handeln möge, wie dieser Forscher auch die Fortpflanzung
der Blattläuse in dem gleichen Sinne deuten zu müssen glaubte.
Die immer wieder auftauchenden Nachrichten (Speyer, Wocke, Reutti) von
Schmetterlingen, namentlich von den sog. Sackträgern, welche häufig unbefruchtete.
entwicklungsfähige Eier legen sollten, veranlassten Siebold zu eigenen Beobachtungen
an diesen T'hieren. Er gelangte (1849) zu der Ueberzeugung, dass gerade bei diesen,
im weiblichen Geschlechte flügellosen, zuweilen ganz larvenartigen Insekten sehr leicht
Täuschungen unterlaufen und zur irrigen Annahme einer Parthenogenesis führen
können, und blieb zunächst noch ein Gegner dieser letzteren. Als er sich dann von
der Fortpflanzung männerloser Solenobien überzeugt hatte, war er auch hier geneigt,
diese Individuen für die Ammen innerhalb eines Generationswechsels in Anspruch zu
nehmen (1850), und erst als er ein Jahr später durch anatomische Zergliederung die
wahre weibliche Natur derselben erkannt hatte, führte er die Bezeichnung „Partheno-
genesis“ für diese Art der Fortpflanzung ein. So wurde durch eine „Ironie des
Schicksals“ einer der entschiedensten Gegner der Jungfernzeugung zu ihrem wissen-
schaftlichen Begründer. Dies geschah 1856 in der Schrift „Wahre Parthenogenesis
bei Schmetterlingen und Bienen“.
Wie mächtig übrigens das Dogma von der nothwendigen Befruchtung der Eier
und daher die feindliche Stellung dieser neuverkündigten Fortpflanzungsart gegenüber
war, ist am besten ersichtlich aus den Worten Rudolf Wagner’s, welche er bei
37l —
Besprechung der Siebold’schen Schrift nicht unterdrücken konnte. „Durch diese
Parthenogenesis — so heisst es in den Göttinger Gelehrten Anzeigen — ist leider
eine der aller unbequemsten und der Hoffnung auf sog. allgemeine Gesetze der
thierischen Lebenserscheinungen widerwärtigsten Thatsachen in die Physiologie ein-
geführt worden. Erfreulich oder besonders aufmunternd für die Lobpreisungen unserer
gerühmten Fortschritte in der theoretischen Erkenntniss der Lebensprozesse kann es
unmöglich sein, und aufrichtig gesagt, kann ich mich eigentlich so wenig darüber er-
freuen, als es bei einem Physiker der Fall sein würde, wenn plötzlich ein oder
mehrere Ausnahmefälle von dem Gravitationsgesetze entdeckt würden.“
Nicht viel anders stellt sich Leydig (1860) zur Parthenogenesis, wenn er sagt
(pag. 65): „Gar manchem Leser der eitirten v. Siebold’schen Schrift mag es gegangen
sein wie dem Schreiber dieses; man durchgeht das sinnig geschriebene Buch mit
Spannung vom Anfang bis zum Ende und freut sich über Bienenzüchter und Natur-
forscher, aber die eigentliche Wirkung ist keine angenehme, besonders für die nicht,
welche mit Liebe der Idee huldigen, es halte die Natur in den wichtigsten Lebens-
vorgängen an gewissen Maximen gerne fest und lasse sie nicht leicht fahren. Von
diesem Geschichtspunkte aus möge es entschuldigt werden, wenn ich gegen die
„wahre Parthenogenesis“, so wie sie hingestellt wird, einige Einwendungen erhebe.“
Seit der grundlegenden Arbeit Siebold’s wurde die Lehre von der jungfräu-
lichen Zeugung nicht nur durch Bestätigung schon früher beigebrachter Beobachtungen
immer fester gestützt, sondern auch durch neue Erfahrungen bedeutend erweitert und
in ihrem Verhältnisse zu den übrigen Fortpflanzungsarten richtiger erkannt. Es
waren namentlich v. Siebold selbst und Leucekart, welche durch treffliche Unter-
suchungen unsere Kenntnisse bereicherten. Dass daneben auch Stimmen (Tigri,
Schaum, Plateau u.a.) laut wurden, welche den Errungenschaften mühsamer und
scharfsinniger Beobachtungen mit allerlei unbegründeten und von Vorurtheilen ein-
gegebenen Bedenken entgegenzutreten versuchten, ist eine im Entwieklungsgange
jeder Wissenschaft zu oft gemachte Erfahrung, als dass sie uns hier besonders wunder-
nehmen könnte.
Um uns über den weiteren Fortschritt unserer wissenschaftlichen Erkenntniss
auf dem Gebiete der Parthenogenesis zu orientiren, erscheint es zweckmässig, die
einzelnen Formenkreise, bei welchen diese Zeugungsart zur Beobachtung kommt,
für sich allein in Betracht zu ziehen.
Zunächst hat man gelernt eine exceptionelle Parthenogenesis von einer regel-
mässig auftretenden zu unterscheiden. In Betreff der ersteren, welche von den ver-
schiedensten Seiten, namentlich in Bezug auf Dombyerdae und Sphingidae unter den
Sehmetterlingen zur Sprache gebracht worden ist, genügt es, im allgemeinen auf
obige Zusammenstellung der bekannt gewordenen Fälle zu verweisen. Nur über den
Seidenspinner (Domödyx mori) mögen hier noch einige nähere Mittheilungen Platz
finden. Der Erste, welcher Beobachtungen über unbefruchtete und doch entwicklungs-
fähige Eier dieses Schmetterlings anstellte, war (1795) der Generalinspektor der
sieilianischen Seidenspinnereien Constans de Castellet. Als dessen an Reaumur ein-
gesandte Mittheilungen von diesem mit den lakonischen Worten „ex nihilo nihil fit“
beantwortet waren, suchte er, von der Autorität des Präsidenten der Pariser Akademie
an seiner nüchternen Beobachtung irre gemacht, diesselbe durch die Annahme einer
Begattung der Raupen vor der Verpuppung zu erklären! Doch auch in der Folge
wurden ähnliche Wahrnehmungen gemacht, wonach sich wenigstens die Embryonal-
entwieklung in unbefruchteten Eiern abspielt. (Herold 1838; Leuckart 1855.)
Schmetterlinge beiderlei Geschlechts wurden von Siebold und Schmid (1856) aus
Eiern gezogen, welche nach des letzteren Zeugniss bestimmt jungfräulichen Weibchen
entstammten. Ferner constatirte Barthelemy (1859), jedoch nur für die Sommer-
generation, ein Parthenogenesis, und von mehreren Seiten wurden später Mittheilungen
gemacht, dass diese Erscheinung in Südfrankreich sowohl wie in Norditalien den
Seidenwurmziüchtern hinlänglich bekannt sei, so dass man die Rassen der Seiden-
raupen durch parthenogenetisch erzeugte Individuen aufzufrischen suche (Jourdan 1861)
oder Männchen überhaupt nur alle zwei Jahre zur Begattung zulasse (Gas-
parin 1859).')
Verson (1873) tritt freilich der Behauptung entgegen, dass jungfräuliche
Zeugung beim Seidenspinner häufig zur Beobachtung komme und bemerkt in
neuester Zeit (1888), dass diese sog. parthenogenetische Entwicklung bei der Seiden-
raupe nur bis zur Bildung der serösen Membran geht (pag. 263.). Jedenfalls ist sie
durch die gewissenhaften Untersuchungen verschiedener Forscher, zu denen sich später
(1871 u. 1873) auch Siebold wieder gesellte, über allen Zweifel erhoben worden
und wird in neuester Zeit von Tichomiroff festgehalten, der sogar beobachtet hat,
dass sie durch mechanische Reize der Eier befördert wird.
!) Verson erklärt zwar neuerdings, dass diese Angaben völlig aus der Luft gegriffen seien. Es
ist übrigens keineswegs ausgeschlossen, dass Verson bezüglich seiner Beobachtungsresultate genau so im
Rechte ist, wie es Andere trotz entgegengesetzter Erfolge auf Grund der ihrigen sind. Die inneren Ur-
sachen, welche die Parthenogenese veranlassen und in dem einen Falle die Entwicklung nur anregen, im
andern aber zu Ende führen, sind uns gänzlich unbekannt.
373
Die erst in den Jahren 1879—S1 durch Jobert und Osborne!) bekannt ge-
wordenen Fälle einer Parthenogenesis bei Käfern (Zumolpus [Adoxus] vitis und Gas-
trophysa raphanı |Gastrordea viridula)) gehören, falls sie überhaupt sicher verbürgt sind,
was nach des Autors eigenen Worten für die erste Art noch zweifelhaft erscheinen
muss,’) auch nur zu den Ausnahmefällen.) Dasselbe kann man nicht für gewisse
Blattwespen (Zenihredinidae) behaupten, unter welchen namentlich eine Art, Vematus
ribesii s. ventricosus, schon seit längerer Zeit genauer auf ihre Fortpflanzung unter-
sucht worden ist. Die Entwieklungsfähigkeit unbefruchteter Eier war von dieser
Art schon Thom (1820) bekannt, wurde aber erst 1866 durch Kessler von neuem
entdeekt — Claus vervollständigte die Beobachtungen durch mikroskopische Unter-
suchung des receptaculum seminis — und von Siebold (1571) durch sehr sorgfältige
Beobachtung bestätigt. Obgleich bei dieser Art gleichzeitig mit den Weibchen männ-
liche Individuen vorhanden sind, so schicken sich doch die ersteren unmittelbar nach
dem Ausschlüpfen meist ohne ein Männchen abzuwarten, dazu an, Eier zu legen,
sodass hier die Parthenogenesis als Regel angesehen werden kann. Das Wichtigste
dabei ist übrigens der Umstand, dass auf diesem Wege stets Männchen erzeugt
werden. Diese auch sonst zu beobachtende regelmässige Abhängigkeit des männlichen
Geschlechts von unbefruchteten kiern wurde zuerst von Leuckart (1857) als Arre-
notokie bezeichnet, ein Ausdruck, welcher zunächst auf die Drohnenbrütigkeit der
Bienen Anwendung fand.
Die genannte Stachelbeerblattwespe blieb übrigens keineswegs die einzige
Art ihrer Familie, bei welcher Parthenogenesis beobachtet wurde, wenn dieselbe auch
bei anderen Arten nicht mit derselben Regelmässigkeit auftritt; wie denn bei diesen
!) Von (@. raphani hat Osborne zuerst (1879) aus parthenogenetisch erzeugten Eiern zwei Larven
gezogen, die aber starben; später (1880) ist es ihm gelungen, ein Weibchen auf gleichem Wege zu züchten,
während andere Individuen als Puppen zu Grunde gingen. Bei einem dritten Male hatte er einen zweiten
Käfer erhalten, der auch weiblich war, andere Eier (6) waren ebenfalls ausgekrochen, aber die Larven
starben. Osborne hält die Parthenogenesis bei diesem Käfer für ebenso häufig wie bei Nematus ventricosus.
2) Jobert spricht die Vermuthung aus, dass Adoxus vitis vielleicht hermaphroditisch sei, weil
bei demselben eigenthümliche, sehr bewegliche Körperehen aufgefunden wurden, welche an Samen-
körperehen erinnerten. — Sollte es hiermit vielleicht eine ähnliche Bewandtniss haben wie mit den
Beobachtungen von Keferstein und Ehlers (Ztschr. f. wiss. Zool. Bo. X. 1859), welehe in der bursa
eopulatrix von Helix pomatia neben den Zoospermien eine Menge spindelförmiger, langgegeisselter Infu-
sorien antrafen?
®) Die Mittheilung von F. Will (1886), wonach bei Halyzia ocellata ein neuer Fall von Par-
thenogenese vorgekommen sein soll, entbehrt jeder Beweiskraft, denn daraus, dass diese Coceinelle noch
nicht ausgefärbt war, ist kein sicherer Schluss auf ihre Jungfräulichkeit zu ziehen.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 49
— 314. —
T'hieren die Männchen oft sehr selten und zum Theil überhaupt noch nicht bekannt
sind. Es waren Cameron, Fletcher, R. v. Stein, v. Siebold, Brischke, welche
vom Jahre 1880 an unsere Kenntnisse über die Fortpflanzung dieser Hymenopteren
wesentlich bereicherten. Stein spricht sich (1883) über die Parthenogenesis der Blatt-
wespen folgendermassen aus: „Ich. halte I. für vollständig und ausschliesslich partheno-
genetisch alle jene Arten, bei denen es bis jetzt trotz emsigster, seit 100 Jahren in allen
Ländern fortgesetzter Forschung noch nicht gelungen ist, zu dem längst bekannten Weib-
chen ein zugehöriges Männchen zu fangen oder zu erziehen. Hierher rechne ich: Dineura
verna Kl., MNematus gallicola West., Blennocampa albipes Gm. Bl. ephippium Pz., Bl. fus-
cıpennis Fall, Hoplocampa brevis Kl, Eriocampa ovata L., Er. luteola Kl,') Poecilotoma
pulveratum Ratz., vielleicht auch einige ZZy/otoma und Dolerus. Diese Arten ergeben
bei der parthenogenetischen Fortpflanzung niemals Männchen, sondern stets nur
Weibehen, und ich nenne sie daher die reine Parthenogenesis (Parthenogenese
complete: Andre, Spec. d. Hym. I. p. 567.). II. Für fast ausschliesslich partheno-
genetisch jene Arten, bei denen das Männchen eine ganz ausserordentlich seltene Er-
scheinung ist und in gar keinem numerischen Verhältniss zu der Zahl der oft sehr
gemeinen Weibchen steht. Hierher zähle ich Ara fasciata L, PHemichroa alnı L.,
H.rufa Pz, Nematus varus Vill, N. appendiculatus Hrtg, IV. pavidus Lep., und einige
andere Vematus, Emphytus melanarius Kl, Eriocampa limacina Ratz.. Macrophya punctum-
album L., M. chrysura Kl, kaum dagegen Sirongylogaster cingulatus For., von dem ich
Männchen gefangen und zugesendet erhalten habe. Diese Arten ergeben Männchen
nur in den seltensten Fällen, vielleicht nur nach einer langen Reihe von Generationen,
bei denen ausschliesslich Weibehen produeirt wurden. Ich nenne diese P. die ge-
mischte Parthenogenesis (Parthenogenese mixte ou incomplete: Andre p. 567.). —
III. Endlich für befähigt zur parthenogenetischen Fortpflanzung ihrer Art, unter Be-
dingungen allerdings, die erst im Verlaufe der Zeit festgestellt werden müssen, alle
nicht in die beiden Kategorien fallenden übrigen Blattwespen ausnahmslos, welchen
Vorgang ich als facultative Parthenogenesis bezeichne.“ Weitere Beobachtungen
müssen entscheiden, in wieweit diese Stein’schen Vermuthungen Bestätigung finden.
Die Anzahl derjenigen Blattwespenarten, bei welchen eine jungfräuliche Zeugung bisher
hat festgestellt werden können, ist allerdings keine geringe. ”)
!) Bereits auf p. 150 desselben Jahrgangs der Entom. Nachrichten (9. Jhg. 1883) konnte Stein
selbst das Männchen von Eriocampa luteola bekannt machen.
2) Diejenigen Arten von Blattwespen, bei welchen Parthenogenese durch Beobachtung festgestellt
Das ungleiche Zahlenverhältniss beider Geschlechter oder die gänzliche Un-
bekanntschaft mit Weibchen, welche für Blattwespen hervorgehoben werden musste,
ist schon seit längerer Zeit für eine andere Gruppe von Hymenopteren, für die Gall-
wespen (Cynzpidae), festgestellt und liess hier auf ähnliche Fortpflanzungserscheinungen
schliessen (Siebold, 1856. p. 137). Leon Dufour fand (1841) unter mehr als 200
Individuen der ZDPrplolepis gallae tinctoriae, welche er gezogen hatte, nicht ein
einziges Männchen. Nach Hartig (1843, p. 397) sind 28 Arten der Gattung Cymzps
nur im weiblichen Geschlechte bekannt. Derselbe hat unter 9— 10000 Exemplaren
der Cymps divisa und 3—4000 der Cymips folk kein Männchen gefunden. Bei
letzterer Art, welche er acht Jahre hindurch gezüchtet hat, beobachtete er sogar, dass
die Eiablage sofort nach dem Verlassen der Gallen eintrat.
worden ist, sind folgende. Die in ( ) beigefügten Bemerkungen bedeuten, ob die Nachkommenschaft eine
rein männliche, rein weibliche oder gemischte war.
Cimbex connata Schrank. (Siebold 1884 — 2.)
Trichiosoma sorbi Htg. (Siebold 1884 — Larven.)
= lucorum L. (Cameron 1885.)
Abia fasciata L. (Osborne 1882, 1883; Siebold 1884 — 2 (J); Cameron 1885; Brischke
1887.)
„. nitens (Cameoron 1885.)
Hylotorna berberidis Schrank. (Siebold 1884 — d'.)
K rosae Degeer. (Stein 1881; Siebold 1884 — d'.)
F ustulata L. (Cameron 1885.)
Lophyrus pini L. (Siebold 1884 — d'; Cameron 1885.)
Oladuis pectinicornis Fouer. (Siebold 1884 — d.)
Trichiocanıpus viminalis Htg. (Siebold 1884 — d.)
e rufipes Lep. (Cameron 1885.)
Priophorus padi L. (Siebold 1884 — d'; Cameron 1885.)
Hemichroa rufa Pz. (Stein 1879; Fleteher 1881 — 2.)
Nematus papillosus Rtz. (Siebold 1884 — d.)
5 miliaris Pz. (Cameron 1880; Siebold 1884 — d.)
2; septentrionalis L. (Siebold 1884 — d'; Cameron 1885.)
H varus Vill. (Fleteher 1881 — 2; Cameron 1885.)
” pavidus Lep. (Brischke 1872; Cameron 1881.)
$ curtispinus 'Thms. (Fleteher 1880; 1881.)
a palliatus Thms. (Fleteher 1880; Brischke 1887.)
R ribesü Seop. (Thome 1820; Kessler 1866; Claus 1866; Siebold 1871, 1884. — d'.)
u salicis L. (Fleteher 1881 — d.)
„ Vallisnieri Htg. (Adler 1881)
E conductus Ruthe. (Cameron 1885.)
3 compressicornis F. (Cameron 1885.)
F- conjugatus Dhlb. (Siebold 1884 — dJ.)
49*
— 3716 —
Zur Erklärung dieses eigenthümlichen Verhaltens glaubte Osten-Sacken (1861)
die Annahme aussprechen zu können, dass die Männchen, welche man bisher ver-
misst, andere Gallen erzeugen als die Weibchen, und deshalb nieht erkannt seien.
Er liess diese Vermuthung aber bald fallen, da sie durch direkte Beobachtung keine
Bestätigung fand, und neigte, durch die Entdeckung angeregt, welche Walsh an nord-
amerikanischen Gallwespen gemacht hatte, nun zu der Annahme, dass die Weibchen,
zu welchen die Männchen noch nicht aufgefunden waren, als zweite Form zu anderen
in beiden Geschlechtern bekannten Arten gehören. Einen solchen Dimorphismus hatte
nämlich Walsh (1864) bei Cymps acicwata Ost.-Sack. beobachtet, welche als
Weibchen zu der in beiden Geschlechtern bekannten Cynips spongrfica Ost.-Sack. ge-
hört und sich auf parthenogenetischem Wege fortpflanzt. Genauer wurden diese Ver-
hältnisse alsdann von Bassett (1873) verfolgt, und zur vollständigen Klarheit durch
die schönen Untersuchungen Adler’s (1871 und 1881) gebracht. Durch dieselben
ist für eine grössere Anzahl von Arten‘) Parthenogenesis festgestellt und gleichzeitig
Nematus appendicalatus Hltg. (Cameron 1885.)
coeruleocarpus Htg. (Siebold 1884 — dJ.)
ruficornis Oliv. (Cameron 1885.)
" cadderensis (Cameron 1885.)
Phyllotoma vagans Fall. (Fleteher 1881.)
r\ nemorata Fall. (Cameron 1880.)
Strongylogaster ceingulatus F. (Cameron 1880.)
Eriocampa ovata L. (Cameron 1881; Fletcher 1881.)
limacina Rtz. (Siebold 1884 — Larven.)
5 anmulipes Klg. (Cameron 1887.)
blennocampa nigripes Klg. (Siebold 1884 — Larven.)
Poecilosoma pulweratum Rtz. (Cameron 1878; 1881.)
Emphytus einctus L. (Siebold 1884 — d.)
r viennensis Schrank. (Siebold 1884 — d.)
Taxonus glabratus Fall. (Cameron 1881.)
!) Ausschliesslich parthenogenetisch sind nach Adler:
Aphilothrix seminationis Gir.
5 marginalis Schlechtdl.
5; quadrilineatus Hart.
5 albopunctatus Schlechtdl.
Die folgenden sind die parthenogenesirende Generation innerhalb einer Heterogonie, sie wechseln also ab
mit einer aus Männchen und Weibchen bestehenden Generation. Die letztere ist in der rechten Reihe
beigefügt.
2
”
b7]
Neuroterus lentieularis Oliv. Spathegaster baccarum L.
e laeviusculus Schenck. 5 albipes Schenck.
5 numismatis Ol. n vesicatrix Schlechtdl.
der von Bassett bereits vermuthete Wechsel dieser Generation mit einer anderen zwei-
geschlechtlichen nachgewiesen worden (ZZeterogonie).
Eine besonders wichtige Rolle in der Lehre von der Parthenogenesis spielte
die Hausbiene (A4frs mellfca); denn auf sie bezogen sich im Alterthume sowohl
wie in der neueren Zeit die Vermuthungen, aus welchen, wie erwähnt, allmählich jener
Kenntniss ihre wissenschaftliche Begründung erwuchs. Wie verfehlt die in früherer Zeit
herrschenden Ansichten über den Haushalt der Biene und über das Geschlecht der in einem
Stocke vertretenen Individuen waren, wie die meisten Imker nach Dilettantenart sich
sogar starrköpfig einer besseren Einsicht verschlossen, nachdem sie ihnen von dem
trefflichsten der Bienenwirthe geboten war, davon überzeugt man sich am besten, wenn
man den Inhalt der ersten acht Jahrgänge der Eichstädter Bienen-Zeitung durch-
mustert. In derselben veröffentlichte aber auch Dzierzon seine Ansichten, anfänglich
in Form einer Hypothese, welcher er aber bald die Bedeutung einer Theorie beilegen
konnte. Dieselbe gipfelt in den Worten, „dass die Drohneneier einer Befruchtung
nicht bedürfen, die Mitwirkung der Drohnen aber schlechterdings nothwendig ist, wenn
Arbeitsbienen erzeugt werden sollen.“ (I. Jhg. 1845 pag. 113.)
Nachdem diesen Behauptungen anfänglich von den verschiedensten Seiten
Widersprüche entgegengestellt waren, nachdem Siebold als Vieepräsident der am
2. Juni 1852 zu Brieg abgehaltenen Versammlung der deutschen Bienenwirthe die
anatomischen Verhältnisse der drei Individuen des Bienenstaates auseinandergesetzt
und Dzierzon, auf seine reichen Erfahrungen gestützt, den gegen seine T'heorie er-
hobenen Einwänden begegnet war, fand die letztere namentlich in einem einsichts-
Neuroterus fumipennis Hart. Spathegaster tricolor Hart.
5 ostreus Hart. e aprilinus Gir.?
Aphilotrix radieis Fbr. Andrieus noduli Hart.
r Steboldi Hart. “ testaceipes Hart.
e cortieis L. r gemmatus Adler.
5 globuli Hart. e inflator Hart
collaris Hart. R curvator Hait.
5, feeundatrix Hart. 5 pilosus Adler.
A callidoma Hart. FF eirratus Adler.
N Malpighäi Adler. rn nudus Adler.
n anutummalis Hart. > ramuli 1.
Dryophanta scutellaris Oliv. Spathegaster Taschenbergi Schlechtäl.
5 longiventris Hart. 5 similis Adler.
e divisa Hart. 5 verrucosus Schlechtdl.
Biorrhiza aptera Fhr. Teras terminalis Fhr.
3 renum Hart. Trigonaspis megaptera Pz.
- 378 ———
vollen und hochverdienten Bienenzüchter, dem Baron Aug. von Berlepsch auf See-
bach bei Langensalza, einen warmen Vertreter, der auf das eifrigste bemüht war,
neue Beweise für deren Richtigkeit beizubringen und sie in einer Reihe von „apistischen
Briefen“ (in den Jahrgängen 1852—54 der Bienenzeitung) zum Gemeingut aller
Bienenzüchter zu machen.
Die Erfahrungen, welche der Dzierzon’schen Theorie zu Grunde liegen, sind
bekanntlich kurz folgende. Die Königin wird nur einmal im Leben und zwar
ausserhalb des Stockes in der Luft befruchtet; der Samen wirkt nicht, wie man
früher annahm, auf den Eierstock ein, sondern gelangt in einen Samenbehälter am
Ende des Leitungsweges und tritt auf die vorbeigleitenden Eier über, sobald diese
in eine Weisel- oder Arbeiterzelle gelegt werden sollen; eine flügellahme Königin,
die in Folge dieses Fehlers nicht begattet werden konnte, legt stets unbefruchtete,
sich zu Drohnen entwickelnde Eier, eine Erfahrung, die zuweilen auch an Ar-
beitsbienen („Drohnenmütterchen“) gemacht wird. Als empirische Beweise für die
Richtigkeit der 'T’heorie wurden (von Berlepsch) namentlich folgende beigebracht:
in Folge einer Quetschung des königlichen Hinterleibes, wodurch das receptaculum
seminis jedenfalls abgerissen wurde, entstand Drohnenbrütigkeit; dasselbe wurde da-
durch erzielt, dass eine Königin während 36 Stunden der T’emperatur eines Eiskellers
ausgesetzt wurde, wodurch die Samenelemente ihre Beweglichkeit und damit ihre
Befruchtungsfähigkeit einbüssten; und schliesslich sprachen mit Entschiedenheit dafür
die aus der Bastardbildung deutscher und italienischer Bienen gewonnenen Erfahrungen,
wonach die Drohnen immer nur nach der Mutter, Königinnen und Arbeiter nach beiden
Eltern schlugen.
Trotz allen diesen sehr überzeugenden empirischen Beweisen war es hohe
Zeit, dass die Vertreter der exaeten Wissenschaften das Ihrige dazu beitrugen, die
neue Lehre zu stützen. Siebold erkannte (1854) bei einer vom Hochzeitsfluge heim-
gekehrten Königin in der Scheide das männliche Copulationsglied und das recepta_
culum seminis mit Sperma angefüllt; Leuckart dagegen wies nach (1555), dass eine
drohnenbrütige Königin unbefruchtet geblieben und dass die Parthenogenesis also
eine unleugbare Thatsache ist, und schliesslich fand Siebold (1856) in den weib-
lichen Bieneneiern die eingedrungenen Samenkörperchen, während dieselben in den
Eiern der Drohnenzellen durchgängig fehlten. Später wurde auch von Gerstäcker
(1865) bei auffallend kleinen Königinnen der ägyptischen Bienenrasse, welche den
Hochzeitsflug nicht ausgeführt hatten, der Mangel von Sperma nachgewiesen. So-
mit konnte an der Existenz einer Parthenogenesis, deren Resultat die Erzeugung
ati,
männlicher Bienen ist, nieht länger gezweifelt werden.) Leuekart führte dafür
(1857) die Bezeichnung Arrenotokie ein. Uebrigens ist Drohnenbrütigkeit der
Königin nieht immer nur die Folge unterbliebener Begattung („primäre Drohnen-
brütigkeit* — Leuckart 1558); sie kann auch durch Verbrauch des Spermas im
receptaculum, durch Lähmung der dasselbe versorgenden Ganglienknoten, durch zu
geringe Beweglichkeit der Samenkörperchen u. dergl. eintreten („sekundäre Drohnen-
brütigkeit.“) Drohnenbrütigkeit kann, wie erwähnt, auch durch Arbeitsbienen entstehen.
Dass diese zuweilen Eier legen, ist eine seit lange (Riem im 18. Jahrhundert) be-
kannte Thatsache; Huber hatte auch bereits 1792 durch anatomische Zergliederung
Eier im Inneren derselben nachgewiesen; doch die Bildung des Geschlechtsapparats
bleibt, wie zuerst Siebold’) (1343) gezeigt hat, hinter dem Befunde bei einer Königin
zurück: das receptaclum seminis ist zwar vorhanden, aber nur rudimentär, so dass
es von Leuckart anfangs ganz übersehen wurde, die Eiröhren des Ovariums sind in
viel geringerer Anzahl entwickelt (meist 5—6 jederseits, während normale Weibchen
150—180 aufzuweisen haben), und die Scheide ist so eng, dass eine Begattung voll-
ständig unmöglich ist. Die Untersuchungen eierlegender Arbeiterinnen (durch Ber-
lepsch 1855 und Leuckart 1858) haben denn auch den Mangel von Sperma ergeben
und mithin auch für diesen Fall die jungfräuliche Zeugung ausser Zweifel gestellt.
In besonders günstigen Ernährungsverhältnissen haben wir mit Leuckart den Grund
!) Von manchen Seiten freilich ist die Parthenogenesis bei der Honigbiene ebenso eifrig bekämpft
worden, wie sie von ihren Anhängern vertheidigt wird. Es ist namentlich Ulivi, welcher seit 1872 in
einer Menge von Aufsätzen gegen die jungfräuliche Zeugung zu Felde zieht und u. a. von „utopie del
transcendentalismo germanico“ spricht und zu folgenden Resultaten gelangt: 1. La regina vien fecondata
ordinariamente nell’ alveare; 2. Vien fecondata piü volte nel corso della sua vita; 3. Ogni uovo che nasce,
sia di maschio o di femmina, fu precedentemente fecondato per l’accoppiamento dei due sessi; 4. Ogni
regina che abbia la spermatofora ripiena e turgida di un liquido qualunque, non & piü vergine ma fecon-
data; 5. Niuna femmina prolifica delle api puö essere partenogenetica. — Der Mann ist Parroco und lebt
im Lande der Dogmen! Aber auch von anderer Seite sind Bedenken gegen die Parthenogenesis der
Bienen erhoben. Pflüger spricht noch 1881 die Ansicht aus, dass die Königin sehr wohl Sperma von
anderer Form und daher bisher nicht erkannt, produeire und damit auch die Eier befruchte, aus denen
Männchen hervorgehen; wahre Parthenogenesis sei erst dann erwiesen, wenn ein abgelegtes Ei nachträg-
lich durch Befruchtung mit Sperma eines Männchens ein Weibchen liefere. (p. 25>—26.) Und Cameron
kommt (1889) zu dem Resultate, dass die Drohnen nicht parthenogenetisch entstehen müssen, sondern
auch aus befruchteten Eiern hervorgehen können und dann Merkmale des Vaters an sich tragen. —
Landois wollte seiner Zeit (1867) die Abhängigkeit des Geschlechts der Bienen von der Befruchtung
der Eier bestreiten, wurde aber sehr bald von Bessels (1867) widerlegt.
2) Siebold, C. Th. v., Ueber das receptaculum seminis, der Hymenopteren- Weibchen in: Ger-
mar’s Ztschr. f. Entom. 4. Bd. 1843. p. 362—388. — Müller’s Arch. 1844. p. 11.
— 380 ——
zu suchen. weshalb Arbeiterbienen zuweilen zur Ablage wohl ausgebildeter, von
denen der Königin in keiner Weise abweichender Eier befähigt werden.
Uebrigens sind es nicht die Bienen allein, bei welchen diese Erscheinung be-
obachtet ist; etwas Aehnliches kommt auch bei anderen in Staaten lebenden Hymeno-
pteren vor, vielleicht sogar viel regelmässiger als bei den Bienen. Schon Huber
(1802) berichtet von eierlegenden Arbeitern oder, wie er sie nennt, „kleinen Weibehen“
der Hummeln, deren Nachkommen stets Männchen sind, und giebt an, dass sich
dieselben regelmässig in den Nestern finden.') Später (1858) untersuchte Leuckart
mehrere Domödus-Arten nnd fand in den Arbeiter-Ovarien Eier auf den ver-
schiedensten Stufen der Ausbildung. Dasselbe gilt nach seinen Beobachtungen
auch für Wespen und Ameisen. Bei Vespa germanica besass die Hälfte der Arbeiter
eines starken Volkes Eier und Eikeime — es scheint das namentlich im Herbste
der Fall zu sein —: auch sah Leuekart einmal eine Arbeiterin derselben Wespen-
art ein Ei ablegen, das sich zu einer Larve entwickelte, welche aber leider nach
einigen Tagen starb. Eine anatomische Untersuchung dieser Arbeiterin ergab deren
Jungfräulichkeit. Uebrigens weichen bei Hummeln und Wespen die Arbeiter nach
Leuckarts Beobachtungen im Baue der Geschlechtsorgane sehr wenig von den nor-
malen Weibchen ab und sind durchaus befruchtungsfähig, mehrere Hundert, welche
zergliedert wurden, erwiesen sich indessen als unbefruchtet. Die Arbeiter der Ameisen
dagegen haben einen im Vergleich mit dem der normalen Weibchen noch mehr ver-
kümmerten Geschlechtsapparat als bei den Bienen. Doch finden sich auch bei diesen,
wie später auch von Denny (1848) und Lespes (1863) nachgewiesen wurde, lege-
reife Eier in den Ovarien. Leuckart (1858) traf sie sogar in der Scheide an.
Weiterhin hat Forel (1874. p. 329) den Beweis geliefert, dass aus diesen Arbeitereiern
in gewissen Fällen Junge entstehen, während Dewitz (1877) in seiner Behauptung
wohl zu weit geht, dass die Arbeiter regelmässig Eier legen, wofür er — um den
Unterschied im Vergleich zu den Bienen verständlich zu machen — als Grund angiebt,
dass die Mehrzahl der Ameisen im Herbste abstirbt — was nach Lubbock nicht
der Fall ist — so dass die von dem Weibchen allein gelegten Eier nicht ausreichen
würden, um das Nest im Frühjahr zu bevölkern. So viel ist gewiss, dass eier-
legende Ameisen-Arbeiter mehr oder weniger regelmässig auftreten. Auch Lubbock
!) Leuckart (Zur Kenntniss des Generationswechsels und der Parthenogenesis, p. 105) spricht
die Vermuthung aus, dass vielleicht bei den Hummeln die Männchen ausschliesslich aus Arbeitereiern
hervorgehen, eine Ansicht, die man, beiläufig bemerkt, irrtümlicherweise früher für die Bienen geltend
gemacht hatte.
388 -
fand in den meisten seiner Nester einige fruchtbare Arbeiter. Derselbe hat aber
auch den interessanten Nachweis geliefert, dass aus unbefruchteten Ameiseneiern
stets Männchen ihren Ursprung nehmen. Dies ist ganz neuerdings (1891) auch von
Wasman für fünf verschiedene Ameisenarten bestätigt. Was aber an den Be-
obachtungen des Letzteren besonders hervorzuheben ist: er hat durch künstliche Trem-
peraturerhöhung in seinen Zuchtnestern die Mehrzahl der Arbeiterinnen zu partheno-
genetischer Fortpflanzung veranlasst, während eine solche sonst immer nur bei einigen
wenigen Individuen zur Beobachtung kommt. Nach neueren Untersuchungen ist es
nicht unwahrscheinlich, dass zuweilen einzelne Ärbeiter, in ähnlicher Weise wie bei
den Bienen, durch besonders gute Pflege zu Ersatzweibehen herangefüttert werden.
Bei Tomognathus vermuthet Adler (1880) regelmässige Parthenogenese der Ar-
beiterinnen. Wenn dies als sicher erwiesen würde, so läge hier ein Ausnahmefall von
der Arrenotokie der Ameisen vor.
Bei der Hornisse hatte bereits Gundelach (1852) beobachtet, dass Arbeiter
Eier legen, welche sich zu kleinen Individuen — G. kannte den Unterschied zwischen
Arbeitern und Männchen nicht — entwickeln. Hiernach musste es zunächst un-
entschieden bleiben, ob die Parthenogenesis der übrigen geselliglebenden Hymenopteren,
wie bei der Biene, eine arrenotoke sei. Auch durch die Angaben von Ormerod
(1859) und Stone (1860), welche sich auf Parthenogenesis von Vespa dritannica und
vulgaris beziehen, konnte diese Frage nicht als erledigt angesehen werden, — es
sollten in dem einen Falle aus Arbeitereiern Arbeiter-und Männchen, in dem andern
nur Arbeiterwespen entstanden sen. Um so überzeugender haben die mihsamen
und bewunderungswürdigen Beobachtungen Siebold’s (1870 und 1871) bei Zodstes
gallica eine arrenotoke Parthenogenesis nachgewiesen. Bei dieser Art unterscheiden
sich auch die Arbeiterinnen im Bau der Genitalien nicht von der Königin, welch
letztere blos Weibchen erzeugt, während erstere die Drohnenbrut liefern. Bei Vzspa
holsatica konnte Siebold gleichfalls eine jungfräuliche Zeugung feststellen, deren
Resultat eine durchweg männliche Brut war.
Die neuesten Beobachtungen über hierhergehörige Hymenopteren beziehen sich
auf eine Biene der Gattung /Za4etus, bei welcher nach Fabre (1880) aus unbefruchteten,
von Weibchen gelegten Eiern eine gemischte Brut hervorgeht.
Schliesslich sei aus dieser Insektenordnung noch erwähnt, dass Parthenogenese
auch bei Schlupfwespen zur Beobachtung gekommen ist, nämlich bei Pferomalus pu-
parum, deren so erzeugte Nachkommen von Adler (1851) zum bei weitem grössten
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 50
Theile als Männchen erkannt wurden, und bei Panzscus glaucopterus L., wo Siebold
(1884) aus den Eiern jungfräulicher Mütter Weibchen erzogen hat.
Im Gegensatze zur Arrenotokie hat Siebold (1871) diejenigen Fälle der Par-
thenogenesis, in welcher regelmässig Weibehen erzeugt werden, 7’he/ytokre genannt.
Dieselbe wurde wissenschaftlich begründet zuerst bei gewissen Schmetterlingen (den
Gattungen Psyche und Solenobia), welehe unter dem gemeinsamen Namen der „Sack-
träger“ zusammengefasst werden können, aber zwei ganz verschiedenen Familien
(Bombycrdae und Tineina) angehören. Auch für diese Thiere besitzen wir schon aus
früherer Zeit (Reaumur 1738, Pallas 1767, Degeer 1771, Kühn 1775, Schiffer-
müller 1776, Schrank 1776 u. 1802. Seriba 1790, Reutti 1810) Angaben über
Entwicklungsfähigkeit unbefruchteter Eier, welche jedoch zum grössten Theile darum
nicht zuverlässig sind, weil die flügellosen Weibchen häufig für Raupen gehalten
wurden, eine etwaige Begattung derselben also leicht übersehen werden konnte. So
waren es denn, wie ‚schon oben bemerkt, gerade derartige Mittheilungen, welche
Siebold (1849) mit dem grössten Misstrauen aufnahm und als Gegenbeweis der
Existenz einer Parthenogenesis verwerthete. Indessen eigene Untersuchungen an So-
lenobra lichenella Zell.‘) und triguetrella F. R. mussten ihn zu der Ueberzeugung führen,
dass diese T'hiere ohne Anwesenheit von Männchen zahlreiche entwicklungsfähige
Eier legten, wie es vor ihm schon Speyer (1847) und später auch Wocke (1853)
und Reutti (1853) beobachtet hatten. Siebold war aber geneigt, diese Individuen
für Ammen, die ganze Entwicklungsweise für einen Generationswechsel in Anspruch
zu nehmen (1850), und erst als er sich von dem vollständig normalen weiblichen
Baue der vermeintlichen Ammen überzeugt hatte (1851), erkannte er den in Rede
stehenden Schmetterlingen eine wahre Parthenogenesis zu (1856). Drei Jahre früher
hatte sich Leuckart (Art. Zeugung) bereits gegen die Annahme eines Generations-
wechsels bei So/enodia ausgesprochen. In der Folge sind diese „Schaben“ noch
mehrfach Gegenstand von Beobachtungen und Untersuchungen gewesen, welche stets
zur Bestätigung der Jungfernzeugung führten. Leuckart konstatirte (1858) bei So-
/enobia lichenella den Mangel von Sperma im receptaculum seminis und fand an den
Eiern einen Mikropyle-Apparat; er machte gleichzeitig darauf aufmerksam, dass die
verschiedenen Arten der Sackträger sich in Bezug auf das häufige oder gar regel-
mässige Auftreten der Parthenogenesis verschieden verhalten möchten. Später wurden
!) Es hat sich übrigens durch die Zuchtversuche O0, Hofmann’s herausgestellt. dass Solenobia
lichenella, von welcher man niemals Männchen angetroffen hatte, die parthenogenesirende Generation der
in beiden Geschlechtern bekannten S. pineti Zell. ist.
283
namentlich von Ottmar Hofmann (1859 u. 1869) und von A. Hartmann (1871) zahl-
reiche Zuchten mit den genannten Sodenodrien angestellt, aus denen sich ergab, dass
meist Generationen hindurch — während acht Jahren: Hartmann — immer nur
Weibchen auftreten, die Männchen sogar in manchen Gegenden niemals angetroffen
werden. Wenn sie vorkommen und die Begattung mit den Weibchen vollziehen, so
sind die den befruchteten Eiern entstammenden Nachkommen bald ausschliesslich
Weibchen (Hartmann), bald gehören sie zu ungefähr gleichen Theilen beiden Ge-
schlechtern an. Von Siebold wurde noch einmai (1871) das Verhalten des Geschlechts-
apparats kontrollirt, der bei den parthenogenesirenden Weibchen genau so gebildet
ist wie bei den in Gemeinschaft mit dem anderen‘ Geschlecht auftretenden Weibchen,
und bei ersteren stets ein samenfreies receptaculum seminis nachgewiesen. Wenn so-
mit die thelytoke Parthenogenese der Sodenodien über jeden Zweifel erhaben ist,
kann es nur ein verunglückter Versuch genannt werden, wenn Plateau (1568) das
Faectum der jungfräulichen Zeugung zu leugnen bestrebt ist und sich zu den prahlerischen
Worten versteigt (pag. 116): „Un jour viendra, et il est peut-@tre plus prochain qu’on
ne le pense, oü ces deux mots parth@nogenese et heterogenie disparaitront A tout
jamais de la science serieuse“. Er hat die verdiente Zurückweisung durch Breyer
(1869) und Siebold (1871) erfahren.
Neben diesen So/enodren war es eine ächte Psyche — wegen ihres schnecken-
hausartigen Sackes als /. kedx beschrieben — für welche zuerst Siebold (1856)
eine thelytoke Parthenogenesis kennen lehrte.') Gegen die Richtigkeit dieser Be-
obachtung konnte um so weniger irgend ein Zweifel aufkommen, als das Männchen
dieser Art die längste Zeit hindurch vollständig unbekannt war. Zwar wurde mehr-
fach (Herrich-Schäffer, Bruand, Nylander) “der Versuch gemacht, gewisse
Psychiden- Männchen (P. helicinella) als zu heix gehörig zu erklären, aber stets ohne
hinreichende Beweiskraft. Erst 1866 ist es Claus geglückt, das wirkliche Männchen
von Psyche helix zu ziehen.) Dann hat .es sich freilich herausgestellt, — worauf
zuerst Siebold (1871) aufmerksam gemacht hat — dass dasselbe bereits früher (1852)
von Bruand’) ohne Ahnung der Zugehörigkeit als P. crenwlella beschrieben worden
!) Von A. Hofmann (1859) ist ebenfalls die Psyche helix ohne Anwesenheit eines Männchens
(6 Jahre hindurch) gezogen worden. — Milliere (1864) berichtet über die Entwicklung unbefruchteter Eier
von Psyche helicinella, sucht diese Erscheinung aber durch Annahme eines Hermaphroditismus zu erklären.
2) Später (1868) hat auch Siebold (1871. p. 132) einige Männchen aus Säcken gezogen, die er
am Gardasee gesammelt hatte.
3) Bruand, Th., Essai monographique sur la tribu des Psychides. in: M&m. Soc. d’&mulat. du Doubs.
Annee 1852. p. 73. (Pl.II. fig. 48a, Pl. I, fig. 48, 48°.) — Meme. Besancon 1853. 4.
90*
— a —
war. Die Bekanntschaft mit dem männlichen Thiere machte es übrigens nothwendig,
für diese Art die besondere Gattung Cochlophora zu errichten (Siebold 1871). Jetzt
reiht man die Art dem Genus Zpichnopteryx ein.
Eine in Argentinien lebende und als Raupe durch ihren Frass in den An-
pflanzungen sehr schädliche Psychrde, Orketicus Kirbyi, tritt nach den Beobachtungen
von Berg (1874) zuweilen in männerlosen Generationen auf, lässt mithin eine par-
thenogenetische Fortpflanzung voraussetzen, während andererseits Generationen mit
beiden Geschlechtern bekannt sind. Ueber eine dritte hierher gehörige Art, Psyche
apıformis, liegt uns nur eine Notiz aus früherer Zeit (1810) vor, wonach Rossi mit
Anwendung aller Vorsichtsmassregeln festgestellt haben soll, dass zuweilen un-
befruchtete Weibchen fortpflanzungsfähig sind. ')
Am längsten bekannt, aber am spätesten für Parthenogenesis in Anspruch.
genommen, ist die Fortpflanzung der Blattläuse (4Azdae.) Dieselben wurden von
Leeuwenhoek (1695), dem ersten Mikroskopiker, entdeckt und zuerst in ihrer Lebens-
weise beobachtet. Er erkannte, dass sie lebende Junge gebären, die bald nach ihrer
Geburt in dem gleichen Geschäfte fortfahren ohne begattet zu sein; ja dass über-
haupt keine Männchen vorkommen. In Folge dessen nahm man, wie so häufig,
seine Zuflucht zu der Annahme eines Hermaphroditismus (Leeuwenhoek, Üestonj),
zumal nachdem auch Reaumur (1737) im Auffinden männlicher Individuen nicht
glücklicher gewesen war. Freilich hielt Reaumur aus theoretischen Gründen an
dem Vorhandensein von Männchen und an der Nothwendigkeit einer Begattung fest.
Dass eine solehe nicht stattfindet, davon überzeugte sich zuerst Bonnet (1745) durch
isolirte Aufzucht von Blattläusen auf das bestimmteste: er sah innerhalb 2'/, Monaten
neun Generationen viviparer Weibehen aufeinander folgen, ohne dass eine Spur
männlichen Einflusses vorhanden gewesen wäre. (Observat. VL) Aber bald gelang
es ihm auch (bei den Eichen-Blattläusen) Männchen aufzufinden und in Copulation
mit Weibehen anzutreffen. (Öbservat. VIII et IX; XIV.) Diese letzteren legten da-
rauf Eier ab, die ihm im nächsten Frühjahre eine neue Generation lieferten. (Observat.
XIX.) Damit war zum ersten Male eine doppelte Art der Fortpflanzung bei den
Blattläusen nachgewiesen. Dass sich dieselben auf verschiedene Individuen vertheilt
!) Hierher gehören auch die gleichfalls älteren Angaben über Parthenogenesis von Psyche vieiella
S. V.und P. (Echinopteryx) nitidella, die in neuerer Zeit nicht bestätigt worden sind; nur Hering hat,
nach einer schriftlichen Mittheilung an Keferstein (Stettin. Ent. Ztg. 1861. p. 444), aus unbefruchteten
Eiern von seiner Psyche Stettinensis — einer blossen Varietät der »zciella — Raupen gezogen.
— 385 ——
und innerhalb eines Generationscyklus auftritt, welcher mit den aus Eiern aus-
schlüpfenden viviparen Formen im Frühjahr beginnt und mit männlichen und weib-
lichen Thieren, denen befruchtete Eier entstammen, im Herbste abschliesst, dies zuerst
nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst Degeer’s (1773, T. IID), welcher seine Be-
obachtungen namentlich an Zachnus pin! und Aphis rosae angestellt hat. Dieser
Forscher kam übrigens zu der Ueberzeugung, dass die geschlechtlich differenzirten In-
dividuen bei Nichteintritt der kalten Jahreszeit ganz in Wegfall kommen würden,
wie er denn die Blattläuse der Tropen für ausschliesslich vivipar ansprach. Dass
er darin einen wichtigen, wenn auch vielleicht nicht den einzigen Erklärungsgrund
getroffen hat, bewiesen die (1815) von Kyber angestellten Experimente. Es gelang
nämlich, eine Blattlauskolonie (von „4phzs rosae) vier Jahre lang durch mehr als 50
(renerationen hindurch in ausschliesslich viviparen Individuen zu züchten, indem
durch künstliche Wärme der Einfluss des Winters eliminirt wurde. Aehnliche Be-
obachtungen stellte später (1825) auch Duvau an, welcher u. a. innerhalb von sieben
Monaten elf Generationen viviparer Blattläuse züchtete. Obwohl bereits durch Degeer
(l.e. p. 27) festgestellt war, dass eierlegende und vivipare Blattläuse verschiedene
Individuen sind, die ihre Rolle niemals vertauschen, sind dieser Thatsache in der
Folge doch mancherlei gegentheilige Behauptungen entgegengestellt worden. So von
Morren') bezüglich Aphzs persicae, von Ratzeburg’) bei Aphis oblonga, Newport’)
bei Aphrs vosae; und noch 1857 giebt Heyden an, dass er gesehen habe, wie die
Weibehen von Zachnus guercus sich mit den von ihnen soeben geborenen Männchen
begatteten‘)
Von der Unrichtigkeit derartiger Behauptungen musste man sich am sichersten
durch eine anatomische Untersuchung der viviparen und oviparen Individuen über-
zeugen. Siebold wies zuerst 1839°) nach, dass den viviparen Blattläusen die Samen-
1) Morren, Ch. Fr. A., Memoire sur l’emigration du Puceron du Pecher (Aphis persicae) et sur
les earacteres et l’anatomie de cette espece. in: Bull. Acad. roy. Bruxelles. T.2. 1836. p. 75—104. —
Ann. se. nat. 2. Ser. T.6. 1836. p. 65 — 93.
2) Ratzeburg, J. Th. Chr., Agenda hemipterologiea. in: Stettin. Entom. Ztg. 5. Bd. 1844. p. 9—14.
») Newport, G., On the generation of Aphides. in: Trans. Linn. Soc. London. Vol. 20. 1847.
p- 281— 283.
4) Diese Mittheilung zieht auch Leydig (1860) heran, um die Ansicht zu stützen, dass die vivi-
paren Blattläuse gegen Ende des Sommers ovipar werden (p. 67).
5) Bereits 1833 hatte Leon Dufour (Recherches anatomiques et physiologiques sur les He&mipteres.
in: Mem. d. Savants etrang. ä l’Acad. d. sc. Paris. T.4. 1833. p. 232) nachgewiesen, dass die viviparen Blatt-
läuse der aeccessorischen Theile, der von ihm sog. „glandes sebifiques“, des Leitungsweges entbehren.
— 386 —
tasche fehlt,') welche bei den oviparen in der gewöhnlichen Weise vorhanden ist, und
dass beide Formen auch in der Ausbildung der Eiröhren von einander abweichen,
weshalb dieselben bei den viviparen Individuen als „Keimstock* bezeichnet werden.
Es war nur eine weitere Uonsequenz, wenn Steenstrup (1842) die viviparen
Blattläuse überhaupt nicht als Weibchen in Anspruch nimmt, sondern in ihnen Ammen
erkennt, welche bei dem als Generationswechsel zu deutenden Entwieklungseyklus
die Rolle der ungeschlechtlichen Fortpflanzung durch „Keime“ übernehmen. Durch
die Beschaffenheit dieser Keime suchte später (1849) Carus die Auffassung der
Aphidenentwieklung als Generationswechsel noch fester zu begründen, indem er die-
selben als eine amorphe Körnermasse im Gegensatze zur Zellennatur des Eies hin-
stellte und die nächsten Analogien in den Keimschläuchen der Trematoden erkannte.
Die Unrichtigkeit dieser Angaben wurde aber bald erwiesen. Nach den Unter-
suchungen von Leydig (1850) und Burnett (1853)”) liegt der Entwieklung der vivi-
paxın Blattläuse genau so eine Zelle zu Grunde, wie bei den auf geschlechtlichem Wege
erzeugten Formen. Dennoch aber blieb für die meisten Forscher die Entwieklung
der Blattläuse ein Generationswechsel. Siebold schrieb 1856, „dass die viviparen
Blattläuse keine Weibchen sind, welche sine eoneubitu im jungfräulichen Zustande
entwieklungsfähige Eier hervorbringen, sondern geschlechtslose, mit Keimstöcken
ausgestattete ammen- oder larvenartige Individuen, welche von den wirklich jung-
fräulichen Blattlaus- Weibehen himmelweit verschieden sind“ (pag. 14.) Auch
Leuckart (1858) findet es „vollständig gerechtfertigt“, die Fortpflanzung der Blatt-
läuse dem Gesetze des Generationswechsels unterzuordnen, und die viviparen Indi-
viduen als Ammen zu bezeichnen. (pag. 21.)
Bei aller Anerkennung gewisser Differenzen zwischen viviparen und oviparen
Blattläusen, von denen sich die letzteren, wie nach Siebold auch von Leuckart
(1858 und 1859) und Balbiani (1866) nachgewiesen wurde, eng an die normalen
Insektenweibehen anschliessen, mussten die verschiedenen Beobachter doch darin
übereinstimmen, was zuerst Leydig betont hatte, dass keine fundamentalen Unter-
schiede in der morphologischen Bedeutung von Ei und Keim nachzuweisen sind;
wohl aber wurde das verschiedene Verhalten beider in Bezug auf ihre Entwicklung
für bedeutend genug erachtet, einen Unterschied zwischen diesen Gebilden aufrecht
1) Leydig (Naturgesch. d. Daphıniden. 1860. p. 67) will allerdings ein gering entwickeltes recep-
taculum seminis bei viviparen Aphiden aufgefunden haben.
2) Die Angaben Burnett’s sind übrigens vielfach irrige und von denen Leydig’s abweichende;
indem er z. B. das Vorhandensein eines dem Ovarium entsprechenden Organs in Abrede stellt.
zu erhalten und sogar durch besondere Bezeichnungen zum Ausdruck zu bringen.
Leuckart (1858) äussert sich darüber folgendermassen (pag. 20): „Beiderlei Gebilde
sind allerdings als Zellen zu betrachten, die sich auf analoge Weise in einen Embryo
entwickeln. aber in dem einen Falle, bei den Keimzellen, beginnt diese Entwicklung
bereits ausserordentlich frühe, schon zu einer Zeit, in der das Material für den Auf-
bau des Embryo noch lange nicht vorhanden ist, während im anderen Falle, bei den
Eiern, die Entwicklung des Embryo in einer sehr viel späteren Zeit anhebt, erst
dann, nachdem dieses Material vollständig herbeigeschafft und durch Ausscheidung
einer festen Hülle nach aussen abgeschlossen ist.“ Auf einem ähnlichen Standpunkte
stehen auch Huxley (1857) und Lubbock (1857), von denen der erstere den Vor-
schlag macht, die Fortpflanzungskörper der viviparen Blattläuse als Pseudova, die
Bildungsstätte derselben als Pseudovarien zu bezeichnen, worin ihm die meisten
Forscher gefolgt sind. Damit werden diese Pseudova aber durchaus noch nicht
zu ungeschlechtlichen Fortpflanzungskörpern gestempelt.‘) Denn so verdienstvoll es
auch gewesen sein mag, dass Steenstrup den Entwieklungsgang der Blattläuse als
Generationswechsel auffasste, indem dadurch die sonst so wunderbar erscheinende
Fortpflanzung ohne Befruchtung mit ähnlichen Vorgängen von einem gemeinsamen
Standpunkte aus beurtheilt werden konnte, so drängte doch der Fortschritt unserer
Kenntnisse allmählich zu einer Wiederaufnahme der früheren Anschauung, dass die
viviparen Blattlaus-Individuen nicht Ammen, sondern wirkliche Weibehen sind: nicht
Hermaphroditen, wofür sie nicht blos von den ältesten Beobachtern, wie schon er-
wähnt, sondern auch von Karl Ernst v. Baer’) (1828) und noch viel später (1866
u. f. Jahre) von Balbiani in Anspruch genommen sind, auch nicht Weibehen, welche
unter dem Einflusse befruchteter Vorfahren eine neue Generation zu erzeugen ver-
mögen, wofür sich Trembley°) (1741), Kirby u. Spence‘) (1828), Dutrochet’)
(1833) und Owen‘) (1843) ausgesprochen hatten, sondern befruchtungsunfähige und zur
1) Dieser Standpunkt findet allerdings auch seine Vertreter, so u.a. in Quatrefages, Metamor-
phoses de l’homme et des animaux. 1862. p. 281.
2) Baer, K. E. v., Ueber Entwicklungsgeschiehte der Thiere. J. Theil. 1828. p. 152. („Vielleicht
darf man annehmen, dass diese Eier ursprünglich nicht weiblicher Natur, sondern weiblich-männlich waren.“)
3) Trembley, in einem Briefe an Bonnet (24. Jan. 1741) in des Letzteren „Considerations sur les
corps organises“. Amsterdam. 1762. II. p. 103.
* Kirby u. Spence, An Introduction to Entomology. Vol. IV. 1828. p. 161.
5) Dutrochet, Henri, Observations sur les organes de la generation chez les Pucerons. in: Ann.
se. nat. T. 30. 1833. p. 204—209.
6) Owen, Rich., Leetures on Comparative Anatomy delivered at the Royal College of Surgeons,
in 1843. London 1843. (Hunterian Leetures. Nr. 9.) p. 233— 235.
— 388 ——
Fortpflanzung der Befruchtung nicht bedürftige Weibehen. Schon 1856 hatte Filippi
geäussert: „Gli Apidi vivipari sono dunque da considerarsi come vere femini ver-
gini“ (pag. 77), und Olaus (1858 u. 1864) sprach sich dahin aus: „Wir sehen in den
sogenannten Aphidenammen nur zweekmässig organisirte Weibchen, in den sog. Keim-
zellen von den wirklichen Eiern nur graduell verschiedene Keimprodukte“ (pag. 22).
Diese Auffassung fand dann auch in Gerstäcker (1567 in Bronn’s Klassen und
Ordnungen) einen entschiedenen Vertreter, welchem sich später (1874) auch Leuckart')
anschloss. Was übrigens dieser Ansicht am meisten zur Stütze gereichte, waren die
Beobachtungen, welche an verwandten Pflanzenläusen, zunächst an gewissen Schild-
läusen (Cocerdae) gemacht wurden. Wir verdanken dieselben wiederum Leuckart
(1858), welcher seine Untersuchungen an verschiedenen Arten der Gattungen Zecanzunn
und Aspidiotus, sowie an Coceus adonıdum anstellte.
Die männlichen, zuerst von Reaumur’) entdeckten und von den weiblichen
Individuen beträchtlich abweichenden Schildläuse treten nur kurze Zeit im Jahre auf
und sind von vielen Arten bisher überhaupt nicht bekannt geworden.’) Wenn man
sich früher (Bärensprung)‘) für berechtigt hielt, diesen T'hieren eine einzige, durch
befruchtete Eier sieh fortpflanzende Generation zuzuschreiben, so hat man sich
wenigstens für gewisse Arten allmählich eines Anderen überzeugen müssen. Nach-
dem zuerst Leydig (1854) bei Zecanzum hesperidum der viviparen Aphidengeneration
entsprechende „Ammen“ nachgewiesen zu haben glaubte, erkannte Leuckart diese
Individuen bei der genannten und bei einigen anderen Formen als durchaus normale,
!) Leuekart war übrigens schon 1859 (p. 225 u. fl.) von seiner entschiedenen Parteinahme für
die Auffassung der Aphidenentwieklung als Generationswechsel bedeutend zurückgetreten. 1874 spricht
er sich folgendermassen aus: „Wie die Sachen gegenwärtig liegen, scheint es in der That am natürlichsten,
die ersteren (nämlich die viviparen Blattläuse) gleichfalls für eine Art parthenogenesirender Weibchen zu
halten, allerdings für Weibehen, die der eigentlichen Bestimmung dieser Thiere, der Produktion befruch-
teter Eier, noch mehr entfremdet sind, als es bei den gewöhnliehen Formen der parthenogenesirenden
Individuen der Fall ist.“
2) Reaumur, Memoires pour servir a V’histoire des Inseetes. T.IV. 1738. Mem.1 et 2.
3) Bärensprung, Felix v., Beobachtungen über einige einheimische Arten aus der Familie der
(Coceinen. in: D’Alton’'s Ztsehr. f. Zool. 1. Bd. 1848. p. 166—170; 173—176.
*) Neuerdings berichtet Moniez (18837) von den Männchen des Lecanium hesperidum, die er
niemals im Freien, sondern nur im Innern des Mutterthieres aufzufinden vermochte. Er nimmt infolgedessen
auch an, dass hier die Befruchtung erfolge und so bei dieser Art und vielleicht auch in manchen anderen
Fällen da eine Parthenogenese in Anspruch genommen werde, wo sich die Befruchtung der Eier der
Beobachtung entzogen habe. — Die Wissenschaft bewegt sich oft in einem Kreisbogen und kommt manchmal
nach Jahren da wieder an, wo sie schon einmal gestanden hat! Die Moniez’sche Ansicht durchgeführt,
würde an Stelle der Parthenogenesis den Hermaphroditismus wieder einsetzen.
—ı 98)
mit Samentasche versehene Weibehen. Dasselbe bestätigte (1560) Claus’) für Coceus
cact', welche sich parthenogenetisch, nicht vivipar, wie Leydig geglaubt hatte,
sondern durch Eier, deren Embryo allerdings ziemlich fertig gebildet ist und bald
ausschlüpft, fortpflanzen. Es versteht sich von selbst, dass Leuekart sich bei dieser
Behauptung von dem Mangel der Samenelemente im receptaculum seminis überzeugt
hatte und für die genannten Arten um so leichter vor einem Irrthum bewahrt wurde,
als er bei Coccus adonidum den gegentheiligen Befund erkannte. Wenn Leuckart
an seine Untersuchungen die Bemerkung knüpft: „Ob alle oder nur gewisse Arten
die parthenogenetische Entwicklung besitzen, ob diese Entwicklung regelmässig bei
dem unbefruchteten Weibchen stattfindet oder nur mitunter geschieht, ob vielleicht
mehrere solcher jungfräulicher Generationen auf einander folgen — dies Alles sind
Verhältnisse, die ich hier einstweilen noch unentschieden lassen muss“ (pag. 44), so
drückt er damit nieht nur den Stand der damaligen, sondern auch noch den heutigen
Stand unserer Kenntnisse über die Fortpflanzung der Cocerden aus. Unsere obige
Behauptung, dass diese letztere für die Beurtheilung der A4/Arden- Entwicklung von
Bedeutung gewesen sei, muss um so gerechtfertigter erscheinen, als sieh in ganz
ähnlicher Weise auch die Fortpflanzung einer kleinen Gruppe von Pflanzenläusen
vollzieht, welche man mit den Aphrden zu vereinigen pflegte, nämlich die der Rinden-
läuse. Schon im Anschluss an seine Mittheilungen über die Parthenogenese der
Cocciden konnte Leuckart die Angaben von Degeer’) und Kaltenbach’), wonach
sich die Lebensgeschichte der Chermes-Arten aus zwei verschiedenen Generationen
zusammensetzt, durch die Beobachtung erweitern, dass die (Hügellosen) Individuen der
(als Ei oder fertige T'hiere) überwinternden Generation sich aus parthenogene-
sirenden Weibchen zusammensetzt. „Ich habe mich davon überzeugt“ — so be-
richtet Leuckart bereits ein Jahr später (pag. 213) — „dass die Fortpflanzung
unserer T’annenläuse in beiden Generationen auf parthenogenetischem Wege, durch spon-
tane Entwicklung der Eier, vor sich geht.“ Wie es ihm nicht geglückt ist, Männchen ‘)
1) Claus, C., Zur Kenntniss von Coccus cacti. in: Würzburger naturwiss. Ztschr. 1. Bd. 1860.
p: 150—154; Sitzber. p. XV.
2) Degeer, M&moires pour servir a Y’histoire des insectes. T. III. p. 66.
») Kaltenbach, Monographie der Pflanzenläuse. 1843. p. 193.
4) Irrthümlicherweise hat Ratzeburg (Forstinsekten. 3. Theil. 1844. p. 201) die kleineren Indi-
viduen der geflügelten Generation für Männchen in Anspruch genommen, später aber selbst (Waldverderber.
5. Aufl. 1860) diesen Fehler eorrigirt, nachdem Leuekart darauf aufmerksam gemacht hatte. Zu meinem
Bedauern ist mir dies entgangen, als ich 1882 in meinen „Verwandlungen der Thiere“ die Abbildung
Ratzeburg’s, welche die Verlagsbuchhandlung bereits besass, mit der falschen Bezeichnung aufnahm.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 5l
— 390 ——
von Chermes abietis aufzufinden, so stand man noch lange erwartungsvoll vor einer
befriedigenden Lösung der Frage, giebt es deren überhaupt nicht oder treten sie nur
unter ganz bestimmten und dann offenbar sehr beschränkten Verhältnissen auf?
Zwar in einer späteren Abhandlung (1874) glaubte er auf das Vorhandensein einer
zweigeschlechtliehen Generation schliessen zu müssen, besonders in Hinblick auf die
durch Derb&s und Balbiani für verwandte Formen gewonnenen Resultate, aber erst
im Jahre 1887 gelang es Blochmann, die Geschlechtsgeneration der Tannenlaus
nachzuweisen. Sehr bald zeigte sich übrigens, dass Blochmann trotzdem den Ent-
wicklungseyklus dieser Art für einfacher gehalten hatte, als er wirklich ist, und so
wurden gerade diese Tannenläuse in den letzten Jahren zum Gegenstande zahlreicher
Beobachtungen, an denen sich ausser dem genannten Forscher vor allem Dreyfus
(1889) und auch Cholodovsky (1889) mit Erfolg betheiligten. In gleicher Weise,
wie für Chermes abietis, hat Leuckart übrigens auch für Ch. preceae, laricıis') und
Phylioxera (coccinea) guercus die parthenogenetische Fortpflanzung bei den theils ge-
tlügelten (Cr. Zaricis), theils ungeflügelten Generationen nachgewiesen. Ausführlichere
Beobachtungen über die Eichenlaus verdanken wir Balbiani (1873). Danach folgen
sich, wie bei den Blattläusen, den ganzen Sommer hindurch Individuen von der gleichen
Art, welche sich auf parthenogenetischem Wege fortpflanzen, aber nicht vivipar sind,
sondern Eier legen. Die letzte aus geflügelten und flügellosen Weibchen bestehende
Sommergeneration legt zweierlei verschiedene Eier, grössere, denen die Weibchen,
und kleinere, denen die Männchen ihren Ursprung verdanken. Erstere legen je nur
ein befruchtetes Ei, welches überwintert, um im Frühjahr die erste parthenogene-
tische Generation aus sich hervorgehen zu lassen.
In fast derselben Weise verläuft im grossen und ganzen auch der Entwick-
lungsgang bei der Reblaus (Phyloxera vastatrix), der uns besonders durch die
Untersuchungen von Balbiani, Signoret, Riley, Lichtenstein, Dreyfus u. v. A.)
bekannt geworden ist. Es kann uns hier übrigens nur darauf ankommen, hervorzu-
heben, dass bei den genannten Gruppen von Phytophthiren die jungfräuliche Zeugung
eine Rolle spielt, denn die genauere Schilderung der ausserordentlich verwieckelten
Generationsfolgen gehört nicht hierher, sondern in eine Darstellung der heterogenetischen
1) Dass C'hermes laricis nur eine der verschiedenen Generationen ist, in welchen Ch. abietis
auftritt, ist erst ganz neuerdings durch Dreyfus festgestellt worden.
2) In unserer Litteratur - Zusammenstellung ist nur ein kleiner Theil der auf Phylloxera bezüg-
lichen Arbeiten aufgenommen. Wegen der bis 1880 inel. erschienenen Publikationen verweise ich auf
die Zusammenstellung in meiner Bibl. zool.
391
Fortpflanzung als solcher. Nur das wollen wir nicht unerwähnt lassen, dass auch
heutigen Tages unsere Kenntnisse über diese Vorgänge keineswegs als abgeschlossen
zu betrachten sind. ‚Je genauer die Entwicklungsverhältnisse der Chermes- und
Phylioxera-Arten, namentlich durch die neuesten vortrefflichen Untersuchungen von
Dreyfus, bekannt werden, um so weniger kann man sich der Annahme zuneigen,
dass ein völlig befriedigender Einblick in dieselben gewonnen sei. Vor allem ist es
das Auftreten der sog. Parallelreihen, auf welche schon Lichtenstein vielfach hin-
gewiesen hatte und deren Vorkommen neuerdings besonders von Dreyfus genauer
studirt wird, welches einem klaren Einblick in den gesammten Lebenseyklus dieser
interessanten 'T'hiere nieht unerhebliche Schwirigkeiten in den Weg legt. Nachträg-
lich muss noch bemerkt werden, dass bei den sog. Gallenläusen ein Generations-
cyklus bekannt geworden ist — wir verdanken diese Kenntniss den Untersuchungen
von Derbes (1872) an Pemphigus terebinthi —, welcher etwas von demjenigen der
freilebenden (und mit „Honigtrompeten“ versehenen) Aphiden abweicht; insofern näm-
lich, als hier die zweigeschlechtliche Generation im Frühjahre auftritt, und bei der
viviparen Generation geflügelte und ungeflügelte Individuen nicht untermischt, sondern
getrennt und unter etwas abweichenden Lebensverhältnissen auftreten.
Neuerdings hat man auch bei einigen Vertretern der Pseudo-Neuropteren partheno-
genetische Fortpflanzung vermuthet, aber in der That nur vermuthet; denn etwas
Sicheres ist aus den Angaben Schoch’s (1884) über Zphemerella ienıta und Eaton's')
(1883) über C/oöon dipterum nicht zu entnehmen. Der Letztere stellt seine Ver-
muthung nur anderen Auffassungen (von Calori und Joly) gegenüber, und Schoch
beobachtete, wie eine Nymphe der genannten Art unter einem Deckgläschen Eier
entleerte und spricht in Folge dessen von einer „pädogenetischen Eintagsfliege“.
Es wird überhaupt in unserer Zeit zu viel konstruirt und publizirt! Was helfen
uns alle Muthmassungen über das Vorkommen von Parthenogenesis, wenn die direkte
Beobachtung fehlt. Weil bei Musca nach den Untersuchungen Lowne’s eine ähn-
liche Einrichtung des weiblichen Leitungweges vorzuliegen scheint wie bei Apzs
vermuthet Cheshire,’) es könnte vielleicht auch bei ersterer arrenotoke Partheno-
genesis vorkommen! Und Stuhlmann (1886) schliesst Parthenogenesis bei Sphinx
1) Eaton, A. E., A Revisional Monograph of recent Ephemeridae or Mayflies. Part I. in: Trans.
Linn. Soc. London. 2. Ser. Zool. Vol. II. PartI. 1883. p. 11.
2) Cheshire, Frank R., The apparatus for differentiating the sexes in Bees and Wasps. An
anatomical investigation into the structure of the receptaculum seminis and adjacent parts. in: Journ. Roy.
Mier. Soc. 2. Ser. Vol. 5. 1885. p. 1—15.
51*
= 392: —
ligutsri und Musca vomitoria, weil sich an unbefruchteten Eiern Gebilde fanden, die er
nur als Fruchtungskerne deuten konnte (pag. 143 u. 153.) Stuhlmann geht in
seinen Schlussfolgerungen übrigens noch weiter. Weil er nur bei den Eiern eines
einzigen Individuums am oberen Pole „zwei oder mehrere helle verschwommene
Flecken“, auffand die er nur als Kerne deuten konnte, — Stuhlmann hat bekanntlich
nirgends Richtungskörper nachzuweisen vermocht — und die er durch partheno-
genetische Furchung entstanden glaubt, so schliesst er daraus, das Parthenogenese
von der Constitution des betreffenden Individuums abhängt. „Man kann nun an diesem
Beispiele sehen — heisst es dann — wie bei einzelnen Individuen einer Art, die
sich geschlechtlich fortpflanzt, Parthenogenese auftreten kann. Wenn diese nun für
die Art günstig ist, so kann man sich denken, dass die parthenogenetisch sich fort-
pflanzenden Individuen im Kampf ums Dasein ganz allmählich den Sieg davon trugen
und so durch Naturzüchtung die Parthenogenese bei der ganzen Art auftrat.“ Quod
erat demonstrandum!
Nächst den Blattläusen sind es gewisse Krebse, über deren Fähigkeit, sich
aus unbefruchteten Eiern zu entwickeln, wir am längsten unterrichtet sind. Wie
schon Eingangs unserer historischen Uebersicht hervorgehoben wurde, hat der Regens-
burger Pfarrer Schäffer bereits 1755 die Parthenogenesis bei Daphniden auf das
unzweideutigste erwiesen. Durch Isolation der von einem trächtigen Weibchen des
„geschwänzten zackigen Wassertlohs“ ausgestossenen Jungen stellte er fest, dass
diese letzteren von neuem Junge in ihrer Leibeshöhle erzeugten, ein Vorgang,
welchen er durch drei aufeinander folgende Generationen verfolgen konnte. Schaeffer
stellte diese T'hatsache auch in Parallele mit der Fortpflanzung der viviparen Blatt-
läuse („Erdinsekten“). Jurine brachte es (1820) bei seinen in ähnlicher Weise an-
gestellten Zuchten sogar auf sechs ohne Befruchtung auf einander folgende Generationen.
Schon 15 Jahre früher hatte Ramdohr (1805) vom Juni bis September zehn Gene-
rationen nach einander gezüchtet, welche stets nur aus den gleichen Individuen be-
standen. Er hielt dieselben allerdings nicht für Weibchen, sondern, wie auch
Schäffer und Statius Müller‘) gethan hatten, für Zwitter, eine Ansicht, welcher
zuerst Jurine entgegentrat.
Diese Beobachtungen bezogen sich übrigens nur auf die Sommereier, welche
in dem Schalenbrutraume bis zum Ausschlüpfen der Jungen getragen werden. Für
dieselben ist die Parthenogenesis auch in der Folge bei allen darauf gerichteten
!) Statius Müller in der Uebersetzung von Linne’s Systema naturae.
393
Untersuchungen bestätigt worden. Daneben werden aber auch Wintereier produzirt,
welche durch den Besitz des sog. Sattels oder des Ephippium ausgezeichnet sind.)
Dieselben bedürfen, wie sich später herausgestellt hat, zur Entwicklung der Be-
fruchtung, während sie allerdings unabhängig von letzterer ihre Entstehung nehmen
können. Dass die Fortpflanzung der Daphniden durch Sommer- und Wintereier in
einem mehr oder weniger regelmässigen Cyklus geschieht, gehört in das Kapitel der
Heterogonie und ist in umfassender Weise behandelt von Weismann (1877— 79.)
Die mit den Cladoceren nahe verwandten Branchiopoden liefern gleichfalls eine An-
zahl von Beispielen für die jungfräuliche Zeugung. Am längsten bekannt und zwar
ebenfalls durch die Beobachtungen Schäffers (1756) ist dieselbe bei Apus cancrı-
/ormis und produetu. Wie bei den Daphnien züchtete Schäffer auch bei den
„Kieferfüssen“ durch Isolirung mehrere Generationen und kam dabei zu der Ueber-
zeugung, dass dieselben „auch ohne Befruchtung fruchtbare Eier müssten in sich
gehabt und von sich gegeben haben“ (pag. 118.) Sämmtliche von ihm untersuchte
Individuen trugen Eier an sich, doch vermuthete Schäffer, in dem sehr erklärlichen
Vorurtheile seiner Zeit, dass die Befruchtung zur Entwicklung nothwendig sei, be-
fangen, es sei innerhalb einer jeden weiblichen Geschlechtsöffnung ein männliches
Zeugungsglied verborgen. Diese Annahme vom Hermaphroditismus der Aus hat
auch in der Folge verschiedene Vertreter gefunden: so in Pallas (1768), welcher
in einer Pfütze bei Berlin 160 Individuen sämmtlich mit Eiern angetroffen hatte; in
C. F. Schultze (1772), welcher über tausend Exemplare untersuchte und eine Selbst-
befruchtung dieser stets Eier enthaltenden Krebse für wahrscheinlich ansah; ferner
in Berthold (1830), der die sog. rothen Beutelchen’) als die männlichen Geschlechts-
drüsen ansprechen zu müssen meinte, und endlich in Zaddach (1841), welcher gleich-
falls irrthümlicher Weise männliche Organe nachzuweisen suchte.
Es lag nahe, worauf zuerst Siebold (1856) und Leuckart (1857) hinwiesen,
die Fortpflanzung der Aus als wahre Parthenogenesis in Anspruch zu nehmen. Im
!) Diese mit dem „Ephippium“ versehenen Wintereier sind bereits 1785 von O. Fr. Müller
(Entomostraca s. Insecta testacea) beschrieben, und von Ramdohr (1805) wurde der Sattel ganz
richtig als eine Schutzeinrichtung erkannt, während Jurine (1820) darin eine pathologische Bildung sah.
Nach den Versuchen Lubbock’s (1857) schien die Bildung der Wintereier durch vorausgegangene Be-
gattung bedingt zu sein. Ramdohr hatte freilich auch bei Weibehen, welche von Männchen ferngehalten
waren, die Bildung von Wintereiern beobachtet, was denn auch in der Folge seine Bestätigung gefunden
hat (Weismann).
2) Siebold (Isis 1831. p. 429) wies nach, dass diese Gebilde nichts anderes als die durch den
Tod mit Blut erfüllten Kiemenblättchen sind.
3
Jahre 1857 wurde zum ersten Male mit Sicherheit!) das Männchen von Apus cancrı-
/ormis beschrieben durch Kozubowski, welcher dasselbe bei Krakau auffand. Wenn
aus diesem Befunde von den Gegnern der Parthenogenesis der Schluss gezogen
wurde, dass eine solche hier nicht vorkomme, so sollte derselbe bald hinfällig ge-
macht werden. Trotzdem die Entdeckung des Männchens bei Apus cancrıformis auch
von Brühl (1860) bestätigt werden konnte, und 1864 durch Lubbock auch für
A. productus das andere Geschlecht bekannt wurde, so steht es doch fest, dass die
Männchen äusserst selten und local sehr beschränkt auftreten, während die Weibchen
oft zu unendlichen Mengen und weit verbreitet erscheinen. Siebold (1871) beobachtete
an ein und demselben Fundorte (Gossberg bei Forchheim) den Apus canerıformis in
acht auf einander folgenden stets männerlosen Generationen. Einmal nahm dieser
Forscher sämmtliche Exemplare (5796 an Zahl) durch Ablassen des Wassers aus
ihrer Pfütze heraus und fand auch nicht ein einziges Männchen. Durch Siebold ist
die thelytoke Parthenogenesis bei Apxs über jeden Zweifel erhoben worden. Später
(1872) stellte Brauer fest, dass aus den befruchteten 4/us-Eiern Männchen
hervorgehen.
Die Seltenheit oder sogar die Unkenntniss der Männchen legte auch für einige
andere Branchiopoden die Annahme einer parthenogenetischen Fortpflanzung nahe.
Joly (1840) fand unter 3000 Exemplaren der Artemia salina kein Männchen'), er
suchte dies wiederum dureh Hermaphroditismus zu erklären. Gerstäcker (1867)
deutete den Befund zuerst als Parthenogenesis, womit Siebold (1871) übereinstimmte,
während Leydig (1851) darin einen Generationswechsel hatte erkennen wollen.
Später konnte Siebold (1871) für diese Art, welche er von Capo d’Istria und Cette
I) Die Mittheilung von Le Öonte (Deseriptions of a new species of Apus. in: Amer. Journ. Se. a.
Arts. 2.Ser. Vol.2. 1846. p. 275 oder Annals of the Lyceum Nat. Hist. New-York. Vol.4. 1848. p. 155),
nach welcher Apus longicaudatus sämmtlich keine Eier besassen und nur deshalb als Männchen erklärt
wurden, ist für die Richtigkeit dieser Behauptung keineswegs beweiskräftig. — Nach einer anderen, auf
der Breslauer Naturforscher-Versammlung 1833 von Retzius gemachten Mittheilung hat Kollar bei Wien
das Männchen von Apus caneriformis entdeckt. Es ist darüber nie etwas Näheres bekannt geworden;
ich bin in der Lage, bemerken zu können, dass ein von Kollar an Burmeister gesandtes Exemplar, wel-
ches sich noch in der Sammlung des Halle’schen zoologischen Instituts befindet, in der That ein
Männchen ist.
2) Das Männchen von Artemia salina war übrigens schon längst (seit 1755) bekannt durch
Schlosser (Extrait d’une lettre de M. le Doet. Schlosser, eoncernant un Insecte peu connu [Limington en
Hampseire le 7 Oct. 1755] in: Gautier, Observations periodiques sur la physique, l’hist. nat. et les beaux
arts. Paris 1756. — efr. auch Hamburger Mag. XVII. 1756. p. 108). Dasselbe ist dann auch von Leydig
(1851) ausführlich beschrieben worden.
erhalten hatte, eine thelytoke Parthenogenesis mit Sicherheit nachweisen. Auch bei
anderen Artemia-Arten sind Männchen sehr selten oder überhaupt noch nicht bekannt,
so dass für dieselben mit grosser Wahrscheinlichkeit ein ähnliches Verhalten wie bei
4. salina angenommen werden darf. Es handelt sich dabei namentlich um 4. Mil-
hausenü, welche von Fischer v. Waldheim‘). Rathke’) und Seb. Fischer’) in
ausschliesslich weiblichen Generationen beobachtet worden ist.
Als dritte hierher gehörige Form, bei welcher eine parthenogenetische Fort-
pflanzung zweifellos ist, muss Zrmmnadia Fermanni gelten, von welcher die Männchen‘)
bis heute noch nicht bekannt sind. Dieselbe wurde genauer zuerst von Brongniart
(1820) untersucht; unter nahe an 100 bei Fontainebleau gesammelten Individuen fand
sich kein Männchen. Ebenso waren mehrere tausend Exemplare, welche Lereboullet
(1850) bei Strassburg musterte, ausschliesslich weiblich, wovon sich auch Siebold
(1871) durch Autopsie zu überzeugen Gelegenheit hatte.
Sehr viel später als bei den PAyX/opoden, nämlich erst 1880, wurde fast gleich-
zeitig von Weismann und Wilh. Müller auch für die Os/racoden eine partheno-
genetische Fortpflanzung festgestellt, und nach später fortgesetzetzten Beobachtungen
des erstgenannten Forschers gelang es, von einer Art, Cypris reptans, vierzig Gene-
rationen hindurch reine Parthenogenesis nachzuweisen. (1891, pag. 170). Ehe wir den
Typus der Arthropoden verlassen, sei noch erwähnt, dass auch bei einigen anderen
Vertretern desselben, die bisher nicht erwähnt wurden, Parthenogenese beobachtet
oder wenigstens vermuthet worden ist. So wird sie bei einigen Copepoden von Aurz-
vrllius (1886) als möglich erachtet, für einen Tausendfuss (Geophelus proxunus) von
Sograff (1882) aus dem leer befundenen receptaculum seminis geschlossen und aus
letzterem Grunde von Henking (1883) auch bei Zrombidium fuliginosum. Henking
hatte beobachtet, dass einige Weibchen dieser Milbe sich ihrer sämmtlichen Eivorräthe
entledigt hatten, aber nach vier bis sechs Wochen abermals entwicklungsfähige Eier
legten, und dabei kein Sperma mehr in der Samentasche enthielten. Für gewisse
1!) Fischer v. Waldheim, Notice sur une espece de Branchipus. in: Bull. Soc. d. Natural. d.
Moscou. T.7. 1834. p. 452.
2) Rathke, Heinr., Zur Fauna der Krym. in: Mem. Acad. imp. St. Petersbourg. T.3. 1836. p. 105.
3) Fischer, Seb., in: Middendorf’s Reise. Zoologie. Branchiopoda u. Entomostraca. p. 9. Tab. VI.
fig. 29, 30.
4) Für eine australische Art, Limnadia Stanleyana, hat 1872 Claus das Männchen nachgewiesen.
(Ueber den Körperbau einer australischen Limnadia und über das Männchen derselben, in: Ztschr. f. wiss.
Zool. Bd. XXIII. 1872. p. 355.) — Die nach verschiedenen Autoren angeblich zu Limmadia Hermanni
gehörigen Männchen sind anderen Gattungen zuzuweisen. (cfr. Siebold, Beiträge zur Parthenogenesis.
1871. p- 210 u. fi)
— 396 —
Milben war übrigens schon früher (1582) eine Parthenogenese und auch Pädogenese
mitgetheilt worden durch Berlese. Derselbe will sie bei Gamaszden beobachtet haben
und zwar unter Verhältnissen, welche auf eine grosse Formenverschiedenheit der zu
einer Art gehörigen Glieder schliessen lassen. Es sollen nämlich bei ein und der-
selben Art neben den normal zweigeschlechtlichen Individuen auch solche vorkommen,
die sich ohne Männchen und sogar schon im Larvenstadium fortpflanzen. Diese
Beobachtungen bedürfen jedenfalls noch der Bestätigung.
Alle bis hierher in Betracht gezogenen Fälle von Parthenogenesis sind bei Glieder-
füssler festgestellt worden, und ausser diesem Thierkreise sind auch nur vereinzelte
Formen bekannt geworden, welche sich auf die gleiche Weise fortzupflanzen vermögen.
Nach den Untersuchungen von Cohn (1856 und 1858) war es wahrscheinlich
geworden, dass bei den Kotr/eren eine Parthenogenesis vorkommt, indem die Sommer-
eier') meist ohne vorausgegangene Befruchtung zur Entwicklung gelangen sollen.
Anfangs deutete Cohn seine Beobachtungen über das seltene und nur zu bestimmten
Zeiten bemerkbare Auftreten der Männchen im Sinne eines Generationswechsels und
sprach die Sommereier erzeugenden Rotiferen für Ammen, ihre Produckte für Keime
an. Umgekehrt hielt Huxley (1857) die Wintereier für geschlechtlose knospen-
artige Keime, während er für die Sommereier die Nothwendigkeit der Befruchtung
postulirte.) Da Cohn von vornherein zwischen der Entwicklung und Organisation
von Ammen und Weibchen durchaus keinen Unterschied auffinden konnte, so lag
es für ihn nach Bekanntschaft mit der Siebold’schen Schrift über die Partheno-
genesis sehr nahe, die letztere Fortpflanzungsweise auch für die sog. Ammen der
käderthierchen anzunehmen (1558.)') Die späteren Untersuchungen von Joliet (1883),
Plate (1884 u. 1855) und Maupas (1589 u. 1890) haben die Parthenogenesis bei den
Räderthieren bestätigt. Nach Plate soll die Bildung der beiden verschiedenen Eiarten
von der Befruchtung oder deren Ausbleiben unabhängig sein, während Maupas der
Annahme Cohn’s zum Rechte verhilft, dass die Wintereier der Befruchtung be-
dürfen. Diesem ausgezeichneten französischen Forscher ist bei verschiedenen Räder-
thier-Arten, namentlich bei Zydatina senta, die Aufzucht zahlreicher männerloser
!) Bei Conochilus volvox konnte für die Parthenogenese der Sommereier allerdings kein ent-
scheidendes Moment beigebracht werden (1863).
2) Später hat Huxley gegenüber Cohn auf seinen Angaben nicht beharrt. (Grundzüge d. Anat.
d. wirbellosen Thiere. Uebers. v. J. W. Spengel. Leipz. 1878. p. 170.)
3) Dies war übrigens bereits von Leuckart (1856) in den Nachträgen und Berichtigungen zu
v. d. Hoeven’s Zoologie (Holländische Uebersetzung p. 117) und in seiner Schrift über den Generations-
wechsel und die Parthenogenesis geschehen.
Generationen, im ausgiebigsten Falle 45 solcher, geglückt. Von Weismann und
Ischikawa ist durch die Beobachtung nur eines Richtungskörpers bei Ca/kdina
bidens die parthenogenetische Fortpflanzung ebenfalls wahrscheinlich gemacht worden.
Nach den neuesten von Daday (1890) herrührenden Beobachtungen an einem Räder-
thiere (Asp/anchna Steboldir) kommt hier nicht nur gelegentlich jungfräuliche Zeugung vor,
sondern innerhalb eines heterogonetischen Entwicklungseyklus und unter Dimor-
phismus der Weibehen. Die Räderthierchen sind übrigens nicht die einzigen Ver-
treter des vielgestaltigen „Typus“ der Würmer geblieben, bei denen die Fortpflanzung
weiblicher Thiere durch unbefruchtete Eier zur Beobachtung gekommen ist. Maupas
berichtet (1889), dass er Chaetogaster diastrophus durch 45 Generationen gezüchtet hat,
ohne dass nur eine geschlechtliche dazwischen aufgetreten wäre. Schon 1878 wurde
durch Whitman für eine andere Annelidenform, für C/epsine, auf die Möglichkeit par-
thenogenetischer Entwicklung hingewiesen. „Von der Zeit des Auskriechens bis zur
Geschlechtsreife isolirt gehaltene Individuen produeiren Eier, welche sich in der
normalen Weise entwickeln (selbstbefruchtet oder parthenogenetisch.)“ In einer aus-
führlicheren Arbeit über die Entwicklung dieser Hirudinee neigt unser Forscher
allerdings mehr zu der Annahme hin, dass es sich um eine Selbstbefruchtung
handeln möge. (pag. 9.)
Auch unter den Zehrnodermen ist Parthenogenese festgestellt worden und zwar
zuerst (1876) durch Greeff, welcher einzelne Eier von Asieracanthion rubens ohne
Befruchtung sich entwickeln sah und sogar schneller als unter normalen Verhält-
nissen.‘) Jahrelang blieben diese Beobachtungen isolirt, denn weder Hertwig
noch Fol gelang es, dieselben zu wiederholen. Aber neuerdings (1390) hat der
erstere dieser beiden Zoologen in Triest jene Untersuchungen mit besserem Erfolge
wieder aufgenommen, und bei Asterias glacialis und Asteropecten die Entwicklung
unbefruchteter Fier beobachtet. Dieselbe schreitet übrigens nur bis zum Blastula-
Stadium fort. Dadurch werden wir auch noch an einige andere Fälle erinnert,
in welchen parthenogenetische Entwicklung keineswegs bis zur Ausbildung eines
geschlechtsreifen Thieres führt. Wie schon bei früherer Gelegenheit bemerkt
wurde, machen die Eier mancher Schmetterlinge, wie die des Maulbeerspinners,
nur die Furchung durch und sterben dann ab; und eine solche Einleitung zur
Entwicklung hat sogar bei mehreren Wirbelthiereiern constatirt werden können.
Schon 1853 berichtet Leuckart von einigen Beobachtungen an Froscheiern und er-
6) Etwas Aehnliches berichtet Pringsheim (Berlin. Monatsber. f. 1873. p. 484—485) für die ohne
Befruchtung zu Stande gekommene Oospore der Saprolegniaceen.
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 52
— 398 -
wähnt dabei (pag. 958), dass auch Aehnliches von Bischoff‘) bei einer Sau, von
Vogt?) bei der Schneckengattung Z7ro/a gefunden ist. Leuckart parallelisirt auch
bereits damals derartige Erscheinungen mit denjenigen, welche einige Jahre später
unter die Ueberschrift Parthenogenesis gestellt wurden. Später (1572) hat Oellacher’)
am Hühnerei einen spontanen Beginn der Furchung kennen gelernt, und Hensen‘)
fand (1869), dass das Kaninchenei in einem abgeschnürten Eileiter nicht zu Grunde
geht, ohne Spuren von Theilungsvorgängen zu zeigen. Diese Beispiele sind von
entschiedenem Interesse, denn sie zeigen uns, dass das thierische Ei in vielen Fällen
vielleicht viel häufiger, als wir es bis hierher ahnen, dem Triebe zur Entwicklung
folgt, auch ohne durch das Samenelement dazu angeregt zu sein.) Dass diese
Entwieklung auf einer sehr frühen Stufe bereits wieder erlöscht, ist eine Sache für
sich; jedenfalls müssen wir hier den Anfang von denjenigen Erscheinungen er-
blicken, die in verschiedener Abstufung zur typischen Form parthenogenetischer Fort-
pflanzung hinleiten.
Eine besondere Form jungfräulicher Zeugung wurde 1864 durch C. E. v. Baer
unter dem Namen der ZPädogenesis in die Wissenschaft eingeführt. Dies geschah
in einem amtlichen Gutachten, welches, in russischer Sprache abgefasst, für Nic.
Wagner den Demidow’schen Preis in Vorschlag bringt. Der genannte Forscher
hatte nämlich 1862 die Entdeckung gemacht. dass gewisse Mückenlarven fort-
pflanzungsfähig sind, indem sie lebende Larven in sich erzeugen und zwar, wie
Wagner annahm, aus dem Fettkörper. Mit dem Freiwerden der Brut geht die
Mutterlarve zu Grunde.) Diese Entdeckung, welche einem alten Erfahrungssatze,
wonach nur ausgebildete Thiere fortpflanzungsfähig sind, ins Gesicht sehlug, erregte
natürlich viel Aufsehen und mancherlei Anzweifelungen. Siebold liess sich erst
nach mündlicher Mittheilung Filippi’s, welcher sich in Kasan von dem Sachverhalt
!) Bischoff, Th. Ludw. Wilh., Recherches sur la maturation et la chute periodique de l’oeuf de
l’homme et des mammiferes. (Avee 6 Pl.) in: Ann, Se. nat. 3. Ser. Zool. T.2. 1844. (p. 104—162) p. 135.
2) Vogt, Carl, Bilder aus dem Thierleben. 1852. p. 216— 218.
>) Oellacher, in: Ztschr. f. wiss. Zool. 26. Bd. 1872. p. 181— 234.
#) Hensen in: Medie. Centralblatt. 7. Jhg. 1869. p. 403 —404.
5) Carl Vogt (l.e p.218) braucht einen Vergleich, den wir hier wiedergeben möchten: „Ein
befruchtetes Ei verhält sich zu einem unbefruchteten Ei wie der Pendel einer aufgezogenen Uhr zu einem
einfachen Pendel, letzterer schwingt allmählich aus, während ersterer durch die Feder in Bewegung
erhalten wird.“
6) C. G. Carus (Leopoldina. V. 1865/66. p. 95) spricht sein Bedenken aus über die Zerstörung
des mütterlichen Organismus beim Freiwerden der Brut und vermuthet einen (bisher übersehenen) Aus-
führungsgang.
899, —
selbst überzeugt hatte, dazu bestimmen, eine darauf bezügliche Abhandlung Wagner’s
in seiner Zeitschrift (1563) abzudrucken. Der erste, welcher öffentlich für Wagner
eintrat, war ©. E. v. Baer im Bulletin der Petersburger Akademie (1863), worin er
nach eigenen Untersuchungen — das Material dazu war ihm aus Kasan zugesandt
worden — die Richtigkeit der Wagner’schen Entdeckung bestätigen konnte. Aber
auch von anderer Seite bekam die neue Lehre neue Stützen: zuerst durch Meinert
(1864) in Kopenhagen, welcher dieselbe Ceezdomyzren-Art, wie Wagner, vor sich ge-
habt zu haben meint und dafür den Namen Miastor metraloas in Vorschlag bringt;
sodann in demselben Jahre noch durch Pagenstecher, welcher seine Untersuchungen
an einer anderen, in Pressrückständen von Runkelrüben gefundenen, aber nicht näher
bestimmten Ceczidomyien-Art angestellt hat. In einem wichtigen Punkte weicht letzterer
von Wagner ab, indem er nämlich als Bildungsstätte der jungen Brut nicht den
Fettkörper, sondern wirkliche Eier, welche er an verschiedenen Stellen des Leibes
aufgefunden hat, in Anspruch nimmt. Diese Beobachtungen sind dann auch an
einer anderen Art durch Ganin') (1565) bestätigt und erweitert, indem derselbe
einen parigen Eierstock als Organ für die Ausbildung der Larvenbrut nachwies. Dasselbe
geschah in der gleichen Zeit durch Leuckart?) in Giessen, nur dass hier statt von
einem „Eierstoeke* von Keimstöcken gesprochen wird. Dieselben zerfallen in eine
Anzahl frei in der Leibeshöhle liegende Ballen. in welchen das morphologische Aequi-
valent eines Keimfaches aus den Eiröhren der weiblichen Insekten zu erkennen ist.
Schliesslich wurde eine Pädogenesis durch Grimm (1870) auch bei einer
Chironomus-Art beobachtet. Hier ist es aber nicht die Larve, welche sich fortpflanzt,
sondern die Puppe und nicht durch Lebendiggebären von Larven, sondern durch
Eier, welche in eine gallertartige Masse eingebettet aus besonderen Oeffnungen des
vorletzten Bauchsegments abgelegt werden. Grimm fand auch, dass die der aus-
gebildeten Mücke vor der Befruchtung entnommenen Eier entwicklungsfähig sind.
Ganz neuerdings (1885) ist dieselbe Mückengattung (Chironomus Grinmiü) Gegen-
stand der Untersuchung für Anton Schneider gewesen. Danach ist es nicht die
1) Die zuerst russisch veröffentlichten Mittheilungen Ganin’s sind von C. E. v. Baer in einem
sehr genauen Auszuge im Bulletin der Petersburger Akademie einem grösseren Leserkreise zugänglich
gemacht, worauf auch Ganin selbst einen deutsch geschriebenen Aufsatz in der Zeitschrift f. wiss. Zool. ver-
öffentlichte (1865).
2) Metschnikow, welcher damals bei Leuckart arbeitete, hat die hauptsächlichsten Resultate der
Untersuchungen brieflich nach Russland mitgetheilt, wo sie durch Kessler zum Abdruck gelangt sind in
der russischen Zeitschrift Naturalist 1865. Nr. 8.
52*
nn 1)
>
Puppe, sondern die derselben entschlüpfte Imago,') welche sich durch unbefruchtete
Eier fortpflanzt. Wenn wir dies Resultat mit der eben mitgetheilten Beobachtung
Grimm’s vergleichen, so kommen wir vielleicht zu der Ueberzeugung, dass der Puppe
wie der Imago die gleiche Fortpflanzungsfähigkeit eigen ist, und wir würden dann
einen direkten Uebergang der Pädogenesis in die Parthenogenesis vor uns haben —
oder wohl richtiger das umgekehrte Verhältniss, indem wir annehmen möchten, dass
die ursprünglich von fertigen Thhieren erworbene Fähigkeit der Fortpflanzung durch
unbefruchtete Eier sich allmählich auf ein früheres Entwieklungsstadium übertragen
hat. Von diesem Gesichtspunkte lässt es sich auch verstehen, wie Grobben (1879)
dargelegt hat. dass bei manchen parthenogenetisch sich entwickelnden Thieren eine
ausserordentlich frühzeitige Anlage der Geschlechtsorgane während der Embryonal-
entwicklung zur Beobachtung kommt. Dies ist von Metschnikoff’) bei Ap/zs und
Miastor, von Grobben bei Morna festgestellt, bei welch letzterer Art bereits im
fünften Furchungsstadium eine Differenzirung der Genitalanlage eintritt. Auf dieser
Tendenz, die Geschlechtsorgane sehr frühzeitig zur Ausbildung zu bringen, beruht
es auch, dass bei 4/7zs noch während des Embryonallebens die Entwicklung der
Enkel-Generation eingeleitet wird, dass bei Zvadne, wie Claus gefunden hat, die
Embryonen „schon vor der Geburt trächtig“ sind, und dass bei Gyrodacty/us mehrere
Generationen in einander eingeschachtelt sind. Die Fortpflanzungsfähigkeit von
Larven ist nur ein weiterer Schritt auf diesem Wege der frühzeitigen Emaneipation
der Geschlechtszellen und damit die Pädogenese eine Consequenz des nach Erlangung
der Parthenogenesis vererbten Bestrebens, die Eier frühzeitig zur Reife zu bringen.
Wie die Entwicklung der Blattläuse früher als Generationswechsel angesehen
wurde, und erst nach Kenntniss der gleichen Vorgänge bei verwandten Pflanzenläusen
in einem anderen Lichte erschien, so hat sich endlich auch für den Entwicklungs-
gang der digenetischen Trematoden in neuester Zeit eine andere Auffassung geltend
gemacht. Auch hierin erkannte man bekanntlich seit Steenstrup‘) einen Generations-
!) Wegen der Seltenheit der Männchen vermuthet Beijerink (1885) auch bei einer anderen
Mückenart (Cecidomya poae) Parthenogenesis.
?2) Meeznikoff, Elias, Embryologische Studien an Insekten, in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XVI.
Hft. 4. 1866. p. 389— 500.
>) Claus, C., Zur Kenntniss des Baues und der Organisation der Polyphemiden in: Denkschr.
Akad. Wiss. Wien. 37. Bd. 1877.
*) Ueber die historische Entwicklung unserer Kenntnisse von der Trematoden - Entwicklung vor
Steenstrup gibt Leuckart (Menschliche Parasiten. 1. Bd. 1863. p. 488 u. ff. — 2. Aufl. 1886. p. 78 u. ff.)
ausführliche Mittheilungen.
— gr
wechsel und nannte die Ammengeneration je nach der Beschaffenheit der inneren
Organe Sporocysten oder Kedien, die Gebilde aber, aus welchen sich innerhalb der-
selben eine neue Brut, die der Cercarzen, entwickelt, ebenso wie die Fortpflanzungs-
körper der Blattläuse „Keimkörner“ oder „Keimzellen“.
„Die Keimkörner sind, gleich den Eiern, isolirte Massenaggregate“ — so
schreibt 1853 Leuckart in seinem Artikel „Zeugung“ (pag. 966) — „die im Innern
des mütterlichen Körpers gebildet werden oder in ein neues Thier sich umwandeln.“
Und von denjenigen der Zrematoden — damals wurden die Ap/rrden bekanntlich
noch unter demselben Gesichtspunkte betrachtet — heisst es dann, dass sie als ein-
fache Zellen erscheinen, die sich ohne Unterbrechung dureh eine fortlaufende Reihe
von Veränderungen in das neue T'hier umwandeln. „Die ersten Schritte dieser weiteren
EntwiekInng manifestiren sich, wie in den befruchteten Eiern, dureh die Bildung
der Embryonalzellen.*“ Und in einer Anmerkung wird noch besonders auf die
Uebereinstimmung dieser Entwieklungsvorgänge mit dem Furchungsprozess des be-
fruchteten Eies hingewiesen und die einzige Verschiedenheit darin erkannt, dass in
den Eiern die Bildung der Embryonalzellen erst nach der Einwirkung der Samen-
körperchen, zu einer Zeit, in der dieselben schon alles Bildungsmaterial enthalten,
beginnt, während bei den Keimzellen, die keiner Befruchtung bedürfen, die Produetion
der Embryonalzellen parallel mit der Vergrösserung des Bildungsmaterials geht. Auf
dieselben Differenzen macht Leuckart auch später noch (1858) aufmerksam und hält
sie für ausreichend, um die Entwicklung der Aphiden nach wie vor als Generations-
wechsel in Anspruch zu nehmen.) Was uns hier besonders interessirt, ist der Hin-
weis auf die nahen Beziehungen in der Entwicklung dieser Insekten mit den Trema-
foden. Leuckart fährt (l. e. pag. 21) folgendermassen fort: „Die hier hervorgehobenen
Eigenthümlichkeiten der von den viviparen Aphrden producirten Keimzellen sind nun
aber genau dieselben, die wir als charakteristisch für eine gewisse Form der un-
geschlechtlichen Fortpflanzungsprodukte, die Sporen oder Keimkörner zu betrachten
pflegen. Auf dieselbe Weise, wie die jungen Ap/rden in der Keimröhre ihrer Mutter,
entstehen auch die jungen Trematoden in der Leibeshöhle der sog. Sporocysien oder
Redien durch Entwicklung einer ursprünglich einfachen Zelle; mit demselben Recht,
mit dem wir diesen letzten Vorgang als eine ungeschlechtliche Vermehrung betrachten
und von der geschlechtlichen, durch Eier vermittelten Fortpflanzung unterscheiden,
1) Dass er später nach dem Vorgange anderer Forscher, namentlich von Claus, von dieser Auf-
fassung zurückgekommen ist, haben wir früher hervorzuheben Gelegenheit gehabt.
—— 402 ——
mit ganz demselben Recht dürfen wir auch die Entwiekelung der Embryonen in den
Keimstöcken der viviparen “Ip/uden in solcher Weise auffassen.“
Ich habe diese Ausführung Leuckart'’s darum wörtlich angezogen, weil es
danach fast unbegreiflich erscheint, dass man so lange Zeit hindurch gezögert hat,
die Zrematoden-Entwieklung als etwas anderes denn einen Generationswechsel an-
zusehen. Nachdem man in der Fortpflanzung der Aphiden eine Parthenogenesis er-
kannt hatte und nachdem die eigenthümlichen Vorgänge der Pädogenese ausser
Zweifel gestellt waren, hätte es doch wahrlich nahe gelegen, den obigen Schlusssatz
Leuekart's umzukehren und zu sagen, mit demselben Rechte, mit dem wir die vivi-
paren Ap/rden als parthenogenesirende Weibchen betrachten und von den durch be-
fruchtete Eier erzeugten dem Wesen nach nicht unterscheiden, mit ganz demselben
Rechte dürfen wir auch in der Entstehung der Cercarien fernerhin keine ungeschleeht-
liche Fortpflanzung mehr erkennen. Statt dessen hat man sich nach wie vor
mit dem nichtssagenden Worte „Keimkörner“, in denen man vielfach eine innere
Knospung') erkennen zu müssen glaubte, herumgequält und die Fortpflanzung dieser
Saugwürmer als Generationswechsel gedeutet; ja man hat völlig vergessen, dass
Leuekart bereits 1853 die Einzelligkeit der Gebilde, aus welchen die Cercarien
hervorgehen, betont hat. Er selbst nimmt später (1863) in seinem bekannten Para-
sitenwerke eine etwas schüchterne Stellung zu der Frage nach der Abstammung
der „Keimballen“ ein‘). Er ist zwar davon überzeugt, dass dieselben von Zellen
der peripherischen Körperwand der Sporocysten abstammen, glaubt auch gesehen
zu haben, dass sich diese Zellen nicht erst dann aus der Oontinuität der benachbarten
ablösen, wenn sie zu „Zellenballen“ herangewachsen sind —- denn er fand zwischen
den verschiedenen Ballen im Leibesraume auch einzelne Zellen, sie sich sowohl durch
Uebergänge zu jenen Keimen verfolgen liessen als mit denjenigen der Wandung
ziemlich übereinstimmten — doch er „will nur geringes Gewicht darauf legen,
dass ihm die Entwicklungsgeschichte der Cercaria armata in letzter Instanz an Zellen
anzuknüpfen schien, die sieh von den peripherischen Zellen des mütterlichen Körpers
kaum direkt ableiten liessen.“ Haeckel (1866) rechnet die Cercarien-Entwieklung zur
„fortschreitenden Keimknospenbildung“ (pag. 53), bei welcher ein „Plastideneomplex“
der Ausgangspunkt der Entwieklung ist. Gegen diese Auffassung tritt bereits (1875)
H. Nitsche auf, weil die Cercarzen-Entwieklung „nach der Untersuchung von Guido
!) efr. Huxley, Grundzüge d. Anat. d. wirbellosen Thiere (1878) p. 182.
*) Erst in der 2. Aufl. seines Parasitenwerkes (1. Bd. 4. Lfg. p. 121) nimmt er wieder Bezug auf
seinen Artikel „Zeugung“. N
- 408 ——
Wagener, Metschnikoff und mir (an Cercaria armata aus Limnaeus stagnalis, noch
nicht publizirt') gar nicht durch polyplastische Keime vor sich geht, sondern anknüpft
an eine Zelle der Auskleidung der Leibeshöhle der Ammen.“ Hier wird also eine
ganz neue Beobachtung hervorgehoben, während die T'hatsache bereits 1853 in
Wagner's Wörterbuche der Physiologie verzeichnet ist. Nitsche hatte übrigens
schon damals im Grunde dieselbe Anschauung von der Zrematoden-Entwicklung, die
wir jetzt haben, trotzdem er sie, wie aus dem Worte „Amme“ hervorgeht, noch als
Grenerationswechsel anspricht. „Die Entwicklung einer Cercarre aus dem unbe-
fruchteten Ei (früheren Spore) — so lesen wir da pag. 92 — geht nach genau den-
selben Gesetzen der Zellentheilung (Furchung) und der concentrischen Schichten-
bildung vor sich, wie die Entwicklung irgend eines beliebigen anderen Thieres aus
einem befruchteten Ei.“ Wie Nitsche die früheren Mittheilungen Leuckart’s nicht
in Erinnerung hatte, so scheinen auch seine eigenen, aus denen er freilich die
letzten Consequenzen, so nahe sie lagen, selbst nicht zog, unbekannt geblieben
zu sein. Denn es war Grobben (1879) vorbehalten das entscheidende Wort zu sprechen:
„Ich glaube deshalb auch, dass die Cercarzen in den Redien und Sporoeysten aus
parthenogenetisch sich entwickelnden Eiern hervorgehen. — Damit hört aber der
Entwicklungsgang der 'Trematoden auf, Generationswechsel zu sein, sondern wird zur
Heterogonie gestellt werden müssen.“ Grobben hat diese Ansicht später (1882)
wiederholt und nach eigenen Untersuchungen die Ueberzeugung gewonnen, dass bei
gewissen Redien aus Zyrnnaeus stagnalis eine als Ovarium zu deutende Anhäufung
grosser eierähnlicher Zellen der Entstehungsort der Cercarzen-Keime ist. Nicht anders
steht nun auch oder richtiger auch wieder Leuckart (1881) der Sache gegenüber, als
er von der Entwicklung des Leberegels handelt und dabei die von ihm als geschlechts-
reif gewordene Zrematoden-Larven aufgefassten OrZhonechden in Parallele zieht.
„In überzeugender Weise — so heisst es da — belehrt uns diese Zusammenstellung
der Orthonectiden mit Deistomumembdryonen weiter aber davon, dass die Keimzellen
der letzteren nur mit Unrecht als Gebilde betrachtet werden, welche prinzipiell von
den weiblichen Geschlechtsprodueten verschieden sind. Wenn wir sie trotzdem nach
wie vor von letzteren unterscheiden, dann geschieht dies mehr aus Opportunitäts-
!) Nie publieirt.
2) Man vergleiche auch die Darstellung, welche Leuekart in der 2. Aufl. seines Parasitenwerkes
(1889) von der Entstehung der Cercarien und Redien in den Sporocysten gibt (p. 121 u. fl.) — Für Leuckart
bleibt übrigens die gesammte Trematoden-Entwickelung ein Generationswechsel im gewöhnlichen Sinne
des Wortes (ebd. p. 172).
— ie
gründen, als in der Absicht, sie damit als morphologisch selbständige Bildungen zu
kennzeichnen“ (pag 96.) Damit stimmen denn auch die Resultate überein, zu welchen
W. Schwarze (1885) bei seinen Untersuchungen der postembryonalen Entwicklung
der Trematoden gelangt ist, indem er als Entwicklungsstätte der Cercarien ein
„Keimlager“ auffand (pag. 48) und eine Homologie in der Ausbildung der ersteren
mit der Entwieklung des Embryo nachweisen konnte (pag. 63.) Wir haben es also auch
bei den Trematoden, wie es früher schon für die Pflanzenläuse anerkannt werden musste,
mit einer auf dem Wege der Parthenogenesis, oder genauer gesagt Pädogenesis, sich
fortpflanzenden Zwischengeneration zu thun und müssen den ganzen Entwicklungs-
eyklus dieser Würmer als ZZeterogonie') bezeichnen, wenn wir es nicht vorziehen
wollen, wie es Leuckart in seinen Vorlesungen zu thun pflegt, diesen Namen auf
den Wechsel zweier, je aus befruchteten Eiern hervorgehenden Generationen zu be-
schränken, und für den Wechsel einer zweigeschlechtlichen mit einer parthenogene-
sirenden Generation die besondere Bezeichnnng der Alorogenesis einzuführen.
Grobben (1879) hält übrigens auch die Entstehung der eingeschachtelten
Generationen bei Gyrodaetylus für eine Parthenogenese — bestimmter ausgedrückt für
eine Pädogenese, denn es würde sich um die Entwicklung von Eiern im jugendlichen
Zustande handeln. Bis zu einem gewissen Grade ist eine solche Ansicht schon vor
Grobben ausgesprochen; denn Nitsche (1875) sagt (pag. S9— 90): „Auch die
Bildung des Tochterindividuums von Gyrodactylus geht ursprünglich aus von einer
Zelle, der Eizelle, während die Bildung der späteren eingeschachtelten Sprösslinge
ganz einfach als ein T'heilungsvorgang angesehen werden kann.“ Der letztere fällt
in ein sehr frühes Lebensalter, nämlich in das Morulastadium und verläuft concentrisch.
„Wir können diese Fortpflanzung als eine pädogenetische Fortpflanzung durch
Theilung mit gleichzeitiger Einschachtelung der Individuen in einander ansehen.“
Die Ausdrucksweise „pädogenetische Fortpflanzung durch Theilung“
giebt mir Veranlassung zu einem Exkurse über das, was man unter Pädogenesis zu
verstehen hat; denn dieser Begriff steht keineswegs so fest, wie es nach unseren bis-
herigen Betrachtungen scheinen könnte, sondern wird von den verschiedenen Autoren
in sehr ungleicher Weise aufgefasst. Ich sagte oben: „eine besondere Form jung-
fräulicher Zeugung wurde 1864 durch C.E.v. Baer unter dem Namen der Pädo-
genesis in die Wissenschaft eingeführt“. Damit habe ich, streng genommen, eine
1) So ist es bereits in allen neuen Lehrbüchern der Zoologie durchgeführt (Hatschek, Boas, Claus,
Hertwig).
409 —
subjektive, wenn auch durchaus nicht von mir allein vertretene Ansicht von dem,
was Pädogenese sei, mit der Baer’schen Auffassung vermengt, oder anders aus-
gedrückt, ich habe den speziellen Fall, für welchen Baer zunächst die neue Be-
zeichnung einführte, charakterisirtt. Denn die Baer’sche Definition lautet keineswegs
„Pädogenesis ist Parthenogenesis im Jugendalter“, sondern es heisst da sogar, dass
die Fortpflanzung der Cecrdomyzen-Larven von Parthenogenesis auffallend verschieden
sei; denn sie zeigt sich in ganz unentwickelten und gar nicht befruchtungsfähigen
jungen Thieren. „Ich habe deshalb ... . vorgeschlagen, diese Vermehrungsform
Pädogenesis zu nennen.“ „Vorläufig soll sie nur eine Differenz von der Partheno-
genesis anzeigen, da jene das Hervorgehen eines neuen Individuums aus einem un-
reifen und diese aus dem nicht befruchteten Ei eines geschlechtsreifen Individuums
andeutet.“ Wenn wir uns an diese Worte unseres grossen Forschers halten, so glaube
ich, dass wir das, was derselbe mit einem besonderen Namen hat belegen wollen,
von unserem heutigen Standpunkte aus in der obigen Weise definiren dürfen. Nun
hat aber Baer selbst am Schlusse des Aufsatzes, welchem die angeführten Sätze
entnommen sind, den Begriff der Pädogenese in der hier angedeuteten Beschränktheit
aufgegeben und gesagt (pag. 305): „Wir schlagen vor, die Fortpflanzung im unreifen
Zustande Pädogenesis zu nennen“. Das hat Chun (1892) in seiner Arbeit über
Dissogonie übersehen, wenn er sagt: „Nach meiner Ansicht haben wir uns bei Be-
griffsbestimmungen über Vorgänge im Zeugungsleben der Thiere in erster Linie an
die Definitionen der Autoren zu halten“. Wenn man dieser Meinung im allgemeinen
gewiss nur beipflichten kann, so möchte ich dies in Anbetracht des gegebenen Falles
lieber so ausdrücken: wir haben uns in erster Linie an diejenigen Beobachtungsfälle
zu halten, durch welche die Autoren veranlasst wurden, eine besondere Bezeichnung
einzuführen. Dann gelangen wir in der That zu der oben aufgestellten Definition
der Pädogenesis, und ich glaube mich darin mit Chun vollständig einig zu wissen;
denn seine obige Bemerkung richtet sich gerade gegen die Begriffsverwirrung, welche
durch eine andere Auffassung der Pädogenese herbeigeführt ist. Den ersten Anstoss
dazu hat aber — es lässt sich nicht leugnen — ÜC. E. v. Baer selbst gegeben. Denn
man darf nicht etwa meinen, dass er bei dem angeführten Vorschlage, diejenige Fort-
pflanzung im Auge gehabt habe. welche bei den Ceczdomyzen-Larven zur Beobachtung
kommt und von welcher allein in seiner Abhandlung die Rede ist. Man könnte zu
dieser Vermuthung kommen, wenn man obigen Satz ausserhalb des Zusammenhanges
liest. Dort aber heisst es weiter: „Sie (die Pädogenesis nämlich) kann in sehr ver-
schiedenen Perioden des Entwicklungsganges auftreten, und zeigt sich unter sehr
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XV. 53
—>——ze UBV ee
verschiedenen Formen, fängt auch entweder den Entwieklungsgang jedesmal ganz
von vorn an, oder sie setzt ihn fort. Theilung, Sprossung und Keime kommen hier
ebenso gut vor, wie bei solchen Organismen, denen eine geschleehtliche Zeugung
fehlt, oder sehr seltene Ausnahme ist.“ So ist es denn sehr erklärlich, dass auch
von anderer Seite unter Pädogenese ganz im allgemeinen eine Fortpflanzung im nicht
abgeschlossenen individuellen Leben eines Thhieres verstanden worden ist! Kein ge-
ringerer als Siebold spricht von Pädogenesis bei den Sirepszpferen und weist dabei
ausdrücklich auf die von Baer selbst vorgeschlagene Erweiterung dieses Begriffes
hin. Die Weibehen der genannten Insektengruppe haben einen ganz larvenartigen
Entwieklungszustand, sie werden von Siebold geradezu als Larven angesprochen,
und so lag es nahe, bei ihrer Fortpflanzung an Pädogenese zu denken. Uebrigens
ist Siebold auch geneigt, anzunehmen, dass bei denselben wirklich Entwicklung
aus unbefruchteten Eiern vorkommt; erwiesen ist eine solche allerdings bis zum
heutigen Tage nicht.
Doch Siebold ist nicht der einzige geblieben, der von Pädogenesis im Sinne
der Fortpflanzung in einer frühzeitigen Lebensperiode spricht. In der vorher er-
wähnten Auffassung Nitsche’s von der Entstehung der „Enkel“ und „Urenkel“ des
Gyrodactylus handelt es sich um „pädogenetische Fortpflanzung durch Theilung“.
Am weitesten aber gehen die Consequenzen, welche Seidlitz (1872) daraus gezogen
hat. Er stellt der Fortpflanzung im unreifen Lebensalter: Pädogenesis, die Fort-
pflanzung im Reifezustande als Orthogenesis gegenüber und benutzt diesen Dualismus
als oberstes Eintheilungsprinzip innerhalb der vier Arten der Fortpflanzung, (die als
Theilung, Knospung, Sporenbildung und Eibildung (letztere beiden zusammen auch
als Keimbildung) bezeichnet werden. „Baer hat die Benennung Pädogenesis auf
jede Fortpflanzung vor erreichter Formvollendung angewandt.“ — So heisst es bei
Seidlitz (pag. 7). — „Dieselbe zeigt sich einmal an Individuen, die einer individuellen
Formentwieklung, einer direkten Erreichung der definitiven Formvollendung entgegen-
sehen (Larven), dann aber auch an solchen, denen eine individuelle Entwicklung nicht
weiter bevorsteht, und die daher die definitive Formvollendung der Art nicht direkt,
sondern nur in ihren Kindern erreichen können (Ammen). Es scheint zweckmässig,
diese beiden Fortpflanzungserscheinungen nicht unter einem Namen zu vereinigen;
indem wir daher die Benennung Pädogenesis') auf die ersten, die Larvenvermehrung,
beschränken, mag die zweite, die Ammenerzeugung, als Trophogenesis bezeichnet
!) Seidlitz gebraucht demnach die Bezeichnung Pädogenesis wieder in doppeltem Sinne.
407,
werden“ So kommt es denn, dass wir innerhalb der Pädogenesis vereinigt finden
die Fortpflanzungsarten von Zaöwlarien (durch Theilung des Eies), von Gyrodactylus
und von Dryozoen (durch Knospung am Embryo), von viviparen Ap/rden und von
Cecidomyia-Larven (durch Sporenbildung), vom Axolotl und Alpensalamander (durch
geschlechtliche und zwar „gynäkogenetische“ Fortpflanzung), von den Chermes-Arten
(durch „pädogenetische Parthenogenesis‘ — müsste consequenter Weise wenigstens
parthenogenetische Pädogenesis heissen). In demselben Sinne, wie Seidlitz, fasst auch
Dilling (1880) die Pädogenesis auf, welche er, da er acht Jahre später darüber schreibt,
durch weitere Beispiele bereichern konnte, u. a. auch durch die Beobachtungen Chun’s an
Cydippe. Dieser Forscher hat allerdings in seiner ersten Mittheilung (1879) über ge-
schlechtsreife Larven von Zucharis von einer Pädogenesis gesprochen (pag. 201). In
seiner ausführlichen Darstellung dieser Verhältnisse’) vergleicht er den Entwicklungs-
gang mit dem von Ascarıs migrovenosa und bezeichnet ihn als Heterogonie (pag. 145), und
in seiner neuesten Abhandlung (1892), die unserem gemeinsamen Lehrer gewidmet
ist, führt er den Namen Dissogonie ein für die „Geschlechtsreife eines und des-
selben Individuums in zwei verschiedenen Formzuständen, zwischen welche eine mit
Rückbildung der Geschlechtsproducte verbundene Metamorphose sich einschaltet“
(pag. 77). Bei dieser Gelegenheit nun ist es, wo Chun mit Recht auf den Missbrauch
des Begriffes Pädogenesis hinweist. Er polemisirt dabei übrigens nicht gegen Seidlitz,
sondern gegen Hamann, welcher in der Ausdehnung dieses Begriffes das Maass des
denkbar Möglichen erreicht, indem er nicht nur die Erscheinungen der geschlecht-
lichen Frühreife hier unterbringt, sondern Organismen, welche auf einer Stufe ge-
schlechtsreif werden, die für phylogenetisch höher stehende Wesen nur ein Durch-
gangsstadium vorstellt, als da sind Archigetes, Echinorhynchus clavaeceps, viele Quallen,
Dinophilus, Orthonectiden und Amphioxus — geradezu als pädagenetische bezeichnet.
Es muss selbstverständlich erscheinen, dass wir so verschiedene Dinge, wie
die Fortpflanzung einer Cecidomyzien-Larve und diejenige der Amblystoma-Larven
nicht unter derselben Kategorie vereinigen können, sofern damit ein einheitlicher Begriff
verknüpft sein soll. Larven sind es zwar beide, um deren Fortpflanzung es sich hier
handelt, aber gerade weil der Begriff der Larve ein ausschliesslich physiologischer
ist, dem sich die denkbar heterogensten morphologischen Gebilde unterzuordnen haben,
darum dürfen wir ihn nicht zum Eintheilungprineip der verschiedenen Fortpflanzungs-
arten verwerthen; wie man denn längst zu der Ueberzeugung gelangt ist, dass auf
I!) Chun, C., Die Ctenopheren des Golfes von Neapel. in: Fauna und Flora des Golfes von Neapel.
I. Monographie. 1880.
53*
AU ——
diesem Gebiete überhaupt nur vom morphologischen Standpunkte aus das Zusammien-
gehörige vereinigt, das Verschiedenartige getrennt werden kann. Wenn wir auch heute
noch von ungeschlechtlicher Fortpflanzung sprechen, so geschieht es doch in einem
etwas anderen Sinne als früher, wo man auf das rein physiologische Moment der
3efruchtung den Hauptwerth legte, um die höhere Form dieser beiden Arten von
Fortpflanzung zu charakterisiren, und folgerichtig die Parthenogenesis eine unge-
schlechtliche Vermehrung nannte. So finden wir es u.a. noch in dem vortrefflichen
„Grundzügen der Anatomie der wirbellosen Thiere“ von Huxley (1578), welcher
für letztere die Bezeichnung Agamogenesis gebraucht. Seit Claus (1859) den Nach-
weis geführt, dass die viviparen Ap/rden ebenso wie die parthenogenetisch sich fort-
pflanzenden Individuen bei den C/adoceren ächte Weibehen sind, und Weismann
(1878) in Uebereinstimmung mit dieser Auffassung den Auspruch gethan hat, (pag. 162)
dass „alle ächte Parthenogenese aus der geschlechtlichen Fortpflanzung abzuleiten
und keineswegs eine ungeschlechtliche, vielmehr nur eine eingeschlechtliche Fort-
pflanzung ist,“ sollte man diesem Standpunkte ganz allgemein und in bestimmter
Form Rechnung tragen. Es dürfte wohl der heutigen Auffassung am besten ent-
sprechen, wenn wir uns über die verschiedenen Arten der Fortpflanzung etwa so aus-
lassen. Man unterscheidet zwei (elterliche) Zeugungsarten: die ungeschlechtliche
(Theilung und Knospung), bei welcher der Organismus entweder in seiner Totalität
in mehrere Stücke zertällt (Z%oZozoa) oder einen Zelleneomplex von sich abschnürt
(Metazoa), und die geschleehtliche, bei welcher die Neubildung an ein einzelliges
Wachsthumsprodukt des sich fortpflanzenden Individuums anknüpft. Dasselbe bedarf
in den meisten Fällen der Vereinigung mit einem anderen Wachsthumsprodukte' (Be-
fruchtung)'), kann aber auch für sich allein die Fähigkeit besitzen, ein neues Lebe-
wesen aus sich hervorgehen zu lassen (Parthenogenesis.) Die Parthenogenesis kann
nach vollendeter Entwicklung des Individuums auftreten, wie es gewöhnlich geschieht,
oder kann sich bereits in einem Stadium vollziehen, welches vor dem Abschlusse
der individuellen Entwicklung liegt, in das Larvenleben fällt (Pädogenesis.)
Das Verdienst, zuerst mit aller Entschiedenheit der früheren Eintheilung der
Fortpflanzungsarten nach physiologischen Gesichtspunkten vom morphologischen Stand-
!) Seidlitz nennt diese typische Fortpflanzungsart nicht eben passend Gynäkogenesis, während
Nitsche (Lehrbuch der mitteleuropäischen Forstinsektenkunde. 1. Abth. 1885. p. 82) dafür den Ausdruck
Gamogenesis gebraucht, der von Huxley in etwas anderem Sinne, nämlich im Gegensatze zur ungeschlecht-
lichen Fortpflanzung (Agamogenesis) angewandt wird. Mit Haeckel würde man von Amphigonie zu
sprechen haben.
409
punkte aus entgegengetreten zu sein, gebührt H. Nitsche (1375), dessen Mittheilungen
darüber freilich fast allgemein unbekannt geblieben zu sein scheinen. Haeckel hat
allerdings in seiner „Generellen Morphologie“ (2. Bd. 1866, pag. 37) in einer Note be-
merkt, „es könnte passender erscheinen, die beiden Hauptformen der Tokogonie nicht als
die geschlechtslose und geschlechtliche Fortpflanzung, sondern die Fortpflanzung durch
Abspaltung (Fissio) und durch Absonderung (Secreetio) zu unterscheiden. Für die erstere
würde man als das Kriterium entweder die Theilung des Organismus in seiner Totalität
oder die Ablösung eines Plastiden-Complexes hinstellen müssen, für die letztere die Ab-
lösung einer einzelnen Plastide“, aber selbst hat er diese Auffassung nicht durchgeführt.
Nitsche nennt die Fortpflanzung durch Theilung und Knospung, weil sie dureh
einen Complex von Zellen vermittelt wird — er schliesst die ProZfozoen von seinen
Betrachtungen absichtlich aus — multicelluläre Fortpflanzung, weist darauf hin,
dass die verschiedenen als „Sporenbildung“ zusammengefassten Vermehrungsarten
heterogene Dinge sind, die fernerhin nieht mehr unter gemeinsamem Gesichtspunkte
vereinigt bleiben hönnen, und betont, dass die geschlechtliche Fortpflanzung darin
ihren Hauptcharakter besitzt, dass sie an eine Zelle anknüpft: unicelluläre Fort-
pflanzung. Jeder einzellige Fortpflanzungskörper, der bei seiner weiteren Entwicklung
die Furchung durchmacht, ist als Ei oder Ovulum zu bezeichnen. So schliesst
Nitsche sowohl die Entwicklung der Cercarien, was bereits früher von uns hervor-
gehoben wurde, wie die Fortpflanzung der Ceudomyzen-Larven resp. der Chrronomus-
Puppe und der parthenogenesirenden Weibchen von der ungeschlechtlichen Fort-
pflanzung aus und vereinigt sie mit der gewöhnlich ausschliesslich als geschlechtlich
in Anspruch genommenen Fortpflanzung durch befruchtete Eier. Wenn wir dieses
Kriterium festhalten, so brauchen wir die eingebürgerten Bezeichnungen der un-
geschlechtlichen und geschlechtlichen Fortpflanzung nicht aufzugeben; denn sie decken
sich mit dem, mas Nitsche multi- und unicelluläre Fortpflanzung genannt hat.
Zu ähnlicher Auffassung wie Nitsche gelangt auch, ohne den letzteren an-
zuführen, Grobben (1879), wenn er sagt (pag. 48), dass ein Nachkomme nur auf
zweierlei Art entstehen kann: 1. aus den Keimblättern der Mutter und 2. aus einer
Zelle. Die Zelle kann aber nur eine Eizelle sein. Darauf hin unterscheidet er
(pag. 49) die Fortpflanzung vermittelst der Keimblätter der Mutter: die ungeschlecht-
liche Fortpflanzung; dahin Theilung und Knospung. 2. Die Fortpflanzung mittelst
einer Zelle, resp. unter Zuhilfenahme einer zweiten: die geschlechtliche Fortpflanzung;
dahin die eingeschlechtliche Fortpflanzung oder Parthenogenesis und die zweigeschlecht-
liche Fortpflanzung. „Die Sporogonie wird wahrscheinlich ganz wegfallen.“
——— AD
Unter den neueren Lehrbüchern der Zoologie findet sich der Begriff der ge-
schlechtlichen Fortpflanzung am schärfsten im obigen Sinne gefasst in demjenigen
von Boas (pag. 34), welcher den wesentlichen Charakter derselben darin erkennt,
dass eine einzige Zelle sich zu einem neuen Individuum entwickelt, gewöhnlich,
nachdem dieselbe mit einer anderen Zelle verschmolzen ist; während die Partheno-
genesis am trefflichsten definirt wird von R. Hertwig (pag. 110): „Sie ist eine ge-
schlechtliche Fortpflanzung, bei welcher es zu einer Rückbildung der Befruchtung
gekommen ist“, und „Pädogenese ist Parthenogenesis eines jugendlichen Organismus“.
Damit wäıen wir zum Ausgangspunkte unserer Betrachtungen, zur Pädogonesis
zurückgekehrt, und es liegt nahe, die Frage aufzuwerfen, unter welchem Gesichts-
punkte man nun jene verschiedenartigen Formen von Fortpflanzung zu betrachten
habe, welche von manchen Autoren neben der wirklichen Pädogenese mit dieser
vereinigt worden sind. Was Seidlitz Trophogenesis nennt, gehört natürlich zur
ungeschlechtlichen Fortpflanzung und bedarf keiner besonderen Bezeichnung: es ist
eine Fortpflanzung durch Theilung und Knospung. Die Fälle, in welcher sich früh-
reife Fortpflanzung zeigt, wie beim Axo/ot/ und nach den neueren und neuesten Er-
fahrungen unter den Cölenteraten in ziemlich weiter Verbreitnng, vielleicht auch bei
gewissen Würmern (/Vereiden), gehören unter die Kategorie der geschlechtlichen Fort-
pflanzung durch befruchtete Eier. Um hervorzuheben, dass diese Geschlechtsthätigkeit
nicht immer erst nach vollendeter Entwicklung auftritt, sondern bereits im Jugendalter
anheben kann, schlage ich vor, die Bezeichnung Prozogonze (von xgoi und yovei«) ein-
zuführen. Wenn ein und dasselbe Individuum, bei welchem Proigonie zur Beobachtung
kommt, nach Erreichung seiner Formvollendung sich abermals geschlechtlich fort-
pflanzt, so haben wir es mit dem zu thun, was Chun Dissogonze genannt hat.
Dieselbe repräsentirt eine Form der Zeugung, bei welcher „die Formenverschiedenheit
der geschlechtlich thätigen Zustände an ein und dasselbe Individuum anknüpft.“
Sehr viel bekannter und allgemeiner verbreitet sind diejenigen Fälle, wo sich die
Zeugungsfähigkeit auf verschiedene in gesetzmässigem Cyklus auf einander folgende,
zum Theil sehr von einander abweichende Individuen erstreckt. Da es sich dabei
stets um den Wechsel mehrerer Generationen innerhalb der Lebensperiode einer Art
handelt, so wird man gut thun, ganz allgemein von einem Generationswechsel
(nieht im Sinne Steenstrup’s) zu sprechen. Derselbe lässt nun wieder verschiedene
Abstufungen') erkennen: 1. Mit einer normal bisexuellen Generation wechseln eine
!) Weismann hat den Versuch gemacht, bei der Unterscheidung der verschiedenen Formen eines
Generationseyklus von der geschlechtlichen oder ungeschlechtlichen Fortpflanzung als Eintheilungsprinzip
HI
oder mehrere auf ungeschlechtlichem Wege (dureh Knospung oder Theilung) sich
fortpflanzende Generationen ab: Generationswechsel im Sinne Steenstrup’s oder Meta-
genesis (Owen's). Die Individuen dieser beiden Generationen können als mor-
phologische Grössen einander etwa gleichwerthig sein (Kettenindividuen und Einzel-
thiere bei Salpen), oder zu einander im Verhältniss eines höheren zu einem niederen
Organismus stehen (Medusen und Polypen). 2. Mit einer normal bisexuellen Generation
wechseln eine oder mehrere Generationen ab, die sich ebenfalls auf geschlechtlichem
Wege, also durch Eier fortpflanzen: Heterogonie (Leuckart). Diese Eier bedürfen
a.) der Befruchtung nicht oder können überhaupt nicht befruchtet werden, letzteres
sowohl bei fertig entwickelten 'Thhierformen wie bei Larven-Zuständen. Dadurch ent-
stehen auch hier, wie bei der Metagenese, zwei verschiedene Rangstufen: ebenbürtige
Weibehen in beiden Generationen (die Zwischengeneration ist parthenogenetisch), oder
ausgebildete Weibchen einerseits und Jugendformen andererseits (die Zwischengeneration
ist pädogenetisch.) Ausgebildete Weibchen ''), welche wegen Mangels eines recep-
taculum siminis nicht befruchtet werden können, bilden den Uebergang zu den Eier
abzusehen, diese Erscheinungen vielmehr ihrem Ausgangspunkte nach in zwei grosse Gruppen zu
sondern, von denen die eine als genuine Metagenese, die andere als Heterogonie bezeichnet werden könnte.
„Der Ausgangspunkt für die Metagenese ist eine phyletisch ungleichwerthige Formenreihe, für die Heterogonie
aber ist es eine Reihe phyletisch gleichwerthiger Formen, soweit wir heute urtheilen können, stets eine
Reihe gleichgestalteter Geschlechtsgenerationen.“ (Saisondimorphismus. 1875. p. 59.) Er hat diesen Stand-
punkt auch beibehalten (Beiträge zur Naturgeschichte der Daphniden. p. 472—476), nachdem Claus (Grund-
züge d. Zoologie. 4. Aufl. 1. Bd. 1880. p. 64 Anm.) darin „eine ziemlich willkürliche und wissenschaftlich
unberechtigte Determination“ erkannt hatte, „durch welche genetisch Zusammengehöriges getrennt und
umgekehrt Verschiedenartiges verbunden wird.“ Mir scheint der Hauptgrund, weshalb Weismann
dem Eintheilungsprinzipe von geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung abhold ist, darin zu
liegen, dass er den morphologischen Unterschied, der zwischen beiden besteht, nicht genügend gewür-
digt hat. Wenn er die Frage aufwirft (Daphniden p. 473), warum man die Parthenogenese der Aphiden-
weibehen nicht mehr für Ammenzeugung hält und diese „in gewissem Sinne doch auch ungeschlechtliche
Fortpflanzung“ jetzt mit zur geschlechtlichen rechne? so würde ich darauf nicht mit Weismann ant-
worten: „wegen ungleicher Genese“, sondern: weil die Aphiden sich durch einzellige Fortpflanzungs-
körper, durch Eier fortpflanzen. Darum ist auch der Begriff der Heterogonie durch Subsumirung der
Aphidenentwieklung unter denselben keineswegs „nicht unwesentlich verändert“, wie Weismann (p. 475)
meint, wohl aber würde dies geschehen, wenn man mit ihm consequenterweise auch den Generations-
wechsel der Salpen hier unterbringen wollte, weil bei dieser die Individuen der Zwischengeneration sich
durch Zellencomplexe vermehren.
!) Herbert Spencer (Prinzipien der Biologie. Autorisirte deutsche Ausgabe von Vetter. I. Bd
1876. p. 232) nennt die Fortpflanzung der Blattläuse Pseudoparthenogenesis. Derselbe gebraucht auch
den Ausdruck Heterogenesis in einem anderen Sinne als es gewöhnlich geschieht, indem er darunter den
Wechsel der Generationen in der weiteren Fassung des Begriffes versteht; dem gegenüber ist die gewöhn-
liche Form der Entwieklung Homogenesis.
produeirenden Larven. b) Die Eier der Zwischengeneration bedürfen zur Entwieklung
der Befruchtung: Heterogonie im engeren Sinne, der gegenüber die vorerwähnte Ent-
wicklung mit Leuckart') Alloiogonie genannt werden kann. Diese mit einander
abwechselnden Geschlechtsgenerationen bestehen entweder beide aus Männchen und
Weibchen oder die eine davon aus Individuen, die im allgemeinen weiblich erscheinen,
aber vor den Eiern Samenelemente zur Reife bringen (Ahabdonema, Allantonema).) Von
diesem Entwicklungscyklus, dessen Generationen ausserdem durch verschiedene Lebens-
weise ausgezeichnet sind, indem die eine parasitisch, die andere im Freien auftritt, ist nur
ein kleiner Schritt zu jenem anderen, bei welchem sich die beiden Generationen
nur in der durch verschiedene Jahreszeiten bedingten Färbung unterscheiden (Saison-
Dimorphismus.) Und von dieser Erscheinung wiederum werden wir unschwer zu
solchen Generationsfolgen hinübergeführt, deren Individuen sich durch nichts unter-
scheiden als dadurch, dass von zwei innerhalb eines Jahres stattfindenden Bruten
(„Generationen“) die eine (auch unter dem Finflusse der Jahreszeit) eine kürzere
Zeit (4 Monate) zur Vollendung braucht als die andere (8 Monate): z. B. bei Zophyrus
pin: unter den Insekten. ‘)
Dieser letztere Fall, der als etwas ganz Selbstverständliches und überhaupt
nicht wie ein „Generationswechsel“ erscheinen könnte, giebt uns gleichzeitig einen
Hinweis darauf, wie allmählich durch äussere (und innere?) Einflüsse aus der normalen
Entwickelung eines Thhieres jener Wechsel verschiedengestaltiger und sich auch sonst
verschieden verhaltender Generationen seine Entstehung nehmen kann.
Kehren wir nach dieser Abschweifung über die verschiedenen Zeugungsarten,
welche uns zur richtigen Würdigung der Stellung der Parthenogenese zu denselben
nicht ganz bedeutungslos erschien, wieder zu dieser letzteren selbst zurück. Wenn
wir das T'hhatsächliche, was im Laufe vieler Jahre durch sorgfältige und zum Theil
sehr mühsame Beobachtungen und Untersuchungen über die Parthenogenese im Thier-
!) Es ist schon oben darauf hingewiesen worden, dass Leuckart diese Bezeichnung in seinen
Vorlesungen zu gebrauchen pflegt, ohne dass er in einer Publikation darüber gehandelt hätte. Wohl aber
ist bereits durch einen seiner Schüler Tesmer (1889) dieser Ausdruck allgemeiner bekannt geworden. —
Es braucht hier wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden, dass es sich bei dem so bezeichneten
Entwicklungseyklus um etwas anderes handelt, als um das, was einst von Haeckel mit dem fast
gleichen Namen Alloiogenesis belegt worden ist.
2) Wenn wir uns dächten, dass die Samenelemente nicht zur Reife kämen oder erst zu einer
Zeit, in welcher sie zur Befruchtung der Eier nicht dienen könnten, die letzteren sich aber dennoch ohne
Befruchtung entwickelten, so würden wir ein Beispiel fingirt haben, wie sich aus ächter Heterogonie eine
Alloiogonie ausgebildet hat.
3) efr. Nitsche, H., Lehrbuch der mitteleuropäischen Forstinsektenkunde. 1. Abth. 1886. p. 126.
— 43 -
reiche hat festgestellt werden können, noch einmal in Kürze zusammenfassen, so ist
etwa Folgendes zu sagen.
lss giebt gewisse thierische Eier und nicht nur Eier gewisser Arten, sondern
auch bei einer und derselben Art zu gewissen Zeiten und unter bestimmten Ver-
hältnissen, welche fähig sind. sich ohne Einfluss eines männlichen Elementes zu
entwickeln. Diese Entwicklung erstreckt sich in manchen Fällen nur bis zu den
ersten Furchungsstadien (Frosch, Huhn, Säugethier) oder bis zur Ausbildung des
Blastoderms (Seidenspinner) oder noch einen Schritt weiter bis zur Fertigstellung
einer selbständigen Larvenform (Seesterne), während sie in anderen Fällen einen
vollständigen, selbst wieder fortptlanzungsfähigen Organismus liefert. Im letzteren
Falle können die Nachkommen eines unbefruchteten Eies ausschliesslich männliche
(gesellig lebende Hymenopteren, gewisse Blattwespen), oder ausschliesslich weibliche
Individuen sein (Krebse, Pflanzenläuse) oder endlich Vertreter von beiden Geschlechtern
in den verschiedensten Zahlenverhältnissen. Mann spricht dann einerseits von Arreno-
Zokte, andererseits von Zrelylokre und könnte die dritte Möglichkeit als Amphoterotokre
bezeichnen. Bei manchen Thieren tritt die Parthenogenesis nur ganz vereinzelt auf
und unter zahlreichen Eiern desselben Weibcehens nur bei einer beschränkten An-
zahl: exceptionelle Parthenogenesis (Schmetterlinge, Käfer), bei anderen kommt
sie regelmässig zur Beobachtung und kann als normale Parthenogenesis (Iso - Par-
thenogenese Hatschek’s) der ersteren gegenübergestellt werden (gesellige Hymeno-
pteren, Krebse, Räderthierchen, Pflanzenläuse). Bei C/adoceren, Ostracoden, auch bei
den Aofatorien wechseln die parthenogenetischen Eier je nach der Jahreszeit mit
befruchtungsbedürftigen Eiern ab und diese beiden Arten von Eiern unterscheiden sich
durch die Schale, den Dotter und zuweilen auch die Art der Embryonalentwieklung.
Claus spricht in solchen Fällen von unvollkommener Heterogonie jenen anderen
gegenüber, wo nicht nur die Fortpflanzungskörper, sondern auch die sich fortpflanzenden
Individuen verschieden sind, wo die ausschliesslich parthenogenesirenden Weibehen
abwechseln mit begattungsfähigen und befruchtungsbedürftigen Weibchen, die sowohl
in der Einrichtung ihres Geschlechtsapparats wie in der äusseren Körperform von
jenen abweichen, zum Theil so sehr, dass man von einem Polymorphismus der Indivi-
duen sprechen muss. Diese bei den Phytophthiren und Cynipiden vealisirte Form von
Parthenogenesis nennt Hatschek „Hetero-Parthenogenese“. Eine weitere Modi-
fikation dieser heteromorphen Generationen wird dadurch bedingt, dass an Stelle der
normalen Parthenogenese die Pädogenesis tritt, dass fortpflanzungsfähige Jugendformen
(„Larven“) mit erwachsenen Geschlechtsthieren alternirend auftreten (AZasior, Cnronomus,
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. En
4er, ——
Trematoden). Die Fälle wirklicher Parthenogenesis, welche bis jetzt zur Beobachtung ge-
kommen sind, beziehen sich nur auf Vertreter zweier Thiertypen: Arthropoden und Würmer.)
Wir haben bisher ausschliesslich das Thhierreich zum Gegenstand unserer Be-
trachtungen gemacht. Auch bei den Pflanzen kommt Parthenogenesis vor, und wenn
wir es auch unterlassen müssen, mit der gleichen Ausführlichkeit auf diesen Kreis
von Lebewesen einzugehen, so möchten wir sie doch nicht völlig mit Stillschweigen
übergehen. Die Lehre von der Parthenogenese bei Pflanzen hat nicht minder ihre
Geschichte und ist nicht unbeeinflusst geblieben von dem, was auf dem Gebiete der
Zoologie über diese Form der Fortpflanzung beobachtet und geschlossen wurde,
Später als für die Thhiere, nämlich erst in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts,
erkannte man auch bei Pflanzen jene Zellen, durch deren Zusammenwirken die ge-
schlechtliche Fortpflanzung eingeleitet zu werden pflegt und war in Folge dessen
lange Zeit hindurch der Meinung, dass bei der „Unschuld des Pflanzenlebens“ über-
haupt von einer geschlechtlichen Differenzirung keine Rede sei. Man war sich zwar
schon im Alterthum des Gegentheils bewusst geworden, wie die in Praxi ausgeführten
Manipulationen bei der Zucht von Dattelpalmen und Feigen beweisen, es dauerte
aber lange, ehe man in unserer Zeit der theoretischen Behandlung dieser Frage zu
ihrem Rechte verhalf. Erst seit 1694, wo Camerarius eine befriedigende Vor-
stellung de sexu plantarum entwickelte, begann sich die Lehre von der Geschlecht-
lichkeit der Pflanzen einzubürgern, während die eigentlichen Vorgänge der Befruchtung
zu erkennen einer sehr viel späteren Zeit vorbehalten blieb. Doch die Annahme, dass
eine solche zur Ausbildung eines Samens notwendig sei, wurde keineswegs von allen
Botanikern getheilt; die einen leugneten sie ganz und gar, die anderen wollten sie
nur auf gewisse Fälle beschränkt wissen und führten eine Menge von Beispielen an,
aus welchen hervorgehen sollte, dass auch ohne männlichen Einfluss reife Samen zur
Ausbildung kommen. Was bis zum Jahre 1844 nach dieser Richtung in der Litteratur
verzeichnet ist, hat Karl Friedrich von Gaertner in seinen „Beiträgen zur Kenntniss
der Befruchtung der vollkommenen Gewächse“ gesammelt und von seinem Standpunkte
aus beleuchtet. Erst als die Siebold’sche Schrift über wahre Parthenogenesis er-
schien, wurde die Aufmerksamkeit von neuem auf jene fast vergessenen Mittheilungen
gelenkt, gerade so wie auf unserem Gebiete, aber mit anderem Erfolge. Denn
I) Weismann (1891) „erklärt“ diese Beschränkung der Parthenogenese auf diese bestimmten
Gruppen damit, dass sie bei den niedrigeren Thieren nicht nöthig war, weil die Vermeidung der Amphi-
mixis dort leichter durch Theilung und Knospung erreicht wird, während sie bei höheren Thierkreisen
fehlt, weil hier keine Momente eintraten, um die Amphimixis durch eine andere Art der Fortpflanzung
abzulösen.
415
während die Fälle von unbefruchteten und dennoch entwicklungsfähigen Eiern, welche
in den Annalen der Zoologie von 1667 bis 1856 aufgezeichnet sind, in der Folge
bestätigt werden konnten oder zum mindesten durch neue Beobachtungen viel von
ihrer Unglaubhaftigkeit verloren, wurde die Parthenogenese bei Pflanzen von der
genauen Forschung Schritt für Schritt zurückgedrängt. Wie dies im einzelnen ge-
schah, können wir hier nicht berichten, sondern müssen uns darauf beschränken, in
grossen Zügen die Veränderung des wissenschaftlichen Standpunkts auf dem Gebiete
der Botanik zu kennzeichnen.
Es war Alexander Braun, welcher, durch Siebold's Schrift angeregt, noch
in demselben Jahre seine Beobachtungen an jener berühmt gewordenen neuholländischen
Euphorbiacee veröffentlichte, welche den Namen Caeledogyne zilicifolia führt und in
den Kew Gardens bei London jährlich reife Samen ansetzte, ohne dass man im Stande
war, männliche Blüthen an ihr aufzufinden. Aber auch einige unserer heimischen
Gewächse, wie Cannabis, Spinacia, Mercurialis u. A. schienen das gleiche Verhalten
zu zeigen und als Beweis für die Parthenogenesis dienen zu können. Neben Braun
waren es Radlkofer, welcher mit Entschiedenheit für diese Auffassung eintrat, und
Naudin, welcher aus seinen Beobachtungen bereits die theoretische Folgerung ab-
leitete, dass nur diöcische Pflanzen ohne Befruchtung Samen ausbilden können.
Als Gegner dagegen traten Klotzsch (1857), Schenk (1860) und namentlich E. Regel
(1559) auf. Dem letzteren verdanken wir auch eine sehr sorgfältige und kritische
Zusammenstellung der auf Parthenogenese bei Pflanzen bezüglichen Beobachtungen
vor seiner Zeit von Spallanzani an, denen er dann seine eigenen Beobachtungen
anreiht. Das Resultat, zu welchem er gelangt, ist: bei wirklich verhinderter Be-
fruchtung kommt es nicht zur Samenbildung, daher werden auch die Fälle, in welchen
das Gegentheil angegeben wird, auf Befruchtung beruhen. Nur der Caelebogyne
gegenüber, welche er nicht selbst untersuchen konnte, nimmt Regel eine etwas vor-
sichtigere Stellung ein, glaubt aber auch hier dass möglichenfalls noch versteckte
Antheren entdeckt werden könnten. Solche wollte in der That Karsten (1860) auf-
gefunden haben, der diesen Standpunkt bis in die neueste Zeit unverändert aufrecht
erhalten hat (1888). Eine andere Deutung hatte bereits 1857 Klotzsch gegeben,
indem er in der Samenbildung nicht eine Befruchtung, auch nicht eine Partheno-
genese, sondern eine Knospenbildung erkennt. Dass er damit durchaus das Richtige
getroffen, ist erst sehr viel später (1878) durch Strasburger von neuem festgestellt
worden. Caelebogyne blieb bis dahin ein Beispiel für Parthenogenese und bildete auch
in diesem Sinne noch einmal den Gegenstand einer besonderen Untersuchung, die
54*
416 =
unter Braun’s Einflusse entstand und 1877 von Hanstein veröffentlicht wurde.
Neben Caelebogyne war es Chara crindta, für welche Braun (1859) die Partheno-
genesis konstatirt hatte. Diese im nördlichen Europa ausschliesslich in weiblichen
Individuen vorkommende 7halophyte ist später (1875) auch von de Bary untersucht
worden und gilt noch heutigen Tages als das einzige Beispiel von Parthenogenesis
bei Pflanzen mit differenten Sexualorganen. Sie ist gleichzeitig ein Beleg dafür,
dass auch in diesem organischen Reiche die Parthenogenesis eine allmählich er-
worbene Form der Fortpflanzung ist; denn alle anderen C%kara-Arten, und auch
Chara crinta an einzelnen südliehen Fundstellen, entwiekeln sich nur aus befruchteten
Eiern. Wo es bei Phanerogamen ohne Befruchtung zur Ausbildung von Samen
kommt, da handelt es sich, wie Strasburger zuerst für Zunkra ovala und Allıum
/ragrans nachgewiesen hat, um eine Zellenwucherung der Samenknospe in den
Embryosack hinein. Die Embryonen, die auf diese Weise entstehen, sind mithin
Sprossungen, sog. Adventivknospen. Sobald man auch für die Pflanzen die Definition
der Parthenogenesis als einer Entwicklung der Eizelle ohne Befruchtung festhält,
was leider nicht von allen Seiten geschieht, so beruhen jene Verhältnisse bei den
erwähnten Pflanzen, zu denen auch der Citronenbaum und, wie schon gesagt, Czele-
bogyne gehören, eben nicht auf Parthenogenesis, sondern stellen eine Form ungeschlecht-
licher, auf Zellenkomplexen beruhender Fortpflanzung vor, wie wir sie auch im
Thierreiche kennen. Für diese Art der Vermehrung hat de Bary (1878) die jetzt
ganz allgemein von den Botanikern angenommene Bezeichnung Apogamie eingeführt,
durch welche der Verlust der geschlechtlichen Zeugungsfähigkeit zum Ausdruck
gebracht wird. Die Apogamie ist nichts anderes als eine bestimmte Form der von
Huxley Agamogenesis genannten Fortpflanzungsarten. De Bary hat, übrigens
diese Bezeichnung zunächst nicht für die in Rede stehenden Fälle einer ungeschlecht-
lichen Vermehrung bei Phranerogamen eingeführt, sondern für gewisse sehr interessante
Erscheinungen bei manchen Farnkräutern (Pferis cretica, Asplenium Jilx femina
eristatum), wo sich an den Prothallien Embryonen und junge Pflanzen nicht aus Ei-
zellen der Archegonien (wie es in der Regel ist), sondern durch Sprossung aus dem
(ewebe des Prothalliums entwickeln.
Pringsheim hat noch eine andere Reihe von Erscheinungen im Pflanzenreiche
als Parthenogenesis bezeichnet, nämlich die Ausbildung von Oosporen bei den Sapro-
/egniaceen ohne Mitwirkung von Antheridien. De Bary rechnet indessen auch diese
Erscheinungen, gestützt auf andere Resultate seiner Beobachtungen, zur Apogamie.
Erst nachdem das Vorkommen der parthenogenetischen Fortpflanzung auf den
417
verschiedensten Gebieten thierischen Lebens zur Gewissheit geworden war, konnte
man auch daran denken, diese T'hatsachen vom theoretischen Standpunkte aus zu
betrachten und sie im Zusammenhange mit anderen Erscheinungen zu verwerthen, um
dem grossen Räthsel der Befruchtung und Vererbung etwas näher zu treten.
Wenn wir zunächst die Frage aufwerfen, welche Bedeutung die Partheno-
genese für solche 'Thierarten hat, wo sie bis zur Entwicklung eines selbständigen
Lebewesens führt, so dürfte die Antwort am nächsten liegen, dass in ihr ein Mittel
zu erkennen sei, durch welches die Natur unter gewissen Verhältnissen eine möglichst
zahlreiche Nachkommenschaft zu erzielen sucht, wie es bereits (1858) Leuckart aus-
gesprochen hat (pag. 109). Die Parthenogenese würde in dieser Hinsicht vergleich-
bar sein der Entwicklung mit freier Metamorphose, durch welche bei einem gegebenen
Bildungsmateriale die grösstmögliche Produetivität erzielt wird. Und wenn die Partheno-
genese für die Erhaltung und besonders die Verbreitung einer Art nicht vortheihaft
wäre, so würde sie nicht, wie Grobben (1379) hervorhebt, eine so weite Verbreitung
erlangt haben, sondern durch die natürliche Züchtung unterdrückt worden sein
(pag. 45.) Hatschek!) macht darauf aufmerksam, dass die Parthenogenese vornemlich
bei niederen Süsswasser- und Landthieren vorkomme, die dem Wechsel der Jahres-
zeiten ausgesetzt sind. Die Cladoceren, Ostracoden und KRotatorien nutzen die günstigen
sommerlichen Lebensbedingungen durch rapide Fortpflanzung rasch aus und haben
überdies durch den Wegfall der Männchen eine ökonomische Ersparniss, und ähnliche
Vortheile erwachsen für Blattläuse und einige andere Insekten durch jungfräuliche
Zeugung in der warmen Jahreszeit. Nicht anders ist die Ansicht, welche R. Hertwig?)
vertritt, wenn er sagte: „Für viele Fälle ist es sicher erwiesen, dass die Partheno-
genesis die Aufgabe hat, durch Ersparung der Männchen eine rasche Ausbreitung
der Art zu ermöglichen. So lange Parthenogenesis herrscht. verbreiten sich Blatt-
läuse und Flohkrebse mit ganz ausserordentlicher Schnelligkeit tiber ein ihnen zu-
gängliches Gebiet, während das Auftreten von Männchen eine langsamere Vermehrung
bedingt.“ Derartige Erwägungen liegen ausserordentlich nahe und sind im Grunde
nur ein Ausdruck des thatsächlich Beobachteten. Man möchte sieh freilich ver-
anlasst fühlen, daraus den Schluss zu ziehen, dass die äusseren Existenzbedin-
gungen gleichzeitig die Veranlassung für das Auftreten der Parthenogenesis
waren, denn wenn es für die Erhaltung einer Art von unverkennbarem Vortheile ist.
!) Hatschek, B., Lehrbuch der Zoologie. 2.Lfg. 1889. p. 215.
2) Hertwig, R., Lehrbuch der Zoologie. 1892. p. 112.
— 418 —
unter gewissen durch Oertlichkeit und Jahreszeit vorgeschriebenen Verhältnissen ein
Mittel zu möglichst rascher Vermehrung zu haben, so müsste die Naturzüchtung hier
einen Angelpunkt für ihre Wirksamkeit finden. Weismann spricht das direkt aus,
wenn er (1892) sagt: „Periodische Ungunst der Lebensbedingungen hat vielfach den
Anlass zur Emführung der Parthenogenese bei Arthropoden und Räderthieren ge-
geben“ (pag. 167) und hebt es ebenfalls im Einzelnen hervor, inwiefern für niedere
Krebse, Blatt- und Rindenläuse, auch Gallwespen') ein besonderer Vortheil durch den
Ausfall der zweigeschlechtlichen Generation erwachse. Wie sehr der Eintritt der
kälteren, für thierisches und pflanzliches Leben ungünstigen Jahreszeit einen Einfluss
auf die Entwicklung der Blattläuse ausübt — um bei diesen zunächst zu verweilen
— geht nieht bloss aus der Thatsache hervor, dass am Ende des Sommers männliche
Individuen entstehen und befruchtete Eier abgelegt werden, sondern noch viel mehr
aus den schon vor langer Zeit angestellten und von uns oben angeführten Ex-
perimenten, diese T'hiere durch künstliche Wärme über die klimatischen Verhältnisse
hinwegzutäuschen. In solchen Fällen folgten sich ununterbrochen Jahre lang nur
parthenogenesirende Generationen. Darin liegt für diesen speeiellen Fall der direkte
Beweis, dass die Erzeugung einer Nachkommenschaft aus unbefruchteten Eiern von
günstigen Existenzbedingungen abhängig ist. Und etwas ganz Aehnliches lehren uns
die Beobachtungen Wasmann's an Ameisen. Während es unter natürlichen Ver-
hältnissen zuweilen vorkommt, dass einzelne Arbeiter Eier legen, konnte hier durch
künstliche Vorkehrungen die Mehrzahl dieser Kaste für parthenogenetische Fort-
pflanzung erwärmt werden. Es ist nicht undenkbar, was Degeer vermuthet, dass
die Blattläuse in südlichen Ländern bei geringeren jährlichen Temperaturschwankungen
die geschlechtliche Fortpflanzung ganz aufgegeben haben oder dieselbe wenigstens
viel seltner in Thhätigkeit treten lassen als bei uns. Wenn wir übrigens in erster
Linie den Einfluss der Jahreszeit betonen, so soll dabei keineswegs verkannt sein,
dass die Nahrungverhältnisse in nicht geringerem Masse in Betracht kommen. Diese
beiden Faetoren hängen hier aber so innig zusammen, dass bei dem Vorhandensein
des einen der andere als selbstverständlich erscheinen muss; denn wenn mit dem
Ende der warmen Jahreszeit die Vegetation in den Hintergrund tritt, sind eben für
Thiere, wie die Blattläuse, welche sich von Pflanzensäften ernähren. die Lebens-
!) Dass bei den in Staaten lebenden Hymenopteren die streng arrenotoke Parthenogenesis von
ganz anderen Gesichtspunkten aus betrachtet werden muss, liegt auf der Hand. Wenn es sich auch hier
darum handelte, durch Ausfall der Befruchtung eine möglichst zahlreiche Nachkommenschaft zu erzielen,
so müssten nieht die Drohnen, sondern die Arbeiterinnen nnd Königinnen durch Parthenogenese entstehen.
— Aa
bedingungen aufgehoben. Wenn aus den angeführten Experimenten von Degeer,
Kyber und Anderen ersichtlich wurde, dass dureh Erhaltung der günstigen Existenz-
bedingungen die parthenogenetische Fortpflanzung auf längere Zeit ausgedehnt werden
kann, so liegen auch Versuche in dem umgekehrten Sinne vor, welche zeigen, dass
die Entziehung die ersteren, inbesondere die Entziehung der Nahrung früher zu
demselben Resultate führt, wie der Eintritt ungünstiger Bedingungen unter natürlichen
Verhältnissen. Ganz zufällig machte Göldi (1855) die Entdeckung, dass ungeflügelte
Exemplare des Pemphigus xylostei, welche er eine Woche lang ohne Nahrung ge-
lassen, weil aus dem Gedächtniss verloren hatte, innerhalb dieser Zeit unter sichtlicher
Abnahme ihrer Körperfülle zu geflügelten Thhieren geworden waren, während die
übrigen Individuen derselben Läusegesellschaft, welche auf der Nährpflanze geblieben
waren, nech denselben Entwicklungsgrad zeigten, wie vorher. Göldi unternahm nun
zielbewusste Experimente auch mit anderen Blattläusen, mit Pemphirus bumeliae, einer
Zachnus-Art und mit der Blutlaus und erhielt ähnliche Resultate. Von der Blutlaus
verschaffte er sich die im Freien erst im September auftretenden geflügelten Thiere
im Zimmer bereits im Juni. Später ist es Keller (1887) geglückt, auf solchem
Wege auch geflügelte Rebläuse zu züchten, welche nicht etwa durch diesen künst-
lichen Eingriff verkümmert waren, sondern entwieklungsfähige Eier ablegten. Das
Resultat aller dieser Versuche ist immer das gleiche: „Nahrungsentziehung bedingt
ein Aufhören der Parthenogenesis“.
Es brauchen aber durchaus nicht immer auf Nahrung und Jahreszeit bezüg-
liche Verhältnisse zu sein, welche der parthenogenetischen Fortpflanzung ein Ziel setzen
und durch Erzeugung von Männchen eine Entwicklung aus befruchteten Eiern an-
bahnen. Für die Wasserflöhe ist es die Gefahr, durch Austrocknen ihrer Aufenthaits-
orte gänzlich zu Grunde zu gehen, und bei den in mehrfacher Hinsicht sehr in-
teressanten Untersuchungen von Schmankewitsch (1875) hat sich gezeigt, dass die
relativ schnelle Concentration des Salzgehaltes des Wassers, welches Artemia salına
und Daphnia magna bewohnen, einen ähnlichen Effekt hat. Und was man hier durch
künstlichen Eingriff in die natürlichen Lebensverhältnisse erzielte, das leistet für
Daphnia rectrostris die Natur selbst, indem im Xandschibei-Liman durch die sommer-
liche Wärme die Concentration des Salzgehaltes erhöht wird: auch hier hört die par-
thenogenetische Fortpflanzung auf und es bilden sich Ephippialeier, wie sonst nur
vor Eintritt des Winters.
Was in allen diesen Fällen zur Beobachtung kommt, ist also die Unterbrechung
der Parthenogenese und die Entstehung von Männchen. Es liegt nahe, die Frage
—_ 420
aufzuwerfen. welchen inneren Zusammenhang beides hat; man möchte den Schluss
ziehen, dass zur Production von Weibchen günstigere Lebensverhältnisse gehören,
als zu derjenigen von Männchen, und als Grund dafür scheinen wiederum die Er-
nährungsverhältnisse angesprochen werden zu müssen. Sobald sich ungünstige
Existenzbedingungen geltend machen, mögen sie nun in einem zu geringen Quantum
von Wasser oder in einer bestimmten chemischen Beschaffenheit desselben, mögen
sie in zu geringen Wärmegraden und im Mangel an Nahrung oder in beiden Faktoren
gleichzeitig zu suchen sein, tritt — so müsste man annehmen — eine schleehtere
Ernährung der Thiere ein, und diese verlieren dadurch die Fähigkeit, Weibchen zu
produeiren oder wenigstens ausschliesslich solche auszubilden, liefern vielmehr nun
auch männliche Thiere, mit welchen die Bedingungen zur geschlechtlichen Fort-
pflanzung durch befruchtete Eier gegeben sind.
Die Ergründung der Ursachen, wodurch Männchen erzeugt werden, ist eines
der Erfordernisse, wenn man die Entstehung der Parthenogenesis zu erklären ver-
suchen will. Denn die erste Frage, „wodurch wird Parthenogenesis bedingt?“ kann nur
so beantwortet werden: „durch Mangel an Männchen“, und nun erst entsteht natur-
gemäss (die zweite Frage, welche wieder eine doppelte ist: „wodurch entstehen
Männchen resp. wodurch wird die Erzeugung von Männchen unterdrückt?“ und
zweitens: „wodurch hat das Fi die Fähigkeit erlangt, sich auch ohne männlichen
Eintluss zu entwickeln.“ Die erste dieser beiden Fragen fällt zusammen mit der
viel besprochenen nach den das Geschlecht bestimmenden Ursachen. Bei dem Ver-
suche, diese zu ergründen, ist man von verschiedenen Seiten zu dem Resultate gelangt,
welches wir soeben berührt haben, dass ungünstigere Existenzbedingungen die Ent-
stehung männlicher Nachkommenschaft veranlassen. Es ist nur eine Consequenz
dieser Anschauung, wenn u.a. Rolph (1582) zu der Ansicht gelangt, dass „ein ge-
wisses Maximum von Abundanz und von guten Lebensverhältnissen bei partheno-
genetischen Thieren Thelytokie liefert, während minderes Wohlergehen Arrenotokie
produeirt“ (pag. 120.) Wenn wir hieran als an etwas T'hatsächlichen festhalten wollen,
so würden wir um einen Schritt in dem Verständniss der uns hier interessirenden
Dinge weiter gekommen sein, insofern nämlich, als wir wüssten, dass das thierische
Ei durch die äusseren Lebensbedingungen in einen Zustand versetzt werden kann,
!) Statt Rolph hätte ich auch Düsing anführen können, welcher (p. 780) sagt: „Der Ueberfluss
ist also die Bedingung und die Ursache der thelytokischen Parthenogenesis“, aber Düsing thut diesen Aus-
spruch zwei Jahre später (1884) als Rolph und erwähnt den letzteren bei dieser Gelegenheit nicht, obgleich
er dessen „Biologische Probleme“ gekannt hat.
421
dass es sich entweder zu einem männlichen oder zu einem weiblichem Individuum
entwickelt. Wie es aber beschaffen sein muss, dass es sich überhaupt entwickelt
und, was unsere zweite Frage fordert, dass es sich auch ohne männlichen Einfluss
entwickeln kann, dies zu erklären sind wir ausser Stande; wir können nur nach dem
Maasse unserer heutigen Kenntnisse sagen, der Grund dafür liegt im Protoplasma des
Eies und hier wiederum in der Beschaffenheit des Nucleoplasmas. Die letzten Ur-
sachen sind uns verborgen und bleiben es vielleicht auf immer.
Wenn wir also nach dem, was wir darüber wissen, keineswegs daran zweifeln
können, dass mit der Parthenogenesis wirklich ein Vortheil für die betreffende Art ver-
bunden ist‘) und die Vermuthung nahe liegt, ja beinahe selbstverständlich erscheint,
dass darin der „Anlass zur Einführung der Parthenogenese“ zu suchen sei, so sind
wir doch weit entfernt, die Entstehung derselben auch erklärt zu haben; wir haben
sie uns durch richtige Beurtheilung der beobachteten Fälle plausibel gemacht, eben-
so wie uns die schützende Aehnlichkeit und die Mimiery zweifellos als vortheilhaft
für die betreffenden Thiere und deshalb durch Naturzüchtung entstanden erscheinen.
Aber das „Wie“ bleibt genau so unerklärt in dem einen wie in dem anderen Falle
und auch dann noch, wenn wir das moderne Schlagwort gebrauchen und die Partheno-
genese eine „Anpassung an die Lebensverhältnisse“ nennen.
Eins dürfen wir als sicher ansehen, wenn wir die parthenogenesirenden Arten
inmitten solcher Verwandten sehen, welche sich auf dem normalen Wege fortpflanzen:
die Parthenogenesis ist aus der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung entstanden, sie ist
eine geschlechtliche Fortpflanzung mit rückgebildeter Befruchtung.’) War doch die
Ansicht von der nothwendigen Befruchtung aller Eier so festgewurzelt, dass, wie
wir eingehends unserer Betrachtungen sahen, der Parthenogenesis anfangs mit dem
grössten Misstrauen begegnet wurde und dass ihr der Boden Schritt für Schritt erobert
!) So weit wollen wir auch gelten lassen, was Göldi (l.c.p. 8) sagt: ... „sollte die Natur nicht
von diesem potenziellen Vermögen des Eies Gebrauch machen und desselben sich gerade da mit Vortheil
bedienen, wo eine offenbare Oekonomie, ein beträchtlicher Zeitgewinn zu Gunsten einer potenzirten
Reproduktion sich darbietet?“ Wenn er aber dann fortfährt: „Kann von diesem Gesichtspunkte aus be-
trachtet, überhaupt in der Parthenogenese der Aphiden und niederen Crustaceen noch irgend welches
Räthsel liegen?“ so ist dies eine „Bescheidenheit“ in den Anforderungen an eine Erklärung natürlicher
Dinge, welche in argem Kontraste steht zu dem Sicherheitsgefühle, mit welehem obige Auseinandersetzungen
als selbstverständlich hingestellt werden.
2) Rolph (Biologische Probleme, 1882) ist allerdings anderer Ansicht: „Wir werden dazu gedrängt,
dem weiblichen Keime, dem Ei, die Fähigkeit der parthenogenetischen Fortpflanzung primär, aber nicht
secundär zuzusprechen.“ „Das Ei hat nicht die Fähigkeit, sich unter gewissen Verhältnissen partheno-
genetisch zu entwickeln, sondern es ist unter gewissen Verhältnissen unfähig, sich parthenogenetisch zu
entwickeln.“ (p. 111.)
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII.
U
[3}1
— 412 —
werden musste. Natürlich, dass die Thatsache der Parthenogenese besonders schwer
in die Wagschale fiel, wenn es sich darum handelte, in das eigentliche Wesen und
die Bedeutung der Befruchtung einzudringen. Speculationen darüber reichen zwar bis
zu den ältesten Zeiten menschlichen Denkens zurück, konnten aber nicht eher auf
einer sicheren Grundlage aufgebaut werden, als bis man in der Ei- und Samenzelle
diejenigen Elemente der Lebewesen erkannt hatte, durch deren wirkliche Vereinigung
die Entwicklung eines neuen Individuums eingeleitet wird. Man lernte durch die
Beobachtungen zahlreicher Forscher, unter denen Männer wie Bütschli, OÖ. u. R. Hert-
wig, Fol, Ed. van Beneden an erster Stelle zu nennen sind, die interessanten und
eigenthümlichen Vorgänge kennen, welche als Zeichen der Reife des thierischen Eies
und als Vorbereitungen für den Akt der Befruchtung anzusehen sind, sowie jene
anderen, dureh welche sich dieser letztere selbst documentirt, nämlich die Verschmelzung
des durch die sogenannten „Riehtungskörperchen“ an Masse verminderten Keim-
bläschens mit dem in das Ei eingedrungenen und zum „männlichen Vorkern“ ge-
wordenen Samenelementes. Als man in der Bildung der Richtungskörperchen, deren
Auftreten Jahrzehnte früher, als man sie richtig zu deuten verstand, erkannt war,
eine Vorbereitung zur Befruchtung sehen zu müssen glaubte, lag es nahe, die-
jenigen Eier in Betracht zu ziehen, welche nicht befruchtungsbedürftig sind und sich
dennoch in normaler Weise entwickeln. Bei denselben hatte man damals noch keine
Richtungskörperehen aufgefunden und war um so mehr zu der Annahme, dass sie
hier überhaupt nicht vorkommen, geneigt, als man sie bei sämmtliehen Arthropoden
und Rotatorien, also Thiergruppen, welche allein normale Parthenogenesis aufzuweisen
haben, vermisst hatte. So glaubte man einen prinzipiellen Unterschied zwischen
parthenogenetischen und befruchtungsbedürftigen Eiern konstatiren zu müssen. Bal-
four (1880) sprieht in Folge dessen die Ansicht aus, dass durch die Richtungskörper
ein Theil der Bestandtheile des Keimbläschens, welche für seine Funktion als voll-
ständiger und unabhängiger Kern nothwendig sind, entfernt wird, um der neuen Zu-
fuhr Platz zu machen, welche durch den Spermakern geliefert wird; er nimmt infolge-
dessen an, dass da, wo keine Richtungskörper gebildet werden, normaler Weise immer
Parthenogenesis eintreten müsse, ja sogar, dass die Funktion, Riehtungskörper zu
bilden, von dem Ei ausdrücklich zu dem Zwecke angenommen worden sei, um Par-
thenogenesis zu verhüten (pag. 74). Auf ähnlichem Standpunkte stehen auch Minot
(1877) und Ed. van Beneden (1883), nur dass sie in dem durch die Richtungskörper
aus dem Ei entfernten Massentheilehen den männlichen Antheil des ursprünglich
hermaphroditisch beanlagten Mutterkerns erkennen, der bei der Befruchtung durch
— 43 —
neues Material ersetzt werde. Und Weismann endlich sah in der Bildung der
Richtungskörper die Entfernung des histogenen Keimzellen-Idioplasmas, so dass allein
das Kernkeimplasma im Ei zurückbleibe.')
Indessen die Annahme, dass bei parthenogenetischen Eiern Richtungskörper
fehlen sollen, war verfrüht. Durch Beobachtungen, zunächst von Weismann an
einer Daphnide (Po/yphemus oculus), dann von Blochmann an einer Reihe von In-
sekten, waren Richtungskörper nicht nur unter den Arthropoden überhaupt, sondern
auch bei parthenogenetischen Eiern nachgewiesen; gleichzeitig war aber auch von
den genannten Forschern dennoch darin ein Unterschied zwischen diesen und den
befruchtungsbedürftigen Eiern aufgefunden worden, dass bei den letzteren zwei, bei
ersteren nur ein Richtungskörper zur Ausbildung kommt. Weismann legte dieser
Entdeckung besondere Bedeutung bei, und als es ihm durch fortgesetzte, gemeinsam
mit Ischikawa angestellte Beobachtungen möglich war (1888), fünfzehn verschiedene
Vertreter aus den Gruppen der Oladoceren, Ostracoden, Insekten und auch der Räder-
thiere namhaft zu machen, bei deren parthenogenetischen Eiern immer nur ein
Richtungskörper gebildet wird, formulirte er diesen Befund zu seinem „Zahlengesetze
der Riehtungskörper“. Dadurch musste nothwendig auch die Weismann’sche
Theorie von der Bedeutung der Richtungskörper, welche man übrigens als abortive
Eier, die sich durch einen letzten T'heilungsprozess von der Eimutterzelle abschnüren,
anzusehen gelernt hatte, modifieirt werden; denn wenn bei den parthenogenetischen
Eiern auch ein Richtungskörper gebildet wird, so musste der bei befruchtungs-
bedürftigen Eiern stets zur Ausbildung kommende zweite eine andere Bedeutung
haben. Als solche nahm Weismann eine Halbierung der Zahl der im Keimplasma
enthaltenen Ahnenplasmen oder anders ausgedrückt: eine „Reduction der Vererbungs-
substanz“ an, während der erste Richtungskörper das ovogene Idioplosma enthalte,
das also sowohl aus dem befruchtungsbedürftigen wie aus dem parthenogenetischen Ei
herausgeschafft wird. Parthenogenesis, so meinte Weismann, tritt dann ein, wenn die
volle Summe der von den Eltern ererbten Ahnen-Keimplasmen durch Unterdrückung
des zweiten Richtungskörpers in der Eizelle verbleibt, dieselbe mithin die zur Durch-
führung der Embryonalentwickelung nöthige Menge von Keimplasma behält.
Doch das Thatsächliche unserer Kenntnisse über die Bildung der Richtungs-
körper bei parthenogenetischen Eiern war noch nicht abgeschlossen. Durch Platner
1!) Diese Vorstellung hängt aufs engste zusammen mit der speeifisschen Weismann’schen Lehre
von der Kontinuität des Keimplasmas, auf die hier unmöglich näher eingegangen werden kann.
95*
— 44 —
(1555) wurden bei Eiern eines nur ausnahmsweise durch unbefruchtete Eier sich
fortpflanzenden Schmetterlings, bei Ziparis dispar, in jedem Falle zwei Richtungs-
körper nachgewiesen, ebenso durch Blochmann (1889) bei den sich zu Drohnen
entwickelnden Bieneneiern dieselben zwei Richtungskörper gefunden, wie sie die
befruchtungsbedürftigen Eier bilden, aus welchen weibliche Individuen entstehen.
Daraus geht hervor, dass Parthenogenesis auch dann möglich ist, wenn die Quantität
des Keimplasmas im Ei auf die Hälfte vermindert ist. Weismann (1891) sucht
diese 'Thatsache durch die Annahme zu „erklären,“ dass bei exceptioneller Partheno-
genese „das Kernplasma einzelner Eier einer Art das Vermögen des Wachsthums
in grösserem Masse als die Majorität derselben besitze, oder, im Falle der Biene,
jedes Ei besitze die Fähigeit, sein auf die Hälfte redueirtes Kernplasma, wenn es
nicht durch Befruchtung wieder auf das Normalmass gebracht wird, durch Wachs-
thum wieder auf die doppelte Masse zu bringen.“') Er ist überzeugt, dass Partheno-
genesis auf doppeltem Wege entstanden ist: einmal durch Unterdrückung des zweiten
Richtungskörpers — und dies würde für alle Fälle regelmässiger Parthenogenese
anzunehmen sein —, dann aber, und zwar bei facultativer Parthenogenesis, trotz
Austritt des zweiten Richtungskörpers durch erhöhte Wachthumsfähigheit des zurück-
gebliebenen Keimplasmas.
Wir sind Weismann in seinen theoretischen Auseinandersetzungen nur insoweit
gefolgt, als es sich um die Parthenogenese handelt; auf etwas Anderes hier einzugehen,
was Bezug auf die Vererbungstheorie dieses geistreichen Forschers hat, hiesse die
Grenzen weit überschreiten, die wir uns für diese Darstellung gesteckt haben. Nur
das können wir hier nicht unerwähnt lassen, dass die Weismann’schen Anschauungen
vom Ahnenplasma und die sich daran anschliessenden Speculationen vielfach auf
Widersprüche gestossen sind; so hat vor allen Dingen O. Hertwig (1889) auf Grund
umfassender eigener Beobachtungen an den Ei- und Samenzellen von Ascaris mega-
cephala einen neuen Eimblick in die „Reduetionstheilungen“ gewonnen, auf Grund deren
er in der Bildung der Richtungskörper lediglich eine Einrichtung sieht, um zu ver-
hindern, dass durch die Befruchtung eine Summirung der Kernmasse und der choma-
tischen Elemente herbeigeführt werde.“’) Demnach unterbleibt bei parthenogenetischen
!) O0. Hertwig (1890) spricht sich darüber folgendermassen (p. 127) aus: „Endlich scheint es
auch möglich zu sein, dass Eier, die nach Bildung zweier Richtungskörper redueirte Kerne enthalten, sich
doch parthenogenetisch weiter entwickeln können (Blochmann, Platner), da das Theilvermögen der Kerne
nach einer stattgefundenen Reduktionstheilung nicht gänzlich aufgehoben ist,“
2) „Denn dadurch, dass die Kernmasse der Samenmutterzelle und der Eimutterzelle gleich nach
der ersten Theilung noch zum zweiten Male getheilt wird, ehe sie noch Zeit gehabt hat, sich im Ruhe-
425: , ——
Eiern die durch Bildung des zweiten Richtungskörpers herbeigeführte Halbirung der
Kernmasse, weil eine solche keinen Zweck haben würde; denn eine Summirung ist
beim Ausfall der Befruchtung nicht zu befürchten (pag. 112—113). In Folge der
Hertwig’schen Aufschlüsse über die Reduetionstheilungen hat denn auch Weismann
(1891) seine frühere Deutung der ersten Richtungskörpertheilung als der Entfernung
des „ovogenen“ Kernplasmas aus dem Ei ohne weiteres fallen lassen (pag. 26.)
Hertwig hat übrigens auch bei gewissen parthenogenetischen Eiern ein von dem
durch Weismann und Ischikawa festgestellten etwas abweichendes Verhalten be-
obachtet. Bei Aszeracanthion nämlich kommt es nach Ausstossung des erstsn Richtungs-
körpers noch zur Bildung einer zweiten Richtungsspindel, die aber nicht zur
Abschnürung eines zweiten Richtungskörpers, sondern nur zur Bildung zweier
bläschenförmiger Kerne führte, die dann wieder unter einander verscholzen, der Eimasse
also erhalten blieben. Aehnliches hat auch Boveri bei Ascaris und /erotrachea be-
obachtet. Hertwig sieht darin eine Andeutung, wie sich befruchtungsbedürftige Eier
in parthenogenetische verwandeln können.
Es ist ein langer Weg von Dzierzon und Siebold bis zu Hertwig und
Weismann! Fast ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seit die Parthenogenesis
behauptet und erwiesen ist, und wie sie von der T'heorie gefordert wurde, so gehen
jetzt neue theoretische Betrachtungen von ihr aus, um in das Geheimniss der Be-
fruchtung und Vererbung einzudringen. Das Beste aber, was sie uns gebracht hat,
ist das: sie hat uns befreit von dem Banne, der eine Befruchtung als die noth-
wendige Vorbedingung für die Entwicklung des thierischen Eies forderte, befreit auch
von dem Gegensatze eines männlichen und weiblichen Prinzips. Dieselbe Partheno-
gensis, gegen welche dereinst in Göttingen der Vorwurf erhoben wurde, dass durch sie
eine der aller unbequemsten und der Hoffnung auf allgemeine Gesetze der Lebenser-
scheinungen widerwärtigsten Thatsachen in die Physiologie eingeführt sei, beruht nach
den Anschauungen der heutigen Zeit auf Anpassung an die Lebensverhältnisse und geht
überall da aus der Befruchtung, d.h. Vermischung der Vererbungssubstanzen zweier
Individuum oder „Amphimixis“ hervor, wo „ein bedeutender Vortheil für die Erhaltung
der Art darin gelegen ist.“
stadium zwischen zwei Mitosen durch Ernährung wieder zu ergänzen, wird sie geviertelt, und so erhält
jede der vier Enkelzellen durch den sinnreichen Prozess, den man kurz als Reductionstheilung eharacteri-
siren kann, nur die Hälfte der chromatischen Substanz und der chromatischen Elemente, welche ein Normal-
kern einschliesst.“ (p. 126.)
Litteratur.
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(Behandelt u.a die Entwicklung des Aphiden und Trematoden.)
1852—54. Berlepseh, Aug. v., Apistische Briefe an Herrn Pfarrer Dzierzon. in: Eichstädt. Bienen-Ztg.
8. Bd. 1852. Extra-Beilage zu No. 21. (IV.S.) — I. ebd. 9. Bd. 1853. p. 31—86. — III. ebd.
p. 42—47. — IV. ebd. p. 52—56. — V. ebd. p. 176—179. — VI. ebd. 10. Bd. 1854. p. 7—8. —
VII. ebd. p. 19—21. — VIII. ebd. p. 34—35. — IX. ebd. p. 41—44. — X. ebd. p. 239—245.
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1852. p. 181—183.
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1854.
1855.
1855.
1856.
1856.
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Berlepsch, Aug. v., Sind die Drohneneier befruchtet? (Ein Sendsehreiben an C. Th. v. Sie-
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Leuckart, Rud., [Bericht über Zergliederung einer unbefruchtet ein- und durehgewinterten
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Cornalia, Emilio, Monografia del Bombiee del Gelso (Bombyx mori). in: Mem. Istit. lomb.
se., lett. ed arti. T. VI. 1856. (p. 3—3837.) p. 212. — Auch separ.: Milano, Meiners, 1556. 4.
(Fruchtbare Eier von unbefruchteten Weibehen.)
Leeogq, Henri, De la generation alternante dans les vegetaux et de la reproduetion de
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(Bombyx eaja.)
Il. Litteratur über Parthenogenesis seit dem Erscheinen von v. Siebold’s
1856.
1856.
erster Schrift.
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history of reproduetion in animals. Transl. by Dallas. London, Voorst, 1857. 8. — Re-
cherches sur la parthenogenese proprement dite, chez les Lepidopteres et les Abeilles.
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(Die Ammen der Blattläuse werden als Weibchen in Anspruch genommen.)
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über diesen Gegenstand. in: Monatsschr. d. wissensch. Ver. in Zürich. 1. Jhg. 1856.
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(Darin auch Ingpen genannt, welcher ein Gleiches, für Psyche fusca in Stephens ‘Illustrations’ angiebt.)
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’ ie (o)
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Leuekart, Rud., Zur Kenntniss des Generationswechsels und der Parthenogenesis bei den
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4. Bd. 1858. — Auszug. in: Froriep’s Notizen. 1859. p. 305— 310. — Eichstädt. Bienen-Ztg.
14. Bd. 1858. Nr. 20 u. 21. — Quart. Journ. Mier. Se. Vol.6. 1859. p. 102—104.
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1859.
1859.
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54 S., m. 2 Taf.) — Auch in: Berlin. Entom. Ztschr. 4. Bd. 1860. p. 1—52.
Leuekart, Rud., Die Fortpflanzung der Rindenläuse. Ein weiterer Beitrag zur Kenntniss
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Lubbock, John, On the Ova and Pseudova of Inseets. in: Philos. Trans. Roy. Soc. London.
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(Referirend )
1862. Tigri, [Explieatiön proposde pour eertains eas de parthenogenie chez les vers A soie.] in:
Compt. Rend. T.55. 1862. p. 106.
(Negirend.)
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Kasan’schen Univers.] 1862. I. p.25—114. — Dass. [Gutachten der Akademiker Bär,
Brandt u. Owsjannikow.| in: 33. |Urtheil des Demidow’schen Preises. | (1864.) 1865. p. 238 — 242.
(Russisch geschrieben. — Wegen des Originaltitels s. meine Bibl. Zool. p. 1394.
1863. Baer, K. E. v.. Berieht über eine neue von Prof. Wagner in Kasan an Dipteren beobachtete
abweichende Propagationsform. in: Bull. Acad. imp. St. Petershourg. T. 6. 1863. p. 239—241.
— Leopoldina. 4. Hft. 1863. p. 51—22.
1863. Cohn, Ferd., Bemerkungen über Räderthiere. III. in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XII. Hft. 2.
1862. p. 197— 217.
1863. Girard, Maurice, Sur un fait interessant de parthenogenie. in: Ann. Soe. Ent. France. 4. Ser.
T.3. 1863. Bull. p. XXXV.
(Attaeus Cynthia )
— 435 —
1863. Lespes, Ch., Observations sur les fourmis neutres. (Avee 1 Pl.) in: Ann. se. nat. 4. Ser.
1863.
1863.
1863.
1863.
1864.
1864.
1864.
1864.
1864.
1864.
1864.
1864.
1865.
1865.
Zool. T.19. 1863. p. 241— 251. — Beobachtungen über die geschleehtlosen Ameisen. in:
Ztsehr. f. d. ges. Naturwiss. 23. Bd. 1864. p. 12—17.
(Ausgebildete Eier bei Ameisen-Arbeitern )
Lubbock, John, Notes on some new or little known species of Freshwater Entomostraea.
(With 1 Pl.) in: Trans. Linn. Soe. London. Vol. 24. Part II. 1868. p. 197—210.
(Apus produetus 3, p- 206%.)
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et des animaux. Paris. T. VIII. 1863. p. 375 ff.
Schaum, H., Über Parthenogenesis. in: Berlin. Entom. Ztschr. 7. Bd. 1863. p. 93 —94.
(Negirend. — Zwitter.)
Wagner, Nicolas, Beitrag zur Lehre von der Fortpflanzung der Inseetenlarven. (M. 2 Taf.)
in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XII. Hft.4. 1863. p. 513 — 527.
Claus, ©., Beobachtungen über die Bildung des Inseeteneies. (M. 1 Taf.) in: Ztsehr. f£.
wiss. Zool. Bd. XIV. Hft.1. 1864. p. 42 —54.
(Die Keime der viviparen Blattläuse sind Eier, die sich parthenogenetisch entwiekeln.)
Loew, H., Bericht über die lebendig gebärenden Dipteren-Larven, welche in den letzten
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Meinert, Fr., Miastor metraloas yderligere oplysning om den af Prof. Nie. Wagner nyligt
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3. Bd. 1864—65. p.37— 43.
Meinert, Fr., Om larvespirernes oprindelse i Miastor-larven. in: Naturhist. Tidsskr. 3. R.
3. Bd. 1864—65. p. 83 —86.
Meinert, Fr., Weitere Erläuterungen über die von Prof. Nie. Wagner beschriebene Inseeten-
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übersetzt von ©. Th. v. Siebold. in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XIV. 1864. p. 394— 39%.
Osten-Sacken, R., Über den wahrscheinlichen Dimorphismus der Cynipiden-Weibehen.
in: Stettin. Entom. Ztg. 25 Jhg. 1364. p. 409 —413.
(Mittheilung nach Walsh.)
Pagenstecher, Alex., Die ungeschlechtliehe Vermehrung der Fliegenlarven. (Mit 2 Taf.)
in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XIV. Hft. 4. 1864. p.400—416. — Verh. d. naturhist. Ver.
Heidelberg. 3.Bd. (1862—065.) 1865. p. 157.
Walsh, Benj. D., On Dimorphism in the Hymenopterous genus Cynips; with an Appendix,
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Vol. 2. (1865 — 4.) 1864. p. 445 — 500. — Abstr. in: Amer. Journ. Se. a. Arts. 2. Ser. Vol. 38.
1864. p.130—131. — Ann. Mag. Nat. Hist. 3. Ser. Vol.14. 1864. p. 400.
(Cynips acieulata — spongifica.)
Baer, K.E.v., Über Prof. Nie. Wagner's Entdeckung von Larven, die sich fortpflanzen,
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T.9. 1866. p. 64--137. — M&langes biol. tires du Bull. de l’Acad. imp. St.-Pötersbourg.
T.5. 1865. p. 205—308.
Eaton, A. E., Parthenogenesis in Orgyia antiqua. in: Entomologist's Monthl. Mag. Vol. 2.
1865—6. p. 188.
1865. Ganin, M., Neue Beobachtungen über die Fortpflanzung der viviparen Dipterenlarven.
(M. 1 Taf.) in: Ztsehr. f. wiss. Zool. Bd.XV. Hft.4. 1865. p.375— 390.
1869.
1865.
1869.
1865.
1869.
1866.
1866.
1866.
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——a 436
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in: Ztschr. f. Akklimat. N.F. 3. Bd. 1865. p. 311—312.
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Publikation. in: Berlin. Entom. Ztschr. 9. Bd. 1865. p. 270.
(Die Wagner’sche Art steht nahe der Gattung Heteropeza, noch mehr der im Bernstein erhaltenen
Monodierana, und ist sicher der Gattung, wahrscheinlich auch der Art nach identisch mit Miastor
metraloas, Meinert.)
Mecznikoff, El., Über die Entwieklung der Ceeidomyienlarven aus dem Pseudovum.
Vorl. Mitth. in: Arch. f. Naturgesch. 31. Jhg. 1.Bd. 1865. p. 504—310.
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ibid. T.15. 1872. art.1; 4 — Biblioth. de l’&eole des hautes &tudes. Seet. se. nat. T. 3.
1870. art. 2; T.4. 1871. art. 2—4.
(Enthält eine historische Einleitung.)
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Curd, A., Della partenogenesi frai Lepidotteri. in: Atti Soe. ital. se. nat. Vol. 13. 1870.
9. 27—82.
. (Referirend, aber auch nach mündlieher Mittheilung von Ghiliani Parthenogensis bei Aretia villica.)
Grimm, Oscar, Die ungeschleehtliche Fortpflanzung einer Chironomus u. deren Entwicklung
aus dem unbefruchteten Eie. (M. 3 Taf.) in: Me&m. Acad. imp. St. Petersbourg. 7. Ser. T. 15.
1870. no.8. (24 S.) — Auch separ.: Leipzig, Voss, 1870. imp. 4. — On the agamie repro-
duetion of a speeies of Chironomus, and its development from the unfeeundated egg.
(With 1 Pl.) in: Ann. Mag. Nat. Hist. 4. Ser. Vol.8. 1871. p.31—45; 106—115. — Note
sur les Chironomus. in: Horae Soe. Ent. Ross. T.9. (1872.) 1873. Bull. p. VH—IX.
(Diese Abhandlung erschien zuerst in russischer Sprache. — Die Original-Titel s. in meiner Bibl. Zool.
p- 1703.)
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Pädogenesis der Strepsipteren. in: Berlin. Entom. Ztschr. 14. Bd. 1870. p. 47—48.
(Referat.)
Maasen, J. P., Muthmassliche Anzahl der Schmetterlinge, resp. Bemerkungen zu den Be-
trachtungen des Gerichtsraths Keferstein. in: Stettin. Entom. Ztg. 31. Jhg. 1870. p. 49—62.
(Orgyia ericae.)
Mäklin, Fr. W., Om parthenognnesis eller jungfrulig fortplantning hos Polistes galliea. in:
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(Referat nach Siebold.)
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(Negirend.)
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11. Jhg. 1870. p.328—331.
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in: Ann. Soe. Ent. Franee. 4. Ser. T.10. 1870. Bull. p. LX—LXT; LXXIII—LXXVI.
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gonien. in: Stettin. Entom. 'Ztg. 32. Jhg. 1871. p. 28. — Ref. von Giebel. in: Ztsehr. f.
d. ges. Naturwiss. 37. Bd. 1871. p. 99.
(Liparis dispar; Gastropacha potatoria.)
. Curö, Antonio, Cenni intorno ad aleuni sperimenti istituiti allo scopo di tentare la verifi-
cazione dei casi di partenogenesi presso il bombice del moro. in: Atti Soe. ital. se. nat.
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Engelmann, 1871. 8. (VII, 239 $.) — Sulla partenogenesi negli Artropodi. Estratto.
in: Bull. Soc. Ent. Ital. Anno 4. 1872. p. 121—129; 215— 225.
. Siebold, €. Th. v., Über Parthenogenesis. in: Sitzungsber. d. Akad. d. Wissensch. München.
I. Bd. 1871. p. 232—242.
(Besprechung seines Buches.)
. Siebold, €. Th. v., Sulla partenogenesi del Bombyx mori. Lettera alla Societä entomolo-
giea italiana in: Bull. Soe. Ent. Ital. Anno 3. 1871. p. 411—412. — Atti e Mem. IV. Con-
gresso baeol. intern. Rovereto. 1873. p. 599 —601.
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Math.-naturw. Cl. 65. Bd. 1. Abth. 1872. p. 279— 211. — Auch separ.: Wien, (Gerold’s
Sohn), 1872. Lex. 8. (13 8.)
(Aus befruchteten Apus-Eiern entstehen Männchen.)
. Brischke, G.. Beitrag zur Parthenogenesis (Nematus pavidus). in: Schrift. d. naturf. Ges.
Danzig. N. FE. 3.Bd. 2. Hft. 1872. (00.7. p. 9.)
. Curö, Antonio, Ancora della partenogenesi del Bombyx mori. Lettera. in: Bull. Soe. Ent.
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und die verschiedenen Arten von Parthenogenesis nach den Darstellungen von Dr. Georg
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ber. d. Ges. naturf. Freunde. Berlin. April 1872. p. 43—44.
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Bebrütungsversuchen. (M.3 Taf.) in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XXVI. 2.Hft. 1872. p. 131— 234.
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2. Ulivi, P. Giotto, Esame eritico delle teorie sulla partenogenesi delle api. in: Industriale
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d’Agrieolt. (Ruseoni) Anno IV. 1872. p. 61—76. — Auch separ.: Forli, Febo Gherardi edit.,
1872. 8. (Tit., 9p.) — Extr. in: Pet. Nouv. Ent. Vol.1. No.v1. 1872. p. 245. — Examen
eritique des theories sur la parthenogenese des abeilles. (Trad par C. Kanden.) in:
L’Apieulteur. 24. Annde 1830. p. 52—56; 76—79; 139—143; 173—176; 205—207.
— II volo d’amore e la partenogenesi delle api. in: Agrieoltore di Lucea. Anno VIII. 1872.
p- 101—107. — Bollett. Comizio agrar. di Rovigo. Anno Il. 1872. p. 100—110. — In-
dustriale ital. Anno VI. 1872. p. 202—203.
. — Ancora sul volo d’amore e sulla partenogenesi delle api. Repliea al Sig. Bossi-Fedrigotti
Filippo di Rovereto. in: Agrieoltore di Lucca. Anno VII. 1872. p. 197—204.
(Noch verschiedene andere Schriften dieses Autors, welche sich gegen die Parthenogenesis wenden,
s. in meiner Bibl. Zool. 3. Bd. 1890. p. 2345— 2346.)
3. Balbiani, G., Sur la reproduetion du Phylloxera du ch@ne. in: Compt. Rend. T. 77. 1873
p- 330— 834; 884— 890. — Observations sur la reproduction du Phylloxera du ceh@ne. in:
Biblioth. de l’&cole des hautes etudes. Seet. se. nat. T. 9. 1874. art. 7. — Ann. Se. nat.
5. Ser. Zool. T. 19. 1874. art. 12.
Bassett, H. F., On the habits of certain gall insects of the genus Cynips. in: Canad. Ento-
mologist. Vol. 5. 1873. p. 91 —94. — Entomologist. Vol.6. 1872—3. p.448—452. — Abstr.
in: Trans. Ent. Soe. London. 1873. Proe. f. 1873. p. XV—XVI — Amer. Naturalist. Vol. 8.
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3. Perty, Maxim., Über Parthenogenesis im Thierreiche. in: Mitth. d. naturf. Ges. Bern. (1873.)
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(Referirender Vortrag.)
'3. Riley, V., Controlling sex in Butterflies. in: Amer. Naturalist. Vol. 7. 1873. p. 513—521.
(p. 519 werden Bassett’s Beobachtungen über Generationswechsel bei Cynipiden eitirt.)
3. Siebold, €. Th. v., Nuove osservazioni sulla partenogenesi del Bombyx mori Lin. in: Bull.
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. Balbiani, G., Sur lexistenee d’une generation sexude hypogee chez le Phylloxera vastatrix
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(Exceptionelle Thelytokie bei dieser Psychide.)
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(Neuroterus numismatis. — Spathegaster vesicatrix.)
1877—79. Weismann, Aug., Beiträge zur Naturgeschichte der Daphniden. Th. H—VN. (Mit 12
Taf.) in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XXVII. Hft.1u.2. 1877. p. 93—254; Bd. XXX. Suppl.
Hft. 1. 1878. p.123—164; Bd. XXXIN. Hft.1 u.2. 1879. p.55—264. — Auch separ. (mit
obiger Abh. (1876) als Th. I zusammen): Leipzig, Engelmann, 1876—79. 8. (XVI, 486 S.)
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thenogenesis einer Blattwespe. [Poeecilosoma pulveratum.] Auszug. in: Entom. Nachricht.
4. Jhrg. 1878. p. 188.
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Suisse romande. 1. Annee. 1879. p. 38—59.
(Gegen die Dzierzon’sche Theorie.)
1878. Huxley, Thomas H., Grundzüge der Anatomie der wirbellosen Thiere. Autorisirte deutsche
Ausgabe von J. W. Spengel. Mit 179 Holzsechn. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1878. 8.
(XIV, 618 S.)
(Wünscht den Ausdruck Parthenogenesis beschränkt auf die Fälle, wo das sich fortpflanzende Thier
ein vollkommenes Weibchen im Gegensatz zu solchen mit unvollkommenen Geschlechtsorganen ist. p. 392.)
1878. Perez, J., M&moire sur la ponte de l’abeille reine et la theorie de Dzierzon. in: Ann. Se.
nat. 6. Ser. Zool. T.7. 1878. art.18. (22p.) — Auch separ.: Paris, impr. Martinet, 1879.
8. (22 p.) — Observations sur la parthenogenese de l’abeille-reine, infirmant la theorie de
Dzierzon. in: Act. Soc. Linn. de Bordeaux. T. 32. (4. Ser. T. 2.) 1878. p. LXV. — On the
oviposition of the Queen-Bee and Dzierzon’s Theory. in: Ann. Mag. Nat. Hist. 5. Ser. Vol. 2.
1378. p. 423— 429.
1878.
1878.
1879.
1879.
1879.
1879.
1879.
1880.
1880.
1880.
— Ma —
Perez, J., Sur la ponte de Tabeille reine et la theorie de Dzierzon. in: Compt. Rend.
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la Suisse romande. 1. Annde. 1879. p. 36—37. — Bull. Soe. d’apieult. de la Gironde. 2. Annee.
1578. p. 171—188. — Auch separ.: Bordeaux, impr. typogr. de J. Durand, 1878. 8. (20 p.)
(Gegen Girard.)
Sanson, A., Note sur la parthenogenese chez les abeilles. in: Ann. Se. nat. 6. Ser. Zool.
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(Möglichenfalls Parthenogenesis bei Clepsine.)
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Grobben, C., Die Entwiekelungsgeschichte der Moina reetirostris. Zugleich ein Beitrag
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(Darin: Theoretische Betrachtungen 3 u. 4. p. 44 — 49. — Die Entstehung der Cerearien wird aus parthe-
nogenetisch sich entwickelnden Eiern abgeleitet.)
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— La theorie de Dzierzon in: Bull. Soc. d’apieult. de la Gironde. 3. Annde. 1879. p. 92—99;
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Cynipides par le Dr. H. Adler. Traduit et annote par J. Liehtenstein, suivie de la
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J. B. Bailliere et fils, 1881. 8. (141 p., avee 5 Pl.) — Extr. in: Rev. se. nat. Montpellier.
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(Eriocampa ovata, Poecilosoma pulveratum, Nematus pavidus, Taxonus glabratus.)
1881. Fleteher, J. E., On Parthenogennsis in Tenthredinidae. in: Entomologist's Monthl. Mag.
Vol.18. 1880—81. p. 180; Vol. 18. 1881—82. p. 127. — Parthenogenesis bei Tenthredinidae.
[Auszug.] in: Entom. Nachricht. 8.Jhg. 1882. p. 24.
(Hemichroa rufa — thelytok; Croesus varius — thelytok; Nematus salieis — arrenotok.)
1882.
1882.
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1883.
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(Aus „Handbuch der Physiologie“, herausgegeben von L. Hermann. 6. Bd. Il. Theil. Leipzig, Vogel, 1881.)
. Osborne, J. A., Further Notes on Parthenogenesis in Coleoptera. in: Entomologist's Monthl.
Mag. Vol. 18. 1881—2. p. 128S—129. — Fernere Mittheilungen über Parthenogenesis bei
8 I 5 8
Coleopteren. [Auszug.) in: Entomol. Nachrieht. 8. Jhg. 1882. p. 23—24.
. Stein, Rich. v., Tenthredmologische Studien. I. Die Parthenogenesis von Hylotoma rosal[e] L.
in: Entom. Nachricht. 7. Jhg. 1881. p. 288 — 294.
. Ulivi, G., Nuove nozioni di fisiologia apistiea ossia gli alveoli delle api e i loro effetti. 2° ediz.
Forli, 18851. — Auszug. in: Entom. Nachrieht. 11 Jhg. 1885. p. 107.
. Berlese, A., Il Polimorfismo e la Partenogenesi di aleuni Acari. in: Bull. Soe. Ent. Ital.
Anno 13. 1882. p. 290—292; Anno 14. 1882. p. 8Ss—140. — Polymorphisme et partheno-
genese de quelques Acariens. (Gamasides.) (Avee 1 Pl.) in: Arch. ital. de Biol. T.2. 1832.
p. 108— 130. — Polymorphism and Parthenogenesis in Acari. Abstr. in: Journ. Roy. Mier.
Soc. 2.Ser. Vol.3. 1882. p. 209—210.
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Sirex a. Cynips Linne.) Vol. 1. London, printed for the Ray Society, 1882. 8. (VII,
340 p., with 21 Pl.)
(Darin [p. 25— 30] Parthenogenesis mit ausschliesslich weiblicher Nachkommenschaft ist für die Blatt-
wespen vortheilhafter als wenn auch Männchen erzeugt würden.)
2. Grobben, Carl, Doliolum und sein Generationswechsel nebst Bemerkungen über den Gene-
rationswechsel der Acalephen, Cestoden und Trematoden. (Mit 5 Taf. u. 2 Holzsch.) in:
Arb. a. d. Zool. Inst. Wien u. Triest. T.IV. Hft.2. 1882. (98 p.)
(‘Der sog. Generationswechsel der Trematoden’ (p. 93—95.): Heterogonie mit parthenogenesirender
Zwischengeneration.)
. Jobert, Recherehes pour servir A V’histoire de la generation chez les Inseetes. in: Compt.
Rend. T.93. 1882. p.975—977. — Development of Adoxus vitis. Abstr. in: Journ. Roy.
Mier. Soe. 2. Ser. Vol.2 1882. p.39.
. Osborne, J. A., On some points in the Eeonomy of Zaraea faseiata. in: Entomologist’s
Monthl. Mag. Vol.19. 1882—3. p. 97—100.
(Parthenogenesis bei der genannten Art.)
Pflüger, E., Über die das Geschlecht bestimmenden Ursachen und die Geschleehtsverhält-
nisse der Frösche. in: Arch. f. d. ges. Phys. 29. Bd. 1882. p. 13—40.
(Auch die Fortpflanzung der Bienen berührt.)
Rolph, W.H., Biologische Probleme zugleich als Versuch einer rationellen Ethik. Leipzig,
Engelmann, 1882. 8. (VI, 174 8.)
Sograff, N., Zur Embryologie der Chilopoden. Vorl. Mitth. in: Zool. Anzeiger. 5. Jhg. 1582.
p: 582—585.
(Für Geophilus proximus wird eine Parthenogenesis angenommen, weil drei daraufhin untersuchte
Weibchen ein leeres recept. seminis hatten.)
Beneden, Ed. van, Reecherehes sur la maturation de l’euf, la fecondation et la division
eellulaire. (Avee 14 Pl.) Gand et Leipzig, Clemm; Paris, Masson; (Leipzig, Engelmann),
1883. 8. (442 p.)
Campbell, F. Maule, On a probabe Case of Parthenogenesis in the House - Spider (Tege-
naria Guyoniüi). in: Journ. Linn. Soe. London. Zool. Vol.16. 1883. p. 536 —539.
Düsing, Karl, Die Factoren, welehe die Sexualität entscheiden. Diss. Philos. Faeult. Jena.
Jena, Gustav Fischer, 1383. 8. (IV, 37 S.)
(Thelytokie wird bedingt durch Nahrungsüberfluss.)
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 58
1883.
1883.
1883.
1883.
1883.
1883.
——- Me
Fleteher, J. E., Notes on Tenthredinidae. in: Entomologist’s Monthl. Mag. Vol. 19. 1882-3.
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(Nematus melanocephalus, nicht salieis, wie 1581 angegeben ist.)
Henking, H., Beiträge zur Anatomie, Entwicklungsgeschiehte und Biologie von Trombidium
fuliginosum Herm. (Mit 3 Taf.) in: Ztschr. f. wiss. Zool. Bd. XXXVI. Hft. 4. 1833.
p- 553— 563. — Abstr. in: Journ. Roy. Mier. Soe. 2.Ser. Vol.3. 1883. p.110—211.
(Parthenogenesis vermuthet, weil einige Weibchen 4—6 Wochen, nachdem sie sämmtliche Eiervorräte
abgelegt hatten, nochmals Eier absetzten, während das receptaculum seminis leer befunden wurde.)
3. Joliet, Lucien, Monographies des Melieertes. in: Arch. Zool. experim. 2.Ser. T.1. 18832.
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(Parthenogenesis, aber ohne Einfluss auf Winter- oder Sommereier.)
Korotneff, A., Knospung der Anchinia. in: Zool. Anzeiger. 6. Jhg. 1883. p. 483 — 487. —
Protok. d. Sitz. d. zool.-anthropol. Seet. d. Naturforscher-Versammlung, Odessa.
(Sprieht gewisse grosse Zellen als parthenogenetisch sich entwickelnde Eier an.)
3. Lubbock, John, Ameisen, Bienen u. Wespen. Beobachtungen über die Lebensweise der
geselligen Hymenopteren. Mit 31 Holzseh. u. 5 lith. Taf. Autorisirte Ausgabe. Leipzig,
Brockhaus, 1883. 8. (Internat. wiss. Bibl. LVII. Bd.)
Osborne, J. A., Some further observations on the Parthenogenesis of Zaraea fasejata, and
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Mag. Vol.20. 1853—4. p. 145—148. — A Postseript eoneerning Parthenogenesis in Zaraea
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Stein, Rich. v., Tenthredinologische Studien. 2. Zur Kenntniss der Parthenogenesis der
Blattwespen. in: Entom. Nachrichten. 8. Jhg. 1883. p. 1—8.
(Lophyrus similis Hrtg. — Larven starben.)
Ulianin. B., Einige Worte über Fortpflanzung des Doliolum und der Anchinia. in: Zool.
Anzeiger. 6. Jhg. 1883. p. 585 — 5191.
(Erklärt die von Korotneff als parthenogenetisch sich entwickelnden Eier für Blutkörperchen.)
1883—84. Reuter, OÖ. M.. De nyaste upptäekterna inom insekternas utvecklingshistoria, in: Öfvers
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(Referat über die neuesten Entdeekungen auf dem Gebiete der Fortpflanzungsgeschichte von Phytoph-
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Boiteau, P., Sur les generations parthenogendsiques du Phylloxera. in: Compt. Rend.
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Düsing, Carl, Die Regulierung des Geschleehtsverhältnisses bei der Vermehreng der
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(Darin besondess das Kapitel: Thelytokie. p. 50 — 798.)
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(Verwahrt sich gegen den Vorwurf Uljanins, Blutkörperchen mit Eizellen verwechselt zu haben.)
. Plate, L., Zur Kenntnis der Rotatorien. (Vorl. Mitth.) in: Zool. Anzeiger. 7. Jhg. 1884.
p- 573— 576.
(Befruchtung kommt bei Hydatina senta überhaupt nicht zu Stande; jedenfalls aber hat die Befruchtung
keinen bestimmten Einfluss auf die Art der Eier.) j
1885.
— 447° —
. Schoch, Gust., Ephemerella ignita Poda, eine pädogenetische Eintagsfliege. in: Mitth. d.
Sehweiz. entom. Ges. 7. Bd. (1887.) Hft.2. 1884. p. 48s—50.
(Eine Nymphe der genannten Art entleerte Eier unter dem Drucke eines Deckgläschens.)
. Siebold, €. Th. v., Vorläufige Mittheilung über Parthenogenese bei Tenthrediniden und bei
einer Ichneumonidenspeeies |Paniseus glaueopterus]. in: Entom. Naehrieht. 10. Jhg. 1884.
p- 93 — 93.
(Es werden 19 Arten genannt, bei denen P. mit verschiedenem Geschlechte der Nachkommen consta-
tirt wurde.)
Beijerinek, M. W., Die Galle von Ceeidomyia poae an Poa nemoralis. Entstehung normaler
Wurzeln in Folge der Wirkung eines Gallenthieres. in: Botan. Ztg. 43. Jhg. 1885. p. 305
— 315; 321—332. .
(Wegen Seltenheit der Männchen wird Parthenogenesis vermuthet.)
. Cameron, P., On Parthenogenesis in Tenthredinidae. in: Entomologist’s Monthl. Mag. Vol. 21.
1884—5. p. 103 — 104.
(Nematus appendiculatus, ruficornis, compressicornis, eadderensis, conductus; Croesus septentrionalis,
varius; Cladius padi, rufipes; Abia nitens; Trichiosoma lueorum; Hylotoma ustulata; Lophyrus pini.)
. Fahre, J. H., Etudes sur la repartition des sexes chez les Hymenopteres. in: Ann. Se. nat.
6. Ser. Zool. T.17. 1885. art.9. (53 p.)
(Misstrauen gegen die Siebold’sche Lehre von der Parthenogenesis bei Bienen. ‘Venant de l’Allemagne
cette theorie ne peut que m’inspirer profonde möfianee.” — efr. Bertkau, Phil., Sitzber. d. niederrhein.
Ges. f. Natur- u. Heilkunde. 1866. p. 134.)
. Göldi, Emil A., Aphorismen, neue Resultate und Conjeeturen zur Frage nach den Fort-
pflanzungsverhältnissen der Phytophtiren [sie!] enthaltend. Sehaffhausen, Buchdruckerei
von Friedrich Rothermel, 1885. 8. (9 S.)
(Künstliche Zucht geflügelter Aphiden durch Nahrungsentziehung.)
. Hoffer, Ed., Biologisches über Aphomia eolonella L. in: Kosmos. 16. Bd. 1885. p. 109—113.
(Aus unbefruchteten Eiern entwickelten sich Raupen )
. Keller, C., Beobachtungen auf dem Gebiete der Forstentomologie. II. Mitth. Über das
Auftreten der Fichtenquirl-Sehildlaus (Lecanium racemosum Ratzb.). in: Ztsehr. Schweiz.-
Forstwesen. 10. Bd. 1885. p. 10—26.
(Trotz dem Vorhandensein der Männchen soll keine Begattung, sondern Parthenogenese stattfinden.)
. Plate, Lud., Beiträge zur Naturgeschiehte der Rotatorien. in: Jenaisehe Ztsehr. 19. Bd.
1885. p. 1—120.
(Die Befruchtung ist bei Hydatina senta überhaupt unwahrscheinlich.)
. Schneider, Ant., Chironomus Grimmii und seine Parthenogenesis. in: Zool. Beiträge
(Schneider). 1.Bd. Hft.3. 1885. p. 301—302.
(Nicht die Puppe, sondern die Imago legt Eier ab, die sich parthenogenetisch entwickeln.)
. Sehwarze, W., Die postembryonale Entwiekelung der Trematoden. (M.1 Taf.) in: Ztschr.
f. wiss. Zool. Bd. XLIH. Hft.1. 1885. p. 41—86.
(Die Erzeugung der Cercarien ist Parthenogenesis.)
. Weismann, Aug., Die Continuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Ver-
erbung. Jena, G. Fischer, 1885. 8. (122 p.) — Auszug. in: Naturforscher (Schumann).
19. Jhg. 1886. p.6—8.
(III. Über das Wesen der Parthenogenese. p- 88 — 122.)
oO
. Adlerz, G., Myrmeeologiska Studier. II. Svenska Myror och deras lefnad sförhällanden.
(Med 7 Tafl.) in: Bih. till Svensk. Vet.-Akad. Handl. Stoekholm. Bd. 11. Nr. 18. 1886. (329 P-)
(Parthenogenesis. — Bei Tomognathus, deren normale Geschlechtsthiere zu fehlen scheinen, wird regel-
mässige Parthenogenesis der Arbeiterinnen angenommen.)
ot
[3
1886.
1356.
1856.
1886.
1887.
1837.
1887.
= A
Aurivillius, Carl W. S., Hatsevertebrater frän nordligaste Tromsö-amt och Vestfinmarken.
(Med 2 Tafl.) in Bihang K. Svensk. Vet.- Akad. Handl. 11.Bd. 1886. No.4. (56 S.)
(Möglichkeit parthenogenetischer Entwicklung bei Notodelphyiden u. Buprorus.)
Filaehou, J.Em., De la parthenogenese. Paris, Pedone-Lauriel, 1886. 12. (73 p.)
(Etudes de philosophie naturelle. 5. Ser. No. 6.)
. Stuhlmann, Franz, Die Reifung des Arthropodeneies nach Beobachtungen an Insecten,
Spinnen, Myriapoden und Peripatus. in: Bericht d. naturf. Ges. Freiburg. 1.Bd. 5. Heft.
1886. p. 101— 228. — Auch separ.: Freiburg i.B., Akad. Verlagsbushhdlg. von J.J. B. Mohr,
1886. 8. (VIII, 128 p.) — Auszug vom Verf. in: Biol. Centralbl. 6. Bd. 1857. p. 397— 402.
— Maturation of the Arthropod Ovum. Abstr. in: Journ. R. Mier. Soc. London. 2. Ser. Vol. 6.
1887. p. 961.
(Bei Musea u. Sphinx kommen ausnahmsweise parthenogenetische Furchungskerne zur Beobachtung.)
Tiehomiroff, A., Die künstliche Parthenogenesis bei Insekten. in: Arch. f. Anat. u. Physiol.
Phys. Abth. Leipzig. 1886. Suppl.-Bd. p. 35 —36.
(Die Eier von Bombyx mori lassen sich durch mechanische Reizung zu parthenogenetischer Entwicklung
antreiben.)
Tiehomiroff, A., Sullo sviluppo delle uova del bombice del gelso. in: Bollet. mens. di
Bachieolt. 1886.
. Weismannn, A., Richtungskörper bei parthenogenetischen Eiern. in: Zool. Anzeiger. 9. Jhg.
1886. p.570— 573. — Polar Globules in the Crustacea. Abstr. by J. S. Kingsley. in:
Amer. Naturalist. Vol.21. 1887. p. 203 — 204.
(Die Ausstossung eines Richtungskörperchens bei den Eiern verschiedener Daphniden beobachtet.)
. Weismann, A., Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Seleetions - Theorie.
Jena, G. Fischer, 1886. 8. (VIII, 128 p.) — Auszug. in: Tagebl. d. 28. Vers. deutscher
Naturforsch. u. Aerzte. 1885. p. 42—56. — On the importance of sexual reproduetion for
the theory of seleetion. Abstr. by H. N. Moseley. in: Nature. Vol.34. 1837. p. 629 —632.
— ‚Journ. R. Mier. Soc. London. 1887. p. 45.
(Darin wird auch die Parthenogenesis berücksichtigt.)
. Will, Fr., Parthenogenesis bei Käfern [Halyzia oeellata|. in: Entom. Nachrieht. 12. Jhg.
1886. p. 200— 201.
(Legte entwickelungstähige Eier, ehe der Käfer ausgefärbt war.)
. Bloehmann, F., Über die Geschleehtsgeneration von Chermes abietis L. in: Biol. Centralbl.
7. Bd. Nr. 14. 1887. p. 417—420. — Auszug. in: Entom. Nachricht. 13. Jhg. 1887. p. 319
— 320. — Transl. in: Ann. Mag. Nat. Hist. 5. Ser. Vol.20. 1887. p. 390—392. — Abstr. in:
Journ. R. Mier. Soe. London. 1887. p. 948.
. Blochmann, F., Über die Riehtungskörper bei Insekteneiern. in: Biol. Centralbl. 7. Jhg.
(1887—88.) 1888. (15. April 1887.) p. 108—111. — Morph. Jahrb. 12. Bd. 1887. p. 544—574.
(Bei parthenogenetischen Eiern nur ein Richtungskörper.) -
. Boveri, Th., Zellen-Studien. in: Jenaische Ztsehr. 21. Bd. 1887. p. 4235—515.
(Das Zurückbleiben eines Richtungskörpers bei parthenögenetischen Eiern wird als Zeichen dafür an-
gesehen, dass dieselben befruchtet werden, indem der zweite Riehtungskörper wieder mit dem
Eikerne verschmelze. p. 495.)
Brischke, €. 6. A., Über Parthenogenesis bei den Blattwespen. in: Schrift d. naturf. Ges.
Danzig. N.F. 6.Bd. 1887. p. 160—172.
Cameron, P., Hymenopterologieal Notes. in: Entomologist's Monthl. Mag. Vol. 23. 1886 —7.
p- 193—195.
(Eriocampa annulipes.)
Dreyfus, L., [Uber Chermes.] in: Tagebl. d. 60. Vers. deutsch. Naturf. u. Arzte. 1887. p. 253.
1887
1887
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1888.
1888.
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1888.
1888.
> 449
. Karsch, Ferd., Über Generationswechsel bei Inseeten. Aus einem Vortrage. in: Entom.
Nachricht. 15. Jhg. 1887. p. 273— 279.
(Behandelt Heterogonie bei Blattläusen u. Blattwespen.)
. Keller, ©., Die Wirkung des Nahrungsentzuges auf Phylloxera vastatrix. in: Zool. An-
zeiger. 10. Jhg. 1887. p. 583—588.
(Bewirkt Aufhören der Parthenogenesis )
. Moniez, R., Les mäles du Lecanium hesperidum et la parth@nogenese. in: Compt. Rend.
T.104. 1887. p. 440—451.
. Tichomiroff, A., [Neue Ergebnisse der Grainuntersuchung.| in: |[Selsskoe ehosaistwo i
Läsobodstwo.| CLIV. 1837. No.1.
(Russisch geschrieben. — Aus parthenogenetischen Eiern des Seidenspinners Räupchen erzogen.)
. Vängel, E., |Parthenogenesis bei Sehmetterlingen.] in: Rovartani Lapok. III. 1887. p.56—01.
(efr. Berkau, Bericht üb. d. wiss. Leistungen im Geb. d. Entom. i. J. 1887. Berlin, Nicolai, 1888.
p- 22. — Psyche Ecksteini, Zelleri; Oenogyna parasita; Bombyx rubi; Saturnia pyri; Spilosoma men-
thastri.)
. Weismann, A., Über die Zahl der Riehtungskörper und ihre Bedeutung für die Vererbung.
Jena, G. Fischer, 1887. 8. (VIII, 75 S.) — On the signifiecation of the polar bodies. in:
Nature. Vol. 36. 1887. p. 607—609. — Theory of Polar Bodies. Abstr. by G. Herb. Fowler.
ibid. Vol. 37. 1887. p.134—136. — Polar Bodies and Theory of Heredity. Abstr. in:
Journ. R. Mier. Soe. London. 1837. p. 934— 935.
Weismann, A. u. ©. Ischikawa, Über die Bildung des Riehtungskörpers bei thierischen
Eiern. in: Bericht d. naturf. Ges. Freiburg. 3. Bd. 1.Hft. 1857. p. 1—44.
(Bei parthenogenetischen Eiern ein, bei befruchtungsbedürftigen Eiern zwei Richtungskörper.)
Blochmann, F., Bemerkungen zu den Publikationen über die Riehtungskörper bei partheno-
genetisch sich entwickelnden Eiern. in: Morph. Jahrb. 13. Bd. 4. Hft. 1388. p. 654—663.
(Prioritäts-Ansprüche gegenüber Weismann.)
. Bock, H. v., Parthenogenesis bei Ocneria dispar. in: Entom. Nachrieht. 14. Jhg. 1888.
p- 56—57. — Berlin. Entom. Ztsehr. 31. Bd. 1887. p. XXX VI.
. Cameron: s. 18%.
. Dreyfus, L., Uber neue Beobachtungen bei den Gattungen Chermes L. u. Phylloxera Boyer
de Fonse. in: Tagebl. d. 61. Vers. deutsch. Naturf. u. Ärzte. 1888. (1889,) p- 55 —02.
. Grobben, €., Über den Entwieklungseyklus von Phylloxera vastatrix. in: Verh. k. k. zool.-
bot. Ges. Wien. 38.Bd. 1888. Sitzber. p.54. — Auszug. in: Biol. Centralbl. 8. Bd. Nr. 13.
1888. p. 413.
(Zuweilen erfolgt die Eortpflanzung mehrere Jahre hindurch ausschliesslich durch Parthenogenese der
Wurzelgeneration.)
Karsten, H., Parthenogenesis u. Generationswechsel im Thier- u. Pflanzenreiche. in: Natur
(Müller.) N.F. 14. Bd. 1888. p. 1—3; 27— 29; 37—39; 52 — 54; 61—63; 75—18. — Dass.
auch separ.: Berlin, Friedländer & Sohn, 1888. 8. (53 S.)
Massa, Camillo, Parto verginale nella Sphinx atropos. in: Bull. Soe. Ent. Ital. Anno 20.
1888. p. 64—65.
(Die Entwicklung parth. Eier bis zur Entstehung von Räupchen verfolgt.)
Platner, Gustav, Die erste Entwieklung befruchteter und parthenogenetischer Eier von
Liparis dispar. in: Biol. Centralbl. 8. Bd. (18883—89.) 1889. No. 17. (1. Nov. 1888.) p. 521—524.
(Auch bei den parth. Eiern werden zwei Richtungskörper gebildet.)
Tiehomiroff, A., Nochmals über Parthenogenesis bei Bombyx mori. in: Zool. Anzeiger.
11. Jhg. 1838. p. 342— 344.
1889.
1889.
1889.
—— 450
. Verson, E., Uber Parthenogenesis bei Bombyx mori. in: Zool. Anzeiger. 11. Jhg. 1888.
p-. 263— 264.
8. Weismann, A., Über das Zahlengesetz der Riehtungskörper und seine Entdeekung. in:
Morph. Jahrb. 14. Bd. 3. Hft. 1888. p. 490—506.
(Gegen Blochmann’s Prioritäts - Ansprüche )
. Weismann, A. u. CO. Ishikawa, Weitere Untersuehungen zum Zahlengesetz der Richt-
ungskörper. in: Zool. Jahrb. (Spengel.) Anat. Abth. 3.Bd. Hft.3. 1888. p. 575—610,
. Blochmann, F., Über die regelmässigen Wanderungen der Blattläuse speziell über den
Generationseyklus von Chermes abietis L. in: Biol. Centralbl. 9. Bd. Nr.9. (1. Juli.) 1889.
p- 271— 284.
9%. Bloehmann, F., Über die Zahl der Riehtungskörper bei befruchteten und unbefruchteten
Bieneneiern. in: Verh. d. nat.-med. Ver. Heidelberg. N. F. 4. Bd. 2. Hft. 1889. p. 239—241.
— Morph. Jahrb. 15.Bd. 1. Hft. 1889. p. s5>—96.
. Cholodovsky, N., Noch Einiges zur Biologie der Gattung Chermes L. in: Zool. Anzeiger.
12. Jhg. 1889. p. 60—64. — Auszug. in: Entom. Nachrieht. 15. Jhg. 1889. p. 99—100.
. Cholodovsky, N., Weiteres zur Kenntnis der Chermes-Arten. in: Zool. Anzeiger. 12. Jhg.
1889. p. 218—223.
. Cholodovsky, N., Neue Mittheilungen zur Lebensgeschichte der Gattung Chermes. in:
Zool. Anzeiger. 12. Jhg. 1889. p. 387—391.
9. Dreyfus, Ludwig, Zu Prof. Blochmann’s Aufsatz „Uber die regelmässigen Wanderungen der
Blattläuse, speziell über den Generationszyklus von Chermes abietis“. in: Biol. Centralbl.
9.Bd. Nr.12. (15. Aug.) 1889. p. 363— 370.
. Dreyfus, Ludwig, Über Phylloxerinen. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann, 1889.
gr.8. (Tit., 2 BL, 83 8.)
. Dreyfus, Ludwig, Neue Beobachtungen bei den Gattungen Chermes L. und Phylloxera
Boyer de Fonse. in: Zool. Anzeiger. 12. Jhg. 1889. p. 65— 73; 91—99. — Nachtrag. p. 222.
— Abstr. in: Journ. R. Mier. Soe. London. 1889. p. 379— 380.
Girard, A., Sur la signifieation des globules polaires. in: Compt. Rend et M&m. Soe. d. Biol.
Paris. 9. Ser. T.1. 1889. p.116—121. — Bull. seientif. de la France et de la Belgique.
(Girard.) 3. Ser. 2. Anne. 1889. p. 95 — 103.
. Gorbatscehew, K. A., [Giebt es Parthenogenesis bei Bombyx mori?] in: [Arb. d. Kaukasischen
Seidenbau-Stat.| I. Bd. 1889.
(Russisch geschrieben.)
. Lendl, Adolph, Hypothese über die Entstehung der Soma- u. Propagationszellen. Berlin,
Friedländer & Sohn, 1889. gr.8. (78 S. mit 16 Fig.)
(Darin 9 — — Parthenogenesis.)
. Maupas, E., Le rejeunissement karyogamique chez les Cilies. in: Arch. Zool. experim.
2. Ser. T.7. 1889. p. 148—517.
(Die Parthenogenesis beweist die Unabhängigkeit der Fortpflanzung von der Befruchtung.)
Maupas, E., Sur la multiplieation agame de quelques Metazoaires inferieurs. in: Compt.
Rend. T.109. 1839. p. 270— 272.
(Bei Callidina vaga wurden während 29, bei Chaetogaster diastrophus während 45 Generationen keine
geschlechtliche beobachtet )
Tesmer, Gottlieb, Zur Geschichte der Lehre von den Fortpflanzungsarten im Tierreiche.
Inaug.-Diss. Philos. Faeult. Leipzig. Leipzig, Druck von Gressner & Schramm, 1839. 8.
(48 8.)
(Parthenogenesis: p. 34— 44.)
1889.
1889.
1889.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
1890.
451
Tiehomiroff, A., Zur Biologie des Befruchtungsprozesses. in: VIII. Kongress russisch.
Naturf. u. Ärzte. 3. Sitz. 31. Dee. 1889. (12. Jan. 1890.) Auszug in: Biol. Centralbl. 10. Bd.
Nr. 15 u.14. (15. Aug. 1890.) p. 424—423.
(Von in Wasser von 45° eingetauchten unbefruchteten Eiern des Bombyx mori entwickelten sich 65°/,.)
Verson, E., Del grado di sviluppo che sogliono raggiungere le uova non feeondate del
filugello. in: Bull. Soe. Ent. Ital. Anno 21. 1889. p.118—123. — Bull. mens. di bachieolt.
Weismann, A. u. €. Ischikawa, Über die Paracopulation im Daphnidenei, sowie über
Reifung u. Befruchtung desselben. (M. 7 Taf.) in: Zool. Jahrb. (Spengel.) Anat. Abth
4. Bd. (1891.) 1. Hft. 1889. p. 155 —196.
(IV. Zusammenfassung u. Beurtheilung der Thatsachen. p. 1850—18%. — Das Vorkommen von zwei
Riehtungskörpern bei facultativ parth. Eiern verstösst nieht gegen Weismann’s Gesetz.)
Boveri, Th., Zellen-Studien. Über das Verhalten der chromatischen Kernsubstanz bei der
Bildung der Richtungskörper und bei der Befruchtung. in: Jenaische Ztsehr. 24. Bd. (N. F.
17. Bd.) 1890. 2. u. 3. Hft. p.314— 401.
IV. Die chromatische Substanz bei der Parthenogenese u. die Bedeutung der Richtungskörper. p. 378—394.
(Die Zahl der Richtungskörper beträgt 1 bei den stets, 2 bei den nur facultativ parth. Eiern.)
Cameron, P., On Parthenogenesis in the Hymenoptera. in: Proc. a. Trans. Nat. Hist. Society.
Glasgow. N.Ser. Vol.II. Part I. (1887—88.) 1890. (Read 24t" April, 1888.) p. 194—201.
(Drohnen der Biene können auch aus befruchteten Eiern hervorgehen u. tragen dann Merkmale des
Vaters an sich.)
Daday, E.v., Ein interessanter Fall der Heterogenesis bei den Räderthieren. in: Math.-
naturwiss. Berichte aus Ungarn. 7. Bd. 1890. p. 140 —156.
(Asplanchna Sieboldii.)
Hamann, Otto, Monographie der Acanthocephalen. (Eehinorhynehen). Ihre Entwieklungs-
geschichte, Histogenie und Anatomie nebst Beiträgen zur Systematik u. Biolvgie. I. Theil.
in: Jenaische Ztsehr. 25. Bd. 1890. p. 113—231.
(Eehinorhynehus celavaeceps eine paedogenetische Form.)
Hertwig, Oscar, Vergleich der Ei- u. Samenbildung bei Nematoden. Eine Grundlage für
celluläre Streitfragen. in: Arch. f. mikr. Anat. 36. Bd. 1890. p. 1—138.
(Celluläre Streitfragen. Die Ahnenplasmatheorie von Weismann, die Bedeutung des zweiten Richtungs-
körpers u. die Parthenogenese. p. 109—114.)
Hertwig, Oscar, Experimentelle Studien am tierischen Ei vor, während und nach der Be-
fruchtung. (M. 3 Taf.) in: Jenaische Ztsehr. 24. Bd. (N. F. 17. Bd.) 2.u.3. Hft. 1890.
p- 268—313.
4. Kapitel: Parthenogenese bei Seesternen. p. 304—310.
(Bestätigung der Greefl’s Befunde. — Austritt nur eines Richtungskörpers bei den parthenogene-
tischen Eiern.)
Lameere, Aug., Ä propos de la maturation de loeuf parthenogendtique. These eouronnee
au coneours de Venseignement superieur pour 1888—1889. Bruxelles. 1890.
Lankester, E. Ray, The Advancement of Seienee. Oceasional Essays and Adresses. London,
1890. 8. (VIII, 387 p.)
Darin: 7. Parthenogenesis. 8. A Theory of Heredity.
Maupas, E., Sur la multiplieation et la feeondation de Hydatina senta Ehrb. in: Compt.
Rend. T.111. 1890. p.310—312.
(Es wurden einmal 45, ein andermal 33 agame Generationen gezüchtet. — Die Wintereier sind be-
fruchtet.)
Verson, E., Zur Parthenogenesis beim Seidenspinner. in: Zool. Anzeiger. 13. Jhg. 1890.
p- 44—45.
(Trotz Anwendung von Eleectrieität war keine P. zu erzielen.)
1890.
1891.
1891
1892.
1892.
1859.
— 452 ——
Wasmann, E., Über die verschiedenen Zwischenformen von Weibehen und Arbeiterinnen
bei Ameisen. in: Stettin. Entom. Ztg. 51. Jhg. 1890. p. 300—3)9.
Shmuidsinowitseh, W. J., [Zur Frage über Parthenogenesis beim Seidenwurm.] in: [Arb.
d. Kaukasischen Seidenbau-Station.| II. Bd. 1891.
(Russisch geschrieben.)
. Tiehomiroff, A., [Grundzüge des praktischen Seidenbaues. Moskau, 1891.
(Russisch geschrieben. — p. 125—12$: Parthenogenesis bei Bombyx mori.)
. Wasmann, E., Parthenogenesis bei Ameisen durch künstliche Temperaturverhältnisse. in:
Biol. Centralbl. 11.Bd. Nr.1. (1. Febr.) 1891. p. 21—23.
Weismann, Aug., Amphimixis oder die Vermischung der Individuen. Mit Abbild. im Text.
Jena, Gustav Fischer, 1891. Lex. 8. (VI, 176 S.)
Chun, Carl, Die Dissogonie, eine neue Form der geschlechtlichen Zeugung. (M. 5 Taf.) in:
Festschrift f. Leuekart. Leipzig, Engelmann, 1892. p. 77—108.
Hamann, Otto, Entwieklungslehre und Darwinismus. Eine kritische Darstellung der moder-
nen Entwieklungslehre ‚und ihrer Erklärungsversuche mit besonderer Berücksiehtigung der
Stellung des Menschen in der Natur. Mit 16 Abbildgn. Jena, Costenoble, 1892. 8. (XIX,
304 8.)
(Die Paedogenese oder Zeugung im unentwickelten Zustande, ete. p. 162—171.)
ANHANG.
hauptsächlichste Litteratur über die Parthenogenesis bei Pflanzen.
. Braun, Alex., Über Parthenogenesis bei Pflanzen. (M. 1 Taf.) in: Abh. Berlin. Akad. d.
Wiss. a. d. J. 1856. (1857.) Phys. Abth. p. 111—376.
). Naudin, Ch., Observations relatives ä la formation des graines sans le secours du pollen.
in: Compt. Rend. T.43. 1856. p. 538.
. |Klotzseh], Die sogenannte Parthenogenesis von Coelobogyne ilieifolia. in: Bonplandia.
1857. p. 209.
. Radlkofer, Ludwig, Der Befruchtungsprocess im Pflanzenreiche und sein Verhältniss zu
dem im Thierreiche. Leipzig, Engelmann, 1857. 8. (X, 47 8.)
7. Radlkofer, Ludwig, Über wahre Parthenogenesis bei Pflanzen. in: Ztsehr. f. wiss. Zool.
Bd. VIII. 4. Hft. 1857. p. 458—465.
. Regel, E., Zur Parthenogenesis. in: Bot. Ztg. 16. Jhg. 1858. p. 305—308.
(Widerlegung der Parthenogenesis bei Spinacia u. Mercurialis.)
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(Widerlegung der Parthenogenesis bei Cannabis.)
1859.
1860.
1860.
1860.
1873.
453 =
Regel, E., Die Parthenogenesis im Pflanzenreiche. Eine Zusammenstellung der wiehtigsten
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Bary, Anton de, Zu Pringsheim’s neuen Beobachtungen über den Befruchtungsaet der
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Strasburger, Ed., Neue Untersuchungen über den Befruchtungsvorgang bei den Phanero-
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Karsten, H., Parthenogenesis u. Generationswechsel im Thier- u. Pflanzenreiehe. in: Natur
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auch separ.: Berlin, Friedländer & Sohn, 1888. 8. (53 S.)
Abhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 59
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On the
Systematie Position and Relationships
of the
Temnocephaleae.
William A. Hasweil,
Professor of the University Sydney.
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When first discovered Tewmnocephala was regarded by Gay as a Hirudinean,
and the same view was adopted by Blanchard,') and by Moquin-Tandon.?) Philippi?)
regarded its nearest relative as being Malacobdel/a. Semper‘) was the first to set it
down as an ectoparasitic Trematode, and in this he was followed by myself’) and
by Weber.‘) I proposed that it should be regarded as constituting a distinet family
of the Monogenaea, more nearly related to the Zrzszomidae than to any of the others.
In this conelusion Weber fully concurred.
In 1888 Monticelli published a general account of the T'rrematodes unter the
title “Saggio di una morfologia dei Trematodi” in which he assents to my previously
expressed view of the relationships of Zemnocephala, and proposes to divide the Mono-
genetic Trematodes into three sections according to the number and disposition of the
suckers, viz. the Tristomeae, the Teemnocephaleae and the Polystomeae.
M. Braun (Bronn’s “Klassen u. Ordnungen des Thierreichs”, ‘Vermes’) also regards
the Temnocephaleae as a distinet family, but does not recognise any close relationship
with the Tristomidae. To quote his words (p. 522) “Demnach betrachte ich Termno-
cephala nicht — wie Monticelli — als einen Seitenzweig der Tristomeen, sondern als
einen selbständigen, früh abgezweigten Ast, der mit den heute lebenden monogenetischen
Trematoden weniger nahe Beziehungen besitzt, als diese unter einander.” But Braun
is not fully satisfied that the position of Temmocephala as a 'Trematode is completely
established “Temnocephala bietet allerdings eine Reihe von Besonderheiten dar. und
die Frage ist trotz der Arbeiten von Haswell und Weber gerechtfertigt, ob Temno-
cephala ein Trematode ist” (p. 520). Further on (p. 521), after quoting von Graff’s
definition of the Turbellaria he remarks “Wenn man von der letzten Bemerkung: über
die Lebensweise, die keinen systematischen Werth besitzt, absieht, so bleibt als ein-
ziger Unterschied zwischen Turbellarien und Trematoden das für erstere characteristische
Flimmerepithel der Haut mit Stäbchen oder Nesselorganen bestehen.”
I) Gay’s Zoology of Chile, II. p. 51.
2) Monographie des Hirudines, p. 300.
3) Arch. f. Naturgeschichte, XXXVI. 1870, p. 35.
4) Zeitschr. f wiss. Zoologie. XXIL, 1872, p. 307,
5) Quart. Journ. Miero. Sei. Vol. XXVII. (1888).
6) Zool. Ergebnisse einer Reise ete. p. 25. (1889).
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My renewed study of Temmocephala haying resulted in the discovery of eilia
on the surface of certain of the species, and having led to the conelusion that “Stäb-
chen” exaetly, like those of Rhabdocoele Turbellarians are present in abundance, the
line of demarcation seems still harder to draw.
The integument of ZTemmnocephala is quite exceptional if we are to regard that
genus as an ectoparasitic Trematode. A complete distinet epithelial layer does not
oceur in other genera, though in some (MViischia and Zpibdella) as observed by Braun,')
such a layer is distinguishable on some parts of the surface — but without cutiele
or basement-membrane. In the others the outermost layer of the body seems rather
to correspond to the basement-membrane integument of Temnocephala than to a modified
epidermis; it is homogeneous, does not readily become stained, and seems to be of
a resistent character. On the other hand in this regard 7emnocephala approaches
very near to the Rhabdocoele Turbellaria; the epidermal layer is of similar character
in the two groups, and the presence of cilia in two of the species of Temmocephala
makes the resemblanee very elose. The basement-membrane is absent in the Ahaö-
docoela, but it would not appear to be present in all the species of Temmocephala (see
Weber’s account of 7. Sernperi quoted above). Tactile cones similar to those of the
integument of Zermmocephala have only been found elsewhere, so far as I am aware,
in a Trematode (Sphyranura’); but the delicate motionless hairs that oceur among the
vibratil eilia in the Rhabdocoeles are of a similar nature.
A striking point of resemblance between the Temnocephaleae and the Arkahdo-
coela is the presence in both of the system of unicellular integumentary glands for-
ming rhabdites (Stäbchen). "The arrangement of their duets in the former as they
run forwards in the anterior region of the body into broad strands or “Stäbehen-
strassen” preeisely eorresponds to what we observe in many Rhabdocoeles; and nothing
of the kind appears to occur among the "T’rematodes.
The structure of the pharynx is simular to what obtains in some of the Rhab-
doeoeles such as MHesostomum; but, on the other hand, it appears to be equally near
to that of the corresponding organ in Polystomum, Sphyranura, and certain other
Monogenaca. 'he intestine and its epithelium closely resemble those of a Rhabdo-
coele — the only difference of importance being the presence of construetions in most
species of Zemnocephala.
!) Tom. eit. p. 422.
2) Wright and Macallum, Sphyranura Osleri, a contribution to American Helminthology, Journal
of Morphology, Vol. I. (1887.)
—— 459
The exeretory system is, so far as our knowledge extends, quite peeuliar. It
more nearly resembles that of the eetoparasitic Trematodes than that of the Rhabdo-
eoeles — the eontraetil, pulsating terminal sae being absent in the latter group and
almost universally present in the former.
In its nervous system Temnocephala exhibits one of the highest types of
development among Platyhelminthes, with its comparatively large brain, the rich
development of nerves running forwards, the three pairs of posterior trunks, and the
highly developed subeutaneous nerve-plexus. But in these respects it does not stand
quite alone. In Zrzstomuwm molae as deseribed by Lang') all these features recur,
and, but for the less development of the anterior nerves and certain differences in
the relations of the subeutaneous nerve-plexus (which in Zrzstomum is apparently
equally eontributed to by all three pairs of trunks), there is a very close correspon-
dence between the two. T'hough a subeutaneous nerve-plexus is present in Zrrcladidae
and Polyecladidae, nothing of the kind has been noticed in the Ahabdocoela, and there
would appear never to be more than one pair of nerve-trunks running backwards
from the ganglion in that group. The eyes of ZTemnocephala can be exactly matched
among the Ahabdocoela, and on the other hand, are, in all essential respects, similar
to those of Zrzstomum.
In its reproductive apparatus Zermnocephala appears to me to find closer alliances
among the Rhabdocoeles than among the ectoparasitic Trrematodes: and of the former
group various Vortieidae as deseribed by v. Graff and others approach very near to
it in the general arrangement of the parts, as well as in the special character of
the eirrus. A bursa eopulatrix is absent in Termnocephala, but the muscular “vagina”
of 7. novae-zelandiae, though leading directly to the uterus and oviduct, may represent
it; and the teeth in its interior bear a striking resemblance to those in the bursa
copulatrix of some of the Rhabdocoeles such as Proxenetes Habelhfer.”) But spines or
teeth oceur round the mouth of the opening of the oviduet in Axine, Microcotyle
and others.
The testes resemble the compact type of these glands occeurring among the
Rhabdocoela; but are also nearly approached in form by those of some ectoparasitic
Trematodes, though there are no other members of the latter group that have four.
The ovary has in many Rhabdocoeles the same form and relations and sometimes
!) Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie u. Histologie des Nervensystems der Platyelminthen,
Mittheil. a. d. Zool. Station zu Neapel. II. Bd. p. 28.
!) von Graf, Monographie der Turbellarien. Taf. VIII. fig. 16.
— A) —
internal structure as in Temmnocephala; but the same holds good of Sphyranura and
perhaps also of some other Monogenaea.
Very elose is the resemblance between Zemnocephala and the Rhabdocoela in
the system of accessory glands secreting rounded granules eonneeted with the male
reproductive apparatus. Von Graff’s account of these structures as they occur in the
Rhabdocoeles applies equally well, word for word, to Temmocephala — the only diffe-
rence of consequence being in the much greater length of the duets in the latter
case. The so-called *“prostate-glands” of some Monogenaea are evidently: the same
structures less specially developed.
Stalked eggs similar to those of Zemnocephala oceur among the Rhabdocoeles
— the “stalk” in some of the latter, as in some of the species of the former, not
always serving for attachment. But similar eggs are met with also among the
Monogenaea.
Suffieient data are wanting for a eomparison of the embryological history in
the various groups under discussion. What is known does not seem to tell more in
one direetion than in another. The embryo of Temnocephala undergoes direet deve-
lopment, and beeomes fully formed while still within the egg — the reproductive
apparatus alone remaining undeveloped. "This direct development and absence of
metamorphosis it shares equally with the monogenetic Trematodes and with the Rhab-
docoeles.
On the whole, on reviewing the evidence, I am inelined to think that the
Trematode affınities of Temnocephala preponderate over the 'Turbellarian. It presents
an assemblage of characters which distinguish it very broadly from any individual
member of the former class; but perhaps it has rather more important points of
resemblance in the various features of its structure with, now one, now another family
of Trematodes than with the Rhabdocoeles. 'T’'he large ventral sucker, the exeretory
saes, and the nervous system may be set down as deeidedly Trematode and not
Rhabdoeoele in character. "The preponderanee, however, if it occurs, is only slight,
and I should see little reason for finding fault with anyone who regarded 7emmo-
cephala as an aberrant Rhabdocoele specially modified in accordance with a peculiar
mode of life.
Ueber
Metaphysische Probleme in der Zoologie.
Eine Kritik der Darwin’schen Theorie
von
Dr. N. Creutzburg.
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Obgleich Darwin’s Lehre heutzutage eine ganz allgemeine Anerkennung erlangt
hat, lassen sich doch immer wieder gewichtige, zur Besonnenheit mahnende Stimmen
vernehmen, die ganz entschieden dagegen Verwahrung einlegen, dass man, wie es
vielfach geschieht, die Entstehung der Arten dureh natürliche Zuchtwahl als vollständig
erwiesen und über jeden Zweifel erhaben betrachtet und dieser Lehre dadurch einen
Charakter ertheilt, welchen ihr Begründer gewiss am allerwenigsten für sie in Anspruch
genommen hat. Ich brauche nur an die Rede zur Eröffnung der ersten Jahresversamm-
lung der deutschen zoologischen Gesellschaft zu erinnern, in welcher Geheimrath
Leuckart davor warnte, der Selektionstheorie eine andere als eine bloss hypothetische
Bedeutung beizulegen und mit den Begriffen Vererbung und Anpassung wie mit
durchaus bekannten Faktoren zu operiren. Dass man gerade in unserer Zeit sehr
wohl daran thäte, eine solche Warnung von Seiten des Alt-Meisters unserer Wissen-
schaft sich recht zu Herzen zu nehmen, wird in Anbetracht des allzukühnen Vorgehens
vieler neueren Anhänger Darwin’s nicht gut zu bestreiten sein. Die volle Berechtigung
des dort über diesen Gegenstand Gesagten dürfte jedoch erst in Zukunft offenbar werden,
wenn man sich an ein unbefangeneres Urtheilen über die Selektionstheorie wird ge-
wöhnt haben. Ich glaube daher im Sinne des hochverehrten Jubilars zu handeln,
wenn ich es unternehme, hier auf die Hauptmängel der Darwin’schen Lehre aufmerksam
zu machen und zugleich die Gesichtspunkte anzugeben, die für eine wirksame Besei-
tigung der vorhandenen Unzulänglichkeiten massgebend sein müssten.
So wenig ich einer leichtfertigen Verwendung der Grundprinzipien der Darwin’
schen Theorie: Vererbung und Anpassung zum Zwecke der Erklärung irgendwelcher
Erscheinungen der organischen Welt das Wort reden möchte, so erscheint mir doch
die Thatsache, dass diese Bezeichnungen in der neueren Zoologie eine so grosse Rolle
spielen, als ein wohl zu beachtendes Merkmal, indem ich darin die Unmöglichkeit
ausgedrückt finde, wichtigere biologische Probleme ohne Herbeiziehung allgemeiner,
eine metaphysische Deutung erfordernder Begriffe zu behandeln. Sagt doch schon
Goethe: „Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig
sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hülfe ruft; aber nicht jene Schul- und
60*
— 464 —
Wortweisheit; es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und
sein wird.* —
Ohne metaphysische Grundlage sind Vererbung und Anpassung nichts als
leere Worte, mit denen sich wohl „ein System bereiten“, aber nun und nimmermehr
eine tiefere Einsicht in das Wesen und die Bedeutung irgendwelcher Erscheinung
gewinnen lässt. Sonach wäre die Darwin’sche Theorie im Grunde eine Gleichung
mit zwei Unbekannten und als solche gar nicht im Stande, ein positives Resultat zu
liefern, so lange man nicht weiss, welche von den beiden unbekannten Grössen von
der anderen abhängig ist. Ohne Zweifel hat Darwin selbst dies gefühlt, da er auf
die eine dieser Grössen ein besonderes Gewicht legt, indem er die Anpassung zum
Hauptfaktor der Entwickelung erhebt.
Ich werde es mir angelegen sein lassen, im Verlaufe dieser Betrachtungen
ausführlich nachzuweisen, dass er damit einen verhängnissvollen Missgriff gethan hat,
der für sein ganzes System zum Verderben ausgeschlagen ist. Seine Erklärung findet
dieser Missgriff zunächst in dem Umstande, dass Darwin seine Beobachtungen fast
ausschliesslich an künstlich gezüchteten Lebewesen angestellt hat, obgleich er sich
hätte sagen müssen, dass ein frei lebender Organismus denn doch unter erheblich
anderen Verhältnissen sich befindet, als ein domestizirter. dass vielmehr zwischen
diesem und jenem ein mindestens gleich grosser Unterschied statt hat, wie zwischen
einem mit Hilfe irgendwelcher Apparate erzeugten elektrischen Funken und einem
Blitze, oder zwischen einem künstlich hergestellten Edelstein und einem in der Natur
gefundenen — sämmtlich Unterschiede, deren im strengsten Sinne qualitative Natur
allerdings erst beim Beschreiten des organischen Gebietes völlig deutlich wird. So
wenig nun die Bedingungen, unter denen der künstliche elektrische Funke, der künst-
liche Edelstein zu Stande kommen, ohne weiteres in die freie Natur verlegt werden
können, um das Entstehen der dort vorkommenden ähnlichen Erscheinungen zu er-
klären, so wenig darf der künstlichen eine ihr genau entsprechende „natürliche“ Zucht-
wahl an die Seite gesetzt werden. Der Natur stehen eben zur Erreichung ihrer
Zwecke ganz andere Mittel zur Verfügnng als den experimentirenden Physikern,
Chemikern und Biologen.
Bei domestizirten Organismen ist die Entstehung von Varietäten, wie auch von
anderer Seite schon bemerkt worden ist, in der Hauptsache auf das Auftreten von
pathologischen Veränderungen zurückzuführen, und es dürfte denn doch bedenklich
erscheinen, hierauf ein allgemeines Entwickelungsprinzip zu gründen, da wir uns
nicht gut dazu verstehen können, solche Veränderungen als die eigentlich normalen
465
anzusehen. In der freien Natur dagegen spielen pathologische Erscheinungen gar
keine Rolle, da sie, falls sie wirklich einmal auftreten, sofort wieder beseitigt werden,
und zwar, wenn sie bedeutend sind, durch die geschlechtliche Fortpflanzung, deren
Hauptaufgabe darin besteht, solche unbedeutende Abweichungen von der Norm aus-
zugleichen; wenn sie bedeutender sind, durch Elimination der betreffenden Individuen
im Kampf ums Dasein, oder dadurch, dass sie verhindert werden, solche Charaktere
auf Nachkommen zu übertragen; im günstigsten Falle durch fortgesetzte Kreuzung
mit den normalen Artgenossen.
Nachdem ich die grosse Verschiedenheit der im Zustande der Domestikation
herrschenden Bedingungen von denen, welche die freie Natur bietet an der durchaus
andersartigen Beschaffenheit der Veränderungen, wie sie dort vorzukommen pflegen,
nachgewiesen habe, wende ich mich zunächst zu einer eingehenderen Besprechung
der Variabilität.
Der Begriff der Variabilität ist bei Darwin ein sehr unbestimmter. Er betrachtet
sie als eine schlechthin gegebene Grösse. ohne sich weiter um ihren Ursprung viel
zu kümmern, doch lässt sich leicht zeigen, dass er diesen Begriff in der Hauptsache
auf Grund seiner Beobachtungen domestizirter Organismen sich gebildet hat. Er er-
wähnt wohl auch die spontane, sowie die korrelative Variation. als ihrem eigentlichen
Wesen nach durch innere Ursachen bedingte, neben der durch äussere Ursachen her-
vorgerufenen, legt aber das Hauptgewicht — obgleich er zugestehen muss, die Bedeu-
tung der spontanen Variabilität anfangs unterschätzt zu haben — immer nur auf die,
in Folge irgendwelcher, meist gar nicht zu ergründender, äusserer Anregungen, zufällig
auftretenden Abänderungen. Auch die Anhänger Darwin’s pflegen an seiner Ansicht
über diesen Punkt festzuhalten, nur dass sie das Vorkommen von Abänderungen aus
rein inneren Ursachen mit gänzlicher Verkennung des wesentlich spontanen Charakters
aller Lebensäusserungen ganz und gar in Abrede stellen, wobei sie jedoch den aus
inneren Bildungsgesetzen hervorgehenden Abänderungen, mit Einschluss der korrela-
tiven Variation, neben dem von Darwin mit Recht ganz in den Hintergrund gestellten
direkten Einflusse äusserer Ursachen eine weit grössere Bedeutung zugestehen.
Nun kommt es aber bei den Abänderungen der Lebewesen nicht so sehr darauf
an, ob sie dureh innere oder durch äussere Ursachen bedingt sind, als vielmehr, ob
sie auf ein in der Hauptsache aktives oder passives Verhalten des betreffenden
Organismus zurückzuführen sind. Das Letztere ist ohne Zweifel bei den patholo-
gischen Veränderungen der Fall, welche, wie wir oben gesehen haben, nur bei
domestizirten Organismen eine wirkliche Bedeutung zu erlangen im Stande sind,
— 466 —
indem sie durchweg auf einer Hemmung der normalen Lebensfunktionen beruhen.
Bei allen anderen Abänderungen dagegen kann nicht nachdrücklich genug der durch-
aus spontane Charakter der Lebensäusserungen betont werden, denen sie ihre Ent-
stehung verdanken. Ein lebender Organismus als „statisches Moment“ des Ent-
wickelungsprozesses ist geradezu eine contradictio in adjecto.
Dass Variation ganz ohne äussere Anregung möglich ist, dürfte in Anbetracht
des Vorkommens rein morphologischer Charaktere für erwiesen gelten, so z. B. in
Abänderungen der polymorphen Arten, deren spontanen Charakter auch Darwin an-
erkennt. Freilich betrachtet er diese Fälle nur als Ausnahme von der Regel, da die
Anpassung der Organismen seiner Ansicht nach nur mit Hilfe zufälliger, d. h. zu der
Gesammtheit der Lebensbedingungen, sowie der Natur des Organismus in keiner
Beziehung stehenden Abänderung zu Stande kommen soll. Der ganze Anpassungs-
Vorgang bei Darwin trägt somit einen durchaus passiven Charakter, indem die Or-
ganismen durch die auswählende Hand der Natur an ihre Umgebung angepasst werden.
Dass auf diese Weise nun und nimmermehr eine Anpassung in der freien
Natur zu Stande kommen kann, werde ich weiter unten nachzuweisen suchen. Hier
möchte ich zunächst nur konstatiren, dass Darwin, während er nachdrücklich die
Unabhängigkeit der Lebewesen von direkten äusseren Einflüssen betont, die Ent-
stehung neuer Arten ohne jede aktive Betheiligung des Organismus, selbst an der
Bildung der ersten Abänderung für die Regel hält. Diese Ansicht ist von seinen
Anhängern auf die Spitze getrieben und dadurch ad absurdum geführt worden, indem
sie die Entstehung des polaren Albinismns aus dem gelegentlich auftretenden patho-
logischen erklären zu können meinten, so dass über ihre Unhaltbarkeit kein Zweifel
mehr bestehen kann. Denn während es sich in dem einen Falle um einen Reich-
thum handelt (polarer Albinismus als Schutzmittel), finden wir in dem anderen das
gerade Gegentheil davon, nämlich einen empfindlichen Mangel (pathologischer Al-
binismus auf Abwesenheit des Pigments beruhend. Wir haben daher die Ver-
änderlichkeit, welche in pathologischen Erscheinungen zu Tage tritt, streng von der
normalen zu unterscheiden und dürften sie am besten als passive gegenüber der aktiven
(spontanen) Variabilität bezeichnen. —
Wie in der ganzen Welt, so auch im Reiche des Organischen, besteht eine
Harmonie, ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte, welches die Natur stets zu erhalten
bestrebt ist. Wenn nun auch dieses Gleichgewicht im Allgemeinen gewahrt bleibt,
so ist doch jeder Theil des Ganzen in fast ununterbrochener Bewegung begriffen,
gleich wie die Oberfläche der Erde kaum irgendwo und irgendwann einen Zustand
— 467 —
völliger Ruhe darbiete. Man hat geglaubt, in der organischsn Entwieklung Perioden
der Konstanz von solchen der Variabilität unterscheiden zu müssen. Auch Darwin
sprieht von einem fixirten Zustande, in welchem sich zu einer jeden gegebenen Zeit
die grössere Zahl der Spezies befinden soll. Freilich giebt es Arten, welche weniger
variabel und somit konstanter sind als andere: aber deshalb bleibt der Begriff der
Konstanz in der organischen Welt stets ein nicht blos relativer, sondern im Grunde
negativer, da die Variabilität allein dem normalen Zustande der Organismen entspricht.
Wenn schon in der anorganischen Welt sich alles in einem unaufhaltsamen Flusse
befindet, wie viel mehr muss dies der Fall sein in der so viel beweglicheren or-
ganischen. Sehen wir doch, dass selbst nach erreichter Anpassung an gewisse Ver-
hältnisse und bei sich völlig gleich bleibenden Lebensbedingungen das Abänderungs-
bestreben der Organismen in der Erzeugung rein morphologischer Charaktere sich
zu äussern fortfährt.
Sowie nun eine Störung des allgemeinen Gleichgewichts durch irgend welche
Ursachen herbeigeführt wird. ist die Natur alsbald bemüht, sie in der einfachsten und
zweckentsprechendsten Weise wieder zu beseitigen. Es muss daher geradezu absurd
erscheinen, wenn ihre Fähigkeit, in solch einem Falle Abhilfe zu schaffen, von dem
zufälligen Auftreten einer geigneten Abänderung abhängig gemacht wird. Vielmehr
werden wir anzunehmen haben: so gewiss ein an irgend einem Punkte der Erd-
oberfläche eintretendes Sinken der Küste ein sofortiges Nachströmen des Wassers zur
Folge hat, so gewiss wird bei einer Störung des organischen Gleichgewichts un-
verzüglich eine Tendenz zu Abänderung sich bemerkbar machen, und zwar in solcher
kiehtung, dass diese Abänderung die entstandene Lücke genau auszufüllen im Stande
ist. Es ist offenbar eine grosse Inkonsequenz, der Natur im Allgemeinen die Fähigkeit
zweckmässiger Gestaltung zuzuerkennen, und sie ihr im entscheidenden Falle doch
wieder abzusprechen.
Darwin war gewiss berechtigt, auf die Zweckmässigkeit ein so grosses Ge-
wicht zu legen, da ihre fast unumschränkte Herrschaft im ganzen weiten Reiche des
Organischen einem so überaus aufmerksamen und gewissenhaften Beobachter wie ihm
nicht verborgen bleiben konnte; aber in dem Wahne, dass Zweckmässigkeit ohne
eine prämeditirende Intelligenz nicht direkt zu Stande kommen könne, glaubte er sie
durch eine nicht deutlich erkennbare Hinterthüre, mit Hilfe des allzeit dienstbereiten
Zufalls, in sein System hineinschmuggeln zu müssen, um sie die ihr gebührende
holle bei der Anpassung der Organismen spielen zu lassen.
Seit Kant den subjektiven Charakter des Zweckbegriffs aufgedeckt und
— 468 —
Schopenhaur seine negative Kritik durch ausführliche Darstellung der po-
sitiven Seite des Gegenstandes ergänzt und damit die Sache völlig aufgeklärt hat,
brauchen wir uns vor teleologischen Betrachtungen nicht mehr zu scheuen, da es
keinem Zweifel mehr unterliegen kann, dass eine solche Betrachtungsweise in der
organischen Natur als die einzig angemessene zu gelten hat. Darwin ist noch so
aufrichtig, ohne Umschweife von einer Tendenz, einer Neigung zu Abänderung
zu reden, obgleich auch er schon sich dagegen verwahrt, von natürlicher Zucht-
wahl in einem anderen als bloss bildlichen Sinne zu sprechen, während seine
Anhänger vollends in geradezu lächerlich wirkender Weise sich jedesmal nach-
drücklich entschuldigen zu müssen glauben, sobald ihnen ein Ausdruck entschlüpft,
welcher auch nur den leisesten teleologischen Beigeschmack haben könnte, Es
macht das genau denselben Eindruck, wie wenn Jemand bei jedem Schritte sich
entschuldigen würde, dass er zum Gehen sich seiner gesunden Beine bediene, anstatt
auf Krücken mühsam sich fortzuschleppen.
Ich wende mich nun zur Besprechung des eigentlichen Hauptfaktors der
Selektionstheorie: der Anpassung, welche durch Ueberleben des jeweiligen Passendsten
im Kampfe ums Dasein und auf diese Weise, mit Hilfe der zufälligen Variationen,
sich vollziehende, allmähliche Stärkung und Vergrösserung der für ihre Träger nütz-
lichen Charaktere zu Stande kommen soll. Darwin betont besonders den äusserst
langsamen Verlauf des Anpassungsvorganges, da nach seiner Meinung schon die
geringste nützliche Abänderung den Anstoss zu einem solchen Prozess geben kann,
der durch Hinzukommen ähnlicher minimaler Abänderungen nach langen Zeiträumen
ein deutlich wahrnehmbares Resultat liefern soll. Er will an dem ganz allmählichen
Fortschreiten der Anpassung auch darin festhalten, dass er sogar die allerauffallendsten,
ausgezeichnet irgend einem Zwecke entsprechenden Modifikationen durch nach ein-
ander auftretende geringe Abänderungen, erst in einem Theile, dann in einem anderen
erlangt werden lässt. Wenn nun auch die fast ausnahmlose Geltung des alten Satzes:
natura non facit saltus unbedingt zugegeben werden muss, so unterliegt es doch
keinem Zweifel, dass in dem hier vorliegenden Falle von seiner Anwendung keine
Rede sein kann. Die Annahme, dass die einzelnen Theile eines Organismus sich
nach einander entwickelt haben könnten, verbietet sich schon im Hinblick auf die
in der Lebewelt herrschenden Gesetze des Gleichgewichts und der Symmetrie. Ausser-
dem belehren uns die T’hatsachen der Ontogenese zur Genüge darüber, dass bei der
Anlage eines Organs auch schon alle seine wesentlichen Theile im Keime vor-
handen sind.
Es ist auch vom Standpunkte Darwin's aus geradezu undenkbar, dass ein
komplizirtes Organ, dessen einzelne Theile einander genau angepasst sind und dessen
Nützlichkeit eben auf dem pünktlichen Ineinandergreifen nnd Zusammenwirken dieser
Theile beruht, nach und nach zu einer Maschine aus einzelnen, an und für sich
zwecklosen Stücken zusammensetzt worden und nicht als Ganzes entstanden sein
sollte, da nach seiner ausdrücklichen Versicherung natürliche Zuchtwahl ausschliesslich
in der Erhaltung und Häufung solcher Abweichungeu thätig ist, welche dem Ge-
schöpf, das sie betreffen, nützlich sind.
Hier lässt uns also die Selektionstheorie vollständig im Stich. Die natürlichste
Annahme ist offenbar die, dass jedes Organ, ebenso wie jeder Organismus, schon im
ersten Keime als Ganzes angelegt wird und im Verlaufe der Entwicklung, welche
viele Generationen umfassen kann, allmählich in seine einzelnen, genau zusammen-
wirkenden Theile sich differenziert. Die verschiedenen Zwischenstufen werden als
solche allerdings nicht leicht zu erkennen sein, da sie bei der bekannten Abneigung
der Natur gegen alles nicht ganz unmittelbar Nützliche, wenigstens vorübergehend,
soweit möglich irgend einem Zwecke angepasst sein werden. Immerhin werden sie
durch eine verhältnissmässige Unzweckmässigkeit charakterisiert sein, und es ist daher
nicht zu bezweifeln, dass auch für diesen Punkt mit der Zeit zahlreiche Belege sich
werden finden lassen, sobald man sich nur einmal daran gewöhnt haben wird, die
Lebenserscheinungen von dem hier vertretenen Gesichtspunkte aus zu beurtheilen.
Wir sehen also, dass Darwin das Nützlichkeitsprinzip der Natur nicht seiner
ganzen Bedeutung nach erkannt hat, woran ihn sein empirischer Standpunkt ver-
hindern musste. Es giebt eben in der Natur nicht blos solche Erscheinungen, welche
nützlich waren und solche, welche nützlich sind, sondern auch solche, welche die
Tendenz besitzen, nützlich zu werden.
Auch in anderer Hinsicht lässt sich nachweisen, dass Darwin's Vorstellung
von Nützlichkeit nicht genau den in der Natur vorkommenden Verhältnissen ent-
spricht. Ein sehr instruktives Beispiel hierfür jst der allbekannte Fall, betreffend
das Vorkommen einer sechsfingerigen (und sechszehigen) Varietät in der Person des
Maltesers Gratio Kelleia. Es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass wir die in diesem
Falle vorliegende Abänderung, da es sich um die Verstärkung eines so wichtigen
Organs, wie es für den Menschen die Hand ist, handelt, als eine für ihren Träger
nützliche zu betrachten haben. Trotzdem ist sie schon nach wenigen Generationen,
dureh fortgesetzte Kreuzung mit nicht abgeänderten Artgenossen, wieder vollständig
zum Verschwinden gebracht worden.
Abbhandl. d. naturf. Ges. zu Halle. Bd. XVII. 61
=)
Es ergiebt sich daraus, dass nützliche Abänderungen sogar von erheblich mehr
als minimaler Grösse nicht an und für sich schon geeignet sind, den Ausgangspunkt
für die Bildung einer neuen Art abzugeben.
Dem Einwand, dass feindliche äussere Umstände die Befestigung des neu auf-
getretenen Charakters in diesem Falle verhindert hätten, fehlt jede Berechtigung, da
wir über die günstigen Lebensverhältnisse des Gratio Kelleia, sowie seiner Nach-
kommen, genügend unterrichtet sind. Auch die Sitte kann hier kein wesentliches
Hinderniss gebildet haben, da sie nur Geschwisterehen verbietet, während der reine
sechsfingerige Typus noch in der dritten Generation mehrfach vertreten war.
Ohne Zweifel muss die Thatsache auffallen, dass kein einziger sechsfingriger
Nachkomme Gratio Kelleia’s die Neigung verrathen hat, sich mit einem gleich-
gestalteten Mitgliede der Familie zu verbinden. Sie bildet den wiehtigsten Anhalts-
punkt für eine richtige Beurtheilung des eigentlichen Wesens der hier vorliegenden
Abänderung, welche sich dadurch als eine pathologische zu erkennen giebt, an deren
Erhaltung der Natur bekanntlich nichts gelegen ist.
Eine Befestigung neu auftretender nützlicher Charaktere im Sinne der Selektions-
theorie wäre überhaupt nur dann denkbar, wenn die Lebensbedingungen, denen sie
ihre Nützlichkeit verdanken, zugleich eine plötzlich vernichtende Wirkung auf sämmt-
liche nicht abgeänderten Artgenossen ausüben würde, da nur auf diese Weise eine
Kreuzung mit einer grösseren Zahl soleher Artgenossen vermieden werden könnte;
denn auch das Berufen auf die Thatsache des wiederholten Auftretens einer bestimmten
Variation an demselben Orte von Seiten mancher Anhänger Darwin's, um nachzu-
weisen, dass auch bei langsamerem Verlaufe der Verdrängung einer Art durch eine
besser angepasste neue, diese schliesslich die Oberhand zu gewinnen im Stande sei,
muss als unzulässig bezeichnet werden, da mit der Zahl der ursprünglichen Art-
genossen die Wahrscheinlichkeit des zufälligen Auftretens einer bestimmten Variation
in stets zunehmendem Masse sich verringert.
Ein soleher Fall plötzlieher Vernichtung einer Art, bei welehem sämmtliche
Vertreter derselben mit einziger Ausnahme der besser angepassten Individuen zu
Grunde gehen müssten, dürfte aber kaum jemals eintreten, und sollte er doch einmal
vorkommen, so würde er einen so stark exzeptionellen Charakter besitzen, dass die
Selektionstheorie dadurch ebensowenig sich stützen liesse, wie durch die bekannten
Versuche, die Isolirung zum Zwecke einer besseren Begründung der Darwin’schen
Lehre von der Entstehung neuer Arten durch natürliche Zuchtwahl heranzuziehen.
Das Auftreten eines neuen Charakters, selbst wenn er seinem Träger absolute
almila —
Ueberlegenheit über alle anderen Artgenossen sicherte, könnte auch dort, wo der
Kampf ums Dasein am heftigsten tobt, nicht ein plötzliches Verschwinden der minder
begünstigten Individuen bewirken, so dass seine allmähliche Abschwächung und end-
liche vollständige Beseitigung durch fortgesetzte Kreuzung mit den nicht abgeänderten
Artgenossen verhindert würde.
Es kommt eben nicht so sehr auf die Grösse und Nützlichkeit einer Abände-
rung, als vielmehr darauf an, ob sie einer natürlichen Tendenz ihren Ursprung ver-
dankt, da ihre dauernde Erhaltung, unter gewöhnlichen Verhältnissen, nur in diesem
Falle möglich ist. —
In Betreff des Prinzips der Vererbung kann ich mich um so kürzer fassen,
da es für die Selektionstheorie von nur nebensächlicher Bedeutung ist, indem es dort
keinen andern Zweck zu erfüllen hat, als den: die einem Individuum zu Theil
gewordenen neuen Charaktere auf dessen Nachkommen zu übertragen.
Zwar meint Darwin, dass die Neigung, in einer bestimmten Richtung abzuändern,
durch das Prinzip der Vererbung vergrössert werde, so dass man glauben könnte,
die Anpassung der Organismen sei in der Hauptsache das Werk der Vererbung,
während der Zuchtwahl dabei lediglich die Aufgabe zufallen würde, den ganzen
Vorgang gleichsam zu überwachen; aber weit entfernt eine solche Konsequenz zu
ziehen, sucht er vielmehr den Werth der Vererbung zu Gunsten der natürlichen
Zuchtwahl möglichst herabzusetzen, da er sonst nicht im Stande sein würde, die
Anpassung mittels Reduktion eines Organs, welcher die Vererbung ja direkt entgegen
wirkt, einzig mit Hülfe seiner T'heorie zu erklären.
Der Umstand, dass Darwin der Vererbung so wenig Gerechtigkeit zu Theil
werden lässt, hat seinen tiefsten Grund darin, dass sie vom empirischen Standpunkte
aus als die dunkelste Stelle des ganzen Entwickelungsvorganges erscheint, während
man. bei metaphysischer Betrachtung in ihr den Schlüssel für alle noch so kompli-
zirten Lebenserscheinungen findet. —
Damit glaube ich meine heutige Aufgabe als gelöst ansehen zu dürfen, denn
da ich hier zu Fachgenossen spreche, brauche ich die grosse Bedeutung der Darwin'-
schen Lehre für unsere Wissenschaft nicht erst besonders hervorzuheben.
Ebensowenig glaube ich versichern zu müssen, dass ich selbst die grösste
Verehrung für Darwin hege, der meiner Ansicht nach schon dadurch ein unsterbliches
Verdienst sich erworben hat, dass er seit Goethe und Lamarck zum ersten Male
wieder die wichtigsten biologischen Probleme auf die Tagesordnung gesetzt und die
organische Natur als Ganzes aufzufassen gelehrt hat. Allein das durfte mich nicht
— 41 ——
abhalten, die durch zeitliche und räumliche Umstände bedingten Schwächen seiner
Theorie schonungslos aufzudecken, um unserer Wissenschaft die Wege zu weisen, die
sie als Erbin des Darwin’schen Vermächtnisses nothwendigerweise beschreiten muss,
falls sie nicht binnen kurzer Zeit auf den untergeordneten Standpunkt einer bloss
mechanischen Betrachtung der tiefsten biologischen Probleme herabsinken will.
Ich habe es mir ganz besonders angelegen sein lassen, immer wieder darauf
hinzuweisen, dass die Unzulänglichkeiten der Darwin’schen Anschauung einzig und
allein dem von ihm eingenommenen rein empirischen Standpunkte zur Last zu legen
sind, um daraus die wunabweisliche Forderung einer metaphysischen Behandlung
biologischer Probleme abzuleiten.
Es ist eine unbestreitbare, an einer Menge von Beispielen leicht nachzuweisende
Thatsache, dass oft gerade die bedeutendsten Forscher, trotz gewissenhaftester
Beobachtung, nicht im Stande sind, den rein objektiven 'Thatbestand irgend einer
Erscheinung festzustellen, geschweige denn ihn richtig zu deuten, da sie immer von
ihren subjektiven Anschauungen befangen an die Untersuchung gehen, daher auch
nur das sehen, was ihren im voraus gebildeten allgemeinen Ansichten entspricht.
Es liegt das nun einmal in der Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens,
welches eben von Natur kein treuer Spiegel objektiver Thatsachen ist, tief begründet.
Daher ist unbedingt daran festzuhalten, dass ein Jeder, der sich mit der Deutung
organischer Erscheinungen befassen will, sich auf philosophischem Wege, namentlich
mit Hilfe der durch Kant und Schopenhauer in so ausserordentlicher Weise gerör-
derten Erkenntnistheorie, vor allen Dingen erst einen gewissen Einblick in das
eigentliche Wesen der Welt, besonders der organischen zu verschaffen hat. Sodann
dürfte es sich empfehlen, aus der Beobachtung der allgemeinsten Erscheinungen des
organischen Reiches die daselbst herrschenden Grundgesetze abzuleiten, um auf diese
Weise den bis jetzt noch vorhandenen, so sehr zu beklagenden Mangel einer voll-
ständigen Metaphysik der Biologie nach Möglichkeit zu ersetzen, die allerdings keine
Sammlung willkürlicher Hirngespinnste, sondern, im Sinne Goethe’s und Schopen-
hauer’s, Erfahrungswissenschaft und dazu bestimmt sein müsste, die vorläufig noch
ganz fehlende Verbindung zwischen den empirischen biologischen Wissenschaften und
der Philosophie herzustellen. —-
Druckfehlerberichtigung.
Zu Creutzburg, Metaphysische Probleme.
Seite 465 Zeile 3 v.o. statt; „bedeutend“ lies unbedeutend
Seite 466 Zeile 12 statt: „stehenden Abänderung“ lies stehender Abände-
rungen
Seite 469 Zeile 4 v. o. statt: „zu einer Maschine“ lies wie eine Maschine
Seite 471 Vor: „In Betreff des Prineips“ ist folgender Abschnitt einzuschalten:
Ich habe die Anpassung und was damit zusammenhängt, als den Kern
der ganzen irrthümlichen Anschauung Darwin’s, schon aus dem Grunde
ausführlicher besprechen müssen, weil die dabei in Betracht kommenden
Verhältnisse der rein empirischen Behandlungsweise manche Schwierig-
keiten bereiten, während sie vom metaphysischen Standpunkte aus mit
einem Blieke zu durchschauen sind.
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NATURFORSCHENDEN GESELLSCHAFT ZU HALLE
ORIGINALAUFSÄTZE
AUS DEM GEBIETE DER GESAMMTEN NATURWISSENSCHAFTEN
XVII. Band 1. u. 2. Heft
enthält
Grenacher, H., Abhandlungen zur vergleichenden Anatomie des Auges. II. Das Auge
der Heteropoden, geschildert am Pterotrachea eoronata Forsk. Mit 2 Tafeln . . S.
Kraus, Gregor, Beiträge zur Kenntniss fossiler Hölzer. III. IV. Mit 3 Tafeln
„ 65— 7%
Zopf, W., Ueber einige niedere Algenpilze (Phycomyceten) und eine neue Methode ihre
Keime a dem Wasser zu isoliren. Mit 2 Tafeln . » 77—107
Leicher, Ueber den Einfluss des DER TOMnGEN: inkels aut die elektriiche IRbiaing
der Meskölseer „ 109—134
Bernstein, J., Neue Theorie Kan nero inge und SIertonihen en
an der Nerven- und Muskelfaser. Mit 8 Holzsehnitten . „ 135—211
Derselbe, Ueber die Sauerstoffzehrung der Gewebe „ 213— 244
HALLE
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DER
NATURFORSOHENDEN GESELLSCHAFT ZU HALLE
ORIGINALAUFSÄTZE
AUS DEM GEBIETE DER GESAMMTEN NATURWISSENSCHAFTEN
F. WS RN Vie.
DEC 30 1892
XVII. Band 3. u. 4. Heft
enthält
Brauns, J., Kritische Bemerkungen über die NECHeRIUNE der OR DRTSUEEADSCHELNBER
in Tiefbohrlöchern zu empirischen Formeln . . . Ss. 245—256
Volhard, J., Ueber die Syusbene der Mupmebege und dis rkutnkdn dr „ ee
säuren SEN a 257—278
Eisler, P., Der Biere oe des Menschen Mit 3 Tafeln a l Pigori im "Text n 279—364
-E äschen » erg, O., Historische Entwiekelung der Lehre von der Parthenogenesis . „ 365—454
Haswell, W.A., On the Systematie Pusition and Relationsships ofthe Temnocephaleae . „ 455—460
Creutzbur N, Ueber mensch ne in der mronlpgie: Eine Kritik der
Darwin’schen Theorie . . Re 461—472
HALLE
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1892
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