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Full text of "Abraham Lincoln, 1809-1865. Die Erzählung seines Lebens."

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Abraham  Lincoln 


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Ein  mitreißendes  Lebensbild.  Wie  der  ungeschlachte,  ehr- 
liche Holzfäller  zum  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten 
wird  und  Amerika  von  der  Schmach  der  Sklaverei  befreit, 
das  ist  hier  meisterhaft  beschrieben. 


Rudolf  Stickelberger 

Abraham  Lincoln 

Die  Erzählung  seines   Lebens 
Mit  einem  Porträt  und  einer  Karte. 


Ueberaus  anschaulich  ersteht  hier  vor 
uns  das  abenteuerliche  Leben  Abra- 
ham Lincolns,  des  Holzfällers,  den  kei- 
ner im  Ringkampf  bezwingen  konnte, 
des  ehrlichen  Advokaten,  der  im  ent- 
scheidenden Augenblick  der  Geschichte 
der  Vereinigten  Staaten  ihr  Präsident 
wurde  und  der  Amerika  von  der 
Schmach  der  Sklaverei  befreite,  diese 
Tat  aber  mit  seinem  Leben  bezahlt  hat. 
Das  Bild  dieses  einfachen,  herzens- 
guten, aber  willensstarken  Menschen, 
der,  die  Ehrlichkeit  selbst,  sich  den- 
noch den  gerissensten  Diplomaten  ge- 
genüber durch  seine  Kraft  und  Auf- 
richtigkeit durchsetzt  und  seine  große 
Heimat  um  ein  gutes  Stück  vorwärts 
bringt,  wird  jedem  Leser  unvergeßlich 
bleiben.  Aber  noch  ein  Weiteres  bietet 
dieser  schmale  Band.  Amerika  vor 
hundert  Jahren,  in  seiner  Primitivität 
und  Lebenskraft,  mit  all  seinen  tausend 
Möglichkeiten,  die  es  damals  bot,  wird 
hier  meisterhaft  knapp  und  lebendig 
geschildert.  Gerade  auch  junge  Men- 
schen werden  von  diesem  Buch  begei- 
stert sein,  denn  es  weitet  ihren  Hori- 
zont und  weist  ihnen  den  Weg  zu  Mut 
und  Tatkraft. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

Lyrasis  Members  and  Sloan  Foundation 


http://www.archive.org/details/abrahamlincoln1800stic 


ABRAHAM  LINCOLN 

1809  — 1865 
Die  Erzählung  seines  Lebens 

o 

von 

Rudolf  Stickelberger 


Zweite  Auflage 


Verlag  Friedrich  Reinhardt  AG.,  Basel 


Printed  in  Switzerland 
Druck  und  Einband  von  Friedrich  Reinhardt  AG.,  Basel 


INHALT 

Harte  Jugend       7 

Die  Lebensschule       17 

Erste  Lorbeeren         28 

Das  Gesicht  Amerikas  —  damals       39 

Nicht  alle  Ehen  werden  im  Himmel  geschlossen !  43 

Das  Turnier        51 

Die  Präsidentenwahl        59 

Der  Bürgerkrieg        70 

Erster  Bürger  seines  Landes        86 

Krisen 97 

Der  letzte  Tag 109 

Zeittafel         116 


Harte  Jugend 


Den  ganzen  Tag  über  hat  die  Wanderung  wieder 
gedauert.  Der  Vater  hat  den  Mund  seit  Stunden  über- 
haupt nicht  aufgetan;  die  Mutter  hat  dreimal  geschimpft, 
einmal  geflucht  und  einmal  geweint.  Geflucht  über  die 
Rastlosigkeit  des  Vaters,  der  es  noch  nie  länger  als  drei 
Jahre  in  seinem  Leben  am  gleichen  Ort  ausgehalten  hat. 
Geweint,  als  der  Weg  dem  Kentuckyfluß  entlang  plötz- 
lich aufhörte  und  ein  abschüssiger  Fels  dem  Ochsenwagen 
den  Paß  versperrte.  Aber  schließlich  ist  es  dann  doch  ge- 
gangen. Am  Ende  geht  es  immer,  wenn  auch  mit  Hieben 
und  Püffen,  mit  Schrunden  und  Wunden.  Man  bekommt 
auf  solchen  Reisen  eine  zähe  gelbliche  Haut,  ein  geübtes 
Auge  und  einen  Charakter,  der  sich  von  nichts  über- 
raschen läßt. 

Die  Siedlung  Carrolton  ist  noch  nicht  erreicht.  Man 
wird  also  wieder  unter  den  Piachen  nächtigen  müssen. 
Alle  vier  frieren.  Aber  ein  Feuer  soll  nicht  angezündet 
werden;  Vater  Thomas  ist  dagegen.  Die  Indianer  brauchen 
nicht  zu  wissen,  daß  es  hier  zu  rauben  und  zu  morden  gibt. 
Er  hat  großen  Respekt  vor  den  Indianern,  seit  er  vor 
zwanzig  Jahren  —  er  war  damals  noch  nicht  erwachsen  — 
seinen  eigenen  Vater  tot  unter  einem  Baum  gefunden  hat. 
Das  ist  nun  schon  lange  her,  aber  fast  jede  Nacht  schreckt 
er  aus  einem  wüsten  Traum,  weil  sich  ihm  jenes  Bild  so 
tief  eingeprägt  hat:  Sein  Vater  war  frühmorgens  in  den 
Wald  gegangen,  um  zu  roden,  Axt  und  Feuer  hatte  er  mit- 
genommen. Als  er  am  Abend  nicht  in  die  Blockhütte  zu- 


rückkam,  fürchtete  man  bereits  um  sein  Leben.  Aber  in  der 
Dunkelheit  nach  ihm  zu  suchen,  hatte  keinen  Sinn.  Nach- 
barn waren  meilenweit  keine  zu  finden.  Am  nächsten  Tag 
machte  sich  Thomas  auf  den  Weg  und  fand  den  Vater 
nach  einer  Stunde  schon.  Er  lehnte,  den  Kopf  auf  die 
Brust  gesenkt,  an  einem  Baum  und  sah  von  weitem  ganz 
friedlich  aus.  Sein  Gesicht  aber  war  von  Blut  überströmt; 
die  Mörder  hatten  ihm  die  Kopfhaut  weggeschnitten. 
Diesen  Brauch  hatten  eigentlich  die  weißen  Ansiedler 
ausgeheckt:  Man  bezahlte  den  befreundeten  Stämmen 
Kopfpreise  für  jeden  erlegten  Gegner  und  erreichte  damit, 
daß  die  unbequemen  Roten  sich  selbst  dezimierten.  Bald 
aber  wandten  sie  die  blutige  Sitte  auch  gegen  die  Wei- 
ßen an. 

Thomas  Lincoln  war  damals  nach  Hause  gerannt,  und 
keine  Macht  der  Welt  hätte  ihn  dazu  bewegt,  den  schreck- 
lichen Ort  nochmals  aufzusuchen.  Sein  Vater  blieb  un- 
begraben,  an  den  Baum  gelehnt.  Und  seither  fühlt  er  den 
Wandertrieb  in  seinen  Gliedern.  Sobald  er  irgendwo  eine 
Hütte  errichtet  und  ein  paar  Flecken  urbar  gemacht  hat, 
muß  er  wieder  weiterziehn.  Die  Indianer  könnten  ihn 
überfallen,  dieses  verschlagene  Pack,  diese  Ausgeburt  der 
Hölle.  Sie  sind  schlimmer  als  die  Bären  und  als  die  Wölfe 
der  Wälder;  man  muß  jeden  totschlagen,  der  einem  be- 
gegnet. Man  trägt  immer  eine  geladene  Flinte  bei  sich 
und  ein  geschliffenes  Beil. 

«Wohin  reisen  wir  eigentlich,  Lincoln?»  wagt  Mutter 
Nancy  zu  fragen.  Sie  nennt  ihn  stets  «Lincoln»,  wahr- 
scheinlich weil  sie  findet,  der  Rufname  klinge  in  ihrem 
Munde  zu  zärtlich  und  deshalb  unschicklich. 

«Nach  Indiana.» 

«Ist  das  Leben  dort  besser  als  in  Kentucky  ?» 

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«Ich  weiß  nicht.  —  Nein,  es  ist  schlimmer.» 

«Weshalb  ziehen  wir  denn  hin?» 

«Weil  ich  nicht  unter  den  verdammten  Sklavenhaltern 
leben  mag.» 

«Bist  du  sicher,  daß  es  in  Indiana  keine  Neger  gibt?» 

«Laß  mich  in  Ruhe.» 

In  Lincolns  Blut  tobt  wilder  Haß  gegen  die  Indianer. 
In  seinem  Herzen  schwelt  gleichzeitig  Grimm  und  Ver- 
achtung gegen  die  Farmer  des  Südens.  Mit  ihnen  hat  er 
nie  viel  zu  tun  gehabt.  Sie  nahmen  seine  Anwesenheit 
überhaupt  nicht  zur  Kenntnis,  so  lange  er  in  Kentucky 
lebte.  Denn  sie,  die  Farmer,  waren  die  Herren  des  Landes. 
Sie  lebten  in  ihren  weißen  kühlen  Häusern  und  errechne- 
ten die  Börsenkurse  in  Boston  und  London.  Die  Arbeit 
auf  den  heißen  Baumwollfeldern  taten  die  Schwarzen  für 
sie.  Man  erzählte  sich,  daß  die  ersten  Ansiedler  sich  Rot- 
häute zu  Dienern  gedungen  hätten.  Aber  die  seien  schlau 
und  faul  gewesen,  seien  auch  nach  der  geringsten  An- 
strengung krank  geworden  und,  falls  sie  nicht  rechtzeitig 
davonlaufen  konnten,  bald  gestorben.  Ein  schlechtes  Ge- 
schäft für  rechnende  Pflanzer!  Dann  sei  ein  menschen- 
freundlicher Priester,  dem  das  Leiden  und  Sterben  der  In- 
dianer auf  der  Seele  gebrannt  habe,  auf  den  Gedanken 
gekommen,  afrikanische  Neger  zu  importieren.  So  wur- 
den Segelschiffe  nach  dem  schwarzen  Erdteil  geschickt, 
um  dort  menschliche  Fracht  einzukaufen.  Die  Häupt- 
linge im  westlichen  Afrika  hatten  nichts  gegen  das  gute 
Geschäft  einzuwenden:  Sie  erhielten  bunte  Glasperlen, 
Schießgewehre  und  Schnaps  und  lockten  oder  trieben  be- 
reitwillig ihre  Untertanen  auf  die  Fregatten  der  Weißen. 
Traurige  Fahrzeuge!  Man  nützte  ihren  Raum  so  gut  als 
möglich  aus  und  pferchte  die  Schwarzen  in  die  kleinen 

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stickigen  Räume.  Sie  hungerten  auf  der  Ueberfahrt  und 
dürsteten  noch  mehr;  denn  das  Trinkwasser  war  knapp 
auf  der  langen  heißen  Reise.  Viele  kamen  unterwegs  um. 
Seuchen  brachen  aus;  oft  töteten  sich  die  Gefangenen  so- 
gar gegenseitig  in  ihrer  Verzweiflung  und  Enttäuschung. 
Manchmal  ging  ein  Sklavenschiff  auch  unter.  Immerhin 
gelangten  noch  genug  Schwarze  an  die  Märkte  von  Char- 
leston und  Savannah.  Sie  vermehrten  sich  rasch,  und  das 
Klima  sagte  ihnen  zu.  Sie  arbeiteten  willig  vom  frühen 
Morgen  bis  zum  späten  Abend.  Sie  waren  mit  Maismehl 
zufrieden  und  verlangten  keinen  Komfort  in  ihren  Hüt- 
ten. Am  Sonntag  saßen  sie  begeistert  in  ihren  Holzkirchen 
und  sangen  vom  Paradies,  und  am  Nachmittag  stolzierten 
sie  in  einigen  schreiend  gelben  und  roten  Fetzen  um  ihre 
Behausungen  herum  und  fühlten  sich  wie  Könige.  Die 
Farmer  waren  gut  versorgt  mit  diesen  Dienern;  wer  klug 
war,  gab  ihnen  genug  zu  essen  und  gönnte  ihnen  auch 
dann  und  wann  ein  freundliches  Wort. 

Doch  Thomas  Lincoln  verachtete  diese  Sklavenhalter. 
Seine  Familie  stammte  aus  dem  Norden.  Sie  war  mit  dem 
milden  William  Penn  aus  England  in  die  neue  Welt  ein- 
gewandert. Hier  wollte  man  nichts  wissen  von  Ausbeu- 
tung und  vom  rücksichtslosen  Geschäft:  Ein  Musterstaat 
mußte  dieses  Land  Pennsylvanien  werden,  und  zum  Zei- 
chen aller  guten  Absicht  hieß  der  wichtigste  Ort  von  An- 
beginn «Philadelphia»,  «Stadt  der  Bruderliebe».  Wahr- 
scheinlich hatten  aber  schon  der  Großvater  und  der  Vater 
des  Thomas  den  Wandertrieb  in  den  Gliedern  gespürt; 
so  rutschte  die  Familie  allmählich  nach  Süden,  unter  die 
Negerhalter.  Hier  galt  man  als  arm  und  unpraktisch. 
Denn  die  Pflanzer  schätzten  das  bequeme  Leben,  gönn- 
ten sich  täglich  weite  Ritte  auf  halbgebändigten  Pferden 


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über  Felder  und  Steppen.  Auch  liebten  sie  es,  teure  Klei- 
der aus  Europa  kommen  zu  lassen;  sie  tanzten  viel,  for- 
derten sich  wegen  eines  Wildfangs  oder  Dämchens  auf 
Pistolen  und  betrachteten  sich  selbst  als  die  vollendeten 
Grandseigneurs. 

Thomas  Lincoln  aber  schlug  eigenhändig  die  Stämme 
zu  seiner  Blockhütte  und  suchte  zusammen  mit  Frau  und 
Kindern  die  Nahrung  für  den  kommenden  Tag.  Er  säte 
wenig  und  erntete  noch  weniger;  einen  Neger  hätte  er 
nicht  zum  Diener  genommen,  auch  wenn  man  ihm  den 
treusten  Gesellen  geschenkt  hätte.  Wenn  die  Umgebung 
nicht  mehr  zum  Leben  ausreichte,  zog  man  weiter. 

So  ist  man  also  auch  jetzt  auf  der  Reise:  Vater,  Mutter, 
der  siebenjährige  Abraham  und  seine  neunjährige  Schwe- 
ster, die  nach  der  Mutter  Nancy  heißt.  Sie  haben  schlecht 
gegessen:  rohe,  in  Stücke  zerschnittene  Kartoffeln.  Zum 
Glück  haben  die  Kinder  einige  süße  Wurzeln  gefunden, 
aus  denen  die  Mutter  Tee  kochen  konnte.  Außerdem  hat 
der  Kleine  wilden  Honig  entdeckt;  nun  schmeckt  das  Ge- 
tränk wie  himmlischer  Sirup.  Ein  Wanderprediger  hat 
einmal  vom  Gottesmann  Johannes  erzählt,  der  ebenfalls 
in  der  Wildnis  vom  wildem  Honig  lebte.  Der  aß  aber 
noch  Heuschrecken  dazu;  pfui  Teufel!  Dann  schon  lieber 
Manna,  das  auch  in  der  Wüste  wachsen  soll;  aber  das  ist 
wieder  eine  andere  Geschichte. 

Die  Kinder  schlafen  vor  Erschöpfung  unter  ihrer 
Plache  bald  ein;  auch  die  Mutter  begibt  sich  zur  Ruhe. 
Der  Himmel  ist  klar  und  sternenhell;  es  wird  wenigstens 
nicht  regnen  heute  nacht. 

Vater  Thomas  wacht.  Die  Angst  vor  den  Indianern 
kommt  wieder  über  ihn  und  läßt  ihn  den  Schlaf  nicht  fin- 
den. Hört  er  nicht  leises  Knacken  im  Geäst?  Oder  blitzen 


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dort  nicht  zwei  tückische  Augen  aus  den  Sträuchern?  Er 
springt  auf;  nichts  bewegt  sich  in  der  Runde  außer  dem 
emsigen  Wasser  des  Kentuckyflusses.  Thomas  Lincoln 
greift  zur  Whiskyflasche  und  gießt  unwahrscheinlich  viel 
von  dem  schlechten  Fusel  durch  seine  Kehle. 

Die  Sklavenhalter  in  Kentucky  datieren  ihre  Geschäfts- 
briefe mit  der  Jahrzahl  1816.  Diejenigen,  welche  die  Zei- 
tung lesen  können,  wissen,  daß  in  Wien  ein  großer  Kon- 
greß zu  Ende  gegangen  ist,  an  welchem  über  Europas 
Schicksal  verhandelt  wurde.  Nebenbei  hat  man  in  Wien 
viel  getanzt,  geliebt  und  geschachert.  In  den  Zeitungen 
steht  weiter,  der  große  Kaiser  Napoleon  sei  aus  der  Ver- 
bannung zurückgekehrt;  es  sei  ihm  gelungen,  hundert 
Tage  lang  die  Gewalt  wieder  an  sich  zu  reißen,  dann  war 
seine  Herrlichkeit  endgültig  zu  Ende. 

Thomas  Lincoln  kann  weder  lesen  noch  schreiben.  Mit 
Mühe  gelingt  es  ihm,  seinen  Namenszug  zu  malen;  aber 
er  fällt  lieber  eine  dicke  Kiefer,  als  daß  er  ein  Papier 
unterschreibt.  Seines  Vaters  Leben  war  hart  und  unstet 
und  sein  Ende  blutig.  Sein  eigenes  Leben  verläuft  ebenso 
hart  und  noch  rastloser,  und  sein  Ende  weiß  zum  Glück 
kein  Mensch  voraus.  Und  das  Leben  seines  schlafenden 
Sohnes  wird  auch  hart  sein.  So  will  es  Gott. 

Anderntags  erreichen  sie  Carrolton.  Da  muß  ein  Fest 
sein:  Zwischen  den  Blockhütten  wimmelt  es  von  Men- 
schen, die  meilenweit  herbeigekommen  sind.  Fast  alles 
verwegen  aussehende  Männer  in  Lederhosen  und  in  bun- 
ten Hemden.  Sie  reiten  wie  besessen  in  dichte  Menschen- 
haufen hinein  und  reißen  ihr  Pferd  im  letzten  Augenblick 
noch  zur  Seite.  Ein  Unglück  passiert  fast  nie.  Wenn  doch 
einmal  eines  geschieht,  so  nimmt  man  die  Untersuchung 
nicht  so  genau.  Kein  Mensch  kann  verlangen,  daß  man 

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sich  in  dieser  abgelegenen  Ecke  des  Kontinents,  wo  der 
Kentucky  in  den  Ohio  mündet,  beträgt  wie  auf  dem  Stra- 
ßenpflaster der  vornehmen  Stadt  Philadelphia.  Immerhin 
herrschen  auch  hier  das  Recht  und  die  Gerechtigkeit  der 
weißen  Rasse.  Um  der  Gerechtigkeit  willen  sind  die  Men- 
schen nämlich  heute  zusammengeströmt:  Es  wird  ein 
Pferdedieb  gehängt. 

Man  sucht  Leute,  die  am  Galgengerüst  zimmern  kön- 
nen. Die  Arbeitsgelegenheit  kommt  Thomas  Lincoln  ge- 
rade recht;  er  besitzt  überhaupt  kein  Geld  mehr.  Und  ar- 
beiten kann  er;  er  schwingt  seine  Axt,  er  haut  mit  dem 
schweren  Hammer  auf  die  Pfosten.  Sie  hämmern  alle,  bis 
sie  in  Schweiß  gebadet  sind.  Das  ist  amerikanische  Art; 
nur  so  wird  man  Herr  über  die  Roten,  über  die  Tiere  des 
Waldes  und  über  die  Steppe.  Nur  so  dringt  die  weiße 
Zivilisation  gegen  Westen  vor.  Zivilisation  heißt:  harte 
Arbeit,  Kampf  ums  Leben  bis  aufs  Messer,  Sieg  oder  Un- 
tergang. 

Unübersehbar  ist  die  Zuschauermenge,  welche  dem 
schändlichen  Tode  des  Pferdediebes  beiwohnt.  Die  Män- 
ner —  sie  sind  in  starker  Ueberzahl  —  verziehen  kaum 
ihre  Gesichter.  Obwohl  diese  Männer  alles  Söhne  von 
englischen  oder  holländischen  Einwanderern  sind,  haben 
ihre  Gesichter  etwas  Indianisches  an  sich:  faltig,  braun, 
ledern.  Die  wenigen  Frauen  unterhalten  sich  ungerührt 
über  Aussehen  und  Haltung  des  Verurteilten.  Auch  Abra- 
ham und  Nancy  sehen  dem  Schauspiel  zu;  die  Mutter  hält 
an  jeder  Hand  einen  Sprößling.  Ab  und  zu  hebt  sie  ihr 
Söhnchen  in  die  Höhe,  damit  es  den  Vorgang  auf  der 
Bühne  besser  sehen  kann. 

Am  Abend  drängt  sich  die  vierköpfige  Familie  Lincoln 
in  die  Festhütte.  Sie  ist  zur  Feier  des  Tages  mit  bunten 

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Stoff-  und  Papierstreifen  ausstaffiert.  Mit  großer  Mühe 
findet  man  seinen  Platz  am  langen  Holztisch.  Für  die 
Männer  gibt  es  Kornschnaps,  für  Frauen  und  Kinder  Tee, 
der  ähnlich  zubereitet  ist  wie  der  gestern  abend  im  Ken- 
tuckytal. Nur  schmeckt  der  heutige  nicht  so  frisch  nach 
Wald  und  Honig;  es  ist  ein  ekelhaftes,  süßliches  Gebräu. 
Die  Luft  in  der  Festhütte  ist  so  qualmig,  daß  einem  die 
Augen  fortwährend  überlaufen.  Drei  Männer  spielen 
zum  Tanz  auf.  Der  erste  bläst  eine  schrille  Flöte,  der 
zweite  ein  dumpfes  Hörn,  der  dritte  schlägt  den  Takt  auf 
ein  Holzbrett.  Man  tanzt  mit  bloßen  Füßen,  damit  man 
sich  nicht  mit  den  schweren  Stiefeln  tritt.  Ein  ungewasche- 
ner Kerl  kommt  auf  Mutter  Nancy  zu  und  fordert  sie  zum 
Tanz  auf.  Sie  weigert  sich,  und  Thomas  blickt  den  Zu- 
dringlichen mit  bösen  Augen  an.  Der  aber  verzieht  sein 
Gesicht  zu  breitem  Grinsen,  holt  zwei  seiner  Kumpane 
herbei,  die  sich  breitspurig  vor  die  fremde  Familie  stellen, 
und  sagt  dann:  «Wenn  du  nicht  tanzen  willst,  dann 
brauchst  du  nicht  hereinzukommen!»  Da  wagt  Lincoln 
nichts  mehr  zu  sagen  oder  zu  tun  und  sieht  mit  verknif- 
fenem Mund  zu,  wie  der  Kerl  seine  Frau  wild  herum- 
schwenkt und  wie  er  ihr  seine  Klauen  in  die  Oberarme 
preßt.  Endlich  aber  erhebt  er  sich  langsam,  bahnt  sich  mit 
den  Ellbogen  einen  Weg  durchs  Gedränge  und  versetzt 
dem  Tänzer  so  geschickt  und  blitzschnell  zwei  Schläge, 
den  ersten  unters  Kinn,  den  zweiten  in  die  Magengrube, 
daß  dieser  wortlos  zusammensinkt,  Lincoln  seine  Frau 
an  der  Hand  nehmen  und  zum  Ausgang  führen  kann. 
Dann  aber  geht  ein  wilder  Lärm  los;  der  Geschlagene 
sucht  seinen  Gegner,  boxt  zur  Rechten  und  zur  Linken 
nieder,  was  sich  ihm  entgegenstellt,  und  bald  ist  eine 
Schlägerei  im  Gang,  bei  welcher  jedermann  eines  jeden 

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Feind  ist.  Harte  Becher  und  Krüge  fliegen  durch  den 
Raum,  Messer  blitzen  auf,  Lampen  stürzen  um  und  dro- 
hen die  ganze  Hütte  in  Brand  zu  stecken.  Die  beiden  Kin- 
der können  sich  mit  Mühe  und  Not  zu  ihren  Eltern  retten, 
die  ihren  Wagen  suchen.  Sie  überhäufen  sich  gegenseitig 
mit  bittern  Vorwürfen;  Thomas  schilt  mit  Nancy,  weil  sie 
getanzt  hat;  Nancy  behauptet,  sie  wäre  überhaupt  viel 
lieber  draußen  geblieben.  Solche  Feste  seien  ihr  in  der 
Seele  zuwider.  Thomas  spuckt  aus  und  erklärt,  er  freue 
sich  auf  die  Einsamkeit;  in  der  Stadt  wohne  jedes  Laster. 
Dieser  Meinung  scheint  auch  der  Methodistenprediger 
zu  sein,  der  jetzt  von  der  Galgenbühne  herab  seine  An- 
sprache hält.  Er  hat  sich  die  Gelegenheit  der  Hinrichtung 
zunutze  gemacht  und  redet  pausenlos  auf  seine  Hörer  ein. 
Er  geißelt  die  Trunksucht  und  die  Unzucht,  er  schildert 
die  Qualen  der  Hölle  und  die  Seligkeiten  des  Himmels 
und  läßt  sich  von  den  spöttischen  Zwischenrufen  aus  dem 
Publikum  nicht  beirren.  Im  Gegenteil,  diese  Zwischenrufe 
feuern  seinen  Geist  noch  an;  ernst  und  witzig  zugleich 
setzt  er  sich  mit  den  Zweiflern  auseinander.  Hier  stehen 
nicht  so  viele  Menschen  wie  am  Vormittag,  aber  doch  fast 
ebenso  viele  hören  dem  Prediger  zu  als  in  der  Festhütte 
tanzen,  trinken  und  raufen.  Und  manchen  merkt  man  an, 
daß  sie  vom  Regen  dieses  Wortgewaltigen  befruchtet  wer- 
den und  in  sich  gehen.  Sie  begreifen,  daß  ihr  Leben  kurz 
bemessen,  und  daß  man  in  dieser  wilden  Zeit  und  Gegend 
keine  Stunde  vor  dem  Tode  sicher  sei.  «Die  elfte  Stunde 
ist  vorüber»,  ruft  der  Mann  mit  lauter,  schon  etwas  hei- 
serer Stimme,  «wendet  euch  zum  Herrn,  bevor  die  zwölfte 
euch  überrascht;  verlaßt  euer  wüstes  Treiben  und  sucht 
euren  Gott,  jetzt  im  Augenblick,  ich  beschwöre  euch!» 
Zum  Schluß  stimmt  er  das  Lied  an:  «Streiter  Christi,  mu- 

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tig  drauf!»  Kein  Mensch  singt  mit.  Man  hat  keine  Zeit 
und  keine  Lust  zu  singen;  das  Leben  ist  zu  hart.  Der  Pre- 
diger soll  zu  den  Negern  im  Süden,  die  haben  noch  die 
Ausdauer,  nach  ihrem  bittern  Tagwerk  mit  weichen 
Stimmen  Psalmen  zu  üben. 

Am  folgenden  Morgen  fahren  sie  weiter  mit  ihrem  Kar- 
ren. Das  gestern  verdiente  Geld,  soweit  es  nicht  in  der 
Festhütte  geblieben  ist,  müssen  sie  dem  Fährmann  geben, 
der  sie  über  den  Ohio  setzt.  Sie  haben  kein  bestimmtes 
Ziel.  Sie  werden  reisen,  durch  die  Hitze  des  Tages,  die 
Kühle  des  Abends  und  den  Frost  der  Nacht,  so  lange,  bis 
ihnen  ein  Plätzchen  zur  Ansiedlung  verlockend  scheint. 
Im  stillen  hegen  alle  vier  ihre  Hoffnungen:  Der  Vater 
denkt  an  gutes,  nicht  zu  hartes  Holz  zum  Hausbau  an  einem 
lachsreichen  Strom,  die  Mutter  an  einige  Nachbarinnen, 
mit  denen  man  doch  ein  menschliches  Wort  austauschen 
könnte;  vielleicht  ließe  sich  auch  ein  kleiner  Kramladen 
eröffnen.  Die  kleine  Nancy  möchte  endlich  einmal  statt 
Kartoffelstücke  und  Maisbrei  von  den  Leckerbissen  essen, 
von  denen  die  biblischen  Geschichten  erzählen,  und  auch 
Abraham  hat  seine  Pläne:  Er  will  die  Schule  besuchen.  In 
der  Schule,  das  hat  er  gemerkt,  findet  man  den  Schlüssel 
zur  Welt.  Aber  er  spricht  mit  niemandem  darüber. 


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Die  Lebensschule 


Unter  «Schule»  stellt  sich  der  kleine  Abe  so  etwas  wie 
einen  Zauberkasten  in  Form  eines  Hauses  vor:  Zur  einen 
Türe  spaziert  man  hinein,  so  wie  man  ist,  neugierig,  wis- 
sensdurstig, voll  guter  Vorsätze,  und  auf  der  andern  Seite 
kommt  man  als  Allwissender  wieder  heraus.  Wer  viel 
weiß,  leistet  viel,  und  wer  viel  leistet,  dem  gehört  die 
Welt. 

Die  Schule  am  neuen  Wohnsitz  in  Indiana  allerdings 
enttäuscht  den  eifrigen  Schüler  bitter.  Er  lernt  zwar  lesen 
und  schreiben,  auch  die  Anfangsgründe  des  Rechnens 
werden  ihm  beigebracht;  über  weitere  Kenntnisse  verfügt 
der  Lehrer  selber  nicht.  Er  erteilt  seinen  Unterricht  in 
einem  Blockhaus,  in  welchem  die  Kinder  der  umliegen- 
den Siedlungen  zusammenkommen.  Dieser  Lehrer  ist  von 
keinem  Gemeinwesen  richtig  angestellt;  er  gilt  als  der 
verachtenswerteste  Mensch  weit  und  breit.  Er  bleibt  nur 
deshalb  Lehrer,  weil  er  für  jedes  vernünftige  Handwerk 
zu  schwach  ist.  Und  nach  einem  Jahr  schon  hat  der  junge 
Lincoln  genug  von  diesem  schalen  Unterricht.  Er  kann 
nun  lesen,  das  genügt  ihm.  Wenn  nur  die  Bücher  nicht 
so  selten  wären  in  diesem  Lande!  Aber  die  Pioniere  haben 
in  den  ersten  Jahren  nach  der  Ansiedlung  andere  Sorgen 
als  die,  ihre  Bibliotheken  zu  vervollständigen.  Sie  bauen 
Straßen  und  festere  Blockhäuser,  sie  roden  den  Wald,  sie 
friedigen  ihr  Besitztum  ein.  Aber  da  und  dort  findet  sich 
doch  ein  Buch:  die  Geschichte  des  Robinson  Crusoe  zum 
Beispiel  oder  Gullivers  Reisen,  natürlich  die  Bibel  und 
dann  das  Buch,  welches  in  jeder  englischen  und  ameri- 

l     Stickelberger,  Abraham  Lincoln  j- 


kanischen  Familie  jener  Zeit  mit  der  Bibel  zusammen 
genannt  wird:  Bunyans  «Pilgerreise».  An  einem  Ort  ent- 
deckt Lincoln  die  Lebensbeschreibung  des  großen  George 
Washington,  an  einem  andern  die  gesammelten  Gesetze 
des  Staates  Indiana.  Wenn  man  all  diese  Bücher  genau 
kennt,  ist  man  seiner  Mitwelt  um  ein  gutes  Stück  voraus; 
denn  sonst  nimmt  sich  ja  im  weiten  Umkreis  kein  Mensch 
die  Mühe,  auch  nur  ein  einziges  Buch  zu  lesen. 

Wo  die  Unbildung  herrscht,  da  schwingt  der  wenig 
Gebildete  obenaus.  Abe  verblüfft  nicht  nur  seine  Schwe- 
ster, sondern  auch  seine  Nachbarn  mit  der  Feststellung, 
er  wisse  ganz  genau,  daß  sich  die  Erde  um  die  Sonne 
drehe,  und  nicht  die  Sonne  um  die  Erde.  Die  Leute  stecken 
die  Köpfe  zusammen;  einige  Alte  erinnern  sich,  früher, 
als  sie  noch  im  Osten  geschult  wurden,  auch  derartige 
Weisheiten  vernommen  zu  haben  —  wer  kann  solche 
Behauptungen  nur  nachprüfen?  Auf  jeden  Fall  beweisen 
sie  die  scharfe  Auffassungsgabe  des  Jungen.  Man  kann 
ihn  aber  auch  sonst  zu  allem  brauchen;  er  ist  gewiß  kein 
Stubenhocker!  Er  liest  zwar,  wenn  er  seines  Weges  geht, 
und  es  kann  ihm  zustoßen,  daß  er  mitsamt  seinem  buch 
über  eine  Wurzel  stolpert,  weil  er  nicht  auf  die  eigenen 
Füße  achtgibt.  Daneben  aber  ist  er  stark  wie  ein  Bär.  Viel 
zu  schnell  gewachsen,  erinnert  er,  was  den  Körperwuchs 
betrifft,  an  ein  Kalb  oder  an  ein  Füllen.  Die  Arme  schei- 
nen zu  lange  geraten  und  wissen  oft  nicht,  was  sie  mit  sich 
selbst  anfangen  sollen;  auch  die  Beine  sind  unverhältnis- 
mäßig hoch.  Sein  Mund  ist  zu  groß  und  immer  in  Be- 
wegung. 

Lincolns  Glanzstück  ist  die  Imitation  jenes  Predigers, 
der  vom  Galgengerüst  herab  der  Volksmenge  zugespro- 
chen hat.  Ihn  muß  er  immer  und  immer  wieder  nach- 

18 


machen;  Mienenspiel  und  Stimme  werden  von  Mal  zu 
Mal  grotesker.  Er  heizt  den  Holzfällern  so  sehr  ein,  daß 
sie  sich  vor  der  wirklichen  Hölle  fürchten  und  erleichtert 
aufatmen,  wenn  sie  zum  Schluß  merken,  daß  der  Junge 
nur  aus  Mutwillen  predigte.  Wenn  ihm  einer  zum  Spaß 
zuruft:  «Du  wirst  wohl  noch  einmal  Präsident  der  Staaten 
werden»,  dann  lacht  er  laut  und  ruft  zurück:  «Warum 
nicht?  Sie  könnten  noch  Dümmere  wählen!» 

Dabei  ist  Abraham  weder  hochmütig  noch  spottlustig. 
Es  freut  ihn  einfach,  wenn  die  Nachbarn  um  ihn  stehen 
und  ihm  zuhören.  Er  hat  schon  gemerkt,  daß  ihm  jemand, 
dem  er  eine  längere  Rede  hielt,  nachher  seine  eigenen 
Weisheiten  wieder  vorgetragen  hat,  ohne  selbst  zu  wissen, 
daß  er  fremdes  Gedankengut  weitergab.  Und  dann  sind 
die  Menschen  doch  so  drollig,  nein,  so  eigenartig,  daß 
man  sie  nachahmen  muß.  Wie  soll  man  denn  einem 
Dritten  erzählen,  was  die  Frau  Walker  oder  der  dicke 
Jimmy  gesagt  hat,  wenn  man  nicht  die  gleichen  Worte, 
die  gleiche  Sprechweise  und  die  gleiche  Tonhöhe  der 
Originale  benutzt  und  nicht  auch  deren  Gesichtsausdruck 
aufsetzt?  Die  Rede  wirkt  auf  diese  Weise  viel  eindring- 
licher. 

Bei  aller  Welt  ist  der  Junge  beliebt.  Die  Art,  sich  über- 
all zurechtzufinden,  hat  er  bestimmt  nicht  von  seinem 
Vater  geerbt.  Der  ist  und  bleibt  ein  Querkopf,  wird  leicht 
grob  und  ausfällig  gegen  jemand,  der  wagt,  eine  andere 
Meinung  zu  haben,  und  wenn  er  in  der  Auseinanderset- 
zung nicht  Meister  wird,  dann  verkriecht  er  sich.  Oder  er 
zieht  weiter,  zu  Leuten,  die  er  noch  nicht  kennt  und  die  ihn 
noch  nicht  kennengelernt  haben.  Nicht  so  der  Sohn:  Dem 
ist's  wohl,  wo  er  hinkommt.  Ob  er  als  Holzfäller,  als  Vieh- 
treiber, als  Flößer  oder  als  Hausbursche  hilft:  Ueberall 

19 


heißt  man  ihn  willkommen.  Die  Frauen  füttern  ihn  mit 
Leckerbissen,  und  die  Männer  hören  seinem  Geplauder 
zu.  Es  ist  nicht  immer  harmlos,  dieses  Geplauder.  Im 
Weitererzählen  von  Witzen  ist  er  nicht  wählerisch.  Aber 
seltsam:  was  er  da  auch  berichtet,  er  hinterläßt  nirgends 
einen  schmierigen  Eindruck.  Und  obwohl  man  seine  gren- 
zenlose Neugierde  kennt  und  weiß,  daß  er  gerne  im  zwei- 
ten Haus  erzählt,  was  er  im  ersten  gesehen  und  erlebt 
hat,  so  nimmt  ihm  dies  kein  Mensch  übel.  Man  lacht,  wo 
er  erscheint,  und  nimmt  sogar  gern  eine  persönliche  An- 
rempelung  in  Kauf. 

Vielleicht  hat  er  sein  Wesen  von  seiner  Mutter,  der 
behutsamen  Nancy,  mitbekommen.  Sie  hat  das  Blockhaus 
in  Indiana  noch  notdürftig  eingerichtet;  sie  hat  ihrem  un- 
praktischen Mann  geholfen,  wo  sie  konnte,  sie  hat  auch 
das  Beil  geschwungen  und  die  Säge  geführt  —  bis  es 
eines  Tages  zu  viel  für  sie  wurde.  Sie  legte  das  Werkzeug 
aus  der  Hand  und  schloß  die  Augen;  kaum  hatte  sie  Zeit, 
von  ihren  Lieben  Abschied  zu  nehmen.  Thomas  Lincoln 
betrauerte  sie  in  seiner  Art  und  begrub  sie  in  der  Nähe 
seines  Blockhauses.  Ein  Pfarrer  war  weit  und  breit  nicht 
zu  finden,  und  unter  den  Nachbarn,  die  zum  Begräbnis 
herbeigeströmt  waren,  fühlte  sich  keiner  würdig  oder 
fähig,  eine  Abdankungsrede  zu  halten.  So  stellte  sich  der 
aufgeschossene  Abraham  neben  das  offene  Grab  und 
las  mit  lauter  Stimme,  ohne  Fehler  und  Anstoß,  der  Ver- 
sammlung den  neunzigsten  Psalm  vor.  Darauf  dankte  er 
Gott  im  Namen  des  Vaters  Thomas,  der  Schwester  und 
auch  in  seinem  eigenen  für  alles  Gute,  das  ihnen  die  Mut- 
ter getan  hatte.  Mitten  in  seiner  Rede  ertappte  er  sich 
bei  der  Feststellung,  daß  er  im  Augenblick  gar  nicht  trau- 
rig sei,  sondern  entzückt  von  dem  Gedanken,  daß  er  seiner 


20 


Mutter  die  beredte  Abdankung  hielt.  Doch  verscheuchte 
er  diesen  Gedanken  sofort,  schon  weil  er  die  Rede  zu 
beeinträchtigen  drohte.  Er  hielt  sie  ohne  Stockung  zu 
Ende,  und  auch  die  härtesten  Farmerherzen  wurden  ge- 
rührt. Sie  vermeinten,  einen  würdigen,  feierlich  schwarz 
gewandeten  Prediger  vor  sich  zu  haben;  niemand  stieß  sich 
am  Anblick  des  Jungen,  der  seines  Amtes  im  Alltagskleid 
waltete.  Er  trug  seine  abgeschossene  kurze  Hirschleder- 
hose und  dicke  gestrickte  Wadenstrümpfe.  Zwischen  dem 
ausgefransten  Hosenrand  und  dem  obern  Saum  der 
Strümpfe  sah  man  seine  schmächtigen  blauen  Knie.  Noch 
lange  redete  man  im  ganzen  Distrikt  von  dieser  denk- 
würdigen Feier. 

Ein  Jahr  darauf  hält  eine  neue  Mutter  in  die  ärmliche 
Hütte  der  Familie  Lincoln  Einzug.  Sie  heißt  Sally  Johns- 
ton, ist  selbst  seit  kurzer  Zeit  verwitwet  und  bringt  die 
Habseligkeiten  aus  erster  Ehe  mit.  Wir  wissen  von  ihr, 
daß  sie  als  tüchtige  und  resolute  Person  dem  Hauswesen 
schlecht  und  recht  vorgestanden  hat,  eher  besser  als  die 
verstorbene  Mutter  Nancy.  Aber  ob  irgendwelche  Herz- 
lichkeit zwischen  ihr  und  den  Stiefkindern  bestanden  hat, 
wissen  wir  nicht.  Abe  ist  zeitlebens  nicht  gerne  auf  seine 
Jugendzeit  zu  reden  gekommen  und  hat  der  Nachwelt 
auch  nicht  mitgeteilt,  ob  er  und  seine  Schwester  gut  mit 
den  beiden  Stiefschwestern  ausgekommen  sind,  welche 
Frau  Johnston  nebst  einigen  mit  Plüsch  gepolsterten 
Sesseln,  drei  Bettstellen,  einem  Schrank  und  einer  etwas 
wackeligen  Kommode  als  Mitgift  gebracht  hat. 

Eines  Tages  —  Abe  ist  gerade  dabei,  Aesops  Fabeln 
durch  einige  frei  erfundene,  sarkastische  Tiergeschichten 
passend  zu  ergänzen  —  kommt  der  Redaktor  des  Wochen- 
blattes zu  ihm  und  bittet  ihn  um  seine  Mitarbeit. 


21 


Der  Redaktor  fristet  ein  ähnliches  Leben  wie  der  Schul- 
meister: von  den  Ansiedlern  wird  er  als  notwendiges  Uebel 
betrachtet  und  samt  seiner  Zeitung  gering  eingeschätzt. 
Aber  so  wie  die  Kinder  das  Abc  schließlich  bei  jemandem 
lernen  müssen,  so  will  man  auch  wissen,  was  in  der  großen 
Welt  vorgeht.  Der  Redaktor  sorgt  für  dieses  Wissen, 
wenn  auch  höchst  lückenhaft.  Es  wird  noch  zwei  Jahr- 
zehnte dauern,  bis  der  Telegraph  im  Staate  Indiana  seinen 
Einzug  hält.  Die  Nachrichten  treffen  mit  der  Post  ein, 
die  oft  einvBotenreiter,  oft  ein  Lastschiff  bringt.  Die  mei- 
sten Geschehnisse,  von  denen  man  in  Indiana  Kenntnis 
erhält,  liegen  bereits  wochenweit  zurück.  Aber  jemand 
muß  doch  für  ihre  verständliche  Verbreitung  sorgen.  Der 
Redaktor  ist  auch  kein  Meister  der  Sprache,  aber  er  weiß 
doch,  wie  man  mit  den  Worten  umgeht;  er  findet  auch 
zügige  Ueberschriften  zu  langweiligen  Ereignissen.  Er 
schreibt,  setzt  und  druckt  sein  Blatt  selbst,  und  der  junge 
Lincoln  soll  ihm  dabei  helfen. 

Der  hat  bald  herausgefunden,  daß  er  nicht  nur  münd- 
lich, sondern  erst  recht  schriftlich  zur  Mitwelt  zu  reden 
versteht.  Seine  kurzen,  witzigen  Gedichte,  in  denen  er 
sich  über  irgend  etwas,  über  einen  europäischen  Politiker 
oder  über  ein  fast  gekentertes  Boot  lustig  macht,  werden 
mit  Begeisterung  gelesen.  Die  Leser  schütteln  dem  Redak- 
tor die  Hand:  «Solches  Zeug  mußt  du  bringen!  Laß  den 
Lincoln  schreiben,  der  versteht's!»  Diesem  macht  eine 
einzige  Hemmung  das  Schreiben  sauer:  der  Mangel  an 
Papier.  Er  muß  sich  stets  so  kurz  fassen,  weil  das  Schreib- 
papier nicht  ausreicht.  Die  Entwürfe  setzt  er  daher  zuerst 
auf  eine  Holztafel,  mit  Kohle  oder  mit  Kreide,  und  erst 
die  Reinschrift  kommt  auf  die  kostbaren  weißen  Blätter. 

Je  mehr  Lincoln  schreibt,  desto  mehr  möchte  er  schrei- 


22 


ben.  Und  obendrein:  je  mehr  er  liest,  desto  mehr  möchte 
er  weiterschreiben.  Jedes  Buch  regt  ihn  an;  den  Robinson 
mag  er  kaum  zu  Ende  lesen,  weil  ihn  dünkt,  er  selbst 
könnte  noch  eine  viel  spannendere,  abenteuerlichere  Ro- 
binsonade schreiben.  Weil  aber  die  Schreibgelegenheit 
fehlt,  so  erzählt  er  seine  Romane.  Und  ist  dabei  doch  kein 
Phantast;  was  er  vorträgt,  hat  Hand  und  Fuß.  Er  steht 
mitten  im  Leben. 


Es  gibt  Leute,  die  nie  nein  sagen  können.  Lincoln 
hat  schon  in  seiner  Jugend  nicht  nein  sagen  w  o  1 1  e  n.  So 
wird  er  eine  Zeitlang  Briefträger.  Er  holt  die  Sendungen 
auf  der  Poststation;  wenn  er  Glück  hat,  erfährt  er  dort 
aus  erster  Quelle,  was  in  den  Städten  des  Ostens  geht. 
Dann  steckt  er  die  Briefe  unter  seinen  Hut  und  beginnt 
die  mehrtägige  Wanderung.  Man  kennt  ihn  von  weitem: 
Im  Sommer  trägt  er  einen  uralten  Strohhut  ohne  Band, 
der  zugleich  farblos  ist  und  in  allen  Farben  schimmert;  im 
Winter  zieht  er  sich  eine  Mütze  aus  Waschbärenfell  über 
die  Ohren.  Noch  genauer  aber  erkennt  man  ihn  an  seinem 
schlacksigen  Gang.  Mit  seinen  überlangen  Beinen  bleibt 
er  übrigens  bei  jedem  Wettrennen  Sieger. 

Doch  man  arbeitet  schließlich  um  des  Lohnes  willen. 
Verhältnismäßig  gut  bezahlt  wird  die  Mühsal  des  Fluß- 
schiffers. So  läßt  sich  der  Neunzehnjährige  zu  einer  Reise 
nach  New  Orleans  anstellen.  Sein  Gehalt  beträgt  zehn 
Dollar  im  Monat;  die  Arbeit  ist  zuweilen  abwechslungs- 
reich, oft  streng,  aber  fast  immer  eintönig.  Es  fahren 
noch  keine  Dampfboote  auf  den  Strömen  Amerikas;  man 
rudert.   Die   Südländer   schütteln   jeweils   lachend   ihre 

23 


Köpfe,  wenn  die  Holztransporte  aus  den  Nordstaaten  an- 
kommen. Wie  kann  sich  ein  weißer  Mensch  nur  so  herab- 
lassen, selbst  zu  rudern  und  zu  flößen.  Wo  man  doch  die 
gleiche  Arbeit  von  Schwarzen  so  billig  und  gut  geleistet 
bekommt!  Die  Reise  erstreckt  sich  über  1500  Kilometer 
und  nimmt  mehrere  Monate  in  Anspruch. 

An  dem  Punkte,  an  welchem  der  Ohio  in  den  Missis- 
sippi mündet,  in  den  «Vater  der  Ströme»,  wie  ihn  die 
Indianer  nennen,  liegt  die  Stadt  Kairo.  Beide  Benennun- 
gen sind  übertrieben,  sowohl  «Stadt»  als  auch  «Kairo». 
Man  findet  hier  —  wir  versetzen  uns  ins  Jahr  1829!  —  eine 
Ansammlung  von  Blockhütten,  in  welchen  Kaufleute  auf 
die  Boote  warten,  die  auf  beiden  Strömen  herabgelangen. 
Keine  einzige  Straße  ist  gepflastert;  von  keinem  Men- 
schen, der  einen  unterwegs  anspricht  und  einem  vertrau- 
lich auf  die  Schulter  klopft,  weiß  man,  ob  er  nicht  im 
nächsten  Augenblick  ein  Messer  oder  die  Pistole  zückt. 
Wer  fremd  ist,  möge  sich  hüten,  allein  in  Kairo  zu  näch- 
tigen, und  tue  sich  mit  guten  Freunden  zusammen.  In  den 
Gasthäusern  fließt  der  Whisky  in  Strömen;  die  Wirtin 
redet  jedermann  mit  Tante,  ihre  Töchter,  die  in  auffallend 
bunten  schmierigen  Seidenroben  herumlungern,  mit  Cou- 
sinchen an.  Das  Schlimmste  in  Kairo  sind  die  Neger:  hier 
haben  die  entlaufenen  Sklaven  sozusagen  ihr  Hauptquar- 
tier. In  Banden  lagern  sie  in  den  Wäldern  und  machen  die 
Wege  unsicher.  Wer  ihren  Räubereien  entgehen  will,  be- 
zahlt am  besten  vor  der  Durchfahrt  durch  die  Stadt 
irgendeiner  unregelmäßig  eingesetzten  Amtsstelle  eine 
gewisse  Summe,  um  dann  ungeschoren  zu  bleiben. 

Lincoln  lehnt  diesen  Tribut  ans  Unrecht  hohnlachend 
ab,  und  prompt  wird  das  Boot  zwei  Meilen  unterhalb  der 
schmutzigen  Stadt  überfallen.  Die  Neger,  baumstarke 

24 


Kerle,  rudern  in  kleinen  Booten  herbei;  einige  ballen  die 
Fäuste,  andere  fletschen  mit  ihren  weißen  Zähnen  unheil- 
drohend und  rollen  die  Augäpfel,  und  einer  trägt  sogar 
ein  breites  Messer  im  Mund.  Der  Besitzer  des  Bootes, 
sonst  kein  ängstlicher  Mann,  will  augenblicklich  klein 
beigeben  und  zieht  seine  Börse,  um  mit  dem  Leben  davon- 
zukommen. Lincoln  dagegen  richtet  sich  auf  wie  ein  Mast 
und  schmeißt  den  ersten,  der  aus  seinem  Kanu  an  Bord 
klettern  will,  ins  Wasser.  Gleich  geht  es  dem  zweiten  und 
dem  dritten;  die  andern  machen  kehrt  und  stehen  vom 
Ueberfall  ab.  Zwei  der  unterlegenen  Neger  haben  ihre 
gekenterten  kleinen  Boote  wieder  erreichen  können; 
einer  aber  kämpft  mit  den  Wellen.  Der  Besitzer  schaut 
dem  Todeskampf  befriedigt  zu  und  meint  zu  Lincoln: 
«Schade,  daß  nicht  mehr  ersaufen.  Hoffentlich  frißt  die- 
sen ein  Krokodil.»  Da  ergreift  Abraham  —  der  Besitzer 
traut  seinen  Augen  nicht  —  ein  Seil  und  wirft  es  dem 
Schwimmenden  zu.  Der  besinnt  sich  einen  Augenblick, 
wahrscheinlich  überlegt  er,  ob  der  Tod  oder  neue  Skla- 
verei das  schlimmere  Uebel  sei.  Doch  der  Lebensdrang 
scheint  zu  siegen.  Auf  jeden  Fall  ergreift  er  das  Tau  und 
klettert  dann  aufs  Boot.  Zitternd  und  schlotternd  erwartet 
er  die  kommenden  Dinge.  Er  heißt  Daniel  und  ist  seinem 
Herrn  drausgelaufen,  um  das  armselige  Leben  eines 
Baumwollsklaven  mit  demjenigen  eines  freien  Räubers  zu 
vertauschen.  «Wenn  ihr  mich  zum  Master  zurückbringt, 
wird  mir  Master  die  Haut  zu  Streifen  schneiden»,  jammert 
er.  «Wir  aber  kriegen  Geld»,  ergänzt  der  Bootsbesitzer 
schadenfroh;  er  ist  nun  mit  der  Rettung  plötzlich  einver- 
standen. 

Lincoln  kümmert  sich  um  Daniel  und  verspricht  ihm, 
ihn  nicht  auszuliefern.  Dafür  besitzt  er  nun  einen  treuen 


25 


Diener,  der  seinem  Herrn  auf  Lebenszeit  ergeben  sein 
würde  wie  ein  Wachhund.  Schon  nach  wenigen  Tagen 
haben  sich  Lincoln  und  Daniel  so  aneinander  gewöhnt, 
daß  sie  sich  die  Trennung  nicht  mehr  vorstellen  können. 
Und  doch  müssen  sie  schon  jetzt  an  diese  Trennung  den- 
ken; es  ist  ausgeschlossen,  daß  Abe  mit  einem  Sklaven  zu 
den  Pionieren  zurückkehren  kann. 

Die  letzten  hundert  Kilometer  der  Reise  sind  die  be- 
schwerlichsten. Der  Mississippi  scheint  hier  nicht  mehr 
zu  fließen;  er  verbreitert  sich  ständig,  er  bereitet  sich  auf 
die  Vereinigung  mit  dem  Meer  vor.  Auch  ist  der  Weg 
nicht  leicht  zu  finden;  es  wimmelt  von  Seitenarmen,  In- 
seln, Seen  und  Sümpfen,  und  wehe  dem  Boot,  das  einmal 
in  die  seichten  Gewässer  nebenausgeraten  ist!  Ueber  dem 
gelblichen  Wasser  brütet  heiße  Luft;  man  wird  von  den 
Stechmücken  fast  aufgefressen.  Auf  den  unbewohnten 
Inseln  stolzieren  hochbeinige  Vögel  mit  langen  Schnä- 
beln, und  man  ahnt,  daß  in  den  Büschen  unheimliche 
wilde  Tiere  zu  Hause  sind. 

In  New  Orleans  führt  der  gerettete  Daniel  seinen 
Herrn  auf  den  Sklavenmarkt.  Lincoln  hat  schon  von  sei- 
nem mürrischen  Vater  Thomas  gehört,  daß  hier  um  Men- 
schen unmenschlich  gehandelt  werde.  Was  er  aber  nun 
in  aller  Oeffentlichkeit  mit  eigenen  Augen  sieht,  treibt 
ihm  die  Zorn-  und  Schamröte  ins  Gesicht  und  raubt  ihm 
viele  Nächte  den  Schlaf.  Dieser  Anblick  gibt  seinen  Zie- 
len eine  entscheidende  Richtung:  Von  nun  an  wird  er 
nicht  nur  gegen  die  Sklaverei  sein,  weil  dies  in  den  Nord- 
staaten zum  guten  Ton  und  zum  patriotischen  Gesin- 
nungsarsenal gehört,  sondern  es  brennt  auch  die  Schande 
des  Menschenschachers  auf  seinem  Gewissen.  Er  weiß: 
so  lange  in  Amerika  mit  Schwarzen  gehandelt  wird  wie 

2b 


mit  irgendeiner  andern  Kolonialware,  so  lange  ist  Ame- 
rika kein  freies,  kein  christliches  Land. 

Er  geht  an  den  Reihen  der  unglückseligen  Geschöpfe 
vorbei,  die  da  auf  freiem  Platz  zum  Verkauf  angeboten 
werden.  Die  meisten  gleichen  einem  Häufchen  Elend  und 
lassen  sich  willig  auf  Zähne  und  Muskeln  prüfen.  Frauen 
klammern  sich  an  ihre  Kinder  und  schreien  umsonst,  sie 
wollten  die  härteste  und  schmutzigste  Arbeit  verrichten, 
wenn  man  ihnen  nur  ihre  Kleinen  lasse.  Einige  ebenholz- 
schwarze Riesen,  wahrscheinlich  des  Fluchtversuchs  ver- 
dächtig, sind  angekettet  wie  Vieh.  Eine  Gruppe  von  halb- 
wüchsigen Burschen  singt  schwerfällig-leichtfertige  Lie- 
der, und  die  Mädchen  versuchen,  mit  aufmunternden 
Blicken  diejenigen  Käufer  auf  sich  aufmerksam  zu  ma- 
chen, die  ihnen  am  besten  gefallen.  Diese  lassen  sich  Zeit 
für  ihre  Abschlüsse.  Sie  bleiben  da  und  dort  bei  einer 
Gruppe  stehen;  die  bisherigen  Besitzer  oder  deren  Makler 
preisen  ihre  lebende  Ware  in  höchsten  Tönen,  während 
die  Einkäufer  abschätzige  Bemerkungen  brummen.  Sie 
tragen  breitrandige  weiße  Strohhüte  und  rauchen  dicke 
Zigarren.  Wenn  irgendwo  ein  Geschäft  zustande  gekom- 
men ist,  verschwinden  die  Pflanzer  gemeinsam  mit  den 
Verkäufern  für  geraume  Zeit  hinter  einer  Wand  aus  Bast, 
um  den  Handel  zu  feiern.  Die  Sklaven  warten  geduldig 
unter  der  sengenden  Sonne,  bis  der  neue  Herr  sie  holt.  Sie 
vertreiben  sich  die  Zeit  damit,  ihren  künftigen  Besitzer 
und  damit  ihr  Geschick  nach  seinem  Aussehen  zu  beurtei- 
len; manche  würfeln  auch  oder  raten  einen  Gegenstand, 
den  sich  der  Mitspieler  in  den  Sinn  genommen  hat.  —  An 
diesem  Abend  nimmt  sich  Lincoln  vor,  ein  flammendes 
Buch  über  die  Hölle  von  New  Orleans  zu  schreiben. 


27 


Erste  Lorbeeren 


Den  Vater  Thomas  ergreift  wieder  einmal  das  Wander- 
fieber. Es  kommt  über  ihn  wie  eine  geistige  Krankheit. 
Einige  Jahre  hatten  ihm  Blockhaus  und  Nachbarn  in  In- 
diana nicht  übel  behagt.  Nun  aber  wird  er  plötzlich  ver- 
drossen; nichts  ist  ihm  mehr  recht  hier.  Das  Wetter  zu 
trocken,  der  Boden  zu  unfruchtbar,  die  Menschen  zu  hin- 
terlistig. Aber  noch  weiter  im  Westen,  im  Staate  Illinois, 
pflügen  die  Ansiedler  goldene  Scholle.  Von  märchenhaf- 
ten Reichtümern  erzählen  die  Durchreisenden,  die  ab  und 
zu  aus  jener  Gegend  kommen.  So  ist  Thomas  Lincoln 
nicht  länger  mehr  zu  halten;  er  lädt  seinen  gesamten 
Hausrat  wieder  auf  den  Ochsenwagen  und  überläßt  seine 
Hütte  einem  Neuankömmling  aus  dem  Osten. 

Die  Familie  hat  sich,  verglichen  zu  früheren  Reisen,  we- 
sentlich vergrößert.  Abes  Schwester  Nancy  ist  noch  nicht 
verheiratet,  dagegen  nehmen  die  beiden  Töchter,  welche 
Mutter  Sally  seinerzeit  mit  in  die  zweite  Ehe  gebracht  hat, 
ihre  Männer  mit.  Drei  kleine  Kinder  sind  auch  vorhan- 
den; sie  fahren  samt  ihren  Müttern  auf  dem  Wagen, 
machen  sich's  bequem  in  den  rotgepolsterten  Sesseln  mit- 
ten in  einem  Berg  von  Kleinigkeiten  und  Vorräten.  Die 
übrigen  erwachsenen  Leute  wandern  zu  Fuß.  Heute  führt 
durch  jene  Gegend  eine  schnurgerade  Autostraße,  so 
breit,  daß  vier  Wagen  in  sausender  Fahrt  aneinander  vor- 
beikommen. Damit  die  Lenker  unterwegs  nicht  einschla- 
fen, stoßen  sie  alle  paar  Meilen  auf  sinnige  Rätsel,  in  rie- 
sigen Lettern  am  Straßenbord  aufgestellt  oder  sogar  auf 

28 


den  Belag  gemalt.  Nach  wenigen  Minuten  begegnet  ihnen 
die  Lösung,  in  gleicher  Weise  wie  die  Aufgabe  erkennbar. 
Meist  kommt  die  Sache  auf  eine  Reklame  heraus;  das 
schnellste  Automobil,  die  würzigste  Salatsauce  oder  der 
raffinierteste  Kühlschrank  werden  auf  diese  Weise  dem 
Publikum  bekanntgegeben. 

Von  solchen  Errungenschaften  einer  übertriebenen  Zi- 
vilisation ahnt  die  Auswandererfamilie  allerdings  noch 
nichts.  Unverdrossen,  wenn  auch  sehr  langsam,  gelangt 
sie  dem  gelobten  Ziele  näher.  Die  neuen  Ansiedlungen  in 
Illinois  tragen  verheißungsvolle  Namen:  Eine  dieser 
«Städte»  heißt  Genua,  eine  andere  Paris,  eine  dritte  Au- 
rora und  eine  vierte  Buckingham.  Manche  dieser  Siedlun- 
gen haben  einen  phantastischen  Aufstieg  vor  sich;  so  wird 
sich  Chicago  zur  beherrschenden  Millionenstadt  entwik- 
keln.  Andere  Orte  dagegen,  die  an  sich  genau  die  gleichen 
Aussichten  gehabt  hätten,  sind  spurlos  vom  Prärieboden 
verschwunden,  und  man  kennt  —  nach  hundert  Jahren! 
—  nicht  einmal  mehr  ihre  Namen,  mögen  sie  Jerusalem, 
Sanssouci  oder  Langenthai  geheißen  haben.  Die  Namen 
solcher  Ortschaften  wurden  ja  ganz  willkürlich  gewählt; 
meistens  nannte  der  erste  Ansiedler  den  Platz  entweder 
nach  seiner  alten  Heimat  oder  nach  einer  ihm  besonders 
vertrauten  biblischen  Geschichte. 

Thomas  Lincoln  beschließt,  sich  in  New  Salem  nieder- 
zulassen. New  Salem  liegt,  ganz  anders  als  sein  alttesta- 
mentliches  Vorbild,  nicht  auf  steilem  Fels,  sondern  auf 
tellerflachem  Grasland.  In  der  Ferne  erblickt  man  die 
Umrisse  eines  einzigen  Hügels;  er  heißt  passend  Mount 
Carmel.  New  Salem  besteht  aus  ein  paar  armseligen 
Blockhäusern;  den  Mittelpunkt  bildet  eine  Mühle,  ver- 
bunden mit  Schnapsladen  und  Spezereihandlung.  Dieses 

29 


Geschäft  gedenkt  Abraham  zu  betreiben.  Er  ist,  was  den 
Dienst  am  Kunden  betrifft,  äußerst  tüchtig:  für  jeden, 
der  den  Laden  betritt,  weiß  er  ein  anregendes  Wort.  Auch 
zeichnet  er  sich  so  sehr  durch  seine  Ehrlichkeit  aus,  daß 
man  ihn  weit  und  breit  unter  dem  Namen  «the  honest 
Abe»  kennt.  Wahrscheinlich  hat  er  sich  diesen  Ehrentitel 
damals  zugezogen,  als  er  der  alten  Frau,  die  ihm  35  Cents 
zu  viel  auf  dem  Ladentisch  zurückließ,  noch  am  gleichen 
Abend  das  Geld  zurückbrachte,  obwohl  sie  viele  Meilen 
entfernt  wohnte.  Dagegen  ist  er  alles  andere  als  eine 
Krämerseele;  demzufolge  läßt  er  sich  von  gerissenen 
Händlern  betrügen  und  minderwertige  Ware  aufschwat- 
zen, und  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  gerät  sein  Unter- 
nehmen in  Konkurs. 

Dies  drückt  ihn  nicht  besonders  hart;  er  verdingt  sich 
wieder  als  Taglöhner  oder  als  Flößer,  und  eine  Zeitlang 
übernimmt  er  sogar  das  Amt  eines  Postmeisters  von  New 
Salem;  wieder  trägt  er  die  Briefe  in  seinem  Hut  aus,  und 
wieder  liest  er,  zugleich  neugierig  und  geduldig,  allen,  die 
mit  dem  Geschriebenen  Mühe  haben,  ihre  Briefe  vor  und 
kommentiert  sie  nach  Gutdünken. 

Die  Ansiedler  haben  nicht  nur  mit  ihren  eigenen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen;  da  sind  außerdem  immer 
noch  die  Indianer,  die  ihnen  das  Leben  sauer  machen. 
Diese  fühlen  sich  von  den  Weißen  überlistet  und  um  ihr 
Land  betrogen.  Stück  für  Stück  müssen  sie  vor  den  Pionie- 
ren zurückweichen;  sie  haben  ihre  Dörfer  an  den  Fluß- 
läufen in  den  Wäldern  und  lassen  sich  nur  selten  blicken. 
Einige  von  ihnen  sprechen  ein  wenig  Englisch;  mit  ihnen 
versucht  man  notdürftig  Handel  zu  treiben.  Keiner  von 
ihnen  geht  einem  richtigen  Gewerbe  nach;  sie  jagen  in 
ihren  Gründen  und  stellen  den  Pelztieren  Fallen.  Die  Felle 


30 


vertauschen  sie  gegen  die  Erzeugnisse  Europas  und  des 
amerikanischen  Ostens  und  fühlen  sich,  obgleich  sie  selbst 
leidenschaftlich  hinter  Schießpulver  und  Whisky  und  ihre 
Weiber  hinter  den  grellbunten  Kattunstoffen  her  sind, 
nach  jedem  Tausch  von  den  Bleichgesichtern  betrogen, 
mit  Grund!  So  holen  sie  sich  den  Lohn,  den  man  ihnen 
vorenthält,  selbst.  In  Banden  schleichen  sie  nachts  in  die 
Siedlungen,  rauben,  plündern  und  morden  auch,  wenn 
sich  eine  Gelegenheit  dazu  ergibt.  Die  Pioniere  rächen 
sich,  indem  sie  unbarmherzig  jeden  Indianer,  der  ihnen 
auf  unlauterem  Pfade  begegnet,  nach  kurzem  Stand- 
gericht öffentlich  hängen.  So  herrscht  bittere  Feindschaft 
zwischen  Weißen  und  Roten;  Unrecht,  Gewalt,  Hinter- 
list und  Vertragsbruch  finden  sich  auf  beiden  Seiten 
gleichmäßig  verteilt.  Aber  die  Ansiedler  bleiben  auf  die 
Dauer  die  Stärkern. 

1831  verdichten  sich  die  Streitigkeiten  mit  den  Indianer- 
stämmen im  Nordwesten  des  Staates  zum  «Krieg  des 
Schwarzen  Falken».  Der  Gouverneur  von  Illinois  sucht 
Freiwillige  für  seine  Armee;  eine  Welle  von  Begeisterung 
für  Recht,  Freiheit,  Kultur  und  Fortschritt  geht  durchs 
Land,  und  in  den  Forts  sammeln  sich  die  jungen  Männer, 
welche  gewillt  sind,  ihr  Leben  einzusetzen,  damit  der 
Indianerplage  ein  Ende  bereitet  werden  könne.  Abraham 
Lincoln,  gleichzeitig  wieder  einmal  ohne  rechte  Arbeit 
und  unternehmungslustig  wie  immer,  meldet  sich  und 
wird  —  es  geht  in  dieser  Armee  äußerst  demokratisch 
zu!  —  sofort  von  seiner  Kompagnie  zum  Hauptmann  ge- 
wählt. Zwar  hat  er  —  zu  seinem  Leidwesen  —  nicht  ein 
einziges  Mal  Gelegenheit,  seine  Leute  gegen  die  Banden 
des  «Schwarzen  Falken»  ins  Feuer  zu  führen,  und  Kriegs- 
ruhm bleibt  ihm  versagt.  Dennoch  hat  er  zeitlebens  ver- 

3i 


sichert,  jene  Hauptmannswürde  habe  ihn  mit  größerem 
Stolz  erfüllt  als  alle  späteren  Ehrungen.  Er  gilt  als  un- 
besiegbar stark  im  Ringkampf,  als  guter  Redner,  als  kluger 
Anführer,  als  Friedensstifter  und  Tausendkünstler.  Er 
hat  nun,  wahrscheinlich  ohne  es  selbst  zu  ahnen,  schon 
einen  wichtigen  Punkt  seiner  staatsmännischen  Laufbahn 
erreicht:  Sein  Name  wird  von  allen,  die  je  mit  ihm  zu  tun 
hatten,  mit  Achtung  genannt.  Man  traut  ihm  zu,  daß  er 
hält,  was  er  verspricht. 

Und  er  verspricht  seinen  Freunden,  er  wolle  ein  zuver- 
lässiger, ehrlicher  Vertreter  des  Guten  werden,  wenn  sie 
ihn  in  den  Landtag  abordnen.  Wer  in  der  amerikanischen 
Politik  eine  Rolle  spielen  will,  der  darf  sich  nicht  schämen, 
selbst  vor  seine  Wähler  hinzutreten  und  ihnen  seine  Ge- 
danken auseinanderzusetzen.  Die  Gedanken  Lincolns  ge- 
fallen seinen  Mitbürgern:  er  wird  gegen  die  Sklaverei 
und  für  ein  freies,  aufsteigendes,  fortschrittliches  Illinois 
kämpfen.  Im  Ausmalen  von  Zukunftsplänen  ist  er  nicht 
gerade  zurückhaltend:  Er  redet  von  den  Kanälen,  die 
gebaut  werden,  von  den  Eisenbahnschienen,  die  durchs 
ganze  Land  gelegt  werden  müssen.  Wenn  die  Erzeugnisse 
des  fruchtbaren  Landes  rasch  und  gefahrlos  an  die  Küste 
gesandt  werden  können,  dann  haben  wir  ungeahnte  Mög- 
lichkeiten vor  uns!  Seine  klaren  Darlegungen  leuchten 
ihnen  ein:  mit  277  gegen  drei  Stimmen  wählen  ihn  die 
Bürger  von  New  Salem  zu  ihrem  Abgeordneten.  Beim 
ersten  Anlauf  gerät  seine  Wahl  zwar  noch  nicht  vollends; 
denn  er  müßte  auch  die  meisten  Stimmen  im  ganzen  Di- 
strikt haben,  und  da  kennt  man  ihn  noch  zuwenig.  Aber 
drei  Jahre  später,  1834,  zieht  er  in  den  Ratsaal  der  Haupt- 
stadt ein,  die  den  schönen  Namen  Vandalia  trägt. 

In  diesem  Ratsaal  herrscht  ein  fröhliches  Leben.  Die 


32 


Ratsherren  sind  nicht,  wie  in  den  abendländischen  Parla- 
menten, durch  eine  Verordnung  «gehalten,  zu  den  Sitzun- 
gen in  dunklem  Anzug  zu  erscheinen».  Die  meisten  reiten 
in  die  Hauptstadt,  mit  der  verwaschenen  Lederhose  be- 
kleidet, den  Schlapphut  auf  dem  Kopf  und  den  unver- 
meidlichen Regenschirm  am  Sattelknauf.  In  ihren  An- 
sprachen suchen  die  Abgeordneten  nicht  lange  nach 
gewählten  Ausdrücken.  Sie  reden  frisch  von  der  Leber 
weg,  und  wer  seine  Sache  klar  und  kurz  vorbringt  und 
ihre  Wichtigkeit  mit  dem  saftigsten  Witz  unterstreicht, 
der  hat  gewonnen.  Keiner  von  diesen  Ansiedlern  ist  mit 
Schulweisheit  oder  mit  altem  Kulturgut  überlastet.  Jeder 
spuckt  aus,  wann  und  wo  es  ihm  paßt;  man  ißt  lieber  mit 
dem  Messer  und  den  Händen  als  mit  dem  unpraktischen 
Besteck,  und  wenn  ein  Satz  besonders  ernst  gemeint  ist, 
muß  unbedingt  ein  «verdammt»  oder  «Teufel»  ein- 
geflochten werden.  Die  Ratsherren  passen  also  nicht 
schlecht  nach  Vandalia. 

In  den  ersten  Jahren  seiner  politischen  Tätigkeit  zeich- 
net sich  Lincoln  durch  nichts  Besonderes  aus.  Er  hört 
genau  zu,  was  die  andern  sprechen,  und  ergreift  selten  das 
Wort.  Wenigstens  nicht  in  den  öffentlichen  Verhand- 
lungen. Dafür  mischt  er  sich  gerne  in  die  Gespräche  in 
den  «Wandelgängen»  des  Parlaments,  falls  man  diesen 
feierlichen  Ausdruck  hier  anwenden  darf.  Er  ist  ein 
Freund  von  Kompromissen  und  Kuhhändeln,  nie  aus 
Charakterlosigkeit,  sondern  stets  um  des  Ausgleichs  und 
des  lieben  Friedens  willen.  Er  hat  von  Kind  auf  erlebt, 
wie  wichtig  es  ist,  wenn  ein  Nachbar  dem  andern  hilft, 
die  Pfähle  beim  Bau  des  Blockhauses  einzurammen.  Ein 
Dienst  ist  den  andern  wert,  und  dem  Menschen  ist  die 
Gabe  der  Rede  geschenkt,  um  sein  Herz  und  seine  Ab- 


3     Sticfc»ib«rg»r,  Abraham  Lincoln 


33 


sichten  dem  Mitmenschen  deutlich  zu  machen.  Im  Zusam- 
menspiel der  Kräfte  besteht  das  Wesen  der  Demokratie. 

Aus  dem  mageren  Gehalt  eines  Abgeordneten  kann 
aber  nicht  einmal  ein  Lincoln  leben.  So  sucht  er  wieder 
einen  Nebenverdienst,  diesmal  als  Geometer.  Das  Land 
in  diesen  jungen  Staaten  ist  noch  nicht  vermessen;  aber 
bald  wird  jede  Quadratmeile  wichtig  sein.  Schon  reisen 
die  Spekulanten  aus  dem  Osten  herbei,  Leute  mit  dicken 
Brieftaschen  und  mit  noch  dickerem  Selbstbewußtsein. 
Sie  sind  der  Meinung,  die  Pioniere  hätten  ihre  Sache  nun 
getan,  jetzt  seien  sie  selbst  an  der  Reihe,  das  eroberte  Land 
zu  erben.  Auch  die  Kultivierung  Nordamerikas  geht  ihren 
geregelten  Gang:  Zuerst  haben  die  Indianer  vor  den  An- 
siedlern zurückzuweichen,  dann  die  Ansiedler  vor  den 
Spekulanten,  von  denen  die  meisten  auch  wieder  beiseite 
gedrückt  werden,  verkrachen,  in  Konkurs  geraten  und 
das  Feld  einigen  wenigen  überlassen  müssen. 

Wer  aber  gehört  zu  diesen  wenigen?  Gibt  es  irgend- 
einen Adel,  einen  Vorrang  der  Familie  oder  des  Blutes 
in  diesen  neuerstehenden  Staaten?  Keine  Spur!  Wer  zäh 
ist  und  den  Mut  nicht  sinken  läßt,  behält  die  Oberhand. 
Auch  die  Bildung  spielt  eine  untergeordnete  Rolle.  Auf 
Hochschuldiplome  pfeifen  die  Ansiedler  und  die  Speku- 
lanten. Rechtsanwalt  zum  Beispiel  kann  jeder  mit  gesun- 
dem Menschenverstand  und  mit  Mutterwitz  begabte  Bür- 
ger werden.  Er  braucht  weder  ein  Gymnasium  besucht 
noch  die  Maturität  bestanden  zu  haben.  So  wird  Lincoln 
Rechtsanwalt.  Schon  als  Junge  hat  er  ja  die  Gesetzessamm- 
lung des  Staates  Indiana  zwar  nicht  wörtlich  auswendig, 
aber  doch  dem  Sinne  nach  gelernt.  Und  dies  ist  in  Amerika 
wichtiger:  Man  wünscht  dort  nicht  nach  Paragraphen, 
sondern  nach  gerechtem  Empfinden  von  den  Gerichten 

34 


beurteilt  zu  werden.  In  den  Verhandlungen  pflegt  sich 
Lincoln  wenig  in  die  Debatten  zu  mischen.  In  etwas  vorn- 
übergebeugter Haltung  hört  er  sich  Rede  und  Gegenrede 
an,  freut  sich,  wenn  sich  die  Gegner  in  Spitzfindigkeiten 
und  kleinlichen  Plänkeleien  festhauen,  damit  er  dann 
plötzlich  lachend  mit  der  Faust  auf  den  Tisch  schlagen 
und  ausrufen  kann:  «Wozu  denn  diese  Aufregung?  Die 
Sache  ist  ja  klar  wie  Erbsensuppe!»  Und  in  der  Tat  gelingt 
es  ihm  fast  immer,  mit  einem  träfen  Schlag  den  gordischen 
Knoten  zu  durchschneiden. 

Zu  besonderem  Ansehen  verhilft  ihm  der  Fall  Arm- 
strong. Dieser,  ein  junger  Mensch  von  weder  gutem  noch 
bösem  Leumund,  ist  des  vorsätzlichen  Mordes  angeklagt. 
Seine  Mutter  bittet  in  ihrer  Verzweiflung  den  Advokaten 
Lincoln,  ihren  Aeltesten  vor  dem  schmählichen  Tod  zu 
retten.  Ein  einziger  Augenzeuge  ist  vorhanden,  ein 
Mensch  von  niederträchtigem  Aussehen,  der  jedoch  be- 
hauptet, Armstrong  in  jener  Nacht  beobachtet  zu  haben, 
wie  er  seinem  Opfer  das  Messer  in  die  Brust  stieß.  Ein 
Irrtum  sei  ausgeschlossen,  versichert  der  Belastungszeuge 
unter  rhetorischem  Aufwand;  denn  die  Tat  sei  im  hellen 
Mondlicht  begangen  worden;  man  habe  jede  Einzelheit 
deutlich  wahrnehmen  können.  Lincoln  hat  während  dieser 
Rede  gemächlich  seinen  Taschenkalender  zu  Rate  ge- 
zogen. «Wissen  Sie»,  fragt  er  den  Zeugen  freundlich  und 
sachlich,  «um  wieviel  Uhr  ungefähr  der  Mord  begangen 
wurde?»  —  «Klar»,  ruft  der  andere  selbstbewußt,  «so 
etwas  merkt  man  sich  doch:  Es  war  halb  elf  Uhr.»  Nun 
steht  der  Anwalt  auf  und  zeigt  mit  ausgestrecktem  Arm 
und  überlangem  Finger  auf  den  Zeugen.  «Sie  sind  ein 
verfluchter  Lügner»,  schreit  er  ihn  an,  «in  jener  Nacht 
ging  der  Mond  erst  nach  zwölf  Uhr  auf!» 

35 


Lincoln  verdankt  seine  Beliebtheit  allerdings  nicht  nur 
seiner  Geschicklichkeit,  sondern  auch  seiner  Unbestech- 
lichkeit. Zweifelhafte  Fälle  lehnt  er  glatt  ab,  auch  wenn 
ein  fettes  Honorar  winkt.  Hier  unterscheidet  er  sich  von 
den  meisten  seiner  Konkurrenten,  denen  das  Verdrehen 
der  Tatsachen  und  das  Schwarz-in-Weiß-Verwandeln 
Spaß  macht.  Sein  Zuname  bleibt  weiterhin  «the  honest)/. 

Doch  darf  man  sich  ja  nicht  vorstellen,  Lincoln  sei  nun, 
einmal  auf  der  ersten  Stufe  der  Treppe  nach  oben  an- 
gelangt, in  schöner  Regelmäßigkeit  höher  und  höher  ge- 
stiegen. Es  folgten  schon  in  den  ersten  Jahren  seines  Er- 
folges Rückschläge,  die,  hätten  sie  einen  jungen  Politiker 
Europas  getroffen,  ihn  für  sein  weiteres  Leben  in  der 
Oeffentlichkeit  gelähmt  hätten.  Aber  in  den  Staaten  ist 
man  in  jener  bewegten,  rauhen  Zeit  weniger  heikel  und 
weniger  nachträgerisch.  Man  nimmt  es  ihm  weiter  nicht 
übel,  daß  er  den  Bodenspekulanten  im  Zeichen  des  tech- 
nischen Fortschritts  zu  eifrig  in  die  Hände  gearbeitet  hat. 

Den  Unternehmern  von  Illinois  war  der  Bau  des  Erie- 
Kanals  in  den  Kopf  gestiegen.  Ein  Wunderwerk,  das  mit 
seinen  540  Kilometern  Länge  und  mit  seinen  34  Schleusen 
nicht  nur  wieder  einmal  Amerika  als  das  Land  der  un- 
begrenzten Möglichkeiten  bestätigte,  sondern  das  auch 
der  immer  mächtiger  werdenden  Stadt  New  York  un- 
geahnte Vorteile  brachte;  die  Waren  konnten  nun  auf 
dem  billigen  Wasserweg  direkt  aus  den  westlichen  Staaten 
in  den  Atlantik  geführt  werden.  Also:  Kanäle  auch  in 
Illinois!  Außerdem  Eisenbahnen!  Jenen  Männern,  welche 
in  beständigen  Händeln  mit  den  Indianern  lebten,  welche 
noch  Bären  und  Wölfe  in  den  Wäldern  jagten  und  von 
denen  die  meisten  noch  nie  ein  ganzes  Buch  gelesen  hat- 
ten, bedeutete  die  Eisenbahn  Glück  und  Zukunft.  So 

36 


nahm  das  Staatsparlament  von  Illinois  1836  —  zehn  Jahre 
bevor  in  der  Schweiz  die  ersten  Schienen  gelegt  wur- 
den! —  eine  Anleihe  von  zwölf  Millionen  Dollar  auf, 
um  ein  Bahnnetz  von  etwa  1800  Kilometern  anzulegen. 
Dabei  ging  man  ganz  anders  vor  als  im  rückständigen 
Europa:  Während  sich  dort  die  größten  Städte  noch  über- 
legten, ob  sie  zwischen  sich  überhaupt  einen  Schienen- 
strang dulden  wollten  und  hin  und  her  debattierten,  ob 
die  Linie  nicht  durch  einen  Bretterhag  unsichtbar  zu 
machen  sei  —  Zuschauer  könnten  sonst  vor  Schreck  über 
den  Anblick  des  fauchenden  Ungetüms  an  ihrer  Gesund- 
heit Schaden  nehmen!  — ,  legte  man  im  Mittleren  Westen 
Schienen  über  das  Grasland,  die  Ortschaften  miteinander 
verbanden,  welche  vorläufig  erst  auf  dem  Papier  bestan- 
den. Noch  nie  vorher  hatte  Lincoln  eine  Sache  so  warm- 
herzig und  eifrig  im  Parlament  vertreten  wie  den  sofor- 
tigen Eisenbahnbau,  den  tüchtige  Unternehmer  mit  Hilfe 
der  Allgemeinheit  beginnen  wollten.  Amerika  erwachte 
zu  eigenem  Leben;  als  Zeichen  der  Selbständigkeit  über- 
nahm es  nicht  einmal  die  englische  Spurbreite,  sondern 
stellte  seine  Wagen  auf  dreizehn  Millimeter  breitere 
Gestelle. 

Doch  schon  nach  einem  Jahr  zeigt  es  sich,  daß  die  Pläne 
zu  übereilt  waren.  Der  Aufschwung  wird  und  muß  einmal 
kommen,  doch  nicht  mit  der  erwarteten  Plötzlichkeit. 
Die  Eisenbahnaktien  sinken,  sinken.  Es  gibt  wieder  einmal 
Konkurse  und  Börsenkrache,  und  fast  jedermann  beginnt 
unter  der  Krise  zu  leiden.  Aber  niemand  nimmt  dem  be- 
gabtesten Vorkämpfer  der  neuen  Verkehrsmittel  seinen 
Eifer  krumm:  Lincoln  genießt  weiter  das  Zutrauen  seiner 
Klienten  und  seiner  Wähler:  Sie  schicken  ihn  bei  jeder 
Neuwahl  wieder  als  ihren  Mann  ins  Parlament. 


37 


Eine  andere  Sache  ist  ihm  gelungen:  die  Hauptstadt 
von  Vandalia  nach  Springfield  zu  verlegen.  Möglicher- 
weise ein  Kennzeichen  dafür,  daß  der  Staat  Illinois  keinen 
Wert  mehr  darauf  legt,  zu  den  barbarischen  Ländern  zu 
gehören;  doch  hat  der  anrüchige  Name  der  älteren  Haupt- 
stadt nicht  Anlaß  zu  ihrer  Degradierung  als  Kapitale  ge- 
geben, sondern  die  Beobachtung,  daß  Handel  und  Ver- 
kehr sich  stets  deutlicher  nach  Norden  verlagern.  Chicago, 
die  Drehscheibe  des  binnenländischen  Handels,  darf  nicht 
zu  weit  von  den  Verwaltungen  entfernt  liegen. 

Wenn  aber  das  Parlament  von  Vandalia  nach  Spring- 
field übersiedelt,  dann  ist  es  an  der  Zeit,  daß  Lincoln  seine 
Anwaltstätigkeit  ebenfalls  in  die  Hauptstadt  verlegt.  Bis 
jetzt  war  er  immer  noch  in  New  Salem  zu  treffen.  In  Zu- 
kunft ist  dies  aber  nicht  mehr  möglich;  denn  1837,  im 
Zusammenhang  mit  der  großen  Krise,  die  das  Land  heim- 
sucht, geht  New  Salem  buchstäblich  ein.  Die  Farmer 
suchen  sich  neue  Wohnsitze  an  einem  Kanal  oder  an  einer 
der  geplanten  Eisenbahnstrecken,  andere  wandern  weiter 
nach  dem  unerforschten  Westen,  die  kühnsten  versuchen, 
bis  zum  sagenhaften  Goldland  Kalifornien  vorzudringen. 
So  haben  auch  Schnapsschenken,  Spezereiläden  und  Müh- 
len ihren  Sinn  verloren,  und  für  einen  Rechtsanwalt  hat 
der  tote  Winkel  erst  recht  keine  Bedeutung  mehr.  Die 
vollbepackten  Ochsenwagen  verlassen  die  Siedlung  nach 
allen  Richtungen;  bald  liegen  die  Blockhäuser  einsam  in 
der  Ebene.  Ungestört  wird  sich  die  Klapperschlange  in 
den  grasbewachsenen  Ecken  verkriechen  können,  und 
das  heisere  Bellen  des  Präriehundes  wird  als  einziger  Laut 
zu  hören  sein.  Der  Name  New  Salem  wird  von  der  Land- 
karte gestrichen. 


3« 


Das  Gesicht  Amerikas  —  damals 


Damals  sprach  man  in  Amerika  viel  von  ungehobenen 
Goldschätzen.  Im  Jahre  1843  erregte  ein  Tagebuch  Auf- 
sehen, das  im  unwirtlichen  «Tal  des  Todes»,  einem  Teil 
der  kalifornischen  Sandwüsten,  gefunden  worden  sei. 
Neben  dem  Buch  lagen  ein  menschliches  Gerippe  und 
ein  massiv  goldener  Kessel.  Die  unordentlichen  Eintra- 
gungen auf  den  vergilbten  Blättern  besagten,  daß  drei 
Soldaten,  die  sich  in  der  Einöde  verirrt  hatten,  schließlich 
von  einem  Indianerstamm  freundlich  aufgenommen  und 
vor  dem  Verdursten  gerettet  worden  seien.  Als  sich  die 
Weißen  einigermaßen  erholt  hatten,  entdeckten  sie,  daß 
die  Rothäute  statt  kupfernen  oder  eisernen  Geschirrs  gol- 
dene Gefäße  verwendeten.  Sie  untersuchten  das  Gestein 
und  wähnten  sich  in  einer  Märchenhöhle:  Es  glitzerte  von 
goldenem  Schimmer  und  brauchte  nur  abgetragen  und 
eingeschmolzen  zu  werden.  Kurzerhand  erschossen  die 
Soldaten  den  gastfreundlichen  Indianerstamm  und  nah- 
men einen  goldenen  Kessel  mit  sich  auf  den  Heimweg. 
Sie  gelobten  sich,  keiner  Menschenseele  etwas  von  dem 
Schatze  in  der  Wüste  mitzuteilen,  und  traten  wohlgemut 
ihre  Wanderung  an.  Aber  auf  rätselhafte  Weise  brach 
unter  einem  Schmerzensschrei  einer  der  Kameraden  plötz- 
lich zusammen.  Am  nächsten  Tag  ereilte  das  nämliche 
Unglück  den  zweiten,  und  die  letzte  Eintragung  im  Tage- 
buch lautete:  «Nun  bin  ich  allein.»  Der  Kessel  bewies, 
daß  der  Chronist  nicht  gefabelt  hatte. 

Damals  erwarb  sich  der  Baselbieter  Johann  August 

39 


Suter  für  einen  Pappenstiel  riesige  fruchtbare  Landstrei- 
fen im  unbesiedelten  Lande  Kalifornien.  Er  verwandelte 
sie  in  blühende  Obstgärten  und  ward  zum  reichsten  Mann 
des  Westens.  Und  als  eine  kritische  Zeit  über  seine  Lände- 
reien hereinbrach,  entdeckte  auch  er  unversehens  Gold; 
reine  Goldkörner,  welche  von  den  Bergwassern  zu  Tal 
geschwemmt  wurden.  Von  neuem  wuchs  sein  Vermögen 
ins  Sagenhafte  —  und  zerrann  in  nichts,  da  gierige  Gold- 
sucher in  Gruppen,  dann  in  Haufen,  zuletzt  in  wilden 
Scharen  hergepilgert  kamen,  verwegene  Gesellen,  die 
Familie,  Hab  und  Gut  hinter  sich  gelassen  hatten,  um 
nach  den  neuen  Schätzen  zu  graben.  Die  sich  nicht  um 
die  Einsprüche  des  rechtmäßigen  Besitzers  kümmerten, 
auch  nicht  um  die  Gerichtsurteile,  welche  alles  Gold,  das 
auf  seinen  Gebieten  gefunden  wurde,  Johann  August 
Suter  zusprachen.  Viele  Jahre  lang  war  der  alte  «General 
Suter»  wie  ein  irrendes  Gespenst  vor  den  Parlaments- 
gebäuden und  Gerichtshöfen  zu  sehen.  Es  ging  ihm  nicht 
mehr  um  sein  Land,  auch  nicht  um  sein  Gold,  nur  noch 
um  sein  Recht.  Städte  entstanden  inzwischen  auf  seinem 
enteigneten  Grund  und  Boden,  Eisenbahnen  wurden 
gebaut,  aus  dem  wilden  Landstrich  am  Stillen  Ozean 
wuchs  der  Kulturstaat  Kalifornien.  Niemand  achtete  mehr 
auf  den  alten  Mann,  der  mit  wirren  Reden  sein  Gut  zu- 
rückforderte; höchstens  die  Kinder  rannten  lachend  hin- 
ter ihm  her. 

Damals  beschäftigte  sich  die  Oeffentlichkeit  sehr  mit 
der  seltsamen  Sekte  der  Mormonen.  Sie  selbst  nannten 
sich  am  liebsten  die  «Heiligen  der  letzten  Tage».  Ihr 
Gründer,  Joseph  Smith,  behauptete,  ihm  seien  von  einem 
Engel  zwei  wunderbare  Kristalle  gezeigt  worden,  mit 
deren  Hilfe  er  das  «Buch  Mormon»  gefunden  und  über- 

40 


setzt  habe.  Wegen  ihrer  Lehre  und  ihres  Lebens  wurden 
die  Mormonen  in  den  östlichen  Staaten  nicht  mehr  gedul- 
det; ihrem  Präsidenten  Smith  wurde  Bankschwindel,  Dieb- 
stahl, Meineid,  Mord,  Hochverrat  und  Brandstiftung  vor- 
geworfen; schließlich  verlor  er  sein  Leben  in  einem  Stra- 
ßenkampf. Unter  seinem  Nachfolger,  dem  Schreiner  und 
Glaser  Brigham  Young,  zogen  etwa  15  000  «Heilige»  in 
ihren  Ochsenwagen  westwärts,  bis  sie  in  das  Tal  des 
großen  Salzsees  gelangten.  Sie  priesen  ihre  Entbehrungen, 
die  sie  unterwegs  zu  erleiden  hatten,  als  Prüfungen  Gottes 
und  verglichen  ihre  Reise  mit  dem  Wüstenzug  des  Volkes 
Israel.  Mit  Bienenfleiß  verwandelten  sie  das  Tal  des  Salz- 
sees zum  paradiesischen  Garten.  Im  Mittelpunkt  ihrer 
neuen  Stadt  erhob  sich  ihr  Tempel,  welcher  mit  seinen 
Zinnen  und  Türmen  einer  mittelalterlichen  Burg  nach- 
gebildet war.  Das  «Tabernakel»,  der  Versammlungsraum 
dieser  ausschließlichen  Gemeinde,  glich  einer  riesigen 
hölzernen  Schildkröte.  Am  meisten  verwunderte  man  sich 
allerdings  über  die  gesetzliche  Vielweiberei,  welche  die 
Mormonen  von  den  alttestamentlichen  Patriarchen  her- 
leiteten. Young  selbst  brachte  es  zuletzt  auf  achtzehn 
Frauen  und  sechsundfünfzig  Kinder.  Daneben  aber  führ- 
ten die  Mitglieder  der  Sekte  ein  fleißiges,  stilles,  arbeit- 
sames Leben.  Grundbesitz  konnte  nicht  gekauft  werden; 
man  ließ  ihn  sich  familienweise  zur  Nutznießung  zu- 
weisen. Wer  sein  Land  schlecht  bestellte,  wurde  verwarnt, 
schließlich  aus  der  «Heiligen  Stadt»  ausgewiesen. 

Damals  befand  sich  die  Dampfmaschine  auf  ihrem 
Siegeszug  durch  die  Welt.  In  England  wurden  neue  Ver- 
suche gewissenhaft  erprobt,  in  Amerika  wandte  man  die 
europäischen  Erfindungen  augenblicklich  nützlich  an. 
Auf  den  Strömen  wimmelte  es  von  flachen  Dampfbooten, 

41 


die  den  Marktverkehr  schneller,  zuverlässiger  und  billiger 
besorgten.  Die  nordamerikanischen  Städte  machten  sich 
die  großen  Spinnmaschinen  zunutze;  der  Reichtum  aus 
der  Baumwolle  floß  nun  nicht  mehr  allein  in  die  Hände 
der  Pflanzer  im  Süden.  Ein  Erfinder  namens  Howe  schuf 
die  Nähmaschine,  ein  anderer,  McCormick,  die  Mäh- 
maschine für  den  Farmer.  Die  Drähte  des  Telegraphen 
legten  sich  wie  ein  Spinngewebe  über  den  Kontinent; 
Briefmarken  kamen  in  den  Verkehr  und  verbilligten  die 
Geschäftsabschlüsse. 


42 


Nicht  alle  Ehen  werden  im  Himmel  geschlossen! 


An  einem  besonders  unfreundlichen  Novembertag  des 
Jahres  1842  führt  Abraham  Lincoln  seine  Braut,  Miß  Mary 
Todd,  zur  Trauung  in  die  Kirche.  Die  bestandenen  Da- 
men der  Stadt  Springfield,  die  schon  manche  junge  Ehe 
begutachtet  haben  und  sich  etwas  darauf  zugute  halten, 
daß  sich  ihre  Prophezeiungen  fast  immer  erfüllen,  schüt- 
teln bedenklich  ihre  Häupter.  Der  Bräutigam  ist  ihnen 
zwar  sympathisch  und  die  Braut  sogar  außerordentlich 
hübsch  zu  nennen;  aber  passen  werden  die  beiden  kaum 
zusammen! 

Lincoln  setzt  zum  Kirchgang  eine  besonders  verdros- 
sene Miene  auf.  Hin  und  her  schlenkert  er  seine  langen 
Arme,  bis  ihn  flüsternd  ein  Freund  auf  den  Gedanken 
bringt,  mit  dem  rechten  Arm  die  in  etwas  zu  glitzernde 
Seide  gehüllte,  blendend  weiße  Braut  zu  führen.  Er  ver- 
meint, einer  unbequemen  Zeremonie  beizuwohnen;  so 
fühlt  man  anläßlich  der  Beerdigung  eines  entfernten  Ver- 
wandten, den  man  kaum  gekannt  hat.  Vielleicht  wird 
heute  die  Bestattung  seiner  persönlichen  Freiheit,  seiner 
Unabhängigkeit  gefeiert? 

Ein  Gassenjunge,  wegen  seines  widerlichen  Aussehens 
und  wegen  seines  großen  Maules  in  ganz  Springfield  un- 
ter dem  Namen  «Catfish»  bekannt,  drängt  sich  durch  die 
Zuschauermenge,  stemmt  die  Arme  in  die  Hüften  und 
ruft  dem  Bräutigam  frech  ins  Gesicht:  «He,  Abe,  wohin 
gehst  du  heute?»  —  «Vermutlich  zur  Hölle!»  antwortet 
der  so  deutlich,  daß  seine  Worte  nicht  nur  von  der  Braut, 


43 


sondern  auch  von  einem  entsetzten  Chronisten  gehört 
werden. 


Vielleicht  hätte  Lincoln  Mary  Todd  nicht  heiraten  sol- 
len. Sie  war  weder  seine  erste  noch  seine  große  Liebe. 
Als  junger  Advokat  hatte  er  ein  Mädchen  kennengelernt, 
Ann  Rutledge  mit  Namen.  Sie  fiel  der  Umwelt  weder 
durch  ihre  Schönheit  noch  durch  besondere  Begabung 
auf.  Sie  gehörte  zu  den  Menschen,  die  ihr  Licht  stets, 
wenn  sie  es  vor  den  Leuten  sehen  lassen  sollten,  unter  den 
Scheffel  stellen.  Sie  hatte  eine  hübsche  Stimme,  weigerte 
sich  aber  standhaft,  bei  Nachmittagsgesellschaften  zu  sin- 
gen. Und  das  Vorsingen  gehörte  damals  zum  Pflichten- 
kreis einer  Tochter,  die  etwas  auf  sich  hielt.  Außerdem 
zeichnete  Ann  mit  Geschick,  was  ihr  gefiel  und  was  ihr 
einfiel:  Landschaften,  Porträts  und  Illustrationen  zu 
phantastischen  Geschichten.  Am  liebsten  vertiefte  sie  sich 
in  die  Welt  der  Blumen,  Schmetterlinge  und  kleinen  Kä- 
fer, und  die  Albumblätter,  auf  denen  sie  Blüten  oder 
Insekten  wiedergab,  hätten  einem  geschulten  Künstler 
Ehre  eingelegt.  Doch  sie  verwahrte  all  ihre  Blätter  in 
einem  alten  Schrank  und  verschenkte  sie  niemandem. 

Abraham  Lincoln  war  stolz  auf  die  Freundschaft  zu  die- 
sem lichtvollen,  charakterfesten  Wesen.  Am  Tage,  an 
welchem  er  sie  kennenlernte,  nahm  er  sich  vor,  sie  zu 
heiraten.  Sie  war  mit  diesem  Plan  einverstanden,  nur 
wünschte  sie,  daß  er  zuerst  «etwas  Rechtes»  werde.  Zwar 
hätte  sie  sich  nicht  gescheut,  mit  ihm  Armut  und  Strapa- 
zen zu  teilen,  doch  wußte  sie  in  ihrer  Klugheit,  daß  zigeu- 
nerhafte Zweisamkeit  einer  künftigen  Entwicklung  nicht 
förderlich  sei.  Sie  war  die  Frau  nach  seinem  Herzen:  Da 

44 


er  sich  keine  Sekretärin  leisten  konnte,  schrieb  sie  ihm  die 
längsten  Gutachten  fehlerfrei  ins  reine;  sie  bediente  seine 
Kopierpresse  und  sorgte  für  Federn,  Tinte  und  Streusand 
auf  seinem  Schreibtisch.  Sie  hielt  seine  Kleider  in  Ord- 
nung und  machte  ihn  —  ohne  daraus  eine  wichtige  Ge- 
schichte anzufangen  —  auf  die  dringende  Notwendigkeit 
aufmerksam,  endlich  einen  neuen  Kragen  zu  kaufen.  Er 
verglich  sie  mit  Rebekka  und  Ruth,  mit  Rahel  und  Abisag 
von  Sunem  und  mit  sämtlichen  lieblichen  Frauengestalten 
aus  der  Bibel,  die  ihm  aus  seiner  Bubenzeit  noch  eindrück- 
lich waren. 

Aber  Ann  starb  plötzlich.  Da  fühlte  er  sich  so  allein, 
daß  er  oft  in  wilder  Verzweiflung  einen  Zwang  verspürte, 
sich  das  Leben  zu  nehmen  und  zu  ihr  zu  gehen.  Seine 
Freunde  fürchteten  um  seinen  Verstand.  Er  konnte  meh- 
rere Tage  lang  nacheinander  in  der  Prärie  umherirren, 
ohne  Ziel.  Nach  solchen  Reisen  kam  er  jeweils  todmüde 
nach  Hause,  ließ  sich  von  irgend  jemandem  zusprechen 
und  aß,  was  man  ihm  brachte.  Man  suchte  ihm  zu  helfen. 
Man  nahm  ihn  mit  in  Familien,  in  welchen  Töchter  im 
heiratsfähigen  Alter  auf  passende  Freier  warteten.  So  traf 
er  eine  gewisse  Nancy,  die  ihn  in  manchem  an  Ann  erin- 
nerte. Wenn  Nancy  gegen  das  Licht  am  Fenster  saß  und 
sich  mit  einer  jener  augenmörderischen  Stickereien  be- 
faßte, die  damals  Mode  waren,  und  wenn  Abe  die  Augen 
zusammenkniff,  dann  schien  sie  seiner  verstorbenen  Braut 
aufs  Haar  zu  gleichen.  Nancy  mochte  ihn  auch  ganz  gern 
leiden.  Möglicherweise  hätte  sie  ihn  sogar  geheiratet, 
wenn  er  ihr  nicht  beständig  von  Ann  vorgeschwärmt 
hätte.  «Diese  Farbenzusammenstellung  hätte  Ann  abge- 
lehnt», konnte  er  enttäuscht  feststellen,  wenn  ihm  Nancy 
ein  neues  Kleid  präsentierte,  oder  «Anns  Schrift  war  viel 

45 


leserlicher.  Gerichtsakten  schreibt  man  nicht  wie  Liebes- 
briefe.» Diese  stete  Nörgelei  ging  Nancy  auf  die  Nerven, 
sie  gab  einige  Monate  lang  auf  Lincolns  förmliche  Wer- 
bung ausweichende  Antworten,  um  ihm  dann  bei  erster 
Gelegenheit  einen  zwar  langweiligeren,  aber  gesitteteren 
und  geistig  weniger  anspruchsvollen  Bewerber  aus  dem 
Kaufmannsstand  vorzuziehen. 

Darauf  priesen  ihm  seine  Freunde  Mary  Todd.  Sie 
stammte  aus  Kentucky,  war  die  Tochter  eines  reichen  Far- 
mers und  lebte  hier  in  Springfield  bei  ihrem  Schwager. 
Von  Kindesbeinen  an  war  Mary  über  die  Maßen  ver- 
wöhnt worden.  Ihre  eigenen  Eltern  kümmerten  sich  zwar 
wenig  um  sie,  desto  mehr  ihre  schwarze  Amme,  Viola. 
Diese  rührende  Negerseele  hatte  ihren  Schützling  auch 
nach  Norden  begleitet  und  ließ  sie  nicht  aus  den  Augen. 
Sie  kleidete  Mary  an  und  aus  wie  eine  Puppe;  sie  weckte 
sie  des  Morgens  mit  girrenden  Lauten  und  brachte  sie 
abends  ins  Bett.  Sie  kostete  jede  Speise,  die  Mary  vor- 
gesetzt wurde,  und  wehrte  sich  trotz  ihrer  angeborenen 
Sanftheit  wie  ein  Muttertier,  wenn  sie  ihren  Pflegling  in 
Gefahr  wähnte. 

Marys  Hautfarbe  war  um  eine  Spur  dunkler  als  die- 
jenige der  Töchter  des  Landes.  Sie  konnte  ein  wenig  Kla- 
vier spielen,  ein  wenig  singen,  ein  wenig  sticken  und  etwa 
drei  Desserts  bereiten.  Daneben  besaß  sie  eine  unverhält- 
nismäßig reichhaltige  Garderobe,  von  Viola  aufs  pein- 
lichste instand  gehalten.  Außerdem  hatte  Mary  einige 
Bücher  allgemeinen  Inhalts  gelesen,  und  sie  meisterte  die 
Kunst,  mit  einem  Minimum  an  Wissen  «geistreiche»  Un- 
terhaltung zu  pflegen.  Sie  verfügte  auch  über  eine  gewisse 
Gabe  an  Phantasie,  die  sie  zu  ihren  Zwecken  trefflich  aus- 
zunützen verstand.  So  beherrschte  Mary  bald  die  «gute 

46 


Gesellschaft  von  Springfield;  sie  ließ  sich  Blumen, 
Früchte  und  Konfekt  zustellen  und  kargte  nicht  mit 
Gunstbezeugungen  gegen  ihre  Verehrer.  Ihre  Viola  galt 
hier  nicht  als  Sklavin,  sondern  als  Pförtnerin  zum  Tempel 
des  Glücks,  und  sie  spielte  ihre  Rolle  mit  viel  Geschick, 
heimste  dabei  auch  ordentliche  Trinkgelder  ein,  die  sie 
aber  einzig  und  allein  zum  Wohle  ihrer  verwöhnten  Her- 
rin verwandte. 

Mary  hatte  keinen  schlechten  Charakter;  sie  war  nur 
launisch  und  konnte  sich  glänzender  nach  außen  geben, 
als  ihrem  Wesen  eigentlich  entsprach.  Doch  besaß  sie  die 
Gabe  der  Menschenbeobachtung,  und  bald  hatte  sie  her- 
ausbekommen, daß  von  den  jungen  Männern,  die  sie  um- 
schwärmten, Abraham  Lincoln  bei  weitem  der  Geschei- 
teste war.  Außer  Viola  offenbarte  sie  diesen  Gedanken 
aber  niemandem,  sondern  spottete  im  trauten  Kreise  laut 
und  lustig  über  den  ungeschlachten  Advokaten  mit  seinen 
Wildwestmanieren.  Doch  zog  sie  ihn  zielbewußt  langsam, 
aber  sicher  in  ihre  Sphäre,  und  schließlich  blieb  ihm  gar 
nichts  mehr  anderes  übrig,  als  ihr  einen  Heiratsantrag  zu 
stellen,  den  sie  sofort  annahm.  Schon  eine  Stunde  später 
wußte  Lincoln,  daß  er  sich  in  das  unsinnigste  Abenteuer 
seines  Lebens  eingelassen  habe.  Denn  nach  der  Art  des 
Herkommens  und  der  Erziehung,  aber  auch  in  der  Gesin- 
nung hatte  er  überhaupt  keine  gemeinsamen  Berührungs- 
punkte mit  seiner  Braut.  Zum  Beispiel  fand  sie  die  Skla- 
verei die  selbstverständlichste  und  angenehmste  Sache 
von  der  Welt;  er  aber  galt  seit  langem  als  deren  verbis- 
senster Gegner  im  Norden. 

Aber  eine  förmlich  vorgetragene  Werbung  widerru- 
fen ?  Ein  Ehrenmann  konnte  das  niemals,  ohne  seinen  Ruf 
lebenslänglich  zu  gefährden.  Außerdem  sorgte  Viola  mit 

47 


ameisenhafter  Geschäftigkeit  dafür,  daß  jeder  Rückzug 
ausgeschlossen  blieb.  Bereits  schwatzte  sie  die  Verlobung 
auf  der  Straße  und  in  den  Läden  herum;  sie  schleppte 
Blumen  herbei  und  begann  schon  über  die  Beschaffenheit 
des  Brautkleides  zu  verhandeln. 

Die  Zeit  der  Verlobung  wurde  für  Abe  zur  Qual.  Seine 
Braut  erwies  sich  als  launisch,  eigensinnig  und  berech- 
nend; sie  prahlte  mit  unzähligen  Fähigkeiten,  die  ihr  bei 
näherem  Zusehen  vollständig  fehlten.  Auch  suchte  sie 
ihren  Bräutigam  zu  plagen,  indem  sie  allzu  freimütig  mit 
ihren  bisherigen  Freunden  weiterschäkerte.  Abraham 
hoffte  inständig,  sie  werde  sich  gelegentlich  von  einem 
ihrer  Anbeter  entführen  lassen;  doch  davor  hütete  sie  sich. 
Vielmehr  machte  sie  ihm  Vorwürfe  über  seine  mangelnde 
Eifersucht.  Um  seine  Arbeit  im  einzelnen  kümmerte  sie 
sich  überhaupt  nicht;  doch  wünschte  sie  deutlich,  er 
möge  sehr  reich  und  sehr  berühmt  werden.  Sie  war  in  jeder 
Hinsicht  das  Gegenteil  von  Ann. 

Um  diese  unschöne  Verlobungszeit  abzukürzen,  setzte 
Lincoln  im  Einvernehmen  mit  Viola  und  den  Verwandten 
seiner  Braut  den  Hochzeitstag  auf  Neujahr  1841  fest.  Er 
verlebte  seine  Silvesternacht  in  grimmiger  Einsamkeit, 
nahm  Abschied  vom  freien  Leben,  dachte  einen  Augen- 
blick daran,  Mary  oder  wenigstens  Viola  zu  erschießen, 
wollte  sich  vom  Dach  auf  die  Straße  stürzen  und  schlief 
schließlich  so  erschöpft  ein,  daß  er  —  absichtlich  oder 
unglücklicherweise  —  die  feierliche  Trauung  verpaßte. 

Einige  Monate  sprach  man  in  ganz  Springfield  von 
diesem  Skandal.  Lincoln  konnte  in  dieser  Zeit  kaum  als 
zurechnungsfähig  bezeichnet  werden.  Er  zeigte  sich  nicht 
in  der  Oeffentlichkeit;  seine  Freunde  empfing  er  mit 
geballten  Fäusten  oder  in  tiefer  Niedergeschlagenheit. 

48 


Jemand,  der  es  gut  mit  ihm  meinte,  brachte  ihn  aufs  Land. 
Hier  sah  er  in  Gedanken  Mary  vor  sich,  als  weinende,  ver- 
lassene Braut,  und  sein  Herz  schlug  ihm  in  Gewissens- 
qualen. Er  schrieb  ihr  lange,  schöne  Briefe,  in  denen  er 
sie  um  Verzeihung  bat.  Und  siehe  da:  Mary  verzieh  ihm 
und  versprach,  ihn  dennoch  zu  heiraten.  Von  neuem  hub 
eine  peinvolle  Verlobungszeit  an,  und  die  Antwort,  die 
er  am  endgültigen  Hochzeitstag  dem  rothaarigen  Gassen- 
jungen Catfish  gab,  entsprach  dem  Ergebnis  gründlicher 
Ueberlegungen.  Dieser  Augenblick  bedeutete  den  Tief- 
punkt seines  Lebens.  Schon  in  der  Kirche,  während  der 
ermunternden  Ansprache  des  ahnungslosen  Pfarrers, 
nahm  er  sich  vor,  das  Beste  aus  der  leidigen  Sache  zu 
machen,  und  tatsächlich  brachten  es  die  Ehegatten  Lincoln 
später  so  weit,  ihren  Bekannten  ein  «trautes  Heim»  vorzu- 
täuschen. 

In  die  Pläne  ihres  Mannes  hat  Frau  Lincoln  ein  ein- 
ziges Mal  eingegriffen:  Vor  der  Präsidentenwahl  1848 
sandte  ihn  seine  Partei  als  Wahlredner  in  die  Neu-Eng- 
land-Staaten.  Dort,  in  den  strengen  Städten,  deren  Bevöl- 
kerung sich  auf  ihre  Abstammung  von  den  puritanischen 
Pilgervätern  allerhand  einbildete,  hinterließ  seine  saubere, 
ehrliche  Art  einen  guten  Eindruck.  Sein  Ruhm  erscholl 
bereits  weit  über  die  Grenzen  des  Heimatstaates,  und  als 
seine  Partei  zum  Siege  kam,  wurde  ihm  der  Gouverneur- 
posten im  Territorium  Oregon  angeboten.  Seine  Freunde 
rieten  ihm  zu:  König  in  einem  unerforschten  Land  der 
unbegrenzten  Möglichkeiten!  In  wenigen  Jahren  wird 
Oregon  zum  Staat  sich  entwickeln;  bereits  sind  Pläne  vor- 
handen für  Fabriken  und  Eisenbahnen,  für  eine  Univer- 
sität und  für  eine  landwirtschaftliche  Hochschule.  An- 
genehmes, mildes  Klima,  wie  geschaffen  für  den  aus- 


4     Stickelberger,  Abraham  Lincoln 


49 


gedehnten  Ackerbau,  für  Obstkulturen,  für  Hopfenplan- 
tagen ! 

Doch  Frau  Lincoln  weigerte  sich  unter  allen  Umstän- 
den, auch  nur  einen  Fuß  in  jenes  verwünschte  Land  zu 
setzen.  Sie  hatte  sich  sagen  lassen,  dessen  Hauptstadt 
Salem  gleiche  einem  Barackendorf,  und  das  wichtigste 
Gewässer  sei  der  «Schlangenfluß».  Nein,  zu  diesen  Wild- 
westlern und  Schafzüchtern,  zu  diesen  Indianerjägern  und 
Lachsfischern,  zu  diesen  Holzfällern  und  Branntwein- 
trinkern brachte  man  sie  nicht  lebendig!  So  verzichtete 
Lincoln  auf  die  Bewerbung  und  blieb  in  Illinois,  wo  seiner 
in  Bälde  die  wichtigsten  Aufgaben  harrten. 


50 


Das  Turnier 


Jedes  Kind  im  Staate  Illinois  kennt  den  ehrlichen  Abra- 
ham Lincoln.  Man  hat  die  größte  Hochachtung  vor  ihm; 
denn  er  ist  klug,  witzig  und  unbestechlich.  Aber  man 
lächelt  auch  ein  wenig  über  ihn.  Daß  er  sich  nicht  ge- 
schickter zu  geben  weiß!  Da  steigt  er  an  einem  heißen 
Sommertag  des  Jahres  1858  in  einen  überfüllten  Zug  ein. 
In  der  rechten  Hand  trägt  er  eine  große,  bunt  bestickte 
Reisetasche,  unter  dem  linken  Arm  den  unvermeidlichen, 
riesigen,  grifflosen  Regenschirm.  Der  schlotartige  Zylin- 
der weist  große  Flecken  auf,  und  seine  Kleider  scheint 
ein  böswilliger  Schneider  geschnitten  zu  haben;  denn 
die  Ellbogen  und  Knie  stechen  mit  besonderer  Eckig- 
keit heraus. 

Ein  junger  Holzarbeiter  bietet  ihm  seinen  Platz  an, 
halb  ehrerbietig,  halb  vertraulich.  Er  weiß,  daß  der  tüch- 
tige Mister  eigentlich  aus  seinen  Kreisen  stammt,  daß  er 
es  aber  im  Laufe  der  Jahre  weit  gebracht  hat.  Ebenso  weiß 
er,  daß  der  Mister  niemals  das  Recht  der  «kleinen  Leute» 
vergessen  wird.  «Schon  wieder  auf  Reisen?»  fragt  der 
Bursche.  «Ja»,  entgegnet  Lincoln,  «das  Eisenbahnfahren 
macht  mir  Spaß.»  Jetzt  mischt  sich  ein  anderer  ins  Ge- 
spräch: «Das  ewige  Reden  gegen  den  unverfrorenen 
Douglas  macht  Ihnen  wohl  auch  keine  Mühe  ?»  «Als  Bub 
hab'  ich  mich  mit  Ferkeln  herumgeschlagen»,  antwortete 
Lincoln  lachend.  Er  spricht  den  Gedanken  nicht  fertig, 
aber  er  blinzelt  munter  die  Mitfahrenden  an  und  erzählt 
ihnen    allerhand    waghalsige    Geschichten    aus    seiner 


♦• 


5* 


Jugend.  Von  Büffeln  und  Schlangen,  Indianern  und 
Räubern.  «Dann  sind  Sie  wohl  ein  begeisterter  Jäger  und 
Fallensteller?»  fragt  der  Bursche,  der  ihm  den  Sitz  über- 
lassen hat.  Aber  dagegen  verwahrt  sich  Lincoln  energisch. 
«Tieren  kann  ich  nichts  zuleide  tun,  nicht  einmal  den 
wilden»,  erklärt  er.  Und  er  berichtet,  wie  er  einst  dazu 
kam,  als  ein  paar  Knaben  einer  Schildkröte  glühende 
Kohlen  auf  den  Panzer  legten,  wie  er,  selbst  noch  ein 
Junge,  die  Tierquäler  verprügelt  und  darauf  einen  flam- 
menden Aufsatz  über  Tierschutz  geschrieben  habe.  «Und 
das  waren  doch  auch  Sie,  Mister  Lincoln»,  fragt  jemand, 
«der  kürzlich  den  Postwagen  anhalten  ließ,  um  ein  er- 
trinkendes Schwein  aus  dem  Morast  zu  heben!»  —  «Wo- 
her haben  Sie  diese  dumme  Geschichte?»  fragt  Lincoln 
unwirsch.  Alles  lacht  und  ruft:  «Das  stand  doch  groß 
in  der  Zeitung!» 

Aus  den  Tiefen  seiner  Reisetasche  zieht  er  nun  ein 
Buch  und  beginnt  eifrig  zu  lesen.  Zuweilen  nickt  er  Bei- 
fall, oft  schüttelt  er  den  Kopf,  lächelt,  murmelt  eine  halb- 
laute Bemerkung  und  zeichnet  diese  oder  jene  Stelle  mit 
energischem  Bleistiftstrich  an.  Er  studiert  das  Buch,  wel- 
ches die  brennendste  Frage  Amerikas  kühn  in  Angriff 
nimmt  und  die  schon  erhitzten  Gemüter  zum  Glühen 
bringt:  Onkel  Toms  Hütte.  Noch  nie,  seit  es  in  Amerika 
Bücher  gibt,  ist  eines  so  viel  gekauft,  gelesen,  disputiert, 
als  neues  Evangelium  gepriesen  oder  als  heuchlerisches 
Machwerk  angefeindet  worden.  Die  Sklavenfrage  bedeu- 
tet gegenwärtig  eine  furchtbare  Wunde  am  Leibe  der 
Vereinigten  Staaten.  Wenn  sie  nicht  bald  geheilt  wird, 
muß  das  junge  Gemeinwesen  an  ihr  zugrunde  gehen. 

Die  Südstaaten,  konservativ  auf  den  Baumwollsegen 
bauend,  welchen  ihnen  ihre  von  Schwarzen  betreuten 

5* 


Plantagen  einbringen,  wollen  sich  nicht  in  ihre  Gesetze 
reden  lassen.  Sie  treten  dafür  ein,  daß  in  den  beiden  neuen 
Territorien,  Kansas  und  Nebraska,  der  Sklavenhandel  er- 
laubt werde.  Eine  solche  Regelung  aber  würde  klar  einem 
Abkommen  widersprechen,  welches  «Missourikompro- 
miß» heißt  und  festlegt,  daß  nördlich  von  36°  30'  jede 
Sklaverei  ausgeschlossen  sei.  In  die  Nordstaaten  dagegen 
fluten  alljährlich  Einwanderungswellen  aus  der  Alten 
Welt.  Deutsche  und  Polen,  Italiener  und  Iren  suchen  und 
finden  in  den  rasch  wachsenden  Städten  am  Atlantischen 
Ozean  Arbeit.  Ihren  europäischen  Begriffen  ist  die  Skla- 
verei in  jeder  Hinsicht  eine  verbrecherische,  mittelalter- 
liche Sache;  außerdem  bedeuten  die  umsonst  arbeitenden 
Neger  für  sie  eine  unwillkommene  Konkurrenz.  So 
mischen  sich  im  Norden  menschenfreundliches  Ideal  und 
geschäftstüchtige  Spekulation,  im  Süden  patriarchalisches 
Festhalten  am  Hergebrachten  und  bequeme  Art  des  Wohl- 
lebens; immer  härter  und  unversöhnlicher  stoßen  die 
Gegensätze  aufeinander.  Am  besten  vermag  man  in  den 
mittleren  Staaten  das  Für  und  Wider  gegeneinander  ab- 
zuwägen. 

Lincoln  freut  sich  über  Frau  Beecher-Stowes  mutiges 
Buch.  Natürlich  erkennt  er  schon  nach  wenigen  Seiten, 
daß  es  sich  hier  um  eine  Tendenzschrift  handelt.  Obwohl 
er  eine  mitleidige  Seele  hat,  obwohl  er  das  Beschämende 
einer  Sklavenauktion  mit  eigenen  Augen  gesehen  und  im 
Herzen  viel  deswegen  erlitten  hat,  weiß  er,  daß  man  diese 
wichtigste  nationale  Frage  nicht  auf  sentimentaler  Grund- 
lage regeln  kann.  Da  gibt  es  Leute  im  Norden,  die  wahr- 
scheinlich noch  nie  einen  leibhaftigen  Neger  gesehen 
haben,  aber  sogleich  bereit  wären,  alle  Sklaven  von  einem 
Tag  auf  den  andern  freizulassen,  ihnen  von  Staates  wegen 

53 


irgendwo  ein  Grundstück  auszuhändigen,  ihnen  das 
Stimmrecht  zu  geben  und  ihnen  als  Brüder  um  den  Hals 
zu  fallen.  «Und  damit  wäre  die  Sklavenfrage  endgültig 
aus  der  Welt  geschafft!»  pflegen  diese  oberflächlichen 
Idealisten  am  Schlüsse  ihrer  Ausführungen  zu  sagen.  Was 
aus  den  Baumwollkulturen  geschehen  soll,  interessiert 
sie  weniger.  Ebensowenig  der  Umstand,  daß  diese  Schwar- 
zen überhaupt  nicht  geschult  sind,  daß  man  sie  zuerst  da- 
zu erziehen  müßte,  freie  Bürger  eines  freien  Staates  zu 
sein.  Man  kann  doch  nicht,  wie  dies  kürzlich  ein  Metho- 
distenprediger in  New  York  getan  hat,  die  Weißen  im 
Süden  einfach  mit  dem  «reichen  Mann»  im  Gleichnis 
und  die  Schwarzen  mit  dem  «armen  Lazarus»  vergleichen 
und  vorschlagen,  man  solle  im  Namen  Gottes  den  Spieß 
nun  umkehren,  den  Negern  die  Wonnen  des  Daseins 
gönnen  und  die  Weißen  peinigen  lassen.  Eine  sofortige 
Freilassung  aller  Sklaven  brächte  die  ganze  Ordnung  des 
Staates  außer  Rand  und  Band.  Das  weiß  Lincoln.  Er  tritt 
für  eine  schrittweise  Reform  ein,  ohne  Gewalttat  und 
Revolution.  Das  Stimmrecht  möchte  er  nur  den  intelligen- 
ten Negern  einräumen,  die  sich  in  der  Freiheit  bewährt 
haben.  Aber  das  Ziel,  die  vollständige  Abschaffung  aller 
Sklavenhaltung,  ist  ihm  so  klar  wie  der  Verfasserin  von 
«Onkel  Toms  Hütte». 

Doch  vorläufig  handelt  es  sich  erst  um  einen  kleinen 
Schritt:  um  die  Verhinderung,  daß  die  neuen  Territorien 
von  Sklavenhaltern  besiedelt  werden. 

Heute  nachmittag  wird  er  wieder  einmal  mit  seinem 
Gegner  Douglas  zusammenstoßen.  Der  stammt  aus  dem 
einfachen  Volke  gleich  ihm,  zeichnete  sich  ebenfalls 
schon  früh  durch  seine  lebhafte  Auffassungsgabe  aus, 
wurde  Rechtsanwalt;  Douglas  und  Lincoln  haben  recht 

54 


viel  Aehnlichkeit  miteinander.  Aber  in  anderm  unter- 
scheiden sie  sich  voneinander  desto  gründlicher.  Douglas 
verheimlicht  seine  Herkunft  so  gut  er  kann.  Hätte  er  die 
feine  Mary  Todd  geheiratet,  er  wäre  ihr  gelehrigster 
Schüler  gewesen!  Stets  trägt  er  auf  Reisen  feine  lederne 
Handschuhe;  sein  Anzug  ist  immer  frisch  gebügelt  und 
sitzt  bis  zur  letzten  Falte.  Auch  er  kann,  wenn  es  sein 
muß,  den  leutseligen  Volksfreund  spielen.  Doch  viel 
lieber  reist  er  im  Sonderwagen  und  unterhält  sich  mit 
Leuten  aus  den  gehobenen  Schichten.  So  etwas  gibt  es 
bereits  auch  in  den  westlichen  Staaten.  In  wenigen  Jahr- 
zehnten ist  hier  eine  gewaltige  Wandlung  vor  sich  ge- 
gangen: Aus  den  Ansiedlern  sind  Farmer  geworden,  aus 
den  Schnapsbudenbesitzern  Kaufleute,  welche  die  tele- 
graphisch übermittelten  Börsenberichte  verfolgen.  Und 
wenn  sie  selbst  auch  noch  nicht  ganz  so  reden,  wie  es 
sich  für  Gentlemen  schickt,  wenn  sie  auch  hin  und  wieder 
ein  «verdammt»  und  «verflucht»  in  ihre  Aeußerungen 
einschieben  und  den  Teufel  allzu  oft  zitieren,  wenn  ihre 
Frauen  mit  der  Eßgabel  noch  nicht  sehr  gewandt  umzu- 
gehen wissen  und  schon  am  Nachmittag  das  üppige 
Abendkleid  anziehen,  so  schicken  sie  ihre  Söhne  und 
Töchter  doch  an  die  Colleges  im  Osten,  und  wenn  diese 
dann  nach  Hause  kommen  und  zur  guten  Bildung  noch 
mit  dem  sehr  vielen  väterlichen  Geld  ausstaffiert  werden, 
dann  ist  die  neue  Aristokratie  gesichert. 

Auf  diese  einflußreichen  Kreise  baut  Douglas.  Ebenso 
auf  das  Wohlwollen  der  Südstaaten.  Um  es  aber  auch 
mit  den  Mächtigen  im  Norden  nicht  zu  verderben,  hat  er 
eine  Zwischenlösung  ausgeheckt:  Kansas  soll  der  Sklave- 
rei geöffnet  werden,  in  Nebraska  soll  sie  verboten  sein. 
Mit  Eleganz  und  Geschick  vertritt  er  seinen  Standpunkt. 

55 


Und  viele  jubeln  ihm  zu:  Er  hat  einen  weisen  salomoni- 
schen Ausweg  gefunden;  Douglas  mit  dem  Ei  des  Ko- 
lumbus! 


In  Alton  v/ird  Lincoln  von  seinen  Freunden  am  Zu" 

o 

abgeholt.  «Seine  Freunde»  —  das  sind  Leute,  die  er  von 
Haut  und  Haar  nicht  kennt.  Es  sind  seine  Gesinnungs- 
genossen, die  für  ihn  durchs  Feuer  gingen,  welche  die 
Reklametrommel  gerührt  haben  und  dafür  sorgen,  daß 
die  ganze  Bevölkerung  aus  weitem  Umkreis  dem  Rede- 
duell beiwohnen  wird.  Die  Anführer  von  Lincolns  Freun- 
den werden  den  Gegenredner,  den  eitlen  Douglas,  durch 
witzige  oder  bissige  Zwischenrufe  in  Verwirrung  bringen. 
Sie  reden  auf  ihren  Kandidaten  ein,  nicht  zu  sanft  mit 
dem  andern  umzuspringen,  ihm  gehörig  die  Meinung  zu 
sagen. 

Auch  die  Stadt  Alton  besitzt  so  etwas  wie  ein  Rathaus. 
Es  wurde  in  klassischem  Stil  errichtet  und  sieht  den  Tem- 
peln auf  der  Akropolis'zum  Verwechseln  ähnlich.  Nur 
steht  es  nicht  auf  einem  Hügel,  und  den  Platz  umsäumen 
keine  weitern  Bauten  im  griechischen  Sinn,  sondern  kleine 
Filialen  großer  Bankhäuser,  Haushaltgeschäfte,  Lebens- 
mittelmagazine und  Barbiergeschäfte,  in  denen  man  auch 
gekühlte  Getränke  erhält.  In  der  Mitte  dieses  Platzes  ist 
die  Rednertribüne  errichtet,  und  bereits  drängen  sich  die 
Neugierigen  in  großen  Scharen.  Alle  wollen  den  Rede- 
kampf miterleben. 

Die  Bewohner  der  Siedlungen  im  Bannkreis  der  Stadt 
sind  meist  mit  kleinen  Wagen  herbeigekommen.  Die  mei- 
sten von  ihnen  werden  ihre  Höfe  nicht  mehr  am  gleichen 
Abend  erreichen,  sondern  übernachten  bei  Bekannten  in 

56 


der  Stadt.  Die  Pferde  sind  bereits  ausgespannt;  die  Fahr- 
zeuge stehen  in  Reih  und  Glied  an  einem  eigens  dafür 
bezeichneten  Platz.  Musikvereine  ziehen  spielend  durch 
die  Straßen;  sie  tragen  Fahnen  bei  sich,  und  allegorisch 
aufgeputzte  Mädchen  künden  den  Umstehenden  an,  für 
welches  Ideal  ihre  Gruppe  kämpfe. 

Die  kleine  Stadt  liegt  so  weit  im  Süden,  daß  hier  die 
Sklavenhalter  großen  Einfluß  besitzen.  Sie  haben  auf  die- 
sen Tag  hin  mit  Geschenken  nicht  gespart.  Es  besteht  kein 
Zweifel:  Douglas  besitzt  hier  mehr  Anhänger  als  der 
«ehrliche  Abe»,  wie  ihn  die  Seinen  auf  großen  Plakaten 
bezeichnen.  Douglas,  der  selbst  noch  kein  vermöglicher 
Mann  ist,  kommt  im  auffallend  bunt  gestrichenen  Son- 
derzug angefahren,  wird  am  Bahnhof  von  einem  m;t  sechs 
Schimmeln  bespannten  Wagen  abgeholt  und  fühlt  sich 
seiner  Sache  sicher  —  hier  besonders.  Es  ist  ja  nicht  das 
erstemal,  daß  sich  die  beiden  Advokaten  gegenübertreten. 
Erbittert  kämpften  sie  diesen  Sommer  schon  in  Ottawa 
und  Freeport,  in  Jonesboro  und  Charleston,  in  Galesburg 
und  Quincy. 

«Zeig's  ihm,  dem  Sklavenhalter  und  Hochstapler,  dem 
Lügner  und  Schönredner,  dem  ehrgeizigen  Aemter Jäger!» 
wird  Lincoln  liebevoll  ermahnt,  bevor  er  das  Rednerpult 
besteigt.  Aber  er  wendet  sich  nicht  an  den  Gegner.  Die 
Sache  ist  ihm  viel  zu  wichtig,  als  daß  er  das  Volk  durch 
billige  Spöttereien  auf  seine  Seite  zu  bringen  versuchte. 
Sogar  seinem  berühmten  Mutterwitz  gestattet  er  heute 
keine  Extratouren.  Er  spricht  von  der  bedrohten  Einheit 
der  Vereinigten  Staaten.  «Ein  Haus,  das  in  sich  selbst 
geteilt  ist,  kann  nicht  weiterbestehen.  Ich  glaube,  unser 
Staat  kann  auf  die  Dauer  nicht  halb  sklavisch,  halb  frei 
bleiben.  Ich  erwarte  nicht,  daß  die  Union  zerfällt.  Ich  er- 

57 


warte  nicht,  daß  unser  Haus  einstürzt.  Aber  ich  erwarte, 
daß  es  aufhören  wird,  geteilt  zu  sein.  Entweder  werden 
die  Gegner  der  Sklaverei  deren  weitere  Verbreitung  ver- 
hindern und  sie  schließlich  ganz  auslöschen,  oder  ihre 
Befürworter  werden  sie  vorwärtstreiben,  bis  sie  schließ- 
lich überall  von  Gesetzes  wegen  eingeführt  wird,  in  den 
alten  und  in  den  neuen  Staaten,  im  Norden  so  gut  wie 
im  Süden.» 


Lincolns  republikanische  Partei  hat  diese  Schlacht  da- 
mals knapp  verloren.  Sein  Gegner  Douglas  wurde  in  den 
Senat  gewählt.  Aber  der  Redaktor  einer  großen  Zeitung 
in  Chicago  schrieb  dem  «ehrlichen  Abe»  in  einem  begei- 
sterten Brief:  «Sie  sind  wie  Byron,  der  eines  Morgens  auf- 
wachte und  sich  berühmt  fand!» 


58 


Die  Präsidentenwahl 


Am  18.  Mai  des  Jahres  1860  tagen  und  ratschlagen  die 
Abgeordneten  der  jungen  republikanischen  Partei  schon 
den  dritten  Tag  über  die  Frage,  wer  für  die  nächsten  vier 
Jahre  am  Steuer  des  amerikanischen  Staatsschiffes  zu  ste- 
hen habe.  Harte  Jahre  zeichnen  sich  am  Horizont  der  Zeit 
ab,  und  das  Schiff  wird  durch  hochgehende  Wellen,  an 
wüsten  Klippen  vorbei,  geführt  werden  müssen. 

Am  ersten  Tag  der  Zusammenkunft  schienen  kaum 
Zweifel  über  die  Person  des  kommenden  Präsidenten  zu 
bestehen:  Jeder  nahm  an,  daß  William  H.  Seward  aus 
New  York  fast  einmütig  vorgeschlagen  werde.  Ein  be- 
währter Mann,  das  erprobteste  Zugroß  im  republikani- 
schen Stalle.  Seit  zwei  Jahrzehnten  leitete  er  die  Ausein- 
andersetzung mit  den  Südstaaten;  der  Mann  verfügte 
außerdem  über  gute  Bildung,  ein  angenehmes  Wesen  und 
über  eine  glänzende  Beredsamkeit.  Und  doch:  Der  und  je- 
ner zweifelte.  Während  die  weniger  wichtigen  Geschäfte 
erledigt  wurden,  tuschelte  man  mit  seinen  Nachbarn ;  auch 
während  der  Mahlzeiten  besprach  man  die  kommende 
Wahl.  Und  da  und  dort  tauchten  Zweifel  auf:  War  dieser 
Seward  nicht  schon  allzu  bekannt?  Und  bekannte  Leute, 
Kämpfer,  müssen  auch  ihre  Feinde  haben.  Und  wußte 
man  nicht  allerlei  recht  ungeschickte  Aeußerungen,  die  er 
da  oder  dort,  natürlich  nicht  mit  bösem  Willen,  getan 
habe?  Zum  Beispiel  sollte  er  einst  frei  und  offen  erklärt 
haben,  die  kriegerische  Auseinandersetzung  mit  den  Süd- 
staaten könne  gar  nicht  mehr  vermieden  werden.  Ein 

59 


Kriegsprophet  ist  bei  seinen  Mitbürgern  nie  besonders 
beliebt,  sogar  wenn  ihm  der  Lauf  der  Dinge  in  jedem 
Stück  recht  gibt.  Oder  der  andere  Ausspruch:  Es  gebe  ein 
höheres  Gesetz,  das  sogar  über  der  Verfassung  stehe! 
Solche  Sprüche,  fanden  die  Abgeordneten,  dürfe  sich  ein 
künftiger  Präsident  nicht  leisten.  Wenn  die  Gegner  im 
Abstimmungskampf  davon  Gebrauch  machten!  So  schlug 
schon  am  ersten  Tage  die  Stimmung  gegen  Seward  um. 
Den  hatte  er  einmal  durch  eine  hochfahrende  Bemerkung 
geärgert,  und  jener  wäre  gern  an  einem  seiner  vielen 
Ehrenposten  gestanden;  Seward  also  nicht.  Und  Chase, 
der  Gouverneur  von  Ohio?  Auch  kein  übler  Name;  aber 
der  verführe  mit  den  Sklavenstaaten  womöglich  noch 
schärfer  als  der  New  Yorker;  dem  würden  die  Mittelstaa- 
ten, die  sich  noch  nicht  für  den  Norden  oder  für  den  Sü- 
den entschieden  hatten,  nicht  zustimmen.  Plötzlich  sprach 
man  von  Bates  aus  Missouri,  der  war  friedfertig  und  ließ 
sich  zu  keinen  unbesonnenen  Kriegsreden  hinreißen.  Aber 
eben:  der  war  zu  kompromißfreudig.  Und  Cameron  aus 
Pennsylvania?  Der  hatte  sich  bei  den  kleinen  Leuten  un- 
beliebt gemacht;  ein  Geschäftspolitiker,  bei  dem  man 
nicht  wußte,  ob  er  für  das  Gemeinwohl  oder  für  seine 
eigene  Tasche  regieren  würde. 

Am  dritten  Tage  ist  die  Lage  viel  weniger  klar  als  am 
ersten.  Mehr  als  zehntausend  Menschen  harren  im  «Wig- 
wam» auf  das  Ergebnis  der  Beratung  und  der  Abstimmun- 
gen. Der  «Wigwam»  wurde  eigens  für  diese  Zusammen- 
kunft gebaut,  eine  riesengroße,  häßliche  Halle  aus  Eisen 
und  Glas,  nicht  unähnlich  dem  architektonischen  Unge- 
bilde,  das  einst  zu  den  Wahrzeichen  Londons  gehörte  und 
den  irreführenden  Namen  «Kristallpalast»  trug. 

Ein  neuer  Name  taucht  auf:  Abraham  Lincoln.  Jeder 

60 


hat  diesen  Namen  schon  gehört:  Heißt  so  nicht  der  Holz- 
fällerjunge aus  dem  Westen,  der  nie  in  eine  rechte  Schule 
ging,  dem  nichts  Menschliches  fremd  sein  kann,  der  kein 
höheres  Gut  kennt  als  die  Wahrheit?  Ein  Kind  des  Vol- 
kes, das  Ideal  jedes  rechten  Amerikaners! 

Bei  der  ersten  Abstimmung  schneidet  Lincoln  schon 
über  Erwarten  gut  ab,  und  je  mehr  andere  Namen  weg- 
fallen, desto  mehr  Stimmen  vereinigt  der  seine  auf  sich. 
Man  wäre  versucht,  von  einer  Suggestion  zu  sprechen; 
denn  wer  zuerst  noch  Bedenken  hegte,  für  den  Hinter- 
wäldler mit  dem  untadeligen  Ruf  einzutreten,  wird  über- 
stimmt und  überredet.  Eifrige  Freunde  versprechen — man 
befindet  sich  im  hemmungsloseren  Amerika!  —  bereits 
Staatsstellen  und  angesehene  Posten;  für  Lincoln  wird 
Propaganda  getrieben  in  einer  Weise,  die  ihm  selbst 
höchst  peinlich  wäre.  Und  schließlich  erreicht  er  im  drit- 
ten Wahlgang  das  absolute  Mehr:  Die  Republikaner  wer- 
den ihn  dem  Volke  vorschlagen,  Lincoln  ist  von  nun  an 
der  am  meisten  gepriesene,  am  meisten  verhandelte,  am 
meisten  aber  auch  bekämpfte  Name  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Zehntausend  Menschen  oder  mehr  jubeln  im 
«Wigwam»,  als  man  die  Wahl  bekanntgibt.  Wenn  man 
diesen  ohrenbetäubenden  Lärm  als  «Jubel»  bezeichnen 
kann:  Jeder  schreit  nach  Leibeskräften,  man  klatscht,  man 
trampelt,  man  wirft  Taschentücher,  Hüte,  Stöcke,  über- 
haupt jeden  greifbaren  Gegenstand  in  die  Luft. 

So  schnell  als  möglich  setzt  man  den  Erkorenen  vom 
Stand  der  Dinge  in  Kenntnis.  Aber  er  jubelt  nicht,  wirft 
auch  nicht  vor  Freude  Taschentuch  oder  Hut  in  die  Höhe. 
Als  man  nachher  die  Boten  fragt,  wie  sie  Lincoln  getrof- 
fen hätten,  antworten  sie:  «Traurig  und  niedergeschla- 
gen.» Nun  weiß  er,  daß  er  nicht  mehr,  so  lange  er  auf  der 

61 


Bühne  des  irdischen  Lebens  stehen  darf,  aus  dem  Ram- 
penlicht zurücktreten  kann.  Vielleicht  ahnt  er,  welch  rie- 
sige Arbeit  seiner  wartet.  Aber  er  nimmt  die  Wahl  an. 
Nur  bittet  er  sich  aus,  nicht  selbst  über  Land  reisen  und 
für  sich  die  Reklametrommel  schlagen  zu  müssen,  wie  das 
sonst  üblich  ist.  Um  so  eifriger  sind  seine  Anhänger  am 
Werk.  Sie  veranstalten  Fackelparaden  in  den  größten  und 
in  den  kleinsten  Städten;  sie  bilden  Sprechchöre  und  las- 
sen Umzüge  mit  unzähligen  Inschriften  durch  die  Straßen 
marschieren.  Zwar  wählt  ja  nicht  das  Volk  selbst,  sondern 
die  «Wahlmänner»  den  Präsidenten,  aber  jedem  Knirps 
soll  der  Name  «Lincoln»  geläufig  und  liebgemacht  wer- 
den. Mittelpunkt  des  Wahlkampfes  —  da  man  den  Kan- 
didaten in  seiner  imposanten  Länge  nicht  selbst  ausstellen 
kann  —  sind  zwei  Stangen,  die  er  in  seiner  Jugend  als 
Bestandteile  eines  Viehhages  selbst  behauen  haben  soll. 
So  kennt  dieser  Mann  das  harte  Leben  des  einfachen  Far- 
mers! Die  Stangen  werden  verehrt  wie  Götzenbilder; 
ganz  fanatische  und  zudringliche  Anhänger  versuchen, 
sich  einen  Splitter  davon  als  Andenken  abzuschneiden. 
Man  läßt  sie  gewähren;  es  gibt  ja  schließlich  noch  mehr 
roh  zubehauene  Holzstangen  in  Amerika. 

Es  kommt  den  Republikanern  zugute,  daß  ihre  demo- 
kratischen Gegner  gänzlich  uneinig  sind.  Hinter  Lincoln 
steht  ziemlich  geschlossen  der  ganze  Nordosten.  Der  Sü- 
den aber  kann  sich  zu  keinem  zügigen  Gegenkandidaten 
aufraffen.  Zwar  besitzen  auch  nach  den  Präsidentschafts- 
wahlen die  Demokraten  die  Mehrheit  im  Senat  und  im 
Repräsentantenhaus,  sogar  im  obersten  Bundesgericht.  Sie 
werden  dem  Präsidenten,  dem  Vertreter  der  eindeutigen 
Minderheit,  das  Leben  so  sauer  als  möglich  machen. 
Wenn  es  nach  ihren  Köpfen  geht,  wird  Lincoln  nach  Ab- 

62 


lauf  seiner  Amtszeit  nicht  nur  ein  müder,  gebrochener 
Mann  sein,  sondern  die  Republikaner  werden  sich  hüten, 
wieder  einen  der  Ihren  durchzuzwängen.  Aber  die  Ereig- 
nisse werfen  die  Pläne  auf  allen  Seiten  um. 

Wenn  in  den  Märchen  der  Schweinehirt  durch  seine 
Tüchtigkeit  oder  durch  einen  unerwarteten  Glücksfall 
König  geworden  ist,  dann  findet  die  Geschichte  bald 
nachher  ihren  Schluß.  Der  Glückspilz  heiratet  die  Königs- 
tochter, zieht  ins  Schloß,  lebt  herrlich  und  in  Freuden,  und 
die  Glocken  von  allen  Türmen  des  Landes  verkünden  den 
Anbruch  einer  neuen  guten  Zeit.  Aber  das  Leben  ist  kein 
Märchen.  Der  Holzfäller  ist  zum  Präsidenten  der  Verei- 
nigten Staaten  gewählt  worden,  und  das  bedeutet  mehr  an 
Macht  und  Ehre  als  manche  Königswürde  in  monarchi- 
schen Ländern.  Aber  er  befindet  sich  nicht  im  Glückstau- 
mel. Seine  bedrückte  Stimmung  hält  an,  und  er  weiß  nicht 
recht,  was  er  den  ungezählten  Bekannten  antworten  soll, 
die  ihm  zu  seinem  Erfolg  gratulieren.  Der  Telegraph  in 
Springfield  hat  seit  seinem  Bestehen  noch  nie  so  viel  Bot- 
schaften aufgefangen.  Aber  Lincoln  legt  die  Briefe  und 
Telegramme  verlegen  beiseite.  Aengstlich  überlegt  er, 
was  er  der  Menge  zurufen  soll,  die  ihm  nachwinkt,  als  sich 
der  Zug  langsam  in  Bewegung  setzt.  Er  steht  auf  der 
offenen  Plattform  des  letzten  Wagens,  schwenkt  mit  dem 
viel  zu  langen  Arm  seinen  Zylinder  und  bittet  seine  Mit- 
bürger, ihn  nicht  zu  vergessen.  «Ja,  ja»,  tönt  es  tausend- 
stimmig zurück,  «wir  werden  für  Sie  beten!»  Die  Augen 
der  einen  leuchten,  die  der  andern  füllen  sich  mit  Tränen. 
Alle  schauen  dem  hageren  Abe  nach,  der  nun,  bevor  der 
Zug  den  Blicken  entschwindet,  seine  große  Reisetasche 
aufnimmt  und  ins  Wageninnere  tritt. 

Ein  vorwitziger  Schaffner  erzählt  ihm  wichtig,  daß  die 

63 


Polizei  in  Cincinnati  einem  Anschlag  auf  die  Spur  gekom- 
men sei;  ein  Italiener  habe  ihn  auf  der  Durchreise  ermor- 
den wollen;  aber  er  sei  nun  dingfest  gemacht.  Und  wenige 
Meilen  schon  nach  Springfield  hält  der  Zug  auf  offener 
Strecke.  Eisenbahnarbeiter  mit  roten  Wimpeln  und  mit 
Signalpfeifen  eilen  hin  und  her;  Reisende  steigen  aus  und 
erkundigen  sich  nach  dem  Grund  des  unvorgesehenen 
Aufenthaltes:  Nur  ein  kurzes  Stück  weiter  vorne  ist  das 
Geleise  aufgerissen.  Man  flickt  den  Schaden  notdürftig, 
und  behutsam  zieht  die  Lokomotive  die  kleinen  hölzernen 
Wagen  über  die  lotterige  Stelle.  «Diese  Entgleisung  hätte 
mich  umbringen  sollen»,  überlegt  Lincoln.  Er  hat  nun  auf 
einmal  das  Gefühl,  von  unbekannten  Feinden  umgeben 
zu  sein,  von  Leuten,  denen  er  nie  im  Leben  begegnet  ist, 
die  ihn  aber  hassen,  und  die  seinen  Tod  wünschen. 

Dabei  bezeugt  er  von  sich  selbst  mit  gutem  Gewissen, 
daß  er  eine  friedliche  Natur  ist,  die  mit  niemandem  Streit 
will.  Er  lacht  im  Gedanken  an  jenen  hitzigen  Offizier,  der 
ihn  einst  wegen  einer  Kleinigkeit  auf  Pistolen  gefordert 
hat.  «Es  ist  besser,  man  geht  einem  bissigen  Hund  aus  dem 
Weg»,  ließ  er  damals  dem  Streithahn  ausrichten.  «Zwar 
kann  man  ihn  totschlagen;  aber  vorher  wird  man  von  ihm 
möglicherweise  doch  gebissen.» 

In  der  Hauptstadt  Washington  empfangen  ihn  nur 
wenige  Leute.  Die  Polizei  hielt  seine  Ankunft  geheim; 
die  Stimmung  war  erregt,  und  man  fürchtet  immer  noch 
ein  Attentat.  Zum  erstenmal  in  der  Geschichte  der  Staaten 
wird  dem  Volke  nicht  erlaubt,  den  neuen  Präsidenten  im 
Triumphzug  zum  Kapitol  zu  begleiten.  Aber  nach  und 
nach  sickert  die  Kunde  durch,  daß  «er»  gekommen  ist. 
Und  um  so  größer  sind  Ueberraschung  und  Freude,  wenn 
er  irgendwo  plötzlich  erkannt  wird.  Und  er  ist  ja  so  leicht 

64 


zu  erkennen;  seine  Schlacksigkeit  ist  ihm  geblieben,  und 
einen  weniger  elegant  angezogenen  Staatsmann  hat  man 
in  der  Kapitale  kaum  noch  gesehen! 

Vom  abtretenden  Präsidenten  Buchanan  wird  er  nicht 
unfreundlich  empfangen.  Der  Herr  mit  dem  gepflegten 
Aeußern  lacht  auf  den  Stockzähnen,  als  er  dem  Nachfol- 
ger lang  und  herzlich  die  Hand  schüttelt.  Das  ist  also  der 
Stern  der  Republikaner!  Der  Mann  aus  dem  Volke,  der 
die  Aristokratie  abzulösen  hat.  Gut.  Buchanan  ist  froh, 
daß  er  bald  zurücktreten  darf;  denn  der  Abfall  der  Süd- 
staaten läßt  sich  nicht  mehr  rückgängig  machen.  Jeder, 
der  auch  nur  ein  wenig  hinter  die  Kulissen  der  Politik 
und  der  Wirtschaft  sieht,  weiß  das,  übrigens  auch  der 
«Mann  von  der  Straße».  Der  Süden  ist  furchtbar  erregt, 
daß  ein  Sklavenbefreier  Präsident  geworden  ist.  Aber  die 
Wahl  ist  eindeutig,  das  muß  auch  der  alte  Präsident  zu- 
geben: Lincolns  drei  Gegenkandidaten  haben  ja  gemein- 
sam lange  nicht  die  Stimmenzahl  erreicht,  die  er  allein 
auf  sich  vereinigen  konnte.  Am  wenigsten  fielen  auf 
Douglas,  den  Rivalen,  der  auch  jetzt  wieder  im  Feuer  ge- 
standen war.  Er  hatte  wieder  geschmiert  und  geredet,  das 
Blaue  vom  Himmel  versprochen  und  jedem,  der  ein  Amt 
von  ihm  begehrte,  die  einträglichste  Pfründe  zugesichert. 
Ihm  galten  12  Stimmen,  Lincoln  180. 

Das  bisherige  Kabinett,  aus  lauter  Demokraten  beste- 
hend, hatte  den  Wahlausgang  kommen  sehen.  Man  war- 
tete nicht  untätig.  Man  schürte  von  höchster  Stelle  aus 
den  Haß  gegen  die  Nordstaaten,  man  bereitete  kühlen 
Herzens  den  Krieg  vor.  Der  Kriegsminister  Floid  sandte 
115  000  Gewehre  in  die  Zeughäuser  des  Südens.  Man  ver- 
breitete die  Meinung,  daß,  sobald  eine  republikanische 

J     Stickolberger,  Abraham  Lincoln  A  r 


Regierung  am  Ruder  sei,  die  Sklavenarbeit  mit  Gewalt 
verboten  werde. 

Die  Minister  sind  eben  versammelt  zur  Stunde,  da  Lin- 
coln seinen  Antrittsbesuch  bei  Buchanan  macht.  Er  wird 
durch  die  hallenden  Gänge  ins  Konferenzzimmer  gelei- 
tet, in  dem  die  Herren  ihre  Sitzung  halten.  Unterwegs  er- 
teilt der  scheidende  Präsident  seinem  Nachfolger,  dieser 
«Unschuld  vom  Lande»,  einige  nützliche  Ratschläge.  Der 
Süden  sei  verschnupft,  man  müsse  Sorge  zu  ihm  tragen, 
müsse  ihm  Garantien  geben,  müsse  die  Sklavengegner  im 
Norden  im  Zaum  halten.  Lincoln  hegt  die  besten  Vorsätze. 
Er  schaut  jedem  Minister  der  Gegenpartei  treuherzig  in 
die  Augen,  und  er  meint  es  sicher  ehrlich,  wenn  er  jedem 
einzelnen  von  ihnen  versichert,  es  «freue  ihn  ungemein, 
ihn  kennenzulernen». 

Die  vorgeschriebene  Einführungszeremonie  kann  na- 
türlich von  der  Polizei  nicht  geheimgehalten  werden. 
Aber  eine  ungewöhnlich  hohe  Zahl  von  Mannschaften 
versieht  den  Ordnungsdienst.  Unauffällig  werden  die 
Neugierigen  gemustert,  die  sich  in  der  Nähe  des  Kapitols 
herumtreiben;  Gänge,  Hallen,  Estriche  und  Keller  wer- 
den täglich  zweimal  abgesucht.  Aber  die  Feier  verläuft 
ohne  Zwischenfall.  Seward,  der  kluge  Politiker,  hat  sich 
eingefunden  und  bietet  dem  Präsidenten  seine  Dienste 
als  Berater  und  Minister  an.  Er  ist  ohne  Neid,  und  seine 
Ratschläge  bewähren  sich.  Auch  Douglas  erscheint,  der 
gestürzte  Rivale.  Er  drängt  sich  neben  Lincoln  und  klopft 
ihm  etwas  zu  wohlgemeint  auf  die  Schultern.  Und  als  die- 
ser, ungelenk  wie  immer,  keinen  Huthaken  finden  kann, 
springt  ihm  Douglas  eilfertig  zu  Hilfe  und  hält  ihm  wäh- 
rend seiner  ganzen  Rede  den  Zylinder.  Lincolns  Rede  ist 
an  die  Adresse  der  Südstaaten  gerichtet,  deren  Vertreter 

66 


ja  vor  allem  die  bisherigen  Regierungsmänner  sind.  Er 
beschwört  sie,  an  seinem  guten  Willen  nicht  zu  zweifeln; 
von  einer  drohenden  Invasion  sei  keine  Rede.  «Wir  sind 
nicht  Feinde»,  ruft  er  den  politischen  Gegnern  begeistert 
und  gewinnend  zu,  «wir  sind  Freunde  und  dürfen  nicht 
zu  Feinden  werden!» 

Bei  einem  vaterländischen  Feste  denkt  das  Volk  nicht 
an  Krieg  und  Kriegsgeschrei.  So  lange  die  Sonne  vom 
blitzblauen  Himmel  strahlt,  fürchtet  sich  niemand  vor  der 
grauen  Wolkenwand  hinter  dem  Horizont.  Und  ein  neuer 
Präsident  will  von  jedermann  gefeiert  werden,  nicht  nur 
von  einigen  Auserwählten.  Längst  haben  die  Zeitungen, 
die  jeweils  dem  die  lautesten  Preislieder  singen,  den  sie 
als  den  «kommenden  Mann»  wähnen,  für  die  Volkstüm- 
lichkeit Lincolns  gesorgt.  Phantasiebegabte  Zeichner 
haben  reihenmäßig  Bilder  hergestellt,  welche  den  «ehr- 
lichen Abe»  als  Holzfäller  und  als  Schweinehirten  zeigen; 
findige  Journalisten  schreiben  Anekdoten  auf,  welche 
vom  Edelmut,  der  Hilfbereitschaft  und  der  Güte  des  ein- 
stigen Farmerjungen  berichten.  Solche  Geschichten  er- 
obern vor  allem  die  Herzen  der  Frauen.  Die  Männer  da- 
gegen lesen  mit  Wohlbehagen  die  wörtliche  Wiedergabe 
seiner  Antrittsrede,  die  er  allerdings,  wenn  man  ehrlich 
sein  will,  mit  der  Hilfe  einiger  Parteifreunde  komponiert 
hat.  Aber  er  steht  mit  seiner  ganzen  senkrechten  Persön- 
lichkeit hinter  dem,  was  er  sagt;  das  spürt  jeder,  und  das 
ist  auch  die  Hauptsache.  Er  hat  in  dieser  Rede,  welche  die 
entzweiten  Brüder  im  Norden  und  im  Süden  wieder  zu 
einigen  suchte,  von  der  heldenhaften  Vergangenheit  ge- 
sprochen. «Jedes  schlagende  Herz,  jeder  häusliche  Herd 
dieses  Landes  wird  durch  das  Blut,  das  einst  auf  unsern 
Schlachtfeldern   für   die   gemeinsame   Sache   vergossen 

*•  67 


wurde,  befruchtet.  Vom  Grunde  jedes  Grabes,  in  dem  ein 
guter  Bürger  ruht,  steigen  geheimnisreiche  Kräfte  empor, 
die  zu  unserer  Versöhnung  beitragen.  Fleiß,  Vaterlands- 
liebe, lebendiger,  christlicher  Sinn  und  festes  Vertrauen 
zu  dem,  der  dieses  Land  noch  nie  verließ:  diese  Tugenden 
werden  allen  gegenwärtigen  Schwierigkeiten  ein  Ende 
setzen.» 

Solche  Worte  hört  und  liest  man  gern.  Man  glaubt  im 
Augenblick  nicht  daran,  daß  Wühler  an  der  Arbeit  sind, 
welche  ihren  Sinn  verdrehen,  welche  im  Süden  aus- 
streuen: man  möge  sich  in  acht  nehmen  vor  dem  Augen- 
verdreher  und  Heuchler,  der  sich  fürchte,  die  Dinge  beim 
rechten  Namen  zu  nennen,  den  Kriegsausbruch  nur  so 
lange  verzögern  wolle,  bis  auch  der  Norden  gerüstet  sei 
und  zum  entscheidenden  Schlag  auszuholen  vermöge.  An 
diese  Dunkelmänner  denken  die  Mengen  nicht,  welche 
den  Festzug  anstaunen,  der  sich  durch  die  Straßen  Wa- 
shingtons den  Weg  bahnt.  Seinen  Mittelpunkt  bildet  ein 
mit  weißen  Lilien,  roten  Nelken  und  blauen  Kornblumen 
geschmückter  Wagen,  auf  dem  sich  zwei  in  Seide  gehüllte 
junge  Damen  schwesterlich  die  Hand  reichen.  Die  blonde, 
blaugewandete  stellt  den  Norden,  die  dunkle  in  der  wei- 
ßen Robe  den  Süden  dar.  Hinter  dem  Prachtsgefährt  mar- 
schieren vierunddreißig  weitere  Schönheiten,  jede  das 
Banner  ihres  Unionsstaates  tragend,  jede  außerdem  auch 
an  bestimmten  landwirtschaftlichen  oder  industriellen 
Symbolen  kenntlich,  die  kunstvoll  an  ihre  Gewänder  ge- 
heftet sind.  Man  erkennt  Baumwollzweige  und  Aehren- 
büschel,  blühende  Aestchen  von  Obstbäumen,  auch  Si- 
cheln, sogar  Zahnräder  und  das  kleine  Modell  einer 
Schleuse:  die  geeinte  Kraft  und  der  ganze  Reichtum  des 
Landes  paradiert  vorbei.  Auch  Abordnungen  der  Indianer 

68 


sind  eingetroffen,  die  mit  ihrem  klassischen  Kopfputz 
Aufsehen  erregen.  Wild  schwingen  sie  ihr  Kriegsbeil, 
natürlich  nicht  mehr  gegen  die  weißen  Eindringlinge, 
sondern  als  die  von  den  weißen  Brüdern  Beschützten  und 
mit  ihnen  Verbündeten. 


6g 


Der  Bürgerkrieg 


Für  die  Eingeweihten  bedeutet  der  Festzug  zu  Ehren 
des  neuen  Präsidenten  eine  naive  Vorspiegelung  falscher 
Tatsachen.  Denn  der  Krieg  ist  unvermeidlich;  seine 
schwerfällige  Maschine  steht  im  Anlaufen,  und  auch 
wenn  sich  gutgesinnte  Männer  wie  Lincoln  mit  aller  Kraft 
in  die  Räder  dieser  Maschine  stürzen,  vermögen  sie  ihr 
Schwungrad  nicht  mehr  aufzuhalten.  Der  Vorgänger 
Buchanan  hat  Lincoln  nur  widerwillig  Platz  gemacht. 
Durch  bewußte  Fahrlässigkeit  hat  er  in  den  letzten  Mona- 
ten dem  Bürgerkrieg  Vorschub  geleistet.  Die  Sklaven- 
schiffe aus  Afrika,  welche  von  Europa  her  längst  als  eine 
allgemeine  Schande  für  die  Neue  Welt  gebrandmarkt 
wurden,  vermochten  offen  in  die  Häfen  des  Südens  ein- 
zulaufen, ohne  von  der  Polizei  überhaupt  beachtet  zu  wer- 
den. Der  Abfall  der  «Konföderierten»,  wie  die  Südstaaten 
ihren  Bund  nannten,  war  genau  vorbereitet.  Als  oberster 
Leitsatz  der  Konföderation  galt  die  Wahrheit  des  von 
Gott  gefügten  Rassenunterschieds  zwischen  Weiß  und 
Schwarz.  Die  Neger  seien  durch  Gottes  Weisheit  zum 
Dienste  für  die  Weißen  bestimmt,  und  die  vom  Norden 
verlangte  Gleichberechtigung  bringe  nicht  nur  Wirrwarr 
und  Armut  mit  sich,  sondern  werfe  auch  die  ursprünglich- 
sten Naturgesetze  über  den  Haufen.  Am  8.  Februar  1861 
war  in  Montgomery  bereits  eine  gesetzgebende  Versamm- 
lung zusammengetreten,  welche  die  vorläufige  Verfas- 
sung für  die  «souveränen  und  unabhängigen  Staaten  Süd- 
karolina,  Georgia,   Florida,   Alabama,   Mississippi   und 

70 


Louisiana»  aufstellte.  Auch  der  Präsident  war  schon  er- 
koren worden:  Jefferson  Davis,  der,  wie  Lincoln,  als 
Bauernbub  in  Kentucky  eine  harte  Jugend  hinter  sich 
hatte,  später  aber  in  einer  Offiziersschule  erzogen  und  un- 
ter Buchanan  in  die  Bundesregierung  berufen  wurde.  Jef- 
ferson Davis  und  seine  Freunde  erklären,  die  einzelnen 
Staaten  der  Union  hätten  nicht  nur  das  Recht,  unter  sich 
einen  Sonderbund  zu  gründen,  sondern  in  zwingenden 
Fällen  den  Staatenbund  auch  wieder  zu  verlassen,  dem 
sie  seinerzeit  freiwillig  beigetreten  seien.  Im  Norden  da- 
gegen betrachtet  man  den  geplanten  Austritt  aus  dem 
Bundesstaat  als  Treubruch. 

Der  offene  Krieg  beginnt  am  12.  April.  Es  sind  jeweils 
kleine  Streitigkeiten,  welche  die  großen  Kriege  der  Ge- 
schichte einleiten:  Am  Anfang  des  trojanischen  Krieges 
geschah  der  Raub  der  Helena;  der  Dreißigjährige  Krieg 
wurde  durch  den  Prager  Fenstersturz  begonnen,  der 
Deutsch-Französische  mit  einer  entstellten  Depesche,  der 
erste  Weltkrieg  durch  den  Mord  von  Sarajewo  und  der 
zweite  mit  einer  Grenzverletzung  bei  Danzig.  Doch  be- 
deuten alle  diese  kleinen  Ursachen,  die  weltgeschichtliche 
Berühmtheit  erlangt  haben,  nicht  die  Gründe  der  nach- 
folgenden Auseinandersetzungen.  An  sich  wenig  von  Be- 
lang und  bei  rechtem  Willen  leicht  wieder  gutzumachen, 
handelte  es  sich  jedesmal  um  das  längst  erwartete  Signal, 
um  den  Blitz,  der  das  nun  einsetzende  Unwetter  ankünden 
mußte,  das  auf  die  Völker  niederprasseln  sollte. 

Der  offene  amerikanische  Bürgerkrieg  beginnt  also  mit 
dem  Sturm  der  Konföderierten  auf  die  Festung  Sumpter 
im  Hafen  von  Charleston.  Alle  andern  festen  Plätze  im 
Süden  sind  schon  vorher,  unter  dem  saumseligen  Bucha- 
nan, ohne  großes  Aufsehen  in  die  Hände  der  Abtrünnigen 

7i 


gefallen.  Außer  Sumpter  wird  nur  noch  Fort  Pickens  an 
der  Südküste  von  Alabama  von  regierungstreuen  Trup- 
pen gehalten.  In  Sumpter  weigert  sich  der  Kommandant 
Anderson  mit  seiner  siebzig  Mann  starken  Besatzung,  die 
Festung  zu  übergeben.  Aber  er  vermag  dem  Ansturm  der 
Uebermacht  nur  zwei  Tage  standzuhalten,  dann  kapitu- 
liert er.  Die  Eroberung  des  Forts  wird  in  den  Südstaaten 
als  großes  Heldenstück  gefeiert.  Mit  schwerer  Artillerie 
und  mit  großen  Haufen  von  begeisterten  Freiwilligen 
hatte  man  die  Zwingburg  genommen!  Die  Zeughäuser 
waren  gefüllt;  die  Jugend  des  Landes  zu  allen  Taten  be- 
reit; auf  nach  Norden!  In  kurzer  Zeit  wird  Washington 
genommen  sein,  und  die  starrköpfigen  Feinde  der  Skla- 
verei müssen  klein  beigeben!  Eine  Woge  der  Begeiste- 
rung erfaßt  jedermann;  man  feiert  den  glücklichen  Be- 
ginn der  Auseinandersetzung  wie  das  Vorspiel  des  end- 
gültigen großen  Sieges.  Einige  Mittelstaaten,  die  sich  dem 
Krieg  bisher  lieber  fernhalten  wollten,  schließen  sich  nach 
dem  ersten  Erfolg  dem  Süden  an,  so  Virginia,  das  noch 
im  Februar  zu  vermitteln  gesucht  hatte,  außerdem  Nord- 
karolina, Arkansas  und  Tennessy.  Und  täglich  erhofft  man 
auch  den  Anschluß  von  Kentucky,  Maryland  und  West- 
virginia; denn  auch  diese  fruchtbaren  Landstriche  sind 
durch  Sklavenarbeit  zu  Wohlstand  gekommen.  Immer- 
hin erwartet  hier  die  weiße  Bevölkerung  ihr  Heil  nicht 
ungeteilt  von  der  Knechtung  der  Neger;  die  kleinen  Far- 
mer, die  deutschen  Handwerker,  die  aus  der  Schweiz  ein- 
gewanderten Küher  und  Käser  halten  es  mit  den  Republi- 
kanern. Es  kommt  —  zur  Enttäuschung  des  optimistischen 
Südens  —  in  diesen  Staaten  nicht  zum  Anschluß  an  die 
Konföderation. 

Ueberhaupt  können  die  leitenden  Männer  des  Südens 

72 


den  Krieg  nur  vom  Zaun  reißen,  weil  sie  die  Lage  durch 
eine  rosig  gefärbte  Brille  betrachten.  Sie  haben  lediglich 
die  Hoffnung  auf  ihrer  Seite;  bei  nüchterner  Ueberlegung 
müßten  sie  erkennen,  daß  sie  auf  die  Dauer  dem  ungleich 
stärkeren  Gegner  nicht  standhalten  können.  Den  elf  Staa- 
ten des  eigenen  Sonderbundes  stehen  vierundzwanzig  des 
Gegners  gegenüber,  die  von  etwa  zweiundzwanzig  Mil- 
lionen Weißen  bewohnt  werden.  Im  Süden  dagegen  zählt 
man  zwölf  Millionen  Weiße;  die  Sklaven  wird  man  sich 
hüten  müssen,  unter  die  Waffen  zu  rufen,  da  sie  bei  erster 
Gelegenheit  zu  ihren  Befreiern  überlaufen  würden.  Au- 
ßerdem liegen  zwei  Drittel  des  Geldes  in  den  Banken  des 
Nordens;  dort  arbeiten  auch  die  Ingenieure  in  den  großen 
Fabriken;  dort  finden  sich  Erz  und  Kohle.  Und  wie  steht 
es  um  die  im  Kriege  so  wichtige  Sympathie  des  Auslan- 
des? Gewiß  hat  man  Napoleon  III.  auf  seiner  Seite;  er 
haßt  jede  Form  von  Demokratie  und  Gleichmacherei. 
England,  das  den  Groll  gegen  die  abgefallene  einstige 
Kolonie  immer  noch  nicht  abgelegt  hat,  freut  sich  über 
die  entkräftende  Entzweiung  unter  seinen  verlorenen 
Söhnen.  Man  zählt  im  Süden  auf  den  englischen  Adel, 
der  sich  gewiß  die  Schiffahrt  offen  behalten  will  und  stets 
bereit  ist,  gegen  die  für  die  Textilfabriken  so  nötige 
Baumwolle  Kriegsgerät  nach  der  Neuen  Welt  zu  schaffen. 
Doch  England  steht  selbst  im  Zeichen  der  Demokratisie- 
rung. Die  Stärke  der  vormals  allmächtigen  Lords  ist  schon 
gebrochen,  und  der  Mann  von  der  Straße,  der  in  harter 
Arbeit  sein  kärgliches  Brot  in  den  Bergwerken,  in  den 
Spinnereien  und  Webereien  verdient,  ist  entschlossen,  lie- 
ber zu  hungern,  als  für  die  Sklavenherren  jenseits  des 
Ozeans  zu  wirken.  «Onkel  Toms  Hütte»  wird  in  den  Sonn- 
tagsschulen nacherzählt;  die  Prediger  der  verschiedenen 

73 


Kirchen  und  Gemeinschaften  überbieten  sich  gegenseitig 
in  der  Schilderung  des  Negerloses  auf  den  Baumwollfar- 
men; man  veranstaltet  Meetings  und  Gebetsversammlun- 
gen für  die  Sklaven:  Nein,  die  Masse  des  Volkes  sympa- 
thisiert weder  in  England  noch  anderswo  in  der  alten  Hei- 
mat mit  den  Südstaaten.  Die  englische  Regierung  dagegen 
verhält  sich  dem  Namen  nach  «streng»,  in  Wirklichkeit 
sogar  «wohlwollend»  neutral.  Schon  allein  dadurch,  daß 
sie  den  Sonderbund  als  kriegführende  Partei  anerkennt. 
Sie  hat  auch  nichts  dagegen,  daß  sich  zwei  Diplomaten 
des  Südens  auf  dem  englischen  Dampfer  «Trent»  ein- 
schiffen, um  in  Europa  wichtige  Missionen  auszurichten. 
Vielleicht  interessiert  sich  ihre  Regierung  für  englischen 
Stahl,  vielleicht  für  französische  Präzisionsgewehre;  mög- 
licherweise handelt  es  sich  für  sie  nur  darum,  die  öffent- 
liche Meinung  in  der  Alten  Welt  geschickt  zu  beeinflus- 
sen. Genug:  der  Erkundigungsdienst  der  Nordstaaten  hat 
Wind  von  dieser  Reise  bekommen  und  läßt  durch  ein 
Kriegsschiff  die  «Trent»  aufhalten  und  die  beiden  Herren 
gefangennehmen.  Da  droht  England  sogar  mit  offener 
Parteinahme  für  den  Süden,  mit  Eintritt  in  den  Krieg. 
Auch  diese  Hoffnung  der  Optimisten  in  den  Sklaven- 
staaten erfüllt  sich  nicht,  denn  Lincoln  gibt  nach  und  über- 
läßt die  Diplomaten  den  Engländern  —  zum  Aerger  seiner 
unentwegtesten  Gesinnungsfreunde.  So  bauen  die  Opti- 
misten schließlich  auf  die  Unzuverlässigkeit  der  Einwoh- 
ner in  den  Nordstaaten.  Während  nämlich  im  Süden  das 
Schicksal  fast  jedes  Weißen  mit  Haut  und  Haaren  vom 
Ausgang  des  Krieges  abhängt,  weil  die  Baumwollplanta- 
gen nach  der  Wegnahme  der  Sklaven  zugrunde  gehen 
müßten,  ärgern  sich  die  Arbeiter  und  Bauern  im  Norden 
zwar  über  die  Zwängerei  der  Großgrundbesitzer  und  ver- 

74 


achten  die  Sklavenherren  herzlich;  aber  der  aufgezwun- 
gene Krieg  ist  ihnen  in  der  Seele  zuwider.  Es  lassen  sich 
genug  Stimmen  hören,  die  finden,  man  solle  die  unzu- 
friedenen Negervögte  doch  machen  lassen,  und  für  die 
Union  bedeute  es  bestimmt  keinen  Schaden,  wenn  man 
ihnen  den  Austritt  gewähre.  Diese  Stimmung  kennt  man 
im  Süden;  man  höhnt  also  nach  Noten  über  die  «Krä- 
merseelen», denen  das  Geld  mehr  bedeute  als  die  Ehre. 
Vor  allem  weiß  man,  daß  die  soldatische  Ausbildung  im 
Norden  nur  fast  zufällig  betrieben  wurde,  daß  Arsenale 
und  Waffen  in  schlechtem  Zustand  sich  befinden,  und 
hofft,  daß,  bis  dort  nur  eine  einigermaßen  schlagkräftige 
Armee  auf  die  Beine  gestellt  werden  kann,  der  Waffen- 
gang bereits  entschieden  sein  würde.  Man  hofft  also  im 
Süden  mehr,  als  daß  man  überlegt.  Man  erhitzt  den  Pa- 
triotismus mit  allen  künstlichen  Mitteln  bis  zum  Siede- 
punkt, man  läßt  den  Volkszorn  kochen.  Märsche  mit  den 
anfeuernden  Titeln  «König  Baumwolle»,  «Unser  Präsi- 
dent Jefferson  Davis»  oder  «Heil  Alabama»  werden  kom- 
poniert, oder  auch  sentimentale  Weisen,  wie«Dämmerung 
am  Mississippi»  und  «Die  Jungfrau  von  New  Orleans». 
Diese  Melodien  schmettern  die  Kaffeehausorchester  in 
den  Städten,  verbreiten  die  fahrenden  Musikanten,  die 
heute  hier,  morgen  dort  ein  Klavier  mieten  und  mit  der 
kleinen  Trommel  den  Takt  schlagen  lassen,  und  bald 
pfeift  sie  jeder  Gassenbub  nach,  was  zugleich  seine  Hei- 
matliebe bezeugt  und  Spaß  macht.  Die  Damen  in  den 
weißen  Villen  leben  fortan  nicht  mehr  allein  ihren  Reit- 
und  Tanzvergnügen;  sie  entdecken  plötzlich  ihr  patrio- 
tisches Herz,  veranstalten  Bazare  zugunsten  der  Armee 
und  nähen  einzeln  oder  gruppenweise  für  die  Soldaten. 
An  diesen  herrscht  zu  Beginn  des  Krieges  kein  Mangel: 

75 


Von  allen  Seiten  strömen  die  Freiwilligen  herbei,  die 
meisten  beritten;  manche  wie  mittelalterliche  Feudal- 
herren mit  einem  ganzen  Troß  von  Anhängern  um  sich. 
Die  Uniformierung  läßt  anfänglich  viel  zu  wünschen 
übrig,  und  von  einer  einheitlichen  Bewaffnung  kann 
noch  keine  Rede  sein.  Ebenso  scheint  der  Begriff  der 
Disziplin  den  meisten  dieser  Freiwilligen  noch  unklar: 
sie  wählen  ihre  Offiziere  nach  Gutdünken  und  begehren 
auf  eigene  Faust  möglichst  rasch  nach  Norden  zu  reiten, 
um  mit  den  «gottverdammten  Krämerseelen»  endlich  ab- 
zurechnen, die  ihnen  den  Wohlstand  mißgönnen  und  ihre 
der  Bibel  und  allem  Herkommen  hohnsprechenden 
Grundsätze  von  «Gleichheit  und  Freiheit  für  alle»  auf- 
zwingen wollen. 

Aber  noch  ungünstiger  in  militärischer  Hinsicht  trifft 
der  Ausbruch  des  Bürgerkrieges  den  Norden.  Abraham 
Lincoln  hat  seine  versöhnenden  Antrittsreden  ehrlich  ge- 
meint. Er  sieht  das  Amt  des  Präsidenten  nicht  im  Zuschla- 
gen. Er  betrachtet  sich  als  Arzt,  der  den  verwundeten 
Staatskörper  zu  betreuen  hat.  Man  ermutigt  ihn  von  radi- 
kaler Seite,  als  Chirurg  zu  wirken.  «Aergert  dich  ein  böses 
Glied,  so  hau  es  ab,  damit  die  Vergiftung  nicht  den  ganzen 
Körper  verseuche»,  raten  ihm  draufgängerische  Freunde. 
Aber  er  wartet.  Er  setzt  seine  Hoffnung  auf  die  mensch- 
liche Vernunft,  die  doch  auch  im  Süden  nicht  ausgestor- 
ben sein  kann.  Die  Mißverständnisse  müssen  beseitigt  wer- 
den! Vielleicht  fühlen  sich  die  rebellischen  Bundesgenos- 
sen gekränkt  wegen  alter  Zollgeschichten;  vor  allem  be- 
deuten ihnen  die  hohen  Schutzzölle,  aus  welchen  der  Staat 
Gewinn  zieht,  einen  Dorn  im  Auge,  weil  sie  die  Frei- 
zügigkeit des  Handels  einschränken.  Möglicherweise 
sehen  sie  überhaupt  mit  scheelen  Blicken  dem  Aufstieg 

76 


der  Industriestädte  zu.  Aufklärung  tut  not!  Also  hält  er 
Reden  versöhnlichen  Inhalts,  die  von  den  Feinden  höh- 
nisch zurückgewiesen,  von  den  Freunden  auch  nicht  ver- 
standen werden.  Weshalb  spricht  der  Präsident  nicht 
klarer? 

Auch  aus  Europa  tönen  solche  Vorwürfe.  Das  Recht 
liegt  doch  eindeutig  auf  der  Seite  des  Nordens,  liest  man 
in  den  europäischen  Zeitungen.  Wenn  es  dem  Präsidenten 
um  die  Ideale  der  Menschlichkeit  gehen  würde,  dann 
zöge  er  mit  bewaffneter  Streitmacht  gegen  die  unbot- 
mäßigen Pflanzer  und  versuchte  ihnen  nicht  als  schwäch- 
licher Landesvater  zuzusprechen.  Und  dann  folgen  die 
moralisierenden  Folgerungen:  Die  Unterdrückung  der 
Sklaverei  sei  also  doch  nur  ein  Vorwand;  den  Hinter- 
grund bildeten  dunkle  Machenschaften  der  Reichen  und 
Mächtigen,  die  durch  den  Krieg  noch  reicher  und  noch 
mächtiger  zu  werden  hofften.  Ja,  wenn  Lincoln  am  ersten 
Tage  seiner  Regierung  erklärt  hätte:  «Von  heute  an  gilt 
die  Sklaverei  als  abgeschafft!»  Das  hatte  man  von  ihm 
erwartet! 

In  den  düsteren  Apriltagen,  in  denen  er  sieht,  daß  der 
Aufruhr  nicht  mehr  einzudämmen  ist,  behält  er  seine  vor- 
bildliche Ruhe.  Sie  verläßt  ihn  nicht  einmal,  als  er  das 
hartnäckige  Gerücht  vernimmt,  der  Feind  rüste  sich  zum 
Marsch  nach  Washington.  Richmond,  von  den  Südstaaten 
zur  Hauptstadt  erkoren,  liegt  nur  etwa  150  Kilometer 
entfernt.  Dort  hielten  sich,  immer  dem  Gerücht  zufolge, 
sechstausend  Mann  zum  Einbruch  in  das  Gebiet  des  Nor- 
dens bereit.  Und  die  Besatzung  zu  Washington  zählt 
knapp  sechshundert! 

Der  Präsident  ruft  75  000  Mann  unter  die  Waffen.  Aber 
die  Mobilmachung  geht  mit  lähmender  Langsamkeit  vor 

77 


sich.  Während  die  Farmer  im  Süden,  wenn  auch  nicht 
militärisch  gedrillt,  so  doch  im  Schießen  geübt  und  im 
Reiten  gewandt  sind  und  ganz  allgemein  Freude  am  Krieg 
bekunden,  kommt  die  Kriegsnachricht  eigentlich  jeder- 
mann im  Norden  unbequem.  Hier  bedarf  es  erst  recht  der 
Werbung  mit  Schriften  und  Bildern,  mit  Musik  und  Tam- 
tam, und  doch  will  die  Begeisterung  keine  Wogen  schla- 
gen. Wer  irgendeinen  Grund  hat,  drückt  sich  vom  Waf- 
fendienst. Mit  einer  gewissen  Summe  kann  man  sich  los- 
kaufen, auch  noch,  nachdem  nicht  mehr  auf  freiwilliger 
Grundlage  rekrutiert  wird.  Mit  der  Trägheit  geht  auch 
eine  gewisse  Sicherheit  Hand  in  Hand.  Man  ist  ja  ohnehin 
reicher  und  stärker;  man  wird  den  Krieg  gewinnen.  Wes- 
halb so  viel  Aufhebens  daraus  machen?  Man  lächelt  über 
das  Geschrei  im  Süden.  Wenn  nur  erst  die  Kräfte  voll 
entfaltet  sind,  kommt  es  kaum  mehr  zu  einer  rechten 
Schlacht.  Man  braucht  sich  also  nicht,  wie  die  im  Süden, 
im  voraus  Siegesräusche  anzutrinken.  Man  wartet  in  der 
Gewißheit,  daß  am  besten  lacht,  wer  zuletzt  lacht. 

Im  Laufe  der  Monate  Mai  und  Juni  zeigt  es  sich,  daß 
die  Konföderierten  ihre  Drohung,  Washington  anzugrei- 
fen, nicht  ausführen.  Auch  sie  fühlen  sich  nicht  stark 
genug  zur  Offensive  und  richten  sich  auf  die  Verteidigung 
ein.  Der  Krieg  droht  einzuschlafen  oder  sich  sinnlos  in 
die  Länge  zu  ziehen. 

Da  beschließt  endlich  der  Oberbefehlshaber  des  Nor- 
dens, General  Scott,  den  Angriff.  Und  wenn  Scott  vor- 
gehen will,  dann,  denkt  man,  ist  das  Unternehmen  ge- 
sichert. Er  pflegt  zuerst  zu  überlegen  und  erst  nachher 
zuzuschlagen.  Sein  Name  steht  noch  in  guter  Erinnerung 
aus  dem  Krieg  gegen  Mexiko:  den  hat  er  vor  fünfzehn 
Jahren  siegreich  zu  Ende  geführt.  Scotts  Bild  wird  von 

78 


geschäftstüchtigen  Andenkenfabrikanten  massenweise 
hergestellt.  Man  verkauft  Kreide-  und  Oeldrucke,  auf 
denen  Lincoln  und  Scott  einander  feierlich  die  Hand  rei- 
chen, der  Staatsmann  im  schwarzen  Bratenrock,  der  Gene- 
ral in  Paradeuniform,  im  Hintergrund  das  Sternenbanner. 
Und  die  Musikvereine  blasen  den  Marsch  «General  Scott». 

Scott  zieht,  sobald  seine  freiwilligen  Horden  einiger- 
maßen zu  kriegstüchtigen  Einheiten  geformt  sind,  dem 
Feind  entgegen.  Am  21.  Juli  stoßen  die  Heere  beim  Flüß- 
chen  Bull  Run  aufeinander,  und  nach  kurzer  hitziger 
Schlacht  laufen  die  Verteidiger  des  Nordens  in  aufgelö- 
ster Ordnung  davon.  In  erbärmlichem  Zustand  treffen  die 
Reste  der  geschlagenen  Armee  in  Washington  ein;  Scott 
nimmt  den  Abschied  und  wird  —  da  die  öffentliche  Mei- 
nung stürmisch  nach  einem  jungen  Feldherrn  ruft  — 
durch  den  34jährigen  MacClellan  ersetzt.  Trotz  der  Nie- 
derlage hat  man  den  Ernst  des  Krieges  noch  nicht  recht 
begriffen:  Die  Andenkenfabrikanten  ersetzen  den  ehr- 
würdigen und  greisen  Scott  auf  ihren  Drucken  durch  den 
jungen  General,  der  nun  dem  Präsidenten  die  Hand  rei- 
chen muß,  und  die  Kapellen  üben  einen  neuen  Marsch. 
Immerhin  merkt  man  doch  im  Norden,  daß  der  Krieg 
ohne  Anstrengungen  nicht  gewonnen  werden  kann.  Zei- 
tungen und  Pamphlete  bereiten  auf  weitere  harte  Kämpfe 
vor;  der  Feind  wird  als  wild  und  grausam  geschildert; 
Erzählungen  von  Augenzeugen  werden  weitergegeben, 
nach  welchen  die  Krieger  aus  den  Südstaaten  ihre  ver- 
wundeten Feinde  elend  in  der  Sommerhitze  auf  dem 
Kampfplatze  verschmachten  ließen  und  daß  sie,  wenn  sie 
einsame  Farmen  anträfen,  marodierten,  plünderten  und 
es  in  schandbarer  Weise  auf  die  Frauen  abgesehen  hätten. 

Zur  ersten  Niederlage  des  Nordens  auf  dem  Lande  ge- 

79 


seilt  sich  bald  die  zweite  zu  Wasser:  Am  19.  April  schon 
hat  Lincoln  die  Küstenblockade  verhängt.  Wenn  der 
Süden  von  Europa  abgeschnitten  werden  kann,  muß  er 
ersticken;  denn  er  ist  auf  die  Ausfuhr  seiner  Baumwolle 
und  auf  die  Einfuhr  fast  aller  kriegswichtigen  Dinge  an- 
gewiesen. Sechs  stattliche  hölzerne  Kriegsschiffe,  halb 
Dampfer,  halb  Segler,  fahren  vor  New  Orleans,  kreuzen 
bei  jedem  Wetter  vor  der  Hafeneinfahrt  hin  und  her  und 
unterbinden  jeglichen  Seeverkehr.  Unvermittelt  setzt  aber 
eines  Tages  der  Angriff  ein:  Ein  Ungetüm  faucht  auf  die 
hölzerne  Kriegsflotte  des  Nordens  zu,  ohne  Masten,  nur 
mit  Dampf  getrieben  und  scheinbar  unverwundlich. 
Wenigstens  prallen  die  Kugeln  vom  Rumpfe  des  Schif- 
fes, das  den  unheimlichen  Namen  «Merrimac»  trägt,  ab, 
ohne  Schaden  anzurichten.  Es  vermag  ganz  nahe  an  das 
Leitschiff  der  Kriegsflottille  zu  gelangen  und  schießt 
dieses  mit  wenigen  gut  gezielten  Ladungen  aus  seinem 
Kanonenturm  in  den  Grund.  Dann  wendet  es  sich  dem 
nächsten  schwimmenden  Gegner  zu,  und  auch  die  See- 
schlacht endet  mit  einer  vollständigen  Niederlage  des 
Nordens.  Der  Zustand,  in  dem  die  Fahrzeuge  in  den 
Heimathäfen  eintreffen,  läßt  sich  höchstens  mit  dem- 
jenigen von  General  Scotts  unseliger  Armee  vergleichen. 
Aber  diese  schlimmen  Anfangserfahrungen  öffnen  den 
Schläfern  in  den  Nordstaaten  die  Augen.  Wie  e  i  n  Mann 
stellt  sich  der  Kongreß  hinter  den  Präsidenten,  der  eine 
eindringliche  Mahnrede  hält:  «Der  Süden  hat  uns  vor  die 
Wahl  gestellt,  entweder  ihn  aus  unserm  Bund  zu  entlassen 
oder  Krieg  zu  führen.  Ich  habe  ein  dritte  Möglichkeit  er- 
wogen: ich  wollte  warten.  Aber  nun  kämpfen  wir  um 
unser  Dasein.  Nur  mit  Schmerz  greifen  wir  zu  den  Waf- 
fen. Wäre  ich  noch  ein  einfacher  Bürger,  ich  könnte  den 

80 


Umsturz  niemals  gutheißen.  Nun  bin  ich  Präsident  und 
fühle  mich  durch  das  Gewissen  gezwungen,  zum  Krieg 
aufzurufen.  Ich  habe  meine  Pflicht  getan;  der  Kongreß 
tue  nun  die  seine!» 

Gegen  Ende  des  Jahres  steht  im  Norden  etwa  eine 
halbe  Million  geschulter  Soldaten  unter  den  Fahnen.  Der 
schwedische  Konstrukteur  Erikson  hat  ein  gepanzertes 
Kriegsschiff  gebaut,  das  den  Schrecken  der  «Merrimac» 
brechen  wird.  Nun  ist  die  Flotte  des  Nordens  imstande, 
alle  wichtigen  Punkte  der  Südküste  zu  besetzen,  ja  den 
Mississippi  aufwärtszudampfen  und  die  wichtige  Stadt 
New  Orleans  zu  nehmen.  Der  Baumwollhandel  mit 
Europa  schrumpft  mit  jedem  Monat  und  hört  schließlich 
vollständig  auf. 

Der  vier  Jahre  dauernde  Bürgerkrieg  der  Vereinigten 
Staaten  hat  eine  vollständige  Umwälzung  des  Seekrieges 
gebracht.  Die  stolzen  hölzernen  Kriegsschiffe  waren  wert- 
los geworden.  Der  Kampf  zwischen  der  «Merrimac»  des 
Südens  und  der  «Monitor»  des  Nordens  wurde  in  den 
Journalen  von  Fachleuten  breitgeschlagen  und  in  den 
Salons  von  Laien  beredet.  Man  sprach  bereits  von  gepan- 
zerten Flotten  und  pries  diejenige  Macht,  welche  zuerst 
einen  Park  eiserner  Schiffe  anschaffen  würde,  als  die 
Beherrscherin  der  Welt.  Am  meisten  Gewinn  aus  der 
neuen  Erfindung  zogen  allerdings  weder  die  Völker  noch 
die  Admiräle,  sondern  die  Besitzer  der  Werften  und  der 
Rüstungsfabriken,  unter  denen  ein  Wettlauf  um  die  Fer- 
tigstellung der  neuen  begehrten  Waffe  begann.  Die  ge- 
panzerten Schiffe  erhielten  eiserne  Türme  in  der  Mitte, 
aus  welchen  durch  Luken  die  Kanonen  feuern  konnten. 


6     Stickelbergor,  Abraham  Lincoln 


Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  komplizierte  Geschichte 
des  Sezessionskrieges  zu  schreiben.  Die  Namen  der  Gene- 
räle tauchten  auf  beiden  Seiten  auf  wie  Kometen  und 
verschwanden  wieder.  Die  Andenkenfabrikanten  haben 
jedesmal  von  einem  Wechsel  profitiert,  und  die  Musik- 
gesellschaften übten  unverdrossen  jedesmal  neue  Märsche 
ein.  Der  Krieg,  in  seinen  ersten  Monaten  von  vielen  ledig- 
lich als  unschöne  Störung  empfunden,  riß  auf  die  Dauer 
Handel  und  Wandel,  das  Leben  jeder  Familie  mit  in  sei- 
nen Strudel.  Die  Freiheit  des  Einzelnen  wurde  beschnit- 
ten: Dem  Vaterland  zuliebe  durfte  man  weder  schreiben 
noch  sagen,  was  einem  durch  den  Kopf  ging.  Streng  ge- 
nommen, waren  sogar  gewisse  Gedanken  verboten.  Wo 
sich  friedliebende  Menschen  zusammenrotteten,  trieb  sie 
die  Polizei  auseinander  und  nahm  die  Rädelsführer  ge- 
fangen. In  den  großen  Städten  des  Ostens,  vor  allem  in 
New  York,  gärte  zuweilen  die  Volksstimmung  bedenk- 
lich. Es  gab  Monate,  in  denen  Lincoln  der  verhaßteste 
Mann  schien  und  als  Hetzer  und  Kriegstreiber  angegrif- 
fen wurde. 

Auch  dieser  Krieg  säte  Unordnung  und  Verbitterung, 
Haß  und  Jammer,  Enttäuschung  und  Elend.  Um  ihn  zu 
führen,  brachte  der  Norden  täglich  zwei  Millionen  Dollar 
auf,  in  vier  Jahren  dreieinhalb  Milliarden;  eine  für  dama- 
lige Verhältnisse  phantastische  Summe.  Sie  wurde  durch 
außerordentlich  hohe  direkte  und  indirekte  Steuern  auf- 
gebracht. Schon  in  den  ersten  Wochen  nach  Kriegsbeginn 
gaben  die  Banken  im  Norden  kein  Gold  mehr  für  Noten. 
Später  setzte  die  Regierung  die  berüchtigten  «Green- 
backs»  in  Umlauf,  eine  Art  von  Schatzscheinen  ohne  Dek- 
kung,  auf  denen  sofort  ein  Aufgeld  von  17,  später  von 
64  Prozent  erhoben  wurde. 

82 


Im  Süden  trieb  man  das  Geld  noch  rücksichtsloser  zu- 
sammen. Man  lieh  Riesensummen  in  England,  Frankreich 
und  Holland  und  interessierte  so  die  europäischen  Regie- 
rungen am  glücklichen  Ausgang  des  Ringens.  Die  engli- 
schen Minister  ließen  es  zu,  daß  auf  ihren  Werften  ge- 
panzerte Kaperschiffe  für  den  Süden  gebaut  wurden. 
Napoleon,  gewalttätig  und  habgierig,  benützte  den  Bru- 
derkrieg, um  sich  in  Mexiko  festzusetzen.  Er  ließ  35  000 
Mann  in  die  Hauptstadt  einmarschieren  und  bot  Maxi- 
milian, dem  Bruder  des  österreichischen  Kaisers,  Thron 
und  Krone  an. 

Am  schwersten  für  beide  Teile  der  gespaltenen  Union 
wogen  die  Verluste  an  Menschen.  An  einem  einzigen 
Tage  verloren  etwa  80  000  Mann  ihr  Leben.  Nach  dama- 
liger Kriegskunst  marschierten  ungeheure  Heere  einander 
entgegen  und  bezogen  ihre  Stellungen.  Man  ritt  Attacken, 
man  feuerte  in  die  Reihen  des  Gegners,  und  sehr  oft 
mußte  der  Kampf  unentschieden  abgebrochen  werden, 
weil  die  Verluste  auf  beiden  Seiten  unerträglich  wurden. 

Im  April  1865  ergaben  sich  die  Generäle  der  Südstaaten 
Lee  und  Johnston.  Mit  der  Eroberung  der  Hauptstadt 
Richmond  am  8.  April  war  der  Krieg  zugunsten  des  Nor- 
dens entschieden.  Was  noch  folgte,  waren  verzweifelte 
Geplänkel  einzelner  Truppenteile  in  den  Bergen,  in  den 
Wäldern,  in  den  Wüsten. 

Nach  der  endgültigen  Besiegung  der  Südstaaten  ver- 
loren diese  auch  die  wenigen  Sympathien,  die  sie  vorher 
im  Kampfe  ermuntert  hatten.  Man  warf  ihnen  Grausam- 
keit in  der  Kriegführung  und  grenzenlosen  Hochmut  vor. 
Auch  hielt  man  ihnen  die  verschiedenen  Manifeste  vor, 
mit  denen  sie  die  Sklavenhaltung  verteidigt  hatten.  Sie 
waren  einer  unmoralischen  Idee  wegen  in  den  Krieg  ge- 


«• 


83 


zogen  und  sollten  nun  büßen.  Der  härteste  Friede  mochte 
eben  recht  sein  für  sie! 

Tatsächlich  waren  die  Friedensbedingungen  an  sich 
nicht  hart.  Der  siegreiche  Norden  zeigte  sich  sofort  groß- 
zügig, schickte  Hilfskräfte  für  den  Wiederaufbau,  und 
die  Gutmeinenden  traten  dafür  ein,  den  Bruderzwist  mög- 
lichst rasch  zu  vergessen. 

Dennoch  spürte  jeder  einzelne  im  Süden  die  Nieder- 
lage mit  erdrückender  Schwere.  Man  hatte  alles  für  den 
Krieg  weggegeben  in  der  trügerischen  Hoffnung,  es  der- 
einst, nach  dem  erträumten  Siege,  zehnfach  wieder  er- 
stattet zu  bekommen.  Im  letzten  Kriegsjahr  mußten  alle 
Männer  zwischen  siebzehn  und  fünfzig  Jahren  Waffen- 
dienst leisten.  Die  Frauen  taten  sich  zu  freiwilligen  Hilfs- 
diensten zusammen.  Aus  den  spielerischen  Anfängen  zum 
Wohle  der  Soldaten  war  längst  grimmiger  Ernst  gewor- 
den. Die  Damen  arbeiteten  von  frühmorgens  bis  zur  Dun- 
kelheit im  Schweiß  ihres  Angesichts  auf  den  Feldern.  Die 
Baumwollfarmen  verwilderten;  längst  konnte  kein  Bal- 
len mehr  ausgeführt  werden,  da  die  Blockade  ringsum 
kein  Schiff  durchließ.  Die  Zeit  der  Heldenverehrung  war 
vorbei;  verbissen  arbeitete  jedermann  um  sein  Stückchen 
Brot.  Es  kam  vor,  daß  selbst  die  Neger  unter  die  Waffen 
gesteckt  wurden;  man  versprach  ihnen  goldene  Berge, 
wenn  sie  tapfer  gegen  ihre  Befreier  kämpften! 

Der  Friede  brachte  dann  nach  der  letzten  übermensch- 
lichen Anspannung  die  Ernüchterung.  Die  Farmen  lagen 
brach.  Alle  schlimmen  Prophezeiungen,  welche  vor  Be- 
ginn des  Krieges  ausgesprochen  waren  für  den  Fall,  daß 
man  nachgebe  und  die  Sklaverei  abschaffe,  trafen  nun  ein, 
nur  in  viel  schrecklicherem  Maße.  Die  Neger  waren  frei 
und  wußten  oft  nicht,  was  mit  dem  gewonnenen  Leben 

84 


anfangen.  Viele  blieben  freiwillig  auf  den  Farmen.  An- 
dere rächten  sich  an  ihren  ehemaligen  Unterdrückern  und 
verübten  Gewalttaten.  Manche  schlössen  sich  zu  Banden 
zusammen,  die  stehlend,  oft  mordend  durch  die  Länder 
zogen  und  im  Vollgefühl  darüber,  daß  der  Krieg  ihret- 
wegen ausgefochten  und  zu  ihren  Gunsten  entschieden 
worden  sei,  die  Ordnungstruppen  vor  schwere  Aufgaben 
stellten.  In  ihrer  Not  gründeten  einige  verwegene  weiße 
Wagehälse,  welche  die  aristokratischen  Ideale  des  Südens 
nicht  aufgeben  wollten,  Geheimgesellschaften  mit  spuk- 
haften Riten,  den  Ku-Klux-Klan  oder  die  «Ritterschaft 
von  der  weißen  Kamelie».  Hinter  furchterregenden  Mas- 
ken schreckten  sie  die  Neger,  verschworen  sich  aber 
gleichzeitig  auch  gegen  alles  neue  Wesen,  das  aus  dem 
Norden  kam. 

Im  ganzen  waren  die  ehemaligen  Plantagenbesitzer  zu 
armen  Leuten  geworden,  die  nicht  wußten,  wo  sie  Nah- 
rung und  Kleidung  hernehmen  sollten.  Auch  drohte 
ihnen  in  den  auf  den  Krieg  folgenden  Jahren  eine  be- 
drückende Rechtlosigkeit:  Radikale  Vertreter  der  Sieger 
arbeiteten  sogar  an  einem  Plan,  der  den  freigelassenen 
ungeschulten  Negern  das  Stimmrecht  einräumen,  es  aber 
jenen  Weißen,  welche  die  Trennung  von  den  Staaten  be- 
fürwortet hatten,  entziehen  wollten.  Sie  hatten  den  Krieg 
verloren  und  brauchten  für  Mangel,  Hunger  und  Demüti- 
gung nicht  zu  sorgen. 

Doch  damit  haben  wir  unserer  Lebensbeschreibung 
weit  vorgegriffen! 


85 


Erster  Bürger  seines  Landes 


In  Kriegszeiten  spricht  jedermann  von  militärischen 
Siegen  oder  Niederlagen,  und  aller  Augen  sind  auf  die 
Pläne  und  Taten  der  Feldherren  gerichtet.  Doch  mögen 
nun  die  Generäle  der  Nordstaaten  im  Sezessionskrieg 
heißen  wie  sie  wollen,  mögen  ihre  scharf  geschnittenen 
Gesichter  die  Wände  der  staatlichen  Kontore  und  die 
Porzellantassen  in  den  Haushaltungen  zieren:  Erster  Bür- 
ger seines  Landes  ist  und  bleibt  Präsident  Lincoln.  Natür- 
lich schimpft  man  auch  über  ihn:  dem  einen  greift  er  zu 
wenig  rabiat  durch,  dem  andern  zeigt  er  sich  dem  Süden 
gegenüber  zu  wenig  nachgiebig.  Aber  im  Grunde  liebt 
ihn  doch  jeder  als  den  Vater  des  Vaterlandes.  Seine  ganze 
Kraft,  Einsicht,  Beredsamkeit  und  Klugheit  stellt  er  dem 
Lande  zur  Verfügung;  das  geht  ihm  vielleicht  leichter, 
weil  er  sich  im  engsten  Familienkreise  nicht  recht  wohl 
fühlt.  Doch  spricht  er  nicht  darüber.  Mit  niemandem. 

Sobald  ihn  jeweilen  die  Kunde  eines  ausgefochtenen 
Kampfes  erreicht,  läßt  er  die  Staatsgeschäfte  stehen  oder 
liegen  und  begibt  sich  mit  größter  Eile  zur  Walstatt, 
handle  es  sich  um  Sieg  oder  Niederlage.  In  diesen  Stunden 
muß  er  bei  seinen  Soldaten  sein.  Denn  sie  sind  Bürger  wie 
er.  Man  kennt  in  den  Vereinigten  Staaten  diese  Zweitei- 
lung der  männlichen  Einwohnerschaft  nicht,  wie  sie  in 
Preußen  und  anderwärts  in  Europa  im  Schwange  steht; 
man  trennt  nicht  zwischen  «einem  Militär»  und  «einem 
Zivilisten».  Vor  allem  in  Berlin  und  Potsdam,  aber  auch 
in  Paris  und  Wien  und  Petersburg  hegen  die  Offiziere 
eine  grundlose,  aber  desto  überheblichere  Verachtung  ge- 

86 


gen  alles,  was  keine  Montur  trägt.  Mag  einer  ein  hoch- 
gelehrter Professor,  ein  geschickter  Kaufmann,  ein  begna- 
deter Künstler  oder  ein  gewissenhafter  Handwerker  sein, 
von  den  Bauern,  die  dem  steinigen  Acker  die  Nahrung 
abringen,  gar  nicht  zu  reden:  Alle  gelten  sie  als  Menschen 
zweiter  Klasse,  als  weniger  gedrillt,  weniger  diszipliniert, 
weniger  pünktlich  und  weniger  der  Ehre  wert.  Back- 
fischen wäre  zur  Not  eine  solche  Bevorzugung  der  ele- 
ganteren Uniformträger  zuzubilligen;  aber  die  gesamte 
Menschheit,  die  zur  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts den  europäischen  Raum  bevölkert,  scheint  in 
dieser  Hinsicht  der  Backfischmentalität  verfallen  zu  sein. 
Wer  nicht  mittut,  wird  verdächtigt,  auf  jeden  Fall  nicht 
ernst  genommen.  Nach  einem  ungeschriebenen  Gesetz 
stehen  in  den  Kulturstaaten  der  Alten  Welt  Leuten  in 
Uniform  besondere  Rechte  zu;  sie  dürfen  Dinge  tun,  die 
gewöhnlichen  Sterblichen  streng  verboten  sind:  am  hei- 
terhellen Tage  faulenzen,  um  Geld  spielen,  Schulden 
machen,  Mädchen  verführen,  Nachtlärm  verursachen, 
alle  diese  Untaten  auch  im  tiefen  Frieden.  Statt  dem  Be- 
sitze eines  ruhigen  Gewissens,  welches  den  normalen 
Menschen  als  höchstes  Gut  erfreut,  legen  sie  großes  Ge- 
wicht auf  die  «Offiziersehre»,  die  durch  irgendeine  kri- 
tische Bemerkung  tödlich  verletzt  werden  kann. 

Diese  Zweiteilung  also  ist  in  den  Vereinigten  Staaten 
unbekannt.  Im  Kriege  haben  die  waffenfähigen  Männer 
notgedrungen  einzurücken  und  in  den  Kampf  zu  ziehen; 
doch  bleiben  sie  gleichzeitig  Gelehrte,  Bürger  und  Bau- 
ern, Handwerker  und  Büffeljäger  und  warten  auf  keine 
liebere  Stunde  als  auf  das  Ablegen  der  Uniform  mit  allen 
goldglitzernden  und  bunten  Grad-  und  Rangabzeichen. 


87 


Eine  der  Schlachten,  in  denen  der  Norden  endlich  das 
Uebergewicht  erlangt,  ist  die  von  Gettysburg  im  Jahre 
1863.  General  Lee,  auf  den  die  Südstaaten  die  größten 
Hoffnungen  gesetzt  hatten,  wollte  endlich  den  Weg  nach 
Washington  erzwängen.  Hätte  er  dieses  Ziel  erreicht, 
hätte  der  Norden  seine  Hauptstadt  preisgeben  müssen, 
dann  wäre  die  Entscheidung  vielleicht  um  Jahre  verzögert 
worden,  vielleicht  sogar  anders  ausgefallen. 

Es  wird  einer  jener  Kämpfe  ausgetragen,  bei  denen  die 
Gegner  ungefähr  gleich  stark  zum  Gefecht  antreten,  mit 
wachsender  Erbitterung  vorgehen  und  bei  denen  der  ein- 
zelne Soldat  keine  Ahnung  hat,  ob  seine  Partei  im  Siegen 
oder  im  Fliehen  begriffen  ist.  Heldenmutig  und  mit  gezo- 
genem Säbel  stürmen  blutjunge  Leutnants  ins  kämpfe- 
rische Gewühl;  die  Soldatenhaufen,  ordentlich  nach  der 
vorher  auf  dem  Papier  eingezeichneten  Gruppierung  auf- 
marschiert, schießen  in  die  feindlichen  Linien.  Artillerie, 
Infanterie,  Kavallerie:  alles  hat  seinen  Platz,  alles  ist 
scheinbar  leicht  zu  übersehen,  nur  der  Ausgang  der 
Schlacht  nicht. 

General  Lee  muß  weichen;  sein  Rückzug  wird  zur 
Flucht;  die  Sieger  des  Nordens  beherrschen  das  Feld. 
Höchste  Zeit!  Denn  Gettysburg  liegt  bereits  im  Norden 
Washingtons;  ein  Sieg  Lees  hätte  der  Hauptstadt  die  Ein- 
kreisung, die  Belagerung  und  wahrscheinlich  die  Erobe- 
rung gebracht. 

Am  Tage  nach  der  Schlacht  schon  erscheint  Lincoln. 
Er  pflegt,  wenn  er  auf  Reisen  geht,  einen  besonders  für 
ihn  gebauten  Eisenbahnwagen  zu  benützen.  Nicht,  um 
damit  Aufsehen  zu  erregen  und  Staat  zu  machen,  sondern 
weil  er  hier  ungestört  arbeiten  kann.  Der  Wagen  birgt 
einen  bequemen   Schreibtisch,   sogar  ein   Feldbett;   der 

88 


Oberbau  ruht  auf  besonders  weichen  Federn,  damit  Lin- 
coln auch  während  der  Fahrt  zu  schreiben  vermag. 

Die  Sonne  sticht  —  man  zählt  den  zweiten  Juli  —  mit 
unbarmherziger  Hitze  auf  den  gestrigen  Kampfplatz.  Der 
Präsident  läßt  den  Zug  auf  freiem  Felde  halten;  niemand 
erwartet  ihn  hier;  das  ist  ihm  eben  recht.  Man  beschäftigt 
sich  damit,  die  Verwundeten  zu  laben,  sie  zu  lagern  und 
zu  verbinden.  Jede  Einheit  weiß  ungefähr,  wo  sie  gestern 
im  Kampfe  stand,  und  findet  unschwer  ihre  Kameraden. 
Aber  wie  zufällig  das  alles  vor  sich  geht!  Seltsam:  Für 
den  Kampf  wird  alles  so  genau  vorbereitet;  das  Auf- 
räumen geschieht  planlos,  oft  so  rührend,  oft  so  un- 
menschlich. Die  verwundeten  Feinde  können  doch  nicht 
einfach  dem  siegreichen  Gegner  auf  Gnade  oder  Ungnade 
überlassen  werden!  Lincoln  kniet  neben  einem  schwer- 
verletzten Soldaten  des  Südens  nieder.  Er  winkt  einer  Pa- 
trouille, die,  mit  Feldflaschen  und  einer  Tragbahre  aus- 
gerüstet, an  ihm  vorübergeht.  Die  Krieger,  müde  vom 
gestrigen  Tag  und  von  der  heutigen  widrigen  Arbeit, 
kennen  den  «ersten  Bürger  des  Landes»  nicht.  Sie  geben 
kurzen  Bescheid.  «Soll  schauen,  wie  er  weiterkommt», 
sagt  einer,  «wir  suchen  die  Unseren».  Diesem  einen  Ver- 
letzten geht  es  gut:  er  wird  in  den  Staatszug  gebracht  und 
aufs  Feldbett  des  Präsidenten  gelegt.  Aber  die  andern 
Sterbenden  gehen  jämmerlich  zugrunde,  wenn  nicht  ein 
Gegner  Zeit  und  Mitleid  für  sie  hat.  Ein  überstaatliches 
Abkommen  sollte  getroffen  werden,  geht  ihm  durch  den 
Sinn,  nach  welchem  jedem  Verwundeten  die  beste  ärzt- 
liche Hilfe  zuteil  werden  muß,  handle  es  sich  um  Freund 
oder  Feind.  Die  allerselbstverständlichste  Christenpflicht 
wäre  das! 

Endlich  hat  jemand  den  Präsidenten  erkannt.  In  weni- 

8g 


gen  Augenblicken  ist  General  Meade  zur  Stelle,  der  Sieger 
des  gestrigen  Tages.  Lincoln  läßt  sich  von  ihm  den  Gang 
der  Schlacht  erklären.  Er  läßt  sich  von  ihm  führen,  horcht 
zu,  sagt  wenig.  Er  möchte  nachher  zu  den  Soldaten  spre- 
chen; aber  das  Reden  fällt  ihm  heute  sauer.  Es  ist  nicht 
leicht,  von  allen  als  erster  Bürger  angesehen  zu  werden; 
es  ist  schwer,  immer  das  rechte  Wort  zu  finden.  Nach  der 
Niederlage  dringen  die  Worte  eher  leichter  aus  der  Kehle: 
Da  ermuntert  man  die  Niedergeschlagenen,  spricht  ihnen 
neuen  Mut  zu,  preist  die  gute  Sache.  Aber  jetzt?  Nur 
nicht  von  «Waffenehre»  und  vom  «gerechten  Entscheid 
des  Schicksals»  anfangen  wie  ein  schlechter  Feldprediger. 
Das  vertragen  die  Soldaten  nicht! 

Er  sucht  zusammen  mit  dem  General,  dessen  Pferd  hin- 
ter ihm  geführt  wird,  einen  baumbestandenen  Platz.  Hier 
will  er  seine  Ansprache  halten;  hier  sollen  nachher  die 
Gefallenen  beigesetzt  werden.  Freund  und  Feind  in  Reih 
und  Glied.  Er  erklärt  es  nachher  den  Truppen:  «Alle  sind 
sie  Kinder  eines  Gottes,  und  alle  sind  sie  Söhne  desselben 
freien  Landes,  deren  Väter  die  Unabhängigkeit  erkämpft 
haben.  Streitet  männlich  und  tapfer,  damit  der  Bruder- 
zwist bald  beseitigt  wird  und  wir  wieder  Hand  in  Hand 
in  die  Zukunft  gehen  können.  Kämpft  mit  Tapferkeit, 
aber  ohne  Haß.»  Die  Gedanken  Lincolns  bewegen  sich 
in  ähnlichen  Bahnen  wie  diejenigen  General  Dufours  im 
schweizerischen  Sonderbundskrieg. 


Einmal  fragt  jemand  den  Präsidenten,  ob  er  sich  als 
überzeugten  Christen  bekenne.  Nach  kurzer  Besinnung 
antwortet  er  freimütig:  «Früher  war  ich  kein  Christ.  Aber 
seit  meinem  Besuch  auf  dem  Schlachtfeld  von  Gettysburg 

90 


bin  ich  einer.  Damals  habe  ich  zum  erstenmal  das  innerste 
Bedürfnis  empfunden,  mich  ganz  dem  Herrn  über  Leben 
und  Tod  anzuvertrauen.» 

Man  darf  aus  diesen  Worten  nicht  schließen,  Lincoln 
sei  dem  christlichen  Glauben  vorher  gleichgültig  oder 
gar  feindlich  gegenübergestanden.  Seine  Jugend  war 
rauh;  aber  die  Bibel  hat  man  als  das  köstlichste  aller  Güter 
hoch  geschätzt.  Man  lebte  nicht  sehr  exakt  nach  ihr;  aber 
man  wußte  in  ihr  Bescheid.  Vor  allem  im  Alten  Testa- 
ment. Diese  Ansiedler,  die  jedes  Jahr  ein  wenig  weiter 
nach  Westen  vordrangen,  verglichen  sich  gern  mit  den 
Helden  aus  der  biblischen  Richterzeit,  die  vom  heiligen 
Lande  Besitz  ergreifen  mußten.  Die  Rothäute  waren  die 
Keniter,  die  man  durch  List  und  Gewalt  und  zur  Ehre 
Gottes  zurückdrängen  mußte.  Nur  die  Quäker  dachten 
milder,  und  zu  ihnen  fühlte  sich  Lincoln  seit  jeher  am 
meisten  hingezogen. 

Man  wird  ja  in  Amerika  nicht  in  seine  Kirche  hinein- 
geboren, hineingetauft  und  hineinkonfirmiert  wie  in 
Europa.  Auch  gibt  es  keine  Landeskirche.  Sondern  über- 
all bestehen  verschiedene  Gemeinden,  die  in  friedlichem 
Wettstreit  miteinander  rivalisieren.  Wer  den  besten  Pfar- 
rer anstellt,  hat  gewonnenes  Spiel.  Der  Präsident  besucht 
in  Washington  jeden  Sonntag  einen  Gottesdienst.  Er  legt 
sich  aber  nirgends  fest;  einmal  geht  er  zu  den  Methodi- 
sten, die  haben  den  zügigsten  Prediger,  dann  zu  den  Bap- 
tisten, dort  werden  die  gemütvollsten  Lieder  angestimmt; 
oft  auch  zu  den  Kongregationalisten  oder  zu  den  Presbyte- 
rianern,  aber  nicht  so  gern  und  nicht  so  oft;  die  einen 
tun  ihm  zu  vornehm  und  die  andern  zu  streitlustig  in 
Glaubensdingen.  Am  liebsten  gesellt  er  sich  immer  noch 
zu  den  Quäkern;  dort  liest  irgendeiner  aus  der  Bibel  vor. 

9i 


und  dann  bittet  man  gemeinsam  um  die  rechte  Erleuch- 
tung. Und  bei  ihnen  weiß  man,  daß  der  «Glaube,  der 
nicht  Werke  hat,  tot  ist  in  sich  selber».  Man  weiß  das, 
aber  man  spricht  nicht  viel  darüber.  Man  handelt. 


Aufs  genaueste  ist  der  Alltag  des  Präsidenten  eingeteilt. 
Er  spart  seine  Kräfte;  was  andere  tun  können,  verrichtet 
er  nicht  selbst.  Einen  guten  Mittagstisch  verachtet  er  nicht; 
doch  ist  er  das  Gegenteil  eines  Feinschmeckers.  Wenn 
man  ihn  nach  einem  Bankett  fragt,  was  er  gegessen  hätte, 
dann  besinnt  er  sich  einen  Augenblick  ernsthaft,  um  dann 
strahlend  sich  zu  erinnern:  «Braten!»  Von  der  Art  und 
besonderen  Zubereitung  dieses  Bratens,  von  Suppen  und 
Zutaten  und  Desserts,  von  all  diesen  Dingen,  von  denen 
andere,  die  es  zu  Geld  und  Ehren  gebracht  haben,  Abende 
lang  ihren  Freunden  erzählen  können,  weiß  er  nichts 
mehr.  Er  genießt  das  Gute,  das  man  ihm  vorsetzt,  zieht 
aber  über  ein  mißratenes  Gericht  kein  saures  Gesicht.  Er 
staunt  zuweilen  über  seine  Minister,  die,  wenn  ihnen  im 
Gasthaus  eine  Speise  nicht  paßt,  diese  zurückweisen,  wenn 
sie  nach  besserem  Wein  verlangen,  kaum  haben  sie  den 
ersten  Schluck  des  aufgetragenen  gekostet.  Solche  Wäh- 
lerei dünkt  ihn  fremd  und  verächtlich.  Er  selbst  nimmt, 
wie  die  tüchtigen  Gottesleute  Simson  und  Johannes,  weder 
«Wein  noch  starkes  Getränk»  zu  sich.  Da  es  eine  eigent- 
liche Abstinenzbewegung  in  jener  Zeit  noch  nicht  gibt 
und  der  Wein  auf  der  bürgerlichen  Mittagstafel  nirgends 
fehlen  darf,  so  erregt  diese  Enthaltsamkeit  ein  gewisses 
Aufsehen.  Und  ein  Biograph,  der  wenige  Monate  nach 
seinem  Tode  ein  begeistertes  Büchlein  über  ihn  geschrie- 
ben hat  und  seine  Tugenden,  dem  Leser  fast  zum  Ueber- 

92 


druß,  nicht  genug  preisen  kann,  schüttelt  bei  der  Erwäh- 
nung dieser  einen  sein  Haupt  und  findet:  «Uebrigens 
trank  er  keinen  Wein,  worin  er  vielleicht  ein  wenig  zu 
weit  ging.»  Besser  gefällt  diesem  Beurteiler  seines  Lebens- 
wandels, daß  er  «übrigens  niemals  Tabak  rauchte,  und 
wir  denken  wie  er,  daß  es  dem  menschlichen  Geschlechte 
weder  einen  physischen  noch  einen  moralischen  Gewinn 
brachte,  als  es  sich  in  den  orientalischen  Rauch  hüllte, 
ohne  die  Milliarden  zu  zählen,  die  er  kostet». 

Wie  Monarchen,  denen  die  Anhänglichkeit  ihrer  Lan- 
deskinder am  Herzen  liegt,  so  hat  auch  Lincoln  seine 
«vertraulichen  Audienzen»  eingerichtet,  bei  welchen  es 
grundsätzlich  jedermann  erlaubt  ist,  mit  ihm  ein  persön- 
liches Wort  zu  reden.  Das  ist  allerdings  eine  mühsame 
Sache,  die  viel  Zeit  und  Kraft  in  Anspruch  nimmt;  aller- 
dings mehr  körperliche  als  geistige  Kraft.  Denn  den  mei- 
sten Besuchern  ist  es  lediglich  darum  zu  tun,  dem  «ehr- 
lichen Abe»,  dem  «Mann  aus  dem  Volke»  die  Hand  zu 
schütteln.  Das  «Hände-Schütteln»  bedeutet  dem  Ameri- 
kaner eine  Art  feierlichen  Aktes,  mit  welchem  er  mög- 
licherweise andeuten  will,  daß  er  sich  von  der  Denkweise 
des  englischen  Mutterlandes  energisch  gelöst  habe.  Denn 
während  man  sich  in  England  nur  selten  die  Hand  reicht 
und  findet,  das  sei  das  Aeußerste  an  körperlicher  Berüh- 
rung, was  man  sich  gegen  einen  außerhalb  des  engsten 
Kreises  stehenden  Mitmenschen  erlauben  könne,  ohne 
sich  etwas  zu  vergeben,  ergreift  der  Amerikaner  zum  Zei- 
chen herzlichen  Einvernehmens  nicht  nur  die  Rechte  des 
Zeitgenossen  und  schüttelt  sie  heftig  auf  und  nieder,  son- 
dern er  haut  ihm  womöglich  zum  Gruß  auch  auf  die  Schul- 
ter. Ob  Lincoln  öfter  unter  solchen  Achselhieben  von 
begeisterten  Verehrern  zu  leiden  hat,  entzieht  sich  unserer 

93 


Kenntnis ;  aber  die  täglichen  Hunderte  oder  Tausende  von 
Schüttelhänden  bedeuten  eine  gewaltige  körperliche  Be- 
lastung sogar  für  den  ehemaligen  Holzflösser. 

Doch  nahen  sich  auch  Menschen,  die  ihm  ihre  Not 
klagen  möchten.  Er  empfängt  Briefe,  von  Kinderhand 
geschrieben  und  mangelhaft,  aber  voll  Zutrauen  adres- 
siert, Briefe,  in  denen  er  angefleht  wird,  die  kranke 
Mammy  zu  heilen  oder  zu  Weihnachten  eine  Riesenpuppe 
zu  verschaffen,  mit  der  man  sprechen  kann  wie  mit  einem 
richtigen  Schwesterchen.  Er  hält  sich  einen  eigenen  Sekre- 
tär, einen  Mann,  der  die  Volksseele  kennt,  einen  Kinder- 
freund, der  alle  diese  Zuschriften  gewissenhaft  im  Namen 
des  Empfängers  beantworten  und  die  persönlichen  Wün- 
sche im  Rahmen  des  Möglichen  erfüllen  muß.  Als  eine 
begeisterte  kleine  Tierfreundin  dem  Präsidenten  schreibt, 
sie  möchte  ihm  mitteilen,  daß  sie  Tierärztin  zu  werden 
gedenke,  entgegnet  ihr  der  freundliche  Sekretär,  der  Prä- 
sident freue  sich  jetzt  schon  darauf,  der  künftigen  Fach- 
gelehrten seinen  freßunlustigen  Pudel  anvertrauen  zu 
dürfen.  Der  Briefkopf  zeigt  sogar  einen  stolzen  Löwen, 
eigens  für  die  Empfängerin  gezeichnet. 

Die  meisten  Besucher  des  Präsidenten  sind  Männer. 
Das  Reisen  durch  das  stets  wachsende  Land  ist  immer 
noch  mit  ziemlichen  Strapazen  verbunden;  die  Frauen 
bleiben  zu  Hause.  Aber  zuweilen  unternimmt  doch  eine 
Mrs.  Smith  oder  Walker  die  weite  kostspielige  Fahrt,  um 
dem  Mann  im  Weißen  Haus,  der  an  Weisheit  und  Macht- 
befugnis an  zweiter  Stelle  hinter  dem  lieben  Gott  kommt, 
ihre  Not  zu  klagen.  Es  handelt  sich  in  diesen  schwierigen 
Jahren  stets  um  die  gleichen  Nöte:  Der  Mann  ist  im  Felde, 
und  man  brauchte  ihn  so  dringend  daheim!  Er,  der  Präsi- 
dent, solle  doch  endlich  den  dummen  Krieg  aufhören 

94 


oder  wenigstens  den  Mann  nach  Hause  lassen.  Da  fruch- 
ten staatspolitische  Vorträge  über  die  leidige  Notwendig- 
keit des  gegenwärtigen  Krieges  herzlich  wenig!  Die  Far- 
mersfrauen hören  voll  Ehrerbietung  zu  und  bewundern 
die  Gründe,  die  sie  aus  höchstem  Munde  vernehmen.  Alles 
das  sagt  ja  die  Zeitung  in  ihrem  Städtchen  auch!  Aber, 
beginnen  sie  bescheiden,  sobald  der  Präsident  seine  Er- 
klärung beendet  hat,  nun  sei  es  wohl  endlich  Zeit,  sich 
zu  versöhnen,  auch  die  Nachbarn  und  die  Pfarrer  und  die 
Lehrer  an  ihrem  Orte  hätten  genug  von  diesem  ewigen 
Krieg,  und  wenn  das  nicht  gehe,  dann  solle  man  wenig- 
stens ihrem  Manne  Urlaub  geben.  Auf  einen  mehr  oder 
weniger  käme  es  in  diesem  Riesenlande  gewiß  nicht  an, 
und  abgesehen  davon  sei  ihr  Jim  oder  John  keine  Helden- 
natur. Dagegen  verwilderten  die  Kinder,  und  es  werde 
schlecht  angebaut  auf  der  Farm,  was  ja  schließlich  dem 
Vaterland  auch  nichts  nütze. 

Nur  in  ganz  seltenen  Fällen  schickt  Lincoln  diese 
Frauen  wieder  weg.  Meistens  sieht  er  lächelnd  —  die 
Bittstellerin  hat  den  Eindruck:  durch  sie  hindurch  —  zum 
Fenster  hinaus.  Dann  versucht  er  der  biederen  Seele  die 
zivile  und  militärische  Gewaltentrennung  klarzumachen 
und  setzt  sich  nachher  nicht  selten  hin,  um  dem  betreffen- 
den Obersten  eigenhändig  ein  Urlaubsgesuch  für  den 
Jimmy  Smith  oder  Jonny  Walker  zu  schreiben. 

Eines  Tages  gewahrt  man  unter  der  Menge,  die  vor 
dem  Weißen  Hause  wartet,  einige  Neger.  Das  ist  ein 
ungewohnter  Anblick.  Die,  welche  den  Schwarzen  zu- 
nächst stehen,  kämpfen  mit  ihren  Gefühlen.  Zwar  führt 
man  gegenwärtig  einen  Krieg  für  die  Befreiung  dieser 
Armen  aus  der  Knechtschaft  des  Südens,  zwar  liest  man 
mit  Begeisterung  und  Rührung  «Onkel  Toms  Hütte»  und 

95 


lehrt  in  den  Schulen,  daß  vor  Gott  kein  Ansehen  der  Per- 
son bestehe,  ob  deren  Haut  nun  von  weißer  oder  schwar- 
zer Farbe  sei.  Aber  ob  diese  Leute  einfach  das  Recht  haben, 
mit  den  Staatsbürgern  zusammen  dem  Präsidenten  ihre 
Aufwartung  zu  machen  und  die  Hand  zu  schütteln?  Sie 
haben  sich  in  feierlichen  Staat  geworfen  und  wirken  in 
ihren  schneeweißen  Hemden  und  in  den  enganliegenden 
Hosen  und  fast  zu  elegant  geschnittenen  Gehröcken  eher 
bemitleidenswert  als  gefährlich.  Fragt  sie  jemand  nach 
ihrem  Begehr,  dann  verziehen  sie  ihren  breiten  Mund 
zu  einem  unwiderstehlichen  Lachen  und  antworten  ein- 
fach: «God  bress  Massa  Linkum!»,  was  mit  «Gott  segne 
Meister  Lincoln»  zu  übersetzen  ist.  Auch  als  sie  endlich 
auf  Anweisung  Lincolns  zur  Audienz  vorgelassen  werden, 
wiederholen  sie  einzeln  und  im  Chor  ihren  kurzen  neger- 
englischen Glückwunsch;  dabei  strahlen  ihre  gutmütigen 
Gesichter;  sie  nicken  fröhlich  zu  ihrem  Sprüchlein,  als 
wollten  sie  den  Präsidenten  auffordern,  auf  dem  ein- 
geschlagenen Wege  zu  ihrer  Wohlfahrt  weiterzugehen. 
Das  Ereignis  wird  natürlich  von  den  Zeitungen  groß 
aufgezogen;  sie  wissen  zu  berichten,  die  gequälten  Neger 
des  Südens  hätten  eine  ganze  Abordnung  geschickt,  die 
Lincoln  ihre  unsäglichen  Leiden  geklagt  und  nachher 
einige  ihrer  traurig-enthusiastischen  Hymnen  angestimmt 
und  dazu  sogar  getanzt  hätten.  Unnötige  Uebertreibun- 
gen;  sie  haben  in  der  nur  zwei  Minuten  dauernden 
Audienz  freundlich  ein  paarmal  ihr  «God  bress  Massa 
Linkum»  wiederholt;  der  Präsident  weiß  aber  genau,  daß 
in  diesen  vier  Worten  eine  sechsmillionenfache  Hoff- 
nung liegt,  die  ihm  das  Sklavenvolk  entgegenbringt. 


96 


Krisen 


Nicht  die  gleiche  uneingeschränkte  Beliebtheit,  deren 
sich  der  Präsident  bei  Mrs.  Smith  oder  Walker,  bei  den 
«Kindern  der  kleinen  Leute»  und  bei  den  Negern  er- 
freut, genießt  er  jedoch  bei  allen  Amerikanern.  So  wenig 
er  sich  in  der  kongregationalistischen  Kirche  heimisch 
fühlt,  so  wenig  anerkennen  ihn  die  Leute,  die  zu  dieser 
Gemeinde  gehören,  als  den  Vertreter  ihres  Wesens  und 
Blutes.  Wir  nennen  hier  die  Kongregationalisten  nicht  als 
Partei  oder  als  Kirche,  sondern  als  Sammelpunkt  einer 
bestimmten  Schicht  in  Washington,  Boston  oder  Phila- 
delphia, mit  welcher  Lincoln  vor  seiner  Wahl  zum  Präsi- 
denten kaum  zusammengekommen  ist.  Der  Westen  ge- 
hört dem  mutigen  Pionier,  dem  Waghals,  dem  zähen 
Schaffer,  welchem  Schule,  Bildung,  Zeitung  und  Buch  als 
überflüssige  Dinge  erscheinen.  Hier  im  Osten  aber  gibt 
es  Familien,  denen  Zivilisation  nicht  einfach  gleichbedeu- 
tend ist  mit  dem  Blockhaus  des  weißen  Mannes  im  Unter- 
schied zum  Wigwam  der  Rothaut,  und  die  den  techni- 
schen Fortschritt  nicht  unbedenklich  mit  Kultur  verwech- 
seln. Diese  Familien  —  ihre  Ahnen  wanderten  vor  Jahr- 
hunderten aus  England,  Schottland  oder  Holland  ein  — 
haben  es  nicht  mehr  nötig,  Palisaden  zu  errichten  und  ihr 
nacktes  Leben  mit  der  Pistole  zu  verteidigen.  Sie  gehen 
nicht  auf  die  Goldsuche  und  betreiben  den  Eisenbahnbau 
höchstens  als  Aktionäre.  Ihr  Dasein  ist  gesichert;  sie 
haben  von  den  Vorfahren  ererbte,  wohnliche  Häuser;  auch 


7     Stickelberget,  Abraham  Lincoln 


97 


studieren  ihre  Söhne  auf  den  teuren  Universitäten,  und 
ihre  Töchter  bilden  sich  aus  im  Gesang  und  im  klassischen 
Klavierspiel. 

Diese  Familien  betrachten  Lincoln  als  Eindringling  in 
ihren  Lebenskreis.  Zwar  sieht  er  es  nicht  darauf  ab,  etwa 
den  wilden  Mann  zu  spielen;  er  hat  ja  schon  als  Bub  jedes 
erreichbare  Buch  heißhungrig  verschlungen.  Auch  jetzt 
noch  liest  er  gern,  besonders  Shakespeare.  Oft  wird  er 
auch  ins  Theater  mitgenommen;  seine  ehrgeizige  und  ge- 
fallsüchtige Frau  setzt  ihn  jedesmal  unter  Druck,  wenn 
ein  Drama  seines  Lieblingsdichters  gespielt  wird.  «Du 
mußt  den  Leuten  zeigen,  daß  du  davon  etwas  verstehst», 
sagt  sie  dann,  und  gutmütig  geht  er  mit.  Und  während 
sich  die  «erste  Dame  des  Landes»,  etwas  zu  auffallend  an- 
gezogen, in  ihrer  Loge  dreht  und  wendet  und  den  Mini- 
stersgattinnen augenfällig  zulächelt,  während  sie  allge- 
meine Urteile  über  die  Schauspieler,  die  sie  in  der  Zeitung 
gelesen  oder  am  Abend  zuvor  bei  einer  Einladung  gehört 
hat,  mit  wichtiger  Miene  wiederholt,  sitzt  er,  die  ganze 
Umwelt  vergessend,  möglichst  nahe  an  der  Bühne,  um 
mit  neugierigen  Augen  das  Geschehen  zu  verfolgen.  Ob 
gut  oder  schlecht  gespielt  wird,  ist  ihm  nebensächlich,  die 
Folgerichtigkeit  der  Heldenschicksale  ergreift  Besitz  von 
ihm.  Er  erkennt  in  jedem  Schaustück  aus  Shakespeares 
Feder  ein  Gottesgericht.  Bevor  er  das  Theater  besucht, 
liest  er  jeweils  den  Text  laut  durch,  und  es  mag  geschehen, 
daß  er  ihn  nachher  halblaut  mitspricht,  wenn  die  Schau- 
spieler agieren.  Er  läßt  sich  sogar  dazu  hinreißen,  bei 
einer  besonders  leidenschaftlichen  Stelle  die  Arme  empor- 
zuschleudern.  All  diese  Aeußerungen  bleiben,  da  oft  mehr 
Augen  auf  die  Loge  des  Präsidenten  als  auf  die  Szene  ge- 
richtet sind,  nicht  verborgen,  und  die  kultivierteren  Thea- 

89 


terbesucher  legen  ihm  seine  Teilnahme  am  Bühnen- 
geschehen als  hinterwäldlerische  Primitivität  aus.  Er  wird 
von  seinen  Kritikern  als  wunderlicher  Kauz,  als  Böotier 
geschildert.  Diese  sehen  ihr  Urteil  bestätigt,  wenn  er  nach- 
her, wieder  überschwatzt  von  seiner  Gemahlin,  im  Kaf- 
feehaus gelangweilt  sein  Sodawasser  trinkt,  während  die 
andern  genießerisch  ihre  Schnäpse  und  Weine  schlürfen. 
Er  scheint  ihren  geistvollen  Gesprächen  über  die  eben 
vollendete  Aufführung  nicht  folgen  zu  können;  ihm  sind 
auch  die  Namen  der  berühmtesten  Schauspieler  nicht  ge- 
läufig. Dabei  packt  ihn  das  Theater  einfach  an  einer 
andern  Ecke  seines  Wesens:  nicht  als  gesellschaftliches 
Ereignis,  aber  auch  nicht  als  künstlerisches  Erlebnis,  son- 
dern mehr  als  tatsächlichen  Ausschnitt  aus  Gottes  so 
reichgestalteter  Welt.  Es  gibt  Menschen,  die  keinen  rich- 
tigen Ton  singen  und  die  kein  ganzes  Konzert  über  ruhig 
sitzen  können  und  die  man  deshalb  für  unmusikalisch 
hält.  Gibt  man  ihnen  aber  eine  achtstimmige  Partitur  in 
die  Hand  und  läßt  man  sie  unbeobachtet,  so  fangen  sie 
begeistert  an  nach  den  Noten  zu  krähen,  sie  schlagen  mit 
der  Faust  den  Takt  auf  den  Tisch  und  erleben  das  Werk 
viel  stärker  und  innerlicher  als  die  vielen,  die  sich  ab  und 
zu  zur  Ausgleichung  ihrer  Gefühlswelt  einen  Ohren- 
schmaus gegen  bezahlte  Eintrittskarten  leisten.  So  etwa 
muß  man  sich  Lincolns  literarische  Freuden  vorstellen.  So 
ist  es  auch  mit  seiner  Stellung  zur  Kunst  bestellt. 

Mit  bedeutenden  Kunstwerken  ist  ja  das  Amerika  sei- 
ner Tage  nicht  gesegnet.  Doch  kommt  ab  und  zu  immer- 
hin eine  rechtschaffene  Ausstellung  zustande,  zuweilen 
schwimmen  sogar  aus  Paris,  London  oder  Brüssel  wahre 
Prachtswerke  in  die  Hauptstadt  der  Vereinigten  Staaten, 
die  man  «gesehen  haben  muß».  Lincoln  vermag  ungeniert 

7»  99 


und  ungerührt  an  den  berühmtesten  Bildern  vorüberzu- 
laufen,  und  wenn  seine  Gemahlin  davor  stehenbleiben 
will,  weil  alle  andern  sie  auch  eingehend  betrachten  und 
man  nachher  über  seinen  Eindruck  befragt  werden  könnte, 
lacht  er  wie  ein  Faun.  Dann  aber  geschieht  es,  daß  er  vor 
einer  von  den  Sachverständigen  als  «unbedeutend»  ta- 
xierten Malerei  ganz  verzückt  stehenbleibt  und  so  nah 
davor  hintritt,  daß  man  meinen  könnte,  er  wolle  sie  be- 
riechen. Es  ist  stets  die  gleiche  Art,  die  ihn  anzieht:  Bilder, 
auf  denen  recht  viel  zu  sehen  ist,  Menschen  oder  Tiere 
oder  Blumen  oder  Insekten.  Ob  es  von  einem  mittelalter- 
lichen Mystiker,  von  einem  niederländischen  Realisten 
oder  von  einem  Biedermeier  stammt,  schert  ihn  wenig. 
Aber  er  sucht  nach  Bildern  des  Lebens  mit  klaren  Kon- 
turen; alles  Verschleierte,  Verschwommene  und  Bom- 
bastische ist  ihm  verhaßt.  Dabei  verlangt  er  gar  nicht  nach 
photographischer  Genauigkeit  des  Abgebildeten;  er  liebt 
auch  das  Phantastische,  das  Ineinander-Komponierte; 
aber  der  Sinn  muß  klar  und  deutlich  ersichtlich  sein.  Die, 
welche  ihn  belächeln,  haben  in  diesem  Stück  recht:  er  ist 
ein  Kind  geblieben,  das  sich  wohl  über  seine  Bilderbücher 
freut,  dem  aber  Gespräche  über  die  Kunst  Zeitverlust 
bedeuten. 

So  ergibt  es  sich  fast  von  selbst,  daß  der  Präsident  und 
seine  Frau  in  der  guten  Gesellschaft  mit  leisem  Spott  be- 
dacht werden.  Man  erzählt  sich  als  neueste  Scherze  die 
uralten  Geschichten,  die  jedem  Staatsmann  angedichtet 
werden,  der  sich  zum  Aerger  einer  wenig  geistvollen  Bür- 
gerschicht an  hohe  Stellen  hinaufgearbeitet  oder  besser: 
hinaufgeschwungen  hat.  Jene  Geschichten,  die  meistens 
ihren  Höhepunkt  darin  finden,  daß  der  Präsident  beim 
Essen  das  Messer  in  den  Mund  nehme  und  daß  er  keine 


ioo 


Fremdwörter  verstehe.  Denn  es  gehört  nun  einmal  in 
Washington  wie  auch  anderswo  zum  Merkmal  der  Bil- 
dung, daß  einer  gesittet  ißt,  möglichst  viel  Fremdwörter 
im  Gespräche  anbringt,  zu  jeder  Einladung  in  der  vorge- 
schriebenen Kleidung  erscheint  und  auch  beim  langwei- 
ligsten Gespräch  ein  interessiertes  Lächeln  zur  Schau 
trägt.  Armer  Lincoln!  In  all  diesen  Dingen  ist  er  nicht  auf 
der  Höhe  und  gibt  sich  auch  gar  keine  Mühe,  sie  zu  er- 
reichen, zur  Verzweiflung  seiner  Gemahlin,  der  einstigen 
Blume  von  Springfield,  die  sich  ihrerseits  zwar  alle  er- 
denkliche Mühe  gibt,  aber  die  Höhe  erst  recht  nicht 
erreicht. 

Reden  kann  er  glänzend,  wenn  er  will,  und  er  versteht 
auch,  in  seiner  witzigen  und  geistvollen  Art  ausgezeichnet 
in  eine  Debatte  einzugreifen.  Aber,  wenn  er  einen  Kreis 
von  ernsthaften  Leuten  um  sich  gesammelt  hat,  die  sich 
geschmeichelt  fühlen,  solch  gescheite  Dinge  aus  dem 
Munde  ihres  Präsidenten  höchst  persönlich  hören  zu  dür- 
fen, dann  unterbricht  er  sich  plötzlich  mit  einem  gänzlich 
unsalonfähigen  Wort,  sogar  mit  einem  Fluch,  den  man 
dem  frommen  Manne  niemals  zugetraut  hätte,  oder  er 
macht  eine  seiner  so  zynischen  Bemerkungen,  die  den 
feineren  Zeitgenossen  schließlich  wieder  das  Urteil  ab- 
nötigen: «Er  ist  eben  doch  ungebildet!»  Dinge,  die  der 
damaligen  Generation  als  «tabu»  gelten,  das  heißt,  über 
die  man  höchstens  unter  vier  Augen,  aber  niemals  in  «gu- 
ter Gesellschaft»  sprechen  darf,  nennt  er  kühn  beim 
Namen:  von  den  Hintergründen  eines  Ehescheidungs- 
skandals redet  er  wie  ein  Viehzüchter,  und  als  man  ihm 
einst  nahelegt,  für  ein  Staatsbegräbnis  eines  schon  zu 
Lebzeiten  als  unnahbar  und  vornehm  bekannten  Ministers 
ein  feierlicheres  Gewand  anzulegen,  verteidigt  er  seinen 

ioi 


nachlässigen  Anzug  mit  der  Bemerkung,  er  möchte  gerne 
den  Verstorbenen  zum  Lachen  bringen,  beim  Lebenden 
sei  es  ihm  leider  nie  geglückt. 

Es  muß  zugegeben  werden,  daß  Lincoln  nicht  nur  in  dei 
Kleidung  und  im  gesellschaftlichen  Ausdruck  nicht  ganz 
Maß  halten  und  finden  kann.  Er  ist  in  einer  Umgebung 
aufgewachsen,  die  kein  anderes  Maß  kennt  als  den  Hori- 
zont im  Raum  und  den  von  Gott  gesetzten  Ablauf  von 
Tagen,  Monden  und  Jahren  in  der  Zeit.  Gegen  die  von 
Menschen  aufgestellten  Maße  und  Richtlinien  hat  er 
nichts  einzuwenden  und  nimmt  sie  an,  so  gut  es  geht.  Aber 
er  wächst  nicht  in  sie  hinein.  Sie  bleiben  ihm  nicht  nur 
lächerlich  und  nebensächlich,  sondern  auch  fremd  und 
beängstigend,  im  Kleinen  wie  im  Großen. 

Sein  Witz  und  seine  Schlagfertigkeit  gehören  zu  seinen 
berühmtesten  Eigenschaften.  Aber  die  Kehrseite  darf,  will 
man  sein  Wesen  nicht  nur  oberflächlich  erfassen,  nicht 
außer  acht  gelassen  werden.  Ein  Zeitgenosse  schreibt: 
«Eine  fast  übermenschliche  Traurigkeit  lagerte  oft  auf 
dieser  Stirn,  deren  Runzeln  bereits  zu  Furchen  geworden 
waren.  Ich  erinnere  mich,  als  wäre  es  gestern,  einst  den 
Präsidenten  bei  hereinbrechender  Nacht  angetroffen  zu 
haben.  Er  verließ  eben  das  Weiße  Haus  und  wollte  nach 
seiner  Gewohnheit  Neuigkeiten  auf  dem  Kriegsministe- 
rium einholen.  Niemand  begleitete  ihn,  obwohl  man  ihn 
oft  gebeten  hatte,  sich  nicht  auf  diese  Weise  der  Gefahr 
auszusetzen.  In  einen  schottischen  Mantel  gehüllt,  ging 
er  langsam,  in  seine  Träumereien  versunken,  einem  gro- 
ßen Gespenst  ähnlich,  seines  Weges.  Ich  war  bestürzt 
über  sein  leidendes  und  nachdenkliches  Aussehen.  Seit 
vier  Jahren  hatte  er  keine  ruhige  Stunde  gehabt.  Als 
Sklave  des  amerikanischen  Volkes  war  er  verurteilt,  in 


102 


Washington  zu  bleiben,  wenn  jedermann  sonst  aus  dem 
Staub  und  aus  der  Hitze  der  Stadt  floh.  Auf  seinen  Spa- 
ziergängen sah  er  die  schönen  Gehölze  niedergerissen,  da 
sie  Schutzmauern  und  Schanzen  hatten  Platz  machen  müs- 
sen. In  geringer  Entfernung  sah  er  einen  Kirchhof  mit 
zehntausend  frischen  Gräbern.» 

Lincolns  Landhaus  liegt  etwas  vor  der  Stadt,  am  Hange 
eines  grünen  Hügels.  Dort  ist  er  zeitweise  seines  eigenen 
Lebens  nicht  sicher.  Die  Front  läuft  unweit  vorbei,  und 
einige  Male  schon  haben  feindliche  Reiter  Handstreiche 
in  dieser  Gegend  verübt.  Zum  Ueberfluß  behauptet  das 
Gerücht,  ein  Farmer  in  der  Nähe,  der  sich  das  Aussehen 
eines  loyal  gesinnten  Biedermannes  zulegt,  stehe  ins- 
geheim mit  den  Konföderierten  im  Bunde  und  gebe  ihnen 
des  Nachts  Lichtsignale.  Der  Vorsicht  halber  nimmt  die 
Polizei  den  verdächtigen  Nachbarn  des  Präsidenten  in 
Gewahrsam  und  verhört  ihn.  Man  kann  ihm  aber  nichts 
nachweisen,  und  auf  Lincolns  Befehl  läßt  man  ihn  wieder 
laufen. 

Wenn  der  Präsident  wenigstens  daheim  seine  Sorgen 
vergessen  könnte!  Aber  seine  Frau  Mary  lebt  ihr  eigenes 
Leben.  Und  die  Kinder?  Es  ist  seltsam;  aber  er  scheint 
mit  ihnen  auch  nicht  viel  anfangen  zu  können.  Die 
zeitgenössischen  ausführlichen  Lebensbeschreibungen, 
welche  sonst  jeden  Zug  seines  Wesens  aufs  genaueste 
schildern,  erwähnen  lediglich,  daß  ihm  der  Tod  eines 
Knäbleins  sehr  naheging.  Für  seine  Kinder  hat  er  — 
wahrscheinlich  —  zu  wenig  Zeit.  Es  wird  eine  tüchtige 
Erzieherin  da  sein,  welche  den  Eltern  die  Sorgen  um  ihre 
Nachkommen  abnimmt.  Auf  jeden  Fall  spielen  sie  in 
Abraham  Lincolns  Leben  kaum  eine  Rolle.  Er  ist  über  die 
eigene  Familie  hinausgewachsen;  Millionen  von  Soldaten 

103 


und  Bürgern  fühlen  sich  als  seine  Kinder,  für  die  er  zu 
denken  und  zu  arbeiten  hat. 

Am  hingebungsvollsten  verehren  ihn  die  Neger.  Sie 
nennen  ihn  noch  lieber  als  «Massa  Linkum»  vertraulich 
und  schutzbedürftig  «Vater  Abraham».  Ihr  Jubel  kennt 
keine  Grenzen,  als  er  sie  in  einer  Neujahrsbotschaft  für 
1863  als  frei  erklärt.  Vorläufig  läßt  sich  dieser  Beschluß 
ja  noch  nicht  durchführen;  denn  in  den  Südstaaten,  für 
welche  das  Gesetz  gedacht  ist,  gelten  die  Erlasse  des 
rechtmäßigen  Präsidenten  null  und  nichts.  Sie  betrachten 
sich  als  eigene,  unabhängige  Staatsgemeinschaft  und  leh- 
nen den  Ausdruck  «Rebellen»,  mit  dem  man  sie  im  Nor- 
den bezeichnet,  wütend  ab.  Nein,  befreit  können  die  Skla- 
ven an  diesem  Neujahrstag  wohl  nicht  werden.  Aber  sie 
vernehmen  die  Botschaft,  und  überall,  wo  sie  in  ihren 
dumpfen  Hütten  sich  zusammenfinden,  stimmen  sie  die 
feierlich-anspruchslose  Hymne  an,  deren  Gesang  von  den 
weißen  Herren  allerdings  unter  schrecklichen  Strafandro- 
hungen verboten  ist. 

Sie  lautet: 

In  eighteen  hundred  and  sixty  three 
my  people  must  be  free, 
it  is  the  year  of  Jubilee; 
my  people  must  be  free! 

Die  Neger  sollen  nicht  nur  frei,  sie  sollen  gleichberech- 
tigt sein.  So  gliedert  sie  Lincoln  in  die  Armee  und  in  die 
Flotte  ein,  zuerst  nur  als  Arbeitssoldaten,  bald  nachher 
auch  als  Waffentragende.  Nach  wenigen  Monaten  er- 
reicht das  schwarze  Heer  die  Zahl  von  200  000  Mann,  und 
bei  jeder  Gelegenheit  betont  Lincoln,  daß  ein  hauptsäch- 
liches Verdienst  an  den  gewonnenen  Schlachten  ihnen 

104 


zukäme.  Eine  Maßlosigkeit  und  Torheit  begeht  er  aber 
dadurch,  daß  er  in  die  Hauptstadt  des  endlich  gebodigten 
Südens  zuerst  ein  Negerregiment  einreiten  läßt.  Das 
heißt:  den  todwunden,  um  Gnade  flehenden  Feind  grau- 
sam verhöhnen!  «Seht»,  raunt  man  sich  zu,  «so  wird  es 
nun  in  Zukunft  gehen,  so  lange  dieser  Emporkömmling 
am  Ruder  sitzt!  Schwarze  Banden  lassen  sie  auf  uns  los; 
sie  wollen  uns  demütigen  bis  aufs  Blut  und  gleichzeitig 
zum  Brudermord  zwingen!  Seht  den  Heuchler  Lincoln, 
der  Reden  hält  über  die  gemeinsame  Verpflichtung  den 
Vorfahren  gegenüber  und  uns  die  Schwarzen  auf  den 
Hals  hetzt!» 

Tatsächlich  hegt  aber  der  Präsident  alles  Verständnis 
für  die  äußerst  schwierige  Lage  der  Baumwollpflanzer, 
denen  nun  plötzlich  ihre  Arbeiter  genommen  sind.  Er 
weiß,  daß  mit  der  Sklavenbefreiung  das  ganze  wirtschaft- 
liche System  auf  den  Kopf  gestellt  wird.  Deshalb  faßt 
er  sofort  nach  der  Kapitulation  einen  großzügigen  Plan, 
um  den  Besiegten  wieder  aufzuhelfen:  Es  sollen  400  Mil- 
lionen Dollar  für  die  enteigneten  Sklavenbesitzer  bereit- 
gestellt werden.  Nicht  als  ob  er  hinterher  so  etwas  wie 
einen  staatlichen  Loskauf  der  ehemaligen  Leibeigenen 
durchführen  wollte!  Er  betrachtet  diese  Summe  als 
Grundlage  zu  einem  neuen,  sklavenlosen  Wiederaufbau. 

Aber  der  Kongreß,  der  im  Krieg  seinem  Präsidenten 
jeweils  beigepflichtet  hat,  wenn  dieser  betonte,  daß  man 
den  Besiegten  möglichst  rasch  und  möglichst  umfassend 
helfen  müsse,  um  das  ganze  Land  wieder  hochzubringen, 
dieser  Kongreß  zeigt  sich  nun  plötzlich,  nachdem  der 
Friede  fast  errungen  ist,  kleinlich,  radikal  und  rachsüch- 
tig. Die  Wut  dem  Süden  gegenüber  ist  so  stark,  daß  die 
Abgeordneten  finden,  es  tue  den  Großhänsen  da  unten 

105 


eigentlich  ganz  gut,  wenn  sie  die  Suppe  auslöffeln  müß- 
ten, die  sie  sich  eingebrockt  hätten.  Der  Präsident  in  sei- 
ner Enttäuschung  weigert  sich,  den  von  der  Kongreß- 
mehrheit aufgestellten  schäbigen  Wiederaufbauentwurf 
zu  unterschreiben.  Es  besteht  eine  unangenehme  Span- 
nung zwischen  ihm  und  den  Abgeordneten. 


Die  Enttäuschung  der  Einwohner  Richmonds  kommt 
ihm  zu  Ohren.  Es  gab  ja  so  viele  kriegsmüde  Seelen,  auch 
in  der  Hauptstadt  des  Südens.  Man  hatte  sich  dort  alles  so 
anders  vorgestellt:  zuerst  einen  frischfröhlichen  Krieg, 
dem  nachher  ein  wirtschaftlicher  Aufschwung  folgen 
könnte.  Und  als  die  Erbitterung  gegen  die  eigene  Regie- 
rung, die  falsches  Geld  ausgab,  Zwangsrequisitionen 
durchführte  und  die  waffenfähigen  Männer  polizeilich 
aufspürte  und  zusammentrieb,  als  diese  Erbitterung  ihren 
Höhepunkt  erreicht  hatte,  erwartete  man  plötzlich  das 
Heil  von  den  Feinden.  «Sie  sind  doch  fortschrittlicher  als 
wir»,  hieß  es  im  letzten  Kriegsjahr,  als  alles  schief  ging. 
Man  erzählte  sich  von  den  großartigen  Hilfswerken  für 
die  verwundeten  Soldaten.  Zweihundertzwanzig  Knegs- 
spitäler  waren  gebaut  worden  mit  134  000  Betten.  Und 
das  Gleichnis  vom  barmherzigen  Samariter  bewegte  nicht 
nur  den  Präsidenten.  Ohne  daß  ein  Gesetz  oder  eine  Ver- 
ordnung über  die  Behandlung  der  verwundeten  Feinde 
herausgegeben  worden  wäre,  wurden  doch  recht  viele  ge- 
hegt und  gepflegt,  als  ob  sie  in  den  eigenen  Reihen  mit- 
gekämpft hätten.  Der  todwunde  Soldat,  den  der  Präsident 
höchstpersönlich  bei  Gettysburg  auf  sein  fahrendes  Feld- 
bett lagern  half,  bildete  keine  Ausnahme;  allein  nach  je- 
ner Schlacht  wurden  etwa  7000  feindliche  Soldaten  auf 

106 


dem  Kampffeld  zusammengesucht  und  in  den  Kranken- 
häusern des  Nordens  gepflegt.  Die  Gerüchte  von  solcher 
Menschlichkeit  und  Hilfsbereitschaft  drangen  über  die 
Grenzen  der  «Rebellenstaaten».  Und  das  Haupt  all  dieser 
guten  Regungen  war  Lincoln.  «Wenn  doch  der  Friede 
endlich  käme»,  dachte  man  in  Richmond,  «wenn  die  aus 
dem  Norden  einmarschieren  würden;  schlimmer  als  so 
könnte  es  uns  nicht  mehr  gehen!»  Und  als  der  Friede  kam 
und  nur  noch  ein  paar  fanatische  Bataillone  in  den  Bergen 
weiterkämpften,  lief  die  ganze  Bevölkerung  den  Truppen 
Lincolns  entgegen,  mit  Fähnchen  der  Union,  in  den  Sonn- 
tagskleidern. Statt  der  erwarteten  Männer  aus  New  York 
und  Philadelphia  marschierte  aber  das  Negerregiment  da- 
her. Niemand  schwenkte  sein  Fähnchen.  Man  verkroch 
sich  in  die  Häuser.  Man  ballte  die  Faust  und  gründete 
Widerstandsvereine.  «So  zeigt  man  also  seine  Großmut, 
wenn  man  Lincoln  heißt!» 

Der  Präsident  reist  sofort  selbst  nach  Richmond.  Dies- 
mal bedient  er  sich  nicht  seines  Eisenbahnwagens.  Ein 
kleines  Kriegsboot  setzt  ihn  am  Ufer  des  James-River  an 
Land.  Den  letzten  Teil  des  Weges  legt  er  zu  Fuß  zurück, 
etwa  zwei  Kilometer  auf  staubiger,  heißer  Straße.  Zehn 
Matrosen  bilden  seine  Wache.  Ein  freigelassener  Neger 
dient  ihm  als  Wegweiser;  der  hüpft  und  tanzt  vor  Freude, 
weil  er  der  Auserwählte  ist,  welcher  «Vater  Abraham»  in 
die  gefallene  Hauptstadt  führen  darf.  Feierliche  Emp- 
fänge hat  er  abgelehnt.  Er  wünscht  weder  ein  klingendes 
Spiel  noch  einen  Paradewagen;  den  Ruhm  überläßt  er  den 
Generälen.  Mehr  als  alle  öffentlichen  Ehrungen  bedeutet 
ihm  die  Anhänglichkeit  des  schwarzen  Völkleins,  das  ihm 
auf  der  Straße  nachläuft,  wo  es  ihn  erkennt.  Es  küßt  ihm 
die  Hände,  es  fällt  vor  ihm  auf  die  Knie,  es  betet  ihn  an. 

107 


«Vater  Abraham  ist  gekommen,  uns  aus  dem  Hause 
der  Knechtschaft  zu  erlösen!»  Er  ahnt,  daß  er  hier  mit 
dem  biblischen  Erzvater  verwechselt  wird.  Für  diese  be- 
drückten Menschenkinder  ist  ein  kaum  erhofftes  Wunder 
endlich  Wirklichkeit  geworden. 

Desto  unwillkommener  weiß  er  sich  bei  der  weißen  Be- 
völkerung. Erwartet  ihn  wohl  ein  Chaos?  Sind  in  Rich- 
mond  Plünderungen  und  Ausschreitungen  vorgekom- 
men? Keineswegs!  Erleichtert  seufzt  er  auf:  Gottlob,  man 
hat  ihm  die  Dinge  zu  schwarz  berichtet!  Die  Neger  hal- 
ten gute  Disziplin.  Er  spricht  zu  ihrem  versammelten  Re- 
giment, ermahnt  sie,  nicht  persönliche  Rache  für  ihre 
Stammesgenossen  an  den  weißen  Einwohnern  zu  nehmen. 
Sie  versprechen  ihm  im  Chor,  sich  gut  betragen  zu  wollen; 
das  ganze  Regiment  strahlt  und  gelobt:  «Yes,  Massa  Lin- 
kum!»  Aber  das  Mißverständnis  ist  geschehen;  die  Ehre 
der  Weißen  ist  furchtbar  gekränkt. 


108 


Der  letzte  Tag 


Lincoln  ist  zum  zweitenmal  zum  Präsidenten  gewählt 
worden.  Eine  solche  Wahl  wirft  ihre  Schatten  voraus.  Die 
längsten  Schatten  fielen  auf  das  Land  in  einem  Augen- 
blick, in  dem  es  aufs  schwerste  um  seine  Zukunft  rang. 
Wenn  Armeen  geschlagen  werden,  haben  nicht  nur  die 
Feldherren  abzutreten;  auch  die  Sessel  der  bürgerlichen 
Oberhäupter  pflegen  zu  wanken.  Lincolns  persönliche 
und  politische  Feinde  im  Norden  haben  ihm  einen  sehr 
fähigen  zweiten  Kandidaten  entgegengestellt:  McClellan, 
den  erfolgreichen  General.  Aber,  so  sehr  dessen  Aussich- 
ten in  den  Monaten  der  militärischen  Rückschritte  gestie- 
gen waren,  so  ungünstig  schienen  sie  wieder  am  Tage  der 
endgültigen  Abstimmung.  Denn  sie  fiel  in  die  Zeit  der 
Siege,  Lincolns  Siege.  McClellan  blieb  um  eine  knappe 
halbe  Million  hinter  Lincoln  zurück,  und  nur  drei  Staaten, 
nämlich  New  Jersey,  Kentucky  und  Delaware  wünschten 
«mitten  im  Kampf  das  Pferd  zu  wechseln»  und  gaben 
McClellan  den  Vorzug. 

Lincoln  tritt  seine  neue  Amtsdauer  mit  zuversichtliche- 
ren Hoffnungen  an  als  die  erste.  Der  Ausgang  des  Krie- 
ges ist  entschieden.  Gewiß:  die  Baumwollfelder  im  Süden 
liegen  brach,  die  Einwohner  in  den  Städten  hungern.  Er 
hat  mit  eigenen  Augen  gesehen,  wie  ehemals  wohl- 
habende Bürger  mit  Kesseln  und  Säcken  auf  die  Nah- 
rungssuche gehen.  Alte  Damen,  deren  Hände  sich  früher 
mit  keiner  andern  Arbeit  als  mit  einer  feinen  Stickerei 
beschäftigt  haben  mögen,  ziehen  Handkarren,  auf  denen 

109 


sie  irgendein  eßbares  Gemüse  heimbringen.  Gewiß,  die 
Negerfrage  ist  noch  lange  nicht  gelöst.  Man  wird  die 
Schwarzen  schulen  müssen.  Nach  Jahrhunderte  dauernder 
Knechtschaft  ist  kein  Volk  und  keine  Rasse  imstande,  ihr 
Geschick  selbst  in  die  Hände  zu  nehmen.  Lincoln  findet 
es  nicht  so  absonderlich,  daß  manche  Neger  in  Banden 
sich  zusammengeschlossen  haben  und  nun  auf  eigene 
Faust  weiter  Krieg  spielen.  Und  daß  sie  an  andern  Orten 
faulenzen  und  finden,  man  müsse  ihnen  die  gebratenen 
Tauben  zutreiben;  sie  hätten  es  lange  genug  schlecht  ge- 
habt und  wünschten  nun  auch  einmal  zu  feiern.  Daß  sie 
tagelang  und  nächtelang  wilde  Tanzfeste  veranstalten, 
bei  denen  ihre  raschen  Instrumente  zu  immer  tolleren 
Sprüngen  sie  anfeuern.  Gewiß,  Fabriken  und  Mühlen 
stehen  still,  und  in  den  Häfen  werden  die  Schiffsladungen 
nicht  gelöscht.  Gewiß,  das  gute  Geld  hat  seinen  Wert  ver- 
loren. Jedermann  will  höheren  Lohn,  weil  die  Preise 
steigen.  Und  wer  hohen  Lohn  erhält,  kauft  zusammen, 
was  irgendwo  angeboten  wird,  und  dadurch  gilt  das  Geld 
noch  weniger  und  die  Ware  noch  mehr.  Gewiß,  die  radi- 
kalen Republikaner  durchkreuzen  seine  Friedensanstren- 
gungen wo  und  wie  sie  können.  Sie  putschen  die  Neger 
auf,  sie  demütigen  die  Einsichtigen  aus  dem  Süden. 

Dennoch :  das  Land  wird  wieder  auf  die  Höhe  kommen. 
Wie  oft  hat  er  als  Junge  neu  anfangen  müssen.  Wie  oft 
hat  sein  Vater  auf  einem  wüsten  Stück  Land  haltgemacht 
und  gesagt:  So,  hier  wohnen  wir  nun  für  die  nächste  Zeit. 
Und  siehe  da:  das  Land  war  urbar  geworden.  Man 
wohnte  gern  darauf.  Mit  Dornen  und  Disteln  hat  der 
Mensch  sein  Leben  lang  zu  kämpfen;  das  ist  der  Fluch 
Gottes  über  seine  unfolgsamen  Geschöpfe.  Und  im 
Schweiße  seines  Angesichts  muß  er  sein  Brot  essen.  Aber 


110 


er  darf  doch  essen.  Und  darf  sich  doch  den  Schweiß  von 
der  Stirn  wischen,  seinen  Acker  beschauen,  auf  den  Gott 
ihn  gestellt  hat,  und  er  darf  zufrieden  mit  seinem  Werk 
sein.  Und  am  Schlüsse,  bevor  er  wieder  zur  Erde  wird, 
von  der  er  genommen  ist,  darf  er  müde  und  glücklich 
sprechen:  Und  wenn  es  köstlich  gewesen  ist,  so  ist  es 
Mühe  und  Arbeit  gewesen. 

Nun  ist  Lincoln  ja  noch  lange  nicht  siebenzig  oder  gar 
achtzig  Jahre  alt.  Nach  menschlichem  Ermessen  hat  er 
noch  einige  Jahrzehnte  zu  leben.  Er  wird  seine  vier  Prä- 
sidentenjahre schon  durchstehen.  Und  dann  mag  ein  Mc- 
Clellan  oder  sonst  ein  tüchtiger  Nachfolger  die  Vereinig- 
ten Staaten  aus  seiner  Hand  empfangen  als  ein  genesenes, 
als  ein  gesundes  Land  mit  fleißigen  und  zufriedenen  Bür- 
gern, weißen  und  schwarzen,  die  einander  vertragen  und 
sich  in  ihrer  Art  ergänzen. 

Von  solchen  Plänen  und  Vorsätzen  zeugt  seine  «zweite 
Inaugurationsrede»,  welche  er  zu  Beginn  der  neuen  Amts- 
periode zu  halten  verpflichtet  ist.  Sein  langjähriger 
Freund  Karl  Schurz,  ein  deutscher  Demokrat,  der  nach 
den  fehlgeschlagenen  Revolutionen  in  Baden  im  Jahre 
1849  auswandern  mußte  und  in  den  Vereinigten  Staaten 
eine  neue  Heimat  gefunden  hat,  der  sogar  im  Sezessions- 
krieg die  Generalswürde  erlangt  hat  und  leidenschaftlich 
an  der  politischen  Entwicklung  teilnimmt,  dieser  Karl 
Schurz  schreibt:  «Lincolns  Rede,  die  er  den  Soldaten  bei 
Gettysburg  hielt,  ist  viel  und  mit  Recht  bewundert  wor- 
den. Aber  viel  größer,  erhabener  und  für  seinen  Charakter 
bezeichnender  war  jene  Inaugurationsrede,  in  welcher  er 
die  volle  Hingabe  und  die  nachsichtige  Milde  seiner  gro- 
ßen Seele  offenbarte.  Diese  Rede  hatte  die  ganze  Feier- 
lichkeit der  letzten  Ermahnung  und  des  letzten  Segens, 


i  ii 


die  ein  Vater  vom  Totenbette  an  seine  Kinder  richtet.  Sie 
schloß  mit  den  Worten:  , Lassen  Sie  uns  versuchen,  die 
unserem  Volke  geschlagenen  Wunden  zu  heilen,  für  die- 
jenigen zu  sorgen,  die  unter  Schrecken  und  Not  der 
Schlachten  gelitten  haben,  und  ihrer  Witwen  und  Waisen 
gedenken  —  kurz,  lassen  Sie  uns  versuchen,  alles  zu 
tun,  was  einen  gerechten  und  dauernden  Frieden  unter 
uns  und  mit  allen  andern  Völkern  herbeiführen  und 
sichern  kann!'  Kein  Präsident  hatte  je  solche  Worte  an 
das  amerikanische  Volk  gerichtet.» 

Und  er  selbst?  Oh,  wenn  man  ihn  fragt,  dann  ist  er 
nicht  verlegen,  was  er  nach  achtjähriger  Präsidentschaft 
tun  wird,  also  im  Jahre  1869:  dann  zieht  er  sich  bestimmt 
von  allen  Staatsgeschäften  zurück  und  baut  sich  ein  klei- 
nes, angenehmes  Blockhaus  irgendwo  in  Kalifornien  oder 
am  großen  Salzsee  oder  in  den  Rockys.  Irgendwo  unter 
dem  blauen  Himmel  und  an  einem  noch  nicht  durch  allzu 
viele  Dämme  und  Schleusen  gequälten  Gewässer.  Bücher 
wird  er  mitnehmen,  seinen  geliebten  Shakespeare  natür- 
lich und  den  alten  Milton,  aber  auch  viele  andere,  die  er 
zu  seinem  Bedauern  erst  vom  Hörensagen  kennt.  Und 
Menschen?  Am  liebsten  seinen  alten  treuen  Neger,  dem 
er  einst  auf  dem  Mississippi  das  Leben  gerettet.  Der 
würde  ihm  rechtschaffen  kochen,  ihm  die  Wünsche  von 
den  Augen  ablesen  und  nicht  über  schlecht  duftende 
Blüten  des  menschlichen  Kulturackers  mit  ihm  quatschen 
wollen.  Ach  ja,  richtig,  heute  abend  muß  er  ins  Theater! 
Lady  Lincoln  besteht  darauf. 

Man  zählt  den  14.  April;  Karfreitag.  Man  ist  nicht  zur 
Kirche  gegangen;  das  Theater  wird  spielen.  Man  lebt 
eben  in  einem  puritanischen  Lande,  in  welchem  der  ein- 
zige Feiertag  der  Sonntag  ist.  Ihn  heiligt  man  streng. 


I  12 


Denn  am  siebenten  Tag  ruhte  Gott  von  seinen  Werken, 
und  auch  der  Mensch  soll  den  siebenten  Tag  heiligen. 
Aber  keine  Feiertage  zwischenhinein!  Auch  nicht  Weih- 
nachten oder  Karfreitag.  Das  wäre  schlimm,  sagen  sich 
die  Puritaner,  wenn  man  nur  an  einem  einzigen  Tag  im 
Jahre  an  des  Jesuskindes  Geburt  oder  an  des  Gottes- 
knechtes Tod  am  Kreuz  denken  wollte.  Jeder  Tag  sei 
seiner  Menschwerdung,  seinem  Tod  und  seiner  Auferste- 
hung geweiht. 

Die  Gedanken  über  seine  Zukunft  hat  Lincoln  an  die- 
sem Nachmittag  seinen  Ministern  entwickelt.  Eigentlich 
hatte  er  sie  zu  einer  Sitzung  bestellt,  zusammen  mit  dem 
Held  des  Tages,  General  Grant.  Denn  stündlich  wird  die 
letzte  Kapitulation  einer  auf  eigene  Faust  kämpfenden 
Südarmee  erwartet.  Aber  man  ist  in  zu  gehobener  Stim- 
mung für  geschäftliche  Dinge;  man  plaudert  zwanglos. 
Der  Präsident  erzählt  einen  Traum,  der  ihn  in  der  letz- 
ten Nacht  beschäftigt  habe:  ein  schnell  segelndes  Schiff. 
Und,  was  weiter?  wollen  die  Herren  wissen.  Weiter? 
Nichts,  sagt  der  Präsident;  es  fuhr  wie  der  Blitz.  Die 
Herren  lachen:  ein  etwas  magerer  Traum;  wenig  geeignet 
zur  Deutung! 

Nachher  spricht  man  von  den  Heerführern  der  Kon- 
föderierten, von  Lee  und  Johnson.  Schade,  sagt  der  Prä- 
sident, so  tüchtige  Leute!  Man  hätte  sie  für  eine  bessere 
Sache  gewinnen  sollen  als  für  die  der  Sklavenhalter.  Aber 
nun  ist  Friede;  eine  lichtere  Zeit  bricht  an. 

«Er  ist  ein  unverwüstlicher  Optimist»,  denken  die  Her- 
ren, «noch  hat  sich  der  Pulverdampf  nicht  verzogen,  und 
schon  sieht  er  nur  den  hellen  Sonnenschein.» 

Dann  begibt  er  sich  in  seine  Wohnung  und  kleidet  sich 
in  den  ihm  so  ärgerlichen  Theaterfrack.  Er  wird  unwirsch 

8     Stickelberger,  Abraham  Lincoln  11^ 


über  seine  eigene  Ungeschicklichkeit;  ob  es  ihm  wohl  in 
vier  Jahren  endlich  gelingen  wird,  den  Hut  richtig  auf- 
zusetzen? Es  scheint  leichter,  einen  Krieg  zu  gewinnen 
und  den  Frieden  anzukurbeln,  als  die  Halsbinde  korrekt 
zu  knüpfen.  Wenigstens  behauptet  das  seine  Frau,  die  ihn 
ständig  mit  säuerlichen  Vorwürfen  bedenkt. 

Uebrigens  liegt  es  nicht  im  Ermessen  von  uns  Nach- 
geborenen, zu  behaupten,  Lincoln  hätte  den  Frieden  ge- 
meistert, wenn  er  am  Leben  geblieben  wäre.  Die  Schwie- 
rigkeiten hätten  sich  auch  für  ihn  berghoch  aufgetürmt. 
Politiker,  die  unmittelbar  nach  einem  siegreichen  Krieg 
aus  voller  Wirksamkeit  durch  den  Tod  gerissen  werden, 
hinterlassen  wohl  im  Augenblick  eine  besonders  klaf- 
fende Lücke.  Aber  die  Nachwelt  preist  ihr  Andenken 
höher,  als  wenn  sie  ihre  Kräfte  in  den  zermürbenden 
Nachkriegsjahren  aufbrauchen  müssen  und  schließlich 
vielleicht,  am  Ende  ihrer  Möglichkeiten,  aber  nicht  am 
vorgesteckten  Ziel,  den  Neidern  und  Gegnern  das  Feld 
räumen  müssen.  Lincolns  Schicksal  hat  in  dieser  Hin- 
sicht Aehnlichkeit  mit  demjenigen  Roosevelts;  nur  kam 
dessen  Tod  immerhin  nicht  mit  gleicher  Plötzlichkeit. 

Es  gibt  letzte  Aussprüche  von  großen  Persönlichkeiten, 
welche  zu  geflügelten  Worten  in  der  Weltgeschichte 
geworden  sind.  «Mehr  Licht»,  soll  Goethe  ausgerufen 
haben;  aber  die  Erzählung  verschweigt  meistens,  daß  er 
damit  bitten  wollte,  die  Fensterläden  aufzustoßen.  Aus 
Lincolns  letzten  Sätzen  läßt  sich  keine  Symbolik  ertifteln, 
wie  man  sie  auch  liest  und  versteht.  Es  ist  also  wohl  in 
Ordnung,  wenn  man,  wie  Karl  Schurz,  die  letzte  öffent- 
liche Rede  als  des  Präsidenten  Vermächtnis  an  die  Nach- 
welt betrachtet.  Seiner  ganzen  unfeierlichen  Art  jedoch 
entspricht  es  eher,  wenn  man  feststellt,  daß  er  ohne  pathe- 

114 


tische  Gebärde,  und  ohne  die  Seinen  auf  ein  Testament 
zu  verpflichten,  von  seinem  Arbeitsplatz  weggetreten 
und  in  die  große  Ruhe  eingegangen  ist. 

Bevor  Lincoln  also  das  Haus  verläßt,  wünscht  ihn  ein 
Besucher  zu  sprechen.  Der  Präsident  nimmt  in  der  Hast 
irgendein  Stück  Papier  und  kritzelt,  seine  Knie  als  Unter- 
lage, darauf:  «Mister  Ashmun  und  sein  Freund  sollen 
morgen  um  neun  Uhr  empfangen  werden.  —  A.  Lincoln.» 

Herr  Ashmun  ist  nicht  empfangen  worden;  aber  er 
hatte  ein  wertvolles  Autogramm  in  Händen:  Lincolns 
letzte  Worte. 

Denn  noch  am  selben  Abend,  kurz  nach  zehn,  ist  der 
Präsident  in  seiner  Loge  erschossen  worden.  Der  Schau- 
spieler John  Wilkes  Booth  trat  durch  die  Kulissen,  schrie 
auf  lateinisch  in  den  Saal:  «So  soll  es  den  Tyrannen  er- 
gehen!» und  knallte  mit  seiner  Pistole  Abraham  Lincoln 
nieder.  Er  hatte  so  die  Niederlage  des  Südens  rächen 
wollen.  Aber  er  schuf  damit  einen  Helden,  den  das  ganze 
amerikanische  Volk  in  den  Nord-  und  in  den  Südstaaten 
bis  auf  den  heutigen  Tag  als  einen  seiner  mutigsten,  un- 
erschrockensten, ehrlichsten  Söhne  verehrt  und  liebt.  In 
seinem  Charakter  spiegelt  sich  die  Seele  des  Nordameri- 
kaners besser  als  in  allen  technischen  Errungenschaften, 
Büchern  und  Filmen,  die  uns  gegenwärtig  in  so  über- 
reichem Maße  von  den  Vereinigten  Staaten  und  ihren 
Menschen  berichten  möchten. 


"5 


ZEITTAFEL 

1809      12.  Februar  Abraham  Lincoln  in  einem  Blockhaus  in  Ken- 
tucky geboren 
1829      Fahrt  als  Holzflößer  nach  New  Orleans 

1831  Uebernahme  eines  kleinen  Handelsgeschäftes  in  New  Salem 

1832  Hauptmann  gegen  die  Indianer 

1 834     Abgeordneter  der  gesetzgebenden  Versammlung  von  Illinois 
1837      Advokat  in  Springfield 

3.  März     Manifest  gegen  die  Sklaverei 
1842     Heirat  mit  Mary  Todd 
1846     Wahl  ins  Repräsentantenhaus 
1852     Beecher-Stowes  Buch  «Onkel  Toms  Hütte» 
1854     Kansas-Nebraska-Akte 

Redekampf  Lincoln-Douglas 
1856     Kandidat  für  die  Vize-Präsidentschaft 
1859/60     Vortragsreisen  durch  die  neu-englischen  Staaten 

1860  18.  Mai    Republikanischer  Kandidat  für  die  Präsidentschaft 
6.  November  Wahl  zum  Präsidenten  derVereinigten  Staaten 

20.  Dezember  Absage  der  Südstaaten  an  die  Nordstaaten 

1861  12.  April  Angriff  der  Konföderierten  auf  die  Festung  Sum- 
pter;  Beginn  des  «Sezessionskrieges» 

21.  Juli  Niederlage  der  Nordstaaten  am  Bell  Run 
Sommer    Erste  gepanzerte  Kriegsschiffe 

1862  Zwangsaushebungen  in  den  Südstaaten 

25. Juni — I.Juli  Unentschiedene  «Siebentageschlacht»  vor 
Richmond 

22.  September  Alle  Sklaven  für  frei  erklärt 

116 


1863  2. Juli  Sieg  der  Nordstaaten  bei  Gettysburg;  Rede  Lincolns 
auf  dem  Schlachtfeld 

1864  6.  Februar  General  Grant  Oberbefehlshaber  der  Nord- 
staaten 

Sommer  Militärische  Rückschläge  für  den  Norden;  politi- 
sche Schwierigkeiten  Lincolns;  Wiederwahl  steht  in  Frage 
8.  November  Lincoln  zum  zweiten  Mal  als  Präsident  ge- 
wählt 

1865  4.  März   «Zweite  Inaugurationsrede» 

März'April    Kapitulationen  der  konföderierten  Armeen 

4.  April   Einzug  Lincolns  in  Richmond 

14.  April   Lincoln  wird  im  Theater  ermordet 


117 


Verlag  Friedrich  Reinhardt  AG.,  Basel 

Rudolf  E.  Stickelberger 
Der  schiefergraue  Engel 

Das  Leben  der  Quäkerin  Elisabeth  Fry 
4.  Auflage.  Leinenband  Fr.  7. — 

Elisabeth  Fry  (sprich:  Frei),  1780 — 1845,  ist  bekannt  als  die  größte 
Bahnbrecherin  auf  dem  Gebiete  der  Gefängnisreform  und  der  Gefan- 
genenfürsorge. Sie  war  die  Tochter  eines  hochfahrenden  englischen  Guts- 
besitzers, verlor  mit  zwölf  Jahren  ihre  Mutter,  fiel  aber  als  Kind  schon 
aus  ihrer  Rolle,  weil  sie  mit  den  Leibeigenen  ihres  Vaters  menschlich 
mitfühlte.  Sie  hieß  die  Schiefergraue,  weil  sie  in  spätem  Jahren  die 
graue  «Mäusetracht»  der  Quäker  trug.  Nach  einem  kurzen  Liebesidyll 
mit  einem  französischen  Marquis,  der  als  Emigrant  in  England  weilte, 
heiratete  sie  einen  Quäker,  der  als  Kaufmann  in  London  lebte  und  dem 
sie  neun  Kinder  schenkte.  Wie  sie  sich  um  das  Schicksal  der  Armen 
kümmerte,  während  ihr  Leben  in  ihrer  Ehe  nicht  besonders  glücklich 
zu  nennen  war,  ist  ergreifend.  Sie  sollte  aber  auf  einem  andern  Gebiete 
als  dem  der  Armenfürsorge  ihre  Lebensaufgabe  finden.  Wie  und  warum 
sie  zum  erstenmal  ins  Gefängnis  kam,  und  wie  aus  diesem  ersten  Besuch 
der  Anfang  eines  großen  Reformwerkes  entstand,  ist  ebenso  schlicht 
wie  ergreifend  dargestellt.  Der  Verfasser  hat  zu  seiner  Biographie  die 
Tagebücher  Elisabeth  Frys  benützt,  und  daraus  ist  ein  Lebensbild  ge- 
worden, das  wohl  zu  dem  Besten  zählt,  was  auf  diesem  Gebiete  über- 
haupt erschienen  ist.  Ihr  Wesen  und  ihr  Werk  schließen  sich  wie  eine 
kostbare  Blüte  langsam  auf  und  entfalten  ihre  ganze  Größe  und  Schön- 
heit. Und  die  Frucht  wächst  daraus  ganz  selbstverständlich  und  ohne 
jedes  eigene  Dazutun.  Evangelische  Volkszeitung. 


Verlag  Friedrich  Reinhardt  AG.,  Basel 


J.  F.  Cabrieres 
Booker  Washington 

Vom  Negersklaven  zum  Erzieher  seines  Volkes 

Mit  40  Bildern  und  einer  Karte.  278  Seiten.  2.  Auflage 
Leinenband  Fr.  7. — 

Das  Buch  ist  zunächst  als  Biographie  wertvoll.  Dieser  Booker  Washing- 
ton (1858 — 1915),  der  sich  vom  armen  Sklavenbüblein  zum  auch  von  den 
Weißen  geachteten  Negerführer  emporarbeitete,  ist  eine  liebenswürdige 
Gestalt.  Er  behielt  auch  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes  etwas  Bescheidenes, 
Menschliches.  Aber  über  das  Biographische  hinaus  hat  das  Buch  für  uns 
heute  seine  besondere  Aktualität.  Wir  sind  von  den  Problemen  des  Wie- 
deraufbaus bedrängt  und  verfolgen  darum  mit  Interesse,  wie  dieser  Neger 
eines  der  allerschwierigsten  Probleme,  die  Negerfrage  in  Amerika,  ange- 
packt und  zu  einem  guten  Teil  gelöst  hat.  Das  Geheimnis  seines  Erfolges 
lag  in  seiner  Bereitschaft  zum  selbstlosen  Dienen.  Er  opferte  die  Aus- 
sicht auf  eine  einträgliche  Advokatenlaufbahn  dem  Dienst  an  seinem 
Volk.  Diese  restlose  Hingabe  machte  ihn  frei  von  aller  Bitterkeit  gegen 
die  Weißen,  die  doch  seinem  Volk  so  viel  Böses  angetan  hatten,  und  ge- 
wann ihm  nicht  nur  die  Herzen  der  Neger,  sondern  auch  ihrer  ehemaligen 
Unterdrücker.  Er  kämpfte  ja  nicht  für  die  einen  gegen  die  andern,  son- 
dern für  das  friedliche  Zusammenleben  beider  Rassen,  zu  dem  jede  ihren 
Beitrag  leisten  sollte.  Die  Kraft  zu  dem  erstaunlichen  Erziehungswerk, 
das  allerdings  sein  Leben  rasch  aufzehrte,  gewann  er  aus  seinem  christ- 
lichen Glauben.  Er  hat  regelmäßig  seine  Bibel  gelesen.  So  ist  er  uns  ein 
Wegweiser  zum  soliden  Aufbau.  Der  ist  nur  dort  möglich,  wo  Menschen 
nicht  um  Interessen  kämpfen,  seien  es  ihre  persönlichen  oder  die  ihres 
Standes,  ihres  Volkes,  ihrer  Rasse,  sondern  wo  sie  durch  ihren  eigenen 
Dienst  auch  die  andern  zur  Freiheit  wahren  Dienens  erziehen.  Die  Er- 
kenntnis und  die  Kraft  zu  diesem  Dienst  gibt  der  Glaube  an  den  Einen, 
der  durch  seinen  Dienst  uns  alle  erlöst  hat. 

Kirchenblatt  für  die  ref.  Schweiz. 


Verlag  Friedrich  Reinhardt  AG.,  Basel 

Henry  M.  Stanley 
Mein  Leben 

Selbstbiographie 

387  Seiten  mit  Bildern  und  Karte 
Auflage  über  20  000.    Leinenband  Fr.  5.50 

Man  möchte  wünschen,  daß  diese  Volksausgabe  es  Tausenden  von 
jungen  Menschen  ermöglicht,  dieses  tatenreiche,  durch  unerhörte  Wand- 
lungen und  Schicksalszugriffe  geformte  Leben  des  großen  Afrikaforschers 
und  Staatengründers  mit  brennenden  Augen  in  allen  seinen  wechselvol- 
len Stadien  zu  verfolgen.  Und  daß  jeder  berührt  wird  vom  Eindruck  die- 
ser kraftsicheren,  kämpferischen  Forschergestalt,  deren  menschlich-vor- 
nehmes Profil  sich  auf  jeder  Seite  des  schlicht  erzählten  Lebensberichtes 
abzeichnet.  Wir  freuen  uns,  daß  ein  Schweizer  Verlag  diese  mustergül- 
tige Volksausgabe  betreut  hat.  Neue  Zürcher  Zeitung. 

Josef  Reinhart 
Heinrich  Pestalozzi 

Ein  Lebensbild. 

Völlig  neu  bearbeitete  Jubiläumsausgabe  mit  8  Kunstdrucktafeln. 
10. — 13.  Tausend.    331  Seiten.    Leinenband  Fr.  8.50. 

Ein  meisterhaftes  Lebensbild,  das  rechte  Volksbuch,  aus  gründlicher 
Kenntnis  Pestalozzischer  Art  und  dessen,  was  unserer  Zeit  nottut,  heraus 
geschaffen,  eine  ergreifende  Geschichte  des  Strebens  und  Leidens  Pesta- 
lozzis, erzählt  mit  einer  Einfühlungskraft  und  einer  Stärke  des  Aus- 
druckes, die  ihre  entscheidende  Innerlichkeit  der  Wesensverwandtschaft 
Reinharts  mit  Pestalozzi  verdanken.  Der  Bund,  Bern. 


mW  Südstaaten  (  Konföderierte) 

^    Ungefährer  Geburtsort  Lincolns 

- —  1  Sog  - 1 81  (>  Wanderunf  der  Familie  Lincoln  nach,  Westen 

trw  Seeknmpf '  zwischen  «Merrimac»  und '«Monitor» 

X    Qettyshrf  (Schlicht  und  Rede) 


Beliebte  Lebensbilder 

Der  Verlag   Friedrich    Reinhardt   in    Basel   gibt 

eine  Reihe  Lebensbilder  von  Frauen  und  Männern 

heraus,  die  ihren  Mitmenschen  im  besten  Sinne 

des  Wortes  gedient  haben. 


Vor 


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Der  schiefergraue  Engel 

Das  Leben  der  Quäkerin  Elisabeth  Fry 
4.  Auflage.  Leinen  Fr.  7. — 

Jean  Francois  Cabrieres 
Booker  Washington 

i  Negersklaven    zum  Erzieher  seines  Volkes 
Mit  vielen  Bildern  und  einer  Karte 
2.  Auflage.  Leinen  Fr.  7. — 


Henry  M.  Stanley 
Mein  Leben 

Von  ihm  selbst  erzählt 

Mit  vielen  Bildern  und  einer  Karte 

Volksausgabe.  20.-  25.  Tausend.  Leinen  Fr.  5.50 

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Karl  T.  Studd 

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6.-8.  Tausend.  Leinen  Fr.  7.50 

Josef  Reinbart 
Heinrich  Pestalozzi 

Ein  Lebensbild.  Jubiläumsausgabe 
10.-13.  Tausend.  Leinen  Fr.  8.50 

Nikiaus  Bolt 
Wege  und  Begegnungen 

Ein  Buch  der  Erinnerung 
12.-14.  Tausend.  Leinen  Fr.  9.80 

Alfred  Stucki 
Johann  Friedrich  Oberlin 

der  Vater  des  Steintals 
3.  Auflage.  Leinen  Fr.  5.50 

Alfred  Stueki 
Carl  Hilty 

Leben  und  Wirkens  eines  großen  Schweizers 
2.  Auflage.  Leinen  Fr.  7.50